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Verkehrsgeschichte der Alpen
I. Band
f Bis zum Ende des Ostgotenreiches Theodorichs des Großen ")
von
P. H. Scheffel
Königl. Sachs. Hauptmann z. D.
Berlin 1908 - f-f-
Dietrich Reimer (Ernst Vohsen)
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von J.J. Augustin in Glückstadt.
Inhalt.
I. Kapitel.
Die Alpen in der Geschichte Europas. — Die drei Arten des über die Alpen
gegangenen geschichtlichen Verkehrs. — Die großen historischen Persönlichkeiten
und die Alpen 1
Einfluß der Gebirge auf den menschlichen Verkehr. — Einfluß der Alpen auf den Gang
der Geschichte Europas. — Kulturbeziehungen der Alpen zum Orient. — Die drei Arten des über
die Alpen gegangenen geschichtlichen Verkehrs. — Einfluß der Alpen auf die kriegerischen Be-
wegungen. — Völkerbewegungen und Völkerbildungen in den Alpengebieten und die Abhängigkeit
jener von dem Bau des Gebirges. — Der Handelsverkehr in den Alpen und sein Verhältnis zu
den politischen und ethnologischen Ereignissen. — Die Alpen und die geschichtliche Persönlich-
keit. — Die großen Feldherren in den Alpen. — Die grundlegende Tätigkeit großer Herrscher in
den Alpen; die Entstehung der Schweiz als Staat.
II. Kapitel.
Die Römer der Republik und die Alpen. ...... 14
Lage der Alpen an der Nordseite der antiken Kultur. — Besondere Abneigung der Römer
gegen die Alpen und deren Folgeerscheinungen: Vermeiden des Alpenlandes als Kriegsschauplatz
durch die römischen Feldherren und Vorliebe des römischen Reiseverkehrs für Umgehung des
Hochgebirges. — Die römische Eroberung Italiens bis zum Südfuß der Alpen. — Strategische Be-
wertung der Nordgrenze Italiens durch die Römer der Republik. — Fortschreiten der römischen
Eroberung entlang des Westendes und entlang des Ostendes des Gebirges; Aquileja. — Die ersten
Feldzüge der Römer im Bereich der Alpen: Hannibals Alpenüberschreitung, Stellungnahme zur
Frage des genauen Übergangs; der Cimbernkrieg, Noreja; Katulus an der Etsch.
III. Kapitel.
Völker und Wege in den Alpen vor der römischen Eroberung. . . 27
Die Völker.
Die dem römischen Volkstum überall und auch gegenüber den Alpenvölkern innewohnende
erobernde Kraft. — Das Völkerbild der Alpen vor der römischen Eroberung, seine Grundlage,
VI
Inhalt.
die keltische Völkerwanderung. — Der Zug derselben. — Norditalien vor Einwanderung der
Kelten. — Die Kelten in Norditalien und in den Alpen, Ansiedelungsart der Kelten daselbst. —
Die Hallstadt-Kultur, Rolle des Nordrandes der Ostalpen bei den alten Völkerbewegungen. — Die
Räter, Umfang des von ihnen bewohnten Gebietes. — Die rätischen Ortsnamen. — Gründe
für die Eigenartigkeit des rätischen Volkes. — Gründe für die Zugehörigkeit der Etrusker- Räter
zu den Semiten. — Von den Rätern herrührende Eigenschaften des heutigen tiroler und bündner
Volkes.
Die Wege.
Neigung der alten Verkehrswege, die Alpen westlich und östlich zu umgehen. — Die ge-
schichtlich und archäologisch nachweisbaren vorrömischen Alpenstraßen.
IV. Kapitel.
Die Eroberung der Alpenländer durch die Römer 42
Cäsars Tätigkeit in und an den Alpen. — Unvollständigkeit der Überlieferung von der
römischen Unterwerfung der Alpen, Augustus der geistige Urheber dieser römischen Eroberung. —
1. Periode: Augustus im Osten der Alpen. — 2. Periode: Die Eroberung der Alpen, ein Teil des
großen Planes für den Feldzug zur Unterwerfung Germaniens, Feldzugsplan und Verlauf der mili-
tärischen Operationen gegen die Räter; Drusus; Provinz Norikum. — 3. Periode: Vollständige
Unterwerfung der Ostalpen. — Strategische Bewertung des Gebirges durch Augustus und dessen
Kulturarbeit in den Alpenländern. — Die von Augustus gebauten Straßen im Gebiet der West-
alpen und in dem der Ostalpen. — Politische Organisation der Alpenprovinzen, Andenken des Augustus
in den Alpen. — Die Alpenländer unter den späteren Kaisern bis Antoninus Pius; das Dekumatland.
V. Kapitel.
Die Alpenländer als römische Provinzen 61
Zustand der Alpenländer im zweiten Jahrhundert nach Gh. — Umbildung der Bevölkerung
zu Lateinern. — Überlegenheit der damaligen römischen Militäreinrichtungen, das Wesen der
römischen Befestigungskunst in den Alpen. — Bauart der römischen Alpenstraßen, die Höhe ihres
Laufes, ihre stete Benutzbarkeit und ihre Dauerhaftigkeit. — Die römischen Ortsgründungen in
den Alpen. — Vergleich des römischen alpinen Wegenetzes mit dem heutigen Eisenbahnnetz. —
Geschichtliche Wirkung der die Alpen durchteilenden Vertikalgrenze. — Schicksal der Alpenländer
unter dem römischen Weltreich.
VI. Kapitel.
Die Römerstraßen der Alpen 75
Die Straßen im Westen der Alpen bis zum Simplon.
Die ligurische Küstenstraße. — Die Straße über den Mont Genevre. — Die Straße über den
Kleinen und diejenige über den Großen Sankt Bernhard. — Der Simplon. — Die Schweizer Hoch-
ebene und die Zentralschweiz.
Die Straßen durch Rätien.
Como und Chiavenna. — Die Splügenstraße. — Der Julier und der Septimer. — Die Linie
Chur-Bregenz. — Inner-Rätien. — Die Meilensteine des Klaudius und die Römerstraße durch das
Vintschgau bis Landeck. — Der Arlberg. — Der Brenner, Vorzüge seiner Lage, seine südliche
Inhalt. VII
Basis zur Römerzeit, Verona und Trient. — Der Nonsberg und der Sulzberg. — Die Strecke von
Trient über Bozen bis Meran. — Der Jaufen. — Eisak- und Silltal bis Innsbruck. — Die Linien
des Fernpasses, der Scharnitz und des Unterinntals.
Die Straßen der Ostalpen.
Charakteristik der Straßen der Ostalpen. — Unterschied zwischen der Verkehrskonstellation
Venetiens zur Römerzeit und derjenigen der späteren Zeiten. — Die Ploeckenstraße. — Die Puster-
tallinie. — Juvavum, sein Gebiet und die Tauern-Übergänge. — Aquileja. — Die Pontebba-Straße
und Virunum. — Die Radstädter-Tauernstraße. — Die Rottemanner-Tauemstraße. — Das Semme-
ring-Gebiet. — Die Straße über den Birnbaumer Wald.
VII. Kapitel.
Die Alpen und die germanische Völkerwanderung 131
Wesen der germanischen Völkerwanderung und ihre Wirkung auf das römische Reich. — Die
Beschaffenheit beider Gegner. — Die Lage der Alpenländer inmitten dieser Bewegung und ihre
Rolle im damaligen römischen Verteidigungssystem.
VIII. Kapitel.
Die Kriegsgeschichte der Alpenländer von Mark Aurel bis Probus. . 138
Die Ostalpen während und nach den Markomannenkriegen. — Art und Absiebt der Straßen-
bautätigkeit des Septimius Severus. — Die Alpen während der Alemannenkriege im dritten Jahr-
hundert nach Gh. und die durch diese Kriege herbeigeführte Umgestaltung des mitteleuropäischen
Kriegstheaters.
IX. Kapitel.
Das vierte Jahrhundert nach Ch. und die Alpenländer. . . . 150
Die Mittelalpen.
Der neue römische Verteidigungsapparat in den Mittelalpen: Wichtigkeit der Straßen durch
Bünden und die Befestigungen an der Rheinfront durch Konstantius Chlorus. — Die Teilung
Rätiens. — Die Veränderung des militärischen Bildes in Oberitaiien, Mailand und Verona.
Die Ostalpen.
Die strategische Wichtigkeit der Wiener Ebene für die Römer während der germanischen
Völkerwanderung. — Der Quadenkrieg und die gleichzeitigen römischen Rüstungen in den Süd-
ostalpenländern. — Der Verlust Carnuntums und seine Folgen. — Das Schicksal Norikums.
X. Kapitel.
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches im fünften Jahr-
hundert nach Ch 163
Die Ereignissein Norditalien.
Stilicho und seine Alpenfeldzüge. — Die Folgen dieser Kriege für die Römer: Der Verlust
Süddeutschlands, Augsburg, Kempten, Salzburg, Lauriacum. — Pannonien. — Venetien und der
Einfallsweg nach Italien während der letzten Zeiten der Völkerwanderung. — Bedeutung und
Schicksale der an dieser Linie gelegenen Städte: Pettau, Cilli, Laibach, Aquileja, Padua, Verona
und Mailand. — Friaul und die Entstehung des heutigen furlaner Volkes.
Ylll Inhalt.
Die Schicksale der eigentlichen Alpenländer.
Die römische Nordschweiz während der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts und der
Verlust derselben an die Alemannen. — Volksleere der Schweizer Hochebene im fünften Jahr-
hundert. — Der Große Sankt Bernhard und seine ununterbrochene Benutzung. — Die Rolle der
Straßen der Westalpen bis zur Riviera im fünften Jahrhundert; frühzeitiges Erscheinen des
Christentums daselbst. — Rätien im Gebirge und seine fortdauernde Zugehörigkeit zu Italien;
Nachlassen des Durchgangsverkehrs. — Meran und das Erscheinen des Christentums in Südtirol. —
Gründe der Abgeschlossenheit Graubündens und das durch dieselbe ermöglichste Weiterbestehen
der altrömischen Einrichtungen in diesem Lande. — Die Churer Bischofsgewalt. — Das Alpenge-
birge im Allgemeinen und Graubünden insbesondere als Fluchtland der Völkerwanderung; die
Funde römischer Münzen in den Alpen. — Das südliche Vorland Graubündens; Comacina am
Komer-See und Como.
XL Kapitel.
Die Alpenländer unter Theodorich dem Großen 195
Gründe für den inneren Zusammenhang des Ostgotenreiches Theodorichs mit dem römischen
Altertum. — Behandlung und Gestaltung der nördlichen Alpengrenze Italiens unter Theodorich. —
Der Lauf dieser Grenze. — Nachrichten über die Verbreitung der ostgotischen Garnisonen in
den Alpen; die militärische Handhabung des Grenzschutzes im Gebirge durch Theodorich; Verona
und Trient. — Schicksal der Alpenländer während des Zerfalls des Ostgotenreiches. — Die Rolle
des Alpengebirges während des Anbrechens des Mittelalters in Europa.
Anmerkungen 204
I. Kapitel.
Die Alpen in der Geschichte Europas. Die drei Arten des über
die Alpen gegangenen geschichtlichen Verkehrs. Die großen
historischen Persönlichkeiten und die Alpen.
Die Absicht, aus der dieses Buch geschrieben ist, erklärt sich aus den
Worten seines Titels. Wenn Menschen, zu welchen Zeiten und unter welchen
Kulturverhältnissen dies auch gewesen sein mag, das Bedürfnis hatten, in gegen-
seitige Wechselbeziehungen zueinander zu treten, so hat den dadurch hervor-
gerufenen Verkehr das Fehlen natürlicher oder künstlicher Hindernisse wohl stets
von vornherein erleichtert und gefördert. Waren solche Hindernisse aber vor-
handen, so mußten sie schon sehr stark sein, um einen Verkehr, der sich einmal
geltend machen wollte, ganz abzuschrecken oder zu verhindern. Die Regel ist,
daß der Menschenwille es schließlich trotzdem mit den mannigfachsten Mitteln
erreicht hat, die ihm entgegenstehenden Verkehrshindernisse durch Umgehung
oder Überwindung zu besiegen.
Erst mit dem Fortschreiten der Kultur ist die Menschheit immer mehr da-
zu gelangt, ihre Verkehrsmittel immer künstlicher zu gestalten und so auch die
natürlichen Hindernisse leichter zu überwinden. Von je her haben aber nicht
jene künstlichen Verkehrsmittel, sondern die von der Natur einmal geschaffenen
Verkehrsbedingungen die Übermacht über die Gestaltung alles Verkehrslebens
behauptet. In der Art, wie die Natur Land, Meere, Gebirge und Flüsse an-
einandergeschoben und zusammengebaut hat, so und nicht anders hat es zu-
nächst die Menschheit annehmen müssen, um in dieses Gebilde die Bahnen
ihres Verkehrs hineinzulegen oder bei entgegengesetzter Absicht auf Mittel zu
sinnen, deren Herstellung zu verhindern.
Wenn wir nun die Stärke, mit der die natürlichen Gebilde dem Verkehr
der Menschen untereinander hinderlich oder förderlich gewesen sind, abschätzen,
ScheffeJ, Verkebrsgescbicbie der Alpen. 1. Bind. 1
2 I. Kapitel.
wird sich finden lassen, daß Meer und Fluß, so verkehrsfeindlich diese auf den
ersten Blick auch dem Naturmenschen erscheinen mögen, gerade am bereit-
willigsten der aus dem Naturzustand zur Kultur fortschreitenden Menschheit die
Mittel des Verkehrs an die Hand gegeben haben, während die Gebirge dagegen
zu allen Zeiten weit mehr ein Mittel der Trennung als der Verbindung gewesen
sind. Je höher und gestreckter ein Gebirge ist, um so sicherer hat es in der
Regel als Trennungslinie für die menschlichen Kulturzonen, deren Grenzen sich
an dasselbe lagern mußten, gewirkt. Die Menschen südlich und nördlich des
Himalaya sind grundverschieden voneinander; der Kaukasus hat, seitdem man
überhaupt von einem Occident sprechen kann, die Trennung desselben vom Orient
übernommen, und die Pyrenäen haben die ihnen anliegenden Länder stets der-
artig voneinander geschieden gehalten, daß diese seit Ende des römischen Alter-
tums niemals mehr wieder ein politisch geeintes Gebilde abgeben konnten, und
auch Böhmen hat es allein den es abschließenden Gebirgen zu verdanken ge-
habt, daß es in der Länderkarte Mitteleuropas unter den vielen im bunten Wechsel
entstandenen und vergangenen Gebilden stets ein eigenartiges, und zuweilen be-
sonders lebenskräftiges und selbständiges Dasein geführt hat. Nur ein südlich
gelegenes Zentrum konnte es schließlich erreichen, Böhmen längere Zeit an sich
zu ziehen, weil jenem Lande an dieser Seite allein der Gebigsabschluß fehlt.
Auch heute noch ist Europa der Hauptschauplatz menschlicher Geschichte;
und es ist, lediglich abgesehen von den frühesten Zeiten menschlichen Denkens
und der neuesten Zeit, auch stets der einzige Schauplatz jener gewesen. Eine
eigene Schickung hat es nun gewollt, daß sich gerade im Mittelpunkt dieses
Erdteils, in dem bislang fast jeder menschliche Fortschritt emporgewachsen ist
und sich somit auch allein alle das tiefere Interesse herausfordernden geschicht-
lichen Vorgänge abgespielt haben, eines der höchsten und räumlich ausgedehntesten
Gebirge der Erde, die Alpen erheben. Merkwürdige Konsequenzen sind es, die
sich zunächst bieten, wenn wir einmal den Fall setzen, daß an der Stelle, wo
die Alpen liegen, sich eine große Ebene ausbreiten würde. Gehen wir bei
dieser Annahme zunächst von dem heutigen Zustand der Erde aus, so müßten
wir bei der Nivellierung aller europäischen Kulturverhältnisse, die sich aus dem
Fehlen des Alpengebietes ergeben müßte, unmittelbar vor der Verwirklichung
der Idee der Vereinigten Staaten von Europa stehen. Fassen wir dagegen den
Gang der geschichtlichen Ereignisse von alters her ins Auge, so können wir
ein Gefühl des Dankes nicht unterdrücken, daß es so und nicht anders gewesen
ist; denn ohne die trennende Schutzmauer der Alpen wäre es dem Römertum
niemals gelungen, seine Herrschaft und Kultur zu jener bewunderungswerten
Ausdehnung und Tiefe auszugestalten: der Sieg der keltischen und der ge-
waltigen germanischen Völkerwanderung wäre von vornherein so früh und voll-
ständig eingetreten, daß mit ihm alle lebenskräftigen Keime des Altertums, vor
.allem auch die kostbarste unter ihnen, das Christentum, ihren Tod gefunden hätten.
Die Alpen in der Geschichte Europas. 3
So hat die Menschheit den Alpen, indem diese wie alle anderen Gebirge
in erster Linie scheidend und trennend gewirkt haben, zunächst einen ungeheuren
Segen zu verdanken. Es ist dies aber nur die eine grundlegende Seite ihres
Einflusses auf die Geschichte gewesen. Auch nach der anderen entgegengesetzten
aber nicht minder wichtigen Beziehung haben die Alpen gleich stark auf die
europäische Geschichte gewirkt. Darin gerade unterscheiden sich die Alpen
von den anderen Gebirgen, daß bei ihnen das natürliche Moment der Trennung,
das die Gebirge überall hervorzubringen pflegen, nicht allein nicht vorherrscht,
sondern daß sie trotz ihrer Massenhaftigkeit, stärker selbst als andere weniger
bedeutende Höhenzüge, verkehrsfreundlich gewesen sind. Und um so um-
fassender mußte auch dies in seinen Folgen werden, weil die Alpen gerade in
der Mitte des alten Europas gelagert sind. Selbst die Pyrenäen und Karpathen
haben fast stets zwei politisch verschiedene Gebilde voneinander getrennt,
während das viel höhere Alpengebirge es zugelassen hat, daß im römischen
Altertum volle vier Jahrhunderte hindurch die Länder nördlich und südlich
seines Kammes zu demselben Reiche gehörten. Aber auch im Mittelalter war
ein halbes Jahrtausend lang ein Hauptgrundsatz des politischen Denkens die Ver-
einigung Deutschlands und Italiens in einer Hand. Uns heute in der Zeiten
Ferne ist es zwar leicht gemacht, sofort das Phantastische, die vollständige Igno-
rierung aller aus der natürlichen Geographie aufsteigenden realen Mächte, von
der diese Idee ausgeht, herauszufühlen. Es war aber doch die aus dem Ideen-
gehalt der damaligen Zeiten hervorgehende mächtige Wucht der Tatsachen, die
in den Römerzügen der deutschen Könige, einem nach dem andern, diese An-
schauungen in die Wirklichkeit zu versetzen suchte. Und selbst in der neueren
Zeit hat der hohe Alpenwall im Norden Italiens es ebensowenig verhindern
können, daß dieses Land Jahrhunderte hindurch den fast einer Fremdherrschaft
gleichenden Einflüssen fremder Mächte überliefert war.
Die glückliche Mischung nördlicher und südlicher Elemente ist es, die den
reichen Inhalt der europäischen Kultur ausmacht. Zu dieser Gestaltung der
Dinge hat aber das Wesen der Alpen die Hauptsache beigetragen, indem diese
teils hemmend teils wieder fördernd, aber stets mit einem schönen Gleichmaß
in den Wechsel der europäischen Kulturbeziehungen eingegriffen haben. Geht
man freilich auf die frühesten Anfänge der europäischen Kultur zurück, so findet
sich, daß diese aus der Fremde, aus dem Orient, ihren ersten Ursprung ableiten.
Schon längst hat zwar der orientalische Einfluß auf Europa an seiner früheren
Kraft verloren, aber ein sprechendes Zeugnis, wie sehr überhaupt in dem
Teile Europas, der die Alpen einschließt, die Fäden aller Kultur von alters her
zusammengelaufen sind, ist es doch, daß das, was der Orient auch späterhin
von Einfluß auf Europa hinüberzusenden hatte, gerade an den beiden Enden der
Alpen, dem Ost- und Westende, da, wo sie sich auf das Alles verbindende
Meer stützen, mit Vorliebe an das Land gestiegen und von dort aus zu uns
1»
4 I. Kapitel.
hineingewandert ist. Aber auch heute leiten noch mitten aus Innereuropa, von
dem Meerbusen von Genua und der Nordspitze der Adria aus, unsichtbare
Fäden nach dem Orient hinüber.
Es hat Zeiten gegeben, in denen sich das Gestade der ligurischen Riviera
wie eine Kolonie des Ostens auf westeuropäischem Boden ausgenommen hat.
Auf die Phönizier (Monaco) folgten hier die Griechen (Massilia, Nicaea, Mentone,
Antipolis- Antibes). Hier blieben dann auch, als ringsherum schon längst alles
Land den Franken und Langobarden untenan war, die byzantinischen Statthalter
heimisch, denen später ah dem gleichen Gestade die See- und Straßenräuber-
kolonien der Sarazenen folgten. Hier sammelten sich die Scharen der nach
Asien ziehenden Kreuzfahrer, und auch in der Jetztzeit hat die Eröffnung des
Suezkanales Genua wieder zu einem ganz neuen Leben emporgebracht.
Ein gleiches Bild bietet sich aber auch an dem gegenüberliegenden Ende,
an der Nordspitze der Adria. Auch hier weisen schon die Ursprungssagen der
ältesten Einwohner, der Veneter, nach dem Osten. Im Altertum war Aquileja
tatsächlich die Schwelle des Orients, und es wurde deshalb auch in Italien
nächst der Hauptstadt Rom die erste Pflanzstätte des aus dem Osten gekommenen
Christentums. Auf dem östlichen Vorlande dieser Stadt fielen in der späteren
Kaiserzeit zumeist die ersten Entscheidungen über die aus dem Orient nach
Italien ziehenden Thronprätendenten, und die Kaiser von Byzanz behielten auch
auf diesen Landstrich noch lange ihren Fuß gesetzt, als im übrigen Abendland
ihre Macht schon längst verschwunden war. Venedigs Blüte und Bedeutung
ging allein daraus hervor, daß es für das Mittelalter die Rolle Aquilejas in ver-
größertem Maßstabe übernahm, und das Dasein des in byzantinischem Stile auf-
geführten Markus -Domes und der Fondaco dei Turchi sind heute noch die
Zeugen, wie sehr auf diesem Stadtboden orientalisches Wesen sich heimisch
fühlte. Auch die Bedeutung der Erbin Venedigs, von Triest, beruht heute in der
Hauptsache auf den zahlreichen Verbindungen, die von hier nach dem Orient abgehen.
In dreierlei Hinsicht hat sich nun der über die Alpen gehende Verkehr,
seitdem diese in das Licht der Geschichte eingetreten sind, betätigt, in ethno-
logischer, kriegerisch -politischer und handelsgeschichtlicher Beziehung, jedoch
so, daß Erscheinungen, in denen sich derselbe nach der einen oder anderen
Hinsicht ganz rein und unvermischt beobachten ließe, äußerst selten sind. Die
Regel ist, daß die eine Art des über die Alpen gehenden Verkehrs mit der
anderen Hand in Hand läuft, die eine die Ursache der anderen wird, oder an
die andere anknüpfend ihr nachfolgt. Hat ein Volksstamm erst still und un-
beobachtet in den Alpen Platz genommen, so muß er sich zumeist dann doch
noch den Nachbarn gegenüber auf kriegerische Weise die Daseinsberechtigung
erkämpfen (die Kämpfe der Bayern und Slaven im Pustertal zu Beginn des
Mittelalters), oder umgedreht die kriegerischen Ereignisse und die politischen
Veränderungen in deren Gefolge schaffen wie nach dem Gesetz der Schwere
Die Alpen in der Geschichte Europas. 5
den Raum für das siegreiche Volk und dessen Kultur (die Latinisierung der
Räter nach der römischen Eroberung), die nun die eroberten Gebiete tatsächlich
besetzen. Andererseits führt aber auch die in einem der den Alpen anliegenden
Gebieten erstarkte politische Macht und die erhöhte Sicherheit des Besitzes zur
Belebung des Handels hinüber und herüber (der Aufschwung Mailands nach
Verdrängung der deutschen Kaisermacht aus Italien), oder wenn durch lang-
andauernden Handel und Wandel hüben und drüben gleiche Kulturen und ähn-
liche Lebensbedingungen geschaffen worden sind, so tritt dieser Zusammenschluß
dann wieder in die Erscheinung durch politische Ereignisse (der Zusammenschluß
der Ostalpen unter Österreich; die zugewandten Orte der Schweizer Republik).
Die Darstellung der aus kriegerischen und politischen Anlässen hervor-
gegangenen Verkehrsbewegungen in den Alpen bietet die geringsten Schwierig-
keiten, da diese in solchen äußeren Ereignissen ihren bestimmten Ausdruck
gefunden haben, deren Kunde am ehesten der Geschichte erhalten bleiben konnte.
Eine Geschichte der Schicksale, von der die einzelnen Alpenstraßen in der
Folge dieser äußeren Ereignisse betroffen worden sind, ist daher dasjenige, was
sich für die Darstellung der Masse der Verkehrsbeziehungen, in denen die
Menschheit zu den Alpen gestanden hat, am dankbarsten heraushebt. Das
charakteristische Merkmal haben zunächst alle in den Alpen ausgefochtenen
Kriegsereignisse an sich gehabt, daß sie allein für sich keine großen Ent-
scheidungen darstellen, sondern nur als die Vorbereitungen oder Folgeerschei-
nungen solcher Entscheidungen auftraten, die in den Ebenen südlich oder nördlich
des Gebirges gefallen sind. Am deutlichsten läßt sich dies bei allen Kämpfen,
in denen die Parteien in nördlicher und südlicher Front gegenüberstanden, beob-
achten. Nicht die Eroberung der Alpen durch die Römer brachte die Unter-
werfung Galliens, sondern diese die Eroberung der Alpen mit sich; die ent-
scheidenden Kämpfe der Völkerwanderung spielten sich nicht in den Alpen,
sondern zuerst nördlich und dann südlich des Gebirges ab, und im Mittelalter
ist kein deutscher Fürst auf einem Römerzuge in den Alpen selbst umgekehrt.
In den Kämpfen der letzten Jahrhunderte haben sich die Parteien dagegen zumeist
in westlicher und östlicher Front gegenüber gestanden, aber auch dann lag das
Hauptkriegstheater auswärts, während die Alpen nur ein Nebenschauplatz waren.
In den Fällen dieser Art, in denen die Partieen wirklich bis zu Ende ausgespielt
worden sind, wie in den Kriegen Napoleons I. gegen Österreich, haben dessen
Siege in den Ebenen auch eine Besetzung des anliegenden Alpenlandes durch
den Sieger nach sich gezogen.
Der Grund zu diesem Allem liegt offensichtlich in der Natur des Gebirgs-
landes selbst, dessen Oberfläche, zu kompliziert und für ausholende Bewegungen
zu schwierig, den für die Herbeiführung großer Entscheidungen nötigen freien
Raum nicht bietet. Napoleon I. ist in den ersten Jahren seiner aufsteigenden
kriegerischen Kraft gerade die strategische Bewertung der Alpen derart trefflich
Q I. Kapitel.
gelungen, daß sein Eingreifen in vericehrsgeschichtlicher Beziehung für dieses
Gebirge eine neue Zeit heraufführen konnte. Der Ausspruch desselben aber,
daß in den Alpenkämpfen der Verteidiger im Vorteil sei, kann nur vom rein
taktischen Standpunkte aus gemeint sein; denn für diejenige Partei, die große
Entscheidungen sucht, fehlt trotz aller formidabeln Stellungen, die das Alpen-
gebirge überall und zu allen Zeiten dem Verteidiger geboten hat, hier doch der
zur Herbeiführung des letzten Zieles, d. h. der angriffsweisen Vernichtung des
Gegners, nötige Raum. Jener Mangel, den die aktive Verteidigung hier findet,
hat es daher im Gegensatz zu Napoleons Ausspruch herbeigeführt, daß in den
Alpenkriegen kaum ein Fall zu finden ist, in dem die Verteidigungsstellungen
schließlich nicht doch genommen worden wären, weil das unübersichtliche Ge-
birge dem Angreifer viel zahlreichere und viel verstecktere Rinnen bietet, die
feindliche Position an ungeahnter Stelle zu fassen.
Dagegen ist es viel schwieriger, den Verlauf der über die Alpen gegangenen
Völkerbewegungen in bestimmte Ereignisse zu fassen. Das Auftreten, die Aus-
breitung und das Verschwinden der Völker in den von ihnen bewohnten Gebieten
vollzieht sich zumeist als langandauernde aber stille Folge der politischen Ver-
änderungen. Ereignisse, deren zeitliche Dauer kaum ein Jahr ausfüllt, vermögen
nach dieser Seite hin Nachwirkungen im Gefolge zu haben, die Jahrhunderte
lang andauern. So zog die Tatsache der römischen Eroberung der Alpen die
Umbildung der dieses Gebirge bewohnenden Völker in Romanen nach sich.
Der Zerfall des Römerreichs lieferte dann wieder die Nordhälfte des Gebirges,
einer von Norden kommenden germanischen Besiedelung aus, einer Bewegung,
die das ganze Mittelalter hindurch bald stärker bald schwächer fortgewirkt hat.
Auch wissen wir zwar, daß von der kriegerischen Abweisung der Slaven durch
die Bajuvaren im Pustertal einst die deutsche Kolonisation der Ostalpen ihren
Ausgang genommen hat. Wie diese aber dann im einzelnen vor sich gegangen,
wann sie schließlich zum Stehen gekommen und ein anderes an ihre Stelle ge-
treten ist, läßt sich nicht genau erkennen. Bei allen diesen Völkerbewegungen
sehen wir demnach wohl die Ereignisse, von denen sie ausgehen, nicht aber
ihren weiteren Verlauf und vor allem sind während desselben nicht die Gründe
zu erkennen für das Maß der Stärke, die solchen Völkerbewegungen innegewohnt
hat. Wie aber im Nordland zuweilen alte, weit landeinwärts sich findende
Schiffspfähle bezeugen, daß hier einst Meeresstrand war, so liefert uns in den
Alpen heute oft der fremdartige Klang der Ortsnamen mitten innerhalb einer
anders sprechenden Bevölkerung den Beweis, daß hier einst ganz andere Völker
als die gegenwärtigen saßen. Diese Namen werden so zu einem willkommenen
Hilfsmittel für die Festlegung der Grenzen der alten Bevölkerungszonen, während
alles, was sonst noch aus schriftlichen Quellen und archäologischen Funden zur
Rekonstruktion des alten Völkerbildes herangezogen werden kann, im Vergleich
hierzu einen verschwindend geringen Wert besitzt.
Die Alpen in der Geschichte Europas. 7
Zunächst zeigt das Auf und Ab der Völkerbewegungen in den Alpen ein
viel größeres Zusammenstimmen mit den geographischen Gebilden als in der
Ebene; denn in der Hauptsache haben doch die Hauptkämme des Gebirges das
Hinüber- und HerüberHießen der Völker von der einen nach der anderen
Richtung geregelt. Besonders an den Stellen, wo diese Kämme nicht von den
Hauptpässen überschritten werden, tritt die Erscheinung ganz deutlich zutage,
daß sich hier, — und je ruhiger und politisch matter die Zeiten waren, desto
reinlicher auch die Völkerstämme geschieden haben. Anders verhält es sich
jedoch zuweilen an den Hauptübergängen. Hier hat die überschießende Kraft
eines Volksstammes oder die überlegene politische Macht auf der einen Seite
des Kammes zeitweise dazu geführt, die Grenzpfähle ihres Machtbereiches auch
jenseits der Übergänge einzupflanzen. Bleibende Dauer haben diese Festsetzungen
jenseits jedoch selten gehabt; was der eine Zeitraum hier ethnographisch und
politisch gewinnt, geht im nächsten wieder verloren. So ist im Mittelalter das
nördliche Volkstum in seinem Siegeslauf schließlich wohl fast auf der ganzen
Linie bis südwärts des Hauptkammes der Alpen herübergedrungen, während seit
dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts eine der ersteren gerade entgegengesetzte
Bewegung von Süden aus wahrzunehmen ist, die, heute noch nicht zur Ruhe
gekommen, ihrerseits bestrebt ist, nach Norden vorzurücken; als Hauptmoment,
diese Bewegungen zu moderieren, dient eben der von West nach Ost laufende
Hauptkamm der Alpen.
Ein anderes, nicht bloß zwischen Norden und Süden, sondern ein an ver-
schiedenen Stellen des Gebirges nach verschiedenen Himmelsrichtungen wirkendes
natürliches Mittel der Trennung haben ferner zu allen Zeiten die hohen Berg-
stöcke, die höchsten Gipfel mit ihrer gleichartigen Umgebung gebildet. Wenn
die Alpenpässe für jede Art des Verkehrs förderlich gewesen sind und das Leben
an sich gezogen haben, so vertreten jene über das ganze Gebirge verteilten
Riesen ihrerseits das entgegengesetzte Moment der Ruhe; sie sind die Alpenpässe
in der Negative, an denen seit Jahrhunderten unausgesetzt die ethnologischen
und politischen Grenzen der einzelnen Teile des Alpengebietes verankert sind.
Die Schnelligkeit, mit der in der Ebene die einzelnen sieghaften Völker
ihr Volkstum ausgebreitet und hierauf die innerhalb der von ihnen eingenommenen
Kreise noch zurückgebliebenen Reste der alten Bewohner aufgesogen haben, ist
viel größer als diejenige, mit der in den Alpen die Umformung der einzelnen
Gebiete in ethnologischer Beziehung vor sich gegangen ist. Deshalb haben auch
die einzelnen Teile der verschiedenen Völkerschaften in den Alpen ein zäheres
Leben gezeigt als anderswo. Der einleuchtende Grund dafür ist auch hier die
Gestaltung des nach allen Richtungen hin in tausend Spalten und Falten geteilten
Gebirges, das keinem Völkersturm wie in der Ebene erlaubte, seine Wellen in
weiter ungebrochener Flut über sein Gebiet hinweg zu treiben. So konnte es
hier geschehen, daß in den Winkeln und Ecken oft ungestört die Reste der
g I. Kapitel.
alten Völker ausdauerten und ihre gesonderte Entwickelung nahmen, während
wenige Wegstunden entfernt im Haupttale längst die Sprache des zur Zeit
herrschenden Volkes erschallte. Es ist dieses die Ursache geworden, weshalb
auch heute noch das Völkerbild der Alpen so ungemein mannigfaltig ist, und
dies um so mehr, als die Mehrzahl der Völker, die im Laufe der Geschichte
den europäischen Schauplatz betraten, das Schicksal auch am ehesten in den
Bereich des die Mitte des Erdteils einnehmenden großen Gebirges führen mußte.
Hieraus folgt aber ferner, daß die Diagnose der Entstehung der Völker, die heute
die Alpen bedecken, äußerst kompliziert ist, da diese sich innerhalb des gleichen
Zeitraumes aus viel zahlreicheren und verschiedenartigeren Völkerschichten auf-
gebaut haben als in den Nachbarländern. Am zersplittertsten und problematischsten
ist das Völkerbild zurzeit am Südabhang der Alpen, weil einesteils die seit Ende
des Mittelalters von Süden aus aufgetretene Völkerbewegung bei weitem nicht
mit derselben Stärke eingesetzt hat wie die ihr seit Anfang des Mittelalters voran-
gegangene nördliche, besonders aber, weil auf der Südseite der Abfall in die
Ebenen viel steiler und unvermittelter vor sich geht als nördlich, und so auf
dieser Hälfte das Schluchtartige, das einer Nivellierung der Bevölkerung am
meisten entgegenwirkt, am stärksten ausgeprägt ist.
Die dritte Art des Verkehrs, der über die Alpen gegangen ist, ist die des
Handels. Die Veränderungen ethnologischer und politischer Art sind schließlich
durch die verschiedenartigsten geistigen Mächte heraufgeführt worden, während
die Bedeutung aller Handelsbeziehungen für die Geschichte sich gerade dadurch
charakterisiert, daß bei ihrer Entstehung alle tieferen Impulse von vornherein
ausgeschaltet werden müssen, und daß die Tatsachen, die durch den Handel
geschaffen worden sind, zunächst nur als große Gebilde erscheinen, die zellen-
artig aus dem Willen vieler Tausende, die alle nur ihren materiellen Vorteil
suchten, zusammengesetzt sind. Daher auch das unglaublich Launenhafte in dem
Werden und Vergehen aller Handelskonstellationen. Was der einzelne gekauft
oder verkauft hat, ist stets Privatangelegenheit gewesen, über deren Gründe
Rechenschaft zu geben jedem erspart ist. Von alters her war es daher wohl ein
dankbares Thema, den Gründen der verschiedensten geschichtlichen Erscheinungen
nachzuforschen. Eine der peinlichsten Arten der Geschichtsschreibung ist aber
stets Handelsgeschichte gewesen, und erst unseren Tagen, in denen der überall
herrschende Trieb nach Spezialisierung die Scheu vor der Schwierigkeit des
Unternehmens überwand, blieb es vorbehalten, auch an eine Geschichte des
Alpenhandels heranzugehen.
Auch in den Alpen ist das Werden und Vergehen der Handelsbeziehungen
zumeist die Begleiterscheinung politischer Ereignisse; entweder liefern diese den
Ausgangspunkt und die Grundlage für das Aufkommen der Handelsbeziehungen,
oder die Tatsache, daß da und dort neue Handelswelten emporgewachsen sind,
zeitigt wiederum einzelne sich auf den ersten Blick offenbarende Begebenheiten,
Die Alpen in der Geschichte Europas. 9
indem die an dem Handel interessierten Mächte die ohne ihr Zutun empor-
gewachsenen Zustände auch politisch zu beeinflussen suchen. Jedenfalls bewegt
sich da, wo der Handel hoch entwickelt ist, auch stets die politische Geschichte
in höherem Schwung, weil ein reiches Handelsieben auch hohe Kultur zur Folge
haben muß, während es im Gegensatz hierzu auch sehr gut denkbar ist, daß
selbst den größten geschichtlichen Ereignissen jegliche Beziehung auf Handel
und Wandel fehlt. In der Geschichte der Alpenländer bietet Hannibals Alpen-
übergang für letzteres ein Beispiel.
