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Full text of "Verkehrsgeschichte der Alpen"

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Verkehrsgeschichte  der  Alpen 


I.  Band 

f  Bis  zum  Ende  des  Ostgotenreiches  Theodorichs  des  Großen  ") 


von 


P.  H.  Scheffel 

Königl.  Sachs.  Hauptmann  z.  D. 


Berlin  1908  -  f-f- 
Dietrich  Reimer  (Ernst  Vohsen) 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Druck  von  J.J.  Augustin  in  Glückstadt. 


Inhalt. 


I.  Kapitel. 

Die  Alpen   in   der  Geschichte  Europas.  —  Die  drei  Arten   des  über  die  Alpen 

gegangenen  geschichtlichen  Verkehrs.  —  Die  großen  historischen  Persönlichkeiten 

und  die  Alpen 1 

Einfluß  der  Gebirge  auf  den  menschlichen  Verkehr.  —  Einfluß  der  Alpen  auf  den  Gang 
der  Geschichte  Europas.  —  Kulturbeziehungen  der  Alpen  zum  Orient.  —  Die  drei  Arten  des  über 
die  Alpen  gegangenen  geschichtlichen  Verkehrs.  —  Einfluß  der  Alpen  auf  die  kriegerischen  Be- 
wegungen. —  Völkerbewegungen  und  Völkerbildungen  in  den  Alpengebieten  und  die  Abhängigkeit 
jener  von  dem  Bau  des  Gebirges.  —  Der  Handelsverkehr  in  den  Alpen  und  sein  Verhältnis  zu 
den  politischen  und  ethnologischen  Ereignissen.  —  Die  Alpen  und  die  geschichtliche  Persönlich- 
keit. —  Die  großen  Feldherren  in  den  Alpen.  —  Die  grundlegende  Tätigkeit  großer  Herrscher  in 
den  Alpen;  die  Entstehung  der  Schweiz  als  Staat. 

II.  Kapitel. 

Die  Römer  der  Republik  und  die  Alpen.  ......     14 

Lage  der  Alpen  an  der  Nordseite  der  antiken  Kultur.  —  Besondere  Abneigung  der  Römer 
gegen  die  Alpen  und  deren  Folgeerscheinungen:  Vermeiden  des  Alpenlandes  als  Kriegsschauplatz 
durch  die  römischen  Feldherren  und  Vorliebe  des  römischen  Reiseverkehrs  für  Umgehung  des 
Hochgebirges.  —  Die  römische  Eroberung  Italiens  bis  zum  Südfuß  der  Alpen.  —  Strategische  Be- 
wertung der  Nordgrenze  Italiens  durch  die  Römer  der  Republik.  —  Fortschreiten  der  römischen 
Eroberung  entlang  des  Westendes  und  entlang  des  Ostendes  des  Gebirges;  Aquileja.  —  Die  ersten 
Feldzüge  der  Römer  im  Bereich  der  Alpen:  Hannibals  Alpenüberschreitung,  Stellungnahme  zur 
Frage  des  genauen  Übergangs;  der  Cimbernkrieg,  Noreja;  Katulus  an  der  Etsch. 

III.  Kapitel. 

Völker  und  Wege  in  den  Alpen  vor  der  römischen  Eroberung.  .    .    27 

Die  Völker. 
Die  dem  römischen  Volkstum  überall  und  auch  gegenüber  den  Alpenvölkern  innewohnende 
erobernde   Kraft.  —  Das  Völkerbild   der  Alpen   vor  der  römischen  Eroberung,  seine   Grundlage, 


VI 


Inhalt. 


die  keltische  Völkerwanderung.  —  Der  Zug  derselben.  —  Norditalien  vor  Einwanderung  der 
Kelten.  —  Die  Kelten  in  Norditalien  und  in  den  Alpen,  Ansiedelungsart  der  Kelten  daselbst.  — 
Die  Hallstadt-Kultur,  Rolle  des  Nordrandes  der  Ostalpen  bei  den  alten  Völkerbewegungen.  —  Die 
Räter,  Umfang  des  von  ihnen  bewohnten  Gebietes.  —  Die  rätischen  Ortsnamen.  —  Gründe 
für  die  Eigenartigkeit  des  rätischen  Volkes.  —  Gründe  für  die  Zugehörigkeit  der  Etrusker- Räter 
zu  den  Semiten.  —  Von  den  Rätern  herrührende  Eigenschaften  des  heutigen  tiroler  und  bündner 

Volkes. 

Die  Wege. 
Neigung  der  alten  Verkehrswege,   die  Alpen   westlich   und   östlich   zu   umgehen.  —  Die  ge- 
schichtlich und  archäologisch  nachweisbaren  vorrömischen  Alpenstraßen. 

IV.  Kapitel. 
Die  Eroberung  der  Alpenländer  durch  die  Römer 42 

Cäsars  Tätigkeit  in  und  an  den  Alpen.  —  Unvollständigkeit  der  Überlieferung  von  der 
römischen  Unterwerfung  der  Alpen,  Augustus  der  geistige  Urheber  dieser  römischen  Eroberung.  — 
1.  Periode:  Augustus  im  Osten  der  Alpen.  —  2.  Periode:  Die  Eroberung  der  Alpen,  ein  Teil  des 
großen  Planes  für  den  Feldzug  zur  Unterwerfung  Germaniens,  Feldzugsplan  und  Verlauf  der  mili- 
tärischen Operationen  gegen  die  Räter;  Drusus;  Provinz  Norikum.  —  3.  Periode:  Vollständige 
Unterwerfung  der  Ostalpen.  —  Strategische  Bewertung  des  Gebirges  durch  Augustus  und  dessen 
Kulturarbeit  in  den  Alpenländern.  —  Die  von  Augustus  gebauten  Straßen  im  Gebiet  der  West- 
alpen und  in  dem  der  Ostalpen.  —  Politische  Organisation  der  Alpenprovinzen,  Andenken  des  Augustus 
in  den  Alpen.  —  Die  Alpenländer  unter  den  späteren  Kaisern  bis  Antoninus  Pius;  das  Dekumatland. 


V.  Kapitel. 

Die  Alpenländer  als  römische  Provinzen 61 

Zustand  der  Alpenländer  im  zweiten  Jahrhundert  nach  Gh.  —  Umbildung  der  Bevölkerung 
zu  Lateinern.  —  Überlegenheit  der  damaligen  römischen  Militäreinrichtungen,  das  Wesen  der 
römischen  Befestigungskunst  in  den  Alpen.  —  Bauart  der  römischen  Alpenstraßen,  die  Höhe  ihres 
Laufes,  ihre  stete  Benutzbarkeit  und  ihre  Dauerhaftigkeit.  —  Die  römischen  Ortsgründungen  in 
den  Alpen.  —  Vergleich  des  römischen  alpinen  Wegenetzes  mit  dem  heutigen  Eisenbahnnetz.  — 
Geschichtliche  Wirkung  der  die  Alpen  durchteilenden  Vertikalgrenze.  —  Schicksal  der  Alpenländer 
unter  dem  römischen  Weltreich. 

VI.  Kapitel. 

Die  Römerstraßen  der  Alpen 75 

Die   Straßen  im  Westen  der  Alpen    bis   zum    Simplon. 
Die  ligurische  Küstenstraße.  —  Die  Straße  über  den  Mont  Genevre.  —  Die  Straße  über  den 
Kleinen  und  diejenige  über  den  Großen  Sankt  Bernhard.  —  Der  Simplon.  —  Die  Schweizer  Hoch- 
ebene und  die  Zentralschweiz. 

Die   Straßen    durch    Rätien. 
Como  und  Chiavenna.  —  Die  Splügenstraße.  —  Der  Julier  und  der  Septimer.  —  Die  Linie 
Chur-Bregenz.  —  Inner-Rätien.  —  Die  Meilensteine  des  Klaudius  und  die  Römerstraße  durch  das 
Vintschgau   bis  Landeck.   —   Der  Arlberg.  —   Der  Brenner,   Vorzüge  seiner  Lage,  seine  südliche 


Inhalt.  VII 

Basis  zur  Römerzeit,  Verona  und  Trient.  —  Der  Nonsberg  und  der  Sulzberg.  —  Die  Strecke  von 
Trient  über  Bozen  bis  Meran.  —  Der  Jaufen.  —  Eisak-  und  Silltal  bis  Innsbruck.  —  Die  Linien 
des  Fernpasses,  der  Scharnitz  und  des  Unterinntals. 

Die  Straßen  der  Ostalpen. 
Charakteristik  der  Straßen  der  Ostalpen.  —  Unterschied  zwischen  der  Verkehrskonstellation 
Venetiens  zur  Römerzeit  und  derjenigen  der  späteren  Zeiten.  —  Die  Ploeckenstraße.  —  Die  Puster- 
tallinie.  —  Juvavum,  sein  Gebiet  und  die  Tauern-Übergänge.  —  Aquileja.  —  Die  Pontebba-Straße 
und  Virunum.  —  Die  Radstädter-Tauernstraße.  —  Die  Rottemanner-Tauemstraße.  —  Das  Semme- 
ring-Gebiet.  —  Die  Straße  über  den  Birnbaumer  Wald. 

VII.  Kapitel. 

Die  Alpen  und  die  germanische  Völkerwanderung 131 

Wesen  der  germanischen  Völkerwanderung  und  ihre  Wirkung  auf  das  römische  Reich.  —  Die 
Beschaffenheit  beider  Gegner.  —  Die  Lage  der  Alpenländer  inmitten  dieser  Bewegung  und  ihre 
Rolle  im  damaligen  römischen  Verteidigungssystem. 

VIII.  Kapitel. 

Die  Kriegsgeschichte  der  Alpenländer  von  Mark  Aurel  bis  Probus.    .  138 

Die  Ostalpen  während  und  nach  den  Markomannenkriegen.  —  Art  und  Absiebt  der  Straßen- 
bautätigkeit des  Septimius  Severus.  —  Die  Alpen  während  der  Alemannenkriege  im  dritten  Jahr- 
hundert nach  Gh.  und  die  durch  diese  Kriege  herbeigeführte  Umgestaltung  des  mitteleuropäischen 
Kriegstheaters. 

IX.  Kapitel. 

Das  vierte  Jahrhundert  nach  Ch.  und  die  Alpenländer.      .     .     .  150 

Die   Mittelalpen. 
Der  neue  römische  Verteidigungsapparat  in  den  Mittelalpen:  Wichtigkeit  der  Straßen  durch 
Bünden    und  die  Befestigungen    an    der  Rheinfront   durch  Konstantius   Chlorus.    —    Die   Teilung 
Rätiens.  —  Die  Veränderung  des  militärischen  Bildes  in  Oberitaiien,  Mailand  und  Verona. 

Die    Ostalpen. 
Die   strategische  Wichtigkeit  der  Wiener  Ebene   für  die  Römer  während  der  germanischen 
Völkerwanderung.  —  Der  Quadenkrieg   und  die  gleichzeitigen   römischen  Rüstungen   in  den  Süd- 
ostalpenländern. —  Der  Verlust  Carnuntums  und  seine  Folgen.  —  Das  Schicksal  Norikums. 

X.  Kapitel. 

Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches  im  fünften  Jahr- 
hundert nach  Ch 163 

Die  Ereignissein  Norditalien. 
Stilicho  und  seine  Alpenfeldzüge.  —  Die  Folgen  dieser  Kriege  für  die  Römer:  Der  Verlust 
Süddeutschlands,  Augsburg,  Kempten,  Salzburg,  Lauriacum.  —  Pannonien.  —  Venetien  und  der 
Einfallsweg  nach  Italien  während  der  letzten  Zeiten  der  Völkerwanderung.  —  Bedeutung  und 
Schicksale  der  an  dieser  Linie  gelegenen  Städte:  Pettau,  Cilli,  Laibach,  Aquileja,  Padua,  Verona 
und  Mailand.  —  Friaul  und  die  Entstehung  des  heutigen  furlaner  Volkes. 


Ylll  Inhalt. 

Die  Schicksale  der  eigentlichen  Alpenländer. 
Die  römische  Nordschweiz  während  der  zweiten  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts  und  der 
Verlust  derselben  an  die  Alemannen.  —  Volksleere  der  Schweizer  Hochebene  im  fünften  Jahr- 
hundert. —  Der  Große  Sankt  Bernhard  und  seine  ununterbrochene  Benutzung.  —  Die  Rolle  der 
Straßen  der  Westalpen  bis  zur  Riviera  im  fünften  Jahrhundert;  frühzeitiges  Erscheinen  des 
Christentums  daselbst.  —  Rätien  im  Gebirge  und  seine  fortdauernde  Zugehörigkeit  zu  Italien; 
Nachlassen  des  Durchgangsverkehrs.  —  Meran  und  das  Erscheinen  des  Christentums  in  Südtirol.  — 
Gründe  der  Abgeschlossenheit  Graubündens  und  das  durch  dieselbe  ermöglichste  Weiterbestehen 
der  altrömischen  Einrichtungen  in  diesem  Lande.  —  Die  Churer  Bischofsgewalt.  —  Das  Alpenge- 
birge im  Allgemeinen  und  Graubünden  insbesondere  als  Fluchtland  der  Völkerwanderung;  die 
Funde  römischer  Münzen  in  den  Alpen.  —  Das  südliche  Vorland  Graubündens;  Comacina  am 
Komer-See  und  Como. 

XL  Kapitel. 
Die  Alpenländer  unter  Theodorich  dem  Großen 195 

Gründe  für  den  inneren  Zusammenhang  des  Ostgotenreiches  Theodorichs  mit  dem  römischen 
Altertum.  —  Behandlung  und  Gestaltung  der  nördlichen  Alpengrenze  Italiens  unter  Theodorich.  — 
Der  Lauf  dieser  Grenze.  —  Nachrichten  über  die  Verbreitung  der  ostgotischen  Garnisonen  in 
den  Alpen;  die  militärische  Handhabung  des  Grenzschutzes  im  Gebirge  durch  Theodorich;  Verona 
und  Trient.  —  Schicksal  der  Alpenländer  während  des  Zerfalls  des  Ostgotenreiches.  —  Die  Rolle 
des  Alpengebirges  während  des  Anbrechens  des  Mittelalters  in  Europa. 


Anmerkungen 204 


I.  Kapitel. 

Die  Alpen  in  der  Geschichte  Europas.    Die  drei  Arten  des  über 

die  Alpen   gegangenen    geschichtlichen   Verkehrs.     Die  großen 

historischen  Persönlichkeiten  und  die  Alpen. 


Die  Absicht,  aus  der  dieses  Buch  geschrieben  ist,  erklärt  sich  aus  den 
Worten  seines  Titels.  Wenn  Menschen,  zu  welchen  Zeiten  und  unter  welchen 
Kulturverhältnissen  dies  auch  gewesen  sein  mag,  das  Bedürfnis  hatten,  in  gegen- 
seitige Wechselbeziehungen  zueinander  zu  treten,  so  hat  den  dadurch  hervor- 
gerufenen Verkehr  das  Fehlen  natürlicher  oder  künstlicher  Hindernisse  wohl  stets 
von  vornherein  erleichtert  und  gefördert.  Waren  solche  Hindernisse  aber  vor- 
handen, so  mußten  sie  schon  sehr  stark  sein,  um  einen  Verkehr,  der  sich  einmal 
geltend  machen  wollte,  ganz  abzuschrecken  oder  zu  verhindern.  Die  Regel  ist, 
daß  der  Menschenwille  es  schließlich  trotzdem  mit  den  mannigfachsten  Mitteln 
erreicht  hat,  die  ihm  entgegenstehenden  Verkehrshindernisse  durch  Umgehung 
oder  Überwindung  zu  besiegen. 

Erst  mit  dem  Fortschreiten  der  Kultur  ist  die  Menschheit  immer  mehr  da- 
zu gelangt,  ihre  Verkehrsmittel  immer  künstlicher  zu  gestalten  und  so  auch  die 
natürlichen  Hindernisse  leichter  zu  überwinden.  Von  je  her  haben  aber  nicht 
jene  künstlichen  Verkehrsmittel,  sondern  die  von  der  Natur  einmal  geschaffenen 
Verkehrsbedingungen  die  Übermacht  über  die  Gestaltung  alles  Verkehrslebens 
behauptet.  In  der  Art,  wie  die  Natur  Land,  Meere,  Gebirge  und  Flüsse  an- 
einandergeschoben  und  zusammengebaut  hat,  so  und  nicht  anders  hat  es  zu- 
nächst die  Menschheit  annehmen  müssen,  um  in  dieses  Gebilde  die  Bahnen 
ihres  Verkehrs  hineinzulegen  oder  bei  entgegengesetzter  Absicht  auf  Mittel  zu 
sinnen,  deren  Herstellung  zu  verhindern. 

Wenn  wir  nun  die  Stärke,  mit  der  die  natürlichen  Gebilde  dem  Verkehr 
der  Menschen  untereinander  hinderlich  oder  förderlich  gewesen  sind,  abschätzen, 

ScheffeJ,  Verkebrsgescbicbie  der  Alpen.     1.  Bind.  1 


2  I.  Kapitel. 

wird  sich  finden  lassen,  daß  Meer  und  Fluß,  so  verkehrsfeindlich  diese  auf  den 
ersten  Blick  auch  dem  Naturmenschen  erscheinen  mögen,  gerade  am  bereit- 
willigsten der  aus  dem  Naturzustand  zur  Kultur  fortschreitenden  Menschheit  die 
Mittel  des  Verkehrs  an  die  Hand  gegeben  haben,  während  die  Gebirge  dagegen 
zu  allen  Zeiten  weit  mehr  ein  Mittel  der  Trennung  als  der  Verbindung  gewesen 
sind.  Je  höher  und  gestreckter  ein  Gebirge  ist,  um  so  sicherer  hat  es  in  der 
Regel  als  Trennungslinie  für  die  menschlichen  Kulturzonen,  deren  Grenzen  sich 
an  dasselbe  lagern  mußten,  gewirkt.  Die  Menschen  südlich  und  nördlich  des 
Himalaya  sind  grundverschieden  voneinander;  der  Kaukasus  hat,  seitdem  man 
überhaupt  von  einem  Occident  sprechen  kann,  die  Trennung  desselben  vom  Orient 
übernommen,  und  die  Pyrenäen  haben  die  ihnen  anliegenden  Länder  stets  der- 
artig voneinander  geschieden  gehalten,  daß  diese  seit  Ende  des  römischen  Alter- 
tums niemals  mehr  wieder  ein  politisch  geeintes  Gebilde  abgeben  konnten,  und 
auch  Böhmen  hat  es  allein  den  es  abschließenden  Gebirgen  zu  verdanken  ge- 
habt, daß  es  in  der  Länderkarte  Mitteleuropas  unter  den  vielen  im  bunten  Wechsel 
entstandenen  und  vergangenen  Gebilden  stets  ein  eigenartiges,  und  zuweilen  be- 
sonders lebenskräftiges  und  selbständiges  Dasein  geführt  hat.  Nur  ein  südlich 
gelegenes  Zentrum  konnte  es  schließlich  erreichen,  Böhmen  längere  Zeit  an  sich 
zu  ziehen,  weil  jenem  Lande  an  dieser  Seite  allein  der  Gebigsabschluß  fehlt. 

Auch  heute  noch  ist  Europa  der  Hauptschauplatz  menschlicher  Geschichte; 
und  es  ist,  lediglich  abgesehen  von  den  frühesten  Zeiten  menschlichen  Denkens 
und  der  neuesten  Zeit,  auch  stets  der  einzige  Schauplatz  jener  gewesen.  Eine 
eigene  Schickung  hat  es  nun  gewollt,  daß  sich  gerade  im  Mittelpunkt  dieses 
Erdteils,  in  dem  bislang  fast  jeder  menschliche  Fortschritt  emporgewachsen  ist 
und  sich  somit  auch  allein  alle  das  tiefere  Interesse  herausfordernden  geschicht- 
lichen Vorgänge  abgespielt  haben,  eines  der  höchsten  und  räumlich  ausgedehntesten 
Gebirge  der  Erde,  die  Alpen  erheben.  Merkwürdige  Konsequenzen  sind  es,  die 
sich  zunächst  bieten,  wenn  wir  einmal  den  Fall  setzen,  daß  an  der  Stelle,  wo 
die  Alpen  liegen,  sich  eine  große  Ebene  ausbreiten  würde.  Gehen  wir  bei 
dieser  Annahme  zunächst  von  dem  heutigen  Zustand  der  Erde  aus,  so  müßten 
wir  bei  der  Nivellierung  aller  europäischen  Kulturverhältnisse,  die  sich  aus  dem 
Fehlen  des  Alpengebietes  ergeben  müßte,  unmittelbar  vor  der  Verwirklichung 
der  Idee  der  Vereinigten  Staaten  von  Europa  stehen.  Fassen  wir  dagegen  den 
Gang  der  geschichtlichen  Ereignisse  von  alters  her  ins  Auge,  so  können  wir 
ein  Gefühl  des  Dankes  nicht  unterdrücken,  daß  es  so  und  nicht  anders  gewesen 
ist;  denn  ohne  die  trennende  Schutzmauer  der  Alpen  wäre  es  dem  Römertum 
niemals  gelungen,  seine  Herrschaft  und  Kultur  zu  jener  bewunderungswerten 
Ausdehnung  und  Tiefe  auszugestalten:  der  Sieg  der  keltischen  und  der  ge- 
waltigen germanischen  Völkerwanderung  wäre  von  vornherein  so  früh  und  voll- 
ständig eingetreten,  daß  mit  ihm  alle  lebenskräftigen  Keime  des  Altertums,  vor 
.allem  auch  die  kostbarste  unter  ihnen,  das  Christentum,  ihren  Tod  gefunden  hätten. 


Die  Alpen  in  der  Geschichte  Europas.  3 

So  hat  die  Menschheit  den  Alpen,  indem  diese  wie  alle  anderen  Gebirge 
in  erster  Linie  scheidend  und  trennend  gewirkt  haben,  zunächst  einen  ungeheuren 
Segen  zu  verdanken.  Es  ist  dies  aber  nur  die  eine  grundlegende  Seite  ihres 
Einflusses  auf  die  Geschichte  gewesen.  Auch  nach  der  anderen  entgegengesetzten 
aber  nicht  minder  wichtigen  Beziehung  haben  die  Alpen  gleich  stark  auf  die 
europäische  Geschichte  gewirkt.  Darin  gerade  unterscheiden  sich  die  Alpen 
von  den  anderen  Gebirgen,  daß  bei  ihnen  das  natürliche  Moment  der  Trennung, 
das  die  Gebirge  überall  hervorzubringen  pflegen,  nicht  allein  nicht  vorherrscht, 
sondern  daß  sie  trotz  ihrer  Massenhaftigkeit,  stärker  selbst  als  andere  weniger 
bedeutende  Höhenzüge,  verkehrsfreundlich  gewesen  sind.  Und  um  so  um- 
fassender mußte  auch  dies  in  seinen  Folgen  werden,  weil  die  Alpen  gerade  in 
der  Mitte  des  alten  Europas  gelagert  sind.  Selbst  die  Pyrenäen  und  Karpathen 
haben  fast  stets  zwei  politisch  verschiedene  Gebilde  voneinander  getrennt, 
während  das  viel  höhere  Alpengebirge  es  zugelassen  hat,  daß  im  römischen 
Altertum  volle  vier  Jahrhunderte  hindurch  die  Länder  nördlich  und  südlich 
seines  Kammes  zu  demselben  Reiche  gehörten.  Aber  auch  im  Mittelalter  war 
ein  halbes  Jahrtausend  lang  ein  Hauptgrundsatz  des  politischen  Denkens  die  Ver- 
einigung Deutschlands  und  Italiens  in  einer  Hand.  Uns  heute  in  der  Zeiten 
Ferne  ist  es  zwar  leicht  gemacht,  sofort  das  Phantastische,  die  vollständige  Igno- 
rierung aller  aus  der  natürlichen  Geographie  aufsteigenden  realen  Mächte,  von 
der  diese  Idee  ausgeht,  herauszufühlen.  Es  war  aber  doch  die  aus  dem  Ideen- 
gehalt der  damaligen  Zeiten  hervorgehende  mächtige  Wucht  der  Tatsachen,  die 
in  den  Römerzügen  der  deutschen  Könige,  einem  nach  dem  andern,  diese  An- 
schauungen in  die  Wirklichkeit  zu  versetzen  suchte.  Und  selbst  in  der  neueren 
Zeit  hat  der  hohe  Alpenwall  im  Norden  Italiens  es  ebensowenig  verhindern 
können,  daß  dieses  Land  Jahrhunderte  hindurch  den  fast  einer  Fremdherrschaft 
gleichenden  Einflüssen  fremder  Mächte  überliefert  war. 

Die  glückliche  Mischung  nördlicher  und  südlicher  Elemente  ist  es,  die  den 
reichen  Inhalt  der  europäischen  Kultur  ausmacht.  Zu  dieser  Gestaltung  der 
Dinge  hat  aber  das  Wesen  der  Alpen  die  Hauptsache  beigetragen,  indem  diese 
teils  hemmend  teils  wieder  fördernd,  aber  stets  mit  einem  schönen  Gleichmaß 
in  den  Wechsel  der  europäischen  Kulturbeziehungen  eingegriffen  haben.  Geht 
man  freilich  auf  die  frühesten  Anfänge  der  europäischen  Kultur  zurück,  so  findet 
sich,  daß  diese  aus  der  Fremde,  aus  dem  Orient,  ihren  ersten  Ursprung  ableiten. 
Schon  längst  hat  zwar  der  orientalische  Einfluß  auf  Europa  an  seiner  früheren 
Kraft  verloren,  aber  ein  sprechendes  Zeugnis,  wie  sehr  überhaupt  in  dem 
Teile  Europas,  der  die  Alpen  einschließt,  die  Fäden  aller  Kultur  von  alters  her 
zusammengelaufen  sind,  ist  es  doch,  daß  das,  was  der  Orient  auch  späterhin 
von  Einfluß  auf  Europa  hinüberzusenden  hatte,  gerade  an  den  beiden  Enden  der 
Alpen,  dem  Ost-  und  Westende,  da,  wo  sie  sich  auf  das  Alles  verbindende 
Meer  stützen,   mit  Vorliebe   an   das   Land   gestiegen   und   von   dort  aus   zu  uns 

1» 


4  I.  Kapitel. 

hineingewandert  ist.  Aber  auch  heute  leiten  noch  mitten  aus  Innereuropa,  von 
dem  Meerbusen  von  Genua  und  der  Nordspitze  der  Adria  aus,  unsichtbare 
Fäden  nach  dem  Orient  hinüber. 

Es  hat  Zeiten  gegeben,  in  denen  sich  das  Gestade  der  ligurischen  Riviera 
wie  eine  Kolonie  des  Ostens  auf  westeuropäischem  Boden  ausgenommen  hat. 
Auf  die  Phönizier  (Monaco)  folgten  hier  die  Griechen  (Massilia,  Nicaea,  Mentone, 
Antipolis- Antibes).  Hier  blieben  dann  auch,  als  ringsherum  schon  längst  alles 
Land  den  Franken  und  Langobarden  untenan  war,  die  byzantinischen  Statthalter 
heimisch,  denen  später  ah  dem  gleichen  Gestade  die  See-  und  Straßenräuber- 
kolonien  der  Sarazenen  folgten.  Hier  sammelten  sich  die  Scharen  der  nach 
Asien  ziehenden  Kreuzfahrer,  und  auch  in  der  Jetztzeit  hat  die  Eröffnung  des 
Suezkanales  Genua  wieder  zu  einem  ganz  neuen  Leben  emporgebracht. 

Ein  gleiches  Bild  bietet  sich  aber  auch  an  dem  gegenüberliegenden  Ende, 
an  der  Nordspitze  der  Adria.  Auch  hier  weisen  schon  die  Ursprungssagen  der 
ältesten  Einwohner,  der  Veneter,  nach  dem  Osten.  Im  Altertum  war  Aquileja 
tatsächlich  die  Schwelle  des  Orients,  und  es  wurde  deshalb  auch  in  Italien 
nächst  der  Hauptstadt  Rom  die  erste  Pflanzstätte  des  aus  dem  Osten  gekommenen 
Christentums.  Auf  dem  östlichen  Vorlande  dieser  Stadt  fielen  in  der  späteren 
Kaiserzeit  zumeist  die  ersten  Entscheidungen  über  die  aus  dem  Orient  nach 
Italien  ziehenden  Thronprätendenten,  und  die  Kaiser  von  Byzanz  behielten  auch 
auf  diesen  Landstrich  noch  lange  ihren  Fuß  gesetzt,  als  im  übrigen  Abendland 
ihre  Macht  schon  längst  verschwunden  war.  Venedigs  Blüte  und  Bedeutung 
ging  allein  daraus  hervor,  daß  es  für  das  Mittelalter  die  Rolle  Aquilejas  in  ver- 
größertem Maßstabe  übernahm,  und  das  Dasein  des  in  byzantinischem  Stile  auf- 
geführten Markus -Domes  und  der  Fondaco  dei  Turchi  sind  heute  noch  die 
Zeugen,  wie  sehr  auf  diesem  Stadtboden  orientalisches  Wesen  sich  heimisch 
fühlte.  Auch  die  Bedeutung  der  Erbin  Venedigs,  von  Triest,  beruht  heute  in  der 
Hauptsache  auf  den  zahlreichen  Verbindungen,  die  von  hier  nach  dem  Orient  abgehen. 

In  dreierlei  Hinsicht  hat  sich  nun  der  über  die  Alpen  gehende  Verkehr, 
seitdem  diese  in  das  Licht  der  Geschichte  eingetreten  sind,  betätigt,  in  ethno- 
logischer, kriegerisch -politischer  und  handelsgeschichtlicher  Beziehung,  jedoch 
so,  daß  Erscheinungen,  in  denen  sich  derselbe  nach  der  einen  oder  anderen 
Hinsicht  ganz  rein  und  unvermischt  beobachten  ließe,  äußerst  selten  sind.  Die 
Regel  ist,  daß  die  eine  Art  des  über  die  Alpen  gehenden  Verkehrs  mit  der 
anderen  Hand  in  Hand  läuft,  die  eine  die  Ursache  der  anderen  wird,  oder  an 
die  andere  anknüpfend  ihr  nachfolgt.  Hat  ein  Volksstamm  erst  still  und  un- 
beobachtet in  den  Alpen  Platz  genommen,  so  muß  er  sich  zumeist  dann  doch 
noch  den  Nachbarn  gegenüber  auf  kriegerische  Weise  die  Daseinsberechtigung 
erkämpfen  (die  Kämpfe  der  Bayern  und  Slaven  im  Pustertal  zu  Beginn  des 
Mittelalters),  oder  umgedreht  die  kriegerischen  Ereignisse  und  die  politischen 
Veränderungen    in   deren    Gefolge   schaffen   wie   nach   dem  Gesetz  der  Schwere 


Die  Alpen  in  der  Geschichte  Europas.  5 

den  Raum  für  das  siegreiche  Volk  und  dessen  Kultur  (die  Latinisierung  der 
Räter  nach  der  römischen  Eroberung),  die  nun  die  eroberten  Gebiete  tatsächlich 
besetzen.  Andererseits  führt  aber  auch  die  in  einem  der  den  Alpen  anliegenden 
Gebieten  erstarkte  politische  Macht  und  die  erhöhte  Sicherheit  des  Besitzes  zur 
Belebung  des  Handels  hinüber  und  herüber  (der  Aufschwung  Mailands  nach 
Verdrängung  der  deutschen  Kaisermacht  aus  Italien),  oder  wenn  durch  lang- 
andauernden Handel  und  Wandel  hüben  und  drüben  gleiche  Kulturen  und  ähn- 
liche Lebensbedingungen  geschaffen  worden  sind,  so  tritt  dieser  Zusammenschluß 
dann  wieder  in  die  Erscheinung  durch  politische  Ereignisse  (der  Zusammenschluß 
der  Ostalpen  unter  Österreich;   die  zugewandten  Orte  der  Schweizer  Republik). 

Die  Darstellung  der  aus  kriegerischen  und  politischen  Anlässen  hervor- 
gegangenen Verkehrsbewegungen  in  den  Alpen  bietet  die  geringsten  Schwierig- 
keiten, da  diese  in  solchen  äußeren  Ereignissen  ihren  bestimmten  Ausdruck 
gefunden  haben,  deren  Kunde  am  ehesten  der  Geschichte  erhalten  bleiben  konnte. 
Eine  Geschichte  der  Schicksale,  von  der  die  einzelnen  Alpenstraßen  in  der 
Folge  dieser  äußeren  Ereignisse  betroffen  worden  sind,  ist  daher  dasjenige,  was 
sich  für  die  Darstellung  der  Masse  der  Verkehrsbeziehungen,  in  denen  die 
Menschheit  zu  den  Alpen  gestanden  hat,  am  dankbarsten  heraushebt.  Das 
charakteristische  Merkmal  haben  zunächst  alle  in  den  Alpen  ausgefochtenen 
Kriegsereignisse  an  sich  gehabt,  daß  sie  allein  für  sich  keine  großen  Ent- 
scheidungen darstellen,  sondern  nur  als  die  Vorbereitungen  oder  Folgeerschei- 
nungen solcher  Entscheidungen  auftraten,  die  in  den  Ebenen  südlich  oder  nördlich 
des  Gebirges  gefallen  sind.  Am  deutlichsten  läßt  sich  dies  bei  allen  Kämpfen, 
in  denen  die  Parteien  in  nördlicher  und  südlicher  Front  gegenüberstanden,  beob- 
achten. Nicht  die  Eroberung  der  Alpen  durch  die  Römer  brachte  die  Unter- 
werfung Galliens,  sondern  diese  die  Eroberung  der  Alpen  mit  sich;  die  ent- 
scheidenden Kämpfe  der  Völkerwanderung  spielten  sich  nicht  in  den  Alpen, 
sondern  zuerst  nördlich  und  dann  südlich  des  Gebirges  ab,  und  im  Mittelalter 
ist  kein  deutscher  Fürst  auf  einem  Römerzuge  in  den  Alpen  selbst  umgekehrt. 
In  den  Kämpfen  der  letzten  Jahrhunderte  haben  sich  die  Parteien  dagegen  zumeist 
in  westlicher  und  östlicher  Front  gegenüber  gestanden,  aber  auch  dann  lag  das 
Hauptkriegstheater  auswärts,  während  die  Alpen  nur  ein  Nebenschauplatz  waren. 
In  den  Fällen  dieser  Art,  in  denen  die  Partieen  wirklich  bis  zu  Ende  ausgespielt 
worden  sind,  wie  in  den  Kriegen  Napoleons  I.  gegen  Österreich,  haben  dessen 
Siege  in  den  Ebenen  auch  eine  Besetzung  des  anliegenden  Alpenlandes  durch 
den  Sieger  nach  sich  gezogen. 

Der  Grund  zu  diesem  Allem  liegt  offensichtlich  in  der  Natur  des  Gebirgs- 
landes  selbst,  dessen  Oberfläche,  zu  kompliziert  und  für  ausholende  Bewegungen 
zu  schwierig,  den  für  die  Herbeiführung  großer  Entscheidungen  nötigen  freien 
Raum  nicht  bietet.  Napoleon  I.  ist  in  den  ersten  Jahren  seiner  aufsteigenden 
kriegerischen  Kraft  gerade  die  strategische  Bewertung  der  Alpen  derart  trefflich 


Q  I.  Kapitel. 

gelungen,  daß  sein  Eingreifen  in  vericehrsgeschichtlicher  Beziehung  für  dieses 
Gebirge  eine  neue  Zeit  heraufführen  konnte.  Der  Ausspruch  desselben  aber, 
daß  in  den  Alpenkämpfen  der  Verteidiger  im  Vorteil  sei,  kann  nur  vom  rein 
taktischen  Standpunkte  aus  gemeint  sein;  denn  für  diejenige  Partei,  die  große 
Entscheidungen  sucht,  fehlt  trotz  aller  formidabeln  Stellungen,  die  das  Alpen- 
gebirge überall  und  zu  allen  Zeiten  dem  Verteidiger  geboten  hat,  hier  doch  der 
zur  Herbeiführung  des  letzten  Zieles,  d.  h.  der  angriffsweisen  Vernichtung  des 
Gegners,  nötige  Raum.  Jener  Mangel,  den  die  aktive  Verteidigung  hier  findet, 
hat  es  daher  im  Gegensatz  zu  Napoleons  Ausspruch  herbeigeführt,  daß  in  den 
Alpenkriegen  kaum  ein  Fall  zu  finden  ist,  in  dem  die  Verteidigungsstellungen 
schließlich  nicht  doch  genommen  worden  wären,  weil  das  unübersichtliche  Ge- 
birge dem  Angreifer  viel  zahlreichere  und  viel  verstecktere  Rinnen  bietet,  die 
feindliche  Position  an  ungeahnter  Stelle  zu  fassen. 

Dagegen  ist  es  viel  schwieriger,  den  Verlauf  der  über  die  Alpen  gegangenen 
Völkerbewegungen  in  bestimmte  Ereignisse  zu  fassen.  Das  Auftreten,  die  Aus- 
breitung und  das  Verschwinden  der  Völker  in  den  von  ihnen  bewohnten  Gebieten 
vollzieht  sich  zumeist  als  langandauernde  aber  stille  Folge  der  politischen  Ver- 
änderungen. Ereignisse,  deren  zeitliche  Dauer  kaum  ein  Jahr  ausfüllt,  vermögen 
nach  dieser  Seite  hin  Nachwirkungen  im  Gefolge  zu  haben,  die  Jahrhunderte 
lang  andauern.  So  zog  die  Tatsache  der  römischen  Eroberung  der  Alpen  die 
Umbildung  der  dieses  Gebirge  bewohnenden  Völker  in  Romanen  nach  sich. 
Der  Zerfall  des  Römerreichs  lieferte  dann  wieder  die  Nordhälfte  des  Gebirges, 
einer  von  Norden  kommenden  germanischen  Besiedelung  aus,  einer  Bewegung, 
die  das  ganze  Mittelalter  hindurch  bald  stärker  bald  schwächer  fortgewirkt  hat. 
Auch  wissen  wir  zwar,  daß  von  der  kriegerischen  Abweisung  der  Slaven  durch 
die  Bajuvaren  im  Pustertal  einst  die  deutsche  Kolonisation  der  Ostalpen  ihren 
Ausgang  genommen  hat.  Wie  diese  aber  dann  im  einzelnen  vor  sich  gegangen, 
wann  sie  schließlich  zum  Stehen  gekommen  und  ein  anderes  an  ihre  Stelle  ge- 
treten ist,  läßt  sich  nicht  genau  erkennen.  Bei  allen  diesen  Völkerbewegungen 
sehen  wir  demnach  wohl  die  Ereignisse,  von  denen  sie  ausgehen,  nicht  aber 
ihren  weiteren  Verlauf  und  vor  allem  sind  während  desselben  nicht  die  Gründe 
zu  erkennen  für  das  Maß  der  Stärke,  die  solchen  Völkerbewegungen  innegewohnt 
hat.  Wie  aber  im  Nordland  zuweilen  alte,  weit  landeinwärts  sich  findende 
Schiffspfähle  bezeugen,  daß  hier  einst  Meeresstrand  war,  so  liefert  uns  in  den 
Alpen  heute  oft  der  fremdartige  Klang  der  Ortsnamen  mitten  innerhalb  einer 
anders  sprechenden  Bevölkerung  den  Beweis,  daß  hier  einst  ganz  andere  Völker 
als  die  gegenwärtigen  saßen.  Diese  Namen  werden  so  zu  einem  willkommenen 
Hilfsmittel  für  die  Festlegung  der  Grenzen  der  alten  Bevölkerungszonen,  während 
alles,  was  sonst  noch  aus  schriftlichen  Quellen  und  archäologischen  Funden  zur 
Rekonstruktion  des  alten  Völkerbildes  herangezogen  werden  kann,  im  Vergleich 
hierzu  einen  verschwindend  geringen  Wert  besitzt. 


Die  Alpen  in  der  Geschichte  Europas.  7 

Zunächst  zeigt  das  Auf  und  Ab  der  Völkerbewegungen  in  den  Alpen  ein 
viel  größeres  Zusammenstimmen  mit  den  geographischen  Gebilden  als  in  der 
Ebene;  denn  in  der  Hauptsache  haben  doch  die  Hauptkämme  des  Gebirges  das 
Hinüber-  und  HerüberHießen  der  Völker  von  der  einen  nach  der  anderen 
Richtung  geregelt.  Besonders  an  den  Stellen,  wo  diese  Kämme  nicht  von  den 
Hauptpässen  überschritten  werden,  tritt  die  Erscheinung  ganz  deutlich  zutage, 
daß  sich  hier,  —  und  je  ruhiger  und  politisch  matter  die  Zeiten  waren,  desto 
reinlicher  auch  die  Völkerstämme  geschieden  haben.  Anders  verhält  es  sich 
jedoch  zuweilen  an  den  Hauptübergängen.  Hier  hat  die  überschießende  Kraft 
eines  Volksstammes  oder  die  überlegene  politische  Macht  auf  der  einen  Seite 
des  Kammes  zeitweise  dazu  geführt,  die  Grenzpfähle  ihres  Machtbereiches  auch 
jenseits  der  Übergänge  einzupflanzen.  Bleibende  Dauer  haben  diese  Festsetzungen 
jenseits  jedoch  selten  gehabt;  was  der  eine  Zeitraum  hier  ethnographisch  und 
politisch  gewinnt,  geht  im  nächsten  wieder  verloren.  So  ist  im  Mittelalter  das 
nördliche  Volkstum  in  seinem  Siegeslauf  schließlich  wohl  fast  auf  der  ganzen 
Linie  bis  südwärts  des  Hauptkammes  der  Alpen  herübergedrungen,  während  seit 
dem  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts  eine  der  ersteren  gerade  entgegengesetzte 
Bewegung  von  Süden  aus  wahrzunehmen  ist,  die,  heute  noch  nicht  zur  Ruhe 
gekommen,  ihrerseits  bestrebt  ist,  nach  Norden  vorzurücken;  als  Hauptmoment, 
diese  Bewegungen  zu  moderieren,  dient  eben  der  von  West  nach  Ost  laufende 
Hauptkamm  der  Alpen. 

Ein  anderes,  nicht  bloß  zwischen  Norden  und  Süden,  sondern  ein  an  ver- 
schiedenen Stellen  des  Gebirges  nach  verschiedenen  Himmelsrichtungen  wirkendes 
natürliches  Mittel  der  Trennung  haben  ferner  zu  allen  Zeiten  die  hohen  Berg- 
stöcke, die  höchsten  Gipfel  mit  ihrer  gleichartigen  Umgebung  gebildet.  Wenn 
die  Alpenpässe  für  jede  Art  des  Verkehrs  förderlich  gewesen  sind  und  das  Leben 
an  sich  gezogen  haben,  so  vertreten  jene  über  das  ganze  Gebirge  verteilten 
Riesen  ihrerseits  das  entgegengesetzte  Moment  der  Ruhe;  sie  sind  die  Alpenpässe 
in  der  Negative,  an  denen  seit  Jahrhunderten  unausgesetzt  die  ethnologischen 
und   politischen  Grenzen   der   einzelnen  Teile  des  Alpengebietes  verankert  sind. 

Die  Schnelligkeit,  mit  der  in  der  Ebene  die  einzelnen  sieghaften  Völker 
ihr  Volkstum  ausgebreitet  und  hierauf  die  innerhalb  der  von  ihnen  eingenommenen 
Kreise  noch  zurückgebliebenen  Reste  der  alten  Bewohner  aufgesogen  haben,  ist 
viel  größer  als  diejenige,  mit  der  in  den  Alpen  die  Umformung  der  einzelnen 
Gebiete  in  ethnologischer  Beziehung  vor  sich  gegangen  ist.  Deshalb  haben  auch 
die  einzelnen  Teile  der  verschiedenen  Völkerschaften  in  den  Alpen  ein  zäheres 
Leben  gezeigt  als  anderswo.  Der  einleuchtende  Grund  dafür  ist  auch  hier  die 
Gestaltung  des  nach  allen  Richtungen  hin  in  tausend  Spalten  und  Falten  geteilten 
Gebirges,  das  keinem  Völkersturm  wie  in  der  Ebene  erlaubte,  seine  Wellen  in 
weiter  ungebrochener  Flut  über  sein  Gebiet  hinweg  zu  treiben.  So  konnte  es 
hier  geschehen,  daß  in  den  Winkeln   und   Ecken   oft   ungestört  die   Reste  der 


g  I.  Kapitel. 

alten  Völker  ausdauerten  und  ihre  gesonderte  Entwickelung  nahmen,  während 
wenige  Wegstunden  entfernt  im  Haupttale  längst  die  Sprache  des  zur  Zeit 
herrschenden  Volkes  erschallte.  Es  ist  dieses  die  Ursache  geworden,  weshalb 
auch  heute  noch  das  Völkerbild  der  Alpen  so  ungemein  mannigfaltig  ist,  und 
dies  um  so  mehr,  als  die  Mehrzahl  der  Völker,  die  im  Laufe  der  Geschichte 
den  europäischen  Schauplatz  betraten,  das  Schicksal  auch  am  ehesten  in  den 
Bereich  des  die  Mitte  des  Erdteils  einnehmenden  großen  Gebirges  führen  mußte. 
Hieraus  folgt  aber  ferner,  daß  die  Diagnose  der  Entstehung  der  Völker,  die  heute 
die  Alpen  bedecken,  äußerst  kompliziert  ist,  da  diese  sich  innerhalb  des  gleichen 
Zeitraumes  aus  viel  zahlreicheren  und  verschiedenartigeren  Völkerschichten  auf- 
gebaut haben  als  in  den  Nachbarländern.  Am  zersplittertsten  und  problematischsten 
ist  das  Völkerbild  zurzeit  am  Südabhang  der  Alpen,  weil  einesteils  die  seit  Ende 
des  Mittelalters  von  Süden  aus  aufgetretene  Völkerbewegung  bei  weitem  nicht 
mit  derselben  Stärke  eingesetzt  hat  wie  die  ihr  seit  Anfang  des  Mittelalters  voran- 
gegangene nördliche,  besonders  aber,  weil  auf  der  Südseite  der  Abfall  in  die 
Ebenen  viel  steiler  und  unvermittelter  vor  sich  geht  als  nördlich,  und  so  auf 
dieser  Hälfte  das  Schluchtartige,  das  einer  Nivellierung  der  Bevölkerung  am 
meisten  entgegenwirkt,  am  stärksten  ausgeprägt  ist. 

Die  dritte  Art  des  Verkehrs,  der  über  die  Alpen  gegangen  ist,  ist  die  des 
Handels.  Die  Veränderungen  ethnologischer  und  politischer  Art  sind  schließlich 
durch  die  verschiedenartigsten  geistigen  Mächte  heraufgeführt  worden,  während 
die  Bedeutung  aller  Handelsbeziehungen  für  die  Geschichte  sich  gerade  dadurch 
charakterisiert,  daß  bei  ihrer  Entstehung  alle  tieferen  Impulse  von  vornherein 
ausgeschaltet  werden  müssen,  und  daß  die  Tatsachen,  die  durch  den  Handel 
geschaffen  worden  sind,  zunächst  nur  als  große  Gebilde  erscheinen,  die  zellen- 
artig aus  dem  Willen  vieler  Tausende,  die  alle  nur  ihren  materiellen  Vorteil 
suchten,  zusammengesetzt  sind.  Daher  auch  das  unglaublich  Launenhafte  in  dem 
Werden  und  Vergehen  aller  Handelskonstellationen.  Was  der  einzelne  gekauft 
oder  verkauft  hat,  ist  stets  Privatangelegenheit  gewesen,  über  deren  Gründe 
Rechenschaft  zu  geben  jedem  erspart  ist.  Von  alters  her  war  es  daher  wohl  ein 
dankbares  Thema,  den  Gründen  der  verschiedensten  geschichtlichen  Erscheinungen 
nachzuforschen.  Eine  der  peinlichsten  Arten  der  Geschichtsschreibung  ist  aber 
stets  Handelsgeschichte  gewesen,  und  erst  unseren  Tagen,  in  denen  der  überall 
herrschende  Trieb  nach  Spezialisierung  die  Scheu  vor  der  Schwierigkeit  des 
Unternehmens  überwand,  blieb  es  vorbehalten,  auch  an  eine  Geschichte  des 
Alpenhandels  heranzugehen. 

Auch  in  den  Alpen  ist  das  Werden  und  Vergehen  der  Handelsbeziehungen 
zumeist  die  Begleiterscheinung  politischer  Ereignisse;  entweder  liefern  diese  den 
Ausgangspunkt  und  die  Grundlage  für  das  Aufkommen  der  Handelsbeziehungen, 
oder  die  Tatsache,  daß  da  und  dort  neue  Handelswelten  emporgewachsen  sind, 
zeitigt  wiederum  einzelne  sich  auf  den  ersten  Blick  offenbarende  Begebenheiten, 


Die  Alpen  in  der  Geschichte  Europas.  9 

indem  die  an  dem  Handel  interessierten  Mächte  die  ohne  ihr  Zutun  empor- 
gewachsenen Zustände  auch  politisch  zu  beeinflussen  suchen.  Jedenfalls  bewegt 
sich  da,  wo  der  Handel  hoch  entwickelt  ist,  auch  stets  die  politische  Geschichte 
in  höherem  Schwung,  weil  ein  reiches  Handelsieben  auch  hohe  Kultur  zur  Folge 
haben  muß,  während  es  im  Gegensatz  hierzu  auch  sehr  gut  denkbar  ist,  daß 
selbst  den  größten  geschichtlichen  Ereignissen  jegliche  Beziehung  auf  Handel 
und  Wandel  fehlt.  In  der  Geschichte  der  Alpenländer  bietet  Hannibals  Alpen- 
übergang für  letzteres  ein  Beispiel. 

Noch  selbständiger  steht  die  Entwickelung  der  Handelsbeziehungen  neben 
den  Ereignissen  ethnologischer  Natur;  denn  der  Handel  ist  von  jenen  nur  dann 
beeinflußt  worden,  wenn  sie  wie  die  Völkerwanderung  oder  die  Raubzüge  der 
Sarazenen  eine  gründliche  Zerstörung  mit  sich  brachten,  also  kulturfeindlich  wie 
sie  waren,  auch  den  Handel  wie  alles  andere  vernichteten.  Die  langsamen  und 
lautlosen  Verschiebungen,  die,  nur  an  den  Völkergrenzen  sichtbar,  sich  innerhalb 
des  Rahmens  der  Kulturvölker  vollzogen,  haben  den  Handel  an  sich  dagegen 
weder  gestört  noch  gefördert.  Den  Venezianer  und  Augsburger  Kaufleuten  konnte 
es  ganz  gleichgültig  sein,  ob  die  aus  Venedig  heraufgebrachten  Produkte  des 
Orients  in  Imst  am  Fernpaß  von  Fuhrleuten  bajuvarischen  oder  schwäbischen 
Stammes  übernommen  wurden,  und  es  waren  andere  Gründe  als  solche,  ob  das 
italienische  Volkstum  schon  in  Airolo  oder  erst  in  Chiavenna  begann,  die  bei 
den  Züricher  Kaufleuten  bei  der  Wahl  zwischen  dem  Gotthard  und  dem  Septimer 
als  Handelsstraße  ausschlaggebend  waren. 

Bei  der  Eröffnung  der  einzelnen  Handelsstraßen,  die  über  die  Alpen  führen, 
macht  sich  wiederum  als  ein  wichtiges  Moment  geltend,  daß  das  den  Verkehr 
meisternde  hohe  Gebirge  eben  gerade  in  dem  Herzen  Europas,  wo  alle  Fäden 
zusammenlaufen,  gelagert  ist.  Der  menschliche  Scharfsinn  sah  sich  daher  hier 
vor  die  größten  aber  auch  die  lockendsten  Aufgaben  bei  der  Überwindung  dieser 
Hindernisse  gestellt.  Und  gerade  in  der  Besiegung  solcher  Hindernisse,  in  der 
Auffindung  neuer  Verkehrsstraßen  hat  der  Handel  mit  der  ihm  eigenen  Zähig- 
keit und  Unverdrossenheit  in  der  Geschichte  der  Alpenstraßen  oft  Größeres 
geleistet,  als  die  Bedürfnisse  des  politischen  und  ethnographischen  Verkehrs. 
Es  ist  das  charakteristische  aller  Handelsbeziehungen,  daß  sie  sich  stets  selb- 
ständig und  ohne  irgend  welche  Rücksichten  anderer  Art  zu  nehmen  ihre 
Straßen  gebahnt,  diese  aber  auch  ohne  weiteres  wieder  bei  Seite  geworfen  haben, 
sobald  sie  nicht  mehr  ihren  besonderen  Zwecken  dienten.  Bei  politischen  Be- 
strebungen, den  Handel  in  bestimmte  Bahnen  zu  lenken,  mußte  daher  auch  die 
Größe  der  aufgewendeten  Mittel  zumeist  hinter  dem,  was  wirklich  erreicht 
wurde,  zurückbleiben.  Auch  dieses  kann  ein  Zeichen  sein,  wie  grundverschieden 
voneinander  die  geistigen  und  materiellen  Triebe  der  Menschheit  sind,  die,  von 
verschiedenen  Quellen  ausgehend  und  verschiedenen  Zielen  zustrebend,  selten 
die  gleiche  Bahn  verfolgen. 


jQ  1.  Kapitel. 

Nach  allem  diesen  mag  es  scheinen,  als  ob  die  Ursachen,  die  jede  Art  des 
Verkehrslebens  in  den  Alpen  hervorgerufen  haben,  stets  nur  von  den  Ideen  oder 
Instinkten  ganzer  Staaten,  Völker  oder  Klassen  ihren  Ursprung  genommen  haben 
können,  wie  ja  andererseits  auch  alle  diese  Gebilde  stets  ohne  weiteres  den 
Einfluß  über  sich  ergehen  lassen  mußten,  den  die  ohne  das  Zutun  jener  hervor- 
gerufenen Veränderungen  solcher  Verkehrsbedingungen  mit  sich  brachten.  Man 
könnte  daher  geneigt  sein,  zu  glauben,  daß  der  Wille  des  Einzelnen  bei  diesen 
Vorgängen  ganz  ausgeschaltet  wäre,  und  es  der  Kraft  einer  einzelnen,  kurzlebigen 
Persönlichkeit  versagt  'sei,  auf  diesem  Gebiete  bahnbrechendes  zu  schaffen. 
Aber  gerade  das  Gegenteil  ist  der  Fall.  Bei  näherer  Betrachtung  enthüllt  sich 
in  dem  Auf  und  Ab  aller  dieser  Verkehrsbeziehungen  die  erstaunliche  Er- 
scheinung, daß  es  zu  allen  Zeiten  weniger  das  ungeleitete  Streben  großer 
Massen  als  vielmehr  der  bewußte  Wille  der  einzelnen  großen  Persönlichkeiten 
gewesen  ist,  die  in  dem  Verkehrsbilde  der  Alpen  das  wirklich  Bleibende  ge- 
schaffen haben,  fast,  als  habe  die  Schwierigkeit  der  Aufgabe,  hier  die  Natur 
durch  den  Menschengeist  zu  meistern,  besondere  Anziehung  ausgeübt.  Es  ist  dies 
eine  beachtenswerte  und  zur  Vorsicht  mahnende  Tatsache  für  diejenige  Auf- 
fassung, die  den  Ursprung  aller  historischen  Ereignisse  lediglich  auf  aus  breiten 
Geistesschichten  hervorgehende  Ursachen  zurückführen  will  und  so  die  Macht 
der  Persönlichkeit  und  das  Heldenhafte  in  der  Geschichte  einzudämmen  sucht. 
Es  bleibt  jedenfalls  auch  in  der  Verkehrsgeschichte  der  Alpen  dabei,  daß  es 
stets  eine  Eigentümlichkeit  wirklich  großer  Herrscher  gewesen  ist,  daß  sie  ganz 
besonders  auf  das  Verkehrsleben  ihr  Augenmerk  gerichtet  haben,  was  hier  zu- 
meist in  der  Erbauung  von  Straßen  seinen  Ausdruck  gefunden  hat. 

Unter  den  großen  Männern,  denen  wir  in  der  Verkehrsgeschichte  der 
Alpen  begegnen,  sind  zwei  Arten  zu  unterscheiden,  einmal  solche,  bei  denen 
der  militärische  Gesichtspunkt  vorwiegt,  die  in  den  Alpen  Straßen  bahnten,  um 
über  diese  ihre  Heere  marschieren  zu  lassen.  Die  andere  Art,  die  noch  ge- 
waltigeren, sind  aber  diejenigen,  die  aus  rein  organisatorischen  Gründen  das 
kulturelle  Bild  der  Alpen  umformten  und  hierdurch  grundlegend  für  lange 
Epochen  geworden  sind. 

Zu  den  ersteren  gehört  zunächst  der  Name  des  Mannes,  mit  dem  die 
Alpen  in  die  Kriegsgeschichte  eintreten.  Der  Gedanke  Hannibals,  die  Alpen 
mit  einem  Heere  zu  überschreiten,  war  für  die  damalige  Zeit  eine  der  größten 
genialen  Taten,  und  allein  auf  den  Zauber  dieses  Gedankens,  der  auch  heute 
noch  fortwirkt,  ist  es  zurückzuführen,  wenn  die  gelehrte  Forschung  immer 
wieder  daran  arbeitet,  den  genauen  Weg  zu  bestimmen,  den  Hannibal  damals 
eingeschlagen  hat.  Eine  gleiche  Kühnheit  des  Gedankens,  wenn  auch  nicht  der 
Tat,  zeigt  sich  dann  auch  bei  dem  Mazedonierkönige  Philipp,  der  von  Osten 
her  auf  dem  Landwege  in  Italien  einzudringen  suchte.  Es  ist  wie  ein  Nach- 
wehen  des   geistigen    Erbes   Alexanders    des    Großen,    dieses   weitausgreifende 


Die  Alpen  in  der  Geschichte  Europas.  11 

militärische  Projekt  der  damaligen  östlichen  Großmacht,  eine  Idee,  die  am  Ende, 
des  Altertums  als  die  militärische  Lage  die  gleiche  war,  der  Feldherr  Justinians, 
Narses,  mit  Geschick  und  Glück  aufgenommen  hat.  Zu  Ende  des  Römerreichs 
waren  es  gerade  die  tüchtigsten  römischen  Kaiser,  die  in  den  Alpen  unermüdlich 
Militärstraßen  bauten,  und  bei  Napoleon  I,  hat  es,  entsprechend  dem  Überwiegen 
der  Feldherreigenschaften  in  seinem  ganzen  Wesen,  fast  den  Anschein,  als  ob 
für  diesen  das  ganze  Alpengebiet  lediglich  um  der  dasselbe  überziehenden  Militär- 
straßen willen  vorhanden  gewesen  wäre.  Zu  dem  kräftigen  Abenteurertrieb  des 
Kurfürsten  Moritz  von  Sachsen  paßte  ganz  gut  die  fröhliche  Kriegstat,  die  der 
Einbruch  seines  Heeres  in  das  Alpenland  bedeutete  und  die  für  die  kriegerisch 
mattlebige  Zeit  von  damals  ein  unerhörtes  Ereignis  war.  In  der  neueren  Zeit 
haben  Richelieu,  Prinz  Eugen  und  Suwarow,  selbst  Metternich,  doppelte  Energie 
eingesetzt,  wenn  es  sich  um  Einflußnahme  auf  die  Alpenlinien  handelte,  und  es 
ist  kein  Zufall,  daß  Turin  und  Mantua,  die  Herzkammern  der  von  dem  west- 
lichen bezl.  östlichen  Flügel  der  Alpen  herablaufenden  Linien  eine  Reihe 
der  größten  Feldherren  aller  Zeiten  in  ihren  Mauern  gesehen  haben. 

Dagegen  sind  es  nur  wenige  aber  zu  den  größten  Erscheinungen  der  Ge- 
schichte gehörende  Männer,  die  mit  Willen  und  Wissen  erfolgreich  in  die  kultu- 
rellen Verhältnisse  des  Alpengebietes  eingegriffen  haben.  Schöpfungen  von  Dauer 
sind  in  diesen  Gebirgsgebieten  schon  an  sich  schwerer  zu  schaffen,  da  allein 
schon  die  viel  gestaltete  Oberfläche  dieses  Bereiches  mit  ihren  Winkeln  und  Dämmen, 
den  unregelmäßig  laufenden  Flüssen  und  den  in  ungleicher  Weise  bewohnbaren 
Flächen  einer  gleichartigen  und  durchgreifenden  Behandlung  viel  mehr  Wider- 
stand als  jedes  andere  Land  entgegensetzt.  Haben  die  Einrichtungen  hier  aber 
einmal  lebensfähige  Wurzeln  geschlagen,  so  zeigen  sie  sich  dann  auch  widerstands- 
fähiger und  standhafter  als  anderswo,  so  daß  es  also  in  jedem  Falle  eine  große 
Leistung  bedeuten  muß,  in  den  Alpen  etwas  von  geschichtlicher  Dauer  geschaffen 
zu  haben.  Deshalb  findet  sich  zunächst  auch  in  der  Geschichte  der  Alpenländer 
ganz  deutlich  die  entgegengesetzte  Erscheinung,  daß  mittelmäßige  Zeiten  und 
mittelmäßige  Herrscher  in  dem  Gefühl  dieser  Schwierigkeit  es  von  vornherein 
aufgegeben  haben,  hier  Bleibendes  zu  schaffen,  ebenso  wie  Maßregeln,  die  von 
keiner  tieferen  politischen  Idee  getragen  in  das  Werk  gesetzt  oder  nicht  mit  der 
nötigen  Energie  festgehalten  wurden,  gerade  hier  das  kürzeste  Leben  fristeten. 
Ein  noch  vor  aller  Augen  liegendes  Beispiel  dieser  Art  bietet  die  versuchte 
Annexion  Tirols  durch  Bayern  zur  Zeit  Napoleons  I.  Als  Napoleon  dieses  Ge- 
biet an  Bayern  gab,  schwebte  ihm  bei  dieser  Maßregel  allerdings  der  scharf- 
sinnige Gedanke  vor  Augen,  die  ihm  feindliche  Hauptmacht  Österreich  hierdurch 
einer  ihrer  besten  durchgehenden  Alpenlinien  zu  berauben;  die  Regierung  aber, 
durch  die  jene  grundlegende  Änderung  zur  praktischen  Wirklichkeit  ausgebaut 
werden  sollte,  zeigte  sich  der  Durchführung  dieses  Werkes  nicht  gewachsen. 
Trotz  aller  Geschicklichkeit  Montgelas,  deren  Erfolge  heute  in  der  Ebene  in  der 


J2  !•  Kapitel. 

Gestalt  eines  großen  bayrischen  Königreichs  vor  Augen  liegen,  hätte  doch  gerade 
hier  eine  größere  Staatskunst  dazu  gehört,  um  die  Ketten,  die  Tirol  seit  Jahr- 
hunderten an  die  beherrschende  östliche  Zentrale  banden,  so  umzuschmieden, 
daß  sie  zur  Befestigung  dieses  Landes  an  den  Norden  tauglich  geworden  wären. 

So  kann  es  also  schon  als  ein  Zeichen  eines  klaren  und  kühnen  Blickes 
gelten,  wenn  ein  Herrscher  sich  überhaupt  daran  gewagt  hat,  die  Alpen  seiner 
Staatskunst  dienstbar  zu  machen,  selbst  wenn  dieses  Bestreben  nicht  von  Erfolg 
begleitet  war.  Ein  Beispiel  hierfür  liefert  Friedrich  II.  der  Hohenstaufe.  War 
es  überhaupt  in  der  zweiten  Hälfte  des  Mittelalters  für  einen  Herrscher  —  und 
wäre  er  selbst  der  kraftvollste  gewesen  —  schwierig,  weithin  und  folgenreich 
durchzugreifen,  so  ist  es  um  so  auffallender,  wenn  wir  jenen  Fürsten  auf  dem 
Höhepunkte  seiner  Kraft,  bevor  sein  letzter  verhängnisvoller  Tanz  mit  dem 
Papsttum  begann,  weit  entfernt  von  Italien  aus  nach  dem  Besitz  von  Wien  und 
nach  dem  des  Gotthard- Überganges  die  Hand  ausstrecken  sehen.  Diese  Tat- 
sache kann  uns  aber  deshalb  um  so  mehr  zu  denken  geben,  als  gerade  damals, 
der  Mitwelt  freilich  unerkannt,  diese  beiden  Punkte  diejenigen  waren,  denen 
innerhalb  des  Alpengebietes  die  größte  Zukunft  beschieden  war.  Auch  die  Rolle, 
die  der  geistesverwandte  Vorgänger  dieses  Hohenstaufen,  der  große  Theodorich, 
in  seiner  fein  ausgearbeiteten  Politik  den  Alpen  zugewiesen  hat,  zeigt  einen  ähn- 
lichen weiten  Gesichtspunkt.  Für  Theodorich  lag  die  anerkannte  Nordgrenze 
des  Südlandes,  dem  nach  seiner  Auffassung  in  der  Gesellschaft  der  anderen 
Länder  Europas  der  erste  Platz  gebührte,  theoretisch  und  praktisch  in  dem  mit- 
telsten Kamme  der  Alpen,  eine  Konstellation,  die  noch  heute  den  italienischen 
Patrioten  als  Ideal  vorleuchten  kann  und  die  seitdem  nie  wieder  in  solcher  Klar- 
heit hervorgetreten  ist. 

Haben  jedoch  auch  diese  Bestrebungen,  gleich  wie  die  vielen  anderen  nur 
aus  dumpfen  Trieben  hervorgegangenen  Maßregeln,  nur  ein  kurzes  Leben  gezeigt, 
so  sind  es  trotzdem  ganz  bestimmte  mächtige  Persönlichkeiten  gewesen,  die  dem 
kulturellen  Bild  der  Alpen  derart  ihren  Charakter  aufgeprägt  haben,  daß  es  nun 
Jahrhunderte  lang  festlag,  um  schließlich,  erst  nachdem  dieser  Zustand  durch 
die  Summe  vieler  allmählich  eingetretener  Umbildungen  für  eine  Veränderung 
reif  geworden  ist,  einer  anderen  großen  Persönlichkeit  von  Neuem  Gelegenheit  zu 
geben,  bestimmend  und  ordnend  in  dieses  zähe  Naturgebilde  einzugreifen.  Für  das 
Altertum  hat  einzig  und  allein  Augustus  die  Verhältnisse  der  Alpen  geordnet; 
wie  dieser  hier  alles  festgefügt  hatte,  so  war  und  so  blieb  es  in  seinen  Grund- 
zügen bestehen,  bis  schließlich  die  unaufhörlichen  Wellen  der  Völkerwanderung 
wie  alles  andere  der  alten  Welt  auch  diese  Ordnung  vernichteten.  Der  nächste 
dieser  Großen,  dessen  Spuren  in  der  Gestaltung  des  Völker-  und  Staatenbildes 
der  Alpen  auch  heute  noch  zu  erkennen  sind,  ist  Karl  der  Große.  Wie  die 
Römer  sich  einst  für  die  eigentliche  Kultur  ein  unvergängliches  Verdienst  durch 
die  Schwächung  der  germanischen  Völkerwanderung,  um  derenwillen  allein  von 


Die  Alpen  in  der  Geschichte  Europas.  13 

ihnen  die  Eroberung  der  Alpenländer  in  das  Werk  gesetzt  wurde,  erworben 
haben,  so  nahm  Karl  der  Große  während  der  zweiten  Hälfte  seiner  Regierung 
in  der  Osthälfte  der  Alpen  eine  ähnliche  Arbeit  auf  sich,  indem  er  die  slavische 
Völkerwanderung  vor  Mitteleuropa  zum  Stehen  brachte.  Erst  seit  Karl  dem 
Großen  werden  die  Ostalpenländer  wieder  zu  staatlichen  Gebilden,  geschaffen 
zu  der  Aufgabe  des  Kampfes  gegen  die  Slaven,  aber  eben  deshalb  von  selb- 
ständigem Leben;  seit  dieser  Zeit  ist  es  Regel  geblieben,  daß  die  Ostalpenländer 
als  eine  Gruppe  für  sich  mit  selbständiger  Bestimmung  und  eigenen  Zielen  er- 
scheinen. 

Das  letzte,  das  in  der  Geschichte  der  Alpen  wirklich  Epoche  gemacht  hat, 
ist  die  Entwicklung  Helvetiens  zu  einem  selbständigen  Staatswesen  gewesen,  das, 
so  klein  es  sich  auch  neben  seinen  starken  Nachbarn  ausnimmt,  sich  doch  seit 
seinem  Entstehen  an  wirklicher  Lebenskraft  zunächst  nicht  geringer  als  diese 
selbst  gezeigt  hat.  Daß  dieses  selbständige  Dasein  der  Schweiz  anfangs  etwas 
ganz  Neues  und  Unerhörtes  war,  erhellt  schon  daraus,  daß  die  Schweizer  sich 
vorher,  ähnlich  wie  später  Deutschland  unter  den  Hohenzollern,  nach  drei  Seiten 
hin  mit  ihren  Nachbarn  blutig  und  gründlich  über  dasselbe  auseinandersetzen 
mußten.  Wo  aber  solche  starke  Wehen  in  der  Staatengeschichte  vor  sich  gehen, 
ist  dieses  stets  ein  Zeichen  davon,  daß  hier  nicht  bloß  etwas  Neues  sondern 
auch  ein  solches  von  langer  Dauer  und  Kraft  entstehen  will,  und  die  rechte  Sage 
vom  Teil  hat  das,  was  dem  historischen  Gefühl  bei  den  Befreiungskämpfen  der 
Schweizer  das  Wertvollste  ist,  nicht  entstellt,  sondern  nur  klarer  abgezogen  be- 
wahrt. Aus  dem  geTälligen,  phantastisch  buntem  Mantel  dieser  Sage  scheint  es 
wie  die  Umrisse  einer  wirklichen  Gestalt  hindurch;  denn  es  ist  tatsächlich  häu- 
figer der  Fall  gewesen,  daß  solche  gewaltige,  zukunftsreiche  Ereignisse  wie  die 
Entstehung  der  Schweiz  als  Staat  es  gewesen  ist,  von  einem  Einzelnen,  und 
nicht  von  einer  Mehrheit  in  das  Leben  gerufen  worden  sind. 


II.  Kapitel. 

Die  Römer  der  Republik  und  die  Alpen. 


Es  liegt  zunächst  an  dem  ganzen  Zug  der  Geschichte,  die  von  Osten  aus 
über  Meer  und  ebenes  Land  nach  Europa  gewandert  ist,  daß  die  Alpen  uns 
später  als  Griechenland  und  Italien  bekannt  werden  mußten.  Aber  auch  dann, 
als  schon  die  in  Rom  geführte  Stadt-  und  Reichspolitik  den  Herzschlag  der 
ganzen  Welt  bezeichnete,  blieb  gerade  diejenige  Seite,  nach  der  die  Alpen  liegen, 
die  ausgesprochene  Nordseite  alles  Lebens.  Nach  allen  vier  Himmelsrichtungen 
sehen  wir  von  Rom  aus  die  republikanische  Regierung  die  Fäden  auswerfen  und 
wieder  dahin  zurückziehen,  aber  der  Norden  war  für  sie  dabei  stets,  etwa  ebenso 
wie  für  die  Jetztzeit  Skandinavien  und  die  Ostseeprovinzen,  die  gleichgültigste 
und  am  wenigsten  beachtenswerte  Front.  Tritt  freilich  der  Fall  ein,  daß  die 
Ereignisse  sich  trotzdem  wider  Erwarten  und  gegen  die  Verabredung  im  Norden 
entladen,  so  macht  sich  dann  auch  der  Schwung,  der  großen  Ereignissen  inne- 
wohnt, desto  gewaltiger  fühlbar.  Es  ist  ein  Zeichen,  wie  sehr  Hannibal  und 
Cäsar  die  Bahnen  des  Gewohnten  verließen  und  wie  viel  weiter  der  Gesichts- 
kreis jener  Männer  im  Vergleich  zu  dem  ihrer  Mitwelt  war,  daß  sie  die  von 
ihnen  hervorgerufenen  Ereignisse  nach  dem  Norden  zu  legen  wußten. 

Erscheint  somit  schon  an  sich  infolge  des  ganzen  Zuges  der  römischen 
Geschichte  derjenige  Teil  der  bewegten  Welt,  in  dem  die  Alpen  liegen,  anfangs 
abgelegen  und  daher  auch  das  Wesen  des  Gebirges  selbst  in  Dunkel  gehüllt,  so 
kommt  noch  ein  weiterer,  aus  dem  Charakter  des  römischen  Volkes  —  der  da- 
mals allerdings  für  alle  Verhältnisse  allein  bestimmend  war  —  herrührender 
Grund  hinzu,  um  die  Kenntnis  der  Alpen  während  des  Altertums  zu  trüben 
und  hintanzuhalten.  Tatsächlich  kann  sich  das  Alpenland  rühmen,  im  römischen 
Altertum  eine  ganz  merkwürdige,  einzig  dastehende  Eigenschaft  entwickelt  zu 
haben.  Trotz  aller  aus  der  ganzen  Weltlage  sich  ergebenden  Passivität,  mit  der 
die  Römer  anfangs  mit  gutem  Grund  den  Nordländern  gegenüberstehen  konnten. 


Die  Römer  der  Republik  und  die  Alpen.  15 

zeigt  der  Gang  der  Ereignisse  außerdem,  daß  sie  nach  keinem  anderen  Fleck 
der  Erde  mit  einem  solchen  Widerwillen,  einer  derartigen  SchwerFdlligkeit  und 
Furcht  ihre  sieggewohnten  Hände  ausgestreckt  haben,  wie  nach  dem  eigentlichen 
Alpengebiet.  Es  gibt  aber  auch  hierfür  eine  ausreichende  Erklärung.  Die  Natur 
des  wald-  und  wasserreichen  Hochgebirges  bringt  es  mit  sich,  daß  sich  in  ihm 
alle  natürlichen  Verhältnisse  anders  darstellen  als  anderswo,  und  daß  deshalb 
auch  hier  die  Regeln  des  Krieges  und  des  Verkehrs  viel  schwierigere  und  ganz 
besondere  sind.  Hier  sah  der  Römer  mit  Staunen,  wie  sein  System,  zu  kämpfen 
und  zu  organisieren,  dem  er  bereits  die  Eroberung  der  halben  Welt  verdankte, 
plötzlich  versagte  oder  wenigstens  besonders  angewendet  sein  wollte  und  schon 
damals  „erlebten  die  gelernten  Taktiker  in  den  Alpen  nicht  viel  Glück" ').  Die 
Erinnerung  an  diese  Erfahrung  und  das  Bewußtsein,  daß  die  Alpen  der  römischen 
Kriegskunst  härtere  Aufgaben  stellten,  hat  die  Römer  selbst  niemals  ganz  ver- 
lassen; der  Ausdruck  des  Livius  „foeditas  Alpium:  die  abscheulichen  Alpen" 
bezeichnet  diese  Anschauung  zur  Genüge,  und  das  Vorwalten  derselben  muß 
bei  allem,  was  die  Römer  in  den  Alpen  gewirkt  haben,  von  vornherein  an- 
genommen werden. 

Auch  in  den  Maßnahmen  der  ersten  römischen  Heerführer,  die  mit  den 
Alpen  in  Berührung  kamen,  spiegelt  sich  dieses  Verhältnis  wieder.  Als  113  vor 
Ch.  die  Cimbern  an  den  Krainer-  und  dann  an  den  Südtiroler  Alpenpässen  er- 
schienen, haben  die  römischen  Konsuln  ihre  guten  Gründe,  mit  der  Erprobung 
ihrer  Kriegskunst  innerhalb  des  Gebirges  gegenüber  dem  Feinde  zunächst  zurück- 
zuhalten, und  Pompejus,  der  in  dem  Verständnis  der  hauptstädtischen  Stimmung, 
aber  bloß  darin,  Cäsar  überlegen  war,  wußte  ganz  genau,  als  er  die  Herstellung 
eines  wirklichen  Weges  durch  das  Gebirge  als  sein  Werk  hinstellte,  daß  dies 
eine  gute  Reklame  war  und  als  eine  bis  dahin  unerreichte  Leistung  in  den  Augen 
seiner  Mitstädter  gelten  konnte.  Anders,  korrekter  und  klüger  aber  ebenso 
bezeichnend  für  die  Scheu,  mit  der  die  Alpen  betrachtet  wurden,  ist  in  dieser 
Beziehung  das  Verhalten  seines  größeren  Rivalen,  Cäsars.  Auch  diesem  drängte 
sich  bei  seiner  Tätigkeit  jenseits  der  Alpen  sehr  bald  das  unabwcisliche  Be- 
dürfnis auf,  eine  sichere  und  rasch  funktionierende  Verbindung  über  das  Ge- 
birge herzustellen.  Cäsar  übernimmt  aber  das  im  Gelingen  von  vornherein 
etwas  zweifelhafte  Unternehmen  nicht  selbst,  sondern  schiebt  es  auf  einen  seiner 
Legaten  ab.  Als  dieser  schließlich  am  Großen  Sankt  Bernhard  (Caes.  Bell. 
Gall.  IM.  cap  1—6)  weder  Glück  noch  Unglück,  sicher  aber  keinen  Erfolg  ge- 
habt hat,  begnügt  sich  Cäsar  mit  einer  der  Schwierigkeit  des  Unternehmens  ent- 
sprechenden milden  Kritik,  hütet  sich  aber  wohlweislich,  später  in  eigener 
Person  wieder  auf  einen  derartigen  Versuch  zurückzukommen. 

Aber  auch  zu  den  Zeiten,  als  die  Alpenländer  schon  römische  Provinz  ge- 
worden sind  und  die  Legionen  ständig  am  Rhein  und  an  der  Donau  lagerten, 
haftete  demjenigen  römischen  Reiseverkehr,  der  nur  Sicherheit  und  Bequemlich- 


IQ  II.  Kapitel. 

keit  zu  berücksichtigen  hatte,  immer  noch  das  Bestreben  an,  die  Schwierig- 
keiten des  Gebirges  lieber  zu  umgehen,  als  ihnen  erfolgreich  auf  den  Leib  zu 
rücken.  Der  von  Augustus  in  das  Werk  gesetzte  Bau  von  Alpenstraßen  zeigte 
seine  verkehrsfördernde  Wirkung  am  frühesten  gerade  außerhalb  des  Gebirges 
an  der  ligurischen  Küstenstraße,  wo  noch  zu  Augustus  Lebzeiten  der  Hafen  des 
Hauptortes  dieser  Strecke,  Forum  Julii-Frejus,  erweitert  werden  mußte,  und  im 
Osten  blieb  bis  auf  Septimius  Severus  die  von  Aquileja  über  Celeja  und  Poe- 
tovio  laufende  Heerstraße,  die,  um  das  Gebirge  selbst  nicht  betreten  zu  müssen, 
außerhalb  um  das  Alpengebiet  herum  einen  weiten  Bogen  bis  Carnuntum  be- 
schrieb, die  Hauptrinne,  von  der  aus  sich  der  römische  Verkehr  nach  der 
Donau  und  in  die  Ostalpenländer  selbst  hinein  ergoß.  Aber  auch  innerhalb  des 
römischen  Wegenetzes  der  Alpen  selbst  zeigt  sich  ausgenommen  bei  den  Straßen- 
bauten, die  aus  rein  militärischen  Gründen  angelegt  wurden,  dieselbe  Scheu  vor 
dem  Eindringen  in  die  höchsten  Berge.  Den  von  Süden  kommenden  römischen 
Ingenieur  lockte  das  bequeme  Etschtal  zunächst  von  Bozen  aus  nördlich  nach 
Meran  anstatt  nach  Klaußen  am  Eisak;  und  in  die  eigentliche  Hochschweiz,  wo 
sich  im  Gebiete  des  Berner  Oberlandes  und  der  östlich  sich  anschließenden 
Urkantone  die  Gebirgswelt  zur  größten  Mannigfaltigkeit  und  Höhe  erhebt,  ist 
kaum  jemals  der  Fuß  eines  Römers  gedrungen.  Die  Römer  umgingen  dieses 
Gebiet  mit  ihren  Straßen  geflissentlich  östlich  und  westlich,  um  diese  dann  nörd- 
lich bei  Vindonissa  wieder  zusammenzuschließen  und  erst  von  dort  aus  ihre 
Herrschaftsgebiete  zu  organisieren.  Nach  einer  alten  Sage  soll  der  aus  der  Ur- 
sprungsgeschichte des  Christentums  genugsam  bekannte  Landpfleger  Pontius 
Pilatus,  von  Tiberius  nach  Gallien  verbannt  und  dort  von  Gewissensbissen  ver- 
folgt, sich  in  dem  See  des  Pilatus-Berges  ertränkt  haben.  Auch  aus  dieser  alten 
Kunde  hallt,  wenn  auch  dumpf  und  trüb,  eine  geschichtliche  Wahrheit  herüber: 
Unter  Tiberius  gehörte  die  Urschweiz  tatsächlich  politisch  zu  Gallien  und  der 
echte  Römer  verband  mit  der  Vorstellung  der  hohen  Alpenberge  nur  das  Gefühl 
verzweifelter  Verlassenheit  und  unendlichen  Grausens. 

Schwere  und  heiße  Kämpfe  sind  es  gewesen,  die  von  den  Römern,  lange 
bevor  sie  das  Gebirge  selbst  betraten,  in  der  Nähe  der  Alpen  geführt  worden 
sind.  Dem  Zeitpunkt  aber,  an  dem  die  römische  Herrschaft  schließlich  an  dem 
Fuße  der  Alpen  anlangte,  sind  zwei  Perioden  vorausgegangen,  beide  angefüllt 
mit  der  Vernichtung  und  Zermalmung  einer  fremden  Nationalität  durch  das 
lateinische  Volkstum  und  begleitet  von  all'  der  Anspannung  und  Erbitterung,  die 
bei  dem  Ringen  solcher  durch  geistige  Mächte  zusammengehaltener  Gebilde  not- 
wendig eintreten  muß.  Die  erste  Etappe  dieser  Kämpfe  fand  ihren  Abschluß 
mit  der  Besiegung  der  Etrusker  in  Mittelitalien,  die  zweite  mit  derjenigen  der 
oberitalienischen  Kelten,  das  Hinterland  dieser  beiden  Völker  reichte  nördlich 
weit  über  Italien  hinaus  und  auch  in  der  ersten  Geschichte  der  Alpen  müssen 
wir  somit   deren  Spuren  begegnen,   da   eben  dieses  Gebirge  ein  Hauptteil  jenes 


Die  Römer  der  Republik  und  die  Alpen.  17 

Hinterlandes  war,  das  den  Volksgenossen  Vorn  in  der  Front  immer  wieder  fri- 
sche Kräfte  zuführte. 

Wenn  wir  uns  nun  aber  nach  dem  Zeitpunict  umsehen,  an  dem  die  Römer 
tatsächlich  zum  ersten  Male  kriegerisch  und  politisch  an  die  Alpen  selbst  heran- 
getreten sind,  so  ist  als  solcher  die  im  Jahre  222  vor  Ch.  erfolgte  Eroberung 
von  Como  zu  betrachten.  Die  große  Entscheidung  über  den  Nationalkampf 
zwischen  Römern  und  Kelten  hatte  vorher  die  Schlacht  bei  Telamon  gebracht, 
und  unmittelbar  auf  diese  folgten  ihre  Konsequenzen,  die  Unterwerfung  des 
oberitalienischen  Keltenlandes,  in  die  Erscheinung  tretend  durch  die  Eroberung 
der  beiden  wichtigsten  Keltenstädte  daselbst,  von  Mailand  und  Como.  Es  ist  für 
uns  von  ganz  besonderem  Interesse,  daß  für  die  Römer  schon  damals  zu  einer 
wirklichen  Eroberung  von  Norditalien  gerade  Como  notwendig  war;  denn  wer 
einmal  unbestrittener  Herr  an  diesem  Flecken  ist,  der  hat  auch,  wenn  er  will, 
in  den  Alpen  mitzureden.  So  ist  es  heute  noch,  und  so  war  es  auch  damals 
nicht  anders.  Auch  damals  schon  war  mit  dem  Besitze  Comos  das  Machtmittel 
verbunden,  die  Eingänge  nach  Italien  von  den  Mittelalpen  her  zu  schließen. 
Allein  dies,  aber  nicht  auch  bereits  ein  Heraustreten  aus  diesem  Tor  in  das 
Gebirge  selbst  hinein,  hatten  die  Römer  damals  mit  der  Eroberung  Comos  in 
Absicht,  aber  mit  diesem  Zeitpunkt  war  es  vorbildlich  doch  zum  erstenmal 
erreicht,  daß  die  politischen  Grenzen  Italiens  mit  den  natürlichen  zusammen- 
fielen. Die  Ereignisse  des  zweiten  punischen  Krieges  haben,  als  Hannibal  auf 
dieser  Angriffsfront  erschien,  dann  diesen  ganzen  Bau  noch  einmal  in  Frage 
gestellt.  Nach  Hannibals  Besiegung  kehrte  jedoch  auch  hier  wiederum  alles, 
freilich  nochmals  unter  reichlicher  Anwendung  von  Blut  und  Eisen,  definitiv  in 
den  Zustand,  wie  er  sich  schon  vorher  ergeben  hatte,  zurück. 

Das  wirkliche  Verhältnis,  zu  dem  die  Römer  nunmehr  zu  den  Alpenländern 
standen,  wird  aber  dadurch  doch  noch  nicht  genügend  gekennzeichnet,  daß  die 
Grenze  der  römischen  Provinz  jetzt  tatsächlich  bis  an  die  Berge  reichte;  denn 
in  Wirklichkeit  und  für  die  militärische  Praxis  hatte  die  Republik  eine  ganz 
andere  Auffassung  von  der  Beschaffenheit  ihrer  Nordgrenze  als  wie  diese  äußerlich 
festgelegt  war.  Von  den  von  der  Natur  geschaffenen  Linien  genügen  überhaupt 
die  durch  Flüsse  gebildeten  Grenzen  am  allermeisten  den  Ansprüchen,  die  an 
brauchbare  Grenzlinien  gestellt  werden,  und  auch  die  Römer  haben  von  dem 
System  der  Flußgrenzen  einen  um  so  größeren  Gebrauch  gemacht,  als  gerade 
der  Lauf  großer  Flüsse,  mehr  als  Gebirge  und  Wälder,  ihrem  Bestreben,  die 
Grenzen  ihres  Reiches  zu  wirklichen  Trennungsmitteln,  zu  vollständigen  Ab- 
sperrungslinien zu  gestalten,  am  meisten  entgegenkam.  Eine  solche  von  der 
Natur  geschenkte  Grenze  war  für  sie  aber  der  Norditalien  in  seiner  ganzen 
Länge  durchquerende  Lauf  des  Po,  dieser  diente  ihnen  zur  strategischen  Barriere, 
aus  deren  Mitte  die  beiden  großen  Uferfestungen,  Placentia  und  Cremona,  als 
Ausfallstore   herausragten    und    nach   denen   hin  —  nicht  schon  nach  Mailand  — 

Scbeffel,   Verkchrsgescbkhte  der  Alpen.     I.  Bind.  2 


jg  II.  Kapitel. 

deshalb  hier  zunächst  auch  alle  oberitalienischen  Verbindungen  hinstrebten.  Das 
Land  nördlich  des  Po  bis  zum  Rande  der  Alpen  erscheint  dagegen  nur  als  ein 
Vorglacis  dieser  Stellung.  In  der  Pogrenze  mit  ihren  Festungen  ist  der  eigentliche 
Abschluß  für  das  römische  Vordringen  nach  Norden  in  republikanischer  Zeit 
zu  sehen,  und  so  wie  die  Situation  schon  vor  Beginn  des  zweiten  punischen 
Krieges  in  ihren  Grundzügen  vollendet  dastand,  ist  sie  auch  in  den  folgenden 
beiden  Jahrhunderten  unverändert  geblieben,  bis  schließlich  erst  Augustus  die 
Grenze  wieder  ein  gewaltiges  Stück  weiter  nach  Norden  legte  und  sie  über  die 
Alpen  hinweg  nach  dem  Oberrhein  und  an  die  Donau  hinaufschob.  So  sehr  wiegt 
also  bei  den  Römern  die  Vorstellung  von  der  Trefflichkeit  der  Flußgrenzen  vor, 
daß  diesen  in  ihren  kräftigen  Zeiten  nie  der  Gedanke  gekommen  ist,  den 
Alpenkamm  selbst  als  Grenze  zu  verwerten. 

Zurückgenommen  und  eingezogenerscheint  daher  die  Grenze  der  römischen 
Republik  an  der  nördlichen  Stirnseite  Italiens.  Wenn  die  Römer  hier  aus  ihrem 
natürlichen  Wall  freiwillig  heraustraten,  so  geschah  dieses  nur,  um  den  kleinen 
Krieg  mit  den  Bewohnern  der  Alpen  zu  führen,  nicht  aber  um  in  den  Alpen 
selbst  Fuß  zu  fassen,  und  nur  an  zwei  Stellen  haben  hier  die  römischen  Maß- 
nahmen den  Keim  des  Fortschritts  in  sich  gehabt.  Es  ist  dies  bezeichnender 
Weise  an  dem  äußersten  West-  und  äußersten  Ostende  des  Gebirges  der  Fall, 
wo  die  niedriger  gewordenen  Höhenzüge  sich  der  Meeresküste  nähern  und  so 
dem  herrschenden  Volke  ein  Fortschreiten  und  Ausgreifen  nach  diesen  Richtungen 
hin  erleichterten.  An  der  westlichen  Seite  zunächst  konnte  es  nicht  anders  kommen, 
als  daß  dort  die  Provinz  Narbo  entstand.  Wie  später  im  neunzehnten  Jahrhundert, 
zu  der  Zeit  als  das  Königreich  Hannover  durch  seine  Lage  die  beiden  Hälften 
Preußens  auseinanderhielt,  es  eine  geschichtliche  Notwendigkeit  war,  daß  nur 
einem  dieser  beiden  politischen  Gebilde  eine  längere,  selbständige  Dauer  zufallen 
konnte,  so  mußte  auch  damals  Südfrankreich  als  Mittelglied  zwischen  dem  Stamm- 
land Italien  und  dem  römisch  gewordenen  Spanien  folgerichtig  der  römischen 
Herrschaft  verfallen.  Die  im  Jahre  121  vor  Gh.  erfolgte  Einrichtung  der  Provinz 
Narbo  hatte  damals  nicht  ihren  Zweck  in  sich  selbst,  sondern  diente  nur  der 
endgültigen  Regulierung  des  Weges  zwischen  Norditalien  und  Spanien;  die 
daselbst  getroffenen  Einrichtungen  aber  erscheinen  sogleich  nach  ihrer  Entstehung 
als  fest  gegründet  und  sicher  funktionierend,  weil  an  diesen  Strichen  die  alten 
Kolonisten  mit  ihrer  aus  dem  Osten  herübergebrachten  hohen  Kultur  überhaupt, 
und  nicht  zum  mindesten  auch  im  Bau  der  ligurischen  Küstenstraße  selbst  gut 
vorgearbeitet  hatten. 

Nicht  so  einfach  wie  im  Westen  lagen  jedoch  die  Verhältnisse  am  Ostende 
der  Alpen.  Dort  fehlte  gänzlich  die  Möglichkeit  an  Vorhandenes  anzuknüpfen. 
Wir  können  aber  deshalb  gerade  an  dieser  Seite  die  römische  Reichspolitik  wie 
in  einer  Werkstatt  beobachten.  Das  Vakuum,  das  sich  nach  römischer  Ansicht 
unbegrenzt  im  Nordosten  ausbreitete,  füllte  sich  zu  Beginn  des  zweiten  vorchrist- 


Die  Römer  der  Republik  und  die  Alpen.  19 

liehen  Jahrhunderts  —  eine  Vorahnung  auf  spätere  Zeiten  —  plötzlich  mit  unge- 
betenen Gestalten,  als  der  mazedonische  Angriff  hier  drohte  und  die  keltische 
Völkerwanderung  ihre  letzten  Wellen  über  die  karnischen  Alpen  nach  Venetien 
hinübersandte.  So  erfolgte  hier  im  Jahre  181  vor  Ch.  die  Gründung  der  Fe- 
stung Aquileja,  weit  entfernt  von  den  Machtmitteln  des  Innenlandes,  aber  mathe- 
matisch genau  an  dem  besten  Posten,  den  ein  Organisator  damals  zum  Vorteil 
Italiens  an  dessen  Nordostseite  als  Angriffs-  und  Verteidigungspunkt  hätte  aus- 
findig machen  können.  Wie  später  bei  den  Russen  St.  Petersburg  und  Port  Arthur 
sollte  auch  dieser  Platz,  dessen  rückwärtige  Verbindungen  erst  ein  halbes  Jahr- 
hundert später  ausgebaut  wurden,  für  die  Römer  nach  rückwärts  und  vorwärts 
erobernd  wirken.  Es  war  eine  spekulative  Gründung  bester  Art,  die  selbst  wenn 
sie  mißlang,  trotzdem  die  Lage,  von  der  ausgegangen  worden  war,  wenig  schä- 
digte, wenn  sie  aber  gelang  auf  Jahrhunderte  hinaus  Zinsen  trug.  Daß  aber  die 
Gründung  Aquilejas  eine  gelungene  Spekulation  gewesen  ist,  beweist,  daß  dieser 
Ort,  solange  die  Welt  nach  römischem  Rezept  regiert  wurde,  stets  eine  Groß- 
stadt geblieben  ist,  und  nichts  bezeichnet  mehr  die  Kulturfeindlichkeit  der  Völker- 
wanderung als  wenn  nach  derselben  hier  der  Mittelpunkt,  für  den  jene  Zone 
geschaffen  ist,  eine  Epoche  lang  fehlt. 

Im  Hinblick  auf  die  militärische  Bewertung  Oberitaliens  durch  die  Römer 
verdient  aber  nun  gerade  der  Verlauf  derjenigen  Feldzüge  erhöhte  Beachtung, 
während  der  sie  gezwungen  aus  ihrer  Verteidigungsstellung  heraustraten  und 
innerhalb  des  ihnen  nicht  genehmen  Bannkreises  des  Alpengebietes  fechten 
mußten.  Nicht  in  Betracht  kommen  eben  hierbei  die  bis  Augustus  unternomme- 
nen Kampfe  gegen  die  Bergvölker  der  Alpen,  die  lediglich  Abwehrmaßregeln 
gegen  einen  militärisch  von  vornherein  geringwertigen  Gegner  und  nur  infolge 
des  Geländes,  in  dem  gekämpft  werden  mußte,  einigermaßen  schwieriger  als 
anderswo  waren.  Anders  verhält  es  sich  dagegen  bei  Beginn  des  zweiten  puni- 
schen  Krieges  und  bei  den  Feldzügen  der  Römer  gegen  die  Cimbern.  Hier 
handelte  es  sich  für  die  Römer  zwar  auch  nur  um  Abwehr,  aber  doch  um  eine 
solche,  die  nur  mit  der  gänzlichen  Vernichtung  des  Gegners  erreicht  werden 
konnte,  eben  weil  für  den  Feind  Italien  selbst  das  Ziel  des  Angriffs  war.  Es 
sind  Verhältnisse  des  großen  Krieges,  bei  denen  die  gegenseitige  Anspannung 
um  so  höher  geht,  weil  der  von  den  Alpen  beherrschte  Raum,  in  dem  gekämpft 
wurde,  für  beide  Teile  gleichmäßig  ein  unbekanntes  und  ungewohntes  Gebiet 
darstellt. 

Schon  vor  Hannibal  hatten  auch  die  Kelten  in  hellen  Haufen  die  Alpen 
derart  überschritten,  daß  sie  dann  fast  ganz  Norditalien  bevölkern  konnten.  Die 
Großheit  der  Alpenüberschreitung  Hannibals  beruht  daher  nicht  in  dem  bloßen 
Überschreiten  der  Alpen,  sondern  in  dem  Überschreiten  derselben  mit  einer 
regulären  Armee  in  gewollter  Richtung.  Das  Geniale  bei  Hannibals  Maßregel 
lag  also   darin,   daß  sein  Heer  einerseits  immer  noch  in  einem  solchen  Zustand 

2* 


90  II.  Kapitel. 

diesseits  des  Gebirges  eintraf,  um  im  Notfalle  sofort  den  Kampf  gegen  die  römi- 
schen Heere  aufnehmen  zu  können,  andererseits  und  im  gröI3eren  Maße  aber 
darin,  weil  Hannibal  durch  seinen  Zug  wirklich  dorthin  gelangte,  wohin  er 
wollte  d.  h.  in  das  Gebiet  der  oberitalienischen  Kelten,  das  er  sich  zu  seiner 
Operationsbasis  ausersehen  hatte.  Durch  die  Schwierigkeit  der  Bewegungen 
während  des  Überganges  erkaufte  er  sich  also  die  Freiheit  dieser  nach  dem- 
selben. Je  weiter  sich  der  Feldherr  von  seinen  eigenen  Hilfsmitteln  entfernt, 
um  so  zwingender  ist  für  ihn  die  Beschaffenheit  der  Operationsbasis;  für  Hanni- 
bal sollte  aber  das  Land  der  oberitalienischen  Kelten  jene  abgeben,  deren  natio- 
nalen Gegensatz  gegen  Rom  er  sich  zur  Inszenierung  eines  neuen  keltischen 
Nationalkrieges  dienstbar  machen  wollte. 

So  ist  es  auch  dieser  Darstellung  nicht  erspart,  einen  Eimer  Wasser  in  die 
Strömung  zu  tragen,  die,  bis  heute  mächtig  angeschwollen,  sich  in  Gestalt  der 
Erörterungen  über  die  Frage,  welchen  Paßweg  der  Alpen  Hannibal  wirklich  ge- 
wählt hat,  über  die  gelehrte  Literatur  ergossen  hat.  Die  Quellen,  die  uns  hier- 
über zur  Verfügung  stehen,  sind  in  den  Geschichtswerken  des  Polybius  und 
Livius  enthalten,  und  es  steht  zunächst  außer  allem  Zweifel,  daß  diejenige  des 
Polybius  die  des  Livius  an  Wert  weit  überragt.  Trotzdem  ist  es  aber  bis  jetzt 
noch  nicht  gelungen,  lediglich  auf  Grund  jener  Beschreibung  des  Polybius  in 
dieser  Frage  zu  einem  sicheren  Resultat  zu  gelangen,  während  sich  andererseits 
fast  die  Gepflogenheit  ausgebildet  hat,  den  Text  des  Livius  wegen  der  in  seiner 
Darstellung  enthaltenen  Ungenauigkeiten  für  diese  Untersuchung  überhaupt  nicht 
zu  Rate  zu  ziehen.  Er  erscheint  aber  vom  wissenschaftlichen  Standpunkt  doch 
nicht  ganz  ökonomisch  gehandelt,  Livius  hier  ganz  bei  Seite  zu  lassen,  und  man 
kann  diese  Quelle  wenigstens  mit  allem  Recht  als  das  verwerten,  was  sie  uns 
wirklich  bietet  d.  h.  teils  einen  Niederschlag,  teils  eine  ausschmückende  Weiter- 
bildung der  älteren,  uns  unbekannten  Quelle,  die  Livius  ursprünglich  vorgelegen 
hat.  Ist  es  doch  außerdem,  als  ob  sich  gerade  bei  diesem  Teil  der  Schilderung 
des  Livius  dem  Geschichtsschreiber  das  Interesse  anmerken  ließe,  das  den  Sohn 
des  Voralpenlandes  hier  bei  seiner  Arbeit  bewegt  hat. 

Als  Hauptgrund  dafür  nun,  daß  Hannibal  den  Weg  über  den  Mont  Genevre 
benutzt  haben  müsse,  ist  stets  mit  Vorliebe  angeführt  worden,  daß  dessen  Zug 
in  das  Gebiet  der  Tauriner  auslief,  weil  allerdings  dies  bei  jenem  Paß  (nicht 
minder  aber  auch  bei  den  anderen  Übergängen  dieser  Gruppe  z.  B.  Mont  Cenis) 
am  buchstäblichsten  zutrifft.  Aber  dieser  Grund  ist  doch  nicht  so  stichhaltig, 
als  er  beim  ersten  Blick  scheinen  möchte;  denn  der  Wortlaut  der  Quellen  ver- 
trägt ebenso  ganz  gut  die  Annahme,  daß  die  Tauriner,  die  keine  verbündeten 
Kelten  sondern  Ligurer  waren,  überhaupt  nur  die  erste  Völkerschaft  gewesen 
sind,  mit  der  sich  Hannibal  nach  seiner  Ankunft  diesseits  der  Alpen  feindlich 
auseinandersetzen  mußte.  Das  haben  ja  stets  die  natürlichen  Verhältnisse  Ober- 
italiens an  sich  gehabt,  „daß  jeder  französische  Zuzug  immer  zuletzt  Turin  pas- 


Die  Römer  der  Republik  und  die  Alpen.  21 

sieren  mußte".-)  Der  Hauptgrund  aber,  daß  Hannibal  trotzdem  nur  einen  der 
Übergänge  aus  der  Mont  Genevre-Gruppe  gewählt  haben  kann,  verbirgt  sich  in 
der  Darstellung  des  Livius,  und  zwar  in  der  Tatsache,  daß  dort  in  der  Beschrei- 
bung des  Weges  beim  Anstieg  der  Name  der  Dürance  vorkommt.  Denn  wenn 
Hannibal  auf  dieser  Seite  überhaupt  auch  nur  eine  Strecke  in  dem  Bereich  jenes 
Flusses  marschierte,  mußte  er  notwendigerweise  auf  den  Mont  Genevre,  Mont 
Cents  oder  wenn  man  will  auf  einen  anderen  nahen  Übergang  dieser  Zone  ge- 
raten, und  es  ist  nicht  wahrscheinlich,  daß  Livius  diesen  Flußnamen  eigenmächtig 
und  nur  zur  Ausschmückung  genannt  hat,  sondern  daß  er  diesen  Namen  viel- 
mehr aus  der  ihm  vorliegenden  Quelle  ohne  Weiteres  in  seine  eigene  Schilde- 
rung herübernahm. 

Ein  weiterer  Grund  dafür,  daß  Hannibal  einen  dieser  Pässe  gewählt  haben 
muß,  läßt  sich  aber  auch  noch  rückwärts  aus  den  Ereignissen  des  Cimbernkrieges 
konstruieren,  so  wie  diese  sich  in  den  Westalpen  mit  aller  Deutlichkeit  abgespielt 
haben.  Daß  auch  schon  das  Altertum  die  Frage,  den  Weg  Hannibals  genauer 
zu  kennen  interessiert  hat,  ist  aus  der  Natur  des  Kulturmenschen,  dem  dieses 
Unternehmen  stets  Bewunderung  abnötigen  muß,  ohne  weiteres  erklärlich.  Livius 
freilich  muß  zu  dieser  Frage  schon  nach  seiner  Weise  wissenschaftlich  Stellung 
nehmen,  weil  zu  seinen  Lebzeiten,  um  die  Wende  unserer  Zeitrechnung,  die 
genaue  Kunde  dieses  Ereignisses  schon  zweifelhaft  geworden  war.  Eine  um 
etwa  achtzig  Jahre  ältere  Notiz,  wonach  Pompejus  „einen  anderen  Alpenweg  als 
Hannibal,  der  für  den  römischen  Verkehr  vorteilhafter  war",  gebahnt  hat,  setzt 
aber  voraus,  daß  der  genaue  Weg  Hannibals  damals  wenigstens  noch  bekannt 
war.  Um  so  sicherer  wird  dieses  aber  hiernach  weitere  fünfundzwanzig  Jahre 
früher,  zur  Zeit  des  Cimbernkrieges  der  Fall  gewesen  sein,  und  man  darf  weiter- 
hin annehmen,  daß  bei  dem  Nachlassen  der  keltischen  Völkerwanderung,  ebenso 
wie  bei  der  allgemeinen  Abneigung  der  Römer,  in  den  Alpen  Wege  zu  schaffen, 
in  dem  Zeitraum  von  Hannibals  Übergang  bis  zu  dem  Erscheinen  der  Cimbern 
schwerlich  selbst  auf  diesem  Flügel  des  Gebirges  noch  ein  neuer,  für  den  Über- 
gang eines  großen  Heeres  tauglicher  Übergang  geöffnet  worden  ist.  Als  nun  aber 
die  Cimbern  im  Jahre  102  vor  Ch.,  jetzt  endlich  mit  der  ausgesprochenen  Ab- 
sicht, es  Hannibal  nach  zu  tun,  über  die  Westalpen  nach  Italien  eindringen 
wollen,  stellt  sich  Marius  ihnen  gegenüber  am  Beginn  der  nördlichsten  Eintritts- 
route nach  Italien,  die  nach  seinem  gesunden  taktischen  Urteil  überhaupt  in  Frage 
kommen  kann,  zur  Abwehr  auf.  Es  geschieht  dies  an  der  Einmündung  der 
Isere  in  die  Rhone,  also  an  einer  Stelle,  die  zwar  vollständig  den  Zugang  zu 
den  Pässen  von  Susa,  viel  weniger  aber  denjenigen  zu  dem  kleinen  Sankt  Bern- 
hard beherrscht.  Wäre  aber  Hannibal  einst  über  den  kleinen  Sankt  Bernhard 
gezogen,  so  hätte  danach  dieser  Übergang  auch  damals,  als  die  militärische  Lage 
die  gleiche  und  nur  die  Energie  der  Führung  bei  den  Römern  eine  größere  war, 
in  der  Berechnung  des  Marius  eine  größere  Rolle  spielen  müssen. 


22  II-  Kapitel. 

Wenn  wir  demnach  den  Übergang  Hannibals  auf  einen  der  Pässe  von  Susa 
legen,  müssen  wir  uns  trotzdem  noch  mit  der  Tatsache  auseinandersetzen,  daß  erst 
Pompejus  auf  Grund  der  oben  angeführten  Notiz  die  Eröffnung  der  Mont 
Genevre- Straße  zugeschrieben  wird.  Der  Zustand  des  römischen  Verkehrs- 
bedürfnisses der  damaligen  Zeit,  das  nur  nach  der  in  Südfrankreich  gelegenen 
Provinz  Narbo  hinzielte,  gestattet  auch  hier,  nur  an  einen  der  südlichen  Pässe 
zu  denken  und  nicht  etwa,  weil  nach  allem  Vorangegangenen  nun  der  Übergang 
Hannibals  in  den  Bereich  des  Mont  Genevre  zu  legen  wäre,  dem  Pompejus  die 
Eröffnung  des  kleinert  Sankt  Bernhards  zuzuschreiben.  Wir  können  Pompejus 
aber  auch  ruhig  seinen  Ruhm,  die  erste  Römerstraße  der  Alpen  über  den  Mont 
Genevre  gebahnt  zu  haben,  lassen,  um  so  mehr,  da  auch  die  Ereignisse  der 
folgenden  Zeit,  vor  allem  die  Tatsache,  daß  Cäsar  zu  Beginn  seiner  Wirksamkeit 
in  Gallien  den  Mont  Genevre  ohne  weiteres  benutzt  hat,  durchaus  dafür  sprechen, 
daß  schon  in  den  letzten  Jahrzehnten  der  Republik  sich  die  bedeutende  Rolle, 
die  dieser  Paß  dann  während  der  ganzen  römischen  Kaiserzeit  spielen  sollte, 
fühlbar  gemacht  hat.  Wenn  Pompejus  somit  die  erste  Eröffnung  des  Mont 
Genevre -Überganges  bleibt,  werden  wir  daher,  um  allem  zu  genügen,  den 
Übergang  Hannibals  nicht  auf  den  Mont  Genevre  selbst,  wohl  aber  auf  einen  in 
der  Nähe  desselben  gelegenen  Übergang  (Mont  Cenis,  Col  du  Glapier)  zu  legen 
haben.  Durch  eine  solche  Annahme  wird  dann  aber  auch  der  Sinn  jener  Notiz, 
„wonach  Pompejus  einen  anderen,  für  die  Römer  bequemeren  Übergang  als  den 
Hannibals  eröffnete",  erst  in  das  rechte  Licht  gerückt;  denn  gerade  jener  Wort- 
laut, bei  dem  in  unmittelbarem  Zusammenhange  mit  der  Straße  des  Pompejus 
die  Hannibals  genannt  wird,  kann  auf  den  Gedanken  führen,  daß  diese  beiden 
Übergänge  nicht  weit  entfernt,  sondern  einander  recht  benachbart  gelegen  waren. 

Die  Ereignisse  des  Cimbernkrieges  sehen  wir  außerdem  noch  an  zwei 
anderen  Stellen  der  Alpen  sich  abspielen.  Das  erste  Erscheinen  der  Cimbern 
fand  im  Jahre  113  vor  Ch.  statt,  und  zwar  an  der  entgegengesetzten,  östlichsten 
Seite  des  Gebirges,  an  den  niedrigen  Krainer  Alpenpässen.  Hier  geraten  die 
Cimbern  nun  zunächst  mit  den  an  der  östlichen  Seite  des  Birnbaumer  Waldes 
wohnenden  Tauriskern  aneinander.  Die  nach  dorthin  von  Venetien  aus  herüber- 
führende Straße,  die  schon  damals  als  Handelsstraße  bekannt  und  belebt  voraus- 
gesetzt werden  muß,  hatte  ebenso  schon  längst  Beziehungen  dieser  Taurisker  zu 
den  Herren  jenseits  des  Gebirges  derart  vermittelt,  daß  jenen  jetzt  gegenüber 
den  Cimbern  die  Berufung  auf  die  Schutzherrschaft  der  Römer  ganz  gelegen 
kommen  konnte.  Das  römische  Heer  selbst,  unter  dem  Befehl  des  Konsuls 
Papirius  Carbo,  der  sich  des  Ernstes  der  Lage  durchaus  bewußt  ist,  steht  zu- 
nächst abwartend  im  Bereich  der  schützenden  Festung  Aquileja,  und  bereits  hier 
findet  sich  bei  beiden  Parteien,  bei  Römern  und  Barbaren,  die  Abneigung,  die 
Entscheidung  im  Gefecht  zu  suchen,  so  ausgeprägt,  daß  Verhandlungen  eingeleitet 
werden  und  die  Cimbern  nach  Norden  abzuziehen  versprechen.    Hier  setzt  nun 


Die  Römer  der  Republik  und  die  Alpen.  23 

die  Kunde  ein,  wonach  der  römische  Feldherr  die  abziehenden  Cimbern  durch 
von  ihm  instruierte  Wegweiser  in  eine  derartige  Abmarschlinie  gelenkt  habe, 
daß  es  ihm  hinterher  möglich  geworden  sei,  die  auf  dem  Rückzuge  befindlichen 
Cimbern  auf  kürzerem  Wege  innerhalb  des  Gebirges  zu  umgehen  und  sie  dann 
unerwartet  im  Gebirge  zum  Schlagen  zu  zwingen. 

Als  Ort  dieses  Treffens  geben  die  Alten  Noreja  an,  und  in  die  ganze 
moderne  Geschichtsdarstellung  ist  nun  unentwegt  die  Auffassung  übergegangen, 
daß  mit  diesem  Noreja  ohne  weiteres  jener  Straßenpunkt  gemeint  sei,  der  in 
Steiermark  an  der  Stelle  des  heutigen  fleckens  Neumarkt,  da,  wo  der  belebte 
Paßweg  aus  dem  Tal  der  Metnitz  nach  dem  Murtal  hinüberführt,  gelegen  war, 
und  wo  auch  die  Itinerarien  der  römischen  Kaiserzeit  (bei  Peutinger  sogar 
doppelt;  wenn  nicht  etwa  gar  auch  hier  das  eine  von  diesen  beiden  das  von 
uns  angezogene  Neumarkt  südlich  des  Loibl-Passes  ist,  das  durch  irgendwelches 
unkontrollierbare  Vorkommnis  sich  dorthin  verschoben  hat.)  den  Namen  Noreja 
zeigen.  Betrachtet  man  nun  aber  vom  rein  militärischen  Standpunkt  den  Verlauf 
dieser  gegenseitigen  Bewegungen,  so  muß  man  sich  freilich  erstaunt  fragen,  wie 
es  Garbo  fertig  gebracht  haben  soll,  so  kühn  und  sicher  bis  tief  in  die  Alpen 
hinein  die  Spur  des  abziehenden  Feindes  festzuhalten.  Vor  allem  sieht  man 
sich  aber  vergebens  nach  irgend  einer  kürzeren  Linie  um,  die  Garbo  als  An- 
marschlinie nach  diesem  Noreja  hin  benutzt  haben  könnte.  Ebenso  wenig  geht 
es  aber  auch  an,  das  hier  Überlieferte  direkt  als  ungenau  zu  verwerfen;  denn 
die  im  ganzen  recht  anschaulich  geschilderten  Ereignisse  machen  ganz  den  Ein- 
druck, als  wären  sie  im  Skelett  richtig  festgehalten  und  als  ob  nur  die  Orts- 
bestimmung oberflächlich  sei.  Aber  gerade  dieses  letztere  darf  nicht  Wunder 
nehmen,  weil  genaue  Ortsbestimmung  niemals  und  am  allerwenigsten  in  bezug 
auf  die  Alpengegenden  Sache  der  alten  Schriftsteller  gewesen  ist. 

Die  Erzählungsweise  Appians,  dem  wir  die  Schilderung  dieser  Vorgänge 
verdanken,  läßt  nun  aber  auch  durchaus  zu,  anzunehmen,  daß  zu  dem  Zeitpunkte, 
als  die  ersten  Verhandlungen  zwischen  Garbo  und  den  Gimbern  erfolgten,  beide 
Parteien  im  Bereich  der  eigentlichen  Schwelle  Italiens,  auf  den  Höhen  der  Birn- 
baumer Straße,  in  einiger  Entfernung  einander  gegenüberstanden.  Von  hier 
kehrten  die  Gimbern  wieder  um,  und  es  liegt  nahe,  daß  sie  in  gerader  Linie, 
im  Gleis  der  uralten  Völkerrinne,  auf  der  sie  nach  Süden  gekommen  waren, 
wieder  zurück  wollten.  Diese  direkte  Umkehrlinie  zielte  aber  über  den  Loibl- 
Paß  und  allerdings  auch  über  den  oben  genannten  Neumarkter  Sattel  nach  der 
Linzer  Pforte.  Auf  diesem  Wege  nun,  aber  noch  südlich  des  Loibl-Passes,  liegt 
heute  auch  noch  ein  zweiter  Ort  Neumarkt.  Gleichlautende  Ortsnamen  sind 
auch  im  römischen  Altertum  eine  häufige  Erscheinung,  und  so  gut  wie  das  nörd- 
liche Neumarkt  kann  auch  dieses  hier  aus  dem  römischen  Namen  Noreja  her- 
vorgegangen sein.  Nehmen  wir  aber  an  dieser  Stelle  den  Ort  des  fraglichen 
Treffens   an,  so   findet   sich   ganz   von   selbst   ein  leicht  verständlicher  Schlüssel 


24  II-  Kapitel. 

für  jene  kriegerischen  Bewegungen:  Während  die  Cimbern  von  der  Nordseite 
des  Birnbaumer  Waldes  aus  ohne  große  Eile  nach  Norden  abzogen,  fand  Carbo 
Zeit,  sie  durch  das  Isonzo-Tal  hinaufmarschierend  vom  Predil  aus  in  der  Flanke 
zu  fassen.  Jedenfalls  ist  es  durchaus  nicht  ausgeschlossen,  daß  der  Predil  damals 
den  in  Venetien  kommandierenden  römischen  Befehlshabern  als  eine  in  die 
Alpen  hineinführende  Linie  bekannt  gewesen  ist,  da  diese  Straße  bereits  für 
einen  im  Jahre  183  vor  Ch.  stattgehabten  Kelteneinfall  als  Eintrittslinie  nach 
Venetien  in  Frage  kommt.^) 

Auch  der  VerlauP  des  dritten  Teiles  des  Cimbrischen  Feldzuges,  der  die 
letzte  Entscheidung  bringt,  tritt  uns  wohl  in  leidlich  klaren  Umrissen  entgegen, 
läßt  aber  ebensosehr  die  Möglichkeit  vermissen,  die  Örtlichkeiten,  wo  die  Er- 
eignisse sich  im  Einzelnen  abgespielt  haben,  genauer  zu  bestimmen.  Wir  wissen 
(Plutarch,  Marius  23;  Livius,  Epitom  68),  daß  die  eine  Hälfte  der  Cimbern  sich 
in  Gallien  von  der  anderen,  den  Teutonen,  die  dann  bei  Aquae  Sextiae  ge- 
schlagen wurden,  getrennt  hat,  um  auf  einem  anderen  Wege  als  diese  über  die 
Alpen  nach  Italien  zu  marschieren,  und  wir  treffen  jene  erst  wieder  an,  als  sie 
im  Gebiet  der  Etsch  auf  das  gegen  sie  aufgestellte  römische  Heer  des  Katulus 
gestoßen  sind.  Nur  so  viel  läßt  sich  hier  mit  Sicherheit  erkennen,  daß  dieses 
Zusammentreffen  an  der  Etsch  in  der  weiteren  Umgebung  von  Trient  stattgefunden 
haben  muß.  Andere  klare  Einzelheiten  fehlen  jedoch  vollständig;  besonders  ist 
nicht  zu  erkennen,  ob  dieses  erste  Zusammentreffen  für  die  Römer  bereits  mit 
einer  verlorenen  Schlacht  oder  nur  mit  einem  leidlich  geschickten  Rückzug  nach 
der  Pforte  des  italienischen  Flachlandes  endigte,  wobei,  ebenso  wie  auch  bei 
den  weiterhin  folgenden  Kämpfen,  der  römische  Befehlshaber  nicht  viel  weniger 
Schwierigkeiten  mit  seinem  eigenen  disziplinlosen  Heere  als  mit  den  Feinden 
selbst  gehabt  haben  mag.  Da  demnach  eine  bessere  wissenschaftliche  Begründung 
für  einen  anderen  Ort  der  Brennerlinie,  an  dem  jene  Ereignisse  stattgefunden 
haben,  nicht  aufgebracht  werden  kann,  mag  hier  immerhin  angeführt  werden, 
daß  die  sagenhafte  Überlieferung  den  Schauplatz  derselben  an  die  Salurner  Klause 
verlegt,  und  ebenso  den  Namen  des  in  der  Nähe  derselben  liegenden  Castell 
feder  (foederis)  von  dem  hier  erfolgten  Abschluß  eines  Vertrages  zwischen  Cim- 
bern und  Römern  ableitet,  welch'  letztere  Kunde  allerdings  in  Anbetracht  der 
an  allen  Stellen  bei  den  Cimbern  tatsächlich  hervortretenden  Neigung,  zu  ver- 
handeln einige  innere  Wahrscheinlichkeit  hat.  Einen  bestimmten  Schluß  auf  die 
damalige  Benutzung  der  Alpenwege  selbst  erlaubt  wenigstens  auch  diese  sonst 
trübe  genug  ausschauende  Erhaltung  der  Tatsachen.  Denn  wenn  Katulus  tat- 
sächlich bei  Trient  die  Cimbern  erwartete,  so  mußte  er  wenigstens  wissen,  daß 
diese  nur  aus  dem  heutigen  Tirol,  d.  h.  vom  Brenner  oder  Reschenscheideck 
her,  im  Anmarsch  sein  konnten;  und  da  die  Cimbern  ursprünglich  von  Westen 
kamen  und  sich  damals  in  ihrer  Begleitung  auch  helvetische  Völkerteile  befanden, 
so  wird  man  weiterhin  wohl  geneigt  sein,  sich  bei  der  Frage,  welcher  von  diesen 


Die  Römer  der  Republik  und  die  Alpen.  25 

beiden  Übergängen  von  ihnen  benutzt  worden  sei,  für  das  Reschenscheideck  zu 
entscheiden,  und  dies  um  so  mehr,  da  im  Verlauf  der  folgenden  Kämpfe  auch 
noch  ein  weiteres  Indizium  hierfür  zu  Tage  tritt. 

Nach  Abschluß  des  ersten  Teiles  dieser  Bewegungen  sehen  wir  dann  den 
Konsul  eine  Stellung  am  Ausgang  der  Berge  auf  beiden  Ufern  der  Etsch  be- 
ziehen. Es  liegt  nahe,  hier  an  die  Gegend  Veronas  zu  denken;  die  Begeben- 
heiten aber  ohne  weiteres  dorthin  zu  verlegen,  bleibt  immerhin  deshalb  bedenk- 
lich, weil  eben  der  Name  Veronas  selbst,  dessen  Erwähnung  doch  sehr  nahe 
gelegen  hätte,  bei  diesen  Ereignissen  nirgends  genannt  wird.  Die  Römer  haben 
jetzt  ihre  Hauptmacht  auf  dem  linken  Etschufer,  während  eine  von  ihnen  ge- 
schlagene Brücke,  die  in  einen  festen  Brückenkopf  endigt,  von  dort  herüber 
nach  dem  rechten  Ufer  führt.  Es  liegt  also  ihrerseits  hier  ganz  deutlich  das 
Bestreben  vor,  sich  die  Bewegungsfreiheit  auf  beiden  Etschufern  zu  sichern. 
Zweifelhaft  ist  es  nur,  ob  die  Anmarschlinie  der  Cimbern,  ob  auf  dem  rechten 
oder  linken  Etschufer  ihnen  auch  diesmal  noch  unbekannt  gewesen  ist  und  diese 
Maßregel  hiernach  aus  der  Absicht,  den  Feinden  auf  beiden  Ufern  des  Flusses 
entgegentreten  zu  können  entsprang,  oder  ob  die  Anmarschlinie  des  Feindes  von 
vorneherein  links  des  Flusses  vorausgesetzt  wurde,  und  bereits  hier  die  An- 
ziehungskraft des  schützenden  Poufers,  an  dem  die  große  Festung  Cremona  ein- 
ladend ihre  Tore  für  das  römische  Heer  offen  hielt,  auf  die  Stellung  jener  ein- 
wirkte; der  moralische  Zustand  des  römischen  Heeres  macht  letzteres  jedenfalls 
wahrscheinlicher.  So  oder  so;  die  Situation  ist  jedenfalls  ein  getreues  Abbild 
der  Art,  wie  die  Römer  den  Nordrand  Italiens  damals  militärisch  bewerteten; 
denn  die  Pofestungen  halten  auf  diesem  Schauplatze  alle  Bewegungen  in  Abhän- 
gigkeit und  es  gibt  für  die  Römer  hier  überall  nur  vorgeschobene  und  keine 
selbständigen  Stellungen,  aus  denen  es  sie  wie  mit  Naturgewalt  nach  der  Polinie 
zurücktreibt. 

Als  nun  aber  die  Cimbern  wirklich  herankommen,  erscheinen  sie  tatsächlich 
—  entsprechend  der  Annahme,  daß  sie  von  Anfang  an  über  das  Reschenscheideck 
gekommen  sind  —  nicht  auf  dem  linken  sondern  auf  dem  rechten  Etschufer. 
Es  ergibt  sich  dies  daraus,  daß  sie  nach  Abzug  der  Römer  aus  deren  großem 
linksufrigen  Lager  ohne  weiteres  den  Brückenkopf  angreifen,  besonders  aber  aus 
der  Art,  wie  sie  noch  vor  deren  Abmarsch  die  Zerstörung  der  über  die  Etsch 
geschlagenen  Brücke  ins  Werk  zu  setzen  suchen.  Denn  wenn  sie  zu  diesem 
Zwecke  den  Fluß,  dessen  erhöhte  Fluten  dann  die  Brücke  wegreißen  sollten, 
anzustauen  versuchen,  so  konnten  sie  dieses  nur  von  einer  unterhalb  der  Brücke 
gelegenen  Uferstelle  aus  beginnen.  Dieses  Manöver  war  aber  wiederum  für  sie 
nur  auf  dem  rechten  Ufer  ausführbar,  weil  sich  hier  nicht  das  Lager  der  römi- 
schen Hauptarmee  sondern  nur  die  auf  strikte  Verteidigung  angewiesene  Be- 
satzung des  Brückenkopfes  befand,  den  umgehend  der  Feind  an  eine  Uferstelle 
stromabwärts  gelangen  konnte. 


26 


II.  Kapitel. 


Auch  dieser  Gefechtsabschnitt  lief  dann  schließlich  so  aus,  wie  er  nach  der 
inneren  und  äußeren  Lage  des  römischen  Heeres  nicht  anders  endigen  konnte. 
Das  Gros  der  römischen  Armee  zog  schließlich,  durch  Brückenkopf  und  Fluß 
vor  den  Cimbern  geschützt,  entlang  des  linken  Etschufers  eilig  ab,  um  festeren 
Boden  unter  die  Füße  zu  bekommen.  Wahrscheinlich  bewirkte  Katulus  dann 
bei  Ateste  (Este),  an  der  Stelle,  wo  die  damals  noch  nagelneue  von  Bologna  auf 
Aquileja  führende  Straße  die  Etsch  passierte,  den  Uferwechsel  und  gelangte  von 
hier  aus  zunächst  südlich  des  Po.  Das  Schicksal  erreichte  die  Cimbern  dann 
viel  weiter  westlich,  'aber  immer  noch  nördlich  des  Po''),  bei  Vercellae.  Hier 
hat  dieser  Fluß  demnach  gegenüber  der  unbeholfenen  Kriegskunst  der  Barbaren 
vollständig  seine  Bestimmung  als  Schutzlinie  Italiens  erfüllt,  und  nicht  die  Alpen, 
sondern  allein  die  Flußläufe  sind  es,  die  in  diesen  Zeiten  in  Norditalien  den 
kriegerischen  Maßnahmen  die  Gesetze  vorgeschrieben  haben. 


III.  Kapitel. 

Völker  und  Wege  in  den  Alpen  vor  der  römischen  Eroberung. 


Die  Völker. 

Jede  römische  Eroberung  bedeutete  für  das  Land,  das  erobert  worden  war, 
auch  die  Durchdringung  seiner  Bevölkerung  von  der  lateinischen  Rasse,  derart, 
daß  schließlich  ein  Mischvolk  entstand,  das  zwar  mehr  oder  minder  noch  die 
Züge  des  alten  Volksuntergrundes  beibehalten,  dem  aber  doch  überwiegend  und 
kräftig  die  lateinische  Rasse  ihr  in  allen  Ländern  gleichmäßiges  Aussehen  auf- 
geprägt hatte.  Es  ist  uns  heute  nicht  mehr  möglich,  die  Eigentümlichkeiten  aller 
jener  Provinzialnationen,  die  schließlich  das  römische  Reich  erfüllten,  genauer 
zu  fixieren;  eines  aber  kann  man  von  vornherein  als  sicher  annehmen,  daß  eben 
die  Verschiedenheiten,  die  zwischen  den  Bewohnern  der  einzelnen  römischen 
Provinzen  bestanden,  geringer  waren  als  das  Gemeinsame,  das  jene  zusammen- 
hielt. Das  ist  gerade  das  Wunderbare  in  dem  lateinischen  Volkstum,  daß  die 
ihm  innewohnende,  erobernde  kulturelle  Kraft  noch  viel  stärker  war  als  sein 
siegreiches  Schwert;  denn  dieses  war  nur  die  Handhabe,  um  die  Pforten  zu 
öffnen,  durch  die  dann,  auflösend  und  zersetzend  für  alles  Selbständige  der 
unterworfenen  Nationen,  die  überlegene  und  sieghafte  Energie  römischer  Volks- 
kraft eintrat,  um  ihrerseits  die  Hauptarbeit  der  Eroberung  zu  beginnen. 

Auch  die  Völker,  die  in  den  Alpen  zur  Zeit  der  römischen  Eroberung 
wohnten,  haben  kein  anderes  Schicksal  erfahren.  Das  Resultat  der  römischen 
Eroberung  ist  hier  schließlich  genau  dasselbe  geworden,  wie  in  den  Ländern 
östlich  und  westlich  der  Alpen;  nur  mag  die  Natur  des  Gebirges,  und  wahr- 
scheinlich auch  der  Charakter  eines  oder  des  anderen  der  Alpenvölker  es  mit 
sich  gebracht  haben,  daß  es  teils  längerer  Zeit,  teils  auch  schärferer,  römischer 
iMaßregeln  bedurfte,  um  dieses  Ziel  zu  erreichen.  Wenn  nun  aber  auch  die  Alpen- 
länder erst  zu  Beginn  unserer  Zeitrechnung  römisch  geworden  sind,   so  können 


28  III-  Kapitel. 

wir  uns  doch  trotzdem  schon  eine  leidlich  klare  Vorstellung  des  Völkerbildes 
machen,  das  die  Alpen  etwa  vier  Jahrhunderte  früher  geboten  haben  müssen. 
Die  Hilfsmittel  aber,  die  uns  hierzu  zu  Gebote  stehen,  sind  hauptsächlich  die 
Nachrichten  aus  der  alten  klassischen  Literatur;  der  Umstand  jedoch,  daß  die 
Alpen  von  den  Alten  nur  von  einer  Seite  d.  h.  von  Süden  aus  angeblickt  wurden, 
hat  es  mit  sich  gebracht,  daß  dieses  Bild  an  der  Südseite  der  Alpen  zwar  leid- 
lich gutes  Licht  zeigt,  an  der  Nordseite  des  Gebirges  dagegen  noch  Schatten  und 
Dämmerung  vorwiegen.  Die  neueste  Zeit  ist  dann  eifrig  daran  gewesen,  teils 
mittelst  der  Sprachwissenschaft,  teils  mittelst  der  archäologischen  Forschung 
dieses  ganze  Bild  der  alten  Alpenvölker,  das  uns  die  Nachrichten  der  Alten 
gerade  noch  zu  rekonstruieren  verstatten,  an  allen  möglichen  Stellen  zu  ergänzen 
und  zu  erhellen.  Es  ist  hier  im  Einzelnen  zwar  viel  Stoff  zusammengekommen, 
aber  doch  immerhin  wichtig  hervorzuheben,  daß  das  Bild,  das  lediglich  die  alten 
Nachrichten  in  seinen  Grundzügen  zu  geben  vermögen,  durch  alles  dieses  nur 
seine  Bestätigung  erfahren  hat. 

Bei  Entwurf  dieses  Bildes  müssen  wir  von  einem  bestimmten  Ereignis  aus- 
gehen, das  uns  die  römische  Geschichte  in  seinen  Folgen  ganz  deutlich  erkennen 
läßt,  d.  h.  von  der  keltischen  Völkerwanderung.  Die  Einwanderung  der  Kelten 
von  Osten  her  nach  Mitteleuropa  war  an  Dauer  und  Stärke  ein  gleich  wichtiges 
Ereignis  wie  die  in  kleinen  Gliedern  sich  an  sie  anschließende,  in  ihrer  Massen- 
haftigkeit  jedoch  etwa  erst  um  ein  halbes  Jahrtausend  später  einsetzende  germanische 
Völkerwanderung.  Nur  steht  die  germanische  Völkerwanderung  uns  heute  viel 
klarer  vor  Augen  als  jene,  weil  sie  an  den  meisten  Stellen  auf  ein  Kulturvolk 
traf,  durch  das  uns  die  Kunde  über  diese  Ereignisse  selbst  erhalten  bleiben 
konnte.  Von  der  keltischen  Völkerwanderung  dagegen  sind  nur  die  zeltlich 
letzten  und  örtlich  am  weitesten  von  dem  Ausgang  der  Bewegung  entfernten 
Wellen  auf  ein  solches  Kulturvolk,  zumeist  auf  die  Römer,  getroffen.  Bei  der 
germanischen  Völkerwanderung  können  wir  ganz  genau  die  Rolle,  die  innerhalb 
derselben  die  Alpen  gehabt  und  den  Einfluß,  den  diese  auf  deren  Bewegungen 
ausgeübt  haben,  erkennen.  Hier  begegnen  wir  nun  der  auffallenden,  aber  seht' 
willkommenen  Tatsache,  daß,  wenn  wir  diese  Rolle  und  diesen  Einfluß  ganz 
gleichartig  wie  bei  der  germanischen  auch  schon  für  die  keltische  Völkerwanderung 
voraussetzen,  dieses  sich  nicht  nur  vollständig  mit  den  in  unklaren  Umrissen 
vorhandenen  Nachrichten  verträgt,  sondern  daß  diese  Annahme  noch  dazu 
weiterhin  zur  Verdeutlichung  und  Rekonstruktion  des  Verlaufes  jener  keltischen 
Völkerwanderung  ein  ganzes  Teil  beitragen  kann. 

Wohl  ging  der  Zug  der  deutschen  Kaiser  im  Mittelalter  direkt  von  Nord 
nach  Süd  über  die  Alpen,  nicht  aber  derjenige  der  großen  geschichtlichen 
Völkerbewegungen.  Solche  Völkerbewegungen  sind  wie  ein  gewaltiger,  mehr 
breiter  und  verschieden  tiefer  Strom,  der  zunächst  durchaus  keine  Neigung  zeigt, 
die  Richtung,  in  der  er  einmal  zu  fließen  eingesetzt  hat,  zu  verlassen.    Der  Aus- 


Völker  und  Wege  in  den  Alpen  vor  der  römischen  Eroberung.  29 

gangspunkt  jenes  Stromes  aber  lag  bei  der  keltischen  und  der  germanischen 
Völkerwanderung  beidemale  nicht  im  Norden,  sondern  im  Osten  Europas,  während 
die  Richtung  desselben  nach  Südwesten  ging.  So  bildet  das  Bestreben  von 
Osten  nach  Westen  zu  gelangen  die  überwiegende  lebende  Kraft  dieser  Völker- 
bewegungen, und  die  Aufgabe  der  Alpen,  an  deren  Nordostecke  (Carnuntum) 
jene  Bewegung  zuerst  anstieß,  ist  es  daher  jedesmal  gewesen,  diese  Strömung 
weder  zu  brechen  noch  grundsätzlich  in  ihrer  Richtung  zu  ändern,  sondern  die- 
selbe nur,  das  Südland  schützend,  weiter  an  dem  Nordrand  des  Gebirges  ent- 
lang nach  Westen  zu  leiten.  So  sind  es  nur  Nebenarme  dieses  Stromes,  die 
entweder  sogleich  von  der  östlichen  Seite  der  Alpen  aus  in  der  Richtung  auf 
Venetien  zu  abfließen,  oder  andererseits  von  der  nordwestlichen  Seite  der  Alpen 
aus,  am  Mittellauf  der  Rhone  hinab,  an  die  Westalpen  und  über  dieselben  nach 
Italien  hinüberziehen.  Wie  diese  Bewegungen  nun  bei  der  keltischen  Völker- 
wanderung im  einzelnen  vor  sich  gegangen  sind,  wissen  wir  nicht;  wohl  aber 
sehen  wir  ihr  Auslaufen  ganz  deutlich  in  der  Gestalt,  wie  uns  die  Kelten  im 
Lichte  der  Geschichte  dann  entgegentreten,  als  die  Bewegung  ihren  Willen  ge- 
habt hat,  zum  Stehen  gekommen  ist  und  Spanien  und  besonders  Gallien  im 
weitesten  Sinne  bereits  von  Kelten  angefüllt  sind.  Der  eine,  westliche  Neben- 
strom der  Kelten  hat  sich  über  die  Westalpen  ergossen,  ist  tief  in  Italien  ein- 
gedrungen und  hat  schließlich  nach  Besetzung  Norditaliens  östlich  etwa  an  der 
Südspitze  des  Garda-Sees  Halt  gemacht,  während  von  den  letzten  Wassern  des 
Hauptstromes  sich  ein  Teil  schon  an  den  Ostalpen  getrennt  hat  und  durch  deren 
Gebiet  gleichfalls  bis  an  die  Grenzen  Nordostitaliens  gelangt  ist.  Der  Verbrennung 
Roms  unter  Brennus,  die  Unterwerfung  des  italienischen  Keltenlandes  vor  dem 
zweiten  punischen  Kriege  auf  der  einen  Seite,  auf  der  anderen  Seite  die  römische 
Gründung  Aquilejas  und  die  Kämpfe  der  Römer  gegen  die  Karner  (im  zweiten 
Jahrhundert  vor  Ch.)  illustrieren  diese  Vorgänge. 

Das  Völkerbild,  das  Mittel-  und  Norditalien  vor  Eintritt  dieser  Kelten  ge- 
boten hatte,  war  daher  derart  gewesen,  daß  in  Nordwestitalien  die  Ligurer,  in 
■  Nordostitalien  die  Veneter  saßen,  während  ganz  Mittelitalien  und  von  hier  aus 
nördlich  die  Gegend  von  Cremona  und  Mantua  und  wieder  weiter  nördlich  die 
Mitte  der  Alpen  von  den  Etrusker- Rätern  eingenommen  war;  jedenfalls  eine 
interessante  Gruppierung,  insofern  während  derselben  die  Mitte  Europas  mathe- 
matisch genau  von  ein  und  derselben  Nation,  eben  den  Etrusker-Rätern,  besetzt 
erscheint.  Strittig  bleibt  hierbei  aber  noch,  welchem  von  diesen  drei  Völkern 
der  Ruhm  gebührt,  am  frühesten  in  Italien  gewohnt  zu  haben,  strittig  außerdem, 
ob  die  alten  Veneter  und  Ligurer  überhaupt  nicht  ein  und  dasselbe  Volk  sind, 
und  nur  das  eine  ist  sicher,  daß  sich  die  Etrusker-Räter  von  den  beiden  anderen 
Völkern  ganz  bestimmt  unterschieden  haben.  Gegen  die  Annahme,  daß  Veneter 
und  Ligurer  dasselbe  Volk  seien,  spricht  freilich  das  aus  dem  beiderseitigen 
Wesen  herrührende  grundverschiedene  Schicksal,  das  diese  Völker  während  des 


30  "I.  Kapitel. 

Altertums  betroffen  hat,  sowie  deren  grundverschiedene  Leistungsfähigtceit.  Bei 
den  Venetern,  die  sich  den  Römern  freiwillig  unterordneten,  hat  die  römische 
Kultur  sofort  starke  Wurzeln  geschlagen,  während  die  Ligurer,  wenig  aufnahme- 
fähig, links  liegen  geblieben  sind.  Im  ersten  Jahrhundert  nach  Ch.  bewohnten 
die  Veneter  eine  geistig  und  materiell  zur  höchsten  Blüte  entwickelte  Zone, 
während  Ligurien  zu  derselben  Zeit  nichts  anderes  als  ein  armes  und  sprödes 
Hinterland  war. 

Die  hauptsächlichste  Veränderung,  die  durch  die  keltische  Völkerwanderung 
nun  in  diesen  Zustand  gebracht  wurde,  stellt  sich  dar  als  ein  Zurückdrängen 
aller  dieser  drei  Nationen,  das  am  schwächsten  noch  die  Veneter,  am  folgen- 
schwersten aber  die  Etrusker  getroffen  hat.  Denn  während  die  Veneter  haupt- 
sächlich nur  an  den  Grenzen  beschnitten  und  auch  die  Ligurer  vielleicht  nur 
aus  den  heutigen  Grajischen-Alpen  und  Piemont  nach  Süden  zu  gedrückt  worden 
sind,  spalteten  die  Kelten  das  Gebiet  der  Etrusker  durch  die  Besetzung  Ober- 
italiens gewaltsam  in  zwei  Hälften,  eine  nördliche  in  den  Alpen  befindliche  und 
in  die  südliche  in  Mittelitalien,  auseinander.  jDas  Völkerbild,  das  die  Alpen 
somit  nach  Stillstand  der  keltischen  Völkerwanderung  und  vor  Beginn  der 
römischen  Eroberung  geboten  haben,  ist  derart,  daß,  abgesehen  von  den  schon 
nach  damaligen  Begriffen  fast  international  zu  bezeichnenden  Anwohnern  der 
ligurischen  Küstenstraße,  in  großen  Umrissen  der  Kamm  und  die  östlichen  Ab- 
hänge der  See -Alpen  und  Kottischen  Alpen  von  Ligurern  bewohnt  werden,  an 
die  sich  dann  vom  Bereich  der  Bernhard-Pässe  ab  die  Kelten  anschließen.  Die 
keltische  Völkerwanderung,  von  der  West-  und  Ostseite  des  Gebirges  anspülend, 
hat  demnach  von  diesen  beiden  Seiten  aus  den  westlichen  und  östlichen  Teil  der 
Alpen  mit  ihren  Volksgenossen  erfüllt,  und  nur  in  der  Mitte  derselben  ist  der 
Teil,  den  später  ungefähr  das  Bergland  der  nach  ihnen  benannten  römischen 
Provinz  einnahm,  noch  von  dem  Volke  der  (Etrusker-)  Räter  besetzt.  Auch  in 
bezug  auf  dieses  Volk  liegt  für  den  Anfang  der  geschichtlichen  Erkenntnis  die 
Südseite  der  Alpen  heute  in  besserem  Lichte  als  deren  Nordseite,  insofern  der 
zu  den  Rätern  gehörige  Stamm  der  Euganeer,  der  im  heutigen  Val  Sugana  saß 
und  nordöstlich  von  den  keltischen  Karnern  und  südöstlich  von  den  Venetern 
beschnitten  worden  war,  den  nördlichsten  Pfeiler  der  von  den  Kelten  von  Westen 
aus  zerstörten  Brücke  darstellt,  die  einst  von  den  in  den  Alpen  wohnenden 
Rätern  aus  nach  Süden  zu  den  Stammgenossen  nach  Mittelitalien  hinüberführte. 
Soweit  es  ferner  überhaupt  nicht  gewagt  erscheint,  Vermutungen  über  das  auf- 
zustellen, was  hinter  dem  Vorhang  der  Alpen  wohnte,  ist  es  wahrscheinlich,  daß 
damals  der  Zusammenhang  der  keltischen  Völkerfamilie  vom  Nordabhang  des 
Schweizer  Jura  über  Süddeutschland  bis  nach  den  Ostalpenländern  noch  ganz 
intakt  war.  Die  Spuren  des  eigentlichen  rätischen  Volkes,  die  in  Nordtirol 
schon  schwächer  werden,  hören  in  Oberbayern  ganz  auf;  die  Vindelicier  jeden- 
falls müssen  wir  mit  größerer  Wahrscheinlichkeit  den  Kelten  zuweisen,   da  jene 


Völker  und  Wege  in  den  Alpen  vor  der  römischen  Eroberung.  31 

von  den  Alten  stets  ganz  bestimmt  von  den  Rätern  gesondert  werden,  und  auch 
nördlich  der  tiroler  Berge  mit  großer  Entschiedenheit  die  keltischen  Ortsnamen 
wieder  anheben.  Als  ein  Beispiel  für  viele  mag  hier  der  Name  Brigantium- 
Bregenz  am  Bodensee,  in  dessen  Nähe  Tiberius  die  Vindelicier  besiegte,  gelten; 
der  gleiche  Namensklang  findet  sich  ja  in  Brian^on,  einem  über  allem  Zweifel 
erhabenen  Keltenort  am  Mont  Genevre. 

Die  vielen  Nachrichten,  die  uns  infolge  der  Massenhaftigkeit,  mit  der  die 
Kelten  den  Römern  gegenübertraten,  von  diesem  Volke  erhalten  sind,  ganz  be- 
sonders aber  die  wertvollste  von  allen  diesen  Nachrichten,  die  Charakteristik 
der  Kelten  durch  Cäsar,  ersparen  es  der  Gelehrsamkeit,  ein  Bild  von  dem 
Wesen  dieses  Volkes  nachträglich  zusammen  zu  tragen.  Die  Schilderung  Cäsars 
trägt  in  ihrer  klassischen  Klarheit  derart  den  Stempel  der  Wahrheit  an  sich, 
daß  wir  sie  in  der  Hauptsache  auch  auf  die  Alpenkelten  anwenden  können. 
Für  die  Art,  wie  die  Kelten  im  Alpenland  gewohnt  haben,  muß  freilich  deren 
Charakter  insofern  besonders  in  Rechnung  gezogen  werden,  als  gründliche,  dauer- 
hafte Ansiedelungsarbeit  auch  in  ihrer  Jugendzeit  ebensowenig  Sache  der  keltischen 
Nation  wie  jetzt  gewesen  ist.  Zähigkeit  ist  aber  gerade  zu  allen  Zeiten  für  ein 
Volk  die  erste  Voraussetzung  gewesen,  um  in  den  Alpen  feste  Wurzeln  zu  schlagen. 
Bei  den  Kelten  jener  Zeit  wiegt  aber  unverkennbar  der  Zug  nach  der  Ansiedelung 
in  den  günstigen  Flachländern  vor;  dieses  und  das  besonders  beliebte  Bestreben 
aller  halbkultivierten  Völker  des  Altertums,  entlang  der  Grenzen  ihrer  Gebiete 
unbewohnte  Flächen  haben  zu  wollen  (Helvetische  Wüste  =  Dekumatland),  recht- 
fertigen den  Schluß,  daß  wir  uns  damals  trotz  Polybius,  der  sich  über  die 
Volksdichtigkeit  der  Alpen  wundert,  das  Alpenland  noch  durchaus  von  un- 
bewohnten Gebieten  durchsetzt  denken  müssen.  Da  freilich,  wo  unter  dem  Schutz 
des  Gebirges  die  Bedingungen  zum  Wohnen  einladend  waren,  zeigen  sich  auch 
damals  die  keltischen  Ansiedelungen  in  einer  den  südländischen  ebenbürtigen 
Höhe.  Schon  in  der  Mitte  des  ersten  Jahrhunderts  vor  Ch.  kann  die  Ebene 
zwischen  dem  Genfer  und  Neuenburger  See  (Aventicum,  Solothurn)  ihre  Be- 
wohner nicht  mehr  fassen,  und  das  jenseits  der  Julischen  Alpen  gelegene  Land 
der  Taurisker  erscheint  gleichfalls  schon  zu  dieser  Zeit  als  ein  mit  Orten  und 
Verkehrswegen  dicht  besetztes  Gebiet. 

Die  Ostseite  der  Alpen  legt  nahe,  noch  auf  ein  Volk  einzugehen,  dessen 
Dasein  zufällig  die  Archäologen  in  tausend  interessanten  Resten  an  das  Tageslicht 
gefördert  haben,  auf  das  Volk,  das  in  den  Ostalpen  durch  die  sogenannte  Hall- 
städter Kultur  repräsentiert  wird.  Dergleichen  Funde,  die  ein  gleichartiges  Volks- 
tum beweisen,  finden  sich  von  der  Ostgrenze  der  römischen  Provinz  Rätien  aus 
gerechnet  östlich  über  das  ganze  Alpengebiet  und  besonders  zahlreich  entlang 
des  nördlichsten  Randes  des  Gebirges,  wo  sie  bienenstockartig  gerade  in  der 
Hallstädter  Gegend  auftreten.  Hier  ist  aus  den  zahlreichen  Funden  wunderbar 
klar   das  Bild   einer  in  ihrer  Betätigung  fast  behaglichen  Kultur  emporgestiegen, 


32  III-  Kapitel. 

die  sich  hier,  wir  wissen  nicht  wie  lange,  ergangen  hat,  deren  Lebenskraft  jedoch 
durch  ein  plötzliches,  elementares  geschichtliches  Ereignis  abgeschnitten  worden 
sein  muß.  Aus  der  Tatsache  aber,  daß  die  in  Gesellschaft  der  Hallstädter  Funde 
gemachten  Funde  römischen  Ursprungs  ganz  geringfügig  sind,  können  wir  weiter- 
hin entnehmen,  daß  sich  hier  das  Römertum  keinesfalls  unmittelbar  an  jene  Hall- 
städter Kultur  angeschlossen  haben  kann,  sondern  daß  zeitlich  ein  trennender 
Zwischenraum  zwischen  diesen  beiden  liegen  muß,  und  es  liegt  deshalb  nahe, 
den  letzten  Zügen  der  keltischen  Völkerwanderung  jenes  Zerstörungswerk  zuzu- 
schreiben. Um  400  V.  Ch.  sitzen  die  Kelten  aus  dem  Haupttrupp  des  Völker- 
zuges bereits  in  Oberitalien,  während  diejenigen  der  Arrieregarde  erst  zu  Anfang 
des  zweiten  Jahrhunderts  v.  Ch.  in  Venetien  angeklopft  haben;  aus  den  Funden 
selbst  aber  geht  hervor,  daß  gerade  die  Hallstädter  Kultur  nicht  später  als  um 
200  V.  Ch.  ihr  Ende  gefunden  haben  muß.  Zeitlich  paßt  es  also  durchaus,  diese 
Zerstörung  den  zuletzt  an  der  Linzer  Pforte  angelangten  Kelten  zuzuschreiben, 
die,  als  sie  das  obere  Donautal  vor  sich  bereits  besetzt  fanden,  von  hier  aus 
nach  Süden  abschwenkten. 

Wir  stoßen  in  diesem  Zusammenhange  auf  die  einzige,  uns  noch  erkenn- 
bare, die  Alpen  von  Nord  nach  Süd  durchquerende  Direktive,  in  der  sich  zu 
bewegen  die  Völkerbewegungen  der  Urväterzeit  Neigung  gezeigt  haben.  Es  ist 
dieses  die  Linie,  die  von  dem  Südzipfel  Böhmens  über  die  Kämme  der  Tauern 
und  den  Neumarkter  Sattel  nach  der  Nordspitze  der  Adria  zieht,  eine  Richtung, 
die  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  später  auch  die  Cimbern  eingeschlagen  haben. 
Der  Ausgangspunkt  und  Endpunkt  dieser  Linie,  die  Linzer  Pforte  und  die  Ost- 
ecke der  Adria,  sind  es  allein,  die  diese  in  das  Leben  gerufen  haben,  während 
der  Verlauf  derselben  von  dem  einen  Ende  zum  anderen  durch  die  Alpen  hin- 
durch hinsichtlich  seiner  Wegbarkeit  weder  bequem  noch  zielgerecht  ist,  und 
besonders  in  seinem  nördlichen  Teile  die  zweckentsprechenden,  den  Gebirgs- 
kamm  überschreitenden  Einsattelungen  vermissen  läßt.  Aber  gerade  deshalb 
werden  wir  uns  über  die  an  diesem  nördlichen  Rande  sich  findenden  Spuren  von 
ganz  gründlichen,  Naturereignissen  ähnlichen  Zerstörungswerken  von  Menschen- 
hand weniger  zu  wundern  haben.  Es  ist,  als  ob  sich  die  zurückgehaltene  Wut 
der  Völker,  die  wegen  des  vorliegenden  Gebirges  nach  Süden  nicht  weiter  vor- 
wärts konnten,  zunächst  hier  ausgetobt  hätte.  Das  gleiche  Bild  einer  maßlosen 
Zerstörung,  selbst  nach  den  Verhältnissen  der  Völkerwanderung  gemessen,  zeigen 
dann  auch  die  Ruinen  Salzburgs,  und  wie  sehr  überhaupt  an  der  östlichen  Nord- 
seite der  Ostalpen  der  Anprall  der  letzten  im  Verlaufe  der  germanischen  Völker- 
wanderung auftretenden  Wogen  gewütet  hat,  ist  aus  der  Geschichte  des  heiligen 
Emmeran  ersichtlich,  nach  der  noch  in  der  Mitte  des  siebenten  Jahrhunderts 
n.  Ch.  hier  im  Gebiet  der  Avaren  alle  Kultur  erloschen  war. 

Ganz  im  Gegensatz  zu  den  Kelten  ist  uns  von  dem  Wesen  des  anderen  der 
beiden  ersten  geschichtlichen  Hauptvölker  der  Alpen,   der  Räter,  nur  eine  ganz 


Völker  und  Wege  in  den  Alpen  vor  der  römischen  Eroberung.  33 

geringe  Kunde  erhalten.  Es  ist  das  Verdienst  des  Alpenschilderers  Steub,  daß 
er  die  Frage  über  das  Volkstum  der  alten  Räter  an  der  richtigen  Stelle  ange- 
schnitten und  weiterhin  trefflich  zerlegt  hat.  Steub  hat  mit  einer  unerreicht  glück- 
lichen Mischung  von  ernstem  Gelehrtensinn  und  einem  natürlichen  klugen  Blick 
für  die  Wirklichkeit  den  Rätern  diejenige  Stellung  wiedergegeben,  die  sie  ein- 
gebettet in  dem  sie  umHutenden  Meere  anderer  Völkernamen  in  der  Kunde  der 
Nachwelt  fast  verloren  hatten.  Mögen  auch  späterhin  neben  den  Flammen,  die 
Steub  hier  angezündet  hat,  noch  andere  Lichter  erschienen  sein,  zufolge  deren 
sich  die  Strahlen  der  Forschung  Steubs  jetzt  anders  brechen,  in  der  Haupt- 
sache sind  die  Resultate  Steubs  doch  unverrückt  geblieben.  Steub  hat  nun  eines- 
teils die  schon  bei  den  Alten  vorhandene  Ansicht  als  durchaus  richtig  bewiesen, 
daß  die  Räter  und  Etrusker  ein  und  derselben  Völkerfamilie  angehört  haben, 
anderenteils  aber  auch  den  Umfang  des  Gebietes,  das  jene  Räter  einst  einge- 
nommen haben,  aus  den  über  ihm  lagernden  Schichten  der  späteren  Geschichte 
wieder  deutlich  herausgehoben.  Die  Sprachforschung  allein  ist  es,  die  ihm  dazu 
verholfen. 

Nehmen  wir  das  obere  Rhonetal,  wo  der  Sankt  Gotthard  wie  geschaffen  als 
Grenzpunkt  der  Völkerzonen  sich  erhebt,  als  westlichsten  Punkt  des  alten  Räter- 
landes an,  so  lief  dessen  Grenze  zunächst  über  den  Tödi  nach  dem  Walensee, 
setzte  hier  nach  dem  Bregenzer  Walde  hinüber  und  ging  die  Kette  der  bayrischen 
Voralpen  entlang  bis  zur  Innpforte  bei  Kufstein.  Von  hier  aus  ostwärts  wird  die 
Bestimmung  jedoch  eine  Strecke  weit  unsicher,  bis  sich  wieder  in  der  nahen  und 
weiteren  Umgebung  Salzburgs  unzweifelhaft  rätische  Namen  finden.  Gehen  wir 
nun  aber  zum  oberen  Rhonetale  wieder  zurück  und  von  hier  nach  Süden,  so 
mag  weiterhin  jene  Grenze  ungefähr  bis  nach  Lugano  und  dann  in  ausgesprochen 
östlicher  Richtung  über  die  südlichen  Voralpen  bis  zur  Nordspitze  des  Garda- 
sees  und  von  hier  weiter  bis  zur  Marjnolata  zu  ziehen  sein.  Von  jenem  uralten 
Ruhepunkt  aus,  an  dem  gleichfalls  zu  allen  Zeiten  die  Grenzen  der  Völker  ver- 
ankert lagen,  ist  die  Grenze  dann  weiterhin  nördlich  nach  dem  Pustertal  gezo- 
gen, das  sie  in  der  Gegend  von  Sebatum  (St.  Lorenzen)  überschritten  haben  mag. 
Von  diesem  Punkte  aus  nördlich  gerechnet  befinden  wir  uns  nun  aber  wiederum 
in  jener  Zone,  in  der  die  Grenzbestimmung  unsicher  wird,  da  von  hier  aus  keine 
sicheren  rätischen  Namen  nach  Salzburg  oder  Kufstein  hinüberleiten.  Es  mag 
zu  dieser  Grenzbestimmung  hinzugefügt  werden,  daß  erst  neuerdings  die  Täler 
der  Südalpen  vom  Luganer  bis  zum  Gardasee  anstandslos  den  Rätern  zugewiesen 
werden,  besonders  aber,  daß  ebenso  es  fraglich  erscheint,  Nordtirol  ihnen  un- 
gemischt zu  lassen. 

Innerhalb  jenes  von  den  oben  genannten  Grenzen  umzogenen  Gebietes  wird 
nun  das  Dasein  rätischer  Bewohner  durch  das  Vorkommen  derjenigen  Eigen- 
namen garantiert,  deren  Erklärung  nicht  anders  möglich  ist,  als  für  ihre  Ent- 
stehung das  Nachwirken  einer  alten,  selbständigen,  besonders  gearteten  Sprache 

Scheffel,  Verkehrsgeschichte  der  Alpen.     I.  Band.  3 


34  III.  Kapitel. 

d.  h.  eben  derjenigen  der  Räter  anzunehmen.  Diese  hier  in  Frage  kommenden 
Ortsnamen  sind  in  ihrem  Klange  so  unverkennbar  und  über  jenes  ganze  Gebiet  so 
eindringlich  verbreitet,  daß  zunächst  der  Schluß  nahe  liegt,  daß  alle  die  Stellen, 
an  denen  sie  heutzutage  innerhalb  jenes  Gebietes  fehlen,  im  rätischen  und  rö- 
mischen Altertum  volksleer  gewesen  sein  müssen.  Als  solche  Stellen  hat  schon 
Steub  den  Bregenzer  Wald,  das  Lechtal  und  Teile  des  Oetz-  und  Zillertales  er- 
kannt, und  mögen  hier  zu  ihrer  Vervollständigung  noch  das  Gebiet  östlich  des 
Bernina,  das  Davoser  Tal,  das  Cismonetal  nördlich  Primiero  und  einige  Täler 
nördlich  Bassano  hinzugefügt  werden. 

Die  Tatsache  der  Existenz  dieser  vielen  Namen,  die  heute  noch  die  rätische 
Sprache  verraten,  berechtigt  uns  aber,  in  unseren  Schlüssen  überhaupt  noch 
einen  Schritt  weiter  als  Steub  zu  gehen.  Wenn  diese  alte  rätische  Sprache,  die 
nach  der  römischen  Okkupation  von  der  lateinischen  Sprachbildung  nicht  minder 
energisch  wie  die  Sprachen  aller  anderen  ihr  ausgelieferten  Völker  angefaßt 
worden  ist,  und  dann  ebenso  noch  über  ein  Jahrtausend  hindurch  gleichmäßig 
den  Einfluß  deutscher  und  italienischer  Sprachbildung  über  sich  ergehen  lassen 
mußte,  trotzdem  ein  so  zähes  Leben  gezeigt  hat,  —  während  im  Gegensatz  hierzu 
in  den  anderen  Teilen  der  Alpen,  weder  in  der  Schweiz,  noch  in  den  Ostalpen, 
nirgendwo  noch  heute  gleich  deutlich  der  daselbst  vor  Erscheinen  der  lateinischen 
Sprachbildung  vorhanden  gewesene  Untergrund  in  den  Ortsnamen  hervortritt  — 
so  muß  zweifelsohne  jenem  rätischen  Volke,  dem  diese  Sprache  angehörte,  ein 
zäheres  Leben,  das  einer  Verschmelzung  mit  anderen  Sprachelementen  besonders 
stark  zu  widerstehen  vermochte,  innegewohnt  haben.  Zur  Stärkung  dieser  Be- 
hauptung kann  man  aber  nicht  nur  das  Vorhandensein  jener  zweifellos  rätischen, 
sondern  auch  die  heutzutage  in  der  ganzen  rätischen  Zone  sich  findenden  gleich- 
lautenden Ortsnamen,  die  in  ihrem  Hauptstamm  auf  das  Lateinische  zurückgehen, 
heranziehen,  da  der  ursprüngliche  rätische  Sprachbau  auch  gegenüber  dem  sich 
in  ihm  einpflanzenden  Latinismus  seine  Eigenart  so  nachhaltig  geltend  machte,  daß 
er  auf  seinem  Boden  überall  nur  in  sich  gleichartige,  aber  gegen  die  Ortsnamen 
in  anderen  römischen  Provinzen  ganz  verschieden  klingende  Wortbildungen 
heranwachsen  ließ. 

Dieser  Annahme  von  der  selbständigen  Beschaffenheit  des  rätischen  Volkes 
entspricht  aber  auch  durchaus  das  wenige,  was  wir  von  den  Alten  selbst  über 
die  Räter  wissen.  Dieses  ist  im  Grunde  eigentlich  nur  zweierlei,  einmal,  daß 
diese  Räter  auch  schon  den  Römern  als  ein  durchaus  geschlossenes,  selbständig 
geartetes  Volk  erschienen,  das  sich  von  den  anderen  es  damals  umwohnenden 
Völkern  besonders  stark  unterschied,  und  ferner,  daß  die  Räter  nach  Ansicht 
der  Römer  zu  demselben  Volksstamm  wie  die  Etrusker  gehörten.  Somit  Fällt 
die  bis  heute  ungelöste  Frage,  welcher  Völkerfamilie  die  Räter  zuzuweisen  sind, 
mit  der  gleichen  über  die  Etrusker  zusammen,  eine  Frage,  die  bis  heute  unaus- 
gesetzt den  Gegenstand   der  gelehrten   Forschung   gebildet  hat.     Und   auch   mit 


Völker  und  Wege  in  den  Alpen  vor  der  römischen  Eroberung.  35 

vollem  Recht.  Denn  so  lange  wir  nicht  wissen,  welcher  Rasse  diese  beiden 
Völker  zuzuweisen  sind,  fehlt  nicht  nur  ein  wesentliches  Moment  zur  Re- 
konstruktion des  Völkerbildes  des  alten  Italiens,  sondern  für  unseren  Zweck 
auch  der  Ausgangspunkt  für  die  Entwicklung,  die  ein  Teil  der  Bevölkerung  der 
Alpen  genommen  hat.  Auch  eine  Geschichte  der  Alpenvölker  muß  mit  dieser 
Frage  abrechnen,  da  das  längst  vergangene  geschlossene  Volkstum  der  alten 
Räter  auch  in  die  Jetztzeit  noch  seine  dünnen  aber  trotzdem  ganz  bestimmten 
Schlaglichter  hinüberwirft.  Eine  Unterfrage  ist  dabei  auch  noch,  ob  diese  Räter 
einst  von  Norden  oder  Süden  her  in  die  Berge  gekommen  sind.  Als  einziger 
Anhalt  zu  deren  Bestimmung  könnte  gelten,  daß  sich  heute  noch  auf  dem  Boden 
des  alten  Rätiens  mehrfach  die  Kunde  findet,  die  älteste  Besiedelung  sei  von 
Süden  nach  Norden  gegangen,  eine  Annahme,  die  an  einigen  Stellen  des  Landes 
durch  die  Gestaltung  der  frühesten  kirchlichen  Bezirke,  die  mit  ihren  Haupt- 
orten ganz  im  Gegensatz  zu  den  Forderungen  der  natürlichen  Verhältnissen  auf- 
fallend nach  Süden  gravitieren,  wahrscheinlich  gemacht  wird.^) 

Die  Etrusker  und  Räter  sind  der  Reihe  nach  mit  guten  und  weniger  guten 
Gründen  schon  den  verschiedensten  Völkerfamilien  zugezählt  worden.  Wir 
müssen  hier  einer  der  frühesten  Ansichten  beitreten,  und  zwar  derjenigen,  die 
diese  Nationen  als  zu  den  semitischen  Völkern  gehörig  betrachtet  hat,  wenn  wir 
uns  freilich  auch  von  vornherein  ganz  klar  sind,  daß  die  Gründe,  die  wir  für 
diese  Ansicht  beibringen  können,  keinesfalls  für  eine  Beweisführung,  sondern 
nur  zur  Erklärung  der  Wahrscheinlichkeit  dieser  Annahme  ausreichen  können. 
Von  Anfang  an  hat  der  Charakter  aller  semitischen  Völker  dem  der  Indogermanen 
überall  besonders  schroff  gegenübergestanden,  eine  Erscheinung,  die  sich  in  dem 
Verhältnis  zwischen  dem  römischen  und  dem  etruskischen  Volkstum  durchaus 
wiederfindet,  indem  während  des  römischen  Altertums  die  Verschmelzung  der 
lateinischen  mit  der  etruskischen  Rasse  viel  langsamer  und  unvollständiger  als 
bei  den  anderen  Völkern  Italiens  vor  sich  ging.  Die  Römer  reden  in  ihren 
besten  Zeiten  gern  von  der  etruskischen  Kunstfertigkeit,  ebenso  aber  auch  von 
der  Völlerei  und  Üppigkeit,  die  ihnen  dort  besonders  in  die  Augen  stach;  auch 
dieses  paßt  zu  der  Beobachtung,  wonach  gerade  die  Semiten  in  Industrie  und 
materieller  Kunst  sehr  viel  geleistet,  ebenso  aber  auch  bei  hoher  Kultur  dann 
stets  eine  besondere  Neigung  zum  Quietismus  gezeigt  haben.  Auch  die  Blitz- 
schau, die  bei  den  Etruskern  geübt  wurde,  paßt  zu  dem  Sterndienst  der  Semiten. 
Einigermaßen  zahlreicher  werden  nun  aber  jene  Symptome  für  die  Richtigkeit 
unserer  Annahme  in  der  rätischen  Zone,  was  auch  deshalb  kein  Wunder  nehmen 
darf,  weil  in  jenes  Gebiet  die  Etrusker-Räter  ihre  Wurzeln  drei  Jahrhunderte 
länger  als  in  Mittelitalien  eintreiben  konnten.  Solche  Anklänge  finden  sich  aber 
nicht  nur  in  dem  Wenigen,  das  wir  aus  dem  Altertum  selbst  von  den  Rätern 
wissen,  sondern  ebenso  auch  in  gewissen  Zügen  des  Volkes,  das  heute  noch 
innerhalb  der  Grenzen  des  alten  Rätiens  wohnt. 

3* 


36  III.  Kapitel. 

Dem  Hauptgott,  und  wahrscheinlich  dem  einzigen  Gotte  der  Räter,  wurde 
entsprechend  der  demselben  zugeschriebenen  Eigenschaften  in  der  römischen 
Göttergesellschaft  das  Gewand  des  Saturn  angezogen,  und  es  muß  daher  nach 
dieser  Beziehung  hin  auffallen,  daß  sich  eine  ausgesprochene  Verehrung  des 
Saturn  sonst  im  römischen  Altertum  nur  noch  in  Nordafrika,  also  gleichfalls  auf 
semitischem  Volksuntergrund  feststellen  läßt.  Als  die  Römer  in  das  Innere 
Rätiens  kamen,  fiel  ihnen  ferner  die  besondere  Bauart  der  rätischen  Dörfer  auf, 
für  die  sie  keinen  besseren  Ausdruck  fanden,  als  sie  mit  dem  Namen  Kastell  zu 
bezeichnen,  wie  auch  'noch  im  Jahre  397  n.  Ch.  der  Bischof  Vigilius  von  Trient 
über  die  vielen  im  Nonsberg  gelegene  Kastelle  besonders  erstaunt  gewesen  ist. 
Auch  heute  noch  ist  die  Zahl  der  Orts-  und  Burgennamen,  die  den  Zunamen 
Kastell  führen,  im  Gebiet  des  alten  Rätiens  viel  häufiger  als  in  anderen  roma- 
nischen Ländern.  Es  ist  diese  Tatsache  für  unseren  Zweck  aber  um  so  wichtiger, 
da  die  Mehrzehl  jener  mit  diesem  Zunamen  bezeichneten  Orte  einwandfrei  auch 
schon  zu  den  Zeiten  der  Römer  bestanden  haben  muß^),  und  daher  die  Römer 
jene  Plätze  ohne  weiteres  von  den  alten  Rätern  übernommen  haben  werden. 
Wenn  die  Römer  somit  mit  dieser  Ortsbezeichnung  eine  bestimmte  gerade  den 
Rätern  eigentümliche  Bauweise  in  den  Ortschaften  haben  kennzeichnen  wollen, 
so  ist  es  immerhin  zu  erwähnen,  daß  wir  den  Ausdruck  Kastell  für  wirkliche 
Dörfer  im  römischen  Altertum  nur  noch  in  Nordafrika,  also  gleichfalls  auf 
semitischem  Kulturboden,  wiederfinden.'^)  Selbst  bei  der  Plötzlichkeit  und  Wild- 
heit, die  von  den  Römern  bei  den  rätischen  Raubzügen  in  die  Ebene  hinein 
ausdrücklich  hervorgehoben  werden,  könnte  uns  die  Art  der  Beduinen  in  das 
Gedächtnis  kommen,  und  auch  darin,  daß  die  rätischen  Weiber  ihre  Kinder  auf 
die  andringenden  Feinde  herabgeworfen  haben  sollen  (Florus  IV,  12)  könnte 
man  etwas  von  der  bekannten  semitischen  Selbstaufopferung  wiederfinden. 

Als  Eigentümlichkeit  der  semitischen  Sprachen  gilt  ferner  ihre  Härte  und 
die  in  denselben  sich  vorfindende  Häufung  der  Konsonanten.  Nicht  nur  den 
Römern  erschien  schon  die  etruskische  und  rätische  Sprache  rauh,  sondern  auch 
heute  noch  ist  der  tiroler  Dialekt  ausgesprochen  hart,  während  andererseits  auch 
gerade  das,  was  uns  heute  in  den  tiroler  und  bündner  Ortsnamen  am  fremd- 
artigsten erklingt,  in  erster  Linie  auf  der  Häufung  der  in  denselben  enthaltenen 
Konsonanten  beruht  (Splüdatsch  in  Chur,  Matschatsch  a.  d.  Mendel,  Tschamin- 
thal  am  Rosengarten).  Zu  beachten  bleibt  immerhin  auch,  daß  die  etrurische 
Akademie  in  Cortona  in  dem  Sprachschatz  der  Ladiner  assyrische  und  hebräische 
Stammsilben  zu  finden  geglaubt  hat.^) 

Nicht  in  dem  Maße  wie  die  anderen  indogermanischen  Sagen  haben  die 
tiroler  Volkssagen  als  Hauptgestalten  die  Elfen,  Nixen  und  Gespenster,  sondern 
sie  beschäftigen  sich  ebenso  häufig  mit  vergrabenen  Schätzen  und  wunderbaren 
Tieren  und  ein  gleiches  ist  auch  in  den  Sagen  der  von  den  Mauren  abstammenden 
Bergbewohner  Granadas  zu  beobachten ö).    Vorliebe  für  Obst  und  Gartenbau  ist 


Völker  und  Wege  in  den  Alpen  vor  der  römischen  Eroberung.  37 

eine  besondere  semitische  Eigentümlichkeit '^');  auch  dieses  paßt  zu  dem  obst- 
reichen Bozen  und  dem  Domletsch  in  Bünden  und  zu  den  Blumen,  die  sich, 
verbreiteter  als  in  anderen  Ländern,  gerade  vor  den  tiroler  Bauernhäusern  finden. 
Die  alte  semitische  Unruhe  im  Wohnen  ist  auch  den  Tirolern  durchaus  nicht 
fremd").  Der  Tanz  ist  in  Rätien  stets  eine  uralte  und  derart  wichtige  Beschäf- 
tigung gewesen,  daß  früher  an  manchen  Stellen  das  Gerichtshaus  und  der  mit 
Teppichen  behangene  Tanzboden  ein  und  dasselbe  Gebäude  waren;  bei  dem  Anblick 
echter  Tiroler  Tänze  aber  könnte  man  sich  zuweilen  aber  auch  bei  den  jagenden  Be- 
wegungen der  Weiber  ebensogut  orientalische  Tänzerinnen  vorstellen. 

Ureigenschaften  der  Semiten  waren  von  jeher  ihr  zähes  Gemeingefühl  und 
nach  Renan,  dem  bislang  immer  noch  gründlichsten  Kenner  dieser  Völker,  „die 
aus  strengem  Monotheismus  entspringende  Intoleranz,  ebenso  Mangel  an  philoso- 
phischem und  analytischem  Sinn  sowie  an  regulären  militärischen  Fertigkeiten, 
dagegen  u.  a.  Stärke  in  musikalischer  Begabung".  Auch  auf  dem  Boden  des 
alten  Rätiens  (Salzburg)  ist  die  Musik  besonders  zu  Hause  und  die  seit  alter 
Zeit  in  Bünden  und  Tirol  viel  häufiger  als  irgendwo  sonst  in  Europa  geführten 
Volkskämpfe  setzen  gleichfalls  ein  besonders  zähes  Gemeingefühl  voraus. 
Auch  die  Religionskämpfe  sind  kaum  irgendwo  anders  heißer  als  in  diesen 
Ländern  ausgefochten  worden,  und  religiöse  Intoleranz  unter  dem  Begriff  der 
Glaubenseinheit  ist  in  Tirol  noch  bis  zur  Schwelle  der  Jetztzeit  zu  Haus  ge- 
wesen. Auch  Bünden  und  Tirol  haben  wohl  nicht  weniger  wie  andere  Länder 
bedeutende  Leute,  aber  unter  diesen  doch  immerhin  in  geringerer  Zahl  zünftige 
Gelehrte  hervorgebracht,  und  die  Söhne  dieser  Länder  haben  ihre  militärischen 
Vorzüge  vorwiegend  auch  nur  im  kleinen  Kriege  und  weniger  in  großen  Ge- 
fechten gezeigt.  Von  Abd-el-Kader,  dem  großen  Gegner  der  Franzosen  in 
Algerien,  sagt  Renan,  „er  sei  ein  Weiser,  ein  Mann  der  Leidenschaft  und  reli- 
giösen Stimmung,  keineswegs  ein  Soldat  gewesen".  Diese  Charakteristik  paßt 
ebensogut  auf  den  Tiroler  Volkshelden  Hofer,  und  selbst  auf  einem  1810  er- 
schienenen, Hofer  darstellenden  Stiche  kann  man,  wenn  man  will,  vielleicht  ganz 
gut  in  dem  Gesicht  und  Haarwuchs  etwas  wie  die  Züge  eines  Mauren  heraus- 
finden (veröffentlicht  in  Haushofers  Monographie  von  Tirol,  Abb.  17). 

Es  ist  nun  noch  am  Platze,  auf  diejenigen  Eigenschaften  einzugehen,  die 
heute  noch  dem  Volke,  das  Tirol  und  Bünden  bewohnt,  gemeinsam  geblieben 
sind.  Die  beiden  Teile  des  alten  Rätiens,  die  westliche  Hälfte,  Graubünden,  und 
die  östliche  Hälfte,  Tirol,  haben  seit  dem  Ende  des  römischen  Reiches  und  be- 
sonders seit  den  Zeiten  Karls  des  Großen  eine  ganz  verschiedene  Entwicklung 
genommen,  so  daß  das  Gemeinsame,  das  den  Bewohnern  dieser  Länder  heute 
noch  anhaftet,  in  seinem  Ursprünge  mit  größerem  Recht  auf  deren  frühere  Zu- 
sammengehörigkeit als  auf  die  folgenden  Zeiten  zurückzuführen  ist.  Wenn  man 
von  denjenigen  Bevölkerungsresten  in  Bünden  und  Südtirol  ausgeht,  die  sich 
heute  noch  durch  ihre  ladinische  Sprache  ohne  weiteres  als  direkte  Nachkommen 


38  III.  Kapitel. 

derjenigen  ausweisen,  die  schon  einst,  als  Rätien  noch  ungeteilt  war,  hier  wohnten, 
so  findet  sich  auch  bei  diesen  noch  jene  bezeichnende  Zähigkeit  und  geringe 
Entwicklungsfähigkeit  ihres  Volkstums,  ebenso  aber  auch  beiderseits  bei  den 
Ladinern  in  Bünden  und  Tirol  überwiegend  die  Fähigkeit,  die  schlechten  Eigen- 
schaften ihrer  Nachbarn  von  sich  abzuwehren  und  die  besseren  sich  zu  eigen  zu 
machen.  Äußerlich  ähneln  alle  Ladiner  mehr  den  Italienern  als  den  Deutschen, 
wenn  sie  sich  auch  von  jenen  wieder  durch  besonders  kräftigen  Wuchs  und 
glattes  Haar  unterscheiden;  südländische  Genügsamkeit,  Energie  und  Sicherheit 
im  Auftreten  verbindet  sich  hier  mit  nordischer  Ehrlichkeit  und  Sauberkeit.  Man 
kann  jene  Ladiner  am  besten  als  einen  kalten  Schlag  von  Romanen  bezeichnen;. 
denn  die  tiefe  innere  Leidenschaftlichkeit,  die  ihnen,  aber  auch  sonst  dem  ganzen 
bündner  und  tiroler  Volke  innewohnt,  schlummert  tief  zurückgehalten  in  der 
Seele  und  bedarf  erst  starker  Antriebe,  um  sich  an  das  Licht  zu  getrauen. 

Eine  besondere  bündner  und  tiroler  Eigentümlichkeit  ist  es  ferner,  daß  es 
in  diesen  Gebieten  stets  zahlreiche  über  das  Land  verstreute,  mächtige  und  fest 
eingewurzelte  Dynastengeschlechter  gegeben  hat.  Wie  Berg  und  Fluß  gehört 
diese  Gesellschaft  hier  zum  Charakter  des  Landes,  und  niemals  und  in  keinem 
Teile  dieser  Länder  hat  in  der  bündner  und  tiroler  Geschichte  die  Lebenskraft 
des  hohen  Adels  einmal  ausgesetzt.  Ein  Zeichen,  wie  fest  sich  dieses  Herrentum 
hier  stets  gefühlt  hat,  ist  die  gemütliche  und  sichere  Art,  in  der  Oswald  von 
Wolkenstein,  der  Minnesänger,  in  seiner  Heimat,  der  urrätischen  Zone  des  Schiern, 
mit  dem  Volke  verkehrt.  Als  eine  einzig  dastehende  Erscheinung  kann  man 
schließlich  ansehen,  daß  allein  der  rätische  Volksuntergrund,  sonst  kein  anderer, 
das  Vorkomnis  geliefert  hat,  daß  über  ihm  evangelische  Gemeinden  italienischer 
Zunge  entstehen  und  dauern  konnten.  Gemeint  sind  hier  die  evangelischen 
Gemeinden  im  Bergeil  und  Puschlav.  Sonst  hat  stets  alles,  was  die  italienische 
Zunge  spricht,  das  vom  Norden  der  Alpen  gekommene  evangelische  Bekenntnis 
wie  mit  Naturgewalt  von  sich  gestoßen.  Wenn  dieses  sich  hier  aber  trotzdem 
erhalten  konnte,  so  müssen  jene  evangelischen  Leute  trotz  ihrer  italienischen 
Zunge  doch  ein  ganzes  Stück  anders  zusammengesetzt  sein  als  die  übrigen  Italiener. 
Hier  hat  demnach  das  rätische  Blut,  das  so  besonders  stark  religiöse  Stimmungen 
in  sich  verarbeitet,  gerade  die  entgegengesetzte  Wirkung  gezeitigt  als  in  Tirol. 
Konsequenter  Weise  muß  man  dann  aber  auch  den  jenen  Gemeinden  dicht  be- 
nachbarten Bewohnern  des  Veltlin  in  der  Hauptsache  das  rätische  Blut  absprechen, 
da  diese  gegenüber  jener  Geistesströmung  in  echt  romanischer  Weise  Stellung 
genommen  haben  (Veltliner  Mord  1620).  Im  übrigen  stehen  sich  für  die  Ent- 
scheidung der  Frage,  ob  das  Veltlin  im  Altertum  den  Rätern  zuzuteilen  wäre 
oder  nicht,  zwei  Gründe  gleichen  Wertes  gegenüber;  denn  einesteils  haben  wir 
unter  den  Rätern  einen  Volksstamm  der  Venonetes,  der  sich  seinem  Namen 
nach  am  besten  nach  dem  Veltlin  verlegen  läßt,  anderenteils  müssen  wir  aber 
gerade  in  diesem  Tale  die  akratischen  Ortsnamen  besonders  vermissen. 


Völker  und  Wege  in  den  Alpen  vor  der  römischen  Eroberung.  39 

Die  Wege. 

So  würde  dicht  vor  dem  Zeitpunkte,  an  dem  das  Eindringen  der  Römer 
in  die  Alpen  selbst  stattgefunden  hat,  noch  das  zu  behandeln  sein,  was  von  dem 
vorgeschichtlichen  Wegenetz  der  Alpen  zu  rekonstruieren  möglich  ist.  Von  den 
Arten  des  Verkehrs,  die  in  vorgeschichtlicher  Zeit  über  die  Alpen  gegangen  sind, 
müssen  jedoch,  wie  wir  schon  gesehen  haben,  die  planmäßigen  kriegerischen 
Bewegungen  von  vornherein  ausgeschaltet  werden,  und  wir  haben  es  hier  daher 
nur  mit  Völkerbewegungen  oder  mit  einem  in  den  Uranfängen  stehenden  Handels- 
verkehr zu  tun.  Gerade  bei  der  Frage  nach  den  vorgeschichtlichen  Verkehrs- 
wegen der  Alpen  tritt  der  Fall  ein,  daß  die  Archäologie  hier  die  geschichtliche 
Überlieferung  vorzüglich  ergänzen  kann.  Wenn  nun  die  Art  der  Münzfunde  am 
treuesten  die  ältesten  Handelsbewegungen  wiederspiegelt,  so  können  wir  zunächst 
aus  der  Masse  der  in  und  neben  den  Alpenländern  gemachten  Funde  vorrömischer 
Münzen  wiederum  die  alte  Wahrheit  ableiten,  daß  die  Alpen  bei  unentwickelten 
Kulturmitteln  besonders  deutlich  die  Bestimmung  einer  Trennungsmauer  des 
Südlandes  gegen  den  Norden  erfüllt  haben,  und  daß  das,  was  man  in  den 
ältesten  Zeiten  überhaupt  europäischen  Verkehr  nennen  kann,  durchaus  die  Nei- 
gung gezeigt  hat,  durch  Europa  in  horizontaler  Linie  zu  laufen  und  so  die  Alpen 
nördlich  und  südlich  zu  umgehen.  Die  Münzfunde  sprechen  dies  ganz  klar  aus; 
denn  der  westliche  Flügel  der  Alpen  nebst  seinen  Vorlanden  weist  vor  den 
Römermünzen  nur  massaliotische,  der  östliche  dagegen  nur  griechische  und  make- 
donische Königsmünzen  auf.  Eine  von  Süd  nach  Nord  durch  Bünden  gezogene 
Linie  aber  bildet  den  Schnitt,  der  diese  beiden  Fundgebiete  auseinanderspaltet, 
die  erste  Vorahnung  von  der  Existenz  jener  Grenzlinie,  die  durch  die  gleiche 
Zone  laufend  von  alters  her  eine  Teilung  des  Alpengebietes  in  eine  östliche  und 
westliche  Hälfte  hervorgerufen  hat. 

Eine  erklärliche  Folge  dieses  Bestrebens,  die  Alpen  zu  umgehen  ist  es 
deshalb  auch,  daß  die  Handelsstraßen,  die  von  der  nördlichen  nach  der  süd- 
lichen Meeresküste  Mitteleuropas  liefen  und  deren  auch  schon  die  vorgeschicht- 
liche Zeit  bedurfte,  nicht  die  Alpen  überschritten  haben,  sondern  an  deren  West- 
und  Ostseite  vorbeiführten.  Es  sind  dies  westlich  die  von  Massilia  aus  über 
den  Rhein  nach  der  Nordsee  führende  Straße,  in  deren  südliches,  von  Lug- 
dunum  nach  Coblenz  führendes  Gleis  dann  Augustus  eine  römische  Chaussee 
legte,  und  die  sogenannte  Bernsteinstraße,  die  von  der  Ostsee  durch  Böhmen 
nach  Griechenland  lief.  Ein  Ableger  dieser  letzteren  suchte  sich  schon  in  vor- 
geschichtlicher Zeit  den  Weg  nach  Norditalien.  Es  ist  dies  derjenige,  dem 
wahrscheinlich  die  geringen  Spuren  griechischer  Kolonisation  an  der  Adria  das 
Leben  verdanken  und  der  vor  allem  die  römische  Bernsteinindustrie  Aquilejas 
emporgebracht  hat. 

Daß  aber  trotzdem  auch  schon  vor  der  römischen  Eroberung  neben  den 
großen  die  Alpen  umgehenden  Handelslinien  ein  hauptsächlich  dem  Lokalverkehr 


40  !"•  Kapitel. 

dienendes,  leidlich  ausgetretenes  Straßennetz  mit  der  Tendenz  von  Nord  nach 
Süd  das  Alpengebiet  selbst  überzog,  würde  an  sich  schon  ohne  weiteres  aus  der 
Tatsache,  daß  die  Alpen  damals  bewohnt  waren,  abzuleiten  sein.  Es  wird  dies 
aber  außerdem  durch  eine  Notiz  des  Strabo  erwiesen,  der  in  dieser  ganz  aus- 
drücklich im  allgemeinen  von  den  bereits  vor  der  römischen  Eroberung  in  den 
Alpen  vorhandenen  Straßen  („die  Augustus,  so  weit  es  möglich  war,  verbesserte") 
redet.  Die  geschichtliche  Überlieferung  nennt  dann  weiter  im  besonderen  vier 
große  vorrömische  Alpenstraßen:  die  ligurische  Küstenstraße,  die  Straße  über  den 
Mont  Genevre,  die  über  den  Kleinen  Sankt  Bernhard  und  eine  durch  Rätien. 
Diese  Übergänge  macht  Polybius  namhaft,  und  es  sind  dies  einfach  diejenigen, 
die  schon  im  zweiten  Jahrhundert  vor  Ch.  auch  schon  den  Südländern,  vor 
allem  den  Römern,  bekannt  waren.  Würde  diese  Notiz  des  Polybius  fehlen,  so 
würde  trotzdem  die  Existenz  dieser  Übergänge  schon  aus  den  geschichtlichen 
Ereignissen  nachzuweisen  möglich  sein;  denn  dem  Übergang  über  den  Mont 
Genevre  oder  Kleinen  Sankt  Bernhard  haftet  ganz  abgesehen  von  Hannibals  und 
Hasdrubals  Alpenübergang  die  Kunde  von  ihrer  Benutzung  durch  die  Kelten  an, 
während  die  Benutzung  eines  rätischen  Passes  überhaupt  durch  den  Weg,  den 
die  Cimbern  nach  Italien  einschlugen,  sichergestellt  ist.  Die  Geschichte  d.  h. 
das  erste  Erscheinen  der  Cimbern  in  der  weiteren  Umgebung  Aquilejas  und  die 
Unterwerfung  Istriens  durch  die  Römer  im  Jahre  177  vor  Ch.  liefert  außerdem 
den  Beweis  von  der  frühen  Existenz  der  östlichsten,  (der  sogenannten  Birn- 
baumer-) Straße  über  die  Alpen. 

Nehmen  wir  nun  aber  weiter  diejenigen  Straßen  hinzu,  an  deren  Straßen- 
körper selbst  außerdem  noch  die  archäologische  Wissenschaft  vorrömische  Funde 
an  das  Tageslicht  gefördert  hat,  so  treten  zu  den  oben  genannten  Straßen  noch 
als  Verkehrslinien,  die  in  vorgeschichtlicher  Zeit  benutzt  worden  sein  müssen, 
hinzu:  die  Straße  über  den  Großen  Sankt  Bernhard,  die  Julier  oder  Septimer 
Straße  (Fund  von  Conters-Burwein),  derjauffen  (vorgeschichtliche  Befestigungen 
bei  Meran),  der  Brenner  (Etruskerfunde  von  Matrei  a.  B.  und  Sistrans)  und  die 
Ploeckenstraße.  An  letzterer  Straße  haben  die  an  der  Stelle  des  alten  Gurina 
im  Obergailtal  gemachten  Funde  daselbst  sogar  das  Dasein  einer  Volksenklave 
der  alten  Veneter,  die  sich  allein  infolge  des  Handels  so  weit  nach  Norden 
gezogen  haben  können,  an  das  Tageslicht  gebracht  und  hierdurch  zugleich  die 
hervorragende  Benutzung  und  Belebtheit  der  Straße  über  den  Ploeckenpaß  in 
vorrömischer  Zeit  festgestellt.  Gerade  diese  Tatsache  ist  in  Hinblick  auf  die 
Schicksale  der  anderen  seit  Beginn  der  geschichtlichen  Kenntnis  hervortretenden 
Alpenstraßen  um  so  auffallender,  da  wir  kein  einziges  geschichtliches  Ereignis 
des  Altertums  in  den  Bannkreis  der  Ploeckenstraße  zu  legen  vermögen. 

Die  genaue  Kunde  von  der  Benutzung  der  Alpenstraßen  in  vorrömischer 
Zeit  ist  somit  getrübt  und  gering  genug.  Nach  Lage  der  Dinge  kann  dieses 
aber  auch  nicht  anders  sein,  und  wir  haben  diesen  Umstand  auch  nicht  sehr  zu 


Völker  und  Wege  in  den  Alpen  vor  der  römischen  Eroberung.  41 

bedauern,  da  die  Ziele  des  in  vorrömischer  Zeit  über  die  Alpen  gehenden 
Handels-  und  Völkerverkehrs  überall  nur  dumpfen  Reizen  entsprungenen 
Trieben  geglichen  haben  können.  Erst  das  Schauspiel,  wie  sich  ein  bewußter 
fester  Wille  mit  den  Anforderungen  des  Verkehrs  über  die  Alpen  auseinander- 
gesetzt hat,  ist  für  die  geschichtliche  Betrachtung  das  eigentlich  Interessante,  und 
dieses  wird  uns  geboten  in  dem  Verfahren,  das  die  Staatskunst  der  römischen 
Kaiserzeit  gegenüber  den  Alpen  einschlug. 


IV.  Kapitel. 

Die  Eroberung  der  Alpenländer  durch  die  Römer. 


Nicht  zur  Zeit  der  römischen  Republit;,  sondern  erst  unter  den  ersten  Kai- 
sern sind  die  Alpenländer  in  das  römische  Reich  eingefügt  worden.  Aber  noch 
der  erste  geniale  und  kraftvolle  Repräsentant  dieses  Periode  hat  dieses  Gebiet, 
das  doch  viel  stärker  als  andere  entfernter  liegende  Länder  die  Tätigkeit  der 
römischen  Monarchie  herauszufordern  schien,  auffallend  unberücksichtigt  gelassen. 
Dank  seiner  eigenen  Geschichtsschreibung  liegt  Cäsars  Wirken  und  Wollen  heute 
noch  wunderbar  klar  vor  uns  ausgebreitet,  aber  trotz  aller  Großheit,  von  der  die 
Erscheinung  Cäsars  umstrahlt  wird,  hinterließ  er  doch  ein  nur  unvollendetes 
Werk.  Auch  Cäsar  hat  seinen  Tribut  an  die  Kürze  des  Menschenlebens  bezahlt, 
indem  er  sich  es  gefallen  lassen  mußte,  stets  mitten  aus  seinem  Wirken  heraus 
von  den  Ereignissen  mit  fortgerissen  zu  werden.  Noch  war  bei  seinem  Tode 
die  Monarchie  nicht  vollendet,  und  ebenso  hatte  er  vorher,  als  er  in  Italien  die 
Alleinherrschaft  aufzurichten  begann,  Gallien  verlassen  müssen,  ohne  auch  hier 
die  letzte  Hand  an  sein  Werk  legen  zu  können.  Die  Unterwerfung  Galliens, 
durch  die  nicht  nur  die  Erwerbung  dieses  großen  Landes  sondern  auch  schon 
nach  dem  Maßstab  damaliger  Zeiten  ein  Stillstand  der  germanischen  Völker- 
wanderung bewirkt  wurde,  war  das  eigentlich  staatlich  praktische  Werk  Cäsars; 
dieses  Werk  hätte  aber  nur  dann  als  wirklich  vollendet  gelten  können,  wenn 
Rom  auch  die  äußeren  Machtmittel  besessen  hätte,  über  die  Alpen  sicher  nach 
Gallien  zu  gelangen,  also  das  zwischen  Gallien  und  Italien  liegende  Alpengebiet 
selbst,  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  ebenfalls  befriedet  und  geordnet,  Rom  ge- 
horchte. Cäsar  hat  keine  Zeit  mehr  gefunden,  auch  dieses  Werk  noch  in  Angriff 
zu  nehmen.  Gewiß  tritt  neben  der  Größe  seines  Erfolges  diese  Versäumnis  auf 
den  ersten  Blick  zurück.  Daß  aber  trotzdem  das  eine  ohne  das  andere  nicht 
gut  möglich  war,  und  die  Alpen  als  letztes,  unentbehrliches  Glied  in  die  römische 
Herrschaft   Mitteleuropas   eingefügt  werden   mußten,  wird   durch   das   Verhalten 


Die  Eroberung  der  Alpenländer  durch  die  Römer.  43 

des  Augustus  bewiesen,  dem  sich  dann  diese  Arbeit  nach  Aufrichtung  seiner 
Herrschaft  sofort  gebieterisch  aufdrängte. 

Cäsars  Tätigiceit  in  und  an  den  Alpen  resultiert  so  nur  aus  zwei  Anlässen. 
Zunächst  erstreckte  sie  sich  direkt  auf  diejenigen  Alpengebiete,  die  unmittelbar 
nach  dem  gallischen  Kriegsschauplatz  hinüberführten;  in  zweiter  Linie  aber  — 
und  gerade  dies  wäre  für  Cäsar,  der  doch  in  erster  Linie  Statthalter  Oberitaliens 
war,  eigentlich  das  am  nächsten  liegende  gewesen  —  hängt  sie  mit  dem  zusam- 
men, was  an  den  Nord-  und  Ostgrenzen  der  diesseitigen  oberitalienischen  Provinz 
zu  tun  war,  oder  besser  gesagt  mit  dem  Wenigen,  unbedingt  Nötigen,  das  schließ- 
lich dort  von  Cäsar  notgedrungen  ausgeführt  wurde.  In  beiden  Fällen  sehen  wir 
jedoch  Cäsar,  ganz  im  Gegensatz  zu  seiner  sonstigen  systematischen  und  ziel- 
bewußten Art,  sich  nur  mit  Maßregeln  des  Augenblicks,  ja  fast  mit  halben  Maß- 
regeln begnügen. 

Als  Cäsar  bei  Beginn  seiner  gallischen  Laufbahn  in  aller  Eile  seine  fünf 
Legionen  aus  Oberitalien  zum  Kampfe  gegen  die  Helvetier  nach  Gallien  herüber 
holt,  müssen  sich  diese  zunächst  auf  der  erst  vor  kurzem  für  den  Militär-Verkehr 
eröffneten  Straße  des  Mont  Genevre  den  Durchzug  durch  die  eingesessenen 
Bergvölker  erkämpfen.  Daß  dies  bei  der  Anzahl  und  Bewaffnung  der  römischen 
Armee  keinen  großen  Aufenthalt  verursacht  hat,  ist  an  sich  nicht  wunderbar; 
auffallend  muß  es  aber  bleiben,  daß  Cäsar  niemals  auf  die  Konsolidierung  dieser 
ganzen  Gebiete,  im  besonderen  auch  auf  eine  Festlegung  des  Weges  über  den 
Kleinen  Sankt  Bernhard,  der  viel  kürzer  an  sein  militärisches  Zentrum  in  Gal- 
lien heranführte,  zurückgekommen  ist.  Als  ihn  dann  schließlich  schon  im  zweiten 
Jahre  des  Krieges  die  Ereignisse  bis  tief  in  das  Innere  Galliens  hineingeführt 
haben,  machte  sich  für  ihn  allerdings  sofort  auch  der  Gesichtspunkt  geltend,  die 
über  das  Gebirge  heranführenden  Wege  zu  sichern.  Seine  Wahl  fallt  dabei  auf 
den  Großen  Sankt  Bernhard.  Schon  hieraus  erhellt  zwar  die  überwiegende  Be- 
deutung dieses  Passes  für  die  Verbindung  zwischen  Italien  und  dem  Innern  Gal- 
liens, aber  von  der  Tätigkeit  Cäsars  in  den  West-  und  Zentralalpen  erfahren 
wir  sonst  weiter  nichts.  Helvetien  hatte  für  ihn  seine  Bestimmung  erfüllt,  nach- 
dem dessen  Bewohner  gerade  noch  fähig  geblieben  waren,  als  Wachtposten  gegen 
die  Germanen  zu  dienen,  und  die  organisatorische  Tätigkeit  des  Eroberers  be- 
gnügte sich  hier  mit  der  Gründung  von  Julia  Equestris  (Nyon).  Selbst  wenn 
die  Gründung  von  Äugst  schon  auf  Cäsar  zurückgeführt  werden  kann,  so  lag 
dieser  Ort  doch  bezeichnenderweise  immer  noch  westlich  des  Schweizerischen 
Jura,  und  der  östliche  Flügelpunkt  der  römischen  Rheinfront  war  also  damals 
noch  nicht  bis  auf  die  Schweizer  Hochebene  selbst  hinübergerückt. 

Auf  der  italienischen  Südgrenze  der  Alpen,  da  wo  diese  unmittelbar  römi- 
sches Gebiet  berührte,  hat  dagegen  Cäsar  häufiger  eingegriffen.  Hier  war  es, 
wo  im  Norden  der  Provinz  vom  Komer-See  ab  die  Nachbarschaft  der  Räter  und 
dann  weiter  ostwärts  diejenige  der  Karner  und  Taurisker  begann.     Aber  wie  alle 


44  IV.  Kapitel. 

Statthalter  vorher,  so  nahm  auch  Cäsar,  nur  aus  anderen  Gründen,  hier  keinen 
Anlaß,  wirklich  durchzugreifen  und  die  Grenzen  vor  den  Einfällen  der  Gebirgs- 
völker  dauernd  sicher  zu  stellen.  Während  seines  kurzen  und  unregelmäßigen 
Aufenthaltes  in  diesen  Gebieten  konnte  so  nur  das  Allernötigste  erreicht  werden. 
Hierher  gehört  die  Neugründung  von  Como,  in  das  Cäsar  fünftausend  auser- 
lesene Kolonisten  verpflanzte  und  ebenso  auch  die  Beschwichtigung  der  Pirusten 
in  Illyrien.  Wie  unsicher  aber  trotzdem  die  Verhältnisse  hier  geblieben  waren, 
zeigt  noch  am  Ende  des  gallischen  Krieges  die  Entsendung  einer  Legion  nach 
Oberitalien,  die  infolge  eines  Einfalles  der  Alpenvölker  in  das  Triestiner  Gebiet 
nötig  geworden  war. 

Und  doch  wartete  schon  damals  an  den  Ufern  des  Po  und  der  Etsch  der 
in  den  letzten  Jahrzehnten  rasch  aufgeblühte  Wohlstand  und  stark  entwickelte 
Handel  Venetiens  ungeduldig  auf  eine  Konsolidierung  und  Befestigung  der  dortigen 
staatlichen  Verhältnisse.  Daß  es  auch  hier  viel  und  nötiges  zu  tun  gab,  ist 
sicherlich  auch  Cäsar  während  seiner  Anwesenheit  in  Illyrien  nicht  entgangen. 
Zweimal  ist  seine  Anwesenheit,  in  den  Jahren  57  und  54  v.  Ch.  daselbst  bezeugt, 
und  auch  dafür,  daß  er  selbst  in  die  Verkehrsverhältnisse  eingreifen  wollte,  sind 
Zeichen  vorhanden.  Hierhin  gehört  die  Verleihung  des  römischen  Bürgerrechtes 
an  die  Veneter,  besonders  aber  die  Nachricht  des  Sextius  Rufus,  „daß  unter 
Cäsar  und  Augustus  die  Römerstraße  über  den  Birnbaumer  Wald  gebaut  worden 
sei".  Auf  Grund  dieser  Notiz  hat  man  dann  auch  die  Gründung  von  Forum 
Julii  (Cividale)  und  von  Julium  Carnicum  (Zuglio  an  der  Ploeckenstraße),  ja  auch 
die  Festlegung  der  Birnbaumer  und  die  Eröffnung  der  Ploeckenstraße  selbst  auf 
Cäsar  zurückführen  wollen.  Wenn  man  aber  einerseits  bedenkt,  wie  sehr  Cäsars 
Sinn  und  Tätigkeit  von  diesen  Gebieten  weg  anderswohin  gerichtet  waren,  anderer- 
seits aber,  wie  tatkräftig  dann  Oktavian,  als  er  noch  nicht  Augustus  hieß,  gerade 
an  dieser  Stelle  mit  dem  Ausbau  seines  Reiches  begann,  wird  man  sich  dahin 
entscheiden  müssen,  daß  auch  die  Ordnung  dieser  Verkehrsverhältnisse  mit 
größerer  Wahrscheinlichkeit  Augustus,  und  nicht  Cärar  zuzuschreiben  ist. 

Wenn  daher  Cäsar  auch  ein  Eingreifen  in  die  Alpen  selbst  im  einzelnen 
geflissentlich  gemieden  hat,  so  bleibt  ihm  doch  der  Ruhm,  der  bahnbrechende 
Schöpfer  derjenigen  Situation  gewesen  zu  sein,  durch  die  dann  über  drei  Jahr- 
hunderte hindurch  das  Schwergewicht  Roms  jenseits  der  Alpen  am  Rhein  fest- 
gelegt war  und  von  der  die  Eroberung  der  Alpen  selbst  die  erste  und  wichtigste 
Konsequenz  wurde.  Als  Cäsar  vor  Beginn  des  Bürgerkrieges  sein  Heer  bei 
Trier  musterte,  war  das  Werk  schon  in  Umrissen  vollendet,  das  es  erlaubte,  aus 
derselben  Stellung  heraus  die  Armee  Roms  beliebig  gegen  Gallien  oder  Germanien 
oder,  wenn  es  sein  mußte,  auch  gegen  die  Hauptstadt  Rom  selbst  zu  gebrauchen. 

Wenn  wir  unter  Geschichte  das  Suchen  nach  Erkenntnis  und  gerechter 
Würdigung  der  menschlichen  Vergangenheit  verstehen,  so  hat  über  den  uns 
erhalten  gebliebenen  Resten,  die  allein  jene  Erkenntnis  vermitteln   können,  stets 


Die  Eroberung  der  Alpenländer  durch  die  Römer.  45 

ein  verschiedenartiges  und  deshalb  zumeist  auch  ungerechtes  Schiclcsal  gewaltet. 
Wo  der  Zufall  uns  die  Quellen  einer  Epoche  rein  und  vollständig  bewahrt  hat, 
da  tritt  jene  Zeit  auch  heute  noch  klar  und  lebhaft  vor  unser  Auge,  und  die 
historischen  Gestalten  derselben  sind  geschichtliche  Prägungen  ganz  bestimmten 
Wertes,  die  ein  dauerndes  geistiges  Leben  umstrahlt.  Sind  aber  die  Quellen 
dürftig,  unvollständig  oder  getrübt,  so  wird  auch  die  geschichtliche  Würdigung 
der  Kinder  dieser  Zeit  unsicher  und  verwirrt.  Die  Gerechtigkeit,  die  sich  im 
Leben  des  Einzelnen  vermissen  läßt,  versagt  auch  nach  dem  Tode  und  gegen- 
über der  ganzen  Menschheit,  und  auch  im  Reiche  der  Geschichte  hat  sich  der 
menschliche  Geist  mit  dem  Zufall  in  die  Beherrschung  alles  Menschenwertes 
teilen  müssen. 

Die  Verschiedenartigkeit  in  derQualität  derQuellen  der  einzelnen  Zeitepochen 
und  die  dadurch  hervorgerufene  Ungerechtigkeit  in  der  Bewertung  der  geschicht- 
lichen Ereignisse  ist  aber  viel  größer  als  der  erste  Blick  auf  eine  wohlgeschriebene, 
langausgedehnte  Geschichte  irgend  eines  Volkes  oder  Landes  ahnen  läßt.  Auch 
die  Geschichte  der  Alpen  liefert  hierfür  mehr  als  ein  Beispiel.  Wie  klar  tritt 
uns  durch  das  Genie  Cäsars,  das  dessen  Kommentare  geformt  hat,  und  dank 
des  Zufalls,  der  diese  erhielt,  der  Gang  der  Unterwerfung  Galliens  vor  Augen; 
die  Kunde  der  Eroberung  der  Alpen  dagegen,  die  jene  ebenso  folgerichtig  nach 
sich  ziehen  mußte  wie  im  19.  Jahrhundert  aus  dem  Krieg  von  1866  der  von  1870 
hervorging,  ist  uns  nur  unvollständig  und  getrübt  erhalten.  Und  doch  war  auch 
letztere  ein  großes,  schwieriges  und  vor  allem  für  die  damalige  römische  Zivili- 
sation gleich  segensreiches  Werk;  denn  zur  Abwehr  gegen  die  germanische 
Völkerwanderung  gehörte  die  Einrichtung  der  Alpen  als  Schutzwall  nicht  minder 
als  die  Herstellung  der  gallischen  Rheingrenze.  Die  Größe  des  Unternehmens 
lag  aber  in  der  Schwierigkeit  des  Kriegsschauplatzes  und  in  der  Art  der  Feinde, 
und  sie  spiegelt  sich  direkt  in  dem  Widerwillen  wieder,  mit  dem  damals  die 
römische  öffentliche  Meinung  an  die  Bezwingung  der  Alpen  heranging. 

Diese  Eroberung  der  Alpen  ist  das  Werk  des  Augustus,  und  selbst  wenn 
alles  übrige,  was  er  noch  getan,  wegfiele,  so  würde  er  auch  schon  allein  hierdurch 
als  eine  historische  Größe  gelten  müssen.  Die  Art  und  Weise  aber,  wie  er  das 
Werk  ausführte,  ist  für  sein  ganzes  Wesen  charakteristisch.  Es  ist  nicht  die 
glänzende  Tätigkeit  des  Helden,  dessen  Herold  es  leichter  hat,  wirklich  Glanz- 
volles zu  erzählen,  sondern  die  vielleicht  noch  wertvollere,  klassisch  gesättigte 
und  schöpferische  des  in  sich  sicheren  Herrschers,  dessen  Person  jedoch  mehr 
hinter  seinem  Werke  zurücktritt,  der  aber  gerade  um  deswillen  solches  schafft, 
das  im  Kreislauf  der  Dinge  noch  am  längsten  seine  Spuren  hinterläßt.  Wie 
selten  jemand  im  klassischen  Altertum  ist  gerade  Augustus  der  „mere  man",  der 
Wohltäter  seiner  Mitwelt  gewesen  und  er  verdient  es,  in  den  Vorhallen  der 
Entstehungsgeschichte  des  Christentums  zu  stehen,  die  für  unzählige  Geschlechter 
nach  ihm  heilig  geworden  ist. 


46  'V.  Kapitel. 

Schon  bei  Abgang  Cäsars  nach  dem  innerrömischen  Schauplatz  hatten  die 
Verhältnisse  an  der  Ostecke  Italiens  es  dringend  gefordert,  eine  Schutzwehr 
gegen  Osten  für  die  reiche  römische  Handelsprovinz  an  der  nördlichen  Adria 
aufzurichten.  Aber  erst  nach  fast  zwanzig  Jahren  sollte  es  wirklich  hierzu  kommen. 
Es  ist  bezeichnend  für  den  jungen  Oktavian,  daß  er  nun  auch,  sobald  er  die 
Hände  frei  hatte,  dies  kulturelle  Werk  unternahm,  bezeichnend  aber  auch  für 
die  Dringlichkeit  der  Arbeit,  daß  er  sich  persönlich  an  die  Spitze  der  Unter- 
nehmung stellte;  noch  heute  haftet  an  der  Insel  Lussin  Piccolo  in  Istrien  eine 
Sage,  daß  er  hier  mit'  der  Flotte  den  Winter  verbracht  habe.  Gemeint  ist  hier 
der  von  Aquileja  aus  begonnene,  die  Jahre  35  bis  33  v.  Ch.  ausfüllende  illyrische 
Feldzug  des  Augustus,  durch  den  er  Italien  nach  Osten  Luft  machte  und  außer- 
dem dauernd  die  Landpforte  nach  dem  Orient  hinüber  öffnete.  Auf  dem  rechten 
Flügel  fand  die  Sicherung  der  Küste  damals  ihren  Abschluß  in  der  Einrichtung 
des  bislang  viel  geplagten  Triests  als  Kolonie,  während  auf  dem  linken  Flügel 
im  heutigen  Friaul  die  Karner  bis  an  den  Kamm  des  südlichsten  Alpenwalles 
unterworfen  wurden.  Zur  bleibenden  Festhaltung  des  Landes  und  zur  Offen- 
haltung der  Straßen  sollten  hier  die  Städte  Julium  Carnicum  und  Forum  Julii 
dienen.  Das  Wichtigste  geschah  aber  von  der  Mitte  aus,  wo  die  große  Handels- 
stadt Aquileja  von  der  Last  des  Grenzschutzes  befreit  wurde.  Durch  die  große 
bequeme  Pforte  des  Birnbaumer  Waldes  drang  damals  die  Landarmee  die  Höhen 
hinüber  in  das  Tal  der  Save.  Jetzt  machte  Rom,  ganz  ähnlich  wie  vorher  auch 
bei  der  Gründung  von  Aquileja,  wiederum  von  hier  aus  einen  weiten  Sprung 
nach  vorwärts,  bis  Siscia  an  der  Save,  weit  landeinwärts  und  fern  vom  italienischen 
Boden  gelegen,  wo  nunmehr  die  Operationsbasis  neu  festgelegt  wurde,  während 
sich  rückwärts  desselben  an  der  neuen  gesicherten  Staatsstraße  die  Kolonie  Julia 
Emona,  das  heutige  Laibach,  erhob. 

Vom  Ende  dieser  ersten  Epoche  in  der  Augusteischen  Eroberung  der  Alpen 
an  offenbart  sich  nun  auch  deutlicher  die  Absicht  der  römischen  Regierung,  es 
mit  der  Eroberung  des  ganzen  Alpengebietes  bald  Ernst  werden  zu  lassen. 
Augustus  selbst  war  zwar  fern,  aber  endgültig  erfolgte  nunmehr  zunächst  die 
Sicherung  des  südlichen  Austrittes  der  beiden  damaligen  Hauptübergänge  über 
das  mittlere  Alpengebirge,  der  Bernhardpässe  und  der  Pässe  der  Brennerlinie. 
Im  Jahre  25  vor  Chr.  fand  durch  Varro  Murena  an  der  Dora  Riparia  die  große 
Razzia  gegen  die  Salasser  statt,  bei  der  damals  mit  auffallender  Energie  vor- 
gegangen wurde,  während  im  Jahre  22  vor  Chr.  von  Apulejus  in  Trient  das 
Kastell  Verucca  gebaut  wurde  und  ebenso  im  Jahre  16  vor  Chr.  die  Cammuner 
im  Val  Trompia  (Val  Camonica)  unterworfen  wurden.  Alles  dieses  waren  jedoch 
nur  vorläufige  Maßregeln,  durch  die  eine  Besitznahme  des  Gebirges  selbst  ein- 
geleitet werden  sollte. 

Denn  die  Eroberung  der  Alpen  ist  nur  ein  Teil  des  großen  germanischen 
Krieges,  der  die  zweite  Hälfte  der  Regierung  des  Augustus  ausfüllt  und  die  dieser 


Die  Eroberung  der  Alpenländer  durch  die  Römer.  47 

mitsamt  dem  Thron  von  seinem  Vorgänger  ererbt  hatte.  Die  von  Cäsar  ins 
Werii  gesetzte  Eroberung  Galliens  verlangte  jetzt  weiterhin  gebieterisch  ebenso 
die  Festlegung  der  Rheingrenze  wie  die  Unterwerfung  der  Alpenländer,  und  der 
Einfall  germanischer  Stämme  über  den  Rhein,  im  Jahre  16  v.  Ch.,  der  zur  Nieder- 
lage einer  römischen  Armeeabteilung  unter  Lollius  führte,  war  nur  der  unmittel- 
bare Anlaß  für  jenes  große,  von  Augustus  schon  längst  beschlossene  Unternehmen, 
das  die  römische  Politik  auch  diesmal  offensiv  d.  h.  durch  die  Eroberung  Ger- 
maniens  zu  lösen  suchte.  Noch  in  demselben  Jahre  ging  Augustus  persönlich 
nach  Gallien  und  es  begann  jener  großangelegte  Feldzug  mit  seinen  großen  Zielen. 
Auch  zu  jenen  Zeiten  war  das  römische  Heer  noch  ebenso  unerreicht  wie  vor- 
her und  auch  die  militärische  Befähigung  der  Generale  des  Augustus  hält  einen 
Vergleich  mit  denen  Cäsars  aus.  Daß  das  Ziel  jedoch  trotzdem  nicht  so  erreicht 
wurde,  wie  es  beabsichtigt  war,  hat  seinen  Grund  in  der  Hauptsache  darin,  weil 
mit  jedem  Jahr,  das  seit  der  Unterwerfung  Galliens  wiederum  verstrichen  war, 
aber  auch  mit  jeder  Meile,  die  weiter  in  das  östliche  Germanien  hinein  die 
Römer  vordrangen,  auch  der  Gegendruck  der  germanischen  Völkerwanderung 
sich  stärker  fühlbar  machen  mußte.  Wahrscheinlich  hat  gerade  Augustus  per- 
sönlich diese  Sachlage  klarer  als  seine  Berater  durchschaut  und  deshalb  auch 
am  frühesten  seine  erste  Absicht  aufgegeben.  Die  ursprüngliche  Art  und  Anlage 
dieser  Feldzüge  lassen  es  jedoch  außer  Zweifel,  daß  hier  anfangs  wenigstens  an 
eine  offensive  Lösung  der  Aufgabe  d.  h.  an  eine  vollständige  Unterwerfung  Ger- 
maniens  gedacht  worden  ist;  ebenso  deutlich  macht  sich  dann  aber  auch  im  Ver- 
lauf des  Krieges  eine  Meinungsverschiedenheit  der  bestimmenden  Persönlich- 
keiten, von  Augustus  und  Tiberius,  geltend.  In  den  ersten  Jahren  des  Feldzuges 
jedoch,  während  der  auch  die  Unterwerfung  der  Alpen  stattgefunden  hat,  ist 
hiervon  noch  nichts  zu  spüren,  und  so  ist  auch  als  bleibender  Gewinn  dieses 
Feldzuges  dem  römischen  Staat  vor  allem  der  Besitz  der  Alpenländer  geblieben. 

Die  schriftlichen  Quellen,  die  wir  über  diese  Eroberung  besitzen,  sind  wohl 
leidlich  zahlreich,  aber  sämtlich  lückenhaft  und  ungenau,  und  vor  allem  gibt  auch 
keine  einzige  derselben  den  Verlauf  der  militärischen  Ereignisse  selbst  erschöpfend 
und  durchsichtig  wieder.  Die  zeitgenössischen  jener  Quellen  erscheinen  außer- 
dem getrübt  oder  gefärbt,  da  sie  mehr  um  Verherrlichung  des  neuen  Herrscher- 
hauses als  um  einwandfreier  Schilderung  der  Tatsachen  willen  geschrieben  zu 
sein  scheinen.  Daher  erkennen  wir  zwar  ganz  genau  die  Rolle,  die  der  Alpen- 
kriegsschauplatz an  sich  damals  in  dem  großen  Feldzugsplan  eingenommen  hat, 
aber  eine  Quelle,  durch  die  wie  bei  vielen  anderen  römischen  Feldzügen  die 
Kriegsereignisse  in  den  Alpen  selbst  genau  erzählt  werden,  müssen  wir  schmerz- 
lich vermissen. 

Der  große  für  diesen  germanischen  Krieg  römischerseits  ausgearbeitete  Feld- 
zugsplan offenbart  die  ganze  Überlegenheit  römischer  Strategie.  Angestrebt  wird 
ein  kombiniertes  Vorgehen  von  zwei  Fronten,   dem  Rhein  und  der  Donau,   aus, 


48  IV.  Kapitel. 

und  das  nächste  Ziel  mußten  daher  zunächst  die  Vorkehrungen  bilden,  um  in 
diesen  beiden  Fronten  selbst  den  Aufmarsch  bewerkstelligen  zu  können.  Somit 
ergab  sich,  da  die  Legionen  in  der  Hauptsache  bereits  am  Rheine  standen,  als 
erste  Aufgabe  die  Festsetzung  an  der  Donau,  die  wiederum  vorher  die  Eroberung 
und  Überschreitung  der  rätischen  und  norischen  Alpen  nötig  machte.  So  er- 
folgte denn  auch  als  erstes  Mittel  zum  Zweck  die  Eroberung  Rätiens  und  Vin- 
deliciens.  Auch  hier  auf  diesem  Teilschauplatze  ist  der  römische  Angriffsplan 
ganz  durchsichtig;  denn  er  setzte  sich  gleichfalls  aus  einem  von  zwei  verschie- 
denen Seiten  aus  ausgehenden  und  die  Verbindung  erstrebenden  Einmärsche  zu- 
sammen. Die  Führer  der  beiden  Armeeabteilungen,  denen  diese  Aufgabe  zufiel, 
waren  aber  des  Kaisers  Söhne  in  eigener  Person,  Drusus  kam  vom  Etschland 
in  südlicher,  während  Tiberius  von  Helvetien  aus  in  westlicher  Richtung  ein- 
rückte; der  gemeinsame  Marschrichtungspunkt  war  aber  etwa  die  „Landecke" 
Nordwesttirols  zwischen  Landeck  und  dem  Bodensee.  Bei  diesem  Vorgehen 
mag  nun  Tiberius,  der  bloß  mit  seinem  rechten  Flügel  gegen  die  Räter  im  Ge- 
birge, mit  seiner  Mitte  und  dem  linken  Flügel  dagegen  gegen  Kelten  und  in 
ebenerem  Lande  zu  operieren  hatte,  es  leichter  gehabt  haben;  auf  Drusus  aber, 
der  einen  zäheren  Gegner  und  schwierigeres  Gelände  vorfand,  lastete  die  Schwere 
des  Kampfes.  Wie  dieser  aber  nun  Im  Einzelnen  vor  sich  gegangen  ist,  darüber 
lassen  sich  nur  Vermutungen  aufstellen.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  zuerst  die 
Volksteile  der  Räter,  die  in  den  Bergamasker-Alpen  und  um  die  Bernina  und 
den  Ortler  wohnen,  und  nachher  diejenigen  im  heutigen  Innertirol  an  die  Reihe 
kamen;  als  va  et  vient  der  römischen  Armee  mag  die  von  Drusus  in  der  Nähe 
Bozens  errichtete  feste  Brücke  gedient  haben.  Als  sicher  kann  aber  gelten,  daß 
Drusus  schließlich  westlich  nach  dem  Bodensee  über  den  Arlberg  zu  Tiberius,  der 
ihn  in  dem  verschanzten  Lager  von  Lindau  erwartete,  hinunterstieg,  und  noch 
im  elften  Jahrhundert  bewahrte  das  churrätische  Vorarlberg  in  seinem  Namen 
Vallis  Drusiana  das  Andenken  an  diesen  Durchmarsch. 

Hier  hat  dann  am  Bodensee  nach  getaner  Vorarbeit  eine  eigentliche  Schlacht 
und  unmittelbar  darauf  die  Festlegung  der  Donauprovinz  Vindelicien  stattgefunden. 
Die  Lokal-Tradition  führt  die  Errichtung  von  Augsburg  auf  Drusus,  die  von 
Regensburg  dagegen  auf  Tiberius  zurück.  In  welcher  Weise  jene  militärischen 
Bewegungen  freilich  dann  schließlich  auf  der  oberbayrischen  Hochebene  ausliefen, 
davon  ist  leider  nicht  das  geringste  zu  ersehen.  Das  Andenken  an  die  Eroberung 
Rätiens  aber  ist  ganz  bei  Drusus  geblieben.  Wir  kennen  steinerne  Denkmäler 
von  diesem  aus  dem  Gebiet  der  römischen  Provinz  Rätien  aus  Agaunum  (St. 
Maurice)  und  Bregenz.  Die  Ortsnamen  freilich  (Vallis  Drusiana,  Pons  Drusi), 
die  das  Andenken  an  ihn  am  besten  hätten  bewahren  können,  sind  verstummt; 
auch  dies  ist  bezeichnend  für  das  ganze  Schicksal  des  Mannes,  der  sein  Ende 
fand,  bevor  sich  sein  Name  in  die  große  Geschichte  fest  einwurzeln  konnte. 

Nachdem  so  durch  dieses  Vorspiel  für  den  Aufrnarsch  an  der  Donau  etwa 


Die  Eroberung  der  Alpenländer  durch  die  Römer.  49 

bis  zur  Innmündung  Platz  geschaffen  worden  war,  sehen  wir  nun  zunächst  Drusus 
nach  dem  Rhein  abgehen,  um  von  dort  den  Krieg  in  breiter  Front  nach  Germanien 
hineinzutragen;  und  erst  nachdem  von  dieser  Seite  aus  die  Römer  wiederum 
bis  fast  an  die  Weser  vorgedrungen  sind,  schickt  sich  nun  auch  die  römische 
Macht  unter  Tiberius  an,  die  Donaufront  von  Vindelicien  aus  östlich  zu  erweitern, 
d.  h.  zu  der  Eroberung  Rätiens  und  Vindeliciens  noch  diejenige  Norikums  hin- 
zuzufügen. Wohl  hatte  bereits  Augustus  den  südlichen  Teil  dieses  Landes  die 
Save  entlang  unterworfen,  aber  schon  damals  scheint  diese  Gegend  etwas  von 
ihrer  künftigen  Eigenschaft,  einen  Teil  der  frischen  Volkskraft  aus  dem  Osten 
an  sich  zu  ziehen  und  so  die  Gewitterseite  Italiens  zu  bilden,  gehabt  zu  haben. 
Das  bewährte  Werkzeug  des  Kaisers,  Agrippa,  hatte  der  Tod  ereilt,  während 
dieser  hier  eben  mit  der  Niederwerfung  eines  Aufstandes  beschäftigt  ge- 
wesen war;  anschließend  hieran  griff  daher  jetzt  Tiberius  ein,  indem  er  die 
Grenze  vom  Tal  der  Save  bis  nördlich  nach  dem  Tal  der  Drau  heraufschob. 
Über  den  Verlauf  dieses  norischen  Krieges  im  einzelnen  wissen  wir  freilich  rein 
garnichts.  Der  Tod  des  Drusus  rief  Tiberius  dann  hier  mitten  aus  jenem  Feldzug 
heraus  nach  der  wichtigeren  Seite,  nach  Germanien,  ab;  der  große  Aufstand, 
der  aber  später  als  im  Jahre  4  n.  Chr.  der  germanische  Feldzug  in  gleicher  Weise 
wie  vorher  wieder  aufgenommen  wurde,  gerade  hier  im  Rücken  der  Römer  in 
Pannonien  ausbrach,  läßt  darauf  schließen,  daß  zu  jener  Zeit  die  Arbeit  nur  halb 
getan  worden  ist.  Es  mag  wohl  schon  diesmal  angestrebt  worden  sein,  bis  nach 
Carnuntum  selbst  zu  gelangen,  während  der  bleibende  Gewinn  des  Feldzuges 
tatsächlich  bloß  die  Eroberung  der  Provinz  Norikum  gewesen  ist. 

Mit  dem  Abgang  des  Tiberius  nach  dem  Hauptkriegsschauplatze  am  Rhein, 
dem  bald  darauf  (ca.  6  v.  Chr.)  überhaupt  die  vorläufige  Einstellung  des  ganzen 
germanischen  Krieges  folgte,  findet  diese  zweite  Periode  der  augusteischen 
Unterwerfung  der  Alpen  ihren  Abschluß.  Mit  Ausnahme  der  Ostalpen  in  den 
steyrischen  und  niederösterreichischen  Gebieten  sehen  wir  nunmehr  das  ganze 
Alpengebiet  in  das  römische  Reich  fest  eingefügt,  so  daß  die  Mittel-  und  Ost- 
alpen schließlich  im  Jahre  4  nach  Chr.  mit  dem  Wiedererscheinen  des  Tiberius 
und  der  Neuaufnahme  des  großen  germanischen  Krieges  dann  auch  wirklich 
folgerichtig  die  Bestimmung  erfüllen  können,  die  ihnen  bei  der  ersten  Anlage 
des  Feldzuges  zugedacht  worden  war.  Rhein-  und  Alpenlinie  dienen  jetzt  voll- 
ständig als  Operationsbasis  gegen  das  Innere  Deutschlands.  Von  der  Drau 
(Virunum=Klagenfurth)  und  Poetovio  (Pettau)  aus  rückt  jetzt  Tiberius  auf  dem 
ihm  bekannten  Kriegstheater  nördlich  herauf  zur  Besetzung  der  Wiener  Ebene 
und  gegen  das  Reich  Marbuods  im  heutigen  Böhmen.  Aber  gerade  in  diesem 
Augenblick  und  eben  an  dieser  östlichen  Stelle  der  Alpen  wird  auch  der  Wende- 
punkt der  dritten  Periode  und  damit  zugleich  jenes  ganzen  Krieges  geboren. 
Es  ist  dies  nichts  anderes  als  jener  große  pannonische  Aufstand,  der  Tiberius 
von  Carnuntum  aus  Kehrt  zu  machen  und  von  Marbuod  abzulassen  zwingt.   Vier 

Scheffel,  Verkehrsgeschichie  der  Alpen.     I.Band.  4 


5Q  IV.  Kapitel. 

Jahre  lang  blieb  Tiberius  nun  mit  der  Niederwerfung  jenes  Aufstandes  beschäftigt, 
und  während  dieser  Zeit  fiel  nun  auch  auf  dem  rheinischen  Kriegsschauplatze 
die  Niederlage  des  Varus  ein,  so  daß  auf  beiden  Seiten  die  Kraft  des  Angriffs 
stocken  mußte.  Es  ist  dieses  auch  der  Zeitpunkt,  an  dem  Augustus,  und  wahr- 
scheinlich dabei  im  Gegensatz  zu  seiner  Umgebung,  ein  für  allemal  der  Unter- 
werfung Germaniens  entsagt  zu  haben  und  auf  die  defensive  Sicherung  der 
Grenzen  zurückgekommen  zu  sein  scheint. 

Als  Gewinn  dieses  dritten  Teiles  des  Feldzuges  blieb  jedoch  den  Römern 
die  definitive  Sicherung  ihrer  Herrschaft  in  den  ganzen  Ostalpen  und  in  der 
diesen  benachbarten  Ebene.  Östlich  von  der  Provinz  Norikum  breitete  sich 
jetzt  bis  in  die  Donauebene  hinein,  die  eben  den  römischen  Machtmitteln  näher 
erreichbar  als  Germanien  war,  nun  schon  die  römische  Provinz  Pannonien  aus. 
Allerdings  blieb  die  Organisation  derselben  zunächst  noch  gewissermaßen  im 
Entwurf,  aber  doch  öffnete  sich  schon  jetzt  von  Celeja  (Cilli)  aus  die  das  Gebirge 
östlich  umgehende  und  dann  nördlich  nach  der  Gegend  von  Carnuntum  zu- 
strebende Heerstraße,  und  Carnuntum  selbst  sah  römisches  Leben,  wenn  auch 
noch  nicht  schon  als  große  Ausfallsfestung,  sondern  nur  als  äußerster  rechter 
Schulterpunkt  der  Alpenfront. 

Großartig  und  für  alle  Zeiten  bewundernswert  ist  aber  vor  allem  die  kulturelle 
Tätigkeit,  die  nun  Augustus  nach  Eroberung  der  Alpen  in  deren  ganzen  weitern 
Gebiet  entfaltet  hat.  Auch  das  wenige,  was  heute  noch  von  derselben  in  Nach- 
richten und  Resten  erhalten  ist,  läßt  trotzdem  doch  noch  die  Weite  und  Sicher- 
heit des  Urteils  durchblicken,  die  jener  Herrscher  bei  allen  jenen  Einrichtungen 
entfaltete.  Unter  Augustus  begann,  —  wohl  auch  von  diesem  schon  schärfer 
als  von  seiner  Mitwelt  erkannt  —  sich  im  römischen  Staatsleben  jener  Wende- 
punkt vorzubereiten,  daß  die  eigentliche  Volkskraft  und  damit  die  eherne  Wehr- 
haftigkeit,  die  diesen  Staat  bis  dahin  unüberwindlich  gemacht  hatten,  langsam 
zurückgingen,  während  die  Qualität  und  die  Organisation  aller  Staatseinrichtungen 
sich  dagegen  nur  immer  vollkommener  und  überlegener  entwickelten.  So  mußte 
daher  von  jener  Zeit  an  die  Virtuosität  in  der  staatlichen  und  militärischen 
Organisation  die  physische  Kraft  des  Volkes  ersetzen  helfen.  Wie  dies  aber  im 
einzelnen  geschah,  läßt  sich  gerade  aus  der  Art,  wie  Augustus  die  Alpenmauer 
zum  Schutze  seines  Italiens  ausbaute,  ganz  deutlich  beobachten.  Auch  für 
Augustus  waren  die  Alpen  die  Schutzmauer  des  Reiches,  die  im  Falle  der  Not 
überall  gesperrt  werden  konnte.  Den  Kampf  um  diese  Barriere  wollte  er  aber 
nicht  in  das  Gebirge  selbst,  sondern  nördlich  desselben  gelegt  wissen,  und  so 
betrachtete  er  die  Schweizer  Hochebene  südlich  des  Rheines  und  die  Hochebene 
entlang  des  rechten  Donauufers  als  das  Glacis  dieser  Ringmauer,  als  die  Stellung 
vor  dem  Defile,  auf  der  die  Legionen  dem  Feind  entgegenzutreten  hatten.  Die 
Anlage  der  Straßen  durch  die  Alpen  diente  also  in  erster  Linie  dazu,  um  in 
jene   militärisch   wichtigen    Stellungen   rasch   hinübergelangen    zu    können.     Die 


Die  Eroberung  der  Alpenländer  durch  die  Römer.  51 

späteren  Kaiser  haben  dieses  System  da  und  dort  ausgebaut,  seinen  Grund- 
gedanken jedoch  nicht  wesentlich  geändert,  und  als  dann  fast  zweihundert  Jahre 
später  unter  Mark  Aurel  wieder  ein  wirklich  ernster  Waffengang  mit  einem  Feinde 
im  Norden  begann,  sehen  wir  das  römische  Heer  auch  ohne  weiteres  die  von 
Augustus  ursprünglich  vorgesehenen  Stellungen  beziehen. 

So  ist  zunächst  die  Straßenbautätigkeit  in  den  Alpen  der  wichtigste  Teil 
jener  Tätigkeit,  die  Augustus  überhaupt  überall  im  römischen  Reiche  entfaltet 
hat  und  als  deren  Wahrzeichen  der  goldene  Meilenzeiger  auf  das  Forum  der 
Hauptstadt  gesetzt  wurde.  Der  wichtigste  Teil  der  Alpenstraßen  konnte  damals 
kein  anderer  sein,  als  die  über  die  westliche  Hälfte  des  Gebirges,  weil  diese  der 
Verbindung  nach  der  bedrohtesten  Seite,  nach  dem  Rhein  in  seiner  ganzen 
Ausdehnung,  und  in  zweiter  Linie  auch  dem  regen  friedlichen  Verkehr  nach 
dem  reichen  Gallien  dienen  sollten.  Auf  diesem  Flügel  der  Alpen  hat  Augustus 
das  Straßennetz  daher  auch  derart  vollendet  hinterlassen,  daß  die  Römer  in 
keiner  Zeit  später  etwas  Nennenswertes  zu  diesem  hinzuzufügen  hatten.  Im 
östlichen  Alpenteil  dagegen,  vom  westlichen  Rätien  an,  dem  damals  nördlich  eine 
weniger  bedrohte  Grenze  vorlag,  gelangte  das  Straßennetz  durch  Augustus  nicht 
zu  der  Vollendung,  wie  es  auch  dort  in  den  späteren  Jahrhunderten  die  Römer 
herstellen  mußten.  Trotzdem  sind  aber  auch  dort  die  Schöpfungen  des  Augustus 
bedeutend  genug  gewesen,  da  gerade  in  diesem  ganzen  Gebirge,  ausgenommen 
vielleicht  an  der  Straße  über  den  Birnbaumer  Wald,  der  römische  Staat  noch 
in  keiner  Weise  vorgearbeitet  gehabt  hatte. 

So  hat  Augustus  im  Westen  der  Alpen  zunächst  die  Straße  an  der  mittel- 
ländischen Küste  neu  hergerichtet.  An  dieser  Straße,  die  keine  eigentliche 
Alpenstraße  ist,  wohl  aber  im  ganzen  Altertum  die  Hauptpulsader  des  friedlichen 
Verkehrs  zwischen  Rom  und  Südwesteuropa  blieb,  läßt  sich  schon  während  der 
Regierungszeit  des  Augustus  selbst  ein  besonderes  Steigen  des  Verkehrs  und  ein 
Aufblühen  der  an  ihr  gelegenen  Ortschaften  feststellen.  Es  ist  dies  aber  auch 
eine  ganz  natürliche  Erscheinung,  wenn  man  bedenkt,  wie  stark  die  friedliche 
Entwickelung  nunmehr  einsetzen  konnte,  die  Jahrzehnte  vorher  durch  die  inneren 
römischen  Unruhen  gestört  worden  war.  Diese  Neuchaussierung  bezeichnet  aber 
um  so  deutlicher,  was  Augustus  alles  nachzuholen  hatte,  derart,  daß  selbst  jene 
einzige  und  unentbehrliche  Rinne,  die  einen  bequemen  Landverkehr  Italiens 
mit  Südwesteuropa  vermitteln  konnte,  während  der  letzen  Zeiten  der  Republik 
in  Vernachlässigung  geraten  war. 

War  diese  Arbeit  jedoch  immerhin  verhältnismäßig  leicht,  so  war  eine  Ver- 
mehrung und  Sicherung  der  Verbindungen  nach  dem  eigentlichen  Norden 
schwerer  und  nicht  minder  dringend,  da  dieses  nicht  anders  bewerkstelligt 
werden  konnte,  als  daß  die  Straßen  nun  wirklich  durch  die  Hochgebirgswelt 
hindurchgetrieben  werden  mußten.  Auch  die  bereits  vorhandene  Straße  über 
den  Mont  Genevre  konnte  dem  vorhandenen  Bedürfnis  nicht  ganz  genügen,  und 

4* 


52  iV.  Kapitel. 

SO  ist  Augustus  der  Erbauer  jener  beiden  großen  echten  Römerstraßen  über  den 
Kleinen  und  Großen  Sankt  Bernhard  geworden.  Die  Straße  über  den  Kleinen 
Sankt  Bernhard  war  fahrbar,  die  über  den  Großen  Sankt  Bernhard  zum  größten 
Teil;  setzt  dies  allein  schon  für  die  damalige  Technik  ungeheure  Anstrengungen 
voraus,  so  wird  die  Größe  des  Werkes  doch  erst  dadurch  recht  verständlich, 
weil  es  sich  bei  dieser  Straßenführung  nicht  allein  um  die  Herstellung  der  Straßen 
im  Hochgebirge  selbst,  sondern  ebenso  um  den  Ausbau  der  Zufahrtslinien  auf 
beiden  Seiten  und  un>  die  Organisation  der  ganzen,  diese  in  weitem  Kreise  ein- 
schließenden Landschaften  handelte.  Das  dem  Augustus  im  Jahre  7  bezl.  6  v.  Ch. 
bei  Turbia  unweit  Monaco  mit  dem  Hintergrund  auf  die  Alpen  gesetzte  Sieges- 
denkmal hatte  so  eine  ganz  bezeichnende  Stelle;  denn  für  den  Römer  war  bis 
dahin  noch  das  ganze  nördlich  des  Meeres  liegende  Bergland  ein  unbefriedetes 
und  unbekanntes  Gebiet  gewesen.  Die  Art  des  ligurischen  Volksstammes,  die 
Armut  der  Gegend  hatte,  anders  wie  auf  der  gegenüberliegenden  nordöstlichen 
Seite  Italiens,  in  Venetien,  die  Römer  bis  dahin  in  keiner  Weise  zur  Erschließung 
dieser  Berggegenden  verlocken  können,  und  alles,  was  hier  geschah,  mußte  daher 
allein  durch  die  Regierung  getan  werden. 

Erst  Augustus  klärte  endgültig  das  Verhältnis  zum  Reiche  des  Kottius,  der 
hier  als  Vogt  der  Alpen  weiter  regieren  durfte,  und  gab  Turin  als  Kolonie  seinen 
Namen  Augusta  Taurinorum.  Die  Gründung  dieses  Ortes  erfolgte  aber  nicht 
um  seiner  selbst  willen  sondern  nur  als  Straßenpunkt,  und  über  die  Bedeutung, 
die  ihm  Augustus  einmal  gegeben,  ist  dieser  Ort  auch  erst  seit  dem  sechzehnten 
Jahrhundert  herausgekommen.  Die  eigentlichste  Paßgründung  des  Kaisers  ist 
jedoch  jetzt  noch  das  Augusta  Salassorum,  Aosta,  die  Pforte  der  Berhardpässe, 
das  er  mitten  in  das  Gebiet  der  besonders  schwierigen  Salasser  hineinpflanzte> 
und  wo  dreitausend  Römer  angesiedelt  wurden.  Alles  dieses  waren  jedoch  ledig- 
lich militärische  Gründungen,  an  die  sich  hintennach  keine  bürgerliche  Ent- 
wickelung  anschloß,  wie  auch  die  römischen  Inschriften  aus  Turin  und  Aosta 
nicht  zahlreich  und  wenig  wichtig  sind. 

Auf  der  jenseitigen  Seite  der  Alpen  war  dann  Lugdunum,  die  neu  empor- 
blühende Hauptstadt  Galliens,  das  Zentrum,  von  dem  aus  die  Verbindungen 
überall  hin,  auch  nach  den  Alpen  zu,  festgelegt  wurden.  Hier  war  es  Agrippa, 
der  dies  im  Namen  des  Kaisers  ausführte.  Es  ist  bezeichnend  für  die  damalige 
Konstellation,  wenn  Strabo  hier  derjenigen  Verbindungen,  die  von  Lugdunum 
aus  nach  der  helvetischen  Seite  führten,  erst  in  zweiter  Linie  Erwähnung  tut;, 
denn  die  von  Augustus  über  die  Westalpen  nach  Gallien  gelegten  Straßen,  auch 
die  über  den  großen  Sankt  Bernhard,  zielten  militärisch  vor  allem  nach  dem 
Mittelrhein,  weniger  jedoch  nach  der  Strecke,  die  dieser  Strom  vom  Bodensee 
bis  Basel  durchfließt.  Es  ist  auch  heute  noch  ganz  offensichtlich,  in  welcher 
Weise  die  Römer  damals  diesen  Sektor  ihrer  Front  militärisch  bewerteten;  denn 
die   helvetische    Hochebene,   die   hinter   diesem   lag,  war   damals  stilles   Gebiet», 


Die  Eroberung  der  Alpenländer  durch  die  Römer.  53 

und  noch  wirkten  während  jener  Zeiten  in  der  helvetischen  Volkskraft  die  Folgen 
der  Katastrophe  vom  Jahre  58  v.  Ch.  nach,  während  jenseits  des  Rheines,  vor 
der  Front,  auf  dem  Boden  des  heutigen  Badens,  völlig  unbewohntes  Gebiet  vorlag. 
Hier  wurde  dann  auf  sicherem  Boden  das  berühmte  Legionslager  von  Windisch 
a.  d.  Aare=Vindonissa  angelegt,  das  seinen  Zweck  gleichfalls  weniger  in  sich  selbst, 
sondern  besonders  in  der  Möglichkeit,  das  Heer  von  ihm  aus  bequem  da  und 
dorthin  verschieben  zu  können  hatte.  Die  Verbindungen  von  Italien  her  aber 
erreichten  Windisch  auf  dem  Umweg  über  die  Schweizer  Hochebene.  Der  Aus- 
bau dieses  Straßennetzes  wurde  jedoch  hier  noch  nicht  von  Augustus  selbst 
endgültig  fertiggestellt,  wie  überhaupt  gerade  die  Lage  von  Windisch  nicht  jenen 
unverwüstlichen  militärischen  Scharfblick  verrät  wie  die  anderen  großen  römischen 
Militärstationen  Mitteleuropas  (Turin,  Mainz,  Regensburg,  Carnuntum,  Verona), 
nach  denen  die  Fäden  immer  zusammenlaufen  werden,  so  lange  sich  überhaupt 
militärische  Operationen  über  diese  Länder  bewegen.  Windisch  ist  eben  im 
letzten  Grunde  das  Kind  eines  Mißerfolgs;  denn  als  die  Eroberung  Germaniens 
von  Augustus  definitiv  aufgegeben  worden  war,  mußte  irgendwo  ein  Übergang 
von  der  Front  am  Unter-  und  Mittelrhein  nach  der  südlichen  Donaufront  gefunden 
werden.  Auch  in  dieser  Hinsicht  vermissen  wir  daher  schmerzlich  eine  genauere 
Kunde  von  dem  Gang  der  Unterwerfung  Vindeliciens.  Die  junge  Donau  aber, 
die  den  westlichen  Teil  jener  Südfront  wohl  oder  übel  bilden  mußtej  konnte 
keinen  derartigen  natürlichen  Schutz  liefern  wie  ihn  die  Römer  bei  ihrer  Grenz- 
bildung so  gern  zu  Hilfe  nahmen,  und  so  hatte  denn  das  rückwärts  derselben 
liegende  Windisch  mit  seiner  Garnison  in  diese  Lücke  zu  springen. 

Weit  weniger  klar  in  der  großen  Anlage,  und  noch  mehr  im  einzelnen  ist 
für  uns  die  Straßenbautätigkeit  des  Augustus  in  der  östlichen  Hälfte  der  Alpen. 
Und  doch  wäre  gerade  hier  eine  bessere  Kenntnis  von  dem,  was  unter  Augustus 
geschah,  um  so  erwünschter,  weil  seit  dem  zweiten  Jahrhundert  n.  Ch.  dieser 
Teil  der  Alpen  das  geschichtliche  Interesse  gebieterisch  herausfordert.  Die  Aus- 
sage des  Strabo  in  der  Art,  wie  sie  die  Tätigkeit  des  Augustus  erwähnt,  verbürgt 
uns  wohl  überhaupt  das  Eingreifen  des  Kaisers  an  jener  Stelle.  Wie  sich  dieses 
aber  nun  im  einzelnen  gestaltet  hat,  dazu  verhilft  sie  uns  in  keiner  Weise;  denn 
Strabo  sagt  nur,  ,.daß  Augustus  die  rätischen  Pässe  so  gut  es  ging  verbesserte". 
Trotzdem  ist  die  unausbleibliche  Folge  dieser  Notiz  geworden,  daß  in  den  Mono- 
graphien der  einzelnen  rätischen  Alpenstraßen  jedesmal  diese  Äußerung  des 
Strabo  zum  Kronzeugen  dafür  angeführt  worden  ist,  daß  der  gerade  in  Rede 
stehende  Paß  unter  allen  Umständen  zu  denen  gehört  haben  müsse,  die  hier 
Augustus  mit  einer  Römerstraße  überzogen  hat'-).  Aus  der  Ausdrucksweise 
Strabos  läßt  sich  aber  im  Vergleich  mit  dem,  was  er  über  des  Augustus  Straßen- 
bautätigkeit in  den  Westalpen  sagt,  für  unseren  Zweck  vor  allem  nur  das  heraus- 
lesen, daß  hier  die  Tätigkeit  des  Augustus  weniger  organisatorisch  einsetzte,  sondern 
mehr  dem  vorliegenden,  man  könnte   fast  sagen,  wirtschaftlichen  Interesse  folgte. 


54  IV.  Kapitel. 

Trotzdem  kommt  man  aber  nicht  darum  herum,  zu  der  Frage  Stellung 
nehmen  zu  müssen,  welchen  der  vielen  rätischen  Übergänge  sich  damals  der 
offizielle  römische  Verkehr  nach  Vindelicien,  und  besonders  nach  Augusta 
(Augsburg),  das  schon  zu  diesen  Zeiten  als  römische  Pflanzstadt  vorausgesetzt 
werden  muß,  zur  hauptsächlichen  Benutzung  herausgesucht  hat.  Zwei  der  gleichen 
Straße  angehörende  Meilensteine,  von  denen  der  eine  bei  Feltre,  der  andere  im 
Vintschgau  gefunden  worden  ist,  sind  die  einzigen,  die  wir  aus  Rätien  aus  der 
Zeit  des  Augustus  haben.  Die  Inschriften  dieser  Steine  künden  auch  an,  daß 
die  Straße,  an  der  sie  gefunden  worden  sind,  bis  zur  Donau  fortgesetzt  werden 
sollte;  ob  dies  aber  wirklich  geschehen  ist  und  dann  auf  welchem  Wege,  darüber 
fehlt  jede  sichere  Kunde.  Endgültig  die  Frage  zu  lösen,  auf  welche  Straßen 
Augustus  hier  seine  Tätigkeit  ausgedehnt  hat,  wird  sich  die  Wissenschaft  wohl 
überhaupt  so  lange  versagen  müssen,  bis  noch  weitere  Meilensteine,  die  des 
Kaisers  Namen  tragen,  gefunden  sein  werden,  was  freilich  kaum  noch  zu  erwarten 
steht.  Gründe  der  Wahrscheinlichkeit  sprechen  jedoch  stark  dafür,  daß  die 
Straße  über  den  Julier  zu  Augustus  Zeiten  schon  regelmäßig  von  den  Römern 
benutzt  worden  ist.  Zunächst  läuft  auch  sie  zweckentsprechend  nach  Augsburg 
aus.  Bedingung,  daß  sie  überhaupt  auf  Grund  von  Strabos  Zeugnis  für  des 
Augustus  Tätigkeit  in  Konkurrenz  treten  könnte,  wäre  zunächst  die  Tat- 
sache ihrer  Benutzung  bereits  in  vorrömischer  Zeit,  da  Strabo  hier  nur  von 
schon  vorhandenen  Straßen  spricht.  Dieser  Anforderung  leistet  sie  aber  genüge 
durch  den  an  ihrer  Linie  gemachten  vorrömischen  Fund  von  Conters-Burwein 
(1786);  auch  der  an  den  Namen  des  römischen  Herrscherhauses  anklingende 
Name  des  Passes  selbst  kann  immer  noch  so  lange  als  Indizium  gelten,  bis 
derselbe  anderweitig  genügend  erklärt  worden  ist.  Besonders  spricht  aber  für 
unsere  Annahme  die  Tatsache,  daß  an  den  Hauptstationen  des  Julier,  Paßhöhe, 
dem  Churer  Kastell  und  Bregenz,  die  Münzfundreihen  regelrecht  bei  Augustus 
anheben,  eine  Erscheinung,  die  bei  keiner  anderen  Straßenlinie,  die  in  jener 
Beziehung  mit  dem  Julier  konkurrieren  könnten,  derartig  deutlich  hervortritt. 
Auch  die  erste  römische  Anlage  in  Chur,  das  Kastell,  liegt  dort,  wo  daselbst  die 
Straße  aus  dem  Oberhalbstein  d.  h.  vom  Julier  und  nicht  die  vom  Splügen 
herabkommt. 

Das  Resultat  dieser  ganzen  Entwickelung  fand  nun  schließlich  seinen  Aus- 
druck in  der  Gestaltung  der  Grenzen  der  Regierungsbezirke,  wie  sie  Augustus 
dann  über  das  ganze  Alpengebiet  hinwegspannte.  Es  charakterisiert  die  Dauer- 
haftigkeit seines  Werkes,  daß,  von  geringen  Änderungen  abgesehen,  die  von  ihm 
ausgegangene  Einteilung  dieser  Länder  erst  durch  die  Völkerwanderung  zer- 
brochen wurde,  und  daß  dieselbe  in  einzelnen  Teilen  sogar  bis  auf  den  heutigen 
Tag  noch  fortwirkt.  Eine  in  dieser  Hinsicht  auf  den  ersten  Blick  in  die  Augen 
fallende  Erscheinung  ist  es  zunächst,  daß  das  Alpengebiet  nicht,  wie  man  anneh- 
men sollte,  in  einen  einzigen  großen  Bezirk  aufgenonrimen,  sondern  in  verschie- 


Die  Eroberung  der  Alpenländer  durch  die  Römer.  55 

dene,  nach  römischen  Begriffen  kleine  Provinzen  zergliedert  wurde.  Als  ein 
Hauptgrund  hierfür  wird  immer  angeführt,  daß  der  Kaiser  hier  an  dieser  wich- 
tigen Grenze  des  Reiches  keine  übermächtigen  Generale  haben  wollte.  Wir 
wissen  aber  nicht,  wie  sehr  auch  noch  bei  dieser  Maßregel  für  Augustus  die 
Verteilung  der  verschiedenen  Völkerschaften,  die  ihrem  Charakter  und  der  Natur 
des  Gebirgslandes  nach  schwieriger  im  Zaum  zu  halten  waren,  mitgewirkt  hat; 
denn  die  damalige  Einteilung  der  Alpenprovinzen  geht  mit  derjenigen  der  Völker- 
schaften Hand  in  Hand.  Eine  Ausnahme  macht  hierbei  nur  die  Zuteilung  der 
Vallis  Poenina  (Wallis)  zu  Rätien,  die  wohl  offensichtlich  deshalb  geschah,  um 
dem  Statthalter  der  an  sich  schon  besonders  wichtigen  Provinz  Narbonensis  nicht 
auch  noch  die  Verfügung  über  dieses  wichtige  Paßland  zu  geben.  Außerdem  ist 
bei  dieser  Gruppierung  lokalgeschichtlich  bemerkenswert,  daß  im  oberen  Wallis 
wenigstens  tatsächlich  Spuren  rätischer  Bevölkerung  vorhanden  sind  und  dieser 
lange  Landzipfel  über  die  Furka  hinüber  ethnographisch  wirklich  mit  Rätien  zu- 
sammengehangen haben  muß.  Hier  liegt  daher,  abgesehen  von  der  Römerstraße 
durch  das  Pustertal,  der  einzige  Fall  vor,  nach  dem  sich  ein  regelrechter  Ver- 
kehr in  der  Längsrichtung  des  Gebirges  zu  Römerzeiten  beobachten  ließe '^). 

Jedenfalls  hat  niemals  wieder  Italien  eine  derartig  vollendete  politische  Ab- 
rundung  und  zugleich  einen  derartig  kulturellen  Aufschwung  erlebt,  als  zu  dem 
Zeitpunkte,  in  dem  der  alternde  Kaiser  als  Abschluß  seiner  Wirksamkeit  die 
seit  langer  Zeit  heiß  umstrittenen  Grenzen  Italiens  im  Norden  festlegte.  Vom 
Flusse  Var  im  Westen,  der  seitdem  unausgesetzt  in  der  Vorstellung  der  Völker 
die  Grenze  zwischen  Frankreich  und  Gallien  gebildet  hat,  geht  jetzt  die  Grenze 
hinüber  bis  zum  Arsia,  dem  östlichen  Grenzfluß  Istriens.  Im  Norden  aber  steigt, 
mit  Ausnahme  des  ephemeren  Gebietes  des  Kottius,  die  Grenze  Italiens  überall 
bis  zu  den  höchsten  Kämmen  der  Alpen  hinan,  derart,  daß  der  Stadtbezirk  von 
Mailand  bis  zur  Adula  reicht,  und  das  Etschtal  bei  Bozen  italienisches  Grenz- 
land bildet. 

Die  Früchte  seines  Werkes  hat  aber  Augustus  selbst  nirgendwo  schöner  als 
in  Nordostitalien  gesehen;  denn  hier  trat  der  Fall  ein,  der  sich  zuweilen  bei 
großen  Handelszentren  beobachten  läßt,  daß,'  wie  die  Sonne  auf  einmal  die 
Knospenblätter  der  Aloe  öffnet,  so  der  unerwartete  Eintritt  einer  günstigen  Kon- 
stellation und  die  plötzliche  Eröffnung  ganz  neuer  Verkehrsstraßen  eines  jener 
wunderbaren  Aufblühen  der  Kultur  und  des  Wohlstandes  hervorrief.  Es  muß 
doch  auffallen,  wenn  in  dem  weiten  römischen  Reiche  gerade  an  diesem  Punkte 
Padua  liegt,  das  nach  zeitgenössischen  Berichten  damals  plötzlich  nächst  Rom 
und  Cadiz  als  die  reichste  Stadt  Westeuropas  genannt  wird.  Vermag  der  Wech- 
sel der  Zeiten  auch  viel,  diese  Vergangenheit  traut  man  heute  der  schlecht  und 
rechten  Mittelstadt  doch  wohl  nicht  zu.  Daß  jene  Nachricht  aber  nicht  über- 
trieben ist,  wird  psychologisch  durch  die  gepriesene  Ehrbarkeit  und  Zurück- 
haltung  des   alten   paduaner   Bürgertums   wahrscheinlich   gemacht;    denn    solche 


56  IV.  Kapitel. 

kaufmännische  Steifheit  erwächst  gern  in  Kreisen,  denen  die  Erhaltung  des  Be- 
stehenden Lebensbedingung  ist.  Auch  die  Küstenstädte  Venetiens,  Aquileja  und 
Altinum,  wurden  unter  Augustus  mächtige  Zentren  des  Weithandels.  Von  diesen 
ist  Aquileja  jetzt  ein  ganz  unbedeutender  Ort  geworden,  und  Altino  kennt  man 
kaum  noch  dem  Namen  nach.  Auch  Concordia,  westlich  Aquileja,  eine  militäri- 
sche Gründung  des  Augustus,  wohin  zunächst  die  Straßen  von  Italien  aus  zu- 
sammenliefen, ist  jetzt  eine  weltverlassene  Stätte.  Nur  weiter  nach  dem  Gebirge 
zu  haben  Brescia,  und  vor  allem  Verona,  die  beide  von  Augustus  zur  Kolonie 
gemacht  worden  sind,  ihre  alte  Bedeutung  bewahrt,  und  noch  heute  fließen  in 
Brescia  die  auf  Augustus  Geheiß  erbauten  Leitungen  so  reichlich,  daß  nächst 
Rom  keine  andere  Stadt  in  Italien  derartig  gutes  Wasser  besitzt. 

Dem  damaligen  Geschlecht  schwebte  aber  auch  tatsächlich  der  Gedanke 
vor,  daß  das,  was  hier  durch  den  ersten  römischen  Kaiser  geschehen  war,  eine 
große  geschichtliche  Tat  bedeutete;  und  so  ließ  es  sich  dieses  Zeitalter,  reich 
und  denkmalfreudig  wie  es  war,  auch  nicht  nehmen,  das  Gedächtnis  daran  im 
Denkmal  festzuhalten.  An  der  ligurischen  Küstenstraße  erhob  sich,  in  Aussehen 
und  Größe  den  gewaltigen  monumentalen  Bauten  Roms  ähnlich,  das  Denkmal, 
das  die  Eroberung  der  Alpen  durch  den  Kaiser  verkündete;  auch  in  Lugdunum 
befand  sich  ein  großes  Denkmal  des  Augustus  und  in  Susa  steht  heute  noch  ein 
ihm  (8  V.  Gh.)  geweihter  Triumphbogen. 

Zuverlässiger  aber  als  diese  steinernen  Zeichen  hat  auch  hier  der  Gedanke 
selbst  das  Andenken  des  Kaisers  mit  dem  Schauplatz  seiner  Taten  verknüpft. 
Das  haben  die  Herrscher  des  Altertums,  zu  deren  Zeiten  der  geschichtliche 
Boden  noch  jungfräulich  war,  vor  denen  der  Jetztzeit  vorausgehabt,  daß  ihre 
Namen  an  den  Stätten  ihres  Wirkens  leichter  haften  bleiben  konnten.  Auch  heute 
noch  lebt  deshalb  trotz  des  Überzuges  von  zwanzig  Jahrhunderten,  der  sich  dar- 
über gelagert  hat,  in  dem  Alpengebiet  der  Name  des  Augustus  in  den  nach  ihm 
benannten  Orten  fort.  An  stillen  und  belebten  Punkten  kann  man  ihm  begegnen. 
Ist  auch  der  Name  vallis  Augustana  für  den  ganzen  Komplex  der  Sankt  Bern- 
hard Pässe  verhallt,  so  sprechen  doch  heute  noch  die  Städte  Aosta  und  Aouste 
(in  der  Dauphinee,  am  nördlichen  Ausgange  des  Mont  Genevre),  und  am  Rhein 
Äugst  von  ihrem  Gründer;  in  seiner  Stadt  Augsburg  steht  sein  Standbild,  und 
drüben  im  Osten  des  Gebirges  ist  der  ganze  Gebirgszug  der  Julischen  Alpen 
und  das  unter  ihm  liegende  Land  Friaul  (von  Forum  Julii)  mit  dem  Namen  seines 
Geschlechtes  verwachsen  '''). 

Es  ist  ein  Beweis  von  der  Größe  der  Erfolge  des  Augustus,  daß  wir  nun 
in  der  Zeit  nach  seinem  Tod  die  von  ihm  geschaffenen  Einrichtungen  ungestört 
ihre  Arbeit  verrichten  sehen,  und  daß  was  nach  ihm  geschieht,  zunächst  alles 
nur  als  ein  Ausbau  des  Bestehenden  erscheint.  Auffallend  ist  es  aber  trotzdem, 
daß  der  Name  des  Tiberius  als  Kaiser  in  der  Geschichte  der  Alpenländer  so  gut 
wie  ausfallt.     Es  entspricht  jedoch  ganz  dem  Charakter  dieses  innerlich  tief  leiden- 


Die  Eroberung  der  Alpenländer  durch  die  Römer.  57 

schaftlichen  Mannes,  daß  er  den  Schauplatz,  der  ihm  auf  der  Höhe  des  Lebens 
eine  Enttäuschung  bereitet  hatte,  später  geflissentlich  mied.  Erst  unter  dem  Kaiser 
Klaudius  sehen  wir  auf  einmal  sich  in  den  Alpengebieten  wieder  die  Tätigkeit 
des  Staates  regen  und  da  diese  mit  dem  Tode  des  Klaudius  sofort  wieder  aus- 
setzt, wird  man  das,  was  damals  geschehen  ist,  auch  tatsächlich  auf  den  Willen 
jenes  Kaisers  selbst  zurückführen  müssen.  In  der  großen  Geschichte  erscheint  Klau- 
dius sonst  als  eine  passive  und  durchaus  nicht  als  eine  epochemachende  Gestalt. 
Wie  viele  schwache  Naturen  sah  Klaudius  innerlich  wohl  ganz  das  Richtige  ein, 
während  er  aber  unRahig  war,  seine  Gedanken  in  Taten  umzusetzen,  sobald  er 
bei  solchem  Vorhaben  auf  den  widerstrebenden  Willen  anderer  stieß.  So  ver- 
trägt es  sich  ganz  gut  mit  der  Persönlichkeit  dieses  Kaisers,  daß  er  auf  diesem 
fernab  liegenden  Gebiete,  wo  ihn  niemand  beirrt  haben  mag,  in  seinen  Maß- 
regeln ganz  das  richtige  traf. 

Die  .Augusteische  Organisation  war  einzig  bei  dem  Übergang  von  der  Rhein- 
zur  Donaufront,  an  der  Stelle,  wo  Vindonissa  lag,  unvollendet  geblieben.  Aus 
den  Maßnahmen  des  Klaudius  läßt  sich  nun  durchfühlen,  daß  er  vor  allem  hier 
zu  verbessern  suchte,  ohne  aber  schon  an  dem  Grundgedanken  des  Entwurfes 
dieses  ganzen  Grenzzuges,  wie  später  durch  die  Einbeziehung  des  Dekumatlandes 
geschah,  zu  ändern.  Den  unmittelbaren  Anlaß  hierzu  mögen  die  Unruhen  der 
Chatten  abgegeben  haben,  die  (41  und  50  n.  Ch.)  weit  nördlich  Vindonissa  be- 
gonnen hatten,  auf  die  Grenzen  zu  drücken.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß 
unter  Klaudius  die  von  West  nach  Ost  ziehende  Front  des  Oberrheins  von 
Äugst  bis  zum  Bodensee  besonders  gesichert  wurde,  da,  wo  heute  noch  als  Rest 
dieser  Arbeit  südlich  Eglisan  am  Rhein  der  Ort  Kloten  (Claudia)  liegt.  Hierbei 
■wurde  wieder  auch  auf  das  bewährte  Hilfsmittel  der  Römer,  nach  dem  bedrohten 
Punkt  gute  Verbindungen  hinzuziehen  zurückgegriffen.  So  sehen  wir,  wie  unter 
Klaudius  zunächst  an  der  einzigen  von  Italien  nach  der  Schweizer  Hochebene 
führenden  Straße,  dem  Großen  Sankt  Bernhard,  gearbeitet  und  dieselbe  von 
Vevey  nach  Äugst -Basel  zu  richtig  eingerichtet  wird;  ebenso  werden  aber  auch 
jetzt  von  Gallien  aus  nach  der  helvetischen  Hochebene,  d.  h.  durch  die  Jurapässe 
bei  Jougne,  den  oberen  Hauenstein  und  den  Bötzberg,  Straßen  durchgeschlagen. 

Das  Wichtigste  hierbei  ist  aber,  daß  dieser  Kaiser  auch  noch  die  Neu- 
anlage einer  zweiten  Verbindung  nach  jenem  Strich  von  Venetien  aus  in  das 
Auge  gefaßt  zu  haben  scheint;  denn  an  der  problematischen  Straße  von  Venetien 
aus  über  Feltre  nach  dem  Vintschgau,  die  Augustus  entwarf  und  an  der  Klaudius 
weiterbauen  ließ,  ist  eben  besonders  auffallend,  daß  diese  Straße  nicht  in  süd- 
nördlicher Richtung  lief,  sondern  in  diagonaler  Richtung  durch  die  Alpen  gleich- 
falls nach  dem  nördlich  Vindonissa  gelegenen  Gebiete  hingezielt  zu  haben  scheint. 
Auch  sonst  begegnen  wir,  freilich  wohl  mehr  Hand  in  Hand  mit  der  vorsichgehenden 
friedlichen  Entwickelung,  der  Tätigkeit  und  dem  Namen  dieses  Kaisers  in  dem 
ganzen  Alpengebiet.     Er  revidiert  das  Verhältnis  des  Kottischen  Herrscherhauses 


58  IV.  Kapitel. 

zum  Reiche;  Martigny  (Octodurus)  erhält  nach  ihm  den  Namen  Forum  Claudii 
Valiensium";  auch  in  der  Tarantaise  hieß  das  heutige  Centron  wahrscheinlich 
einst  gleichfalls  Forum  Claudii,  und  im  Jahre  46  n.  Ch.  greift  ein  kaiserliches 
Edikt  in  das  Stadtregiment  von  Trient  ein.  Nach  dieser  Seite  hin  ist  besonders 
in  Norikum  die  Tätigkeit  des  Kaisers  zu  spüren.  Klaudius  hat  diese  Provinz, 
die  sich  infolge  ihrer  geschützten  Lage  rascher  als  die  übrigen  Alpenprovinzen 
hatte  entwickeln  können,  vollständig  organisiert.  Die  hauptsächlichsten  Städte 
der  Ostalpen,  Celeja,  Virunum,  Aguntum,  Juvavum  und  Savaria  nannten  sich 
sämtlich  nach  diesem  'Kaiser;  welch'  letzteres  in  betreff  von  Juvavum  (Salzburg) 
und  Savaria  (Stein  am  Anger)  ferner  dafür  ein  Zeichen  sein  kann,  daß  sich  das 
Römertum  nun  auch  hier,  in  diesen  entlegeneren  Gegenden  der  Alpen,  häuslich 
eingerichtet  hatte,  und  nach  alledem  wird  man  auch  die  Entstehung  der  von 
Aquileja  über  den  Pontebba-Paß  nach  Virunum  führenden  Römerstraße  in  die 
Zeit  des  Klaudius  setzen  müssen  (Glemona=Claudia  Emona). 

Nach  diesem  Ausbau  der  Augusteischen  Organisation  unter  Klaudius  ist 
die  Regierungszeit  der  Kaiser  Kaligula  und  Nero  zunächst  ohne  bemerkenswerte 
Schicksale  an  den  Alpen  vorübergegangen.  Die  großen  Erschütterungen,  die 
das  Römerreich  dann  weiterhin  unter  den  Kaisern  Vitellius  und  Otho  und  hierauf 
während  der  großen  Aufstände  unter  Civilis  und  Tutor  durchzumachen  hatte, 
haben  ihre  Wellen  zwar  auch  bis  tief  in  die  Alpen  hineingeschlagen,  aber  ebenso 
wie  in  den  Ländern  nördlich  und  südlich  des  Gebirges  ist  mit  der  Thron- 
besteigung Vespasians  dann  auch  in  dem  Alpengebiet  selbst  alles  wieder  in  die 
alten  Zustände  zurückgekehrt.  Bereits  während  dieser  Kämpfe  aber  hat  sich  die 
römischerseits  getroffene  Maßregel  der  Einteilung  -der  Alpenländer  in  einzelne 
kleinere  Provinzen  ganz  trefflich  bewährt,  indem  jene  —  ganz  im  Gegensatz  zu 
den  Ereignissen,  wie  sie  damals  am  Rhein  vor  sich  gingen  —  es  von  vornherein 
verhinderte,  daß  das  Alpengebiet  in  seiner  Gesamtheit  in  eine  reichsfeindliche 
Bewegung  hineingezogen  werden  konnte.  Wie  sehr  sich  aber  die  Römerherrschaft 
damals  hier  schon  eingelebt  hatte,  läßt  sich  aus  dem  ganz  bewußt  hervortretenden 
Gegensatz  zwischen  dem  helvetischen  und  rätischen  Lande  ersehen,  der  durch 
jene  Einteilung  sanktioniert  worden  war,  ferner  aber  auch  aus  der  Sicherheit, 
mit  der  sich  damals  die  römischen  Kommandanten  auf  den  militärisch  wichtigen 
Alpenlinien  bewegten. 

So  wenig  wie  während  des  auf  die  Thronbesteigung  Vespasians  folgenden 
Jahrhunderts  sind  die  Alpen  wohl  niemals  wieder  im  Laufe  der  ganzen  Geschichte 
von  wichtigen  Ereignissen  getroffen  worden.  Ebenso  sehr  vermissen  wir  aber 
auch  daselbst  während  dieses  Zeitraumes  die  Tätigkeit  der  römischen  Herrscher, 
Der  einzige  bemerkenswerte  Vorgang,  der  damals  in  dem  das  Gebirge  um- 
gebenden Länderkreis  stattfand,  war  die  Aufnahme  des  Dekumatlandes  in  die 
römischen  Grenzen,  was  somit  eine  grundsätzliche  Durchbrechung  der  Augu- 
steischen Organisation  an  diesem  Punkte   des   Alpengebiets   bedeutete.     Man   ist 


Die  Eroberung  der  Alpenländer  durch  die  Römer.  59 

gewöhnt  die  Annexion  dieses  Vindonissa  vorliegenden  und  die  Verbindung  von 
Mainz  nach  Augsburg  etwa  um  die  Hälfte  des  früheren  Weges  verkürzenden 
Landstriches,  und  in  der  Folge  davon  die  Überbrückung  des  Rheines  bei  Mainz 
sowie  die  Einrichtung  des  großen,  mindestens  zwei  Legionen  fassenden  Stand- 
lagers zu  Rottweil  (Ära  Flaviae),  das  die  Rolle  von  Windisch  übernehmen  sollte, 
den  flavischen  Kaisern,  insbesondere  Vespasian,  zuzuschreiben.  Die  geringe 
Bevölkerungszahl  dieser  Gegend,  vor  allem  aber  das  nach  dem  Jahre  70  n.  Ch. 
für  ein  ganzes  Jahrhundert  auf  dem  Boden  des  heutigen  Deutschlands  zu  be- 
obachtende Nachlassen  des  von  Osten  kommenden  Völkerdranges  mögen  aller- 
dings gerade  damals  ein  derartiges  Vortreiben  der  römischen  Grenzen  nahegelegt 
haben.  Im  Grunde  widersprach  freilich  diese  Maßregel  jener  besonderen,  überall 
hervortretenden  römischen  Gepflogenheit,  die  Flußläufe  als  Grenzen  zu  benutzen 
und  der  Vorteil  des  Gewinnes  einer  kürzeren  Ausdehnung  der  Kolonnenstraße 
mußte  deshalb  hier  mit  dem  Nachteil  des  Fehlens  einer  starken  natürlichen 
Grenzlinie  erkauft  werden. 

Eine  wirklich  praktische  Bedeutung  für  die  große  römische  Politik  kann 
der  Besitz  des  Dekumatlandes  jedoch  erst  unter  der  das  zweite  Jahrhundert  an- 
füllenden, von  Nerva  ausgehenden  Dynastie  erlangt  haben,  und  zwar  nach  einer 
Richtung  hin,  die  weit  von  den  Alpen  selbst  entfernt  ist.  Denn  während  an  der 
Alpen-  und  ebenso  an  der  Rheingrenze  noch  überall  alles  ruhig  lag,  machte 
sich  schon  um  die  Wende  des  ersten  christlichen  Jahrhunderts  nördlich  des 
Unterlaufs  der  Donau  ein  immer  stärker  werdender  Gegendruck  geltend.  Es 
ist  das  die  Gefahr,  die  durch  aktives  Eingreifen  zunächst  Trajan  durch  die 
großen  Kriege  gegen  Dacien  abgewendet  hat.  Für  den  Aufmarsch  der  Armee 
gegen  Osten  mußten  jenem  Kaiser  aber  damals  die  beiden  großen  durchgehenden 
Zugangslinien  aus  dem  Westen,  von  Italien  aus  die  Birnbaumer  Straße,  und  von 
den  Rheinlanden  her  jene  durch  die  Einbeziehung  des  Dekumatlandes  neu- 
gewonnene und  von  Mainz  über  Augsburg  und  Salzburg  nach  Carnuntum  führende 
Linie  dienen.  So  sehen  wir  deshalb  auch  Trajan  sowohl  die  Birnbaumer  Straße 
(Meilenstein  bei  Loitzsch)  verbessern  und  Pettau  a.  d.  Drau  (Colonia  Ulpia 
Trajana)  als  militärische  Basis  und  Ausfallsfestung  einrichten,  ebenso  aber  auch 
während  der  ersten  Jahre  seiner  Regierung  vom  Rhein  aus  das  Dekumatland 
militärisch  neuorganisieren.  Für  das  nördliche  Alpengebiet  selbst  aber  fand  jene 
Verschiebung  des  militärischen  Schwergewichts  vom  Rhein  nach  der  unteren 
Donau  ihren  Ausdruck  darin,  daß  nun  nicht  nur  Windisch,  sondern  bald  auch 
Rottweil  als  große  Waffenplätze  zunächst  entbehrlich  wurden,  während  jene  Rolle 
eines  großen  ständigen  Garnisonlagers  jetzt  Carnuntum  als  nördlichster  Flanken- 
punkt einer  nach  Osten  schauenden  römischen  Angriffsfront  zu  übernehmen  hatte. 
Alles  das  aber,  was  während  des  zweiten  christlichen  Jahrhunderts  nun  am 
Nordabhang  der  Alpen,  unter  den  Kaisern  Hadrian  und  Pias  geschehen  ist, 
stellt  sich  nur  als  eine  Konsequenz  der  gleichen  Konstellation  unter  Anwendung 


60  IV.  Kapitel. 

immer  künstlicherer  Mittel  dar.  Es  ist  dies  vor  allem  der  Ausbau  der  ober- 
deutschen Limeslinie,  deren  ganze  Anlage  zeigt,  daß  der  Schwerpunkt  der 
Verteidigung  damals  gegen  Osten  gerichtet  war,  weil  die  einzelnen  im  Zickzack 
von  Osten  nach  Westen  sich  zurückziehenden  Abschnitte  des  Limes  in  der 
Hauptsache  wenigstens  ihre  Fronten  nach  Osten  und  nach  Norden  nur  ihre 
Flanken  kehren.  Die  Entwickelung,  die  unter  Klaudius  einst  innerhalb  Norikums 
vor  sich  gegangen  war,  wiederholte  sich  jetzt  in  ähnlicher  Weise  auf  dem  Boden 
der  oberdeutschen  Hochebene  unter  Hadrian.  Es  ist  dies  die  Zeit,  in  der  Augs- 
burg römische  Kolonie  wurde,  Kempten  und  Salzburg  sich  zu  lebhaften  Orten 
erweiterten  und  die  römische  Kolonisation  sich  nun  auch  südlich  des  ganzen 
heutigen  österreichischen  Donauufers  bis  zu  den  Munizipium  Carnuntum  hin 
häuslich  einrichtete. 


V.  Kapitel. 
Die  Aipenländer  als  römische  Provinzen. 


So  sind  wir  denn  mit  unserer  Schilderung  bereits  mitten  in  denjenigen 
Zeitraum  hineingelangt,  der,  mit  der  Thronbesteigung  Vespasians  beginnend  und 
bis  zum  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  nach  Ch.  anhaltend,  wie  kein  anderer 
wieder,  weder  vorher  noch  nachher  im  Laufe  der  Geschichte,  der  zivilisierten 
Menschheit  über  ihr  ganzes  Gebiet  einen  andauernden,  gesicherten  Frieden  und 
in  dessen  Gefolge  einen  ungestörten  Genuß  aller  materiellen  Güter  gebracht 
hat.  Auch  die  Alpenländer  sind  damals  der  gleichen  Segnungen  teilhaftig  ge- 
worden. Schon  durch  die  Münzfunde  illustriert  es  sich,  daß,  nachdem  die  Römer 
einmal  die  Scheu  vor  dem  Gebirge  einigermaßen  verloren  hatten,  die  römische 
Kultur  nun  auch  in  den  Alpenländern  in  vollstem  Maße  Platz  griff  und  sich 
selbst  an  Orten  anbaute,  die  wir  auch  heute  noch  als  abgelegen  bezeichnen 
müssen.  Die  Anzahl  der  Römermünzen  aber,  die  gerade  aus  der  Zeit  des  zweiten 
Jahrhunderts  nach  Ch.  in  den  Alpenländern  zum  Vorschein  gekommen  sind,  ist 
ungefähr  dreimal  so  groß  wie  diejenige  aus  den  vorangegangenen  und  zweimal 
so  groß  wie  die  aus  den  späteren  römischen  Jahrhunderten. 

Die  großen  Straßenlinien  waren  jetzt,  mit  Ausnahme  der  Brenner-,  Tauern- 
und  Ploeckenstraße  sämtlich  so  wie  sie  die  römische  Regierung  haben  wollte, 
festgelegt,  und  es  trat  nun  in  jenen  geruhigen  Zeiten,  in  denen  kein  Feind  den 
Ausbau  störte,  die  gleiche  Erscheinung  ein,  wie  sie  dann  in  den  Alpenländern 
noch  ein  zweites  Mal  während  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  beobachtet  werden 
kann,  als  gleichfalls  lange  Zeiten  hier  ohne  Erschütterungen  vorübergingen.  Jetzt 
ist  es  der  immer  reger  werdende  Kleinverkehr,  der  an  den  verschiedensten 
Stellen,  wo  die  Wegeverhältnisse  der  Besserung  bedürfen,  Muße  findet,  un- 
gestört und  systematisch  einzugreifen.  Jetzt  baut  der  Statthalter  von  Aventicum 
eine  neue  Straße  bei  Biel  am  Pierre  Pertuis  (nach  161  nach  Ch.)  durch  den 
Schweizer  Jura,  und  nicht  der  Großverkehr  zwischen  Italien  und  Gallien,  sondern 


62  V.  Kapitel. 

nur  der  Lokalverkehr  zwischen  Oberitalien  und  Helvetien  sucht  die  auch  für 
jenen  Zweck  vorzüglich  geeignete  Simplonstraße  regelrecht  zu  öffnen  (Inschrift 
von  Vogogna,  196  nach  Gh.).  Und  wenn  auch  die  Erbauung  des  Hauptstranges 
der  Brennerstraße  schon  in  eine  spätere  Zeit  fällt  und  aus  militärischen  Rück- 
sichten hervorgegangen  ist,  so  gehören  doch  die  einzelnen  Folgeerscheinungen 
hierher,  die  deren  Anlage  mit  sich  brachte,  weil  auch  der  bürgerliche  Verkehr 
nicht  minder  an  dieser  Schüssel  mitgegessen  hat.  Die  überaus  schwierige  Straßen- 
führung an  jener  Stelle  der  Brennerstraße  nördlich  Bozens,  die  den  Kuntersweg 
vermeidend  westlich  über  die  Berge  ausholte,  setzt  voraus,  daß  man  hier  fast 
für  die  Ewigkeit  zu  bauen  meinte.  Ebenso  ist  aber  auch  damals  auf  der  nörd- 
lichen Seite  der  Brennerstraße  viel  mehr  geschehen  als  allein  durch  den  mili- 
tärischen Verkehr  geboten  gewesen  zu  sein  scheint;  denn  hier  entstand  neben 
der  ursprünglichen  Staatsstraße  auf  der  Strecke  von  Parthanum  (Partenkirchen) 
nordwärts  über  den  Kienberg  und  Schongau  bald  noch  eine  zweite  bequemere 
Straße  durch  Überbrückung  des  Murnauer  Mooses  am  Ammersee  entlang,  und 
ebenso  auch  die  sogenannte  jüngere  Brennerstraße,  d.  h.  die  Strecke  Veldidena- 
Pons  Aeni,  also  die  heutige  Verbindung  Innsbruck-Rosenheim. 

Schon  damals  unter  den  Römern  erhoben  sich,  wie  erst  wieder  in  unserer 
Zeit,  Villen  und  Landgüter  zahlreich  an  den  Ufern  der  oberbayrischen  Seen. 
Von  der  Ausdehnung  jener  Ansiedelungen  kann  man  sich  aber  einen  Begriff 
machen,  wenn  man  in  den  bayrischen  Museen  die  Mannigfaltigkeit  der  aus  diesen 
Zeiten  aus  der  Erde  emporgekommenen  Funde  mit  den  Resten  des  früheren 
bayrischen  Mittelalters  vergleicht,  die  in  viel  geringerer  Zahl  vorhanden  sind. 
Damals  sah  auch  die  militärisch  noch  ganz  unwichtige  Linie  durch  das  Pustertal 
friedlichen  Verkehr  (Meilenstein  von  Antoninus  Pius  zwischen  Sonnenburg  und 
Pflaurenz),  den  dorthin  die  große  Zentrale  der  Ostalpen,  Virunum  gesandt  haben 
mag.  Und  recht  bequem  lebte  man  erst  am  Südfuß  der  Alpen.  Dort  haben 
auch  Nebentäler  ihre  Wasserleitungen  (Val  de  Cogne  bei  Aosta,  Val  Tournanche) 
oder  ihre  Bäder  (Bormio),  die  Umgebung  des  Komer-Sees  ist  bis  ins  Kleinste 
bekannt  und  in  Verona  wird  das  Amphitheater  für  zweiundzwanzigtausend 
Menschen  eingerichtet.  Über  allem  diesem  steht  aber  der  Fund  jenes  Viktoria- 
Standbildes  in  Brescia,  das  dort  zur  Zeit  Vespasians  aufgestellt  worden  ist;  denn 
dieses  Bronze-Kunstwerk,  das  zu  dem  schönsten  gehört,  das  überhaupt  aus  dem 
römischen  Altertum  erhalten  ist,  könnte  allein  das  beste  Zeugnis  von  der  Höhe 
abgeben,  in  der  damals  die  römische  Kultur  bis  zu  dem  südlichen  Alpenrand 
heran  vorgeschritten  war. 

Die  erste  Bedingung,  um  aus  den  Alpenländern  römische  Provinzen  zu 
machen,  war  die  Umformung  der  Alpenbewohner  zu  römischen  Provinzialen 
gewesen.  Es  ist  oben  gesagt  worden,  daß  der  Hauptfaktor,  durch  den  dieses 
Resultat  erzielt  wurde,  die  dem  lateinischen  Volkstum  innewohnende  Energie  war, 
die  früher  oder  später   zur   Knickung   jedes   fremden   unterworfenen   Volkstums 


Die  Alpenländer  als  römische  Provinzen.  63 

führen  mußte.  Für  die  das  Alpengebiet  bewohnenden  Völker  muß  man  jedoch 
schlechterdings  annehmen,  daß  ihnen  gegenüber  es  die  Römer  außerdem  noch 
an  den  ihnen  auch  sonst  geläufigen  systematischen  Maßregeln  nicht  fehlen  ge- 
lassen haben,  um  diese  Entwicklung  zu  beschleunigen  und  dadurch  rascher  des 
Besitzes  der  Alpen  ganz  sicher  zu  werden;  denn  die  Gefahr,  die  der  von  Nord- 
osten aus  anziehenden  Völkerwanderung  innewohnte,  haben  schon  Cäsar  und 
Augustus,  in  deren  Köpfen  sich  als  echten  Herrschernaturen  die  Welt  anders 
als  in  denen  ihrer  Mitlebenden  malte,  ganz  klar  erkannt.  Die  Zahl  der  Helvetier, 
denen  Cäsar  in  die  Schweiz  zurückzukehren  erlaubt,  ist  nur  der  dritte  Teil  des 
vorher  ausgezogenen  Volkes,  und  diese  Maßregel  ist  noch  mild,  weil  sie  Cäsar 
zu  Anfang  seines  großen  Vorhabens  Platz  greifen  zu  lassen  für  gut  befand. 
Augustus  führte  dann  in  seinem  Sinn  nur  das  nächstliegende  aus,  wenn  er  die 
Alpenmauer  als  solche,  den  besten  Schutz,  den  es  für  Italien  gegen  die  nördlichen 
Völker  gab,  in  gutem  Stande  erhielt.  Aber  selbst  ohne  diesen  großen  politischen 
Gesichtspunkt  wären  auch  vom  weniger  weitblickenden  römischen  Standpunkte 
aus  schon  um  der  Sicherheit  der  Straßen  willen  und  wegen  der  Schwierigkeit, 
die  der  Gebirgscharakter  des  Landes  der  Beaufsichtigung  im  großen  entgegen- 
setzte, hier  gründliche  Razzias  geboten  gewesen.  Daß  diese  erfolgt  sind,  zeigt 
das  Verfahren  des  Augustus  gegen  die  Salasser,  von  denen  im  Jahre  25  vor  Ch. 
sechsunddreißigtausend  durch  Varro  Murena  in  die  Sklaverei  verkauft  wurden, 
und  dasjenige  gegen  die  Räter,  wo  der  Überschuß  der  männlichen  Bevölkerung 
ausgerottet  wurde.  Der  Ortsname  Pons  Drusi  in  der  Nähe  Bozens  bezeichnet 
den  Abschnitt,  an  dem  während  der  Eroberung  Rätiens  durch  Drusus  zunächst 
Halt  gemacht  wurde.  Hier  konnte  der  südlich  vom  Etschtal  kommende  Römer 
zunächst  direkt  auf  das  Sarntal  zu  einem  bequemen  Eingang  in  die  Gebirgswelt 
voraussetzen.  Während  sich  nun  aber  ringsherum  bei  Meran,  Klaußen  und 
Sterzing  römische  Funde  und  rätoromanische  Ortsnamen  in  Menge  finden,  fehlen 
diese  im  Sarngebiet  gänzlich;  hier  sind  die  Namen  sämtlich  reindeutsch,  und  es 
drängt  sich  da  die  Vermutung  auf,  daß  die  Römer  gerade  hier  aus  guten  Gründen 
unter  der  Bevölkerung  am  stärksten  aufgeräumt  haben.  So  wurde  also  auch 
hier  in  den  Alpenprovinzen  bis  nördlich  zur  Donau  alles  Volk  tatsächlich  zu 
Welschen,  d.  h.  zu  Leuten,  die  ihre  Kultur  vom  Süden  aus  empfangen  hatten, 
und  die  nördlichen  Völker,  die  später  die  Herrschaft  in  den  Alpen  antraten, 
trafen  darin  somit  ganz  das  richtige,  wenn  sie  diejenigen  Gegenden,  an  denen 
sie  die  alten  Bewohner  noch  in  größerer  Zahl  vorfanden,  eben  mit  dem  nach 
dem  Süden  weisenden  Zunamen  „Welsch"  bezeichneten  und  dadurch  den 
Unterschied,  der  zwischen  ihnen  selbst  und  jenen  bestand,  ganz  deutlich  her- 
vorkehrten. 

War  daher  durch  die  Umformung  der  einheimischen  Bevölkerung  schon 
das  Hauptwerk  der  Unterwerfung  geschehen,  so  wurde  diese  außerdem  durch 
die  militärischen  Maßregeln  im  Innern  des  Landes  selbst  vollendet.    Solche  mili- 


64  V.  Kapitel. 

tärischen  Maßregeln  konnten  aber  in  den  Alpen  in  erster  und  letzter  Linie  nur 
die  Erbauung  von  Straßen  durch  das  Gebirge  bilden,  die  hier,  wie  überall  in 
den  römischen  Grenzprovinzen,  zunächst  Militärstraßen  waren  und  auf  denen 
deshalb  auch  der  Sicherheitsdienst  lediglich  von  der  Armee  ausgeführt  wurde. 
Freilich  mag  es  damals  für  die  Römer  genügt  haben,  hierbei  mit  einem  ganz 
geringen  Truppenkörper  auszukommen,  der  zu  der  großen  Ausdehnung  der  zu 
bewachenden  Linien  in  keinem  Verhältnis  stand.  Daß  dies  aber  möglich  war, 
lag  an  dem  Prestige  des  römischen  Weltreichs,  mehr  aber  noch  an  der  uner- 
reichten Überlegenheit  der  römischen  Militäreinrichtungen  selbst.  Überall,  wohin 
der  Römer  kam,  wurde  er  zunächst  von  dem  Hochgefühl  seines  Staates  und  dem 
Schrecken  seines  Namens  begleitet.  Dies  wußte  er  aber  auch  derart  zu  seinem 
Vorteil  auszunutzen,  daß  er  sich  zunächst  um  die  Meinung  der  Feinde  nicht  im 
geringsten  kümmerte  und  sich  daher  nur  dann  zum  Gefecht  entschloß,  wenn 
ihm  alle  Umstände  von  vornherein  den  Erfolg  sicherten.  War  dieser  dagegen 
zweifelhaft,  so  fiel  es  ihm  nicht  ein,  eine  Entscheidung  zu  suchen,  mochten  die 
Feinde  denken,  was  sie  wollten. 

Die  Überlegenheit  der  Militäreinrichtungen  der  Römer  bestand  aber  zunächst 
in  ihrer  unerreichten  Befestigungskunst.  In  allen  Kriegen  des  römischen  Kaiser- 
reichs bildete  wie  niemals  wieder  in  der  Kriegsgeschichte  die  Anwendung  der- 
selben den  Hauptfaktor  für  den  Verlauf.  So  vermochte  z.  B.  Cäsar  allein  durch 
eine  rasch  aufgeworfene  Schanzlinie  am  Westende  des  Genfer  Sees  die  Helvetier 
aus  ihrer  ursprünglichen  Marschrichtung  zu  drängen  (Bellum  Gallicum  I,  8).  In 
den  bereits  unterworfenen  Gebieten  dagegen  mußte  die  Lage  der  Straßenkastelle 
und  Standlager  d.  h.  der  Punkte,  in  denen  das  Militär  stationiert  war,  entschei- 
dend werden.  Während  wir  aber  nun  in  der  Ebene  nördlich  der  Alpen,  in  Vin- 
delicien  und  im  Dekumatland,  die  alten  römischen  Befestigungen  noch  heute  in 
großer  Zahl  sicher  nachweisen  können,  ist  in  den  Alpen  selbst  das  Gegenteil  der  Fall. 
Daß  aber  auch  hier  der  römische  Befestigungsapparat  in  gleicher  Weise  an  den 
Straßen  angewendet  worden  sein  muß,  wäre  an  sich  schon  ganz  wahrscheinlich; 
es  ist  dies  aber  auch  durch  das  Vorhandensein  der  wenigen  Römerbefestigungen, 
deren  Existenz  wirklich  gesichert  ist  (Valeria  in  Sion,  Chur,  Wilthen,  Ried  b. 
Bozen,  Castellfeder,  Kastelruth;  die  Kastelle  an  der  Birnbaumer -Straße),  zur 
Gewißheit  gemacht.  Alle  diese  Kastelle  zeigen  zunächst  jene  die  militärische 
Überlegenheit  der  Römer  charakterisierende  Eigenschaft,  daß  sie  das  Horstartige 
der  Befestigungen  der  Naturvölker  und  ebenso  derjenigen  des  Mittelalters  ver- 
meiden; denn  der  Römer  baute  seine  Befestigungen  nicht  wie  jene  in  erster 
Linie  dazu,  um  sich  in  ihnen  trotzig  zu  verteidigen,  wenn  er  sich  auch  über  den 
Vorteil  jeder  Befestigungskunst,  Kräfte  zu  sparen,  von  vornherein  ganz  klar  war  '^) 
und  auch  dieses  System  schließlich  in  den  Zeiten  der  Not  (die  Limesbauten  der 
späteren  Kaiserzeit)  zur  höchsten  Vollendung  steigerte.  In  ihren  besten  Zeiten  dienten 
den  Römern  ihre  Befestigungen  vielmehr  dazu,  um  in  ihnen  Truppen  zu  statio- 


Die  Alpenländer  als  römische  Provinzen.  65 

nieren,  die  jederzeit  zum  Angriff  übergehen  und  dann  ihre  unerreichte  Kampfes- 
weise \viri<en  lassen  konnten,  Fällen,  in  denen  dann  aber  auch  die  disciplina  'Ö) 
des  römischen  Volkes  voll  ihre  Wirkung  zu  tun  und  der  römische  Soldat  eben- 
soviel wie  zehn  seiner  Feinde  zu  leisten  pflegte. 

So  haben  von  der  Aufstellung  des  Lagers,  die  in  den  römischen  Feldkriegen 
an  sich  schon  den  halben  Sieg  bedeutete,  in  den  Alpen  u.  a.  die  Orte  Wilthen 
und  Chur  ihren  Ursprung  genommen.  Noch  heute  entspricht  die  Lage  des 
Klosters  Wilthen  und  des  Königshofes  in  Chur  den  Anforderungen  des  römischen 
Reglements  an  ein  Feldlager:  rechteckiger  Grundriß  und  Anlehnung  an  sanft 
abfallende  Höhen.  Ein  anderer  und  zwar  für  ein  Gebirgsland  sehr  nahe  liegen- 
der Gesichtspunkt  tritt  ferner  in  der  Lage  der  Befestigungen  auf  Punkten  zu 
Tage,  die  einen  weiten  Ausblick  gewähren.  Bei  diesen  erhöhten  Lagen  ist  aber 
gerade  das  auffallend,  daß  sie  gewöhnlich  nicht  das  Land  ringsherum  überallhin 
gleichmäßig,  sondern  nur  in  überraschender  Weise  ganz  bestimmte  Weglinien  in 
langer  Entfernung  überblicken  lassen.  So  bietet  Neubeuern  bei  Rosenheim  nur 
eben  einen  Einblick  meilenweit  nach  Süden  hinein  die  Brennerstraße  entlang; 
von  Kastelruth  aus  liegt  auf  der  jenseitigen  westlichen  Talhöhe  des  Eisak  die 
hohe  Straße  von  Klobenstein  über  Lengmoos  nach  Kollmann  in  langer  Linie  aus- 
gebreitet, und  wer  sich  anschickt,  nach  Kastelfeder  hinaufzusteigen,  kann  sich 
wohl  denken,  von  dort  oben  die  Brennerstraße  nach  Süd  und  Nord  gut  über- 
blicken zu  können;  er  erstaunt  aber,  hier  vor  allem  auch  die  das  Überetsch 
durchziehende,  über  Kaltem  und  Eppan  nach  Meran  hinzielende  Linie  sich  scharf 
aus  der  Gegend  abheben  zu  sehen. 

Überall,  wo  Römerstraßen  im  Alpengebiet  geführt  haben  oder  geführt  haben 
sollen,  verfolgt  diese  sobald  wir  im  Einzelnen  ihren  Spuren  folgen  die  Tradition, 
daß  der  alte  Straßenkörper  hoch  an  der  Talseite  entlang  und  viel  höher  als  die 
Straße  der  späteren  Zeit  gelaufen  sei.  Diese  Kunde  tritt  an  so  vielen  Stellen 
und  so  bestimmt  auf,  daß  die  Forschung,  auch  selbst  wenn  andere  bessere 
Gründe  fehlten,  schon  deshalb  mit  ihr  rechnen  müßte.  Die  Tatsache,  daß  die 
alten  Straßen  in  der  Regel  das  Bestreben  hatten,  die  Talsohle  möglichst  zu  mei- 
den, trifft  freilich  nicht  bloß  für  die  Römerstraßen  sondern  überhaupt  für  alle 
alten  Straßen  in  Gebirgsgegenden  zu,  und  sie  ist  auch  um  so  weniger  wunder- 
bar, wenn  man  bedenkt,  daß  erst  die  letzten  Jahrhunderte  ihre  Technik  (Spreng- 
mittel) so  weit  entwickelt  haben,  daß  sie  es  wagen  konnten  in  die  den  bequem- 
sten Weglauf  darbietende  Talsohle  hinunterzusteigen  und  hier  den  Kampf  mit 
dem  gefährlichsten  Feind  der  Straßen  im  Gebirge,  dem  launenhaft,  unregelmäßig 
laufenden  Wasser,  aufzunehmen.  So  mußte  es  geschehen,  daß  die  Straßen 
der  alten  Zeit  überhaupt  das  Bestreben  hatten,  von  diesem  schwierigen 
Gebiet  ab  nach  der  Höhe  zu  rücken.  Auch  die  Römer  haben  hierin  nicht 
anders  gehandelt;  sie  haben  aber  nur,  wie  es  scheint,  dieses  erste  Hilfsmittel 
einer  alten   zweckmäßigen   Straßenführung   besonders   bewußt    und   systematisch 

Scheffel,  Verkchrsgeschicbte  der  Alpen.     I.  Bind.  5 


66  V.  Kapitel. 

angewendet.  Die  Tradition  ist  also  in  diesem  Falle  zunächst  im  vollen  Recht 
und  was  die  hohe  Führung  der  Römerstraßen  betrifft  in  doppeltem  Maße,  weil 
durch  sie  außerdem  auch  noch  die  welthistorische  Energie  ihren  Ausdruck  ge- 
funden hat,  die  den  Römern  bei  der  Überwindung  der  Schwierigkeiten  des  Hoch- 
gebirges zu  Gebote  stand. 

Klassische  Stellen,  wo  die  von  den  Römern  angelegten  Staatsstraßen  sich 
in  auffallender  Weise  umwegsartig  in  die  Höhe  heben,  um  so  eine  Garantie  für 
stete  Benutzbarkeit  zu^  erreichen,  sind  der  Nordabhang  des  Splügen  zwischen 
Razüns  und  Sufers  und  der  Anstieg  über  den  Ritten  auf  dem  Brennerweg  nörd- 
lich Bozen.  Eine  solche  ausgreifende  Straßenführung  wie  an  diesen  Stellen  hätte 
das  Mittelalter  allein  nie  fertig  bringen  können;  daß  diese  Straßenteile  aber  auch 
schon  im  Frühmittelalter  als  wie  von  selbst  gegeben  weiter  benutzt  worden  sind, 
beweist  am  besten  ihre  Entstehung  in  vormittelalterlicher  Zeit.  Andere  Stellen, 
an  denen  es  teils  erwiesen,  teils  wahrscheinlich  ist,  daß  die  von  den  Römern 
benutzten  Straßen  höher  als  die  heutigen  liefen,  finden  sich  u.  a.  am  Großen 
Sankt  Bernhard,  ein  zweites  Mal  auf  der  Paßhöhe  des  Splügen  bei  Madesimo, 
dann  bei  Serfaus  an  der  Straße  im  Oberinntal,  am  Abhang  des  Höttinger  Berges 
bei  Innsbruck,  an  der  Toll  bei  Meran,  am  Geierberg  südlich  Salurn,  zwischen 
Schabs,  Rundl  und  Rodenegg  am  Beginn  der  Pustertalstraße,  bei  Reichenhall 
zwischen  Glanegg  und  Groß-Gmain,  bei  Reit  zwischen  Unken  und  Lofer  und 
schließlich  bei  Gries  a.  Br.  an  der  westlichen  Nösslacher  Talseite  und  ebenso 
an  der  westlichen  Talseite  bei  Mittenwald  in  Oberbayern;  in  den  beiden  letzten 
Fällen  gleicht  sich  auch  das  landschaftliche  Bild,  das  die  Straßen  durchlaufen 
haben  sollen,  vollkommen. 

Einen  wichtigen  Grund  für  diese  Art  ihre  Alpenstraßen  zu  bauen,  müssen 
die  Römer  daher  allerdings  gehabt  haben.  Die  technischen  Schwierigkeiten,  die 
sich  zunächst  bei  einer  derartigen  Anlage  solcher  Straßen  einstellen  mußten, 
wurden  aber  auch  durch  das,  was  erreicht  wurde,  aufgewogen.  Denn  die  römischen 
Staatsstraßen  wurden  so  zu  Zwecklinien  ersten  Ranges,  wie  es  nach  ihnen  zu  unseren 
Zeiten  erst  die  Eisenbahnen  wieder  geworden  sind.  Sicherheit  und  Zuverlässig- 
keit in  der  Benutzung  unter  allen  Umständen,  das  war  die  Anforderung,  die  der 
römische  Staat  an  seine  Straßen  stellte;  die  hohe  Lage  der  Straße  aber  sicherte 
vor  Zerstörung  durch  das  Wasser  und  vor  Schneeverwehungen  und  ermöglichte 
es,  die  engen  Schluchten  (Kuntersweg,  Via  mala,  Schlucht  südlich  Gries  a.  Br.) 
zu  umgehen.  Arbeitskräfte  und  Arbeitsmittel,  nicht  minder  auch  Klugheit,  Praxis 
und  Zielbewußtsein  standen  aber  den  Römern  mehr  als  den  Straßenbaumeistern 
aller  folgenden  Zeiten  zu  Gebote.  Am  klarsten  läßt  sich  den  Prinzipien  römischer 
Straßenführung  wohl  aus  der  Tatsache  nachkommen,  daß  die  Römer  den  Julier 
vor  dem  Septimer  bevorzugten,  während  letzteren  Paß  dann  das  Mittelalter  als 
Hauptweg  an  dieser  Stelle  erwählte.  Beide  Pässe  sind  fast  gleich  hoch,  der 
Weg  über  den  Julier  ist  aber  länger  und  erforderte  außerdem   den  Anstieg  über 


Die  Alpenländer  als  römische  Provinzen.  67 

den  Maloja.  Trotzdem  wählten  die  Römer  diesen  Weg,  weil  die  Witterungs- 
verhältnisse auf  dem  Julier  für  eine  stete  Benutzung,  auf  die  es  ihnen  vor  allem 
ankam,  günstiger  sind. 

Denn  der  ganze  bauliche  Zustand  dieser  Gebirgswege  war  ein  solcher,  daß 
er  jederzeit  ihre  Benutzung  durch  die  Marschkolonnen  des  römischen  Heeres 
verbürgen  mußte.  Seit  Augustus  Zeiten  bewegte  sich  der  starke,  regelrechte 
militärische  Verkehr  zwischen  Gallien  und  den  Rheinlanden  einerseits,  und  Italien 
andererseits  ungestört  und  sicher  über  die  Alpen,  und  zwar  zumeist  über  die 
drei  westlichen  Pässe,  Genevre  und  die  beiden  Sankt  Bernhard-Pässe,  während 
dem  gleichen  Zwecke  für  die  unteren  Donauländer  die  Birnbaumer  Straße  diente. 
Der  Ausbau  des  Brennerweges,  der  Radstädter  und  der  Ploeckenstraße,  der  erst 
viel  später  stattfand,  zeigt  dagegen  an,  daß  das  vindelicische  und  norische  Donau- 
ufer nun  gleichfalls  zu  erhöhter  militärischer  Wichtigkeit  gelangt  waren.  Beim 
Zuge  Hannibals,  bei  den  Alpenüberschreitungen  der  Germanen  und  auch  später 
bei  denen  der  deutschen  Könige  ist  es  stets  die  Hauptsache  gewesen,  schließlich 
mit  einer  leidlich  fähigen  Heeresmacht  auf  den  Schlachtfeldern  Oberitaliens  er- 
scheinen zu  können;  wie  viel  dagegen  vorher  auf  dem  Marsche  über  das  Gebirge 
selbst  verloren  ging,  darauf  kam  es  weniger  an.  Anders,  und  je  länger  je  mehr 
auf  den  Kriegsmärschen  der  Römer,  bei  denen  bei  der  unerreichten  Qualität 
aber  verhältnismäßig  geringen  numerischen  Stärke  des  römischen  Heeres  der 
Besitz  jedes  einzelnen  Legionars  kostbar  war.  Für  die  systematisch-pedantische 
Art,  mit  der  solche  Märsche  ausgeführt  werden  mußten,  waren  daher  gute  Straßen 
die  erste  Bedingung.  Das  beste  Beispiel  für  die  Zuverlässigkeit  der  über  die 
Alpen  führenden  römischen  Straßen  liefern  bereits  die  Vorgänge  des  Jahres  69 
n.  Ch.  Damals  nahm  Vitellius,  dem  das  Geschick  die  Verfügung  über  die 
Hauptmacht  Roms  in  die  Hände  gelegt  hatte,  seine  siebzigtausend  Mann  in  einem 
Zuge  nach  Italien.  Ein  Bonaparte  konnte  nicht  sicherer  disponieren,  und  hier 
war  es  nicht  einmal  die  persönliche  Tatkraft,  sondern  allein  der  einmal  in  Gang 
gesetzte  militärische  Apparat,  der  derartig  sicher  funktionierte.  In  der  schlechtesten 
Jahreszeit,  im  März  und  April,  gingen  damals  die  Legionen  in  zwei  Abteilungen 
von  dreißig-  bezw.  vierzigtausend  Mann  über  den  großen  Sankt  Bernhard  und 
Mont  Genevre.  Kurz  nachher  eilten  die  römischen  Heere  wieder  gegen  die 
gallisch-germanische  Usurpation  aus  Italien  über  die  Alpen  zurück.  Nach  Ansicht 
des  Tacitus  wurde  es  Tutor,  dem  Führer  in  diesem  Aufstande,  von  vornherein 
zum  Verhängnis,  daß  er  unterlassen  hatte,  gegen  jene  die  Alpenpässe  zu  sperren. 
Demnach  waren  auch  schon  die  Römer  der  damaligen  Zeit  sich  vollständig 
darüber  klar,  daß  das  Dasein  und  der  Besitz  der  von  ihnen  gebauten  Alpenstraßen 
die  Vorbedingung  für  Aufrechterhaltung  der  römischen  Herrschaft  jenseits  des 
Gebirges  bedeutete. 

So  hat  auch  bis  auf  den  heutigen  Tag  diesen  römischen  Alpenstraßen,  auf 
denen  hinab  schon  zu  Zeiten  des  Tiberius  die  langen  Waldriesen  zum  Brücken- 

5* 


68  V.  Kapitel. 

bau  nach  der  Hauptstadt  transportiert  wurden,  mehr  als  den  Straßen  anderer 
Völker  und  Zeiten,  der  Ruf  der  Dauerhaftigkeit  angehaftet.  Wie  überall  bei  den 
Römerstraßen  bestand  ihre  erste  Eigentümlichkeit  darin,  im  kleinen  und  im 
großen  (Chiavenna-Bregenz,  Verona-Parthanum,  Aquileja-Laibach)  in  langen 
geraden  Linien  den  vorgesteckten  Zielen  zuzustreben.  Wo  wir  aber  heute  noch 
im  Gebirge  die  Reste  alter  Straßenzüge  selbst  mit  einiger  Sicherheit  als  römisch 
ansprechen  können,  stellen  sie  sich  zuweilen  dar  als  Pflasterungen  von  großen 
Steinplatten,  meistens  jedoch  als  mit  Kies  und  Geröll  hergestellte  Erddämme 
niedriger  Höhe,  deren  Breite  eher  gering  als  groß  ist.  Die  besterhaltensten  und 
besterforschten  Teile  von  Römerstraßen  im  Alpengebiet  finden  sich  heute  an  der 
Birnbaumer  Straße  zwischen  Heidenschaft  und  Oberlaibach  und  an  dem  alten 
Kolonnenwege  Augsburg-Schöngeising-Traunstein-Salzburg.  Dem  Umstände,  daß 
der  von  Westen  nach  Osten  gehende  Verkehr  an  diesen  Linien  im  frühen  Mittel- 
alter erstarb  und  daß  dieser  sich  dann  später  auf  den  einzelnen  Trakten  andere 
Richtungen  aussuchte,  haben  wir  es  heute  zu  verdanken,  hier  noch  den  alten 
römischen  Straßenkörper  weithin  aus  Feld   und  Wald   herausfischen   zu   können. 

Ebenso  überraschend  aber  tritt  jene  Fähigkeit  der  Römer,  das  Gelände  zu 
beherrschen,  in  der  Art  zutage,  wie  sie  sich  nun  auch  die  günstigsten  Stellen 
des  Landes  für  ihre  Ortsgründungen  heraussuchten.  Leicht  hatten  sie  es  dabei 
allerdings,  da  sie,  bei  ihren  Maßnahmen  in  nichts  gehindert,  allein  die  ihnen 
entgegenkommende  lokale  Zweckmäßigkeit  in  das  Auge  zu  fassen  brauchten. 
Trotzdem  bleibt  es  aber  ein  Zeichen  ihres  überlegenen  praktischen  Blickes,  daß 
der  Gesichtspunkt,  der  einmal  bei  den  Römern  für  ihre  Ortsgründungen  vor- 
gewaltet hat,  fast  überall  unbedingt  der  richtige  gewesen  ist  und  deshalb  auch 
für  alle  Zeiten  sozusagen  etwas  Unverwüstliches  an  sich  gehabt  hat.  Daher  sehen 
wir,  daß  —  geringe  Ausnahmen  (Windisch  und  Bozen)  abgerechnet  —  die 
Bedingungen,  auf  denen  die  größere  oder  geringere  Wichtigkeit  der  Alpenorte 
beruht,  auch  heute  noch  ganz  dieselben  geblieben  sind  wie  vor  fast  zweitausend 
Jahren,  und  daß  alle  jene  Verhältnisse  von  den  Römern  bereits  ebenso  scharf 
wie  von  der  Jetztzeit  erkannt  worden  sind. 

In  den  meisten  Fällen  mag  freilich  die  römische  Ortsgründung  zunächst  an 
die  schon  vorhandene  angeknüpft  haben,  und  nur  die  Art,  wie  die  Römer  jene 
Orte  dann  bewerteten  zeigt  die  praktische  Überlegenheit  der  Welteroberer. 
Besonders  häufig  sind  aus  den  bereits  bewohnten  Orten  Römerorte  in  den  ur- 
sprünglich keltischen  Gebieten  (Noviodunum,  Nyon)  entstanden,  während  in 
Vindelicien  und  in  den  Ostalpen  dies  sogar  fast  zur  Regel  wird  (Bregenz,  Augs- 
burg, Regensburg,  Passau,  Carnuntum,  Pettau),  aber  auch  in  dem  nicht  keltischen 
Teile  der  Alpen  ist  dies  der  Fall  gewesen  (Trient,  Klaußen,  Meran,  Matrei  a.  Br.). 
Wo  sich  der  Römer  auf  diese  Weise  niederließ,  setzte  er  sich  jedoch  in  der 
Regel  nicht  kukuksartig  in  das  alte  Nest  hinein,  sondern  mit  seiner  Militär- 
ansiedelung nur  dicht  neben  den  alten  Ort.    Beide  Teile  wurden  möglichst  durch 


Die  Alpenländer  als  römische  Provinzen.  69 

einen  Wasserlauf  getrennt  gehalten  (Octodurus;  Passau),  aber  eine  gänzliche 
Austreibung  der  alten  Bewohner  fand  nicht  statt,  und  schon  deshalb  nicht,  damit 
zugleich  alle  Vorteile  eines  bewohnten  Ortes  mit  übernommen  werden  konnten. 

So  lassen  sich  denn  auch,  allein  vielleicht  mit  Ausnahme  von  Bern  und 
Luzern,  alle  wichtigen  Orte  der  Alpen  schon  auf  alte  Römerposten  zurückführen. 
Entweder  hat  der  Römerort  selbst  schon  auf  der  gleichen  Stelle  gestanden,  oder 
—  eine  gleichfalls  häufige  Erscheinung  bei  den  wichtigen  Städten  —  die  Stelle 
selbst,  auf  der  die  römische  Ansiedelung  ursprünglich  stand,  hat  sich  zwar  gegen 
die  spätere  Zeit  verschoben,  aber  die  Zone,  die  von  vornherein  befähigt  gewesen 
ist,  einen  wichtigen  Ort  zu  tragen,  ist  trotzdem  dieselbe  geblieben.  Als  Fälle 
dieser  Art  stellen  sich  dar  das  Verhältnis  von  Aventicum  und  Freiburg  i.  d.  Schw., 
Äugst  und  Basel,  Baierbrunn  und  München,  Albeanum  und  Rosenheim,  Laurea- 
cum  und  Linz,  Carnuntum  und  Wien,  Virunum  und  Klagenfurth,  wie  auch  von 
Aquileja  und  Venedig. 

Mehr  als  anderswo  wog  aber  bei  den  römischen  Ortsgründungen  in  den 
Alpen  das  Wesen  der  eigentlichen  Zweckgründung  vor,  um  zunächst  durch 
Niederhaltung  des  Landes  den  Durchgangsverkehr  zu  sichern.  So  blieb  die 
Zentralschweiz  vom  Wildstrubel  bis  Tödi  allein  deshalb  unbewohnt,  weil  sie  von 
keiner  Verkehrslinie  durchquert  wurde,  und  sahen  das  Avisiotal,  das  Zillertal 
und  das  obere  Lechtal,  weil  diese  Striche  für  den  Großverkehr  ewig  ungeschickt 
liegen,  auch  kaum  einen  römischen  Bewohner.  Langer  Zeiträume  bedurfte  es 
freilich  immerhin,  bis  sich  schließlich  die  römische  Kolonisation  auch  aus  volks- 
wirtschaftlichem Triebe  heraus  selbst  die  einladendsten  Teile  der  Alpen  zu  Nutze 
gemacht  hat.  In  dieser  Art  entstanden  dann  die  Römerorte  am  Genfer  und 
Neuenburger  See,  geschah  die  von  Vindonissa  aus  ausgehende  Parzellierung  der 
Schweizer  Hochebene  in  Unteroffiziers- Grundstücke  und  die  Besiedelung  der 
Ostecke  des  Bodensees;  aus  gleichem  Triebe  erhoben  sich  das  Römerstädtchen 
bei  Perjen  bei  Landeck  an  der  mildesten  Stelle  des  Oberinntals  und  die  reichen 
Villenkolonien  im  gesegneten  Etschtal  zwischen  Bozen  und  Meran.  Auf  diese 
Weise  drang  dann  auch  von  Pettau  aus  die  Mur  aufwärts  der  römische  Ansiedler 
in  das  wohnungsfreundliche  Steiermark  vor,  und  führte  der  das  Murtal  durch- 
ziehende Eisenhandel  zur  Entstehung  von  Handelsposten  zwischen  Judenburg  und 
Brück  a.  d.  Mur;  so  erhob  sich  im  Herz  der  Ostalpen  eine  völlig  alpine  römische 
Großstadt,  Virunum,  die  Hauptstadt  Norikums,  eines  Gebietes,  das  der  römische 
Staatsmann  mehr  als  die  übrigen  Alpenländer  in  seiner  Entwickelung  sich  selbst 
überlassen  hatte,  weil  es  politisch  und  militärisch  unwichtig  lag. 

In  der  Staatskunst  aller  Zeiten  sind  immer  diejenigen  Maßregeln  als  die 
vortrefflichsten  bezeichnet  worden,  durch  die  es  gelang,  unbedingt  gegen  den 
schlimmsten  Fall  Vorsorge  zu  treffen,  weil  damit  zumeist  auch  den  anderen  Even- 
tualitäten geringerer  Schärfe  vorgebeugt  wird.  Dieses  System,  durch  eine  Maß- 
regel  oder  aus   einem   Posten   heraus   mehrere   Seiten   des  Gegners  zu   treffen, 


70  V.  Kapitel. 

haben  gerade  die  Römer  zur  höchsten  Vollendung  ausgebildet,  und  auch  für  die 
Art,  wie  und  wo  sie  ihre  Stellungen  in  und  um  den  Alpenwall  verankert  haben, 
trifft  dies  zu.  So  diente  schon  Aquileja  ebenso  nach  Westen  zur  Niederhaltung 
Venetiens  wie  als  Ausfallspforte  gegen  Osten,  im  besonderen  aber  auch  als  Sperre 
für  den  Eintritt  nach  Italien.  So  merkten  auch  die  Römer  sofort,  daß  eine  die 
Alpen  in  eine  westliche  und  östliche  Hälfte  teilende  Nord -Südgrenze,  die  in  der. 
Linie  der  Westgrenze  des  von  den  Rätern  besetzten  Gebietes  lief,  sich  praktisch 
für  die  Zerlegung  des  Alpengebietes  in  einzelne  Militärbezirke  verwenden  ließ. 
Der  rechte  Flügelpunkt  der  großen  Rheinarmee,  die  an  sich  schon  gegen  beide, 
Gallien  und  Germanien,  zu  dienen  hatte,  war  Vindonissa,  und  die  Lage  dieses 
Ortes  ermöglichte  es  außerdem  noch,  seine  Garnison  nicht  nur  gegen  den  äußeren 
Feind,  sondern  ebenso  auch  gegen  Helvetien  wie  gegen  Rätien  zu  verwenden. 
Durch  die  Hereinbeziehung  des  Dekumatlandes  in  die  römischen  Grenzen  wurde 
die  Verwendung  dieser  Rheinarmee  dann  auch  noch  an  einem  dritten  Punkte, 
bei  Wien  und  Carnuntum,  ermöglicht,  und  auch  die  Römer  fühlten  es  schon,  daß 
sie  in  Carnuntum  ihre  Hand  nicht  allein  auf  diesen  Punkt,  sondern  auch  zugleich 
auf  das  ganze  umliegende  Ländergebiet  legten. 

Bei  allem  diesen  darf  jedoch  auch  dasjenige  nicht  übersehen  werden,  worin 
die  Römer  schließlich  mit  ihren  Leistungen  hinter  denen  der  späteren  Zeiten 
zurückgeblieben  sind.  In  Bezug  auf  die  Verbindung  zwischen  Italien  einerseits, 
und  Gallien  und  den  Rheinlanden  andererseits,  ist  ihr  Straßennetz  allerdings  zu 
einer  Vollendung  gelangt,  daß  abgesehen  von  der  regelrechten  Eröffnung  des 
Simplon  auch  die  neueste  Zeit  zu  diesem  nichts  Besseres  hat  hinzufügen  können; 
auch  zu  dem  römischen  Straßennetz  in  den  Ostalpen  sind  während  der  späteren 
Zeiten  nicht  allzuviel  neue  Linien  hinzugekommen.  Was  aber  das  römische 
Straßennetz  in  den  Alpen  zu  seiner  Vollendung  vermissen  läßt,  ist  einesteils  fast 
das  gänzliche  Fehlen  der  Längsverbindungen  innerhalb  des  Gebirges,  anderen- 
teils aber  die  sichere,  zielgerechte  Eröffnung  einer  eigentlichen  kurzen  Linie  über 
die  Zentralalpen,  die  heute  der  Gotthardweg  abgibt.  Ein  Tasten  nach  einer 
solchen  Verbindung  findet  sich  in  der  späteren  Zeit  vielleicht  beim  Luckmanier, 
aber  auch  die  unsichere  und  späte  Eröffnung  des  Brenners  zeigt  doch,  daß  hier 
der  große  Zug,  der  bei  der  Eröffnung  der  Alpen  unter  Augustus  zunächst  vor- 
waltete, nicht  nachgehalten  hat.  Hätte  freilich  dieser  Kaiser  sein  Ziel  erreicht 
und  Germanien  in  gleicher  Weise  unterworfen  wie  Cäsar  vor  ihm  Gallien,  so 
wäre  sicherlich  auch  schon  damals  eine  vollendetere  Straßenführung  durch  die 
Zentralalpen  nicht  ausgeblieben,  wie  sie  sich  erst  die  neuere  Zeit  im  Gotthard 
geschaffen  hat  und  noch  die  Jetztzeit  vermittelst  einer  Eisenbahn  über  das  Re- 
schenscheideck  oder  den  Splügen  zu  vervollständigen  abmüht. 

Ein  Vergleich  des  Netzes  der  römischen  Alpenstraßen  in  ihrer  höchsten 
Vollendung  mit  dem  heutigen  modernen  Schienennetz  fördert  immerhin  die 
interessante  Erscheinung  zu  Tage,  daß  beide  in  vielen  Teilen  eine  charakteristische. 


Die  Alpenländer  als  römische  Provinzen.  7J 

Ähnlichkeit  zeigen,  wodurch  einesteils  die  alte  Wahrheit  bestätigt  wird,  daß  es 
unter  der  Sonne  kaum  etwas  neues  gibt,  anderenteils  aber  auch  der  Gedanke 
geweckt  wird,  daß  gerade  die  moderne  Kultur  Innereuropas  in  einiger  Hinsicht 
heute  mehr  als  zu  anderen  Zeitepochen  derjenigen  der  ausgereiften  römischen 
Kaiserzeit  ähnlich  sein  mag.  Ein  großer  Unterschied  der  leitenden  Gedanken, 
die  beide  Male  diese  Verkehrslinien  geschaffen  haben,  waltet  allerdings  zunächst 
vor.  Denn  bei  den  Römern  bestimmte  einzig  der  Wille  einer  südlichen  Zentrale, 
Roms,  die  Führung  der  Straßen;  dieser  Wille  führte  sie  über  das  Gebirge  nach 
Norden,  auf  den  Wegen  und  nach  den  Richtungen,  wohin  er  allein  wollte,  während 
heute  neben  dieser  dem  Namen  nach  sich  gleich  gebliebenen  südlichen  Zentrale  in 
gleicher  Weise  noch  drei  andere  nördlich  des  Gebirges  gelegene  Kulturzentren,  Paris, 
Wien  und  Berlin  bei  der  Gestaltung  des  Verkehrsbildes  selbständig  mitzureden  haben. 
In  den  Westalpen  finden  wir  Eisenbahnen  in  den  Rinnen  der  alten  Römer- 
straßen wieder  in  der  Küstenbahn  an  der  Riviera  und  auf  der  italienischen  Seite 
des  Mont  Cenis.  Während  es  aber  Rom  gefiel,  eine  weiterhin  notwendig  ge- 
wordene italienisch -gallische  Verbindung  über  den  Kleinen  Sankt  Bernhard  zu 
legen,  hat  der  selbständige  französische  Verkehr  sich  jetzt  für  eine  solche  den 
Simplon  herausgesucht.  Wie  es  aber  auch  den  Römern  nicht  gelang,  den  Großen 
Sankt  Bernhard  mit  einer  Fahrstraße  zu  überbrücken,  so  hat  auch  die  heutige 
Zeit  es  hier  noch  nicht  mit  einer  Eisenbahn  versucht;  bei  Lausanne  und  Vevey 
jedoch,  da  wo  einst  die  Römerstraßen  nach  Nordosten  abliefen,  gehen  auch  heute 
wieder  die  Eisenbahnen  in  gestreckter  Richtung  nach  dem  Rheine  ab.  In  der 
Mitte  der  Alpen  zeigt  dagegen  das  heutige  Bild  gegen  die  Römerzeit  die  größte 
Verschiedenheit;  nur  tritt  auch  jetzt,  wie  auch  einst  die  Römer  sich  trotz  der 
größten  lokalen  Schwierigkeiten  schließlich  dazu  entschließen  mußten,  über  den 
Splügen  eine  Straße  zu  legen,  immer  wieder  das  Projekt  einer  Splügenbahn  auf. 
Auch  die  Erbauung  der  Eisenbahn  nach  dem  Reschenscheideck  von  Süden  aus 
gehört  hierher;  denn  auch  die  Römer  gelangten  dorthin  aus  derselben  Richtung, 
auch  ähnelt  es  ganz  römischen  Verhältnissen,  wenn  sich  auch  heute  wieder  nörd- 
lich des  Reschen  Zweifel  über  die  Weiterführung  in  Hinsicht  der  Anschlußnahme 
an  andere  Linien  eingestellt  haben.  Die  Führung  des  nördlichen  Teiles  der 
Brennerbahn  von  Innsbruck  nordwärts  auf  der  jüngeren  Brennerlinie  über  Kuf- 
stein hat  München  —  in  seiner  Größe  jetzt  eine  neue  Erscheinung  gegen  die 
Römerzeit  —  verschuldet,  weil  dieses  die  bereits  vor  Legung  der  eigentlichen 
Brennerbahn  vorhandene  Strecke  München  —  Kufstein  als  willkommenes  Ver- 
bindungsglied zur  eigentlichen  Nord -Südlinie  beisteuern  konnte;  die  Brennerbahn 
selbst  (Südbahn)  würde  hier  aber  sicherlich  nicht  in  dem  Maße  ängstlich  auf 
jedes  neu  auftauchende  Alpenbahnprojekt  in  ihrer  Nähe  lauschen  müssen,  wäre 
es  ihr  von  Anfang  an  gelungen,  den  Schienenstrang  auf  der  vornehmsten  der  ein- 
schlagenden alten  Römerstraßen  d.  h.  von  Innsbruck  über  die  Scharnitz  nach 
München  zu  führen. 


72  V.  Kapitel. 

In  den  Ostalpen  tritt  uns  in  der  neuesten  Zeit,  wenn  auch  weniger  äußerlich, 
so  doch  innerlich  ein  gegenüber  der  Römerzeit  am  meisten  verändertes  Bild 
entgegen,  weil  hier  die  Zentrale  Wien  viel  mächtiger  als  der  Süden  selbst  die 
Herrschaft  über  die  Alpen-Verbindungen  ausübt.  Diese  Verschiedenheit  drückt 
sich  zunächst  vor  allem  in  dem  Dasein  der  die  Alpen  in  ihrer  Länge  durch- 
ziehenden und  gegen  die  Römerzeit  ganz  neu  entstandenen  Verbindungen  aus 
(Arlberg- Bahn,  Ennstal-Bahn,  Semmering- Bahn),  von  denen  sich  in  größerer 
Länge  nur  die  Pustertalbahn  zwischen  Villach  und  Franzensfeste  in  alter  römischer 
Bahn  bewegt.  Die  Nofd-Südlinien  jedoch  gleichen  auch  hier,  allerdings  mehr 
im  Entwurf  als  in  der  genaueren  Durchführung  den  alten  römischen  Nord-Süd- 
verbindungen. So  ist  vor  allem  die  Südbahnlinie  Cormons-Laibach-Cilli-Graz- 
Wien  nichts  anderes  als  die  alte  römische  Straße  von  Aquileja  über  Celeja  und 
Savaria  nach  Carnuntum,  nur  mit  dem  Unterschied,  daß  jene  zu  liebe  von  Gratz 
das  hier  in  kleinerem  Kreise  ähnlich  wie  Wien  eine  gegen  die  Römerzeit  neue 
Erscheinung  bedeutet,  von  Pragerhof  aus  nach  Westen  zu  eingedrückt  ist.  Auch 
heute  ist  dieser  von  der  Adria  nach  Carnuntum  laufende  Schienenstrang  wichtiger 
und  belebter  als  die  von  Pontebba  über  Villach  und  Neumarkt  auf  Wien  führende 
Staatsbahn,  trotzdem  er  ein  ganzes  Stück  länger  als  diese  ist.  Diese  letztere 
führt  zwar  von  Pontebba  bis  Unzmarkt  im  Murtal  ebenfalls  in  einem  alten 
Römergleis,  nur  benutzten  die  Römer  dieses  Gleis  dann  nicht  zur  Weiterführung 
nach  Carnuntum,  sondern  nur  für  die  Richtung  nach  der  Linzer  Pforte  hin, 
nach  Wels  und  Lorch.  Das  gleiche  Bild  ist  es  aber  immer  noch,  wenn  heute 
die  Eisenbahnzüge  von  Paris  nach  Konstantinopel  über  Augsburg- Salzburg - 
Wels  und  Wien  dieselbe  Bahn  verfolgen,  auf  der  einst  die  Römer  den  großen 
strategischen  Kolonnenweg  vom  Oberrhein  nach  dem  Schwarzen  Meer  gelegt 
hatten. 

So  haben  die  Alpen,  ebenso  für  die  Römer  wie  für  alle  späteren  Zeiten, 
in  erster  Linie  Nord-  und  Südeuropa  auseinandergehalten,  und  es  bedeutet  in 
ihrer  Geschichte  das  wichtigste  Moment,  in  welcher  Weise  die  Zeiten  und  Völker 
zu  ihrem  eigenen  Vorteil  die  Aufgabe  gelöst  haben,  diese  trennende  Wirkung 
zu  mildern  und  zu  regeln.  Neben  dieser  so  einleuchtenden  Tatsache  Tällt  es 
deshalb  aber  umsoweniger  in  die  Augen,  daß  innerhalb  des  Alpengebiets  selbst, 
dieses  seiner  ganzen  Tiefe  nach  von  Süd  nach  Nord  durchquerend,  außerdem 
eine  uralte  Grenze  läuft,  die  in  jeder  Beziehung,  ethnographisch,  handelsge- 
schichtlich und  politisch,  seitdem  die  Alpen  in  die  Geschichte  eingetreten  sind, 
dieses  Gebirge  in  zwei  ungefähr  gleich  große  Hälften  geteilt  hat.  Mit  der  Ein- 
teilung der  Alpen  in  West-,  Zentral-  und  Ostalpen  läßt  sich  wohl  geographisch 
etwas  anfangen;  geschichtlich  zerfallen  die  Alpen  dagegen  nur  in  zwei  Teile,  in 
die  West-  und  in  die  Ostalpen.  Die  Linie  aber,  durch  die  jene  Spaltung  bewirkt 
wird,  hält  sich  ungefähr  an  die  Punkte  Bodensee,  das  Rheintal  südlich  bis  Chur 
und  zielt  von  dort  nach  dem  Comer-See.     Die  Westgrenze  der  alten  römischen 


Die  Alpenländer  als  römische  Provinzen.  73 

Provinz  Rätien  ebenso  wie  die  heutige  österreichische  Grenze  sind  nur  ein 
Ausdruck  der  Kraft,  die  dieser  Scheidung  stets  innegewohnt  hat.  Die  verschiedene 
Beschaffenheit  der  beiden  Gebirgshälften  aber,  die  durch  jene  Grenze  geschaffen 
werden,  läßt  sich  am  besten  dadurch  charatcterisieren,  daß  die  westliche  helve- 
tische Hälfte  zumeist  nach  dem  Westen  und  Frankreich,  die  östliche  Hälfte  da- 
gegen zumeist  nach  Osten  bis  zum  Orient  hin  gravitiert  hat,  während  der  direkte 
Einfluß  des  Nordens  und  Südens  auf  jene  beiden  Hälften  dagegen  stets  ungefähr 
gleich  stark  gewesen  ist. 

Am  frühesten  ist  jene  Spaltung  in  ethnographischer  Beziehung  in  Gestalt 
der  alten  Volksgrenze  zwischen  den  Rätern  und  den  keltischen  Helvetiern  zutage 
getreten.  Wie  scharf  die  Römer  aber  auch  hier  schon  die  Sachlage  durchschaut 
haben,  zeigt  sich  darin,  daß  sie  sich  jene  Rinne  nun  sofort  auch  als  Provinzial- 
grenze  zwischen  Rätien  und  Gallien  nutzbar  machten,  mehr  aber  noch,  daß  sie 
auch  wirtschaftlich  alles  Land  östlich  derselben  zum  illyrischen,  alles  Land 
westlich  derselben  dagegen  zum  gallischen  Zollbezirk  schlugen;  und  es  ändert 
auch  nichts  Wesentliches  an  dieser  Tatsache,  ob  der  Ort  Maja,  an  dem  eine  der 
Zollstationen  gelegen  war,  durch  die  jene  Teilung  ihren  Ausdruck  fand,  nach 
Meran  oder  Maienfeld  a.  Rh.  zu  legen  ist.  Diese  Grenze  hat  dann  aber  auch 
im  Verlauf  der  geschichtlichen  Ereignisse  immer  ihre  Macht  bewährt.  Bei  der 
Unterwerfung  Rätiens  rückte  Tiberius  in  der  Front  des  nördlichen  Teiles  dieses 
Grenzlaufes  in  das  feindliche  Land  ein  und  umgekehrt  im  Jahre  70  nach  Ch. 
die  Vitellianer  gegen  das  an  Galba  festhaltende  Helvetien.  In  demselben  Gebiete 
kämpften  die  Habsburger  mit  den  Schweizern,  die  Tiroler  mit  den  Bündnern 
(1499)  und  die  Franzosen  mit  den  Oesterreichern  in  den  Koalitionskriegen.  Es 
waren  demnach  stets  östliche  und  westliche  Mächte,  die  in  dieser  Zone  gegen- 
seitig aneinander  geraten  sind. 

Zu  dem  gleichen  Resultat,  das  uns  in  der  römischen  Verkehrsgeschichte 
der  Alpen  in  tausend  kleinen  Zügen  detaillierter  Forschung  entgegentritt,  würden 
wir  in  seinen  Grundzügen  aber  auch  ohne  dies,  lediglich  auf  logischem  Wege 
durch  die  richtige  Bewertung  der  Tatsache  gelangen  können,  daß  zu  jenen  Zeiten 
ein  einziges  Weltreich,  in  seiner  Betätigung  ungehemmt  und  unbestritten,  die 
ganze  Erde  erfüllte.  Unter  einem  solchen  konnten  die  Alpenländer  kein  anderes 
Geschick  als  dasjenige,  wie  es  ihnen  tatsächlich  geworden  ist,  erwarten.  Die 
Interessen  und  Willensneigungen  des  ganzen  Alpengebietes,  ebenso  auch  die  seiner 
einzelnen  Provinzen  waren  damals  überhaupt  noch  ein  ungeprägter  Begriff,  und 
dieser  ganze  Komplex  war  allein  um  des  Weltreichs  willen  da,  das  jenen  mit 
souveräner  Ruhe,  mit  seiner  Beanlagung  und  Erfahrung  in  jeder  Art  der  Herr- 
schaftsführung und  mit  den  Hilfsmittela  einer  unerreichten  Technik  für  seine 
Zwecke  eingerichtet  hat. 

Und  trotzdem  ist  das  Geschick  der  Alpenländer  während  der  Römerherr- 
schaft in  Wirklichkeit  ganz  das  Gegenteil  eines  entrechteten  und  enterbten  Ge- 


74  V.  Kapitel. 

bietes  gewesen;  denn  auch  jenen  Gebieten  mußte  die  damals  über  die  ganze 
Erde  lagernde  Ruhe,  der  fast  nicht  mehr  durch  Menschenwillen,  sondern  durch 
Naturzustand  währende  Friede  dahin  zugute  kommen,  daß  sich  ihre  lokalen 
Interessen  überall  da  sorglos  und  ungehemmt  regen  .konnten,  wo  sie  nicht  den 
Reichsinteressen  entgegentraten.  Wie  das  römische  Kaiserreich  in  seiner  höchsten 
Entwicklung  geschichtlich  ganz  einzigartig  dasteht,  so  bieten  auch  im  Einzelnen 
seine  Folgeerscheinungen  nie  wieder  dagewesene  Bilder,  und  in  der  Verkehrs- 
geschichte der  Alpen  ist  es  das  oben  gezeichnete. 


VI.  Kapitel. 

Die  Römerstraßen  der  Alpen. 


Die  Straßen  im  Westen  der  Alpen  bis  zum  Simplon. 

Wenn  wir  diejenigen  Verbindungen  Alpenstraßen  nennen,  die  einen  Verkehr 
zwischen  Italien  und  den  nördlich  desselben  gelegenen  Ländern  ermöglicht  haben, 
so  muß,  von  Westen  aus  gerechnet,  als  erste  derselben  die  zwischen  der  Ligu- 
rischen  Küste  und  dem  Gebirgsrande  hinführende  Straße,  die  heute  die  Corniche 
genannt  wird,  gerechnet  werden;  denn  mehr  als  viele  andere  den  Gebirgskamm 
selbst  überschreitende  Straßen  hat  gerade  diese  Linie  von  altersher  die  Wirkung 
ausgeübt,  die  Länder  diesseits  und  jenseits  der  Alpen  zu  verbinden.  Unverändert 
durch  alle  Zeiten  hat  ihr  die  Natur  den  Vorteil  gelassen,  daß  der  auf  ihr  laufende 
Verkehr  von  der  Überwindung  größerer  Höhenunterschiede,  die  sonst  keiner 
anderen  Alpenstraße  erspart  bleibt,  befreit  war,  und  daß  die  Gegenden,  die  sie 
durchlief,  zu  den  einladendsten  Strichen  der  ganzen  Welt  gehörten;  unverändert 
blieb  ihr  stets  auch  auf  der  einen  Seite  die  verkehrsfreundliche  Nachbarschaft 
des  Meeres  erhalten. 

Diesem  allen  hat  sie  nur  einen  Nachteil  entgegenzusetzen,  der  sich  auf  ihrer 
längeren  italienischen  Hälfte  und  da  wieder  in  der  nördlichen  Nachbarschaft 
dieser  Strecke  findet.  Hier  begleitet  den  Weg  von  Italien  aus  bis  Nizza  unaus- 
gesetzt zur  Rechten  das  dicht  herantretende  Gebirge,  das  daher  von  demjenigen, 
der  von  dieser  Straße  aus  nach  Norditalien  hin  Einfluß  ausüben  will,  erst  noch 
überschritten  werden  muß.  Die  Bewegungsfreiheit  auf  dieser  Straße  ist  daher, 
auf  der  italienischen  Seite  wenigstens,  viel  gebundener  als  auf  den  anderen  von 
Oberitalien  her  auf  die  Alpen  hinführenden  Linien,  und  so  bildet  diese  Straße 
wohl  in  Friedenszeiten  eine  prächtige  zielgerechte  Verbindung  zwischen  Süd- 
frankreich und  der  Mitte  Italiens;  für  kriegerische  Bewegungen   ist  sie   dagegen 


76  VI.  Kapitel. 

gerade  eine  der  schwierigsten  Alpenlinien,  da  derjenige,  der  auf  ihr  marschiert, 
nur  den  Straßenzug  selbst,  nicht  aber  auch  dessen  Nebenland  beherrscht. 

Als  jene  Straße,  und  zugleich  mit  ihr  zum  erstenmale  ein  kleiner  Teil  der 
Alpenkette,  um  die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  v.  Ch.  in  den  Machtbereich 
der  Römer  kam,  fanden  diese  an  ihr  bereits  zahlreiche,  ihnen  kulturell  mindestens 
gleichartige  Gemeinwesen  vor,  so  hoch  und  zweckmäßig  entwickelt  wie  sie  den 
Römern  sonst  an  keiner  Stelle  der  Alpen  wieder  entgegengetreten  sind.  Es 
waren  dies  die  Griechenorte  von  Massilia  (Marseille),  Antipolis  (Antibes),  Nizaea 
(Nizza),  Monaco  u.  a.  m.,  die  hier  die  Erbschaft  der  vorangegangenen  Phönizier 
angetreten  hatten.  Vom  Meere  herübergebracht  war  das  Augenmerk  dieser 
Kolonisten  jedoch  auch  stets  nur  allein  auf  das  Meer  gerichtet  geblieben,  derart, 
daß  sie  gegenüber  den  nördlichen  Bergvölkern  auf  Eroberungen  so  gut  wie  ver- 
zichtet und  sich  nur  auf  die  notwendige  Sicherung  des  wohnlichen  Küstenlandes 
beschränkt  hatten.  Als  nun  die  Römer  hier  eintraten,  fanden  sie  in  bezug  auf 
die  Festlegung  des  Straßenkörpers  und  die  Anlage  von  Ortschaften  überall  entlang 
des  Weges  in  jeder  Beziehung  schon  vorgearbeitet,  und  so  wie  es  hier  vielleicht 
schon  die  Phönizier,  sicherlich  aber  die  Griechen  eingerichtet  hatten,  blieb  es 
nun  auch  während  der  Republik  an  dieser  Straße  bis  zur  Regierung  des  Augustus. 

Bei  den  von  Augustus  an  dieser  Linie  getroffenen  Maßregeln  ist  weniger 
die  Neuchaussierung  der  schon  vorhandenen  an  der  Küste  laufenden  Straße 
selbst,  die  nach  ihm  Julia  Augusta  genannt  wurde,  wichtig,  sondern  weit  mehr 
die  Tatsache,  daß  auch  kein  früherer  als  er  es  gewesen  ist,  der  jene  prächtige 
Linie  für  Rom  erst  dadurch  wirklich  wertvoll  gemacht  hat,  daß  er  den  bis  dahin 
fast  außerhalb  des  Festlandes  stehenden  Straßenzug  auch  mit  dem  Innern  Nord- 
italiens in  Verbindung  setzte.  Von  Vada  (bei  Savona)  aus  verband  Augustus  die 
Küstenstraße  über  den  Appenin  mit  Placentia,  das  damals  immer  noch  das 
Fundament  des  Straßensystems  des  römischen  Norditaliens  bildete,  während  eine 
weitere  Verbindung  der  Küstenstraße  über  den  Gel  di  Tenda  mit  Augusta 
Taurinorum  erst  später  folgte.  Überhaupt  ist  die  Notwendigkeit,  von  dieser 
Küstenstraße  aus  gute  Verbindungen  nach  Oberitalien  zu  errichten,  stets  dann 
besonders  hervorgetreten,  sobald  Italien  und  Frankreich  politisch  zusammengehört 
haben  und  daher  das  Bestreben  vorwalten  mußte,  diese  Gebiete  auch  in  Hinsicht 
des  Verkehrs  eng  aneinander  zu  ketten.  Es  ist  deshalb  auch  ein  Zeichen  für 
den  Scharfsinn,  der  Napoleon  für  die  äußerlichen  Mittel,  die  Herrschaft  zu  führen 
zu  Gebote  stand,  wenn  wir  diesen  bei  seiner  Straßenbautätigkeit  am  ligurischen 
Appenin  in  den  Bahnen  des  großen  römischen  Organisators  wandeln  sehen. 

Die  römischen  Altertümer  selbst  sind  an  dieser  Straße  so  zahlreich  wie 
nirgends  sonst  in  Innereuropa.  Für  unsern  Zweck  ist  es  dagegen  hier  das 
Wichtigste,  in  welcher  Weise  sich  das  Verkehrsbild,  wie  es  sich  schließlich  im 
Bereich  dieser  Straße  während  der  römischen  Kaiserzeit  in  seiner  Vollendung 
gestaltete,  von  demjenigen   der  späteren   Zeit  unterschieden  hat.     Die   römische 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  77 

Vorläuferin  Genuas,  Vada  Sabbata,  ist  trotz  der  Straßenlegung  des  Augustus  stets 
nur  ein  unbedeutender  Ort  geblieben.  Das  Hinterland  Genuas  reichte  im  Mittel- 
alter bis  Paris,  während  es  in  der  Jetztzeit  sich  sogar  bis  London  erstreckt. 
Dieses  allem  Handel  und  Verkehr  nördlich  über  weite  Gebiete  erschlossene 
Hinterland  fehlte  jedoch  eben  hier  zur  Römerzeit,  und  deshalb  müssen  wir  auch 
in  jenen  Zeiten  an  dieser  Stelle  einen  ähnlich  bedeutenden  Ort  wie  Genua 
vermissen.  Von  den  Seestädten  an  dieser  Linie  zeigt  daher  heute  nur  eine 
einzige  einen  entschiedenen  Rückgang  gegen  die  Römerzeit:  Frejus,  das  alte 
Forum  Julii,  wo  die  antike  Straße  die  Küste  selbst  verließ  und  direkt  land- 
einwärts auf  Aquae  Sextiae  zulief;  unter  den  Römern  fünfmal  so  groß  als  heute 
und  Station  ihrer  westlichen  Mittelmeerflotte,  hat  die  Bestimmung  dieses  Ortes 
jetzt  Toulon  übernommen. 

Der  wichtigste  Teil  der  ligurischen  Küstenstraße  war  auch  damals  ebenso 
wie  heute  die  Strecke  zwischen  Ventimiglia  und  Nizza,  an  der  ein  römischer 
Ort  nach  dem  andern  folgte.  Ihrer  praktischen  Bedeutung  nach  ist  diese  Stelle 
aber  auch  tatsächlich  der  Übergangspunkt  zwischen  Italien  und  Südfrankreich 
und  somit  auch  der  erste  wirkliche  Alpenübergang  vom  Westen  aus  gerechnet, 
wenn  man  die  Vorstellung  vorwalten  läßt,  daß  diese  beiden  Länder  durch  die 
Alpen  getrennt  sind.  Deshalb  stand  auch  hier  auf  dem  Mittelpunkt  dieser  Strecke 
bei  Turbia,  so  bezeichnend  wie  nur  möglich,  das  Denkmal  des  Augustus  (Tropaea 
Augusti),  und  daß  auch  heute  dieser  Punkt  als  nichts  anderes  als  eine  Über- 
gangsstelle erster  Ordnung  gewürdigt  wird,  illustrieren  die  modernen  französischen 
Grenzbefestigungen,  in  deren  Schußbereich  jetzt  die  zu  Augustus  Andenken 
hierher  herangeschleppten  Quadern  liegen. 

Überhaupt  ist  dieses  Turbia  nicht  bloß  einer  der  schönsten,  sondern  auch 
einer  der  geschichtlich  merkwürdigsten  Punkte  der  alten  Welt.  Schon  die  hoch 
führende  Straße,  die  sich  von  den  modernen  tief  unten  am  Meeresstrande  gele- 
genen Verkehrswegen  hinweg  zielgerecht  auf  das  Vorgebirge  hinaufwindet,  kann 
ihrer  ganzen  Anlage  nach  heute  den  römischen  Ursprung  nicht  verleugnen. 
Turbia  selbst  aber,  d.h.  der  Fleck,  den  die  Ruinen  des  Augustus- Denkmales 
einnehmen  und  um  die  sich  ein  Gebirgsdorf  gelagert  hat,  zeigt  sich  ohne  weiteres 
als  die  beherrschende,  weit  über  Land  und  Meer  blickende  Stelle  der  ganzen  Um- 
gebung. Die  Ruinen  des  Denkmals  selbst  sind  auch  heute  noch  umfangreich 
genug,  um  nicht  nur  eine  Vorstellung  seiner  einstigen  Größe  und  Gestalt  zu 
geben,  sondern  auch  der  Arbeit,  die  es  gekostet  haben  muß,  dieses  Werk  auf 
jener  kahlen  Höhe  herzustellen.  Auch  hier  gleicht  die  landschaftliche  Situation 
ganz  der  der  meisten  großen  südländischen  Ruinenstätten  der  Römerzeit;  denn 
der  antike  Bau  hat  auch  hier  im  Mittelalter  zunächst  eine  benachbarte  große 
Kirche  und  einen  Wartturm  und  in  der  Jetztzeit  einen  Hotelbau  mit  seinen  Steinen 
gespeist.  Die  schönsten  Marmorquadern  des  Denkmals  liegen  aber  wohl  heute 
unerkannt   mit   dunkelbrauner  Patina    überzogen    und   als  Sitzbänke   benutzt  auf 


78  VI.  Kapitel. 

dem  Dorfplatze.  Jedenfalls  wäre  aber  gerade  alles  das,  was  dieser  la  Turbie 
auch  heute  noch  an  geschichtlichen  Bauresten  bietet,  der  strengsten  Beachtung 
der  wissenschaftlichen  Welt  wert. 

Theoretisch  hat  freilich  Augustus,  dem  auch  in  dieser  Beziehung  dann 
Napoleon  gefolgt  ist,  die  Grenze  Italiens  bis  an  den  Fluß  Var  westlich  hinaus- 
gerückt. Es  war  dieses  aber  nur  ein  bequemes  Mittel  zur  Erleichterung  der 
Verwaltung,  ebenso  wie  von  diesem  Kaiser  auch  Emona  an  dem  gegenüber- 
liegenden Ostende  des  Gebirges  noch  zu  Italien  geschlagen  wurde.  Militärisch 
und  ethnographisch  hat  sich  jedoch  trotzdem  die  Paßhöhe  hier  wie  dort  ihre 
lebendige  geschichtliche  Kraft  niemals  nehmen  lassen. 

Von  den  Römerorten  dieser  Gegend  verdient  noch  die  Stadt  Cemenelum 
(Cimiez  bei  Nizza)  besondere  Beachtung.  Ihre  einstige  Größe,  die  heute  noch 
aus  den  Ruinen  zu  Tage  tritt,  und  ihre  Lage  am  Ausgange  der  von  Ligurien 
herüberkommenden  Straße  über  den  Col  di  Tenda  beweisen,  daß  auch  diese 
Straßenlinie  in  der  römischen  Kaiserzeit  belebt  gewesen  sein  muß.  Gerade  dieser 
direkt  auf  das  Meer  auslaufende  Übergang  mußte  den  von  dorther  kommenden 
Verkehr  auch  landeinwärts  zu  sich  herauf  locken,  wie  man  deshalb  auch  hier 
die  Spuren  der  fremden  Ansiedler,  die  von  der  See  aus  kamen,  bis  hart  an  die 
Paßhöhe  hinauf  beobachten  kann.  Unwichtig  ist,  ob  man  den  Col  di  Tenda 
als  Scheidelinie  zwischen  dem  ligurischen  Appenin  und  den  Alpen  anzusehen 
hat  oder  nicht,  wichtig  aber,  daß  dieser  Paß  sich  in  seiner  Wirkung  jedenfalls 
als  ein  vollständiger  Alpenübergang  darstellt,  insofern  er  Norditalien  mit  Süd- 
frankreich verbindet.  Als  Verbindungslinie  erster  Ordnung  hat  er  sich  jedoch 
niemals  und  am  allerwenigsten  zu  Römerzeiten  auswachsen  können,  da  er  nur 
eine  gute  Verbindung  zwischen  den  ihm  am  nächsten  gelegenen  Landschaften 
darstellt,  während  die  großen  Zentren  des  Verkehrs,  in  deren  Bereich  er  liegt, 
andere,  bessere  und  kürzere  Verbindungslinien  untereinander  zur  Verfügung  haben 
als  er  ihnen  gewähren  kann. 

Der  eigentliche  westliche  Schlußpunkt  dieser  ligurischen  Küstenstraße  zur 
Römerzeit  war  der  Ort  Aquae  Sextiae.  Gerade  die  Lage  des  Ortes,  an  dem 
Aquae  Sextiae  von  den  Römern  gegründet  wurde,  bezeichnet  so  recht  das  prak- 
tische und  rücksichtslose  Verfahren,  mit  dem  jene  Eroberer  vorzugehen  liebten. 
Mochte  die  Lage  dieses  Ortes  infolge  des  Vorhandenseins  der  warmen  Bäder 
in  den  Augen  der  Alten  noch  so  einladend  sein,  so  war  Aquae  doch  eine  ganz 
ausgesprochen  militärische  Gründung  als  Festung  und  erster  Brückenkopf  für 
die  römische  Eroberung  jenseits  der  Alpen.  In  der  Nähe  Massilias,  aber  ohne 
die  mindeste  Rücksicht  auf  dessen  Lebensinteressen  angelegt,  hatte  es  —  wie 
einst  die  preußische  Besatzung  der  Festung  Königstein  neben  Dresden  —  als 
Memento  und  ständiger  Beobachtungsposten  gegen  die  Massalioten  zu  dienen, 
indem  es  diesen  zugleich  die  selbständige  Verkehrspolitik  nach  dem  nördlichen 
Hinterland   zu   unterband   und   in   der    republikanischen   Zeit    den    militärischen 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  79 

Verkehr  zwischen  Italien  und  Hispanien  einerseits,  and  den  von  Gallien  nach 
Italien  andererseits  regulierte.  Deshalb  fiel  auch  ganz  folgerichtig  gerade  an  dieser 
Stelle  die  Entscheidung  über  den  beabsichtigten  Einfall  der  Cimbern  nach  Italien. 
Das  Zaudern  derselben,  ihrerseits  gerade  in  dem  Moment,  als  sie  sich  auf  die 
Küstenstraße  selbst  begeben  wollten,  psychologisch  sehr  erklärlich,  hat  damals 
Marius  zum  Angriff  fortgerissen;  bei  beiden  Teilen,  und  nicht  zum  wenigsten 
bei  den  Barbaren  selbst,  hat  damals  eben  die  genaue  Vorstellung  vorgewaltet, 
daß  Aquae  Sextiae  die  Schwelle  Italiens  war,  und  ein  von  dort  aus  begonnener 
Linksabmarsch  einen  Entschluß  bedeutete,  der  zunächst  nicht  mehr  rückgängig 
zu  machen  war. 

Die  nächste  Alpenstraße  zu  Römerzeiten,  von  Westen  aus  gerechnet,  die 
nunmehr  auch  einen  wirklichen  Hochgebirgsübergang  darstellt,  ist  diejenige  über 
den  Mont  Genevre,  damals  nach  dem  Gebirge,  durch  das  sie  führte,  als  der 
Weg  per  Alpes  Cottias  bezeichnet.  Es  ist  eine  lange  Strecke,  auf  der,  von  der 
Küstenstraße  aus  bis  zu  diesem  Übergang  gerechnet,  der  Kamm  der  Alpen  hier 
ohne  eine  ihn  übersetzende  Straße  bleibt;  in  anderen  Teilen  der  Alpen  liegen 
die  den  Kamm  überschreitenden  Straßen  erster  Ordnung  auch  zu  Römerzeiten 
viel  näher  aneinander  und  führen  trotzdem  zu  Ländern  hinüber,  die  erst  viel 
später  als  hier  die  Provinz  Narbo  römisches  Gebiet  geworden  sind.  Auf  den 
regelrechten  Grund  für  diese  Erscheinung  führt  uns  jedoch  die  Tatsache, 
daß  dieses  Verhältnis  nicht  bloß  zur  Zeit  des  römischen  Altertums  sich  vorfindet, 
sondern  auch  unentwegt  bis  in  die  letzten  Jahrhunderte  ganz  dasselbe  geblieben 
ist.  Auf  diesem  Flügel  der  Alpen  hat  zunächst  die  für  jede  Art  friedlichen 
Handels  und  Wandels  so  ausnehmend  günstige  ligurische  Küstenstraße  jeden  der- 
artigen Verkehr  auch  auf  eine  große  Strecke  nördlich  herauf  von  der  Notwen- 
digkeit befreit,  sich  hier  neue  Wege  zu  suchen.  Hinsichtlich  des  militärischen 
Verkehrs  ist  dagegen  auf  der  italienischen  Seite  das  von  der  Maira  und  dem 
obersten  Laufe  des  Po  durchflossene,  von  den  Kottischen  Alpen  und  dem  ligu- 
rischen  Appenin  umfaßte  Gebiet  stets  Nebenland  gewesen,  dessen  unbestrittene 
Zentrale  nach  wie  vor  das  direkt  östlich  der  Genevre-Übergänge  liegende  Turin 
geblieben  ist,  während  auf  der  gallischen  Seite  der  Mont  Genevre  die  Eigen- 
tümlichkeit besitzt,  daß  von  ihm  aus  nach  allen  Richtungen,  nach  Südwesten, 
Westen  und  Nordwesten,  gleich  gute  Verbindungen  ausstrahlen,  und  demnach 
derjenige,  der  von  Ligurien  aus  mit  einem  Heere  nach  Südgallien  will,  gerade 
von  der  Paßhöhe  des  Mont  Genevre  aus  nach  allen  Teilen  dieses  Gebietes  hin 
volle  Bewegungsfreiheit  besitzt.  Daß  aber  während  der  Römerzeit  diese  Situation 
am  reinsten  vorgewaltet  hat,  sehen  wir  daraus,  daß  damals  auf  der  ligurischen 
Seite  des  Mont  Genevre  außer  in  Turin  und  Susa  ganz  wenig  von  wichtigeren 
Römerpunkten  zu  spüren  ist  —  die  Städte  Cuneo,  Saluzzo  und  Pignerolo  sind 
sämtlich  viel  spätere  Gründungen  — ,  während  auf  der  gallischen  Seite  der  Weg 
und  die  Endpunkte  aller  drei   von  diesem  Gebirgsübergange  aus  herablaufenden 


80  VI.  Kapitel. 

Richtungen  mit  größeren  Orten  besetzt  sind.  Hier  lagen  zunächst  an  der 
chaussierten,  wichtigsten,  südwestlich  nach  Arelate  führenden  Ausstrahlung  die 
Orte  Eborodunum  (Embrun),  Segustero  (Sisteron)  und  Apta  Julia  (Apt),  weiterhin 
an  der  direkt  nach  Osten  vom  Paß  abgehenden  Linie  Cularo  (Grenoble)  und 
Valentia  (Valence),  während  die  nördlichste  Route,  die  heute  durchaus  mit  der 
dortigen  Eisenbahn  zusammenfällt,  von  Grenoble  über  Morginum  (Moirans)  nach 
Vienna  (Vienne)  abzweigte. 

So  ist  es  also  deshalb,  weil  der  Mont  Genevre  von  weither  überall  die 
Verbindungen  an  sich  zieht  und  überdies  bei  der  Tatsache,  daß  sich  in  der 
nächsten  Nachbarschaft  desselben  auch  verschiedene  andere  praktikable  Gebirgs- 
übergänge  (Mont  Cenis)  finden,  ganz  naturgemäß,  wenn  der  Mont  Genevre  in 
vorgeschichtlicher  Zeit  als  Übergangslinie  der  nach  Italien  herüberziehenden 
Kelten  genannt  wird,  und  nicht  minder,  wenn  diese  Straße  schon  ein  volles  Jahr- 
hundert vor  unserer  Zeitrechnung  auch  ohne  Zutun  der  Römer  als  Handelsstraße 
in  Gebrauch  war.  Es  ist  daher  auch  nur  ein  Spiegelbild  dieser  Lage,  wenn 
schon  Strabo  den  eigentlichen  Paßort  des  Genevre,  Briancon,  als  gallischen 
Flecken  Brigantio  namhaft  machen  konnte.  Trotzdem  ist  es  auch  hier  nicht 
unwichtig,  den  Gründen  nachzugehen,  die  Pompejus  bei  seiner  beabsichtigten 
Straßenlegung  für  diesen  Paß  bestimmt  haben  können,  falls  er  nicht  überhaupt 
ohne  weiteres  Bedenken  diesen  durch  den  Handelsverkehr  bereits  genügend 
vorgezeichneten  und  erprobten  Weg  heraussuchte.  Wenn  Pompejus  hier  im 
Jahre  77  v.  Gh.  über  den  Mont  Genevre  die  erste  römische  Alpenstraße  ab- 
gesteckt hat,  so  ist  es  zunächst  bei  der  ganzen  Sachlage,  nach  der  damals  die 
Provinz  Narbo  für  seine  Tätigkeit  nur  Durchgangsstation  war,  nicht  wahrscheinlich, 
daß  er  hier  wirklich  etwas  von  dauerndem  Wert  geschaffen  haben  kann.  Nur 
das  eine  muß  festgehalten  werden,  daß  dieses  Werk  trotzalledem  eine  größere 
Leistung  als  sie  sonst  die  Einjahrskonsuln  zu  bieten  pflegten,  bedeuten  sollte. 
Bei  der  Schwerfälligkeit  und  Gründlichkeit,  mit  der  die  Römer  in  republikanischer 
Zeit  an  den  Straßenbau,  eines  ihrer  wichtigsten  Herrschaftsmittel,  herangingen, 
mußte  die  Herstelluag  einer  Militärstraße  durch  das  Hochgebirge  als  epoche- 
machend gelten,  und  wenn  die  Straße  auch  bald  wieder  in  schlechten  Zustand 
gekommen  oder  überhaupt  nicht  richtig  ausgebaut  worden  sein  mag,  so  wird  das, 
was  geschah,  in  militärischer  Hinsicht  vor  der  Hand  doch  ganz  angenehm 
empfunden  worden  sein,  weil  damals  gerade  das  Bedürfnis  nach  einer  kürzeren 
Verbindung  nach  der  Mitte  der  Provinz  Narbo  stärker  hervorgetreten  sein  mag. 
Jedenfalls  führte  der  mittelste  Ast  des  Genevre-Überganges  auf  gallischer  Seite 
tatsächlich  direkt  auf  das  Gebiet  der  Heivier,  in  dem  Pompejus  damals  zu  tun 
hatte,  zu. 

So  sehen  wir  diesen  Übergang  auch  bei  der  nächsten  Gelegenheit,  als  wieder 
aus  kriegerischem  Anlaß  Truppenmärsche  nach  Gallien  nötig  wurden,  und  zwar 
zwanzig  Jahre  später  bei  Beginn  des  gallischen  Krieges,  ohne  weiteres  in  Benutzung 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  81 

treten.  Bei  Cäsars  Erzählung'")  hat  die  Erwähnung  des  über  den  Genevre  ein- 
geschlagenen Weges  ihre  Hauptbeziehung  zu  den  raschen  gegen  die  Helvetier 
gerichteten  Rüstungen.  Für  unseren  Zweck  ist  sie  aber  trotzdem  noch  selbst 
mit  jedem  Worte  eine  Offenbarung.  Als  Cäsar  damals  die  Legionen  aus  Ober- 
italien nach  dem  Genfer  See  werfen  wollte,  tat  Eile  not;  er  wählte  also  deshalb 
den  Mont  Genevre,  weil  er  annehmen  konnte,  daß  über  diesen  der  Marsch  am 
raschesten  vor  sich  gehen  würde.  Zunächst  ist  dies  ein  Beweis  dafür,  daß  der 
Weg  über  den  Kleinen  Sankt  Bernhard,  der  doch  viel  kürzer  nach  dem  Genfer 
See  hingeführt  hätte,  damals  für  die  Römer  noch  nicht  in  Betracht  kam.  Die 
Tatsache  nun,  daß  die  Bergvölker  trotzdem  wider  Erwarten  auch  hier  Schwierig- 
keiten machen  —  nebenbei  möglicherweise  ein  kleiner  Seitenhieb  auf  Pompejus  — 
ist  für  Cäsar  äußerst  wichtig,  da  dadurch  die  Gespanntheit  der  Lage  noch  ver- 
größert wird.  Wir  sehen  aber  weiterhin  noch  daraus,  daß  die  Straßensicherung 
des  Pompejus  eben  nicht  gerade  erstklassig  gewesen  sein  kann,  da  sie  bereits 
in  Verfall  geraten  war,  und  zwar  nicht  bloß  an  einer  Stelle,  sondern  fast  auf  der 
ganzen-Linie  im  Gebirge,  weil  sich  Cäsar  durch  drei  Völkerschaften  hintereinander 
den  Weg  bahnen  muß.  Cäsar  hebt  bei  seiner  Erzählung  ferner  ganz  genau  den 
Punkt  hervor,  wo  er  die  diesseitige  Provinz  verläßt  und  wo  er  in  die  jenseitige 
eintritt,  ein  Zeichen,  daß  damals  noch  das  ganze  Alpengebiet  als  römisches  Aus- 
land gerechnet  wurde.  Als  letzten  Punkt  der  italienischen  Provinz  nennt  er 
Ocelum,  in  der  Gegend  des  heutigen  Avigliana,  westlich  Turin.  Die  Lage  dieses 
Ortes  ist  typisch  für  die  Art,  wie  die  Römer  damals  vor  Augustus  die  Alpen 
behandelten:  Mathematisch  genau  am  Ende  der  Ebene  erhebt  sich  hier  barrikaden- 
ähnlich der  letzte  Ort,  dem  die  Ehre  zuteil  wird,  zu  Italien  zu  gehören;  alles, 
was  jenseits  in  den  Bergen  liegt,  ist  dagegen  quantite  negligeable.  Es  ist  dieselbe 
lokale  Taktik  gegenüber  dem  Hochgebirge,  die  sich  auch,  als  die  Langobarden 
endgültig  in  Italien  den  Rest  der  römischen  Erbschaft  angetreten  hatten,  in  Gestalt 
der  bei  ihnen  so  sehr  beliebten  Sperren  wiederfindet. 

Die  eigentliche  Chaussierung  der  Straße  über  den  Mont  Genevre,  deren 
militärische  Wichtigkeit  nunmehr  im  Verlaufe  des  gallischen  Krieges  immer 
zwingender  hervorgetreten  war,  ist  dann  aber  auch  erst  während  der  großen 
Epoche  des  Augustus  erfolgt.  Hier  erhielt  sich  im  eigentlichen  Gebirgsland 
unter  eingeborenen  Fürsten,  Donnus  und  Kottius,  die  ebensogut  ligurische  Schaf- 
räuber wie  griechische  Abenteurer  gewesen  sein  können,  bis  zu  Neros  Zeiten 
eine  Art  selbständiges  Fürstentum.  Die  alten  Herren  haben  historisch  viel 
Glück  gehabt,  weil  jener  Gebirgsteil  heute  noch  unverblaßt  ihren  Namen  führt. 
Es  ist  dies  wie  eine  Vorahnung  auf  das  Geschick  Savoyens;  denn  gerade  dieser 
Teil  der  Alpen  ist  befähigt,  ein  Gebilde  zu  tragen,  das  ebensogut  ein  elender 
Pufferstaat  sein,  sich  aber  nicht  minder  auch  zu  einem  lebenskräftigen,  selb- 
ständigen Keil  zwischen  dem  Nord-  und  Südland  auswachsen  kann. 

Nach  dem   Ausbau   der   Straße   unter  Augustus  treten  nun  auch  die  in  der 

Scheffel,  Verkehrsgescbichie  der  Alpen,     I.Band.  6 


g2  VI.  Kapitel. 

Folgezeit  berühmt  gewordenen  Städte  dieser  Linie,  Segusio=Susa  und  jenseits 
Cularo=Grenoble  an  das  Tageslicht,  und  auch  nach  der  Straßenlegung  über  den 
Kleinen  Sankt  Bernhard  ist  die  Mont  Genevre-Straße  trotzdem  bis  zum  Ende 
der  römischen  Kaiserzeit  hier  stets  gleich  wichtig  und  belebt  geblieben.  Ein 
äußerlicher  Ausdruck  hiervon  ist  es,  daß  schon  in  den  frühesten  Zeiten  in  Susa 
und  Grenoble  Bischöfe  erscheinen,  wie  ja  auf  dem  Westflügel  der  Alpen,  anders 
als  auf  deren  Ostflügel,  die  Straßenlinien  seit  Augustus  bis  zur  Völkerwanderung 
überhaupt  keine  Veränderung  erfuhren.  Und  noch  im  elften  Jahrhundert  ver- 
kündete auf  der  Höhe  des  Mont  Genevre  ein  verlassener  römischer  Tempel, 
daß  über  den  Mons  Matronae,  wie  die  Römer  später  diesen  Übergang  zu  nennen 
pflegten,  einst  über  vier  Jahrhunderte  lang  die  unbestrittene  römische  Staatsstraße 
aus  dem  stillen  Ligurien  nach  dem  reichen  Südgallien  hinüberzog. 

Die  beiden  nach  dem  Heiligen  Bernhard  genannten  Straßen  haben  von 
Italien  her  bis  Aosta  die  gleiche  Anlauflinie.  Als  Augustus  diese  beiden  Straßen- 
züge festlegte,  hätte  noch  kein  in  Turin  oder  Mailand  entwickelter  Großhandel 
dazu  verleiten  können,  hier  neue  Bahnen  zu  schaffen.  Der  Grund  ihres-  Baues 
war  daher  lediglich  ein  militärischer,  und  die  Stelle,  an  der  sich  diese  Straßen 
an  das  schon  vorhandene  Straßennetz  ansetzen  mußten,  konnte  deshalb  auch  kein 
anderer  sein  als  jenes  weitab  von  den  Alpen  am  Mittellauf  des  Po  gelegene 
Zentrum  der  römischen  Militärstraßen  Norditaliens.  Einst  hatte  dort  die  Republik 
den  Schlußstein  ihres  Straßensystems  gelegt;  die  erste  Kaiserzeit  aber  zog  auf 
diese  Weise  nichts  anderes  als  die  Konsequenz  ihrer  eigenen  Taten,  indem  sie 
das  römische  Straßensystem  von  seiner  früheren  Basis  aus  in  einem  weiten 
Sprung  nach  dem  Mittelpunkt  ihrer  neuen  Erwerbung,  nach  Gallien,  hinüber- 
rückte. Nicht  in  Turin  oder  Mailand  sondern  in  Placentia  und  Cremona  liegt 
also  der  eigentliche  südliche  Ausgangspunkt  dieser  beiden  Gebirgsstraßen. 

Das  Hineintreiben  des  Straßenzuges  in  das  eigentliche  Gebirge  geschah  von 
Ivrea  aus,  das,  vordem  in  nichts  weniger  als  fortschrittlicher  Absicht  angelegt, 
hier  bereits  siebzig  Jahre  lang  gleichfalls  die  Rolle  einer  der  dann  im  ersten 
Mittelalter  so  sehr  beliebt  gewordenen  Straßensperren  am  Südabhang  der  Alpen 
abgegeben  hatte.  Bis  Aosta  ist  nun  von  hier  aus  auf  dem  ganzen  Wege  auch 
heute  noch  mehr  oder  minder  überall  die  Tätigkeit  der  Römer  zu  spüren,  bei 
Pont  St.  Martin  und  Verres  (Vitricium),  ebenso  aber  auch  im  Val  Tournanche 
und  auf  dem  von  diesem  Tale  aus  ansteigenden  Theodulspaß.  Die  geringen 
Römerspuren  nach  dieser  letzten  Richtung  hin  gestatten  vielleicht  daran  zu  denken, 
daß  hier,  ähnlich  wie  beim  Sarntal  nördlich  Bozen,  ein  Tasten  der  Römer  nach 
einer  kurzen  südnördlichen  Verbindung  über  das  Gebirge  stattgefunden  haben 
könnte, 

Aosta  selbst  beherbergt  heute  noch  die  untrüglichsten  Zeugnisse  der  alten 
Römerzeit,  und  es  ist  daher  einer  der  Straßenpunkte  der  Alpen,  an  dem  wunderbar 
klar  zu  erkennen   ist,  wie  zielbewußt   diese   klassische  Periode   der   Geschichte 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  33 

der  Alpenstraßen  zu  verfahren  pflegte.  Noch  heute  betritt  hier  die  in  der  Rinne 
der  alten  Römerstraße  laufende  Hauptstraße  den  Ort  von  Osten  aus  durch  das 
einst  von  Augustus  gebaute  Stadttor,  um  sich  dann  nach  Passieren  desselben 
innerhalb  des  Stadtbodens  in  die  Linien  nach  dem  Kleinen  und  Großen  Sankt 
Bernhard  auseinanderzuspalten. 

Der  gleiche  Anlaufweg  bis  Aosta,  mehr  aber  noch  die  gleichlautenden 
Namen  von  heute,  können  nun  wohl  den  Gedanken  erwecken,  als  ob  die  beiden 
Bernhard-Pässe  in  der  Hauptsache  auch  die  gleichen  Eigenschaften  besäßen. 
Da  diese  beiden  Pässe  jedoch  jenseits  der  Alpen  nach  zwei  ganz  verschiedenen 
Richtungen  auslaufen,  haben  sie  daher  auch  stets  nur  zwei  ganz  verschiedenen 
Verkehrszwecken  dienen  können.  Der  Große  Sankt  Bernhard  weist  in  seiner 
Verlängerung  nach  Paris,  während  der  Kleine  Sankt  Bernhard  direkt  west- 
lich in  den  Mittelpunkt  des  Stromgebietes  der  Rhone  hinabführt.  Es  ist 
deshalb  auch  ganz  folgerichtig,  wenn  sich  an  dem  Westabhang  des  Kleinen  Sankt 
Bernhard  römische  Altertümer  von  Bedeutung  gerade  erst  bei  Gresy  sur  Isere 
finden,  einfach  an  der  direkten  Linie  nach  Lugdunum,  nicht  aber  schon  bei 
Albertville,  wo  eine  erst  viel  später  in  das  Leben  getretene,  nach  Norden,  nach 
dem  Genfer  See,  führende  Abzweigung  von  der  Hauptlinie  abläuft. 

Zur  Römerzeit  war  Lugdunum  die  Hauptstadt  Galliens,  von  Augustus  auch 
politisch  hierzu  erhoben.  Hieraus  folgt,  daß  für  die  Römerzeit  zunächst  die 
Straße  über  die  Alpis  Graja,  den  Kleinen  Sankt  Bernhard,  schon  deshalb  die 
wichtigere  von  jenen  beiden  Straßen  werden  mußte,  und  da  weiterhin  gerade 
Gallien  während  der  ersten  Jahrhunderte  der  Kaiserzeit  —  ähnlich  wie  Schlesien 
im  neunzehnten  Jahrhundert  für  Preußen  —  für  Rom  den  kostbarsten  Besitz  und 
die  wichtigste  Provinz  abgab,  so  mußte  die  Straße  über  den  Kleinen  Sankt 
Bernhard  sich  überhaupt  zur  wichtigsten  Alpenstraße  der  ganzen  Kaiserzeit  aus- 
wachsen.  Auch  in  der  Baugeschichte  hat  dies  seinen  Ausdruck  gefunden.  Die 
Straße  über  den  Kleinen  Sankt  Bernhard,  die  wie  keine  andere  in  erster  Linie 
überall  Fahr-  und  Heerstraße  sein  sollte,  scheint  das  Meisterstück  römischer 
Straßenführung  in  den  Alpen  und  von  Augustus  wie  aus  einem  Gusse  angelegt 
worden  zu  sein.  Schon  Aosta  betonte  in  seiner  ersten  Anlage  —  Hauptstraße 
von  Westen  nach  Osten  —  durchaus  die  Wichtigkeit  der  Linie  über  den  Kleinen 
Sankt  Bernhard  gegenüber  derjenigen  über  den  Großen  Sankt  Bernhard,  ganz 
besonders  aber  die  Kühnheit  und  Festigkeit  jener  Straße  selbst  mit  ihren  zahl- 
reichen monumentalen  Brücken,  Felsdurchschnitten  und  Unterbauten,  und  noch 
heute  ist  die  Paßhöhe  hier  durch  eine  antike  hohe  Säule  bezeichnet.  Aber 
gerade  dieser  Straßenzug  wartet  heute  noch,  mehr  als  die  anderen  Römerstraßen 
der  Alpen,  auf  seine  genaue  Durchforschung,  wie  auch  die  Nachrichten  über 
seine  tatsächliche  Benutzung  zu  Römerzeiten  nicht  allzu  häufig  sind. 

Die  Straße  über  den  Großen  Sankt  Bernhard  hat  unter  der  Gesamtheit  der 
Alpenstraßen  die  hervorragende  Eigenschaft,  daß  sie  in  ihrem  weiteren  Verlaufe 

6* 


84  VI.  Kapitel. 

in  der  Richtung  von  Südost  nacli  Nordwest  d.  h.  in  der  Diagonale  den  Alpen- 
wall durchschneidet;  theoretisch  vereinigt  sie  also  für  die  westliche  Hälfte  der 
Alpen  sowohl  die  Eigenschaften  der  das  Gebirge  in  südnördlicher  wie  auch  der 
dasselbe  in  westöstlicher  Richtung  übersetzenden  Linien.  Ein  ähnlicher  Fall  läßt 
sich  in  dem  Alpengebiet  auch  noch  in  dessen  östlicher  Hälfte,  und  zwar  in  der 
aus  Venetien  über  Pontebba  nach  Kärnten  führenden  Straße,  freilich  hier  nicht 
in  solch'  ausgesprochenem  Maße,  feststellen.  Diese  Tatsache  der  diagonalen 
Richtung  ist  nun  der^  erste  Grund  dafür  gewesen,  daß  die  Straße  über  den 
Großen  Sankt  Bernhard  bei  allem  politischen  und  wirtschaftlichen  Wechsel  der 
Zeiten  —  nur  mit  Ausnahme  der  Jetztzeit  —  stets  ihre  hervorragende  Wichtigkeit 
behalten  hat.  Der  Nachteil  dieser  Linie  liegt  dagegen  einzig  und  allein  in  der 
Höhe  des  Paßweges  (2472  m),  die  es  bis  jetzt  noch  immer  nicht  erlaubt  hat, 
etwas  anderes  als  einen  schmalen  Saumpfad  fünf  Stunden  lang  über  den  Kamm 
zu  führen.  So  hat  der  Große  Sankt  Bernhard  immer  mehr  für  den  Einzelverkehr 
von  Reisenden  und  besonders  für  den  Handel,  weniger  jedoch  für  kriegerische 
Bewegungen  Bedeutung  gehabt,  wenn  ihn  auch  zu  allen  Zeiten  ganze  Heere 
überschritten  haben. 

Die  Funde  am  Wege,  griechische  und  gallische  Münzen,  berechtigen  in 
nichts,  für  die  ältesten  Zeiten  einen  regen  Völkerverkehr,  sondern  nur  Lokal- 
verkehr über  ihn  anzunehmen,  und  auch  Cäsar  erwähnt  nur  die  Benutzung  des 
Passes  durch  die  Kauileute.  Aber  auch  hier  griff  die  römische  Bautätigkeit 
energisch  ein,  und  mehr  als  anderswo  im  Gebirge  sind  jetzt  noch  hier  entlang 
des  Weges  die  greifbaren  Reste  derselben  vorhanden.  Jener  alte  Weg,  der 
nördlich  und  südlich  so  hoch  es  anging  als  Fahrstraße  gebaut  wurde,  hat  einen 
ganz  anderen,  viel  höheren  Lauf  als  die  jetzige  Straße;  großes  Plattenpflaster 
bedeckt  den  wenig  breiten  aber  dauerhaften  Straßenkörper,  der  noch  heute  wegen 
seiner  Trockenheit  gerühmt  wird.  Römerreste  finden  sich  am  Südhang  in  Gignod 
und  nördlich  in  Bourg  St.  Pierre,  Martigny  (Octodurus)  und  St.  Maurice  (Agaunum), 
die  mannigfachsten,  die  einen  wunderbaren  Einblick  in  das  Verkehrsleben  jener 
alten  Zeit  bieten,  jedoch  auf  der  Paßhöhe  selbst.  Hier,  wo  sich  schon  vorher 
ein  altes  Heiligtum  der  Kelten  befunden  haben  soll,  stand  neben  der  römischen 
Militärstation  oben  auf  dem  Mons  Jovis  ein  dem  Juppiter  Poeninus  geweihter 
Tempel.  Wenn  man  bedenkt,  mit  welch'  unsäglicher  Mühe  die  späteren  Zeiten 
auf  den  Paßhöhen  der  Alpen  elende,  zu  Hospizen  dienende  Gebäude  fertig 
brachten,  so  kann  allerdings  die  Errichtung  dieses  sakralen  Gebäudes  hier  auf 
dieser  gewaltigen  Bergeshöhe  als  ein  Markstein  der  alten  Kultur  und  ein  Sinn- 
bild für  die  Größe  des  Römertums  gelten,  das  auch  die  Alpen  sich  völlig  Unter- 
tan gemacht  hatte. 

Dagegen  hat  die  andere  große  Alpenstraße,  die  von  Italien  aus  in  das  Wallis 
ausmündet,  der  Simplon,  zu  Römerzeiten  eine  ganz  geringe  Bedeutung  gehabt. 
Daß  dieser  als  Saumpfad  wie  alle  anderen  guten  Übergangswege  seit  Menschen- 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  S5 

gedenken  benutzt  worden  sein  mag,  ist  natürlich;  aber  selbst  die  zahlreichen 
Funde  von  Römermünzen  in  Gondo  südlich  des  Passes  und  die  Tatsache,  daß 
in  Sion  das  alte  Schloß  Valeria  aus  einem  römischen  Kastell  hervorgegangen  ist, 
auch  selbst  das  auffallende  Vorkommnis,  daß  in  Vogogna  südlich  Domo  d'Ossola 
eine  in  den  Felsen  gehauene  Inschrift  von  einem  römischen  Wegebau  meldet, 
alles  dieses  kann  doch  nicht  den  Beweis  erbringen,  daß  bei  der  grundlegenden 
Organisation  des  alpinen  Straßenwesens  unter  Augustus  und  Klaudius,  oder  als 
dann  um  die  Wende  des  zweiten  Jahrhunderts  von  neuem  die  Straßenbautätigkeit 
in  den  Alpen  begann,  über  den  Simplon  eine  regelrechte  nach  Martigny  aus- 
laufende Straße  gebaut  worden  sei.  Dazu  fehlen  zu  sehr  die  hierfür  unbedingt 
nötigen  weiteren  Römerfunde  nördlich  Gondo  und  besonders  solche  am  nördlichen 
Abhang  in  Oberwallis,  ebenso  auch  selbst  die  geringsten  Anklänge  an  das  Römer- 
tum  gerade  abwärts  Brieg;  auch  die  Itinerarien  schweigen  sich  hier  aus.  Wir 
werden  uns  daher  zur  Römerzeit  das  der  Urschweiz  benachbarte  Oberwallis  nur 
ganz  dünn  bevölkert  vorstellen  können.  Dies  schließt  jedoch  nicht  aus,  daß  sich 
hier  südlich  des  Hauptkammes  im  Tal  des  Toce  in  der  Kaiserzeit  ein  reges 
Leben  entfaltet  hat.  Zur  Entwickelung  des  Simplon  als  Hauptstraße  fehlte  jedoch 
damals  zunächst  die  erste  Voraussetzung,  nämlich  die,  daß  Mailand  hier  bei 
Beginn  der  Römerherrschaft  schon  eine  Großstadt  im  Sinne  des  Altertums 
gewesen  wäre. 

Der  Umstand,  daß  zu  Römerzeiten  eben  nur  eine  Straße,  die  über  den 
Großen  Sankt  Bernhard,  nach  dem  Gebiet,  das  heute  die  westliche  Hälfte  der 
Schweizer  Republik  ausmacht,  herüberführte,  hat  nun  auch  die  kulturelle  Gestaltung 
dieses  Gebietes  bestimmt.  Zum  großen  Verwaltungsbezirke  Gallien  gehörig 
blieb  Helvetien  bis  zur  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  n.  Ch.  stets  ein  unwichtiges 
Durchzugsland,  und  besonders  war  es  nichts  anderes  als  ein  solches,  nachdem 
ihm  am  Ende  des  ersten  Jahrhunderts  die  große  Garnison  von  Vindonissa 
genommen  worden  war.  Wir  müssen  annehmen,  daß  mit  Ausnahme  des  nörd- 
lichen Ufergebietes  des  Genfer  Sees  und  des  Südlandes  des  Bodensees  am 
anderen  Ende,  Bevölkerungszahl  und  Wohlstand  im  römischen  Altertum  hier 
nicht  sehr  stark  entwickelt  waren,  geringer  jedenfalls  als  in  den  westlich 
benachbarten  Landschaften.  Hatte  schon  Cäsar  hier  der  eingeborenen  Volkskraft 
einen  Stoß  versetzt,  so  erreichte  das  Land  jedoch  ein  Jahrhundert  später  ein 
noch  härteres  Schicksal,  als  der  Legat  Cäcina  hier  an  den  Helvetiern,  als  diese 
mit  der  Anerkennung  des  Vitellius  Schwierigkeiten  machten,  mit  der  neu  ent- 
fesselten Leidenschaftlichkeit  des  Bürgerkrieges  ein  Exempel  statuierte.  Damals 
geschah  auch  die  furchtbare  Zerstörung  der  alten  Hauptstadt  Helvetiens,  von 
Aventicum.  Zwar  scheint  dann  Vespasian  versucht  zu  haben,  wieder  gut  zu 
machen,  was  das  Land  um  seinetwillen  ausgestanden  hatte,  indem  er  Aventicum 
als  Veteranenkolonie  wiederherstellte,  aber  der  Norden  der  Schweiz  blieb  doch 
weiterhin  nichts  als  Grenzprovinz,  nur  besetzt  von  lauten    Garnisonorten,   deren 


86  VI.  Kapitel. 

Ruinen  heute  noch  in  Windisch  und  Äugst  vorhanden  sind,  aber  ohne  daß  aus 
diesen  größere  bürgerliche  Niederlassungen  erwachsen  wären. 

Und  östlich  und  südlich  dieser  Ebene  begann,  unbetreten  von  den  Römern, 
das  damals  einsame,  stille  Gebiet  der  heutigen  Hochschweiz.  Nirgends  in  den 
ganzen  Alpen  finden  wir  es  wieder,  daß  in  einer  solchen  Ausdehnung  wie  hier 
römische  Ortsnamen  fehlen;  auch  die  Römerfunde  brechen  am  Fuße  der  Berge, 
bei  Luzern  und  Almendingen  bei  Thun  ganz  ab.  Aber  auch  schon  vorher  mag 
es  die  Art  der  eingeborenen  keltischen  Helvetier  nicht  hergegeben  haben,  in 
dieses  Hochgebirge  dauernd  aufzurücken,  so  daß  wir  uns  diese  Gebiete  im  Alter- 
tum schlechterdings  als  verlassen  und  volksleer  vorstellen  müssen.  Schon  diese 
lokalen  Verhältnisse  lieferten  mit  den  Grund,  weshalb  sich  zu  Römerzeiten  gerade 
in  der  Mitte  der  Alpen,  die  seit  Beginn  des  Mittelalters  nach  allen  Richtungen 
hin  von  immer  lebhafter  werdenden  Straßenzügen  durchquert  worden  ist,  keine 
Nord -Süd- Verbindung  vorfindet,  wenn  auch,  sobald  wir  in  das  eigentliche 
Kammgebiet  des  Gotthard  heraufrücken,  die  alte  Zeit  hier  wenigstens  durch 
einen  matten  Schimmer  erhellt  wird.  Wir  hatten  gesehen,  daß  die  römische 
Provinzialeinteilung,  die  das  Wallis  zu  der  Provinz  Rätien  schlug,  die  Annahme 
eines  Nebenverkehrs  in  der  Längsrichtung  über  die  Furka  hinüber  zur  Voraus- 
setzung hat,  und  tatsächlich  erscheinen  auch  —  ein  Beweis  für  die  Bewohntheit 
jener  Gegend  im  Altertum  —  plötzlich  zahlreiche  Ortsnamen  alträtischen  Stam- 
mes, sobald  wir  das  Gebiet  östlich  des  Oberalppasses  betreten.  Auch  das  Dasein 
einer  alten  Inschrift  bei  Altanca,  am  Südeingange  des  Lukmanier,  macht  die  An- 
nahme der  Benutzung  desselben,  freilich  als  reinen  Nebenpasses,  im  Altertum 
wahrscheinlich.  Zur  richtigen  Veranschaulichung  des  damaligen  Zustandes  dieser 
Gebiete  verhilft  auch  hier  besonders  die  Tatsache,  daß  Mediolanum  selbst  in  den 
ersten  Jahrhunderten  der  Kaiserzeit  noch  nicht  die  große  Zentrale  gewesen  ist, 
zu  der  es  sich  dann  am  Ende  des  Römerreichs  entwickeln  sollte,  und  so  blieben 
auch  alle  Gebirgstäler  nördlich  dieser  Stadt  ein  stilles,  zu  ihrem  Stadtgebiete 
gehöriges  Nebenland,  in  dem  kein  wichtiger  Straßenort  entstehen  konnte,  wenn 
auch  die  Tradition  noch  nördlich  nach  Giornico  im  Livinental  einen  römischen 
Tempel  zu  setzen  weiß. 

Die  Straßen  durch  Rätien. 

Im  Gegensatz  zu  den  Straßen  der  heutigen  Hochschweiz  ist  eine  große 
Anzahl  der  durch  Rätien  führenden  Alpenstraßen  schon  vollständig  von  den 
Römern  in  Gebrauch  genommen  worden.  Das  römische  Rätien  vereinigte  in 
sich  die  heutigen  Länder  Graubünden  und  Tirol,  und  es  lassen  sich  daher  auch 
die  alten  römischen  Alpenstraßen  durch  Rätien  am  besten  in  eine  westliche,  bünd- 
ner, und  in  eine  östliche,  tiroler  Hälfte  trennen.  Was  nun  zunächst  die  durch 
Graubünden  ziehenden  römischen  Alpenstraßen  betrifft,  so  konnten  diese  freilich 
nicht   in    dem  Maße  wie  diejenigen  über  die  Westalpen  für  die  Römer  Wichtig- 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  87 

keit  erlangen,  da  sie  nicht  in  ein  großes,  dem  Römertume  neu  erschlossenes  Land 
wie  Gallien,  sondern  nur  nach  einer  schmalen  Randprovinz  hinüberführten  und 
dem  Verkehr  nach  Vindelicien  außerdem  noch  die  östlichen  rätischen  Straßen, 
die  über  das  Reschenscheideck  und  den  Brenner,  zur  Verfügung  standen.  Die 
politische  Lage  brachte  es  ferner  mit  sich,  daß  die  bündner  Pässe  wenigstens 
während  der  ersten  römischen  Jahrhunderte  kaum  irgendwelchem  militärischen 
Verkehr,  sondern  nur  dem  Reise-  und  geringem  Handelsverkehr  zu  dienen  hatten. 

Alle  durch  Graubünden  führenden  Alpenstraßen  sind  —  ein  im  Alpengebirge 
nirgends  sonst  so  scharf  ausgeprägtes  Bild  —  dem  zwingenden  Schicksal  unter- 
worfen, daß  sie  vor  ihrem  Austritt  in  die  oberitalienische  Ebene  sämtlich  auf 
meilenweite  Entfernung,  und  zwar  mindestens  von  der  Nordspitze  des  Komer- 
Sees  bis  Bellagio  die  enge  Rinne  dieses  Sees  durchlaufen  müssen,  ohne  daß  das 
Gebirge  irgendwo  zu  Lande  ein  Ausbiegen  gestattet.  Auf  den  Handels-  und 
Völkerverkehr  ist  dieser  ausgesprochene  Nachteil  in  der  Bewegungsfreiheit  zwar 
weniger  von  Einfluß  gewesen,  wohl  aber  auf  die  kriegerischen  Operationen,  die 
sich  in  südlicher  Richtung  aus  diesem  engen  Tal  herauswinden  mußten,  wenn 
wir  auch  zunächst  kein  Beispiel  zur  Verfügung  haben,  daß  ein  derartiger  Fall 
bereits  während  des  Altertums  einmal  eingetreten  wäre. 

Daraus,  daß  einerseits  die  nordwestlich  und  nördlich  von  Mailand  gelegenen 
Gebiete  im  Altertum  nicht  das  Vorland  eines  belebten  Gebirgsüberganges  waren, 
andererseits  aber  die  Bündner- Pässe  während  der  Römerzeit  als  solche  Über- 
gänge dienten,  folgt  nun  auch,  daß  wir  in  dem  Gebiete  nordöstlich  Mailands, 
das  südlich  dieser  Bündner  Pässe  liegt,  ein  solches  Vorland  finden  müssen.  Der 
Hauptort  jenes  Vorlandes  aber  und  damit  zugleich  der  Sammelpunkt  für  alle 
durch  Bünden  südlich  herabführenden  Alpenstraßen  war  ebenso  im  Altertum  wie 
heute  stets  Comum,  und  nichts  anderes  meint  auch  Kassiodor,  zu  den  Zeiten 
Theodorichs  des  Großen,  wenn  er  sagt,  daß  dort  viele  Straßen  zusammenlaufen. 
Schon  in  republikanischer  Zeit  wurde  der  Zuverlässigkeit  dieses  Ortes  von  der 
römischen  Regierung  durch  Ansiedelung  frischer  Kolonisten  immer  wieder  neu 
aufgeholfen.  Ist  dies  einesteils  ein  Anzeichen,  daß  die  bündner  Pässe  selbst 
auch  schon  vor  der  römischen  Eroberung  dem  Verkehr  offen  gestanden  haben, 
so  beweist  dies  ferner,  welch'  ein  kräftiger  und  unbequemer  Nachbar  hier  das 
das  nördliche  rätische  Volkstum  gewesen  sein  muß,  bis  es  schließlich  von  Augu- 
stus  gründlich  unterjocht  wurde.  Auch  heute  macht  Como  im  Vergleich  zu 
den  anderen  Städten  Oberitaliens  einen  ganz  ausnehmend  südländischen  Ein- 
druck, und  so  liegt  die  Vermutung  nahe,  daß  diese  Erscheinung  noch  aus  dem 
Altertum  fortwirkt,  in  dem  sich  gerade  hier  zahlreiches  südliches,  selbst  griechi- 
sches Volkstum  anbauen  mußte.  Wir  wissen  außerdem  durch  das  Zeugnis  des 
Plinius,  wie  stark  bewohnt  und  wohlbekannt  die  Gegenden  um  den  südlichen 
Komer-See,  bei  Comum  und  Liciniforum  (Incino),  während  der  römischen  Kaiser- 
zeit gewesen  sind. 


88  VI.  Kapitel. 

Den  Verkehr  nach  den  Paßhöhen  trug  dann  der  See  nördlich  bis  Summo- 
laco  (Seespitz),  das  die  Anschwemmungen  der  Mera  jetzt  zur  Landstadt  gemacht 
haben,  herauf,  um  dann  Clavenna  (Chiavenna),  den  Gabelpunkt  der  Straßen  nach 
dem  Splügen  und  der  Porta  Bergallia  zu  erreichen.  Chiavenna  selbst  aber  ist 
ein  Platz,  dem  seine  Lage  stets  die  gleiche  Bestimmung  vorgeschrieben  hat.  Un- 
wandelbar ist  es  derselbe  wichtige  Straßenpunkt  geblieben,  wenn  auch  anderer- 
seits die  lokalen  Verhältnisse  im  Talboden  selbst  der  Stadt  stets  daran  hinderlich 
gewesen  sind,  sich  zu  wirklicher  Bedeutung  auszudehnen.  Der  Umfang  und  die 
Menschenzahl  des  Ortes  ist  auch  heute  noch  die  gleiche  wie  während  der  Zeit 
des  Altertums  und  Mittelalters,  und  hieraus  erklärt  es  sich  auch,  daß  wir  hier 
nur  vergebens  nach  aufklärenden  Römerresten  suchen,  da  diese  unter  den  Wohn- 
stätten der  folgenden  Zeiten  begraben  liegen. 

Ziehen  wir  von  Chiavenna  aus  nach  Norden  eine  gerade  Linie,  so  teilt  diese 
das  ganze  Alpengebiet  fast  genau  in  zwei  gleich  große  Teile.  Der  Straßenzug 
aber,  den  wir  nun  fast  genau  im  Laufe  dieser  Linie  vorfinden,  ist  der  Splügen,  eine 
Alpenstraße,  die  sich  durch  die  ihr  anhaftenden  Eigenschaften  von  allen  übrigen  Alpen- 
übergängen unterscheidet  und  somit  als  besonders  interessant  erscheinen  muß.  Keine 
Paßstraße  in  dem  ganzen  Alpengebiet  liefert  aus  der  Vogelschau  betrachtet  eine 
solch'  direkte,  für  den  Verkehr  wie  geschaffene,  aus  der  Mitte  Oberitaliens  nach 
der  Mitte  Süddeutschlands  hinüberführende  Rinne,  und  wenig  anders  wie  eine 
gerade  Linie  zieht  auch  auf  der  Karte  die  Straße,  die  Bellagio  mit  Bregenz  ver- 
bindet, dahin,  ohne  dabei  den  Alpenkamm  mehr  als  einmal,  d.  h.  auf  dem  Splügen- 
Passe  selbst,  zu  übersetzen.  Wer  aber  auf  dieser  kurzen  Linie  nun  auch  bequem 
zu  reisen  gedenkt,  wird  sich  auf  dem  Splügenberge  selbst  bitter  enttäuscht 
sehen.  Keine  andere  Alpenstraße  ist  wie  die  Splügenstraße  theoretisch  so  günstig 
für  den  Verkehr  gelegen,  für  die  Praxis  aber  wegen  der  lokalen  Verhältnisse  auf 
dem  Gebirgsübergange  selbst  so  schwierig  und  unregelmäßig  zu  benutzen.  Die 
Splügenstraße  ist  somit  in  Wirklichkeit  ein  Blender.  Der  Grund  hierfür  liegt 
jedoch  nicht  in  der  Höhe  des  Passes  (2117  m);  denn  trotz  seiner  größeren  Höhe 
ist  der  Sankt  Bernhard  zu  allen  Zeiten  benutzt  worden  und  über  den  200  m 
höheren  Bernina  ist  heute  der  Lokalverkehr  viel  reger  als  über  den  Splügen. 
Der  Grund  liegt  auch  nicht  in  den  Schwierigkeiten  der  Via  mala;  denn  der 
Kuntersweg  am  Brenner  gibt  an  Enge  und  vor  allem  an  Ausdehnung  der  Via 
mala  nichts  nach.  Dasjenige,  was  den  Weg  über  den  Splügen  immer  in  seiner 
Benutzbarkeit  heruntergesetzt  hat  und  auch  heute  noch  ebenso  einschneidend  ist 
wie  vor  zweitausend  Jahren,  sind  allein  die  lokalen  Verhältnisse  am  Südabhange 
dieses  Passes.  Schon  bei  Chiavenna  wirkt  die  Enge  und  Feuchtigkeit  des  Tales, 
die  Versumpfung  und  geringe  Festigkeit  des  Bodens  ungünstig  auf  die  Etablierung 
dauernder  Niederlassungen  zur  Sicherung  des  Südausganges  ein.  Weiterhin  steigt 
aber  nicht  nur  von  Campodolcino  bis  zur  Paßhöhe  in  einer  Luftlinie  von  8  km 
der  Gebirgswall   plötzlich   auf  etwa    1000  m    an,    sondern    der   Hauptteil    dieser 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  §9 

Steigung  drängt  sich  noch  dazu  auf  der  kurzen  Strecke  zwischen  dem  Dorf  Isola 
und  der  heutigen  zweiten  Kantoniere  so  arg  zusammen  und  setzt  diesen  Strich 
deshalb  derartig  unheilbar  allen  Witterungsverhältnissen,  vor  allem  den  Lawinen 
aus,  daß  bislang  noch  kein  Zeitalter  hier  eine  genügend  dauerhafte  Straßenanlage 
schaffen  konnte.  Der  sprechende  .■\usdruck,  auf  wie  mannigfache  Art  man  diese 
Schwierigkeit  zu  bemeistern  suchte,  ist  es,  daß  man  heute  gerade  hier  im  Val 
Giacomo  vier  bis  fünf  aus  verschiedenen  Zeitaltern  herrührende  Zugangslinien 
nach  der  Paßhöhe  findet. 

Trotzdem  hat  aber  der  in  die  Augen  springende  Vorteil  äußerster  Ziel- 
gerechtigkeit, den  gerade  die  Existenz  einer  guten  Splügenstraße  bietet,  immer 
wieder  zu  dem  Versuch  geführt,  den  Saumpfad  hier  in  eine  Heerstraße  zu  ver- 
wandeln; und  es  ist  kein  Zufall,  daß  dies  gerade  in  den  Perioden  hochgespannter 
Straßenbautätigkeit  in  den  Alpen  und  besonders  in  solchen  Zeiten,  als  die  mili- 
tärische Bedeutung  dieser  Gebirgsstraßen  in  den  Vordergrund  trat,  beobachtet 
werden  kann.  So  paßt  es  zunächst  auch  ganz  zu  dem,  wie  wir  auch  sonst  die 
Römer  kennen  gelernt  haben,  daß  wir  über  den  Splügen  eine  Römerstraße  gelegt 
finden.  Bei  den  Bündner  Pässen  ergeben  die  Itinerarien  zweifellos  eine  regel- 
rechte Route  über  den  Splügen  und  eine  zweite,  bei  der  nur  eine  solche  über 
den  Julier  gemeint  sein  kann.  Die  Wahrscheinlichkeit  spricht  dafür,  daß  die 
über  den  Julier  der  Zeit  nach  früher  entstand,  während  über  den  Zeitpunkt  der 
Anlage  der  Splügenstraße  sich  bislang  keine  Gewißheit  hat  gewinnen  lassen,  um 
so  mehr  als  hier  wie  ebenso  auf  allen  anderen  Römerstraßen  Bündens  römische 
Meilensteine  fehlen,  in  gleicher  Weise  aber  auch  entlang  der  Splügenstraße  keine 
vorgeschichtlichen  Funde  und  auch  Funde  römischer  Münzen  nur  in  ganz  geringer 
Zahl  gemacht  worden  sind.  Allerdings  sind  auf  dem  Splügen  auch  bis  heute 
noch  am  meisten  in  den  ganzen  Alpen  lokale  Forschungen  und  Grabungen  gänzlich 
ausgeblieben,  trotzdem  diese  doch  durchaus  nicht  aussichtslos  erscheinen,  wenn 
wir  berücksichtigen,  daß  wir  gerade  auf  der  Splügenhöhe  die  Stelle  einer  alten 
Römerstation  tatsächlich  ganz  sicher  wiederfinden  können,  weil  in  den  römischen 
Itinerarien  eine  solche  mit  dem  Namen  cuneus  aureus  benannt  wird  und  auch 
wirklich  eine  Stelle  an  der  Paßhöhe,  beim  Bergwirtshaus  Cardinell  lange  Zeit 
noch  bei  den  Anwohnern  cuneo  d'oro  hieß  '■'^). 

Die  auf  der  eigentlichen  Splügenlinie  genannten  Römerstationen  sind  nächst 
Clavenna:  Tarvessede,  jenes  Cuneus  aureus,  Lapidaria  und  Chur.  Wenn  das 
heutige  Madesimo  das  alte  Tarvessede  —  d.  h.  die  Stelle,  wo  man  die  Tiere  vor 
den  Wagen  spannen  darf'**)  —  ist,  so  paßt  dies  jedenfalls  sehr  gut  zu  den  lokalen 
Verhältnissen;  denn  von  hier  aus  beginnt  in  südlicher  Richtung  tatsächlich  die 
bequeme  Fahrbahn,  von  wo  an  in  den  damaligen  Zeiten  das  Fahren  möglich 
wurde.  Schon  von  Madesimo  aus  nördlich  ist  die  Römerstraße  höher  als  die 
späteren  Linien  gelaufen,  und  auf  dem  Nordabhang  von  Sufers  bis  Rhazüns  tritt 
sie   dann    in  jene  bekannte  Höhenführung  ein,    die  den  Flußlauf,    der  sonst  die 


90  VI.  Kapitel. 

Leitlinie  einer  Hochgebirgsstraße  zu  bilden  pflegt,  vollständig  ignoriert  und  sich 
selbständig  über  die  Höhen,  zuletzt  über  den  Heinzenberg  nach  dem  Vorder- 
rheintal den  Weg  schuf.  Auf  dieser  Strecke  sind  bei  Urmein  und  Portein  Römer- 
münzen  gefunden  worden,  und  wird  in  Seissa  die  Station  Lapidaria  gesucht. 

Eine  Staatsstraße  ersten  Ranges,  auf  der  sich  langandauernder  Verkehr  aller 
Art  bewegt  hat,  mag  diese  Römerstraße  jedoch  überhaupt  niemals  gewesen  sein; 
für  diese  Annahme  spricht  die  geringe  Sorgfalt  des  Baues,  mehr  aber  noch  der 
Umstand,  daß  sich  in  der  Umgebung  der  Splügenstraße  nirgends  Ortsnamen  von 
ausgesprochen  lateinischer  Sprachbildung  finden  lassen,  die  somit  eine  stärkere 
römische  Besiedelung  bekunden  könnten.  Wenn  man  aber  lediglich  in  Erwägung 
zieht,  daß  eben  durch  den  Bau  einer  Straße  über  den  Splügen  auch  damals  eine 
militärische  Verbindungslinie,  wie  sie  kürzer  und  zielgerechter  anderswo  nicht 
zu  erreichen  war,  zwischen  Mailand  und  dem  Bodensee,  also  zwischen  der  mili- 
tärischen Zentrale  Oberitaliens  in  der  späteren  Kaiserzeit  und  der  alten  Augustei- 
schen Rheinfront  geschaffen  wurde,  wird  der  Schluß  gerechtfertigt  sein,  daß  auch 
die  Römer  bei  diesem  Straßenbau  keinen  anderen  Zweck  im  Auge  hatten,  als 
den  Saumweg  in  eine  für  Militärtransporte  praktikable  Bahn  zu  verwandeln.  Der 
Ausbau  der  Splügenstraße  wird  daher  in  die  erste  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts 
nach  Ch.  zu  setzen  sein,  als  damals  gegenüber  den  andringenden  Alemannen  die 
römischen  Streitkräfte  südlich  des  Oberrheins  und  des  Bodensees  aus  dem  Nord- 
ausgang der  rätischen  Übergangslinien  herausdeployieren  mußten. 

Vor  den  beiden  anderen  bündner  Pässen,  die  für  die  Römerzeit  in  Frage 
kommen,  liegt  als  südliches  Eintrittsland  das  heutige  Val  Bregaglia  oder  das 
Bergeil,  die  zum  Gebiet  von  Comum  gehörige  und  von  Clavenna  nach  dem 
Maloja  sich  hinziehende  Bregallia  der  Römer.  Auch  im  römischen  Altertum  war 
dieses  Gebiet  in  ethnographischer  Hinsicht  nicht  südlicher  sondern  alpiner  Boden, 
insofern  dessen  Bewohner,  die  Bergalli,  zu  den  Rätern  und  nicht  zu  den  Kelten 
gehört  haben  müssen.  Diese  Zugehörigkeit  ergibt  sich  aus  den  rätisch  klingenden 
Ortsnamen  im  Bergeil  (Plurs  bei  Chiavenna,  Vicosoprano=Vespran,  Cassacia= 
Cassätsch),  nicht  minder  aber  auch  daraus,  daß  sich  gerade  hier  reformierte 
Gemeinden  italienischer  Zunge  finden.  Wahrscheinlich  saßen  jene  Bergalli  auch 
noch  weiter  östlich  nach  dem  Bernina  zu,  wenigstens  heißt  noch  heute  eine  Alpe 
am  Bernina-Paß  Bregaglia.  Es  ist  nicht  unwichtig,  daß  die  Römer  gerade  dieses 
Stück  Bergland  trotz  seines  anders  gearteten  Volkstumes  bei  ihrer  politischen 
Einteilung  von  Anfang  an  zu  Italien  und  nicht  zu  Rätien  schlugen,  allein  deshalb, 
weil  sie  mit  ihm  den  Schlüssel  zu  den  nördlich  herüberführenden  Pässen  in 
erster  Hand  in  Besitz  behielten.  Da,  wo  heute  das  Schloß  Castelmur  steht  und 
noch  der  Ort  Porta  die  Erinnerung  hieran  bewahrt,  öffnete  sich  zur  Römerzeit 
die  Porta  Bregalliae,  der  eigentliche  Eingang  zum  Südland.  Sobald  in  Nord- 
italien eine  kräftige  staatsbildende  Macht  herrscht,  wird  diese  auch  stets  sich 
gerade  des  Besitzes  von  jenem  Gebiet  zu  versichern  suchen  müssen,  und  so  hat 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  gi 

das  heutige  Königreich  Italien  daher  auch  keinem  anderen  als  dem  scharf- 
blickenden und  durchgreifenden  Napoleon  I.  den  Besitz  des  Bergeil  zu  verdanken. 

Noch  heute  stehen  auf  dem  Julier  die  zwei  alten  Römersäulen,  ein  volks- 
tümliches Zeichen,  daß  einst  der  Weg  über  diesen  Paß  als  Römerstraße  diente. 
Besser  freilich  als  durch  jene  Steine  wird  diese  Tatsache  durch  die  Münzfunde 
entlang  der  Julierstraße  bewiesen,  die  von  Augustus  bis  Konstantius  (f  361  n.  Ch.) 
reichen.  Wenn  man  diese  reiche  Ausbeute  hier  aber  weiterhin  dem  spärlichen 
Vorkommen  solcher  Funde  an  der  Splügen-  und  an  der  Septimer-Straße  gegen- 
überstellt, so  muß  uns  der  Julier  ohne  weiteres  als  der  eigentlich  bevorzugte 
Römerweg  unter  den  bündner  Pässen  erscheinen,  der  die  ganze  Kaiserzeit  hin- 
durch unausgesetzt  die  Hauptstraße  für  den  durch  dieses  Land  ziehenden  Verkehr 
gewesen  ist.  Nicht  bloß  vor  dem  Septimer  wurde  ihm  der  Vorzug  gegeben,  wie 
wir  oben  gesehen  haben,  sondern  ebenso  auch  vor  dem  Splügen;  denn  obgleich 
der  Weg  von  Chiavenna  nach  Chur  über  den  Julier  reichlich  um  ein  Fünftel 
länger  ist  als  derjenige  über  den  Splügen,  auch  die  Paßhöhe  des  Julier  selbst 
höher  als  die  des  Splügen  ist,  und  die  Reise  über  jenen  Paß  noch  dazu  den  An- 
und  Abstieg  über  den  Maloja  und  durch  das  Oberhalbstein  erforderlich  macht, 
blieb  die  Straße  über  den  Julier  trotzdem  der  ausgesprochene  Römerweg  des 
westlichen  Rätiens  wegen  der  Zuverlässigkeit  ihrer  Benutzung,  da  sie  vor  Lawinen 
ganz  geschützt  ist  und  auffallend  lange  schneefrei  bleibt.  Es  ist  daher  auch  nicht 
recht  einleuchtend,  den  Namen  dieses  Passes  von  dem  keltischen  Gotte  Jul  ab- 
zuleiten und  so  hier  mitten  in  alträtisches  Gebiet  keltische  Spuren  zu  pflanzen. 
Trotzdem  würde  dann  aber  noch  zu  entscheiden  sein,  ob  dieser  Namensklang 
besser  in  jener  bekannten  spezifisch  rätischen  Familie  von  Ortsnamen^)  oder  in 
denjenigen  alpinen  Ortsnamen,  die  von  den  römischen  Juliern  herrühren,  unter- 
zubringen ist'^). 

Die  archäologischen  Funde  entlang  der  eigentlichen  Paßlinie  des  Julier 
geben  eine  willkommene  Ergänzung  zu  den  Itinerarien,  die  uns  hier  lediglich 
durch  die  Nennung  des  Namens  Tinnetio=Tinzen  die  sichere  Kunde  davon 
übermitteln,  daß  hier  eben  nur  eine  Römerstraße  gegangen  sein  kann,  deren 
Lauf  daher  ohne  jene  Münzfunde  zunächst  ebensogut  über  den  Septimer  wie 
über  den  Julier  möglich  gewesen  wäre.  Ja,  es  ist  noch  ein  anderer  Umstand 
vorhanden,  der  hier  bei  der  Rekonstruktion  dieser  alten  Römerlinien  zur  Vorsicht 
mahnen  könnte.  Denn  da,  wo  sich  am  Nordabhang  dieser  beiden  Pässe  die 
Straße  mit  dem  einen  Zweig  nach  dem  Julier,  mit  dem  anderen  aber  nach  dem 
Septimer  gabelt,  liegt  der  Ort  Bivio  (Bivium),  unzweifelhaft  ein  römischer  Name, 
der  das  alte  Straßenbild  insofern  wiederspiegelt,  als  von  diesem  Orte  aus  einst 
zwei  Straßen  nach  Süden  abgegangen  seirt  müssen.  Würden  jedoch  die  Itinerarien 
nicht  gebieterisch  nur  eine  Straße  hier  zulassen,  wären  Römerreste  nicht  lediglich 
auf  dem  Julier  zu  finden,  während  solche  auf  dem  Septimer  ganz  fehlen,  und 
wäre    nicht    auch    sonst    erst    der    mittelalterliche    Ursprung    des    Septimers    als 


92  VI.  Kapitel. 

wirklicher  bedeutender  Verkehrsstraße  wissenschaftlich  nachgewiesen^),  so  würde 
also  um  dieser  einen  Tatsache  willen  der  Septimer  mit  dem  Julier  als  Römer- 
straße in  Konkurrenz  treten  können.  Eine  Erklärung  zu  diesem  allen  läßt  sich 
jedoch  schließlich  in  der  Annahme  finden,  daß  man  die  Existenz  des  Septimer- 
wegs  freilich  nur  als  untergeordneter  Verbindung  auch  schon  zu  Römerzeiten 
zugibt.  Man  ist  dann  auch  nicht  genötigt,  den  Ursprung  des  zweifellos  gut 
römisch  klingenden  Namens  des  Septimers  selbst  irgendwo  anders  herzuholen, 
zumal  da  dieser  Name  sich  wie  von  selbst  in  die  vielen  anderen  auf  Zahlen- 
bezeichnungen zurückgehenden  römischen  Namen  einreihen  läßt,  die  gerade  in 
den  Alpen  so  häufig  vorkommen  und  ihre  ganz  natürliche  Erklärung  darin  finden, 
daß  in  einem  Durchzugsland,  wie  es  die  Alpen  für  die  römische  Verwaltung  stets 
in  erster  Linie  geblieben  sind,  die  Entfernungsbezeichnungen  so  besonders  wichtig 
waren.  Wahrscheinlich  hat  dieser  siebente  Meilenstein,  an  dem  der  nach  dem- 
selben bezeichnete  Nebenweg  nördlich  von  der  Hauptstraße  abging,  bei  Casaccia 
gestanden  2'). 

Wahrscheinlich  ist,  daß  die  Julierstraße  dann,  um  weiter  nördlich  nach  Chur 
zu  gelangen,  von  Tiefenkasten  den  Weg  über  die  Lenzer  Haide  einschlug;  schon 
die  Namen  Tiefenkasten  und  besonders  Straßberg  (bei  Churwalden)  deuten  heute 
noch  auf  diesen  alten  Straßenzug.  Chur  selbst  aber  bewahrt  schon  in  seinem 
Namen  nicht  bloß  die  Erinnerung  an  seine  Römergründung,  sondern  noch  dazu, 
daß  es  zeitenweise  Hauptquartier  der  römischen  Imperatoren  gewesen  sein  muß. 
Als  Römerort  entstand  es  zugleich  mit  der  Besitznahme  des  Landes  durch  dieses 
Volk,  und  es  blieb  unausgesetzt  der  Sitz  der  Präsides  dieses  innerrätischen 
Regierungsbezirkes,  deren  eigentlicher  Wohnort  das  Kastell,  der  heutige  Bischofs- 
hof, war.  Wenn  irgendwo  in  den  Bergen,  so  kann  an  dieser  Stelle  selbst  die 
strengste  Kritik  der  Phantasie  gestatten,  sich  hier  dem  römischen  Altertum  nahe 
zu  glauben.  Noch  heute  hat  das  Churer-Kastell,  zu  dem  auch  damals  schon  als 
Krongut  die  Alpen  im  Schanfigg  gehörten,  in  seinem  Grundriß  und  alten  Türmen 
viel  Altrömisches  bewahrt.  Chur  selbst  aber  ist  sich  in  seiner  Größe  und 
Bedeutung  alle  Jahrhunderte  hindurch  fast  ganz  gleich  geblieben,  und  während 
des  Altertums  mag  es  hier  nur  zu  der  Zeit  der  Alemannenkriege  besonders 
lebhaft  zugegangen  sein.  Vieles  andere,  und  nicht  zum  Mindesten  die  Tatsache, 
daß  die  Mehrzahl  der  auf  dem  Julier  gefundenen  Münzen  aus  dem  dritten  Jahr- 
hundert n.  Ch.  stammt,  weist  darauf  hin,  daß  die  bündner  Pässe  gerade  damals 
für  den  römischen  Verkehr  besonders  wichtig  gewesen  sein  müssen. 

Von  Chur  nördlich  laufen  nun  alle  Straßen,  vom  Lukmanier  bis  zur  Albula 
zu  einem  Strang  vereinigt,  in  gestreckter  Rinne  zum  Bodensee  herab.  Sicher 
ist,  daß  der  römische  Hauptstraßenzug  hier  auf  dem  rechten  Rheinufer  lief;  denn 
an  diesem  Ufer  finden  sich  nicht  nur  die  auf  die  alten  Straßen  hinweisenden 
Ortsnamen  Altenstadt  bei  Rankweil  und  weiter  nördlich  Straß  und  Götzis^ä), 
sondern    auch    die    alten    Stationen   der  Itinerarien   selbst,  Maggia    und    Clunia, 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  93 

schauen  hier  noch  in  Ruinen  hervor.  In  Schaan,  dem  alten  Maggia,  auf  der 
Mitte  des  Weges  zwischen  Chur  und  Bregenz,  wo  das  breite  Rheintal  sich  nach 
Süden  zu  zur  Talstraße  verengt,  ist  die  viereckige  Befestigung  mit  ihren  zwölf 
Fuß  dicken  Mauern  und  den  acht  Türmen  bloßgeigt  worden,  während  die  Station 
Clunia  in  Brederis  bei  Rankweil,  wo  gleichfalls  eine  römische  Niederlassung 
ausgegraben  wurde,  gesucht  wird.  Es  ist  aber  auch  wahrscheinlich,  daß  von 
Ragatz  aus,  wo  die  von  Süden  kommende  Verbindung  über  den  Walensee  nach 
Turicum  (Zürich)  und  Vindonissa  westlich  abzweigte,  schon  zur  Römerzeit  auch 
noch  eine  zweite  Straße  nach  dem  Bodensee  am  westlichen  Rheinufer  entlang 
bestanden  hat.  Jedenfalls  deuten  die  auch  auf  dieser  Rheinseite  sich  findenden 
Ortsnamen  wie  Altenhof  bei  Buchs,  Sax,  Lienz,  Oberried,  Monthgen  (ursprünglich 
Montiggl)  und  Altstädten  auf  römische  Bewohnung  hin,  während  derartig  geformte 
Namen  südlich  Ragatz  in  der  Calanda  ganz  fehlen.  Am  Bodensee  selbst  war 
naturgemäß  das  dem  Austritte  dieser  von  Süden  kommenden  Verbindungen  dicht 
vorliegende  Gestade  von  Brigantium,  der  bevorzugte  Punkt  römischer  Ansiedelung. 
Der  ursprüngliche  Sitz  römischer  Befestigung  in  Bregenz  war  die  dortige  Ober- 
stadt, und  das  Ortsbild  ähnelt  hier  derart  demjenigen  am  Churer  Kastell,  daß 
man  fast  annehmen  könnte,  die  Festsetzung  wäre  an  beiden  Orten  von  ein  und 
demselben  Befehlshaber  angeordnet  worden.  Die  bürgerliche  Niederlassung  der 
Römer  in  Brigantium  stieg  dagegen  später  nach  dem  Ölrain  auf  der  Rhein- 
ebene hinab. 

Wenn  wir  von  der  Nordsüdlinie  Comum,  Paßhöhe  des  Julier  und  Bregenz 
aus  weiter  nach  Osten  gehen,  betreten  wir  ein  Gebiet,  über  das  alle  römische 
Verkehrsgeschichte  schweigt.  Es  ist  dies  das  südlich  von  den  Bergamasker- 
Alpen,  Adamello  und  Brenta,  nördlich  von  den  Allgäuer  und  Lechtaler  Alpen 
begrenzte,  und  östlich  bis  zu  der  oberen  Etsch  und  dem  Innlauf  zwischen  Finster- 
münz und  Landeck  sich  erstreckende,  einem  Viereck  gleichende  Gebirgsstück, 
das,  abgesehen  von  der  problematischen  Linie  über  den  Arlberg,  während  der 
Römerzeit  kein  Straßenzug,  auch  kein  solcher  zweiter  Ordnung,  durchzogen  haben 
kann.  Hier  befinden  wir  uns  recht  eigentlich  inmitten  des  geschlossenen  Kernes 
des  rätischen  Volkes.  In  dieser  Gegend  hat  das  Volk  der  Räter,  wohl  der  römi- 
schen Herrschaft  unterworfen  und  mit  ihrer  Sprache  überzogen,  aber  sonst  wenig 
von  äußeren  Einflüssen  berührt,  am  ungestörtesten  das  Altertum  durchdauert; 
denn  weder  durchgehende  Verkehrsbeziehungen  noch  wirtschaftliche  Reizmittel 
konnten  hier  die  Herren  des  Gebirges  dazu  verlocken,  jene  hohen,  eintönigen 
Gebiete  zu  erschließen.  Von  allen  den  Straßenlinien,  die  seit  dem  Mittelalter 
der  Reihe  nach  sich  aus  diesen  Gebirgszügen  herausgehoben  haben,  die  über 
den  Tonal,  über  das  Wormser  Joch,  über  die  Albula,  Flüela  und  über  den 
Ofen -Paß,  finden  wir  zur  Römerzeit  nicht  die  geringsten  Andeutungen,  und  nur 
bis  an  den  südlichen  Rand  dieses  Gebietes  ist  von  Mediolanum  aus,  analog  wie 
nach  Nordwesten   in   das  Tal   des  Toce,  auch  hier  nach  Nordosten   hin,    in    die 


94  VI.  Kapitel. 

Bergamasker  Alpen  und  in  das  Veltlin,  römisches  Wesen  eingedrungen.  Wir 
wissen  dies  aus  den  Römerresten  von  Cividate,  Rogno  und  Clusone  im  Berga- 
masi<er  Gebiet,  besser  aber  noch  aus  dem  heutigen  Völkerbild,  das  gerade  auf 
dieser  Strecke  des  südlichen  Abhanges  der  Alpen  ganz  echtes  Italienertum  zeigt. 

Nur  der  in  dem  nördlichen  Teile  dieses  Gebietes  gelegene  Übergang  über  den 
Arlberg  erfordert  auch  für  die  Römerzeit  eine  Klarstellung  seines  Wesens.  Die 
Arlberglinie  wurzelt  in  ihren  südlichen  Zugängen  in  der  den  Paß  des  Reschen- 
scheideck  übersetzenden  Straße,  und  diese  wieder  in  dem  südlichen  Teile  der 
Brennerlinie,  so  daß  wir  hiermit  auch  schon  für  die  Römerzeit  in  das  große 
System  der  Straßen  des  östlichen  Rätiens  eintreten.  Die  Straße  über  das  Reschen- 
scheideck  läuft  von  Süd  nach  Nord  zunächst  im  Tal  der  Etsch  bis  Meran  stets 
im  Gleise  von  nach  dem  Brennerübergang  zuführenden  Linien,  und  erst  von 
Teriolis  aus  macht  sie  sich  selbständig,  um  weiter  durch  das  Vintschgau  die  Etsch 
bis  zur  Quelle  aufwärts,  und  dann  das  Inntal  hinab  nach  Landeck  zu  gelangen, 
um  hier  sich  zu  überlegen,  welche  Fortsetzung  sie  nun  sich  am  besten  zu 
wählen  habe. 

Daß  durch  das  Vintschgau  eine  schon  in  der  ersten  römischen  Kaiserzeit 
angelegte  regelrechte  Staatsstraße  geführt  hat,  bezeugt  ein  Meilenstein,  der  im 
Vintschgau  bei  Rabland  gefunden  wurde  und  zu  dem  weiterhin  als  Seitenstück 
noch  ein  zweiter  bei  Feltre  gefundener  Meilenstein  mit  gleicher  Inschrift  tritt. 
Der  Wortlaut  dieser  Steine  (corpus  inscriptionum  latinarum  V  Nr.  8002  und  3) 
ist  klar  und  deutlich:  „Der  Kaiser  Klaudius  hat  die  via  Claudia  Augusta,  die  sein 
Vater  Drusus  schon  gelegentlich  der  von  ihm  ausgeführten  Eroberung  der  Alpen- 
länder gebahnt  hatte,  ausgebaut  vom  Po  aus  (so  steht  auf  der  Rablander  Meilen- 
säule, während  auf  der  von  Feltre  „von  Altinum  aus"  steht)  bis  nach  der  Donau". 
In  diesen  Inschriften  liegen  ebenso  viele  Offenbarungen  wie  Rätsel.  Auffallen 
muß  bei  diesen  Zeugnissen,  daß  sie  präziser,  eindringlicher  und  übereinstimmender 
als  irgendwelche  andere  Meilensteine  in  den  Alpen  diesen  Straßenbau  verkünden, 
auffallen  die  weite  Spanne  des  Weges,  von  der  sie  reden  und  ebenso  gegen  die 
Gepflogenheit  das  Fehlen  der  Angabe  eines  genauen  Zielpunktes  im  Norden,  auf- 
fallen aber  ganz  besonders  die  Wahl  der  Ausgangsbasis  im  Vergleich  zu  dem 
Zielpunkt;  denn  bei  der  Straßenführung,  wie  sie  durch  die  Fundorte  jener  beiden 
Meilensteine  konstatiert  ist,  wird  ja  nicht  eine  Nord -Süd -Linie,  sondern  eine 
das  ganze  Alpengebiet  durchquerende,  von  Südost  nach  Nordwest  laufende 
Diagonallinie  fertig.  Da  nun  allerdings  von  Landeck  aus  nördlich  gerechnet  alle 
und  jegliche  Funde,  die  eine  direkte  Fortsetzung  dieser  Staatsstraße  auch  nur 
wahrscheinlich  machen,  fehlen,  und  außerdem  auch  diese  ganze  Route  auf  den 
Itinerarien  überhaupt  nicht  erscheint,  so  liegt  der  Schluß  natürlich  sofort  auf  der 
Hand,  daß  dieser  Bau  von  Landeck  aus  nördlich,  so  wie  ihn  wenigstens  die 
Meilensteine  verkünden,  falsch  projektiert  war  und  deshalb  überhaupt  unvoll- 
endet blieb. 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  95 

Aber  damit  ist  das,  was  diese  Steine  reden,  noch  durchaus  nicht  erschöpft; 
denn  sie  werfen  trotz  alledem  ein  helles  Licht  auf  die  ganze  damalige  Verkehrs- 
konstellation. Nicht  von  Süden,  von  Verona,  sondern  von  Südosten,  von  Alti- 
num  aus,  und  nicht  über  den  Brenner,  sondern  über  den  Reschenscheideck  wird 
jene  Straße  gelegt,  und  der  Ton  der  Inschriften  läßt  keinen  Zweifel,  daß  dieses 
Straßenprojekt  zunächst  wohl  durchdacht  gewesen  ist  und  seine  ganze  Ausführung 
als  eine  Großtat  gelten  sollte.  Damals  war  eben  das  venetianische  Tiefland  mit 
einem  Schlage  ein  wichtiges,  handelsmächtiges  Land  geworden,  und  daher  pen- 
delten auch  nach  dorthin,  wo  dieses  lag,  alle  die  Verkehrsstraßen,  die  jetzt  neu 
in  Aufnahme  kamen,  während  andererseits  dem  Verkehr  nach  Norden,  nach  der 
Donau,  am  Anfang  der  Kaiserzeit  in  der  Hauptsache  noch  nicht  das  Ziel  über  den 
Brenner  nach  dem  heutigen  Bayern  zu  innewohnte,  sondern  dieser  vielmehr  nach 
denjenigen  Strichen  nördlich  hinauf  strebte,  wo  die  römische  Organisation  am 
eifrigsten  bei  der  Arbeit  war,  nach  Augsburg  und  nach  der  Gegend  des  Boden- 
sees. Die  Erscheinung  aber,  daß  jene  beiden  Gebiete,  Venetien  und  das  südliche 
Schwaben,  sich  im  Verkehr  gegenseitig  suchen,  findet  sich  auch  weiter  noch  im 
Lauf  der  Geschichte  und  natürlicherweise  dann,  wenn  gerade  diese  beiden  Ge- 
biete politisch  und  wirtschaftlich  in  Blüte  gestanden  haben.  Nichts  aber  beweist 
mehr  die  Vollendung  der  römischen  Staatskunst  als  daß  diese  damals  auch  sofort 
das  vorliegende  Bedürfnis  erkannte  und  ihm  kräftig  entgegenkam.  Die  Straßen- 
legung  des  Drusus  wird  auf  den  Inschriften  der  Steine  zunächst  als  grundlegend 
genannt,  und  es  ist  hier  wohl  an  den  rätischen  Feldzug  selbst  zu  denken,  in 
dessen  Verlauf  jener  mit  seinem  Heere  vom  Vintschgau  aus  nach  dem  Bodensee 
durchstieß,  während  Klaudius  dann  diese  militärisch  möglich  gewordene  Linie 
durch  eine  Straße  festzufügen  suchte.  In  den  ersten  Zeiten,  in  denen  es  hier 
geschichtlich  hell  wird,  scheint  überhaupt  für  die  von  Süden  kommenden  Römer 
die  Richtung  über  das  Reschenscheideck  beachtenswerter  als  diejenige  nach  dem 
Brenner  hin  gewesen  zu  sein;  denn  nach  jener  zu  lag  vor  allem  das  alte  Maja 
(Meran),  ein  Vorort  der  Räter,  und  besonders  anfangs  während  der  Zeiten  ihrer 
passiven  Verteidigung  mögen  die  Römer  ebenso  sehr  von  hier  wie  vom  Eisaktal 
aus  der  Feinde  gewärtig  gewesen  sein.  Auch  die  Dispositionen  des  Katulus  beim 
Empfang  der  Cimbern  zogen  in  gleicher  Weise  die  Anmarschlinie  der  Feinde 
von  Meran  wie  vom  Brenner  selbst  her  in  Rechnung.  Als  dann  aber  bei  dem 
Straßenbau  des  Klaudius  die  Wahl  der  römischen  Ingenieure  tatsächlich  auf  das 
Reschenscheideck  fiel,  mögen  weiterhin  als  lokale  Gründe  dabei  mitgewirkt  haben, 
daß  der  Reschenpaß  leichter  passierbar  war  und  die  dort  ansässige  Bevölkerung 
gründlicher  befriedet  gewesen  sein  mag  als  diejenige  im  Brennergebiet. 

So  begleiten  uns  denn  auch  auf  dem  ganzen  Wege  das  Vintschgau  entlang 
klare  und  unklare  Spuren  davon,  daß  dieses  während  der  Römerzeit  ein  be- 
wohntes Gebiet  gewesen  ist.  Auf  die  Toll — Teleonum,  die  Eingangspforte  der 
Römer  bei  Meran  folgt  die  Fundstätte  bei  Rabland,  dann  die  Station  Nocturnum, 


96  VI.  Kapitel. 

das  heutige  Naturns.  Im  Mittelpunkt  liegt  dann  Schlanders,  wo  noch  im  fünften 
Jahrhundert  nach  Ch.  sich  der  Heilige  Severin  niederzulassen  für  gut  befand, 
und  unweit  von  diesem  Ort  ward  bei  Laas  gleichfalls  einst  ein  römischer  Meilen- 
stein, der  aber  wieder  verloren  ging,  aufgefunden.  Besonders  läuft  aber  durch 
das  ganze  Vintschgau  bis  Mals  eine  ununterbrochene  Reihe  von  Fundstätten  von 
Römermünzen.  Das  neben  Mals  liegende  Glurns  soll  von  gloria  abgeleitet  sein, 
auch  macht  sein  Grundriß  einigermaßen  römischen  Eindruck;  doch  müssen  hier 
bessere  Zeugnisse  abgewartet  werden,  um  auch  den  Ursprung  dieses  Ortes  auf 
die  Römer  zurückführen  zu  können.  Von  Mals  nördlich  beginnt  nun  allerdings 
der  für  diese  Straßenführung  sichere  Boden  zunächst  einigermaßen  zu  wanken. 
Im  weiteren  Verlaufe  haben  wir  zwar  noch  Münzfunde  bei  Nauders,  Serfaus  und 
Ried,  auch  ein  Fund  römischer  Waffen  bei  Ladis  ist  wahrscheinlich,  und  die 
Ortsnamen  selbst  wie  Nauders  (Oenotrium)  Pfunds,  Serfaus  und  Obladis  machen 
ganz  den  Eindruck,  als  habe  sie  die  römische  Sprachbildung  in  den  Händen 
gehabt;  aber  alle  diese  Anzeichen  würden  doch  die  Vermutung,  eine  Römerstraße 
sei  hier  hindurch  bis  Landeck  gelaufen,  nicht  derart  stützen  können,  wie  die 
Funde  bei  Landeck  selbst,  die  dort  eine  römische  Ansiedelung  sicherstellen. 

Hier  liegen  die  Orte  Perfus  (per  flumen),  Perjen  (per  Oenum)  und  Lötz. 
Der  bei  Perjen  gelegene,  recht  bezeichnend  benannte  Götzenacker  hat  dort  eine 
reiche  Ausbeute  römischer  Kleinfunde  und  nicht  zum  mindesten  von  Münzen 
ergeben,  die  beachtenswerter  Weise  zumeist  aus  dem  ersten  und  zweiten  Jahr- 
hundert nach  Ch.  stammen.  Läßt  man  ferner  die  in  der  Nähe  liegende,  heute  noch 
in  instruktiven  Resten  vorhandene,  vom  Austritt  des  schluchtartigen  Loetztales 
direkt  nach  dem  Nordufer  des  reißenden  Inn  laufende  Grenzmauer  als  römisch 
gelten,  so  ergibt  sich  durch  dieses  dann  tatsächlich  eine  Situation,  nach  der  hier 
unter  Benutzung  der  nördlichen  Bergwälle  und  des  Innstromes  eine  vollständige 
Abschließung  des  Punktes  Landeck  gegen  Nord  und  Ost  nach  Art  des  beliebten 
römischen  Absperrungssystems  erreicht  worden  wäre.  Dieses  Befestigungswerk 
könnte  jedoch  auch  erst  später,  als  die  Grenzen  von  den  Germanen  durchbrochen 
wurden,  in  das  Werk  gesetzt  worden  sein;  es  ist  aber  ebensogut  möglich,  daß 
die  Römer  bei  der  Klaudinischen  Organisation  zunächst  hier  Halt  machten,  um 
schließlich  die  ursprünglich  über  den  Arlberg  beabsichtigte  Straße  nunmehr  am 
südlichen  Innufer  entlang  über  den  Fernpaß  oder  die  Scharnitz  nach  der  Ebene 
nördlich  der  Alpen  hinüberzuleiten. 

Hier  bleibt  aber  trotzdem  noch  die  Frage  offen,  in  wie  weit  sich  in  der 
Richtung,  die  Drusus  einschlug  und  die  auch  Klaudius  ursprünglich  zu  nehmen 
beabsichtigt  haben  mag,  also  über  die  Vorarlberger  Übergänge  nach  Brigantium 
hinüber,  ein  von  den  Römern  benutzter  Straßenzug  nachweisen  läßt.  Auch  hier 
hat  zweifellos  im  Laufe  der  römischen  Jahrhunderte  ein  Lokalverkehr  stattgefunden, 
und  es  liegt  zunächet  nahe,  für  diesen  zuerst  an  den  Arlberg  zu  denken.  Doch 
ist   auch   hier  Vorsicht   am    Platze.     Denn   nicht   der   geringste    Römerfund   ist 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  97 

zwischen  der  Trisanna-Mündung  und  Bludenz  gemacht  worden,  und  auch  die 
rätischen  Ortsnamen  sind  hier  viel  weniger  zahlreich  als  die  nachfolgenden 
deutschen.  Im  Gegensatz  hierzu  weisen  aber  gerade  für  die  ältesten  Zeiten  die 
Anzeichen  merkwürdigerweise  mehr  auf  einen  Verkehr  durch  das  Paznaun  nach 
dem  Montafon  hinüber.  Hier  findet  sich  eine  Fülle  rätischer  Namen,  die  diese 
Täler  schon  in  den  ältesten  Zeiten  als  gut  bewohnt  erscheinen  lassen,  im 
Besonderen  aber  im  Montafon  die  für  einen  alten  Straßenzug  symptomatischen 
Ortsnamen  Kreuzgaß  und  an  dem  Punkte,  wo  die  Hier  in  das  Haupttal  bei 
Bludenz  hinaustritt,  Stallär,  nicht  minder  auch  haftet  einwärts  im  Tale  an  dem 
Orte  Lorünz  die  bei  dem  Fehlen  aller  anderen  alten  Nachrichten  nicht  zu  unter- 
schätzende Kunde,  daß  hier  eine  Stadt  untergegangen  sein  soll. 

Der  Brenner  ist  vom  Westen  der  Alpen  aus  gerechnet  der  letzte,  von  Osten 
aus  gerechnet  der  erste  Alpenübergang,  der,  um  über  das  ganze  Gebirge  zu 
kommen,  nur  den  An-  und  Abstieg  über  einen  einzigen  Kamm  nötig  macht. 
Muß  ihm  dies  schon  gegenüber  allen  östlich  von  ihm  gelegenen  Übergängen 
besondere  Wichtigkeit  verleihen,  so  treten  weiterhin  noch  verschiedene  andere 
günstige  Umstände,  wie  gute  Wegbarkeit,  geringe  Höhe,  bequeme  Witterungs- 
verhältnisse auf  der  Paßhöhe  selbst  hinzu,  um  den  Verkehr  über  den  Brenner 
zu  erleichtern.  Dasjenige  aber,  was  den  Brenner  vor  allen  anderen  Alpenüber- 
gängen auszeichnet,  ist,  daß  die  eigentliche  Brennerstraße  d.  h.  die  Linie  Sterzing — 
Innsbruck  sozusagen  das  Herz  eines  weitverzweigten  Verbindungsnetzes  von 
Gebirgsstraßen  bildet,  die  sämtlich  von  Nord  oder  Süd,  West  oder  Ost  in  dieses 
einmünden.  Zunächst  laufen  vom  italienischen  Tiefland,  von  der  Strecke  von 
Brescia  bis  Venedig  aus,  alle  Verbindungslinien  energisch  nach  der  Brennerstraße 
zusammen.  Die  Straße  durch  Juidicarien  im  Tale  des  Chiese,  die  Linie  des 
Gardasees  und  der  Sarka  und  östlich  diejenige  aus  dem  Val  Sugana  sammeln 
sich  sämtlich  in  Trient;  bei  Franzensfeste  mündet  dann  von  Osten  die  Straße 
durch  das  Pustertal,  nachdem  sie  vorher  noch  die  Ampezzaner  Straße  in  sich 
aufgenommen  hat  und  bei  Sterzing  die  von  Meran  kommende  Jaufenlinie. 
Ebenso  laufen  dann  aber  auch  in  Innsbruck  wiederum  nicht  nur  die  Straße  vom 
Arlberg,  sondern  auch  sämtliche  von  der  ganzen  nördlichen  Alpenfront  von  Füssen 
bis  Traunstein  nach  Süden  zielende  Verbindungen  zusammen.  So  übt  die  eigent- 
liche Brennerlinie  gewissermaßen  eine  Herrschaft  über  das  Verkehrsleben  weiter 
Gebiete  aus,  und  beruht  hierauf  auch  die  unverwüstliche  Kraft,  die  gerade  das 
Leben  auf  der  Brennerstraße  durch  alle  Zeiten  bewährt  hat.  Der  Gotthard  ist 
erst  seit  sechshundert  Jahren  in  Gebrauch  und  selbst  der  altberühmte  Sankt 
Bernhard  im  modernsten  Sinne  nur  ein  Übergang  zweiter  Ordnung,  während 
die  Brennerlinie  dagegen  seit  dem  römischen  Altertum  bis  heute  stets  eine 
Verkehrslinie  erster  Ordnung  geblieben  ist. 

Allein  für  die  erste  römische  Kaiserzeit  trifft  diese  Erscheinung  nicht  ganz 
zu.     Daß  der  Brenner,  so  weit  wir  zurückblicken  können,   stets   ein   mehr  oder 

Scheffel,   Vcrkebrsgescbichte  der  Alpen.     I.Band.  7 


98  VI.  Kapitel. 

weniger  in  Gebrauch  befindlicher  Übergang  gewesen  sein  muß,  erscheint  fast 
überflüssig  zu  sagen ;  aber  eine  römische  Verbindungsstraße  ersten  Ranges  wurde 
er  doch  erst  am  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  nach  Gh.,  während  schon  Jahr- 
hunderte vorher  andere  Übergänge  in  seiner  Nachbarschaft,  die  später  in  ihrer 
Wichtigkeit  zurüclcgingen,  wie  die  Reschen-Straße  und  die  Linie  über  den 
Pontebba-Paß,  mit  Straßen  von  Staatswegen  überzogen  worden  waren.  Der 
Grund  hierfür  ist  jedoch  ganz  einleuchtend;  denn  bis  zu  dieser  Zeit  fehlte  eben 
die  Voraussetzung  für  die  Wichtigkeit  der  Brennerlinie  im  weiteren  Sinne,  die 
in  der  Ermöglichung  einer  kurzen  Verbindung  zwischen  dem  Süden  und  dem 
Norden  der  Alpen  beruht.  Während  der  ersten  zwei  Jahrhunderte  unserer  Zeit- 
rechnung war  das  heutige  Oberbayern  wohl  römische  Provinz,  aber  im  Vergleich 
zu  Norikum  und  Pannonien,  wo  sich  das  römische  bürgerliche  Leben  zahlreich 
niederließ,  und  noch  mehr  im  Vergleich  zu  dem  Oberrhein,  an  dem  wiederum 
der  militärische  Schwerpunkt  lag,  blieb  Vindelicien  zunächst  ein  weniger  wichtiges 
Land  und  für  den  Handel  nur  ein  Absatzgebiet  zweiter  Ordnung.  Auch  für  den 
Verkehr  nach  Augsburg  mögen  anfangs  die  bündner  Pässe  genügt  und  somit  die 
römische  Verwaltung  hier  zunächst  keine  Veranlassung  gehabt  haben,  bei  der 
Öffnung  der  zum  Brennersystem  gehörigen  Verbindungen  mitzuhelfen. 

Aus  diesem  Grunde  finden  wir  auf  der  Strecke  von  Verona  über  Bozen 
nach  Regensburg  anfangs  nur  eine  allmähliche,  etappenweise  Eröffnung  der 
Verkehrslinien,  bis  diese  schließlich  auch  hier,  als  sich  die  militärische  Konstellation 
in  der  späteren  Zeit  vollständig  verändert  hatte,  von  Staatswegen  in  einen  festen 
Rahmen  gefaßt  werden  mußten.  Als  die  Römer  zu  Anfang  des  zweiten  Jahr- 
hunderts vor  Ch.  hier  in  das  italienische  Vorland  der  Brennerstraße  eintraten, 
saßen  von  Brixia  aus  nach  Osten  in  der  Ebene,  aber  auch  noch  bis  in  das 
Gebirge  selbst  hinein  als  geschlossener  Stamm  die  keltischen  Cenomanen,  die 
deshalb  auch  als  die  Gründer  der  Städte  Verona  und  Brixia  genannt  werden. 
Es  ist  anzunehmen,  daß  diese  Kelten  sich  der  nördlich  von  ihnen  wohnenden 
Räter  erfolgreicher  als  es  z,  B.  nördlich  des  Komer-Sees  der  Fall  gewesen  ist, 
zu  erwehren  imstande  gewesen  sind;  denn  wir  finden,  daß  auch  ihre  Erben, 
die  Römer,  sich  dann  hier  um  Verona  und  den  Garda-See  herum  besonders  rasch 
heimisch  gefühlt  haben.  Schon  den  römischen  Dichtern  KatuU  und  Virgil  waren 
diese  Striche  ein  ganz  wohlbekanntes  Land,  und  das  Aufblühen  des  östlich 
gelegenen  venetianischen  Tieflandes  mag  weiterhin  das  übrige  dazu  getan  haben, 
so  daß  wir  nicht  viel  später,  wie  es  auch  in  der  Kreiseinteilung  des  Augustus 
seinen  Ausdruck  findet,  auch  im  heutigen  Trentino  einem  mit  aller  römischen 
Kultur  überzogenen  Landstrich  begegnen.  Am  Garda-See  sind  Sermione, 
Toscolano  und  Maderno  alte  Römerpunkte  und  wie  in  den  späteren  Zeiten  so 
wurden  auch  schon  damals  durch  die  Ufer  des  Sees  zwei  verschiedene  politische 
Bezirke,  die  Stadtgebiete  von  Brixia  und  Verona,  westlich  und  östlich  von- 
einander geschieden,  und  ebenso  wie  bei  Beginn  des  Miuelalters  das  lombardische 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  QQ 

Volkstum,  so  nahm  auch  damals  schon  das  Römertum  von  Süden  her  über  den 
verkehrsfreundlichen  Spiegel  des  Sees  denselben  Weg  hinauf  nach  Riva,  Arco 
und  Nago,  und  bis  tief  nach  Juidicarien  (Bad  Comano)  hinein. 

In  jene  Zeit  fällt  auch  die  Entwickelung  Veronas  als  Hauptortes  der  um- 
liegenden Landschaft,  wenn  auch  keineswegs  schon  als  südlicher  Basis  der 
Brennerstraße.  Nicht  nur  die  Straße  aus  dem  Gebirge  sondern  vor  allem  die- 
jenigen von  Brixia,  Cremona,  Mantua,  Hostilia  und  Vicetia  liefen  in  Verona 
zusammen,  in  dessen  Umgebung  das  erste  römische  Kaiserhaus  begütert  war. 
Das  augenfälligste  Zeichen  der  Blüte  dieser  Römerstadt  ist  ihr  Amphitheater, 
dessen  Umfang  so  gewaltig  ist,  daß  die  Bevölkerung  jenes  Striches  in  der  römi- 
schen Kaiserzeit  mindestens  ebenso  zahlreich  wie  in  der  Jetztzeit  gewesen  sein 
muß.  Diejenigen  Eigenschaften  Veronas  dagegen,  die  sich  später  in  seiner  Ge- 
schichte viel  eindringlicher  geltend  machen,  nämlich  die,  als  Bollwerk  des  Süd- 
landes gegen  nördliche  und  östliche  Feinde  zu  dienen,  treten  bei  dieser  Stadt 
erst  im  Verlauf  des  dritten  Jahrhunderts  nach  Ch.  in  die  Erscheinung;  von  jener 
Zeit  an  hat  dann  die  Stadt  diejenige  Bestimmung  überkommen,  die  sie  auch 
heute  wieder  im  jungen  Königreich  Italien  besitzt. 

Die  Stellen  der  Römerfunde  auf  der  ganzen  Linie  der  Etschfurche  von 
Verona  bis  nördlich  nach  Trient  sind  so  zahlreich,  daß  sie  die  römische  Ansicht, 
nach  der  dieses  Land  heimatlicher  italienischer  Boden  war,  vollkommen  berech- 
tigt erscheinen  lassen.  Besonders  Roveredo  muß  hier  belebt  gewesen  sein. 
Nördlich  von  Trient  zeigen  sich  die  Funde  dann  aber  nicht  mehr  in  dem  gleichen 
reichen  Maße,  eine  Erscheinung,  die  auch  ganz  der  damaligen  Sachlage  entspricht; 
denn  erst  Trient,  die  letzte  wirkliche  Stadt,  die  dem  Römer  auf  einer  Reise  nach 
Norden  bis  Augusta  wieder  begegnete,  war  nach  der  kraftvollen  römischen  Auf- 
fassung das  nördlichste  Bollwerk  Italiens  gegen  das  Gebirge  und  wurde  daher 
auch  von  Anfang  an  durchaus  als  Festung  behandelt.  Schon  die  Römer  haben 
die  beiden  dominierenden  Punkte  der  Stadtumgebung  Trients,  östlich  der  Etsch 
die  heutige  Cidatelle  und  westlich  den  Dos  Trento,  regelrecht  befestigt  gehabt. 
Wie  in  den  alten  Städten  Italiens  hat  dann  auch  hier  das  nie  aussetzende  Leben 
Schicht  um  Schicht  den  Boden  der  Stadt  erhöht;  denn  Trient  ist  ein  Ort,  der 
sich  stets  als  besonders  widerstandsfähig  gegen  den  Wechsel  der  Zeiten  bewiesen 
hat,  weil  ihm  die  auf  seiner  natürlichen  Lage  beruhende  Wichtigkeit  durch  nichts 
genommen  werden  kann. 

Hier  laufen  zunächst  östlich  die  Straße  aus  dem  Val  Sugana  und  westlich 
die  von  Juidicarien  in  dem  Etschtal  zusammen ,  besonders  aber  münden  auch 
dicht  nördlich  Trients  nicht  nur  die  weitverzweigten  Talsysteme  des  Nons-  und 
Sulzberges  sondern  auch  gegenüber  das  lange  Avisiotal  in  das  Haupttal  ein.  In 
diesen  Landschaften,  die  nur  von  Trient  aus  bequem  zugänglich  sind,  hat  jene 
Stadt  daher  stets  ein  weites  und  unbedingt  sicheres  Hinterland  besessen,  das  ihr 
von   keiner  Seite   her  erfolgreich   streitig  gemacht  werden   konnte.      Von  allen 

7* 


JOO  VI.  Kapitel. 

diesen  Zugangslinien  war  aber  damals,  und  besonders  in  den  ersten  Zeiten,  das  Su- 
ganatal,  die  bei  weitem  wichtigste,  wichtiger  sogar  als  selbst  die  Etschstraße  zwischen 
Verona  und  Trient,  weil  jene  den  Verkehr  aus  dem  reichen  Venetien  auf  dem 
kürzesten  Wege  in  die  Berge  hineinzuleiten  vermochte.  Deshalb  wurde  auch 
die  erste  große  römische  Staatsstraße  nach  Norden  durch  dieses  Tal  gelegt  und 
das  Suganatal  gehörte  damals  der  ganzen  Verkehrskonstellation  nach  somit  noch 
viel  entschiedener  zum  Süden  als  in  den  späteren  Zeiten.  Der  Eintritt  in  das- 
selbe geschah  zu  Römerzeiten  südlich  allein  vom  Tal  der  Piave  aus  über  Feltre, 
und  von  dort  aus  erfolgte  daher  auch  die  Erschließung  der  kleinen  Seitentäler 
der  Brenta.  Der  Ortsnamen  Primör  im  Cismonetal  mag  wohl  hier  tatsächlich 
von  Norden  aus  gesehen  den  äußersten  Römerposten  bezeichnet  haben.  Charak- 
teristisch für  die  Art  der  Römer  ist  es  aber  besonders,  daß  man  im  langen 
Avisiotal,  so  nahe  es  auch  der  römischen  Kultur  lag,  abgesehen  von  einigen 
Münzfunden  von  römischen  Spuren  nicht  das  Geringste  entdecken  kann.  Die 
nur  von  Trient  aus  zugängliche  langgestreckte  Furche  dieses  Tales,  das  sich  ohne 
irgendwelchen  bequemen  Übergang  in  den  abgelegenen  Hochalpen  verliert,  konnte 
bei  der  Armut  ihres  Bodens  auf  die  Römer  durchaus  nicht  einladend  wirken, 
während  ganz  im  Gegensatz  hierzu  die  westlich  gegenüberliegenden  Gebiete  des 
Nons-  und  Sulzberges  zu  diesen  Zeiten  ganz  besonders  belebt  und  kultiviert 
gewesen  sein  müssen. 

Wir  betreten  hier  ein  Gebiet,  das  damals  hinsichtlich  seiner  Kultur  im  Ver- 
gleich zu  den  anderen  benachbarten  Alpengebieten  ein  ganz  besonderes  Gesicht 
zeigt.  Mag  auch  die  wohnlichere  Sohle  dieser  Täler,  die  Nähe  Trients,  der  gute 
Zugang  des  Nons-  und  Sulzberges  von  dort  aus  und  die  durch  das  Mendel- 
gebirge  bis  zum  Gangkofel  und  den  östlichen  Flügel  der  Ortler- Alpen  nach 
Norden  geschützte  Lage  dieser  Gebiete  mit  in  Rechnung  gezogen  werden,  so 
liefert  dieses  alles  doch  immerhin  noch  keine  genügende  Erklärung  dafür,  wes- 
halb sich  gerade  hier  während  der  Römerherrschaft,  im  Gegensatz  zu  den  späteren 
Zeiten,  ein  solch'  auffallend  entwickeltes  Leben  gezeigt  hat.  Noch  im  vierten 
Jahrhundert  ist  hier  das  Gebirgsland  weit  und  breit  bewohnt  und  von  Kastellen 
übersät.  Nicht  nur  die  Funde  des  Altertums  sind  von  Trient  bis  nördlich  nach 
Fondo  und  westlich  fast  bis  zur  Höhe  des  Tonal  fast  ebenso  zahlreich  wie  auf 
der  Strecke  Verona -Trient,  sondern  auch  die  Straßenzüge,  die  sich  der  Verkehr 
hier  von  selbst  geschaffen  hat,  heben  sich  aus  diesen  einzelnen  Fundstellen  noch 
ganz  deutlich  heraus.  Von  der  Rocchetta,  der  römischen  Straßensperre  abgehend, 
lief  im  Altertum  die  Verbindung  auf  dem  rechten  Ufer  des  Noce  über  Denno 
und  Flavon  nach  dem  Hauptort  Cles,  dem  alten  Anaunia,  um  dann  von  hier  in 
der  Rinne  der  heutigen  Straße  nach  Ossano  und  ebenso  nördlich  nach  Fondo 
zu  ziehen.  Die  Ortsnamen  haben  in  diesen  Gebieten  aber  sämtlich  ein  derartig 
eigenartiges  Gepräge,  daß  hier  für  das  Altertum  ein  besonders  gearteter  Völker- 
bodensatz vorausgesetzt  werden  muß.    Ziehen  wir  nun  für  die  Erklärung  desselben 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  101 

die  Verehrung  des  Saturnus,  des  alten  rätischen  Hauptgottes  in  Rechnung,  die 
gerade  in  diesem  Gebiet  der  alten  Anaunier  besonders  zu  Hause  war,  so  müssen 
wir  den  Volksstamm,  der  hier  ursprünglich  wohnte,  zunächst  als  einen  Teil  der  alten 
Räter  ansprechen.  Diese  Anaunier  mögen  jedoch,  nördlich  von  der  Hauptmasse 
der  Räter  getrennt,  schon  von  altersher  sich  einigermaßen  in  anderer  Weise,  be- 
sonders aber  vielseitiger  als  ihre  Stammesgenossen  entwickelt  und  sich  deshalb 
auch  mit  der  römischen  Eroberung  friedlicher  auseinandergesetzt  haben.  Wahr- 
scheinlich haben  diese  Gebiete,  zu  Zeiten  der  Römer  zugleich  abseits  und  ge- 
schützt, aber  auch  den  Quellen  der  südlichen  Kultur  näher  gelegen,  damals  ver- 
hältnismäßig ein  größeres  Bild  des  Wohlstandes  als  heutzutage  gezeigt,  da  sie 
teils  durch  den  Egoismus  der  Feudalherren  teils  als  unbeachtetes  und  zurück- 
gesetztes Nebenland  herabgekommen  sind. 

Die  Tatsache,  daß  bis  zum  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  nach  Ch.  keine 
eigentliche  römische  Brennerstraße  existierte  und  der  Verkehr  dagegen  die 
Neigung  zeigte,  von  der  Stelle,  wo  heute  Bozen  liegt,  nordwestlich  das  Etschtal 
hinauf  den  Weg  über  das  Reschenscheideck  oder  den  Jaufen  zu  wählen,  spiegelt 
sich  nun  auch  in  dem  Straßenbild  wieder,  das  während  der  ersten  Zeiten  der 
Römerherrschaft  das  Innere  Tirols  gezeigt  hat.  In  dem  von  Trient  bis  Bozen 
sich  erstreckenden  Teile  des  Etschtales  mag  zunächst  die  ursprüngliche  Bevölke- 
rung von  den  Römern  stärker  vernichtet  worden,  dieser  Zerstörung  dann  aber 
auch  der  römische  Ansiedler  einigermaßen  zahlreicher  gefolgt  sein,  weil  gerade 
in  dieser  Gegend  die  lateinische  Sprachbildung  in  den  Ortsnamen  besonders  rein 
hervortritt  (Tramin,  terminus;  Planitzing,  planities;  Campan,  campus;  und  weiter 
nördlich  im  Etschland  Missian,  Terlan,  Eppan,  Vilpian  u.  a.).  Die  älteste  Straßen- 
richtung ist  hier  von  Trient  aus  nördlich  nicht  wie  dann  später  auf  dem  östlichen 
Etschufer,  sondern  westlich  am  Fuße  des  Mendelgebirges  entlang  über  Kurtatsch, 
Tramin  und  Planitzing  zu  suchen,  um  dann  etwa  da,  wo  heute  die  untere  Burg 
von  Appianum  (Hocheppan)  römisches  Gemäuer  anzeigt,  nach  Nordwesten  um- 
zubiegen. Auch  Pfatten,  in  der  späteren  Zeit  ein  wichtiger  Garnisonort  Rätiens, 
später  dann  nur  ein  sumpfumgebenes  Weindorf,  liegt  hier  auf  dem  westlichen 
Etschufer.  Die  Brücke  aber,  die  Drusus  in  der  Nähe  jener  Biegung  der  alten 
Landstraße  über  die  Etsch  baute,  sollte  den  Römern  von  dort  aus  den  Eintritt 
in  das  Innere  Rätiens  eröffnen,  und  deshalb  entstand  auch  später  an  dieser  Stelle 
zum  Schutze  des  Uferwechsels  das  Kastell  Formicaria,  der  Vorläufer  von  Sig- 
mundskron. 

Dagegen  ist  von  Bozen  selbst  als  eines  wirklich  stadtartigen  Ortes  zur 
Römerzeit  noch  wenig  zu  spüren.  Ständig  lag  auf  seinem  Boden  wahrscheinlich 
nur  ein  römisches  Landgut  an  der  Stelle  des  heutigen  Ansitzes  Maretsch,  und 
auch  was  sonst  eben  hier  bei  Gries  und  Bozen  (Pradein,  Troyenstein,  Ried  als 
Talsperre  des  Sarntales  u.  a.  m.)  sich  mit  mehr  oder  weniger  Sicherheit  als 
Römerwerk  ansprechen  läßt,  braucht  um  nichts  Anderem  als  um  Festhaltung  der 


102  VI.  Kapitel. 

Gegend  und  Sicherung  der  Straßenführung  willen  angelegt  worden  zu  sein.  Als 
unmittelbare  Folge  der  Erbauung  der  ganzen  Brennerstraße  als  Staatsstraße  unter 
Septimius  Severus  wurde  dann  aber  von  Trient  ab  der  den  Zugang  zu  dieselbe 
bildende  Straßenteil  folgerichtig  auf  das  linke  Etschufer  gelegt,  an  dem  dann 
auch  für  alle  späteren  Zeiten  die  Hauptstraße  haften  geblieben  ist.  Hier  erscheint 
uns  demnach  an  Stelle  des  heutigen  Neumarkt  die  Römerstation  Endide  (Name 
Schloß  Enn)  und  das  regelrecht  als  Straßenkastell  benutzte  Castellum  vetus  (oder 
foederis)  =  Castell  Feder.  Überhaupt  muß  bei  der  Rekonstruktion  der  Bozener 
Gegend  während  der  Römerzeit  festgehalten  werden,  daß  diese  Landstriche  erst 
vom  Beginn  des  Mittelalters  an,  dann  aber  unausgesetzt,  eine  wichtige  ethno- 
graphische und  politische  Grenzzone  gewesen  sind,  eine  Tatsache,  die  jetzt  hier 
weit  und  breit  der  Gegend  ihren  Charakter  aufgeprägt  hat.  Für  die  Römer 
gabelten  sich  am  Einfluß  des  Eisak  in  die  Etsch  jedoch  nur  die  Straßenzüge 
nach  Sabiona  (Sähen,  Klaußen)  und  Castrum  Majense,  und  es  befand  sich  hier 
nur  ein  Stationspunkt  wie  jeder  andere,  aber  nicht  mehr. 

So  richtete  sich  auch  die  erste  Kolonisation  der  Römer  von  selbst  in  und 
bei  Meran,  das  schon  ein  Hauptplatz  der  alten  Räter  gewesen  war,  ein.  Auch 
hier  machen  die  Münzfunde  wahrscheinlich,  daß  bei  der  Eröffnung  des  Verkehrs 
vom  Süden  her  zunächst  die  vorgeschichtliche  Richtung  über  Andrian  und 
Prissian  rechts  der  Etsch  eingeschlagen  wurde,  und  erst  in  der  späteren  Kaiser- 
zeit dann  außerdem  eine  dem  heutigen  Straßenbild  entsprechende  Verbindung 
auf  dem  linken  Ufer  von  Gries  bei  Bozen  bis  Meran  in  Gebrauch  genommen 
worden  ist. 

Die  Erscheinung,  weshalb  Meran  im  Gegensatz  zu  Bozen,  das  doch  ebenso 
wie  jenes  an  der  Straße  nach  dem  Reschen  lag,  schon  von  Urzeiten  her  als 
bedeutender  Ort  bestanden  hat,  erklärt  sich  durch  die  Tatsache,  daß  hier  bei 
Meran  eine  wichtige  und  seit  vorgeschichtlicher  Zeit  begangene  Paßstraße,  der 
Jaufen,  von  Norden  aus  in  das  Etschtal  einmündet.  Die  wirkliche  Bedeutung 
Merans  ist  stets  mit  der  Wichtigkeit,  die  der  Weg  über  den  Jaufen  innerhalb 
des  Straßennetzes  Tirols  besaß,  Hand  in  Hand  gegangen,  und  da  derselbe  in  den 
ältesten  Zeiten  begangen  gewesen  sein  muß,  erscheint  daher  auch  damals  schon 
Meran,  während  wiederum  dieser  Ort  seit  den  letzten  Jahrhunderten  des  Mittel- 
alters infolge  der  Vereinsamung  der  Jaufenstraße  an  Wichtigkeit  eingebüßt  hat. 
Daß  aber  das  alte  römische  Maja  in  erster  Linie  nur  eine  Jaufenstadt  gewesen 
ist,  beweist  seine  Lage  abseits  der  Etsch  (an  der  Stelle  von  Ober-Mais)  unmittelbar 
am  Eingang  des  Jaufentales,  für  den  die  dicht  daneben  liegende  Zenoburg  als 
Sperre  diente,  während  oben  auf  der  Höhe  das  Römerkastell  Teriolis  nach  echt 
römischer  Art  nicht  nur  jene  Passage,  sondern  auch  diejenige  nach  der  Toll 
hinüber  zu  bewachen  hatte. 

Der  Jaufenübergang  selbst  ist  wie  kein  anderer  Paß  in  den  Alpen  das 
Beispiel  einer  vollwichtigen  Verbindung  zweiter  Ordnung.     Daß  er  sich  zu  einer 


Die  RömerMraßen  der  Alpen.  103 

Verbindung  erster  Ordnung  hätte  entwickeln  können,  dieses  haben  ein  für  allemal 
die  für  diesen  Teil  der  Alpen  ganz  respektable  Höhe  des  Passes  von  2094  m, 
mehr  aber  noch  die  Notwendigkeit  verhindert,  für  die  Durchquerung  des  ganzen 
Alpenwalles  bei  der  Benutzung  des  Jaufens  selbst  mindestens  noch  eine  zweite 
Kammhöhe  überschreiten  zu  müssen.  Dagegen  konnte  der  Jaufen  in  vorzüglicher 
Weise  für  den  Lokalverkehr  zwischen  dem  bei  Meran  südlich  in  die  Breite 
gehenden  Etschtal  und  dem  eigentlichen  Brennergebiet  dienen,  und  dies  um  so 
mehr,  als  gerade  die  Gegend,  wo  er  nördlich  bei  Sterzing  ausmündet,  der  eigent- 
liche geographische  Mittelpunkt  jener  ganzen  Gebirgszone  ist.  So  sehen  wir 
denn  auch  den  Jaufen  gerade  in  solchen  Zeiten  besonders  in  Aufnahme  kommen, 
in  denen  der  Verkehr  weniger  aus  dem  Innern  Tirols  herausgegangen  ist  und 
deshalb  auch  weniger  Tatkraft  auf  die  Bezwingung  jener  schwierigen  Wegstelle 
der  Brennerlinie  nördlich  Bozens  verwendet  zu  werden  brauchte,  wie  dies  auch 
in  den  ersten  Zeiten  der  Römerherrschaft  der  Fall  war.  Daß  dieser  Paßweg 
überhaupt  im  Altertum  in  Gebrauch  gewesen  ist,  würde  abgesehen  von  den 
rätisch-romanischen  Ortsnamen  seiner  Umgebung  (Verdins,  Saltaus,  Six,  Plan  im 
äußersten  Pfelders)  allein  schon  der  Klang  seines  Namens  selbst  beweisen;  viel 
besser  verrichten  dies  jedoch  die  Funde  von  Römermünzen  entlang  seines  Weges 
und  ebenso  auch  die  Tatsache,  daß  das  Mittelalter  diesen  Paß  ohne  weiteres  zum 
Gebrauch  übernahm.  Über  das  freilich  noch  nicht  genügend  geklärte  Verhältnis, 
in  dem  die  Reschenstraße,  die  über  den  Jaufen  und  die  Brennerstraße  während 
der  Römerzeit  zu  einander  gestanden  haben,  würden  vielleicht  gerade  Grabungen 
auf  der  Jaufenhöhe,  die  noch  nicht  stattgefunden  haben,  das  rechte  Licht  ver- 
breiten können. 

Es  ist  bislang  noch  kein  stichhaltiger  Grund  zu  finden  gewesen,  um  die 
systematische  Chaussierung  der  Brennerstraße  von  Bozen  bis  Innsbruck  durch 
die  Römer  früher  als  zu  den  Zeiten  des  Kaisers  Septimius  Severus  setzen  zu 
können,  ebenso  aber  auch  schon  hervorgehoben  worden,  daß  es  nicht  anders 
möglich  erscheint,  als  daß  bereits  vor  diesem  Zeitpunkt  der  ungeregelte  römische 
Verkehr  auf  jener  Strecke  sich  Bahnen  gesucht  hat.  Dicht  nördlich  Bozen,  wo 
sich  damals  der  Eisak  zwischen  Waidbruck  und  Blumau  durch  eine  enge  un- 
gebahnte Schlucht  hindurchzwängte,  lagen  hier  für  die  von  Süden  einsetzende 
Erschließung  der  Berge  die  größten  Schwierigkeiten.  An  dieser  Stelle  nun  haben 
die  Römer  ihre  Straße  von  Steg  und  Rentsch  im  Eisaktale  aus  auf  das  hohe 
Rittenplateau  hinaufgeführt,  und  das  unbedeutende  Dorf  Rentsch  bei  Bozen  hat 
somit  als  Straßenpunkt  mindestens  einen  ebenso  berühmten  Ursprung  wie  Bozen 
selbst.  Jener  über  Unterinn  und  Lengmoos  geführte  Höhenweg  holte  demnach 
weit  und  gründlich  aus  und  die  alten  Straßenteile  sind  hier  auch  heute  noch  in 
einem  unverwüstlich  gutem  Zustande  —  bezeichnenderweise  aber  nur  in  größerer 
Entfernung  von  den  Ortschaften,  weil  diese  das  Plattenpflaster  der  alten  Straße 
in  ihrer  Nachbarschaft  zu  Bausteinen  weggenommen  haben.     Dieser  alte  Straßen- 


104  VI.  Kapitel. 

zug  hat  während  der  letzten  Jahrhunderte  infolge  der  Erschließung  des  Kunters- 
weges  zwar  seine  alte  Wichtigkeit  verloren,  aber  es  ist  doch  immerhin  bemerkens- 
wert, daß  im  Jahre  1891  aller  Verkehr  wie  von  selbst  wieder  in  die  alte  Rittenstraße 
einlenkte,  als  damals  der  älteste  und  mächtigste  Feind  der  Gebirgsstraßen,  das 
Wasser,  hier  die  modernen  Verkehrslinien  zerstört  hatte,  und  auch  der  Kunters- 
weg  unten  in  der  Talsohle  infolge    Überschwemmung   ungangbar  geworden  war. 

Zu  Römerzeiten  war  ein  besonders  wichtiger  Straßenpunkt  Waidbruck,  nicht 
bloß  weil  hier  die  Straße  vom  Ritten  wieder  die  Talsohle  erreichte,  sondern 
weil  auch  damals  schon  von  diesem  Punkte  aus  der  Hauptzugang  zu  den  Höhen 
links  des  Eisak  abging.  Hier  liegt  über  Waidbruck  Kastelruth.  Wenn  ein  Ort 
durch  die  Lage,  wo  er  gegründet  ist,  römischen  Geist  verrät,  so  ist  es  das  Kastell 
auf  dem  Kasteiruther  Schloßberg.  Nicht  nur  die  Rittenstraße  gegenüber  liegt 
unter  seinen  Blicken,  sondern  es  ist  ebenso  auch  der  Vorort  für  die  ganze  östliche 
Umgebung;  denn  nach  dorthin  laufen  alle  Verbindungen  vom  Tierser  bis  Groedener 
Tal  zusammen  und  so  konnte  von  hier  aus  die  kleine  Garnison  bequem  den 
Polizeidienst  in  der  ganzen  weiten  Umgebung  besorgen.  Von  der  Trostburg 
läuft  heute  noch  eine  mächtige,  wie  für  die  Ewigkeit  gebaute  Straße  stundenlang 
in  schnurgerader  Richtung  über  Kastelruth  auf  die  Seiser  Alm,  deren  Äußeres 
auf  den  ersten  Blick  ihr  sehr  hohes  Alter  anzeigt,  und  solange  nicht  der  Beweis 
geführt  ist,  daß  jene  Straße  später  gebaut  ist,  kann  auch  sie  für  Römerwerk  an- 
gesprochen werden,  zumal  da  gerade  in  diesen  Gebieten  alle  Besitz-  und 
Siedelungsverhältnisse  seit  den  ältesten  Zeiten  bis  in  das  letzte  Jahrhundert  ganz 
unverändert  geblieben  sind,  und  der  alte  Römerort  Kastelruth  den  wirtschaftlich 
besonders  wertvollen  Besitz  der  Seiser  Alm  niemals  mit  einer  anderen  Gemeinde 
dieses  Hochplateaus  geteilt  hat. 

Der  nächste  Römerpunkt  nördlich  an  der  Brennerstraße  ist  das  von  der 
Natur  wie  zur  Straßenbefestigung  geschaffene  Klaußen.  Es  hat  den  Anschein, 
daß  dieses  Klaußen  d.  h.  vielmehr  das  alte  Sabiona  oberhalb  desselben  in  rätischer 
und  römischer  Zeit  der  Sitz  der  Gewalthaber  über  das  ganze  Eisaktal  gewesen 
ist.  Jedenfalls  lassen  auch  hier  die  Ortsnamen  im  Haupttale  bis  nach  Franzens- 
feste hinauf  nicht  bloß  auf  rätische,  sondern  ebenso  auch  aufzahlreiche  römische 
Besiedelung  schließen  (Pallaus,  Milland  b.  Brixen,  Villanders,  Gudifann).  Auf 
jener  Linie  geben  die  Itinerarien  zwischen  Waidbruck  und  der  römischen  Station 
Vipitenum  (Sterzing)  außerdem  noch  eine  Station  an,  die  aber  nur  mit  einer 
Wegezahl  bezeichnet  ist.  Man  müßte  diese  schon  an  sich  an  die  Einmündung 
der  Pustertallinie  legen,  wenn  dieses  nicht  auch  außerdem  durch  Römerfunde 
an  der  Ladritzscher  Brücke  und  in  Franzensfeste  selbst  noch  wahrscheinlicher 
gemacht  würde.  Wenn  aber  diese  Station  an  jener  Straßen-Vereinigung  gelegen 
hat,  so  lag  sie  jedenfalls  dicht  an  derselben  und  nicht  südlich  bei  Brixen,  auf 
dessen  Boden  jeglicher  Römerfund  fehlt.  Schließlich  deutet  aber  die  Tatsache, 
daß  diese  Station  namenlos  war,  und  demnach  noch  kein  eigentlicher  Flecken  an 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  105 

der  Einmündung  der  Pustertallinie  in  die  Brenneriinie  zu  finden  ist,  an,  daß  zu 
Römerzeiten  alle  diese  Linien  vorwiegend  nur  dem  militärischen  aber  nicht 
eigentlich  einem  regeren  Handelsverkehr  gedient  haben  können. 

Der  Kultur-Übergang  zwischen  Süd-  und  Nordland,  der  auch  heute  bei 
Franzensfeste  sich  ausspricht,  hat  auch  schon  in  der  römischen  Zeit  bestanden, 
und  es  kann  daher  von  hier  aus  auf  das  nördlicher  gelegene  Tirol  nur  auf  eine 
geringe  römische  Besiedelung,  die  allein  um  der  Verwaltung  des  Landes  willen 
dort  ausdauern  mußte,  geschlossen  werden.  Weiter  nördlich  finden  sich  römische 
Wohnstellen  dann  zunächst  bei  Mauls  und  Sterzing,  und  es  ist  bei  letzterem  zu 
bemerken,  daß  hier  besonders  die  Ortsnamen  am  Eingang  des  heute  ganz  seitab 
liegenden  Pfitscher-Tales  sehr  alte  Siedelung  verraten.  Am  Südausgang  der 
eigentlichen  Brennerhöhe  künden  dann  die  Namen  Straßberg  und  Pontigl  wiederum 
den  alten  Straßenzug  an.  Die  römische  Heerstraße  mag  von  Anfang  an  freilich 
nicht  anderswo  als  über  die  eigentliche  Paßhöhe  am  Brennersee  vorbei  gelegt 
worden  sein;  nicht  ausgeschlossen  erscheint  es  aber  auch,  daß  vor  und  nach  der 
Zeit  der  ersten  römischen  Eroberung  auch  ein  die  heutige  Paßhöhe  vermeidender 
Übergang  westlich  über  das  Sattel-Joch  eben  von  Pontigl  aus  in  Gebrauch 
gewesen  ist.  Neben  der  Lokaltradition  spricht  hierfür  der  echt  römische  Name 
der  ältesten  Pfarre  dieser  ganzen  Gegend,  von  Venaders,  das  direkt  am  Nord- 
abstieg des  Sattel-Joches  liegt,  und  von  wo  aus  dann  die  Römerstraße  tatsächlich, 
die  Schlucht  zwischen  Gries  a.  Br.  und  Stafflach  vermeidend,  über  Nößlach  in 
gerader  Linie  auf  Steinach  weiter  gelaufen  ist.  In  Matrei,  dem  Matrejum  der 
Itinerarien,  hat  sich  manches  vereinigt,  um  hier  noch  das  Bild  der  ältesten  Zeit 
deutlicher  als  anderswo  vor  Augen  treten  zu  lassen.  Der  in  der  Jetztzeit  zurück- 
gegangene Ort  mag  im  Altertum  überhaupt  der  einzige  größere  Wohnplatz  des 
ganzen  Silltales  gewesen  sein,  und  so  erklären  sich  auch  die  vorgeschichtlichen 
Funde  an  dieser  Stelle,  die  ein  Vorhandensein  rätisch-etruskischen  Volkstums 
nördlich  des  Brenner  sicherstellen.  Die  Wichtigkeit  Matreis  aber  hat  von  alters- 
her  darauf  beruht,  daß  nördlich  des  Ortes,  wo  die  Sill  wiederum  in  eine  un- 
wegsame Schlucht  eintritt,  zwei  Straßenzüge  auseinandergehen.  Der  eine  derselben 
hat  ganz  ausgeprägt  die  Richtung  nach  dem  Unterinntal  (Hall),  während  der 
andere  nach  dem  Oberinntal  (Innsbruck)  zielt^-^).  Der  Name  Altenstadt  für  den 
nördlichsten  Teil  Matreis,  noch  mehr  aber  die  Römerfunde  an  dieser  Stelle 
zeigen  es  an,  daß  hier  ein  römischer  Posten  mit  der  Front  nach  Norden  gelegen 
haben  muß.  Von  hier  aus  ging  als  älteste,  vorgeschichtliche  Straße  diejenige 
nach  Hall  nordwärts  ab,  während  in  die  heutige  Brennerrichtung  der  Straßenbau 
erst  von  den  Römern  gelegt  worden  ist.  Das  systematisch  langsame  Vorschreiten 
der  Römer  nach  Norden,  dem  dann  erst  der  Straßenbau  selbst  folgte,  läßt  sich 
dann  auch  noch  an  der  Lage  von  Veldidena  erkennen,  das  dicht  an  der  Schwelle 
der  Talsohle,  nicht  aber  an  der  unbedingt  wichtigsten  Stelle  des  späteren  Inns- 
brucks d.  h.  am  Innübergang  angelegt  worden  ist. 


106  VI.  Kapitel. 

Wenn  heute  die  nördliche  Fortsetzung  der  Brennerlinie  infolge  der  Erbauung 
der  Eisenhahn  für  allen  Verkehr  überwiegend  den  Weg  durch  das  Unterinntal 
eingeschlagen  hat,  um  in  die  nördliche  Ebene  zu  gelangen,  so  berechtigt  dieses 
doch  noch  lange  nicht  zu  der  Anschauung,  diesen  Strang  nun  auch  für  alle  Zeiten 
als  eine  Verkehrslinie  erster  Ordnung  gelten  zu  lassen.  Zu  Beginn  des  Zeitalters 
der  Eisenbahnen  mußte  allerdings  bei  dem  kostspieligen  Bau  dieser  Wege 
natürlicherweise  zunächst  die  leicht  ausführbare  und  sicheren  Gewinn  bringende 
Linie  durch  das  volkreiche  Unterinntal  in  das  Leben  treten,  an  die  sich  dann 
wie  von  selbst  die  eigentliche  Brennerbahn  anschloß.  Hier  entstand  also  das 
Verkehrsbild,  das  wir  jetzt  Glied  für  Glied  zu  einer  großen  Weltlinie,  der 
Brennerbahn,  verbunden  sehen,  abschnittsweise  nacheinander  unter  Rücksicht- 
nahme auf  die  zunächst  liegenden  lokalen  Gesichtspunkte  und  führte  demnach 
zu  einem  Resultat,  das  den  Verkehrslinien  der  früheren  Zeiten  ganz  entgegen- 
gesetzt ist  und  von  dem  wir  auch  nicht  annehmen  können,  daß  es  großen  Ver- 
änderungen und  neuen  Gesichtspunkten  der  Zukunft  standhalten  wird.  Denn 
als  geschichtlich  gleichwertig  existieren  seit  den  ältesten  Zeiten  neben  der  Linie 
durch  das  Unterinntal  noch  zwei  andere  Verbindungen  von  Veldidena  nach 
Norden,  die  Straße  über  die  Scharnitz  nach  Partenkirchen  und  die  über  den 
Fernpaß.  Jede  dieser  drei  Linien  ist  auch  schon  im  Verlaufe  der  Herrschaft 
der  Römer  in  Gebrauch  genommen  worden,  und  hat  eben  das  Vorhandensein 
dieser  zahlreichen  und  bequemen  Verbindungen  durch  die  Voralpenkette  es  den 
Römern  in  erster  Linie  ermöglicht,  das  den  Alpen  hier  vorliegende  und  sich  bis 
zur  Donau  erstreckende  Gebiet  sehr  lange,  und  besonders  trotz  aller  Limesbauten 
viel  länger  als  das  westlich  benachbarte  Dekumatland  festzuhalten. 

Die  kürzeste  und  zielgerechteste  dieser  drei  Linien  ist  die  über  die  Scharnitz, 
nicht  bloß  für  eine  Lokalverbindung  zwischen  Veldidena  und  dem  Austritte  in 
die  nördliche  Ebene,  sondern  auch  im  großen  für  den  Verkehr  zwischen  Verona 
und  Augsburg;  denn  diese  beiden  Orte  erscheinen  durch  eine  Straße  über  den 
Brenner  und  die  Scharnitz  tatsächlich  fast  geradlinig  verbunden.  So  war  es  ganz 
natürlich,  daß  in  dem  Maße  wie  Augsburg  bedeutend  wurde,  auch  gerade  dieser 
Straßenzug  an  Wichtigkeit  gewann,  und  daß  die  Römer  diesen  früher  und 
gründlicher  als  die  beiden  anderen  Linien  gebahnt  und  für  den  militärischen 
Verkehr  benutzt  haben. 

Auf  Zirl  aber,  woselbst  der  eigentliche  nördliche  Anstieg  dieses  Straßenteils 
auf  das  Gebirge  wieder  beginnt,  waren  von  Innsbruck  aus  während  der  Römer- 
zeit zwei  Zugänge  gerichtet.  Der  eine,  ältere,  führte  direkt  von  der  Stelle  des 
ältesten  Veldidena  aus  über  die  römisch  benannten  Orte  Völs  und  Kematen  nach 
dem  Innübergang  von  Perfus  (per  flumen).  Von  letzteren  Orten  ausgehend  hat 
dann  auch  der  römische  Verkehr  im  Stubai  und  selbst  in  dem  heute  ganz  ent- 
legenen Sellrain  angepocht,  während  der  zweite  bequemere  Zugang  nach  Zirl 
über  das  heutige  Hötting  und  Kranebitten  und  entlang  des  linken  Innufers  dann 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  107 

durch  den  Bau  der  Römerbrücke  bei  Innsbruck  selbst  entstanden  ist.  Auf  dem 
nördlichen  Abfall  des  Seefelder  Überganges  finden  sich  dann  Römerspuren,  und 
zumeist  von  ausgesprochen  militärischem  Charakter  in  Scharnitz  selbst  und 
ebenso  zwischen  Mittenwald  und  Partenkirchen.  An  der  Stelle  ihres  nördlichen 
Austritts  in  die  Ebene  zeigt  jene  Scharnitzer  Straße  dann  dasselbe  Gesicht  wie 
die  Brennerstraße  bei  Innsbruck,  insofern  sie  sich  ebenfalls  hier  nach  der 
nördlichen  Richtung  hin  in  verschiedene  Straßenzüge  auseinander  spaltet.  Von 
diesen  Ausstrahlungen  sind  zur  Römerzeit  jedoch  nur  die  beiden  westlichen, 
nach  Augsburg  zielenden,  in  Gebrauch  gewesen,  und  zwar  als  älteste  zunächst 
die  heute  noch  in  ihrer  ganzen  Länge  als  Landstraße  in  Gebrauch  befindliche 
Linie  Partenkirchen — Oberau,  die  dann  von  Schongau  aus  vom  Lech  begleitet 
wird,  während  später  auch  noch  von  den  Römern  die  von  Partenkirchen  westlich 
über  Murnau  und  den  Ammersee  auf  Augsburg  laufende  Straßenlinie  hergestellt 
worden  ist. 

Im  Gegensatz  zu  dieser  Straße  haben  wir  bei  der  Straße  über  den  Fernpaß 
keinen  Anhalt,  daß  dieselbe  sogleich  nach  der  wirklichen  Erbauung  der  eigent- 
lichen Brennerstraße  von  den  Römern  von  Staatswegen  als  besonders  wichtig 
behandelt  worden  wäre.  Dagegen  liegen  genug  Anzeichen  vor,  daß  der  ungeleitete 
Handelsverkehr  des  Römerreichs  schon  sehr  früh  jene  Straße  benutzt  haben  muß, 
und  schon  deshalb  muß  dies  der  Fall  gewesen  sein,  weil  die  Stadt,  die  für  den 
Verkehr  nach  Süden  ganz  besonders  auf  den  Fernpaß  angewiesen  ist,  Kempten, 
schon  im  zweiten  Jahrhundert  nach  Ch.  eine  besonders  große  bürgerliche  Nieder- 
lassung gewesen  ist.  Daß  die  Straße  über  den  Fernpaß  überhaupt  unter  den 
Römern  in  Gebrauch  war,  ist  durch  zahlreiche  Münzfunde  an  ihrem  Nordausgang 
bei  Füssen  und  Reutte  erwiesen;  ebenso  finden  sich  aber  auch  die  Spuren  des 
römischen  Reiseverkehrs  südlich  des  Passes,  und  zwar  sowohl  auf  dem  westlich 
von  Imst  und  Landeck  wie  auf  dem  östlich  von  Telfs  und  Veididena  heran- 
führenden Ausläufer.  Hier  haben  wir  westlich  die  bezeichnenden  Ortsnamen 
Stradt  und  viel  Römerfunde  bei  Tarranz,  während  die  Inschrift  eines  bei  Zirl 
gefundenen  Meilensteines,  allerdings  erst  für  das  dritte  Jahrhundert  nach  Gh., 
hier  sogar  das  Dasein  einer  regelrechten  Römerstraße  von  Bregenz  und  Kempten 
nach  Veididena  sicherstellt,  eine  Tatsache,  die  durch  den  Klang  des  an  dieser 
Linie  liegenden  Ortes  Dormiz  (dormitium)  nur  gestärkt  werden  kann.  Dieses 
Dormiz  ist  der  Vorläufer  des  heutigen  Ortes  Nassereith,  das  jetzt  hier  als  Nacht- 
station dient.  Nur  spiegelt  die  Lage  von  Dormiz  das  Verkehrsbedürfnis  der 
Römerzeit  insofern  klarer  wieder,  als  dieses  allein  an  dem  nach  Veididena 
führenden  Ast  der  Fernlinie  gelegen  ist,  während  an  der  Stelle  des  heutigen 
Nassereith  sowohl  die  von  Landeck  wie'  die  von  Innsbruck  nach  dem  Fernpaß 
zuführenden  Linien  zusammentreffen. 

Für  den  Ausbau  der  von  dem  Bodensee  bis  zum  Inn  über  den  nördlichsten 
Wall  des  Gebirges  führenden  Straßen,  ebenso  wie  für  die  Entwickelung  des  vor 


108  VI.  Kapitel. 

demselben  liegenden  nördlichen  Vorlandes  lassen  sich  während  der  Römer- 
herrschaft drei  bestimmte  Perioden  erkennen,  deren  jede  von  bestimmten  geschicht- 
lichen Ereignissen  ihren  Ausgang  genommen  hat.  Die  erste  begann  mit  der  ersten 
Eroberung  des  Landes,  eine  Periode,  während  der  außer  der  Festlegung  der 
Donaugrenze  und  der  Anlegung  der  wichtigsten  Punkte  (wie  Augsburgs)  hier 
wenig  von  Staatswegen  geschehen  ist,  während  die  zweite  von  der  Annexion  des 
Dekumatlandes  und  mehr  noch  von  der  Unterwerfung  Daciens  durch  Trajan,  die 
auch  aus  der  Ferne  hier  einwirkte,  anhebt.  Es  war  dieses  die  Zeit,  in  der  das 
Römerreich  dazu  kam,  nördlich  der  Alpen  jenen  großen  Kolonnenweg  vom  Ober- 
rhein nach  der  mittleren  Donau  herzustellen,  der  als  solcher,  an  Augusta  und 
Juvavum  vorüber,  nun  auch  Vindelicien  durchquerte.  Von  Anfang  des  zweiten 
Jahrhunderts  nach  Ch.  an  ist  daher  nun  auch  auf  den  von  Süden  auf  diesen 
Kolonnenweg  zuführenden  Linien  regeres  Leben  zu  spüren;  hierzu  gehört  die 
Entwickelung  Kemptens  und  Augsburgs  zu  bedeutenderen  Städten  und  besonders 
das  erste  Entstehen  der  durch  das  Unterinntal  führenden  Römerstraße,  die  dann 
während  des  dritten  und  vierten  Jahrhunderts  eine  ganz  gebräuchliche  Bahn  für 
den  Reise-  und  Lokalverkehr  werden  sollte.  Zwar  war  diese  letztere  Linie  durchaus 
keine  wichtige  Militärstraße,  trotzdem  aber  belebt  und  reichlich  mit  Stationen 
besetzt,  derart,  daß  heute  hier  zwischen  Innsbruck  und  Rosenheim  fast  alle  wich- 
tigen Orte  am  Innufer  den  Anspruch  erheben,  von  Römergründungen  ausgegangen 
zu  sein.  Vor  scharfer  Kritik  hält  von  allen  diesen  noch  am  besten  Schloß  Matzen 
als  die  alte  Römerstation  Masciacum  Stand. 

Die  dritte  Periode,  die  das  bayerische  Vorland  unter  der  Römerherrschaft 
erlebt  hat,  beginnt  dann  aber  nach  den  Markomannenkriegen  Mark  Aureis,  mit 
deren  Ausbruch  Vindelicien,  das'  vorher  zumeist  nur  ein  Durchmarschgebiet 
vom  Rhein  nach  dem  Osten  des  Reiches  gewesen  war,  nun  plötzlich  auch  selbst 
zu  einem  wichtigen  Grenzgebiet  mit  nördlicher  Front  wurde  und  wo  nun  auch 
die  militärische  Verwaltung  fest  durchgreifen  mußte.  Jetzt  wurde,  nachdem  durch 
Septimius  Severus  die  ganze  Brennerstraße  von  Bozen  bis  Augsburg  regelrecht 
ausgebaut  worden  war,  als  militärische  Zentrale  dieses  nördlichen  Vorlandes 
Castra  Urusa  (Pähl  am  Ammersee),  an  der  Stelle,  wo  sich  die  Straße  nach  Augs- 
burg mit  der  westöstlich  ziehenden  Kolonnenstraße  kreuzte,  eingerichtet.  Selbst 
die  Hauptverbindung  nach  dem  nördlichsten  militärischen  Posten  Vindeliciens, 
dem  neu  befestigten  Regensburg,  scheint  damals  nicht  durch  das  Unterinntal  und 
über  Pons  Aeni,  sondern  über  Parthanum  und  Urusa  gelaufen  zu  sein;  denn  die 
Römerspuren,  die  ähnlich  wie  bei  Partenkirchen  und  Füssen  auch  am  Austritt 
jener  ersteren  Richtung  in  die  Ebene,  d.  h.  entlang  des  Innufers  zwischen  Kuf- 
stein und  Rosenheim,  zahlreich  zu  finden  sind,  brechen  nördlich  Pons  Aeni  plötz- 
lich ab.  Ebenso  fehlen  aber  auch  weiterhin  nördlich  alle  stärkeren  Andeutungen 
für  eine  römische  Ortsgründung  in  der  Nähe  des  heutigen  Landshuts,  die  bei 
einer  wichtigeren  römischen  Verbindung  nach  Regensburg  von  Kufstein  aus   an 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  109 

jenem  Orte  schon  des  Isarüberganges  wegen  unbedingt  nötig  geworden  wäre. 
Gerade  deshalb  aber,  weil  beim  Anmarsch  auf  Regensburg  von  Castra  ürusa 
aus  ein  solcher  Uferwechsel  entbehrlich  blieb,  wird  jene  direktere  Linie  —  Aus- 
tritt des  Unterinntals  bis  Regensburg  ~  als  Militärstraße  von  den  Römern  trotz- 
dem wenig  benutzt  worden  sein. 

Die  Straßen  der  Ostalpen. 

Während  in  den  West-  und  Zentralalpen  die  Ausdehnung  des  Gebirges  von 
Süd  nach  Nord  geringer,  das  Massenhafte  und  die  Höhe  der  Berge  aber  größer 
sind,  macht  sich  nunmehr  vom  Brenner  aus  östlich  im  Bild  des  Gebirges  vor 
allem  der  Einfluß  der  von  West  nach  Ost  streichenden  Gebirgsketten  geltend, 
während  außerdem  die  Höhe  der  Berge  selbst  geringer,  die  Ausdehnung  des 
Gebirges  von  Süd  nach  Nord  dagegen  größer  wird.  Dies  ergibt  für  den  Teil 
des  Gebirges,  den  wir  nunmehr  betreten,  auch  von  selbst  eine  andere  Beschaffen- 
heit der  Verkehrswege.  Zwar  haben  die  von  Süden  nach  Norden  das  Gebirge 
durchquerenden  Verbindungen  jetzt  nicht  mehr  nötig,  mit  gewaltiger  Anstrengung 
auf  die  niedriger  gewordenen  Kämme  heranzusteigen;  dagegen  wird  nun  die 
Länge  des  Weges  von  dem  einen  Ziel  zu  dem  anderen  durch  die  Alpen  hin- 
durch größer  und  erfordert  außerdem  stets  noch  den  An-  und  Abstieg  über 
mehrere  Kämme.  Besonders  machen  sich  jetzt  aber  auch  für  die  Gestaltung  des 
Verkehrslebens  neben  den  Nord -Südlinien  stärker  die  innerhalb  des  Gebirges 
zahlreich  und  in  längerer  Ausdehnung  von  West  nach  Ost  streichenden  Ver- 
bindungen geltend. 

So  zeigt  das  Verkehrsnetz  der  Ostalpen,  anders  als  in  den  übrigen  Alpen- 
gebieten, viel  zahlreichere,  aber  auch  viel  kürzere  Glieder,  die  zueinander  in 
lebhafteren  aber  auch  wechselnderen  Beziehungen  stehen.  Besonders  bilden  jetzt 
die  von  Süd  nach  Nord  laufenden  Verbindungen  nicht  mehr  ohne  weiteres  derart 
ein  geschlossenes  Ganze,  daß  die  Ereignisse  an  dem  einen  Ausgange  dieser 
Linien  auch  zugleich  an  dem  entgegengesetzten  zu  spüren  wären,  und  somit  eine 
einzige  Maßregel  über  das  Schicksal  der  ganzen  Verbindung  zu  bestimmen  ver- 
möchte, sondern  diese  Linien  sind  jetzt  vielmehr  lediglich  Straßenrichtungen,  die 
sich  aus  verschiedenen,  fast  selbständigen  Gliedern  zusammensetzen  und  sich 
nur  annähernd  zu  dem  gleichen  Zweck  vereinigen.  Deshalb  mußten  die  zahl- 
reichen und  verschiedenartigen  Straßen  der  Ostalpen  es  auch  dem  Willen  eines 
Einzelnen  viel  mehr  erschweren,  sie  in  ein  bestimmtes  System  zu  fassen;  mehr 
als  anderswo  hat  daher  hier  der  Zufall  oder  die  von  selbst  heraufgekommene 
Entwickelung  der  Zeiten  das  Geschick  der  Straßenzüge  bestimmt. 

Schon  für  die  Zeiten  der  Römer  ist  dies  von  Geltung.  Auch  bei  den 
römischen  Straßenanlagen  in  diesem  Alpengebiet  finden  wir  weniger  die  großen 
Gesichtspunkte,  die  den  Maßnahmen  dieses  Volkes  sonst  eigen  sind.  Auch  im 
römischen  Altertum  sind  in  dem  Raum  zwischen  Brenner-  und  Birnbaumerstraße 


110  VI.  Kapitel. 

alle  Straßenzüge  nur  schrittweise  und  so  entstanden,  wie  es  das  Bedürfnis,  das 
anfangs  zumeist  nur  ein  wirtschaftliches,  später  dagegen  wieder  nur  ein  militäri- 
sches war,  erforderte.  Daher  sind  auch  hier  an  den  Straßen  wohl  genug  römische 
Niederlassungen  aber  viel  weniger  als  anderswo  die  Spuren  zielbewußter  Grün- 
dungen zu  erkennen.  Ein  weiterer  Grund  für  diese  Erscheinung  ist  aber  auch, 
daß  wenigstens  das  südliche  Norikum  bis  zum  Beginn  der  Völkerwanderung 
vielleicht  als  die  ruhigste  und  sicherste  aller  römischen  Alpenprovinzen  gelten 
konnte;  denn  nördlich  hielt  die  Donaufront  von  Regensburg  bis  Carnuntum  und 
östlich  die  ausnehmend  starke  pannonische  Front  zunächst  alle  Stürme  von  diesem 
Lande  ab. 

Daher  konnte  das  norische  Straßenbild,  mehr  noch  als  das  rätische,  seine 
Wurzeln  völlig  in  dem  Handelsland  Venetien  verankern.  Nur  ist  dabei  zu  be- 
denken, daß  die  großen  lohnenden  Absatzgebiete  Venetiens  zur  Römerzeit  weniger 
in  Norikum,  als  vielmehr  in  erster  Linie  genau  im  Osten  und  Süden  jenes  Lan- 
des lagen,  und  Norikum  anfangs  wenigstens  für  Venetien  kein  allzu  fruchtbarer 
Boden  war,  weil  jenem  selbst  wieder  das  nördliche  Hinterland  fehlte.  Erst  nach 
und  nach  hat  sich  der  Verkehr  auch  in  diese  nördlichen  Alpengebiete  gezogen. 
Wie  sehr  daher  zur  Römerzeit  das  Kulturbild  hier  im  Grunde  ein  anderes  war, 
als  später  zu  den  Zeiten,  als  Venetien  zum  zweiten  Male  wieder  im  Mittelalter 
die  Zentrale  des  europäischen  Handels  wurde,  erhellt  sofort  daraus,  daß  zur 
Römerzeit  von  der  im  Tal  der  Piave  nach  dem  Pustertal  ziehenden  Ampezzaner 
Straße  noch  keine  Ansätze  zu  spüren  sind,  während  diese  doch  im  Mittelalter, 
als  Venedig  mit  dem  Gesicht  nach  Norden  wies,  von  allergrößter  Wichtigkeit 
war.  Zur  Römerzeit  genügte  für  den  Verkehr  nach  der  oberen  Donau  zunächst 
vollkommen  die  von  Feltria  durch  das  Suganatal  nach  der  Brennerstraße  ein- 
lenkende Staatsstraße  und  ebenso  auch  die  Ploeckenstraße  in  Verbindung  mit 
dem  westlichen  Teile  der  Pusterlinie.  Im  Tal  der  Piave  selbst  aber  finden  sich 
Römerspuren  nur  in  Belluno  und  nicht  weiter  nördlich  als  bis  Castell  Lavazzo- 
Laebactes.  Überhaupt  ist  das  südlich  der  Karnischen  Alpen  liegende  Bergland, 
das  heute  als  die  Venetianer  Alpen  bezeichnet  wird,  schon  damals  dasselbe  stille 
und  abseits  der  großen  Verkehrsstraßen  liegende  Bergland,  wie  es  auch  fast  zu 
allen  späteren  Zeiten  geblieben  ist;  denn  den  dasselbe  durchziehenden  und  nach 
Norden  gerichteten  Verbindungen  fehlt  durchaus  die  Energie  des  Verkehrs,  da 
jene  Straßen,  wohl  sämtlich  in  das  verkehrsfreundliche  Pustertal  ausmünden, 
von  dort  aus  aber  Schwierigkeit  haben,  eine  zielgerechte  Weiterführung  nach 
Norden  zu  gewinnen. 

Auch  die  älteste  dieser  Paßlinien,  die  Straße  über  den  Ploecken,  besitzt  keine 
andere  Eigenschaft.  Die  Ploeckenstraße,  die  in  geringen  Umwegen  vom  süd- 
lichsten Tagliamento  über  den  Kamm  der  Karnischen  Alpen  und  durch  das 
Gailtal  nach  dem  Drautal  führt,  ist  darum  eine  für  die  Ostalpen  besonders 
charakteristische   Straße,   weil   sie  an  keiner  einzigen   Stelle   der  Straßenlegung 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  111 

ernstliche  lokale  Schwierigkeiten  zu  bereiten  vermag.  Im  Altertum  war  sie  aber 
außerdem  um  deswillen  noch  besonders  wertvoll,  weil  sie  südlich  direkt  in  die  Um- 
gebung von  Aquileja  auslief.  Von  der  Benutzung  der  Ploeckenstraße  schon  vor 
Auftreten  der  Römer  aber  haben  wir  heute  die  untrüglichsten  Zeugnisse  durch 
die  Ausgrabungen  von  Gurina,  einem  Orte  am  Nordabhang  des  Ploecken- Passes, 
wo  die  Funde  bis  in  das  vierte  Jahrhundert  vor  Ch.  zurückgehen.  Diese  Straße 
ist  somit  nach  dem  Stande  der  heutigen  Forschung  neben  der  Straße  über  den 
Birnbaumer  Wald  der  älteste  Alpenweg  der  Ostalpen,  dessen  Kenntnis  Strabo 
und  Polybius  nur  deshalb  entgangen  ist,  weil  eben  die  Gebiete,  nach  denen  die 
Ploeckenstraße  nördlich  zielte,  damals  noch  ganz  unbekannt  waren.  Der  Tatsache 
aber,  daß  diese  Straße  noch  zu  Anfang  des  Kaiserreichs  zwischen  Brenner  und 
Birnbaumer  Straße  der  einzig  begangene  Übergang  der  Ostalpen  gewesen  sein 
kann,  entspricht  es  auch,  daß  als  die  Julier  hier  die  Organisation  in  die  Hand 
nahmen,  hier  als  erster  und  einziger  Straßenpunkt  Zuglio  (Julium  Carnicum),  das 
für  keine  andere  als  nur  für  diese  Richtung  dienen  konnte,  gegründet  wurde.  Von 
einer  eigentlichen  Straßenlegung  weiter  nördlich  über  den  Ploecken- Übergang 
selbst  erfahren  wir  dagegen  damals  noch  nichts,  auch  ist  eine  solche  nicht  wahr- 
scheinlich, da  die  erste  große  Römerstraße,  die  in  den  Ostalpen  in  der  Kaiser- 
zeit nötig  wurde,  nur  eine  solche  von  Venetien  aus  nach  Norikum  sein  konnte. 
Diesem  Bedürfnis  mußte  aber  die  Straße  über  den  Pontebba-Paß  viel  besser 
als  die  Ploeckenstraße  genügen,  da  jene  eine  überwiegend  kürzere  Verbindung 
nach  dem  aussichtsreichen  Mittelpunkte  Norikums,  der  Ebene  von  Virunum,  ge- 
währleistete. Die  Vorzüge  der  Ploeckenstraße,  zuverlässige  Beschaffenheit  des 
Straßenkörpers  und  zielgerechte  Richtung  nach  Norden  bis  zum  Pustertal,  die 
diese  Straße  zu  jeder  Zeit  ganz  besonders  dafür  qualifiziert  haben,  die  Teilstrecke 
einer  für  den  Süden  wichtigen  Militärstraße  nach  Norden  zu  tragen,  kamen  da- 
gegen erst  am  Ende  des  römischen  Kaiserreichs  zur  vollen  Geltung,  als  über 
den  Ploeckenpaß  lediglich  aus  kriegerischen  Rücksichten  eine  vollendete  Militär- 
straße gebaut  wurde. 

Wie  Curia  die  Tochter  des  Julier,  Virunum  die  der  Pontebba-Straße  ist,  so 
kann  man  Aguntum  und  ihre  spätere  Nachfolgerin  Lienz  als  eine  Tochter  der 
Ploeckenstraße  bezeichnen;  denn  diese  mündet,  nachdem  sie  in  Loncium-Mau- 
then  das  Tal  der  Gail  passiert  hat,  dann  weiter  nördlich  in  das  Pustertal  und  in 
den  Bereich  jener  Stadt  ein.  Die  Bedeutung  von  Lienz  weist  nicht  so  sehr  nach 
Norden  oder  nach  der  von  West  nach  Ost  ziehenden  Pustertalstraße,  sondern  süd- 
lich nach  der  Verbindung  mit  Italien;  denn  sobald  die  Ploeckenstraße  stark  in 
Gebrauch  war,  ist  auch  Lienz  bedeutend  gewesen.  Dies  war  aber  nicht  bloß  im 
Mittelalter,  sondern  auch  schon  im  Altertum  der  Fall,  als  Aguntum  gerade  zu 
Ende  der  römischen  Kaiserzeit  als  ein  wichtiger  Ort  erscheint.  Gerade  bei  Lienz 
sind  die  Römerfunde  stets  viel  zahlreicher  gewesen  als  weit  und  breit  in  der 
Nachbarschaft;  denn  schon  damals  fiel  jener  Stadt  die  Aufgabe  zu,  hier  den  regen 


112  VI.  Kapitel. 

von  Italien  heraufgekommenen  Verkehr  nach  den  anderen  drei  Himmelsrichtungen 
zu  verteilen. 

Mit  Aguntum  haben  wir  die  lange  von  Virunum  bis  nach  dem  heutigen 
Franzensfeste  hinziehende  Längslinie  des  Pustertales  betreten.  Die  eigentliche 
Bedeutung  des  Pustertales  für  den  römischen  Verkehr  ergibt  sich  noch  aus  den 
Stationen  des  Antoninischen  Reise-Verzeichnisses,  nach  dem  die  südlich  von  Ita- 
lien über  den  Ploeckenpaß  in  das  Pustertal  gelangte  Straße  bei  Aguntum  mit 
ihren  Stationen  nicht  nach  Norden  oder  Osten  sondern  westwärts  nach  der 
Brennerlinie  abschwenkte.  Das  Pustertal  war  demnach  während  der  Hauptzeit 
der  Römerherrschaft  zunächst  nur  ein  weniger  wichtiges  Verbindungsglied  nach 
der  damals  noch  in  viel  weiterem  Umkreis  nach  Osten  herrschenden  Brenner- 
straße. Seine  größere  Wichtigkeit  für  das  europäische  Verkehrsleben  hat  es  dann 
aber  erst  in  späteren  Zeiten  erlangt,  durch  die  Bestimmung,  die  Beziehungen 
zwischen  dem  Herzen  der  Alpen  und  dem  Osten  Europas  herüber  und  hinüber 
zu  leiten,  und  je  mehr  die  Verhältnisse  in  dem  östlichen  Donauland  auf  ganz 
Mitteleuropa  von  Einfluß  gewesen  sind,  um  so  belebter  ist  daher  auch  das  Puster- 
tal gewesen.  Im  Altertum  beginnt  sich  dieses  Verhältnis  aber  erst  nach  der 
definitiven  Beruhigung  des  Ostens  durch  die  Dacischen  Kriege  Trajans  geltend 
zu  machen,  um  dann  im  Verlaufe  der  Völkerwanderung  immer  stärker  hervor- 
zutreten. Es  ist  deshalb  auch  sehr  bezeichnend,  daß  die  Funde  römischer 
Münzen  im  Pustertal  erst  von  der  Zeit  der  Adoptiv- Kaiser  an  regelrecht  be- 
ginnen. 

Von  Aguntum  aus  lief  die  römische  Pustertallinie,  die  nach  Überschreiten 
der  Kammhöhe  bei  Abfaltersbach  in  dem  breiten,  trockenem  Tal  nirgends  lokale 
Schwierigkeiten  fand,  westwärts  zunächst  nach  Littanum,  das  nur  an  die  Stelle 
des  heutigen  Innichen  gesetzt  werden  kann.  Mehr  als  ein  einfacher,  mit  einem 
Namen  versehener  Stationspunkt  wird  dieses  Littanum  unter  den  Römern  jedoch 
kaum  gewesen  sein,  wie  Innichen  überhaupt  zu  alten  Zeiten  zwar  den  Bereich 
einer  wichtigen  Grenz-  und  Übergangszone  bezeichnet,  als  bewohnter  Ort  jedoch 
stets  wenig  zu  bedeuten  gehabt  hat.  Ein  daselbst  gefundener,  aus  dem  dritten 
Jahrhundert  nach  Ch.  (Gordian)  stammender  Meilenstein  bestätigt  nur  die  An- 
nahme von  der  Benutzung  der  Pustertalstraße  in  den  späteren  römischen  Jahr- 
hunderten. Der  nächste  Römerort,  annähernd  im  gleichen  Abstand  wie  Littanum 
von  Aguntum  entfernt  liegend,  findet  sich  dann  in  Sebatum,  bei  dem  heutigen 
St.  Lorenzen.  Die  Bedeutung,  die  dem  Umkreis  dieses  Ortes  von  altersher 
anhaftet,  findet  sich  heute  in  der  östlich  benachbarten  Stadt  Bruneck  verkörpert. 
Bei  St.  Lorenzen  durchschneidet  zur  Römerzeit  die  von  Süd  nach  Nord  laufende 
Westgrenze  Norikums  das  Pustertal,  und  die  reichlichen  und  häufigen  Römer- 
funde an  der  Stelle  des  Dorfes  Pflaurenz  am  Eingange  des  Enneberger  Tales  geben 
die  genauere  Lage  von  Sebatum  an  dieser  Stelle  an.  Und  während  am  westlichen 
Ende  des  Pustertals  der  Hauptstrang  die  Richtung  nach  Norden  über  die  Ladritz- 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  113 

scher  Brücke  und  Aicha  nahm,  ist  hier  auch  schon  für  diese  Zeiten,  analog  dem 
heutigen  Straßenbiid,  eine  der  ersteren  untergeordnete  Verbindung  nach  Süden 
durch  die  alten  Ortsnamen  Nauders,  Vill  und  Viums  festgelegt. 

Während  nun  im  Verlauf  der  Römerherrschaft  der  südöstliche  Teil  Norikums 
d.  h.  etwa  das  heutige  Kärnten  trotz  seines  durchaus  nordländischer  Charakters 
mit  aller  südlichen  Kultur  überzogen  war  und  beinahe  als  Teil  von  Italien  selbst 
gelten  konnte,  nimmt  im  Gegensatz  hierzu  das  Innere  Norikums,  d.  h.  die  zu 
den  Flußgebieten  der  Salzach  und  der  Enns  gehörigen  Berggegenden,  eine  ganz 
andere,  viel  stillere  Entwickelung.  Die  Übergänge  über  die  Tauern,  die  vom 
Pustertal  ausgehend  schließlich  in  das  Gebiet  des  Inn  und  der  Salzach  hinüber- 
führen, sind,  weil  sie  von  Urzeiten  her  stets  dem  Lokalverkehr  gedient  haben, 
wohl  sämtlich  von  dem  Hauche  alter  Geschichte  umweht.  Für  die  Möglichkeit, 
Nord-Süd-Verbindungen  erster  Ordnung  abgeben  zu  können,  drückt  sie  jedoch 
sämtlich  ein  gleiches,  ungünstiges  Geschick;  dazu  fehlt  ihnen  infolge  der  Höhe 
der  Joche  die  gute  Wegbarkeit  auf  den  Pässen  selbst,  besonders  aber  der  für 
die  Fortsetzung  nach  Süden  wie  nach  Norden  notwendige  direkte,  Umwege  und 
andere  Höhenübergänge  ersparende  Anschluß  an  die  anderen  Nord -Südlinien. 
Während  nördlich  von  Innsbruck  sich  sofort  an  den  Abstieg  vom  Brenner  als 
gute  nördliche  Fortsetzung  die  Linie  Seefeld -Partenkirchen  ansetzt,  muß  selbst 
der  betretenste  der  inneren  Tauernübergänge,  der  Velber  Tauern,  sich  von 
Windischmatrei  auf  und  ab  über  Kitzbühel  und  Saalfelden  nach  der  nördlichen 
Ebene  hinauswinden,  während  ebenso  sein  bequemster  Zugang  von  der  südlichen 
Seite,  die  Ploeckenstraße,  nicht  unmittelbar  an  seiner  Schwelle  bei  Lienz,  sondern 
bereits  ein  ganzes  Stück  östlich  entfernt  das  Tal  der  Drau  betreten  hat.  Daher 
ist  auch  niemals  der  Versuch  wahrzunehmen  gewesen,  über  die  inneren  (west- 
lichen) Tauern- Übergänge  regelrechte  Straßen  zu  legen,  während  es  sich  bei  den 
Übergängen  am  östlichen  Ende  der  Tauernkette,  am  Mallnitzer-  und  Radstädter 
Tauern,  freilich  anders  verhält.  Hier  hat  die  Möglichkeit,  diese  Linie  bequemer 
und  lohnender  nach  der  Kärntner  Zentrale  Villach- Klagenfurth  auslaufen  lassen 
zu  können,  eher  ein  solches  Straßenprojekt  aufkommen  lassen;  natürlich  konnte 
dies  aber  nur  in  solchen  Zeiten  geschehen,  wenn  die  Straßenbautätigkeit  gerade 
mit  besonderer  Energie  in  den  Ostalpen  einzusetzen  Grund  hatte. 

Wie  zu  aller  Zeit  ist  auch  zur  Römerzeit  der  natürliche  nördliche  Vorort 
des  ganzen  Tauernsystems  die  Stadt  Juvavum- Salzburg,  von  wo  aus  die  Zugangs- 
linien fächerförmig  nach  Südwesten,  nach  dem  Salzachtal,  das  wiederum  die 
Schwelle  der  Tauernübergänge  bildet,  abgehen.  Salzburg  selbst,  an  einer  der 
wohnlichsten  Stellen  des  Nordrandes  der  Alpen  gelegen,  schützt  seinerseits  wieder 
dieses  südwestlich  von  ihm  gelegene  Hinterland,  welch'  letzteres  ihm  von  der 
Natur,  ähnlich  wie  Trient  seine  Nebentäler,  als  bleibendes  Herrschaftsgebiet  ge- 
schenkt ist.  Dieses  Hinterland  von  Juvavum  ähnelt  zu  Römerzeiten  in  seinem 
Geschick  dem  Teile  des  zwischen  dem  Julier   und  der  Reschenstraße  gelegenen 

Sc  h  crfel,  Verkebrsgescbichte  der  Alpen.     I.Band.  8 


114  VI.  Kapitel. 

Rätiens;  denn  auch  jenes  ist  damals  bis  tief  in  die  Zeiten  der  Völkerwanderung 
hinein  stets  ein  abgelegenes,  der  Geschichte  entzogenes  Gebiet  geblieben.  Auch 
Juvavum  selbst  finden  wir  zur  Römerzeit  mit  keiner  Kunde  irgend  eines  ge- 
schichtlichen Ereignisses  verknüpft;  um  so  sprechender  tritt  uns  dagegen  das 
Wesen  und  die  Bedeutung  dieser  Stadt  aus  den  hier  an  das  Licht  getretenen 
Ruinen  und  Funden  entgegen. 

Die  aus  den  Ortsnamen  ersichtliche  rätische  Volksinsel  bei  Juvavum  24)  und 
ebenso  die  von  der  Beschäftigung  mit  der  Salzgewinnung  herrührenden  vor- 
geschichtlichen Funde  von  Hallein  und  Reichenhall  machen  es  stärker  als  anderswo 
in  Süddeutschland  zur  Gewißheit,  daß  sich  an  der  Stelle  Salzburgs  schon  vor 
Platzgreifen  der  Römer  ein  größerer  Ort  befand,  in  dem  dann  die  Römer,  wie 
überall  da,  wo  sie  keinen  größeren  Widerstand  gefunden  hatten,  ungestört  weiter 
bauten.  Wie  zumeist  im  ganzen  Osten  der  Alpen  war  daher  auch  Salzburg  erst 
in  zweiter  Linie  Militärgründung  und  schon  längst  ein  belebter  Ort,  als  ihm  dann 
das  zweite  Jahrhundert  nach  Ch.  auch  seine  große  Bedeutung  als  Straßenpunkt 
brachte.  Zunächst  wurde  Salzburg  zu  Beginn  dieses  Jahrhunderts  eine  Haupt- 
station auf  der  militärischen  Längsstraße  Augusta-Carnuntum.  Gerade  die  Tat- 
sache, daß  jene  Straße  um  östlich  weiter  nach  Ovilava=Wels  zu  gelangen  nicht 
auf  der  kürzeren  Linie,  in  der  heute  etwa  die  Eisenbahn  München -Wels  läuft, 
sondern  über  Juvavum  selbst  gelegt  wurde,  ist  ein  Zeichen  dafür,  daß  diese  Stadt 
schon  damals  der  Hauptort  des  nördlichen  Norikums  gewesen  sein  muß.  Jene 
Straßenlegung  ist  aber  für  Salzburg  nun  auch  für  alle  Zeiten  vorbildlich  geworden; 
denn  seine  Bedeutung  für  den  Verkehr  liegt  vor  allem  in  der  horizontalen  und 
erst  in  zweiter  Linie  in  der  vertikalen,  nach  den  Alpen  hin  führenden  Richtung.  Als 
nordsüdlicher  Straßenpunkt  erlangte  Salzburg  dagegen  erst  zu  Ende  der  Römer- 
herrschaft infolge  der  Erbauung  der  Straße  über  den  Radstädter  Tauern  einiger- 
maßen Wichtigkeit. 

Im  Weichbild  von  Salzburg  selbst  nun  läßt  sich  das  alte  römische  Straßen- 
bild heute  noch  leidlich  zurückkonstruieren.  Westlich  der  Stadt  kündet  sich  die 
vom  Chiemsee  herankommende  alte  Hauptstraße  zunächst  in  dem  Ortsnamen 
Straß  an;  dann  folgte  wie  heute  noch  der  Uferwechsel  über  die  Saalach  bei  Frei- 
lassing,  während  der  noch  wichtigere  Übergang  über  die  Salzach  innerhalb  des 
Raumes  der  heutigen  Stadt  selbst  stattgefunden  haben  muß.  Die  Gabelung  jener 
Hauptstraße  erfolgte  dann  auf  dem  östlichen  Ufer  der  Salzach,  und  zwar  derart, 
daß  die  Haupt-  und  Kolonnenstraße  nordöstlich  in  die  Ebene  zog,  um  über 
Gniggl  und  Straßwalchen  nach  Enns  zu  gelangen,  während  die  Richtung  nach 
Süden,  nach  den  Bergen  zu,  nach  Aigen  abging;  an  dieser  letzteren,  nach  der 
Heimat  zu,  liegen  die  antiken  Gräber;  bei  Salzburg  fehlt  also  nichts,  um  das 
Bild  einer  völlig  ausgewachsenen  römischen  Ansiedelung  auf  nordischem  Boden 
vollständig  zu  machen. 

Diese  lang  andauernde  Verdichtung  des  römischen  Wesens  auf  dem  Boden 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  115 

Juvavums  mußte  nun  auch  einigermaßen  die  Fäden  römischer  Kultur  in  das  sonst 
wenig  verlockende  südliche  Bergland  hineintreiben.  Als  Verbindung  nach  Süden 
konnte  zunächst  schon  aus  lokalen  Gründen  wegen  der  Lage  des  uralten  Salz- 
ortes Hallein,  auch  bevor  Septimius  Severus  hier  die  Reichsstraße  baute,  nur 
das  Salzachtal  selbst  dienen.  Neben  Juvavum  und  seiner  nächsten  Umgebung 
finden  sich  dann  die  Spuren  stärkerer  römischer  Bewohnung  zunächst  aus  Anlaß 
der  Salzquellen  in  Reichenhall,  nach  dem  wie  heute  von  Juvavum  aus  die  Straße 
über  Maxglan  abging  und  in  dessen  Nähe  die  Orte  Marzoll  und  Nonn  mit  ihren 
Römerresten  vorhanden  sind.  Es  liegt  sehr  nahe,  den  Versuch  zu  machen,  diese 
Römerspuren  nun  auch  entlang  der  von  hier  aus  ansetzenden,  leidlich  zielgerecht 
nach  Süden  dringenden  Linie  des  Saalachtales  weiter  zu  verfolgen.  Solche  Spuren 
sind  auch  tatsächlich  zunächst  bei  Lofer  vorhanden,  zu  dem  aber  vielleicht  der 
Saumweg  nicht  wie  heute  auf  dem  linken,  sondern  auf  dem  rechten  Saalachufer 
über  Reit  hinführte.  In  Lofers  Umgebung  selbst  aber  haben  sich  Funde  aus  der 
Römerzeit  an  zwei  sehr  bezeichnenden  Punkten,  einmal  an  der  Schwelle  des 
Strubbtales,  wo  die  uralte  von  der  Natur  vorgezeichnete  Verbindung  zwischen 
Juvavum  und  Veldidena  das  Saalachtal  verläßt,  und  südlich  bei  Gumping,  das 
wohl  die  Stelle  eines  Uferwechsels  war,  gefunden.  Es  ist  interessant  zu  erwähnen, 
daß  an  der  Stelle,  wo  Gumping  liegt,  seit  altersher  die  Sage  gehaftet  hat,  daß 
hier  eine  Stadt  begraben  liege,  —  also  wiederum  ein  Fall,  wo  die  Tradition  der 
Wissenschaft  frei  in  das  Gesicht  sehen  kann,  wenn  diese  nur  den  guten  Willen 
hat,  ihre  schlichte  Schwester  recht  zu  verstehen.  Dem  nächsten  Römerrest  be- 
gegnet man  dann  südlich  in  einem  Römerstein  in  St.  Martin;  das  Tasten  der 
Römer  richtete  sich  hier  also  —  wiederum  ein  Beweis  für  die  damalige  geringe 
Erschließung  des  ganzen  Berglandes,  das  östlich  der  Innlinie  Innsbruck- Kufstein 
liegt,  —  nicht  nach  Südwesten,  sondern  durchaus  nur  nach  Süden.  Als  weitere 
Anzeichen,  die  in  dieser  Richtung  noch  auf  altes  Römertum  deuten  können,  finden 
sich  dann  noch  weiter  südlicher  die  Namen  des  Goetzenschlosses  bei  Oberweiß- 
bach und  die  Alpe  Kematen  an  den  einsamen  Abhängen  des  Berchtesgadener 
Landes  und  als  letztes  wohl  schließlich  ein  spärlicher  Münzenfund  und  der  Orts- 
name Marzon  bei  Saalfelden.  Östlich  von  dieser  Linie  aber,  im  Herzen  des 
Berchtesgadener  Landes,  erscheinen,  jedoch  nur  wie  Stäubchen,  um  das  Bild 
eher  zu  trüben  als  zu  erhellen,  die  Ortsnamen  Illsank  und  Engadein,  die  dort 
auf  eine  vorgermanische  Besiedelung  schließen  lassen. 

Auch  im  ganzen  Pinzgau  kann  herzlich  wenig  an  das  vorgermanische  Alter- 
tum erinnern.  Ein  gleiches  gilt  von  den  Übergängen  über  den  Krimmler  und 
Heiligenbluther  Tauern,  während  der  zwischen  diesen  liegende  sogenannte  Vel- 
ber  Tauern  schon  den  Römern  bekannt  gewesen  sein  muß.  Dies  beweisen  nicht 
bloß  der  Name  seines  südlichen  Vorortes  (Windisch) -Matrei  und  die  dortigen 
Funde  von  Römermünzen,  sondern  besser  noch  die  halb  römischen  halb  rätischen 
Namen  Virgen,  Prägratten,  Göriach,  Umbaltal  in  seiner  Umgebung.     Östlich  dieses 

8» 


116  VI.  Kapitel. 

Tauernüberganges  finden  sich  am  nächsten  gleich  ahe  Anklänge  erst  am  Mallnitzer- 
Tauern.  Auch  hier  sind  es  nicht  so  sehr  die  Reste  des  sogenannten  Römer- 
oder Heidenweges,  der  über  die  Paßhöhe  selbst  zieht  und  der  mit  der  Eröffnung 
des  Bergbaues  in  der  Rauris  und  im  Gasteiner  Tale  gleichaltrig  sein  wird,  als 
vielmehr  die  zahlreiche  Gesellschaft  rätoromanischer  Namen,  die,  sobald  jener 
Weg  südlich  das  Mölltal  betreten  hat,  anheben  und  von  hier  aus  sowohl  nach 
Süden  (Aguntum)  wie  nach  Südosten  (Teurnia)  hinziehen,  welch'  letzteres  im 
Drautal  an  Stelle  des  heutigen  St.  Peter  im  Holz  zu  suchen  ist.  An  dem  zuerst 
genannten  südwestlichen  Abstieg  liegt  u.  a.  besonders  der  alte  Ortsname  Stalla, 
während  die  Benutzung  des  anderen,  nach  Teurnia  führenden  Weges  durch  die 
Römer  durch  die  Funde  auf  dem  Danielsberg  bei  Kolbnitz  erwiesen  ist.  Die 
Römerreste  an  der  Endstation  dieser  Linie,  auf  dem  Boden  des  alten  Teurnia, 
sind  freilich  etwas  geringfügiger  gewesen,  als  es  der  im  Altertum  leidlich  oft  ge- 
nannte Ort  erwarten  ließ ;  wahrscheinlich  hat  aber  hier  der  Wechsel  des  Drau- 
bettes  vieles  verwischt.  Im  Grunde  pendelt  jedoch  jede  Straße  über  den  Mall- 
nitzer  Tauern,  ebenso  wie  ihre  östliche  Nachbarin,  die  Straße  über  den  Radstädter 
Tauern,  nicht  direkt  nach  Süden,  sondern  vielmehr  nach  Südosten,  nach  Virunum 
herab,  und  jene  Übergänge  sind  deshalb  auch  allein  von  diesem  Orte  aus  in  das 
römische  Wegesystem  einbezogen  worden,  gleich  wie  auch  heute  die  über  den 
Mallnitzer  Tauern  im  Bau  befindliche  Eisenbahn  wieder  nach  dem  gleichen 
Knotenpunkt  auslaufen  soll. 

So  kündet  sich  auch  an  dieser  Seite  der  Herzschlag  des  norischen  Verkehrs- 
mittelpunktes, des  in  der  weiten,  mitten  in  das  Bergland  eingebetteten  Drauebene 
gelegenen  Virunums  an,  das  —  so  wichtig  es  selbst  auch  für  die  umliegenden 
Alpengebiete  war  —  seinerseits  vor  allem  wieder  mit  seinen  HauptFäden  südlich 
in  der  venetianischen  Handelszentrale  wurzelte.  Der  Brennpunkt  des  venetiani- 
schen  Festlandes  lag  damals  an  dessen  äußerstem  östlichen  Ende,  in  Aquileja. 
Dreimal  hat  diese  Stadt  während  des  römischen  Altertums  ihre  Bestimmung  ge- 
wechselt; denn  nachdem  sie  nach  Unterwerfung  des  Ostens  und  Nordens  ihrer 
ersten  Aufgabe,  als  großer  strategischer  Wachtposten  zu  dienen,  enthoben  worden 
war,  wurde  ihr  dann  zunächst  das  angenehme  Schicksal  einer  blühenden  Handels- 
stadt zu  teil,  der  nördlich  Norikum  und  östlich  Pannonien  als  unbestrittene 
Absatzgebiete  ausgeliefert  waren.  Am  Ende  des  Römerreichs  wurde  Aquileja 
dann  aber  schließlich  wieder  auf  seine  erste  Bestimmung,  auf  die  eines  Boll- 
werkes für  Italien,  zurückgeworfen.  Als  Hauptort  Venetiens  mußte  nun  aber 
Aquileja  auch  der  unbedingte  Straßenmittelpunkt  dieser  ganzen  Zone  werden. 
Das  Verkehrsbild  aber,  so  wie  es  sich  hier  seit  Augustus  Zeiten  gestaltete,  hat 
auf  der  italienischen  Seite  damals  im  Grunde  schon  genau  dieselbe  Beschaffen- 
heit wie  in  der  Jetztzeit  gezeigt,  nur  mit  dem  Unterschiede,  daß  heute  das  viel 
weiter  südwestlich  liegende  Venedig  an  die  Stelle  Aquilejas  getreten  ist.  Heute 
laufen  westlich   vor  Venedig  in  Padua   die  Bahnen  aus  dem  Süden  Italiens  und 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  117 

die  aus  dem  Westen,  von  Verona  her,  zusammen,  während  im  römischen  Alter- 
tum der  westlich  von  Aquileja  liegende  Ort  Concordia  die  Stelle  Paduas  vertrat. 
Concordia  ist  also  ein  redender  Name;  denn  in  jenem  Orte  „vereinigten  sich" 
die  große  aus  Rom  über  Patavium  herangekommene  Straße  und  die  später  ent- 
standene Straße  von  Verona  her.  Concordia  selbst  war  damals  jedoch  vor  allem 
Garnisonort  und  somit  nichts  anderes  als  der  militärische  Annex  der  Großstadt 
Aquileja;  schon  damals  gehörte  es  also  zur  Vorliebe  mächtiger  Handelskreise, 
den  Soldaten  möglichst  von  ihren  Häusern  fern  zu  halten. 

In  Italien  liefen  nächst  der  Hauptstadt  Rom  nirgends  dichter  als  in 
Aquileja  die  Fäden  aus  dem  Orient  zusammen.  Diese  Großstadt  hatte  das  Auge 
durchaus  nach  dem  Osten  gerichtet,  und  nichts  illustriert  dieses  besser  als  die 
Tatsache,  daß  die  Stadt,  gleichwertig  mit  den  großen  Metropolen  des  Ostens, 
von  früh  auf  dazu  gelangte,  der  Sitz  eines  christlichen  Patriarchates  zu  sein. 
Für  die  hohe  geistige  Qualität  dieses  Kulturbodens  ist  es  aber  außerdem 
bezeichnend,  daß  gerade  in  Nordostitalien  eine  ganze  Reihe  der  geistigen  Größen 
der  römischen  Kaiserzeit  zu  Hause  war;  denn  aus  Padua  stammten  Thrasea 
Paeto  und  Livius,  aus  Hostilia  Kornelius  Nepos  und  aus  Verona  Katull  und  Vitruv. 

Viel  deutlicher  noch  als  auf  seiner  westlichen  kehrte  daher  Aquileja  auf 
seiner  östlichen  Seite  sein  Wesen  als  Straßenmittelpunkt  heraus,  aber  freilich 
hat  gerade  hier  der  nach  dem  Untergang  des  Römerreichs  in  der  Umgebung 
Aquilejas  eingetretene  tiefe  Verfall  das  antike  Straßenbild  derart  verwischt,  daß 
dasselbe  in  der  Gestaltung,  die  es  heute  angenommen  hat,  kaum  mehr  gegen  die 
alte  Zeit  wiederzuerkennen  ist.  Zur  Römerzeit  liefen  von  Aquileja  mit  dem 
Hauptziel  nach  Osten  drei  Linien  ersten  Ranges  aus:  am  weitesten  nördlich  die 
norische  Straße  über  den  Pontebba-Paß  nach  Virunum,  dann  vor  allem  die  älteste 
und  unentbehrlichste  aller  Straßen  nach  dem  Osten,  die  über  den  Birnbaumer 
Wald  nach  Emona,  und  schließlich  die  istrische  Straße  über  die  Bäder  Mon- 
falcones  nach  Triest.  In  der  Jetztzeit  hat  von  jenen  Linien  nur  die  erste  dieselbe 
Bedeutung  behalten,  die  sie  in  der  Römerzeit  besaß,  und  auch  ihr  altes  Straßen- 
gleis selbst  wenig  verändert,  während  sich  die  zwei  anderen  alten  Römerstraßen, 
die  beide  ganz  verschiedenen  Zwecken  dienten,  im  Grunde  heute  in  eine  einzige 
Linie  in  Gestalt  der  Eisenbahn  Venedig — Triest  verschmolzen  haben. 

Die  von  Aquileja  aus  nach  den  karnischen  und  norischen  Alpen  gerichtete 
Römerstraße  schlug  zunächst  nordwärts  in  meilenweiter  Ausdehnung  unmittelbar 
bis  an  den  Rand  des  Gebirges  eine  derart  schnurgerade  Richtung  ein,  daß  sie 
selbst  die  älteste  römische  Kreisstadt  dieser  Gegend,  Forum  Julii,  das  heutige 
Cividale,  in  größerer  Entfernung  östlich  liegen  ließ.  In  der  Höhe  dieser  Stadt, 
an  der  Straße  selbst  entstand  später  dann  die  Stadt  Udine;  zur  Römerzeit  lag  an 
an  dieser  Stelle  der  Straße  jedoch  nur  ein  unbedeutender  Stationspunkt,  mit  dem 
vielleicht  das  heutige  Tricesimo  in  Zusammenhang  gebracht  werden  kann.  Aus 
der  ausnehmend   zielgerechten    Anlage    dieser    Straße    läßt    sich    aber    jedenfalls 


118  '  .VI.  Kapitel. 

erkennen,  daß  bei  diesem  römischen  Wegebau  eine  ganz  bestimmte,  nach  der 
Ferne  zielende  Absicht  bestanden  haben  muß  und  wie  straff  damals  Norikum  an 
das  Südland  gekettet  werden  sollte.  Nördlich  von  Osoppo  spaltete  sich  dann 
die  Straße,  westlich  nach  dem  Ploecken  und  östlich  nach  dem  Pontebba-Paß  zu, 
und  es  ist  deshalb  auch  ganz  sinngemäß,  daß  in  der  Nähe  dieses  Punktes  auch 
schon  zur  Römerzeit  ein  größerer  Ort,  Claudia  Emona  (Glemona),  zu  finden  ist. 
Auf  der  westlichen  Fortsetzung,  derjenigen  nach  dem  Ploecken  zu,  begegnen  uns 
außer  in  Zuglio  dann  nur  noch  schwache  Römerspuren  bei  dem  Orte  Villa  (bei 
Tolmein),  während  die  eigentliche  Hauptrichtung,  die  während  der  ersten  Jahr- 
hunderte der  römischen  Herrschaft  überwiegend  dem  Verkehr  gedient  hat,  nun- 
mehr wie  heute  noch  als  Pontebba-Straße  aus  dem  Tal  der  Fella  in  das  der 
Gailitz  herüberführte. 

Es  ist  dies  diejenige  Linie,  die  schon  während  der  ersten  Kaiserzeit  neben 
der  Birnbaumer-Straße  als  einzige  der  Ostalpen  mit  einer  Staatsstraße  bedacht 
worden  ist,  und  zwar  in  diesem  Falle  lediglich  aus  friedlichen  und  wirtschaftlichen, 
und  nicht  aus  militärischen  Gründen.  An  der  Pontebba-Straße  stehen  uns  nicht 
bloß  Münzfunde  wie  auf  dem  Julier  oder  Meilensteine  wie  auf  dem  Brenner  zu 
Gebote,  durch  die  zunächst  nur  die  Existenz  einer  Römerstraße  an  sich  bewiesen 
werden  kann,  sondern  die  Qualität  der  entlang  dieser  ganzen  Linie  bei  Pontebba, 
Saifnitz  und  Tarvis  gefundenen  römischen  Inschriften  offenbart  noch  dazu  ganz 
deutlich  den  Charakter  jener  Straße  als  Handels-  und  Poststraße.  Die  Pontebba- 
Straße  war  zur  Römerzeit  die  Zweckstraße  von  Aquileja  nach  Virunum,  an  deren 
nördlichem  Ausgange  bei  Villach  der  Ort  Santicum  lag,  der  die  Straße  dann 
weiter  in  der  Rinne  der  heutigen  Staatsbahn  an  dem  Ossiacher  See  vorbei  nach 
Virunum  hinüberleitete.  In  Villach  und  seiner  Umgebung  lassen  uns  freilich, 
abgesehen  von  dem  ganz  zweifellos  römischen  Namen  Federaun,  die  Römerspuren 
mehr  im  Stich  als  wir  erwarten  könnten.  Möglicherweise  liegen  sie  aber  auch 
hier  wie  bei  Chiavenna  tief  unter  dem  Boden  des  heutigen  Ortes  begraben. 
Wenn  dem  aber  auch  nicht  so  wäre,  dürfte  dieses  trotzdem  nicht  Wunder  nehmen, 
da  der  hauptsächlichste  Umstand,  der  Villach  im  Mittelalter  und  mehr  noch  in 
der  Neuzeit  als  Straßenpunkt  bedeutend  gemacht  hat,  eben  in  der  Römerzeit 
noch  nicht  hervorgetreten  ist;  denn  in  jener  Zeit  war  Villach  lediglich  ein 
Stationspunkt  auf  der  Süd-Nordstraße,  während  es  erst  später  als  Kreuzungspunkt 
dieser  Straße  und  der  horizontalen  durch  das  Drautal  gehenden  Linie  erhöhte 
Wichtigkeit  erlangte. 

Die  Zone,  in  der  das  alte  Virunum  lag,  hat  zu  allen  Zeiten  deshalb  eine 
für  das  Verkehrsleben  hervorragende  Eigenschaft  besessen,  weil  hier  eine  Zentrale 
des  ganzen  südlichen  Ostalpengebietes  zu  finden  ist;  dem  Umstand  aber,  daß 
St.  Veit  und  Klagenfurth,  die  später  die  Wichtigkeit  jenes  Gebietes  versinnbild- 
lichen, von  der  Stätte  des  alten  Virunum,  dem  Zollfelde,  etwas  abgerückt  sind, 
ist  es  zu  verdanken,  daß  uns  die  Funde  von   dieser  Römerstadt   heute  viel   un- 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  119 

mittelbarer  und  in  reicherer  Anzahl  zu  Gebote  stehen  und  so  über  den  Charakter 
des  alten  Virunum  keinen  Zweifel  übrig  lassen.  Wir  müssen  annehmen,  daß 
dieses  überhaupt  im  ganzen  Alpengebiet  der  weitaus  entwickeltste,  fast  einer 
römischen  Großstadt  ähnelnde  Ort  gewesen  ist.  Der  Grund  für  diese  Erscheinung 
ist  aber  einzig  der,  daß  die  Gegend,  in  der  Virunum  lag,  wie  keine  andere  des 
Gebirges  der  Sonnenseite  der  damaligen  Kultur,  dem  Süden,  offen  stand;  denn 
nicht  nur  die  regelrecht  gebaute  Pontebbastraße  führte  von  Aquileja  her  direkt 
auf  Virunum  zu,  sondern  dieses  stand  nicht  minder  auch  dem  vom  Südosten, 
von  Mösien  und  Pannonien  her  kommenden  Verkehr  offen.  Und  gerade  dieses 
mußte  von  um  so  größerer  Tragweite  werden  als  damals  die  Länder  auf  der 
Balkanhalbinsel  fast  ebenso  reiche  und  ungestörte  Kulturgebiete  wie  Italien  selbst 
waren,  ein  Bild,  das  wir  uns  heute  kaum  mehr  vorstellen  können.  Allein  von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  kann  daher  auch  die  von  Celeja  über  Juenna  (Blei- 
burg) auf  Virunum  zuführende  Straße,  die  auf  Peutingers  Tafel  als  Verbindungs- 
linie erster  Ordnung  erscheint,  ihre  richtige  Erklärung  finden.  Diese  Linie  ist 
erst  in  der  neuesten  Zeit  durch  den  Ausbau  der  Eisenbahnen:  Belgrad — Agram — 
Cilli — Wöllau — Unter-Drauburg,  aber  freilich  nicht  annähernd  in  der  Ziel- 
gerechtigkeit wie  zu  Römerzeiten  wieder  entstanden. 

Wie  sehr  aber  dieses  Virunum  im  Gegensatz  zu  seiner  gegen  den  Süden 
geöffneten  Lage  nach  der  Nordseite  der  Alpen  zu  geschützt  gelegen  war,  hat 
seinen  sprechendsten  Ausdruck  darin  gefunden,  daß  von  den  hier  ausgegrabenen 
Münzen  gerade  diejenigen  aus  dem  dritten  Jahrhundert  nach  Ch.  bei  weitem  in 
der  Mehrzahl  sind.  Hier  war  es  demnach  selbst  zu  jenen  Zeiten  noch  ruhig, 
als  am  Oberrhein  und  an  der  Donau  der  Grenzkrieg  schon  in  hellen  Flammen 
stand.  Überhaupt  sind  die  aus  Virunum  stammenden  Funde  nicht  bloß  ihrer 
Zahl,  sondern  auch  ihrem  Wesen  nach  bedeutender  als  diejenigen  aus  den 
übrigen  Alpenländern;  denn  sie  verraten  sämtlich  eine  viel  höhere  entwickelte 
Kunstfertigkeit  als  selbst  die  Funde  von  Bregenz  und  Salzburg.  Den  im  Material 
hier  nicht  besonders  guten  Marmor  vertritt  das  in  diesen  Gegenden  .  vorzüglich 
und  reichlich  zur  Hand  liegende  Metall.  Für  die  Kultur  dieser  Stadt  sind  die 
antiken  Bronzefiguren  im  Wiener  und  Klagenfurther  Museum,  die  ihrer  Vollendung 
nach  ebensogut  auf  inneritalienischem  Boden  gefunden  sein  könnten,  ein  wunder- 
schönes Zeugnis;  das  Interessanteste  dabei  aber  ist,  daß  die  aus  dem  Boden 
Norikums  stammenden  antiken  Reste,  wie  z.  B.  die  Fortuna  in  keltischer  Tracht 
mit  der  langen  Halskette  (Museum  in  Klagenfurth)  oder  der  Greif  vom  Magdalenen- 
berg  in  Kärnten  (Wien)  eine  besondere  charakteristische  Bildung  an  sich  haben 
Man  kann  sagen,  daß  sie  nicht  so  spezifisch  römisch  sind  wie  die  anderen  in 
den  Alpen  zutage  getretenen  Reste  der  Römerzeit,  und  man  könnte  die  Erklärung 
hierfür  darin  finden,  daß  die  Noriker,  die  ein  Stück  ihres  Volkstums  un- 
geschwächter herüberzuretten  und  sich  mit  der  römischen  Eroberung  friedlicher 
als    andere    Alpenvölker    abzufinden    verstanden    hatten,   deshalb   auch    der    ein- 


120  VI.  Kapitel. 

dringenden  römischen  Kolonisation  einen  selbständigeren  Zug  aufzudrücken 
vermocht  haben. 

In  dem  ganzen  großen  Gebirgsgebiete  nördlich  Virunum  nun,  das  westlich 
von  der  Moll  uud  Salzach,  nördlich  von  der  Donau  und  östlich  von  Donautiefland 
begrenzt  wird,  begegnen  wir  in  der  Römerzeit  anders  gearteten  Verhältnissen  als 
in  den  übrigen  Alpen,  die  uns  hier  die  Rekonstruktion  des  alten  Straßenbildes 
schwieriger  machen.  Lang  ausgedehnt  und  in  ihrer  Wegbarkeit  an  allen  Stellen 
ihres  Laufes  ungefähr  gleichartig  ziehen  jene  Linien  dahin;  seltener  finden  sich 
aber  auch  solche  Ortschaften,  die  infolge  des  Zusammenlaufens  mehrerer  Straßen 
von  altersher  zu  einer  überwiegenden  Herrschaft  über  den  Verkehr  gelangen 
konnten.  Wohl  wurde  dieser  ganze  Komplex  ebenso  früh  und  ebenso  gründlich 
wie  das  übrige  Alpenland  der  römischen  Herrschaft  unterworfen,  aber  mit  der- 
selben Intensivität  wie  in  das  südliche  und  östliche  Nachbargebiet  ist  hier  die 
römische  Kultur  niemals  eingedrungen,  weil  sie  weder  durch  wirtschaftliche  und 
zunächst  auch  nicht  durch  militärische  Rücksichten  dazu  verlockt  werden  konnte. 
Wohl  stehen  uns  gerade  innerhalb  dieses  Bereiches  auf  Grund  der  alten  Itine- 
rarien  besonders  zahlreiche  römische  Ortsnamen  zur  Verfügung,  aber  sie  beweisen 
zunächst  auch  nicht  mehr,  als  daß  auch  hier  die  Römer  überall  die  Meister  des 
Verkehrs  gewesen  sind.  Denn  alle  diese  römischen  Ortsnamen  sind  hier  wirklich 
nichts  anderes  als  die  Kennzeichen  unbedeutender  Stationen,  die  nur  Punkte  an 
den  Straßen,  nicht  auch  an  sich  wichtige  Orte  waren.  Deshalb  ist  es  gerade  hier 
auch  noch  am  ungenügendsten  gelungen,  jene  alten  Römernamen  sicher  an  die 
heutigen  zahlreichen,  an  den  vielen  Biegungen  und  Brechungen  dieser  Alpen- 
linien gelegenen  Dörfer  und  Städtchen  anzubinden,  und  dies  um  so  mehr,  als  die 
Straßenzüge  selbst,  nicht  nur  bereits  in  der  Römerzeit,  sondern  auch  während 
der  folgenden  Zeiten  gerade  hier  besonders  starkem  Wechsel  unterworfen  waren. 
So  markant  und  dauerhaft  für  alle  Zeiten  wie  z.  B.  der  Große  Sankt  Bernhard 
und  der  Brenner  als  wichtige  Alpenübergänge  erscheinen,  hebt  sich  hier  keine 
einzige  Straße  aus  dem  sie  umschließenden  Bergland  ab. 

Aber  auch  noch  in  einer  anderen  Hinsicht  fehlt  uns  hier  ein  wesentliches 
Hilfsmittel,  dasjenige,  vermittelst  der  Ortsnamen  das  Bild  der  alten  römischen 
Straßenzüge  zurückkonstruieren  zu  können;  denn  nach  Verschwinden  der  Römer 
folgten  in  den  Ostalpen  nicht  wie  anderswo  bloß  eine,  sondern  zwei  neue  Be- 
siedelungen, erst  eine  solche  durch  die  Slaven  und  dann  wieder  diejenige  durch 
die  Deutschen,  die  jene  mit  Feuer  und  Schwert  verdrängte.  Die  alten  keltischen 
und  lateinischen  Ortsnamen  sind  daher  hier  viel  gründlicher  ausgelöscht  worden, 
und  für  die  Bestimmung  der  ältesten  Straßenzüge  bleiben  somit  nur  diejenigen 
Ortsnamen  übrig,  in  denen  dies  heute  der  deutsche  und  in  seltenen  Fällen  der 
slavische  Sinn  anzeigt. 

Zwei  Linien  sind  es,  die  von  Virunum  aus  durch  das  Gebirge  hindurch  dem 
Norden  zustreben,   westlich   die  über  den  Radstädter  Tauern  nach  Salzburg  und 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  121 

Östlicher  die  über  den  Sattel  von  Neumarkt  und  der  Rottemanner  Tauern  nach 
Ovilava  (Wels)  und  Lauriacum  (Enns).  Dem  Haupt-Übergangspunkt  dieser  ersten 
Linie,  der  Radstädter  Tauernhöhe  aber  floß  der  Verkehr  von  Süden  auch  schon 
zur  Römerzeit  in  zwei  Rinnen  zu,  einmal  weniger  von  Virunum  als  vielmehr  von 
der  Basis  Aguntum-Santicum  aus  durch  das  Liesertal  und  über  den  Katschberg 
her,  das  andere  Mal  aber  von  Virunum  selbst  aus  über  Straßburg  auf  Raming- 
stein  und  Tamsweg.  In  der  Zone  von  Mauterndorf  im  Lungau  müssen  sich  diese 
beiden  Zugänge  getroffen  haben;  es  ist  aber  bis  heute  noch  nicht  gelungen,  den 
Standpunkt  der  Römerstation  Inutrium,  die  diesen  Treffpunkt  bezeichnete,  ge- 
nügend festzustellen.  Wir  wissen,  daß  die  Straße  über  den  Radstädter  Tauern 
von  Septimius  Severus  gebaut  wurde;  nach  dieser  Paßhöhe  selbst  hin  findet  sich 
aber  auf  der  Peutingerschen  Karte  zweifelsfrei  nur  eine  Zugangslinie,  diejenige 
von  Virunum  über  Ramingstein  und  Tamsweg  eingezeichnet,  während  auf  dieser 
Karte  jener  Zugang  nach  der  Paßhöhe  vom  Liesertal  aus  ganz  fehlt.  Demnach 
muß  jedenfalls  die  erstere  Richtung  die  wichtigere  und  bedeutendere  von  beiden 
gewesen  sein,  was  aber  auch  schon  ohne  dies  durch  die  Lage  von  Virunum  selbst 
erklärlich  wäre. 

Aber  gerade  um  den  genaueren  Lauf  dieser  Straße  von  Virunum  bis  Mau- 
terndorf zu  bestimmen,  fehlen  uns  heute  noch  die  wissenschaftlichen  Mittel,  und 
es  wäre  doch  um  so  interessanter,  auch  diese  Linie  genauer  zu  kennen,  da  sie 
als  Lokalverbindung  zwischen  Virunum  und  Juvavum  selbst  schon  vor  Festlegung 
der  Radstädter  Tauernstraße  als  Militärstraße  stärker  in  Gebrauch  gewesen  sein 
muß.  Der  einzige  Anhalt,  den  uns  Peutinger  für  den  Lauf  jener  Straße  gibt,  ist 
der,  daß  diese  Richtung  auf  Juvavum  von  der  nach  Wels  über  den  Neumarkter 
Sattel  ziehenden  Straße  westlich  abzweigte;  und  zwar  nördlich  Virunum,  aber 
noch  südlich  Noreja- Neumarkt.  Zwischen  Virunum  und  Noreja  haben  wir  dem- 
nach den  Anfang  der  Abzweigung  jener  jüngeren  Reichsstraße  über  den  Radstädter 
Tauern  zu  suchen,  und  der  Oberlauf  der  Mur  von  Scheifling  an  westwärts,  der 
heute  den  Haupteingang  zum  Radstädter  Tauern  bildet,  tritt  daher  für  jenen 
römischen  Straßenzug  zunächst  außer  Konkurrenz.  Somit  bleiben  als  Durchgangs- 
gebiete desselben  nur  noch  das  von  Friesach  ausgehende  Metnitztal  oder  das  von 
Althofen  ausgehende  Gurktal  übrig,  wodurch  wiederum  für  den  eigentlichen 
Gebirgsübergang  weiterhin  nach  Norden  nur  die  Strecke  von  Fladnitz  —  östlich 
des  Eisenhutes  an  der  heutigen  Grenze  zwischen  Kärnten  und  Steiermark  — 
bis  Stadtl  (Stalla?)  im  Murtal  möglich  wird,  da  man  von  beiden  Tälern  aus  nur 
auf  diesem  Wege  in  das  oberste  Murtal  herüber  den  Weg  nehmen  kann.  Welchem 
von  diesen  beiden  Tälern  nun  die  Römerstraße  zuzuweisen  sei,  dafür  könnte  bei 
dem  Metnitztal  der  Umstand  sprechen,  daß  bei  Friesach  reichlich  Römersteine 
gefunden  worden  sind,  und  somit  daselbst  auch  eine  lebhafte  Straßenstation  vor- 
handen gewesen  sein  mag;  die  größere  Wahrscheinlichkeit  spricht  aber  bei  dieser 
engeren  Wahl  doch  für  die  Richtung  durch  das  Gurktal   zwischen  Althofen  und 


122  VI.  Kapitel. 

Altenmarkt,  weil  daselbst  durch  die  auf  eine  alte  Straßenführung  hindeutenden 
Ortsnamen  Althofen,  Straßburg  und  Altenmarkt  jener  Straßenzug  an  mehreren 
Punkten  festgelegt  erscheint. 

Die  Radstädter  Straße,  besonders  die  Teilstrecke  derselben  von  Mauterndorf 
bis  Bischofshofen  ist  diejenige  Linie,  an  der  in  den  Alpen  die  römischen  Meilen- 
steine am  reichlichsten  gefunden  worden  sind.  Sehen  wir  also  hier  einen  römi- 
schen Militärstraßenzug  in  den  Alpen  ohne  alle  Einwände  noch  festgelegt,  so  ist 
dies  zunächst  besonders  deshalb  wichtig,  weil  wir  tatsächlich  an  ihm  alle  jene 
charakteristischen  Merkmale  wiederfinden  können,  die  von  je  her  und  überall 
der  Bauweise  der  römischen  Alpenstraßen  zugeschrieben  werden.  Außerdem 
ist  an  jener  Römerstraße  über  den  Radstädter  Tauern  noch  bemerkenswert,  daß 
ihre  Stationen  auf  der  Peutingerschen  Karte  sämtlich  in  fast  gleichen  Zwischen- 
räumen voneinander  entfernt  angegeben  werden  —  was  sich  jedoch  sofort  daraus 
erklärt,  daß  diese  Straße  eben  in  erster  Linie  Militärstraße  sein  sollte  —  und 
ferner  aber  auch,  daß  an  der  Radstädter  Straße  südlich  von  Vocarium=Bischofs- 
hofen  an  alle  Spuren  irgendwelcher  Befestigungsanlagen  fehlen.  Aber  auch  dieses 
darf  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  man  die  Zeit  der  Erbauung  jener  Straße  in 
Betracht  zieht;  denn  als  diese  vor  sich  ging,  waren  die  von  der  Straße  durch- 
schnittenen Gebiete  längst  friedliche  Provinz  geworden,  die  solcher  Zwangsmittel 
nicht  mehr  bedurften. 

Nördlich  des  Passes  begegnen  wir  in  Vocarium=Bischofshofen  einem  genau 
festgelegten  Römerort,  dem  seine  Lage  vor  dem  eigentlichen  Anstieg  schon  da- 
mals die  gleiche  Wichtigkeit  wie  heute  verlieh.  Die  uralten  Befestigungen  am 
Götschenberge  bei  Bischofshofen  verdanken  ihre  Entstehung  jedoch  mindestens 
schon  der  Zeit  der  ersten  römischen  Eroberung,  als  es  galt,  jenen  an  der  Land- 
straße gelegenen  Ort  gegen  einen  Angriff  von  Süden  oder  Westen  her  zu  sichern. 
Gerade  in  der  Umgebung  Bischofshofens,  wo  die  eigentliche  Radstädter  Straße 
nördlich  in  scharfer  Biegung  in  das  Salzachtal  hinabsteigt,  ist  die  heutige  Eisen- 
bahn besonders  genau  der  alten  Römerstraße  gefolgt.  Auch  auf  dem  Weiterwege 
bisjuvavum  läßt  sich  heute  noch  überall  dem  römischen  Straßenzug  nachkommen, 
diesmal  am  besten  vermittelst  der  alten  deutschen  Ortsbezeichnungen,  die  auf 
den  ursprünglichen  Straßenzug  deuten,  und  die  gerade  hier  im  Überfluß  vorhanden 
sind,  während  in  Kuchl  auch  noch  der  alte  römische  Ortsname  Cucullum  weiter- 
lebt. Besonders  stark  erscheinen  dann  die  Spuren  der  Römerzeit  auf  der  Straßen- 
strecke zwischen  Hallein  und  Salzburg,  was  dadurch  seine  Erklärung  findet,  weil 
hier  die  Straßen  von  Wels  und  die  von  Augusta  südlich  zunächst  in  eine  einzige 
zusammengelaufen  sind. 

Wir  kommen  nun  zu  der  zweiten  großen,  weiter  östlich  gelegenen  Straße, 
die  von  Virunum  aus  nach  dem  Norden  lief.  Es  ist  dies  die  Straße,  die  über 
Neumarkt  und  den  Bereich  des  Rottemanner  Tauerns  auf  die  in  der  Donauebene 
gelegenen  Orte  Ovilava=Wels  und  Lauriacum=Enns  zustreben  mußte.     Daß  eine 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  123 

solche  Straße  existiert  hat,  beweisen  uns  zur  Genüge  die  erhaltenen  schriftlichen 
Reste,  aber  auch  ohne  diese  würde  sich  das  Dasein  derselben  für  die  spätere 
Kaiserzeit  schon  aus  der  militärischen  Lage  zwingend  ergeben  müssen;  denn  die 
großen  Verteidigungskriege,  die  von  den  Römern  seit  Mark  Aurel  aus  der  Front 
Carnuntum- Regensburg  heraus  geführt  wurden,  mußten  die  Erbauung  einer  direkt 
auf  die  Mitte  dieser  Front  zuführenden  Militärstraße  unbedingt  notwendig  machen. 
So  sehr  wir  also  im  Allgemeinen  das  Dasein  dieses  Straßenzuges  als  solchen  bei 
der  Aufstellung  des  antiken  Wegenetzes  voraussetzen  können,  so  wenig  kann  uns 
doch  im  Einzelnen  das  genügen,  was  heute  zur  genauen  Festlegung  der  von  dieser 
Straße  eingeschlagenen  Richtung  einwandsfrei  vorhanden  ist.  Gerade  hier  ist  die 
Forschung  noch  am  allerwenigsten  über  die  Art  und  Weise  in  Übereinstimmung 
gekommen,  wie  die  Straße  nach  Verlassen  des  Murtales  nun  wirklich  von  einem 
Orte  zum  anderen  nördlich  bis  zur  Donau  gegangen  ist.  Aber  auch  dieses  hat 
seine  guten  Gründe;  denn  da  die  Straße  erst  spät  von  den  Römern  gebaut  wurde 
und  für  diese  vorwiegend  nur  als  Militärstraße,  ganz  wenig  aber  als  Handels- 
straße in  Betracht  gekommen  ist,  konnte  sie  sich  schon  deshalb  nicht  mit  der 
gleichen  Schärfe  in  die  Gebirgswelt  einprägen  wie  andere  länger  und  lebhafter 
begangene  Alpenlinien,  Auch  die  kriegerische  Konstellation,  der  die  Straße  ihre 
Entstehung  verdankte,  ist  nach  dem  Ende  der  römischen  Herrschaft  in  den  Ost- 
alpen für  immer  verwischt  worden,  und  niemals  wieder  haben  Enns  und  Wels 
als  Bollwerke  und  Ausfallstore  des  Südens  gegen  den  Norden  dienen  müssen. 

Unbedingt  sicher  ist  der  von  Virunum  nach  Norden  gehende  römische 
Straßenzug  zunächt  bis  Krummfelden  im  Gurktale  festgelegt  infolge  des  Fundes 
eines  Meilensteines,  der  hier  an  seiner  ursprünglichen  Stelle  zum  Vorschein  ge- 
kommen ist;  so  gut  wie  sicher  dann  weiter  durch  die  Römerfunde  in  Friesach 
und  diejenigen  nördlich  desselben  in  der  Einöd,  sowie  durch  den  Namen  des 
Ortes  Neumarkt,  das  nichts  anderes  als  die  Station  Noreja  der  Itinerarien  sein 
kann  und  dessen  Namen  in  diesen  Gegenden  wohl  nichts  anderes  bezeichnen 
sollte,  als  daß  man  sich  hier  im  Grenzgebiet  der  Noriker  gegenüber  den  Tau- 
riskern  befand.  Auch  das  nördlich  des  Neumarkter  Sattels  liegende  Murtal  zeigt 
von  Scheifling  an  abwärts  besonders  an  den  Rändern  der  kleinen  in  die  Berge 
gesprengten  Ebene  von  Judenburg  zahlreiche  Römerspuren;  doch  ist  es  wahr- 
scheinlicher, daß  diese  an  jener  Stelle  nicht  viel  später  als  das  benachbarte 
Virunum  selbst  infolge  des  Zusammenlaufens  vieler  zweitklassiger  Verbindungen 
und  nicht  erst  zugleich  mit  der  viel  später  erbauten  Nord-Südstraße  entstanden  sind. 

Für  den  weiteren  Verlauf  der  Straße  nach  Norden  und  über  die  Kämme 
der  Tauern  und  Admonter  Alpen  müssen  wir  nunmehr  auf  eine  lange  Strecke 
der  vollen  Sicherheit  entraten,  bis  wir  schließlich  erst  am  Nordrand  des  Gebirges, 
bei  Windischgarsten,  wieder  wirklich  festen  Boden  unter  uns  finden.  Die  Bestimmung 
der  Richtung  des  Straßenzuges  vom  Murtal  nördlich  mußte  schließlich  besonders 
deshalb   so   unsicher  bleiben,    weil   die   Römerfunde   äußerst  spärlich,    und   ins- 


124  VI.  Kapitel. 

besondere,  ganz  im  Gegensatz  zur  Radstädter  Straße,  hier  überhaupt  keine  Meilen- 
steine gefunden  worden  sind.  So  itommen  denn  für  den  Übergang  jener  Straße 
über  die  Tauernkette  selbst  nicht  mehr  als  drei  ganz  verschiedene  Richtungen 
in  Frage,  die  sämtlich  ihre  wissenschaftlichen  Verfechter  gefunden  haben.  Der 
Weiterweg  der  Römerstraße  nach  Norden  wird  einmal  von  Niederwölz  durch  das 
Katsch-  und  Sölktal  nach  Gröbming,  ferner  über  den  Hohenwarth  und  das 
Donnersbachtal  nach  Steinach- Irdning,  und  schließlich  von  den  meisten  und 
neueren  Forschern  die  Rottemanner  Straße  entlang  über  Möderbruck  und  Trieben 
nach  Lietzen  verlegt.  Es  mahnt  aber  immerhin  zur  Vorsicht,  zu  Gunsten  dieser 
letzteren  Richtung  auch  die  erste  dieser  Ansichten,  die  als  älteste  aufgetreten  ist, 
so  ganz  bei  Seite  zu  schieben,  wenn  wir  auf  dem  Abstieg  dieser  Richtung  am 
Sölktal  die  Namen  Stein  und  Reith  finden  und  ferner  die  Tatsache  berücksichtigen, 
daß  der  mittelalterliche  Handelsverkehr,  gestützt  durch  die  Bischöfe  von  Freising, 
die  ersten,  die  hier  im  Mittelalter  wieder  an  den  wichtigen  Verkehrs -Punkten 
erscheinen,  sich  gerade  in  Oberwölz^S)  festgesetzt  hat.  Auch  ein  im  Jahre  1234 
geschlossener,  weit  ausgreifender  Handelsvertrag  berücksichtigt  gerade  besonders 
den  von  Niederwölz  kommenden  Verkehr,  wie  ja  für  den  über  den  Neumarkter 
Sattel  gehenden  direkten  Nord -Süd- Verkehr  Niederwölz  mindestens  ebenso 
bequem  wie  Scheifling  und  St.  Georgen  a.  d.  Mur  gelegen  ist. 

Die  dritte  Ansicht  über  den  Lauf  des  Straßenzuges  hat  in  neuerer  Zeit  be- 
sonders ein  in  Unter -Zeising  auf  dem  südlichen  Anstieg  zum  Rottemann  ge- 
machter Römerfund  gestärkt;  es  ist  aber  zum  mindesten  ein  Beweis,  daß  diese 
Straße  nach  der  Donau  keinen  so  gewaltigen  Verkehr  wie  die  anderen  großen 
Alpenstraßen  getragen  haben  kann,  wenn  wir  dann  oben  in  Hohentauern  selbst 
entgegen  allen  anderen  Paßhöhen  der  Alpen,  über  die  große  Römerstraßen  liefen, 
auch  nicht  die  geringsten  Erinnerungen  an  jene  Zeit  weder  in  Gestalt  von  Orts- 
namen noch  von  Funden  entdecken.  Auch  in  Trieben,  das  falls  die  Straße  an 
diesem  vorüberging,  ein  wichtiger  Punkt  gewesen  sein  muß,  setzen  jene  Beweis- 
mittel noch  ganz  aus,  bis  sie  dann  schließlich  andeutungsweise  in  Strechau  und 
in  greifbarer  Gestalt  erst  in  Liezen  im  Ennstale  wieder  anheben. 