Noch selbständiger steht die Entwickelung der Handelsbeziehungen neben
den Ereignissen ethnologischer Natur; denn der Handel ist von jenen nur dann
beeinflußt worden, wenn sie wie die Völkerwanderung oder die Raubzüge der
Sarazenen eine gründliche Zerstörung mit sich brachten, also kulturfeindlich wie
sie waren, auch den Handel wie alles andere vernichteten. Die langsamen und
lautlosen Verschiebungen, die, nur an den Völkergrenzen sichtbar, sich innerhalb
des Rahmens der Kulturvölker vollzogen, haben den Handel an sich dagegen
weder gestört noch gefördert. Den Venezianer und Augsburger Kaufleuten konnte
es ganz gleichgültig sein, ob die aus Venedig heraufgebrachten Produkte des
Orients in Imst am Fernpaß von Fuhrleuten bajuvarischen oder schwäbischen
Stammes übernommen wurden, und es waren andere Gründe als solche, ob das
italienische Volkstum schon in Airolo oder erst in Chiavenna begann, die bei
den Züricher Kaufleuten bei der Wahl zwischen dem Gotthard und dem Septimer
als Handelsstraße ausschlaggebend waren.
Bei der Eröffnung der einzelnen Handelsstraßen, die über die Alpen führen,
macht sich wiederum als ein wichtiges Moment geltend, daß das den Verkehr
meisternde hohe Gebirge eben gerade in dem Herzen Europas, wo alle Fäden
zusammenlaufen, gelagert ist. Der menschliche Scharfsinn sah sich daher hier
vor die größten aber auch die lockendsten Aufgaben bei der Überwindung dieser
Hindernisse gestellt. Und gerade in der Besiegung solcher Hindernisse, in der
Auffindung neuer Verkehrsstraßen hat der Handel mit der ihm eigenen Zähig-
keit und Unverdrossenheit in der Geschichte der Alpenstraßen oft Größeres
geleistet, als die Bedürfnisse des politischen und ethnographischen Verkehrs.
Es ist das charakteristische aller Handelsbeziehungen, daß sie sich stets selb-
ständig und ohne irgend welche Rücksichten anderer Art zu nehmen ihre
Straßen gebahnt, diese aber auch ohne weiteres wieder bei Seite geworfen haben,
sobald sie nicht mehr ihren besonderen Zwecken dienten. Bei politischen Be-
strebungen, den Handel in bestimmte Bahnen zu lenken, mußte daher auch die
Größe der aufgewendeten Mittel zumeist hinter dem, was wirklich erreicht
wurde, zurückbleiben. Auch dieses kann ein Zeichen sein, wie grundverschieden
voneinander die geistigen und materiellen Triebe der Menschheit sind, die, von
verschiedenen Quellen ausgehend und verschiedenen Zielen zustrebend, selten
die gleiche Bahn verfolgen.
jQ 1. Kapitel.
Nach allem diesen mag es scheinen, als ob die Ursachen, die jede Art des
Verkehrslebens in den Alpen hervorgerufen haben, stets nur von den Ideen oder
Instinkten ganzer Staaten, Völker oder Klassen ihren Ursprung genommen haben
können, wie ja andererseits auch alle diese Gebilde stets ohne weiteres den
Einfluß über sich ergehen lassen mußten, den die ohne das Zutun jener hervor-
gerufenen Veränderungen solcher Verkehrsbedingungen mit sich brachten. Man
könnte daher geneigt sein, zu glauben, daß der Wille des Einzelnen bei diesen
Vorgängen ganz ausgeschaltet wäre, und es der Kraft einer einzelnen, kurzlebigen
Persönlichkeit versagt 'sei, auf diesem Gebiete bahnbrechendes zu schaffen.
Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Bei näherer Betrachtung enthüllt sich
in dem Auf und Ab aller dieser Verkehrsbeziehungen die erstaunliche Er-
scheinung, daß es zu allen Zeiten weniger das ungeleitete Streben großer
Massen als vielmehr der bewußte Wille der einzelnen großen Persönlichkeiten
gewesen ist, die in dem Verkehrsbilde der Alpen das wirklich Bleibende ge-
schaffen haben, fast, als habe die Schwierigkeit der Aufgabe, hier die Natur
durch den Menschengeist zu meistern, besondere Anziehung ausgeübt. Es ist dies
eine beachtenswerte und zur Vorsicht mahnende Tatsache für diejenige Auf-
fassung, die den Ursprung aller historischen Ereignisse lediglich auf aus breiten
Geistesschichten hervorgehende Ursachen zurückführen will und so die Macht
der Persönlichkeit und das Heldenhafte in der Geschichte einzudämmen sucht.
Es bleibt jedenfalls auch in der Verkehrsgeschichte der Alpen dabei, daß es
stets eine Eigentümlichkeit wirklich großer Herrscher gewesen ist, daß sie ganz
besonders auf das Verkehrsleben ihr Augenmerk gerichtet haben, was hier zu-
meist in der Erbauung von Straßen seinen Ausdruck gefunden hat.
Unter den großen Männern, denen wir in der Verkehrsgeschichte der
Alpen begegnen, sind zwei Arten zu unterscheiden, einmal solche, bei denen
der militärische Gesichtspunkt vorwiegt, die in den Alpen Straßen bahnten, um
über diese ihre Heere marschieren zu lassen. Die andere Art, die noch ge-
waltigeren, sind aber diejenigen, die aus rein organisatorischen Gründen das
kulturelle Bild der Alpen umformten und hierdurch grundlegend für lange
Epochen geworden sind.
Zu den ersteren gehört zunächst der Name des Mannes, mit dem die
Alpen in die Kriegsgeschichte eintreten. Der Gedanke Hannibals, die Alpen
mit einem Heere zu überschreiten, war für die damalige Zeit eine der größten
genialen Taten, und allein auf den Zauber dieses Gedankens, der auch heute
noch fortwirkt, ist es zurückzuführen, wenn die gelehrte Forschung immer
wieder daran arbeitet, den genauen Weg zu bestimmen, den Hannibal damals
eingeschlagen hat. Eine gleiche Kühnheit des Gedankens, wenn auch nicht der
Tat, zeigt sich dann auch bei dem Mazedonierkönige Philipp, der von Osten
her auf dem Landwege in Italien einzudringen suchte. Es ist wie ein Nach-
wehen des geistigen Erbes Alexanders des Großen, dieses weitausgreifende
Die Alpen in der Geschichte Europas. 11
militärische Projekt der damaligen östlichen Großmacht, eine Idee, die am Ende,
des Altertums als die militärische Lage die gleiche war, der Feldherr Justinians,
Narses, mit Geschick und Glück aufgenommen hat. Zu Ende des Römerreichs
waren es gerade die tüchtigsten römischen Kaiser, die in den Alpen unermüdlich
Militärstraßen bauten, und bei Napoleon I, hat es, entsprechend dem Überwiegen
der Feldherreigenschaften in seinem ganzen Wesen, fast den Anschein, als ob
für diesen das ganze Alpengebiet lediglich um der dasselbe überziehenden Militär-
straßen willen vorhanden gewesen wäre. Zu dem kräftigen Abenteurertrieb des
Kurfürsten Moritz von Sachsen paßte ganz gut die fröhliche Kriegstat, die der
Einbruch seines Heeres in das Alpenland bedeutete und die für die kriegerisch
mattlebige Zeit von damals ein unerhörtes Ereignis war. In der neueren Zeit
haben Richelieu, Prinz Eugen und Suwarow, selbst Metternich, doppelte Energie
eingesetzt, wenn es sich um Einflußnahme auf die Alpenlinien handelte, und es
ist kein Zufall, daß Turin und Mantua, die Herzkammern der von dem west-
lichen bezl. östlichen Flügel der Alpen herablaufenden Linien eine Reihe
der größten Feldherren aller Zeiten in ihren Mauern gesehen haben.
Dagegen sind es nur wenige aber zu den größten Erscheinungen der Ge-
schichte gehörende Männer, die mit Willen und Wissen erfolgreich in die kultu-
rellen Verhältnisse des Alpengebietes eingegriffen haben. Schöpfungen von Dauer
sind in diesen Gebirgsgebieten schon an sich schwerer zu schaffen, da allein
schon die viel gestaltete Oberfläche dieses Bereiches mit ihren Winkeln und Dämmen,
den unregelmäßig laufenden Flüssen und den in ungleicher Weise bewohnbaren
Flächen einer gleichartigen und durchgreifenden Behandlung viel mehr Wider-
stand als jedes andere Land entgegensetzt. Haben die Einrichtungen hier aber
einmal lebensfähige Wurzeln geschlagen, so zeigen sie sich dann auch widerstands-
fähiger und standhafter als anderswo, so daß es also in jedem Falle eine große
Leistung bedeuten muß, in den Alpen etwas von geschichtlicher Dauer geschaffen
zu haben. Deshalb findet sich zunächst auch in der Geschichte der Alpenländer
ganz deutlich die entgegengesetzte Erscheinung, daß mittelmäßige Zeiten und
mittelmäßige Herrscher in dem Gefühl dieser Schwierigkeit es von vornherein
aufgegeben haben, hier Bleibendes zu schaffen, ebenso wie Maßregeln, die von
keiner tieferen politischen Idee getragen in das Werk gesetzt oder nicht mit der
nötigen Energie festgehalten wurden, gerade hier das kürzeste Leben fristeten.
Ein noch vor aller Augen liegendes Beispiel dieser Art bietet die versuchte
Annexion Tirols durch Bayern zur Zeit Napoleons I. Als Napoleon dieses Ge-
biet an Bayern gab, schwebte ihm bei dieser Maßregel allerdings der scharf-
sinnige Gedanke vor Augen, die ihm feindliche Hauptmacht Österreich hierdurch
einer ihrer besten durchgehenden Alpenlinien zu berauben; die Regierung aber,
durch die jene grundlegende Änderung zur praktischen Wirklichkeit ausgebaut
werden sollte, zeigte sich der Durchführung dieses Werkes nicht gewachsen.
Trotz aller Geschicklichkeit Montgelas, deren Erfolge heute in der Ebene in der
J2 !• Kapitel.
Gestalt eines großen bayrischen Königreichs vor Augen liegen, hätte doch gerade
hier eine größere Staatskunst dazu gehört, um die Ketten, die Tirol seit Jahr-
hunderten an die beherrschende östliche Zentrale banden, so umzuschmieden,
daß sie zur Befestigung dieses Landes an den Norden tauglich geworden wären.
So kann es also schon als ein Zeichen eines klaren und kühnen Blickes
gelten, wenn ein Herrscher sich überhaupt daran gewagt hat, die Alpen seiner
Staatskunst dienstbar zu machen, selbst wenn dieses Bestreben nicht von Erfolg
begleitet war. Ein Beispiel hierfür liefert Friedrich II. der Hohenstaufe. War
es überhaupt in der zweiten Hälfte des Mittelalters für einen Herrscher — und
wäre er selbst der kraftvollste gewesen — schwierig, weithin und folgenreich
durchzugreifen, so ist es um so auffallender, wenn wir jenen Fürsten auf dem
Höhepunkte seiner Kraft, bevor sein letzter verhängnisvoller Tanz mit dem
Papsttum begann, weit entfernt von Italien aus nach dem Besitz von Wien und
nach dem des Gotthard- Überganges die Hand ausstrecken sehen. Diese Tat-
sache kann uns aber deshalb um so mehr zu denken geben, als gerade damals,
der Mitwelt freilich unerkannt, diese beiden Punkte diejenigen waren, denen
innerhalb des Alpengebietes die größte Zukunft beschieden war. Auch die Rolle,
die der geistesverwandte Vorgänger dieses Hohenstaufen, der große Theodorich,
in seiner fein ausgearbeiteten Politik den Alpen zugewiesen hat, zeigt einen ähn-
lichen weiten Gesichtspunkt. Für Theodorich lag die anerkannte Nordgrenze
des Südlandes, dem nach seiner Auffassung in der Gesellschaft der anderen
Länder Europas der erste Platz gebührte, theoretisch und praktisch in dem mit-
telsten Kamme der Alpen, eine Konstellation, die noch heute den italienischen
Patrioten als Ideal vorleuchten kann und die seitdem nie wieder in solcher Klar-
heit hervorgetreten ist.
Haben jedoch auch diese Bestrebungen, gleich wie die vielen anderen nur
aus dumpfen Trieben hervorgegangenen Maßregeln, nur ein kurzes Leben gezeigt,
so sind es trotzdem ganz bestimmte mächtige Persönlichkeiten gewesen, die dem
kulturellen Bild der Alpen derart ihren Charakter aufgeprägt haben, daß es nun
Jahrhunderte lang festlag, um schließlich, erst nachdem dieser Zustand durch
die Summe vieler allmählich eingetretener Umbildungen für eine Veränderung
reif geworden ist, einer anderen großen Persönlichkeit von Neuem Gelegenheit zu
geben, bestimmend und ordnend in dieses zähe Naturgebilde einzugreifen. Für das
Altertum hat einzig und allein Augustus die Verhältnisse der Alpen geordnet;
wie dieser hier alles festgefügt hatte, so war und so blieb es in seinen Grund-
zügen bestehen, bis schließlich die unaufhörlichen Wellen der Völkerwanderung
wie alles andere der alten Welt auch diese Ordnung vernichteten. Der nächste
dieser Großen, dessen Spuren in der Gestaltung des Völker- und Staatenbildes
der Alpen auch heute noch zu erkennen sind, ist Karl der Große. Wie die
Römer sich einst für die eigentliche Kultur ein unvergängliches Verdienst durch
die Schwächung der germanischen Völkerwanderung, um derenwillen allein von
Die Alpen in der Geschichte Europas. 13
ihnen die Eroberung der Alpenländer in das Werk gesetzt wurde, erworben
haben, so nahm Karl der Große während der zweiten Hälfte seiner Regierung
in der Osthälfte der Alpen eine ähnliche Arbeit auf sich, indem er die slavische
Völkerwanderung vor Mitteleuropa zum Stehen brachte. Erst seit Karl dem
Großen werden die Ostalpenländer wieder zu staatlichen Gebilden, geschaffen
zu der Aufgabe des Kampfes gegen die Slaven, aber eben deshalb von selb-
ständigem Leben; seit dieser Zeit ist es Regel geblieben, daß die Ostalpenländer
als eine Gruppe für sich mit selbständiger Bestimmung und eigenen Zielen er-
scheinen.
Das letzte, das in der Geschichte der Alpen wirklich Epoche gemacht hat,
ist die Entwicklung Helvetiens zu einem selbständigen Staatswesen gewesen, das,
so klein es sich auch neben seinen starken Nachbarn ausnimmt, sich doch seit
seinem Entstehen an wirklicher Lebenskraft zunächst nicht geringer als diese
selbst gezeigt hat. Daß dieses selbständige Dasein der Schweiz anfangs etwas
ganz Neues und Unerhörtes war, erhellt schon daraus, daß die Schweizer sich
vorher, ähnlich wie später Deutschland unter den Hohenzollern, nach drei Seiten
hin mit ihren Nachbarn blutig und gründlich über dasselbe auseinandersetzen
mußten. Wo aber solche starke Wehen in der Staatengeschichte vor sich gehen,
ist dieses stets ein Zeichen davon, daß hier nicht bloß etwas Neues sondern
auch ein solches von langer Dauer und Kraft entstehen will, und die rechte Sage
vom Teil hat das, was dem historischen Gefühl bei den Befreiungskämpfen der
Schweizer das Wertvollste ist, nicht entstellt, sondern nur klarer abgezogen be-
wahrt. Aus dem geTälligen, phantastisch buntem Mantel dieser Sage scheint es
wie die Umrisse einer wirklichen Gestalt hindurch; denn es ist tatsächlich häu-
figer der Fall gewesen, daß solche gewaltige, zukunftsreiche Ereignisse wie die
Entstehung der Schweiz als Staat es gewesen ist, von einem Einzelnen, und
nicht von einer Mehrheit in das Leben gerufen worden sind.
II. Kapitel.
Die Römer der Republik und die Alpen.
Es liegt zunächst an dem ganzen Zug der Geschichte, die von Osten aus
über Meer und ebenes Land nach Europa gewandert ist, daß die Alpen uns
später als Griechenland und Italien bekannt werden mußten. Aber auch dann,
als schon die in Rom geführte Stadt- und Reichspolitik den Herzschlag der
ganzen Welt bezeichnete, blieb gerade diejenige Seite, nach der die Alpen liegen,
die ausgesprochene Nordseite alles Lebens. Nach allen vier Himmelsrichtungen
sehen wir von Rom aus die republikanische Regierung die Fäden auswerfen und
wieder dahin zurückziehen, aber der Norden war für sie dabei stets, etwa ebenso
wie für die Jetztzeit Skandinavien und die Ostseeprovinzen, die gleichgültigste
und am wenigsten beachtenswerte Front. Tritt freilich der Fall ein, daß die
Ereignisse sich trotzdem wider Erwarten und gegen die Verabredung im Norden
entladen, so macht sich dann auch der Schwung, der großen Ereignissen inne-
wohnt, desto gewaltiger fühlbar. Es ist ein Zeichen, wie sehr Hannibal und
Cäsar die Bahnen des Gewohnten verließen und wie viel weiter der Gesichts-
kreis jener Männer im Vergleich zu dem ihrer Mitwelt war, daß sie die von
ihnen hervorgerufenen Ereignisse nach dem Norden zu legen wußten.
Erscheint somit schon an sich infolge des ganzen Zuges der römischen
Geschichte derjenige Teil der bewegten Welt, in dem die Alpen liegen, anfangs
abgelegen und daher auch das Wesen des Gebirges selbst in Dunkel gehüllt, so
kommt noch ein weiterer, aus dem Charakter des römischen Volkes — der da-
mals allerdings für alle Verhältnisse allein bestimmend war — herrührender
Grund hinzu, um die Kenntnis der Alpen während des Altertums zu trüben
und hintanzuhalten. Tatsächlich kann sich das Alpenland rühmen, im römischen
Altertum eine ganz merkwürdige, einzig dastehende Eigenschaft entwickelt zu
haben. Trotz aller aus der ganzen Weltlage sich ergebenden Passivität, mit der
die Römer anfangs mit gutem Grund den Nordländern gegenüberstehen konnten.
Die Römer der Republik und die Alpen. 15
zeigt der Gang der Ereignisse außerdem, daß sie nach keinem anderen Fleck
der Erde mit einem solchen Widerwillen, einer derartigen SchwerFdlligkeit und
Furcht ihre sieggewohnten Hände ausgestreckt haben, wie nach dem eigentlichen
Alpengebiet. Es gibt aber auch hierfür eine ausreichende Erklärung. Die Natur
des wald- und wasserreichen Hochgebirges bringt es mit sich, daß sich in ihm
alle natürlichen Verhältnisse anders darstellen als anderswo, und daß deshalb
auch hier die Regeln des Krieges und des Verkehrs viel schwierigere und ganz
besondere sind. Hier sah der Römer mit Staunen, wie sein System, zu kämpfen
und zu organisieren, dem er bereits die Eroberung der halben Welt verdankte,
plötzlich versagte oder wenigstens besonders angewendet sein wollte und schon
damals „erlebten die gelernten Taktiker in den Alpen nicht viel Glück" '). Die
Erinnerung an diese Erfahrung und das Bewußtsein, daß die Alpen der römischen
Kriegskunst härtere Aufgaben stellten, hat die Römer selbst niemals ganz ver-
lassen; der Ausdruck des Livius „foeditas Alpium: die abscheulichen Alpen"
bezeichnet diese Anschauung zur Genüge, und das Vorwalten derselben muß
bei allem, was die Römer in den Alpen gewirkt haben, von vornherein an-
genommen werden.
Auch in den Maßnahmen der ersten römischen Heerführer, die mit den
Alpen in Berührung kamen, spiegelt sich dieses Verhältnis wieder. Als 113 vor
Ch. die Cimbern an den Krainer- und dann an den Südtiroler Alpenpässen er-
schienen, haben die römischen Konsuln ihre guten Gründe, mit der Erprobung
ihrer Kriegskunst innerhalb des Gebirges gegenüber dem Feinde zunächst zurück-
zuhalten, und Pompejus, der in dem Verständnis der hauptstädtischen Stimmung,
aber bloß darin, Cäsar überlegen war, wußte ganz genau, als er die Herstellung
eines wirklichen Weges durch das Gebirge als sein Werk hinstellte, daß dies
eine gute Reklame war und als eine bis dahin unerreichte Leistung in den Augen
seiner Mitstädter gelten konnte. Anders, korrekter und klüger aber ebenso
bezeichnend für die Scheu, mit der die Alpen betrachtet wurden, ist in dieser
Beziehung das Verhalten seines größeren Rivalen, Cäsars. Auch diesem drängte
sich bei seiner Tätigkeit jenseits der Alpen sehr bald das unabwcisliche Be-
dürfnis auf, eine sichere und rasch funktionierende Verbindung über das Ge-
birge herzustellen. Cäsar übernimmt aber das im Gelingen von vornherein
etwas zweifelhafte Unternehmen nicht selbst, sondern schiebt es auf einen seiner
Legaten ab. Als dieser schließlich am Großen Sankt Bernhard (Caes. Bell.
Gall. IM. cap 1—6) weder Glück noch Unglück, sicher aber keinen Erfolg ge-
habt hat, begnügt sich Cäsar mit einer der Schwierigkeit des Unternehmens ent-
sprechenden milden Kritik, hütet sich aber wohlweislich, später in eigener
Person wieder auf einen derartigen Versuch zurückzukommen.
Aber auch zu den Zeiten, als die Alpenländer schon römische Provinz ge-
worden sind und die Legionen ständig am Rhein und an der Donau lagerten,
haftete demjenigen römischen Reiseverkehr, der nur Sicherheit und Bequemlich-
IQ II. Kapitel.
keit zu berücksichtigen hatte, immer noch das Bestreben an, die Schwierig-
keiten des Gebirges lieber zu umgehen, als ihnen erfolgreich auf den Leib zu
rücken. Der von Augustus in das Werk gesetzte Bau von Alpenstraßen zeigte
seine verkehrsfördernde Wirkung am frühesten gerade außerhalb des Gebirges
an der ligurischen Küstenstraße, wo noch zu Augustus Lebzeiten der Hafen des
Hauptortes dieser Strecke, Forum Julii-Frejus, erweitert werden mußte, und im
Osten blieb bis auf Septimius Severus die von Aquileja über Celeja und Poe-
tovio laufende Heerstraße, die, um das Gebirge selbst nicht betreten zu müssen,
außerhalb um das Alpengebiet herum einen weiten Bogen bis Carnuntum be-
schrieb, die Hauptrinne, von der aus sich der römische Verkehr nach der
Donau und in die Ostalpenländer selbst hinein ergoß. Aber auch innerhalb des
römischen Wegenetzes der Alpen selbst zeigt sich ausgenommen bei den Straßen-
bauten, die aus rein militärischen Gründen angelegt wurden, dieselbe Scheu vor
dem Eindringen in die höchsten Berge. Den von Süden kommenden römischen
Ingenieur lockte das bequeme Etschtal zunächst von Bozen aus nördlich nach
Meran anstatt nach Klaußen am Eisak; und in die eigentliche Hochschweiz, wo
sich im Gebiete des Berner Oberlandes und der östlich sich anschließenden
Urkantone die Gebirgswelt zur größten Mannigfaltigkeit und Höhe erhebt, ist
kaum jemals der Fuß eines Römers gedrungen. Die Römer umgingen dieses
Gebiet mit ihren Straßen geflissentlich östlich und westlich, um diese dann nörd-
lich bei Vindonissa wieder zusammenzuschließen und erst von dort aus ihre
Herrschaftsgebiete zu organisieren. Nach einer alten Sage soll der aus der Ur-
sprungsgeschichte des Christentums genugsam bekannte Landpfleger Pontius
Pilatus, von Tiberius nach Gallien verbannt und dort von Gewissensbissen ver-
folgt, sich in dem See des Pilatus-Berges ertränkt haben. Auch aus dieser alten
Kunde hallt, wenn auch dumpf und trüb, eine geschichtliche Wahrheit herüber:
Unter Tiberius gehörte die Urschweiz tatsächlich politisch zu Gallien und der
echte Römer verband mit der Vorstellung der hohen Alpenberge nur das Gefühl
verzweifelter Verlassenheit und unendlichen Grausens.
Schwere und heiße Kämpfe sind es gewesen, die von den Römern, lange
bevor sie das Gebirge selbst betraten, in der Nähe der Alpen geführt worden
sind. Dem Zeitpunkt aber, an dem die römische Herrschaft schließlich an dem
Fuße der Alpen anlangte, sind zwei Perioden vorausgegangen, beide angefüllt
mit der Vernichtung und Zermalmung einer fremden Nationalität durch das
lateinische Volkstum und begleitet von all' der Anspannung und Erbitterung, die
bei dem Ringen solcher durch geistige Mächte zusammengehaltener Gebilde not-
wendig eintreten muß. Die erste Etappe dieser Kämpfe fand ihren Abschluß
mit der Besiegung der Etrusker in Mittelitalien, die zweite mit derjenigen der
oberitalienischen Kelten, das Hinterland dieser beiden Völker reichte nördlich
weit über Italien hinaus und auch in der ersten Geschichte der Alpen müssen
wir somit deren Spuren begegnen, da eben dieses Gebirge ein Hauptteil jenes
Die Römer der Republik und die Alpen. 17
Hinterlandes war, das den Volksgenossen Vorn in der Front immer wieder fri-
sche Kräfte zuführte.
Wenn wir uns nun aber nach dem Zeitpunict umsehen, an dem die Römer
tatsächlich zum ersten Male kriegerisch und politisch an die Alpen selbst heran-
getreten sind, so ist als solcher die im Jahre 222 vor Ch. erfolgte Eroberung
von Como zu betrachten. Die große Entscheidung über den Nationalkampf
zwischen Römern und Kelten hatte vorher die Schlacht bei Telamon gebracht,
und unmittelbar auf diese folgten ihre Konsequenzen, die Unterwerfung des
oberitalienischen Keltenlandes, in die Erscheinung tretend durch die Eroberung
der beiden wichtigsten Keltenstädte daselbst, von Mailand und Como. Es ist für
uns von ganz besonderem Interesse, daß für die Römer schon damals zu einer
wirklichen Eroberung von Norditalien gerade Como notwendig war; denn wer
einmal unbestrittener Herr an diesem Flecken ist, der hat auch, wenn er will,
in den Alpen mitzureden. So ist es heute noch, und so war es auch damals
nicht anders. Auch damals schon war mit dem Besitze Comos das Machtmittel
verbunden, die Eingänge nach Italien von den Mittelalpen her zu schließen.
Allein dies, aber nicht auch bereits ein Heraustreten aus diesem Tor in das
Gebirge selbst hinein, hatten die Römer damals mit der Eroberung Comos in
Absicht, aber mit diesem Zeitpunkt war es vorbildlich doch zum erstenmal
erreicht, daß die politischen Grenzen Italiens mit den natürlichen zusammen-
fielen. Die Ereignisse des zweiten punischen Krieges haben, als Hannibal auf
dieser Angriffsfront erschien, dann diesen ganzen Bau noch einmal in Frage
gestellt. Nach Hannibals Besiegung kehrte jedoch auch hier wiederum alles,
freilich nochmals unter reichlicher Anwendung von Blut und Eisen, definitiv in
den Zustand, wie er sich schon vorher ergeben hatte, zurück.
Das wirkliche Verhältnis, zu dem die Römer nunmehr zu den Alpenländern
standen, wird aber dadurch doch noch nicht genügend gekennzeichnet, daß die
Grenze der römischen Provinz jetzt tatsächlich bis an die Berge reichte; denn
in Wirklichkeit und für die militärische Praxis hatte die Republik eine ganz
andere Auffassung von der Beschaffenheit ihrer Nordgrenze als wie diese äußerlich
festgelegt war. Von den von der Natur geschaffenen Linien genügen überhaupt
die durch Flüsse gebildeten Grenzen am allermeisten den Ansprüchen, die an
brauchbare Grenzlinien gestellt werden, und auch die Römer haben von dem
System der Flußgrenzen einen um so größeren Gebrauch gemacht, als gerade
der Lauf großer Flüsse, mehr als Gebirge und Wälder, ihrem Bestreben, die
Grenzen ihres Reiches zu wirklichen Trennungsmitteln, zu vollständigen Ab-
sperrungslinien zu gestalten, am meisten entgegenkam. Eine solche von der
Natur geschenkte Grenze war für sie aber der Norditalien in seiner ganzen
Länge durchquerende Lauf des Po, dieser diente ihnen zur strategischen Barriere,
aus deren Mitte die beiden großen Uferfestungen, Placentia und Cremona, als
Ausfallstore herausragten und nach denen hin — nicht schon nach Mailand —
Scbeffel, Verkchrsgescbkhte der Alpen. I. Bind. 2
jg II. Kapitel.
deshalb hier zunächst auch alle oberitalienischen Verbindungen hinstrebten. Das
Land nördlich des Po bis zum Rande der Alpen erscheint dagegen nur als ein
Vorglacis dieser Stellung. In der Pogrenze mit ihren Festungen ist der eigentliche
Abschluß für das römische Vordringen nach Norden in republikanischer Zeit
zu sehen, und so wie die Situation schon vor Beginn des zweiten punischen
Krieges in ihren Grundzügen vollendet dastand, ist sie auch in den folgenden
beiden Jahrhunderten unverändert geblieben, bis schließlich erst Augustus die
Grenze wieder ein gewaltiges Stück weiter nach Norden legte und sie über die
Alpen hinweg nach dem Oberrhein und an die Donau hinaufschob. So sehr wiegt
also bei den Römern die Vorstellung von der Trefflichkeit der Flußgrenzen vor,
daß diesen in ihren kräftigen Zeiten nie der Gedanke gekommen ist, den
Alpenkamm selbst als Grenze zu verwerten.
Zurückgenommen und eingezogenerscheint daher die Grenze der römischen
Republik an der nördlichen Stirnseite Italiens. Wenn die Römer hier aus ihrem
natürlichen Wall freiwillig heraustraten, so geschah dieses nur, um den kleinen
Krieg mit den Bewohnern der Alpen zu führen, nicht aber um in den Alpen
selbst Fuß zu fassen, und nur an zwei Stellen haben hier die römischen Maß-
nahmen den Keim des Fortschritts in sich gehabt. Es ist dies bezeichnender
Weise an dem äußersten West- und äußersten Ostende des Gebirges der Fall,
wo die niedriger gewordenen Höhenzüge sich der Meeresküste nähern und so
dem herrschenden Volke ein Fortschreiten und Ausgreifen nach diesen Richtungen
hin erleichterten. An der westlichen Seite zunächst konnte es nicht anders kommen,
als daß dort die Provinz Narbo entstand. Wie später im neunzehnten Jahrhundert,
zu der Zeit als das Königreich Hannover durch seine Lage die beiden Hälften
Preußens auseinanderhielt, es eine geschichtliche Notwendigkeit war, daß nur
einem dieser beiden politischen Gebilde eine längere, selbständige Dauer zufallen
konnte, so mußte auch damals Südfrankreich als Mittelglied zwischen dem Stamm-
land Italien und dem römisch gewordenen Spanien folgerichtig der römischen
Herrschaft verfallen. Die im Jahre 121 vor Gh. erfolgte Einrichtung der Provinz
Narbo hatte damals nicht ihren Zweck in sich selbst, sondern diente nur der
endgültigen Regulierung des Weges zwischen Norditalien und Spanien; die
daselbst getroffenen Einrichtungen aber erscheinen sogleich nach ihrer Entstehung
als fest gegründet und sicher funktionierend, weil an diesen Strichen die alten
Kolonisten mit ihrer aus dem Osten herübergebrachten hohen Kultur überhaupt,
und nicht zum mindesten auch im Bau der ligurischen Küstenstraße selbst gut
vorgearbeitet hatten.
Nicht so einfach wie im Westen lagen jedoch die Verhältnisse am Ostende
der Alpen. Dort fehlte gänzlich die Möglichkeit an Vorhandenes anzuknüpfen.
Wir können aber deshalb gerade an dieser Seite die römische Reichspolitik wie
in einer Werkstatt beobachten. Das Vakuum, das sich nach römischer Ansicht
unbegrenzt im Nordosten ausbreitete, füllte sich zu Beginn des zweiten vorchrist-
Die Römer der Republik und die Alpen. 19
liehen Jahrhunderts — eine Vorahnung auf spätere Zeiten — plötzlich mit unge-
betenen Gestalten, als der mazedonische Angriff hier drohte und die keltische
Völkerwanderung ihre letzten Wellen über die karnischen Alpen nach Venetien
hinübersandte. So erfolgte hier im Jahre 181 vor Ch. die Gründung der Fe-
stung Aquileja, weit entfernt von den Machtmitteln des Innenlandes, aber mathe-
matisch genau an dem besten Posten, den ein Organisator damals zum Vorteil
Italiens an dessen Nordostseite als Angriffs- und Verteidigungspunkt hätte aus-
findig machen können. Wie später bei den Russen St. Petersburg und Port Arthur
sollte auch dieser Platz, dessen rückwärtige Verbindungen erst ein halbes Jahr-
hundert später ausgebaut wurden, für die Römer nach rückwärts und vorwärts
erobernd wirken. Es war eine spekulative Gründung bester Art, die selbst wenn
sie mißlang, trotzdem die Lage, von der ausgegangen worden war, wenig schä-
digte, wenn sie aber gelang auf Jahrhunderte hinaus Zinsen trug. Daß aber die
Gründung Aquilejas eine gelungene Spekulation gewesen ist, beweist, daß dieser
Ort, solange die Welt nach römischem Rezept regiert wurde, stets eine Groß-
stadt geblieben ist, und nichts bezeichnet mehr die Kulturfeindlichkeit der Völker-
wanderung als wenn nach derselben hier der Mittelpunkt, für den jene Zone
geschaffen ist, eine Epoche lang fehlt.
Im Hinblick auf die militärische Bewertung Oberitaliens durch die Römer
verdient aber nun gerade der Verlauf derjenigen Feldzüge erhöhte Beachtung,
während der sie gezwungen aus ihrer Verteidigungsstellung heraustraten und
innerhalb des ihnen nicht genehmen Bannkreises des Alpengebietes fechten
mußten. Nicht in Betracht kommen eben hierbei die bis Augustus unternomme-
nen Kampfe gegen die Bergvölker der Alpen, die lediglich Abwehrmaßregeln
gegen einen militärisch von vornherein geringwertigen Gegner und nur infolge
des Geländes, in dem gekämpft werden mußte, einigermaßen schwieriger als
anderswo waren. Anders verhält es sich dagegen bei Beginn des zweiten puni-
schen Krieges und bei den Feldzügen der Römer gegen die Cimbern. Hier
handelte es sich für die Römer zwar auch nur um Abwehr, aber doch um eine
solche, die nur mit der gänzlichen Vernichtung des Gegners erreicht werden
konnte, eben weil für den Feind Italien selbst das Ziel des Angriffs war. Es
sind Verhältnisse des großen Krieges, bei denen die gegenseitige Anspannung
um so höher geht, weil der von den Alpen beherrschte Raum, in dem gekämpft
wurde, für beide Teile gleichmäßig ein unbekanntes und ungewohntes Gebiet
darstellt.
Schon vor Hannibal hatten auch die Kelten in hellen Haufen die Alpen
derart überschritten, daß sie dann fast ganz Norditalien bevölkern konnten. Die
Großheit der Alpenüberschreitung Hannibals beruht daher nicht in dem bloßen
Überschreiten der Alpen, sondern in dem Überschreiten derselben mit einer
regulären Armee in gewollter Richtung. Das Geniale bei Hannibals Maßregel
lag also darin, daß sein Heer einerseits immer noch in einem solchen Zustand
2*
90 II. Kapitel.
diesseits des Gebirges eintraf, um im Notfalle sofort den Kampf gegen die römi-
schen Heere aufnehmen zu können, andererseits und im gröI3eren Maße aber
darin, weil Hannibal durch seinen Zug wirklich dorthin gelangte, wohin er
wollte d. h. in das Gebiet der oberitalienischen Kelten, das er sich zu seiner
Operationsbasis ausersehen hatte. Durch die Schwierigkeit der Bewegungen
während des Überganges erkaufte er sich also die Freiheit dieser nach dem-
selben. Je weiter sich der Feldherr von seinen eigenen Hilfsmitteln entfernt,
um so zwingender ist für ihn die Beschaffenheit der Operationsbasis; für Hanni-
bal sollte aber das Land der oberitalienischen Kelten jene abgeben, deren natio-
nalen Gegensatz gegen Rom er sich zur Inszenierung eines neuen keltischen
Nationalkrieges dienstbar machen wollte.
So ist es auch dieser Darstellung nicht erspart, einen Eimer Wasser in die
Strömung zu tragen, die, bis heute mächtig angeschwollen, sich in Gestalt der
Erörterungen über die Frage, welchen Paßweg der Alpen Hannibal wirklich ge-
wählt hat, über die gelehrte Literatur ergossen hat. Die Quellen, die uns hier-
über zur Verfügung stehen, sind in den Geschichtswerken des Polybius und
Livius enthalten, und es steht zunächst außer allem Zweifel, daß diejenige des
Polybius die des Livius an Wert weit überragt. Trotzdem ist es aber bis jetzt
noch nicht gelungen, lediglich auf Grund jener Beschreibung des Polybius in
dieser Frage zu einem sicheren Resultat zu gelangen, während sich andererseits
fast die Gepflogenheit ausgebildet hat, den Text des Livius wegen der in seiner
Darstellung enthaltenen Ungenauigkeiten für diese Untersuchung überhaupt nicht
zu Rate zu ziehen. Er erscheint aber vom wissenschaftlichen Standpunkt doch
nicht ganz ökonomisch gehandelt, Livius hier ganz bei Seite zu lassen, und man
kann diese Quelle wenigstens mit allem Recht als das verwerten, was sie uns
wirklich bietet d. h. teils einen Niederschlag, teils eine ausschmückende Weiter-
bildung der älteren, uns unbekannten Quelle, die Livius ursprünglich vorgelegen
hat. Ist es doch außerdem, als ob sich gerade bei diesem Teil der Schilderung
des Livius dem Geschichtsschreiber das Interesse anmerken ließe, das den Sohn
des Voralpenlandes hier bei seiner Arbeit bewegt hat.
Als Hauptgrund dafür nun, daß Hannibal den Weg über den Mont Genevre
benutzt haben müsse, ist stets mit Vorliebe angeführt worden, daß dessen Zug
in das Gebiet der Tauriner auslief, weil allerdings dies bei jenem Paß (nicht
minder aber auch bei den anderen Übergängen dieser Gruppe z. B. Mont Cenis)
am buchstäblichsten zutrifft. Aber dieser Grund ist doch nicht so stichhaltig,
als er beim ersten Blick scheinen möchte; denn der Wortlaut der Quellen ver-
trägt ebenso ganz gut die Annahme, daß die Tauriner, die keine verbündeten
Kelten sondern Ligurer waren, überhaupt nur die erste Völkerschaft gewesen
sind, mit der sich Hannibal nach seiner Ankunft diesseits der Alpen feindlich
auseinandersetzen mußte. Das haben ja stets die natürlichen Verhältnisse Ober-
italiens an sich gehabt, „daß jeder französische Zuzug immer zuletzt Turin pas-
Die Römer der Republik und die Alpen. 21
sieren mußte".-) Der Hauptgrund aber, daß Hannibal trotzdem nur einen der
Übergänge aus der Mont Genevre-Gruppe gewählt haben kann, verbirgt sich in
der Darstellung des Livius, und zwar in der Tatsache, daß dort in der Beschrei-
bung des Weges beim Anstieg der Name der Dürance vorkommt. Denn wenn
Hannibal auf dieser Seite überhaupt auch nur eine Strecke in dem Bereich jenes
Flusses marschierte, mußte er notwendigerweise auf den Mont Genevre, Mont
Cents oder wenn man will auf einen anderen nahen Übergang dieser Zone ge-
raten, und es ist nicht wahrscheinlich, daß Livius diesen Flußnamen eigenmächtig
und nur zur Ausschmückung genannt hat, sondern daß er diesen Namen viel-
mehr aus der ihm vorliegenden Quelle ohne Weiteres in seine eigene Schilde-
rung herübernahm.
Ein weiterer Grund dafür, daß Hannibal einen dieser Pässe gewählt haben
muß, läßt sich aber auch noch rückwärts aus den Ereignissen des Cimbernkrieges
konstruieren, so wie diese sich in den Westalpen mit aller Deutlichkeit abgespielt
haben. Daß auch schon das Altertum die Frage, den Weg Hannibals genauer
zu kennen interessiert hat, ist aus der Natur des Kulturmenschen, dem dieses
Unternehmen stets Bewunderung abnötigen muß, ohne weiteres erklärlich. Livius
freilich muß zu dieser Frage schon nach seiner Weise wissenschaftlich Stellung
nehmen, weil zu seinen Lebzeiten, um die Wende unserer Zeitrechnung, die
genaue Kunde dieses Ereignisses schon zweifelhaft geworden war. Eine um
etwa achtzig Jahre ältere Notiz, wonach Pompejus „einen anderen Alpenweg als
Hannibal, der für den römischen Verkehr vorteilhafter war", gebahnt hat, setzt
aber voraus, daß der genaue Weg Hannibals damals wenigstens noch bekannt
war. Um so sicherer wird dieses aber hiernach weitere fünfundzwanzig Jahre
früher, zur Zeit des Cimbernkrieges der Fall gewesen sein, und man darf weiter-
hin annehmen, daß bei dem Nachlassen der keltischen Völkerwanderung, ebenso
wie bei der allgemeinen Abneigung der Römer, in den Alpen Wege zu schaffen,
in dem Zeitraum von Hannibals Übergang bis zu dem Erscheinen der Cimbern
schwerlich selbst auf diesem Flügel des Gebirges noch ein neuer, für den Über-
gang eines großen Heeres tauglicher Übergang geöffnet worden ist. Als nun aber
die Cimbern im Jahre 102 vor Ch., jetzt endlich mit der ausgesprochenen Ab-
sicht, es Hannibal nach zu tun, über die Westalpen nach Italien eindringen
wollen, stellt sich Marius ihnen gegenüber am Beginn der nördlichsten Eintritts-
route nach Italien, die nach seinem gesunden taktischen Urteil überhaupt in Frage
kommen kann, zur Abwehr auf. Es geschieht dies an der Einmündung der
Isere in die Rhone, also an einer Stelle, die zwar vollständig den Zugang zu
den Pässen von Susa, viel weniger aber denjenigen zu dem kleinen Sankt Bern-
hard beherrscht. Wäre aber Hannibal einst über den kleinen Sankt Bernhard
gezogen, so hätte danach dieser Übergang auch damals, als die militärische Lage
die gleiche und nur die Energie der Führung bei den Römern eine größere war,
in der Berechnung des Marius eine größere Rolle spielen müssen.
22 II- Kapitel.
Wenn wir demnach den Übergang Hannibals auf einen der Pässe von Susa
legen, müssen wir uns trotzdem noch mit der Tatsache auseinandersetzen, daß erst
Pompejus auf Grund der oben angeführten Notiz die Eröffnung der Mont
Genevre- Straße zugeschrieben wird. Der Zustand des römischen Verkehrs-
bedürfnisses der damaligen Zeit, das nur nach der in Südfrankreich gelegenen
Provinz Narbo hinzielte, gestattet auch hier, nur an einen der südlichen Pässe
zu denken und nicht etwa, weil nach allem Vorangegangenen nun der Übergang
Hannibals in den Bereich des Mont Genevre zu legen wäre, dem Pompejus die
Eröffnung des kleinert Sankt Bernhards zuzuschreiben. Wir können Pompejus
aber auch ruhig seinen Ruhm, die erste Römerstraße der Alpen über den Mont
Genevre gebahnt zu haben, lassen, um so mehr, da auch die Ereignisse der
folgenden Zeit, vor allem die Tatsache, daß Cäsar zu Beginn seiner Wirksamkeit
in Gallien den Mont Genevre ohne weiteres benutzt hat, durchaus dafür sprechen,
daß schon in den letzten Jahrzehnten der Republik sich die bedeutende Rolle,
die dieser Paß dann während der ganzen römischen Kaiserzeit spielen sollte,
fühlbar gemacht hat. Wenn Pompejus somit die erste Eröffnung des Mont
Genevre -Überganges bleibt, werden wir daher, um allem zu genügen, den
Übergang Hannibals nicht auf den Mont Genevre selbst, wohl aber auf einen in
der Nähe desselben gelegenen Übergang (Mont Cenis, Col du Glapier) zu legen
haben. Durch eine solche Annahme wird dann aber auch der Sinn jener Notiz,
„wonach Pompejus einen anderen, für die Römer bequemeren Übergang als den
Hannibals eröffnete", erst in das rechte Licht gerückt; denn gerade jener Wort-
laut, bei dem in unmittelbarem Zusammenhange mit der Straße des Pompejus
die Hannibals genannt wird, kann auf den Gedanken führen, daß diese beiden
Übergänge nicht weit entfernt, sondern einander recht benachbart gelegen waren.
Die Ereignisse des Cimbernkrieges sehen wir außerdem noch an zwei
anderen Stellen der Alpen sich abspielen. Das erste Erscheinen der Cimbern
fand im Jahre 113 vor Ch. statt, und zwar an der entgegengesetzten, östlichsten
Seite des Gebirges, an den niedrigen Krainer Alpenpässen. Hier geraten die
Cimbern nun zunächst mit den an der östlichen Seite des Birnbaumer Waldes
wohnenden Tauriskern aneinander. Die nach dorthin von Venetien aus herüber-
führende Straße, die schon damals als Handelsstraße bekannt und belebt voraus-
gesetzt werden muß, hatte ebenso schon längst Beziehungen dieser Taurisker zu
den Herren jenseits des Gebirges derart vermittelt, daß jenen jetzt gegenüber
den Cimbern die Berufung auf die Schutzherrschaft der Römer ganz gelegen
kommen konnte. Das römische Heer selbst, unter dem Befehl des Konsuls
Papirius Carbo, der sich des Ernstes der Lage durchaus bewußt ist, steht zu-
nächst abwartend im Bereich der schützenden Festung Aquileja, und bereits hier
findet sich bei beiden Parteien, bei Römern und Barbaren, die Abneigung, die
Entscheidung im Gefecht zu suchen, so ausgeprägt, daß Verhandlungen eingeleitet
werden und die Cimbern nach Norden abzuziehen versprechen. Hier setzt nun
Die Römer der Republik und die Alpen. 23
die Kunde ein, wonach der römische Feldherr die abziehenden Cimbern durch
von ihm instruierte Wegweiser in eine derartige Abmarschlinie gelenkt habe,
daß es ihm hinterher möglich geworden sei, die auf dem Rückzuge befindlichen
Cimbern auf kürzerem Wege innerhalb des Gebirges zu umgehen und sie dann
unerwartet im Gebirge zum Schlagen zu zwingen.
Als Ort dieses Treffens geben die Alten Noreja an, und in die ganze
moderne Geschichtsdarstellung ist nun unentwegt die Auffassung übergegangen,
daß mit diesem Noreja ohne weiteres jener Straßenpunkt gemeint sei, der in
Steiermark an der Stelle des heutigen fleckens Neumarkt, da, wo der belebte
Paßweg aus dem Tal der Metnitz nach dem Murtal hinüberführt, gelegen war,
und wo auch die Itinerarien der römischen Kaiserzeit (bei Peutinger sogar
doppelt; wenn nicht etwa gar auch hier das eine von diesen beiden das von
uns angezogene Neumarkt südlich des Loibl-Passes ist, das durch irgendwelches
unkontrollierbare Vorkommnis sich dorthin verschoben hat.) den Namen Noreja
zeigen. Betrachtet man nun aber vom rein militärischen Standpunkt den Verlauf
dieser gegenseitigen Bewegungen, so muß man sich freilich erstaunt fragen, wie
es Garbo fertig gebracht haben soll, so kühn und sicher bis tief in die Alpen
hinein die Spur des abziehenden Feindes festzuhalten. Vor allem sieht man
sich aber vergebens nach irgend einer kürzeren Linie um, die Garbo als An-
marschlinie nach diesem Noreja hin benutzt haben könnte. Ebenso wenig geht
es aber auch an, das hier Überlieferte direkt als ungenau zu verwerfen; denn
die im ganzen recht anschaulich geschilderten Ereignisse machen ganz den Ein-
druck, als wären sie im Skelett richtig festgehalten und als ob nur die Orts-
bestimmung oberflächlich sei. Aber gerade dieses letztere darf nicht Wunder
nehmen, weil genaue Ortsbestimmung niemals und am allerwenigsten in bezug
auf die Alpengegenden Sache der alten Schriftsteller gewesen ist.
Die Erzählungsweise Appians, dem wir die Schilderung dieser Vorgänge
verdanken, läßt nun aber auch durchaus zu, anzunehmen, daß zu dem Zeitpunkte,
als die ersten Verhandlungen zwischen Garbo und den Gimbern erfolgten, beide
Parteien im Bereich der eigentlichen Schwelle Italiens, auf den Höhen der Birn-
baumer Straße, in einiger Entfernung einander gegenüberstanden. Von hier
kehrten die Gimbern wieder um, und es liegt nahe, daß sie in gerader Linie,
im Gleis der uralten Völkerrinne, auf der sie nach Süden gekommen waren,
wieder zurück wollten. Diese direkte Umkehrlinie zielte aber über den Loibl-
Paß und allerdings auch über den oben genannten Neumarkter Sattel nach der
Linzer Pforte. Auf diesem Wege nun, aber noch südlich des Loibl-Passes, liegt
heute auch noch ein zweiter Ort Neumarkt. Gleichlautende Ortsnamen sind
auch im römischen Altertum eine häufige Erscheinung, und so gut wie das nörd-
liche Neumarkt kann auch dieses hier aus dem römischen Namen Noreja her-
vorgegangen sein. Nehmen wir aber an dieser Stelle den Ort des fraglichen
Treffens an, so findet sich ganz von selbst ein leicht verständlicher Schlüssel
24 II- Kapitel.
für jene kriegerischen Bewegungen: Während die Cimbern von der Nordseite
des Birnbaumer Waldes aus ohne große Eile nach Norden abzogen, fand Carbo
Zeit, sie durch das Isonzo-Tal hinaufmarschierend vom Predil aus in der Flanke
zu fassen. Jedenfalls ist es durchaus nicht ausgeschlossen, daß der Predil damals
den in Venetien kommandierenden römischen Befehlshabern als eine in die
Alpen hineinführende Linie bekannt gewesen ist, da diese Straße bereits für
einen im Jahre 183 vor Ch. stattgehabten Kelteneinfall als Eintrittslinie nach
Venetien in Frage kommt.^)
Auch der VerlauP des dritten Teiles des Cimbrischen Feldzuges, der die
letzte Entscheidung bringt, tritt uns wohl in leidlich klaren Umrissen entgegen,
läßt aber ebensosehr die Möglichkeit vermissen, die Örtlichkeiten, wo die Er-
eignisse sich im Einzelnen abgespielt haben, genauer zu bestimmen. Wir wissen
(Plutarch, Marius 23; Livius, Epitom 68), daß die eine Hälfte der Cimbern sich
in Gallien von der anderen, den Teutonen, die dann bei Aquae Sextiae ge-
schlagen wurden, getrennt hat, um auf einem anderen Wege als diese über die
Alpen nach Italien zu marschieren, und wir treffen jene erst wieder an, als sie
im Gebiet der Etsch auf das gegen sie aufgestellte römische Heer des Katulus
gestoßen sind. Nur so viel läßt sich hier mit Sicherheit erkennen, daß dieses
Zusammentreffen an der Etsch in der weiteren Umgebung von Trient stattgefunden
haben muß. Andere klare Einzelheiten fehlen jedoch vollständig; besonders ist
nicht zu erkennen, ob dieses erste Zusammentreffen für die Römer bereits mit
einer verlorenen Schlacht oder nur mit einem leidlich geschickten Rückzug nach
der Pforte des italienischen Flachlandes endigte, wobei, ebenso wie auch bei
den weiterhin folgenden Kämpfen, der römische Befehlshaber nicht viel weniger
Schwierigkeiten mit seinem eigenen disziplinlosen Heere als mit den Feinden
selbst gehabt haben mag. Da demnach eine bessere wissenschaftliche Begründung
für einen anderen Ort der Brennerlinie, an dem jene Ereignisse stattgefunden
haben, nicht aufgebracht werden kann, mag hier immerhin angeführt werden,
daß die sagenhafte Überlieferung den Schauplatz derselben an die Salurner Klause
verlegt, und ebenso den Namen des in der Nähe derselben liegenden Castell
feder (foederis) von dem hier erfolgten Abschluß eines Vertrages zwischen Cim-
bern und Römern ableitet, welch' letztere Kunde allerdings in Anbetracht der
an allen Stellen bei den Cimbern tatsächlich hervortretenden Neigung, zu ver-
handeln einige innere Wahrscheinlichkeit hat. Einen bestimmten Schluß auf die
damalige Benutzung der Alpenwege selbst erlaubt wenigstens auch diese sonst
trübe genug ausschauende Erhaltung der Tatsachen. Denn wenn Katulus tat-
sächlich bei Trient die Cimbern erwartete, so mußte er wenigstens wissen, daß
diese nur aus dem heutigen Tirol, d. h. vom Brenner oder Reschenscheideck
her, im Anmarsch sein konnten; und da die Cimbern ursprünglich von Westen
kamen und sich damals in ihrer Begleitung auch helvetische Völkerteile befanden,
so wird man weiterhin wohl geneigt sein, sich bei der Frage, welcher von diesen
Die Römer der Republik und die Alpen. 25
beiden Übergängen von ihnen benutzt worden sei, für das Reschenscheideck zu
entscheiden, und dies um so mehr, da im Verlauf der folgenden Kämpfe auch
noch ein weiteres Indizium hierfür zu Tage tritt.
Nach Abschluß des ersten Teiles dieser Bewegungen sehen wir dann den
Konsul eine Stellung am Ausgang der Berge auf beiden Ufern der Etsch be-
ziehen. Es liegt nahe, hier an die Gegend Veronas zu denken; die Begeben-
heiten aber ohne weiteres dorthin zu verlegen, bleibt immerhin deshalb bedenk-
lich, weil eben der Name Veronas selbst, dessen Erwähnung doch sehr nahe
gelegen hätte, bei diesen Ereignissen nirgends genannt wird. Die Römer haben
jetzt ihre Hauptmacht auf dem linken Etschufer, während eine von ihnen ge-
schlagene Brücke, die in einen festen Brückenkopf endigt, von dort herüber
nach dem rechten Ufer führt. Es liegt also ihrerseits hier ganz deutlich das
Bestreben vor, sich die Bewegungsfreiheit auf beiden Etschufern zu sichern.
Zweifelhaft ist es nur, ob die Anmarschlinie der Cimbern, ob auf dem rechten
oder linken Etschufer ihnen auch diesmal noch unbekannt gewesen ist und diese
Maßregel hiernach aus der Absicht, den Feinden auf beiden Ufern des Flusses
entgegentreten zu können entsprang, oder ob die Anmarschlinie des Feindes von
vorneherein links des Flusses vorausgesetzt wurde, und bereits hier die An-
ziehungskraft des schützenden Poufers, an dem die große Festung Cremona ein-
ladend ihre Tore für das römische Heer offen hielt, auf die Stellung jener ein-
wirkte; der moralische Zustand des römischen Heeres macht letzteres jedenfalls
wahrscheinlicher. So oder so; die Situation ist jedenfalls ein getreues Abbild
der Art, wie die Römer den Nordrand Italiens damals militärisch bewerteten;
denn die Pofestungen halten auf diesem Schauplatze alle Bewegungen in Abhän-
gigkeit und es gibt für die Römer hier überall nur vorgeschobene und keine
selbständigen Stellungen, aus denen es sie wie mit Naturgewalt nach der Polinie
zurücktreibt.
Als nun aber die Cimbern wirklich herankommen, erscheinen sie tatsächlich
— entsprechend der Annahme, daß sie von Anfang an über das Reschenscheideck
gekommen sind — nicht auf dem linken sondern auf dem rechten Etschufer.
Es ergibt sich dies daraus, daß sie nach Abzug der Römer aus deren großem
linksufrigen Lager ohne weiteres den Brückenkopf angreifen, besonders aber aus
der Art, wie sie noch vor deren Abmarsch die Zerstörung der über die Etsch
geschlagenen Brücke ins Werk zu setzen suchen. Denn wenn sie zu diesem
Zwecke den Fluß, dessen erhöhte Fluten dann die Brücke wegreißen sollten,
anzustauen versuchen, so konnten sie dieses nur von einer unterhalb der Brücke
gelegenen Uferstelle aus beginnen. Dieses Manöver war aber wiederum für sie
nur auf dem rechten Ufer ausführbar, weil sich hier nicht das Lager der römi-
schen Hauptarmee sondern nur die auf strikte Verteidigung angewiesene Be-
satzung des Brückenkopfes befand, den umgehend der Feind an eine Uferstelle
stromabwärts gelangen konnte.
26
II. Kapitel.
Auch dieser Gefechtsabschnitt lief dann schließlich so aus, wie er nach der
inneren und äußeren Lage des römischen Heeres nicht anders endigen konnte.
Das Gros der römischen Armee zog schließlich, durch Brückenkopf und Fluß
vor den Cimbern geschützt, entlang des linken Etschufers eilig ab, um festeren
Boden unter die Füße zu bekommen. Wahrscheinlich bewirkte Katulus dann
bei Ateste (Este), an der Stelle, wo die damals noch nagelneue von Bologna auf
Aquileja führende Straße die Etsch passierte, den Uferwechsel und gelangte von
hier aus zunächst südlich des Po. Das Schicksal erreichte die Cimbern dann
viel weiter westlich, 'aber immer noch nördlich des Po''), bei Vercellae. Hier
hat dieser Fluß demnach gegenüber der unbeholfenen Kriegskunst der Barbaren
vollständig seine Bestimmung als Schutzlinie Italiens erfüllt, und nicht die Alpen,
sondern allein die Flußläufe sind es, die in diesen Zeiten in Norditalien den
kriegerischen Maßnahmen die Gesetze vorgeschrieben haben.
III. Kapitel.
Völker und Wege in den Alpen vor der römischen Eroberung.
Die Völker.
Jede römische Eroberung bedeutete für das Land, das erobert worden war,
auch die Durchdringung seiner Bevölkerung von der lateinischen Rasse, derart,
daß schließlich ein Mischvolk entstand, das zwar mehr oder minder noch die
Züge des alten Volksuntergrundes beibehalten, dem aber doch überwiegend und
kräftig die lateinische Rasse ihr in allen Ländern gleichmäßiges Aussehen auf-
geprägt hatte. Es ist uns heute nicht mehr möglich, die Eigentümlichkeiten aller
jener Provinzialnationen, die schließlich das römische Reich erfüllten, genauer
zu fixieren; eines aber kann man von vornherein als sicher annehmen, daß eben
die Verschiedenheiten, die zwischen den Bewohnern der einzelnen römischen
Provinzen bestanden, geringer waren als das Gemeinsame, das jene zusammen-
hielt. Das ist gerade das Wunderbare in dem lateinischen Volkstum, daß die
ihm innewohnende, erobernde kulturelle Kraft noch viel stärker war als sein
siegreiches Schwert; denn dieses war nur die Handhabe, um die Pforten zu
öffnen, durch die dann, auflösend und zersetzend für alles Selbständige der
unterworfenen Nationen, die überlegene und sieghafte Energie römischer Volks-
kraft eintrat, um ihrerseits die Hauptarbeit der Eroberung zu beginnen.
Auch die Völker, die in den Alpen zur Zeit der römischen Eroberung
wohnten, haben kein anderes Schicksal erfahren. Das Resultat der römischen
Eroberung ist hier schließlich genau dasselbe geworden, wie in den Ländern
östlich und westlich der Alpen; nur mag die Natur des Gebirges, und wahr-
scheinlich auch der Charakter eines oder des anderen der Alpenvölker es mit
sich gebracht haben, daß es teils längerer Zeit, teils auch schärferer, römischer
iMaßregeln bedurfte, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn nun aber auch die Alpen-
länder erst zu Beginn unserer Zeitrechnung römisch geworden sind, so können
28 III- Kapitel.
wir uns doch trotzdem schon eine leidlich klare Vorstellung des Völkerbildes
machen, das die Alpen etwa vier Jahrhunderte früher geboten haben müssen.
Die Hilfsmittel aber, die uns hierzu zu Gebote stehen, sind hauptsächlich die
Nachrichten aus der alten klassischen Literatur; der Umstand jedoch, daß die
Alpen von den Alten nur von einer Seite d. h. von Süden aus angeblickt wurden,
hat es mit sich gebracht, daß dieses Bild an der Südseite der Alpen zwar leid-
lich gutes Licht zeigt, an der Nordseite des Gebirges dagegen noch Schatten und
Dämmerung vorwiegen. Die neueste Zeit ist dann eifrig daran gewesen, teils
mittelst der Sprachwissenschaft, teils mittelst der archäologischen Forschung
dieses ganze Bild der alten Alpenvölker, das uns die Nachrichten der Alten
gerade noch zu rekonstruieren verstatten, an allen möglichen Stellen zu ergänzen
und zu erhellen. Es ist hier im Einzelnen zwar viel Stoff zusammengekommen,
aber doch immerhin wichtig hervorzuheben, daß das Bild, das lediglich die alten
Nachrichten in seinen Grundzügen zu geben vermögen, durch alles dieses nur
seine Bestätigung erfahren hat.
Bei Entwurf dieses Bildes müssen wir von einem bestimmten Ereignis aus-
gehen, das uns die römische Geschichte in seinen Folgen ganz deutlich erkennen
läßt, d. h. von der keltischen Völkerwanderung. Die Einwanderung der Kelten
von Osten her nach Mitteleuropa war an Dauer und Stärke ein gleich wichtiges
Ereignis wie die in kleinen Gliedern sich an sie anschließende, in ihrer Massen-
haftigkeit jedoch etwa erst um ein halbes Jahrtausend später einsetzende germanische
Völkerwanderung. Nur steht die germanische Völkerwanderung uns heute viel
klarer vor Augen als jene, weil sie an den meisten Stellen auf ein Kulturvolk
traf, durch das uns die Kunde über diese Ereignisse selbst erhalten bleiben
konnte. Von der keltischen Völkerwanderung dagegen sind nur die zeltlich
letzten und örtlich am weitesten von dem Ausgang der Bewegung entfernten
Wellen auf ein solches Kulturvolk, zumeist auf die Römer, getroffen. Bei der
germanischen Völkerwanderung können wir ganz genau die Rolle, die innerhalb
derselben die Alpen gehabt und den Einfluß, den diese auf deren Bewegungen
ausgeübt haben, erkennen. Hier begegnen wir nun der auffallenden, aber seht'
willkommenen Tatsache, daß, wenn wir diese Rolle und diesen Einfluß ganz
gleichartig wie bei der germanischen auch schon für die keltische Völkerwanderung
voraussetzen, dieses sich nicht nur vollständig mit den in unklaren Umrissen
vorhandenen Nachrichten verträgt, sondern daß diese Annahme noch dazu
weiterhin zur Verdeutlichung und Rekonstruktion des Verlaufes jener keltischen
Völkerwanderung ein ganzes Teil beitragen kann.
Wohl ging der Zug der deutschen Kaiser im Mittelalter direkt von Nord
nach Süd über die Alpen, nicht aber derjenige der großen geschichtlichen
Völkerbewegungen. Solche Völkerbewegungen sind wie ein gewaltiger, mehr
breiter und verschieden tiefer Strom, der zunächst durchaus keine Neigung zeigt,
die Richtung, in der er einmal zu fließen eingesetzt hat, zu verlassen. Der Aus-
Völker und Wege in den Alpen vor der römischen Eroberung. 29
gangspunkt jenes Stromes aber lag bei der keltischen und der germanischen
Völkerwanderung beidemale nicht im Norden, sondern im Osten Europas, während
die Richtung desselben nach Südwesten ging. So bildet das Bestreben von
Osten nach Westen zu gelangen die überwiegende lebende Kraft dieser Völker-
bewegungen, und die Aufgabe der Alpen, an deren Nordostecke (Carnuntum)
jene Bewegung zuerst anstieß, ist es daher jedesmal gewesen, diese Strömung
weder zu brechen noch grundsätzlich in ihrer Richtung zu ändern, sondern die-
selbe nur, das Südland schützend, weiter an dem Nordrand des Gebirges ent-
lang nach Westen zu leiten. So sind es nur Nebenarme dieses Stromes, die
entweder sogleich von der östlichen Seite der Alpen aus in der Richtung auf
Venetien zu abfließen, oder andererseits von der nordwestlichen Seite der Alpen
aus, am Mittellauf der Rhone hinab, an die Westalpen und über dieselben nach
Italien hinüberziehen. Wie diese Bewegungen nun bei der keltischen Völker-
wanderung im einzelnen vor sich gegangen sind, wissen wir nicht; wohl aber
sehen wir ihr Auslaufen ganz deutlich in der Gestalt, wie uns die Kelten im
Lichte der Geschichte dann entgegentreten, als die Bewegung ihren Willen ge-
habt hat, zum Stehen gekommen ist und Spanien und besonders Gallien im
weitesten Sinne bereits von Kelten angefüllt sind. Der eine, westliche Neben-
strom der Kelten hat sich über die Westalpen ergossen, ist tief in Italien ein-
gedrungen und hat schließlich nach Besetzung Norditaliens östlich etwa an der
Südspitze des Garda-Sees Halt gemacht, während von den letzten Wassern des
Hauptstromes sich ein Teil schon an den Ostalpen getrennt hat und durch deren
Gebiet gleichfalls bis an die Grenzen Nordostitaliens gelangt ist. Der Verbrennung
Roms unter Brennus, die Unterwerfung des italienischen Keltenlandes vor dem
zweiten punischen Kriege auf der einen Seite, auf der anderen Seite die römische
Gründung Aquilejas und die Kämpfe der Römer gegen die Karner (im zweiten
Jahrhundert vor Ch.) illustrieren diese Vorgänge.
Das Völkerbild, das Mittel- und Norditalien vor Eintritt dieser Kelten ge-
boten hatte, war daher derart gewesen, daß in Nordwestitalien die Ligurer, in
■ Nordostitalien die Veneter saßen, während ganz Mittelitalien und von hier aus
nördlich die Gegend von Cremona und Mantua und wieder weiter nördlich die
Mitte der Alpen von den Etrusker- Rätern eingenommen war; jedenfalls eine
interessante Gruppierung, insofern während derselben die Mitte Europas mathe-
matisch genau von ein und derselben Nation, eben den Etrusker-Rätern, besetzt
erscheint. Strittig bleibt hierbei aber noch, welchem von diesen drei Völkern
der Ruhm gebührt, am frühesten in Italien gewohnt zu haben, strittig außerdem,
ob die alten Veneter und Ligurer überhaupt nicht ein und dasselbe Volk sind,
und nur das eine ist sicher, daß sich die Etrusker-Räter von den beiden anderen
Völkern ganz bestimmt unterschieden haben. Gegen die Annahme, daß Veneter
und Ligurer dasselbe Volk seien, spricht freilich das aus dem beiderseitigen
Wesen herrührende grundverschiedene Schicksal, das diese Völker während des
30 "I. Kapitel.
Altertums betroffen hat, sowie deren grundverschiedene Leistungsfähigtceit. Bei
den Venetern, die sich den Römern freiwillig unterordneten, hat die römische
Kultur sofort starke Wurzeln geschlagen, während die Ligurer, wenig aufnahme-
fähig, links liegen geblieben sind. Im ersten Jahrhundert nach Ch. bewohnten
die Veneter eine geistig und materiell zur höchsten Blüte entwickelte Zone,
während Ligurien zu derselben Zeit nichts anderes als ein armes und sprödes
Hinterland war.
Die hauptsächlichste Veränderung, die durch die keltische Völkerwanderung
nun in diesen Zustand gebracht wurde, stellt sich dar als ein Zurückdrängen
aller dieser drei Nationen, das am schwächsten noch die Veneter, am folgen-
schwersten aber die Etrusker getroffen hat. Denn während die Veneter haupt-
sächlich nur an den Grenzen beschnitten und auch die Ligurer vielleicht nur
aus den heutigen Grajischen-Alpen und Piemont nach Süden zu gedrückt worden
sind, spalteten die Kelten das Gebiet der Etrusker durch die Besetzung Ober-
italiens gewaltsam in zwei Hälften, eine nördliche in den Alpen befindliche und
in die südliche in Mittelitalien, auseinander. jDas Völkerbild, das die Alpen
somit nach Stillstand der keltischen Völkerwanderung und vor Beginn der
römischen Eroberung geboten haben, ist derart, daß, abgesehen von den schon
nach damaligen Begriffen fast international zu bezeichnenden Anwohnern der
ligurischen Küstenstraße, in großen Umrissen der Kamm und die östlichen Ab-
hänge der See -Alpen und Kottischen Alpen von Ligurern bewohnt werden, an
die sich dann vom Bereich der Bernhard-Pässe ab die Kelten anschließen. Die
keltische Völkerwanderung, von der West- und Ostseite des Gebirges anspülend,
hat demnach von diesen beiden Seiten aus den westlichen und östlichen Teil der
Alpen mit ihren Volksgenossen erfüllt, und nur in der Mitte derselben ist der
Teil, den später ungefähr das Bergland der nach ihnen benannten römischen
Provinz einnahm, noch von dem Volke der (Etrusker-) Räter besetzt. Auch in
bezug auf dieses Volk liegt für den Anfang der geschichtlichen Erkenntnis die
Südseite der Alpen heute in besserem Lichte als deren Nordseite, insofern der
zu den Rätern gehörige Stamm der Euganeer, der im heutigen Val Sugana saß
und nordöstlich von den keltischen Karnern und südöstlich von den Venetern
beschnitten worden war, den nördlichsten Pfeiler der von den Kelten von Westen
aus zerstörten Brücke darstellt, die einst von den in den Alpen wohnenden
Rätern aus nach Süden zu den Stammgenossen nach Mittelitalien hinüberführte.
Soweit es ferner überhaupt nicht gewagt erscheint, Vermutungen über das auf-
zustellen, was hinter dem Vorhang der Alpen wohnte, ist es wahrscheinlich, daß
damals der Zusammenhang der keltischen Völkerfamilie vom Nordabhang des
Schweizer Jura über Süddeutschland bis nach den Ostalpenländern noch ganz
intakt war. Die Spuren des eigentlichen rätischen Volkes, die in Nordtirol
schon schwächer werden, hören in Oberbayern ganz auf; die Vindelicier jeden-
falls müssen wir mit größerer Wahrscheinlichkeit den Kelten zuweisen, da jene
Völker und Wege in den Alpen vor der römischen Eroberung. 31
von den Alten stets ganz bestimmt von den Rätern gesondert werden, und auch
nördlich der tiroler Berge mit großer Entschiedenheit die keltischen Ortsnamen
wieder anheben. Als ein Beispiel für viele mag hier der Name Brigantium-
Bregenz am Bodensee, in dessen Nähe Tiberius die Vindelicier besiegte, gelten;
der gleiche Namensklang findet sich ja in Brian^on, einem über allem Zweifel
erhabenen Keltenort am Mont Genevre.
Die vielen Nachrichten, die uns infolge der Massenhaftigkeit, mit der die
Kelten den Römern gegenübertraten, von diesem Volke erhalten sind, ganz be-
sonders aber die wertvollste von allen diesen Nachrichten, die Charakteristik
der Kelten durch Cäsar, ersparen es der Gelehrsamkeit, ein Bild von dem
Wesen dieses Volkes nachträglich zusammen zu tragen. Die Schilderung Cäsars
trägt in ihrer klassischen Klarheit derart den Stempel der Wahrheit an sich,
daß wir sie in der Hauptsache auch auf die Alpenkelten anwenden können.
Für die Art, wie die Kelten im Alpenland gewohnt haben, muß freilich deren
Charakter insofern besonders in Rechnung gezogen werden, als gründliche, dauer-
hafte Ansiedelungsarbeit auch in ihrer Jugendzeit ebensowenig Sache der keltischen
Nation wie jetzt gewesen ist. Zähigkeit ist aber gerade zu allen Zeiten für ein
Volk die erste Voraussetzung gewesen, um in den Alpen feste Wurzeln zu schlagen.
Bei den Kelten jener Zeit wiegt aber unverkennbar der Zug nach der Ansiedelung
in den günstigen Flachländern vor; dieses und das besonders beliebte Bestreben
aller halbkultivierten Völker des Altertums, entlang der Grenzen ihrer Gebiete
unbewohnte Flächen haben zu wollen (Helvetische Wüste = Dekumatland), recht-
fertigen den Schluß, daß wir uns damals trotz Polybius, der sich über die
Volksdichtigkeit der Alpen wundert, das Alpenland noch durchaus von un-
bewohnten Gebieten durchsetzt denken müssen. Da freilich, wo unter dem Schutz
des Gebirges die Bedingungen zum Wohnen einladend waren, zeigen sich auch
damals die keltischen Ansiedelungen in einer den südländischen ebenbürtigen
Höhe. Schon in der Mitte des ersten Jahrhunderts vor Ch. kann die Ebene
zwischen dem Genfer und Neuenburger See (Aventicum, Solothurn) ihre Be-
wohner nicht mehr fassen, und das jenseits der Julischen Alpen gelegene Land
der Taurisker erscheint gleichfalls schon zu dieser Zeit als ein mit Orten und
Verkehrswegen dicht besetztes Gebiet.
Die Ostseite der Alpen legt nahe, noch auf ein Volk einzugehen, dessen
Dasein zufällig die Archäologen in tausend interessanten Resten an das Tageslicht
gefördert haben, auf das Volk, das in den Ostalpen durch die sogenannte Hall-
städter Kultur repräsentiert wird. Dergleichen Funde, die ein gleichartiges Volks-
tum beweisen, finden sich von der Ostgrenze der römischen Provinz Rätien aus
gerechnet östlich über das ganze Alpengebiet und besonders zahlreich entlang
des nördlichsten Randes des Gebirges, wo sie bienenstockartig gerade in der
Hallstädter Gegend auftreten. Hier ist aus den zahlreichen Funden wunderbar
klar das Bild einer in ihrer Betätigung fast behaglichen Kultur emporgestiegen,
32 III- Kapitel.
die sich hier, wir wissen nicht wie lange, ergangen hat, deren Lebenskraft jedoch
durch ein plötzliches, elementares geschichtliches Ereignis abgeschnitten worden
sein muß. Aus der Tatsache aber, daß die in Gesellschaft der Hallstädter Funde
gemachten Funde römischen Ursprungs ganz geringfügig sind, können wir weiter-
hin entnehmen, daß sich hier das Römertum keinesfalls unmittelbar an jene Hall-
städter Kultur angeschlossen haben kann, sondern daß zeitlich ein trennender
Zwischenraum zwischen diesen beiden liegen muß, und es liegt deshalb nahe,
den letzten Zügen der keltischen Völkerwanderung jenes Zerstörungswerk zuzu-
schreiben. Um 400 V. Ch. sitzen die Kelten aus dem Haupttrupp des Völker-
zuges bereits in Oberitalien, während diejenigen der Arrieregarde erst zu Anfang
des zweiten Jahrhunderts v. Ch. in Venetien angeklopft haben; aus den Funden
selbst aber geht hervor, daß gerade die Hallstädter Kultur nicht später als um
200 V. Ch. ihr Ende gefunden haben muß. Zeitlich paßt es also durchaus, diese
Zerstörung den zuletzt an der Linzer Pforte angelangten Kelten zuzuschreiben,
die, als sie das obere Donautal vor sich bereits besetzt fanden, von hier aus
nach Süden abschwenkten.
Wir stoßen in diesem Zusammenhange auf die einzige, uns noch erkenn-
bare, die Alpen von Nord nach Süd durchquerende Direktive, in der sich zu
bewegen die Völkerbewegungen der Urväterzeit Neigung gezeigt haben. Es ist
dieses die Linie, die von dem Südzipfel Böhmens über die Kämme der Tauern
und den Neumarkter Sattel nach der Nordspitze der Adria zieht, eine Richtung,
die aller Wahrscheinlichkeit nach später auch die Cimbern eingeschlagen haben.