Der  Bau  des  Gebirges  zwingt  uns,  eine  Straße,  die  vom  Ennstal  nach 
Windischgarsten  laufen  wollte,  über  den  Pyrn  zu  führen,  und  an  der  Stelle  von 
Windischgarsten  können  wir  dann  auch  mit  unumstößlicher  Sicherheit  wirklich 
eine  römische  Niederlassung  entdecken.  Die  Funde,  die  hier  gemacht  wurden, 
beweisen  aber  nicht  nur  diese  allgemeine  Tatsache,  sondern  im  Besonderen  auch 
noch,  daß  dieser  Platz  im  dritten  Jahrhundert  nach  Ch.  als  regelrechter  Etappen- 
ort in  Gebrauch  gewesen  sein  muß.  Das  Bild,  das  sich  uns  hier  durch  diese 
Funde  auftut,  entspricht  also  vollständig  den  Tatsachen  der  Geschichte.  Denn 
wir  sind  hier  jetzt  nicht  mehr  wie  bei  Virunum  in  einer  ruhigen  reichen  Provinz, 
sondern  bereits  im  militärischen  Grenzland,  wo  allein  die  römische  Militärverwal- 
tung praktisch  und  zielgerecht  allen  Verhältnissen  ihre  Gesetze  vorschrieb. 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  125 

Ganz  geringwertig  aber  stellt  sich  die  römische  Besiedelung  in  demjenigen 
Teile  des  Alpenlandes  heraus,  das  sich  nun  noch  östlich  der  Straße  Virunum— 
Ovilava  bis  zum  Semmering  hinzieht.  Hier  sind  es  allein  die  Gruben  von 
Eisenerz,  an  deren  Ausbeutung  sich  schon  die  Römer  versucht  haben  müssen, 
wie  auch  in  dessen  Umgebung  und  noch  bezeichnender  hier  wieder  gerade  im 
Süden,  in  der  Richtung  auf  Leoben  zu,  mitten  zwischen  den  zahlreichen  reindeut- 
schen Namen  eine  Anzahl  Ortsnamen  auftauchen,  die  römische  und  selbst  vor- 
römische Bewohnung  (Trofa-Joch,  Tragoeß-Tal,  Trafuß)  wahrscheinlich  machen. 
Aus  diesem  ganzen  Befund  ergibt  sich  nun  aber  auch  die  Rolle,  die  der 
Semmeringstraße  für  die  Römerzeit  zugewiesen  werden  muß.  Wohl  haben  sich 
auf  den  Höhen  der  Semmeringstraße  selbst  ganz  spärliche  Reste,  die  auf  römischen 
Durchzug  deuten,  gefunden.  Für  das  Aufkommen  des  Semmeringes  als  wichtigen 
Straßenzuges  ist  jedoch  zunächst  stets  der  Anbau  des  Gebietes  der  Mürz  und 
desjenigen  der  oberen  Mur,  vor  allen  Dingen  aber  die  Existenz  Wiens  nicht  nur 
als  militärischer,  sondern  auch  als  bürgerlicher  Zentrale  maßgebend  gewesen. 
Diese  Vorbedingung  fehlt  jedoch  ganz  und  gar  zu  den  Zeiten  der  Römer  und 
das  Gebiet  des  Semmering  hat  daher  auch  damals  ein  im  Vergleich  mit  der 
Jetztzeit  ganz  anders  geartetes  Bild  gezeigt.  Als  Verkehrslinie  hat  die  Semmering- 
straße damals  noch  durchaus  nicht  gedient,  und  ein  ähnliches  Schutzmittel  wie 
der  dichte  Scharnitzer  Wald,  der  als  solcher  Vindelicien  d.  h.  das  äußere  glacis- 
artige  Rätien  von  dem  inneren  Bergland  trennte,  gaben  auch  hier  die  den  Mons 
Cetius  (das  heutige  Semmering-Gebiet)  weithin  überziehenden  Urwälder  für 
Norikum  ab.  Gerade  an  der  Semmeringstraße,  die  uns  heute  als  eine  wichtige, 
fast  unentbehrliche  Lebensader  des  Verkehrs  vorkommt,  läßt  sich  besonders 
deutlich  erkennen,  mit  welcher  Vorsicht  der  Maßstab  der  Jetztzeit  an  die  Verkehrs- 
bedingungen früherer  Zeiten  gelegt  werden  muß  und  was  für  falsche  geschicht- 
liche Bilder  im  entgegengesetzten  Falle  dabei  herauskommen  kennen.  Der 
ungeleitete,  spontane  Verkehr  hat  keine  Regeln  gekannt,  und  es  haben  sich  daher 
wohl  an  ungezählten  Stellen  der  Alpen,  und  so  auch  am  Semmering,  einzelne 
bewegliche  Römerfunde  feststellen  lassen.  Solche  Einzelfunde  können  aber  noch 
durchaus  nicht  den  Beweis  für  irgendwelchen  ausgetretenen  Straßenzug  erbringen; 
denn  hierzu  müssen  diese,  wenn  sonstige  schriftliche  Nachrichten  fehlen,  sich 
wenigstens  gliederartig  an  verschiedenen  Stellen  derselben  Linie  aneinanderreihen, 
und,  was  die  Hauptsache  ist,  den  Anschein  erwecken,  teilweise  auch  von  festen 
Baulichkeiten  und  Niederlassungen  herzurühren. 

Nach  Aquileja,  dem  ursprünglichen  römischen  Ausgangspunkte  zurück- 
kehrend, bleibt  nunmehr  noch  die  Betrachtung  der  letzten  eigentlichen  Alpenstraße, 
der  über  den  Isonzo  und  die  südlichsten  Teile  der  norischen  Alpen  nach 
Laibach=Emona  führenden  und  im  Voraufgegangenen  schon  oft  genannten  Birn- 
baumer Straße  übrig.  Auf  den  ersten  Blick  muß  in  die  Augen  fallen,  wie  sehr 
diese  Straße  als  ein  Gegenbild  der  an  der  Nordküste  des  Ligurischen  Meerbusens 


126  VI.  Kapitel. 

vorübergehenden  Straße  angesehen  werden  kann,  und  wie  nahe  daher  ein  Vergleich 
beider  Straßen  für  die  Römerzeit  liegt.  Beide  Straßen  sind  nur  in  beschränktem 
Sinne  Alpenstraßen,  weil  das  Gebirge  ihnen  an  seinen  Enden  nur  noch  in 
geringer  Höhe  und  Breite  entgegentritt;  beide  sind  daher  auch  als  die  bequemsten 
Straßen,  um  überhaupt  in  das  Land  jenseits  der  Berge  zu  kommen  gerade  von 
den  ebenso  sehr  bequemen  wie  praktischen  Römern  viel  früher  als  die  anderen 
Alpenübergänge  benutzt  worden.  In  der  Art  ihrer  Benutzung  und  Erprobung 
haben  diese  beiden  Straßen  jedoch  ein  grundverschiedenes  Schicksal  voneinander 
erfahren.  Die  Besetzung  der  ligurischen  Küstenstraße  diente  den  Römern  als 
Mittel,  um  durch  sie  ihre  erste  Provinz  jenseits  der  Alpen  einzurichten,  an  die 
sich  dann  stufenweise  die  Erwerbung  Galliens  und  der  Rheinlande  und  die 
Eröffnung  der  anderen  Westalpenpässe  anschloß,  alles  Ereignisse,  die  in  die 
kräftigste  und  dramatischste  Zeit  der  römischen  Geschichte  gehören.  Die  Birn- 
baumer Straße  lag  für  die  römische  Politik  dagegen  zunächst  abseits.  Nachdem 
ein  einziges  politisches  Ereignis,  die  drohende  Haltung  Makedoniens,  die  Römer 
einmal  dazu  geführt  hatte,  Hand  auf  diese  Straße  zu  legen,  verlor  sie  dann  in 
der  folgenden  Zeit  der  Republik,  während  in  der  Nähe  der  Westalpen  das 
militärische  Leben  niemals  ruhte,  zunächst  viel  von  ihrer  Bedeutung,  und  auch 
während  der  ersten  Kaiserzeit  geschah,  nachdem  Augustus  und  Tiberius  die 
Verhältnisse  hier  endgültig  geordnet  hatten,  organisch  und  wie  von  selbst,  aber 
ohne  von  großen  Ereignissen  begleitet  zu  sein,  ihr  weiterer  Ausbau.  Aber 
während  dann  in  den  letzten  Jahrhunderten  des  Römerreichs  die  Aufmerksamkeit 
der  Regierung  sich  von  der  ligurischen  Küstenstraße  und  von  dem  Westflügel 
der  Alpen  abwenden  mußte,  waren  während  jener  Zeiten  die  von  der  Birnbaumer 
Straße  durchzogenen  Gebiete  die  Bahn,  durch  die  der  ertötende  Ostwind  gegen 
die  reife  Frucht  der  römischen  Kultur  heranbrauste.  Auch  die  scharfsinnigsten 
römischen  Geister,  wie  Cäsar  und  Augustus,  haben,  als  sie  an  dieser  Seite 
verhältnismäßig  mühelos  die  römischen  Grenzen  vorschoben,  es  sicher  nicht 
geahnt,  daß  sich  hier  einst  das  Schicksal  ihres  Staates  erfüllen  sollte. 

Daß  die  Birnbaumer  Straße  zu  der  Zeit,  als  Aquileja  am  höchsten  entwickelt 
war,  die  wichtigste  der  in  diese  Stadt  einmündenden  Verbindungen  war,  ergibt 
sich  daraus,  daß  allein  entlang  des  von  ihr  eingeschlagenen  Weges  in  der  Um- 
gebung Aquilejas  eine  vollständige  großstadtartige  Vorortsentwickelung  zu  beobachten 
ist.  Nach  dieser  Seite  hin  finden  sich  außerhalb  Aquilejas  Reste  über  Reste 
unter  dem  Boden,  so  bei  Columbaria,  Vilesse  und  weiter  bei  Silicianum  (Salcano) 
und  Monfalcone.  Weit  besser  würden  wir  freilich  noch  über  die  Stadtgeschichte 
Aquilejas  unterrichtet  sein,  wenn  nicht  gerade  hier  die  Veränderungen,  die  der 
Isonzolauf  nach  und  nach  hervorgerufen  hat,  das  Landschaftsbild  vollständig 
gegen  früher  umgestaltet  hätten.  Die  Straße,  die  heute  über  Schönpaß  und 
Heidenschaft  nach  Oberlaibach  geht,  wurde  im  römischen  Altertum  anfangs  nach 
dem  anliegenden  Okra-Gebirge,  später  aber,  als  sich  die  Römer  vollständig  hier 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  127 

eingerichtet  hatten,  nach  der  Wegestation  Ad  plrum  als  die  Birnbaumer  Straße 
bezeichnet,  und  heute  führt  auch  noch  das  südlich  von  ihr  liegende  Birnbaumer 
Waldgebirge  den  gleichen  Namen.  Schon  bevor  die  Römer  hier  die  Reichsstraße 
legten,  war  das  erste  und  älteste  Ziel  der  seit  alter  Zeit  in  Gebrauch  befindlichen 
Straße  die  Tauriskerstadt  Nauportus  an  der  Stelle  des  heutigen  Oberlaibach. 
Dieser  Ort  verschwindet  aber  schon  bald  in  der  römischen  Kaiserzeit,  ein  Zeichen, 
daß  der  alte  Straßenzug,  an  den  die  Römer  anknüpften,  ursprünglich  nur  direkt 
landeinwärts  nach  Osten  wies,  während  dagegen  im  Verlauf  der  Römerherrschaft 
dieses  erste  Glied  der  Birnbaumer  Straße  bis  Laibach  nach  und  nach  zur  Brücke 
wurde,  um  den  Hauptteil  des  Verkehrs  von  Aquileja  aus  nicht  direkt  nach  dem 
Osten,  sondern  nach  dem  Südosten  zu  leiten.  Diese  Verschiebung  wird  dadurch 
bezeichnet,  daß  sich  dann  in  den  eigentlichen  Römergründungen  entlang  der 
Straße,  in  Emona,  Celeja  und  Poetovia  überall  wichtige  Ableger  nach  Siscia  und 
Sirmium  ansetzten. 

Anfangs  freilich  wurde  die  Straßenlegung  nur  durch  die  Handelskonstellation 
von  Aquileja  nach  Nauportus  hinüber  bestimmt,  von  dem  aus  die  auf  der  Achse 
zu  ihm  herübergebrachten  italienischen  Waren  aruf  dem  Wasserwege  weiter  ver- 
frachtet wurden.  Die  wirtschaftliche  Eröffnung  der  heutigen  Balkanhalbinsel 
unter  den  ersten  Kaisern  mag  diesen  Zustand  jedoch  bald  verschoben  und  den 
Handel  von  Nauportus  weg  nach  den  Treffpunkten  der  neu  erbauten  großen 
Landstraßen  gelenkt  haben.  Dem  allen  entspricht  es  aber  zunächst,  daß  Strabo 
jenen  Weg  als  einzigen  unter  den  Alpenstraßen  neben  dem  über  den  Kleinen 
Sankt  Bernhard  als  fahrbar  bezeichnet;  nur  kann  diese  Tatsache  hier  durchaus 
nicht  den  Ausdruck  einer  besonderen  Kulturleistung  bedeuten,  da  die  von  jener 
Straße  durchzogenen  Gegenden  der  Alpen  überall  ihren  strengen  Hochgebirgs- 
charakter  verloren  haben. 

In  einer  Beziehung  beansprucht  die  eigentliche  Birnbaumer  Waldstraße  aber 
noch  besonderes  Interesse;  denn  sie  ist  diejenige  Alpenstraße,  an  der  sich  noch 
am  deutlichsten  die  römischen  Befestigungsanlagen  erhalten  haben.  Der  Grund, 
weshalb  solche  gerade  hier  zahlreich  gebaut  worden  sind,  liegt  auf  der  Hand; 
denn  die  niedrige  Berglandschaft,  durch  die  jener  Weg  zieht,  liefert  dem  Militär 
nicht  mehr  so  reichlich  natürliche  Hilfsmittel  für  die  Verteidigung,  so  daß  hier 
durch  künstliche  Befestigungen  nachgeholfen  werden  mußte.  Diese  Verteidigungs- 
werke blickten  direkt  nach  Osten.  Vor  ihrem  eigentlichen  Zentrum,  bei  Heiden- 
schaft, lagen  zunächst  drei  vorgeschobene  Stellungen,  die  äußerste  östliche  in 
Gestalt  einer  die  Straßenlegung  kreuzenden  Mauer  bei  Oberlaibach,  die  zweite 
und  dritte,  beide  mit  Kastellen  an  der  Straße  versehen,  weiter  einwärts  bei  Ober- 
loitsch  bezl.  auf  der  Paßhöhe  in  Alpe  Julia  (St.  Gertrudis),  bis  schließlich  bei 
dem  bezeichnenden  Namen  Heidenschaft,  der  römischen  Station  Ad  Frigidum, 
die  Hauptstellung,  ein  großes  Lager  mit  sechzehn  Türmen,  zu  finden  war.  Es 
ist  also  schon  hier  keine  andere  Befestigungsweise  als  wie  wir  sie  auch  im  neun- 


128  VI.  Kapitel. 

zehnten  Jahrhundert  entlang  der  Stilfser  Jochstraße  angewendet  sehen,  wo  sich 
gleichfalls  von  außen,  von  der  italienischen  Seite,  nach  innen  Stellung  auf  Stellung 
von  der  Teufelsbrücke  bei  Bormio  bis  zur  Paßhöhe  hinzieht.  Leider  fehlt  uns 
die  Möglichkeit,  die  Zeit  der  Herstellung  jener  römischen  Befestigungen  genau 
zu  bestimmen.  Ein  bei  Loitzsch  gefundener  Meilenstein  von  Trajan  erklärt  sich 
besser  aus  dessen  dazischen  Feldzügen,  als  dieser  Kaiser  jene  Straße  als 
Anmarschlinie  benutzte.  Da  jene  Befestigungen,  die  keinen  provisorischen, 
sondern  durchaus  permanenten  Charakter  zeigen,  als  solche  jedoch  schon  bei 
dem  Einfall  des  Kaisers  Maximin  im  Jahre  238  nach  Ch.  in  Wirksamkeit  getreten 
sein  müssen,  so  liegt  die  Wahrscheinlichkeit  vor,  daß  sie  der  Zeit  der  Marko- 
mannenkriege, als  der  Nordosten  zum  ersten  Mal  dem  römischen  Reiche  sein 
gefährliches  Gesicht  gezeigt  hat,  ihren  Ursprung  verdanken. 

Bei  den  weiteren  Stationen  an  dieser  Straße  bezeichnet  die  Zeit  ihrer 
Gründung  jedes  Mal  die  Entfernung,  um  die  hier  nach  und  nach  die  römische 
Besiedelung  vorgerückt  ist.  Laibach  ist  zunächst  das  Emona  der  Julier,  das 
schon  am  Anfang  der  Kaiserzeit  so  eng  mit  dem  Südland  verknüpft  schien,  daß 
es  Augustus  auch  organisatorisch  zu  Italien  schlagen  konnte.  Weiterhin  hat  dann, 
um  von  Emona  nach  Celeja  zu  gelangen,  die  Römerstraße,  anders  als  heute  die 
Eisenbahn,  das  Tal  der  Save  gemieden  und  ist  nördlich  in  gerader  Linie  auf 
Celeja  weitergegangen;  die  Tatsache  aber,  daß  die  Römer  hier  bei  ihrer  Straßen- 
legung  dem  kurzen  Landweg  vor  dem  schon  damals  vom  Handel  belebten  Fluß- 
tale den  Vorzug  gaben,  beweist,  daß  als  die  ersten  Kaiser  hier  die  Grenzpfähle 
vorrückten,  lediglich  noch  die  militärischen  Rücksichten  ausschlaggebend  waren. 
Von  Stationen  sind  bekannt  der  Save-Übergang,  dann  Ad  publicandos  (Podpetsch) 
und  Adrantes  (St.  Oswald  am  Drauberg). 

Celeja  selbst  hält  in  seinem  Beinamen  Claudia  die  Erinnerung  an  seine 
Gründungszeit  fest.  Das,  was  wir  über  die  Größe  und  Pracht  der  antiken  Ruinen 
dieser  Stadt  und  ebenso  auch  über  die  Ausdehnung  der  dortigen  religiösen  In- 
stitutionen während  des  Altertums  wissen,  erlaubt  ferner  den  Schluß,  daß  Celeja 
in  der  späteren  Kaiserzeit  mindestens  ebenso  groß  wie  Emona  und  prächtiger 
als  Poetovio  gewesen  ist.  Der  Grund  dieses  Aufblühens  mag  aber  nicht  so  sehr 
nur  in  der  Lage  der  Stadt  an  der  von  Westen  nach  Osten  führenden  Linie, 
sondern  vielmehr  darin  zu  suchen  sein,  daß  Cilli  das  Haupttor  bildete,  durch 
das  sich  der  ganze  aus  dem  Südosten  kommende  Verkehr  in  die  inneren  Ost- 
alpenländer hinein  ergoß,  wie  ja  von  hier  aus  auch  über  Upellis  (Weitenstein), 
Collatione  (Windisch-Grätz)  und  Juenna  (bei  Bleiburg  im  Jauntal)  eine  Ver- 
bindung erster  Ordnung  nach  Virunum  geführt  hat,  während  eine  direkte  Ver- 
bindung zwischen  Emona  und  Virunum  zur  Römerzeit  ganz  fehlt.  Von  jener 
letzteren  Strecke  aus  ist  fernerhin  auch  ein  Ableger,  der  vom  Drautal  aus  in  das 
Lavanttal  hinein  aufwärts  bis  Wolfsberg  führte,  wahrscheinlich.  Celeja  und  sein 
Gebiet  gehörte  unter  den  Römern  übrigens  bald  zur  Provinz  Norikum,  bald  zur 


Die  Römerstraßen  der  Alpen.  129 

Provinz  Pannonien;  auch  dieses  kann  ein  Zeichen  von  der  Vermittlerrolle  sein, 
die  jener  Ort  damals  nicht  bloß  zwischen  dem  Westen  und  Osten,  sondern  ebenso 
zwischen  dem  Süden  und  Norden  abzugeben  hatte. 

Auch  von  Cilli  bis  Pettau  lief  der  Zug  der  Römerstraüe  nicht  im  Gleise 
der  heutigen  Eisenbahn  sondern  kürzer  gestreckt  nördlich  derselben  weiter. 
Pettau  selbst,  das  schon  als  Keltenstadt  erwähnt  wird,  mag  als  Ort  älter  sein  als 
Cilli  uud  seine  Entstehung  ebenso  wie  Nauportus  der  Lage  an  dem  nach  Süd- 
osten hinströmenden  verkehrsfreundlichen  Flußlaufe  verdanken;  seinen  römischen 
Beinamen  führt  es  als  Colonia  Ulpia  Trajana  jedoch  erst  von  Trajan,  der  im 
europäischen  Osten  das  Werk  des  Klaudius  aufnahm  und  der  letzte  römische 
Kaiser  war,  der  hier  nicht  abwehrend  sondern  noch  ausgreifend  wirkte.  Zu 
jener  Zeit  erhielt  Pettau  mit  seinem  Kastell,  dem  heutigen  Schloß  Oberpettau, 
ausgesprochene  Wichtigkeit  als  Ausfallstor  gegen  Dacien  und  als  rückwärtige 
Stellung  eines  der  Hauptgabelpunkte  des  römischen  Straßensystems  in  diesen 
Gegenden.  Jener  Gabelpunkt,  an  dem  die  Straße  nach  Savaria-Carnuntum  und 
diejenige  nach  dem  Donauknie  bei  Aquincum  (Budapest)  auseinanderliefen,  lag 
entweder  dicht  bei  Pettau  oder  weiter  östlich  am  Murübergange,  einige  Meilen 
flußabwärts  vom  heutigen  Radkersburg,  und  hauptsächlich  von  dieser  Stelle  aus 
ist  dann  auch  die  römische  Kolonisation  ungestört  muraufwärts  in  das  heutige 
Steiermark  eingedrungen.  Als  Etappen  jenes  Zuges  nordwärts  in  die  Steiermark 
hinein,  an  dem  römisches  Wesen  nachzuweisen  ist,  finden  wir  heute  die  Namen 
Radkersburg,  Straß,  Leibnitz  und  Seggau,  letztere  beide  als  Töchter  des  alten 
Flavium  Solvense,  und  weiter  hinauf  im  Herzen  des  Landes  Kaisdorf,  Straßgang, 
Straßengel,  Gratz  und  Voitsberg.  Heute  laufen  dagegen  Landstraße  sowie 
Hauptbahn,  um  aus  dem  Gebiet  der  Save  bei  Cilli  nach  dem  Gebiet  der  Drau 
und  Mur  zu  gelangen,  bereits  westlich  vor  Pettau  und  über  Marburg  a.  d.  Drau 
in  nördlicher  Richtung  ab,  während  Pettau  selbst  seitab  liegt.  Es  ist  dieses  eine 
Verschiebung,  die  bereits  während  des  Mittelalters,  als  die  Verbindung  nach  dem 
Orient  für  jene  Striche  immer  unwichtiger  zu  werden   begann,   eintreten    mußte. 

Überhaupt  fällt  es  an  dieser  östlichsten  Seite  des  Gebirges  am  meisten  auf, 
wie  sehr  hier  die  alten  römischen  Straßenzüge  gegen  die  der  späteren  und  nicht 
zum  Mindesten  auch  gegen  die  der  jetzigen  Zeiten  verwischt  erscheinen.  Der 
Grund  hierfür  liegt  aber  einzig  darin,  daß  gerade  der  Osten  Europas  in  seiner 
Bedeutung  für  den  ganzen  Erdteil  die  größte  Veränderung  gegen  das  römische 
Altertum  erfahren  hat.  In  der  Jetztzeit  sind  in  den  Donautiefländern  in  Gestalt 
von  Wien  und  Budapest  selbständige  Kulturzentren  entstanden,  die  die  Herr- 
schaft über  jene  Gebiete  an  sich  gezogen  haben,  die  sonst  sämtlich  nach  dem 
Süden  gravitierten,  während  weiterhin  vor  Entstehen  dieser  Mittelpunkte  und 
gerade  in  den  auf  die  Römerzeit  folgenden  Jahrhunderten  hier  im  Osten  der 
schärfste  Rückgang  und  der  größte  Ausfall  an  kulturkräftigen  Gebilden  ein- 
getreten ist.  Im  zwölften  Jahrhundert  nach  Ch.  bestand  zwischen  den  Be- 
sehe rrei,  Verkchrsgesebjefate  der  Alpen.    I.  Band.  9 


130  VI.  Kapitel. 

wohnern  von  Venedig  und  denen  Serbiens  ein  Kulturunterschied  größer  als 
zwischen  denjenigen  des  damaligen  Roms  und  Londons,  während  ein  Jahrtausend 
vorher  die  Bürger  von  Aquileja  und  Sigindinum  (Belgrad)  ganz  gleichwertig 
waren.  Im  römischen  Altertum  war  eben  auch  an  dem  Ostflügel  der  Alpen  wie 
auch  überall  sonst  in  Europa,  der  auf  dem  Forum  der  Hauptstadt  Rom  befindliche 
goldene  Meilenzeiger  der  Pol,  von  dem  aus  allein  die  das  Verkehrsleben  des 
Erdteils  bewegende  Kraft  ausstrahlte,  eine  Kraft,  die  wiederum  überall  die  gleiche 
Formel  zur  Erklärung  vdes  unendlich  kunstvollen  Gewebes  aller  dieser  Verkehrs- 
linien darbietet. 


VII.  Kapitel. 

Die  Alpen  und  die  germanische  Völkerwanderung. 


Dieses  über  das  ganze  Alpengebiet  gespannte  und  im  vorigen  geschilderte 
große  Straßennetz  stellt  sich  demnach  als  ein  innerhalb  zweier  Jahrhunderte 
(von  Augustus  Regierungsantritt  bis  zu  dem  Mark  Aureis)  in  aller  Regelmäßigkeit 
und  Ruhe  entstandenes  und  nur  um  der  Herrschaftsinteressen  eines  großen 
Reiches  willen  angelegtes  Werk  dar,  dessen  Festigkeit  und  Folgerichtigkeit  bis 
dahin  jedoch  noch  niemals  einer  ernsteren  Probe  hatte  standhalten  müssen.  Die 
Art  und  Weise,  wie  die  Römer  ihre  Herrschaft  zu  sichern  wußten,  die  Mittel, 
die  sie  hierzu  anwendeten,  waren  in  allen  unterworfenen  Gebieten  ungefähr  die 
gleichen,  und  es  ist  deshalb  auch  nicht  anzunehmen,  daß  sie  in  den  Alpen  von 
vornherein  ihren  Machtmitteln  eine  größere  Festigkeit  und  Widerstandsfähigkeit 
zu  geben  gesucht  hätten  als  in  irgend  einer  anderen  Grenzprovinz.  Der  Gang 
der  Geschichte  hat  aber  dazu  geführt,  daß,  nachdem  sich  der  Schauplatz  der- 
selben einmal  von  Asien  nach  Europa  verschoben  hatte,  nun  auch  die  großen 
äußeren  Ereignisse,  die  in  erster  Linie  über  das  Schicksal  des  römischen  Reiches 
entscheiden  sollten,  in  der  Mitte  des  Erdteils  fallen  mußten,  und  so  sehen  wir 
daher  jetzt  auch  das  in  jener  Zone  liegende  Alpengebiet  vollständig  in  deren 
Bannkreis  gerückt.  Die  Rheinlande  in  erster  und  die  Alpenländer  in  zweiter 
Linie  sind  neben  den  vielen  anderen  Stellen,  an  denen  außerdem  noch  gekämpft 
und  zerstört  wurde,  der  wichtigste  Schauplatz  jenes  schweren  Ringens  gewesen, 
wie  es  vorher  und  nachher  niemals  gewaltiger  stattgefunden  hat;  sie  waren  es, 
an  denen  die  eigentliche  Entscheidung  fiel. 

Wann  einst  der  erste  wirkliche  Kampf  zwischen  Römern  und  Germanen 
stattgefunden  hat,  läßt  sich  nicht  mehr  bestimmen;  denn  schon  zu  Cäsars  Zeiten 
sehen  wir  solche  Kämpfe  in  vollem  Gange,  und  sie  haben  seitdem  niemals  aus- 
gesetzt. Dagegen  ist  es  möglich,  ganz  genau  den  Zeitpunkt  zu  bestimmen,  an 
dem  jene  Kämpfe  aus  unwichtigen  Grenzkriegen   zu   gewaltigen  welthistorischen 


132  V'I-  Kapitel. 

Ereignissen  geworden  sind.  Es  ist  dieses  die  Zeit  des  Kaisers  Mark  Aurel.  Die 
seit  Cäsar  bis  Mark  Aurel  von  den  Römern  in  Mitteleuropa  gegen  die  Germanen 
geführten  Kriege,  selbst  der  unglückliche  Feldzug  des  Varus,  hatten  niemals  einen 
derartigen  bedrohlichen  Charakter  angenommen,  daß  sie  das  Funktionieren  des 
über  die  ganze  Erde  gespannten  römischen  Staatsmechanismus  ernstlich  hätten 
stören  können.  Denn  es  waren  nichts  anderes  als  Grenzkriege,  ebenso  aufreibend 
zwar  für  die  gerade  von  denselben  betroffenen  römischen  Armeeabteilungen  wie 
unbequem  für  die  Zentralstelle  in  Italien  wegen  der  Unregelmäßigkeit  der  Zeiten 
und  Orte,  an  denen  sie  ausbrachen. 

Anders  ist  das  Bild  jedoch  seit  den  Markomannenkriegen  Mark  Aureis.'  Von 
dieser  Zeit  ab  müssen  wir  eine  neue  Epoche  der  "Weltgeschichte  setzen,  und  die 
geschichtliche  Betrachtung  muß  sich  überhaupt  von  da  ab  zwingender  als  vordem 
in  zwei  Äste  spalten.  Der  eine  von  diesen  kann  nur  die  innere  Entwicklung  des 
Römerreichs  zum  Gegenstand  haben,  das,  immer  subtiler  in  den  politischen 
Ideen  und  immer  erfinderischer  in  den  Mitteln,  sich  an  das  altgewohnte  Dasein 
anklammert  und  somit  eine  Fülle  bunter  und  kulturgesättigter  aber  trotzdem  saft- 
und  sonnenloser  Erscheinungen  bietet,  während  die  andere  Seite  dieser  Geschichts- 
epoche geräuschvoll  von  den  Kämpfen  Roms  gegen  seine  äußeren  Feinde  aus- 
gefüllt wird.  Diese  Feinde  sind  eben  damals  —  ein  Fall,  der  seit  Hannibals  Tagen 
nicht  wieder  eingetreten  war  —  völlig  ebenbürtige  Gegner  Roms  geworden,  und 
jene  ganze  dreihundertjährige  Periode  hindurch  kämpft  daher  dieses  Reich  im 
Grunde  stets  um  nichts  anderes  als  um  seine  Existenz.  Ihren  Abschluß  findet 
jene  Periode  aber  mit  der  völligen  Niederwerfung  der  alten  Kulturmacht,  die 
äußerlich  durch  die  Eroberung  und  Besetzung  fast  aller  römischen  Gebiete  durch 
den  äußeren  Feind  in  die  Erscheinung  tritt. 

Es  war  jedoch  nicht  die  ausnehmend  große  Gewitterwolke,  die  während 
der  Regierung  Mark  Aureis  genau  an  der  Nordostecke  des  römischen  Reiches 
in  Europa  mitten  während  der  hellen  Sommertage  friedlichen  Genusses  unvor- 
hergesehen aufgestiegen  war  und  die  sich  gewaltsam  entladen  hatte,  sondern  unter 
ihren  vielen  Wirkungen  nur  ein  einziges  Ereignis,  durch  das  es  augenfällig  wurde, 
daß  sich  die  Zeiten  jetzt  wirklich  geändert  hatten.  Die  Markomannenkriege 
lieferten  zum  ersten  Male  wieder  das  Vorkommnis,  daß  das  ganze  römische  Ver- 
teidigungssystem nicht  bloß  nach  der  Breite  sondern  auch  nach  der  Tiefe  hin 
vollständig  versagte,  und  der  Feind  plötzlich  den  geheiligten,  drei-  und  vierfach 
versicherten  Boden  Italiens  betreten  konnte.  Die  Tatsache,  daß  die  Markomannen 
damals  vor  Aquileja  und  Opitergum  erschienen  sind,  ist  bei  jenen  Ereignissen 
bedeutender  als  alles  andere.  Wir  sehen  an  derselben  aber  auch  die  wichtige 
Rolle,  die  der  Alpenwall  in  der  Geschichte  Europas  einnimmt;  denn  die  Durch- 
brechung jenes  Walles  war  die  Gewaltprobe,  mit  der  sich  die  neu  aufgetretene 
Kraft  jetzt  in  die  Geschichte  einführte,  —  augenfällig  und  erschreckend,  weil  sie 
für  die  damalige  Welt  alle  Begriffe  des  äußerlichen  Daseins  in  Verwirrung  setzte. 


Die  Alpen  und  die  germanische  Völkerwanderung.  133 

Daß  dieser  feindliche  Ansturm  aber  so  weit  nach  Süden  auslaufen  konnte, 
liegt  allein  in  dem  stärkeren  Einsetzen  der  germanischen  Völkerwanderung.  Es 
ist  bei  derselben  zunächst  die  gleiche  treibende  Kraft  und  das  gleiche  Bild,  wie 
wir  es  schon  bei  der  keltischen  Völkerwanderung  kennen  gelernt  haben.  Nur 
zeigen  sich  diesmal  —  allerdings  auch  im  Hinblick  auf  das  Wenige,  was  wir 
heute  noch  von  der  keltischen  im  Vergleich  zu  der  germanischen  Völkerwande- 
rung wissen  —  alle  Verhältnisse  stärker  entwickelt  und  dramatischer  durchgeführt 
als  ein  halbes  Jahrtausend  vorher.  Ob  der  Grund  hierfür  freilich  außerdem  noch 
in  der  stärkeren  Kraft  der  germanischen  Völker  im  Vergleich  zu  der  der  Kelten 
zu  suchen  ist,  können  wir  heute  nicht  mehr  entscheiden,  da  sich  der  wirkliche 
Charakter  der  Kelten  zu  den  Zeiten  als  diese  ihre  Völkerwanderung  antraten  zu 
sehr  unseren  Blicken  entzieht.  Sicher  aber  ist,  daß  die  Austragung  des  Ringens 
während  der  germanischen  Völkerwanderung  schon  deshalb  heftiger  werden  mußte, 
weil  diesmal  auch  der  römische  Gegendruck  kräftiger,  bewußter  und  in  den  letzten 
Stadien  des  Kampfes  vor  allem  auch  erbitterter  gegen  das  Platzgreifen  dieser 
neuen  Kraft  ankämpfte. 

Die  Richtung,  von  der  diese  Bewegung  ausging  und  die,  nach  der  sie  zu- 
strebte, ist  dagegen  genau  dieselbe,  wie  sie  schon  bei  der  keltischen  Völker- 
wanderung zu  spüren  war.  Vom  Osten  Europas  ausgehend  lief  auch  dieser 
Völkerzug  in  der  Hauptsache  zunächst  in  westlicher  und  einigermaßen  in  südwest- 
licher Richtung.  Während  aber  die  keltische  Völkerwanderung  wahrscheinlich 
erst  nach  Umgehung  der  Alpen  an  deren  westlichem  und  östlichem  Ende  und 
auf  den  Boden  Italiens  selbst  schärferen  Widerstand  fand,  sicherlich  aber  dieser 
Widerstand  erst  an  jenen  Punkten  in  das  Licht  der  Geschichte  tritt,  ist  die  ger- 
manische Völkerwanderung  zeitlich  früher  und  räumlich  eher  an  die  Grenzen  der 
alten  Kulturmacht  gestoßen.  Die  Länder,  in  denen  jene  ersten  Zusammenstöße 
erfolgten,  sind  einerseits  vor  allem  das  westliche  Deutschland,  weil  hier  der  Rhein 
in  seiner  ganzen  Ausdehnung  von  Basel  (Äugst)  bis  zur  Mündung  die  große 
Barriere  gegen  die  von  Osten  kommende  Invasion  abgeben  mußte,  und  weshalb 
auch  damals  die  rheinischen  Landschaften  ohne  weiteres  das  militärische  Haupt- 
land Europas  ausmachten,  und  andererseits  das  Donauufer  der  heutigen  öster- 
reichischen Erzherzogtümer,  insbesondere  die  Ebene  von  Wien.  Nördlich  dieses 
letzteren  Gebietes  aber  muß  in  der  den  eigentlichen  Markomannenkriegen  vor- 
aufgegangenen Periode  ein  starker  Teil  jener  Völkerströmung  den  geraden  Weg 
nach  Westen  bereits  vor  sich  versperrt  gefunden  haben  und  diese  Gruppierung 
so  die  Veranlassung  geworden  sein,  daß  die  damals  mit  dem  Namen  der  Mar- 
komannen bezeichneten  germanischen  Völker  selbst  in  mehr  südlicher  Richtung 
sich  Luft  zu  machen  suchten  und  so  in  die  Grenzen  des  römischen  Reiches  ein- 
brachen. Während  also  bei  der  keltischen  Völkerwanderung  die  der  Zeit  nach 
letzten  Ereignisse  an  der  mittleren  Donau  auftreten,  sehen  wir  im  Gegensatz 
hierzu    bei   der   eigentlichen   germanischen  Völkerwanderung  sich   die   fi^ühesten 


134  VII.  Kapitel. 

Ereignisse  an  jener  Stelle  abspielen.  Daß  dieselben  hier  aber  wiederum  derartig 
überraschende  und  verheerende  Wirkungen  hervorrufen  konnten,  hatte  seinen 
Grund  in  dem  Aufbau  des  römischen  Weltreichs.  Denn  dieses  war  seiner  ganzen 
Entwickelung  nach  wohl  dazu  gekommen,  die  Rheinlande  und  den  Nordrand  der 
Alpen  als  waffenstarrende  Grenze  derart  zu  verbarrikadieren,  daß  die  feindlichen 
Völkerbewegungen  sich  jenseits  derselben  zunächst  anstauen  mußten.  Am  Ost- 
rand der  Alpen  aber,  wo  auch  die  natürliche  Gestaltung  des  Landes  der  Abwehr 
nicht  in  dem  gleichen  Maße  gut  zu  Hilfe  kam,  waren  dagegen  die  Fronten  schwä- 
cher geblieben,  wie  auch  die  römische  Reichsverteidigung  an  jenen  Punkten 
nicht  in  dem  Maße  durch  die  vorangegangenen  Ereignisse  auf  das  Kommende 
hingewiesen  worden  war. 

Viel  schärfer  als  wir  heute  mögen  auch  selbst  die  Römer  der  damaligen 
Zeit  nicht  die  Gründe  für  die  Zeiten  und  Punkte,  an  denen  diese  germanischen 
Angriffe  eintraten,  zu  erkennen  vermocht  haben.  Wie  wir  heute  bei  diesen  Krie- 
gen auch  nur  denjenigen  Bewegungen  da  nachkommen  können,  wo  sie  auf  die 
Grenzen  des  römischen  Reiches  auslaufen,  so  sahen  auch  damals  die  Römer 
zunächst  nur  ihre  Grenznachbarn  vor  sich.  Dasjenige  aber,  was  hinter  dem 
Schleier  der  benachbarten  Völker  vor  sich  ging,  und  was  stets  die  eigentliche 
Ursache  dieser  heute  die  Bände  der  Weltgeschichte  anfüllenden  Kriege  bildete» 
mußte  ihnen  ebensosehr  wie  uns  verborgen  bleiben.  Von  Osten  ausgehend  folgte 
Schiebung  auf  Schiebung,  Druck  auf  Druck,  aber  wir  sehen  den  Wellenschlag 
jener  Bewegungen  erst  dann  in  die  Erscheinung  treten,  sobald  er  die  römischen 
Kulturgrenzen  erreicht  hat,  wo  es  etwas  zu  zerstören  oder  aufzuzeichnen  gab;  denn 
nur  durch  dieses  Beides  ist  die  Kunde  von  jener  Vergangenheit  auf  uns  gekommen. 

Die  grundverschiedene  Beschaffenheit  beider  Gegner  ist  das  charakteristische 
aller  Kämpfe  der  germanischen  Völkerwanderung.  Bei  den  Römern  eine  syste- 
matische, bedächtige,  mit  der  vollen  Überlegenheit  aller  geistigen  und  materiellen 
Mittel  und  Jahrhunderte  langer  Erfahrungen  ausgestattete  Kriegsführung,  aber 
innerlich  ein  immer  mehr  überhandnehmender  Mangel  an  der  ersten  Voraus- 
setzung aller  Kampffähigkeit,  an  physischer  Kraft  der  Gesamtheit,  bei  den 
Germanen  dagegen  ein  unerschöpflicher  Überschuß  an  Volkskraft,  aber  Fehlen 
der  wichtigsten  militärischen  Fähigkeiten,  Direktions-  und  Organisationslosigkeit, 
und  Inkonsequenz  der  Volksführer,  die  im  besten  Falle  Heerfürsten,  niemals 
aber  Feldherren  sind.  Liefert  jene  Verfassung  der  Römer  ohne  weiteres  die 
Erklärung  für  die  lange,  fast  dreihundertjährige  Dauer  dieser  Kämpfe,  so  ergibt 
sich  aus  der  Beschaffenheit  der  Germanen  wiederum  die  besondere  Art  der 
Kriegsführung  dieser  Zeiten.  Denn  wie  ein  blindes  Ungefähr  erscheinen  die 
Germanen  bald  zu  jener  Zeit,  bald  auf  diesem  Schauplatz  Mitteleuropas;  jene 
Unberechenbarkeit  ist  es,  die  bei  diesen  Kämpfen  besonders  in  die  Augen 
springt  und  die  deshalb  auch  der  Darstellung  derselben  stets  so  große  Schwierig« 
keiten  bereitet  hat. 


Die  Alpen  und  die  germanische  Völkerwanderung.  135 

Jene  Unberechenbarkeit  hatte  aber  allein  ihren  Grund  in  der  durch  den 
Kräfteüberschuß  herbeigeführten  leichten  Beweglichkeit  der  germanischen  Völker. 
Es  ist  am  Anfang  wie  am  Ende  der  germanischen  Völkerwanderung  immer  das- 
selbe Bild.  Wohl  liegt  überall  die  römische  Front  dem  Feinde  vor,  aber  welche 
Punkte  an  diesen  langen  Linien  er  sich  zum  Angriff  aussucht  und  wie  tief  er 
dabei  in  die  Front  selbst  hineingelangt,  dies  scheint  keine  Gesetze  zu  kennen. 
Cäsar  begegnete  den  Bojern  plötzlich  bei  Genf,  nachdem  sie  vorher  am  anderen 
Ende  der  Alpen  Norikum  unsicher  gemacht  hatten.  Bei  den  Markomannen  war 
es  das  Erschreckende,  wie  tief  südwärts  sie  wider  Erwarten  nach  Italien  hatten 
hineingelangen  können,  und  unter  den  das  ganze  dritte  Jahrhundert  nach  Ch. 
anfüllenden  Kämpfen  der  Alemannen  ist  das  bezeichnendste  Ereignis  jener  Art 
das  Erscheinen  derselben  vor  Ravenna  (in  den  Jahren  259  oder  260  nach  Gh.), 
wohin  sie  jedoch  außerdem  nicht  auf  dem  direkten  Wege  über  die  Zentralalpen 
sondern  auf  dem  Umwege  über  die  burgundische  Pforte  und  einen  Übergang 
der  Westalpen  gelangt  zu  sein  scheinen. 

Das  Vernichtungswerk  aller  dieser  Kämpfe  ist  in  seiner  Summe  zwar 
schließlich  so  ungeheuer  geworden  wie  es  seitdem,  dem  Himmel  sei  Dank, 
niemals  wieder  in  der  Geschichte  zu  beobachten  ist;  es  bedurfte  aber  doch  einer 
gleichgearteten  Arbeit  von  vollen  drei  Jahrhunderten,  um  dieses  zu  erreichen. 
Anfänglich  wenigstens  konnte  die  römische  Auffassung  noch  darin  Recht  behalten, 
wenn  sie  annahm,  daß  diese  mit  Donnergepolter  auftretenden  Ereignisse  ebenso 
rasch  wie  sie  gekommen  waren  auch  wieder  zu  verschwinden  pflegten,  weil  es 
einesteils  diesen  einzelnen,  blitzartig  verlaufenden  Feldzügen  überhaupt  an  Zeit 
fehlte,  ihre  Spuren  tiefer  in  den  Boden  einzugraben,  anderenteils  aber  auch,  weil 
das  sauber  und  unermüdlich  arbeitende  Organisations-  und  Rekonstruktionstalent 
der  Römer  die  klaffenden  Wunden  sehr  bald  wieder  zu  schließen  vermochte. 
Der  einzigen  Regelmäßigkeit,  der  sich  bei  diesen  Kämpfen  nachkommen  läßt,  ist 
die  Erscheinung,  daß  bei  den  gleichen  Völkern  die  Zwischenräume,  in  denen 
sie  auf  den  Kampfplatz  treten,  meist  die  Dauer  eines  oder  mehrerer  Menschen- 
alter ausfüllen.  Es  entspricht  dies  aber  auch  ganz  der  Unbarmherzigkeit  jener 
Kämpfe,  bei  denen  gewöhnlich  die  lebende  Generation  ihre  ganze  Kraft  einsetzen 
mußte,  und  daher  erst  die  nächste  oder  übernächste  wieder  imstande  war,  über- 
haupt etwas  Selbständiges  zu  unternehmen. 

Da  die  germanische  Völkerwanderung  zunächst  genau  dasselbe  Wesen  zeigt 
wie  die  vorangegangene  keltische,  so  konnte  deshalb  auch  der  Einfluß,  den  das 
Alpengebirge  auf  ihren  Gang  ausgeübt  hat,  kein  anderer  sein  als  derjenige  wie 
er  bereits  sechs  Jahrhunderte  früher  gewesen  war.  Auch  jetzt  bildete  der  Nord- 
abfall der  Alpen  wieder  den  Rand,  an  dem  entlang  sich  die  Völkerzüge  weiter 
nach  Westen  hin  bewegten,  nur  mit  dem  Unterschiede,  daß  vorher  allein  die 
natürliche  Beschaffenheit  des  unwirtlichen  Hochgebirges  jene  Wirkung  ausgeübt 
hatte,  die  Bewegung  in  der  ursprünglich  eingeschlagenen  Richtung  zu  bestärken, 


136  VII.  Kapitel. 

während  diesmal  außerdem  ein  lebendiger  Feind  in  Gestalt  der  römischen 
Truppen  am  nördlichen  Fuße  der  Höhen  auf  Posten  stand,  um  jeden  Versuch 
von  der  Richtung  nach  Westen  abzubiegen  von  vornherein  zu  verhindern. 
Waren  demnach  die  Rheinlande  die  Front,  auf  deren  östliches  Vorland  die  feind- 
lichen Angriffe  unwiderruflich  auftreffen  mußten,  so  bildete  der  Alpenwall  dagegen 
damals  bei  der  Verteidigung  dieser  Linie  die  rechte  Flankensicherung,  die  ein 
günstiges  Geschick  hier  angebaut  hatte  und  die  sich  die  Römer  militärisch  nutz- 
bar gemacht  hatten.  Im  letzten  Grunde  ging  wohl  das  Streben  aller  dieser 
nördlichen  Barbarenvölker  nach  den  wohnlichen  und  begehrenswerten  südlichen 
Ländern,  aber  ein  Durchstoßen  nach  dorthin  in  direkt  nord-südlicher  Richtung 
haben  auch  die  kriegerischen  Bewegungen  jener  Zeit  mit  dem  Instinkte,  der  auch 
allem  anderen  unentwickelten  Verkehre  eigen  gewesen  ist,  zunächst  zu  vermeiden 
gesucht.  Auch  diese  suchten  zunächst  westlich  oder  östlich  um  das  Gebirge 
herum  auszuholen,  und  erst  während  der  letzten  Kämpfe  jener  Völkerwanderung 
geschieht  es  häufiger,  daß  der  Eintritt  der  Blutleere  in  der  lebendigen  römischen 
Verteidigungskraft  den  Feind  zu  einem  Einfall  direkt  von  Norden  nach  Süden 
durch  die  Alpen  hindurch  anreizt. 

Der  Grundgedanke,  nach  dem  die  Römer  während  dieser  Kämpfe  der 
Völkerwanderung  das  Alpengebirge  bewerteten,  ist  also  ganz  durchsichtig  und 
entspricht  in  seiner  Zweckmäßigkeit  vollständig  der  überragenden  militärischen 
Beanlagung  dieses  Volkes.  Um  das  rechts  des  Rheinstromes  liegende  Flanken- 
hindernis auch  als  solches  wirksam  zu  erhalten,  war  es  nötig,  dem  Feinde  die 
Überschreitung  desselben  zu  verwehren,  die  wiederum  nur  dann  hätte  stattfinden 
können,  wenn  der  Marsch  über  die  in  einer  langen  Reihe  von  Westen  nach 
Osten  über  das  Gebirge  verteilten  und  defileeartig  den  Alpenwall  durchquerenden 
Paßübergänge  frei  gewesen  wäre.  Im  großen  und  im  kleinen  sind  die  Alpen- 
kriege stets  Kämpfe  um  Defileen  gewesen.  Wir  haben  es  aber  schon  bei  Marius 
gesehen,  daß  die  kräftigere  Art  der  Kriegsführung  dazu  neigt,  dem  Gegner  vor 
dem  Defilee  zu  begegnen,  und  auch  in  dieser  Zeit  noch  suchten  die  Römer  die 
Entscheidung  nicht  in  die  Defileen  selbst  oder  hinter  dieselben,  sondern  vor 
diese  zu  legen,  oder  sie  stellten  sich,  wenn  man  die  Alpen  als  Gebirgswall  an- 
sehen will,  bereits  auf  der  dem  Feinde  zugewendeten  Seite  dieses  Walles  auf. 
Ein  Zeichen  für  den  tadellosen  Zustand  der  von  ihnen  über  die  Alpen  gelegten 
Straßen  ist  es  aber,  daß  sie  diesen  die  Fähigkeit  zutrauen  konnten,  allen  An- 
forderungen des  militärischen  Verkehrs  zu  genügen,  der  von  dem  Zentrum  ihrer 
Macht  aus  nach  der  feindlichen  Seite  hin  nötig  wurde.  So  verrichtet  denn  vom 
Anfang  des  dritten  Jahrhunderts  nach  Ch.  an,  nachdem  der  römischen  Regierung 
der  Charakter  und  der  Zusammenhang  der  germanischen  Angriffe  wieder  völlig 
klar  geworden  war,  die  Linie  von  Carnuntum  bis  Mainz  (bezl.  bis  Windisch  und 
Äugst)   die   Bestimmung   einer    wohleingerichteten   militärischen  Flankenstellung, 


Die  Alpen  und  die  germanische  Völkerwanderung.  137 

von  der  aus   die   Verteidigung   je   nach  den    Umständen   bloß   passiv,   ebensogut 
aber  auch  durch  aktive  Vorstöße  geführt  werden  konnte. 

Daß  aber  jene  Stellung  nördlich  der  Alpen  nicht  das  einzige  Mittel  dieser 
Verteidigung  war,  sondern  daß  auch  römischerseits  die  ganz  bestimmte  Vorstellung, 
die  Alpenpässe  selbst  militärisch  sperren  zu  können  bestanden  hat,  dafür  haben 
wir  ganz  bestimmte  Zeugnisse  aus  der  Literatur  der  Altenas).  Diese  Zeugnisse 
treten  freilich  erst  deutlich  am  Ende  jener  Kämpfe  hervor,  als  die  äußerlichen 
Hilfsmittel,  die  Länder  nördlich  der  Alpen  selbst  festhalten  zu  können,  immer 
mehr  zu  versiechen  anfingen.  Die  Schriftsteller  der  Völkerwanderung  reden 
häufig  von  den  Engpässen  der  Alpen  und  heben  die  Schwierigkeit  hervor,  die 
mit  der  Durchbrechung  dieser  Pforten  Italiens  verbunden  ist.  Es  ist  dieses  eine 
Auffassung,  die  wie  so  vieles  andere  der  römischen  Organisation  unmittelbar 
dann  auch  von  dem  Regierungssystem  Theodorichs  des  Großen  übernommen 
worden  ist,  wenn  Kassiodor  damals  die  in  Rätien  gelegenen  Befestigungen  ein- 
fach die  Schlüssel  Italiens  nennt  und  das  nördlich  von  diesen  liegende  Gebiet 
als  den  Anfang  der  Unkultur  bezeichnet. 


VIII.  Kapitel. 

Die  Kriegsgescliiclite  der  Alpenländer  von  Mark  Aurel 

bis  Probus. 


Mit  keinem  anderen  Ereignis  ist  der  Name  des  römischen  Kaisers  Mark 
Aurel  enger  verknüpft  als  mit  den  von  ihm  geführten  Markomannenkriegen.  Es 
ist  vorher  gesagt  worden,  daß  mit  diesen  Kämpfen  eine  neue  Periode  der  Welt- 
geschichte ihren  Anfang  genommen  hat  und  auch  der  Grund,  weshalb  sich  diese 
Ereignisse  gerade  am  Ostende  der  Alpen  entladen  mußten.  Das  erste  große  Er- 
eignis dieser  Kämpfe  war  im  Jahre  167  nach  Ch.  der  einem  reißenden  Strome 
gleichende  Durchbruch  der  Markomannen  mitten  durch  die  alteingerichteten 
römischen  Ostalpenprovinzen  bis  hinunter  nach  Venetien,  wo  jene  erst  vor  den 
Mauern  von  Aquileja  und  Opitergum  (Oderzo)  Halt  gemacht  haben.  Diese  Tat- 
sache liefert  daher  einerseits  den  Beweis,  daß  die  römische  Regierung  von  der 
Seite,  von  der  jene  Invasion  erfolgte,  am  allerwenigsten  eines  solchen  Angriffs 
gewärtig  gewesen  ist,  andererseits  aber  auch,  daß  die  Verteidigungsmaßregeln 
überhaupt  an  jener  östlichen  Grenze  der  Alpen  bis  dahin  nicht  allzu  gefestigt 
gewesen  sein  können.  Wir  haben  gesehen,  daß  Augustus  es  unterlassen  hatte, 
die  Grenzen  hier  im  Osten  der  Alpen  ebenso  standfest  wie  an  deren  Westflügel 
und  am  Rhein  festzulegen,  und  auch  der  einzige  römische  Kaiser,  der  nach 
Augustus  dann  hier  im  Osten  noch  selbständig  organisierte,  Trajan,  hatte  bei  seiner 
Grenzsicherung  mehr  das  Gesicht  nach  Osten,  nach  dem  ungarischen  Lauf  der 
Donau,  als  nach  Nordosten,  nach  der  Marchebene  und  der  Linzer  Pforte  gewendet 
gehabt.  Daher  war  hier  von  Anfang  an  eine  schwache  Stelle  in  der  Verteidigung 
geblieben,  deren  Ausdehnung  wir  zunächst  schon  aus  den  Punkten,  an  denen  die 
Markomannen  zuerst  in  Italien  erscheinen,  vermuten,  genauer  jedoch  noch  aus 
den  militärischen  Maßregeln  feststellen  können,  die  dann  nach  vorläufiger  Be- 
endigung dieser  Kriege  von  den  Römern  hier  getroffen  worden  sind. 


Die  Kriegsgeschichte  der  Alpenländer  von  Mark  Aurel  bis  Probus.  139 

Das  Erscheinen  der  Markomannen  vor  Aquileja  würde  zunächst  ebensogut 
eine  Benutzung  der  von  Carnuntum  um  den  Rand  der  Ostaipen  herum  nach 
dem  Birnbaumer- Walde  zu  auslaufenden  Straße  wie  derjenigen  Verbindungen, 
die  durch  die  Ostalpen  von  Norden  und  von  Virunum  auf  jene  Stadt  führten, 
möglich  machen.  Der  Umstand  jedoch,  daß  Pannonien  damals  militärisch  weit 
besser  als  Norikum  besetzt  war  und  im  Zusammenhang  damit  die  Lage  Böhmens, 
des  ursprünglichen  Hauptsitzes  der  Markomannen,  macht  den  Einbruch  derselben 
auf  den  letzteren  Linien  wahrscheinlicher,  während  der  Name  Opitergum  über- 
haupt nur  denjenigen  Punkt  zu  bedeuten  braucht,  bis  zu  dem  die  Feinde  von 
Aquileja  aus  am  weitesten  nach  Italien  hineingelangt  sind.  Ein  Einfall  über  den 
Brenner  her  ist  für  die  damalige  Zeit  jedoch  deshalb  nicht  wahrscheinlich,  weil 
unter  den  vielen  und  großen,  versteckartig  geborgenen  Münzfunden  der  Römer- 
zeit, die  innerhalb  Rätiens  zum  Vorschein  gekommen  sind,  sich  kein  einziger 
findet,  bei  dem  die  Reihe  der  Münzen  zeitlich  schon    bei  Mark  Aurel   abbräche. 

Nach  der  Vertreibung  der  Feinde  vom  Boden  Italiens  hat  dann  Mark  Aurel 
den  Krieg  vom  nördlichen  Pannonien  und  Norikum  aus  und  auf  das  Donauufer 
gestützt  mühsam  zu  Ende  geführt.  Die  militärische  Lage  mag  damals,  als  der 
wohlwollende,  feingebildete  Mann  hier  in  Wien  und  Carnuntum  resigniert  Jahre 
lang  aushalten  mußte,  etwas  Ähnliches  an  sich  gehabt  haben,  wie  sie  sich  ergeben 
hätte,  wenn  sich  an  den  Sommerfeldzug  von  1866  noch  ein  zweiter  großer  Waffen- 
gang zwischen  Österreich  und  Preußen  angeschlossen  hätte.  Nach  römischer 
Auffassung  waren  diese  Kämpfe  damals  jedoch  immer  noch  nichts  anderes  als 
ein  großer  Grenzkrieg,  und  sie  konnten  zunächst  auch  noch  als  ein  solcher  gelten, 
weil  die  aufgezwungene  Verteidigung  wiederum  nach  altem  Stile  in  einen  Angriffs- 
krieg verwandelt  wurde. 

Die  Lücke  aber,  die  vorher  hier  in  dem  Grenzschutz  gewesen  war,  hatte 
sich  von  Carnuntum  aus  das  Donauufer  entlang  bis  Regensburg  erstreckt;  und 
aus  den  Maßregeln,  die  sich  dann  hier  unmittelbar  an  die  Waffenruhe  anschlössen, 
läßt  sich  nun  auch  genau  ersehen,  mit  welchen  Mitteln  diesem  Versäumnis  damals 
abgeholfen  werden  sollte.  Während  vorher  hier  nur  wenig  und  nur  Truppenteile 
zweiter  Güte  gelagert  hatten,  sehen  wir  jetzt  hinter  dem  Donaustrom  kampfbereit 
römische  Kerntruppen  stehen;  das  Garnisonieren  der  10.  und  14.  Legion  in  Car- 
nuntum und  der  3.  Legion  in  Regensburg  ist  für  jene  Zeiten  sichergestellt.  Mit 
der  Zeit  Mark  Aureis  ist  die  Wiener  Ebene  in  die  Kriegsgeschichte  eingetreten, 
um  seitdem  immer  wieder  von  Neuem  als  ein  militärischer  Brennpunkt  Mittel- 
europas zu  erscheinen.  Damals  war  es  aber  vor  allen  Dingen  wichtig,  daß  durch 
die  von  Süden  herankommenden  Verbindungen  ein  ungehindertes  Auslaufen  auf 
jenes  römische  Vorland  sichergestellt  wurde,  und  so  sehen  wir  deshalb  auch  zur 
Römerzeit  den  Hauptort  dieses  Gebietes  von  Wien  aus  ein  Stück  weiter  nach 
Osten,  nach  Carnuntum  selbst  gerückt,  weil  gerade  auf  diesen  Ort  die  von  Poe- 
tovio  und  Savaria  kommende  Straße  unmittelbar  einmündete.     Ist  somit  die  spe- 


140  VIII.  Kapitel. 

zielle  Lage  Carnuntums  zunächst  noch  ein  weiterer  Beweis  für  die  geringe  Wichtig- 
keit des  Weges  über  den  Semmering  während  der  Römerzeit,  so  ist  weiterhin 
die  Tatsache,  daß  Carnuntum  aus  einem  ursprünglich  keltischen  Ort  entstanden 
ist,  in  gleicher  Weise  für  die  Ansiedelungsart  der  Kelten  wie  für  die  Art  der 
römischen  Organisation  bezeichnend. 

Von  der  Zeit  Mark  Aureis  ab  trat  aber  dann  bei  jenem  Ort  der  Charakter 
der  bürgerlichen  Niederlassung  weit  hinter  dem  einer  Garnisonstadt  zurück  und 
der  Mauerring  dieser  Stadt  mag  damals,  wie  die  weite  Ausdehnung  der  über  die 
heutigen  Orte  Petronell  und  Deutsch -Altenburg  sich  hinziehenden  Ruinen  ahnen 
läßt,  besonders  auch  zur  vorübergehenden  Aufnahme  größerer  römischer  Armee- 
abteilungen bestimmt  gewesen  sein.  Die  römischen  Cäsaren  zogen  hier  an  deren 
Spitze  herein  und  heraus,  und  so  scheint  infolge  dieses  häufigen  vornehmen  Be- 
suches jene  Vorläuferin  Wiens  schon  damals  etwas  von  einer  kaiserlichen  Resi- 
denz an  sich  gehabt  zu  haben.  Die  in  Carnuntum  gemachten  Funde  zeigen 
jedenfalls  an,  daß  alles,  was  die  Römer  hier  angelegt  haben,  durchaus  erstklassiger 
Art  gewesen  sein  muß.  Zwei  Jahrhunderte  hindurch  blieb  Carnuntum  nun  in 
dieser  Weise  die  anerkannte  Hauptstadt  der  Länder  an  der  mittleren  Donau,  bis 
es  schließlich  im  Jahre  375  nach  Ch.  unter  Valentinian  von  den  Quaden  mit  der 
Gründlichkeit,  die  allem  Vernichtungswerk  dieser  Völkerwanderung  eigen  gewesen 
ist,  zerstört  wurde  und  somit  als  römischer  Waffenplatz  aufgegeben  werden  mußte. 
Wenn  wir  von  jenem  Ereignis  auch  sonst  nichts  wüßten,  so  würden  wir  doch 
schon  um  einer  anderen  Beobachtung  willen  annehmen  müssen,  daß  das  Gebiet 
um  Carnuntum  nicht  über  jene  Zeit  hinaus  von  den  Römern  zahlreich  besetzt 
gewesen  sein  kann;  denn  nur  bis  zu  dieser  Zeit  gehen  die  Römerfunde  in  den 
Thermalquellen  in  Baden  bei  Wien,  deren  Benutzung  den  Römern  in  Carnuntum 
ebenso  als  Südländern  wie  als  Soldaten  Lebensbedingung  war. 

Ging  aber  diese  erste  bewußte  Gründung  Carnuntums  schon  auf  Tiberius 
zurück,  so  war  die  eigenste  Maßregel  Mark  Aureis  auf  dieser  Linie  der  Ausbau 
von  Lauriacum  (Lorch)  und  dessen  Einrichtung  als  Kolonie,  in  der  Mitte  jener 
nunmehr  so  wichtig  gewordenen  Front.  Die  Belebtheit  von  Lauriacum  in  der 
späteren  Kaiserzeit  wird  besonders  durch  die  Tatsache  bewiesen,  daß  es  im  Jahre 
304  nach  Ch.  als  ein  Platz  genannt  wird,  wo  die  diokletianische  Christenverfolgung 
sehr  viel  zu  tun  bekam.  Daß  bei  der  Gründung  Lorchs  jedoch  auch  nur  das 
Bild  der  damaligen  römischen  Welt  vorwaltete,  zeigt  wiederum  seine  Lage  direkt 
an  der  Schwelle  der  von  Süden  kommenden  Straße  über  den  Rottemanner  Tauern, 
während  für  die  späteren  Zeiten  der  Hauptort  dieser  Zone,  Lentlum=Linz,  sich 
von  jenem  Punkte  entfernt  und  in  der  Lage  von  Linz  am  Donauufer  allein  der 
nunmehr  überwiegend  in  der  Horizontale  ziehenden  Verkehrsbewegung  Rechnung 
getragen  hat. 

Am  weitesten  westlich,  und  zwar  hier  besonders  deutlich  sind  die  Folgen 
dieser    Neuorganisation    dann   aber   in  Regensburg   zu   erkennen,   das  gleichfalls 


Die  Kriegsgeschichte  der  Alpenländer  von  Mark  Aurel  bis  Probus.  141 

erst  ZU  jener  Zeit  deutlich  in  die  Geschichte  eintritt.  Bis  dahin  war  dieser  Ort 
nur  ein  befestigter  Grenzposten  gewesen,  wobei  allerdings  gerade  in  Bezug  auf 
das  Kommende  die  Nachricht  wichtig  ist,  daß  hier  bereits  seit  der  römischen 
Eroberung  ein  friedlicher  Handelsverkehr,  der  durch  diesen  Ort  die  Reichsgrenze 
heraus-  und  hereingegangen  ist,  stattgefunden  hat.  Unter  Mark  Aurel  wurde 
Regensburg  dagegen  in  der  Art  wie  Carnuntum  als  Haltepunkt  für  eine  ständige 
Besatzung  zur  Festung  ausgebaut.  Neben  der  ersten  Römerstadt  entstand  damals 
(bei  Kumpfmühl)  ein  weiteres  Garnisonlager,  während  der  bürgerliche  Verkehr 
sich  in  dem  ursprünglichen  Ort,  der  nunmehr  nach  Römerart  eine  derart  feste 
Umwallung  erhielt,  als  ob  sie  für  die  Ewigkeit  bestimmt  wäre,  sich  weiter  bewegte. 
Unmittelbar  auf  dem  Boden  dieser  alten  Römerstadt  steht  der  Kern  des  heutigen 
Regensburgs,  und  auch  heute  noch  mögen  hier  einige  Gassen  des  ältesten  Stadt- 
teiles, in  der  Nachbarschaft  des  Domes  bis  zur  Donau  hin,  in  ihrem  Grundriß 
unmittelbar  auf  die  alte  römische  Ortsanlage  zurückgeführt  werden  können.  Der 
Unterschied  in  der  Breite  zwischen  Haupt-  und  Nebenstraße  d.  h.  die  auffallend 
engen  Seitenstraßen  sind  eine  ganz  besondere  Eigenart  römischer  Städtegründung, 
und  diese  Erscheinung  ist  in  keiner  anderen  süddeutschen  Stadt  deutlicher  als 
in  Regensburg  zu  finden. 

Aber  auch  weiter  einwärts  dieser  äußeren  Grenzlinie  lassen  sich  damals  die 
Folgen  der  großen  Erschütterungen  des  Markomannenkrieges  spüren.  Zunächst 
führte  jetzt  die  zum  ersten  Male  hervorgetretene  militärische  Wichtigkeit  Rätiens 
zur  Entlastung  dieser  Provinz  durch  Abtrennung  des  Paßlandes  des  Wallis 
(Vallis  Poenina)  und  Zuteilung  desselben  zu  dem  westlichen  Regierungsbezirk 
der  Alpi-s  Graiae.  Es  scheint  ferner,  daß  in  jener  Zeit  die  Handelsblüte  und 
der  Wohlstand  Venetiens  und  besonders  der  von  Aquileja  den  ersten  schweren 
Stoß  erhalten  hat.  Zwar  galt  Aquileja  sei  Mark  Aurel  als  die  erste  Festung  des 
Reiches.  Diese  Ehre  hat  für  die  Stadt  aber  nur  den  Anfang  ernster  Dinge  und 
einer  herben,  alles  fröhliche  Leben  verzehrenden  Entwickelung  bedeutet.  Ein 
Zeichen,  wie  aufwühlend  und  verhängnisvoll  diese  Markomannenkriege  waren, 
in  gleicher  Weise  aber  auch  für  die  geringe  physische  Widerstandsfähigkeit 
der  damaligen  römischen  Menschheit  ist  die  furchtbare  Gestalt,  die  die  Erbin 
jener  Kriege,  die  Pest,  damals  annehmen  konnte,  und  es  ist  kein  Zufall,  daß  die 
aus  dem  Orient  eingeschleppte  und  in  dem  ganzen  östlichen  Europa  wütende 
Krankheit  gerade  in  Aquileja  am  frühesten  und  schrecklichsten  auftrat.  Eine 
Folge  der  durch  diese  Seuche  eingetretenen  Verheerungen  an  Menschenleben 
war  es  auch,  daß  kurz  nach  Mark  Aurel  bereits  Germanen  im  Podelta  angesiedelt 
wurden.  Schon  damals  bereitete  sich  also  der  Ruin  in  dem  Bevölkerungszustand 
Nordostitaliens  vor,  der  bis  zu  Anfang  des  Mittelalters  stetig  fortschreitend  die 
Grundlage  für  die  Erklärung  der  Beschaffenheit  des  heute  südlich  der  norischen 
und  karnischen  Alpen  wohnenden  Volkes  bildet. 

Nach  dem  Tode  Mark  Aureis   und   der   Beruhigung  der  Markomannen   ist 


142  Vlll.  Kapitel. 

in  den  Alpen  dann  ein  volles  Jahrzehnt  Ruhe  zu  spüren,  und  erst  nach  dem 
Regierungsantritt  des  Septimius  Severus  (193 — 211  nach  Ch.)  regt  es  sich  hier 
wieder.  Die  Regierungszeit  des  Septimius  Severus  aber  ist  nicht  nur  nächst 
derjenigen  des  Augustus  die  wichtigste  Periode  in  der  Verkehrsgeschichte  der 
Alpen  während  der  Römerzeit  geworden,  sondern  wir  müssen  ebenso  auch  lange 
Perioden  nach  vorwärts,  bis  zum  Ende  des  Mittelalters,  durchwandern,  bis  wir 
wieder  einer  Zeit  begegnen  können,  in  der  in  den  Alpen  die  systematische 
bewußte  Arbeit  an  den  Verkehrswegen  gleich  eifrig  und  gleich  weit  über  alle 
Gebiete  des  Gebirges  verbreitet  eingesetzt  hat. 

Septimius  Severus  war  ein  einseitiger  und  kräftiger  Herrscher,  äußerlich 
und  innerlich  durch  und  durch  Militär,  und  in  dieser  seiner  Haupteigenschaft 
liegt  die  Größe  und  die  Beschränkung  seines  Wesens.  Wohl  standen  ihm  alle 
jene  Hilfsmittel  zur  Seite,  die  das  Wesen  des  trefflichen  Soldaten  mitten  im 
praktischen  Leben  ausmachen,  Geradheit,  Gesundheit,  Klugheit  und  Energie  in 
der  Handhabung  aller  äußerlichen  Mittel;  um  aber  geschichtlich  Bleibendes 
schaffen  zu  können,  dazu  fehlte  ihm  die  erste  Vorbedingung,  die  nur  durch  ein 
Geschenk  der  Natur  erworben  werden  kann,  die  Fähigkeit,  auf  den  Grund  der 
menschlichen  Dinge  zu  blicken.  So  ist  auch  die  Tätigkeit  jenes  Kaisers  in  den 
Alpen  im  Vergleich  zu  der  des  Augustus  ohne  tiefere  geschichtliche  Wirkung 
geblieben.  Für  Augustus  waren  die  Alpenländer  ein  Gebiet  gewesen,  in  das 
dieser  meisterhaft  die  römische  Organisation  einpflanzte;  für  Septimius  Severus 
waren  sie  dagegen  nur  eine  Randprovinz,  die  der  scharfe  Blick  des  Soldaten  als 
voraussichtliches  Kriegstheater  der  nächsten  Zukunft  erkannt  hatte  und  daher 
allein  für  diesen  Zweck  reichlich  mit  Heerstraßen  überzog.  Schon  ein  Vergleich 
des  äußeren  Aussehens  der  Meilensteine  dieser  zwei  verschiedenen  Bauperioden 
illustriert  ohne  weiteres  den  Unterschied  zwischen  der  damaligen  und  der 
Augusteischen  Bautätigkeit;  denn  während  diejenigen  aus  der  ersten  Kaiserzeit 
durchweg  sorgfältig  und  aus  gutem  Material  gearbeitet  sind,  ist  es  den  Meilen- 
steinen aus  der  Zeit  des  Septimius  Severus  (und  überhaupt  der  späteren  Kaiser) 
meist  sofort  anzusehen,  welch'  kurze  Zeit  auf  ihre  Herstellung  verwendet  werden 
konnte.  So  umfangreich  die  Tätigkeit  des  Septimius  Severus  daher  auch  gewesen 
sein  mag,  und  so  oft  wir  deshalb  auch  dem  Namen  jenes  Kaisers  in  den  Alpen 
begegnen,  so  hat  das  Wirken  desselben  doch  im  Grunde  seinen  Zweck  verfehlt, 
weil  wir  schwerlich  annehmen  können,  daß  auch  ohne  Septimius  Severus  das 
Schicksal  des  Römerreichs  oder  selbst  der  Alpenländer  sich  viel  anders  als  wie 
es  wirklich  eingetreten  ist,  gestaltet  hätte. 

Im  Obigen  ist  der  Name  des  Septimius  Severus  bereits  am  häufigsten  in 
Verbindung  mit  den  die  Ostalpen  durchziehenden  südnördlichen  Linien  (Brenner, 
Radstädter  Straße)  genannt  worden,  und  es  konnte  dieses  auch  nicht  anders  sein, 
da  die  Tätigkeit  desselben  in  dem  Bau  der  Alpenstraßen  hier  etwas  wirklich 
Neues  bedeutet  und  außerdem  eine    Lücke   im   Vorangegangenen   ausgefüllt  hat. 


Die  Kriegsgeschichte  der  Alpenländer  von  Mark  Aurel  bis  Probus.  143 

Es  sind  aber  diese  Straßenbauten  durchaus  nicht  das  einzige  Feld  seiner  Tätig- 
keit; denn  der  Bau  dieser  quer  durch  die  Ostalpen  hindurch  gezogenen  Militär- 
straßen ist  nur  ein  Teil  der  Tätigkeit,  die  jener  Kaiser  in  dem  ganzen  römischen 
Reiche  und  innerhalb  desselben  auch  wieder  nicht  bloß  in  den  Ostalpen,  sondern 
ebenso  auch  in  dem  ganzen  Alpengebiet  ausgeübt  hat.  Würde  dieses  Unter- 
nehmen allein  schon  jenem  Kaiser  einen  Platz  unter  den  befähigsten  römischen 
Militärs  sichern,  so  ist  dabei  aber  noch  die  Energie  besonders  beachtenswert, 
die  schon  damals,  ganz  entsprechend  dem  Niedergang  der  zur  Verfügung  stehenden 
Hilfsmittel,  zur  Vollendung  aller  solcher  Bauten  angewendet  werden  mußte. 
Wir  kennen  die  Straßenbautätigkeit  des  Septimius  Severus  in  den  Alpen  auch 
am  Großen  Sankt  Bernhard  und  an  den  Bündner  Straßen,  so  zahlreich  jedoch 
nirgends  wie  in  den  Ostalpen,  und  jenes  über  die  Alpen  gezogene  septimianische 
Straßennetz  stellt  sich  überhaupt  so  ausgedehnt  und  so  genau  ausgearbeitet  dar, 
daß  es  nicht  ein  Werk  der  reinen  Notwehr  gewesen  sein  kann,  sondern  immer 
noch  aus  einem  selbständigen,  wohldurchdachten  Plan  der  römischen  Heeres- 
verwaltung hervorgegangen  zu  sein  scheint. 

Bei  den  wirklich  großen  Unternehmungen  aller  Zeiten,  die  lediglich  aus 
militärischen  Gesichtspunkten  hervorgegangen  sind,  läßt  sich  zumeist  die 
Beobachtung  machen,  daß  jene  in  den  seltensten  Fällen  für  die  augenblicklichen 
Ereignisse  geschaffen  werden  konnten,  einfach  deshalb,  weil  die  raschrollende 
Zeit  es  nicht  erlaubte,  mitten  während  des  Austrags  eines  großen  Krieges  noch 
Standfestes  zu  schaffen.  Die  Regel  ist  daher,  daß  solche  große  Werke,  die  dem 
Kriege  dienen  sollten,  unmittelbar  in  den  auf  den  Eintritt  einer  Waffenruhe 
folgenden  Jahren  entstanden  sind.  Wohl  wurden  sie  sämtlich  nicht  um  der 
Vergangenheit  sondern  um  der  Zukunft  willen  angelegt.  Bei  dem  Un- 
vermögen des  Menschen,  die  Zukunft  vorauszusehen,  mußte  es  aber  dazu 
kommen,  daß  bei  ihrer  Anlage  trotzdem  nichts  anderes  als  die  Lehren  der  Ver- 
gangenheit die  Basis  ihres  Entstehens  und  die  beste  Vorsorge  für  die  Zukunft 
abgeben  konnten.  In  jener  Weise  sind  auf  dem  Boden  des  Alpengebirgs  später 
die  Sperren  der  Langobarden  und  nach  dem  Abtreten  Napoleons  L  vom  Schau- 
platz der  Geschichte  ein  Teil  der  modernen  großen  Alpenstraßen  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  entstanden.  Nicht  den  kleinsten  Teil  aller  solcher  Anlagen  hat 
freilich  dann  das  Geschick  getroffen,  daß  die  Zukunft  es  doch  ganz  anders 
brachte  als  man  gemeint  hatte,  und  daß  sie  ihren  Dienst  entweder  überhaupt 
nicht  oder  doch  nur  in  ganz  anderer  Weise  als  wie  er  ihnen  ursprünglich  zugedacht 
war,  erfüllen  konnten. 

Hiernach  läge  es  nahe,  auch  bei  der  Straßenbautätigkeit  des  Severus  in  den 
Ostalpen  den  Einfluß  der  großen  vorangegangenen  Ereignisse  d.  h.  der  Marko- 
mannenkriege anzunehmen,  derart,  daß  die  von  ihm  gebauten  Straßen  vor  allem 
als  Zugangslinien  auf  die  Donaufront  von  Süden  her  hätten  dienen  sollen.  Bei 
näherer  Betrachtung  des  Bildes,  das   durch   diese   neuen  Verkehrsmöglichkeiten 


144  VIII.  Kapitel. 

geschaffen  wurde,  kann  man  aber  doch  zu  einem  ganz  anderen  Resultate  gelangen; 
wie  man  überhaupt  meist  dann  der  Wahrheit  am  nächsten  zu  kommen  pflegt, 
wenn  man  die  Absichten,  die  bei  den  lediglich  militärischen  Vorkehrungen  der 
Römer,  abgesehen  von  denen  ihrer  letzten  Zeiten,  vorwalteten,  möglichst  scharf- 
sinnig einschätzt.  Wären  die  Heerstraßen  des  Severus  lediglich  aus  den  Lehren 
des  Markomannenkrieges  heraus  entstanden,  so  wäre  dabei  zunächst  schon  der 
zeitlich  lange  Zwischenraum  zwischen  der  nach  diesem  Kriege  eingetretenen 
Waffenruhe  und  dem  Beginn  jener  Bautätigkeit  selbst  auffallend.  Die  steinernen 
Andenken  des  Severus  stehen  aber  nicht  bloß  entlang  der  Gebirgsstraßen  selbst 
(am  Radstädter  Tauern  und  am  Brenner),  sondern  besonders  auch  in  dem  nörd- 
lichen Vorland  dieser  Linien  (Windischgarsten,  Straßwalchen,  der  Salzburger 
Triumphbogen;  Völs  bei  Innsbruck,  Nassenfeis  und  Stepperg  bei  Augsburg). 
Zieht  man  nun  hierbei  außerdem  noch  die  Straßenbauten  des  Severus  in  Bünden 
in  Betracht,  so  erscheint  der  Schwerpunkt  aller  dieser  militärischen  Vorkehrungen 
von  dem  östlichen  Flügel  der  gegen  die  Markomannen  gerichteten  Front  west- 
wärts nach  dem  nördlichen  Abfall  des  Scharnitz-Überganges  und  in  die  Gegend 
von  Augsburg  gerückt,  und  der  Schlüssel  für  das  Verständnis  derselben  wird 
somit  besser  in  den  kommenden  als  in  den  vorangegangenen  Ereignissen  zu 
suchen  sein.  Diese  zukünftigen  Ereignisse  sind  aber  die  großen,  das  ganze  dritte 
Jahrhundert  nach  Ch.  ausfüllenden  Kriege  der  Römer  mit  den  Alemannen 
gewesen.  Das  Bestreben  des  Angriffs  war  seit  Beginn  jenes  Jahrhunderts  auf 
die  am  Main  sitzenden  Alemannen  übergegangen,  die  von  dort  aus  nach  Süd- 
westen, und  zwar  zunächst  auf  das  Dekumatland,  drückten.  Unmittelbar  nach 
dem  Tode  des  Septimius  Severus  sehen  wir  seinen  Nachfolger  Karakalla  nun 
auch  wirklich  gegen  die  Alemannen  einen  Angriffskrieg  führen,  und  zwar,  wie 
dabei  als  besonders  wichtig  hervorgehoben  wird,  nicht  vom  Rhein,  sondern  von 
Rätien  aus.  Es  hat  also  den  Anschein,  daß  schon  Severus  hier  den  ganz 
bestimmten  Zweck  verfolgte,  durch  seine  Rüstungen  neben  der  Richtung  vom 
Rheine  her  noch  eine  zweite  Angriffsrichtung  von  Vindelicien  her  gegen  die 
Alemannen  einzurichten,  wodurch  jene  dann  von  zwei  verschiedenen  Seiten  aus 
zurückgedrückt  werden  sollten. 

Wir  sind  aber  trotz  allen  diesen  zweckdienlichen  und  systematischen  Ver- 
anstaltungen durchaus  nicht  genötigt,  eine  übermenschliche  Fähigkeit  das  Kommende 
vorauszusehen  bei  jenem  Kaiser  anzunehmen;  denn  wenn  auch  sonst  die  Geschichte 
darüber  schweigt,  so  muß  doch  bereits  zur  Zeit  des  Severus  eine  Beunruhigung 
von  der  Seite  der  Alemannen  vorhanden  und  die  von  dort  heranziehende  Gefahr 
zu  erkennen  gewesen  sein.  Wir  haben  zwei  große  Münzfunde  aus  dem  Boden 
Rätiens  (den  einen  aus  Starkenbach  bei  Landeck,  den  anderen  aus  Castelfranchin 
bei  Fondo),  die  nur  in  der  Zeit  des  Severus  dort  versteckt  worden  sein  können. 
Es  ist  also  durchaus  wahrscheinlich,  daß  schon  unter  Severus  ein  Ansturm  der 
Alemannen  gegen  die  Grenzen  des  römischen  Dekumatlandes   stattgefunden   hat, 


Die  Kriegsgeschichte  der  Alpenländer  von  Mark  Aurel  bis  Probus.  145 

der  sich  besonders  an  dem  Punkte  des  Dekumatlandes,  uo  der  Valium  Trajani 
und  der  Valium  Hadriani  im  spitzen  Winkel  zusammenstießen  (d.  h.  bei  Lorch 
in  Württemberg)  fühlbar  machen  mußte  und  dessen  Beben  sich  nun  auch  in 
direkt  südlicher  Richtung  bis  in  die  Alpen  hinein  fortpflanzte. 

So  sind  während  des  dritten  Jahrhunderts  nach  Ch.  wie  für  die  ganze 
damalige  Welt  so  auch  für  die  Alpenländer  die  wichtigsten  Ereignisse  diejenigen 
Kriege  gewesen,  die  von  den  Römern  gegen  die  mit  dem  Sammelnamen  Alemannen 
bezeichnete  germanische  Völkergesellschaft  geführt  worden  sind.  In  Wirklichkeit 
können  diese  Kriege  in  ihrer  Gesamtheit  wohl  überhaupt  als  der  Entscheidungs- 
kampf und  Höhepunkt  jener  ganzen  Völkerwanderung  angesehen  werden,  insofern 
sie  die  Periode  bezeichnen,  in  der  beide  Parteien  Jahrzehnte  lang  ungefähr  in 
gleicher  Stärke  sich  gegenseitig  bekämpft  haben,  während  dann  an  ihrem  Ende 
die  eigentliche  Kraft  der  Offensive  den  Römern  verloren  gegangen  ist.  Für 
unseren  Zweck  folgt  aber  hieraus,  daß  während  dieser  Feldzüge  nun  auch  die 
von  den  Römern  in  das  Werk  gesetzte  militärische  Einrichtung  der  Alpenländer 
voll  in  Wirksamkeit  getreten  und  ihre  Probe  bestanden  haben  muß,  um  schließlich 
am  Ausgang  des  Jahrhunderts  zwar  noch  nicht  als  zerstört,  aber  doch  als  ver- 
stümmelt und  als  in  ihren  Fundamenten  erschüttert  zu  erscheinen.  Tatsächlich 
müssen  damals,  so  gering  und  oberflächlich  auch  die  einzelnen  Nachrichten  sind, 
ebenso  alle  schon  von  Augustus  Zeiten  her  gebauten,  von  Süd  nach  Nord  über 
die  Alpen  führenden  Straßen,  wie  auch  die  großangelegte  Zutat  der  späteren 
Kaiserzeit,  die  Kolonnenstraße  von  Mainz  südöstlich  nach  der  Balkanhalbinsel 
hinüber,  zunächst  voll  den  Zweck,  für  den  sie  ursprünglich  angelegt  worden 
waren,  erfüllt  haben.  Der  Anfang  des  folgenden  vierten  Jahrhunderts  zeigt 
dagegen  ein  anderes  Bild.  Nicht  nur  jene  Kolonnenstraße  hatte  damals  bereits 
ihre  Bedeutung  verloren,  da  sie  durch  Aufgabe  des  Dekumatlandes  senkrecht 
durchschnitten  worden  war,  sondern  auch  die  eigentlichen  römischen  Alpenstraßen 
haben  zum  Teil  schon  viel  an  ihrer  lebendigen  militärischen  Wirkung  eingebüßt, 
weil  dicht  vor  ihrem  Austritt  bereits  gefährdetes  oder  feindliches  Gebiet  lag, 
und  so  die  Bewegungsfreiheit  für  ein  offensives  Vorgehen  über  sie  hinüber  ein- 
geengt war. 

Die  Alemannenkriege  selbst  aber  lassen  sich  in  verschiedene  Gruppen 
zerlegen,  die  bezeichnenderweise  in  solchen  zeitlichen  Zwischenräumen  aufeinander 
gefolgt  sind,  in  denen  sich  in  kürzester  Zeit  kräftige  Generationen  zu  erneuern 
pflegen  (der  erste  etwa  213,  die  folgenden  etwa  236,  259  und  270  nach  Gh.). 
Der  erste  von  Karakalla  vom  Jahre  213  an  gegen  die  Alemannen  geführte  Feld- 
zug muß  zunächst  noch  eine  nach  damaligen  Begriffen  vollständige  Besiegung 
dieses  Volkes  ergeben  haben,  die  sich  außerhalb  der  Reichsgrenzen  abspielte. 
Wir  haben  gesehen,  wie  sorgfältig  jener  Krieg  Jahre  lang  hindurch  von  den 
Römern  vorbereitet  worden  war,  und  dieses  mag  daher  auch  der  Hauptgrund 
für  die  Erfolge  gewesen  sein,  die  jener  Kaiser  damals  leichter  Hand  hier  erringen 

Scheffel,  Verkehrsgeschichte  der  Alpen.     I.Band.  10 


146  VIII.  Kapitel. 

konnte.  Die  gleichzeitigen  und  späteren  Darstellungen  neigen  wenigstens  dazu, 
die  persönliche  Wirksamkeit  Karakallas  auf  diesem  so  wichtigen  Schauplatz  recht 
gering  anzuschlagen.  Es  muß  aber  doch  hervorgehoben  werden,  daß  selbst 
Mark  Aurel  gegen  die  Markomannen  nicht  viel  mehr  als  Karakalla  hier  an  dieser 
Seite  ausgerichtet  hat.  Das  aber,  worauf  es  damals  ankam,  scheint  auch  Karakalla 
jedenfalls  ganz  genau  gewußt  zu  haben,  wenn  er  die  militärische  Bautätigkeit  des 
Severus  gerade  an  der  Grenze  gegen  die  Alemannen  eifrig  fortsetzte  und  für 
seine  Zwecke  alle  Mittel  der  Kriegführung,  Blendwerk  und  Lüge,  und  vor  allem 
Grausamkeit  zu  Hilfe  nahm. 

Wenn  wir  auch  ebensowenig  über  die  Einzelheiten  des  zweiten  Alemannen- 
krieges (von  237  nach  Gh.  an)  unterrichtet  sind,  so  wissen  wir  in  Bezug  auf  die 
Alpen  doch  genug  durch  zwei  Tatsachen,  die  sicher  überliefert  sind.  Die  Rolle, 
die  das  Vorland  der  Alpen  in  diesem  Kriege  eingenommen  haben  muß,  ergibt 
sich  zunächst  aus  dem  Ausgangspunkt  der  damaligen  römischen  Operationen,  den 
nicht  wie  vorher  Rätien,  sondern  allein  der  Mittelrhein  bildete,  und  ferner  aus 
der  Tatsache,  daß  während  jenes  Krieges  selbst  eine  Verlegung  des  römischen 
Hauptquartiers  vom  Rhein  nach  Pannonien  stattgefunden  hat.  Wenn  diesmal 
zunächst  Alexander  Severus  die  Truppen  für  den  Feldzug  am  Rhein  bei  Mainz 
ansetzte  und  dann  nach  dessen  Tode  (235  nach  Gh.)  sein  kräftiger  Nachfolger 
Maximin  von  hier  aus  den  Feldzug  wirklich  begann,  so  muß  damals  der  feind- 
liche Gegendruck  sich  keinesfalls  in  der  Hauptsache  gegen  Süden  nach  den  Alpen 
zu  sondern  entsprechend  der  Hauptbewegung  der  Völkerwanderung  mehr  direkt 
gegen  Gallien  geltend  gemacht,  also  damals  eine  Verteidigung  der  Alpenländer 
gleichfalls  noch  nicht  in  erster  Linie  gestanden  haben.  Daß  aber  überhaupt  zu 
jener  Zeit  der  ganze  römische  Verteidigungsapparat  nördlich  der  Alpen  noch  voll- 
ständig funktionierte,  ergibt  sich  wiederum  aus  der  Tatsache,  daß  Maximin,  nach- 
dem er  die  Alemannen  vom  Rhein  aus  zurückgedrängt  hatte,  in  aller  Ruhe  und 
Regelmäßigkeit  von  Mainz  nach  Sirmium  an  der  mittleren  Donau  abmarschieren 
konnte.  Jene  große  Kolonnenstraße,  durch  deren  Benutzung  den  Römern  so  oft 
Zeit  und  Kräfte  erspart  worden  sind,  muß  also  auch  damals  noch  vollständig 
intakt  gewesen  sein. 

Der  dritte  Alemannenkrieg  vom  Jahre  259  nach  Gh.  ist  der  gewaltigste  von 
allen  und  er  wurde  auch  schon  von  den  Zeitgenossen  selbst  als  ein  furchtbares 
Ereignis  von  größter  geschichtlicher  Tragweite  betrachtet.  Er  muß  ein  solches 
auch  schon  deshalb  gewesen  sein,  weil  sich  gerade  während  des  Verlaufes,  den 
er  genommen  hat,  das  Wesen  jener  ganzen  Völkerbewegung  wie  im  Bilde  wider- 
spiegelt. Noch  stand  zwar  bei  seinem  Beginn  alles,  was  zum  Alpenwall  gehörte, 
unter  der  militärischen  Hand  der  Römer,  und  der  Angriff  suchte  sich  daher  auch 
in  gewohnter  Art  nicht  nach  dorthin,  sondern  westlich  nach  dem  Rhein  zu,  wo 
auch  die  römische  Armee  aufmarschiert  stand,  Luft  zu  machen.  Es  ist  aber  für 
den  Standpunkt,   auf  den   die  gegenseitigen  Kräfteverhältnisse  jetzt  gelangt  sind. 


Die  Kriegsgeschichte  der  Alpenländer  von  Mark  Aurel  bis  Probus.  147 

bezeichnend,  daß  wir  diesmal  nicht  das  Geringste  von  einem  offensiven  Vorgehen 
der  Römer  hören,  während  im  Gegenteil  die  Alemannen  sich  plötzlich  allüber- 
alihin  nach  Gallien  und  Helvetien  ergießen,  von  dort  aus  in  gleicher  Weise  wie 
einst  die  Kelten  die  Alpen  überschreiten  und  nun  in  Norditalien  in  seiner  ganzen 
Ausdehnung  wirtschaften  können. 

Auch  die  Markomannen  waren  wohl  schon  gleich  unerwartet  bis  Italien  ge- 
langt. Damals  war  die  römische  Front  jedoch  nur  an  einem  abseits  gelegenen 
und  unbefestigten  Teil  durchbrochen  worden  und  auch  der  Einbruch  selbst  noch 
mit  solch  geringer  Durchschlagskraft  erfolgt,  daß  die  entscheidenden  Ereignisse 
jenes  Krieges  immerhin  noch  außen  an  der  Reichsgrenze  ausgefochten  werden 
konnten.  Eine  viel  größere  Erschütterung  des  mitteleuropäischen  römischen  Ver- 
teidigungssystems mußte  jedoch  der  Verlauf  dieses  Krieges  bedeuten;  denn  jenes 
wurde  damals  an  seiner  stärksten  Linie,  am  Rhein,  die  von  den  Römern  auch 
stets  als  solche  erkannt  und  behandelt  worden  war,  auseinandergesprengt.  Ferner 
versagte  diesmal  aber  nicht  nur  die  Verteidigung  am  Rhein  sondern  auch  der 
Alpenwall  selbst  auf  seinem  wichtigsten,  westlichen  Flügel.  Die  Alemannen 
müssen  damals  nach  der  Zerstörung  von  Aventicum  über  die  Westalpen  nach 
Italien  eingedrungen  sein.  Dies  hatte  aber  nicht  bloß  eine  Invasion  Italiens  zur 
unmittelbaren  Folge,  sondern  bezeichnet  vor  allem  auch  den  ersten  Fall,  in  dem 
die  Ketten,  mit  denen  Gallien  und  Spanien  seit  Jahrhunderten  an  die  römische 
Herrschaft  geschmiedet  waren,  durch  einen  äußeren  Feind  zerbrochen  worden 
sind.  Welche  Alpenübergänge  oder  welcher  Übergang  damals  von  den  Ale- 
mannen überschritten  worden  sind,  ist  freilich  nicht  zu  ersehen.  Am  nächsten 
läge  es  an  den  Großen  Sankt  Bernhard  zu  denken,  einerseits  weil  Aventicum, 
das  direkt  an  dem  Wege  zu  diesem  Übergange  liegt,  damals  von  den  Alemannen 
zerstört  wurde,  andererseits  aber  auch  wegen  der  Herstellungsarbeiten,  die  dann 
um  die  Wende  des  dritten  und  vierten  Jahrhunderts  besonders  an  dem  nördlichen 
Teile  jener  Straße  nachgewiesen  werden  können. 

So  lag  der  Schwerpunkt  dieses  Krieges  nunmehr  auch  schon  ganz  im  Herzen 
des  römischen  Reiches,  insofern  die  Entscheidung  über  denselben  diesseits  der 
Alpen  auf  italienischem  Boden  fallen  mußte,  und  die  Kraft  des  Angriffs  durch 
eine  Niederlage  der  Alemannen  bei  Mailand  für  einige  Zeit  wirklich  gebrochen 
wurde.  Gerade  dieses  Ereignis  ist  bezeichnend  für  die  Beschaffenheit  der  gegen- 
seitigen Kräfteverhältnisse  während  jener  Zeit  der  germanischen  Völkerwande- 
rung. Denn  während  an  den  Grenzen  des  Reiches  die  Verteidigungsmittel  der 
Römer  jetzt  von  der  überlegenen  physischen  Kraft  der  Germanen  zwar  rasch  in 
Stücke  zerschlagen  werden,  so  können  jene  doch,  je  tiefer  der  Feind  in  die 
römische  Machtsphäre  eindringt,  immer  noch  um  so  besser  in  Wirksamkeit  treten, 
bis  die  Germanen  schließlich  wie  einst  die  Cimbern  in  den  Netzen  eines  den 
Römern  nur  zu  wohlbekannten  Kriegstheaters  gefangen  werden. 

Eine  für  unsern  Zweck  sehr  wichtige  Frage  über  den  Verlauf  dieses  Krieges 

10* 


148  VIII.  Kapitel. 

muß  jedoch  ungeklärt  bleiben;  es  ist  diejenige,  ob  auch  schon  damals  die  Straßen 
Rätiens  zu  Einfällen  der  Germanen  benutzt  worden  sind.  Zu  der  Annahme,  daß 
dieses  Land  während  jener  Zeit  bereits  einer  größeren  Invasion  ausgesetzt  worden 
wäre,  berechtigen  jedenfalls  weder  Nachrichten  noch  Funde,  und  es  würde  im 
Gegenteil  alles  dafür  sprechen,  daß  bis  zur  Mitte  dieses  dritten  Jahrhunderts  das 
südlich  des  rätischen  Limes  gelegene  Gebiet  noch  unversehrt  von  den  Römern 
gehalten  worden  ist,  wenn  nicht  eine  einzige  Tatsache  dem  entgegenstände:  die 
Neubefestigung  Veronas  vom  Jahre  265  nach  Gh.,  bei  der  wir  diesmal  nicht  wissen 
können,  ob  sie  schon  in  den  vorangegangenen  oder  nur  in  der  Sorge  für  die 
künftigen  Ereignisse  ihren  Ursprung  gehabt  hat. 

Diese  künftigen  Ereignisse  haben  jedoch  dann  auch  auf  dem  Ostflügel  der 
Alpen  nicht  lange  auf  sich  warten  lassen;  denn  bei  dem  vierten  Einfall  der  Ale- 
mannen, der  sich  allerdings  besonders  auch  durch  das  gleichzeitige  Auftreten 
eines  neuen  germanischen  Volkes,  der  Juthungen,  weniger  deutlich  von  den  vor- 
angegangenen Alemannenkriegen  trennen  läßt,  kommen  die  Ereignisse  dann  tat- 
sächlich auch  von  dem  Ostflügel  der  Alpen  nach  Italien  herabgezogen.  Während 
jener  Kämpfe  ist  es  vor  allem  eine  Schlacht  am  Gardasee,  in  der  Kaiser  Klaudius 
die  Alemannen  besiegte  und  die  eine  Durchbrechung  von  der  Richtung  des 
Brennergebietes  aus  nicht  ausgeschlossen  erscheinen  läßt.  Damals  begann  also 
die  Umgebung  Veronas  sich  wieder  deutlich  als  eine  Zone  zu  erklären,  in  der 
die  Geschicke  Italiens  ausgefochten  wurden,  und  auch  die  letzte  Entscheidungs- 
schlacht gegen  die  Alemannen  während  jenes  Feldzuges  (ca.  271  nach  Ch.)  unter 
Aurelian  fand  bezeichnenderweise  in  dem  alten  militärischen  Brennpunkt  Ober- 
italiens, bei  Placentia,  statt.  Aber  auch  für  jene  Zeiten  ist  noch  ein  Fall  nach- 
weisbar, daß  die  römische  Heeresleitung  erfolgreich  die  alte  militärische  Kolonnen- 
straße nördlich  der  Alpen  benutzen  konnte,  insofern  Aurelian  den  Juthungen,  die 
schon  an  den  Grenzen  Italiens  standen,  damals  von  Pannonien  her  in  den  Rücken 
gezogen  ist  und  diese  hierdurch  zum  Rückmarsch  nach  der  Donau  hin  gezwungen 
wurden.  Die  Beunruhigung  des  inneren  Rätiens  während  jener  Zeiten  aber  wird 
durch  einen  großen  in  Sarnonico  bei  Fondo  gemachten  und  aus  dem  Jahre  276 
nach  Ch.  stammenden  Münzenfund  illustriert. 

Am  erfolgreichsten  scheint  dann  noch  einmal  gegen  alles,  was  die  Rhein- 
und  Alpengrenze  bedrohte  und  für  jene  ganzen  Zeiten  auch  weiterhin  lediglich 
mit  dem  Namen  der  Alemannen  bezeichnet  zu  werden  pflegt,  von  dem  römischen 
Kaiser  Probus  vorgegangen  worden  zu  sein.  Die  Regierungszeit  dieses  Kaisers 
war  die  letzte,  während  der  das  Römerreich  in  Mitteleuropa  seine  alten  Grenzen 
behauptet  hat,  und  die  Geschichte  ist  daher  mit  Recht  gewohnt,  das  Jahr  282 
nach  Gh.,  das  Todesjahr  jenes  Kaisers,  als  einen  Wendepunkt  festzuhalten,  weil 
nach  dieser  Zeit  das  Dekumatland  dann  wirklich  nicht  mehr  weder  römische 
Provinz  gewesen  ist  noch  als  solche  gegolten  hat.  Bei  dem  tatsächlichen  Zustand 
des  damaligen  römischen  Reiches,  an  den  sich  dann  innerhalb  der  nächsten  beiden. 


Die  Kriegsgeschichte  der  Alpenländer  von  Mark  Aurel  bis  Probus.  149 

Jahrhunderte  ein  vollständiger  Kräfteverfall  und  die  Aufgabe  einer  Provinz  nach 
der  andern  an  allen  Seiten  anschloß,  erscheint  uns  dieses  Ereignis  heute  zunächst 
wohl  weniger  wichtig.  Trotzdem  bezeichnet  aber  gerade  dieser  Zeitpunkt  durch- 
aus eine  Verwandelung  der  geschichtlichen  Zustände.  So  lange  Zeit  hindurch 
wie  das  römische  Reich  hat  sich  weder  vorher  noch  nachher  wieder  eine  Macht 
als  wirklichen  Herrn  der  Welt  gefühlt,  und  welche  Veränderung  in  den  Macht- 
verhältnissen mußte  daher  jetzt  stattgefunden  haben,  wenn  dieser  Staat  ein  Stück 
seines  Gebietes  preisgab  und  aus  diesem  Verlust  auch  ganz  bewußt  die  Konse- 
quenzen zog.  Denn  aus  der  Aufgabe  des  Dekumatlandes  folgte  für  die  Römer 
die  Notwendigkeit,  das  altgewohnte  mitteleuropäische  Kriegstheater  vollständig 
umzugestalten.  Nicht  nur  das  Werk  der  eigentlichen  Kaiserzeit,  die  Straße  vom 
Rhein  nach  dem  Balkan,  war  durch  jene  Veränderung  gegenstandslos  geworden, 
sondern  auch  die  Verteidigung  der  Rhein-  und  Alpengrenzen  selbst  mußte  von 
jetzt  ab  von  Grund  aus  anders  gehandhabt  werden. 


IX.  Kapitel. 

Das  vierte  Jahrhundert  nach  Ch.  und  die  Alpenländer. 


Die  Mittelalpen. 

Der  Zufall  hat  es  gewollt,  daß  während  des  nun  folgenden  vierten  Jahr- 
hunderts die  Gruppierung  der  in  Wanderung  befindlichen  Völker  in  der  Haupt- 
sache eine  solche  war,  daß  gerade  im  eigentlichen  Mitteleuropa  die  Verhältnisse 
wieder  zu  einiger  Stetigkeit  gelangen  konnten,  und  wir  vermögen  daher  auch  die 
Art,  wie  die  Römer  jetzt  die  Alpenländer  nach  den  Alemannenkriegen  militärisch 
zu  reorganisieren  trachteten,  in  einiger  Deutlichkeit  zu  beobachten.  In  der  Natur 
der  Dinge  mußte  es  aber  liegen,  daß  diese  Reorganisation  in  ihren  Grundzügen 
auf  nichts  anderes  als  nur  auf  die  ersten  Einrichtungen  des  Augustus  hinaus- 
laufen konnte. 

Nach  Aufgabe  des  Dekumatlandes  war  wiederum  das  Rheinknie  bei  Basel, 
von  wo  aus  an  der  Nordseite  des  Schweizer  Jura  entlang  die  schon  seit  der 
Urzeit  ausgetretenen  Bahnen  der  Völker  nach  Gallien  und  Helvetien  weiter- 
führten, zu  einem  großen  militärischen  Brennpunkt  geworden.  So  sehen  wir 
denn  auch  in  jener  Zeit  hier  das  schon  von  den  Juliern  gegründete  Äugst  als 
starkbefestigten  Punkt  mit  neu  gefüllter  Garnison  wiedererscheinen  und  schließ- 
lich auch  (374  nach  Ch.)  Basel  selbst,  wie  sein  Name  sagt,  als  Hauptquartier 
römischer  Kaiser  entstehen.  Diejenige  Alpenstraße  aber,  die  gerade  zwischen 
diesen  Gegenden  und  Italien  die  eigentliche  Lebensader  des  Verkehrs  abgibt,  ist 
der  Große  Sankt  Bernhard,  und  auch  der  erhöhten  Bedeutung  und  Benutzung 
dieser  Straße  können  wir  daher  in  jenen  Zeiten  einigermaßen  nachkommen. 
Gerade  während  der  Wende  dieses  dritten  und  vierten  Jahrhunderts  lassen  sich 
verhältnismäßig  viel  Herstellungsarbeiten  auf  dem  südlichen  und  nördlichen 
Zugang  dieser  Linie  feststellen,  und  von  den  Truppendurchzügen  jener  Zeit 
erzählt  heute  noch  der  Ortsname  St.  Maurice,  den   das  alte   Agaunum   anläßlich 


Das  vierte  Jahrhundert  nach  Ch.  und  die  Alpenländer.  151 

der  hier  erfolgten  Hinrichtung  eines  höheren  römischen   Befehlshabers   während 
der  diotvietianischen  Christenverfolgung  angenommen  haben  soll. 

Am  deutlichsten  ist  aber  die  Veränderung  der  militärischen  Lage  dicht 
südlich  des  Dekumatlandes,  also  im  eigentlichen  Zentrum  der  Alpen  zu  erkennen. 
Die  militärische  Brauchbarkeit  der  steil  ansteigenden  aber  äußerst  zielgerecht 
von  Süd  nach  Nord  durch  Bünden  führenden  Straßen  muß  für  die  Römer 
sogleich  mit  dem  Beginn  der  Alemannenkriege  in  die  rechte  Beleuchtung  getreten 
sein.  Seinen  besten  Beweis  findet  dies  zunächst  darin,  daß  im  Verlauf  dieser 
Periode  auch  neben  dem  Splügen  und  Julier  noch  ein  dritter  durch  Bünden 
führender  Übergang,  der  Bernhardin  oder  Lukmanier,  an  das  Tageslicht  getreten 
ist.  Die  Römer  müssen  sich  eines  dieser  Übergänge  einmal  als  militärischer 
Marschlinie  von  Bellinzona  aus  zu  einem  Zuge  gegen  die  Alemannen 
bedient  haben,  und  ebenso  ist  auch  in  umgekehrter  Richtung  —  allerdings 
wieder  nur  in  einem  einzigen  Falle  —  ein  Einfall  der  Alemannen  auf  einer 
dieser  Linien  nachweisbar.  Mehr  als  je  mußte  es  aber  bei  der  damaligen  Kriegs- 
lage für  die  Römer  von  Wichtigkeit  sein,  dicht  vor  dem  nördlichen  Ausgang 
jener  rätischen  Pässe  gegen  den  Feind  zur  Abwehr  gerüstet  stehen  zu  können; 
denn  nach  Aufgabe  des  Dekumatlandes  konnte  nur  der  Lauf  des  Rheines  zwischen 
Konstanz  und  Basel  wieder  wie  vorher  zu  Augustus  Zeiten  als  Reichsgrenze 
dienen.  Der  Raum,  der  zwischen  dieser  Grenze  und  dem  Fuße  der  Berge  lag, 
also  etwa  der  heutige  Thurgau  und  Aargau,  bildete  daher  jetzt  das  wichtige,  aber 
äußerst  enge  Vorglacis,  von  dem  aus  jenen  von  Nordosten  her  andringenden 
Feinden  entgegengetreten  werden  mußte.  Und  gerade  gegen  jene  Randprovinz 
richteten  sich  die  Angriffe  der  Alemannen  nun  auch  weiterhin  während  des 
ganzen  vierten  Jahrhunderts;  einer  der  größeren  derselben  wurde  im  Jahre  301 
nach  Ch.  vom  Kaiser  Konstantius  bei  Vindonissa  zurückgeschlagen. 

Auf  keinem  Punkte  der  Alpenländer  aber  ist  durchsichtiger  als  hier  noch 
die  Art  der  damaligen  römischen  Abwehrmaßregeln  zu  erkennen.  Den  Ver- 
teidigungsbauten der  Römer  —  die,  wenn  sie  überhaupt  nicht  erst  am  Ende  des 
dritten  Jahrhunderts  errichtet,  so  doch  sicherlich  erst  seit  dieser  Zeit  in  Wirk- 
samkeit getreten  und  immer  wieder  von  Neuem  instand  gesetzt  worden  sind  — 
läßt  sich  auf  der  ganzen  Rheinlinie  westlich  des  Bodensees  bis  nach  Basel  nach- 
kommen. Sie  sind  zu  finden  in  Konstanz,  Stein  am  Rhein,  Eglisau  und  Coblenz, 
vor  allem  aber  in  Oberwintherthur,  das  genau  hinter  der  Mitte  der  durch  diese 
Punkte  gebildeten  Front  gelegen  war  und  somit  durch  seine  Lage  auf  der  inneren 
Linie  eine  Kräfteersparnis  bei  der  Verteidigung  jener  vier  Flußübergänge  er- 
möglichte. Alle  diese  Anlagen  aber  werden  wohl  nicht  mit  Unrecht  auf  die 
Tätigkeit  eines  einzigen  Mannes,  und  zwar  auf  die  des  Konstantius  Chlorus 
zurückzuführen  sein,  der  in  jenen  Teilen  des  Reiches  um  die  Wende  des  dritten 
und  vierten  Jahrhunderts  das  Regiment  geführt  hat.  Jedenfalls  hat  sich  die 
Tradition    in    diesen    Strichen    ganz    auffallend    mit    dem    Namen    jenes    Kaisers 


152  XI.  Kapitel. 

beschäftigt;  er  soll  in  Chur  Hofgehalten,  in  Maienfeld  am  Rhein  die  Befestigungen 
gebaut,  auf  der  Seeinsel  von  Lindau  mit  seinem  Heere  Stellung  genommen  haben 
und  auch  die  Stadt  Konstanz  soll  von  ihm  den  Namen  führen. 

Eine  kräftige  Hand  ist  demnach  hier  zu  spüren,  und  dies  ist  nichts  anderes 
als  eine  der  vielen  Wirkungen  jenes  groß  angelegten  Reorganisationsversuches, 
den  die  Regierungszeit  Diokletians  (284  bis  305  nach  Ch.)  für  das  ganze  römische 
Reich  mit  sich  gebracht  hat.  Bis  dahin  hatte  in  diesem  Reiche  eine  unerreicht 
straffe  Regierungsgewalt  weithin  über  alle  Stellen  geherrscht.  Die  Kraft  des 
Zentralsystems  mußte  aber  jetzt  gegenüber  den  unzähligen  Nöten  und  Schwierig- 
keiten notwendigerweise  erlahmen,  die  überall  im  Innern  aber  mehr  noch 
von  außen  her  an  das  Reich  herantraten,  und  so  versuchte  Diokletian  den  Er- 
fordernissen der  veränderten  Zeit  dadurch  gerecht  zu  werden,  daß  er  zwar  nicht 
das  Reich  aber  die  Reichsregierung  in  verschiedene  Teile  zerlegte,  um  durch 
eine  solche  Teilung  der  Gewalten  neue  staatserhaltende  Kräfte  in  das  Leben  zu 
rufen  und  ebenso  einen  kräftigeren  Zug  in  den  Widerstand  nach  außen  zu 
bringen.  In  den  Alpengebieten  ist  durch  die  Tätigkeit  des  Konstantius  Chlorus, 
der  dort  nach  dem  Rechten  sah,  tatsächlich  der  beabsichtigte  Zweck  jener  Maß- 
regel erreicht  worden,  die  wie  alles,  auf  was  die  überlegene  Kultur  damals 
verfiel,  zunächst  richtig  gedacht  und  deshalb,  freilich  nach  der  ganzen  Lage  der 
Dinge  nur  auf  kurze  Zeit,  auch  von  Erfolg  begleitet  sein  konnte. 

Aber  auch  noch  in  anderen  Teilen  der  Alpenländer  hat  dieses  veränderte 
Regierungssystem  seine  Folgen  hinterlassen.  Unter  Diokletian  erfolgte  außerdem 
die  Teilung  der  alten  römischen  Provinz  Rätien,  die  bis  dahin  über  drei  Jahr- 
hunderte hindurch  ein  geschlossenes  Ganze  gebildet  hatte.  Diese  Zerlegung 
jener  alten  Provinz  in  ein  Raetia  prima  und  Raetia  secunda  war  also  nichts 
weniger  als  das  Resultat  einer  vorangegangenen  zwingenden  Entwicklung,  sondern 
nur  eine  in  den  augenblicklichen  Verhältnissen  begründete  Maßregel  mittelst  der 
den  von  außen  kommenden  Ereignissen  besser  begegnet  und  die  Landes- 
verteidigung sicherer  gehandhabt  werden  sollte.  Der  Zufall  hat  es  jedoch  gewollt, 
daß  zu  diesem  Zeitpunkte  die  beiden  Hauptlandschaften  dieses  alten  Rätiens, 
Bünden  und  Tirol,  auf  Jahrtausende  von  sich  Abschied  genommen  und  seitdem 
eine  verschiedene  Entwickelung  eingeschlagen  haben. 

So  deutlich  wie  wir  also  auch  der  Absicht,  die  damals  bei  dieser  Zerlegung 
selbst  vorgewaltet  hat,  nachkommen  können,  ebenso  unsicher  sind  wir  jedoch 
über  die  eigentlichen  Umrisse  und  Grenzen  unterrichtet,  in  denen  diese  Teilung 
nun  wirklich  Gestalt  gewonnen  hat.  Die  Grenzen  der  Diözöse  Chur,  die  sich 
in  der  Hauptsache  mit  dem  heutigen  Graubünden  decken  und  sich  tatsächlich 
von  den  Zeiten  der  römischen  Imperatoren  her  versteinerungsartig  bis  tief  in 
das  Mittelalter  hinein  erhalten  haben,  lassen  sich  mit  größter  Wahrscheinlichkeit 
noch  als  die  jenes  ersten  Rätiens  ansprechen.  Dies  zugegeben,  müßte  dann  zu 
dem  zweiten  Rätien   zunächst   das   heutige   Tirol   gehört   haben.     Da   aber   nicht 


Das  vierte  Jahrhundert  nach  Ch.  und  die  Alpenländer.  153 

nur  die  Funde  von  Kempten,  Augsburg  und  Regensburg  u.  a.  sondern  auch  ein 
aus  dem  vierten  Jahrhundert  erhaltenes  römisches  Garnison-Verzeichnis  (notitia 
dignitatum)  mit  aller  Bestimmtheit  ergibt,  daß  auch  der  Boden  der  bayrischen 
Hochebene,  des  alten  Vindeliciens,  noch  während  des  ganzen  vierten  Jahrhunderts 
von  den  Römern  gehalten  worden  ist,  so  muß  hiernach  die  Ausdehnung  dieses 
anderen  Rätiens  nach  Norden  noch  bis  zur  Donau  angenommen  werden.  Sehen 
wir  uns  nun  aber  die  notwendigen  Folgen  eben  dieser  Teilung  genauer  an,  so 
ergeben  sich  dabei  trotzdem  für  das  Verständnis  von  heute  in  zweierlei  Hinsicht 
Schwierigkeiten.  Hat  es  zunächst  schon  den  Anschein,  als  ob,  rein  vom  Stand- 
punkte der  Zweckmäßigkeit  aus  betrachtet,  für  die  Römer  eine  Zerschneidung 
des  alten  Rätiens  in  einen  südlichen,  vom  Gebirge  und  einen  zweiten  nördlichen, 
von  der  Ebene  eingenommenen  Teil  viel  vorteilhafter  gewesen  wäre,  so  liegt  die 
andere  größere  Schwierigkeit  in  der  Frage,  in  welcher  Linie  überhaupt  nunmehr 
nach  Aufgabe  des  Dekumatlandes  die  Westgrenze  desjenigen  Rätiens  zu  ziehen 
ist,  zu  dessen   Gebiet  jetzt   noch  die   bayrische   Hochebene   gehört   haben   muß. 

Auch  bei  dieser  neuen  Gruppierung  kann  Diokletian  auf  wenig  anderes  als 
auf  die  vormalige  Augusteische  Reichsgrenze  zurückgekommen  sein,  und  es  bleibt 
daher  nichts  anderes  übrig  als  nach  Aufgabe  des  Dekumatlandes  den  Lauf  jener 
Grenze  von  der  Ostecke  des  Bodensees,  von  Lindau,  bis  herüber  nach  der  Hier 
und  diesen  Fluß  entlang  bis  zur  Donau  zu  legen,  wie  auch  einwärts  dieser  Linie 
noch  eine  große  spätrömische  Militärstraße  über  Wangen,  Kelmünz  und  Günz- 
burg  wahrscheinlich  ist.  Immerhin  bleibt  dabei  aber  die  auffallende  Tatsache  be- 
stehen, daß  hier  eine  Linie,  deren  natürliche  Beschaffenheit  so  geringe  Ver- 
teidigungsmittel bietet,  über  ein  Jahrhundert  hindurch  an  einer  der  bedrohtesten 
Stellen  des  Reiches  als  Grenze  gedient  haben  muß. 

Wann  und  aus  welchen  Ursachen  dann  dieser  in  der  Ebene  liegende  Teil 
Rätiens  gleichfalls  von  den  Römern  aufgegeben  worden  sein  muß,  darüber  werden 
uns  die  ein  Jahrhundert  später  mit  den  Alpenkriegen  Stilichos  in  Verbindung 
stehenden  Ereignisse  Klarheit  verschaffen  können.  Wenn  dem  aber  auch  nicht 
so  wäre,  so  würde  uns  doch  gerade  hier  die  Lokal- Archäologie  bei  der  Ent- 
scheidung dieser  Frage  in  ganz  besonderem  Maße  zu  Hilfe  kommen  können; 
denn  die  durch  jene  gewonnenen  Resultate  haben  neuerdings  immer  vollständiger 
die  sehr  einleuchtende  Tatsache  zu  Tage  treten  lassen,  daß  es  gegen  das  Ende 
der  Römerherrschaft  auch  eine  Periode  gegeben  haben  muß,  in  der  die  nördliche 
Ebene  zwar  schon  von  den  Römern  geräumt  war,  während  das  Gebirge  selbst 
aber  bis  zu  seinem  nördlichen  Rand  noch  von  diesen  gehalten  wurde,  daß  also 
die  heutigen  Länder  Tirol  und  Salzburg  selbst  später  als  ihr  nördliches  Vorland 
der  germanischen  Besetzung  verfallen  sind.  Ein  untrügliches  Zeugnis  dieses  Zu- 
standes  sind  die  Spuren  der  Römerverschanzungen,  die  dicht  am  Fuße  der  dor- 
tigen nördlichen  Voralpen  nachgewiesen  worden  sind.  Sie  finden  sich  bezeich- 
nenderweise am  deutlichsten  an  dem  nördlichen  Austritt  der  großen  Heerstraßen 


154  IX.  Kapitel. 

in  die  Ebene  und  spiegeln  durch  ihre  barrikadenmäßige,  rein  auf  die  Verteidigung 
berechnete  Anlage  gleichfalls  die  damalige,  allein  auf  die  Abwehr  berechnete 
Kampfesabsicht  der  Römer  wieder.  Solche  Zwischen -Limites  aus  den  letzten 
Stunden  des  römischen  Reiches  sind  bei  Partenkirchen  (Klais=clausura)  nach- 
gewiesen, einem  Punkte,  in  dessen  südlicher  Nachbarschaft  jetzt  zum  ersten  Mal 
in  historischer  Zeit  auch  der  große  Wald  von  Scharnitz  die  Aufgabe  eines  vor- 
trefflichen Grenzschutzes  übernahm,  —  dann  weiter  am  Austritt  des  Inns  bei 
Kufstein,  einer  Position,  die  besonders  sorgFdltig  angelegt  gewesen  sein  muß,  und 
ebenso  dicht  östlich  Salzburg. 

Während  jener  letzten  Periode  der  Römerherrschaft  mag  es  nun  auch  der 
Fall  gewesen  sein,  daß  die  an  den  Heerstraßen  liegenden  Kastelle  als  die  eigent- 
lichen Grenzfesten  gegen  Norden  in  Wirksamkeit  getreten  sind,  so  möglicher- 
weise an  der  Fernlinie  die  Ehrenberger  Klause  und  Starkenbach  bei  Landeck, 
der  Martinsbühel  an  der  Scharnitz  Linie,  Neubeuern  vor  dem  Unterinntal,  und 
Kuchl  südlich  Salzburg.  Ein  großer  Fund  vom  Martinsbühel  bei  Innsbruck,  bei 
dem  die  Münzen  bis  zum  Jahre  395  nach  Ch.  herabreichen,  kann  hier  im  Beson- 
deren noch  einen  Fingerzeig  für  den  ungefähren  Zeitpunkt  abgeben,  in  dem  die 
feindliche  Nachbarschaft  nach  dem  Verluste  Oberbayerns  bis  dicht  an  den  Rand 
der  Berge  vorgeschritten  gewesen  sein  muß. 

Es  erübrigt  nun  noch  einen  Blick  auf  die  damalige  Beschaffenheit  desjenigen 
Gebietes  zu  werfen,  das  auf  der  italienischen  Seite  hinter  jenem  schützenden 
Gebirgswall  der  Mittelalpen  gelegen  war.  So  lange  der  nördliche  Vorrand  der 
Alpen  sich  noch  ungefährdet  in  dem  Besitz  der  Römer  befand  und  es  diesen 
daher  möglich  war,  dort  ungestört  ihre  Heere  aufmarschieren  zu  lassen,  hatte 
das  Aussehen  Oberitaliens  in  militärischer  Hinsicht  zunächst  keine  Veränderung 
gegen  die  letzten  Zeiten  der  römischen  Republik  erfahren.  Nach  dem  Verlust 
jener  Bewegungsfreiheit  nördlich  der  Alpen  mußte  jedoch  nun  während  der  beiden 
letzten  Jahrhunderte  der  Kaiserzeit  dem  südlich  der  Berge  gelegenen  ebenem 
Land  die  Aufgabe  zufallen,  als  Plan  für  die  Aufstellung  der  römischen  Armeen 
zu  dienen,  die  dann  von  dort  aus  auf  dem  kürzesten  Wege  rasch  über  das  Ge- 
birge herüber  nach  den  bedrohten  Punkten  des  jenseitigen  Randes  geworfen 
werden  sollten.  Bei  dieser  veränderten  Sachlage  mußten  daher  jetzt  diejenigen 
Plätze  Oberitaliens  erhöhte  Wichtigkeit  erhalten,  von  denen  aus  die  meisten  und 
bequemsten  Straßen  nach  der  germanischen  Nordseite  der  Alpen  hinüberführten. 
Es  sind  dies  wie  auch  heute  noch  Verona  und  besonders  Mailand.  Die  Existenz 
einer  großen  und  bequemen  Verbindung  zwischen  diesen  beiden  Orten  erscheint 
uns  heute  zwar  fast  wie  eine  Naturnotwendigkeit.  Wie  sehr  nun  aber  das  Bild 
der  militärischen  Lage  Oberitaliens  in  der  vorangegangenen  Zeit  von  Grund  aus 
von  demjenigen,  das  damals  entstand  und  das  heute  noch  besteht,  verschieden 
gewesen  ist,  ergibt  sich  am  besten  aus  der  Tatsache,  daß  eine  wirkliche,  jene 
beiden  wichtigsten  Städte  des  kontinentalen  Italiens  verbindende  Staatsstraße  erst 


Das  vierte  Jahrhundert  nach  Ch.  und  die  Alpenländer.  155 

Überhaupt  am  Ende  des  dritten  Jahrhunderts  nach  Ch.  von  den  römischen  Kaisern 
hergestellt  worden  ist.  Der  Bau  derselben  war  aber  zur  dringenden  Notwendig- 
keit geworden,  weil  jetzt  bereits  die  Fäden  der  Verteidigung  des  ganzen  Südens 
gegen  den  Norden  nach  diesen  beiden  Punkten  zusammenliefen,  und  die  Straße 
selbst  war  daher  nichts  anderes  als  eine  Militärstraße  und  eine  schwächliche  und 
eingezogene  Wiederholung  der  großen,  einst  nördlich  der  Alpen  entstandenen 
und  durch  das  Dekumatland  führenden  Horizontalstraße  vom  Rhein  nach  der 
Donau;  denn  auch  sie  sollte  südlich  der  Alpen  in  verkleinertem  Maße  dem 
Zwecke  dienen,  die  Truppen  auf  dem  kürzesten  Wege  nach  den  verschiedenen 
bedrohten  Punkten  verschieben  zu  können.  Daß  eine  solche  Anlage  aber  bereits 
auf  italienischem  Boden  nötig  wurde,  zeigt  am  besten,  wie  sehr  jetzt  im  buch- 
stäblichen Sinne  die  Macht  Roms  zurückgegangen  war. 

In  jenen  Zeiten  konnte  daher  auch  Mediolanum  in  die  man  möchte  sagen 
ihm  gebührende  Bestimmung  eintreten,  in  die  einer  Hauptstadt  des  kontinentalen 
Italiens.  Sobald  eine  Macht,  die  mit  ihrem  Zentrum  in  Italien  nicht  nur  über 
dieses  Land,  sondern  auch  über  die  Gebiete  nördlich  der  Alpen  herrscht,  — 
wie  es  ja  tatsächlich  nur  einmal,  in  römischer  Zeit,  der  Fall  gewesen  ist  —  wird 
die  Bedeutung  Mailands  kaum  über  diejenige  einer  Provinzialhauptstadt  hinaus 
gelangen  können,  während  dagegen,  sobald  die  Nordgrenze  Italiens  mit  den  Alpen 
zusammengefallen  ist,  diese  Stadt  stets  der  anerkannte  Vorort  Norditaliens  werden 
mußte.  So  sehen  wir  auch  hier,  wie  die  Neuorganisation  Diokletians  ganz  folge- 
richtig dieser  Sachlage  Rechnung  trug,  indem  Mailand  jetzt  zur  Residenz  erhoben 
wurde.  In  jener  Stadt  haben  dann  während  der  letzten  Jahre  der  Römerherrschaft 
eine  ganze  Reihe  römischer  Cäsaren  (Maximian,  Konstantius,  Valentinian  I., 
Gratian,  Valentinian  II.)  ihren  Sitz  aufgeschlagen  und  von  hier,  wie  von  einem 
großen  Hauptquartier  aus,  als  Oberfeldherren  ihr  Gesicht  nach  dem  Norden  ge- 
richtet gehabt.  Wie  sehr  aber  Mailand  damals  auch  die  geistigen  Kräfte  der 
römischen  Welt  an  sich  gezogen  hat,  ist  mit  dem  Namen  des  Bischofs  Ambrosius 
verbunden,  und  die  Kirchen  Sant  Ambrogio  und  San  Lorenzo  in  Mailand  sind 
die  Stätten,  in  denen  heute  noch  diese  selbständige  geistige  Bedeutung  Mailands 
während  des  späteren  römischen  Altertums  verkörpert  geblieben  ist. 

Die  nächst  wichtige  Stadt  Norditaliens,  vorwiegend  in  militärischer  Hinsicht 
mußte  dann  aber  Verona  werden,  weniger  als  ein  Mittelpunkt  als  vielmehr  als 
erster  Schlüssel  des  Landes,  weil  sie  den  Übergang  über  die  Etsch  beherrschte. 
Direkt  im  Osten  der  Stadt  unter  der  Wacht  der  Zitadelle,  des  heutigen  Kastell 
San  Pietro,  trat  die  Brennerstraße  über  den  Ponte  della  Pietra,  deren  Pfeiler  noch 
heute  Römerwerk  sind,  in  den  durch  den  ausbiegenden  Bogen  der  Etsch  ge- 
schützten Stadtboden  Veronas  und  damit  in  das  eigentliche  Italien  ein.  Die 
Römerreste  innerhalb  des  heutigen  Stadtbodens  Veronas  ziehen  hauptsächlich  aus 
der  Gegend  des  Domes  über  den  Piazza  Erbe  und  die  Via  nuova  an  der  Arena 
vorbei  nach  der  Porta  Palio.     Schon  aus  der  Art,    wie  sich  jene  Reste  hier  zu- 


156  IX.  Kapitel. 

sammengruppieren  und  aus  der  Richtung  nach  Mailand,  nach  der  sie  hinziehen, 
läßt  sich  somit  die  Art,  in  der  Verona  gegen  den  Norden  wirken  sollte,  erkennen, 
ebenso  aber  auch,  wie  sehr  jene  beiden  Städte,  Verona  und  Mailand  im  Altertum 
militärisch  aufeinander  angewiesen  waren. 

Die  Ostalpen. 

Aus  den  erhaltenen  Nachrichten  ließ  sich  trotz  aller  Lückenhaftigkeit  und 
Unklarheit  doch  die  Tatsache  ganz  klar  herausschälen,  daß  während  des  dritten 
Jahrhunderts  nach  Ch.  einesteils  die  Rheinlande,  anderenteils  aber  der  mittlere 
Teil  der  Alpen  und  das  diesem  nördlich  und  südlich  vorliegende  Land  die  Ent- 
scheidungszone jener  durch  die  germanische  Völkerwanderung  hervorgerufenen 
Kriege  abgegeben  haben.  Eine  Konsequenz  dieser  Tatsache  ist  es  nun  aber  auch, 
daß  im  Verlaufe  eben  dieses  Jahrhunderts  der  lange  Flügel  der  Ostalpen,  der 
doch  dem  Ausgangspunkt  aller  jener  Bewegungen  räumlich  viel  näher  lag,  trotz- 
dem weniger  heftig  umkämpft  gewesen  ist,  und  die  römische  Macht  daher  auch 
in  jener  Zeit  in  den  Ostalpenländern  zunächst  weit  erfolgreicher  als  im  heutigen 
Süddeutschland  und  in  den  Rheinlanden  ihren  Besitz  behaupten  konnte.  Eine 
Erklärung  für  jene  Erscheinung  wird  ferner  darin  zu  suchen  sein,  daß  vor  dem 
Komplex  dieser  römischen  Alpenprovinzen,  vor  Norikum  und  Pannonien,  östlich 
die  zum  mächtigen  Strome  angeschwollene  Donau  als  wirksame  Flußgrenze  vor- 
lag und  daß  die  aus  Anlaß  der  Markomannenkriege  hier  ausgeführten  römischen 
Verteidigungsmaßregeln  für  das  folgende  Jahrhundert  wenigstens  voll  ihre  Wirkung 
getan  haben  werden. 

Denn  die  strategische  Bedeutung  der  Wiener  Ebene,  nach  römischer  Auf- 
fassung des  Bezirkes  der  Kolonie  Carnuntum,  war  seit  den  Markomannenkriegen  voll 
an  das  Tageslicht  getreten.  Jene  mit  allen  Mitteln  römischer  Verteidigungskunst 
ausgestattete  Landschaft,  nach  der  die  neu  ausgeführten  und  unermüdlich  in  Stand 
gehaltenen  Südnordstraßen  über  den  Rottemannern  Tauern  und  die  Straße  von 
Poetovio  und  Savaria  zielgerecht  heranführten,  war  mit  dem  Rücken  an  die 
letzten  Ausläufer  der  Alpen,  den  Mons  Cetius,  angelehnt  und  nach  Norden  und 
Osten  durch  die  Donau  geschützt.  Wie  ein  Strombrecher  ragte  damals  Carnun- 
tum in  die  am  linken  Donauufer  entlang  nach  Westen  oder  Süden  zu  abfließenden 
Völkerbewegungen  hinein.  Wir  sehen,  wie  sich  an  diese  Position  während  der 
ganzen  folgenden  Zeit  die  römischen  Feldherren  immer  wieder  angeklammert 
haben,  und  wirklich  waren  auch  Mainz  und  Carnuntum  damals  die  Punkte,  die, 
solange  sie  in  römischem  Besitz  waren,  das  Fortbestehen  der  Herrschaft  des 
südlichen  Volkes  nördlich  der  Mittel-  und  Ostalpen  versinnbildlichen  konnten. 
Südlich  Carnuntum  kämpfte  Decius  (-f*  251  nach  Ch.)  an  der  Donau  gegen  die 
andringenden  Goten.  Noch  deutlicher  tritt  aber  diese  Situation  unter  Valerian 
(254  bis  260  nach  Ch.)  hervor.  Denn  wälirend  damals  im  Westen  die  Franken 
nach  Gallien  und  die  Alemannen  nach  Italien  vordrangen  und  am  anderen  Ende 


Das  vierte  Jahrhundert  nach  Ch.  und  die  Alpenländer.  157 

des  Erdteils  die  Goten  in  Griechenland  einbrachen,  stand  das  römische  Haupt- 
quartier selbst  bei  Wien,  um  durch  diese  Aufstellung  wenigstens  ein  Zusammen- 
fließen aller  dieser  Bewegungen  zu  verhindern. 

Und  dieses  ganze  Bild  von  der  Wichtigkeit,  die  damals  die  Römer  jenem 
Teile  des  Kriegstheaters  beilegten,  wird  auch  im  kleinen  durch  die  archäologischen 
Funde  verdeutlicht.  An  der  auf  die  mittlere  Donau  zuführenden  Rottemanner 
Straße  haben  wir  aus  dem  dritten  Jahrhundert  den  Meilenstein  von  Krummfelden 
nördlich  Virunum  (von  244  nach  Ch.)  und  ebenso  die  Funde  von  Windisch- 
garsten,  die  aus  der  Zeit  des  Alexander  Severus  (222  bis  235  nach  Ch.)  stammen 
müssen,  besonders  aber  die  Spuren  lebhafter  Bautätigkeit  bei  Carnuntum  selbst. 
An  der  Pfarrkirche  in  Gumpendorf  bei  Wien  befindet  sich  ein  Denkmal  Valerians, 
und  unter  diesem  Kaiser  wurde  neben  Carnuntum  eben  noch  das  Lager  von 
Vindobona  neu  ausgebaut.  Wie  an  unzähligen  anderen  Stellen  sind  auch  diese 
Reste  ein  Zeugnis  von  der  gewaltigen,  zähen  und  ernsten  Arbeit,  die  der  römische 
Staatsorganismus  bis  in  seine  letzten  Zeiten  entfaltet  hat. 

Nur  an  einer  einzigen  Stelle  liefert  auch  an  diesem  Flügel  der  Alpen  das 
dritte  Jahrhundert  ein  offensichtliches  Zurückschreiten  des  römischen  Macht- 
gebietes. Unter  Aurelian  (270  bis  275  nach  Ch.)  wurde  das  äußerste,  östlichste 
Deckblatt,  das,  vor  Pannonien  und  Norikum  liegend,  das  Kernland  Italien  schützen 
sollte,  abgerissen,  indem  Dacien  damals  als  Provinz  aufgegeben  und  den  Goten 
eingeräumt  wurde.  Zu  derselben  Zeit  wie  die  Aufgabe  des  Dekumatlandes  er- 
folgte also  auch  die  Aufgabe  dieser  Provinz,  die  ebenso  wie  jene  nur  eine  Zutat 
der  späteren  Kaiserzeit  gewesen  war.  Dieser  Verlust  Daciens  konnte  jedoch  im 
Gegensatz  zur  Aufgabe  des  Dekumatlandes  damals  noch  ohne  wichtige  Folgen 
bleiben,  da  er  eine  Umgestaltung  des  alten  römischen  Verteidigungssystemes  auf 
dieser  Seite  der  Alpen  zunächst  nicht  nötig  machte. 

Denn  der  wirkliche  Zusammenbruch  dieses  römischen  Verteidigiingssystemes 
in  den  Ostalpen  ist  dann  erst  fast  um  ein  Jahrhundert  später  erfolgt.  Es  ist 
dieses  die  rund  um  das  Jahr  375  nach  Ch.  liegende  Zeitspanne,  die  überhaupt 
gern  als  der  eigentliche  Beginn  der  germanischen  Völkerwanderung  bezeichnet 
zu  werden  pflegt.  In  Wirklichkeit  bezeichnet  jener  Zeitabschnitt  jedoch  nichts 
anderes  als  daß  nunmehr  diese  schon  längst  im  Fluß  befindliche  germanische 
Völkerbewegung  ein  rascheres  Tempo  als  früher  annahm,  durch  das  der  Zerfall 
des  römischen  Reiches  auch  äußerlich  beschleunigt  wurde.  Örtlich  und  zeitlich 
haben  die  damaligen  Ereignisse  aber  ihren  Anfang  von  dem  Auftreten  der  Hunnen 
in  dem  äußersten  Osten  Europas  genommen.  Jenes  Volk  war  als  Lebewesen 
freilich  grundverschieden  von  den  Germanen,  aber  massenhaft,  unstet,  zäh  und 
kulturfeindlich  wie  es  auf  den  Schauplatz  trat,  vermochte  es  die  Unruhe  und 
unheimliche  Bewegung,  deren  Träger  es  war,  auch  auf  die  Germanenvölker  und 
somit  zugleich  auf  den  ganzen  Erdteil  zu  übertragen. 

Die   Gründe    der    Ereignisse,   die    zu    dem    ersten   wirklichen    Zerfall    des 


158  IX.  Kapitel. 

römischen  Reiches  in  den  Ostalpenländern  führten,  liegen  jedoch  zunächst  viel 
näher  vor  Augen  und  lassen  noch  keinen  eigentlichen  Zusammenhang  mit  der 
von  den  Hunnen  hervorgerufenen  Bewegung  erkennen.  Sie  sind  in  dem  Auf- 
treten der  Quaden  zu  suchen,  die  schon  etwa  um  das  Jahr  370  nach  Ch.,  also 
bevor  der  Name  der  Hunnen  in  der  Geschichte  überhaupt  genannt  wird,  gegen- 
über der  römischen  Donaugrenze,  etwa  in  der  Linie  von  Lauriacum  bis  zu  den 
Karpaten  hin,  aufmarschiert  standen.  Es  wiederholte  sich  also  damals  ganz 
dieselbe  Kriegslage  \fie  sie  schon  einmal  zwei  Jahrhunderte  früher  bei  den 
Markomannenkriegen  eingetreten  war.  Bei  jener  Gelegenheit  kann  die  römische 
Abwehrtätigkeit  nun  aber  plötzlich  in  einer  Zone  der  Alpen  beobachtet  werden, 
die  bisher  von  militärischen  Rüstungen  noch  wenig  berücksichtigt  gewesen  zu 
sein  scheint.  Es  ist  dieses  wiederum  auf  einer  weit  einwärts  gelegenen  inneren 
Linie,  und  zwar  diesmal  am  Südabhang  des  Ostalpenflügels  der  Fall,  einer  Linie, 
die  etwa  mit  der  Nordgrenze  des  heutigen  italienischen  Venetiens  zusammenfällt. 
Abgesehen  von  der  Tätigkeit  Gratians  (375  nach  Ch.)  an  der  Etsch  bei  Bozen 
finden  wir  in  jenen  Zeiten  eine  Ausbesserung  der  Straße  durch  das  Pustertal 
(Meilenstein  von  Julian  bei  Sonnenburg)  und  besonders  den  Neubau  der  Ploecken- 
straße.  Der  Zusammenhang  der  Herstellung  dieser  Straße  als  militärischer  Linie 
mit  den  Quadenkriegen  ergibt  sich  sofort  daraus,  wenn  wir  bedenken,  daß  jene 
Straße  mit  ihrer  nördlichen  Fortsetzung  direkt  auf  die  Quadengrenze  bei  Lorch 
auslief  und  die  Zeit  ihrer  Erbauung  unter  Valentinian  und  Valens  in  das  Jahr 
373  nach  Ch.  d.  h.  in  die  Zeit  des  großen  Quadeneinfalls  Fällt.  Auch  in  jenen 
späten  Jahrhunderten  verfügte  demnach  der  römische  Staatsgedanke  immer  noch 
über  neue,  selbständige  Ideen;  denn  ebenso  wie  keine  frühere  Zeit  so  hat  auch 
keine  spätere  Epoche  jemals  wieder  Veranlassung  gefunden,  an  einen  regelrechten 
Ausbau  der  Ploeckenstraße  heranzugehen.  Daß  diese  Straßenlegung  damals 
jedoch  nicht  etwa  nur  ein  provisorisches  sondern  ein  ganz  solides  Werk,  durch 
das  aus  einem  begangenen  aber  schlecht  gepflegtem  Bergpfad  eine  wichtige 
militärische  Linie  geschaffen  wurde,  gewesen  ist,  zeigt  nicht  nur  eine  gleichzeitige 
Inschrift  von  der  Paßhöhe  selbst,  sondern  mehr  noch  die  Tatsache,  daß  die 
Ploeckenstraße  noch  zwei  Jahrhunderte  später,  im  sechsten  Jahrhundert,  trotz 
allen  durch  die  Völkerwanderung  hervorgerufenen  Verfalles  als  eine  gangbare 
und  besonders  benutzte  Straße  genannt  wird^^).  Im  allgemeinen  mag  also  der 
Ausbau  der  Ploeckenstraße  denselben  Erwägungen,  die  auch  den  Bau  der 
Splügenstraße  hervorriefen,  seinen  Ursprung  verdankt  haben,  wie  überhaupt  in 
jenen  Zeiten  nun  auch  Venetien  dieselbe  Rolle  wie  dem  mittleren  Oberitalien 
zugefallen  war,  insofern  dieses  den  Schauplatz  für  die  gegen  den  Nordosten 
Europas  gerichteten  militärischen  Rüstungen  der  Römer  zu  bilden  und  somit  im 
Grunde  bereits  die  Bestimmung  einer  Grenzprovinz  abzugeben  hatte. 

Um    die   Rolle,    die   die  Alpen   während   des  Verlaufes   des  Quadenkrieges 
gespielt  haben,  näher  zu  erkennen,  sind  wir  lediglich  auf  die  Worte  des  Ammia- 


Das  vierte  Jahrhundert  nach  Ch.  und  die  Alpenländer.  I59 

nus  Marcellinus  angewiesen,  der  erzählt,  „daß  von  den  Quaden  damals  der  Wall 
der  julischen  Alpen  durchbrochen  worden  ist".  Wir  wissen  also,  daß  auf  diese 
Weise  Venetien,  nun  zum  zweiten  Male  während  der  Völkerwanderung,  einer 
gewaltigen,  von  Osten  her  kommenden  Invasion  anheimgefallen  sein  muß,  ein 
Ereignis,  das  sich  dann  während  der  folgenden  beiden  Jahrhunderte  immer  wieder- 
holen sollte.  Überhaupt  ist  eben  das  Ende  jenes  vierten  Jahrhunderts  der  Zeit- 
raum, von  dem  an  beginnend  der  Schwerpunkt  des  Völkerdruckes  sich  mehr  von 
der  Rheinlinie  weggewendet  und  sich  dagegen  in  den  Venetien  östlich  vorlie- 
genden Ländern  zusammengeballt  hat.  Seit  dieser  Zeit  bildet  daher  die  Um- 
gebung Aquilejas  ganz  ausnehmend  das  erste  Entscheidungsland  für  die  von  Osten 
her  gegen  Rom  hereinbrechenden  Kriegszüge,  und  die  auf  diese  Stadt  direkt  von 
Osten,  von  Pannonien  her  über  den  niedrigen  Sattel  des  Birnbaumer  Waldes 
heranführenden  Reichsstraße,  auf  der  vorher  von  Italien  aus  die  römische  Erobe- 
rung Zone  um  Zone  nach  Osten  vorgeschritten  war,  ist  nunmehr  im  wahrsten 
Sinne  zu  einer  großen  Völkerstraße  geworden,  mit  der  alleinigen  Bestimmung, 
dem  vom  Osten  kommenden  Feinde   den  kürzesten  Weg  nach  Italien  zu  zeigen. 

Ob  freilich  gerade  auch  schon  die  Quaden  diese  pannonische  Straße  für 
ihr  Eindringen  in  Venetien  benutzt  haben,  läßt  sich  aus  dem  Wortlaut  des  Ammia- 
nus  Marcellinus  nicht  ohne  weiteres  erkennen.  Wahrscheinlich  ist  es  ja,  aber 
die  Julischen  Alpen,  die  jener  namhaft  macht,  können  für  das  römische  Altertum 
entsprechend  der  südlich  ihnen  vorliegenden  Orte  Julium  Carnicum  und  Forum 
Julii  auch  in  größerer  Ausdehnung  nach  Nordwesten  zu  verstanden  werden,  und 
es  wäre  demnach  für  diesen  Durchbruch  der  Quaden  auch  eine  Benutzung  der 
Ploeckenstraße  oder  der  Straße  über  den  Pontebba-Paß  nicht  ausgeschlossen. 
Ein  anderes  ist  jedoch  aus  jenen  Worten  noch  ganz  sicher  zu  entnehmen, 
die  Tatsache,  daß  dieser  Durchbruch  der  Quaden  nicht  ohne  gleichzeitige 
regelrechte  Kämpfe  zwischen  Römern  und  Barbaren  in  den  Julischen  Alpen  selbst 
stattgefunden  haben  kann,  und  daß  wir  nunmehr  also  auch  in  betreff  des  Ost- 
alpenflügels auf  jenen  Punkt  gelangt  sind,  wo  das  jenseits  der  Alpen  liegende 
Vorglacis  von  den  Römern  zeitweise  aufgegeben  war  und  auch  der  Alpenwall 
selbst  für  die  schwächer  gewordene  Verteidigung  zu  Hilfe  genommen  werden 
mußte. 

Aber  nicht  bloß  eine  zeitweise  sondern  auch  eine  bleibende  Aufgabe  eines 
wichtigen  Teiles  dieser  östlichen  Alpenländer  hat  der  Quadenkrieg  tatsächlich 
herbeigeführt.  Seit  den  Quadenkriegen  hat  sich  die  römische  Macht  für  immer 
aus  dem  nördlichen  Pannonien,  mit  einem  Worte,  von  Carnuntum  zurückgezogen 
und  mit  der  Aufgabe  dieses  einen  Punktes  fielen  auch  die  vielen  anderen  Römer- 
posten, die  sich  in  dessen  Nachbarschaft  zahlreich  angesiedelt  hatten  und  deren 
Ruinen  auch  heute  noch  überall  hier  aus  dem  Boden  herausragen  (Wien,  Kloster- 
neuburg, Brück  a.  d.  Leitha,  Oedenburg).  Mit  dieser  Zeit  hat  die  Römerherrschaft 
hier  ihr  Ende  erreicht,    wenn  es  auch  ganz  natürlich   ist,    daß   gerade   in  jenem 


160  '^'  Kapitel. 

unverwüstlichen  Zentrum  des  Lebens  und  des  Verkehrs  —  anders,  als  in  anderen 
Strichen,  die  von  der  Zerstörung  der  Völkerwanderung  betroffen  worden  sind  — 
der  Wegzug  der  römischen  Soldaten  nicht  auch  das  Aufhören  aller  Kultur  be- 
deutet hat.  Besonders  an  der  Stelle  von  Wien  und  Carnuntum  ist,  ähnlich  wie 
später  in  Vlrunum  und  Augsburg,  zunächst  ein  Weiterbestehen  dieser  Orte  als 
germanischer  Heerlager  wahrscheinlich. 

Die  späteren  Ereignisse  lassen  nun  aber  auch  ganz  deutlich  die  Folgen  er- 
kennen, die  der  Verlyst  Carnuntums  auf  die  Bewegungen  des  letzten  Teiles  jener 
Völkerwanderung  ausüben  mußte.  Mit  dem  Falle  Carnuntums  war  das  Hindernis 
hinweggeräumt,  das  bisher  die  anrückenden  Völker  von  der  Wahl  der  kürzeren 
bequemeren  Richtung  durch  Pannonien  nach  dem  Westen  und  Südwesten  ab- 
gelenkt hatte,  und  tatsächlich  folgte  römischerseits  nun  sofort  auch  der  Verlust 
Pannoniens  und  das  ungehemmte  Heranrücken  der  Feinde  unmittelbar  bis  vor 
jene  berühmten  „Pforten  Italiens"  selbst,  die  Julischen  Alpen.  Außerdem  war 
aber  auch  mit  Carnuntum  der  Schutz  der  rechten  Flanke  für  das  ganze  Gebiet 
in  Wegfall  gekommen,  das  damals  noch  auf  dem  Boden  des  heutigen  Süddeutsch- 
lands in  römischem  Besitz  war,  und  das  Aufrollen  dieser  Linie,  von  Osten  an 
beginnend,  über  das  nördliche  Norikum  und  Rätien  bis  zur  Hier  hin  hätte  jetzt 
auch  ohne  die  später  erfolgenden  Maßregeln  Stilichos,  wenn  auch  langsamer,  so 
doch  ebenso  unausbleiblich,  eintreten  müssen. 

Während  so  zugleich  mit  dem  Falle  des  ausnehmend  befestigten  und  hart- 
näckig behüteten  Carnuntums  auch  die  Herrschaft  über  die  Länder  an  der  mitt- 
leren Donau  selbst  den  Römern  entglitten  war,  ist  die  Tatsache  um  so  bemerkens- 
werter, daß  das  jenen  Gebieten  dicht  benachbarte  Norikum  trotzdem  nicht  nur 
nicht  in  diesen  Verlust  mit  hineinbezogen  worden  ist,  sondern  daß  sich  dieses 
Land  auch  noch  während  der  folgenden  Jahrhunderte  und  unmittelbar  bis  zum 
Einbruch  des  Zeitpunktes,  mit  dem  das  Eintreten  des  Mittelalters  sich  in  den 
Ostalpen  tatsächlich  fühlbar  machte,  als  ein  mit  dem  Südland  eng  verknüpftes 
Gebiet  darstellt.  Gemeint  ist  hier  aber  nicht  die  ganze  Provinz  Norikum  nörd- 
lich der  karnischen  und  julischen  Alpen  bis  herauf  zum  Donauufer,  in  dem  Um- 
fange wie  ihn  einst  die  römische  Regierung  in  einem  Gefühl  der  Machtfülle 
dekretiert  hatte,  das  fast  demjenigen  gleichzukommen  schien  wie  es  sonst  nur 
den  von  der  Natur  geschaffenen  Bedingungen  innezuwohnen  pflegt.  Es  ist  hier 
nur  die  Rede  von  dem  südlichen  Teile  dieser  Provinz,  dem  heutigen  Kairnten  und 
den  südlich  diesem  anliegenden  Teilen  von  Krain  und  Steiermark.  Hier  hat  das 
römische  Wesen  trotz  aller  Kriegszüge,  die  auch  durch  jene  Gebiete  am  Ende 
der  Völkerwanderung  hindurchgingen,  auch  während  der  folgenden  Jahrhunderte 
ununterbrochen  fortbestanden  und  die  südliche  Regierungsgewalt  ohne  Störung 
weiter  gedauert.  An  der  Westgrenze  Norikums  auf  dem  Boden  des  alten  Seba- 
tum,  im  Pustertal  beim  heutigen  St.  Lorenzen,  finden  wir  noch  im  Jahre  472 
nach  Ch.  den  Neubau   einer  christlichen   Kirche   und   auch  alle   anderen   Funde 


Das  vierte  Jahrhundert  nach  Ch.  und  die  Alpenländer.  IQl 

machen  es  deutlich,  daß  die  bedeutenden  Städte  dieser  Gegenden  wie  Flavium 
solvense,  Virunum,  Teurnla  und  Aguntum  hier  allen  Stürmen  der  Völkerwande- 
rung zum  Trotz  zunächst  noch  weiterbestanden  haben  müssen.  Daß  aber  jenes 
Gebiet  damals  tatsächlich  zum  Südland  gerechnet  wurde,  ergibt  sich  weiterhin 
aus  einer  Regierungsmaßregel  Odoakers,  der,  als  er  Herrscher  von  Italien  ge- 
worden war,  aus  freiem  Entschluß  die  Übersiedelung  seiner  dort  befindlichen 
„Staatsangehörigen"  nach  Italien  verfügte.  Auch  daß  die  Herrschaft  des  Ost- 
gotenreiches tatsächlich  bis  in  jene  Gebiete  gereicht  hat,  ist  äußerst  wahrschein- 
lich, wie  auch  nach  der  Zertrümmerung  dieses  Reiches  dessen  Rechtsnachfolger, 
das  oströmische  Reich,  dann  wiederum  jenes  südliche  Norikum  ohne  weiteres 
als  seine  Provinz  betrachtete,  und  Prokop,  der  Geschichtsschreiber  des  großen 
Krieges  zwischen  Ostrom  und  den  Ostgoten  kannte  auch  hier  um  562  nach  Ch. 
durchaus  noch  nichts  anderes  als  die  alte  Bevölkerung  der  Noriker  und  Karner. 
Wir  stehen  so  vor  einer  Tatsache,  die  besser  als  vieles  andere  die  Er- 
scheinung in  das  rechte  Licht  setzen  kann,  daß  das  Gefüge  der  von  der  Natur 
geschaffenen  Verhältnisse  doch  in  seinen  Wirkungen  auf  die  Verkehrsgebilde 
stets  stärker  ist  als  der  Menschenwille,  mag  dieser  sich  auch  noch  so  energisch 
und  andauernd  zur  Geltung  zu  bringen  suchen.  Die  Festhaltung  Carnuntums 
durch  die  Römer  war  eine  ganz  bewußte  Maßregel  gewesen,  die  durch  heiße 
Arbeit  immer  wieder  von  neuem  in  Kraft  gehalten  wurde  und  zuletzt  fast  einem 
Kunststück  gleichkam.  Im  Gegensatz  hierzu  ist  von  jenen  während  der  letzten 
Jahrhunderte  ihrer  Herrschaft  durchaus  nichts  geschehen,  um  sich  auch  den  Be- 
sitz Norikums  zu  sichern.  Trotzdem  blieb  ihnen  aber  dieses  Land  länger  als 
jedes  anderes  Gebiet  nördlich  der  Alpen  erhalten,  weil  es  durch  seine  natürliche 
Lage  eng  an  das  Südland  gekettet  ist;  denn  nicht  nur  von  Südwesten,  von  Vene- 
tien,  und  von  Südosten,  vermittelst  der  Flußtäler  der  Drau  und  Save,  führen  die 
südlichen  Verbindungen  bequem  in  dieses  Land  hinein,  sondern  dieses  südliche 
Norikum  war  vor  allem  auch  nach  der  Seite  hin,  von  der  damals  der  große 
Völkerdrang  anzog,  durch  den  bastionsartig  vorliegenden  Mons  Cetius  und  die 
in  ausgesprochen  ostwestlicher  Richtung  und  in  weiter  Ausdehnung  sich  hin- 
ziehenden Tauernkämme  geschützt.  Gerade  die  Bauart  dieser  Gebirgsteile,  die 
einer  Scheidung  zwischen  dem  Süden  und  dem  Norden  außerordentlich  förderlich 
ist  und  bei  denen  damals  der  Charakter  des  trennenden  Waldgebirges  noch  ganz 
rein  vorgewaltet  haben  mag,  kann  den  Schluß  gerechtfertigt  erscheinen  lassen, 
daß  hier  überhaupt  während  des  ganzen  römischen  Altertums  zwischen  dem  voll- 
ständig südländisch  gearteten  Gebiet  von  Virunum  und  den  nördlichen  Ostalpen- 
ländern, dem  heutigen  Herzogtum  Salzburg,  dem  Salzkammergut  und  nördlichem 
Steiermark,  ein  größerer  Kulturunterschied  als  jemals  später  bestanden  hat.  Jene 
nördlichen  Teile  der  Ostalpen  werden  während  des  ganzen  römischen  Altertums 
kaum  eine  reichliche  Bevölkerung  besessen  und  somit  auch  keiner  besonders 
intensiven  Verwaltung  bedurft  haben.     Im  anderen  Falle  hätte  es  nicht  ausbleiben 

Scheffel,  Verkehrsgcschichie  der  Alpen.     1.  B«nd.  H 


162  IX.-Kapitel. 

können,  daß  die  ländertrennende  Macht  des  Groß -Glockners  sich  schon  damals 
aus  diesen  Gebieten  schärfer  hervorgehoben  haben  müßte,  denn  sobald  zu  Be- 
ginn des  Mittelalters  die  von  Norden  kommende  staatenbildende  Arbeit  irgend- 
welcher Art  in  den  Ostalpen  eingesetzt  hat,  ist  es  sofort  jener  Gebirgsstock  des 
Glockner  gewesen,  der  dabei  als  der  von  der  Natur  gegebene  Orientierungspunkt 
verwendet  und  von  dem  aus  die  anliegenden  Länder  mit  ihren  Grenzen  umspannt 
wurden.  Ein  Zeichen,  wie  sehr  während  des  Altertums  der  südliche  Teil  der 
Ostalpenländer  gegenüber  jenem  nördlichen  vorgeschritten  gewesen  sein  muß,  ist 
es  aber  wiederum,  daß  der  südliche  Partner  des  Glockners  in  den  Ostalpen,  der 
Triglav,  schon  damals  der  Angelpunkt  der  römischen  Länder,  Venetien,  Norikum 
und  Pannonien,  gewesen  ist. 


X.  Kapitel. 

Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches 
im  fünften  Jahrhundert  nach  Ch. 


Die  Ereignisse  in  Norditalien. 

Die  nächsten  großen  Erschütterungen,  denen  die  Alpenländer  nach  den 
Quadenkriegen  ausgesetzt  wurden,  sind  die  Kriege  der  Westgoten  unter  Alarich 
und  der  Scharen  des  Radagais  gegen  Westrom  gewesen.  Diese  Kriege  stehen 
nun  auch  mit  dem  Auftreten  der  Hunnen,  das  wiederum  die  Veranlassung  zu 
den  Bewegungen  jener  Völker  von  Anfang  an  gegeben  hatte,  in  direktem  Zu- 
sammenhang, und  sie  bezeichnen  auch  für  die  allgemeine  Geschichte  in  mehr 
als  einer  Hinsicht  einen  Wendepunkt.  Wohl  waren  auch  schon  die  früheren 
EinPälle  der  Germanen  nach  Durchbrechung  des  Alpenwalles  in  Norditalien  aus- 
gelaufen. Waren  diese  aber  in  ihrem  ganzen  Verlauf  nur  Raub-  und  Beutezüge 
ohne  feste  Absicht  und  ohne  sichere  Leitung  gewesen,  so  stellt  sich  der  Zug 
Alarichs  zum  ersten  Male  als  ein  zu  einem  ganz  bestimmten  Zwecke  unter- 
nommener Feldzug  dar,  an  dessen  Spitze  auch  bei  den  Germanen  eine  vom 
hellen  Lichte  der  Geschichte  umstrahlte  Gestalt,  der  Heerkönig  der  Goten, 
steht.  Alarich  ist  der  erste  der  germanischen  Führer,  der  dem  römischen  Staate 
nicht  bloß  Heeresleitung  gegen  Heeresleitung,  sondern  auch  seine  eigenen 
politischen  Absichten  entgegengesetzt  hat.  Der  Westgotenkrieg  unter  Alarich 
führte  außerdem  zum  ersten  Male  zu  einer  Belagerung  und  Einnahme  der  Haupt- 
stadt Rom  durch  die  Germanen;  das  Wesentliche  bei  diesem  auch  äußerlich 
sofort  in  seiner  Wichtigkeit  in  die  Augen  springenden  Ereignis  ist  es  aber,  daß 
jene  Einnahme  Roms  nicht  in  der  zufdlligen  Kriegslage,  sondern  ganz  eigentlich 
in  der  Konsequenz  der  Tatsachen  ihren  Grund  hatte,  die  von  einer  führenden 
Persönlichkeit  ausgenutzt  worden  war.  Aber  nicht  bloß  auf  germanischer,  sondern 
auch  auf  römischer  Seite  hat  diese  von  gewaltigen  Kämpfen  ausgefüllte  Zeitepoche 


164  ^-  Kapitel. 

geschichtlich  bedeutende  Männer  hervorgebracht.  Auf  der  römischen  Seite  ist 
es  damals  die  Gestalt  des  Stilicho,  in  der  sich  der  Widerstand  der  alten  Kultur 
verkörpert  hat,  eine  Gestalt,  die  der  geschichtlichen  Betrachtung  insofern  viel 
interessanter  selbst  als  Alarich  sein  muß,  da  Stilicho  wie  alles  Römische  in  jenen 
Zeiten  der  größeren  physischen  Kraft  seiner  Feinde  gegenüber  besonders  auf  die 
Hilfsmittel  des  Menschengeistes,  auf  überlegene  Kriegskunst  und  Politik,  und  auf 
die  Macht  seiner  eigenen  Persönlichkeit  angewiesen  war. 

Aber  nicht  bloß  für  die  allgemeine  Geschichte,  auch  für  die  Kriegsgeschichte 
der  Alpenländer  sind  jene  Feldzüge  epochemachend  geworden,  die  Stilicho  in 
den  Alpen  selbst  und  in  dem  südlichen  Vorland  des  Gebirges  geführt  hat.  Wir 
können  annehmen,  daß  jene  Kriege  die  ersten  wirklichen  Feldzüge  in  den  Alpen- 
ländern seit  den  letzten  Zeiten  der  römischen  Republik  gewesen  sind,  Feldzüge 
insofern,  als  auf  dem  von  den  Alpen  abhängigen  Gebiet  zwei  Parteien  von  an- 
nähernd gleicher  Stärke  und  beiderseits  unter  kriegsgemäßer  Leitung  um  die 
Entscheidung  rangen,  wenn  auch  selbst  noch  in  diesen  Zeiten  die  Eigenschaften 
der  wirklichen  feldherrnmäßigen  Führung  viel  deutlicher  auf  Vömischer  Seite, 
bei  Stilicho,  als  bei  den  Germanenfürsten  Alarich  und  Radagais  hervortreten. 
In  diesem  Sinne  ist  daher  Stilicho  nächst  Hannibal  der  einzige  Feldherr  des 
Altertums,  der  auf  dem  Alpenschauplatz  gegenüber  einem  ebenbürtigen  Gegner 
selbständige  Kriege  geführt  hat.  Die  Unsicherheit  und  Dürftigkeit  der  Quellen 
aber  ist  eine  Erscheinung,  der  wir  während  der  Völkerwanderung  oft  genug 
haben  Erwähnung  tun  müssen,  und  so  ist  es  auch  hier  nur  jene  eine  allgemeine 
Tatsache,  die  sich  für  unseren  Zweck  sicher  heraushebt,  während  der  örtliche 
Verlauf  jener  Kriege  im  einzelnen  jeglicher  noch  so  fleißiger  Rekonstruktion  spottet. 

Das  Gerippe  der  für  unseren  Zweck  wichtigen  Ereignisse,  die  wir  mit  dem 
Namen  Stilichos  verknüpfen,  setzt  sich  derart  zusammen,  daß  im  Jahre  |400 
nach  Ch.  zuerst  Ostgoten  mit  Alanen,  Vandalen  und  Sueben  vereinigt  unter 
Führung  des  Radagais  in  Rätien  einfielen,  und  daß  diesem  Einfall  dann  am  Ende 
des  Jahres  401  der  erste  Feldzug  Alarichs  gegen  Italien  folgte,  der  im  Jahre  403 
mit  der  Besiegung  oder  man  könnte  besser  sagen  Herausmanöverierung  Alarichs 
aus  Italien  durch  Stilicho  endigte.  An  diese  Ereignisse  schließt  sich  dann  im 
Jahre  404  ein  neuer,  gleichfalls  durch  Stilicho  abgeschlagener  Einfall  des  Radagais 
in  Italien  und  besonders  im  Jahre  406  der  große  Durchbruch  der  Vandalen, 
Alanen  und  Sueben  nach  Gallien  und  Spanien  an,  von  denen  der  letztere  dann 
wiederum  den  Anstoß  zu  dem  zweiten  erfolgreichen  Angriff  Alarichs  auf  Italien 
gegeben  hat,  in  dessen  Verlauf  die  Hauptstadt  Rom  belagert  wurde.  Ein  Zu- 
sammenhang der  nördlich  der  Alpen  und  über  den  Rhein  gehenden  Bewegungen 
der  Völkerwanderung  mit  denjenigen,  die  sich  südlich  der  Alpen  ihren  Weg  zu 
bahnen  suchen,  ist  also  jetzt  mehr  oder  weniger  zu  erkennen;  man  merkt  dem- 
nach auch  darin  den  bewußten  persönlichen  Einfluß,  der  jetzt  in  der  Leitung  der 
Kriegszüge  bei  den  Germanen  einigermaßen  Platz  gegriffen  hat. 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  165 

Die  Feldherrntätigkeit  Stilichos  in  den  Alpen  beginnt  somit  im  Jahre  401, 
als  dieser  zunächst  gegen  die  Scharen  des  Radagais  zu  kämpfen  hatte.  Für  die 
Bestimmung  des  Schauplatzes  innerhalb  des  Gebirges,  auf  dem  jene  Kämpfe 
stattgefunden  haben,  bleibt  uns  zunächst  aber  mit  absoluter  Sicherheit  nur  der 
Name  Rätien  übrig,  da  wir  allerdings  von  einem  Einfall  in  dieses  Land  hören. 
Aber  schon  darüber,  ob  jener  Einfall  von  Norden  oder  Osten  her  dorthin  gelangt 
ist,  könnte  man  zweifelhaft  sein,  obgleich  der  Name  der  Goten  bei  der  Zu- 
sammensetzung der  in  Frage  kommenden  feindlichen  Völker  genannt  wird,  und 
diese  Goten  nicht  die  Westgoten  Alarichs,  sondern  nur  Ostgoten  gewesen 
sein  können,  die  damals  in  Pannonien  saßen.  Ein  von  Pannonien  her  auf  Rätien 
gerichteter  Angriff  kann  aber  nur  den  Weg  von  Osten  her  durch  das  Drautal 
und  durch  Norikum  genommen  haben.  Zu  dieser  Annahme  paßt  auch  die  aller- 
dings ganz  vereinzelt  dastehende  Tatsache,  daß  durch  die  Ausgrabungen  an  der 
Stelle  der  alten  römischen  Stadt  Gurina  (im  Obergailtal  und  im  Bereich  des 
Pustertales,  das  eben  nach  Rätien  hinüberleitet)  mit  absoluter  Sicherheit  fest- 
gestellt worden  ist,  daß  dieser  Ort  um  das  Jahr  400  nach  Ch.  zerstört  worden 
ist,  und  somit  gerade  in  jenen  Zeiten  wirklich  einmal  eine  feindliche  Invasion 
Norikums  stattgefunden  haben  muß. 

Während  jener  Ereignisse  ist  dann  auch  Alarich  zielbewußt  aus  dem  südlich 
von  Pannonien  gelegenen  Illyrien  aufgebrochen,  um  „auf  der  gebräuchlichen 
Linie"  —  so  drückt  sich  der  römische  Dichter  Klaudian  aus,  dem  wir  noch  das 
meiste  von  diesen  Ereignissen  verdanken  — ■  über  die  julischen  Alpen  von  Emona 
her  in  Italien  einzudringen.  Dieser  erste  Feldzug  Alarichs  ist  zunächst  ganz 
schul^emäß  für  alle  Zeiten  weiter  verlaufen.  Auf  erfolgreiche  Grenzgefechte  am 
Timavus  folgte  seitens  der  Goten  zunächst  die  Belagerung  Aquilejas,  dann  die 
Besetzung  Venetiens  und  schließlich  das  Vordringen  nach  der  Lombardei,  in 
deren  Mittelpunkte  Mailand  sich  der  Sitz  der  römischen  Regierung  in  Gestalt 
des  Kaisers  Honorius  selbst  befand.  Erst  zu  jenem  Zeitpunkte  nun,  an  dem  die 
Lage  dieser  von  den  Westgoten  vollständig  zernierten  Stadt  schon  äußerst  be- 
drohlich geworden  war,  greift  die  Feldherrntätigkeit  Stilichos  auch  in  Italien 
wieder  in  die  Ereignisse  ein. 

Dieser  war  gleichfalls  noch  am  Ende  des  Jahres  401  in  eiligem  Marsche 
und  auf  dem  kürzesten  Wege  von  Rom  aus  über  Mailand  nach  Rätien  abgegangen, 
um  dort  zunächst  Ruhe  zu  schaffen.  Wir  wissen,  daß  Stilicho,  wie  es  damals 
gebräuchlich  war,  zunächst  zu  Schiff  den  Komer-See  durchquerte,  um  dann  von 
hier  aus  den  Weg  über  eine  der  bündner  Heerstraßen  nach  Norden  einzuschlagen. 
Klaudian  hat  diesen  Alpenübergang  ganz  anschaulich  geschildert:  Die  eisige  Kälte, 
die  unsicheren  Pfade,  die  Lawinen,  die  Menschen  und  Zugtiere  in  ein  nasses 
Grab  hinabrissen.  Alle  diese  Einzelheiten  passen  tatsächlich  ganz  gut  auf  den 
Weg  über  den  Splügen,  wie  auch  die  Zielgerechtigkeit  dieser  Heerstraße  der 
Eile  entspricht,  von  der  Stilicho  damals  vorwärts  getrieben  wurde,  und  wenn  wir 


166  X.  Kapitel. 

bei  dieser  ganzen  Erzäiiiung  auch  einiges  auf  die  dichterische  Ruhmredigiteit  Klau- 
dians  setzen  müssen,  so  bleibt  doch  jedenfalls  so  viel  übrig,  daß  dieser  Zug  damals 
ein  unter  den  schwierigsten  Verhältnissen  und  schon  in  vorgerückter  Jahreszeit 
ausgeführter  Alpenübergang  gewesen  sein  muß,  durch  den  es  Stilicho  wirklich 
gelang,  plötzlich  im  Herzen  Rätiens  zu  erscheinen  und  hier  zunächst  auf  irgend- 
welche Weise  der  Unruhen  Herr  zu  werden. 

Wichtiger  und  unendlich  folgenschwerer,  nicht  nur  für  die  Alpenländer 
sondern  auch  für  das  Schicksal  des  ganzen  römischen  Weltreiches,  sind  aber  dann 
die  Maßregeln  geworden,  die  Stilicho  in  unmittelbarem  Anschluß  an  diesen  Kriegs- 
zug getroffen  hat.  Mit  dichterischem  Hochgefühl  erzählt  Klaudian,  wie  damals 
Stilicho  sein  Heer  auf  dem  Boden  Rätiens  reorganisierte  und  zu  diesem  Zwecke 
sämtliche  verfügbaren  römischen  Truppen  Mitteleuropas,  von  Brittanien,  von 
den  Rheinlanden  und  aus  den  Alpenländern,  zu  sich  heranzog,  um  mit  der  ge- 
samten römischen  Streitmacht  dann  wieder  südlich  gegen  Alarich  in  die  Poebene 
hinab  vorzubrechen.  Es  ist  wiederum  ein  Zeichen,  welche  Sicherheit  im  Funk- 
tionieren auch  damals  noch  dem  ganzen  römischen  Armeeapparat  innegewohnt 
hat,  da  alle  diese  Abteilungen  sich  nun  auch  wirklich  bei  Stilicho  in  Rätien  ver- 
einigten. Da  aber  Stilicho  erst  im  Frühjahre  wieder  nach  der  Lombardei  ab- 
rückte, und  es  außerdem  durchaus  der  Tatkraft  desselben  entspricht,  daß  er  den 
Befehl  zu  jenem  Zusammenrücken  bereits  im  Herbste  zuvor,  bei  seinem  Auf- 
bruche aus  Italien  erlassen  haben  kann,  so  reichte  diese  Zeitspanne  wenigstens 
vollkommen  aus,  um  selbst  die  entferntesten  jener  Truppenteile  noch  rechtzeitig 
bei  ihm  eintreffen  zu  lassen. 

Inzwischen  waren  die  Goten  unter  Alarich  weiterhin  mit  der  Belagerung 
des  festen  Mailands  beschäftigt,  hinter  dessen  Mauern  Honorius  ängstlich  die 
Hilfe  Stilichos  erwartete.  Die  erste  erlösende  Tat  dieses  Feldzuges  römischer- 
seits  wurde  nun  jetzt  der  erfolgreiche  Übergang  Stilichos  über  die  Adda,  der 
diesen  von  den  Goten,  die  schon  westlich  des  Flusses  standen,  streitig  gemacht 
wurde.  Wir  können  also  aus  dieser  Situation  wenigstens  das  eine  mit  Sicherheit 
folgern,  daß  damals  Stilicho  keinesfalls  von  den  bündner  Pässen,  die  sämtlich 
westlich  der  Adda  in  Como  auslaufen,  sondern  östlicher,  vom  Brennergebiet  aus, 
zurückgekommen  sein  muß.  Aber  auch  der  Jahreszeit,  in  der  dieses  Hervor- 
brechen aus  den  Alpen  geschah,  können  wir  einigermaßen  nachkommen.  Stilicho 
besiegte  die  Westgoten  dann  bei  Pollentia.  Aus  dem  Zeitpunkte  dieser  Schlacht, 
die  ein  ganzes  Stück  südwestlich  Mailand  und  am  Ostertage  des  Jahres  402  nach  Ch. 
—  6.  April  —  stattfand,  können  wir  also  entnehmen,  daß  der  Marsch  des  römi- 
schen Heeres  damals  im  Frühjahre,  der  schwierigsten  Jahreszeit  für  Märsche  im 
Hochgebirge,  vor  sich  gegangen  sein  muß. 

Auf  die  Schlacht  von  Pollentia  folgte  zunächst  seitens  Alarichs  eine  Räumung 
Oberitaliens  in  derselben  Linie,  auf  der  er  eingerückt  war,  ein  Zurückweichen, 
das  durch  ein  neues  siegreiches  Treffen,  das  Stilicho  den  Goten   in   der  mittel-^ 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  167 

sten  oberitalienischen  Entscheidungszone,  bei  Verona,  lieferte,  in  eine  schärfere 
Gangart  gebracht  wurde.  Auch  bei  diesen  Bewegungen  spielen  die  nördlich 
benachbarten  Alpen  insofern  eine  Rolle,  als  die  alten  Schriftsteller  hier  erwähnen, 
daß  .\iarich  jetzt  den  Versuch  machte,  mit  seinem  geschwächten  Heere  von  der 
geraden  Rückzugslinie  über  Aquileja  nach  lllyrien  abzugehen  und  nördlich  nach 
Rätien  auszuweichen.  Stilicho  dagegen,  dem  es  damals  wohl  ganz  besonders 
darauf  ankommen  mußte,  die  Westgoten  in  keine  anderen  als  in  ihre  alten  Sitze 
in  lllyrien  zurückzudrängen,  wußte  diese  Absicht  glänzend  zu  verhindern,  indem 
er  Alarich  zuvorkam  und  vor  ihm  die  „Alpenpässe"  d.  h.  wohl  die  Defileen  an 
dem  südlichen  Austritt  der  rätischen  Alpenstraßen  in  die  Ebene  besetzte.  Auch 
in  diesem  Falle  sind  wir  über  die  genaueren  Örtlichkeiten  überhaupt  nicht  unter- 
richtet. Wenn  Alarich  aber  von  Verona  aus  nach  Rätien  abziehen  wollte,  so 
können  die  hier  in  Frage  kommenden  Eintrittsrouten  keine  anderen  als  die 
Brennerstraße  und  die  Straße  durch  das  Suganatal  gewesen  sein.  Stilicho  hat 
dann  aber  nicht  nur  den  beabsichtigten  Rechtsabmarsch  Alarichs  verhindert,  son- 
dern jenen  auch  mit  seinem  ganzen  Heere  eingeschlossen,  so  daß  der  Erfolg 
möglicherweise  so  groß  gewesen  ist,  daß  das  Schicksal  der  Goten  gänzlich  dem 
Willen  Stilichos  ausgeliefert  war. 

An  diesem  Punkte  zeigt  die  damalige  Kriegslage  einigermaßen  Ähnlichkeit 
mit  derjenigen  wie  sie  im  Sommer  1796  in  demselben  Gebiet  zwischen  Bonaparte 
und  Wurmser  vor  der  Schlacht  bei  Bassano  sich  entwickelt  hat,  wenigstens  in- 
sofern als  Bonaparte,  der  ebenso  wie  Stilicho  von  Westen,  von  Mailand  her  kam, 
sich  gleichfalls  nicht  scheute,  jene  Basis  aufzugeben  und  dann  lediglich  durch  die 
Schnelligkeit  seiner  nördlich  im  Gebirge  ausgeführten  Bewegungen  das  Gebäude 
der  Absichten  des  Feindes  über  den  Haufen  warf.  Ob  freilich  das  Verfahren 
Stilichos  damals  von  derselben  Kühnheit  wie  später  dasjenige  von  Bonaparte  er- 
füllt gewesen  ist,  kann  deshalb  zweifelhaft  sein,  als  den  Römern  auch  hier,  wie 
so  oft  in  ihren  Kämpfen  gegen  die  Germanen  auf  dem  Boden  Norditaliens,  der 
Vorteil  zur  Seite  stand,  daß  sie  sich  in  einem  ihnen  ganz  wohlbekannten  Gebiet 
bewegten.  Wir  wissen,  daß  Stilicho  aber  trotzdem  seinen  großen  militärischen 
Erfolg  nicht  ausgenutzt  hat,  insofern  er  Alarich  gestattete,  einfach  nach  lllyrien 
wieder  abzuziehen.  Die  Gründe,  die  Stilicho  hierzu  bewogen  haben,  werden  ge- 
wöhnlich darin  gesucht,  daß  er  es  sich  damals  noch  vorbehalten  wollte,  die  Macht 
Alarichs  zu  gelegener  Zeit  gegen  Ostrom  zu  verwenden;  vielleicht  mag  es  ihm 
aber  auch  bloß  genügt  haben,  endgültig  ein  Zusammenfließen  der  Angriffsbewegung 
Alarichs  mit  derjenigen  der  Völker  des  Heerführers  Radagais  verhindert  zu 
haben.  Denn  ein  weiteres  Motiv  für  das  Verfahren,  hier  weitere  Kämpfe  zu  ver- 
meiden, kann  auch  in  der  von  den  Römern  in  ihren  letzten  Zeiten  so  meisterhaft 
geübten  Ökonomie  der  Kräfte  gesucht  werden,  eine  Erwägung,  die  gerade  einem 
so  hervorragenden  Militär  wie  es  Stilicho  war  besonders  nahe  gelegen  haben  mag. 

Denn   schon   im  Jahre  404  nach  Ch.   machte   es  sich   wiederum  nötig,    das 


168  X.  Kapitel. 

römische  Heer  von  neuem  gegen  Radagais  einzusetzen,  der  von  Rätien  oder  von 
den  julischen  Alpen  her  in  Italien  eingedrungen  war.  Wichtig  bei  diesem  Zuge 
und  ebenso  bei  dem  zweiten  erfolgreichen  Einfalle  Alarichs  vom  Jahre  409  nach  Ch. 
ist  es  besonders,  daß  diese  Züge  von  Anfang  an  die  für  Rom  viel  gefährlichere 
Richtung  direkt  südlich  nach  der  Mitte  der  Halbinsel  einschlugen.  Der  Erfolg 
des  zweiten  Feldzuges  Alarichs,  der  diesem  schließlich  ganz  Italien  ausliefern 
sollte,  wird  aber  vor  allem  dadurch  verständlich,  daß  Stilicho  inzwischen  ermordet 
worden  war  und  den  Goten  somit  kein  ebenbürtiger  römischer  Führer  mehr 
gegenüberstand.  Auch  dieser  zweite  Einfall  bewegte  sich  zunächst  auf  der  be- 
kannten Linie  von  Emona  aus  über  die  Julischen  Alpen  durch  Venetien;  Alarich 
gelang  es  aber  dann,  ebenso  wie  später  Narses  während  des  Ostgotenkrieges, 
südlich  auf  Ariminum  einzulenken,  ein  Entschluß,  der  für  den  ganzen  weiteren 
Verlauf  des  Krieges  entscheidend  geworden  ist.  In  bezug  auf  die  Alpenländer 
ist  hier  noch  zu  erwähnen,  daß  in  den  Verhandlungen  zwischen  Alarich  und  der 
römischen  Regierung,  die  der  Eröffnung  dieses  Feldzuges  vorangingen,  die  Ab- 
tretung Norikums  an  die  Goten  eine  Rolle  gespielt  hat;  auch  damals  noch  wurde 
also  Norikum  ebenso  wie  Rätien  als  eine  durchaus  zum  römischen  Reiche  ge- 
hörige Provinz  betrachtet. 

Es  ist  keine  geschichtlich  überlieferte  Tatsache,  wohl  aber  eine  aus  der 
ganzen  damaligen  Lage  sich  ergebende  Annahme,  die  deshalb  auch  allen  mit  jener 
Zeit  beschäftigten  Forschern  immer  wieder  ganz  von  selbst  entgegentreten  mußte  ^8), 
daß,  nachdem  Stilicho  in  der  Not  des  Augenblicks  einmal  alle  jene  im  Norden 
Europas  stehenden  römischen  Besatzungstruppen  nach  Italien  abgeführt  hatte,  der 
römische  Staat  nun  auch  niemals  wieder  so  zu  Kräften  gekommen  ist,  um  seine 
Legionen  wieder  in  ihre  alten  Positionen  zurücksenden  zu  können.  Jenes  Er- 
eignis muß  daher  als  derjenige  Zeitpunkt  angesehen  werden,  an  dem  die  Macht 
Westroms  ebenso  am  Rhein  wie  in  den  nördlichen  Vorlanden  der  Alpen  tat- 
sächlich zu  existieren  aufgehört  hat.  Noch  aus  der  zweiten  Hälfte  des  vierten 
Jahrhunderts  nach  Ch.  ist  ein  römisches  Garnison -Verzeichnis,  die  bekannte 
notitia  dignitatum,  erhalten,  aus  dem  ganz  deutlich  hervorgeht,  wie  damals  noch 
ganz  Tirol  und  Oberbayern  von  einem  wohldurchdachten  Netz  römischer  Be- 
satzungstruppen überzogen  gewesen  ist.  Es  mag  eine  dankbare  Aufgabe  sein,  die 
einzelnen  Orte  jenes  Verzeichnisses  genauer  zu  bestimmen;  für  die  Geschichte 
der  Alpenländer  ist  das  Dasein  desselben  jedoch  allein  schon  infolge  der  aus 
ihm  klar  hervorgehenden  allgemeinen  Tatsache  wichtig,  daß  etwa  bis  um  das 
Jahr  400  nach  Ch.  der  Donaustrom  von  Abusina  (am  Einfluß  der  Altmühl  in  die 
Donau)  über  Castra  Batava  (Passau)  bis  Lauriacum  nicht  bloß  nominell  sondern 
auch  in  Wirklichkeit  die  Nordgrenze  des  römischen  Reiches  gebildet  hat.  Dieser 
ganze  lebendige  Verteidigungsapparat  ist  aber  dann  im  folgenden  Jahrhundert 
plötzlich   wie   vom  Erdboden  verschwunden,    und  schon  im  Jahre  406  nach  Ch. 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  169 

bei  dem  großen  nordwärts  der  Alpen  gegen  Gallien  gerichteten  Zug  der  Vandalen 
ist  von  ihm  nichts  mehr  zu  spüren. 

Auch  durch  diese  Betrachtung  kommen  wir  daher  auf  die  Schlußfolgerung, 
daß  etwa  vom  Jahre  400  nach  Ch.  ab  nur  noch  die  Nordtiroler  und  Salzburger 
Alpen  selbst  als  schützender  Wall  des  Südlandes  von  den  Römern  besetzt  ge- 
blieben sind,  während  alles  Land  nördlich  desselben  für  das  römische  Reich  als 
verloren  betrachtet  werden  muß.  Hierbei  ist  freilich  hervorzuheben,  daß  jenes 
Verschwinden  der  römischen  Besatzungen  nicht  etwa  auch  einer  völligen  Säube- 
rung romanischer  Bewohner  und  einem  gänzlichen  Aufhören  südländischen  Lebens 
in  diesen  Gebieten  gleichzuachten  ist.  Wir  haben  im  Gegenteil  auch  für  die 
folgenden  Zeiten  noch  einige  Spuren  römischer  Besatzung  in  diesen  Donauland- 
schaften. Auffallen  muß  es  zwar,  daß  damals  gerade  von  der  größten  Grenz- 
festung Oberbayerns,  von  Regensburg,  eine  Zeit  lang  alle  Kunde  fehlt,  während 
Passau  und  Quintana  (Künzen  bei  Pleiting)  als  Römerposten  notdürftig  weiter- 
bestanden haben  müssen.  Der  bürgerlichen  Niederlassung  der  Römer  in  Kempten  war 
schon  während  der  Alemannenkriege  am  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts  nach  Ch. 
das  Lebenslicht  ausgeblasen  worden,  aber  noch  im  siebenten  Jahrhundert  muß 
das  dortige  Kastell  auf  der  Burghalde,  freilich  elend  genug,  bewohnt  gewesen 
sein  ^).  Auch  in  Augsburg  hat  zunächst  schon  die  christliche  Tradition  eine 
Kette  vom  römischen  Altertum  bis  zum  frühen  Mittelalter  gelegt;  das  Wichtigste 
für  jede  Geschichtsauffassung  ist  hierbei  jedoch  die  Tatsache,  daß  jene  Kunde 
durch  die  Reihe  der  Münzfunde,  die  an  diesem  Platze  gemacht  worden  sind, 
durchaus  ihre  wissenschaftliche  Bestätigung  gefunden  hat*').  Besonders  zäh  hat 
sich  feiner  nördlich  der  Alpen  die  südländische  Kultur  zunächst  noch  an  die 
Stätte  von  Lauriacum  (Lorch)  angeklammert  und  nach  der  Aufgabe  Carnuntums 
mag  gerade  während  des  fünften  Jahrhunderts  nach  Gh.,  als  jenen  Gebieten  der 
militärische  Schutz  des  römischen  Staates  verloren  gegangen  war,  allein  diese 
Stadt  das  feste  Bollwerk  geblieben  sein,  das  hier  den  von  den  Germanen  be- 
drängten romanischen  Bewohnern  den  letzten  Halt  gewähren  mußte.  Selbst  im 
Jahre  540  nach  Ch.  muß  jene  Stadt  noch  leidlich  bewohnt  gewesen  sein '"),  und 
erst  zwei  Jahrhunderte  später  (738  nach  Ch.)  wurde  dieses  alte  Lauriacum  von 
den  Avaren,  dann  aber  derart,  zu  Grunde  gerichtet,  daß  der  Platz  zu  derselben 
Lebenskraft  wie  er  sie  im  Altertum  besessen  hatte,  auch  in  den  späteren  Zeiten 
nie  wieder  emporkommen  konnte. 

Als  Zerstörer  Juvavums  werden  gewöhnlich  die  Heruler  und  als  Zerstörungs- 
jahr das  Jahr  476  nach  Ch.  angenommen.  Unwichtig  ist  bei  dieser  Kunde,  ob 
es  mit  diesem  Zeitpunkt  und  jenem  Volke  wirklich  seine  Richtigkeit  hat,  wichtig 
dagegen  das  Bild  der  gründlichen,  erbarmungslosen  Zerstörung,  das  uns  heute 
aus  den  Ruinen  Salzburgs  entgegentritt.  Wenn  heutzutage  auch  nicht  die  geringste 
Nachricht  von  den  Ereignissen  auf  uns  gekommen  wäre,  die  einst  der  Zerstörung 
des  Heidelberger  Schlosses  vorangingen,  so  würden  wir  trotzdem  allein  aus  der 


170  X.  Kapitel. 

Pracht  der  dortigen  Ruinen  die  Schärfe  der  Gegensätze,  die  Planmäßigiteit  und 
Erbitterung  herleiten  können,  die  damals  den  Arm  der  Zerstörer  führte.  Ein 
gleiches  gilt  aber  auch  von  dem  Zustand  der  Ruinen  Juvavums,  der  das  Voran- 
gehen heißer  Kämpfe  und  eines  heftigen  Widerstandes  vor  diesem  Ereignis  zur 
Gewißheit  macht.  Gleiche  Kriegesschrecken,  die  in  jenen  Zeiten  über  jene 
Gegenden  hinweggegangen  sein  müssen,  veranschaulichen  auch  die  Funde  von 
Westerndorf  in  der  Nähe  Rosenheims,  wo  die  Grabungen  die  deutlichen  Reste 
einer  großen  römischen  Töpferei  und  Ziegelwarenfabrik  aufgedeckt  haben  und 
wo  sich  noch  die  aufgeschichteten  römischen  Kupfermünzen  in  Unzahl  vorfanden, 
die  zur  Auszahlung  an  die  dort  beschäftigten  Arbeiter  bestimmt  waren.  Auch 
ein  großer  Fund  römischer  Silbermünzen  in  Niederaschau  liefert  ein  ähnliches 
Bild,  und  es  ist  natürlich,  daß  durch  diese  Ereignisse  auch  alle  jene  Betriebe, 
durch  die  nicht  nur  das  Kulturvolk  der  Römer,  sondern  auch  schon  die  Kelten 
jene  Gegenden  ununterbrochen  ausgebeutet  hatten,  wie  die  Steinbrüche  am  Unters- 
berg in  Salzburg,  der  Salzbergbau  in  Salzburg  und  Hallein  und  der  Goldbergbau 
im  Gasteiner  Tal  in  einen  jahrhundertelangen  Schlummer  geraten  mußten. 

Trotz  aller  dieser  Ereignisse,  die  somit  das  Aufhören  der  römischen  Kultur 
in  Süddeutschland  veranschaulichen,  ist  es  in  bezug  auf  die  Voraussetzungen, 
von  denen  dann  hier  das  Völkerbild  am  Anfang  des  Mittelalters  ausgeht,  von 
Wesenheit,  daß  gerade  dieser  Teil  Oberdeutschlands  von  der  Enns  bis  zur  Hier 
während  des  fünften  Jahrhunderts  bis  tief  in  das  sechste  Jahrhundert  nach  Ch. 
hinein  nicht  der  eigentliche  Wohnplatz  irgend  eines  germanischen  Volkes  geworden 
sein  kann,  sondern  in  der  Hauptsache  fast  volksleer  gewesen  sein  muß.  Um  das 
Jahr  476  nach  Gh.,  beim  Untergange  des  weströmischen  Reiches  läuft  die  West- 
grenze des  von  den  Ostgoten  und  annähernd  dann  auch  diejenige  des  von  den 
Langobarden  besetzten  Gebietes  entlang  der  Westgrenze  der  alten  römischen 
Provinz  Pannonien  bis  herauf  nach  Vindobona.  Auch  dieses  ist  ein  Beweis  für 
die  Unfertigkeit  und  Flüssigkeit  aller  während  der  germanischen  Völkerwanderung 
entstandenen  staatlichen  Gebilde;  denn  der  Fall,  daß  Wien,  damals  Fabiana  ge- 
nannt, und  Carnuntum  Grenzfesten  und  Ausfallstore  des  Ostens  gegen  den  Westen 
Europas  gewesen  sind,  ist  eine  Erscheinung,  die  sonst  niemals  wieder  in  der 
Geschichte  hervorgetreten  ist  und  die  einen  vollständigen  Niedergang  der  Kultur- 
macht des  übrigen  Erdteils  zur  Voraussetzung  hat. 

Es  ist  schon  gesagt  worden,  daß  vom  Beginn  des  fünften  Jahrhunderts  an 
die  germanische  Völkerwanderung  ihre  Hauptrichtung  um  die  Ostalpen  herum 
nach  Südwesten  zu  einschlug.  Seit  dieser  Zeit  nehmen  die  Völkerzüge,  die  von 
der  Wiener  Ebene  ausgehend  sich  durch  Pannonien  über  die  Julischen  Alpen 
nach  Italien  hineinbewegen,  nun  auch  fast  sämtlich  den  gleichen  regelmäßigen 
Verlauf.  Die  Reihenfolge  der  Völker  selbst  aber,  die,  jetzt  nicht  mehr  wie  früher 
durch  vorangegangene  Grenzkriege  aufgehalten  und  geschwächt,  zunächst  dicht 
massiert  in  Pannonien  sitzen,  dann  auf  den  Kriegsschauplätzen  südlich  der  Alpen 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  171 

in  Oberitalien  i^ämpfen  und  die  Herrschaft  ganz  Italiens  antreten,  um  hierauf 
wieder  von  dem  nächstfolgenden  abgelöst  zu  werden,  liefert  ein  gedrängtes  aber 
vollständig  ausreichendes  Bild  der  Gesamtheit  der  Ereignisse,  die  damals  die 
Geschichte  Europas  erfüllt  haben.  Die  Lebensbeschreibung  des  Heiligen  Severin 
(f  482),  der  am  Kahlenberge  bei  Wien  den  künftigen  Herrscher  Italiens  Odoaker 
mit  seinen  Rugiern  beim  Überschreiten  der  Donau  vor  seinem  Weitermarsch 
zum  Christentum  bekehrte,  macht  es  zunächst  deutlich,  wie  in  jenen  Zeiten  das 
Christentum  schon  überall  an  der  Arbeit  war;  nicht  minder  zeigt  sie  aber  auch 
den  Punkt  an,  von  dem  aus  die  Völker  damals  in  die  neue  Richtung  einzu- 
schwenken pflegten.  Ein  wichtigeres  und  zuverlässigeres  Bild  von  der  unerbitt- 
lichen Art  der  Kriegsführung  dieser  Zeit  bietet  uns  jedoch  eine  Schilderung  des 
griechischen  Geschichtsschreibers  Herodian,  die  eben  in  jenen  heiß  umstrittenen 
Gebieten  jenseits  der  Julischen  Alpen,  um  Emona,  spielt.  Jene  Erzählung  hat 
zwar  im  besonderen  die  Ereignisse  im  Jahre  238  nach  Ch.  bei  der  Verteidigung 
Aquilejas  gegen  das  Andringen  des  Kaisers  Maximinus  Thrax  zum  Gegenstand; 
sie  kann  aber  in  ihrer  Art  auch  ohne  weiteres  für  alle  Kriege  dieser  Periode 
angenommen  werden. 

Soweit  wir  sehen  können,  finden  wir  in  der  Geschichte  keine  zweite  Periode, 
in  der  sich  wie  während  der  germanischen  Völkerwanderung  Krieg  und  Zer- 
störung in  solcher  zeitlicher  Ausdehnung  und  deshalb  auch  in  solcher  entsetzlicher 
Schwere  über  die  Menschheit  gehäuft  haben.  Eine  annähernd  ähnliche  Epoche, 
die  dem  Gedächtnis  der  Jetztzeit  nur  viel  näher  gerückt  ist,  findet  sich  allein 
während  des  dreißigjährigen  Krieges  in  Deutschland,  und  es  verdient  hervor- 
gehoben zu  werden,  daß  gerade  innerhalb  dieser  Zeit  sich  Erscheinungen  der 
Verwilderung  und  Verzweiflung  der  von  dem  Krieg  betroffenen  Menschheit 
finden,  die  an  diejenigen  während  der  germanischen  Völkerwanderung  einiger- 
maßen heranreichen.  Jedenfalls  muß  auch  schon  in  jenen  Zeiten  die  Erwartung  des 
Durchmarsches  einer  feindlichen  Armee  für  die  betroffenen  Gebiete  den  Stillstand 
alles  Lebens  in  meilenweiter  Entfernung  und  das  Eintreffen  derselben  eine  Zer- 
störung alles  Wohlstandes  auf  Jahre  hinaus  bedeutet  haben,  wenn  wir  Herodian 
erzählen  hören,  wie  im  westlichen  Pannonien,  das  in  seiner  ganzen  Ausdehnung 
als  Vorglacis  Aquilejas  betrachtet  wurde,  vor  der  Ankunft  des  Feindes  die  Be- 
wohner des  offenen  Landes  mit  Hab  und  Gut,  mit  Pferden  und  Wagen  sämmtlich 
in  den  Städten  verschwanden,  und  außerhalb  jeder  festen  Mauer  alle  Spuren  des 
Lebens  so  gründlich  erstarben,  daß  Bäume  und  Brücken  zerschlagen,  die  Getreide- 
felder und  Wiesen  vor  der  Zeit  gemäht  und  die  Gärten  vernichtet  wurden. 

Überhaupt  war  in  jenen  Jahrhunderten  Pannonien  stets  der  Plan,  auf  dem 
der  künftige  Schrecken  Italiens  auf  der  Lauer  saß,  und  von  wo  aus  sich,  wie 
von  dem  auf  der  Pfanne  gehäuften  und  entzündeten  Pulver,  ein  Feuerstrom  über 
dieses  Land  ergoß.  Abgesehen  von  den  Kämpfen  zwischen  den  westlichen  und 
östlichen  Gegenkaisern,  wie  derjenigen  vom  Jahre  238  und  derjenigen  vom  Jahre 


172  X.  Kapitel. 

394  nach  Ch.  zwischen  Theodosius  und  Eugenius,  kommt  für  das  Eindringen  der 
feindlichen  germanischen  Völiter  jene  Richtung  bei  den  Markomannen  und 
Quaden  und  bestimmt  bei  den  Westgoten  unter  Alarich  in  Frage,  denen  sich 
dann  der  Reihe  nach  im  Jahre  452  nach  Ch.  die  Hunnen  unter  Attila,  die 
Rugier  unter  Odoaker  und  im  Jahre  489  nach  Ch.  die  Ostgoten  unter  Theodorich 
angeschlossen  haben.  Diesen  folgten  das  oströmische  Heer  unter  Narses  und 
im  Jahre  568  nach  Ch.  die  Langobarden,  deren  Einmarsch  der  einzige  ist,  von 
dem  wir  durch  den  latigobardischen  Geschichtsschreiber  Paulus  Diakonus  näheres 
wissen.  Paulus  Diakonus  hat  uns  den  historischen  Moment  ganz  anschaulich 
überliefert,  wie  unmittelbar  vor  dem  Betreten  des  heiligen  Italiens  und  dem 
Überschreiten  des  Isonzo  der  Langobardenkönig  Alboin  mit  seinem  Gefolge  auf 
einen  aussichtsreichen  Berg  an  den  Ausläufern  des  Karstes,  wahrscheinlich  den 
Monte  S.  Michele^),  stieg  und  von  hier  aus  auf  das  Land  seiner  Sehnsucht 
herabblickte. 

Aber  jener  Völkerkanal  blieb  auch  lange  nach  den  Langobarden  noch  im 
Gebrauch,  als  die  germanische  Völkerwanderung  ausgelaufen  war  und  sich  an 
dieselbe  bereits  die  der  Slaven  angeschlossen  hatte.  Auf  dem  gleichen  Wege 
gelangten  zu  Beginn  des  siebenten  Jahrhunderts  die  Avaren  bis  tief  nach  Venetien 
hinein,  und  auch  die  südlichste  Kolonne  der  Slaven  bewegte  sich  in  der  gleichen 
Richtung,  um  schließlich  geräuschlos  und  massenhaft  mit  ihrer  Spitze  an  der 
Wippach,  mitten  zwischen  den  Türpfosten  Italiens,  halten  zu  bleiben.  Das  letzte 
dieser  Völker,  die  auf  jene  Weise  nach  Westen  vordrangen,  sind  dann  die  Un- 
garn gewesen,  deren  Spuren  man  im  Mittelalter  bis  tief  in  der  Mitte  der  Halb- 
insel z.  B.  in  Bologna  begegnen  kann,  wo  im  Jahre  903  nach  Ch.  von  ihnen  u.  a. 
die  Kirche  Santo  Stefano  zerstört  wurde.  Um  das  Jahr  1000  nach  Ch.  wird  die 
alte  Birnbaumer  Straße  in  Italien  allgemein  „die  Straße  der  Ungarn"  genannt. 
Wie  ein  Ausdruck  der  Verzweiflung  kündet  sich  diese  Benennung  an,  und  sie 
ist  treffend  geeignet,  das  Wesen  jener  Straße  zu  charakterisieren,  die  damals  acht 
Jahrhunderte  hindurch  nicht  von  der  Bestimmung  gelassen  hatte,  die  Invasions- 
linie des  Ostens  gegen  den  Westen  abzugeben. 

Die  Schicksale  jedes  einzelnen  der  an  diesem  weiten  Wege  gelegenen  Orte 
wissen  nun  auch  in  furchtbarer  Deutlichkeit  den  wirklichen  Charakter  dieser 
Geschichtsperiode  zu  illustrieren.  Bei  dem  im  Herzen  Pannoniens  gelegenen 
Pettau  zeigt  die  Art  der  Münzfunde  ohne  weiteres  den  Wechsel  der  Zeiten  an; 
denn  dieselben  sind  dort  für  das  dritte  und  vierte  Jahrhundert  nach  Ch.  noch 
sehr  reichlich  vorhanden,  während  sie  dann  vom  Beginn  des  folgenden  Jahr- 
hunderts ab  sehr  spärlich  werden.  In  der  Mitte  des  fünften  Jahrhunderts  wurde 
ganz  Pannonien  vom  römischen  Kaiser  Theodosius  definitiv  an  die  Hunnen  ab- 
getreten. Aus  dieser  Tatsache  mag  es  daher  herzuleiten  sein,  daß  die  Zerstörung 
Pettaus  und  Cillis,  beides  Städte,  die  zu  Pannonien  gehörten,  nicht  schon  durch 
die  Hunnen  erfolgt  ist.     So  wurde  Pettau  erst  im  Jahre  475  nach  Ch.   von   den 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  173 

Herulern  und  dann  nochmals  825  von  den  Bulgaren  zerstört,  während  Cilli  den 
Slaven  zum  Opfer  fiel.  Wir  können  jedoch  annehmen,  daß  jene  Völker  dort 
nicht  so  gründlich  wie  vorher  die  Hunnen  an  anderen  Stellen  das  Vernichtungs- 
werk besorgt  haben,  weil  einerseits  noch  während  des  Mittelalters  die  römischen 
Ruinen  Cillis  in  auffallender  Ausdehnung  und  Pracht  aufrecht  gestanden  haben 
und  andererseits  die  Weiterexistenz  Pettaus  als  befestigten  Ortes  und  unter  Auf- 
rechterhaltung der  Verbindung  mit  dem  griechischen  Osten  während  der  folgenden 
Jahrhunderte  verbürgt  ist-^^).  Emona  gehörte  dagegen  nach  römischer  Auffassung 
stets  zu  Italien  und  deshalb  fiel  es  den  Hunnen  bei  ihrem  großen  Einfall  vom 
Jahre  452  nach  Ch.  zuerst  zum  Opfer.  Jene  Arbeit  muß  aber  damals  ebenso 
wie  bei  Aquileja  äußerst  gründlich  von  den  Hunnen  besorgt  worden  sein,  weil 
Emona  nachher  Jahrhunderte  lang  wüste  gelegen  hat  und  erst  im  Mittelalter  eine 
völlige  Neugründung  dieses  Ortes  erfolgen  konnte. 

Von  Laibach  westwärts  kommen  wir  dann  auf  den  heiß  umstrittenen  Mittel- 
punkt dieser  Linie,  auf  die  Gegend  von  Aquileja.  Östlich  dieser  Stadt  fließt  der 
Timavus-Isonzo  zum  Meere,  und  nur  nach  einem  Überschreiten  dieses  Flusses 
konnte  daher  ein  Angriff  auf  Aquileja  selbst  von  Osten  her  stattfinden.  So  fand 
deshalb  hier  238  nach  Ch.  Maximin  die  Brücke  zerstört,  wodurch  für  ihn  ein 
dreitägiger  Aufenthalt  verursacht  wurde  und  an  den  Ufern  jenes  Flusses  fielen 
dann  auch  die  Entscheidungen  zwischen  Theodosius  und  Eugenius  und  zwischen 
Theodorich  und  Odoaker.  Der  Untergang  von  Aquileja  als  Großstadt  ist  aber 
wie  der  von  Laibach  bei  dem  großen  Einfalle  der  Hunnen  unter  Attila  erfolgt. 
Der  Sage  nach  ließ  Attila  in  Udine  den  Hügel  aufwerfen,  auf  dem  heute  das 
Kastell  steht,  um  von  ihm  aus  das  Schauspiel  des  brennenden  Aquilejas  anblicken 
zu  können.  Wenn  jene  Kunde  auch  ohne  weiteres  den  Stempel  der  Ungenauig- 
keit  an  sich  trägt,  so  ist  der  Sinn,  der  durch  sie  nach  Ausdruck  ringt,  doch  nichts 
weniger  als  unhistorisch.  Die  Markomannen  und  Quaden,  Maximinus  und  Julian, 
und  die  Westgoten  unter  Alarich  hatten  vorher  Aquileja  vergeblich  angegriffen, 
aber  erst  den  Hunnen  gelang  die  regelrechte  Zerstörung  der  Stadt,  und  das  Ver- 
schwinden Aquilejas  vom  Erdboden  versinnbildlichte  daher  damals  vollends  den 
Sieg  der  Unkultur  über  eine  jahrhundertelange  Arbeit  der  alten  Welt.  Jener 
Eroberung  durch  die  Hunnen  ist  damals  eine  drei  Monate  lang  währende  Be- 
lagerung der  Stadt  vorausgegangen.  Dieses  erklärt  zur  Genüge  nicht  nur  die 
Erbitterung,  die  dann  im  Augenblick  der  Eroberung  bei  den  Belagerern  sich 
Luft  machen  mußte,  sondern  auch  die  Stärke  dieser  Festung  selbst.  Was  für 
Antäus  die  Erde  war  zunächst  für  Aquileja  das  Meer  gewesen;  denn  ebenso  wie 
bei  Stralsund  während  seiner  Belagerung  im  dreißigjährigen  Kriege,  bestand  auch 
die  Hauptstärke  Aquilejas  in  seiner  Lage  am  offenen  Meere,  mit  dem  es  durch 
Lagunen,  die  jetzt  versandet  sind,  verbunden  war.  Außerdem  war  der  Boden 
um  Aquileja  selbst  sehr  fest,  so  daß  er  alle  Belagerungsarbeiten  und  vor  allem 
ein  Hauptmittel  der  alten  Belagerungskunst,  den  Bau  von  Minen,  sehr  erschwerte. 


174  X.  Kapitel. 

Dieser  Zeitpunkt  der  Eroberung  Aquilejas  ist  nun  auch  die  letzte  Grenze,  die 
für  das  Weiterbestehen  alier  anderen  römischen  Siedelungen  in  der  Umgebung 
jener  Stadt  angenommen  werden  kann,  wie  von  Pucinum  (Duino),  Silicianum 
(Salcano),  und  der  Thermalquellen  an  der  Stelle  Monfalcones,  die  noch  Peutingers 
Tafel  eindringlich  hervorhebt. 

Auf  die  Rechnung  jenes  Hunneneinfalls  wird  ferner  auch  die  erste  wirkliche 
Eroberung  von  Verona  und  der  Untergang  von  Altinum  gesetzt.  So  sehr  die 
Kunde  aus  dem  Altertum  es  zur  Gewißheit  macht,  daß  Altinum  eine  große 
Handelsstadt  und  als  Vermittlerin  des  Seeweges  von  Ravenna  her  nach  dem 
Norden  ein  bedeutender  Knotenpunkt  des  Verkehrs  gewesen  sein  muß,  so  wenig 
sind  wir  doch  gerade  über  die  genaueren  Schicksale  dieser  Stadt  unterrichtet. 
Anders  verhält  es  sich  dagegen  mit  Verona.  Dieses  war  schon  vorher  während 
der  Kriege  der  römischen  Gegenkaiser  (249  nach  Ch.  Decius  gegen  Philippus, 
312  Konstantin  gegen  Pompejanus)  und  ebenso  während  der  von  Norden  und 
Osten  kommenden  Germaneneinfälle  bestürmt  und  belagert  worden.  Am  schwersten 
mag  es  aber  auch  damals  unter  Attila  gelitten  haben.  Bei  Verona,  das  uns  heute 
noch  wie  kaum  eine  andere  Stadt  Oberitaliens  eine  Fülle  altrömischer  Denkmäler 
zeigt,  ist  aber  gerade  hervorzuheben,  daß  es  sich  überhaupt  seit  seinem  Eintritt 
in  die  Geschichte  stets  auf  der  Höhe  eines  wichtigen  Ortes  und  wirklichen 
Verkehrsmittelpunktes  erhalten  konnte.  Der  Grund  hierfür  ist  eben  das  doppelte 
Gesicht  dieser  Stadt;  denn  diese  ist  nicht  nur  eine  Pforte  der  Alpen  in  nord- 
südlicher, sondern  nicht  minder  auch  eine  Verkehrszentrale  in  ostwestlicher 
Richtung.  In  den  letzten  Zeiten  der  germanischen  Völkerwanderung,  in  denen 
die  Invasionen  von  Osten  kamen,  war  Verona  daher  gerade  derjenige  Punkt,  an 
dem  die  Hauptentscheidungen  über  jene  Kriege  zu  fallen  pflegten.  So  fanden, 
wie  wir  schon  gesehen  haben,  hier  im  Jahre  403  nach  Ch.  jene  Kämpfe  zwischen 
Stilicho  und  Alarich  statt  und  auch  im  Jahre  489  nach  Ch.  wurde  Odoaker  hier 
von  den  Ostgoten  besiegt.  Damals  hat  also  Verona  bereits  in  der  Hauptsache 
ebendasselbe  Gesicht  gezeigt  wie  es  auch  in  der  Kriegsgeschichte  der  letzten 
Jahrhunderte  wieder  bekannt  geworden  ist,  in  der  die  Parteien  gleichfalls  in  ost- 
westlicher Front  gegeneinander  zu  stehen  pflegten,  während  die  Stadt  im  Mittel- 
alter zumeist  nur  ihre  Bedeutung  als  Alpenpforte  für  die  in  nordsüdlicher  Richtung 
laufenden  Kriegszüge  hervorgekehrt  hat.  Auch  Mailand  vermochte  das  durch 
die  Hunnen  heraufgeführte  Unwetter  damals  noch  mit  einer  vorübergehenden 
Plünderung  zu  überstehen  und  sich  bis  zur  Mitte  des  sechsten  Jahrhunderts 
nach  Ch.  zunächst  unausgesetzt  als  Zentrum  Norditaliens  zu  erhalten,  so  daß  es 
noch  von  Prokop,  dem  Geschichtsschreiber  des  Ostgotenkrieges,  als  besonders 
bedeutend  namhaft  gemacht  werden  konnte.  Die  Stadt  wurde  von  ihrem  Schick- 
sal erst  im  Jahre  539  nach  Ch.  erreicht,  als  sie  von  den  Ostgoten  dem  Erdboden 
gleich  gemacht  und  die  ganze  Einwohnerschaft  getötet  oder  in  die  Sklaverei  ver- 
kauft  wurde,    ein    Ereignis,    durch    das    Mailand    dann    seine   Vormachtstellung 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  175 

in  der  Lombardei  auf  Jahrhunderte  hinaus  einbüßte  und  an  Pavia  abgeben 
mußte. 

Auch  jener  Einfall  Attilas  vom  Jahre  452  nach  Ch.  ist  im  Grunde  jedoch 
resultatlos  verlaufen,  weil  die  Hunnen  schließlich  Italien  ebenso  rasch  wieder 
verlassen  mußten  wie  sie  nach  dorthin  gekommen  waren.  So  sehr  daher  jene 
durch  die  Hunnen  ausgeführten  Verheerungen  auch  dazu  beigetragen  haben 
mögen,  den  Wohlstand  des  alten  römischen  Venetiens  zu  knicken,  so  blieb  es 
doch  erst  einem  späteren  Volke,  den  Langobarden,  vorbehalten,  jener  alten 
bewundernswerten  Kultur  hier  wirklich  den  Todesstoß  zu  versetzen.  Der  Name 
der  Langobarden  ist  für  die  Geschichte  des  ersten  Mittelalters  besonders  mit  der 
Aufrichtung  der  ersten  wirklich  dauerhaften  germanischen  Herrschaft  über  Italien 
verknüpft,  von  der  dann  weiterhin  die  Entstehung  einer  kräftigen,  lebensfähigen 
norditalienischen  Nation  ihren  Ausgang  nehmen  konnte.  Neben  diesem  dürfen 
jedoch  auch  diejenigen  Ereignisse  nicht  übersehen  werden,  die  der  Aufrichtung 
der  langobardischen  Herrschaft  in  Norditalien  vorangegangen  sind  und  die  für 
jene  Leistungen  erst  Platz  geschaffen  haben;  denn  gerade  die  Langobarden  sind 
es  gewesen,  die  vielleicht  das  größte  Zerstörungswerk  in  Norditalien  ausführten, 
eine  Tatsache,  die  die  harmlos  klingende,  fast  patriotische  Schreibweise  ihres 
Geschichtsschreibers  Paulus  Diakonus  leicht  übersehen  läßt.  Auf  die  Langobarden 
kommt  die  Vernichtung  von  Opitergum  und  Vicenza,  vor  allem  aber  die  Eroberung 
von  Padua,  das  im  Jahre  601  nach  Ch.  durch  den  Langobardenkönig  Agilolf  in 
furchtbarer  Weise  zerstört  wurde  und  seitdem  nie  wieder  zu  seiner  früheren 
Blüte  gelangt  ist.  Erst  seit  jener  Zeit  hat  sich  daher  das  antike  Kulturbild  Nord- 
italiens vollständig  verändert.  Die  alten  Römerstädte  liegen  jetzt  fast  sämmtlich  in 
Trümmern,  und  Pavia,  das  vorher  nur  ein  unbedeutendes  römisches  Municipium 
(Ticinum)  gewesen  war,  ist  zur  Hauptstadt  des  sich  über  Italien  ausbreitenden 
neuen  Langobarden-Reiches  geworden. 

Ein  Blick  auf  die  Karte  lehrt  es  ohne  weiteres,  wie  alle  diese  Ereignisse 
sich  von  Emona  her  in  einiger  Entfernung  entlang  der  adriatischen  Meeresküste 
oder  wenigstens  geradeaus  landeinwärts  auf  Verona  zu  bewegen  mußten,  und  es 
ist  daher  schon  aus  dieser  Situation  erklärlich,  daß  das  dicht  nördlich  benach- 
barte aber  trotzdem  seitab  liegende  Gebiet  d.  h.  der  Fuß  der  Venetianer  Alpen 
und  diese  selbst  weit  mehr  von  jenen  Invasionen  verschont  bleiben  konnten. 
Nach  den  Langobarden  sind  es  noch  die  Avaren,  die  gleichfalls  in  Venetien  ein- 
gebrochen sind.  Den  Spuren  jenes  leicht  beweglichen  sarmatischen  Volkes 
begegnen  wir  nun  aber  auch  in  jenem  nördlichen  Gebiet.  Im  Jahre  611  nach  Ch. 
wurde  von  den  Avaren  das  alte  Forum  Julii=Cividale  verbrannt,  die  letzte 
bedeutende  Römergründung  Venetiens,  die  bisher  von  den  Verheerungen  jener 
Zeiten  verschont  geblieben  war.  Die  Slaven  gaben  Cividale  dann  den  Namen 
Altstadt.  Es  ist  dies  aber  gerade  ein  Beweis,  daß  jene  Zerstörung  durch  die 
Avaren  nicht   nachhaltig   gewirkt   haben    kann,   sondern   daß   sich   das    Leben   in 


176  X.  Kapitel. 

Friaul  zu  Beginn  des  Mittelalters  trotzdem  ganz  in  altgewohnter  Weise  weiter 
bewegt  haben  mag,  weil  den  östlichen  Nachbarn  unter  den  vielen  anderen  alt- 
berühmten  Städten  Venetiens  allein  dieser  Ort  zur  Verfügung  stand,  dem  sie  jene 
charakteristische  Bezeichnung  beilegen  konnten. 

Wir  kommen  in  diesem  Zusammenhange  auf  die  Entstehung  des  furlaner 
Volkes,  das  auch  heute  noch  mit  eigener  Sprache  und  besonderen  Eigenschaften 
ausgestattet,  und  trotzdem  wenig  beachtet,  sein  Dasein  fristet.  Wenn  wir  mit  dem 
Namen  Friaul  dasjenige  Gebiet  bezeichnen,  in  dem  man  heute  noch  jene  eigen- 
artige furlaner  Mundart  mehr  oder  minder  verbreitet  vorfinden  kann,  so  ist  unter 
demselben  das  heutige  nördliche  italienische  Venetien  bis  herüber  nach  Gradiska 
zu  verstehen.  Dieser  ganze  Komplex  liegt  daher  an  einigen  Stellen  den  öst- 
lichsten ladinischen  Mundarten,  die  auf  das  Volk  der  Räter  zurückzuführen  sind, 
vor  allem  den  südlichen  Seitentälern  des  Pustertales  sehr  nahe,  wenn  er  auch 
jetzt  nirgends  mehr  räumlich  mit  jenen  zusammenhängt.  Das  hat  aber  die  fur- 
laner Sprache  mit  den  anderen  ladinischen  Mundarten  gemeinsam,  daß  wir  in  ihr 
gleichfalls  eine  Sprache  vor  uns  haben,  deren  Ursprungszeit  nicht  erst  wie  die 
aller  anderen  mitteleuropäischen  Sprachen  am  Beginn  des  Mittelalters  zu  suchen 
ist,  und  da  die  Entstehung  der  bündner  und  tiroler  ladinischen  Mundarten  aus 
den  ethnographischen  Verhältnissen  der  alten  römischen  Provinz  Rätien  herzu- 
leiten war,  so  kann  die  furlaner  Sprache  daher  wiederum  nur  aus  denjenigen  des 
nördlichen  Teiles   der   alten   römischen  Provinz  Venetien  ihre  Erklärung  finden. 

Wir  wissen  aus  dem  römischen  Altertum,  daß  damals  im  Allgemeinen  bei 
der  Einteilung  der  Alpenprovinzen  auf  die  Gruppierung  der  einzelnen  Völker- 
stämme große  Rücksicht  genommen  worden  ist,  und  deshalb  ist  eine  Notiz  des 
Ptolomäus  für  unseren  Zweck  besonders  beachtenswert,  wonach  Julium  Carnicum 
(Zuglio),  der  römische  Hauptort  des  heutigen  Friauls  während  der  Kaiserzeit  eine 
Sonderstellung  zwischen  Venetien  und  Norikum  eingenommen  hat**).  Der  Name 
zeigt  es  an,  daß  jene  Sonderstellung  sich  nur  auf  ethnographische  Verhältnisse 
d.  h.  auf  das  Vorwiegen  der  karnischen  Bewohner  in  diesen  Strichen  gegründet, 
haben  kann,  wie  es  auch  an  sich  ganz  wahrscheinlich  ist,  daß  das  südlicher 
sitzende  Handelsvolk  der  Veneter  damals  weder  den  Willen  noch  die  Kraft  be- 
sessen hat,  hier  auf  dem  festen  Lande  in  jenen  wenig  verlockenden  Berggegenden 
schwierige  Kolonisation  zu  treiben,  sondern  vielmehr,  daß  dieser  Südrand  der 
karnischen  Alpen  im  Altertum  von  Norden,  von  den  Ostalpen  her,  bevölkert 
worden  ist.  Jene  Karner  waren  aber  Kelten,  und  so  würden  sich  zunächst  die 
fremdartigen,  heute  schwer  verständlichen  Elemente  in  der  furlaner  Sprache,  die 
sich  auch  nicht  einmal  in  den  anderen  ladinischen  Mundarten  wiederfinden  lassen, 
als  alter  keltischer  Bodensatz  erklären,  vorausgesetzt,  daß  wir  beweisen  können, 
daß  hier  seit  dem  Beginn  des  Mittelalters  nicht  noch  eine  andere  Sprachmischung 
stattgefunden  hat. 

Dieser  Beweis   ist  nun  aber  nicht  allzuschwer  zu  führen.     Was,   oder  viel- 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  177 

mehr  wie  wenig  von  nördlicher  germanischer  Beimischung  jeder  Art  die  furlaner 
Sprache  besitzt,  erklärt  sich  zunächst  auf  den  ersten  Blick.  Aber  auch  der 
Niedergang  der  ethnographischen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  des  südlichen 
Nachbarlandes  Friauls,  des  italienischen  Venetiens,  hat  eine  Einflußnahme  von 
dieser  Seite  aus  nach  Verschwinden  des  Römerreichs  bis  tief  in  das  Mittelalter 
hinein  ausgeschlossen,  wie  sich  auch  tatsächlich  jener  Einfluß  des  italienischen 
Venetiens  auf  Friaul  in  beachtenswerter  Weise  erst  wieder  etwa  vom  drei- 
zehnten Jahrhundert  ab  geltend  gemacht  hat.  Die  Sage  von  der  Ent- 
stehung Venedigs,  das  nach  der  Eroberung  Aquilejas  durch  Attila  von  ver- 
zweifelten Flüchtlingen  gegründet  worden  sein  soll,  ist  ein  Sinnbild  der 
Schwierigkeiten,  unter  denen  sich  damals  selbst  die  dürftigsten  Reste  der  Bevöl- 
kerung am  Leben  erhalten  konnten,  und  die  Nachricht  des  Geschichtsschreibers 
Prokop,  der  erzählt,  daß  ganz  Venetien  beim  Einbruch  der  Langobarden  ein 
menschenleeres  Land  gewesen  ist,  würde  sich  auch  schon  an  sich  aus  den  Er- 
eignissen ergeben  müssen,  die  wir  während  der  Völkerwanderung  über  dieses 
Land  hinweggehen  sahen.  Der  Zustand  des  südlichen  Venetiens,  das  durch 
Krieg  und  Pest  zunächst  fast  unheilbar  herabgekommen  war,  brachte  es  daher 
mit  sich,  daß  sich  das  nördlich  von  ihm  wohnende  furlaner  Volk  sprachlich 
Jahrhunderte  lang  selbst  überlassen  bleiben  konnte,  und  wir  haben  demnach  auch 
in  diesem  Volke  eine  der  ältesten  europäischen  Völkermischungen  vor  uns. 

Nach  menschlichem  Ermessen  ist  Friaul  dagegen  jetzt  wiederum  auf  ab- 
sehbare Zeit  eng  an  seine  alte  südliche  Zentrale  gekettet,  und  so  kann  es  auch 
nicht  anders  sein  als  daß  seine  Mundart  damit  definitiv  der  Herrschaft  der  italie- 
nischen Sprache  ausgeliefert  zu  sein  scheint.  Diesem  Umstand  allein  mag  es 
zuzuschreiben  sein,  daß  im  Großen  und  im  Kleinen  gerade  Friaul  bis  jetzt  nur 
in  ganz  geringem  Maße  das  wissenschaftliche  Interesse  herausgefordert  hat,  anders 
als  die  von  dem  nördlichen  und  südlichen  Volkstum  heiß  umstrittenen  räto- 
romanischen Reste.  Die  furlaner  Sprache  ist  heute  die  am  wenigsten  erforschte 
der  sogenannten  ladinischen  Mundarten  geblieben,  wie  auch  in  der  alten  römischen 
Hauptstadt  dieses  Gebietes,  in  Zuglio,  die  steinernen  Andenken  jeder  Art  an  das 
Altertum  noch  ganz  ungenügend  untersucht  worden  sind,  trotzdem  sie  dort  be- 
sonders zahlreich  und  ganz  offen  zu  Tage  treten  ^). 

Die  Schicksale  der  eigentlichen  Alpenländer. 

Die  große  Anzahl  und  der  Verlauf  dieser  letzten  Züge  der  germanischen 
Völkerwanderung,  die  seit  Alarichs  Zeiten  über  das  östliche  Ende  der  Alpen  nach 
Italien  eindrangen,  hat  zur  Genüge  gezeigt,  daß  sie  allein  schon  hinreichend  ge- 
wesen wären,  das  Gebäude  der  römischen  Herrschaft  über  die  Alpenländer  eben- 
sowohl wie  derjenigen  über  den  ganzen  Erdteil  umzustürzen,  auch  wenn  nicht 
noch  andere  Ereignisse,  die  sich  nördlich  der  Alpen  abgespielt  haben,  daran  mit- 
gearbeitet hätten,    daß  gleiche  Resultat   hervorzubringen.     Wir  haben   die  Mitte 

Scheffel,  V'erkebrsgeschicbte  der  Alpen.     I- Band.  12 


178  ^-  Kapitel. 

und  den  westlichen  Flügel  der  Alpenländer  zu  einem  Zeitpunkte  verlassen,  als 
nach  Verlust  des  Dekumatlandes  hier  zunächst  durch  neue  Rüstungen  auf  dem 
nördlichen  Vorglacis  des  Gebirges  Raum  für  einen  längeren  Widerstand  geschaffen 
worden  war,  und  es  ist  auch  schon  gesagt  worden,  daß  die  neuen  Verhältnisse 
in  der  Weise  wie  sie  beabsichtigt  waren,  in  der  Hauptsache  auch  während  des 
ganzen  vierten  Jahrhunderts  nach  Ch.  andauern  konnten.  Die  Basis  des  ganzen 
römischen  Verteidigungsapparates,  von  dem  die  neuen  Befestigungen  am  nörd- 
lichen Fuße  der  Alpen'  nur  ein  Glied  darstellten,  bildete  aber  immer  noch  nichts 
anderes  als  die  alte  germanische  Rheinfront,  und  nur  die  Voraussetzung,  daß  der 
Lauf  des  Rheines  selbst,  von  Basel  nördlich  beginnend,  als  wohlverteidigte  Barri- 
kade des  römischen  Reiches  seinen  Zweck  erfüllte,  konnte  auch  die  sich  südlich 
an  diese  anschließende  Verteidigungslinie  am  nördlichen  Fuße  der  Alpen  wirkungs- 
voll gestalten.  Eine  dauernde  Durchbrechung  der  Rheinfront  mußte  dagegen 
ohne  weiteres  auch  eine  Behauptung  jener  nördlich  der  Mittelalpen  gelegenen 
Befestigungen  aussichtslos  machen  und  somit  unmittelbar  den  Verlust  der  Schwei- 
zer Hochebene  nach  sich  ziehen,  so  daß  dann  nur  noch  der  Alpenwall  als  solcher 
als  schützende  Mauer  für  das  geängstigte  und  machtlose  Italien  in  Frage  kom- 
men konnte. 

Auch  während  des  vierten  Jahrhunderts  nach  Ch.  haben  die  Einfälle  und 
Beunruhigungen  durch  die  Alemannen  sowohl  in  südlicher  Richtung  nach  der 
Schweiz  als  besonders  auch  direkt  westwärts  über  den  Rhein  hinüber  niemals 
aufgehört.  Es  ist  aber  in  jener  Zeit  den  Römern  trotzdem  gelungen,  an  beiden 
Stellen  das  Gebäude  ihres  Reiches  notdürftig  aufrecht  zu  erhalten.  Der  Grund 
für  diesen  Vorgang  mag  diesmal  aber  weniger  in  der  Widerstandskraft  der  Römer 
selbst,  sondern  mehr  in  der  Tatsache  zu  suchen  sein,  daß  die  Kraft  der  ale- 
mannischen Vorstöße  damals  wahrscheinlich  eine  Zeit  lang  nicht  in  der  Weise 
wie  vordem  durch  den  Druck  solcher  Völker  vergrößert  wurde,  die  östlich  des 
alemannischen  Gebietes  neu  eingetroffen  waren,  weil  die  in  der  Wanderung  be- 
findlichen Völker,  wie  schon  oben  hervorgehoben  worden  ist,  gerade  vom  vierten 
Jahrhundert  nach  Ch.  an  zumeist  nicht  den  Weg  westwärts  nach  dem  Rheine  zu 
sondern  hauptsächlich  denjenigen  nach  Pannonien  hin  zu  verfolgen  pflegten. 
Während  dieser  Epoche  hebt  sich  nun  in  den  Gebieten  nördlich  der  Alpen  be- 
sonders der  Sieg  des  römischen  Kaisers  Julian,  den  dieser  im  Jahre  357  nach  Ch. 
bei  Hausbergen  in  der  Nähe  Straßburgs  gegen  die  Alemannen  erfocht,  als  ein 
Ereignis  heraus,  das  einigermaßen  größere  Bedeutung  beansprucht,  weil  durch 
denselben  zum  letzten  Mal  die  dauernde  Festsetzung  jener  fremden  germanischen 
Eroberer  westlich  des  Rheines  verhindert  worden  ist.  Für  längere  Zeit  jedoch 
kann  auch  hier  die  weltgeschichtliche  Wirkung  dieses  Sieges  nicht  aufrecht  ge- 
blieben sein;  denn  wenige  Menschenalter  später,  und  zwar  bereits  während  der 
ersten  Hälfte  des  fünften  Jahrhunderts,  sehen  wir  dann  die  Alemannen  trotzdem 
tatsächlich  in  dem  dauernden  Besitz  nicht  nur  des  Elsaß  sondern  auch  aller  Ge- 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  179 

biete  am  linken  Rheinufer  von  Konstanz  bis  nördlich  herauf  nach  Mainz,  und 
wie  von  dem  Verlust  Carnuntums  der  schnelle  Verfall  der  römischen  Herrschaft 
in  den  Ostalpenländern  seinen  Ausgang  genommen  hat,  so  muß  auch  hier  damals 
die  Aufgabe  der  Rheinfront  durch  die  Römer  den  Verlust  der  Schweiz,  als  eines 
von  dieser  Position  abhängigen  Gebietes,  nach  sich  gezogen  haben.  Wenn  nun 
aber  der  Sieg  Julians  im  Jahre  357  nach  Ch.  hier  das  letzte  Mal  die  alten  Ver- 
hältnisse zurechtrückte,  während  diese  dann  trotzdem  bereits  zu  Beginn  des 
fünften  Jahrhunderts  von  neuem  und  zwar  diesmal  für  immer  gänzlich  über  den 
Haufen  geworfen  sind,  so  kommen  wir  auch  in  diesem  Zusammenhang  wiederum 
auf  jenen  so  bedeutsamen  Zeitpunkt  d.  h.  auf  die  Wende  des  vierten  und  fünften 
Jahrhunderts  nach  Gh.,  mit  der  die  Herrschaft  der  Römer  in  dem  größten  Teil 
der  Alpenländer  ihr  Ende  erreicht  haben  muß. 

Diese  bleibende  Wirkung  kann  aber  auch  hier  wiederum  "nur  der  einen 
Tatsache  zugeschrieben  werden,  daß  Stilicho  zu  jener  Zeit  auch  die  Besatzungs- 
truppen der  Rheinlande  und  der  Schweiz  zur  italienischen  Armee  herangezogen 
hat.  Jene  Maßregel,  die  in  dem  Augenblick,  als  sie  erfolgte,  nur  als  eine  vorüber- 
gehende Vorkehrung  der  militärischen  Oberleitung  gedacht  gewesen  sein  kann, 
ist  somit  in  ihren  Folgen  zu  einem  historischen  Ereignis  größter  Tragweite 
geworden,  wie  um  deswillen  auch  der  Westgotenkönig  Alarich  als  derjenige, 
gegen  den  diese  Maßregel  in  erster  Linie  gerichtet  war,  als  der  erste  wirklich 
erfolgreiche  Überwinder  der  alten  römischen  Großmacht  betrachtet  werden  muß. 
Aber  auch  noch  eine  andere  Schlußfolgerung  können  uns  die  Wirkungen  dieses 
Ereignisses  erneut  vor  Augen  führen,  die  Erscheinung,  wie  zu  Anfang  und  Ende 
des  Römerreichs  dessen  Kraft  einzig  und  allein  auf  militärischer  Handhabung 
beruhte.  Der  Aufgabe,  die  Herrschaft  eines  Reiches  im  vollsten  und  weitesten 
Sinne  aufrecht  zu  erhalten,  hat  kein  anderes  Heer  jemals  wieder  so  glänzend  wie 
die  numerisch  so  geringe  römische  Armee  entsprochen,  und  so  tritt  uns  auch 
hier  wiederum  die  alte  Wahrheit  von  der  unerreichten  Höhe  aller  römischen 
militärischen  Einrichtungen  entgegen. 

Unmittelbar  bis  zu  dem  Zeitpunkte,  an  dem  das  von  Truppen  entblößte 
Gebiet  der  Schweizer  Hochebene  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  vom  Bodensee 
bis  zum  Genfer  See  wie  eine  überreife  Frucht  in  die  Hände  der  Alemannen  fiel, 
ist  jedoch  die  militärische  Tätigkeit  der  Römer  auf  diesem  Boden  noch  ganz 
sicher  nachweisbar,  wie  überhaupt  jener  Grenzstrich,  ähnlich  wie  der  von  Car- 
nuntum,  entsprechend  seiner  militärischen  Wichtigkeit  immer  wieder  von  neuem 
die  Tätigkeit  der  römischen  Rüstungen  an  sich  gezogen  hat.  Auch  in  der  Nord- 
schweiz können  die  Römerfunde  ein  Bild  von  der  Schwere  der  Ereignisse,  die 
während  jener  Zeiten  in  unaufhörlicher  Folge  hier  eingebrochen  sind,  nicht 
minder  aber  auch  eine  deutliche  Vorstellung  von  den  unermüdlichen  Anstrengungen 
geben,  die  auch  hier  römischerseits  gemacht  worden  sind,  um  im  Besitz  dieser 
bedrohten  Front  zu  bleiben.     So  ist  an  der  Hauptzugangslinie  nach  diesem  Gebiete, 

12» 


180  X-  Kapitel. 

am  Fuße  des  Großen  Sankt  Bernhard  neben  der  ursprünglichen  Heerstraße  am 
Nordufer  des  Genfer  Sees  in  der  späteren  Kaiserzeit  auch  noch  ein  zweites  Gleis, 
das  am  Südufer  des  Sees  entlang  lief,  nachweisbar,  und  es  finden  sich  gerade  in 
der  Nordschweiz  unter  den  Römerruinen  die  seltenen  Beispiele,  wo  ein  flüchtiger 
Wiederaufbau  solcher  Niederlassungen  stattgefunden  haben  muß,  die  schon  ein- 
mal von  den  Alemannen  zerstört  worden  waren 36).  Und  selbst  der  letzte  große 
Erfolg  nördlich  der  Alpen,  eben  jener  Sieg  Julians  vom  Jahre  357  nach  Ch. 
gab  den  Römern  immet  noch  Mut  und  Gelegenheit,  hier  ihre  Positionen  erneut 
zu  verstärken,  insofern  unmittelbar  nach  demselben  unter  dem  Kaiser  Valentinian 
(364 — 375  nach  Ch.)  die  ganze  Rheinlinie  zum  letzten  Male  mit  Wall  und  Türmen 
befestigt  worden  ist. 

Jener  Gang  der  Ereignisse  aber,  der  fast  zwei  Jahrhunderte  hindurch  jede 
ruhige  Entwickelung  ausschloß  und  immer  nur  die  ebenso  beweglichen  wie 
heimatlosen  römischen  Soldaten  nach  jenem  Lande  zog,  hat  dann  freilich  auch 
dazu  geführt,  daß  in  der  Nordschweiz,  als  diese  schließlich  um  das  Jahr  400 
nach  Ch.  gleichfalls  von  dem  römischen  Heere  geräumt  wurde,  fast  jegliche 
Kultur  in  Ermattung  lag,  und  die  Alemannen  hier  dann  tatsächlich  ein  fast  volks- 
leeres Land  vorgefunden  haben  müssen.  Überhaupt  ist  die  Schweizer  Hochebene 
ein  Gebiet,  das  nicht  in  dem  Maße  wie  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  möchte 
von  Verkehrslinien  ersten  Ranges  und  ewiger  Dauer  durchzogen  wird,  und  ihre 
Wichtigkeit  beruhte  auch  in  römischer  Zeit  nur  auf  vorwiegend  militärischen 
Grundlagen.  Nach  Auslöschen  dieser  Situation  mußte  daher  hier  schon  um  des- 
willen ein  langer  Stillstand  alles  Lebens  eintreten,  und  anders  als  in  der  Wiener 
Ebene  und  selbst  in  Südbayern  mag  somit  der  Wegfall  der  römischen  Garnisonen 
gerade  hier  eine  wirkliche  Verödung  aller  jener  alten  Ansiedelungen  im  Gefolge 
gehabt  haben.  Die  einst  blühende  helvetische  Hauptstadt  Aventicum  war  schon 
seit  dem  Alemanneneinfalle  vom  Jahre  260  nach  Ch.  einfach  in  ihren  Trümmern 
liegen  geblieben,  weil  das  Bedürfnis  der  Grenzverteidigung  den  Wiederaufbau 
derselben  nicht  unbedingt  erfordert  hatte.  Jetzt  erreichte  ein  gleiches  Schicksal 
nun  auch  alle  jene  altberühmten  Kasernenstädte  der  Nordschweiz  wie  Augst,^ 
Aquae  (Baden),  Vindonissa  und  Vitodurum. 

Während  des  römischen  Altertums  war  bereits  der  von  Glarus  und  Thur- 
gau  an  beginnende  und  sich  südwestlich  bis  zum  Ostende  des  Genfer  Sees  er- 
streckende Bezirk  des  eigentlichen  Schweizer  Hochgebirges  stets  ein  menschen- 
leeres Land  gewesen.  Auch  die  nördlich  an  dieses  Gebiet  sich  anschließende 
Schweizer  Hochebene  zeigte  nunmehr  zu  Beginn  des  Mittelalters  kaum  ein 
anderes  Gesicht,  so  daß  daher  jener  ganze  entvölkerte  Komplex  während  des 
fünften  und  sechsten  Jahrhunderts  nach  Ch,  ungestört  der  von  Norden  kommenden 
alemannischen  und  burgundischen  Besiedelung  anheimfallen  und  diese  hier  die 
Grundlage  für  das  heutige  Volkstum  der  eigentlichen  Schweizer  Republik  fest- 
legen konnte.     Das  Schicksal  der   Schweizer   Hochebene   nach   dem    Untergange. 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  181 

des  weströmischen  Reiches  ähnelt  somit  auffallend  dem  des  alten  Venetlens. 
Diese  beiden  Gebiete  waren  während  des  Altertums  die  Brennpunkte  des  um 
die  Alpen  herumlaufenden  Verkehrs  gewesen,  für  deren  Belebtheit  und  Wichtig- 
keit der  ganze  Aufbau  des  römischen  Weltreiches  die  sichere  Vorbedingung 
gebildet  hatte.  Es  ist  daher  ein  Zeichen,  welche  veränderten  Verhältnisse  jetzt 
angebrochen  waren,  wenn  sich  gerade  diese  beiden  Gebiete  während  des  Mittel- 
alters am  spätesten  unter  den  Alpenländern  wieder  zu  einer  kulturellen  Macht- 
stellung erheben  konnten. 

Von  aller  jener  Überflutung  durch  die  von  Norden  kommenden  Germanen 
ist  jedoch  damals  ein  Teil  Helvetiens  nicht  getroffen  worden,  der  auf  Grund  der 
natürlichen  Verhältnisse  auch  stets  eine  besondere  Stellung  im  Verkehrsleben  der 
Alpen  eingenommen  hat:  das  Wallis.  Infolge  seiner  geographischen  Lage  gravitiert 
dieses  langgestreckte  Alpental  weder  nach  dem  Osten  oder  nach  dem  Norden, 
sondern  gebieterisch  einzig  und  allein  nach  dem  Westen.  Wie  das  Avisiotal  stets 
eine  Domäne  von  Trient  geblieben  ist,  so  ist  Genf,  der  Vorort  des  westlichen 
Helvetiens,  stets  auch  der  Ort  gewesen,  der  den  westlichen  wichtigeren  Teil  des 
Wallis  bis  zur  Paßhöhe  des  Großen  Sankt  Bernhard  hinauf  unter  seinen  Einfluß 
halten  konnte.  Schon  die  römische  Provinzialeinteilung  hatte  einst  dieser  Situation 
dadurch  Rechnung  getragen,  daß  sie  das  Vallis  Poenina  politisch  mit  den  west- 
lich liegenden  Alpes  Grajae  verband,  und  diese  auf  natürlichen  Grundlagen 
aufgebaute  Gruppierung  hat  die  ihr  innewohnende  Kraft  dadurch  bewiesen,  daß 
der  Umfang  jenes  alten  römischen  Bezirkes  sich  in  der  Gestalt  der  Kirchenprovinz 
der  Tarentaise  dann  noch  Jahrtausende  hindurch  wiedergespiegelt  hat. 

So  hat  das  Paßland  des  Wallis,  weil  es  eben  nur  dem  Westen  offen  stand, 
auch  während  der  letzten  Zeiten  des  Römerreichs  keine  eigentliche  Invasion 
zerstörender  Wirkung  erfahren  müssen,  und  die  Geschichte  des  Großen  Sankt 
Bernhard,  dieser  wichtigsten  Verkehrslinie  der  westlichen  Alpenhälfte,  leitet  des- 
halb auch  ohne  Unterbrechung  aus  dem  römischen  Altertum  nach  dem  Mittelalter 
hinüber.  Den  Tempel  auf  jener  Paßhöhe  hatte  schon  Konstantin  der  Große 
abbrechen  und  an  dessen  Stelle  eine  Kapelle  setzen  lassen,  wie  auch  die  Gaben 
der  Münzen,  die  der  heidnische  Glaube  an  jener  Stelle  zurückzulassen  pflegte, 
mit  dieser  Zeit  aufgehört  haben.  Es  waren  aber  dieses  alles  nur  Wirkungen 
eines  veränderten  Kultus,  die  der  fortdauernden  Benutzung  jenes  Alpenweges  an 
sich  keinen  Eintrag  taten.  Noch  im  Jahre  408  nach  Gh.  ist  unter  Arkadius^'') 
hier  ein  ganzes  römisches  Heer  über  die  Alpen  gegangen.  Am  besten  wird  die 
Belebtheit  des  Großen  Sankt  Bernhard  während  des  vierten  und  fünften  Jahr- 
hunderts jedoch  dadurch  bewiesen,  daß  gerade  entlang  dieses  Weges  die  Tätig- 
keit der  christlichen  Kirche  besonders  stark  eingesetzt  hat.  Mag  die  Mehrzahl 
der  altchristlichen  Lokalgeschichten  und  Legenden  im  einzelnen  auch  noch  so 
stark  in  Zweifel  zu  ziehen  oder  selbst  widersinnig  sein,  so  bleiben  diese  doch 
trotzdem    eines    der   besten   Hilfsmittel,    um   die   Grundlagen    für  den    Zug   des 


182         '  X.Kapitel. 

damaligen  Verkehrsleben  zurückkonstruieren  zu  können,  da  die  älteste  christliche 
Tradition  jedenfalls  nur  an  solche  Stellen  angeknüpft  haben  kann,  die  gerade  in 
jenen  Zeiten  bewohnt  und  belebt  gewesen  sind. 

Es  ist  daher  für  unsern  Zweck  besonders  beachtenswert,  daß  den  Ruhm, 
das  älteste  Kloster  diesseits  der  Alpen  zu  besitzen,  kein  anderer  Ort  als  der 
nördliche  Sammelpunkt  des  Großen  Sankt  Bernhard,  St.  Maurice,  das  Agaunum 
der  Römer  beansprucht,  wie  auch  die  Umwandelung  des  Namens  des  alten  Octo- 
durus  in  Martinach  auf  die  Tätigkeit  des  Glaubensboten  Martinus  an  jener  Stelle 
während  des  vierten  christlichen  Jahrhunderts  zurückgeführt  wird.  Aber  auch 
auf  der  südlichen  Seite  jenes  Passes  haben  wir  die  bestimmteste  Kunde  von  der 
frühzeitigen  Festsetzung  des  Christentums  in  Aosta  in  Gestalt  eines  Grabsteines 
des  dortigen  Bischofs  Gallus  vom  Jahre  546  nach  Gh.,  wobei  die  Tatsache,  daß 
hier  ein  Bischofssitz  war  noch  besonders  in  das  Gewicht  Fällt.  Auch  die  Grün- 
dung des  Klosters  Moutiers,  auf  der  westlichen  Seite  des  Kleinen  Sankt  Bern- 
hard, wird  bereits  für  das  fünfte  christliche  Jahrhundert  angenommen. 

Die  politischen  Schicksale  jener  Gebiete  sind  am  Ende  des  Altertums  dann 
derart  gewesen,  daß  im  Jahre  443  nach  Ch.  in  der  unmittelbaren  Nachbarschaft 
der  beiden  Sankt  Bernhard-Pässe  zunächst  die  Reste  des  burgundischen  Volkes 
von  den  Römern  angesiedelt  worden  sind,  das  vorher  am  Mittelrhein  gesessen 
hatte  und  dessen  Herrschaft  durch  den  Hunneneinfall  Attilas  dort  vernichtet 
worden  war.  Die  Landschaft  Galliens  aber,  die  jenen  zugewiesen  wurde,  wird 
Sapaudia  genannt  und  unter  diesem  Namen  führt  sich  daher  damals  zum  ersten 
Male  der  Begriff  des  Landes  Savoyen  in  die  Geschichte  ein.  Jene  Burgunder 
haben  dann  von  dieser  Stelle  aus  in  den  Westalpen  nach  allen  Seiten  hin  um 
sich  gegriffen,  nach  der  Art  und  Weise  wie  sie  bei  dem  Zerfall  des  römischen 
Reiches  während  des  fünften  Jahrhunderts  mehrfach  in  Mitteleuropa  zu  beob- 
achten ist.  Von  Genf  aus  haben  sie  daher  dann  auch  ganz  folgerichtig  den  Be- 
sitz des  unteren  Wallis  angetreten,  ein  Vorgang,  der  durch  die  in  St.  Maurice 
erfolgte  Stiftung  des  dortigen  Klosters  durch  den  Burgunderkönig  Sigmund  (an- 
geblich 515  nach  Ch.)  noch  besonders  veranschaulicht  wird. 

In  erhöhterem  Maße  als  bei  dem  Paßwege  des  Großen  Sankt  Bernhard  ist 
nun  aber  bei  allen  anderen  Alpenstraßen  südlich  dieses  Weges  bis  herab  zur 
ligurischen  Küstenstraße  der  Fall  eingetreten,  daß  sie  von  den  Hauptereignissen 
der  germanischen  Völkerwanderung  räumlich  entfernt  lagen.  Auch  entlang  dieser 
Linien  bedeutet  daher  der  Anbruch  des  Mittelalters  nicht  jenen  großen  Riß  in 
der  Geschichte  des  Verkehrslebens,  sondern  dieses  hat  auch  damals,  wenn  auch 
dürftiger  und  unsicherer  als  in  den  besten  Zeiten  des  römischen  Reiches,  so 
doch  immerhin  ohne  große  Erschütterungen  und  Ermattung  hier  die  altgewohnten 
Bahnen  weiter  verfolgt.  Der  Grund  dafür,  daß  hier  in  dem  Verkehrsleben  über- 
all die  Brücke  sicherer  von  dem  römischen  Altertum  zur  folgenden  Zeit  hin- 
überleitet, ist  jedoch  nicht  allein  in  jener  gegenüber  den  damaligen  Weltereignissen 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  183 

geschützteren  Lage  sondern  ebenso  auch  noch  in  dem  Vorgang  zu  suchen,  daß 
der  Boden  des  transalpinen  Galliens  es  gewesen  ist,  auf  dem  zuerst  während  des 
Mittelalters  außer  Italien  neu  geartete,  kräftige  Reiche  emporgewachsen  sind,  die 
einigermaßen  den  Namen  von  Kulturgebilden  in  Anspruch  nehmen  konnten. 
Diese  Tatsache  hat  nicht  nur  die  Grundlage  für  die  bevorzugte  Stellung  ge- 
schaffen, die  den  Franzosen  dann  über  ein  Jahrtausend  hindurch  unten  den  Völ- 
kern Europas  zugefallen  ist,  sondern  auch  das  Verkehrsbedürfnis  zwischen  Gallien 
und  Italien  selbst  stets  lebendig  erhalten. 

Auch  während  der  schwersten  Zeiten  des  römischen  Reiches  findet  sich  die 
Erscheinung,  daß  auf  jenem  Flügel  der  Alpen  der  Völkerverkehr  ohne  gewalt- 
same Ereignisse  sich  Bahn  gebrochen  hat;  denn  über  eine  der  dortigen  intakten 
römischen  Heerstraßen,  den  Kleinen  Sankt  Bernhard  oder  Mont  Genevre,  zogen 
nach  dem  Tode  Alarichs  im  Jahre  412  nach  Ch.  die  Westgoten  unter  Athaulf, 
nachdem  die  römische  Politik  jene  geschickt  aus  Italien  nach  Gallien  abzuschieben 
vermocht  hatte.  Zu  den  Andeutungen,  die  das  Fortbestehen  des  friedlichen 
Verkehrs  während  der  letzten  Zeiten  des  weströmischen  Reiches  an  jenen  Linien 
markieren,  gehört  besonders  die  wachsende  Bedeutung  Grenobles,  des  alten 
Cularo,  das  bereits  im  dritten  Jahrhundert  ein  Bischofssitz  war  und  im  Jahre  379 
nach  Ch.  von  dem  Kaiser  Gratian,  dessen  Tätigkeit  wir  bereits  in  den  Ostalpen 
kennen  gelernt  haben,  unter  dem  Namen  Gratianopolis  neu  gegründet  wurde. 
Dieser  Ort  ist  aber  ein  ebenso  guter  Eintrittspunkt  für  die  nach  dem  Mont  Cenis 
wie  für  die  nach  dem  Kleinen  Sankt  Bernhard  führende  Linie.  Da  nun  die 
Linie  über  den  Mont  Cenis  selbst  jedoch  erst  am  Anfang  des  Mittelalters  an  das 
Tageslicht  tritt,  so  kann  gerade  das  Hervortreten  Grenobles  in  jenen  Zeiten  be- 
reits auf  ein  Vorfühlen  dieses  neuen  Weges  bezogen  werden.  Auch  das  heutige 
Embrun,  das  alte  Ebrodunum,  das  auf  der  Route  nach  dem  Mont  Genevre  gelegen 
ist,  sehen  wir  schon  im  Jahre  374  nach  Ch.  als  Bischofssitz.  Das  Gebiet  der 
Westalpen  ist  auf  der  gallischen  Seite  dann  bis  einschließlich  der  Dürance,  d.  h. 
südlich  bis  über  die  Paßlinie  des  Mont  Genevre  hinaus,  gleichfalls  den  Bur- 
gundern anheimgefallen,  eine  Entwickelung,  die  im  Jahre  450  nach  Ch.  abgeschlossen 
gewesen  sein  muß,  während  der  südlichste  Rand  der  Alpen  und  mit  ihm  der  ganze 
Komplex  der  ligurischen  Küstenstraße  noch  bis  zum  Ende  des  weströmischen 
Reiches  bei  Italien  verblieb  und  erst  im  Jahre  470  nach  Ch.  vorübergehend  von 
diesem  abgetrennt  wurde,  um  unter  die  Herrschaft  der  im  westlichen  Gallien 
sitzenden  Westgoten  zu  gelangen. 

Diese  ligurische  Küstenstraße  war  schon  durch  ihre  Lage  räumlich  am  weite- 
sten von  dem  Ausgangspunkt  der  germanischen  Völkerwanderung  entfernt  und 
außerdem  noch  durch  das  unwegsame  Gebiet  der  Seealpen  und  den  langen  Zug 
des  ligurischen  Appenin  gegen  den  Norden  geschützt.  Daher  blieb  dieses  Ge- 
biet während  der  letzten  Zeiten  des  römischen  Reiches  ohne  weiteres  allen  ge- 
schichtlichen Ereignissen    entrückt   und   es  konnte  deshalb  auch  geschehen,    daß 


184  X.  Kapitel. 

das  Kulturbild  an  dieser  Straße,  ähnlich  wie  im  südlichen  Norikum,  länger  seinen 
altrömischen  Charakter  behielt  und  daß  auch  die  alten  Einrichtungen  hier  teil- 
weise länger  angedauert  haben.  So  erhielt  sich  in  Genua  die  altrömische  Muni- 
cipialverfassung  bis  in  das  Mittelalter  hinein,  während  andererseits  auch  die  christ- 
liche Tradition  an  der  Riviera  sehr  frühzeitig  angeknüpft  hat  (St.  Pons  bei  Nizza, 
Märtyrer  Pontius,  261  nach  Gh.).  Gerade  während  der  germanischen  Völker- 
wanderung kehrt  jene  Straße  ihr  eigentliches  Wesen  ganz  deutlich  hervor,  für 
das  sie  für  den  Verkehr  stets  vorwiegend  in  Frage  gekommen  ist.  Kriegszüge 
und  Völkerbewegungen  von  bleibender  Wirkung  finden  wir  weniger  in  ihrem 
Bannkreis,  wohl  aber  stets,  und  auch  in  den  dunkelsten  und  ermattetsten  Zeiten 
einen  durch  nichts  abzuschreckenden  Reise-  und  Kulturverkehr.  Die  zahlreichen 
steinernen  Denkmäler  des  Altertums  sind  daher  an  dieser  Linie  zumeist  auch 
nicht  wie  anderswo  im  Bereich  der  Alpen  gewaltsam  zerstört  worden,  sondern 
nur  durch  das  in  unverminderter  Stärke  weiter  pulsierende  Leben,  das  immer 
nur  auf  denselben  engen  Raum  zwischen  Meeresküste  und  Gebirge  angewiesen 
war,  abgetragen  worden  und  in  Verfall  geraten.  Auch  eine  andere  charakteristi- 
sche Eigenschaft  des  Gebietes,  durch  das  jene  Straße  zieht,  läßt  sich  gerade  in 
jener  Periode  erkennen,  diejenige,  daß  die  ligurische  Küstenstraße  ihrer  ganzen 
Ausdehnung  nach  bis  in  das  südliche  Frankreich  hinein  infolge  ihrer  Lage  ebenso 
willig  nach  einem  Zentrum  südlich  wie  nach  einem  solchen  nördlich  der  Alpen 
gravitiert,  und  daß  sich  daher  diese  ganze  Linie  bei  einiger  Anstrengung  seitens 
des  Südlandes  ebenso  leicht  an  dieses  wie  an  Frankreich  anketten  läßt.  Erst 
während  der  letzten  Stunden  des  weströmischen  Reiches  wurde  die  Provence 
d.  h.  dasjenige  Land,  das  den  gallischen  Teil  dieser  Linie  in  sich  schließt,  jenem 
Reiche  entrissen,  um  dann  schon  nach  wenigen  Jahrzehnten  unter  Theodorich 
dem  Großen,  der  in  Italien  eine  kräftige  Herrschaft  begründete,  wieder  mit  dem 
Südlande  vereinigt  zu  werden,  und  auch  nach  dem  Untergange  des  ostgotischen 
Reiches  ist  die  Provence  stets  nur  ein  unsicherer  und  unvollständiger  Besitz  des 
in  Gallien  entstandenen  fränkischen  Reiches  geblieben. 

Als  letztes  haben  wir  nun  noch  auf  die  Schicksale  Rätiens  während  der 
letzten  Zeiten  des  römischen  Reiches  einzugehen.  Wir  haben  gesehen,  daß  vom 
Beginn  des  fünften  Jahrhunderts  ab  dieses  Land  nur  bis  zum  Nordrand  der 
Berge  in  der  römischen  Machtsphäre  verblieben  gewesen  sein  kann.  Als  solches 
hat  es  nun  aber  auch  während  des  fünften  Jahrhunderts  noch  durchaus  zum  Süd- 
land gehört,  wie  auch  nach  dem  Untergange  des  weströmischen  Reiches  der 
Besitz  des  heutigen  Bündens  und  Tirols,  ohne  vorher  einer  bleibenden  Invasion 
germanischer  Stämme  ausgesetzt  gewesen  zu  sein,  ohne  weiteres  von  der  Herr- 
schaft Odoakers  und  Theodorichs  übernommen  worden  ist. 

Gerade  in  dieser  Erscheinung  aber  tritt  die  zähe  Kraft  besonders  zutage, 
die  der  von  den  Römern  geschaffenen  südlichen  Kultur  auch  während  des  tiefsten 
politischen  Verfalles  überall  noch  innegewohnt  hat.     Diejenigen  Teile  der  Alpen- 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  IgS 

länder,  deren  Lage  dem  Südland  Italien  am  meisten  abgekehrt  war  und  zu  deren 
Behauptung  daher  um  so  gewaltigere  künstliche  Mittel  nötig  waren,  wie  der 
ganze  Nordrand  der  Alpen  und  die  Ostalpenländer  mußten  den  Römern  natur- 
gemäß am  frühesten  verloren  gehen,  während  andererseits  die  ligurische  Küsten- 
straße und  das  südliche  Norikum,  deren  Zugehörigkeit  zum  Südiand  die  Natur 
wiederum  besonders  begünstigt  hat,  selbst  bei  dem  tiefsten  politischen  Verfall 
des  weströmischen  Reiches  ohne  große  Anstrengungen  noch  bei  Italien  verbleiben 
konnten.  Die  Mitte  des  eigentlichen  Alpenlandes  dagegen  ist  ihrer  natürlichen 
Beschaffenheit  nach  dem  von  Norden  wie  dem  von  Süden  kommenden  Einfluß 
ungefähr  gleich  stark  ausgesetzt,  und  der  Verlauf  der  Geschichte  hat  es  deshalb 
auch  durchaus  bestätigt,  daß  diesen  mittleren  Alpenländern  stets  die  Neigung 
innezuwohnen  pflegt,  nach  derjenigen  Himmelsrichtung  zu  gravitieren,  wo  sich 
außerhalb  des  Gebirges  die  größte  politische  und  völkerbildende  Macht  ver- 
sammelt hat.  Während  der  ersten  Jahrhunderte  des  Mittelalters  haben  aber 
gerade  in  Bünden  und  Tirol  die  von  Norden  kommenden  Alemannen  und 
Bajuwaren  sich  nur  in  langen  Zeiträumen  und  mittelst  einer  schrittweisen  und  in 
langsamem  Tempo  fortschreitenden  Eroberung  bleibend  festsetzen  können.  In 
der  Richtung  auf  Bünden  zu,  das  sich  allerdings  innerhalb  des  Alpengebirges  fast 
wie  eine  natürliche  Festung  heraushebt,  ist  das  Vorwärtsschreiten  jener  nördlichen 
Kultur  nach'  Süden  sogar  dann  überhaupt  sehr  bald  ins  Stocken  geraten,  eine 
Entwickelung,  die  dann  erst  nach  der  Vereinigung  jenes  Landes  mit  der  Schweizer 
Eidgenossenschaft  hier  von  neuem  in  Fluß  gekommen  ist. 

Auch  für  die  bewegten  und  dunklen  Zeiten  des  vierten  und  fünften  Jahr- 
hundeus  nach  Gh.  stehen  uns  in  Bünden  und  Tirol  die  Spuren  des  römischen 
Verkehrs  noch  leidlich  zahlreich  zu  Gebote,  und  auch  hier  können  uns  vor 
allem  die  Römerfunde,  besonders  diejenigen  der  Münzen,  das  Gerippe  zu  jenem 
Bilde  liefern.  Diese  Funde  nun  sind  auf  dem  Boden  Bündens  und  Tirols  bis 
etwa  zum  Jahre  400  nach  Ch.  überall  noch  leidlich  zahlreich,  während  sie  nach 
diesem  Zeitpunkt  in  jener  ganzen  Zone  zwar  nicht  vollständig  verschwinden,  aber 
doch  bedeutend  schwächer  werden.  Diese  Erscheinung  findet  aber  ihre  all- 
gemeine Erklärung  ohne  Schwierigkeit  in  dem  Absterben  des  römischen  Durch- 
gangsverkehrs durch  diese  Gebiete,  der  nach  Verlust  des  nördlichen  Alpenrandes 
gegenstandslos  geworden  war.  Besondere  Erwähnung  erfordert  für  das  westliche 
Rätien  jedoch  noch  der  auffallende  und  schwer  zu  erklärende  Befund  der  Römer- 
münzen auf  der  Paßhöhe  des  Julier.  Allein  von  dem  Übergange  über  den 
Großen  Sankt  Bernhard  und  von  jenem  Passe  ist  die  Tatsache  klar  erkennbar, 
daß  hier  während  des  römischen  Altertums  die  heidnische  Sitte  solche  Stücke  als 
religiöse  Widmung  zurückzulassen  pflegte.  Wird  nun  zwar  hierdurch  durchaus 
der  Beweis  erbracht,  daß  jener  Weg  über  den  Julier  von  dem  römischen  Reise- 
verkehr besonders  bevorzugt  gewesen  sein  muß,  so  nötigt  uns  andererseits  die 
Entdeckung,  daß  jene  Münzfunde  auf  dem  Julier   im  Jahre   361    nach  Gh.,  also 


186  X.  Kapitel. 

schon  eine  ganze  Zeitspanne  vor  der  allgemeinen  Einführung  des  Christentums 
plötzlich  abbrechen,  die  Schlußfolgerung  auf,  daß  das  sich  über  diesen  Paß 
zwischen  Italien  und  dem  Nordrand  der  Alpen  bewegende  Verkehrsleben  schon 
damals  und  nicht  erst  wie  sonst  überall  zu  Beginn  des  fünften  christlichen  Jahr- 
hunderts einen  gewaltigen  Rückgang  erfahren  haben  muß.  Wir  müssen  es  uns 
aber  in  diesem  Falle  versagen,  jene  Erscheinung  mit  einem  besonderen  geschicht- 
lichen Ereignis  in  Zusammenhang  zu  bringen.  Sie  braucht  aber  auch  an  sich 
keine  allzugroßen  Bedenken  zu  erregen,  wenn  wir  berücksichtigen,  daß  schon  zu 
jenen  Zeiten  sogar  das  Südufer  des  Bodensees  für  die  Römer  nur  noch  eine 
militärische  Wichtigkeit  besaß,  wie  auch  in  Bregenz,  das  einzig  und  allein  den 
Durchgangsverkehr  für  die  bündner  Pässe  im  Norden  vermittelte,  die  römischen 
Münzfunde  schon  für  das  vierte  Jahrhundert  nach  Ch.  ganz  geringfügig  sind. 

Dagegen  ist  Rätien  innerhalb  des  Gebirges  nach  wie  vor  bis  in  das  fünfte 
Jahrhundert  hinein  ein  ungestörtes  Operationsland  der  römischen  Armeeabteilungen 
gewesen.  So  finden  wir  unter  den  Kaisern  Maxentius  und  bezeichnenderweise 
unter  Julian,  dem  Sieger  über  die  Alemannen,  die  letzten  Herstellungsarbeiten 
an  der  Brennerstraße,  von  denen  gerade  diejenigen  unter  Julian  sehr  ausgedehnt 
gewesen  sein  müssen.  Besonders  wichtig  ist  ferner  auch  die  Tatsache,  daß  noch 
zu  Beginn  des  fünften  Jahrhunderts  die  alte  römische  Heerstraße  durch  das 
Vintschgau  in  ihrer  südlichen  Hälfte  wenigstens  in  Gebrauch  gewesen  sein  muß, 
insofern  damals  einmal  an  Meran  vorbei  Proviant  für  ein  römisches  Heer  nach 
Norden  geschafft  worden  ist.  Auch  diese  Nachricht^),  die  wie  ein  vereinzelter 
Lichtstrahl  hier  durch  das  Dunkel  bricht,  ist  schwer  mit  einer  bestimmten  Kriegs- 
lage jener  Zeiten  in  Verbindung  zu  bringen;  einigermaßen  verständlich  wird  sie 
jedoch  durch  die  Beobachtung,  daß  gerade  die  Straße  über  das  Reschenscheideck 
und  die  sich  nördlich  an  diese  ansetzende  Fernlinie  stets  dann  in  ihrer  Bedeutung 
zugenommen  haben,  wenn  die  Tirol  nordwestlich  benachbarten  Gebiete  d.  h.  das 
heutige  Schwaben  gegenüber  dem  Süden  der  mächtige  und  um  sich  greifende 
Teil  waren,  eine  Situation,  die  auch  im  Verlaufe  der  germanischen  Völker- 
wanderung je  länger  je  mehr  hervortrat.  Die  Straße  über  den  Fernpaß  muß 
damals  einer  der  Hauptwege  gewesen  sein,  auf  der  sich  die  germanischen  Zu- 
züge nach  Tirol  hinein  Platz  zu  schaffen  gesucht  haben,  wie  auch  zu  Beginn  des 
Mittelalters  gerade  hier,  und  nicht  an  der  Linie  über  die  Scharnitz  die  ersten 
Ansätze  eines  neuen  Lebens  zu  finden  sind. 

Während  des  vierten  und  fünften  Jahrhunderts  nach  Gh.,  in  dem  das  heutige 
Tirol  als  östliches  Rätien  schon  einmal  ein  ganz  gleichartiges,  geschlossenes 
Gebiet  gewesen  ist,  mußte  nun  auch  weiterhin  ganz  folgerichtig  Meran  (Maja, 
Castrum  Majense)  als  dessen  militärischer  und  administrativer  Mittelpunkt  dienen. 
Unter  Kaiser  Theodosius  um  379  nach  Ch.  war  dort  auf  Schloß  Tirol  der  Sitz 
des  kommandierenden  Generals,  und  die  bei  dem  in  der  Nähe  befindlichen 
Edelsitz  Stachelberg  gemachten   römischen   Funde  halten   die   Annahme   hervor- 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  187 

gerufen,  daß  dort  ein  römisches  Arsenal  gewesen  sei,  eine  Hypotliese,  die  somit 
ganz  gut  in  jenes  Bild  hineinpaßt.  Den  besten  Beweis,  daß  dieses  Rätien  zumal 
in  seinem  südlichen  Teile  damals  noch  ein  ganz  volkreiches  Land  gewesen  sein 
muß,  das  an  allen  Strömungen  der  Zeitepoche  teilnahm,  liefert  aber  auch  hier 
die  älteste  christliche  Geschichte.  Daß  Trient  bereits  im  vierten  Jahrhundert  ein 
Bischofssitz  war,  ist  hierbei  die  grundlegende  Tatsache.  Sein  hervorragendster 
Bischof  war  damals  Vigilius  (um  397  nach  Gh.).  Von  diesem  Heiligen  leiten  an 
den  Grenzen  des  Trientiner  Kulturgebietes  das  Vorgebirge  San  Vigilio  am  Garda- 
see  und  der  Virgl-Berg  bei  Bozen  ihre  Namen  her  und  halten  somit  jene  Er- 
innerung an  das  römische  Altertum  bis  auf  den  heutigen  Tag  fest-  Nicht  ohne 
Grund  mag  sich  damals  dieser  Bischof  gerade  die  stark  bevölkerten  Gebiete  des 
Nons-  und  Sulzberges  als  ein  besonderes  Feld  seiner  Tätigkeit  herausgesucht 
haben,  und  der  Ursprung  des  Christentums  hat  daher  auch  in  diesen  Gegenden 
ein  gleich  hohes  Alter  wie  an  der  belebten  Brennerstraße  selbst  aufzuweisen. 
Im  mittleren  Tirol  ist  dann  die  christliche  Tradition  mit  dem  Namen  des  Heiligen 
Valentin  verknüpft,  der  im  Jahre  470  nach  Gh.  in  Meran,  im  Mittelpunkte  seines 
Wirkungskreises  gestorben  sein  soll,  während  im  besonderen  und  markanter  das 
Vorwärtsschreiten  jener  neuen  Geistesrichtung  nach  Norden  durch  die  Entstehung 
eines  Bischofssitzes  in  Sähen  festgelegt  ist.  Dieser  letztere  ist  jedoch  erst  vom 
sechsten  Jahrhundert  ab  sicher  nachweisbar,  und  weiter  nördlich  in  Tirol  brechen 
dann  die  christlichen  Gründungen  aus  den  ältesten  Zeiten  ganz  ab.  Es  ist  dieses 
ein  Umstand,  der  von  neuem  die  Tatsache  in  das  rechte  Licht  setzen  kann,  daß 
die  Brennerstraße  im  römischen  Altertum  wohl  eine  militärische,  nicht  aber  auch 
schon  eine  Bedeutung  erster  Ordnung  für  alles  Verkehrsleben  besessen  hat,  ein- 
fach deshalb,  weil  das  nördliche  Vorland  derselben  damals  noch  nicht  in  dem 
Maße  wie  später  in  weiter  Ausdehnung  der  Kultur  erschlossen  war.  In  diesem 
Zusammenhange  mag  daher  auch  die  Bemerkung  hier  Platz  finden,  daß  gerade 
der  Ort,  wo  der  eigentliche  Paßübergang  am  Brenner  gelegen  ist,  sehr  wenig 
Funde  aus  römischer  Zeit  geliefert  hat,  wie  dieser  Punkt  auch  niemals  zu  Römer- 
zeiten mit  dem  Namen  einer  wirklichen  Straßenstation  bezeichnet  worden  ist, 
während  sich  im  Gegensatz  hierzu  jene  Erscheinungen  bei  den  anderen  Alpen- 
übergängen ganz  deutlich  vorfinden,  die  die  Römer  mit  Vorliebe  zu  benutzen 
pflegten. 

Gehen  wir  nun  aber  von  hier  weiter  westlich  zu  jener  anderen  Hälfte  Rä- 
tiens  im  Gebirge,  nach  Graubünden,  hinüber,  so  werden  sich  uns  jetzt  die  Ur- 
sachen deutlicher  enthüllen,  warum  sich  die  Entwicklung  der  beiden  Teile  der 
alten  römischen  Provinz  Rätien,  wie  diese  durch  die  Organisation  Diokletians 
geschaffen  worden  waren,  nunmehr  ganz  grundverschieden  voneinander  gestalten 
mußte.  Noch  heute  ist  der  Schweizer  Kanton  Graubünden  ein  Gebiet,  bei  dessen 
Beschreibung  dem  Geschichtsforscher  mehr  als  anderswo  zunächst  der  Boden 
unter  den  Füßen  zu  wanken   scheint.     Dieses    Land    ist   nicht   nur   in   der  Mitte 


188  X.  Kapitel. 

der  langen  Alpenkette  und  somit  auch  in  der  Mitte  des  ganzen  Erdteils  selbst 
gelegen  sondern  auch  noch  dazu  reichlicher  als  die  östlich  und  westlich  benach- 
barten Alpengebiete  von  einer  ganzen  Anzahl  zielgerecht  von  Süd  nach  Nord 
ziehender  Durchgangslinien  überzogen.  Man  sollte  daher  meinen,  daß  gerade 
Graubünden  zu  allen  Zeiten  ganz  besonders  dazu  befähigt  gewesen  wäre,  das 
Mittelglied  und  das  Herzstück  eines  die  Alpen  bedeckenden  Verkehrsnetzes  zu 
bilden,  eine  Voraussetzung,  wonach  wiederum  der  Ursprung  der  heutigen  kultu- 
rellen und  ethnographischen  Verhältnisse  dieses  Landes  ganz  von  selbst  in  das 
helle  Licht  der  Geschichte  gerückt  worden  sein  müßte.  Jener  Aufgabe  hat  jedoch 
Bünden  niemals  in  vollem  Maße,  und  nur  einmal  während  des  Mittelalters,  zur 
Zeit  der  Karolinger  und  Ottonen,  annähernd  gerecht  werden  können. 

Wir  haben  schon  bei  der  Geschichte  Bündens  während  des  römischen  Alter- 
tums gesehen,  daß  die  dortigen  Alpenstraßen  damals  zwar  durchaus  eröffnet  und 
dem  Verkehre  des  Weltreiches  dienstbar  gemacht  worden  waren,  in  ihrer  Wichtig- 
keit und  Belebtheit  jedoch  keinesfalls  die  östlich  und  noch  weniger  die  westlich 
benachbarten  Linien  übertrafen,  und  das  deshalb  auch  die  kulturelle  Erschließung 
des  Landes  seitab  der  Verkehrswege  durch  die  Römer  gerade  hier  nicht  beson- 
ders stark  eingesetzt  hatte.  Diese  Beobachtung  hatte  weiterhin  die  Annahme 
gerechtfertigt  erscheinen  lassen,  daß  sich  im  westlichen  Rätien  das  alte  eingesessene 
Volkstum  der  Räter  das  ganze  römische  Altertum  hindurch  einigermaßen  in  kom- 
pakten Massen  erhalten  konnte.  Schon  diese  Tatsache  hat  daher  dazu  geführt, 
daß  auch  noch  zu  der  Zeit  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches  der  be- 
sondere Charakter  Bündens  in  kultureller  und  ethnographischer  Beziehung  be- 
stehen geblieben  war.  Aber  auch  die  Lage  Bündens  im  Herzen  der  Alpen  und 
das  Verhältnis  derselben  zu  dem  Ort,  von  dem  die  germanische  Völkerwanderung 
ausging  und  besonders  zu  der  Richtung,  nach  der  sich  diese  bewegte,  konnte 
ferner  nur  dazu  beitragen,  die  schon  vorhandenen  Züge  dieses  eigenartigen  Bildes 
teils  tiefer  einzugraben  teils  noch  neue  zu  demselben  hinzuzufügen. 

Die  auf  der  Schweizer  Hochebene  und  am  Rhein  sich  abspielenden  Kämpfe 
der  Alemannen  waren  es,  die  der  römischen  Herrschaft  in  den  Mittelalpen  den 
Untergang  bereiteten  und  damit  auch  die  Bestimmung  Bündens  als  wichtigen 
militärischen  Durchzugslandes  nach  jenen  Gebieten  hinüber  in  Wegfall  brachten. 
Aber  trotzdem,  daß  sich  ein  Teil  jener  Kämpfe  räumlich  in  unmittelbarer  Nach- 
barschaft des  westlichen  Rätiens  abspielte,  —  so  nahe,  daß  man  ihren  Verlauf 
von  den  nördlichen  Vorketten  der  rätischen  Berge  fast  mit  den  Augen  verfolgen 
konnte  —  so  suchte  sich  die  treibende  Kraft  dieser  Alemannenvorstöße  doch  so 
vorwiegend  ihren  Weg  nach  Westen,  vor  allem  nach  der  burgundischen  Pforte 
zu,  daß  wir  nur  ein  einziges  Mal  den  Fall  nachweisen  können,  daß  einer  dieser 
Kriege  mit  der  ungeheuren  Verheerung  und  Vernichtung,  die  diese  unausbleiblich 
im  Gefolge  hatten,  seine  Wellen  auch  südlich  in  dieses  Bergland  hinein  ge- 
schlagen hat. 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  189 

Dieser  Verlauf  hatte  aber  nicht  allein  seinen  Grund  in  den  damaligen  ge- 
schichtlichen Verhältnissen,  sondern  findet  ebensosehr  auch  seine  Erklärung  in 
dem  natürlichen  Aufbau  des  Landes,  wie  er  zu  allen  Zeiten  in  gleicher  Stärke 
fortbestanden  hat.  Gewiß  wird  der  Hauptkamm  Bündens  vom  Lukmanier  bis 
zur  Albula  von  den  mannigfachsten  Verkehrsstraßen  übersetzt,  aber  alle  diese 
Linien  laufen  nach  Norden  sämtlich  nur  in  einen  einzigen  Strang,  in  das  enge 
Rheintal  zusammen.  Von  einem  einzigen  Punkte  dieser  leicht  zu  sperrenden 
Rinne  aus  lassen  sich  daher  alle  Straßen  Bündens  ebenso  leicht  nach  Süden  hin 
beherrschen  wie  deren  Verteidigung  nach  Norden  ohne  Schwierigkeit  durch- 
führen. Die  Kriegsereignisse  der  letzten  Jahrhunderte  haben  dies  oft  genug  be- 
wiesen, und  auch  schon  für  die  damaligen  Zeiten  muß  dieses  Verhältnis  in  der 
gleichen  Stärke  und  Wirkung  bestanden  haben.  Der  Punkt  aber,  dem  allein  der 
sichere  Besitz  dieser  hervorragenden  Stellung  innerhalb  des  Landes  zufallen 
konnte,  ist  zu  allen  Zeiten  nur  die  Stadt  Chur  gewesen. 

Liegen  so  die  Hauptgründe  für  die  Erklärung  des  eigenartigen  Geschickes, 
das  Bünden  nun  auch  zu  Beginn  des  Mittelalters  getroffen  hat,  im  Norden  des 
Landes,  so  haben  doch  auch  die  geschichtlichen  Ereignisse  im  Süden  der  Alpen 
einigermaßen  mit  zu  diesem  Resultate  beigetragen.  Auch  der  von  Süden  aus 
nach  Bünden  hineindringende  Verkehr  ist  zu  diesem  Zwecke  zunächst  nur  auf 
eine  einzige  Linie,  die  lange  Rinne  des  Komer-Sees,  die  nördlich  in  Chiavenna 
endigt,  angewiesen.  Während  nun  aber  zu  den  Zeiten  der  Römerherrschaft  auf 
diesem  Wege  von  Mailand  und  Como  aus  die  Fäden,  die  das  westliche  Rätien 
an  Italien  ketten  sollten,  ungestört  in  das  Land  hineingezogen  und  nördlich  über 
dasselbe  hinaus  gespannt  wurden,  zerstörten  die  kriegerischen  Ereignisse,  die  sich 
während  des  fünften  Jahrhunderts  in  Oberitalien  abspielten  und  hier  die  Quellen 
der  alten,  in  der  Richtung  nach  Norden  werbenden  Kultur  vernichteten,  auch 
jene  Verkehrslage.  Die  Herrschaft  Theodorichs  machte  zwar  auch  hier  den  Ver- 
such, die  alten  Verhältnisse  wieder  zurechtzurücken;  nach  dem  Untergang  der- 
selben wurde  aber  dann  auch  auf  dieser  Seite  des  Landes  definitiv  jener  Zustand 
geschaffen,  nach  dem  die  Ereignisse,  die  in  den  Kulturländern  nördlich  und  süd- 
lich der  Alpen  die  fortschreitende  Entwickelung  mit  sich  brachte,  zunächst  hier 
vorübergingen,  ohne  irgendwelche  Wirkung  auf  dieses  Land  auszuüben  und  Bün- 
den daher  Jahrhunderte  lang  hindurch  sich  selbst  überlassen  bleiben  konnte. 