Der Ausgangspunkt und Endpunkt dieser Linie, die Linzer Pforte und die Ost-
ecke der Adria, sind es allein, die diese in das Leben gerufen haben, während
der Verlauf derselben von dem einen Ende zum anderen durch die Alpen hin-
durch hinsichtlich seiner Wegbarkeit weder bequem noch zielgerecht ist, und
besonders in seinem nördlichen Teile die zweckentsprechenden, den Gebirgs-
kamm überschreitenden Einsattelungen vermissen läßt. Aber gerade deshalb
werden wir uns über die an diesem nördlichen Rande sich findenden Spuren von
ganz gründlichen, Naturereignissen ähnlichen Zerstörungswerken von Menschen-
hand weniger zu wundern haben. Es ist, als ob sich die zurückgehaltene Wut
der Völker, die wegen des vorliegenden Gebirges nach Süden nicht weiter vor-
wärts konnten, zunächst hier ausgetobt hätte. Das gleiche Bild einer maßlosen
Zerstörung, selbst nach den Verhältnissen der Völkerwanderung gemessen, zeigen
dann auch die Ruinen Salzburgs, und wie sehr überhaupt an der östlichen Nord-
seite der Ostalpen der Anprall der letzten im Verlaufe der germanischen Völker-
wanderung auftretenden Wogen gewütet hat, ist aus der Geschichte des heiligen
Emmeran ersichtlich, nach der noch in der Mitte des siebenten Jahrhunderts
n. Ch. hier im Gebiet der Avaren alle Kultur erloschen war.
Ganz im Gegensatz zu den Kelten ist uns von dem Wesen des anderen der
beiden ersten geschichtlichen Hauptvölker der Alpen, der Räter, nur eine ganz
Völker und Wege in den Alpen vor der römischen Eroberung. 33
geringe Kunde erhalten. Es ist das Verdienst des Alpenschilderers Steub, daß
er die Frage über das Volkstum der alten Räter an der richtigen Stelle ange-
schnitten und weiterhin trefflich zerlegt hat. Steub hat mit einer unerreicht glück-
lichen Mischung von ernstem Gelehrtensinn und einem natürlichen klugen Blick
für die Wirklichkeit den Rätern diejenige Stellung wiedergegeben, die sie ein-
gebettet in dem sie umHutenden Meere anderer Völkernamen in der Kunde der
Nachwelt fast verloren hatten. Mögen auch späterhin neben den Flammen, die
Steub hier angezündet hat, noch andere Lichter erschienen sein, zufolge deren
sich die Strahlen der Forschung Steubs jetzt anders brechen, in der Haupt-
sache sind die Resultate Steubs doch unverrückt geblieben. Steub hat nun eines-
teils die schon bei den Alten vorhandene Ansicht als durchaus richtig bewiesen,
daß die Räter und Etrusker ein und derselben Völkerfamilie angehört haben,
anderenteils aber auch den Umfang des Gebietes, das jene Räter einst einge-
nommen haben, aus den über ihm lagernden Schichten der späteren Geschichte
wieder deutlich herausgehoben. Die Sprachforschung allein ist es, die ihm dazu
verholfen.
Nehmen wir das obere Rhonetal, wo der Sankt Gotthard wie geschaffen als
Grenzpunkt der Völkerzonen sich erhebt, als westlichsten Punkt des alten Räter-
landes an, so lief dessen Grenze zunächst über den Tödi nach dem Walensee,
setzte hier nach dem Bregenzer Walde hinüber und ging die Kette der bayrischen
Voralpen entlang bis zur Innpforte bei Kufstein. Von hier aus ostwärts wird die
Bestimmung jedoch eine Strecke weit unsicher, bis sich wieder in der nahen und
weiteren Umgebung Salzburgs unzweifelhaft rätische Namen finden. Gehen wir
nun aber zum oberen Rhonetale wieder zurück und von hier nach Süden, so
mag weiterhin jene Grenze ungefähr bis nach Lugano und dann in ausgesprochen
östlicher Richtung über die südlichen Voralpen bis zur Nordspitze des Garda-
sees und von hier weiter bis zur Marjnolata zu ziehen sein. Von jenem uralten
Ruhepunkt aus, an dem gleichfalls zu allen Zeiten die Grenzen der Völker ver-
ankert lagen, ist die Grenze dann weiterhin nördlich nach dem Pustertal gezo-
gen, das sie in der Gegend von Sebatum (St. Lorenzen) überschritten haben mag.
Von diesem Punkte aus nördlich gerechnet befinden wir uns nun aber wiederum
in jener Zone, in der die Grenzbestimmung unsicher wird, da von hier aus keine
sicheren rätischen Namen nach Salzburg oder Kufstein hinüberleiten. Es mag
zu dieser Grenzbestimmung hinzugefügt werden, daß erst neuerdings die Täler
der Südalpen vom Luganer bis zum Gardasee anstandslos den Rätern zugewiesen
werden, besonders aber, daß ebenso es fraglich erscheint, Nordtirol ihnen un-
gemischt zu lassen.
Innerhalb jenes von den oben genannten Grenzen umzogenen Gebietes wird
nun das Dasein rätischer Bewohner durch das Vorkommen derjenigen Eigen-
namen garantiert, deren Erklärung nicht anders möglich ist, als für ihre Ent-
stehung das Nachwirken einer alten, selbständigen, besonders gearteten Sprache
Scheffel, Verkehrsgeschichte der Alpen. I. Band. 3
34 III. Kapitel.
d. h. eben derjenigen der Räter anzunehmen. Diese hier in Frage kommenden
Ortsnamen sind in ihrem Klange so unverkennbar und über jenes ganze Gebiet so
eindringlich verbreitet, daß zunächst der Schluß nahe liegt, daß alle die Stellen,
an denen sie heutzutage innerhalb jenes Gebietes fehlen, im rätischen und rö-
mischen Altertum volksleer gewesen sein müssen. Als solche Stellen hat schon
Steub den Bregenzer Wald, das Lechtal und Teile des Oetz- und Zillertales er-
kannt, und mögen hier zu ihrer Vervollständigung noch das Gebiet östlich des
Bernina, das Davoser Tal, das Cismonetal nördlich Primiero und einige Täler
nördlich Bassano hinzugefügt werden.
Die Tatsache der Existenz dieser vielen Namen, die heute noch die rätische
Sprache verraten, berechtigt uns aber, in unseren Schlüssen überhaupt noch
einen Schritt weiter als Steub zu gehen. Wenn diese alte rätische Sprache, die
nach der römischen Okkupation von der lateinischen Sprachbildung nicht minder
energisch wie die Sprachen aller anderen ihr ausgelieferten Völker angefaßt
worden ist, und dann ebenso noch über ein Jahrtausend hindurch gleichmäßig
den Einfluß deutscher und italienischer Sprachbildung über sich ergehen lassen
mußte, trotzdem ein so zähes Leben gezeigt hat, — während im Gegensatz hierzu
in den anderen Teilen der Alpen, weder in der Schweiz, noch in den Ostalpen,
nirgendwo noch heute gleich deutlich der daselbst vor Erscheinen der lateinischen
Sprachbildung vorhanden gewesene Untergrund in den Ortsnamen hervortritt —
so muß zweifelsohne jenem rätischen Volke, dem diese Sprache angehörte, ein
zäheres Leben, das einer Verschmelzung mit anderen Sprachelementen besonders
stark zu widerstehen vermochte, innegewohnt haben. Zur Stärkung dieser Be-
hauptung kann man aber nicht nur das Vorhandensein jener zweifellos rätischen,
sondern auch die heutzutage in der ganzen rätischen Zone sich findenden gleich-
lautenden Ortsnamen, die in ihrem Hauptstamm auf das Lateinische zurückgehen,
heranziehen, da der ursprüngliche rätische Sprachbau auch gegenüber dem sich
in ihm einpflanzenden Latinismus seine Eigenart so nachhaltig geltend machte, daß
er auf seinem Boden überall nur in sich gleichartige, aber gegen die Ortsnamen
in anderen römischen Provinzen ganz verschieden klingende Wortbildungen
heranwachsen ließ.
Dieser Annahme von der selbständigen Beschaffenheit des rätischen Volkes
entspricht aber auch durchaus das wenige, was wir von den Alten selbst über
die Räter wissen. Dieses ist im Grunde eigentlich nur zweierlei, einmal, daß
diese Räter auch schon den Römern als ein durchaus geschlossenes, selbständig
geartetes Volk erschienen, das sich von den anderen es damals umwohnenden
Völkern besonders stark unterschied, und ferner, daß die Räter nach Ansicht
der Römer zu demselben Volksstamm wie die Etrusker gehörten. Somit Fällt
die bis heute ungelöste Frage, welcher Völkerfamilie die Räter zuzuweisen sind,
mit der gleichen über die Etrusker zusammen, eine Frage, die bis heute unaus-
gesetzt den Gegenstand der gelehrten Forschung gebildet hat. Und auch mit
Völker und Wege in den Alpen vor der römischen Eroberung. 35
vollem Recht. Denn so lange wir nicht wissen, welcher Rasse diese beiden
Völker zuzuweisen sind, fehlt nicht nur ein wesentliches Moment zur Re-
konstruktion des Völkerbildes des alten Italiens, sondern für unseren Zweck
auch der Ausgangspunkt für die Entwicklung, die ein Teil der Bevölkerung der
Alpen genommen hat. Auch eine Geschichte der Alpenvölker muß mit dieser
Frage abrechnen, da das längst vergangene geschlossene Volkstum der alten
Räter auch in die Jetztzeit noch seine dünnen aber trotzdem ganz bestimmten
Schlaglichter hinüberwirft. Eine Unterfrage ist dabei auch noch, ob diese Räter
einst von Norden oder Süden her in die Berge gekommen sind. Als einziger
Anhalt zu deren Bestimmung könnte gelten, daß sich heute noch auf dem Boden
des alten Rätiens mehrfach die Kunde findet, die älteste Besiedelung sei von
Süden nach Norden gegangen, eine Annahme, die an einigen Stellen des Landes
durch die Gestaltung der frühesten kirchlichen Bezirke, die mit ihren Haupt-
orten ganz im Gegensatz zu den Forderungen der natürlichen Verhältnissen auf-
fallend nach Süden gravitieren, wahrscheinlich gemacht wird.^)
Die Etrusker und Räter sind der Reihe nach mit guten und weniger guten
Gründen schon den verschiedensten Völkerfamilien zugezählt worden. Wir
müssen hier einer der frühesten Ansichten beitreten, und zwar derjenigen, die
diese Nationen als zu den semitischen Völkern gehörig betrachtet hat, wenn wir
uns freilich auch von vornherein ganz klar sind, daß die Gründe, die wir für
diese Ansicht beibringen können, keinesfalls für eine Beweisführung, sondern
nur zur Erklärung der Wahrscheinlichkeit dieser Annahme ausreichen können.
Von Anfang an hat der Charakter aller semitischen Völker dem der Indogermanen
überall besonders schroff gegenübergestanden, eine Erscheinung, die sich in dem
Verhältnis zwischen dem römischen und dem etruskischen Volkstum durchaus
wiederfindet, indem während des römischen Altertums die Verschmelzung der
lateinischen mit der etruskischen Rasse viel langsamer und unvollständiger als
bei den anderen Völkern Italiens vor sich ging. Die Römer reden in ihren
besten Zeiten gern von der etruskischen Kunstfertigkeit, ebenso aber auch von
der Völlerei und Üppigkeit, die ihnen dort besonders in die Augen stach; auch
dieses paßt zu der Beobachtung, wonach gerade die Semiten in Industrie und
materieller Kunst sehr viel geleistet, ebenso aber auch bei hoher Kultur dann
stets eine besondere Neigung zum Quietismus gezeigt haben. Auch die Blitz-
schau, die bei den Etruskern geübt wurde, paßt zu dem Sterndienst der Semiten.
Einigermaßen zahlreicher werden nun aber jene Symptome für die Richtigkeit
unserer Annahme in der rätischen Zone, was auch deshalb kein Wunder nehmen
darf, weil in jenes Gebiet die Etrusker-Räter ihre Wurzeln drei Jahrhunderte
länger als in Mittelitalien eintreiben konnten. Solche Anklänge finden sich aber
nicht nur in dem Wenigen, das wir aus dem Altertum selbst von den Rätern
wissen, sondern ebenso auch in gewissen Zügen des Volkes, das heute noch
innerhalb der Grenzen des alten Rätiens wohnt.
3*
36 III. Kapitel.
Dem Hauptgott, und wahrscheinlich dem einzigen Gotte der Räter, wurde
entsprechend der demselben zugeschriebenen Eigenschaften in der römischen
Göttergesellschaft das Gewand des Saturn angezogen, und es muß daher nach
dieser Beziehung hin auffallen, daß sich eine ausgesprochene Verehrung des
Saturn sonst im römischen Altertum nur noch in Nordafrika, also gleichfalls auf
semitischem Volksuntergrund feststellen läßt. Als die Römer in das Innere
Rätiens kamen, fiel ihnen ferner die besondere Bauart der rätischen Dörfer auf,
für die sie keinen besseren Ausdruck fanden, als sie mit dem Namen Kastell zu
bezeichnen, wie auch 'noch im Jahre 397 n. Ch. der Bischof Vigilius von Trient
über die vielen im Nonsberg gelegene Kastelle besonders erstaunt gewesen ist.
Auch heute noch ist die Zahl der Orts- und Burgennamen, die den Zunamen
Kastell führen, im Gebiet des alten Rätiens viel häufiger als in anderen roma-
nischen Ländern. Es ist diese Tatsache für unseren Zweck aber um so wichtiger,
da die Mehrzehl jener mit diesem Zunamen bezeichneten Orte einwandfrei auch
schon zu den Zeiten der Römer bestanden haben muß^), und daher die Römer
jene Plätze ohne weiteres von den alten Rätern übernommen haben werden.
Wenn die Römer somit mit dieser Ortsbezeichnung eine bestimmte gerade den
Rätern eigentümliche Bauweise in den Ortschaften haben kennzeichnen wollen,
so ist es immerhin zu erwähnen, daß wir den Ausdruck Kastell für wirkliche
Dörfer im römischen Altertum nur noch in Nordafrika, also gleichfalls auf
semitischem Kulturboden, wiederfinden.'^) Selbst bei der Plötzlichkeit und Wild-
heit, die von den Römern bei den rätischen Raubzügen in die Ebene hinein
ausdrücklich hervorgehoben werden, könnte uns die Art der Beduinen in das
Gedächtnis kommen, und auch darin, daß die rätischen Weiber ihre Kinder auf
die andringenden Feinde herabgeworfen haben sollen (Florus IV, 12) könnte
man etwas von der bekannten semitischen Selbstaufopferung wiederfinden.
Als Eigentümlichkeit der semitischen Sprachen gilt ferner ihre Härte und
die in denselben sich vorfindende Häufung der Konsonanten. Nicht nur den
Römern erschien schon die etruskische und rätische Sprache rauh, sondern auch
heute noch ist der tiroler Dialekt ausgesprochen hart, während andererseits auch
gerade das, was uns heute in den tiroler und bündner Ortsnamen am fremd-
artigsten erklingt, in erster Linie auf der Häufung der in denselben enthaltenen
Konsonanten beruht (Splüdatsch in Chur, Matschatsch a. d. Mendel, Tschamin-
thal am Rosengarten). Zu beachten bleibt immerhin auch, daß die etrurische
Akademie in Cortona in dem Sprachschatz der Ladiner assyrische und hebräische
Stammsilben zu finden geglaubt hat.^)
Nicht in dem Maße wie die anderen indogermanischen Sagen haben die
tiroler Volkssagen als Hauptgestalten die Elfen, Nixen und Gespenster, sondern
sie beschäftigen sich ebenso häufig mit vergrabenen Schätzen und wunderbaren
Tieren und ein gleiches ist auch in den Sagen der von den Mauren abstammenden
Bergbewohner Granadas zu beobachten ö). Vorliebe für Obst und Gartenbau ist
Völker und Wege in den Alpen vor der römischen Eroberung. 37
eine besondere semitische Eigentümlichkeit '^'); auch dieses paßt zu dem obst-
reichen Bozen und dem Domletsch in Bünden und zu den Blumen, die sich,
verbreiteter als in anderen Ländern, gerade vor den tiroler Bauernhäusern finden.
Die alte semitische Unruhe im Wohnen ist auch den Tirolern durchaus nicht
fremd"). Der Tanz ist in Rätien stets eine uralte und derart wichtige Beschäf-
tigung gewesen, daß früher an manchen Stellen das Gerichtshaus und der mit
Teppichen behangene Tanzboden ein und dasselbe Gebäude waren; bei dem Anblick
echter Tiroler Tänze aber könnte man sich zuweilen aber auch bei den jagenden Be-
wegungen der Weiber ebensogut orientalische Tänzerinnen vorstellen.
Ureigenschaften der Semiten waren von jeher ihr zähes Gemeingefühl und
nach Renan, dem bislang immer noch gründlichsten Kenner dieser Völker, „die
aus strengem Monotheismus entspringende Intoleranz, ebenso Mangel an philoso-
phischem und analytischem Sinn sowie an regulären militärischen Fertigkeiten,
dagegen u. a. Stärke in musikalischer Begabung". Auch auf dem Boden des
alten Rätiens (Salzburg) ist die Musik besonders zu Hause und die seit alter
Zeit in Bünden und Tirol viel häufiger als irgendwo sonst in Europa geführten
Volkskämpfe setzen gleichfalls ein besonders zähes Gemeingefühl voraus.
Auch die Religionskämpfe sind kaum irgendwo anders heißer als in diesen
Ländern ausgefochten worden, und religiöse Intoleranz unter dem Begriff der
Glaubenseinheit ist in Tirol noch bis zur Schwelle der Jetztzeit zu Haus ge-
wesen. Auch Bünden und Tirol haben wohl nicht weniger wie andere Länder
bedeutende Leute, aber unter diesen doch immerhin in geringerer Zahl zünftige
Gelehrte hervorgebracht, und die Söhne dieser Länder haben ihre militärischen
Vorzüge vorwiegend auch nur im kleinen Kriege und weniger in großen Ge-
fechten gezeigt. Von Abd-el-Kader, dem großen Gegner der Franzosen in
Algerien, sagt Renan, „er sei ein Weiser, ein Mann der Leidenschaft und reli-
giösen Stimmung, keineswegs ein Soldat gewesen". Diese Charakteristik paßt
ebensogut auf den Tiroler Volkshelden Hofer, und selbst auf einem 1810 er-
schienenen, Hofer darstellenden Stiche kann man, wenn man will, vielleicht ganz
gut in dem Gesicht und Haarwuchs etwas wie die Züge eines Mauren heraus-
finden (veröffentlicht in Haushofers Monographie von Tirol, Abb. 17).
Es ist nun noch am Platze, auf diejenigen Eigenschaften einzugehen, die
heute noch dem Volke, das Tirol und Bünden bewohnt, gemeinsam geblieben
sind. Die beiden Teile des alten Rätiens, die westliche Hälfte, Graubünden, und
die östliche Hälfte, Tirol, haben seit dem Ende des römischen Reiches und be-
sonders seit den Zeiten Karls des Großen eine ganz verschiedene Entwicklung
genommen, so daß das Gemeinsame, das den Bewohnern dieser Länder heute
noch anhaftet, in seinem Ursprünge mit größerem Recht auf deren frühere Zu-
sammengehörigkeit als auf die folgenden Zeiten zurückzuführen ist. Wenn man
von denjenigen Bevölkerungsresten in Bünden und Südtirol ausgeht, die sich
heute noch durch ihre ladinische Sprache ohne weiteres als direkte Nachkommen
38 III. Kapitel.
derjenigen ausweisen, die schon einst, als Rätien noch ungeteilt war, hier wohnten,
so findet sich auch bei diesen noch jene bezeichnende Zähigkeit und geringe
Entwicklungsfähigkeit ihres Volkstums, ebenso aber auch beiderseits bei den
Ladinern in Bünden und Tirol überwiegend die Fähigkeit, die schlechten Eigen-
schaften ihrer Nachbarn von sich abzuwehren und die besseren sich zu eigen zu
machen. Äußerlich ähneln alle Ladiner mehr den Italienern als den Deutschen,
wenn sie sich auch von jenen wieder durch besonders kräftigen Wuchs und
glattes Haar unterscheiden; südländische Genügsamkeit, Energie und Sicherheit
im Auftreten verbindet sich hier mit nordischer Ehrlichkeit und Sauberkeit. Man
kann jene Ladiner am besten als einen kalten Schlag von Romanen bezeichnen;.
denn die tiefe innere Leidenschaftlichkeit, die ihnen, aber auch sonst dem ganzen
bündner und tiroler Volke innewohnt, schlummert tief zurückgehalten in der
Seele und bedarf erst starker Antriebe, um sich an das Licht zu getrauen.
Eine besondere bündner und tiroler Eigentümlichkeit ist es ferner, daß es
in diesen Gebieten stets zahlreiche über das Land verstreute, mächtige und fest
eingewurzelte Dynastengeschlechter gegeben hat. Wie Berg und Fluß gehört
diese Gesellschaft hier zum Charakter des Landes, und niemals und in keinem
Teile dieser Länder hat in der bündner und tiroler Geschichte die Lebenskraft
des hohen Adels einmal ausgesetzt. Ein Zeichen, wie fest sich dieses Herrentum
hier stets gefühlt hat, ist die gemütliche und sichere Art, in der Oswald von
Wolkenstein, der Minnesänger, in seiner Heimat, der urrätischen Zone des Schiern,
mit dem Volke verkehrt. Als eine einzig dastehende Erscheinung kann man
schließlich ansehen, daß allein der rätische Volksuntergrund, sonst kein anderer,
das Vorkomnis geliefert hat, daß über ihm evangelische Gemeinden italienischer
Zunge entstehen und dauern konnten. Gemeint sind hier die evangelischen
Gemeinden im Bergeil und Puschlav. Sonst hat stets alles, was die italienische
Zunge spricht, das vom Norden der Alpen gekommene evangelische Bekenntnis
wie mit Naturgewalt von sich gestoßen. Wenn dieses sich hier aber trotzdem
erhalten konnte, so müssen jene evangelischen Leute trotz ihrer italienischen
Zunge doch ein ganzes Stück anders zusammengesetzt sein als die übrigen Italiener.
Hier hat demnach das rätische Blut, das so besonders stark religiöse Stimmungen
in sich verarbeitet, gerade die entgegengesetzte Wirkung gezeitigt als in Tirol.
Konsequenter Weise muß man dann aber auch den jenen Gemeinden dicht be-
nachbarten Bewohnern des Veltlin in der Hauptsache das rätische Blut absprechen,
da diese gegenüber jener Geistesströmung in echt romanischer Weise Stellung
genommen haben (Veltliner Mord 1620). Im übrigen stehen sich für die Ent-
scheidung der Frage, ob das Veltlin im Altertum den Rätern zuzuteilen wäre
oder nicht, zwei Gründe gleichen Wertes gegenüber; denn einesteils haben wir
unter den Rätern einen Volksstamm der Venonetes, der sich seinem Namen
nach am besten nach dem Veltlin verlegen läßt, anderenteils müssen wir aber
gerade in diesem Tale die akratischen Ortsnamen besonders vermissen.
Völker und Wege in den Alpen vor der römischen Eroberung. 39
Die Wege.
So würde dicht vor dem Zeitpunkte, an dem das Eindringen der Römer
in die Alpen selbst stattgefunden hat, noch das zu behandeln sein, was von dem
vorgeschichtlichen Wegenetz der Alpen zu rekonstruieren möglich ist. Von den
Arten des Verkehrs, die in vorgeschichtlicher Zeit über die Alpen gegangen sind,
müssen jedoch, wie wir schon gesehen haben, die planmäßigen kriegerischen
Bewegungen von vornherein ausgeschaltet werden, und wir haben es hier daher
nur mit Völkerbewegungen oder mit einem in den Uranfängen stehenden Handels-
verkehr zu tun. Gerade bei der Frage nach den vorgeschichtlichen Verkehrs-
wegen der Alpen tritt der Fall ein, daß die Archäologie hier die geschichtliche
Überlieferung vorzüglich ergänzen kann. Wenn nun die Art der Münzfunde am
treuesten die ältesten Handelsbewegungen wiederspiegelt, so können wir zunächst
aus der Masse der in und neben den Alpenländern gemachten Funde vorrömischer
Münzen wiederum die alte Wahrheit ableiten, daß die Alpen bei unentwickelten
Kulturmitteln besonders deutlich die Bestimmung einer Trennungsmauer des
Südlandes gegen den Norden erfüllt haben, und daß das, was man in den
ältesten Zeiten überhaupt europäischen Verkehr nennen kann, durchaus die Nei-
gung gezeigt hat, durch Europa in horizontaler Linie zu laufen und so die Alpen
nördlich und südlich zu umgehen. Die Münzfunde sprechen dies ganz klar aus;
denn der westliche Flügel der Alpen nebst seinen Vorlanden weist vor den
Römermünzen nur massaliotische, der östliche dagegen nur griechische und make-
donische Königsmünzen auf. Eine von Süd nach Nord durch Bünden gezogene
Linie aber bildet den Schnitt, der diese beiden Fundgebiete auseinanderspaltet,
die erste Vorahnung von der Existenz jener Grenzlinie, die durch die gleiche
Zone laufend von alters her eine Teilung des Alpengebietes in eine östliche und
westliche Hälfte hervorgerufen hat.
Eine erklärliche Folge dieses Bestrebens, die Alpen zu umgehen ist es
deshalb auch, daß die Handelsstraßen, die von der nördlichen nach der süd-
lichen Meeresküste Mitteleuropas liefen und deren auch schon die vorgeschicht-
liche Zeit bedurfte, nicht die Alpen überschritten haben, sondern an deren West-
und Ostseite vorbeiführten. Es sind dies westlich die von Massilia aus über
den Rhein nach der Nordsee führende Straße, in deren südliches, von Lug-
dunum nach Coblenz führendes Gleis dann Augustus eine römische Chaussee
legte, und die sogenannte Bernsteinstraße, die von der Ostsee durch Böhmen
nach Griechenland lief. Ein Ableger dieser letzteren suchte sich schon in vor-
geschichtlicher Zeit den Weg nach Norditalien. Es ist dies derjenige, dem
wahrscheinlich die geringen Spuren griechischer Kolonisation an der Adria das
Leben verdanken und der vor allem die römische Bernsteinindustrie Aquilejas
emporgebracht hat.
Daß aber trotzdem auch schon vor der römischen Eroberung neben den
großen die Alpen umgehenden Handelslinien ein hauptsächlich dem Lokalverkehr
40 !"• Kapitel.
dienendes, leidlich ausgetretenes Straßennetz mit der Tendenz von Nord nach
Süd das Alpengebiet selbst überzog, würde an sich schon ohne weiteres aus der
Tatsache, daß die Alpen damals bewohnt waren, abzuleiten sein. Es wird dies
aber außerdem durch eine Notiz des Strabo erwiesen, der in dieser ganz aus-
drücklich im allgemeinen von den bereits vor der römischen Eroberung in den
Alpen vorhandenen Straßen („die Augustus, so weit es möglich war, verbesserte")
redet. Die geschichtliche Überlieferung nennt dann weiter im besonderen vier
große vorrömische Alpenstraßen: die ligurische Küstenstraße, die Straße über den
Mont Genevre, die über den Kleinen Sankt Bernhard und eine durch Rätien.
Diese Übergänge macht Polybius namhaft, und es sind dies einfach diejenigen,
die schon im zweiten Jahrhundert vor Ch. auch schon den Südländern, vor
allem den Römern, bekannt waren. Würde diese Notiz des Polybius fehlen, so
würde trotzdem die Existenz dieser Übergänge schon aus den geschichtlichen
Ereignissen nachzuweisen möglich sein; denn dem Übergang über den Mont
Genevre oder Kleinen Sankt Bernhard haftet ganz abgesehen von Hannibals und
Hasdrubals Alpenübergang die Kunde von ihrer Benutzung durch die Kelten an,
während die Benutzung eines rätischen Passes überhaupt durch den Weg, den
die Cimbern nach Italien einschlugen, sichergestellt ist. Die Geschichte d. h.
das erste Erscheinen der Cimbern in der weiteren Umgebung Aquilejas und die
Unterwerfung Istriens durch die Römer im Jahre 177 vor Ch. liefert außerdem
den Beweis von der frühen Existenz der östlichsten, (der sogenannten Birn-
baumer-) Straße über die Alpen.
Nehmen wir nun aber weiter diejenigen Straßen hinzu, an deren Straßen-
körper selbst außerdem noch die archäologische Wissenschaft vorrömische Funde
an das Tageslicht gefördert hat, so treten zu den oben genannten Straßen noch
als Verkehrslinien, die in vorgeschichtlicher Zeit benutzt worden sein müssen,
hinzu: die Straße über den Großen Sankt Bernhard, die Julier oder Septimer
Straße (Fund von Conters-Burwein), derjauffen (vorgeschichtliche Befestigungen
bei Meran), der Brenner (Etruskerfunde von Matrei a. B. und Sistrans) und die
Ploeckenstraße. An letzterer Straße haben die an der Stelle des alten Gurina
im Obergailtal gemachten Funde daselbst sogar das Dasein einer Volksenklave
der alten Veneter, die sich allein infolge des Handels so weit nach Norden
gezogen haben können, an das Tageslicht gebracht und hierdurch zugleich die
hervorragende Benutzung und Belebtheit der Straße über den Ploeckenpaß in
vorrömischer Zeit festgestellt. Gerade diese Tatsache ist in Hinblick auf die
Schicksale der anderen seit Beginn der geschichtlichen Kenntnis hervortretenden
Alpenstraßen um so auffallender, da wir kein einziges geschichtliches Ereignis
des Altertums in den Bannkreis der Ploeckenstraße zu legen vermögen.
Die genaue Kunde von der Benutzung der Alpenstraßen in vorrömischer
Zeit ist somit getrübt und gering genug. Nach Lage der Dinge kann dieses
aber auch nicht anders sein, und wir haben diesen Umstand auch nicht sehr zu
Völker und Wege in den Alpen vor der römischen Eroberung. 41
bedauern, da die Ziele des in vorrömischer Zeit über die Alpen gehenden
Handels- und Völkerverkehrs überall nur dumpfen Reizen entsprungenen
Trieben geglichen haben können. Erst das Schauspiel, wie sich ein bewußter
fester Wille mit den Anforderungen des Verkehrs über die Alpen auseinander-
gesetzt hat, ist für die geschichtliche Betrachtung das eigentlich Interessante, und
dieses wird uns geboten in dem Verfahren, das die Staatskunst der römischen
Kaiserzeit gegenüber den Alpen einschlug.
IV. Kapitel.
Die Eroberung der Alpenländer durch die Römer.
Nicht zur Zeit der römischen Republit;, sondern erst unter den ersten Kai-
sern sind die Alpenländer in das römische Reich eingefügt worden. Aber noch
der erste geniale und kraftvolle Repräsentant dieses Periode hat dieses Gebiet,
das doch viel stärker als andere entfernter liegende Länder die Tätigkeit der
römischen Monarchie herauszufordern schien, auffallend unberücksichtigt gelassen.
Dank seiner eigenen Geschichtsschreibung liegt Cäsars Wirken und Wollen heute
noch wunderbar klar vor uns ausgebreitet, aber trotz aller Großheit, von der die
Erscheinung Cäsars umstrahlt wird, hinterließ er doch ein nur unvollendetes
Werk. Auch Cäsar hat seinen Tribut an die Kürze des Menschenlebens bezahlt,
indem er sich es gefallen lassen mußte, stets mitten aus seinem Wirken heraus
von den Ereignissen mit fortgerissen zu werden. Noch war bei seinem Tode
die Monarchie nicht vollendet, und ebenso hatte er vorher, als er in Italien die
Alleinherrschaft aufzurichten begann, Gallien verlassen müssen, ohne auch hier
die letzte Hand an sein Werk legen zu können. Die Unterwerfung Galliens,
durch die nicht nur die Erwerbung dieses großen Landes sondern auch schon
nach dem Maßstab damaliger Zeiten ein Stillstand der germanischen Völker-
wanderung bewirkt wurde, war das eigentlich staatlich praktische Werk Cäsars;
dieses Werk hätte aber nur dann als wirklich vollendet gelten können, wenn
Rom auch die äußeren Machtmittel besessen hätte, über die Alpen sicher nach
Gallien zu gelangen, also das zwischen Gallien und Italien liegende Alpengebiet
selbst, in seiner ganzen Ausdehnung ebenfalls befriedet und geordnet, Rom ge-
horchte. Cäsar hat keine Zeit mehr gefunden, auch dieses Werk noch in Angriff
zu nehmen. Gewiß tritt neben der Größe seines Erfolges diese Versäumnis auf
den ersten Blick zurück. Daß aber trotzdem das eine ohne das andere nicht
gut möglich war, und die Alpen als letztes, unentbehrliches Glied in die römische
Herrschaft Mitteleuropas eingefügt werden mußten, wird durch das Verhalten
Die Eroberung der Alpenländer durch die Römer. 43
des Augustus bewiesen, dem sich dann diese Arbeit nach Aufrichtung seiner
Herrschaft sofort gebieterisch aufdrängte.
Cäsars Tätigiceit in und an den Alpen resultiert so nur aus zwei Anlässen.
Zunächst erstreckte sie sich direkt auf diejenigen Alpengebiete, die unmittelbar
nach dem gallischen Kriegsschauplatz hinüberführten; in zweiter Linie aber —
und gerade dies wäre für Cäsar, der doch in erster Linie Statthalter Oberitaliens
war, eigentlich das am nächsten liegende gewesen — hängt sie mit dem zusam-
men, was an den Nord- und Ostgrenzen der diesseitigen oberitalienischen Provinz
zu tun war, oder besser gesagt mit dem Wenigen, unbedingt Nötigen, das schließ-
lich dort von Cäsar notgedrungen ausgeführt wurde. In beiden Fällen sehen wir
jedoch Cäsar, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen systematischen und ziel-
bewußten Art, sich nur mit Maßregeln des Augenblicks, ja fast mit halben Maß-
regeln begnügen.
Als Cäsar bei Beginn seiner gallischen Laufbahn in aller Eile seine fünf
Legionen aus Oberitalien zum Kampfe gegen die Helvetier nach Gallien herüber
holt, müssen sich diese zunächst auf der erst vor kurzem für den Militär-Verkehr
eröffneten Straße des Mont Genevre den Durchzug durch die eingesessenen
Bergvölker erkämpfen. Daß dies bei der Anzahl und Bewaffnung der römischen
Armee keinen großen Aufenthalt verursacht hat, ist an sich nicht wunderbar;
auffallend muß es aber bleiben, daß Cäsar niemals auf die Konsolidierung dieser
ganzen Gebiete, im besonderen auch auf eine Festlegung des Weges über den
Kleinen Sankt Bernhard, der viel kürzer an sein militärisches Zentrum in Gal-
lien heranführte, zurückgekommen ist. Als ihn dann schließlich schon im zweiten
Jahre des Krieges die Ereignisse bis tief in das Innere Galliens hineingeführt
haben, machte sich für ihn allerdings sofort auch der Gesichtspunkt geltend, die
über das Gebirge heranführenden Wege zu sichern. Seine Wahl fallt dabei auf
den Großen Sankt Bernhard. Schon hieraus erhellt zwar die überwiegende Be-
deutung dieses Passes für die Verbindung zwischen Italien und dem Innern Gal-
liens, aber von der Tätigkeit Cäsars in den West- und Zentralalpen erfahren
wir sonst weiter nichts. Helvetien hatte für ihn seine Bestimmung erfüllt, nach-
dem dessen Bewohner gerade noch fähig geblieben waren, als Wachtposten gegen
die Germanen zu dienen, und die organisatorische Tätigkeit des Eroberers be-
gnügte sich hier mit der Gründung von Julia Equestris (Nyon). Selbst wenn
die Gründung von Äugst schon auf Cäsar zurückgeführt werden kann, so lag
dieser Ort doch bezeichnenderweise immer noch westlich des Schweizerischen
Jura, und der östliche Flügelpunkt der römischen Rheinfront war also damals
noch nicht bis auf die Schweizer Hochebene selbst hinübergerückt.
Auf der italienischen Südgrenze der Alpen, da wo diese unmittelbar römi-
sches Gebiet berührte, hat dagegen Cäsar häufiger eingegriffen. Hier war es,
wo im Norden der Provinz vom Komer-See ab die Nachbarschaft der Räter und
dann weiter ostwärts diejenige der Karner und Taurisker begann. Aber wie alle
44 IV. Kapitel.
Statthalter vorher, so nahm auch Cäsar, nur aus anderen Gründen, hier keinen
Anlaß, wirklich durchzugreifen und die Grenzen vor den Einfällen der Gebirgs-
völker dauernd sicher zu stellen. Während seines kurzen und unregelmäßigen
Aufenthaltes in diesen Gebieten konnte so nur das Allernötigste erreicht werden.
Hierher gehört die Neugründung von Como, in das Cäsar fünftausend auser-
lesene Kolonisten verpflanzte und ebenso auch die Beschwichtigung der Pirusten
in Illyrien. Wie unsicher aber trotzdem die Verhältnisse hier geblieben waren,
zeigt noch am Ende des gallischen Krieges die Entsendung einer Legion nach
Oberitalien, die infolge eines Einfalles der Alpenvölker in das Triestiner Gebiet
nötig geworden war.
Und doch wartete schon damals an den Ufern des Po und der Etsch der
in den letzten Jahrzehnten rasch aufgeblühte Wohlstand und stark entwickelte
Handel Venetiens ungeduldig auf eine Konsolidierung und Befestigung der dortigen
staatlichen Verhältnisse. Daß es auch hier viel und nötiges zu tun gab, ist
sicherlich auch Cäsar während seiner Anwesenheit in Illyrien nicht entgangen.
Zweimal ist seine Anwesenheit, in den Jahren 57 und 54 v. Ch. daselbst bezeugt,
und auch dafür, daß er selbst in die Verkehrsverhältnisse eingreifen wollte, sind
Zeichen vorhanden. Hierhin gehört die Verleihung des römischen Bürgerrechtes
an die Veneter, besonders aber die Nachricht des Sextius Rufus, „daß unter
Cäsar und Augustus die Römerstraße über den Birnbaumer Wald gebaut worden
sei". Auf Grund dieser Notiz hat man dann auch die Gründung von Forum
Julii (Cividale) und von Julium Carnicum (Zuglio an der Ploeckenstraße), ja auch
die Festlegung der Birnbaumer und die Eröffnung der Ploeckenstraße selbst auf
Cäsar zurückführen wollen. Wenn man aber einerseits bedenkt, wie sehr Cäsars
Sinn und Tätigkeit von diesen Gebieten weg anderswohin gerichtet waren, anderer-
seits aber, wie tatkräftig dann Oktavian, als er noch nicht Augustus hieß, gerade
an dieser Stelle mit dem Ausbau seines Reiches begann, wird man sich dahin
entscheiden müssen, daß auch die Ordnung dieser Verkehrsverhältnisse mit
größerer Wahrscheinlichkeit Augustus, und nicht Cärar zuzuschreiben ist.
Wenn daher Cäsar auch ein Eingreifen in die Alpen selbst im einzelnen
geflissentlich gemieden hat, so bleibt ihm doch der Ruhm, der bahnbrechende
Schöpfer derjenigen Situation gewesen zu sein, durch die dann über drei Jahr-
hunderte hindurch das Schwergewicht Roms jenseits der Alpen am Rhein fest-
gelegt war und von der die Eroberung der Alpen selbst die erste und wichtigste
Konsequenz wurde. Als Cäsar vor Beginn des Bürgerkrieges sein Heer bei
Trier musterte, war das Werk schon in Umrissen vollendet, das es erlaubte, aus
derselben Stellung heraus die Armee Roms beliebig gegen Gallien oder Germanien
oder, wenn es sein mußte, auch gegen die Hauptstadt Rom selbst zu gebrauchen.
Wenn wir unter Geschichte das Suchen nach Erkenntnis und gerechter
Würdigung der menschlichen Vergangenheit verstehen, so hat über den uns
erhalten gebliebenen Resten, die allein jene Erkenntnis vermitteln können, stets
Die Eroberung der Alpenländer durch die Römer. 45
ein verschiedenartiges und deshalb zumeist auch ungerechtes Schiclcsal gewaltet.
Wo der Zufall uns die Quellen einer Epoche rein und vollständig bewahrt hat,
da tritt jene Zeit auch heute noch klar und lebhaft vor unser Auge, und die
historischen Gestalten derselben sind geschichtliche Prägungen ganz bestimmten
Wertes, die ein dauerndes geistiges Leben umstrahlt. Sind aber die Quellen
dürftig, unvollständig oder getrübt, so wird auch die geschichtliche Würdigung
der Kinder dieser Zeit unsicher und verwirrt. Die Gerechtigkeit, die sich im
Leben des Einzelnen vermissen läßt, versagt auch nach dem Tode und gegen-
über der ganzen Menschheit, und auch im Reiche der Geschichte hat sich der
menschliche Geist mit dem Zufall in die Beherrschung alles Menschenwertes
teilen müssen.
Die Verschiedenartigkeit in derQualität derQuellen der einzelnen Zeitepochen
und die dadurch hervorgerufene Ungerechtigkeit in der Bewertung der geschicht-
lichen Ereignisse ist aber viel größer als der erste Blick auf eine wohlgeschriebene,
langausgedehnte Geschichte irgend eines Volkes oder Landes ahnen läßt. Auch
die Geschichte der Alpen liefert hierfür mehr als ein Beispiel. Wie klar tritt
uns durch das Genie Cäsars, das dessen Kommentare geformt hat, und dank
des Zufalls, der diese erhielt, der Gang der Unterwerfung Galliens vor Augen;
die Kunde der Eroberung der Alpen dagegen, die jene ebenso folgerichtig nach
sich ziehen mußte wie im 19. Jahrhundert aus dem Krieg von 1866 der von 1870
hervorging, ist uns nur unvollständig und getrübt erhalten. Und doch war auch
letztere ein großes, schwieriges und vor allem für die damalige römische Zivili-
sation gleich segensreiches Werk; denn zur Abwehr gegen die germanische
Völkerwanderung gehörte die Einrichtung der Alpen als Schutzwall nicht minder
als die Herstellung der gallischen Rheingrenze. Die Größe des Unternehmens
lag aber in der Schwierigkeit des Kriegsschauplatzes und in der Art der Feinde,
und sie spiegelt sich direkt in dem Widerwillen wieder, mit dem damals die
römische öffentliche Meinung an die Bezwingung der Alpen heranging.
Diese Eroberung der Alpen ist das Werk des Augustus, und selbst wenn
alles übrige, was er noch getan, wegfiele, so würde er auch schon allein hierdurch
als eine historische Größe gelten müssen. Die Art und Weise aber, wie er das
Werk ausführte, ist für sein ganzes Wesen charakteristisch. Es ist nicht die
glänzende Tätigkeit des Helden, dessen Herold es leichter hat, wirklich Glanz-
volles zu erzählen, sondern die vielleicht noch wertvollere, klassisch gesättigte
und schöpferische des in sich sicheren Herrschers, dessen Person jedoch mehr
hinter seinem Werke zurücktritt, der aber gerade um deswillen solches schafft,
das im Kreislauf der Dinge noch am längsten seine Spuren hinterläßt. Wie
selten jemand im klassischen Altertum ist gerade Augustus der „mere man", der
Wohltäter seiner Mitwelt gewesen und er verdient es, in den Vorhallen der
Entstehungsgeschichte des Christentums zu stehen, die für unzählige Geschlechter
nach ihm heilig geworden ist.
46 'V. Kapitel.
Schon bei Abgang Cäsars nach dem innerrömischen Schauplatz hatten die
Verhältnisse an der Ostecke Italiens es dringend gefordert, eine Schutzwehr
gegen Osten für die reiche römische Handelsprovinz an der nördlichen Adria
aufzurichten. Aber erst nach fast zwanzig Jahren sollte es wirklich hierzu kommen.
Es ist bezeichnend für den jungen Oktavian, daß er nun auch, sobald er die
Hände frei hatte, dies kulturelle Werk unternahm, bezeichnend aber auch für
die Dringlichkeit der Arbeit, daß er sich persönlich an die Spitze der Unter-
nehmung stellte; noch heute haftet an der Insel Lussin Piccolo in Istrien eine
Sage, daß er hier mit' der Flotte den Winter verbracht habe. Gemeint ist hier
der von Aquileja aus begonnene, die Jahre 35 bis 33 v. Ch. ausfüllende illyrische
Feldzug des Augustus, durch den er Italien nach Osten Luft machte und außer-
dem dauernd die Landpforte nach dem Orient hinüber öffnete. Auf dem rechten
Flügel fand die Sicherung der Küste damals ihren Abschluß in der Einrichtung
des bislang viel geplagten Triests als Kolonie, während auf dem linken Flügel
im heutigen Friaul die Karner bis an den Kamm des südlichsten Alpenwalles
unterworfen wurden. Zur bleibenden Festhaltung des Landes und zur Offen-
haltung der Straßen sollten hier die Städte Julium Carnicum und Forum Julii
dienen. Das Wichtigste geschah aber von der Mitte aus, wo die große Handels-
stadt Aquileja von der Last des Grenzschutzes befreit wurde. Durch die große
bequeme Pforte des Birnbaumer Waldes drang damals die Landarmee die Höhen
hinüber in das Tal der Save. Jetzt machte Rom, ganz ähnlich wie vorher auch
bei der Gründung von Aquileja, wiederum von hier aus einen weiten Sprung
nach vorwärts, bis Siscia an der Save, weit landeinwärts und fern vom italienischen
Boden gelegen, wo nunmehr die Operationsbasis neu festgelegt wurde, während
sich rückwärts desselben an der neuen gesicherten Staatsstraße die Kolonie Julia
Emona, das heutige Laibach, erhob.
Vom Ende dieser ersten Epoche in der Augusteischen Eroberung der Alpen
an offenbart sich nun auch deutlicher die Absicht der römischen Regierung, es
mit der Eroberung des ganzen Alpengebietes bald Ernst werden zu lassen.
Augustus selbst war zwar fern, aber endgültig erfolgte nunmehr zunächst die
Sicherung des südlichen Austrittes der beiden damaligen Hauptübergänge über
das mittlere Alpengebirge, der Bernhardpässe und der Pässe der Brennerlinie.
Im Jahre 25 vor Chr. fand durch Varro Murena an der Dora Riparia die große
Razzia gegen die Salasser statt, bei der damals mit auffallender Energie vor-
gegangen wurde, während im Jahre 22 vor Chr. von Apulejus in Trient das
Kastell Verucca gebaut wurde und ebenso im Jahre 16 vor Chr. die Cammuner
im Val Trompia (Val Camonica) unterworfen wurden. Alles dieses waren jedoch
nur vorläufige Maßregeln, durch die eine Besitznahme des Gebirges selbst ein-
geleitet werden sollte.
Denn die Eroberung der Alpen ist nur ein Teil des großen germanischen
Krieges, der die zweite Hälfte der Regierung des Augustus ausfüllt und die dieser
Die Eroberung der Alpenländer durch die Römer. 47
mitsamt dem Thron von seinem Vorgänger ererbt hatte. Die von Cäsar ins
Werii gesetzte Eroberung Galliens verlangte jetzt weiterhin gebieterisch ebenso
die Festlegung der Rheingrenze wie die Unterwerfung der Alpenländer, und der
Einfall germanischer Stämme über den Rhein, im Jahre 16 v. Ch., der zur Nieder-
lage einer römischen Armeeabteilung unter Lollius führte, war nur der unmittel-
bare Anlaß für jenes große, von Augustus schon längst beschlossene Unternehmen,
das die römische Politik auch diesmal offensiv d. h. durch die Eroberung Ger-
maniens zu lösen suchte. Noch in demselben Jahre ging Augustus persönlich
nach Gallien und es begann jener großangelegte Feldzug mit seinen großen Zielen.
Auch zu jenen Zeiten war das römische Heer noch ebenso unerreicht wie vor-
her und auch die militärische Befähigung der Generale des Augustus hält einen
Vergleich mit denen Cäsars aus. Daß das Ziel jedoch trotzdem nicht so erreicht
wurde, wie es beabsichtigt war, hat seinen Grund in der Hauptsache darin, weil
mit jedem Jahr, das seit der Unterwerfung Galliens wiederum verstrichen war,
aber auch mit jeder Meile, die weiter in das östliche Germanien hinein die
Römer vordrangen, auch der Gegendruck der germanischen Völkerwanderung
sich stärker fühlbar machen mußte. Wahrscheinlich hat gerade Augustus per-
sönlich diese Sachlage klarer als seine Berater durchschaut und deshalb auch
am frühesten seine erste Absicht aufgegeben. Die ursprüngliche Art und Anlage
dieser Feldzüge lassen es jedoch außer Zweifel, daß hier anfangs wenigstens an
eine offensive Lösung der Aufgabe d. h. an eine vollständige Unterwerfung Ger-
maniens gedacht worden ist; ebenso deutlich macht sich dann aber auch im Ver-
lauf des Krieges eine Meinungsverschiedenheit der bestimmenden Persönlich-
keiten, von Augustus und Tiberius, geltend. In den ersten Jahren des Feldzuges
jedoch, während der auch die Unterwerfung der Alpen stattgefunden hat, ist
hiervon noch nichts zu spüren, und so ist auch als bleibender Gewinn dieses
Feldzuges dem römischen Staat vor allem der Besitz der Alpenländer geblieben.
Die schriftlichen Quellen, die wir über diese Eroberung besitzen, sind wohl
leidlich zahlreich, aber sämtlich lückenhaft und ungenau, und vor allem gibt auch
keine einzige derselben den Verlauf der militärischen Ereignisse selbst erschöpfend
und durchsichtig wieder. Die zeitgenössischen jener Quellen erscheinen außer-
dem getrübt oder gefärbt, da sie mehr um Verherrlichung des neuen Herrscher-
hauses als um einwandfreier Schilderung der Tatsachen willen geschrieben zu
sein scheinen. Daher erkennen wir zwar ganz genau die Rolle, die der Alpen-
kriegsschauplatz an sich damals in dem großen Feldzugsplan eingenommen hat,
aber eine Quelle, durch die wie bei vielen anderen römischen Feldzügen die
Kriegsereignisse in den Alpen selbst genau erzählt werden, müssen wir schmerz-
lich vermissen.
Der große für diesen germanischen Krieg römischerseits ausgearbeitete Feld-
zugsplan offenbart die ganze Überlegenheit römischer Strategie. Angestrebt wird
ein kombiniertes Vorgehen von zwei Fronten, dem Rhein und der Donau, aus,
48 IV. Kapitel.
und das nächste Ziel mußten daher zunächst die Vorkehrungen bilden, um in
diesen beiden Fronten selbst den Aufmarsch bewerkstelligen zu können. Somit
ergab sich, da die Legionen in der Hauptsache bereits am Rheine standen, als
erste Aufgabe die Festsetzung an der Donau, die wiederum vorher die Eroberung
und Überschreitung der rätischen und norischen Alpen nötig machte. So er-
folgte denn auch als erstes Mittel zum Zweck die Eroberung Rätiens und Vin-
deliciens. Auch hier auf diesem Teilschauplatze ist der römische Angriffsplan
ganz durchsichtig; denn er setzte sich gleichfalls aus einem von zwei verschie-
denen Seiten aus ausgehenden und die Verbindung erstrebenden Einmärsche zu-
sammen. Die Führer der beiden Armeeabteilungen, denen diese Aufgabe zufiel,
waren aber des Kaisers Söhne in eigener Person, Drusus kam vom Etschland
in südlicher, während Tiberius von Helvetien aus in westlicher Richtung ein-
rückte; der gemeinsame Marschrichtungspunkt war aber etwa die „Landecke"
Nordwesttirols zwischen Landeck und dem Bodensee. Bei diesem Vorgehen
mag nun Tiberius, der bloß mit seinem rechten Flügel gegen die Räter im Ge-
birge, mit seiner Mitte und dem linken Flügel dagegen gegen Kelten und in
ebenerem Lande zu operieren hatte, es leichter gehabt haben; auf Drusus aber,
der einen zäheren Gegner und schwierigeres Gelände vorfand, lastete die Schwere
des Kampfes. Wie dieser aber nun Im Einzelnen vor sich gegangen ist, darüber
lassen sich nur Vermutungen aufstellen. Es ist wahrscheinlich, daß zuerst die
Volksteile der Räter, die in den Bergamasker-Alpen und um die Bernina und
den Ortler wohnen, und nachher diejenigen im heutigen Innertirol an die Reihe
kamen; als va et vient der römischen Armee mag die von Drusus in der Nähe
Bozens errichtete feste Brücke gedient haben. Als sicher kann aber gelten, daß
Drusus schließlich westlich nach dem Bodensee über den Arlberg zu Tiberius, der
ihn in dem verschanzten Lager von Lindau erwartete, hinunterstieg, und noch
im elften Jahrhundert bewahrte das churrätische Vorarlberg in seinem Namen
Vallis Drusiana das Andenken an diesen Durchmarsch.
Hier hat dann am Bodensee nach getaner Vorarbeit eine eigentliche Schlacht
und unmittelbar darauf die Festlegung der Donauprovinz Vindelicien stattgefunden.
Die Lokal-Tradition führt die Errichtung von Augsburg auf Drusus, die von
Regensburg dagegen auf Tiberius zurück. In welcher Weise jene militärischen
Bewegungen freilich dann schließlich auf der oberbayrischen Hochebene ausliefen,
davon ist leider nicht das geringste zu ersehen. Das Andenken an die Eroberung
Rätiens aber ist ganz bei Drusus geblieben. Wir kennen steinerne Denkmäler
von diesem aus dem Gebiet der römischen Provinz Rätien aus Agaunum (St.
Maurice) und Bregenz. Die Ortsnamen freilich (Vallis Drusiana, Pons Drusi),
die das Andenken an ihn am besten hätten bewahren können, sind verstummt;
auch dies ist bezeichnend für das ganze Schicksal des Mannes, der sein Ende
fand, bevor sich sein Name in die große Geschichte fest einwurzeln konnte.
Nachdem so durch dieses Vorspiel für den Aufrnarsch an der Donau etwa
Die Eroberung der Alpenländer durch die Römer. 49
bis zur Innmündung Platz geschaffen worden war, sehen wir nun zunächst Drusus
nach dem Rhein abgehen, um von dort den Krieg in breiter Front nach Germanien
hineinzutragen; und erst nachdem von dieser Seite aus die Römer wiederum
bis fast an die Weser vorgedrungen sind, schickt sich nun auch die römische
Macht unter Tiberius an, die Donaufront von Vindelicien aus östlich zu erweitern,
d. h. zu der Eroberung Rätiens und Vindeliciens noch diejenige Norikums hin-
zuzufügen. Wohl hatte bereits Augustus den südlichen Teil dieses Landes die
Save entlang unterworfen, aber schon damals scheint diese Gegend etwas von
ihrer künftigen Eigenschaft, einen Teil der frischen Volkskraft aus dem Osten
an sich zu ziehen und so die Gewitterseite Italiens zu bilden, gehabt zu haben.
Das bewährte Werkzeug des Kaisers, Agrippa, hatte der Tod ereilt, während
dieser hier eben mit der Niederwerfung eines Aufstandes beschäftigt ge-
wesen war; anschließend hieran griff daher jetzt Tiberius ein, indem er die
Grenze vom Tal der Save bis nördlich nach dem Tal der Drau heraufschob.
Über den Verlauf dieses norischen Krieges im einzelnen wissen wir freilich rein
garnichts. Der Tod des Drusus rief Tiberius dann hier mitten aus jenem Feldzug
heraus nach der wichtigeren Seite, nach Germanien, ab; der große Aufstand,
der aber später als im Jahre 4 n. Chr. der germanische Feldzug in gleicher Weise
wie vorher wieder aufgenommen wurde, gerade hier im Rücken der Römer in
Pannonien ausbrach, läßt darauf schließen, daß zu jener Zeit die Arbeit nur halb
getan worden ist. Es mag wohl schon diesmal angestrebt worden sein, bis nach
Carnuntum selbst zu gelangen, während der bleibende Gewinn des Feldzuges
tatsächlich bloß die Eroberung der Provinz Norikum gewesen ist.
Mit dem Abgang des Tiberius nach dem Hauptkriegsschauplatze am Rhein,
dem bald darauf (ca. 6 v. Chr.) überhaupt die vorläufige Einstellung des ganzen
germanischen Krieges folgte, findet diese zweite Periode der augusteischen
Unterwerfung der Alpen ihren Abschluß. Mit Ausnahme der Ostalpen in den
steyrischen und niederösterreichischen Gebieten sehen wir nunmehr das ganze
Alpengebiet in das römische Reich fest eingefügt, so daß die Mittel- und Ost-
alpen schließlich im Jahre 4 nach Chr. mit dem Wiedererscheinen des Tiberius
und der Neuaufnahme des großen germanischen Krieges dann auch wirklich
folgerichtig die Bestimmung erfüllen können, die ihnen bei der ersten Anlage
des Feldzuges zugedacht worden war. Rhein- und Alpenlinie dienen jetzt voll-
ständig als Operationsbasis gegen das Innere Deutschlands. Von der Drau
(Virunum=Klagenfurth) und Poetovio (Pettau) aus rückt jetzt Tiberius auf dem
ihm bekannten Kriegstheater nördlich herauf zur Besetzung der Wiener Ebene
und gegen das Reich Marbuods im heutigen Böhmen. Aber gerade in diesem
Augenblick und eben an dieser östlichen Stelle der Alpen wird auch der Wende-
punkt der dritten Periode und damit zugleich jenes ganzen Krieges geboren.
Es ist dies nichts anderes als jener große pannonische Aufstand, der Tiberius
von Carnuntum aus Kehrt zu machen und von Marbuod abzulassen zwingt. Vier
Scheffel, Verkehrsgeschichie der Alpen. I.Band. 4
5Q IV. Kapitel.
Jahre lang blieb Tiberius nun mit der Niederwerfung jenes Aufstandes beschäftigt,
und während dieser Zeit fiel nun auch auf dem rheinischen Kriegsschauplatze
die Niederlage des Varus ein, so daß auf beiden Seiten die Kraft des Angriffs
stocken mußte. Es ist dieses auch der Zeitpunkt, an dem Augustus, und wahr-
scheinlich dabei im Gegensatz zu seiner Umgebung, ein für allemal der Unter-
werfung Germaniens entsagt zu haben und auf die defensive Sicherung der
Grenzen zurückgekommen zu sein scheint.
Als Gewinn dieses dritten Teiles des Feldzuges blieb jedoch den Römern
die definitive Sicherung ihrer Herrschaft in den ganzen Ostalpen und in der
diesen benachbarten Ebene. Östlich von der Provinz Norikum breitete sich
jetzt bis in die Donauebene hinein, die eben den römischen Machtmitteln näher
erreichbar als Germanien war, nun schon die römische Provinz Pannonien aus.
Allerdings blieb die Organisation derselben zunächst noch gewissermaßen im
Entwurf, aber doch öffnete sich schon jetzt von Celeja (Cilli) aus die das Gebirge
östlich umgehende und dann nördlich nach der Gegend von Carnuntum zu-
strebende Heerstraße, und Carnuntum selbst sah römisches Leben, wenn auch
noch nicht schon als große Ausfallsfestung, sondern nur als äußerster rechter
Schulterpunkt der Alpenfront.
Großartig und für alle Zeiten bewundernswert ist aber vor allem die kulturelle
Tätigkeit, die nun Augustus nach Eroberung der Alpen in deren ganzen weitern
Gebiet entfaltet hat. Auch das wenige, was heute noch von derselben in Nach-
richten und Resten erhalten ist, läßt trotzdem doch noch die Weite und Sicher-
heit des Urteils durchblicken, die jener Herrscher bei allen jenen Einrichtungen
entfaltete. Unter Augustus begann, — wohl auch von diesem schon schärfer
als von seiner Mitwelt erkannt — sich im römischen Staatsleben jener Wende-
punkt vorzubereiten, daß die eigentliche Volkskraft und damit die eherne Wehr-
haftigkeit, die diesen Staat bis dahin unüberwindlich gemacht hatten, langsam
zurückgingen, während die Qualität und die Organisation aller Staatseinrichtungen
sich dagegen nur immer vollkommener und überlegener entwickelten. So mußte
daher von jener Zeit an die Virtuosität in der staatlichen und militärischen
Organisation die physische Kraft des Volkes ersetzen helfen. Wie dies aber im
einzelnen geschah, läßt sich gerade aus der Art, wie Augustus die Alpenmauer
zum Schutze seines Italiens ausbaute, ganz deutlich beobachten. Auch für
Augustus waren die Alpen die Schutzmauer des Reiches, die im Falle der Not
überall gesperrt werden konnte. Den Kampf um diese Barriere wollte er aber
nicht in das Gebirge selbst, sondern nördlich desselben gelegt wissen, und so
betrachtete er die Schweizer Hochebene südlich des Rheines und die Hochebene
entlang des rechten Donauufers als das Glacis dieser Ringmauer, als die Stellung
vor dem Defile, auf der die Legionen dem Feind entgegenzutreten hatten. Die
Anlage der Straßen durch die Alpen diente also in erster Linie dazu, um in
jene militärisch wichtigen Stellungen rasch hinübergelangen zu können. Die
Die Eroberung der Alpenländer durch die Römer. 51
späteren Kaiser haben dieses System da und dort ausgebaut, seinen Grund-
gedanken jedoch nicht wesentlich geändert, und als dann fast zweihundert Jahre
später unter Mark Aurel wieder ein wirklich ernster Waffengang mit einem Feinde
im Norden begann, sehen wir das römische Heer auch ohne weiteres die von
Augustus ursprünglich vorgesehenen Stellungen beziehen.
So ist zunächst die Straßenbautätigkeit in den Alpen der wichtigste Teil
jener Tätigkeit, die Augustus überhaupt überall im römischen Reiche entfaltet
hat und als deren Wahrzeichen der goldene Meilenzeiger auf das Forum der
Hauptstadt gesetzt wurde. Der wichtigste Teil der Alpenstraßen konnte damals
kein anderer sein, als die über die westliche Hälfte des Gebirges, weil diese der
Verbindung nach der bedrohtesten Seite, nach dem Rhein in seiner ganzen
Ausdehnung, und in zweiter Linie auch dem regen friedlichen Verkehr nach
dem reichen Gallien dienen sollten. Auf diesem Flügel der Alpen hat Augustus
das Straßennetz daher auch derart vollendet hinterlassen, daß die Römer in
keiner Zeit später etwas Nennenswertes zu diesem hinzuzufügen hatten. Im
östlichen Alpenteil dagegen, vom westlichen Rätien an, dem damals nördlich eine
weniger bedrohte Grenze vorlag, gelangte das Straßennetz durch Augustus nicht
zu der Vollendung, wie es auch dort in den späteren Jahrhunderten die Römer
herstellen mußten. Trotzdem sind aber auch dort die Schöpfungen des Augustus
bedeutend genug gewesen, da gerade in diesem ganzen Gebirge, ausgenommen
vielleicht an der Straße über den Birnbaumer Wald, der römische Staat noch
in keiner Weise vorgearbeitet gehabt hatte.
So hat Augustus im Westen der Alpen zunächst die Straße an der mittel-
ländischen Küste neu hergerichtet. An dieser Straße, die keine eigentliche
Alpenstraße ist, wohl aber im ganzen Altertum die Hauptpulsader des friedlichen
Verkehrs zwischen Rom und Südwesteuropa blieb, läßt sich schon während der
Regierungszeit des Augustus selbst ein besonderes Steigen des Verkehrs und ein
Aufblühen der an ihr gelegenen Ortschaften feststellen. Es ist dies aber auch
eine ganz natürliche Erscheinung, wenn man bedenkt, wie stark die friedliche
Entwickelung nunmehr einsetzen konnte, die Jahrzehnte vorher durch die inneren
römischen Unruhen gestört worden war. Diese Neuchaussierung bezeichnet aber
um so deutlicher, was Augustus alles nachzuholen hatte, derart, daß selbst jene
einzige und unentbehrliche Rinne, die einen bequemen Landverkehr Italiens
mit Südwesteuropa vermitteln konnte, während der letzen Zeiten der Republik
in Vernachlässigung geraten war.
War diese Arbeit jedoch immerhin verhältnismäßig leicht, so war eine Ver-
mehrung und Sicherung der Verbindungen nach dem eigentlichen Norden
schwerer und nicht minder dringend, da dieses nicht anders bewerkstelligt
werden konnte, als daß die Straßen nun wirklich durch die Hochgebirgswelt
hindurchgetrieben werden mußten. Auch die bereits vorhandene Straße über
den Mont Genevre konnte dem vorhandenen Bedürfnis nicht ganz genügen, und
4*
52 iV. Kapitel.
SO ist Augustus der Erbauer jener beiden großen echten Römerstraßen über den
Kleinen und Großen Sankt Bernhard geworden. Die Straße über den Kleinen
Sankt Bernhard war fahrbar, die über den Großen Sankt Bernhard zum größten
Teil; setzt dies allein schon für die damalige Technik ungeheure Anstrengungen
voraus, so wird die Größe des Werkes doch erst dadurch recht verständlich,
weil es sich bei dieser Straßenführung nicht allein um die Herstellung der Straßen
im Hochgebirge selbst, sondern ebenso um den Ausbau der Zufahrtslinien auf
beiden Seiten und un> die Organisation der ganzen, diese in weitem Kreise ein-
schließenden Landschaften handelte. Das dem Augustus im Jahre 7 bezl. 6 v. Ch.
bei Turbia unweit Monaco mit dem Hintergrund auf die Alpen gesetzte Sieges-
denkmal hatte so eine ganz bezeichnende Stelle; denn für den Römer war bis
dahin noch das ganze nördlich des Meeres liegende Bergland ein unbefriedetes
und unbekanntes Gebiet gewesen. Die Art des ligurischen Volksstammes, die
Armut der Gegend hatte, anders wie auf der gegenüberliegenden nordöstlichen
Seite Italiens, in Venetien, die Römer bis dahin in keiner Weise zur Erschließung
dieser Berggegenden verlocken können, und alles, was hier geschah, mußte daher
allein durch die Regierung getan werden.
Erst Augustus klärte endgültig das Verhältnis zum Reiche des Kottius, der
hier als Vogt der Alpen weiter regieren durfte, und gab Turin als Kolonie seinen
Namen Augusta Taurinorum. Die Gründung dieses Ortes erfolgte aber nicht
um seiner selbst willen sondern nur als Straßenpunkt, und über die Bedeutung,
die ihm Augustus einmal gegeben, ist dieser Ort auch erst seit dem sechzehnten
Jahrhundert herausgekommen. Die eigentlichste Paßgründung des Kaisers ist
jedoch jetzt noch das Augusta Salassorum, Aosta, die Pforte der Berhardpässe,
das er mitten in das Gebiet der besonders schwierigen Salasser hineinpflanzte>
und wo dreitausend Römer angesiedelt wurden. Alles dieses waren jedoch ledig-
lich militärische Gründungen, an die sich hintennach keine bürgerliche Ent-
wickelung anschloß, wie auch die römischen Inschriften aus Turin und Aosta
nicht zahlreich und wenig wichtig sind.
Auf der jenseitigen Seite der Alpen war dann Lugdunum, die neu empor-
blühende Hauptstadt Galliens, das Zentrum, von dem aus die Verbindungen
überall hin, auch nach den Alpen zu, festgelegt wurden. Hier war es Agrippa,
der dies im Namen des Kaisers ausführte. Es ist bezeichnend für die damalige
Konstellation, wenn Strabo hier derjenigen Verbindungen, die von Lugdunum
aus nach der helvetischen Seite führten, erst in zweiter Linie Erwähnung tut;,
denn die von Augustus über die Westalpen nach Gallien gelegten Straßen, auch
die über den großen Sankt Bernhard, zielten militärisch vor allem nach dem
Mittelrhein, weniger jedoch nach der Strecke, die dieser Strom vom Bodensee
bis Basel durchfließt. Es ist auch heute noch ganz offensichtlich, in welcher
Weise die Römer damals diesen Sektor ihrer Front militärisch bewerteten; denn
die helvetische Hochebene, die hinter diesem lag, war damals stilles Gebiet»,
Die Eroberung der Alpenländer durch die Römer. 53
und noch wirkten während jener Zeiten in der helvetischen Volkskraft die Folgen
der Katastrophe vom Jahre 58 v. Ch. nach, während jenseits des Rheines, vor
der Front, auf dem Boden des heutigen Badens, völlig unbewohntes Gebiet vorlag.
Hier wurde dann auf sicherem Boden das berühmte Legionslager von Windisch
a. d. Aare=Vindonissa angelegt, das seinen Zweck gleichfalls weniger in sich selbst,
sondern besonders in der Möglichkeit, das Heer von ihm aus bequem da und
dorthin verschieben zu können hatte. Die Verbindungen von Italien her aber
erreichten Windisch auf dem Umweg über die Schweizer Hochebene. Der Aus-
bau dieses Straßennetzes wurde jedoch hier noch nicht von Augustus selbst
endgültig fertiggestellt, wie überhaupt gerade die Lage von Windisch nicht jenen
unverwüstlichen militärischen Scharfblick verrät wie die anderen großen römischen
Militärstationen Mitteleuropas (Turin, Mainz, Regensburg, Carnuntum, Verona),
nach denen die Fäden immer zusammenlaufen werden, so lange sich überhaupt
militärische Operationen über diese Länder bewegen. Windisch ist eben im
letzten Grunde das Kind eines Mißerfolgs; denn als die Eroberung Germaniens
von Augustus definitiv aufgegeben worden war, mußte irgendwo ein Übergang
von der Front am Unter- und Mittelrhein nach der südlichen Donaufront gefunden
werden. Auch in dieser Hinsicht vermissen wir daher schmerzlich eine genauere
Kunde von dem Gang der Unterwerfung Vindeliciens. Die junge Donau aber,
die den westlichen Teil jener Südfront wohl oder übel bilden mußtej konnte
keinen derartigen natürlichen Schutz liefern wie ihn die Römer bei ihrer Grenz-
bildung so gern zu Hilfe nahmen, und so hatte denn das rückwärts derselben
liegende Windisch mit seiner Garnison in diese Lücke zu springen.
Weit weniger klar in der großen Anlage, und noch mehr im einzelnen ist
für uns die Straßenbautätigkeit des Augustus in der östlichen Hälfte der Alpen.
Und doch wäre gerade hier eine bessere Kenntnis von dem, was unter Augustus
geschah, um so erwünschter, weil seit dem zweiten Jahrhundert n. Ch. dieser
Teil der Alpen das geschichtliche Interesse gebieterisch herausfordert. Die Aus-
sage des Strabo in der Art, wie sie die Tätigkeit des Augustus erwähnt, verbürgt
uns wohl überhaupt das Eingreifen des Kaisers an jener Stelle. Wie sich dieses
aber nun im einzelnen gestaltet hat, dazu verhilft sie uns in keiner Weise; denn
Strabo sagt nur, ,.daß Augustus die rätischen Pässe so gut es ging verbesserte".
Trotzdem ist die unausbleibliche Folge dieser Notiz geworden, daß in den Mono-
graphien der einzelnen rätischen Alpenstraßen jedesmal diese Äußerung des
Strabo zum Kronzeugen dafür angeführt worden ist, daß der gerade in Rede
stehende Paß unter allen Umständen zu denen gehört haben müsse, die hier
Augustus mit einer Römerstraße überzogen hat'-). Aus der Ausdrucksweise
Strabos läßt sich aber im Vergleich mit dem, was er über des Augustus Straßen-
bautätigkeit in den Westalpen sagt, für unseren Zweck vor allem nur das heraus-
lesen, daß hier die Tätigkeit des Augustus weniger organisatorisch einsetzte, sondern
mehr dem vorliegenden, man könnte fast sagen, wirtschaftlichen Interesse folgte.
54 IV. Kapitel.
Trotzdem kommt man aber nicht darum herum, zu der Frage Stellung
nehmen zu müssen, welchen der vielen rätischen Übergänge sich damals der
offizielle römische Verkehr nach Vindelicien, und besonders nach Augusta
(Augsburg), das schon zu diesen Zeiten als römische Pflanzstadt vorausgesetzt
werden muß, zur hauptsächlichen Benutzung herausgesucht hat. Zwei der gleichen
Straße angehörende Meilensteine, von denen der eine bei Feltre, der andere im
Vintschgau gefunden worden ist, sind die einzigen, die wir aus Rätien aus der
Zeit des Augustus haben. Die Inschriften dieser Steine künden auch an, daß
die Straße, an der sie gefunden worden sind, bis zur Donau fortgesetzt werden
sollte; ob dies aber wirklich geschehen ist und dann auf welchem Wege, darüber
fehlt jede sichere Kunde. Endgültig die Frage zu lösen, auf welche Straßen
Augustus hier seine Tätigkeit ausgedehnt hat, wird sich die Wissenschaft wohl
überhaupt so lange versagen müssen, bis noch weitere Meilensteine, die des
Kaisers Namen tragen, gefunden sein werden, was freilich kaum noch zu erwarten
steht. Gründe der Wahrscheinlichkeit sprechen jedoch stark dafür, daß die
Straße über den Julier zu Augustus Zeiten schon regelmäßig von den Römern
benutzt worden ist. Zunächst läuft auch sie zweckentsprechend nach Augsburg
aus. Bedingung, daß sie überhaupt auf Grund von Strabos Zeugnis für des
Augustus Tätigkeit in Konkurrenz treten könnte, wäre zunächst die Tat-
sache ihrer Benutzung bereits in vorrömischer Zeit, da Strabo hier nur von
schon vorhandenen Straßen spricht. Dieser Anforderung leistet sie aber genüge
durch den an ihrer Linie gemachten vorrömischen Fund von Conters-Burwein
(1786); auch der an den Namen des römischen Herrscherhauses anklingende
Name des Passes selbst kann immer noch so lange als Indizium gelten, bis
derselbe anderweitig genügend erklärt worden ist. Besonders spricht aber für
unsere Annahme die Tatsache, daß an den Hauptstationen des Julier, Paßhöhe,
dem Churer Kastell und Bregenz, die Münzfundreihen regelrecht bei Augustus
anheben, eine Erscheinung, die bei keiner anderen Straßenlinie, die in jener
Beziehung mit dem Julier konkurrieren könnten, derartig deutlich hervortritt.
Auch die erste römische Anlage in Chur, das Kastell, liegt dort, wo daselbst die
Straße aus dem Oberhalbstein d. h. vom Julier und nicht die vom Splügen
herabkommt.
Das Resultat dieser ganzen Entwickelung fand nun schließlich seinen Aus-
druck in der Gestaltung der Grenzen der Regierungsbezirke, wie sie Augustus
dann über das ganze Alpengebiet hinwegspannte. Es charakterisiert die Dauer-
haftigkeit seines Werkes, daß, von geringen Änderungen abgesehen, die von ihm
ausgegangene Einteilung dieser Länder erst durch die Völkerwanderung zer-
brochen wurde, und daß dieselbe in einzelnen Teilen sogar bis auf den heutigen
Tag noch fortwirkt. Eine in dieser Hinsicht auf den ersten Blick in die Augen
fallende Erscheinung ist es zunächst, daß das Alpengebiet nicht, wie man anneh-
men sollte, in einen einzigen großen Bezirk aufgenonrimen, sondern in verschie-
Die Eroberung der Alpenländer durch die Römer. 55
dene, nach römischen Begriffen kleine Provinzen zergliedert wurde. Als ein
Hauptgrund hierfür wird immer angeführt, daß der Kaiser hier an dieser wich-
tigen Grenze des Reiches keine übermächtigen Generale haben wollte. Wir
wissen aber nicht, wie sehr auch noch bei dieser Maßregel für Augustus die
Verteilung der verschiedenen Völkerschaften, die ihrem Charakter und der Natur
des Gebirgslandes nach schwieriger im Zaum zu halten waren, mitgewirkt hat;
denn die damalige Einteilung der Alpenprovinzen geht mit derjenigen der Völker-
schaften Hand in Hand. Eine Ausnahme macht hierbei nur die Zuteilung der
Vallis Poenina (Wallis) zu Rätien, die wohl offensichtlich deshalb geschah, um
dem Statthalter der an sich schon besonders wichtigen Provinz Narbonensis nicht
auch noch die Verfügung über dieses wichtige Paßland zu geben. Außerdem ist
bei dieser Gruppierung lokalgeschichtlich bemerkenswert, daß im oberen Wallis
wenigstens tatsächlich Spuren rätischer Bevölkerung vorhanden sind und dieser
lange Landzipfel über die Furka hinüber ethnographisch wirklich mit Rätien zu-
sammengehangen haben muß. Hier liegt daher, abgesehen von der Römerstraße
durch das Pustertal, der einzige Fall vor, nach dem sich ein regelrechter Ver-
kehr in der Längsrichtung des Gebirges zu Römerzeiten beobachten ließe '^).