So  haben  wir  demnach  in  der  Geschichte  des  alten  westlichen  Rätiens  den 
einzig  dastehenden  Fall  vor  uns,  nach  dem  nicht  bloß  ein  Landstrich,  sondern 
ein  geschlossenes,  fest  umgrenztes  Land  auf  friedlichem  Wege  aus  den  Kultur- 
verhältnissen des  römischen  Altertums  in  die  des  Mittelalters  hinübergewandert 
ist.  Der  Riß,  der  sonst  fast  überall  in  den  Alpen  die  Zeit  der  Römer  von  der 
neu  anbrechenden  Epoche  getrennt  hat,  war  hier  auch  nicht  im  geringsten  zu 
spüren,  und  noch  im  neunten  Jahrhundert  nach  Ch.  haben  daher  in  Bünden 
Rechtsverhältnisse  und  Regierungsformen  bestanden,    die  in  ihrem  Ursprung  auf 


190  X.  Kapitel. 

nichts  anderes  als  auf  die  Schablone  der  einst  überall  gültig  gewesenen  römischen 
Verwaltungsgesetze  zurückgingen.  Jene  Abgeschlossenheit  des  Landes  von  der 
Außenwelt  während  jener  Jahrhunderte  mußte  aber  andererseits  auch  dahin  führen, 
daß  die  kulturelle  Entwickelung  schließlich  hier  in  sich  selbst  vertrocknete  und 
die  Verhältnisse  des  Landes,  als  sie  dann  unter  Karl  dem  Großen,  dessen  Re- 
gierungszeit zum  zweiten  Male  für  die  Alpenländer  grundlegend  geworden  ist, 
neu  geordnet  wurden,  fast  ein  mumienhaftes  Aussehen  gehabt  haben  müssen. 

Der  Umstand,  daß  Chur  schon  zu  Römerzeiten  einer  der  wichtigsten  Ver- 
kehrspunkte der  Alpen  und  zugleich  die  einzig  bedeutende  Stadt  des  westlichen 
Rätiens  war,  macht  es  einerseits  ganz  erklärlich,  daß  dieser  Ort  schon  im  Jahre 
451  nach  Ch.  als  Bischofssitz  genannt  wird,  die  geringe  Erschließung  des  übrigen 
Landes  aber  andererseits,  daß  wir  irgendwelchen  Spuren  christlicher  Kultur  gleich 
hohen  Alters  sonst  nirgendwo  in  Graubünden  begegnen  können.  Es  charakteri- 
siert die  Entwickelung,  die  damals  die  bündner  Verhältnisse  genommen  haben, 
wenn  sich  die  Reihe  jener  Churer  Bischöfe  seit  der  Gründung  des  Bistums  nun 
auch  ohne  Unterbrechung  durch  die  folgenden  Jahrhunderte  fortsetzt,  und  außer- 
dem daß  dieses  Churer  Bistum,  eben,  weil  der  nördliche  Einfluß  ihm  gegenüber 
ganz  versagte,  bis  in  das  neunte  Jahrhundert  hinein  nominell  zu  derjenigen  Stelle 
gehörig  verblieb,  der  es  einst  seinen  Ursprung  verdankt  hatte  d.  h.  bei  dem  Erz- 
bistum Mailand.  So  konnte  es  auch  hier  nicht  anders  kommen,  als  daß,  nachdem 
einmal  Bünden  von  der  römischen  Herrschaft  aufgegeben  worden  war  und  trotz 
der  Oberhoheit  der  Ostgoten  und  Franken  in  Wirklichkeit  ein  fast  selbständiges 
Dasein  führte,  derjenigen  Gewalt  folgerichtig  auch  der  politische  Besitz  des  ganzen 
Landes  zufallen  mußte,  die  allein  noch  im  Lande  verblieben  war  und  die  nirgendwo 
anders  als  in  Chur  ihren  Sitz  aufgeschlagen  hatte.  Jene  war  aber  allein  der 
christliche  Bischof,  der  jetzt  innerhalb  des  alten  römischen  Kastells  in  Chur  Platz 
genommen  und  die  Hauptkirche  des  Landes  (St.  Luci,  ältester  Teil  aus  dem 
achten  Jahrhundert)  hier  hineingepflanzt  hatte.  Diese  Churer  Bischöfe  mögen 
nun  in  jenem  abgeschlossenen  Alpenlande  Jahrhunderte  lang  ungestörte  Zeiten 
eines  fröhlichen  Hohenpriestertums  verlebt  haben.  Alle  Anzeichen  deuten  jedoch 
darauf  hin,  daß  sie  diese  Stellung  mehr  zum  Ausbau  ihrer  politischen  Herrschaft 
als  zu  rein  kultureller  Arbeit  verwendet  haben.  Gerade  in  Bünden  hat  die  Aus- 
breitung des  Christentums  in  den  ersten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  keine  all- 
zuraschen  Fortschritte  gemacht,  während  andererseits  eine  der  ältesten  Nachrichten, 
die  aus  jener  Zeit  die  Geschichte  Bündens  erhellen  können,  diejenige  ist,  wo- 
nach im  Jahre  615,  als  der  Durchgangsverkehr  sich  hier  wieder  zu  regen  begann, 
der  Frankenkönig  Chlotar  dem  Churer  Bistum  den  Besitz  seiner  „alten  Zoll- 
steilen"  bestätigte.  Sehen  wir  also  hier  zunächst  den  Churer  Bischof  als  den 
eigentlichen  Landesherrn  Bündens,  so  ist  bei  dieser  Nachricht  jedoch  noch  be- 
sonders der  Wortlaut  wichtig,  nach  dem  jene  Zollstätten  schon  am  Beginn  dieses 
siebenten  Jahrhunderts    als    „von   altersher"    in  Gebrauch    befindlich    bezeichnet 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  191 

Verden  und  als  solche  daher  kaum  etwas  anderes  als  eine  Fortsetzung  der  alten 
römischen  gewesen  sein  können,  wie  denn  auch  hierdurch  die  Annahme  von 
neuem  illustriert  wird,  daß  in  Bünden  das  Frühmittelalter  unmittelbar  an  das  rö- 
mische Altertum  angeknüpft  hat. 

Die  Tatsache,  daß  sich  in  dem  weit  von  der  weltbeherrschenden  Stadt  Rom 
entfernten  Graubünden  mehr  wirklich  Altrömisches  als  irgendwo  anders  in  Mittel- 
europa am  Leben  erhielt,  ist  nun  auch  wie  eine  dunkele  aber  richtige  Ahnung 
in  dem  historischen  Gefühl  aller  folgenden  Zeiten  haften  geblieben.  Als  ein 
Kuriosum  dieser  Art  mag  angeführt  werden,  daß  nach  dem  Glauben  früherer 
Zeiten  die  Reste  von  sieben  Römerheeren,  die  vor  den  Cimbern  flüchteten,  hier 
sitzen  geblieben  waren ^).  Hierzu  gehört  ferner,  und  dieses  vielleicht  mit  mehr 
Recht,  daß  der  alte  bündner  Adel  stets  mit  Vorliebe  gewohnt  gewesen  ist,  seinen 
Ursprung  auf  altrömisches  Blut  zurückzuführen.  Einer  der  großen  Namen 
Bündens  ist  derjenige  der  Planta.  Ein  Geschlecht  der  Planta  hat  es  allerdings 
schon  einmal  nicht  nur  in  Bünden,  sondern  auch  zur  Zeit  der  Kaiser  Klaudius 
und  Trajan  in  Rom  selbst  gegeben,  und  den  Beweis,  daß  jene  Tradition  ihres 
Geschlechtes  nicht  zu  den  historischen  Unmöglichkeiten  gehört,  können  die 
heutigen  Planta  wenigstens  durch  die  allgemeine  Tatsache  erhärten,  daß  der 
hauptstädtische  Adel  Roms  sich  während  der  Kaiserzeit  wirklich  auch  nach  jenen 
nördlichen  Gegenden  hin  verbreitet  hat;  denn  auch  ein  Mitglied  der  altberühmten 
Familie  der  Laterani  (Lateran-Palast  in  Rom)  begegnet  uns  im  Jahre  196  nach  Ch. 
als  consul  designatus  in  Augsburg.  Gerade  das  genau  in  der  Mitte  Europas 
gelegene  Graubünden  hat  infolge  seiner  Abgeschlossenheit  zu  allen  Zeiten  sich 
besonders  dazu  geeignet  bewiesen,  als  sichere  Zufluchtsstätte  und  unbeachtetes 
Versteck  für  solche  zu  dienen,  die  den  im  Norden  oder  Süden  der  Alpen  sich 
bahnbrechenden  Ereignissen  und  Entscheidungen  aus  dem  Wege  gehen  wollten. 
Diese  Entdeckung  ist  aber  auch  schon  dem  Altertum  nicht  entgangen,  wie  dieses 
mit  auffallender  Klarheit  aus  einem  Briefe  des  Kaisers  Justinian  an  seinen  in  Italien 
kommandierenden  Feldherrn  Narses  hervorgeht,  in  dem  jener  Rätien  einfach  als 
das  Fluchtland  der  Südländer  bezeichnet,  und  der  Bourbon  Louis  Philipp,  der 
spätere  König  der  Franzosen,  der  im  Jahre  1793  unter  dem  Namen  Chabot  un- 
erkannt in  Reichenau  bei  Chur  als  Hauslehrer  lebte,  war  demnach  nicht  der 
erste  grand  seigneur,  der  vor  den  Schrecken  einer  bösen  Zeit  in  diesem  Lande 
untertauchte. 

Wir  können  aber  an  dem  Beispiele  des  westlichen  Rätiens  auch  am  deut- 
lichsten die  Rolle  ersehen,  die  überhaupt  auch  dem  Alpengebirge  in  seiner 
Gesamtheit  während  der  germanischen  Völkerwanderung  zugefallen  ist.  Die 
durch  die  Natur  gegebene  Eigenschaft  eines  jeden  Gebirgslandes,  daß  es  den 
Schutz  des  geistigen  und  materiellen  Besitzes  der  Menschen  erleichtert,  ist  eine 
Erscheinung,  die  gerade  bei  den  Alpen  während  jener  Zeiten  sich  ganz  besonders 
Geltung  verschaffen  mußte.     Denn    wie   eine    Insel    lag   damals   das   eigentliche 


192  ^-  Kapitel. 

Bergland  der  Alpen  inmitten  der  Flut  der  von  Osten  hereinbrechenden  Ereignisse 
und  die  entlegenen  Schlupfwinkel,  die  dem  Verkehr  abgewendeten  Täler  dieses 
Gebirges  mußten  daher  jenem  geängstigten  und  geplagten  Geschlecht  inmitten 
all'  der  erbarmungslosen  Verfolgung  und  Zerstörung  immer  wieder  als  die  besten 
Zufluchtsstätten  für  Mensch  und  Gut  vor  die  Augen  treten.  Noch  heute  erstaunt 
man  mit  Recht  über  die  Massenhaftigkeit  der  Funde,  die  immer  wieder  von 
neuem  in  Deutschland  aus  der  Erde  emporsteigen  und  die  sämtlich  allein  während 
des  dreißigjährigen  Krieges  daselbst  versteckt  worden  sind.  Liefert  uns  daher 
diese  Beobachtung  ohne  weiteres  ein  Bild  von  der  Größe  und  Furchtbarkeit  der 
Vernichtung,  die  jener  Krieg  für  alles  friedliche  Leben  mit  sich  brachte,  so 
müssen  wir  diese  Wirkung  noch  in  viel  ausgedehnterem  und  erschreckenderem 
Maße  für  die  Kriege  jener  Zeit  in  Hinblick  auf  die  aus  der  germanischen  Völker- 
wanderung stammenden  Funde  in  ihrer  Gesamtheit  voraussetzen.  Anderthalb 
Jahrtausende  sind  seitdem  verflossen,  aber  allein  schon  die  Summe  der  innerhalb 
der  letzten  Jahrhunderte  gemachten  Funde  dieser  Art,  deren  Kenntnis  gerade 
noch  auf  uns  kommen  konnte,  würde  für  die  Berechtigung  jener  Annahme 
voll  genügen. 

Innerhalb  der  Alpen  aber,  die  wie  ein  schützendes  Dickicht  in  jenes  offene 
Jagdgebiet  hineingesetzt  waren,  begegnen  wir  derartigen  Funden  häufiger,  dichter 
und  man  möchte  sagen,  in  instruktiverer  Weise.  Es  ist  auch  hier  immer  dasselbe 
Bild  der  geängstigten  Menschheit,  wenn  während  des  dreißigjährigen  Krieges  die 
Backöfen  mit  Vorliebe  als  Verstecke  benutzt  worden  sind,  während  zu  Zeiten 
der  Römer  die  Hypokauste  d.  h.  die  unter  dem  Boden  der  Gebäude  angebrachten 
und  der  Heizung  dienenden  Schächte  jenen  Zweck  verrichten  mußten.  Wir 
haben  im  Obigen  schon  oft  die  Münzfunde  als  ein  willkommenes  Mittel  heran- 
ziehen können,  um  den  Bewegungen  des  Verkehrs  und  den  Kriegsereignissen 
während  der  Römerzeit  im  einzelnen  nachzukommen.  Bei  einer  Anzahl  dieser 
Münzfunde,  und  zudem  noch  bei  den  wertvollsten  und  umfangreichsten,  verirren 
sich  nun  aber  in  auffallender  Weise  die  Fundstellen  in  derartig  einsame  Gebiete 
der  Alpen,  daß  hier  in  keiner  Weise  irgendwelche  Schlußfolgerung  auf  das  da- 
malige Verkehrsleben  zugelassen  werden  kann.  Die  ganze  Bergungsweise  derselben 
redet  dagegen  noch  heute  eine  ergreifende  Sprache  von  der  Not  jener  Zeiten, 
weil  sie  ganz  von  selbst  die  Absicht  kundgibt,  daß  jene  Schätze  hier  fluchtartig 
versteckt  worden  sein  müssen.  Unter  solchen  Funden  sind  diejenigen  aus  den 
stillen  Tälern  des  Enneberg  (Untermoi)  und  aus  dem  ganz  abgelegenen  Reit  im 
Winkel  zu  nennen,  besonders  aber  jener  aus  Rumo  (Südtirol),  wo  aus  einer 
Felsschlucht  eine  Summe  von  mehreren  tausend  Stück  hervorkam;  auch  der  in 
der  Nähe  von  Wettingen  in  der  Schweiz  an  das  Licht  gekommene  Silberschatz 
des  dortigen  römischen  Isistempels  gehört  hierher.  Auch  bei  Malvaglia  im  Blegno- 
tal  ist  ein  Fund  von  dreitausend  Stück  dem  dritten  Jahrhundert  nach  Gh.  an- 
gehörender Münzen   gemacht  worden.     Dieser   letztere  liefert  jedoch  ein  Vor- 


Die  Alpen  während  des  Unterganges  des  weströmischen  Reiches.  193 

kommnis,  zu  dem  wir  deshalb  besonders  Stellung  nehmen  müssen,  well  das 
Blegnotal  den  südlichen  Anstieg  zum  Lukmanier  bildet,  und  wir  uns  somit  hier 
in  jener  genau  in  der  Mitte  der  Alpen  gelegenen  Zone  befinden,  in  der  das 
Verkehrsbedürfnis  der  späteren  Zeiten  den  wichtigsten  Alpenweg  der  Neuzeit, 
den  Sankt  Gotthard,  eröffnete  und  wo  auch  schon  sehr  bald  im  Frühmittelalter 
der  diesem  ganz  benachbarte  Lukmanier  als  gebräuchlicher  Alpenübergang  und 
somit  als  ein  Vorläufer  des  Sankt  Gotthard  sich  geltend  gemacht  hat.  Für  das 
Altertum  hatten  wir  jedoch  den  Sankt  Gotthard  ebenso  wie  dessen  ganzen  Bereich 
als  unerschlossen  und  dem  Verkehre  entzogen  vorausgesetzt,  und  auch  jener  Fund 
von  Malvaglia  ist  nach  allem  Vorangegangenen  auch  nur  geeignet,  die  Richtigkeit 
dieser  Annahme  zu  stärken,  da  gerade  die  Größe  jenes  Fundes  darauf  hinzudeuten 
scheint,  daß  derselbe  damals  ebenso  wie  die  vielen  anderen  Funde  gleicher  Art 
abseits  der  von  dem  großen  Verkehr  betretenen  Bahnen  dem  Tageslicht  entzogen 
werden  sollte. 

Wir  sind  auf  diese  Weise  wieder  an  die  Südgrenze  des  alten  westlichen 
Rätiens  gelangt,  und  da  dieses  Land  von  den  verheerenden  Ereignissen  der 
germanischen  Völkerwanderung  fast  ganz  verschont  blieb,  ist  es  nun  auch  nicht 
wunderbar,  daß  dessen  südliche  Nachbarschaft  d.  h.  die  Mitte  des  südlichen 
Alpenrandes  vom  Langen  See  über  den  Komer-See  bis  nach  Bergamo  hin,  einer 
ähnlichen  Wirkung  teilhaftig  werden  konnte.  Jenes  von  der  Natur  so  wunderbar 
bevorzugte  Gestade  ist  damals  auch  von  den  geschichtlichen  Ereignissen  mit 
einem  gleich  günstigen  Schicksal  bedacht  worden,  insofern  es  gleichfalls  eines 
der  wenigen  Gebiete  gewesen  ist,  in  dem  der  Übergang  vom  römischen  Altertum 
nach  dem  Mittelalter  ungestörter  und  friedlicher  als  sonst  vor  sich  ging,  und 
auch  in  dieser  Beziehung  zeigt  daher  die  Riviera  der  oberitalienischen  Seen 
gleiche  Eigenschaften  wie  die  ligurische  Riviera.  Das  treffendste  Beispiel,  wie 
sehr  diese  Striche  während  der  Zeiten  jener  Völkerwanderung  als  sicher  und 
geschützt  galten,  ist  die  Geschichte  der  Insel  Comacina  am  Westufer  des  Komer- 
Sees.  Dem  kleinen  Eiland,  auf  dem  jetzt  nur  das  Gebäude  einer  Kirche  aus 
dunkelgrünen  Pflanzungen  herausragt  und  das  heute  der  dicht  an  ihm  vorüber- 
flutende Verkehr  ganz  unbeachtet  liegen  läßt,  ist  es  nicht  anzusehen,  daß  es  in 
jenen  bewegten  Zeiten  zu  wiederholten  Malen  die  letzte  Zuflucht  und  ein  sicheres 
Versteck  für  thronflüchtige  Herrscher  und  versprengte  Heerführer  abgeben  mußte. 
Hier  verbarg  sich  u.  a.  im  Jahre  590  nach  Ch.  ein  zurückgebliebener  Feldherr 
der  Byzantiner  vor  den  Langobarden  und  im  Jahre  688  nach  Ch.  der  Langobarden- 
könig Kunibert  selbst  mit  seinen  Kostbarkeiten  vor  dem  Usurpator  Alachis  von 
Trient.  Wie  sehr  aber  auch  sonst  diesfe  Gegenden  geeignet  waren,  die  alten 
Verhältnisse  zu  konservieren,  ist  aus  der  großen  Zahl  der  dort  gefundenen  christ- 
lichen Inschriften,  die  aus  dem  fünften  Jahrhundert  stammen,  und  noch  mehr 
aus  dem  Klang  der  zahlreichen  auf  bio  endigenden  Ortsnamen  in  der  Brianza 
ersichtlich;  denn  letztere  rühren  noch  unmittelbar  von  den  keltischen  Orobiern  her, 

Scheffel,  Verkehrsgeschichie  der  Alpen.     I.  Band.  13 


194  X.  Kapitel. 

Demselben  Umstände  mag  aber  auch  die  Erhaltung  des  reizvollen,  eigen- 
artigen Stadtbildes,  das  Bergamo  bietet  und  das  heute  noch  die  ursprüngliche 
keltische,  vorrömische  Ortsanlage  erkennen  läßt,  zuzuschreiben  sein,  während 
wiederum  in  Como  der  alte  römische  Grundriß  noch  ganz  deutlich  vorhanden 
ist.  Die  Absicht,  die  bei  der  Gründung  dieser  Stadt  vorwaltete,  die  in  die 
schmale,  östlich  und  westlich  durch  Anhöhen  eingeengte  Ebene  an  der  Südspitze 
des  Sees  wie  ein  Riegel  hineingepflan"zt  wurde,  zeigt  sich  besonders  klar,  wenn 
man  von  den  hohen.  Östlich  gelegenen  Höhen  von  Brunate  auf  Como  herabblickt. 
Von  dort  aus  liegt  wie  ein  Teppich  die  Altstadt  von  Como  ausgebreitet,  bei  der 
die  jetzige  Umwallung  mit  ihren  Ecktürmen  noch  durchaus  in  der  Trace  der 
alten  römischen  Ummauerung  hinläuft  und  wo  noch  heute  die  via  Principalis  in 
Gestalt  der  Via  Indipendenza  die  Stadt  durchzieht,  und  die  Porta  Vittoria  nichts 
anderes  als  die  alte  porta  decumana  ist.  Ebenso  zahlreich  und  vollständig  leiten 
aber  auch  die  aus  dem  Weichbild  Comos  geborgenen  und  im  Museum  der  Stadt 
befindlichen  Funde  aus  den  letzten  Zeiten  des  Römerreichs  nach  der  Lango- 
bardenzeit hinüber,  wie  auch  die  langobardische  Gründungstätigkeit  und  Bauweise 
selbst  gerade  auf  dieser  Stelle  besonders  früh  eingesetzt  hat  (die  Kirchen  San 
Fedele  und  vor  allem  Sant'  Abbondio). 


XI.  Kapitel. 

Die  Alpenländer  unter  Theodorich  dem  Großen. 


Wenn  wir  in  bezug  auf  die  Verkehrsgeschichte  der  Alpen  diejenige  Zeit- 
spanne, während  der  Theodorich  der  Große  in  Italien  herrschte  und  die  weiter- 
hin mit  dem  Vernichtungskampfe  Ostroms  gegen  dieses  Ostgotenreich  ausgefüllt 
wird,  noch  zu  dem  Altertum  rechnen,  so  steht  dies  in  direktem  Gegensatz  zu 
der  landläufigen  Gesichtsauffassung,  die  diese  ganze  Zeit  schon  voll  in  das  Mittel- 
alter hineinzulegen  pflegt.  Mit  vollem  Recht  hat  der  Ostgotenkönig  Theodorich 
von  der  Geschichte  den  Beinamen  der  Große  erhalten,  weil  das  Werk,  das  er 
unternahm  und  das  er  bewußt  und  folgerichtig  sein  ganzes  Leben  durchführte, 
tatsächlich  das  erste  gewesen  ist,  durch  das  ein  germanischer  Herrscher  der 
Völkerwanderung  bleibende  und  durch  und  durch  kulturbringende  Wirkungen 
zu  schaffen  suchte.  Nur  ein  einziger  Irrtum,  eine  einzige  falsche  Voraussetzung 
dieses  großen  Herrschers,  die  Unmöglichkeit,  die  damaligen  römischen  Bewohner 
Italiens  mit  den  Goten  dauernd  zusammenzukitten,  ist  die  Ursache  geworden, 
daß  dieses  Unternehmen  mißlingen  mußte.  Gerade  die  Tatsache,  daß  das  Ost- 
gotenreich sogleich  nach  Theodorichs  Tode  die  weltbeherrschende  Stellung,  die 
dieser  ihm  gegeben  hatte,  einbüßte,  um  schließlich  einem  zwar  zähen  aber  trotz- 
dem nichts  weniger  als  kraftvollen  Gegner,  wie  Ostrom  es  damals  war,  zum  Opfer 
zu  fallen,  ist  einerseits  der  Beweis  für  die  Macht  der  Persönlichkeit  Theodorichs, 
andererseits  aber  noch  viel  mehr  für  die  Größe  des  Irrtums,  von  dem  jener  ur- 
sprünglich ausgegangen  war.  Wir  haben  in  Theodorich  wohl  die  Gestalt  eines 
glänzenden,  kräftigen  Herrschers  vor  uns,  aber  das  Fundament  seines  Gedanken- 
kreises bildete  auch  keine  andere  Vorstellung  als  diejenige,  die  vor  ihm  schon 
Jahrhunderte  hindurch  die  Welt  erfüllt  hatte,  der  Glaubenssatz,  daß  mit  dem 
Besitze  Italiens  auch  die  Vorherrschaft  über  Europa  verknüpft  sein  müsse.  Sein 
Irrtum  war  aber  eben,  daß  der  ermattete  physische  Zustand  der  eingeborenen 
Generation,    die   er  in   Italien   vorfand,    damals  weder  allein  noch  auch  mittelst 

13« 


196  XI.  Kapitel. 

Verschmelzung  mit  den  Ostgoten  der  Durchführung  einer  derartigen  Aufgabe 
mehr  gewachsen  war.  Hier  liegt  also  der  Grund,  weshalb  das  Streben  und  die 
Leistungen  Theodorichs,  die  allein  aus  antiken  Anschauungen  emporgewachsen 
waren,  nicht  mehr  schöpferisch  wirken  konnten  und  weshalb  sich  sein  Werk 
lediglich  als  eine  Neuauflage  der  alten  römischen  Großmachtstellung  —  nicht 
derjenigen  des  Weltreiches,  wohl  aber  derjenigen  wie  sie  sich  etwa  nach  Be- 
endigung des  zweiten  punischen  Krieges  herausgebildet  hatte  —  darstellt.  Äußer- 
lich tritt  allerdings  dabei  sofort  der  den  Anbruch  einer  neuen  Zeit  charakteri- 
sierende Unterschied  zu  Tage,  daß  die  römische  Macht,  die  zu  den  Zeiten  der 
Republik  in  Italien  herrschte,  ihr  Augenmerk  besonders  nach  dem  Süden  ge- 
richtet halten  mußte,  während  die  Politik  Theodorichs  den  Schwerpunkt  ihrer 
Wirksamkeit  vor  allem  nach  dem  Norden  der  Halbinsel  hingerückt  hat.  Aus 
diesem  Grunde  hat  nun  auch  die  Regierung  Theodorichs  für  die  Alpenländer 
ganz  eigenartige  und   niemals  wieder  dagewesene  Erscheinungen  hervorgebracht. 

Es  ist  das  beste  Zeugnis  für  den  Reichtum  seiner  einzelnen  politischen 
Ideen  wie  für  die  Größe  des  Erfolges,  den  Theodorich  zu  seinen  Lebzeiten  er- 
reichte, daß  er  nicht  nur  seinen  Goten  sondern  besonders  auch  den  zeitgenössi- 
schen urteilsfähigen  Vertretern  der  alten  Kultur  als  die  bedeutende  glänzende 
Persönlichkeit  erschien,  die  er  wirklich  gewesen  ist.  Selbst  der  Geschichts- 
schreiber Prokop,  dessen  ganze  Anschauungsweise  noch  durchaus  auf  dem  Boden 
der  antiken  Kultur  steht  und  der  mit  den  Ansprüchen  des  alten  Römertums  innig 
verwachsen  ist,  räumt  dies  unumwunden  ein.  In  der  kurzen  und  erschöpfenden 
Charakteristik,  die  dieser  von  Theodorich  liefert '**'),  erscheint  ihm  die  ganze  Per- 
sönlichkeit jenes  Herrschers  zunächst  aber  auch  als  nichts  anderes  als  diejenige 
eines  römischen  Imperators,  also  als  eine  Fortsetzung  des  Althergebrachten.  In 
jener  Charakteristik  wird  auch  hervorgehoben,  daß  Theodorich  sein  Reich  stets 
vor  den  Einfällen  der  Barbaren  bewahrt  hat.  So  leicht  man  nun  auch  über  diese 
Bemerkung  als  selbstverständlich  hinweglesen  könnte,  so  bezeichnet  es  doch  ge- 
rade im  Hinblick  auf  die  sich  überstürzenden  Ereignisse  der  damaligen  Zeiten» 
die  eine  germanische  Herrschaft  nach  der  anderen  entstehen  und  vergehen  ließen, 
einen  der  größten  äußeren  Erfolge  Theodorichs,  daß  es  ihm  gelang,  die  noch 
mitten  im  Fluß  befindliche  germanische  Völkerwanderung,  die  vor  und  nach  den 
Lebzeiten  Theodorichs  ihre  Wellen  oft  genug  auch  nach  Italien  hineingeworfen 
hat,  während  seiner  Regierungszeit  von  diesem  Lande  abzuhalten. 

Aber  auch  der  Zweck,  der  unserer  Betrachtung  zu  Grunde  liegt,  hat  von 
dieser  Tatsache  auszugehen;  denn  die  Alpen  bildeten  zur  Zeit  Theodorichs  die 
natürliche  Grenze  seines  Gebietes,  und  die  Grenzverteidigung,  die  dieser  in 
ihrem  Bereich  gegen  die  nördlichen,  fortdauernd  in  der  Bewegung  befindlichen 
Völker  aufrichtete,  ist  so  zu  einem  wichtigen  und  in  der  Geschichte  der  Alpen- 
länder einzig  dastehenden  Ereignis  geworden.  Hatte  die  römische  Republik  die 
Sicherung  Italiens   nach  Norden   von   der   inneren  Linie,    von   der  Poebene  aus» 


Die  Alpenländer  unter  Theodorich  dem  Großen.  197 

und  das  römische  Weltreich  ebendieselbe  dann  weit  entfernt  vermittelst  seiner 
befestigten  Grenzen  nördlich  der  Alpen  besorgt,  so  legte  Theodorich  zum  ersten 
und  letzten  Male  jene  Grenze  des  Südlandes  in  das  Alpengebirge  selbst,  und 
zumeist  entlang  der  Linie,  wo  dieses  sich  zum  eigentlichen  Hochgebirge  erhebt, 
um  nur  an  dessen  westlichen  und  östlichen  Ende,  weil  es  zur  Sicherung  des 
Reiches  hier  nicht  anders  möglich  war,  über  den  Kamm  des  Gebirges  hinüber- 
zugreifen. 

So  können  die  Grenzen  Italiens  wie  sie  unter  Theodorich  gelegt  waren  für 
den  italienischen  Standpunkt  auch  heute  noch  als  das  Abbild  des  Erstrebens- 
werten gelten.  Im  Westen  gehörte  zunächst  die  ganze  Provence  zum  Reiche 
Theodorichs,  Massilia  war  im  Besitze  der  Ostgoten  und  Arelate  ließ  damals 
Theodorich  neu  zur  Festung  ausbauen.  Daß  dieser  Landstrich  unverkürzt  bei 
Italien  festgehalten  wurde,  mag  seinen  Grund  allein  in  dem  ganz  richtigen  Ge- 
danken gehabt  haben,  daß  hierdurch  einem  Übergreifen  des  nördlich  der  Alpen 
in  der  Bildung  begriffenen  und  immer  kräftiger  sich  ausdehnenden  Prankenreiches 
von  vornherein  ein  Riegel  vorgeschoben  wurde.  Von  hier  aus  mag  die  wirkliche 
Grenze  des  Ostgotenreiches  unentwegt  von  den  Kottischen  Alpen  bis  zum  Sankt 
Gotthard  mit  den  höchsten  Kämmen  des  Gebirges  zusammengefallen  sein.  Selbst 
die  Nachricht,  daß  Theodorich  auch  die  Alemannen  unter  seiner  Botmäßigkeit 
gehabt  habe,  braucht  uns  in  dieser  Annahme  nicht  irre  zu  machen,  da  hierdurch 
nur  dem  kräftigen  Einfluß  des  Ostgotenreiches  Theodorichs  auch  nach  dieser 
Seite  nördlich  über  die  Alpen  hinüber  Ausdruck  verliehen  wird.  Weiterhin  im 
Osten,  in  der  rätischen  Zone,  spricht  die  Wahrscheinlichkeit  jedoch  mehr  dafür, 
daß  dort  das  ganze  Alpenland  wenigstens  dem  Namen  nach  zu  dem  Ostgoten- 
reiche gehörte  und  dessen  Grenzen  somit  vom  Tödi  an  entlang  der  nördlichen 
Vorberge  etwa  bis  Kufstein  hinliefen.  Wir  wissen,  daß  im  Jahre  496  ein  Teil 
der  von  den  Franken  geschlagenen  landflüchtigen  Alemannen  von  Theodorich 
Wohnplätze  in  Rätien  angewiesen  erhielt,  und  wenn  wir  sehen,  daß  heute  noch 
das  Vorarlberg  und  das  Oberinntal,  die  als  der  nordwestlichste  Teil  Rätiens  ge- 
rade dem  Land  der  alten  Alemannen  ganz  benachbart  lagen,  tatsächlich  eine  rein 
alemannische  Bevölkerung  einschließen,  so  paßt  dies  sehr  gut  zu  der  Annahme, 
daß  es  eben  jener  Teil  Rätiens  gewesen  ist,  der  diesen  Alemannen  von  Theodo- 
rich damals  eingeräumt  wurde. 

Östlich  der  Brennerlinie,  also  in  der  norischen  Zone,  werden  aber  dann 
die  Möglichkeiten,  eine  Vermutung  über  die  Abgrenzung  des  Ostgotenreiches 
nach  Norden  aufzustellen  äußerst  spärlich,  und  es  ist  besser,  nunmehr  von  dem 
entgegengesetzten  Ende,  dem  Ostende  der  Alpen,  den  Ausgang  zu  nehmen,  um 
hier  einigermaßen  zu  einem  Resultat  zu  gelangen.  Wie  im  Westen  der  Provence, 
so  bildete  auch  auf  der  entgegengesetzten  Seite  der  Alpen  die  das  ganze  Fluß- 
gebiet der  Drau  und  Save  umfassende  und  sich  weit  östlich  bis  Siscia  erstreckende 
Provinz  Savia  einen  Teil  dieses  Ostgotenreiches.     Für   die   weitere   Ausdehnung 


J98  XI.  Kapitel. 

desselben  auf  jener  Seite  nach  Norden  haben  wir  dann  aber  nur  einen  Anhalt 
in  der  Anschauungsweise  Prokops,  der  u.  a.  auch  Karner  und  Noriker  zu  diesem 
Reiche  rechnete,  einen  schwächeren  ferner  auch  darin,  daß  Justinian  während 
des  Zerfalles  des  Ostgotenreiches  die  Stadt  Norikum  und  die  pannonischen 
Festungen  an  die  Langobarden  abgetreten  hat.  Da  wir  aber  andererseits  gesehen 
haben,  daß  es  gerade  ein  besonderes  Merkmal  des  Reiches  Theodorichs  gewesen 
ist,  daß  er  überall  im  Norden  eine  bestimmte  Grenze  seines  Reiches  gegen  die 
fremden  Zuzüge  festlegte  und  der  Druck  der  germanischen  Völker  auch  damals 
noch  im  Nordosten  Italiens  am  allerstärksten  war,  so  sind  wir  schlechterdings  ge- 
nötigt, auch  hier  das  Vorhandensein  einer  bestimmten,  von  den  Goten  militärisch 
bewachten  Nordostgrenze  anzunehmen.  Diese  Grenze  wird  jedoch  schwerlich 
entlang  des  pannonischen  Ufers  der  Donau,  sondern  vielmehr  südlich  eingedrückt, 
entlang  des  Kammes  der  Kärntner  Alpen  zur  Drau  hinübergelaufen  sein,  wodurch 
also  immer  noch  der  südliche  Teil  der  alten  römischen  Provinz  Norikum  von 
ihr  eingeschlossen  werden  konnte. 

Eine  Beschreibung  dieser  Nordgrenze  des  Ostgotenreiches  würde  sich  aber 
kaum  der  Mühe  verlohnt  haben,  wenn  wir  nicht  der  allgemeinen  wichtigen  Tat- 
sache aus  Theodorichs  Regierung  ganz  sicher  wären,  daß  jene  nördliche  Grenze 
seines  Reiches  für  Theodorich  nicht  etwa  wie  bei  den  anderen  damals  entstan- 
denen germanischen  Reichen  nur  einen  geographischen  und  politischen  Begriff 
bildete,  sondern  daß  dieselbe  auch  durch  eine  systematisch  gelegte  Schnur  von 
kleinen  und  größeren  Garnisonen  als  ein  lebendiger  militärischer  Organismus 
wirklich  in  das  Leben  getreten  ist.  Auch  in  dieser  Beziehung  knüpfte  also  Theodo- 
rich unmittelbar  an  das  Verfahren  an  wie  es  unter  den  Römern  bei  der  Grenz- 
bewachung geübt  worden  war.  Die  Tatsache,  daß  zur  Zeit  des  Ostgotenreiches 
überall  in  den  Alpen  „an  den  Pforten  und  Engpässen"  Abteilungen  gotischer 
Truppen  mit  Weib  und  Kind  unter  militärischen  Befehlshabern  die  alten  römi- 
schen Kastelle  bewohnten  und  hier  die  Grenzwacht  besorgten,  ist  an  sich  un- 
umstößlich aus  Kassiodor  und  Prokop'")  ersichtlich,  und  es  ist  daher  auch  kein 
Wunder,  daß  von  je  her  das  Bestreben  vorhanden  gewesen  ist,  nun  auch  im 
einzelnen  an  den  wichtigen  an  den  Alpenstraßen  gelegenen  Punkten  die  Spuren 
jener  ostgotischen  Grenzwächter  wiederzufinden.  Wir  müssen  aber  von  Anfang 
an  hervorheben,  daß  es  bis  jetzt  noch  niemals  gelungen  ist,  auch  nur  einen  ein- 
zigen Ort  in  den  Alpen  (ausgenommen  Trient)  als  Sitz  einer  solchen  alten  Goten- 
besatzung einwandfrei  sicherzustellen  und  daß  dieses  Bestreben  wahrscheinlich 
auch  weiterhin  erfolglos  bleiben  wird,  so  reizvoll  es  für  die  Phantasie  auch  sein 
könnte,  hier  auf  irgend  einem  wissenschaftlichen  Wege  einmal  zu  einem  sicheren 
Resultat  zu  gelangen. 

Folgen  wir  wie  vorher  bei  der  Betrachtung  der  Nordgrenze  des  Ostgoten- 
reiches nun  auch  bei  der  Aufzählung  der  Nachrichten  über  die  ostgotischen  Be- 
satzungen in  den  Alpen  der  Reihenfolge  von  Westen  nach  Osten,  so  stoßen  wir 


Die  Alpenländer  unter  Theodorich  dem  Großen.  199 

zunächst  für  das  Gebiet  der  Westalpen  auf  jene  wichtige  Stelle  bei  Prokop  (II,  28), 
nach  der  „in  den  Alpen,  die  Gallien  von  Ligurien  trennen  und  die  bei  den  Rö- 
mern die  Kottischen  hießen,  viele  Goten  in  zahlreichen  Burgen  seit  langer  Zeit 
die  Grenzwacht  besorgten".  Diese  Nachricht  stellt  also  wohl  überhaupt  die  Tat- 
sache der  militärischen  Bewachung  der  Alpen  durch  die  Goten  in  das  hellste 
Licht,  wie  sie  auch  im  besonderen  die  Linie  der  Kottischen  Alpen,  zu  der  wir 
hier  ruhig  auch  noch  den  Kamm  der  Grajischen  Alpen  mit  den  Sankt  Bernhard 
Übergängen  hinzurechnen  können,  als  ein  derartiges  Besatzungsgebiet  genau  fest- 
legt; im  einzelnen  gibt  sie  aber  auch  nicht  den  geringsten  Anhalt  von  der  mili- 
tärischen Bewachung  irgendeines  der  dortigen  Alpenübergänge  oder  irgendwelcher 
bestimmter  Alpenfestungen.  Wahrscheinlich  aber  auch  nicht  zweifelsfrei  ist  eine 
spezielle  Nachricht  über  die  Bewachung  eines  der  Sankt  Bernhard -Pässe,  in- 
sofern Kassiodor  einmal  von  den  sechzig  Mann  gotischer  Truppen  redet,  die  in 
den  „clausuris  Augustanis"  stationiert  sind.  Auch  diese  Kunde  ist  zunächst  für 
das  allgemeine  Verfahren  der  gotischen  Grenzwacht  förderlicher  als  für  die  Orts- 
bestimmung im  einzelnen.  Den  Militär  mag  es  interessieren,  daß  jene  Anzahl 
der  Besatzung  sich  ungefähr  in  denselben  Grenzen  bewegt,  wie  sie  auch  heute 
noch  für  ein  Gebirgsfort  mittlerer  Größe  notwendig  ist,  und  daß  an  einer  anderen 
Stelle  dem  in  Rätien  kommandierenden  Befehlshaber  auch  ein  regelrechtes  Ab- 
patrouillieren der  Grenzen  anbefohlen  wird.  Die  Örtlichkeit  selbst  ist  aber  auch 
hier  nicht  unbestritten,  da  für  diese  clausurae  Augustanae  nicht  nur  der  Engpaß 
von  Aosta,  sondern  u.  a.  besonders  auch  die  Fernlinie  (bei  Füssen)  in  Anspruch 
genommen  worden  ist. 

Am  klarsten  offenbart  sich  unserem  Auge  jener  Organismus  der  gotischen 
militärischen  Grenzwacht  jedoch  erst  weiter  östlich  entlang  der  Brennerstraße. 
Dieses  findet  aber  ohne  weiteres  dadurch  seine  Erklärung,  weil  der  eigentliche 
Mittelpunkt  des  Ostgotenreiches  nicht  mehr  in  Rom  sondern  ganz  ausgesprochen 
in  Ravenna  lag,  und  die  nördlich  auf  die  Mittelzone  dieses  Gebietes  herein- 
führende Brennerstraße  auf  diese  Weise  erhöhte  Wichtigkeit  erlangen  mußte. 
In  den  Bereich  jener  Straße  führt  uns  nun  die  bekannte  Instruktion  Kassiodors 
für  den  Befehlshaber  beider  Rätien,  Servatus,  die  unter  Anwendung  des  uralten 
militärischen  Mittels,  der  Anstachelung  des  Ehrgefühls,  jenem  die  Sicherung 
dieser  Grenzprovinzen  als  eine  besonders  ehrenvolle  Aufgabe  hinstellt,  und  auch 
noch  eine  zweite  Verfügung  Kassiodors,  durch  die  er  dem  Befehlshaber  Rätiens 
die  Schadlosstellung  eines  Händlers,  der  im  eigentlichen  Brennergebiet  beraubt 
worden  war,  anbefiehlt.  Auf  der  Brennerstraße  finden  wir  nun  auch  die  einzigen 
Punkte,  wo  die  militärische  Festsetzung  der  Ostgoten  über  allen  Zweifel  erhaben 
ist.  Es  ist  dies  zunächst  aber  nicht  der  in  dieser  Beziehung  viel  genannte  eigent- 
liche Brennerort  Gossensass,  dessen  Name  vielmehr  als  der  Sitz  eines  Gottfried 
zu  erklären  ist,  sondern  es  sind  dies  Verona  und  Trient. 

Mit    Verona,    dem    südlichen    Ausgangspunkte    der    Brennerstraße,    ist    der 


200  XI.  Kapitel. 

Name  Theodorichs  so  eng  verknüpft  wie  mit  tceiner  anderen  Stadt  seines  Reiches. 
Hier  erhob  sich,  schon  mehr  nach  mittelalterlicher  Art  nicht  innerhalb  der  Stadt- 
mauern, sondern  oben  auf  dem  alten  römischen  Kastell  seine  Königsburg,  das 
heutige  Kastell  San  Pietro,  während  unterhalb  desselben  am  Abhang  des  Berges 
beim  Eingang  in  die  Stadt  die  heutige  Kirche  S.  Stefano  als  Hofkirche  diente. 
Von  hier  aus  zogen  dann  die  gotischen  Befehlshaber,  die  über  das  Gebiet  des 
lacus  Benacus  gesetzt  waren,  auf  dem  kürzesten  Wege  nach  dem  Gestade  des 
Sees,  nach  Garden  hinüber,  und  so  hat  gerade  hier  die  Ostgotenzeit  ihre 
bleibenden  Spuren  hinterlassen,  indem  diese  große  weite  Seefläche  auch  heute 
noch  von  dem  jetzt  abseits  liegenden  Orte  ihren  Namen  führt,  von  dem  aus 
einst  die  gotischen  Befehlshaber  regiert  haben.  Gerade  die  ganze  jenem  Grenz- 
schutz nach  Norden  zu  Grunde  liegende  Absicht,  auf  die,  wie  wir  gesehen  haben, 
Theodorich  so  besonderen  Wert  legte,  macht  nun  auch  die  Neubefestigung 
Veronas,  jener  nördlichen  und  östlichen  Festung  Italiens,  unter  ihm  ganz  erklärlich. 
Diese  wurde  in  der  Hauptsache  dadurch  in  das  Werk  gesetzt,  daß  an  der  süd- 
westlichen Seite  der  Stadt,  wo  diese  nicht  durch  die  Etsch  geschützt  ist,  die 
Herstellung  eines  Grabens  vorgesehen  wurde,  und  durch  die  Anfüllung  jenes 
Grabens  mit  Flußwasser  konnte  daher  die  Halbinsel,  auf  der  der  eigentliche 
Stadtkomplex  Veronas  gelegen  war,  vollständig  in  eine  Insel  verwandelt  werden. 
Dieser  ganze  Befestigungsapparat  ist  dann  auch  wirklich  im  Jahre  552  nach  Ch. 
einmal  in  Wirksamkeit  getreten,  als  die  in  und  südlich  Verona  stehenden  Ost- 
goten unter  Teja  hier  das  Anlaufen  des  byzantinischen  Heeres  unter  Narses  von 
Osten  her  erwarteten,  während  dieser  aber  mit  besonderem  Geschick  dicht  ent- 
lang der  Küste  des  adriatischen  Meeres  sich  an  jener  Stellung  vorbeischnürte 
und  so  den  Feinden  die  Gelegenheit  verdarb,  aus  jener  sicheren  Position  gegen 
ihn  vorzubrechen. 

Gleich  sichere  Zeugnisse  von  der  Art  der  ostgotischen  Grenzbewachung 
haben  wir  auch  in  Trient.  Die  Erbauung  der  dortigen  Stadtmauern,  deren 
gewaltige  ungefügen  Reste  noch  heute  ihr  hohes  Alter  verraten,  wird  auf  Theo- 
dorich zurückgeführt.  Ganz  bestimmt  wissen  wir  aber,  daß  der  gotische  Befehls- 
haber Rätiens  auf  der  von  der  Natur  zur  Zitadelle  Trients  geschaffenen  Höhe, 
dem  Dos  Trento,  seinen  Wohnsitz  gehabt  hat  und  jenes  Kastell  Verucca  wird 
damals  als  die  idealste  Festung  der  Welt  gepriesen.  Können  wir  somit  auf  dem 
südlichen  Abstieg  der  Brennerlinie  die  Grenzverteidigung  Theodorichs  in  allen 
ihren  Einzelheiten  beobachten,  so  kann  doch  gerade  der  Umstand,  daß  jene 
Grenzverteidigung  südlich  so  weit  einwärts  gerückt  ist,  es  zweifelhaft  machen, 
ob  auch  der  nördliche  Teil  der  Alpen  auf  dieser  Seite  damals  wirklich  zahlreich 
mit  gotischen  Besatzungen  versehen  gewesen  ist.  Wenn  auch  der  Machtbereich 
Theodorichs  sich  tatsächlich  bis  an  den  Nordrand  der  Berge  erstreckt  haben 
mag,  so  muß  es  doch  auffallen,  daß  das  so  weit  südlich  liegende  Trient  direkt 
als  eine  Grenzfestung  gegen  die  wilden  Völker  namhaft  gemacht  wird   und    daß 


Die  Alpenländer  unter  Theodorich  dem  Großen.  201 

auch  die  Sicherheit  auf  der  Brennerhöhe  selbst  nicht  einwandfrei  ist.  Als  ein 
weiteres  Moment  dieser  Art  tritt  auch  hinzu,  daß  bereits  zu  den  Zeiten  Theodorichs 
der  Name  des  alten  Veldidena  sich  in  jenes  unergründliche  geschichtliche  Dunkel 
zurückgezogen  hat,  aus  dem  jener  Ort  dann  erst  ein  halbes  Jahrtausend  später 
wieder  heraustritt. 

Wir  wissen,  daß  diese  ostgotischen  Besatzungen  sich  auch  weiterhin  an  der 
Nordostseite  Italiens  fortgesetzt  haben;  denn  noch  zur  Zeit  des  Gotenkrieges 
redet  Prokop  in  ähnlicher  Weise  wie  von  den  gotischen  Besatzungen  auf  dem 
Westflügel  der  Alpen  von  denjenigen  in  Venetien.  So  übergaben  sich  im  Jahre 
539  nach  Ch.  nach  der  Eroberung  von  Ravenna  durch  Belisar  „die  Besatzungen 
von  Tarvisium  und  der  anderen  stärksten  Burgen  Venetiens"  freiwillig  den  Ost- 
römern, und  auch  noch  ein  zweites  Mal,  bei  den  Ereignissen  des  Jahres  551, 
redet  Prokop  „von  denjenigen  festen  Plätzen  Venetiens,  die  damals  noch  den 
Goten  verblieben."  Am  östlichen  Ende  der  Alpen  begegnen  wir  dem  Namen 
Theodorichs  noch  in  der  Lokaltradition  Monfalcones,  dessen  Schloß  von  jenem 
erbaut  worden  sein  soll.  Diese  Annahme  hat  auch  insofern  einiges  für  sich,  als 
jener  Ort  an  der  direkten  Straße  nach  Istrien  und  Dalmatien  gelegen  ist, 
Provinzen,  auf  deren  Besitz  gerade  Theodorich  immer  besonderen  Wert  gelegt 
hatte.  Aquileja  lag  damals  bereits  in  Trümmern,  und  der  Punkt,  an  dem  Mon- 
falcone  liegt,  kann  daher  in  jener  Zeit  sehr  gut  die  Bestimmung  jener  Stadt  nach 
dieser  Richtung  hin  übernommen  haben.  Auch  die  Ansicht,  daß  die  Karnburg 
bei  Klagenfurth,  die  später  die  Zitadelle  des  ganzen  Landes  Kärnten  abgeben 
sollte,  als  große  Grenzfestung  bereits  von  Theodorich  erbaut  worden  sein  soll,  hat 
neueraings  ihren  Vertreter  gefunden^-),  während  die  Ableitung  des  Namens  des 
alten  Dorfes  Goisern  im  Salzkammergut  von  den  Goten  wohl  nichts  anderes  als 
eine  historische  Spielerei  bedeutet. 

Dieser  ganze  Verteidigungsapparat  Theodorichs,  der  für  die  Geschichte  nur 
in  seiner  Gesamtheit,  für  den  militärischen  Standpunkt  jedoch  auch  in  allen 
seinen  Einzelheiten  Wichtigkeit  hat,  ist  aber  ebenso  wie  das  ganze  Reich  der 
Ostgoten  wenige  Zeit  nach  dem  Tode  dieses  Königs  vom  Erdboden  verschwunden, 
ohne  irgendwelche  nennenswerte  Spuren  zu  hinterlassen.  Erst  den  Langobarden, 
als  den  letzten  in  der  Reihe  der  vielen  fremden  Völker,  die  in  Italien  wirklich 
Fuß  faßten,  blieb  es  vorbehalten,  am  Südfuße  der  Alpen  Bleibendes  zu  schaffen, 
während  jenseits  des  Gebirges  nördlich  der  West-  und  Zentralalpen  diese  Be- 
stimmung folgerichtig  dem  Reiche  der  Franken  und  weiter  östlich  den  Bajuwaren 
zufiel.  Die  Aufteilung  des  Erbes  Theodorichs  im  Bereich  der  Alpenländer  hält 
gleichen  Schritt  mit  der  Zertrümmerung  des  Ostgotenreiches  auf  dem  Boden 
Italiens  selbst  durch  die  Generäle  Justinians.  In  jenen  Zeiten  fielen  die  vormals 
von  den  Ostgoten  besetzten  Alpengebiete  eines  nach  dem  anderen  an  die  Franken, 
so  im  Jahre  536  nach  Ch.  dem  Namen  nach  ganz  Rätien,  dann  im  Verlaufe  der 


202  ^^-  Kapitel. 

Jahre  548  bis  551  das  Gebiet  der  kottischen  Alpen  bis  herab  in  die  ligurische 
Ebene  und  der  Hauptteil  Venetiens.  Zu  gleicher  Zeit  wurden  auch  die  östlichen 
Vorländer  Italiens  von  den  Gepiden  und  Langobarden  besetzt,  deren  Raub-  und 
Plünderungszüge  dann  unter  der  antiken  Bevölkerung  in  Istrien  und  Illyrien  so 
aufräumten,  daß  durch  dieselben  die  Kulturbrücke  zerstört  wurde,  die  einst  das 
römische  Kaiserreich  auf  dem  Festlande  von  Venetien  aus  nach  Byzanz  herüber- 
gezogen hatte.  Die  Art  und  Weise  jenes  Zerfalles  entspricht  im  wesentlichen 
durchaus  den  Machtverhältnissen,  wie  sie  durch  die  damalige  Gruppierung  der 
nördlichen  Völker  gegeben  war.  Auffallend  an  ihr  ist  nur  das  weite  Hinüber- 
greifen der  Franken  nach  Osten  bis  nach  Venetien  —  ein  Vorgang,  mit  dem  wir 
uns  aber  abfinden  müssen,  weil  Prokop  denselben  nicht  nur  ein,  sondern  mehrere 
Male  ausdrücklich  hervorhebt  —  und  im  entgegengesetzten  Sinne  die  Tatsache, 
daß  damals  von  einem  Auftreten  der  Markomannen  oder  Bajuwaren  im  Norden 
Tirols  noch  nicht  das  geringste  verlautet. 

Alle  jene  Verschiebungen  mögen  aber  damals,  wenigstens  für  das  eigentliche 
Gebirgsland  der  Alpen,  zunächst  nichts  weniger  als  einschneidende  Folgen  gehabt 
haben,  sondern  abgesehen  vielleicht  von  dem  Gebiet  der  Westalpen,  nur  der 
Ausdruck  einer  landläufigen  Vorstellung  gewesen  sein,  wie  weit  der  Einfluß  des 
einen  oder  des  anderen  Germanenkönigs  nunmehr  zu  ziehen  sei.  Trotzdem 
birgt  aber  erst  das  Ende  des  Ostgotenreiches  tatsächlich  den  Zeitpunkt  in  sich, 
der  in  der  Geschichte  der  Alpenländer  das  Altertum  von  dem  Mittelalter  trennt. 
Bis  zu  dieser  Zeit  hatte  das  Südland  Italien  den  Anspruch  unentwegt  aufrecht 
erhalten  können,  allein  in  den  Alpenbergen  zu  herrschen,  während  nunmehr  alles 
politische  und  wirtschaftliche  Leben  mit  einer  ihm  eigenen  Schwere  und  Ermattung 
sich  nach  den  Ebenen  nördlich  und  südlich  der  Alpen  zurückzog.  Jetzt  lag 
wiederum  das  Alpengebirge  selbst  nur  als  ein  hoher  Wall  zwischen  zwei  Welten, 
die  beide  einander  fast  fremd  und  deshalb  zunächst  auch  damit  zufrieden  waren, 
wenn  dieses  hohe  Gebirge  als  wirksamer,  trennender  Schutz  ihres  Machtgebietes 
nach  Norden  oder  Süden  diente.  Die  Nordgrenze  Italiens  während  der  Lango- 
bardenzeit liefert  ihrem  Aussehen  und  Werte  nach  jetzt  wieder  dasselbe  Bild, 
wie  es  schon  einmal  die  letzten  Zeiten  der  römischen  Republik  hier  gezeigt 
hatten;  denn  die  langobardischen  Herrscher  dachten  niemals  an  eine  wirkliche 
Ausbreitung  ihrer  Herrschaft  nördlich  in  die  Berge  hinein  und  waren  froh,  wenn 
die  von  ihnen  vorsorglich  an  dem  südlichen  Austritt  der  Alpenstraßen  angelegten 
Sperren  den  Grenzschutz  besorgten.  Aber  auch  die  Völker  und  Reiche  nördlich 
der  Alpen  mußten  damals  noch  Jahrhunderte  lang  hindurch  sich  konsolidieren 
und  Kräfte  sammeln,  ehe  sie  erfolgreich  in  die  Alpen  hinein  und  südlich  über 
dieselben  herüber  werbend  auftreten  konnten.  Die  auf  dem  Zerfall  des  Ost- 
gotenreiches folgenden  Jahrhunderte  sind  die  Zeit  gewesen,  in  der  wie  fast  überall 
in  Europa,  so  auch  in    den   Alpen   die   Bildung  der   heutigen    modernen  Völker 


Die  Alpenländer  unter  Theodorich  dem  Großen.  203 

Europas  vor  sich  ging,  und  die  ersten  Zeichen  des  Lebens,  denen  wir  jetzt 
wieder  in  den  Aipeniändern  begegnen,  leiten  sich  daher  lediglich  von  der  Eigen- 
schaft der  Vollmer  als  einer  Zusammensetzung  einzelner  Lebewesen  her,  die  sich 
vermehren  und  ausbreiten  und  auf  diese  Weise  auf  den  Bereich  der  Nachbar- 
völker auftreffen.  Erst  dieser  Bewegung  ist  dann  der  Eroberer,  der  mit  dem 
Schwerte  oder  der  Herrscher,  der  mit  dem   Pergament   Ordnung  schuf,   gefolgt. 


Anmerkungen. 


')  Aus  Steub:  Drei  Sommer  in  Tirol. 

2)  Sybel:  Geschichte  der  französischen   Revolution  V.  S.  322. 

3)  Prager  Studien,  Wanka  von  Rodlow:  Der  Verkehr  über  den  Paß  von  Pontebba  pp.    Kap.  I  S.  5. 
•*)  Leichter  ist  es  allerdings,  die  Ableitung  des  Ursprungs  der  7  und   13  Kommuni  von  den 

Cimbern  in  Zweifel  zu  ziehen  oder  wegzudeuten  als  sie  zu  beweisen.  Wenn  aber  überhaupt  die 
Cimbern  bei  ihren  Zügen  an  irgend  einem  Punkte  Gelegenheit  gefunden  haben  könnten,  festen 
Fuß  zu  fassen,  so  wäre  es  allein  hier,  in  der  Nähe  der  Etsch  gewesen,  wo'  sie  nach  dem  Abzug 
des  Katulus  einen  ganzen  Winter  hindurch  sitzen  blieben.  Bei  dieser  Frage  dreht  sich  alles 
darum,  den  heute  noch  lebenden  Namen  „Cimbern"  anderweit  genügend  erklären  zu  können,  wo- 
bei aber  davon  ausgegangen  werden  muß,  daß  jener  Name  für  die  deutschen  Gemeinden  nördlich 
Vicenza  schon  lange  vor  dem  Jahre  1400  gebräuchlich  war  (Schneller:  Deutsche  und  Romanen  in 
Südtirol,  Petermanns  Mitteilungen  1877  S.  374),  eine  Tatsache,  die  zunächst  schon  diese  uns  jetzt 
etwas  weit  hergeholt  scheinende  Tradition  ohne  weiteres  um  mehr  als  ein  halbes  Jahrtausend 
jünger  und  somit  auch  den  Kern  der  Wahrheit,  der  in  dieser  Tradition  enthalten  sein  könnte, 
um  einiges  beachtenswerter  macht.  Zum  vollständigen  Beweis  gehört  jedenfalls  außerdem,  daß 
jene  Bezeichnung  dann  nicht  bloß  an  dieser  Stelle  sondern  ebenso  auch  bei  dem  Namen  Val  di  Cembra 
bei  Trient  (in  der  Nähe  von  Castelfeder)  anderweit  genügend  erklärt  wird.  Derjenige,  der  zwischen 
Vicenza  und  Fonzaso  scharf  aufpaßt,  täuscht  sich  aber  nicht,  wenn  er  bei  der  dortigen  Landbe- 
völkerung vereinzelt  Gestalten  zu  begegnen  glaubt,  die  wirklich  den  antiken,  Germanen  darstellenden 
Skulpturen  auffallend  gleichen. 

5)  Galtür  im  Patznaun  gehörte  kirchlich  ursprünglich  zu  Ardetz  im  Unterengadin,  Vent  im 
Ötztal  zu  Kastellbell  im  Vintschgau,  rätische  Dörfer  im  Lechtale  zu  Landeck  und  Imst  im  Inntal. 

6)  In  Westrätien  Castelberg,  Gaste,  Castels,  in  Osträtien  Castellbell,  Castel  Tesino,  Castello. 
Römerspuren  weisen  auf:  Castelmur,  Tiefenkasten,  Castellatsch,  Castelfranchin,  Castelfeder,  Kastel- 
ruth, Castelbarco,  Castel  Toblino,  Castel  Lavazzo. 

7)  Hermes  XV  S.  393. 

8)  Im  Gebiet  des  alten  Rätiens  findet  sich  zahlreich  verbreitet  eine  Klasse  ganz  eigentüm- 
lich anklingender  Ortsnamen,  wie  sie  derart  charakteristisch  nirgends  anderswo  vorhanden  sind. 
Es  sind  dies  die  mit  Juv  und  Jui  anlautenden  Namen  (Jufinger  Höhe  bei  Kufstein,  Juifen-Berg  am 
Achensee,  Juvavum-Salzburg,  Jufen-AIpe  bei  Kitzbühel,  Junsberg  und  Junsjoch  im  Hinter-Dux  im 
Zillertal,  Juifenau  bei  Praxmar  im  Sellrain,  Jauffen-Paß,  Burg  Juval  im  Vintschgau,  Alpe  Juribell 
bei  Paneveggio,  Burg  Juvalta  bei  Rhazüns,  Juf  bei  Andeer  am  Splügen,  —  außerhalb  der  Zone, 
die  für  die  Räter  als  geschlossene  Masse   in  Anspruch   genommen   wird:  Jauken   bei   Ober-Drau- 


Anmerkungen.  205 

bürg,  Mont  Jovet  bei  Aosta).  Der  Stamm  dieser  Wörter  muß  danach  spezifisch  rätisch  sein  und 
würde  deshalb  durch  eine  ganz  einwandfreie  Zuweisung  dieses  Stammes  an  eine  bestimmte,  mög- 
lichst beschränkte  Sprachenfamilie  auch  zugleich  die  Frage  nach  der  Nationalität  der  Räter  ihrer 
Lösung  so  nahe  wie  nur  möglich  gerückt  sein.  Es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  die  größere  Wahr- 
scheinlichkeit dafür  spricht,  diesen  Woristamm  auch  in  den  indogermanischen  Sprachen  unter- 
bringen zu  können  (Juppiter,  xtqiah;).  Für  unseren  Zweck  mag  aber  hier  nur  angeführt  werden, 
daß  es  auch  im  Semitischen  einen  gleichen  Sprachstamm  giebt  (Juval). 

ä)  Aus  Willkomm:  Zwei  Jahre  in  Spanien  und  Portugal. 

"*)  Aus  Franz  von  Löber:  Cypern. 

")  Die  „Dörcher"  bei  Landeck.  Nach  Steub  zieht  in  Tirol  im  Sommer  der  Adel  auf  die 
Schlösser,  der  Städter  in  seine  Sommerfrische  oder  ins  Badl,  die  kleinen  Leute  auf  die  Alm  oder 
zur  Wallfahrt. 

'-)  Wanka  von  Rodlow :  Die  Brennerstraße  im  Altertum  und  Mittelalter  (Prager  Studien) 
macht  hiervon  eine  Ausnahme. 

•3)  Rätisch  anklingende  Ortsnamen  im  Oberwallis  sind  u.a.:  Naters,  Tschampgen,  Eignet, 
Safnischmatten. 

'■•)  Dieser  Namenskreis  läßt  sich  noch  erweitern:  Kottische  Alpen  (auf  die  Organisation 
des  Augustus  zurückzuführen),  Col  de  Fr^jus,  Forum  Julii  an  der  Corniche,  Julium  Carnicum 
(Zuglio),  von  Augustus  oder  Cäsar  gegründet,  Julia  Emona  =  Laibach;  das  Gailtal,  noch  567  nach 
Ch.  vallis  Julia,  heißt  auf  italienisch  heute  noch  Valle  Gilia. 

'^)  Caesar  Bell.  Gallicum  Liber  VII  cap  73. 

'6)  Caesar  Bell.  Gallicum  Liber  VI  cap  1. 

'')  Caesar  Bell.  Gallicum  Liber  I  cap  10. 

'^  F.  Keller,  Römische  Ansiedelungen  in  der  Ostschweiz,  Zürich,  Mitteilungen  der  antiqua- 
rischen Gesellschaft  XV. 

'9)  Tarvessede  =  Ort,  wo  man  die  Tiere  vor  den  Wagen  spannen  darf.  Denselben  Sinn  birgt 
Eporedeia  (am  Sankt  Bernhard)  und  Tarvis? 

20)  F.  Berger,  die  Septimerstraße,  Jahrbuch  für  Schweizerische  Geschichte  XV,  1890. 

2')  „Das  erste  Drittel  des  Weges  zwischen  Ivrea  und  Verres  bezeichnet  der  Ort  Settimo, 
durch  seinen  Namen  an  den  siebenten  römischen  Meilenstein  erinnernd"  (Oehlmann,  die  Alpen- 
pässe im  Mittelalter,  Jahrbuch  für  Schweizerische  Geschichte  III  und  IV,  1878  und   1879  Seite  235). 

Als  Ortsnamen  in  den  Alpen,  in  denen  Zahlen-  bezl.  Entfernungsbezeichnungen  aus  dem 
lateinischen  Sprachstamm  enthalten  sind,  können  angeführt  werden:  An  der  ligurischen  Küsten- 
straße: Quinto,  Quarto,  Ventimiglia.  Dann  Mont  Cenis  =  Mons  Geminus;  Octodurus;  Quinten 
u.a.  m.  am  Walensee;  Quinto,  Decimo  bei  Airolo;  Trafoi,  Gomagoi;  Trisanna;  Trient,  Sexten;  Tiers 
bei  Bozen,  Trins  im  Gschnitztal;  Medratz  im  Stubai ;  Quintana  (Künzen  bei  Pleiting);  Nonnberg 
und  Dorf  Non  bei  Salzburg;  Primiero;  Tricesimo  bei  Udine;  Trenta  in  Kärnten;  Primau  im  Achen- 
tal ;  Trafus  in  Steiermark.  Auch  hier  gilt  die  Beobachtung,  daß  derartige  Ortsnamen  in  den  Ost- 
alpen infolge  der  slavischen  Invasion  am  seltensten  zu  finden  sind.  Ob  alle  die  hier  angeführten 
Namen  freilich  schon  römische  Besiedlung  beweisen  oder  zum  Teil  auch  nur  eine  solche  von 
ursprünglich  romanischen  Bewohnern  mag  dahingestellt  bleiben. 

^  Diejenigen  Ortsnamen,  die  heute  mit  den  Zusätzen  Straß  (Strada),  Gasse,  Heid  (oder 
Haid),  Stein,  Goetz,  Alten  und  Römer  versehen  sind,  lassen  zwar  nicht  mit  Sicherheit  aber  doch 
mit  größter  Wahrscheinlichkeit  darauf  schließen,  daß  an  ihnen  vorbei  schon  in  römischer 
Zeit  ein  Verkehr  stattgefunden  hat,  ebenso  wie  die  jetzt  mit  den  Namen  Reiter-,  Hoch-  und  Ochsen- 
Straße  bezeichneten  Wege  oft  Teile  alter  römischer  Straßenzüge  gewesen  sind.  Die  in  den  Alpen 
an  manchen  Punkten  vorkommende  Sage,  daß  dort  eine  Stadt  begraben  sei,  deutet  zumeist  darauf 
hin,  daß  dieser  Ort  in  römischer  Zeit  bewohnt  gewesen  ist.  Alles  dieses  aber  ist  bezeichnend  für 
die  Größe  des  Zerstörungswerkes  der  Völkerwanderung,  nach  der  das  Mittelalter  mit  aller  Kultur 


206  Anmerkungen. 

wieder  neu  anfangen  mußte  und  den  Resten,  die  aus  dem  Altertum  noch  geblieben  waren,  gegen- 
über das  Gefühl  hatte,  als  ob  diese  aus  einer  ganz  anderen  Welt  stammen  müßten. 

23)  Auch  der  Pfeiler  der  heutigen  Sillbrücke  in  Matrei  scheint  noch  Römerwerk  zu  sein ; 
er  gleicht  in  seinem  Aussehen  vollständig  den  römischen  Pfeilern  der  Moselbrücke  bei  Trier. 

-■*)  Besonders  bezeichnend  ist  der  rätoromanische  Ortsname  Muntigl  in  der  Umgebung  Salz- 
burgs.   Vgl.  Monthgen  bei  Bregenz  und  Montigl  bei  Bozen. 

25)  Wanka  von  Rodlow:  Der  Verkehr  über  den  Paß  von  Pontebba-Pontafel  und  den  Predil. 
(Prager  Studien)  S.  32.  —  Über  die  Verschiedenheit  in  den  Ansichten  über  den  Gang  und  die 
Stationen  dieser  Straße  vgl.  Kohn,  die  römische  Heerstraße  von  Virunum  nach  Ovilava.  Sitzungs- 
berichte der  Wiener  Akademie,  philos.-histor.  Klasse  S.  382,  und  über  die  älteste  Ansicht:  Oehl- 
mann,  die  Alpenpässe  im  Mittelalter  S.  267. 

26)  Prosper:  clausuris  quidem  Alpibus  —  Aretinus:  Alpes  difficillimos  aditus  habent  — 
Ammianus  Marcellinus:  perruptis  angustiis  Alpium  und  claustra  sunt  patefacta  Alpium  —  Zosimus: 
superatis  angustiis —  Sozomen:  Italiae  portae=Juliae  Alpes  —  Vor  allem  aber  Cassiodor:  Raetiae 
munimina  sunt  Italiae  claustra. 

27)  Venatius  Fortunatus.     Vita  S.  Martini  V.  649  fgd. 

28)  u.  a.  Graf  Waldersdorff :  Regensburg  in  seiner  Vergangenheit  und  Gegenwart;  Bechmann 
die  Einwanderung  der  Bayern,  Wien,  Sitzungsberichte  91.  Band. 

29)  Mitteilungen  des  Altertums-Vereins  zu  Kempten. 

30)  Jaeger,  Geschichte  von  Augsburg  1862. 

3')  A.  Hueber,  Geschichte  der  Einführung  und  Verbreitung  des  Christentums  in  Südost- 
deutschland. 

32)  Wanka  von  Rodlow  vgl.  Anm.  25,  Seite  17  fgd. 

33)  Kaemmel,  Salzburg  und  die  Tauernpässe,  Grenzboten  64.  Jahrgang  No.  43. 

34)  Nissen,  Italienische  Landeskunde,  vgl.  Zuglio. 

35)  A.  B.  Meyer,  Gurina  im  Obergailtal,  Dresden  1886. 

36)  Keller,  Römische  Ansiedelungen  in  der  Nordschweiz  vgl.  Anm.  18,  Pfäffikon. 

3')  Meyer:  Die  römischen  Alpenstraßen  in  der  Schweiz.  Zürich,  Mitteilungen  der  antiqua- 
rischen Gesellschaft  No.  XIII. 

38)  Vgl.  E.  Böcking:  Notitia  Dignitatum  in  partibus  Occidentis  CXXXIV. 

39)  Daniel,  Deutschland  pp.  2.  Auflage  II.  Band  S.  963. 
■lO)  Prokop  Gotenkrieg  I,  I. 

41)  Cassiodor  Variae  II  cp.  5,  Prokop  Gotenkrieg  II,  28. 

■'2)  Hauser:  Die  Karnburg  pp.  Mitteilungen  der  Central-Kommission  Wien  1890. 


Verkehrsgeschichte  der  Alpen 


II.  Band 


Das  Mittelalter 


von 


P.  H.  Scheffel 


Berlin  1914 
Dietrich  Reimer  (Ernst  Vohsen) 


VI  Inhalt. 

Viertes  Buch. 
Die  Alpenstraßen  des  Mittelalters. 

I.  Kapitel.  Seite 
Die  Straßen  der  Westalpen .167 

II.  Kapitel. 

Der  Gr.  S.  Bernhard 179 

III.  Kapitel. 

Das  Mittelalter  am  S.  Gotthard , 185 

IV.  Kapitel. 

Die  Straßen  Graubündens 194 

V.  Kapitel. 
Vom  Arlberg  zum  Brenner 214 

VI.  Kapitel. 

Der  Brenner  und  seine  Nebenwege       226 

VII.  Kapitel. 

Vom  Pustertal  bis  zur  Birnbaumer  Straße 261 

VIII.  Kapitel. 

Die  Salzburger  Machtsphäre 273 

IX.  Kapitel. 
Das  Ennstal  und  das  Murtal  bis  zum  Semmering       279 


Anhänge 287 


Abkürzungen  und  Erklärungen. 


A.         ^  Anmerkung. 

J- 

=  Jahr. 

Anh.    =  Anhang. 

K. 

=  Kapitel. 

Au.       =  Auflage. 

Kl. 

=  Klein. 

B.         =  Band. 

L. 

=  Leipzig. 

Bch.     =  Buch. 

N. 

=  Nummer. 

Beil.    =  Beilage. 

S. 

=  Sankt  pp. 

bzl.      =  bezüglich. 

S. 

=  Seite. 

f.          =  folgende. 

T. 

=  Teil. 

G.  Pr.  =  Gymnasial-Programm. 

u. 

=  und. 

Gr.       =  Groß. 

Vgl. 

=  Vergleiche, 

h.         =  heilig 

Ab.  =  Abel,  Jahrbücher  des  fränkischen  Reiches,  1.  B.,  2  Au.  L.  1888. 

A.  L.  =  Die  Chronik  Arnolds  von  Lübeck,  2.  Au.  L.  Dyk. 

Alt.  =  Die  Werke  des  Abtes  Hermann  von  Altaich,  2.  Au.  L.  Dyk. 

Atz.  =  Atz  u.  Schatz,  der  deutsche  Anteil  des  Bistums  Trient,  Dekanat  Bozen,  Bozen  1903. 

B.  W.  =  Beda  Weber,  Das  Tal  Passeier,  2.  Au.  Meran  1902. 

Ber.  =  Berger,  Die  Septimer-Straße,  Jahrbuch  für  Schweizerische  Geschichte,   15.  B.  1890. 

Eg.  =  Egger,  Die  Barbareneinßlle  in  die  Provinz  Rätien.     Wien   1901. 

Ei.  =  Einhard,  Leben  Karls  des  Gr. 

Erb.  =  Erber,  Burgen  und  Schlösser  in  der  Umgebung  von  Bozen,  Innsbruck  1895. 

Da.  =  Daniel,  Deutschland  pp.  2.  Au.  L.  1867  u.  1868. 

F.  =  Ferdinandeum,  Zeitschrift  für  Tirol. 

Fischn.  =  Fischnaler,  Sterzing,  Sterzing  1906. 

Fr.  ^  Freytag,  Bilder  aus  der  deutschen  Vergangenheit. 

Gt.  =  Gassner,  Zum  deutschen  Straßenwesen,  L.  1889. 

Gi.  =  Wilhelm  von  Giesebrecht,  Geschichte  der  deutschen  Kaiserzeit,  2.  u.  3.  B  :  3.  Au; 

5.  B.  L.  1880. 

Hau.  =  Hauser,  Die  alte  Geschichte  Kärntens,  Klagenfurt  1893. 

Haush.  ==  Haushofer,  Tirol,  Bielefeld  u.  L.  1899. 

Jo.  =  Jordan,  Geschichte  der  Entstehung  von  Sublavione,  Innsbruck  1859. 

Ju.  =  Jung,  Römer  und  Romanen  in  den  Donauländern,  2.  Au.  Innsbruck  1887. 

Kr.  =  Krones,    Die  deutsche    Besiedelung  der   östlichen    Alpenländer,   Stuttgart,  Engel- 

hom  1889. 

L«.  =  Lambert  von  Hersfeld,  Jahrbücher  2.  Au.  L.  Duncker. 


VIII  Abkürzungen  und  Erklärungen. 

Lau.  =  Zwergkönig  Laurin,  L.  Reclam. 

Maz.  =  Mazegger,  Die  Römerfunde  pp.  in  Mais.    3.  Au.  Innsbruck  1896. 

Meyer  =  A.  B.  Meyer,  Die  Römerstadt  Agunt,  Vorstudien,  Berlin  Friedländer  1908. 

M.  C.  L.  =  Meyers  Conversations  Lexikon,  5.  Au. 

M.  D.  A.  =  Meyers  Reisebücher,  Deutsche  Alpen. 

M.  O.  L  =  Meyers  Reisebücher,  Oberitalien  pp.  7.  Au. 

M.  Schw.  =  Meyers  Reisebücher,  Schweiz  20.  Au. 

Mo.  =  Mommsen,  Reden  u.  Aufsätze,  Berlin  1905. 

Mor.  =:  Moroder,  Das  Groedner  Tal,  S.  Ulrich   1891. 

N.  A.  =  Neeb  u.  Atz,  Der  deutsche  Anteil  des  Bistums  Trient,  Bozen  1879. 

N.  =  Noe,  Almanach  der  Südbahn  II,  Wien,  Waldheim. 

Oe.I.bzl.  II  =  Oehlmann,  Die  Alpenpässe  im  Mittelalter,  Jahrbuch  für  Schweizerische  Geschichte, 
3.  bzl.  4.  Band. 

O.  F.  =  Otto  von  Freising,  Taten  Friedrichs,  übersetzt  von  Kohl,  L.  Duncker  1883. 

P.  D.  =  Paulus  Diakonus  u.  die  übrigen  Geschichtsschreiber  der  Langobarden,  2.  Au. 
L.  Dyk. 

PI.  =  Planta,  Das  alte  Rätien,  Berlin  1872. 

Ra.  ^  Rahewins  Fortsetzung  der  Taten  Friedrichs,  übersetzt  von  Kohl,  L.  Duncker  1886. 

Riehl.  =  Riehl,  Die  Kunst  an  der  Brennerstraße,  L.  1898. 

Ri.  =  Riezler,  Geschichte  Bayerns,  Gotha,  Perthes. 

Sa.  L.  ^  Mitteilungen  für  Salzburger  Landeskunde. 

Sehe.  =  J.  V.  von  Scheffels  Gesammelte  Werke,  Stuttgart  Bonz. 

Schu.  =  A.  Schulte,  Geschichte  des  mittelalterlichen  Handels  und  Verkehrs  zwischen  West- 
deutschland und  Italien  pp.  L.  1900. 

Schw.  =  Schwarz,  Tirolische  Schlösser,  Heft  1.  Innsbruck,  Wagner. 

Si.  =  B.  Simson,  Jahrbücher  des  fränkischen  Reiches  II.  B.  L.  1883. 

St.  ^  Steub,  Zur  Namens-  und  Landeskunde  der  deutschen  Alpen,  Nördlingen  1885. 

Sta.  =  Stampfer,  Geschichte  von  Meran,  Innsbruck  1889. 

Tap.  ^  Tappeiner,  Zur  Majafrage,  Meran   1894. 

Tir.  =  Tirolensien  V.  Bozen,  Auer  1894. 

Vi.  =  Vilmar,  Geschichte  der  deutschen  National-Litteratur.  21.  Au. 

Vict.  =  Victring,  Das  Buch  gewisser  Geschichten,  L.  Dyk. 

W.  =  Wanka,  Die  Brennerstraße  pp.  Prager  Studien,  Prag  1900. 

W.  P.  =  Wanka,  Der  Verkehr  über  den  Paß  von  Pontebba-Pontafel  pp,  Prager  Studien, 
Prag  1898. 

Z.  A.  =  Zeitschrift  des  Deutschen  und  Österreichischen  Alpenvereins. 


Vorrede. 


Wer  diesen  Band  gelesen  hat,  wird  mit  Recht  eine  zweifache  Einwendung 
gegen  dessen  Titel  erheben  Itönnen.  Denn  es  ist  einmal  kaum  Verkehrsgeschichte 
allein,  die  hier  gegeben  wird;  ferner  aber  sind  nach  jeder  Richtung  die  Schick- 
sale der  Mittelalpen  ausführlicher,  die  des  westlichen  und  östlichen  Flügels  da- 
gegen kürzer  behandelt.  Gewiß  hätte  sich  dies  ganze  Werk  treffender  als  eine 
»Geschichte  der  Alpenländcr  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Verkehrs- 
wege" einführen  können,  aber  nicht  nur  des  Witzes  auch  des  Titels  Seele  ist 
Kürze,  und  der  Titel  Verkehrsgeschichte  will  daher  nur  sagen,  daß  jene  unend- 
liche Welt  der  Interessen  und  Abhängigkeitsverhältnisse,  die  zwischen  dem  Ein- 
zelnen und  dem  Staatenleben  liegt,  hier  vorwiegend  unter  dem  Gesichtspunkt 
des  Verkehrslebens  betrachtet  worden  ist.  Die  Bevorzugung  der  Mittelalpen 
aber  geschah  zunächst  mehr  notgedrungen  als  absichtlich;  weil  dem  Verfasser 
hier  die  Quellen  reichlicher  zur  Verfügung  standen,  und  er  jene  auch  öfter  be- 
reist hat,  wir  meinen  aber,  daß  diese  ungleiche  Verteilung  des  Materials  in 
diesem  Falle  nicht  eigentlich  ein  schiefes  Bild  hervorruft,  da  die  wichtigsten  ge- 
schichtlichen Vorgänge,  die  für  die  Alpen  in  Frage  kommen,  sich  ja  vorwiegend 
in  deren  mittlerem  Teil  abgespielt  haben. 

In  der  Vorrede  darf  der  Verfasser  von  seinen  Absichten  reden,  und  dies- 
mal um  so  mehr,  da  der  erste  Band  des  Werkes  ganz  ohne  eine  solche  ge- 
blieben ist.  Leicht  ist  der  Entschluß  dem  Verfasser  überhaupt  nicht  geworden, 
diesen  zweiten  Band  zu  schreiben.  Es  ist  wirklich  ein  „weitschichtiger  und 
spröder  Stoff",  der  hier  zu  bewältigen  ist  (Kölnische  Zeitung,  7.  1.  1909,  Be- 
sprechung der  Verkehrsgeschichte  I.  B.),  Mosaikarbeit  wie  jede  andere  umfassende 
Geschichtsschreibung,  aber  deshalb  so  langwierig,  weil  die  Steinchen,  aus  denen 
das  Bild  zusammengestellt  werden  muß,  gar  so  klein  sind,  weil  daher  auch 
deren  so  sehr  viele  gebraucht  werden,  und  vor  allem,  weil  diese  Steinchen  nicht 
wie  anderswo  in  der  Nähe  bereit  lagen,  sondern  weil  sie  erst  wie  zerstreute 
Körner  von  überall  her  zusammengesucht  werden  mußten.  Man  sagt  ja,  daß 
die  aus  kleinen  Steinen  zusammengesetzten  Mosaikbilder  die  besseren  sind,  und 
es  wäre  dem  Verfasser  schon  recht,  wenn  dies  auch  hier  zutreffen  würde. 

Scherrel,  Verkehrsgeschlchtc  der  Alpen.    2.  B«nd.  1 


2  Vorrede. 

Nicht  an  den  Geschichtsforscher  in  erster  Linie  wendet  sich  dies  Buch,  sondern 
an  die  gebildeten  Leser.  Die  Wirkung,  die  es  auf  letztere  ausüben  soll,  das  und  das 
ganz  besonders  ist  es,  was  der  Verfasser  als  Zweck  seiner  Darstellung  angesehen 
hat,  und  aus  diesem  Grunde  möchte  hier  noch  etwas  über  die  Art  gesagt  werden, 
die  bei  dem  Zitieren,  bei  der  Angabe  der  Quellen,  eingeschlagen  worden  ist. 

Gewiß  wird  für  einen  Gelehrten  niemals  in  der  weiten  Welt  der  Fall  ein- 
treten, die  Angabe  von  Quellen  bei  einem  Buche  für  unnötig  halten  zu  können; 
ja  er  wird  bei  zwei  Büchern  von  annähernd  gleichem  Werte,  von  denen  das  eine 
Quellenangaben  enthält,  das  andere  aber  nicht,  stets  dem  ersteren  den  Vorzug, 
und  zwar  den  entschiedenen  Vorzug  geben.  Das  ist  erklärlich  und  berechtigt 
für  den  gelehrten  Standpunkt,  weil  die  Forschung  unendlich  erleichtert  und  daher 
auch  befördert  wird,  wenn  das  Überlieferte  auf  seine  Herkunft  nachgeprüft  werden 
kann.  Wie  steht  es  aber  nun  mit  der  Geschichtsschreibung,  die  dies  alles  auch  für 
schön  und  wünschenswert  hält,  die  aber  doch  ein  Kunstwerk  schaffen  will;  denn 
die  Geschichtsschreibung  ist  stets  ein  sehr  vornehmes  Mitglied  der  Gelehrsam- 
keit gewesen.  Man  sage  was  man  wolle,  jene  Noten  und  Anmerkungen  wirken, 
wenn  sie  wirklich  in  dem  Umfang  angebracht  werden,  um  dem  Gelehrten  zu 
genügen,  schon  auf  den  Darsteller  wie  eine  Schnürbrust,  auf  den  Leser  aber 
wie  ein  störendes  Geräusch  und  —  hart  im  Räume  stoßen  sich  die  Sachen  —  hin- 
dernd auf  die  Herstellung  eines  an  sich  schon  umfangreichen  Bandes.  Es  sind  auch 
recht  Große  gewesen,  die  dies  letztere  offen  ausgesprochen  haben  (Treitschke, 
Deutsche  Geschichte  im  19.  Jahrhundert  IL  Teil;  Flathe,  Das  Zeitalter  der 
Restauration  und  Revolution,  Vorworte);  aber  wenn  diesen  gegenüber,  nicht  zum 
Schaden  der  Wissenschaft,  jeder  weitere  Anspruch  vor  dem  Gefühl  der  An- 
erkennung und  der  Dankbarkeit  von  selbst  verstummt  ist,  so  muß  doch  auch 
den  Kleinen  das  Recht  zur  Seite  stehen,  für  aufrichtig  und  sicher  gehalten  zu 
werden,  so  lange  nicht  das  Gegenteil  erwiesen  ist,  jene  Forderung,  die  schon 
Lessing  für  sich  in  Anspruch  nahm,  als  er  noch  selbst  zu  diesen  Kleinen  ge- 
rechnet wurde  (Briefe  antiquarischen  Inhalts,  II.  Teil  37).  Es  ist  kein  freund- 
liches Schicksal,  wenn  man  es  ernst  meint,  nicht  auch  ernst  genommen  zu  werden, 
und  wenn  ein  einflußreicher  Hochschullehrer  dem  Verfasser  sagte,  der  I.  Band 
der  Verkehrsgeschichte  käme  für  ihn  wegen  des  Fehlens  der  Quellenangaben  über- 
haupt nicht  in  Frage,  so  hat  dieser  darüber  seine  eigenen  Gedanken. 

Die  Anmerkungen  sind  daher  in  dem  Buche  derart  angebracht  worden,  daß 
zunächst  überall  da,  wo  der  am  Wege  der  Darstellung  stehende  Gedanke  zum 
abseits  führenden  Gedankengange  wird,  dieser  in  einem  Anhange  am  Schluß  des 
Buches  aufgenommen  ist.  Alles  andere  und  insonderheit  die  Quellenangaben, 
die  aber  trotzdem,  lediglich  wegen  ihres  großen  Umfanges,  nicht  auf  Vollständig- 
keit Anspruch  machen  können,  erscheint  dagegen  als  Fußnoten  und  zugleich 
unter  Anwendung  von  Abkürzungen,  für  die  am  Beginn  des  Buches  die  nötigen 
Erklärungen    gegeben    sind.      Letzteres   Verfahren    verursacht    wohl   einige    Un- 


Vorrede.  3 

bequemlichkeiten,  aber  es  ist  ja  überhaupt  ein  zeitraubendes  Gebiet,  auf  das  sich 
der  Queiienforscher  nun  einmal  begeben  muß. 

Und  noch  ein  zweites  mag  hinsichtlich  der  Quellenangaben  gesagt  sein 
Bei  der  Wanderung  durch  die  weiten  Räume  der  Alpengeschichte  glänzte  dem 
Verfasser  einmal  unter  alträtischem  Schutt  und  Moder  ein  helles  Steinchen  ent- 
gegen, eine  Äußerung  des  unvergeßlichen  Alpenforschers  Steub,  als  dieser  ein- 
mal sagte,  „daß  das  Vergnügen  des  Zitierens  doch  überhaupt  auf  Gegenseitigkeit 
beruhe"  (Steub,  Zur  Ethnologie  der  deutschen  Alpen,  Salzburg  1887,  S.  48).  Es 
ist  dies  ein  Vorbehalt,  den  der  Verfasser  zu  dem  seinigen  macht.  Der  finger- 
fertigen Kritik  gegenüber  möge  dann  auch  noch  betont  werden,  daß  der  Forscher 
gewiß  die  neuesten  sein  Gebiet  betreffenden  Entdeckungen  und  Ansichten  stets 
mit  besonderem  Interesse  zur  Kenntnis  nehmen  wird,  daß  diese  aber  durchaus 
nicht  überall  Trumpf  sein  müssen,  und  daß  somit  deren  Unkenntnis  nicht  ohne 
weiteres  einen  Fehler  bedeuten  kann.  Das  Gegenteil  gäbe  eine  schlechte  Per- 
spektive für  alle  wissenschaftliche  Arbeit;  denn  da  doch  keiner  an  dem  Ende 
aller  Dinge  zu  stehen  glaubt,  und  keiner  jemals  ohne  Nachfolger  bleibt,  so  würde 
dann  jeder  an  seinem  eigenen  Werke  nur  eine  Totengräberarbeit  verrichten. 

Mit  Karten  ist  das  Buch  nicht  versehen.  Der  Leser  wird  mit  den  Karten 
aus  einem  guten  Atlas  auskommen;  wer  sich  aber  mit  einzelnen  Fragen  genauer 
beschäftigt,  der  wird  am  besten  die  Spezialkarten  zu  Hilfe  nehmen,  wie  sie  sich 
in  jedem  alpinen  Reisehandbuch  finden.  Ein  Index  kann  dem  III.  Bande  bei- 
gegeben werden. 

Heidelberg  a.  N.,  April  1914.  DER  VERFASSER. 


!• 


\ 


Drittes  Buch 
Das  Mittelalter  in  den  Alpenländern. 


I.  Kapitel. 

Die  Naturkräfte  in  der  Geschichte  der  Alpenländer. 


Je  häufiger  man  sich  mit  der  Geschichte  der  Alpen  beschäftigt,  je  tiefer  Die  Wirkung 
man  an  den  einzelnen  Stellen  in  sie  eindringt,  um  so  stärker  macht  sich  dabei  H^oche^ebi^rge"" 
immer  wieder  ein  und  dieselbe  Beobachtung  geltend.  Sie  läßt  sich  in  ihrer 
Summe  dahin  zusammenfassen,  daß  in  dem  Schicksal  der  Alpen  die  Veränderungen 
in  der  Gestaltung  der  Erdoberfläche  auch  in  der  historischen  Zeit  eine  viel  größere 
Rolle  als  anderswo  spielen,  daß  im  Hochgebirge  nur  zu  oft  allein  die  Kenntnis 
solcher  natürlicher  Vorgänge  den  Schlüssel  für  das  Verständnis  der  Vergangen- 
heit abgeben  kann,  und  daß  somit  auch  die  eigentliche  Geschichtsbetrachtung 
hier  besonders  stark  auf  jenes  rein  geographische  Moment  zu  rücksichtigen  hat.  Es 
ist  eben  in  den  Alpen  nicht  so  wie  in  der  Ebene  und  im  Mittelgebirgsland,  wo 
der  Anbau  des  Menschen  die  wichtigsten  Veränderungen  in  dem  Landschaftsbild 
hervorruft,  und  selbst  an  den  Gestaden  des  Meeres  treten  innerhalb  der  wenigen 
Jahrtausende,  die  der  historische  Blick  zu  umspannen  vermag,  die  geographischen 
Umgestaltungen  in  ihrer  Mannigfaltigkeit  zurück  gegen  diejenigen,  die  man  in 
gleicher  Weise  im  Hochgebirge  beobachten  kann. 

Dort  wie  hier  ist  es  vorwiegend  das  Wasser,  das  diese  Wirkung  hervor- 
bringt. Während  aber  am  Meere  alle  einschneidenden  Veränderungen  doch  immer 
nur  von  dem  gleichen  Vorgang,  von  der  Hebung  und  Senkung  des  Meeresspiegels, 
ausgehen,  gestaltet  sich  im  Hochgebirge  der  Einfluß  jenes  Elementes  schon  des- 
halb mächtiger,  weil  die  Wasserläufe  bei  den  großen  vorhandenen  Höhenunter- 
schieden, bei  ihrem  ungeduldigen  Fall  von  den  höchsten  Gipfeln  bis  hinab  zu 
den  anliegenden  Flachländern,  eine  viel  stärkere  lebendige  Kraft  zu  entwickeln 
vermögen.  Ist  daher  hier  schon  an  sich  das  Wasser  der  Träger  einer  viel  größeren 
Kraft  als  anderswo,  so  sind  weiterhin  deren  Äußerungen  und  Launen  ebenso 
wechselnd  und  unregelmäßig  wie  das  Wetter  selbst,  das  die  Erde  mit  Millionen 
Wassertropfen  versorgt.  Diese  ununterbrochenen,  unregelmäßigen  und  gewaltigen 
Lebensregungen  der  Materie  bekommen  nun  aber  alle  Teile  des  Gebirges  gleich- 


8  I.  Kapitel. 

mäßig  ZU  fühlen;  unausgesetzt,  jahraus  jahrein,  an  Sommertagen  und  in  Winter- 
nächten, setzen  sie  ihnen  zu,  dem  nacitten  Gestein  der  höchsten  Gipfel  wie  den 
Bodenschichten  der  steilen  Talhänge,  nicht  minder  aber  auch  den  Sohlen  der 
kurzen  und  langen,  der  schmalen  und  breiten  Alpentäler,  auf  die  der  Mensch  zum 
Wohnen  angewiesen  ist  und  wo  wir  daher  die  in  den  Alpenländern  sich  abspielenden 
geschichtlichen  Ereignisse  vorwiegend  zu  suchen  haben. 
Verheerende  Wenn   nun   schon   hierdurch   zu  allen  Zeiten   die  Veränderung  in  der  Ge- 

Veränderungen  Staltung  des  Erdbodens  im  Hochgebirge  viel  rascher  vor  sich  geht,  so  muß  eine 
der  Landschaft,  solche  jedoch  in  noch  viel  umfangreicherem  und  tiefgehenderem  Maße  Platz  greifen, 
sobald  besondere  Ursachen  und  Unregelmäßigkeiten  auf  jene  gewaltige  Macht  des 
Wassers  einwirken.  Auch  am  Meere  und  in  den  Flachländern  sind  oft  die  Über- 
schwemmungen und  Erdbeben  schweren  geschichtlichen  Ereignissen  gleichwertig 
gewesen;  nirgends  aber  treten  jene  Naturerscheinungen  an  sich  so  häufig  ein  und 
werden  auch  in  ihren  Folgen  so  gewaltig  und  einschneidend  wie  in  den  hohen 
Bergen,  hier,  wo  oft  eine  einzige  übermäßig  laue  Nacht  das  Wasser  plötzlich  in 
verheerender  Menge  zu  Tale  führt,  wo  ein  einziger  schwacher  Erdstoß,  der  im 
Niederland  wirkungslos  bleibt,  einen  Berghang  zu  Falle  bringen  kann,  der  durch 
Verwitterung  gelockert  oder  durch  das  abfließende  Wasser  unterwaschen  worden 
ist.  Es  ist  Tatsache,  daß  die  Geologie  und  die  Geschichte  in  dem  Schicksal 
der  Alpenländer  so  nahe  aneinandertreten  wie  vielleicht  in  keinem  andern  Gebiet 
der  Erde.  Nicht  minder  aber  haben  die  Lawinen  und  Vermurrungen,  die  Über- 
schwemmungen und  Anschwemmungen,  die  Bergstürze  und  Erdbeben,  wie  sie  in 
historischer  Zeit  tatsächlich  stattgefunden  haben  oder  wahrscheinlich  sind,  und 
der  Kontrast  jener  gewaltigen  Naturereignisse  zu  dem  Können  des  Menschen  es 
mit  sich  gebracht,  daß  die  Mächte  der  Geschichte  in  den  Alpenländern  zu  allen 
Zeiten  ein  langsameres  Tempo  eingeschlagen  haben.  Dieser  Umstand  macht  die 
Darstellung  ebenso  anziehend  wie  schwierig;  er  bildet  aber  insbesondere  ein  so 
selbständiges,  so  inhaltreiches,  so  folgenschweres  Merkmal  der  Alpengeschichte, 
daß  diese  allein  deshalb  mit  einem  besonderen  Maße  gemessen  werden  muß, 
während  ihre  Wichtigkeit  für  die  Allgemeingeschichte  nunmehr  seit  dem  Beginn 
des  Mittelalters  bis  auf  den  heutigen  Tag  sich  ohne  weiteres  darin  zu  erkennen 
gibt,  daß  die  innerste  Zone  des  großen  europäischen  Kulturkreises  räumlich  mit 
dem  Alpengebirge  zusammenfällt. 

Auch  die  urkundlich  verbürgten  Nachrichten  über  Naturereignisse,  die  all- 
mählich oder  mit  einem  Schlage  das  Landschaftsbild  umgestaltet  haben,  liegen 
wie  ein  Netz  über  das  ganze  Alpengebiet  gebreitet.  Es  geschieht  aber  doch  mit 
vollem  Recht,  wenn  wir  erst  an  dieser  Stelle  von  ihnen  reden,  da  das  Altertum 
kaum  von  einem  einzigen  derartigen  Fall  ein  Wort  verlauten  läßt.  Zugleich  mit 
dem  Beginn  des  Mittelalters  treten  sie  dagegen  an  das  Tageslicht.  Es  mag  sein, 
daß  der  geschichtliche  Stoff  jetzt  überhaupt  von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert 
breiter  und  vielseitiger  wird;  der  Hauptgrund  liegt  aber  doch  in   der  verschie- 


Die  Naturkräfte  in  der  Geschichte  der  Alpenländer.  Q 

denen  Denkungsweise  dieser  beiden  Zeitperioden,  der  Antiice,  die  an  sich  wenig 
zum  Erstaunen  neigte,  und  des  Mittelalters,  in  das  wir  jetzt  eintreten,  in  dessen 
gebundener  Seele  sich  das  geschichtliche  Denken  und  das  religiöse  Empfinden 
gegenseitig  durchdrangen,  das  daher  auch  von  Anfang  an  jedes  außerordentliche 
Naturereignis  auf  ein  unmittelbares  Walten  der  Gottheit  zurückzuführen  pflegte 
und  die  Kunde  davon  schon  deshalb  der  Nachwelt  überliefern  wollte. 

In  den  Westalpen  rührt  die  eigentümliche  Form  des  Mont  Granier  bei 
Chambery  von  einem  Bergsturz  her,  der  hier  im  J.  1248  eine  Anzahl  Dörfer 
verschüttete,  und  an  der  Straße  des  Gr.  S.  Bernhard  bei  S.  Maurice  liegt  heute 
der  Ort  Evionnaz  an  derselben  Stelle,  wo  im  J.  563  die  Stadt  Epaunum 
durch  ein  Erdbeben  unterging,  in  dessen  Folge  damals  sogar  die  Wasser  des 
Genfersees  aus  ihren  Ufern  traten  und  in  Genf  selbst  die  Rhonebrücke  zerstört 
wurde').  Auch  im  J.  1835  kam  dort  vom  Dem  du  Midi  wieder  ein  gewaltiger 
Bergsturz  herab.  Am  Südfuß  des  Monte  Rosa  wurde  vor  Jahrhunderten  das 
Dorf  Macugnaga  verschüttet,  und  an  der  Gemmi  hat  1897  ein  ähnliches  Ereignis 
stattgefunden.  Ein  Teil  der  mit  menschlichen  Wohnstätten  bebauten  Ufer  des 
Zugersees  ist  in  den  J.  1435,  1494  und  1S87  plötzlich  in  die  Tiefe  versunken. 
Im  Mittelalter  war  am  Bodensee  nicht  Bregenz  sondern  Rheineck  die  Mündungs- 
stadt des  Rheines,  der  inzwischen  sein  Delta  weit  vorgeschoben  hat  2).  Noch 
durchgreifender  hat  sich  aber  am  südlichen  Ausgang  der  bündner  Straßen  die 
Landschaft  in  historischer  Zeit  umgestaltet.  Hier  bezeichnet  zunächst  dicht  bei 
Chiavenna  ein  mit  ungeheuren  Steinblöcken  bedeckter  und  jetzt  von  hohen 
Kascanien  beschatteter  Komplex  die  Stelle  des  großen  Ortes  Plurs,  der  1618 
durch  einen  Bergsturz  begraben  wurde,  und  der  vorher  in  den  Nachrichten 
über  den  Septimerweg  oft  genannt  wird.  Südlich  Chiavenna  aber  erzählt 
dann  der  Name  Samolaco  davon,  daß  hier  einst  die  Nordspitze  des  Comersees 
lag,  und  wo  demnach  im  römischen  Altertum  der  Landweg  mit  dem  Wasserweg 
vertauscht  werden  mußte.  Die  Bestimmung  dieser  Station  erfüllte  dann  später, 
wie  gleichfalls  der  Name  zeigt,  das  eine  Stunde  abwärts  gelegene  Riva,  während 
heute  bereits  der  nördlichste  Teil  jenes  Sees  (Lago  di  Mezzola)  derart  versandet 
ist,  daß  die  Schiffahrt  erst  in  Colico  beginnen  kann;  die  Geschiebe  der  Mera 
haben  demnach  hier  allein  in  historischer  Zeit  eine  Strecke  von  fast  20  km  aus 
einem  Wasser-  in  einen  Landweg  verwandelt-^).  Ähnliche  Verhältnisse  finden 
sich  übrigens  auch  an  der  Nordspitze  des  Langensees. 

In  der  eigentlichen  Hochgebirgsregion  liegt  dagegen  ein  ganz  zweifelsfreier 
Anhalt  für  solche  Veränderungen  in  der  Wegbarkeit  an  den  Jochen  der  Oetztaler 
Alpen  vor.  Hier  ermöglichen  die  Verbindung  zwischen  dem  Oetztal  und  dem 
Schnalsertal  das  Niederjoch  und  das  Hochjoch,  von  denen  das  Niederjoch  (3017  m) 
höher,  das  Hochjoch  (2885  m)  niedriger  liegt,  der  Gebrauch  des  letzteren  da- 
gegen einen  eineinhalbstündigen    Umweg    erfordert.     Von   diesen   beiden    Über- 

')  Oe.  1.  S.  238.        2)  Schu.  S.  26.         ^)  Oe.  II.  S.  177.  A.  1. 


10  I-  Kapitel. 

gangen  war  nun  in  früheren  Zeiten  das  Niederjoch  der  allein  betretene,  vteil 
die  Gletscher  sich  hier  niemals  im  Vorschreiten  befanden,  während  das  Hoch- 
joch wegen  des  berüchtigten  Hoch- Vernagt -Ferners  ganz  unpassierbar  war. 
Jetzt,  nachdem  sich  dieser  Gletscher  zurückgezogen  hat,  ist  dagegen  der  Weg 
über  das  Hochjoch  mindestens  eben  so  belebt  und  betreten  wie  der  über  das 
Niederjoch.  Die  tiefsten  Furchen  ebenso  in  der  Geschichte  des  Passeiertales 
wie  in  der  von  Meran  selbst  haben  nicht  die  von  Menschenhand  heraufgeführtea 
Ereignisse,  sondern  die  wiederholten  Ausbrüche  des  Kummersees  (bei  Moos), 
zwischen  1401  und.  1772  nicht  weniger  als  sieben,  gegraben  '),  wie  überhaupt  die 
Forschung  in  den  Alpen  nicht  bloß  bei  der  Suche  nach  den  alten  Römerpunkten, 
sondern  nicht  minder  auch  bei  der  Erklärung  mittelalterlicher  Ereignisse  zu 
allererst  die  Launen  der  Bergwasser  oder  irgendwelche  andere  Verände- 
rungen in  der  Landschaft  in  Rechnung  zu  ziehen  hat.  Deutlich  ist  dies  der 
Fall  bei  der  Bestimmung  von  Vipitenum,  Agunt  und  Teurnia,  wie  südlich  von 
Sarnio  und  ad  Palatium,  aber  auch  bei  der  Untersuchung,  welche  Stelle  der 
langen  Berner  Klause  Friedrich  Barbarossa  im  J.  1155  wirklich  gesperrt  fand,  ge- 
langt man  nicht  recht  zum  Ziel,  wenn  man  sich  nicht  zugleich  zu  der  Annahme 
versteht,  daß  die  Talwände  dort  in  späterer  Zeit  eine  Umgestaltung  erfahren 
haben  müssen  2). 

Bei  Sterzing  und  noch  ausgesprochener  bei  Lienz  sind  die  Überschwemmungen 
und  die  Maßregeln,  die  zu  deren  Verhütung  nötig  wurden,  das  ganze  Mittelalter 
hindurch  ebenso  wichtig  wie  alle  anderen  Ereignisse  der  Stadtgeschichte.  Das 
berühmte  mittelalterliche  Spital  in  Klausen,  das  sich  einst  nördlich  des  Ortes 
am  Eisak  befand,  haben  dessen  Überschwemmungen  schon  längst  von  jener  Stelle 
vertrieben  3),  und  noch  einschneidender  ist  dies  eingetreten  bei  der  ersten  großen 
kirchlichen  Gründung  in  der  Bozner  Gegend,  dem  im  12.  Jahrhundert  gestifteten 
Augustiner-Kloster,  das  ursprünglich  wenig  entfernt  von  der  Stelle  erbaut  wurde, 
wo  Eisak  und  Etsch  zusammenfließen.  Wer  heute  das  in  der  Nähe  Bozens 
am  Talferufer  liegende  Schloß  Maretsch  betritt,  wird  erstaunen,  wenn  er  dessen 
Kellermauern  überall  mit  Schießscharten  versehen  sieht"*);  und  da  dies  ein  Be- 
weis dafür  ist,  wie  gewaltig  sich  hier  der  Boden  erhöht  hat,  so  wird  man  es  auch 
glaublich  finden,  daß  jenes  alte,  in  einer  gefährdeteren  Zone  gelegene  Kloster 
„in  der  Aue",  nachdem  es  volle  200  Jahre  dort  in  Gebrauch  gewesen  war, 
schließlich  verlassen  werden  mußte  und  dann  nach  und  nach  gänzlich  verschüttet 
und  begraben  wurde,  so  daß  man  heute  nicht  einmal  die  Stelle  genau  kennt,  wo 
es  einst  gestanden  hat^).  Aber  auch  das  Schicksal  der  anderen  hier  in  der  Nähe 
gelegenen  Orte  ist  in  den  früheren  Jahrhunderten  tief  abhängig  von  den  Launen 
und  Wirkungen  des  Wassers.  Voran  Bozen  selbst,  dessen  Verbindung  mit  dem 
Sarntal  die  Talfer  wiederholt  und  im  15.  Jahrhundert  ganze  Jahrzehnte  lahmlegte, 
dessen  Wasserbauten   eben   gegen   die  Talfer   hin   schon  im  13.  Jahrhundert  der 

')  Vgl.  B.  W.  S.  69  f.        2)  Vgl.  W.  S.  93.        3)  n.  a.  S.  8f.         ^)  Jo.  S.  18.         *)  Atz.  S.  230f. 


Die  Naturkräfte  in  der  Geschichte  der  Alpenländer.  H 

teuerste  Besitz  der  Stadt  waren,  weil,  wenn  einem  Feinde  ihre  Zerstörung  ge- 
lang, der  Ort  dann  „geradezu  ersaufen"  mußte').  Bereits  aus  dem  J.  1041  er- 
fahren wir,  daß  eine  Überschwemmung  hier  die  Weinberge  überall  fast  bis  auf 
den  letzten  Grund  zerstörte  und  abwärts  in  Verona  schließlich  so  stark  auftrat, 
daß  die  Menschen  dort  auf  den  oberen  Stockwerken  des  alten  römischen  Amphi- 
theaters Schutz  suchen  mußten-).  Auch  die  Gegend  von  Leifers  befindet  sich 
infoige  der  Schuttablagerungen,  die  hier  der  aus  dem  Brantental  kommende  Bach 
herabführt,  in  fortwährender  Veränderung,  und  südlich  hat  der  Ort  Neumarkt 
seinen  Namen  nur  daher,  weil  er  im  J.  1222  infolge  einer  Überschwemmung 
gänzlich  neu  aufgebaut  wurde. 

In  den  Ostalpen  ist  aber  wohl  das  Erdbeben  bei  Villach  vom  J.  1348 
das  gewaltigste  bekannt  gewordene  Ereignis  dieser  Art,  als  am  25.  Januar  um 
die  Vesperzeit  sich  bei  hellscheinender  Sonne  der  Himmel  plötzlich  verfinsterte 
und  inmitten  von  Wolken  von  Schutt  und  Staub,  auch  dort,  wo  die  Zerstörung 
nicht  eigentlich  hinkam,  die  Bäume  im  Walde  aneinanderschlugen,  die  Glocken 
von  selbst  ertönten  und  ringsherum  in  das  Angstgeschrei  der  Menschen  hinein- 
schalten. Nicht  allein  bei  Villach  selbst,  wo  die  Zerstörung  am  umfangreichsten 
war,  sondern  auch  weit  und  breit  in  der  Umgebung  sind  damals  einzelne  Schlösser 
und  Dörfer  untergegangen ■5),  so  auch  eine  Ortschaft  in  der  Nähe  von  Primiero 
(Piu  Baco).  Im  J.  1580  legte  ein  Hochwasser  die  Murschiffahrt  gänzlich 
lahm,  und  auch  in  Salzburg  wurde  im  J.  1669  ein  Stadtteil  von  den  herab- 
fallenden Wänden  des  Mönchsbergs  begraben.  Besonders  aber  ist  der  nach 
Venetien  zu  abfallende  Teil  der  Alpen  ein  Gebiet,  das  jene  Naturereignisse  seit 
alters  her  nicht  zur  Ruhe  haben  kommen  lassen.  Die  Zahlen  1692,  1776,  1814 
und  1824  bezeichnen  die  Jahre,  wo  am  Tagliamento  (Borta),  in  Tramonti  di  sotto, 
bei  S.  Vito  im  Ampezzotal  und  wiederum  bei  Primiero  infolge  Bergstürzen 
ganze  Ortschaften  zu  Grunde  gingen.  Besonders  groß  ist  dann  aber  auch  in 
jenem  Gebiet  die  Chronik  der  verheerenden  Überschwemmungen,  von  denen 
in  sechs  Jahrhunderten  (1271  —  1851)  ganze  29  bekannt  sind'');  bezeichnender- 
weise wissen  wir  aber  bereits  am  Beginn  des  Mittelalters  von  einer  solchen; 
es  ist  diejenige  vom  J.  585,  die  zugleich  ganz  Italien  und  besonders  Verona 
heimsuchte^). 

Es  ist  auch  zu  erwähnen,  daß  die  Wissenschaft  bei  diesen  umfangreichen 
Zerstörungen  oft  in  besonderer  Weise  der  Leidtragende  gewesen  ist;  denn  wenn 
1421  in  S.  Leonhard  (Passeier)^)  und  1702  in  S.  Wolfgang  (Fusch)  das  ganze 
Archiv  mit  Stumpf  und  Stiel  durch  ein  solches  Ereignis  vernichtet  wurde,  wenn 
einst  vom  Schloß  Tirol  mehr  als  30  Zimmer'')  und  vom  Schloß  Runkelstein 
(1868)  ein  Teil  des  Gebäudes  mit  seinen  berühmten  Fresken  in  die  Talschlucht 
versanken,  so  hat  auch  hier  nur  ein  plötzlicher  Stoß  der  Naturkräfte  gegen  die 

')  Atz.  S.  12.  2)  Die  größeren  Jahrbücher  von  Altaich.  2.  Au.  L.  Dyk.  S.  27.  3)  Kr.  S.  160. 
*)  Z.  A.  1900.     S.  369,  371.        5)  P.  D.  S.  63.        «)  B.  W.  S.  302.        ')  Jo.  S.  99. 


12  I-  Kapitel. 

Fundamente   menschlicher  Wohnungen   geschichtliche  Reste   kostbarster  Art   un- 
wiederbringlich dem  Auge  der  Forschung  entzogen. 
Die  Tradition.  Auf  dem  tatsächlichen  Zustand,   der  den  Menschen  im  Hochgebirge  immer 

wieder  von  neuem  die  Allgewalt  der  NaturkräFte  und  den  durch  diese  verursachten 
Wechsel  in  den  menschlichen  Wohnplätzen  vor  Augen  führt,  beruht  es  nun  auch, 
daß  die  Sage  überall  mit  mächtigen  Fangarmen  in  dieses  Gebiet  der  Wirklichkeit 
eingedrungen  ist  und  gerade  in  diesem  Falle  dem  Geschichtsforscher  oft  in  recht 
unliebsamer  Weise  seine  Kreise  stört.  Viel  häufiger  als  im  Flachland  begegnen 
wir  in  den  Alpen  den  Sagen  von  verschütteten  Orten,  von  verschwundenen  Seen, 
von  unter  dem  Eise  begrabenem  Gartenland,  und  man  muß  sogar  zugeben,  daß 
der  Volksmund  dabei  zuweilen  nicht  eigentlich  etwas  Unmögliches  behauptet, 
sondern  daß  er  dies  vielmehr  nüchterner  und  prosaischer,  als  sonst  die  Phanta- 
sie zu  arbeiten  pflegt,  vorbringt.  Denn  der  größte  Teil  dieser  Annahmen  liegt 
naturgeschichtlich  durchaus  in  dem  Bereich  der  Möglichkeit,  und  es  ist  eben 
nur  zweifelhaft,  ob  die  Zustände,  von  denen  die  Sage  redet,  noch  in  solche 
Zeiten  hinaufreichen,  in  denen  bereits  die  Sonne  der  Geschichte  in  den  Alpen 
geleuchtet  hat.  Und  diese  Frage  wird  dadurch  noch  schwieriger,  daß  einige  jener 
Traditionen,  wenn  auch  nicht  völlig  erweisbar,  doch  der  Wahrscheinlichkeit  sehr 
nahe  kommen,  und  daß  diese  letzteren  gerade  an  solchen  Punkten  haften,  die 
mit  der  Wegbarkeit  der  alten  Alpenstraßen  in  engstem  Zusammenhang  stehen. 
Es  ist  eine  Annahme,  und  zunächst  nur  eine  solche,  daß  die  Hauptalpen- 
straße des  Mittelalters,  der  Gr.  S.  Bernhard,  damals  viel  wegefreundlicher  als 
jetzt  gewesen  ist,  daß  einst,  östlicher,  von  Zermatt  nach  Evolena,  wo  sich  heute 
die  Gletscher  des  Monte  Rosa  überallhin  ausbreiten,  ein  betretener  Weg  über 
den  Dent  Blanche,  und  daß  eben  ein  solcher  aus  dem  Wallis  über  die  Berner 
Alpen  nach  Grindelwald  führte')-  Es  bedeutete  aber  doch  eine  Überraschung, 
und  das  Bewußtsein  von  den  Grenzen  menschlicher  Schlußfolgerungen  drängt 
sich  stärker  auf,  wenn  in  dem  heißen  Sommer  des  J.  1911  hier  ganz  in  der 
Nähe,  am  Monte  Moro-  und  Antronapasse,  die  schneeverzehrende  Sonnenglut 
plötzlich  wirklich  sonst  unter  Eis  und  Firn  vergrabene,  dauerhaft  gearbeitete 
Pfade  auf  weite  Strecken  hervortreten  ließ^).  In  Gries  a.  Br.  meinen  die  Leute, 
daß  der  Brennerübergang  bis  zum  J.  1000  unserer  Zeitrechnung  nicht  wie 
heute  über  den  wegsamen  und  scharf  in  das  Gebirge  einschneidenden  Brenner- 
sattel, sondern  viel  höher  über  eines  der  westlich  von  diesem  gelegenen  Joche 
gegangen  sei.  Gewiß  eine  kühne  Behauptung;  es  giebt  aber  doch  zu  denken, 
daß  eben  der  Boden  dieses  Brennersattels  früher  nachweisbar  von  umfangreichen 
Seen  ausgefüllt  gewesen  ist.  Daß  der  Rhein  einst  nicht  durch  den  Bodensee 
sondern  durch  den  Walen-  und  Zürichsee  weiterfloß,  ist  eine  Tatsache,  deren 
Spuren  heute  noch  ebenso  unverwischt  vor  Augen  stehen,  wie  das  Dasein  von 
Totengebein  unter  dem  Boden  bezeugt,   daß  einst  ein  Mensch  daselbst  begraben 

')  Da.  1.  B.  S.  92,  124.        2)  Dresdener  Anzeiger,  14.  3.  1912,  die  Walliser  Alpen  in  römischer  Zeit. 


Die  Naturkräfte  in  der  Geschichte  der  Alpenländer.  13 

wurde;  wie  aber  der  Richter  sich  hier  mit  dieser  einen  Tatsache  nicht  zufrieden 
geben  i<ann,  so  tcommt  für  die  Geschichte  der  Alpenstraßen  auch  dort  alles 
darauf  an,  zu  wissen,  wann  jener  Wechsel  stattfand.  Derselbe  Gesichtspunkt 
wiederholt  sich  im  kleinen  im  Val  Lagarina  südlich  Trient  (»Seetal"),  wo  noch 
im  Mittelalter  die  Sage  ging,  daß  hier  einst  ein  See  bestanden  habe')?  und  im 
Oetztal  steht  dieselbe  Annahme  im  engen  Zusammenhang  mit  der  Art,  wie  man 
sich  dessen  Besiedelungsgeschichte  im  Mittelalter  vorzustellen  hat-). 

Wer  wird  es  beweisen,  daß  am  Schluß  des  Martelltales,  wo  heute  der  Zu- 
fallferner herabkommt,  einst  ein  Kloster  gestanden  hat,  ob  die  Römerstation 
Maja  durch  einen  Bergsturz  begraben  wurde  oder  nicht,  und  ebenso  ob  die  in 
Timau  südlich  des  Ploeckenpasses  inmitten  eines  Trümmerfeldes  gelegene  Kirche 
Zum  alten  Gott  ihren  Namen  erhielt,  weil  sie  einst  von  einem  Dorfe  umgeben 
war,  das  durch  einen  Bergsturz  unterging,  oder  ob  diese  einsame  Lage  nur  die 
Veranlassung  zu  jener  Sage  werden  mußte.  Es  ist  schon  so,  daß  fast  überall, 
wo  einst  die  Straße  höher  als  jetzt  lief,  der  Talgrund  damals  ein  See  gewesen, 
daß  überall  da,  wo  ein  noch  so  altes  Schotterfeld  sich  ausbreitet,  ein  Ort  unter- 
gegangen sein  soll;  gewöhnlich  ist  hier  auch  einmal  nach  Jahrhunderten  eine 
Glocke  ausgegraben  worden,  die  nur  leider  zur  Zeit  bereits  wieder  abhanden  ge- 
kommen ist'),  und  so  geht  es  weiter  bis  in  das  Uferlose,  bis  zu  den  Wänden 
des  Schiern,  die  einst  von  den  Wellen  eines  großen  Sees  umspült  waren,  und 
an  denen  noch  eiserne,  zum  Anbinden  der  Kähne  bestimmte  Ringe  herausragen 
sollen. 

Aber  selbst  diese  Vorstellungskreise  tragen  ihr  Teil  bei  zu  einem  tiefgehen-  Die  Natur- 
,>,        ■  ,         .  ,         ■       ..V,  j  u  •  u        •  kräfte  und  der 

den  Charakterzug  der  Alpenbevolkerung   und   somit  auch   zu   jener   bereits   er-  Mensch. 

wähnten  besonderen  Art,  wie  die  Mächte  der  Geschichte  in  den  Alpen  arbeiten. 
Schon  an  sich  ist  die  Natur,  wenn  sie  sich  in  der  Hauptsache  nur  großartig  und 
imponierend  zeigt,  nichts  weniger  als  geeignet,  die  menschliche  Tatkraft  zu 
fördern.  Wo  sie  aber  wie  hier  im  Hochgebirge  noch  dazu  mit  den  Werken 
von  Menschenhand  so  gewaltsam  umgeht,  wo  sie  diese  so  oft  hindert  oder  zer- 
stört, da  stellt  sich  auch  nur  zu  leicht  das  gänzliche  Mißtrauen  gegen  das  Ge- 
lingen des  kühnen  Menschenfleißes  ein,  und  dieser  selbst  wird  langsamer  im 
Denken,  Entschließen  und  Handeln.  Begegnet  man  doch  schon  auf  jedem  Gang 
durch  ein  Gebirgstal  den  Merktafeln,  die  es  zeigen,  wie  jemand  plötzlich  von 
einem  gewaltsamen  Tode  ereilt  wurde,  und  daß  sich  hier  die  Natur  selbst  die 
einfachsten  Erfolge  menschlicher  Arbeit  um  einen  viel  höheren  Preis  abkaufen 
läßt;  so  verzeichnet  beispielsweise  das  Totenbuch  des  dünn  bevölkerten  Tales 
Moos  im  Hinterpasseier  weit  über  300  Personen,  die  einzeln  innerhalb  200  Jahren 
auf  eine  solche  Weise  zu  Grunde  gingen  ^),  und  es  war  auch  nur  ein  solcher  Fall, 
aber  einer,  der  seinen  Dichter  gefunden  hat,  als  der  Mönch  Notker  (Anfang  des 
10.  Jahrhunderts)  im  Martinstobel  bei  Rorschach  vor  einem  Verunglückten  stand 

')  Oe.  11.  S.  214.        2)  St.  S.  26.        J)  N.  A.  S.  79;  Z.  A.  1902.  S.  81.        *)  B.  W.  S.  337. 


14  I-  Kapitel. 

und  ihm  dieser  Anblick  den  Keim  zu  dem  Liede  „Media  vita  in    morte   sumus" 
in  die  Seele  legte. 

Auf  jenen  Einfluß,  der  für  alle  Zeiten  und  überall  Geltung  hat,  ist  daher, 
ebensosehr  wie  auf  die  schwere  Zugänglichkeit  eines  Gebirgslandes  an  sich,  das 
langsame  Bahnbrechen  des  Fortschritts,  die  Rückständigkeit  der  Kultureinrich- 
tungen, das  Festhalten  an  alten  Sitten  und  die  Unduldsamkeit  bei  den  Gebirgs- 
bewohnern zurückzuführen;  alles  in  allem  eine  retardierende  Macht  auf  den 
Gang  der  Geschichte,  die  jedoch  gerade  in  den  Alpen  infolge  der  Größe  des 
Gebirges  sich  zu  besonderer  Stärke  entwickeln  konnte,  und  die  wegen  der  Lage 
dieses  Gebirges  inmitten  eines  weiten  geschichtlichen  Schauplatzes  von  Jahr- 
tausenden um  so  wichtiger  werden  mußte.  Und  so  ist  es  nun  auch;  denn  wir 
werden  tatsächlich  hier  bei  dem  Suchen  nach  Resten  alter  Kultur  durch  eine 
derartig  reiche  Ausbeute,  durch  einen  so  vielseitigen  Befund  überrascht,  daß  man 
dieses  Gebirge  auch  heute  noch  als  das  Raritätenkabinett  Europas  bezeichnen 
kann,  wie  auch  andererseits  das  Wesen  jener  konservierenden  Wirkung  sich  an 
den  entlegensten  Stellen  des  Gebirges  am  deutlichsten  enthüllen  wird,  weil  es 
hier  an  seinen  letzten  Konsequenzen  angelangt  ist. 
Die  Reste  alter  Die  bekanntesten  Fälle  dieser  Art  liegen  nun  zunächst  auf  ethnographischem 

evo  erung.  Qgjjjgj^  Fälle,  für  die  sozusagen  als  monumentales  Beispiel  das  Dasein  der  Latiner, 
der  unvermischten  Nachkommen  der  alten  römischen  Provinzialbevölkerung,  gelten 
kann.  Wie  diese  Bevölkerung  nach  und  nach  auf  ihren  heutigen  Stand  reduziert 
wurde,  das  gehört  an  eine  andere  Stelle  des  Buches;  wichtig  ist  dagegen  in 
diesem  Zusammenhange,  d.  h.  in  welcher  Weise  überhaupt  das  Hochgebirge  die 
Erhaltung  dieser  alten  Bevölkerung  begünstigt  hat,  die  Lage  der  Punkte,  wo 
jene  Reste  auch  heute  noch  zu  finden  sind.  Diese  ziehen  sich  in  einer  langen, 
wenn  auch  unterbrochenen  Kette  von  den  Tälern  des  Vorderrheines  bis  zu  den 
Vorbergen  des  Triglav.  Es  ist  dies  somit  eine  Linie,  die  in  der  Mitte  des 
Gebirges  läuft,  die  aber  doch  weder,  wie  man  vielleicht  erwarten  könnte,  schon 
an  dem  höchsten  Teil  des  Gebirges,  am  Montblanc  beginnt,  noch  sich  bis  in 
die  Ostalpen  fortsetzt,  wo  die  Flächenausdehnung  des  Gebirges  am  umfang- 
reichsn  ist.te  Wohl  aber  befindet  sich  das  Gebiet  jener  Latiner  in  demjenigen 
Mittelstück  der  Alpen,  in  dem  die  Mannigfaltigkeit,  Vielseitigkeit  und  Unregel- 
mäßigkeit am  stärksten  ausgeprägt  ist,  und  wo  daher  die  geographischen  Kräfte 
den  menschlichen  Einflüssen  am  erfolgreichsten  entgegenwirken  konnten.  Es 
liegt  weiterhin  in  dem  Wesen  jener  drei  Völker,  der  Italiener,  der  Deutschen 
und  der  Latiner  selbst,  begründet,  daß  die  Widerstandskraft  der  letzteren  gegen 
die  Italiener  an  sich  geringer  sein  mußte  als  gegen  das  deutsche  Volkstum,  und 
daher  sehen  wir  denn  auch  heute  die  Latiner  vorwiegend  in  solchen  Alpentälern, 
die  zwar  nach  Norden  offenstehen,  nach  Süden  hin  dagegen  durch  hohe  Gebirgs- 
riegel  abgeschlossen  sind.  Nur  die  latinischen  Täler  Friauls  öffnen  sich  nach 
Süden;  diese  liegen  jedoch  wiederum   so  weit  von   dem  Mittelpunkte  des  ita- 


Die  Naturkräfte  in  der  Geschichte  der  Alpenlinder.  15 

lienischen  Volkstums  entfernt,   daß   dessen   Einfluß  hier   nur  weniger  nachhaltig 
wirken  konnte. 

Aber  auch  sonst  sehen  wir  heute  noch  innerhalb  der  Alpenbevölkcrung 
deutlicher  und  weniger  deutlich  die  verschiedenartigsten  Typen  und  Spielarten, 
ein  Zustand,  der  in  früherer  Zeit  begreiflicherweise  noch  viel  bunter  und  mannig- 
faltiger als  heute  gewesen  ist.  So  zeigen  die  Einfischtaler  (Wallis)  einen  ganz 
besonderen,  fast  semitischen  Typus;  die  Leute  des  Haslitales  werden  als  Friesen 
oder  Sachsen  angesprochen  '),  und  auch  die  Schwyzer  unterschieden  sich  wenig- 
stens noch  im  fünfzehnten  Jahrhundert  in  Sitte  und  Sprache  scharf  von  allen 
ihren  Nachbarn  -).  Die  Leute  um  Bormio,  aber  auch  nur  diese,  sprechen  genau 
denselben  Dialekt  wie  die  Einwohner  von  Florenz;  im  Vintschgau  herrscht 
zwischen  Latsch  und  Laas  ein  ganz  eigentümlicher  mongolischer  Schädelbau-'), 
während  nördlich  die  Leute  im  Schnalsertal  sich  trotz  ihrer  deutschen  Sprache 
fast  wie  Romanen  ausnehmen.  Der  hinterste  Teil  des  Sarntales  zeigt  in  allem 
und  jedem  auch  heute  noch  kaum  ein  anderes  Bild  wie  vor  500  Jahren  ■*),  und 
reine  Bajuwaren  in  Tirol  kann  man  heute  zwar  nicht  am  Brenner  oder  im  Puster- 
tal, wohl  aber  an  dem  letzten  entlegenen  Ende  des  langen  Gailtales  (Lessach- 
tal) antreffen.  Die  Bewohner  des  Tuxertals  sind  ganz  andere  Leute  als  die  ihnen 
benachbarten  Zillertaler;  das  Trentatal  am  oberen  Isonzo,  die  Gemeinde  Krakau 
(bei  Murau)  und  wie  viele  andere  noch  haben  ihren  besonderen  Menschenschlag. 
Besonders  deutlich,  weil  nicht  an  einem  einzigen,  sondern  an  mehreren 
Punkten  in  gleicher  Weise,  tritt  nun  auch  jene  Schwerflüssigkeit  des  ethnogra- 
phischen Elementes  in  den  Tälern  der  sogenannten  Walser  zu  Tage.  Solche 
finden  sich  heute  in  Vals-Platz  südlich  Ilanz,  im  Davosertal,  im  Oberhalbstein  5), 
in  Vorarlücrg  und  bei  Oberstdorf,  und  schließlich,  am  weitesten  östlich,  in  Tirol, 
wo  das  eine  Tal  am  Brenner  bei  S.  Jodok,  das  andere  im  Pustertal  bei  Mühlbach 
abgeht.  Auch  das  Patznaun  ist  einst  zum  Teil  von  solchen  Waisern  bewohnt 
gewesen^).  Wir  brauchen  hier  nicht  zu  untersuchen,  zu  welchem  deutschen 
Stamm  diese  Walser  gehören,  oder  zu  welchem  Zeitpunkt  die  so  gefärbten 
Steinchen  in  das  Völkermosaik  der  Alpen  eingefügt  wurden,  auch  soll  zunächst 
nicht  einmal  gesagt  werden,  daß  überall,  wo  dieser  Name  erscheint,  er  den 
gleichen  Ursprung  haben  muß,  da  ja  allein  schon  die  allgemeine  Bezeichnung 
vallis  für  Tal  da  und  dort  ebendenselben  Namen  hervorgerufen  haben  kann'^); 
das  ist  aber  Tatsache,  daß  in  einigen  der  genannten  Täler  einmal  während  des 
Mittelalters  eine  deutsche  Bevölkerung  einzog,  die  aus  dem  Oberwallis  kam, 
und  daß  deren  charakteristische  Merkmale  in  Sprache,  in  Tracht  und  im  Kultus, 
d.  h.  in  der  Verehrung  des  gleichen  Heiligen  (Theodul,  Jodok),  bis  heute 
noch  standgehalten  haben. 

')  M.  Schw.  S.  271.  2)  Z.  A.  1903.  S.  59.  -ä)  M.  D.  A.  I.  T.  4.  Au.  S.  261.  "«)  N.  A.  S.  105f. 
5)  PI.  S.  43.  A.  1.  6)  F.  1906.  S.  144.  ■?)  So  z.  B.  bei  der  Valser  Alpe  im  Passeier.  Vgl.  B.  W. 
S.  253. 


16  I-  Kapitel. 

Rückständige  Aber  auch  andere,  über  das    ethnographische   Gebiet    hinausgehende    Vor- 

erscheinungen stellungslcreise  haben  in  den  Alpen  zuweilen  eine  besonders  lange  Lebenskraft 
in  den  Alpen,  entwickelt  oder  dort  eine  Zuflucht  gesucht,  nachdem  ihre  Zugkraft  anderswo 
längst  gebrochen  war.  Der  Bischof  von  Aventicum  rechnet  im  J.  594  trotz 
aller  Frankenkönige  noch  nach  byzantinischen  Kaisern  '),  und  die  berühmte,  noch 
heute  in  Gebrauch  stehende  Kultstätte  S.  Romedio  ist  deshalb  ein  ganz  einzig- 
artiger Punkt,  weil  ihre  Entstehung  auf  das  älteste  christliche  Anachoretentum 
zurückgeht.  Die  Waldenser  haben  in  den  stillen  Tälern  der  Westalpen  jahr- 
hundertelang ihr  Leben  gefristet,  und  es  kann  uns  daher  auch  nicht  überraschen, 
wenn  im  J.  1781,  nach  dem  Toleranzedikt  Josephs  IL,  auf  einmal  in  den 
Ostalpen  eine  ganze  Anzahl  unversehrter  evangelischer  Gemeinden  zum  Vorschein 
kam.  In  Buchenstein  (Dolomiten)  bestand  bis  in  das  19.  Jahrhundert  eine  Sekte 
mittelalterlicher  Flagellanten^),  und  die  stille  Wildschönau  (Unterinntal)  ist  heute 
noch  der  Schauplatz  uralter  Sitten  und  Rechtsbräuche  •^). 

Es  ist  aber  doch  auch  hier  wie  überall;  in  den  Lücken  und  Spalten,  wo 
der  frische  Luftzug  des  Fortschritts  nicht  hinzudringen  vermag,  da  müssen  um 
so  stärker  wie  ein  böses  Unkraut  die  Mächte  der  Rückständigkeit  und  des  Aber- 
glaubens sich  ausbreiten,  und  es  ist  besser,  daß  derjenige,  der  Menschensiolz 
und  Menschenglück  sucht,  nicht  allzutief  in  jene  Kulturverhältnisse  hineinschaut^). 
Wir  können  es  dem  Abt  von  Marienberg  schon  glauben,  wenn  er  im  17.  Jahr- 
hundert der  Regierung  in  Innsbruck  berichtet,  das  die  latinische  Sprache  in 
den  Nebentälern  des  Vintschgaues  damals  „dermaßen  grob  war,  daß  sie  weder 
geschrieben  noch  gelesen,  und  überhaupt  von  niemand,  der  nicht  darin  geboren 
war,  erlernt  werden  konnte^)."  In  Innsbruck  selbst  aber  lebte  später,  zu  den- 
selben Zeiten,  als  Lessing  seine  Werke  in  die  Welt  sandte,  als  Vorsteher  der 
Landesbibliothek  ein  verdienter  und  unterrichteter  Forscher,  Roschmann,  sicher- 
lich der  größte  Gelehrte,  den  es  damals  in  Tirol  gab;  aber  selbst  dessen  Schriften 
sind  in  einem  Deutsch  geschrieben,  fast  so  kraus  und  wirr  wie  es  in  den  mittel- 
alterlichen Chroniken  steht  ö).  Aus  Klösterle  am  Arlberg  nahm  ein  weitberühmter 
„erprobter  Geistesmann"  besonderer  Art,  der  Pfarrer  Gaßner,  seinen  Ausgang,  der 
noch  um  1775  an  Tausenden  und  Abertausenden  Wunderkuren  und  Teufelsaus- 
treibungen vornahm'^),  und  es  paßt  zu  dieser  Nachbarschaft,  daß  auch  in  Landeck 
die  letzte  Hexenverbrennung  stattfand,  ein  Ereignis,  wie  es  trüber  und  mittel- 
alterlicher nicht  gedacht  werden  kann  (1773). 
Die  Wir  kommen  nun  zu  jenem  andern  Gesichtspunkt,  der  gleichfalls  geschichtlich 

Wirkun^g  dtr  "»cht  ohne  Folgen  geblieben  ist,  bei  ,dem  die  verbergende,  schützende  Wirkung 
Alpen,  der  Berge   von   vornherein   erkannt  und   bewußtermaßen   zu    einem   bestimmten 
Zwecke  ausgenutzt  wurde.     Eine    derartig    tragische    Bestimmung,   wie    sie    den 
Alpen   während   der   Völkerwanderung  zugefallen   war,  als   dieses   Gebirge    wie 

')  Quellenkunde,  Sammlung  Goeschen,  I.  B.  S.  43.        2)  m.  D.  A.  11.  T.  6  Au.  S.311.        3)  Haush. 
S.  84.         4)  Vgl.  Z.  A.  1901.S.  119.         S)  ju.  S.  291.  A.  2.        6)  Vgl.  Meyer.  S.  201.       7)  Schw.  S.  150. 


Die  Naturkräfte  in  der  Geschichte  der  Alpenländer.  17 

eine  letzte  Zufluchtsstätte  von  allen  Seiten  her  die  Verfolgten  und  Vorsichtigen 
an  sich  gezogen  hatte,  ist  in  den  folgenden  Zeiten  niemals  auch  nur  annähernd 
hervorgetreten.  Wohl  aber  haben  oft  genug  einzelne,  sobald  die  Ereignisse  über 
sie  zusammenbrachen,  in  der  Unwegsamkeit  und  Verstecktheit  des  Gebirges 
ihren  letzten  und  besten  Bundesgenossen  gefunden.  Als  Arnulf  im  J.  894 
Rudolf,  den  König  von  Hochburgund,  mit  Krieg  überzog  und  von  Italien  her- 
überkommend auch  wirklich  auf  das  ganze  Land  zwischen  Alpen  und  Jura  die 
Hand  gelegt  hatte,  blieb  der  Erfolg  allein  deshalb  aus,  weil  der  burgundische 
König  selbst,  auf  dessen  Beseitigung  alles  ankam,  vor  seinen  Feinden  plötzlich 
in  den  Bergen  verschwand  ')  Weit  bekannt  ist  dann  das  Schicksal  Friedrichs 
mit  der  leeren  Tasche,  der  im  J.  1416,  geächtet  und  verfolgt,  sich  in  der 
einsamen  Burg  Bäreneck  im  Kaunsertal  und  vor  allem  in  den  Rofener  Höfen, 
in  der  damals  weltfernsten  Ecke  der  Ötztaler  Alpen,  verborgen  hielt,  und  es  ist 
für  die  Dauerhaftigkeit  jener  natürlichen  Mächte  bezeichnend,  daß  auch  die 
Pfandlerhütte  (Passeier),  die  Hofer,  der  andere  Volksheld  Tirols,  400  Jahre 
später  als  Versteck  wählte,  in  der  Luftlinie  nur  30  km  von  jenen  !^öfen  ent- 
fernt liegt. 

Der  junge  Herzog  Christoph  von  Württemberg,  den  Karl  V.  als  Gefangenen 
mit  sich  führte,  benutzte  auf  einer  Reise  des  Hofes  nach  Italien  eine  stille  Stelle 
der  Alpen,  um  nach  Salzburg  hin  zu  entfliehen,  ein  Unternehmen,  das  auch  wirklich 
gelang,  infolge  der  Schwierigkeiten  der  Verfolgung  im  Hochgebirge  (1532);  und 
nur  die  Flucht  aus  Innsbruck  tief  in  die  Berge  hinein  rettete  dann  auch  Karl  V. 
selbst  im  J.  1552  vor  Moritz  von  Sachsen,  während  zugleich  die  Burg  Rodeneck 
bei  Brixen  für  die  wichtigsten  Schriften  und  die  Kleinode  des  Kaisers  das  Versteck 
abgeben  mußte-).  Auch  im  Jahre  1646  versuchte  man  bei  dem  Anrücken  der 
Schweden  alle  bewegliche  Habe  im  Wert  von  40  Tonnen  Goldes  in  der  festen 
Bregenzer  Klause  zu  bergen.  Während  des  Türkenkrieges  nahm  Kaiser  Leopold  I. 
im  Schloß  S.  Wolfgang  bei  Ischl  Aufenthalt^),  und  wiederum  suchten  vor  der 
Revolution  in  Wien  im  J.  1848  Kaiser  und  Hof  in  Innsbruck  ihre  Zuflucht. 
Auch  als  im  J.  1703  die  Bayern  von  Norden,  die  Franzosen  von  Süden  in  Tirol 
eindrangen,  fanden  sich  die  Bischöfe  von  Trient  und  Brixen  in  dem  stillen  Wall- 
fahrtsort Dreikirchen  (bei  Klausen)  ein,  um  gemeinsam  und  wohlgeborgene  dort 
oben  das  Ende  des  Ungewitters  abzuwarten''). 

Aber  auch  diese  Eigenschaft  der  Alpen  hat  ihre  dunkle  Kehrseite;  denn 
es  sind  vielleicht  noch  mehr,  deren  Namen  wir  nur  nicht  kennen,  die  unfrei- 
willig und  auf  Nimmerwiederkehr  hier  verschwunden  sind.  Abseits  der  Welt, 
in  Hohencms,  ließ  der  Hohenstaufe  Heinrich  VI.  den  Thronprätendenten  Siziliens, 
Friedrich,  ein  unglückliches,  geblendetes  Kind,  gefangen  setzen,  und  auch  im 
J.  1618  wurde   der  mächtige   Vertraute   des   Kaisers   Matthias,    Kardinal    Khlesl, 

')  Oe.  I.  S.  246.  2)  Ranke,  Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der  Reformation,  7.  Au,  III.  B. 
S.  321,  V.  B.  S.  178.        3)  schw.  S.  134.        ■•)  N.  A.  S.  59. 

Scberfel,  Verkehrsgeschichte  der  Alpen.    2.  Band.  2 


IS  I-  Kapitel. 

von  dem  Thronfolger  Ferdinand  kurzer  Hand  dadurch  aus  dem  Wege  geräumt, 
daß  er  als  Gefangener  von  Wien  nach  Tirol  (Ambras)  transportiert  wurde.  Wie 
grauer  Abendnebel  lagert  es  oft  über  jenen  Vorgängen.  Da  aber  die  Gestalten 
der  Sage  gern  ein  solches  Helldunkel  aufsuchen,  so  können  wir  sie  auch  in 
diesem  Gebiete  antreffen;  so  soll  der  Kaisermörder  Parricida  am  Walchensee 
unerkannt  gestorben  und  begraben  worden  sein,  und  auf  der  Burg  Hohenaschau 
(Priental)  soll  sich  Luther,  nachdem  er  vor  Cajetan  aus  Augsburg  geflohen  war, 
aufgehalten  haben.  Etwas  Tatsächliches  kann  man  aber  auch  aus  solchen  An- 
deutungen mit  Bestimmtheit  entnehmen;  die  Stellen,  die  hier  bezeichnet  werden, 
müssen  einstmals  wirklich  unendlich  verborgen  und  weltverlassen  dagelegen  haben. 


II.  Kapitel. 
Die  Kirche  in  den  Bergen. 


Es   ist  ein   einfacher  aber  durchaus  richtiger  Standpunkt,   wenn  man  nicht  Die  junge 
allein    das  Leben   des  Einzelnen   sondern   auch   das  aller  der  Kreise,   die  durch  Kj^che  als 
den  Zusammenschluß  einer  Mehrzahl  gebildet  werden,  also  aller  geschichtlichen  geschichtliche 
Schöpfungen,   als   einen   fortdauernden  Kampf  um   das  Dasein  ansieht.     Es  mag  Aipen  '"    ^" 
sein,   daß   in  Zeiten,   in   denen  die  Staaten  sich  konsolidiert  haben,   die  Motive 
komplizierter,  die  Kulturerscheinungen  reifer  und  blühender  werden;  das  Gerüst 
der  historischen  Tatsachen  ist  doch  stets  aus  Kampf  und  Krieg  geformt  gewesen. 
In   keiner  Periode   aber  tritt  dies  nackter  und  offener  hervor  wie  in  den  ersten 
Jahrhunderten   des  Mittelalters,   als  in  allen  jenen  Reichen,   die  auf  dem  Boden 
der  alten  Welt  neu  entstanden  waren,  Herrscher  und  Herrschende  allein  um  die 
Behauptung  ihrer  Machtstellung  zu  ringen  hatten,  als  für  diese  daher  alle  eigent- 
lichen   Kulturaufgaben    nur   ein   unzeitgemäßes   und   unerprobtes    Gebiet   bleiben 
mußten,   als   die  Regierungsgewalt  überhaupt  sich  nur  in  dem  Mittelpunkt  ihres 
Machtkreises  wirklich  fühlbar  machen  konnte,  in  weiterer  Entfernung  dagegen  um 
so  weniger  nachhaltig  zu  spüren  war. 

Da  wir  aber  jene  Mittelpunkte  nur  in  der  Ebene  und  abseits  der  Alpen- 
länder zu  suchen  haben,  so  ergibt  sich  hieraus,  daß  diese  zunächst  für  lange 
Zeiten  sich  sozusagen  selbst  überlassen  blieben,  und  daß  staatliches  Leben,  so- 
weit man  überhaupt  damals  von  einem  solchen  reden  kann,  hier  am  allerwenigsten 
zu  finden  war,  ein  Zustand,  der,  wie  wir  gesehen  haben,  durch  die  Natur  des 
zähen  Gebirgslandes  nur  befördert  werden  konnte.  Hier  tritt  nun  aber  ein  Ele- 
ment in  die  Lücke  ein,  das  in  den  Alpen  während  der  ersten  Jahrhunderte  des 
Mittelalters  als  die  einzig  schöpferische  und  kulturbringende  Macht  angesehen 
werden  muß,  die  Kirche. 

Wenn  für  das  Anbrechen  des  Mittelalters  der  Untergang  der  antiken  Welt 
und  das  Aufkommen  neuer  selbständiger  Völker  die  grundlegenden  Tatsachen 
sind,  so  bleibt  dann  die  Stärke  des  religiösen  Gefühls,   die  Art,  wie  die  Kirche 

2* 


20  H-  Kapitel. 

dieses  Gefühl  für  ihre  Zwecke  verwendet  und  so  selbst  als  eine  geschichtliche 
Macht  auftritt,  von  Anfang  bis  zu  Ende  der  hervorstechende  Charakterzug  dieser 
tausendjährigen  Epoche.  Wie  bewegt  und  zerrissen  aber  auch  gerade  jene  Zeiten 
vor  uns  stehen,  in  denen  die  Kirche  am  anspruchsvollsten  auftrat,  wie  sehr  es 
überhaupt  dem  Zweifel  unterliegen  muß,  ob  die  religiösen  Motive,  wenn  sie  in 
übermäßiger  Stärke  in  das  geschichtliche  Leben  eingreifen,  Menschenglück  und 
Menschenwohl  zu  befördern  vermögen,  hier  in  den  Alpenländern  haben  wir  wirk- 
lich eine  Periode  vor  uns,  in  der  die  Kirche  aus  sich  selbst  heraus  Geschichte 
gemacht  hat,  lediglich  mit  einer  kulturfördernden  und  segenbringenden  Wirkung. 
Es  ist  fast,  als  ob  dieses  Institut  damals  noch  dem  Ursprung  besonders  nahe 
gewesen  wäre,  von  dem  es  auszugehen  behauptet;  es  ist  ein  sonnenwarmes,  herz- 
erfreuendes Leben,  das  uns  hier  anmutet,  und  kein  Schauplatz  auf  der  ganzen 
Erde  kann  es  auch  heute  noch  deutlicher  als  die  Alpenländer  erzählen,  über 
welch'  frische  und  schöpferische  Kraft  die  christliche  Kirche  in  ihrer  Jugendzeit 
verfügte. 
Westalpen,  Für  alle  Teile  triiTt  diese  Erscheinung  freilich  nicht  in  gleichem  Maße  zu; 

^"'^Ostalpen  ^'^  findet  sich  weniger  ausgeprägt  im  Westen  und  am  Südrand  wie  im  Osten 
des  Gebirges,  ganz  durchsichtig  dagegen  im  eigentlichen  Mittelstück  der  Alpen. 
Dort  in  den  Westalpen  und  am  Südrand  waren  auch  damals  die  Quellen  der 
Zivilisation  nicht  völlig  verschüttet,  so  daß  das  neu  einsetzende  Leben  ungestört 
in  diese  einlenken  konnte,  während  die  Ostalpen,  wo  das  Gegenteil  nur  um  so 
tiefer  Platz  gegriffen  hatte,  zunächst  noch  ganz  abseits  von  jenem  neu  entstehenden 
Kulturkreis  gelegen  waren.  Im  Osten  der  Alpen  hat  daher  die  Kirche  erst  viel 
später  mit  ihrer  Arbeit  beginnen  können,  auch  hat  sie  sich  dann  hier  viel  häufiger 
und  williger  von  der  weltlichen  Gewalt  die  Hand  führen  lassen. 

Überblickt  man  die  Tätigkeit  der  Kirche  während  des  ersten  Mittelalters, 
so  zeigt  es  sich  überall,  daß  diese  nirgends  willkürlich  oder  selbständig  vorgeht, 
sondern  sich  zunächst  an  solchen  Punkten  einstellt,  deren  Zweckmäßigkeit  und 
Wichtigkeit  bereits  unter  den  Römern  eine  jahrhundertelange  Probe  bestanden 
hatte.  Es  ist  also  äußerlich  nichts  weniger  als  eine  neue  Zeit,  sondern  nur  eine 
Wiederaufnahme  des  Lebens  zwar  mit  neuem  Inhalt  aber  doch  im  alten  Rahmen, 
und  zugleich  ein  greifbarer  Beweis  dafür,  daß  nicht  etwa  dem  Christentum  erst 
der  Anbruch  dieses  neuen  Zeitalters  zur  Entfaltung  seiner  vollen  Lebenskraft 
verhalf,  sondern  daß  jenes  vielmehr  nur  als  die  bei  weitem  mächtigste  und  kultur- 
bringende Macht  der  Antike  am  Leben  geblieben  war  und  als  solche  nun  not- 
wendig auch  in  der  veränderten  Zeit  weiterwirkte. 

Deshalb  gehört  aber  auch  die  Entstehung  der  christlichen  Organisation  in 
den  Westalpen  und  am  ganzen  Südrand  des  Gebirges  in  das  römische  Altertum, 
wie  dieselbe  ja  auch  dort  besprochen  worden  ist ').  Fast  alle  wichtigen  kirch- 
lichen Gründungen  stehen  hier  buchstäblich  auf  römischen  Fundamenten,  in  Nizza, 
1)  Vgl.  Verkehrsgeschichte  d.  A.,  I.  B.  S.  182f. 


Die  Kirche  in  den  Bergen.  21 

Susa,  Embrun,  Ivrea  und  Aosta  so  gut  wie  in  Martigny  und  S.  Maurice,  in  Como, 
Brescia  und  Verona  so  gut  wie  in  Cividale  und  Aquileja,  und  auch  Triest  tritt 
bezeichnenderweise  im  Mittelalter  zuerst  als  ein  von  den  dortigen  Bischöfen  be- 
herrschtes Territorium  hervor,  dessen  Bezirk  mit  der  alten  römischen  regio 
identisch  ist.  Wie  sehr  aber  diese  Bewegung  die  Regel  war,  läßt  sich  daraus 
ersehen,  daß  sie  sich  nicht  allein  an  den  großen  Kulturzentren  zeigt,  sondern 
auch  überall  bis  in  die  entlegensten  Punkte  fortsetzt.  In  Sitten  finden  sich  die 
ältesten  Reste  des  Mittelalters,  die  Katharinenkirche  (9.  Jahrhundert),  auf  dem 
dortigen  Schlosse  Valeria.  also  unmittelbar  auf  römischer  Grundlage;  in  Giornico 
ist  es  gleichfalls  die  älteste  Kirche  der  Landschaft,  die  vorher  ein  römischer 
Tempel  gewesen  sein  soll;  auch  in  Maderno  und  Toscolano  am  Gardasee  sind 
die  Römersteine  gerade  in  die  ältesten  Kirchen  eingemauert,  und  noch  im 
J.  1220  wurde  hier  auf  der  Isola  di  Garda  in  die  Ruinen  eines  Juppitertempels 
ein  Kloster  eingebaut.  Auch  in  Trient  (S.  Apollinaris)  und  im  Suganatal 
(Calceranica)  wiederholt  sich  derselbe  Vorgang-  Neu  und  ganz  mittelalterlich  ist 
dagegen  auch  in  diesen  Teilen  der  Alpen  das  Hervortreten  der  Klöster,  und  es 
ist  dabei  zu  beobachten,  daß  diese  zumeist  nur  an  solchen  Punkten  erscheinen, 
wo  die  Kirche  ausnahmsweise  auch  hier  selbständig  vorgehen  mußte;  wie  dies  aber 
auch  durchaus  der  intensiven  und  auf  das  Praktische  gerichteten  Kulturtätigkeit 
entspricht,  die  durch  solche  Anstalten  hervorgerufen  werden  sollte. 

Einen  ganz  anderen  Weg  nimmt  nun  aber  diese  Entwicklung  am  Nordrand  Der.Nordteil 
der  Alpen.     Auch   dort   hatte   die  Kirche   bereits   während   der  Römerherrschaft  *    " 

an  den  von  der  Regierung  bevorzugten  Plätzen  ihre  Bischofssitze  eingerichtet 
gehabt,  aber  gerade  dort  wurde  dann  auch  der  Kreislauf  der  Kulturströmungen 
durch  die  germanische  Völkerwanderung  derart  gestört  und  in  andere  Bahnen 
gewiesen,  daß  die  Kirche  hier  von  Anfang  an  zu  neuen  und  selbständigen  Maß- 
nahmen gedrängt  wurde,  Maßnahmen,  die,  wenn  auch  im  einzelnen  ganz  ver- 
schieden, doch  überall  eine  besondere  Fähigkeit  erkennen  lassen,  sich  den  ver- 
änderten Verhältnissen  anzupassen.  So  hielten  die  Bischöfe  von  Vindonissa  und 
Augusta  Rauracorum  durchaus  mit  den  Zeiten  Schritt,  wenn  sie  ihren  Sitz  da- 
mals nach  Konstanz  bezl.  Basel  verlegten  und  so  nach  Orten  übersiedelten, 
denen  nunmehr  die  Zukunft  gehörte  ')•  Auch  in  der  antiken  Hauptstadt  Helve- 
tiens,  in  Aventicum,  ließ  es  sich  jetzt  so  schlecht  regieren,  daß  die  Bischöfe  von 
dort  nach  Lausanne  verzogen,  und  die  Folgezeit  hat  es  auch  hier  bewiesen,  von 
welch'  scharfem  Blick  diese  Maßregel  eingegeben  war;  denn  jener  neue  Sitz, 
„wo  sich  die  Wege  der  nach  Rom  Ziehenden,  der  Franken,  Fläminger,  Gallier, 
Engländer,  Sachsen  und  Skandinavier  vereinigen"  2),  sollte  sich  dann  so  recht  zu 
einem  Brennpunkt  des  großen  Verkehrs  auswachsen.  Auch  in  Tirol  wiederholt 
sich  später  in  Gestalt  der  Verlegung  des  Bischofssitzes  von  Sehen  nach  Brixen 
dieselbe  Erscheinung. 
')  Vgl.  Ju.  S.  276.     Diese  Verschiebungen  fallen  in  das  6.  bezl.  7.  Jahrhundert.        2)  Oe.  I.  S.  238. 


22  U-  Kapitel. 

Man  bemerkt  also,  wie  hier  die  Kirche  durchaus  neue  Leistungen  und 
Gruppierungen  hervorzurufen  vermag.  Der  ausgedehnteste  Schauplatz  einer 
solchen  Entwickelung  ist  nun  aber  die  heutige  deutsche  Schweiz  geworden,  die 
Gegend  südlich  des  Bodensees,  die  Ufer  des  Zürich-  und  Walensees  bis  zu  den 
Glarner  Alpen,  und  von  den  Urkantonen  bis  hinein  in  das  Berner  Oberland. 
Diese  im  Altertum  so  weltfernen  Gebiete  sehen  wir  jetzt  mit  einem  Schlage  zum 
Leben  erwachen  und  hier  die  kirchlichen  Institutionen  wie  am  taufrischen  Morgen 
mit  der  geistigen  und  materiellen  Erschließung  des  Landes  beginnen. 

Die  hervorragendste  aller  jener  kirchlichen  Gründungen  ist  die  Schöpfung 
des  h.  Gallus,  das  Kloster  S.  Gallen,  während  sich  nördlich,  an  den  Ufern  des 
Bodensees,  an  sie  das  Kloster  Reichenau  anschließt.  An  diese  beiden  reihen 
sich  weiter  im  Süden  die  Erschließung  von  Glarus,  wo  der  h.  Fridolin  gewirkt 
haben  soll,  und  an  der  nördlichen  Pforte  Bündens  die  Gründung  Pirmins,  das 
Kloster  PFäfers.  Selbst  südlich  im  Herzen  dieses  Gebirgslandes  ist  die  Ent- 
stehung von  Disentis  eine  nach  damaligem  Sinne  ganz  moderne  Erscheinung, 
allein  schon  deshalb,  weil,  wie  schon  der  Name  es  ausspricht,  damit  ein  bisher 
ganz  weltfernes  Gebiet  erschlossen  wurde.  Nordöstlich  davon  ist  dann  aus  dem 
Kloster  S.  Leodegar  das  heutige  Luzern  emporgewachsen,  ein  Ereignis,  mit  dem 
wir  somit  dicht  an  die  Schwelle  der  Schweizer  Urkantone  gelangt  sind,  in  deren 
Bereich  die  Stiftung  von  Einsiedeln  (cella  Meginradi),  die  der  Pfarrkirche  in 
Thun  (993)  und  der  Klöster  Engelberg  (1121)  und  Interlaken  (1130)  unter  dem- 
selben Gesichtspunkt  gehören. 

Wichtig  ist  bei  dieser  ganzen  Entwickelung  nun  aber  ebenso  der  frühe 
Zeitpunkt,  an  dem  sie  begann,  wie  die  Tatsache,  daß  die  weltliche  Gewalt 
dabei  entweder  überhaupt  keinen  oder  nur  einen  ganz  oberflächlichen  Einfluß 
ausübte.  Einen  zwingenden  Geburtsschein  hat  wohl  kein  einziges  dieser  Klöster 
aufzuweisen,  aber  es  ist  doch  sehr  wahrscheinlich,  daß  die  Entstehung  von 
S.  Gallen  und  Disentis  um  die  Mitte  des  siebenten,  die  von  Pfäfers,  Reichenau 
und  Luzern  in  den  Anfang  des  achten  Jahrhunderts  zu  setzen  ist.  Die  Er- 
schließung von  Glarus  läßt  die  Sage  bereits  um  das  J.  530  vor  sich  gehen,  wenn 
auch  die  Zusammenhänge,  auf  die  sie  dabei  Bezug  nimmt,  erst  im  10.  Jahr- 
hundert geschichtlich  nachweisbar  werden,  ihre  Ergänzung  und  Belebung  finden 
nun  aber  diese  frühen  Daten  dadurch,  daß  irgendwelche  aus  dem  römischen 
Altertum  stammenden  Lebensbedingungen  bei  jenen  Vorgängen  nicht  im  geringsten 
zu  bemerken  sind,  daß  somit  ein  Einfluß  von  Süden  her  bei  ihnen  ganz  aus- 
geschaltet ist,  und  daß  sie  sämtlich  ihren  Ursprung  allein  im  Norden  der  Alpen 
haben.  Von  dort  kommen  daher  auch  alle  die  Helden  jener  kirchlichen  Grün- 
dungsgeschichten herangezogen,  Gallus  vom  fränkischen  Königshof,  Pirmin 
(Pfäfers)  aus  der  Gegend  von  Zweibrücken,  Meginrad  (Einsiedeln)  aus  Rotten- 
burg; über  Glarus  übte  tatsächlich  Säckingen,  die  Stadt  des  h.  Friedolin,  die 
Grundherrschaft  aus,   und  diejenige  über  Luzern  besaß   das   in  Murbach  (Elsaß) 


Die  Kirche  in  den  Bergen.  23 

gelegene  Mutterkloster,  ein  Zustand,  der  hier  über  ein   halbes  Jahrtausend  an- 
gedauert hat. 

Wenn  auch  noch  so  viel  von  den  Nachrichten  aus  jenen  fernen  Zeiten  verloren  S.  Gallen, 
gegangen  ist,  wie  u.a.  imj.  1799  das  unendlich  wertvolle  Archiv  von  Disentis '), 
so  ist  doch  immer  noch  in  Gestalt  der  S.  Gallener  Handschriften  ein  reicher 
und  weitbekannter  Vorrat  vorhanden,  der  es  uns  ermöglicht,  die  Art  und  Weise 
jener  Entwickelung  in  ihren  Anfängen  zu  belauschen.  Zunächst  hat  der  gläubige 
Verfasser  in  der  um  das  J.  775  entstandenen  Lebensbeschreibung  des  h.  Gallus 
nur  nebenbei  einige  kleine  Züge  in  seine  Darstellung  eingeflochten,  die  aber 
deshalb  besonders  wertvoll  sind,  weil  sie  einigermaßen  eine  Vorstellung  von 
dem  Zustand  jener  Landschaften  zu  Beginn  des  Mittelalters  geben  können,  ein 
Bild,  wie  es  auch  in  weitem  Umkreis  nicht  anders  gewesen  sein  wird.  Als  im 
7. Jahrhundert  jene  Kolonisten  südlich  des  Bodensees  eintrafen,  gehörte  dieses 
Gebiet  kirchlich  zu  dem  Bistum  Konstanz,  was  deshalb  wesentlich  ist,  weil  gerade 
dieser  Ort  neben  den  anderen  Städten  in  seiner  Nachbarschaft  (Brigantium,  Vito- 
durum,  Arbor  felix)  in  der  Römerzeit  am  allerwenigsten  genannt  wird.  Damals 
stehen  weiterhin  Turegum  (Zürich)  und  Arbon  noch  aufrecht;  hier  sitzen  auch 
fränkische  Machthaber,  während  ringsherum  auf  dem  ungeschützten  Lande  die 
Bewohner  überall  in  der  größten  Dürftigkeit  und  Roheit  dahinleben.  Es  ist  nun 
ganz  bezeichnend,  daß  Gallus  sich  zuerst  nach  Bregenz  wendet,  dem  alten 
römischen  Hauptort  dieser  Gegend,  der  damals  fast  in  Ruinen'  lag,  wo  aber 
bereits  während  der  Römerzeit  der  christliche  Kultus  Fuß  gefaßt  hatte.  Dieses 
Verfahren  hat  jedoch  nichts  weniger  als  Erfolg,  weil  die  Fäden  nach  rückwärts 
sich  hier  schon  als  völlig  zerschnitten  herausstellen,  und  die  Mönche  verlassen 
daher  jenen  Ort,  —  „eine  goldene  Schale  aber  voll  von  Schlangen",  wie  der  Chronist 
so  bezeichnend  sagt  —  um  sich  dann  schließlich  an  der  Stelle  niederzulassen, 
wo  S.  Gallen  entstehen  sollte.  Es  ist  auch  hier  wieder  ein  Fall,  bei  dem  aus 
Elend  und  Bedrängnis  Großes  hervorgeht,  und  „daß  ein  einzelner  Funke  von 
Sittlichkeit  und  Gottesfurcht  hier  ein  immer  brennendes  und  leuchtendes  Flämm- 
chen  angezündet  hat";  denn  infolge  der  Rückständigkeit  der  Landschaft  konnte 
jene  Gründung  anfangs  nur  als  ein  Fluchtwinkel  und  Zufluchtsort  für  die  Um- 
gebung dienen  und  auf  diese  Weise  ihre  Wurzeln  iii  den  Kulturboden  eintreiben^). 
Zu  welcher  Bedeutung  dieses  Stift  aber  dann  heranwuchs,  welchen  Umfang  seine 
Machtmittel,  sein  Einfluß  und  seine  Ansprüche  annahmen,  vor  allem  aber,  welch' 
angeregtes  und  betriebsames  Leben  von  dieser  Stelle  ausgegangen  ist,  davon 
können  schon  wenige  Blätter  der  späteren  S.  Gallener  Geschichtsschreibung  in 
ihrer  merkwürdigen  Vielseitigkeit  Zeugnis  geben. 

Aber  auch  der  Werdegang  der  anderen  benachbarten  kirchlichen  Gründungen,  Das  Resultat 
die  damals  entstanden   sind,  wird   sich   in   derselben  aufsteigenden  Linie  bewegt  täfigkeit. " 
haben,  und  das   Zusammenwirken    aller    dieser   Bestrebungen    hat    dann    in    der 

')  PI.  S.  284.        2)  Leben  des  h.  Gallus,  K.  42,45. 


und  Tirol. 


24  II.  Kapitel. 

Nordschweiz  einen  Zug  von  Betriebsamiieit  und  Unternehmungslust,  besonders 
aber  auch  von  Unabhängigkeitssinn  entstehen  lassen,  der  noch  heute  in  dem 
Charakter  der  dortigen  Bevölkerung  nachwirkt.  Es  mag  bereits  seine  Gründe 
gehabt  haben,  daß  wir  Arnold  von  Brescia,  dem  die  Welt  überall  zu  eng  und 
zu  dumpf  war,  einmal  in  der  Luft  Zürichs  wiederfinden  (um  1140)')»  und  es 
ist  dies  eine  Tatsache,  die  sich  wie  ein  Pfeiler  in  der  Brücke  jener  Entwickelung 
ausnimmt,  daß  hier  eine  rein  kirchliche,  allerdings  in  ihrem  Ursprünge  nicht 
von  Rom  ausgehende  Kulturarbeit  Zustände  geschaffen  hat,  die  der  Tendenz  der 
mittelalterlichen  Kirche  ganz  entgegengesetzt  werden  sollten. 
Oberbayern  Als  ein  Ableger  dieser  selbständigen   Schweizer  Bewegung  sind  auch  noch 

die  ersten  christlichen  Gründungen  im  Algäu,  in  Kempten  und  Füssen,  anzu- 
sehen, während  die  Entstehung  der  kirchlichen  Kolonisation  auf  der  bayrischen 
Hochebene  und  in  den  Ostalpen  an  anderer  Stelle  und  unter  anderen  Gesichts- 
punkten zu  betrachten  sein  wird.  Auch  darin  zeigt  sich  Augsburg  als  einer  der 
klassischen  Punkte  auf  deutschem  Boden,  weil  hier  das  ununterbrochene  Fort- 
bestehen eines  christlichen  Bischofs  seit  der  Römerzeit  kaum  in  Zweifel  zu 
ziehen  ist  2),  und  daselbst,  nicht  anders  als  in  Rom  selbst,  die  Stelle  des  Marty- 
riums der  ersten  Christen,  die  heutige  Ulrichskirche,  als  Kultstätte  stets  in 
Gebrauch  blieb.  Die  älteste  christliche  Organisation  in  Oberbayern  und  noch 
mehr  in  ganz  Rätien  unterscheidet  sich  schon  dadurch  von  derjenigen  in  der 
Schweiz,  weil  hier  der  Riß  wieder  viel  weniger  fühlbar  ist,  der  in  den  Zentral- 
alpen einerseits  und  in  den  Ostalpen  andererseits  die  Römerzeit  von  dem  Mittel- 
alter trennt,  wie  wir  uns  überhaupt  nicht  bloß  in  Bünden  sondern  auch  in  Tirol 
in  einem  Lande  befinden,  dessen  Charakter  in  seinen  tiefsten  Schichten  viel 
größere  Bestandteile  der  alten  südlichen  Kultur  aufweist,  und  jene  innere  Ver- 
wandtschaft, die  in  der  Beurteilung  der  Wichtigkeit  der  Örtlichkeiten  zwischen 
der  Römerzeit  und  der  frühchristlichen  Gründungsweise  besteht,  tritt  daher  auch 
dort  an  allen  Stellen  zu  Tage  ^). 

Es  ist  ursprünglich  nur  ein  Stück  antiker  Topographie,  wenn  die  Ziller, 
die  in  der  Römerzeit  als  Grenze  zwischen  Rätien  und  Norikum  gedient  hatte, 
später  zwei  Gaue  und  bis  heute  die  Diözesen  Brixen  und  Salzburg  von  einander 
getrennt  hat.  Im  Oberinntal  leiten  zahlreiche  Römerspuren  nach  Serfaus,  und 
dort  befindet  sich  auch  die  weitaus  älteste  Kirche  dieser  Gegend  (Georgskirche, 
8.  Jahrhundert).  Der  Ort  Meran  gehörte  ursprünglich  zur  Pfarre  des  Dorfes 
Tirol,  entsprechend  den  Verhältnissen,  wie  sie  dort  im  Altertum  geherrscht 
hatten,  und  daneben  im  alten  Maja  machten  sich  auch  der  h.  Valentin  und  Kor- 
binian  zu  schaffen '').  An  der  Stelle  von  Sebatum  bleibt  das  unbedeutende 
S.  Lorenzen  jahrhundertelang  als  Dekanat  des  ganzen  Pustertals  bestehen,  und 
an  derselben  wichtigen  Straßenstelle  findet  sich  auch  später  das  Kloster  Sonnen- 
burg wieder  ein.  In  Sehen  erhebt  sich  der  Sitz  der  Bischöfe  auf  dem  Boden 
1)  O.  F.  S.  158.        2)  PI.  s.  222;  W.  S.63;  Eg.  S.  196.        -^)  Vgl.  Anh.  1.        ")  ju.  s.  264.  A.  3. 


Die  Kirche  in  den  Bergen.  25 

eines  römischen  Isistempels  und  die  Schicicsale  des  Bistums  Trient  sind  insofern 
denen  des  benachbarten  Chur  analog,  als  auch  jenes,  wenn  auch  politisch  weniger 
selbständig,  sein  Gebiet  unverändert  aus  der  Römerzeit  in  das  Mittelalter  hin- 
übernahm. Bei  dem  großen  Frankeneinfall  von  590  in  Südtirol  sehen  wir  niemand 
anders  als  die  Bischöfe  Agnellus  von  Trient  und  Ingenuin  von  Sehen  nicht  nur 
durch  ihr  Eingreifen  die  Zerstörung  von  Verruca,  der  wichtigen  Zitadelle 
Trients,  hintanhalten,  sondern  letzteren  dann  auch  noch  in  das  Frankenreich 
reisen,  um  die  aus  seinem  Gebiet  weggeschleppten  Gefangenen  loszukaufen  '). 
Dieser  Vorfall  zeigt,  wer  damals  allein  hier,  selbst  inmitten  der  schwierigsten 
Verhältnisse,  Kulturaufgaben  zu  lösen  verstand;  und  es  ist  daher  äußerlich  wohl 
das  alte  Schema,  aber  es  sind  nichts  weniger  als  verbrauchte  Kräfte,  die  es  zur 
Anwendung  bringen. 

Eine  besondere  Erwähnung  erfordert  in  diesem  Zusammenhang  jedoch  noch 
der  wichtigste  Hauptort  Nordtirols.  Das  letzte,  was  einer  geschichtlichen  Nachricht 
über  das  antike  Veldidena  ähnlich  sieht,  ist  das  Vorkommen  von  Münzen  Justi- 
nians  (527 — 565)  auf  dem  dortigen  Boden  ^),  und  auch  das  erste  Lebenszeichen 
des  Mittelalters  tritt  uns  dann  hier  nirgendswo  anders  als  auf  dem  Baugrund 
Veldidenas  in  Gestalt  des  Klosters  Wilten  entgegen,  freilich  mit  Sicherheit  erst 
in  einer  verhältnismäßig  sehr  späten  Zeit,  um  das  J.  1128,  wie  die  Sage  wohl 
auch  nur  auf  ihre  Weise  durch  die  Annahme,  daß  Veldidena  von  den  Hunnen 
zerstört  worden  sei,  jenen  auffallend  langen  Riß  in  der  Überlieferung  zu  erklären 
versucht-^).  Hier  klafft  also  eine  weite  und  tiefe  Lücke,  nicht  allein  zeitlich  von 
vollen  600  Jahren,  sondern  auch  besonders  hinsichtlich  der  Art  und  Weise  der 
Gründung  des  Klosters  Wilten,  hinsichtlich  der  Frage,  ob  jene  von  bayrischer 
Seite  oder  ob  sie  etwa,  wie  in  Kempten  und  Füssen,  von  der  Schweizer  Seite 
ausging.  Die  Zusammenhänge,  die  hier  noch  aufzudecken  sind,  müssen  aber 
zugleich  für  die  Geschichte  Nordtirols  in  der  ersten  Hälfte  des  Mittelalters  von 
grundlegender  Wichtigkeit  sein,  und  schließen  daher  eine  Aufgabe  in  sich,  die 
weit  über  das  Interesse  der  Innsbrucker  Lokalforschung  hinausgeht. 

So  sind  es  überall  jene  starken  und  werktätigen  Seiten  der   Kirche,  die   in  Das  Verkehrs- 
der  mittelalterlichen  Geschichte   der  Alpenländer  so  glänzend  hervortreten.     Da  j^s  M^jttliaiters 
nun  aber  dieses  Gebirge   damals  infolge  seiner   Lage    das   Herzstück   des  euro-  und  die  Kirche, 
päischen  Verkehrs  war,  und  da  es  ebenso   infolge   seiner  Beschaffenheit    diesen 
Verkehr  vor  die  peinlichsten  Aufgaben  stellte,  so  haben  sich  jene  Kraftäußerungen 
auch  auf  diesem  ganz  und   gar  praktischen    Gebiet   versucht  und   Einrichtungen 
geschaffen,  wie  sie  im  Mittelalter  bitter  notwendig  waren,  und  die  doch  niemand 
anders  als  eben  die    Kirche  in    solcher  Ausdehnung    und    Dauerhaftigkeit    hätte 
zu  Stande  bringen  können-   Zum  Verständnis  der  Wechselwirkung,  die  zwischen 
den  Kulturbedürfnissen  der  Menschheit  und  den  übermächtigen  Naturkräften  in 
den  Alpen  immer  vorgewaltet  hat,  gelangt  man  nun  aber  am    besten,   wenn   man 

')  P.  D.  S.  70,73.        2)  F.  1878.  S.  83.         3)  pj.  s.  232.  A.  2. 


26  II.  Kapitel. 

sich  die  Ursachen  klar  macht,  die  in  der  Jetztzeit  zur  Entstehung  der  modernen 
ünterkunftshütten  geführt  haben.  Diese  Bauten,  mit  denen  heute  die  eigentlichen 
Hochgebirgsregionen  übersät  sind,  verdanken  ihren  Ursprung  allein  dem  in  dem 
modernen  Geschlechte  wurzelnden  Trieb,  die  Gipfel  der  Alpen  zu  besteigen, 
und  jener  Trieb  mußte,  nachdem  er  einmal  eine  bestimmte  Stärke  und  Ver- 
breitung erreicht  hatte,  notwendig  auch  eine  Organisation  in  das  Leben  rufen, 
die  sich  die  Erbauung  solcher  Hütten  zur  Aufgabe  machte. 

Die  Zwecke  und  Ziele,  die  der  Verkehr  verfolgt,  sind  es  daher,  die  der 
Gestaltung  der  Verkehrseinrichtungen  von  vornherein  den  Charakter  aufdrücken, 
Zwecke  und  Ziele,  die  zu  allen  Zeiten  auch  den  schwierigsten  Verhältnissen 
gegenüber  ihren  Willen  durchgesetzt  haben.  Auch  im  römischen  Altertum  war 
es  nicht  anders  gewesen.  Der  römische  Staat,  der  damals  in  dem  ganzen  Alpen- 
gebiet allein  herrschte,  zwang  auch  dieses  schließlich  mit  übermächtiger  Hand 
in  seine  überall  gleichmäßig  arbeitende  Schablone  hinein,  und  die  reife  Frucht 
dieser  Entwickelung,  die  wegen  ihrer  Geschlossenheit  so  großartig  ist,  steht  in  dem 
Bilde  vor  uns,  als  damals  die  Alpen  überall  mit  Heerstraßen  und  Stationen  über- 
zogen waren.  Während  also  vorher  ein  einziger  Staatsgedanke  gleichmäßig  das 
Verkehrsleben  in  den  Alpen  regelte,  beruht  der  Unterschied  zwischen  dem 
Altertum  und  dem  Mittelalter  zunächst  darin,  daß  jetzt  ein  derartig  beherrschender 
Gedanke  überhaupt  nicht  vorhanden  war.  Das  Verkehrsbedürfnis  an  sich  bestand 
aber  auch  im  Mittelalter,  ja  es  machte  sich  damals  in  mancher  Beziehung  noch 
viel  reger  und  vielseitiger  als  früher  geltend.  Dieser  Zustand  mußte  somit  auch 
danach  streben,  auf  irgend  eine  Weise  seine  Ziele  zu  verwirklichen,  und  es  ist 
nun,  wie  bei  den  Hüttenbauten  der  neuesten  Zeit,  nichts  anderes  als  die  Selbst- 
hilfe im  großen  Stile,  die  wir  hier  an  der  Arbeit  sehen,  eine  Selbsthilfe,  in  die 
jedoch  die  an  allen  Stellen  der  Alpen  wirkende  Kirche  organisatorisch  eingriff, 
und  die  schließlich,  wenn  auch  mit  anderen  Mitteln,  die  Alpen  überall  ebenso 
sicher  wegsam  gemacht  hat,  wie  es  schon  einmal  dem  römischen  Weltreich  ge- 
lungen war. 
Die  Hospize.  Die  Geschichte  hat  darin  einen  Zug  der  Gerechtigkeit  blicken  lassen,  daß 

die  Vorstellung  von  der  segensreichen  Tätigkeit  der  von  der  Kirche  angelegten 
mittelalterlichen  Hospize  auch  heute  noch  weit  verbreitet  im  Gedächtnis  der 
Nachwelt  fortlebt;  denn  trotz  der  elenden  Baulichkeiten,  von  denen  jene  aus- 
ging, trotz  der  geringen  Anzahl  von  Menschen,  von  denen  sie  ausgeübt  wurde, 
bildet  es  doch  eine  durch  und  durch  achtungswerte  Leistung,  von  diesen  un- 
wirtlichen Punkten  aus  unausgesetzt  für  die  Wegbarkeit  der  Umgebung,  für  die 
Sicherung  menschlicher  Nahrung  und  Unterkunft  gesorgt  zu  haben.  Wenn  diese 
Hospize  auch  an  Zahl  viel  geringer  als  die  modernen  Unterkunftshütten  geblieben 
sind,  so  stehen  sie  doch  in  ihrer  Wirkung  allein  deshalb  hoch  über  den  modernen 
Anstalten,  weil  diese  nur  in  der  besten  Zeit  des  Jahres  offenstehen,  jene  dagegen 
unausgesetzt    in   Betrieb    waren.      Ist    aber  die   Bewirtschaftung  eines   Hospizes 


Die  Kirche  in  den  Bergen.  27 

wegen  seiner  Lage  und  noch  vielmehr  wegen  der  Unsicherheit  seiner  Einkünfte 
schon  während  des  iturzen  Sommers  keine  leichte,  so  vervielfacht  sich  jene  auf- 
reibende, eintönige  und  nicht  zuletzt  undankbare  Tätigkeit  in  der  schlechten 
Jahreszeit,  Schwierigkeiten,  mit  denen  jedoch  stets  der  Kampf  aufgenommen 
werden  mußte,  da  auch  der  Verkehr  seinerseits  sich  keine  Schranken  bezüglich 
der  Jahreszeiten  auferlegen  läßt. 

Still  steht  die  Geschichte  an  diesen  hochgelegenen,  einsamen  Gebäuden; 
denn  es  ist  daselbst  seit  Jahrhunderten  immer  der  gleiche  Zustand  gewesen,  das 
rauhe  Klima,  in  das  Fauna  und  Flora  nur  mit  ihren  letzten  Lebensregungen  hin- 
zudringen vermögen,  der  dichte  Nebel,  die  kleinen  Seen,  die  sich  selbst  in  den 
Augustnächten  mit  Eis  überziehen,  die  rotgrünglänzenden  Moosfelder,  zwischen 
denen  hindurch  die  alte  Straße  nicht  schon  in  Windungen  sondern  in  langer 
gerader  Linie  dem  Hospize  zustrebt;  diese  selbst  vollständig  schmucklose,  aber 
standfeste,  untersetzte  Bauten,  mit  plattem  Dach,  bei  deren  Betreten  man  früher 
unmittelbar  auf  ein  großes  Herdfeuer  stieß,  um  das  ringsherum  steinerne  Liege- 
plätze für  die  Passanten  angebracht  waren ').  Nach  den  Statuten  des  Hospizes 
auf  der  Maiser  Haide  von  1489  soll  „der  Verwalter,  wenn  Unwetter,  Schnee  und 
Kälte  eintritt.  Hilfe  ausschicken  und  die  Pilger  und  armen  Leute  zu  Hofe  führen; 
dort  aber  soll  das  Feuer  nimmer,  weder  Tag  noch  Nacht  zugedeckt  werden,  und 
soll  allwegen  Holz  beim  Herd  sein,  damit,  daß  wer  da  kommt  sich  wärmen  möge, 
daß  er  nicht  erfriere"^).  Ein  anschauliches  Bild  aber,  wie  es  im  Mittelalter  im 
Bereich  jener  Hospize  zuging,  liefert  uns  ein  Bericht  über  eine  Reise,  die  im 
Januar  1129  zwei  hohe  Geistliche  von  Süden  her  über  den  Gr.  S.  Bernhard 
unternahmen.  Weihnachten  feiern  sie  noch  in  Piacenza;  als  sie  aber  nach  Aosta 
kommen,  wird  das  Wetter  plötzlich  schlecht  und  in  Etroubles  schneien  sie  völlig 
ein,  so  daß  es  erst  nach  Tagen  wieder  vorwärts  gehen  kann,  aber  wie  natürlich 
nur  mit  Hilfe  von  Bergführern,  deren  Ausrüstung  übrigens  nicht  anders  als  heute 
ist.  Höher  oben  in  S.  Remy  müssen  sie  dann  jedoch  nochmals  liegen  bleiben, 
ja  hier  wird  es  nur  noch  schlimmer  wegen  der  Lawinengefahr,  und  weil  das 
ganze  elende  Dorf  bereits  übervoll  von  Reisenden  ist,  die  gleichfalls  nicht  weiter 
können.  Beichte  und  Abendmahl  sind  vor  jedem  neuen  Aufbruch  unerläßlich, 
und  wenn  schließlich  die  Paßhöhe  doch  noch  glücklich  überschritten  wird,  so 
kann  dies  doch  erst  dann  geschehen,  nachdem  das  Wetter  sich  zum  Bessern  ge- 
wendet hat'^). 

Es  ist  erklärlich,  daß  bei  der  Entstehung  der  Hospize  da  und  dort  die 
Politik  der  großen  geistlichen  Stifter  oder  der  Fürsten  nachgeholfen  hat,  aber 
trotzdem  bleibt  das  Hospizwesen  eines  der  besten  Blätter  des  mittelalterlichen 
Kulturlebens,  da  sich  auf  diesem  Gebiete  die  edle  selbsttätige  Menschenliebe 
und  die  Kirche  auch  später  immer  wieder  zusammengefunden  haben.    Das  Spital 

')  In  S.  Martino  di  C.  war  diese  alte  typische   Hospizanlage   1901    noch   besonders  gut  erhalten. 
2)  St.  S.  101.        3)  oe.  I.  S.  254f. 


28  11.  Kapitel. 

auf  der  MalserHaide  verdankt  seine  Entstehung  einem  Anwohner  aus  der 
Nachbarschaft  Ulnch  Primele  aus  Burgeis  (1140)'),  und  es  sind  wirklich  an  das 
Herz  dringende  Tatsachen,  die  in  der  Stiftungsurkunde  des  Hospizes  S.  Chri- 
stoph a.  A.  erzahlt  werden,  wie  Heinrich,  ein  Findelkind,  der  als  Knecht  eines 
am  Passe  wohnenden  Burgherrn  seine  Laufbahn  begann,  10  Jahre  lang  sich 
seinen  Lohn  sparte,  um  mit  diesem  jenes  Hospiz  in  das  Leben  zu  rufen  (1385)2). 
Die  Anlage  der  Hospize  selbst  zieht  sich  nun  durch  das  ganze  Mittelalter  und 
über  das  ganze  Alpengebirge  hin,  und  es  bedarf  keiner  Erklärung,  daß,  sobald 
die  Existenz  und  die  Enstehungszeit  eines  Hospizes  bekannt  sind,  man  damit  auch 
den  besten  und  sichersten  Beweis  für  die  Begangenheit  eines  Alpenpasses  ge- 
funden haben  wird.  Freilich  liegt  der  Wert  dieser  Feststellung  mehr  auf  nega- 
tivem Gebiet,  nur  darin,  daß  der  Übergang  nicht  unbegangen  war,  während  sie 
zunächst  von  der  Stärke  und  der  Art  dieses  Verkehrs  nichts  zu  verraten  braucht 
da  wie  sogleich  anzuführen  sein  wird,  auch  Pässe,  die  doch  stets  nur  dem' 
Lokalverkehr  gedient  haben  können,  ganz  alte  Hospize  aufweisen 

So  finden  wir  an  der  ligurischcn  Küstenstraße  ein  Ospedaletti  bei  Bordighera 
und   ebenso  Hospize  am  Mont  Genevre,  Mont  Cenis   und   am  Kl.  S.  Bernhard 
o       ■    c  ^^'""^^"^  ^^''^  oben  deren  zwei,  eines  auf  der  Paßhöhe,  das  andere 
m  Bourg  S.  Pierre    und  zwei  andere  an  seiner  Nordseite  (Aigle  und  Villeneuve) 
Weiterhin    waren    die   Gemmi    und   die   Grimsel    mit   einem    Hospize   besetzt3 
wahrend   sich    diese   dann   am  Simplon   überall   von  Sitten   über  Brieg   bis  nach 
Gondo  vorfinden^).     In  der  Nachbarschaft  ist  hier  aber  auch  auf  dem  Nufenen- 
paß  )   und   auf  dem    nicht  weniger  abseits  liegenden  S.  Giacomopaß  ein  Hospiz 
zu   erblicken.     Am  Gotthard   begegnen   wir  ebenso  dem  Namen  Hospental   wie 
dem  Hospiz  auf  der  Paßhöhe  selbst.     Westlich  in  Bünden  ist  Disentis  nichts  als 
ein  großes  Hospiz,   während  sich  dann  weiter  am  Lukmanier  eine  ganze  Anzahl 
kleinerer  wie   an   einer  Schnur  aneinanderreihen.     Weiter  kommen  wir  zu  dem 
Z^'Tll     uT  ^'P^'f^^f'   "^^"^  ^"  Silvaplana  und  zu  dem  auf  dem  Victorsberg 
bei  Feldkirch  (um  875)6).    Das  Hospiz  am  Arlberg  und  das  auf  der  Maiser  Haide 
.st   schon   erwähnt;   auch  der  Jaufen   hatte  seine  Hospize  auf  der  Paßhöhe  und 
in  S    Leonhard;   dort  findet  sich  aber  auch  noch  oberhalb  S.  Leonhard  ein  Hof 
m.t  Namen  Spital  7).    Die  Brennerstraße  ist  nicht  nur  selbst,  sondern  auch  über- 
all  auf  Ihren  Nebenwegen  mit  Hospizen  besetzt,  ebenso  in  S.Johann  i    T    und 
in  Zell  a.  Z.,  auf  dem  Tonal  und  in  Madonna  di  C.  wie  auf  dem  S.  Pellegrino- 
paß,  in   Paneveggio,   S.  Martino   di  C.   und  Ospedaletto  im  Suganatal      Östlich 
davon  liegen  dann  hier  das  Hospizio  di  Falzarego  und  zwei  Ospitale,  eines  bei 
Schluderbach,  das  andere  bei  Longarone. 

In  den  Ostalpen   stoßen  wir  auf  Ospedaletto  bei  Venzone,  auf  das  Hospiz 
auf  dem  Loiblpaß,  dasjenige  in  Friesach  und  in  Gastein  (1469),  auf  das  Radstädter 


Die  Kirche  in  den  Bergen.  29 

Tauernhaus  (1562)  und  auf  die  Hospize  in  Salzburg,  besonders  aber  auf  die  so 
bezeichnenden  Ortsnamen  Spittal  a.  d.  Drau  (1191,)  Spital  am  Pyhrn  (1190)  und 
am  Semmering.  Man  kann  demnach  bemerken,  wie  gerade  auf  diesem  Flügel  der 
Alpen,  im  italienischen  so  gut  wie  im  deutschen  Sprachgebiet,  sich  solche  An- 
stalten später  zu  Ortschaften  erweitert  haben,  eine  Erscheinung,  die  darin  ihren 
Grund  hat,  weil  hier  die  Hochgebirgsnatur  weniger  beherrschend  hervortritt. 
Auch  wenn  man  weiterhin  hier  die  Hospize  auf  die  Zeit  und  die  Art  ihrer 
Gründung  untersucht,  offenbart  sich,  daß  keines  über  das  J.  1000  hinaufreicht 
und  daß  sie  ihre  Entstehung  fast  überall  den  Maßregeln  bestimmter  Machthaber 
verdanken.  Auch  darin  zeigt  sich  die  besondere  Stellung  der  Ostalpen,  nicht  nur, 
daß  diese  verhältnismäßig  spät  im  Mittelalter  von  dem  großen  Verkehr  durchdrungen 
wurden,  sondern  daß  derselbe  hier  dann  auch  solche  geographische  Bedingungen 
vorfand,  wie  sie  nicht  ganz  mit  dem  übrigen  Alpengebiet  zusammenstimmen. 

Bei  jenem  Einfluß  der  Kirche  auf  das  ganze  Leben  der  mittelalterlichen  Wohlstand  der 
Alpenwelt  kann  es  nun  auch  nicht  Wunder  nehmen,  daß  die  Punkte,  wo  diese  Straßenpunkte 
sich  einmal  niedergelassen  hatte,  die  eigentlichen  Sammelplätze  und  Schutz- 
stätten für  alle  Kulturwerte  abgeben  mußten,  und  zwar  nicht  bloß  im  geistigen 
sondern  auch  im  durchaus  materiellen  Sinne.  Auch  hier  fand  sich  schließlich 
im  Gefolge  des  praktischen  Blickes  der  materielle  Aufschwung  ein,  eine  Ent- 
wickelung,  die  dadurch  nur  gesteigert  werden  konnte,  weil  die  geistlichen 
Gründungen  gerade  die  wichtigsten  Verkehrspunkte  beherrschten.  Eine  Erinnerung 
an  jenen  Zustand  ist  es  aber,  wenn  man  auch  heute  noch  an  einzelnen  Punkten 
der  Alpenstraßen  Kostbarkeiten  von  großem  Werte  antreffen  kann,  die  einst 
wirklich  durch  die  Gunst  hoher  Reisender  in  kirchlichen  Besitz  gelangt  sein 
mögen  und  nun  Jahrhunderte  hindurch  an  derselben  Stelle  treu  behütet  worden 
sind.  Daß  jene  Entwicklung  auch  schon  im  frühen  Mittelalter  einsetzte,  ist  des- 
halb wahrscheinlich,  weil  die  Sarazenen,  die  doch  für  solche  Dinge  eine  gute 
Witterung  besaßen,  den  Punkten  an  den  Alpenstraßen  so  gern  ihren  Besuch  ab- 
statteten; so  besaß  das  Kloster  Novalese  im  Anfang  des  10.  Jahrhunderts  eine 
kostbare  Bibliothek,  die  bei  einem  solchen  Überfall  größtenteils  vernichtet  wurde')«  ' 

Einzelne  der  wertvollen  alten  Stücke,  die  in  der  Abtei  S.  Maurice  heute  gezeigt 
werden,  gelten  bezeichnenderweise  als  Geschenke  von  Mitgliedern  des  karo- 
lingischen  Herrscherhauses;  sehr  alte  gute  Sachen,  an  denen  zum  Teil  ähnliche 
Traditionen  haften,  finden  sich  auch  in  Moutiers  und  Aosta,  in  Reichenau  und 
Chur,  in  Brixen,  Salzburg,  Friesach  und  Cividale.  In  Brixen  insbesondere  ist 
es  noch  heute  mit  Händen  zu  greifen,  auf  welche  Weise  ein  solcher  geistiger 
Mittelpunkt  zu  wirken  pflegte;  denn  der  dortige  Dom  und  die  Kirche  zu  Neu- 
stift, wo  sich  Jahrhunderte  hindurch  der  Tiroler  Adel  begraben  ließ,  stehen  mit 
ihren  Grabsteinen  noch  heute  da  als  ein  steinernes  Lexikon  der  alten  Tiroler 
Dynastengeschlechter. 
')  Oe.  1.  S.  208. 


30  II.  Kapitel. 

n'Jme?'Se"n  ^^   '^'  ^'"   schwankender  Steg,   den   wir  nun   betreten,   aber   die  Tatsache 

Alpen,  kann   wohl   als  ausgemacht  gelten,   daß  dort,  wo  in  einer  bestimmten  Zone  oder 
an  einer  bestimmten  Straße  sich  die  gleichen  Heiligennamen  vorfinden,  diese  ent- 
weder von   der  gleichen  Zentrale   ausgegangen  sind  oder  doch  wenigstens  dem- 
selben  Vorstellungskreis   ihren   Ursprung   verdanken.     Von   letzterem   Gesichts- 
punkt aus  ist  es  nun  eine  besonders  wichtige  Erscheinung,    daß    dem  h.  Petrus 
als  dem  Ältesten  und  Vornehmsten  in  dieser  großen  und  bunten  Schar  auch  die 
ältesten   und  wichtigsten    Hospizgründungen   geweiht  sind,   ja   nicht  allein   dies, 
sondern   daß   es   fast   keiner  Ausnahme   unterliegt,   daß  dieser  Heilige  und  kein 
anderer   überall   in    den  Alpen   nach  den  Stellen  hinleitet,   die  bereits  im  Alter- 
tum bewohnt  waren,  daß  daher,  wo  heute  Peterskirchen  stehen,  auch  Reste  und 
Fundamente   des   Altertums   in   der   Nähe  waren   oder   noch   sind,    und   daß  an 
solchen  Stellen  das  Altertum  und  das  Mittelalter  zeitlich  und  räumlich  am  näch- 
sten zusammentreten').     Auch  einem  anderen,  der  zu  dem  Uradel  dieser  Herren 
gehört,    begegnet    man   besonders   häufig,    dem    h.   Martin,    der  schon    deshalb 
besonders   alpin   ist,  weil   er  als  Beschützer  des  Viehstandes  gilt.     Die  Voraus- 
sage ist  bei  dem  Vorkommen  dieses  Heiligen  ungefähr  die,  daß  seine  Stelle,  falls 
Petrus  fehlt,  als  der  älteste  Platz  der  Gegend  anzusehen  ist.    Aus  diesem  Grunde 
findet   man  Martinskirchen   auch   nicht  selten   auf  römischer  Grundlage,  aber  es 
ist   doch   zu   bemerken,   daß  sich  das  Mittelalter  bei  der  Auswahl  jener  Punkte 
schon    viel    selbständiger    bewegt    hat.      Dem    h.    Martin    ist    dann    weiter    der 
h.   Leonhard    nachgezogen  2),    während    sich   der  h.    Christoph,    so   schön   auch 
dessen  Legende   ist,  an   den  Wegepunkten   der   Alpen   nicht   so   häufig  einstellt. 
Späteren  Zeiten  gehören  dann  zumeist  die  Gründungen  an,  die  nach  dem  h.  Michael 
und   dem   h.  Georg  genannt  sind,   wie   diese   übrigens   auch   nicht  selten  einen 
Stich  in  das  Vornehme  und  Ritterliche  haben. 

Zu  diesen  Heiligen  gesellen  sich  dann  diejenigen,  die  auf  eine  bestimmte 
Berggegend  beschränkt  bleiben  und  die  daher  gewissermaßen  als  Nationaiheilige 
auftreten.  In  dem  westlichen  Teil  der  Alpen  begegnet  man  dem  h.  Moritz 
(Bourg  S.  Maurice,  S.  Maurice,  Luzern,  S.  Moritz  im  Lugnetz  und  im  Engadin), 
im  Wallis  dem  h.  Theodul,  in  Bünden  dem  h.  Luzius,  dem  in  Innertirol,  wenn 
auch  etwas  überwachsen  von  späteren  Einflüssen,  der  h.  Valentin  an  die  Seite 
tritt.  Dort  an  der  belebten  Brennerstraße  haben  sich  überhaupt  nicht  nur  die 
Alltagsmenschen  sondern  auch  die  Heiligen  von  allen  Seiten  her  eingefunden, 
neben  jenem  h.  Valentin  auch  die  Lokalheiligen  von  Trient  (Vigilius)  und  Sehen 
(S.  Cassian,  in  Groeden,  im  Enneberg  und  in  Regensburg;  Cassiansspitze),  zwischen 
denen,  von  Süden  her  kommend,  der  h.  Zeno,  ursprünglich  ein  alter  Bischof 
von  Verona,  der  als  Helfer  in  der  Wassernot  ja  auch  hier  zu  tun  fand 3),  und 
von  Norden,  von  Augsburg  kommend  der  h.  Ulrich 4)  und  die  h.  Afra  (Bozen, 
Brescia)   mitten   hindurchschwirren.     In  den  Ostalpen    läßt  sich  bei  dem  Namen 

>)  Vgl.  Anh.  2.        2)  Vgl.  B.  W.  S.  259,  292.        3)  s.  Zeno  di  Montagna  a.  Gardasee,  bei  Cles,  in 
Burgeis  (Tir.  S.  140),  Zenoburg  bei  Meran,  im  Villnös  (N.  A.  S.  72),  in  Reichenhall.        4)  Vgl.  Anh.  3. 


Die  Kirche  in  den  Bergen.  31 

Hermagoras,  eines  alten  Patriarchen  von  Aquileja,  da  und  dort  der  frühere  Einfluß 
dieses  Sprengeis  feststellen  während  daselbst  derjenige  S.  Veits  vorwiegend  wohl 
mit  slavischen  Elementen  in  Verbindung  zu  bringen  ist. 

An  diese  Heiligennamen,  die  das  Wirken  der  Kirche  in  den  Alpen  veran-  Die  von 
schaulichen,  schließt  sich  nun  noch  eine  andere  Klasse  von  Ortsnamen  an,  die  geschaffenen 
weder  aus  dem  römischen  Altertum  noch  aus  den  modernen  Sprachen,  sondern  Ortsnamen, 
aus  demjenigen  Latein  stammen,  das  im  Mittelalter  die  einzige  allgemein  übliche 
Schriftsprache  war,  die  als  solche  aber  nur  von  den  Vertretern  der  Kirche  ge- 
pflegt und  gehandhabt  wurde.  Somit  sind  auch  diejenigen  Ortsnamen,  denen 
durch  jenes  mittelalterliche  Latein  Allgemeingültigkeit  verschafft  wurde  '),  im 
Grunde  nichts  anderes  als  ein  Zeugnis  vergangenen  kirchlichen  Kulturlebens, 
und  wenn  eben  diese  Ortsnamen  in  den  Alpen  viel  zahlreicher  als  anderswo 
vorhanden  sind,  so  kann  auch  dies  jene  Entwickelung  hier  nur  besonders  intensiv 
erscheinen  lassen.  Interessant  ist  es  nun  aber  weiterhin,  zu  beobachten,  daß 
diese  von  Anfang  an  aus  einer  toten  Sprache  genommenen  Ortsnamen  sich  sprach- 
lich ganz  anders  verhalten  haben  als  diejenigen,  die  aus  dem  römischen  Altertum 
selbst  stammen.  Denn  während  bei  letzteren  wie  bei  Angehörigen  guten  alten 
Adels,  der  mit  der  Zeit  fortzuschreiten  weiß,  wohl  der  antike  Kern  erhalten 
geblieben  ist,  sie  aber  ebenso  auch  mit  den  modernen  Sprachen  innig  verwachsen 
sind  (Grenoble,  Aosta,  Konstanz,  Augsburg,  Trient),  ist  jenen  ein  ganz  unregel- 
mäßiges Schicksal  widerfahren.  Entweder  stehen  sie  auch  heute  noch  ganz  so 
da,  daß  sie  ihr  unentwickeltes  Mönchslatein  an  der  Stirn  tragen  und  „übersetze 
mich"  rufen  (Interlaken,  Disentis,  Zell,  Spital),  oder  sie  sind  in  das  Gegenteil 
verfallen  und  völlig  in  den  modernen  Sprachen  aufgegangen,  so  daß  man  oft  er- 
staunt sein  kann,  bei  Ortsnamen,  die  durchaus  den  bodenständigen  Sprachen 
anzugehören  scheinen,  zu  entdecken,  daß  sie  einst  von  einem  mittelalterlichen 
Geistlichen  unter  die  Taufe  gehalten  worden  sind  2). 

Aber  nicht  bloß  im  Mittelalter  selbst  würde  es  ohne  den  Fleiß  der  Kirche  Die 
um  die  kulturelle  Durchdringung  der  Alpen  schlecht  bestellt  gewesen  sein,  auch  Reiseberichte 
für  alle  Zeiten  würde  die  Wissenschaft  ihrer  besten  Hilfsmittel  entbehren  müssen, 
wenn  damals  nicht  der  einzig  bei  den  Dienern  der  Kirche  vorwaltende  Bildungs- 
trieb diesen  die  Herrschaft  über  die  Sprache  verschafft  und  ihnen  die  Feder  in 
die  Hand  gedrückt  hätte.  Alles,  was  Geschichte  und  Kulturgeschichte  im  Mittel- 
alter heißt,  ist  ja  überhaupt  fast  nur  von  Geistlichen  geschrieben  worden,  aber 
alle  diese  sonst  so  wichtigen  Quellen  würden  hinsichtlich  der  damaligen  Topo- 
graphie der  Alpen  doch  nur  Einzelheiten  liefern.  Eine  recht  eigentlich  kirch- 
liche Berichterstattung  ist  es  dagegen,  die  in  dieser  Beziehung  im  Mittelalter 
durchaus  den   ersten  Plaz   einnimmt;    es   sind   die   Reiseberichte   derer,   die  auf 

')  Die  Tatsache,  daß  auch  das  bodenständige  Wort  fuozzin- Füssen  von  den  Mönchen  für  ihr 
Latein  mit  Beschlag  belegt  wurde  (ad  fauces),  zeigt,  wie  weit  verbreitet  dieser  Gebrauch  war. 
2)  Val  d'Entremont  (V.  Intramontiorum),  Pont  Orsieres  (Pons  Ursarii),  Frakmünd  (fractus  mons 
für  Pilatus),  Wörgl  (Virgilius),  Metz  (metae  TeutonicaeJ,  Pfalzen  (Palatium),  Werfen  (alpes  perviae). 


32  II-  Kapitel. 

ihrer  Fahrt  nach  Rom  oder  dem  heiligen  Lande  die  Alpen  passierten  und  deren 
Aufzeichnungen  man  zuerst  zur  Hand  nehmen  muß,  wenn  man  ein  Bild  von 
dem  Zustand  einer  Alpengegend,  von  der  Bedeutung  und  Belebtheit  eines  Paß- 
weges im  Mittelalter  gewinnen  will.  Die  erste  Erwähnnng  des  Septimers  im 
Mittelalter  (um  800)  geschieht  nicht  etwa  gelegentlich  eines  Römerzuges,  sondern 
als  zwei  Männer  von  Süden  her  hier  herüberwollen,  die  sich  das  Kloster  S.  Gallen 
als  gute  Gesangslehrer  verschrieben  hatte  '),  und  es  will  doch  etwas  bedeuten, 
daß  das  Itinerar  eines  aus  Island  stammenden  Abtes,  Nikolaus  von  Thingör-), 
für  die  Alpentopographie  in  den  Zeiten  Friedrich  Barbarossas  an  Wert  kaum 
geringer  ist  als  alles  dasjenige,  was  in  dieser  Hinsicht  aus  dem  besten  mittel- 
alterlichen Geschichtsschreiber,  dem  Bischof  Otto  von  Freising,  entnommen 
werden  kann.  Die  Zahl  dieser  Reiseberichte  ist  an  sich  nicht  nur  sehr  groß 
und  verteilt  sich  über  alle  Jahrhunderte,  sondern  unter  ihren  Verfassern  sind 
auch  alle  Grade  der  Hierarchie  und  die  verschiedensten  Heimatländer  vertreten, 
so  u.  a.  Abt  Mäjoius  von  Clugny  (um  970),  Siegerich  von  Canterbury  (990), 
Bischof  Bernhard  von  Hildesheim,  Bruno  von  Toul,  Anno  von  Köln,  Bischof 
Wolfger  von  Passau  (um  1200),  der  niederländische  Mönch  Emo  von  Werum, 
Abt  Albert  von  Stade  (1236)  und  schließlich  der  Ulmer  Predigermönch  Felix 
Fabri  (1480—1483)3),  eine  gleichgestimmte  Gesellschaft,  deren  Berichte  zwar 
überall  von  der  alles  beherrschenden  kirchlichen  Lebensauffassung  des  Mittel- 
alters gefärbt  sind^),  die  aber  doch  je  weiter  sie  zeitlich  vorschreiten  immer 
redseliger  werden. 
Die  Kirche  Aber  noch  eine  andere,  für  das  ganze  Kulturleben    des  Mittelalters  charak- 

des  mittel-  teristische  Tatsache  geht  aus  dem  Dasein  dieser  zahlreichen  Reiseberichte  hervor, 
alterlichen  diejenige,  daß  damals  die  Art,  wie  die  Kirche  in  das  Leben  der  Menschen  ein- 
■  griff,  überhaupt  der  Haupterreger  des  Verkehrslebens  in  den  Alpen  war.  Er 
gehörte  seiner  Lebensstellung  nach  nichts  weniger  als  zu  den  oberen  Zehntausend, 
der  Mönch  Richer,  der  uns  eine  Geschichte  des  westfränkischen  Reiches  während 
des  zehnten  Jahrhunderts  hinterlassen  hat,  aber  wie  oft  ist  dieser  nicht  in  seinem 
Leben  durch  die  Alpen  nach  Italien  herüber  und  hinüber  gewandert.  Und  nicht 
allein  die  Menschen,  sondern  auch  alle  Arten  Dinge,  leicht  wie  Luft  und  schwer 
wie  Stein,  die  Blutstropfen  der  Heiligen  so  gut  wie  die  Marmorsäulen  zum 
Ausschmücken  der  Kirchen,  setzte  dieser  Ausbau  der  kirchlichen  Kultur  in  Be- 
wegung ^).  Der  Zug  in  die  Ferne,  der  Reisetrieb,  der  aus  religiösen  Motiven 
entsprang  oder  diese  zum  Vorwand  nahm,  ist  im  Mittelalter  besonders  weit  ver- 
breitet gewesen  und  selbst  viel  tiefer  in  die  Schichten  hinabgedrungen,  die  sonst 
harte  Arbeit  und  Unfreiheit  umfangen  hält,  und  so  erscheint  Europa  im  Mittel- 
alter von  Island  bis  nach  Sizilien,  von  Portugal  bis  nach  Siebenbürgen  als  ein 
innerlich  bewegter  aber  äußerlich  streng  geschlossener  Kulturkreis,  der  für  die 
damalige  Christenheit  nichts  anderes  als  die  Welt  bedeutete. 

')  Oe.II.  S.  191.        2)  Vgl.  Oe.  I.  S.  257  f,  II.  S.  283  f.        3)  Vgl.  Z.  A.  1902.  S.  79 f.        *)  Vgl.  Oe.  I. 
S.  173.         5)  Ei.  K.  26. 


III.  Kapitel. 

Langobarden  und  Franken  in  den  Alpen, 


Auf  den  ersten  Blick  schon  läßt  sich  bei   einer  Betrachtung   der  Karte  der  Das  Lango- 
Alpenländer,  wie  sie  das  erste  Mittelalter  zeigt,  die  gewaltige  Veränderung  erkennen,  südrancT'der"" 
die  sich  jetzt  hier  gegenüber  der  Römerzeit  geltend  gemacht  hat.     Wenn  vorher  Alpen, 
das  ganze  Gebirge  mit  allen  seinen  Randlandschaften  und  bis   tief  in  seine  ent- 
ferntesten und  abgelegensten  Verästelungen  hinein  einem  Reiche  und  einem  Volke 
untenan  gewesen  war,  so  gilt  nunmehr  dieselbe  Ländermasse  in  ihren  einzelnen 
Teilen   den    verschiedensten    Herrschern    angehörig   und   wird   daher   auch   von 
langausgedehnten    Grenzen  durchkreuzt    und    durchzogen.     Überall   entlang    der 
Gebirgskämme  oder  durch  die  Sohlen  der  Täler  laufen  jetzt  jene  Linien,  anfangs 
nach  Art  ooerflächlich  gezogener  Grenzen  auf  frisch  und  rasch  erworbenem  Grunde, 
die  sich   jedoch   im  Lauf  der  Zeit   immer  mehr   zu   jenen  Kultur-  und  Völker- 
scheiden vertiefen,  wie  wir  sie  heute  noch   in   unverminderter  Stärke    über   die 
Alpen  gespannt  sehen. 

Es  ist  zugleich  ein  Zeugnis  für  den  gewaltigen  Unterschied,  der  das  Wesen 
der  neuen  Germanenreiche  von  der  antiken  Kultur  trennt,  wie  besonders  für 
die  Stärke  der  letzteren,  daß  sich  in  ihrem  Kernland,  in  Italien,  erst  eine  ganze 
Anzahl  großer  germanischer  Stämme  verbrauchen  mußten,  ehe  es  den  Lango- 
barden gelang,  hier  ein  dauerndes  Reich  zu  begründen,  ein  Reich,  das  aber 
deshalb  auch  durchaus  als  mittelalterlich  zu  gelten  hat,  weil  ihm  gegenüber  die 
antiken  Einflüsse  nicht  mehr  übermächtig  wirken  konnten.  Dieser  Tatsache  tut 
es  auch  keinen  Eintrag,  daß  das  Langobardenreich  bereits  nach  300  Jahren  eine 
Beute  der  Franken  wurde.  Gewiß  sind  die  Langobarden  anfangs  nur  deshalb 
in  dem  Besitz  Italiens  geblieben,  weil  nicht  noch  ein  anderer  großer  germanischer 
Stamm  von  Pannonien  aus  ihren  Fersen  folgte,  aber  sie  befanden  sich  doch 
trotzdem  auf  dem  schwierigsten  Schauplatz  und  wildfremdesten  Boden,  umgeben 
von  den  Ansprüchen  Ostroms  und  der  Begehrlichkeit  der  Franken,  Bayern  und 

Schcfrel,  Verkehrsgeschichte  der  Alpen.     2.  Bind.  3 


34  III.  Kapitel. 

Avaren,  und   im  eigenen  Hause  bedroht  von  der  überlegenen  Politik  des  jungen 
römischen  Papsttums. 

Schon  deshalb  mußte  die  Macht  der  Langobarden  in  der  Hauptsache  auf 
Norditalien  beschränkt  bleiben,  in  und  ringsherum  um  die  große  Landschaft, 
die  heute  noch  als  Lombardei  den  Namen  dieses  Volkes  trägt  und  in  der  damals 
ein  neues  Volkstum  und  zugleich  eine  selbständige  norditalienische  Kultur  entstand, 
die  sich  nun  von  hier  aus  auch  überall  nach  Norden  in  die  Alpen  hinein  aus- 
dehnte. Da  diese  Kultur  aber  auch  nach  dem  Verschwinden  des  Langobarden- 
reiches noch  Jahrhunderte  hindurch  weiterwirkte,  so  geschieht  es  nur  ganz  mit 
Recht,  wenn  nach  dem  landläufigen  Ausdruck  die  Reste  des  Mittelalters  auf 
jenem  Boden  gemeinhin  als  langobardisch  bezeichnet  werden.  Diese  mittelalter- 
liche norditalienische  Kultur  steht  auch  in  ihrer  Eigenart  und  Geschlossenheit 
hoch  über  den  politischen  Leistungen  des  Volkes,  von  dem  sie  ihren  Ausgang 
genommen  hat.  Für  den  Kenner  der  Geschichte  liegt  es  aber  doch  außer  allem 
Zweifel,  daß  sie  nur  diesem  selbst  ihren  Ursprung  verdankt  haben  kann  und 
schon  zu  dessen  Zeiten  fertig  dagestanden  haben  muß,  allein  auf  Grund  einer 
einzigen  Tatsache,  deshalb,  weil  die  Geschichte  des  Langobardenreiches  von 
Anfang  bis  zu  Ende  von  dem  Gegensatz  zu  dem  römischen  Papsttum  erfüllt  ist, 
das  zu  allen  Zeiten  der  Bildung  eines  selbständigen  italienischen  Staates  feindlich 
gegenübergestanden  hat. 

Ein  lebensvolles  Bild  von  dem  Wesen  dieser  langobardischen  Kultur  läßt 
sich  nun  besonders  durch  die  Kunst  gewinnen,  deren  Denkmäler  auch  heute 
in  reicher  Anzahl  vor  uns  stehen,  so  charakteristisch,  daß  sie  sich  von  ihren 
südlichen  und  nördlichen  Nachbarn  gleich  bestimmt  unterscheiden,  altersgrau 
und  geheimnisvoll,  aber  doch  einem  Zuge  unseres  Denkens  verwandt,  wie  die 
Melodie  eines  Kirchenliedes,  das  in  der  Nähe  des  Todes  gesungen  wird.  Aber 
nicht  allein  in  der  oberitalienischen  Ebene,  sondern  auch  bereits  überall  dicht 
neben  den  Bergen  sind  diese  zu  finden,  in  Giornico  und  Locarno  so  gut  wie 
in  Como  und  Brescia,  in  Trient,  Maderno,  Verona  und  Cividale,  eine  Tatsache, 
die  daher  zeigt,  daß  auch  der  südliche  Teil  der  Alpen  in  der  ersten  Hälfte  des 
Mittelalters  vollständig  von  dieser  Kultur  überzogen  gewesen  sein  muß. 

Langobardische  Ganz  im  Gegensatz  zu   dieser  Entwickelung    steht    es    nun    aber,    daß  den 

unge^lnner"  Langobarden    auf    dem    gleichen   Boden  so   bald   die   unstäte^  ausgreifende   Art 

halb  des  Alpen- abhanden  gekommen  ist,  wie  sie  sich  alle  jungen  Germanenvölker  sonst  viel 
gebietes.  jgj^g^j.  gphaiten  haben.  Nur  in  der  zweiten  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts  hören  wir 
noch  von  Unternehmungen,  die  als  Versuche  der  Langobarden  angesehen  werden 
können,  ihre  Macht  auch  über  die  Alpen  herüber  zur  Geltung  zu  bringen,  und 
auch  diese  bewegen  sich  nur  über  die  Westalpen.  Es  ist  ebenso  der  beherr- 
schende Zug  nach  dieser  Himmelsrichtung  wie  der  Charakter  jener  Unter- 
nehmungen als  Raub-  und  Beutezüge,  der  hier  zum  Ausdruck  kommt,  da  damals 
am  ganzen  nördlichen   Rande    der  Alpen  allein  das  südliche   Gallien   von  den 


Langobarden  und  Franken  in  den  Alpen.  35 

Verheerungen  der  vorangegangenen  Zeiten  einigermaßen  verschont  geblieben 
war.  So  machten  die  Langobarden  zunächst  im  J.  571  einen  nach  damaligem 
Sinne  erfolgreichen  Vorstoß  auf  der  ligurischen  Küstenstraße  bis  nach  Nizza, 
dem  dann  im  folgenden  Jahre  ein  zweiter  folgte,  der  nur  auf  der  Straße  des 
Mont  Genevre  geschehen  sein  kann  ').  Bereits  diesmal  wurden  sie  jedoch 
zurückgeschlagen,  und  nicht  einmal  durch  den  Frankenkönig  selbst,  sondern  nur 
durch  den  an  der  Grenze  kommandierenden  Befehlshaber  Mummulus,  wie  es 
überhaupt  bemerkenswert  ist,  wie  sicher  damals  überall  in  Südgallien  gegenüber 
jenen  Feinden  die  Selbsthilfe  funktioniert,  und  im  besondern,  daß  die  Männer, 
die  an  deren  Spitze  stehen,  sämtlich  wie  dieser  Mummulus  keine  germanischen 
sondern  noch  gut  römische  Namen  führen  (Hospitius,  Amatus,  Sisinnius).  Man 
glaubt  die  Wallungen  altrömischen  Blutes  zu  bemerken,  wenn  dieser  Mummulus 
die  über  die  Alpen  gedrungenen  Feinde  dann  auch  bei  allen  ihren  späteren 
Unternehmungen  erst  in  Grund  und  Boden  manövriert  und  zuletzt  aus  dem 
Lande  hinaustreibt;  aber  nicht  weniger  mächtig  macht  sich  doch  auch  in  jenen 
Vorgängen  der  Beginn  einer  neuen  Zeit  fühlbar;  denn  wir  sehen  hier  wirklich 
zum  ersten  Mal,  aber  klar  und  entscheidend  genug,  daß  nun  das  Mittelalter  an- 
gebrochen ist,  jene  Lagerung  der  Kräfte,  bei  der  die  größere  Energie,  die  Über- 
legenheit des  Willens,  nicht  mehr  im  Süden,  sondern  im  Norden  der  Alpen 
gesucht  werden  muß. 

Jene  späteren  Invasionen,  die  von  Kriegen,  Manövern,  Beutezügen,  von  allen 
etwas  an  sich  haben,  fallen  dann  in  das  J.  574,  als  die  Langobarden  über  den 
Gr.  S.  Bernhard  bis  S.Maurice  vordrangen-),  und  als  letzte  und  größte  Unter- 
nehmung in  das  J.  575.  Damals  waren  es  die  langobardischen  Herzöge,  Amo, 
Zaban  und  Rodanus,  also  wie  die  Namen  zeigen  echte  Germanenfürsten,  die 
erst  vereinigt  das  Tal  der  Dora  Riparia  hinanstiegen,  um  dann,  wie  es  die  Struktur 
der  Gebirgswege  dort  an  die  Hand  giebt,  mit  ihren  Heerhaufen  strahlenförmig 
auseinanderzugehen.  Diesmal  gelangten  jene  nun  auch  wirklich  bis  weit  in  das 
alte  Gallien  hinein,  die  südlichste  Kolonne  bis  in  die  Provence,  nach  Marseille 
und  Aix,  das  sich  mit  22  Pfund  Silber  von  der  Belagerung  loskaufen  mußte,  die 
mittlere  bis  Valence  und  die  nördlichste  bis  Grenoble.  Aber  auch  hier  war  es 
Mummulus,  dem  es  gelang,  die  Front  der  Feinde  durch  einzelne  vernichtende 
Schläge,  von  Norden  anfangend,  aufzurollen  und  sie  dadurch  über  das  Gebirge 
zurückzuwerfen,  und  es  ist  nur  bezeichnend  für  die  damalige  Kriegführung,  wenn 
dabei  ausdrücklich  hervorgehoben  wird,  daß  der  letzte  Haufen,  der  die  reichste 
Beute  mit  sich  schleppte,  diese  dann  doch  noch  auf  der  Flucht  in  dem  Schnee 
der  Alpen  zurücklassen  mußte  ^).  Auch  ein  Teil  der  Sachsen  hatte  sich  damals 
zugleich  mit  den  Langobarden  bis  nach  Italien  verirrt,  und  auch  jene  Sachsen 
sind,  als  sie  nun  von  der  einen  Seite  von  den  Langobarden,  auf  der  anderen 
von  den  Franken  wieder  abgeschoben  werden  sollten,  in  jenen  Jahren  auf  ver- 
')  P.  D.  S.  51  f.        2)  Oe.  I.  S.  239.        •')  P.  D.  S.  55. 

3« 


36  III-  Kapitel. 

schiedenen  Wegen  über  die  Westalpen  herüber   und   hinübergezogen,  eine  Tat- 
sache, aus  der  besonders  auch  hervorgeht,  wie  damals  das  alte,  von  den  Römern 
errichtete  Straßennetz  hier  noch  vollständig  intakt  gewesen  sein  muß. 
Die  Nordgrenze  Seit  diesen  Ereignissensehen  wir  nun  die  Staatskunst   der  langobardischen 

barde^nreiches!  Herrscher  sich  lediglich  auf  die  Sicherung  ihrer  Nordgrenze  beschränken,  für 
die  das  Alpengebirge  allein  den  Schutz  und  die  Mauer  des  Reiches  abgeben 
sollte.  Die  Sterne  Theodorichs  sind  also  untergegangen,  und  wir  finden  jetzt 
ganz  dieselbe  Grenzbehandlung  wieder,  wie  sie  schon  von  der  römischen  Republik 
gehandhabt  worden  fWar;  denn  auch  das  langobardische  Machtgebiet  begann  nicht 
eigentlich  auf  dem  Alpenkamm  selbst,  dort,  wo  rechts  und  links  der  Straßen- 
ränder sich  die  weißen  Gipfel  des  Hochgebirges  erheben,  sondern  erst  an  den 
südlichen  Vorbergen,  wo  die  Hauptwege  in  die  blauende  Ebene  auslaufen.  Hier 
hat  nun  aber  auch  während  der  Langobardenzeit  ein  regelrechter  Grenzschutz 
bestanden,  dessen  Erhaltung  und  Ausbau  in  der  folgenden  Zeit  für  die  lango- 
bardischen Herrscher  eine  immer  nötigere  und  dringendere  Aufgabe  wurde,  der 
aber,  wie  es  in  dem  Wesen  jeder  tatenscheuen  und  vorsichtigen  Verteidigung 
liegt,  seinen  eigentlichen  Zweck  nicht  erfüllen,  sondern  im  besten  Falle  nur 
retardierend  wirken  konnte. 

So  finden  wir  zunächst  an  einigen  wichtigen  Straßenstellen  der  Alpen,  und 
zuweilen  auch  schon  im  eigentlichen  Hochgebirge  (Hospental,  Stalvedro,  Giornico, 
Locarno,  Splügen,  Garda)  alte  Befestigungsbauten,  deren  Ursprung  von  je  her  den 
Langobarden  zugeschrieben  worden  ist.  Wenn  das  Aussehen  und  die  Lage  dieser 
Bauten  auch  überall  ohne  weiteres  ihr  hohes  Alter  und  den  Zweck  erkennen 
läßt,  dem  sie  einst  dienen  sollten,  so  ist  doch  noch  bei  keiner  einzigen  wirklich 
der  Beweis  für  jene  Annahme  erbracht  worden.  Indessen  läßt  sich  doch  auch 
diesmal  ein  brauchbarer  Kern  aus  jener  Übereinstimmung  der  Überlieferung 
herausschälen,  da  aus  ihr  als  geschichtliche  Tatsache  nichts  anderes  als  die  rein- 
liche und  ängstliche  Grenzsicherung  nachklingt,  wie  sie  von  den  Langobarden 
einst  an  ihrer  Nordgrenze  tatsächlich  gehandhabt  worden  ist.  Ein  anderes  Indi- 
zium dieser  Art  könnte  man  auch  in  dem  Dasein  der  vielen  kleinen  Herzog- 
tümer erblicken,  die  sich  entlang  der  Nordgrenze  des  Langobardenreiches  wie 
ein  Kranz  aneinander  reihten.  Zwar  war  dieses  Reich  überall  in  solche  Gebiete 
geteilt,  und  wir  wissen  daher  nicht,  ob  jene  Organisation  an  dieser  Stelle  auch 
nur  der  Schwäche  der  Zentralgewalt  entsprang,  oder  ob  ihr  bereits  derselbe  Ge- 
danke zu  Grunde  lag,  der  in  den  Tagen  der  Sachsen-  und  Frankenkaiser  den 
Osten  Deutschlands  mit  Markgrafschaften  umgürtete;  es  trifft  aber  jedenfalls  zu, 
daß  an  zwei  Stellen,  in  Trient  und  am  Langensee,  jenen  Herzögen  wirklich  auch 
die  Aufgabe  des  Grenzschutzes  übertragen  war'). 

Die  wichtigsten  und  zugleich  noch  am  deutlichsten  erkennbaren  Grenz- 
sicherungen der  Langobarden  verkörpern  sich  dagegen  in  den  sogenannten  Klausen. 

')  P.  D.  S.  55,  73. 


Langobarden  und  Franken  in  den  Alpen.  37 

Es  waren  dies  starke,  über  die  Sohle  der  Täler  gespannte  Schanzlinien,  die  nötigen- 
falls mit  Kriegsmaschinen  armiert  werden  konnten,  und  die  auf  diese  Weise  die 
von  den  Alpen  nach  Italien  laufenden  Wege  gleichsam  hermetisch  abschließen 
sollten.  Solche  Klausen  wurden  von  den  Langobarden  im  Tal  der  Dora  Riparia 
und  Dora  Baltea  und  am  Austritt  der  von  den  bündner  Pässen,  dem  Brenner- 
und dem  Pontebbapaß  herabkommenden  Straßen  erbaut,  an  Punkten  von  gleich- 
mäßig charakteristischer  Lage,  deren  ursprüngliche  Stelle  wir  zum  Teil  auch 
heute  noch  dort  in  der  Ortsbezeichnung  wiederfinden  können  (Chiusa  bei  Susa, 
Chiuso  am  Comersee,  Chiusa  nördlich  Verona,  Chiusa  oberhalb  Venzone)'). 
Auch  das  paßt  zu  diesem  zwar  ängstlichen,  aber  vom  militärischen  Standpunkt 
aus  doch  völlig  durchdachten  Verteidigungssystem,  wenn  das  an  dem  bedrohtesten 
Abschnitt  der  Nordfront  und  auf  der  inneren  Linie  gelegene  Turin  im  8.  Jahr- 
hundert so  stark  befestigt  war,  daß  es  Karl  d.  Gr.  fast  uneinnehmbar  fand 2). 
Ein  Teil  dieser  Klausen  hat  nun  auch  wirklich  in  den  Kriegen  gegen  die  Franken 
eine  Rolle  gespielt-');  einen  entscheidenden  Einfluß  haben  sie  jedoch  niemals  aus- 
üben können,  wenn  auch  ihr  Name  dann  noch  Jahrhunderte  hindurch  in  den 
Alpen  für  Wegesperrungen  Anwendung  fand,  die  dem  gleichen  Zwecke  dienen  sollten. 

Schon  aus  dem  Vorangegangenen  ist  es  daher  erklärlich,  daß,  wenn  über-  Die  Unter- 
haupt die  Geschichte  der  Alpeniänder  in  den  ersten  Jahrhunderten  des  Mittel-  der 'Fra"n^ken 
alters  Unruhe  und  Bewegung  gezeigt  hat,  diese  nur  von  den  nördlich  wohnen-  in  den  Alpen, 
den  Völkern  in  jene  hineingetragen  worden  sein  kann.  Aber  auch  die  zahlreichen 
Angriffskriege  der  Franken  über  den  Alpenkamm  nach  Italien  hinüber,  von  denen 
diese  Zeiten  erfüllt  sind,  vermochten  bis  auf  Karl  d-  Gr.  eine  Vernichtung  der 
langobardischen  Herrschaft  keineswegs  herbeizuführen;  bemerkenswert  ist  an 
ihnen  dagegen  die  Zähigkeit,  mit  der  sie  ausgeführt  wurden,  und  die  räumlich 
große  Ausdehnung,  mit  der  die  Franken  immer  wieder  an  den  verschiedensten 
Punkten  der  Alpen  auftreten.  Es  ist  eine  Art  der  Kriegführung,  die  ganz  und 
gar  noch  das  Wesen  der  Kriege  der  germanischen  Völkerwanderung  zeigt,  und 
bei  der  insbesondere  auch  der  fast  unversiegbar  scheinende  Kräfteüberschuß  des 
fränkischen  Volksstammes  hervortritt,  bis  er  schließlich  von  dem  Größten  der 
Pippiniden  in  feste  Bahnen  geleitet  und  als  Werkzeug  für  die  Begründung  seiner 
Herrschaft  über  das  Abendland  benutzt  werden  sollte.  Für  die  Alpengeschichte 
sind  jene  fränkischen  Züge  aber  auch  deshalb  wichtig,  weil  sie  sich  nicht  wie 
die  Züge  der  Langobarden  allein  auf  die  Westalpen,  sondern  auch  weit  über  die 
Zentralalpen  hin  erstrecken,  und  wenn  von  dorther  aus  dem  Altertum  nur  die 
Reste  der  römischen  Organisation  ihre  imponierende  aber  eintönige  Sprache 
reden,  so  wird  es  dagegen  nun  auch  hier  von  geschichtlichen  Ereignissen  lebendig, 
die  mit  dröhnendem  Schritt  von  Norden  her  herankommen  und  deren  Nachhall 
sich  immer  zahlreicher  und  sicherer  mit  den  Gebirgslandschaften  und  Straßen- 
punkten selbst  verknüpft. 

')  Oe.  I.  S.   199.        2;  M.  O.  I.  S.  205.         3)  P.  D.  S.  168,  169,  187. 


38  III-  Kapitel. 

Bereits  um  das  J.  580  sehen  wir  die  Franken  plötzlich  an  einem  weit 
von  dem  Sitze  ihrer  Macht  entfernten  Punkte  gegen  die  Grenzen  Italiens  heran- 
rücken, als  sie  in  Südtirol  Nano  (bei  Cles  im  Nonsberg)  besetzen  und  sich  hier 
zunächst  mit  einem  langobardischen  Grenzgrafen  herumschlagen.  Die  Besiegung 
des  letzteren  auf  den  rotalianischen  Feldern  —  gemeint  ist  die  Rocchetta,  der 
Eingangspunkt  in  das  Etschtal  von  jenen  Gegenden  aus  —  öffnet  den  Franken 
dann  sogar  den  Weg  bis  Trient.  Als  sie  aber  von  dort,  natürlich  mit  Beute  be- 
laden, wieder  nach  Norden  abziehen,  erscheint  dann  auch  der  langobardische 
Herzog  in  Trient  auf  der  Bildfläche,  der  ihnen  nachrückt  und  bei  Salurn  dann 
auch  derart  zusetzt,  daß  sie  das  ganze  an  der  Grenze  besetzte  Gebiet  wieder 
räumen  müssen.  Schon  bei  dieser  Nachricht  des  Paulus  Diakonus  ')>  die  dieser 
in  seiner  kurzen,  chronikartigen  Rede  wiedergibt,  wird  es  uns  vor  allem  inter- 
essieren, auf  welchen  Alpenwegen  die  Franken  schließlich  bis  nach  Südtirol  ge- 
langt sind,  und  besonders  gerade  dorthin,  wo  sie  zuerst  auftauchen,  in  dem  ganz 
abgelegenen  und  von  Norden  nicht  allzu  leicht  erreichbaren  Nonsberg.  Es  ist  dies 
jedoch  eine  Frage,  deren  sichere  Beantwortung  so  gut  wie  aussichtslos  ist.  Ge- 
wiß deutet  das  Vorkommen  von  Salurn,  des  letzten  Ortsnamens  in  diesem  Zu- 
sammenhange, darauf  hin,  daß  den  Franken  auch  die  Brennerstraße  nördlich  von 
Trient  offengestanden  haben  muß.  Zwingend  würde  dies  aber  doch  nur  für  die 
Strecke  bis  Bozen  sein,  während  von  hier  ab  nördlich  wieder  völlige  Unklarheit 
herrscht,  ob  die  Brennerstraße  selbst  oder  die  Reschenstraße,  oder  gar  der  Tonal 
als  der  Kanal  für  jene  Ereignisse  anzusehen  ist. 

Der  gewaltigste  Angriff  der  Franken  auf  das  Langobardenreich  ist  bis  auf 
Karl  d.  Gr.  derjenige  vom  J.  590  2),  der  deshalb  auch  alle  die  Züge  des 
Bildes  in  sich  vereinigt,  das  wir  uns  von  den  Alpenkriegen  der  damaligen  Zeit 
machen  können.  Es  sind  weit  ausgreifende,  groteske  Kriegszüge,  zugleich  aber 
ihrer  Anlage  nach  von  einer  unendlichen  Ziellosigkeit  und  Unklarheit,  die  sich 
bis  in  die  Zeilen  der  Überlieferung  fortsetzt,  derart,  daß  der  Verlauf  jener  Be- 
wegungen nach  Zeit  und  Ort  auch  nur  in  ebenso  gewaltigen  wie  undeutlichen 
Umrissen  feststeht.  Aber  aus  ihnen  klingt  trotzdem  wie  ein  einziger  erhabener 
Grundton  die  wichtige  Tatsache  heraus,  daß  die  Franken  damals  in  mehreren 
Heersäulen  die  Mittelalpen  überschritten  und  so  plötzlich  an  einer  Stelle  der 
Nordgrenze  Italiens  erschienen,  wo  mit  solchem  Nachdruck  noch  niemals  ein 
Feind  vom  Gebirge  her  in  jenes  Land  eingerückt  war.  Welche  Alpenstraßen 
die  Franken  dabei  benutzt  haben,  davon  giebt  freilich  weder  die  eine  noch  die 
andere  Quelle  genaue  Kunde,  weil  sie  eben  nur  jene  Örtlichkeiten  nennen,  an 
denen  die  fränkischen  Kolonnen  schließlich  auf  den  Boden  Italiens  aufgetroffen 
sind^).  Diese  Örtlichkeiten  sind  einesteils  Bellinzona  und  die  Umgebung  Mai- 
lands, andernteils  Verona;  nur  ist  es  hier  bereits  unklar,  ob  diejenigen  Franken, 
die   in  der  Nähe  Mailands  und  vor  Bellinzona  auftreten,   vorher  vereint  oder  in 

1)  P.  D.  S.  55;  vgl.  Eg.  S.  216  f.        2)  P.  D.  S.  63,  66,  68  f.  3)  Vgl.  Anh.  4. 


Langobarden  und  Franken  in  den  Alpen.  39 

zwei  Abteilungen  getrennt  über  die  Alpen  marschiert  sind,  während  das  eine 
allerdings  sicher  ist,  daß  die  östlichste  Kolonne  für  sich  allein  einen  besonderen 
Weg  durch  die  Alpen  einschlug,  für  den  nur  der  Julier  oder  irgend  ein  Über- 
gang östlich  desselben  in  Frage  kommen  kann.  Daß  ein  auf  Südtirol  zu  führen- 
der Übergang  den  Franken  damals  gewohnt  gewesen  ist,  konnten  wir  schon  aus 
den  Ereignissen  herleiten,  die  sich  etwa  10  Jahre  vorher  um  Nano  und  Trient 
abspielten;  viel  größere  Beachtung  verdient  dagegen  bei  diesen  Einfällen  das 
Vorkommen  des  Ortes  Bellinzona,  weil  derjenige,  der  damals  diesen  Punkt  von 
Norden  angriff,  vorher  nur  über  den  Gotthard,  den  Lukmanier  oder  den  Bern- 
hardin die  Alpen  überschritten  haben  kann,  und  weil  daher  nunmehr  auch  der 
Schleier  von  jenen  innersten  Übergängen  der  Alpen  hinweggerissen  worden  ist, 
die  das  römische  Altertum  stets  als  militärisch  gänzlich  unwichtig  bei  Seite  liegen 
gelassen  hatte. 

Interessant  aber  in  ihrer  Beantwortung  gleich  unsicher  ist  weiterhin  auch 
die  Frage,  welchen  Weg  die  Franken  bis  dahin  genommen  haben,  wo  sie  schließ- 
lich nördlich  des  Alpenkammes  in  einzelne  Abteilungen  auseinandergegangen  sind. 
Da  nun  aber  die  Alpenüberschreitung  selbst,  für  einen  Teil  der  Franken  wenig- 
stens, mit  der  größten  Wahrscheinlichkeit  auf  die  bündner  Pässe  hinweist,  so 
kann  man  sich  auch  ganz  gut  vorstellen,  wie  das  von  Metz  herankommende 
fränkische  Heer  von  dort  zunächst  auf  der  Bahn  jener  alten  Römerstraße  über 
Äugst  und  Windisch  weitergezogen  ist ').  Auch  hier  zeigt  sich  also  wiederum 
die  Veränderung  der  Weltlage;  es  sind  dieselben  geographischen  Grundbedingungen, 
aber  die  Kräfte,  die  von  ihnen  Gebrauch  machen,  bewegen  sich  in  einer  ganz 
neuen,  dem  römischen  Altertum  durchaus  entgegengesetzten  Richtung. 

Auch  darüber,  wie  der  eigentliche  Feldzug  nach  Überschreitung  der  Alpen 
in  Oberitalien  ausgelaufen  ist,  läßt  sich  kein  deutliches  Bild  gewinnen.  Auf 
das  Verhalten  der  vor  Mailand  stehenden  fränkischen  Abteilung  scheint  zunächst 
bestimmend  eingewirkt  zu  haben,  daß  sie  auf  das  Eingreifen  eines  byzantinischen 
Hilfsheeres  rechnete,  eine  Lage,  die  jedoch,  wie  in  den  weitaus  meisten  Fällen 
gleicher  Art,  auch  diesmal  nur  dazu  geeignet  war,  die  Energie  der  Führung  zu 
schwächen.  Bei  beiden  Gegnern  hat  die  Kriegführung  dann  auch  hier  jene  zähe 
furchtbare  Gestalt  angenommen,  wie  sie  sich  stets  in  solchen  kulturfeindlichen 
Zeiten  herausbildet,  in  denen  der  Angriff  mit  der  Eroberung  in  der  gröbsten 
Form,  mit  Raub  und  Zerstörung  gleichbedeutend  ist,  während  der  Angegriffene 
sich  in  seine  festesten  Plätze  zurückzieht,  und  das  Schicksal  des  Feldzugs  allein 
von  deren  Widerstandskraft  abhängig  bleibt;  und  wenn  die  Franken  hier  zuletzt 
durch  eine  verheerende  Seuche  zum  Rückzug  auf  der  ganzen  Linie  gezwungen 
wurden,  so  ist  dies  gleichfalls  ein  Abschluß,  wie  er  sich  bei  einer  solchen  Krieg- 
führung besonders  häufig  einzustellen  pflegt. 

Gewissermaßen  als  Episode,  aber  als  eine  solche,   die  ein  Meer  von  Pro- 

')  Eg.  S.  220. 


40  III.  Kapitel. 

blemen  niederen  Ranges  in  sich  schließt,  steht  am  Schlüsse  dieses  Feldzugs  bei 
Paulus  Diakonus  noch  die  Notiz,  in  der  dieser  von  der  Eroberung  des  Trienter 
und  Veroneser  Gebietes  durch  die  Franken  erzählt  und  dabei  diejenigen  Punkte 
namhaft  macht,  wo  der  langobardische  Widerstand  gewaltsam  gebrochen  werden 
mußte.  Dieser  Verlauf  teilt  sich  zeitlich  und  örtlich  genau  in  zwei  Abschnitte, 
in  den  zweiten,  bei  dem  das  Valsugana  und  Verona  darankamen,  und  in  den 
diesem  vorangegangenen,  als  in  Südtirol  nicht  mehr  als  zehn  Burgen  von  den 
Franken  zerstört  wurden ').  Auf  diesen  letzteren  Punkten  lastet  nun  freilich  ein 
schweres  Schicksal,  da  nur  zwei  von  ihnen,  Male  und  Cembra,  auf  den  ersten 
Blick  mit  Sicherheit  wiedererkannt  werden  und  so  hier  die  Rolle  des  Polar- 
gestirnes abgeben  können,  die  anderen  acht  dagegen  immer  und  immer  wieder 
zu  verschiedenen  Deutungen  Veranlassung  geben  müssen.  Aber  trotzdem  ge- 
wahren wir  doch  auch  hier  mit  aller  Deutlichkeit,  wie  die  südliche  Brenner- 
straße und  sogar  ihre  sonst  so  stillen  und  abseits  liegenden  Nebengebiete  damals 
von  Wohlstand  und  Leben  überzogen  und  eben  deshalb  ein  beliebtes  Ziel  der 
feindlichen  Einfälle  gewesen  sind.  Eine  gewaltige  Zeit,  ein  bewegtes  Stück  der 
Geschichte  Südtirols  liegt  demnach  hier  begraben;  aber  es  mag  doch  erwähnt 
werden,  daß  Einzelheiten  der  alten  deutschen  Heldensage,  für  deren  historische 
Bestandteile  wir  sonst  kaum  irgendwo  anders  eine  bessere  Beziehung  ausfindig 
machen  können,  sich  gerade  hier  gern  an  solche  Punkte  anklammern,  auf  die 
wir  bei  der  Durchforschung  jener  Frankenkriege  auftreffen.  So  spricht  man 
noch  heute  in  der  Gegend  der  Rocchetta  von  einer  großen  Schlacht,  die  einst 
dort  geschlagen  worden  sein  soll;  über  Salurn  liegt  die  sagenberühmte  Hader- 
burg, und  wer  an  einen  Zug  Karls  d.  Gr.  über  Madonna  di  C.  nicht  glauben 
mag2),  der  muß  wenigstens  mit  der  Tatsache  rechnen,  daß  hier  wirklich  einmal 
bei  Deggiano  (Tesana)  und  Male  ein  fränkisches  Heer  das  Gebirge  unsicher  ge- 
macht hat. 

In  den  späteren  Zeiten  scheinen  sich  die  Franken  dagegen  bei  ihren  Ein- 
Fällen  nach  Italien  fast  nur  auf  die  Westalpen  beschränkt  zu  haben;  sicher  ist 
dies  jedenfalls  bei  jenem  Zuge,  der  in  der  Mitte  des  7.  Jahrhunderts  bis  in  die 
Gegend  von  Asti  gelangte  und  dort  durch  einen  Sieg  des  Langobardenkönigs 
Grimoald  zum  Stehen  gebracht  wurde^).  Besonders  kamen  aber  dann  alle  die 
Angriffe,  die  später  von  den  Pippiniden  Schlag  auf  Schlag  gegen  das  Langobarden- 
reich gerichtet  wurden,  lediglich  über  die  westlichen  Pässe  herangezogen;  so  be- 
nutzte Pippin  zu  dem  ersten  Zug  vom  J.  754  den  Mont  Cenis,  zu  seinem 
zweiten  im  J.  756  diesen  oder  den  Gr.  S.  Bernhard,  während  Karl  d.  Gr., 
als  er  773  zu  dem  letzten  entscheidenden  Stoße  ausholte,  in  zwei  Kolonnen  die 
Westalpen  überschritten  hat"*).  Der  Grund  dafür  aber,  daß  jene  letzten  Züge 
nicht  wie  die  früheren  an  dem  Nordrand  Italiens  stecken  blieben,  sondern  bis 
zur  feindlichen  Hauptstadt  Pavia  ausliefen,  mag  vor  allem  in  den  Persönlichkeiten 

')  Vgl.  Anh.  5.        2)  Vgl.  Anh.  8.        3)  p.  d.  s.  106.         *)  Oe.  1.  S.  201. 


Langobarden  und  Franken  in  den  Alpen.  41 

der  Herrscher  zu  suchen  sein,  die  jene  von  der  Natur  vorgeschriebenen,  in  das 
Herz  des  Langobardenreiches  führenden  Alpenstraßen  zielgerecht  zu  benutzen  ver- 
standen. 

Vollständig  klar  zeigt  sich  dies  jedenfalls  bei  dem  Zuge  vom  J.  773.  Der  Alpenfeid- 
Wie  bei  genauerer  Betrachtung  unter  den  Eigenschaften  Karls  des  Gr.  diejenigen  c^r  vom  j.  773. 
des  Feldherrn  mindestens  ebenso  glänzend  wie  alle  anderen  heraustreten,  so  war 
auch  jener  von  ihm  persönlich  angelegte  Feldzug  ein  Meisterstück  ersten  Ranges; 
denn  es  gelang  Karl  hier,  nach  getrenntem  Marschieren  vereint  zu  schlagen,  und 
zwar  noch  dazu  unter  besonders  erschwerenden  Umständen,  nach  einem  getrennten 
Marsche  über  das  Hochgebirge.  Es  ist  bekannt,  mit  welch'  lebhaften  aber  auch 
unklaren  Zügen  die  Sage  diesen  siegreichen  Alpenfeldzug  Karls  ausgeschmückt 
hat  '),  wie  ein  langobardischer  Spielmann  den  Franken  den  Weg  über  das  Hoch- 
gebirge gezeigt  haben  soll,  und  wie  Desiderius,  der  unten  in  der  Ebene  in  seinen 
Befestigungen  bis  auf  die  Zähne  bewaffnet  den  Feind  erwartete,  dann,  als  ihm 
Karls  Persönlichkeit  vor  Augen  trat,  von  Schrecken  gepackt  blindlings  nach 
seiner  Hauptstadt  Pavia  geflohen  sei.  Der  große  und  unerwartete  militärische 
Erfolg,  den  Karl  hier  errang,  ist  es  also,  der,  gewaltig  und  einzigartig  wie  er  war, 
aus  allem  diesen  noch  herausklingt,  eine  Tatsache,  die  übrigens  auch  alle  anderen 
Quellen  über  jene  Vorgänge  gleich  deutlich  erkennen  lassen,  wenn  jene  auch 
sonst  gerade  hier  von  einer  verzweifelten  Unklarheit  sind,  so  daß  man  sich  weiter- 
hin an  der  Erklärung  der  lokalen  Einzelheiten  dieses  Feldzuges  fast  bis  zum 
Mißmut  versuchen  kann. 

Sicher  ist  bei  jenem  Zuge  Karls  zunächst  nur,  daß  vorher  Genf  der  Sammel- 
punkt des  Heeres  war  und  daß  dieses  hierauf  in  zwei  Kolonnen,  die  nördliche 
unter  Kar's  Oheim  Bernhard  über  den  Gr.  S.  Bernhard,  die  südliche  unter  Karl 
selbst  über  den  Mont  Cenis  das  Gebirge  überschritt,  und  daß  beide  so  bis  an 
den  Südfuß  des  Gebirges  gelangten.  Durchaus  unklar  ist  dagegen,  welche  Maß- 
nahmen dann  zu  jenem  vollständigen  Erfolge  führten,  derart,  daß  der  Langobarden- 
könig plötzlich  jeden  Widerstand  aufgeben  und  Hals  über  Kopf  seine  starke 
Stellung  bei  Susa  räumen  mußte-).  So  ist  dieser  Alpenfeldzug  Karls  durchaus 
ein  Seitenstück  zu  Hannibals  Marsch  über  die  Alpen,  als  großartige  militärische 
Leistung,  nicht  minder  aber  auch  hinsichtlich  der  über  seinen  lokalen  Verlauf 
gebreiteten  Unklarheit,  ein  Verhältnis,  das  aber  eben  hier  wie  dort,  wie  eine 
lebendige  Quelle,  die  bald  versiegt  und  dann  um  so  stärker  emportreibt,  der 
Forschung  immer  wieder  neuen  Stoff  und  neue  Anregung  geliefert  hat. 

Wenn  die  Überlegenheit  der  Franken  über  die  Langobarden  während  jener  Die  Bedeutung 
Jahrhunderte  eine  Tatsache  ist,  die  durch  jede  Zeile   der  geschichtlichen  Über-  KiauTeV.'**^  *" 
lieferung  ihre  Bestätigung  findet,  so  würde  uns   doch   auch  ohne  dies   ein   noch 
heute  in  unverminderter  Stärke  fortwaltender  Zustand  hierfür   einen   mindestens 
ebenso  starken  Beweis  liefern  können.     Zu  allen  Zeiten,  in  denen  die   Grenzen 
')  P.  D.  S    187  f.         ^)  Vgl.  Ab.  S.  141  f.  u.  Anh.  6. 


42  III.  Kapitel. 

zweier  Gebiete  mit  dem  Lauf  der  Gebirgskämme  zusammenfielen,  ist  dies  auch 
ein  Zeichen  dafür  gewesen,  daß  auf  keiner  Seite  ein  Bestreben,  sich  auszudehnen 
vorlag,  und  daß  daher  auch  zumeist  die  Machtverhältnisse  diesseits  und  jenseits 
annähernd  gleichwertig  waren.  Sobald  aber  auf  der  einen  Seite  die  Mächte  des 
Fortschritts  sich  rühren,  so  wird  stets,  je  stärker  diese  emporkommen,  auch  um 
so  mehr  das  Bestreben  sich  geltend  machen,  die  eigenen  Grenzen  wenn  nicht 
auszudehnen,  so  doch  zum  mindesten  auf  die  vollendetste  Art  zu  sichern.  Das 
Wesen  einer  solchen  Grenzgestaltung  hat  nun  aber  in  allen  Gebirgsländern 
und  zu  allen  Zeiten  niemals  in  deren  ununterbrochenem  Lauf  entlang  der  höchsten 
Kämme  bestanden,  sondern  jene  mußte  sich  wie  mit  Naturnotwendigkeit  überall 
da,  wo  diese  Kämme  von  den  wichtigen  Paßwegen  überschritten  werden,  ein 
ganzes  Stück  in  das  Nachbargebiet  vorschieben,  um  diese  Übergänge  für  sich 
allein  zu  beliebiger  Benutzung  freizuhalten,  als  ein  wirklich  in  das  Dasein  ge- 
tretener Beweis  und  als  eine  andauernde  Mahnung  für  den  jenseitigen  Nachbar, 
daß  man  sich  ihm  gegenüber  als  der  Mächtigerere  fühlt.  Solche  Zustände  haben 
dann  aber  auch,  weil  sie  zumeist  lange  Zeiträume  andauerten,  in  dem  Kultur- 
bild des  Gebirges  viel  tiefere  Spuren  zurückgelassen  als  einzelne  Ereignisse  von 
augenblicklich  noch  so  imposanter  Wirkung. 

Ein  besonders  deutliches  Beispiel  dieser  Art  treffen  wir  nun  auch  im  frühen 
Mittelalter.  Wenn  im  allgemeinen  auch  richtigerweise  das  damalige  Wesen  am 
Südrand  der  Alpen  als  langobardisch  bezeichnet  wird,  so  trifft  dies  doch  für  eine 
Stelle  nicht  zu.  die  nach  dem  Vorangegangenen  nur  dort  gesucht  werden  kann, 
wo  die  der  fränkischen  Macht  am  nächsten  liegenden  westlichen  Wege  der  Alpen 
nach  Italien  hinabliefen.  Schon  in  den  ersten  Kämpfen  zwischen  Franken  und 
Langobarden  muß  die  beherrschende  Lage  jener  Übergänge  innerhalb  der  damaligen 
Machtverhältnisse  so  deutlich  hervorgetreten  sein,  daß  die  Franken  sich  sofort  in 
deren  Besitz  setzten.  Die  Zugehörigkeit  der  Stadtgebiete  von  Susa  und  Aosta 
zu  dem  burgundischen  bezl.  fränkischen  Reiche  ist  seit  dem  J.  572  sicher 
nachweisbar');  besonders  sind  aber  weiterhin  genug  Anzeichen  vorhanden,  daß 
die  nördlichen  Machthaber  auch  wirklich  von  Anfang  an  alle  Anstalten  trafen, 
diese  Gegenden  dauernd  festzuhalten.  Es  liegt  also  hier  der  seltene  Fall  vor, 
daß  wir  selbst  in  jenen  unfertigen  Jahrhunderten,  denen  eine  genaue  Feststellung 
der  Grenzen  sonst  ganz  fernlag,  einer  Grenzsicherung  bis  in  das  Kleinste  nach- 
kommen können,  wie  sie  zu  allen  Zeiten  für  eine  überlegene  Macht  vorbildlich 
gewesen  ist. 

Die  militärischen  Maßregeln  der  Franken  beschränkten  sich  aber  nicht 
allein  auf  die  Besetzung  jener  Städte,  sondern  sie  legten  nun  auch  ihrerseits 
jenseits  des  Gebirges  besondere,  gleichfalls  mit  dem  Namen  Klausen  bezeichnete 
Grenzsperren  an,  die  ihrer  Lage  und  Orientierung  nach  daher  denjenigen  der 
Langobarden  direkt  entgegengesetzt  sein  mußten.  Wir  wissen,  daß  solche  frän- 
1)  Oe.  I.  S.  191. 


Langobarden  und  Franken  in  den  Alpen.  43 

kische  Klausen  bei  Susa  und  Aosta  bestanden  haben,  und  es  werden  auch  im 
J.  894  noch  dieselben  Werke  gewesen  sein,  an  denen  Arnulf  nördlich  Ivrea 
so  besonders  hartnäckigen  Widerstand  fand,  als  er  damals  einen  Angriff  gegen 
das  neu  entstandene  burgundische  Reich  von  Italien  aus  unternahm  ').  Daß  aber 
auch  ein  ständiger  Polizeidienst  hier  gehandhabt  worden  ist,  zeigt  das  Schicksal 
Griphos,  eines  fränkischen  Thronprätendenten,  der  im  J.  753  auf  seiner  Flucht 
nach  Italien  von  den  in  der  Maurienne  stationierten  fränkischen  Grenzwächtern 
erschlagen  wurde ').  In  Gestalt  der  Anfügung  sowohl  des  Tales  von  Susa  wie 
desjenigen  von  Aosta  an  fränkische  Diözesen  lieferte  dann  die  kirchliche  Organi- 
sation ein  weiteres  und  in  diesen  Zeiten  besonders  kräftig  wirkendes  Mittel,  um 
die  Vereinigung  dieser  exponiert  liegenden  Gebirgstäler  mit  dem  fränkischen 
Reiche  zu  befördern.  Das  Tal  von  Aosta  gehörte  zur  Kirchenprovinz  der  Taran- 
taise,  während  Susa  sich  bereits  588  auf  Kosten  Turins  mit  der  neu  konstituierten 
Diözese  von  Maurienne  vereinigt  findet.  Ein  Zeichen  aber  dafür,  wie  fest 
schließlich  jene  Nordwestecke  Italiens  mit  dem  Nordland  zusammenwuchs,  und 
wie  rasch  diese  Verbindung  sich  in  der  Vorstellung  des  Mittelalters  einlebte, 
liegt  schon  in  der  Divisio  imperii  Karls  des  Gr.  (806)  vor,  die  das  Tal  von  Aosta 
ohne  weiteres  als  einen  Teil  von  Burgund  ansieht  ^).  Auch  im  J.  1026  wird 
die  Gegend  von  Bard  als  die  äußerste  Grenze  Italiens  bezeichnet,  und  die 
mittelalterlichen  Reiseberichte  lassen  ganz  genau  erkennen,  wie  erst  östlich  Susa 
die  Rechnung  nach  italienischen  Meilen  beginnt  ■*).  Ein  sprechender  Nachklang 
jenes  Zustandes,  lebensvoller  als  alle  aus  alter  Vorzeit  hervorgeholten  Zeugnisse, 
ist  aber  darin  erhalten  geblieben,  daß  heute  noch  in  jenen  Tälern  auf  der  italie- 
nischen Seite  des  Alpenkammes  die  französische  Sprache  herrscht.  Noch  heute 
reicht  hier  das  französische  Sprachgebiet  fast  genau  bis  dahin,  wo  einst  die 
fränkischen  Besatzungen  von  ihren  Klausen  auf  die  nach  Italien  führenden  Wege 
herabblickten,  und  es  sind  zwar  Südländer,  aber  doch  keine  eigentlichen  Italiener, 
die  in  Aosta  Viktor  Emmanuel  II.  als  ihrem  roi  chasseur  ein  Denkmal  gesetzt 
haben. 

')  Oe.  I.  S.  200,  240,  245.         2)  Oe.  I.  S.  201.         3,  Oc.  I.  S.  239.        '>)  Oe.  1.  S.  239,  II.  S.  296. 


IV.  Kapitel. 
Die  Bayern. 


Die  Herkunft  Wenn  das  Einfache  nur  bei  geordneten  Verhältnissen   das  Wahrscheinliche 

ayern.  .^^^  ^.^  germanische  Völkerwanderung  aber  alles  andere  als  dieses  bedeutet, 
so  ist  auch  in  jenen  Zeiten  das  Ungewohnte  und  Plötzliche  oft  das  Zutreffende, 
wie  wir  dies  eben  erst  an  jenem  Teil  der  Sachsen  beobachten  konnten,  die  mit 
den  Langobarden  von  Osten  her  nach  Italien  gekommen  waren  und  durch  Frank- 
reich nach  Norddeutschland  in  ihre  alten  Sitze  zurückwanderten  ').  Eine  ähnliche 
merkwürdige  Tatsache  steht  nun  auch  in  der  Art  und  Weise  vor  uns,  wie  die 
Bayern  in  der  Geschichte  auftreten,  von  denen  wenigstens  dem  Namen  nach 
vorher  nicht  das  Geringste  verlautet  hat,  und  die  nun  plötzlich  in  der  zweiten 
Hälfte  des  6.  Jahrhunderts  als  ein  zahlreiches  und  kräftiges,  geschlossenes  und 
gleichartiges  Volk  nördlich  der  Alpen  sich  geltend  machen. 

Auch  über  die  Herkunft  der  Bayern  wird  die  Forschung  wohl  niemals  eine 
allen  Zweifel  ausschließende  Antwort  geben  können.  Das  Wahrscheinlichste 
bleibt  aber  doch,  daß  diese  nichts  anderes  sind  als  das  Volk  der  Marcomanen 
(Sueben),  die  im  Altertum  in  Böhmen  saßen  und  als  solches  in  den  Marcomanen- 
kriegen Mark  Aureis  auch  genug  Zeugnisse  ihres  Daseins  gegeben  haben-  Schon 
deshalb  hat  jener  Gedanke  etwas  für  sich,  weil  es  so  am  leichtesten  ist,  das 
Schicksal  der  Marcomanen  selbst  zu  enträtseln,  die  sonst  als  einer  der  gewaltigsten 
germanischen  Stämme  des  Altertums  einfach  vom  Erdboden  verschwunden  sein 
müßten.  Wir  wissen  außerdem,  daß  diese  sich  zwar  jahrhundertelang  in  der 
römischen  Klientel  befunden  haben,  aber  ebenso  auch  niemals  von  den  Römern 
völlig  überwunden  worden  sind  2).  Ist  demnach  kein  eigentliches  Ereignis  be- 
kannt, wodurch  die  Marromanen  wirklich  untergegangen  sein  könnten,  so  paßt 
andererseits  zu  jenem  Einfluß  von  Süden  her,  dem  diese  ein  halbes  Jahrtausend 
hindurch  ausgesetzt  gewesen  sein  müssen,  ganz  und  gar  das  Wesen  der  Bayern 
und  deren  körperliche  Bildung,  wie  wir  sie  von  Anfang  an  vor  uns  haben,  nicht 

1)  P.  D.  S.  52 f.        2)  Vgl.  Mommsen,  Römische  Geschichte.  5.  Au.  V.  B.  S.  195,  197,  215. 


Die  Bayern.  45 

mit  SO  rein  germanischen  Zügen,  nicht  so  blond  und  blauäugig  wie  die  übrigen 
Germanen;  auch  jene  ausgesprochene  Neigung  für  eine  feste  monarchische  Führung 
findet  sich  bei  beiden,  bei  Marcomanen  und  Bayern,  in  gleicher  Weise. 

Schwierig  ist  es  freilich,  einen  Zusammenhang  in  den  Ereignissen  zu  kon- 
struieren, durch  die  das  geschlossene  Volk  der  Marcomanen  Böhmen  verlassen 
und  sich  südlich  der  oberen  Donau  und  in  weitem  Umkreis  um  Regensburg 
niedergelassen  hat.  Wenn  aber  die  Franken  unter  Chlothar  im  J.  531  das 
Doppelreich  der  Thüringer  niederwerfen,  jene  selbst  aber  ein  Menschenalter 
später  in  denselben  Landschaften  von  den  Avaren  völlig  geschlagen  wurden  '), 
so  müssen  einerseits  auch  die  Marcomanen  in  diese  Kämpfe  mit  verwickelt 
worden  sein.  Da  man  aber  andererseits  jenen  beiden  Parteien,  die  hier  von 
weither  aufeinandertrafen,  den  Franken  so  gut  wie  den  Avaren,  damals  kaum 
die  Kraft  zutrauen  kann,  einen  großen  germanischen  Stamm  völlig  zu  vernichten, 
so  bleibt  doch  die  Möglichkeit  übrig,  daß  die  Marcomanen,  von  Franken  und 
Avaren  gedrängt,  nach  Westen  auswichen,  und  nun  anstatt  ihrer  die  Slaven  in 
Böhmen  einzogen,  die  wir  jetzt  überall  an  den  Fersen  der  Avaren  hängen  sehen. 

Es  ist  bezeichnend  für  die  ganze,  nunmehr  ein  und  ein  halbes  Jahrtausend  Das  alte 
hindurch  in  selbständiger  und  ununterbrochener  Folge  existierende  bayrische  Herrscherhaus. 
Geschichte,  daß  dieses  Volk,  sobald  es  überhaupt  zum  ersten  Mal  genannt  wird, 
auch  sogleich  als  eine  Art  europäischer  Macht  auftritt.  Das  Gebiet  aber,  das 
wir  ihm  damals  zunächst  zuweisen  müssen,  bildete  die  alte  römische  Provinz 
Vindelicien  nebst  dem  westlichen  Teile  des  alten  Ufernorikums,  jedoch  so,  daß 
der  Schwerpunkt  der  bayrischen  Macht  ganz  ausgesprochen  in  der  nördlichen 
Hälfte  dieses  Komplexes  lag,  und  daß  westlich  der  Lech  und  östlich  die  Enns 
nur  als  die  ungefähren  Grenzen  jenes  Machtbereichs  gelten  können.  Der  Sitz 
der  bayrischen  Herrscher  selbst  ist  aber  Regensburg  geworden,  das  schon  im 
S.Jahrhundert  als  eine  ausnehmend  feste  Stadt  geschildert  wird,  „von  Quader- 
steinen erbaut,  überragt  von  hohen  Türmen,  reich  an  Brunnen"  ^),  und  man  sieht, 
wie  sich  hier  bei  dem  Reichtum  an  Quadersteinen  und  an  Wasserversorgung 
noch  ganz  die  Merkmale  der  römischen  Bauweise  erhalten  haben.  Von  hier 
aus  hat  also  damals  das  bayrische  Herrschergeschlecht  der  Agilolfinger  ungestört 
die  Arbeit  der  Konsolidierung  des  Reiches  durchgeführt,  wobei  es  weiterhin 
wichtig  ist,  daß  jenes  trotz  seiner  äußerlichen  Abhängigkeit  vom  fränkischen 
Reiche  durchaus  in  der  Rolle  einer  europäischen  Dynastie  erscheint.  Dies  zeigt 
sich  darin,  daß  Paulus  Diakonus  dem  Bayernherrscher  Garibald  zweimal  den 
Titel  König  giebt^),  und  besonders  in  der  fortdauernden  Verwandtschaft  der  Agilol- 
finger mit  dem  fränkischen  und  langobardischen  Königshaus,  ein  Verhältnis,  das 
in  jenen  monarchischen  Zeiten  am  allerehesten  als  ein  Sinnbild  nicht  allein  der 
Ebenbürtigkeit  der  Dynastien  sondern  auch   der  von  ihnen  beherrschten    Reiche 

')  P.  D.   S.  38;    Vgl.  Bachmann,   die    Einwanderung   der    Bayern,    Wien,   Sitzungsberichte   91  B. 
2)  Ri.  I.  B.  S.  57.        3)  p.  D.  S.  55,66. 


46  'V.  Kapitel. 

angesehen  werden  kann.  Von  den  Eigenschaften  und  Schicksalen  jener  Bayern- 
fürsten —  selbst  darüber,  ob  sie  ursprünglich  ein  einheimisches  oder  gar  ein 
fränkisches  Geschlecht  waren  —  wissen  wir  freilich  noch  weniger  als  von  den 
damaligen  Langobarden-  und  Frankenkönigen,  eine  Lücke,  die  aber  nur  den 
Schluß  rechtfertigt,  daß  deren  Stellung  im  Innern  durchaus  gefestigt  war,  und 
es  muß  ferner  auch  auffallen,  daß  man  Kriegs-  und  Beutezügen,  wie  überhaupt 
jenem  damals  üblichen,  weiten  und  uferlosen  Ausgreifen  über  die  Grenzen  hinaus, 
in  der  ältesten  bayrischen  Geschichte  am  allerwenigsten  begegnet. 
Die  Tätigkeit  Denn  die  Tätigkeit   der  Agilolfinger  muß  zu  allen   Zeiten  ihrer   Herrschaft 

gl  0  "g«''.  y.^j  mehr  nach  innen  als  nach  außen  gerichtet  gewesen  sein.  Mit  Recht  messen 
wir  aber  gerade  in  unfertigen,  kriegerischen  Perioden  die  Größe  eines  Herrschers 
weniger  nach  seiner  Wirksamkeit  nach  außen,  sondern  auf  Grund  der  Schwierig- 
keiten in  der  Ausführung  mehr  nach  seiner  Regierungstätigkeit  im  Innern.  Weil 
sie  die  Hauptaufgabe  ihres  Lebens  in  der  Schaffung  einer  neuen  Kultur  suchten, 
deshalb  haben  der  Ostgote  Theodorich  und  der  Franke  Karl  den  Beinamen  des 
Großen  erhalten.  Auch  den  Agilolfingern  kommt  hier  im  kleinen  Kreise  der- 
selbe Ruhm  zu,  wie  sie  daher  nach  dem  Maßstabe  der  damaligen  Zeiten  als  ein 
aufgeklärtes  und  hochstehendes  Geschlecht  betrachtet  werden  müssen. 

Dies  tritt  nun  ebensosehr  in  der  Entschiedenheit  hervor,  mit  der  sie  sich 
der  Kirche  bedienten,  durch  deren  Hilfe  sie  damals  am  mächtigsten  in  ihren 
Zielen  gefördert  werden  konnten,  wie  in  der  Selbständigkeit,  mit  der  sie  ihren 
Willen  und  ihren  Einfluß  bei  der  Auswahl  der  Punkte  für  jene  kirchliche  Wirk- 
samkeit geltend  machten.  Der  Geschichtsschreiber  fühlt  sich  nie  ganz  wohl, 
wenn  er  Heiligengeschichten,  seien  sie  auch  noch  so  fromm,  selbst  noch  so  alt, 
für  seine  Zwecke  verwendet.  Aber  es  ist  doch  vielleicht  ein  Stück  ungetrübter 
historischer  Wahrheit,  wenn  aus  dem  Leben  des  h.  Emmeran  (f  652)  berichtet 
wird,  daß  dieser,  als  er  nach  Osten  zur  Bekehrung  der  Avaren  reisen  wollte,  in 
Regensburg  von  dem  Bayernherzog  Theodo  veranlaßt  worden  sei,  dauernd  dort 
zurückzubleiben,  und  daß  diesem  Entschluß  jenes  berühmte  Regensburger  Kloster 
seinen  Ursprung  verdankt.  Ebenso  ging  dann  nach  der  Zerstörung  Lorchs  (738) 
die  Rolle  des  dortigen  Bistums  ganz  von  selbst  auf  das  neugegründete  Passau 
über,  wodurch  nun  auch  diese  zweite  Residenz  der  Agilolfinger  zu  einem  Bischofs- 
sitze kam,  dessen  Machtbereich  in  der  ersten  Hälfte  des  Mittelalters  östlich  weit 
die  Donau  entlang  bis  zur  ungarischen  Grenze  hinabreichte. 

Überhaupt  wird  es  kaum  ein  anderes  Land  geben,  in  dem  gerade  allein  im 
S.Jahrhundert  eine  so  vielseitige  kirchliche  Kulturtätigkeit  eingesetzt  hat  wie  in 
Bayern.  Wo  aber  auch  solche  Gründungen  vorhanden  sind,  wird  als  ihr  Stifter 
fast  immer  zugleich  auch  ein  Agilolfinger  genannt.  Im  eigentlichen  Kernlande 
der  bayrischen  Macht  sind  jene  begreiflicherweise  am  zahlreichsten  zu  finden. 
So  half  im  J.  724  Grimoald  Korbinian  das  Bistum  Freising  gründen,  740  ent- 
stand Benediktbeuern,  als  dessen  Gründer  die  Grafen   Landfried,  Waltram  und 


Die  Bayern.  47 

Eleland,  möglicherweise  auch  Mitglieder  der  herrschenden  Familie  erscheinen, 
und  wo  bei  der  ersten  Anlage  auch  sofort  die  Loisach  überbrückt  und  durch 
das  sumpfige  Tal  eine  Straße  geführt  wurde  ').  741  entstand  unter  Herzog  Odilo 
Eichstädt,  und  746  stifteten  zwei  Agilolfinger,  Adalbert  und  Ottokar,  Tegernsee, 
während  Tassilo  II.  dann  Wessobrunn  (753),  Scharnitz  (764)  und  764  und  783  die 
Klöster  auf  den  Inseln  des  Chiemsees  gründete;  die  Zahl  783  ist  nebenbei  die 
letzte  derartige  vor  dem  Verschwinden  jenes  alten  Herrschergeschlechtes  aus 
der  Geschichte. 

Nicht  so  zahlreich  begegnet  man  dagegen  solchen  Gründungen  in  den 
bayrischen  Nebenländern,  obgleich  gerade  diese  für  uns  die  wichtigeren  sind, 
weil  wir  an  ihnen  zugleich  erkennen  können,  wie  weit  sich  damals  bereits  die 
bayrische  Macht  in  die  Alpen  hinein  erstreckt  hat.  Die  Schenkung  auf  dem 
Grund  und  Boden  des  alten  Juvavum  an  den  h.  Rupert  durch  Herzog  Theodo 
im  J.  696-)  würde,  wenn  sie  wirklich  stattgefunden  hat,  auch  die  damalige 
Zugehörigkeit  des  alten  Ufernorikums  zu  Bajuvarien  beweisen,  eine  Tatsache, 
die  weiterhin  jedoch  aus  der  Gründung  der  Benediktinerabtei  Mondsee  im  Salz- 
kammergut (748)  durch  Odilo  II.  zweifelsfrei  hervorgeht.  Direkt  nach  Süden,  in  die 
Alpen  hinein,  ist  dagegen  nur  eine  einzige  derartige  Gründung  aus  agilolfingischer 
Zeit  zu  entdecken,  das  Kloster  Innichen  im  Pustertal,  wohin  Tassilo  II.  Mönche 
aus  dem  Kloster  Scharnitz  verpflanzte.  Die  Urkunde  hierüber  wurde  im  J.  770 
von  Tassilo  in  Bozen  ausgestellt,  als  er  von  einer  Reise  aus  Italien  zurückkehrte  •'), 
und  wenn  es  auch  in  späteren  Zeiten  bei  Klostergründungen  ein  ganz  gebräuch- 
licher und  nichtssagender  Ausdruck  wird,  daß  die  für  sie  gewählten  Plätze  von 
alters  her  wüste  und  leer  gelegen  hätten,  so  ist  derselbe  Zusatz  bei  dem  hohen 
Alter  dieser  Urkunde  und  angesichts  der  Slavenkriege,  die  über  jene  Gegend 
vorher  gegangen  sind,  doch  vielleicht  wirklich  etwas  wörtlicher  zu  nehmen.  Im 
äußersten  Osten,  an  der  Enns,  wird  dagegen  die  Grenze  des  alten  bayrischen 
Machtgebietes  durch  die  Erbauung  der  Abtei  Kremsmünster  (777)  bezeichnet. 
Gerade  Kremsmünster,  dessen  Entstehung  von  einem  Kranze  sinniger  Sagen 
umwoben  ist,  wurde  von  seinem  Gründer  ganz  bewußt  als  Kulturträger  und  als 
ein  Bahnbrecher  gegen  die  Slavenwelt  geschaffen;  es  sind  daher  auch  keine 
Redensarten,  sondern  Worte  schweren  geschichtlichen  Inhalts,  wenn  Tassilo  hier  in 
der  Stiftungsurkunde  sagen  läßt,  seine  Vorfahren  hätten  ihre  Hauptaufgabe  in  der 
Erbauung  von  Kirchen  und  Klöstern  und  in  der  Freigebigkeit  gegen  diese  erblickt, 
ein  Bestreben,  dem  auch  er  nicht  nachstehen  wolle,  und  wie  eine  Vorahnung 
des  über  jene  Dynastie  hereinbrechenden  Schicksals  mutet  es  an,  wenn  hier 
noch  einmal,  wenige  Jahre  vor  deren  Untergang,  das  Fazit  ihrer  Arbeit  gezogen 
wird  ••). 

Diese  Klostergründungen   inmitten   der  Berge   führen   uns  nun  aber  zu  der  Das  Eindringen 

Frage,   in  welcher  Weise  sich  die  Bayern  überhaupt  nach  Süden,   Südosten  und  ^^j^^lT*"" 
2—: i L '  in  die  Alpen. 

')  Ri.  I.  B.  S.  112f.        2)  Ri.  I.  B.  S.  93.         -5)  Ab.  S.  67.         ")  Ab.  S.  281  f. 


48  JV.  Kapitel. 

Osten  in  die  Alpen  hinein  ausgedehnt  haben.  Es  ist  dies  jene,  von  der  heutigen 
bayrischen  Hochebene  ausgehende  Expansionsbewegung  auf  politischem,  kultu- 
rellem und  ethnologischem  Gebiet,  die  während  der  ersten  Hälfte  des  Mittel- 
alters für  Südostdeutschland  das  eigentliche  Grundelement  der  historischen  Ent- 
wickelung  ausmacht,  und  die,  bereits  mit  den  ersten  Agilolfingern  beginnend,  bis 
zu  den  Zeiten  Friedrich  Barbarossas  angedauert  hat.  Sie  ist  als  solche  zugleich 
nichts  anderes  als  ein  Teil  der  Zurückeroberung  der  ganzen  östlichen  Hälfte  des 
heutigen  Deutschlands  durch  das  deutsche  Volkstum,  aber  doch  zeitlich  und 
räumlich  ein  besonders  selbständiger  und  scharf  umrissener  Abschnitt  derselben, 
weil  diese  hier  volle  drei  Jahrhunderte  früher  als  an  der  Saale  und  Elbe  ein- 
gesetzt hat  und  überwiegend  allein  von  dem  bayrischen  Stamm  durchgeführt 
worden  ist.  Und  wenn  wir  bisher  stets  gewohnt  gewesen  sind,  unsere  Blicke 
von  dieser  ganzen  Entwickelung  hinweg  auf  die  glänzenden  Ereignisse  der  deut- 
schen Reichsgeschichte,  auf  die  Taten  und  Schicksale  der  deutschen  Herrscher 
zu  richten,  derart,  daß  eine  zusammenfassende  Geschichte  dieser  großen  deut- 
schen Eroberungen  auch  heute  noch  fehlt,  so  ist  dies  selbst  nur  ein  verirrter 
Nachklang  des  Mittelalters,  jener  eigenartigen  Bewertung  der  geschichtlichen  Kräfte, 
wie  sie  damals  üblich  war,  die  der  Lebensauffassung  der  Antike  wie  ebenso 
der  der  späteren  Zeiten  ganz  entgegengesetzt  gegenübersteht. 

Die  Völker,  denen  die  Bayern  bei  ihrem  Vordringen  damals  begegnen 
mußten,  konnten  aber  keine  anderen  sein  als  im  Süden  die  Langobarden,  im 
Südosten  und  Osten  dagegen  die  Slaven  und  Avaren.  In  einer  Reisebeschreibung 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts')»  die  wir  dann  noch  einmal  bei  der 
Beschreibung  der  Ploeckenstraße  zu  erwähnen  haben,  erzählt  der  Verfasser: 
„Wenn  dir  von  Augsburg  aufbrechend  nicht  die  Bayern  hinderlich  sind,  die 
neben  dem  Brenner  wohnen,  so  reise  weiter  durch  die  Alpen  und  betritt  diese  im 
Inntal".  Hier  gewahren  wir  also  die  Bayern  nicht  nur  deutlich  am  Nordrand 
der  Alpen,  sondern  möglicherweise  auch  schon  bereits  in  Nordtirol,  sicherlich  aber 
noch  nicht  auf  der  Brennerhöhe  selbst,  während  weiterhin  noch  jene  Andeutung, 
daß  der  Reisende  gerade  bei  den  Bayern  in  Unbequemlichkeiten  geraten  könne, 
auf  ein  kräftiges,  sein  Hausrecht  energisch  wahrendes  Volk  schließen  läßt.  Jeden- 
falls stimmt  es  mit  jener  Sachlage  überein,  daß  auch  im  Nibelungenlied,  das  in 
diesem  seiner  Bestandteile  die  Verhältnisse  der  gleichen  Zeitperiode  als  Unter- 
lage hat,  die  Burgunderkönige  bei  dem  Durchzug  durch  Bayern  auf  ihrer  Reise 
nach  Ungarn,  und  eigentlich  ohne  jede  rechte  Motivierung,  auf  Schwierigkeiten 
stoßen. 

Ist  somit  der  Anfang  jener  Bewegung  bestimmbar,  so  können  wir  ihren 
Fortgang  aus  einigen  Stellen  der  Langobardengeschichte  des  Paulus  Diakonus 
erkennen,  als  dieser  einmal  von  den  Kämpfen  der  Bayern  gegen  die  Slaven  im 
Pustertal  und  das  andere  Mal  von  solchen  gegen  die  Langobarden  in  der  Bozner 
>)  w.  s.  63. 


Die  Bayern.  49 

Gegend  redet')-  Es  ist  jedoch  hervorzuheben,  daß  es  bei  diesen  Kämpfen  ins- 
gesamt zweifelhaft  bleiben  muß,  ob  sie  wirkliche  Kriegszüge  oder  nur  Grenz- 
streitigkeiten untergeordneter  Art  bedeuten,  wie  noch  vielmehr,  daß  sie  auch 
sonst  einen  verschiedenen  geschichtlichen  Wert  besitzen.  Denn  jene  Kämpfe 
der  Bayern  mit  den  Langobarden  in  Südtirol  sind  schon  damals  nur  der  Ab- 
schluß einer  bestimmten  Erweiterung  der  bayrischen  Grenze,  während  die  mit 
den  Slaven  ganz  im  Gegenteil  als  nichts  anderes  als  der  Beginn  der  Zurück- 
eroberung  der  Ostalpenländer  unter  die  bayrische,  fränkische  und  deutsche  Herr- 
schaft anzusehen  sind.  Zeitlich  wissen  wir  aber  aus  jenen  Nachrichten  doch  so 
viel,  daß  die  Bayern  spätestens  am  Beginn  des  7.  Jahrhunderts  am  Südfuß  des 
Brenner  angelangt  gewesen  sein  müssen,  da  sie  um  610  bei  Aguntum  mit  den 
Slaven  im  Pustertal  zusammentreffen,  und  ebenso,  daß  in  der  Mitte  dieses  Jahr- 
hunderts dann  auch  das  heutige  deutsche  Südtirol  von  ihnen  okkupiert  gewesen 
ist,   da   wenig   später  (679)   ein   bayrischer  Graf  in  Bozen  seinen  festen  Sitz  hat. 

Mit  jener  letzten  Nachricht  des  Paulus  Diakonus  betritt  also  die  Geschichte 
dauernd  das  heutige  Deutschtirol,  das  im  römischen  Altertum  kaum  mehr  als  ein 
Teil  einer  glücklichen  und  stillen  Randprovinz  gewesen  war,  und  wenn  damals 
von  Bauzanum  und  den  anderen  Kastellen  in  dessen  Umgebung  die  Rede  ist, 
so  können  wir  uns  schon  jetzt  den  Bozner  und  Meraner  Kessel  als  jene  Burgen- 
landschaft vorstellen,  wie  sie  auch  heute  noch  hier  vor  uns  ausgebreitet  liegt. 
Vor  allem  ist  es  nun  auch  endlich  einmal  möglich  auf  Grund  des  Wortes  Bau- 
zanum in  Bozen  selbst  festen  Fuß  zu  fassen,  während  die  Namhaftmachung  der 
anderen  Burgen  in  jener  Gegend,  die  der  Geschichtsschreiber  im  Sinne  gehabt 
hat,  nur  Vermutungen  zuläßt.  Aber  gerade  hier  haben  wir  einen  Fall  vor  uns, 
bei  dem  die  in  das  Einzelne  gehende  Forschung  vollständig  überflüssig  ist  neben 
dem  Augenschein,  der  in  dieser  Gegend  überall  an  Ort  und  Stelle  eine  Ahnung 
von  dem  Charakter  jener  Zeiten  im  Großen  und  Hauptsächlichen  zurückzubannen 
vermag.  So  erhebt  sich,  um  nur  ein  einziges  Beispiel  herauszugreifen,  heute  ganz 
verlassen  an  der  Nordseite  des  Bozner  Kessels  das  Sarner  Schloß,  das  nicht  nur 
seinem  Umfange  nach  für  das  dortige  einsame  Hochplateau  eine  ungeheure  bau- 
liche Leistung  darstellt,  sondern  auch  eben  jener  Lage  wegen  nicht  etwa  als 
Straßensperre,  sondern  vielmehr  von  Anfang  an  nur  als  mittelalterliche  Grenz- 
festung und  als  Ausguck  größten  Maßstabes  ausgeführt  worden  sein  kann.  Dieser 
Bau  ist  nun  aber  im  Grundriß  und  besonders  mit  seinem  gewaltigen  Hauptturm 
so  ausgesprochen  mit  der  Front  nach  Süden  orientiert,  daß  das  große  weiße 
Gemäuer  auch  heute  noch  für  den  von  Trient  auf  der  Brennerstraße  heran- 
kommenden Wanderer  in  stundenweiter  Entfernung  als  Wahrzeichen  der  alten 
nördlichen  Grenze  zu  erkennen  ist. 

Es  liegt  in   dem  Charakter   jener  unfertigen  Zeiten,  in  denen  die  Grenzen 

1)  Die   Slavenkämpfe   (P.  D.  S.  75,  77,  92)  um   die  J.  595  und  610;  die  Kämpfe  gegen  die  Lango- 
barden (P.  D.  S.  119)  um  679. 
Scheffel,  Verkehrsgeschichtc  der  Alpen.    2.  Band.  4 


50  'V.  Kapitel. 

nicht  Linien  sondern  Landstriche  von  manchmal  ganz  erheblicher  Tiefenausdehnung 
waren,  daß  der  Besitz  jener  Gebiete  am  Eisak  und  an  der  oberen  Etsch  zunächst 
zwischen  den  Langobarden  und  Bayern  gewechselt  haben  mag.  In  den  alten 
Heiligengeschichten,  die  in  der  Gegend  des  heutigen  Meran  spielen,  ist  wohl 
das  historisch  Wertvollste,  daß  wir  aus  ihnen  ersehen,  wie  noch  im  S.Jahrhundert 
sich  dieser  Punkt  einmal  in  den  Händen  der  Bayern  und  dann  wieder  in  denen 
der  Langobarden  befindet  und  welch'  scharfe  Grenzbewachung  dort  gehandhabt 
wird');  und  wenn  wir  heute  hier  nördlich  auf  der  Höhe,  von  Goyen  über 
Schenna  und  Auer  bis  nach  Thurnstein,  jene  Burgenreihe  gewahren,  die  das 
unten  gelegene  Meran  und  Mais  wie  ein  Limes  im  Halbkreis  umzieht,  so  läßt 
sich  dieses  Bild  ganz  so  an,  als  ob  es  seine  Enstehung  nur  jener  Periode  ver- 
danken kann,  in  der  dieser  Landstrich  ein  heiß  umstrittenes  Grenzland  war^). 
Hier  am  Rande  des  alten  bayrischen  Machtgebietes  haben  wir  also  immerhin 
einige  Anklänge  der  ältesten  bayrischen  Geschichte.  In  Nordtirol  verlassen  uns 
dagegen  auch  diese.  Alte  Traditionen  bezeichnen  hier  nur  Ambras  und  Thaur 
bei  Innsbruck  als  Sitze  altbayrischer  Grafengeschlechter.  In  Thaur  ließ  im 
15.  Jahrhundert  sogar  Graf  Friedrich  von  Tirol  einmal  nach  Schätzen  graben  3), 
ein  Zeichen,  daß  dieser  Ort,  der  sonst  keine  Römerfunde  aufzuweisen  hat,  schon 
damals  in  dem  Ruf  einer  rätselhaften  Vergangenheit  stand. 
Die  slavische  In  der  Richtung  nach  Südosten  und  Osten  stoßen  wir  nun  aber  zum  ersten 

wande°ung-  ^^'  ^^^  "^^^  Namen  der  Slaven,  und  zwar  als  einen  durchaus  gleichberechtigten 
Faktor  im  Völkerbilde  der  Alpen;  denn  wie  die  Kelten  und  Germanen  vorher 
in  das  Gebirge  von  allen  Seiten  eingedrungen  waren,  so  haben  auch  jene  einst 
fast  das  ganze  östliche  Drittel  der  Alpen  als  ihr  Wohnland  besessen,  und  auch 
heute  noch  streicht  hier  der  Bergwind  morgens  und  abends  über  weite  Stätten 
der  Menschen  mit  slavischer  Zunge  dahin.  Nachdem  die  germanische  Völker- 
wanderung ausgelaufen  ist,  stehen  wir  unmittelbar  danach  vor  einer  dritten  der- 
artigen Bewegung,  und  wenn  auch  der  Ausdruck  „slavische  Völkerwanderung" 
in  der  Wissenschaft  keine  Geltung  hat,  so  ist  der  Grund  hierfür  nicht  in  der 
geringen  Stärke  und  Tiefe,  wohl  aber  in  dem  Erfolg  dieser  Bewegung  zu  suchen, 
weil  die  Slaven  es  allerdings  nicht  vermocht  haben,  in  die  eigentliche  Mitte  des 
Erdteils  einzudringen,  um  hier,  ebenso  wie  vorher  die  Kelten  und  Germanen, 
in  Mainz  und  Paris,  in  Rom  und  London,  mit  der  Rücksichtslosigkeit  des  Empor- 
kömmlings Spuren  ihrer  Anwesenheit  zu  hinterlassen.  Überhaupt  wissen  wir 
von  dem  Verlauf  der  slavischen  Völkerwanderung  kaum  mehr  als  von  dem  der 
ersten,  der  keltischen  Völkerwanderung,  aber  eine  solche  bleibt  sie  doch  und 
ihr  erstes  Resultat  jenes  Schauspiel,  als  die  Slaven  plötzlich  um  das  J.  600 
ebenso  an  der  Nordspitze  der  Adria  wie  am  Fichtelgebirge  und  an  der  Oder- 
mündung angelangt  sind,  als  östlich  dieser  Linie  nicht  ein  einziger  germanischer 

>)  Sta.  S.  16,  17,  337;  vgl.  Oe.  II.  S.  218   u.  P.  D.  S.  154.        2)  Der   Bach    nördlich    Schloß   Tirol 
heißt  heute  noch  Finale  (Jo.  S.  97).        3)  Atz,  Kunstgeschichte  von  Tirol,   Bozen  1885,  S.  42,  52. 


Die  Bayern.  51 

Stamm  mehr  anzutreffen  ist,  und  wie  sich  nun  hier  das  massenhafte,  wenn  auch 
in  seinen  einzelnen  Teilen  noch  völlig  namenlose  Gewirr  jener  Völkerfamilie 
ausbreitet. 

Es  ist  aber  neben  diesem  Massenhaften  doch  vielmehr  ein  anderes  Moment, 
das  in  jenen  Zeiten  durchaus  die  Art  des  Eingreifens  der  Slaven  in  die  Geschichte 
bestimmt,  ihre  viel  geringere  Kulturfdhigkeit  im  Vergleich  zu  den  Romanen, 
Kelten  und  Germanen')-  Zahlreich  und  bedürfnislos,  aber  zunächst  ohne  jede 
Organisation,  ohne  Fürst,  Adel,  Freie  und  Knechte,  durch  Tausende  jeder  der 
Gleiche,  vermögen  sie  nicht,  jene  Durchschlagskraft  auszuüben,  die  vorher  die 
Germanen  in  den  Stand  gesetzt  hatte,  in  die  Gebiete  einer  festgefügten  und  über- 
legenen Kultur  einzudringen,  und  von  Feldzügen  und  siegreichen  Schlachten, 
von  denen  die  germanische  Völkerwanderung  bis  zum  Wirrnis  erfüllt  wird,  ist 
daher  jetzt  nichts  zu  finden.  Damals  ist  jedenfalls  das  Wirken  der  Slaven  über- 
wiegend nur  negativer  Natur  gewesen,  und  unfähig,  selbst  eigene  Reiche  zu 
gründen,  gingen  dort,  wo  die  slavische  Völkerwanderung  hinkam,  nur  die  letzten 
Reste  der  alten  Kultur  unwiederbringlich  zu  Grunde,  so  in  den  Ostalpen,  Virunum, 
Teurnia  und  Agunt,  und  besonders  Lauriacum  (Lorch),  das  lange  noch  wie  eine 
Insel  aus  aller  dieser  Verödung  herausgeragt  hatte. 

Die  Richtigkeit  einer  Beobachtung,  die  auch  heute  noch  Geltung  hat,  können 
wir  aber  auch  schon  damals  bestätigt  finden;  es  ist  diejenige,  daß  die  Slaven- 
welt  ihre  Stärke  zu  vervielfachen  und  sich  gleichsam  zu  einem  gewaltigen  Macht- 
faktor zusammenzuballen  pflegt,  wenn  es  einem  großen  Herrscher  oder  einem 
kräftigen  Volksstamme  gelingt,  mit  fester  Hand  in  dieses  Chaos  einzugreifen  und 
dasselbe  mit  sich  fortzureißen.  Auch  in  jenen  frühesten  Zeiten  steht  dieser  Fall 
deutlich  vor  uns,  insofern  damals  das  Volk  der  Avaren  durchaus  in  einer  solchen 
Rolle  auftritt.  Die  Avaren,  die  damals  an  der  unteren  Donau  saßen,  haben  als 
Volk  mongolischer  Abkunft  große  Ähnlichkeit  mit  den  ihnen  vorangegangenen 
Hunnen  und  ebenso  mit  den  später  sie  ablösenden  Ungarn;  auch  die  Art  ihrer 
unstäten  und  beweglichen  Kriegführung  ist  die  gleiche,  die  nicht  allein  auf  Ver- 
heerung sondern  auch  auf  Unterwerfung  gerichtet  war,  deshalb  aber  nur  um  so 
mehr  Beunruhigung  hervorrufen  mußte.  Darin  aber  lag  die  eigentliche  Furcht- 
barkeit der  Avaren,  daß  sie  nicht  wie  jene  beiden  anderen  Völker  nach  ver- 
hältnismäßig kurzer  Zeit  vom  Schauplatz  verschwanden,  sondern  daß  sie  sich  als 
das  führende  Volk  einer  den  germanischen  Reichen  feindlichen  Völkergruppierung 
gewissermaßen  austoben  und  so  Mittel-  und  Osteuropa  jahrhundertelang  in 
Atem  halten  konnten.  In  der  Mitte  des  sechsten  Jahrhunderts  fanden  wir  sie 
bereits  in  Böhmen;  um  596  fallen  sie  von  neuem  in  Thüringen  ein,  601  erscheinen 
sie  in  Thracien,  610  und  663  verheeren  sie  weit  und  breit  Friaul'),  und  noch 
im  J.  788  ist  unter  den  Augen  Karls  des  Gr.  Augsburg  von  ihnen  niedergebrannt 
worden. 

I)  Vgl.  Ju.  S.  228  f.         2)  p.  D.s.  77,  80,  86  f,  112  f. 


52  IV.  Kapitel. 

Die  Kämpfe  Kehren  wir  nun  aber  zu  den  Kämpfen  der  Bayern  gegen  die  Slaven  selbst 

lit  den  Slaven"  zurück,  SO  sehen  wir  einmal  die  Bayern  um  595  unter  Führung  ihres  Fürsten 
Tassilo  einen  erfolgreichen  Beutezug  gegen  die  Slaven  unternehmen,  während 
jene  bald  darauf  bei  einem  zweiten  derartigen  Zuge  auch  auf  die  Avaren  stoßen 
und  dieser  daher  nur  um  so  schlimmer  abläuft.  Das  andere  Mal  aber,  um  610, 
machen,  wohl  aus  Anlaß  des  Todes  Tassilos,  die  Slaven  ihrerseits  einen  Einfall 
in  das  bayrische  Gebiet  in  der  Gegend  von  Agunr,  der,  anfangs  nicht  ungefähr- 
lich, jedoch  schließlich  von  Tassilos  Sohn  und  Nachfolger  Garibald  zurück- 
geschlagen wird,  ynd  zwar  derart,  daß  die  Slaven  aus  dem  Lande  gejagt  werden 
und  auch  ihre  Beute  ihnen  wieder  abgenommen  wird.  Die  erste  Nachricht  läßt 
also  bei  den  Bayern  mehr  ein  offensives  Verhalten  erkennen,  steht  aber  leider 
örtlich  ganz  in  der  Luft;  bei  der  späteren  befinden  sich  die  Bayern  dagegen 
mehr  in  der  Abwehr;  diese  ist  aber  deshalb  um  so  wertvoller,  weil  sie  uns  in 
eine  bestimmte  Gegend  führt,  wo  damals  die  bayrischen  Grenzen  den  Slaven 
gegenüber  lagen.  Denn  Agunt  ist  nichts  anderes  als  die  Gegend  des  heutigen 
Lienz,  und  wenn  es  auch  zweifelhaft  sein  mag,  ob  der  Schauplatz  jener  Kämpfe 
bei  Lienz  selbst,  oder  mehr  östlich  oder  westlich  davon  (Oberdrauburg,  Innichen) 
zu  suchen  ist,  so  bleibt  doch  dies  ein  Bezirk,  der  bereits  nicht  allzuweit  von  der 
geographischen  Mitte  der  Alpen  entfernt  liegt,  und  wir  befinden  uns  noch  dazu 
an  der  Pforte  des  Pustertales,  jener  Linie,  die  zu  allen  Zeiten  dem  europäischen 
Osten  dazu  dienen  mußte,  seinen  Einfluß  auf  dem  kürzesten  Wege  auch  an  dem 
Herzen  Europas  geltend  zu   machen. 

Nach  diesen  Nachrichten  des  Paulus  Diakonus,  die  zwar  wenig,  dieses  aber 
doch  frisch  und  wuchtig  sagen,  haben  die  Ereignisse  aus  jenem  Geschichts- 
abschnitt umfangreicher  und  bunter,  aber  vielleicht  weniger  waschecht  in  einem 
kirchlichen  Libell  abgefärbt,  der  „Bekehrungsgeschichte  der  Bayern  und  Karan- 
taner" ').  Nun  ist  also  auch  die  Kirche  hier  auf  dem  Platze,  und  wir  sehen 
deutlich  jetzt,  freilich  erst  nach  einem  vollen  Jahrhundert,  die  beiden  allein  maß- 
gebenden Instanzen  Bayerns,  Krone  und  Kirche,  ebenso  ein  und  dasselbe  Ziel 
verfolgen,  wie  besonders  bei  ihrem  Vorgehen  gegen  die  Slaven  örtlich  eine  neue 
Richtung  einschlagen,  und  zwar  diejenige,  der  die  bayrische  Kolonisation  nun 
auch  bis  zu  ihrem  Ermatten  stets  vorwiegend  gefolgt  ist.  Denn  wenn  jetzt  die 
in  Karantanien  wohnenden  Slaven  die  bayrische  Schutzhoheit  anerkennen  (um  749) 
und  das  Salzburger  Bistum  sich  deren  Bekehrung,  mit  den  slavischen  Häuptlingen 
anfangend,  angelegen  sein  läCt,  so  hat  diese  Bewegung  ihren  Weg  von  Nord- 
westen aus  über  Salzburg  mitten  in  die  Ostalpenländer  hinein  genommen,  und 
schon  damals  tritt  der  Lungau  als  das  Vorglacis  heraus,  dessen  Besitzes  sich  die 
nördliche  Macht  für  ihre  Zwecke  vorwiegend  versichert  halten  muß. 

Es  verlohnt  sich,  zu  erwähnen,  daß  auch  die  Lokaltradition,  die  in  Tirol 
bei  den  Kämpfen  der  Bayern  gegen  die  Langobarden  nichts  verlauten  läßt,  sich 

')  Vgl.  Kr.  S.  28 f. 


Die  Bayern.  53 

jener  Slavenkämpfe  bemächtigt  hat,  und  es  ist  ein  Beweis,  daß  das  Volksbewußt- 
sein einst  jenes  Vorgehen  nicht  gering  einschätzte,  wenn  die  Sage  in  und  um 
den  Lungau,  überall  da,  wo  die  Wege  nach  der  Drauebene  hinabführen,  von  den 
Kämpfen  des  Herzogs  Diet  (Theodo)  gegen  die  Slaven  erzählt'),  wenn  bei  Tob- 
lach der  Viktoribühel  liegt,  wo  die  Bayern  einst  einen  großen  Sieg  erfochten 
haben  sollen,  und  es  ist  schon  mehr  Geschichte  als  Sage,  daß  manche  Orts- 
namen hier  in  der  Umgebung,  Tesselberg  und  Uttenheim,  Dietenheim  und  Greim- 
walden  mit  den  Hausnamen  der  Agilolfinger,  Tassilo,  Uta,  Theodo  und  Grimoald 
merkwürdig  übereinstimmen-).  Das  Pustertal  ist  wirklich  die  erste  deutsche 
Markgrafschaft  im  ursprünglichen  Sinne. 

In  den  letzten  Zeiten  der  Agilolfinger  nimmt  dann  aber  die  reine  Kultur- 
tätigkeit neben  dem  kriegerischen  Vorgehen  gegen  die  Slaven  einen  viel  größeren 
Raum  ein,  was  darin  seine  Erklärung  findet,  daß  der  Arm  dieses  Herrscherhauses 
jetzt  immer  mehr  von  der  von  Westen  her  drohenden  Überlegenheit  des  Karo- 
lingerreiches gelähmt  wurde.  Es  sind  eben  nur  allmähliche  kolonisatorische  Er- 
folge, die  Tassilo  von  der  Gründung  des  Klosters  Innichen  erwarten  konnte, 
und  selbst  diese  lassen  sich  in  der  folgenden  Zeit  hier  wohl  in  der  näheren 
Umgebung,  weniger  aber  nach  der  unbedingt  wichtigsten  Seite  hin,  nach  Osten 
entlang  des  Drautales,  feststellen.  Auch  an  den  anderen  Grenzen  Altbayerns 
kann  man  es  damals  beobachten,  wie  die  kriegerische  Tätigkeit  der  Bekehrungs- 
arbeit Platz  gemacht  hat,  und  wie  diese  selbst  zwar  im  Einverständnis  mit  Tassilo, 
aber  doch  vorwiegend  von  dem  Salzburger  Bischof  in  die  Wege  geleitet  wird-*). 
Jahrhunderte  später  erscheinen  die  Slaven  dann  noch  tief  im  Herzen  Deutsch- 
lands, an  der  Mündung  der  Elbe,  an  den  Ufern  der  Fulda  und  Pegnitz;  hier  in 
den  Alpenländern  sind  sie  dagegen  in  größeren  Massen  westlich  kaum  über  die 
Drauquellen  und  den  Venediger  hinaus  gelangt;  früher  als  anderswo  kam  hier  ihr 
Vorgehen  zum  Stehen  und  noch  dazu  zu  jener  Zeit,  in  der  ihnen  die  Avaren  als 
mächtiger  Rückhalt  dienen  konnten.  Es  ist  dies  eine  Tatsache,  die  allein  durch  den 
Widerstand  möglich  geworden  ist,  den  der  bayrische  Stamm  den  Slaven  entgegen- 
gesetzt hat.  Unmittelbar  an  jene  schließt  sich  nun  aber  als  nächstes  notwendiges 
Glied  in  der  Zurückeroberung  des  deutschen  Ostens  die  Niederwerfung  der 
Avaren  selbst  an.  Eine  solche  hätte  der  bayrische  Stamm  allein  jedoch  nie 
durchführen  können;  sie  war  nur  möglich  unter  Zusammenfassung  der  gesamten 
Kräfte  Mitteleuropas  und  zugleich  unter  Führung  einer  mächtigen,  weit  gebietenden 
Persönlichkeit,  wie  es  unter  Karl  dem  Gr.  auch  wirklich  geschehen  ist. 

')  Kr.  S.  26;  Ri.  1.  B.  S.  78.         2)  Ri.  I.  B.  S.  76.        •')  Ab.  S.  215,  218. 


V.  Kapitel. 

Die  Herrschaft  Karls  des  Großen  in  den  Alpen. 


Die  Wirksam-  Es  ist  schwer  zu  entscheiden,  auf  welchem  Teile  Mitteleuropas  die  Regenten- 

keit  Karls  des  r-  o 

Gr.im Südosten '^''S*^^''    Karls    des  Gr.  einst    das  Größte  und  Schwierigste  geleistet  hat;  sicher 

Mitteleuropas,  aber  ist,  daß  ihre  Folgen  nirgends  dauerhafter  und  gewaltiger  geworden  sind  als 
im  Osten  Mitteleuropas,  wo  der  Arm  jenes  Herrschers  weithin  in  Gebiete  drang, 
über  die  seit  dem  Verschwinden  der  Römerherrschaft  jede  genauere  Kunde  fehlt. 
Von  den  Geschicken  Italiens,  Frankreichs  und  Westdeutschlands  weiß  die  mittel- 
alterliche Geschichte  auch  vor  Karl  dem  Gr.  schon  genug  zu  erzählen,  während 
das  östliche  Europa  damals  unausgesetzt  jenem  unfertigen  Zustand  ausgeliefert 
war,  den  das  Erscheinen  immer  von  neuem  dort  eindringender  halbbarbarischer 
Völker  bedingte.  Seit  Karl  dem  Gr.  beginnt  nun  aber  auch  am  Ostrand  der 
Alpen  und  am  Mittellauf  der  Donau  die  Geschichte  wieder,  eine  Erscheinung, 
die  eben  deshalb  eine  um  so  größere  Leistung  zur  Voraussetzung  hat,  weil  die 
Fundamente  der  Römerzeit  hier  wirklich  fast  überall,  so  wie  die  Legende  des 
h.  Rupert  die  Stelle  des  alten  Juvavum  schildert,  von  einer  dichten  Wildnis  über- 
wuchert waren,  und  daher  alles,  was  hier  geschah,  auf  ganz  neuen,  ganz  selb- 
ständigen Grundlagen  aufgebaut  werden  mußte. 

Es  ist  aber  auch  die  große  räumliche  Entfernung  von  den  Stätten,  wo  damals 
die  eigentlichen  Sitze  der  Kultur  lagen,  die  bei  der  Tätigkeit  Karls  im  Osten 
Mitteleuropas  nicht  außer  acht  gelassen  werden  darf  und  die  jene  Erfolge  in  um 
so  hellerem  Licht  erscheinen  läßt,  weil  sie  alles  Eingreifen  hier  von  vornherein 
viel  schwieriger  machte.  Karls  Wirksamkeit  selbst  aber  füllt  die  Dauer  eines 
vollen  Menschenalters  aus;  ihre  ersten  Anfänge  zeigen  sich  bereits  776,  während 
sie  in  den  ersten  Jahren  des  neuen  Jahrhunderts  ungefähr  als  abgeschlossen 
gelten  kann.  Es  ist  dieses  somit  zugleich  die  Zeit,  in  der  Karl  auf  der  Höhe 
seiner  Manneskraft  stand,  jenes  Lebensalter,  das  neue  Gedanken  und  energische 
Tatkraft  mit  innerer  Ruhe  und  schöpferischer  Überlegenheit  zu  verbinden  pflegt, 
eine  Zeit,  in  der  bei  glücklichen  Menschen  Saat  und  Ernte  in  schönem  Verhältnis 


Die  Herrschaft  Karls  des  Großen  in  den  Alpen.  55 

Stehen.  Betrachtet  man  aber  weiterhin  den  Verlauf  jener  Wirksamkeit,  so  zeigt 
es  sich,  daß  Kar!  zu  dem  Unternehmen,  die  Ostaipenländer  im  weitesten  Sinne 
äußerlich  und  innerlich  in  das  Frankenreich  einzufügen,  keineswegs  von  Anfang  an 
den  festen  Vorsatz  mitbrachte,  sondern  daß  ihm  die  Verhältnisse,  ähnlich  wie 
bei  seinem  Vorgänger  Augustus,  hier  erst  nach  und  nach  in  ihrer  vollen  Trag- 
weite klar  wurden,  bis  er  zuletzt  bewußt  und  planvoll  eingriff. 

Die  Niederwerfung  einer  reichsfeindlichen  Bewegung  an  der  Nordostecke  Nordostitalien. 
Italiens,  in  Treviso  und  Cividale,  ist  das  erste  Ereignis,  durch  das  Karl  auf  den 
fernen  Osten  seines  Reiches  deutlicher  hingewiesen  wurde  (776) ').  Er  feierte 
dort  in  Treviso  damals  das  Osterfest,  so  weit  östlich,  wie  er  bis  dahin  per- 
sönlich noch  niemals  gelangt  war.  Zwei  Jahre  später  sehen  wir  dann  plötzlich, 
wie  in  Istrien,  in  einem  Gebiet,  das  seit  den  Tagen  des  Narses  stets  der  byzan- 
tinischen Interessensphäre  angehört  hatte,  ein  Bischof  Mauritius  abgesetzt  und 
geblendet  wird  unter  der  Anklage,  daß  er  dieses  Land  den  Franken  habe  in  die 
Hände  spielen  wollen-).  Obwohl  letzterer  Vorfall  im  einzelnen  wenig  klar  ist, 
so  weist  er  doch  deutlich  auf  die  Richtung  hin,  aus  der  vorher  der  Widerstand 
gegen  Karl  in  Friaul  seine  Nahrung  gezogen  haben  muß,  und  er  läßt  zugleich 
auch  das  Gefühl  der  Beunruhigung  erkennen,  das  die  Überlegenheit  der  frän- 
kischen Macht  jetzt  selbst  in  jenen  entlegenen  Gegenden  auszuüben  begann. 

Im  J.  782  treffen  wir  dann  bei  Karl  in  Sachsen  zum  ersten  Mal  eine  Gesandt- 
schaft der  Avaren,  jenes  Volkes,  das  damals  inmitten  der  von  den  Ostalpcn  bis 
zum  Balkan  auf  und  ab  wogenden  Slavenwelt  der  einzig  ausschlaggebende  Faktor 
war,  ohne  daß  jedoch  etwas  Genaueres  über  den  Zweck  dieser  Verhandlungen 
bekannt  wäre,  und  auch  etwa  zwei  Jahre  später  müssen  bereits  in  Südtirol  irgend- 
welche Reibungen  zwischen  den  bayrischen  Grenzgrafen  und  dem  in  Trient 
befehligenden  fränkischen  Machthaber  stattgefunden  haben  ^).  Es  sind  auch  dies 
alles  Vorgänge,  die  man  nur  undeutlich  wie  die  Wasserpflanzen  unter  dem  See- 
spiegel erblicken  kann,  die  aber  doch  zeigen,  wie  sich  dort  an  der  östlichen 
Grenze  des  Frankenreiches  große  Ereignisse  vorbereiteten. 

Im  J.  787  hat  dann  aber  wirklich  jene  Auseinandersetzung  Karls  mit  Tassilo  Die  Unter- 
stattgefunden, infolge  deren  nun  die  fränkische  Macht  in  jenen  östlichen  Gegenden  Bayerns, 
festen  Fuß  faßte.  Karl  hat  sich  damals  auf  einen  regelrechten  Feldzug  einge- 
richtet und  drei  Heere  aufgeboten,  die  konzentrisch  gegen  Bayern  vorrückten, 
ein  von  Norden  aus  in  Marsch  gesetztes  mit  der  Richtung  auf  den  Lauf  der 
Donau  zwischen  Ingolstadt  und  Regensburg,  ein  zweites  von  Süden,  von  Italien 
her,  unter  seinem  Sohne  Pippin,  das  jedoch  zunächst  nur  bis  Bozen  kam,  während 
Karl  selbst  mit  dem  besonders  starken  Hauptheer  durch  Schwaben  an  den  Lech 
rückte  und  sich  dort  auf  dem  Lechfelde  bei  Augsburg  aufstellte'').  Man  sieht 
also,  es  sind  vernichtende  Schläge,  die  von  überlegener  Hand  vorbereitet  von 
Westen  her  gegen  die  obere  Donau  herangezogen   kommen,  eine    Kriegführung, 

')  Ab.  S.  251.         2)  Ab.  S.  322.         ■»)  Ab.  S.  477;  Jo.  S.  87.         <)  Ab.  S.  597;  W.  S.  72..  A.  9. 


56  V.  Kapitel. 

die  genau  ein  Jahrtausend  später  in  derjenigen  Napoleons  I.  im  J.  1805  ein 
Gegenstück  gefunden  hat,  sowohl  im  einzelnen,  als  dieser  damals  bei  Ulm  die 
österreichische  Armee  unter  Mack  vernichtete,  wie  noch  vielmehr  darin,  daß 
diese  Ereignisse  beide  Male  nur  den  ersten  Akt  eines  groß  angelegten  Feldzugs 
bedeuteten,  dessen  eigentliche  Entscheidung  dann  viel  weiter  östlich,  am  Mittel- 
lauf der  Donau,  ausgefochten  worden  ist.  Überhaupt  stehen  wir  hier  mitten  in 
einem  wichtigen  historischen  Moment,  der  auch  dem  damaligen  Geschlecht  nicht 
entging,  und  man  kann  noch  heute  die  Stimmung  in  der  Umgebung  Karls  deutlich 
durchfühlen,  wenn  Einhard  in  der  Lebensbeschreibung  Karls  sein  Urteil  über 
jene  Ereignisse  dahin  zusammenfaßt,  daß  gerade  dieser  Krieg  auf  fränkischer 
Seite  für  äußerst  gefahrvoll  angesehen  wurde  ').  Denn  im  Grunde  waren  es 
nicht  bloß  Karl  und  Tassilo  sondern  die  Vertreter  zweier  entgegengesetzter 
Machtgruppierungen,  des  europäischen  Westens  und  des  europäischen  Ostens, 
die  sich  hier  gegenübertraten,  und  im  besondern  erscheint  auch  an  dieser  Stelle 
zum  ersten  Mal  jene  Vermittlerrolle  Bayerns  zwischen  diesen  beiden  Macht- 
zentren, wie  sie  in  den  späteren  Jahrhunderten  noch  oft  genug  zu  beobachten 
ist  und  die  der  bayrischen  Politik  zuweilen  eine  weit  über  die  deutschen  Grenzen 
hinausgehende  Bedeutung  verliehen  hat. 

Es  ist  damals  zwar  durchaus  nicht,  wie  man  allgemein  erwartet  hatte,  zu 
großen  kriegerischen  Ereignissen,  aber  trotzdem  zu  einem  völligen  Zusammen- 
bruch der  in  der  Persönlichkeit  Tassilos  verkörperten  Richtung  gekommen,  ob- 
wohl über  die  wirklichen  Ursachen  dieser  Vorfälle  auch  hier  jenes  Halbdunkel 
gebreitet  liegt,  in  das  nur  zu  oft  gerade  die  wichtigsten  geschichtlichen  Tatsachen 
für  alle  Zeiten  gerückt  sind.  Wenn  man  die  Vergangenheit  und  die  feste  Stellung, 
die  vorher  die  Agilolfinger  in  ihrem  Reiche  besessen  hatten,  in  Betracht  zieht, 
muß  dießer  Verlauf  jedenfalls  überraschen,  und  man  möchte  fast  glauben,  als 
ob  damals  unter  den  Bayern  selbst  die  öffentliche  Meinung  laut  die  Stimme 
erhoben  hätte,  die  sich  genau  darüber  klar  war,  daß  man  jetzt  nur  noch  zwischen 
den  Franken  und  Avaren  zu  wählen  hatte,  und  daß  das  Bündnis  mit  diesen  zu- 
gleich auch  die  ganze  vorangegangene  Entwickelung  Bayerns  in  Frage  stellen  mußte^). 
Auch  der  Papst  hat  damals  ganz  entschieden  gegen  Tassilo  Partei  genommen 
und  diesem  so  den  Boden  unter  den  Füßen  weggezogen,  ein  Verhalten,  wie  es 
freilich  von  der  Kurie  zu  einer  Zeit,  als  deren  Interessen  und  die  der  fränkischen 
Königsmacht  noch  genau  übereinstimmten,  nicht  anders  zu  erwarten  war;  „denn 
die  Politik  des  römischen  Hofes  ist  ebenso  beständig  gegen  seine  Untertanen 
wie  gegen  die  Könige"  ^).  Ein  tragisches  Geschick  liegt  aber  doch  über  dem 
Ende  dieses  Herrscherhauses,  das,  nachdem  es  der  Kirche  Jahrhunderte  hindurch 
überzeugt  und  erfolgreich  gedient  hatte,  jetzt  einer  veränderten  Weltlage  gegen- 
über von  ihr  ohne  weiteres  fallen  gelassen  wurde. 

')  Ei.  K.  11.         2)  Ab.  S.  599.        3)  Stendal,  Römische  Spaziergänge,  Jena  1910.  S.  182. 


Die  Herrsch«ft  Karls  des  Großen  in  den  Alpen.  57 

Bereits  im  folgenden  Jahre  (788)  ist  dann  über  Tassilo  die  letzte  Katastrophe 
gekommen,  zu  der  die  unmittelbare  Veranlassung  nur  gewesen  sein  kann,  weil 
dieser  nunmehr  die  Avaren  zu  einem  Angriffskrieg  gegen  das  Frankenreich  ver- 
anlaßt hatte.  Jener  Zusammenhang  geht  klar  aus  der  Tatsache  hervor,  daß  die 
Avaren  noch  in  demselben  Jahre,  obgleich  sie  vorher  lange  Zeit  nicht  das 
Geringste  gegen  Bayern  und  das  Frankenreich  unternommen  hatten,  in  einem 
weit  angelegten  Feldzug  gegen  Westen  vorbrachen.  Wir  wissen  nicht,  wie  es  in 
dem  Herzen  Tassilos  bei  jenem  Schritte  der  Verzweiflung  aussah,  als  er,  nicht 
mehr  jung  an  Jahren  und  nach  einer  etwa  vierzigjährigen  Regierung,  mit  allen 
Traditionen  brach  und  sich  den  Avaren  gänzlich  in  die  Arme  warf.  In  den 
Zustand  des  damaligen  Europas  kann  man  aber  tief  hineinblicken  und  den  Gegen- 
satz erkennen,  der  die  junge  christliche  Kulturwclt  von  jenen  östlichen  Völkern 
trennte,  wenn  eben  jenes  Einverständnis  mit  den  „Hunnen"  Tassilo  aller  Sym- 
pathien beraubte;  zugleich  gewahrt  man  aber  auch  hier  ganz  deutlich,  wie  auch 
damals  die  Tatsachen  mächtiger  als  der  Wille  des  Einzelnen  sein  konnten,  und 
wie  Karl  selbst  nun  Schritt  für  Schritt  in  jene  östlichen  Verhältnisse  hineinge- 
zogen wurde.  Der  Angriff  der  Avaren  gegen  das  Frankenreich  erfolgte  jetzt  mit 
drei  verschiedenen  Heeren  und  an  zwei  räumlich  weit  von  einander  getrennten 
Punkten,  im  Süden  gegen  Friaul  und  im  Norden  im  Donautal,  eine  Kräftever- 
teilung, die  somit  ganz  der  altgewohnten  ausgreifenden  Kriegführung  dieses 
Volkes  entsprach.  An  beiden  Punkten  prallte  jedoch  auch  bereits  damals  jener 
ungeregelte  Ansturm  an  den  festgefügten  fränkischen  Streitkräften  auseinander, 
zuerst  an  der  Grenze  Friauls  und  dann  ebenso  im  Norden,  wo  es  zu  zwei  blutigen 
Schlachten  an  den  Ufern  der  Donau  kam;  von  der  ersten  derselben  ist  auch  die 
Stelle  genauer  bekannt;  sie  wurde  in  der  Nähe  der  Mündung  der  Ibs  in  die 
Donau  (Niederösterreich)  geschlagen  ')• 

Der  größte  Feldzug  gegen  die  Avaren,  zugleich  auch  der  einzige  von  allen,  ^'^  ^^k^*"i' 
der    von  Anfang    bis    zu  Ende    unter    Karls    persönlicher    Leitung    durchgeführt  des  Gr. 
wurde.  Fällt  dann  in  das  J.  791,  und  er  liefert  außerdem  seit   den  Tagen  Trajans 
das  erste  Vorkommnis,  daß  wieder  eine  europäische  Macht  von  Westen  her  einen 
erfolgreichen  Vorstoß   nach   Osteuropa  hinein   machen  konnte.     Die  fränkischen 
Streitkräfte  wurden  von  Karl  diesmal  derart  angesetzt,  daß  sie   auf  den  an   der  j 

Nord-  und  Südseite  der  Ostalpen  entlang  laufenden,  von  der  Natur  vorge- 
schriebenen Richtungslinien  konzentrisch  gegen  die  Donauebene  vorrücken  sollten. 
Das  südlichste  Heer  der  Franken  unter  König  Pippin  marschierte  von  Friaul 
her  heran,  während  nördlich  an  der  Donau  Karl  drei  weitere  Heere  unter 
seinem  Oberbefehl  vereinigte.  Wie  vorher  bei  dem  Kriege  gegen  Desiderius 
Genf,  so  bildete  jetzt  Regensburg  zunächst  das  Hauptquartier;  von  den  drei 
Armeeabteilungen  Karls  rückte  die  nördlichste  dann  entlang  des  linken,  die  süd- 
lichste, bei  der  sich  Karl  selbst  befand,  entlang  des  rechten  Donauufers  vor;  die 
VÄb.  S.  639  r. 


58  V.  Kapitel. 

mittlere  dagegen,  die  zwischen  diesen  beiden  die  Verbindung  zu  unterhalten 
hatte,  wurde  auf  Schiffen  den  Strom  abwärts  transportiert' ).  Daß  diese  letztere 
Abteilung,  der  somit  keine  eigentliche  Gefechtsaufgabe  zufiel,  gerade  aus  den 
Bayern  bestand,  erlaubt  vielleicht  den  Schluß,  daß  Karl  der  Gesinnungen  der- 
selben damals  noch  nicht  vollständig  sicher  war;  die  Menge  Proviant  aber,  die 
jene  auf  den  Schiffen  mitzuführen  hatten,  kann  ebensogut  ein  Anzeichen  für  den 
großen  Umfang  dieser  Heere  wie  für  die  Art  der  gegen  die  Avaren  notwendigen 
Kriegführung  bilden,  da  man  bei  dieser  in  Landschaften  eindringen  mußte,  deren 
Kulturzustand  nicht  die  geringsten  Hilfsmittel  gewähren  konnte.  Und  wie  auch 
sonst  die  Art,  wie  Karl  diesen  Feldzug  anlegte,  ganz  mit  der  Kriegführung 
Napoleons  I.  gegen  Österreich  übereinstimmt,  so  diente  im  besondern  auch  hier 
bereits  der  Lauf  der  Donau  dazu,  das  Kriegstheater  seiner  ganzen  Länge  nach 
in  zwei  Teile  auseinanderzuspalten,  ein  Einfluß,  der  sich  auch  bei  allen  späteren 
Feldzügen  in  Sädostdeutschland  bis  zu  dem  Kriege  von  1809  gleichmäßig  wieder- 
holt hat. 

Die  Armeeabteilung  unter  Karl  ebenso  wie  die  der  Bayern  haben  dann 
zunächst  an  der  Enns  Halt  gemacht;  es  läßt  sich  also  erkennen,  daß  man  hier 
an  der  äußersten  Reichsgrenze  angelangt  war,  und  wie  man  von  nun  an  der 
Feinde  gewärtig  sein  mußte.  Die  frische  Stimmung  aber,  die  in  jenen  Tagen 
bei  Karl  selbst  zu  bemerken  ist,  und  nicht  minder  auch  der  Gottesdienst,  den 
er  nun  hier  im  Lager  drei  Tage  lang  anstellen  und  dessen  genaue  Durchführung 
er  sich  sehr  angelegen  sein  ließ,  zeigen,  wie  man  sich  allgemein  am  Vorabend 
großer  Entscheidungen  glaubte.  Als  die  fränkischen  Heere  jedoch  bei  dem 
weiteren  Vormarsch  auf  die  avarischen  Verschanzungen  stießen,  die  sich  sowohl 
nördlich  der  Donau  bei  Krems  wie  südlich  derselben  bei  Tuln  (bei  Klosterneu- 
burg) befanden,  waren  diese  bereits  vom  Feinde  verlassen,  wahrscheinlich  des- 
halb, weil  bereits  hier  der  kombinierte  Angriff  Karls  seine  Wirkung  getan  hatte. 
Die  Franken  gelangten  dann  noch  weiter  auf  den  Spuren  der  Avaren  bis  an  die 
Mündung  der  Raab  in  die  Donau,  aber  im  Grunde  blieb  dieser  letzte  Teil  des 
Unternehmens  doch  nur  ein  Stoß  in  die  Luft,  ein  Ausgang,  wie  er  sich  übrigens 
sehr  häufig  bei  einem  solchen  Feldzug  einzustellen  pflegt,  bei  dem  mit  einer 
regulären  Armee  über  weite  Räume  hinweg  gegen  einen  halbbarbarischen  Feind 
vorgegangen  wird.  Den  Rückmarsch,  der  nun  angetreten  wurde,  ließ  Karl  jedoch 
nicht  auf  der  direkten  Linie,  sondern  rechts  abbiegend  über  Savaria  (Steinam- 
anger)  ausführen,  und  wenn  diese  Richtung  auffallen  kann,  so  mag  sie  vielleicht 
deshalb  gewählt  worden  sein,  weil  man  auf  diese  Weise  am  raschesten  wieder  in 
kultivierte  Gegenden  gelangen  konnte.  Jedenfalls  muß  es  uns  interessieren,  daß 
wir  auch  damals  noch  die  alten  Römerstädte  Savaria,  Carnuntum  und  Comagenae 
(Tuln  bei  Klosterneuburg)  als  vorhanden  und  mit  ihrem  alten  Namen  bezeichnet 
antreffen,  und  daß  dieser  Befund  demnach  wiederum  die  lebenskräftige  Kultur  der 

')  Si.  S.  16f. 


Die  Herrschaft  Karls  des  Großen  in  den  Alpen.  59 

Wiener  Ebene    voll  heraustreten    läßt,    während   weiter  östlich   uns   sonst  keine 
einzige  Ortsbezeichnung  mehr  begegnet. 

Wenn  die  Niederwerfung  der  Avaren  diesmal  auch  noch  nicht  vollständig 
geworden  war,  so  läßt  es  sich  doch  deutlich  beobachten,  wie  seit  jenem  von 
Karl  persönlich  geführten  Feidzug  der  Zerfall  der  avarischen  Machtgruppierung 
ein  viel  rascheres  Tempo  einschlug,  daß  aber  nunmehr  auch  die  Slaven,  nachdem 
der  Druck  der  Avaren  von  ihnen  genommen  ist,  um  so  lebhafter  auf  den  Schau- 
platz treten.  Die  weiteren  kriegerischen  Maßnahmen  hat  Karl  später  nicht  mehr 
persönlich  in  die  Hand  genommen,  sondern  durch  seine  Machthaber  ausführen 
lassen.  Der  Mittelpunkt  der  avarischen  Macht  aber  lag  damals  nach  wie  vor  in 
der  Ebene  zwischen  Donau  und  Theiß,  in  jenen  eigenartigen  Befestigungen,  die 
infolge  ihrer  barbarischen  Anlage  und  der  reichen  Beute,  die  aus  ihnen  hervor- 
geholt wurde,  der  Phantasie  des  Mittelalters  nicht  mit  Unrecht  so  viel  zu  denken 
gegeben  haben  ').  Und  wenn  wir  hören,  daß  sich  auch  jetzt  nach  der  Einnahme 
des  Hauptringes  der  Avaren  —  ebenso  wie  einst  nach  der  Eroberung  der  Resi- 
denzen der  Perserkönige  durch  Alexander  den  Gr.  —  ein  alle  Erwartungen 
übertreffender  goldener  Regen  über  das  Frankenreich  ergoß,  so  wirft  dies  wirklich 
ein  grelles  Schlaglicht  auf  die  damalige  Weltlage;  es  zeigt,  wie  tief  damals  der 
Orient  in  das  Abendland  eingedrungen  war;  denn  jenes  ungemessene  Anhäufen 
von  Schätzen  ist  nichts  anderes  als  echt  orientalische  Despotenart,  die  sich  hier 
Jahrhunderte  hindurch  auf  europäischem  Boden  heimisch  gefühlt  hatte-). 

Die  nächsten  Feldzüge  gegen  die  Avaren,  an  deren  Spitze  bald  Karls  Sohn 
Pippin  bald  der  Markgraf  von  Friaul  stand  ^),  wurden  dagegen  sämtlich  nur  vom 
Süden  der  Alpen  aus  angesetzt,  und  allein  wohl  aus  dem  Grunde,  weil  jetzt  auf 
dieser  Seite  die  kürzeste  Anmarschlinie  gegen  den  Feind  gelegen  war.  Auch  in 
den  J.  803  und  811  hat  Karl  noch  Heere  nach  „Pannonien"  geschickt^),  diesmal 
wieder  von  Bayern  aus;  bei  diesen  letzten  Unternehmungen  handelte  es  sich 
jedoch  schon  weniger  um  Kämpfe  gegen  die  Avaren,  sondern  um  solche  gegen 
die  Slaven,  während  andererseits  die  Tatsache,  daß  jene  Züge  von  keinen  großen 
Ereignissen  erfüllt  sind  und  nichts  Genaueres  von  ihnen  gemeldet  wird,  schon 
darauf  hindeutet,  daß  die  äußerliche  Einfügung  jener  östlichen  Völkerschaften 
in  die  Grenzen  des  Frankenreiches  jetzt  nach  Beseitigung  der  avarischen  Unruhe 
viel  glatter  vor  sich  gehen  konnte. 

Dort  an  dieser  Südostseite  Mitteleuropas  ist  eine  staatenbildende  Kraft  infolge  Di«  Folgen  der 
der  in  breiter  Ausdehnung  in  die  Ebene  auslaufenden  Ostalpen  aber  überhaupt 
bei  ihrer  Arbeit  vor  die  größten  Schwierigkeiten  gestellt,  und  jene  zahlreichen 
kriegerischen  Unternehmungen  Karls  haben  daher  nicht  allein  das  Mittel  gebildet, 
um  die  Grenzen  des  Frankenreiches  vorzuschieben,  sondern  besonders  auch,  um 
einwärts  derselben  für  die  Regententätigkeit  Karls  Platz  zu  schaffen,  eine  Tätigkeit, 
die  es  schließlich  auch  erreichte,  daß  der  Bereich    der    abendländischen    Kultur 

'»  Si.  S.  lOOf.        2)  Vgl.  Mo.  S.  252.        •»)  Si.  S.  98,  121  f.,  133.         *)  Si.  S.  297,  468. 


60  V.  Kapitel. 

sich  nunmehr  an  dieser  Stelle  gesichert  und  festgefügt  viel  weiter  nach  Osten, 
etwa  bis  zum  heutigen  Preßburg  und  die  Ostgrenze  der  Steiermark  entlang  bis 
südlich  nach  Fiume  erstreckte.  Es  ist  somit,  wenn  auch  der  Schwerpunkt  der 
reichsbildenden  Macht  sich  diesmal  nicht  südlich  sondern  nördlich  der  Alpen 
befand,  doch  im  Grunde  hier  dieselbe  Situation  wiedergekehrt,  wie  sie  schon 
einmal  im  zweiten  nachchristlichen  Jahrhundert  eingetreten  war,  nachdem  die 
römischen  Kaiser  in  denselben  Ländern  die  Grenzen  ihres  Machtgebietes  fest- 
gelegt hatten.  Auch  jetzt  ist  jene  Zone,  die  das  Altertum  mit  Carnuntum,  die 
neue  Zeit  mit  Wien  bezeichnet,  wieder  ein  nordöstlich  weit  vorgeschobener 
Posten  des  Abendlandes,  das  den  Besitz  derselben  für  sich  beanspruchte  und 
ihn  mit  festen  Fäden  an  sich  zu  ketten  suchte. 

In  diesem  Zusammenhange  kann  es  auch  kaum  als  Zufall  erscheinen,  daß 
unter  Karl  wieder  über  den  Rhein  bei  Mainz  eine  Brücke  gebaut  worden  ist'), 
wie  sie  schon  unter  den  Römern  bestanden  hatte,  weil  erst  damals  wieder  Süd- 
deutschland in  seiner  weitesten  Ausdehnung  ein  geschlossenes  Glied  innerhalb 
eines  großen  abendländischen  Weltreiches  geworden  war.  Die  Grundrisse  der 
römischen  Organisation  waren  in  dem  Augenblicke,  als  sie  entstanden,  festgefügter, 
klarer  durchdachter,  und  sie  sind  deshalb  auch  für  uns  heute  noch  durchsichtiger; 
aber  sie  haben  trotzdem  nur  drei  Jahrhunderte  Stand  gehalten.  Das  Werk  Karls 
wirkt  dagegen  auch  heute  noch  in  der  Scheidung  zwischen  Cis-  und  Transleithanien 
einigermaßen  fort,  und  wirkliches  Leben  hat  es  mindestens  noch  einmal  so  lange 
als  die  römische  Organisation  besessen,  da  nirgends  anders  als  gerade  hier  an 
der  südöstlichen  Seite  des  römisch-deutschen  Reiches  die  Grenzen  desselben  in 
der  Gestalt  wie  sie  Karl  der  Gr.  geschaffen  hatte  bis  zum  Ende  des  Mittelalters 
unverändert  aufrecht  geblieben  sind,  und  ihnen  erst  die  Entstehung  des  öster- 
reichischen Staates  den  eigentlichen  Inhalt  entzogen  hat. 
Karl  der  Gr.  Zu   allen   Zeiten   ist   der   Name   Karls  besonders   mit   seiner   Stadt  Aachen 

egens  urg.  yg,.j^,,^pf(  gewesen.  Es  giebt  aber  in  Deutschland  auch  noch  eine  andere  Stadt, 
die  es  fast  ebensosehr  verdient,  in  Verbindung  mit  jenem  großen  Herrscher 
genannt  zu  werden:  Regensburg.  Zum  ersten  Male  betrat  Karl  diese  Stadt  im 
J,  788  nach  dem  Sturze  Tassilos;  im  Frühsommer  791,  vor  dem  Avarenkriege, 
verlegte  er  zunächst  sein  ganzes  Hoflager  dorthin,  wie  er  dann  auch,  nachdem 
er  sich  selbst  in  das  Feld  begeben  hatte,  seine  Gattin  Fastrada  und  seine  Töchter 
dort  zurückließt).  Nach  Beendigung  des  Krieges  aber  sehen  wir  Karl  nun  volle 
zwei  Jahre  hindurch,  bis  tief  in  das  J.  793  hinein,  von  jener  Stadt  aus  regieren, 
die  von  ihm  zu  einer  civitas  regia  und  zu  einem  freien  Handelsplatz  erhoben 
worden  war^).  Wir  kennen  das  Regensburg  des  ersten  Mittelalters  als  Residenz 
der  bayrischen  Herzöge  und  zugleich  als  Übergangsstelle  über  die  Donau  und  als 
letzten  nördlichsten  Ausläufer  der  Brennerstraße,  während  nunmehr  diese  Stadt 
der  anerkannte  Hauptort  Südostdeutschlands  und   noch  viel  mehr  als  Vermittler 

1)  Ei.  K.  17.        2)  si.  S.  20.        3)  Da.  II.  B.  S.  229. 


Die  Herrschaft  Karls  des  Großen  in  den  Alpen.  61 

der  zwischen  dem  Westen  und  dem  Osten  hin  und  her  laufenden  Verkehrs- 
beziehungen von  Bedeutung  wurde.  Sie  ist  schon  längst  vorbei,  sie  hat  auch 
nicht  allzulange  gedauert,  aber  sie  war  doch  wirklich  einmal,  die  Zeit,  in  der 
jener  glänzende  Titel  als  Schwelle  des  Ostens,  wie  später  Venedig  und  dann 
Wien  oft  genannt  worden  sind,  dem  jetzt  so  stillen  Regensburg  zukam.  Hier 
hat  nun  auch  Karl  wie  überall  seine  große  Regententätigkeit  entfaltet-  So  wurden 
hier  während  jenes  Aufenthaltes  zwischen  791  und  793  eine  kirchliche  Synode 
und  jene  Reichsversammlung  abgehalten,  die  das  Urteil  über  Karls  Sohn  Pippin 
und  dessen  Mitverschworene  sprach');  hierzu  kamen  Vorbereitungen  für  die 
weiteren  Züge  gegen  die  Avaren  und  vor  allem  der  Bau  des  Karlsgrabens,  jenes 
zwischen  Regat  und  Altmühl,  also  zwischen  der  Nordsee  und  dem  Schwarzen 
Meer  geplanten  Kanals-);  es  ist  ein  Zug,  der  bei  vielen  großen  Regenten  in 
gleicher  Weise  wiederkehrt,  daß  sie  den  Anforderungen  des  Verkehrs  erhöhte 
Aufmerksamkeit  gewidmet  haben,  und  jenes  Unternehmen  kann  daher  diese 
Eigenschaft  auch  bei  Karl  in  besonders  deutlichem  Lichte  erscheinen  lassen. 

Neben  diesen  offen  daliegenden  Ereignissen  der  großen  Reichspolitik  müssen  Das  Karolinger- 
für uns  jedoch  jene  Maßregeln  eine  viel  größere  Beachtung  beanspruchen,  durch  ostaipen. 
die  nun  Karl  in  denselben  Jahren  und  von  ebenderselben  Stelle  aus  ganz  Bayern, 
Stammland  so  gut  wie  Nebenländer,  nach  seiner  Weise  zu  einem  wirklichen 
Glied  des  Frankenreiches  zu  machen  suchte.  Sicherlich  ist  auch  dies  eine  lange 
systematische  Kette  von  Maßregeln  gewesen,  und  wenn  diese  Tätigkeit  auch  nur 
verstümmelt  überliefert  ist,  und  wir  uns  deren  Einzelheiten  mühsam  zusammen- 
suchen müssen,  so  tritt  das,  was  durch  sie  schließlich  erreicht  worden  ist,  doch 
immer  noch  deutlich  genug  heraus. 

Gerade  hier  stehen  wir  demnach  an  einem  Punkte,  an  dem  sich  ebensosehr 
der  Unterschied  des  Charakters  zwischen  den  Quellen  der  Antike  und  denen 
des  Mittelalters  offenbart,  wie  die  veränderten  Aufgaben,  die  aus  jener  Ver- 
schiedenartigkeit für  die  Geschichtsschreibung  erwachsen.  Im  klassischen  Altertum 
sind  jene  Quellen  zwar  an  Zahl  geringer,  aber  jede  einzelne  bietet  doch  zumeist 
infolge  der  der  Antike  innewohnenden  tiefen  Klarheit  eine  Offenbarung  aufweite 
Strecken.  Im  Mittelalter  dagegen  werden  —  und  je  länger  je  mehr  ^  die  Er- 
eignisse bunter,  die  Örtlichkeiten,  an  denen  etwas  geschieht,  und  die  Persönlich- 
keiten, die  erscheinen,  mannigfaltiger,  auch  die  Anzahl  der  Quellen  ist  an  sich 
viel  zahlreicher,  an  Wert  des  Inhaltes  jedoch  nur  zu  oft  viel  unselbständiger  und 
belangloser,  weil  die  Worte  sich  dem  Sinne  dessen,  was  gesagt  werden  soll,  viel 
mehr  versagen.  Das  ist  der  Grund,  weshalb  die  mittelalterlichen  Quellen  der 
Wiedergabe  des  Verhältnisses  von  Ursache  und  Wirkung,  das  doch  den  Lebensnerv 
jeder  Geschichtsschreibung  bildet,  überall  viel  größere  Schwierigkeiten  bereiten. 

Als  Karl  im  J.  788  nach  der  Beseitigung  des  bayrischen  Stammesherzogtums 
die  inneren  Verhältnisse  des  Landes  nach  denen  des  Frankenreiches  umgestaltete, 

')  Si.  S.45f.        2)  si.  S.  55.  f. 


Q2  V.  Kapitel. 

ging  er  auch  hier  wohl  vornehmlich  von  der  Einführung  der  fränkischen  Graf- 
schaftsverfassung aus.  Bemerkenswert  ist  aber  dabei,  daß  er  damals  einen  seiner 
hervorragendsten  Beamten,  den  schwäbischen  Grafen  Gerold,  den  Bruder  seiner 
verstorbenen  Gemahlin  Hildegard,  zum  Vorsteher  Bayerns  ernannte'),  ein  Ver- 
hältnis, bei  dem  ebensosehr  die  bis  dahin  schon  weit  vorgeschrittene  Landes- 
einheit wie  die  Lage  Bayerns  als  Grenzland  in  Rechnung  gezogen  worden  zu 
sein  scheint.  Die  anderen  Maßregeln  Karls,  die  seit  seinem  Regensburger  Aufent- 
halt bis  in  die  späteren  Jahre  hinein  kaum  eine  Unterbrechung  erfuhren,  be- 
standen darin,  daß  er  einesteils  seine  trefflich  geschulten  und  in  einer  überlegenen 
Verwaltungskunst  erprobten  Beamten  hier  festen  Fuß  fassen  ließ,  anderenteils 
aber  in  dem  schon  von  den  Agilolfingern  geübten  Verfahren,  daß  er  der  Kirche 
persönlich  die  Richtungslinien  anwies,  in  denen  diese  hier  für  die  Ausbreitung 
der  abendländischen  Kultur  weiterzuarbeiten  hatte.  So  erhielten  zunächst  die 
Erzbischöfe  von  Metz  und  von  Köln,  die  beide  zu  Karl  als  seine  Kapellane  in 
persönlichem  Verhältnis  standen,  Klöster  in  Bayern  verliehen,  der  von  Metz  das 
Männerkloster  Chiemsee,  der  von  Köln  die  Abtei  Mondsee  (Salzkammergut) 2), 
während  das  hervorragendste  Werkzeug  dieser  Art  der  Erzbischof  Arno  von 
Salzburg  wurde,  ein  Geistesverwandter  Alkuins  und  einer  aus  jenem  Kreise,  in 
dem  sich  die  ganze  Vortrefflichkeit  der  karolingischen  Kulturbestrebungen  ver- 
körpert hat. 

Das  Bistum  Arnos  wurde  schließlich  auf  Wunsch  Karls  vom  Papste  im 
J.  797  zur  Metropole  Bayerns  erhoben,  und  diesem  so  die  Bistümer  von  Sehen, 
Freising,  Regensburg  und  Neuburg  unterstellt.  Das  Breve  des  Papstes  aber, 
durch  das  jene  Organiation  in  das  Leben  trat,  stellt  den  wahren  Sachverhalt  auch 
ganz  richtig  dar,  wenn  es  jene  Maßregel  als  nichts  anderes  als  den  Abschluß  der 
von  Karl  in  das  Werk  gesetzten  Neuordnung  Bayerns  in  allen  seinen  Teilen 
gelten  lassen  will  3).  Auch  der  erste  Ratgeber  Karls,  Alkuin,  hat  jener  östlichen 
Politik  seine  Aufmerksamkeit  gewidmet;  denn  im  J.  796  steht  dieser  gelegentlich 
des  Avarenkrieges  mit  Arno  in  Briefwechsel  über  die  Art,  wie  dort  im  Osten 
die  christliche  Bekehrung  gehandhabt  werden  sollte,  eine  Frage,  die  zu  gleicher 
Zeit  auch  den  damaligen  Patriarch  Paulinus  von  Aquileja  beschäftigte,  da  dieser 
ja  die  Stelle  verkörperte,  der  dieselbe  Arbeit  im  Süden  der  Ostalpen  zufiel''). 
Dem  Namen  Karls  selbst  begegnet  man  dann  als  Gründer  des  Benediktiner- 
stiftes Metten  bei  Niederaltaich^)  und  in  Kremsmünster,  wo  er  das,  was  Tassilo 
begonnen  hatte,  weiterführte.  Auch  die  Stadt  Klosterneuburg  soll  von  ihm  an 
der  Stelle  eines  Römerkastells  erbaut  worden  sein,  wie  überhaupt  die  deutschen 
Dynastengeschlechter,  die  später  in  diesen  Grenzlanden  seßhaft  waren,  die  Ver- 
anlassung für  ihre  Übersiedelung  nach  dorthin  mit  Vorliebe  auf  jene  Kämpfe 
unter  Karl  den  Gr.  zurückgeführt  haben  ^). 

")  Ab.  S.  643.  2)  Ab.  S.  644.  3,   si.  S.  138.  A.  1.         4)   Si.  S.   128f.         5)    Da.  IL  B.   S.  225. 

6)  Ri.  I.  B.  S.  185;  Weidmann,  die  Umgebungen  Wiens,  Wien  1839,  S.  307. 


Die  Herrschaft  Karls  des  Großen  in  den  Alpen.  63 

Ein  letzter  Absatz  in  jener  Tätigiveit  Karls  läßt  sich  dann  noch  etwa  im 
J.  803  erkennen.  Er  ist  damals  noch  einmal  in  Regensburg  und  auch  in  Salzburg 
gewesen,  ein  Zeitpunkt,  in  dem  die  Gründung  des  Stiftes  S.  Zeno  bei  Reichenhail 
und  wahrscheinlich  auch  die  endgültige  Abgrenzung  jener  südöstlichen  Marken 
zum  Schutze  des  Reiches  erfolgte,  die  wir  dann  jedenfalls  im  J.  811,  als  die 
Fürsten  der  Avaren  und  der  Südslaven  sich  bei  Karl  in  Aachen  einfanden,  fest 
begründet  sehen').  Wie  jene  Grenzen  damals  im  einzelnen  gezogen  worden  sind, 
dieses  läßt  sich  freilich  nicht  mehr  ersehen;  einigermaßen  deutlich  erscheint  hier 
nur  die  Ostmark,  die  Vorläuferin  des  späteren  Herzogtums  Österreich,  während 
die  Ausdehnung  der  eigentlichen  pannonischen  Mark,  die  möglicherweise  bis  an 
die  Raab  reichte,  und  auch  die  Gestaltung  Kärntens  im  Dunkeln  bleibt-).  Nicht 
unwahrscheinlich  ist  es  außerdem,  daß  die  Machtsphäre  der  Markgrafen  von  Friaul 
sich  damals  bis  nach  Kroatien  erstreckt  hat"*),  so  daß  die  eine  große  Tatsache 
jedenfalls  voll  heraustritt,  wie  hier  von  jenem  großen  abendländischen  Herrscher 
ein  Keil  germanischen  Wesens  nach  Osten  vorgetrieben  wurde,  der  ein  Zusammen- 
fließen der  Nord-  und  Südslaven  bis  heute  verhindert  haf*). 

Auch  die  Einteilung  der  großen  kirchlichen  Bezirke  in  den  Ostalpen  wurde 
damals  geregelt,  insofern  jetzt  die  Drau  ihrer  ganzen  Länge  nach  als  Grenze  des 
Patriarchates  Aquileja  und  des  Erzbistums  Salzburg  bestimmt  wurde  =),  eine  Ab- 
grenzung, in  der  die  Überlegenheit  des  Salzburger  Bezirkes  und  damit  die  des 
ganzen  Nordens  gegenüber  dem  alten  Patriarchensitze  aus  der  Römerzeit  deutlich 
zum  Ausdruck  kommt.  Aber  selbst  in  diesem  kirchlichen  Zentrum,  das  unter 
den  Langobarden  nur  sein  Leben  gefristet  hatte,  setzte  seit  dieser  Zeit  ein  neuer 
Aufschwung  ein;  denn  der  von  dem  Weltreiche  Karls  des  Gr.  ausgehende  Im- 
puls war  at'ch  südlich  der  Ostalpen  gleich  stark  zu  fühlen.  Hierauf  weisen  be- 
sonders die  hartnäckigen  Kämpfe  hin,  die  damals  Pippin  in  Italien  mit  Venedig 
geführt  hat,  während  andererseits  die  Tatsache,  daß  diese  Stadt,  gestützt  auf 
Byzanz,  mindestens  eine  Sonderstellung  innerhalb  des  fränkischen  Reiches  ein- 
nahm, wiederum  die  verbindenden  Fäden  enthüllt,  die  von  jenem  Nordende  der 
Adria  nach  dem  Orient  hinüberlaufen,  und  so  die  Überlegenheit  der  geogra- 
phischen Verhältnisse  auch  gegenüber  der  stärksten  Menschenkraft  in  Erinnerung 
bringt. 

Da  die  Gauverfassung  mehr  als  alles  andere  die  Grundlage  der  fränkischen  Karoiinglsche 
Staatseinrichtungen  bildete  und  der  östliche  Teil  der  Alpenländer  erst  unter  Karl  Afpen!" 
dem  Gr.  in  jene  eingefügt  wurde,  so  haben  wir  jetzt  Veranlassung,  die  Gaue  zu 
nennen,  die  damals  in  diesem  Teil  des  Gebirges  erkennbar  sind.  Es  sind  dieses 
freilich  alles  Bezirke,  von  denen  die  wenigsten  ein  längeres  selbständiges  Leben 
entwickelt  haben  und  deren  genauere  Erforschung  daher  nur  einen  bedingten 
Nutzen  haben   kann,   da  die  Wirksamkeit   dieser   Gauverfassung  auch   hier  wie 

')  Sl.  S.  472.        2)  Ri.  1.  B.  S.  185 f;  vgl.  auch  Z.  A.  1901.  S.  132.         3)  si.  S.  297.  A.  3.         •»)  Vgl. 
Ei.  K.  15.        5)  ju.  S.272. 


64  V.  Kapitel. 

überall  mit  dem  Verfall  des  Karolingerreiches  ihr  Ende  gefunden  hat.  Als  solche 
Gaue  können  nun,  wenn  wir  vom  Schwarzwald  aus  in  das  Alpenland  eintreten, 
genannt  werden  der  Aargau,  Thurgau  und  Linzgau'),  das  Algäu  (Alpe  gowe, 
Albigau)  und  dann  der  Huosigau  (pagus  Hosiarum)^),  der  weiter  östlich  das 
Alpenvorland  bis  zur  Loisach  und  Isar  einnahm.  Auf  diesen  folgt  dann  weiter 
der  Sundgau  (Südgau),  der  sich  gleichfalls  am  Rande  der  Berge  bis  über  den 
Inn  hinaus  erstreckte.  Südlich  dieser  Gaue  aber  lagen  im  eigentlichen  tiroler 
Gebirge  der  Gau  Inntal,  das  heutige  Unterinntal  mit  seinen  Nebentälern,  der 
als  solcher  nach  Westen  zu,  etwa  von  Zirl  ab,  dem  Gau  Poapintal  (d.  h.  dem 
des  Poapo)  Platz  machte,  eine  Bezeichnung,  die  ebenso  wie  der  Huosigau  des- 
halb bemerkenswert  ist,  weil  sie  erkennen  läßt,  daß  jene  Gebiete  wirklich  einst 
von  bestimmten  Gaugrafen  verwaltet  worden  sind.  Dieser  Gau  Poapintal,  der 
das  obere  Inntal  und  vor  allem  auch  das  ganze  Ötztal  umschloß,  wird  dann 
südlich  vom  Vintschgau  (Finsgowe)  abgelöst,  der  östlich  bis  an  die  Passer  reichte. 
Das  eigentliche  Brennergebiet  aber  umfaßte  der  Gau  Norital,  nach  mittelalter- 
lichem Sinne  also  ein  vorwiegend  von  Bayern  bewohntes  Gebiet.  Dieser  Gau 
Norital  erstreckte  sich  anfangs  südlich  weit  hinab  bis  zur  Mündung  des  Noce 
in  die  Etsch,  während  später  (1027)  dann  seine  südliche  Grenze  der  das  Tierser 
Tal  durchfließende  und  bei  Blumau  in  den  Eisak  mündende  Breibach  (Bria 
fluvius)  war^).  Vom  Tal  der  Rienz  und  dem  der  oberen  Drau  wurde  dann  der 
Gau  Pustertal  (Pustrissa)  gebildet,  eine  heute  noch  fortlebende  Bezeichnung,  die 
von  den  einen  von  Byrrus,  dem  lateinischen  Namen  der  Rienz,  von  anderen 
wieder  aus  dem  Slavischen,  was  dann  Wüste  bedeuten  würde,  abgeleitet  wird"*). 
Östlich  und  nördlich  des  Pustertales  lagen  der  Lurngau  (Tiburnia)^),  der  Pinzgau 
(Binsengau)  6)  und  der  Pongau,  von  denen  die  beiden  letzteren  in  ihrer  alten 
Bezeichnung  und  auch  ungefähr  in  ihrem  früheren  Umfange  auch  heute  noch 
fortbestehen,  während  an  den  Sundgau  anschließend  von  Westen  nach  Osten  zu 
der  Chiemgau,  der  Salzburggau,  der  Attergau  und  der  Traungau  zu  finden  waren. 
Die  Alpensage  Sind  wir  somit  an  dieser  Stelle  mit  demjenigen  zu  Ende,  was  lediglich  aus  der 

Geschichte  von  dem  Wirken  Karls  in  den  Ostalpen  bekannt  ist,  so  darf  es  doch 
nicht  verschwiegen  werden,  daß  auch  die  Tradition  in  den  südlich  der  bayrischen 
Ebene  liegenden  Bergen  sich  merkwürdig  oft  mit  dem  Namen  dieses  großen 
Kaisers  zu  schaffen  gemacht  hat.  Es  ist  ja  richtig,  daß  man  diese  Erscheinung 
eben  nur  so  hinzunehmen  braucht  wie  sie  ist;  es  wird  aber  doch  immer  auch 
solche  geben,  die  angesichts  der  Tatsache,  wie  gewaltig  die  Tätigkeit  Karls  hier 
einst  wirklich  gewesen  ist,  der  Ansicht  sind,  daß  jener  Nachklang  sich  nicht 
ohne  Grund  eingestellt  hat.  So  zieht  sich  zunächst  wie  die  Spur  eines  edlen 
Wildes,  das  längst  das  Weite  gesucht  hat,  von  der  Schweiz  beginnend  eine  Kette 
solcher  Anklänge  bis  nach  Salzburg  hinüber.     Von  Zürich,  dessen  Münster  noch 

')  PI.  S.  370.  2)  Vgl.  Ri.  I.  B.  Beil.  II.         3)  n.  A.  S.  90;  vgl.  Anh.  7.         *)  W.  P.  S.  20;  Eg. 

S.373;    Unterforcher   G.  Pr.  Eger  1890,    Sonderabdruck  S.  12.  5)  pj.  s.  222.  6)  St.  S.  128. 


Die  Herrschaft  Karls  des  Großen  in  den  Alpen.  65 

heute  ein  den  Namen  Karls  tragendes  Standbild  besitzt,  wo  der  Kaiser  besonders 
gern  sich  aufgehalten  und  die  Schlange  bei  ihm  ihr  Recht  gesucht  haben  soll'), 
geht  sie  hinüber  nach  Kempten,  wo  Hildegard,  die  Gemahlin  Karls,  im  J.  773 
das  Benedii^tinerkcloster  gegründet  und  die  Burghalde  an  dasselbe  geschenkt 
haben  soil^),  eine  Annahme,  zu  der  freilich  zu  bemerken  ist,  daO  jener  Zeitpunkt 
nicht  ganz  geschickt  gewählt  scheint,  da  eben  in  diesem  Jahre  Hildegard  ihren 
Gemahl  auf  seinem  Zuge  gegen  Desiderius  nach  Italien  begleitet  hat.  Das  alte 
Schloß  Pähl  an  der  Südspitze  des  Ammersees  gilt  als  ein  Jugendaufenthalt  Karls^) 
und  eine  Mühle  am  Starnbergersee  sogar  als  sein  Geburtsort''),  und  auch  das  in 
Oberbayern  geübte  Haberfeldtreiben,  bei  dessen  Formalitäten  mit  dem  Namen 
dieses  Kaisers  viel  Unfug  getrieben  zu  werden  pflegt,  wird  als  ein  verwilderter 
Schößling  des  einst  von  Karl  eingeführten  Rügengerichts  betrachtet.  Seinen 
glänzenden  Abschluß  aber  findet  dann  dieser  Zug  in  Salzburg,  wo  Karl  der  Gr. 
der  Mittelpunkt  eines  reichen  Sagenkreises  ist,  wo  er  im  Untersberg  wohnt  und 
aus  diesem  einmal  wieder  in  voller  Herrlichkeit  hervortreten  soll. 

Nicht  minder  merkwürdig  ist  es  aber,  daß  uns  auch  am  südlichen  Rande 
desselben  Alpenflügels  ganz  ähnliche  Anklänge  begegnen.  Tatsache  ist  zunächst, 
daß  Karl  im  J.  803  die  Grafschaft  Chiavenna  der  Kirche  von  Como  schenkte^), 
und  daß  er  in  der  Gegend  des  Gardasees,  wo  auch  die  letzten  Langobarden- 
könige häufig  anzutreffen  sind,  besonders  über  Peschiera,  das  Kastell  Sermione 
und  die  Isola  di  Garda  verfügte*^).  An  dem  reichen  Portal  des  Domes  in  Verona 
schauen  noch  heute  die  alten  Standbilder  von  Roland  und  Olivier,  der  Paladine 
Karls  des  Gr.,  auf  uns  herunter;  die  Berner  Klause  hieß  im  Mittelalter  semita 
Caroli  und  auch  das  in  der  Nähe  derselben  gelegene  Kastell  Maicesine  soll  der 
Sage  nach  "on  Karl  erbaut  worden  sein').  Die  rätselhafteste  Reihe  solcher 
Andeutungen  zieht  sich  aber  doch  von  hier  aus  nordwestlich  in  das  Gebirge 
selbst  hinein.  So  soll  Karl  ungefähr  im  J.  775  südlich  vor  Madonna  di  Campiglio, 
dort,  wo  am  Eingange  des  Val  di  Genova  die  Kirche  S.  Stefano  liegt,  mit  seinem 
Heere  einmal  vorbeigekommen  sein;  oben  auf  dem  Passe  aber  liegt  ein  großes 
geschütztes  Plateau,  seit  alters  Campo  di  Carlo  Magno  geheißen,  weil  der 
Kaiser  hier  sein  Lager  aufgeschlagen  haben  soll*^).  Weiter  nordwestlich  im 
Münstertale,  an  dieser  Stelle  freilich  im  J.  774,  soll  sich  Karl  mit  seiner 
Gemahlin  gleichfalls  einmal  aufgehalten  und  daselbst  das  Kloster  Taufers  gegründet 
haben-'),  und  wiederum,  nicht  allzuweit  nördlich  von  hier,  findet  sich  im  Scarl- 
tale,  einem  Seitentale  des  Unterengadins,  eine  kleine  Kirche,  die  von  der  Tradition 
zu  einer  Gründung  dieses  Kaisers  gestempelt  wird,  während  man  schließlich  als 
die  letzte  Kette  dieses  Gliedes  die  Annahme  betrachten  kann,  daß  einer  der 
Römerzüge  Karls  auch  einmal  von  Konstanz  aus  angetreten  worden  sei;  für  dieses  / 

')  Z.  A.  1902.  S.  90;  M.  C.  L.  17.  B.  S.  1110.  ^)  M.  C.  L.  IG.  B.  S.  45;   M.  D.  A.  I  T.  4.  Au.  S.  66. 

3)  M.  D.  A.  I.  T.  4.  Au.  S.  47.  '>)  Da.  I.  B.  S.  226.  -"■)  PI.  S.  425.  ß)  Ab.  S.  193,  195.  7)  Oe.  II. 
S.  215;  M.  D.  A.  I.  T.  4.  Au.  S.335.  »)  M.  D.  A.  I.  T.  4.  Au.  S.  307;  9.  Au.  S.  318.  9)  PI.  S.  379. 
Scherfcl,  Verkehrsgeschichie  der  Alpen.    2.  Bind.  5 


Qß  V.  Kapitel. 

Ereignis  wird  aber  wieder  das  J.  780  genannt').  Und  selbst  in  die  Sagenwelt  der 
Urkantone  spielt  der  Name  Karls  des  Gr.  hinein,  da  der  besondere  Charakter 
der  Schwyzer  durch  ihre  Herkunft  von  friesischen  Leuten  erklärt  wurde,  die 
sich  einst  daselbst  auf  der  Rückkehr  von  einem  Römerzug  Karls  niedergelassen 
haben  sollten  2). 
Der  Eintritt  Während    der    Zustand    der    Westalpen    unter    Karl     dem  Gr.    kaum    eine 

^*"  "in  das  Veränderung  erfahren  hat,  einfach  deshalb,  weil  dieser  Teil  des  Gebirges  bereits 
Mittelalter,  seit  langer  Zeit  einen  alteingerichteten  Teil  des  Frankenreiches  bildete,  ist  es 
nach  dem  Vorangegangenen  ganz  erklärlich,  daß  die  Wirksamkeit  Karls  nun  auch 
vor  jener  Landschaft  in  den  Alpen  nicht  Halt  machte,  die  bis  dahin  seit  dem 
Ende  des  Ostgotenreiches  ein  fast  selbständiges  Leben  geführt  und  wie  Bayern 
bisher  nur  in  einem  ganz  losen  Abhängigkeitsverhältnis  zu  dem  Frankenreiche 
gestanden  hatte.  Es  ist  diese  der  heutige  Kanton  Graubünden,  an  dem  damals 
noch  der  einst  in  viel  größerem  Umfange  geltende  Name  der  römischen  Provinz 
Rätien  haften  geblieben  war,  und  für  den  man  den  Eintritt  des  Mittelalters 
schlechterdings  erst  am  Ende  des  achten  nachchristlichen  Jahrhunderts  ansetzen 
kann;  gewiß  eine  merkwürdige  Tatsache,  die  ihre  Erklärung  jedoch  durchaus  in 
den  geographischen  Verhältnissen  findet,  in  der  Abgeschlossenheit  des  Massen- 
gebirgslandes,  in  der  Sprödigkeit  und  den  Kräften  der  Beharrung,  die  jene  genau 
in  der  Mitte  der  Alpen  gelegene  Hochgebirgslandschaft  stets  in  besonderer  Stärke 
in  sich  versammelt  hat.  In  jener  stillen  Zeitspanne  begehrten  nur  die  von 
Alemannien  ausgehenden  neuen  kirchlichen  Kulturströmungen  schüchtern  Einlaß 
im  Lande,  während  im  Innern  die  Churer  Bischofsgewalt  ein  naturwüchsiges 
theokratisches  Regiment  ausübte,  das  sich  zugleich  Jahrhunderte  hindurch  in 
derselben  Familie,  derjenigen  der  Viktoriden,  Glied  um  Glied  forterbte.  Auch 
die  Politik  der  Frankenkönige  hatte  damals  noch  keine  Veranlassung,  hier  fest 
zuzugreifen,  da  die  durch  Bünden  führenden  Straßen  neben  denen  der  Westalpen 
für  sie  stets  in  zweiter  Linie  stehen  mußten. 

Zu  der  Zeit  Karls  des  Gr.  geht  nun  aber  auch  hier  eine  Veränderung  jenes 
Zustandes  in  allen  seinen  Grundlagen  vor  sich.  Das  erste  Zeugnis  hierfür  liefert 
zunächst  eine  Urkunde,  in  der  plötzlich  der  Bischof  von  Chur  nicht  wie  sonst 
Victor  sondern  Constantius  genannt  wird,  und  als  solcher  auch  nicht  mehr  als 
Praeses  sondern  als  rector  im  Lande  gelten  soll.  Die  Urkunde  stellt  ferner 
zwar  die  altgewohnten  Gesetze  Rätiens  unter  Karls  besonderen  Schutz,  findet 
aber  doch  Veranlassung,  hinzuzufügen,  daß  dieser  Schutz  einerseits  von  der 
Treue  der  Räter  gegen  Karl  selbst  abhängig  zu  machen  sei  und  andererseits 
besonders  auch  gegen  fremde  Leute  zu  gelten  habe,  die  hier  wohl  mit  Absicht 
nicht  näher  bezeichnet  werden^).  Leider  fehlt  uns  gerade  bei  diesem  Schriftstück 
^  die    genaue  Kenntnis   von    dem    Zeitpunkt  seiner    Entstehung.      Wenn    es  aber 

richtig  ist,  daß   diese   in   das  J.  784  oder  785  fällt,    so   liegt   der   Gedanke    sehr 
1)  Oe.  I.  S.  242;  vgl.  Anh.  8.         2)  pr.  16.  Au.  11.  B.  1.  Abteilung.  S.  414.  3)  PI.  S.  300f. 


Die  Herrschaft  Karls  des  Großen  in  den  Alpen.  67 

nahe,  daß  jenes  Eingreifen  Karls  in  die  rätischen  Verhältnisse  mit  der  Ausein- 
andersetzung mit  Tassilo  in  Verbindung  stand,  die  ja  wenig  später  (787)  dann 
auch  wirklich  stattgefunden  hat,  daß  daher  unter  jenen  fremden  Leuten  niemand 
anders  als  Tassilo  und  seine  Parteigänger  gemeint  waren,  und  daß  somit  Karl 
hier  bereits  irgendwelchen  Schritten  von  bayrischer  Seite  her  zuvorgekommen  ist. 
Immerhin  hat  aber  doch  damals  die  Machtstellung  des  Churer  Bischofs  selbst 
äußerlich  wenigstens  noch  keinen  Schaden  erlitten,  während  wir  dann  im  J.  807 
nun  wie  überall  so  auch  hier  einen  fränkischen  Grafen,  Hunfried  mit  Namen, 
im  Lande  finden  und  so  die  Zügel  der  Regierung  straff  angezogen  sehen ').  Aber 
auch  der  Zeitpunkt,  in  dem  diese  letztere  Tatsache  erkennbar  wird,  fügt  sich 
durchaus  in  den  Verlauf  hinein,  den  die  Regierung  Karls  in  den  Alpen  genommen 
hat,  da  dieser,  wie  schon  erwähnt,  überhaupt  in  den  ersten  Jahren  des  neuen 
Jahrhunderts  die  letzte  Hand  an  die  Ordnung  der  Alpenländer  legte. 

Aber  auch  noch  nach  einer  anderen  Seite  hin  findet  sich  ein  Motiv,  weshalb 
sich  die  Aufmerksamkeit  Karls  damals  wieder  auf  Rätien  gerichtet  haben 
mag;  denn  in  derselben  Zeit,  im  J.  806,  war  es  auch,  als  Karl  die  Divisio  imperii 
verfügte,  jene  Länderteilung,  wie  sie  nach  seinem  Tode  unter  seinen  Söhnen  in 
Kraft  treten  sollte-).  In  dieser  erscheint  nun  auch  der  Weg  über  Chur  als  eine 
der  wichtigsten  Verbindungen  zwischen  Deutschland  und  Italien,  und  es  kann 
dies  daher  auch  nichts  anderes  bedeuten,  als  daß  jetzt  auch  der  Besitz  der  bündner 
Alpenstraßen,  an  denen  bisher  der  Churer  Bischof  ungestört  das  Hausrecht  aus- 
geübt hatte,  für  die  fränkische  Reichspolitik  ein  Gegenstand  des  höchsten  Interesses 
geworden  war,  und  daß  diese  nunmehr  auch  hier  für  sich  selbst  das  erste  und 
letzte  Wort  beanspruchte.  Daß  jener  Zustand  aber  doch  den  Bischöfen  in  Chur 
recht  wenig  sanft  eingegangen  sein  mag,  zeigt  sich  darin,  daß  diese  sich  später 
Ludwig  dem  Frommen  gegenüber,  als  der  Wind  bereits  anders  zu  wehen  begann, 
offen  über  die  von  dessen  Vater  getroffenen  Maßregeln  beklagen-').  Auch  in 
den  folgenden  Jahrhunderten  haben  die  deutschen  Herrscher  dann  noch  oft 
genug  Veranlassung  gehabt,  sich  mit  den  durch  Bünden  führenden  Alpenstraßen 
zu  beschäftigen.  Die  Ursache  hierzu  ist  aber  doch  allein  in  der  durch  Karl  den  Gr. 
heraufgeführten  Entwickelung  zu  suchen,  da  erst  durch  diesen  jener  Teil 
Deutschlands,  der  nördlich  der  östlichen  Hälfte  der  Alpen  liegt,  mit  unlösbaren 
Banden  in  den  abendländischen  Kulturkreis  einbezogen  worden  ist.  Für  Bünden 
selbst  hat  die  neu  geschaffene  Weltlage  dann  im  besonderen  auch  noch  die 
Wirkung  gehabt,  daß  das  Bistum  Chur  dem  Erzbistum  Mainz  unterstellt  und 
so  von  seinem  alten  Metropolitansitze  Mailand  abgelöst  wurde,  obwohl  es  diesem 
räumlich  ja  viel  näher  gelegen  war'').  Diese  Änderung  geschah  um  das  J.  845, 
wie  sie  daher  wohl  mit  der  in  Verdun  getroffenen  Reichsteilung  (843)  unmittel- 
bar zusammenhängt. 

')  PI.  S.  354.         2)  W.  S.  69.        3)  PI.  S.  355.        ")  PI.  S.  393. 

5» 


VI.  Kapitel. 

Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge. 


Die  Alpen  und  Wie  Cäsar  und  Augustus  die  römische  Macht  über  die  Alpen  nach  Norden 

Weltanschau^  geführt  haben  und  so  die  Urheber  geworden  sind,  daß  die  römische  Politik  nunmehr 
ung  des  Jahrhunderte  hindurch  dem  Verkehr  über  das  Hochgebirge  ihre  Aufmerksamkeit 
■  zu  schenken  hatte,  so  ist  Karl  der  Gr.  der  Schöpfer  jener  mittelalterlichen  Konstel- 
lation gewesen,  die  in  einer  langen  Reihe  die  deutschen  Herrscher  nördlich  der 
Alpen  nach  Italien  ziehen  ließ,  um  sich  dort  die  Kaiserkrone  zu  holen.  Wenn 
dieser  Vorgang  es  äußerlich  zum  Ausdruck  brachte,  daß  die  Herrschaft  über 
Deutschland  und  Italien  in  einer  Hand  zu  liegen  habe,  so  finden  wir  demnach 
auf  der  Höhe  des  Mittelalters  lange  Jahrhunderte  hindurch  dieselbe  Weltanschauung 
wieder,  wie  sie  die  römische  Kaiserzeit  zur  Reife  gebracht  hatte;  es  ist  dieses 
der  Vorstellungskreis,  nach  dem  die  Alpen  im  Mittelpunkte  eines  großen  abend- 
ländischen Reiches  liegen,  und  der  dem  Aufbau  und  der  inneren  Kraft  dieses 
Reiches  von  vornherein  die  Fähigkeit  zutrauen  mußte,  die  trennenden  Kräfte  zu 
überwinden,  wie  sie  die  Natur  einem  ausgedehnten  Hochgebirge  den  menschlichen 
Kulturbestrebungen  gegenüber  verliehen  hat.  Nur  darin  zeigen  die  mittelalter- 
lichen Verhältnisse  auch  auf  den  ersten  Blick  eine  Verschiedenheit  von  denen 
des  Altertums,  insofern  sich  jetzt  der  Schwerpunkt  jenes  abendländischen  Reiches 
ebenso  wie  die  Heimat  seiner  Beherrscher  im  Norden  der  Alpen  befindet,  während 
das  Gebirge  selbst  den  Anforderungen,  jene  ganze  Ländermasse  nach  einem  ein- 
heitlichen Willen  zu  leiten,  keine  anders  gearteten  Schwierigkeiten,  weder  größere 
noch  geringere  als  vorher,  entgegenzusetzen  hatte. 
Das  Wesen  Die  Art  nun,  wie  das  Mittelalter  jenen  Aufgaben  gerecht  zu  werden  suchte, 

omerzuge.  .^^  .^  ^^^  Römerzügen  der  deutschen  Herrscher  in  die  Erscheinung  getreten, 
durch  die  diese  in  Rom  die  Kaiserkrone  zu  erwerben,  nicht  minder  aber  auch 
ihre  Oberhoheit  südlich  der  Alpen  zur  Geltung  zu  bringen  unternahmen.  Aber 
gerade  in  der  Gegenüberstellung  dieser  beiden  Ziele,  aus  dem  Vergleich,  welch' 
geringe  lebendige  Kraft  auch  nach  stattgefundener  Kaiserkrönung  einem  solchen 


Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge.  59 

mittelalterlichen  Herrscher  tatsächlich  zuwuchs,  offenbart  sich  der  wirkliche 
Charakter  jenes  römisch-deutschen  Reiches  und  damit  zugleich  das  Mißverhältnis 
zwischen  Schein  und  Wirklichkeit,  das  als  Leitmotiv  des  mittelalterlichen  Kultur- 
lebens überall  heraustritt.  Die  Geschichte  zeigt  es  allenthalben,  wie  das  Oberhaupt 
eines  festgefügten  und  in  sich  sicheren,  wenn  auch  noch  so  großen  Reiches  es 
durchaus  nicht  nötig  hat,  fortgesetzt  an  den  verschiedensten  Stellen  seines  Macht- 
gebiets zu  erscheinen  und  daselbst  durch  seine  Persönlichkeit  einzugreifen;  bei 
den  großen  und  langlebigen  Weltreichen  ist  sogar  das  Gegenteil,  die  feste  und 
sichere  Leitung  von  ein  und  derselben  Stelle  aus,  die  Regel  gewesen.  Auch  von 
dem  römischen  Weltreich  waren  die  Länder  nördlich  der  Alpen,  wie  es  fester 
und  unerbittlicher  nicht  geschehen  konnte,  in  das  von  der  Hauptstadt  ausgehende 
und  sich  nach  allen  Seiten  hin  betätigende  Regierungssystem  einbezogen  worden, 
ohne  daß  doch  die  römischen  Kaiser  in  den  langen  Zeiten  ihrer  Machtfülle  öfters 
persönlich  im  Norden  der  Alpen  zu  erscheinen  nötig  hatten,  wie  in  ihrer  häufigeren 
Anwesenheit  auf  der  Schattenseite  des  Reiches  je  länger  je  mehr  nur  ein  Zeichen 
für  die  Lockerung  der  alten  Verhältnisse  zu  Tage  tritt. 

Die  fränkischen  und  deutschen  Könige  haben  dagegen  seit  Karl  dem  Gr. 
Jahrhunderte  hindurch  kein  anderes  Mittel  gefunden,  um  ihrer  Stellung  als  Herrscher 
des  Abendlandes  zu  genügen,  als  unausgesetzt  mit  den  Orten  ihres  Aufenthaltes 
zu  wechseln  und  bald  vom  Norden  bald  vom  Süden  der  Alpen  aus  zu  regieren. 
Eine  solche  Art  der  Regierungstätigkeit  mußte  jedoch  schon  deshalb  auf  das  Er- 
starken einer  politischen  Machtfülle  nachteilig  einwirken,  weil  sie  den  Kräften 
des  Einzelmenschen  zu  viel  zumutet,  und  so  dem  Haupterfordernis  jedes  dauernden 
Erfolges,  der  innerlichen  Sammlung,  entgegenarbeitet,  in  der  sich  allein  die  Grenzen 
des  Möglichen  und  Erreichbaren  zu  enthüllen  pflegen.  Die  ganze  Geschichte 
der  mittelalterlichen  deutschen  Kaiserzeit  ist  daher  äußerlich  zwar  eine  ebenso 
glänzende  und  dramatische  Reihe  großer  Ereignisse,  innerlich  dagegen  nur  ein 
wechselvolles  und  keineswegs  erhebendes  Bild  menschlicher  Lebenslagen.  Die- 
selben Erscheinungen,  Römerzüge  und  Kreuzzüge,  die  Kämpfe  mit  der  Kurie, 
mit  den  Vasallen  und  diejenigen  gegen  die  Slaven  folgen  in  bunter  Folge  auf- 
einander, während  die  Hauptsache,  die  durch  jenen  glänzenden  Schein  verhüllt 
wird,  die  Lebensfähigkeit  des  abendländischen  Kaisertums  selbst,  einer  unglaub- 
lichen Unstetigkeit,  einem  jähen  Wechsel  zwischen  den  höchsten  Ansprüchen  der 
Weltherrschaft  und  der  mühsamen  Behauptung  in  der  Stellung  eines  deutschen 
Wahlkönigs  unterworfen  ist. 

Vieles  ist  eigenartig  an  dieser  Entwickelung  und  uns  heute  fast  wunderbarer 
als  manche  noch  viel  weiter  in  der  Vergangenheit  zurückliegende  Ereignisse; 
das  Merkwürdigste  bleibt  aber  doch  die  lange  Dauer  jenes  Zustandes,  der  sich 
in  derselben  Weise  vom  Beginn  des  neunten  bis  in  das  dreizehnte  Jahrhundert 
hinein  immer  wiederholte,  als  der  größte  und  aufreibendste  circulus  vitiosus,  den 
die  Weltgeschichte  kennt.     Es  ist  gewiß  auffallend,  daß  in  jener  langen  Epoche 


70  VI.  Kapitel. 

kaum  ein  deutscher  Herrscher  im  buchstäblichen  Sinne  die  Bahnen  seiner  Vor- 
fahren verlassen  hat,  ja  daß  die  tüchtigsten  und  tatkräftigsten,  wie  Otto  I.  und 
Friedrich  Barbarossa,  auf  jene  ihre  Zeit  bewegenden  Ideen  am  stärksten  reagiert 
haben.  Gerade  hierin  aber  offenbart  sich  die  zwingende  Überlegenheit  der  die 
einzelnen  geschichtlichen  Epochen  erfüllenden  Geistesrichtung  gegenüber  dem 
Einzelmenschen,  der  seine  Vorstellungen  schließlich  doch  nur  aus  dem  Vorrat 
der  geistigen  Werte  schöpfen  kann,  die  ihm  von  seiner  Zeit  zu  Gebote  gestellt 
werden.  Eben  deshalb  ist  aber  auch  der  Hohenstaufe  Friedrich  II.,  der  inmitten 
seines  Geschlechtes  ein  wildfremder  Mensch  war,  für  die  Geschichte  eine  so 
besonders  interessante  Gestalt,  weil  er  sich  bewußt  von  der  Regierungsmethode 
seiner  Vorgänger  lossagte  und  sein  Gesamtreich  vorwiegend  nur  von  der  einen 
Seite  der  Alpen  aus  zu  regieren  suchte. 

So  sind  die  Römerzüge  nicht  nur  im  einzelnen,  sondern  auch  hinsichtlich 
ihrer  Häufigkeit  und  des  langen  Zeitraumes,  über  den  sie  sich  verbreiten,  eine 
Erscheinung,  die  tief  in  dem  mittelalterlichen  Geisteszustand  begründet  ist,  ins- 
besondere aber  auch  dasjenige  Moment,  das  den  Alpenstraßen  auch  in  dieser 
Periode  ihren  hervorragenden  Platz  in  der  Weltgeschichte  sichert.  Denn  jene 
Verkehrslinien  hatten  auch  damals  wie  zu  allen  Zeiten  für  das  Völkerleben  eine 
wirtschaftliche  Bedeutung  im  weitesten  Sinne,  nicht  minder  aber  auch  eine  große 
politische  Wichtigkeit  für  diejenigen,  die  über  Deutschland  und  Italien  zugleich 
die  Herrschaft  ausüben  wollten,  eine  Wichtigkeit,  die  nicht  anders  als  wie 
zur  Römerzeit  ihre  Vorkehrungen  erheischte,  um  den  freien  Durchzug  durch 
jene  schwierigen  Gebirgsstraßen  offen  halten  zu  können.  Es  entspricht  aber  der 
andersgearteten  Machtfülle  der  mittelalterlichen  Herrscher,  die  sich  damals  rein 
praktischen  Aufgaben  gegenüber  nur  mit  ganz  geringen  Erfolgen  begnügen  mußten, 
daß  das  Streben  nach  dem  Besitz  der  Alpenstraßen  jetzt  zunächst  mit  ganz  anderen 
Mitteln  arbeitete,  ferner  aber  auch  niemals  zu  jenem  großen  Resultate  führen 
konnte,  wie  es  die  römische  Kaiserzeit  in  ihren  wohldurchdachten,  über  die  Alpen 
gelegten  Kunststraßen  erreicht  hatte. 

Die  in  der  Nach  mittelalterlichen  Begriffen  bildete  das  Reich  Karls  des  Gr.  ein  besonders 

Reichsteilung  .  „  ^  .  j.      »i  i 

Karls  namhaft  festgefügtes  und  geschlossenes  Ganze,  das  rings  um  die  Alpen  gelagert  war,  und 

gemachten  dessen  einheitliche  Beherrschung  und  Verwaltung  daher  auch  den  ungehinderten 

'  Verkehr  über  dieses  Gebirge   hinüber  zur  Voraussetzung  hatte.    Der  im  J.  806 

von  Karl  verfügte   Entwurf  einer   Reichsteilung  (Divisio   imperii),  wie   er   nach 

seinem   Tode   eintreten  sollte   und   in   dem   die   einzelnen  Abschnitte   für   jeden 

der  drei  Söhne  Karls  bestimmt  werden,  macht  unmittelbar  nach  den  Worten  der 

Teilung  selbst  die  Alpenübergänge  namhaft,  die  auf  diese  Weise  einem  jeden  der 

drei  künftigen  Frankenherrscher  zur  Verfügung  ständen').    Dieser  Zusammenhang 

beweist  ohne  weiteres,  wie   hoch  gerade  jener  große  Herrscher   den  Besitz  der 

Alpenstraßen  einschätzte,  und  allein  diese  Tatsache  ist  daher  das  weitaus  wichtigste 

1)  Vgl.  Anh.  9. 


Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge.  71 

neben  dem  vielen  anderen,  über  das  jene  Stelle  sonst  noch  für  unseren  Zweck 
Licht  verbreiten  kann.  Die  vorgesehene  Dreiteilung  selbst,  ein  westlich  zur  Seite 
gedrücktes  Frankreich,  ein  in  gleicher  Weise  nach  Osten  geschobenes  Deutsch- 
land und  ein  zwischen  diesen  beiden  in  der  Mitte  liegendes  Reich  ist  zwar  zu- 
nächst nicht  zur  Ausführung  gekommen,  später,  nach  dem  Vertrag  von  Verdun 
(843),  und  mit  einigen  Veränderungen  dagegen  schließlich  doch  noch  zur  Wirk- 
lichkeit geworden;  und  wenn  wir  weiterhin  sehen,  daß  solche  zwischen  Frankreich 
und  Deutschland  mitten  inne  liegende  Zwischenreiche  auch  wieder  zu  den  Zeiten 
Karls  des  Kühnen  und  nach  dem  Wiener  Kongreß  in  das  Leben  getreten  sind, 
so  scheint  deren  Entstehung  an  solche  Zeitlagen  geknüpft  zu  sein,  in  denen 
man  geneigt  ist,  den  Einfluß  der  nationalen  Kräfte  auf  das  Staatenleben  nicht 
allzuhoch  einzuschätzen. 

Unter  den  Alpenwegen  selbst,  die  in  der  Divisio  namhaft  gemacht  werden, 
sind  jedoch  nur  Gruppen  von  Übergängen  zu  verstehen,  so  daß  aus  derselben 
eine  Aufklärung  über  die  Begangenheit  einzelner  bestimmter  Straßen  zu  jener 
Zeit  nicht  gewonnen  werden  kann.  Diese  Gruppen  verteilen  sich  nun  weiterhin 
derart,  wie  sie  den  einzelnen  Reichen  ihrer  Lage  nach  nicht  anders  zufallen 
konnten;  für  das  westliche  Reich  die  Straßen,  die  in  das  Tal  von  Susa  auslaufen, 
also  die  eigentlichen  französischen  Alpenstraßen,  für  das  Reich  in  der  Mitte  die- 
jenigen, die  in  das  Tal  von  Aosta  münden,  wobei  in  diesem  Falle  allerdings  kaum 
ein  anderer  Weg  als  der  Gr.  S.  Bernhard  gemeint  gewesen  sein  kann,  weil  dieser 
infolge  seiner  diagonalen  und  vermittelnden  Lage  für  das  große,  den  Rhein  entlang 
liegende  Zwischenreich  wie  geschaffen  war  —  während  die  Straßen  des  Ostreiches 
hier  als  über  die  Norischen  Alpen  und  über  Chur  führend  angegeben  werden 
und  demnach  die  Linien  des  Brennersystems  und  die  bündner  Pässe  umfassen. 
Es  sind  letzteres  die  Wege,  die  gleichfalls  ihrer  Lage  nach  nur  für  das  Ostreich 
in  Frage  kommen  konnten,  und  deren  Benutzung  für  das  Frankenreich  erst  Karl 
der  Gr.  wieder  sichergestellt  hatte.  Erst  durch  diesen  ist  daher  jener  wichtige 
Zustand  eingetreten,  daß  auch  die  über  die  Mittelalpen  führenden  Linien  den 
westlichen  Alpenstraßen  in  ihrer  Bedeutung  für  den  Weltverkehr  vollständig 
ebenbürtig  wurden,  wie  es  ja  auch  gerade  jene  Linien  gewesen  sind,  über  die 
sich  später  vorwiegend  die  Römerzüge  der  deutschen  Herrscher  bewegt  haben. 
Die  Linien  der  Ostalpen  fallen  dagegen  hier  noch  ganz  aus,  was  darin  seine 
Erklärung  findet,  daß  diese  Straßen  überhaupt  erst  dann  einen  gleichen  Wert  wie 
die  anderen  Alpenstraßen  erlangen  können,  wenn  sich  die  Länder  am  Mittellauf 
der  Donau  zu  einem  großen  Reiche  zusammengefunden  haben. 

Aber  auch  noch  aus  einem  anderen  Vorgang,  der  mit  den  letzten  Regierungs-  Karls  Testa- 
maßregeln  Karls  in  Verbindung  steht,  läßt  es  sich  erkennen,  welche  Bedeutung  Alpenstädte, 
damals   den  Alpenländern    innerhalb    des    Frankenreiches    zugesprochen   wurde. 
In  seinem  jm  J.  811    gemachten  Testament  bedachte  Karl   die  21   Metropolitan- 
sitze seines  weiten  Reiches,  und  wenn   es   auch    nicht   wunderbar   ist,   daß   uns 


72  VI.  Kapitel. 

unter  diesen,  mit  Ausnahme  von  drei  '),  nur  Städte  mit  einer  glänzenden 
Geschichte  entgegentreten,  die  seit  der  Römerzeit  bis  in  unsere  Tage  angehalten 
hat,  so  ist  es  hier  doch  um  so  wichtiger,  wenn  unter  jenen  21  nicht  weniger 
als  fünf  innerhalb  des  Bannkreises  der  Alpen  gelegen  sind:  Salzburg  und  Cividale 
am  Fuße  der  Ostalpen,  dann  besonders  Grenoble,  der  französische  Vorort  der 
westlichen  Alpenstraßen,  und  ebenso  Embrun  an  der  Linie  des  Mont  Genevre 
wie  Moutiers  an  derjenigen  des  Kl.  S.  Bernhard.  Letztere  beiden  sind  jetzt  zu 
ganz  stillen  Orten  geworden;  ihre  damalige  bevorzugte  Stellung  können  sie  jedoch 
nur  ihrer  Lage  an  jenen  wichtigen  Gebirgsstraßen  verdankt  haben. 

Die  Römer-  Karl   selbst   ist  zehnmal   über  die   Alpen   nach  Italien   und   wieder    zurück 

des  Großen,  gezogen,  aber  nur  bei  drei  von  diesen  Alpenüberschreitungen  sind  wir  auch 
über  den  Weg,  den  er  dabei  gewählt  hat,  ganz  im  klaren  2).  Es  gilt  dies  zunächst 
für  den  Zug  von  773,  bei  dem  er  persönlich  über  den  Mont  Cenis  kam,  und 
der  übrigens  als  einziger  von  allen  zugleich  ein  über  das  Gebirge  hinüber  aus- 
geführter Feldzug  und  nicht  wie  die  übrigen  nur  ein  bloßer  Reisemarsch  war. 
Ferner  steht  bei  den  Zügen  von  776  und  801  aus  Italien  nach  Deutschland  die 
Richtung  über  den  Gr.  S.  Bernhard  außer  allen  Zweifel,  weil  hier  beide  Male 
ein  Aufenthalt  Karls  in    Ivrea   sichergestellt  ist;   auch    bei   den   anderen    Zügen 

,  Karls    bleibt    diese    Richtung    die   wahrscheinlichere,    wenn    auch    bereits    hier 

ebenso    wie  bei  den    meisten    anderen    späteren    Römerzügen    die  verstümmelte 

Überlieferung  den   durch  die   Alpen   eingeschlagenen  Weg  nur  andeutungsweise 

erkennen  läßt. 

Das  Straßen-  Wenn  im  Altertum    die   Reichsregierung    selbst  auch  den   Bau   der  Alpen- 

Mittelalters.  Straßen  in  die  Hand  genommen  hatte,  so  war  dies  begründet  nicht  nur  in  dem 
folgerichtigen  römischen  Staatsgedanken,  der  sich  bewußt  war,  wie  gewaltig  die 
Geschlossenheit  eines  großen  Reiches  durch  die  Erleichterung  des  Verkehrs 
gefördert  wird,  noch  viel  mehr  aber  in  dem  Übermaße  aller  materiellen  Hilfs- 
mittel, die  sich  die  antike  Kultur  zur  Erreichung  dieses  rein  praktischen  Zieles 
von  Anfang  an  zu  nutze  machen  konnte.  Ganz  im  Gegensatz  hierzu  steht  nun 
aber,  ebenso  im  Flachland  wie  in  den  Alpen,  der  Einfluß,  den  die  mittelalterlichen 
Herrscher  auf  das  Straßenwesen  ausübten,  weil  damals  jene  Grundlagen  fast 
ganz  fehlten,  die  dem  Straßenbau  des  römischen  Altertums  zu  so  gewaltigen 
Leistungen  verholfen  hatten.  Im  Mittelalter  war  die  Geschlossenheit  des  Reiches 
und  die  Machtfülle  seines  Oberhauptes  eben  nur  in  der  Vorstellung  vorhanden, 
während  in  Wirklichkeit  der  verschiedenartige  Wille  einer  Anzahl  neben  und 
übereinander  gestellter  Machtkreise  von  Herzögen,  Grafen,  Bistümern,  Klöstern 
und  später  auch  Reichsstädten  über  das  Schicksal  und  den  Zustand  der  ihre 
Gebiete  durchziehenden  Verbindungen  bestimmte.  Es  ist  aber  natürlich,  daß 
alle  diese  Instanzen  den  Verkehr  innerhalb  ihres  Machtkreises  in  erster  Linie 
nur  von  dem  Standpunkte  ihres  eigenen  Vorteils,  zumeist  also  von  demjenigen 
')  Ei.  K.  33.     Diese  drei  sind  Grado,  Moutiers  und  Embrun.        2)  Oe.  I.  S.  241,  II.  306. 


Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge.  73 

des  Zollwesens  aus,  betrachteten,  und  daß  kaum  irgendwelche  anderen  Rücksichten 
als  diese  darüber  entschieden,  ob  der  Verkehr  gefördert  oder  gehindert,  ob  die 
Straße  selbst  in  gutem  oder  schlechtem  Zustand  erhalten  werden  sollte.  Gerade 
diese  letztere  Tatsache,  daß  ein  Machthaber  ebensooft  ein  Interesse  daran  hatte, 
den  sein  Gebiet  durchziehenden  Verkehr  zu  erschweren  oder  gar  eingehen  zu 
lassen,  findet  sich  im  Mittelalter  fast  ebensohäufig  wie  das  Gegenteil,  und  sie 
liefert  daher  auch  die  beste  Erklärung  nicht  allein  für  die  Veränderungen,  die 
das  Straßennetz  während  jener  Zeiten  erfahren  hat,  wie  überhaupt  für  manche 
aufifallenden  und  unregelmäßigen  Erscheinungen  des  damaligen  Verkehrslebens'). 

Die  andere  Ursache  aber,  weswegen  im  Mittelalter  der  Straßenbau  selbst 
nur  geringe  Leistungen  aufweisen  konnte,  liegt  in  der  Geringfügigkeit  der 
praktischen  Hilfsmittel,  die  den  damaligen  Geschlechtern  zu  Gebote  standen 2), 
und  zwar  nicht  nur  in  den  dem  Altertum  nachstehenden  technischen  Kenntnissen, 
sondern  vor  allem  auch  in  dem  Mangel  an  Arbeitskräften,  die  sich  der  Kapital- 
wirtschaft gegenüber  stets  viel  williger  zeigen  als  gegenüber  der  Naturalwirtschaft, 
wie  sie  im  Mittelalter  zumal  in  den  Alpen  besonders  lange  und  besonders  rein 
ausgeprägt  war.  Der  wichtigste  Grund  aber,  weshalb  die  baulichen  Leistungen 
des  Mittelalters  von  Anfang  an  so  weit  hinter  denjenigen  des  Altertums  zurück- 
stehen, bleibt  doch  der,  daß  jenes  keine  Arbeit  von  Sklaven  kannte.  Die  Sklaven 
des  römischen  Fiskus  haben  auch  die  großen  Alpenstraßen  des  römischen  Reiches 
gebaut.  Es  ist  richtig,  daß  die  weißen  Sklavenheere  schon  am  Ende  des  Altertums 
selbst  ausgestorben  sind,  aber  auch  ohne  diesen  Ausgang  bleibt  das  Aufhören 
der  Sklaverei  einer  der  folgenschwersten  kulturellen  Gegensätze,  der  das  Mittel- 
alter, nicht  zum  Nachteil  seines  inneren  Wertes,  von  dem  Altertum  unterscheidet. 

Hieraus  ist  es  demnach  durchaus  erklärlich,  daß  eine  Straßenbautätigkeit 
im  großen  Stile  im  Mittelalter  niemals  und  am  wenigsten  in  dem  schwierigen 
Alpengeoiet  eintreten  konnte,  und  daß  selbst  ein  weiter  Blick,  auch  die  gewaltige 
Energie  eines  Einzelnen  sich  hier  nur  mit  ganz  geringen  Resultaten  begnügen 
mußte,  wenn  es  auch  bestehen  bleibt,  daß  die  großen  Herrschernaturen  aus  ihrem 
Gesichtskreis  heraus  nach  wie  vor  auf  jenes  Bestreben  hingewiesen  wurden. 
Vor  Karl  dem  Gr.  haben  wir  zunächst  überhaupt  keine  Andeutungen  über  irgend- 
welchen mittelalterlichen  Straßenbau-^);  erst  unter  diesem  und  unter  dessen 
Nachfolgern,  die  mit  dem  Titel  des  römischen  Kaisers  auch  jene  antiqua  consuetudo 
mit  übernommen  haben  mögen,  läßt  es  sich  erkennen,  daß  die  Herrscher  selbst 
auch  der  Fürsorge  für  die  das  Reich  durchziehenden  Straßen  einige  Aufmerk- 
samkeit gewidmet  haben.  Das  Kapitulare  von  Mantua  (787)  giebt  davon  den 
ersten  Beweis,  als  die  Reichsregierung  die  Gewohnheiten,  die  sich  bei  der 
Instandhaltung  der  Straßen,  besonders  der  Brücken,  ausgebildet  hatten,  zum 
Gesetze  erhob;  ein  späteres,  etwas  deutlicheres  Zeugnis  liefert  dann  der  Mönch 
von  S.  Gallen,  Notker  der  Stammler^).     Hier  sind  es  die  Geistlichen,  besonders 

')  Vgl.  F.  1834.  S.  266.         2^  Ca.  S.  55.        J)  Ga.  S.  32.         ■»,  Ga.  S.  34f. 


74  VI.  Kapitel. 

aber  die  Grafen,  beides  die  eigentlichen  zur  inneren  Verwaltung  des  Karolinger- 
reiches  berufenen  Instanzen,  denen  mit  Hilfe  ihrer  Untergebenen  die  Instand- 
haltung der  bestehenden  Wege  obliegt,  während  bei  den  wichtigeren  Unter- 
nehmungen dieser  Art,  besonders  bei  den  Neubauten,  alle  einschlagenden  Gewalt- 
haber zur  Teilnahme  verpflichtet  sein  sollen,  ein  Verfahren,  bei  dem  diese  dem 
Könige  durchaus  verantwortlich  sind  und  das  durch  dessen  Sendboten  kontrol- 
liert wird. 

Auffallen  muß  es  aber  doch,  daß  Verordnungen  gleicher  Art  aus  dem  zehnten 
und  elften  Jahrhundert  nicht  existieren,  auch  nicht  von  Otto  dem  Gr.  oder 
Heinrich  III.,  jenen  kräftigen  Herrschern,  unter  denen  der  Begriff  der  Reichs- 
einheit diesseits  und  jenseits  der  Alpen  verhältnismäßig  am  weitesten  zur 
Vollendung  gekommen  ist.  Erst  unter  Friedrich  I.  wird  es  im  J.  1158  auf 
den  ronkalischen  Feldern  wieder  als  Grundsatz  ausgesprochen,  daß  die  öffent- 
lichen Verkehrswege,  und  zwar  im  weitesten  Begriffe,  Landstraßen,  Brücken, 
Wasserstraßen,  Häfen  und  Zölle  nur  dem  Könige  gehören;  und  auch  Friedrich  II. 
erhebt  in  den  Verordnungen  auf  dem  Reichstage  zu  Mainz  (1225)  noch  einmal 
dieselben  Ansprüche').  Es  sind  aber  hier  wie  dort  doch  nur  mehr  allgemeine 
Mißstände,  vor  allem  die  vielen  unberechtigten  Zölle  und  Hindernisse,  die  mit 
der  Zeit  den  Verkehr  der  Willkür  der  mannigfachen  an  den  langen  Straßenlinien 
liegenden  Gewalten  ausgeliefert  hatten,  gegen  die  jetzt  von  den  Herrschern  im 
Prinzip  Front  gemacht  wird.  Wenn  jene  Maßregeln  daher  auch  zeigen,  daß  die 
Reichsgewalt,  sobald  sie  sich  vorübergehend  zu  einem  kräftigen  Schwünge  erhob, 
durch  die  Logik  der  Tatsachen  auch  auf  die  Fürsorge  für  die  Straßen  geführt 
werden  mußte,  so  konnten  doch  auch  in  solchen  Fällen  die  praktischen  Ergebnisse 
im  Vergleich  zu  den  erhobenen  Ansprüchen  stets  nur  ganz  geringfügig  bleiben. 
Nicht  ein  einziges  Mal  ist  daher  auch  im  Mittelalter  der  Fall  eingetreten,  daß 
von  dem  Reichsoberhaupte  selbst  eine  Straße  in  langer  Linie  durch  die  Alpen 
gebaut  oder  auch  nur  verbessert  worden  wäre. 
Die  Sperrung  Nach  einer  anderen  Richtung  hin,  die  sich  jedoch  nicht  auf  ganze  Linien 

Alpenstraßen,  sondern  auf  einzelne  besondere  Punkte  an  den  Alpenstraßen  erstreckte,  ist  dagegen 
das  Mittelalter  von  Anfang  an  ganz  selbständig  vorgegangen,  in  der  Errichtung 
von  Klausen.  Es  waren  dies  Befestigungen  zur  Beherrschung  der  einmal  vor- 
handenen Alpenwege,  eine  Erscheinung,  die  nun  auch  besonders  deutlich  erkennen 
läßt,  auf  welche  Weise  sich  damals  allein  der  Einfluß  der  großen  Machthaber  an 
den  Alpenstraßen  geltend  zu  machen  pflegte,  und  die  weiterhin  auch  die  Ursache 
zu  der  wichtigen  Tatsache  geworden  ist,  daß  auch  im  Mittelalter  ebensogut  wie 
im  Altertum  die  Verbindungen  zwischen  Deutschland  und  Italien  in  breiter  Front 
besetzt  und  abgeschlossen  werden  konnten. 

Der  früheste  Vorgang  dieser  Art  ist  wohl  etwa  um  das  J.  942  gelegentlich 
der  Kämpfe  zwischen  den  italienischen  Gegenkönigen  Hugo  von  Niederburgund 
>)  Ga.  S.  45f. 


Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge.  75 

und  Berengar  II.  von  Ivrea  zu  beobachten')-  Besonders  häufigen  und  besonders 
erfolgreichen  Versuchen  dieser  Art  begegnet  man  dann  während  der  bewegten 
Zeiten  Heinrichs  IV.,  was  aber  vor  allem  anderen  auch  deshalb  möglich  werden 
konnte,  weil  jetzt  nach  einem  langen  und  kräftigen  Walten  der  deutschen  Kaiser- 
macht die  Zusammengehörigkeit  Deutschlands  und  Italiens  auch  wirklich  einige 
Fortschritte  gemacht  hatte,  und  dabei  nun  auch  der  Apparat  für  den  politischen 
Verkehr  zwischen  diesen  beiden  Ländern  zu  einer  verhältnismäßig  größeren 
Vollendung  gelangt  gewesen  sein  muß.  So  ließ  Heinrich  IV.  im  J.  1075, 
als  der  Aufstand  der  Sachsen  in  hellen  Flammen  stand,  der  Kampf  mit  Gregor 
aber  noch  nicht  begonnen  hatte,  „alle  Alpenpässe  sperren,  um  keine  Nachrichten 
von  diesen  Vorgängen  nach  Rom  gelangen  zu  lassen"  2).  Am  Ende  des  J.  1076 
aber,  als  die  Ereignisse  über  Heinrich  zusammengebrochen  waren,  taten  dann 
wieder  die  Fürsten  dasselbe  und  besetzten,  um  die  Reise  Heinrichs  zum  Papste 
zu  verhindern,  „im  Voraus  mit  Wächtern  alle  Wege  und  Zugänge,  die  nach 
Italien  führen  und  die  man  gewöhnlich  Klausen  nennt"  ^),  wodurch  Heinrich, 
wie  bekannt,  zu  jenem  weiten  Umweg  über  den  Mont  Cenis  genötigt  wurde. 
Dieser  wendete  dann  aber  auch  seinerseits  und  zwar  mit  vollem  Erfolge,  sobald  er 
nach  seiner  Rückkehr  nach  Deutschland  wieder  zu  Kräften  gekommen  war, 
kein  anderes  Verfahren  an  und  vereitelte  so  die  geplante  Zusammenkunft  Gregors 
mit  den  deutschen  Fürsten  zu  Augsburg,  von  der  er  das  Schlimmste  zu  erwarten 
hatte.  Später  aber  im  J.  1093  besetzten  die  lombardischen  Städte  Mailand, 
Cremona,  Lodi,  Piacenza  u.  a.  die  von  Italien  nach  Deutschland  führenden  Wege 
und  hielten  auf  diese  Weise  Heinrich  von  seinen  deutschen  Anhängern  fern,  so 
daß  er  selbst  deshalb  jahrelang  machtlos  in  Italien  zurückbleiben  mußte'*). 

Auch  aus  dem  folgenden  Jahrhundert  ist  noch  ein  Fall  ersichtlich,  bei  dem 
die  Sperrung  der  Alpenstraßen  in  breiter  Front  besonders  gut  funktionierte  und 
durch  eine  solche  Maßregel  ein  entscheidender  Einfluß  auf  den  Gang  der 
Ereignisse  ausgeübt  wurde.  Als  Friedrich  Barbarossa  im  J.  1186  durch  Bünden 
aus  Italien  zurückkehrte  und  zugleich  einen  feindlichen  Papst  im  Rücken  wie 
Deutschland  in  halbem  Aufruhr  vor  sich  hatte,  mußte  für  ihn  alles  darauf 
ankommen,  seine  Feinde  zu  trennen;  auch  er  ließ  daher,  sobald  er  nördlich  der 
Alpen  angelangt  war,  „die  Pässe  der  Alpen  und  aller  umhergelegenen  Länder 
sperren,  so  daß  niemand  in  irgend  einer  Angelegenheit  zum  apostolischen  Stuhle 
gelangen  konnte"  5).  Auch  zwei  Römerzüge  desselben  Kaisers,  der  vom  J.  1167 
von  Italien  nach  Deutschland  und  derjenige  vom  J.  1174  in  umgekehrter  Richtung 
bewegten  sich  nur  deshalb  über  den  Mont  Cenis,  weil  die  anderen  Alpenstraßen 
gesperrt  waren^),  und  ebenso  fand  Friedrich  II.  im  J.  1212  bei  seinem  ersten 
Zug  aus  Italien  nach  Deutschland  die  von  Trient  aus  nördlich  nach  Schwaben 
führenden  Straßen  verschlossen,  so  daß  er  damals  nur  auf  Umwegen  und  über 
schwierige  Gebirgsübergänge  nach  Chur  gelangen  konnte'). 

')  Oe.  I.  S.  215.  2)  Bruno  Sachsenkrieg.  K.  64.  ^  La.  S.  282.  «)  Oe.  II.  S.  228.  5)  A.  L.  S.  122. 
6)  Oe.  1.  S.  227  f.        ')  Oe.  11.  S.  188. 


76  VI.  Kapitel. 

Die  Klausen.  Die  Befestigungsbauten  selbst  aber,  durch    die    eine   solche    Sperrung    der 

Alpenstraßen  in  das  Werk  gesetzt  wurde,  führten  im  Mittelalter  allgemein  den 
Namen  Klausen  (clusae),  eine  Bezeichnung,  die  uns  zuerst  bei  den  Langobarden 
und  Franken  begegnet  ist,  und  deren  Klang  den  Zweck,  dem  diese  Bauten  dienen 
sollten,  ganz  deutlich  veranschaulicht.  Solche  Sperren  waren  im  Mittelalter 
über  das  ganze  Alpengebiet  verbreitet;  es  ist  aber  hervorzuheben,  daß  jener 
Name  selbst  im  geschichtlichen  Sinne  zunächst  durchaus  von  der  gleichlautenden 
geographischen  Bezeichnung  unterschieden  werden  muß,  da  mit  dieser  überhaupt 
in  den  Alpen  alle  quer  durch  die  Gebirgserhebung  hindurchgehenden,  mit 
symmetrischen  Seitenwänden  versehenen  Spalten  bezeichnet  zu  werden  pflegen, 
wenn  es  auch  klar  fst,  daß  die  Erdkunde  bei  der  Geschichte  hier  nur  eine 
Anleihe  aufgenommen  hat,  da  jene  mittelalterlichen  Klausen  eben  einst  vorwiegend 
in  solchen  Querspaltentälern  zu  finden  waren.  Es  ergiebt  sich  nun  von  selbst, 
daß  die  Stellen,  wo  einst  nachweisbar  solche  mittelalterlichen  Klausen  bestanden 
haben,  damals  auch  für  den  Verkehr  von  besonderer  Wichtigkeit  sein  mußten, 
während  weiterhin  dort,  wo  die  alten  Befestigungen  selbst  noch  leidlich  erhalten 
sind,  uns  der  Augenschein  sofort  die  Art,  wie  sie  wirken  sollten,  vergegen- 
wärtigen kann.  Es  ist  auch  zu  beobachten,  daß  diese  Klausen  sich  weniger  auf 
den  Paßhöhen  sondern  vorwiegend  an  solchen  Stellen  finden,  wo  die  Straße 
eine  Biegung  macht,  besonders  aber,  wo  durch  unwegsame  Höhen  oder  steile 
Abfälle  dicht  neben  der  Straße  eine  Umgehung  ausgeschlossen  erscheint.  Hier 
waren  nun  die  Straße  selbst  und  der  enge  Raum  rechts  und  links  bis  dahin,  wo 
das  natürliche  Hindernis  begann,  hermetisch  durch  eine  hohe  Mauer  abgeschlossen, 
deren  einziger  Durchlaß,  zumeist  ein  starker  Torturm '),  wenn  es  nötig  war,  Tag 
und  Nacht  von  einer  Besatzung  bewacht  wurde,  die  irgend  ein  mächtiger  Gewalt- 
haber daselbst  stationiert  hatte.  Manchmal,  aber  durchaus  nicht  als  Regel,  findet 
sich  dann  auch  noch  neben  der  eigentlichen  Klause  eine  wirkliche  Burg  im 
mittelalterlichen  Sinne. 

Diese  ganze,  nur  an  einzelne  Punkte  angewiesene,  dort  aber  um  so  ener- 
gischer wirkende  Straßenbefestigung  ist  nun  aber  tief  in  dem  Wesen  des  mittel- 
alterlichen Verkehrslebens  begründet,  das  als  Beförderungsmittel  des  Menschen 
fast  nur  das  Reitpferd  kannte.  Solche  Klausen  ließen  daher,  wenn  sie  gut  bewacht 
waren,  nur  wenig  Möglichkeiten,  die  Reise  zweckentsprechend  fortzusetzen;  denn 
bei  den  unentwickelten  Angriffsmitteln  des  Mittelalters  konnten  hier  überhaupt 
nur  größere  Streitkräfte  daran  denken,  Gewalt  zu  brauchen,  während  ein  Um- 
kehren vor  der  Klause,  und  der  Versuch,  etwa  an  einer  benachbarten,  schlechter 
bewachten  Stelle  durchzukommen,  zunächst  ein  recht  unsicheres  und  bei  der 
ganzen  Struktur  der  Gebirgswege  jedenfalls  sehr  zeitraubendes  Unternehmen 
bedeuten  mußte.  Der  am  nächsten  liegende  Ausweg  aber,  derjenige,  eine  solche 
Klause  auf  Fußpfaden,  die  es  überall  giebt,  zu  umgehen,  war  nur  möglich,  wenn 

')  Vgl.  Oe.  I.  S.  204. 


Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge.  77 

der  Reiter  sich  von  seinem  Pferde  trennte,  und  er  lag  daher  schon  deshalb  dem 
Mittelalter  fern,  wie  ja  tatsächlich  erst  die  selbständige  Kampfesweise  des  Fuß- 
volks auch  die  Wirkung  jener  mittelalterlichen  Befestigungen  je  länger  je  mehr 
herabgemindert  hat. 

Wie  wenig  überhaupt  jene  Zeiten  sich  zu  Fuß  oder  zu  Wagen  bewegten, 
und  welche  Schwierigkeiten  für  den  damaligen  Reisenden  der  Verlust  seines 
Reitpferdes  bedeutete,  dafür  mögen  zunächst  zwei  in  den  Alpen  selbst  spielende 
Vorfdlle  als  Beispiel  dienen.  Im  J.  U93  wurden  der  Kardinallegat  Cincius  und 
seine  Begleiter  auf  der  Reise  nach  Italien  auf  dem  Septimer  von  einem  Ritter 
von  Marmels  ihrer  Habe  und  Pferde  beraubt,  jedoch  nur  der  Legat  allein  gefangen 
weggeführt.  Aber  auch  den  übrigen  konnte  es  jetzt  gar  nicht  mehr  einfallen, 
die  lange  Reise  fortzusetzen,  sondern  sie  kehren  einfach  wieder  nach  Chur  zurück 
und  erst,  nachdem  sie  dort  sämtlich  ihre  Pferde  wiedererlangt  haben,  geht  es  von 
neuem  weiter ').  Im  J.  1026  aber,  als  der  Bischof  Bruno  von  Toul  aus  der  Lombardei 
nach  Deutschland  reiste  und  auf  diesem  Wege  am  Gr.  S.  Bernhard  gewaltsam  fest- 
gehalten werden  sollte,  gelang  es  diesem  selbst  wohl  glücklich  durchzukommen; 
zwei  seiner  Begleiter  wurden  dagegen  gefangen,  und  zwar  nur  deshalb,  weil  sie 
sich  nicht  entschließen  konnten,  rechtzeitig  ihre  übermüdeten  Pferde  in  Stich  zu 
lassen  2).  Auch  die  Waren  wurden  im  Mittelalter  nur  auf  Saumpferden  über  das 
Gebirge  transportiert -*),  und  selbst  der  ärmste  nach  dem  Heiligen  Lande  ziehende 
Pilger  verließ  den  Rücken  dieses  Tieres  erst  kurz  bevor  er  das  Schiff  bestieg; 
infolgedessen  war  Mestre  bei  Venedig  der  Ort  eines  lebhaften  Pferdehandels''), 
wie  überhaupt  dieser  Handelsartikel  damals  eine  besonders  große  Rolle  spielte 
und  die  Pferde  daher  auch  in  allen  Zollkatalogen  angeführt  werden;  so  ver- 
zeichnen allein  die  Zollstellen  am  Gr.  S.  Bernhard  für  das  J.  1283  auf  1284  die 
Durchfuhr  von  nicht  weniger  als  2225  gewöhnlichen  und  99  englischen  Pferden-"'). 

Es  sind  uns  nun  auch  genug  Vorfälle  überliefert,  die  uns  ebensosehr  das 
Leben  und  Treiben  an  jenen  Klausen  veranschaulichen  wie  die  Vorteile  und 
Nachteile  derselben  vergegenwärtigen  können.  So  fand,  wie  eben  gesagt,  jener 
Bischof  von  Toul,  übrigens  der  spätere  Papst  Leo  IX.,  an  der  Linie  des  Gr. 
S.  Bernhard  bereits  von  Ivrea  aus  alle  Vorkehrungen  getroffen,  um  seinen  Durch- 
zug zu  verhindern.  Um  sein  Ziel  trotzdem  zu  erreichen,  griff  er  zweimal  hinter- 
einander zu  derselben  List,  indem  er  allein  als  einfacher  Reisender  seinen  Be- 
gleitern vorauseilte  und  so  die  Wachen  täuschte,  die  den  Kirchenfürsten  erst 
unter  dem  nachrückenden  Haupttrupp  vermuteten.  Der  Kanzler  Heinrichs  IV., 
Oger  von  Ivrea,  den  der  Kaiser  im  J.  1093  von  Italien  nach  Deutschland  sendete 
und  der  gleichfalls  den  Weg  über  den  Gr.  S.  Bernhard  einschlagen  wollte,  wurde 
dagegen  an  derselben  Stelle  einfach  von  den  Gegnern  des  Kaisers  abgefangen''). 
Man  sieht  also  hieraus,  daß,  wenn  jene  Straßensperren  richtig  funktionieren  sollten, 

')  Oe.  II.  S.  200.  2)  Oe.  I.  S.  251.  ^)  W.  P.  S.  31.  ^)  Oe.  II.  S.  245;  Vgl.  Ga.  S.  120. 

f)  Schu.  S.  150,  482.        6)  Oe.  I.  S.  252. 


78  VI.  Kapitel. 

einesteils  strenge  Wachsamkeit  Vorbedingung  war,  besonders  aber  auch,  daß  die 
Besatzungen  in  jenen  Klausen  genau  instruiert  sein  mußten,  wen  sie  durchzulassen 
hatten  und  wen  nicht,  und  daß  die  Schwäche  jener  Vorrichtungen  in  der  Schwierig- 
keit bestand,  in  jedem  Fall  richtig  zwischen  Bande  und  Konterbande  zu  unter- 
scheiden. 

Ein  weiterer  Zustand,  der  auf  die  Handhabung  dieser  Klausen  nur  ungünstig 
einwirken  konnte,  war  in  den  unsicheren  Machtverhältnissen  begründet,  wie  sie 
das  ganze  Mittelalter  hindurch  in  der  Reichsregierung  vorherrschten.  Da  die 
mächtigen  und  weniger  mächtigen  Vasallen,  denen  die  Besetzung  der  Klausen 
oblag,  oft  genug  im  Zweifel  waren,  welchem  Machthaber  in  der  nächsten  Zukunft 
die  Herrschaft  zufallen  werde,  und  da  jene  deshalb  auch  selbst  oft  genug  die 
Partei  wechselten,  so  mußte  sich  diese  Unsicherheit  auch  auf  deren  eigene  Maß- 
regeln und  so  auch  auf  die  Besatzungen  in  den  Klausen  übertragen.  Aus  dem- 
selben Grunde  konnte  es  außerdem  auch  nicht  selten  geschehen,  daß  die  Zweck- 
mäßigkeit irgendwelcher  an  den  Klausen  ergriffener  Maßregeln  unmittelbar  darauf 
durch  die  Ereignisse  in  das  Gegenteil  verkehrt  wurde. 

Auch  für  diese  Zustände  sind  zwei  Ereignisse  charakteristisch,  die  sich  an 
der  Brennerstraße  abgespielt  haben.  Etwa  im  J.  944  versuchte  Berengar  II.  von 
Ivrea  aus  Deutschland  nach  Italien  zurückzukehren.  Er  nahm  dazu  zunächst  den 
Weg  durch  das  Vintschgau '),  wurde  dann  aber,  als  er  bei  Bozen,  also  an  der 
Nordgrenze  Italiens  angelangt  war,  bei  der  Burg  Formicar  (Sigmundskron),  die 
an  der  dortigen  Straßenbiegung  liegt,  nicht  weiter  vorwärts  gelassen.  Der  Be- 
fehlshaber der  Festung  selbst  war  ein  Kleriker,  der  hier  aber  nicht  auf  eigene 
Hand  sondern  im  Auftrage  des  Bischofs  Manasse  von  Trient  handelte.  An  einen 
gewaltsamen  Durchbruch  war  für  Berengar  nicht  zu  denken,  aber  es  gelang  ihm 
trotzdem,  sich  dadurch  den  Weg  frei  zu  machen,  daß  er  für  später  d.  h.  in  dem 
Falle,  wenn  er  die  Krone  Italiens  für  sich  glücklich  erobert  haben  würde,  ebenso 
dem  Befehlshaber  von  Formicar,  wie  dem  Bischof  von  Trient  selbst  Bischofssitze, 
jenem  den  in  Como,  diesem  aber  den  erzbischöflichen  Sitz  in  Mailand  in  Aus- 
sicht stellte.  Man  sieht  also,  wie  stark  damals  die  Unsicherheit  der  Macht- 
verhältnisse, die  Erwägung,  daß  Berengar  möglicherweise  die  Zukunft  in  Italien 
gehören  könne,  auf  die  Entschlüsse  jener  eingewirkt  hat. 

Ein  nicht  weniger  bezeichnender  Vorfall  dieser  Art  ereignete  sich  auch  1106, 
gleichfalls  in  Südtirol  2).  Damals  schickte  Heinrich  V.  kurz  vor  dem  Tode  seines 
Vaters  eine  ganze  Anzahl  deutscher  Bischöfe  über  die  Alpen  nach  Rom,  um  dort 
die  Klage  gegen  Heinrich  IV.  zu  führen.  Jene  Gesandten  reisten  nun  auch 
ungehindert  auf  verschiedenen  Wegen  durch  das  Gebirge  und  trafen  sich  zunächst 
in  Trient,  das  ihnen  zum  Sammelpunkt  angewiesen  war.  Hier  angelangt  wurden 
sie  dann  aber  plötzlich  im  Auftrage  des  alten  Kaisers  von  einem  Grafen  Adalbert, 
wahrscheinlich  von  dem  Grafen  im  Vintschgau,  dem  Ahnherrn  der  alten  Grafen 
>)  Oe.  I.  S.  216.        2)  Oe.  II.  S.  229. 


Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge.  79 

von  Tirol,  festgenommen.  Dieser  Machthaber  war  demnach  entweder  von  Anfang 
an  mit  Heinrich  IV.  im  Einverständnis  gewesen  und  hatte  jene  nur  deshalb  durch 
das  Gebirge  gelassen,  um  sie  dann  desto  sicherer  aufzuheben,  oder  er  hatte  selbst 
inzwischen  die  Partei  gewechselt.  Jene  Gefangenen  gelangten  dann  aber  trotzdem 
bald  wieder  in  Freiheit,  weil  nunmehr  der  Herzog  von  Bayern,  Weif  V.,  ein 
Anhänger  des  jungen  Kaisers,  mit  jener  schonungslosen  Energie,  die  den  bayrischen 
Weifen  gegenüber  den  tiroler  Dynasten  immer  eigen  gewesen  ist,  persönlich  gegen 
Adalbert  einschritt,  mit  starker  Hand  die  in  Tirol  gelegenen,  im  Besitz  Adalberts 
befindlichen  Klausen  durchbrach,  jene  Gesandten  befreite  und  auch  in  Trient 
selbst  die  Ordnung  zu  Gunsten  Heinrichs  V.  herstellte,  —  alles  Vorgänge,  die 
in  ihrem  Verlauf  so  deutlich  wie  nur  möglich  die  Unsicherheit  der  Macht- 
verhältnisse jener  Zeiten  widerspiegeln,  wodurch  auch  die  Herrschaft  an  jenen 
Klausen  bald  in  diese,  bald  in  jene  Hand  überging. 

Derartige  Befestigungen  nun,  die  im  Mittelalter  die  Bestimmung  solcher 
Klausen  erfüllten,  bestanden  in  den  Alpen  am  Gr.  S.  Bernhard,  zunächst  ober- 
halb S.  Remy,  wo  das  Tal  durch  eine  Mauer  abgeschlossen  war'),  und  südlich 
in  Bard,  dessen  Befestigungen  im  elften  Jahrhundert  errichtet  wurden.  Weiter 
östlich  finden  wir  in  Bellinzona  mit  seinen  drei,  durch  Mauern  mit  einander 
verbundenen  Burgen,  die,  wie  heute  noch  erkenntlich,  einst  das  Tal  völlig  ab- 
schlössen, eine  spätmittelalterliche  Klause  im  größten  Maßstabe.  Im  Prättigau 
lag  zwischen  Lanquart  und  Seewis  die  Klus  neben  der  Feste  Fragstein  und  im 
Wallgau  eine  Klause  westlich  Feldkirch^).  Eine  echt  mittelalterliche  Klause  ist 
auch  Altfinstermünz,  das  im  Gegensatz  zu  Neufinstermünz  tief  in  die  enge  Wald- 
schlucht eingezwängt  ist,  und  das  auch  in  den  churrätischen  Urkunden  häufig 
einfach  nur  clusa  genannt  wird  3).  Nördlich  der  altberühmten  Berner  Klause  be- 
gegnen wir  der  gleichfalls  sehr  alten  Salurner  Klause  mit  der  Haderburg  darüber, 
westlich  am  stillen  Idrosee  den  clusae,  quae  ad  civitatem  Brixiam  transmittunt, 
d.  h.  der  Klause  von  Lodrone  und  östlich  am  schluchtartigen  Eingang  des  Sugana- 
tales  jener  Feste  Covel,  die  dadurch  einzig  in  ihrer  Art  war,  daß  der  Zugang 
zu  ihr  nicht  einmal  durch  einen  schmalen  Fußsteig,  sondern  nur  durch  einen 
Aufzug  bewerkstelligt  werden  konnte.  Zu  den  großen  südlichen  tiroler  Klausen 
gehört  dann  aber  vor  allem  auch  das  erst  im  späteren  Mittelalter  recht  zur  Be- 
deutung gelangte  Peutelstein,  einstmals  ein  gewaltiger  Bau,  der  aus  dem  Gebirgs- 
wald  heraus  die  von  Italien  in  schnurgerader  Linie  herankommende  Straße  auf 
stundenweite  Entfernung  überblicken  konnte. 

Ein  wahres  Labyrinth  solcher  Klausen,  ein  Gebiet,  das  mit  diesen  Fangarmen 
einst  fast  völlig  überzogen  war,  muß  nun  aber  das  südliche  Innertirol  gewesen 
sein,  und  dies  aus  keinem  anderen  Grunde,  weil  schließlich  fast  alle  von  Norden 
kommenden  Alpenwege  des  heutigen  Tirols  keiner  anderen  Stelle  zustreben  als 
derjenigen,  wo  der  Eisak  mit  der  Etsch  zusammenfließt.  Hier  lag  zunächst  am 
')  Schu.  S.  5.        2)  Oe.  11.  S.  256.        3)  Oe.  II.  S.  191. 


80  VI.  Kapitel. 

südlichen  Ende  der  Jaufenstraße  die  Klause  Ortenstein  in  Meran,  während  als 
Falle  für  die  aus  dem  Vintschgau  Herankommenden  der  bei  Terlan  liegende 
Weiler  Klaus  mit  der  Feste  Neuhaus  darüber  zu  dienen  hatte,  gleichfalls  ein 
besonders  bezeichnender  Punkt,  weil  jene  Straßenbiegung  einst  auf  der  einen 
Seite  von  der  steilen  Bergwand,  auf  der  anderen  aber  von  den  Sümpfen  der 
Etsch  eingeschlossen  war')-  Südlich  Bozen  selbst  aber,  am  Virglberge,  lag  ein 
anderer  typischer  Klausenapparat,  von  dem  heute  freilich  jede  Spur  verschwunden  ist, 
hier,  wo  auf  der  Höhe  die  Burg  Weineck  stand,  von  der  aus  sich  eine  feste  Mauer 
mit  dem  nötigen  Torturm  bis  zur  Straße  hinabzog  2).  Auch  nördlich  dieser  Stadt, 
vor  dem  Ausgang  des  Sarntales  finden  sich  ähnliche  Anzeichen^).  Die  wichtigste 
Klause  an  der  Brenrierstraße  selbst  blieb  aber  doch  die  Sebener  Klause,  eben 
das  heutige  Klausen,  während  weiter  nördlich  die  Einmündung  der  Pustertallinie 
in  jene  Straße  von  der  Brixener  und  der  Mühlbacher  Klause  bewacht  wurde, 
die  beide  heute  noch  in  umfangreichen  Ruinen  sichtbar  sind.  Die  nördlichen 
Eingänge  Tirols  wurden  von  der  Bregenzer-,  der  Ehrenberger-  und  der  Klause 
bei  Kufstein  beherrscht,  von  denen  übrigens  die  erste  und  die  letztere  ganz  das 
gleiche  Aussehen  haben,  weil  hier  nur  an  der  einen  Seite  der  Berg,  an  der 
anderen  Seite  aber  der  Wasserspiegel  den  Straßenraum  einengt. 

Auch  im  Berchtesgadener  und  Salzburger  Land,  deren  Abgeschlossenheit 
nach  allen  Seiten  hin  auch  durch  den  Bau  des  Gebirges  begünstigt  wird,  konnte 
sich  jenes  mittelalterliche  Absperrungssystem  an  den  wenigen  Pforten,  die  hier 
die  Natur  gelassen  hat,  besonders  betätigen.  Ein  Zeugnis  hiervon  sind  die  alten 
Befestigungen  am  Hirschbühel  und  vor  allem  am  Paß  Hallthurm,  wo  noch  heute 
eine  grob  gebaute  aber  ausgedehnte  Mauer  quer  durch  den  Hochwald  sich  hin- 
zieht. Im  Salzburger  Land  bezeichnen  dagegen  der  Klammpaß  mit  der  Ruine 
Klammstein  (Gasteiner  Tal),  die  Befestigungen  am  Paß  Strub,  der  an  der  engsten 
Stelle  kaum  13  m  breite  Paß  Lueg  an  der  Salzach,  der  schon  im  vierzehnten 
Jahrhundert  stark  befestigt  war,  und  das  alte  Klausentor  in  Salzburg  selbst  ein 
vollständig  entwickeltes  mittelalterliches  Klausensystem.  In  den  Ostalpen,  wo  wir 
übrigens  für  den  geographischen  Begriff  der  Klause  auch  dem  Namen  Klamm 
begegnen,  wo  diese  Erscheinung  aber  überhaupt  infolge  der  breiten  und  langen 
Gebirgstäler  seltener  angetroffen  wird,  ist  noch  die  Lienzer  Klause,  die  Klause 
an  der  Pontebbastraße  (Chiusaforte),  die  Klamm  am  Semmering  und  für  ein 
Nebengebiet  die  Klause  bei  Mödling  zu  nennen. 

Wenn  wir  später  der  Geschichte  der  einzelnen  Alpenstraßen  nachgehen 
werden,  wird  es  sich  überall  herausstellen,  daß  sich  das  Mittelalter  zunächst  vor- 
wiegend in  den  von  den  Römern  angelegten  Bahnen  bewegt  und  jedenfalls  stets 
nur  langsam  und  zögernd  neue  Linien  eröffnet  hat.  Um  so  seltener  findet  sich 
dagegen  ein  Anhalt,  daß  den  Punkten,  wo  diese  Epoche  ihre  Straßenbefestigungen 
anlegte,   auch   schon   von    den   Römern    eine    militärische   Wichtigkeit    beigelegt 

')  Atz.  S.  314.        2)  Atz.  S.  12.         3)  Atz.  S.  197;  N.  A.  S.  99. 


Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge.  81 

worden  wäre.  Wirkliche  Feldzüge,  kriegeriscine  Bewegungen  großen  Stiles  sind 
während  des  Mittelalters  niemals  in  die  Berge  gedrungen,  und  erst  seit  den 
Freiheitskriegen  der  Schweizer  kann  man  wieder  von  eigentlichen  kriegerischen 
Operationen  in  den  Alpen  reden.  Wenn  wir  nun  aber  sehen,  wie  auch  in  der 
neueren  Zeit,  bei  den  großen  Alpenfeldzügen,  gerade  jene  damals  zumeist  schon 
halbverfallenen  mittelalterlichen  Klausen  mit  Vorliebe  die  Heeresbewegungen  an 
sich  ziehen  und  zu  Brennpunkten  des  Kampfes  werden,  so  ist  dieses  gewiß  kein 
schlechtes  Zeichen  für  den  praktischen  Blick,  den  das  Mittelalter  bei  der  Aus- 
wahl jener  Punkte  entwickelt  hat'). 

Unter  Römerzügen  versteht  der  geschichtliche  Sprachgebrauch  heute  samt-  Anzahl,  Dauer 
i-tf-..  j        w^-    ■        j        r^i  .1  jj         j  L  tT  1  j       und  Richtung 

liehe  Reisen  der  Konige  des  Frankenreiches  und  der   deutschen    Herrscher   des  der 

Mittelalters  zwischen  Italien  und  den  Ländern  nördlich  der  Alpen,  also  nicht  Römerzüge, 
bloß  die  eigentlichen  Römerzüge,  bei  denen  Rom  und  die  Krönung  daselbst 
durch  den  Papst  der  Zweck  und  das  Ziel  der  Reise  waren 2).  Wir  wissen  im 
ganzen  von  etwa  144  solchen  Zügen,  74  Zügen  aus  dem  Norden  nach  Italien 
und  70  in  umgekehrter  Richtung,  die  sich  über  einen  Zeitraum  von  genau  sieben 
Jahrhunderten  erstrecken,  wenn  als  der  erste  derselben  der  Zug  Pippins  im 
J.  754  nach  Italien  und  als  letzter  die  Rückkehr  Friedrichs  III.  im  J.  1452  ange- 
sehen wird.  Läßt  man  nun  aber  die  17  Römerzüge  seit  dem  Untergange  der 
Hohenstaufen  ganz  weg,  da  diesen  im  Vergleich  zu  den  vorangegangenen  eine 
viel  geringere  geschichtliche  Schwerkraft  innewohnte,  so  wird  jenes  Bild  noch 
viel  eindrucksvoller;  denn  auf  diese  Weise  bleiben  dann  für  ein  halbes  Jah«"- 
tausend  etwa  125  Römerzüge  übrig,  an  sich  schon  eine  stattliche  Anzahl,  nach 
der  demnach  während  jener  Zeit  auf  jedes  vierte  Jahr  eine  solche  Alpenüber- 
schreitung fällt.  Außerdem  kann  aber  auch  der  Umstand,  daß  einige  dieser 
Züge  nur  ganz  andeutungsweise  überliefert  sind,  und  der  besondere  Fall,  daß 
Friedrich  II.  im  J.  1242  wahrscheinlich  einmal  heimlicherweise  von  Italien  nach 
Deutschland  gekommen  und  von  dort  wieder  zurückgekehrt  ist,  auf  den  Gedanken 
führen,  daß  uns  einige  wenige  solcher  Züge  möglicherweise  überhaupt  nicht 
bekannt  geworden  sind,  und  daß  man  daher  bei  jener  Zahl  eher  zu  niedrig  als 
zu  hoch  gegriffen  haben  wird.  Aber  auch  sonst  sind  fast  alle  jene  Römerzüge 
hinsichtlich  ihres  örtlichen  Verlaufes  innerhalb  des  Gebirges  ein  Gebiet,  das 
mit  allen  seinen  farbenprächtigen,  wechselvollen  Bildern  zum  größten  Teil  in 
das  Meer  der  Vergessenheit  versunken  ist  und  von  dem  nur  noch  einzelne  inte- 
ressante Bruchstücke  in  die  Gegenwart  heraufragen.  Trotzdem  bietet  selbst  das 
wenige,  was  erhalten  ist,  auch  heute  der  Forschung  ganz  lohnende  und  noch 
lange  nicht  erschöpfte  Aufgaben^). 

Dieser  Tatbestand  wird  sofort  klar  werden,  wenn  wir  nach  demjenigen 
fragen,  was  uns  bei  diesen  Römerzügen  am  meisten  interessieren  muß  d.  h. 
danach,  über  welche  Alpenpässe  die  Herrscher  in  Person  gezogen  sind.  Genauere 

I)  Vgl.  Anh.  10.         2)  Vgl.  Oe.  II.  S.  304f.         ^)  Vgl.  Anh.  11. 

Scberfel,  Vcrkehrsgeschichle  der  Alpen.    2.  Band.  Q 


82  VI.  Kapitel. 

Resultate  dieser  Art  könnten  hier  freilich  nur  dann  erzielt  werden,  wenn  man 
die  Vergangenheit  sämtlicher  Pässe,  aber  jeden  Paß  ganz  im  einzelnen,  rück- 
sichtlich der  Römerzüge  untersucht,  die  für  denselben  überhaupt  in  Frage  kommen 
könnten,  ein  Verfahren,  für  das  bis  jetzt  freilich  nur  für  zwei  Pässe,  für  den 
BrennerpaO  und  den  Pontebbapaß  Beispiele  vorliegen ').  Bei  dieser  Unter- 
suchung hat  sich  nun  aber  ganz  klar  herausgestellt,  daß  die  Zahl  der  Römer- 
züge, die  man  ganz  zweifelsfrei  auf  einen  jener  Übergänge  verlegen  kann,  ver- 
schwindend klein  ist  im  Vergleich  zu  denjenigen,  bei  denen  für  diese  Tatsache 
bloß  die  größere  oder  geringere  Wahrscheinlichkeit  vorhanden  ist.  So  sind  es 
von  den  45  Römerzügen,  die  seit  den  Zeiten  Ottos  I.  bis  zum  Ende  des  Mittel- 
alters überhaupt  übet'  den  Brenner  gegangen  sein  können,  im  ganzen  doch  nur 
12,  die  sich  in  jene  enge  räumliche  Gabel  einfügen  lassen,  wo  eine  wirkliche 
Gewißheit  für  die  Benutzung  jenes  berühmten  Passes  vorliegt,  während  bei 
weiteren  15  Zügen  nur  die  größere,  bei  anderen  10  eine  geringere  Wahrschein- 
lichkeit, bei  den  letzten  8  dagegen  lediglich  nur  eine  Art  von  Möglichkeit  für 
jenen  Fall  zugegeben  werden  kann  2).  Dieser  Befund  deutet  aber  zur  Genüge 
das  Resultat  an,  das  in  dieser  Hinsicht  auch  anderen  gleichartigen  Unter- 
suchungen bevorstehen  würde. 

Der  Hauptgrund  jener  Schwierigkeiten  liegt  aber  nun  nicht  allein  in  der 
Lückenhaftigkeit  sondern  auch  in  der  Unklarheit  der  Überlieferung,  wie  sie 
durch  einen  Sprachgebrauch  des  Mittelalters  bedingt  ist.  Dieser  besteht  darin, 
daß  jenes  Zeitalter  im  Gegensatz  zu  dem  Altertum  und  ebenso  auch  zu  der 
neuen  Zeit  die  über  den  Alpenkamm  führenden  Wege  niemals  nach  den  eigent- 
lichen Paßhöhen  sondern  gewöhnlich  nur  ganz  summarisch  bezeichnete,  im  besten 
Falle  nach  Städten,  die  man  betreten  hatte,  gewöhnlich  aber  nach  den  Tälern, 
die  man  bei  der  Reise  zuerst  oder  zuletzt  im  Gebirge  durchziehen  mußte.  Es 
ist  dies  ein  Verfahren,  das  deshalb  der  Unsicherheit  so  großen  Raum  läßt,  weil 
jene  Austritts-  oder  Eintrittsrouten  sich  stets  nur  als  Sammelrinnen  verschiedener 
Übergangswege  über  das  Hochgebirge  darstellen,  die  geschlossen  nach  ihnen 
zusammenführen  oder  strahlenförmig  von  ihnen  auseinandergehen.  Der  Bau  der 
Alpen  bringt  es  weiter  mit  sich,  daß  diese  engen  und  langen  Täler  selbst  zu- 
meist an  der  Südseite  des  Gebirges  gelegen  sind,  während  der  Grund  für  jene 
Ausdrucksweise  wohl  nur  in  der  Art  zu  suchen  ist,  wie  das  Mittelalter  über- 
haupt seinen  Einfluß  auf  die  Beherrschung  der  Alpenlinien  geltend  zu  machen 
pflegte,  da  vorwiegend  in  solche  Täler  auch  jene  Straßenbefestigungen  eingelassen 
waren,  deren  Passierung  allein  über  die  Möglichkeit  entschied,  den  Übergang 
über  das  Gebirge  erfolgreich  zu  bewerkstelligen. 

So  kann  zunächst  bei  einem  Marsche  durch  das  Tal  von  Susa  (per  vallem 
Segusianam,  Susianam),  wie  damals  das  Tal  der  Dora  Riparia  genannt  wurde, 
ebensogut  ein  Weg  über  den  Mont  Cenis  wie  ein  solcher  über  den  Mont  Genevre 

1)  W.  u.  W.  P.         2)  w.  S.  80 f. 


Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge.  S3 

vorangegangen  oder  gefolgt  sein,  wenn  auch  die  gleichfalls  häufig  gebrauchte 
Bezeichnung  per  vallem  Maurianam  (per  Maurianae  comitatum)  den  Weg  über 
das  heutige  S.Jean  de  Maurienne  auf  französischer  Seite  anzeigt,  und  in  diesem 
Fall  allerdings  über  die  Wahl  der  Mont  Cenis-Straße  kein  Zweifel  übrig  bleibt')- 
Der  Weg  per  vallem  Augustanam  bedeutet  weiter  nichts  anderes  als  den  durch 
das  Tal  von  Aosta,  der  also  ebensowohl  bei  einem  Übergang  über  den  Großen 
wie  über  den  Kl.  S.  Bernhard  eingeschlagen  werden  mußte.  Wenn  der  Weg 
durch  Bünden  genommen  wurde,  so  findet  dies  seinen  Ausdruck  durch  die 
Worte  per  Curiam  oder  per  Cumanum  lacum-),  wobei  jedoch,  wenn  Chur  ge- 
nannt wird,  sämtliche  Übergänge  vom  Lukmanier  bis  Julier  und  wenn  der  Weg 
über  den  Comersee  führte,  immer  noch  die  Wahl  zwischen  Splügen,  Septimer 
und  Julier  im  unklaren  bleibt.  Der  Weg  über  den  Brenner  hieß  der  Weg  durch 
das  Trienter  Tal,  in  das  jedoch  nicht  nur  der  Brenner  selbst  sondern  ebenso 
auch  die  im  Mittelalter  viel  begangenen  Wege  über  die  Maiser  Haide  und  den 
Jaufen  einmünden;  zuweilen  finden  sich  hier  auch  die  Worte  per  Alpes  Noricas, 
was  aber  auch  zu  keiner  größeren  Sicherheit  führt,  da  dies  eben  nur  durch  Tirol 
bedeutet.  Und  wenn  die  Pontebbastraße  im  Mittelalter  als  der  Weg  durch  den 
Canal  bezeichnet  wurde,  so  blieben  damit  doch  alle  die  Anlaufwege  ungenannt, 
die  nördlich  von  den  Ostalpen  her  in  jene  Rinne  einmünden. 

Aber  selbst  aus  dieser  Ausdrucksweise  läßt  sich,  da  sie  in  jedem  Falle 
wenigstens  ganz  bestimmte  Faßgruppen  sicherstellt,  ein  geschichtlich  wertvolles 
Bild  über  die  Auswahl  der  Alpenübergänge  gewinnen,  wie  sie  im  Laufe  der 
Jahrhunderte  durch  die  deutschen  Herrscher  stattgefunden  hat.  Sämtliche  für 
die  Römerzüge  in  Frage  kommenden  Alpenüberschreitungen  gliedern  sich  zu- 
nächst in  vier  Gruppen,  von  denen  die  erste  durch  die  Züge  über  die  Westalpen 
und  den  Gr.  S.  Bernhard,  die  zweite  durch  diejenigen  durch  Bünden,  die  dritte 
dann  durch  diejenigen  über  den  Brenner  und  dessen  Nebenlinien,  und  die 
vierte  schließlich  durch  die  über  die  Ostalpen  gegangenen  Römerzüge  gebildet 
wird.  Innerhalb  dieser  vier  Gruppen  entfallen  nun  aber  —  eine  Zusammen- 
stellung, bei  der  freilich  die  einzelnen  Zahlen  nur  den  Anspruch  auf  Wahr- 
scheinlichkeit machen  können  —  auf  die  Westalpen  35  Züge  (Gr.  S.  Bernhard  21, 
die  westlichen  Übergänge  14),  auf  die  bündner  Pässe  insgesamt  nur  21,  auf  das 
Brennergebiet  dagegen  ganze  66  und  auf  die  Straßen  der  Ostalpen  etwa  11  Züge. 
Schon  dieses  Verhältnis  zeigt  also  ganz  klar,  daß  die  Römerzüge  vorwiegend 
über  die  Mittelalpen  gegangen  sind.  Noch  deutlicher  wird  aber  diese  auf  natür- 
lichen Ursachen  beruhende  Abwandlung,  wenn  man  die  Jahrhunderte  zum  Ver- 
gleich heranzieht,  in  die  jene  Züge  durch  die  Mittelalpen  selbst  fallen.  Denn 
von  den  35  Zügen  durch  die  Westalpen  haben  die  Karolinger  von  Pippin  bis 
Arnulf  allein  24  unternommen,  und  nur  der  weitaus  kleinere  Teil  dieser  Züge 
fällt  daher  in  die  späteren  Zeiten.     Die  Pässe  der  eigentlichen  Mittclalpen  waren 

')  Oe.  I.  S.  195 f.        2)  Oe.  11.    S.  198. 
6» 


84  VI.  Kapitel. 

demnach  ganz  vorwiegend  in  der  Zeit  von  den  Sachsenkaisern  bis  einschließlich 
der  Hohenstaufen  in  Gebrauch,  eine  Erscheinung,  wie  sie  bei  der  natürlichen 
Lage  des  damaligen  römisch-deutschen  Reiches  auch  nicht  anders  zu  erwarten 
ist,  während  die  außergewöhnliche  Benutzung  ebensowohl  eines  durch  die  West- 
alpen wie  durch  die  Ostalpen  führenden  Überganges  innerhalb  jenes  Zeitraumes 
stets  auch  auf  eine  ganz  besondere  Veranlassung  schließen  läßt,  die  man  zumeist 
auch  heute  noch  deutlich  erkennen  kann. 
Die  Stärke  Wenn  wir  die  Anzahl  der  deutschen  Krieger  betrachten,  die  nun  bei  einem 

der  I~l£6rc 

■  solchen  Römerzug  über  die  Alpen  nach  Italien  in  Marsch  gesetzt  wurden,  eine 
Anzahl,  in  der  somit  die  bei  jenen  Unternehmungen  aufgewendete  Kraftäußerung 
in  erster  Linie  zum  Ausdruck  kommt,  so  ist  dabei  zunächst  jene  das  Kriegswesen 
des  Mittelalters  charakterisierende  Tatsache  zu  berücksichtigen,  daß  man  auch 
damals,  ebenso  wie  im  Altertum,  grundsätzlich  zwischen  zwei  verschiedenen 
Arten  von  Kriegern,  diesmal  zwischen  den  schwerbewaffneten  Reitern  und  den 
zu  diesen  gehörigen  Knappen  und  Pferdepflegern  unterschied.  Der  eigentliche 
Wert  der  Heere  aber  wurde  allein  nach  der  vorhandenen  Anzahl  der  ersten 
Gattung,  der  Ritter,  bestimmt,  die  stets  mindestens  in  derselben  Höhe  von  den 
anderen,  gleichfalls  berittenen  Bedienten  begleitet  waren').  Es  ist  weiterhin  be- 
kannt, daß  man  gut  tut,  den  Zahlenangaben  der  mittelalterlichen  Quellen  stets 
mit  einiger  Vorsicht  zu  begegnen,  da  sie  nur  in  den  seltensten  Fällen  genau, 
zumeist  aber  viel  zu  hoch  gegriffen  sind.  Man  wird  daher  der  Wirklichkeit 
nahekommen,  wenn  man  die  Stärke  eines  zu  einem  solchen  Römerzug  aufgebotenen 
Heeres  etwa  auf  zehn,  zuweilen  auch  bis  auf  fünfzehn  Tausend  kampffähige  Reiter 
nsetzt,  Zahlen,  die  jedoch  nur  für  die  Zeiten  bis  zu  dem  Untergange  der  Hohen- 
staufen Geltung  haben,  als  jene  Heere  wirklich  das  Mittel  sein  sollten,  um  dem 
Willen  der  Herrscher  in  Italien  Geltung  zu  verschaffen.  Die  letzten  Römerzüge 
■waren  dagegen  nichts  anderes  als  Schaustücke,  die  durchweg  mit  einer  viel  ge- 
ingeren  Zahl  von  Kriegern  unternommen  wurden,  und  die  man  kaum  mehr 
militärische  Operationen  nennen  kann.  So  zog  Ludwig  der  Bayer  1327  mit  nur 
100,  Karl  IV  1354  mit  300  Rittern  in  Italien  ein.  Auch  das  verhältnismäßig  große 
Heer  Ruprechts  von  der  Pfalz  von  5000  schweren  Reitern  wurde  sogleich  bei 
dem  ersten  Versuch,  in  Italien  nachdrücklich  aufzutreten,  bei  Brescia  in  das 
Gebirge  zurückgeworfen  2). 
Art  und  £jne  genaue  Betrachtung  des  Verlaufes  der  einzelnen  Römerzüge   läßt  nun 

vcTgigg  der 

Überschreitung  aber  weiterhin  die  Tatsache  hervortreten,  daß  wir  uns  heute  hinsichtlich  der  Art, 

des  Gebirges,  ^{q  diese  angesetzt   und   durchgeführt  worden   sind,  wohl   zumeist   eine   falsche 

Vorstellung  zu  machen  pflegen-    Wenn  wir  meinen,  daß  das  zu  einem  Römerzug 

aufgebotene    Heer   sich  vorher   in    Deutschland   vollzählig  versammelt,   dann   in 

Vorhut,  Haupttrupp  und  Nachhut  geteilt  unter  Führung  des  Herrschers  den  Marsch 

')  So  verlangt  Alberich  (1155)  an  der  Berner  Klause  (O.  F.  S.  175)  von  jedem  Ritter  Panzer  und  Pferd. 
Dies  bedeutet  also  nicht,  daß  nun  jene  sämtlich  hätten  zu  Fuß  weiterziehen  müssen.      2)  Oe.  I  S.  181. 


Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge.  85 

angetreten  und  auf  einem  bestimmten  Gebirgsweg  den  Übergang  über  die  Alpen 
ausgeführt  habe,  so  ist  dieses  eine  Annahme,  die  nur  in  den  seltensten  Fällen 
zutrifft.  Wir  haben  uns  vielmehr  von  der  Art,  wie  sich  solche  Heere  über  die 
Alpen  bewegt  haben,  ein  ganz  anderes  Bild  zu  machen,  eine  Vorstellung,  die  zu 
ihrer  Grundlage  zunächst  nichts  anderes  als  die  mittelalterliche  Art  des  Aufgebots 
nehmen  kann,  das  wiederum  nur  von  dem  damals  alle  Verhältnisse  beherrschenden 
Lehnswesen  bestimmt  wurde.  Die  deutschen  Heere  haben  fast  stets  in  zahlreiche 
verschiedene  Abteilungen  geteilt,  die  von  den  einzelnen  Machthabern  dem  Könige 
zugeführt  wurden,  den  Marsch  nach  Italien  angetreten  und  diesen  auch  auf  ganz 
verschiedenen  Gebirgswegen,  wie  sie  gerade  vom  Ausgangsort  aus  am  bequemsten 
lagen,  konzentrisch  nach  demjenigen  Punkte  jenseits  der  Alpen  hin  ausgeführt, 
wohin  sie  vorher  von  dem  Kaiser  bestellt  worden  waren. 

Außerordentlich  zahlreich  sind  die  Beispiele  für  dieses  Verfahren.  So  be- 
absichtigte im  J.  1065  Erzbischof  Anno  von  Köln  persönlich  über  den  Gr.  S.  Bern- 
hard zu  gehen  und  sich  dann  erst  bei  Verona  mit  dem  übrigen  Heere,  das  zu- 
meist über  den  Brenner  gekommen  war,  zu  vereinigen ').  Auch  bei  dem  dritten 
Zug  Heinrichs  IV.  (1090)  traf  der  Bischof  von  Zeitz  erst  nachträglich  in  Verona 
ein,  nachdem  der  Kaiser  bereits  dort  angelangt  war,  und  im  J.  1110  bei  dem  Zuge 
Heinrichs  V.  rückte  das  Heer  sowohl  über  den  Gr.  S.  Bernhard  wie  über  den 
Brenner^).  Bei  dem  Römerzug  Friedrichs  II.  im  J.  1236  zog  ebenso  Graf  Geb- 
hard  von  Arnstein  mit  500  Söldnern  dem  Kaiser  voraus  und  erwartete  diesen 
in  Verona-');  auch  der  letzte  Staufer  Konradin  sammelte  im  J.  1267  seine  Haufen, 
die  auf  verschiedenen  Wegen  herankamen,  erst  in  Trient.  Besonders  deutlich 
aber  können  wir  in  die  Anlage  jenes  großen  Römerzuges  Friedrich  Babarossas 
hineinblicken,  der  im  J.  1158  dem  Reichstag  auf  den  ronkalischen  Feldern  und 
der  Eroberung  Mailands  voranging.  Damals  rückte  das  Heer  in  vier  Kolonnen 
nach  Italien  hinüber,  auf  Wegen,  wie  sich  diese  gerade  für  die  einzelnen  Ab- 
teilungen als  die  zielgerechtesten  darboten;  so  zogen  bezeichnenderweise  die 
Burgunder  und  Lothringer  unter  Berthold  von  Zähringen  über  den  Gr.  S.  Bern- 
hard; die  drei  anderen  Abteilungen  bewegten  sich  dagegen  über  den  Septimer, 
durch  die  Ostalpen  und  über  den  Brenner.  Bei  der  letzteren  befand  sich  der 
Kaiser  selbst^),  aber  auch  bei  dieser  ging  der  Marsch  keineswegs  geschlossen 
vor  sich.  Voran  zogen  dort  die  Böhmen  unter  Wladislav  11.^),  auch  Friedrichs 
Staatsmänner,  Reinald  von  Dassel  und  der  Pfalzgraf  Otto  waren  damals  dem 
Kaiser  noch  persönlich  vorausgegangen '5).  Auch  bei  der  Rückkehr  Friedrichs 
im  J.  1155  erfahren  wir,  daß  sich  die  einzelnen  Scharen  zum  Teil  bereits  von 
Italien  aus  und  dann  wieder  von  Bozen  aus  zerstreuten "0,  wie  überhaupt  ja  ge- 
rade die  mannigfachen  und  bequemen  über  Tirol  verbreiteten  Übergänge,  die  im 
Süden  zuletzt  sämtlich  in  dem  breiten,  reich  angebauten  Trienter  Tal  zusammen- 

1»  Oe.  I.   S.  184.  2)  Oe.  II.   S.  229.  ^  Oe.  II.   S.  236.  ^)  Ra.  S.  45.  ^)  Oe.  11.  S.  234. 

6)  Ra.  S.  35.        ')  O.  F.  S.  173,  178. 


86  VI.  Kapitel. 

laufen,  für  das  bei  den  Römerzügen  geübte  Verfahren  wie  geschaffen  gewesen 
sind.  Auch  auf  diesen  Umstand  wird  daher  die  häufige  Benutzung  des  Brenners 
durch  die  Herrscher  bei  den  Römerzügen  zurüctczuführen  sein,  während  das 
Bild  der  bündner  Straßen,  die  nördlich  durch  das  Rheintal  und  südlich  nochmals 
durch  die  enge  Rinne  des  Comersees  zusammengeschnürt  werden,  das  direkte 
Gegenteil  hierzu  bildet. 
Die  Jener  Annahme,  daß  die  Heere  der  deutschen  Herrscher  in   geschlossener 

im'^Geblrge^  Masse  die  Alpengegenden  durchzogen  hätten,  mußte  sich  auch  der  Gedanke  um 
so  stärker  aufdrängen,  mit  welchen  Schwierigkeiten  die  Verpflegung  solch'  großer 
Menschenmassen  verbunden  ist,  und  daß  jene  Durchzüge  daher  Jahrhunderte 
hindurch  den  armen  Gebirgsgegenden  schwere  Lasten  aufgelegt  hätten').  Das 
Marschieren  in  einzelnen  kleineren  Abteilungen  bleibt  aber,  sobald  es  überhaupt 
möglich  ist,  eine  in  jeder  Hinsicht  praktischere  und  unschwierigere  Maßregel, 
in  deren  Gefolge  daher  auch  die  Schwierigkeiten  der  Verpflegung,  weil  sie  sich 
über  einen  größeren  Raum  und  über  einen  längeren  Zeitraum  verteilen,  nicht 
derart  gewaltsam  aufzutreten  pflegen.  Auf  Grund  dieser  Tatsache  werden  wir 
daher  jene  Begleiterscheinung  der  Römerzüge  für  das  damalige  Kulturleben  in 
den  Alpen  nicht  allzutiefgehend  einzuschätzen  brauchen,  wie  es  auch  weiterhin 
hierzu  vollkommen  im  Einklang  steht,  daß  derartige  Nachrichten  aus  dem  Mittel- 
alter nur  ganz  vereinzelt  sind.  Allerdings  wird  von  jenem  Vortrupp  der  Böhmen, 
der  dem  Zuge  Friedrichs  I.  voraufging,  berichtet,  daß  diese  schon  von  Regens- 
burg an  wie  in  Feindesland  wirtschafteten,  Vieh  und  Lebensmittel  gewaltsam  weg- 
nahmen, so  daß  in  den  Alpen  dann  die  Bewohner  vor  ihnen  die  Flucht  ergriffen, 
und  daß  dies  wirklich  dann  auch  die  nachrückenden  Abteilungen  zu  fühlen  be- 
kamen. Der  Kaiser  selbst  wußte  damals  diesen  Mißständen  dadurch  abzuhelfen, 
daß  er  durch  seine  Sendboten  die  Bewohner  von  Brixen  und  Trient  veranlaßte, 
die  Märkte  wieder  mit  Lebensmitteln  ;zu  beschicken 2).  Jener  Vorfall  wird  daher, 
schon  weil  er  besonders  erwähnt  wird,  nur  eine  Ausnahme  von  der  Regel  ge- 
wesen sein  und  seine  Ursache  vielmehr  in  jener  Neigung  zu  Plünderung  und 
Unordnung  haben,  die  zu  allen  Zeiten  die  Heere  der  Slaven  ausgezeichnet  hat. 
Noch  ein  anderer  Fall,  gleichfalls  von  einem  Römerzuge  Friedrichs  L,  dem- 
jenigen von  1154,  ist  bekannt,  bei  dem  das  Heer  an  den  engen  Gebirgspassagen 
Mangel  litt  und  infolgedessen  an  einigen  der  Kirche  gehörigen  Besitzungen  gewalt- 
sam vorging-').  Friedrich  selbst  machte  dies  jedoch  damals  sofort  dadurch  wieder 
gut,  daß  er  im  Heere  eine  Geldsammlung  veranstaltete  und  diese,  die  noch  dazu 
reichlich  ausfiel,  den  Bischöfen  von  Brixen  und  Trient  für  die  betroff'enen  Stellen 
zur  Schadloshaltung  überwies,  eine  Maßregel,  die  auf  den  Stand  der  damaligen 
Zivilisation  nur  ein  recht  günstiges  Licht  werfen  kann.  Aber  auch  diese  Vor- 
gänge mögen,  da  sie  das  Interesse  des  gleichzeitigen  Geschichtsschreibers  so 
besonders  herausgefordert   haben,   nur  vereinzelt  gewesen   sein,   und   man   kann 

1)  Vgl.  Oe.  I.  S.  183;  W.  S.  85.         2)  Vgl.  W.  S.  86;  Oe.  II.  S.  234.        3)  O.  F.  S.  134. 


Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge.  87 

gerade  hier  wirklich  auf  den  Gedanl^en  icommen,  daß  dem  jungen  Herrscher 
damals  bei  seinem  ersten  Römerzuge  in  betreff  der  Heeresverpflegung  noch  die 
nötige  Erfahrung  gefehlt  haben  mag').  In  dieses  Kapitel  gehört  auch  die  Tat- 
sache, daß  schon  in  einer  Urkunde  Ludwigs  des  Frommen  vom  J.  829  als  alte 
Gewohnheit  bezeugt  ist,  daß  das  Kloster  Reichenau  die  Mitglieder  des  Herrscher- 
hauses auf  dem  Wege  durch  Konstanz  und  Chur  zu  verpflegen  verpflichtet  war-), 
und  daß  Erzbischof  Anno  von  Köln  (1065)  seine  über  den  Gr.  S.  Bernhard  ge- 
plante Reise  damit  motivierte,  weil  er  auf  der  Brennerstraße  für  Mann  und  Roß 
keinen  Proviant  finden  würde,  alles  Andeutungen,  wie  das  Mittelalter  sich  der 
Schwierigkeiten,  die  im  Gebirge  die  Verpflegung  größerer  Heeresmassen  mit 
sich  bringt,  voll  bewußt  war  und  denselben  nicht  unzweckmäßiger  als  andere 
Zeiten,   nur   nach   seiner  Weise  begegnet  ist. 

Auch  die  Untersuchungen  über  die  Geschwindigkeit,  mit  der  die  Herrscher  Marsch- 
sich über  die  Alpen  bewegt  haben,  führt  zu  keinen  erstaunlichen  Resultaten,  keu'^un'd"  '^" 
Denn  diese  beträgt  im  Durchschnitt  reichlich  20  km  für  den  Tag-'),  ein  Maß,  Jahreszeiten, 
wie  es  auch  heute  noch  bei  militärischen  Reisemärschen  nicht  anders  üblich  ist, 
und  das  sogar,  da  jene  Märsche  zu  Pferde  zurückgelegt  wurden,  eher  gering 
erscheinen  könnte,  obgleich  diesem  jedoch  wieder  der  Unterschied  zwischen 
Berg  und  Tal  die  Wage  hält,  wie  ihn  gerade  die  Gebirgswege  mit  sich  brachten. 
Wenn  man  aber  ausnahmsweise  einem  anderen  Durchschnitt  begegnet,  so  sind 
dies  zumeist  Fälle,  bei  denen  sich  die  Gründe  hierfür  auch  heute  noch  erkennen 
lassen,  so  z.  B.  bei  dem  Zuge  Lothars  im  J.  1132  (10  km  täglich),  bei  dem  nur 
der  Zustand  des  kranken  Herrschers  die  Veranlassung  gewesen  sein  kann, 
oder  bei  dem  Rückzuge  Friedrichs  I.  (1055,  12  km  täglich),  der,  wie  wir 
wissen,  in  aller  Gemächlichkeit  vor  sich  ging"*).  Auch  bei  der  Betrachtung  der 
Jahreszeiten,  in  denen  die  Römerzüge  ausgeführt  wurden,  enthüllen  sich  keine 
auffallenden  Erscheinungen.  Die  Tatsache,  daß  für  jedes  Reisen  im  Gebirge 
der  Hochsommer  die  günstigste,  das  Frühjahr  dagegen  die  ungünstigste 
Jahreszeit  ist,  hatte  auch  das  Mittelalter  ausprobiert;  so  sagt  Friedrich  L  einmal 
ausdrücklich,  „daß  er  im  Hochsommer,  der  als  die  beste  Zeit  für  die  Heeres- 
bewegungen bekannt  sei,  die  Alpen  überschreiten  wolle"  ^),  obwohl  auch  die 
schlechteste  Jahreszeit  damals  die  menschliche  Energie  niemals  ganz  von  mili- 
tärischen Operationen  im  Gebirge  abgeschreckt  hat.  Römerzüge  während  der 
Wintermonate  sind  daher  durchaus  keine  Seltenheit,  und  selbst  in  den  schlimmsten 
Monaten  haben  solche  stattgefunden;  so  zogen  im  Februar  1116  Heinrich  V., 
und  im  März  1055  und  1081  Heinrich  IM.  bezl.  Heinrich  IV.  über  den  Brenner, 
Weif  der  Jüngere  dagegen  im  März  1167  über  den  Septimer,  wenn  diese  Unter- 
nehmungen auch  in  jedem  Falle  nur  ein  günstiges  Licht  auf  die  Tatkraft  des 
betreffenden  Heerführers  werfen  können. 

>)  W.  S.  85.         2)  Oe.  II.  S.  192.         •»)  W.  S.  17.  ')  W.  S.  96 f.         S)  Oe.  I.  S.  180. 


88  VI.  Kapitel. 

Vereinzelte  Da  die  Römerzüge  infolge  ihrer  Häufigkeit  im  Mittelalter   überhaupt  keiiie 

au/^besonde^s  außerordentlichen  Ereignisse  waren,  und  auch  die  Quellen,   dieser   Erscheinung 

schwierigen  Rechnung  tragend,  diese  als  solche  nur  ganz  kurz  anzuführen  pflegen,  so  kann 
Gebirgswegen.  ^^^  diesem  Befund  keine  andere  Tatsache  heraustreten,  als  daß  jene  Reisen 
zumeist  ganz  glatt  vor  sich  gegangen  sind,  und  daß  daher  auch  damals  die 
Hauptwege  der  Alpen  im  großen  und  ganzen  in  einem  derartigen  Zustand  waren, 
um  dem  starken  Verkehr  zu  genügen,  der  seine  Bahnen  von  Deutschland  nach 
Italien  und  wieder  zurück  suchte.  Auch  wird  weiterhin  ein  Schluß  auf  die 
Brauchbarkeit  und  Begangenheit  der  einzelnen  Alpenstraßen  im  Mittelalter  gerade 
besonders  gut  eben  aus  den  Römerzügen  selbst  zu  ziehen  sein,  da  jene  hohen 
Herren  bei  ihren  Reisen  zunächst  durchaus  keine  Veranlassung  hatten,  andere 
als  nur  ganz  gangbare  Übergänge  zu  wählen.  Falls  aber  ausnahmsweise  die 
Quellen  bei  den  Gebirgsüberschreitungen  die  difficultates  und  ardua  der 
Alpen  besonders  hervorheben,  so  liegt  andererseits  kein  Grund  vor,  daran 
zu  zweifeln,  daß  diesmal  nicht  auch  wirklich  Schwierigkeiten  eingetreten  sind, 
wenn  auch  der  Ausdruck  selbst  nur  unbestimmt  gehalten  ist  und  so  einen  rhe- 
torischen Anstrich  hat.  Der  einzige  Alpenübergang,  bei  dem  Karl  der  Gr.  im 
Gebirge  Schwierigkeiten  fand,  war  sein  erster  Zug  gegen  Desiderius;  aber  auch 
nur  bei  diesem  allein  redet  Einhart  von  den  himmelhohen  Felsen  und  wilden 
Schluchten  und  von  den  Anstrengungen,  die  der  Marsch  durch  das  Gebirge  mit 
sich  gebracht  hat').  Auch  bei  der  Umgehung  der  am  südlichen  Ausgang  des 
Gr.  S.  Bernhard  gelegenen  Befestigungen,  zu  der  sich  Arnulf  im  J.  894  genötigt 
sah,  heben  die  Annalen  von  Fulda  nicht  ohne  Grund  die  Schwierigkeiten  jenes 
steilen  Gebirgsmarsches  hervor,  natürlich  ohne  daß  man  aus  den  Örtlichkeiten 
selbst  ganz  klug  werden  könnte  2).  Dem  Bischof  von  Zeitz,  der  im  April  1090 
Heinrich  IV.  über  das  Gebirge  nachzog,  können  wir  es  gleichfalls  glauben,  daß 
er  irgendwo  auf  seiner  Reise  „unermeßliche  Mühe  und  große  Gefahr  gehabt  hat"  3), 
wie  auch  die  Worte  des  Chronisten  Burchard  von  Ursperg,  der  erzählt,  daß 
Friedrich  II.  im  J.  1212  seinen  Weg  de  valle  Tridentina  per  asperrima  loca  Alpium 
invia  et  juga  montium  eminentissima  nach  Deutschland  nahm,  wohl  nur  buch- 
stäblich als  die  Nachricht  von  einer  in  ungewohnter  und  gefährlicher  Richtung 
ausgeführten  Alpenüberschreitung  aufgefaßt  werden  müssen'^).  In  allen  diesen 
Andeutungen  verbergen  sich  somit  Ereignisse,  die  denen  ähnlich  gewesen  sein 
mögen,  wie  sie  sich  bei  dem  Zuge  Heinrichs  IV.  im  J.  1077  über  den  Mont 
Cenis  oder  bei  der  Rückkehr  Friedrichs  I.  an  der  Berner  Klause  im  J.  1155 
abgespielt  haben,  und  die  ihrem  Inhalt  nach  durchaus  die  interessanteste  Seite 
der  Römerzüge  der  deutschen  Herrscher  darstellen,  die  uns  aber  freilich  nur  in 
^"r^deutschen  den  seltensten  Fällen  genauer  erhalten  geblieben  sind. 
Herrscher  im  Die  Lückenhaftigkeit  der  Überlieferung  zeigt  sich   weiter   besonders   darin, 

Römerlüge"^  daß  wir  so  wenig  Namen  der  Punkte  kennen,  wo  die  mittelalterlichen  Herrscher 

')  Ei.  K.  6.         2)  Oe.  I.  S.  245f.         3)  Oe.  II.  S.  227.         *)  Ber.  S.  59. 


Das  Straßenwesen  des  Mittelalters  und  die  Römerzüge.  89 

bei  ihren  vielen  Reisen  durch  das  Hochgebirge  Quartier  genommen  haben. 
Eigentliche  zu  diesem  Zwecke  bestimmte  Absteigestationen  (palatia,  curia),  wie 
sie  die  römischen  Kaiser  überall  in  den  größeren  Städten  des  Reiches,  und  z.  B. 
auch  in  den  Alpen  in  der  curia  Raetorum  besessen  hatten'),  kannte  das  Mittel- 
alter nicht  in  dem  Maße.  Damals  haben  die  Herrscher  auf  ihren  Reisen  zumeist 
die  neben  der  Straße  befindlichen,  höher  gelegenen  Burgen  bewohnt,  während 
sie,  sobald  sie  sich  in  den  Städten  selbst  aufhielten,  in  einem  Kloster  oder  im 
Hofe  des  Bischofs  einzukehren  pflegten,  wie  eine  solche  Andeutung  für  die 
Orte  Konstanz  und  Chur  eben  in  jener  Verpflichtung  des  Klosters  Reichenau 
vorliegt-).  Bei  Verona  ist  es  ein  neben  der  Kirche  S.  Zeno  gelegenes  Kloster 
gewesen,  von  dem  heute  noch  ein  Turm  aufrecht  steht,  das  die  Kaiser  bei  ihrer 
Durchreise  zum  Aufenthalt  gewählt  haben^).  Es  geschah  dies  wohl  deshalb, 
weil  die  durchziehenden  deutschen  Heere  nach  einem  alten  Brauch  jene  Stadt 
selbst  nicht  betreten  durften  und  die  Etsch  daher  hier  auf  einer  Schiffbrücke 
zu  überschreiten  pflegten,  in  deren  Nähe  jenes  Kloster  gelegen  war"*).  Am  Aus- 
gang der  bündner  Straßen  aber  haben  sich  die  Kaiser  besonders  häufig  bei  Como 
aufgehalten;  hier  ist  es  das  südlich  der  Stadt  hoch  über  der  Landstraße  nach 
Mailand  liegende  Kastell  Torre  Baradello,  wo  im  J.  1176  Kaiser  Friedrich  I.  mit 
seiner  Gattin  weilte^),  und  die  alte  Kirche  S.  Carpoforo,  die  an  dessen  Fuße 
steht,  kann  hier  dem  geschichtskundigen  Wanderer  eine  rechte  Freude  bereiten, 
da  deren  auch  sonst  fast  deutsch  anmutende  Bauart  noch  heute  die  Teilung  in 
eine  Ober-  und  Unterkirche  zeigt  und  es  so  verrät,  daß  sie  einst  zu  nichts 
anderem  als  zum  Gottesdienst  für  eine  mittelalterliche  Hofhaltung  bestimmt  war. 
Weit  deutlicher  treten  jedoch  wieder  jene  anderen  Punkte  heraus,  die  für 
die  ganze  Anlage  der  Römerzüge  die  größte  Wichtigkeit  haben  mußten,  jene  an 
dem  südlichen  Fuße  der  Alpen  gelegenen  Sammelstellen,  denen  die  deutschen 
Scharen  von  allen  Seiten  aus  dem  Gebirge  her  zuströmten.  Neben  den  altbe- 
rühmten ronkalischen  Feldern  bei  Piacenza''),  die  ihrer  genau  mittleren  Lage 
nach  hierzu  wie  geschaffen  waren  und  wo  sich  auch  das  italienische  Aufgebot 
einzufinden  pflegte,  werden  als  solche  weiterhin  besonders  häufig  die  S.  Daniels- 
wiesen zwischen  Verona  und  Desenzano  genannt,  wie  auch  dieses  wiederum  ein 
Umstand  ist,  der  die  häufige  Benutzung  der  Brennerstraße  bei  den  Römerzügen 
erkennen  läßt.  Die  dreißig  Tausend  Mann,  die  Heinrich  V.  (1110)  nach  Italien 
führte,  sammelten  sich  auf  den  ronkalischen  Feldern,  wo  in  der  Nacht  der  Feuer- 
schein der  vor  jedem  der  unzähligen  Zelte  angezündeten  Fackeln  die  Größe  des 
Lagers  verkündete^);  auch  die  Zusammenkunft  der  zu  dem  Zuge  Friedrichs  L 
im  J.  1154  aufgebotenen  Streitkräfte  fand  daselbst  statt,  an  die  anschließend  dann 
hier  ein  Reichstag  abgehalten  wurde.  Bei  den  Zügen  von  1158,  1209  und  1220 
sammelten  sich    die  Heere    dagegen    auf   den    Danielswiesen  ^)    und    im  J.  1158 

")  Vgl.  PI.  S.  418.  A.  2.    2)  Oe.  II.  S.  192.    3)  m.  O.  S.  105.    •»)  Oe.  II.  S.  215.    5)  M.  O.  S.  157. 
6)  O.  F.  S.  134;  über  die  genaue  Lage  vgl.  Schu.  S.  20f.    ")  Oe.  I.  S.  253.   «)  Oe.  II.  S.  215,  235f. 


90  VI.  Kapitel. 

waren  es  auch  hier  wieder  die  Böhmen,  die  sich  unliebsam  bemerkbar  machten, 
indem  sie  die  kostbaren  Olivenbäume  wie  heimische  Weiden  umhieben,  um  das 
Holz  für  ihr  Lagerfeuer  und  das  Laub  zur  Streu  für  ihre  Pferde  zu  verwenden. 

Geschieht-  Aber  auch  an  dieser  Stelle  muß  noch  einmal   auf  die   eigentliche  Wirkung 

We'rder  ^Her  jener  mittelalterlichen  Römerzüge,  die  ihren  Weg  über  die  Alpen  nahmen, 

Römerzüge,  hingewiesen  werden,  und  wie  sehr  sie  sich  darin  von  den  gleichen  militärischen 
Unternehmungen  der  Römerzeit  unterscheiden.  Im  Altertum  waren  die  Legionen, 
so  lange  Rom  überhaupt  solche  über  die  Alpen  schicken  konnte  und  sobald 
diese  einmal  jenseits  der  Berge  angelangt  waren,  auch  ein  wirkliches  Sinnbild 
der  Kraft  ihres  Staates  und  das  beste  Mittel,  durch  das  dieser  auch  dort  die 
Herrschaft  führte.  Anders  im  Mittelalter;  jene  ungezählten  deutschen  Scharen, 
die  mit  den  Römerzügen  die  italienische  Ebene  betraten,  haben  daselbst  niemals 
zu  irgendwelchen  dauernden  Schöpfungen  Veranlassung  gegeben;  sie  sind  viel- 
mehr zum  guten  Teil  von  der  überlegenen  südlichen  Kultur  verbraucht  oder 
abgestoßen  worden.  So  stellen  die  Römerzüge  im  Grunde  nur  einen  Jahr- 
hunderte hindurch  stetig  andauernden  Kräfteverlust  des  deutschen  Volkstums 
dar;  aber  sie  wären  doch  nicht  möglich  gewesen,  ohne  die  Überfülle  der 
physischen  Kraft,  über  die  jenes  bei  seinem  Eintritt  in  die  Geschichte  verfügte 
und  die  es  ihm  ermöglichte,  trotz  einer  verfehlten  und  verlustreichen  politischen 
Entwickelung,  nach  einer  anderen  Richtung  hin  zu  viel  großartigeren  Erfolgen 
zu  schreiten,  zu  Erfolgen,  deren  Wirkungen  auch  heute  noch  aufrecht  stehen. 
In  die  Erscheinung  getreten  sind  aber  diese  wirklichen  Erfolge  nicht  nur  über- 
all im  Osten  zwischen  Elbe  und  Oder  sondern  ebenso  mächtig  auch  nach  jener 
Himmelsrichtung  hin,  nach  der  sich  auch  die  Römerzüge  selbst  zunächst  be- 
wegten, also  weit  und  breit  in  den  Alpenländern.  Während  sich  ein  Teil  der 
deutschen  Kraft,  und  noch  dazu  nicht  der  schlechteste,  in  Italien  verbrauchte, 
war  diese  trotzdem  noch  fähig,  im  Osten  die  Slaven  und  im  Süden,  in  den 
Bergen,  ebenso  diese,  wie  besonders  auch  die  Nachkommen  der  Römer,  die 
damals  noch  in  geschlossener  Masse  das  Mittelstück  des  Gebirges  bewohnten, 
zu  entnationalisieren  und  hierdurch  weitaus  den  größten  Teil  des  Alpengebietes 
zu  einem  deutschen  Lande  umzuschaffen. 


VII.  Kapitel. 

Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter. 


Die  Größe  dieser  Entwicicelung  wird  aber  erst  dann  richtig  verständlich,  Das  Dasein 
wenn  wir  uns  das  Völkerbild  vergegenwärtigen,  das  in  den  Alpenländern  in  den  „ischen  Nation 
ersten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  zu  finden  war.  Bis  in  das  neunzehnte  Jahr-  in  den  Alpen 
hundert  hinein  hat  die  Wissenschaft  es  einfach  als  Tatsache  hingenommen,  daß  Mittelalters. 
mit  dem  Verschwinden  der  politischen  Herrschaft  des  Römerreichs  auch  zu 
gleicher  Zeit  das  römische  Volkstum  selbst  mit  seiner  Sprache  und  seinem  ganzen 
Wesen  aus  den  Bergen  Abschied  genommen  habe,  und  daß  an  dessen  Stelle  im 
Westen  das  französische,  im  Süden  das  italienische,  in  dem  Hauptteile  des  Ge- 
birges dagegen  mit  einem  Male  das  deutsche  Volkstum  eingezogen  sei  und  sich 
hier  häuslich  eingerichtet  habe.  Noch  nicht  hundert  Jahre  sind  es  her,  als  dieser 
ganze  Vorstellungskreis  unumschränkt  in  Geltung  war.  Der  erste,  der  in  den 
vierziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  hier  die  Alarmglocke  rührte,  ist  der 
Alpenforscher  Steub  gewesen '),  dessen  Forschungen  und  Fragestellungen  zunächst 
nur  für  Tirol  eine  ganz  neue,  bisher  versunkene  Welt,  eine  Fülle  vergessener 
Zustände,  damit  aber  zugleich  auch  eine  Anzahl  ungelöster  geschichtlicher  Probleme 
wieder  zum  Leben  heraufbeschworen.  Diesem  ersten  Bahnbrecher  sind  dann 
nicht  nur  für  das  Kernland  der  Alpenromancn,  Tirol,  sondern  auch  für  die  an- 
liegenden Gebiete  viele  andere  gefolgt,  die  Stück  um  Stück  von  jener  eintönigen, 
gleichfarbigen  Hülle  entfernt  haben,  die  vorher  über  jenem  Gebiet  gelagert  war, 
so  daß  heute  eine  ebenso  neue  und  unerwartete  wie  wichtige  Tatsache  offen  vor 
uns  liegt. 

Est  ist  dieses  die  Entdeckung,  daß  während  des  Mittelalters  Jahrhunderte 
hindurch  in  dem  großen  Mittelstück  der  Alpen  eine  den  modernen  Völkern  ganz 
fremdartige  sublatinische  Nation  wohnte,  der  jene,  und  an  der  Spitze  das  deutsche 
Volkstum,  nun  innerhalb  langer  Zeiträume  langsam  Dorf  um  Dorf,  Tal  um  Tal 
abgewannen,  um  erst  mit  dem  Ende  des  -sechzehnten  Jahrhunderts  ungeiähr  an 
')  Vgl.  Eg.  S.  I  f. 


92  VII.  Kapitel. 

dem  Punkte  der  Herrschaft  angelangt  zu  sein,  an  dem  wir  sie  heute  sehen.  Da 
die  Besiedelung  der  Alpen  durch  die  modernen  Völker  aber  doch  zweifellos  als 
ein  wichtiges  historisches  Ereignis  anzusehen  ist,  so  haben  wir  demnach  hier 
den  Fall  vor  uns,  daß  die  Geschichte  den  Eintritt  eines  solchen  plötzlich  um 
ein  volles  Jahrtausend  zu  korrigieren  hat.  Im  zwölften  Jahrhundert  schrieb  ein 
Mönch  in  Tegernsee  die  Verse  „Du  bist  mein,  Ich  bin  Dein,  des  sollst  Du  gewiß 
sein"  —  Worte,  die  man  glaubt  es  nicht  wie  gut,  aber  auch  wie  gut  deutsch 
klingen,  —  in  seine  Briefsammlung  ein').  Es  wirkt  aber  gewiß  großartig  und 
wie  eine  Befreiung  von  alten  Vorstellungen,  wenn  wir  entdecken,  daß  jener 
Mönch  damals  in  der  unmittelbaren  Nachbarschaft  von  Leuten  wohnte,  die  zu 
einem  ganz  anderen  Volke  als  er  selbst  gehörten  und  denen  daher  auch  der 
Klang  dieser  Worte  ganz  unverständlich  sein  mußte. 
Die  treibenden  Das  Hauptkapitel  der  Völkergeschichte   der  Alpen   im  Mittelalter   ist  daher 

mittelaiter-  ^^^   Untergang   dieser  alten   romanischen   Nation    und   ihre   Zertrümmerung   bis 
liehen  auf  jene    heute    noch    existierenden,    geringen    und  auseinanderliegenden   Reste, 

^/ Öl  kc  rl  fi  nG  n 

der  Alpen,  während  man  bei  der  Erklärung  dieser  Entwickelung  wiederum  von  nichts  anderm 
auszugehen  hat  als  von  dem  Völkerbild,  das  die  Alpen  beim  Anbruch  des  Mittel- 
alters und  nach  dem  Aufhören  der  germanischen  Völkerwanderung  geboten 
haben.  Wie  der  Hauptzug  dieser  Völkerwanderung  von  Osten  nach  Westen  lief, 
so  nahm  auch  die  Tiefe  und  Intensivität  der  von  ihr  hervorgerufenen  Zerstörung 
der  antiken  Kultur  und  des  antiken  Volkstums  von  Osten  nach  Westen  zu  ab, 
aber  doch  so,  daß  sich  diese  in  den  Flachländern  nördlich  und  südlich  der  Alpen 
jedenfalls  viel  rascher  und  ausgedehnter  geltend  machen  konnte  als  in  dem 
schützenden  Gebirge  selbst.  Jene  Abstufung  und  Abtönung  der  Entwertungs- 
zonen nun  ist  nördlich  der  Alpen  geradezu  in  einer  gewissen  Regelmäßigkeit  zu 
beobachten,  wie  auch  hier  außerdem  noch  ein  besonderes,  das  Gebirgsland 
schützendes  Moment  in  Wirksamkeit  getreten  ist,  der  Bau  des  nördlichen  Alpen- 
randes, der  an  seinem  östlichen  Ende,  im  Wiener  Wald,  zugleich  auch  am  weitesten 
nach  Norden  vorspringt,  um  sich  dann  je  weiter  nach  Westen  desto  mehr  nach 
Süden  zu  versagen,  ein  Umstand,  der  daher  hier  die  von  Osten  kommende  Flut 
in  noch  viel  stärkerem  Maße  von  dem  Inneren  des  Gebirges  ablenken  mußte. 
Enger  zusammengedrängt  und  daher  schon  deshalb  viel  ausgeprägter  zeigt  sich 
dagegen  das  Bild  am  Südrand  der  Alpen.  Hier  haben  die  letzten  Ereignisse  der 
Völkerwanderung,  die  ihren  Weg  vorwiegend  an  jener  Seite  entlang  nahmen, 
schließlich  einen  derartigen  Zustand  geschaffen,  daß  Nordostitalien  fast  ganz  ver- 
ödet lag,  während  sich  je  weiter  nach  Westen  die  Reste  der  alten  Kultur  um  so 
vollständiger  erhalten  hatten. 

Aus  dieser  Sachlage  erklärt  sich  nun  aber  auch  allein  die  Art  und  Weise, 
wie  die  treibenden  Kräfte  des  Völkerlebens  zu  Beginn  des  Mittelalters  nach  den 
Alpen  hin   in  Wirksamkeit   treten   konnten.     Im   Westen    trotz   aller  reichlichen 

>)  Fr.  15.  Au.  I.  B.  S.  S31. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  93 

Reste  der  Antike  infolge  der  geringeren  Ausdehnung  des  Gebirges  selbst  ein 
ungehemmtes  Aufkeimen  der  neuen  Kulturen  und  so  gerade  hier  eine  viel  raschere 
und  sauberere  Aufteilung  des  Landes  zwischen  den  beiden  neu  entstehenden 
Nationen,  den  Italienern  und  den  Franzosen;  bei  dem  großen  Mittelstück  der 
Alpen,  schon  vom  Gr.  S.  Bernhard  ab,  dagegen  umfangreichere  Verödung  in  den 
anliegenden  Flachländern;  deshalb  und  nicht  minder  infolge  der  immer  mehr 
nach  Osten  zu  sich  vergrößernden  Flächenausdehnung  des  Gebirges  stärkere 
Widerstandskraft  der  alten  Verhältnisse  im  Gebirge  selbst  und  langsameres  Ein- 
dringen der  neuen  Kräfte  von  außen  her,  wobei  jedoch  entsprechend  der  größeren 
Ermattung  auf  der  italienischen  Seite  dem  Norden  durchaus  die  führende  Rolle 
zufällt.  Diese  ganze  Konstellation  ist  daher  durchaus  die  Vorbedingung  gewesen, 
weshalb  in  dem  Hauptteil  der  Alpen  schließlich  die  deutsche  Herrschaft  so  gut 
wie  die  deutsche  Kolonisation  den  Sieg  davontragen  mußten;  sie  bedingt  es  aber 
auch,  daß  ebendort  die  Unregelmäßigkeiten  in  der  Verteilung  der  einzelnen 
Völkergruppen  und  Völkerstämme,  die  Unterscheidungszeichen  und  Schattierungen 
von  Westen  nach  Osten  zunehmen,  und  daß  deshalb  auch  der  für  die  Erklärung 
dieser  Entwickelung  vorhandene  Stoff  viel  reicher  und  vielseitiger,  aber  auch 
viel  schwieriger  zu  handhaben  ist,  weil  hier  viel  kompliziertere  Vorgänge  in  der 
Vergangenheit  begraben  liegen. 

Für  den  Entwicklungsgang  der  Bevölkerung  auf  der  Schweizer  Hochebene  D'^  Ent- 
sind trotz  der  Nachbarschaft  des  Hochgebirges  doch  nur  die  für  das  Flachland  Bevölkerung 
maßgebenden  Verhältnisse  ausschlaggebend  gewesen.  Der  Unterschied  zwischen  'n  der 
der  deutschen  und  welschen  Schweiz,  der  gewissermaßen  schon  im  römischen 
Altertum  bestand,  hat  sich  hier,  wenn  auch  aus  verschiedenen  Gründen,  durch 
alle  Zeiten  erhalten.  Die  französische  Sprachgrenze  läuft  heute  mitten  durch 
ebenes  Land,  den  Lauf  der  Saane  entlang  bis  zur  Nordspitze  des  Bielersees,  eine 
Erscheinung,  die  auffallen  muß,  und  die  wohl  auf  den  Zug  des  Jura  zurück- 
zuführen ist,  der  das  französische  Vordringen  gehemmt  hat,  da  wir  südlich  im 
Wallis,  wo  jenes  Vordringen  durch  die  verkehrsfördernde  Wirkung  des  großen 
Genfersees  unterstützt  wurde,  dieselbe  Grenze  viel  weiter  nach  Osten  gerückt 
sehen.  Aber  auch  die  deutschen  Schweizer  selbst  sind  in  sich  durchaus  kein 
gleichgeartetes  Volk.  Eine  nicht  zu  verkennende  Verschiedenheit  besteht  zu- 
nächst zwischen  den  Deutschen  in  der  Westschweiz  und  denen  in  der  Ostschweiz 
da  jene  (Solothurn,  Bern,  Interlaken,  Freiburg)  burgundischen,  diese  dagegen 
(Basel,  Zürich,  S.  Gallen)  alemannischen  Stammes  sind,  wie  diese  Verschiedenheit 
auch  noch  dadurch  gefördert  worden  ist,  daß  beide  Teile  Jahrhunderte  hindurch 
nicht  zu  den  gleichen  politischen  Verbänden,  die  einen  zu  Burgund,  die  anderen 
aber  als  der  südliche  Teil  des  alten  Herzogtums  Schwaben  zum  deutschen  Reiche 
gehörten.  Wenn  man  genau  hinsieht,  kann  man  aber  auch  noch  einen  feinen 
Unterschied  in    jener    östlichen    Gruppe   selbst,  zwischen   den   Schweizern   der 


94  VII.  Kapitel. 

Urkantone    und    ihren    nördlichen    und   nordöstlichen   alemannischen    Nachbarn, 
entdecken  ')• 

Letztere,  diese  südlichsten  Schwaben,   haben   wir  daher   zunächst   hier  auf 
dem    nordöstlichen    Teile    der  Schweizer   Hochebene,    im   Aargau,    am    unteren 
Zürichsee  und  südlich  des  Bodensees,  und  bis  in  die  Berge  hinein,  am  Rigi  und 
in  den  Glarner  Alpen,  zu  suchen.     Hier  liegt  somit  das  älteste  deutsche  Alpen- 
*  land,  in  das  schon  zu  Beginn   des  Mittelalters   das  alemannische  Volkstum   ein- 

gezogen war,  und  das  sich  es  dann  auch  hier  je  länger  je  mehr  wohl  sein  ließ. 
Wichtig  ist  jedoch,  daß  diese  ganze  Entwickelung  sich  etwa  wie  ein  Mann  aus- 
nimmt, der  nicht  ganz  hält  was  er  in  der  Jugend  versprochen  hat,  da  dieses 
alemannische  Vordringen  hier  später  nur  nach  Osten,  über  den  Arlberg  hinüber, 
noch  im  Vorwärtsschreiten  zu  erkennen  ist,  während  es  direkt  nach  Süden  hin 
sehr  bald  zum  Stehen  kam.  Das  heutige  Graubünden,  das  Rätien  des  Mittel- 
alters, gehörte  damals  politisch  zwar  gleichfalls  zu  Schwaben,  seine  ethnographische, 
dem  deutschen  Wesen  entgegengesetzte  Eigenart  hat  es  dagegen  besonders  zäh 
behauptet. 
Das  Wallis.  Anders,  vielseitiger  und   deshalb   auch   weniger   durchsichtig  liegt  die  Ab- 

wandlung dieser  Verhältnisse  im  Wallis,  wie  überhaupt  dieses  weitaus  größte 
Längental  der  Alpen,  in  dem  u.  a.  auch  jene  charakteristischen  Einschnürungen, 
die  Klausen,  nirgends  vorhanden  sind,  nicht  allein  seine  geographischen  sondern 
ebenso  auch  seine  geschichtlichen  Besonderheiten  aufweist.  Heute  liegt  hier 
die  Sprachgrenze  bei  Siders,  also  derart,  daß  die  größere  Hälfte  des  Tales  dem 
romanischen  Volkstum  angehört,  das  sich  im  ersten  Mittelalter  übrigens  noch 
viel  weiter  ostwärts  erstreckte.  Im  obersten  Wallis  erscheinen  dagegen  auch  von 
alters  her  die  Deutschen  durchaus  fest  und  bodenständig  als  ein  an  sich  schon 
weit  im  Süden  befindlicher  germanischer  Posten,  der  hier  nun  auch  noch  viel 
weiter  südlich  jenseits  des  letzten  Alpenkammes  in  Gebieten  anzutreffen  ist,  die 
geographisch  durchaus  zu  Italien  gehören.  Wir  können  es  an  dieser  Stelle  zu- 
nächst unerörtert  lassen,  wann  und  aus  welcher  Richtung  jene  Deutschen  einst 
hierhergekommen  sein  mögen;  daß  die  kulturellen  Beziehungen  dieser  Leute 
aber  im  fünfzehnten  Jahrhundert  jedenfalls  nach  Norden  gewiesen  haben,  läßt 
sich  aus  jener  Reise  des  fröhlichen  Thomas  Platter  erkennen;  denn  auch  dieser, 
der  vorher  im  Vispertal  die  Ziegen  gehütet  hatte,  zog,  als  ihm  der  Trieb  ankam, 
ein  fahrender  Schüler  zu  werden,  von  hier  nicht  nach  Genf  oder  Lausanne, 
sondern  über  die  Grimsel  und  Luzern  nördlich  hinaus,  dem  Meißner  Lande  zu^). 
Verteilung  Andererseits   begegnen  wir  nun   aber   im   Oberwallis   zum   ersten   Mal    auf 

romanischen  Unserem  Weg   nach   Osten   jenen   fremdartigen   und   altertümlichen,  weder  ganz 

Ortsnamen  deutsch  aber  ebensowenig  ganz  französisch,  italienisch  oder  slavisch  anklingenden 
in  den  Alpen.  

')  Vgl.  Z.  A.  1903.  S.  65.     Die  aus  Z.  A.  1902,  S.  39.— 70.  und  1903,  S.  42.-76.  angeführten  Daten 

sind    entnommen    aus    der    Abhandlung    A.  Schibers:    Das    Deutschtum    im    Süden    der  Alpen. 

2)  Fr.  16.  Au.  II.  B.  2.  Abteilung,  S.  14 f. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  Q5 

Ortsnamen,  deren  Erklärung  im  einzelnen  zwar  zu  den  verschiedensten  Deutungen 
Anlaß  geben  mag,  deren  Vorhandensein  aber  überall  in  den  Bergen  das  sicherste 
Zeichen  dafür  bildet,  daß  wir  den  Boden  jenes  großen  Gebietes  betreten  haben, 
das  im  Mittelalter  eine  Zeit  lang  von  den  Alpenromanen  bewohnt  gewesen  sein 
muß.  Jene  Namen,  die  sich  hier  im  Oberwallis')  und  ebenso  am  Oberlauf  der 
Reuß-)  zunächst  nicht  allzuhäufig  finden,  werden  dann  jedoch  bereits  zahlreicher 
am  Walensee  und  im  östlichen  Toggenburg  entlang  des  Rheines,  um  weiter  süd- 
lich und  östlich,  bald  in  kompakten  Massen,  Ortsname  neben  Ortsnamen  gelagert, 
bald  wieder  mehr  oder  weniger  von  deutschen  oder  italienischen,  manchmal 
sogar  von  slavischen  umgeben,  ganz  Graubünden,  Vorarlberg,  Tirol  und  Salzburg 
bis  zu  den  Quellen  der  Mur  und  Drau  hin  zu  erfüllen.  In  diesem  Zusammen- 
hange kommt  es  nun  freilich  —  anders  als  bei  der  Geschichte  der  Alpen  im 
Altertum  —  viel  weniger  darauf  an,  ob  jenen  Namen  mehr  ein  romanischer  oder 
mehr  ein  solcher  Kern  innewohnt,  der  seinen  Ursprung  in  den  Völkern  hat,  die 
vor  dem  Eindringen  der  Römer  diese  Gegenden  bewohnten;  diesmal  ist  es  allein 
wichtig,  daß  alle  jene  Ortsnamen  die  Spuren  der  antiken  Bevölkerung  überhaupt 
in  dem  Hauptteil  der  Alpen  heute  noch  so  sicher  und  deutlich  erkennen  lassen. 
Schon  dieser  Befund  an  sich  kann  daher  auf  den  Gedanken  führen,  daß  in 
jenem  weiten  Komplexe  noch  lange  nach  dem  Untergange  des  römischen  Reiches 
ein  in  sich  gleichartiges  Volk  zurückgeblieben  ist,  das  schließlich  im  Süden  vom 
italienischen,  zum  weitaus  größten  Teile  dagegen  im  Norden  vom  deutschen 
Volkstum  verdrängt  und  aufgesogen  wurde,  eine  Entwickelung,  die  jedoch  bis 
zu  ihrer  Vollendung  lange  Jahrhunderte  gebraucht  hat,  und  die,  wie  ein  Blick  auf 
die  Reste  der  Alpenlatiner  beweist,  auch  heute  noch  nicht  völlig  abgeschlossen  ist. 

Wenn  die  höchsten  Längskämme  der  Gebirge  und  auch  die  der  Alpen  sonst  Die  nördliche 
auch  zugleich  die  Grenze  zweier  verschiedener  Völker  zu  bilden  pflegen,  so  Alpenromanen 
hätten  wir  demnach  hier  zunächst  ein  ganz  anderes  Bild  von  der  Besiedelung 
eines  Gebirges  vor  uns,  derart,  daß  dasselbe  Volk  über  die  Kämme  hinweg  von 
dem  einen  Fuß  des  Gebirges  bis  zu  dem  anderen  hin  gewohnt  hat.  Und 
wiederum  sind  es  die  Ortsnamen,  die  uns  bei  dem  Beweis  dieser  Tatsache  nicht 
im  Stich  lassen,  da  entlang  des  Nordrandes  jenes  Gebietes,  das  man  für  die 
mittelalterlichen  Alpenromanen  in  Anspruch  nehmen  kann,  von  dem  Abfall  der 
Urkantone  bis  zum  Salzkammergut,  sich  Glied  an  Glied  aneinandergereiht  eine 
ganz  bestimmte  Gattung  von  Ortsnamen  hinzieht,  durch  die  es  die  nördlicher 
wohnenden  Deutschen  einst  tatsächlich  zum  Ausdruck  brachten,  daß  jenseits  der- 
selben das  Gebiet  der  Welschen  begann. 

Es  mag  zweifelhaft  sein,  ob  in  dem  Namen   des  Vierwaldstätter-Sees  sich 
wirklich  vier  welsche  Gemeinden  verbergen  3);  dicht  östlich  davon  am  Zugersee 

')  Visperterminen,  Mangepan,  Morel,  Grengiols,  Lax  (es  gibt  ein  Laax  bei  Flims  und  ein  Laas 
i.  Vintschgau  und  im  oberen  Gailtal).  Vgl.  Z.  A.  1903.  S.  58,  66.  2)  Gurtnellen  (cortinelle), 
Kehrsiten  (Carisiacum),  Stans.  Z.  A.  1902.  S.  42.        3)  Z.  A.  1902.  S.  42. 


96  VII.  Kapitel. 

folgt  aber  doch  sogleich  ein  Walchwil,  dann  weiter  der  Walensee  und  jenseits 
des  Rheines  der  Wallgau  a.  d.  111.  Auch  die  Gegend  am  nördlichen  Ufer  des 
Bodensees  hieß  im  zehnten  Jahrhundert  das  comitatus  Walahensis  und  in  der 
Pfrontener  Gegend  unterschied  man  noch  bis  in  die  neuere  Zeit  zwischen  Walchen 
und  Schwaben,  während  die  weiteren  Glieder  dann  der  Walchengau  und  Walchen- 
see südlich  Murnau ')  und  bei  Wörgl  im  Unterinntal  die  heute  fast  verklungenen 
Namen  wie  Walchenstatt,  Walchengüter  und  Walchenhof  bedeuten  2),  und  wenn 
letztere  Stelle  gerade  hier  südlich  in  die  Berge  hinein  ein  Stück  eingedrückt 
ist,  so  weist  auch  dieses  darauf  hin,  daß  das  Unterinntal  für  die  deutsche  Ein- 
wanderung sehr  früh  in  Benutzung  trat.  Zwischen  Kufstein  und  Kössen  treffen 
wir  dann  wieder  einen  Walchsee  und  bei  Traunstein  ein  ganzes  Nest  solcher 
Namen  wie  Katzelwalchen,  Traunwalchen,  Lützelwalchen,  Oberwalchen,  Reit- 
walchen  u.  a.  m.^).  Bei  Berchtesgaden  liegen  in  der  Schönau  ein  Hof  Walch 
und  am  Obersee  die  Walchhüttenwand,  bei  Salzburg  selbst  aber  die  Walser 
Felder  und  nordöstlich  der  Wallersee  und  Straßwalchen;  ebendort  findet  man 
auch,  was  dasselbe  sagt,  eine  Ortschaft  mit  Namen  Latein'').  Auch  am  Attersee 
trifft  man  ein  Seewalchen. 

Und  selbst  dort,  wo  einst  die  Slaven  solchen  Alpenromanen,  wenn  auch 
vereinzelt,  begegnet  sind,  sehen  wir  andeutungsweise  dieselbe  Grenze  gezogen; 
denn  auch  in  den  Ostalpen  treffen  wir  einen  Walchberg  bei  Melk,  ein  Walches- 
bach  bei  Admont  und  ein  Walchen  bei  Gröbming,  südlicher  an  der  Mur  ein 
Walchesdorf  (bei  Judenburg)  und  schließlich  ein  Walsdorf  unterhalb  Graz^).  Es 
ist  gewiß  richtig,  daß  auch  auswärts  und  einwärts  der  angebenen  Linie  ver- 
einzelt soche  Namen  vorkommen,  und  daß  dies  nur  bedeuten  kann,  daß  auch  an 
diesen  Punkten  die  welschen  Bewohner  einst  besonders  lange  wohnen  geblieben 
sind  6),  und  es  ist  auch  nur  natürlich,  daß  noch  viel  mehr  derselben  Namen  heute 
verklungen  sein  mögen.  Aber  hier  tut  es  doch  vor  allem  die  Masse  und  die 
Richtung,  in  der  jene  Namen  streichen;  denn  dieser  Befund  ist  nicht  etwa  bloß 
das  sicherste  Anzeichen  dafür,  daß  hier  überhaupt  einmal  im  Mittelalter  Welsche 
wohnten,  sondern  er  beweist  auch,  daß  dieser  Zustand  eine  lange  Zeitspanne 
hindurch  als  feststehend  angesehen  worden  sein  muß.  Im  anderen  Falle  hätten 
sich  ja  überhaupt  jene  Ortsnamen  mit  ihrem  bezeichnenden  Klange  keine  All- 
gemeingültigkeit verschaffen  können,  wie  ja  auch  südlich  jener  Linie,  an  einigen 
Stellen  sofort  und  in  der  Überzahl,  an  anderen  erst,  nachdem  man  ein  Stück 
tiefer  nach  Süden  vorgedrungen  ist,  auch  jene  anderen  charakteristischen  Orts- 
namen anheben,  von  denen  eben  gesprochen  worden  ist,  und  die  gleichfalls  nur 
durch  das  Dasein  einer  geschlossenen  romanischen  Nation  in  den  Alpen  während 
des  Mittelalters  ihre  Erklärung  finden  können. 

')Ju.  S.261.  2)  Vgl.  F.  1834.  S.  271  u.  F.  1906.  S.  124.  ^jjy.  S.262.  *)  St.  S.  127.  5)  Kr.  S.  33. 
6)  Walchstadt  bei  Wolfratshausen  (Ju.  S.  258)  oder  im  Gebirge  selbst  Wälschwinkel  bei  Bozen 
(Atz.  S.  199),  die  Propstei  Walchen  im  äußersten  Passeier  (B.  W.  S.  35),  Walchen  im  Pinzgau, 
Wallingwinkel  bei  Abtenau  (Sa.  L.  XXI  S.  17),  Wallchen  am  Dachstein. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  97 

Zur  Gewißheit  aber  wird  jene  Tatsache,  wenn  wir  die  besten,  die  urkund-  Die  urkund- 
lichen Belege  zum  Beweise  heranziehen;  denn  diese  enthüllen,  wenn  sie  auch  für  das  ^  *^^ 
stets  nur  für  einen  beschränkten  lokalen  Umkreis  zwingend  sind,  doch  an  un-  Dasein  der 
zähligen  Stellen  stets  dieselbe  Erscheinung,  die  Tatsache,  daß  im  Mittelalter  da  penromanen. 
und  dort,  früher  oder  später,  zahlreich  oder  weniger  zahlreich,  Latini,  Romani, 
Retiani,  Leute,  die  nach  romanischem  Rechte  leben,  oder  wie  sie  sonst  noch 
genannt  werden'),  innerhalb  des  in  Frage  stehenden  Gebietes  zwischen  den 
neuen  Ankömmlingen  vorhanden  gewesen  sind.  Das  Testament  des  Bischofs 
Tello  von  Chur  hat,  wenn  es  echt  ist,  auch  als  eine  der  wichtigsten  Grundlagen 
für  die  Geschichte  des  frühmittelalterlichen  Rätiens  (766)  zu  gelten  2),  und  nur 
einer  von  den  dreizehn  unterzeichneten  Zeugen  ist  in  ihm  als  Deutscher  zu 
erkennen.  Es  ist  dies  dieselbe  Zeit,  in  der  auch  am  Brenner  ein  vornehmer 
Romane,  Dominicus  mit  Namen,  erscheint-^);  auch  im  J.  828  wird  bei  Sterzing 
noch  ein  anderer  vermögender  Herr,  Quartinus,  nebst  seiner  Mutter  Claudiana 
genannt''),  Zeugnisse,  die  deshalb  besonders  zu  beachten  sind,  weil  uns  damals 
jene  romanischen  Herrschaften  noch  durchaus  in  führenden  Stellungen  entgegen- 
treten. Die  im  achten  Jahrhundert  entstandene  Lebensbeschreibung  des  h.  Gallus 
bestätigt  ausdrücklich  das  Dasein  zahlreicher  Romanen  in  der  Gegend  von 
Bregenz^),  und  auch  die  späteren  Nachrichten  aus  S.  Gallen  lassen,  als  dort  am 
Fuße  der  Berge  die  deutsche  Kolonisation  schon  festen  Fuß  gefaßt  hatte,  doch 
ganz  deutlich  den  natürlichen  Gegensatz  erkennen,  der  zwischen  den  deutschen 
Klosterleuten  selbst  und  den  in  ihrer  unmittelbaren  südlichen  Nachbarschaft 
wohnenden  Rätern  bestand.  In  einer  Gerichtsverhandlung,  die  920  in  Rankweil, 
also  in  ganz  geringer  Entfernung  vom  Bodensec  abgehalten  wurde,  sind  die  58 
Richter  in  dem  zwischen  dem  Kloster  S.  Gallen  und  dem  Bistum  Chur 
anstehenden  Streite  mindestens  zur  Hälfte  zweifellos  echte  Romanen^);  es 
erscheinen  da  echte  Römernamen  wie  Sejanus,  Constantius,  Artinius  und  Valerius. 

In  Regensburg  giebt  es  im  achten  Jahrhundert  ein  Quartier  „inter  Latinos", 
später  eine  Walchenstraße;  und  wenn  man  auch  hier  vielleicht  an  den  Wohnsitz 
auswärtiger,  aus  dem  Süden  gekommener  Kaufleute  denken  könnte,  so  macht 
doch  die  Tatsache,  das  zu  derselben  Zeit  auch  die  Urkunden  des  Klosters 
S.  Emmeran  daselbst  von  in  der  Nähe  Regensburgs  ansässigen  Romanen  sprechen, 
das  Vorhandensein  von  Resten  der  Bewohner  des  alten  Römerreichs  auch  in 
jener  Gegend  noch  damals  mehr  als  wahrscheinlich'').  Im  Salzburgerland  sind 
im  achten  Jahrhundert  die  tributales  Romani  d.  h.  die  zurückgebliebenen  römischen 
Zinsbauern  eine  ganz  gewöhnliche  Erscheinung,  wie  daher  auch  in  dem  unter 
Karl  dem  Gr.  begonnenen  Salzburger  Verbrüderungsbuch  die  ältesten  Namen 
noch  einen  durchweg  romanischen  Klang  zeigen  (Latinus,  Quadratus,  Quartus, 
Tomella,  Genia,  Latina)*^),   und   selbst   noch  im   zwölften  Jahrhundert  führen  die 

')  Ju.  S.  286.        2)  PI.  s.  284f.        3)  ju.  S.  268.        ■•)  Ju.  S.  267.         5)  Leben  des  h.  Gallus,  K.  7,43. 
e)  PI.  S.  397 f.         7)  Ju.  s.  260.        S)  Kro.  S.  33. 

Scherfel,  Verkebrsgescbichle  der  Alpen.     2.  Band.  7 


98  V.  Kapitel. 

dortigen  Nekrologien  fünf  Personen  als  Latiner  an')-  Noch  im  elften  Jahrliundert 
finden  wir  Spuren  von  romanischem  Wesen  bei  Ebersberg  bei  München  2)  und 
auch  in  einer  Berchtesgadener  Urkunde  von  1126  wird  jemand  genannt,  der 
nach  römischem  Recht  zu  leben  bekennt.  Auch  im  Pustertal  begegnen  wir  im 
neunten  Jahrhundert,  allerdings  nur  in  den  niederen  Ständen,  ganz  ausgeprägt 
derselben  Erscheinung;  so  finden  sich  daselbst  in  jener  Zeit  um  Toblach  noch 
Personennamen  wie  Secundus,  Dominicus,  Currentius,  Seeundina  und  Marcellina 
und  an  einer  anderen  Stelle,  später,  etwa  um  das  J.  990,  ein  Saturnus,  eine  Lava 
und  Laurenza  u.a. m.3).  Sogar  in  der  Innsbrucker  Gegend  trifft  man  im  zwölften 
Jahrhundert  noch  vereinzelt  romanische  Personennamen  (Badillus,  Vivianus) ''), 
die  zu  derselben  Zeit  (1164)  tiefer  im  Gebirge,  um  Meran,  noch  viel  häufiger 
sind  (Vitus,  Viventius,  Laurentia,  Bellizona). 

Ihre  Fortsetzung  finden  nun  jene  einzelnen  urkundlichen  Belege  durch  die 
näher  an  die  Gegenwart  heranreichenden  Nachrichten,  die  es  außer  Zweifel  stellen, 
daß  einst  in  weiten  umfangreichen  Gebirgslandschaften,  in  denen  jetzt  nur  die 
deutsche  Sprache  erklingt,  die  romanische  allgemein  und  auch  von  Rechtswegen  als 
die  herrschende  angesehen  wurde.  So  hat  sich  eben  in  der  Gegend  zwischen  Jenbach 
und  Innsbruck  die  alte  Mundart  noch  bis  in  das  dreizehnte  Jahrhundert  erhalten^), 
und  im  hinteren  Stubai  ist  sie  wahrscheinlich  erst  im  sechzehnten  Jahrhundert 
ausgestorben  6).  Das  Vintschgau  mit  allen  seinen  Nebentälern,  wo  man  übrigens 
noch  heute  den  starken  nicht  germanischen  Bodensatz  in  der  arg  fortgeschrittenen 
Waldverwüstung  erkennen  kann,  war  im  vierzehnten  Jahrhundert  noch  ein  durch 
und  durch  romanisches  Land,  in  dessen  Hauptort  Glurns  der  Richter  daher  auch 
allein  in  jener  Sprache  verhandelte'^).  Oberhalb  zeigt  Nauders  dieselbe  Erscheinung 
noch  bis  in  das  sechzehnte  Jahrhundert,  und  noch  in  denselben  Zeiten  sehen 
wir  sogar  in  Partschins  bei  Meran  einzelne  rätisch  sprechende  Leute  wohnen  s), 
während  oben  im  Vintschgau  die  Klosterleute  von  Marienberg  insgesamt  energisch 
gegen  die  Einführung  des  Deutschen  als  Gerichtssprache  prostestieren,  weil  sie 
dessen  wirklich  noch  nicht  mächtig  sind  9).  In  Burgeis  und  im  Matscher  Tal 
aber  hat  sich  das  Romanische  noch  bis  in  das  siebzehnte,  im  Schlinigtal  bei 
Burgeis  sogar  bis  in  das  achtzehnte  Jahrhundert  erhalten.  Auch  im  Wallgau,  also 
in  der  unmittelbaren  östlichen  Nachbarschaft  von  Feldkirch,  wurde  noch  im 
sechzehnten  Jahrhundert  teilweise  romanisch  geredet  und  in  dem  entlegeneren 
Montafon  und  Patznaun  sogar  noch  im  achtzehnten  Jahrhundert,  alles  Tatsachen, 
aus  denen  das  natürliche  Bild  jener  Entwickelung  heraustritt,  die  ebenso  langsam 
wie  unaufhaltsam  vorschreitend  schließlich  die  Alpenromanen  bis  auf  wenige 
vereinzelte  Trümmer  aufgesogen  hat,  derart,  daß  heute  kaum  für  deren  umfang- 
reichste Rechte,  die  Latiner  Bündens  und  die  Furlaner,  der  Begriff  Volk  Geltung 
haben  kann. 

')  Ju.   S.  261.  2)  z.  A.  1902.   S.  41.  3)  Kr.   S.  32.  ■*)  Ju.   S.  307.  5)  z.  a.  1902.   S.  41. 

6)  Ju.  S.308.        7)  Ju.  s.  288.        »)  Ju    S.  289.        9)  Ju.  S.  291. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  99 

Wir  wären  daher  hier  zunächst  an  dem  Punkte  angelangt,  an  dem  sich  die  Die  Ursachen 

des  Unter- 

Frage  aufdrängt,  wie  es  überhaupt  kommen  konnte,  daß  dieser  geschlossene  ganges  der 
romanische  Völkerteil,  der  zu  Beginn  des  Mittelalters  die  Alpen  vom  S.  Gotthard  Alpenromanen 
bis  zur  Adria,  von  der  Ostspitze  des  Bodensees  bis  zum  Dachstein  bewohnte, 
bis  auf  jene  geringen  Bruchstücke  so  vollständig  dem  Untergange  verfiel,  und 
warum  dieses  Volk,  das  einst  hinsichtlich  seiner  Menschenzahl  und  hinsichtlich 
des  von  ihm  bewohnten  Raumes  keine  schlechteren  Existenzbedingungen  zu 
haben  schien  als  die  heutigen  Rumänen  oder  Portugiesen,  auch  in  der  Geschichte 
so  geringe  Spuren  hinterlassen  hat.  Es  ist  dieses  ein  Resultat,  zu  dem  jedoch 
nicht  allein  die  Überlegenheit  der  benachbarten  Nationen  beigetragen  hat,  sondern 
ebensosehr  die  Beschaffenheit  des  von  den  Alpenromanen  bewohnten  Gebietes 
selbst,  das  als  reines  Gebirgsland  nach  allen  Seiten  hin  viel  geringere  Kultur- 
möglichkeiten bot  und  vor  allem  einer  wirklich  lebenskräftigen  Staatenbildung 
hinderlich  war.  Gewiß  ist  jedes  Gebirgsland,  und  nicht  zum  wenigsten  die 
Alpen,  besonders  geeignet,  die  alte  Bevölkerung  zu  konservieren,  aber  doch  nur 
in  passiver  Hinsicht,  in  einzelnen  getrennten  Resten,  die  sich  viel  schwerer 
und  viel  seltener  zu  einer  geschlossenen,  über  ihre  Berge  selbst  hinaus  werbenden 
Kraftäußerung  zusammenzufinden  pflegen.  Starke  staatliche  Instanzen,  jene 
Wechselwirkung  zwischen  politischer  Macht  und  nationaler  Selbständigkeit,  die 
sich  beide  gegenseitig  ihre  besten  Kräfte  zur  Verfügung  stellen,  vermögen  da- 
gegen nur  in  der  Ebene  zu  entstehen,  wo  selbständige  Kulturen  emporwachsen 
und  zugleich  die  Zügel  der  Herrschaft  fest  angezogen  werden  können- 

Die  Ebenen  nördlich  und  südlich  der  Alpen  waren  dagegen  schon  seit  dem 
Untergange  des  römischen  Reiches  den  Volksverwandten  der  Alpenromanen 
verloren  gegangen,  und  diesen  selbst  daher  die  einzige  Möglichkeit,  ihr  Volks- 
tum erfolgreich  zu  entwickeln,  von  Anfang  an  versagt.  Die  einzige  Stelle,  die 
unterstüzt  durch  ihre  zentrale  Lage  sich  einigermaßen  in  einer  führenden  Rolle 
gegenüber  den  Alpenromanen  bewegen  konnte,  sind  die  Churer  Bischöfe  gewesen, 
die  diesen  Zustand  auch  tatsächlich  im  ersten  Mittelalter  durchaus  zu  ihrem 
Vorteil  auszunutzen  wußten,  und  deren  politische  Machtstellung  deshalb  auch 
besonders  lange  erhalten  blieb.  Aber  abgesehen  von  diesem  doch  nur  in  einem 
beschränkten  Umfange  wirkenden  Halt  stand  damals  jenen  Nachkommen  der 
Römer  an  allen  ihren  Grenzen  als  mächtiger  ungeduldiger  Erbe  das  an  Volks- 
kraft weit  überlegene  und  auch  politisch  geeinte  römisch-deutsche  Reich  gegen- 
über, das  nun  seinerseits  vor  jenem  Bergland  nicht  Halt  machte  und  den 
Überschuß  seiner  Kraft  unaufhaltsam  in  dieses  hineinsendete,  eine  Entwicke- 
lung,  der  gegenüber  selbst  der  weitblickendste  und  festeste  Menschenwille  macht- 
los bleiben  mußte,  und  die  somit  zugleich  erkennen  läßt,  wie  tief  und  un- 
entrinnbar manchmal  die  Schicksale  der  Völker  und  Staaten  von  der  Natur 
abhängig  sind '). 

')  Vgl.  Anh.  12. 
7* 


100  VII.  Kapitel. 

DerVeriaufdes  Es  liegt  nahe,  nun   auch    eine  Schilderung   zu   versuchen,   welchen   lokalen 

des"Deutlch-  Verlauf  im  einzelnen  jene  zugleich  von  Süden  aber  noch  weit  stärker  von  Norden 
tums  in  die  aus  einsetzende  Zerstückelung  der  Alpenromanen  genommen  hat,  die  einen 
''^"'  Zeitraum  von  fast  einem  Jahrtausend  ausfüllt;  es  soll  aber  auch  von  vornherein 
hervorgehoben  werden,  daß  diese  Darstellung,  wie  die  weitaus  meisten  Unter- 
suchungen, die  sich  mit  der  Abwandlung  ethnologischer  Verhältnisse  befassen, 
nur  auf  einen  gewissen  Grad  von  Wahrscheinlichkeit  Anspruch  machen  kann. 
Festzuhalten  ist,  daß  wir  hier  keineswegs  an  eine  gewaltsame  Austreibung  der 
alten  Bewohner,  an  eine  Eroberung  mit  Feuer  und  Schwert  zu  denken  haben, 
die  über  jene  Gebiete  gezogen  wäre,  und  daß  man  im  Mittelalter,  wenigstens 
gegenüber  der  Alpenromanen,  sogar  nur  äußerst  selten  irgend  welchen  Maßregeln 
begegnen  kann,  die  der  Absicht  ähnlich  sehen,  die  Besiedelung  der  Alpentäler 
in  irgendwelcher  Weise  zu  beeinflussen.  In  der  Verdrängung  der  Alpenromanen 
durch  die  modernen  Völker  ist  tatsächlich  von  Anfang  an  nichts  anderes  als  das 
Resultat  einer  langen,  aber  durchaus  friedlichen  Entwickelung  zu  erblicken,  wie 
die  ältere  Kultur  von  der  jüngeren  und  kräftigeren  aufgesogen  wird.  Wenn 
dieses  aber  feststeht,  so  bieten  sich  wieder  jene  fremdartigen,  undeutsch  oder 
nicht  völlig  italienisch  klingenden  Ortsnamen  als  Mittel  dar,  um  den  Gang  jener 
Bewegung  ganz  in  großen  Zügen  zurückzukonstruieren;  und  wie  man  im  Alter 
sich  keines  der  eigenen,  längstverflossenen  Jahre  als  inhaltslos  vorstellen  kann, 
so  darf  auch  die  Geschichte  die  verschiedene  Lagerung  dieser  Namen  als  den 
Bodensatz  weit  zurückliegender  Umgestaltungen  und  Vorgänge  ansehen.  Denn 
die  Wahrscheinlichkeit  liegt  vor,  daß  da,  wo  in  jenem  Gebiete  das  moderne 
Element  in  den  Ortsnamen  vorherrscht,  auch  hier  die  neue  Besiedelung  nicht 
nur  am  nachhaltigsten  sondern  auch  am  frühesten  erfolgte,  während  überall  dort, 
wo  die  alten  Namen  sich  in  der  Überzahl  finden,  auch  die  Entnationalisierung 
dieser  Striche  in  eine  jüngere  Zeit  hinabreicht. 

Schon  die  äußeren  Ereignisse  der  Geschichte  wiesen  darauf  hin,  daß  die 
erfolgreichste  Arbeit  dieser  Art  vom  Norden  und  hier  wieder  vom  bayrischen 
Stamm  ausgegangen  ist;  denn  selbst  das  Umsichgreifen  des  alemannischen  Stammes 
bleibt  klein  neben  den  Resultaten,  die  der  benachbarte  bayrische  Stamm  in  dieser 
Hinsicht  aufzuweisen  hat.  So  ist  es  zunächst  der  Teil  des  Unterinntals  zwischen 
Kufstein  und  der  Mündung  des  Zillerbaches,  in  dem  sich  jene  anderslautenden 
Namen  nur  ganz  vereinzelt  finden,  der  überhaupt  in  allem  einen  reindeutschen 
Charakter  zeigt  und  sich  kaum  irgendwie  von  seiner  nördlichen  Nachbarschaft 
unterscheidet'),  ein  breites  Voralpental,  in  das  sich  demnach  am  frühesten  und 
nachhaltigsten  germanisches  Wesen  wie  ein  Keil  mitten  in  die  vom  Bodensee 
bis  zum  Salzkammergut  wohnenden  Romanen  der  Nordalpen  hineingeschoben 
haben  mag.  Weiterhin  erscheinen  als  Gebiete,  wo  deutsche  Ortsnamen  entschieden 
überwiegen,  und  demnach  gleichsam  als   weit  vorgeschobene   Posten   einer  früh 

')  Eg.  S.  14. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  IQ\ 

daselbst  eingepflanzten  deutschen  Besiedelung  das  Oberinntal  von  Innsbruck  bis 
Imst,  die  Ebene  von  Sterzing,  das  Pustertai  und,  ein  ganzes  Stück  südlicher, 
das  Sarn-,  Ulten-  und  der  untere  Teil  des  Passeiertales.  An  jener  ersten  Stelle, 
im  Oberinntal,  trifft  man  nicht  nur  zahlreich  echt  deutsche  Ortsnamen,  wie 
Tirschenbach,  Oberhofen,  Pfaffenhofen  sondern  auch  eine  Reihe  altdeutscher 
Namensformen  wie  Hötting,  Flauring,  Haiming  u.a.m.').  Auch  das  benachbarte 
Oetztal  hat  einen  entschieden  deutschen  Typus,  während  die  abseits  gelegenen 
Täler,  schon  das  Pitztal,  und  noch  mehr  das  Kaunser-  und  Patznauntal,  vor- 
wiegend romanische  Ortsnamen  zeigen.  Hier  liegt  also  für  das  Haupttal  gleich- 
falls die  Wahrscheinlichkeit  einer  frühzeitigen  und  intensiven  germanischen 
Besiedelung  vor,  eine  Besiedelung,  die  jedoch  infolge  der  auffallenden  Verschie- 
denheit der  Ober-  und  Unterinntaler-)  schwerlich  von  bayrischer  Seite  aus- 
gegangen sein  kann,  und  die  möglicherweise  überhaupt  als  die  älteste  derartige 
innerhalb  des  nördlichen  Gebirges  selbt  anzusehen  ist,  wenn  man  sie  mit  jenem 
Teile  der  Alemannen  in  Zusammenhang  bringt,  die  während  der  Regierungszeit 
Theodorichs  innerhalb  der  rätischen  Grenzen  Aufnahme  fanden^). 

Auch  das  Pustertal  selbst  zeigt  seiner  ganzen  Länge  nach  eine  große  Anzahl 
vor  allem  auch  archaistisch  deutscher  Ortsnamen;  doch  muß  gerade  dieser 
zeitigen  deutschen  Besiedelung  eine  größere  Expansionsfähigkeit  deshalb  abge- 
sprochen werden,  da  in  den  südlichen  Seitentälern  hier  noch  latinisch  gesprochen 
wird  und  auch  die  nördlichen  in  der  Mehrzahl  romanische  Ortsnamen  beherbergen''). 
Entlang  der  Brennerstraße  aber  begegnen  wir  südwärts  von  Jenbach  erst  wieder 
reichlichen  deutschen  Ortsnamen  in  der  Gegend  von  Sterzing  (Gossensaß, 
Sterzing,  Wiesen,  Elzenbaum,  Gasteig),  die  sich  dann  gleichfalls,  aber  nur  dicht 
an  den  Ufern  des  Eisak,  bis  an  die  Schwelle  von  Bozen  fortsetzen  (Freienfeld, 
Mittewald,  Oberau,  Atzwang  —  Adalbertsfeld,  Deutschen,  Blumau).  Die  Seitentäler 
haben  dagegen  auch  hier  und  oft  in  der  unmittelbaren  Nachbarschaft  des  Haupt- 
tales einen  um  so  ausgesprocheneren  latinischen  Charakter,  nicht  nur  Groeden, 
sondern  ebenso  auch  Villnös,  Afers,  Lüsen  und  Ridnaun^),  und  selbst  Brixen 
hat  heute  noch  zwei  romanische  Straßennamen^).  Überhaupt  ist  das  Vorwiegen 
der  romanischen  Nomenklatur  in  den  Seitentälern  entlang  des  Brenner  durchaus 
die  Regel,  wie  es  nach  dieser  Richtung  hin  besondere  Beachtung  verdient,  daß 
verhältnismäßig  weit  nördlich  vorgeschoben,  in  der  Gegend  von  Innsbruck,  vor- 
wiegend am  rechten  Innufer,  uns  jene  fremdartigen  Namen  plötzlich  wie  ein 
böser  Schwärm  überfallen,  und  daß  diese  Häufung  am  Brenner  bis  über  Matrei 
hinauf  anhält,  um  erst  dicht  nördlich  des  Passes  wieder  abzunehmen'').  Man 
')  Eg.  S.  15,  184.         2)  Eg.  S.  183;  Vgl.  Z.  A.  1901.  S.  101     105.  3)  Eg.  S.  184;  über  Imst  insbe- 

sondere  vgl.  F.  1906.  S.  135  f.  4)  Eg.  S.  18.  ?)  Ju.  S.  309.  A.  4.  6)  Z.  A.  1902.  S.  43.  ")  Volders, 
Tulfes,  Sistrans,  Vill,  Patsch;  bei  Matrei:  Gedeier,  Pfons,  Pastull,  Navis,  Lizumalpe.  Im  Wattental 
südlich  Hall  liegt  heute  noch  ein  Walchenwirtshaus,  und  dicht  bei  Innsbruck  findet  sich  auch 
jenes  Kulturspiel  der  drei  einander  benachbarten  Ortsnamen  Thaur,  Rum,  Arzl ,  wie  sie  in 
gleicher  Lage  als  Toro,  Rumo,  Arz  im  Nonstal  wiederkehren,  dessen  früheres  Latinertum  ja  noch 
viel  augenfälliger  daliegt. 


102  VII.  Kapitel. 

kann  also  wohl  daran  glauben,  daß  zu  den  Zeiten,  als  Innsbruck  Stadtrechte 
erhielt  (1239),  ein  guter  Teil  seiner  Bürger  noch  Latiner  war'),  und  daß  gerade 
diese  vom  Zillertal  nach  dem  Stubai  hinüberreichende  Gegend  noch  etwa  vom 
Anfange  unseres  Jahrtausends  an  einen  längeren  Zeitraum  durchlebt  hat,  in  dem 
sie  die  letzte  Scholle  bildete,  die  den  Zusammenhang  der  Alpenlatiner  von 
Salzburg  bis  tief  in  die  Schweiz  hinein  aufrecht  erhielt,  während  dieser  südlicher 
an  der  Brennerstraße  schon  viel  zeitiger  aufgelockert  worden  war. 
Wirkungen  des  Denn  der  Brennerweg  ist  es  doch  ganz    besonders  gewesen,    der    in    Tirol 

""^vefkehrs  f"'"  ^^^  deutsche  Vordringen  das  Rückgrat  abgegeben   hat,    aber   nicht    etwa    auf 

auf  die  Grund  seiner  Eigenschaften  als  Verkehrsstraße  sondern  allein  wegen  der  Wohn- 

"^^de^  Be^  lichkeit  und  Kulturfreundlichkeit  seiner  Ränder.     Wäre  die  deutsche  Kolonisation 

völkerung.  lediglich  dem  Straßenzuge  selbst  gefolgt,  so  hätte  sie  damals  nicht  im  Unterinntal 
sondern  zuerst  zwischen  Partenkirchen  und  Zirl  einsetzen  müssen,  aber  gerade 
Partenkirchen  muß  spät  germanisiert  worden  sein'),  und  das  der  Scharnitz  an- 
legende Gebirge  steckt  noch  heute  übervoll  von  romanischen  Namen'').  Über- 
haupt muß  es  hervorgehoben  werden,  daß  selbst  die  betretensten  Straßenlinien 
auch  in  ihrer  nächsten  Nachbarschaft  das  Leben  im  Gebirge  viel  weniger  beein- 
flußt und  umgestaltet  haben,  als  man  annehmen  könnte,  und  daß  jener  Durch- 
gangsverkehr, mag  er  seine  Wurzeln  in  noch  so  weiter  Ferne  haben  und  noch 
so  lebhaft  sein,  doch  aus  den  Bergen  gewissermaßen  in  die  anliegenden  Ebenen 
hinabzugleiten  und  erst  dort  seine  kulturfördernden  und  anregenden  Wirkungen 
zu  entfalten  pflegt.  Deshalb  finden  wir  auch  oft  in  den  Alpen  die  merkwürdige 
Erscheinung,  daß  dicht  neben  den  wichtigsten  Straßenpunkten,  an  deren  Offen- 
haltung die  mächtigsten  Instanzen  von  weither  interessiert  sind,  die  stillsten  und 
weltfernsten  Gebiete  liegen.  Die  Wildschönau,  die  wir  als  eines  der  abge- 
legensten Täler  Tirols  schon  kennen,  ist  trotzdem  dem  uralten  Straßenpunkt 
Wörgl,  wo  heute  wieder  die  Giselatalbahn  einmündet,  unmittelbar  benachbart; 
die  Täler  westlich  Aosta,  in  denen  heute  allein  noch  der  Steinbock  vorkommt, 
waren  bis  in  das  neunzehnte  Jahrhundert  noch  eine  der  abgelegensten  Stellen 
der  Welt,  und  der  Gotthard- Übergang  ebenso  wie  Thusis,  der  nördliche 
Sammelpunkt  der  bündner  Straßen,  und  Cortina  d'Ampezzo,  einer  der  wich- 
tigsten Umsatzplätze  für  den  mittelalterlichen  Handel  zwischen  Venedig  und 
Augsburg,  liegen  sämtlich  heute  noch  dicht  neben  latinischem  Sprachgebiet. 
Die  Herkunft  Im  südlichen  Tirol,  in   der  Meraner  und  Bozner  Gegend,  stehen  wir  dann 

der   Deutschen 

in  Südtirol,  weiter  auf  einem  ausgedehnten  Gebirgsstrich,  der,  wenn  auch  nur  strichweise, 
schon  wegen  der  Ortsnamen,  aber  doch  vielleicht  noch  mehr  auf  Grund  der 
Fülle  des  dortigen  deutschen  Lebens  und  der  bodenständigen  Art  dieser  Bevöl- 
kerung den  Eindruck  macht,  daß  hier  schon  in  der  frühesten  Zeit  eine  besonders 
kräftige  deutsche  Besiedelung  stattgefunden  hat.  Die  Art  des  dortigen  deutschen 
Elementes,  die  von  dem  bajuvarischen  entschieden  abweicht''),   ebenso   die   ver- 

')  St.  S.  12.         2)  z.  A.  1902.   S.  41.         3)Ju.  S.  170.  A.  4.        ■»)Ju.  S.  293. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  103 

hältnismäßig  große  Entfernung  von  dem  eigentlichen  Sitze  der  bayrischen  Macht, 
haben  daher  auch  hier  auf  den  Gedaniten  geführt,  daß  das  Dasein  dieser  Leute 
bereits  in  Ereignissen  zu  suchen  sei,  die  mit  der  germanischen  Völkerwanderung 
selbst  zusammenhängen,  und  daß  deren  Ursprung  ebensogut  im  Süden  der  Alpen 
gelegen  haben  könne.  Es  ist  dies  eine  Annahme,  die  sich  jedoch  nicht  bloß 
hinsichtlich  jener  Deutschen  an  der  oberen  Etsch  sondern  noch  viel  stärker 
hinsichtlich  der  vielen  anderen  mittelalterlichen  deutschen  Siedelungen  am  Süd- 
fuße der  Alpen  aufdrängen  muß,  wenn  sie  auch  im  einzelnen  stets  den  verschie- 
densten Meinungen  den  freiesten  Spielraum  offen  lassen  wird,  da  an  jeder  ein- 
zelnen Stelle  immer  wieder  die  Frage  besonders  aufgeworfen  werden  kann,  ob 
jene  Deutschen  nun  vom  Norden  oder  vom  Süden  der  Alpen  aus  dorthin 
gelangten,  und  ebenso  ob  im  letzteren  Falle  dann  Cimbern,  Juthungen,  Goten 
oder  Langobarden  als  deren  Urväter  anzusehen  sind.  Aber  trotzdem  vermag 
jene  bloße  Annahme,  daß  schon  von  den  Zeiten  der  eigentlichen  Völkerwanderung 
her  ein  dichterer  Grundstock  germanischer  Bevölkerung  am  Südrande  der  Alpen 
haften  geblieben  ist,  die  Bewegung  der  Bevölkerung  innerhalb  des  Gebirges 
während  des  Mittelalters  besonders  anschaulich  zu  machen,  da  jene  südlichsten 
deutschen  Enklaven  nur  von  selbst  die  Rolle  der  am  weitesten  von  Norden  aus 
vorgeschobenen  Posten  übernahmen,  die  ein  italienisches  Eindringen  in  die 
Alpen  an  vielen  Stellen  zunächst  fernhielten,  während  ebenso  das  von  Norden 
kommende  deutsche  Volkstum  da  und  dort  mit  ihnen  zusammenfließen  konnte; 
sie  sind  es  gewesen,  die  diese  Bewegung  dadurch  so  wirkungsvoll  machten,  weil 
sie  ihr  von  Anfang  an  ein  so  weites  Ziel  gesteckt  haben. 

Weit  verbreitet,  allbeliebt  und  von  der  Dichtung  mit  goldenem  Schimmer 
umwoben  ist  die  Annahme,  daß  die  Deutschen  aus  der  Umgebung  Merans  von 
den  Goten  abstammen,  und  auch  die  strenge  Wissenschaft  wird  daran  so  viel 
gelten  lassen  können,  daß  wir  hier  wirklich  echte  Abkömmlinge  hervorragender 
Germanenstämme  vor  uns  haben').  Dieses  trifft  nun  aber  nicht  minder  auch 
auf  die  Bewohner  des  Ulten-  und  Sarntals  und  auf  die  Leute  auf  den  Höhen 
östlich  der  Etsch,  Deutschnofen,  Aldein  und  Radein,  zu,  die  sich  alle  ebenso  wie 
die  Bewohner  des  Passeier  durch  hohe  Gestalt,  stattlichen  Wuchs  und  Kraft 
auszeichnen.  Am  interessantesten  nach  dieser  Richtung  hin  erscheint  aber  doch 
durchaus  das  Sarntal;  denn  im  ganzen  südlichen  Tirol  findet  man  auch  dort 
allein  —  abgesehen  von  Sarnthein  selbst  —  nur  zweifellos  deutsche  und  dazu 
sehr  alte  Ortsnamen  (Nordheim,  Asten,  Reinswald  d.  h.  Wald  des  Regino,  Durn- 
holz,  Rabenstein)^).  Dazu  kommt  aber  noch  etwas,  das  gleichfalls  nur  dort  und 
sonst  nirgends  weit  und  breit  in  der  Nachbarschaft  anzutreffen  ist,  und  das  bei 
einem  Besuche  dieses  Tales  jedem  sofort  in  die  Augen  fallen  muß.  Es  ist  dies 
die  merkwürdige  Bauart  der  Bauernhäuser,  die  mit  ihren  steilen  und  mit  der 
Traufe  fast  bis  zum  Boden  reichenden  Strohdächern  ganz  und  gar  der  typischen 
')  Eg.  S.  17.        2)  Ju.  S.  293. 


104  VI.  Kapitel. 

Form  des  Schwarzwälder  Bauernhauses  gleichen ').  Wer  die  Herkunft  der  Be- 
wohner des  Sarntales  erforschen  will,  würde  daher  diese  Erscheinung  ganz  be- 
sonders auf  das  Korn  zu  nehmen  haben. 

Über  die  größere  oder  geringere  Ausdehnung  jener  ersten  Deutschen  in 
Südtirol  sind  wir  aber  doch  durchaus  im  unklaren,  wie  es  auch  den  Anschein 
hat,  als  ob  dieselbe  anfänglich  überhaupt  nicht  allzustark  gewesen  sei.  Aber 
gerade  hier  ist  es  auch  besonders  wahrscheinlich,  daß  jenen  später  durch  das 
bayrische  Vordringen  neue  Nahrung  zugeführt  wurde,  und  daß  sich  die  deutsche 
Kolonisation  nun  mit  erneuten  Kräften  von  Bozen  aus  das  Etschtal  herab  geltend 
gemacht  hat^).  Dieser  Bewegung  können  dann  auch  die  heute  vereinzelten 
deutschen  Enklaven  in  jener  Nachbarschaft,  wie  die  Gemeinden  Altrei  und  Truden 
im  Tal  des  Avisio,  und  westlich  der  Etsch,  im  Tale  der  Novella,  eines  Neben- 
flusses des  Noce,  die  Gemeinden  Unsere  Frau  im  Wald,  S.  Felix,  Laurein  und 
Proveis  den  Ursprung  verdanken 3).  Hinsichtlich  dieser  letzteren  verdient  es 
auch  besondere  Beachtung,  daß  an  der  nördlichen  Schwelle  des  Gampenpasses, 
der  vom  Etschtal  aus  als  der  kürzeste  und  niedrigste  Übergang  zwischen  dem 
Hochwart  und  Gantkofel  in  das  Tal  der  Novella  hinüberführt,  eine  mittelalter- 
liche Ruine  mit  Namen  Payrsberg  liegt,  und  daß  überhaupt  gerade  dort  zwischen 
Nals  und  Tisens  auch  heute  noch  der  Augenschein  zeigt,  welch'  blühendes 
deutsches  Leben  hier  von  alters  her  zu  Hause  gewesen  ist.  Auch  in  die  süd- 
lichsten Verästelungen  des  Oetzlales  kann  die  deutsche  Besiedelung  ebensogut 
von  Meran  her  wie  vom  Oberinntal  aus  gelangt  sein.  Sicher  ist  dagegen,  daß 
nach  dem  Westen,  nach  dem  Vintschgau  zu,  der  Fortschritt  von  jener  Seite  her 
am  spätesten  eingesetzt  hat. 
DasVordringen  Wir  hätten  nunmehr  das  dem  nördlichen  germanischen  Vordringen  analoge 

in  die  Alpen,  italienische  Vorwärtsschreiten  zu  betrachten,  das  von  Süden  her  gleichfalls  seinen 
Teil  zur  Zersetzung  der  Alpenromanen  beitrug.  Die  Eigenschaften,  die  dem 
deutschen  Volkstum  von  Norden  her  von  Anfang  an  so  gewaltige  Erfolge  ver- 
schafften, der  Kräfteüberschuß  wie  die  politische  Herrschaft,  standen  freilich  dem 
italienischen  Volkstum  im  Mittelalter  zunächst  viel  weniger  zu  Gebote,  während 
diesem  dagegen  ein  anderer  Umstand  hierfür  nicht  weniger  gut  zu  statten  kommen 
konnte,  der  seinen  Ursprung  lediglich  in  der  natürlichen  Beschaffenheit  der  Alpen 
hat.  Am  Südrand  der  Alpen  liegt  vom  Lago  d'Orta  bis  zum  Gardasee  jene 
Reihe  von  Seen,  die  von  der  italienischen  Ebene  anhebend  sich  in  langer 
schmaler  Linie  nördlich  in  die  Bergwelt  hinein  erstrecken.  Diese  Wasseradern 
haben  daher  hier  dem  südlichen  Volkstum  von  Anfang  an  die  Möglichkeit  ge- 
boten, vorzudringen,  als  ein  sich  immer  gleichbleibendes,  bequem  schiffbares 
Element,  auf  dem  auch  die  Menschenhand  dem  Völkerverkehr  stets  die  geringsten 
Schwierigkeiten  zu  bereiten  vermochte.  Gerade  das  Mittelalter  hat  deshalb  die 
Wasserstraßen  mit  Vorliebe  benutzt  und  sie  überall,  wo  es  die  Wahl  hatte,  vor 
')  Vgl.Jenssen,  der  Schwarzwald,  Berlin  1890,  S.  116  Abbildung.      2)  jy.  s.  299.      3)  z.  A.  1902.  S.  44. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  105 

den  Landwegen  bevorzugt.  Auch  in  den  Alpen  hat  daher  damals  die  Schiffahrt 
eine  viel  größere  Rolle  als  heute  in  dem  Verkehrsleben  gespielt,  auf  jenen  süd- 
lichen Seen  so  gut  wie  auf  dem  Vierwaldstätter-See,  auf  der  Reuß  und  Limmat 
wie  auf  dem  Walensee,  auf  der  Etsch  und  auf  dem  Inn  wie  auf  der  Salzach  und 
auf  der  Mur'). 

Auf  diesen  Zustand  ist  es  somit  zurückzuführen,  daß  wir  schon  während 
des  Mittelalters  das  italienische  Volkstum  in  der  Leitlinie  jener  Seen  unaufhaltsam 
in  die  Berge  eindringen  und  die  Hochgebirgstäler  vom  Gotthard-Stock  bis  zum 
Wormserjoch  vorwiegend  mit  seiner  Sprache  überziehen  sehen,  eine  Wirkung, 
wie  sie  besonders  deutlich  bei  dem  Veltlin  hervortritt,  dessen  Bevölkerung  von 
alters  her  stets  nur  südlichen,  niemals  aber  deutschen  Einflüssen  zugänglich  ge- 
wesen ist,  trotzdem  dieses  Tal  nicht  näher  an  Italien  anliegt  als  Trient  oder  der 
Nordabfall  des  Gr.  S.  Bernhard-Weges.  Auch  weiter  nördlich  sind  hier  sogar 
zwei  Täler  von  der  italienischen  Sprache  erobert  worden,  die  dem  Nordabfall 
der  Alpen  angehören,  das  Val  di  Lei  (am  Splügen),  dessen  Wasser  dem  Rheine, 
und  das  Val  di  Livigno,  dessen  Wasser  dem  Inn  zufließen.  Auch  in  der  Gruppie- 
rung der  südtiroler  Bevölkerung  spiegelt  sich  das  Wesen  des  Größten  dieser 
Seen,  des  Gardasees,  wieder;  denn  während  hier  am  östlichen  Etschufer  der 
deutsche  Bestand  in  der  Bevölkerung  einst  von  Bozen  bis  nach  Vicenza  hinab- 
reichte, ist  er  westlich  der  Etsch  auch  damals  südlich  nie  über  das  Nonstal 
hinausgelangt;  alles,  was  jenseits  der  Linie  Adamello-Presanella  und  Brenta  liegt, 
ist  dagegen  schon  in  den  ersten  Zeiten  des  Mittelalters  vollständig  von  dem 
lombardischen  Volkstum  erobert  worden,  so  daß  Guidicarien  und  das  Sarcatal 
heute  im  Vergleich  zu  den  anderen  Teilen  Südtirols  in  der  Bevölkerung  den 
ausgeprägtesten  italienischen  Charakter  zeigt. 

Die  einzelnen  Abtönungen  in  der  Bevölkerung,  wie  sie  zwischen  den  Alpen-  Die 
romanen    einerseits   und   dem   rein   deutschen    und    rein    italienischen  Volkstum  einz°e"ne^ 
andererseits   bis   heute   möglich  geworden  sind,  lassen   sich   dagegen   in    keinem  Bevölkerungs- 
anderen Übergangsgebiet  besser  beobachten,  als  hier  gegenüber,  östlich  der  Eisak-  ^°"^"' 
und  Etschlinie,   jedoch   nicht  in  der  unmittelbaren   Nachbarschaft   dieser  Flüsse 
sondern  ein  Stück   weiter  östlich,   in  jenen  Gebirgstälern,   wo   die  Entwickelung 
der  Bevölkerung,  ohne  von  übermächtigen  natürlichen  oder  politischen  Einflüssen 
gestört  worden  zu  sein,   stets   einen   viel   langsameren  Schritt  eingeschlagen   hat. 
Hier  finden  wir  zunächst  noch  in  Groeden  die  unberührtesten  Reste  der  Alpcn- 
romanen,  im  Grunde  uraltes  Bauernblut,  Leute  mit  schwarzen  Augen  und  Haaren, 
eher  klein  als  groß,  breitschulterig,  mit  wenig  lebhaften  Zügen,  ohne  Beweglichkeit 
und  Pose,   die   trotzdem,   daß   sie   eine   romanische   Sprache  sprechen,  von   den 
heutigen  Italienern  ganz  verschieden  sind.    Auch  südlicher,  auf  den  Hochebenen 
von   Seis  und  Völs  sind  es   nur  insofern  andere    Leute,   als   daß  diese   hier  die 
deutsche  Sprache  angenommen  haben.    Weiter  südöstlich  im  mittleren  Avisiotale, 

')  Vgl.  Schu.  S.  25,  32,  415;  Oe.  11.  S.  187.  A.  1;  Sa.  L.  XXI.  S.  57. 


106  VII.  Kapitel.  I 

bei  Predazzo  und  Moena,  stehen  wir  dann  in  einer  Zone,  in  der  nun  neben  dem 
alten  latinischen  Element  und  dem  deutschen,  das  nach  hier  von  Bozen  aus  über 
den  Karerpaß  einen  guten  Zugang  hat,  zum  ersten  Mal  der  Einfluß  des  italienischen 
Elementes  zu  erkennen  ist.  Hier  sind  das  Aussehen  und  die  Haltung  der  Be- 
völkerung noch  ganz  so  wie  in  Groeden;  jedenfalls  weist  diese  hierin  weder 
ausgesprochen  deutsche  noch  ausgesprochen  italienische  Züge  auf.  Deutsches 
Wesen  zeigt  sich  dagegen  in  den  hier  herrschenden  Begriffen  von  Reinlichkeit 
und  Sauberkeit,  in  der  Art  der  Behandlung  der  Haustiere  und  in  dem  guten 
Zustand  der  Wälder,  italienisches  wieder  besonders  in  der  Sprache  und  in  den 
ganz  aus  Stein  gebauten  Häusern  mit  den  niedrigen  Dächern,  wo  vor  den  Fenstern 
die  Blumen  und  vor  den  Türen  die  Hausgärtchen  fehlen.  Weiter  nach  Süden, 
nach  dem  Cismonetal  zu,  verstärken  sich  dann  alle  diese  Züge;  mit  den  Tieren 
wird  nach  südlicher  Art  umgegangen,  die  Wälder  treten  mehr  von  der  Talsohle 
zurück  und  sehen  zerzauster  aus;  auch  die  Menschen  erinnern  in  ihrem  freieren 
Auftreten  und  in  ihrer  Kleidung,  die  Frauen  auch  durch  den  Similischmuck  mehr 
an  das  Italienische;  Eindrücke,  die  dann  im  Suganatal  bestehen  bleiben,  wenn 
auch  nicht  stärker  werden.  Aber  selbst  dort  in  jenen  italienisch  sprechenden 
und  Italien  dicht  benachbarten  Gebieten  ist  das  Bild  doch  nicht  völlig  dem  einer 
italienischen  Landschaft  kongruent.  Dies  zeigen  die  alten,  nach  deutscher  Art 
gefertigten  Gasthofsschilder,  die  alten  gotischen  Kirchen  (Pergine,  S.  Christoforo, 
Primiero),  die  sorgfältigere  Pflege  der  Kirchhöfe  und  nicht  zuletzt  das  Wesen 
der  Bewohner  selbst,  deren  Tätigkeit  geräuschloser,  deren  Fleiß  stiller,  deren 
Benehmen  zwar  freundlich,  aber  nicht  zuvorkommend  ist,  wenn  es  auch  zweifel- 
haft sein  mag,  ob  dieser  Unterschied,  der  nur  in  der  inneren  Seelenstimmung, 
in  der  Lebensauffassung,  begründet  sein  kann,  von  einem  andersgearteten  Volks- 
tum herzuleiten  ist  oder  nur  von  der  nordischen  Regierungsweise,  die  bis  jetzt 
seit  Jahrhunderten  hier  gewaltet  hat. 
Eigentümlicher  Es  ist  schon  gesagt  worden,  welch'  eigentümliches  Gepräge  viele  jener  Orts- 

roman?fchen  "anien  aufweisen,  die  in  dem  Gebiet  der  früheren  Alpenromanen  vorkommen; 
Ortsnamen  es  ist  jedoch  auch  weiter  in  dieser  Beziehung  zu  beobachten,  daß  sich  die  weit- 
in en  pen.  ^^^  sonderbarsten  und  fremdartigsten  derselben  gerade  in  solchen  Gebirgsgegenden 
finden,  die  heute  von  Italienern  oder  noch  von  den  Latinern  selbst  bewohnt 
werden.  Alle  jene  Ortsnamen  geben  ja  überhaupt  eine  geradezu  unheimliche 
Erscheinung  für  den  Sprachforscher  ab,  aber  es  bleibt  doch  nur  ein  Zeichen  für 
die  Stärke  und  Unermüdlichkeit  des  menschlichen  Wissenstriebes,  wenn  der 
Streit  über  ihre  Erklärungen  niemals  austoben  wird,  während  an  dieser  Stelle 
eine  kleine  Blütenlese  solcher  Namen  genügen  mag,  um  ihren  verzweifelt  merk- 
würdigen Klang  anschaulich  zu  machen.  So  liegt  in  Bünden  heute  ein  Rueras 
und  Camischolas,  Alvaschein,  Belalüna  und  Vazerols,  im  Val  Camonica  ein  Ort 
Mu  (bei  Edolo),  bei  Madonna  di  Campiglio  ein  Ort  Bandalors  und  ein  Berg 
Sabbion.     Bei  Meran   begegnen   wir  Namen   wie  Gargazon   und   Farmazon');   in 

')  B.  W.  S.  329. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  107 

der  Sellagruppe  Pisciadu  und  Setus,  im  Avisiotal  Panchia,  Val  Lagorei,  Joch 
Lavaze,  bei  Paneveggio  dem  Colbriconpaß,  in  der  Umgebung  von  Cortina  d'Am- 
pezzo  Travernanzes  und  den  Bergen  Nuvolau  und  Giau,  und  bei  Saifnitz  einem 
Berg  Nabois.  Eigenartige  Ausblicke  mögen  sich  ferner  auftun,  wenn  eine  An- 
zahl dieser  Ortsnamen  heute  eine  auffallende  Ähnlichlteit  mit  solchen  zeigen,  wie 
sie  sich  auf  der  iberischen  Halbinsel  und  somit  auch  in  den  später  von  den 
Spaniern  und  Portugiesen  tcolonisierten  Erdteilen  finden.  Als  solche  itönnen 
angeführt  werden  Magras,  Tuenno,  Segonzon,  Terzolas  im  Nons-  bezl.  Sulzberg, 
Amblar,  Don,  Tavon  bei  Fondo  dicht  südwestlich  der  Mendel,  einsame  Gebirgs- 
orte,  die  von  Norden  wie  von  Süden  her  stets  gleich  unbequem  zu  erreichen 
waren,  wie  es  gewiß  auch  kein  Zufall  ist,  daß  gerade  auch  in  den  obersten  Ver- 
ästelungen dieser  Täler  jene  zahlreichen  Depotfunde  römischer  Münzen  an  das 
Tageslicht  gekommen  sind,  die  während  der  Völkerwanderung  hier  versteckt 
worden  waren.  In  Spanien  finden  wir  ein  Vigo,  in  Portugal  ein  Elvas  und  ein 
Guarda.  Ein  Vigo  liegt  aber  auch  im  Avisiotal,  ein  Elvas  bei  Brixen  und  ein 
Guarda  und  eine  Burg  Guardaval  im  Engadin.  Und  wenn  heute  im  fernsten 
Morgenlande  das  Kap  Guardafui  weit  in  die  heißen  Fluten  hineinragt,  so  ringt 
möglicherweise  auch  kein  anderer  Begriff  in  dem  Hof  Gstatsch  zum  Ausdruck, 
der  am  westlichen  Ende  der  Seiser  Alm,  wie  ein  Wachtposten  vorgeschoben, 
über  das  Hochgebirgsplateau  zu  seinen  Füßen  hinabschaut').  Man  sieht  also,  sie 
hat  sich  zwar  verscheuchen  lassen,  aber  sie  wollte  doch  herantreten,  jene  Fee, 
die  diesen  Alpenromanen  die  Zukunft  einer  selbständigen  Nation  in  die  Wiege 
legen  wollte. 

Die  unendliche  Mannigfaltigkeit  in  dem  Habitus  der  Bevölkerung  und  ebenso  Überein- 
in  der  Verteilung  der  modern  und  fremdartig  klingenden  Ortsnamen  lassen  nun  Gruppierung 
zunächst  für    jeden    einzelnen  Teil   der  Alpen    ein    anderes  Bild    zu,    nicht    nur  der  Ortsnamen 

_    .  ,  .        ,  .  ,  .  i,..ii  L         innerhalb  des 

hmsichtlich  des  Zeitpunktes,  m  dem  jener  von  den  modernen  Volkern  erobert  Gebirges, 
worden  ist,  sondern  auch  hinsichtlich  der  größeren  oder  geringeren  Schnelligkeit, 
mit  der  die  neue  Besiedelung  einst  Platz  gegriffen  hat.  Trotz  aller  dieser  Ver- 
schiedenheiten läßt  sich  aber  doch  bei  der  Lage  der  Ortsnamen  innerhalb  der 
einzelnen  Alpentäler  eine  Beobachtung  machen,  die  mit  geringen  Ausnahmen 
für  das  ganze  Gebiet  der  früheren  Alpenromanen  zutrifft;  es  ist  diejenige,  daß 
die  am  Taleingange  gelegenen  Punkte  und  ebenso  die  Hauptorte  selbst  mehr 
moderne  Ortsnamen  zeigen,  während  uns  dann  höher  hinauf  an  den  Hängen  und 
Enden  der  Täler,  und  je  abgelegener,  um  so  stärker,  die  fremdartigen  Namen 
in  der  Überzahl  begegnen.  Dieser  ganze  Befund  läßt  aber  nun  zwei  Tatsachen 
erkennen,  die  für  den  Zustand  und  die  Bewegung  der  Bevölkerung  in  den  Alpen 
Allgemeingültigkeit  besitzen,  zunächst  diejenige,  daß  jene  neue  Besiedelung  der 
Alpen  während  des  Mittelalters  nur  langsam  und  den  natürlichen  Verhältnissen 
folgend  von  der  Talsohle  an  aufwärts  vor  sich  gegangen  ist,  ohne  sich  irgendwie 

')  Das  Volk  sagt  hier  Guastatscher. 


108  VII.  Kapitel. 

gewaltsamer  Mittel  zu  bedienen;  andererseits  müssen  die  Alpen  aber  auch,  weil 
in  den  seitab  liegenden  Tälern  überall  reichlich  die  alten  Ortsnamen  auftreten, 
auch  schon  vor  dem  Eindringen  der  modernen  Völker  eine  zahlreiche  Bevöl- 
kerung beherbergt  haben. 

Jene  Gruppierung  der  Ortsnamen  aber,  die  diese  Verhältnisse  widerspiegelt, 
ist  heute  an  unzähligen  Stellen  der  Alpen  zu  finden').  Ein  besonders  charak- 
teristisches Beispiel  für  jene  Verteilung  liefert  das  lange  Oetztal,  wo  die  Namen 
in  der  breiten  Sohle  des  Haupttales  ganz  alltäglich  deutsch  klingen  (Umhausen, 
Längenfeld,  Hüben,  Zwieselstein),  während  uns  hinten  in  der  Hochgebirgswelt 
eine  ganz  andere  Gesellschaft  begegnet  (Ramol-Joch,  Firmisanspitze,  Fanatspitze, 
Similaun,  Finailspitze).  Im  hintersten  Lechtal  liegen  über  Steeg  und  Warth  das 
Almejurtal  und  der  Formarlnsee,  im  Gschnitztal  unter  Steinach  und  Gschnitz, 
oben  die  Alpe  Lapones  und  der  Tribulann,  im  Seirain  unten  Seirain  und  Gries, 
oben  Praxmar  und  Kühetai.  Auch  das  Passeier  hat  an  allen  wichtigen  Punkten 
der  Talsohle  von  Schenna  bis  herauf  nach  Walten  und  Moos  moderne  Namen, 
während  daselbst  an  den  unwichtigen  und  hohen  Stellen  zumeist  fremdartige 
vorkommen  (Vernuer,  Six,  Plön,  Lazins).  Auch  im  abgelegenen  Lessachtale 
und  hoch  oben  im  Kaisertal  erscheinen  die  romanischen  Namen  plötzlich  in  der 
Überzahl,  nachdem  man  den  Weg  zu  ihnen  durch  deutsche  und  slavische  Orts- 
namen hat  hindurchnehmen  müssen^).  Verfolgen  wir  nun  aber  jene  Entwickelung 
bis  an  ihre  äußersten  Grenzen,  so  verkehrt  sich  dann  freilich  dieser  Befund 
zuweilen  in  das  Gegenteil,  insofern  es  nicht  selten  vorkommt,  daß  in  der  Zone 
der  höchsten  Erhebungen,  in  der  Nachbarschaft  der  eigentlichen  Gebirgsriesen, 
nun  wieder  die  fremdartigen  Namen  aufhören  und  solche  an  deren  Stelle  treten, 
die  den  modernen  Sprachen  angehören.  Diese  Erscheinung  ist  teilweise  am 
Ortler,  besonders  deutlich  aber  in  dem  westlichen  Komplex  der  Oetztaler  und 
an  den  höchsten  Spitzen  der  Zillertaler  Alpen  wie  am  Großglockner  zu  be- 
obachten. Auch  im  italienischen  Sprachgebiet  finden  wir  ganz  ausgeprägt  am 
Adamello,  und  annähernd  auch  an  der  Marmolata  und  am  Bernina  dasselbe  Bild. 

Die  Rolle  des  Einer    der    wichtigsten    Schlüsse    auf   das    Schicksal    der    mittelalterlichen 

Namen  der  Bevölkerung  der  Alpen  geht  schließlich  aus  der  Gestaltung  einer  ganz  besonderen, 
Mittelalter-  gerade  in  den  Alpen  außerordentlich  zahlreich  verbreiteten  Klasse  von  Ortsnamen 

in  den  Mpen.  hervor,  aus  derjenigen  der  mittelalterlichen  Burgen.  Mit  schnellen  Schritten  hat 
während  der  ersten  Jahrhunderte  des  Mittelalters  das  Kulturleben  einen  ausge- 
prägt klerikalen  und  noch  mehr  feudalen  Charakter  erreicht,  derart,  daß  die 
herrschenden  Klassen  ein  entschiedenes  Übergewicht  in  allen  LebensäußeruDgen 
der  Völker  besaßen,  und  daß  von  jenen  allein  im  großen  und  im  kleinen  die 
politische  Herrschaft  jeder  Art  ausgeübt  wurde.  Dieser  Herrenstand,  neben  den 
vornehmen  Dienern   der    Kirche   besonders  die  großen   und   kleinen  weltlichen 

1)  Für  ein  einzelnes  Tal  schildert  diesen  Vorgang  sehr  anschaulich:  Mader,  die  Besiedelung  von 
Afers  bei  Brixen.   F.  1906.   S.  157f.        2)   Unterforcher.   G.  Pr.  Leitmeritz  1885,  Separatabdruck  S.  6. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  lOg 

Dynasten,  hatten  aber  ihren  ausschließlichen  Sitz  nirgends  anders  als  in  den 
mittelalterlichen  Burgen  und  Festen,  die  damals  die  bevorzugtesten  und  besten 
menschlichen  Wohnstätten  waren,  weil  sie  nicht  nur  die  persönliche  Sicherheit 
am  stärksten  gewährleisteten,  sondern  besonders  auch  ihrerseits  das  Mittel  bildeten, 
um  die  ungeschützte  Nachbarschaft  in  Botmäßigkeit  zu  erhalten.  Jene  mittelalter- 
lichen Herrschaftssitze  sind  nun  aber  in  den  Alpen  nicht  nur  besonders  zahlreich, 
sondern  sie  führen  auch,  was  in  diesem  Zusammenhange  die  Hauptsache  ist,  in 
der  großen  Mehrzahl  und  selbst  in  Gegenden,  wo  auch  heute  noch  die  alten 
romanischen  Ortsnamen  durchaus  in  der  Überzahl  sind,  rein  deutsche  Namen, 
Bezeichnungen,  wie  wir  sie  uns  außerdem  manchmal  nicht  romantischer  vorstellen 
können.  Dieser  Befund  tritt  also  ganz  von  selbst  als  eine  Ergänzung  zu  dem 
vorher  gezeichneten  Gange  der  Umgestaltung  der  Alpenromanen  hinzu.  Die 
deutschen  Herren,  die  zugleich  mit  der  politischen  Besitznahme  der  Alpenländer 
durch  den  Norden  in  das  Bergland  kamen,  sind  es  gewesen,  die  sich  zuerst 
zwischen  einer  anders  gearteten  und  anders  sprechenden  Bevölkerung  nieder- 
ließen; sie  haben  ebenso  unwiderstehlich  als  Vertreter  des  herrschenden  Standes 
wie  als  Träger  einer  neuen  Kultur  für  diese  ganze  Bewegung  gewissermaßen  die 
Anführer  und  Pfadfinder  abgegeben  und  dann  hier  ein  Kulturleben  hervorgerufen, 
dessen  mannigfache  Äußerungen  an  einer  anderen  Stelle  zu  betrachten  sein 
werden,  während  hier  nur  einige  Beispiele  hervorgehoben  werden  sollen,  die  für 
das  entschiedene  Vorkommen  der  deutschen  Bezeichnungen  in  den  Burgennamen  in 
der  unmittelbaren  Nachbarschaft  der  alten  Namen  besonders  charakteristisch  sind. 
So  finden  sich  am  südlichen  Ausgang  des  Fernpasses,  wo  uns  unten  an  der 
Straße  selbst  als  offene  Orte  Namen  wie  Dormitz,  Stradt,  Tarrenz  und  Imst 
begegnen,  hoch  über  denselben  als  beherrschende  Punkte  die  Burgen  Fernstein, 
Gebratstein  und  Altstarkenberg;  weiter  südwestlich  liegen  Angedair  und  Perfuchs, 
Pians  und  Perjen,  ungeschützte  Flecken,  in  der  Nachbarschaft  der  Burg  Schroffen- 
stein und  der  gewaltigen  Burg  Landeck.  Gehen  wir  von  hier  das  Inntal  abwärts, 
so  heben  sich,  wenn  auch  zumeist  unter  deutschen  Ortsnamen  Burgennamen 
wie  Kronburg,  Stein  am  Rofen,  Petersberg,  Weifenburg  und  Hörtenberg  heraus, 
während  dann  besonders  am  Eintritt  der  Scharnitzlinie  in  das  Inntal  die  Ruine 
Fragenstein  auf  die  Orte  Zirl  und  Perfus  herabblickt.  Am  Eingange  des  Navis- 
tales  liegen  die  Reste  der  Burg  Aufenstein  (Eulenstein,  jetzt  S.  Kathrein)  einsam 
zwischen  romanischen  Namen  und  selbst  im  altlatinischen  Gebiete  von  Groeden 
und  Seis  die  Burgen  Wolkenstein  und  Hauenstein.  Ein  richtiges  Bild  der 
Bestimmung  der  unzähligen  volltönenden  Burgennamen  an  den  Hängen  des  Etsch- 
tales  zwischen  Bozen  und  Meran  wird  erst  dann  gewonnen,  wenn  man  zugleich 
die  in  der  Talsohle  liegenden  Flecken  von  Terlan  bis  Gargazon  betrachtet,  bei 
denen  ein  romanischer  Name  auf  den  anderen  folgt.  Am  weitesten  nördlich  am 
Rande  der  Alpen  findet  sich  bei  Reichenhall  und  Salzburg  bis  in  die  Ebene 
hinein  vortretend  eine  zahlreiche  Gesellschaft  romanischer  Ortsnamen  vor,  aber 


HO  VII.  Kapitel. 

auch  hier  sind  die  Burgennamen  wie  Gruttenstein,  StaufFeneck,  Karlstein,  Glaneck, 
Neuhaus,  Urstein  und  Kahlsperg  überwiegend  deutsch.  Auch  im  Mölltal,  das 
ebenso  zahlreich  romanische  wie  slavische  Ortsnamen  beherbergt,  haben  die 
Burgen  deutsche  Namen  wie  Groppenstein,  Wildegg  und  GroO-Kirchheim. 