Jedenfalls hat niemals wieder Italien eine derartig vollendete politische Ab-
rundung und zugleich einen derartig kulturellen Aufschwung erlebt, als zu dem
Zeitpunkte, in dem der alternde Kaiser als Abschluß seiner Wirksamkeit die
seit langer Zeit heiß umstrittenen Grenzen Italiens im Norden festlegte. Vom
Flusse Var im Westen, der seitdem unausgesetzt in der Vorstellung der Völker
die Grenze zwischen Frankreich und Gallien gebildet hat, geht jetzt die Grenze
hinüber bis zum Arsia, dem östlichen Grenzfluß Istriens. Im Norden aber steigt,
mit Ausnahme des ephemeren Gebietes des Kottius, die Grenze Italiens überall
bis zu den höchsten Kämmen der Alpen hinan, derart, daß der Stadtbezirk von
Mailand bis zur Adula reicht, und das Etschtal bei Bozen italienisches Grenz-
land bildet.
Die Früchte seines Werkes hat aber Augustus selbst nirgendwo schöner als
in Nordostitalien gesehen; denn hier trat der Fall ein, der sich zuweilen bei
großen Handelszentren beobachten läßt, daß,' wie die Sonne auf einmal die
Knospenblätter der Aloe öffnet, so der unerwartete Eintritt einer günstigen Kon-
stellation und die plötzliche Eröffnung ganz neuer Verkehrsstraßen eines jener
wunderbaren Aufblühen der Kultur und des Wohlstandes hervorrief. Es muß
doch auffallen, wenn in dem weiten römischen Reiche gerade an diesem Punkte
Padua liegt, das nach zeitgenössischen Berichten damals plötzlich nächst Rom
und Cadiz als die reichste Stadt Westeuropas genannt wird. Vermag der Wech-
sel der Zeiten auch viel, diese Vergangenheit traut man heute der schlecht und
rechten Mittelstadt doch wohl nicht zu. Daß jene Nachricht aber nicht über-
trieben ist, wird psychologisch durch die gepriesene Ehrbarkeit und Zurück-
haltung des alten paduaner Bürgertums wahrscheinlich gemacht; denn solche
56 IV. Kapitel.
kaufmännische Steifheit erwächst gern in Kreisen, denen die Erhaltung des Be-
stehenden Lebensbedingung ist. Auch die Küstenstädte Venetiens, Aquileja und
Altinum, wurden unter Augustus mächtige Zentren des Weithandels. Von diesen
ist Aquileja jetzt ein ganz unbedeutender Ort geworden, und Altino kennt man
kaum noch dem Namen nach. Auch Concordia, westlich Aquileja, eine militäri-
sche Gründung des Augustus, wohin zunächst die Straßen von Italien aus zu-
sammenliefen, ist jetzt eine weltverlassene Stätte. Nur weiter nach dem Gebirge
zu haben Brescia, und vor allem Verona, die beide von Augustus zur Kolonie
gemacht worden sind, ihre alte Bedeutung bewahrt, und noch heute fließen in
Brescia die auf Augustus Geheiß erbauten Leitungen so reichlich, daß nächst
Rom keine andere Stadt in Italien derartig gutes Wasser besitzt.
Dem damaligen Geschlecht schwebte aber auch tatsächlich der Gedanke
vor, daß das, was hier durch den ersten römischen Kaiser geschehen war, eine
große geschichtliche Tat bedeutete; und so ließ es sich dieses Zeitalter, reich
und denkmalfreudig wie es war, auch nicht nehmen, das Gedächtnis daran im
Denkmal festzuhalten. An der ligurischen Küstenstraße erhob sich, in Aussehen
und Größe den gewaltigen monumentalen Bauten Roms ähnlich, das Denkmal,
das die Eroberung der Alpen durch den Kaiser verkündete; auch in Lugdunum
befand sich ein großes Denkmal des Augustus und in Susa steht heute noch ein
ihm (8 V. Gh.) geweihter Triumphbogen.
Zuverlässiger aber als diese steinernen Zeichen hat auch hier der Gedanke
selbst das Andenken des Kaisers mit dem Schauplatz seiner Taten verknüpft.
Das haben die Herrscher des Altertums, zu deren Zeiten der geschichtliche
Boden noch jungfräulich war, vor denen der Jetztzeit vorausgehabt, daß ihre
Namen an den Stätten ihres Wirkens leichter haften bleiben konnten. Auch heute
noch lebt deshalb trotz des Überzuges von zwanzig Jahrhunderten, der sich dar-
über gelagert hat, in dem Alpengebiet der Name des Augustus in den nach ihm
benannten Orten fort. An stillen und belebten Punkten kann man ihm begegnen.
Ist auch der Name vallis Augustana für den ganzen Komplex der Sankt Bern-
hard Pässe verhallt, so sprechen doch heute noch die Städte Aosta und Aouste
(in der Dauphinee, am nördlichen Ausgange des Mont Genevre), und am Rhein
Äugst von ihrem Gründer; in seiner Stadt Augsburg steht sein Standbild, und
drüben im Osten des Gebirges ist der ganze Gebirgszug der Julischen Alpen
und das unter ihm liegende Land Friaul (von Forum Julii) mit dem Namen seines
Geschlechtes verwachsen ''').
Es ist ein Beweis von der Größe der Erfolge des Augustus, daß wir nun
in der Zeit nach seinem Tod die von ihm geschaffenen Einrichtungen ungestört
ihre Arbeit verrichten sehen, und daß was nach ihm geschieht, zunächst alles
nur als ein Ausbau des Bestehenden erscheint. Auffallend ist es aber trotzdem,
daß der Name des Tiberius als Kaiser in der Geschichte der Alpenländer so gut
wie ausfallt. Es entspricht jedoch ganz dem Charakter dieses innerlich tief leiden-
Die Eroberung der Alpenländer durch die Römer. 57
schaftlichen Mannes, daß er den Schauplatz, der ihm auf der Höhe des Lebens
eine Enttäuschung bereitet hatte, später geflissentlich mied. Erst unter dem Kaiser
Klaudius sehen wir auf einmal sich in den Alpengebieten wieder die Tätigkeit
des Staates regen und da diese mit dem Tode des Klaudius sofort wieder aus-
setzt, wird man das, was damals geschehen ist, auch tatsächlich auf den Willen
jenes Kaisers selbst zurückführen müssen. In der großen Geschichte erscheint Klau-
dius sonst als eine passive und durchaus nicht als eine epochemachende Gestalt.
Wie viele schwache Naturen sah Klaudius innerlich wohl ganz das Richtige ein,
während er aber unRahig war, seine Gedanken in Taten umzusetzen, sobald er
bei solchem Vorhaben auf den widerstrebenden Willen anderer stieß. So ver-
trägt es sich ganz gut mit der Persönlichkeit dieses Kaisers, daß er auf diesem
fernab liegenden Gebiete, wo ihn niemand beirrt haben mag, in seinen Maß-
regeln ganz das richtige traf.
Die .Augusteische Organisation war einzig bei dem Übergang von der Rhein-
zur Donaufront, an der Stelle, wo Vindonissa lag, unvollendet geblieben. Aus
den Maßnahmen des Klaudius läßt sich nun durchfühlen, daß er vor allem hier
zu verbessern suchte, ohne aber schon an dem Grundgedanken des Entwurfes
dieses ganzen Grenzzuges, wie später durch die Einbeziehung des Dekumatlandes
geschah, zu ändern. Den unmittelbaren Anlaß hierzu mögen die Unruhen der
Chatten abgegeben haben, die (41 und 50 n. Ch.) weit nördlich Vindonissa be-
gonnen hatten, auf die Grenzen zu drücken. Es ist sehr wahrscheinlich, daß
unter Klaudius die von West nach Ost ziehende Front des Oberrheins von
Äugst bis zum Bodensee besonders gesichert wurde, da, wo heute noch als Rest
dieser Arbeit südlich Eglisan am Rhein der Ort Kloten (Claudia) liegt. Hierbei
■wurde wieder auch auf das bewährte Hilfsmittel der Römer, nach dem bedrohten
Punkt gute Verbindungen hinzuziehen zurückgegriffen. So sehen wir, wie unter
Klaudius zunächst an der einzigen von Italien nach der Schweizer Hochebene
führenden Straße, dem Großen Sankt Bernhard, gearbeitet und dieselbe von
Vevey nach Äugst -Basel zu richtig eingerichtet wird; ebenso werden aber auch
jetzt von Gallien aus nach der helvetischen Hochebene, d. h. durch die Jurapässe
bei Jougne, den oberen Hauenstein und den Bötzberg, Straßen durchgeschlagen.
Das Wichtigste hierbei ist aber, daß dieser Kaiser auch noch die Neu-
anlage einer zweiten Verbindung nach jenem Strich von Venetien aus in das
Auge gefaßt zu haben scheint; denn an der problematischen Straße von Venetien
aus über Feltre nach dem Vintschgau, die Augustus entwarf und an der Klaudius
weiterbauen ließ, ist eben besonders auffallend, daß diese Straße nicht in süd-
nördlicher Richtung lief, sondern in diagonaler Richtung durch die Alpen gleich-
falls nach dem nördlich Vindonissa gelegenen Gebiete hingezielt zu haben scheint.
Auch sonst begegnen wir, freilich wohl mehr Hand in Hand mit der vorsichgehenden
friedlichen Entwickelung, der Tätigkeit und dem Namen dieses Kaisers in dem
ganzen Alpengebiet. Er revidiert das Verhältnis des Kottischen Herrscherhauses
58 IV. Kapitel.
zum Reiche; Martigny (Octodurus) erhält nach ihm den Namen Forum Claudii
Valiensium"; auch in der Tarantaise hieß das heutige Centron wahrscheinlich
einst gleichfalls Forum Claudii, und im Jahre 46 n. Ch. greift ein kaiserliches
Edikt in das Stadtregiment von Trient ein. Nach dieser Seite hin ist besonders
in Norikum die Tätigkeit des Kaisers zu spüren. Klaudius hat diese Provinz,
die sich infolge ihrer geschützten Lage rascher als die übrigen Alpenprovinzen
hatte entwickeln können, vollständig organisiert. Die hauptsächlichsten Städte
der Ostalpen, Celeja, Virunum, Aguntum, Juvavum und Savaria nannten sich
sämtlich nach diesem 'Kaiser; welch' letzteres in betreff von Juvavum (Salzburg)
und Savaria (Stein am Anger) ferner dafür ein Zeichen sein kann, daß sich das
Römertum nun auch hier, in diesen entlegeneren Gegenden der Alpen, häuslich
eingerichtet hatte, und nach alledem wird man auch die Entstehung der von
Aquileja über den Pontebba-Paß nach Virunum führenden Römerstraße in die
Zeit des Klaudius setzen müssen (Glemona=Claudia Emona).
Nach diesem Ausbau der Augusteischen Organisation unter Klaudius ist
die Regierungszeit der Kaiser Kaligula und Nero zunächst ohne bemerkenswerte
Schicksale an den Alpen vorübergegangen. Die großen Erschütterungen, die
das Römerreich dann weiterhin unter den Kaisern Vitellius und Otho und hierauf
während der großen Aufstände unter Civilis und Tutor durchzumachen hatte,
haben ihre Wellen zwar auch bis tief in die Alpen hineingeschlagen, aber ebenso
wie in den Ländern nördlich und südlich des Gebirges ist mit der Thron-
besteigung Vespasians dann auch in dem Alpengebiet selbst alles wieder in die
alten Zustände zurückgekehrt. Bereits während dieser Kämpfe aber hat sich die
römischerseits getroffene Maßregel der Einteilung -der Alpenländer in einzelne
kleinere Provinzen ganz trefflich bewährt, indem jene — ganz im Gegensatz zu
den Ereignissen, wie sie damals am Rhein vor sich gingen — es von vornherein
verhinderte, daß das Alpengebiet in seiner Gesamtheit in eine reichsfeindliche
Bewegung hineingezogen werden konnte. Wie sehr sich aber die Römerherrschaft
damals hier schon eingelebt hatte, läßt sich aus dem ganz bewußt hervortretenden
Gegensatz zwischen dem helvetischen und rätischen Lande ersehen, der durch
jene Einteilung sanktioniert worden war, ferner aber auch aus der Sicherheit,
mit der sich damals die römischen Kommandanten auf den militärisch wichtigen
Alpenlinien bewegten.
So wenig wie während des auf die Thronbesteigung Vespasians folgenden
Jahrhunderts sind die Alpen wohl niemals wieder im Laufe der ganzen Geschichte
von wichtigen Ereignissen getroffen worden. Ebenso sehr vermissen wir aber
auch daselbst während dieses Zeitraumes die Tätigkeit der römischen Herrscher,
Der einzige bemerkenswerte Vorgang, der damals in dem das Gebirge um-
gebenden Länderkreis stattfand, war die Aufnahme des Dekumatlandes in die
römischen Grenzen, was somit eine grundsätzliche Durchbrechung der Augu-
steischen Organisation an diesem Punkte des Alpengebiets bedeutete. Man ist
Die Eroberung der Alpenländer durch die Römer. 59
gewöhnt die Annexion dieses Vindonissa vorliegenden und die Verbindung von
Mainz nach Augsburg etwa um die Hälfte des früheren Weges verkürzenden
Landstriches, und in der Folge davon die Überbrückung des Rheines bei Mainz
sowie die Einrichtung des großen, mindestens zwei Legionen fassenden Stand-
lagers zu Rottweil (Ära Flaviae), das die Rolle von Windisch übernehmen sollte,
den flavischen Kaisern, insbesondere Vespasian, zuzuschreiben. Die geringe
Bevölkerungszahl dieser Gegend, vor allem aber das nach dem Jahre 70 n. Ch.
für ein ganzes Jahrhundert auf dem Boden des heutigen Deutschlands zu be-
obachtende Nachlassen des von Osten kommenden Völkerdranges mögen aller-
dings gerade damals ein derartiges Vortreiben der römischen Grenzen nahegelegt
haben. Im Grunde widersprach freilich diese Maßregel jener besonderen, überall
hervortretenden römischen Gepflogenheit, die Flußläufe als Grenzen zu benutzen
und der Vorteil des Gewinnes einer kürzeren Ausdehnung der Kolonnenstraße
mußte deshalb hier mit dem Nachteil des Fehlens einer starken natürlichen
Grenzlinie erkauft werden.
Eine wirklich praktische Bedeutung für die große römische Politik kann
der Besitz des Dekumatlandes jedoch erst unter der das zweite Jahrhundert an-
füllenden, von Nerva ausgehenden Dynastie erlangt haben, und zwar nach einer
Richtung hin, die weit von den Alpen selbst entfernt ist. Denn während an der
Alpen- und ebenso an der Rheingrenze noch überall alles ruhig lag, machte
sich schon um die Wende des ersten christlichen Jahrhunderts nördlich des
Unterlaufs der Donau ein immer stärker werdender Gegendruck geltend. Es
ist das die Gefahr, die durch aktives Eingreifen zunächst Trajan durch die
großen Kriege gegen Dacien abgewendet hat. Für den Aufmarsch der Armee
gegen Osten mußten jenem Kaiser aber damals die beiden großen durchgehenden
Zugangslinien aus dem Westen, von Italien aus die Birnbaumer Straße, und von
den Rheinlanden her jene durch die Einbeziehung des Dekumatlandes neu-
gewonnene und von Mainz über Augsburg und Salzburg nach Carnuntum führende
Linie dienen. So sehen wir deshalb auch Trajan sowohl die Birnbaumer Straße
(Meilenstein bei Loitzsch) verbessern und Pettau a. d. Drau (Colonia Ulpia
Trajana) als militärische Basis und Ausfallsfestung einrichten, ebenso aber auch
während der ersten Jahre seiner Regierung vom Rhein aus das Dekumatland
militärisch neuorganisieren. Für das nördliche Alpengebiet selbst aber fand jene
Verschiebung des militärischen Schwergewichts vom Rhein nach der unteren
Donau ihren Ausdruck darin, daß nun nicht nur Windisch, sondern bald auch
Rottweil als große Waffenplätze zunächst entbehrlich wurden, während jene Rolle
eines großen ständigen Garnisonlagers jetzt Carnuntum als nördlichster Flanken-
punkt einer nach Osten schauenden römischen Angriffsfront zu übernehmen hatte.
Alles das aber, was während des zweiten christlichen Jahrhunderts nun am
Nordabhang der Alpen, unter den Kaisern Hadrian und Pias geschehen ist,
stellt sich nur als eine Konsequenz der gleichen Konstellation unter Anwendung
60 IV. Kapitel.
immer künstlicherer Mittel dar. Es ist dies vor allem der Ausbau der ober-
deutschen Limeslinie, deren ganze Anlage zeigt, daß der Schwerpunkt der
Verteidigung damals gegen Osten gerichtet war, weil die einzelnen im Zickzack
von Osten nach Westen sich zurückziehenden Abschnitte des Limes in der
Hauptsache wenigstens ihre Fronten nach Osten und nach Norden nur ihre
Flanken kehren. Die Entwickelung, die unter Klaudius einst innerhalb Norikums
vor sich gegangen war, wiederholte sich jetzt in ähnlicher Weise auf dem Boden
der oberdeutschen Hochebene unter Hadrian. Es ist dies die Zeit, in der Augs-
burg römische Kolonie wurde, Kempten und Salzburg sich zu lebhaften Orten
erweiterten und die römische Kolonisation sich nun auch südlich des ganzen
heutigen österreichischen Donauufers bis zu den Munizipium Carnuntum hin
häuslich einrichtete.
V. Kapitel.
Die Aipenländer als römische Provinzen.
So sind wir denn mit unserer Schilderung bereits mitten in denjenigen
Zeitraum hineingelangt, der, mit der Thronbesteigung Vespasians beginnend und
bis zum Ende des zweiten Jahrhunderts nach Ch. anhaltend, wie kein anderer
wieder, weder vorher noch nachher im Laufe der Geschichte, der zivilisierten
Menschheit über ihr ganzes Gebiet einen andauernden, gesicherten Frieden und
in dessen Gefolge einen ungestörten Genuß aller materiellen Güter gebracht
hat. Auch die Alpenländer sind damals der gleichen Segnungen teilhaftig ge-
worden. Schon durch die Münzfunde illustriert es sich, daß, nachdem die Römer
einmal die Scheu vor dem Gebirge einigermaßen verloren hatten, die römische
Kultur nun auch in den Alpenländern in vollstem Maße Platz griff und sich
selbst an Orten anbaute, die wir auch heute noch als abgelegen bezeichnen
müssen. Die Anzahl der Römermünzen aber, die gerade aus der Zeit des zweiten
Jahrhunderts nach Ch. in den Alpenländern zum Vorschein gekommen sind, ist
ungefähr dreimal so groß wie diejenige aus den vorangegangenen und zweimal
so groß wie die aus den späteren römischen Jahrhunderten.
Die großen Straßenlinien waren jetzt, mit Ausnahme der Brenner-, Tauern-
und Ploeckenstraße sämtlich so wie sie die römische Regierung haben wollte,
festgelegt, und es trat nun in jenen geruhigen Zeiten, in denen kein Feind den
Ausbau störte, die gleiche Erscheinung ein, wie sie dann in den Alpenländern
noch ein zweites Mal während des 16. und 17. Jahrhunderts beobachtet werden
kann, als gleichfalls lange Zeiten hier ohne Erschütterungen vorübergingen. Jetzt
ist es der immer reger werdende Kleinverkehr, der an den verschiedensten
Stellen, wo die Wegeverhältnisse der Besserung bedürfen, Muße findet, un-
gestört und systematisch einzugreifen. Jetzt baut der Statthalter von Aventicum
eine neue Straße bei Biel am Pierre Pertuis (nach 161 nach Ch.) durch den
Schweizer Jura, und nicht der Großverkehr zwischen Italien und Gallien, sondern
62 V. Kapitel.
nur der Lokalverkehr zwischen Oberitalien und Helvetien sucht die auch für
jenen Zweck vorzüglich geeignete Simplonstraße regelrecht zu öffnen (Inschrift
von Vogogna, 196 nach Gh.). Und wenn auch die Erbauung des Hauptstranges
der Brennerstraße schon in eine spätere Zeit fällt und aus militärischen Rück-
sichten hervorgegangen ist, so gehören doch die einzelnen Folgeerscheinungen
hierher, die deren Anlage mit sich brachte, weil auch der bürgerliche Verkehr
nicht minder an dieser Schüssel mitgegessen hat. Die überaus schwierige Straßen-
führung an jener Stelle der Brennerstraße nördlich Bozens, die den Kuntersweg
vermeidend westlich über die Berge ausholte, setzt voraus, daß man hier fast
für die Ewigkeit zu bauen meinte. Ebenso ist aber auch damals auf der nörd-
lichen Seite der Brennerstraße viel mehr geschehen als allein durch den mili-
tärischen Verkehr geboten gewesen zu sein scheint; denn hier entstand neben
der ursprünglichen Staatsstraße auf der Strecke von Parthanum (Partenkirchen)
nordwärts über den Kienberg und Schongau bald noch eine zweite bequemere
Straße durch Überbrückung des Murnauer Mooses am Ammersee entlang, und
ebenso auch die sogenannte jüngere Brennerstraße, d. h. die Strecke Veldidena-
Pons Aeni, also die heutige Verbindung Innsbruck-Rosenheim.
Schon damals unter den Römern erhoben sich, wie erst wieder in unserer
Zeit, Villen und Landgüter zahlreich an den Ufern der oberbayrischen Seen.
Von der Ausdehnung jener Ansiedelungen kann man sich aber einen Begriff
machen, wenn man in den bayrischen Museen die Mannigfaltigkeit der aus diesen
Zeiten aus der Erde emporgekommenen Funde mit den Resten des früheren
bayrischen Mittelalters vergleicht, die in viel geringerer Zahl vorhanden sind.
Damals sah auch die militärisch noch ganz unwichtige Linie durch das Pustertal
friedlichen Verkehr (Meilenstein von Antoninus Pius zwischen Sonnenburg und
Pflaurenz), den dorthin die große Zentrale der Ostalpen, Virunum gesandt haben
mag. Und recht bequem lebte man erst am Südfuß der Alpen. Dort haben
auch Nebentäler ihre Wasserleitungen (Val de Cogne bei Aosta, Val Tournanche)
oder ihre Bäder (Bormio), die Umgebung des Komer-Sees ist bis ins Kleinste
bekannt und in Verona wird das Amphitheater für zweiundzwanzigtausend
Menschen eingerichtet. Über allem diesem steht aber der Fund jenes Viktoria-
Standbildes in Brescia, das dort zur Zeit Vespasians aufgestellt worden ist; denn
dieses Bronze-Kunstwerk, das zu dem schönsten gehört, das überhaupt aus dem
römischen Altertum erhalten ist, könnte allein das beste Zeugnis von der Höhe
abgeben, in der damals die römische Kultur bis zu dem südlichen Alpenrand
heran vorgeschritten war.
Die erste Bedingung, um aus den Alpenländern römische Provinzen zu
machen, war die Umformung der Alpenbewohner zu römischen Provinzialen
gewesen. Es ist oben gesagt worden, daß der Hauptfaktor, durch den dieses
Resultat erzielt wurde, die dem lateinischen Volkstum innewohnende Energie war,
die früher oder später zur Knickung jedes fremden unterworfenen Volkstums
Die Alpenländer als römische Provinzen. 63
führen mußte. Für die das Alpengebiet bewohnenden Völker muß man jedoch
schlechterdings annehmen, daß ihnen gegenüber es die Römer außerdem noch
an den ihnen auch sonst geläufigen systematischen Maßregeln nicht fehlen ge-
lassen haben, um diese Entwicklung zu beschleunigen und dadurch rascher des
Besitzes der Alpen ganz sicher zu werden; denn die Gefahr, die der von Nord-
osten aus anziehenden Völkerwanderung innewohnte, haben schon Cäsar und
Augustus, in deren Köpfen sich als echten Herrschernaturen die Welt anders
als in denen ihrer Mitlebenden malte, ganz klar erkannt. Die Zahl der Helvetier,
denen Cäsar in die Schweiz zurückzukehren erlaubt, ist nur der dritte Teil des
vorher ausgezogenen Volkes, und diese Maßregel ist noch mild, weil sie Cäsar
zu Anfang seines großen Vorhabens Platz greifen zu lassen für gut befand.
Augustus führte dann in seinem Sinn nur das nächstliegende aus, wenn er die
Alpenmauer als solche, den besten Schutz, den es für Italien gegen die nördlichen
Völker gab, in gutem Stande erhielt. Aber selbst ohne diesen großen politischen
Gesichtspunkt wären auch vom weniger weitblickenden römischen Standpunkte
aus schon um der Sicherheit der Straßen willen und wegen der Schwierigkeit,
die der Gebirgscharakter des Landes der Beaufsichtigung im großen entgegen-
setzte, hier gründliche Razzias geboten gewesen. Daß diese erfolgt sind, zeigt
das Verfahren des Augustus gegen die Salasser, von denen im Jahre 25 vor Ch.
sechsunddreißigtausend durch Varro Murena in die Sklaverei verkauft wurden,
und dasjenige gegen die Räter, wo der Überschuß der männlichen Bevölkerung
ausgerottet wurde. Der Ortsname Pons Drusi in der Nähe Bozens bezeichnet
den Abschnitt, an dem während der Eroberung Rätiens durch Drusus zunächst
Halt gemacht wurde. Hier konnte der südlich vom Etschtal kommende Römer
zunächst direkt auf das Sarntal zu einem bequemen Eingang in die Gebirgswelt
voraussetzen. Während sich nun aber ringsherum bei Meran, Klaußen und
Sterzing römische Funde und rätoromanische Ortsnamen in Menge finden, fehlen
diese im Sarngebiet gänzlich; hier sind die Namen sämtlich reindeutsch, und es
drängt sich da die Vermutung auf, daß die Römer gerade hier aus guten Gründen
unter der Bevölkerung am stärksten aufgeräumt haben. So wurde also auch
hier in den Alpenprovinzen bis nördlich zur Donau alles Volk tatsächlich zu
Welschen, d. h. zu Leuten, die ihre Kultur vom Süden aus empfangen hatten,
und die nördlichen Völker, die später die Herrschaft in den Alpen antraten,
trafen darin somit ganz das richtige, wenn sie diejenigen Gegenden, an denen
sie die alten Bewohner noch in größerer Zahl vorfanden, eben mit dem nach
dem Süden weisenden Zunamen „Welsch" bezeichneten und dadurch den
Unterschied, der zwischen ihnen selbst und jenen bestand, ganz deutlich her-
vorkehrten.
War daher durch die Umformung der einheimischen Bevölkerung schon
das Hauptwerk der Unterwerfung geschehen, so wurde diese außerdem durch
die militärischen Maßregeln im Innern des Landes selbst vollendet. Solche mili-
64 V. Kapitel.
tärischen Maßregeln konnten aber in den Alpen in erster und letzter Linie nur
die Erbauung von Straßen durch das Gebirge bilden, die hier, wie überall in
den römischen Grenzprovinzen, zunächst Militärstraßen waren und auf denen
deshalb auch der Sicherheitsdienst lediglich von der Armee ausgeführt wurde.
Freilich mag es damals für die Römer genügt haben, hierbei mit einem ganz
geringen Truppenkörper auszukommen, der zu der großen Ausdehnung der zu
bewachenden Linien in keinem Verhältnis stand. Daß dies aber möglich war,
lag an dem Prestige des römischen Weltreichs, mehr aber noch an der uner-
reichten Überlegenheit der römischen Militäreinrichtungen selbst. Überall, wohin
der Römer kam, wurde er zunächst von dem Hochgefühl seines Staates und dem
Schrecken seines Namens begleitet. Dies wußte er aber auch derart zu seinem
Vorteil auszunutzen, daß er sich zunächst um die Meinung der Feinde nicht im
geringsten kümmerte und sich daher nur dann zum Gefecht entschloß, wenn
ihm alle Umstände von vornherein den Erfolg sicherten. War dieser dagegen
zweifelhaft, so fiel es ihm nicht ein, eine Entscheidung zu suchen, mochten die
Feinde denken, was sie wollten.
Die Überlegenheit der Militäreinrichtungen der Römer bestand aber zunächst
in ihrer unerreichten Befestigungskunst. In allen Kriegen des römischen Kaiser-
reichs bildete wie niemals wieder in der Kriegsgeschichte die Anwendung der-
selben den Hauptfaktor für den Verlauf. So vermochte z. B. Cäsar allein durch
eine rasch aufgeworfene Schanzlinie am Westende des Genfer Sees die Helvetier
aus ihrer ursprünglichen Marschrichtung zu drängen (Bellum Gallicum I, 8). In
den bereits unterworfenen Gebieten dagegen mußte die Lage der Straßenkastelle
und Standlager d. h. der Punkte, in denen das Militär stationiert war, entschei-
dend werden. Während wir aber nun in der Ebene nördlich der Alpen, in Vin-
delicien und im Dekumatland, die alten römischen Befestigungen noch heute in
großer Zahl sicher nachweisen können, ist in den Alpen selbst das Gegenteil der Fall.
Daß aber auch hier der römische Befestigungsapparat in gleicher Weise an den
Straßen angewendet worden sein muß, wäre an sich schon ganz wahrscheinlich;
es ist dies aber auch durch das Vorhandensein der wenigen Römerbefestigungen,
deren Existenz wirklich gesichert ist (Valeria in Sion, Chur, Wilthen, Ried b.
Bozen, Castellfeder, Kastelruth; die Kastelle an der Birnbaumer -Straße), zur
Gewißheit gemacht. Alle diese Kastelle zeigen zunächst jene die militärische
Überlegenheit der Römer charakterisierende Eigenschaft, daß sie das Horstartige
der Befestigungen der Naturvölker und ebenso derjenigen des Mittelalters ver-
meiden; denn der Römer baute seine Befestigungen nicht wie jene in erster
Linie dazu, um sich in ihnen trotzig zu verteidigen, wenn er sich auch über den
Vorteil jeder Befestigungskunst, Kräfte zu sparen, von vornherein ganz klar war '^)
und auch dieses System schließlich in den Zeiten der Not (die Limesbauten der
späteren Kaiserzeit) zur höchsten Vollendung steigerte. In ihren besten Zeiten dienten
den Römern ihre Befestigungen vielmehr dazu, um in ihnen Truppen zu statio-
Die Alpenländer als römische Provinzen. 65
nieren, die jederzeit zum Angriff übergehen und dann ihre unerreichte Kampfes-
weise \viri<en lassen konnten, Fällen, in denen dann aber auch die disciplina 'Ö)
des römischen Volkes voll ihre Wirkung zu tun und der römische Soldat eben-
soviel wie zehn seiner Feinde zu leisten pflegte.
So haben von der Aufstellung des Lagers, die in den römischen Feldkriegen
an sich schon den halben Sieg bedeutete, in den Alpen u. a. die Orte Wilthen
und Chur ihren Ursprung genommen. Noch heute entspricht die Lage des
Klosters Wilthen und des Königshofes in Chur den Anforderungen des römischen
Reglements an ein Feldlager: rechteckiger Grundriß und Anlehnung an sanft
abfallende Höhen. Ein anderer und zwar für ein Gebirgsland sehr nahe liegen-
der Gesichtspunkt tritt ferner in der Lage der Befestigungen auf Punkten zu
Tage, die einen weiten Ausblick gewähren. Bei diesen erhöhten Lagen ist aber
gerade das auffallend, daß sie gewöhnlich nicht das Land ringsherum überallhin
gleichmäßig, sondern nur in überraschender Weise ganz bestimmte Weglinien in
langer Entfernung überblicken lassen. So bietet Neubeuern bei Rosenheim nur
eben einen Einblick meilenweit nach Süden hinein die Brennerstraße entlang;
von Kastelruth aus liegt auf der jenseitigen westlichen Talhöhe des Eisak die
hohe Straße von Klobenstein über Lengmoos nach Kollmann in langer Linie aus-
gebreitet, und wer sich anschickt, nach Kastelfeder hinaufzusteigen, kann sich
wohl denken, von dort oben die Brennerstraße nach Süd und Nord gut über-
blicken zu können; er erstaunt aber, hier vor allem auch die das Überetsch
durchziehende, über Kaltem und Eppan nach Meran hinzielende Linie sich scharf
aus der Gegend abheben zu sehen.
Überall, wo Römerstraßen im Alpengebiet geführt haben oder geführt haben
sollen, verfolgt diese sobald wir im Einzelnen ihren Spuren folgen die Tradition,
daß der alte Straßenkörper hoch an der Talseite entlang und viel höher als die
Straße der späteren Zeit gelaufen sei. Diese Kunde tritt an so vielen Stellen
und so bestimmt auf, daß die Forschung, auch selbst wenn andere bessere
Gründe fehlten, schon deshalb mit ihr rechnen müßte. Die Tatsache, daß die
alten Straßen in der Regel das Bestreben hatten, die Talsohle möglichst zu mei-
den, trifft freilich nicht bloß für die Römerstraßen sondern überhaupt für alle
alten Straßen in Gebirgsgegenden zu, und sie ist auch um so weniger wunder-
bar, wenn man bedenkt, daß erst die letzten Jahrhunderte ihre Technik (Spreng-
mittel) so weit entwickelt haben, daß sie es wagen konnten in die den bequem-
sten Weglauf darbietende Talsohle hinunterzusteigen und hier den Kampf mit
dem gefährlichsten Feind der Straßen im Gebirge, dem launenhaft, unregelmäßig
laufenden Wasser, aufzunehmen. So mußte es geschehen, daß die Straßen
der alten Zeit überhaupt das Bestreben hatten, von diesem schwierigen
Gebiet ab nach der Höhe zu rücken. Auch die Römer haben hierin nicht
anders gehandelt; sie haben aber nur, wie es scheint, dieses erste Hilfsmittel
einer alten zweckmäßigen Straßenführung besonders bewußt und systematisch
Scheffel, Verkchrsgeschicbte der Alpen. I. Bind. 5
66 V. Kapitel.
angewendet. Die Tradition ist also in diesem Falle zunächst im vollen Recht
und was die hohe Führung der Römerstraßen betrifft in doppeltem Maße, weil
durch sie außerdem auch noch die welthistorische Energie ihren Ausdruck ge-
funden hat, die den Römern bei der Überwindung der Schwierigkeiten des Hoch-
gebirges zu Gebote stand.
Klassische Stellen, wo die von den Römern angelegten Staatsstraßen sich
in auffallender Weise umwegsartig in die Höhe heben, um so eine Garantie für
stete Benutzbarkeit zu^ erreichen, sind der Nordabhang des Splügen zwischen
Razüns und Sufers und der Anstieg über den Ritten auf dem Brennerweg nörd-
lich Bozen. Eine solche ausgreifende Straßenführung wie an diesen Stellen hätte
das Mittelalter allein nie fertig bringen können; daß diese Straßenteile aber auch
schon im Frühmittelalter als wie von selbst gegeben weiter benutzt worden sind,
beweist am besten ihre Entstehung in vormittelalterlicher Zeit. Andere Stellen,
an denen es teils erwiesen, teils wahrscheinlich ist, daß die von den Römern
benutzten Straßen höher als die heutigen liefen, finden sich u. a. am Großen
Sankt Bernhard, ein zweites Mal auf der Paßhöhe des Splügen bei Madesimo,
dann bei Serfaus an der Straße im Oberinntal, am Abhang des Höttinger Berges
bei Innsbruck, an der Toll bei Meran, am Geierberg südlich Salurn, zwischen
Schabs, Rundl und Rodenegg am Beginn der Pustertalstraße, bei Reichenhall
zwischen Glanegg und Groß-Gmain, bei Reit zwischen Unken und Lofer und
schließlich bei Gries a. Br. an der westlichen Nösslacher Talseite und ebenso
an der westlichen Talseite bei Mittenwald in Oberbayern; in den beiden letzten
Fällen gleicht sich auch das landschaftliche Bild, das die Straßen durchlaufen
haben sollen, vollkommen.
Einen wichtigen Grund für diese Art ihre Alpenstraßen zu bauen, müssen
die Römer daher allerdings gehabt haben. Die technischen Schwierigkeiten, die
sich zunächst bei einer derartigen Anlage solcher Straßen einstellen mußten,
wurden aber auch durch das, was erreicht wurde, aufgewogen. Denn die römischen
Staatsstraßen wurden so zu Zwecklinien ersten Ranges, wie es nach ihnen zu unseren
Zeiten erst die Eisenbahnen wieder geworden sind. Sicherheit und Zuverlässig-
keit in der Benutzung unter allen Umständen, das war die Anforderung, die der
römische Staat an seine Straßen stellte; die hohe Lage der Straße aber sicherte
vor Zerstörung durch das Wasser und vor Schneeverwehungen und ermöglichte
es, die engen Schluchten (Kuntersweg, Via mala, Schlucht südlich Gries a. Br.)
zu umgehen. Arbeitskräfte und Arbeitsmittel, nicht minder auch Klugheit, Praxis
und Zielbewußtsein standen aber den Römern mehr als den Straßenbaumeistern
aller folgenden Zeiten zu Gebote. Am klarsten läßt sich den Prinzipien römischer
Straßenführung wohl aus der Tatsache nachkommen, daß die Römer den Julier
vor dem Septimer bevorzugten, während letzteren Paß dann das Mittelalter als
Hauptweg an dieser Stelle erwählte. Beide Pässe sind fast gleich hoch, der
Weg über den Julier ist aber länger und erforderte außerdem den Anstieg über
Die Alpenländer als römische Provinzen. 67
den Maloja. Trotzdem wählten die Römer diesen Weg, weil die Witterungs-
verhältnisse auf dem Julier für eine stete Benutzung, auf die es ihnen vor allem
ankam, günstiger sind.
Denn der ganze bauliche Zustand dieser Gebirgswege war ein solcher, daß
er jederzeit ihre Benutzung durch die Marschkolonnen des römischen Heeres
verbürgen mußte. Seit Augustus Zeiten bewegte sich der starke, regelrechte
militärische Verkehr zwischen Gallien und den Rheinlanden einerseits, und Italien
andererseits ungestört und sicher über die Alpen, und zwar zumeist über die
drei westlichen Pässe, Genevre und die beiden Sankt Bernhard-Pässe, während
dem gleichen Zwecke für die unteren Donauländer die Birnbaumer Straße diente.