Allein  in  der  Hochburg  des  Alpen-Latinismus,  in  dem  alten  Sprengel  des 
Bistums  Chur,  sehen  wir,  daß  auch  die  Burgen,  an  einzelnen  Stellen  vereinzelt, 
an  anderen  dagegen  in  der  Überzahl,  romanische  Namen  tragen,  eine  Erscheinung, 
die  zwar  die  Tatsache  nicht  berührt,  daß  auch  hier  der  Adel  im  Mittelalter  die 
führende  Stellung  behauptete,  die  aber  den  Schluß  nahelegt,  daß  sich  hier  einst 
unter  den  mittelalterlichen  Dynasten  zum  Teil  der  alteingesessene  Stamm  erhalten 
konnte.  Wichtig  bleibt  es  aber,  daß  wir  doch  auch  hier  inmitten  einer  anders 
sprechenden  Bevölkerung,  in  Gegenden,  in  denen  sich  sonst  nicht  ein  einziger 
deutscher  Ortsname  findet,  nicht  minder  Burgen  mit  ausgesprochen  deutscher 
Bezeichnung  entdecken,  woraus  sich  also  wiederum  erkennen  läßt,  daß  auch  vor 
diesem  Gebiet  jene  mittelalterliche  Bewegung,  jene  Einwanderung  von  oben  her, 
nicht  Halt  gemacht  hat.  Im  Domleschg,  der  bevorzugten  Stätte  des  bündner 
Adels  teilen  sich  die  Burgennamen  in  solche  wie  Rhazüns,  Juvalta,  Canova  und 
Realta  und  solche  wie  Ortenstein,  Ehrenfels,  Nieder-Tagstein,  Rietberg  und 
Baldenstein;  gleichfalls  im  Herzen  Rätiens  .treffen  wir  Rauschenberg  (bei  Conters), 
Löwenberg  (bei  Laax),  Jörgenberg  und  Rinkenberg  (bei  Tavanasa)  und  Straßberg 
(bei  Churwalden).  Auch  an  der  Albulabahn  liegen  einander  benachbart  die 
Ruinen  Beifort  und  Greifenstein  und  am  Flüelaweg  neben  der  Burg  Castels  die 
Ruine  Strahlegg.  Auf  dem  Wege  von  Landquart  durch  das  Prättigau  aber,  wo 
sonst  kein  einziger  Ortsname  deutschen  Klang  hat,  begegnen  uns  doch  deutsche 
Burgennamen,  wie  Facklenstein  und  Fragstein,  und  weiter  nordöstlich  sehen 
wir  über  Tobadill  und  der  Rosanna  und  Trisanna  die  Ruine  Wiesberg.  Auch 
im  Unterengadin  mit  seiner  ganz  romanischen  Nomenklatur  heißt  die  sich  über 
Ardetz  erhebende  Burg  doch  nur  Steinsberg,  und  wie  bezeichnend  liegt  nicht 
das  die  ganze  Gegend  beherrschende  deutsche  Lichtenberg  inmitten  der  vielen 
fremdartigen  Ortsnamen  des  Glurnser  Bezirkes  und  insbesondere  neben  dem 
benachbarten  Dorfe,  das  ursprünglich  Subende  hieß  und  erst  später  nach  der 
Erbauung  des  Schlosses  den  Namen  desselben  annahm  ')•  Auch  im  Etschtal 
zwischen  Bozen  und  Meran  existieren  für  die  deutschen  Burgen  Schwanburg 
und  Pfeffersburg  seit  alters  her  auch  andere  volkstümliche  Ortsnamen  (Gaul 
bezl.  Casatsch). 

Überhaupt  werden  von  der  Westgrenze  Tirols  ab  die  deutschen  Burgen- 
namen so  gut  wie  zur  Regel,  und  wenn  wir  romanische  Burgennamen  sich  dort 
einzig  und  allein  in  der  Richtlinie  des  oberen  Etschtales  weit  nach  Osten  hin 
fortsetzen  sehen,  so  ist  dies  nur  einer  der  vielen  Züge,  der  gerade  in  dieser 
Zone  den  Widerstand  der    romanischen  Kultur    so    besonders  stark    erscheinen 

>)Tir.   S.  19. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  Hl 

läßt,  Qie  in  Chur,  jener  inneralpinen  Zentrale,  ihren  stärksten  Stützpunkt  hatte 
und  von  hier  lange  Zeiten  hindurch  sogar  bis  vor  die  Tore  Bozens  reichte. 
Daher  finden  sich  im  Vintschgau  noch  Burgennamen  wie  Montan,  Castelbell  und 
Hochnaturns,  bei  Meran  solche  wie  Tirol,  Goyen  (Gajanum),  Dornsberg  (Tarants- 
berg)  und  Rubein;  auch  bei  Bozen  führen  einige  der  stattlichsten  Schlösser  wie 
Formigar,  Hocheppan  und  Boimont  ganz  romanische  Namen,  während  nördlicher 
am  Eisak  nur  ganz  vereinzelt  die  Burgen  Gufidaun  und  Paliaus  zu  finden  sind. 
In  welch'  gleichartigen  Streifen  diese  Entwickelung  überall  die  Berge  über- 
zog, läßt  sich  aber  auch  daraus  erkennen,  daß  die  Burgennamen  mit  demselben 
Klange  an  den  verschiedensten  Stellen  wiederkehren,  eine  Erscheinung,  die 
freilich  oft  nur  darin  ihren  Grund  gehabt  hat,  weil  jene  Herrengeschlechter  ihre 
neu  erworbenen  Besitzungen,  nach  denen  hin  sie  weiter  vorwärts  getrieben 
wurden,  nach  ihrer  ersten  Heimat  zu  nennen  pflegten.  So  gaben  die  Grafen 
von  Eschenlohe  nach  ihrer  bei  Partenkirchen  gelegenen  Stammburg  der  neu 
erbauten  Burg  im  Ultental  gleichfalls  den  Namen  Eschenlohe,  und  die  ersten 
Besitzer  der  Burg  Gerstein  bei  Klausen  finden  wir  dann  auf  den  nach  ihnen 
benannten  Türme.i  und  Höfen  im  Salzburger  Lande  wieder')-  Aber  auch  ohne 
dies  mögen  diese  Burgengründungen,  weil  ihnen  stets  dasselbe  Motiv  zu  Grunde 
lag,  ganz  von  selbst  auch  zu  solchen  gleichartigen  Namen  gegriffen  haben,  und 
es  ist  interessant,  zu  sehen,  daß  diese  Beobachtung  sogar  bei  den  romanischen 
Burgennamen  zutrifft.  So  giebt  es  ein  Beifort  in  Bünden  und  ein  solches  im 
Nonsberg,  ein  Rodunt,  von  denen  das  eine  jetzt  Radunt-),  das  andere  aber 
Rodeneck  heißt,  im  Glurnser  Bezirk  bezl.  bei  Brixen.  An  allen  Ecken  und 
Enden  der  Berge  kehren  nun  aber  die  gleichlautenden  deutschen  Burgennamen 
wieder.  Ein  Straßberg  finden  wir  bei  Churwalden  und  bei  Gossensass,  ein 
Fragstein  im  Prättigau,  ein  Fragenstein  bei  Zirl,  eine  Fragsburg 3)  bei  Meran, 
ein  Greifenstein  an  der  Albulabahn  und  bei  Bozen,  ein  Greifenburg  an  der  Drau. 
Ein  Löwenberg  liegt  in  Bünden  (bei  Laax)  und  ein  solches  auch  bei  Meran 
(Lebenberg)  und  bei  Kitzbühel;  ein  Rafenstein,  ein  Wolfsthurn  und  eine  Pfeffers- 
burg treffen  wir  bei  Bozen,  ein  Rabenstein  ebenso  auch  in  Friaul,  ein  Wolfs- 
thurn bei  Sterzing  und  ein  Pfeffersberg  bei  Brixen;  ein  Schloß  Schneeberg  liegt 
im  Gschnitztal  und  ein  Schloß  Schneeburg  giebt  es  auch  bei  Hall.  Bei  Sterzing 
haben  wir  ein  Reifeneck  und  ein  Reifenstein;  bei  Salurn  stand  einst  eine  Burg 
Reichenberg,  wie  eine  solche  heute  noch  im  Vintschgau  zu  finden  ist"*);  ein 
Ortenstein  liegt   im    Domleschg   und  eine  Ortenburg    im    Pustertal,    eine   Ruine  ^     ,, 

°  *'  *'  '  Das  Deutsch- 

Hauenstein  bei  Seis  und  ebenso  bei  Voitsberg  in  der  Steiermark.  tum  des  mittel- 

Der  sicherste   Beweis,   auf  welcher  Seite   die   völkerbildende    Kraft   dieser  a'teriichen 
'  Adels  in 

Bewegung  zu  suchen  ist,  liegt  aber  doch  darin,  daß  wo  wir  auch  in  die  schrift-  den  Alpen. 

1)  Sa.  L.  XXI.  S.  70f.  2)  jir.  S.  89.  3)   Frag,  Fragant  u.  a.  m.  bedeutet  Grund  und  Boden,  der 

schon  einmal  bebaut  war  und  dann  eine  Zeit  lang  öde  lag,  vgl.  Achleitner,  Tirolische  Namen,  Inns- 
bruck 1901,  S.  25.        ■•)  Tir.  S.  90. 


112  VII.  Kapitel. 

liehen  Zeugnisse  der  Vergangenheit  hineinblicken  —  mögen  diese  nun  zeitlich 
noch  so  tief  in  das  Mittelalter  hinabreichen  oder  ihr  Schauplatz  noch  so  weit 
von  der  heutigen  deutschen  Sprachgrenze  entfernt  sein  —  jener  Herrenstand  fast 
überall  nur  deutsche  Vornamen  trägt.  Einen  altertümlichen  und  ungefügen  aber 
doch  keinen  eigentlichen  fremdartigen  Klang  haben  sie  übrigens  alle  diese 
Namen,  bei  denen  der  Kenner  des  deutschen  Altertums  seine  helle  Freude 
empfinden  kann ').  Wie  zeitig  und  wie  ausgesprochen  von  oben  her  diese 
Bewegung  eingesetzt  hat,  zeigt  sich  besonders  bei  den  Sebener  Bischöfen,  die 
am  Anfang  des  Mittelalters  die  ersten  Dynasten  des  östlichen  Rätiens  waren  und 
die  bereits  seit  dem  neunten  Jahrhundert  die  romanischen  Namen  (Ingenuin,  Alim 
ca.  804)  zu  Gunsten  der  deutschen  abstreifen  2).  Im  J.  902  lebt  in  Nordtirol  ein 
reicher  Grundbesitzer  mit  dem  deutschen  Namen  Ratold,  während  dessen  Gattin 
noch  den  romanischen  Namen  Adalonna  führt,  und  als  sich  im  J.  972  elf 
vornehme  Herren  aus  Bünden  in  Konstanz  vor  Otto  I.  einfinden,  treffen  wir 
unter  diesen  bereits  fünf  mit  deutschem  Namen ^).  Und  wenn  wir  dann  nach 
Jahrhunderten  sehen,  daß  Herren  mit  solch'  welschen  Namen  wie  Montfort  und 
Rubeln  (Ruvina)  deutsche  Dichter  geworden  sind,  wenn  die  Taranten  (vom 
Schlosse  Tarantsberg  bei  Meran)  im  Laufe  der  Zeiten  ihren  welschen  Namen  in 
Dornsberg  und  ihre  Wappenzeichen,  die  drei  giftigen  schwarzen  Spinnen  (Taran- 
tolen)  in  drei  harmlose  schwarze  Adler  umändern'*),  wenn  die  Herren  von 
Castelbark  und  Arco  1298  auf  dem  Schlachtfelde  von  Göllheim  in  der  deutschen 
Rheinpfalz  mitkämpfen^),  so  sind  dieses  alles  nur  Beispiele,  welch'  tiefe  und 
weite  Kreise  schließlich  diese  ganze  Bewegung  gezogen  hat. 

Als  ein  besonderer  Ausläufer  derselben,  der  ganz  gleichartig  wie  in  dem 
übrigen  Gebirgsland  einsetzte  aber  trotzdem  gewissermaßen  in  den  Anfängen 
stecken  blieb,  sind  noch  die  deutschen  Burgennamen  in  Friaul  zu  nennen,  die 
heute  längst  verklungen  sind,  einst  aber  auch  dort  weit  verbreitet  waren.  Auch 
in  Friaul  ist  einst  im  zehnten  und  elften  Jahrhundert  der  deutsche  Adel  zahl- 
reich eingedrungen,  hat  seine  Burgen  in  Besitz  genommen  und  auf  ihnen  eine 
Zeit  lang  geschaltet  und  gewaltet,  ein  Leben,  das  uns  Thomas  der  Zirkler  in 
seinem  „welschen  Gast"  köstlich  genug  beschreibt^).  So  lagen  einst  bei  Venzone 
Schrattenberg  (Satimberch)  und  Starkenberg  (Montfort),  bei  Ospetaletto  Grossen- 
berg (Grossumbergo)  Rabenstein  (Ravistagno)  und  Pramberg  (Prambergo),  bei 
Udine  Perchtenstein  (Partistagno),  bei  Cividale  Scharfenberg  (Soffumbergo), 
Auersberg,  Grünberg  und  Haumberg,  westlich  am  Tagliamento  Schönberg  (Solim- 
bergo),  Neuhaus  (Castelnovo)  und  vor  allem  Spengenberg  (Spilimbergo),  eine 
gewaltige  und  auch  heute  noch  gut  erhaltene  Feste').  Dieses  alles  ist  jedoch 
nur  eine  kleine  Auslese  solcher  Burgen,  deren  Zahl  einst  mehr  als  zweihundert 

>)  Vgl.  Anh.  13.  2)  ju.  S.  267.  i)  Schw.  S.  47;  PI.  S.  430.  ■»)  p.  i846.   S.  189.  5)  F.  1906. 

S.  287,  295.   „Roderich"   von  Arco  soll  damals  mit  eigener  Hand  Adolf  von  Nassau  getötet  haben. 
6)  Kr.  S.  1 18.        7)  Kr.  S.  1 19;  Ju.  S.  300. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  113 

betragen  haben  soll '),  während  sich  heute  nichts  mehr  über  dem  Gebiete  kräuselt, 
wo  jene  deutschen  Rittersitze  einst  in  den  Strom  hinuntergesunken  sind. 

Als  Anlaß  diente  auch  dort  die  politische  Vereinigung  Friauls  mit  dem 
Norden,  nachdem  Otto  der  Gr.  diesen  Landstrich  zugleich  mit  Trient,  der 
Veroncser  Mark  und  Istrien  an  den  Bayernherzog  gegeben  hatte,  und  dieses 
Verhältnis  wirkte  auch  darin  Jahrhunderte  hindurch  nach,  daß  das  heutige 
Venetien  und  Istrien,  damals  das  Patriarchat  Aquileja  und  die  Görzer  Grafschaft, 
nicht  nur  kulturell  sondern  auch  politisch  ein  dem  Deutschen  Reiche  zugewandtes 
Gebiet  blieben.  Deutsche  Namen  führen  die  Patriarchen  von  Aquileja,  einer 
nach  dem  anderen  vom  J.  762  bis  1251,  so  die  älteren:  Sigvald,  Theodemar, 
Engelfred,  Radualt  und  Poppo  (oder  Wolfgang),  dann  weiter  Eberhard,  vormals 
Domherr  zu  Augsburg,  Gotpold,  ein  Verwandter  des  salischen  Kaiserhauses 
und  Sieghard,  der  treue  Anhänger  Heinrichs  IV.;  wie  auch  die  späteren:  Ulrich  I., 
Pilgrim  I.,  Ulrich  IL,  Gottfried,  Pilgrim  IL,  Wolfger  und  Berthold,  der  Oheim 
der  heiligen  Elisabeth,  sämtlich  mächtigen  deutschen  Geschlechtern  entstammten 2). 

Ein  Zeichen  aber,  wie  lange  sich  hier  die  Verhältnisse  noch  in  einer  von 
dem  italienischen  Einfluß  ganz  selbständigen  Richtung  abwickelten,  ist  die  Art 
und  Weise,  wie  jene  Patriarchen  noch  im  dreizehnten  und  vierzehnten  Jahr- 
hundert ihre  Herrschaft  am  Isonzo  zu  befestigen  suchten.  Flitzsch,  Karfreit  und 
Tolmein  waren  damals  hier  die  Grenzorte  des  Patriarchates  mit  deutschem 
Rechte,  und  noch  die  Patriarchen  Berthold  (f  1251)  und  Ottokar  (f  1315)  haben 
der  Ansiedelung  deutscher  Kolonisten  in  Deutsch -Ruth,  Gradiska  u.a.m.  ihre 
Sorgfalt  zugewendet^),  zu  einer  Zeit,  als  im  westlichen  Oberitalien  schon  längst 
das  Selbstgefühl  der  bodenständigen  Mächte  erwacht  und  mit  Maßregeln  gegen 
das  Deutschtum  in  seiner  Nachbarschaft  vorgegangen  war^).  Die  politische 
Zugehörigkeit  Friauls  zum  Deutschen  Reiche  fand  aber  ferner  ihren  Ausdruck  durch 
das  Erscheinen  des  Patriarchen  von  Aglei  auf  den  bayrischen  Hoftagen  des  Königs^); 
es  ist  demnach  hier  das  entgegengesetzte  Bild  zu  dem  staatsrechtlichen  Verhält- 
nisse auf  Grund  dessen  später  die  Krone  Schweden  ihren  Sitz  im  Regensburger 
Reichstag  einnahm,  und  wenn  schließlich  auch  jener  Zusammenhang  infolge  der 
exponierten  Lage  jener  Gebiete  völlig  verschwinden  mußte,  so  läßt  sich  doch 
gerade  hier  besonders  deutlich  erkennen,  wie  die  Besiedelung  der  Alpen  durch 
die  deutschen  Dynasten  mit  der  politischen  Herrschaft  des  Nordens  Hand  in 
Hand  ging,  und  beide  ihrerseits  erst  die  Vorbedingungen  gewesen  sind,  an  die 
anschließend  sich  auch  eine  völlige  ethnographische  Umwandlung  durchsetzen 
konnte. 

Dieser  Befund  läßt  somit  die  Besiedelung  der  Alpen   durch    die  modernen  Nachrichten 

°  "^  über  die 

Völker  als  eine  aus  den  tiefsten  und  stärksten  Gewalten  des  damaligen   Kultur-  besondere 
lebens  entströmende  Bewegung  erscheinen,  die    sich   an    unzähligen   Stellen   des  Besiedelung 

t>      t.  »  o  einzelner 

Gebirges  geltend  machte  und  Jahrhunderte   lang    in    gleicher    Weise    angedauert  Alpentäler. 

')  Vgl.  Z.A.  1902.  S.  47.  2)  Kr.  S.  87.  3)  Kr.  S.  117.  ■*)  Z.  A.  1903.  S.  75.  5)ju.  S.  299.  A.  1. 
Scberrel,  Verkchrsgeschtcbie  der  Alpen.     2.  Band.  g 


H4  VII.  Kapitel. 

hat.  Ein  unendlich  schwierigeres  Material  für  die  Forschung  bieten  dagegen  die 
einzelnen,  an  sich  auch  nicht  besonders  zahlreichen  Nachrichten,  die  in  manchen 
Alpentälern  das  Dasein  der  heutigen  Bewohner  auf  eine  bestimmte  Einwanderung 
in  größerer  Zahl  und  zu  einem  besonderen  Zeitpunkte  zurückführen,  wie  über- 
haupt eben  diese  Nachrichten  und  Annahmen  nicht  selten  erst  dadurch  entstanden 
sein  mögen,  weil  die  besondere,  von  der  Umgebung  scharf  unterschiedene  Art 
der  Bevölkerung  einzelner  Gebirgsteile  nachträglich  zu  einer  solchen  Erklärung 
herausforderte.  Aufmerksamkeit  verdient  allerdings,  daß  gerade  an  solchen 
Stellen  zumeist  auch  die  Adelsburgen  fehlen,  eine  Beobachtung,  die  daher  jene 
Gebirgsteile  schon  deshalb  außerhalb  der  allgemeinen  Entwickelung  stellt,  und 
die  es  wahrscheinlich  macht,  daß  sie  einst,  bevor  der  besondere,  fremdartige 
Volksteil  hier  einzog,  tatsächlich  fast  unbewohnt  waren.  So  sollen  die  Bewohner 
des  Villgratentales  zunächst  aus  Sachsen  eingewandert  sein  und  dann  später  im 
zwölften  Jahrhundert  noch  einen  Ableger  südlich  der  Karnischen  Alpen  nach 
Sappada  (Bladen)  geschickt  haben ').  Auch  bei  den  Bewohnern  Deutschnofens 
im  Eggental  bei  Bozen  macht  es  schon  der  Ortsname  (neben  Welschnofen)  er- 
sichtlich, daß  sie  einst  eine  besondere  Enklave  innerhalb  ihrer  Umgebung  gebildet 
haben,  aber  hier  ist  auch  besonders  klar  zu  erkennen,  wie  allein  eine  solche 
auffallende  Erscheinung  nun  auch  die  verschiedensten  Deutungen  hervorzurufen 
pflegt,  von  denen  „jede  falsch,  unmöglich  aber  mehr  als  eine  richtig  sein  kann". 
Denn  diese  Leute,  die  sich  selbst  für  importierte  Schwaben  halten,  werden 
von  ihren  Nachbarn  als  Hessen  angesprochen,  während  sonst  auch  eine  Pest, 
die  vorher  die  Gegend  verödete,  oder  der  Bergbau,  der  einst  hier  betrieben 
wurde,  als  Anlaß  für  diese  Einwanderung  herhalten  muß 2). 

Südlich  Deutschnofens  beginnen  nun  aber  die  vielen  deutschen  Ansiedelungen, 
die  einst  im  Mittelalter  über  das  Joch  Grimm  hinüber  durch  das  Gebirge  hin- 
durch wie  eine  ununterbrochene  Kette  bis  tief  in  die  oberitalienische  Ebene 
hinab  bestanden  haben^),  und  deren  Reste  sich  heute  noch  wie  kümmerliche 
Halligen  inmitten  eines  fremden  Elementes  von  den  Gemeinden  Altrei  und 
Truden  im  Tal  des  Avisio  über  das  Fersental  nach  Luserna  und  S.  Sebastian 
und  schließlich  zu  den  alten  Plätzen  der  XIII  und  VII  Cimbrischen  Kommunen 
hinabziehen.  Wenn  es  von  diesem  ganzen  deutschen  Besitzstand  nun  durchaus 
feststeht,  daß  er  einst  eine  weit  größere  Ausdehnung  als  heute  gehabt  haben 
muß,  so  fehlt  doch  auch  hier  überall  jeder  sichere  Anhalt  über  seine  Herkunft 
und  insbesondere  darüber,  ob  sein  Ursprung  in  der  Hauptsache  nur  im  Norden 
zu  suchen  ist,  oder  ob  gerade  in  diesem  Teil  des  Gebirges  die  Ereignisse  der 
germanischen  Völkerwanderung  von  Italien  her  so  tief  in  das  Gebirge  einge- 
drungen sind,  daß  sie  dann  in  breiterer  Front   mit  der  bajuvarischen  Bewegung 

')  St.  S.  29;  M.  D.  A.  11.  T.  6.  Au.  S.  310.  2)  Atz.  S.  1 17,  138;  Z.  A.  1900.  S.  305,  323.  3)  Ju.  S.  299  : 
Folgaria,  Vall'  Arsa,  Val  Roncbi  (östlich  bei  Rovereto  bezl.  Ala  einmündende  Seitentäler  der  Etsch), 
deutsche  Gemeinden  im  Valsugana,  im  Fersinateil,  in  Fleims. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  115 

zusammenfließen  konnten.  Dieser  Mangel  ist  aber  um  so  mehr  zu  bedauern, 
da  wir  allein  hier  und  nirgends  anders  an  der  Linie  stehen,  wo  einmal  —  man 
kann  hierfür  ungefähr  die  zweite  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  setzen  — 
die  Alpen  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  von  dem  deutschen  Volkstum  durchsetzt 
gewesen  sein  müssen '). 

Nicht  zahlreicher,  aber  ebenso  schwierig  für  die  Forschung  sind  ferner  die 
Fälle,  nach  denen  im  Mittelalter  einmal  eine  solche  Umformung  der  Bevölkerung 
von  oben  her  in  die  Wege  geleitet  und  auf  diese  Weise  eine  neue  Ansiedelung 
in  größerer  Masse  absichtlich  in  eines  der  Alpentäler  verpflanzt  wurde.  Das 
Verhalten  der  Patriarchen  von  Aquileja  hatten  wir  bereits  kennen  gelernt.  Als 
ein  deutlicher  Fall  dieser  Art  erscheint  ferner  die  Maßregel,  die  der  Bischof 
Friedrich  von  Bamberg  1351  nach  dem  furchtbaren  Erdbeben  von  Villach  ergriff, 
der  damals  jenen  Gegenden  durch  eine  planmäßige  ostfränkische  Neubesiedelung 
und  durch  fünfzehnjährige  Abgabenfreiheit  aufzuhelfen  suchte  2).  Andere  be- 
kanntere Beispiele  sind  auch  die  Einwanderung  der  freien  Walser  Leute  in  das 
Davosertal,  die  dort  im  dreizehnten  Jahrhundert  durch  einen  Freiherrn  von  Vaz 
angesiedelt  worden  sein  sollen,  und  dieselbe  Maßregel  im  obersten  Tale  des 
Hinterrheins,  wo  gleichfalls  ein  Walter  von  Vaz  1277  die  neuen  Einwanderer 
„in  seinen  Schutz  nahm"^).  Hier  sehen  wir  also  ein  mächtiges  Dynastengeschlecht 
Bündens  auch  nach  dieser  Seite  hin  in  die  Geschicke  des  Landes  eingreifen, 
da  sich  jene  beiden  fremdartigen  Enklaven  bis  heute  noch  in  ihrer  Besonderheit 
erhalten  haben.  Bei  den  letzteren,  bei  den  „Freien  am  Rhein"  mag  jene  Tat- 
sache nun  weiterhin  auch  die  Veranlassung  zu  der  Annahme  geworden  sein, 
daß  jene  deutschen  Leute  hier  einst  von  Friedrich  Barbarossa  als  Wächter  der 
Alpenübergänge  angesiedelt  worden  seien'*),  ein  Fall,  bei  dem  man  außerdem 
die  Arbeit  der  Tradition  wie  in  einer  Werkstatt  belauschen  kann;  denn  auch 
die  Käfirstämme  im  westlichen  Himalaya,  die  innerhalb  ihrer  Nachbarschaft  ein 
ganz  fremdartiges  Element  bilden,  leiten  ihre  Herkunft  und  ihre  Freiheit  von 
Alexander  dem  Gr.  her,  der  diese  auf  seinem  indischen  Zuge  hier  zurück- 
gelassen haben  soll. 

Auch  die  Bewohner  des  Fersentales,  die  Mocheni,  wie  sie  von  den  Italienern 
genannt  werden,  sollen  im  fünfzehnten  Jahrhundert  auf  die  Veranlassung  der 
Bischöfe  von  Trient  dorthin  gekommen  sein^),  während  es  andererseits  Tatsache 
ist,  daß  im  J.  1216  gleichfalls  ein  Trienter  Bischof,  Friedrich  von  Wanga,  die 
diesem  Tal  südlich  gegenüber  und  in  der  nächsten  Nachbarschaft  der  VII  Cim- 
brischen  Kommunen  liegenden  Höhen  von  Costa  Cartura  bis  Ceuta  an  zwei 
Bozner  Bürger  überließ,  um  daselbst  neue  Höfe  zu  gründen,  Arbeiter  dahin  zu 
berufen  und  so  das  ganze  Gebiet   urbar  —  und   steuerfähig   zu   machen ö).     Die 

')  Dieser,  wenn   auch   schmale  Streifen   läuft  ungefähr  in   der   Linie   des   Längengrades,  der  Inns- 
bruck durchschneidet,         2)  Kr.  S.  160.        3)  Oe.  I.  S.  170.        <)  Da.  I.  B.  S.  140.        »)  Vgl.  Anh.  14. 
6)  Ju.  S.  298. 
8» 


116  VII.  Kapitel. 

schwerste  und  folgenreichste  Maßregel  dieser  Art  ist  dagegen  erst  am  Ende  jener 
ganzen  Entwickelung  durch  die  Tiroler  Fürsten  in  die  Wege  geleitet  worden. 
Zu  den  Zeiten  der  Reformation  war  plötzlich  in  Bünden  Hand  in  Hand  mit 
der  evangelischen  Bewegung  eine  Erstarkung  des  rätoromanischen  Geistes  vor 
sich  gegangen.  Die  Besorgnis  der  Tiroler  Habsburger,  die  von  ihrem  Standpunkt 
aus  ganz  berechtigt  war,  daß  jene  Bewegung  auch  auf  die  von  ihnen  beherrschte 
rätoromanische  Bevölkerung  übergreifen  und  deren  Zugehörigkeit  zu  Tirol  lockern 
könne,  veranlaßte  jene  damals,  die  Entwelschung  ihres  Gebietes  nun  auch  durch 
Regierungsmaßregeln  in  eine  raschere  Gangart  zu  bringen ').  Die  erste  Trennung, 
durch  die  der  kompakte  Besitz  der  Alpenromanen  in  ein  kleineres  östliches 
Gebiet  (von  Friaul  bis  Brixen)  und  in  einen  ausgedehnteren  Komplex  im  Westen 
auseinandergespalten  wurde,  war  schon  im  Laufe  des  Mittelalters  auf  friedlichem 
Wege  entlang  der  Brennerstraße  zur  Tatsache  geworden.  Jetzt  erfolgte  nun  auch, 
und  zwar  auf  gewaltsamem  Wege,  die  Errichtung  eines  zweiten  Keils  innerhalb 
jenes  größeren  Komplexes,  und  zwar  im  obersten  Vintschgau,  wodurch  zunächst 
alles,  was  in  Innertirol  noch  romanisch  geblieben  war,  wiederum  von  Bünden 
abgeschnitten  wurde,  während  zu  gleicher  Zeit  das  Italienertum  mit  frischen 
Kräften  gegen  die  südlichen  Teile  dieser  alten  romanischen  Zone,  in  die  Täler 
südlich  des  Ortler  und  in  den  oberen  Nonsberg,  vordrang. 
Die  drei  Haben  wir  somit  im  Innern  der  Alpen  überall  den  Siegeszug  des  Deutsch- 

Deutsc^inums  tums  gegenüber  den  Alpcnromanen  verfolgen  können,  so  liegt  es  nahe,  dieses 
im  Süden  juch  an  den  Stellen  zu  betrachten,  wo  es  räumlich  die  größten  Entfernungen 
^^  ^^^'  zurückgelegt  zu  haben  scheint  d.  h.  dort,  wo  es  sich  heute  noch  vereinzelt  am 
Südrande  der  Alpen  vorfindet.  Wenn  wir  nun  dessen  zerstreute  Enklaven  zu- 
nächst einmal  an  unserem  Blick  vorüberziehen  lassen,  so  begegnen  wir  im 
Westen  zuerst  den  uns  schon  bekannten  Deutschen  südlich  des  Wallis,  Es  sind 
dies  die  sogenannten  Silvier.  Diese  finden  sich,  heute  stets  nur  in  den  obersten 
Teilen  der  Täler,  im  Val  de  Gressoney,  Val  Sesia,  Val  Sermenta,  Val  Mascalone, 
Val  Macugnaga,  im  Vedrotal  (Simpeln),  im  Tocetal  und  schließlich  in  Bosco 
(Gurin),  einem  im  Kanton  Tessin  gelegenen  und  zum  Gebiet  der  Maggia  gehörigen 
Seitentale;  man  sieht  also,  es  ist  ein  Raum,  der  sich  aus  der  unmittelbaren  Nach- 
barschaft der  Gr.  S.  Bernhardlinie  bis  zur  Nordspitze  des  Langensees  hinzieht.. 
Das  nächste,  in  einem  großen  Zwischenraum  sich  daran  anschließende  derartige 
Gebiet  steht  dann  in  Gestalt  der  Reste  der  XIII  bezl.  VII  Cimbrischen  Kom- 
munen vor  uns,  und  zwar  genau  nördlich  Verona  Gliezen  und  Fonta  (Chiazza 
und  Campo  Fontana)  als  dürftiger  Überrest  der  XIII  Kommunen,  während  ein 
ganzes  Stück  nordöstlich  davon  die  fünf  Orte  Asiago  (Siege),  Roana  (Roban), 
Rotzo  (Rotz),  Gallio  (Ghel)  und  Fozza  (Wüsche)  den  Platz  der  alten  VII  Kom- 
munen bezeichnen.  Wiederum  nordöstlich,  aber  gleichfalls  am  Südrand  des 
südlichsten  Alpenzuges  liegt  Bladen  (Sappada)  und  südlich  davon  an  einem 
1)  Ju.  S.  291  f. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  117 

Nebenflusse  des  Tagliamento  Sauris  (die  Zahre).  Östlicher  war  bis  vor  kurzem 
noch  das  südlich  des  Plocckenpasses  gelegene  Tischelwang  (Timau),  auch  das 
Fellatal  zum  Teil  deutsch,  bis  wir  schließlich  im  Gebiet  des  Isonzo,  in  Deutsch- 
Ruth  und  in  Görz,  die  letzten  deutsch  sprechenden  Gemeinden  im  Süden  der 
Alpen  antreffen  ')• 

Betrachten  wir  aber  jene  Reste  in  der  Vergangenheit,  so  entdecken  wir,  daß 
deren  Umfang  einst  viel  ausgedehnter  gewesen  ist  als  heute,  und  daß  sie  jetzt 
nur  als  die  letzten  Marksteine  verschiedener  deutscher  Stämme  dastehen,  die 
hier  einst  im  früheren  Mittelalter  weite  Strecken  des  oberitalienischen  Bodens 
bewohnten  Alles  dieses  deutsche  Gebiet  muß  somit  in  den  letzten  Jahrhun- 
derten des  Mittelalters  und  in  der  folgenden  Zeit  von  dem  italienischen  Volks- 
tum erobert  worden  sein.  Diese  Entwickelung  steht  aber  nun  in  direktem 
Gegensatz  zu  der  Bewegung  der  Bevölkerung  in  den  Alpen  selbst,  wo  das 
Deutschtum  gegenüber  den  Alpenromanen  stets  im  Vorwärtsschreiten  geblieben 
ist,  und  für  dieses  alles  kann  daher  schon  um  deswillen  keineswegs  die  Erklärung 
genügen,  daß  diese  Deutschen  in  Oberitalien  nichts  anderes  als  die  südlichsten 
Vorposten  derjenigen  gewesen  wären,  die  während  des  Mittelalters  von  Norden 
her  in  die  Alpen  eingedrungen  sind.  Hier  steigt  also  wiederum  die  Frage  nach 
der  Herkunft  jener  Deutschen  auf,  die  wir  nachweislich  schon  im  frühen  Mittel- 
alter in  kompakten  Massen  in  Oberitalien  vorfinden,  jene  Frage,  die  ja  die 
deutsche  Gelehrsamkeit  so  besonders  interessieren  muß,  zu  der  hier  aber  nur 
insoweit  Stellung  genommen  werden  soll,  um  ihren  Zusammenhang  mit  der 
Bewegung  der  Bevölkerung  in  den  Alpen  selbst  in  das  rechte  Licht  zu  rücken. 
Hierzu  gehört  nun  zunächst  die  ungefähre  Feststellung  des  Gebietes  am 
Südfuße  der  Alpen,  das  einst  zu  Anfang  und  auf  der  Höhe  des  Mittelalters  von 
Deutschen  bewohnt  gewesen  sein  muß.  Wie  aber  noch  heute  die  dortigen 
deutschen  Reste  sich  auf  drei  verschiedene  Stellen  verteilen,  so  treten  uns  auch 
in  der  früheren  Zeit  daselbst  drei  verschiedene  aber  ungleich  umfangreichere 
Gruppen  deutscher  Bevölkerung  entgegen.  Von  diesen  drei  ist  nun  zunächst 
die  mittlere,  die  der  sogenannten  Cimbern,  nicht  nur  die  älteste  sondern  auch 
die  bei  weitem  umfangreichste  gewesen,  wie  sie  daher  auch  heute  die  größte 
Einbuße  erlitten  hat.  Spätestens  im  neunten  Jahrhundert  müssen  jene  Deutschen 
in  ihren  Sitzen  zwischen  Brenta  und  Etsch  schon  alteingesessen  gewesen  sein  2), 
eine  Tatsache,  die  aus  einer  Trienter  Urkunde  vom  J.  845  hervorgeht,  in  der 
in  Oberitalien  und  nicht  allzuweit  von  Trient  eine  deutsche  Bevölkerung  aus- 
drücklich erwähnt  wird,  und  die  bei  dem  allseitigen  Mangel  an  Nachrichten 
dieser  Art  doppelte  Wichtigkeit  hat.  Die  Ausdehnung  jenes  Gebietes  stellt  sich  nun 
aber  als  derart  umfangreich  heraus,  daß  dieses  fast  nicht  mehr  den  Raum  einer 
Landschaft  sondern  eines  Landes  ausmachte;  es  geht  hinüber  vom  Val  Policella 
westlich  Verona  bis  zur  Brenta,  von  den  Alpenbergen  südöstlich  Rovereto^)  über 

')  Vgl.  Z.  A.   1902.  S.  44f.         2)  Z.  A.  1902.  S.  63,  1903.  S.  51.        ^)  Vgl.  Ju.  S.  299.  A.  2. 


118  VII.  Kapitel. 

die  Monti  Berici  bis  zu  dem  Fuß  der  Euganeischen  Hügel.  Bis  in  die  jüngste 
Vergangenhieit  haben  hier  die  nördlich  und  östlich  Veronas  gelegenen  Alpentäler 
einen  Grundstock  dieser  Bevölkerung  beherbergt,  während  ihr  frühester  Mittel- 
punkt wohl  das  Vicentino  (Wisentheim)  gewesen  sein  mag.  Als  im  J.  1311  sich 
die  Paduaner  und  Vicentiner  im  Kampfe  gegenüberstanden,  hielt  ein  Graf 
Siegfried  Ganzera  zu  den  Vicentinern,  um  von  den  Paduanern  nicht  verstanden 
zu  werden,  eine  deutsche  Ansprache'),  und  noch  1598  wird  aus  diesen  Gebieten 
an  die  venezianische  Regierung  amtlich  berichtet,  daß  man  hier  zehn  Tausend 
streitbare  deutsche  Mannschaften  aufbieten  könne. 

Nicht  so  überra-schend  groß  aber  doch  immer  viel  ausgedehnter  als  heute 
stellt  sich  auch  der  frühere  Umfang  der  Silvier  heraus.  So  wurde  einst  auch 
in  dem  zum  Gebiet  der  Dora  Baltea  gehörigen  Chalanttale  deutsch  geredet;  vor 
allem  reichte  aber  das  Deutschtum  auch  einst  in  den  zum  Gebiet  der  Sesia 
und  des  Toce  gehörigen  Voralpentälern  viel  weiter  nach  Süden  herab;  Ornavasca 
und  Miggiardone  (Urnavasch  und  Misendone)  redeten  noch  vor  wenigen  Jahr- 
hunderten deutsch.  Noch  viel  mehr  Bedeutung  gewinnt  dieses  alles  aber  dadurch, 
wenn  man  die  heute  freilich  längst  bis  zur  Unkenntlichkeit  verwischten  Spuren 
einstiger  deutscher  Anwesenheit  im  Maggiatal,  bei  Biasca  im  Tessin,  im  Blegnotal 
am  Wege  zum  Lukmanier,  im  Tal  der  Moesa  und  im  obersten  Teil  des  Valle 
Seriana  (nördlich  Bergamo)  in  Betracht  zieht  2). 

Die  östlichste  der  drei  früheren  deutschen  Bevölkeruugszonen  Oberitaliens 
schließlich  ist  etwa  ebenso  umfangreich  wie  die  der  Silvier,  in  ihren  alten  Grenzen 
aber  viel  deutlicher  zu  erkennen.  Ihre  westliche  Hälfte  bildete  zunächst  Friaul, 
wo  es  jedoch  durchaus  feststeht,  daß  dieses  Deutschtum  hier  nicht  den  Ereignissen 
der  Völkerwanderung  sondern  allein  späteren  Völkerbewegungen  seinen  Ursprung 
verdankt.  Weiter  nach  Südosten  ragt  dagegen  auch  hier  eine  ältere  Schicht  hinein, 
die  in  den  Ortsnamen  Flitsch  und  Karfreit  am  Fuße  des  Predil,  weiter  südöstlich 
in  Tolmejn  und  S.  Veitsberg,  in  Görz  und  besonders  im  Tal  der  Wippach  mit 
seiner  deutschen  Nomenklatur  sich  vor  unseren  Blicken  nicht  verstecken  kann''), 
und  als  deren  südlichstes  Glied  wirklich  jene  gotischen  Meraner  anzusehen  sind, 
die  einst  hier  bei  Monfalcone  und  Duino  bis  nach  Istrien  hin  gewohnt  haben'*). 
Herkunft  der  Der  große  frühere  Umfang  aller  dieser  Gebiete  vermag  daher  nur  die  Wahr- 

^Oberitaiien"  scheinlichkeit  zu  bestärken,  daß  jener  Zustand  nimmermehr  von  denjenigen 
Deutschen  ausgegangen  sein  kann,  die  seit  dem  Beginn  des  Mittelalters  von 
Norden  her  in  die  Alpen  kamen,  sondern  daß  hier  bereits  die  Ereignisse  der 
germanischen  Völkerwanderung  ihre  Spuren  hinterlassen  haben,  wie  sich  ja 
auch  immer  und  immer  wieder  der  Eindruck  geltend  macht,  daß  fast  alle  früheren 
und  heutigen  deutschen  Elemente  in  Oberitalien  trotz  ihrer  offenen  Verwandt- 
schaft mit  dem   späteren  Deutschtum    „doch  noch  etwas  durchschimmern  lassen, 

«)  Z.  A.  1902.  S.  52.  2)  Z.  A.  1902.  S.  47,  1903.  S.  60,  61,  75.  3)  z.  a.  1902.  S.  47.  ■*)  Z.  A. 
1903.  S.  44. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  IIQ 

das  von  weiterher  stammt."  Eine  Feststellung  des  Ursprungs  jener  Deutschen, 
die  bereits  während  des  frühen  Mittelalters  in  Oberitalien  wohnten,  würde  aber 
auch  für  die  Alpengeschichte  einen  besonderen  Wert  beanspruchen  können,  so- 
bald damit  zugleich  Sicherheit  darüber  gewonnen  würde,  wo  nun  in  den  süd- 
lichen Alpenbergen  selbst  das  spätere  von  Norden  aus  gekommene  deutsche  Ein- 
dringen mit  jener  früheren  germanischen  Besiedelung  zusammengestoßen  ist. 

Eine  Beobachtung  giebt  es  aber  auch  hier,  die  man,  wenn  auch  mit  Vorsicht, 
als  ein  Verdachtsmoment  nach  der  einen  oder  anderen  Richtung  hin  verwenden 
kann.  Es  ist  wiederum  die  Entstehung  und  weite  Verbreitung  der  Adelsburgen, 
die,  wie  wir  wissen,  durchaus  ein  Merkmal  der  späteren  Eroberung  der  Alpen 
durch  das  Deutschtum  gewesen  ist;  und  wenn  wir  nun  sehen,  wie  dieser  Vor- 
gang in  Friaul  besonders  deutlich  hervortritt,  während  gerade  nicht  allzuweit  von 
hier  entfernt,  in  dem  Gebiet  der  Cimbrischen  Kommunen,  die  Adelsburgen  fast 
ganz  fehlen,  dort,  wo  noch  dazu  eine  über  das  Mittelalter  hinaufreichende  deutsche 
Besiedelung  am  allerwahrscheinlichsten  ist,  so  kann  diese  Gegenüberstellung  gewiß 
dazu  dienen,  jene  Verschiedenheit  besonders  zu  unterstreichen. 

Dieser  Umstand  würde  dann  aber  auch  bei  den  Silviern,  bei  den  Deutschen 
im  Oberwallis,  ja  bei  den  Schweizern  der  Urkantone,  nicht  außer  acht  zu  lassen 
sein,  und  er  tritt  daher  zu  den  vielen  anderen  Gründen  für  die  Annahme  hinzu, 
nach  der  neuerdings  die  Silvier  so  gut  wie  die  Deutschen  des  Oberwallis  und 
alle  anderen,  die  heute  in  der  Schweiz  südlich  des  Thuner-  und  Brienzersees 
und  vom  Galenstock  bis  zum  Tödi  hin  wohnen,  in  der  Hauptsache  als  der  Rest 
einer  großen  germanischen  (und  zwar  ostgotischen)  Siedelung  aus  der  Völker- 
wanderung angesprochen  worden  sind,  die  sich  nach  und  nach  von  Oberitalien 
aus  nordwärts  in  die  Zentralalpen  hineingeschoben  hat')-  Für  uns  ist  diese  An- 
nahme aber  deshalb  so  wichtig,  weil  sie  sich  sozusagen  als  das  Ei  des  Kolumbus 
für  die  Erklärung  einer  der  rätselhaftesten  Erscheinungen  der  alpinen  Bevölke- 
rung, der  in  der  Diaspora  befindlichen  Walliser  präsentiert.  Da  nun  einmal  bei 
einigen  der  heutigen  Walsertäler  eine  Einwanderung  echter,  aus  dem  Wallis  ge- 
kommener Deutscher  zweifellos  feststeht-),  so  schlägt  diese  Tatsache  doch  der 
weitverbreiteten  Annahme  geradezu  in  das  Gesicht,  daß  eben  dasselbe  Oberwallis 
vorher  von  Norden  und  über  die  Furka  hinüber  von  den  Deutschen  besiedelt 
worden  sei;  denn  wie  soll  es  möglich  sein,  daß  die  im  zwölften  Jahrhundert  in 
das  Wallis  von  Norden,  von  den  Waldstätten  her  eingewanderten  Deutschen 
sich  noch  in  demselben  oder  im  nächsten  Jahrhundert  schon  wieder  als  freie 
Walser  Leute  nach  Osten  hin  auf  die  Reise  gemacht  hätten  3).  Auch  bei  der 
frühesten  Geschichte  des  Gotthardweges  werden  wir  es  nochmals  mit  jener  Frage 
zu  tun  bekommen,  aus  welcher  Richtung  eigentlich  die  Strömung  trieb,  die  dort 
während  des  Mittelalters  in  der  Bewegung  der  Bevölkerung  wahrzunehmen  ist. 

I)  Vgl.  Z.  A.  1903.  S.  59,  63,  68,  76.  2)  z.  A.  1903.  S.  62,  69.  3)  Z.  A.  1903.  S.  73,  vgl.  dagegen 
Schu.  S.  217,  171. 


120  VII.  Kapitel. 

Der  deutsche  Besondere   Bedeutung   gewinnt   die   Tatsache,    daß   das   Deutschtum   früher 

^''^  Al^pen  Im  ^^^^  '"^  Süden  der  Alpen  so  zahlreich  verbreitet  war,  aber  dadurch,  weil  sie  in 
Mittelalter;  das  ganze  Kulturleben,   wie   es   in   den   Alpenländern   vom  Gr.  S.  Bernhard   bis 
deutsche  ^um  Triglav  im  Mittelalter  geherrscht  haben  muß,   erst  die  richtige  Schattierung 
Ortsnamen,  hineinträgt.    Während  heute  dieser  mittelste  Hauptteil  der  Alpen  in  seiner  nörd- 
lichen größeren  Hälfte  durchaus   dem  deutschen,   in   seiner   kleineren   südlichen 
ebenso  unbestritten  dem  italienischen  Kulturkreis  angehört,  muß  es  dagegen  einst 
eine  Zeit  gegeben  haben,  während  der  jenes  ganze  Gebiet  in  seiner  oberen  und 
maßgebenden  Schicht   überall   von   der  mittelalterlichen   deutschen  Kultur  über- 
zogen   war,    und    in    der    für   den    von    Basel    oder    Salzburg    nach    Welschland 
Wandernden  die  ausgesprochen  fremdartigen  Eindrücke  nicht  wie   heute   bereits 
in  Bellinzona  oder  Verona  sondern    erst  südlicher  in  Mailand  oder  Mantua  be- 
gannen.    Es  sind  damit  freilich  Zustände  gemeint,  die  damals  wie  heute  leichter 
durchzufühlen  als  in  Worte  zu  fassen  waren.     Eine  leise  Vorstellung  jener  Zeit- 
spanne aber  kann   der  aus  dem   Norden   stammende   Reisende  heute  vielleicht 
noch  dadurch    gewinnen,  wenn   er,   aus   dem  Süden  Italiens   kommend,   an   dem 
Nordrand  der  oberitalienischen  Ebene  angelangt   ist  und  dort  plötzlich  entdeckt, 
welch'  anderes  Gesicht  hier  z.  B.  Brescia  oder  Verona  im  Vergleich  zu  Florenz 
oder  Bologna  zeigen.     Dieser  Eindruck  beruht  aber  im  wesentlichen   auf  nichts 
anderem  als  auf  jener  älteren  Schicht,  die  hier  einst  vorhanden  und  dem  deutschen 
Kulturleben  nahe  verwandt  war,  ein  Zustand,  der  im  dreizehnten  und  vierzehnten 
Jahrhundert  seinen  Höhepunkt  erreicht   haben   mag,   als   die   Entnationalisierung 
der  Alpenromanen  schon  verhältnismäßig  große  Fortschritte   gemacht   hatte,  das 
Deutschtum    im  Süden   der   Alpen   dagegen   noch  in  leidlichen  Stücken  aufrecht 
stand. 

Eine  selten  lebhafte  Illustration  dieses  Kulturzustandes  liefert  nun  aber  die 
Musterung  derjenigen  Orte,  für  die  früher  mehr  oder  weniger  welsche  und 
deutsche  Namen  zugleich  in  Gebrauch  waren,  während  heute  tatsächlich  nur  der 
erstere  als  ein  Lebender  Recht  behalten  hat').  Eine  gewisse  Verschiedenheit 
waltet  jedoch  auch  innerhalb  dieser  Namen  vor;  denn  dort,  wo  der  aus  einem 
fremden  Lande  kommende  Reiseverkehr  andauernd  durchzugehen  pflegt,  hat  er 
sich  auch  oft  für  seinen  Hausgebrauch  selbständig  seine  Ortsnamen  gebildet, 
ohne  daß  hier  jemals  eine  zahlreiche  Bevölkerung  dieser  Art  ansässig  gewesen 
wäre.  Solche  Beispiele  sind  heute  noch  Mailand  und  Venedig  und  im  entgegen- 
gesetzen  Sinne  Fiora  für  Flüelen,  Orsera  für  Urseren,  Celurno  für  Glurns,  So- 
landri  für  die  Sulzberger,  Campo  rosse  für  Saifnitz;  und  auch  diese  Art  Namen 
sind  im  Mittelalter  viel  häufiger  anzutreffen,  wie  die  heute  nicht  mehr  gebräuch- 
lichen Bezeichnungen  Osten  für  Aosta,  Luggarus  für  Locarno,  Kam  für  Como, 
Halden  für  Cortina  d'Ampezzo,  Masters  für  Mestre  zeigen.  Weit  zahlreicher  ist 
dagegen  doch  diejenige  Gattung,  bei  der  man  heute  den  Alldeutschen  den  ersten 

>)  Vgl.  Anh.   15. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  121 

Platz  unter  den  Leidtragenden  einräumen  muß,  wo  wirklich  einst  der  deutsche 
Ortsname  seinen  Grund  vielmehr  darin  hatte,  daß  hier  auch  einmal  in  größerer 
oder  geringerer  Menge  eine  deutsche  Bevölkerung  ständig  ihre  Tage  verbrachte. 
Die  Überraschungen  aber,  die  eine  allgemeine  Demaskierung  dieser  heute  ins- 
gemein ganz  italienisch  klingenden  Namen  bereitet,  sind  recht  verschiedener 
Art;  die  einen  entpuppen  sich  als  alte  aber  recht  spießbürgerliche  Bekannte,  so 
wenn  für  Domo  d'OssoIa  nichts  anderes  als  Duhm,  für  Avio  Aue,  für  Flavon 
Pflaum  und  für  Vigo  Wiegen  in  Gebrauch  war;  bei  den  anderen  aber  hallt  es 
doch  wie  „eine  alte  Kunde,  dumpf  und  trüb"  zu  uns  herüber,  nicht  nur,  wenn 
der  Chronist  noch  im  j.  10Ü2,  als  die  Leiche  Ottos  IIL  durch  Verona  getragen 
wird,  ganz  einfach  nur  von  Bern  redet'),  sondern  auch  bei  solchen  Namen  wie 
Bellenz  (Bellinzona),  Cläfen  (Chiavenna),  Worms  (Bormio)  u.  a.  m.;  wir  fühlen 
dabei,  wie  der  Reichtum  der  europäischen  Geschichte,  die  Gedankenfülle  einer 
alten  Kulturwelt  die  Alpen  wie  ein  warmer  Hauch  überall  durchflutet. 


Wenn  wir  heute   die  Bevölkerungskarte  Mitteleuropas   betrachten,  so   sehen  Bevöikerungs- 
wir,  wie  das  Deutschtum   im  Südosten  wie   ein  viereckiger  Keil    in   die   anders-  ostaipen  am 
sprechende  benachbarte  Welt  hineinragt,  derart,  daß  die  Kanten  dieses  Keils,  im  Beginn  des 

i^ittcl  alters 

Süden  dem  Tal  der  Gail  und  der  Drau  folgend,  nach  der  Steiermark  hinziehen 
und  von  hier,  nach  Norden  im  rechten  Winkel  abbiegend,  bis  zur  Nordostspitze 
Niederösterreichs  laufen,  um  dann  in  einer  geraden  Linie  in  der  Richtung  auf 
Regensburg  zurückzustreichen.  Dieses  ganze  von  den  Deutschen  bewohnte  Ge- 
biet schließt  demnach  auch  die  Ostalpenländer  mit  Ausnahme  ihres  südlichen 
Randes,  der  Julischen  Alpen  und  der  Karawanken,  ein.  Wenn  so  auch  der  östlichste 
Teil  der  Alpen  heute  überwiegend  von  einer  deutschen  Bevölkerung  bewohnt 
wird,  so  ist  doch  die  Entwickelung,  die  diese  genommen  hat,  von  derjenigen  in 
den  anderen  Alpenländern  ganz  verschieden,  da  hier  schon  seit  den  letzten  Zeiten 
des  Römerreichs  die  geschichtlichen  Ereignisse  nicht  nur  mit  einer  anderen 
und  zumeist  schärferen  Wirkung  aufgetreten  sondern  besonders  auch  anders- 
geartete ethnologische  Substanzen  hinzugetreten  sind,  die  nur  bis  hierher  aber 
nicht  weiter  westlich  in  die  Alpen  hineingelangen  konnten. 

Um  den  Werdegang  der  heutigen  Bevölkerung  der  Ostalpenländer  zu  zeich- 
nen, müssen  wir  zunächst  zu  dem  Bilde  zurückkehren,  von  dem  wir  am  Anfang 
dieses  Kapitels  ausgegangen  waren.  Es  ist  dieses  die  Erscheinung,  daß  die 
gewaltigen  grundlegenden  Ereignisse  der  germanischen  Bevölkerung  gerade  am 
Ostrand  der  Alpen,  wie  es  nicht  anders  sein  konnte,  besonders  anhaltend  und 
ungestüm  gewirkt  und  hier  wirklich  in  der  antiken  Bevölkerung  eine  viel  größere 
Zerstörung  hervorgerufen  haben,  eine  Tatsache,  die,  wenn  sie  in  dem  langsam 
schaffenden  Gebirgsleben  einmal  eingetreten    war,    dort    auch    das    Fortbestehen 

')  W.  S.  82.  A.  20. 


122  VII.  Kapitel. 

der  Keime  der  alten  Kultur  viel  nachteiliger  beeinflussen  mußte.  Aus  diesem 
Grunde  haben  wir  zunächst  in  dem  östlichen  Teil  der  Alpen  allgemein  mit 
einem  viel  schwächeren  antiken  Untergrund  in  der  Bevölkerung  zu  rechnen,  wie 
dieses  auch  daselbst  überall  aus  der  viel  geringeren  Anzahl  der  aus  der  Antike 
stammenden  Ortsnamen  hervorgeht'),  und  im  besondern  an  der  Stelle  des  alten 
Virunum  ganz  deutlich  vor  Augen  tritt,  hier,  wo  heute  zwar  Stein  auf  Stein, 
Fund  auf  Fund  das  Dasein  der  größten  Römerstadt  der  Alpen  immer  wieder  in 
Erinnerung  bringt,  wo  aber  trotzdem,  ganz  anders  als  in  Chur  oder  am  Eisak, 
die  Ortsnamen  und  das  ganze  spätere  Kulturleben  wie  durch  einen  tiefen  Riß 
von  der  antiken  Vergangenheit  getrennt  sind.  In  diesen  an  Menschenleben  zwar 
nicht  leeren  aber  doch  ganz  erschöpften  weiten  Raum,  wie  wir  ihn  uns  um  die 
Wende  des  sechsten  und  siebenten  Jahrhunderts  vorzustellen  haben,  fließt  nun 
damals  an  allen  Stellen,  von  Norden  und  Osten,  am  nachhaltigsten  aber  von 
Südosten,  vom  Unterlauf  der  Drau  her,  jene  ebenso  von  der  antiken  Welt  wie 
von  den  germanischen  Völkern  verschiedene  Strömung  der  Slaven  herein,  die 
heute  in  dem  südöstlichen  Teil  der  Ostalpen  das  Hausrecht  besitzen,  deren 
nördliche  Grenze  hier  jetzt  aber  doch  nichts  anderes  als  eine  breite  Rückzugs- 
front darstellt,  bis  zu  der  jene  von  den  Deutschen  im  Laufe  des  Mittelalters 
wieder  aus  dem  Gebirge  herausgedrängt  worden  sind. 
Das  Vordringen  So    erscheint  als  das  zweite    Moment    für    die    Entwicklung   der   heutigen 

'  Bevölkerung  der  Ostalpenländer  die  Feststellung,  bis  wie  weit  und  mit  welcher 
Dichte  und  Nachhaltigkeit  die  Slaven  einst  hier  eingedrungen  sind.  Tatsache 
ist  nun,  daß  sie  am  Anfang  des  siebenten  Jahrhunderts  nördlich  an  der  Traun, 
in  der  Gegend  von  Wels,  erscheinen,  daß  sie  dann  auch  im  Pongau  auftauchen^) 
und  daß  sie  sich  zu  derselben  Zeit,  wie  wir  sahen,  besonders  nachdrücklich  im 
Pustertal  geltend  machen,  wie  sie  sich  wenig  später  auch  in  Friaul  mit  den 
Langobarden  herumgeschlagen  haben 3).  Überblicken  wir  nun  aber  diese  vier 
Punkte  hinsichtlich  ihrer  Lage,  so  zeigt  schon  der  Vergleich,  wie  weit  die  beiden 
südlichen,  vor  allem  Lienz  im  Pustertal,  gegenüber  den  beiden  nördlichen  nach 
Westen  hin  vorgeschoben  sind,  die  Seite  an,  wo  damals  dieses  neue  Völker- 
reservoir seine  größte  Tiefe  hatte,  während  in  der  Tatsache,  daß  die  Slaven  in 
Friaul  nur  vorübergehend  auftreten,  wiederum  nur  die  geographische  Wirkung 
der  Alpen  zum  Ausdruck  kommt,  die  diesmal  jenen  zwar  dick  und  zäh  aber 
viel  weniger  gewaltsam  fließenden  Strom  von  Italien  abzulenken  vermochten. 
Wenn  nun  weiterhin  auch  der  Pongau  für  die  Linie  des  slavischen  Vordringens 
zwischen  Lienz  und  Wels  einen  Verbindungspunkt  abgiebt,  so  ist  doch  auch 
jenseits  dieser  Linie,  in  dem  Gebiet  des  Gr.  Glockner  ein  solches  Vordringen 
nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  wie  einwandfrei  der  Name  Windisch-Matrei  und 
die  vielen   slavischen   Ortsnamen   im   Virgental   beweisen'*),   nicht  zu   gedenken, 

')  Hau.   S.  109;  Kr.  S.  40.  2)  ju.  S.  257,  258.  3)  p.  d.   S.  114,  148.  •»)  Unterforcher,  G.  Pr. 

Eger  1890,  Sonderabdruck  S.  12  f. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  123 

daß  selbst  in  der  Gegend  des  oberen  Pinzgaues  sagenhafte  Anklänge  dieser  Art 
existieren ').  Einwärts  jener  geschichtlich  feststehenden  Linie  aber  künden  die 
slavischen  Ortsnamen  im  Lungau,  besonders  um  den  Hochgolling  herum,  und 
diejenigen  östlich  des  Eisenhutes  bei  Fladnitz  und  Metnitz  genugsam  das  Dasein 
früherer  slavischer  Bewohner  daselbst  an,  und  wenn  heute  das  Gailtal  bis  Her- 
magor  durchaus  slavisch  ist,  so  muß  hier  auch  einmal  das  diesem  gleich- 
laufende und  ebenso  wegsame  Haupttal  der  Drau  bis  Greifenburg  von  Slaven 
besiedelt  gewesen  sein-). 

Hier  haben  wir  demnach  jetzt  ebenso  wie  in  den  Mittelalpen  eine  deutsche  Die  Zurück- 
Eroberung  weiter  Gebiete  vor  uns,  die  aber,  wenn  sie  auch  zu  demselben  Resul-  ostaipen  durch 
tat   geführt  hat,    doch    in   der  Hauptsache    durchaus    anderen    Völkern    als   dort  die  Deutschen, 
abgewonnen  wurde  und  deshalb  auch  mit  anderen  Mitteln  gearbeitet  und  innerlich 
einen  anderen  Verlauf  genommen  haben  muß.     Wenn   diese   Entwickelung   sich 
auch  in  der  Hauptsache  gegen  die  Slaven  gekehrt  hat,  so  muß,  in  ihrem  Anfange 
wenigstens,  auch  der  avarische  und  ungarische  Widerstand  in  Rechnung  gezogen 
werden,    der    ungarische  schon    insofern,   weil  die  Angriffskriege   dieses  Volkes, 
deren  Ziel  nicht  nur  das  Deutsche  Reich   nördlich   der   Alpen   sondern    ebenso 
auch  die  südlichen    Ostalpenländer  und  Italien  waren^),  erst    in    der    Mitte    des 
zehnten  Jahrhunderts    ihr    Ende    erreichten.      Die    deutsche    Kolonisation,    die 
gegenüber  den  Alpenromanen   schon  viel   früher  begonnen    hatte,    hat  daher    in 
den  Ostalpenländern   erst   viel   später  in   ungestörte   Bahnen   einlenken   können. 

Wie  dort,  so  zeigt  sich  auch  hier  der  Adel  an  der  führenden  Stelle,  und 
deshalb  finden  wir  auch  heute  die  deutschen  Ostalpen  überall  mit  deutschen 
Burgennamen  überzogen;  es  ist  aber  besonders  wichtig,  daß  diese  Erscheinung 
hier  doch  nicht  ganz  so  scharf  ausgeprägt  ist,  weil  jenes  feudale  Element  nicht 
das  einzige  am  Platze  war,  und  sich  hier  auch  noch  andere  soziale  Kräfte  an  der 
Arbeit  beteiligten,  wie  sie  sich  auf  jungfräulichem  Boden  und  gegenüber  Völkern 
niederer  Kultur  immer  einzustellen  pHegen.  Während  in  den  Mittelalpen  die 
alte  romanische  Bevölkerung  den  neuen  Herren  ihre  führende  Stellung  doch 
nur  um  den  Preis  einer  gewissen  Assimilierung  verkaufte,  während  dort  Altes 
und  Neues  innig  zusammenwuchs,  ist  hier  auf  weiten  Gebieten  nicht  nur  der 
Herr  mit  seinem  Gefolge,  sondern  auch  von  weither  und  nur  aus  dem  Norden 
kommend  in  dichten  Scharen  der  deutsche  Bauer  mit  seinem  schweren  Pflug, 
der  deutsche  Waldarbeiter  mit  seiner  Axt  eingezogen'').  Und  wie  hinsichtlich 
der  geschlossenen  städtischen  Entwickelung  sich  die  deutsche  Kultur  der  roma- 
nischen gegenüber  zwar  stets  kraftloser,  der  slavischen  gegenüber  aber  stets  über- 

')  Schw.  S.  64.  Zu  den  angeblichen  Slavenkämpfen  in  Tirol  vgl.  Hau.  S.  64  u.  N.  A.  S.  76  A. 
2)  Ein  Unterschied  deutscher  und  slavischer  Ortsnamensgebung  besteht  u.  a.  auch  darin,  daß 
dieselben  Namen,  die  durch  Ober  und  Unter  näher  bezeichnet  werden,  bei  einem  deutschen  Ursprung 
gewöhnlich  nahe  aneinander,  bei  einem  slavischen  dagegen  oft  meilenweit  getrennt  liegen.  Dies  zeigt 
sich  auch  hier:  Ober  und  Unterdrauburg.  ^)  Zu  den  Ungarneinfällen  in  den  Alpen  vgl.  Oe.  I. 
S.  214,  218,  II.  S.  247.        *)  Kr.  S.  143,  146. 


124  VII.  Kapitel. 

legen  gezeigt  hat,  so  sind  die  zahlreichen,  wenn  auch  kleinen  Städte  innerhalb  der 
Ostalpen  fast  ausschließlich  ein  Werk  dieser  Periode.  Welch'  gutes  Mittel,  der 
Slavenwelt  Boden  abzugewinnen,  aber  diese  geschlossenen  deutschen  Gemein- 
wesen mit  ihrer  Selbsthilfe  und  Selbstverwaltung  abgaben,  läßt  sich  besonders 
dort  beobachten,  wo  jene  deutsche  Kolonisation  schließlich  zum  Stillstand  ge- 
kommen ist.  Noch  heute  stehen  südlich  der  Karawanken,  wo  das  Landvolk 
niemals  anders  als  slavisch  war,  die  deutschen  Bestandteile  innerhalb  jener 
Städte  aufrecht,  die  das  Deutschtum  einst  als  seine  äußersten  Posten  hier  vor- 
geschoben hatte  (Bischoflaak,  Laibach,  Laas,  Gurkfeld,  Landestrost) '),  und  einzig 
in  den  Ostalpen  können  wir  nun  auch  aus  den  Ortsnamen  eine  Musterkarte  aller 
jener  deutschen  Stämme  zusammenstellen,  die  während  des  Mittelalters  von 
ihren  alten  Sitzen  aus  mit  einer  fast  unerschöpflichen  Kraft  nach  Osten  vor- 
drangen; neben  den  Bayern  treffen  wir  die  Schwaben  so  gut  wie  die  Sachsen, 
die  Franken  so  gut  wie  die  Thüringer  und  die  Flamländer. 
Der  bayrische  Aber  wenn  auch  diese  Beobachtung  dazu  dienen   kann,   die   besondere  Art 

*'"'"■  jenes  deutschen  Platzgreifens,  die  verschiedenartige  und  reichlichere  Zufuhr  des 
neuen  Volkstums,  wie  sie  in  den  Alpentälern  nur  hier  stattgefunden  hat,  zu 
beleuchten,  so  muß  doch  daran  festgehalten  werden,  daß  zu  diesem  ganzen 
Resultat  der  bayrische  Stamm  weitaus  die  Hauptarbeit  beigetragen  hat^).  Viel 
mehr  noch  als  politisch  ist  ethnographisch  auf  der  Höhe  des  Mittelalters  der 
ganze  Südosten  Deutschlands  so  recht  ein  bayrischer  Machtkomplex  gewesen, 
als  das  alte  Herzogtum  im  Norden  von  den  Alpenländern  südlich  und  südöstlich 
wie  von  einem  Neuland  umrahmt  wurde,  in  das  von  dort  aus  die  besten  und 
zukunftsreichsten  Kräfte  abflössen.  Wenn  schon  innerhalb  dieser  Zone  hieran 
die  ihren  bayrischen  Ursprung  bezeugenden  Ortsnamen  genugsam  erinnern 
(Payrdorf  bei  Brixen,  und  andere  viele  in  den  Ostalpen)^),  so  verlohnt  es  sich 
doch  auch,  die  Grenzen  jenes  alten  Gebietes  an  der  Hand  der  heute  noch 
lebendigen  oder  in  den  Urkunden  begrabenen  Zeugen  abzugehen.  Wir  kennen 
bereits  die  Feste  Payrsberg  am  nördlichen  Rand  des  Nonsbergs,  und  wenn  einst 
an  der  großen  Hauptstraße  südlich  Trient  im  Val  Lagarina  mit  Bajovarius  be- 
zeichnete Ortsnamen  vorkommen ''),  wenn  unter  den  Grafen  von  Arco  nur  das 
bayrische  Geschlecht  derer  von  Bogen  fortlebte,  so  bedeutet  dieses  doch  nichts 
anderes,  als  daß  auch  hier  vereinzelt  Grund  und  Boden  zu  finden  war,  auf  dem 
sich  Bayern  als  Herren  fühlten.  Auch  in  Istrien  lebten  um  das  J.  1000  der 
Markgraf  dieses  Landes  Ulrich  II.  und  seine  Gemahlin  Adelheid  nach  bayrischem 
Stammrecht^),  und  heute  noch  gewahren  wir  im  Osten  der  Alpen  den  Ort 
Die  ethno-  Payerbach  am  Semmering  und  wie   dort  das   (Bayrische)  Gratz   dem  slavischen 

graphische   ,„,,.     ,.,..■.  , 

Besonderheit  (Wmdischgratz)  entgegenschaut. 

der  Nordost-           Dort  aber,   in   dem   Raum   zwischen   den  Julischen   Alpen   und   der  Adria, 
ecke  Italiens.  ■ — — — ■ 

')  Kr.  S.  108f.  2)  Vgl.  Hau.   S.  113;  Kr.  S.  146.  3)  Kr.  S.  136,  151,  157.  ■»)  Ju.    S.  296. 

5)  Kr.  S.  115. 


Die  Völker  der  Alpen  im  Mittelalter.  125 

findet  sich  nun  auch  eine  Zone,  die  ethnographisch  schon  seit  Jahrhunderten 
fast  unverändert  geblieben  ist  und  in  dieser  Beziehung  ganz  einzigartig  dasteht, 
weil  hier  die  drei  großen  Völkergruppen  Europas,  die  romanische,  die  germa- 
nische und  die  slavische,  sich  unmittelbar  berühren.  Es  ist  interessant  zu  sehen, 
wie  schon  der  kluge  Äneas  Silvius  diesen  merkwürdigen  Zustand  heraus- 
fühlte, als  er  im  fünfzehnten  Jahrhundert  durch  diese  Gegenden,  wohl  über  den 
Pontebbapaß,  reiste,  und  es  ihm  auffiel,  daß  die  Leute  hier  sich  zwar  in  drei 
Sprachen,  im  Deutschen,  Italienischen  und  Slavischen,  in  keiner  aber  ordentlich 
verständlich  machen  konnten ').  Als  ein  rechtes  kulturelles  Unikum  kommt  es 
daher  auch  allein  hier  vor,  daß  für  ein  und  denselben  Ort  aus  allen  diesen 
drei  Sprachen  eine  lebendige  Bezeichnung  existiert  oder  existiert  hat;  so  ist 
Venzone,  das  slavische  Puschave,  nichts  anderes  als  das  deutsche  Puscheldorf, 
und  für  Moggio  war  früher  der  slavische  Name  Mosenice  und  der  deutsche 
Mosach  gebräuchlich.  Nicht  minder  ist  es  auch  hier  eine  ganz  weit  verbreitete 
Erscheinung,  daß  Orte  mit  slavischem,  italienischen  und  deutschen  Namen  im 
trauten  Verein  nebeneinander  liegen.  So  findet  sich  neben  Karfreit  (Caporetto) 
das  slavische  Mlinsko;  westlich  Görz,  ganz  auf  italienischem  Boden,  entdecken 
wir  ein  Podgora,  und  das  italienische  Ober-  und  Unter-Idria  liegen  neben  dem 
deutschen  Schwarzenberg  und  dem  slavischen  Godowitsch.  Entlang  der  Pontebba- 
straße  aber  können  wir  sogar  vier  solche  verschiedene  Namensklassen  aufbringen, 
da  sich  hier  zu  den  slavischen  (Saifnitz,  Uggowitz),  den  deutschen  (Leopolds- 
kirchen, Wolfsbach)  und  den  italienischen  (Chiusaforte,  Malborgeth)  auch  noch 
der  aus  der  Antike  stammende  Name  Gemona  hinzugesellt.  Von  welchen  Gesichts- 
punkten wir  nun  aber  auch  die  Kultur  an  der  Nordspitze  der  Adria  betrachten, 
immer  und  immer  wieder  treten  dort  die  Beziehungen  zu  dem  fernen  Osten 
als  besonders  zugkräftig  hervor;  denn  wenn  hier,  wo  die  Verhältnisse  des  Hoch- 
gebirges nicht  mehr  in  Frage  kommen,  verschiedene  geschlossene  Völkerteile 
unvermischt  durcheinander  leben,  so  ist  dieses  ein  Vorkommnis,  das  man  in 
Innereuropa  kaum  irgendwo  antreffen  wird,  für  östliche  Verhältnisse  dagegen 
eine  nichts  weniger  als  ungewohnte  Erscheinung. 

')  Oe.  II.  S.  264. 


VIII.  Kapitel. 

Die  Deutsche  Reichspolitik  und  die  Alpenländer. 


Der  Anfang  Der  ethnologische  Zustand  der  Alpenländer  während  des  Mittelalters  würde 

Endziel  der  ^^^'"  ^^^^  schon  um  deswillen  besondere  Beachtung  verdienen,  weil  er  zugleich 
staatlichen  den  Schlüssel  für  das  Endziel  der  politischen  Entwickelung  abgiebt,  dem  jene 
"'*"^in  den  Länder  nun  lange  Jahrhunderte  hindurch  zielgerecht  zusteuern  mußten.  Die 
Alpenländern.  Grundlage  der  politischen  Entwickelung  bildet  in  den  Mittel-  und  Ostalpen  eben 
auch  nichts  anderes  als  die  Tatsache,  daß  jene  hier  mit  einer  tiefgehenden  ethno- 
graphischen Umgestaltung  zusammenwuchs,  ein  Zustand,  der  damals  in  Mittel- 
europa nur  noch  im  Osten  Deutschlands  ganz  in  gleicher  Weise  zu  beobachten 
ist,  wo  vormals  slavische  Gebiete  in  deutsche  Staaten  verwandelt  wurden,  wie 
ja  die  Ostalpen  selbst  den  südlichen  Teil  dieses  Komplexes  ausmachen.  Es  ist 
aber  weiterhin  eine  im  geschichtlichen  Leben  immer  wiederkehrende  Erscheinung, 
daß  jene  körperliche  und  geistige  Energie,  wie  sie  zwar  nicht  für  die  Vernichtung 
und  Erdrosselung  unterjochter  Völker,  wohl  aber  für  die  tiefgehenden  ethno- 
graphischen Umgestaltungen  Vorbedingung  ist,  bei  der  siegenden  Partei  auch 
eine  gesteigerte  innere  Überlegenheit  hervorzurufen  und  ein  solches  Maß  poli- 
tischer Fähigkeiten  anzuhäufen  pflegt,  daß  dieses  geistige  Kapital  noch  Jahrhunderte 
lang  in  der  Staatenbildung  nachwirkt.  Bis  zu  dem  Punkte,  an  dem  jene  aus  den 
untersten  Ursprungstiefen  wirkenden  Ursachen  äußerlich  in  die  Erscheinung  treten, 
ist  es  freilich  auch  in  den  Alpenländern  ein  weiter  Weg  gewesen.  Aber  früher 
und  klarer  heben  sich  gerade  hier  die  auf  jenem  vorher  völlig  umgeackerten 
Boden  entstandenen  Staaten  heraus,  wo  die  Regierungsgewalt  durch  eine  lange 
vorangegangene  Kulturarbeit  ein  sicheres  Gefühl  ihrer  Kraft  gewonnen  hatte. 
Zu  Beginn  der  neuen  Zeit  sind  es  neben  Kurbrandenburg  und  Kursachsen  die 
österreichischen  Erblande,  die  Schweiz  und  Savoyen,  denen  im  weiten  Umkreis  die 
Zukunft  Innereuropas  gehört,  eine  Lagerung  der  politischen  Kräfte,  die  zahlreiche 
und  kräftige  Äste  getrieben  hat  und  deren  Wurzeln  in  ihrer  Lebensfähigkeit  auch 
heute  noch   nicht   erschöpft  sind.     Auch   zu   demjenigen,  was  vorher  über  die 


Die  deutsche  Reichspolitik  und  die  Alpenländer.  127 

geringe  politische  Entwickelungsfahigkeit  der  Aipenromanen  gesagt  worden  ist, 
kann  jene  Erscheinung  keinen  Widerspruch  bilden,  da  eben  hier  jene  in  langer 
Arbeit  gewonnene  Energie  schließlich  aus  dem  Gebirge  in  die  Ebene  hinunter- 
stieg (Wien,  Zürich  und  Bern,  Turin). 

Als  bald  nach  dem  Tode  Karls  des  Gr.  dessen  Reich  in  verschiedene  Teile  Die  Aipen- 
zerfiel,  erreichte  auch  jener  Zustand  sein  Ende,  nach  dem  die  Alpenländer  in  dTm^Tocfe*^ 
ihrer  Gesamtheit  das  Glied  eines  großen  einheitlichen  Reiches  gebildet  hatten,  Karls  d.  Gr. 
eine  Kombination,  wie  sie  schon  einmal  während  der  römischen  Kaiserzeit  Jahr- 
hunderte hindurch  existiert  und  die  sich  diesmal  nur  für  Jahrzehnte  wiederholt 
hatte,  die  aber  seitdem  bis  auf  den  heutigen  Tag  niemals  wieder  zur  Wirklichkeit 
geworden  ist.  Der  Vertrag  von  Verdun  (843)  spaltete  die  Alpenländer  in  zwei 
annähernd  gleichgroße  Teile  auseinander,  derart,  daß  seitdem  die  Westalpen  und 
ein  Teil  der  Zentralalpen  zum  Reiche  Lothars,  der  größere  Teil  der  Zentral- 
alpen und  die  Ostalpen  dagegen  zum  Reiche  Ludwigs  des  Deutschen  gehörten. 
Die  durchaus  wertvollere  Hälfte  war  aber  damals  der  Besitz  Lothars,  weil  er 
die  älteste  Kultur  und  zugleich  die  wichtigsten  Alpenwege  selbst  in  sich  schloß; 
er  erstreckte  sich  von  den  Seealpen  Piemonts  bis  in  das  Herz  der  Schweizer 
Urkantone,  wo  die  Grenze  ungefähr  in  der  Linie  des  Reußtales  und  weiter  in 
nordwestlicher  Richtung  nach  Basel  hinablief.  Diese  Grenze  blieb  dann  aber 
auch  bestehen,  nachdem  das  Reich  Lothars  auseinandergefallen  und  an  dessen 
Stelle  die  burgundischen  Reiche  entsanden  waren,  von  denen  besonders  das 
Königreich  Hochburgund  sich  eine  Zeit  lang  recht  eigentlich  zu  einem  alpinen 
Reiche  auswuchs,  weil  es  sich  fast  ganz  auf  das  Gebirge  beschränkte  und  als 
solches  nur  das  heutige  Savoyen  und  die  westliche  Schweiz  umfaßte.  Beide 
Reiche  wurden  dann  933  zum  arelatischen  Reiche  vereinigt  und  führten  als 
solches  vom  zehnten  bis  in  das  elfte  Jahrhundert  ein  ganz  selbständiges  Dasein 
unter  Lebensbedingungen,  die  uns  heute  fast  unverständlich  erscheinen,  die  aber 
von  der  Unfertigkeit  der  damaligen  europäischen  Zustände  ein  deutliches  Zeugnis 
abgeben.  Dieses  arelatische  Reich,  das  große  Königreich  Burgund,  kam  im  J.  1032 
durch  Erbfolge  an  das  Deutsche  Reich,  ein  großes  aber  innerlich  taubes  Ereignis, 
da  es  nur  zu  einer  langsamen,  unaufhaltsamen  Aufteilung  dieser  Erbschaft  zwischen 
Frankreich  und  Deutschland  selbst  die  Veranlassung  wurde.  Nur  der  weitaus 
kleinere  Teil  dieses  Reiches,  die  östliche  Schweizer  Hochebene,  Solothurn  und 
Bern,  die  Berner  und  Walliser  Alpen,  hat  während  des  Mittelalters  tatsächlich  zu 
Deutschland  gehört,  während  sein  Hauptteil  sich  an  Frankreich  angliederte.  Dort 
aber,  wo  jene  beiden  Machtsphären  im  Gebirge  aneinanderstießen,  wuchs  schon 
damals  in  Gestalt  der  Grafschaft  Savoyen  von  neuem  ein  lebenskräftiges  Herr- 
schaftsgebiet heraus,  das  hier  in  kleinem  Kreise  die  Erbschaft  des  alten  König- 
reichs Hochburgund  übernahm. 

Der  Hauptteil  der  Mittelalpen   und  die  Ostalpen   dagegen,  die  durch   den 
Vertrag  von  Verdun  den  deutschen  Karolingern   zugefallen  waren,   hatten  schon 


128  1-  Kapitel. 

damals  als  die  südlichen  und  südöstlichen  Grenzlande  des  Deutschen  Reiches 
zu  dienen,  eine  Bestimmung,  die  sie  nun  auch  Jahrhunderte  hindurch  festgehalten 
haben.  In  dem  Augenblicke  der  Teilung  freilich  war  jener  Besitz  in  seinen 
einzelnen  Gliedern  seiner  Wichtigkeit  nach  ein  ganz  verschiedener,  da  er  je 
weiter  nach  Osten  desto  schwieriger  zu  behaupten  war,  und  damals  nur  Bünden, 
Tirol  und  Salzburg  wirklich  fest  zum  Reiche  gehörten.  Äußerlich  galten  diese 
Länder  nunmehr  weiterhin  als  Teile  der  großen  deutschen  Stammesherzogtümer, 
Schwabens  und  vor  allem  Bayerns,  die  sich  nördlich  von  ihnen  in  der  Ebene 
ausbreiteten.  Die  politische  Entwicklung  geht  dann  auch  hier  später  denselben 
Weg,  wie  sie  ihn  überall  gegangen  ist,  indem  die  Macht  des  Reichsoberhauptes 
so  gut  wie  die  der  alten  Stammesherzöge  immer  mehr  zurücktrat  und  sich  an 
deren  Stelle  zunächst  eine  Anzahl  kleiner  Machtkreise  zu  selbständigem  Leben 
erhoben,  jedoch  so,  daß  gerade  in  jenen  Alpenländern  diese  letzteren  besonders 
früh  an  das  Tageslicht  treten,  und  daß  unter  ihnen  die  geistlichen  Herrschaften, 
die  Besitzungen  der  Kirche,  einen  besonders  großen  Raum  einnehmen.  Von 
niemand  anders  als  von  den  deutschen  Herrschern  selbst  ist  nun  aber  das  Empor- 
kommen eben  dieser  geistlichen  Gewalten  verursacht  und  gefördert  worden,  als 
die  einzige  Kraftäußerung,  durch  die  das  Reichsoberhaupt  seinen  Willen  an  den 
wichtigen  Alpenstraßen  zur  Geltung  bringen  konnte.  Später,  nach  dem  Siege 
des  Papstes  und  der  deutschen  Fürsten  über  die  deutsche  Kaisermacht,  haben 
dagegen  dann  auch  hier  nur  die  weltlichen  Territorien  das  erste  Wort  zu  sprechen 
gehabt. 
Die  deutschen  Es  ist  bekannt,  daß  die  deutschen  Karolinger  je  länger  je  mehr  an  Macht 

in  den'^°Aipen^  einbüßten  und  schließlich  nur  auf  den  Südosten  Deutschlands  beschränkt  blieben. 
So  erscheinen  jene  letzten  Erben  Karls  des  Gr.  in  Deutschland  zunächst  kaum 
in  einer  anderen  Gestalt  als  in  derjenigen  der  alten  bayrischen  Stammesherzöge, 
wie  sie  auch  in  der  Residenz  derselben,  in  Regensburg,  ihren  Sitz  aufgeschlagen 
hatten.  Aber  gerade  dies  ist  der  Grund,  daß  man  einigen  Spuren  ihres  Wirkens 
nun  auch  im  Süden  des  ihnen  bis  zuletzt  gebliebenen  Gebietes  begegnen  kann. 
Im  J.  853  stiftete  Ludwig  der  Deutsche  die  Fraumünsterabtei  in  Zürich');  um  den 
Wallfahrtsort  Einsiedeln  aber  soll  sich  dessen  Tochter  Hildegard,  die  Äbtissin 
dieses  Stiftes  war,  verdient  gemacht  haben,  und  auch  der  Besitz  Salzburgs  im 
Zillertal  und  zum  Teil  derjenige  in  der  Steiermark  und  an  der  ungarischen 
Grenze  rührt  bereits  von  Vergabungen  dieser  letzen  Karolinger  her^).  Am  deut- 
lichsten äußert  sich  dieses  Verhältnis  jedoch  an  dem  eigentlichen  bayrischen 
Alpenweg,  an  der  Brennerstraße,  und  zwar  in  Verbindung  mit  einem  bestimmten, 
mitten  im  Gebirge  gelegenen  Straßenpunkt.  Hier  saßen,  nachweislich  seit  der 
Mitte  des  sechsten  Jahrhunderts^),  auf  hohem  Felsen  die  Bischöfe  von  Sehen, 
die  wir  als  solche  auch  auf  den  Synoden  von  Grado  und  Mariano  sich  einstellen 
sehen'*).     Schon  Ludwig  der  Deutsche  war  es,  der  (845)  diese  Bischöfe  von  den 

1)M.  C.  L.  17  B.  S.  1110.         2)  schw.  S.  160;  Kr.  S.  48.        3)  ju.  S.  267.        *)  W.  S.  62. 


Die  deutsche  Reicbspolitik  und  die  Alpenländer.  129 

fränkischen  Gaugrafen  unabhängig  machte,  während  später  (901)  durch  den  letzten 
Karolinger,  Ludwig  das  Kind,  auch  ein  {königlicher  Meierhof  Prichsna  an  den 
Bischof  Zacharias  von  l'.;ben  geschenkt  wurde,  eine  Erwerbung,  die  deshalb 
bedeutsam  werden  sollte,  weil  nach  einem  Jahrhundert  (994)  die  Bischöfe  selbst 
nach  diesem  neuen  Besitz  überzusiedeln  für  gut  befanden.  Hier  zeigen  sich  also 
ganz  deutlich  neue  Kräfte  an  der  Arbeit.  Seben,  wo  einst  die  römischen  Be- 
amten ihren  Sitz  aufgeschlagen  hatten,  tritt  jetzt  an  Bedeutung  zurück  neben 
jenem  Zuwachs  aus  dem  königlichen  Pfalzgut,  der  nichts  anderes  als  der  Kern 
des  heutigen  Ortes  Brixen  ist,  und  dessen  Lage  demnach  für  die  damalige  Zeit 
besonders  wichtig  und  günstig  gewesen  sein  muß. 

Mit  raschen  Schritten  sehen  wir  nun  auch  die  fernere  Entwickelung  den 
beabsichtigten  Gang  gehen.  Brixen,  das  als  mittelalterliche  Gründung  somit  viel 
älter  als  Innsbruck  ist,  bildet  jetzt  für  Jahrhunderte  den  Hauptplatz  an  der 
BrennerstraCe,  und  seine  Bischöfe,  die  zumeist  den  mächtigsten  Geschlechtern 
Bayerns  entstammen,  erscheinen  in  weitem  Umkreis  als  die  eigentlichen  Herren 
„dieses  Landes  im  Gebirge"  und  wohnen  als  solche  auch  den  bayrischen  Synoden 
und  Hoftagen  zu  Regensburg  bei.  Hier,  wo  damals  die  Fäden  von  Süden  her 
sämtlich  zusammenliefen,  finden  wir  sie  nun  auch  seit  dem  J.  1002  im  Besitz 
eines  Hofes  und  eines  Landgutes'),  und  ebenso  entspricht  es  ganz  der  Lage 
Brixens  am  Ausgangspunkt  der  nach  Osten  führenden  Straße  durch  das  Pustertal, 
daß  es  zu  derselben  Zeit,  wenn  auch  vorübergehend,  bereits  weit  entfernt  im 
Quellgebiet  der  Save,  in  Villach  und  Veldes,  Fuß  gefaßt  hat^). 

Wenig  später  wie  hier  in  Tirol  wiederholt  sich  dann  auch  im  benachbarten  Die  Regierung 
Bünden  ganz  dieselbe  Erscheinung.  Es  ist  dies  ganz  ausgesprochen  der  Zeit-  ;„  ^gn 
punkt,  an  dem,  mit  den  kraftvollen  Sachsenkaisern  beginnend,  die  von  Deutsch-  Alpenländern. 
land  naf^h  Italien  hinüber  führenden  Alpenstraßen  für  die  Reichspolitik  eine  er- 
höhte Wichtigkeit  gewannen.  Wenn  wir  nun  aber  finden,  daß  die  durch  Grau- 
bünden führenden  Straßen  gerade  von  den  sächsischen  Kaisern  ganz  vorwiegend 
für  ihre  Züge  nach  Italien  benutzt  worden  sind,  so  liegt  hierin  zugleich  auch 
die  Erklärung  für  die  Schicksale  dieses  Landes  in  jener  Periode  und  für  das 
erneute  Emporschnellen  der  Chuier  Bischofsgewalt,  die  sich  damals  nicht  zu 
ihrem  Ungunsten  als  ein  nützliches  Werkzeug  der  deutschen  Reichspolitik  ge- 
brauchen ließ.  Es  ist  eine  lange  Reihe  von  Schenkungen  und  Vergabungen,  von 
Gnadenbeweisen  und  Bestätigungen,  durch  die  im  Verlaufe  des  zehnten  Jahr- 
hunderts die  Bischöfe  von  Chur  alles  das  wieder  an  sich  brachten,  was  ihnen 
unter  Karl  dem  Gr.  abgerungen  worden  war,  und  infolge  deren  diese  um  die 
Wende  des  Jahrtausends,  ebenso  wie  drüben  ihre  Nachbarn  in  Brixen,  in  die 
Stellung  von  selbständigen  Reichsfürsten  hineinwuchsen.  Der  Machtbereich  des 
Churer  Bischofs,  der  sich  unter  Karl  dem  Gr.  immer  mehr  nach  Chur  selbst 
zurückgezogen  hatte,  schnellt  jetzt  plötzlich  wieder  von  dort  nach  allen  Seiten  hin 

>)  Ju.  S.  305.        ^Tkh.  S.  58,  84. 

Sc  befrei,  VcrkehrsBcschlchie  der  Alpen.     2.  Band.  Q 


130  VIII.  Kapitel. 

und  bis  an  die  Grenzen  des  Teiles  Rätiens  zurück,  wie  er  jenen  in  den  Tagen 
Dioicletians  als  Erbanspruch  zugefallen  war.  Es  ist  daher  kein  Entstehen  neuer, 
sondern  nur  das  Aufleben  alter  Verhältnisse,  wenn  jetzt  die  halbe  Stadt  Chur, 
—  die  andere  Hälfte  verblieb  zunächst  noch  dem  Reiche  —  Steuern  und  Zölle 
daselbst  und  das  Münzrecht  in  den  bischöflichen  Besitz  übergeht.  Auch  in  den 
Königshof  in  Chur  d.  h.  in  das  alte  Römerkastell,  in  dem  seit  806  der  rätische 
Graf  residiert  hatte,  halten  jetzt  die  Bischöfe  wieder  ihren  Einzug,  und  das 
Schicksal  der  Alleinherrscher  des  Abendlandes  spiegelt  sich  in  unendlicher 
Verkleinerung  wieder,  wenn  von  dem  ganzen  umfangreichen,  zu  jenem  Platze 
gehörigen  Grundbesitz  mit  seinen  großen  Einnahmen,  die  nach  römischem  und 
germanischem  Recht  ursprünglich  dem  Reichsoberhaupt  zu  freier  Verfügung 
standen,  schließlich  nur  die  Falkenjagd  als  ausschließliche  königliche  Berech- 
tigung übrig  blieb '). 

Aber  auch  ringsherum  erstreckt  sich  jener  Machtzuwachs,  und  wenn  hier 
ein  Dorf  und  dort  ein  Hof  als  Schenkung  genannt  wird,  so  fallen  jene  Punkte 
auch  mit  allem  und  jedem,  „mit  der  Kirche  und  ihren  Zehnten,  mit  EinFängen, 
Gebäuden,  Hörigen,  Äckern,  Wiesen,  Weinbergen,  Wäldern,  Weiden,  Alpen, 
Inseln,  Mühlen  und  der  Fischerei"  dem  Bischof  zu^).  Solche  Flecken  liegen 
aber  ebenso  im  Norden  im  Vorarlbergischen  (Bludenz,  Menzingen)^)  und  am 
Walensee,  wo  der  Bischof  die  Fischerei  und  das  Recht  erhält,  neben  den  vier 
königlichen  Schiffen  selbst  zollfrei  noch  ein  fünftes  zu  laden,  wie  im  Unter- 
engadin  (Sins)  und  im  Vintschgau,  und  besonders  auch  im  Süden  der  Churer 
Machtsphäre.  Hier  ist  der  Übergang  des  Bergeil,  das  im  J.  960  von  der  Graf- 
schaft Chiavenna  und  damit  von  dem  Bistum  Como  abgetrennt  und  dem  Bischof 
von  Chur  als  selbständige  Grafschaft  eingeräumt  wurde,  in  mehr  als  einer 
Hinsicht  bemerkenswert.  Einmal  dafür,  wie  stark  damals  die  politische  Anzie- 
hungskraft des  Nordens  war,  insbesondere  aber,  weil  mit  dem  Tal  Bergeil  selbst 
auch  ein  „von  reisenden  Kauflleuten"  erhobener  Zoll  abgetreten  wurde,  eine 
Tatsache,  aus  der  also  hervorgeht,  daß  damals  die  nach  dorthin  auslaufenden 
Straßen  auch  von  dem  Handel  eifrig  benutzt  worden  sein  müssen.  Auch  darin, 
daß  sich  Chur  dann  noch  zweimal  (988  und  1005)  ausdrücklich  die  Herrschaft 
über  diese  Grafschaft  bestätigen  ließ,  kommt  nichts  anderes  als  der  hohe  Wert 
dieses  Besitzes  zum  Ausdruck '*). 

In  die  Jahre  zwischen  951  und  960  fallen  jene  Schenkungen,  durch  die 
Otto  der  Gr.  dem  Bistum  Chur  so  durchsichtig  und  absichtlich  zu  Macht  und 
Einfluß  zu  verhelfen  suchte,  und  der  Bischof  Hartbert,  der  den  Kaiser  im  J.  961 
auf  seinem  Krönungszug  nach  Italien  begleitete  und  dessen  Unterschrift  man 
daher  auch  auf  den  damals  in  Rom  ausgestellten  Reichsurkunden  finden  kann, 
ist  es  gewesen,  der  diese  günstige  Konstellation  so  gut  auszunutzen  verstand. 
Ein  hübsches  Beispiel   für   die   Art,  wie   damals   die   Staatskunst   die  wirklichen 

')  P).  S.  422.         2)  PI.  s.  410.         3)  PI.  S.  403 f.        4)  pi.  s.  417,  425f. 


Die  deutsche  Reichspolitik  und  die  Alpenländer.  131 

Gründe  für  eine  politische  Maßregel  vor  dem  laienhaften  Verständnis  zu  ver- 
schleiern pflegte,  ist  es  aber,  wenn  als  Veranlassung  für  jene  außerordentlichen 
Zuwendungen  an  Chur  die  Krone  die  Einbuße  anführt,  die  das  Bistum  durch  die 
Raubzüge  der  Sarazenen  erlitten  und  die  der  Kaiser  auf  seiner  Rückreise  selbst 
mit  eigenem  Auge  wahrgenommen  habe. 

Auch  andere  geistliche  Gewalten  in  den  Alpen  sehen  wir  in  jener  Periode 
In  besonderer  Beziehung  zum  Reichsoberhaupt  stehen  und  sich  mit  dessen  Hilfe 
zu  selbständigen  Herrschaftsgebieten  auswachsen.  So  erscheint  das  Kloster 
Pfäfers,  dessen  Besitzungen  ebenso  wie  diejenigen  von  Chur  über  ganz  Rätien 
hin  verbreitet  lagen,  schon  unter  den  letzten  karolingischen  Königen  als  reichs- 
unmittelbar'), wie  derselbe  Zustand  sich  im  elften  Jahrhundert  dann  auch  bei 
Disentis  ganz  deutlich  erkennen  läßt.  In  der  Lokalgeschichte  von  Einsiedeln, 
Tegernsee  und  Innichen  begegnet  uns  dagegen  wiederum  der  Name  Ottos  I.  als 
desjenigen,  dem  jene  Stiftungen  ihre  Machtstellung  verdankt  haben  sollen,  während 
die  Wichtigkeit  der  durch  Bünden  führenden  Alpenstraßen  für  die  sächsischen 
Kaiser  sich  insbesondere  darin  zeigt,  daß  damals  dort,  im  Oberrheintal  und 
Schamser  Tal,  eine  ganze  Anzahl  neuer  Burgen  entstanden  sind.  Auch  die 
Römerzüge  selbst  haben  in  das  persönliche  Schicksal  Ottos  I.  tief  eingegriffen. 
Adelheid,  die  Witwe  Lothars  von  Niederburgund,  war  es,  mit  deren  Hand  da- 
mals zugleich  der  Besitz  Italiens  verknüpft  schien,  die  der  Gegenkönig  Ottos, 
Berengar  von  Ivrea,  gegen  ihren  Willen  für  seinen  Sohn  zur  Gattin  begehrte 
und  in  der  Burg  Garda  am  Gardasee  in  strenger  Haft  hielt.  Ein  Priester  be- 
freite sie  dann  aus  jenem  Gefängnis,  worauf  sie  nach  einer  abenteuerlichen 
Flucht  schließlich  in  Canossa  eine  sichere  Zuflucht  fand,  von  hier  aus  den  Schutz 
Ottos  anrief  und  ihm  ihre  Hand  mit  dem  Besitz  von  Italien  antrug.  Alle  jene 
Ereignisse  verlieren  aber  durch  ihre  romantische  Färbung,  die  schon  auf  die 
Zeitgenossen  ihren  Zauber  ausübte,  nichts  von  ihrer  geschichtlichen  Tragweite; 
denn  sie  wurden  die  Veranlassung  zu  dem  ersten  Römerzug  Ottos  im  J.  951, 
der  in  Pavia  zunächst  zur  Vermählung  Ottos  mit  Adelheid  und  schließlich  zur 
erneuten  Unterwerfung  Italiens  unter  die  deutsche  Krone  führte,  eine  Aufgabe, 
in  der  die  deutschen  Herrscher  nun  drei  Jahrhunderte  hindurch  das  erste  und 
das  letzte  Ziel  ihrer  Regententätigkeit  erblickt  haben. 

Wichtig  ist  die  Regierungszeit  Ottos  I.  für  die  Alpenländer  auch  deshalb, 
weil  dieser  das  ganze  Land  am  östlichen  Südfuß  des  Gebirges,  von  Trient  bis 
Istrien,  zu  zwei  deutschen  Markgrafschaften,  Verona  und  Aquileja,  einrichtete 
und  diese  dem  Herzog  Heinrich  von  Bayern  unterstellte,  und  niemals,  weder 
früher  oder  später,  hat  sich  daher  die  politische  Anziehungskraft  des  deutschen 
Reiches  so  weit  nach  Süden  über  die  Alpen  hinüber  erstreckt.  Auch  noch  nach 
einer  anderen  Seite  ist  das  Wirken  jenes  Kaisers  für  die  Alpenländer  epoche- 
machend geworden,  nach  Osten,  insofern  dieser  zum  letzten  Mal  und  entscheidend 

')  PI.  S.  389f. 
9» 


132  VIII.  Kapitel. 

den  letzten  Angriff  der  Ungarn  zurückschlug,  den  letzten  Wellenschlag  der 
Völkerwanderungen,  der  jetzt  wirkungslos  an  der  abendländischen  Kultur  zurück- 
prallte. Auch  auf  jenem  beschränkten  Gebiet,  wie  es  die  Geschichte  der  Alpen- 
länder innerhalb  der  großen  Geschichte  des  Mittelalters  ist,  sehen  wir  somit 
Otto  den  Gr.,  der  neben  dem  Großen  Karl  unter  den  deutschen  Herrschern  allein 
noch  jenen  gewaltigen  Beinamen  führt,  sich  wirklich  in  den  Bahnen  dieses  seiner 
Vorgänger  bewegen.  Es  hat  eine  eigene  Bewandnis  mit  diesen  Beinamen,  dem 
Besten,  was  die  Menschheit  den  Toten  zu  geben  vermag;  denn  in  früherer 
oder  späterer  Zeit  hat  die  Geschichte,  diesmal  auch  als  ehrliche  und  gerechte 
Instanz,  über  deren  .Berechtigung  gewacht,  und  so  über  sie  niemals  die  Mitwelt, 
sondern  stets  die  Nachwelt  das  entscheidende  Wort  gesprochen.  Es  war  aber 
durchaus  kein  geistig  hochstehendes  und  aufgeklärtes  Zeitalter,  dieses  zehnte 
Jahrhundert,  das  Otto  I.  schon  zu  seinen  Lebzeiten  mit  einem  solchen  Beinamen 
beehrte,  und  wenn  jenem  trotzdem  die  Geschichte  Recht  gegeben  hat,  so  liegt 
hierin  zugleich  ein  Hinweis,  daß  auch  derjenigen  Geschichtsschreibung,  die 
nicht  eigentlich  von  Gelehrten  gemacht  wird,  ein  sicheres  Gefühl  für  die  Wahr- 
heit, ein  dunkler  aber  tiefer  und  mächtiger  Drang  nach  der  Erkenntnis  des 
Kernes  der  Dinge  innewohnen  kann. 
Heinrich  II.  Auch  bei  dem  nächsten  deutschen  Könige,  der  nun  zu  nennen   ist,  läßt   es 

Konrad  II.  ^'"^^  beobachten,  daß  er  sich  auf  unserem  besonderen  Schauplatz  ganz  in  dem- 
selben Lichte  zeigt,  wie  ihn  auch  sonst  die  Geschichte  kennt.  Es  ist  dieses 
Heinrich  II.,  der  den  Namen  des  Heiligen  erhalten  hat,  nicht  deshalb,  weil 
sein  Charakter  hierzu  besondere  Veranlassung  gegeben  hätte,  sondern  als  Herr- 
scher mit  viel  besserem  Rechte,  weil  er  es  vorzüglich  verstand,  die  segensreichen 
und  kulturfördernden  Kräfte  der  Kirche  auf  das  praktische  Gebiet  zu  lenken 
und  dem  Wohle  seines  Reiches  dienstbar  zu  machen.  Es  paßt  daher  auch  ganz 
zu  dem  Wirken  dieses  geistig  so  hochstehenden  Mannes,  der  als  Organisator 
in  der  langen  Reihe  der  deutschen  Könige  des  Mittelalters  nur  in  Karl  dem  Gr. 
und  Friedrich  II.  seines  Gleichen  hat,  wenn  wir  seinem  Namen  nun  in  Ver- 
bindung mit  der  Kirche  überall  in  den  Alpen  begegnen,  in  Basel,  wo  er  den 
ersten  Bau  des  Münsters  errichten  ließ  (1010 — 19),  in  Einsiedeln,  wo  heute  noch 
am  Aufgang  der  Kirche  neben  demjenigen  Ottos  I.  sein  Standbild  als  Beschützer 
des  Klosters  steht,  in  Disentis,  das  er  an  Brixen  schenkte '),  im  Unterinntal,  wo 
er  an  einer  einsamen  Stelle  der  Landstraße  dem  h.  Leonhard  eine  Kirche  er- 
baute^),  in  Salzburg,  wo  er  das  Kloster  auf  dem  Nonnberg  gründete,  und  weiter 
östlich  in  Kremsmünster,  wo  er  die  Tätigkeit  Karls  des  Gr.  fortsetzte. 

Und  wie  wir  jenem  sehr  oft  in  Regensburg  begegnen  konnten  und  er  von 
dort  aus  in  das  Schicksal  der  Ostalpen  eingriff,  so  ist  ein  Gleiches  auch  bei 
Heinrich  IL  zu  beobachten.     Die  innere  Politik  dieses  Herrschers  —  man  kann 

')  PI.  S.  430.        -)  Haush.  S.  84.  Dagegen  ist  es  kaum  gestattet,  den  Namen  des  in  der  Nähe  liegenden 
Ortes  Kundl  von  Kunigunde,  der  Gemahlin  Heinrichs,  abzuleiten.  Vgl.  F.  1906.  S.  123. 


Die  deutsche  Reicbspolitik  und  die  Alpenländer.  133 

hier  wirklich  fast  dieses  Wort  gebrauchen  —  zeigt  sich  nun  aber  nach  dieser 
Seite  hin  in  einer  besonders  weittragenden  und  charaltteristischen  Weise,  weil 
er  dort  neben  den  bereits  bestehenden  bodenständigen  kirchlichen  Gewalten 
auch  solchen  Einlaß  und  Macht  verschaffte,  deren  Hauptsitze  weit  außerhalb  des 
Gebirges  selbst  gelegen  waren.  Vor  allem  ist  es  das  fränkische  Bistum  Bamberg, 
die  Lieblingsstiftung  dieses  Kaisers,  die  damals  hier  ihre  hervorragende  Stellung 
dadurch  begründete,  daß  ihr  von  Heinrich  zwei  diesem  vorher  als  Erbem  des 
bayrischen  Herzogtums  gehörige,  in  Kärnten  gelegene  Grafschaften,  die  Villacher 
und  Wolfsberger,  überlassen  wurden  (1007),  Besitzungen,  zu  denen  dann  bald 
auch  solche  am  Rottenmann  und  Salinen  zu  Hall  bei  Admont  hinzutraten '). 
Auch  der  Besitz'  Freisings,  das  selbst  noch  955  von  den  Ungarn  zerstört  worden 
war,  greift  jetzt  weit  in  die  Ostalpen  hinüber;  diesem  fielen  1007  die  bei  Katsch, 
Oberwölz  und  Lind  gelegenen  Kammergüter  und  später  auch  Besitz  in  Unterkrain 
zu,  alles  Erwerbungen,  deren  Bedeutung  dadurch  in  das  rechte  Licht  tritt,  wenn 
man  bemerkt,  daß  sie  nicht  allein  wie  die  Salinen  bei  Hall  an  sich  selbst,  sondern 
wie  Villach,  Oberwölz  und  das  Pfalzgut  am  Rottenmann  auch  durch  ihre  Lage 
an  zukunftsreichen  Straßenpunkten  wertvoll  waren.  Auf  jene  Maßregeln  Heinrichs 
ist  es  daher  auch  zurückzuführen,  daß  die  geistlichen  Territorien  gerade  in  den 
Ostalpen  eine  viel  größere  Lebensfähigkeit  als  sonst  im  Gebirge  entwickeln 
konnten,  ein  Zustand,  der  sich  in  seinen  Trümmern  selbst  noch  zu  Beginn  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  erkennen  ließ,  als  hier  die  Flußgebiete  der  Drau  und 
Save  von  einer  ganzen  Anzahl  kleiner  geistlicher  Besitzungen  überzogen  waren, 
und  der  daselbst  in  den  Namen  der  sogenannten  Bamberger  Höfe  noch  heute 
fortlebt  2). 

Wenn  die  Sachsenkaiser  bei  ihren  Römerzügen  den  durch  Bünden  führenden 
Straßen  durchaus  den  Vorzug  gaben,  so  treten  diese  Linien  in  der  ganzen  folgenden 
Zeit  jedoch  weit  zurück  hinter  der  Brennerstraße,  die  von  den  fränkischen  Kaisern 
und  den  Hohenstaufen  weitaus  am  häufigsten  für  ihre  Reisen  nach  und  von 
Italien  benutzt  worden  ist.  Schon  hierdurch  wird  nun  aber  auch  der  enge  Zu- 
sammenhang verständlich,  in  dem  während  jener  Zeit  die  an  dieser  Straße  sitzenden 
Gewalten  mit  dem  Reichsoberhaupt  standen,  und  insbesondere  dasjenige  Ereignis, 
mit  dem  sich  jene  Epoche  einleitet  und  das  für  Tirol  nicht  mit  Unrecht,  wie  die 
Freiheitskämpfe  der  Urkantone  für  die  Schweiz  oder  die  Beschränkung  Heinrichs 
des  Löwen  auf  Braunschweig-Lüneburg  für  Hannover,  als  fester  Ausgangspunkt 
seiner  Geschichte  angesehen  werden  kann.  Es  ist  dies  jene  Maßregel  Kaiser 
Konrads  IL,  des  ersten  Saliers,  vom  J.  1027,  als  dieser  dem  Bischof  Ulrich  II. 
von  Trient  —  man  beachte  den  deutschen  Namen  —  die  Grafschaft  Trient  und 
diejenige  im  Vintschgau,  dem  Bischof  Hartwig  von  Brixen  dagegen  diejenige  im 
Eisaktal  und  diejenige  im  Unterinntal  verlieh-'),  wie  dieser  Vorgang  hinsichtlich 
des  Überganges  der  Grafschaft  im  Vintschgau   an  Trient  auch  noch  deshalb  be- 

')  Kr.  S.  72,84.         2,  Carinthia  1906.  S.  46.         •*)  W.  S.  86;  Ju.  S.  279,  306. 


134  VIII.  Kapitel. 

merkenswert  ist,  weil,  wie  man  sieht,  Chur  dabei  leer  ausging  und  damals  also 
hier  Trient  diesem  äußerlich  den  Rang  abgelaufen  hat').  So  reichte  jetzt  die 
weltliche  Herrschaft  Trients  südlich  von  Riva  am  Gardasee  bis  nördlich  nach 
Bozen  und  nordwestlich  sogar  bis  Pontalt  im  Engadin,  diejenige  Brixens  dagegen 
von  Waidbruck  bis  Brixlegg  im  Unterinntal,  Gebiete,  die,  wenn  man  sie  zusammen- 
faßt, den  Kern  des  heutigen  Tirols  ausmachen.  Alles  dieses  Land  geht  jetzt 
definitiv  den  alten  deutschen  Stammesherzogtümern,  Schwaben  so  gut  wie  Kärnten, 
besonders  aber  Bayern  verloren,  um  an  die  hier  heimischen  Dynasten  zu  fallen 
und  in  deren  Händen  nun  ein  halbes  Jahrtausend  hindurch  seine  besonderen 
Schicksale  zu  erleben. 
Das  Bistum  Die  enge  Verbindung  zwischen   der   Krone   und   den   Maclithabern   an   der 

"^Patriarchat  Brennerstraße  ebenso  wie  der  Einfluß  der  letzteren  auf  die  Geschichte  des  Reiches 
Aquiieja  unter  selbst  erreicht  nun  aber  seinen  Höhepunkt  gerade  in  einer  der  folgenschwersten 
■  geschichtlichen  Epochen,  unter  Heinrich  IV.,  dem  vielleicht  mehr  als  jedem 
anderen  der  deutschen  Herrscher  des  Mittelalters  äußerlich  und  innerlich  die 
bewegtesten  Schicksale  beschieden  waren.  Auch  der  kühle  Beobachter  mußte 
es,  als  vor  einigen  Jahren  im  Dome  zu  Speier  die  Reste  der  dort  bestatteten 
deutschen  Könige  an  das  Tageslicht  gezogen  wurden,  als  ein  auffallendes  und 
ergreifendes  Vorkommnis  empfinden,  daß  man  bei  dieser  Gelegenheit  gerade  die 
Hand  Heinrichs  IV.  allein  noch  mit  einem  kostbaren  Bischofsring  geschmückt 
fand,  jenem  Symbol,  durch  das  bei  dessen  Lebzeiten  das  ausschließliche  Recht 
des  Königs  auf  die  Ernennung  und  Bestätigung  der  Bischöfe  seinen  Ausdruck 
fand.  Der  Kampf  um  dieses  Recht  mit  allem,  was  damit  zusammenhängt,  hat 
das  Leben  jenes  Herrschers  verschlungen,  und  er  selbst  den  Anspruch  auf  dieses 
Recht  mit  in  das  Grab  genommen,  aber  auch  heute  noch  in  der  Gegenwart  bleiben 
die  Folgen  der  Tatsache  bestehen,  daß  ebensosehr  die  Kirche  wie  die  deutsche 
Fürstenmacht  aus  jenem  Kampfe  als  Sieger  hervorgingen. 

Vor  allem  den  Bischof  Altwin  von  Brixen,  der,  wie  wir  wissen,  damals  ein 
mächtiger  Reichsfürst  war,  finden  wir  jetzt  als  einen  der  energischsten  und  über- 
zeugtesten Anhänger  des  deutschen  Königtums  und  zugleich  als  Haupt  der  Oppo- 
sition gegen  Papst  Gregor  VII.  Es  ist  niemals,  und  am  allerwenigsten  in  jenen 
Zeiten  des  Mittelalters  so  gewesen,  daß  der  Einzelne  ein  ganz  unabhängiges 
Wesen  von  seiner  Heimat,  seiner  persönlichen  Umgebung  und  dem  Milieu,  in 
das  er  gestellt  war,  hätte  entwickeln  können,  und  daher  muß  auch  zu  dieser 
halb  hochstrebenden  halb  aufdringlichen  Rolle,  in  der  sich  jener  Bischof  von 
Brixen  damals  bewegte,  ein  besonderer  Unterton  vorhanden  gewesen  sein.  Rasch 
und  sicher  hatte  dieses  Bistum  in  der  vorangegangenen  Zeit  eine  Stufe  der  Macht 
nach  der  anderen  erklommen,  bis  zu  der  höchsten,  als  der  Bischof  Poppo  von 
Brixen  von  Kaiser  Heinrich  III.  zum  römischen  Papst  selbst  bestimmt  worden 
war.     Dieser,  der  einem  der  ersten  bayrischen  Geschlechter  angehörte  und  sich 

')  Vgl.  Anh.   16. 


Die  deutsche  Reichspolitik  und  die  Alpenländer.  l35 

als  Papst  Paschalis  II.  nannte,  starb  aber  bereits  drei  Wochen  nach  seiner  Weihe 
(1048),  und  unmittelbar  unter  seinem  Nachfolger,  Leo  IX.,  setzte  nun  jene  ge- 
waltige Tätigkeit  Hildebrands  ein,  der  damals  überhaupt  eine  ganz  neue  Welt- 
anschauung vertrat,  der  im  besondern  aber  auch,  wenn  er  zum  Siege  gelangte, 
den  Brixener  Kirchenfürsten  ihre  hochstrebenden  Ziele  für  immer  versperren 
mußte.  Es  ist  also  wirklich  der  heiße  Odem  der  menschlichen  Leidenschaft,  der 
uns  hier  entgegenweht,  und  die  tiefste  Enttäuschung  des  menschlichen  Ehrgeizes, 
durch  die  sich  jenes  Verhalten  des  Bischofs  Altwin  von  Brixen  unter  Heinrich  IV. 
am  besten  erklären  läßt. 

So  konnte  Brixen  zum  Sitz  jener  Kirchenversammlung  werden,  die  es  auf 
sich  nahm,  Gregor  VII.  abzusetzen  und  einen  neuen  Papst  an  dessen  Stelle  zu 
erwählen,  wenn  es  auch  richtig  ist,  daß  bei  der  Wahl  dieses  Ortes  Gründe  der 
Zweckmäßigkeit  mitgesprochen  haben  werden,  da  jene  Versammlung  selbst  neben 
sieben  deutschen  vor  allem  aus  neunzehn  italienischen  Bischöfen  gebildet  wurde, 
die  sich  hier  auf  halbem  Wege  trafen.  Es  war  zur  Sommerszeit,  zur  schönen 
Sommerszeit,  Ende  Juni  1080,  als  sich  Heinrich  mit  seiner  Gemahlin  hier  auf- 
hielt, nach  Otto  von  Freising  „in  Brixinora,  einer  Stadt  Bayerns,  mitten  in  den 
Pyrenäen,  nicht  weit  vom  Trienter  Tal  gelegen'  '),  oder,  wie  ein  anderer  miß- 
gelaunter oder  mißwollender  Zeitgenosse  sagt,  an  einem  kleinen  Orte,  wo  die 
Grenzen  Deutschlands  und  Italiens  nahe  rücken,  zwischen  hohen  Felsen,  wo 
ewig  Hunger  und  Kälte  herrschen  und  das  Christentum  kaum  noch  bekannt  ist-). 
Die  anwesenden  Kirchenfürsten  selbst  aber  stammen  aus  Utrecht  ebenso  wie  aus 
Mailand,  aus  Ravenna  wie  aus  Brandenburg,  während  es  für  uns  besonders  in 
Betracht  kommt,  wenn  wir  hier  unter  den  entschlossenen  Anhängern  Heinrichs 
auch  die  Bischöfe  von  Bamberg,  Freising  und  Chur  sowie  den  Patriarch  von 
Aquileja  wiederfinden,  und  wie  dann  auch  die  praktischen  Folgen  der  treuen 
Parteinahme  des  Bischofs  von  Brixen  dadurch  in  die  Erscheinung  traten,  daß 
diesem  zehn  Jahre  später  (1091),  nach  dem  Aussterben  der  alten  im  Pustertale 
heimischen  Dynasten,  deren  Gebiet,  die  Grafschaft  im  Pustertal,  von  Heinrich  IV. 
verliehen  wurde  ^). 

Als  die  deutschen  Fürsten  im  J.  1077  die  direkt  von  Deutschland  nach 
Italien  führenden  Alpenstraßen  gesperrt  hatten,  sah  sich  Heinrich  IV.  auch  bei 
seiner  Rückreise  nach  Deutschland  gezwungen,  einen  Umweg,  diesmal  in  weitem 
Bogen  über  die  Ostalpen,  zu  machen.  Nach  seiner  Abreise  von  Canossa  befand 
sich  Heinrich  am  Palmsonntag  zu  Verona,  zu  Ostern  bereits  im  Gebiet  von 
Aquileja,  und  hier  war  es,  wo  er  in  dem  damaligen  Patriarchen  Sieghard,  der 
bisher  durchaus  auf  der  Seite  Gregors  gestanden  hatte,  plötzlich  einen  treuen 
Anhänger  gewann;  wie  man  überhaupt  beobachten  kann,  daß  dieser  Herrscher 
überall  dort,  wo  er  selbst  zugegen  war,  die  Geister  auf  seine  Seite  zu  ziehen 
vermochte,  und  man  daher  die  Macht,   die  von   dessen   Persönlichkeit  ausging, 

')  O.  F.  S.  15.         2)  Gi.  III.  B.  S.  502,  1147.         i)  Ju.  S.  306. 


136  VIII.  Kapitel. 

die  Liebenswürdigkeit,  die  er  spielen  lassen  konnte,  nicht  gering  einschätzen 
darf.  Damals  verlieh  Heinrich  dem  Patriarchen  drei  Markgrafschaften,  Friaul, 
Krain  und  Istrien '),  während  er  nun  selbst,  von  Sieghard  geführt  und  geleitet, 
den  Weg  nach  Regensburg  offen  fand.  Der  Kaiser  ist  damals  wohl  kaum  anders 
als  über  den  Pontebbapaß  und  dann  über  einen  der  Tauernpässe  gezogen  2),  und 
auch  Altwin  von  Brixen  hat  ihm  bereits  bei  dieser  Reise  seine  Dienste  geleistet. 
Besonders  aber  Sieghard  entwickelte  jetzt  auch  weiterhin  eine  auffallende  Energie 
für  Heinrichs  Sache^);  denn  sobald  Heinrich  Bayern  betreten  hatte,  kehrte  jener 
selbst  sofort  nach  Aquileja  zurück,  um  dem  König  von  dort  neue  Hilfskräfte  zu- 
zuführen, mit  denen  er  nun  auch  bereits  im  August  desselben  Jahres  wieder  in 
Regensburg  anlangte.  Für  die  aufgeregten  Gemüter  der  damaligen  Zeit  aber 
mußte  es  ein  erschütterndes  Schauspiel  werden,  als  er  und  eine  Anzahl  seiner 
Begleiter  hier  kurz  nach  ihrer  Ankunft  in  Wahnsinn  verfielen  und  eines  plötz- 
lichen Todes  starben. 
Übersicht  des  Es  ist  eben  das  ausgehende  elfte  Jahrhundert,  in  dem   dies  geschah,  als  in 

Besiues  in^den  Deutschland  und  Italien  der  Höhepunkt  in  dem  Kampf  zwischen  Kaisertum  und 
Alpenländern.  Papsttum  herannahte  und  zugleich  in  ganz  Mitteleuropa  die  Macht  der  Kirche 
durch  den  ersten  der  Kreuzzüge  in  gewaltigen  äußeren  Ereignissen  zum  Aus- 
druck kam,  eine  Zeit,  in  der,  nur  einmal  so  ausgeprägt  in  der  Geschichte 
Europas,  das  religiöse  Empfinden  alles  Leben  der  armen  Menschheit  bis  in  seine 
tiefsten  Verästelungen  und  alle  seine  Äußerungen  im  Wachen  und  Schlafen 
durchdrungen  hatte.  Zu  dieser  ganzen  Atmosphäre  liefert  es  nun  aber  auch 
eine  passende  Illustration,  daß  zu  derselben  Zeit  auch  in  den  Alpenländern  die 
Macht  der  Kirche  ihren  Höhepunkt  erreicht  hat,  nicht  nur  in  kultureller 
Beziehung,  sondern  auch  in  der  Weiterentwickelung  derselben,  in  der  Aus- 
dehnung der  geistlichen  Herrschaften,  in  dem  Umfang  des  politischen  Einflusses 
und  des  materiellen  Besitzes,  und  daß  die  weltlichen  Dynasten  jetzt  tatsächlich 
durchaus  in  die  zweite  und  dritte  Linie  zurückgedrängt  sind.  Es  ist  gewiß 
richtig,  daß  dieser  Zustand  von  den  deutschen  Herrschern  mächtig  gefördert 
worden  ist;  möglich  geworden  ist  er  aber  doch  nur  deshalb,  weil  auch  damals 
noch  in  den  Alpenländern  jene  Kräfte  nachwirkten,  mit  denen  die  Kirche  hier 
vorher  den  ersten  Anstoß  zu  einem  ganz  neuen  Kulturleben  gegeben  hatte. 

Wenn  wir  es  nunmehr  zusammenfassen,  zu  welcher  Ausdehnung  und  zu 
welch'  großer  Selbständigkeit  damals  der  kirchliche  Besitz  in  den  Alpenländern 
gelangt  war,  so  Fällt  dabei  sofort  der  Unterschied  zwischen  den  Westalpen  und 
dem  übrigen  Alpengebiet  in  die  Augen.  In  dem  kleineren  westlichen  Flügel  der 
Alpen,  den  man  jetzt  zunächst  mit  Recht  als  den  burgundischen  bezeichnen 
kann,  tritt  jene  Entwickelung  überall  viel  weniger  hervor;  hier  haben  die  bur- 
gundischen Könige,  lediglich  deshalb,  weil  sie  auf  einen  kleinen  Kreis  beschränkt 
waren,  und  dann  deren  Rechtsnachfolger,  die  im  Schatten  des  Montblanc  sitzenden 

')  Gi.  III.  B.  S.  442.         2)  w.  P.  S.  22.         3)  Gi.  III.  B.  S.  443,  449. 


Die  deutsche  Reiehspolitik  und  die  Alpenländer.  137 

Grafen  von  Savoycn,  so  gut  wie  die  Markgrafen  von  Susa  und  Ivrea,  die  poli- 
tische Macht  selbst  nicht  aus  der  Hand  gelassen,  wie  dies  auch  an  der  wich- 
tigsten Alpenstraße  in  jenem  Gebiete,  am  Gr.  S.  Bernhard,  mit  aller  Deutlichkeit 
zu  erkennen  ist.  So  günstig  Lausanne  auch  für  den  Verkehr  des  Mittelalters 
gelegen  und  so  fest  auch  die  Abtei  S.  Maurice  in  die  nördlichen  Türangeln  der 
Walliser  Pässe  eingelassen  war,  so  treten  doch  ebensosehr  die  Bischöfe  jener 
Stadt  wie  die  Äbte  dieses  Platzes  zurück  hinter  der  sicheren  Stellung,  die  das 
Haus  Savoyen  im  Chablais  besaß  und  der  Vogtei,  die  es  über  S.  Maurice  selbst 
ausübte')-  Die  einzigen  Kirchenfürsten,  die  hier  wirklich  eine  politische  Macht- 
stellung besessen  haben,  sind  die  Bischöfe  von  Sitten  gewesen,  denen  Rudolf  III. 
von  Burgund  im  J.  999  die  Grafschaft  im  Wallis  verliehen  hatte,  und  deren 
Gebiet  auch  anfangs  bis  dicht  an  die  Linie  des  Gr.  S.  Bernhard  heranreichte. 
La  Batiaz  oberhalb  Martigny,  ein  Punkt,  wie  er  auch  in  den  Alpen  beherrschender 
kaum  gedacht  werden  kann,  ist  dort  von  jenen  Bischöfen  erbaut  worden.  Aber 
gerade  an  dieser  begehrenswerten  Seite  bekamen  sie  die  Konkurrenz  von  Sa- 
voyen bald  derart  zu  fühlen,  daß  sie  seit  dem  dreizehnten  Jahrhundert  nur  auf 
das  eigentliche  Wallis  beschränkt  blieben.  Auf  diesem  Boden  vermochte  dann 
aber  das  Bistum  Sitten  den  von  Westen  kommenden  Ansprüchen  um  so  erfolg- 
reicher entgegenzutreten,  indem  es  die  Kräfte  des  Widerstandes  von  der  ent- 
gegengesetzten Seite  holte,  und  die  sieben  Zehnten  d.  h.  die  deutschen  Gemeinden 
im  Haupttal  des  Oberwallis  sind  es  gewesen,  die  im  Mittelalter  den  festen  Rück- 
halt für  die  Machtstellung  der  Bischöfe  in  Sitten  abgegeben  haben. 

Je  weiter  wir  aber  nach  Osten  gehen,  um  so  umfangreicher  und  fester 
begründet  zeigt  sich  nun  überall  im  Bereich  der  Alpenländer  der  politische  Ein- 
fluß der  Kirche.  Wie  Brixen,  so  verdankt  auch  das  Bistum  Basel  seine  Bedeutung 
nur  den  deutschen  Herrschern,  und  diese  Stadt  selbst  wieder  ihre  Neugründung 
und  Befestigung  nur  ihren  Bischöfen.  In  deren  östlicher  Nachbarschaft  ist  es 
dann  besonders  die  Fraumünsterabtei  zu  Zürich,  deren  Besitz  sich  weit  und 
breit  ringsherum  und  bis  hoch  in  die  Urner  Berge  hinauf  erstreckte,  während 
auch  sonst  alle  jene  Ausstrahlungspunkte  der  kirchlichen  Kultur,  die  vorher  hier 
eingepflanzt  worden  waren,  Engelberg,  Einsiedeln  und  nicht  zuletzt  S.  Gallen 
ihre  Machtstellung  nun  auch  nach  der  politischen  Seite  hin  ausgebaut  hatten, 
eine  Entwickelung,  die  in  diesem  Falle  freilich  in  geschichtlichen  Ereignissen 
deshalb  nicht  in  die  Erscheinung  treten  konnte,  da  auch  damals  noch  die  Zentral- 
schweiz dem  Weltverkehr  ganz  abgewendet  lag. 

Und  wenn  dann  weiter  ostwärts  alle  die  bodenständigen  Bistümer  im  Ge- 
birge zu  mächtigen  Reichsfürstentümern  emporwachsen,  so  erscheinen  neben 
diesen  doch  auch  noch  viele  andere,  fremde  und  einheimische,  die  gleichfalls 
hier  mit  in  die  Schüssel  gegriffen  haben.  So  erstreckten  sich  die  Güter  von 
Disentis  bis  herab  zum  Langensee,  und  noch  umfangreicher  finden  wir  solche 
')  Schu.  S.  211. 


138  VIII.  Kapitel. 

von  Reichenau  in  einer  ganzen  Anzahl  Orte  am  Comersee  vertreten  ')•  Das 
Bistum  Augsburg  hatte  Besitz  ebensogut  am  nördlichen  Alpenrand,  in  Füssen, 
wie  tief  in  den  Seitentälern  des  Eisak^),  Bamberg  in  der  Gegend  von  KitzbüheP) 
und  das  „gar  arme"  Bistum  Regensburg  im  Unterinntal,  in  Kufstein  und  Ratten- 
berg, und  im  Brixental.  Diese  letzteren  Punkte  waren  eine  besonders  alte  Er- 
werbung der  Regensburger  Bischöfe,  die  diese  zum  Teil  bereits  im  J.  902  an  sich 
gebracht  hatten,  und  die  sie  auch  bis  in  das  vierzehnte  Jahrhundert  hinein  gegen- 
über Bayern  und  Sahburg  glücklich  festzuhalten  wußten'').  Aber  auch  die  alt- 
bayerischen Klöster  haben  sich  wie  ein  dichter  Schwärm  dieser  Bewegung  an- 
geschlossen und  sich,  eines  wie  das  andere,  ihren  Salzanteil  zu  Reichenhall,  ihre 
zinspflichtigen  Höfe'  und  Hufen  im  Gebirge  oder  ihre  Weingüter  im  Etschland 
gesichert;  der  Flachsbau,  der  heute  in  Innertirol  betrieben  wird,  rührt  noch  aus 
jenen  Zeiten  her,  als  das  Kloster  Frauenchiemsee  dort  Besitzungen  hatte^). 

Unter  allen  diesen  verdient  nun  aber  der  Besitz  Freisings  eine  besondere 
Aufmerksamkeit.  Wenn  dieses  Bistum  unter  Heinrich  II.  auch  in  den  Ostalpen 
seinen  Anteil  erhielt,  so  ist  es  doch  im  heutigen  Tirol  noch  viel  früher  und  an 
so  zahlreichen  und  wichtigen  Punkten  auf  dem  Platze  wie  keine  andere  dieser 
auswärtigen  kirchlichen  Instanzen,  derart,  daß  zu  Zeiten  selbst  die  einheimischen 
kirchlichen  Gründungen,  vor  allem  Brixen,  ihre  liebe  Not  gehabt  haben  mögen, 
neben  diesem  fremden  Gast  ihr  Hausrecht  erfolgreich  zu  wahren.  Schon  im 
achten  und  neunten  Jahrhundert  finden  wir  den  Einfluß  oder  den  Besitz  Frei- 
sings bei  Meran  und  bei  Partenkirchen,  im  Pustertal  (Innichen)  und  im  Drautal 
(S.  Peter  im  Holz),  und  um  die  Wende  des  Jahrtausends  noch  dazu  im  Bozner 
Talkessel  und  an  den  beiden  Ufern  des  Eisak,  in  Groeden  und  Tiers  und  gegen- 
über in  Barbian,  vertreten  ß).  Trotzdem  hat  gerade  das  Wirken  dieses  Bistums 
in  den  Alpen  nur  ganz  geringe  Spuren  hinterlassen,  weil  ein  solch'  zerteilter 
und  verstreuter  Same  viel  schwerer  Boden  schlagen  konnte,  und  so  vermag  man 
auch  in  Freising  selbst  heute  besonders  mächtig  und  eindrucksvoll  etwas  von 
dem  gewaltigen  Wechsel  der  Zeiten  zu  spüren,  wenn  man  die  alten  unscheinbaren 
kirchlichen  Gebäude  daselbst  und  das  Bild  der  stillen  Landstadt  mit  der  Be- 
deutung und  dem  Machtkreis  in  Vergleich  stellt,  dessen  Mittelpunkt  vor  einem 
Jahrtausend  hier  zu  finden  war. 
Die  Stellung  Am  mannigfaltigsten  und  umfangreichsten  zeigt  sich  nun  aber  der  kirchliche 

"^"saUbürg^Tm  Besitz  in  den  Ostalpen,  und  zwar  schon  deshalb,  weil  hier  das  Gebirgsland 
Mittelalter,  selbst  räumlich  am  ausgedehntesten  ist;  doch  hat  dieser  östlichste  Teil  der  Alpen 
auch  darin  seine  Besonderheit,  weil  hier  eine  einzige  bodenständige  kirchliche 
Gründung  von  Anfang  bis  zu  Ende  und  ganz  aus  eigener  Kraft  weit  über  alle 
anderen  hervorragt.  Es  kann  diese  nur  Salzburg  sein,  dem  die  Natur  dadurch, 
wie  sie  das  ganze  Flußgebiet   der  Salzach  südlich  ihm  angliederte,  eine  Stellung 

')  Schu.  S.  65.  2)  N.  A.  S.  92.  3)  Schw.  S.  78.         *)  Schw.  S.  47  f.,  S.  85.         5)  Ju.  S.  303  f. 

6)  Ju.  S.  302;  Kr.  S.  48;  N.  A.  S.  57,  90;  Atz.  S.  221. 


Die  deutsche  Reicbspolitik  und  die  Alpenländer.  139 

verliehen  hat,  die  sich  jedem  geschichtlichen  Wandel  anzupassen  vermag,  und 
auf  diese  ist  es  daher  auch  zurückzuführen,  daß  die  Salzburger  Geschichte  stets 
mit  besonderem  Maße  gemessen  werden  muß,  und  daß  so  auch  die  Politik  dieses 
Hochstiftes  im  Mittelalter  ganz  selbständige  Bahnen  einschlagen  konnte.  Tat- 
sächlich hat  es  ein  ganzes  Jahrtausend  hindurch,  seit  den  Zeiten  der  Agilolfinger, 
eine  wirkliche  Salzburger  Geschichte  gegeben,  die  auch  dann  noch  zu  Recht 
bestand,  als  die  anderen  geistlichen  Gewalten  in  den  Alpen  längst  den  weltlichen 
Machthabern  Platz  gemacht  hatten.  Aber  schon  die  Lage  Salzburgs  inmitten  der 
Machtverhältnisse  des  Mittelalters,  seine  Rivalität  zu  Bayern,  und  nicht  minder 
zu  dem  benachbarten  und  stets  mit  der  Reichsgewalt  verbündeten  Brixen,  mußte 
hier  den  Reiz  der  Gegenwirkung  hervorrufen  und  jenem  selbst  die  entgegen- 
gesetzte Bahn  vorzeichnen,  die  in  nichts  anderem  bestehen  konnte  als  in  der 
festen  Anlehnung  an  die  Kurie,  so  daß  die  Funktion  eines  Legaten  des  aposto- 
lischen Stuhles,  die  damals  die  Salzburger  Erzbischöfe  innehatten,  hier  wirklich 
in  Taten  umgesetzt  worden  ist. 

Die  Zeiten  der  alten  deutschen  Kaiser  bis  zu  Friedrich  Barbarossa  sind 
auch  die  Glanzzeit  der  Salzburger  Geschichte,  während  der  dieses  immerhin 
mehr  abseits  gelegene  Bistum  seinen  Besitz  ungestört  und  stückweise  über  die 
ganzen  Ostalpen  und  bis  hart  an  die  ungarische  Ebene  ausdehnte,  während  der 
aber  auch  jeder  derartige  Machtzuwachs  zugleich  eine  dauernde  Erwerbung  für 
die  abendländische  Kultur  in  sich  schloß.  Schon  im  neunten  Jahrhundert  treffen 
wir  Salzburger  Besitzungen  an  der  Mur  und  Mürz,  im  Lavanttale,  in  Hoch- 
OstePA'itz,  in  Marit-Saal,  bei  Drauhofen  und  selbst  dicht  an  der  ungarischen 
Grenze,  in  Steinamanger').  Ein  reicher  und  folgenschwerer  Zuwachs  fällt  dann 
weiter  in  die  Mitte  des  elften  Jahrhunderts,  als  eine  in  Kärnten  und  in  der 
Steierm?rk  begüterte  Gräfin  Hemma  dadurch  den  Namen  einer  Heiligen  erwarb, 
daß  sie  ihr  gesamtes  großes  Erbe  kirchlichen  Stiftungen  überließ-).  Aus  diesem 
ist  damals  zunächst  das  Stift  zu  Gurk  entstanden,  wo  1042  Erzbischof  Balduin 
von  Salzburg  den  Dom  eingeweiht  hat,  während  die  benachbarte  Grafschaft 
Friesach,  die  von  der  alten  über  den  Neumarkter  Sattel  laufenden  Verkehrs- 
straße durchzogen  wird,  aus  der  gleichen  Erbmasse  an  Salzburg  selbst  fiel. 
Andere  in  der  Steiermark  gelegene  Teile  dieses  Erbes  wurden  dann  später  für 
Erzbischof  Gebhard  von  Salzburg  die  Veranlassung  zur  Gründung  von  Admont, 
einer  Kolonie  von  Mönchen  aus  S.  Blasien  im  Schwarzwald,  die  nun  im  Enns- 
tal  und  ringsherum,  und  selbst  südlich  bis  nach  Graz  hin,  eine  wichtige  An- 
siedelungstätigkeit entwickelten-^).  Überhaupt  übte  gerade  damals  in  jenen  Grenz- 
gebieten gegen  Osten,  besonders  in  der  südlichen  Steiermark,  Salzburg  seine 
Mission  am  kräftigsten  und  folgenreichsten  aus;  so  ließ  im  J.  1135  Erzbischof 
Konrad  \.  hier  in  Pettau,  Reichenberg  und  Leibnitz  starke  Burgen  zum  Schutze 
gegen  Ungarn  aufführen,  von  denen  besonders  letzteres  außerordentlich  oft  auch 
als  Aufenthaltsort  der  Erzbischöfe  genannt  wird'*). 

1)  Kr.  S.  48.         -)  Kr.  S.71.        -5)  Kr.  S.  7ö.        ^)  Oe.  II.  S.  2ö9. 


140  VIII.  Kapitel. 

Jener  Erzbischof  Gebhard  ist  es  nun  aber  auch,  unter  dem  die  eigenartige 
Stellung  Salzburgs  innerhalb  der  Reichspolitik  am  allerdeutlichsten  hervortritt,  der 
seine  ausgreifende  Tätigkeit  nicht  unter  dem  Schutze,  sondern  im  Gegensatz  zu 
der  Krone  durchführte,  er  wohl  auch  eine  jener  feurigen  Naturen,  an  denen  jene 
Periode  so  reich  ist,  in  Energie  ein  Ebenbild,  in  Gesinnung  und  Streben  da- 
gegen ein  Gegenstück  zu  seinem  Nachbar  Altwin  in  Brixen  und  so  ein  ent- 
schiedener Gegner  Heinrichs  IV. ').  Besonders  im  J.  1085  war  er  der  Wortführer 
der  Gregorianischen  Partei  auf  den  Reichsversammlungen  zu  Berka  und  Quedlin- 
burg2),  und  es  hat  weiterhin  etwas  für  sich,  daß  auch  die  Burgen,  die  er  eigens 
errichten  ließ,  mit  der  Feindschaft  gegen  Heinrich  IV.  in  direktem  Zusammen- 
hang stehen.  Wir  <vissen,  daß  es  diesem  gelungen  war,  im  April  1077  von 
Aquileja  binnen  wenigen  Tagen  nach  Regensburg  zu  gelangen,  eine  Route,  die 
daher  zuletzt  ein  Passieren  des  Salzburger  Gebietes  sehr  wahrscheinlich  macht. 
Wenn  wir  nun  aber  sehen,  daß  Erzbischof  Gebhard  im  Sommer  desselben  Jahres 
sich  nicht  allein  in  Salzburg  selbst,  sondern  ebenso  bei  Friesach  wie  auch  bei 
Werfen  im  Salzachtal  zu  gewaltigen  Burgbauten  entschloß,  so  läßt  sich  jene 
Maßregel  wirklich  gerade  so  an,  als  ob  sie  vorgenommen  wurde,  um  einen 
Durchzug,  den  man  vorher  nicht  hatte  hindern  können,  für  die  Zukunft  unmög- 
lich zu  machen  3). 

Der  selbständige  Zug  der  Salzburger  Geschichte  berechtigt  uns  nun  auch, 
sie  bereits  an  dieser  Stelle  bis  in  die  Zeiten  zu  verfolgen,  als  die  Macht  der 
kirchlichen  Dynasten  in  den  Alpen  schon  überall  im  entschiedenen  Niedergang 
begriffen  ist.  Genau  ein  Jahrhundert  später,  unter  Friedrich  Barbarossa  wieder- 
holte sich  zunächst  genau  derselbe  Gegensatz  zwischen  der  Krone  und  dem 
Salzburger  Erzstift.  Damals  war  es  Erzbischof  Konrad,  der  Oheim  des  Kaisers 
selbst,  der  ebenso  wie  sein  Vorgänger  Gebhard  dem  von  dem  Kaiser  eingesetzten 
Papst  Paschalis  III.  die  Anerkennung  versagte  und  treu  bei  dem  „Kardinalpriester 
Roland",  Alexander  III.,  ausharrte,  ein  Verhalten,  das  diesmal  jedoch  für  das 
Salzburger  Erzstift  verhängnisvoll  werden  sollte,  weil  deshalb  der  Erzbischof 
selbst  vom  Kaiser  geächtet  und  dessen  Gebiet  planmäßig  verheert  und  verwüstet 
wurde,  wobei  besonders  auch  fast  die  ganze  Stadt  Salzburg  selbst  in  Flammen 
aufging  (5.  April  1167)4), 

Jene  große  Katastrophe,  als  der  Kaiser  und  bezeichnenderweise  mit  be- 
sonderem Eifer  die  dem  Erzstift  benachbarten  weltlichen  Dynasten  über  Salzburg 
herfielen,  hätte  damals  in  noch  viel  stärkerem  Maße  auf  dessen  ganze  Macht- 
stellung nachteilig  einwirken  müssen,  wenn  dem  Erzstift  nicht  wiederum  der 
Sturz  Heinrichs  des  Löwen  Luft  gemacht  hätte,  der  um  ein  Jahrzehnt  später 
eintrat  und  zugleich  eine  Schmälerung  der  bayrischen  Herzogsgewalt  im  Gefolge 
hatte.     Immerhin    ist   jedoch   seit    jenem    Zeitpunkt    eine   Einbuße   in    der  alten 

')  Dies   erkennt    man    besonders   daran,   daß   ihm    der   Clironist   von    S.    Blasien   so    großes    Lob 
spendet.        2)  ci.  III.  B.  S.  603  f.        3)  Oe.  II.  S.  272,  275.        i)  ci.  V.  B.  S.  501  f. 


Die  deutsche  Reichspolitik  und  die  Alpenländer.  141 

hervorragenden  Rolle  nicht  zu  verkennen,  die  Salzburg  bis  dahin  in  der  großen 

Politik    und    nach   Osten    hin    eingenommen    hatte,    wie    diese    Erscheinung    im 

kleinen  auch  dadurch  illustriert  wird,  daß  das  Stift  Berchtesgaden,  das  solange  es 

existierte  stets   die   begehrlichen  Blicke   ebenso  Salzburgs  wie  Bayerns  auf  sich 

lenken    mußte,   gerade  im  J.  1189   eigene  Gerichtsbarkeit   erlangen  konnte.     Die 

Entwickelung  des  Erzstiftes  schwenkt  jetzt  ganz  ausgesprochen  in  die  Bahn  ein, 

die   ihm   durch    die  natürliche    Lage   Salzburgs    fest   vorgezeichnet  war,   in   den 

Ausbau  der  Territorialmacht  und  in   die  Festhaltung   der  geographisch    von    ihm 

abhängigen  Gegenden,  die  dann  in  ihrer  Summe  bis  zum  Ende  des  alten  deutschen 

Reiches  das  Gebiet  dieses  Staates  ausmachten.     Stationen  auf  diesem  Wege  sind 

im  Anfang  des   dreizehnten  Jahrhunderts   die  Erwerbung   des  „herrlichen  Gutes 

Reichenhair')»    1228    die    Erwerbung    von    Mittersill    und    1297    diejenige    von 

Gastein  (Kastaun),  sowie  1295  die  Zerstörung  der  Salzwerke  von  Hallstatt  durch 

Erzbischof  Konrad  IV.  von  Vonstorf,  weil  diese  mit  dem  zu  Salzburg  gehörigen 

Hallein  zu  rivalisieren  wagten. 

Die  gleiche  Rolle,  die   Salzburg  seit  dem  Beginn   des   Mittelalters   in    den  Das 

Patrisrchsit 
nördlichen  Ostalpen  eingenommen  hat,  hätte  in  demselben  Maße   im  Süden   des  Aquileia. 

Gebirges  dem  Patriarchat  Aquileja  zufallen  müssen.  Während  sich  aber  Salzburg 
in  dieser  Bestimmung  tatsächlich  lange  Jahrhunderte  hindurch  und  bis  an  die 
Pforten  der  neuesten  Zeit  auslebte,  ist  jenes  Patriarchat,  dessen  Machtansprüche 
hier  an  der  südlichen  Seite  der  Alpen  ursprünglich  viel  älter  und  viel  umfang- 
reicher als  diejenigen  Salzburgs  waren,  bereits  während  der  letzten  Periode  des 
Mittelalters  vollständig  von  der  Bildfläche  verschwunden  und  sein  Name  daher 
heute  schon  längst  nichts  als  ein  historischer  Begriff.  Für  die  Veranschaulichung 
der  Tatsache,  zu  welch'  gewaltigem  Machtbesitz  die  Kirche  im  Anfang  des 
zwölften  Jahrhunderts  gelangt  war,  wirkt  es  aber  nur  um  so  eindrucksvoller, 
wenn  wir  in  jenen  Zeiten  auch  Aquileja  die  führende  Stellung  in  den  südlichen 
Ostalpen  einnehmen  sehen.  Die  ersten  Rechtstitel  Aquilejas  nach  Osten  hin 
treten  1001  hervor,  als  Otto  III.  dem  Patriarchen  Johannes,  an  dieser  Stelle  zur 
Entschädigung  für  die  „durch  die  Wut  der  Ungarn"  erlittenen  Einfälle,  bei 
Salcano  und  Görz  Besitz  verleiht^);  unter  dem  Patriarch  Poppo  kommen  dann 
Güter  am  Isonzo  und  an  der  Piave  und  vor  allem  auch  in  Krain  hinzu,  während 
wir  den  Höhepunkt  dieser  Entwickelung  in  Gestalt  jener  Verleihungen  Heinrichs  IV. 
an  das  Patriarchat  schon  kennen  gelernt  haben  (1077).  Auch  unter  den  folgenden 
Patriarchen,  Heinrich  und  Udalrich,  bleibt  dieser  Besitzstand  Aquilejas  südlich 
und  nördlich  der  Julischen  Alpen  überall  erhalten,  so  daß  damals  neben  dem 
heutigen  Friaul  besonders  ein  großer  Teil  des  heutigen  Krain  volles  Eigentum 
dieses  Patriarchates  gewesen  ist-^).  Nicht  minder  wichtig  und  bezeichnend  ist 
es  aber,  daß  auch  diese  Macht  hier  ihre  Kulturaufgaben  nicht  außer  acht  ließ; 
die  Abtei  Rosazzo  südlich  Cividale,  die  mit  Mönchen  aus  S.  Gallen  bevölkert 
')  Alt.  S.  7.         -i  Kr.  S.  86.        •*)  Kr.  S.  85. 


142  VIII.  Kapitel. 

wurde'),  Mosach  in  Friaul  und  das  Chorherrenstift  Eberndorf  in  Unterkärnten 
sind  Beispiele  hierfür,  während  die  Gründung  eines  Hospizes  auf  dem  Loiblpaß 
im  J.  1239  wohl  zeitlich  und  räumlich  den  weitesten  Punkt  bezeichnet,  bis  zu 
dem  jener  Einfluß  Aquilejas  jemals  gelangt  ist. 

Besonders  häufig  kehrt  nun  auch  in  dem  Leben  der  Patriarchen  Aquilejas 
die  Beobachtung  wieder,  daß  sie  den  deutschen  Herrschern  besonders  nahe 
gestanden  haben  und  an  den  das  Reich  bewegenden  Ereignissen  beteiligt  gewesen 
sind.  Der  durchaus  deutsche  Charakter  des  Patriarchates  mag  hierzu  beigetragen 
haben;  der  Hauptgrund  liegt  aber  auch  hier  in  der  natürlichen  Verwandtschaft 
zwischen  der  Krone  und  den  geistlichen  Kirchenfürsten,  auf  die  gerade  Aquileja 
bei  der  Verteilung  der  damaligen  Machtverhältnisse,  bei  seiner  Feindschaft  zu 
seinem  alten  Gegner  Rom  und  zu  seinem  jungen  Gegner  Salzburg,  und  zuletzt 
bei  seiner  Rivalität  zu  dem  dicht  neben  ihm  aufstrebenden  Venedig,  gebieterisch 
hingewiesen  wurde.  Die  Vermittlerrolle,  die  das  Patriarchat  aber  eben  infolge 
dieser  Sachlage  zuweilen  einnehmen  konnte,  tritt  hervor  1037,  als  Erzbischof 
Aribert  von  Mailand  nach  seiner  Empörung  gegen  Konrad  II.  dem  Patriarch 
Poppo  in  Gewahrsam  gegeben  wurde  ^),  dann  dadurch,  daß  der  Patriarch  Udal- 
rich  von  Eppenstein  1105  in  Quedlinburg  Heinrich  IV.  mit  seinem  Sohn  zu 
versöhnen  suchte^),  und  besonders  1160  unter  Friedrich  I.  vor  Crema,  wo  der 
Patriarch  Peregrin  zwischen  dem  Kaiser  und  den  Belagerten  erfolgreich  ver- 
mittelte^). Auch  an  einem  der  schwersten  Schicksalstage  des  alten  deutschen 
Reiches  und  ganz  inmitten  deutscher  Tannenwälder  stand  der  Patriarch  von  Aqui- 
leja, Gotebold,  dicht  neben  dem  Kaiser,  am  5.  Oktober  1056,  als  Heinrich  III. 
auf  seiner  Pfalz  Botfeld  im  Harz  plötzlich  vom  Tode  ereilt  wurde  5). 
Die  kirch-  Aber  auch  der  Besitz  der  fremden  kirchlichen  Gewalten  hat   in   den   Ost- 

licticn 
Gewalten  alpen  eine  besonders  lange  Dauer  gehabt.     Es  will  immer  etwas  bedeuten,  wenn 

im  Innern  die  Stadt  Bischoflaak,  die  tief  in  Krain  und  länderweit  von  Freising  entfernt 
■  liegt,  von  994  bis  1802  in  der  Hand  dieser  Bischöfe  geblieben  ist.  Noch  viel 
mehr  aber  hat  es  damals  Bamberg  verstanden,  sich  einen  geschlossenen  Macht- 
komplex zu  schaffen,  und  zwar  an  einer  besonders  wichtigen  Linie,  entlang  der 
über  den  Pontebbapaß  führenden  Straße.  Hier  ist  schließlich  das  Herrschafts- 
gebiet Bambergs  von  Villach  aus  bis  zur  Paßhöhe  und  so  bis  unmittelbar  an  die 
Grenzen  des  Patriarchates  Aquileja  vorgedrungen.  Auf  Villach  folgte  hier  bis 
zum  jenseitigen  Abhang  des  Gebirges,  bis  Pontafel  selbst,  ein  bambergischer 
Ort  und  ein  bambergisches  Schloß  nach  dem  andern  ö).  Auch  das  bayrische 
Kloster  Oetting  hatte  sich  hier  in  der  bambergischen  Nachbarschaft  festgesetzt; 
es  besaß  Gebiet  am  Ossiacher  See,  ein  Erwerb,  der  schon  aus  den  Zeiten  der 
Karolinger  stammte  und  gleichfalls  aus  nichts  anderm  als  aus  der  Schenkung 
eines  königlichen  Pfalzhofes  (Treffen)  hervorgegangen  war'').     Von  den  in  zweiter 

')   Kr.   S.  88.  2)  Gi.  II.  B.  S.  321.  3)   Hildesheimer  Jahrbücher.  J.  1105.  4)  Ra.   S.  186. 

5)  La.  S.  40.        6)  W.  P.  S.  34  f.        ')  Kr.  S.  48.  A.  110.  " 


Die  deutsche  Reichspolitik  und  die  Alpenländer.  143 

Linie  stehenden  bodenständigen  icirchlichen  Gewalten  aber  finden  wir  hier  als 
ältestes  das  Stift  zu  Gurk,  das  sich  bald  zum  Bistum  auswuchs  und  dessen 
Besitzungen  sich  nicht  nur  in  Kärnten  sondern  später  auch  in  Krain  und  in  der 
Steiermark  ausbreiteten,  während  die  Bischöfe  selbst  zumeist  in  Weitenstein  resi- 
dierten ').  Später  als  dieses,  erst  in  der  ersten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts sind  dann  hier  auch  noch  die  Bistümer  Seckau  und  Lavant,  beide  auf 
Veranlassung  von  Salzburg  entstanden;  den  Kern  von  Lavant  bildete  die  Herr- 
schaft S.  Andrae  im  Lavanttale,  Seckau  war  dagegen  besonders  im  Innern 
der  Steiermark  begütert-). 

Und  so  lassen  sich  auch  heute  noch,  wenngleich  in  schwachen  Umrissen,  Die  letzten 
da  und  dort  in  den  Alpen  die  geschichtlichen  Wirkungen  jener  kirchlichen  der'^Herrschaft 
Politik  erkennen,  wie  sie  einst  auf  der  Höhe  des  Mittelalters  hier  schalten  und  der  Kirche 
walten  konnte.  Es  ist  schon  gesagt  worden,  daß  das  Deutschtum  im  Oberwallis  '"  ^"  'P^"" 
und  ebenso  die  Latiner  in  Bünden  von  den  Kirchenfürsten  bewußt  gestützt 
worden  sind,  in  deren  Machtgebieten  jene  Bevölkerungsteile  gelegen  waren. 
Auch  bei  Trient  läßt  sich  Ähnliches  beobachten,  als  dieses  im  späteren  Mittel- 
alter, um  sich  den  Eingriffen  Venedigs  zu  entziehen,  Maßregeln  traf,  die  dem 
Fortschritt  des  italienischen  Volkstums  innerhalb  seiner  Grenzen  nichts  weniger 
als  Vorschub  leisteten,  wie  auch  das  von  Venedig  in  gleicher  Weise  bedrängte 
Patriarchat  Aquileja  sicherlich  keinen  Grund  gehabt  hat,  dem  Fortbestehen  der 
furlaner  Sprache  entgegenzutreten,  die  nun  heute  noch  in  weitem  Bogen  am 
Rande  von  Nordostitalien  gesprochen  wird.  Auch  im  Innern  Tirols  kehren  solche 
Andeutungen  wieder;  denn  es  bleibt  immerhin  beachtenswert,  daß  die  Reste 
des  Latinismus  sich  in  der  unmittelbaren  Nachbarschaft  von  Brixen  viel  stärker 
konserviert  haben  als  z.  B.  in  der  Umgebung  von  Meran,  wo  die  Macht  des 
Landesfi'rstentums  sich  viel  früher  und  energischer  durchsetzte.  Überhaupt 
zeigt  das  Kulturbild  in  der  Mitte  und  in  dem  nördlichen  Teil  der  Alpen  gerade 
dort,  wo  die  Kirche  am  längsten  ihre  politische  Macht  behauptete,  auch  heute 
noch  einige  leise  Züge,  die  allein  davon  herrühren,  daß  die  Kirche  später  hier, 
um  ihren  Besitz  zu  sichern,  bewußt  den  nördlichen  Einflüssen  entgegenarbeitete, 
den  südlichen  dagegen  ungehindert  Eintritt  verschaffte.  So  ist  Villach  ebensoweit 
von  Italien  entfernt  wie  Bozen  oder  Luzern  und  hat  trotzdem,  weil  es  lange  in 
geistlichem  Besitz  blieb,  in  seiner  Bauart  einen  durchaus  südlichen  Charakter, 
und  dieselben  Kulturbeziehungen  lagern  auch  jetzt  noch  über  der  Landschaft 
von  S.  Gallen,  Berchtesgaden  und  Salzburg,  wenn  sich  die  Kuppeln  der  dortigen 
Kirchen  vom  Abendhimmel  abheben. 

Der  Sieg  der  Hierarchie  über  das  deutsche  Königtum  hat  die  folgenschwere  Das  Auf- 
Entscheidung   darüber   gebracht,    daß   Deutschland    ebensowohl    wie    Italien    auf  weUiTchen  ^^ 
lange  Jahrhunderte  für  sich  allein  keine  selbständigen  und  in  sich  geschlossenen  Gewalten. 
Reiche  bilden  konnten;  er  hat  aber  auch  dem  Papsttum  nichts  weniger  als  einen 

')  Kr.  S.  71  f.,  98.         2)  Kr.  S.  93. 


144  VIII.  Kapitel. 

dauernden  Genuß  des  Sieges  verschafft  und  diesen  vielmehr  nur  einer  dritten 
Gewalt  in  die  Hände  geliefert,  den  jüngeren,  im  kleineren  Kreise  gebietenden 
weltlichen  Mächten.  Jene  neuen  Mächte,  die  nunmehr  hervortreten,  sind  aber 
weder  in  Italien  noch  in  Deutschland  eine  Fortsetzung  der  alten  bodenständigen 
Gewalten,  die  vordem  gleichfalls  den  Arm  des  Königtums  geschwächt  hatten 
und  von  der  Kurie  in  ihrem  Kampfe  gegen  jenes  oft  genug  zu  Hilfe  gerufen 
worden  waren,  sondern  es  sind  ganz  anders  geartete,  mannigfaltige  Herrschafts- 
gebilde, in  Italien  mehr  republikanischen,  in  Deutschland  mehr  monarchischen 
Charakters;  sie  sind  aber  sämtlich  dadurch  bedeutungsvoll,  daC  sie  die  Grundlagen 
der  künftigen  geschichtlichen  Entwickelung  Mitteleuropas  umschließen,  und  daß 
man  in  ihrem  Schöße  zum  ersten  Mal  wieder  seit  den  Tagen  Karls  des  Gr. 
etwas  finden  kann,  das  sich  zu  einem  wirklichen  Staatenleben  zu  entwickeln 
vermag.  Die  alten  deutschen  Stammesherzöge  und  italienischen  Markgrafen,  die 
weitgebietenden  geistlichen  Fürsten  im  weltlichen  Gewände  sind  durch  und  durch 
Produkte  des  Mittelalters;  das,  was  jetzt  allmählig  emporkeimt,  Savoyen  und  die 
Schweizer  Eidgenossenschaft,  die  sich  um  das  Reich  und  alles  was  damit  zu- 
sammenhängt überhaupt  nicht  kümmern,  die  Grafen  von  Tirol,  die  sich  kuckucks- 
artig in  dem  Nest  der  Fürstbischöfe  von  Trient  und  Brixen  ausbreiten,  die  Re- 
publik Venedig,  die  das  Gebiet  des  Patriarchates  Aquiieja  aufzehrt  und  den 
Patriarchen  selbst  als  Oberpfarrer  ihrer  Hauptstadt  endigen  läßt,  das  junge 
Herzogtum  Osterreich,  dessen  Bewohner  mit  einem  bewußten  Gegensatz  zu 
ihrem  alten  Stammland  Bayern  erfüllt  sind '),  —  alle  diese  Großen  und  Kleinen 
bergen  in  sich  ein  zukunftsreiches  Leben  und  ragen  daher  auch  fast  sämtlich 
bis  an  die  Schwelle  der  Gegenwart  heran. 

Es  mag  sein,  daß  ein  Herrscher  mit  überragender  Menschenkraft  über  ein 
buntes  Mosaik  von  Staaten  geraten  und  der  Landkarte  plötzlich  ein  ganz  anderes 
Bild  geben  kann;  die  Regel  bleibt  aber  doch,  daß  ein  solcher  Umschwung  sich 
in  der  Stille  auf  geistigem  Gebiet  vorbereitet  und  die  alten  Zustände  zunächst 
einer  langsamen  Zersetzung  verfallen,  und  daß  die  Veränderungen  erst  dann, 
nachdem  sie  auf  diese  Weise  herangereift  sind,  durch  äußere  Ereignisse  in  die 
Erscheinung  treten.  Und  einen  solchen  Verlauf  haben  wir  auch  hier  vor  uns; 
denn  die  Regierungszeit  der  Staufer  bildet  für  die  Alpenländer  in  ungefähren 
Umrissen  jene  Periode,  während  der  dort  unmerklich  die  Vorherrschaft  aller 
alten  Gewalten  an  Kraft  verliert,  insbesondere  aber  auch  die  politische  Macht  der 
geistlichen  Fürsten  in  die  ihrer  weltlichen  Diener  hinübergleitet,  bis  schließlich 
nach  den  Anschauungen  des  Lehnswesens  die  Herren  von  den  Dienern  über- 
wachsen worden  sind,  oder  nach  allgemeinen  Begriffen  das  Gesetz  des  histo- 
rischen Undanks  wieder  einmal  Recht  behalten  hat.  Dieser  Verlauf  läßt  sich 
aus  unzähligen  einzelnen  Ereignissen  belegen;  er  läßt  sich  aber  auch  schon  aus 
der  einfachen  Tatsache  erkennen,  daß  wir  in  den  Zeiten  der  Staufer,  in   denen 

')  Vict.  S.  184. 


Die  deutsche  Reichspolitik  und  die  Alpenländer.  I45 

die  RömerzQge  nach  wie  vor  eine  geschichtliche  Notwendigkeit  waren,  und  der 
Besitz  der  Alpenwege  auch  den  Herrschern  selbst  nichts  weniger  als  gleichgültig 
sein  konnte,  doch  von  jenem  Zusammengehen  der  Krone  und  der  geistlichen 
Gewalten  so  gut  wie  nichts  mehr  wahrnehmen;  je  länger  je  mehr  finden  sich 
dagegen  jetzt  die  Beispiele,  daß  die  weltlichen  Dynasten  aus  dem  Bereich  der 
Alpen  im  Gefolge  der  deutschen  Körige  zu  erblicken  sind,  und  daß  sich  diese, 
wenn  sie  in  den  Alpenländern  ihren  Einfluß  ausüben  wollen,  dabei  jener  und 
nicht  der  daselbst  heimischen  Kirchenfürsten  bedienen. 

Besonders  in  dem  Leben  Friedrich  Barbarossas  haben  sich  genug  entschei-  Friedrich 
dende  und  aufregende  Begebenheiten  während  seiner  Züge  durch  die  Alpen  „„j  j^g^^* 
abgespielt,  aber  man  kann  trotzdem  nur  selten  bei  ihm  Maßregeln  begegnen,  die  Alpenländer, 
dem  Bestreben  ähnlich  sehen,  irgendwelchen  EinHuß  auf  die  Alpenstraßen  selbst 
auszuüben.  Die  wichtigsten  dieser  Art  fallen  in  den  Bereich  der  bündner  Pässe, 
so  besonders,  um  1157,  als  Friedrich  die  Entscheidung  traf,  daß  Chiavenna  als 
eine  zu  Schwaben  gehörige  Grafschaft  anzusehen  sei'),  und  als  er  im  J.  1179  den 
Bewohnern  des  oberen  Bergeil  für  ihre  tapfere  Hilfsleistung  im  Kriege  gegen 
Mailand  unter  anderm  das  Recht  einräumte,  zu  Vicosoprano  einen  Zoll  zu  er- 
heben-), wobei  demnach  zu  bemerken  ist,  daß  durch  diese  Verfügungen  niemand 
anders  als  das  Bistum  Chur  hart  betroffen  werden  mußte.  Bezeichnend  ist  es 
außerdem,  daß  man  jetzt  in  Friedrichs  nächster  Umgebung  wohl  auch  noch  den 
Bischof  Hartmann  von  Brixen,  viel  häufiger  aber  weltliche  Große  aus  den  Alpen, 
besonders  den  Grafen  Albert  von  Tirol  und  den  Herzog  Heinrich  von  Österreich 
antrifft,  und  auch  darin  kündet  sich  die  Veränderung  der  Zeiten  leise  an,  daß 
dem  Bischof  Hartmann  zwar  wegen  seiner  Gesinnung  und  Weisheit  volles  Lob 
gespendet  wird,  daß  die  beiden  anderen  aber  in  ganz  anderer  Weise,  als  Männer 
der  Tat,  bei  der  Belagerung  Mailands  (1158)  von  sich  reden  machen  3). 

Trotzdem  können  wir  in  Friedrich  Barbarossa  auch  von  unserem  Gesichts- 
punkt aus  ganz  und  gar  den  großen  Herrscher  erkennen,  da  die  zahlreichen 
Maßregeln  zum  guten  Teil  auch  noch  heute  nachwirken,  durch  die  er  einst  in 
das  Schicksal  der  östlichen  Hälfte  der  Alpen  eingegriffen  hat.  Die  Demütigung 
des  Erzbistums  Salzburg  ist  so  nur  ein  Glied  in  der  Kette  der  Maßregeln,  durch 
die  Friedrich  das  Reich  im  Südosten  zu  festigen  suchte,  ein  Ziel,  bei  dem  er 
jedoch  ebensowenig  auf  die  Hilfe  der  Kirche  oder  der  alten  Stammesherzöge 
zurückgriff,  sondern  bei  dem  er  sich  jetzt  allein  der  bisher  in  zweiter  Linie 
stehenden  weltlichen  Fürsten  als  Werkzeuge  bediente.  Der  erste  Schritt  dieser 
Art  geschah  bereits  1156,  als  Heinrich  von  Babenberg,  der  damals  noch  als 
bayrischer  Herzog  im  großen  Stile  über  Bayern  und  die  Markgrafschaft  Öster- 
reich zugleich  schaltete,  Bayern  allein  an  Heinrich  den  Löwen  abgeben  mußte, 
Österreich  dagegen  nunmehr  nicht  als  Markgrafschaft  sondern  als  Herzogtum 
mit  besonderen  Vorrechten  verliehen  bekam.     Es   bedarf  für   uns   heute  keiner 

')  Schu.  S.  86.         -')  Oe.  II.  S.  184.         ^)  Ra.  S.  29,  64 f. 

Scberrel,  Verkebrsgeschlcble  der  Alpen.     3.  Band.  10 


146  VIII.  Kapitel. 

Erwähnung,  daß  diese  Vorrechte  damals  kein  Stein  anstatt  eines  Brotes  waren, 
und  daß  hier  ein  staatsmännischer  Blick  Friedrich  die  Hand  führte').  Die  Maß- 
regeln, die  Friedrich  später  (1180)  nach  der  Achtung  Heinrichs  des  Löwen  traf, 
waren  daher  nur  die  umfangreichen  Konsequenzen  dieses  Vorganges,  die  mit  dem, 
was  von  der  Vormachtstellung  des  bayrischen  Herzogtums  noch  übrig  geblieben 
war,  gründlich  aufräumten.  Zugleich  wurden  von  Friedrich  damals  aber  auch  die- 
jenigen Dynasten  zu  Herzögen  erhoben,  die  den  übrigen  alten  Außenbesitz 
Bayerns  innehatten.  Es  waren  dies  einmal  die  Grafen  von  Andechs,  die  Herren 
von  Nord-  und  Mitteltirol,  und  ebenso  die  Grafen  von  Steyer,  die  den  Traungau, 
also  das  heutige  Oberösterreich,  und  von  dem  damaligen  Kärnten  die  sogenannte 
Kärntner  Mark  besaßen.  Letztere  ist  jedoch  nicht  das  heutige  Kärnten  sondern 
das  Land,  das  dieses  nördlich  und  östlich  umschließt  und  das  nach  diesen  seinen 
alten  Herren  noch  heute  die  Steiermark  heißt. 

So  ist  jetzt  der  weltliche  Besitz  dieser  Gebiete  ebenso  bereits  der  Kirche 
fast  völlig  aus  den  Händen  gewunden,  wie  vor  allem  auch  für  die  Herzöge  von 
Bayern  definitiv  verloren  gegangen.  Jene  Herzöge  von  Bayern  nach  altem 
Schlage  hatten  vorher  zumeist  über  ein  Land  geherrscht,  in  dem  die  Kräfte,  die 
zur  vollen  Selbständigkeit  strebten,  wenig  schwächer  waren  als  diejenigen,  die 
es  an  das  Reich  zu  fesseln  vermochten,  eine  Rolle,  wie  sie  in  der  modernen 
Zeit  etwa  Polen  zu  Rußland  oder  Ungarn  innerhalb  Österreichs  einnimmt.  Als 
die  Witteisbacher  im  J.  1180  Bayern  erhielten,  war  es  jedoch  nicht  das  alte  weite 
Gewand  Tassilos,  das  ihnen  umgetan  wurde,  sondern  ein  engeres  mit  beschei- 
deneren Rangzeichen.  Die  folgenden  sechs  Jahrhunderte,  eine  Zeitspanne  etwa 
in  derselben  Länge  wie  jene  vorher,  ist  daher  Bayern  auch  nur  ein  Reichsstand, 
ein  Staat  wie  alle  anderen  deutschen  Staaten  gewesen.  Die  Zeit  Napoleons  L, 
der,  in  der  Geschichte  Karls  des  Gr.  sehr  beschlagen,  wohl  bewußt  die  groß- 
bayrische Idee  wieder  aufleben  ließ,  bedeutet  dagegen  den  Beginn  einer  neuen 
Epoche  Bayerns;  denn  das  Bayern  von  1816  steht  innerlich  demjenigen  vom 
Jahre  1000  viel  näher  als  demjenigen  vom  Jahre  1790,  und  die  geographischen, 
ja  selbst  die  ethnographischen  Möglichkeiten,  die  sich  östlich,  südöstlich  und 
südlich  desselben  ausbreiten,  sind  auch  heute  noch  keine  anderen  wie  vor 
tausend  Jahren.  Sie  sind  aber  doch  nur  wie  ein  Segel,  das  nichts  ist  ohne  den 
Wind,  und  in  das  dieser  jetzt  von  der  entgegengesetzten  Seite  hineinbläst. 
Die  weltlichen  Es  mag  daher  jetzt  am  Platze   sein,    über    das    ganze    Alpengebiet    hin  die 

Di^  w'estatife^n  E"'stehung  der  weltlichen  Territorien   als  den   die   kirchliche  Entwickelung   da- 
und  die  selbst  ablösenden  Vorgang  zu  betrachten.     In  der  Provence  und  in  der  Dauphinee, 
Schweiz,  jjjg  (jgjj  äußersten  Westen  der  Alpen  in  sich  schließen,  haben  die  einheimischen 
Fürsten,  wie  es  die  seitab  gelegene  Stellung  ihrer  Gebiete  mit  sich  brachte,  bald 
eine  fast  völlige  Unabhängigkeit   erlangt.     Besonders   gilt  dies  von  den   Grafen 
von   Arles    und    deren   Nachfolgern   in    der   Provence,   während    den  Dauphins, 

')  Alt.  S.  22.  Der  redselige  Abt,  der  damals  überall  gut  hinzuhören  verstand,  trifft  hier  den 
Nagel  auf  den  Kopf. 


Die  deutsche  Reichspolitik  und  die  Alpenländer.  147 

deren  Namen  in  anderer  Bedeutung,  als  der  Erben  Frankreichs,  heute  noch 
fortlebt,  das  Leben  anfangs  durch  die  fünf  im  Lande  befindlichen  Bistümer  und 
durch  die  Nachbarschaft  Savoyens  nicht  ganz  so  leicht  gemacht  worden  ist.  Beide 
Gebiete  sind  später,  die  Dauphinee  zuerst  (1349)  und  dann  auch  die  Provence 
(1382)  in  die  Hand  Frankreichs  hinübergeglitten,  so  daß  die  französische  Krone, 
obgleich  das  französische  Volkstum  damals  bereits  auf  dem  ganzen  westlichen 
Flügel  der  Alpen  geschlossen  von  Genf  bis  Nizza  herrschte,  doch  gerade  an 
jener  entferntesten  Stelle  des  Gebirges  am  frühesten  Fuß  gefaßt  hat.  An  die  in 
dem  Mittelpunkt  des  alten  burgundischen  Reiches  sitzenden  Grafen  von  Savoyen 
trat  dagegen  das  Schicksal  in  seiner  ganzen  Fülle  in  jenem  Jahre  heran,  als 
(um  1050)  Graf  Oddo  von  Savoyen  durch  Heirat  in  den  Besitz  der  Markgraf- 
schaft Turin  gelangte.  Von  dieser  Zeit  ab  treten  die  Grafen  von  Savoyen  nun 
auch  in  der  großen  Geschichte  viel  häufiger  hervor,  an  der  Seite  der  deutschen 
Könige  oder  als  Teilnehmer  an  den  Kreuzzügen,  wie  die  Veränderung,  die  bei 
diesem  Hause  auch  innerlich  vor  sich  gegangen  ist,  sich  auch  darin  zu  erkennen 
giebt,  daß  seine  Mitglieder  jetzt  nicht  mehr  deutsche  sondern  welsche  Vornamen 
aufweisen.  Als  entschiedener  Anhänger  Friedrichs  II.  ist  besonders  Thomas  L 
zu  nennen,  aber  gerade  daran,  daß  jene  gefährliche  Parteinahme  für  Savoyen 
selbst  einen  Machtzuwachs,  Chambery,  im  Gefolge  hatte,  kann  man  ersehen,  wie 
gefestigt  schon  damals  die  Stellung  dieser  Dynasten  auf  ihrem  eigenen  Grund 
und  Boden  gewesen  sein  muß. 

Auch  Helvetien,  d.  h.  das  Gebiet,  das  zunächst  das  Land  zwischen  dem 
Jura  und  der  Urschweiz  —  dieses  das  nördlichste  Stück  des  alten  burgundischen 
Reiches  —  und  östlich  den  Zürichgau  umfaßte,  schließt  sich  jetzt  plötzlich  zu 
dem  Machtbereich  eines  weltlichen  Fürsten  zusammen.  Im  J.  1097  wurde  dieses 
Land  von  Heinrich  IV.  zu  einem  Herzogtum  gemacht  und  an  Berthold  von 
Zähringen  gegeben,  eine  Maßregel,  bei  der  besonders  ihr  früher  Zeitpunkt 
wichtig  bleibt;  denn  wenn  damals  die  Zähringer  als  Vögte  über  die  Fraumünster- 
abtei in  Zürich  an  des  Kaisers  Stelle  und  als  Herren  des  Zürichgaues  an  die 
Stelle  der  Herzöge  von  Schwaben  traten,  so  ist  damit  eben  bereits  jene  neue 
Instanz  in  das  Leben  getreten,  die  später  überall  den  Sieg  über  die  deutschen 
Stammesherzöge  und  über  Krone  und  Kirche  zugleich  davontragen  sollte.  Man 
kann  ferner  bemerken,  wie  diese  Zähringer  hier  nun  auch  bald  auf  dasjenige 
Mittel  verfielen,  das  von  den  Landesfürstentümern  dann  so  oft  zur  Befestigung 
ihrer  Herrschaft  und  als  Gegengewicht  gegen  einen  widerspenstigen  Adel  an- 
gewendet worden  ist,  auf  die  Begünstigung  des  Städtewesens;  so  ist  von  ihnen 
1178  Freiburg  und  1191  Bern  gegründet  worden.  Östlich  haben  dagegen  noch 
bis  zum  Ende  des  Mittelalters  S.  Gallen  und  der  Bischof  von  Chur  ihre  Selb- 
ständigkeit behauptet,  aber  auch  hier  recken  und  dehnen  jetzt  die  weltlichen 
Herren,  nördlich  die  Toggenburger  und  Montforter  Grafen,  und  südlich  die 
Herren  von  Vaz,  viel  unbequemer  ihre  Glieder. 
10» 


148  VIII.  Kapitel. 

Tirol.  Ein  Musterbeispiel  für  die  Art  und  Weise  des  Auficommens  der  weltlichen 

Dynasten  an  Stelle  der  geistlichen  in  den  Alpen  bildet  dagegen  die  Entstehung 
des  Tiroler  Landesfürstentums.  Die  Zustände  des  Lehnswesens  hatten  es  hier 
zunächst  mit  sich  gebracht,  daß  die  Bischöfe  von  Trient  und  Brixen  ihren  aus- 
gedehnten Landbesitz  wohl  oder  übel  einer  zweiten  Hand  übergeben  und  an 
weltliche  Große  verleihen  mußten,  und  zwar  erscheinen  als  solche  Lehnsträger 
für  Trient  in  der  Grafschaft  Trient  selbst,  d.  h.  im  Etschtal  von  Meran  bis  süd- 
lich Bozen,  die  Grafen  von  Eppan,  und  dann  besonders  im  Vintschgau  die 
Grafen  von  Tirol,  die  diesen  Namen  von  ihrem  Stammsitze,  der  am  südlichen 
Eingange  jener  Grafschaft  gelegenen  Burg  Tirol,  führen.  Kein  anderes  Verfahren 
hatten  aber  auch  die  Bischöfe  von  Brixen  eingeschlagen,  da  diese  denselben 
Grafen  von  Tirol  ihren  Besitz  im  Eisaktale,  den  Grafen  von  Andechs  dagegen 
denjenigen  im  Pustertal  und  im  Unterinntal  zu  Lehen  gegeben  hatten.  Letztere, 
damals  eines  der  reichsten  Geschlechter  der  Welt,  dessen  Besitzungen  sich  eine 
Zeit  lang  von  der  Adria  bis  zum  sächsischen  Erzgebirge  hin  erstreckten,  wurden, 
wie  wir  sahen,  von  Kaiser  Friedrich  Barbarossa  zu  Herzögen  erhoben  und 
nannten  sich  nunmehr  Herzöge  von  Meran  (Meiranien  und  Istrien).  Dieser  Titel 
rührt  demnach  von  einer  Herrschaft  an  der  Adria  und  keineswegs  von  dem  in 
den  Bergen  gelegenen,  wenn  auch  gleichfalls  hochfürstlichen  Meran  her,  wie 
überhaupt,  falls  ein  Zusammenhang  dieser  beiden  Namen  und  Plätze  tatsächlich 
existiert  hat,  er  doch  noch  nachgewiesen  werden  muß ').  Jedenfalls  sind  dies 
alles  nichts  weniger  als  übersichtliche  Besitzverhältnisse.  Aber  auch  aus  der 
Zeiten  Ferne  sieht  sich  alles  reiner:  sie  laufen  doch  nur  auf  einen  Kampf  aller 
gegen  alle  hinaus. 

In  jenem  Ringen,  in  dem  die  weltlichen  Großen  gegen  die  Bischöfe,  ebenso 
aber  auch  selbst  gegen  einander  drängen  und  drücken,  zeigt  sich  nun  besonders 
das  Geschlecht  der  Grafen  von  Tirol  von  einer  ganz  ungestümen  Lebenskraft. 
Wahrscheinlich  hat  diesem  auch  jener  Adalbert,  der  1106  die  Gesandten  Hein- 
richs V.  in  Trient  aufhob,  und  sicher  jener  Albert  angehört,  der  1158  vor  Mailand 
kämpfte.  So  haben  diese  ersten  Grafen  von  Tirol  zunächst  ihren  älteren  und 
vornehmeren  Nachbarn,  den  Grafen  von  Eppan,  den  Rang  abgelaufen,  um  sich 
dann  im  Verein  mit  den  ihnen  verbündeten  und  verwandten  Andechsern  auch 
erfolgreich  an  ihren  Lehnsherren  in  Brixen  zu  versuchen.  Auch  hier  hat  sich 
schließlich  zu  der  Tapferkeit  und  Rücksichtslosigkeit,  die  damals  allein  die 
Tüchtigkeit  bedeutete,  das  Glück  gesellt,  insofern  1248  nach  dem  Aussterben 
der  im  höheren  Range  stehenden  Andechser  deren  im  heutigen  Lande  Tirol 
befindliche  Besitzungen  durch  Erbschaft  an  jenes  Grafengeschlecht  kamen,  so 
daß  also  auch  hier  bereits  in  der  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  der  Um- 
schwung an  seinen  letzten  Konsequenzen  angelangt  und  nunmehr  ein  weltliches 
Land  Tirol  aus  der  alten  geistlichen  Schale  herausgewachsen  ist. 
')  N.  S.  20;  Vgl.  Aah.  17. 


Die  deutsche  Reicbspolilik  und  die  A.lpenländer.  149 

Wie  sehr  aber  dieses  Resultat  den  ausschlaggebenden  Kräften  der  Zeit 
entsprach,  läßt  sich  daraus  erkennen,  daß  jener  Besitz  auch  weiterhin  zusammen- 
hielt, trotz  des  großen  Strebens,  das  gerade  um  die  Wende  des  zwölften  und 
bis  tief  in  das  dreizehnte  Jahrhundert  hinein  unter  den  großen  Geschlechtern 
der  deutschen  Alpen  zu  beobachten  ist,  und  dem  auch  jene  alten  Tiroler  Grafen 
selbst,  die  Nachkommen  Adalberts,  wie  sie  gemeinhin  genannt  werden,  zum 
Opfer  gefallen  sind  (1253)  ').  Einer  einzigen  Linie,  den  Grafen  von  Görz,  ge- 
lang es  dann,  obgleich  sie  ursprünglich  nur  auf  die  Hälfte  Anspruch  hatte,  den 
ganzen  Teil  des  Erbes  weiterzuführen.  Aber  auch  dieser  Stamm,  der  nunmehr 
als  zweite  Dynastie  das  Landesfürstentum  tiefer  in  den  Kulturboden  Tirols  ein- 
drückte, hat  sich  innerhalb  eines  Jahrhunderts  (1258— 1363)  auf  jenem  alle  Kräfte 
anspannenden  Schauplatze  verbraucht  und  starb  mit  Meinhard  IIL,  dem  jungen 
Sohn  der  Margarete  Maultasch,  aus.  Sein  hervorragendster  Vertreter  ist  Mein- 
hard II.  gewesen  (1258-1295),  der  Gemahl  Elisabeths,  der  Witwe  Konrads  IV. 
und  Mutter  Konradins,  ein  Mann,  der  die  Tatkrjft  seiner  Vorgänger  mit  jener 
kühlen,  berechnenden  Schlauheit  verband,  die  als  Reaktion  gegen  die  Erreg- 
heit  und  die  Gedankenfülle  der  vorangegangenen  Epoche  ein  Merkmal  der  letzten 
Jahrhunderte  des  Mittelalters  bildet.  Der  scharfe  Blick  Meinhards  IL  zeigt  sich 
vor  allem  darin,  daß  er  sich  in  dem  Kampf  zwischen  dem  Böhmenkönig  Ottokar 
und  Rudolf  von  Habsburg  entschieden  auf  die  Seite  des  letzteren  stellte  und 
für  diese  Unterstützung  dann  auch  1286  Kärnten  in  seinem  heutigen  Umfange 
zu  seinem  Besitz  hinzufügen  konnte. 

In   den   Ostalpen   waren   schon   seit   den  Zeiten   der  Ottonen   die  Herzöge  Die  Ost- 
von   Kärnten   die   ältesten   Vertreter  eines   Landesfürstentums   gewesen,    die  als  die^SteUung 
solche   von    den   deutschen   Königen   in   direktem    Gegensatz   zu  Bayern   in    das  der  Baben- 
Leben  gerufen  worden  waren,  und  deren  Ansprüche  sich  anfangs  von  den  Tauern    ^^^^^' 
bis  an   den  Fuß   der  ungarischen  Ebene   und   bis  zu  den  Küsten   der  Adria  er- 
streckt hatten.     Aber  auch   hier  war   diese  Entwickelung  geschwächt   und  unter- 
brochen worden,  nicht  nur  durch  die  Maßregeln  der  Krone  selbst,  die  in  ihrem 
Interesse  gerade  dieses  junge  Herzogtum  schon  wegen  seiner  Unfertigkeit  leicht 
aus  einer  Hand  in  die  andere  liefern  konnte,  sondern  vor  allem  durch  das  Ein- 
dringen der  kirchlichen  Herrschaftsgebiete,  die  bald  jenes  ganze  Land,  das  äußer- 
lich ein  Besitz   der  Herzöge   sein  sollte,   innerlich   durch   und   durch    mit   ihren 
Besitzungen    durchsetzt  hatte.     So   wechselt   zunächst  während   des   elften  Jahr- 
hunderts die  herzogliche  Würde  in  Kärnten  zwischen  den  verschiedensten  großen 
Geschlechtern  des  Reiches,  zwischen  den  Herzögen  von  Rheinfranken   und  den 
Eppensteiner    Grafen,    den   Weifen    und    den    Zähringern,    um    schließlich    vom 
J.  1122  ab  über  ein  Jahrhundert  bei  dem  Hause  der  Sponheimer  Grafen  zu  ver- 
bleiben.    Es  ist  jedoch  zu  wiederholen,  daß  der  Schwerpunkt  der  Entwickelung 
in   jenen  Zeiten   ganz  und   gar  nicht  bei   den  Namen   dieser    Herzöge   sondern 

')  Vgl.  Anh.   18. 


150  VIII.  Kapitel. 

innerhalb  der  einzelnen  Teile  jenes  Gebietes  gelegen  hat,  als  die  Kirche  überall 
jenes  Neuland  kolonisierte,  während  sich  zugleich  die  außenstehenden  Teile  als 
selbständige  Glieder  von  dem  alten  Stamm  ablösten. 

Am  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  stehen  demnach  auch  hier  plötzlich 
die  einzelnen  Ostalpenländer,  wie  sie  jetzt  noch  in  den  österreichischen  Kron- 
ländern weiterleben,  in  Umrissen  vor  uns;  Salzburg  allein  als  geistliches  Fürsten- 
tum, die  anderen  dagegen,  Kärnten,  Krain,  Steiermark,  Österreich,  als  fast  fertige 
weltliche  Gebiete  unter  verschiedenen  Herrschern,  Das  bei  weitem  Wichtigste 
an  dieser  Erscheinung  ist  jedoch,  daß  jener  Zustand,  so  entschieden  er  sich 
auch  nach  der  kulturellen  Seite  hin  erklärt  hat,  doch  dynastisch  nur  mehr  den 
Charakter  einer  Übergangszeit  zeigt,  und  daß  er  bereits  damals  nach  einem 
entfernten,  uns  heute  völlig  verständlichen  Ziele  hindrängte.  Wir  haben  mehr 
als  ein  Anzeichen  dafür,  daß  der  Zusammenschluß  aller  dieser  östlichen  Länder 
unter  österreichischer  Oberhoheit  schon  in  jener  Zeit  sozusagen  in  der  Luft 
lag,  und  daß  das  kräftige  und  glänzende  Geschlecht  der  österreichischen  Baben- 
berger  Anstalten  machte,  in  jene  Mission  hineinzuwachsen.  Schon  1192,  nach 
dem  Aussterben  der  Steyerer  Grafen,  ist  deren  großer  Besitz,  Oberösterreich 
und  die  Steiermark,  nicht  an  Bayern  oder  Kärnten  zurückgefallen,  sondern  hat 
östlich  an  Österreich  Anschluß  genommen,  wie  auch  Leopold  der  Glorreiche 
von  Österreich  (1198 — 1230)  sich  so  recht  in  jene  neue  Vormachtstellung  ein- 
^  gelebt   hat   und  besonders  schon   auf  weiten   Linien  einen   großen   Teil   der   in 

Krain  gelegenen  Besitzungen  Freisings  an  sich  zu  bringen  wußte. 

Und  nun  zieht  während  dreier  Jahrzehnte  ein  Schauspiel  an  uns  vorüber, 
als  ob  es  geschaffen  worden  wäre,  das  Problem  von  Notwendigkeit  und  Zufall, 
und  so  die  Frage  nach  den  letzten  Gründen  aller  menschlicher  Schicksalsfügung 
und  alles  historischen  Denkens  in  starren  wahren  Tatsachen  vor  uns  hinzustellen. 
Auch  hier  erscheint  jene  unheimliche  und  unberechenbare  Macht,  die  damals 
so  oft  und  30  übermächtig  in  das  Schicksal  der  Länder  eingriff;  denn  der  Tag, 
an  dem  das  Geschlecht  der  Babenberger  ausstarb  (1246),  mußte  dazu  dienen, 
um  die  soeben  für  eine  höhere  Kultur  gewonnenen  Ostalpenländer  unter  die 
halbbarbarische  böhmische  Herrschaft  und  in  den  Großbetrieb  eroberter 
Provinzen  zurückzuwerfen.  Durch  das  Schlachtenglück  eines  einzigen  Tages, 
als  Rudolf  von  Habsburg  auf  dem  Marchfeld  (1278)  den  Böhmenkönig  Ottokar 
besiegte,  ist  dann  aber  auch  hier  jene  Entwickelung  wiederum  in  ihre  alten 
Bahnen  zurückgelenkt  worden.  Die  Habsburger  haben  deshalb  aber  auch,  als 
sie  in  Wien  die  Burg  der  Babenberger  bezogen,  sich  selbst  keine  neuen  Ziele 
Einfluß  des  gesteckt,  sondern  nur  die  alten  vorgeschriebenen  mit  Verständnis  und  Ausdauer, 

^^^"^^a^uf^dle  ""'^  "''^'^^  zuletzt  mit  mehr  Glück  weitergeführt. 

Grenzen  der  Während  der  Jahrhunderte  der  Römerherrschaft  sind  auch  die  Grenzen  der 

"'"^i'ich^n  Alpenprovinzen    in    der   Hauptsache    ganz   so   geblieben,  wie   sie    die   römische 

Alpenländer.  Regierung    von   Anfang    an    abgesteckt    hatte,    eine   Erscheinung,    wie   sie   nicht 


Die  deutsche  Reichspolitik  und  die  Alpenlinder.  151 

anders  auch  während  der  letzten  fünf  Jahrhunderte,  die  bis  zur  Gegenwart  her- 
anreichen, zu  beobachten  ist,  in  denen  gleichfalls  die  vom  Mittelalter  über- 
nommenen Grenzen  hier  nur  ganz  geringe  Veränderungen  erfahren  haben.  Wenn 
dieses  daher  beide  Male  langandauernde  Zustände  voraussetzt,  in  denen  die  Be- 
harrung in  politischer  Beziehung  durchaus  vorgeherrscht  hat,  so  liefert  dagegen 
das  zwischen  diesen  beiden  Perioden  liegende,  fast  tausendjährige  Mittelalter 
hierzu  das  direkte  Gegenteil,  ein  Bild,  bei  dem  die  staatcnbildenden  Tendenzen 
ebenso  mannigfaltig  wie  ziellos  durcheinanderwogen,  und  bei  dem  in  den  Alpen- 
ländern niemals  ein  Stillstand,  sondern  immer  nur  ein  ununterbrochener  Wechsel 
in  dem  Entstehen  und  Vergehen  der  politischen  Machtkreise  wahrzunehmen  ist. 
Um  so  mehr  werden  wir  aber  hier  auf  die  Frage  geführt,  inwieweit  man  nun 
auch  damals  die  Wirkungen  jenes  unveränderlichen  und  zu  allen  Zeiten  und 
überall  in  gleicher  Stärke  arbeitenden  geographischen  Momentes  wieder  finden 
kann,  das  die  Natur  hier  hingestellt  hat,  und  mit  dessen  starrer  überlegener 
Macht  sich  alle  Kulturströmungen,  alle  geschichtlichen  Zeitalter  nach  ihrer  Weise 
abfinden  müssen. 

Es  sind  dieses  jedoch  nichts  weniger  als  die  Paßwege,  mit  deren  Hilfe  die 
menschliche  Kultur  seit  alters  her  die  gegenteilige  Wirkung  erzielt  und  die 
geographischen  Einflüsse  gemildert  und  abgeschwächt  hat,  sondern  die  großen 
Gebirgsstöcke  selbst,  die  als  mächtige  Pfeiler  emporragen,  die  von  ihren  Schultern 
die  Wegebauten  abschütteln  und  die  sich  daher  für  den  Menschenwillen  nur 
nach  einer  einzigen  Richtung  hin  zur  Verwendung  herbeilassen,  als  Punkte,  nach 
denen  die  Grenzen  der  einzelnen  Herrschaftsgebiete  zusammenlaufen  und  wo 
diese  nun  mit  einer  Kraft  festgehalten  werden  können,  die  in  ewig  junger  Stärke 
aus  der  Erde  selbst  emporsteigt.  Es  ist  weiterhin  zu  bemerken,  daß  das  Maß 
dieser  Wirkung  weniger  von  der  absoluten  Höhe  dieser  Gebirgsriesen  sondern 
von  ihrer  Massigkeit  abhängt  und  von  der  Anzahl  und  der  Ausdehnung  der 
Gebirgsketten,  die  dort  zusammenstoßen.  Und  auch  im  Mittelalter  zeigt  sich 
trotz  der  Vielseitigkeit  und  Veränderlichkeit  der  politischen  Machtkreise  der 
trennende  Einfluß  jener  Kulminationspunkte  nicht  weniger  mächtig,  ein  Zustand, 
dessen  tiefe  unveränderliche  Ursachen  dadurch  nur  um  so  stärker  vor  Augen 
treten,  weil  den  damaligen  Geschlechtern  noch  jede  nähere  Kunde  von  dem 
Wesen  dieser  höchsten  Gegenden  der  Alpen  fehlte'). 

In  den  Westalpen  ist  es  jetzt  zunächst  der  Monte  Viso,  in  dessen  Nähe 
sich  die  Grenzen  der  Provence,  Dauphinee  und  der  italienischen  Markgraf- 
schaft Saluzzo  begegnen,  während  bei  dem  höchsten  Berge  der  Alpen,  dem 
Montblanc,  der  keine  langen  Gebirgskämme  unmittelbar  von  sich  aussendet  und 
an  dessen  Wänden  daher  auch  die  Straßen  des  Gr.  und  Kl.  S.  Bernhard  hoch 
hinaufzusteigen  vermögen,  dieses  Verhältnis  nicht  in  einer  der  Großartigkeit 
dieses  Gebirgsstockes  entsprechenden  Stärke  vorgewaltet  hat.    Wenn  auch  hier 

•)  Z.  A.  1902.  S.  79. 


152  Vlll.  Kapitel. 

im  Altertum  die  Grenzen  der  Gallia  Narbonensis  und  der  Gallia  Belgica  zu- 
sammenstießen, so  blieb  die  Zone  des  Montblanc  doch  in  der  ersten  Hälfte  des 
Mittelalters  recht  eigentlich  der  Mittelpunkt,  die  natürliche  Hochburg  des  Bur- 
gunderreiches, um  später  jedoch  wieder  als  die  Stelle  zu  erscheinen,  von  der 
aus  die  einzelnen  Teile  dieses  Reiches  auseinanderfallen,  südlich  Savoyen,  öst- 
lich das  Bistum  Sitten  und  nördlich  das  zunächst  bei  dem  deutschen  Reiche 
verbleibende  burgundische  Gebiet.  Und  wenn  dann  in  der  neuesten  Zeit  der 
Montblanc  wieder  wie  der  Ararat  als  Grenzstock  dreier  großer  Staaten,  von 
Frankreich,  Italien  und  der  Schweiz  gewirkt  hat,  so  ist  eben  die  verminderte 
Wichtigkeit  der  Bernhardpässe  für  den  modernen  Verkehr  nur  die  Kehrseite 
dieser  Erscheinung.  Als  der  bei  weitem  stärkste  Grenzpunkt  hebt  sich  da- 
gegen in  der  Mitte  des  Gebirges  der  S.  Gotthard  heraus;  hier,  wo  dieser 
im  Altertum  als  Adula  Gallien,  Rätien  und  Italien  trennte,  vervielfacht  sich  dann 
jenes  Verhältnis  und  in  schmalen,  zugespitzten  Zipfeln  klettern  nun  bis  zu  dieser 
Zone  die  Sprengel  der  einzelnen  Bistümer  empor,  Sitten  bis  an  die  Furka, 
Lausanne  bis  zur  Grimsel,  Konstanz  bis  Uri,  Chur  bis  Urseren,  Mailand  bis 
zum  Blegnotal,  Como  bis  zum  Maggiatal  und  Novara  bis  zum  Gebiet  der  Tosa'). 
In  weltlicher  Beziehung  stießen  dagegen  am  S.  Gotthard  zu  gleicher  Zeit  Bur- 
gund,  Italien  und  das  alte  deutsche  Reich  zusammen,  wie  sich  daher  auch  heute 
noch  hier  in  Gestalt  der  Kantone  Uri,  Graubünden,  des  italienischen  Tessin 
und  des  zur  französischen  Zone  gehörigen  Wallis  jene  vier  Bestandteile  der 
Schweiz  begegnen,  die  einen  verschiedenen  Ursprung  haben  und  innerlich  nicht 
gleichartig  sind.  Auch  westlich  in  der  Nähe,  am  Galenstock,  ist  die  schon  aus 
dem  Mittelalter  herrührende  Trennung  von  Uri,  Bern  und  Wallis  erhalten  ge- 
blieben. 

Nicht  weniger  vielseitig  arbeitet  aber  dieselbe  Macht  auch  an  anderen  Stellen 
des  Gebirges  und  bringt  so  Lagerungen  hervor,  die  heute  zum  Teil  durch  den 
Zusammenschluß  in  größere  Kreise  schon  längst  überholt  worden  sind.  So  liefen 
am  Arlberg  einst  die  Diözesen  Chur  und  Konstanz,  Brixen  und  Augsburg^), 
in  weltlicher  Beziehung  dagegen  Bayern,  Schwaben  und,  wie  noch  der  Name 
Landeck  an  dieser  Stelle  erzählt,  Tirol  zusammen.  Der  hohe  First  im  Passeier 
war  der  Markstein  der  Diözesen  Brixen,  Chur  und  Trient,  während  sich  der 
Ortler  im  Mittelalter  fast  dem  S.  Gotthard  an  die  Seite  stellen  konnte.  In  dessen 
Zone  ragten  anfangs  die  letzten  Enden  von  Italien,  Schwaben  und  Bayern,  dann 
diejenigen  von  Mailand,  Chur,  Tirol  und  Trient  hinauf,  bis  es  im  fünfzehnten 
Jahrhundert  durch  den  Hinzutritt  venezianischen  Gebietes  schließlich  hier  sogar 
ihrer  fünf  werden  sollten;  der  Einschmelzungsprozeß  der  neueren  Geschichte 
hat  aber  auch  hier  jene  Grenzen  auf  drei  verringert,  die  sich  heute  auf  der 
Dreisprachenspitze  begegnen. 

Überhaupt  offenbart  sich  der  staatenbildende   und  staatentrennende   Einfluß 

')  Oe.  I.  S.  273.        2)  Da.  I.  B.  S.  152. 


Die  deutsche  Reicbspolitik  und  die  Alpenländer.  153 

dieser  Bergstöcke  gerade  im  Mittelalter  bei  weitem  am  vielseitigsten  und  mannig- 
faltigsten, eine  Tatsache,  wie  sie  bei  der  Unfertigkeit  und  dem  starken  Wechsel 
der  damaligei>  Machtverhältnisse  nicht  anders  eintreten  konnte,  die  es  aber  doch 
auch  zeigt,  wie  dieses  Zeitalter  an  vielen  Stellen  des  Gebirges  durchaus  selb- 
ständig vorgegangen  ist.  So  sind  es  im  Süden  der  Ostalpen  zwar  zunächst 
keine  anderen  Gipfel  als  diejenigen,  die  bereits  im  Altertum  die  Grenzen  fest- 
gehalten haben,  einmal  die  Marmolata,  an  der  sich  die  Gebiete  Trients,  Brixens 
und  der  Mark  Verona  (später  venezianisches  Gebiet)  begegneten,  und  weiter  der 
Triglav,  wo  der  Besitz  Bambergs,  Brixens  und  Aquilejas  zusammenlief,  der  sich 
heute  hier  in  die  Landesgrenzen  von  Kärnten,  Krain  und  des  österreichischen 
Küstenlandes  verwandelt  hat.  Im  Norden  hebt  sich  dagegen  jetzt  ebenso  neu 
wie  dauerhaft  der  Großglockner  heraus,  der  bereits  seit  den  Tagen  der  Ottonen 
die  Länder  auseinander  gehalten  hat,  die  heute  Kärnten,  Tirol  und  Salzburg 
bedeuten;  ähnlich  wirkt  auch  die  Dreiherrenspitze  im  Mittelalterzwischen  Tirol, 
Salzburg  und  den  Ausläufern  des  bayrischen  Zillertals,  während  heute  dieselben 
Länder  in  der  Nähe  der  Loferer  Steinberge  auseinandertreten.  Auch  die  Steier- 
mark, die  ebenso  wie  Salzburg  ihre  Entstehung  durchaus  dem  Mittelalter  verdankt, 
hat  sich  an  allen  ihren  Ecken  in  jene  beherrschenden  Gebirgsknoten  eingelassen, 
am  Dachstein,  wo  sie  mit  Salzburg  und  Oberösterreich,  am  Tanzboden,  in  der 
Nähe  des  Hochkar,  wo  sie  mit  Oberösterreich  und  Niederösterreich,  am  Königs- 
stuhl, wo  sie  mit  Kärnten  und  Salzburg,  und  an  der  Oistriza,  dem  westlichsten 
Punkt  der   Sannthaler    Alpen,   wo  sie    mit   Kärnten   und    Krain   zusammenstößt. 


IX.  Kapitel. 

Prosa  und  Poesie  der  mittelalterliclien  Alpenwelt. 


Der  feudale  Alle  die  Fälle,  wo  während  des  Mittelalters  der  Name  eines  einzelnen  be- 

^^Mitfötalters  festigten  Punktes,  einer  Burg,  auf  ein  ganzes  Land  übergegangen  ist,  halten  nur 
in  den  Alpen,  die  Erinnerung  an  jene  Entwickelung  fest,  daß  die  Herren  jener  Plätze  einstmals 
von  dort  aus  weit  über  Berg  und  Tal  herrschten,  und  daß  es  diesen  schließlich 
gelungen  ist,  die  nähere  oder  weitere  Umgebung  solcher  Punkte  zu  einem  ge- 
schlossenen Machtbesitz  zusammenzufassen.  Auch  anderswo  findet  sich  diese 
Erscheinung  (Württemberg,  Brandenburg),  nirgends  aber  so  ausgeprägt  wie  in 
den  Alpenländern.  So  war  Hohen-Rätien  einst  die  Citadelle  für  ganz  Rätien; 
in  der  Karnburg,  wo  sich  noch  bis  vor  kurzem  der  steinerne  Thronsessel  be- 
fand, auf  dem  die  Herzöge  einst  die  Huldigung  entgegennahmen,  und  in  Krain- 
burg  saßen  im  Mittelalter  die  weltlichen  Herren  von  Kärnten  bezl.  von  Krain; 
von  einer  einzigen  unter  hundert  anderen  Burgen,  von  der  Styraburg  und  der 
Burg  Tirol,  gingen  jene  Namen  auf  ganze  Länder  über;  Hohensalzburg  war 
nicht  nur  die  Hochburg  einer  Stadt,  sondern  auch  des  ganzen  Landes  Salzburg, 
und  auch  darin,  daß  die  Schweiz  heute  von  der  in  ihrem  Herzen  gelegenen 
natürlichen  Bergfestung  Schwyz  den  Namen  führt,  ist  kein  anderer  Vorgang  zu 
erblicken.  Die  Tatsache,  daß  jene  Art  der  Namensgebung  in  den  Alpen  so 
häufig  wiederkehrt,  kann  nun  aber  besonders  deutlich  das  Wesen  offenbaren,  in 
dem  sich  dort  die  treibenden  Kräfte  des  Mittelalters  bewegt  haben;  denn  sie 
verrät  ebensosehr  in  dem,  was  sie  wegläßt,  darin,  daß  heute  in  den  Ländernamen 
der  Alpen  die  Namen  der  Völker  ganz  zurücktreten,  den  Umwandlungsprozeß, 
der  einst  hier  vor  sich  ging;  noch  viel  mehr  betont  sie  aber  in  dem,  was  sie 
offen  ausspricht,  das  eigentliche  Element  des  mittelalterlichen  Kulturlebens  da- 
selbst, seinen  überwiegend  feudalen  und  dynastischen  Charakter;  sie  beweist, 
daß  damals  immer  noch  in  stärkerem  Maße  als  anderwo  hier  recht  eigentlich 
der  Adel  die  herrschende  Klasse  gewesen  ist. 

Dasselbe  Bild  zeigen  ja  auch   die  vielen  Schlösser  und  Burgen,  mit  denen 


Prosa  und  Poesie  der  mittelalterlichen  Alpenwelt.  155 

heute  noch  die  Alpen  weit  zahlreicher  als  die  Landschaften  der  Ebene  bedeckt 
sind;  wie  dieser  Zustand  zugleich  auch  die  Tatsache  illustriert,  daß  es  in  den 
hohen  Bergen  den  großen  Gewalten  während  des  Mittelalters  viel  schwieriger 
gemacht  war,  fest  durchzugreifen,  und  daß  die  kleinen  Kreise,  die  abgeschlossenen 
Talgebiete,  unter  der  Herrschaft  ihrer  bodenständigen  Besitzer  hier  viel  länger 
ein  gesondertes,  selbständiges  Leben  führen  konnten.  Ein  Unterschied  springt 
freilich  bei  diesem  Anblick  sogleich  in  die  Augen;  es  ist  derjenige,  daß  die 
Zeugen  jener  Entwickelung,  die  Burgruinen  selbst,  in  der  Mitte  und  im  Osten 
weit  reichlicher  vorhanden  sind  als  in  dem  westlichen  Flügel  der  Alpen.  Ver- 
schiedene Ursachen  mögen  bei  dieser  Erscheinung  zusammengewirkt  haben. 
Wenn  schon  überhaupt  im  Westen  der  Alpen  in  dem  Bau  des  Gebirges  die 
Zerteilung  und  Verästelung  weniger  ausgeprägt  ist,  so  kann  jener  feudalen  Ent- 
wickelung hier  an  anderen  Stellen  ebenso  auch  der  Charakter  der  Bevölkerung 
selbst  von  Grund  aus  abhold  gewesen  sein.  Durchaus  deutlich  läßt  es  sich  ferner 
erkennen,  daß  die  burgundischen  Könige  und  die  Grafen  von  Savoyen  es  hier 
niemals  an  einem  scharfen  Regiment  fehlen  gelassen  haben,  und  daß  gleich 
ihnen  auch  die  Schweizer  Eidgenossenschaft  von  Anfang  an  mit  feindseliger  und 
energischer  Hand   gegen   die   kleinen   einheimischen   Dynasten   vorgegangen   ist. 

Es  verlohnt  sich,  diese  Burganlagen  genauer  zu  betrachten,  da  sich  in  ihnen  Die  ver- 
das  Leben  des  Mittelalters  in  den  Alpen  in  seinen  Grundbedingungen  und  Trieb-  Arten  der" 
federn  wunderbar  widerspiegelt.  Der  Römer  Art  war  es  nicht  gewesen,  das  Burganlagen. 
Gebirge  an  unzähligen  Stellen  mit  Befestigungsanlagen  zu  übersäen,  da  damals 
der  starke  Arm  des  Imperiums  von  vornherein  jede  Sonderentwickelung  ausschloß. 
Die  wenigen  befestigten  Punkte  der  Römerzeit  lagen  daher  nur  an  den  wichtigsten 
Straßenstellen  und  stets  nahe  der  Talsohle,  wo  dann  das  Dasein  einer  römischen 
Besatzung  auch  zugleich  die  Beherrschung  der  Nachbarschaft  in  weitem  Umkreis 
verbürgte  (Octodurus,  Brigantium,  Veldidena).  Anders  im  Mittelalter.  Jetzt 
nimmt  derjenige,  der  sich  den  Nachbarn  zum  Trotz  an  den  gleichen  wichtigen 
Stellen  behaupten  will,  seinen  Sitz  zunächst  unter  allen  Umständen  auf  der  Höhe, 
an  sicheren,  schwer  zugänglichen  Punkten  (la  Bhatiaz,  Hohen-Bregenz,  Ambras), 
da  es  jetzt  die  Hauptsache  ist,  sich  vor  einem  plötzlichen  Überfall  zu  sichern, 
während  die  Kampfesmittel  des  Mittelalters  an  sich  weder  entwickelter  noch 
unentwickelter  sind  als  In  der  Römerzeit.  Solche  Burgen,  von  denen  der  Adel 
wie  der  Raubvogel  von  seinem  Horst  aus  die  Umgebung  beherrschte,  sind  an 
unzähligen  Stellen  der  Alpen  zu  finden,  Punkte,  deren  unvergleichlich  schöne 
Aussicht  das  Auge  entzückt,  so  daß  sich  manchmal  geradezu  die  Frage  aufdrängt, 
inwieweit  das  ästhetische  Gefühl  bei  der  Auswahl  dieser  Plätze  mitgesprochen 
haben  könnte. 

Die  eigenartigen  Kulturverhältnisse,  denen  alle  jene  Burgen  ihre  Entstehung 
verdanken,  enthüllen  sich  aber  doch  erst  vollständig  dadurch,  wenn  man  sich 
die  Lebensbedingungen  vergegenwärtigt,   durch   die   eine    Bewohnung   und  Fest- 


156  IX.  Kapitel. 

haltung  solcher  Punkte  überhaupt  möglich  wurde.  So  liegt  heute  am  Rande 
des  Mittelgebirges  in  der  Umgebung  Bozens  die  ausgedehnte  Burgruine  Hoch- 
eppan,  von  der  nicht  weniger  als  sechsunddreißig  Burgruinen  zu  erblicken  sind, 
einstmals  eine  gewaltige  Anlage,  zu  der  aber  auch  zu  allen  Zeiten  niemals  ein 
weniger  langer  und  weniger  schlechter  Weg  als  wie  er  heute  besteht  herauf- 
geführt hat,  und  die  niemals  von  Acker-  oder  Gartenland  sondern  stets  nur  von 
ausgedehntem  Hochwald  umgeben  gewesen  sein  kann.  Von  hier  aus  haben 
Jahrhunderte  hindurch  die  alten  Eppaner  Grafen  das  Etschtal  von  Nais  bis  Auer 
und  das  Überetsch  in  Abhängigkeit  gehalten;  welch'  scharfes  Anziehen  der  Zügel 
des  feudalen  Regiments,  welche  Arbeitsleistung  und  anhaltende  Abhängigkeit 
seitens  der  Beherrschten  setzt  es  aber  voraus,  daß  ein  solcher  Bau  über- 
haupt entstehen  und  dann  unausgesetzt  mit  den  Bedürfnissen  des  täglichen  Lebens 
versehen  werden  konnte.  Derartige  Festen,  ebensogroße  und  kleinere,  hat  es 
aber  in  den  Alpen  an  gleich  abgelegenen  Stellen  zu  Hunderten  gegeben;  als  ein 
anderes,  ebenso  charakteristisches  Beispiel,  nur  für  einen  kleineren  Kreis,  mag 
die  Ruine  Hauenstein  dienen,  die  abgeschieden  tief  im  Tannenforst  und  an  den 
Wänden  des  Schiern  angeklebt  liegt,  deren  Besitz  im  Mittelalter  aber  gleichfalls 
nur  das  Mittel  bildete,  um  einen  Teil  der  vor  ihr  ausgebreiteten  Seiser  Hoch- 
ebene zu  beherrschen. 

Es  lassen  sich  nun  auch  einige  besondere  Arten  dieser  Burganlagen  hin- 
sichtlich des  Zweckes,  den  sie  erfüllen  sollten,  herausheben,  wenn  auch  durch 
eine  solche  Unterscheidung  nur  eine  Betrachtung  nach  verschiedenen  Gesichts- 
punkten, niemals  jedoch  eine  reinliche  Scheidung  erreicht  werden  kann.  Die 
nur  dem  Mittelalter  eigentümliche,  damals  auch  weit  verbreitete  und  deshalb 
wichtigste  Art  ist  eben  diejenige  als  Sitz  mehr  oder  weniger  selbständiger 
Dynasten,  die  „Wildbann,  Fischweid,  Federspiel,  Holz,  Wiesen  und  Äcker* 
ringsherum  besaßen,  und  denen  so  mit  jener  Erwerbung  zugleich  die  Herrschaft 
über  eine  größere  oder  kleinere  Gebirgslandschaft  zugefallen  war.  Solche  Burgen 
trifft  man  nun  aber  erklärlicherweise  nirgends  anders  als  an  den  Punkten,  von 
denen  aus  die  Kontrolle  über  jenen  Bereich  am  leichtesten  auszuüben  war,  an 
Stellen,  wo  nicht  allein  die  Wege  sondern  Berg  und  Tal  ringsherum  vor  dem 
Wächter  ausgebreitet  lagen,  während  die  scharfe  und  rücksichtslose  Gewalt,  die 
damals  von  dem  Herrenstand  ausgeübt  wurde,  in  der  hohen  Lage  und  Unzu- 
gänglichkeit solcher  Plätze  durchaus  kein  Hindernis  für  ihre  Zweckmäßigkeit 
zu  erblicken  brauchte.  Diese  eigentlichen  Herrenburgen,  die  von  Anfang  an 
mit  verhältnismäßig  großen  Mitteln  entstehen  konnten,  und  in  denen,  als  den 
Wohnstätten  der  herrschenden  Klasse,  dann  auch  längere  Zeit  hindurch  aus 
einem  bestimmten  Umkreise  der  Besitz  zusammenfloß,  zeigen  daher  zumeist 
eine  umfangreiche  und  solide  Bauanlage,  wie  sie  deshalb  auch  am  häufigsten 
heute  noch  irgendwelche  greifbare  Reste  aufweisen,  die  jede  in  ihrer  Art  für 
die  mittelalterliche  Bauweise  oder  die  Kulturgeschichte  an  sich  besonders  wert- 


V 


Prosa  und  Poesie  der  mittelalterlichen  Alpenwelt.  157 

voll  sind.  Man  braucht  hierfür  nur  an  das  Schloß  Tirol  zu  erinnern,  dessen 
Inneres  heute  die  Räume  eines  mittelalterlichen  herrschaftlichen  Hauswesens 
einschließt,  dessen  Besitzer  aber  anfangs  auch  nichts  anderes  als  Standesge- 
nossen der  Eppaner  Grafen  waren.  Ähnliche  Entdeckungen  kann  man  aber  auch 
bei  den  Fresken  auf  dem  Sarner  Schloß  bei  Bozen,  in  Reifenstein  bei  Sterzing, 
und  auf  der  Fragsburg  bei  Meran  machen '),  und  die  Burg  Reineck  oberhalb 
Sarnthein,  wo  einst  die  Herren  des  Sarntales  saßen,  steht  heute  noch,  wenn 
auch  ganz  unbeachtet,  mit  ihrem  altersgrauen  Pallas  und  den  zierlichen  Fenster- 
verkleidungen da  als  der  echte  Typus  eines  in  lombardischem  Stile  aufgeführten 
mittelalterlichen  Adelssitzes-). 

Eine  zweite  Art  der  Burganlagen  bilden  dann  diejenigen,  die  an  solchen 
Stellen  liegen,  wo  ein  Seitental  in  das  Haupttal  einmündet,  Befestigungen,  die 
daher  ebenso  das  ganze  oder  den  unteren  Teil  dieses  Seitentales  selbst,  wie  be- 
sonders dessen  Eingang  von  der  Hauptstraße  her  beherrschen  sollten.  Diese 
Talsperrungsburgen,  die  jedoch  in  selteneren  Fällen  selbständige  Dynasten, 
sondern  häufiger  nur  wirklich  abhängige  Lehnsleute  Mächtigerer  beherbergten, 
leiten  so  in  doppelter  Beziehung  zu  den  eigentlichen  Straßensperren  hinüber. 
Da  aber  andererseits  das  geographische  Verhältnis,  dem  sie  ihre  Entstehung  ver- 
danken, in  den  Alpen  überall  gleich  stark  verbreitet  ist,  so  ist  gerade  diese  Art 
Burgen  weitaus  am  häufigsten  im  Gebirge  zu  finden;  und  weil  außerdem  bei 
ihnen  die  Vorliebe  des  Mittelalters,  überhöhende  und  unzugängliche  Stellungen 
aufzusuchen,  nicht  weniger  ausgeprägt  zur  Geltung  kommt  und  sie  überdies  stets 
ihre  stattlichste  Seite  der  Hauptstraße  zukehren,  so  sind  sie  es  im  besondern,  die  in 
den  Alpen  an  den  vielen  Stellen,  wo  die  Seitentäler  abgehen,  jene  romantische 
mittelalterliche  Färbung  festgehalten  haben,  die  noch  heute  daselbst  zu  uns  in 
so  starken  Tönen  redet.  Es  genügt  daher  «uch,  hier  nur  einige  zu  nennen, 
so  die  Ruinen  S.Jean  und  S.  Etiez  bei  Sembrancher,  wo  das  Val  des  Bagnes  in 
die  Straße  des  Gr.  S.  Bernhard,  Silenen,  wo  das  Maderaner  Tal  in  die  des 
S.  Gotthard  einmündet,  Fragstein  am  Eingange  des  Prättigau  vom  Rheintal  aus, 
das  hoch  und  unzugänglich  gelegene  Wiesberg,  wo  das  Patznann  von  der  Arl- 
berglinie  abgeht.  Ober-  und  Untermontan  im  Vintschgau  am  Eingange  des  Martell- 
tales,  Kropfsberg  im  Unterinntal  an  dem  des  Zillertales,  Karneid  bei  Bozen  und 
Kronmetz,  jenes  an  der  Einmündung  des  Eggentales  und  dieses  an  der  des 
Nonsbergs  in  die  Brennerstraße,  und  Heimfels  (bei  Sillian)  an  der  Einmündung 
des  Villgratentales  in  die  Hauptlinie  des  Pustertales. 

Eine  dritte  Art  dieser  Burgen  sind  dann  die  eigentlichen  Straßensperren, 
deren    hervorragendsten    und    geschichtlich    wirksamsten  Vertretern    wir  in    der 

')  Die  Fragsburg,  früher  Tifrags  (F.  1906.  S.  200),  die  Vorburg  des  den  Meraner  Kessel  süd- 
östlich abschließenden  Geblrgshanges,  übertrifft  alle  anderen  ihresgleichen  durch  den  langge- 
streckten Grundriß  und  durch  ihre  vornehme  Bauanlage,  während  im  Gegensatz  hierzu  ihre 
Geschichte  ganz  und  gar  ungeklärt  und  unerforscht  ist.        ^}  Vgl.  N.  A.  S.  103. 


158  IX-  Kapitel. 

Gestalt  der  Klausen  schon  zweimal  begegnet  sind.  Es  ist  natürlich,  daß  wir 
solche  Straßensperren,  große  oder  kleine,  frühere  oder  spätere,  langlebige  oder 
kurzlebige,  vornehmlich  nur  in  den  Haupttälern  der  Alpen  finden  werden,  dort  wo 
sich  die  Straße  vorwärts  und  rückwärts  auf  weite  Strecken  gut  übersehen  ließ, 
und  daß  ferner  bei  deren  Anlage  der  Charakter  der  Wohnstätte  am  allermeisten 
hinter  demjenigen  der  eigentlichen  Befestigungsanlage  zurücktreten  mußte,  da 
sie  stets  nur  in  ausgesprochen  gewaltsamer  Absicht  errichtet  worden  sind '). 
Und  wenn  eben  die  wichtigsten  und  wirksamsten  dieser  Straßensperren  zumeist 
in  der  Hand  der  großen  Dynasten  geblieben  sind  und  auch  ihre  Wirkung  auf 
den  Gang  der  geschichtlichen  Ereignisse  nicht  verfehlt  haben,  so  konnte  es  bei 
der  unendlichen  Zersplitterung,  bei  dem  raschen  Wechsel  der  Machtverhältnisse 
im  Mittelalter  doch  nicht  ausbleiben,  daß  sich  oft  auch  kleine  Herren  auf  eigene 
Faust  an  dem  gleichen  Geschäft  versuchten.  Jedenfalls  sind  es  alle  diese  Straßen- 
sperren gewesen,  die  am  nachhaltigsten  und  lästigsten  in  das  Verkehrsleben  des 
Mittelalters  eingegriffen,  aber  auch  am  meisten  den  Haß  und  die  Gegenwehr 
herausgefordert  haben  und  so  den  bewegtesten  Schicksalen  ausgesetzt  gewesen 
sind.  Daher  sind  jene  Burganlagen  auch  heute  am  stärksten  der  Zerstörung 
verfallen,  derart,  daß  sie  oft  bis  auf  den  letzten  Rest  verschwunden  sind  und 
man  von  ihnen  kaum  die  Stelle  mehr  kennt,  wie  das  Schloß  Lueg  am  Brenner, 
oder  sie  kleben  an  den  Hängen  über  der  Straße  als  gebrochene,  geschichts- 
und  sagenlose  Gemäuer,  neben  denen  manchmal  vereinzelte  grüne  Laubbäume 
inmitten  des  dunklen  Tannenwaldes  es  anzeigen,  daß  auch  dort  einst  eine 
Menschenhand  gewaltet  hat. 

Es  ist  natürlich,  daß  die  Wasserburgen,  jene  Befestigungen,  die  durch 
Wasserläufe  geschützt  sind,  und  die  nur  auf  ebenem  Grunde  liegen  können,  in 
den  Alpen  im  allgemeinen  ganz  zurücktreten  werden.  An  einer  einzigen  Linie 
sind  jedoch  auch  solche  häufiger  anzutreffen.  Der  Geograph  wird  jene  aber  rascher 
ausfindig  machen  als  der  Geschichtsforscher ;  sie  kann  nur  dort  liegen,  wo  die 
Talebenen  innerhalb  des  Gebirges  verhältnismäßig  große  Ausdehnung  annehmen, 
also  an  der  Brennerstraße,  und  hier  sind  daher  auch  eine  ganze  Reihe  solcher 
Burganlagen  zu  erblicken  (Kufstein,  Ottoburg  in  Innsbruck,  bischöfliche  Residenz 
in  Brixen,  Maretsch  und  Gries  bei  Boxen,  auch  Trautson).  Abseits  und  ganz 
einzig  in  seiner  Art  erhebt  sich  dagegen  das  in  den  Genfersee  hineingebautc 
Chillon.  Es  ist  die  majestätische  und  feierliche  Ruhe  der  Gebirgsgegend  und 
die  Erinnerung  an  die  vielen  Grausamkeiten,  die  Scharfrichteratmosphärc  im 
Innern  des  Gebäudes,  die  sich,  wie  so  oft  bei  einem  Besuch  solcher  mittelalter- 
licher Burgen,    gerade    hier    besonders    grell    und   störend    gegenübertreten,   ein 

')  Der  Unterschied  in  der  Bauanlage  zwischen  den  großen  Wohnburgen  und  den  eigentlichen 
Straßensperren  zeigt  sich  gleichfalls  besonders  instruktiv  bei  Hocheppan,  wo  die  unter  der 
Wohnburg  an  der  Straße  selbst  liegende  Befestigung  allein  aus  einem  Turm  bestand,  der  von 
einer  Mauer  im  Viereck  umgeben  und  nur  durch  eine  Leiter  zugänglich  war. 


Prosa  und  Poesie  der  mittelalterlichen  Alpenwelt.  159 

Eindruck,  der,  wenn  man  ihm  auf  den  Grund  geht,  ebenso  die  Freude  über  den 
glücklichen  Kulturfortschritt  unserer  Tage  wie  das  Bewußtsein  von  dessen 
Unsicherheit,  von  der  Schwäche    und    Befangenheit   der  Menschennatur,  in  sich 

schließt'). 

Diese  vielen  Befestigungen,  von  denen  eine  oder  mehrere  das  Mittel  bildeten.  Die  kleinen 
um  die  Macht  im  kleinen  Kreise  zusammenzuhalten,  sind  nun  auch  der  Ausdruck  y"**  *^"- 
der  unendlichen  Zersplitterung  und  Zergliederung,  die  einst  über  das  Alpenge- 
biet gebreitet  lag,  und  der  erst  das  Aufkommen  einer  praktisch  wirkenden  welt- 
lichen Fürstenmacht  oder  die  Herrschaft  der  Eidgenossen  ein  Ende  bereitet  hat. 
In  Wirklichkeit  sind  daher  die  heutigen  Alpenländer,  wenn  sie  auch  bereits  in  der 
Vorstellung  vorhanden  waren,  während  der  Hauptzeit  des  Mittelalters  in  un- 
zählige kleine  Machtgebiete  zerfallen,  und  fast  jedes  Tal,  jeder  Gebirgsabschnitt 
hat  so  einmal  seine  eigenen  Dynasten  über  sich  gesehen,  die  dort  längere  oder 
kürzere  Zeit  geherrscht,  mehr  oder  weniger  vermocht,  und  denen,  die  sich  als 
die  wirklichen  Landesherren  fühlen  wollten,  mehr  oder  weniger  zu  schaffen 
gemacht  haben.  So  führten  damals  selbst  Landschaften,  die  ihrer  natürlichen 
Beschaffenheit  nach  durchaus  ein  geschlossenes  Ganze  bilden,  in  ihren  einzelnen 
Teilen  ein  gesondertes  Leben.  Das  Veltlin  bestand  einst  aus  drei  verschiedenen 
Gebieten,  der  Grafschaft  Chiavenna,  dem  Val  Teilina  und  der  Grafschaft  Bormio; 
genau  dasselbe  findet  sich  im  Pustertal  und  Ähnliches  im  Rheintal  zwischen 
Chur  und  Bregenz,  oder  im  Vintschgau,  wo  die  Vögte  von  Matsch  sich  zwischen 
den  Gebieten  der  Grafen  von  Tirol  und  der  Bischöfe  von  Chur^)  und  im 
Passeier,  wo  die  Herren  der  Jaufenburg  sich  zwischen  Meran  und  Brixen  die 
Arme  freizumachen  suchten-^).  Im  Norden  Tirols  haben  wir  die  Grafen  von 
Werdenfels,  im  Süden  die  Grafen  von  Arco  und  Caldonazzo,  und  im  Umkreis 
der  Tauern  zeigt  sich  jene  Zersetzung,  ohne  daß  sie  geschichtlich  jemals  viel 
von  sich  reden  gemacht  hat,  eine  Zeit  lang  besonders  stark  ausgeprägt,  hier,  wo 
die  Herren  von  Hohenaschau  südlich  des  Chiemsees,  die  Herren  von  Taufers 
im  Tauferer  Tal,  das  Geschlecht  derer  von  Marquard  in  Kitzbühel,  die  Grafen 
von  Mittersill  im  oberen  Pinzgau,  die  Herren  von  Vischern  (Fischhorn)  an  den 
Ufern  des  Zellersees,  die  Pciisteiner  im  Gasteinertal,  die  Lichtensteiner  von  der 
Frauenburg  bei  Unzmarkt  aus,  alle  in  größerer  und  geringerer  Selbständigkeit 
neben  den  Fürsten  und  Bischöfen  des  Reiches  herrschten.  Auch  die  Weißbriach 
im  Gailtale,  die  Grafen  von  Cilli  und  die  Herren  von  Putten,  die  in  Seeben- 
stein am  östlichen  Abfall  des  Semmering  saßen,  sind  einige  wenige  der  unzähligen 
Beispiele  für  diese  Erscheinung.  Über  alle  jene  Dynasten  ist  dann  aber,  wenn 
auch  auf  verschiedene  Weise,  unter  der  Einwirkung  des  Umschwungs  der  wirt- 
schaftlichen Kräfte  während  der  letzten  mittelalterlichen  Jahrhunderte  das  Ende 
hereingebrochen;  sie  sind  ausgestorben  oder,  mit  Gewalt  unterdrückt,  in  dem 
niederen,  wirklich   botmäßigen  Adel  aufgegangen;  sie  sind  vertrocknet  und  ver- 

')  Vgl.  Anh.  19.  2)  Ju.  S.  281f.  •*)  B.  W.  S.  32 f. 


160  IX.  Kapitel. 

verschuldet    wie    die    Grafen    von    Hohenems,    oder    verdrängt    und    vertrieben 
worden  wie  die  Freundsberg  aus  dem  Unterinntal. 
Die  Minne-  Die  Tatsache,  daß  sich  der  mittelalterliche    Adel    in    den    Alpen    so    lange 

^''"^A^pen"!  ""'^  ^0  recht  ausleben  konnte,  giebt  nun  wohl  auch  die  beste  Erklärung  für  jene 
interessante  Erscheinung,  daß  in  der  Litteratur  jener  Zeiten  überhaupt  und  vor 
allem  unter  den  Minnesängern  die  Herren,  die  hier  zu  Hause  waren,  so  besonders 
zahlreich  vertreten  sind ').  Ob  freilich  gerade  der  berühmteste,  Walter  von  der 
Vogelweide,  auch  wirklich  ein  Sohn  des  Eisaktales  gewesen  ist,  mag  dahingestellt 
sein,  aber  wenigstens  von  seinem  Gegner,  Thomas  dem  Zirkler,  ist  es  gewiß, 
daß  dieser  aus  dem  friauler  Burgenland  stammte 2).  Überhaupt  ist  der  Umkreis 
der  Brennerstraße  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  dicht  mit  den  Sitzen  solcher 
Dichter  überzogen,  deren  Lieder  oder  wenigstens  deren  Namen  heute  noch 
bekannt  sind;  so  Rottenburg  am  Eingang  des  Zillertales  (Heinrich  von  Rotten- 
burg), im  Pustertale  Sonnenburg  (Friedrich  von  Sonnenburg)  und  der  Kürnberg 
bei  Lienz  (der  Kürenberger,  der  als  Dichter  des  Niebelungenliedes  in  Frage  ge- 
kommen ist),  Sehen  (Leutold  von  Sehen),  Hauenstein  (Oswald  von  Wolkenstein), 
Rubeln  bei  Meran  (Rubin)  bis  herab  nach  Kronmetz  (Walter  von  Metz);  und 
schon  deshalb  ruft  es  kein  eigentlich  falsches  Bild  hervor,  wenn  heute  im  Mittel- 
punkt dieser  Zone,  in  Bozen,  das  Denkmal  des  hervorragendsten  Vertreters  des 
Minnesangs,  von  Walter  von  der  Vogelweide,  zu  finden  ist. 

Aber  auch  in  den  anderen  deutschen  Alpenländern  haben  wir  fast  dasselbe 
Bild.  In  den  Ostalpen  kommen  für  die  weitere  Umgebung  Salzburgs  der  Tann- 
häuser, Hartwig  von  Raute,  Werner  der  Gärtner  und  schließlich  auch  Heinrich 
von  Ofterdingen,  für  Kärnten  und  die  Steiermark  dagegen  Ulrich  von  Lichten- 
stein, Waltram  von  Gersten,  Konrad  von  Soneck  und  die  von  Oberburg,  von 
Scharfenberg  und  von  Wildonie  in  Frage.  Ebenso  zahlreich  ist  auch  die  deutsche 
Schweiz  vertreten.  Selbst  im  Wallis  (Obergestelen)  finden  wir  Otto  zum  Turne, 
dann  am  Brienzer  See  Johannes  von  Rinkenberg,  in  der  Gegend  von  Luzern 
Rudolf  von  Rotenburg  und  im  Baseischen  Werner  von  Honberg.  Als  die  er- 
giebigste von  allen  tritt  aber  doch  jene  Gegend  südlich  des  Bodensees  von  der 
unteren  Aare  bis  zum  Rheintal  heraus,  die  ja  der  Geistesfreiheit  immer  freund- 
lich gewesen  ist;  hier,  wo  Herr  Steinmar,  Meister  Johannes  Hadlaub  und  der 
Kanzler  von  Zürich,  Werner  von  Teufen,  Dietmar  von  Aist,  Heinrich  von  Rugge, 
Jakob  von  Wart,  Konrad  der  Schenk  von  Landegge,  Ulrich  von  Singenberg,  der 
Hardegger,  —  letztere  drei,  der  erste  Erbschenk,  der  andere  Truchseß,  der 
dritte  Dienstmann  von  S.  Gallen  —  ebenso  Rudolf  von  Hohenems,  Hugo  von 
Montfort  und  Heinrich  von  Sax  zu  Hause  waren,   und  man  sieht  auch,  wie  die 

')  Für  dieses  Verhältnis  ist  es  bezeichnend,  daß  in  einem  Verzeichnis,  das  die  teils  zweifels- 
freie, teils  mutmaßliche  Herkunft  der  neunzig  bekanntesten  Minnesänger  aufzählt  (Volckmar, 
Auswahl  der  Minnesänger,  Quedlinburg  und  L.  1845.  S.  XlXf),  nicht  weniger  als  dreißig  als  dem 
Alpengebiet  angehörig  angeführt  sind.        ^)  Ju.  S.  300. 


Prosa  und  Poesie  der  mittelalterlichen  Alpenwelt.  161 

ersten  Geschlechter  unter  jenen  Namen  vertreten  sind.  Hinsichtlich  der 
Elastizität,  die  sie  entwickeln,  und  in  der  Art,  wie  sie  sich  in  guten  und  bösen 
Tagen  durch  das  Leben  zu  schlagen  wußten,  sind  aber  doch  die  eigenartigsten 
von  allen  Dichtern  der  Alpen  Oswald  von  Wolkenstein  und  Ulrich  von  Lichten- 
stein gewesen,  und  wie  zur  Lotosblume  der  stille  tiefe  Wasserspiegel,  so  gehört 
zu  deren  Liedern  der  Hintergrund  der  hohen  Berge.  Überhaupt  haben  gerade 
in  jener  besten  und  geistig  regsamsten  Zeit  des  Mittelalters  auch  die  Bewohner 
der  Alpen  insgesamt  fast  ebenso  stark  wie  alle  anderen  an  den  die  Menschheit 
bewegenden  Ideen  teilgenommen,  eine  Tatsache,  die  in  einem  ernsten  Gegensatz 
zu  der  Stille  des  Geisteslebens  steht,  das  später  Jahrhunderte  hindurch  über  den 
größten  Teil  dieses  Gebietes  gebreitet  lag. 

Sind  wir  nun  einmal  bei  den  Regungen  des  Volksgeistes  angelangt,  so  mag  Die  Volkssage 
es  auch  hier  am  Platze  sein,  auf  seine  tiefsten  und  ältesten  Äußerungen  einzu-  ^^  P*"' 
gehen,  die  in  den  in  den  Alpen  verbreiteten  Sagen  zu  Tage  treten.  Von  der 
eigentlich  niederen  Volkssage,  von  derjenigen,  die  nur  rein  lokale  Beziehungen 
in  sich  schließt,  ist  zunächst  zu  bemerken,  daß  diese  an  Zahl  und  Inhalt  überall 
mindestens  ebenso  umfangreich  und  reichhaltig  wie  anderswo  auftritt.  Eine  Be- 
sonderheit zeigt  die  niedere  Volkssage  der  Alpenberge  jedoch  allgemein  darin, 
daß  sie  die  menschlichen  Wohnstätten  selbst  viel  stärker  meidet  und  mit  Vor- 
liebe an  unbewohnte  Stellen,  nicht  nur  an  die  verlassenen  Gemäuer,  sondern 
noch  mehr  an  die  Bergspitzen,  an  die  Almen  und  Viehweiden,  an  die  engen  Tal- 
schluchten und  an  das  einsame  Wasser  anknüpft.  Ein  anderer,  noch  eigen- 
tümlicherer Zug  geht  nun  weiter  mit  dieser  Beobachtung  Hand  in  Hand;  es  ist 
derjenige,  daß  unter  den  Gestalten  der  Alpensagen  nicht  so  sehr  die  Geister  in 
Menschengestalt,  sondern  die  Tiere  eine  so  große  Rolle  spielen').  Unter  diesen 
sind  es  nun  aber  wieder  die  Amphibien,  „das  Gewürm",  die  Kröten  mit  dem 
feurigen  Munde,  die  kleinen  Schlangen  mit  der  goldenen  Krone,  die  nach  der 
Richtung  des  Edelerzes  im  Gebirge  züngeln,  die  großen  weißen,  die  so  lang  und 
dick  sind  wie  der  stärkste  Mann,  die  Drachen  und  Greifen,  die  der  Phantasie 
Nahrung  gegeben  haben,  wie  ja  bezeichnenderweise  auch  das  unverstandenste 
und  häßlichste  Kind  aller  Sage,  der  Aberglaube,  in  dieser  Hinsicht,  in  der  Über- 
zeugung von  dem  wirklichen  Vorhandenhein  solcher  drachenartigen  Geschöpfe, 
in  den  Alpen  ein  merkwürdig  zähes  Leben  entwickelt  hat^). 

Geradezu  in  der  Potenz  aber  tritt  diese  Art  der  Lokalsage  in  Kärnten  auf^). 
In  Klagenfurt  erinnert  nicht  allein  die  Gründungssage  der  Stadt,  sondern  auch 
das  Wappen  und  der  nicht  allzumoderne  Lindwurmbrunnen  (1590)  lebhaft  an 
jenen  Vorstellungskreis;  die  gleiche  Sage  wie  hier  findet  sich  in  Arnoldstein 
und  in  der  Nähe  haben  wir  auch  einen  Ort  Greifenburg.  Besonders  wichtig 
bleibt  es   aber  doch,   daß  man    eben  diese  Bestandteile   der  Sage   hier  sogar  bis 

')  Dasselbe    sagt   auch    Ramsauer:    Die    Alpen    im    Mittelalter,    Z.  A.    1902.   S.  90.  2)   Vgl.   die 

Drachensage  im  Alpengebiet  Z.  A.  1887.  S.  208  f.        ^)  Vgl.  Carinthia  1907.  S.  92. 

Scbeffel,  Vcrkehrsgcschichte  der  Alpen.     2.  Bind.  11 


162  IX-  Kapitel. 

in  das  römische  Altertum  zurückverfolgen  kann,  wie  jenes  aus  der  Römerzeit 
stammende  und  hervorragend  gearbeitete  Greifenstandbild  beweist,  das  auf  dem 
Magdalenenberge  in  Kärnten  zum  Vorschein  kam.  Man  wird  es  zwar  zugeben, 
daß  die  Umgebung  Klagenfurts  besonders  lange  und  bis  zu  dem  ersten  Morgen- 
grauen der  Geschichte  ein  weites  Reich  des  Wassers  und  des  Sumpfes  gewesen 
sein  kann,  und  daß  die  Reste  solcher  vorweltlicher  Tiere  daher  hier  stets  um 
so  häufiger  zum  Vorschein  gekommen  und  so  der  menschlichen  Vorstellung 
nahe  getreten  sind;  es  verdient  aber  auch  deshalb  Beachtung,  wenn  bereits  im 
Altertum  diese  Sage  gerade  hier,  in  der  Nähe  der  norischen  Goldbergwerke, 
so  deutlich  erkennbar  auftritt,  da  ja  der  Greif  damals  allgemein  als  der  Wächter 
dieses  Edelmetalls  angesehen  wurde. 

Weil  ferner  jede  Sage  ganz  vorwiegend  ein  Produkt  des  Volksgeistes  ist, 
so  muß  sich  in  ihren  Besonderheiten  auch  die  Schichtung  und  Lagerung  der 
Völkerstämme  widerspiegeln,  wie  sie  nach  und  nach  in  den  Alpen  Platz  gegriffen 
hat.  Diese  Erscheinung  gilt  besonders  für  die  Ostalpen,  wo  durch  das  Ein- 
dringen der  Slaven  noch  in  verhältnismäßig  später  Zeit  ein  ganz  neugearteter 
Bestandteil  hinzutrat,  und  wo  heute  daher  auch  das  der  slavischen  Volkssage 
eigentümliche  Wesen  in  tausend  kleinen  Zügen  zu  erkennen  ist.  So  stimmt  es 
jedenfalls  merkwürdig  zu  jenem  geschichtlichen  Vorgang,  daß  die  Slaven  einst 
bis  in  das  Pustertal  vordrangen,  wenn  wir  heute  plötzlich  hier  ganz  in  der  Nähe, 
in  einem  südlichen  Seitental,  im  Enneberg,  Volkssagen  begegnen,  die  mit  den 
schlesischen  Märchen  von  Rübezahl  eine  auffallende  Ähnlichkeit  haben. 
Die  Helden-  Einen  größeren  Wert  und  deshalb  auch  einen  größeren  und  verführerischen 

S3?£  in  den 

Alpen.  ^^'^  haben  für  die  Forschung  dagegen  überall  diejenigen  Alpensagen,  bei  denen 
zunächst  wie  bei  jeder  Sage  Freierfundenes  neben  historisch  Realem  einhergeht, 
bei  denen  aber  nun  die  letzteren  Bestandteile  ihre  Beziehung  zu  großen  ge- 
schichtlichen Ereignissen  nicht  verleugnen  können,  die  sich  einst  im  Gebirge 
abgespielt  haben.  Diese  Heldensagen  der  Alpen,  wie  man  sie  doch  kaum  besser 
nennen  kann,  berühren  sich  nun  zunächst  in  einer  Beziehung  ganz  mit  der 
niederen  Sage,  insofern  auch  hier  sehr  häufig  jene  schreckhaften  Amphibien 
wiederkehen,  von  denen  übrigens  der  Greif  am  besten  qualifiziert  war,  wie  uns 
heute  noch  die  frühmittelalterlichen  Steinbilder  von  der  Kirche  S.  ApoUinaris  in 
Trient  attestieren,  da  hier  der  Löwe  von  dem  Drachen,  dieser  aber  wieder  von 
dem  Greifen  verschlungen  wird.  Auch  diese  Tiere  machen  daher  den  Helden 
jener  Sagen  nicht  wenig  zu  schaffen;  so  unterliegt  Otnit  den  Lindwürmern,  die 
vom  Gebirg  aus  bis  herab  zur  Burg  von  Garten  das  Land  verheeren,  Wolf- 
dietrich wird  von  einer  feuerspeienden  Viper  der  Schild  von  der  Hand  ver- 
brannt'), und  eine  Schlange  und  eine  Kröte  sind  es  auch,  die  sich  in  Zürich  bei 
Karl  dem  Gr.  einstellen.  Die  ältesten,  wenn  auch  sehr  spärlich  auftretenden 
Bestandteile  der  alpinen  Heldensage  kann  man  nun  bereits  bis  in  das  römische 
'j  Die  Alpen  in  der  deutschen  Heldensage,  Jahrbuch  des  Österreich.  Alpenvereins.    6.  B.    S.  327. 


Prosa  und  Poesie  der  mittelalterlichen  Alpenwelt.  163 

Altertum  zurückverfolgen,  wie  die  Sagen,  die  sich  an  den  Pilatus')»  an  Hohen- 
Rätien  und  an  Klausen  a.  E.  knüpfen.  Ungleich  reichhaltiger  und  farbenprächtiger 
sind  solche  jedoch  aus  jener  Epoche  vorhanden,  als  sich  die  Heerfürsten  der 
jungen  germanischen  Reiche,  als  deren  letzten  wir  an  dieser  Stelle  Karl  den  Gr. 
betrachten  müssen,  inmitten  der  altrömischen  Kultur  breitmachten  und  zugleich 
hier  siegreich  und  stürmisch  das  Christentum  einzog.  Da  nun  aber  die  histo- 
rischen Ereignisse  in  dieser  Weise  viel  weniger  in  den  Westalpen  und  in  der 
Schweiz,  wohl  aber  in  Tirol  und  in  den  Ostalpen  aufgetreten  sind,  so  läßt  sich 
auch  annehmen,  daß  die  ganze  östliche  Hälfte  der  Alpen  einst  ein  Schauplatz 
der  ältesten  deutschen  Heldensage  gewesen  ist,  und  wenn  wir  heute  jenen  Quell 
doch  nur  vorwiegend  nach  der  Mitte  zu,  in  Tirol,  emportreiben  sehen,  so  hat 
dies  seinen  Grund  nur  darin,  daß  dessen  Wasser  im  Osten  dann  wieder  durch 
die  slavische  Völkerwanderung  verschüttet  worden  sind. 

Dort  in  Tirol  liefert  aber  das  Neben-  und  Übereinanderliegen  der  ver- 
schiedenen altdeutschen  Sagenkreise  nicht  nur  eine  Illustration  zu  jenem  histo- 
rischen Vorgang,  daß  hier  eine  von  Süden  gekommene  germanische  Besetzung 
mit  einer  gleichen  von  Norden  zusammentraf,  sondern  es  stimmt  diese  Lagerung 
hier  weiterhin  auch  mit  der  Ausdehnung  der  germanischen  Reiche  durchaus 
überein,  wie  sie  wirklich  einst  hier  entstanden  sind.  Denn  wenn  der  lombardische 
Sagenkreis  sich  lediglich  auf  das  südlichste  Tirol  beschränkt,  der  ostgotische 
dagegen  fast  ganz  Tirol  überzieht-),  so  erkennen  wir  darin  die  Tatsachen  wieder, 
daß  die  Langobarden  niemals  nördlich  über  Bozen  vordrangen,  während  es  zum 
mindesten  noch  niemals  in  Zweifel  gezogen  worden  ist,  daß  sich  die  Herrschaft 
Theodorichs  bis  zum  Brenner  erstreckt  hat.  Daher  ist  auch  das  ein  Abbild 
historischer  Zustände,  wenn  der  Riese  Ecke,  der  nach  Verona  zieht,  um  dort 
Theodorich  zu  bestehen,  durch  den  alten  Hildebrand  von  Bern  nach  dem  Etsch- 
gebirgc  gewiesen  wird,  wo  Theodorich  zu  finden  sein  werde,  und  wo  dann  dieser 
Riese  von  jenem  überwunden  wird^),  und  noch  Arnold  von  Lübeck  sagt  um 
1209  von  der  Burg  Rivoli  ausdrücklich,  „daß  diese  seit  uralten  Zeiten  Hilde- 
brandsburg heißt"'').  Jene  Riesen  aber,  die  in  Eckens  Ausfahrt  und  ebenso  auch 
plötzlich  im  Zwergkönig  Laurin^)  als  die  Gegner  Theodorichs  aus  der  Erde 
wachsen,  sind  ja  überhaupt  nur  „eine  Reminiszenz  an  fremde,  alte,  im  Unter- 
gehen begriffene  Volksstämme,  die  einst  da  gewohnt  haben,  wo  das  spätere  Ge- 
schlecht nachher  sich  ansiedelte"^),  und  auch  darin  hat  sich  die  Sage  nur  einen 
Faden  von  dem  Webstuhle  der  Geschichte  genommen,  wenn  sie  jenen  Riesen 
manchmal  auch  den  ersten  Betrieb  des  Bergbaues  zuschreibt,  wie  dies  ja  tat- 
sächlich bereits  von  den  Römern  geschehen  ist^).  So  trägt  auch  der  Zwergkönig 
Laurin    in   Tirol,    der  gleichfalls    von   Dietrich    von   Bern    besiegt   wird,    einen 

')  Vgl.  Vi.  S.  154.  ~)  Vi.  S.  49  f.  ^}  Vi.  S.  88.     Bei    Bozen    liegt   heute    noch    ein    Eggental. 

*)  A.  L.  S.  351.        ^)  Lau.  V.  1490  f.        6)  Vi.  S.  87. '      ■?)  Die  österreichisch-ungarische  Monarchie 
in  Wort  und  Bild.   5.  Heft.    S.  145. 


164  IX-  Kapitel. 

romanischen  Namen  und  bestraft  diejenigen,  die  ihm  verfallen  sind,  mit  dem 
Verlust  der  linken  Hand  und  des  rechten  Fußes,  so  wie  es  den  entlaufenen 
römischen  Sklaven  erging.') 

Die  das  erste  Mittelalter  beherrschende  Kulturströmung,  der  Siegeszug  des 
Christentums,  kommt  dagegen  in  den  deutschen  Heldensagen  der  Alpen  zumeist 
darin  zum  Ausdruck,  daß  die  Unterliegenden  insgemein  Heiden  sind^)  und  sich 
schließlich  zum  Christentum  bekehren  müssen,  und  es  ist  daher  auch  nur  eine 
Übersetzung  in  die  lichte  Wirklichkeit,  wenn  diejenigen  Orte,  wo  sich  einst  die 
Reste  der  römischen  Kultur  am  zähesten  erhalten  konnten,  heute  nicht  selten 
mit  dem  Zunamen  der  Heiden  bezeichnet  werden.  Auch  die  Haimonsage,  die 
sich  in  der  Richtung  von  Nord  nach  Süd  die  Brennerstraße  hinabzieht,  birgt 
keine  anderen  geschichtlichen  Momente.  Bei  dieser  Sage,  die  wohl  mit  dem 
Eindringen  der  Bayern  in  Tirol  in  Zusammenhang  steht,  wird  der  Streit  der 
beiden  Riesen,  Haimon  und  Thyrsus,  zunächst  oben  an  der  Reitherspitze  aus- 
getragen, wo  das  dort  gewonnene  Steinöl  noch  heute  als  das  Blut  des  erschlagenen 
Thyrsus  gilt.  Es  ist  natürlich  selbstverständlich,  daß  hier  der  Besiegte  Thyrsus 
nur  einen  romanischen 3),  der  Sieger  Haimon  aber  nur  einen  germanischen 
Namen  tragen  kann,  und  ebenso  bezeichnend,  wenn  bei  diesem  die  Überlegen- 
heit seiner  Vorzüge  noch  besonders  durch  die  von  ihm  bewirkte  Gründung  des 
Klosters  Wilten  unterstrichen  wird.  In  der  Hofgasse  von  Innsbruck  aber  steht 
heute  noch  ein  Haus,  an  dem  das  Standbild  des  historischen  Hofriesen  Erz- 
herzogs Sigismunds  in  aller  seiner  Pracht  angebracht  worden  ist  (1490),  und  es 
fragt  sich  doch,  ob  dieser  Herr  nicht  bloß  deshalb  zu  einem  so  großartigen  Mo- 
nument kam,  weil  solche  Gestalten  gerade  hier  von  alters  her  mit  einem  beson- 
deren Nimbus  umgeben  waren. 

Und  so  ragen  auch  heute  noch  die  Reste  der  deutschen  Heldensage  hier 
überall  in  die  Wirklichkeit  hinein.  Wir  können  sie  greifbar  vor  uns  sehen  ih  den 
Standbildern  jener  Riesen  an  der  Klosterkirche  in  Wilten,  in  den  fabelhaften  Tieren, 
den  Löwen  und  Greifen,  an  den  Kirchenportalen  (Bozen,  Trient,  S.  Zeno  in 
Verona,  Innichen,  Lienz,  Maria  Gail  bei  Villach),  und  in  der  Gestalt  Theodorichs 
in  der  Hofkirche  in  Innsbruck.  Und  wenn  es  schon  das  gute  geschichtliche  Recht 
dieses  Herrschers  war,  daß  er  hier  als  alter  Landesherr  Tirols  inmitten  jener 
bronzenen  Umgebung  seinen  Platz  gefunden  hat,  so  ist  doch  nicht  minder  in 
diesem  Apollo  im  Harnisch  die  männliche  Schönheit  und  die  Gedankentiefe 
wunderbar  klar  zum  Ausdruck  gekommen,  ganz  so  wie  die  Sage  ihren  Helden 
verstanden  wissen  wollte.  Aber  auch  unsichtbar  und  ungreifbar  umgiebt  uns 
dieser  Kulturkreis;  wir  leben  und  weben  in  ihm,  wenn  wir  im  Riesen  oder  im 
Greifen  logieren,  und  selbst  in  Südtirol  klingen  seine  Töne  neben  italienischen 
Zeitungen  und  italienischen  Liedern  leise  an,  wenn  wir  dort  zufällig  in  einem 
Wirtshaus  Ai  due  Giganti  eingekehrt  sind. 
•)  Lau.  V.  73.        2)  Lau.  V.  1110.        ^)  Eine  andere  Erklärung  dieses  Namens  findet  sich  N.  A.  S.  76. 


Viertes  Buch. 
Die  Alpenstraßen  des  Mittelalters. 


I.  Kapitel. 
Die  Straßen  der  Westalpen. 


Neben  der  größeren  Anzahl  der  Quellen  und  geschichtlichen  Reste,  neben  Grund- 
der  Mannigfaltigkeit   und  Vielseitigkeit  der  Kulturerscheinungen   ist  es   ein  ganz  des'rnittel*" 
besonderer  Unterschied,  der  im  Vergleich  zu  der  Römerzeit  für  die  Beschreibung  alterlichen 
der    einzelnen    Alpenstraßen    des    Mittelalters    mehr   als    alles    andere    in   Frage  igbetTs  in 
kommt.      Trotz    aller    natürlichen    Verschiedenheiten    der    einzelnen    Alpenwege  den  Alpen, 
hatte   im   Altertum    doch    auf  das   Schicksal   dieser   Linien   in  ihrer   Gesamtheit 
nicht  nur  der  Wille  der    römischen  Regierung  sondern  noch  viel  mehr  die  sich 
immer  gleichbleibende  Weltlage,  die  Existenz  des  einen,  großen,  um  das  Mittel- 
meer gelagerten   Weltreiches,   einen   entscheidenden    Einfluß   gewinnen    können. 
Bei  der  Auflösung  des  Kulturlebens  im  Mittelalter  treten  dagegen  auch  hier  die 
gleichartigen    Gesichtspunkte   viel   weniger,   die   natürlichen   Besonderheiten   da- 
gegen um  so  stärker  hervor,  so  daß  sich  jetzt  die  Geschichte  der  Paßwege  der 
Alpen  nicht  mehr  wie  vorher  wie  eine  Garbe  annähernd   gleichartiger   und  zu- 
sammengehöriger   Halme    sondern    mehr  wie   ein   Strauß   wenn   auch   ähnlicher 
aber  innerlich  viel  selbständigerer  Monographien  ausnimmt. 

Wenn  wir  nun  dabei  wiederum  im  Westen,  bei  der  ligurischen  Küstenstraße, 
beginnen,  so  sehen  wir  gerade  hier  auch  heute  noch  ein  Landschaftsbild  vor 
uns,  wie  man  es  malerischer  und  eindrucksvoller  kaum  finden  kann,  um  das 
verschiedene  Wesen  der  drei  großen  geschichtlichen  Perioden,  die  Europa 
durchlebt  hat,  und  den  Wechsel  des  Verkehrslebens  innerhalb  dieser  Zeiten 
deutlich  zu  machen.  Dort,  wo  auf  dem  natürlichen  Mittelpunkt  dieser  Linie 
das  Alpengebirge  unmittelbar  aus  dem  mittelländischen  Meere  aufsteigt,  hatten 
die  Römer  einst  ihre  Straße  nicht  notgedrungen  und  allein  aus  technischen 
Gründen  über  die  Höhe  geführt,  und  so  steht  auch  heute  hier  noch  Turbia  da 
als  ein  Zeugnis  langandauernden,  friedlichen  antiken  Kulturlebens.  Tief  im 
Grunde,  fast  von  der  Brandung  umspült,  laufen  dagegen  heute  auf  derselben 
Wegestrecke   die  Straßenbauten   der   neueren  Zeit   dahin  und  zeigen  es  so,   daß 


168  I-  Kapitel. 

die  Technik  jetzt  mit  anderen  Mitteln,  vielseitiger  und  erfolgreicher  zu  arbeiten 
pflegt,  daß  sie  aber  andererseits  doch,  um  zu  solchen  Leistungen  zu  gelangen, 
Tor  allen  Dingen  einer  friedlichen  Weltlage  und  einer  Kultur  bedarf,  bei  der 
das  Menschengeschlecht  nicht  durch  die  Sorge  um  die  Sicherheit  seines  Besitzes 
in  Atem  gehalten  wird.  Welch'  andere  Sprache  redet  nun  aber  hier  die  Stelle, 
wo  im  Mittelalter  lange  Zeit  der  Schwerpunkt  dieser  Gegend  lag,  das  auf  hohem 
Felsen  und  zwischen  tiefen  Schluchten  gelegene,  düstere  und  altersgraue  Städtchen 
Ezc,  eine  Stätte,  die  vor  Piraten  sicher  war  aber  auch  selbst  solche  beherbergen 
konnte,  und  die  es  veranschaulicht,  in  welchen  Formen  sich  damals  hier  das 
Leben  der  Menschen  bewegte. 
Die  Sarazenen  Sogar  dieser  Strich  mit  seiner  Straße,   die  sich  ebenso  für  die  Verbindung 

in  den  pen.  zwischen  Genua  und  dem  Mündungsland  der  Rhone  wie  für  den  Lokalverkehr 
jener  gesegneten  Gegenden  eignet,  ist  damals  eine  Zeit  lang  nicht  viel  mehr  als 
eine  Küstenlandschaft  und  zwar  ein  bedrohtes,  gefährdetes  und  geängstigtes  Gestade 
gewesen,  an  das  mit  den  Wellen  des  Meeres  zugleich  fremdartige  und  kultur- 
feindliche Mächte  herangetrieben  wurden.  Ist  doch  das  Hauptereignis,  das  von 
dieser  Seite  der  Alpen  während  des  Mittelalters  zu  berichten  ist,  nichts  anderes 
als  jener  Einbruch  der  Sarazenen,  die  sich  jetzt  hier,  in  der  Heimat  jener 
humanen  Gestalten  wie  Julius  Agricola  und  Cornelius  Gallus,  festsetzten  und 
nun  von  dort  Südfrankreich,  Oberitalien  und  vor  allem  auch  weithin  die  Alpen- 
wege fast  ein  Jahrhundert  hindurch  in  Schrecken  hielten.  Es  ist  dies  ein  Schau- 
spiel, das  uns  heute  ganz  fremdartig  anmuten  und  fast  den  Eindruck  erwecken 
kann,  als  ob  die  Geschichte  damals  ihren  Kreislauf  von  neuem  hätte  beginnen 
wollen,  wenn  wir  uns  erinnern,  daß  in  den  Zeiten,  als  es  im  Altertum  geschicht- 
lich hell  zu  werden  beginnt,  die  ersten,  die  hier  erscheinen,  gleichfalls  Gäste 
aus  dem  fernen  Osten,  Phönizier  und  Griechen,  waren. 

Dort,  wo  im  heutigen  Departement  Var  die  weit  in  das  Meer  hinausragende 
Landspitze  bei  S.  Tropez  den  Seefahrer  anlockt,  sind  die  Sarazenen  um  das 
J.  888  plötzlich  im  Herzen  Mitteleuropas  zu  finden;  hier  wurden  die  Ortschaft 
Fraxinetum  (Garde-Frainet)  mit  ihrem  günstigen  Anlegeplatz  und  eine  benach- 
barte höher  gelegene  Befestigung,  die  beide  ganr  nach  Barbarenart  zunächst  gegen 
die  Landseite  hin  durch  dichtes  Dornengestrüpp  gesichert  wurden,  die  unan- 
greifbare Position,  von  der  aus  sie  dann  ihre  Raubzüge  immer  häufiger,  immer 
dreister  und  auf  immer  größere  Entfernung  in  die  Alpenländcr  hinein  ausdehnten'). 
906  finden  wir  die  Sarazenen  daher  bereits  mitten  im  Gebirge,  am  Mont  Cenis 
und  Mont  Genevre,  zu  gleicher  Zeit  aber  auch  in  den  diesem  Alpenflügel  an- 
liegenden Landschaften,  auf  französischer  Seite  in  Embrun,  vor  Aix  und  Marseille 
und  jenseits  in  Acqui  und  Vcrcelii.  Besonders  blieben  es  aber  doch  die  Straßen 
im  Gebirge  selbst,  die  sie  bei  ihren  Unternehmungen  bevorzugten  und  wo  sie 
während  der  ersten  Hälfte  des  zehnten  Jahrhunderts  von  den  Seealpen  bis  nach 
>)  Oe.  I.   S.  205  f. 


Die  Straßen  der  Westalpen.  169 

Graubünden  recht  nach  Brigandenart  allen  Verkehr  unsicher  machten;  so  wurde 
von  ihnen  (um  940)  nicht  nur  das  Kloster  S.  Maurice  am  Gr.  S.  Bernhard  ver- 
brannt sondern  ebenso  auch  das  Gebiet  des  Churer  Bistums  nördlich  bis  an  die 
Grenzen  von  S.  Gallen  heimgesucht.  Wie  sehr  die  Sarazenen  damals  aber 
überhaupt  an  den  Straßen  der  Alpen  die  Herren  der  Lage  waren,  dafür  ist  das 
beste  Zeugnis  die  Rolle,  die  sie  in  dem  Streit  um  die  Krone  Italiens  zwischen 
Hugo  von  Niederburgund  und  Berengar  von  Ivrea  gespielt  haben;  denn,  während 
letzterer  nach  Deutschland  gegangen  war  und  sich  dort  Bundesgenossen  suchte, 
wuQte  Hugo  seinerseits  (um  942),  um  jenem  den  Rückweg  zu  verlegen,  nichts 
besseres  zu  tun,  als  einen  regelrechten  Vertrag  mit  den  Sarazenen  zu  schließen, 
der  diese  zu  Wachtposten  an  den  Gebirgsstraßen  bestellte,  und  was  Berengar 
dann  auch  tatsächlich  zwang,  bei  seiner  Rückkehr  einen  Umweg  durch  Tirol 
einzuschlagen. 

Es  treten  demnach  in  jenen  Zeiten  hier  im  Herzen  Europas  in  kultureller 
Hinsicht  Zustände  zu  Tage,  wie  sie  heute  kaum  am  südöstlichsten  Rande  des 
Erdteils,  in  der  Balkanhalbinsel,  anzutreffen  sind,  und  die  mit  jener  politischen 
Zersetzung  durchaus  übereinstimmen,  die,  wie  wir  gesehen  haben,  damals  zu- 
gleich das  Dasein  eines  selbständigen,  allein  auf  das  Alpengebirge  beschränkten 
burgundischen  Königreichs  möglich  machten.  Aber  eben  deshalb  ist  auch  das 
auf  den  Tod  Ludwigs  des  Frommen  (840)  folgende  Jahrhundert  mehr  als  alles 
andere  geeignet,  nicht  nur  die  hervorragenden  Eigenschaften  Karls  des  Gr. 
sondern  auch  für  alle  Zeiten  die  Segnungen  in  das  rechte  Licht  zu  setzen,  die 
von  einer  starken  Regententätigkeit  ausgehen  können.  „Die  Zahl  der  Christen, 
die  von  den  Sarazenen  getötet  wurden,  war  so  groß,  daß  niemand  sie  ermessen 
kann  als  der,  der  ihre  Namen  eingetragen  hat,  in  das  Buch  des  Lebens"');  die 
Wahrheit  der  Empfindung,  die  aus  diesen  Worten  eines  Zeitgenossen  unaus- 
löschlich herausklingt,  offenbart  daher  ebenso  die  Not  jenes  Geschlechtes  wie 
die  Tiefe  seiner  religiösen  Stimmung,  die  sich  später  dann  eben  infolge  ihrer 
Stärke  und  Allgemeinheit  noch  viel  mehr  in  eine  alles  beherrschende  geschicht- 
liche Kraft  umsetzen  sollte. 

Nicht  wie  offene  Feinde  sondern  wie  sie  gekommen  waren,  als  Diebe  und 
Räuber  sind  die  Sarazenen  dann  jedoch  auch  wieder  aus  den  Alpenländern  ver- 
drängt worden.  Zuerst,  schon  seit  der  Mitte  des  Jahrhunderts  verschwinden  sie 
in  Graubünden,  wo  die  kräftige  Hand  das  ihre  dazu  beigetragen  haben  mag,  die 
mit  Otto  I.  auch  in  diesem  Teile  des  deutschen  Reiches  zur  Wirkung  gekommen 
war.  In  dem  westlichen  Teile  der  Alpen  ist  es  aber  schließlich  doch  nichts 
anderes  als  die  von  den  kirchlichen  Gewalten  organisierte  Selbsthilfe  gewesen, 
die  jenes  Resultat  erreicht  hat.  So  stellte  sich  Bischof  Isarn  um  970  in  Grenoble 
an  die  Spitze  des  Widerstandes,  während  unmittelbar  darauf,  972,  das  Schicksal 
besonders  verhängnisvoll  werden  sollte,  das  der  Abt  Majolus  von  Cluny  von 
')  Oe.  I.    S.  217. 


170  '•  Kapitel. 

den  Sarazenen  erfuhr.  Dieser  war  auf  einer  Reise  durch  die  Alpen  von  ihnen 
gefangen  genommen  und  nur  gegen  ein  ganz  gewaltiges  Lösegeld  wieder  in  Frei- 
heit gesetzt  worden.  Eine  derartige  Behandlung  eines  hohen  Kirchenfürsten 
mußte  aber  damals  mehr  als  alles  andere  die  Welt  herausfordern,  und  sie  brachte 
daher  auch  den  Widerstand  gegen  jene  ungebetenen  Gäste  an  allen  Stellen  in 
eine  raschere  Gangart,  so  daß  bald  darauf  zuerst  das  Festland  und  schließlich 
auch  die  ligurische  Küstenstraße  von  ihnen  gesäubert  werden  konnte;  dort  wurde 
zuletzt  von  dem  Grafen  Wilhelm  von  Arles  und  dem  Markgraf  Arduin  von 
Ivrea  auch  ihr  Hauptstützpunkt  Fraxinetum  selbst  eingenommen  und  zerstört, 
nachdem  sie  freilich  noch  wenige  Jahre  vorher  (970)  das  Kloster  S.  Pons  bei 
Nizza  in  Asche  gelegt  hatten. 

Daß  jenes  Auftreten  der  Sarazenen  aber  nicht  bloß  ein  rasch  vorübergehen- 
des Unwetter  war,  sondern  als  eine  tiefe  Störung  in  alle  Verhältnisse  eingriff, 
zeigt  sich  auch  darin,  daß  die  Erinnerungen  an  jene  Periode  auch  heute  noch 
zahlreich  genug  vorhanden  sind.  So  galten  die  an  der  Straße  des  Gr.  S.  Bern- 
hard wohnenden  Führer  der  Reisenden,  die  Marronniers  wie  sie  allgemein 
hießen,  als  Nachkommen  der  Sarazenen.  Die  besten  Zeugnisse  jener  Zeit  sind 
jedoch  auch  hier  wieder  die  Ortsnamen,  die  an  den  wichtigen  Straßenpunkten 
gerade  dort,  wo  jene  einst  ihr  Unwesen  trieben,  haften  geblieben  sind  und  die 
sich  durch  die  ganze  Zone,  von  Graubünden  (Pontresina,  Ponte  Saraceno)  bis 
zur  Riviera  hinziehen  (Chäteau-Sarrasin,  Pont-Sarrasin,  Torre  dei  Sarazeni). 
Hier,  wo  ihre  eigentliche  Angriffsfront  lag  und  wo  daher  auch  heute  noch  die 
südlichste  Kette  der  Seealpen  den  Namen  der  Mauren  führt,  finden  sich  die 
Erinnerungen  an  jene  Zeit  begreiflicherweise  am  zahlreichsten,  wie  in  den  Blei- 
bergwerken bei  S.  Dalmazzo  di  Tenda,  die  einst  auch  von  den  Sarazenen  aus- 
gebeutet wurden  und  deren  oberster  Schacht  heute  noch  die  Galleria  dei  Sara- 
zeni heißt'),  oder  an  den  alten  Türmen  am  Meeresstrande  (z.  B.  S.  Lorenz© 
östlich  S.  Remo),  die  auch  nach  der  Vertreibung  der  Sarazenen  noch  lange  Zeit 
als  Schutzbauten  gegen  das  von  diesen  ausgeübte  Piratentum  dienen  mußten. 
Die  späteren  Sichere  und  dauernde  Zustände  sind  an  der  Corniche  erst  dann  entstanden, 

der^Corniche^.  *'s  dieselbe  mit  ihrem  größeren  westlichen  Teile  an  Savoyen  kam,  das  hier  zu- 
gleich von  Norden  wie  von  Westen  her  eindrang.  1382  ist  Cuneo  am  Fuß  des 
Col  di  Tenda  und  1388  Nizza  savoyisch  geworden.  Sonst  sind  es  aber,  wie  zu 
erwarten  steht,  an  dieser  südlichsten  Seite  der  Alpen  ausnahmslos  südliche 
Mächte  und  südländische  Kulturbeziehungen,  denen  wir  hier  begegnen.  So  ge- 
hört der  östliche  Teil  der  ligurischen  Küstenstraße  von  Anfang  an  in  den  Be- 
reich Genuas,  dessen  mittelalterliche  Geschichte  infolge  der  dem  kontinentalen 
Italien  abgewendeten  Lage  dieses  Ortes  einen  ganz  selbständigen  Verlauf  genommen 
hat,  wenn  sie  sonst  auch  nur  mit  einem  steten  Kampf  um  das  Dasein,  mit  Zank  und 
Streit  gegen  Pisa,  die  Lombardei  und  Venedig  erfüllt  ist.  Dann  treffen  wir  hier 
')  Hörstel,  Erinnerungen  an  die  Seealpen  Piemonts.    L.  Zeitung  1901,  Nr.  215. 


Die  Straßen  der  Westalpen.  171 

an  den  wichtigen  Straßenpunkten  nicht  nur  wie  überall  die  Johanniter  (Bordig- 
hera,  Madonna  delia  Ruota)  sondern  auch  die  besonders  auf  romanischem  Kultur- 
boden heimischen  Templer  wie  sie  bei  S.  Raphae!  (zwischen  Cannes  und  Frejus) 
ihre  Schutzbauten  gegen  die  Seeräuber  errichten.  Aus  Savona  stammten  die 
Päpste  Sixtus  IV.  und  Julius  II.  (beide  aus  dem  Geschlecht  der  Rovere)  und  aus 
Tenda  die  reiche  Beatrice  di  Tenda,  die  als  Gemahlin  des  Herzogs  Filippo 
Maria  Visconti  von  Mailand  ein  furchtbares  Ende  fand  (f  1418).  Auch  eine 
geschichtlich  denkwürdige  Reise  hat  diese  Linie  berührt,  diejenige  des  Papstes 
Innocenz  IV.,  der  im  J.  1244  vor  Friedrich  II.  aus  Rom  zunächst  zur  See  nach 
Genua  entfloh,  um  sich  dann  von  dort  aus  zu  Lande  nach  dem  Konzil  von 
Lyon  zu  begeben;  und  hier  in  Genua  war  es,  wo  dieser  nach  seiner  Landung 
im  Vollgefühl  der  Bewegungsfreiheit  frohlocken  konnte,  „daß  seine  Seele  nun 
wie  ein  Vogel  dem  Stricke  des  Voglers  entronnen  wäre." 

Nicht  nur  in  den  Zeiten  des  Altertums  sondern  auch  noch  im  Mittelalter  Das  Auf- 
können wir  nördlich  der  Corniche  sämtliche  Alpenübergänge  außer  acht  lassen  straße  über 
bis  wir  wieder  in  die  Zone  des  Mont  Genevre  geraten.  Bei  der  Betrachtung  den  Mont 
der  mittelalterlichen  Obergänge  in  den  Westalpen,  auf  der  ganzen  Strecke  von 
der  ligurischen  Meeresküste  bis  zum  Montblanc,  stehen  wir  nun  aber  zunächst 
vor  jener  wichtigen  Tatsache,  daß  hier  bald  nach  dem  Untergange  des  römischen 
Weltreiches  in  dem  Verkehrsbild  eine  grundlegende  Veränderung  vor  sich  geht, 
insofern  jetzt  plötzlich  die  beiden  von  den  Römern  geschaffenen  Alpenstraßen, 
die  Linie  des  Mont  Genevre  ebenso  wie  die  des  Kl.  S.  Bernhard  als  Hauptwege 
fast  ganz  zurücktreten,  während  an  ihrer  Stelle  nur  eine  einzige  Straße,  die  über 
den  Mont  Cenis  in  Gebrauch  kommt.  Es  ist  dies  übrigens  eine  Verschiebung, 
die  sich  am  Beginn  dieser  Periode  in  gleicher  Weise  noch  an  einer  anderen 
Stelle,  in  Graubünden,  wiederholt,  wo  ebenfalls,  wenn  auch  aus  anderen  Gründen, 
die  beiden  alten  Römerwege,  der  Splügen  und  der  Julier,  plötzlich  der  Verein- 
samung verfallen  und  dagegen  der  zwischen  beiden  gelegene  Übergang  über  den 
Septimer  in  Benutzung  tritt. 

Die  Paßhöhe  des  Mont  Cenis  selbst,  für  deren  regelmäßigen  Gebrauch 
während  der  Römerzeit  jedenfalls  kein  Zeichen  vorliegt,  befindet  sich  nun  freilich 
in  solch'  naher  Nachbarschaft  von  dem  Übergang  der  antiken  Straße  über  den 
Mont  Genevre,  daß  auch  für  sie  von  der  italienischen  Seite  her  keine  andere 
Zugangslinie  wie  für  den  Mont  Genevre  selbst,  d.  h.  das  Tal  der  Dora  Riparia 
zwischen  Turin  und  Susa,  zur  Verfügung  steht.  Die  Verschiedenheit  in  dem 
Wesen  dieser  beiden  Übergänge  macht  sich  daher  allein  in  der  Art  des  Abstiegs 
auf  ihrer  westlichen  Seite  geltend,  hier,  wo  die  Linie  des  Mont  Genevre  im 
Tal  der  Dürance  in  ausgesprochen  südwestlicher  Richtung  zu  dem  Mündungs- 
land der  Rhone  hinabzieht,  während  bei  der  des  Mont  Cenis  vermittelst  des 
Tales  der  Are  das  Gegenteil  erreicht  und  der  Reisende  nach  Grenoble  und  Lyon, 
also  in  das  Vorland  des  nördlichen  Frankreichs  geführt  wird.    Da  nun  auch  die 


172  I.  Kapitel. 

Eisenbahn  der  Neuzeit  von  Franicreich  her  dieses  Tal  der  Are  als  Eintrittsrinne 
in  das  Gebirge  benutzt,  so  ist  auch  diese  nicht  ganz  mit  Unrecht  nach  dem 
Mont  Cenis  genannt  worden,  ^venn  sie  auch  in  der  Zone  des  eigentlichen  Hoch- 
gebirges dann  plötzlich  die  Richtung  jenes  Überganges  selbst  ganz  ignoriert  und 
ein  ganzes  Stück  südlich  durch  den  Col  de  Frejus  ihren  Weg  sucht,  der  von  der 
Paßhöhe  des  Mont  Cenis  kaum  weniger  weit  wie  von  demjenigen  des  alten 
Mont  Genevre-Überganges  entfernt  liegt. 

In  dieser  Orientierung  der  mittelalterlichen  Straße  einerseits  —  auf  ita- 
lienischer Seite  derselbe  Anlaufweg  wie  im  Altertum,  auf  französischer  dagegen 
das  entschiedene  Hervortreten  der  nordwestlichen  Richtung  —  und  andererseits 
in  der  Tatsache,  daß  jetzt  überhaupt  nur  diese  eine  Straße,  nicht  wie  im  Alter- 
tum zwei,  der  Mont  Genevre  und  Kl.  S.  Bernhard,  dem  Verkehrsbedürfnis 
genügen  konnten,  spricht  sich  nun  aber  deutlich  genug  die  Veränderung  aus, 
die  jetzt  in  dem  Kulturbild  jener  Länder  vor  sich  gegangen  ist;  sie  zeigt  beson- 
ders, wie  auf  der  westlichen  Seite  des  Gebirges  die  Landschaften  an  der  mittleren 
Rhone  und  noch  mehr  die  in  deren  Mündungsgebiet  an  Wichtigkeit  zurückge- 
treten sind,  und  wie  sich  der  Schwerpunkt  jetzt  ganz  entschieden  nach  dem 
nördlichen  Frankreich  verrückt  hat,  eine  Erscheinung,  die  dann  außerdem  noch 
in  der  erhöhten  Bedeutung  des  Gr.  S.  Bernhard  zu  beobachten  sein  wird '). 

?esMomCeSis  ^^"  ^^^  ^^^^  "^^^  ^''"'  ^^"'^'  besonders  aber  seinen  westlichen  Anstieg, 

in  der  ersten  ^^^  ^^^  ^^^  Arc,  nannte  das  Mittelalter  vallis  Mauriana,  ein  Name,  der  verschieden 
AlSuer"  ^!"'^'^'"^  worden  ist,  teils  von  den  Mauren,  teils  sogar  von  einer  in  römischer  Zeit 
•  hier  stationierten  Garnison  mauretanischer  Reiter,  am  passendsten  aber  wohl  von 
den  finsteren  Gebirgswässern,  a  mauris  aquis,  die  jenes  Alpental  durchfließen, 
das  auch  wirklich  einen  besonders  ernsten  Charakter  zeigt.  Hier  haben  wir 
also  jetzt  geschichtliches  Neuland  vor  uns,  während  andererseits  das  Vorhanden- 
sein irgend  welcher  Nachrichten  aus  diesem  für  den  Verkehr  neu  eröffneten 
Landstriche  nun  auch  die  Existenz  einer  Straße  über  den  Mont  Cenis  selbst  in 
die  Grenzen  der  Wahrscheinlichkeit  rücken  muß.  Und  solche  Nachrichten  treten 
wirklich  zugleich  mit  dem  Beginn  des  Mittelalters  an  das  Tageslicht.  Der  Vor- 
ort der  Maurienne  ist  S.Jean,  ein  Punkt,  der  seinen  Namen  von  einer  dort 
befindlichen  Kirche  Johannes  des  Täufers  erhalten  hat;  und  wenn  es  auch  zweifel- 
haft ist,  ob  ein  auf  dem  Konzil  zu  Rom  im  J.  341  als  episcopus  Maurianensis 
verzeichneter  Lucianus  wirklich  bereits  hierher  gehört,  so  haben  wir  dann  doch 
für  das  J.  588  ganz  sicheren  Boden  unter  den  Füßen,  als  damals  König  Guntram 
von  Burgund  sich  wirklich  mit  der  Einrichtung  der  civitas  Morienna  befaßte 
und  bei  dieser  Gelegenheit  kirchlich  auch  jenseits  das  Gebiet  von  Susa  mit  ihr 
vereinigte2),  eine  Maßregel,  die  nur  Zweck  und  Sinn  gehabt  haben  kann,  wenn 
der  zwischen  diesen  beiden  Tälern  gelegene  Übergang  selbst  damals  bereits  dem 
Verkehre  erschlossen  war. 
')  Vgl.  Anh.  20.         2)  Oe.  I.  S.  197. 


4 


Die  Straßen  der  Westalpen.  173 

Der  Name  des  Passes  erscheint  als  Mons  Cenisius  dann  zu  Beginn  des 
achten  Jahrhunderts  (731)  in  dem  Testamente  eines  der  fränkischen  Grafen,  die 
damals  in  Susa  ihren  Sitz  hatten.  Bei  dieser  Gelegenheit  findet  aber  nicht  nur 
wiederum  die  kulturelle  und  politische  Zusammengehörigkeit  des  westlichen  und 
östlichen  Anlaufsweges  des  Passes  ihre  Bestätigung,  sondern  es  tritt  auch  das 
Bild  im  Tale  von  Susa  selbst  deutlicher  hervor.  Auch  hier  finden  wir  damals 
die  Kirche  als  Nährmutter  des  neu  sich  gestaltenden  Lebens,  ein  Kloster  in 
Oulx,  an  der  Stelle  der  alten  Römerstation  villa  Martis,  und  weiter  abwärts  nicht 
minder  das  im  J.  726  gegründete  Peterskloster  zu  Novalese.  Dieses  Kloster, 
dessen  Name  durch  die  aus  demselben  stammende  Chronik  mit  ihrem  wie 
früheste  Morgendämmerung  anmutenden  Inhalt  auch  in  die  große  Geschichte 
übergegangen  ist,  gelangte  bald  zu  großem  Reichtum  und  zu  einer  hervorragenden 
Stellung,  derart,  daß  sich  besonders  zu  den  Zeiten  Karls  des  Gr.  viele  fränkische 
Große  unter  seinen  Mönchen  befanden,  während  jedoch  seine  Blüte  bereits  durch 
den  Sarazeneneinfall  vom  J.  906  unheilbar  geknickt  werden  sollte.  Nicht  allzu- 
früh ist  dagegen  am  Mont  Cenis  das  nahe  der  Paßhöhe  gelegene  Hospiz  selbst 
entstanden,  das  von  Lothar,  dem  Sohne  Ludwigs  des  Frommen,  aber  direkt  auf 
die  Veranlassung  des  letzteren,  und  durchaus  als  eine  fromme  Stiftung  gegründet 
wurde '). 

Die  verhältnismäßig  geringe  Schwierigkeit  dieses  Alpenweges  und  ebenso 
seine  Richtung,  die  von  Frankreich  auf  dem  kürzesten  Wege  in  das  frühmittel- 
alterliche Zentrum  Oberitaliens,  nach  Turin  und  Pavia,  hinabführte,  macht  es 
nun  auch  ganz  erklärlich,  daß  sich  auf  ihm  bereis  die  Unternehmungen  der 
Pippiniden  gegen  das  Langobardenreich  bewegt  haben.  Seit  den  Zeiten  Karls 
des  Gr.  dagegen,  als  sich  der  Schwerpunkt  des  Frankenreiches  nachdrücklich 
nach  dem  unteren  Rheine  verschoben  hatte,  ist  der  Mont  Cenis  nur  ausnahms- 
weise bei  den  geschichtlichen  Ereignissen  selbst  zu  nennen,  während,  wenn  dies 
trotzdem  der  Fall  ist,  hierfür  wie  erklärlich  zumeist  eine  besondere  Veranlassung 
vorgelegen  haben  wird.  Das  erste  Ereignis  dieser  Art  ist  die  Reise  Karls  des 
Kahlen,  877,  nachdem  er  gegenüber  Karlmann  die  Eroberung  der  Lombardei 
aufgegeben  hatte  und  nun  fluchtartig  nach  Frankreich  zurückkehren  wollte.  Da- 
mals hat  jenen,  dem  vorher  in  Italien  von  einem  jüdischen  Arzt  Gift  gegeben 
worden  war,  auf  diesem  Wege  selbst  der  Tod  ereilt,  eben  in  der  Maurienne, 
wohl  in  Brios,  dem  heutigen  Avrieux.  Dorthin  hatte  er  auch  seine  Gattin 
Richildis,  die  ihm  bereits  vorausgeeilt  war,  zurückrufen  lassen,  und  es  spielte 
sich  nun  hier  eines  jener  gräßlichen  Schauspiele  ab,  wie  sie  im  Mittelalter  bei 
Vergiftungen  einzutreten  pflegten,  bei  denen  die  Wirkung  des  Giftes  so  entsetzlich 
die  Verwesung  beschleunigte,  daß  die  Pfleger  des  Leichnams  die  Fassung  ver- 
loren; es  ist  hier  z.  B.  genau  dasselbe  Bild  wie  bei  dem  Ende  des  Markgrafen 
Albrechts  I.  von  Meißen,  der  1195  gleichfalls  in  einem  elenden  Dorfe  in  der  Nähe 
Freibergs  der  Vergiftung  erlag. 

'»  Oe.  I.   S.  204. 


174  '•  Kapitel. 

Der  Übergang  Der  Übergang  Heinrichs  IV.  über  den  Mont  Cenis  im  J.  1077  ist  wohl  der- 

im  ^'ah're  ]oii.  Jc^ig^  Alpenübergang  eines  deutschen  Herrschers,  der  nicht  nur  geschichtlich 
am  folgenreichsten  geworden  ist,  sondern  der  auch  in  seinen  ergreifenden  Einzel- 
heiten am  besten  bekannt  zu  sein  scheint.  Es  soll  auch  daher  hier  nicht  erzählt 
werden  was  alle  wissen,  sondern  nur  auf  einige  für  unseren  Zweck  wichtige 
Umstände  hingewiesen  werden.  Die  Kunde  von  den  Einzelheiten  dieses  Über- 
ganges stammt  allein  aus  Lambert  von  Hersfeld'),  und  man  wird  bei  der  Beur- 
teilung dieser  Geschichtsquelle  zunächst  wohl  das  Richtige  treffen,  wenn  man 
annimmt,  daß  jener  absichtlich  zwar  nicht  tendenziös  schrieb,  daß  er  aber  seiner 
ganzen  Lebensauffassung  nach  die  Dinge  doch  nur  aus  einem  bestimmten  Gesichts- 
punkt ansehen  konnte,  der  für  Heinrich  IV.  zum  mindesten  nicht  günstig  war. 
Wesentlich  ist  aber  außerdem  für  die  diesen  Alpenübergang  und  in  gleicher 
Weise  dann  auch  für  die  jene  unendlich  ernsten  Tage  in  Canossa  behandelnden 
Abschnitte,  daß  sie  sich  gerade  dort  finden,  wo  Lambert  bald  darauf  mit  seinem 
ganzen  Werke  plötzlich  abbricht,  und  daß  demnach  bei  der  Schilderung  dieser 
Begebenheiten  sich  die  Schreibweise  Lamberts  in  allen  ihren  Vorzügen  und 
Schwächen  besonders  scharf  ausgeprägt  hat.  Hierauf  beruht  nun  ebensosehr  die 
lebensvolle  Darstellung  jener  Kapitel  wie  auch  die  Leichtigkeit,  mit  der  man 
trotzdem  in  diesen  die  einzelnen  Tatsachen  wie  die  verschieden  gefärbten  Fäden 
eines  Gewebes  auf  ihre  Wahrheit  und  Echtheit  hin  auseinandertrennen  kann. 
So  stellt  es  Lambert,  und  deshalb  auch  viele  Spätere,  als  ganz  unerhört  hin, 
daß  sogar  Heinrichs  Verwandte  diesem  erst  dann  die  Durchreise  erlaubten,  nach- 
dem sie  für  sich  selbst  einen  stattlichen  Gewinn  herausgeschlagen  hatten.  Es 
ist  dies  aber  doch  eine  Gelegenheit,  die  sich  in  der  Politik,  wie  sie  nun  einmal 
stets  gewesen  ist,  niemals  eine  aufstrebende  Macht  entgehen  lassen  wird.  Wir 
befinden  uns  ja  hier  zugleich  mitten  in  dem  Zeitpunkt,  während  dem  der  Anfall 
aller  dieser  Gebiete  an  Savoyen  vor  sich  ging,  und  es  ist  recht  wertvoll,  daß 
wir  hier  nicht  nur  von  Lambert  ausdrücklich  erfahren,  daß  die  Macht  der  Mark- 
grafen von  Susa  schon  damals  in  diesen  Gebieten  besonders  gefestigt  war, 
sondern  daß  wir  auch  die  Tatkraft  kennen  lernen,  mit  der  diese  jetzt  jene  Sach- 
lage ausnutzten. 

Als  Heinrich  von  Besan?on  aus  den  Weg  nach  dem  Mont  Cenis  hinan- 
steigen wollte,  kam  ihm  trotz  des  harten  Winters  die  Mutter  seiner  Gattin,  die 
Markgräfin  Adelheid  von  Susa,  von  der  anderen  Seite  rechtzeitig  entgegen  und 
ließ  ihn  nicht  eher  die  Reise  fortsetzen,  als  bis  er  den  Preis  für  den  Durchzug 
gezahlt  hatte,  und  —  man  gestatte  einmal  in  einen  anderen  Ton  zu  fallen  — 
nach  allem  Vorangegangenen  wird  jene  energische  Schwiegermutter  auch  nichts 
weniger  als  Veranlassung  zu  einem  besonders  liebevollen  Empfang  gehabt  haben. 
Damals  muß  also  hier  im  Hochgebirge,  wenig  westlich  des  Paßüberganges,  bei 
Schnee  und   Kälte,  jene  Auseinandersetzung  stattgefunden  haben,  auf  die  „viel 

')  La.  S.  282  f. 


I 


Die  Straßen  der  Westalpen.  I75 

Arbeit  und  Zeit  verwendet  wurde"  und  bei  der  sich  der  König  jedenfalls  in 
einer  ungeheuer  bedrängten  Lage  befand,  durch  die  Härte  des  Winters,  noch 
mehr  aber,  weil  mit  jeder  Stunde,  um  die  sich  die  Reise  verzögerte,  die  kurze 
Frist  verringert  wurde,  die  Heinrich  noch  bis  zur  Lösung  vom  Banne  blieb. 
Die  Aufnahme,  die  der  König  später  bei  den  Italienern  fand  und  die  ihm  die 
Freiheit  verschaffte,  nach  Belieben  dem  Papste  mit  Waffengewalt  entgegenzutreten 
oder  diesen  auch  nur  persönlich  zu  stellen,  zeigt  aber  doch,  daß  der  gezahlte 
Preis  nicht  zu  hoch  war. 

Die  Art,  wie  dann  der  Abstieg  bei  der  ungünstigen  Witterung  vor  sich 
geht,  als  „kundige"  Führer  gemietet,  die  Frauen  auf  Ochsenhäutc  gesetzt  und 
die  Pferde  „mit  Hilfe  gewisser  Vorrichtungen"  herabgelassen  werden,  lassen  nun 
auch  einen  Blick  in  die  Technik  der  mittelalterlichen  Verkehrseinrichtungen  in 
den  Hochalpen  tun;  denn  alle  diese  Anstalten  müssen  für  die  Fälle  der  Not 
damals  durchaus  gebräuchlich  und  ausprobiert  gewesen  sein,  und  sie  waren  eben 
nur  bei  der  Reise  dieses  Herrschers  etwas  Außergewöhnliches,  der  hier  mit 
Gattin  und  Kind  unbedingt  vorwärts  mußte  und  kein  günstigeres  Wetter  abwarten 
konnte,  wie  Lambert  ja  alle  diese  Schwierigkeiten  auch  nur  deshalb  hervorge- 
hoben hat,  um  die  Katastrophe  des  Königs  recht  eindringlich  hinzustellen. 
Auch  hier  läßt  sich  nebenbei  bemerken,  welche  große  Rolle  die  Erhaltung  der 
Pferde  auf  allen  solchen  Reisen  gespielt  hat.  Es  ist  ferner  nur  eine  Vermutung, 
aber  eine  solche,  die  in  dem  innersten,  sich  ewig  gleichbleibenden  Wesen  der 
Menschennatur  begründet  ist,  daß  wenn  nicht  überhaupt  der  Gedanke  zu  diesem 
Zug  nach  Italien,  so  doch  die  Wahl  des  Weges  auf  die  Gattin  Heinrichs,  jene 
Berhta  von  Susa,  zurückzuführen  ist,  bei  der  damals  »wie  es  bei  rechten  Frauen 
immer  der  Fall  ist,  das  Unglück  die  volle  Kraft  ihrer  Natur,  die  in  solchen 
Lagen  die  Männer  oft  beschämt"  '),  entwickelt  zu  haben  scheint,  und  wenn  vor- 
her Lamberts  Geschichtsschreibung  an  dieser  Stelle  mit  einem  Gewebe  verglichen 
worden  ist,  so  sind  der  Name  der  Berhta  von  Susa  die  goldenen  Fäden,  die  in 
dieses  geflochten  worden  sind,  und  deren  echter  Glanz  an  Dauer  und  Schönheit 
noch  heute  alle  anderen  überstrahlt. 

Auch  bei  den  anderen  drei  Fällen,   bei  denen   der  Mont   Cenis    noch   von  Spätere  über- 
einem  deutschen  Herrscher  für  den    Übergang  über  die   Alpen   gewählt   wurde,  ffe"r^scher 
sind  deren  Motive  noch  ganz  deutlich  zu  erkennen,  so  bei  der  Rückkehr   Frie-  über  den 
drich  Barbarossas   im    Frühjahr    1168,   als   er   vor    Rom    durch    die    Macht    der 
Elemente,  durch  eine  infolge  des  Umschlags  der  Witterung  entstandene  Seuche, 
sein  unvergleichlich  schönes  Heer  verloren  hatte  und  nun,  da  die  anderen  Pässe 
gesperrt  waren,   hier  durchzukommen   suchen    mußte.      Damals   spielte  sich   in 
Susa  jener  Vorfall  ab,  als  auf  den  Kaiser,  der   mit   kleinem   Gefolge   reiste,  ein 
Mordanschlag  geplant  war  und  als  Hartmann  von  Siebeneichen  die  Rolle  Friedrichs 
übernahm.     Erst  sechs  Jahre  später,   1174,  konnte   der  Kaiser  hierfür  durch  die 
•)  Mo.  S.  61.  Auch  Berhta  lebte  nicht  lange  (f  1087). 


176  I-  Kapitel. 

Einäscherung  von  Susa  Rache  nehmen,  bei  Beginn  seines  fünften  Römerzuges, 
der  durch  die  Schlacht  von  Legnano  besonders  verhängnisvoll  werden  sollte 
und  zu  dem  er  jedoch  auch  nur  deshalb  den  Weg  über  den  Mont  Cenis  wählte, 
weil  dieser  allein  frei  war.  Das  letzte  Mal,  daß  ein  deutscher  Herrscher  hier 
herüberzog,  fällt  dann  in  das  J.  1310,  zugleich  recht  eigentlich  der  letzte  Römer- 
zug, der  überhaupt  stattgefunden  hat;  damals  nahm  Kaiser  Heinrich  VII.  diesen 
Weg  infolge  seiner  engen  Beziehungen  zu  dem  Herzog  von  Savoyen.  Der 
Übergang  selbst  mit  nur  einigen  hundert  Bewaffneten  erfolgte  während  des  Ok- 
tobers, als  hier  schon  der  Winter  eingetreten  war.  Wie  einst  der  Langobarden- 
könig Alboin  auf  einem  Gifpel  der  Julischen  Alpen,  so  soll  auch  Heinrich  hier 
auf  der  Paßhöhe  i'm  Angesicht  von  Italien  auf  die  Kniee  gesunken  sein  und  die 
göttliche  Hilfe  angerufen  haben.  Man  sieht  also,  wie  das  Gefühl,  daß  die  Über- 
schreitung der  Alpen  den  Anfang  einer  großen  Zukunft  bedeuten  müsse,  auch 
jetzt  noch  dieselbe  überwältigende  Wirkung  ausübt,  und  wie  der  Unterton  in 
dem  Gedankenkreise  der  geschichtlichen  Persönlichkeiten  volle  sieben  Jahr- 
hunderte hindurch  der  gleiche  geblieben  ist. 
Der  mittelaiter-  £)ie  eigentliche  Bedeutung  der  Mont  Cenis-Straße  im   Mittelalter  ist   dem- 

verkehr  über  "äch  viel  mehr  in  dem  Kulturverkehr  zu  suchen,  wofür  der  beste  Beweis  da- 
den  Mont  durch  geliefert  wird,  daß  wir  gerade  für  diese  Route  die  meisten  und  zum  Teil 
^  Akssandr?a.  auch  recht  ausführliche  Reiseberichte  besitzen ').  Wir  haben  solche  aber  nicht 
nur  von  Franzosen  (König  Philipp  August,  1191,  bei  der  Rückkehr  aus  dem 
heiligen  Lande)  sondern  auch  von  Engländern  und  Niederdeutschen,  wie  es  in 
dieser  Hinsicht  besonders  bemerkenswert  ist,  daß  auch  einer  der  besten  Gewährs- 
männer dieser  Art,  Albert  von  Stade,  diese  Route  ganz  genau  beschreibt  und  sie 
wahrscheinlich  auch  selbst  gegangen  ist.  Von  der  Tatsache  aber,  daß  einesteils 
der  Weg  über  den  Mont  Cenis  und  anderenteils  derjenige  über  den  Gr.  S.  Bern- 
hard in  der  längsten  Zeit  des  Mittelalters  die  weitaus  begangensten  Straßen  in 
der  ganzen  westlichen  Hälfte  der  Alpen  waren,  ist  nun  die  unmittelbare  Folge 
gewesen,  daß  dort,  wo  diese  in  Oberitalien  in  ihrer  Verlängerung  schließlich 
zusammenlaufen,  am  sandigen  Unterlauf  des  Tanaro,  jetzt  plötzlich  zwei  Orte 
erscheinen,  deren  Bedeutung  nur  durch  jene  Verkehrslagerung  verständlich  wird, 
Asti  und  Alessandria. 

So  ist  Asti,  das  heute  fast  in  Vergessenheit  geraten  ist,  der  früheste  mittel- 
alterliche Handelsplatz  Oberitaliens  und  als  solcher  die  hohe  Schule  des  da- 
maligen Geldhandels  gewesen-).  Die  Söhne  dieser  Stadt  stellten  sich  einst  als 
gewiegte  Praktiker  weit  und  breit  nördlich  der  Alpen  ein,  um  hier  ihr  aus  der 
Heimat  überkommenes  Gewerbe  zu  betreiben,  das  in  den  Augen  der  in  einer 
ausgeprägten  Naturalwirtschaft  lebenden  großen  Masse  jener  Zeiten  freilich  einer 
schwarzen  Kunst  sehr  ähnlich  gesehen  haben  mag,  und  das  wirklich  an  Härte 
nichts  zu  wünschen  übrig  ließ.  Dies  erklärt  aber  auch  zur  Genüge,  wenn 
')  Vgl.  Oe.  II.  Beil.  I.         2)  Vgl.  Schu.  S.  308  f. 


Die  Straßen  der  Westalpen.  177 

jenem  Gemeinwesen  bereits  im  J.  1037  von  Konrad  II.  der  freie  Handelsweg 
auf  allen  Straßen  des  Reiches  und  ausdrücklich  auch  „im  Tale  von  Susa"  zu- 
gesichert wurde').  Der  Ort  aber,  wo  Alessandria  im  J.  1168  von  dem  lom- 
bardischcn  Städtebund  eigentlich  so  recht  als  erstes  nationales  Bollwerk  Italiens 
seit  den  Tagen  der  Römer  gegründet  wurde,  ist  im  Altertum  noch  viel  mehr 
leerer  Raum  gewesen,  und  es  ist  bezeichnend,  daß  diese  Stadt  auch  heute  noch 
trotz  ihrer  Größe  nicht  durch  eine  einzige  Sehenswürdigkeit  sondern  allein  durch 
ihre  Lage  und  durch  ihre  bewegte  Geschichte  merkwürdig  ist.  Sie  ist  demnach 
nichts  anderes  als  das  westliche  Seitenstück  des  antiken  Mantua,  das  an  dieser 
Stelle  freilich  erst  im  Mittelalter  nötig  wurde,  da  es  denjenigen  Unternehmungen 
die  Stirn  bieten  sollte,  die  jetzt  auch  von  dem  Nordwestflügel  der  Alpen  gegen 
Italien  herangezogen  kamen.  Der  Einfluß  von  Asti  und  besonders  der  von 
Alessandria  zeigt  sich  übrigens  bereits  zu  Beginn  des  fünften  Römerzuges  Fried- 
richs I.  (1174—1178),  als  dieser,  vom  Mont  Cenis  herabkommend,  zuerst  Asti 
erobern  mußte  und  dann  dasselbe  vergebens  an  Alessandria  versuchte,  das 
während  dieser  ganzen  entscheidenden  Jahre  durchaus  als  das  Rückgrat  des 
italienischen  Widerstandes  dienen  konnte. 

Neben   dem    Mont   Cenis   treten   dagegen    die  Verhältnisse   an   den   großen  Der  Weg  über 
antiken  Straßen   über   den  Mont  Genevre   und   den  Kl.   S.  Bernhard    im  Mittel-  cenevre  und 

alter   fast    ganz   in    den    Bereich    der   Lokalgeschichte    zurück.     Auf  dem    Mont  der  über  den 
„  ,.,._.,  .  ,1        .  j        u      •  r->     c  r>   •  Kl. S.Bernhard. 

Genevre  geschah  die  Stiftung  eines  Hospizes  durch  einen  Graten  von  Brian^on 

erst  im  J.  1340-),  und  nur  ein  einziger  von  allen  deutschen  Herrschern,  gleich- 
falls Friedrich  I.,  hat  diesen  Paß,  den  Mons  Januae  wie  er  damals  hieß,  einmal 
überschritten,  als  er  sich  (1177)  in  Arles  als  König  des  arelatischen  Reiches 
krönen  ließ,  und  wobei  demnach  jene  Route  für  den  aus  Italien  kommenden 
Kaiser  durchaus  vorgeschrieben  war.  Wir  wissen  ferner,  wie  intensiv  sich  das 
religiöse  Leben  im  Mittelalter  äußerte,  so  daß  damals  selbst  die  Bewohner  einer 
so  weltfernen  Insel  wie  Island  ein  Kontingent  der  Rompilger  ausmachten,  und 
wenn  uns  nun  heute  überhaupt  die  Nachrichten,  die  über  jene  Reisen  vorhanden 
sind,  selbst  schon  bei  oberflächlicher  Betrachtung  den  Blick  in  eine  Welt  ver- 
sunkener, fremdartiger  und  zum  Teil  recht  schwer  erklärlicher  Kulturzustände 
tun  lassen,  so  ist  an  dieser  Stelle  zu  erwähnen,  daß  unter  den  Straßen,  die  von 
den  Isländern  bei  ihren  Reisen  über  die  Alpen  benutzt  zu  werden  pflegten,  der 
sogenannte  Iliansweg  eine  gewisse  Rolle  spielt.  Unter  diesem  Weg  hat  man 
nun  aber  ebenso  den  Weg  über  den  Lukmanier  (Ilaaz  oberhalb  Chur)  wie 
neuerdings  auch  denjenigen  über  den  Mont  Genevre  zu  erkennen  geglaubt;  es 
ist  dies  nebenbei  eine  der  hübschen  gelehrten  Streitfragen  niederer  Ordnung, 
über  die  sich   niemals   völlige   Gewißheit   wird   erzielen   lassen,   die   aber  doch 

')  Oe.  1.    S.  225.        2)  Da.  I.  B.  S.  118. 

Scheff:!,  Vcrkchngescbfchte  der  Alpen.     2.  B<nd.  12 


178  '•  Kapitel. 

interessant  genug  sind,  um  immer  wieder  eine  neue  Stellungnahme  und  neuen 
Streit  hervorzurufen '). 

Ist  nun  aber  das  Zurücktreten  der  Mont  Genevre-Straße  wegen  des  Auf- 
kommens der  nahe  benachbarten  Mont  Cenis-Straße  im  Mittelalter  ganz  begreif- 
lich, so  reicht  dieser  Umstand  jedoch  nicht  aus,  um  dieselbe  Erscheinung  auch 
für  den  Kl.  S.  Bernhard,  einer  in  ihrer  Wegbarkeit  so  bequemen  Alpenpassage, 
wo  noch  dazu  von  den  Römern  so  sorgfältig  vorgearbeitet  worden  war,  genügend 
zu  erklären.  In  den  ersten  Zeiten  des  Langobardenreiches,  als  die  Sachsen  hier 
einmal  in  hellen  Haufen  nach  Gallien  herüberzogen,  muß  diese  Straße  jedenfalls 
noch  vollständig  in  Gebrauch  gewesen  sein  2),  während  sie  dann  bis  in  die 
neueste  Zeit  einer  immer  größeren  Vereinsamung  verfallen  ist,  und  ihre  Schick- 
sale recht  eigentlich  ein  unerforschtes  Gebiet  genannt  werden  müssen.  Auch 
hier  würde  die  Lokalgeschichte  von  Bourg  S.  Maurice  und  Moutiers  zu  einem 
Schluß  auf  die  Schicksale  dieses  Alpenweges  selbst  verhelfen  können,  und  es 
ist  in  dieser  Hinsicht  bemerkenswert,  daß  diese  beiden  Orte  wenigstens  noch 
Spuren  frühmittelalterlicher  Kultur  aufweisen,  so  Bourg  S.  Maurice  infolge  des 
alten  in  dieser  Zone  beliebten  Heiligennamens,  und  noch  mehr  Moutiers,  weil 
es  noch  in  dem  Testament  Karls  des  Gr.  unter  den  Metropolen  des  Franken- 
reiches genannt  wurde.  Dagegen  ist  es  kaum  gestattet,  auch  die  Divisio  im- 
perii  Karls  (806)  als  Zeugnis  für  die  damalige  Benutzung  des  Weges  über  den 
Kl.  S.  Bernhard  zu  verwerten,  da  diese  hier  nur  den  Weg  über  Aosta  als  Ein- 
trittsroute nach  Italien  nennt,  und  sonst  nirgends  ein  Fall  nachgewiesen  werden 
kann,  bei  dem  durch  letzteren  Ausdruck  nicht  der  Weg  über  den  Großen 
sondern  über  den  Kl.  S.  Bernhard  hätte  bezeichnet  werden  sollen.  Auch  sonst 
muß  es  auffallen,  daß  die  Adelsburgen  an  diesem  Wege  fast  ganz  fehlen,  und 
daß  man  diesem  Übergang  im  Mittelalter  schlechterdings  niemals  in  der  Ge- 
schichte begegnet,  während  sein  jetziger  Name  einfach  daher  rührt,  weil  das  da- 
selbst befindliche  Hospiz  früher  von  Mönchen  aus  dem  Kloster  des  Gr.  S.  Bern- 
hard bestellt  wurde. 

')  Vgl.  Schu.  S.  100 f.;  Oe.  I.  S.  257 f.  Es  ist  zunächst  zweifelhaft,  ob  es  ein  oder  zwei  Ilianswege 
gegeben  hat,  und  es  wäre  vielleicht  auch  zu  erwägen,  ob  der  Ausdruck  llians  nicht  überhaupt 
nichts  anderes  als  Isländisch  selbst  bedeutet.        2)  p.  £>.  s.  52. 


II.  Kapitel. 

Der  Große  S.  Bernhard. 


Wir  kommen  nunmehr  zu  dem  Gr.  S.  Bernhard,  der  für  die  ersten  achthundert  Beherrschende 

I_iä?c  des  Gr 

Jahre  des  Mittelalters  recht  eigentlich  der  König  der  Alpenpässe  genannt  werden  s.  Bernhard  im 
muß.  Zwar  hatten  auch  schon  die  Römer  die  Vorteile  von  dessen  Lage  erkannt  und  Mittelalter. 
ihr  im  Prinzip  Rechnung  getragen;  voll  zur  Geltung  kam  sie  jedoch  erst  im  Mittel- 
alter, als  damals  einesteils  Ober-  und  Mittelitalien  und  anderenteils  das  nördliche 
Frankreich,  die  Rheinlande  und  am  Rande  dieses  Kreises  später  auch  England 
die  belebtesten,  reichsten  und  wichtigsten  Gebiete  Europas  waren,  und  nun  allein 
dieser  Alpenweg,  ohne  daß  schon  andere  seiner  Konkurrenten  an  das  Tageslicht 
getreten  wären,  die  Verbindungen  zwischen  jenen  beiden  Zentren  der  damaligen 
Kultur  auf  weite  Strecken  an  sich  zog.  Es  ist  dies  zugleich  eine  Erscheinung, 
die  wiederum  die  für  alle  Zeiten  und  an  allen  Teilen  der  Erde  geltende  Wahr- 
heit bestätigen  kann,  daß  bei  der  Auswahl  der  großen  Weltstraßen  die  weiten 
Ziele  des  Verkehrs,  wenn  sie  nur  erst  einmal  aktuell  geworden  sind,  stets  das 
erste  Wort  zu  sprechen  pflegen,  und  daß  jener  Antrieb,  nachdem  er  sich  einmal 
eingespielt  hat,  dann  auch  ruhig  einzelne  schwierige  und  unbequeme  Stellen  auf 
der  im  ganzen  erprobten  und  lohnenden  Bahn  in  Kauf  nimmt.  Denn  die  Gang- 
barkeit dieses  Alpenweges  ist  von  seinem  Eintritt  bis  zu  seinem  Austritt  aus 
dem  Gebirge  auch  im  Mittelalter  trotz  aller  seiner  Belebtheit  schwierig  genug 
gewesen,  und  selbst  wenn  die  Natur  in  der  eigentlichen  Hochgebirgsregion 
jener  Linie  früher  ein  milderes  Gesicht  gezeigt  haben  mag,  so  treten  doch  ge- 
rade hier  alle  die  unvollkommenen  Seiten  des  mittelalterlichen  Verkehrslebens, 
wie  das  Unvermögen  im  eigentlichen  Straßenbau  und  die  Unsicherheit  und 
Gefährdung  des  Transportwesens  durch  die  rücksichtslose  Ausnutzung  der  Straßen- 
sperren, nur  um  so  greller  zu  Tage. 

Selbst  wenn  keine   anderen  Anzeichen   für   die  Belebtheit   und    Bedeutung  Reise-  und 
der  Straße  über  den  Gr.  S.  Bernhard  im  Mittelalter  vorhanden  wären,  so  würde  verkehr, 
dies  schon  aus  den  Ortschaften  entlang  des  Weges,  die  jetzt  plötzlich  viel  zahl- 

12* 


180  II-  Kapitel. 

reicher  als  in  der  Römerzeit  auftreten,  und  ganz  besonders  aus  der  Art  ilirer 
Namen  hervorgehen;  denn  wie  in  Parade  ziehen  hier  die  besten  Heiligen  an 
uns  vorüber:  S.  Triphon,  S.  Maurice,  Martigny,  S.Jean  und  S.  Etiez,  Orsieres 
(Pons  Ursarii),  Boury  S.  Pierre  (S.  Petri  castellum),  das  Bernhardhospiz,  S.  Remy 
(villula  S.  Remigii),  S.  Christophe,  S.  Marcel,  S.  Vincent,  S.  Germain  bis  herab 
nach  Pont  S.  Martin,  wo  die  Straße  von  dem  Gebirge  Abschied  nimmt.  Ein 
nicht  weniger  in  das  Gewicht  fallendes  Indizium  liefert  aber  auch  die  Tatsache, 
daß  jene  Straße  von  der  Geistlichkeit,  die  damals  den  weitaus  stärksten  Teil 
der  friedlichen  Alpenreisenden  ausmachte,  mit  Vorliebe  benutzt  wurde,  während 
weiterhin  der  internationale  Charakter  jener  Route  sich  auch  darin  ausspricht, 
daß  in  der  Lebensbeschreibung  des  h.  Bernhard  selbst  der  durchreisenden 
Engländer  besonders  Erwähnung  geschieht')-  Es  ist  denn  auch  eine  lange  Reihe 
solcher  Personen  hohen  und  niederen  Ranges,  die  wir  hier  herüberziehen  und 
den  verschiedensten  Zielen  zustreben  sehen,  so  u.  a.  Papst  Stephan  III.,  als  er 
753  zum  König  Pippin  reiste,  Bischof  Udalrich  von  Augsburg,  Abt  Majolus  von 
Cluny,  990  Sigerich  von  Canterbury,  1001  Bernhard  von  Hildesheim,  verschiedene 
Male  Bischof  Bruno  von  Toul,  den  spätem  Papst  Leo  X.,  und  1127  den  Bischof 
von  Lüttich  und  den  Abt  von  S.  Trond-). 

So  ist  es  denn  auch  ganz  erklärlich,  daß  keine  andere  als  diese  Straße  im 
Mittelalter  zur  ersten  großen  Handelsstraße  der  Alpen  werden  mußte.  Die  erste 
Erscheinung,  durch  die  sich  der  Handelsverkehr  jener  Zeiten  aus  der  Dürftig- 
keit, Unregelmäßigkeit  und  Unergründlichkeit  rein  naturalwirtschaftlicher  Ver- 
hältnisse zu  einem  bestimmten,  stetigen  und  abgegrenzten  Stromgebiet  heraus- 
gearbeitet hat,  tritt  an  die  geschichtliche  Oberfläche  im  zwölften  und  dreizehnten 
Jahrhundert,  als  die  Straße  über  den  Gr.  S.  Bernhard  ihre  hervorragende  Stellung 
in  dem  Verkehrsleben  der  Alpen  noch  voll  behauptete,  und  als  nun  auch  der 
Handel  die  Konsequenzen  dieses  Zustandes  gezogen  und  sich  an  der  oberen 
Seine  ein  Gebiet  geschaffen  hatte,  wo  die  Hauptfäden  des  mittelalterlichen 
Lebens  Mitteleuropas  zusammenliefen.  Es  sind  dies  die  Messen  in  der  Kam- 
pagne, in  Bar  s.  A.  und  Troyes,  in  denen  dieser  Zustand  feste  Formen  ange- 
nommen hat  und  zu  denen  nun  auch  der  von  Oberitalien  kommende  Handel 
hinstreben  mußte  •^),  während  die  engen  Beziehungen  der  Linie  über  den 
Gr.  S.  Bernhard  als  Handelsstraße  zu  jenem  Zentrum  in  der  Kampagne  durch 
nichts  besser  beleuchtet  werden,  als  durch  die  eine  Tatsache,  daß  das  Hospital, 
das  sich  auf  dem  Markte  von  Troyes  befand,  dem  Kloster  des  Gr.  S.  Bernhard 
unterstellt  war'').  Das  erste  Zeugnis  eines  über  diesen  Paß  laufenden  regelrechten 
Handelsverkehrs  datiert  freilich  bereits  aus  dem  J.  960,  als  der  Bischof  von 
Aosta  die  Höhe  der  Zollsätze  von  den  Waren  bestimmte,  die  in  diesem  Orte 
selbst  verkauft  werden   oder  ihn   passieren   sollten  =).     Der  Kreis   der   einzelnen 

')  Oe.  I.  S.  248.         2)  Oe.  I.  S.  239  f,  247,  250.        ^}  Eine  von  Troyes  nach  Ivrea  gezogene  Gerade 
schneidet  auch  Martigny.        4)  Schu.  S.  161.        =)  Oe.  I.  S.  249. 


Der  Große  S.  Bernhard.  181 

Warengattungen  ist  jedoch  damals  noch  nicht  allzugroß  und  beschränkt  sich 
neben  Metallen  auf  allerlei  Waffen  und  Ausrüstungsstücke,  außerdem  auf  Pferde, 
Falken  und  Affen;  er  erstreckt  sich  also  fast  nur  auf  die  ersten  und  not- 
wendigsten Bedürfnisse  des  mittelalterlichen  Kulturlebens.  Wie  ungeheuer  dann 
aber  der  Handelsverkehr  hier  zugenommen  haben  muß,  zeigt  später,  als  die 
Messen  in  der  Kampagne  in  Blüte  standen,  an  Menge  wie  an  Verschiedenartig- 
keit das  Verzeichnis  der  Waren  Tuche,  Wollen,  Felle,  Kramwaren,  Pferde  — , 
die  den  Zoll  von  Villeneuve  hei  Chillon  passierten  '). 

Nicht  im  Vergleich  zu  der  Ausdehnung  dieses  Kulturverkehrs  stehen  nun  Die  Römerzüge 
aber  die  geschichtlichen  Ereignisse,  insonderheit  solche  aus  den  Römerzügen,  ~^er  den  Gi^ 
bei  denen  die  Straße  über  den  Gr.  S.  Bernhard  zu  nennen  ist.  Diese  Tatsache  s.  Bernhard, 
findet  jedoch  darin  ihre  Erklärung,  weil  jener  Weg  für  die  nach  Italien  streben- 
den Herrscher  nur  bis  zum  Ende  des  Karolingerreiches  wirklich  bequem  und 
zweckdienlich  gelegen  war,  und  weil  die  späteren  deutschen  Könige  durch  die 
östlicher  gelegenen  Übergänge  viel  kürzer  zu  demselben  Ziel  geführt  wurden. 
Als  Karl  der  Gr.  im  J.  801  hier  herüberzog,  feierte  er  in  Ivrca  Weihnachten 
und  setzte  dann  tief  im  Winter  die  Reise  fort;  es  ist  demnach  auch  hieraus  zu 
ersehen,  daß  im  Mittelalter  ungünstige  Witterungsrerhältnisse  im  Hochgebirge 
an  sich  noch  durchaus  nicht  ein  allzugroßes  Reisehindernis  zu  bedeuten  brauchten. 
Auch  die  historische  Reise  des  Papstes  Gregor  IV.  (833)  nach  dem  Lügenfelde, 
wo  dieser  die  Katastrophe  Ludwigs  des  Frommen  in  Szene  setzte,  ist  denselben 
Weg  gegangen.  Karl  der  Dicke  (i*  888),  der  dann  noch  einmal  die  ganze 
Monarchie  Karls  des  Gr.  in  seiner  Hand  vereinigte,  ist  nebenbei  auch  derjenige, 
der  von  den  Herrschern  nördlich  der  Alpen  die  meisten  Alpenübergänge,  vier- 
zehn, und  somit  selbst  mehr  als  Friedrich  Barbarossa,  ausgeführt  hat,  aber  nur 
von  einem  einzigen  dieser  Züge,  von  dem  Rückweg  aus  Italien  im  J.  880,  steht 
es  wirklich  fest,  daß  dabei  der  Gr.  S.  Bernhard  benutzt  worden  ist. 

Weitere  Fälle,  bei  denen  die  deutschen  Herrscher  in  Person  sicher  diesen 
Weg  betreten  haben,  liegen  dann  nur  noch  für  das  J.  1110,  als  Heinrich  V.  zu 
seinem  ersten  Römerzug  aufbrach,  und  1414  bei  der  Rückkehr  Sigismunds  aus 
Italien  vor,  obwohl  es  außerdem,  wie  wir  gesehen  haben,  durchaus  üblich  war, 
daß  bei  den  Römerzügen  großen  Stiles  die  in  Westdeutschland  aufgebotenen 
Streitkräfte  vor  ihrer  Vereinigung  mit  dem  Hauptheere  oder  nach  dessen  Auf- 
lösung in  Italien  als  selbständige  Kolonnen  hier  herüberzogen.  Eine  geschicht- 
lich ganz  einzig  dastehende  militärische  Bewegung  sah  der  Gr.  S.  Bernhard 
außerdem  unter  der  Regierung  Konrads  II.,  als  dieser  zur  Besetzung  des  burgun- 
dischen  Reiches  (1034)  ein  italienisches  Hilfsheer  verwenden  konnte,  das  damals 
hier  herüber  bis  nach  Genf  vorrückte;  es  ist  dies  demnach  der  einzige  Fall,  bei 
dem  einmal  während  des  Mittelalters  italienische  Streitkräfte  nördlich  der  Alpen 
in  Wirksamkeit  traten^),  und  zugleich  eine  Bestätigung  der  Beobachtung,  daß  zu 

')  Um   1290.  Vgl.  Schu.  S.  164.         2)  Oehlmann  (Oe.  1.  S.  251)  macht  mit  Recht  hierauf  aufmerksam. 


182  II-  Kapitel. 

den  Zeiten  der  Salier  die  Verbindung  zwischen   Deutschland   und   Italien  auch 
praktisch  verhältnismäßig  am  weitesten  vorgeschritten  gewesen  ist. 
Ivrea.  Eine  lange  und  nichts  weniger  als  bequeme  Gebirgswanderung  hat  man  bis 

zu  den  Ufern  des  Genfersees  zurückzulegen,  nachdem  man  in  Ivrea  die 
Italienische  Ebene  verlassen  hat.  Und  doch  endigt  bereits  hier  das  Südland  im 
eigentliche  Sinne,  nicht  nur  weil  wenig  nördlich  dieser  Stadt  die  französische 
Sprache  sondern  ebenso  auch  die  schwierigen  und  engen  Gebirgswege  beginnen, 
wie  sie  gerade  am  Südrande  der  Alpen  die  Natur  überall  so  ausgeprägt  ge- 
schaffen hat.  Anders  jedoch  als  Como  oder  Udine,  die  gleichfalls  am  südlichen 
Ausgang  wichtiger  Alpenstraßen  liegen,  hat  sich  dieses  Ivrea  niemals  zu  dem 
Range  einer  Mittelstadt  zu  erheben  vermocht,  weil  es  immer  noch  der  Innen- 
seite jener  Biegung  zu  nahe  gerückt  liegt,  mittelst  der  die  Alpen  hier  aus  der 
südnördlichen  in  die  westöstliche  Richtung  übergehen.  Um  so  mehr  ist  es  da- 
her zu  bemerken,  daß  die  geschichtliche  Bedeutung  dieses  Ortes  sich  einmal 
sozusagen  vervielfacht  hat,  im  zehnten  Jahrhundert,  als  die  dortigen  boden- 
ständigen Markgrafen  plötzlich  als  nationale  Könige  Italiens  auftraten,  ein  skrupel- 
loses und  gewaltsames  Geschlecht,  zwar  mehr  Prätendenten  als  eigentliche 
Herrscher,  aber  immerhin  doch  so  einflußreich,  daß  sie  fast  ein  Jahrhundert 
hindurch  ihre  Ansprüche  aufrechterhalten  konnten  und  die  Sachsenkaiser  sich 
mehr  als  einmal  mit  ihnen  auseinandersetzen  mußten.  Noch  Heinrich  II.  hatte 
mit  Arduin  II.  von  Ivrea  abzurechnen,  der  schließlich  (1014)  in  einem  Kloster, 
dem  Exil  der  mittelalterlichen  Herrscher,  endigte.  So  sehen  wir  also  in  der- 
selben Randprovinz,  aus  der  achthundert  Jahre  später  für  Italien  die  nationale 
Dynastie  herkommen  sollte,  schon  damals  ähnliche  Lebensregungen  auftreten, 
eine  Tatsache,  die  es  einesteils  wieder  vor  Augen  führen  kann,  wie  vielen  ver- 
schiedenen Möglichkeiten  die  Unfertigkeit  der  staatlichen  Zustände  Europas  nach 
dem  Untergange  des  Karolingerreiches  Raum  bot,  und  die  andererseits  von  neuem 
das  nordwestliche  Oberitalien  als  dasjenige  Gebiet  heraustreten  läßt,  wo  während 
der  ersten  Hälfte  des  Mittelalters  der  kulturelle  Schwerpunkt  des  ganzen  Landes  lag. 
Von  Bard  über  Nördlich  Ivrea  tritt  dann  die  Straße  in  jenen  Engpaß  ein,  den  nach  Norden 

Hospu'"a^uM^  z"  das  heutige  Fort  Bard  (castellum  Bardum)  abschließt.  Hier  sehen  wir  nun 
Paßhöhe,  ein  Bild  vor  uns,  wie  es  im  Mittelalter  an  dem  südlichen  Ausgang  der  Alpen- 
wege durchaus  typisch  und  deshalb  auch  von  demjenigen  während  der  römischen 
Kaiserzeit  ganz  verschieden  ist,  eine  Situation,  die  u.  a.  ganz  in  gleicher  Weise 
damals  auch  an  der  Berner  Klause  wiederkehrt.  Einst  hatte  die  römische  Er- 
oberung, nachdem  sie  sich  einmal  in  weitem  Sprunge  nach  Norden  vorwärts- 
zuschreiten entschlossen  hatte,  überall  durch  jene  Engpässe  einfach  die  Straße 
durchgebrochen  und  dann  in  angemessener  Entfernung  und  an  bequemen  Stellen 
ihre  Stationen  angelegt.  Dies  ist  daher  zunächst  der  Grund,  weshalb  von  allen 
jenen  Engpässen  selbst  im  Altertum  fast  nichts  verlautet,  während  sie  dann  im 
Mittelalter    nur    um   so    mehr    als   Bollwerke   des   Südlandes,    als   Klausen    und 


Der  Große  S.  Bernhard.  183 

Sperren  dienen  mußten.  Vergleichen  wir  nun  aber  im  besonderen  die  Art,  wie 
sich  einesteils  dieser  Engpaß  und  anderenteils  die  Berner  Klause  geltend  ge- 
macht haben,  so  läßt  sich  auch  darin  das  verschiedene  Wesen  der  beiden  Alpen- 
straßen erkennen,  die  durch  jene  gesperrt  werden  sollten;  die  Berner  Klause 
mit  ihrem  volltönenden  Namen,  die  bis  zum  Ende  der  Staufer  so  viele  Heer- 
führer vor  harte  Aufgaben  stellte,  hier  am  Gr.  S.  Bernhard  dagegen  die  farblose 
Bezeichnung  der  Engen  von  S.  Marti«,  die  einzelnen  Reisenden  zwar  auch  oft 
ein  Halt  zugerufen,  die  in  den  großen  geschichtlichen  Ereignissen  aber  viel 
weniger  eine  Rolle  gespielt  haben. 

Wenn  heute  Straße  und  Bahn  bis  Aosta  das  linke  Ufer  der  Dora  nicht 
verlassen,  so  läßt  doch  der  Umstand,  daß  Pollein  (Publeja)  in  den  mittelalter- 
lichen Itinerarien  genannt  wird,  vermuten,  daß  damals  der  Weg  auf  dem  rechten 
Ufer  der  Dora  gelaufen  ist').  Von  Aosta  selbst  ist  dagegen  im  Mittelalter  wenig 
zu  sagen,  da  es  jetzt  von  der  Bestimmung  eines  großangelegten,  zwei  römische 
Militärstraßen  beherrschenden  Postens  zu  einem  Punkt  herabgesunken  ist,  der 
nur  auf  den  Verkehr  der  vom  Gr.  S.  Bernhard  herabkommenden  Straße  un- 
mittelbar Einfluß  haben  konnte,  und  weil  auch  damals,  ebenso  wie  zu  allen 
anderen  Zeiten,  dieser  Ort  durch  seine  Lage  inmitten  des  Gebirges  daran  ge- 
hindert war,  den  Handel  an  sich  zu  fesseln,  der  jenen  Platz  immer  nur  unter 
dem  Gesichtspunkt  betrachten  kann,  wie  er  von  hier  möglichst  rasch  und  be- 
quem nach  dorthin  gelangt,  wo  mehrere  Straßen  aus  verschiedenen  Absatzgebieten 
zusammenlaufen.  Wer  das  Wesen  eines  Ortes  im  Mittelalter  kennen  lernen  will 
muß  zunächst  nach  den  Kirchen  gehen,  und  so  finden  wir  in  Aosta  an  jenen 
Gebäuden  (Kathedrale,  S.  Ours)  die  bemerkenswertesten  Zeugnisse  mittelalter- 
licher Bautätigkeit  an  dem  ganzen  Lauf  der  Straße  des  Gr.  S.  Bernhard  durch 
das  Gebirge,  wie  jene  daher  auch  im  Vergleich  zu  dem  vornehmen  antiken 
Rahmen,  in  den  sie  eingelassen  sind,  zwar  durchaus  nicht  den  Unterschied 
zwischen  den  wirklichen  Kulturmitteln  der  Römerzeit  und  denen  des  Mittelalters, 
wohl  aber  besonders  deutlich  die  veränderte  Stellung  Aostas  innerhalb  dieser 
beiden  Perioden  veranschaulichen  können.  Politisch  gehörte  Aosta,  nachdem 
es  mit  dem  Verfall  des  Karolingerreiches  von  den  fränkischen  Grafen  verlassen 
worden  war,  zunächst  zu  Hochburgund,  bis  auch  hier  die  Savoyer  Fuß  faßten, 
die  bereits  zu  Anfang  des  elften  Jahrhunders  dort  die  Grafengewalt  ausgeübt  haben 
und  dann  auch  weiter  systematisch  entlang  dieser  Linie  nach  Italien  vordrangen, 
1242  bis  Bard,  das  Amadeus  von  Savoyen  nach  langer  Belagerung  eroberte,  und 
1313  bis  Ivrea.  Wer  die  Geschichte  der  Hauses  Savoyen  schreibt  wird  daher 
besonders  zu  bemerken  haben,  daß  jene  fern  von  Rom  liegenden  Alpentäler  von 
Aosta  selbst  dem  Stadtgebiet  von  Turin  den  Rang  als  ältesten  unveränderten 
Besitz  dieser  Dynastie  streitig  machen  können. 

Von  Aosta  nördlich  beginnt  der  eigentliche  Hochgebirgsweg,  der,  bevor  er 
zur  Fahrstraße  ausgebaut  wurde,  noch  bis  in  die  allerneueste  Zeit  auf  eine  fünf 

')  Oe.  I.  S.  235,  250. 


184  11.  Kapitel. 

Stunden  lange  Strecke  südlich  und  nördlich  der  Paßhöhe  nichts  anderes  als  ein 
beschwerlicher  Saumpfad  gewesen  ist,  im  Mittelalter  aber  in  noch  viel  größerer 
Ausdehnung  und  in  stärkerem  Maße  diesen  Charakter  an  sich  hatte.  Auch  da- 
mals wird  Etroubles  als  Restopolis  viel  genannt,  wo  die  Reisenden  Sommer  und 
Winter  in  Scharen  durchpassierten.  Die  nachweisbar  älteste  Gründung  des 
Mittelalters  im  Bereich  der  höchsten  Zone  der  Straße  liegt  jedoch  nicht  auf  der 
Paßhöhe  selbst  sondern  nördlich  bei  der  letzten  eigentlichen  Ortschaft,  dem 
1663  m  hoch  gelegenen  Bourg  S.  Pierre,  wo  sich  schon  im  Anfang  des  neunten 
Jahrhunderts  ein  Kloster,  die  abbatia  montis  Jovis  S.  Petri,  vorfindet'),  das 
schon  um  seines  Namenswillen  angesehener  als  andere  gewesen  sein  muß,  und 
dieses  Kloster  ist  es  wohl  auch,  das  hier  als  wichtiger  Straßenpunkt  in  den 
Teilungsverträgen  der  Karolinger  eine  Rolle  spielt.  Dies  schließt  jedoch  nicht 
aus,  daß  zu  der  gleichen  Zeit  auch  auf  der  Paßhöhe  selbst  bereits  ein  Hospiz 
bestanden  haben  kann,  und  daß  dieses  von  den  Sarazenen  zerstört  wurde.  Die 
eigentliche  Geschichte  dieses  weltberühmten  Hospizes  hebt  dagegen  erst  zu 
Anfang  des  neuen  Jahrtausends  mit  der  Gründung  durch  den  h.  Bernhard  von 
Menthon  (f  1008)  an. 

Die  Gebäude  jener  Anstalt,  die  nunmehr  eine  lange  Reihe  von  Jahrhunderten 
hindurch  stets  ganz  in  derselben  Weise  ihre  ebenso  schwierige  wie  kulturfreund- 
liche Bestimmung  erfüllt  hat,  sind  so  wie  wir  sie  jetzt  vor  uns  haben  auch  schon 
fast  vierhundert  Jahre  alt,  wie  überhaupt  erst  die  Erbauung  der  Fahrstraße  in 
das  Bild  des  Reiseverkehrs  an  dieser  unter  der  Allgewalt  des  Hochgebirgs 
stehenden  Wohnstätte  einige  Veränderung  hineintrug.  Auch  heute  noch  ver- 
knüpft sich  vornehmlich  mit  dem  Namen  des  Gr.  S.  Bernhard  die  Vorstellung 
einer  Alpenreise,  nicht  einer  solchen  der  Jetztzeit,  aber  einer  mit  allen  jenen 
Mühen  und  Gefahren,  die  den  früheren  Geschlechtern  nun  einmal  nicht  erspart 
blieben.  Aber  deshalb  vermag  auch  die  Geschichte  dieses  Alpenüberganges  in 
doppelter  Beziehung  den  Beweis  zu  liefern,  welch'  tiefe  Wurzeln  die  wirklich 
segensreichen  Kulturschöpfungen  in  dem  Gedächtnis  der  Nachwelt  zu  treiben 
pflegen;  denn  wenn  heute  jener  Name  noch  auf  lange  hinaus  seinen  inhaltsreichen 
Klang  behalten  wird,  so  hat  es  doch  ebensolanger  Zeiträume  bedurft,  bis  er 
schließlich  seinen  antiken  Vorläufer  verdrängen  konnte.  Noch  in  der  ganzen 
ersten  Hälfte  des  Mittelalters  hieß  jene  Paßhöhe  zuweilen  der  Weg  des  Julius 
Cäsar,  sonst  aber  zumeist  Mons  Jovis-);  auch  noch  im  J.  1128  erwähnt  ein 
Reisebericht  in  keiner  Weise  daselbst  die  Existenz  eines  Hospizes,  wohl  aber  das 
heidnische  Heiligtum  des  Juppiter-^),  und  erst  zu  den  Zeiten,  als  dessen  Ruinen 
vollständig  vor  den  Augen  der  Durchreisenden  verschwunden  sein  mögen,  hat 
daher  das  greifbare  Symbol  der  neuen  Religion  seinen  Platz  in  dem  Gedanken- 
leben der  Völker  einnehmen  können. 

')  Schu.  S.  60f.  Vgl.  auch  Oe.  1.  S.  235f.  Eine  reizvolle  Aufgabe  wäre  es,  die  genaue  Lage  jenes 
Klosters  festzustellen,  wie  überhaupt  die  Lokalgeschichte  in  der  obersten  Zone  dieses  Alpenweges 
große  Lücken  aufweist.        2)  Ekkeharts  IV,  Casus  S.  Galli,  L.  Dyk.  S.  15;  Ra.  S.  45.        3)  Oe.  I.  S.  257. 


III.  Kapitel. 
Das  Mittelalter  am  S.  Gotthard. 


Wer  zu  den  Zeiten   der  Römerzüge   vom   Gr.  S.  Bernhard   aus   das  Alpen-  Die  über  die 
gebiet  nach  Osten    überblickte,  der  fand  damals  hinsichtlich   des   Verkehrsbildes  un^  Berner 
noch  kaum  eine  andere  Situation  vor  als   wie  sie   bereits   ein  Jahrtausend  früher  Alpen  führen- 

„  .     ,  ,         ,  ,  ...       r,..     ,  ,  den  Übergänge 

unter  dem  Romerreich  bestanden  hatte,  als  östlich  erst  wieder  in  Bunden  und  j^,  Mittelalter. 
in  weiter  Entfernung  von  hier  wirklich  betretene  und  ausprobierte,  von  Italien 
nach  dem  Norden  führende  Straßen  das  Alpengebiet  übersetzten.  Nicht  allzulange 
darauf,  zu  der  Zeit,  in  die  man  den  Beginn  der  letzten  Periode  des  Mittelalters 
zu  setzen  pflegt,  hat  sich  dann  aber  diese  Lage  wie  mit  einem  Schlage  gänzlich 
verändert.  Die  Erscheinung,  daß  zu  jenem  Zeitpunkt  sich  die  alten  Verkehrs- 
verhältnisse verschieben,  und  daß  vor  allem  jetzt  nach  und  nach  eine  ganze  Reihe 
neuer  Verbindungen  dem  großen  Verkehr  dienstbar  gemacht  werden,  gilt  nun 
zwar  überhaupt  für  das  ganze  Alpengebiet;  nirgends  aber  hat  sie  doch  die  alten 
Verhältnisse  so  von  Grund  aus  verrückt  als  eben  in  jener  Lücke  zwischen  dem 
Gr.  S.  Bernhard  und  den  bündner  Straßen,  in  der  jetzt  dort  plötzlich  der  Weg 
über  den  S.  Gotthard  an  das  Tageslicht  tritt. 

Trotzdem  müssen  wir,  bevor  wir  in  diesen  selbst  herantreten,  noch  einen 
Blick  auf  das  Schicksal  werfen,  das  die  westlich  desselben  gelegenen  Alpenland- 
schaften und  Gebirgswege  im  eigentlichen  Mittelalter  durchlebt  haben.  Schon 
das  eben  Gesagte  ergiebt,  daß  auch  für  den  Simplon  die  Hauptzeit  des  Mittel- 
alters nur  eine  dunkle  und  stille  Periode  gewesen  sein  kann,  während  der  er 
eine  Verbindung  zweiter  Ordnung  war  und  blieb,  ein  Zustand,  der  sich  besonders 
darin  widerspiegelt,  daß  irgendwelche  ältere  Gründungen  sogar  in  noch  stärkerem 
Maße  als  die  Römerspuren  hier  an  der  eigentlichen  Gebirgslinie  zwischen  Domo 
d'  Ossola  und  Brieg  fehlen.  Wie  geschichtslos  liegt  auch  heute  noch  jenes  neben 
Chiavenna  und  dieses  neben  Thusis  da,  und  wenn  auch  abwärts  in  Sitten  das 
Bild  sich  ändert  und  dort  die  Erinnerungen  an  das  Mittelalter  zahlreicher  und 
wichtiger  werden,  so  hatte  diese  Stadt  ihre  damalige  Bedeutung  doch  viel  weniger 


186  III.  Kapitel. 

dem  vom  Simplon  gekommenen  Verkehre  sondern  vielmehr  ihrer  Stellung  als 
unbestrittener  Vorort  des  langen  Wallis  zu  verdanken. 

Die  lebendige  Kraft  aber,  die  allein  den  großen  Verkehr  nach  dem  Simplon 
zu  leiten  vermag,  liegt  bei  diesem  noch  viel  ausgesprochener  als  bei  dem  S.  Gott- 
hard  allein  in  Mailand,  weil  für  das  Verkehrsbedürfnis,  das  von  dort  nach  Nord- 
westen, nach  den  Gestaden  des  Genfersees  und  in  das  Herz  Frankreichs  zielt, 
keine  kürzere  und  zielgerechtere  Linie  als  durch  die  Schlucht  von  Gondo  ge- 
funden werden  kann.  So  ist  der  Simplon,  wie  die  ganze  spätere  Geschichte 
dieses  Weges  beweist,  tatsächlich  eine  Alpenlinie,  die  nur  für  Frankreich  und 
Oberitalien,  für  diese  beiden  aber  um  so  größere  Wichtigkeit  hat,  und  die  außer- 
dem, trotzdem  sie  der  geographischen  Mitte  der  Alpen  äußerst  nahe  liegt,  doch 
allen  Einflüssen  aus  direkt  nördlicher  Richtung  ganz  entrückt  ist.  Erst  der 
Zusammenbruch  der  deutschen  Herrschaft  in  Oberitalien,  der  auf  diesem  Boden 
mit  dem  Ende  des  Mittelalters  gleichbedeutend  ist,  hat  Mailand  seinen  gesicherten 
Rang  einer  Hauptstadt  der  Lombardei  verschafft.  Schon  während  sich  dieses 
Verhältnis  vorbereitet,  sehen  wir  nun  aber  auch  entlang  der  Simplonstraße  Leben 
erwachen.  Gerade  dort  ist  daher  das  J.  1234,  in  dem  das  Johanniterhospiz  auf 
dem  Simplon  zum  ersten  Mal  erscheint,  von  doppelter  Wichtigkeit,  weil  das 
Dasein  eines  solchen  überhaupt  einen  Verkehr  voraussetzt '),  während  dann  bald 
darauf,  und  besonders  im  vierzehnten  Jahrhundert  es  nur  die  Mailänder  sein 
können,  von  denen  die  Instandhaltung  jenes  Weges  systematisch  in  die  Hand 
genommen  wird,  als  hier  in  langer  Reihe,  in  Sitten,  Leuk,  Visp,  Brieg,  Domo 
d'  Ossola  und  Vogogna  Susten  (Lagerhäuser)  entstehen,  Transportgenossenschaften 
eingerichtet  werden  und  auch  die  Zahl  der  Hospize  (1425  Gondo)  sich  mehrt-). 
Wir  befinden  uns  eben  jetzt  schon  mitten  in  jener  letzten  Periode  des  Mittel- 
alters, in  der  die  materiellen  Interessen  eine  solch'  ausnehmende  Wichtigkeit 
erlangt  haben,  daß  sich  sogar  die  Politik  überall  von  ihnen  ins  Schlepptau  nehmen 
lassen  muß,  ein  Zustand,  der  in  einem  so  ausgeprägten  Durchgangsgebiet,  wie 
es  die  Alpen  immer  gewesen  sind,  in  doppelter  Stärke  auftritt.  Die  erste  be- 
zeugte Simplonfahrt,  die  eines  Erzbischofs  von  Rouen,  gehört  in  das  J.  1254, 
und  im  J.  1331  ist  dann  auch  einmal  Karl  IV.,  als  er  noch  nicht  Kaiser  war, 
von  Luxemburg  und  Lausanne  kommend  über  den  Simplon  nach  Pavia  gezogen; 
es  ist  ein  kleiner  aber  bezeichnender  Zug  für  den  Charakter  dieses  unterneh- 
menden und  praktischen  Mannes,  daß  er  sich  gerade  jenen  neuen  Weg,  der  für 
sein  Reiseziel  so  zweckentsprechend  lag,  herausgesucht  hat. 

Westlich  des  Simplon  führen  dann  noch  über  den  Theodulspaß  (Matterjoch), 
den  Monte  Moro-  und  den  Antronapaß  Verbindungen  über  die  Penninischen 
Alpen.  Es  sind  dieses  aber  alles  Übergänge,  die  wegen  ihrer  gewaltigen  Höhe 
stets  doch  nur  in  der  guten  Jahreszeit  sicher  passierbar  waren ^),  und  die  daher 
auch  schon  um    deswillen  niemals    für    den  großen  Verkehr  ernstlich  in   Frage 

')  Schu.  S.  212.         2)  schu.  S.215.        3)  Schu.  S.  5. 


Das  Mittelalter  am  S.  Cotthard.  187 

kommen  konnten.  Dieser  Sachlage  tut  es  jedoch  keinen  Eintrag,  daß  der  Lokal- 
verkehr, der  sich  ja  überall  seine  Wege  sucht,  möglicherweise  auch  jene  Linien 
früher  viel  eifriger  benutzt  hat,  und  daß  sie  einst,  bevor  der  Simplon  zur  großen 
Alpenstraße  wurde,  diesem  selbst  an  Wichtigkeit  kaum  nachgestanden  haben 
mögen.  Es  verdient  deshalb  auch  einige  Beachtung,  wenn  heute  südlich  Visp 
ein  Ort  mit  Namen  Stalden  (Stalla)  anzutreffen  ist,  gerade  dort,  wo  der  Weg 
vom  Theodulspaß  und  der  vom  Monte  Moro  in  einen  zusammenlaufen.  Die 
gegenüberliegenden  Übergänge  der  Berner  Alpen,  die  Gemmi  und  die  Grimsel, 
sind  nun  zwar  an  sich  niedriger  als  jene,  aber  auch  diese  werden  sich  niemals 
zu  Alpenstraßen  erster  Ordnung  entwickeln  können,  da  vor  ihrem  südlichen 
Ausgang,  ähnlich  wie  bei  den  Tauern,  eben  noch  jener  zweite  Alpenwall  vorge- 
lagert liegt.  Als  Lokalverbindungen  ist  jedoch  deren  geschichtliche  Rolle  von 
Anfang  an  viel  durchsichtiger  und  auch  deren  Bedeutung  schon  seit  langer  Zeit 
viel  größer  als  die  jener  Obergänge,  die  sich  heute  durch  die  Gletscher  des 
Monte  Rosa-Gebietes  hindurchwinden. 

Wenn  das  Berner  Oberland  bis  zu  Anfang  des  neunzehnten  Jahrhunderts  Bern, 
noch  eine  terra  incognita  war,  so  ist  dies  nur  die  letzte  Epoche  eines  Zustandes 
gewesen,  der  sich  im  Mittelalter  von  hier  in  noch  viel  größerer  Ausdehnung  bis 
dahin  erstreckte,  wo  die  letzten  Ausläufer  der  Alpen  in  der  von  der  Aare  durch- 
flossenen  Ebene  verschwinden*  Es  heißt,  daß  Berchtold  V.  von  Zähringen,  als 
er  1191  Bern  gründete,  diesem  Platz  jenen  Namen  in  Erinnerung  an  die  ehemals 
von  seinem  Hause  besessene  Markgrafschaft  Welschbern  (Verona)  gegeben  habe; 
und  wenn  dies  auch  bloß  eine  Tradition  sein  mag,  so  verbirgt  sich  in  ihr  doch 
die  gleiche  geschichtliche  Tatsache;  sie  hätte  nicht  entstehen  können,  wenn  nicht 
dort,  wo  heute  die  Türme  Berns  emporragen,  damals  kulturelles  Neuland  ge- 
legen hätte,  und  wenn  nicht  die  Geschichte  jenes  ganzen  Landstriches  tatsächlich 
erst  zu  dem  Zeitpunkte,  in  dem  Bern  entstand,  ihren  Anfang  nähme.  Dies  ist 
nun  aber  auch  genau  derselbe  Augenblick,  als  in  den  Alpenländern  jene  neuen, 
ganz  anders  gearteten  Kräfte  zu  wirken  einsetzen,  von  denen  emporgehoben  das 
nach  dem  Aussterben  der  Zähringer  (1218)  zur  freien  Reichsstadt  gewordene 
Bern  nun  hier  plötzlich  wie  über  Nacht  als  ein  zukunftreiches,  von  Erfolg  zu 
Erfolg  schreitendes  Gemeinwesen  heraustritt.  Damals  hat  dieser  Ort  dank  seiner 
sicheren  Rückendeckung,  die  er  in  dem  stillen  Alpenland  besaß,  zunächst  die 
Ansprüche  der  Habsburger  zurückgewiesen,  um  dann  mit  gesammelter  Kraft 
seine  Herrschaft  ringsherum,  besonders  ausgreifend  und  dauerhaft  jedoch  in  die 
Berge  hinein  auszubreiten,  dorthin,  wo  seinen  Widersachern  von  außen  her  die 
wenigste  Hilfe  kommen  konnte')  Mit  dem  vierzehnten  Jahrhundert  bereits  ist 
diese  Entwicklung  abgeschlossen,  und  noch  heute  ist  ihr  Resultat  in  der  Gestalt 
des  Kantons  Bern  erhalten  geblieben,  der  ein   ganzes  Drittel   der   Schweiz  ein- 

')  Diese  günstige  Stellung  Berns  hat  schon  ein  Zeitgenosse,  Thomas  von  Victring  (Vict.  S.  82), 
ganz  treffend  charakterisiert- 


188  111.  Kapitel. 

nimmt,  und  dessen  Vorort,  ebenso  wie  Chur  und  Salzburg,  nördlich  und  talab- 
wärts liegt,  während  sich  sein  natürliches  Hinterland  südlich  breit  und  weit  in 
die  Alpen  hinein  erstreckt. 

So  sehen  wir  daher  sehr  bald  die  Macht  dieser  Stadt  bis  an  die  Kämme 
der  Berner  Alpen  selbst  heraufrücken  und  deren  Pforten,  die  Gemmi  und  die 
Grimsel,  in  ihre  feste  Hand  nehmen.  Vor  allem  Interlaken  (1265)  und  das 
Haslital  (1334)  sind  früh  von  Bern  abhängig  geworden,  was  deshalb  ganz  folge- 
richtig erscheint,  weil  von  hier  aus  in  Gestalt  des  Laufes  der  Aare  und  des 
langen  Thuner-  und  Brienzersees  gerade  nach  dorthin  eine  von  der  Natur  ge- 
schaffene bequeme  Verbindung  führt.  Auch  auf  der  Gemmi  findet  sich  schon 
1318  ein  Hospiz,  wie  überhaupt  die  Anzeichen  für  die  Beziehungen  zwischen 
dem  heutigen  Berncr  Land  und  dem  Wallis  zeitlich  sehr  tief  hinabreichen.  Es 
ist  besonders  derselbe  Adel  hüben  und  drüben  (Raron,  Turn),  der  hier  die 
älteste  erkennbare  Schicht  der  mittelalterlichen  Geschichte  bildet,  und  dem 
später  durch  die  eiserne  Faust  der  Berner  ein  Ende  bereitet  wurde,  während 
sein  Dasein  auch  heute  noch  da  und  dort  in  den  Burgruinen  zu  erkennen  ist')- 
Lokale  Ver-  Wer  heute  die  Gotthardstraße  von    Flüelen  bis   südlich    in    das    Livinental 

B^ereicrdes  durchwandert,  der  kann,  schon  wenn  er  bloß  das  Auge  walten  läßt,  aus  dem 
S.  Gotthard  Fehlen  der  Burgruinen  und  daraus,  daß  kein  einziger  Ort  an  diesem  Wege 
ersteif"Häffte  ^'"^  wirklich  große  Vergangenheit  aufweist,  den  Schluß  ziehen,  daß  diese  Route 
des  Mittelalters,  kein  von  altershcr  gebräuchlicher  Alpenübergang  ist.  Erst  in  der  ersten  Hälfte 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  (um  1225)  kann  der  Gotthardwcg,  so  wie  wir  ihn 
heute  verstehen,  eröffnet  worden  sein  2),  und  es  gehört  sicher  der  allgemeinen 
Geschichte,  doch  schon  kaum  mehr  der  des  eigentlichen  Mittelalters  an,  welch' 
weite  Kreise  der  Streit  um  seinen  Besitz  einst  gezogen  und  wie  sich  hier  nach- 
einander die  verschiedensten  Gewalten,  die  deutsche  Kaisermacht,  die  Habs- 
burger, Mailand  und  die  Eidgenossenschaft,  den  Rang  abgelaufen  haben;  die 
tiefgehenden  Folgen  aber,  die  durch  die  endgültige  Entscheidung  hervorgerufen 
worden  sind,  treten  auch  am  Gotthardmassiv  selbst  dadurch  zu  Tage,  daß  die 
Situation,  die  vorher  hier  vorwaltete,  durch  sie  vollständig  in  das  Gegenteil  ver- 
kehrt wurde,  und  daß  die  junge  Schweizer  Eidgenossenschaft  im  Stande  war, 
diesen  Grenzstock  der  verschiedensten  Gebiete  zum  Mittelpunkte  ihres  ge- 
schlossenen Machtbereichs  zu  verwandeln. 

Aber  auch  zur  Erklärung  der  frühesten  Geschichte  dieses  Alpenweges 
können  die  Verhältnisse  an  jenem  Übergang,  wie  sie  die  Natur  geschaffen  hat 
und  wie  der  Mensch  ihnen  anfänglich  gegenüberstand,  in  besonderem  Maße 
beitragen.  Bei  weitaus  der  Mehrzahl  der  großen  Alpenstraßen  findet  sich  die 
Erscheinung,  daß  der  Anstieg  von  Norden  her  verhältnismäßig  bequem  ist,  und 
daß  sich  erst  am  Südabhang  die  wirklich  schwierigen  Wegestellen  vorfinden, 
die  nun  auch   durch   die   anfangs  durchaus    nur   von   Süden    her   an   die   Alpen 

')  Schu.  S.  477.  2)  Schu.  S.  170. 


Das  Mittelalter  am  S.  Gotthard.  189 

herantretende  Kultur  viel  unmittelbarer  und  nachdrücklicher  dem  Verkehr  er- 
schlossen worden  sind.  Nur  vor  einigen  der  bündner  Pässe  liegt  nördlich  auch 
in  Gestalt  der  Via  mala  eine  wirklich  schwierige  Stelle,  die  aber  doch,  weil  sie 
wenigstens  eine  Umgehung  gestattete,  noch  bei  weitem  nicht  an  das  ursprünglich 
am  Nordausgang  des  Gotthard,  zwischen  Flüelen  und  Andermatt  bestehende 
Hindernis  heranreichte,  hier,  wo  die  Ufer  der  zu  Tal  herabstürzenden  Reuß 
nur  steile,  zerklüftete  Wände  waren,  so  daß  nicht  einmal  für  den  Fuß  eines 
Kletterers  Raum  blieb,  und  wo  hauptsächlich  auch  rechts  und  links  die  Kämme 
des  Hochgebirges  sogleich  wieder  so  trotzig  und  wegefeindlich  emporsteigen, 
daß  sich  hier  nicht  einmal  ein  genügsamer  Lokalverkehr  zu  entwickeln  vermochte. 
Nichts  anderes  als  dieser  natürliche  Zustand  ist  daher  auch  der  Grund  gewesen, 
wenn  der  Verkehr  zwischen  Deutschland  und  Italien  im  Mittelalter,  als  er  nach 
dem  Verschwinden  des  antiken  Kulturbildes  schon  längst  eindringlich  auf  die 
Mitte  der  Alpen  hingewiesen  worden  war,  doch  hier  zunächst  nicht  den  Gotthard 
sondern  den  Lukmanier  oder  Bernhardin  für  seine  Zwecke  dienstba.  zu  machen 
suchte. 

Oben  an   dem    Nordabhang   des  Gotthard  müssen  wir  uns   daher   in    jenen 
Zeiten  nördlich  LIri   und   südlich  Urseren   als   zwei   streng   geschiedene   Welten 
vorstellen,   ein  Zustand,   bei    dem    das    nach    dem    Maßstabe    des    Hochgebirges 
durchaus  nicht  unwohnlichc  Urseren  zwar  von  Osten  und  Westen,  im  geringen 
Maße  wohl  auch  von  Süden  über   den  Gotthardpaß  selbst,  keinesfalls   aber   von 
Norden  her  mit  der  Außenwelt  in  Verbindung  stand.     Diese  Lage  spiegelt  sich 
auch    darin    wieder,  daß    sich    Urseren    in    dem    Augenblick,   in   dem  es  in  die 
Geschichte  eintritt,  unter  der  Oberhoheit  von  Disentis  befindet '),  weil  es  gerade 
von  dieser  Seite  her  immer  am  leichtesten  zugänglich  gewesen  ist.     Auch  sonst 
kann  man  aber  auch  heute  noch  hier  an    Ort  und   Stelle   Mancherlei  entdecken, 
das  zur  Aufklärung  der  ältesten  Schicksale  des  S.  Gotthard  beitragen  kann.     Es 
ist  dies  einmal  das  Vorhandensein  zweier  so  nah  benachbarter  Orte  in  Urseren, 
von  Andermatt  und  Hospental,  da  einst  in  der  Zeit  der  Naturalwirtschaft  ein  ein- 
ziges Dorf  hier  völlig  genügt  haben  würde.     Diese  Tatsache   legt  also  den    Ge- 
danken nahe,  daß  einer  jener  Orte  bereits  Ursachen  seine  Entstehung  verdankt, 
die  über  Urseren  selbst  hinausreichen.     Es  kann  dieser  letztere  aber  schon  seines 
Namens  wegen    nur  Hospental  sein.     Noch   mehr   auffallen   müssen   aber   einige 
besonders  alte  und    echt  mittelalterliche   Baureste  in   dieser  Gegend,   der  Turm 
in    Hospental   wie  auch    südlich    derjenige    in    Stalvedro,    und    eine    Kirche   bei 
Andermatt,    bei    denen    es    sich    die  Tradition    natürlich   nicht   nehmen   läßt,  sie 
sämtlich  als  langobardisch    anzusprechen.     Von    jenen    Gebäuden    ist    nun    aber 
Zweifellos  der  gewaltige   Turm    in   Hospental,  der  sich   wie   eine    Illustration   zu 
einem  Roman  aus  der  frühmittelalterlichen  Heldenzeit  ausnimmt,   seiner  ganzen 
Bauweise  nach  schon  viel  älter  als  die  Periode,  in  der  der  Streit  um  den  Gott- 
')  Schu.  s.  43a 


190  III.  Kapitel. 

hardübergang  die  hohe  Politik  zu  beschäftigen  begann.  Wir  stehen  also  hier 
zunächst  vor  der  Wahrscheinlichkeit,  daß  Urseren  auch  im  früheren  Mittelalter 
für  den  Durchgangsverkehr  von  einiger  Wichtigkeit  war,  welch'  letzteres  sich 
aber  weiterhin  zunächst  mit  dem  Vorhandensein  eines  solchen  in  der  Längs- 
richtung zwischen  Disentis  und  der  Furka  ganz  gut  erklären  läßt,  da  einerseits 
der  Name  der  Furka,  der  die  Wirkung  derselben  auf  das  Verkehrsbild  so  treu 
wie  nur  möglich  widerspiegelt,  mindestens  ebenso  alt  ist  wie  der  des  Gotthard 
selbst,  und  da  anderseits  die  vollendete  Nordsüdrichtung  Flüelen,  Gotthardpaß, 
Livinental  schlechterdings  nicht  früher  als  im  dreizehnten  Jahrhundert  an  das 
Tageslicht  tritt. 

Ganz  so  leichten  Kaufes  kommen  wir  aber  doch  nicht  an  dieser  Erklärung 
vorüber;  denn  trotzalledem  bleibt  die  Tatsache  bestehen,  daß  jene  zwei  Lango- 
bardentürme doch  in  erster  Linie  auf  eine  Verbindung  über  den  Gotthard  selbst 
hinweisen,  ebenso  der  in  Hospental,  der  genau  an  der  nördlichen  Schwelle  dieses 
Weges  und  noch  vielmehr  derjenige  in  Stalvedro,  der  an  der  anderen  Seite  und  am 
Eingange  eines  daselbst  beginnenden  Engpasses  liegt.  Vor  allem  letzterer  bedeutet 
demnach  eine  echt  mittelalterliche  Straßensperre,  die  u.  a.  der  wie  wir  sie  eben 
in  Bard  kennen  gelernt  haben,  ganz  ähnlich  sieht.  Es  muß  daher  auch  schon 
vor  der  Eröffnung  der  Gotthardstraße  nach  Norden  hin  hier  einmal  eine  Epoche 
gegeben  haben,  in  der  irgendwelche  Machthaber  ein  Interesse  daran  hatten,  auf 
die  durch  Hospental  und  Stalvedro  führenden  Wege  ihre  Hand  zu  legen,  und 
in  der  auch  bereits  der  Übergang  über  den  Paß  selbst,  wenn  auch  im  geringen 
Maße,  als  betreten  vorausgesetzt  werden  muß.  Es  sind  dies  freilich  Verhältnisse, 
deren  genaue  Kunde  nicht  mehr  zu  enträtseln  ist,  die  aber  nichts  Unwahrschein- 
liches an  sich  haben  in  anbetracht  der  Tatsache,  daß  hier  während  des  Mittel- 
alters fast  ein  Jahrtausend  hindurch  die  Grenzen  der  verschiedensten  Reiche 
zusammenstießen.  Jene  Annahme  von  dem  Dasein  eines  beschränkten  aber  in 
sich  sicheren  Lokalverkehrs,  dem  jedoch  urkundlich  nicht  beizukommen  ist, 
bildet  ja  überhaupt  oft  das  einzige  Mittel,  um  manche,  den  geschichtlichen  Tat- 
sachen auf  den  ersten  Blick  fast  widersprechende  Erscheinungen  an  jenen  großen 
Alpenlinien  zu  erklären,  die  als  solche  erst  später  in  die  Geschichte  eingetreten 
sind,  und  die  man  sich  deshalb  vorher  leicht  als  ganz  unbetreten  vorstellt'). 
Die  Her-  Dieses    ganze    Bild    verträgt    sich    nun    zwar    durchaus    mit    der    scharfen 

Verbindung  Trennung,    wie    wir    sie    bis    zur   Wende    des    zwölften  Jahrhunderts    zwischen 
zwischen  Urseren   und   Uri   voraussetzen   müssen,   bietet  aber  doch   ebensowenig   irgend- 
Uri  als  Ur-  welchen  Anhalt  für  die  Erklärung  des  Vorgangs,  durch  den  dann  wirklich  jener 
Sache  der  Riegel   gesprengt  wurde   und  dadurch   schließlich   die  Gotthardstraße   als  Welt- 
eigentlichen linis  in  <i3s  Leben  gerufen  werden  sollte.    Da  Naturereignisse  hier  ausgeschlossen 
Nordsüdlinie,  sind,   und  da  es  ebensowenig  den  Verhältnissen   des  Mittelalters  entspricht,   daß 

')  Vgl.  besonders  den  Namen  Bivio  und  das  Verhältnis  des  Septimer  zum  Julier  während  der 
Römerzeit,  Verkehrsgeschichte  1.  B.  S.  93. 


Das  Mittelalter  am  S.  Gotthard.  IQl 

Einflüsse  von  weit  her  am  Werite  gewesen  sein  könnten,  so  werden  jene  Ur- 
sachen auch  nur  in  der  nächsten  Nachbarschaft  und  in  irgendwelchen  Veränder- 
ungen zu  suchen  sein,  die  an  Ort  und  Stelle  Platz  griffen.  Die  mittelalterliche 
Geschichte  der  Alpen  kennt  nun  aber  keine  mächtigere,  ausgebreitere,  alle  Kultur- 
verhältnisse gleich  in  Fluß  erhaltende  ebenso  aber  auch  den  greifbaren  geschicht- 
lichen Nachrichten  mehr  entzogene  Bewegung  als  den  Wechsel  und  die  Um- 
gestaltung der  Bevölkerung  in  den  Bergen,  und  es  liegt  daher  der  Gedanke 
nahe,  auch  hier  einen  solchen  Vorgang  anzunehmen,  derart,  daß  einst  in  einem 
dieser  Täler  eine  neue  Bevölkerung  die  Oberhand  gewann,  die  zugleich  auch 
ein  Interesse  daran  hatte,  eine  Verbindung  jener  beiden  Nachbargebiete  herzu- 
stellen, die  bisher  durch  die  Schlucht  der  Schöllenen  streng  von  einander  getrennt 
waren.  Wenn  wir  nun  aber  Urseren  seit  1309  deutsch  sehen'),  während  früher 
auch  dort  und  noch  heute  dicht  in  der  Nachbarschaft,  östlich  der  Oberalp, 
romanisch  gesprochen  wird,  so  paßt  für  jene  Veranlassung  nichts  so  gut  als  das 
Platzgreifen  eben  dieser  deutschen  Bevölkerung  in  Urseren  selbst,  die  nunmehr 
an  das  gleichfalls  deutsche  Uri  Anschluß  suchte. 

Wir  hatten  ja  bereits  auch  andere  Anzeichen  dafür  gefunden,  daß  jene  Um- 
gestaltung der  Bevölkerung  in  der  näheren  und  weiteren  Umgebung  des  Ober- 
wallis besonders  lebhafte  Kreise  gezogen  hat,  und  weiterhin  die  Annahme 
erwähnt,  daß  die  treibende  Kraft  dieser  Verschiebungen  gerade  hier  in  der 
Hauptsache  in  dem  Vorrücken  deutscher  Elemente  von  dem  nördlichen  Rande 
Oberitaliens  in  die  Zentralalpen  hinein  zu  suchen  ist.  Dieser  Gesichtspunkt 
besteht  nun  aber  hier  nicht  nur  im  einzelnen  seine  Probe,  da  heute  noch  die 
Bewohner  von  Urseren  viel  weniger  den  Urnern,  viel  mehr  aber  denen  des 
Oberwallis  gleichen 2),  sondern  seine  Nutzanwendung  liefert  überraschender  Weise 
diesmal  auch  die  Erklärung  für  ein  Ereignis,  das  weltgeschichtliche  Folgen  ge- 
habt hat,   dessen  Ursachen  man  aber  sonst   fast  ratlos   gegenüberstehen  würde^). 

Es  ist  immerhin  eine  bemerkenswerte  Erscheinung,  wenn  das  Landschafts-  Die  Landschaft 
bild  am  Nordabhang  der  Gotthardstraße,  die  nun  doch  schon  seit  einem  halben  ^"^  ^^^' 
Jahrtausend  eine  der  wichtigsten  Durchgangsstraßen  Mitteleuropas  geblieben  ist, 
so  wenig  historische  Erinnerungen,  so  wenig  Zeugnisse  eines  reichen  Kultur- 
lebens hervortreten  läßt.  Neben  der  Armut  der  Gegend  und  der  Enge  des  Tal- 
weges mag  als  besondere  Ursache  mitgewirkt  haben,  daß  diese  Linie  anfangs 
lange  Zeit  zugleich  einer  der  heißumstrittensten  Punkte  der  Welt  war,  und  weil 
die  stetige  Kampfstellung,  in  der  sich  die  Anwohner  befanden,  damals  hier 
keinen  Wohlstand  aufkommen  ließ.  Selbst  in  dem  Stadtbild  Luzerns  sucht  man 
deshalb  vergebens  die  Züge  einer  reichen  Vergangenheit,  während  die  Ort- 
schaften weiter  bergauf,  wie  es  nicht  anders  zu  erwarten  ist,  überhaupt  erst  nach 
der  Eröffnung  des  Weges  im  dreizehnten  Jahrhundert  und  als  einfache  Straßen- 
punkte an  das  Tageslicht  treten  •*).  ' 

')  Schu.  S.  172.  2)  M.  Schw.  S.  210.  •'■)  Vgl.  Anh.  21.  ^)  Oe.  1.    S.  274,  285. 


192  III.  Kapitel. 

So  recht  sang  und  klanglos  im  geschichtlichen  Sinne  führt  aber  auch  die 
Straße  weiter  von  Hospental  über  den  Gotthard  nach  Airolo  hinüber.  Im  Be- 
reich dieses  Überganges,  der  heute  nach  der  Erbauung  der  Eisenbahn  vielleicht 
wieder  der  stillste  aller  großen  Alpenpässe  geworden  ist,  hat  sich  übrigens  der 
alte  Saumweg  des  Mittelalters  überall  sehr  gut  erhalten,  der  viel  tiefer  liegend 
als  die  neue  Straße  und  wenig  breit,  nur  für  Reiter,  Fußgänger  und  Saumtiere 
geeignet,  dicht  neben  der  jungen  Reuß  stracks  die  Höhe  hinaneilt,  und  an  dem 
auch  noch  die  verlassenen,  alten,  durch  aufgeschichtete  Steine  und  ohne  Ver- 
wendung des  Mörtels  errichteten  Schutzbauten  vorhanden  sind.  Bis  vor  kurzem 
stand  hier  auf  der  Höhe  auch  noch  das  alte  Hospiz  aufrecht,  das  neben  den 
anderen  Gebäuden  aus  neuerer  Zeit  schon  deshalb  nicht  zu  verkennen  war,  weil 
allein  an  diesem  vorbei  die  alte  Straße  führte,  die  sich  an  jener  Stelle  zu  einem 
gepflasterten  Vorplatz  erweiterte.  Dieses  Hospizes  auf  der  Paßhöhe  wird  zum 
ersten  Mal  im  J.  1331  gedacht'),  also  etwa  ein  Jahrhundert  nach  der  Entstehung 
der  Gotthardstraße  als  eigentlicher  Alpenlinie;  zu  gleicher  Zeit  befindet  sich 
daselbst  aber  auch  bereits  eine  Sust,  wodurch  demnach  vor  Augen  tritt,  wie 
eifrig  sich  sogleich  der  Handel  diese  Verbindung  zu  nutze  gemacht  hat.  Der 
h.  Gotthard  selbst  gehört  freilich  durchaus  nicht  zu  jenen  Heiligen,  die  in  den 
Alpen  alteingesessen  sind,  und  wie  jener  Bergstock  zu  dem  Namen  dieses  alten 
Hildesheimer  Bischofs  gekommen  ist,  dafür  läßt  sich  die  einzige  Andeutung 
darin  finden,  daß  es  auch  in  Mailand  eine  Kirche  S.  Godehards  gab,  und  daß 
der  Namenstag  desselben,  der  4.  Mai,  dort  als  Festtag  gefeiert  wurde-). 

Im  dreizehnten  und  vierzehnten  Jahrhundert,  in  jener  ersten  Periode,  in 
der  der  Gotthard,  von  den  Lombarden  Ursare  genannt^),  bereits  als  große  Welt- 
straße benutzt  wurde,  war  ja  auch  die  ganze  südliche  Hälfte  dieses  Weges  bis 
nördlich  an  die  Ränder  von  Urseren,  wo  heute  der  Kanton  Tessin  endigt,  durch- 
aus den  Einflüssen  Mailands  unterworfen.  Infolge  dieses  Zustandes  hat  nun 
damals  aber  auch  zugleich  das  Kulturbild  der  Gestade  des  Langen-  und  des 
Luganersees  eine  so  gewaltige  Umgestaltung  erfahren,  daß  heute  der  frühere 
Zustand  hier  kaum  noch  zu  erkennen  ist.  Wie  aus  der  Römerzeit  aus  diesen 
schönen  Landschaften  eine  viel  geringere  Kunde  dringt  als  vom  Comersee  und 
von  den  dort  nordwärts  in  die  Alpen  führenden  Tälern,  so  waren  diese  auch  im 
folgenden  Jahrtausend  zunächst  nur  ein  stilles  Hinterland  Mailands,  ganz  ohne 
Bedeutung  für  den  Welthandel,  in  das  nur  der  über  den  Lukmanier  und  Bern- 
hardin gehende  Reiseverkehr  von  außen  her  einiges  Leben  brachte.  Schon  da- 
mals hat  daher  zwar  als  Pforte  dieser  beiden  Übergänge  Bellinzona  seine  Be- 
deutung gehabt^*),  das  den  Verkehr  dann  in  gerader  Linie  über  die  Wellen  des 
Langensees  nach  Mailand  weiterleitete.  Während  aber  damals  das  Livinental 
von  Biasca  aufwärts  eher  stiller  und  abgelegener  lag  als  heute  das  benachbarte 
Blegnotal,    war  abwärts    die   eigentliche    Herrin    am    See   und    zugleich    in    den 

')  Schu.  S.  407.         2)  Schu.  S.  226.         ^  Oe.  i.  S.  273.         ♦)  Schu.  S.  14. 


Das  Mittelalter  am  S.  Gotthard.  193 

Tälern  des  Hinterlandes  Locarno.  Noch  heute  zeigt  dies  die  Bauart  des  dortigen 
Schlosses,  und  im  dreizehnten  Jahrhundert  soll  diese  Stadt  fünftausend  Ein- 
wohner gehabt  haben.  Nach  der  Entstehung  des  Gotthards  als  Weltstraße  wird 
aber  dann  zunächst  in  dieser  ganzen  Zone  das  Livinental  wichtiger  als  alles  andere 
und  sein  eigentlicher  Schlüssel,  Bellinzona,  daher  ein  heiß  umstrittener  Besitz. 
Locarno  büßt  dagegen  jetzt  seine  Vormachtstellung  ein,  um  dann  später,  als  die 
Eidgenossen  auch  hier  festen  Fuß  gefaßt  haben,  von  diesen  bewußt  herabgedrückt 
zu  werden,  weil  es  vom  Norden  her  schwerer  zu  beherrschen  war.  Heute 
sehen  wir  daher  nicht  Locarno  sondern  Lugano  als  den  Hauptort  dieser  Gegen- 
den, wie  ja  bereits  Luini,  der  in  dieser  Gegend  (Luino)  zu  Hause  war,  dort 
und  nicht  in  Locarno  Arbeit  fand. 


Scheffel,  Verkehrsgeschichtc  der  Alpen.    2.  Band.  {3 


IV.  Kapitel. 
Die  Straßen  Graubündens. 


Andauernde  Wir  kommen   nunmehr  nach   Bünden,    jener   Landschaft,   die   sich  schon 

Wichtigkeit 
Graubündens  geographisch   als  eine   rechte  Straßenprovinz   aus  dem  Alpengebirge   heraushebt 

als  Straßen-  und  deren  Gebirgswege  allein  wie  nur  diejenigen  in  den  Westalpen  auch  niemals 
Mittdaiter.  ihrer  Wichtigkeit  nach  in  die  zweite  Linie  gedrängt  worden  sind.  Wir  kennen 
die  westliche  Hälfte  Rätiens  während  der  Römerzeit  als  ein  festgefügtes  Glied 
in  der  römischen  Provinzialorganisation,  das  uns  heute  eine  Unzahl  von  Fund- 
stellen von  Römermünzen  gleichsam  als  Samenkörner  für  die  geschichtliche  Dar- 
stellung aufgeschlossen  hat,  und  das  von  zwei  ausprobierten  Durchgangslinien 
nach  Germanien  hinüber  durchzogen  wurde.  Es  sind  dieses  der  Splügen  und 
ein  Übergang  östlich  davon  (Julier),  die  auf  Grund  der  Itinerarien  außer  allen 
Zweifel  stehen,  zu  denen  sich  dann  noch  in  den  letzten  Stunden  des  Altertums 
jene  Nachrichten  gesellen,  als  einige  Kämpfe  der  Völkerwanderung  sich  um 
Bellinzona  bewegen  und  demnach  jetzt  auch  der  Lukmanier  und  der  Bernhardin 
von  den  ersten  kühlen  und  dünnen  Strahlen  der  aufgehenden  Sonne  der  Ge- 
schichte umspielt  werden. 

Ist  dies  die  Situation  im  Altertum,  so  ergiebt  sich  für  das  Mittelalter  auf 
den  ersten  Blick  kaum  ein  anderes  Bild;  denn  die  Stelle,  wo  vorher  die  Haupt- 
straßen durchliefen,  hat  auch  damals  nichts  an  ihrer  Wichtigkeit  eingebüßt.  Hier 
hebt  sich  jetzt  in  dem  Raum  zwischen  den  beiden  alten  Römerstraßen  das  ganze 
Mittelalter  hindurch  der  Septimer  unbestritten  als  die  bei  weitem  wichtigste 
Straße  Bündens  heraus,  während  der  Aufhellung  des  anbrechenden  Tages  ent- 
sprechend, und  je  länger  um  so  mehr,  auch  die  übrigen  Straßen  des  Landes 
vom  Lukmanier  bis  zur  Albula  dem  Verkehre  erschlossen  werden.  Dies  der 
geschichtliche  Befund  in  der  Hauptsache,  der  bei  Betrachtung  aus  der  Ferne 
jene  einfachen  Züge  Jahrhunderte  hindurch  festhält  und  so  genügt,  um  die 
Kontinuität  der  Wichtigkeit  der  bündner  Straßen  zu  illustrieren,  der  bei  näherem 
Zusehen    jedoch   zwischen    seinen    Hauptlinien    noch   eine   ganze   Anzahl   trüber 


Die  Straßen  Graubündens.  195 

Schattierungen  erkennen  läßt,  die  für  uns  die  ungelösten  Probleme  in  der  Ge- 
schichte dieses  Landes  anzeigen. 

Von  jener  Tatsache,  bei  der  wir  Bünden  am  letzten  Ende  des  Altertums 
verlassen  hatten,  müssen  wir  auch  hier  wieder  ausgehen;  es  ist  diejenige,  daß 
der  Frankenkönig  im  J.  615  die  „alten"  Zollstellen  in  diesem  Lande  bestätigte'). 
Diese  Nachricht  macht  es  nun  zwar  zur  Gewißheit,  daß  der  durch  Bünden 
gehende  Verkehr  bis  zu  jenem  Zeitpunkt  keine  Unterbrechung  erlitt;  sie  giebt 
uns  an  dieser  Stelle  aber  doch  zugleich  deshalb  ein  Rätsel  auf,  weil  wir  kaum 
zwei  Jahrhunderte  später  hier  vor  der  vollendeten  Tatsache  stehen,  daß  die 
beiden  alten  Paßübergänge  der  Römer,  der  Julier  und  der  Splügen,  schlechter- 
dings verlassen  liegen,  und  daß  dagegen  der  zwischen  diesen  gelegene  Septimer 
jetzt  plötzlich  ein  durchaus  gebräuchlicher  Alpenweg  geworden  ist,  der  sich  an 
Wichtigkeit  den  andern  mittelalterlichen  Hauptübergängen,  dem  Mont  Cenis, 
dem  Gr.  S.  Bernhard  und  dem  Brenner,  durchaus  an  die  Seite  stellen  kann. 
Wenn  aber  in  den  Westaipen  die  Ursachen  für  den  Wechsel  zwischen  dem  Mont 
Cenis-  und  dem  Mont  Genevre-Übergang  in  der  Veränderung  der  ganzen 
Weltlage  klar  vor  Augen  lagen,  so  läßt  es  sich  von  vornherein  feststellen,  daß 
diesmal  mit  einer  gleichen  Begründung  nichts  anzufangen  ist,  da  der  Septimer 
im  Norden  wie  im  Süden  keine  anderen  Endpunkte  als  der  Julier  und  der 
Splügen  selbst  vor  sich  hat. 

Aus  jener  Tatsache,  daß  der  Frankenkönig  615  Veranlassung  hatte,  der 
Aufrechterhaltung  der  alten  Verkehrsverhältnisse  in  Bünden  seine  Aufmerksamkeit 
zu  widmen,  wie  nicht  minder  daraus,  daß  sich  dies  in  den  J.  755  und  779  unter 
Pippin  und  Karl  dem  Gr.  in  noch  energischerer  Weise  wiederholte,  geht  jeden- 
falls so  viel  unzweifelhaft  hervor,  daß  damals  hier  irgend  etwas  im  Werke  ge- 
wesen sein  muß,  das  geeignet  war,  eine  Veränderung  in  dem  bis  dahin  bestehen- 
den Straßenbild  hervorzurufen.  Das  einzige  Mittel,  um  bei  der  Erforschung 
dieser  Sachlage  einen  kurzen  und  unsicheren  Schritt  vorwärts  zu  kommen,  giebt 
uns  aber  auch  hier  nur  die  Gegenüberstellung  des  Kulturbildes  in  den  ersten 
Jahrhunderten  des  Mittelalters  und  der  in  den  Alpenstraßen  Bündens  ihrer  geo- 
graphischen Beschaffenheit  nach  liegenden  Möglichkeiten.  Die  Natur  hat  es  so 
und  nicht  anders  vorgeschrieben,  daß  unweit  von  Chur,  dort,  wo  sich  die  ver- 
schiedenen Arme  des  jungen  Rheins  zu  einer  Rinne  versammeln,  das  einzige 
nördliche  Tor  für  alle  durch  das  Land  von  Italien  kommenden  Straßen,  vom 
Lukmanier  bis  zum  Flüelapaß,  liegt.  Auch  im  Süden  wiederholt  sich,  wenn  auch 
nicht  in  der  gleichen  Schärfe,  derselbe  Zusammenschluß;  denn  auch  hier  werden 
alle,  die  über  den  Splügen  oder  einen  anderen  östlicheren  Übergang  wandern, 
nach  derselben  Stelle,  der  Nordspitze  des  Comersees  hingedrängt,  und  nur  die 
kleinere  westliche  Gruppe  der  Übergänge,  die  vom  Lukmanier  bis  Bernhardin, 
die   sich  nach   dem  Ticino   und  Bellinzona  zu   öffnet,   macht  hiervon   eine  Aus- 

1»  Oe.  II.  S.  179. 
13* 


manier. 


196  IV.  Kapitel. 

nähme.  Aber  gerade  aus  dieser  an  sich  geringen  Divergenz  im  Süden  ergiebt 
sich  doch,  wenn  man  die  Kulturverhältnisse  des  ersten  Mittelalters  in  Rechnung 
zieht,  eine  notwendige  Verschiedenheit  in  der  damaligen  Wichtigkeit  dieser  beiden 
Straßengruppen.  Seit  den  Zeiten  der  römischen  Republik  hatte  der  gegebene 
und  gewollte  südliche  Eintrittspunkt  für  die  Straßen  durch  Bünden  allein  bei 
Como  gelegen;  als  sich  der  Schwerpunkt  Oberitaliens  jedoch  westwärts  nach 
Pavia  (Ticino)  verschoben  hatte,  mußten  nunmehr  auch  jene  fiach  dem  Ticino 
und  nach  Pavia  zu  auslaufenden  Linien  eine  erhöhte  Bedeutung  erlangen,  und 
wir  können  daher  annehmen,  daß  auch  diese  damals  zum  ersten  Male  einiger- 
maßen von  dem  großen  Verkehr  benutzt  worden  sind. 
Der  Luk-  Diese  Wahrscheinlichkeit  wird  aber  noch  deutlicher  hervortreten,  wenn  wir 

nun  das  Wenige  unter  die  Lupe  nehmen,  das  die  mittelalterliche  Geschichte  von 
der  westlichsten  der  bündner  Straßen,  der  über  den  Lukmanier,  erkennen  läßt. 
Diese  geht  wie  alle  anderen  Straßen  Bündens  nördlich  von  Chur  ab,  führt  aber 
von  dort  zunächst  in  fast  westlicher  Richtung  in  langer  Linie  das  Vorderrheintal 
hinauf,  um  erst  fast  an  dessen  Ende,  bei  Disentis,  in  die  direkt  südliche  Richtung 
umzubiegen  und  dann  bald  nach  Überschreitung  des  eigentlichen  Alpenkammes 
durch  das  Blegnotal  im  Tal  des  Ticino  bei  Biasca  anzukommen.  Der  einzige 
Nachteil  dieser  Alpenlinie  besteht  demnach  nur  darin,  daß  die  absolute  Ent- 
fernung, die  hier  bei  einer  Reise  von  Chur  nach  dem  Rande  Italiens  bewältigt 
werden  muß,  größer  als  die  bei  Gebrauch  der  anderen  benachbarten  Paßstraßen 
ist,  obwohl  sonst  die  Bedingungen  der  Wegbarkeit,  wie  die  bei  diesem  Teil  der 
Alpen  geringe  Höhe  des  eigentlichen  Überganges  (1917  m)  und  der  Einfluß 
schwieriger  Straßenstellen  gerade  beim  Lukmanier  weit  günstiger  als  anderswo 
genannt  werden  können.  Der  Name  des  Überganges  selbst,  auf  dem  heute  als 
Grenzzeichen  zwischen  Graubünden  und  Tessin  ein  Kreuz  steht,  findet  sich  als 
solcher  urkundlich  erst  im  J.  1303  als  der  Ort  „zuo  dem  Kriuz  uff  Luggemein  "'). 
und  es  ist  nicht  allzuwesentlich,  ob  er  besser  als  locus  magnus  „Auf  der  Höhe" 
oder  als  Paß  des  großen  Waldes  (lucus  magnus)  zu  erklären  ist^). 

Die  Untersuchung  über  die  Benutzung  der  einzelnen  bündner  Straßen  im 
Mittelalter  leidet  nun  aber  von  Anfang  bis  zu  Ende  an  der  mangelhaften  Orts- 
bestimmung, die  freilich  in  dem  geschlossenen  Bau  dieses  Straßennetzes  hier 
noch  ihren  besonderen  Grund  hat.  Denn  die  mittelalterlichen  Quellen  lassen, 
selbst  wenn  sie  Clavenna  oder  den  Comersee  als  die  Richtung  des  eingeschlagenen 
Weges  angeben,  dabei  doch  immer  noch  die  Ungewißheit  der  Straßen  vom 
Splügen  bis  zum  Julier  übrig,  während  —  was  noch  dazu  der  häufigere  Fall  ist 
—  lediglich  bei  einer  Angabe  des  nördlichen  Vororts  Chur  schlechthin-  alle 
Übergänge  des  Landes  vom  Lukmanier  bis  zum  Ofenpaß  benutzt  worden  sein 
können.  Bei  der  ersten  dunkelsten  Periode  der  Römerzüge  ist,  wie  begreiflich, 
auch  die  Unklarheit  über  die  Benutzung  der  einzelnen  Übergänge  am  aller- 
»)  Oe.  I.  S.  267.        2)  Baedeker  Schweiz,  22.  Au.  S.  349;  Z.  A.  1902.  S.  39. 


Die  Straßen  Graubündens.  107 

Stärksten;  so  viel  bleibt  aber  auch  hier  bestimmt  übrig,  daß  bei  jenen  Unter- 
nehmungen, die  an  sich  durchaus  nicht  selten  waren,  auch  die  Straßen  durch 
Bünden  benutzt  worden  sein  müssen'),  und  ebenso,  daß  damals  trotzdem  noch 
keine  Anzeichen  auf  den  späteren  Hauptübergang  des  Landes,  den  Septimer, 
hinweisen.  Wenn  wir  nun  aber  bedenken,  daß  das  Hauptziel  dieser  ersten  Züge 
zumeist  Pavia  war,  so  ist  dies  eine  Überlegung,  die  unsern  Bück  schon  an  sich 
auf  jene  westlichen  Straßen  Bündens  lenken  muß,  und  die  jedenfalls  schon  des- 
halb auch  die  Benutzung  des  Lukmanier  im  ersten  Mittelalter  in  den  Bereich 
der  Möglichkeit  rückt.  Entscheidend  tritt  nun  aber  weiterhin  hinzu,  daß  später, 
in  der  deutschen  Kaiserzeit,  als  die  einzelnen  Alpenstraßen  für  die  Bedürfnisse 
des  Mittelalters  durchaus  ausprobiert  waren,  und  bei  der  man  auch  der  Richtung 
der  einzelnen  Römerzüge  besser  nachkommen  kann,  ein  Teil  der  auf  Bünden 
fallenden  Römerzüge  zweifellos  über  den  Lukmanier  oder  den  Bernhardin  ge- 
gangen sein  muß.  Es  sind  dieses  zunächst  vier  Züge,  die  von  1004,  1164,  1413 
und  1431 2).  Und  wenn  bei  diesen  Zügen  auch  nur  die  größere  Wahrscheinlich- 
keit für  den  Lukmanier  und  nicht  für  den  Bernhardin  spricht,  so  hat  doch 
allein  der  Lukmanier,  nicht  aber  der  Bernhardin  zwei  Römerzüge  aufzuweisen, 
die  nachweisbar  über  ihn  gegangen  sind;  es  sind  dies  einmal  der  Zug  vom 
J.  965,  als  Otto  der  Gr.  nach  der  Wiederherstellung  des  Kaisertums  nach 
Deutschland  zurückkehrte,  und  ferner  der  Zug  Friedrichs  I.  nach  Deutschland 
vom  J.  1186.  Sicher  ist  auch,  daß  dieser  Kaiser  einmal  hier  auf  der  Burg 
Serravalle  im  Blegnotal  Quartier  genommen  hat''). 

So  hat  es  denn  durchaus  nichts  Unwahrscheinliches  an  sich,  daß  in  der  Disentis 
ersten  Hälfte  des  Mittelalters  dieser  in  der  "Mitte  der  Alpen  gelegene  Übergang  vorder- 
einigermaßen  die  Rolle  des  noch  unerschlossenen  S.  Gotthard  ausgefüllt  hat,  rheintai. 
wie  es  überhaupt  für  den,  der  Augen  hat  zu  sehen,  dieser  ganzen  Erwägungen 
nicht  bedarf  im  Anblick  von  Disentis,  das  in  der  unmittelbaren  Nachbarschaft 
des  Lukmanier  plötzlich  zugleich  mit  dem  Anbruch  des  Mittelalters  aus  dem 
Dunkel  heraustritt.  Mag  der  Zufall  auch  noch  so  weit  und  noch  so  tief  alle 
Verhältnisse  durchdringen,  es  wird  zum  wenigsten  zweifelhaft  sein,  ob  dies  auch 
zu  seinem  Reiche  gehört,  daß  der  Zeitpunkt  (614),  in  dem  die  Gründung  von 
Disentis  gesetzt  wird ''),  mit  jener  ersten  Bestätigung  der  Zollstellen  Bündens 
durch  den  Frankenkönig  Chlotar  vom  J.  615  genau  zusammenfällt.  Im  J.  717 
bezl.  747  sollen  Karl  Martell  bezl.  Karlmann  einmal  an  Disentis  vorübergezogen 
sein  5),  und  daher  mag  es  wohl  kommen,  daß  der  Lukmanier  mit  Vorliebe 
schlankweg  als  die  alte  Pippinidenstraße  bezeichnet  zu  werden  pflegt^),  wenn 
dieser  Weg  urkundlich  dann  freilich  erst  seit  dem  vierzehnten  Jahrhundert  auch 
als  Handelsstraße  erscheint,  und  als  solche  mit  allem  und  jedem,  mit  Hospizen, 
Zöllen  und  Lagerhäusern  besetzt  ist'). 

')  Schu.  S.  7.    ^)  Oe.  II.  S.  317.    •^)  Scbu.  S.  62,  90.    •))  PI.  S.  276.    ^)  PI.  S.  274.    «)  Ber. 
S.  168;  Sehe.  III.  B.  S.  84.    ')  Schu.  S.  366f. 


198  IV.  Kapitel. 

Und  jene  Zeugnisse  einer  belebten  Vergangenheit  lassen  uns  auch  an  den 
einzelnen  Orten  entlang  des  Weges  nicht  im  Stich,  wie  es  überhaupt  auffallen 
muß,  daß  die  Geschichte  des  Vorderrheintales,  von  dem  in  römischer  Zeit 
nichts  zu  sagen  ist,  sogleich  mit  dem  Beginn  des  Mittelalters  eine  besonders  leb- 
hafte Färbung  annimmt.  Da  ist  Ilanz,  das  als  villa  Ilianda  urkundlich  schon  im 
achten  Jahrhundert  erscheint')  und  das  während  des  Mittelalters  gemeinhin  „die 
erste  Stadt  am  Rhein"  genannt  wurde,  eine  Bezeichnung,  die  aber  doch  nur  aus 
dem  Gesichtspunkt  des  nach  Norden  Reisenden  verständlich  ist  und  eine  Be- 
gehung des  Lukmanier  geradezu  voraussetzt,  da  dieser  allein  von  Süden  her 
auf  diesen  Ort  herabläuft.  Die  älteste  Geschichte  von  Disentis  ist  uns  verloren; 
urkundlich  kommt  es  zum  ersten  Mal  im  J.  766  vor,  als  es  von  Bischof  Tello 
von  Chur,  der  einmal  dessen  Abt  gewesen  war,  testamentarisch  bedacht  wurde^); 
da  aber  dieser  Tello  dem  ersten  Geschlecht  des  Landes  angehörte,  so  kann  man 
auch  annehmen,  daß  schon  damals  mit  jener  Stellung  ein  hervorragender  Rang 
verbunden  war.  Bemerkenswert  ist  bei  Disentis  auch,  daß  dieses  während  der 
Sachsen-  und  Frankenkönige  durchaus  als  königliches  Eigentum  galt,  aber  trotz- 
dem von  den  Herrschern  immerfort  aus  der  einen  Hand  in  die  andere  geschenkt 
wurde^);  es  mag  sich  demnach  auch  hier  ganz  ähnlich  wie  bei  dem  Straßen- 
punkt Chiavenna  verhalten  haben,  in  dessen  Schicksalen  sich  die  alte  Wahrheit 
widerspiegelt,  daß  das  sich  schwer  festhalten  läßt,  was  viele  zugleich  begehren. 
Auch  in  den  zahlreichen  Adelsburgen  (Hohentrins,  Löwenberg,  Jörgenberg, 
Saxenstein,  Rinkenberg,  Castelberg)  ragt,  besonders  wenn  man  dieses  Bild  mit 
dem  nahe  benachbarten  Reußtal  vergleicht,  hier  noch  ein  Stück  echt  mittelalter- 
lichen Lebens  heraus,  und  auch  im  Bereich  des  Lukmanier  selbst  braucht  man, 
wie  dies  freilich  auch  auf  allen  anderen  Pässen  Bündens  der  Fall  ist,  nicht  ver- 
gebens nach  alten  Straßenresten  auf  die  Suche  zu  gehen '*). 
Der  Der    nächste   Alpenübergang,    mit    dem   wir    uns    hier    in    den   Zeiten    des 

'Mittelalters  zu  beschäftigen  haben,  ist  der  Bernhardin,  der  seiner  Lage  nach 
bereits  ein  Mittelglied  zwischen  dem  Lukmanier  und  der  östlichen  Gruppe  der 
bündner  Straßen  bildet,  da  er  wie  jener  zwar  südlich  in  das  Gebiet  des  Ticino 
ausmündet,  im  Norden  dagegen  nicht  das  Vorderrheintal  sondern  ebenso  wie 
der  Splügen  von  Tamins  bis  zum  Dorfe  Splügen  das  Gebiet  des  Hinterrheins 
zu  seiner  Anlaufstrecke  benutzt.  Der  jetzige  Name  des  Passes  stammt  erst  aus 
dem  fünfzehnten  Jahrhundert.  Noch  heute  aber  heißt  ein  benachbarter  Gipfel 
hier  Pizzo  Uzzello^),  und  als  Mons  qui  dicitur  Vogel  d.  h.  als  der  Berg,  wo  die 
Zugvögel  vorüberziehen,  erscheint  er  daher  auch  bereits  einmal  viel  früher,  bei 
einer  besonderen  Gelegenheit,  als  941  die  Sarazenen  die  Alpenpässe  sperrten, 
und  es  Willa,  der  Gattin  Berengars,  trotzdem  gelang,  in  kalter  Winterszeit  diesem 

')  PI.  S.297.  2)  PI.  S.  284.  ^)  PI.  S.  430.  ■*)  Oe.  I.  S.  267.  Die  mittelalterliche  Bedeutung 
des  Lukmanier  müßte  übrigens  durchaus  aus  der  bisher  noch  nicht  genügend  erforschten  Stadt- 
geschichte Bellinzonas  zu  erkennen  sein.    5)  Oe.  II.  S.  170;  M.  Schw.  S.  63. 


Die  Straßen  Graubündens.  199 

hier  herüber  aus  Italien  nach  Deutschland  nachzureisen'),  aber  gerade  dieser 
Umstand  deutet  nicht  so  sehr  auf  eine  damalige  Gebräuchlichkeit  jenes  Über- 
ganges sondern  eher  auf  das  Gegenteil  hin. 

In  späteren  Zeiten  zeigt  sich  dann  die  Rolle  des  Bernhardin  deutlicher  in 
der  Lokalgeschichte  der  ihm  südlich  und  nördlich  anliegenden  Alpentäler,  in- 
sofern die  lebhaften  Beziehungen,  die  jetzt  zwischen  diesen  existieren,  doch  nur 
dadurch  möglich  geworden  sein  können,  daß  der  Bernhardin  selbst  jetzt  als  Ver- 
kehrsweg nach  und  nach  in  Aufnahme  kam.  Südlich  bildet  hier  das  Tal  Misox 
ein  geschlossenes  und  auch  heute  von  einer  besonders  gearteten  italienischen  Be- 
völkerung bewohntes  Alpental,  das  im  Mittelalter  daher  mit  dem  jetzt  in  Ruinen 
liegenden  Schlosse  Mesocco  für  eine  einzelne  Dynastenfamilie  wie  geschaffen 
war.  Im  J.  1026  sehen  wir  dieses  comiiatus  Mesaucinus  noch,  ganz  seiner  süd- 
lichen Lage  entsprechend,  als  ein  Lehen  des  Bistums  Como-),  bis  dann  schließ- 
lich auch  hier,  als  die  letzte  Konsequenz  der  Entstehung  einer  belebten,  über 
den  Bernhardin  gehenden  Handelsstraße,  im  fünfzehnten  Jahrhundert  der  Anfall 
dieses  südlichen  Alpentales  an  das  Gebiet  der  Eidgenossen  nicht  ausgeblieben  ist. 

Allen  von  Nord  nach  Süd  laufenden  Alpenstraßen  Btindens  liegt  der  am  Vom  Bodensee 
Oberalpsee  aufsteigende  und  sich  in  gestreckter  östlicher  Richtung  über  den  Tödi 
bis  zur  Calanda  hinziehende,  lange  und  hohe  Bergwall  vorgelagert,  der  nicht 
nur  bis  heute  den  bündner  Romanen  als  schützende  Grenze  gegenüber  dem 
nördlichen  germanischen  Volkstum  gedient  hat,  sondern  der  es  auch  zum  ewigen 
Gesetze  macht,  daß  den  aus  der  nördlichen  Ebene  auf  Bünden  gerichteten  Zu- 
gangslinien kein  anderer  Eintrittspunkt  in  dieses  Land  als  das  Rheintal  zwischen 
Maienfeld  und  Chur  offensteht.  So  erscheint  Chur  auch  für  den  von  Norden 
kommenden  Wanderer  als  das  eigentliche  Herz  Bündens,  wie  dieser  Stadt  dadurch 
auch,  mag  nun  der  Schwerpunkt  Europas  nördlich  oder  südlich  der  Alpen  liegen, 
zu  allen  Zeiten  ihre  beherrschende  Position  im  Gebirge  selbst  gesichert  ist. 
Jener  nördlichen  Zugangslinien  giebt  es  aber  überhaupt  nur  zwei,  und  sie  können 
keine  anderen  sein  als  diejenigen,  die  von  der  Natur  durch  den  in  ein  einziges 
Bett  versammelten  Rheinstrom  vorgezeichnet  worden  waren,  die  Rinne,  in  der 
dieser  Strom  einst  floß,  und  diejenige,  die  er  heute  inne  hat.  Die  erstere,  die 
bei  Ragatz  in  das  heutige  Rheintal  einmündet,  ist  in  ihrer  Fortsetzung  an  den 
langgestreckten  Gestalten  des  Walensees  und  Zürichsees  sofort  zu  erkennen, 
eine  Linie,  deren  Belebtheit  auch  in  der  ersten  Periode  des  Mittelalters  voraus- 
gesetzt werden  muß,  wenn  man  allein  die  Bedeutung  Zürichs  in  den  Zeiten  der 
Karolinger  und  besonders  am  anderen  Ende  das  Dasein  des  alten  Klosters 
Pfäfers  in  Rechnung  zieht-'). 

Die  andere  ist  dagegen  das  wirkliche  Rheintal  von  Malans  (Malanzes)  bis 
zum  Bodensee.  Wer  heute  dort  von  den  Höhen  oberhalb  Dornbirns  auf  dieses 
herabblickt,  dem  muß  die  Ähnlichkeit  des  Landschaftsbildes  mit  dem  Etschtal 
')  Oe.  1.  S.  215,  11.  S.  171.         2)  Oe.  11.  S.  170.         •3)  PI.  S.  276. 


200  IV.  Kapitel. 

südlich  Bozen  sofort  auffallen,  hier,  wo  das  zum  gewaltigen  Strom  angewachsene 
Gewässer  in  der  Mittellinie  des  Tales  fließt,  und  auch  der  Talboden  selbst  sich 
schon  derart  verbreitert  hat,  daß  auf  beiden  Ufern  und  entlang  der  beiden  hohen 
Talwände  Platz  für  ausgetretene  Straßenlinien  geblieben  ist.  Wir  kennen,  ebenso 
wie  in  jenem  Teile  des  Etschtales,  das  Dasein  dieser  beiden  Straßenrichtungen 
auch  schon  in  der  Römerzeit.  Während  die  Römer  aber  hier  von  Anfang  an 
das  Hauptgewicht  auf  die  östliche  Richtung  legten,  die  unmittelbar  auf  Bregenz 
und  auf  die  von  ihnen  allein  bevorzugte  Ostspitze  des  Bodensees  heranführte, 
gebrauchte  das  Mittelalter  hier  vielmehr  die  Straße  auf  dem  entgegengesetzten 
Ufer. 

Dies  findet  darin  seine  Erklärung,  weil  der  Bodensee  im  Mittelalter  gleich- 
sam ein  Weltwasser  im  kleinen  und  andauernd,  ringsherum  und  in  weiter  Ent- 
fernung ein  Brennpunkt  des  damaligen  Kulturlebens  gewesen  ist.  Wir  konnten 
die  Anfänge  dieser  Entwickelung  schon  zugleich  mit  dem  Beginn  des  Mittelalters 
bei  der  Entstehung  der  dortigen  kirchlichen  Gründungen  (Reichenau,  S.  Gallen) 
beobachten,  Namen,  zu  denen  sich  dann  auch  die  anderen  Orte  am  See  wie 
Arbon  (Arbor  felix)  Konstanz  (Constantia)  Überlingen  (Iburninga)  Bodmann  (zu 
den  Bodemen)  Lindau  (882  Lintowia)  gesellen.  Es  ist  aber  weiter  bezeichnend 
für  die  Bedeutung  jener  Zone  im  Mittelalter,  daß  auch  nördlich  des  Sees,  wo 
von  den  Römern  sehr  wenig  vorgearbeitet  worden  war,  dann  plötzlich  am  Ende 
des  ersten  Jahrtausends  eine  Menge  von  neuen  Orten  entstanden  sind  (Ulm, 
Biberach,  Ravensburg,  Memmingen),  und  daß  in  unmittelbarem  Anschluß  daran 
sich  der  eigentliche  Hausbesitz  des  glänzendsten  deutschen  Herrscherhauses, 
der  Staufer,  ausbreitete,  das  aus  jenen  Gegenden  seine  besten  Kräfte  zog.  Im 
zwölften  Jahrhundert  lagen  hier  die  staufischen  Besitzungen  von  den  Donau- 
quellen über  Ravensburg  und  Memmingen  bis  zur  Zugspitze,  wie  der  Untergang 
jenes  Geschlechtes  dann  auch  die  unmittelbare  Veranlassung  wurde,  daß  alle  jene 
Orte  die  Reichsfreiheit  erlangten  oder  erst  ihrer  froh  wurden.  So  finden  wir 
zuletzt  hier  eine  freie  Reichsstadt  neben  der  anderen,  1155  Ulm,  1275  Lindau, 
1276  Ravensburg,  1296  Memmingen,  1312  Biberach,  bis  zu  den  Kleinen  und 
Kleinsten,  Wangen,  Buchau,  Buchhorn,  Leutkirch  und  Pfullendorf.  Etwas  Folge- 
richtiges und  Gesundes  muß  diese  Einwickelung  aber  doch  an  sich  gehabt  haben, 
wenn  wir  dann  sehen,  daß  gerade  jener  Teil  Oberdeutschlands  schon  seit  dem 
Konstanzer  Konzil  so  ausnehmend  auf  die  am  Ende  des  Mittelalters  empor- 
kommenden Kräfte  reagiert,  und  wie  nicht  nur  die  Schweiz  südlich  des  Boden- 
sees sondern  auch  jene  schwäbischen  Reichsstädte  fast  mit  derselben  Entschieden- 
heit wie  oben  im  Norden  die  Gegend  von  Wittenberg  und  Magdeburg  für  die 
Elemente  des  kulturellen  Fortschritts  Verständnis  zeigen. 

Kehren  wir  aber  jetzt  zu  der  Stelle  zurück,  wo  der  Rhein  in  den  Boden- 
see einmündet,  so  beginnen  bereits  bei  Rorschach  die  mittelalterlichen  Burg- 
ruinen, die,  sämtlich  mit  reindeutschem  Namen,  sich  an  der  westlichen  Talwand, 


Die  Straßen  Graubündens.  201 

eine  nach  der  anderen  bis  Ragatz  fortsetzen  und  so  hier  das  Eindringen  des 
deutschen  Lebens  veranschaulichen.  Die  Straße  selbst  lief  dagegen  von  Rhein- 
eck aus  in  der  Talsohle  weiter;  hier  lag  dann  Höchst,  wo  sich  Otto  II.  am 
19.  Oktober  980  auf  seinem  Zuge  nach  Pavia  aufhielt'),  und  bei  Oberried,  an 
der  Grenze  der  Bistümer  Konstanz  und  Chur,  der  schon  in  der  Merowingerzeit 
genannte  , Herrenhof  Montigels",  das  heutige  Montlingen-).  Dort  aber,  wo  weiter 
südlich  diese  Richtung  bei  Ragatz  auf  das  alte  Rheinbett  auftrifft,  begann  jener 
bis  Chur  herauf  sich  erstreckende  fruchtbare  Strich,  als  geschlossener  Besitz  der 
Churer  Bischöfe  „die  Herrschaft"  genannt.  Sein  Hauptort  ist  Zizers,  das  zuerst 
als  Zizuris  eine  mit  allen  wirtschaftlichen  Vorzügen  ausgestattete  königliche 
Besitzung  war,  und  deren  dauernde  Erwerbung  daher  auch  den  Churer  Bischöfen 
einige  Anstrengungen  gekostet  hat-*). 

Wenn  die  durch  Bünden  führenden  Alpenstraßcn  hinsichtlich  der  Punkte,  Der  Spiügen 
wo  sie  schließlich  Italien  erreichen,  in  zwei  Gruppen  zerfallen,  in  diejenigen,  v"a  mala, 
die  nach  dem  Langensee  und  in  diejenigen,  die  nach  dem  Comersee  auslaufen, 
so  machte  sich  doch  für  die  Reise  durch  das  Gebirge  gerade  im  Mittelalter  in 
Chur  auch  noch  ganz  nachdrücklich  eine  andere  dreifache  Gruppierung  fühlbar. 
Noch  unter  den  Toren  von  Chur  selbst  zweigten  von  den  anderen  westlicheren 
Straßen  zunächst  die  nach  dem  Septimer  wie  Julier  und  nach  dem  Albula  ab, 
um  von  hier  in  genau  südlicher  Richtung  nach  der  Lenzer  Heide  hinanzusteigen, 
während  die  Straße  zum  Lukmanier  in  direkt  westlicher  Richtung  im  langen 
Vorderrheintal  blieb,  die  Straßen  zum  Bernhardin  und  Spiügen  dagegen  als  dritte 
Gruppe  dieses  bereits  bei  Tamins  verließen  und  nun  in  das  Tal  des  Hinterrheins 
eintraten.  Ehe  diese  letzteren  jedoch  Thusis  und  damit  die  Via  mala  selbst 
erreichten,  war  hier  noch  ein  stundenlanges  Talstück  vorgelagert,  in  dessen 
breiter  Sohle  in  früheren  Jahrhunderten  das  unruhig  und  unregelmäßig  fließende 
Gebirgswasser  ähnlich  wie  die  Etsch  zwischen  Meran  und  Bozen  keine  Straßen- 
anlagen duldete  und  wo  sich  daher  auch  hier  die  Wege  an  die  höheren  Tal- 
wände anschmiegen  mußten.  Es  sind  dies  östlich  das  Domleschg  und  westlich 
der  Heinzenberg,  milde,  von  der  Natur  bevorzugte  Landschaften,  wo  noch  heute 
nördliches  und  südliches  Wesen  bunt  nebeneinander  liegen,  und  die  als  eine 
rechte  Burgenlandschaft  einst  ein  Mikrokosmos  des  mittelalterlichen  Kulturlebens 
in  den  Alpen  gewesen  sind. 

Bei  Thusis  (Tuseum)  angelangt  stoßen  wir  nun  aber  auf  jenen  vielgenannten, 
bis  zum  Dorf  Spiügen  sich  erstreckenden  Straßenteil,  der  die  Via  mala  in  sich 
schließt,  und  der  durch  die  Art,  wie  sich  der  Verkehr  mit  ihm  auseinandersetzte, 
zu  allen  Zeiten  zwingend  auf  die  Benutzbarkeit  ebenso  der  Bernhardin-  wie  der 
Splügenstraße  eingewirkt  hat.  Hier  sehen  wir  aber  nun  auch  im  Mittelalter 
Jahrhunderte  hindurch  zunächst  nichts  anderes  als  jene  eigentümliche  Straßen- 
führung in  Gebrauch,  durch  die  alle  Schwierigkeiten  der  Via  mala  von  weither 
')  Oe.  II.  S.  197.  2)  PI.  S.  269.         3)  PI.  S.  373. 


202  IV.  Kapitel. 

umgangen  wurden,  und  deren  Entstehung,  da  nun  einmal  zur  Römerzeit  eine 
Straße  von  der  Paßhöhe  des  Splügen  nach  Chur  geführt  haben  muß,  mit  gutem 
Recht  dem  Altertum  zugeschrieben  wird.  Von  jenem,  sechs  Fuß  breiten,  ge- 
pflasterten Weg  sind  nun  auch  heute  noch  hie  und  da  Überbleibsel  vorhanden; 
er  führte  vom  Heinzenberg  über  die  Nolla  bei  Thusls  und  dann  noch  oberhalb 
der  Dörfer  Lohn,  Mathon  und  Wergenstein  auf  Sufers  und  den  Ort  Splügen, 
in  einer  Zone,  die  um  eine  ganze  Gebirgshöhe  über  der  heutigen  Straße  liegt'). 
Diese  alte  Straße  wurde  als  der  gute  Weg,  die  vereinzelten  Fußsteige  dagegen, 
die  tief  am  Rheine  selbst  hinliefen,  als  der  schlechte  Weg  bezeichnet^).  Wenn 
so  dieser  Straßenteil  an  sich  zwar  als  ein  großartiges  Zeugnis  der  Erfindungs- 
gabe des  Menschengeistes  dasteht,  so  sind  wir  doch  gerade  hier  ganz  im  unklaren, 
ob  er  selbst  und  ebenso  die  Paßhöhen,  nach  denen  er  hinstrebte,  während  der 
Hauptzeit  des  Mittelalters  wirklich  dem  großen  Verkehr  oder  nur  dem  Lokal- 
verkehr dienstbar  gewesen  sind. 

Denn  auch  die  Geschichte  des  Splügen  ist  ein  dunkles  Kapitel  der  mittel- 
alterlichen Geschichte,  da  über  diesen  Paß,  nachdem  er  in  den  Itinerarien  der 
römischen  Kaiserzeit  seine  erste  und  einzige  Erwähnung  gefunden  hat,  ein  volles 
Jahrtausend  hindurch  keine  einzige  schriftliche  Nachricht  vorliegt,  nach  der  er 
einmal  in  Gebrauch  gewesen  wäre.  Es  kann  ja  kaum  anders  sein,  als  daß  der 
Name  des  Überganges  selbst  und  der  des  Dorfes  Splügen  zusammengehören; 
auch  daß  dieser  Name  von  specula  (Wartturm),  wie  sich  ein  solcher  auch  heute 
noch  hier  findet,  herrührt,  mag  angenommen  werden.  Aber  eben  die  Erscheinung, 
daß  dieser  Name  so  farblos  klingt  und  so  wenig  weit  in  die  Vergangenheit 
hinaufreicht,  ist  eher  ein  Zeichen  für  die  Unwichtigkeit  dieses  Weges  in  früheren 
Zeiten.  Nur  steht  diesem  wieder  die  Zielgerechtigkeit  dieser  ganzen  Straßen- 
richtung und  auch  die  Tatsache  entgegen,  daß  die  mittelalterliche  Kultur  hier 
auf  beiden  Seiten  und  bis  dicht  an  die  Paßhöfe  heran  so  mannigfachen  und  so 
alten  Ursprungs  ist.  So  ist  es  bemerkenswert,  daß  in  den  Orten  des  Domleschg 
schon  im  dreizehnten  Jahrhundert  eine  Reihe  zinspflichtiger  Gasthäuser  exi- 
stieren 3);  auch  ist  es  interessant,  wie  die  Dörfer  dicht  arn  unwirtlichen  Südab- 
hang des  Passes,  die  wie  gespensterhafte  Steinnester  von  einem  anderen  kalten 
Planeten  aussehen,  reine  Kosenamen  (Isola,  Campodolcino)  führen,  Bezeich- 
nungen, die  doch  nur  derjenige  voll  berechtigt  finden  kann,  der  aus  der  Hoch- 
gebirgswelt  sich  glücklich  nach  dorthin  hinabgerettet  hat.  Jedenfalls  steht,  ähnlich 
wie  der  Lukmanier,  auch  der  Splügen  von  alters  her  in  dem  Rufe,  von  den 
deutschen  Herrschern  bei  ihren  Römerzügen  durch  Bünden  benutzt  worden  zu 
sein,  eine  Annahme,  die  trotz  der  vielen  Züge,  die  nachweislich  durch  dieses 
Land  gegangen  sind,  doch  ebensoschwer  zu  beweisen  wie  zu  widerlegen  ist,  weil, 
wie  schon  gesagt,  gerade  hier  der  mittelalterliche  Berichterstatter  durch  die 
Struktur  des  Landes  noch  besonders  dazu  verleitet  wurde,  sich  die  Angabe 
einer  genauen  Reiseroute  zu  ersparen. 
1)  Schu.  S.  10.         2)  Da.  I.  B.  S.  139.         3)  Oe.  II.  S.  169. 


Die  Straßen  Graubündens.  203 

Am  südlichen  Ende  der  Via  mala  liegt  dann  das  Schamsertal,  in  dem  zwar 
schon  im  zehnten  Jahrhundert  die  Churer  Bischofsgewalt  Fuß  faßte'),  das  aber, 
solange  es  vom  Verkehr  westlich  über  die  Höhen  umgangen  wurde,  einst  wie 
Uri  Jahrhunderte  hindurch  eine  Welt  für  sich  blieb,  und  in  dem  sich  bezeich- 
nenderweise schließlich  das  Streben  nach  Gemeinfreiheit  in  ähnlicher  Weise  wie 
dort  Bahn  gebrochen  haben  soll.  Im  fünfzehnten  Jahrhundert  trat  hier  der 
Landvogt  von  der  Burg  Fardün  in  die  Hütte  eines  ihm  verfeindeten  Bauern, 
spuckte  in  den  als  Mittagessen  bereitstehenden  Brei  und  wurde  deshalb  von 
dem  Bauern  mit  dem  Kopfe  in  die  heiße  Speise  gestoßen  und  erwürgt,  eine 
Sage,  die  in  ihrer  tiefen  Leidenschaft  nur  auf  dem  Boden  des  rätischen  Volks- 
tums gewachsen  sein  kann. 

Wir  hatten  schon  während  der  Römerzeit  Gelegenheit,  die  Ähnlichkeit  der 
Straßenführung  im  Bereich  der  Via  mala  und  derjenigen  am  Kuntersweg  nördlich 
Bozen  zu  beobachten;  denn  jene  besonders  schwierigen  Stellen  im  Gebirge  sind 
es  eben,  an  denen  das  Maß  der  technischen  Leistungsfähigkeit  der  einzelnen 
Zeitalter  stets  am  deutlichsten  zum  Ausdruck  kommt,  die  es  zugleich  aber  auch 
zu  allererst  erkennen  lassen,  sobald  eine  grundlegende  Veränderung  in  den 
treibenden  Kräften  des  großen  Verkehrslebens  Platz  gegriffen  hat.  So  werden 
wir  auch  hier  nach  allem  dem,  was  wir  von  dem  Wesen  der  letzten  Periode 
des  Mittelalters  kennen  gelernt  haben,  auf  die  Wirkungen  derselben  und  im  be- 
sonderen auch  an  dieser  dem  Gotthard  benachbarten  Stelle  den  Streit  um  dessen 
Besitz  seine  Kreise  ziehen  sehen.  Dieser  Zusammenhang  tritt  zuerst  am  Ende 
des  vierzehnten  Jahrhunderts  hervor,  als  die  Eidgenossen  den  Mailändern  an 
der  Gotthardstraße  unbequem  sind  und  diese  nun  mit  dem  Grafen  von  Werden- 
berg verhandeln,  um  ihrem  Handel  auf  den  bündner  Straßen  eine  sichere  Bahn 
zu  verschiffen,  und  wobei  das  Wichtigste  ist,  daß  bei  dieser  Gelegenheit  unter 
den  hierfür  in  Frage  kommenden  Linien  auch  plötzlich  der  Splügen  erscheint^). 
Wenn  jenes  Vorhaben  hinsichtlich  des  Splügen  auch  damals  nicht  über  das 
Projekt  hinauskam,  so  müssen  doch  dieselben  Erwägungen,  die  es  damals  ent- 
stehen ließen,  in  der  folgenden  Zeit  derart  an  Stärke  zugenommen  haben,  daß 
dann  ein  Jahrhundert  später  die  Einrichtung  dieses  Weges  als  Handelsstraße 
wirklich  zur  Tat  werden  konnte.  Jetzt  sehen  wir  nun  hier  alle  interessierten 
kleinen  Kreise  in  weitem  Umfange,  südlich  Chiavenna  und  Misox,  nördlich 
Schams  und  Rheinwald,  das  ganze  Land  Domleschg  und  wiederum  die  Grafen 
von  Werdenberg  an  der  Spiügenstraße  alle  die  Einrichtungen  treffen,  die  der 
Handelsverkehr  der  damaligen  Zeit  nicht  entbehren  konnte^),  während  die  Tat- 
sache, daß  auch  Misox  dabei  beteiligt  ist,  außerdem  zeigt,  wie  die  natürlichen 
Bedingungen,  auf  denen  die  Brauchbarkeit  der  Bernhardin-  und  der  Spiügen- 
straße beruhen,  auf  der  nördlichen  Seite  ganz  dieselben  sind. 

Die  erste  Vorbedingung,  um  hier  wie  dort  zum  Ziele  zu   gelangen,  konnte 

1)  PI.   S.  403.  -)  Schu.  S.  3(50.  ^)  Schu.  S.  371f. 


204  IV.  Kapitel. 

aber  nur  darin  bestehen,  die  zeitraubende  Wirkung  der  die  Via  mala  umgehenden 
Höhenrichtung  auszuschalten.  Das,  was  damals  im  Wegebau  zu  Stande  gekommen 
ist,  war  freilich  nur  ein  an  der  Rheinwand  entlang  laufender,  nichts  weniger  als 
bequemer  und  gefahrloser  Schluchtweg,  wie  dieses  dem  Tunnelbau  unkundige 
Zeitalter  auch  dem  nördlichen  Teile  der  Via  mala  zwischen  Thusis  und  Ron- 
gellen noch  ganz  machtlos  gegenüberstand  und  daher  dort  in  abgeschwächtem 
Maße  noch  der  alte  Höhenweg  in  Gebrauch  blieb.  Überhaupt  sind  alle  diese 
Ereignisse  vielmehr  dadurch  bemerkenswert,  weil  sie  die  Regsamkeit  charakte- 
risieren, die  jetzt  überall  in  die  Straßenbautätigkeit  in  den  Alpen  gekommen 
war,  als  daß  sich  nun  in  ihrer  Folge  jene  bündner  Straßen  neben  dem  Gotthard 
zu  großen  Handelsstraßen  ausgewachsen  hätten. 
Über  die  Wie  wenig  weit  der  Septimer  vom   Splügen   entfernt  ist,  so   haben  wir   in 

^^"nach  dem  jenem  doch  nunmehr  einen  Gebirgsübergang  vor  uns,  der  dem  Verkehr  ganz 
Septimer.  andere  Aufgaben  stellt  als  die  großen  Paßwege  in  der  westlichen  Hälfte  der 
Alpen,  da  bei  dessen  Benutzung  —  ebenso  wie  bei  der  aller  anderen  östlicheren 
Übergänge  mit  der  einzigen  Ausnahme  des  Brenner  —  die  Reise  von  Nord  nach 
Süd  nur  durch  den  An-  und  Abstieg  über  mehrere  Gebirgskämme  bewältigt 
werden  kann.  Wenn  dieses  Verhältnis  seinen  natürlichen  Grund  in  der  nach 
Osten  zu  immer  größer  werdenden  Tiefenausdehnung  des  Gebirges  hat,  so  wird 
die  Zugehörigkeit  des  Septimer  im  Mittelalter  zu  dieser  Art  der  Alpenlinien 
doch  erst  dadurch  verständlich,  weil  damals  in  der  Sohle  des  Albulatals  zwischen 
Thusis  und  Tiefencastel,  dort,  wo  heute  die  Schynstraße  läuft,  überhaupt  kein 
brauchbarer  Weg  führte,  und  weil  daher  alle  jene  in  das  Bergeil  oder  Engadin 
einmündenden  und  heute  ebensogut  durch  das  Domleschg  zugänglichen  Übergänge 
früher  allein  über  die  Lenzer  Heide  erreicht  werden  konnten. 

So  war  der  Weg  über  den  Septimer  im  Mittelalter  zwar  eine  direkt  nach 
Süden  führende,  aber  doch  nicht  allzubequeme  Richtung,  da  man  dabei  von 
Chur  aus  zunächst  um  fast  tausend  Meter  auf  die  noch  dazu  durch  ihr  rauhes 
Klima  gefürchtete  Lenzer  Heide  hinansteigen  mußte,  um  dann  wieder  reichlich 
die  Hälfte  nach  Tiefencastel  herabzusteigen,  wo  sich  der  Höhenweg  nach  dem 
Oberhalbstein  fortsetzt.  Die  Begangenheit  jenes  Straßenteiles  im  Mittelalter  zeigt 
aber  doch  neben  den  Burgruinen  und  den  alten  Herbergen  am  Wege')  besonders 
das  Dasein  des  Klosters  in  Churwalden  (romanisch  Ascheras),  das  bereis  zu  den 
Zeiten  der  Karolinger  bestand^).  Einen  hübschen  Einblick  in  das  mittelalterliche 
Kleinleben  jener  Gegenden  gewährt  es  auch,  daß  einst  dem  Bischof  von  Chur, 
sobald  ihm  die  Reiselust  ankam,  vier  Saumtiere  aus  dem  Oberhalbstein  nach 
Prada  (dicht  östlich  Chur)  entgegengeschickt  wurden,  die  er  nun  von  dort  aus 
nach  Belieben  nach  allen  Richtungen  hin  benutzen  konnte^),  und  an  der  richtigen 
Stelle,   da,  wo  sich  die  Lenzer  Heide  nach  dem  Albulatal  hinabsenkt,   liegt  hier 

1)  Oe.  II.  S.  176.  A.  3.        2)  Ber.  S.  164.         ^)  Oe.  II.  S.  188. 


Die  Straßen  Graubündens.  205 

auch  Obervaz,   um   an   den  Namen    jenes   mächtigen    Geschlechtes  zu   erinnern, 
das  in  der  Geschichte  Bündens  eine  so  große  Rolle  gespielt  hat'). 

Dafür  aber,   daß  der  Septimer  einst  ein  besonders   gebräuchlicher  und  be-  Alter,  Be- 
liebter Alpenweg  war,  ist  und  bleibt  der  beste  Beweis,  daß  wir  auf  seiner  Paß-  Bede"u"tung"^ 
höhe  ein  echt   mittelalterliches  Hospiz   und   noch   dazu   gerade   hier  das   älteste  Jes  Septimer- 
antreffen,   das    wir    überhaupt    kennen.      Es    ist    dieses    das    xenodochium    des  IJ^^ftg^j^r. 
H.  Petrus,  das  um  830  in  einer  Urkunde  Ludwigs  des  Frommen  „in  den  Besitz 
des  Bistums  Chur  zurückkommt"  2),  ein  Ausdruck,   der  somit  noch  dazu  darauf 
schließen  läßt,   daß  jenes  Hospiz   damals  bereits   eine  Zeit   lang  als   solches  be- 
standen hat.     Auch  die  erste  Erwähnung  des  Septimers  selbst  als  eines  gebräuch- 
lichen Alpenweges  Fällt   übrigens  gleichfalls  bereits  in  das  neunte  Jahrhundert^), 
und    das    Hospiz    kehrt    dann    auch    in   den    mittelalterlichen    Urkunden    immer 
wieder;  es  wird  mit  Schenkungen  bedacht,  1120  wird  es  einmal  neu  hergestellt, 
und  als  dann  um  das  J.  1275   in  Chur  ein   neues  Ordenshaus  errichtet  werden 
soll,   hält   der  Bischof  diese  Maßregel   deshalb   ganz   besonders   begründet,   weil 
„diese  Stadt  am  Fuße  des  Septimer  liegt  und  daher   für  die  Durchreisenden  als 
Rastort  außerordentlich   geeignet  erscheint"'').     Aus  allen   diesen  Tatsachen  geht 
also   nicht   nur   hervor,    daß   der  Verkehr  hier  niemals   eine    ernstliche    Unter- 
brechung erlitt,  sondern  sie  macht  es  auch   von  vornherein  wahrscheinlich,   daß 
dieser  Paß  auch  die  Mehrzahl  der  von   weither  gekommenen  und  geschichtlich 
denkwürdigen  Alpenübergänge  gesehen  hat,   die  im  Mittelalter  ihren  Weg  durch 
Bünden  genommen  haben. 

Wir  wissen  ja  nun  freilich,  wie  schlecht  es  dabei  mit  der  genauen  Be- 
stimmung des  Weges  bestellt  ist,  und  daß  der  Zweifler,  selbst  wenn  Chur  und 
Chiavenna  zugleich  genannt  werden,  einen  solchen  Zug  neben  dem  Septimer 
immer  noch  ebensogut  auf  den  Splügen  wie  auf  den  Julier  verlegen  kann^); 
aber  es  giebt  doch  wenigstens  einige  dieser  Reisen,  bei  denen  mit  dürren  wenn 
auch  krausen  Worten  der  Septimer  selbst  genannt  wird,  so  1128  der  Zug  des 
Gegenkönigs  Konrad  nach  Italien,  1167  der  Zug  Welfs  des  Jüngeren  und  1191 
die  Reise  des  Gislebert  von  Mons  zu  Heinrich  VI.  ebendorthin.  Weit  größer 
ist  dagegen  die  Zahl  der  Römerzüge,  für  deren  Verlegung  auf  den  Septimer 
man  nur  Gründe,  aber  doch  recht  gute  Gründe  hat,  und  die,  wie  wir  sahen, 
zum  größten  Teil  in  das  zehnte  Jahrhundert  fallen.  Viel  später,  zu  Anfang  des 
J.  1176,  hat  dann  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  in  oder  dicht  bei  Chiavenna 
jene  Auseinandersetzung  Friedrich  Barbarossas  mit  Heinrich  dem  Löwen  statt- 
gefunden. Wir  kennen  wohl  recht  gut  die  geschichtliche  Tragweite  dieses  Er- 
eignisses;  einen  vollen  Erfolg  und  eine  bleibende  Wirkung  hat   doch  aber  auch 

')  Jahrbuch  für  Schweizerische  Geschichte,  14.  B.  S.  213f.;  Oe.  II.  S.  175,  185;  Sehe.  III.  B.  S.  92,  95. 
Untervaz  liegt  in  der  Calanda  nördlich  Chur.  2)  schu.  S.  61 ;  Oe.  II.  S.  175.  3)  Schu.  S.  57; 
Oe.  II.  S.  191.  ■•)  Oe.  II.  S.  201.  S)  Oehlmann  (Oe.  II.  S.  191  f.)  verlegt  sämtliche  Züge  zwischen 
Chur  und  Chiavenna  auf  den  Septimer;  es  ist  dies  wohl  sehr  wahrscheinlich,  aber  doch  nicht  sicher. 


206  IV.  Kapitel. 

jener  menschliche  Scharfsinn  gehabt,  der  es  sich  damals  zur  Aufgabe  machte,  die 
Einzelheiten  dieser  Begegnung  an  Ort  und  Zeit,  die  persönlichen  Stimmungen 
und  Gegensätze,  die  hier  nackt  und  unversöhnlich  aufeinander  stießen,  vor  der 
Mic-  und  Nachwelt  in  ein  ewiges  Geheimnis  zu  hüllen.  Und  auch  uns  ist  da- 
mit ein  Streich  gespielt  worden;  denn  da  wir  nicht  genau  wissen,  wo  jene  Zu- 
sammenkunft stattfand,  so  kennen  wir  auch  die  Wege  nicht,  die  zu  ihr  einge- 
schlagen worden  sind.  Wenn  es  aber  der  Septimer  gewesen  ist,  auf  dem 
Heinrich  der  Löwe  herankam,  so  hätten  wir  darin  das  bei  weitem  wichtigste 
Ereignis  vor  uns,  das  sich  jemals  an  diesem  Passe  zugetragen  hat'). 

Die  letzte  Periode  des  Mittelalters  kehrt  dann  auch  hier  ihren  besonderen 
Charakter  hervor,  und  sie  kann  an  dieser  Stelle  nur  ausgefüllt  sein  mit  gewaltigen 
Anstrengungen  und  einem  harten  Ringen  gegen  die  neu  aufkommenden  Mächte, 
in  dem  sich  jene  alte  Linie  auch  wirklich  noch  einmal  erfolgreich  durchgesetzt 
hat.  Die  hervorragende  Stellung,  die  der  Septimer  bis  zur  Eröffnung  des  Gott- 
hard  in  den  Mittelalpen  einnahm,  schließt  es  in  sich,  daß  die  Folgen  jenes  Er- 
eignisses sich  gerade  hier  unmittelbar  und  nachdrücklich  fühlbar  machen  mußten, 
eine  Situation,  deren  drohende  Züge  wir  noch  heute  unter  dem  Mantel  der 
Versprechungen  erkennen  können,  zu  denen  sich  im  J.  1278  die  am  Septimer 
interessierten  Machthaber,  voran  der  Bischof  von  Chur,  den  Reisenden  gegen- 
über verstanden.  Wenn  damals  schon  allen,  die  jene  Straße  überhaupt  benutzen, 
in  Bausch  und  Bogen  gutes  Geleit  und  guter  Frieden  zugesichert  wird,  so 
werden  die  von  Luzern  und  Zürich  Kommenden  außerdem  noch  mit  besonderen 
Vergünstigungen  bedacht.  Aber  es  ist  nichts  weniger  als  die  Menschenliebe 
sondern  allein  das  Streben,  den  Verkehr  um  jeden  Preis  in  seiner  alten  Bahn 
festzuhalten,  das  jene  Bestimmungen  hervorruft^),  und  der  Aufschwung,  den  der 
Gotthardweg  trotzdem  nahm,  zeigt  dann  seine  Wirkung  in  den  Maßregeln,  die 
ein  Jahrhundert  später  erneut  zur  Behauptung  der  alten  Stellung  nötig  werden, 
und  die  jetzt  zu  einem  wirklichen  Straßenbau  am  Septimer  selbst  führten.  Um 
1390  hat  Jacob  von  Castelmur  als  bischöflicher  Verweser  hier  von  Bivio  bis 
Casaccia  einen  gepflasterten  Weg  gebaut^),  der  eine  für  jene  Zeiten  immer  noch 
ganz  gewaltige  und  technisch  einzig  dastehende  Leistung,  zugleich  aber  auch  wohl 
den  letzten  Fall  bedeutet,  bei  dem  ein  Kirchenfürst  in  den  Alpen  eine  tief- 
greifende Regententätigkeit  ausübte,  wie  sie  diesen  früher  hier  überall  so  ver- 
traut gewesen  war. 

Wir  erinnern  uns  sogleich,  daß  diese  gründliche  Sanierung  der  Septimer- 
straße  zeitlich  genau  mit  jenen  ersten  Bestrebungen  zusammenfällt,  durch  die 
auch  der  Splügen  und  der  Bernhardin  dem  Handelsverkehr  dienstbar  gemacht 
werden  sollten.  Es  ist  daher  wohl  auch  möglich,  daß  die  Kosten,  die  damals 
in  die  altbewährte  über  den  Septimer  laufende  Straße  gesteckt  wurden,  auch  zu- 
gleich der  Konkurrenz  von  dessen  nächsten  Nachbarn  begegnen  sollten,  ein 
')  Vgl.  Gi.  V.  B.  S.  777  f.;  Schu.  S.  92.         2)  Schu.  S.  189;  Oe.  II.  S.  182.         3)  ßer.  S.  169. 


Die  Straßen  Graubündens.  207 

Zug,  der  jedenfalls  in  jene  durch  und  durch  von  kaufmännischen  Gesichtspunkten 
beherrschte  Geschichtsepoche  sehr  gut  hineinpaßt.  Selbst  im  fünfzehnten  Jahr- 
hundert sehen  wir  daher  den  Septimer  noch  als  eine  belebte  Handelsstraße  und 
auch  baulich  in  einem  guten  Zustand '),  während  er  heute  neben  seinen  Nach- 
barn fast  gänzlich  verlassen  und  vergessen  daliegt,  die  Landschaft  entlang  dieses 
Weges  deshalb  aber  auch  gerade  hier  wirklich  „ein  von  einer  längst  vergangenen 
Begebenheit  übrig  gebliebenes  Stück  Wirklichkeit"  ist. 

Auf  der  Strecke  von  Tiefencastel  (Imum  castellum)  mit  seinem  redenden  Von  Tiefen- 
Namen  bis  herauf  nach  Stalla  (Stabulum  Bivio)-)  laufen  die  Septimer-  und  die  casaccia. 
Julierstraße  noch  in  einem  Strang  zusammen,  und  hier  redet  das  Mittelalter 
nicht  nur  aus  den  Urkunden,  durch  die  hier  das  Dasein  alter  Herbergen  bezeugt 
wird-'),  sondern  noch  viel  anschaulicher  aus  den  Stellen  am  Wege,  wo  heute 
noch  die  alten  Straßenfesten,  wenn  auch  zum  Teil  nur  in  Ruinen,  aufrecht 
stehen;  wie  wir  ja  eine  derselben,  Marmels  (Marmorea),  und  ein  in  deren  Nähe 
ausgeführtes  Raubritterstückchen  schon  bei  Gelegenheit  der  Römerzüge  kennen 
gelernt  hatten.  Es  giebt  heute  in  den  Alpen  lohnendere  und  bequemere  Auf- 
gaben, als  bei  Bivio  von  der  Julierstraße  abzubiegen  und  nun  den  Weg  über  den 
Septimer  einzuschlagen,  wo  alles  still  und  verödet,  auch  das  alte  Hospiz  nur 
noch  eine  Ruine  ist,  und  wo  sich  daher  auch  jetzt  die  natürlichen  Nachteile 
dieses  Überganges,  die  zu  allen  Zeiten  dieselben  waren,  nur  um  so  deutlicher 
geltend  machen,  die  Armut  der  Gegend  und  auf  der  Höhe  die  Neigung  zu  aus- 
gedehnten Moorbildungen,  die  hier  die  Instandhaltung  des  Straßenkörpers  stets 
besonders  erschwert  haben.  Zielgerecht  aber  unendlich  steil,  selbst  nach  dem 
Maßstab  des  Hochgebirgs  gemessen,  ist  dann  der  Abstieg  nach  Casaccia;  gerade 
hier  aber  finden  wir  auch  heute  noch  das  Plattenpflaster  des  alten  Weges  auf 
weite  Strecken  in  gut  erhaltenem  Zustand  und  können  so  eine  deutliche  Vor- 
stellung von  dem  Wesen  der  Straßenbautätigkeit  alter  Zeiten  gewinnen,  die  an 
dieser  Stelle  von  den  Werkmeistern  der  Churer  Bischöfe  gehandhabt  wurde. 
Wie  schwierig  es  aber  im  allgemeinen  ist,  solche  alte  Straßenreste  einer  be- 
stimmten Bauperiode  zuzusprechen,  mag  daraus  hervorgehen,  daß  die  alten  in 
Plattenpflaster  ausgeführten  Straßenteile,  die  sich  heute  ebenso  auf  der  Bern- 
hardin- und  Splügen-  wie  auf  der  Septimerstraße  finden,  sämtlich  in  der  Art 
ihrer  Herstellung  ganz  von  einander  verschieden  sind,  obgleich  diese  Straßen 
doch  so  viele  gemeinsame  Schicksale  durchlebt  haben  müssen'').  Chur  und 

Derjenige,   der  annimmt,   daß  der  Septimer   eine   alte   ausgetretene  Römer-  sg^^^J^g^'^nd 
Straße   gewesen   ist,    wird   auch   dessen    berühmte   mittelalterliche   Vergangenheit  juiier; 

nicht  wunderbar  finden;   demjenigen   aber,   der  anders  denkt,   und  der  die   alte  V"^?^!  ^"'' 

'  '       o  '  '  das  Auf- 

einst durch  Tinzen  führende  Römerstraße  nicht   auf  den  Septimer  sondern   auf  kommen  des 

den  lulier  verlegt,  wird  jener  Wechsel  um  so  erstaunlicher  vorkommen  müssen,  ^^^''^'f/  ?.'\ 

•^  b  )  j  mittelalterliche 

Schon   bei    der   Erklärung    des    römischen   Straßenbildes   hatte    das   Dasein    des  Hauptstraße. 
')  Schu.  S.  362f.        2)  Oe.  II.  S.  173.        ■')  Oe.  11.  S.  176.        <)  Ber.  S.  36f.,  54;  PI.  S.  92. 


208  IV.  Kapitel. 

Namens  Bivio  (Straßengabelung  zwischen  der  Julier-  und  der  Septimerstraße) 
uns  genötigt,  zu  einer  Annahme  unsere  Zuflucht  zu  nehmen,  und  ein  eigener 
Zufall  will  es,  daß  wir  nun  wieder  an  derselben  Stelle  zu  einem  gleichen  Ver- 
fahren genötigt  sind,  so  ungern  auch  der  Geschichtsforscher  die  Grenze  über- 
schreitet, die  das  Gebiet,  wo  die  sicheren  Tatsachen  in  der  Darstellung  die 
Herrschaft  führen,  von  dem  Reich  der  Hypothese  trennt.  Trotzdem  bleibt  die 
Sachlage  hier  aber  doch  die,  daß  sie  eine  Stellungnahme  zu  der  Frage  unbedingt 
herausfordert,  warum  der  Septimer,  für  dessen  Benutzung  in  der  Römerzeit  im 
Vergleich  mit  dem  Julier  und  Splügen  so  geringe  Anzeichen  existieren,  von  dem 
Mittelalter  zu  einem  Hauptübergang  erwählt  worden  ist. 

Ebenso  deutlich  wie  die  hervorragende  mittelalterliche  Bedeutung  des  Sep- 
timer an  sich  tritt  nun  auch  die  Tatsache  heraus,  daß  er  der  eigentliche  Churer 
Paß  war'),  und  daß  dieses  Bistum  von  Anfang  bis  zu  Ende  den  Besitz  dieser 
Alpenstraße  als  eine  der  Hauptgrundlagen  seiner  eigenen  politischen  Macht- 
stellung betrachtete.  Wenn  nun  der  Kriminalist  vor  die  Aufgabe  gestellt  wird, 
dunkle  Vorgänge  aufzuklären,  und  zu  diesem  Zwecke  den  Schauplatz,  wo  diese 
sich  abspielten,  untersucht,  so  pflegt  er  diejenigen  Erscheinungen  doppelt  scharf 
in  das  Auge  zu  fassen,  die  hier  auf  etwas  Ungewohntes,  Besonderes  hindeuten. 
Schlagen  wir  nun  hinsichtlich  des  Bildes,  das  der  Septimer  und  der  Julier  zu- 
gleich in  den  ersten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  darbieten,  dasselbe  Verfahren 
ein,  so  stoßen  wir  nun  auch  hier  auf  eine  ganz  auffallende  Tatsache;  es  ist  die- 
jenige, daß  wir  gerade  in  jener  Zone,  und  so  früh  als  wir  nur  überhaupt  ver- 
langen können,  auf  Besitzungen  des  Klosters  Pfäfers  stoßen,  auf  Güter  desselben 
im  Bergeil,  und  besonders  auf  eine  demselben  angehörige,  am  höchsten  Ende 
dieses  Tales  jgelegene  Kirche  S.  Gaudentius^).  Wir  brauchen  hier  nicht  zu 
wiederholen,  welch'  scharfen  Blick  die  kirchlichen  Instanzen  im  ersten  Mittel- 
alter für  die  wichtigen  Wegestellen  hatten,  und  es  genügt  auch,  hervorzuheben, 
daß  die  Begünstigungen,  die  dem  Kloster  Pfäfers  von  der  Krone  zugewandt 
wurden,  mit  denen  Churs  bis  zu  den  Zeiten  der  Ottonen  fast  gleichen  Schritt 
halten  3),  um  auf  den  Gedanken  zu  kommen,  daß  hier  einst  ein  Wettlaufen 
zwischen  diesen  beiden  Gewalten  um  den  Besitz  der  wichtigsten  Verkehrslinie 
Bündens  stattgefunden  hat.  Nun  kann  man  auf  Grund  der  Lage  jener  alten 
Besitzungen  von  Pfäfers  zunächst  auch  bloß  mutmaßen,  daß  sich  jene  Konkurrenz 
allein  auf  den  Septimer  erstreckte;  sieht  man  aber  genau  hin,  so  liegt  gerade 
die  wichtigste  derselben,  die  Kirche  S.  Gaudentius,  viel  weniger  zwingend  für 
jene  Stelle,  wo  man  aus  dem  Bergeil  zum  Septimer  abbiegt,  sondern  vielmehr 
nur  dicht  neben  der  Malojastraße,  also  neben  der  zum  Julier  heraufführenden 
Richtung 4).      So   schaut   uns   denn    diese  Kirche    mit    ihren  frommen    gotischen 

1)  Ber.  S.  161.  2)  Ber.  S.  127,  164;  Schu.  S.  65;  Oe.  II.  S.  176.  3)  pi.  s.  383f,  S.  389f.  4)  Die 
Tatsache,  daß  auch  Präfers  hier  alten  Besitz  hat,  ist  schon  Berger  (Ber.  S.  162,  164)  aufgefallen; 
er  nimmt  dabei  jedoch  nur  Absichten  dieses  Klosters  auf  den  Septimer,  nicht  auf  den  Julier  an. 


Die  Straßen  Graubündens.  209 

Ruinen  noch  heute  wie  eine  bösartige  Sphinx  an,  da  sie  uns  vor  die  Frage 
stellt,  ob  es  das  Kloster  Pfäfers  ursprünglich  nicht  etwa  auf  den  Julier  abgesehen 
hatte,  und  ob  es  nicht  etwa  später  von  dem  Bistum  Chur  hier  dadurch  aus  dem 
Sattel  gehoben  wurde,  daß  sich  dieses  im  Gegensatz  zu  Pfdfers  auf  dem  Sep- 
timer festsetzte  und  dann  auch  den  Verkehr  vom  Julier  hinweg  und  dort  herüber 
zu  leiten  verstand. 

So  wird  des  Juliers  zwar  schon  im  J.  1179  als  Gebirge,  des  Wahrzeichens 
seiner  großen  Vergangenheit,  der  alten  auf  jener  Paßhöhe  stehenden  Stcinsäulen 
dagegen  erst  1396  als  „des  marmelsteins  uf  dem  Julierberge"  gedacht'),  wie 
die  Tatsache,  daß  dieser  Weg  damals  von  dem  großen  Verkehr  gemieden  wurde, 
nicht  nur  aus  dem  Fehlen  aller  anderen  Nachrichten  sondern  auch  daraus  zu 
erkennen  ist,  daß  uns  die  mittelalterlichen  Wahrzeichen  entlang  der  eigentlichen 
Straße  ganz  im  Stich  lassen.  Im  anderen  Falle  müßten  wir  solche  besonders 
am  Südfuße  zwischen  Silvaplana  und  Casaccia  viel  zahlreicher  vorfinden,  hier, 
wo  heute  nur  die  Ruine  Chaste  auf  den  Silser  See  hinabschaut,  und  wo  in 
Silvaplana  erst  im  J.  1233  ein  Hospiz  anzutreffen  ist,  dessen  Entstehung  sich 
aber  ebensogut  nur  durch  den  aus  dem  Engadin  kommenden  Lokalverkehr  er- 
klären läßt. 

Verfolgen  wir  von  dort  unseren  Gang  weiter  nach  Süden,  so  betreten  wir  Durch  das 
jenseits  der  Malojahöhe  das  nördlichste  Ende  jener  ganzen  Zone,  die  als  ge-  chiavenna. 
schlossenes  Vorland  südlich  der  Ausgänge  fast  sämtlicher  bündner  Straßen  liegt, 
und  die  sich  von  der  obersten  Stufe  des  Bergeil  weithin  über  Chiavenna  und 
den  Comersee  bis  zu  den  südlichsten  Toren  Comos  herab  erstreckt.  Auch  im 
Mittelalter  war  hier  ebensogut  wie  heute  nur  eine  südliche  Natur  zu  finden  und 
ein  südliches  Volkstum,  das  aber  damals  infolge  des  lebhaften  hier  durchlaufenden 
Reiseverkehrs  einen  eigentümlichen  Einschlag  und  eine  von  nördlichen  Einflüssen 
durchsetzte  Färbung  angenommen  haben  muß.  Wie  stark  und  wie  wichtig  aber 
jener  Reiseverkehr  gewesen  ist,  zeigt  sich  auf  dem  Wege  durch  das  Bergell  so- 
gleich in  den  vielen  mittelalterlichen  Zollstellen,  von  denen  hier  eine  auf  die 
andere  folgte,  diejenigen  in  Vicosoprano  (Vicus  sopranus),  in  Castelmur,  bis 
herab  nach  Plurs  und  Chiavenna-).  Die  wichtigste  Stelle  war  aber  auch  hier 
noch  ebenso  wie  im  römischen  Altertum  keine  andere  als  die  Porta  Bergalliae, 
wo  im  Orte  Porta  an  der  Straße  selbst  sich  die  Herberge  befand,  während  an 
den  beiden  Talwänden  die  Burgen  Castellatsch  und  Castelmur  einander  gegen- 
überlagen und  von  der  letzteren  die  Vögte  dieses  Tals  auf  das  Land  herab- 
schauten. 

In  Chiavenna  erinnert  heute  freilich  noch  wenig  an  die  belebte  mittelalter- 
liche Vergangenheit  des  Ortes;  es  genügt  aber  doch,  um  das,  was  wir  schon 
wissen,  zu  bestätigen.  Die  vom  Maloja  und  die  vom  Splügen  herabkommenden 
Straßen  vereinigen  sich  heute  innerhalb  des  Ortes  auf  einem  kleinen  Platz, 
')  Oe.  II.  S.  184;  M.  Schw.  S.  83.         2)  Oe.  II.  S.  177,  179f;  PI.  S.  427. 

ScheffeU  Verkehrsgeschichte  der  Alpen.     2.  BanJ.  14 


210  IV.  Kapitel. 

nachdem  die  letztere  vorher  die  Mera  überschritten  hat.  Der  Kern  der  Stadt, 
ebenso  die  in  Ruinen  liegende  Citadelle  wie  die  Hauptkirche  und  die  wichtigsten 
alten  Gasthäuser  liegen  dagegen  nördlich  davon  an  der  nach  dem  Bergeil  füh- 
renden Straße  und  zeigen  so,  daß  diese  Richtung  hier  auch  schon  in  den  früheren 
Jahrhunderten  neben  dem  Splügen  die  wichtigere  gewesen  sein  muß.  Ungleich 
deutlicher  redet  dagegen  dasjenige,  was  wir  von  den  Schicksalen  Chiavennas  im 
Mittelalter  wissen,  da  der  Besitz  dieses  Punktes  immer  von  denen  am  eifrigsten 
erstrebt  wurde,  die  auch  oben  auf  den  Bergen  das  erste  Wort  führen  wollten, 
so  daß  die  Zugehörigkeit  Chiavennas  zu  nördlichen  oder  südlichen  Gewalten  in 
den  einzelnen  Zeitaltern  zugleich  erkennen  läßt,  wo  damals  der  politische  Schwer- 
punkt dieser  ganzeil  Gegenden  lag.  Wenn  wir  erfahren,  daß  um  das  J.  701  ein 
langobardischer  Machthaber  über  Chiavenna  glücklich  nach  Bayern  entkam'),  so 
sehen  wir  daraus,  wie  diese  Stadt  gleich  den  bündner  Straßen  auch  im  frühen 
Mittelalter  ein  wichtiger  Durchgangspunkt  geblieben  war;  damals  gehörte  sie 
ihrer  südlichen  Lage  entsprechend  zum  Bistum  Como,  ein  Verhältnis,  das  auch 
im  J.  803  von  Karl  dem  Gr.  bestätigt  wurde 2).  Unter  den  Ottonen  drang  dagegen 
das  Bistum  Chur  auch  bis  hierher  vor,  um  nun  an  diesem  Orte  zweihundert 
Jahre  hindurch  seine  Zölle  zu  erheben  3).  Es  sind  dies  die  Zeiten  der  größten 
Machtentfaltung  der  Churer  Bischöfe,  in  denen  aber  dann  ein  Umschwung  ein- 
trat, als  Chiavenna  von  Friedrich  Barbarossa  zu  einer  besonderen  Grafschaft 
gemacht  wurde,  die  als  solche  jedoch  bereits  1219  in  den  Besitz  des  Bistums 
Como  gelangte"*).  Die  Stadt  bleibt  nun  zunächst  in  der  Hand  südlicher  Mächte; 
1335  wird  auch  sie  durch  die  Viskonti  von  Mailand  aus  beherrscht,  bis  sie  dann 
am  Anfang  des  sechzehnten  Jahrhunderts  von  neuem  von  den  Bündnern  erobert 
wurde. 
Der  Comersee  Dicht  südlich  Chiavenna  wurde  der  Landweg  nun  auf  weite  Entfernung  bis 

Como  oder  Lecco  durch  die  Wasserstraße  des  Sees  unterbrochen,  eine  Strecke, 
in  deren  mittelalterlichen  Schicksalen  auch  wieder  ein  Grundzug  jener  Zeiten, 
die  Unsicherheit  des  Lebens  und  Eigentums  und  die  Tendenz  zur  Gewaltsam- 
keit grell  hervortritt.  Wenn  die  Ränder  dieses  wunderbaren  Gestades  in  den 
letzten  Jahrhunderten  von  neuem  und  in  erhöhtem  Maße  jener  Bestimmung 
dienen  können,  die  sie  schon  in  der  römischen  Kaiserzeit  hatten,  und  so  Land- 
häuser und  Gärten  tragen,  in  denen  ein  verfeinerter  Lebensgenuß  sich  ruhig 
entfaltet,  so  war  im  Mittelalter  hier  nichts  von  allem  diesen  zu  finden,  als  die- 
selben felsigen  Uferwände  unter  der  Gewalt  kleiner  Dynasten  standen,  die  hier 
von  ihren  Schlupfwinkeln  aus  den  Verkehr  unsicher  machten.  Selbst  von 
Friedrich  Barbarossa  findet  es  der  Chronist  besonders  bewunderswert,  wenn 
dieser  wieder  einmal  „jene  wilden  und  an  Seeräuberei  gewöhnten  Bewohner  der 
Isola  Comacina"  zur  Vernunft  brachte  (1159)^),  und  noch  im  J.  1526  mußten  hier 
Mailand  und  die  Eidgenossen  mit  vereinten  Kräften  und  nach  langer  Belagerung 

')  P.  D.  S.  134.         2)  PI.  s.  425.         3)  Qe.  II.  S.  isä  *)  Schu.  S.  87.         =)  Ra.  S.  134. 


Die  Straßen  Graubündens.  211 

einem  solchen  Gewalthaber  auf  der  Rocca  die  Musso  (bei  Dongo)  den  Garaus 
machen.  Überhaupt  bildet  der  lange,  schmale  und  gewundene  Comersec  mit 
seinen  hohen,  dicht  die  an  die  Ufer  herantretenden  Gebirgswänden  im  militä- 
rischen Sinne  ein  so  scharf  ausgeprägtes  Defilee,  daß  er  die  Kriegkunst  aller  Zeiten 
vor  die  schwierigsten  Aufgaben  stellt,  sobald  der  Kampf  selbst  nicht  allzuweit  ent- 
fernt von  dieser  Stelle  ausgetragen  werden  muß.  Einmal  ist  dieses  Verhältnis 
auch  hier  von  entscheidenden  Folgen  gewesen;  denn  die  Schlacht  bei  Legnano, 
1176,  ging  für  Friedrich  Barbarossa  vor  allem  dadurch  verloren,  daß  dessen 
einzelne,  von  Norden  herankommende  Kolonnen  hier  nicht  so,  wie  es  be- 
absichtigt war,  ihre  Vereinigung  bewirken  konnten,  und  weil  der  Kaiser 
daher  die  Schlacht  von  Anfang  an  in  einer  für  ihn  ungünstigen  Lage  an- 
nehmen mußte '). 

Das  Stadtbild  Comos  aber  ist  für  den  Geschichtsforscher  deshalb  so  an- 
ziehend, weil  hier  bis  heute  die  Zeugnisse  aller  Zeitalter  erhalten  geblieben 
sind,  die  dieser  Ort  jemals  durchlebt  hat.  Die  Zeit  der  mittelalterlichen  deutschen 
Herrschaft  bezeichnet  zugleich  die  zweite  Blütezeit  Comos,  als  fast  der  gesamte 
durch  Bünden  gehende  Reiseverkehr  seinen  Weg  hier  durchnehmen  mußte  und 
so  auch  die  deutschen  Könige  allen  Grund  hatten,  sich  den  Besitz  der  Stadt  zu 
sichern.  Tatsächlich  war  Como  damals  stets  eine  ihrer  festesten  Stützen  auf 
lombardischem  Boden,  und  noch  1239  konnte  Friedrich  II.  es  „den  Schlüssel  für 
den  Einmarsch  in  Italien  von  Deutschland  her"  nennen  2),  wenn  dieses  Verhältnis 
auch  durchaus  nur  in  materiellen  Ursachen  und  besonders  in  der  Rivalität  des 
Ortes  gegen  Mailand  seinen  Grund  hatte.  Am  Südausgang  der  Stadt  liegt  auch 
heute  noch  bei  S.  Anna  das  alte  Hospiz,  und  weiter  hinaus  folgt  Kirche  auf 
Kirche  in  der  Vorstadt  und  entlang  der  der  Mitte  der  lombardischen  Ebene 
zustrebenden  Landstraße.  Es  ist  dies  eben  dieselbe  Linie,  auf  der  auch  alle 
Reisenden  des  Mittelalters  gezogen  sind,  die  durch  Como  kamen;  einer  derselben, 
Bischof  Gerdag  von  Hildesheim  ist  hier  im  J.  992,  als  er  von  einer  Wallfahrt 
aus  Rom  zurückkehrte,  gestorben-^)  und  auch  Heinrich  der  Löwe  hat  sich  im 
J.  1161  einmal  in  Como  aufgehalten''). 

Wenn  dann  der  Untergang  der  Hohenstaufen  für  die  Vorherrschaft  Mailands 
endgültig  die  Bahn  freimachte,  so  bedeutete  dies  für  Como  zwar  auch  den 
Verlust  seiner  politischen  Stellung  und  die  Unterwerfung  unter  jenes,  aber  doch 
nichts  weniger  als  einen  Niedergang  sondern  nur  eine  Abstoßung  nördlicher 
Kultureinflüsse.  Es  ist  dies  die  letzte  Periode  des  Mittelalters,  die  hier  wieder 
wie  die  Antike  in  die  Mitte  der  Umwallung  zurückkehrte  und  dort  mit  ge- 
sammelter Kraft  jenen  Dom  erbaut  hat,  dessen  Größe  und  Kunstwert  noch  heute 
ein  Zeugnis  von  dem  damaligen  Können  und  dem  Reichtum  jener  Stadt  ablegt. 
Bedeutend  war  Como  während  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  zwar  noch  nicht 
durch  seinen  Seiden-,  wohl    aber   durch  seinen  Wollhandel,    wie   damals  selbst 

>)  Schu.  S.  89.  2)  oe.  II.  S.  179.  •»)  Hildesheimer  Jahrbücher  J.  992.         <)  Gi.  V.  B.  S.  782. 

14* 


212  IV.  Kapitel. 

der  kleine  Ort  Torno  am  östlichen  Ufer  des   Sees  nicht  weniger   als  fünfzehn 
derartige  Fabriken  besaß. 
Vom  Julier  Die  Übrigen  in  das  lange  Engadin   einmündenden  Alpenstraßen   liegen   nun 

Wormserjoch.  inm'^en  eines  ausgedehnten,  nördlich  bis  zum  Arlberg,  südlich  bis  zum  Wormser- 
joch  und  östlich  bis  zur  Reschenstraße  sich  erstreckenden  Berglandes,  über  das 
auch  die  mittelalterliche  Geschichte  nicht  allzuviel  zu  sagen  weiß,  und  das 
ebenso  wie  in  der  Römerzeit  wenigstens  bis  zum  Anfang  des  zwölften  Jahrhunderts 
ohne  zwingenden  Grund  kaum  ein  von  weither  gekommener  Reisender  betreten 
haben  mag.  Daher  werden  wir  auch  vergebens  Nachrichten  über  die  Benutzung 
der  dem  Julier  nahe  benachbarten  Albulastraße  suchen,  wenn  sich  auch  hier  die 
Landschaft  selbst  nicht  ganz  so  schweigend  verhält,  angesichts  der  alten  Kirche 
in  Bergün  (1188),  der  Burgen  Beifort  und  Greifenstein  am  nördlichen  und  der 
Burg  Guardavall  am  südlichen  Ausgang.  Letztere,  die  um  1251  von  Bischof 
Volkard  von  Chur  erbaut  wurde  und  als  Zollstelle  diente'),  läßt  somit  erkennen, 
nach  welcher  Richtung  hin  der  Besitz  jener  Linien  im  Mittelalter  für  Chur 
von  einiger  Wichtigkeit  war,  insofern  hier  die  Verbindung  nach  dem  Vintschgau 
durchführte,  das  damals  einen  östlich  weit  vorgeschobenen  Posten  der  Interessen- 
sphäre dieses  Bistums  bildete.  Ebenso  wie  die  Albulastraße  ist  aber  auch  der 
Weg  über  den  Flüelapaß  für  jenen  Zweck  geeignet,  obgleich  wir  bei  diesem  als 
Zeugnis  seiner  mittelalterlichen  Benutzung  allein  die  Burg  Fortezza  bei  Süs 
auftreiben  können.  Als  Fortsetzung  dieser  beiden  Linien  nach  Südosten  steht 
dann  nur  der  Weg  über  den  Ofenpaß  zur  Verfügung,  dem  auch  noch  deshalb 
eine  größere  Wichtigkeit  zuzusprechen  ist,  weil  in  ihn  die  Straße  über  das 
Wormserjoch  einmündet,  während  das  Engadin,  das  alle  diese  inneren  Straßen 
Bündens,  auch  der  Weg  über  den  Berninapaß,  an  irgend  einer  Stelle,  in  Silva- 
plana,  Samaden,  Ponte,  Zernetz  oder  Süs,  einmal  betreten  müssen,  als  solches 
im  Mittelalter  noch  ganz  außerhalb  des  Verkehrs  gelegen  war').  Auf  einer  dieser 
inneren  Straßenrichtungen  Bündens  muß  übrigens  Friedrich  IL  im  J.  1212  sich 
bewegt  haben,  als  er  damals  aus  dem  Gebiet  der  Etsch  in  seine  deutsche  Erb- 
schaft hinübereilte^);  auch  Karl  IV  hat  bei  der  Rückkehr  von  seinem  ersten 
Römerzug  (1355)  einmal  diese  Gebirgsgegend,  wahrscheinlich  über  den  Bernina- 
und  Albulapaß  durchritten  "*), 

Lebhafte  Zeugnisse  eines  mittelalterlichen  Kulturlebens,  und  damit  zugleich 
auch  die  Spuren  eines  alten  Verkehrs,  treffen  wir  nun  aber  im  Münsterer-  und 
Tauferertal  an,  dort,  wo  die  Ofenstraße  und  die  Straße  über  das  Wormserjoch 
nördlich  in  eine,  nach  dem  oberen  Vintschgau  führende  Linie  zusammenlaufen. 
Daß  wir  uns  hier  an  einer  Stätte  alter  kirchlicher  Tätigkeit  und  alten  kirchlichen 
Besitzes  befinden,  zeigen  schon  die  Namen  S.  Maria  und  Münster  an,  wie  ja  das 
Alter  der  Benediktinerabtei  in  Münster,  auch  abgesehen  von  den  dortigen  Erinne- 
rungen an  Karl  den  Gr.,  tatsächlich  bis  in  die  Karolingerzeit  hinaufreicht.  Wenn 
')  Oe.  II.  S.  188.  2)  Schu.  S.  16.         3)  Vgl.  Anh.  22.         •»)  Oe.  II.  S.  189. 


Die  Straßen  Graubündens.  213 

wir  nun  aber  ebensofrüh  die  Churer  Bischöfe  als  die  Herren  dieser  Gegend 
sehen '),  so  tritt  später  auch  der  praktische  Wert  dieses  Besitzes  ganz  deutlich 
heraus,  als  hier  über  Taufers  drei  Burgen,  entlang  des  Weges  Wirtshäuser  und 
Schmieden,  vor  allem  aber  auch  eine  Anzahl  bischöflicher  Zollstellen  entstanden 
sind-).  Die  dortigen  Zollbestimmungen  reden  nun  auch  eine  ganz  deutliche 
Sprache  von  einem  über  das  Wormserjoch  gehenden  Handelsverkehr,  der  sich 
hier  etwa  vom  dreizehnten  Jahrhundert  ab  zwischen  Finstermünz  und  Meran 
einerseits  und  der  Lombardei  andererseits  eingelebt  hatte.  Bei  der  versteckten 
Lage  des  Wormserjoches  in  der  Bergwelt  und  bei  der  großen  Höhe  dieses  Über- 
ganges (2512  m),  die  im  Mittelalter  nur  bei  dem  Gr.  S.  Bernhard  ihresgleichen 
hat,  ist  dies  zunächst  eine  fast  befremdende  Erscheinung.  Sie  findet  ihre  Erklärung 
jedoch  darin,  daß  man  hier  weit  und  breit  keinen  besseren  Übergang  als  jenes 
Joch  finden  kann,  das  noch  dazu  gerade  in  der  Mitte  jenes  von  der  Cima  di 
Castello  (am  Bergeil)  bis  zur  Mendel  (bei  Bozen)  sich  erstreckenden  Gebirgs- 
walles  gelegen  ist,  der  hier  wie  ein  gewaltiges  Rückgrat  das  mittlere  Alpenland 
durchzieht.  Es  ist  daher  nur  eine  notwendige  Folge  der  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte immer  weiter  fortschreitenden  Kultivierung  der  Alpenländer,  wenn  sich 
der  Verkehr  schließlich  auch  hier  eine  neue,  selbständige  Bahn  eröffnete. 

')  PI.  S.  378f.  -)  Oe.  II.  S.  254. 


V.  Kapitel. 

Vom  Arlberg  bis  zum  Brenner. 


Die  Landschaft  Einen  ähnlichen  Verlauf  wie   die   Geschichte  des  Wormserjoches   zeigt  im 

am  r  erg.  j^jjtgiaifg,.  auch  diejenige  des  diesem  nördlich  genau  gegenüberliegenden  Arl- 
bergs.  Wir  müssen  aber  hierzu  wieder  nach  dem  oberen  Rheintal  zurückkehren, 
nach  dem  ja  der  Weg  von  jenem  Übergang  westlich  hinabläuft.  Es  ist  das 
Drusustal  des  ersten  Mittelalters,  das  sich  hier  von  Bludenz  bis  zum  Rheine 
ausbreitet  und  dessen  Ortschaften  wir  gleichfalls  kennen  lernen,  als  Bludenz 
Plutenes)  von  Otto  I.  an  Chur  und  Rankweil  (Villa  Vinomna)  von  Karl  dem 
,  Dicken    an    S.  Gallen  geschenkt  wird')-     In   Rankweil    hielt  sich    einmal   (823) 

Lothar,  der  Sohn  Ludwigs  des  Frommen,  auf  seiner  Rückreise  von  Italien  auf, 
und  hier  in  der  Nähe  diente  auch  seit  den  Zeiten  der  Merowinger  bis  in  das 
fünfzehnte  Jahrhundert  ein  Hügel  als  Stätte  der  öffentlichen  Gerichtsverhand- 
lungen, wie  auch  eine  derselben,  die  um  das  J.  807  ganz  nach  dem  im  Karo- 
lingerreich üblichen  Verfahren  stattfand  und  deren  Urkunde  wir  noch  besitzen, 
den  damaligen  Kulturzustand  dieser  Gegenden  getreu  widerspiegelt 2).  Im 
weiteren  Verlauf  des  Mittelalters  verschwinden  dann  aber  hier  zunächst  im 
Rheintal  ebensosehr  die  Spuren  der  Macht  der  Krone  wie  die  von  Chur  und 
S.  Gallen  und  es  erscheinen  jetzt  in  fester  Position  eine  Anzahl  kleiner  Dynasten, 
so  in  Bregenz  die  alten  Grafen  von  Bregenz,  und  deren  Erben,  die  Grafen  von 
Pfullendorf,  dann  auch  die  Montfort,  deren  Hauptort  Feldkirch  war,  und  auf 
Hohenems  die  nach  dieser  Festen  genannten  Grafen. 

Dringen  wir  nun  aber  in  die  Gebirgstäler  selbst  ein,  die  sich  in  der  Um- 
gebung von  Bludenz  nach  allen  Seiten  hin  öffnen,  so  befinden  wir  uns  hier 
plötzlich  inmitten  eines  eigenartigen  und  von  der  Forschung  auch  heute  noch 
nicht  genügend  gewürdigten  Kulturgebietes,  das  sich  von  seinen  beiden  Nach- 
barn im  Gebirge,  Bünden  und  Tirol,  scharf  unterscheidet.  Von  dort,  wo  die 
Höhen  des  Bregenzer  Waldes  aus   der  Ebene  aufsteigen,   bis  zur  Silvretta,   und 

')  PI.  S.  396,  373.  2)  PI.  S.  354. 


Vom  Arlberg  bis  zum  Brenner.  215 

von  Bludenz  bis  zur  Trisannamündung,  werden  wir  zunächst  vergebens  die  Reste 
mittelalterlicher  Herrensitze  suchen.  Ebenso  bemerkenswert  ist  aber  hier  auch 
die  Lagerung  der  Ortsnamen,  derart,  daß  in  der  nördlichen  Hälfte  jenes  Ge- 
bietes bis  zum  Kloster-  und  Stansertal  bei  diesen  die  reindeutschen  durchaus 
in  der  Überzahl  sind'),  während  dann  südlich  im  Montafon  und  Paznaun  sich 
dieses  Verhältnis  rein  in  das  Gegenteil  verkehrt  und  hier  in  geschlossener  Reihe 
die  aus  dem  Altertum  stammenden  Namen  anheben.  Es  ist  dies  aber  alles  nur 
ein  Abbild  der  Schicksale,  die  jene  Gegenden  in  der  ersten  Hälfte  des  Mittel- 
alters gehabt  haben,  als  in  diese  jetzt  mit  deutschen  Namen  besetzten  und  nach 
Norden  und  Westen  offen  stehenden  Täler  die  neue  alemannische  Bevölkerung 
einzog  und  vorwärts  drängte,  um  erst  östlich  des  Arlbergs  Halt  zu  machen,  eine 
Bevölkerung,  in  der  aber  auch  die  feudale  Entwickelung  des  Mittelalters  hier 
niemals  tiefe  Wurzeln  geschlagen  hat,  und  unter  der  sich  deshalb  auch  an  vielen 
Stellen  freie  Bauernschaften  viel  länger  als  anderswo  erhalten  konnten. 

Es  ist   eine   lange  Zeitspanne   von    den   Tagen  des  Drusus   und  von   jener  Die  Ariberg- 
problematischen  Römerstraße  über  den  Arlberg  bis  dahin,  als  der  Arlberg  wieder  M^neUitTr- 
seine   Eigenschaften    als    Grenzstock    abzustreifen    beginnt    und   wir    auf  seinem  Besonderheit 
Kamme    einen    von    Schwaben    nach    Tirol    führenden    Weg    erkennen    können,  innerhalb 
Wenn  dann  infolgedessen  die  alten  Namen  Drusustal  und  Wallgau  verschwinden  des  alpinen 
und   der   Bezeichnung   Vor    dem   Arlberg   Platz   machen,    so  weist  auch   dieser     "  ennetzes. 
Vorgang  wieder  deutlich  nach  der  Gegend  hin,  die  damals  hier  überall  das  erste 
Wort  zu  sprechen  hatte,  nach  dem  Gestade  des  Bodensees,  wie  dieser  Gesichts- 
punkt sich  auch  weiter  südlich  in  den  Bezeichnungen  Montafon  und  Davos  wieder- 
holt, da  jenes  das  vordere,   dieses  das  hintere  Tal  bedeutet.     Erst  am  Ende  des 
vierzehnten  Jahrhunderts  (1385)  kündet  die  Entstehung  des  Hospizes  S.  Christoph 
an  der  Paßhöhe  den  Arlberg  selbst  als  begangenen  Weg  an,  und  es  ist  auch  da- 
mals bereits  eine  für  das  eigentliche  Wesen  dieser  Linie  bezeichnende  Ursache, 
die  Erschließung  der  Salzbergwerke   in  Hall   bei   Innsbruck,   die   hier  von   fern 
einwirkt  und  die  den  Arlberg  nun  zunächst  zu  einer  mittelalterlichen  Salzstraße 
werden  läßt.     So  sehen  wir  denn  auch,  wie  diese  Straße  in  den  folgenden  Zeiten 
von    dem    Handelsverkehr    immer    mehr    in    Rechnung    gezogen    wird,    obwohl 
andere    wichtige    Ereignisse    damals    ebenso   wie   später    hier  ganz   ausgeblieben 
sind.     Nur  eine   einzige   geschichtlich   denkwürdige  Reise   ist   einmal   über  den 
Arlberg   gezogen,    und   noch   dazu  die   eines   sonderbaren  Heiligen,   des  Papstes 
Johann  23.,  als  dieser  sich  im  Oktober  1414    nach  Konstanz  zum  Konzil  begab. 
Eine  eigene  Laune  des  Zufalls  hat  es  aber  gewollt,  daß  gerade  die  Erinnerungen 
an  diesen  Reisenden   noch  zahlreich   an  den  Gebirgsorten   haften,   durch   die  er 
seinen  Weg  genommen  hat,  so  in  Meran,  wo  er  mit  Herzog  Friedrich  von  Tirol 

')  Ju.  S.  275.  A.  4.  Außerdem  ist  gerade  diese  Gegend  für  jene  oft  beobachtete  Erscheinung  ganz 
vorbildlich,  daß  die  von  Menschen  bewohnten  Orte  zuerst  die  neue  Bezeichnung  annehmen,  während 
an  den  Bergen  und  Flüssen  die  alten  Namen  viel  länger  haften  zu  bleiben  pflegen. 


216  V.  Kapitel. 

zusammentraf  und  nebenbei  das  Kloster  Gries  bei  Bozen  mit  Gnadenbeweisen 
beglücltte'),  in  Latsch  im  Vintschgau,  wo  er  eine  Kirche  weihte,  und  schließlich 
als  würdiger  Abschluß  jene  bekannte  Szene  bei  dem  Orte  Klösterle  am  Arlberg, 
wo  das  Gefährt  des  Papstes  auf  dem  schlechten  Wege  umwarf  und  nun  der 
im  Schnee  liegende  hohe  Herr  zum  Entsetzen  der  ihn  begleitenden  Gebirgs- 
bewohner in  ein  entsetzliches  Fluchen  ausbrach. 

Wenn  wir  uns  den  Weg  über  den  Arlberg  von  Bludenz  bis  Landeck  und 
sein  Verhältnis  zu  den  Linien  der  Nachbarschaft  genau  ansehen,  so  werden  wir 
bald  entdecken,  daß  er  einen  ganz  besonderen  Charakter  besitzt,  wie  er  sonst 
bei  keiner  anderen  Alpenstraße  wiederkehrt.  Diese  Besonderheit  beruht  jedoch 
nicht  so  sehr  darauf,  weil  wir  auch  hier  einen  der  wenigen  großen,  direkt  von 
West  nach  Ost  ziehenden  Alpenwege  vor  uns  haben,  sondern  sie  ist  vielmehr 
darin  begründet,  daß  allein  diese  Längslinie  in  sich  ganz  isoliert  ist  und,  anders 
als  die  Straße  über  die  Furka  oder  diejenige  durch  das  Pustertal,  nirgends  von 
einer  von  Nord  nach  Süd  ziehenden  Linie  durchschnitten  wird.  Deshalb  ist 
dieser  Weg  aber  auch  die  einzige  Linie,  an  der  man  das  Wesen  und  die  Stärke 
des  die  Alpen  in  der  Längsrichtung  durchziehenden  Verkehrs  ganz  unvermittelt 
beobachten  kann.  Wenn  nun  der  Weg  über  den  Arlberg  je  näher  wir  an  die 
Gegenwart  heranrücken  auch  weiterhin  von  Kriegszügen  gemieden  und  von  der 
Politik  vernachlässigt,  für  den  Handel  allein  dagegen  immer  wichtiger  wird,  so 
lassen  sich  hieraus  zwei  für  die  Verkehrsgeschichtc  der  Alpen  wichtige  und  zu 
allen  Zeiten  gültige  Gesichtspunkte  gewinnen,  einmal,  daß  von  den  durch  die 
Alpen  auf  und  ab  gehenden  Kulturbeziehungen  diejenigen  zwischen  dem  Norden 
und  Süden  stets  die  umfangreicheren  und  geschichtlich  wertvolleren  gewesen 
sind;  ebenso  läßt  es  sich  dabei  aber  auch  bemerken,  daß  die  Kräfte,  die  den 
Handelsverkehr  in  das  Leben  rufen  und  ihm  die  Wege  weisen,  mit  einem  ganz 
besonderen  Maß  gemessen  sein  wollen,  und  daß  wir  daher  in  der  Handels- 
geschichte einem  innerlich  besonders  selbständigen  Zweig  der  Kulturgeschichte 
gegenüberstehen. 
Die  Straße  Östlich    des  Arlbergs   kündet   uns   nun   aber  schon   die  große,   hoch    über 

Maiser  Haide.  Landeck  thronende  Burg  eine  andersgeartete  geschichtliche  Atmosphäre  an. 
Wir  betreten  hier  den  Bereich  jener  Alpenstraße,  die  südlich  vom  Vintschgau, 
also  vom  Gebiet  der  Brennerstraße  herankommend,  über  die  Maiser  Haide 
und  die  Reschenscheideck  durch  das  obere  Inntal  läuft,  um  sich  dann  einesteils 
nach  dem  Arlberg  zu,  besonders  aber  auch  nach  der  Fernlinie  auseinanderzu- 
spalten  und  so  an  lezterer  Stelle  wieder  zu  dem  großen  System  der  Brenner- 
straße zurückzukehren.  Auch  diese  Straße  ist  dadurch  eigentümlich,  daß  ihre 
Bedeutung  von  Anfang  an  einem  besonders  starken  Wechsel  unterworfen  ge- 
wesen ist,  daß  sie  ihrer  Wichtigkeit  nach  zuweilen  vollständig  an  die  anderen 
großen  Alpenlinien   heranreichte,   um   dann  plötzlich  wieder   in  den    Rang   einer 

')  Sta.   S.  49;   Atz.  S.  237. 


Vom  Arlberg  bis  zum  Brenner.  217 

untergeordneten  Lokalverbindung  zurückzutreten.  Obgleich  schon  die  Anlage 
der  ersten  römischen  Staatsstraße  durch  Tirol  vielmehr  hierher  als  nach  dem 
Brenner  hinwies,  so  scheint  trotzdem  doch  am  Ende  des  Altertums  an  der 
Maiser  Haide  alles  Leben  wie  ausgestorben  zu  sein.  Auf  der  Höhe  des  Mittel- 
alters sehen  wir  dagegen  dann  plötzlich  auch  hier  einen  regen  Handelsverkehr 
hindurchziehen,  während  später  im  achtzehnten  und  neunzehnten  Jahrhundert 
dieselben  Striche  wieder  nur  ein  stilles  Gebirgstal  gewesen  sind,  um  jedoch 
jetzt,  im  zwanzigsten  Jahrhundert,  von  neuem  Anzeichen  erkennen  zu  lassen, 
daß  hier  die  Zustände  des  vierzehnten  Jahrhunderts  im  Maßstabe  der  modernen 
Zeit  Wiederaufleben  wollen. 

Für  den  Zeitpunkt,  an  dem  es  im  Mittelalter  an  dieser  Linie  lebendig 
wurde,  haben  wir  einen  wichtigen  Anhalt  in  der  Gründungszahl  der  Abtei 
Marienberg  von  1090  und  noch  mehr  in  derjenigen  des  Hospizes  S.  Valentin 
auf  der  Haid  von  1140.  Da  diese  Daten  aber  nun  um  Jahrhunderte  früher  als 
die  Eröffnung  der  Arlbergstraße  liegen,  so  kann  der  damals  dort  anklopfende 
Verkehr  seinen  Ursprung  auch  nur  südlich  am  Wormserjoch  bezl.  im  Etschtal 
und  nördlich  an  der  Fernlinie  gehabt  haben.  Wie  rasch  dieser  Verkehr  dann 
aber  überhaupt  an  Stärke  und  Wichtigkeit  zugenommen  hat,  davon  redet  mehr 
als  alles  andere  das  Dasein  des  am  Südfuß  der  Maiser  Haide  gelegenen  Ortes 
Glurns;  denn  es  ist  doch  gewiß  auffallend,  wenn  wir  plötzlich  (1304)  auf  jener 
kleinen,  reichlich  hoch  gelegenen  Ebene  dicht  neben  dem  alten  Römerort  und 
Straßenpunkt  Mals  noch  einen  zweiten  Punkt  in  Gestalt  einer  nach  damaligen 
Begriffen  völlig  ausgewachsenen  Handelsstadt  finden,  die  später  auf  der  Stände- 
bank Tirols  den  siebenten  Platz  einnahm.  Wie  verhältnismäßig  selbständig  aber 
der  über  die  Maiser  Haide  gehende  Verkehr  neben  dem  Brennerverkehr  war, 
zeigt  sich  auch  darin,  daß  man  auf  jener  Linie  nicht  etwa  schon  bei  Bozen  ver- 
mittelst der  Brücke  über  die  Talfer  (Talavera)  in  die  Brennerstraße  einschwenken 
mußte,  sondern  diese  über  Terlan  und  das  Überetsch,  ganz  ebenso  wie  die  erste 
Straße  der  Römer  in  jenen  Gegenden,  auch  erst  südlich  bei  Neumarkt  erreichen 
konnte'),  wie  überhaupt  jener  Straßenzug  in  früheren  Zeiten  neben  der  eigent- 
lichen Brennerstraße  als  die  obere  Straße  bezeichnet  zu  werden  pflegte  und  die 
Erinnerung  an  seine  frühere  Bedeutung  auch  in  Tirol  stets  lebendig  geblieben  ist  2). 

Wandern  wir  aber  nun  von  Imst  aus  südwärts  der  Reschenscheidcck  selbst 
zu,  so  laufen  die  Spuren  des  ältesten  Straßenzuges  zunächst  nicht  wie  heute  an 
Landeck  vorbei,  sondern  durch  das  unterste  Piztal  und  dann  über  das  Pillerjoch 
nach  Prutz-').  Bei  Pfunds  und  bei  Nauders  (Novders)  finden  wir  dann  mittel- 
alterliche Zollstellen  und  südlich  der  Maiser  Haide,  die  übrigens  ebenso  wie 
die  Lenzer  Heide  durch  ihre  Schneestürme  berüchtigt  ist,  nehmen  dann  auch 
mit  jedem  Schritte,  den  wir  neben  der  jungen  Etsch  hinabgehen,  die  Zeugnisse 
des  Mittelalters  in  überraschender  Weise  zu,  hier,  wo  bei  Burgeis  Marienberg 
I)  Jo.  S.  21.         2)  W.  S.  77.         3)  Z.  A.  1900.  S.  111. 


218  V.  Kapitel. 

und    die   Fürstenburg,    Mals   mit   seinen    zwei   Schlössern    und   sieben    Kirchen, 
Glurns  und  Lichtenberg,   Schluderns  mit  der  Churburg  und  Matsch   mit  seinen 
Ruinen  dicht  nebeneinander  liegen. 
Das  Tatsächlich  ist  auch  jene  Stelle,  wo  das  Etschtal  aus   der  südlichen   in   die 

intsc  gau.  55(ijgj^g  Richtung  umbiegt,  Jahrhunderte  hindurch  der  Mittelpunkt  gewesen,  in 
den  die  Machtansprüche  der  mittelaterlichen  Gewalthaber  von  nah  und  fern  wie 
heftige  Winde  von  allen  Seiten  her  hineingeschlagen  und  hier  nun  Schicht  aur 
Schicht  aufeinander  gehäuft  haben.  Die  früheste  Kunde  dieser  Gegend  haben 
wir  zunächst  in  einer  Urkunde  vom  J,  824  vor  uns,  als  dem  Bistum  Como  seine 
Rechte  in  Bormio  und  Matsch  bestätigt  werden'),  eine  Ausdrucksweise,  die 
somit  zugleich  offenbart,  daß  es  sich  dabei  nur  um  bereits  bestehende  Verhält- 
nisse gehandelt  haben  kann,  deren  Ursprung  in  diesem  Falle  noch  im  römischen 
Altertum  zu  suchen  sein  wird.  Kein  Zufall  ist  es  wohl  aber,  wenn  sich  zu 
ebenderselben  Zeit,  wie  wir  gesehen  haben,  auch  schon  der  Bischof  von  Chur 
im  Münstertal  festsetzt,  und  daß  wir  daher  bereits  jetzt  noch  einen  zweiten 
Interessenten  behutsam  die  Grenzen  dieses  Gebietes  umschleichen  sehen.  Rein 
äußerlich,  nach  fränkischem  Staatsrecht,  war  damals  auch  diese  Gegend  in  weitem 
Umfange  zu  einer  Grafschaft  zusammengefaßt.  Es  ist  dies  jene  alte  von  der 
Passer  bis  Pontalt  im  Engadin  reichende  Grafschaft  Vintschgau,  die  jedoch  mit 
der  späteren  gleichen  Namens  nicht  allzuviel  gemein  hat,  da  diese  östlich  und 
westlich  beschnitten  sich  nur  vom  Schnalsertal  bis  Finstermünz  erstreckte. 

Allzuviel  Lebenszeichen  sind  uns  freilich  von  jenen  alten  Grafen  im  Vintsch- 
gau aus  jenen  dunklen  Jahrhunderten  nicht  übrig  geblieben.  Jedenfalls  werden 
sie,  nachdem  sie  im  J.  1027  unter  die  Oberhoheit  von  Trient  gekommen  waren, 
auch  kaum  anders  als  vorher  weitergelebt  haben,  da  dieses  wirklich  festen  Fuß 
im  Vintschgau  überhaupt  niemals  fassen  konnte;  denn  die  eigentlich  werbende 
Kraft  kam  hier  vielmehr  vom  Westen  her,  mit  dem  der  obere  Teil  des  Vintsch- 
gaues  zunächst  immer  enger  zusammenwuchs.  Marienberg  wurde  von  einem 
Grafen  von  Tarasp  gegründet,  und  dann  ist  es  vor  allem  das  Bistum  Chur,  das 
hier  Schritt  für  Schritt  vordrang,  das  sich  1278  die  Fürstenburg  bei  Burgeis 
erbaute,  das  am  Eingang  des  Martelltales  das  Schloß  Montan  als  Lehen  vergab-) 
und  dem  Mals,  Schlanders  und  Allgund  bei  Meran  seinen  Pfeffer  steuern  mußten 3). 
Bis  nach  Bozen  herab  reichen  jene  Beziehungen,  wo  die  Burg  Ried  ein  chure- 
risches  Lehen  war,  und  zeitlich  bis  in  das  siebzehnte  Jahrhundert,  als  die 
Bischöfe  von  Chur,  sobald  ihnen  daheim  der  Boden  zu  heiß  wurde,  sich  nach 
Meran  zurückzuziehen  pflegten"*).  Erst  die  letzte  Periode  des  Mittelalters  läßt 
dann  hier  eine  von  Osten  kommende  Gegenströmung  entstehen,  die  jedoch  erst 
tief  in  der  neuen  Zeit  (1665)  ihren  Abschluß  fand,  und  durch  die  dann  Chur 
wieder  nach  und  nach  bis  an  die  heutigen  Grenzen  des  Tiroler  Landes  zurück- 
gedrängt wurde. 

1)  Ju.  S.273.  A.2.         2)  Ju.  S.  281.  A.  5.         3)  Oe.  II.  S.  254.        4)  Sta.  S.  99,  121. 


Vom  Arlberg  bis  zum  Brenner.  219 

Aber  auch  noch  Tür  andere,  von  weiter  her  stammende  Beziehungen,  die  Das  Vintsch- 

,„,  -  .     ,    ■        .  .  .         j.      »1  o-j  ßau  als  ethno- 

schwerer  in  Worte  zu  fassen  sind,  hat  jene  eigenartige,  die  Alpen  von  Sudwesten  graphische 

nach  Südosten  durchziehende  Diagonallinie  als  Leitfaden  gedient.  Wenn  die  Leitlinie  von 
Spuren  des  alemannischen  Vordringens  sich  gerade  in  stärkerem  Maße  nach  „^^.j,  Südost. 
Osten,  über  den  Arlberg  und  in  das  nordwestliche  Tirol  hinein  beobachten  lassen, 
so  können  wir  die  Wellenschläge  dieser  Bewegung  noch  in  der  Bevölkerung  an 
der  Maiser  Haide  erblicken,  wo  heute  die  schwäbische  Mundart  herrscht').  Es 
entspricht  weiterhin  der  führenden  Rolle,  die  der  Adel  im  Mittelalter  einnahm, 
daß  dieser  auch  bei  jener  Bewegung  von  Schwaben  in  die  Berge  hinein  die 
größten  Entfernungen  zurückgelegt  hat.  Als  weitester  Punkt  dieser  Art  kann 
wohl  Lazise  am  Gardasee  gelten,  das  1015  von  einem  schwäbischen  Ritter  erbaut 
worden  sein  soll;  auch  die  Herren  der  Burg  Enn  bei  Neumarkt  läßt  ein  unbe- 
stimmter Nachklang  um  das  J.  1000  aus  der  Schweiz  eingewandert  sein,  Andeu- 
tungen, die  sich  greifbarer  bei  den  Namen  der  Brandis  und  der  Wanga  wiederholen, 
die  gleichfalls  alte  schwäbische  Geschlechter,  auch  in  Südtirol  zu  Hause  waren^). 
Noch  deutlicher  sehen  wir  aber  auch  ein  großes  deutsches  Fürstengeschlecht, 
die  Weifen,  denselben  Weg  einschlagen.  Wenn  diese  Familie,  deren  Stammsitz 
ja  am  Bodensee  lag,  wirklich  eine  Seitenlinie  der  alten  bayrischen  Agilolfinger 
gewesen  ist^),  so  hätten  wir  in  ihr  heute  wohl  die  älteste  Dynastie  der  Welt 
vor  uns.  In  den  Alpenländern  treffen  wir  sie  zuerst  auf  dem  Boden  der  heutigen 
Westschweiz,  wo  bereits  im  J.  864  ein  Weife  Konrad  als  Graf  zwischen  dem 
Jura  und  den  Alpen  erscheinf*),  greifbarer  und  zahlreicher  jedoch  mit  dem 
Beginn  des  neuen  Jahrtausends,  und  zwar  eben  nach  der  anderen  Richtung,  nach 
Südosten  hin.  Ein  Weif  war  bis  1027  Graf  im  Eisak-  und  Inntal^);  es  ist  der- 
selbe, der  damals  von  dort  durch  Konrad  II.  zu  Gunsten  Brixens  verdrängt 
wurde,  wphrend  dann  später  (1047)  wieder  Weif  III.  in  den  Besitz  der  Mark 
Verona  und  1070  Weif  IV.  in  den  von  Bayern  gelangte.  Letztere  Vorgänge 
scheinen  nun  aber  auch  die  Veranlassung  geworden  zu  sein,  daß  die  ganze  wei- 
fische Familie,  auch  die  Vettern  zweiten  und  dritten  Grades,  dieser  Bewegung 
folgten.  So  sind  nicht  nur  die  alten  Eppaner  Grafen  sondern  wahrscheinlich  auch 
die  alten  Grafen  von  Fuchs  und  die  Vögte  von  Matsch  dieses  Stammes  gewesen, 
da  sich  diese  beiden  Familien  nicht  nur  bei  den  Welfenspielen  in  Zürich  (1163) 
einfinden,  sondern  weil  man  bei  ihnen  auch  dem  jenem  Geschlechte  eigen- 
tümlichen Namen  Egno  begegnen  kann").  Jedenfalls  sehen  wir  nun  auch  bald 
darauf  fast  die  ganze  westliche  Hälfte  Tirols,  Füssen  und  die  Gegend  am  Fern- 
paß, das  Inntal  zwischen  Zirl  und  Imst,  das  Vintschgau,  das  Passeier-  und  das 
Sarntal  und  selbst  die  Umgebung  Bozens  mit  weifischem  Besitz  durchsetzt''),  wie 

1)  St.  S.  10;  Vgl.  Anh.  23.  2)  Erb.  S.  181;  Atz.  S.  192.  3)  ß.  W.  S.  21,  vgl.  Annalista  Saxo,  J.  1 126. 
<)  Otto  von  Freising,  Chronik,  6.  u.  7.  Bch.,  L.  Dyk.  S.  6.  A.  6.  »)  Ju.  S.  304.  6)  B.  W.  S.  48; 
Tir.  S.  40;  Stampfer  Schlösser  in  Meran  pp,  Innsbruck  1894,  S.  182.  ")  Archiv  für  österreichische 
Geschichte,  63.  B.  S.  651f;Steub,  zur  rätischen  Etnologie  Stuttgart  1854,  S.  67;  B.  W.  S.21;  N.A.S.99. 


220  V.  Kapitel. 

noch  heute  jene  Burgennamen  Weifenburg  am  Inn,  Weifenstein  am  Eisak  und 
Welsberg  im  Pustertal  an  diesen  Zustand  erinnern.  Wenn  diese  Entwickelung 
auch  nur  in  ihren  Umrissen  zu  erkennen  ist  und  bereits  am  Ende  des  zwölften 
Jahrhunderts  in  das  Wanken  geriet,  so  hat  sie  doch  vollständig  einen  dieser 
Familie  von  alters  her  eigentümlichen  Zug  an  sich,  eine  Zurückhaltung  gegen- 
über großen  Problemen,  dafür  aber  jenes  einseitige  starke  Verständnis  für  die 
Handhabung  der  Staatskunst  vom  materiellen  Gesichtspunkte  aus. 
Das  Überhaupt  vermag  kaum   eine   andere   Gegend    in    den   Alpen   hinsichtlich 

'"  hi^storrsche  der  geschichtlichen  Erinnerungen  eine  so  mächtige  Sprache  wie  das  Vintschgau 
Landschaft,  zu  reden,  wo  die  Spuren  einer  großen,  tiefbewegten  Vergangenheit  auch  heute 
überall  noch  wie  rtiit  Händen  zu  greifen  sind.  Es  ist  dies  freilich  doch  nur  eine 
Sprache,  die  mit  einem  Gefühl  des  Erstaunens  und  der  Trauer  überall  ausklingt. 
Wie  stattlich  erscheint  aus  der  Ferne  Glurns  mit  seinem  schmucken  Mauerkranz, 
der  einst  so  solid  und  stark  aufgeführt  werden  konnte,  daß  selbst  heute  noch 
kaum  ein  Stein  aus  ihm  ausgefallen  ist  —  und  wie  gewaltig  ist  dann  der  Kontrast 
im  Innern  des  Ortes,  dessen  große  Häuser  meist  tot  und  verwahrlost  dastehen, 
und  wo  nicht  mehr  Handelsleute  sondern  nur  der  Bauer  in  trägem  Schritt  und 
dessen  Vieh  die  Gassen  durchzieht.  Auch  die  verfallenen  und  verlassenen  Adels- 
burgen reichen  hier  ihrer  Zahl  und  Größe  nach  durchaus  an  diejenigen  heran, 
wie  man  sie  am  Rhein  und  bei  Bozen  findet,  und  zuweilen  kann  es  uns  auch 
dort  wie  ein  Hauch  von  jener  versunkenen  Epoche  anwehen,  wenn  wir  erfahren, 
daß  am  Eingang  des  Vintschgaues  auf  dem  Schlosse  Forst  Oswald  von  Wolken- 
stein gefangen  saß,  daß  auf  dem  Schlosse  Obermontan  eine  Handschrift  des 
Nibelungenliedes  zum  Vorschein  kam,  Jund  wenn  wir  heute  von  den  gewaltigen 
Wänden  der  Ruine  Lichtenberg  die  Fresken  aus  Laurins  Rosengarten  mit  ihren 
bunten  Farben  auf  den  mit  Schutt  und  Steintrümmern  bedeckten  Erdboden 
herabschauen  sehen. 
Der  jaufen  (jni  die  mittelalterliche  Bedeutung  Merans,   das  von  der  aus  dem  Vintsch- 

ira  Mittelalter.  jc-n..  -j-u-  u 

gau  kommenden  Straße  durchzogen  wird,  richtig  zu  verstehen,  müssen  wir  uns 
noch  mit  einer  zweiten  Straße  auseinandersetzen,  die  dort  in  jene  einmündet, 
mit  dem  Weg  über  den  Jaufen.  Wenn  der  allgemein  beliebte  Römerursprung 
der  Jaufenstraße  auch  heute  noch  auf  sichere  Beweise  wartet,  so  ist  dies  jeden- 
falls viel  weniger  verwunderlich,  als  daß  auch  die  Ansichten  über  deren  mittel- 
alterliche Bedeutung  bisher  recht  verschieden  gewesen  sind '),  da  diese  Frage 
doch  mit  den  Schicksalen  des  Passeiertales  innig  zusammenhängt.  Und  wenn 
wir  nun  aber  von  vornherein  sehen,  wie  die  mittelalterliche  Geschichte  des 
Passeiertales  ungleich  älter  und  inhaltreicher  ist  als  diejenige  aller  anderen  be- 
nachbarten Alpentäler,  die  niemals  zu  einem  betretenen  Übergang  hinaufführen 
konnten,  so  kann  dies  bereits  für  einen  Umstand  gelten,  der  auch  für  die  Be- 
nutzung des  Jaufens  selbst  sprechen  muß.     Es  ist  und   bleibt  schon  etwas  Be- 

1)  Vgl.  W.  S.  120. 


Vom  Arlberg  bis  zum  Brenner.  221 

sonderes,  wenn  der  Name  des  Passeier,  so  wie  er  heute  lautet,  bereits  im 
J.  1116  vorkommt'),  wenn  nicht  nur  einst  die  Grenzen  der  Grafschaften  Bozen 
und  Vintschgau  sondern  über  ein  Jahrtausend  hindurch  diejenigen  der  Bistümer 
Trient  und  Chur  hier  den  Talbach  entlang  liefen,  und  wenn  hier  am  linken  Ufer 
der  Passer  die  Kirche  von  S.  Leonhard  bereits  im  J.  1116  vom  Bischof  Geb- 
hard  von  Trient  und  am  rechten  Ufer  diejenige  von  S.  Martin  im  J.  1356  vom 
Bischof  Petrus  von  Chur  eingeweiht  wurde-),  Vorgänge,  aus  denen  daher  eben- 
sosehr die  lebendige  Kraft  jener  Grenzlinie  wie  die  Belebtheit  dieses  Tales 
selbst  im  Mittelalter  hervorgeht. 

Aber  auch  sonst  sind  gerade  die  Schicksale  des  Passeier  ganz  und  gar  ein 
Abbild  der  politischen  Geschichte  Tirols  in  der  zweiten  Hälfte  des  Mittelalters, 
wie  es  äußerlich  unter  der  Oberhoheit  von  Trient  aus  den  Händen  der  Weifen 
in  die  der  Hohenstaufen  und  dann  1266  in  die  der  Grafen  von  Tirol  überging, 
die  sich  nun  rückwärts  von  Meran  ihren  ersten  geschlossenen  Regierungsbezirk 
einrichteten.  Um  das  J.  1300  steht  diese  Entwickelung  hier  auf  ihrem  Höhe- 
punkt, als  die  Schildhöfe  im  Passeier  in  patriarchalischer  Weise  den  landes- 
fürstlichen Haushalt  zu  versorgen  hatten,  und  zugleich  durch  das  Tal  über  den 
Jaufen  herüber  ein  lebhafter  Verkehr  zog,  den  jene  Fürsten  durch  ihre  Privi- 
legien bewuOt  unterstützten^),  und  an  dem  sie  schon  deshalb  ein  besonderes 
Interesse  hatten,  da  damals  diese  von  Meran  nach  Innsbruck  laufende  Linie  das 
eigentliche  Rückgrat  bildete,  an  das  sich  der  Machtzuwuchs  des  Landesfürsten- 
tums räumlich  angliedern  konnte.  Zwei  Ereignisse  ganz  verschiedener  Art  haben 
dann  freilich  bald  nachher  jenem  Leben  auf  der  Jaufenstraße  derart  das  Grab 
gegraben,  daß  sie  seitdem  bis  auf  den  heutigen  Tag  zu  einer  Linie  zweiten 
Ranges  herabgesunken  ist,  einmal  die  Eröffnung  des  Kuntersweges  (um  1320), 
durch  die  der  Brenner  auch  den  innertiroler  Handel  nach  und  nach  völlig  an 
sich  riß,  und  dann  noch  vielmehr  die  Verlegung  der  mittelalterlichen  Residenz 
von  Meran  nach  Innsbruck,  die  den  Jaufen  nun  auch  in  politischer  Beziehung 
unwichtig  machte.  Seit  dem  fünfzehnten  Jarhundert  haben  daher  hier  nur  noch 
die  mit  Meraner  Wein  beladenen  Fuhren  das  Passeier  bis  nach  Innsbruck  durch- 
zogen, wozu  dann  später  auch  der  neu  aufgekommene  Bergbau  am  Schneeberg 
einiges  Leben,  aber  nur  in  der  näheren  Umgebung  des  Paßüberganges  selbst, 
gebracht  haf*). 

Wandern  wir  nun  über  den  Jaufen  nach  Meran  hinab,  so  ist  es  jedenfalls 
ein  höchst  widerspruchsvoller  Befund,  der  sich  zunächst  bei  der  Betrachtung 
des  Hospizes  am  Passe,  dem  sogenannten  Sterzinger  Jaufenhaus,  aufdrängt. 
Denn  wie  es  schon  zu  der  großen  Wahrscheinlichkeit,  daß  der  Jaufen  eine  recht 
alte  Verkehrsstraße  ist,  und  zu  der  allgemein  und  tief  eingewurzelten  Tradition 
von  dem  hohen  Alter  dieses  Hospizes  selbst  nicht  recht  passen  will,  daß  das- 
selbe urkundlich  doch  erst  verhältnismäßig  spät  (um  1200)  nachgewiesen  werden 

•)  B.  W.  S.  22.         h  B.  W.  S.  293,  260.         ■')  B.  W.  S.  24.        *}  B.  W.  S.  39. 


222  V.  Kapitel. 

kann,  so  muß  ebenso  bei  seinem  Anblicke  die  geradezu  herausfordernd  unge- 
schützte Lage  dieses  Gebäudes  innerhalb  seiner  nächsten  Umgebung  auffallen. 
Da  aber  keine  gegenteiligen  Anzeichen  vorliegen,  so  muß  es  nun  doch  wohl 
schon  siebenhundert  Jahre  an  der  gleichen  Stelle  wie  heute  gelegen  haben '). 
Auch  abwärts  in  S.  Leonhard  kann  das  Hospiz  nicht  später  als  im  J.  1212  ent- 
standen sein,  da  sich  der  deutsche  Orden  damals  dort  niederließt).  Weiter  hinab 
kündet  schon  der  Name  S.  Martin  das  hohe  Alter  dieses  Ortes  an,  der  tatsäch- 
lich auch  schon  im  zwölften  Jahrhundert  mehrmals  genannt  wird,  und  hier,  wo 
der  Zoll  erhoben  wurde,  haben  auch  bis  vor  kurzem  noch  einzelne  Häuser  be- 
standen, deren  eigentümliche  Bezeichnungen  in  dem  mittelalterlichen  Leben  und 
Treiben  daselbst  ihren  Ursprung  hatten  (Mailänderhaus  für  die  Kaufleute,  Esel- 
haus für  die  Saumtiere,  Sperberhaus  für  die  Züchtung  dieser  Jagdvögel,  Wascher- 
und Wachthaus)^).  Wie  sehr  aber  einst  der  Jaufen  der  eigentliche  Meraner 
Paß  war,  offenbart  sich  besonders  darin,  daß  gerade  dort,  wo  sich  jene  Straße 
der  Stadt  nähert,  reichlich  solche  Stellen  zu  finden  sind,  die  in  der  mittelalter- 
lichen Geschichte  Merans  einen  besonderen  Rang  einnehmen.  So  zunächst 
Kains,  wohin  die  Spuren  Corbinians  hinweisen  "*),  und  gegenüber  die  schöne 
alte  S.  Georgskirche,  dann  die  Zenoburg,  auf  deren  Hügel  sich  König  Heinrich 
von  Böhmen  eine  stattliche  Burg  erbaute^);  zu  allerletzt  aber,  in  dem  Augen- 
blick, in  dem  wir  in  das  Stadttor  Merans  selbst  eintreten,  tritt  uns  dann  dasjenige 
Zeugnis  entgegen,  das  mehr  als  alles  andere  geeignet  ist,  den  Jaufenweg  in  die 
Reihe  der  wichtigeren  mittelalterlichen  Straßen  zu  erheben;  denn  der  Torturm 
daselbst  bildet  den  Rest  der  alten  Feste  Ortenstein,  in  der  ursprünglich  die 
Burggrafen  als  die  unmittelbaren  Verweser  des  deutschen  Königs  ihren  Sitz 
hatten,  und  die  einst  den  Namen  Klause  führte,  weil  sie  hier  die  durch  den 
engen  Raum  zwischen  dem  Passerufer  und  dem  steilen  Hang  des  Segenbühels 
führende  Straße  vollständig  absperrte^). 

Es  liegt  trotzdem  in  der  Natur  des  Jaufens,  der  für  die  direkte  Linie 
zwischen  Deutschland  und  Italien  stets  einen  Umweg  bilden  wird,  daß  er  während 
der  eigentlichen  Römerzüge  kaum  jemals  von  den  deutschen  Herrschern  in  Person 
betreten  worden  sein  kann.  Dagegen  ist  er  im  vierzehnten  Jahrhundert  von 
Ludwig  dem  Bayer  mehrmals  benutzt  worden,  aber  auch  nur  deshalb,  weil  dessen 
Ziel  damals  neben  Italien  zugleich  auch  Meran  war.  Auch  ein  besonderer  Vor- 
fall von  einer  jener  Reisen  ist  auf  uns  gekommen,  als  Ludwig  im  Februar  1342 
zur  Hochzeit  seines  Sohnes  mit  Margarete  Maultasch  nach  Meran  zog,  und  als 
der  in  dem  zahlreichen  Gefolge  des  Kaisers  befindliche  Bischof  von  Freising 
oben  auf  dem  Passe  mit   dem  Pferde  stürzte   und   dabei   tötlich   verunglückte''). 

1)  Fischn.  S.  Ö8;  B.  W.  S.  312.  2)  B.  W.  S.  293.  ^)  B.  W.  S.  274.  *)  Maz.  S.  30.  5)  Xap.  S.  7. 
6)  G.  Pr.  Meran  1888,  S.  19,  11.  ')  Oe.  II.  S.  230,  238;  W.  S.  138.     1913  wußte   die  alte  Wirtin 

des  Jaufenhauses  zu  erzählen,  daß  die  Stelle,  wo  sich  dieser  Vorfall  ereignet  habe,  wenig  südlich 
der  Paßhöhe,  durch  ein  Steinkreuz  bezeichnet  gewesen  sei,  das  erst  bei  dem  Bau  der  neuen  Straße 
entfernt  worden  wäre. 


Vom  Arlberg  bis  zum  Brenner.  223 

In  Meran  selbst  betreten  wir  zunächst  ein  heiß  umkämpftes,  und  zwar  nicht  Meran. 
von  Blut  aber  von  Tinte  dunkel  gefärbtes  Schlachtfeld.  Wie  die  an  der  Toll 
gefundene  Römerinschrift,  durch  die  das  Dasein  eines  castrum  Majense  erwiesen 
ist,  den  Streit  darüber  nicht  hat  verhindern  können,  ob  dieses  castrum  bei  Meran 
oder  anderswo  gestanden  hat,  so  haben  auch  weiterhin  die  aus  dem  frühen 
Mittelalter  stammenden  Geschichten  vom  Leben  des  h.  Valentin  und  Corbinian, 
die  ja  zweifellos  zum  Teil  in  der  Gegend  Merans  spielen,  sich  für  die  Forschung 
als  ein  rechtes  Danaergeschenk  erwiesen,  weil  sie  weder  über  die  Lage  des  von 
ihnen  genannten  castrum  Majense  noch  über  dessen  eigentliche  Bedeutung  im 
ersten  Mittelalter  irgend  etwas  Bestimmtes  verlauten  lassen,  trotz  aller  Tatsachen 
und  Schlüsse,  die  man  aus  ihnen  entnehmen  zu  können  glaubt')-  Wenn  jener 
Mangel  an  sicheren  Nachrichten  sich  nun  in  dem  ersten  halben  Jahrtausend  des 
Mittelalters  an  unzähligen  anderen  Stellen  wiederholt  und  daher  zunächst  nur 
vom  Standpunkte  der  Lokalgeschichte  aus  wirklich  zu  bedauern  wäre,  so  wird 
durch  ihn  doch  auch  die  Erklärung  des  Namens  des  heutigen  Meran  ganz  be- 
sonders erschwert.  Dieser  Umstand  allein  ist  es  aber,  der  gerade  hier  nachteilig 
in  das  Gewicht  fällt,  weil  sich  ja  auf  der  Bühne  der  großen  Geschichte  hinter 
der  deutlich  erkennbaren  aber  unscheinbaren  Gestalt  der  spätmittelalterlichen 
Stadt  Meran  noch  wie  ein  gewaltiger  Geist  in  anspruchsvollen  aber  unklaren 
Umrissen  derselbe  Name  als  Wohnsitz  der  Goten  und  als  deutsches  Herzogtum 
Meran  erhebt. 

Wenn  heute  die  Landschaft  bei  Meran  nicht  nur  in  geographischer  sondern 
auch  in  kultureller  Beziehung  so  viele  verwandte  Züge  mit  dem  benachbarten 
Bozen  aufweist,  so  ist  dies  freilich  eine  Ähnlichkeit,  die  nur  auf  den  ersten 
Blick  standhält;  denn  zwischen  diesen  beiden  Punkten  besteht  insofern  eine 
große  Verschiedenheit,  als  der  Stadtgrund  Bozens  seit  dem  dreizehnten  Jahr- 
hundert wirklich  stets  der  zugkräftige,  ausschlaggebende  Mittelpunkt  des  benach- 
barten Gebietes  gewesen  ist,  während  die  Stadt  Meran  an  sich  niemals  zu  einer 
solchen  Überlegenheit  emporwachsen  konnte.  So  ist  es  das  eigentliche  Merkmal 
der  Meraner  Landschaft,  daß  jedes  Zeitalter  hier  an  einer  anderen  Stelle  das 
Wichtigste  zu  tun  hatte,  und  daß  die  geschichtlich  denkwürdigen  Punkte  hier 
überall  in  der  Umgebung  zerstreut  liegen.  Von  den  langobardischen  und 
bayrischen  Grenzburgen,  die  fern  vom  Etschufer  die  hohen  Bergwände  um- 
säumen, von  der  Stätte  der  ältesten  Arbeit  der  christlichen  Kirche  unten  im 
Tale,  verschiebt  sich  der  Schwerpunkt  dieser  Landschaft  dann  seit  der  Wende 
des  ersten  Jahrtausends  ausgesprochen  nach  dem  Schlosse  Tirol,  das  hier  im 
Alpenlande  als  einer  der  vorbildlichen  mittelalterlichen  Fürstensitze  erscheint, 
durchaus  ein  Seitenstück  zu  Thüringens  Wartburg,  nicht  allein  als  Baudenkmal 
sondern  auch  seiner  Wirkung  nach,  weil  hier  wie  dort  die  Fäden  der  Herrschaft 
über  ein   ganzes  Land   zusammenliefen,   und   jener  Zustand   auch  heute   noch  in 

')  Vgl.  Maz.  S.  3If.;  Sta.  S.  12  f.;  Tap. 


224  V.  Kapitel. 

den  über  das  Schloß  Tirol  vorhandenen  Geschichten,  wenn  auch  nicht  mit  dem 
gleichen  sonnigen  Schimmer  wie  bei  den  Sagen  der  Wartburg,  nachzittert. 

Wenn  wir  dann  im  J.  1239  auch  Meran  selbst  zuerst  als  forum  und  später 
bis  1320  auch  als  burgum,  oppidum  und  civitas  genannt  finden '),  so  haben  wir 
damit  zwar  endlich  jenen  unstäten,  in  die  Ferne  schweifenden  Ortsnamen  in 
Fesseln  geschlagen  und  an  die  Stelle  der  heutigen  Laubengasse  in  Meran  an- 
geschmiedet, geschichtlich  aber  auch  nichts  mehr  als  eine  Wirkung  des  Anbruchs 
jenes  materiellen  Zeitalters  vor  uns,  das  eben  auch  hier  wie  überall  anders  als 
städtebildend  hervortrat.  Damals,  vor  allem  während  des  vierzehnten  Jahrhunderts, 
befand  sich  der  Schwerpunkt  dieser  Landschaft  also  wirklich  auch  einmal  in 
dem  von  seinen  mittelalterlichen  Mauern  umschlossenen  Stadtgrund  Meran.  Es 
sind  dies  die  Zeiten,  als  die  hohen  Häuser  ebenso  ansehnliche  Kaufmannsge- 
schlechter mit  ihren  Warenvorräten  wie  die  Wohnungen  der  Fürsten  und  Bischöfe 
und  die  Ställe  für  deren  Pferde  beherbergten,  als  am  Rennweg  die  Ritterspiele 
abgehalten  wurden,  und  als  sich  besonders  die  Hofhaltung  der  Tiroler  Fürsten 
mit  allen  ihren  Bedürfnissen  hier  vollständig  eingelebt  hatte^).  Von  den  Lebens- 
bedingungen eines  solchen  Herrschers  aber,  bei  dem  man  nicht  weiß,  wo  der 
hohe  Herr  aufhört  und  der  Spießbürger  anfängt,  kann  man  sich  eine  Vorstellung 
machen,  wenn  König  Heinrich  von  Böhmen  im  J.  1317  einmal  verordnet,  daß 
die  in  Meran  feilgebotenen  Fische  nirgends  anders  als  vor  seinem  Hause  ver- 
kauft werden  dürfen,  oder  wenn  ein  anderes  Mal  die  Anlage  der  städtischen 
Aborte  ein  besonderer  Gegenstand  seiner  Sorge  ist  3).  Als  später  freilich  der 
Handel  auf  der  Reschen-  und  Jaufenstraße  abstarb  und  auch  die  Fürsten  immer 
seltener  von  Innsbruck  herüberkamen,  hat  dann  auch  hier  jenes  Bild  einem 
anderen  Platz  gemacht,  und  Meran  ist  dann  bald  nichts  mehr  als  eine  kleine 
Landstadt,  die  nur  durch  ihre  Läden  und  Werkstätten  die  Umgebung  versorgte, 
während  zunächst  die  wohlhabenden  Schösser  und  Adelssitze  außerhalb  des 
Ortes  und  heute  noch  viel  mehr  die  weitverstreuten  Villen  des  Kurortes  der 
Landschaft  ihr  charakteristisches  Gepräge  aufdrücken. 
Das  Etschtai  Von   Meran   liefen    dann,   zu    einer    Linie    vereinigt,    die    Straße    aus    dem 

7  w  1  SC  h  c  n 

Meran  und  Vintschgau  und  diejenige  vom  Jaufen  her  südlich  das  Etschtai  hinab.  Wir 
Bozen,  haben  hier  ein  Stück  Gebirgsland  vor  uns,  das  dicht  neben  der  benachbarten 
Brennerstraße  zwar  nicht  so  sehr  als  mittelalterliches  Straßenglied  wichtig  ist, 
das  aber  um  deswillen  um  so  mehr  Beachtung  verdient,  weil  das  Kulturbild 
dieses  Striches  auch  in  den  letzten  Jahrhunderten  ganz  geringe  Veränderungen 
erfahren  hat,  und  daher  auch  heute  noch  hier  überall  die  Lebensart  der  alten 
Zeiten  in  frischer  Anschaulichkeit  zu  Tage  tritt.  Die  Straße  lief  damals  wie  auch 
heute  noch  entlang  des  nördlichen  Talrandes  über  Gargazon,  wo  sich  Kaiser 
Lothar  im  September  1132  einmal  aufhielf*),  und  Terlan,  das,  von  je  her  ein 
wichtiger   Ort,   als   Torilan   bereits  im  J.  923  vorkommt,   und   wo  auch   die   Art 

1)  Maz.  S.  36.  2)  sta.  S.  327f.  3)  Sta.  S.  347,  350.  *)  Oe.  II.  S.  230. 


Vom  Arlberg  bis  zum  Brenner.  225 

der  Bebauung  der  Gegend,  die  Abgrenzung  der  Güter  und  zum  Teil  auch  die 
Benennung  der  Höfe  bis  in  unsere  Tage  noch  dieselbe  wie  einst  im  dreizehnten 
Jahrhundert  war').  Wie  aber  auch  hier  bereits  das  Altertum,  wie  die  Römer- 
funde in  Nals,  Terian  und  Moritzing  und  alle  die  romanisch  klingenden  Orts- 
namen beweisen,  sich  seine  Wohnstätten  abseits  des  sumpfumsäumten  Etschbettes 
am  Rande  der  höher  gelegenen  Taihänge  suchen  mußte,  so  paßte  sich  das 
Mittelalter  nach  seiner  Weise  noch  viel  entschiedener  dieser  Notwendigkeit  an, 
indem  es  mit  seinen  Burganlagen  noch  einen  Schritt  höher  hinaufstieg.  Wie 
viel  begehrt  und  heiß  umstritten  aber  auch  jene  Landschaft  einst  gewesen  ist, 
kann  schon  die  große  Anzahl  dieser  Burgen  deutlich  machen.  In  allen  Arten 
sind  sie  vertreten,  und  so  dicht  bei  einander  wie  sonst  nirgends  in  den  Alpen; 
zunächst  unten  im  Tale  die  Klause  bei  Neuhaus  dicht  neben  der  Landstraße, 
bevor  sich  diese  in  die  Richtungen  nach  Bozen  und  nach  dem  Überetsch  aus- 
einanderspaltete; oben  an  den  Hängen  dann  ebenso  die  Burgen  am  Eingange  der 
Seitentäler  (Eschenlohe,  Wehrburg,  Zwingenberg)  und  vor  allem  jene  gewaltigen, 
umfangreichen  Anlagen  mit  ihren  bewegten  Schicksalen  als  Mittelpunkte  wirk- 
licher kleiner  Herrschaftsgebiete  (Mayenburg,  Leonburg,  Payrsberg,  Greifenstein); 
dazwischen  verstreut  aber  auch  jene  öden,  stummen,  schwer  zugänglichen  Ge- 
mäuer, von  deren  Vergangenheit  jede  Kunde  erstorben  ist  (Wolfsthurn,  PfefFers- 
burg,  Festenstein),  und  zuletzt  dann  diejenigen  aus  der  letzten  Periode  des 
Mittelalters,  die  mit  der  Zunahme  der  Sicherheit  des  Lebens  wieder  die  Nach- 
barschaft der  Ortschaften  aufsuchten  und  so  den  Übergang  von  dem  befestigten 
Hause  zu  dem  Herrensitz  unserer  Tage  veranschaulichen  (die  Schwanburg  in 
Nals,  nach  der  schließlich  die  Herren  des  hoch  über  jenem  Ort  gelegenen  Payrs- 
berg hinabstiegen;  Katzenzungen  neben  Prissian  mit  seinem  Wallgraben  und 
Pechnasen,  aber  ebenso  mit  seinen  prächtigen  Innenräumen;  Fahlburg,  Sieben- 
eich)2).  Das  letzte  und  wichtigste  Ereignis  in  der  Geschichte  aller  dieser  Burgen 
bleibt  aber  auch  hier,  daß  ihre  Besitzer  freiwillig  oder  unfreiwillig  den  Tiroler 
Fürsten  huldigen  mußten,  die  von  Meran  her  während  des  dreizehnten  und  vier- 
zehnten Jahrhunderts  allmählich  die  Macht  des  alten  Landesherrn,  des  Bischofs  Ton 
Trient,  nach  Süden  zurückdrängten,  eine  Entwickelung,  die  an  dieser  Stelle  aber 
deshalb  besonders  folgenschwer  werden  sollte,  weil  sie  zugleich  über  das  Schicksal 
dieser  ganzen  Gegend  entschied,  und  auf  diese  Weise  jener  so  tief  im  Süden 
gelegene  und  den  italienischen  Einflüssen  offen  stehende  Landstrich  bis  auf 
unsere  Tage  mit  dem  deutschen  Kulturkreis  vereinigt  worden  ist. 

')  Atz.  S.  289 f.  -)  Erb.  S.  158,  170. 


Scbefrel,  Verkehrageschichle  Ur  Alpsn.    2.  Band.  J5 


VI.  Kapitel. 
Der  Brenner  und  seine  Nebenwege. 


Hervorragende  Wenn  wir  nunmehr  zu  der  Geschichte  des  Brenners  in  seiner  ganzen  Aus- 

der  Brenner-  Dehnung  Übergehen,  so  geraten  wir  damit  in  ein  Alpengebiet,  über  das  im 
Straße  im  Mittelalter  sehr  viel  zu  sagen  ist.  Zahlreiche  und  mannigfache  Gründe  sind  es, 
itte  a  ter.  ^^p  denen  dieses  Verhältnis  beruht.  Faßt  man  allein  die  Länge  des  Weges  in 
das  Auge,  wie  er  am  Nordrand  der  bayrischen  Alpen  das  Gebirge  betritt  und 
dieses  erst  dicht  vor  Verona  wieder  verläßt,  so  ergiebt  sich  schon,  daß  keine 
andere  Alpenstraße  mit  dieser  großen  Ausdehnung  konkurrieren  kann,  ein  Maß, 
das  außerdem  noch  viel  mehr  in  das  Gewicht  fällt,  wenn  man  sich  erinnert, 
daß  auch  kein  anderer  Alpenweg  überall  in  seiner  Nachbarschaft  so  viele  Neben- 
straßen besitzt,  die  alle  mehr  oder  weniger  mit  dem  Hauptübergang  verwachsen 
sind.  Wenn  weiterhin  zu  der  Wegefreundlichkeit  des  Brenners  auch  die  geringe 
Höhe  des  Paßüberganges  (1371  m)  selbst  beiträgt,  so  gründet  sich  jene  doch 
nicht  minder  auf  die  Beschaffenheit  der  beiden  Anlaufwege,  da  hier  nördlich 
und  auch  südlich  in  geringerem  Maße  sich  schwierige  Stellen,  steile  Höhen- 
unterschiede und  schmale  Engpässe,  finden,  wie  sie  sonst  überall  an  den  Straßen 
der  Mittelalpen  anzutreffen  sind. 

Der  Hauptgrund  für  die  Kulturfreundlichkeit  der  Brennerstraße  wird  jedoch 
zu  allen  Zeiten  nicht  auf  dem  Straßengrund  selbst  sondern  rechts  und  links 
desselben  zu  suchen  sein.  Keine  andere  Alpenstraße  durchzieht  auch  im  Be- 
reiche des  Hochgebirges  so  häufig  größere  und  kleinere,  für  das  menschliche 
Wohnen  günstige  Ebenen,  Überblickt  man  den  Weg  des  Gr.  S.  Bernhard  von 
Ivrea  bis  Vevey,  den  des  S.  Gotthard  von  Bellinzona  bis  Luzern,  so  haben  wir 
hier  selbst  in  den  belebtesten  Zeiten  an  den  Straßenpunkten  doch  nur  einen 
rasch  vorübereilenden  Durchgangsverkehr  vor  uns.  Am  Brenner  erweitert  sich 
dagegen  jenes  Verkehrsleben  überall,  in  Schwaz  und  Innsbruck,  in  Sterzing, 
Brixen  und  Bozen  zu  einem  vielseitigen,  inhaltsreichen  Getriebe,  das  auch  die 
Abwandlungen    der    mitteleuropäischen    Kulturgeschichte   in   allen   ihren    Farben 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  227 

viel  deutlicher  ericennen  läßt.  Im  Altertum,  als  das  der  Kultur  erschlossene 
Gebiet  nördlich  bereits  an  den  Ufern  der  Donau  aufhörte,  konnte  diese  geschicht- 
liche Produktivität  freilich  nur  unvollständig  in  die  Erscheinung  treten;  nachdenfi 
aber  einmal  auch  diese  Linie  nach  allen  Seiten  hin  von  einem  weiten  Kultur- 
gebiet umgeben  war,  mußte  sich  auch  sofort  die  lebendige  Kraft  jener  günstigen 
geographischen  Bedingungen  offenbaren,  die  dem  beschränkten  Menschengeist 
heute  fast  unverwüstlich  erscheinen  kann,  und  auf  die  es  jedenfalls  auch  zurück- 
zuführen ist,  daß  wir  nunmehr  die  Brennerstraße  seit  den  Zeiten  des  deutschen 
Königs  Heinrich  I.,  des  Städteerbauers  und  Slavenbesiegers,  bis  auf  unsere  Tage 
ununterbrochen  ihre  hervorragende  Stelle  behaupten  sehen,  so  sicher,  eine  so 
lange  Zeitspanne  hindurch,  wie  es  bei  keiner  anderen  Alpenstraße,  weder  bei 
dem  Gr.  S.  Bernhard  noch  bei  dem  S.  Gotthard,  der  Fall  gewesen  ist. 

Dies  ist  auch  der   Grund,  weshalb  sich   gerade   in   der   Geschichte   dieser  Die  Periode 
Alpenstraße  deutlicher  als  anderswo  verschiedene  ganz  bestimmte   Perioden   er-  ^^gg  ° 
kennen  lassen.     Sie  beginnen  zunächst  mit   dem  ersten   halben  Jahrtausend  des 
Mittelalters,  in  dem  sich  die  neuen  Verhältnisse  zurechtrücken  und  die  Grenzen 
der  jungen  mittelalterlichen  Reiche  in  fortwährender  Bewegung  sind,   eine   Zeit 
in  der  der  Brenner  an  Wichtigkeit  jedoch  noch  durchaus  neben  den  westlichen» 
Straßen  der  Alpen  zurücktritt,  während  dann  seit  dem    Erstarken    einer  eigent- 
lichen deutschen  Herrschermacht,   mit   dem  Vorrücken    der    Reichsgrenze    nach 
Osten,  in  die  Gebiete  der  Slaven  hinein,  auch  sofort  der  Brenner  als  die  Linie 
erscheint,  deren  sich  der  Verkehr  des  Reiches  nach  dem   Südlande  vorwiegend 
bedient.     Wir  haben  hier  die  Zeit  der  Römerzüge  vor  uns,  die  den  Brenner  nun 
recht  eigentlich  zum  deutschen  Paß  der  Alpen  gemacht  hat,  auch  schon  deshalb, 
weil  jene  ganze  Straße  damals  überall,  und  auch  am  weitesten  nach   Süden  hin, 
deutsches  Gebiet  durchzog. 

Die  Wanderung  durch  die  Orte  entlang  der  Straße  wird  es  uns  klar  machen, 
daß  wir  uns  hier  in  einem  Stück  des  alten  deutschen  Reiches  befinden,  in  dem 
sich  die  deutschen  Herrscher  ebenso  häufig,  ebenso  zahlreich  wie  an  den  Ufern 
des  Rheines,  auf  den  Burghöhen  Schwabens  und  des  Harzes  aufgehalten  haben, 
und  das  so  die  Erinnerungen  an  die  bewegtesten  Zeiten  des  deutschen  Mittel- 
alters in  sich  schließt.  Der  Beweis  dafür,  daß  der  Brenner  am  allermeisten  von 
den  deutschen  Königen  bei  den  Römerzügen  benutzt  wurde,  ruht  freilich  auch 
hier  vielmehr  nur  darauf,  weil  die  Zahl  derjenigen  Römerzüge  so  besonders 
groß  ist,  bei  denen  die  Wahl  jedes  anderen  Überganges  viel  unwahrscheinlicher 
bleibt  als  eben  die  des  Brenners,  viel  weniger  dagegen  auf  jenen  zwölf  Zügen, 
die  unbedingt  hier  herüber  gegangen  sein  müssen  ').  Die  Kalamität  in  der  Orts- 
bezeichnung der  mittelalterlichen  Berichterstattung  ist  also  auch  hier  vorhanden, 
da  jener  Weg,  wenn  er  überhaupt  genannt  wird,  nur  als  per  vallem  Tridentinam 
oder  per  Alpes  Noricas  bezeichnet  wurde,  wie  ja  im  Mittelalter  überhaupt  Bayern 

')  Vgl.  W.  S.SOf. 
15* 


228  VI.  Kapitel. 

als  Noricum,  Regensburg  und  sogar  Nürnberg  als  norische  Städte'),  die  Brenner- 
gegend selbst  aber  als  Norital  angesprochen  wurde 2).  Sobald  also  bei  einer  solchen 
Reise  diese  Bezeichnung  gebraucht  oder  auch  nur  Verona  als  Durchgangsstation 
genannt  wird,  ist  es  jedenfalls  gewiß,  daß  dabei  eine  Durchquerung  Tirols  in 
meridionaler  Richtung  vorliegt  und  deshalb  auch  die  Benutzung  des  Brenners 
an  sich  sehr  wahrscheinlich.  Um  freilich  eine  Brennerpassierung  im  Sinne  des 
Untersuchungsrichters  festzustellen,  dazu  würde  gehören,  daß  dabei  Wilten  oder 
Rentsch  (bei  Bozen,  nicht  aber  dieses  selbst)  oder  ein  zwischen  diesen  beiden 
an  der  Straße  gelegener  Ort  verzeichnet  ist,  eine  Bedingung,  die  wie  gesagt  nur 
bei  zwölf  Zügen  zutrifft. 
Glanzzeit  der  Seit  dem   Tode    Friedrich    Barbarossas,    zu    demselben   Zeitpunkt,    in    dem 

im  späteren  die  geschichtliche  Bedeutung  der  Römerzüge  nachzulassen  und  so  die  Brenner- 
Mittelalter.  Straße  für  die  Reichspolitik  weniger  wichtig  zu  werden  beginnt,  setzt  dann  aber 
hier  eine  dritte,  andersgeartete,  langandauernde  Periode  ein,  eine  Periode,  in  der 
die  Brennerstraße  mit  fast  unverwüstlicher  Kraft  vorwiegend  als  Handelsstraße 
diente,  und  die  recht  eigentlich  als  die  Glanzzeit  dieses  Weges  bezeichnet  werden 
muß.  Wenig  Neues  unter  der  Sonne.  Wie  einst  auf  die  Gestaltung  des 
römischen  Straßennetzes  in  Rätien  und  Norikum  in  weiter  Ferne  die  Verhältnisse 
an  der  Donaumündung  und  die  Sicherung  von  Konstantinopel  eingewirkt  haben, 
so  wird  auch  diesmal  jener  Umschwung  an  derselben  Stelle  erst  dadurch  ver- 
ständlich, wenn  wir  den  Blick  weit  nach  Osten  richten,  dorthin,  wo  der  Occident 
und  der  Orient  aneinanderstoßen.  In  der  ersten  Hälfte  des  Mittelalters  war  der 
Verkehr  zwischen  diesen  beiden  Kulturkreisen  auf  dem  Landwege  an  Regens- 
burg vorbei  die  Donau  entlang  und  über  Byzanz  gegangen,  auf  derselben  Bahn, 
auf  der  sich  auch  die  ersten  Kreuzzüge  bewegt  hatten,  während  dann  mit  dem 
Vordringen  des  Islam,  mit  dem  Verfall  Ostroms,  diesem  Zustand  immer  mehr 
der  Boden  entzogen  wurde  und  hier  immer  deutlicher  eine  andere  Verkehrs- 
richtung in  das  Leben  trat,  die  den  Landweg  vermeidend  und  südlich  abschwen- 
kend von  Syrien  aus  sich  den  Strömungen  des  mittelländischen  Meeres  anver- 
traute. Es  ist  der  Name  Venedigs,  auf  den  wir  hier  auftrefFen,  das  durch  diesen 
Umschwung  seine  Bedeutung  erlangte,  besonders  aber  die  hieraus  entstandene 
Konstellation  mit  einem  bewundernswerten  Scharfsinn  und  mit  einer  harten  Ziel- 
gerechtigkeit Jahrhunderte  hindurch  auszunutzen  verstand.  Die  Geschichte 
Venedigs  beginnt  bereits,  als  es  seine  Selbständigkeit  gegen  Karl  den  Gr.  zu 
behaupten  suchte,  wie  das  Emporkommen  dieser  Stadtrepublik  nur  infolge  ihrer 
Lage  möglich  gewesen  ist  zwischen  jenen  zwei  großen  politischen  Machtkreisen, 
dem  fränkischen  und  dem  byzantinischen  Reiche,  deren  Mittelpunkte  so  weit 
von  Venedig  selbst  entfernt  waren,  daß  auch  dem  starken  Arm  bei  einem  Aus- 
holen nach  dieser  Stelle  hin  die  Kraft  versagen  mußte.     So  bietet  Venedig  über- 

')  O.  F.  S.  179;  Vict.  S.  80;  Augsburg   heißt  dagegen   eine  Stadt   Rätiens,    Ra.  S.  35.  2)  Schloß 

Arnholz  bei  Matrei  hieß  einst  Norenholz. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  229 

haupt  von  Anfang  bis  zu  Ende  das  Abbild  eines  Pufferstaates,  mit  allen  Chancen, 
allen  Schicksalen,  die  aus  einer  solchen  Situation  geboren  werden  können,  zu- 
gleich aber  in  einer  Großartigkeit,  wie  es  in  der  Geschichte  kein  zweites  Mal 
wieder  anzutreffen  ist. 

Die  unbedingte  Herrschaft,  die  Venedig  fast  vier  Jahrhundertc  hindurch 
über  den  Handel  im  südöstlichen  Europa  behauptete,  und  der  übermächtige 
Einfluß,  den  es  somit  auch  auf  die  Gestaltung  der  östlichen  Alpenwege  ausübte, 
werden  aber  erst  dadurch  richtig  verständlich,  wenn  man  sieht,  in  welcher 
Weise  es  seine  Handelsgesetze  und  sein  Hausrecht  an  Ort  und  Stelle  selbst  hand- 
habte. Denn  der  am  Canale  grande  dicht  an  der  Rialtobrücke  gelegene,  1228 
zum  ersten  Mal  erwähnte,  dann  mehrmals  erweiterte  und  schließlich  1505  nach 
damaligen  Begriffen  in  den  größten  und  reichsten  Verhältnissen  umgebaute 
Fondaco  dei  Tedeschi ')  hatte  durchaus  nicht  etwa  nur  als  Sammelpunkt  und 
Unterkunftsort  der  deutschen  Reisenden  zu  dienen,  sondern  er  war  mehr  als 
alles  andere  die  Zentralstelle,  die  alle  aus  Deutschland  kommenden  und  nach 
Deutschland  gehenden  Waren  passieren  mußten,  um  hier  —  was  das  erste  und 
das  letzte  war  —  den  venezianischen  Zollbestimmungen  unterworfen  zu  werden^). 
Mit  einer  Härte  und  Eigensüchtigkeit,  wie  sie  nur  in  den  letzten  Jahrhunderten 
des  Mittelalters  möglich  war,  hat  hier  Venedig  jenes  Verfahren  durchgeführt, 
und  es  ist  nicht  zu  viel  gesagt,  daß  es  Zeiten  gegeben  hat,  in  denen  in  Deutsch- 
land kaum  ein  Fetzen  Seide,  kaum  eine  Messerspitze  Pfeffer  existierte,  deren 
Wert  nicht  einmal  unter  den  Wölbungen  jenes  Fondaco  verrechnet  worden 
wäre,  und  von  der  nicht  bloß  der  venezianische  Kaufmann  sondern  auch  der 
dortige  Fiskus  sein  Promille  als  Vorteil  eingestrichen  hätte. 

Wenn  wir  daher  alle  nach  Venedig  hinführenden  Straßen  der  Ostalpen, 
unter  diesen  aber  an  erster  Stelle  die  Tirol  durchziehenden  Straßen,  seit  dem 
vierzehnten  Jahrhundert  zu  lebhaften  Handelswegen  werden  sehen,  so  tritt  uns 
darin  zunächst  nichts  anderes  als  der  Grundzug  der  handelsgeschichtlichen 
EntWickelung  der  ganzen  östlichen  Hälfte  der  Alpen  im  Mittelalter  entgegen, 
und  zugleich  die  Ergänzung  zu  jenem  Bilde,  das  sich  in  derselben  Zeit  in  den 
Westalpen  eingelebt  hatte,  als  dort  der  Handelsverkehr  aus  Nordwestitalien  nach 
den  Messen  in  der  Kampagne  herüber  und  hinüberlief.  Es  sind  dies  demnach 
Zustände,  die  mit  ihren  Wurzeln  hier  wie  dort  noch  tief  in  den  alten  mittel- 
alterlichen Verhältnissen  stecken,  die  aber,  wie  besonders  hervorgehoben  werden 
muß,  im  Westen  sehr  bald  durch  die  Eröffnung  des  Gotthard  von  Grund  aus 
verändert  worden  sind,  im  Osten  dagegen  viel  länger  und  stetiger  angedauert 
haben.  Das  Dasein  Venedigs  als  Handelsmacht  ersten  Ranges  erstreckt  sich 
über  vier  Jahrhunderte,  und  noch  länger  sogar,  in  gewissem  Sinne  bis  auf  den 
heutigen  Tag,  wenn  auch  in  den  letzten  Jahrhunderten  nicht  in  derselben  hervor- 
ragenden Weise  wie  vorher,  hat  auch  die  Brennerstraße  eine  Epoche  als  große 

•)  W.  S.  98,  141.        2)  Schu.  S.  351  f. 


230  VI.  Kapitel. 

Handels-  und  Weltstraße  durchlebt,  ein  Zeitraum,  der  auch  dadurch  etwas  ganz 
Besonderes  an  sich  hat,  weil  er  sich  in  die  gewohnten,  althergebrachten  Ab- 
schnitte der  großen  Geschichte  schlechterdings  nicht  einfügen  will  und,  innerlich 
ganz  gleichartig,  sich  aus  dem  Mittelalter  bis  tief  in  die  neue  Zeit  hineinerstreckt. 

Schwer  ist  es  nicht,  den  Anbruch  jener  Periode  und  ihre  befruchtende 
Wirkung  an  der  Brennerstraße  und  an  deren  Zugangslinien  zu  bemerken;  er 
offenbart  sich  auf  den  ersten  Blick  dadurch,  daß,  besonders  in  dem  nördlichen 
Teile  Tirols,  jetzt  nicht  mehr  bloß  die  Burgen  und  Klöster,  sondern  auch  die 
Ortschaften  selbst  entweder  ganz  neu  an  das  Tageslicht  treten,  oder  doch  erst 
recht  eigentlich  von  sich  reden  machen.  Es  ist  dies  übrigens  ein  Vorgang, 
wie  er  ganz  und  gar  für  die  kulturelle  Entwickelung  des  Mittelalters  charakte- 
ristisch bleibt,  da  die  Gründung  und  das  Aufblühen  der  Städte  überall  durch- 
aus nicht  die  Ursache  sondern  nur  die  Folgerscheinung  der  Zunahme  des 
Handels  und  des  Gewerbes  gewesen  ist').  Ein  sichtbares  Andenken  an  jene  Bau- 
periode, das  allein  dem  damals  an  allen  Orten  sich  geltend  machenden  Durch- 
gangsverkehr seinen  Ursprung  verdankt,  haben  wir  in  den  Tiroler  Städten  in 
den  charakteristischen  Laubengängen  vor  uns,  die  dort  überall  an  den  beiden 
Seiten  der  langen  Hauptstraßen  (niemals  der  Nebenstraßen)  entlang  laufen  und 
heute  noch  besonders  treu  das  Leben  der  alten  Zeiten  veranschaulichen  können. 
Solche  Laubengänge,  die  übrigens  durchaus  nicht  einer  Verwandtschaft  mit  dem 
Süden  sondern  vielmehr  nur  einem  klimatischen  Bedürfnis  entsprungen  sind, 
finden  sich  auch  sonst  an  unzähligen  anderen  Orten  nördlich  und  südlich  der 
Alpen 2);  der  Umstand,  daß  sie  gerade  in  Tirol  so  zahlreich  auftreten,  zeigt  aber 
doch,  welch'  wichtigen  Faktor  hier  der  ungehinderte  Verkehr  vor  den  großen 
Gast-  und  Wohnhäusern  in  dem  wirtschaftlichen  Leben  gebildet  hat.  Wie  scharf 
aber  auch  jener  Umschwung  in  die  dortigen  sozialen  Verhältnisse  hineingeblasen 
haben  mag,  kann  man  aus  dem  Schicksal  der  Schongauer,  jener  berühmten 
Künstlerfamilie  ersehen,  die  im  zwölften  Jahrhundert  noch  in  Bozen  ansässige 
weifische  Dienstmannen,  im  dreizehnten  bereits  Bürger  von  Augsburg  geworden 
sind^). 

Aber  auch  noch  in  einer  anderen,  echt  mittelalterlichen  Weise  kommt 
jene  plötzliche  Verkehrszunahme  zum  Ausdruck,  darin,  daß  um  dieselbe  Zeit 
an  der  Brennerstraße  die  Hospize  überall  fast  wie  Pilze  aus  der  Erde  schießen''). 
Diese  jüngeren  Hospize  stellen  sich  jedoch  hier  zumeist  bereits  als  eine  Weiter- 
bildung des  alten  mittelalterlichen  Hospizwesens  und  als  ein  Übergang  zur 
späteren  Gasthofswirtschaft  dar,  da  sie  sich  an  die  Ortschaften  anschließen,  wo 
der  Betrieb  leichter  aufrechtzuerhalten  war.  Besonders  ist  es  der  deutsche 
Orden,  der  bewußt  in  diese  Bewegung  eingegriffen  hat  und  so  von  einem  ge- 
sunden  Tatendrang  geleitet  wurde,  als   er   nach   dem    Abflauen  der  Kreuzzugs- 

1)   Schu.   S.  153.  -)   Metz,   Alienstein,    Bologna  u.a.    Vgl.  F.  1906.  S.  30,   dagegen  Riehl.    S.U. 

3)  F.  1906.  S.  336.  *)  W.  S.  llOf;  N.  A.  S.  8. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  231 

bewegung  seinen  Wirkungskreis  aus  dem  Orient  auch  nach  Tirol  verlegte  und 
dort  seine  Niederlassungen  gründete.  1202  fällt  die  Gründung  der  deutschen 
Ordens-Komturei  in  Bozen,  und  es  steht  damit  nur  ganz  im  Einklang,  wenn  dies 
genau  dasselbe  Jahr  ist,  in  dem  wir  zum  ersten  Male  auch  von  den  in  dieser 
Stadt  abgehaltenen  Jahrmärkten  hören').  Bald  darauf  treffen  wir  den  Orden 
dann  in  Gestal;  der  Bailei  an  der  Etsch  und  im  Gebirge  auch  überall  in  der 
Nachbarschaft,  n  Schlanders  (1212),  im  Passeier  (1219),  in  Prissian  (Zwingen- 
burg)-), in  Lani  und  Sarnthein  (1396)-'),  am  zahlreichsten  jedoch  an  der  Brenner- 
straße selbst,  ao  sich  seine  Besitzungen  von  Süd  nach  Nord  wie  an  einer 
Schnur  aufeinanderreihten  (1283  Trient;  Bozen;  1227  Lengmoos;  1297  Velthurns; 
1254  Sterzinj  und  1470  Reifenstein)'*). 


Eine  venn  auch  mehr  seitab  im  Nordosten  gelegene  aber  noch  durchaus  P'e  Straße 
zum  Brennersystem  gehörige  Linie  ist  die  Straße  über  den  Fernpaß.  Betrachtet  pernpaß. 
man  diese  zunächst  hinsichtlich  der  Punkte,  deren  Verbindung  sie  in  weiter 
Ferne  ermöglicht,  so  offenbart  sie  eine  innerhalb  der  Alpenstraßen  nicht  allzu- 
häufige Eigenschaft,  insofern  sie  nicht  in  direckt  nordsüdlicher  Richtung  sondern 
ausgespro:hen  in  der  Diagonale,  von  Nordwest  nach  Südost,  den  Voralpenwall 
durchschreidet.  Dieser  Umstand,  der  außerdem  noch  dadurch  an  Wichtigkeit 
gewinnt,  veil  westlich  jener  Straße  bis  zur  Bregenzerklause  eine  andere  brauch- 
bare Lini;,  um  in  das  Innere  des  Gebirges  einzudringen,  ganz  fehlt,  wird  mithin 
der  Ferainie  im  militärischen  Sinne  stets  eine  erhöhte  Bedeutung  verleihen, 
eine  SacHage,  die  dann  auch  in  den  Kriegsereignissen  der  neuen  Zeit  ganz 
offen  zu  Tage  getreten  ist.  Es  hat  aber  doch  auch  hier  den  Anschein,  als  ob 
ebendiesdbe  Eigenschaft  schon  einmal  in  den  unseren  Blicken  viel  mehr  ent- 
zogenen ersten  Jahrhunderten  des  Mittelalters,  während  dem  Auf  und  Ab  der 
germanisihen  Völkerverschiebungen,  in  Wirksamkeit  getreten  wäre,  und  daß  sich 
ein  Seiteistrahl  des  von  Schwaben  nach  dem  Gebirgsland  gerichteten  Vordringens 
des  deuf.chen  Volkstums  auch  auf  dieser  Bahn  bewegt  hat.  Es  ist  nicht  bloß 
die  Sage,  die  gerade  den  Fernpaß  im  reichen  Maße  umspielt,  sondern  auch  ein 
gewichtiges  geschichtliches  Zeugnis,  das  die  Begangenheit  dieser  Straße  schon 
im  erster  Mittelalter  außer  allen  Zweifel  stellt,  dasjenige,  daß  Imst  und  zwar 
als  oppidim  Humiste  bereits  im  J.  764  (in  der  Gründungsurkunde  des  Klosters 
Scharnitz)  genannt  wird^),  gewiß  eine  auffallende  Tatsache,  da  überhaupt  die 
Namhaftnachung  einer  Stadt  in  Nordtirol  in  so  früher   Zeit  ganz   einzig   dasteht. 

Abgsehen  von  jener  nach  weithin  sich  äußernden  Eigenschaft  war  jedoch 
die  Besciaffenheit  der  Fernstraße  (Mons  Fericius)  wegen  der  Moorbildungen 
(Lermoos  Biberwier)  und  der  ausgedehnten  Waldungen  im  Bereich  der  Paßhöhe 

")  B.w.  S.!93;  W.  S.  114.         2,  Erb.  S.  175.        •»)  N.  A.  S.  100.         *)  B.  \f^.  S.  293;  Atz.  S.  10,  166, 
75,  80;  FiSihn.  S.  31,  43.         5)  F.  1906.  S.  135. 


232  VI.  Kapitel. 

nach  dem  Maßstabe  der  alten  Zeiten  nichts  weniger  als  wegefreundlich,  und  der 
reimfröhliche  Pilger,  der  im  J.  1487  von  Kempten  durch  jenes  Gebirge  nach 
dem  Brenner  zog,  hatte  daher  ganz  Recht,  wenn  er  den  Verren  nur  als  „den 
langen,  hohen  berg"  bezeichnete').  Trotzdem  ist  es  uns  auch  hier  nicht  schwer 
gemacht,  noch  die  Spuren  des  alten  Verkehrslebens  zu  entdecken,  nicht  nur  in 
den  Befestigungen  am  Wege,  Fernstein  und  der  echt  mittelalterlichen  Klause 
von  Ehrenberg 2),  sondern  besonders  infolge  des  Milieus,  das  sich  am  Südaus- 
gang der  Straße  findet,  das  noch  heute  ganz  dem  an  den  begangensten  mittel- 
alterlichen Straßenstellen  gleicht  und  in  seiner  Mannigfaltigkeit  in  Nordtirol 
nirgends  seinesgleichen  hat,  hier,  wo  Tarrenz  mit  seinen  vielen  alten  Gasthäusern 
liegt  und  Imst  mit. den  Burgruinen  in  der  Umgebung  und  den  interessanten  be- 
festigten Punkten  im  Orte  selbst  (Rofenstein,  Sprengenstein,  Austenurm)^).  Die 
im  vierzehnten  Jahrhundert  errichtete  Hauptkirche  zeigt  hier  schon  durch  ihre 
Lage  dicht  neben  der  Hauptstraße  und  am  Nordausgange  des  Ortes  an,  wohin 
das  Gesicht  dieser  Stadt  damals  vornehmlich  gerichtet  war,  wie  sie  luch  wegen 
ihrer  Größe  nur  ein  Werk  besonders  entwickelter  bürgerlicher  Woilhabenheit 
gewesen  sein  kann.  Auch  bei  zwei  ernsten  Ereignissen  der  deutschen  Kaiser- 
geschichte ist  die  Fernlinie  zu  nennen,  einmal  als  Kaiser  Lothar  auf  der  Rück- 
reise aus  Italien  im  J.  1137  in  Breitenwang  (Breduvanc)  bei  Reuttt  in  einer 
elenden  Bauernhütte  starb,  und  seine  Leiche  dann  von  hier  nach  Kinigslutter 
transportiert  wurde,  und  das  andere  Mal,  als  1267  Konradin  fast  von  derselben 
Stelle,  von  Hohenschwangau  aus,  seinen  verhängnisvollen  Römerzug  aitrat. 

Die  Straße  Wir  kommen  nunmehr  zu  der  Straße  über  die  Scharnitz,  die  melr  als  alle 

uDGr  die 
Scharnitz.  anderen  Linien  Nordtirols  als  ein  wirkliches  Glied  der  Brennerstraße  betrachtet 

werden  muß,  schon  äußerlich,  weil  sie  die  kürzeste  Verbindung  zwischm  Verona 
und  Augsburg  einschließt,  aber  noch  viel  mehr  deshalb,  weil  sie  als  silche  nun 
auch  fast  zu  allen  Zeiten  wirklich  in  Gebrauch  gewesen  ist.  Gerade  Her  haben 
wir  daher  auch  wieder  ein  treffliches  Beispiel  von  der  Lebenskraft  der  »mischen 
Straßenführung  vor  uns,  da  diese  ganze  nördliche  Hälfte  der  Brennerstiaße  auch 
meilenweit  in  der  Ebene,  wo  ja  die  Gestaltung  der  Straßenzüge  vie  williger 
den  Launen  der  einzelnen  Zeitalter  nachzugeben  pflegt,  jedenfalls  bis  ;um  vier- 
zehnten Jahrhundert  genau  so  blieb  wie  sie  die  Römer  einst  angelegt  hatten  und 
auch  heute  noch  nicht  vollständig  außer  Gebrauch  gekommen  ist.  Eort  aber, 
wo  die  Straße  das  Gebirge  selbst  betritt,  begann  einst  jener  große  Vald  von 
Scharnitz,  der  sich  in  dichter  Ausdehnung  von  Partenkirchen  bis  Serfeld  aus- 
breitete, und  dessen  Mitte  noch  heute  durch  den  Namen  Mittenwald  Iiezeichnet 
wird.  Daß  jedoch  die  Begangenheit  der  hier  durchlaufenden  Linie  auchzwischen 
dem  Altertum  und  dem  Mittelalter  kaum  eine  Unterbrechung  erlitt,  geit  daraus 
hervor,  daß  die  Kirchen  zu  Mittenwald  und  Partenkirchen  dem  h.  Petru  geweiht 

')  W.  S.  164.  2)  früher  Ernberger  Klause,  ebenso  wie  Ehrwald  früher  Erwald,  F.  Ii06.  S.  138. 
3)  F.  1906.  S.  137. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  233 

waren,  und  daß  auch  am  Wege  selbst  die  alten  Ortsnamen  (Partenkirchen,  Klais, 
Scharnitz)  zum  Teil  noch  erhalten  geblieben  sind.  Die  genaue  Lage  des  Klosters 
Scharnitz  bleibt  dagegen  noch  zu  erforschen;  auch  dieses  ist  bereits  im  J.  764 
gegründet,  sehr  bald  aber  aus  jener  Gegend  hinweg  nach  Schlehdorf  am  Kochel- 
sce  verlegt  worden '). 

Auch  weiterhin  läßt  sich  die  lebhafte  Benutzung  jenes  Weges,  schon  lange 
bevor  hier  ein  eigentliches  Handelsleben  einsetzte,  aus  den  mittelalterlichen 
Itinerarien  erkennen,  die  hier  die  einzelnen  Straßenpunkte  —  Enspruc,  Zirle, 
Medewald,  Bardenkerke,  Schongowc  —  fast  wie  Poststationen  der  neuen  Zeit 
anführen 2).  Der  wichtigste  Punkt  dieser  ganzen  Linie  war  damals  übrigens 
nächst  Scharnitz  das  heutige  Partenkirchen,  weil  in  dessen  Nähe  (nördlich  bei 
Oberau)  sich  jene  schon  von  den  Römern  geschaffene  Straßengabelung  befand, 
die  sich  in  die  Richtung  nach  dem  Lech  (Schongau)  und  in  diejenige  nach  dem 
Ammersee  (Weilheim)  auseinanderspaltete.  Auf  dieser  Situation  war  daher  auch 
die  Wichtigkeit  der  über  Partenkirchen  liegenden  Burg  Werdenfels  begründet, 
die,  wie  man  sich  noch  heute  überzeugen  kann,  den  von  Nord  nach  Süd  führen- 
den Straßenzug,  aber  auch  nur  diesen,  meilenweit  überschaut,  und  es  ist 
interessant,  daß  sich  auch  der  Weg  über  Murnau  und  Weilheim  als  eine  für  die 
Römerzüge  gebräuchliche  Bahn  feststellen  läßt;  dean  hier  zog  1021  Heinrich  II. 
und  1237  Friedrich  II.  vorüber;  auch  die  Leiche  Ottos  III.  ist,  als  sie  im  J.  1002 
aus  Italien  nach  der  Heimat  gebracht  wurde,  hier  durch  Polling  (südlich  Weil- 
heim) getragen  worden,  wo  sich  der  Herzog  von  Bayern  bei  ihr  einfand^). 

Von  der  Schcrnitz  bis  zur  Klause  bei  Kufstein,  also  bis  dort,  wo  der  Inn  Das  Unter- 
das  Gebirge  verläßt,  streicht  in  langer  Linie  der  Voralpenwall  dahin,  der  dabei 
in  der  Mitte  von  der  über  den  Achenpaß  gehenden  Straße  überschritten  wird. 
Wenn  wir  diese  Straße  ebenso  wie  jenes  ganze  Gebiet  im  Mittelalter  als  eine 
der  stillsten  und  abgelegensten  Gegenden  der  Alpen  ansprechen  können,  so 
umschließt  es  doch  gerade  deshalb  auch  heute  noch  in  voller  Stärke  die  Er- 
innerung an  die  Tätigkeit  der  alten  christlichen  Kirche;  denn  die  Benediktiner- 
klöster Benediktbeuern  und  Tegernsee  im  Norden  und  südlich  das  in  tiefer  Ein- 
samkeit gelegene,  1705  nach  Fiecht  bei  Schwaz  verlegte  Georgenberg'')  sind  es 
allein,  die  Jahrhunderte  hindurch  in  diesen  stillen  Tälern  gearbeitet  und  ge- 
schaltet haben. 

Die  Geschichte  der  Straße  durch  das  Unterinntal  aber  ist  die  Geschichte 
des  Unterinntales  selbst,  da  die  Natur  in  der  breiten  und  wohnlichen  aber  auch 
langgestreckten  Talsohle  hier  kaum  irgendwelche  schwierige  Wegestellen  ge- 
schaffen hat,  obwohl  andererseits  die  Zielgerechtigkeit  dieses  Tales  als  Reiselinie 
selbst  nichts  weniger  als  hervorragend  genannt  werden  kann.  Nur  derjenige, 
der  vom  Brenner  aus  direkt  nach  Regensburg  gelangen  wollte,  konnte  früher 
mit  Vorteil    jenen  Weg   einschlagen,   und    in    diesem    Verhältnis   ist  daher  auch 

I)  Ab.  S.  56.         2)  W.  S.  118.        J)  W.  S.  119.         *)  Riehl  S.  20. 


234  VI.  Kapitel. 

allein  die  Wichtigkeit  des  Unterinntals  als  Straßenteil  während  der  ersten  Hälfte 
des  Mittelalters  zu  suchen.  Wenn  uns  heute  ferner  jener  Strich  nicht  weniger 
fest  wie  alle  anderen  Teile  Tirols  mit  diesem  Lande  verwachsen  scheint,  so  ist 
dieser  Zustand  doch  gerade  hier  viel  jünger  als  anderswo,  da  das  Unterinntal, 
wenigstens  mit  seiner  größeren  nördlichen  Hälfte,  erst  im  sechzehnten  Jahr- 
hundert als  letztes  Glied  jenem  Gebirgsland  angefügt  wurde.  Das  ganze  Mittel- 
alter sehen  wir  dagegen  auf  diesem  Boden  neben  den  Herzögen  von  Bayern 
die  verschiedensten  geistlichen  Gewalthaber  mit  einander  ringen,  Brixen  und 
Salzburg,  Bamberg  und  Regensburg,  die  von  Süden,  Osten  und  Norden  her 
hier  mit  ihren  Machtkreisen  aufeinanderstoßen.  So  bedeutet  der  Name  Absam  bei 
Innsbruck  wahrscheinlich  nichts  anderes  als  einen  Sitz  von  „Abtleuten" '),  und 
es  ist  interessant,  zu  beobachten,  wie  gerade  die  von  Salzburg  herüberführenden 
natürlichen  Verbindungen  die  Rinnen  gebildet  haben,  mittelst  deren  dieses  Bis- 
tum bis  an  die  Ufer  des  Inn  gelangen  und  nun  hier  Jahrhunderte  hindurch  die 
Burgen  Itter  an  der  Mündung  des  Brixentales  und  Kropfsberg  an  der  des  Ziller- 
tales  behaupten  konnte  2). 

Der  Hauptteil  der  mittelalterlichen  Geschichte  spielt  sich  demnach  auch 
hier  viel  weniger  in  den  kleinen  Straßenorten  sondern  oben  auf  den  Burgen  ab, 
in  Frundsberg  bei  Schwaz,  in  Tratzberg  d.  h.  der  Trutzburg,  in  Matzen,  das  im 
J.  1176  das  erste  Mal  genannt  wird,  und  selbst  bei  Kufstein  zunächst  nicht  unten 
am  Inn  sondern  oben  auf  Tierberg,  wo  heute  nur  noch  der  wunderbar  gelegena 
und  unendlich  weit  ausschauende  Bergfried  vorhanden  ist.  Auf  die  Zähigkeit, 
mit  der  jene  hohen  Reichsstände  sich  einander  den  Rang  streitig  zu  machen 
suchten,  wird  es  nun  aber  auch  zurückzuführen  sein,  daß  ein  mächtiger  boden- 
ständiger Adel  hier  nicht  recht  eigentlich  aufkommen  konnte.  Als  das  einzige 
mittelalterliche  Geschlecht,  das  im  Unterinntal  wirklich  eine  Rolle  gespielt  hat, 
treten  die  Frundsberg  hervor,  die  aber  dann  im  fünfzehnten  Jahrhundert  nach 
Schwaben  übergesiedelt  sind-').  Von  den  Orten  an  der  Straße  ist  Kufstein  im 
J.  1205  nur  ein  castrum,  1329  dann  aber  als  Besitz  Kaiser  Ludwigs  des  Bayern 
„bürg  und  statt".  Weiter  flußauf  bezeichnet  dann  Rattenberg  die  alte  bayrische 
Zollstätte  und  zugleich  einen  Punkt,  den  die  Bayern  mit  besonderer  Zähigkeit 
festgehalten  haben,  und  der  erst  spät  (1505)  und  nach  langen  Kämpfen  von  ihnen 
aufgegeben  worden  ist.  Wenn  auch  Schwaz  schon  am  Anfang  des  zehnten  Jahr- 
hunderts als  Suates  genannt  wird*)  und  damals  besondere  Beziehungen  zum  Bis- 
tum Brixen  gehabt  zu  haben  scheint,  so  fällt  sein  Aufschwung  doch  erst  ganz 
in  jene  der  neueren  Zeit  viel  näher  stehende  Periode  hinein,  als  Schwaz  und 
Hall  und  selbst  Innsbruck  hier  plötzlich  als  Bergstädte  und  unter  der  unmittel- 
Die  Kaiser-  ^aren  Einwirkung  der  Tiroler  Fürsten  emporkamen. 

Straße.  Bevor   wir  Innsbruck  betreten,   muß  noch  kurz   einer  Straßenlinie   gedacht 

1)   F.    1906.    S.  124.  2)   Schw.   S.  45f.   S.  157f.;    Itter    gehörte    ursprünglich    zu    Regensburg. 

3)  Schw.  S.   125,  143.  *}  F.  1906.  S.  123. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  235 

werden,  die  den  Verkehr  von  Nordosten  her  der  Brennerstraße  zuführt.  Es 
ist  dies  die  von  Salzburg  und  Reichenhall  über  Lofer,  Waidring  und  S.  Johann 
auf  Wörgl  laufende  Verbindung,  die  zwischen  S.  Johann  und  Wörgl  auch  den 
Namen  Kaiserstraße  führt,  weil  sie  hier  am  Fuße  des  Kaisergebirgs  entlang  läuft, 
ein  Name,  der  freilich  mit  dem  großen  Worte  Kaiser  nicht  das  Geringste  zu 
tun  hat,  sondern  von  Käser  d.  h.  Sennhütte  herrührt').  Diese  Straße  ist  heute 
dadurch,  daß  sie  von  der  Giselabahn  südlich  umgangen  wird,  vollends  in  den 
Hinflergrund  getreten,  und  ein  Blick  auf  die  Karte  zeigt  auch,  daß  ihre  Be- 
deutung allein  von  der  Rolle  abhängen  wird,  die  Reichenhall  und  vor  allem 
Salzburg  in  den  Ostalpen  einnehmen;  aber  gerade  deshalb  muß  sie  im  Mittel- 
alter als  begangen  vorausgesetzt  werden,  wie  dies  auch  durch  das  Dasein  eines 
Hospizes  in  S.  Johann  nachdrücklich  bestätigt  wird,  das  hier  bereits  im  J.  1262 
bestanden  hat.  Sonst  kann  man  in  jenen  stillen  Alpentälern  auch  noch  die  Be- 
obachtung machen,  daß  die  Ortsnamen  hier,  anders  als  im  Unterinntal  oder  in 
der  Umgebung  von  Reichenhall  und  Salzburg,  nirgends  ein  hohes  Alter  sondern 
in  der  Hauptsache  nur  einen  reindeutschen  Charakter  zeigen,  während  in  den 
mit  Heiligennamen  versehenen  (S.  Johann,  S.  Ulrich,  S.  Jacob  bei  Waidring)  die 
von  Salzburg  und  Reichenhall  ausgehende  Kulturarbeit  zu  erkennen  ist.  Diese 
Beziehungen  lassen  sich  gleichfalls^  sogar  bis  dorthin  verfolgen,  wo  jene  Linie 
in  das  Unterinntal  einmündet,  da  in  Wörgl  nichts  anderes  als  der  Name  des 
alten  Salzburger  Bischofs  Virgilius  (8.  Jahrh.)  enthalten  sein  soll  2). 