Der Ausbau des Brennerweges, der Radstädter und der Ploeckenstraße, der erst
viel später stattfand, zeigt dagegen an, daß das vindelicische und norische Donau-
ufer nun gleichfalls zu erhöhter militärischer Wichtigkeit gelangt waren. Beim
Zuge Hannibals, bei den Alpenüberschreitungen der Germanen und auch später
bei denen der deutschen Könige ist es stets die Hauptsache gewesen, schließlich
mit einer leidlich fähigen Heeresmacht auf den Schlachtfeldern Oberitaliens er-
scheinen zu können; wie viel dagegen vorher auf dem Marsche über das Gebirge
selbst verloren ging, darauf kam es weniger an. Anders, und je länger je mehr
auf den Kriegsmärschen der Römer, bei denen bei der unerreichten Qualität
aber verhältnismäßig geringen numerischen Stärke des römischen Heeres der
Besitz jedes einzelnen Legionars kostbar war. Für die systematisch-pedantische
Art, mit der solche Märsche ausgeführt werden mußten, waren daher gute Straßen
die erste Bedingung. Das beste Beispiel für die Zuverlässigkeit der über die
Alpen führenden römischen Straßen liefern bereits die Vorgänge des Jahres 69
n. Ch. Damals nahm Vitellius, dem das Geschick die Verfügung über die
Hauptmacht Roms in die Hände gelegt hatte, seine siebzigtausend Mann in einem
Zuge nach Italien. Ein Bonaparte konnte nicht sicherer disponieren, und hier
war es nicht einmal die persönliche Tatkraft, sondern allein der einmal in Gang
gesetzte militärische Apparat, der derartig sicher funktionierte. In der schlechtesten
Jahreszeit, im März und April, gingen damals die Legionen in zwei Abteilungen
von dreißig- bezw. vierzigtausend Mann über den großen Sankt Bernhard und
Mont Genevre. Kurz nachher eilten die römischen Heere wieder gegen die
gallisch-germanische Usurpation aus Italien über die Alpen zurück. Nach Ansicht
des Tacitus wurde es Tutor, dem Führer in diesem Aufstande, von vornherein
zum Verhängnis, daß er unterlassen hatte, gegen jene die Alpenpässe zu sperren.
Demnach waren auch schon die Römer der damaligen Zeit sich vollständig
darüber klar, daß das Dasein und der Besitz der von ihnen gebauten Alpenstraßen
die Vorbedingung für Aufrechterhaltung der römischen Herrschaft jenseits des
Gebirges bedeutete.
So hat auch bis auf den heutigen Tag diesen römischen Alpenstraßen, auf
denen hinab schon zu Zeiten des Tiberius die langen Waldriesen zum Brücken-
5*
68 V. Kapitel.
bau nach der Hauptstadt transportiert wurden, mehr als den Straßen anderer
Völker und Zeiten, der Ruf der Dauerhaftigkeit angehaftet. Wie überall bei den
Römerstraßen bestand ihre erste Eigentümlichkeit darin, im kleinen und im
großen (Chiavenna-Bregenz, Verona-Parthanum, Aquileja-Laibach) in langen
geraden Linien den vorgesteckten Zielen zuzustreben. Wo wir aber heute noch
im Gebirge die Reste alter Straßenzüge selbst mit einiger Sicherheit als römisch
ansprechen können, stellen sie sich zuweilen dar als Pflasterungen von großen
Steinplatten, meistens jedoch als mit Kies und Geröll hergestellte Erddämme
niedriger Höhe, deren Breite eher gering als groß ist. Die besterhaltensten und
besterforschten Teile von Römerstraßen im Alpengebiet finden sich heute an der
Birnbaumer Straße zwischen Heidenschaft und Oberlaibach und an dem alten
Kolonnenwege Augsburg-Schöngeising-Traunstein-Salzburg. Dem Umstände, daß
der von Westen nach Osten gehende Verkehr an diesen Linien im frühen Mittel-
alter erstarb und daß dieser sich dann später auf den einzelnen Trakten andere
Richtungen aussuchte, haben wir es heute zu verdanken, hier noch den alten
römischen Straßenkörper weithin aus Feld und Wald herausfischen zu können.
Ebenso überraschend aber tritt jene Fähigkeit der Römer, das Gelände zu
beherrschen, in der Art zutage, wie sie sich nun auch die günstigsten Stellen
des Landes für ihre Ortsgründungen heraussuchten. Leicht hatten sie es dabei
allerdings, da sie, bei ihren Maßnahmen in nichts gehindert, allein die ihnen
entgegenkommende lokale Zweckmäßigkeit in das Auge zu fassen brauchten.
Trotzdem bleibt es aber ein Zeichen ihres überlegenen praktischen Blickes, daß
der Gesichtspunkt, der einmal bei den Römern für ihre Ortsgründungen vor-
gewaltet hat, fast überall unbedingt der richtige gewesen ist und deshalb auch
für alle Zeiten sozusagen etwas Unverwüstliches an sich gehabt hat. Daher sehen
wir, daß — geringe Ausnahmen (Windisch und Bozen) abgerechnet — die
Bedingungen, auf denen die größere oder geringere Wichtigkeit der Alpenorte
beruht, auch heute noch ganz dieselben geblieben sind wie vor fast zweitausend
Jahren, und daß alle jene Verhältnisse von den Römern bereits ebenso scharf
wie von der Jetztzeit erkannt worden sind.
In den meisten Fällen mag freilich die römische Ortsgründung zunächst an
die schon vorhandene angeknüpft haben, und nur die Art, wie die Römer jene
Orte dann bewerteten zeigt die praktische Überlegenheit der Welteroberer.
Besonders häufig sind aus den bereits bewohnten Orten Römerorte in den ur-
sprünglich keltischen Gebieten (Noviodunum, Nyon) entstanden, während in
Vindelicien und in den Ostalpen dies sogar fast zur Regel wird (Bregenz, Augs-
burg, Regensburg, Passau, Carnuntum, Pettau), aber auch in dem nicht keltischen
Teile der Alpen ist dies der Fall gewesen (Trient, Klaußen, Meran, Matrei a. Br.).
Wo sich der Römer auf diese Weise niederließ, setzte er sich jedoch in der
Regel nicht kukuksartig in das alte Nest hinein, sondern mit seiner Militär-
ansiedelung nur dicht neben den alten Ort. Beide Teile wurden möglichst durch
Die Alpenländer als römische Provinzen. 69
einen Wasserlauf getrennt gehalten (Octodurus; Passau), aber eine gänzliche
Austreibung der alten Bewohner fand nicht statt, und schon deshalb nicht, damit
zugleich alle Vorteile eines bewohnten Ortes mit übernommen werden konnten.
So lassen sich denn auch, allein vielleicht mit Ausnahme von Bern und
Luzern, alle wichtigen Orte der Alpen schon auf alte Römerposten zurückführen.
Entweder hat der Römerort selbst schon auf der gleichen Stelle gestanden, oder
— eine gleichfalls häufige Erscheinung bei den wichtigen Städten — die Stelle
selbst, auf der die römische Ansiedelung ursprünglich stand, hat sich zwar gegen
die spätere Zeit verschoben, aber die Zone, die von vornherein befähigt gewesen
ist, einen wichtigen Ort zu tragen, ist trotzdem dieselbe geblieben. Als Fälle
dieser Art stellen sich dar das Verhältnis von Aventicum und Freiburg i. d. Schw.,
Äugst und Basel, Baierbrunn und München, Albeanum und Rosenheim, Laurea-
cum und Linz, Carnuntum und Wien, Virunum und Klagenfurth, wie auch von
Aquileja und Venedig.
Mehr als anderswo wog aber bei den römischen Ortsgründungen in den
Alpen das Wesen der eigentlichen Zweckgründung vor, um zunächst durch
Niederhaltung des Landes den Durchgangsverkehr zu sichern. So blieb die
Zentralschweiz vom Wildstrubel bis Tödi allein deshalb unbewohnt, weil sie von
keiner Verkehrslinie durchquert wurde, und sahen das Avisiotal, das Zillertal
und das obere Lechtal, weil diese Striche für den Großverkehr ewig ungeschickt
liegen, auch kaum einen römischen Bewohner. Langer Zeiträume bedurfte es
freilich immerhin, bis sich schließlich die römische Kolonisation auch aus volks-
wirtschaftlichem Triebe heraus selbst die einladendsten Teile der Alpen zu Nutze
gemacht hat. In dieser Art entstanden dann die Römerorte am Genfer und
Neuenburger See, geschah die von Vindonissa aus ausgehende Parzellierung der
Schweizer Hochebene in Unteroffiziers- Grundstücke und die Besiedelung der
Ostecke des Bodensees; aus gleichem Triebe erhoben sich das Römerstädtchen
bei Perjen bei Landeck an der mildesten Stelle des Oberinntals und die reichen
Villenkolonien im gesegneten Etschtal zwischen Bozen und Meran. Auf diese
Weise drang dann auch von Pettau aus die Mur aufwärts der römische Ansiedler
in das wohnungsfreundliche Steiermark vor, und führte der das Murtal durch-
ziehende Eisenhandel zur Entstehung von Handelsposten zwischen Judenburg und
Brück a. d. Mur; so erhob sich im Herz der Ostalpen eine völlig alpine römische
Großstadt, Virunum, die Hauptstadt Norikums, eines Gebietes, das der römische
Staatsmann mehr als die übrigen Alpenländer in seiner Entwickelung sich selbst
überlassen hatte, weil es politisch und militärisch unwichtig lag.
In der Staatskunst aller Zeiten sind immer diejenigen Maßregeln als die
vortrefflichsten bezeichnet worden, durch die es gelang, unbedingt gegen den
schlimmsten Fall Vorsorge zu treffen, weil damit zumeist auch den anderen Even-
tualitäten geringerer Schärfe vorgebeugt wird. Dieses System, durch eine Maß-
regel oder aus einem Posten heraus mehrere Seiten des Gegners zu treffen,
70 V. Kapitel.
haben gerade die Römer zur höchsten Vollendung ausgebildet, und auch für die
Art, wie und wo sie ihre Stellungen in und um den Alpenwall verankert haben,
trifft dies zu. So diente schon Aquileja ebenso nach Westen zur Niederhaltung
Venetiens wie als Ausfallspforte gegen Osten, im besonderen aber auch als Sperre
für den Eintritt nach Italien. So merkten auch die Römer sofort, daß eine die
Alpen in eine westliche und östliche Hälfte teilende Nord -Südgrenze, die in der.
Linie der Westgrenze des von den Rätern besetzten Gebietes lief, sich praktisch
für die Zerlegung des Alpengebietes in einzelne Militärbezirke verwenden ließ.
Der rechte Flügelpunkt der großen Rheinarmee, die an sich schon gegen beide,
Gallien und Germanien, zu dienen hatte, war Vindonissa, und die Lage dieses
Ortes ermöglichte es außerdem noch, seine Garnison nicht nur gegen den äußeren
Feind, sondern ebenso auch gegen Helvetien wie gegen Rätien zu verwenden.
Durch die Hereinbeziehung des Dekumatlandes in die römischen Grenzen wurde
die Verwendung dieser Rheinarmee dann auch noch an einem dritten Punkte,
bei Wien und Carnuntum, ermöglicht, und auch die Römer fühlten es schon, daß
sie in Carnuntum ihre Hand nicht allein auf diesen Punkt, sondern auch zugleich
auf das ganze umliegende Ländergebiet legten.
Bei allem diesen darf jedoch auch dasjenige nicht übersehen werden, worin
die Römer schließlich mit ihren Leistungen hinter denen der späteren Zeiten
zurückgeblieben sind. In Bezug auf die Verbindung zwischen Italien einerseits,
und Gallien und den Rheinlanden andererseits, ist ihr Straßennetz allerdings zu
einer Vollendung gelangt, daß abgesehen von der regelrechten Eröffnung des
Simplon auch die neueste Zeit zu diesem nichts Besseres hat hinzufügen können;
auch zu dem römischen Straßennetz in den Ostalpen sind während der späteren
Zeiten nicht allzuviel neue Linien hinzugekommen. Was aber das römische
Straßennetz in den Alpen zu seiner Vollendung vermissen läßt, ist einesteils fast
das gänzliche Fehlen der Längsverbindungen innerhalb des Gebirges, anderen-
teils aber die sichere, zielgerechte Eröffnung einer eigentlichen kurzen Linie über
die Zentralalpen, die heute der Gotthardweg abgibt. Ein Tasten nach einer
solchen Verbindung findet sich in der späteren Zeit vielleicht beim Luckmanier,
aber auch die unsichere und späte Eröffnung des Brenners zeigt doch, daß hier
der große Zug, der bei der Eröffnung der Alpen unter Augustus zunächst vor-
waltete, nicht nachgehalten hat. Hätte freilich dieser Kaiser sein Ziel erreicht
und Germanien in gleicher Weise unterworfen wie Cäsar vor ihm Gallien, so
wäre sicherlich auch schon damals eine vollendetere Straßenführung durch die
Zentralalpen nicht ausgeblieben, wie sie sich erst die neuere Zeit im Gotthard
geschaffen hat und noch die Jetztzeit vermittelst einer Eisenbahn über das Re-
schenscheideck oder den Splügen zu vervollständigen abmüht.
Ein Vergleich des Netzes der römischen Alpenstraßen in ihrer höchsten
Vollendung mit dem heutigen modernen Schienennetz fördert immerhin die
interessante Erscheinung zu Tage, daß beide in vielen Teilen eine charakteristische.
Die Alpenländer als römische Provinzen. 7J
Ähnlichkeit zeigen, wodurch einesteils die alte Wahrheit bestätigt wird, daß es
unter der Sonne kaum etwas neues gibt, anderenteils aber auch der Gedanke
geweckt wird, daß gerade die moderne Kultur Innereuropas in einiger Hinsicht
heute mehr als zu anderen Zeitepochen derjenigen der ausgereiften römischen
Kaiserzeit ähnlich sein mag. Ein großer Unterschied der leitenden Gedanken,
die beide Male diese Verkehrslinien geschaffen haben, waltet allerdings zunächst
vor. Denn bei den Römern bestimmte einzig der Wille einer südlichen Zentrale,
Roms, die Führung der Straßen; dieser Wille führte sie über das Gebirge nach
Norden, auf den Wegen und nach den Richtungen, wohin er allein wollte, während
heute neben dieser dem Namen nach sich gleich gebliebenen südlichen Zentrale in
gleicher Weise noch drei andere nördlich des Gebirges gelegene Kulturzentren, Paris,
Wien und Berlin bei der Gestaltung des Verkehrsbildes selbständig mitzureden haben.
In den Westalpen finden wir Eisenbahnen in den Rinnen der alten Römer-
straßen wieder in der Küstenbahn an der Riviera und auf der italienischen Seite
des Mont Cenis. Während es aber Rom gefiel, eine weiterhin notwendig ge-
wordene italienisch -gallische Verbindung über den Kleinen Sankt Bernhard zu
legen, hat der selbständige französische Verkehr sich jetzt für eine solche den
Simplon herausgesucht. Wie es aber auch den Römern nicht gelang, den Großen
Sankt Bernhard mit einer Fahrstraße zu überbrücken, so hat auch die heutige
Zeit es hier noch nicht mit einer Eisenbahn versucht; bei Lausanne und Vevey
jedoch, da wo einst die Römerstraßen nach Nordosten abliefen, gehen auch heute
wieder die Eisenbahnen in gestreckter Richtung nach dem Rheine ab. In der
Mitte der Alpen zeigt dagegen das heutige Bild gegen die Römerzeit die größte
Verschiedenheit; nur tritt auch jetzt, wie auch einst die Römer sich trotz der
größten lokalen Schwierigkeiten schließlich dazu entschließen mußten, über den
Splügen eine Straße zu legen, immer wieder das Projekt einer Splügenbahn auf.
Auch die Erbauung der Eisenbahn nach dem Reschenscheideck von Süden aus
gehört hierher; denn auch die Römer gelangten dorthin aus derselben Richtung,
auch ähnelt es ganz römischen Verhältnissen, wenn sich auch heute wieder nörd-
lich des Reschen Zweifel über die Weiterführung in Hinsicht der Anschlußnahme
an andere Linien eingestellt haben. Die Führung des nördlichen Teiles der
Brennerbahn von Innsbruck nordwärts auf der jüngeren Brennerlinie über Kuf-
stein hat München — in seiner Größe jetzt eine neue Erscheinung gegen die
Römerzeit — verschuldet, weil dieses die bereits vor Legung der eigentlichen
Brennerbahn vorhandene Strecke München — Kufstein als willkommenes Ver-
bindungsglied zur eigentlichen Nord -Südlinie beisteuern konnte; die Brennerbahn
selbst (Südbahn) würde hier aber sicherlich nicht in dem Maße ängstlich auf
jedes neu auftauchende Alpenbahnprojekt in ihrer Nähe lauschen müssen, wäre
es ihr von Anfang an gelungen, den Schienenstrang auf der vornehmsten der ein-
schlagenden alten Römerstraßen d. h. von Innsbruck über die Scharnitz nach
München zu führen.
72 V. Kapitel.
In den Ostalpen tritt uns in der neuesten Zeit, wenn auch weniger äußerlich,
so doch innerlich ein gegenüber der Römerzeit am meisten verändertes Bild
entgegen, weil hier die Zentrale Wien viel mächtiger als der Süden selbst die
Herrschaft über die Alpen-Verbindungen ausübt. Diese Verschiedenheit drückt
sich zunächst vor allem in dem Dasein der die Alpen in ihrer Länge durch-
ziehenden und gegen die Römerzeit ganz neu entstandenen Verbindungen aus
(Arlberg- Bahn, Ennstal-Bahn, Semmering- Bahn), von denen sich in größerer
Länge nur die Pustertalbahn zwischen Villach und Franzensfeste in alter römischer
Bahn bewegt. Die Nofd-Südlinien jedoch gleichen auch hier, allerdings mehr
im Entwurf als in der genaueren Durchführung den alten römischen Nord-Süd-
verbindungen. So ist vor allem die Südbahnlinie Cormons-Laibach-Cilli-Graz-
Wien nichts anderes als die alte römische Straße von Aquileja über Celeja und
Savaria nach Carnuntum, nur mit dem Unterschied, daß jene zu liebe von Gratz
das hier in kleinerem Kreise ähnlich wie Wien eine gegen die Römerzeit neue
Erscheinung bedeutet, von Pragerhof aus nach Westen zu eingedrückt ist. Auch
heute ist dieser von der Adria nach Carnuntum laufende Schienenstrang wichtiger
und belebter als die von Pontebba über Villach und Neumarkt auf Wien führende
Staatsbahn, trotzdem er ein ganzes Stück länger als diese ist. Diese letztere
führt zwar von Pontebba bis Unzmarkt im Murtal ebenfalls in einem alten
Römergleis, nur benutzten die Römer dieses Gleis dann nicht zur Weiterführung
nach Carnuntum, sondern nur für die Richtung nach der Linzer Pforte hin,
nach Wels und Lorch. Das gleiche Bild ist es aber immer noch, wenn heute
die Eisenbahnzüge von Paris nach Konstantinopel über Augsburg- Salzburg -
Wels und Wien dieselbe Bahn verfolgen, auf der einst die Römer den großen
strategischen Kolonnenweg vom Oberrhein nach dem Schwarzen Meer gelegt
hatten.
So haben die Alpen, ebenso für die Römer wie für alle späteren Zeiten,
in erster Linie Nord- und Südeuropa auseinandergehalten, und es bedeutet in
ihrer Geschichte das wichtigste Moment, in welcher Weise die Zeiten und Völker
zu ihrem eigenen Vorteil die Aufgabe gelöst haben, diese trennende Wirkung
zu mildern und zu regeln. Neben dieser so einleuchtenden Tatsache Tällt es
deshalb aber umsoweniger in die Augen, daß innerhalb des Alpengebiets selbst,
dieses seiner ganzen Tiefe nach von Süd nach Nord durchquerend, außerdem
eine uralte Grenze läuft, die in jeder Beziehung, ethnographisch, handelsge-
schichtlich und politisch, seitdem die Alpen in die Geschichte eingetreten sind,
dieses Gebirge in zwei ungefähr gleich große Hälften geteilt hat. Mit der Ein-
teilung der Alpen in West-, Zentral- und Ostalpen läßt sich wohl geographisch
etwas anfangen; geschichtlich zerfallen die Alpen dagegen nur in zwei Teile, in
die West- und in die Ostalpen. Die Linie aber, durch die jene Spaltung bewirkt
wird, hält sich ungefähr an die Punkte Bodensee, das Rheintal südlich bis Chur
und zielt von dort nach dem Comer-See. Die Westgrenze der alten römischen
Die Alpenländer als römische Provinzen. 73
Provinz Rätien ebenso wie die heutige österreichische Grenze sind nur ein
Ausdruck der Kraft, die dieser Scheidung stets innegewohnt hat. Die verschiedene
Beschaffenheit der beiden Gebirgshälften aber, die durch jene Grenze geschaffen
werden, läßt sich am besten dadurch charatcterisieren, daß die westliche helve-
tische Hälfte zumeist nach dem Westen und Frankreich, die östliche Hälfte da-
gegen zumeist nach Osten bis zum Orient hin gravitiert hat, während der direkte
Einfluß des Nordens und Südens auf jene beiden Hälften dagegen stets ungefähr
gleich stark gewesen ist.
Am frühesten ist jene Spaltung in ethnographischer Beziehung in Gestalt
der alten Volksgrenze zwischen den Rätern und den keltischen Helvetiern zutage
getreten. Wie scharf die Römer aber auch hier schon die Sachlage durchschaut
haben, zeigt sich darin, daß sie sich jene Rinne nun sofort auch als Provinzial-
grenze zwischen Rätien und Gallien nutzbar machten, mehr aber noch, daß sie
auch wirtschaftlich alles Land östlich derselben zum illyrischen, alles Land
westlich derselben dagegen zum gallischen Zollbezirk schlugen; und es ändert
auch nichts Wesentliches an dieser Tatsache, ob der Ort Maja, an dem eine der
Zollstationen gelegen war, durch die jene Teilung ihren Ausdruck fand, nach
Meran oder Maienfeld a. Rh. zu legen ist. Diese Grenze hat dann aber auch
im Verlauf der geschichtlichen Ereignisse immer ihre Macht bewährt. Bei der
Unterwerfung Rätiens rückte Tiberius in der Front des nördlichen Teiles dieses
Grenzlaufes in das feindliche Land ein und umgekehrt im Jahre 70 nach Ch.
die Vitellianer gegen das an Galba festhaltende Helvetien. In demselben Gebiete
kämpften die Habsburger mit den Schweizern, die Tiroler mit den Bündnern
(1499) und die Franzosen mit den Oesterreichern in den Koalitionskriegen. Es
waren demnach stets östliche und westliche Mächte, die in dieser Zone gegen-
seitig aneinander geraten sind.
Zu dem gleichen Resultat, das uns in der römischen Verkehrsgeschichte
der Alpen in tausend kleinen Zügen detaillierter Forschung entgegentritt, würden
wir in seinen Grundzügen aber auch ohne dies, lediglich auf logischem Wege
durch die richtige Bewertung der Tatsache gelangen können, daß zu jenen Zeiten
ein einziges Weltreich, in seiner Betätigung ungehemmt und unbestritten, die
ganze Erde erfüllte. Unter einem solchen konnten die Alpenländer kein anderes
Geschick als dasjenige, wie es ihnen tatsächlich geworden ist, erwarten. Die
Interessen und Willensneigungen des ganzen Alpengebietes, ebenso auch die seiner
einzelnen Provinzen waren damals überhaupt noch ein ungeprägter Begriff, und
dieser ganze Komplex war allein um des Weltreichs willen da, das jenen mit
souveräner Ruhe, mit seiner Beanlagung und Erfahrung in jeder Art der Herr-
schaftsführung und mit den Hilfsmittela einer unerreichten Technik für seine
Zwecke eingerichtet hat.
Und trotzdem ist das Geschick der Alpenländer während der Römerherr-
schaft in Wirklichkeit ganz das Gegenteil eines entrechteten und enterbten Ge-
74 V. Kapitel.
bietes gewesen; denn auch jenen Gebieten mußte die damals über die ganze
Erde lagernde Ruhe, der fast nicht mehr durch Menschenwillen, sondern durch
Naturzustand währende Friede dahin zugute kommen, daß sich ihre lokalen
Interessen überall da sorglos und ungehemmt regen .konnten, wo sie nicht den
Reichsinteressen entgegentraten. Wie das römische Kaiserreich in seiner höchsten
Entwicklung geschichtlich ganz einzigartig dasteht, so bieten auch im Einzelnen
seine Folgeerscheinungen nie wieder dagewesene Bilder, und in der Verkehrs-
geschichte der Alpen ist es das oben gezeichnete.
VI. Kapitel.
Die Römerstraßen der Alpen.
Die Straßen im Westen der Alpen bis zum Simplon.
Wenn wir diejenigen Verbindungen Alpenstraßen nennen, die einen Verkehr
zwischen Italien und den nördlich desselben gelegenen Ländern ermöglicht haben,
so muß, von Westen aus gerechnet, als erste derselben die zwischen der Ligu-
rischen Küste und dem Gebirgsrande hinführende Straße, die heute die Corniche
genannt wird, gerechnet werden; denn mehr als viele andere den Gebirgskamm
selbst überschreitende Straßen hat gerade diese Linie von altersher die Wirkung
ausgeübt, die Länder diesseits und jenseits der Alpen zu verbinden. Unverändert
durch alle Zeiten hat ihr die Natur den Vorteil gelassen, daß der auf ihr laufende
Verkehr von der Überwindung größerer Höhenunterschiede, die sonst keiner
anderen Alpenstraße erspart bleibt, befreit war, und daß die Gegenden, die sie
durchlief, zu den einladendsten Strichen der ganzen Welt gehörten; unverändert
blieb ihr stets auch auf der einen Seite die verkehrsfreundliche Nachbarschaft
des Meeres erhalten.
Diesem allen hat sie nur einen Nachteil entgegenzusetzen, der sich auf ihrer
längeren italienischen Hälfte und da wieder in der nördlichen Nachbarschaft
dieser Strecke findet. Hier begleitet den Weg von Italien aus bis Nizza unaus-
gesetzt zur Rechten das dicht herantretende Gebirge, das daher von demjenigen,
der von dieser Straße aus nach Norditalien hin Einfluß ausüben will, erst noch
überschritten werden muß. Die Bewegungsfreiheit auf dieser Straße ist daher,
auf der italienischen Seite wenigstens, viel gebundener als auf den anderen von
Oberitalien her auf die Alpen hinführenden Linien, und so bildet diese Straße
wohl in Friedenszeiten eine prächtige zielgerechte Verbindung zwischen Süd-
frankreich und der Mitte Italiens; für kriegerische Bewegungen ist sie dagegen
76 VI. Kapitel.
gerade eine der schwierigsten Alpenlinien, da derjenige, der auf ihr marschiert,
nur den Straßenzug selbst, nicht aber auch dessen Nebenland beherrscht.
Als jene Straße, und zugleich mit ihr zum erstenmale ein kleiner Teil der
Alpenkette, um die Mitte des dritten Jahrhunderts v. Ch. in den Machtbereich
der Römer kam, fanden diese an ihr bereits zahlreiche, ihnen kulturell mindestens
gleichartige Gemeinwesen vor, so hoch und zweckmäßig entwickelt wie sie den
Römern sonst an keiner Stelle der Alpen wieder entgegengetreten sind. Es
waren dies die Griechenorte von Massilia (Marseille), Antipolis (Antibes), Nizaea
(Nizza), Monaco u. a. m., die hier die Erbschaft der vorangegangenen Phönizier
angetreten hatten. Vom Meere herübergebracht war das Augenmerk dieser
Kolonisten jedoch auch stets nur allein auf das Meer gerichtet geblieben, derart,
daß sie gegenüber den nördlichen Bergvölkern auf Eroberungen so gut wie ver-
zichtet und sich nur auf die notwendige Sicherung des wohnlichen Küstenlandes
beschränkt hatten. Als nun die Römer hier eintraten, fanden sie in bezug auf
die Festlegung des Straßenkörpers und die Anlage von Ortschaften überall entlang
des Weges in jeder Beziehung schon vorgearbeitet, und so wie es hier vielleicht
schon die Phönizier, sicherlich aber die Griechen eingerichtet hatten, blieb es
nun auch während der Republik an dieser Straße bis zur Regierung des Augustus.
Bei den von Augustus an dieser Linie getroffenen Maßregeln ist weniger
die Neuchaussierung der schon vorhandenen an der Küste laufenden Straße
selbst, die nach ihm Julia Augusta genannt wurde, wichtig, sondern weit mehr
die Tatsache, daß auch kein früherer als er es gewesen ist, der jene prächtige
Linie für Rom erst dadurch wirklich wertvoll gemacht hat, daß er den bis dahin
fast außerhalb des Festlandes stehenden Straßenzug auch mit dem Innern Nord-
italiens in Verbindung setzte. Von Vada (bei Savona) aus verband Augustus die
Küstenstraße über den Appenin mit Placentia, das damals immer noch das
Fundament des Straßensystems des römischen Norditaliens bildete, während eine
weitere Verbindung der Küstenstraße über den Gel di Tenda mit Augusta
Taurinorum erst später folgte. Überhaupt ist die Notwendigkeit, von dieser
Küstenstraße aus gute Verbindungen nach Oberitalien zu errichten, stets dann
besonders hervorgetreten, sobald Italien und Frankreich politisch zusammengehört
haben und daher das Bestreben vorwalten mußte, diese Gebiete auch in Hinsicht
des Verkehrs eng aneinander zu ketten. Es ist deshalb auch ein Zeichen für
den Scharfsinn, der Napoleon für die äußerlichen Mittel, die Herrschaft zu führen
zu Gebote stand, wenn wir diesen bei seiner Straßenbautätigkeit am ligurischen
Appenin in den Bahnen des großen römischen Organisators wandeln sehen.
Die römischen Altertümer selbst sind an dieser Straße so zahlreich wie
nirgends sonst in Innereuropa. Für unsern Zweck ist es dagegen hier das
Wichtigste, in welcher Weise sich das Verkehrsbild, wie es sich schließlich im
Bereich dieser Straße während der römischen Kaiserzeit in seiner Vollendung
gestaltete, von demjenigen der späteren Zeit unterschieden hat. Die römische
Die Römerstraßen der Alpen. 77
Vorläuferin Genuas, Vada Sabbata, ist trotz der Straßenlegung des Augustus stets
nur ein unbedeutender Ort geblieben. Das Hinterland Genuas reichte im Mittel-
alter bis Paris, während es in der Jetztzeit sich sogar bis London erstreckt.
Dieses allem Handel und Verkehr nördlich über weite Gebiete erschlossene
Hinterland fehlte jedoch eben hier zur Römerzeit, und deshalb müssen wir auch
in jenen Zeiten an dieser Stelle einen ähnlich bedeutenden Ort wie Genua
vermissen. Von den Seestädten an dieser Linie zeigt daher heute nur eine
einzige einen entschiedenen Rückgang gegen die Römerzeit: Frejus, das alte
Forum Julii, wo die antike Straße die Küste selbst verließ und direkt land-
einwärts auf Aquae Sextiae zulief; unter den Römern fünfmal so groß als heute
und Station ihrer westlichen Mittelmeerflotte, hat die Bestimmung dieses Ortes
jetzt Toulon übernommen.
Der wichtigste Teil der ligurischen Küstenstraße war auch damals ebenso
wie heute die Strecke zwischen Ventimiglia und Nizza, an der ein römischer
Ort nach dem andern folgte. Ihrer praktischen Bedeutung nach ist diese Stelle
aber auch tatsächlich der Übergangspunkt zwischen Italien und Südfrankreich
und somit auch der erste wirkliche Alpenübergang vom Westen aus gerechnet,
wenn man die Vorstellung vorwalten läßt, daß diese beiden Länder durch die
Alpen getrennt sind. Deshalb stand auch hier auf dem Mittelpunkt dieser Strecke
bei Turbia, so bezeichnend wie nur möglich, das Denkmal des Augustus (Tropaea
Augusti), und daß auch heute dieser Punkt als nichts anderes als eine Über-
gangsstelle erster Ordnung gewürdigt wird, illustrieren die modernen französischen
Grenzbefestigungen, in deren Schußbereich jetzt die zu Augustus Andenken
hierher herangeschleppten Quadern liegen.
Überhaupt ist dieses Turbia nicht bloß einer der schönsten, sondern auch
einer der geschichtlich merkwürdigsten Punkte der alten Welt. Schon die hoch
führende Straße, die sich von den modernen tief unten am Meeresstrande gele-
genen Verkehrswegen hinweg zielgerecht auf das Vorgebirge hinaufwindet, kann
ihrer ganzen Anlage nach heute den römischen Ursprung nicht verleugnen.
Turbia selbst aber, d.h. der Fleck, den die Ruinen des Augustus- Denkmales
einnehmen und um die sich ein Gebirgsdorf gelagert hat, zeigt sich ohne weiteres
als die beherrschende, weit über Land und Meer blickende Stelle der ganzen Um-
gebung. Die Ruinen des Denkmals selbst sind auch heute noch umfangreich
genug, um nicht nur eine Vorstellung seiner einstigen Größe und Gestalt zu
geben, sondern auch der Arbeit, die es gekostet haben muß, dieses Werk auf
jener kahlen Höhe herzustellen. Auch hier gleicht die landschaftliche Situation
ganz der der meisten großen südländischen Ruinenstätten der Römerzeit; denn
der antike Bau hat auch hier im Mittelalter zunächst eine benachbarte große
Kirche und einen Wartturm und in der Jetztzeit einen Hotelbau mit seinen Steinen
gespeist. Die schönsten Marmorquadern des Denkmals liegen aber wohl heute
unerkannt mit dunkelbrauner Patina überzogen und als Sitzbänke benutzt auf
78 VI. Kapitel.
dem Dorfplatze. Jedenfalls wäre aber gerade alles das, was dieser la Turbie
auch heute noch an geschichtlichen Bauresten bietet, der strengsten Beachtung
der wissenschaftlichen Welt wert.
Theoretisch hat freilich Augustus, dem auch in dieser Beziehung dann
Napoleon gefolgt ist, die Grenze Italiens bis an den Fluß Var westlich hinaus-
gerückt. Es war dieses aber nur ein bequemes Mittel zur Erleichterung der
Verwaltung, ebenso wie von diesem Kaiser auch Emona an dem gegenüber-
liegenden Ostende des Gebirges noch zu Italien geschlagen wurde. Militärisch
und ethnographisch hat sich jedoch trotzdem die Paßhöhe hier wie dort ihre
lebendige geschichtliche Kraft niemals nehmen lassen.
Von den Römerorten dieser Gegend verdient noch die Stadt Cemenelum
(Cimiez bei Nizza) besondere Beachtung. Ihre einstige Größe, die heute noch
aus den Ruinen zu Tage tritt, und ihre Lage am Ausgange der von Ligurien
herüberkommenden Straße über den Col di Tenda beweisen, daß auch diese
Straßenlinie in der römischen Kaiserzeit belebt gewesen sein muß. Gerade dieser
direkt auf das Meer auslaufende Übergang mußte den von dorther kommenden
Verkehr auch landeinwärts zu sich herauf locken, wie man deshalb auch hier
die Spuren der fremden Ansiedler, die von der See aus kamen, bis hart an die
Paßhöhe hinauf beobachten kann. Unwichtig ist, ob man den Col di Tenda
als Scheidelinie zwischen dem ligurischen Appenin und den Alpen anzusehen
hat oder nicht, wichtig aber, daß dieser Paß sich in seiner Wirkung jedenfalls
als ein vollständiger Alpenübergang darstellt, insofern er Norditalien mit Süd-
frankreich verbindet. Als Verbindungslinie erster Ordnung hat er sich jedoch
niemals und am allerwenigsten zu Römerzeiten auswachsen können, da er nur
eine gute Verbindung zwischen den ihm am nächsten gelegenen Landschaften
darstellt, während die großen Zentren des Verkehrs, in deren Bereich er liegt,
andere, bessere und kürzere Verbindungslinien untereinander zur Verfügung haben
als er ihnen gewähren kann.
Der eigentliche westliche Schlußpunkt dieser ligurischen Küstenstraße zur
Römerzeit war der Ort Aquae Sextiae. Gerade die Lage des Ortes, an dem
Aquae Sextiae von den Römern gegründet wurde, bezeichnet so recht das prak-
tische und rücksichtslose Verfahren, mit dem jene Eroberer vorzugehen liebten.
Mochte die Lage dieses Ortes infolge des Vorhandenseins der warmen Bäder
in den Augen der Alten noch so einladend sein, so war Aquae doch eine ganz
ausgesprochen militärische Gründung als Festung und erster Brückenkopf für
die römische Eroberung jenseits der Alpen. In der Nähe Massilias, aber ohne
die mindeste Rücksicht auf dessen Lebensinteressen angelegt, hatte es — wie
einst die preußische Besatzung der Festung Königstein neben Dresden — als
Memento und ständiger Beobachtungsposten gegen die Massalioten zu dienen,
indem es diesen zugleich die selbständige Verkehrspolitik nach dem nördlichen
Hinterland zu unterband und in der republikanischen Zeit den militärischen
Die Römerstraßen der Alpen. 79
Verkehr zwischen Italien und Hispanien einerseits, and den von Gallien nach
Italien andererseits regulierte. Deshalb fiel auch ganz folgerichtig gerade an dieser
Stelle die Entscheidung über den beabsichtigten Einfall der Cimbern nach Italien.
Das Zaudern derselben, ihrerseits gerade in dem Moment, als sie sich auf die
Küstenstraße selbst begeben wollten, psychologisch sehr erklärlich, hat damals
Marius zum Angriff fortgerissen; bei beiden Teilen, und nicht zum wenigsten
bei den Barbaren selbst, hat damals eben die genaue Vorstellung vorgewaltet,
daß Aquae Sextiae die Schwelle Italiens war, und ein von dort aus begonnener
Linksabmarsch einen Entschluß bedeutete, der zunächst nicht mehr rückgängig
zu machen war.