Die  Geschichte  Innsbrucks   spielt    sich    im  Mittelalter    an  zwei    ganz    ver-  !""^^^!""'^)',, 

'^  .  im  Mittelalter. 

schiedenen  und  räumlich  getrennten  Punkten  ab,  zunächst  bis  zum  zwoüten 
Jahrhundert  am  äußersten  Rande  der  Ebene  im  Stifte  Wilten  und  dann  auf  dem 
Boden  der  heutigen  Stadt.  Bei  Wilten  selbst  ist  nicht  bloß  „dessen  Name  in 
seinem  rätischen  Rätsel  Veldidena  stecken'  sondern  auch  dessen  Platz  genau 
an  der  Stelle  stehen  geblieben,  wo  sich  dieser  Ort  zur  Römerzeit  befand.  Diese 
liegt  nun  freilich  für  die  Richtung  nach  dem  Brenner  so  zwingend  wie  nur 
möglich,  weil  die  zu  dem  Paß  heraufführende  Straße,  nachdem  einmal  der  Inn 
überschritten  worden  ist,  sich  westlich  der  Sill  schlechterdings  keinen  anderen 
Punkt  heraussuchen  kann  als  denjenigen,  wo  sie  unmittelbar  vor  dem  Anstieg 
auf  den  Berg  Isel  an  dem  heutigen  Wilten  vorbeigeht.  Jene  erste  Stufe  der 
eigentlichen  Brennerstraße,  vom  Portal  der  Wiltener  Klosterkirche  bis  zur  Station 
Plateau  der  heutigen  Stubaitalbahn,  ist  daher  auch  eine  Straßenstrecke,  die  seit 
den  frühesten  Zeiten  bis  in  das  neunzehnte  Jahrhundert,  als  dann  hier  die  neue 
Kunststraße  in  einer  großen  Kehre  nach  Westen  ausholte,  immer  in  derselben 
Weise  in  Gebrauch  geblieben  sein  muß,  und  deren  hohes  Alter  auch  heute  noch 
in  den  Resten  alter,  wenn  auch  fast  gänzlich  abgetragener  und  eingesunkener 
Befestigungen  deutlich  vor  Augen  tritt.  Es  kann  aber  trotzdem  kaum  für  eine 
besondere   Bedeutung   Wiltens    im   Mittelalter   sprechen,    wenn    dieses   Klosters 

')  N.  S.  1.         2)  F.  1906.   S.  122. 


236  '^J-  Kapitel. 

weder  gelegentlich  der  vielen  Römerzüge,  die  hier  unbedingt  vorübergekommen 
sein  müssen,  noch  irgendwie  sonst  einmal  gedacht  wird. 

Bei  Innsbruck  zeigt  dagegen  schon  der  reindeutsche  und  redende  Name 
den  späteren  Ursprung  der  Stadt  an;  denn  es  ist  richtig,  daß  dieser  Ort,  wenn 
er  noch  in  der  romanischen  Periode  entstanden  wäre,  heute  wohl  Pfunzen  (Pons 
Oeni)  heißen  müßte,  das  Produkt  einer  Sprachbildung,  wie  es  an  einer  anderen 
gleichgearteten  Stelle  am  Inn,  in  der  Nähe  von  Rosenheim,  uns  auch  wirklich 
entgegentritt').  Ob  freilich  die  Entstehung  Innsbrucks  auch  ihrem  Wesen  nach 
als  ein  Werk  des  Mittelalters  oder  nur  als  ein  Wiederaufleben  antiker  Verhält- 
nisse anzusehen  ist,  darüber  würde  allein  die  Tatsache  zu  entscheiden  haben, 
inwieweit  sich  der  Innübergang,  der  dort  auch  zur  Römerzeit  bestand,  schon 
damals  zu  einem  stadtartigen  Platze  entwickelt  hat.  Die  erste  mittelalterliche 
Ansiedelung  steht  hier  jedenfalls  bereits  durchaus  unter  dem  Zeichen  des  Handels- 
verkehrs; sie  befand  sich  zunächst  auf  dem  schmalen  linken  Innufer,  rückte 
jedoch  sehr  bald,  um  Raum  zu  gewinnen,  auch  auf  das  andere  Ufer  hinüber, 
als  im  J.  1180  die  an  dem  Aufkommen  des  Platzes  interessierten  Andechser 
Grafen  dort  von  dem  Kloster  Wilten  ein  Stück  Land  erlangten  und  nun  auf 
diese  Seite  den  Markt  verlegten  2).  In  rascher  Folge  giebt  nun  auch  jene  Stadt 
ihre  Lebenszeichen  von  sich.  Am  20.  Juni  1204  berichtet  uns  der  Bischof 
Wolfger  von  Passau  von  der  Zeche,  die  er  dort  für  sich  und  sein  Pferd  gemacht 
hat^),  1239  erhält  der  Ort  von  dem  letzten  Andechser,  Otto  III.,  das  Stadtrecht 
und  zugleich  das  Niederlagsrecht,  das  darin  bestand,  daß  die  Waren  hier  ab- 
geladen und  auf  neuer  Achse  weiterbefördert  werden  mußten,  und  das  mithin 
einen  regelrechten  Warendurchzug  voraussetzt "*).  Aber  auch  in  der  großen  Ge- 
schichte sehen  wir  Innsbruck  jetzt  plötzlich  auftauchen;  denn  bei  dem  Römer- 
zug Ottos  IV.  (1209)  nennt  dessen  Chronist  Arnold  von  Lübeck  diesen  Ort  mit 
Namen  und  charakterisiert  noch  dazu  die  Lage  jenes  Bereiches  (civitas)  mit 
kurzen  aber  ganz  treffenden  Worten^).  Weniger  bekannt  ist  es  dagegen  vielleicht, 
daß  um  dieselbe  Zeit  auch  schon  in  weiter  Ferne  von  seiner  Heimat  ein  Inns- 
brucker Kind  von  sich  reden  gemacht  hat,  Wilhelm  von  Innsbruck,  der  um  1234 
in  Pisa  den  berühmten  schiefen  Campanile  um  drei  Geschosse  höher  hin- 
aufbaute^). 

Auch  aus  dem  heutigen  Innsbruck  kann  man  noch  unschwer  jenen  ältesten 
Kern  herausschälen,  der,  nicht  anders  wie  alle  anderen  Tiroler  Straßenpunkte, 
in  der  Hauptsache  nur  aus  einer  langen,  mit  Lauben  versehenen  Straße  bestand. 
Es  ist  dieses  die  heutige  Herzog  Friedrichstraße,  die  ebenso  wie  die  später  an 
sie  angesetzte  Maria-Theresiastraße  genau  von  Nord  nach  Süd,  in  der  Richtung 
der  großen  Brennerstraße  läuft.  An  diese  schloß  sich  am  Innufer  der  befestigte 
Sitz  der  Andechser,   die  heutige  Ottoburg,   deren  Namen  demnach   hier  wie  ein 

')   F.  1906.    S.  126.  2)   W.  S.  115.  3)    W.  S.  107.  ^}    W.  S.  105.  ^   A.  L.  S.  351. 

6)  Schubring,  Berühmte  Kunststätten  Nr.  16.  L.  1902.  S.  41. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  237 

letzter  Schatten  aus  längst  vergangener  Zeit  an  die  eigentlichen  Gründer  dieser 
Stadt  und  an  die  Macht  jenes  berühmten  Geschlechtes  erinnert.  Auch  die  Jacobs- 
kirche, die  Pfarrkirche  der  Stadt,  liegt  hier  in  unmittelbarer  Nähe.  Später 
hat  sich  der  Platz,  von  dem  der  Herzschlag  Innsbrucks  ausging,  dann  immer 
mehr  vom  Innufer  selbst  entfernt,  zunächst  nach  dem  Goldenen  Dach!,  als  der 
Ort  noch  nichts  anderes  als  die  Residenz  des  habsburgischen  Landesfürstentums 
war,  später  nach  der  Hofburg  und  nach  der  Franziskanerkirche,  als  dieselben 
Habsburger  Landesfürsten  zugleich  eine  Weltstellung  vertraten,  während  dann 
weiter  östlich  die  Jesuitenkirche  und  heute  der  Hauptbahnhof  —  jedes  in  seiner 
Art  —  uns   die  beiden  letzten  Stationen   dieses  Zuges  vor  Augen    führen    kann. 

Genau  halbwegs  zwischen  Innsbruck  und  der  Brennerhöhe  stoßen  wir  dann  Matrei 
auf  das  kleine  aber  kulturgeschichtlich  unendlich  vielseitige  Matrei,  einen  Brennerpaß. 
echten  Alpenstraßenpunkt,  dem  dieser  Lebensnerv  in  allen  Zeiten  erhalten  ge- 
blieben ist.  Auch  heute  zeigt  dieser  Markt  vorwiegend  nur  jene  lange  von  Nord 
nach  Süd  laufende  Hauptstraße,  an  deren  zum  Teil  riesigen  Häusern  fast  überall 
ein  schmiedeeisernes  Gasthofsschild  weit  hinausragt,  die  aber  doch,  weil  der 
Ort  niemals  Stadtrechte  besessen  hat,  keine  Lauben  aufweist.  Vervollständigt 
wird  dieses  Bild  dann  durch  das  am  südlichen  Ende  jener  Straße  gelegene 
mittelalterliche  Hospiz  (1447)  und  nicht  minder  durch  die  vielen  Burgen  und 
festen  Häuser,  die  sich  einst  um  jenen  Ort  herumgruppierten  (Trautson,  Aufen- 
stein,  Arnholz,  Latschburg,  Bergstein),  und  die  wir  gleich  zahlreich  erst  wieder 
in  Sterzing  und  Brixen  antreffen. 

Auf  die  eigentliche  Ursache  der  Bedeutung  Matreis  führt  uns  aber  ein 
Gang  nach  dem  Nordausgang  des  Ortes,  weil  hier,  unmittelbar  unter  der  Burg 
Trautson,  jene  wichtige  Straßenteilung  liegt,  durch  die  sich  der  Weg  nach  dem 
Inntal  in  zwei,  durch  die  tiefe  und  lange  Schlucht  der  Sill  getrennte  Arme 
spaltet.  Von  diesen  ist  der  eine  westliche  die  eigentliche  Brennerstraße,  die 
wir  bei  Wilten  betreten  hatten,  während  der  andere,  östliche,  die  Richtung  nach 
Hall  einschlägt.  Auf  letzterer  Linie,  die  in  ihrer  Anlage  von  der  gegenüber- 
liegenden Brennerstraße  ganz  verschieden  ist,  und  die  in  großen  aber  unmodernen 
Windungen  die  Schluchten  der  in  die  Sill  herabstürzenden  Bergbäche  umgeht, 
um  dann  hoch  über  das  Plateau  nach  Hall  hinabzuziehen,  zeigt  schon  der  Augen- 
schein ebenso  wie  die  alten  Ortsnamen  (Pfons,  Gedeier,  S.  Peter,  Igls,  Vill, 
Lans)  das  hohe  Alter  der  Straße  an.  Es  ist  ohne  weiteres  ersichtlich,  daß  das 
selbständige  Ziel  dieser  Straße  nur  der  östlich  der  Sill  gelegene  Teil  des  Unter- 
inntals sein  kann,  und  daß  ihre  Existenz  daher  durchaus  geeignet  ist,  nicht  nur 
die  frühere  Bedeutung  von  Hall  sondern  auch  diejenige  von  Ambras  zu  unter- 
streichen. Ebenso  kann  aber  auch  die  seit  der  Römerzeit  kaum  eine  Unter- 
brechung erleidende  Geschichte  von  Matrei  selbst  darauf  führen,  dieser  Strecke 
ein  hohes  Alter  zuzusprechen;  denn  es  ist  jedenfalls  Tatsache,  daß  wir  uns  im 
Mittelalter   dort  viel  früher   als   in  Wilten   auf  sicheren   historischen  Boden    be- 


238  VI.  Kapitel. 

finden.  Schon  1060  wird  Matrei  und  dann  immer  wieder  genannt'),  und  bereits 
vor  den  Grafen  von  Tirol  sind  die  Bischöfe  von  Brixen  als  die  Herren  dieses 
Platzes  erkennbar,  wie  auch  die  hier  ansässigen  Lehnsleute  derselben,  die  Aufen- 
stein  und  die  Trautson,  zu  den  ersten  Geschlechtern  des  Landes  im  Gebirge 
gehörten. 

Wenn  wir  das  Bild  des  Brennerpasses  selbst  mit  demjenigen  an  den  anderen 
belebten  Alpenpässen  vergleichen,  so  muß  es  sofort  auffallen,  daß  dieser  nicht 
über  ein  weites  unwirtliches  Hochplateau  sondern  in  einem  sauber  abgemessenen 
und  von  hohen  Bergwänden  umgebenen  Engpaß  nach  Süden  hinüberzieht,  und 
wenn  das  Mittelalter  einst  hier  die  Stelle  am  Lueg  in  antro  oder  in  spelunca 
nannte,  so  hat  es  damit  ganz  das  Richtige  getroffen-).  Zu  bemerken  wäre  auch 
das  Fehlen  irgendwelcher  Hospizgründung  auf  dieser  so  außerordentlich  betre- 
tenen Übergangsstelle,  obwohl  jener  Mangel  seine  Erklärung  darin  findet,  weil 
an  dieser  wirtlichen  Alpensiraße  die  Ortschaften  selbst  südlich  und  nördlich 
bis  nahe  an  die  Paßhöhe  herantreten  können.  Trotzdem  enthüllen  sich  gerade 
hier  in  der  Nähe  dieser  Paßhöfe,  wenn  man  in  das  Kulturbild  der  alten  Zeiten 
tiefer  einzudringen  sucht,  eine  ganze  Reihe  ungeahnter  Fragestellungen  und 
Schwierigkeiten.  Denn  wenn  man  nördlich  Steinach  den  Spuren  des  alten 
Straßenzuges  nachgeht,  so  laufen  diese  nicht  wie  heute  durch  die  Schlucht  von 
Stafflach  und  dann  durch  Gries  hindurch  sondern  ganz  offensichtlich  höher,  am 
westlichen  Talrand  entlang  über  Noesslach,  um  dann  in  Vinaders  anzukommen. 
Dieses  Vinaders  liegt  nun  zwar  ganz  abseits  der  Richtung,  die  heute  direkt 
nördlich  auf  den  Brennerpaß  zuführt;  es  ist  aber  trotzdem  die  älteste  Pfarre  der 
Gegend  und  als  solche  auch  dem  h.  Leonhard  geweiht,  der  sich  ja  nicht  selten 
an  den  mittelalterlichen  Straßenpunkten  einzustellen  pflegte;  auch  den  Namen 
Vinaders  selbst  hat  man  als  Station  der  Weinhändler  zu  erklären  versucht^). 
Südlich  des  Brenners  treffen  wir  dann  den  ersten  sicheren  geschichtlichen  Unter- 
grund wohl  weniger  in  Gossensass  selbst  als  in  dessen  unmittelbarer  Nähe,  in 
Straßberg,  wo  nicht  nur  der  Name  sondern  auch  die  ganze  Anlage  heute  die 
frühere  Bestimmung  dieses  Platzes  als  einer  rechten  Straßensperre  kundtun, 
dessen  Besitz  aber  sehr  bald  den  Händen  der  Bischöfe  von  Brixen  entglitt  und 
in  die  Gewalt  der  Tiroler  Fürsten  kam,  deren  Pfieger  hier  zugleich  als  Richter 
von  Sterzing  seit  1309  ihren  Sitz  aufgeschlagen  hatten'*). 
Sterzing.  Wenn,  wie  wir  schon   erfahren  haben,   im  J.  828  jener  Quartinus  ercheint 

und  bei  dieser  Gelegenheit  auch  dessen  in  jener  Gegend  gelegene  Besitzungen 
aufgezählt  werden 5),  so  ist  dies  eine  Nachricht,  die  wie  ein  Blitz  aus  dunkler 
Nacht  einmal  auf  die  Verhältnisse  am  Südabhang  des  Brenners  ein  rasch  ver- 
schwindendes Licht  wirft,  und  die  besonders  deshalb  interessant  ist,  weil  sie 
den  Schluß  rechtfertigt,  daß  damals  in  jenem    Landstrich   ganz  geordnete,   wenn 

')  F.  1906.  S.  148.  2)  \y.  s.  134.  3)  st.  S.  53;  vgl.  Scheffel,  Die  Brennerstraße  zur  Römerzeit 
Berlin  1912,  S.  54f.        ^)  Fischn.  S.  12,  57.        '-)  Ju.  S.  267. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  239 

nicht  ganz  behagliche  Verhältnisse  geherrscht  haben  mögen.  Volle  vier  Jahr- 
hunderte gehen  aber  seitdem  wieder  dahin,  in  denen  von  jener  Gegend  nicht 
das  Geringste  verlautet.  Aber  auch  hier  kann  uns,  ebenso  wie  bei  Bozen  oder 
Meran,  ein  Blick  auf  die  Landschaft  sofort  darüber  belehren,  daß  wir  die  eigent- 
liche mittelalterliche  Geschichte  Sterzings  nicht  in  dem  Orte  selbst  sondern  in 
den  Burgen  und  Ortschaften  zu  suchen  haben,  die,  höher  als  die  Talebene  ge- 
legen, jenen  Ort  wie  ein  Kranz  umwinden.  Außer  Straßberg  sind  dies  das  nach 
dem  Jaufen  zu  gelegene  Wolfsthurn  und  Reifeneck,  dann  weiter  Thunburg, 
Elzenbaum  (1149  Elsenpoum)  Reifenstein  (1100  Riffinstein),  Sprechenstein  und 
Trens  (1060  Trentis),  und  wir  sagen  auch  hier  bereits  nichts  Neues  mehr,  daß 
das  Hauptereignis  in  der  Geschichte  der  dortigen  Burgen  nichts  anderes  ist, 
als  wie  sie  auf  diese  oder  jene  Weise  in  die  Gewalt  der  Tiroler  Fürsten  ge- 
kommen sind. 

Im  dreizehnten  Jahrhundert,  also  mit  dem  Beginn  jener  besonders  gearteten 
Zeitepoche,  die  eben  in  der  Geschichte  der  Alpenländer,  wie  man  will,  viel 
zeitiger  oder  viel  später  als  anderswo  eintritt,  stellt  sich  dann  aber  auch  hier 
pünktlich  der  Ort  Sterzing  ein,  und  auch  fast  in  derselben  Weise,  wie  wir  es 
schon  bei  Innsbruck  kennen  gelernt  haben.  Wie  dort  wenn  auch  nicht  der 
redende  Name  des  Ortes,  aber  doch  der  gottesarme  Wegfahrer  als  redendes 
Stadtwappen,  das  hier  aus  der  Not  eine  Tugend  macht.  1204  wird  Sterzing  das 
erste  Mal  urkundlich  genannt,  hierauf  1252  und  1296,  bis  man  1314,  was  nicht 
unwichtig  ist,  sogar  eine  Leihbank  daselbst  vorfindet').  Wenn  nun  aber  bei  dem 
Verlaufe  dieser  ganzen  Entwickelung  die  Ähnlichkeit  mit  Innsbruck  zunächst 
besonders  in  die  Augen  fällt,  so  müssen  doch  hier  trotzdem  andere  Kräfte  als 
dort  am  Werke  gewesen  sein,  wo  die  mächtigen  Andechser  Grafen  recht  eigent- 
lich die  Entstehung  von  Innsbruck  in  die  Hand  nahmen,  und  wir  werden  jene 
in  Sterzing  darin  zu  suchen  haben,  daß  gerade  hier  die  nördliche  Schwelle  der 
laufenstraße  lag,  deren  Glanzzelt   ja   auch    in  das   dreizehnte  Jahrhundert  fällt. 

In  der  Gegend  von  Franzensfeste  und  Brixen  hat  das   Zeitalter  der  Eisen-  Brixen  und 
bahnen  dagegen  in  kurzer   Frist  so  viele  neue  Bedingungen   geschaffen,   daß  es  gebung  im 
heute  hier  viel  schwerer  ist,  sich  das  Straßenbild  der  alten   Zeit  zurückzurufen.  Mittelalter. 
Die  Wichtigkeit  dieser  Stelle  hat  ja  stets  darauf  beruht,  daß  sich  hier  die  Straße 
aus  dem  Pustertal    mit  der   Brennerstraße  vereinigt,   ein   Treffpunkt,   der  heute 
für  den  Verkehr  einzig   und   allein   gebieterisch  in   dem   Bahnhof  Franzensfeste 
mit  allem,  was  zu  diesem  gehört,  verankert  liegt.     Im  Mittelalter   sehen   wir  je- 
doch dort  ringsherum  ein  ganz  anderes,  komplizierteres  Wegebild  vor   uns,  das 
jedoch,  wenn  man  genau  hinsieht,  in  dem  Bau  der  Landschaft,  in  der  Mischung 
von  Hochgebirge  und  Mittelgebirge  und  in  der  Richtung  der  nach  Süden  durch- 
brechenden Gewässer,  seine  zwingende  Grundlage  hatte.     Der  Abfall  des  Mittel- 
gebirges, der  sich   vom  Hochplateau  von   Spinges   aus  zungenartig   nach   Süden 

I)  W.  S.  113,  115. 


240  VI.  Kapitel. 

bis  nach  Neustift  hinab  erstreckt,  und  der  östlich  und  westlich  von  den  tief  ein- 
geschnittenen Flußtälern  des  Eisak  und  der  Rienz  umfaßt  wird,  mußte  früher 
ganz  von  selbst  zwei  verschiedene  Ablaufpunkte  entstehen  lassen  für  diejenigen, 
die  aus  dem  Pustertal  kommend  auf  der  Brennerstraße  weiter  ziehen  wollten, 
derart,  daß  die  einen,  deren  Ziel  in  Brixen  oder  weiter  im  Süden  lag,  bereits 
bei  Schabs  die  Straße  aus  dem  Pustertal  verließen,  die  anderen,  nach  Norden 
Reisenden  dagegen  noch  den  Eisak  mittelst  der  Ladritscher  Brücke  überschritten 
und  erst  dort  in  die  Brennerstraße  einbogen.  Dieser  letztere  Vereinigungspunkt 
lag  demnach  bei  dem  heutigen  Weiler  Unterau  und  war,  wenn  auch  überschattet 
von  umfangreichen  modernen  Bauten,  bis  vor  kurzem  an  der  Straßenkirche  und 
an  dem  alten  Gasthaus  daselbst  noch  ganz  deutlich  zu  erkennen,  während  sich 
als  eigentlicher  Wachposten  dicht  neben  ihm  die  Brixener  Klause  erhob. 

Von  hier  zog  dann  die  Brennerstraße  weiter  nach  Süden,  bis  Waidbruck 
sich  immer  eng  an  die  westliche  Talseite  anschmiegend  und  so  auch  nur  an 
dem  westlichen  Rand  der  Stadt  Brixen  vorbeiführend,  dort,  wo  heute  das  alte 
Gasthaus  zum  Elefant  liegt,  so  daß  an  dieses  einst  sein  Besitzer  mit  vollem  Recht 
den  Spruch  anschreiben  lassen  konnte:  Wer  da  baut  an  der  Straßen  muß  jeder- 
mann von  sich  reden  lassen.  Schon  hierdurch  kommt  es  aber  auch  zum  Aus- 
druck, daß  wir  in  Brixen,  anders  als  in  Innsbruck,  Sterzing  oder  Bozen,  durch 
die  jene  Straße  mitten  hindurchführt,  niemals  einen  eigentlichen  Handelsort  zu 
suchen  haben,  und  daß  die  geschichtliche  Bedeutung  dieses  Platzes  eine  Schicht 
tiefer,  in  der  Periode  der  Römerzüge  liegt.  Wir  befinden  uns  aber  auch  hier 
wirklich  an  einem  Punkte  der  Brennerstraße,  an  dem  wie  nur  noch  in  Trient 
oder  Verona  die  deutsche  Kaisergeschichte  haftet.  Zwar  wissen  wir  nicht,  wie 
viele  der  deutschen  Herrscher  hier  einmal  vorübergezogen  sind,  aber  selbst  die- 
jenigen, die  sich  zweifellos  in  Brixen  aufgehalten  haben,  bilden  eine  stattliche 
Reihe;  neben  Heinrich  IV.  (1080)  sind  es  Otto  II.  (967),  Konrad  IL  (1027), 
Heinrich  III.  (1055),  Otto  IV.  (1209),  Friedrich  II.  (1236)  und  dessen  Sohn  Hein- 
rich (1226)')- 

Der  älteste  Teil  Brixens,  und  so  auch  derjenige,  um  den  sich  alles  jenes 
durch  die  Römerzüge  hervorgerufene  Getriebe  herumgruppiert  hat,  steht  heute 
noch  in  den  Grundmauern  der  Domkirche,  die  imj.  1174  das  erste  Mal  ab- 
brannte, und  besonders  in  dem  an  sie  südlich  anstoßenden  Gebäuden,  dem 
Kreuzgang,  der  Johannes-  und  der  Liebfrauenkirche  vor  uns,  und  gerade  letztere 
gehört  deshalb  wohl  zu  den  denkwürdigsten  Stätten  der  Alpen,  weil  in  ihr  ein 
Teil  der  ältesten  Wohnung  der  Brixener  Bischöfe  erhalten  geblieben  ist,  bei 
denen  auch  die  deutschen  Herrscher  bei  ihrer  Durchreise  einzukehren  pflegten. 
Dicht  unter  dem  Schatten  der  Domtürme,  im  Kreuzgang  und  in  der  Johannis- 
kirche  haben  wir  nun  auch  den  Ort  jenes  Konzils  vom  J.  1080  zu  suchen,  und 
es  ist  schon  etwas  von  ernster  Stimmung,  die  denjenigen  überkommen  kann,  der 

')  W.  S.SOf. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  241 

heute  durch  den  stillen  Ort  nach  jenen  einfachen  und  mit  ganz  geringen  Mitteln 
aufgeführten  kirchlichen  Gebäuden  schreitet  und  dabei  an  die  Zeiten  denkt,  als 
hier  jene  Versammlung  stattfand,  an  der  das  ganze  Abendland  auf  das  Tiefste 
interessiert  war. 

An  keinem  anderen  Punkte  der  Brennerstraße  aber  ist  bis  heute  wohl  das  Klausen  und 
Bild  des  Mittelalters  treuer  erhalten  geblieben  als  in  Klausen.  Dies  zeigt  sich  ^  ^"' 
Überali,  an  dem  eng  zusammengedrängten  Ort,  dem  es  durch  seine  Lage 
einfach  unmöglich  gemacht  ist,  sich  über  den  alten  Kern  auszudehnen,  an  dem 
Stadttor  mit  der  (neueren)  Hospizkirche  dicht  daneben,  und  —  ein  kleiner  aber 
wichtiger  Zug  —  an  dem  Erdboden,  der  im  Laufe  der  Jahrhunderte  sich  derart 
erhöht  hat,  daß  jetzt  hier  ebenso  wie  in  den  altberühmten  Stätten  Italiens  der  Fuß- 
boden der  Kirchen  stufentief  unter  der  Straßenoberfläche  liegt.  Das,  was  an  Klausen 
von  je  her  das  Wichtigste  war,  findet  sich  aber  ganz  ausgesprochen  am  Südende 
des  Ortes,  dort,  wo  die  Pfarrkirche  und  die  Eisakbrücke  liegen,  und  wo  sich 
dicht  darüber  der  Turm  Branzoll  erhebt,  an  dem  der  einzige  Weg  vorbei  muß, 
der  überhaupt  nach  Seben  hinaufführt. 

Dieser  Sebener  Felsen  kann  nun  aber  nicht  etwa  bloß  wegen  seiner  Ge- 
schichte einen  besonderen  Gegenstand  des  Interesses  bilden,  sondern  allein 
schon  wegen  seiner  eigenartigen  Gestalt  und  seiner  beherrschenden  Lage;  er  ist 
merkwürdig  ebenso  durch  seine  hohen,  in  regelmäßiger  Steilheit  sich  erhebenden 
Wände  wie  durch  die  verhältnismäßig  große  Ebene,  die  sich  auf  dieser  ge- 
schützten Höhe  ausdehnt  und  die  dadurch  um  so  wohnungsfreundlicher  wird, 
weil  sie,  von  Norden  langsam  abfallend,  der  begehrenswerten  Südseite  ihr  volles 
Gesicht  zeigt.  Schon  auf  diesen  Tatbestand  gründet  es  sich  daher,  daß  wir 
hier  an  einer  Stätte  uralter  Kultur  stehen,  und  daß  wir  auch  im  Mittelalter  dort 
oben,  nicht  unten  in  Klausen,  den  Brennpunkt  der  ganzen  Umgegend  zu  suchen  haben. 

Die  mannigfachen  kirchlichen  Gebäude,  die  sich  heute  hier  erheben  und 
die  zum  weitaus  größten  Teil  erst  aus  der  neueren  Zeit  stammen,  lassen  trotz- 
dem noch  ganz  gut  erkennen,  wie  es  hier  im  Mittelalter  ausgesehen  hat,  als  die 
dortigen  kirchlichen  Bauten  in  starke  und  ausgedehnte  Befestigungsanlagen  ein- 
gebettet lagen.  Diese  Anlagen  bedeckten  damals  die  ganze  Oberfläche  der  Höhe 
und  waren  unverkennbar  in  verschiedene  Abschnitte  gegliedert,  deren  wichtigster, 
die  eigentliche  Hochburg,  wie  es  die  Gestalt  des  Sebener  Felsens  nicht  anders 
zuläßt,  im  Norden  gelegen  war.  Der  Umfang  dieses  letzteren  Teiles  entspricht 
weiterhin  genau  dem  heute  von  dem  Nonnenkloster  eingenommenen  Raum,  und 
es  klingt  nicht  unwahrscheinlich,  daß,  wie  berichtet  wird '),  gerade  an  dieser 
Stelle  noch  wichtige  Reste  jener  alten  Burg  existieren,  —  Prätorium  und  Königs- 
saal werden  sie  mangels  anderer  besserer  Bezeichnungen  genannt  —  die  ein- 
gebaut in  die  glatten  Fronten  des  Nonnenklosters  heute  den  Blicken  der  Außen- 
welt entzogen  sind. 
')  N.  A.  s.  16f. 

Schefrel,  Verkehrs^escbichte  der  Alpen.    2.  Band.  16 


242  VI.  Kapitel. 

So  vereinigte  dieser  Straßenpunkt  alle  Eigenschaften  in  sich,  um  Sehen  und 
Klausen  auch  im  Mittelalter  eine  hervorragende  Wichtigkeit  zu  verleihen,  und 
wir  treffen  hier  daher  auch  einen  kostbaren  Besitz  der  Brixener  Bischöfe  an, 
der  diesen,  als  sie  wirkliche  Fürsten  des  Reiches  waren,  nicht  nur  als  wirksame 
Straßensperre  sondern  besonders  auch  als  eigentliche  Landesfestung  dienen 
mußte.  Tatsächlich  erscheint  nun  auch  das  Geschlecht  der  alten  Sebener  Burg- 
grafen, das  nebenbei,  wie  die  Namen  seiner  Mitglieder  erkennen  lassen,  deut- 
schen Stammes  gewesen  ist'),  im  elften  und  zwölften  Jahrhundert  durchaus  als 
die  rechte  Hand  seiner  geistlichen  Lehnsherren,  während  die  Ritter  und  Pfleger 
von  Sehen,  denen  es  später  Platz  gemacht  hat,  sich  in  nichts  von  dem  übrigen 
Tiroler  Adel  unterscheiden.  Auch  der  Klause  unter  Sehen  wird  von  den  mittel- 
alterlichen Geschichtsschreibern  mehrmals  gedacht,  wie  dies  an  sich  schon  ein 
seltener  Fall  ist,  wenn  man  eine  solche  Sperre  nicht  nur  als  allgemeinen  Begriff 
sondern  wirklich  in  Verbindung  mit  einer  bestimmten  Örtlichkeit  genannt  findet. 
Die  Bezeichnung  als  clusa  sub  Sabione  sita,  wie  sie  zum  ersten  Male  im  J.  1027 
vorkommt^),  ist  aber  besonders  um  deswillen  interessant,  weil  dies  ja  genau 
derselbe  Name  (Subsabione)  ist,  den  jener  Ort  schon  vor  einem  Jahrtausend 
führte,  und  weil  wir  demnach  hier  ein  treffliches  Beispiel  der  Kontinuität  der 
Kulturentwickelung  Südtirols  in  dem  ersten  nachchristlichen  Jahrtausend  vor 
uns  haben.  Genannt  wird  jene  Klause  dann  ebenso  im  J.  1177  als  Brixener 
Zollstelle  und  besonders  noch  1237,  als  Kaiser  Friedrich  II.  auf  seinem  Römer- 
zug hier  Station  machte^).  Aus  den  dürftigen  und  unsicheren  Nachrichten,  die 
wir  sonst  noch  über  die  in  Tirol  gelegenen  Klausen  haben,  die  wir  aber  doch 
mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  auf  die  Sebener  Klause  beziehen  können,  schimmert 
übrigens  so  etwas  hindurch,  als  ob  zuweilen  auch  die  Herzöge  von  Bayern  ge- 
waltsam an  diesem  Punkte  eingegriffen  hätten^). 
Von  Klausen  Der   Weg   von    Klausen    südwärts,  wo   sich   das   Eisaktal   immer   mehr  zur 

Schlucht  verengt,  ist  eine  Straßenstrecke,  an  der  man  besonders  deutlich  wieder 
jene  Beobachtung  machen  kann,  daß  die  Wirkungen  des  Verkehrs  auch  in 
früheren  Zeiten  seitwärts  der  großen  Heerstraße  kaum  weiter  zu  dringen  pflegten 
als  der  Hufschlag  der  Reittiere  oder  das  Rädergerassel  der  durchgehenden 
Wagen  zu  vernehmen  war.  So  finden  wir  hier  östlich  der  Brennerstraße,  vom 
Villnöstal  bis  nach  Aldein  sich  hinziehend,  jenes  hochgelegene  aber  wohnliche 
Bergland,  zu  dem  erst  im  neunzehnten  Jahrhundert  bequeme  Zugänge  vom 
Eisak-  bezl.  Etschtal  her  geschaffen  worden  sind,  und  das  daher  auch  heute  noch 
wie  die  Seiten  eines  alten  aufgeschlagenen  Buches  vor  uns  liegt.  Die  vielen 
Ortschaften,  die  dort  wie  aus  einer  Musterkarte  nach  den  typischen  Heiligen 
dieses  Gebirgslandes  benannt  sind  (S.  Peter,  Valentin,  Vigil,  Ulrich,  Christina, 
Oswald,  Nicolaus,  Georg),  reden  eine  deutliche  Sprache,  welch'  überwiegender 
Anteil  an  der  Entstehung  der  dortigen  Kultur  der  Kirche  zuzusprechen   ist;   sie 

>)  Mor.  S.  15.         2)Ju.  S.  306.         3)  n.  a.  S.  4f.         ")  N.  A.  S.  18. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  243 

müssen  aber  gerade  deshalb  die  Aufmerksamkeit  um  so  mehr  auf  diejenigen 
lenken,  die  jenes  vermissen  lassen,  weil  wir  in  diesen  zweifelsfrei  die  ältere 
Schicht  vor  uns  haben  (Tiers,  Seis  Siusis,  Prösels  Presseis,  Völs  Fellis).  Auch 
heute  noch  hebt  sich  als  der  alte  Vorort  dieser  Gegend  Kastelruth  heraus.  Wenn 
dieses  als  casiellum  ruptum  urkundlich  schon  im  J.  985  genannt  wird,  so  lag  dem- 
nach damals  die  über  dem  Orte  gelegene  Burg  in  Trümmern;  sie  muß  aber  doch 
dann  später  noch  einmal  aufgebaut  worden  sein,  da  sie  im  dreizehnten  Jahrhundert 
von  neuem  einen  umstrittenen  Punkt  abgegeben  hat '). 

Die  tief  unter  Kasteiruth  gelegene  Trostburg  (Tirestberch)  beherrschte  da- 
gegen einst  die  wichtige  Stelle,  wo  die  Brennerstraße  vom  Eisaktal  auf  Nimmer- 
wiedersehen Abschied  nahm,  um  weiter  bis  Bozen  den  Weg  über  den  Ritten 
einzuschlagen.  Dem  Burgenkundigen  wird  es  sofort  auffallen,  wie  diese  Feste 
mit  ihrer  schlanken  Gestalt  ganz  jenen  malerischen  mittelalterlichen  Wasser- 
burgen gleicht,  ein  Aussehen,  das  sie  deshalb  angenommen  hat,  weil  sie,  auf 
engem  und  geschütztem  Räume  zusammengedrängt,  mit  ihrer  ganzen  Anlage  in 
die  Höhe  rücken  mußte,  während  im  Innern  besonders  der  untere  Teil  schon 
durch  seine  riesigen  und  durch  das  Alter  buchstäblich  geschwärzten  Quadern 
zu  erkennen  giebt,  daß  er  in  viel  früherer  Zeit  als  die  höheren,  im  sechzehnten 
Jahrhundert  errichteten  Stockwerke  entstanden  ist-).  Nicht  weniger  eindrucks- 
voll redet  hier  jedoch  von  dem  mittelalterlichen  Straßenleben  auch  die  Leonhards- 
kapelle  gegenüber  in  Kollmann.  Dieser  alte  Bau,  der  sich  genau  an  der  Stelle 
findet,  wo  einst  der  alte  Weg  vom  Tale  nach  der  Höhe  abbog,  steht  infolge 
seiner  Größe  und  seines  anspruchsvollen  Grundrisses  als  Straßenkirche  ganz 
einzig  da,  und  wenn  die  Kette,  die  diese  Kirche  von  außen  umschloß,  ganz  aus 
den  Hufeisen  geschmiedet  war,  die  im  Laufe  der  Zeiten  von  den  Saum-  und 
Fuhrleuten  geopfert  wurden ^^),  so  hätten  wir  demnach  hier  in  mittelalterlicher 
Weise  dieselbe  Regung,  dasselbe  Motiv  vor  uns,  das  einst  die  Reisenden  des 
Altertums  veranlaßte,  Münzen  an  den  schwierigen  Wegestellen  als  Weihgabe 
niederzulegen. 

Von  Kollmann  bis  zum  Dorfe  Rentsch  bei  Bozen  erstreckt  sich  nun  jener 
Höhenweg,  der  bis  zur  Mitte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts'*),  also  ein  und  ein 
halbes  Jahrtausend  hindurch,  als  Teilstrecke  einer  der  wichtigsten  Heerstraßen 
Europas  benutzt  worden  ist.  Er  mußte  entstehen,  da  sich  hier  unten  im  Tale 
der  Eisak  durch  eine  enge,  stundenlange  und  früher  fast  unwegsame  Schlucht 
hindurchzwängte,  und  er  konnte  auch  nur  die  Richtung  über  den  Ritten  ein- 
schlagen, da  die  Reise  von  Waidbruck  nach  Bozen  sich  hier  nicht  nur  kürzer 
gestaltet,  sondern  weil  sie,  nachdem  einmal  der  Anstieg  überwunden  ist,  auch 
viel  bequemer  und  ebener  dahinführen  kann   als  auf  der   durchschnittenen   und 

')  N.  A.  S.  77,  79.        2)  Der  kulturgeschichtlich  wertvollste  Teil  der  Trostburg  war  bis  vor  kurzem 
ein  im  Erdgeschoß  neben  der  Kapelle  gelegenes,  mir  drei  Tonnengewölben  überdecktes  und  ganz 
in  romanischem  Stile  errichtetes  Profanzimmer.        ^)  N.  A.  S.  62.        ^)  W.  S.  149. 
16» 


244  VI.  Kapitel. 

unregelmäßig  gebildeten  Gebirgslandschaft,  die  sich  dort  östlich  des  Eisak  aus- 
breitet. Die  Besiedelung  des  Rittens  im  Altertum  ist  schon  aus  den  mannig- 
fachen antiken  Ortsnam.en  daselbst  ersichtlich;  gegen  die  Begangenheit  und 
Belebtheit  dieses  Weges  im  Mittelalter  braucht  es  aber  gerade  hier  nicht  zu 
sprechen,  wenn  diese  heute  mehr  abseits  gedrängt  worden  sind,  und  wenn  heute 
hier  die  eigentlichen  Straßenpunkte  sämtlich  nur  einen  reindeutschen  Klang 
haben.  Denn  diese  Orte  erscheinen  nun  auch  ganz  deutlich  in  den  mittelalter- 
lichen Reiseberichten,  an  der  Spitze,  als  die  gebräuchliche  Nachtstation  zwischen 
Klausen  und  Bozen,  Lengstein'),  dem  im  J.  1177  von  Friedrich  Barbarossa  in 
Venedig  das  Recht  zur  Abhaltung  eines  Marktes  verliehen  wurde,  dann  Unter- 
inn  (Unna)  und  Lengmoos,  das  einst  bezeichnenderweise  Ober-  und  Unterstraß 
hieß2),  und  wo  auch  einmal  der  Aufenthalt  eines  deutschen  Herrschers  bezeugt 
ist,  da  die  bekannte  Verfügung,  durch  die  Konrad  II.  den  Bischof  von  Trient 
mit  den  Grafschaften  an  der  Etsch  belehnte,  von  jenem  im  Frühjahr  1027  hier 
oben  erlassen  worden  ist  3).  Der  Punkt,  wo  dies  geschah,  wird  damals  freilich 
nur  als  Mons  Ritena  locus,  qui  dicitur  fontana  frigida,  bezeichnet;  es  kann  dieser 
aber  kaum  ein  anderer  als  Lengmoos  gewesen  sein,  wenn  man  entdeckt,  daß 
die  Quelle,  die  hier  zum  Hause  des  deutschen  Ordens  geleitet  wird,  noch  heute 
Kaltenbrunn  heißt^). 

Und  so  vermag  auch  heute  noch  jener  alte  Weg,  der  freilich,  wie  sein 
Name  sagt,  nur  zu  Pferd  und  nicht  zu  Wagen  benutzt  werden  konnte,  noch  ge- 
nug Zeugnisse  des  alten  mittelalterlichen  Straßenlebens  aufzuweisen,  hier,  wo 
überall  und  besonders  auch  an  den  wichtigen  Wegestellen  (S.  Verena,  Sebastian, 
Justina)  eine  Kapelle  auf  die  andere  folgt,  wo  ebenso  das  alte,  aus  großen 
Quadern  errichtete  Pflaster  und  auch  an  dessen  Rändern  jene  alten  ausgemau- 
erten Schächte  vorhanden  sind,  die  zum  Sammeln  des  Regenwassers  auf  diesem 
dürren  Hochplateau  dienen  sollten.  Einige  Aufmerksamkeit  können  hier  aber 
auch  manche  der  alten  an  der  Straße  gelegenen  Höfe  auf  sich  lenken,  weil  deren 
ganze  Bauart  durchaus  nicht  auf  landwirtschaftlichen  Betrieb  eingerichtet  ist. 
Die  Kapellen,  die  hier  innerhalb  der  Umfriedigungen  liegen,  die  festen  Gewölbe, 
die  weiten  Torbögen,  die  auf  letzteren  befindlichen,  auf  Schmiedearbeit  hin- 
weisenden steinernen  Hausmarken,  lassen  vielmehr  darauf  schließen,  daß  jene 
Gebäude  einst  als  Einkehr  für  die  Reisenden  dienen  sollten,  und  daß  wir  daher 
hier  möglicherweise  eine  besonders  alte  Art  der  mittelalterlichen  Gasthöfe  vor 
uns  haben.  Auch  die  für  jene  Höhengegend  immerhin  stattliche  und  ganz  in 
einem  Gusse  in  gotischem  Stile  errichtete  Niederlassung  des  deutschen  Ordens 
in  Lengmoos  fügt  sich  wie  das  Herzstück  in  alles  dieses  hinein. 
Charakter  Dieser  einzig  dastehende  mittelalterliche  Höhenweg   ist   es  nun   auch,   den 

Landschaft  Vincenz  von  Prag  im  Auge  gehabt  hat,   als   er   bei   einem   Römerzuge  Friedrich 
im  Mittelalter.  Barbarossas  von  dem  Mons  Pausanus  redet^).     Der  Aufenthalt   deutscher   Herr- 

')  N.  A.  S.  5;  W.  S.  127.         2)  Atz.  S.  148.        3)  w.  126.  A.  7.         "»)  Atz.  S.  165.         S)  W.  S.  96. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  245 

scher  in  Bozen  gelegentlich  der  Römerzüge  ist  außerdem  bezeugt  bei  dem  Rück- 
zug desselben  Kaisers  im  J.  1155,  kurz  nachdem  er  sich  durch  die  von  den 
Veronesern  besetzte  Klause  glücklich  Bahn  gebrochen  hatte'),  dann  im  J.  1191 
bei  dem  Zuge  Heinrichs  VI.,  1220  bei  demjenigen  Friedrichs  II.-),  und  zuletzt 
1267  bei  dem  Zuge  Konradins^).  Man  bemerkt  sofort,  daß  diese  Fälle  sämtlich 
nur  der  Zeit  der  Staufer  angehören,  und  daß  es  demnach  seinen  besonderen 
Grund  haben  muß,  wenn  der  Ort  Bozen  nicht  früher  erwähnt  wird.  Die  Er- 
klärung liegt  aber  allein  darin,  daß  dieser  Ort  erst  in  den  letzten  Jahrhunderten 
des  Mittelalters  der  Schwerpunkt  jener  ganzen  Gegend  geworden  ist,  und  daß 
deren  reiche  und  bewegte  Geschichte  vorher  von  einem  jener  mittelalterlichen 
Dynastensitze  nach  dem  anderen  gewandert  ist,  die  hier  gleichfalls  so  zahlreich 
wie  nur  möglich  überall  im  Tal  und  auf  den  Berghängen  verstreut  liegen. 

Ein  eigentümlicher,  fröhlicher  Unterton  ist  es  nun,  der  zumeist  in  den 
Berichten  jener  letzten  Römerzüge,  sobald  sie  von  Bozen  reden,  anklingt,  die 
Kunde  von  dem  Bozner  Wein,  der  auf  alle,  die  hier  durchkamen,  hoch  und 
gering,  einen  gewaltigen  und  berechtigten  Eindruck  gemacht  hat.  Aber  auch 
dies  ist  nur  ein  getreuer  Ausdruck  der  Wirklichkeit,  da  diese  ganze  Gegend 
bis  zu  den  Zeiten,  als  Bozen  zur  Handelsstadt  wurde,  wirtschaftlich  allein  unter 
dem  Zeichen  der  Weinkultur  gestanden  hat,  und  hier  wirklich  Jahrhunderte 
hindurch  um  diesen  roten  Wein,  um  den  Besitz  der  Weingüter,  auch  viel  rotes 
Blut  geflossen  isf*).  Zwei  Diener  der  Kirche,  der  Bischof  von  Freising  und  der 
Abt  von  Innichen,  eröffnen  mit  einem  solchen  Streit  diesen  Reigen  bereits  in 
der  Mitte  des  neunten  Jahrhunderts''),  und  so  geht  es  weiter  die  Jahrhunderte 
hindurch;  auch  die  Stiftungen,  die  dann  am  Ende  des  Mittelalters  für  die  Bozner 
Pfarrkirche  gemacht  werden,  sind  fast  durchgängig  auf  den  Einkünften  begründet, 
die  aus  solchen  Weingütern  Hießen''). 

Der  Reichtum  und  die  Vielseitigkeit  der  geschichtlichen  Erinnerungen,  wie 
sie  bei  Bozen  dem  Besucher  entgegentreten,  haben  ihren  Hauptgrund  in  der 
Stellung  jener  Gegend  als  geographischer  und  politischer  Grenzpunkt  und  in 
der  Mannigfaltigkeit  der  verschiedenen  Gewalten,  die  sich  hier  nacheinander  in 
hellem  Streit  oder  in  zähem,  berechnenden  Ringen  den  Rang  abgelaufen  haben. 
Es  kann  tatsächlich  kein  besseres  Zeugnis  für  die  Vortrefflichkeit  dieses  Land- 
striches geben,  als  wenn  wir  um  die  Wende  des  ersten  Jahrtausends,  also  zu 
den  Zeiten  der  größten  wirtschaftlichen  Machtentwickelung  der  Kirche,  nicht 
mehr  als  zwanzig  und  einige  kirchliche  Gewalten  die  Hände  nach  jenem  Besitz 
ausstrecken   und   in   der   Bozner  Gegend   begütert   sehen  ^).     Wenn   zu   gleicher 

')  O.  F.  S.  178.  2)  Aji'  s.  82,  83.  ^)  Oe.  II.  S.  237.  ■♦)  Wenn  Otto  von  Freising  (O.  F.  S.  178) 
sagt,  daß  Bayern  von  Bozen  „mit  einem  süßen  und  zur  Ausfuhr  nach  auswärtigen  Gegenden  ge- 
eigneten Landwein  versorgt  wird",  so  ist  dies  deshalb  von  Interesse,  da  diese  Kunst  jetzt  einiger- 
maßen verloren  gegangen  zu  sein  scheint.  •')  Atz.  S.  200.  ^)  Spomberger,  Geschichte  der 
Pfarrkirche,  Bozen  1894,  S.  77  f.        ')  Atz.  S.  6,  197,  200. 


246  VI.  Kapitel. 

Zeit  hier  die  Landesherrschaft  aus  dem  Besitz  der  Karolinger  in  die  der  Herzöge 
von  Bayern  und  von  diesen  wieder  in  die  der  Bischöfe  von  Trient  übergeht, 
so  hat  dies  alles,  auch  im  letzteren  Falle,  jedoch  viel  weniger  zu  bedeuten  als 
Die  Eppaner  die  wirklichen  Zeichen  eines  scharfen  Regiments,  das  hier  von  den  Eppaner 
"^^  ^"' Grafen  ausgeübt  wurde,  und  das  so  den  ältesten  erkennbaren  Abschnitt  der 
mittelalterlichen  Geschichte  der  Bozner  Gegend  bildet.  Die  Blüte  dieser  Eppaner 
Grafen,  einer  Seitenlinie  der  Weifen '),  fällt  in  das  elfte  und  zwölfte  Jahrhundert; 
sie  waren  in  der  Bozner  Grafschaft  die  Lehnsleute  des  Bistums  Trient,  aber 
sicherlich  keine  sehr  bequemen,  und  es  macht  überhaupt  ganz  den  Eindruck,  als 
ob  das  Schicksal  diesem  Geschlecht  zuerst  vor  allen  anderen  jene  große  Zukunft 
in  den  Schoß  gelebt  habe,  in  die  weltliche  Herrschaft  über  Tirol  hineinzuwachsen. 
Eine  Katastrophe  eigener  Art,  über  die  wir  zufällig  genauer  unterrichtet 
sind,  weil  ihre  Kreise  in  die  deutsche  Reichsgeschichte  hinübergreifen,  mußte 
dazu  dienen,  diese  Entwickelung  zu  zerstören.  Als  im  J.  1158  Papst  Hadrian  IV. 
zwei  Gesandte  aus  tauen  zu  Kaiser  Friedrich  Barbarossa  abgeschickt  hatte, 
wurden  diese  auf  ihrer  Reise  durch  Tirol  von  den  Grafen  von  Eppan,  „bei 
denen  der  verruchte  Hunger  nach  Gold  die  Oberhand  gewonnen  hatte,  gefangen 
genommen,  ausgeplündert  und  in  Banden  gelegt,  eine  Roheit,  die  jedoch  der 
Herzog  von  Bayern  (Heinrich  der  Löwe)  bald  darauf  gebührend  rächte"  2).  Wenn 
sich  nun  auch  der  Hunger  nach  Gold  durchaus  mit  weifischen,  und  der  Vettern- 
haß des  Herzogs  mit  allgemein  menschlichen  Eigenschaften  in  Einklang  bringen 
läßt,  und  wenn  hier,  wie  natürlich,  auch  die  Gewaltsamkeit  des  Mittelalters  in 
Rechnung  zu  ziehen  ist,  so  bleibt  trotzdem  bei  diesem  Unternehmen  ein  solcher 
Teil  Verwegenheit,  ein  durch  Generationen  hindurch  großgezogener  Übermut 
übrig,  daß  jene  Leute  schon  um  deswillen  das  Interesse  herausfordern  müssen. 
Aber  gerade  nach  dieser  Richtung  hin  machen  sich  auch  die  mangelhaften  Seiten 
der  mittelalterlichen  Geschichtsquellen  geltend.  Gewiß,  wir  wissen  schon  einiges 
von  diesen  Eppaner  Grafen,  aber  über  allen  diesen  Gestalten  lagert  es  doch  wie 
eine  dichte  Staubschicht,  die  uns  die  feineren  Formen,  die  geistigen  Regungen 
verschleiert,  und  es  ist  sicher,  daß  uns  alle  jene  Vorgänge,  selbst  wenn  wir  bloß 
die  Hälfte  der  Nachrichten  über  sie  besäßen,  viel  klarer  vor  Augen  stünden, 
wenn  sie  dem  klassischen  Altertum  angehören  würden. 

Tatsache  bleibt  aber,  daß  seit  diesem  Zeitpunkt  die  Stellung  der  Eppaner 
an  Festigkeit  eingebüßt  hat,  und  daß  sie  dann  bald  völlig  vom  Schauplatz  ver- 
schwinden, wenn  auch  die  Beseitigung  dieser  mächtigen  Vasallen  viel  weniger 
dem  Hochstift  Trient  sondern  zuguterletzt  einem  Dritten,  dem  Tiroler  Grafen- 
geschlecht, zur  Freude  gereichen  sollte.  Im  folgenden  dreizehnten  Jahrhundert 
ist  freilich  nun  die  Macht  Trients  zunächst  wieder  mit  doppelter  Stärke  nach 
Norden  vorgeschritten  und  hat  hier  alle  Verhältnisse  durchdrungen.  Damals 
besaß   dieses   Bistum   auf  dem  Ritten   einen  Hof^)    und   um  Bozen   herum   eine 

I)  Vgl  Anh.  24.         2)  Rg.  s.  40  f.  3)  Atz.  S.  148. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  247 

Burg  neben  der  anderen;  Weineck  und  Greifenstein  sind  seine  Lehen,  und 
auch  diejenigen,  die  neu  gebaut  werden,  wie  Wanga  und  Runkeistein,  „sollen 
jederzeit  dem  Bischof  offenstehen" ').  Das  Wichtigste  von  allen  diesen  scheint 
aber  doch  bereits  damals  die  Stadt  Bozen  selbst  gewesen  zu  sein,  wenn  wir  Die  Stadt 
aus  dem  J.  1256  hören,  daß  sie  tausend  Pfund  Berner  an  jährlichen  Steuern 
nach  Trient  zahlen  mußte-).  Je  länger  um  so  bedrohlicher  haben  dann  aber 
auch  hier  von  Norden  her  die  Tiroler  Grafen  an  die  Pforten  dieser  Stadt  an- 
gepocht. Der  erste  Posten,  den  sie  dicht  vor  Bozen  an  sich  brachten,  ist  das 
Schloß  in  Gries  gewesen,  das,  wie  heute  noch  ersichtlich,  deshalb  so  besonders 
stark  und  fest  gebaut  sein  mußte,  weil  es  mitten  in  der  Ebene  lag.  Schon  am 
Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts  hat  daher  einmal  zwischen  den  Bischöfen 
von  Trient  und  Meinhard  II.  von  Tirol  der  Streit  um  die  Stadt  Bozen  in  hellen 
Flammen  gestanden-'),  wenn  er  dann  auch  noch  zwei  volle  Jahrhunderte  hindurch 
weiterbrannte,  und  erst  im  J.  1473  kann  er  als  wirklich  entschieden  gelten,  als 
die  Zitadelle  der  Bozner  Ebene,  Sigmundskron,  in  den  Besitz  der  Tiroler 
Grafen  überging. 

So  kann  man  auch  nicht  vordem  dreizehnten  Jahrhundert  von  einer  eigent- 
lichen Geschichte  der  Stadt  Bozen  reden,  und  v/enn  jene  außerdem  ganz  ähn- 
liche Züge  wie  diejenige  Innsbrucks  zeigt,  so  ist  dies  nur  ein  Zeichen  dafür, 
wie  stark  und  gleichmäßig  hier  überall  das  neue  Zeitalter  hereingebrochen  ist. 
Wie  dort  liegen  auch  hier  die  ältesten  mittelalterlichen  Gründungen  ein  Stück 
abseits  der  späteren  Handelsstadt,  in  Gries,  das  zuerst  Zella  hieß  und  1166  dem 
Bistum  Freising  gehörte''),  und  „in  der  Aue"  südlich  davon,  wo  das  erste  Klostei 
in  dieser  Gegend  angelegt  wurde  ^).  Auch  bei  Bozen  weist  das  älteste,  heute 
nicht  mehr  gebräuchliche  Stadtwappen  eine  Brücke  auf.  Während  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  tritt  dann  aber  auch  hier  ein  Zeugnis  nach  dem  anderen 
an  das  Tageslicht,  das  die  aufstrebende  Handelsstadt  kennzeichnet,  die  Zölle,  die 
jetzt  reiche  Einnahmen  abwerfen,  die  Geldinstitute  und  die  zweimal  im  Jahre 
stattfindenden  Messen^).  Dies  sind  nun  auch  dieselben  Zeiten,  in  denen  das 
alte  Stadtbild  Bozens,  so  wie  es  sich  heute  noch  erkennen  läßt,  fertig  geworden 
ist.  Damals  begann  auch  der  Bau  der  Bozner  Pfarrkirche,  an  der  deshalb  nicht 
vorübergegangen  werden  darf,  weil  in  dem  Aussehen  dieser  einen  Kirche  sich 
das  Schicksal  der  ganzen  Landschaft  wie  im  Bilde  widerspiegelt.  Die  ersten 
Anfänge  lassen  in  der  Anlage  und  im  Einzelnen  hier  durchaus  die  Nachbarschaft 
des  Südens  und  im  besondern  die  von  Trient  erkennen,  während  der  Bau  dann 
später,  freilich  nicht  zum  Vorteil  des  künstlerischen  Resultates,  immer  mehr 
in  die  gotische  Form  hineinwächst.  Es  ist  dies  alles  aber  nichts  anderes  als 
eine  Folge  der  politischen  Zugehörigkeit  Bozens  zu  Tirol,  die  hier  zugleich  den 
nördlichen    Kultureinflüssen    vollends    die    Pforte   öffnete.     So    scharf    und    mit 

')  Atz.  S.  192;  Erb.  S.  7.         2)  W.  S.  115.         3)  Atz.  «.  12.         ■*)  Atz.  S.  196,  201.         =)  Atz.  S.  230. 
6)  W.  S.  102,  103,  113,  100. 


248  VI.  Kapitel. 

jenem  leidenschaftlichen  Einfluß  auf  das  Denken  und  Handeln  wie  heute  pflegten 
sich  freilich  während  des  Mittelalters  die  nationalen  Empfindungen  ganz  und  gar 
nicht  zu  äußern '),  aber  eine  stille,  nachhaltige  Wirkung  ließen  sie  sich  auch  da- 
mals nicht  nehmen,  und  schon  deshalb  war  es  kein  unwichtiges  Ereignis,  wenn 
schließlich  in  Sigmundskron  der  Gastaldo  Trients,  der  hier  Jahrhunderte  hin- 
durch seinen  Sitz  gehabt  hatte,  dem  Richter  der  Tiroler  Fürsten  Platz  machte. 
Wie  aber  die  antike  Topographie  der  Bozner  Ebene  der  Forschung  so  be- 
sonders schwere  Aufgaben  stellt,  so  läßt  auch  das  Mittelalter  nicht  ab,  uns  hier 
seine  Rätsel  aufzugeben;  denn  die  Geschichte  der  heutigen  Stadt  Bozen  wird 
so  lange  nicht  auf  sicherer  Grundlage  ruhen  bis  nicht  die  Ursache  dafür  ge- 
funden ist,  warum  die  längste  und  wichtigste  Straße  der  Stadt,  die  Laubengasse, 
nicht  in  der  hier  doch  alles  beherrschenden  Richtung  von  Nord  nach  Süd 
sondern  in  direktem  Gegensatz  hierzu  von  Ost  nach  West  läuft.  Das  spätere 
Stadtbild,  bei  dem  die  vom  Ritten  herabkommende  Brennerstraße  durch  die 
heutige  Bindergasse,  wo  die  ältesten  Gasthöfe  der  Stadt  liegen,  dann  durch  die 
Lauben  und  schließlich  durch  die  heutige  Goethestraße  zur  Eisakbrücke  ge- 
langte, ist  ja  doch  nur  ein  Abbild,  wie  der  Verkehr  sich  mit  jener  Orientierung 
auseinandergesetzt  hat,  die  er  bereits  hier  vorfand.  Eine  noch  viel  bösere  Stelle 
findet  sich  nun  aber  nicht  weit  außerhalb  der  Stadt,  nördlich,  am  Eingange  des 
Sarntales.  Heute  sehen  wir  hier  auf  einem  verhältnismäßig  engen  Raum  zu- 
sammengedrängt eine  überraschende  Menge  von  Burgen  (Troyenstein  und  Kleben- 
stein, Runkelstein  und  Ried,  das  Fingellerschloß,  Wangen  u.  a.  m.),  eine  Situation, 
wie  man  sie  schießlich  zwar  noch  hie  und  da  in  den  Alpen,  aber  dann  doch 
nur  an  den  allerwichtigsteu  Wegestellen  auftreiben  kann.  Was  wollen  alle  diese 
Burgen  hier!  Es  ist  klar,  daß,  wenn  man  hierfür  eine  Erklärung  sucht,  die 
mittelalterliche  Bedeutung  des  Sarntales  in  erster  Linie  mitzusprechen  hat.  Daß 
auch  auf  dieses  einmal  der  Verkehr  ein  Auge  geworfen  hätte,  dafür  könnte 
nun  allerdings  das  Vorkommen  des  deutschen  Ordens  in  Sarnthein  als  Anhalt 
dienen^),  obgleich  doch  auch  wieder  ein  Blick  in  diesen  Ort  zeigt,  daß  er  sonst 
nicht  das  Geringste  von  jenen  charakteristischen  alpinen  Straßenpunkten  an  sich 
hat.  Hätten  wir  in  jenen  Befestigungen  am  Eingange  des  Sarntales  dagegen 
lediglich  Talsperren  vor  uns,  so  wären  doch  wieder  ein  oder  zwei  derselben 
genügend  gewesen,  und  wenn  wir  schließlich  auch  mit  Recht  in  Betracht  ziehen 
müssen,  daß  wir  uns  hier  in  einem  alten  Grenzland  befinden,  so  bleibt  doch 
immer  noch  die  Frage  übrig,  warum  dieser  Grenzschutz  gerade  an  jener  Stelle 
so  reichlich  ausgefallen  ist^). 
Von  Bozen  Ungleich    deutlicher    in    ihren    früheren    Schicksalen    liegt    dagegen    jene 

Gegend  vor  uns  ausgebreitet,  die  man  von  den  Burgen  am  Eingange  des  Sarn- 
tales weit  überschauen  kann,  das  Überetsch.  Heute  ist  dies  ausgedehnte  Plateau 
fast  überall  von   der  Weinkultur  erobert  worden,  während  wir   uns  dasselbe  im 

I)  Schu.  S.  218.         2)  N.  A.  S.  100.        3)  Vgl.  Anh.  25. 


nach  Trient. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  249 

Mittelalter  noch  viel  mehr  mit  Wald  bedeckt  vorstellen  müssen.  Für  die  Phan- 
tasie aber  giebt  es  ein  wundervolles  Bild,  als  hier,  wo  die  Sonnenstrahlen  es 
so  gut  meinen,  die  vielen  mittelalterlichen  Burgen  aus  den  grünen  Baumkronen 
herausragten  und  deren  Herren  zu  fröhlichem  Jagen  auszogen.  Daß  diese  Vor- 
stellung aber  durchaus  der  Wirklichkeit  standhält,  dafür  sind  der  beste  Beweis 
die  alten  Fresken  auf  Hocheppan,  wo  der  Jäger  zu  Pferd  mit  seinem  Hunde  den 
Hirsch  verfolgt.  Auch  unterhalb  jener  Burg,  am  jenseitigen  Talrand  liegt  ein 
Ort  mit  Namen  Siebeneich'),  und  noch  heute  findet  man  in  den  Schlössern  des 
Überetsches  (Kampenn  bei  Kaltem,  Gandegg)  in  großer  Zahl  die  Geweihe  der 
Hirsche,  die  einst  hier  erlegt  worden  sind. 

Wir  kennen  übrigens  den  das  Überetsch  durchziehenden  Weg  bereits  als 
das  letzte  selbständige  Glied  der  von  Norden,  von  der  Reschenscheideck,  herab- 
kommenden Straßenrichtung,  und  ebenso  wie  dessen  nördlicher,  dicht  unterhalb 
Sigmundskron  gelegener  Anfangspunkt  so  hebt  sich  auch  dessen  südlicher  End- 
punkt noch  heute  ganz  deutlich  aus  der  Gegend  ab.  Dieser  letztere  befand  sich 
bei  Gmünd,  Auer  und  Neumarkt  gegenüber,  und  so  finden  wir  denn  auch  dort, 
freilich  in  unendlicher  Einsamkeit  und  fast  vom  Buschwald  versteckt,  die  Ruinen 
einer  mittelalterlichen  Feste  ersten  Ranges,  der  Leichtenburg,  von  deren  früheren 
Schicksalen  freilich  kaum  ein  Schall  auf  uns  gekommen  ist,  deren  Lage  aber 
trotzdem  ohne  weiteres  erkennen  läßt,  daß  sie  einst  hier  dem  Verkehr  die  Ge- 
setze vorschreiben  wollte.  Von  Neumarkt  ab  gegen  Süden  zieht  dann  aber  die 
Brennerstraße  auf  dem  linken  Etschufer  in  einem  einzigen  Strange  dahin,  an 
dem  auch  die  Reste  des  mittelalterlichen  Verkehrslebens  nicht  fehlen,  wenn 
diesen  auch  von  hier  ab  die  südliche  Art  der  Kultur  viel  schärfer  zugesetzt  hat. 
Hierzu  gehört  Neumarkt  selbst  mit  seinen  Lauben  und  überall  die  früher  als 
Gasthöfe  benutzten  großen  Gebäude  sowie  die  alten  Kirchen  (S.  Florian  bei 
Salurn,  S.  Lazzaro  bei  Lavis),  köstliche  Baudenkmäler,  die  unbeachtet  und  wohl 
auch  unbenutzt  am  Rande  der  Straße  liegen,  bis  dann  bereits  nördlich  Gardoio, 
einem  gleichfalls  von  Alter  geschwärzten  Straßenpunkt,  weithin  der  Torre  verde 
als  point  de  vue  die  Nähe  Trients  ankündet. 

Da   diese  Stadt  so   recht   als  Sammelpunkt   heraustritt   für  die  Römerzüge,  Das  mittel- 

alterliche 
die  von  Norden   durch  Tirol  nach  Italien   beabsichtigt  waren,   finden  wir  in  ihr  Trient. 

auch  alle  jenen  deutschen  Herrscher  wieder,  die  wir  vorher  ebenso  in  Brixen 
wie  in  Bozen  angetroffen  hatten,  wie  es  auch  Tatsache  ist,  daß  sich  Trient,  ganz 
im  Gegensatz  zu  Verona,  in  seiner  Gesinnung  der  deutschen  Reichspolitik  stets 
durchaus  zuverlässig  gezeigt  hat.  Daher  ist  auch  nur  ein  einziger  Fall  zu  er- 
kennen, bei  dem  ein  deutscher  Herrscher  einmal  bereits  hier  bei  seinem  Durch- 
marsche Schwierigkeiten  gefunden  hat.  Als  Kaiser  Lothar  im  J.  1136  nach 
Italien  zog  und  sich  dem  Gebiet  von  Trient  näherte,  fand  er  dort  in  feindlicher 
Absicht  die  Etschbrücke  zerstört  und  konnte  nur  vermittelst  einer  Furt  den 
')  Vgl.  Anh.  26. 


250  VI.  Kapitel. 

Übergang  erzwingen.  Diese  Bewegung  setzt  übrigens  voraus,  daß  Lothar  vorher 
auf  dem  rechten  Etschufer  marschierte,  und  die  Stelle,  wo  er  den  üferwechsel 
bewerkstelligte,  kann  daher  ebensogut  gegenüber  Trient  selbst  wie  ein  ganzes 
Stück  nördlich  desselben  gelegt  werden.  Da  der  Kaiser  aber  damals  jedenfalls 
den  Weg  durch  das  Überetsch  eingeschlagen  haben  muß,  so  ergiebt  sich  in 
weiterer  Entfernung  noch  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  wir  hier  einen  Römerzug 
vor  uns  haben,  bei  dem  der  Führer  selbst  nicht  vom  Brenner  sondern  vom 
Vintschgau  herabgekommen  ist'). 

Wichtig  ist  aber  auch,  daß  wir  neben  den  späteren  deutschen  Herrschern 
bereits  die  Karolinger  in  den  Mauern  Trients  finden.  Außer  Pippin,  dem  Sohn 
Karls  des  Gr.  (781),  müssen  sich  Karlmann,  Karl  III.  und  Arnulf  hier  aufgehalten 
haben,  und  im  J.  838  fand  daselbst  eine  besondere  Zusammenkunft  Ludwigs 
des  Deutschen  mit  seinem  Bruder  Lothar  statt^).  Dieses  letztere  führt  uns  nun 
aber  auf  dasjenige,  worin  wir  die  eigentliche  Bedeutung  Trients  während  der 
langen  Jahrhunderte  des  Mittelalters  zu  erblicken  haben;  denn  dieser  Platz  liegt 
so  günstig  wie  kein  anderer,  um  die  Beziehungen  zwischen  Italien  und  Deutsch- 
land zu  vermitteln,  die  damals  viel  enger  und  vielseitiger  als  heute  ineinander 
verwachsen  waren  und  sich  tief  in  die  Vorstellung  der  Völker  eingelebt  hatten. 
Ihren  welthistorischen  Ausdruck  hat  ja  diese  Tatsache  schließlich  während  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  in  dem  in  Trient  abgehaltenen  Konzil  gefunden,  an 
dessen  Bedeutung  kein  anderes  heranreicht,  und  dessen  Folgen  —  für  den  Blick 
von  uns  Eintagsmenschen  wenigstens  —  noch  auf  lange,  ungezählte  Generationen 
nachwirken  werden. 

Bei  der  Wahrnehmung,  wie  Trient  heute  neben  Bozen  einen  völlig  italieni- 
schen Eindruck  macht,  bei  der  Frage,  wie  sich  infolgedessen  die  politische 
Zukunft  dieser  Stadt  gestalten  mag,  bei  allen  jenen  Gedanken,  die  sich  dem 
modernen,  von  nationalem  Empfinden  beherrschten  Besucher  hier  aufzudrängen 
pflegen,  wird  man  aber  nur  zu  leicht  dazu  veranlaßt,  das  in  seiner  Art  einzig 
dastehende  Bild  zu  übersehen,  das  dieser  Ort  in  geschichtlicher  Beziehung 
bietet.  Wie  die  Gegend  von  Bregenz  heute  deshalb  so  interessant  ist,  weil  sie 
den  letzten  Rest  der  reindeutschen  vorderösterreichischen  Länder  darstellt,  so 
stehen  wir  auch  hier  an  einer  bevorzugten  Stelle,  wo  wir  heute  noch,  in  ihren 
Grundlagen  wenig  verändert,  jene  Mischung  zwischen  nördlichem  und  südlichem 
Wesen  vor  uns  haben,  wie  sie  im  Mittelalter  viel  weiter  an  dem  Südabfall  der 
Alpen  verbreitet  war,  den  man  damals  ebensogut  den  Süden  Deutschlands  wie 
den  Norden  Italiens  nennen  konnte.  Wenn  die  mittelalterlichen  Bischöfe  Trients 
stets  nur  deutsche  Namen  führen,  wenn  das  älteste  Statut  der  Stadt  aus  dem 
dreizehnten  Jahrhundert  deutsch  abgefaßt  ist,  so  ist  dies  nur  ein  Ausdruck  der 
Tatsache,    daß    damals   die    herrschenden  Klassen,    die  Obrigkeit,    wie    die    alte 

')  Oe.  II.  S.  230.  Auch  bereits  bei  dem  Zuge  Lothars  von  1132  kann  man  wegen  des  Aufenthaltes 
in  Gargazon  auf  die  gleiche  Vermutung  kommen.        ^)  Oe.  II.  S.  220,  221,  247. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  251 

Kirche  sagte,  auf  diesem  Boden  überall  von  Deutschland  abhingen,  ändert  aber 
doch  nichts  daran,  daß  dort  das  aus  der  Antike  stammende  Wesen  immer  noch 
nachwiriite,  und  daß  so  auch  das  dortige  Kulturleben  aus  dem,  was  einmal 
gewesen  war,  einen  Teil  seiner  Kräfte  zog.  Und  ein  genaues  Abbild  jenes  Zu- 
standes  liegt  nun  auch  in  dem  Stadtbilde  Trients  vor  uns,  das  übrigens  auch  in 
der  Jetztzeit  viel  weniger  als  die  anderen  Orte  an  der  Brennerstraße  über  seinen 
früheren  Umfang  hinausgewachsen  ist.  Es  ist  dies  freilich  auch  nichts  anderes 
als  die  entwickelte  römische  Stadtanlage,  die  von  dem  Mittelalter  ohne  weiteres 
übernommen  und  mit  dessen  Zutaten  versehen  wurde.  Aber  eben  deshalb 
müssen  die  Städte  mit  einem  solchen  Aussehen  einst  noch  viel  zahlreicher  im 
Süden  der  Alpen  zu  finden  gewesen  sein,  da  diese  Epoche  dort  ja  fast  überall 
unmittelbar  an  die  Römerzeit  angeknüpft  hat.  Das  sechzehnte  und  siebzehnte 
Jahrhundert,  als  der  Wohlstand  mächtig  aufblühte,  haben  dann  freilich  auch  in 
Trient  die  oberen  Stockwerke  der  Häuser  nach  ihrer  aus  dem  Süden  gekomme- 
nen, ausdrucksvollen  und  kunstgerechten  Weise  umgebaut,  aber  die  Erdgeschosse 
mit  den  altertümlichen  Türeinfassungen,  die  langen,  regelmäßigen  Straßenlinien, 
die  gewaltige  Erhöhung  des  Fußbodens,  die  mächtigen,  sauber  gebauten  Stadt- 
mauern zeigen  doch  auch  hier,  wie  der  alte  Grundriß  der  Stadt  fast  unverändert 
geblieben  ist. 

Die  beiden  mittelalterlichen  Brennpunkte  des  Ortes  sind  der  Dom  und  das 
Kastell,  die  frühere  Bischofsburg,  die  auch  durch  die  späteren  künstlerischen 
Umbauten  nichts  von  ihrem  feudalen  Charakter  verloren  hat.  Auch  am  Dom 
sind  zwei  Bauperioden  zu  unterscheiden,  da  dessen  Entstehung  in  die  Zeit 
Bischof  Ulrichs  II.  (1022-1055)  fällt'),  während  er  in  seiner  jetzigen  Gestalt  ein 
Werk  des  dreizehnten  Jahrhunderts  ist.  Hier  haben  demnach  ganz  deutlich 
jene  beiden  Epochen  ihre  Spuren  hinterlassen,  in  denen  die  Bischöfe  Trients 
einen  Anlauf  zu  politischer  Machtentwickelung  machen  konnten,  zunächst  das 
elfte  Jahrhundert,  als  sie  wirkliche  Reichsfürsten  wurden,  und  dann  wieder  die 
erste  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  nachdem  es  ihnen  noch  einmal  ge- 
lungen war,  ihre  weltlichen  Vasallen  einigermaßen  von  sich  abzuschütteln,  von 
deren  Übermut  während  des  zwölften  Jahrhunderts  der  Weg  zwischen  Trient 
und  Bozen  so  viel  erzählen  kann.  In  diese  zweite  Epoche  gehört  nun  jener 
berühmte  Bischof  Friedrich  von  Wanga  (1207—1218),  dessen  Name  heute  in 
dem  dortigen  Torre  Wanga  fortlebt,  und  man  fühlt,  daß  die  Zeiten  Friedrichs  II. 
angebrochen  sind,  wenn  unter  diesem  neben  dem  Bau  des  Domes  Kolonisten  in 
das  Land  gezogen,  die  Schulden  getilgt,  der  Bergbau  getrieben  und  ein  Gesetz- 
buch (codex  Wangianus)  zusammengestellt  wird-).  Bemerkenswert  ist  auch,  daß 
in  der  näheren  Umgebung  Trients  die  mittelalterlichen  Adelsburgen  fast  ganz 
fehlen,  was  aber  seinen  Grund  nur  darin  hat,  daß  eben  hier  „der  Czar  nicht 
weit  war".     Selbst  jene   wichtige  Befestigung,    die    hier    im    Altertum    von    dem 

')  Riehl  S.  227.         ^)  Atz.  S.  228. 


252  VI.  Kapitel. 

Dos  Trento  auf  das  Etschtal  herabblickte,  ist  während  des  /vlittelalters  nach  und 
nach  so  vollständig  verschwunden,  daß  ihre  Stelle  schließlich   zu    einem    Vogel- 
herd verwendet  wurde. 
Die  Berner  Es  ist  erklärlich,  daß  am  südlichen    Ende  der   Brennerstraüe   sich  nun    die 

■  Spuren  der  Römerzüge  immer  reichlicher  zusammendrängen.  Darum  stehen 
aber  auch  die  Gräber  hier  viel  zahlreicher  am  Wege.  In  Trient  war  es,  wo 
Kaiser  Lothar  von  tötlicher  Krankheit  ergriffen  plötzlich  zusammenbrach');  hier 
wurde  1038  der  in  Italien  gestorbene  Herzog  Herrmann  von  Schwaben  bestattet. 
In  Verona  starb  im  J.  1215  der  Bischof  von  Ratzeburg'),  und  daselbst  findet 
man  auch  an  der  Südseite  von  S.  Zeno  das  Grabmal  von  Pippin,  dem  Sohne 
Karls  des  Gr. 3).  Seine  besondere  Ursache  hat  es  aber  auch,  wenn  jetzt  in 
dieser  Gegend  bei  den  Römerzügen  Stationen  genannt  werden,  die  an  sich  ganz 
unbedeutend  sind,  wie  Lizzana  bei  Rovereto  (1014),  Volargne  (1047  und  1055) 
und  Marciaga  nördlich  Garda  (1111);  denn  wohl  oder  übel  haben  sich  die 
Herrscher  dort  aufhalten  müssen,  da  wir  nunmehr  in  den  Bereich  der  Berner 
Klause  eingetreten  sind. 

Die  Berner  Klause  ist  jene  Stelle,  wo  die  Etsch  zum  letzten  Male  vor 
ihrem  Eintritt  in  die  Ebene  ein  enges,  von  hohen  und  steilen  Wänden  eingefaßtes 
Gebirgstal  durchfließen  muß.  Wenn  diese  Erscheinung  am  Südabhang  der 
Alpen  auch  bei  fast  allen  anderen  Straßenzügen  ganz  in  gleicher  Weise  wieder- 
kehrt, so  mußte  sie  doch  hier  schon  wegen  der  Belebtheit  der  Brennerstraße 
und  deshalb  von  um  so  größerer  Bedeutung  werden,  weil  die  Berner  Klause 
sich  unter  allen  jenen  Engpässen  wenn  nicht  durch  ihre  Länge  so  doch  durch 
ihre  Schmalheit  besonders  unvorteilhaft  auszeichnet.  Da  wir  direkt  von  Bozen 
und  dem  Ritten  herabkommen,  so  drängt  sich  außerdem  sofort  der  Gedanke  auf, 
warum  das  Altertum  nicht  auch  hier  auf  eine  Höhenführung  abseits  der  Schlucht 
verfallen  ist.  Wenn  ein  solches  Werk  hier  aber  schon  deshalb  nicht  zur  Aus- 
führung zu  kommen  brauchte,  weil  der  Weg  durch  jenen  Engpaß  nicht  allzulang 
ist,  so  bleibt  eine  Erwägung  nach  dieser  Richtung  hin  doch  trotzdem  von  Wert, 
da  sie  unsere  Aufmerksamkeit  von  der  Klause  selbst  auch  auf  deren  seitliche 
Umgebung  richtet,  und  eine  Betrachtung  der  letzteren  nicht  außer  acht  gelassen 
werden  darf,  wenn  man  zu  einer  richtigen  Beurteilung  dieses  wichtigen  militä- 
rischen Punktes  gelangen  will. 

Wir  können  zunächst  die  Tatsache  hinnehmen,  daß  uns  kein  einziges  sicheres 
Zeugnis  erhalten  ist,  nach  dem  diese  Wegestelle  während  der  Römerzeit  einmal 
eine  besondere  Rolle  gespielt  hat,  daß  sie  aber  dann  sofort  bei  Anbruch  des 
Mittelalters  als  wichtiges  Eingangstor  Italiens  zu  Tage  tritt.  Die  von  der  Sage 
überwucherten  Andenken  an  jene  Zeit  haften  nun  aber  nicht  nur  an  der  Berne- 
clus  selbst  sondern  noch  viel  ausgesprochener  oben  an  der  Burg  Rivoli,  die 
westlich  der  Klause  am  rechten  Etschufer  gelegen  war,  und  wieder  weiter  west- 
1)  W.  S.  82.  A.  24.        2)  Oe.  II.  S.  226,  236.        3)  Baedeker  Oberitalien  9.  Au.  S.  190. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  253 

lieh  an  dem  auf  gleicher  Höhe  befindlichen  Garda  (Garden),  und  wenn  von  den 
drei  Punkten,  die  hier  jene  Barriere  bilden,  jetzt  die  Berner  Klause  in  der 
Geschichte  weitaus  den  größten  Raum  einnimmt,  so  hat  dies  nur  seinen  Grund 
in  der  ausführlichen  und  lebensvollen  Schilderung,  die  uns  Otto  von  Freising 
von  der  Eroberung  derselben  durch  Friedrich  Barbarossa  im  J.  1155  hinter- 
lassen hat')-  Es  giebt  aber  noch  eine  ganze  Anzahl  anderer  Römerzüge,  bei 
denen  sich  die  Herrscher  mit  jener  Gegend  auseinandersetzen  mußten,  und  die 
nur  einen  wortkargeren  oder  verständnisloseren  Herold  gefunden  haben,  bei 
denen  die  Spannung  aber  nicht  geringer  als  damals  gewesen  sein  mag. 

So  wissen  wir,  daß  schon  im  J.  1003,  als  das  Herannahen  Heinrichs  II. 
vom  Brenner  her  erwartet  wurde,  der  Bischof  von  Verona  die  Klause  besetzen 
ließ,  um  sie  für  den  deutschen  König  offenzuhalten,  daß  aber  der  italienische 
Gegenkönig  Heinrichs,  Arduin  von  Ivrea,  sie  noch  rechtzeitig  dem  Bischof  ent- 
riß und  nun  hier  zweimal,  erst  den  deutschen  Vortruppen  und  dann  dem  Heere 
des  Königs  selbst  Widerstand  leistete^).  Ebenso  mußte  sich  Lothar  im  J.  1136 
auch  hier  mit  Gewalt  Bahn  brechen-^),  und  Friedrich  Barbarossa  fand  bereits 
auf  seinem  ersten  Zuge  nach  Italien  1154  Rivoli  von  Feinden  besetzt  und  ließ 
die  dortigen  Veroneser  hängen'*).  Auch  im  J.  1166  konnte  letzterer  dann 
schließlich  zum  dritten  Mai  hier  nicht  vorwärts  kommen,  da  Rivoli  von  den 
Veronesern  eingenommen  und  so  die  Klause  wieder  in  deren  Händen  war=). 
Nicht  anders  erging  es  dann  auch  Heinrich,  dem  Sohne  Friedrichs  II.,  der  im 
J.  1226  sechs  Wochen  in  Trient  lagerte  und  dann  trotzdem  unverrichteter  Sache 
umkehren  mußte,  „da  die  Veroneser,  die  damals  im  Besitz  der  dortigen  Klausen 
waren,  sich  gegen  ihn  im  Aufstand  befanden"'').  Vollständig  glatt  verlief  dagegen 
der  Zug  Ottos  IV.  (1209),  aber  nur  infolge  des  günstigen  Zufalls,  weil  diesem 
bei  seinem  Erscheinen  sofort  die  Burg  Rivoli  von  einer  Anzahl  Veroneser  über- 
geben wurde,  die  jenen  Platz  besetzt  hielten,  der  in  der  Stadt  herrschenden 
Partei  aber  selbst  feindlich  gegenüberstanden^).  Ebenso  wird  bei  den  vielen 
Vorbereitungen,  die  Friedrich  Barbarossa  im  J.  1158  für  seinen  zweiten  Römer- 
zug traf,  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  damals  schon  Monate  vorher  der 
Kanzler  Rainald  von  Köln  und  der  Pfalzgraf  Otto  nach  Italien  vorausgeschickt 
wurden,  und  „daß  diese  sich  gleich  anfangs  der  an  der  Veroneser  Klause  ge- 
legenen und  durch  ihre  natürliche  Lage  unüberwindlichen  Burg  Rivoli  ver- 
sicherten, weil  durch  deren  Besetzung  der  Marsch  durch  diesen  Engpaß  sicher 
gewährleistet  wurde"  ^).  Neben  Rivoli  und  der  Klause  spielt  nun  aber  auch 
noch  die  Burg  Garda  eine  Rolle,  etwa  derart,  daß  erst  wenn  auch  diese  be- 
setzt ist,  hier  ganz  reiner  Tisch  gemacht  ist.  Erst  nachdem  auch  diese  sich  er- 
geben hat,  zieht  Lothar  1136  in  Verona  ein;  1158  wird  sie  einmal  von  Friedrich 

')  O.  F.  S.  173f.  2)  Oe  II.  S.  247.  ^  Oe.  II.  S.  231.  ••)  Jahrbücher  von    Pölde,  J.  1154. 

5)  Oe.  11.  S.  234.  6)  W.  S.  94.  A.  60.        ')  Oe.  II.  S.  235.  «)  Ra.  S.  36. 


254  VI.  Kapitel. 

Barbarossa  vergebens  berannt  und  auch  1209  versichert  sich  Otto  IV.  vor  dem 
Weitermarsch  noch  besonders  ihres  Besitzes'). 

Aus  allen  diesen  Nachtrichten  geht  nun  aber  zweierlei  hervor,  das  für  das 
Verständnis  dieser  im  Mittelalter  so  ausnehmend  wichtigen  Position  durchaus 
ausschlaggebend  ist,  einmal,  daß  der  Schwerpunkt  derselben  nicht  so  sehr  in 
der  Klause  als  vielmehr  in  Rivoli  lag,  so  daß  nur  derjenige,  der  Herr  dieser 
Burg  war,  auch  über  die  OfFenhaltung  und  Schließung  jener  bestimmen  konnte^), 
sowie  ferner,  daß  sobald  die  deutschen  Herrscher  hier  Widerstand  fanden,  auch 
stets  die  Veroneser  dabei  die  Hand  im  Spiele  hatten.  Diese  beiden  Gesichts- 
punkte können  nun  aber  auch  dazu  dienen,  über  jene  berühmte  Eroberung  der 
Klause  durch  Otto'  von  Witteisbach  im  J.  1155  noch  einiges  Licht  zu  verbreiten, 
obgleich  jenes  Ereignis  bereits  eine  ganze  Litteratur  hervorgebracht  hat^).  Man 
muß  hier  davon  ausgehen,  daß  der  Kaiser  damals  plötzlich  zur  raschen  Rück- 
kehr nach  Deutschland  gezwungen  war.  Dieser  hatte  daher,  als  er  an  den  Süd- 
ausgang der  Brennerstraße  kam,  auch  bereits  einen  Teil  seines  Heeres  entlassen'*), 
wie  ebenso  vorher  wohl  auch  keine  Zeit  gefunden,  sich  der  Gesinnung  der 
Veroneser  und  der  Burg  Rivoli  zu  versichern.  Deshalb  ließ  er  auch  von  vorn- 
herein Rivoli  links  liegen  und  zog  oberhalb  Veronas,  ganz  wie  die  Veroneser 
verlangten,  von  dem  rechten  auf  das  linke  Etschufer.  Trotzdem  tat  aber  bereits 
hier  der  Anschlag  seine  Wirkung,  der  von  den  Veronesern  damals,  ähnlich  wie 
später  in  Susa,  direkt  gegen  die  Person  und  gegen  die  Umgebung  des  Kaisers 
geplant  war;  denn  jene  ließen  nun  mächtige  Holzstöße  gegen  die  von  dem 
Heere  benutzte  Brücke  antreiben,  um  diese  dadurch  zu  zerstören  und  so  die 
Marschkolonnen  auseinanderzureißen.  Dieses  Mittel  scheint  übrigens  hier  sozu- 
sagen in  der  Luft  zu  liegen,  da  die  Cimbern  dasselbe  schon  einmal  in  jener 
Gegend  gegen  die  von  den  Römern  geschlagene  Brücke  angewendet  haben. 
Daß  Friedrich  dann  aber  auch  die  Klause  selbst  gesperrt  fand,  ist  um  so  weniger 
wunderbar;  und  es  ist  wirklich  das  Verdienst  Otto  von  Witteisbachs,  wenn  dieser 
Anschlag  nicht  nur  vereitelt  werden,  sondern  daß  ihm  vor  allem  auch  die  Strafe 
auf  dem  Fuße  folgen  konnte.  Eigentümlich  ist  auch  hier  die  Rolle,  —  halb  Be- 
fehlshaber der  Veroneser,  halb  Straßenräuber  —  in  der  sich  Alberich,  der  An- 
führer der  in  der  Klause  befindlichen  Feinde,  bewegt,  und  man  merkt,  wie  sich 
selbst  auch  Otto  von  Freising  über  diesen  nicht  recht  klar  gewesen  ist;  wir 
wissen  aber,  daß  wir  uns  hier  in  der  Heimat  der  späteren  Kondottieri  befinden. 
Verona.  Wenn  auch  Verona  heute  eine  Stadt  Italiens  ist,  so  gehört  es  doch  trotzdem 

durchaus  und  in  erster  Linie  zu  jenen  Stellen,  die  mit  der  Erinnerung  an  die 
deutsche  Geschichte  so  eng  wie  nur  möglich  verknüpft  sind;  denn  es  wird 
schwer  halten,  selbst  auf  deutschem  Boden  einen  Ort  ausfindig  zu  machen,  den 

1)  Oe.  II.  S.  231,235;  Ra.  S.  80.  2)  Entscheidend  für  das  gegenseitige  Verhältnis  von  Rivoli  und 
der  Klause  ist  die  Feststellung  des  Alters  der  Brückenstelle,  die  sich  heute  dort  bei  dem  Orte 
Incanol  befindet.        3)  Vgl.  W.  S.  87f.        *)  O.  F.  S.  173. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  255 

wie  hier  Verona  die  deutsciien  Kaiser  immer  wieder  betreten  haben.  Finden 
wir  doch  hier  alle  jene  wieder,  die  einmal  durch  Tirol  gezogen  sind,  derart, 
daß  durch  drei  Jahrhunderte  hindurch  nur  ein  einziger,  Konrad  III.,  fehlt  in 
der  langen  Reihe  von  Otto  I.  bis  Konradin.  Wir  wissen  bereits,  daß  die 
deutschen  Herrscher  zumeist  das  nordwestlich  der  Stadt  am  Etschufer  gelegene 
Benediktinerkloster  bei  S.  Zeno  als  Aufenthaltsort  wählten,  und  es  kann  das  Bild 
nur  lebendiger  machen,  wenn  wir  sehen,  wie  sie  es  zuweilen  so  einrichteten, 
daß  sie  hier,  wo  ja  ein  natürlicher  Ruhepunkt  in  der  Reiseroute  gegeben  war, 
die  hohen  Feste  der  Christenheit  verleben  konnten;  so  haben  Konrad  II.  (1036) 
und  auch  Papst  Leo  IX.  (1049)  hier  Weihnachten,  Heinrich  IV.  (1081)  Ostern 
und  Heinrich  V.  (1111)  Pfingsten  gefeiert').  Auch  entspricht  es  ganz  der 
günstigen  Lage  Veronas,  daß  es  gern  als  Platz  gewählt  wurde,  wo  die  entschei- 
denden Instanzen  Deutschlands  und  Italiens  auf  halbem  Wege  zusammenkamen, 
und  so  treffen  wir  hier  den  dritten  Punkt  an  der  Brennerstraße,  an  dem  ein 
Kirchenkonzil  stattgefunden  hat.  Es  ist  dies  dasjenige  vom  J.  1184,  bei  dem 
auch  der  damalige  Papst  Lucius  III.  persönlich  anwesend  war.  Im  J.  983  hielt 
Otto  II.  kurz  vor  seinem  Tode  hier  einen  Reichstag  ab,  und  auch  im  J.  874 
reisten  König  Ludwig  (der  Deutsche),  Kaiser  Ludwig  von  Italien  und  der  Papst 
hierher,  um  miteinander  zu  verhandeln  2).  Wie  in  den  Zeiten  Theodorichs,  so 
galt  noch  im  achten  Jahrhundert  Verona  als  der  festeste  Platz  des  Langobarden- 
reiches''), und  dann  ist  diese  Stadt  das  ganze  Mittelalter  hindurch  noch  durch- 
aus die  Pforte  gewesen,  durch  die  der  Verkehr  zwischen  Deutschland  und 
Italien  heraus  und  herein  zog,  während  ihre  Beziehungen  nach  Osten,  die  in 
der  römischen  Kaiserzeit  und  dann  in  der  neueren  Zeit  gleich  stark  hervortreten, 
damals  ganz  abgestorben  sind. 

Das.  was  heute  Verona  an  echt  mittelalterlichen  Andenken  aufzuweisen  hat, 
findet  sich  in  der  Hauptsache  nur  außerhalb  der  eigentlichen  Stadt,  östlich  dicht 
um  das  Kastell  S.  Pietro,  einst  cattedra  di  Pipino  genannt,  wo  demnach  die 
Zeit  der  Karolinger  unmittelbar  an  die  der  Langobarden  angeknüpft  hat,  und 
westlich  gegenüber,  eben  bei  der  Kirche  S.  Zeno,  die  bezeichnenderweise  auch 
in  eine  Ober-  und  Unterkirche  geteilt  ist,  und  deren  Umgebung  trotz  ihrer 
elenden  Gassen  es  deutlich  verrät,  daß  hier  einst  ein  viel  wichtigerer  und  vor- 
nehmerer Stadtteil  gelegen  haben  muß.  Wie  aber  überhaupt  die  Ablehnung  und 
Zurückhaltung  gegenüber  der  deutschen  Reichspolitik  zumeist  die  Veroneser 
Geschichte  beherrscht  hat,  so  sind  dann  im  fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahr- 
hundert die  frei  gewordenen  nationalen  Kräfte  hier  vollends  so  nachhaltig  auf- 
getreten, daß  jetzt  im  Innern  der  Stadt  vom  Mittelalter  fast  nichts  mehr  zu  er- 
kennen ist. 

Indessen   haben  wir   doch  auch  hier  ein  Zeugnis   dafür,   daß  auch  Verona,  Die  Gotik 
wie  es  seiner  Lage  nach  auch  gar  nicht  anders  möglich  war,  einst  reichlich  von  '"    '^''^"• 

I)  Oe.  II.  S.  225,  226,  227;  Gl.  III.  B.  S.  822.         -)  Oe.  II.  S.  220.         •<)  P.  D.  S.  183. 


256  VI.  Kapitel. 

nördlichen  Elementen  durchsetzt  gewesen  sein  muß.  Es  besteht  dieses  darin, 
daß  wir  heute  hier  nicht  weniger  als  drei  Kirchen  ausfindig  machen  können,  die 
im  gotischen  Stile  aufgeführt  worden  sind  (Dom,  S.  Anastasia,  S.  Fermo  Mag- 
giore).  Wenn  die  romanische  Bauweise  den  Ländern  nördlich  und  südlich  der 
Alpen  gleichmäßig  angehört,  so  gilt  dies  doch  viel  weniger  für  die  Gotik,  die 
nach  Italien  von  Norden  her  eingeführt  wurde  und  inmitten  der  südlichen  Kultur 
nie  recht  heimisch  worden  konnte.  Dies  bedeutet  aber  auch,  daß  wir  gotische 
Bauten  in  Italien  vornehmlich  an  solchen  Stellen  finden  werden,  wo  irgendwelche 
Verwandtschaft  mit  dem  nördlichen  Kulturleben  zu  jenen  Zeiten  noch  besonders 
stark  vorhanden  war,  als  sich  die  Gemüter  hier  bereits  allgemein  der  neuen 
nationalen  Kunstwfeise  zuzuwenden  begannen.  Man  kann  übrigens  nicht  nur 
ganz  genau  beobachten,  wie  die  von  Norden  gekommene  Gotik  in  Italien  nach 
Süden  zu  immer  mehr  an  Kraft  verliert,  sondern  auch,  daß  die  verhältnismäßig 
stärkste  Strömung  dieser  Art  über  den  Brenner  gekommen  ist  und  von  dort  den 
uralten  Weg  nach  der  Hauptstadt  des  Landes  eingeschlagen  hat  (Verona;  Mantua, 
Palazzo  ducale;  Bologna,  S.  Petronio;  Florenz;  Orvieto).  So  besitzt  selbst  Rom 
heute  eine  gotische  unter  seinen  ungezählten  Kirchen,  S.  Maria  sopra  Minerva, 
die  sich  freilich  hier  wie  ein  Fremdling  aus  einer  anderen  Welt  ausnimmt,  bei 
deren  Besuch  es  dem  Deutschen  aber  wie  die  Erinnerung  an  liebe  Bekannte 
oder  wie  das  Rauschen  des  von  den  Alpen  herabkommenden  Nordwindes 
anmutet.  

Die  westlich  Infolge  der   nachhaltigen  Wirkung   der  Veroneser  Klause  als   Straßensperre 

der  Berner  mußten   nun   Übrigens    auch    die   westlich    und   östlich    der   Brennerstraße    nach 

Klause  nach  Italien  auslaufenden  Verbindungen  eine  erhöhte  Bedeutung  erlangen,  eine  Er- 
führenden  scheinung,  die  bis  in  die  neueste  Zeit  in  Geltung  gewesen  ist,  und  die  deshalb 
Verbindungen,  auch  das  südliche  Tirol  im  kriegsgeschichtlichen  Sinne  zu  dem  interessantesten 
Teil  des  ganzen  Alpengebiets  gemacht  hat.  Es  ist  natürlich,  daß  auch  schon 
die  deutschen  Herrscher,  sobald  sie  Rivoli  und  der  Klause  seitwärts  auszu- 
weichen suchten,  damit  ein  größeres  Wagnis  auf  sich  nahmen,  wie  dies  auch 
aus  den  mittelalterlichen  Quellen  zuweilen  ganz  deutlich  herausschimmert.  Als 
Friedrich  Barbarossa  1166  seinen  Zug  in  gerader  Richtung  nicht  weiter  fort- 
setzen konnte,  marschierte  er  durch  das  Val  Camonica  und  erschien  von  dort 
ganz  unerwartet  in  der  Lombardei '),  eine  Bewegung,  die  recht  eigentlich  mili- 
tärischen Scharfblick  verrät,  und  die  auch  deshalb  interessant  ist,  weil  der 
Kaiser  bei  derselben  den  Weg  über  den  Tonal  einschlug,  dessen  Schicksale  im 
Mittelalter  sonst  ganz  im  Dunkeln  liegen.  Eine  andere  erfolgreiche  Bewegung 
seitab  der  Brennerstraße  führte  auch  bereits  Lothar  aus,  der  im  August  1133  von 
Brescia  den  Weg  den  Chiese  aufwärts  wählte  und  dabei  die  dort  als  Klause 
dienende  Burg   Lodrun  (Lodrone)   eroberte  2),  und   es  ist  gewiß  auch   ein   be- 

>)  W.  S.  54.  A.  59.        2)  Oe.  II.  S.  230. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  257 

merkenswertes  Vorkommnis,  wenn  uns  hier  am  Rande  des  stillen  Idrosees  bei 
einer  jener  Ruinen,  wie  sie  auch  an  den  einsamen  Gebirgsstraßen  nichts  Seltenes 
sind,  plötzlich  bestimmt  und  scharf  umrissen  jene  Erinnerung  an  die  deutsche 
Kaiserzeit  entgegentritt.  Auch  Ludwig  der  Bayer  (1327)  und  König  Ruprecht 
(1401)  haben  sich,  als  ihnen  der  Weg  im  Süden  von  Trient  gesperrt  war,  hier 
westlich  der  Brennerstraße,  freilich  mehr  wie  listige  Abenteurer  in  die  Lombardei 
hineingeschmuggelt '). 

Wenn  die  politischen  Schicksale  der  weiten  Gestade  des  Gardasees  sich 
auch  im  Mittelalter  in  der  Hauptsache  in  der  durch  die  Natur  vorgeschriebenen 
und  im  Altertum  bereits  wirksamen  Richtung  bewegen,  und  daher  auf  dem  öst- 
lichen Ufer  Verona,  auf  dem  westlichen  Brescia  das  Hausrecht  besaß,  so  tritt 
doch  jetzt  hier  noch  eine  Besonderheit  zu  Tage,  die  ihren  Grund  in  der  Aus- 
nahme von  einer  Regel  hat.  Denn  obwohl  ein  weites  Gewässer  sonst  stets  ein 
verbindendes  Moment  abgieht,  so  haben  sich  diesmal  an  der  Nordspitze  des 
Gardasees  die  steil  abfallenden  und  von  beiden  Seiten  das  Gewässer  einengenden 
Berge  ihre  trennende  Kraft  nicht  nehmen  lassen  und  hier  einen  dritten  geson- 
derten Teil  der  Uferlandschaft  geschaffen,  der  durch  seine  Landverbindungen 
fest  an  den  Norden  gekettet  war.  Darum  ist  Riva  im  Mittelalter  zumeist  ein 
wenn  auch  heiß  umkämpftes  Bollwerk  des  nördlichen  Gebirgslandes  gewesen, 
und  noch  heute  hat  derjenige,  der  Trient  besitzt,  es  nicht  aus  der  Hand  gelassen. 
Ebenso  sehen  wir  damals  nun  auch  die  zahlreichen  und  gewundenen  Gebirgs- 
täler westlich  und  östlich  der  Etsch  in  dauernder  Abhängigkeit  von  dieser  Stadt, 
wie  der  Name  Giudicarien  heute  noch  an  jenen  Zustand  erinnert,  weil  hier,  in 
Stenico,  die  Richter  der  Trienter  Bischöfe  ihren  Sitz  hatten^). 

Wer  aber  dann  aus  dieser  in  der  Hauptsache  ganz  italienisch  gefärbten 
Alpenlandschaft  über  einen  jener  Übergänge  hinübersteigt,  auf  die  ernst  die 
Gipfel  der  Brenta  herabschauen,  der  kann  schon  auf  diesen  Wegen,  die  keine 
Spuren  alten  Verkehrs  verraten,  und  noch  mehr  am  Ziele  seiner  Wanderung 
erkennen,  daß  er  in  ein  besonders  geartetes  Gebiet  gelangt  ist.  Es  ist  aber  nicht 
so  sehr  die  ethnographische  Verschiedenheit,  sondern  ein  ganz  charakteristischer 
Kultureindruck,  wie  er  sich  in  dieser  Weise  heute  in  den  Alpen  sonst  an  keiner 
Stelle  vorfindet,  der  hier  seine  Fragen  stellt.  Ein  überraschendes  Bild  gewährt 
es,  wenn  hier  die  Landschaft  weit  und  breit,  in  den  langen  Linien  der  Tal- 
sohlen, aber  nicht  minder  auf  den  grünen  Hängen,  von  einer  ungezählten  Menge 
von  Ortschaften  übersät  ist,  Ortschaften,  die  alle  ein  und  dasselbe  Aussehen 
haben,  weiße  Punkte,  geschlossene  Steinnester,  unter  denen  auch  die  mittel- 
alterlichen Burgen  und  Adelssitze  zahlreich  vertreten  sind.  Es  ist  eine  reich 
bevölkerte,  an  allen  Stellen  von  fleißiger  Menschenhand  beherrschte  Gegend, 
auf  die  man  aus  der  Vogelschau  hier  hinabzublicken  glaubt,  jener  Nonser  Perg, 
dessen  Reichtum  „an  Fisch,  Wildpret,  Wein  und  Korn"  noch  das  Mittelalter  zu 
')  Oe.  II.  S.  231.        ^)  Eine  ganz  ähnliche  Namensgebung  liegt  auch  im  mitteldeutschen  Vogtland  vor. 

Scherrd,  Verkthrsgsschichic  der  Alpsn.    2.  BanJ.  17 


258  *  VI.  Kapitel. 

rühmen  wußte.  Tritt  man  aber  heute  in  jene  Ortschaften  selbst  hinein,  so  be- 
merkt man  staunend,  daß  das,  was  man  voraussetzt,  vor  Jahrhunderten  allerdings 
einmal  Wirklichkeit  war,  daß  aber  jetzt  in  einem  Dorfe,  in  einem  Hause  wie 
dem  anderen  ein  Verfall,  ein  Niedergang  eingezogen  ist,  und  daß  diese  Ent- 
wickelung  in  gerader,  unaufgehaltener  Linie  einen  stillen  und  ernsten  Zug  von 
Jahrhunderten  hinter  sich  hat.  Wir  haben  an  dieser  Stelle  nicht  die  Gründe 
jener  Erscheinung  zu  untersuchen,  sondern  nur  festzustellen,  daß  uns  während  des 
Mittelalters  kein  Reisebericht,  kein  irgendwie  wichtiges  Ereignis  in  diese  ebenso 
abgelegenen  wie  in  sich  geschlossenen  Täler  hinabführt,  die  damals  aber  trotzdem 
noch  ein  gleich  wohlhabendes   Gebiet  wie   im   Altertum   gewesen  sein  müssen. 

Wer  wiederum  ein  anderes  eigentümliches  Kulturbild  kennen  lernen  will, 
aber  ein  solches,  das  in  seinen  Schicksalen  ganz  offen  daliegt,  der  findet  dieses 
östlich  der  Etsch  in  der  unmittelbar  dem  Nons-  und  Sulzberg  gegenüberliegenden 
Alpenlandschaft.  Hier  zieht  das  unendlich  lange  Tal  des  Avisio  von  Lavis  aus 
in  nordöstlicher  Richtung  immer  höher  hinan,  um  schließlich  im  Schatten  der 
Marmolata  zu  endigen,  ein  Tal,  das  trotz  seiner  Ausdehnung  und  trotz  seiner 
guten  Wegbarkeit  doch  stets  ein  armes  Nebenland  geblieben  ist  und  wo  daher 
auch  die  geschichtlichen  Erinnerungen  fast  inhaltslos  sind,  während  in  den  be- 
waldeten Seitentälern,  die  von  hier  und  ebenso  südlich  vom  Travignolo  und 
oberen  Cismone  aus  in  die  Gebirgswelt  hineinführen,  sich  noch  heute  jene 
geheimnisvolle  Stille  und  Unberührtheit  ausbreitet,  als  ob  der  erste  Tag  der 
Schöpfung  angebrochen  wäre.  Eine  Illustration  zu  jener  ereignislosen  Vergan- 
genheit ist  es  aber  auch,  wenn  wir  gerade  hier  wieder  häufiger  die  Heiligen- 
namen als  Ortsnamen  verwendet  finden  {S.  Lugano,  Pellegrino;  Val  di  S.  Nicolo, 
di  S.  Lucano;  S.  Martino  d.  C;  S.  Ursula  im  Fersental),  wie  ja  diese  Striche  stets 
wohl  der  sicherste  Teil  des  Hinterlandes  von  Trient  gewesen  sind,  und  jene 
Kulturarbeit  daher  auch  nur  von  dieser  Stadt  ausgegangen  sein  kann. 

Überhaupt  liegen  die  Verkehrsmöglichkeiten  auch  auf  dem  linken  Ufer  der 
Etsch  kaum  anders  wie  auf  dem  rechten;  denn  auch  hier  gelangt  man  nach 
Süden  zu  aus  jenem  unwichtigen  in  ein  um  so  wichtigeres  Gebiet,  in  das  Suga- 
natal  mit  seiner  Straße,  die  wie  schon  zu  der  Römer  Zeiten  auch  im  Mittelalter 
die  belebteste  Straßenlinie  Südtirols  nächst  der  Brennerstraße  selbst  geblieben 
ist.  Schon  deshalb  wird  auch  der  Weltverkehr  diese  Straße  nie  ganz  aus  dem 
Auge  verlieren,  weil  sie  nur  noch  eine  verhältnismäßig  kurze  Strecke  das  Gebirge 
durchzieht  und  dann  der  Nordspitze  der  Adria  zueilt,  also  die  Verbindung  des 
im  Gebirge  und  an  der  Brennerstraße  gelegenen  Trient  mit  dem  Meere  auf  dem 
kürzesten  Wege  bewerkstelligt;  in  ihrer  nördlichen  Hälfte,  wo  sie  noch  ganz 
eine  Alpenstraße  ist,  hat  sie  außerdem  aber  auch  stets  eine  militärische  Bedeutung 
besessen,  weil  sie  von  Trient  aus  eine  zweite,  nicht  bessere  oder  schlechtere 
Möglichkeit  als  die  Brennerstraße  selbst  darbietet,  um  den  Fuß  auf  den  Boden 
Oberitaliens  zu  setzen. 


Der  Brenner  und  seine  Nebenwege.  259 

Als  eine  ganz  gebräuchliche  Reiseroute  lassen  die  mittelalterlichen  Reise- 
berichte auch  diesen  Weg  erkennen  und  nennen  so  auch  seine  Stationen,  so  wie 
sie  heute  vorhanden  sind,  und  wie  sie  zum  Teil  schon  unter  den  Römern  be- 
standen haben').  Die  Straße  tritt,  nachdem  sie  Trient  hinter  sich  gelassen  hat 
und  zunächst  das  Fersinatal  hinangestiegen  ist,  dann  in  das  Tal  der  Brenta  ein, 
dort,  wo  einst  die  stattliche  und  ausgedehnte  Burg  Fersen  als  ein  viel  begehrter 
Besitz  nicht  nur  diese  dicht  unter  ihr  liegende  Straßenstelle  sondern  auch  weit- 
hin alle  Täler  der  Umgebung  als  ihre  Pflegschaften  beherrschte.  Der  nächste 
wichtige  Punkt  findet  sich  weiter  genau  in  der  Mitte  des  Gebirgsweges,  in  Borgo, 
„der  Burgenstadt",  das  als  alter  Straßenpunkt  in  den  Bergen  in  seinem  Aussehen 
überraschend  Klausen  a.  E.  gleicht,  wo  auf  dem  sich  über  dem  Tal  erhebenden 
Felsen  zwei  Burgen  übereinanderliegen,  während  unten  dem  Ort  selbst  die 
durchlaufende  Landstraße  den  Grundriß  vorgeschrieben  hat.  In  Primolano  und 
unter  den  Ruinen  der  Feste  Cofel  stehen  wir  dann  an  einer  wirksamen  Straßen- 
teilung, weil  hier  genau  östlich  die  schon  von  den  Römern  gebaute  Straße 
nach  Feltre  und  von  da  nach  der  Adria  abging,  eine  zweite  Linie  dagegen,  die 
erst  im  Mittelalter  deutlich  fühlbar  wird,  als  die  eigentliche  Fortsetzung  des 
Suganatals  in  der  langen,  engen  und  düsteren  Schlucht  der  Brenta  weiterführte, 
um  dann  plötzlich  wie  durch  ein  goldenes  Tor  in  der  von  Sonne  und  Leben 
durchfluteten  italienischen  Ebene  anzukommen.  An  diesem  letzteren  Punkte 
liegt  Bassano,  eine  echte  Voralpenfestung,  von  der  im  Altertum  kaum  irgend- 
welche Spuren  vorhanden  sind,  die  aber  in  ihrer  besonders  gut  erhaltenen  Um- 
wallung ihr  mittelalterliches  Gesicht  nur  um  so  trotziger  herauskehrt. 

In  der  Geschichte  tritt  nun  aber  auch  ganz  deutlich  die  verschiedene  Be- 
stimmung jener  beiden  Straßenrichtungen  hervor,  ersterer,  wo  der  spätere  Reise- 
verkehr wieder  nur  ein  altes  ausprobiertes  Römergleis  für  seine  Zwecke  über- 
nahm, und  letzterer,  die  sich  dem  nach  Süden  ziehenden  Feldherrn  anbot,  weil 
sie  auf  kurzem  Wege  die  Berge  hinter  sich  ließ.  Damit  ist  indessen  auch  die 
mittelalterliche  Bedeutung  dieser  Straßen  erschöpft,  da  ein  eigentlicher  Handels- 
verkehr hier  niemals  gelaufen  ist;  dies  zeigt  ebenso  das  Schicksal  von  Ospeda- 
letto,  das  als  Hospiz  hier  zwar  an  einsamer  Stelle  entstand,  aber  doch  ganz  in 
seinen  Anfängen  stecken  blieb,  wie  ein  Besuch  der  anderen  an  der  Straße  ge- 
legenen Flecken,  in  denen  sich  die  Hauptgebäude  nirgends  zu  jenem  stattlichen 
Aussehen  ausgewachsen  haben,  wie  es  der  Handelsverkehr  mit  sich  zu  bringen 
pflegt.  Hier,  wo  Venedig  nicht  mehr  allzuweit  entfernt  ist,  merken  wir  auch 
um  so  deutlicher  den  Einfluß  dieser  Stadt,  der  das  Suganatal  nur  dann  nicht 
gleichgültig  gewesen  wäre,  wenn  es  zu  ihrem  Machtbereich  gehört  hätte.  Die 
Grenzen  Venedigs  sehen  wir  aber  nun  bereits  zu  Ende  des  vierzehnten  Jahr- 
hunderts im  Norden  auf  dem  Festlande  genau  abgesteckt,  wo  sie  an  dieser  Stelle 
mit  dem  Stadtgebiet  von  Bassano  endigten,  nordöstlich  dagegen  auch   ein  weites 

i>  Oe.  II.  S.  246. 
17' 


260  VI.  Kapitel. 

Stück  des  Gebirgslandes,  „die  Venezianer  Alpen*  einschlössen;  und  hier  lief 
jene  Straße  im  Tal  der  Piave  nach  Cortina  d'  Ampezzo  hinan,  die,  weil  sie  viel 
länger  das  Gebiet  Venedigs  durchzog,  nun  auch  von  dessen  Handel  konsequent 
als  die  gegebene  Verbindungslinie  mit  dem  Norden  benutzt  worden  ist. 

Es  sind  nun  noch  diejenigen  kriegerischen  Unternehmungen  des  Mittel- 
alters zu  nennen,  die,  als  die  Berner  Klause  gesperrt  war,  sich  den  Weg  durch 
das  Suganatal  zu  bahnen  suchten.  Als  Karlmann  875  aus  Tirol  herabkam  und 
sein  Gegner  Karl  der  Kahle  die  Klause  besetzt  hielt,  machte  ersterer  „diese 
Stellung  dadurch  wirkungslos,  daß  er  sie  rasch  auf  einem  sonst  schwierigen 
Gebirgswege  umging"  ')•  Da  nun  aber  bald  nachher  die  beiden  Gegner  nirgends- 
wo anders  als  an  der  Brenta  eine  Zusammenkunft  hatten,  kann  auch  schon  für 
diese  Operation  das  Suganatal  in  erster  Linie  in  Frage  kommen.  Außer  Zweifel 
und  besonders  lebensvoll  steht  dagegen  auf  dieser  Strecke  der  erfolgreiche  Zug 
Heinrichs  II.  im  J.  1004  vor  uns,  der  in  seinen  entscheidenden  Stunden  übrigens 
ganz  in  derselben  Weise  verlaufen  ist  wie  später  die  Einnahme  der  Berner 
Klause  durch  Otto  von  Witteisbach.  Auch  hier  sehen  wir  im  Gebirge  irgendwo 
an  der  Brenta  den  Marsch  stocken,  weil  eine  schwer  zu  nehmende  Stellung  an 
der  Straße  vom  Feinde  besetzt  ist.  Der  König  teilt  seine  Truppen;  während 
die  eine  Abteilung  die  Feinde  unten  und  in  der  Front  beschäftigt,  umgeht  die 
andere,  die  aus  Kärntnern  d.  h.  aus  tüchtigen  Kletterern  zusammengesetzt  ist, 
die  Sperre  und  ersteigt  eine  über  dieser  gelegene  Höhe;  dann  erfolgt  das  Zeichen, 
—  diesmal  ein  Trompetensignal  —  daß  die  Bewegung  ausgeführt  ist,  und  der 
Sieg  läßt  nicht  auf  sich  warten^).  Da  der  über  diesen  Vorgang  erhaltene  Bericht, 
so  lebensvoll  er  auch  ist,  keine  Personennamen  und  vor  allem  außer  der  Brenta 
keine  Ortsnamen  enthält,  wird  der  Geschichtsforscher  freilich  erfolglos  versuchen, 
die  genaue  Stelle  dieser  Ereignisse  ausfindig  zu  machen;  für  den  Militär  sind 
sie  aber  doch  auf  echtem  Goldgrund  geschrieben,  da  auch  diese  ein  Jahrtausend 
alte  Erzählung  nur  jene  Regel  bestätigt,  daß  auch  im  Gebirge  der  Verteidiger, 
der  sich  an  einen  Punkt  anklammert,  dem  energischen  Angreifer  erliegen  muß, 
weil  diesem  stets  mehr  als  ein  Weg  zur  Verfügung  steht. 
<)  Oe.  II.  S.  247.  A.  1.        2>  Oe.  II.  S.  249. 


VII.  Kapitel. 

Vom  Pustertal  bis  zur  Birnbaumer  Straße. 


Wie  die  von  West  nach  Ost  laufende  Furka  in  das  Herz  der  Zentralalpen,  Das  Pustertal. 
der  Arlberg  zu  den  Wegen  des  Brennersystems  hinüberführt,  so  dient  die  in 
gleicher  Richtung  durch  das  Pustertal  laufende  Straße  dazu,  die  Verbindung 
der  Mittelalpen  mit  den  Ostalpen  herzustellen.  Die  verkehrsfreundliche  Wirkung 
ist  aber  hier  um  so  ausgeprägter,  da  diese  Straße  an  Länge  ebensosehr  dem 
Arlberg  gleichkommt,  aber  doch  nicht  wie  dieser  am  Rande  der  Alpen  sondern 
nicht  anders  wie  die  Furka  genau  in  der  Mitte  des  Gebirges  gelegen  ist.  So 
gelangt  man  tatsächlich  auf  dem  Wege  von  Franzensfeste  nach  Lienz  aus  dem 
Bereich  einer  mitteleuropäischen  Hauptstraße,  wie  wir  den  Brenner  kennen  ge- 
lernt haben,  plötzlich  in  eine  Gegend,  wo  der  Herzschlag  Osteuropas  schon  viel 
deutlicher  zu  spüren  ist;  und  wie  die  Wellen  der  drahtlosen  Telegraphie  wohl 
den  Ausgangspunkt,  nicht  aber  den  Weg,  den  sie  genommen  haben,  erkennen 
lassen,  und  doch  an  einem  bestimmten  Ziele  anlangen,  so  haben  hier  oft  genug 
die  Ereignisse  ihren  Widerhall  gefunden,  die  ihren  Ursprung  länderweit  entfernt 
im  Orient  hatten.  Es  ist  ja  nur  ein  Abbild  dieser  Beziehungen,  wenn  in  der 
Zeit  der  Kreuzzüge  die  nach  Palästina  reisenden  Pilger  Tag  für  Tag  scharen- 
weise an  dem  Kloster  Sonnenburg  vorbeiziehen'),  wenn  im  J.  1348  die  aus  dem 
Orient  gekommene  Pest  gerade  um  Neustift  herum  besonders  verheerend  auf- 
tritt^),  und  wenn  dieses  und  Salem,  der  über  Brixen  gelegene  Sommersitz  der 
Bischöfe,  später  aus  Furcht  vor  den  Türken  befestigt  wird^). 

Schon  der  Wanderer,  der  von  Brixen  aus  die  Straße  nach  dem  Pustertal 
einschlägt,  kann  es  als  ein  Zeichen  für  deren  Belebtheit  auffassen,  wenn  er  dort 
an  dem  Aussehen  der  Gassen,  an  den  Kirchen  am  Wege  bemerkt,  wie  die  alte 
Stadtentwickelung  ganz  besonders  in  jene  Richtung  hineingewachsen  ist.  Ganz 
deutlich  tritt  diese    Erscheinung    dann    aber    in   dem    Dasein    von    Neustift    vor 

')  Oe.  II.  S.  240.        2)  w.  S.  132.    Eine   hierher  gehörige   Lokalsage  erzählt  Erb.  S.  94.        3)  Rjehl 
S.  109;  N.  S.  244. 


262  VII.  Kapitel. 

Augen,  dessen  Lage  östlich  des  Eisak  zeigt,  daß  dieses  große  mittelalterliche 
Hospiz  mit  der  Brennerstraße  weaig  zu  tun  hatte,  dessen  Gründungszeit  (1142) 
und  dessen  rasche  Entwickelung  dagegen  um  so  mehr  die  Bedeutung  der  Linie 
durch  das  Pustertal  in  der  zweiten  Hälfte  des  Mittelalters  illustrieren.  Derjenige 
Punkt  freilich,  der  von  Anfang  an  das  westliche  Ende  jener  Straße  mit  starker 
Faust  beherrschte,  findet  sich  in  Rodeneck,  einer  Anlage,  die  übrigens  nicht 
recht  mit  den  mittelalterlichen  Baugewohnheiten  übereinstimmt,  weil  sie  nach 
Süden  zwar  weit  und  sicher  in  das  Land  hineinschaut,  aber  durchaus  nicht  auf 
einer  schwer  zugänglichen  Stelle  und  auch  ein  ganzes  Stück  von  der  alten 
Straße  selbst  entfernt  liegt.  Trotzdem  sehen  wir  dieses  Rodank  schon  um  das 
J.  1000  unter  der  Oberhoheit  der  Bischöfe  von  Brixen,  1269  dagegen  in  den 
Händen  der  Tiroler  Fürsten,  die  es  nicht  mit  Unrecht  als  eine  besonders  wert- 
volle Erwerbung  betrachteten. 

Wenn  wir  heute  das  Pustertal  sich  von  Mühlbach  bis  Lienz  erstrecken  und 
sauber  an  Tirol  angegliedert  sehen,  so  ahnen  wir  freilich  nicht,  welche  Fülle  wider- 
strebender Schicksale,  welches  Durcheinander  abgestorbener  Gewalten  auch  hier 
unter  dieser  einförmigen  Decke  begraben  liegt.  Wie  Tirol  selbst,  so  ist  auch 
dieser  Name  in  das  Große  gewachsen,  da  die  Grafschaft  Pustrussa  im  J.  973 
nur  bis  Toblach  reichte'),  und  erst  nach  fünfhundert  Jahren  die  Gegend  von 
Lienz,  den  alten  Lurngau,  und  zuletzt  auch  das  Gebiet  von  Innichen  mit  ihrem 
Namen  überzogen  hat.  Unter  denen  aber,  die  einst  hier  mit  ihren  Machtan- 
sprüchen aneinander  gerieten,  sind  alle  mittelalterlichen  Instanzen  Tirols  ver- 
treten, unter  ihnen  besonders  früh  auch  die  Kirche  in  der  Gestalt  des  Bistums 
Freising,  das  durch  seinen  Besitz  in  Innichen  hier  die  bodenständigen  kleinen 
Dynasten  auseinanderhielt.  Es  ist  außerdem  bemerkenswert,  daß  auch  die  alten 
Grafen  des  Pustertales  hier  kaum  später  und  verhältnismäßig  klar  umrissen 
auf  der  Bühne  erscheinen,  Otger  und  Vokold,  die  nach  damaligen  Begriffen 
sehr  aufgeklärte  Leute  gewesen  sein  müssen,  weil  der  erstere,  nachdem  er  sich 
vor  der  Zeit  seines  Erbes  begeben  hatte,  hoch  im  Enneberg  den  Rest  seines 
Lebens  verbrachte  2),  und  ebenso  sein  Sohn  Vokold,  der  im  Anfang  des  elften 
Jahrhunderts  das  Kloster  Sonnenburg  als  Burg  der  Sühne  (Suanapurck)  gründete, 
dessen  Schirmvögte  übrigens  die  Bischöfe  von  Trient,  nicht  die  von  Brixen 
waren  3).  Letztere  halten  dann  aber  trotzdem  sehr  bald  nach  dem  Aussterben 
dieses  Geschlechtes  in  dem  alten  Pustertal  ihren  Einzug,  während  die  Gegend 
von  Lienz  noch  weiter  unter  der  Hand  ihrer  Grafen  bleibt.  Auf  alle  diese 
folgen  dann  aber  auch  hier  vom  dreizehnten  Jahrhundert  ab  die  Grafen  von 
Tirol,  die  nun  sicher  wenn  auch  langsam  Blatt  um  Blatt  abschälen  und  schließ- 
lich das  ganze  lange  Tal  in  ihr  Land  einfügen. 

An  ein   solches  Rennen   und  Ringen   erinnert   nun   auch   besonders   lebhaft 

')  Unterforcher,  G.  Pr.  Eger  1890;  Sonderabdruck  S.  11.  -)  Haush.  S.  157.  ■')  F.  1906.  S.  207; 
Ju.  S.  311. 


Vom  Pustertal  bis  zur  Birnbaumer  Straße.  263 

das  Schicksal  der  Orte,  denen  wir  auf  jenem  Wege  begegnen.  Diese  zerfallen 
ganz  deutlich  in  zwei  Arten,  die  einen,  die  schon  im  frühen  Mittelalter  hervor- 
treten und  deren  Bestimmung  ohne  weiteres  zu  erkennen  ist,  und  die  späteren, 
die  den  verschiedenen  Machthabern  ihren  Ursprung  verdanken,  die  sich  hier 
häuslich  einzurichten  gedachten.  Zu  den  ersteren  gehören  S.  Lorenzen  mit  der 
Michaelsburg  und  Ehrenburg  am  Taleingang  des  Enneberg,  Olang  und  Toblach 
(Douplachi).  Die  letzteren  beginnen  dagegen  mit  Mühlbach,  einer  etwas  ver- 
fehlten Gründung  der  Grafen  von  Tirol  als  Handelsplatz  und  Rivalin  Brixens. 
Dann  folgt  S.  Sigmund,  das  seinen  Namen  vom  Grafen  Sigmund  von  Tirol  hat, 
und  Sonnenburg,  heute  ein  verwahrlostes  Gebäude,  aus  dem  das  warme  Leben 
entflohen  ist,  das  aber  an  jener  wichtigen  Straßenstelle  liegt,  wo  hier  der  Weg 
von  der  Hauptstraße  in  das  umfangreiche  Enneberg  abgeht')-  Dort  im  Enne- 
berg hat  damals  wohl  die  Kirche  die  Ortschaften  nach  ihren  Heiligen  benannt, 
und  der  deutsche  Adel  sich  seine  Burgen  und  Ansitze  gebaut,  aber  die  roma- 
nische Bevölkerung  zeigt  doch,  wie  alle  diese  Täler  hier  Jahrhunderte  hindurch 
von  den  Weltereignissen  ganz  unberührt  geblieben  sind.  Die  Stelle  des  alten 
Mittelpunktes  des  Pustertales  hat  sich  dann  später  von  S.  Lorenzen  nach  Bruneck 
hin  verschoben,  das  erst  um  1250  durch  die  Bischöfe  von  Brixen  (Bischof 
Bruno)  entstanden  ist.  Noch  heute  hat  dieses  kleine  Gebirgsstädtchen  etwas 
Eigenartiges  und  besonders  Zierliches  an  sich,  und  es  mag  gesagt  sein,  daß  es 
trotz  der  großen  Entfernung  merkwürdig  an  einen  kleinen  Ort  an  der  Ostsee, 
an  Putbus,  erinnert;  es  ist  aber  wirklich  dasselbe  zarte  Parfüm,  der  Eindruck 
der  Liliput-Residenz,  der  uns  hier  wie  dort  umduftet.  Der  älteste  Sitz  der 
Brixener  Bischöfe  im  Pustertal  ist  dagegen  Aufhofen  (Ufhova)  gewesen.  Innichen 
kennen  wir  bereits  als  einen  anderen  kirchlichen  und  Welsberg  als  alten  weifischen 
Besitz,  und  auch  eine  Erinnerung  an  die  Görzer  Grafen  liegt  hier  in  der  Nähe, 
„Pfalzen",  das  einst  zwar  ein  Jagdhaus  derselben,  immer  aber  ein  stiller  Alpen- 
ort war.  Es  geht  den  Namen  demnach  wie  den  Menschen;  sie  wissen  nie,  wo 
sie  einmal  hingeraten  können,  da  dieses  Paiatium  hier  nicht  mit  weißem  Marmor, 
wohl  aber  mit  weißem  Gebirgsschnee  aufwarten  kann. 

Darin  aber  gehört  das  Pustertal  ganz  zu  den  Ostalpen,  daß  dessen  Straßen-  Lienz. 
geschichte  plötzlich  einen  anderen  und  lebhafteren  Charakter  annimmt,  sobald 
auch  hier  im  zwölften  Jahrhundert  jene  ganz  neue,  von  dem  Handelsleben  be- 
herrschte Periode  angebrochen  ist.  Dies  äußert  sich  besonders  in  Lienz,  dessen 
Schicksale  vorher  ganz  im  Dunkeln  liegen,  während  die  Art,  wie  es  sich  dann 
geltend  macht,  wieder  an  die  Entwickelung  von  Innsbruck  oder  Sterzing  erinnert. 
Auch  hier  erscheint  der  Ort,  der  vorher  anderswo  (Debant  =  Agunt,  Oberlienz 
=  im  elften  Jahrhundert  Luenzia)  gelegen  hatte,  plötzlich  an  der  Stelle,  wo  wir 
ihn  heute  sehen,  und  es  ist  dies  auch  der  Grund,  weshalb  heute  kein  einziges 
Gebäude  in  demselben  an  Alter  über  das  vierzehnte  Jahrhundert  hinaufreicht. 
I)  Vgl.  Ju.  S.  310. 


264  VII.  Kapitel. 

Aber  auch  hier  lockt  dann  der  immer  mehr  steigende  Wohlstand  auch  die  welt- 
lichen Besitzer  der  Stadt,  die  Grafen  von  Görz,  in  deren  Bannkreis.  Diese  be- 
ziehen im  J.  1272  das  über  Lienz  gelegene  Schloß  Brück,  das  sich  schon  auf 
Grund  seiner  aus  zwei  Stockwerken  bestehenden  Kapelle  als  ein  mittelalterlicher 
Fürstensitz  ausweist,  und  in  dem  überhaupt  das  älteste  geschichtliche  Denkmal 
jener  Stadt  zu  erblicken  ist. 

Charakteristik  Auch  deshalb  befinden  wir  uns  in  Lienz  bereits  ganz  in  den  Ostalpen,  weil 

der'^Os'taipen  von  den  Straßen,  die  von  hier  nach  allen  Himmelsrichtungen  ausgehen,  die  weit- 

im  Mittelalter,  aus  wichtigste  doch  Stets  diejenige  des  Drautales  geblieben  ist,  das  von  hier 
immer  bergab  in  langer  gerader  Linie  aus  den  Alpenländern  herausführt.  Alle 
diese  von  Westen  nach  Osten  streichenden  und  in  den  Ostalpen  so  zahlreich 
vertretenen  Flußtäler  haben  nun  zwar  diesen  Teil  des  Gebirges  von  je  her  be- 
sonders fest  mit  seiner  östlichen  Nachbarschaft  zusammenwachsen  lassen;  sie 
sind  zugleich  aber  auch  die  Ursache  dafür,  daß  das  Straßensystem  selbst  viel 
ausgedehnter,  unregelmäßiger  und  komplizierter  wird,  und  daß  besonders  gerade 
hier  die  Zielgerechtigkeit  der  von  Nord  nach  Süd  ziehenden  Linien  viel  weniger 
ausgeprägt  ist.  Und  wenn  die  hierdurch  bedingte  Schwierigkeit,  die  Straßen 
der  Ostalpen  in  ein  bestimmtes  System  zu  fassen,  schon  den  willensstarken 
Römern  gegenüber  nicht  ohne  Wirkung  blieb,  so  mußte  jenes  noch  viel  mehr 
im  Mittelalter  zur  Geltung  kommen,  als  eine  kräftige  staatenbildende  Macht 
dort  Jahrhunderte  hindurch  nicht  zu  finden  war.  Damals  sind  die  Straßen  der 
Ostalpen  tatsächlich  insgesamt  in  zahlreiche  einzelne  Glieder  auseinandergefallen, 
die  jedes  für  sich  ein  ebenso  selbständiges  wie  spießbürgerliches  Leben  führen, 
auf  denen  infolgedessen  aber  auch  der  Wechsel  der  Kulturbeziehungen  viel 
schwächer  abfärbt  und  die  Wirkungen  des  Weltverkehrs  viel  leiser  anklingen. 
So  ist  die  Beschreibung  der  mittelalterlichen  Straßen  der  Ostalpen  bei  weitem 
nicht  das  leichteste,  sicherlich  aber  das  am  wenigsten  interessante  Kapitel  der 
ganzen  Verkehrsgeschichte  der  Alpen. 
Viiiach.  Wir  beginnen  bei  diesem  mit  der  über  den  Pontebbapaß  ziehenden  Straße, 

und  zwar  deshalb,  weil  diese  auch  damals  auf  dem  Ostflügel  des  Gebirges  vor- 
wiegend der  Verbindung  zwischen  dem  Südland  und  dem  Nordland  gedient  hat, 
und  ihr  so  jenes  Moment  anhaftet,  das  den  Alpenstraßen  überhaupt  zu  allermeist 
Farbe  und  Leben  verleiht.  Der  nördliche  Fußpunkt  dieser  Straße,  die  sich 
übrigens  als  ein  besonders  geschlossenes  Glied  aus  den  Ostalpen  abhebt,  liegt 
im  Herzen  Kärntens,  in  Villach.  Wer  einen  Eindruck  des  Mittelalters  daselbst 
bekommen  will,  der  mag  die  Grabsteine  der  dortigen  Pfarrkirche  mustern,  die 
mit  einem  unendlichen  Zeitaufwand,  aber  auch  mit  einem  unendlichen  Behagen 
gearbeitet  sind;  denn  es  ist  wirklich  eine  verhältnismäßig  friedsame  Vergangen- 
heit, ein  stilles,  in  sich  gesättigtes  Kulturleben,  das  hier  vorübergezogen  ist, 
obwohl  wir  freilich  sonst  vergeblich  nach  irgendwelchen  ausdrucksvolleren 
geschichtlichen  Resten  suchen  werden.    Wie  dem  Arbeiter,  dessen  Spaten  nach 


Vom  Pusiertal  bis  zur  Birnbaumer  Straße.  265 

langem  gedankenlosen  Graben  plötzlich  klirrt,  wenn  er  auf  einen  harten,  in  der 
Tiefe  liegenden  Stein  stößt,  so  ist  es  dem  Geschichtsschreiber  bei  dem  wichtigsten 
Ereignis  der  Villacher  Geschichte,  dem  Schicksalstag  des  Erdbebens  vom 
25.  Januar  1348  zu  Mute;  auch  er  fühlt,  daß  hier  eine  andere,  unbildsame  aber 
unendlich  mächtige  Kraft  seine  Gedanken  stört.  Wenn  übrigens  Villach  bereits 
877  als  Brückenstelle,  1060  dagegen  als  Markt  erwähnt  wird'),  so  sind  dies  für 
jene  Gegend  auffallend  alte  Daten,  die  sich  eben  nur  aus  der  wichtigen  Lage  des 
Ortes  erklären  lassen;  auf  den  Handelsverkehr  und  in  gleicher  Weise  auf  jenes 
unsagbare  östliche  Milieu  deutet  dann  auch  das  Dasein  einer  Judengemeinde  im 
J.   1255  hin. 

Weiter  südlich  erheben  sich  dann  einander  gegenüber,  beide  zugleich  als  p^^,gj,(j3 
Sperren  des  langen  Gailtales,  die  Schlösser  Federaun  (Veterona)  und  Arnold-  straße. 
stein,  von  denen  ersteres  gleichfalls  1348  bei  jenem  Erdbeben  einstürzte 2), 
während  Arnoldstein  später  als  das  alte  Veterona  erbaut  und  schon  um  1120 
von  Bamberg  aus  zu  einem  Kloster  eingerichtet  wurde^),  eine  Umwandlung,  die 
zeigt,  auf  welch'  sicheren  Füßen  bereits  damals  hier  die  bambergische  Herrschaft 
gestanden  haben  muß.  Der  eigentliche  Anfang  der  Gebirgsstraße  liegt  dann 
unter  dem  Schlosse  Straßfried  bei  Thoerl,  1227  ausdrucksvoller  „zu  dem  Tor" 
genannf*),  von  wo  man  über  Tarvis,  das  erst  1399  das  erste  Mal  erscheint^''),  die 
Paßhöhe  bei  Saifnitz  erreicht.  In  Saifnitz  (d.  h.  Froschfeld)  dagegen,  wo  sich 
auch  die  älteste  Pfarre  des  österreichischen  Kanaltals  befindet,  kann  man  fast 
daran  glauben,  daß  hier  die  Besiedelung  seit  dem  Altertum  keine  Unterbrechung 
erlitten  hat.  Hier,  in  Sevenich,  sehen  wir  um  die  Wende  des  zwölften  Jahr- 
hunderts daher  auch  zweimal  den  Bischof  Wolfger  von  Passau  Station  machen, 
der  dabei  übrigens  gar  kein  schlechtes  Gasthaus  vorgefunden  haben  kann^). 
Auch  Uggowitz  findet  sich  schon  1260.  Da  aber,  wo  heute  Malborghet  steht, 
befand  sich  ursprünglich  nur  ein  dem  Bischof  von  Bamberg  gehöriger  Hof,  und 
der  alte  Name  Bamborghet  (1354)  ist  demnach  erst  später  zu  Malborghet  ge- 
worden, als  die  Bischöfe  hier  eine  Feste  gebaut,  und  diese  sich  wirklich  den 
Friaulern  gegenüber  als  ein  »schlimmes  Bollwerk"  bewährt  hatte ^).  Leopolds- 
kirchen kommt  das  erste  Mal  1275  vor,  aber  auch  dieser  Name  führt  ein  rechtes 
Versteckenspielen  auf,  da  er  ursprünglich  Diepoltskirchen  lautete.  Dieser  Heilige, 
den  niemand  anders  als  die  Waldbarbeiter  als  ihren  Patron  verehrten,  hatte  sich 
aber  doch  bei  jener  Holzknechtsansiedelung  inmitten  eines  großen  Waldreviers, 
wie  es  der  Ort  früher  war,  ganz  an  der  richtigen  Stelle  eingefunden*').  Über- 
haupt stimmen  die  ältesten  Nachrichten  über  die  Orte  an  jenem  Gebirgswege 
gerade  darin  überein,  daß  jene  Gegenden  im  ersten  Mittelalter  nur  ganz  dünn 
besiedelt  waren^),  eine  Beobachtung,  durch  die  somit  auch  jene  allgemeine  An- 

1)   Kr.  S.  101.  2)   Kr.  S.  160.  •^)   Kr.  S.  102.  ")   W.  P.   S.  37.  '^   Z.  A.  1900.  S.  417. 

6)  Z.  A.  1900.  S.  416.  ^  Carinthia,  1906.  S.  45.  »)  Carinthia.  1906.  S.  44.  »)  Z.  A.  1900. 

S.  417. 


266  VII.  Kapitel. 

nähme  von  der  Volksleere  der  Ostalpen  in   jenen  Zeiten  im  einzelnen  ihre  Be- 
stätigung finden  kann. 

Von  Pontebba  ab  beginnt  dann  das  wirkliche  Kanaltal,  in  dessen  Mitte  die 
alte  eigentliche  Klause  (Chiusaforte,  1227  Zer  Cluse)  liegt'),  die  im  Mittelalter 
eine  der  wichtigsten  Besitzungen  der  Patriarchen  von  Aquileja  war.  Weiter  talab, 
aber  noch  in  den  Bergen,  liegt  Venzone  neben  der  Stelle,  wo  die  Straße  vom 
Ploecken  her  in  das  Kanaltal  einmündet,  während  man  dann  auf  halbem  Wege 
zwischen  diesem  Ort  und  Gemona,  und  genau  dort,  wo  man  schließlich  am 
Ende  des  engen  düsteren  Tales  die  lichte  Ebene  vor  sich  sieht,  Ospedaletto, 
einem  von  den  Patriarchen  von  Aquileja  gegründeten  Spital  begegnete.  Heute 
laufen  Straße  und  Bahn  mitten  in  der  Ebene  weiter;  der  Straßenzug  der  alten 
Zeiten  hielt  sich  dagegen  noch  östlich  am  Bergabhang  und  betrat  so  Gemona, 
recht  eigentlich  den  alten  südlichen  Eintrittspunkt  der  durch  die  Ostalpen 
führenden  Wege.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  selbst  im  siebenten  Jahrhundert 
die  Existenz  dieser  Stadt  verbürgt  ist^),  und  wir  wissen  auch,  daß  sich  zwei 
deutsche  Herrscher,  Konrad  III.  (1149)  und  Karl  IV.  (1354)  einmal  hier  aufge- 
halten haben.  Im  dreizehnten  Jahrhundert  besaß  die  Stadt  eine  Zollstätte  und, 
was  wichtiger  ist,  das  Niederlagsrecht^);  wenn  aber  hier  und  ebenso  in  Venzone 
auch  noch  heute  die  in  demselben  Jahrhundert  errichteten  gotischen  Kirchen 
die  vergangene  Blütezeit  dieses  Striches  kundtun,  so  genügt  dies  doch  in  keiner 
Weise,  um  den  Niedergang  des  alten  Wohlstandes  zu  verschleiern,  der  auch 
hier  durch  den  Umschwung  der  Verkehrsverhältnisse  eingetreten  ist. 

Südlich  Gemona  in  der  Ebene  teilt  sich  die  Straße  in  zwei  Richtungen, 
von  denen  die  eine,  die  nach  Venedig  zielt,  nicht  viel  jünger  als  dieses  selbst 
sein  kann,  die  andere,  bereits  aus  dem  Altertum  stammende  und  nach  Udine 
laufende,  dagegen  im  Mittelalter  die  eigentliche  Lebensader  des  Patriarchates 
Aquileja  war.  Wenn  Udine  heute  besonders  lebhaft  den  Eindruck  der  hoch 
entwickelten  und  in  sich  geschlossenen  venezianischen  Kultur  verkörpert,  so 
schaut  unter  diesem  prächtigen  Überwurf  doch  noch  leidlich  sichtbar  ein  älteres 
Gewand  hervor,  das  deshalb  geschichtlich  nicht  minder  Beachtung  verdient,  weil 
es  einzig  an  diesem  Orte  anzutreffen  ist;  denn  jene  Stadt  war,  bevor  sie  an 
Venedig  kam,  zwei  Jahrhunderte  hindurch  (1238 — 1420)  der  Sitz  der  Patriarchen 
von  Aquileja,  die  hier  als  Herrscher  Friauls  den  letzten  Abschnitt  eines  fast 
tausendjährigen  hochfürstlichen  Daseins  verlebten.  Östlich  von  Udine  liegt  ab- 
seits und  dicht  an  den  Bergen  Cividale,  das  heute  durch  seine  Erinnerungen  an 
die  Langobardenzeit  berühmt  ist,  wie  es  deren  Erhaltung  wohl  zumeist  nur  jener 
geschützten  Lage  zu  verdanken  hat. 

Die  Straße  über  den  Pontebbapaß  heißt  im  Mittelalter  allgemein  die  Straße 
durch  den  Kanal ■*),  und  sie  tritt  von  Anfang  an  als  der  letzte  bezl.  erste  Wege- 
teil heraus,  den   die    zwischen    den    Ostalpenländern    und    Italien    verkehrenden 

')  W.  P.  S.  37.         2)  P.  D.  S.  87.         3)  W.  P.  S.  33.         4)  w.  P.  S.  24. 


Vom  Pustertal  bis  zur  Birnbaumer  Straße.  267 

Reisenden  zu  benutzen  pflegten.  Mit  jenem  Namen  wurde  hier  das  rinnenför- 
mige,  tief  eingeschnittene  Tal  bezeichnet,  das  die  nach  Süden  laufende  Fella 
von  Pontebba  bis  Venzone  benutzen  muß.  Zum  ersten  Mal  erscheint  diese 
Alpenstraße  bestiinmt  in  der  Geschichte  im  Mai  1149,  als  Konrad  III.,  der  erste 
Staufer,  nach  Beendigung  des  zweiten  Kreuzzuges  hier  nach  Deutschland  herüber- 
zog'); es  ist  dies  nebenbei  derjenige  Staufer,  dessen  Name  innerhalb  der  Römer- 
züge ganz  zurücktritt  und  der  auch  niemals  in  Verona  gewesen  ist.  Seit  diesem 
Zeitpunkte  folgen  dann  aber  die  Beweise  für  die  Benutzung  der  Kanalstraße 
rasch  aufeinander;  so  wurde  von  Friedrich  Barbarossa  bei  dem  Römerzug  im 
J.  1158  die  östlichste  Kolonne,  die  aus  den  Streitkräften  der  Herzöge  von  Kärnten 
und  Österreich  und  aus  ungarischen  Hilfstruppen  bestand,  hier  zum  Marsche 
nach  der  Lombardei  angesetzt'),  und  nicht  weniger  spricht  für  die  Bedeutung 
dieser  Linie,  daß  zu  derselben  Zeit  auch  die  wichtigsten  geistlichen  Stifter  in 
den  Ostalpen  es  für  nötig  hielten,  sich  rechtzeitg  Mautbefreiungen  zu  Chiusa- 
pforte  sicherzustellen^),  und  wie  wir  dem  vielgereisten  Bischof  von  Passau  hier 
begegnet  sind,  so  ist  selbst  der  Schalk  nicht  ausgeblieben,  der  in  der  Gestalt 
des  als  Frau  Venus  verkleideten  Ulrich  von  Lichtenstein  von  Treviso  an  die 
Orte  am  Wege  mit  seiner  Anwesenheit  beglückte,  um  schließlich  dann  am  neunten 
Tag  in  Villach  „stille  zu  liegen""'). 

Diejenige  Urkunde  aber,  die  diese  Straße  auch  als  einen  wichtigen  Handels- 
weg erkennen  läßt,  liegt  vor  in  einem  im  J.  1234  zwischen  dem  Patriarchen  von 
Aquileja  und  dem  Grafen  von  Görz  geschlossenen  Vertrage.  Damals  waren  die 
Einkünfte  der  Patriarchen  am  Zoll  zu  Chiusaforte  dadurch  bedroht,  daß  die 
Kaufleute  aus  Österreich,  Steiermark  und  Kärnten  immer  häufiger  den  Weg  über 
den  Ploecken  wählten  und  auf  diese  Weise  „die  seit  langer  Zeit  benutzte 
Straße  durch  den  Kanal"  außer  Gebrauch  zu  kommen  begann 5).  Der  Patriarch 
vermochte  damals  jedoch  noch  erfolgreiche  Gegenmaßregeln  zu  treffen,  so  daß 
der  Handel  noch  ein  volles  Jahrhundert  hindurch  über  diese  Straße  zog;  wenig- 
stens warf  die  Verpachtung  der  an  ihr  gelegenen  Zollstellen  den  Patriarchen  in 
den  J.  1255  und  1279  noch  recht  ansehnliche  Summen  ab. 

Es  sind  aber  doch  Kaufleute  aus  Siena  und  Florenz,  denen  wir  dort  als 
Zollpächtern  begegnen,  und  wie  Venedig  auf  dem  Festlande  durch  den  Gegen- 
satz zu  dem  Patriarchat  Aquileja  emporgekommen  ist,  so  konnte  es  auch  nicht 
ausbleiben,  daß  jenes,  als  es  am  Ende  des  vierzehnten  Jahrhunderts  hier  die 
Arme  frei  bekam,  auch  die  Zügel  fester  anzog  und  den  Handel  auf  diejenigen 
Straßen  lenkte,  die  es  auf  einer  längeren  Strecke  in  Besitz  hatte,  und  auf  denen 
die  Transportverhältnisse  infolge  der  von  Venedig  ausgehenden  energischen 
Fürsorge  auch  tatsächlich  günstiger  waren.  Auch  die  Pontebbastraße  hat  daher 
damals  durch  die  neu  entstandene  Straße  über  den  Predil,  vor  allem  aber  durch 
die    Ampezzaner    Straße,    den    größten    Teil    ihrer    Handelsbedeutung   verloren. 

')  W.  P.  S.  27.         2)  w.  p.  s.  28.         ■*)  W.  P.  S.  31.         •>)  W.  P.  S.  36.         '^)  W.  P.  S.  31  f. 


268  VII.  Kapitel. 

Der  eigentliche  Reiseverkehr  ist  dagegen  niemals  von  ihr  zu  verscheuchen  ge- 
wesen, und  wie  Karl  IV.  auf  seinem  Römerzug  im  J.  1354  den  Pontebbapaß  be- 
nutzte, so  ist  auch  das  letzte  Unternehmen,  das  wir  überhaupt  so  nennen  können, 
die  Reise  Friedrichs  III,  nach  Italien  (1451)  diesen  Weg  hin  und  her  gegangen.  Alte 
Zöpfe  hat  es  stets  gegeben;  das  Wichtige  und  Zukunftsreiche  ist  dabei  nur,  daß 
sie  }etzt  gerade  hier  hindurchgetragen  wurden;  denn  die  geschichtliche  Bedeutung 
Karls  IV.  und  Friedrichs  III.  besteht  doch  viel  weniger  darin,  daß  sie  Nachfolger 
der  Staufer  sondern  daß  sie  die  Vorläufer  jener  Fürsten  waren,  die  bald  nach 
ihnen  die  Herrschaft  über  die  ganze  östliche  Hälfte  der  Alpen  angetreten  und 
dieses  weite  Ländergebiet  zu  dem  Glied  eines  wirklichen  Reiches  zusammenge- 
faßt haben. 

o,      ,^'^  Wir  mußten  die  Ploeckenstraße  schon   bei  der  Geschichte  der  Pontebba- 

Ploecken- 

Straße.  Straße  Streifen  und  tatsächlich  gehören  diese  beiden  Wege  auch  eng  zusammen, 
da  sie  südlich  in  dieselbe  Bahn  zusammenlaufen  und  auch  nördlich  von  derselben 
Basis  ausgehen.  Diese  bildet  ebenso  das  Drautal  wie  das  Gailtal,  von  denen 
auch  das  letztere  in  unendlich  langer  und  gerader  Linie,  gleich  als  ob  sie  mit 
dem  Lineal  gezogen  wäre,  von  Osten  her  in  die  Berge  eindringt,  und  in  dessen 
Vergangenheit  daher  auch  die  aus  dieser  Himmelsrichtung  gekommenen  Ereig- 
nisse, die  Einwanderung  der  Slaven  und  später  die  Türkenkriege,  tiefe  Spuren 
hinterlassen  haben,  während  das  Gailtal  das,  was  es  im  Mittelalter  an  dauerhafter 
Kultur  besaß,  allein  dem  Erzstift  Bamberg  zu  verdanken  hatte.  Vergleicht  man 
die  Ploeckenstraße  mit  der  Pontebbastraße,  so  muß  zunächst  die  Zielgerechtig- 
keit in  der  Nord-Südrichtung  auffallen,  durch  die  sich  jene  Straße  so  vorteilhaft 
von  der  Kanalstraße  auszeichnet.  Ihr  Nachteil  liegt  dagegen  in  der  Höhe  des 
Überganges  (Ploecken  1360,  Saifnitz  800  m)  und  darin,  daß  man  bei  ihr  auf 
dem  Wege  von  der  Drau  her  noch  einen  zweiten  Höhenrücken,  den  Gailberg- 
sattel,  übersteigen  muß;  und  wenn  wir  nun  tatsächlich  sehen,  daß  die  Ploecken- 
straße neben  der  Pontebbastraße  stets  die  weniger  wichtige  geblieben  ist,  so 
liefert  dies,  ähnlich  wie  bei  dem  Splügen,  ein  lehrreiches  Beispiel  für  die  Zug- 
kraft der  mannigfachen  Gründe  und  Nebenumstände,  die  der  Verkehr  neben 
der  Zielgerechtigkeit  der  Linien  an  sich  in  Rechnung  zu  stellen  pflegt. 

Darin  aber  ist  die  Ploeckenstraße  wieder  ganz  und  gar  ein  Ebenbild  der 
Reschenstraße,  weil  auch  ihre  Bedeutung  von  Anfang  an  ganz  ungleich  gewesen 
ist,  weil  sie  plötzlich  fast  als  ein  Übergang  erster  Ordnung  erscheint,  um  nach- 
her wieder  Jahrhunderte  hindurch  fast  unbenutzt  und  unbetreten  ihr  Dasein  zu 
fristen.  Nachdem  ihre  Wichtigkeit  durch  den  im  vierten  Jahrhundert  hier  aus- 
geführten Straßenbau  Valentinians  ganz  offen  zu  Tage  tritt,  muß  sie  dann  auch 
noch  bis  zum  Ende  des  sechsten  Jahrhunderts  ein  gebräuchlicher  Reiseweg  ge- 
blieben sein.  Fortunatus,  der  spätere  Bischof  von  Tours,  hat  damals  zu  Ehren 
des  h.  Martin  ein  Gedicht  verfaßt,  das  zunächst  wie  viele  andere  gleichartige 
Erzeugnisse  auch  nur  ein  Merkmal  der  Übergangszeit  zwischen  dem    Altertum 


Vom  Pustertal  bis  zur  Birnbaumer  StraOe.  269 

und  dem  Mittelalter  darstellt,  weil  die  in  ihm  enthaltene  strenge  kirchliche 
Weltanschauung  für  ihren  Ausdruck  noch  ganz  auf  die  antike  Form  angewiesen 
bleibt,  das  für  die  Alpengeschichte  aber  deshalb  einzigartig  zu  nennen  ist,  weil 
der  Verfasser  sich  in  ihm  genauer  über  den  Weg  verbreitet,  den  er  selbst  auf 
seiner  Reise  von  Tours  nach  Ravenna  eingeschlagen  hat.  Als  einst  dem  frommen 
Mann  die  Verse  so  willig  aus  der  Feder  flössen,  hat  er  es  gewiß  nicht  geahnt, 
daß  er  in  den  Alpen,  in  dem  Raum  zwischen  der  Reschenstraße  und  der  Pon- 
tebbastraße,  zwar  nicht  wegen  des  Feuers  seiner  Muße,  auch  nicht  einmal  wegen 
seiner  Frömmigkeit,  sondern  nur  wegen  jener  eingeflochtenen  Reisebeschreibung 
Unsterblichkeit  erlangen  sollte;  denn  da  die  Ortsbestimmung  des  Fortunatus  an 
vielen  Stellen  zweifelhaft  bleiben  muß,  so  hat  die  Gelehrsamkeit  der  fleißigen 
späteren  Lokalforscher  schließlich  bereits  jeden  nennenswerten  Alpenweg,  der 
zwischen  jenen  beiden  Straßen  liegt,  schon  einmal  für  die  Reise  des  Fortunatus 
in  Anspruch  genommen.  Eine  Tatsache  kann  aber  auch  bei  ihr  wenigstens  als 
sicher  gelten,  diejenige,  daß  Fortunatus  als  letzte  Teilstrecke  im  Gebirge  den 
Übergang  über  den  Ploecken  benutzt  hat,  da  er  von  Agunt  (d.  h.  dicht  östlich 
Lienz)  aus  dem  Drautal  „in  scharfer  Biegung" ')  hoch  auf  die  Berge  hinauf- 
steigt und  dann  schließlich  bei  Osoppo  nach  Friaul  gelangt. 

An  diesen  Zeitpunkt  schließt  sich  nun  aber  wieder  eine  lange,  dunkle  und 
verlassene  Periode  an,  bis  im  dreizehnten  Jahrhundert,  in  dem  sich  der  Handel 
stürmisch  und  erfinderisch  alle  Alpenwege  dienstbar  machte,  auch  plötzlich  die 
Ploeckenstraße  als  eine  beachtete  und  wertvolle  Linie  hervortritt.  Hauptzeugnis 
dafür  ist  eben  jener  Handelsvertrag  vom  J.  1234,  aus  dem  hervorgeht,  wie  der 
Ploeckenpaß  (Mons  Crucis)  jetzt  sogar  der  Pontebbastraße  Konkurrenz  macht-); 
wie  weiter  als  Beweis  dafür,  daß  dieser  Zustand  fast  zweihundert  Jahre  anhielt, 
das  Dasein  einer  Zollstelle  in  Tolmezzo  im  J.  1279  und  besonders  die  Tatsache 
dienen  kann,  daß  auch  die  Habsburger,  als  sie  ein  Jahrhundert  später  in  den 
Besitz  von  Kärnten  gelangten,  der  Offenhaltung  der  Ploeckenstraße  denselben 
Wert  wie  der  der  Pontebbastraße  beilegten'').  Und  um  allem  zu  genügen,  so  hat 
auch  dieser  Übergang  damals  seinen  Römerzug  gesehen;  denn  Ruprecht  von  der 
Pfalz  zog  im  J.  1401  hier  herüber  nach  Italien,  wobei  er  sich  in  Mauthen  und 
Venzone  aufgehalten  haf*).  Aber  auch  auf  diese  zweite  Blüteperiode  folgt  dann 
hier  eine  um  so  größere  Vereinsamung,  eine  Erscheinung,  deren  Ursachen  hier 
kaum  andere  gewesen  sein  können,  als  wie  sie  damals  auch  den  Niedergang 
der  Pontebbastraße  hervorgerufen  haben,  die  hier  jedoch  bis  auf  heute  nach- 
wirken. Wie  man  schon  aus  der  Tatsache,  daß  Oberdrauburg  kein  alter  Ort 
ist^),  auf  die  geringe  Benutzung  der  Ploeckenstraße  im  früheren  Mittelalter 
schließen  kann,  so  lassen  auch  heute  noch  die  Orte  am  Wege,  von  Mauthen  bis 
Tolmezzo,   jenes  Aussehen    vermissen,    das  von    einer  wichtigen   Vergangenheit 

")  „rapte"  Vgl.  P.  D.  S.  38;  W.  P.  S.  20;  W.  S.  63;   Oei  II.  S.  242;   B.  W.  S.  20.  -)  W.  P.  S.  32 f. 

3)  W.  P.  S.  43.         ^)  Oe.  II.  S.  243.         -^)  Kr.  S.  103. 


270  VII.  Kapitel. 

redet,  wie  es  diesem  Umstand  aber  auch  zu  verdanken  ist,  daß  auf  dem  Ploecken- 
übergange  selbst  auch   heute   die  Römerreste   um  so   zahlreicher   erhalten   sind, 
und  so  hier  für  die  Lokalforschung  noch  ein  reiches  und  dankbares  Arbeitsfeld 
offen  daliegt. 
Die  Straße  Als  dritte  der  über  den   südlichsten  Gebirgskamm   der  Ostalpen  laufenden 

Birnbaumer  Straßen,  die  somit  sämtlich  den  Einflüssen  des  Nordlandes  viel  weniger  unter- 
Wald, worfen,  an  Italien  dagegen  um  so  fester  gekettet  sind,  haben  wir  nun  jene  alte, 
von  Aquileja  in  direkt  östlicher  Richtung  laufende  Straße  zu  betrachten,  die 
nach  keiner  allzulangen  und  allzusteilen  Gebirgswanderung  in  dem  Gebiet  der 
Save  anlangt,  um  sich  dort  in  verschiedene  Arme  zu  teilen,  die  sich  als  rechte 
Landstraßen  bald  in  der  Donauebene  verlieren.  Wir  kennen  diese  Straße  aus 
dem  Altertum  als  eine  Bahn,  auf  der  zunächst  die  römische  Macht  zielbewußt 
gegen  den  Osten  vordrang,  die  jene  Kräfte  aber  dann  mit  einer  in  das  Tragische 
gesteigerten  Gegenwirkung  nach  dem  Westen  zurückwerfen  sollte,  eine  Ver- 
gangenheit, durch  die  das  von  jener  Straße  durchzogene  Gebiet  für  alle  Zeiten 
zu  einer  der  geschichtlich  denkwürdigsten  Stellen  der  Welt  gestempelt  worden 
ist.  Überblicken  wir  nun  aber  die  Schicksale  jener  Straße  im  Mittelalter,  so 
ist  es  fast,  als  ob  die  Geschichte  hier  einmal  ein  Musterbeispiel  dafür  habe 
schaffen  wollen,  wie  sehr  sich  die  Zeiten  ändern  können,  und  wie  unberechen- 
bar die  Kräfte  sind,  die  sie  spielen  läßt;  denn,  nachdem  die  letzten  trüben 
Wellen  der  Völkerwanderung  sich  verlaufen,  nachdem  die  Ungarneinfälle  auf- 
gehört haben,  vergehen  Jahrhunderte,  in  denen  die  Weltereignisse  hier  achtlos 
vorübergehen,  und  in  denen  auch  jener  Straßenzug  selbst  für  den  großen  Ver- 
kehr ganz  abseits  liegt. 

Nur  in  einer  einzigen  Hinsicht  bleibt  diese  Landschaft  auch  jetzt  für  die 
Geschichtsbetrachtung  lehrreich.  Wer  die  mittelalterliche  Geschichtsschreibung 
von  ihrer  schwierigsten  und  undankbarsten  Seite  kennen  lernen  will,  der  mag  in 
jenen  Jahrhunderten  die  politische  Entwickelung  dieser  Landschaft  darstellen,  die, 
immerhin  recht  umfangreich,  sich  von  Aquileja  bis  nach  Landstraß  und  Pettau 
und  von  den  Quellen  der  Save  bis  nach  Istrien  hin  ausdehnt.  In  diesem  welt- 
fernen Gebiet,  das  die  Begehrlichkeit  der  Mächtigsten  weniger  reizen  konnte, 
und  das  in  jenen  Zeiten  darum  auch  niemals  die  Regententätigkeit  eines  großen 
Herrschers  auf  sich  gelenkt  hat,  sehen  wir  nun  um  so  ausgesprochener  einen 
Tummelplatz  der  Größen  zweiten  und  dritten  Ranges,  ein  zügelloses  Durchein- 
ander der  verschiedensten  Gewalten  vor  uns,  die  eine  die  andere  verschlingen 
und  trotzdem  in  veränderter  Form  neu  entstehen.  Neben  dem  bodenständigen 
Patriarchat  von  Aquileja  treffen  wir  vorübergehend  und  weit  verstreut  die  Stifter 
Salzburg  in  Krain,  Brixen  bei  Görz,  Freising  in  Istrien'),  von  weltlichen  Gewalten 
leben  und  vergehen  dagegen  die  Markgrafen  von  Friaul,  die  Grafen  von  Görz 
und  die  Markgrafen  von  Istrien^),  und  unter  diesen  die  Herren  von  Salcano  und 

')  Kr.  S.  85,  88,  115.  2)  Kr.  S.  86,  87,  85. 


I 


Vom  Pustertal  bis  zur  Bimbaumer  Straße.  271 

Duino'),  während  die  Save  abwärts  die  Herzöge  von  Kärnten  vordringen  und 
weiter  östlich  die  Grafen  von  Cilii  emporkommen.  Es  ist  eine  bunte  und  aus 
allen  Richtungen  der  weiten  Nachbarschaft  gekommene  Gesellschaft,  eine  Blüten- 
lese mächtiger  Geschlechter,  die  wir  hier  auf  und  ab  wogen  sehen;  sind  doch 
die  Grafen  von  Görz  nur  ein  Zweig  des  alten  Grafengeschlechtes  aus  dem  Fuster- 
tal,  und  unter  der  Markgrafschaft  Istrien  begegnen  wir  im  zwölften  Jahrhundert 
nichts  anderem  als  einer  jener  ungezählten  Besitzungen  der  Andechser  Grafen, 
deren  Schwerpunkt,  wie  wir  wissen,  jedoch  durchaus  in  Tirol  lag,  und  die  nur 
von  diesem  Küstenstrich  (Mairania)  ihren  Titel  als  Herzöge  von  Meran  führten, 
eine  Haut,  die  demnach  leicht  eine  falsche  Vorstellung  von  diesem  Geschlecht 
erweckt,  aus   der  es   aber  bis  an  das  Ende  aller  Dinge  nicht  mehr  herauskann. 

Wenn  um  die  Wende  des  Jahrtausends  die  alte  Birnbaumerstraße  als  Straße 
der  Ungarn  in  den  Urkunden  eine  ganz  gebräuchliche  Bezeichnung  ist-),  und  die 
von  ihr  gezogene  Furche  auch  jetzt  noch  immer  das  beste  Mittel  für  die  Grenz- 
bestimmung abgeben  muß,  so  weist  dies  ebenso  auf  die  große  Vergangenheit 
dieses  Straßenzuges  wie  darauf  hin,  wie  tief  sich  dessen  Spuren  in  der  Landschaft 
eingeprägt  hatten,  und  daß  er  auch  damals  noch  das  Rückgrat  der  ganzen  Gegend 
bildete.  Besonders  auf  der  italienischen  Seite  steht  hier  noch  während  der  ersten 
Hälfte  des  Mittelalters  ganz  der  alte  Rahmen  aufrecht,  aber  doch  so,  daß  er  je 
länger  je  mehr  in  sich  selbst  zusammenfällt.  Concordia  ist  noch  1137  eine 
Bischofsstadt'');  in  Aquileja  aber  sitzen  die  Fatriarchen  und  hier  geht  zunächst 
auch  noch  der  aus  dem  Orient  kommende  Seeweg  in  den  Landweg  über"*).  Weiter 
östlich  am  Rande  der  Berge  steht  im  J.  1001  noch  Salcano  aufrecht,  aber  wichtiger 
als  dieses  erhebt  sich  wenig  südlich  davon  Görz,  der  Ort,  „der  slavisch  Goriza 
heißt"  ^),  als  eine  Pfalz  seiner  Grafen,  die  später  sogar  einmal  in  der  Reichs- 
geschichte von  sich  reden  machen,  als  Albert  IL  von  Görz  neben  Rudolf  von 
Habsburg  als  Thronkandidat  auftrat.  Auf  der  Strecke  zwischen  Görz  und  Laibach 
ist  im  Mittelalter  dagegen  weit  und  breit  nur  der  Ort  Wippach  nachweisbar^), 
und  über  jener  römischen  Alpenstraße,  die  einst  mit  dem  ausgedehntesten  und 
vollendetsten  Befestigungsapparat  umgürtet  war,  lag  bereits  damals  wie  jetzt,  wie 
hohes  grünes  Moos  über  einer  alten  beschriebenen  Steinplatte,  nur  ein  weites 
Waldgebiet  gebreitet.  Es  veranschaulicht  die  Vereinsamung  dieser  Straße,  wenn 
wir  im  Mittelalter  hier  im  Bereich  des  Überganges  keiner  Hospizgründung,  keiner 
Straßenfeste  begegnen.  Auf  den  Trümmern  des  Römerkastells  bei  Hrusica  hat 
damals  nur  eine  heute  längst  verschwundene  Kapelle  der  h.  Gertrud  gestanden,  ein 
Heiligenname,  aus  dem  sich  jedoch  auch  keine  Schlüsse  auf  irgendwelchen 
Durchgangsverkehr  ableiten  lassen. 

So  ist  auch  die  mittelalterliche  Lebensader  Laibachs  durchaus  nicht  wie 
vorher  diese  von  Westen  herankommende  Straße  sondern  vielmehr  die  nördlich 

')    Kr.   S.  116.  ■?)   W.  P.  S.  20;  Kr.  S.  86.  ^   Annalista   Sa.\o.  J.  1137.  ^)   O.  F.  S.  44 

5)  Kr.  S.  86.  b")  Kr.  S.  1 10. 


272  V-  Kapitel. 

der  Save  herantreibende  deutsche  Kolonisation  gewesen.  Auch  Laibach  feiert 
seine  Auferstehung  als  eine  Pfalzburg  weltlicher  Dynasten.  Wichtig  ist  aber  vor 
allem  ein  Vergleich  der  ersten  urkundlichen  Erwähnung  des  Ortes  um  1144  mit 
derjenigen  von  Villach  vom  J.  877,  weil  man  daraus  ungefähr  ablesen  kann,  in 
welch'  langsamen  zeitlichem  Tempo  die  deutsche  Kolonisation  damals  hier  nach 
Südosten  vorgedrungen  ist.  Im  dreizehnten  Jahrhundert  steht  dagegen  auch  in 
Laibach  der  ganze  städtische  Apparat  fertig  vor  uns'),  das  Schloß,  die  im  Besitz 
auswärtiger  Klöster  befindlichen  Höfe,  die  deutschen  Bürgernamen  mit  ihren 
verschiedenen  Berufsarten  und  besonders  auch  das  Haus  einer  Kommende  des 
deutschen  Ordens  daselbst  (1228),  dessen  Anwesenheit  übrigens  darauf  schließen 
läßt,  daß  damals  jene  ganze  kolonisatorische  Bewegung  hier  noch  durchaus  im 
Vorschreiten  begriffen  war.  Die  östlichsten  Punkte,  mit  denen  wir  uns  hier  noch 
zu  beschäftigen  haben,  liegen  dann  meilenweit  entfernt  südlich  in  Landstraß  und 
nördlich  in  Cilli  und  Pettau.  Es  kann  keinen  lebensvolleren  mittelalterlichen 
Ortsnamen  geben  als  dieses  Landstraß  d.  h.  Landestrost  an  der  Grenze  der  un- 
verbesserlichen kroatischen  Welt,  wo  wir  hier  im  J.  1234  dieselbe  Entwickelung, 
wie  sie  ein  halbes  Jahrtausend  vorher  überall  am  Nordabhang  der  Berge  statt- 
gefunden hatte,  sich  im  kleinen  wiederholen  und  vor  allem  andern  ein  Kloster 
entstehen  sehen,  das,  wie  seine  wirtschaftliche  Fundierung  zeigt,  für  sein  Be- 
stehen nur  auf  die  Kräfte  in  seiner  nordwestlichen  Nachbarschaft  angewiesen  war  2). 
In  Cilli  und  besonders  in  Pettau  haben  wir  dagegen  den  seltenen  Fall  vor  uns, 
daß  die  deutsche  Herrschaft  hier  bei  ihrer  Ankunft  noch  das  antike  Gehäuse 
für  ihre  Zwecke  verwenden  konnte.  Als  mittelalterlichen  und  deutschen  Ort 
sehen  wir  Cilli  im  J.  1185,  während  auf  Pettau  direkt  von  Norden,  vom  Murtal 
aus,  durch  die  damalige  Vormacht  der  Ostalpen,  Salzburg,  schon  viel  früher  die 
Hand  gelegt  worden  ist^). 

')  Kr.  S.  107,  109,  HO.         2)  Kr.  S.  106,  107,  113.         3»  ju.  S.  257;  Kr.  S.  99,  98. 


VIII.  Kapitel. 

Die  Salzburger  Maciitsphäre. 


Als  das  Herzstück  des  mittelalterlichen  Verkehrsnetzes  der  Ostalpen,  aber  Das  Innere 
doch  nur  als  ein  solches,  dem  es  schwer  Fällt,  den  ganzen  Körper  zu  speisen  '■"•^"^■ 
und  recht  zu  beleben,  kann  jener  Landstrich  betrachtet  werden,  der  sich  südlich 
vom  Ossiacher-  und  Wörthersee,  die  Täler  der  Glan,  Gurk  und  Olsa  ein- 
schließend, bis  nördlich  zu  dem  Sattel  von  Neumarkt  hinzieht.  Es  ist  auch  jetzt 
wieder  die  tiefgehende  Verschiedenheit  mit  dem  römischen  Altertum,  die  sich 
bei  einer  Betrachtung  jener  Landschaft  vor  allem  andern  aufdrängt;  zur  Römer- 
zeit, als  hier  das  Dasein  Virunums  alles  regelte  und  beherrschte,  und  im  Mittel- 
alter, als  von  diesem  jede  Spur  verschwunden  ist,  aber  nun  farbenreich  und  an- 
mutig, wie  in  einem  Garten,  der  zu  allem  dienen  muß,  Kirchen  und  Klöster, 
Burgen  und  Städtchen  nebeneinander  emporwachsen.  Wenden  wir  von  hier  den 
Blick  nach  Osten  und  Süden,  nach  dort,  von  woher  im  Altertum  wichtige  Ver- 
bindungen in  jene  Gegend  hereinführten,  so  ist  die  Geschichte  des  unteren 
Drautales  im  Mittelalter  zunächst  nur  eine  unwichtige  lokalgeschichtliche  Episode, 
in  der,  wie  bei  hundert  anderen  im  deutschen  Osten,  das  Vordringen  der  deut- 
schen Kultur  den  größten  Raum  einnimmt.  Völkermarkt  ist  zwar  bereits  um 
1100  ein  Volchinmercatus;  der  Markt  Unterdrauburg  wird  dagegen  erst  1237 
angeführt'),  und  selbst  Klagenfurt  kann  nur  unter  jenem  Gesichtspunkt  betrachtet 
und  nicht  eigentlich  als  die  Tochter  sondern  nur  als  die  Enkelin  Virunums  ange- 
sehen werden;  denn  es  sagt  genug,  daß  diese  Furt  an  der  Glan  im  J.  1213  immer 
noch  nichts  anderes  als  „Stadibauern"  zu  Bewohnern-)  und,  wie  auch  heute  der 
Augenschein  zeigt,  nicht  das  geringste  mittelalterliche  Gepräge  an  sich  hat. 
Auch  der  Weg,  der  südlich  von  Klagenfurt  über  den  Loiblpaß  führt,  kann  mit 
wenigen  Worten  abgetan  werden.  Auch  hier  sehen  wir  eine  langsam  vorschrei- 
tende und  durchaus  kirchliche  Kulturarbeit  vor  uns,  wenn  im  J.  1143  an  dem 
nördlichen  Fußpunkt  dieses  Weges  das  Crsterzienserkloster  Victring  entsteht, 
')  Kr.  S.  103.         2)  Kr.  S.  101. 

Scbcffcl,  Verkebrsgeschicbie  der  Alpen.    2.  Btnd.  |g 


274  VIll.  Kapitel. 

dessen  Mönche  von  weither,  aus  Villars  in  Frankreich,  bezogen  wurden '),  wenn 
ein  Jahrhundert  später  auf  dem  Passe  selbst  das  Hospiz  mit  seiner  Leonhards- 
kirche  erscheint,  und  wenn  schließlich  im  vierzehnten  Jahrhundert  dann  auch 
südlich  des  Passes  Neumarktl  als  novum  oppidum  auftaucht'). 

Eine  gute  Illustration,  in  welcher  Richtung  im  Mittelalter  der  Weg  von 
Villach  aus  nach  Norden  weiterführte,  bietet  uns  auch  hier  wieder  eine  Reise 
jenes  Bischofs  Wolfger  von  Passau,  der  einst  hier  entlang  des  Ossiachersees  über 
Feldkirchen  nach  Friesach  und  dann  weiter  zog^).  Wenn  überhaupt  in  jener  Zone 
ein  wichtiger  Ort  genannt  werden  soll,  so  kann  dies  bis  in  das  dreizehnte  Jahr- 
hundert nur  S.  Veit  sein,  das  damals  die  Pfalz  der  Herzöge  Kärntens  war'*)  und 
wo  auch  im  J.  Il49  Konrad  III.  durchgezogen  ist.  Wirkliche  mittelalterliche 
Straßengeschichte,  nicht  weniger  reichhaltig,  wie  sie  sonst  nur  an  den  belebtesten 
Nordsüdlinien  der  Alpen  zu  finden  ist,  tritt  uns  dagegen  plötzlich  in  Friesach 
entgegen.  Wir  kennen  diesen  Punkt,  an  dessen  Alter  (928)  in  jener  Periode 
kaum  ein  anderer  in  den  inneren  Ostalpen  heranreicht,  bereits  als  einen  Besitz 
der  Salzburger  Erzbischöfe,  an  deren  Herrschaft  hier  nun  zunächst  auch  alles  und 
jedes  innen  und  außen  erinnert;  außen  das  erste  Dominikanerkloster  Kärntens 
und  das  Stift  Virgilienberg  (1232)^)  und  nicht  minder  die  Schlösser,  vor  allem 
Petersberg,  das  auch  eine  salzburger  Münzstätte  einschloß,  dann  aber  auch  die 
Gründung  des  Ortes  als  Stadt  selbst  durch  Erzbischof  Konrad  I.  um  1125,  mit 
der  zugleich  die  Entstehung  eines  Hospizes  verbunden  war^).  Wenn  dieses 
Hospiz  dann  aber  um  1215  in  den  Besitz  des  deutschen  Ordens  gelangt  und 
dessen  Kommende  für  ganz  Kärnten  in  Friesach  ihren  Halt  findet,  so  fühlen 
wir  darin  nur  den  Pulsschlag  des  Verkehrslebens,  wie  wir  ja  auch  Konrad  III. 
am  15.  Mai  1149  hier  wiederantrefi^en  können  und  wahrscheinlich  auch  Friedrich  II. 
(1235)  und  Karl  IV.  (1368)  durch  Friesach  gezogen  sind'').  Zu  Anfang  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  hat  übrigens  einmal  hier  eines  der  größten  Turniere,  von 
denen  wir  überhaupt  wissen,  stattgefunden,  während  die  spätere  Bedeutung  der 
Stadt  als  Handelsplatz  heute  noch  ohne  weiteres  an  dem  Aussehen  der  großen 
Wohnhäuser  und  der  alten  Gasthöfe  erkenntlich  ist. 

Indessen  verlohnt  es  sich  doch  auch  hier  in  die  Urkunden  selbst  hinabzu- 
steigen, weil  wir  in  dem  Leben  und  Treiben  dieser  jungen  städtischen  Ansiede- 
lung während  des  zwölften  Jahrhunderts  wie  im  Spiegel  ein  Bild  der  Kultur- 
entwickelung vor  uns  haben,  wie  sie  damals  in  den  Ostalpen  geradezu  vorbildlich 
gewesen  sein  muß.  Es  sind  zunächst  nichts  anderes  als  deutsche  Vornamen  mit 
ihrem  alten  Klange,  die  uns  hier  bei  den  Bürgern  begegnen,  für  deren  weiteres 
Signalement  nun  aber,  weil  sie  schon  nichts  weniger  als  Exemplare  ihrer  Gattung 
geworden  sind,  auf  ganz  drastische  Beinamen  zurückgegriffen  werden  muß.  Auch 
mannigfache   Gewerbe,    u.  a.  der  Bergbau,  sind  vertreten;   die  Hauptrolle  spielt 

')  Kr.  S.  80.  2)  Kr.  S.  103,  114.  -')  Oe.  II.  S.  263.  «)  Kr.  S.  101.  ?)  Kr.  S.  56,  100. 

6)  Oe.  II.  S.  267.        'O  Oe.  II.  S.  275,  277. 


Die  Salzburger  Machtsphäre.  275 

aber  immer  noch  die  verschiedene  Stammesart  dieser  Leute;  aus  Würzburg  und 
Köln,  aus  Sachsen  und  Schwaben,  von  allen  Enden  des  deutschen  Landes  sind 
sie  hierher  gekommen,  ein  Zug,  wie  er  für  diesen  Boden  so  besonders 
charakteristisch  ist '). 

Da  wir  nun  aber  bereits  hier  in  Friesach  so  deutlich  den  Einfluß  Salz-  f^'e  Stadt 
burgs  walten  sehen,  so  muß  uns  dies  um  so  mehr  in  Erinnerung  bringen,  daß  im  ^/vi'it'telalter. 
wir  jetzt  in  jener  Zone  angelangt  sind,  die  im  Mittelalter  vorwiegend  von  dieser 
Voralpenstadt  abhängig  war,  und  die  sich  südlich  bis  nach  Kärnten  und  west- 
lich und  östlich  vom  Zillertal  bis  nach  Admont  hin  ausbreitete.  Wenn  es  nicht 
auch  die  Geschichte  selbst,  einwandfrei  und  zweifellos,  erzählte,  so  würde  doch 
schon  die  Art,  wie  die  Sage,  ganz  so  farbenreich  und  ganz  so  deutsch,  über 
Salzburg  gelagert  ist,  den  Schluß  rechtfertigen,  daß  im  Mittelalter  eine  große 
und  berühmte  Vergangenheit,  ein  bewegtes  und  echt  deutsches  Leben  an  diesem 
Orte  vorübergegangen  ist.  Und  es  ist  auch  nichts  weniger  als  eine  falsche  Vor- 
stellung, wenn  man  annimmt,  daß  einst  auch  das  Städtebiid  Salzburgs  ganz  dem 
jener  alten  deutschen  Städte  wie  Speier  und  Regensburg  geglichen  haben  mag, 
als  sich  die  alten  noch  heute  stehenden  Kirchen  hier  an  derselben  Stelle  aber 
in  reinem  romanischen  Stile  erhoben,  als  aber  auch  zugleich  die  Salzburger 
Bischöfe  oft  genug  fern  von  ihrer  Stadt  weilten,  um  an  der  Ostgrenze  des  Reiches 
oder  im  Gefolge  der  deutschen  Herrscher  selbst  auf  die  große  Politik  ihren 
Einfluß  geltend  zu  machen. 

Ein  ganz  anderes  Gesicht  ist  es  dagegen,  das  Salzburg  heute  zeigt,  ein 
Ausdruck,  der  zwar  auch  das  Eine,  Wesentliche  besonders  treu  festgehalten  hat, 
daß  hier  die  ganze  Vergangenheit,  alle  Macht  und  Herrschaft  allein  der  Kirche 
gehört,  der  aber,  so  geschlossen  und  charakteristisch  er  auch  vor  uns  steht,  doch 
ganz  und  gar  das  Produkt  einer  andersgearteten  und  viel  späteren  Kulturperiode 
ist.  Dies  hat  es  aber  auch  verursacht,  weshalb  Salzburg  von  dem,  was  es  einst 
im  Mittelalter  so  groß  und  mächtig  gemacht  hat,  heute  nur  die  allergeringsten 
Erinnerungen  in  sich  schließt.  Zu  greifen  sind  sie  nur  an  den  Resten  der 
Kleinkunst,  an  Kirchenportalen  und  Wandmalereien,  aber  man  vermag  sie  doch 
nachzufühlen,  jene  Zeit  des  mächtigen  mittelalterlichen  Kirchenfürstentums,  wenn 
man  in  Betracht  zieht,  daß  die  enge  räumliche  Verbindung  zwischen  Kirche  und 
Bischofshof  ein  charakteristisches  Merkmal  der  mittelalterlichen  Bauweise  war, 
und  wenn  daher  heute  noch  die  Räume  der  dortigen  Residenz  unmittelbar  mit 
zwei  großen  Kirchen  in  Verbindung  stehen,  wenn  man  von  jener  mittelst  weniger 
Schritte  den  Chor  der  Franziskanerkirche  betreten  und  nun  in  das  Innere  dieses 
Gebäudes  hinabblicken  kann,  das  gerade  von  dieser  Stelle  aus  seine  gewaltige  An- 
lage und  seinen  mittelalterlichen  Ursprung  am  allerdeutlichsten  zu  erkennen  giebt. 

Der   Höhepunkt   der  Salzburger   Geschichte   ist   das  Jahrhundert  von    1077 
bis  zur  Zerstörung  der  Stadt  unter  Friedrich  Barbarossa  (1167),   und  es  beginnt 
')  Kr.  S.  101. 
18» 


276  VIII.  Kapitel. 

mit  der  Erbauung  der  Feste  Hohensalzburg,  die  deshalb  ein  außergewöhnliches 
Unternehmen  bedeutet  haben  muß,  weil  auch  schon  den  Zeitgenossen  die  Stärke 
dieser  Befestigung  auffiel ').  So  wie  dieser  Bau  heute  vor  uns  steht,  gehört  er 
freilich  ebensowenig  wie  alle  anderen  geschichtlichen  Baudenkmäler  Salzburgs 
dem  Mittelalter  an;  seinen  ursprünglichen  Charakter  hat  er  jedoch  insofern  nicht 
eingebüßt,  da  er  stets  vor  allem  als  Festung  und  erst  in  zweiter  Linie  als  Wohn- 
sitz der  Bischöfe  diente,  und  daher  auch  ihm,  wie  allem  anderen,  was  in  Salz- 
burg Geschichte  atmet,  von  Anfang  an  der  Saum  des  Frauengewandes  gefehlt 
hat.  Die  älteste  mittelalterliche  Gründung  ist  dagegen  auch  hier,  wie  schon  der 
Name  anzeigt,  das  Stift  S.  Peter,  das  bis  zum  J.  1110  zugleich  die  Wohnung 
der  Bischöfe  einschloß,  die  übrigens  wie  ihre  Nachbarn  in  Brixen  auch  seit  976 
in  Regensburg  einen  Hof  als  ihr  Absteigequartier  besaßen.  Der  Aufschvv'ung 
Salzburgs  während  des  zwölften  Jahrhunderts  zeigt  sich  dann  besonders  in  der 
Wiederaufnahme  des  Salzbergbaues  in  Hallein,  der  von  nun  an  eine  unversieg- 
bare Einnahmequelle  der  Bischöfe  bildete,  und  in  der  Entstehung  von  zwei 
Hospizen  in  der  Stadt  selbst  (1126,  1143)2),  g^gr  wie  bei  Regensburg,  so  wiesen 
auch  hier  die  Verkehrsbeziehungen  während  der  Hauptzeit  des  Mittelalters 
ebensosehr  nach  dem  Osten  wie  südlich  nach  den  Alpen  hin.  Von  den  deut- 
schen Herrschern  hat  einmal  im  J.  1149  Konrad  III.,  als  er  von  einem  Kreuz- 
zuge zurückkehrte,  in  Salzburg  Pfingsten  gefeiert,  während  sein  nächstes  Ziel 
damals  auch  nur  Regensburg  sein  konnte-'). 
Die  Straße  Wenn  wir    uns    nun   nach    den  Verbindungen   umsehen,    die   von   Salzburg 

Über  den 

Radstädter  "äch  Süden  Über  die  Alpen  hinüber  nach  Italien  führen,  so  kann  man  sofort 
Tauern.  bemerken,  wie  hier  nach  dieser  Richtung  hin  ebenso  der  zerteilte  und  unüber- 
sichtliche Bau  der  Ostalpen  wie  die  verhältnismäßig  große  Höhe  der  Tauern 
durchaus  ihren  Einfluß  gellend  machen;  denn  so  viele  Paßwege  auch  diese 
lange  Kette  überschreiten,  so  ist  doch  nur  ein  einziger  derselben,  der  über  den 
Radstädter  Tauern,  so  beschaffen,  daß  er  in  früheren  Zeiten  annähernd  die  Be- 
stimmung einer  Teilstrecke  einer  durch  die  Alpen  von  Nord  nach  Süd  laufenden 
Straßenrichtung  erfüllen  konnte.  Es  ist  dies  dieselbe  Linie,  die  wir  bei  Friesach 
verlassen  haben,  die  während  des  Mittelalters  tatsächlich  für  die  Reisen  von 
Salzburg  nach  Aquileja  oder  Venedig  zumeist  benutzt  worden  ist,  und  auf  deren 
nördlicher  Hälfte  man  nun  damals  auch  an  allen  wichtigen  Punkten  die  Herr- 
schaft der  Salzburger  Erzbischöfe  zu  fühlen  bekommen  konnte.  Im  zwölften 
Jahrhundert  sagten  die  Leute  der  Salzburger  Bischöfe  von  der  Burg  Werfen  im 
Salzachtal  mit  Stolz,  „daß  den  Reisenden  durch  ihren  Anblick  ein  unerbittliches 
Halt  zugerufen  wurde";  es  ist  aber  nicht  weniger  bezeichnend,  daß  sie  dabei 
nur  solche  Reisende  im  Auge  haben,  „die  nach  Kärnten  oder  ins  Pongau  oder 
ins  Pinzgau  ziehen  wollen"^). 

Zielgerecht    und  wie  geschaffen    als  enge  Straßenrinne   durchschneidet  das 

1)  La.  S.  304.         2)  Oe.  II.  S.  273.  3)  Oe.  II  S.  275.         4)  Oe.  II.  S.  272. 


Die  Salzburger  Machtsphäre.  277 

Salzachtal  zunächst  den  nördlichsten  Gebirgswall,  ein  Straßenteil,  der  daher  bis 
Bischofshofen  so  eng  wie  nur  möglich  mit  Salzburg  verwachsen  ist,  und  dessen 
Punkte  somit  auch  zum  Teil  ebensofrüh  wie  dieses  selbst  an  das  Tageslicht 
treten.  Eine  sehr  alte,  aber  etwas  anrüchige  Vergangenheit  hat  Golling  aufzu- 
weisen, da  es  früher  (1384)  Galigen  hieß  und  von  nichts  anderem  als  von  Galgen ') 
herkommt.  Die  Spuren  einer  weltlichen  Herrschaft  führen  hier  übrigens  zunächst 
nach  Kuchl  (710  Cucullae)  als  den  Sitz  der  karolingischen  Gaugrafen  hin;  es  ist 
aber  auch  hier  derselbe  Vorgang  wie  in  Bünden  und  Innertirol;  in  der  nächsten 
Nachbarschaft  der  bodenständigen  Bischöfe  verflüchtigt  sich  und  verschwindet 
sehr  bald  diese  heimatlose  Instanz-).  Der  Sitz  der  bischöflichen  Macht  an  dieser 
Strecke  wird  dagegen  vor  allem  Werfen,  die  im  J.  1077  enstandene  Straßenburg, 
deren  Erbauer,  Erzbischof  Gebhard,  auch  dort  im  J.  1088  gestorben  ist,  und  an 
deren  Fuße  bald  auch  ein  Burgflecken  gleichen  Namens  entstand.  In  die  Tätig- 
keit der  damaligen  Bischöfe  kann  man  aber  gut  hineinblicken,  wenn  dieser  Ort 
nun  sogleich  auch  mit  Zoll-  und  Marktrecht  ausgestattet  und  mit  Herbergen  und 
Handelshäusern  versehen  wird^). 

Es  kann  jedoch  kaum  für  die  Bedeutung  der  Radsiädter  Tauernstraße  sprechen, 
wenn  im  zwölften  Jahrhundert  hier  auf  der  Paßhöhe  nur  eine  Kapelle"*),  und  erst 
viel  später  (1562)  ein  wirkliches  Hospiz  zu  finden  ist,  so  oft  auch  die  Salzburger 
Bischöfe  sonst  auf  ihren  Reisen  nach  und  von  Kärnten  diese  Straße  betreten 
haben  müssen;  zwei  derselben,  Konrad  I.  (1147)  und  Eberhard  II.  (1246)  sind 
übrigens  auf  diesem  Wege  selbst  gestorben '^).  Radstadt  (Radistadt)  ist  dann  im 
j.  1296  einmal  von  Herzog  Albrecht  von  Österreich,  wenn  auch  erfolglos,  belagert 
worden '5);  man  sieht  also,  wie  jetzt  auch  die  Punkte  an  jenem  Straßenteil  für 
einen  wertvollen  Besitz  zu  gelten  anfangen. 

Nicht  so  früh  und  nicht  so  mühelos  ist  dagegen  die  Herrschaft  Salzburgs  Das  Pinrgau 
in  die  weiten  Gebiete  des  Pinzgaues  vorgedrungen.  Es  ist  richtig,  daß  wir  in  zniertat. 
den  letzten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  den  ganzen  Pinzgau  fest  und  sogar 
das  Zillertal  einigermaßen  an  Salzburg  angegliedert  sehen;  aber  vorher  hat  doch 
gerade  in  diesen,  damals  dem  großen  Verkehr  ganz  abgewendeten  Tälern  auch 
die  Hand  Bayerns  über  die  vielen  kleinen  Dynasten  hinweg  noch  am  längsten 
bis  tief  in  die  Berge  hineingereicht.  Der  Weg  durch  das  Pinzgau  und  über 
die  Gerlos  hinüber  ist  jedenfalls  im  Mittelalter  von  denjenigen  nicht  selten  be- 
nutzt worden,  die  von  Salzburg  nach  der  Brennergegend  oder  nach  Verona 
reisen  wollten.  Auf  diesem  Wege  zog  im  J.  1162  der  Erzbischof  von  Salzburg 
nach  Verona  zum  Kaiser");  auch  Karl  IV.  selbst  hat  die  Gerlos  überschritten, 
und  das  im  J.  1189  in  Zell  a.  Z.  entstandene  und  von  Salzburg  aus  gegründete 
Hospiz  zeigt  besonders  deutlich  jenes  Verkehrsbedürfnis  an.  Es  muß  aber 
trotzdem  auffallen,  daß  das  Zillertal  (Ciristal)  auch  heute  noch  im  Vergleich  zu 

')  Sa.  L.  XXI.  S.  2.  2)  Sa.  L.  XXI.  S.  10.  S)  Sa.  L.  XXI.  S.  34.  ")  Qe.  II.  S.  272.  ?)  Oe.  II. 
S.  274.        6)  vict.  S.  114.         ")0e.  II.  S.  273. 


278  Vm.  Kapitel. 

seiner  ganzen  Nachbarschaft  einen  ganz  anderen  Charakter  aufweist,  hier,  wo 
alle  Burgruinen  fehlen,  und  wo  die  Ortsnamen  fast  sämtlich  nur  einen  rein- 
deutschen  aber  wenig  inhaltreichen  Klang  haben,  und  es  ist  auch  Tatsache,  daß 
vor  allem  die  Ausläufer  des  ZiUertales  noch  bis  tief  in  die  neue  Zeit  hinein  ein 
ganz  und  gar  abgelegenes  Stück  Welt  gewesen  sind. 
Die  Hohen  Von  den  zahlreichen  Übergängen  aber,   die   westlich  der  Radstädter  Straße 

■  die  Tauernkette  überschreiten,  hebt  sich  im  Mittelalter  zunächst  derjenige  über 
den  Velber  Tauern  neben  seinen  beiderseitigen  Nachbarn,  dem  Krimmler  und 
Kaiser  Tauern,  wie  demjenigen  von  Heiligenblut  durchaus  als  der  bei  weitem 
wichtigste  heraus,  wie  dies  in  den  Burgen  und  alten  Kirchen  an  der  nördlichen 
und  südlichen  Schwelle  jenes  Weges,  in  Mittersill  und  Windischmatrei,  und 
nicht  zuletzt  auch  dadurch  vor  Augen  tritt,  daß  Salzburg  schließlich  eben  allein 
diesen  Übergang  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  bis  nach  Windischmatrei  hinüber 
an  sich  gebracht  hat,  während  sich  vorher  auch  hier  eine  Ausstrahlung  bayri- 
schen Einflusses  in  der  Linie  Kitzbühel,  Mittersill,  Windischmatrei  bis  nach 
Lienz  herab  beobachten  läßt.  Wenn  dann  weiter,  wie  schon  im  Altertum,  auch 
die  beiden  aus  dem  Mallnitzer  Tal  in  die  Rauris  bezl.  nach  Gastein  führenden 
Tauernübergänge  die  Spuren  mittelalterlichen  Verkehrs  zeigen,  so  hatte  dies  je- 
doch auch  damals  seinen  Grund  nicht  in  der  Ferne,  sondern  an  Ort  und  Stelle, 
in  dem  Bergbau.  Aus  der  Gründungszahl  1489  des  Hospitzes  in  Gastein  läßt 
es  sich  erkennen,  daß  dieser  hier  erst  am  Ende  des  Mittalters  wieder  in  Auf- 
nahme gekommen  ist,  derart,  daß  er  wie  aller  rasch  erworbener  Reichtum  die 
Lebensbedingungen  dieser  Gegend  plötzlich  von  Grund  aus  umgestaltete,  um 
dann  aber  auch  nach  seinem  Versiegen  nur  desto  vergrämtere  Züge  in  der 
Gegend  zurückzulassen.  Eine  andere,  noch  vollständig  zu  den  Tauern  gehörige 
Teilstrecke  ist  ferner  der  aus  dem  Murtal  über  Rennweg  und  Gmünd  nach 
Spittal  im  Drautal  führende  Übergang.  Die  Begangenheit  dieses  Weges  im 
späteren  Mittelalter  wird  durch  jenes  im  J.  1191  von  den  Grafen  von  Ortenburg 
im  Einverständnis  mit  Salzburg  gegründete  Hospiz  bezeugt').  Auch  das  am 
Zusammenfluß  der  Liser  und  Malta  gelegene  Gmünd  selbst  erscheint  als  ein 
alter  Ort^);  nicht  weniger  wichtig  ist  es  aber,  daß  das  dortige  Schloß  den  Erz- 
bischöfen von  Salzburg  gehörte,  und  da  ebenso  weiter  nordöstlich,  im  Schlosse 
Moosham  bei  Tamsweg,  auch  an  dieser  südlichen  Schwelle  der  Radstädter 
Tauernstraße  die  Pfleger  Salzburgs  ihren  ständigen  Sitz  hatten,  so  sehen  wir 
hier  während  der  letzten  Jahrhunderte  des  Mittelalters  in  einem  Teile  der  Alpen 
wieder  dieselbe  Erscheinung  vor  uns,  wie  eine  selbstbewußte  Herrschaft  es 
verschmäht,  die  hohen  Gebirgskämme  als  ihre  Grenzen  hinzunehmen,  sondern 
ihre  Überlegenheit  dadurch  zum  Ausdruck  bringt,  daß  sie  jene  an  den  wich- 
tigsten Punkten,  an  den  Straßenübergängen,  weit  in  das  jenseitige  Gebiet  hinein- 
treibt. 

1)  Oe.  11.  S.  271.        2)  Kr.  S.  103. 


IX.  Kapitel. 
Das  Ennstal  und  das  Murtal  bis  zum  Semmering. 


Wenn  wir  nun  die  späteren  Schicksale  der  großen  römischen  Straße  in  das  Die  Wege 

Auge   fassen,   die  ihren  Weg  aus  Venetien  durch  Norikum  nach  Lauriacum  und  '^}'."  •*'* 
°  '  "  Niederen 

der  Donau  suchte,  so  können  wir  an  ihnen  besonders  gut  die  Art  erkennen,  wie  Tauern. 
sich  das  Verkehrsleben  in  den  Ostalpen  während  langer  Jahrhunderte  des  Mittel- 
alters geltend  zu  machen  pflegte;  denn  einen  eigentlichen  Straßenzug  haben  wir 
jetzt  hier  überhaupt  nicht  mehr  vor  uns,  sondern  nur  eine  Verkehrsrichtung,  in 
deren  einzelne  Glieder  auf  ganz  verschiedene  Weise  und  zu  ganz  verschiedenen 
Zeiten  neues  Leben  hineinfließt,  und  die  daher  auch  nur  in  einem  bestimmten 
Maße  zu  einander  in  Beziehung  stehen.  Es  ist  zunächst  derselbe  Übergang,  der 
über  den  Neumarkter  Sattel,  den  auch  diejenigen  benutzen  mußten,  die  im 
Mittelalter  nicht  nordwestlich  nach  Salzburg,  sondern  auch  in  direkt  nördlicher 
Richtung  nach  Wels  und  Enns  gelangen  wollten,  ein  Übergang,  dessen  damalige 
Wichtigkeit  auch  in  den  dortigen  Burgruinen  ganz  deutlich  vor  Augen  tritt. 
Heute  verdankt  das  ganze  Straßennetz  nördlich  und  östlich  dieses  Überganges 
allein  dem  beherrschenden  Willen  Wiens  seinen  Ursprung,  derart,  daß  die  für 
jene  Zentrale  unwichtig  gewordenen  Linien  jetzt  fast  völlig  verödet  liegen.  Aber 
nicht  einmal  die  Straße  über  den  Kottenmann,  die  vorher  für  die  Verbindung 
von  Süd  nach  Nord  lange  Jahrhunderte  in  Gebrauch  war,  zeigt  hier  die  früheste 
und  wichtigste  mittelalterliche  Straßenrichiung  an;  denn  diese  ging  nicht  dort 
herüber,  sondern  sie  verließ  das  Murtal  sogleich  wieder,  um  in  direkt  nördlicher 
Richtung  auf  Oberwölz  und  S.  Peter  zu  laufen  und  dann  über  die  Sölker  Scharte 
in  das  Ennstal  hinabzusteigen '). 

So  liegt  denn  auch  hier,  in  diesem  jetzt  so  stillen  Tale,  ein  bezeichnendes 
Stück  alter  Geschichte  vor  uns,  und  wir  können  in  dessen  Vergangenheit  heute 
auch  einigermaßen  jene  zugkräftigen  Erscheinungen  wiederfinden,  denen  wir  sonst 
an  den  großen  mittelalterlichen  Alpenstraßen  begegnet  sind.  Da  eben  Oberwölz 
')  Oe.  II.  S.  267. 


280  IX.  Kapitel. 

(Weliza)  selbst  nur  an  diesem  Wege  und  ein  ganzes  Stück  abseits  des  Murtals 
gelegen  ist,  so  muß  es  als  eine  ebenso  auffallende  wie  wichtige  Tatsache  gelten, 
daß  wir  bereits  im  J.  1007  das  Bistum  Freising  in  dem  Besitz  dieses  Punktes 
und  in  dem  des  ganzen  Tales  antreffen,  das  hier  zur  Sölker  Scharte  hinaufführt. 
Diejenige  Macht,  die  zuerst  die  friedliche  Durchdringung  der  Ostalpen  in  die 
Hand  genommen  hat,  ist  Freising  gewesen.  Wenn  nun  aber  hier  in  der  Nachbar- 
schaft, und  u.  a.  auch  am  Rottenmann,  sich  fast  zu  derselben  Zeit  das  neu- 
gegründete Bistum  Bamberg  festsetzt '),  so  kann  man  hieran  ebensosehr  den  Eifer 
erkennen,  der  jener  ganzen  Bewegung  innewohnte,  zugleich  aber  auch  selbst  in 
diesen  abseits  liegenden  Gebieten  fast  ein  ähnliches  freundnachbarliches  Ver- 
hältnis voraussetzen,  wie  es  folgenreicher  und  einschneidender  in  jener  Periode 
auch  an  den  bündner  Straßen  zwischen  Pfäfers  und  Chur  zu  beobachten  war. 
Daß  dieser  ganze  Straßenteil  aber  einst  tatsächlich  eine  besondere  Bedeutung 
gehabt  haben  muß,  das  verkünden  auch  heute  noch  das  durchaus  stadtartige 
Aussehen  von  Oberwölz  mit  seinen  Mauern  und  seiner  mittelalterlichen  Spital- 
kirche, sowie  die  Burgen  in  der  Umgebung  des  Ortes,  die  uns  dann  auch  in 
besonders  großer  Anzahl  wieder  an  der  nördlichen  Ausmündung  dieser  Linie, 
bei  Gröbming  im  Ennstal,  entgegentreten,  und  ebenso  suchen  wir  auch  hier  wie 
dort  nicht  vergebens  nach  jenen  Ortsnamen,  wie  sie  überall  in  den  Alpen  von 
einer  bis  tief  in  das  Mittelalter  hinaufreichenden  Vergangenheit  Zeugnis  geben 
(südlich  Althofen,  S.  Peter;  nördlich  Stein  a.  d.  E.,  S.  Martin  u.  a.  m.). 

Es  ist  zu  bemerken,  daß  auch  jener  Handelsvertrag  zwischen  Görz  und 
Aquileja  vom  J.  1234,  den  wir  schon  kennen  und  der  sich  in  erster  Linie  mit 
den  Straßen  über  die  Karnischen  Alpen  beschäftigt 2),  neben  anderem  von  einem 
ganz  bestimmten  Strom  des  Handelsverkehrs  redet,  der  sich  damals  in  alt- 
gewohnter und  sicher  vorgezeichneter  Bahn  nicht  etwa  von  Osten  aus  dem 
Murtal  sondern  allein  von  Norden  her  über  Niederwölz  bewegt  haben  muß. 
Da  aber  hier  nicht  Oberwölz,  sondern  nur  das  südlicher,  an  der  Mur  selbst 
gelegene  Niederwölz  namhaft  gemacht  wird,  so  kann  man  freilich  für  jenen 
Handelszug  neben  dem  Weg  über  die  Sölker  Scharte  ebensogut  auch  den  über 
den  Rottenmann  in  Anspruch  nehmen;  die  Tatsache  bleibt  aber  doch  bestehen, 
daß  damals  östlich  der  Straße  über  den  Radstädter  Tauern  hier  jedenfalls  auch 
über  die  Niederen  Tauern  ein  belebter  und  ausgetretener  Weg  geführt  haben  muß. 

Allzugroß  kann  aber  trotzdem  die  Bedeutung  der  Straße  über  den  Rotten- 
mann im  eigentlichen  Mittelalter  nicht  gewesen  sein;  dies  geht  aus  dem  ganzen 
Aussehen  dieser  Strecke,  wo  die  Burgen  und  auch  die  alten  Hospizanlagen 
fehlen,  und  besonders  daraus  hervor,  weil  damals  der  südliche  Fußpunkt  dieser 
Straße,  Oberzeyring  (Wenge),  neben  Oberwölz  ganz  in  den  Hintergrund  tritt^). 
Wichtig  sind  an  dem  Wege  über  den  Rottenmann  nur  die  vielen  nach  Heiligen 
benannten  Ortsnamen,  und   sie   zeigen   es   daher  auch  hier  wieder  an,  wie   die 

')  Kr.  S.  84.         2)  W.  P.  S.  31.         i)  Kr.  S.  96.  A.  227. 


Das  Ennstal  und  das  Munal  bis  zum  Semmering.  281 

Erschließung  des  Innern  der  Ostalpen  fast  ausschließlich  der  Tätigkeit  der  mittel- 
alterlichen Kirche  zu  verdanken  ist.  Es  ist  aber  noch  durchaus  keine  Straßen- 
politik, sondern  zunächst  nur  die  reinste  Kolonisationsarbeit,  die  sich  gerade 
dort  geltend  machen  konnte,  wo  die  Enns  mit  allen  ihren  Nebenflüssen  das  Das  Ennstal. 
Gebirge  durchfließt,  und  der  heutige  Name  Windischgarsten  wie  die  Tatsache, 
daß  der  slavische  Name  Cirmina  erst  seit  der  Wende  des  zwölften  Jahrhunderts 
dem  deutschen  Rotienmann  Platz  macht,  lassen  es  erkennen,  daß  der  Boden  für 
jede  bleibende  Erwerbung  hier  vorher  erst  der  Slavenwelt  abgewonnen  werden 
mußte.  Hieraus  erklärt  sich  nun  aber  auch  der  verhältnismäßig  späte  Beginn 
dieser  Entwickelung;  denn  wenn  nördlich  in  der  Ebene  Kremsmünster  seine 
Tätigkeit  schon  dreihundert  Jahre  früher  begonnen  hatte,  so  fällt  die  Gründung 
von  Admont  doch  erst  in  das  Ende  des  elften  Jahrhunderts;  zu  gleicher  Zeit 
erscheint  auch  der  Ort  Lietzen  in  der  Nachbarschaft')  und  ebenso,  1082,  das 
Stift  zu  Windischgarsten.  1138  entsteht  S.  Gallen,  und  erst  nach  geraumer  Zeit 
stellt  sich  auch  hier  ganz  folgerichtig  der  Verkehr  selbst  ein,  dessen  Vorhanden- 
sein nun  im  J.  1190  die  Gründung  eines  Hospizes  am  Fuße  des  Pyhrn  zur  Folge 
hat.  Man  sieht  aber  doch,  wie  jung  und  hilfsbedürftig  selbst  damals  noch  hier 
die  Kultur  gewesen  sein  muß,  wenn  das  Wesen  dieses  Spitals  dadurch  charak- 
terisiert wird,  daß  es  an  den  äußersten  Grenzen  Norikums  liegt,  und  daß  der 
Erzbischof  von  Salzburg  und  der  Bischof  von  Bamberg  sich  die  Bruderhand 
reichen  müssen,  um  dieses  Werk  überhaupt  zu  stände  zu  bringen^). 

Der  Verkehr  aber,  der  jetzt  auch  den  nördlichsten  Abschnitt  jener  alten 
Nordsüdlinie  wieder  zu  beleben  sich  willig  zeigt,  konnte  auch  damals  als  sein 
letztes  Ziel  nur  die  Donauebene  betrachten.  Dort  ist  Enns  als  der  Erbe  des 
alten  Lauriacum  auch  während  des  eigentlichen  Mittelalters  kein  unbedeutender 
Ort  gewesen,  aber  doch  vor  allem  deshalb,  weil  an  ihm  der  Donauhandel  vor- 
überzog, während  Steyer  als  eine  Pfalzburg  stets  nur  der  Mittelpunkt  eines 
mittelalterlichen  Herrschaftsgebietes  blieb.  Es  sind  schon  einige  Ansätze  einer 
größeren  Zukunft,  die  im  zwölften  Jahrhundert  schließlich  auch  hier,  auf  dem 
Boden  des  heutigen  Oberoesterreich,  in  die  Erscheinung  treten,  eine  Entwickelung, 
die  jedoch  durch  den  im  J.  1192  erfolgten  Anfall  dieses  Landes  an  die  oester- 
reichischen  Babenberger  auf  einmal  durchschnitten  wurde.  Für  die  Herren 
Wiens  war  es  aber  dann  eine  nicht  schwer  zu  erkennende  und  nicht  schwer  zu 
lösende  Aufgabe,  wenn  sie  die  zwischen  Enns  und  den  Neumarkter  Sattel  lau- 
fenden Fäden  von  dort  hinwegzulenken  und  mit  ihrer  eigenen  Hauptstadt  zu 
verknüpfen  suchten. 

Nicht  so   sehr  als   Straßenzug,   aber  als  abwechselungsreiches  Kulturgebiet  Das  Murtal. 
behauptet   in   der  Geschichte   das  Tal   der  Mur  seine  Rolle.     Dieses  beginnt  im 
Westen  im  engen  Murwinkel,  in  den  noch  die  weißen  Gipfel  der  Hohen  Tauern 
hinabschauen,  um   von   dort  in  unendlich   langer,  wenn   auch   einigermaßen  ge- 

')  Kr.  S.  75,  96.         2)  Oe.  II.  S.  268. 


282  IX.  Kapitel. 

wundener  Linie  bis  Brück,  oder,  wenn  man  Wasser  Wasser  sein  läßt,  in  der 
Fortsetzung  des  Mürztales  bis  zum  westlichen  Abhang  des  Semmering  die  Mitte 
der  Ostalpen  zu  durchziehen.  Nicht  zu  verkennen  ist  die  Ähnlichkeit  mit  dem 
Engadin,  wenn  auch  dort  alles  pointierter  und  zusammengedrängter,  hier  dagegen 
alles  verflüchtigter  und  verbreiterter  sich  darstellt.  Aber  es  ist  doch  dasselbe  lange 
Längstal,  das  ebenso  durch  die  Spaltung  des  Gebirges  in  zwei  verschiedene,  ein- 
ander gleichlaufende  Ketten,  hier  der  Niederen  Tauern  und  der  Kärntner  Alpen, 
entsteht,  und  das  wie  jenes  als  Straßenlinie  selbst  zwar  unwichtig  ist,  aber  doch 
von  um  so  mehr  Verkehrswegen  in  der  nordsüdlichen  Richtung  durchkreuzt  wird. 
Darin  aber  unterscheidet  sich  das  Murtal  von  dem  Engadin,  daß  die  mittelalter- 
liche Geschichte  hi,er  viel  bunter  als  dort  ist,  und  daß  es  damals,  ganz  im 
Gegensatz  zu  dem  es  umgebenden  Gebirgsland,  alles  andere  als  ein  einsames 
Stück  Welt,  sondern  ein  Strich  war,  in  dessen  leidlich  wohnlicher  Sohle  sich 
das  Leben  von  je  her  viel  inhaltreicher  entwickeln  konnte.  Es  ist,  als  ob  die 
Sonne  durchbrechen  wollte,  wenn  wir  sehen,  wie  dort  in  der  Frauenburg  bei 
Unzmarkt  Ulrich  von  Lichtenstein  sein  Wesen  treibt  und  von  hier  seine  Fahrten 
unternimmt,  die  aber  doch  ohne  einen  ganzen  Teil  Frohsinn  und  Leichtsinn  nicht 
möglich  gewesen  wären,  und  es  ist  ebenso  ein  mehr  prosaisches  aber  bezeich- 
nendes Zeugnis  der  gleichzeitigen  mittelalterlichen  Lebensbedingungen  daselbst, 
wenn  der  Name  dieses  Unzmarkt  als  Huntismarckt  d.  h.  als  ein  Platz  gedeutet 
werden  muß,  wo  Hunde  gezüchtet  oder  verkauft  wurden');  es  zeigt,  wie  sich 
damals  hier  weit  und  breit  nichts  anderes  als  ein  großes  Waldgebirge  ausbreitete, 
und  wie  die  Welt  daher  dort  wirklich  noch  zum  guten  Teil  nur  durch  die  Weis- 
heit dieses  Tieres  bestehen  konnte.  Auch  Knittelfeld  bedeutet  nur  einen  Flecken, 
der  dem  Walde  abgewonnen  worden  ist. 

Auch  hier  giebt,  ähnlich  wie  nördlich  im  Ennstal,  ungefähr  das  zwölfte 
Jahrhundert  den  Zeitpunkt  an,  in  dem  alle  die  Orte  in  der  Talsohle  in  den 
Urkunden  auftreten,  und  in  dem  wir  daher  diese  ganze  Gegend  überall  plötzlich 
von  deutschem  Leben  überzogen  sehen.  Es  kann  dieses  aber  doch  gerade  hier 
weniger  eine  völlige  Neukolonisierung  sondern  nur  die  Tatsache  zum  Ausdruck 
bringen,  daß  damals  nun  auch  das  lange  Tal  der  Mur  völlig  von  den  deutschen, 
von  Westen  her  gekommenen  Mächten  in  Besitz  genommen  wurde.  Wenn 
irgendwo  in  den  inneren  Ostalpen  so  ist  es  an  jener  geschützten  Talstrecke 
zwischen  Judenburg  und  Leoben  wahrscheinlich,  daß  sich  hier  nicht  allein  die 
antike  Bevölkerung,  wenn  auch  in  schwachen  Resten,  länger  als  anderswo  er- 
hielt, sondern  daß  dann  besonders  auch  das  slavische  Wesen  schon  vor  dem 
Platzgreifen  der  deutschen  Herrschaft  einigermaßen  festere  Kulturformen  ange- 
nommen hatte.  So  haben  wenigstens  Judenburg  und  Leoben  eine  Art  Vergan- 
genheit aufzuweisen,  die  über  die  deutsche  Besiedelung  hinaufreicht,  und  die  so 
etwas  von  einem  mittelalterlichen  Stapelplatz  an  sich  hat.    Judenburg  wird  bereits 

')  Kr.  S.  95,  156. 


Das  Ennstal  und  das  Murtal  bis  zum  Semmering.  283 

1074  genannt  und  die  dortige  Judengemeinde  ist  wirklich  beinahe  so  alt  wie 
dieser  Ort  selbst,  während  in  Leoben,  obwohl  dieses  später  auftritt'),  sich  sogar 
der  slavische  Name  erhalten  konnte,  und  überhaupt  die  Bauanlage  und  besonders 
der  große  rechteckige  Marktplatz  daselbst  ganz  und  gar  typisch  für  jene  ost- 
deutschen städtischen  Neugründungen  sind,  wie  sie  einst  dort  überall  aus  den 
früheren  slavischen  Niederlassungen  emporwuchsen. 

Dort  aber,  wo  die  Mur  bei  Brück  umbiegt  und  nun  in  südlicher  Richtung 
das  Alpenvorland  der  Steiermark  durchHielJt,  stehen  die  treibenden  Kräfte  der 
damaligen  Zeit  noch  einmal  in  aller  Einfachheit  und  Deutlichkeit  vor  uns. 
Wenn  hier  einst  im  Altertum  allein  von  Süden  her  das  Römertum  einzog,  so 
kommen  die  Mächte,  die  jetzt  von  diesem  Lande  Besitz  ergreifen,  aus  der  genau 
entgegengesetzten  Richtung,  aus  dem  Norden.  In  diesen  übersichtlichen  Ver- 
hältnissen ist  es  bis  zu  den  Zeiten  Heinrichs  III.  (1054)  die  Hengistiburg,  an 
der  Stelle  des  heutigen  Marktes  Wildon  südlich  Graz,  gewesen,  von  der  aus 
hier  die  Herrschaft  und  der  Grenzschutz  ausgeübt  wurde-),  ein  Platz,  dem 
ganz  jener  große  aber  dunkle  Nachklang  anhaftet  wie  allen  jenen  Schauplätzen, 
an  denen  die  Entscheidungen  im  Verlauf  der  Rückeroberung  des  deutschen 
Ostens  gefallen  sind.  Aber  wenn  hier  einst  auch  die  deutschen  Herrscher  in 
Person  eingegriffen  haben,  so  sind  dann  nach  ihnen  die  Salzburger  Erzbischöfe 
und  die  Grafen  von  Steyer  auf  demselben  Plan  erschienen,  eine  Entwickelung, 
wie  sie  überall  auf  dem  Boden  des  alten  Reiches  durch  den  Wechsel  in  der 
Art  der  herrschenden  Gewalten  bedingt  war.  Den  letzteren,  den  Grafen  von 
Steyer,  verdankt  in  der  ersten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts  Graz  seine  Ent- 
stehung, wie  Steyer  eine  rechte  „Burgstadt",  wo  der  Sitz  der  Fürsten  das  Bürger- 
tum an  sich  zog  und  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  förderte^),  um  dadurch 
zugleich  eine  intensive  und  nachhaltig  wirkende  Angliederung  dieses  Gebietes 
an  das  Deutschtum  in  die  Wege  zu  leiten. 

Diese  mächtige  und  selbständige,  allein  von  dem  Westen  ausgehende  und  P^""  ^^8 
fest  an  den  Westen  kettende  Kulturströmung  ist  nun  aber  auch  der  Grund,  daß  Semmering. 
im  Mittelalter  die  Erschließung  des  Semmerings,  trotz  der  Existenz  Wiens,  nur 
von  jener  Himmelsrichtung  her  erfolgen  konnte,  Überhaupt  ist  der  Semmering, 
wie  kein  anderer  sonst,  ein  Alpenweg,  dessen  Bedeutung  sich  im  Verlauf  der 
Geschichte  in  einer  stetig  aufsteigenden  Richtung  bewegt  hat;  denn  dieselbe  Straße, 
die  während  der  Römerzeit  eine  unwichtige  Verbindung  blieb  und  bleiben  mußte, 
wird  dann,  in  den  letzten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  wenigstens,  bereits  zu 
einer  der  belebtesten  und  betretensten  Linien  der  ganzen  Ostalpen,  um  schließ- 
lich, gleich  wie  Wien  selbst,  ein  Träger  des  Weltverkehrs  zu  werden.  Die 
früheste  mittelalterliche  Gründung  aber  kann  auch  hier,  wie  es  in  den  Alpen 
fast  überall  der  Fall  ist,  nur  eine  kirchliche  sein,  die  wir  in  Gestalt  der  Abtei 
Gloggnitz  in  der  Nähe  des  Übergangs  selbst  entdecken,  und  die,  der  entfernten 
')  Kr.  S.95.         ^  Kr.  S.  od.        J)  Kr.  S.  96. 


284  IX.  Kapitel. 

Lage  jenes  Gebietes  entsprechend,  erst  am  Ende  des  elften  Jahrhunderts  (1094) 
hier  nachweisbar  ist.  Aber  auch  hier  mag  zunächst,  ähnlich  wie  bei  Admont, 
die  reine  Kulturtätigkeit  in  erster  Linie  gestanden  haben,  inmitten  jenes  großen 
Waldkomplexes,  der  damals  um  den  heutigen  Übergang  ringsherum  und  in  be- 
sonders weiter  Ausdehnung  die  nordwestlich  desselben  gelegenen  Berge  und 
Täler  überzog.  Es  ist  dies  der  Zerwald,  eine  Bezeichnung,  die  vor  allem  nach 
der  steiermärkischen  Seite  hin  üblich  war,  und  die  als  deutscher  Name  wohl 
nichts  anderes  als  Zirbelwald  bedeutet,  während,  eine  immerhin  merkwürdige 
Erscheinung,  der  slavische  Name  Semmering  erst  seit  dem  dreizehnten  Jahr- 
hundert allgemein  Geltung  gewonnen  hat').  Nicht  unwahrscheinlich  ist  es 
übrigens,  daß  auch  scjion  einmal  in  jenen  frühesten  Zeiten  ein  deutscher  Herrscher, 
und  nicht  ohne  Grund,  diesen  damals  ungewöhnlichen  Weg  betreten  hat;  denn 
als  es  Heinrich  IV.  nach  langem,  erzwungenen  Aufenthalt  in  Italien  im  J.  1097 
endlich  wieder  möglich  wurde,  nach  Deutschland  zurückzukehren,  zog  er  über 
die  Ostalpen,  wo  er  dann  auf  deutschem  Boden  zuerst  wieder  in  Nußdorf  bei 
Wien  anzutreffen  ist  2). 

Wirklich  inhaltreich  stellt  sich  nun  aber  gerade  an  jener  Linie  die  Art 
heraus,  wie  hier  die  Entstehung  eines  Hospizes  vor  sich  geht;  denn  die  Tatsache, 
daß  dieses,  das  heutige  Spital,  im  J.  1160  von  dem  Markgrafen  von  Steyer  am 
Südabhang  des  Überganges  gegründet  wird,  beweist  nicht  nur,  daß  damals  der 
von  Westen  kommende  Verkehr  hier  durchaus  der  ausschlaggebende  war,  sondern 
sie  zeigt  auch,  wie  in  jenem  nordöstlichsten  Teil  des  Alpenlandes  sehr  bald  nicht 
so  sehr  die  Kirche  sondern  die  weltlichen  Dynasten  in  den  vollen  Besitz  der 
Herrschaft  traten.  Es  sind  dies  auf  der  westlichen  Seite  des  Semmerings  eben 
die  Markgrafen  der  Steiermark,  auf  der  östlichen,  auf  dem  Boden  des  Wiener 
Waldes,  dagegen  zunächst  die  in  Putten  seßhaften  Machthaber^).  Beide  machen 
dann  aber,  diese  früher,  jene  später,  den  Babenbergern  Platz,  deren  erste 
Gründung  an  diesem  Wege  selbst  in  Wiener  Neustadt  vor  uns  stehf*).  Die 
Art  aber,  wie  eifrig  dann  auch  im  Anfang  des  dreizehnten  Jahrhunderts  für  die 
Unterhaltung  jenes  Hospizes  gesorgt  wird,  läßt  weiterhin  erkennen,  daß  diese 
Anstalt  damals  bereits  auf  weite  Strecken  ein  Lebensbedürfnis  geworden  war^), 
und  auch  deshalb  muß  jene  Gründung  von  besonders  weittragender  Bedeutung 
gewesen  sein,  weil  sich  nun  auch  dieser  ganze  Weg  plötzlich  innerhalb  der  ge- 
schichtlichen Ereignisse  als  eine  betretene  Bahn  geltend  macht. 

Wenn  wir  uns  erinnern,  daß  die  Kreuzzugsbewegung  damals  noch  in  vollem 
Gange  war,  daß  sie  aber  jetzt  zum  Teil  auch  ihren  Weg  zur  See,  von  der  Adria 
aus,  nach  Asien  nahm,  so  werden  wir  auch  darin  einen  Grund  für  die  plötzliche 
Belebtheit  der  Semmeringstraße  zu  suchen  haben;  und  an  irgend  einem  Punkte 
auf  diesem  Wege  muß  es  daher  auch  gewesen  sein,  an  dem  der  König  von  England, 
Richard   Löwenherz,   im    Dezember    1192   auf  dem    Rückweg   aus   dem   heiligen 

')  Kr.  S.  169.  2)  Oe.  II.  S.  276.  ^)  Kr.  S.  66,  168.         ■»)  Kr.  S.  95.         ?)  Oe.  II.  S.  269. 


Das  Ennstal  und  das  Murtal  bis  zum  Semmering.  285 

Lande  und  als  Pilger  verkleidet  in  die  Gefangenschaft  des  Herzogs  von  Öster- 
reich fiel.  Zu  gleicher  Zeit  stellt  sich  auch  der  Bischof  Wolfger  von  Passau 
ein,  der  auf  seiner  Reise  von  Bologna  nach  Wien  auch  hier  bis  zuletzt  wieder 
gewissenhaft  die  einzelnen  Stationen,  Leoben,  Krieglach  (Crugelar),  Gloggnitz 
(Glockenze)  und  Neustadt  (Nova  civitas)  verzeichnet'),  und  wenn  nicht  mehrmals, 
so  ist  doch  einmal,  im  J.  1217,  Walter  von  der  Vogelweide  diesen  Weg  gezogen. 
Diesem  folgt  dann  ebenso  Ulrich  von  Lichtenstein,  1227  und  1240,  um  auf  seine 
Weise  den  Hof  zu  Wien  unsicher  zu  machen,  und,  da  er  einmal  bei  Laune  ist, 
beschreibt  er  auch  seine  Fahrt,  und  wir  lernen  auf  diese  Art  seine  Nachtquartiere 
kennen,  Mürzzuschlag  und  Gloggnitz,  und  insbesondere  nebenbei,  daß  jener  Weg 
selbst  damals  ein  betretener  und  begangener  Übergang  war,  und  als  solcher  auch 
allgemein  Semmering  hieß-).  Wie  würde  der  Dichter  wohl  über  uns  den  Kopf 
schütteln,  wenn  er  erführe,  daß  uns  heute  gerade  diese  Tatsachen  wichtig  sind; 
aber  dieses  Verhältnis  beruht  doch  nur  auf  Gegenseitigkeit;  denn  auch  wir 
können  ja  den  unstäten  Gesellen  nicht  mehr  verstehen,  wie  er  damals  in  einem 
farbenfreudigen  Anzug,  in  weißem  Sammetmantel  und  mit  dicken,  mit  Perlen 
geschmückten  Zöpfen  hier  herüberzog. 

Damals   ist   es   also   bereits   das   in  Wien   zusammenströmende   Leben,  vor  Die 

VC^icncr  Ebene 
allem   die   prächtige  Hofhaltung  der  Babenberger,   der  alle  jene  Reisenden   zu-  „„d 

streben,  und    unter  die  vielen  Folgen,  die  für  Wien  die  Erhebung  zur  ständigen  Wien  im 

••  n  o       Mittelalter 

Residenz   der  Herrscher  Österreichs   gehabt  hat,  gehört   es  nun   auch,  daß  sich 

diese  Stadt,  wie  München  und  Bern,  jetzt  immer  mehr  zu  einer  rechten  Vor- 
alpenstadt auswächst.  In  jenem  Zeitraum  von  vollen  sieben  Jahrhunderten,  der 
zwischen  dem  Verschwinden  der  römischen  Herrschaft  in  Wien  und  Carnuntum 
und  dem  Beginn  dieser  Entwickelung  liegt,  haben  wir  dagegen  hier  einen  Zu- 
stand vor  uns,  der  mit  der  Geschichte  der  Alpenländer  so  gut  wie  in  keinem 
Zusammenhang  steht,  und  während  dem  von  hier  nach  Süden  und  in  die  Berge 
hinein  nur  ganz  dünn  und  locker  geknüpfte  Verbindungen  führten.  Denn  dort, 
wo  die  letzten  östlichsten  Ausläufer  der  Alpen  an  die  Donau  herantreten,  lag 
seit  den  Zeiten  Karls  des  Gr.  nur  eine  deutsche  Markgrafschaft,  von  Anfang  an 
wohl  die  wichtigste  und  stärkste  von  allen,  aber  doch  nur  ein  Grenzland,  und 
bezeichnenderweise  treffen  wir  auch  Wien  selbst  im  Mittelalter  zum  ersten  Mal 
wieder  an,  als  es  im  J.  1030  von  den  Ungarn  eingenommen  wird-').  Früher 
aber,  und  am  äußersten  Ende  jenes  Gebietes  steht  hier  die  Hainburg  vor  uns, 
ebenso  wie  die  Hengistiburg  zum  Teil  noch  in  Sage  getaucht,  als  ein  viel  um- 
strittener, aber  stets  nur  nach  Osten  oder  Westen  schauender  Punkt.  Zugleich 
wie  Wien  macht  sich  dann  aber  auch  einwärts  und  in  der  Leitlinie  der  Donau 
ein  Platz  nach  dem  anderen  und  ein  vielseitigeres  Leben  bemerkbar,  in  den 
Adelsburgen,  den  Gründungen  der  Kirche,  den  Städten  in  ihrer  ersten  dürftigen 

')  Oe.  II.  S.  263.  2)  L.  Zeitung,  Wissenschaftliche  Beil.  1904.  N.  95.  3)  Die  gröaeren  Jahr- 
bücher von  Altaich,  2.  Au.  L.  Dyk.  S.  13. 


286  IX-  Kapitel. 

Entwickelung,  zwischen  denen  verstreut  sich  die  Pfalzen  der  Landesherren,  Hainburg 
und  Melk,  die  Feste  auf  dem  Kahlenberge,  Klosterneuburg  und  Mödling  erheben. 

Die  Tatsache  aber,  daß  die  ßabenberger  dauernd  von  Wien  angezogen 
wurden,  ist  deshalb  so  wichtig,  weil  in  ihr  die  Veränderung  zum  Ausdruck 
kommt,  die  jetzt  innerhalb  dieses  ganzen  Gebietes  Platz  gegriffen  hat.  Es  ist 
äußerlich  zunächst  kein  anderes  Verhältnis,  wie  es  in  demselben  Jahrhundert 
zwischen  Innsbruck  und  den  Grafen  von  Andechs  vorgewaltet  hat,  als  der  Herr 
des  Landes,  Heinrich  IL,  im  J.  1142  seinen  Sitz  nach  Wien  verlegte.  Aber  hier 
schließt  dieser  Vorgang  einen  viel  größeren  Inhalt  ein;  denn  wenn  jetzt  die 
ßabenberger  sich  in  diesem,  nach  damaligen  Begriffen  weniger  geschützten  Platz 
zu  wohnen  entschließen,  so  muß  inzwischen  aus  dem  gefährdeten  Grenzland  ein 
sicheres  Herrschaftsgebiet  geworden  sein;  vor  allem  sieht  man  aber  auch,  wie 
die  Kräfte  der  Dezentralisation,  die  ja  ein  Merkmal  des  mittelalterlichen  Kultur- 
lebens ist,  hier  bereits  im  Absterben  begriffen  sind  und  wie  dieses  Zeitalter 
gerade  dort  besonders  früh  zur  Neige  geht.  Daß  das  mittelalterliche  Wien  aber 
eine  deutsche  Stadt  war,  so  mannigfaltig  deutsch  vielleicht  wie  es  später  niemals 
wieder  der  Fall  gewesen  ist,  geht  aus  dem  Dasein  der  gleichzeitigen  gotischen 
Bauten  daselbst  zur  Genüge  hervor,  während  das  Selbstbewußtsein,  der  steife 
Nacken,  der  die  Wiener  Bürgerschaft  im  zwölften  und  dreizehnten  Jahrhundert 
auszeichnet,  wohl  darin  seine  Erklärung  findet,  daß  gerade  die  dortige  Bevöl- 
kerung ganz  besonders  durch  den  Zuzug  aus  den  verschiedensten  Teilen  Deutsch- 
lands entstanden  ist. 

Die  Entwickelung  des  Gotthardweges  zur  Weltstraße  einerseits  und  der  Zu- 
sammenschluß der  Ostalpenländer  unter  Österreich  andererseits  sind  es,  die  beide 
die  Fundamente  für  eine  ganz  neue  Periode  in  der  Geschichte  der  Alpenländer  ab- 
geben, eine  Periode,  die  sich  scharf  von  dem  vorangegangenen  Mittelalter  daselbst 
abhebt  und  die  hier  nun  auch  ein  volles  halbes  Jahrtausend,  bis  zu  den  Zeiten 
Napoleons  I.  angedauert  hat.  Wer  das  Leben  in  der  weiten  Ebene,  wo  die 
meisten  Menschen  wohnen,  mit  demjenigen  im  Hochgebirge  vertauscht,  muß 
früher  oder  später  sich  doch  den  veränderten  Bedingungen  unterwerfen,  denen 
die  Natur  ihn  dort  gegenüberstellt.  Aber  auch  die  Geschichte  trifft  dasselbe 
Schicksal,  und  im  besondern  versagt  sich  hier  die  Betrachtung  und  Einteilung 
des  geschichtlichen  Verlaufs  nach  jenen  sonst  allgemein  üblichen  und  zeitlich 
genau  abgegrenzten  großen  Perioden.  Doch  was  ist  schließlich  alle  Geschichte 
des  Mittelalters  in  den  Alpen,  mag  sie  nun  auf  anerkannte  oder  ungewohnte 
Gesichtspunkte,  auf  erwiesene  oder  zweifelhafte  Tatsachen  eingestellt  sein,  anderes, 
als  ein  Stück  der  Vorstellung  eines  Einzelnen,  desjenigen,  der  sie  gerade  ge- 
schrieben hat.  Wir  stehen  alle  dem  Glauben  viel  näher  und  dem  Wissen  viel 
ferner,  als  wir  es  gern  zugeben  oder  wünschen  möchten,  und  nicht  die  Geschichte, 
wohl  aber  der  Geschichtsschreiber,  wird  an  seiner  schmerzlichsten  und  schmerz- 
haftesten Seite  durch  das  Wort  Goethes  getroffen:  Wenn  man  sich  bei  der  Ge- 
schichte nicht  beruhigt  wie  bei  einer  Legende,  so  löst  sich  sonst  alles  in  Zweifel  auf. 


X 


Anhänge. 


1. 

Die  auf  klassischem  Boden  so  weit  verbreitete  Erscheinung,  daß  die  ältesten 
und  vornehmsten  Kirchen  ganz  ausgesprochen  außerhalb  der  alten  römischen 
Stadtmauer  liegen,  kehrt  auch  in  den  Alpenländern  wieder  (Como,  Verona,  Trient, 
Neumarkt  a.  d.  E.,  Bozen  und  Gries,  Glurns,  Sterzing,  Bruneck,  Lienz,  Reichen- 
hall), und  mit  Recht  mutet  sie  uns  so  eigentümlich  an,  da  in  ihr  ein  Stück  der 
ältesten  christlichen  Denkweise  und  Lehensart  verborgen  liegen  muß.  Es  kann 
in  der  Tat  kaum  ein  besseres  Zeugnis  für  das  Alter  und  die  weite  Verbreitung 
dieser  Sitte  geben,  als  wenn  Eugippius  schon  um  510  im  Leben  Severins  (K.  22) 
die  Existenz  „einer  außerhalb  der  Mauern  Passaus  gelegenen  Kirche"  als  etwas 
ganz  Alltägliches  anführt.  Atz  meint  einmal,  daß  man  „in  der  Altstadt  selbst 
(Bozen)  kein  religiöses  Gebäude  suchen  dürfe,  weil  ein  solches  in  einer  befestigten 
Stadt,  unmittelbar  hervorgegangen  aus  einem  römischen  Standlager,  nicht  be- 
stehen durfte"  (Atz  S.  6).  Diese  Erklärung  kann  aber  doch  nicht  alles  enthalten; 
denn  einmal  findet  sich  jene  Erscheinung  auch  in  viel  späterer  Zeit  und  an  Orten, 
wo  bei  dem  Einzug  der  Kirche  auch  nicht  eine  Spur  vom  römischen  d.  h.  heid- 
nischen Altertum  mehr  vorhanden  gewesen  sein  kann  (Bruneck),  und  andererseits 
stehen  auch  oft  genug  solche  außen  gelegene  kirchliche  Gebäude  auf  römischen 
Grundlagen  (S.  Zeno  in  Verona,  Sterzing),  wie  ebenso  auch  innerhalb  der  römischen 
Stadtmauern  selbst  Kirchen  existieren,  die  älter  sind  als  die  außerhalb  befindlichen 
(Trient,  S.  Pietro).  Wahrscheinlich  wird  hier  die  Art  der  Bestattung  ein  Wort 
mitzureden  gehabt  haben. 


Schon  Schulte  (Schu.  S.  61)  sagt:  „Und  ist  es  nicht  auffallend,  daß  die 
Hospize  am  Gr.  S.  Bernhard  und  auf  dem  Septimer  den  Namen  des  h.  Petrus 
tragen,  standen  sie  vielleicht  im  Besitz  der  römischen  Kirche,  man  kann  die  Frage 
aufwerfen,  aber  nicht  beantworten",  während  N.  A.  (S.  31,  38,  69,  83)  die  Tatsache 
einfach    als  ausgemacht  annehmen,    daß   die   Peterskirchen  überall   älter  als  alle 


288  Anhänge. 

anderen  sind.  Die  Legende,  wie  der  h.  Rupert  von  den  Ruinen  Juvavums  an- 
gezogen wird,  und  dort  wie  selbstverständlich  zu  Ehren  des  h.  Petrus  eine  Kirche 
gründet  (Hau.  S.  127),  plaudert  eben  nur  Alltägliches  aus,  und  es  ist  nicht  zu 
viel  gesagt,  daß  dieser  Heiligenname  in  den  Alpen  geradezu  die  Wünschelrute 
abgeben  kann  für  denjenigen,  der  hier  nach  Römerresten  sucht. 

Zum  Beweis  dieses  für  die  Archäologie  nicht  unwichtigen  Fingerzeiges  seien 
hier  folgende  Peterskirchen  angeführt,  in  deren  unmittelbarer  Nähe  Römerfunde 
gemacht  worden  sind:  Die  Kastelle  in  Verona  und  Trient,  S.  Pietro  südlich  Ala 
(F.  1878.  S.  62),  Borgo  Kastell,  Leifers  (Atz  S.  109),  Maretsch  bei  Bozen,  Schloß 
Tirol,  Kastelruth,  Sehen.  Auch  dort,  wo  bei  Matrei  a.  Br.  ein  berühmter  Etrusker- 
fund  zum  Vorschein  kam,  liegt  ganz  benachbart,  bei  Mitzens,  eine  Peterskirche, 
die  übrigens  in  Nordtirol  nicht  allzuhäufig  sind,  wie  überhaupt  schon,  selbst  wenn 
alle  anderen  Beweise  fehlten,  das  Vorhandensein  so  vieler  Peterskirchen  auf  der 
Linie  zwischen  Verona  und  Klausen  und  die  Seltenheit  dieser  nördlich  davon 
auf  das  verschiedene  Schicksal  jener  beiden  Hälften  der  Brennerstraße  während 
der  Römerzeit  einen  Schluß  gestatten  würde. 

3. 

Man  kann  den  Namen  S.  Ulrich  in  Groeden  damit  in  Verbindung  bringen, 
weil  das  Bistum  Augsburg  dort  Besitzungen  hatte.  Da  aber  diese  Ortschaft 
latinisch  Urtischei  heißt  (Mor.  S.  13),  liegt  auch  der  Gedanke  nahe,  daß  die 
Kirche  es  sich  hier  überhaupt  nicht  allzuschwer  machte  und  den  h.  Ulrich  einfach 
wegen  des  Gleichklanges  der  Namen  heranholte.  Dieselbe  Ähnlichkeit  findet 
sich  auch  bei  S.  Orsola,  deutsch  Aichberg,  im  Fersental. 

4. 
Wohl  alle  früheren  Bearbeiter  dieser  Züge  (besonders  auch  Eg.  S.  220,  A.  5) 
nehmen  stets  drei  fränkische  Kolonnen  an,  die  getrennt  über  die  Alpen  marschierten, 
und  verteilen  jene  nun  auf  drei  verschiedene  Übergänge.  Dieses  ergiebt  sich  aber 
durchaus  nicht  ohne  weiteres  aus  den  Quellen  (Gregor  von  Tours  X.  3 ;  P.  D. 
S.  69);  denn  diese  reden  zunächst  nur  von  einer  rechten  und  linken,  aber  nicht 
ausdrücklich  von  einer  mittleren  Angriffsrichtung.  Außerdem  erheben  sich  bei 
der  Annahme  von  drei  Kolonnen  viel  größere  Schwierigkeiten,  wie  man  dann 
die  drei  Hauptführer  der  Franken,  Auduald,  Olo  und  Cedinus,  und  die  anderen 
zwanzig  Herzöge  auf  die  einzelnen  Kolonnen  verteilen  soll;  denn  bei  drei 
Kolonnen  würden  auf  die  rechte  Auduald  und  sechs  Herzöge,  auf  die  linke  Cedinus 
und  dreizehn  Herzöge,  auf  die  mittlere  dagegen  nur  Olo  und  ein  Herzog  entfallen 
müssen.  —  Die  Schwierigkeiten  werden  freilich  auch  dann  nicht  behoben,  wenn 
man,  wie  Paulus  Diakonus  zu  tun  scheint,  die  drei  besonders  namhaft  gemachten 
Hauptführer  in  die  Zahl  der  zwanzig  Herzöge  hineinrechnet.  Dasselbe  Recht 
auf  Wahrscheinlichkeit   hat   es   daher,   wenn   man  bloß  zwei  Kolonnen  annimmt. 


Anhinge.  289 

Cedinus  und  dreizehn  Heriöge  links,  Auduald,  Olo  und  die  übrigen  rechts,  wo- 
bei CS  aber  auch  unklar  bleiben  muß,  in  welchem  Verhältnis  Olo  zur  rechten 
Hauptkolonne  stand,  und  wo  er  sich  etwa  von  dieser  abgezweigt  hätte. 

5. 
Die  Stelle  (P.  D.  HI.  Bch,  K.  31)  lautet:  Perveait  etiam  exercitus  Francorum 
usque  Veronam,  et  deposuerunt  castra  plurima  per  pacem  post  sacramenta  data, 
quae  se  eis  crediderant  nullum  ab  eis  dolum  existimantes.  Nomina  autem 
castrorum  quae  diruerunt  in  territorio  Tridentino  ista  sunt:  Tesana,  Maletum, 
Sermiana,  Appianum,  Fagitana,  Cimbra,  Vitianum,  Bremtonicum,  Volaenes, 
Ennemase,  et  duo  in  Alsuca  et  unum  in  Verona.  Haec  omnia  castra  cum  diruta 
essent  a  Francis  pp. 

6. 

Vom  militärischen  Standpunkt  bleibt  doch  die  erschöpfende  Erklärung  für 
jene  Vorgänge  nur  die,  daß  die  Worte  der  Lorcher  Annalen  „ad  clusas  se  con- 
jungentes"  so  zu  verstehen  sind,  daß  hier,  wie  beides  auch  nach  dem  Sprach- 
gebrauch durchaus  möglich  ist,  nur  eine  Klausenstelle,  und  zwar  die  bei  Susa 
gemeint  ist,  und  daß  ad  nicht  westlich  sondern  nur  in  der  Nähe  der  letzteren 
Klause  zu  bedeuten  hat. 

Von  Genf  aus  hatte  Karl  jedenfalls  den  kürzeren  Weg,  Bernhard  die  weitere 
Umgehung  übernommen.  Karl  hielt,  wie  deutlich  zu  ersehen  ist,  Desiderius 
einige  Tage  lang,  bis  zu  Bernhards  plötzlichem  Eingreifen  im  Rücken  der  Lango- 
barden, mit  Verhandlungen  hin.  Wenn  die  Sage  Karl  selbst  eine  Art  Umgehung 
machen  läßt  und  diesem  alles  Verdienst  zuerkennt,  so  hat  sie  damit  nicht  eigent- 
lich Unwahres  gesagt,  sondern  nur,  wie  üblich,  den  Mund  etwas  zu  voll  genommen; 
denn  der  intellektuelle  Urheber  des  Erfolges  war  sicher  Karl,  die  entscheidende 
Umgehung  besorgte  dagegen  Bernhard.  Auch  die  Worte  der  Lorcher  Annalen, 
daß  Bernhard  ainit  einigen  Getreuen  seinen  Zug  unternahm",  legen  eine  voran- 
gegangene genaue  Verabredung  mit  Karl  nahe. 

7. 

Unmittelbar  südlich  Schönberg  befindet  sich  heute  an  der  Brennerstraße 
ein  altes  Steinkreuz.  Da  diese  Merkmale  jetzt  allgemein  als  mittelalterliche 
Grenzzeichen  angesehen  werden,  und  da  irgendwelche  andere  Grenze  hier  sonst 
niemals  bestanden  hat,  so  kann  man  daher  die  Stelle  jenes  Kreuzes  kaum  anders 
als  einen  Punkt  ansehen,  wo  einst  der  Gau  Norital  nördlich  mit  dem  Gau  Inn- 
tal  zusammenstieß. 

8. 

Alle  diese  Andeutungen  sind  doch  immer  interessant  genug,  um  das  Für 
und    Wider    eines    Römerzuges    Karls    des    Gr.  in    der    Richtung    Gardasee    — 

Scbcffel,  Vcrkebrstescbicbie  der  Alpen.     2.  Bind.  19 


290  Anhänge. 

Madonna  di  C.  —  Münstertal  —  Chur  bezl.  umgekehrt  einmal  zu  erörtern. 
Tatsächlich  fällt  in  das  J.  774  —  nicht  775  —  ein  Zug  Karls  von  Italien  über 
die  Alpen  nach  Deutschland.  Karl  war  am  16.  Juli  noch  in  Pavia  und  noch  vor 
dem  14.  August  in  Speier.  Oehlmann  (Oe.  II.  S.  306  u.  I.  S.  241)  verlegt  diesen 
Zug  wegen  der  Marschrichtung  nach  dem  Mittelrhein  und  der  eben  nicht  langen 
Zeit  auf  den  Gr.  S.  Berhard.  Diese  Begründung  ist  jedoch  nicht  zwingend.  Die 
Wahl  jenes  Weges,  auf  den  die  Sage  fortwährend  zurückkommt,  würde  nun  allein 
wegen  ihrer  Absonderlichkeit  zunächst  durchaus  kein  Ding  der  Unmöglichkeit 
darstellen,  da  auch  andere  Römerzüge  bekannt  sind,  die  sich  auf  recht  unge- 
wohnten Pfaden  bewegt  haben  (Friedrich  II.,  1212);  auch  die  von  Pavia  bis 
Speier  notwendige  Zeitspanne  würde  bei  der  in  Frage  kommenden  guten  Jahres- 
zeit selbst  für  einen  längeren  Reiseweg  voll  ausreichen.  Unbedingte  Voraus- 
setzung, um  jene  Richtung  überhaupt  für  möglich  zu  halten,  wäre  aber,  daß  man 
irgend  ein  geschichtlich  annehmbares  Motiv  für  ihre  Wahl  auftriebe.  Ein  ganz 
schwacher  Fingerzeig  dieser  Art  könnte  vielleicht  sein,  daß  Karl  gerade  am 
16.  Juli  774  in  Pavia  über  jenes  langobardische  Pfalzgut  verfügte,  das  im  Val 
Camonica  und  am  Gardasee  gelegen  war  (Ab.  S.  193),  in  einer  Zone,  die  dem- 
nach die  südliche  Basis  dieser  sagenhaften  Marschrichtung  zu  bilden  hätte. 
Wenn  es  sich  dann  weiter  erweisen  ließe,  daß  Karl  an  seine  in  Pavia  getroffenen 
Verfügungen  noch  eine  Besichtigung  an  Ort  und  Stelle  angeschlossen  hätte,  oder 
daß  etwa  jene  Verfügungen  überhaupt  erst  dort  getroffen  worden  wären,  was 
übrigens  im  Mittelalter  wegen  des  schwierigen  Transportes  der  Urkunden,  die 
man  doch  so  gern  bald  und  sicher  nach  Hause  trug,  eher  das  Gebräuchliche 
war  (Vgl.  Oe.  II.  S.  198;  ein  besonderer  Fall  auch  N.  A.  S.  5),  so  würde  die 
Wahrscheinlichkeit  dieser  Marschrichtung  noch  viel  stärker  hervortreten. 

Es  giebt  aber  auch  noch  eine  andere  Möglichkeit,  die  hier  in  Betracht  ge- 
zogen werden  kann.  Der  nächste  Römerzug  nach  dem  J.  774  Fällt  bereits  in 
das  Frühjahr  776.  Karl  mußte  damals  rasch  über  die  Alpen  nach  Friaul  ziehen, 
um  dort  jenen  Aufstand  niederzuwerfen.  Auf  deutschem  Boden  finden  wir  ihn 
zuletzt  Weihnachten  775  in  Schlettstadt,  während  er  dann,  was  demnach  für 
unsere  Erwägung  nicht  unwichtig  ist,  mit  kleinem  Gefolge  die  Reise  antrat  (Vgl. 
Ab.  S.  250).  Über  den  Weg,  den  er  einschlug,  haben  wir  aber  keinen  anderen 
Anhalt  als  die  Worte  der  Lorcher  Annalen:  Carolus  Italiam  ingressus  est  par- 
tibus  Forojuliensium  petens.  Oehlmann  (Oe.  II.  S.  275)  meint,  daß  Karl  damals 
durch  die  Ostalpen  gezogen  sei,  eine  Annahme,  die  aber  doch  wohl  unzulässig 
ist,  wenn  man  bedenkt,  daß  er  auf  diese  Weise  ganz  und  gar  durch  Tassilos 
Gebiet  hätte  ziehen  müssen,  wo  er  damals  auch  nicht  das  Geringste  zu  suchen 
hatte.  Aber  eben  die  Feindschaft  gegen  Tassilo  einerseits  und  das  abgelegene 
Marschziel  und  die  Eile,  die  nötig  war,  andererseits  können  auf  den  Gedanken 
führen,  daß  er  damals  von  Westdeutschland  aus  auf  dem  kürzesten  Wege  an 
Tassilos  Grenze  vorbeizukommen   suchte,  und   von   diesem   Gesichtspunkt  aus 


Anhinge.  291 

wäre    eine    Marschrichtung,  etwa   Bodensee,   Rätien,    Gardasee,   ganz    zweckent- 
sprechend gewesen. 

9. 

Demum  Carolo  assignavit,  quidquid  de  suo  regno  extra  hos  terminos  fuerit, 
ita  ut  Carolus  et  Ludovicus  viam  habere  possint  in  Itaiiam,  Carolus  per  vallem 
Augustanam,  quae  ad  regnum  ejus  pertinet,  et  Ludovicus  per  vallem  Segusianam, 
Pippinus  vero  et  exitum  et  ingressum  per  Alpes  Noricas  atque  Curia.  Vgl.  Oe.  I. 
S.  202  f. 

10. 

Von  mittelalterlichen  Klausen,  die  auch  in  den  Kriegsereignissen  der  neueren 
Zeit  eine  Rolle  gespielt  haben,  sind  anzuführen:  Fort  Bard  1800;  Anfo  (Lodrone) 
1526,  1848,  1859,  1866;  Rivoli  (Berner  Klause)  1797;  Primolano  (Covel)  1796, 
1866;  Pontebba  (Chiusaforte)  1797;  Martinsbruck  (Altfinstermünz)  1798;  Bregenzer 
Klause  1646;  Ehrenberger  Klause  1546,  1552,  1632,  1703;  Klaus  bei  Neuhaus 
1797;  Klausen  a.  E.  1797,  1809;  Brixener  Klause  1797;  Mühlbacher  Klause  1809; 
Lienzer  Klause  1809;  Hirschbühel  1809;  Paß  Lueg  1805,  1809;  Paß  Strub 
1800,  1805,   1809. 

11. 

Eine  besonders  verdienstvolle  Arbeit  dieser  Art  hat  Oehlmann  geliefert. 
Dieser  führt  in  Beilage  II  und  III  (Oe.  II.  S.  304  f)  sämtliche  Römerzüge  nach 
ihren  Pässen  und  Jahrhunderten  mit  Quellennachweis  an,  eine  Zusammenstellung, 
die  durchaus  die  Bestimmung  eines  erschöpfenden  Leitfadens  erfüllt,  für  alles, 
was  über  die  Römerzüge  überhaupt  bekannt  ist. 

Aber  auch  hier  lassen  die  bei  den  Namen  der  Pässe  angeführten  Frage- 
zeichen deutlich  genug  die  über  jenes  Gebiet  verbreitete  Unsicherheit  erkennen, 
eine  Unsicherheit,  die  sich  noch  als  viel  größer  herausstellt,  wenn  man  entdeckt, 
daß  zuweilen  selbst  die  Benutzung  der  von  Oehlmann  als  sicher  angegebenen 
Übergänge  nicht  standhält;  so  nimmt  z.  B.  Oehlmann  nicht  mehr  als  36  Züge 
über  den  Brenner  als  sicher  an,  während  Wanka  (W.  S.  80)  mit  Recht  in  der- 
selben Zeit  nur  ganze  12  als  solche  gelten  läßt. 

12. 
Während  das,  was  in  den  Alpen  aus  dem  vorrömischen  Volkstum  noch 
nachwirkt,  uns  niemals  mit  jener  Klarheit  vor  Augen  treten  wird,  die  jeden 
Zweifel  ausschließt,  ist  einiges  von  dem  auch  heute  noch  mit  aller  Deutlichkeit 
zu  erkennen,  was  von  den  Alpenromanen  in  ihren  alten  Sitzen  fortlebt.  So  sind 
hier  für  die  Ausdrücke  des  Gemeindelebens  und  der  Wirtschaftsführung  Worte 
in  Gebrauch,  die  ihren  Ursprung  allein  in  jener  romanischen  Sprache  haben, 
die  vor  der  Herrschaft  der  modernen  Sprachen  in  Geltung  war.  Viele  Tier- 
und  Pfianzennamen,  solche,  die  sich  auf  die  Almwirtschaft  (Eg.  S.  19),  auf  Vieh- 
zucht und  das  Wassernutzungsrecht  beziehen,  gehören  hierher,  wozu  (Ju.  S.  171) 

19* 


292  Anhänge. 

in  den  südtiroler  Gegenden  auch  noch  die  mit  der  Weinkultur  zusammen- 
hängenden Ausdrücke  treten  (Torkel,  Praschglet,  Bazeide,  Pergel,  Saltner).  Auch 
die  noch  heute  geltenden  Bezeichnungen  für  die  Gemeinde  und  deren  Unter- 
abteilungen wie  Technei  an  der  oberen  Etsch,  Technei,  Malgrei  und  Terze  in 
Südtirol  und  am  Eisak,  und  Oblei  im  Pustertal  sind  romanischen  Ursprungs; 
ein  Gleiches  gilt  auch  für  viele  tirolische  Familiennamen  (St.  S.  67  f,  160  f);  so 
findet  sich  z.  B.  bei  Prutz  häufig  der  Name  Venir  (Jäger),  weil  sich  dort  einst 
das  landesfürstliche  Jagdamt  befand. 

13. 

Solche  mittelalterliche  Personennamen,  denen  man  in  der  Alpengeschichte 
begegnet,  sind  in  Bünden:  Helanengus,  Hunfrid,  Herloin,  Ruodpert  (PI.  S.  299, 
359,  360,  362,  393)  und  als  Bischöfe  von  Chur:  Gerbrach,  Hartbert,  Hildibold 
und  Volkard. 

In  Nordtirol  treffen  wir:  Ratold,  Rapoto,  Hiltprant,  Wahrmunt  (Schw.  S.  47, 
48,  86,  91),  in  Südtirol:  Minigo,  Goteschalk,  Engilda,  Isigren,  Trutmar  (N.  S.  243), 
dann  Wago,  Warinbert,  Chael,  Sivrid,  Reginbert,  Merboto,  Reimprecht  (N.  A. 
S.  33,  71,  103,  105;  Mor.  S.  15)  und  im  zehnten  Jahrhundert  als  Bischöfe  von 
Brixen:  Wisund  und  Richprecht  (N.  A.  S.  33).  In  der  Geschichte  Innichens 
bezl.  Freisings  sind  zu  finden:  Erembert,  Atto,  Hitto,  Erhambert,  Waldo,  Utto, 
Drachholf,  Egilbert,  Ellenhard,  Meginward,  Engildin,  Egelolph,  Ortolf,  und  in  den 
Ostalpen:  Werihent,  Rodulf,  Godoschalk,  Adalgar,  Piligrin  (Kr.  S.  86,  79,  81), 
als  Patriarchen  von  Aquileja,  ferner  Gotpold,  Rabinger,  Sighard,  Markward  (Kr, 
S.  87,  vgl.  auch  S.  56). 

Frauennamen  sind:  Theusinda,  Odda  (PI.  S.  295),  Irminlind,  Sifftl  (Sofia), 
Diemut,  Ofnia  (N.  A.  S.  33,  73,  102),  dann  Adalswind,  Ilmengard,  Willibirg  und 
Richlinde  (Kr.  S.  58,  79,  86). 

14. 

M.  D.  A.  II.  T.  6  Au.  S.  360.  —  Deutsch  sind  heute  noch  daselbst  die  Dörfer 
Gereut  (Frassilongo),  Aichleiten  (Rovete),  S.  Franz,  S.  Felix  und  besonders  Palei 
im  hintersten  und  höchsten  Teile  des  Tales  (Z.  A.  1902.  S.  44).  Wenn  jedoch 
im  Fersental  sogar  die  Bergnamen  zum  Teil  deutsch  sind  (Zingerle,  Tirolensia, 
Innsbruck  1898,  S.  13),  so  würde  dies  eher  für  eine  Besiedelung  sprechen,  die 
weiter  als  das  fünfzehnte  Jahrhundert  zurückreicht. 

15. 
Verzeichnis  einer  Anzahl  fremdländischer  Ortsnamen  im  Süden  der  Alpen, 
für  die  früher  auch  eine  deutsche  Bezeichnung  üblich  war.  Ausgehend  von 
jenen  drei  alten  germanischen  Gruppen  Oberitaliens  sind  unter  I  die  Orte  bis 
zum  Ticino,  unter  II  die  bis  zur  Brenta,  und  unter  III  die  bis  Istrien  vorkom- 
menden Orte  angeführt: 


Anhänge. 


203 


Aigle,  Aelen 
Aosta,  Osten 

Domo   d'Ossola,   Duhm 
Foppiano,  Unterwald 
Gondo,  Gunz 
Val  Maggia,  Mayental 
Vevey,  Firvizuburg 

Alfarei,  Alfreid 
Avio,  Aue 
Brendola,  Brünndel 
Caldonazzo,  Galnetsch 
Cavalese,  GableO 
Chiazza,  Gliezen 
Como,  Kam 
Folgaria,  Vilgereut 
Frassilongo,  Gereut 
Val  Lagarina,  Lagertal 
Lugano,  Lauis 
Molveno,  Malvein 
Poschiavo,  Puschiav 
Roncegno,  Rundschein 
Monte    Scanuppia,    Knap- 
penberg 
Sporo,  Spaur 
Trezzo,  Tesserete 
Vigo  di  Fassa,  Wiegen 

Ampezzo,  Peitsch 
Capo  di  Ponte,  Plassprugg 
Cittanuova,  Neuenburg 
Conegliano,  Künzlau 
Duino,  Tybein 
Gradiska,  Grädisch 
Monfalcone,  Neumarkt 
Pirano,  Pyrian 
Sappada,  Bladen 
Tagliomento,  Tulement 
Tolmino,  Tolmein 
Venzone,  Puscheldorf 


I. 

Airolo,  Eriels 
Bellinzona,  Beilenz 

Faido,  Pfaid 
Giornico,  Irneß 
Livorno,  Lavur 
Martigny,  Martinach 

IL 

Anco,  Arch. 
Beseno,  Bisein 
Brusio,  Brüs 
Canazei,  Kanascheid 
Cembra,  Zimmers 
Chiusa,  Berneclus 
Ficcarolo  a.  P.,  Figurol 
Fondo,  Pfund 
Gallio,  Ghel 
Lavarone,  Lafraun 
Masetto,  Alzeit 
Noze,  Ueltzbach 
Riva,  Reiff 
Rovereto,  Rovereith 
Schio,  Schieid 

Tiene,  Thinen 
Vallarsa,  Brandtal 
Visione,  Visiaun 

IIL 

Aquileja,  Agiei 
Caporetto,  Karfreit 
Cividale,  Sibidat 
Convedo,  Cubida 
Fiume,  S.  Veit  a.  Pflaumb 
Mestre,  Meisters 
Ospetaletto,  Spitalett 
Parenzo,  Paranz 
Sauris,  Zarah 
Timau,  Tischelwang 
Trecento,  Tritshent 


Val  d'Anzasca,  Falzask 
Bourg  S.  Pierre,  Peters  Ka- 
stell 
Formazzatal,  Pommat 
Gislarengo,     Geiselhering 
Locarno,  Luggarus 
Valle    d'Ossola,   Eschental 


Asiago,  Siege 
Bormio,  Worms 
Calceranica,  Kalkrain 
Canezza,  Ganetsch 
Chiavenna,  Claefen 
Cismone,  Sysmo 
Flavon,  Pflaum 
Fozza,  Wüsche 
Garda,  Garden 
Levico,  Leuin 
Mendrisio,  Mundriz 
Nogaredo,  Haseldorf 
Roane,  Roban 
Rovete,  Aichleiten 
Soglio,  Sils 

Torcegno,  Durchschein 
Verona,  Bern 


Cadore,  Kadober 
Castna,  Khöstau 
Cleulis,  Klalach 
Cortinad'Ampezzo,  Heiden 
Gemona,  Klemaun 
Moggio,  Mosach 
Piave,  Plabc 
Rosazzo,  Rossach 
Serravalle,  Sperval 
Tolmezzo,  Schönfeld 
Udine,  Weiden 


294  Anhänge. 

Die  westlichen  der  unter  II  angeführten  One  können  übrigens  ebensogut 
für  die  Gruppe  I  in  Frage  Icommen.  —  Die  Alldeutschen  haben  sich  in  Pergine 
(Persen,  Suganatal)  einen  für  ihre  Bestrebungen  sehr  günstigen  Angriffspunkt 
herausgesucht  und  nun  dort  auch  sogleich  alle  und  jede  Orte  der  Umgebung 
unnachsichtlich  in  deutsche  umgetauft.  Es  ist  aber  interessant  zu  sehen,  wie 
auch  hier  die  tiefinnere  Natur  der  Dinge  solchen  forcierten  Bestrebungen  gegen- 
über Recht  behält;  denn  dicht  vor  den  Fenstern  der  Burg  Persen  liegt  ein  Ort 
Susa,  dessen  Namen  alles  andere  nur  nicht  deutsch  sein  kann,  der  wie  Granit 
in  diese  moderne  Strömung  hineinragt  und  bei  dem  auch  von  vornherein  auf 
jede  Umdeutung  verzichtet  werden  mußte. 

16. 
Die  unmittelbare  Veranlassung  zu  diesen  Verleihungen  war  jedoch  nicht 
so  sehr,  wie  die  Tiroler  Geschichtsschreiber  gern  meinen,  die  ausgesprochene 
Absicht  Konrads  IL,  den  Brennerweg  in  verläßlichen  Händen  zu  wissen,  sondern 
sie  ist  in  dem  Aufstand  Ernsts  von  Schwaben  gegen  den  Kaiser  zu  suchen;  wur- 
den doch  die  beiden  Grafschaften,  die  an  Brixen  kamen,  niemand  anderem  als 
dem  Grafen  Weif,  Ernsts  bestem  Verbündeten,  abgenommen.   Vgl,  Gi.  II.  B.  S.  253. 

17. 

Tatsache  ist  einerseits,  daß  im  zwölften  Jahrhundert  die  Bewohner  des 
Küstenlandes  an  der  nördlichsten  Adria  als  Nachkommen  der  Goten  angesehen 
wurden,  und  daß  dieser  Landstrich  damals  Merania  hieß  (Z.  A.  1903.  S.  46  f), 
und  Tatsache  ist  andererseits,  daß  der  Byzantiner  Eunapius  bei  den  alten  Goten 
»die  Leiber  für  die  Beine  zu  schwer"  fand,  und  daß  diese  Eigentümlichkeit 
heute  auch  bei  der  Bevölkerung  um  Meran  in  Tirol  zu  beobachten  ist.  Sie 
wird  bezeugt  durch  Hörmann  (Z.  A.  1901.  S.  110),  und  der  Verfasser,  der  be- 
sonders auch  gute  alte  Bilder  dieser  Art  vor  Augen  gehabt  hat,  muß  sie  be- 
stätigen. Tatsache  ist  auch,  daß  Schneller  den  Namen  der  Stadt  Imst  aus  dem 
Gotischen  ableitet,  und  daß  sonst  nirgends,  nur  im  Passeier,  bei  einer  Alpe 
der  gleiche  Name  wiederkehrt  (F.  1906.  S.  139). 

Als  Mittelglieder  der  Schlußfolgerung,  daß  die  heutigen  Burggräfler  Nach- 
kommen der  Goten  seien,  drängt  sich  somit  ebenso  überraschend  und  aufdring- 
lich wie  schwer  zu  fassen  nicht  nur  jene  Namensähnlichkeit  an  sich,  sondern 
auch  die  Möglichkeit  auf,  daß  die  Andechser  zu  diesen  beiden  Plätzen  Be- 
ziehungen hatten,  und  man  möchte  glauben,  daß,  selbst  wenn  die  Anwesenheit 
der  Andechser  hier  und  dort  sich  als  ein  Spiel  des  Zufalls  herausstellt,  so  doch 
wenigstens  jener  Gleichklang  der  Namen  auch  andere  gleichartige  Substanzen 
in  sich  schließt.  Dies  alles  wäre  schon  eine  wissenschaftliche  Untersuchung 
wert,  die  aber  von  der  Feststellung  ausgehen  müßte,  wann  die  Meinung  von  dem 
Gotenursprung  der  Burggräfler  zum  ersten  Male   zu  Tage  tritt.     Ist   diese  jetzt 


Anhänge.  295 

wirklich  älter  als  ein  Jahrhundert,  so  wären  dann  von  zwei  verschiedenen  Stellen 
aus  in  das,  was  die  Zeiten  verschüttet  haben,  Schächte  hineinzutreiben,  einmal, 
ob  und  inwieweit  die  Andechser  auch  zu  Meran  i.  T.  in  Beziehung  standen,  und 
dann,  ob  jene  beiden  Ortsnamen  überhaupt  desselben  Stammes  sind.  Vor  letzterer 
Stelle  liegt  auch  schon  einiges  Werkzeug,  unbrauchbares  und  brauchbares,  um- 
her. So  soll  der  Name  des  tirolischen  Meran  von  den  Marcomanen  herkommen 
oder  so  viel  wie  „am  Maiser  Rain"  heißen  (Giovanelli,  Ära  Dianae,  Bozen  1824, 
S.  73);  nach  anderen  bedeutet  er  „an  der  Murre"  (Sta.  S.  24;  Tir.  S.  127).  Seine 
älteste  nachweisbare  Form  ist  übrigens  Maranum  (1273),  während  es  zweifelhaft 
bleibt,  ob  ein  im  J.  857  im  Trienter  Tal  gelegenes  Mairania  mit  ihm  gemeint  ist 
(Unterforcher,  G.  Pr.  Eger  1892,  Sonderabdruck  S.  54).  In  dieser  letzteren  Form, 
also  Mairania,  erscheint  aber  manchmal  auch  der  Name  für  das  adriatische 
Küstenland  (Kr.  S.  85). 

18. 

Dieses  Aussterben  betraf  u.  a.  die  alten  Eppaner  Grafen  (1170),  die  Traun- 
gauer  (1192),  die  Grafen  von  Mittersill ,  die  Grafen  von  Lechsgemünd  und 
Matrei  (um  1200),  die  Zähringer  (1218),  die  Herren  von  Peilstein  (1219),  die 
Hallgrafen  von  Plein  (1219),  die  Grafen  von  Ulten  (1248),  die  Wanga  (1280). 
Andere  Geschlechter  mit  gleichem  Loos  vgl.  Kr.  S.  125,  —  Eine  Häufung  solcher 
Fälle,  aber  doch  nicht  in  derselben  Ausdehnung,  ist  übrigens  dann  wieder  am 
Ende  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  zu  bemerken,  vgl.  auch  B.  W.  S.  30. 

Es  läßt  sich  beobachten,  daß  eine  Familie  in  derselben  Stellung  selten  über 
vierhundert  Jahre  aushält.  Nach  rückwärts  gerechnet  käme  man  also  hier  auf 
die  Zeit  Karls  des  Gr.,  und  so  tatsächlich  in  eine  Periode,  in  der  ganz  Südost- 
deutschland zahlreich  mit  neuen  Herrengeschlechtern  bevölkert  wurde.  Man 
kann  aber  auch  daran  denken,  daß  damals  der  durch  die  Kreuzzüge  hervor- 
gerufene Kräfteverlust  nachgewirkt  hat.  Den  Ursachen  dieser  Erscheinung  nach- 
zugehen, ist  jedoch  überhaupt  mißlich;  denn  wie  die  Schneelawine  aus  unendlich 
vielen  Schneeflocken  zusammengesetzt  ist,  so  ist  auch  dieses  Problem  nur  ein 
Konglomerat  über  das  Entstehen  und  Vergehen  vieler  einzelner  Menschenleben, 
und  es  ragt  daher  in  jenes  Gebiet  hinein,  das  sich  von  vornherein  jeder  strikten 
Erkenntnis  entzieht. 

19. 

Zu  den  mittelalterlichen  Burganlagen  ist  noch  zu  sagen,  daß  bei  diesen  das 
Vorhandensein  unterirdischer,  zur  Flucht  bestimmter  Gänge  doch  vielleicht  nicht 
so  völlig  in  das  Gebiet  der  Fabel  zu  verweisen  ist,  wie  es  gewöhnlich  geschieht. 
Wer  nur  das  Gegenwärtige  vor  sich  sieht,  wird  mit  Recht  geltend  machen,  daß 
solche  Anlagen  unendlich  schwer  auszuführen  waren,  außerdem,  selbst  wenn 
vorhanden,  schwer  unbekannt  und  vom  Feinde  leicht  wirkungslos  gemacht  werden 
konnten.  Es  muß  aber  auch  in  Betracht  gezogen  werden,  was  vergangen  und 
vergessen  ist,  das  entsetzliche  Schicksal,   das  nach  einer  langen  Belagerung  den 


296  Anhänge. 

Überwundenen  erwartete;  man  denke  nur  an  das  Los  der  Kufsteiner  Besatzung 
noch  im  J.  1504  (Schw.  S.  6).  Daher  liegen  wenigstens  dort  solche  Fluchtmittel 
im  Bereich  der  Möglichkeit,  wo  eine  langandauernde  feudale  Entwickelung  be- 
standen hat,  die  über  große  Mittel  verfügte.  Unbewiesene  Annahmen  von  dem 
Vorhandensein  unterirdischer  Gänge  existieren  in  Kapsburg  (Schw.  S.  77),  Traut- 
son  (Matrei),  Klausen  a.  E.  (von  der  Stadt  nach  Sehen)  und  in  Salzburg  (von  der 
Residenz  nach  Hohensalzburg).    Vgl.  auch  Sehe.  III.  B.  S.  176f;  Sa.  L.  XXI.  S.  11. 

20. 
Oehlmann  (Oe.  I.  S.  186f.)  weist  darauf  hin,  daß  von  den  Wegen  der  West- 
alpen der  Mont  Cenjs  am  meisten  die  Bedingung  westöstlicher  Richtung  erfüllt, 
und  führt  hierauf  dessen  Benutzung  im  Mittelalter  vorwiegend  zurück.  Dies 
scheint  jedoch  deshalb  nicht  stichhaltig  zu  sein,  da  gar  kein  Grund  vorliegt, 
warum  den  Römern,  die  gerade  in  den  Westalpen  ihr  Straßennetz  ganz  syste- 
matisch ausgebaut  hatten,  dieser  Umstand  entgangen  sein  sollte. 

21. 

Man  könnte  einwenden,  daß  bei  einer  deutschen  Bewegung  von  Süd  nach 
Nord,  wie  sie  hier  angenommen  wird,  die  deutschen  Uris  dann  doch  wahrschein- 
lich gleichfalls  aus  dem  Süden  gekommen  sind,  und  daß  schon  diese,  um  ihren 
Weg  überhaupt  auszuführen,  die  Schlucht  der  Schöllenen  vorher  hätten  wegbar 
machen  müssen.  Diese  Schwierigkeit  ist  zuzugeben.  Um  so  wichtiger  mußte  es 
daher  dem  Verfasser  sein,  als  er,  lange  nachdem  er  seine  Ansicht  trotzdem  nicht 
anders  niedergelegt  hatte,  bei  einer  nochmaligen  Durchsicht  der  Abhandlung 
Schibers  dessen  Äußerung  entdeckte,  daß  dieser  „sich  die  deutschen  Siedler  des 
Reußtales  nicht  vom  Gotthard  sondern  vom  Sustenpasse  kommend  denkt" 
(Z.  A.  1903.  S.  72.  A.  1.). 

Auch  Schulte  (Schu.  S.  217  f.,  S.  171  f.)  ist  hinsichtlich  der  Art  der  treibenden 
Kraft  derselben  Ansicht;  er  legt  jedoch  die  Richtung  dieser  ganzen  Bewegung 
von  Nord  nach  Süd,  nicht  von  Süd  nach  Nord. 

22. 
Oehlmann  (Oe.  II.  S.  188),  der  bei  der  Reise  des  Kaisers  von  Trient  nach 
Chur  zunächst  an  die  gerade  Linie  denkt,  gerät  dabei  richtigerweise  zunächst 
auf  den  Ofenpaß,  wenn  man  nicht  aber  überhaupt  bei  jenem  überraschenden, 
energischen  Entschluß  auch  an  andere  ungewöhnliche  Alpenwege  denken  kann. 
Bemerkt  sei,  daß  —  aber  doch  wohl  ohne  jeden  besseren  Grund  —  für  die 
rweite  Hälfte  dieser  Reise  sonst  zumeist  der  Julier  genannt  wird  (M.  Schw.  S.  82; 
Da.  I.  B.  S.  147,  wo  übrigens  auch  die  Jahreszahl  1215  steht.  Vgl.  auch  Schu.  S.  91). 

23. 
Ein  Unglück  ist  es  nicht,  wenn  darüber  so  viele  verschiedene  Meinungen 
existieren,  wie  weit  ostwärts  in   die  Alpen   sich  die  Grenze  des  alemannischen 


Anbinge.  297 

Vordringens  erstreckt  hat.  Wir  sind,  wie  einem  alten  guten  Hausmittel  der 
Ansicht  Steubs  gefolgt,  der  auch  einmal  gesagt  hat,  „daß  an  der  Malser  Haide 
die  letzten  Schwaben  wohnen".  Beda  Weber  (B.  W.  S.  18  f.)  läßt  Alemannen  aus 
dem  Oetztal  auch  in  das  Hinterpasseier  kommen;  im  Sarntal  sind  die  Bauern- 
häuser jedenfalls  ganz  den  schwäbischen  ähnlich,  und  nach  Christomannos  (Z.  A. 
1900.  S.  323)  soll  dies  hinsichtlich  der  Mundart  sogar  bei  den  Bewohnern 
Dcutschnofens  der  Fall  sein.  Neuerdings  (54.  G.  Pr.  Innsbruck  S.  36)  hat  freilich 
Zoesmair  wieder  die  Alemannen  mit  Stumpf  und  Stiel  aus  ganz  Tirol  verbannt. 

24. 

Auch  die  Vornamen  der  alten  Eppaner  Grafen  bestätigen  diese  Tatsache; 
denn  bei  ihnen  findet  sich  nicht  nur  der  bei  den  alten  Weifen  besonders  charak- 
teristische Elicho  =  Egno,  sondern  auch  alle  anderen  gebräuchlichen  wie  Heinrich 
und  Arnold. 

Nach  Atz  (Atz.  S.  5)  liegt  bei  Leifers  ein  Seslbrunnen  =  Ezilobrunnen,  ein 
Name,  der  daher  auch  mit  diesem  Geschlecht  zusammenhängen  kann.  Vgl.  auch 
Archiv  für  österreichische  Geschichte  63.  B.  S.  642. 

25. 
Auch  die  Heiligennamen  an  dieser  Stelle  (S.  Johann,  Anton,  Georg),  be- 
sonders aber  S.  Peter  und  Martin,  jene  alten  Herren,  geben  zu  denken.  Est  ist 
übrigens  bemerkenswert,  daß  Neeb  und  Atz  (N.  A.  S.  90),  die  als  Ortskundige 
besonders  Bescheid  wußten,  „die  hohe  fernere  Bedeutung  der  Ausmündung  des 
Sarntales  seit  älteren  Zeiten"  einfach  als  bekannt  voraussetzen,  als  Ursache  hier- 
für nehmen  sie  aber  zweierlei  zugleich,  einmal  den  Grenzschutz  und  ebenso  die 
Belebtheit  des  Weges  durch  das  Sarntal  an. 

26. 
Wenn  die  Tatsache  auch  nicht  erweisbar  ist,  daß  nach  diesem  Ort  jener 
Hartmann  benannt  war,  der  sich  im  J.  1168  in  Susa  im  Gefolge  Friedrich  Barba- 
rossas befand,  so  liegt  sie  doch  um  deswillen  durchaus  im  Bereich  der  Mög- 
lichkeit, weil  ein  wirklich  hierher  gehöriger  Heinrich  im  J.  1220  in  der  Um- 
gebung Friedrichs  II.  anzutreffen  ist  (Erb.  S.  150).  Ein  anderer  Ort  dieses 
Namens  liegt  bei  Meißen,  ein  anderer  in  Schlesien. 


Druckfehler  -Verzeichnis. 

Es  muß  lauten,  Zeile  1  von  oben  auf 

S.  98  anstatt  V.  Kapitel  VlI.  Kapitel, 

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