Die nächste Alpenstraße zu Römerzeiten, von Westen aus gerechnet, die
nunmehr auch einen wirklichen Hochgebirgsübergang darstellt, ist diejenige über
den Mont Genevre, damals nach dem Gebirge, durch das sie führte, als der
Weg per Alpes Cottias bezeichnet. Es ist eine lange Strecke, auf der, von der
Küstenstraße aus bis zu diesem Übergang gerechnet, der Kamm der Alpen hier
ohne eine ihn übersetzende Straße bleibt; in anderen Teilen der Alpen liegen
die den Kamm überschreitenden Straßen erster Ordnung auch zu Römerzeiten
viel näher aneinander und führen trotzdem zu Ländern hinüber, die erst viel
später als hier die Provinz Narbo römisches Gebiet geworden sind. Auf den
regelrechten Grund für diese Erscheinung führt uns jedoch die Tatsache,
daß dieses Verhältnis nicht bloß zur Zeit des römischen Altertums sich vorfindet,
sondern auch unentwegt bis in die letzten Jahrhunderte ganz dasselbe geblieben
ist. Auf diesem Flügel der Alpen hat zunächst die für jede Art friedlichen
Handels und Wandels so ausnehmend günstige ligurische Küstenstraße jeden der-
artigen Verkehr auch auf eine große Strecke nördlich herauf von der Notwen-
digkeit befreit, sich hier neue Wege zu suchen. Hinsichtlich des militärischen
Verkehrs ist dagegen auf der italienischen Seite das von der Maira und dem
obersten Laufe des Po durchflossene, von den Kottischen Alpen und dem ligu-
rischen Appenin umfaßte Gebiet stets Nebenland gewesen, dessen unbestrittene
Zentrale nach wie vor das direkt östlich der Genevre-Übergänge liegende Turin
geblieben ist, während auf der gallischen Seite der Mont Genevre die Eigen-
tümlichkeit besitzt, daß von ihm aus nach allen Richtungen, nach Südwesten,
Westen und Nordwesten, gleich gute Verbindungen ausstrahlen, und demnach
derjenige, der von Ligurien aus mit einem Heere nach Südgallien will, gerade
von der Paßhöhe des Mont Genevre aus nach allen Teilen dieses Gebietes hin
volle Bewegungsfreiheit besitzt. Daß aber während der Römerzeit diese Situation
am reinsten vorgewaltet hat, sehen wir daraus, daß damals auf der ligurischen
Seite des Mont Genevre außer in Turin und Susa ganz wenig von wichtigeren
Römerpunkten zu spüren ist — die Städte Cuneo, Saluzzo und Pignerolo sind
sämtlich viel spätere Gründungen — , während auf der gallischen Seite der Weg
und die Endpunkte aller drei von diesem Gebirgsübergange aus herablaufenden
80 VI. Kapitel.
Richtungen mit größeren Orten besetzt sind. Hier lagen zunächst an der
chaussierten, wichtigsten, südwestlich nach Arelate führenden Ausstrahlung die
Orte Eborodunum (Embrun), Segustero (Sisteron) und Apta Julia (Apt), weiterhin
an der direkt nach Osten vom Paß abgehenden Linie Cularo (Grenoble) und
Valentia (Valence), während die nördlichste Route, die heute durchaus mit der
dortigen Eisenbahn zusammenfällt, von Grenoble über Morginum (Moirans) nach
Vienna (Vienne) abzweigte.
So ist es also deshalb, weil der Mont Genevre von weither überall die
Verbindungen an sich zieht und überdies bei der Tatsache, daß sich in der
nächsten Nachbarschaft desselben auch verschiedene andere praktikable Gebirgs-
übergänge (Mont Cenis) finden, ganz naturgemäß, wenn der Mont Genevre in
vorgeschichtlicher Zeit als Übergangslinie der nach Italien herüberziehenden
Kelten genannt wird, und nicht minder, wenn diese Straße schon ein volles Jahr-
hundert vor unserer Zeitrechnung auch ohne Zutun der Römer als Handelsstraße
in Gebrauch war. Es ist daher auch nur ein Spiegelbild dieser Lage, wenn
schon Strabo den eigentlichen Paßort des Genevre, Briancon, als gallischen
Flecken Brigantio namhaft machen konnte. Trotzdem ist es auch hier nicht
unwichtig, den Gründen nachzugehen, die Pompejus bei seiner beabsichtigten
Straßenlegung für diesen Paß bestimmt haben können, falls er nicht überhaupt
ohne weiteres Bedenken diesen durch den Handelsverkehr bereits genügend
vorgezeichneten und erprobten Weg heraussuchte. Wenn Pompejus hier im
Jahre 77 v. Gh. über den Mont Genevre die erste römische Alpenstraße ab-
gesteckt hat, so ist es zunächst bei der ganzen Sachlage, nach der damals die
Provinz Narbo für seine Tätigkeit nur Durchgangsstation war, nicht wahrscheinlich,
daß er hier wirklich etwas von dauerndem Wert geschaffen haben kann. Nur
das eine muß festgehalten werden, daß dieses Werk trotzalledem eine größere
Leistung als sie sonst die Einjahrskonsuln zu bieten pflegten, bedeuten sollte.
Bei der Schwerfälligkeit und Gründlichkeit, mit der die Römer in republikanischer
Zeit an den Straßenbau, eines ihrer wichtigsten Herrschaftsmittel, herangingen,
mußte die Herstelluag einer Militärstraße durch das Hochgebirge als epoche-
machend gelten, und wenn die Straße auch bald wieder in schlechten Zustand
gekommen oder überhaupt nicht richtig ausgebaut worden sein mag, so wird das,
was geschah, in militärischer Hinsicht vor der Hand doch ganz angenehm
empfunden worden sein, weil damals gerade das Bedürfnis nach einer kürzeren
Verbindung nach der Mitte der Provinz Narbo stärker hervorgetreten sein mag.
Jedenfalls führte der mittelste Ast des Genevre-Überganges auf gallischer Seite
tatsächlich direkt auf das Gebiet der Heivier, in dem Pompejus damals zu tun
hatte, zu.
So sehen wir diesen Übergang auch bei der nächsten Gelegenheit, als wieder
aus kriegerischem Anlaß Truppenmärsche nach Gallien nötig wurden, und zwar
zwanzig Jahre später bei Beginn des gallischen Krieges, ohne weiteres in Benutzung
Die Römerstraßen der Alpen. 81
treten. Bei Cäsars Erzählung'") hat die Erwähnung des über den Genevre ein-
geschlagenen Weges ihre Hauptbeziehung zu den raschen gegen die Helvetier
gerichteten Rüstungen. Für unseren Zweck ist sie aber trotzdem noch selbst
mit jedem Worte eine Offenbarung. Als Cäsar damals die Legionen aus Ober-
italien nach dem Genfer See werfen wollte, tat Eile not; er wählte also deshalb
den Mont Genevre, weil er annehmen konnte, daß über diesen der Marsch am
raschesten vor sich gehen würde. Zunächst ist dies ein Beweis dafür, daß der
Weg über den Kleinen Sankt Bernhard, der doch viel kürzer nach dem Genfer
See hingeführt hätte, damals für die Römer noch nicht in Betracht kam. Die
Tatsache nun, daß die Bergvölker trotzdem wider Erwarten auch hier Schwierig-
keiten machen — nebenbei möglicherweise ein kleiner Seitenhieb auf Pompejus —
ist für Cäsar äußerst wichtig, da dadurch die Gespanntheit der Lage noch ver-
größert wird. Wir sehen aber weiterhin noch daraus, daß die Straßensicherung
des Pompejus eben nicht gerade erstklassig gewesen sein kann, da sie bereits
in Verfall geraten war, und zwar nicht bloß an einer Stelle, sondern fast auf der
ganzen-Linie im Gebirge, weil sich Cäsar durch drei Völkerschaften hintereinander
den Weg bahnen muß. Cäsar hebt bei seiner Erzählung ferner ganz genau den
Punkt hervor, wo er die diesseitige Provinz verläßt und wo er in die jenseitige
eintritt, ein Zeichen, daß damals noch das ganze Alpengebiet als römisches Aus-
land gerechnet wurde. Als letzten Punkt der italienischen Provinz nennt er
Ocelum, in der Gegend des heutigen Avigliana, westlich Turin. Die Lage dieses
Ortes ist typisch für die Art, wie die Römer damals vor Augustus die Alpen
behandelten: Mathematisch genau am Ende der Ebene erhebt sich hier barrikaden-
ähnlich der letzte Ort, dem die Ehre zuteil wird, zu Italien zu gehören; alles,
was jenseits in den Bergen liegt, ist dagegen quantite negligeable. Es ist dieselbe
lokale Taktik gegenüber dem Hochgebirge, die sich auch, als die Langobarden
endgültig in Italien den Rest der römischen Erbschaft angetreten hatten, in Gestalt
der bei ihnen so sehr beliebten Sperren wiederfindet.
Die eigentliche Chaussierung der Straße über den Mont Genevre, deren
militärische Wichtigkeit nunmehr im Verlaufe des gallischen Krieges immer
zwingender hervorgetreten war, ist dann aber auch erst während der großen
Epoche des Augustus erfolgt. Hier erhielt sich im eigentlichen Gebirgsland
unter eingeborenen Fürsten, Donnus und Kottius, die ebensogut ligurische Schaf-
räuber wie griechische Abenteurer gewesen sein können, bis zu Neros Zeiten
eine Art selbständiges Fürstentum. Die alten Herren haben historisch viel
Glück gehabt, weil jener Gebirgsteil heute noch unverblaßt ihren Namen führt.
Es ist dies wie eine Vorahnung auf das Geschick Savoyens; denn gerade dieser
Teil der Alpen ist befähigt, ein Gebilde zu tragen, das ebensogut ein elender
Pufferstaat sein, sich aber nicht minder auch zu einem lebenskräftigen, selb-
ständigen Keil zwischen dem Nord- und Südland auswachsen kann.
Nach dem Ausbau der Straße unter Augustus treten nun auch die in der
Scheffel, Verkehrsgescbichie der Alpen, I.Band. 6
g2 VI. Kapitel.
Folgezeit berühmt gewordenen Städte dieser Linie, Segusio=Susa und jenseits
Cularo=Grenoble an das Tageslicht, und auch nach der Straßenlegung über den
Kleinen Sankt Bernhard ist die Mont Genevre-Straße trotzdem bis zum Ende
der römischen Kaiserzeit hier stets gleich wichtig und belebt geblieben. Ein
äußerlicher Ausdruck hiervon ist es, daß schon in den frühesten Zeiten in Susa
und Grenoble Bischöfe erscheinen, wie ja auf dem Westflügel der Alpen, anders
als auf deren Ostflügel, die Straßenlinien seit Augustus bis zur Völkerwanderung
überhaupt keine Veränderung erfuhren. Und noch im elften Jahrhundert ver-
kündete auf der Höhe des Mont Genevre ein verlassener römischer Tempel,
daß über den Mons Matronae, wie die Römer später diesen Übergang zu nennen
pflegten, einst über vier Jahrhunderte lang die unbestrittene römische Staatsstraße
aus dem stillen Ligurien nach dem reichen Südgallien hinüberzog.
Die beiden nach dem Heiligen Bernhard genannten Straßen haben von
Italien her bis Aosta die gleiche Anlauflinie. Als Augustus diese beiden Straßen-
züge festlegte, hätte noch kein in Turin oder Mailand entwickelter Großhandel
dazu verleiten können, hier neue Bahnen zu schaffen. Der Grund ihres- Baues
war daher lediglich ein militärischer, und die Stelle, an der sich diese Straßen
an das schon vorhandene Straßennetz ansetzen mußten, konnte deshalb auch kein
anderer sein als jenes weitab von den Alpen am Mittellauf des Po gelegene
Zentrum der römischen Militärstraßen Norditaliens. Einst hatte dort die Republik
den Schlußstein ihres Straßensystems gelegt; die erste Kaiserzeit aber zog auf
diese Weise nichts anderes als die Konsequenz ihrer eigenen Taten, indem sie
das römische Straßensystem von seiner früheren Basis aus in einem weiten
Sprung nach dem Mittelpunkt ihrer neuen Erwerbung, nach Gallien, hinüber-
rückte. Nicht in Turin oder Mailand sondern in Placentia und Cremona liegt
also der eigentliche südliche Ausgangspunkt dieser beiden Gebirgsstraßen.
Das Hineintreiben des Straßenzuges in das eigentliche Gebirge geschah von
Ivrea aus, das, vordem in nichts weniger als fortschrittlicher Absicht angelegt,
hier bereits siebzig Jahre lang gleichfalls die Rolle einer der dann im ersten
Mittelalter so sehr beliebt gewordenen Straßensperren am Südabhang der Alpen
abgegeben hatte. Bis Aosta ist nun von hier aus auf dem ganzen Wege auch
heute noch mehr oder minder überall die Tätigkeit der Römer zu spüren, bei
Pont St. Martin und Verres (Vitricium), ebenso aber auch im Val Tournanche
und auf dem von diesem Tale aus ansteigenden Theodulspaß. Die geringen
Römerspuren nach dieser letzten Richtung hin gestatten vielleicht daran zu denken,
daß hier, ähnlich wie beim Sarntal nördlich Bozen, ein Tasten der Römer nach
einer kurzen südnördlichen Verbindung über das Gebirge stattgefunden haben
könnte,
Aosta selbst beherbergt heute noch die untrüglichsten Zeugnisse der alten
Römerzeit, und es ist daher einer der Straßenpunkte der Alpen, an dem wunderbar
klar zu erkennen ist, wie zielbewußt diese klassische Periode der Geschichte
Die Römerstraßen der Alpen. 33
der Alpenstraßen zu verfahren pflegte. Noch heute betritt hier die in der Rinne
der alten Römerstraße laufende Hauptstraße den Ort von Osten aus durch das
einst von Augustus gebaute Stadttor, um sich dann nach Passieren desselben
innerhalb des Stadtbodens in die Linien nach dem Kleinen und Großen Sankt
Bernhard auseinanderzuspalten.
Der gleiche Anlaufweg bis Aosta, mehr aber noch die gleichlautenden
Namen von heute, können nun wohl den Gedanken erwecken, als ob die beiden
Bernhard-Pässe in der Hauptsache auch die gleichen Eigenschaften besäßen.
Da diese beiden Pässe jedoch jenseits der Alpen nach zwei ganz verschiedenen
Richtungen auslaufen, haben sie daher auch stets nur zwei ganz verschiedenen
Verkehrszwecken dienen können. Der Große Sankt Bernhard weist in seiner
Verlängerung nach Paris, während der Kleine Sankt Bernhard direkt west-
lich in den Mittelpunkt des Stromgebietes der Rhone hinabführt. Es ist
deshalb auch ganz folgerichtig, wenn sich an dem Westabhang des Kleinen Sankt
Bernhard römische Altertümer von Bedeutung gerade erst bei Gresy sur Isere
finden, einfach an der direkten Linie nach Lugdunum, nicht aber schon bei
Albertville, wo eine erst viel später in das Leben getretene, nach Norden, nach
dem Genfer See, führende Abzweigung von der Hauptlinie abläuft.
Zur Römerzeit war Lugdunum die Hauptstadt Galliens, von Augustus auch
politisch hierzu erhoben. Hieraus folgt, daß für die Römerzeit zunächst die
Straße über die Alpis Graja, den Kleinen Sankt Bernhard, schon deshalb die
wichtigere von jenen beiden Straßen werden mußte, und da weiterhin gerade
Gallien während der ersten Jahrhunderte der Kaiserzeit — ähnlich wie Schlesien
im neunzehnten Jahrhundert für Preußen — für Rom den kostbarsten Besitz und
die wichtigste Provinz abgab, so mußte die Straße über den Kleinen Sankt
Bernhard sich überhaupt zur wichtigsten Alpenstraße der ganzen Kaiserzeit aus-
wachsen. Auch in der Baugeschichte hat dies seinen Ausdruck gefunden. Die
Straße über den Kleinen Sankt Bernhard, die wie keine andere in erster Linie
überall Fahr- und Heerstraße sein sollte, scheint das Meisterstück römischer
Straßenführung in den Alpen und von Augustus wie aus einem Gusse angelegt
worden zu sein. Schon Aosta betonte in seiner ersten Anlage — Hauptstraße
von Westen nach Osten — durchaus die Wichtigkeit der Linie über den Kleinen
Sankt Bernhard gegenüber derjenigen über den Großen Sankt Bernhard, ganz
besonders aber die Kühnheit und Festigkeit jener Straße selbst mit ihren zahl-
reichen monumentalen Brücken, Felsdurchschnitten und Unterbauten, und noch
heute ist die Paßhöhe hier durch eine antike hohe Säule bezeichnet. Aber
gerade dieser Straßenzug wartet heute noch, mehr als die anderen Römerstraßen
der Alpen, auf seine genaue Durchforschung, wie auch die Nachrichten über
seine tatsächliche Benutzung zu Römerzeiten nicht allzu häufig sind.
Die Straße über den Großen Sankt Bernhard hat unter der Gesamtheit der
Alpenstraßen die hervorragende Eigenschaft, daß sie in ihrem weiteren Verlaufe
6*
84 VI. Kapitel.
in der Richtung von Südost nacli Nordwest d. h. in der Diagonale den Alpen-
wall durchschneidet; theoretisch vereinigt sie also für die westliche Hälfte der
Alpen sowohl die Eigenschaften der das Gebirge in südnördlicher wie auch der
dasselbe in westöstlicher Richtung übersetzenden Linien. Ein ähnlicher Fall läßt
sich in dem Alpengebiet auch noch in dessen östlicher Hälfte, und zwar in der
aus Venetien über Pontebba nach Kärnten führenden Straße, freilich hier nicht
in solch' ausgesprochenem Maße, feststellen. Diese Tatsache der diagonalen
Richtung ist nun der^ erste Grund dafür gewesen, daß die Straße über den
Großen Sankt Bernhard bei allem politischen und wirtschaftlichen Wechsel der
Zeiten — nur mit Ausnahme der Jetztzeit — stets ihre hervorragende Wichtigkeit
behalten hat. Der Nachteil dieser Linie liegt dagegen einzig und allein in der
Höhe des Paßweges (2472 m), die es bis jetzt noch immer nicht erlaubt hat,
etwas anderes als einen schmalen Saumpfad fünf Stunden lang über den Kamm
zu führen. So hat der Große Sankt Bernhard immer mehr für den Einzelverkehr
von Reisenden und besonders für den Handel, weniger jedoch für kriegerische
Bewegungen Bedeutung gehabt, wenn ihn auch zu allen Zeiten ganze Heere
überschritten haben.
Die Funde am Wege, griechische und gallische Münzen, berechtigen in
nichts, für die ältesten Zeiten einen regen Völkerverkehr, sondern nur Lokal-
verkehr über ihn anzunehmen, und auch Cäsar erwähnt nur die Benutzung des
Passes durch die Kauileute. Aber auch hier griff die römische Bautätigkeit
energisch ein, und mehr als anderswo im Gebirge sind jetzt noch hier entlang
des Weges die greifbaren Reste derselben vorhanden. Jener alte Weg, der
nördlich und südlich so hoch es anging als Fahrstraße gebaut wurde, hat einen
ganz anderen, viel höheren Lauf als die jetzige Straße; großes Plattenpflaster
bedeckt den wenig breiten aber dauerhaften Straßenkörper, der noch heute wegen
seiner Trockenheit gerühmt wird. Römerreste finden sich am Südhang in Gignod
und nördlich in Bourg St. Pierre, Martigny (Octodurus) und St. Maurice (Agaunum),
die mannigfachsten, die einen wunderbaren Einblick in das Verkehrsleben jener
alten Zeit bieten, jedoch auf der Paßhöhe selbst. Hier, wo sich schon vorher
ein altes Heiligtum der Kelten befunden haben soll, stand neben der römischen
Militärstation oben auf dem Mons Jovis ein dem Juppiter Poeninus geweihter
Tempel. Wenn man bedenkt, mit welch' unsäglicher Mühe die späteren Zeiten
auf den Paßhöhen der Alpen elende, zu Hospizen dienende Gebäude fertig
brachten, so kann allerdings die Errichtung dieses sakralen Gebäudes hier auf
dieser gewaltigen Bergeshöhe als ein Markstein der alten Kultur und ein Sinn-
bild für die Größe des Römertums gelten, das auch die Alpen sich völlig Unter-
tan gemacht hatte.
Dagegen hat die andere große Alpenstraße, die von Italien aus in das Wallis
ausmündet, der Simplon, zu Römerzeiten eine ganz geringe Bedeutung gehabt.
Daß dieser als Saumpfad wie alle anderen guten Übergangswege seit Menschen-
Die Römerstraßen der Alpen. S5
gedenken benutzt worden sein mag, ist natürlich; aber selbst die zahlreichen
Funde von Römermünzen in Gondo südlich des Passes und die Tatsache, daß
in Sion das alte Schloß Valeria aus einem römischen Kastell hervorgegangen ist,
auch selbst das auffallende Vorkommnis, daß in Vogogna südlich Domo d'Ossola
eine in den Felsen gehauene Inschrift von einem römischen Wegebau meldet,
alles dieses kann doch nicht den Beweis erbringen, daß bei der grundlegenden
Organisation des alpinen Straßenwesens unter Augustus und Klaudius, oder als
dann um die Wende des zweiten Jahrhunderts von neuem die Straßenbautätigkeit
in den Alpen begann, über den Simplon eine regelrechte nach Martigny aus-
laufende Straße gebaut worden sei. Dazu fehlen zu sehr die hierfür unbedingt
nötigen weiteren Römerfunde nördlich Gondo und besonders solche am nördlichen
Abhang in Oberwallis, ebenso auch selbst die geringsten Anklänge an das Römer-
tum gerade abwärts Brieg; auch die Itinerarien schweigen sich hier aus. Wir
werden uns daher zur Römerzeit das der Urschweiz benachbarte Oberwallis nur
ganz dünn bevölkert vorstellen können. Dies schließt jedoch nicht aus, daß sich
hier südlich des Hauptkammes im Tal des Toce in der Kaiserzeit ein reges
Leben entfaltet hat. Zur Entwickelung des Simplon als Hauptstraße fehlte jedoch
damals zunächst die erste Voraussetzung, nämlich die, daß Mailand hier bei
Beginn der Römerherrschaft schon eine Großstadt im Sinne des Altertums
gewesen wäre.
Der Umstand, daß zu Römerzeiten eben nur eine Straße, die über den
Großen Sankt Bernhard, nach dem Gebiet, das heute die westliche Hälfte der
Schweizer Republik ausmacht, herüberführte, hat nun auch die kulturelle Gestaltung
dieses Gebietes bestimmt. Zum großen Verwaltungsbezirke Gallien gehörig
blieb Helvetien bis zur Mitte des dritten Jahrhunderts n. Ch. stets ein unwichtiges
Durchzugsland, und besonders war es nichts anderes als ein solches, nachdem
ihm am Ende des ersten Jahrhunderts die große Garnison von Vindonissa
genommen worden war. Wir müssen annehmen, daß mit Ausnahme des nörd-
lichen Ufergebietes des Genfer Sees und des Südlandes des Bodensees am
anderen Ende, Bevölkerungszahl und Wohlstand im römischen Altertum hier
nicht sehr stark entwickelt waren, geringer jedenfalls als in den westlich
benachbarten Landschaften. Hatte schon Cäsar hier der eingeborenen Volkskraft
einen Stoß versetzt, so erreichte das Land jedoch ein Jahrhundert später ein
noch härteres Schicksal, als der Legat Cäcina hier an den Helvetiern, als diese
mit der Anerkennung des Vitellius Schwierigkeiten machten, mit der neu ent-
fesselten Leidenschaftlichkeit des Bürgerkrieges ein Exempel statuierte. Damals
geschah auch die furchtbare Zerstörung der alten Hauptstadt Helvetiens, von
Aventicum. Zwar scheint dann Vespasian versucht zu haben, wieder gut zu
machen, was das Land um seinetwillen ausgestanden hatte, indem er Aventicum
als Veteranenkolonie wiederherstellte, aber der Norden der Schweiz blieb doch
weiterhin nichts als Grenzprovinz, nur besetzt von lauten Garnisonorten, deren
86 VI. Kapitel.
Ruinen heute noch in Windisch und Äugst vorhanden sind, aber ohne daß aus
diesen größere bürgerliche Niederlassungen erwachsen wären.
Und östlich und südlich dieser Ebene begann, unbetreten von den Römern,
das damals einsame, stille Gebiet der heutigen Hochschweiz. Nirgends in den
ganzen Alpen finden wir es wieder, daß in einer solchen Ausdehnung wie hier
römische Ortsnamen fehlen; auch die Römerfunde brechen am Fuße der Berge,
bei Luzern und Almendingen bei Thun ganz ab. Aber auch schon vorher mag
es die Art der eingeborenen keltischen Helvetier nicht hergegeben haben, in
dieses Hochgebirge dauernd aufzurücken, so daß wir uns diese Gebiete im Alter-
tum schlechterdings als verlassen und volksleer vorstellen müssen. Schon diese
lokalen Verhältnisse lieferten mit den Grund, weshalb sich zu Römerzeiten gerade
in der Mitte der Alpen, die seit Beginn des Mittelalters nach allen Richtungen
hin von immer lebhafter werdenden Straßenzügen durchquert worden ist, keine
Nord -Süd- Verbindung vorfindet, wenn auch, sobald wir in das eigentliche
Kammgebiet des Gotthard heraufrücken, die alte Zeit hier wenigstens durch
einen matten Schimmer erhellt wird. Wir hatten gesehen, daß die römische
Provinzialeinteilung, die das Wallis zu der Provinz Rätien schlug, die Annahme
eines Nebenverkehrs in der Längsrichtung über die Furka hinüber zur Voraus-
setzung hat, und tatsächlich erscheinen auch — ein Beweis für die Bewohntheit
jener Gegend im Altertum — plötzlich zahlreiche Ortsnamen alträtischen Stam-
mes, sobald wir das Gebiet östlich des Oberalppasses betreten. Auch das Dasein
einer alten Inschrift bei Altanca, am Südeingange des Lukmanier, macht die An-
nahme der Benutzung desselben, freilich als reinen Nebenpasses, im Altertum
wahrscheinlich. Zur richtigen Veranschaulichung des damaligen Zustandes dieser
Gebiete verhilft auch hier besonders die Tatsache, daß Mediolanum selbst in den
ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit noch nicht die große Zentrale gewesen ist,
zu der es sich dann am Ende des Römerreichs entwickeln sollte, und so blieben
auch alle Gebirgstäler nördlich dieser Stadt ein stilles, zu ihrem Stadtgebiete
gehöriges Nebenland, in dem kein wichtiger Straßenort entstehen konnte, wenn
auch die Tradition noch nördlich nach Giornico im Livinental einen römischen
Tempel zu setzen weiß.
Die Straßen durch Rätien.
Im Gegensatz zu den Straßen der heutigen Hochschweiz ist eine große
Anzahl der durch Rätien führenden Alpenstraßen schon vollständig von den
Römern in Gebrauch genommen worden. Das römische Rätien vereinigte in
sich die heutigen Länder Graubünden und Tirol, und es lassen sich daher auch
die alten römischen Alpenstraßen durch Rätien am besten in eine westliche, bünd-
ner, und in eine östliche, tiroler Hälfte trennen. Was nun zunächst die durch
Graubünden ziehenden römischen Alpenstraßen betrifft, so konnten diese freilich
nicht in dem Maße wie diejenigen über die Westalpen für die Römer Wichtig-
Die Römerstraßen der Alpen. 87
keit erlangen, da sie nicht in ein großes, dem Römertume neu erschlossenes Land
wie Gallien, sondern nur nach einer schmalen Randprovinz hinüberführten und
dem Verkehr nach Vindelicien außerdem noch die östlichen rätischen Straßen,
die über das Reschenscheideck und den Brenner, zur Verfügung standen. Die
politische Lage brachte es ferner mit sich, daß die bündner Pässe wenigstens
während der ersten römischen Jahrhunderte kaum irgendwelchem militärischen
Verkehr, sondern nur dem Reise- und geringem Handelsverkehr zu dienen hatten.
Alle durch Graubünden führenden Alpenstraßen sind — ein im Alpengebirge
nirgends sonst so scharf ausgeprägtes Bild — dem zwingenden Schicksal unter-
worfen, daß sie vor ihrem Austritt in die oberitalienische Ebene sämtlich auf
meilenweite Entfernung, und zwar mindestens von der Nordspitze des Komer-
Sees bis Bellagio die enge Rinne dieses Sees durchlaufen müssen, ohne daß das
Gebirge irgendwo zu Lande ein Ausbiegen gestattet. Auf den Handels- und
Völkerverkehr ist dieser ausgesprochene Nachteil in der Bewegungsfreiheit zwar
weniger von Einfluß gewesen, wohl aber auf die kriegerischen Operationen, die
sich in südlicher Richtung aus diesem engen Tal herauswinden mußten, wenn
wir auch zunächst kein Beispiel zur Verfügung haben, daß ein derartiger Fall
bereits während des Altertums einmal eingetreten wäre.
Daraus, daß einerseits die nordwestlich und nördlich von Mailand gelegenen
Gebiete im Altertum nicht das Vorland eines belebten Gebirgsüberganges waren,
andererseits aber die Bündner- Pässe während der Römerzeit als solche Über-
gänge dienten, folgt nun auch, daß wir in dem Gebiete nordöstlich Mailands,
das südlich dieser Bündner Pässe liegt, ein solches Vorland finden müssen. Der
Hauptort jenes Vorlandes aber und damit zugleich der Sammelpunkt für alle
durch Bünden südlich herabführenden Alpenstraßen war ebenso im Altertum wie
heute stets Comum, und nichts anderes meint auch Kassiodor, zu den Zeiten
Theodorichs des Großen, wenn er sagt, daß dort viele Straßen zusammenlaufen.
Schon in republikanischer Zeit wurde der Zuverlässigkeit dieses Ortes von der
römischen Regierung durch Ansiedelung frischer Kolonisten immer wieder neu
aufgeholfen. Ist dies einesteils ein Anzeichen, daß die bündner Pässe selbst
auch schon vor der römischen Eroberung dem Verkehr offen gestanden haben,
so beweist dies ferner, welch' ein kräftiger und unbequemer Nachbar hier das
das nördliche rätische Volkstum gewesen sein muß, bis es schließlich von Augu-
stus gründlich unterjocht wurde. Auch heute macht Como im Vergleich zu
den anderen Städten Oberitaliens einen ganz ausnehmend südländischen Ein-
druck, und so liegt die Vermutung nahe, daß diese Erscheinung noch aus dem
Altertum fortwirkt, in dem sich gerade hier zahlreiches südliches, selbst griechi-
sches Volkstum anbauen mußte. Wir wissen außerdem durch das Zeugnis des
Plinius, wie stark bewohnt und wohlbekannt die Gegenden um den südlichen
Komer-See, bei Comum und Liciniforum (Incino), während der römischen Kaiser-
zeit gewesen sind.
88 VI. Kapitel.
Den Verkehr nach den Paßhöhen trug dann der See nördlich bis Summo-
laco (Seespitz), das die Anschwemmungen der Mera jetzt zur Landstadt gemacht
haben, herauf, um dann Clavenna (Chiavenna), den Gabelpunkt der Straßen nach
dem Splügen und der Porta Bergallia zu erreichen. Chiavenna selbst aber ist
ein Platz, dem seine Lage stets die gleiche Bestimmung vorgeschrieben hat. Un-
wandelbar ist es derselbe wichtige Straßenpunkt geblieben, wenn auch anderer-
seits die lokalen Verhältnisse im Talboden selbst der Stadt stets daran hinderlich
gewesen sind, sich zu wirklicher Bedeutung auszudehnen. Der Umfang und die
Menschenzahl des Ortes ist auch heute noch die gleiche wie während der Zeit
des Altertums und Mittelalters, und hieraus erklärt es sich auch, daß wir hier
nur vergebens nach aufklärenden Römerresten suchen, da diese unter den Wohn-
stätten der folgenden Zeiten begraben liegen.
Ziehen wir von Chiavenna aus nach Norden eine gerade Linie, so teilt diese
das ganze Alpengebiet fast genau in zwei gleich große Teile. Der Straßenzug
aber, den wir nun fast genau im Laufe dieser Linie vorfinden, ist der Splügen, eine
Alpenstraße, die sich durch die ihr anhaftenden Eigenschaften von allen übrigen Alpen-
übergängen unterscheidet und somit als besonders interessant erscheinen muß. Keine
Paßstraße in dem ganzen Alpengebiet liefert aus der Vogelschau betrachtet eine
solch' direkte, für den Verkehr wie geschaffene, aus der Mitte Oberitaliens nach
der Mitte Süddeutschlands hinüberführende Rinne, und wenig anders wie eine
gerade Linie zieht auch auf der Karte die Straße, die Bellagio mit Bregenz ver-
bindet, dahin, ohne dabei den Alpenkamm mehr als einmal, d. h. auf dem Splügen-
Passe selbst, zu übersetzen. Wer aber auf dieser kurzen Linie nun auch bequem
zu reisen gedenkt, wird sich auf dem Splügenberge selbst bitter enttäuscht
sehen. Keine andere Alpenstraße ist wie die Splügenstraße theoretisch so günstig
für den Verkehr gelegen, für die Praxis aber wegen der lokalen Verhältnisse auf
dem Gebirgsübergange selbst so schwierig und unregelmäßig zu benutzen. Die
Splügenstraße ist somit in Wirklichkeit ein Blender. Der Grund hierfür liegt
jedoch nicht in der Höhe des Passes (2117 m); denn trotz seiner größeren Höhe
ist der Sankt Bernhard zu allen Zeiten benutzt worden und über den 200 m
höheren Bernina ist heute der Lokalverkehr viel reger als über den Splügen.
Der Grund liegt auch nicht in den Schwierigkeiten der Via mala; denn der
Kuntersweg am Brenner gibt an Enge und vor allem an Ausdehnung der Via
mala nichts nach. Dasjenige, was den Weg über den Splügen immer in seiner
Benutzbarkeit heruntergesetzt hat und auch heute noch ebenso einschneidend ist
wie vor zweitausend Jahren, sind allein die lokalen Verhältnisse am Südabhange
dieses Passes. Schon bei Chiavenna wirkt die Enge und Feuchtigkeit des Tales,
die Versumpfung und geringe Festigkeit des Bodens ungünstig auf die Etablierung
dauernder Niederlassungen zur Sicherung des Südausganges ein. Weiterhin steigt
aber nicht nur von Campodolcino bis zur Paßhöhe in einer Luftlinie von 8 km
der Gebirgswall plötzlich auf etwa 1000 m an, sondern der Hauptteil dieser
Die Römerstraßen der Alpen. §9
Steigung drängt sich noch dazu auf der kurzen Strecke zwischen dem Dorf Isola
und der heutigen zweiten Kantoniere so arg zusammen und setzt diesen Strich
deshalb derartig unheilbar allen Witterungsverhältnissen, vor allem den Lawinen
aus, daß bislang noch kein Zeitalter hier eine genügend dauerhafte Straßenanlage
schaffen konnte. Der sprechende .■\usdruck, auf wie mannigfache Art man diese
Schwierigkeit zu bemeistern suchte, ist es, daß man heute gerade hier im Val
Giacomo vier bis fünf aus verschiedenen Zeitaltern herrührende Zugangslinien
nach der Paßhöhe findet.
Trotzdem hat aber der in die Augen springende Vorteil äußerster Ziel-
gerechtigkeit, den gerade die Existenz einer guten Splügenstraße bietet, immer
wieder zu dem Versuch geführt, den Saumpfad hier in eine Heerstraße zu ver-
wandeln; und es ist kein Zufall, daß dies gerade in den Perioden hochgespannter
Straßenbautätigkeit in den Alpen und besonders in solchen Zeiten, als die mili-
tärische Bedeutung dieser Gebirgsstraßen in den Vordergrund trat, beobachtet
werden kann. So paßt es zunächst auch ganz zu dem, wie wir auch sonst die
Römer kennen gelernt haben, daß wir über den Splügen eine Römerstraße gelegt
finden. Bei den Bündner Pässen ergeben die Itinerarien zweifellos eine regel-
rechte Route über den Splügen und eine zweite, bei der nur eine solche über
den Julier gemeint sein kann. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß die
über den Julier der Zeit nach früher entstand, während über den Zeitpunkt der
Anlage der Splügenstraße sich bislang keine Gewißheit hat gewinnen lassen, um
so mehr als hier wie ebenso auf allen anderen Römerstraßen Bündens römische
Meilensteine fehlen, in gleicher Weise aber auch entlang der Splügenstraße keine
vorgeschichtlichen Funde und auch Funde römischer Münzen nur in ganz geringer
Zahl gemacht worden sind. Allerdings sind auf dem Splügen auch bis heute
noch am meisten in den ganzen Alpen lokale Forschungen und Grabungen gänzlich
ausgeblieben, trotzdem diese doch durchaus nicht aussichtslos erscheinen, wenn
wir berücksichtigen, daß wir gerade auf der Splügenhöhe die Stelle einer alten
Römerstation tatsächlich ganz sicher wiederfinden können, weil in den römischen
Itinerarien eine solche mit dem Namen cuneus aureus benannt wird und auch
wirklich eine Stelle an der Paßhöhe, beim Bergwirtshaus Cardinell lange Zeit
noch bei den Anwohnern cuneo d'oro hieß '■'^).
Die auf der eigentlichen Splügenlinie genannten Römerstationen sind nächst
Clavenna: Tarvessede, jenes Cuneus aureus, Lapidaria und Chur. Wenn das
heutige Madesimo das alte Tarvessede — d. h. die Stelle, wo man die Tiere vor
den Wagen spannen darf'**) — ist, so paßt dies jedenfalls sehr gut zu den lokalen
Verhältnissen; denn von hier aus beginnt in südlicher Richtung tatsächlich die
bequeme Fahrbahn, von wo an in den damaligen Zeiten das Fahren möglich
wurde. Schon von Madesimo aus nördlich ist die Römerstraße höher als die
späteren Linien gelaufen, und auf dem Nordabhang von Sufers bis Rhazüns tritt
sie dann in jene bekannte Höhenführung ein, die den Flußlauf, der sonst die
90 VI. Kapitel.
Leitlinie einer Hochgebirgsstraße zu bilden pflegt, vollständig ignoriert und sich
selbständig über die Höhen, zuletzt über den Heinzenberg nach dem Vorder-
rheintal den Weg schuf. Auf dieser Strecke sind bei Urmein und Portein Römer-
münzen gefunden worden, und wird in Seissa die Station Lapidaria gesucht.
Eine Staatsstraße ersten Ranges, auf der sich langandauernder Verkehr aller
Art bewegt hat, mag diese Römerstraße jedoch überhaupt niemals gewesen sein;
für diese Annahme spricht die geringe Sorgfalt des Baues, mehr aber noch der
Umstand, daß sich in der Umgebung der Splügenstraße nirgends Ortsnamen von
ausgesprochen lateinischer Sprachbildung finden lassen, die somit eine stärkere
römische Besiedelung bekunden könnten. Wenn man aber lediglich in Erwägung
zieht, daß eben durch den Bau einer Straße über den Splügen auch damals eine
militärische Verbindungslinie, wie sie kürzer und zielgerechter anderswo nicht
zu erreichen war, zwischen Mailand und dem Bodensee, also zwischen der mili-
tärischen Zentrale Oberitaliens in der späteren Kaiserzeit und der alten Augustei-
schen Rheinfront geschaffen wurde, wird der Schluß gerechtfertigt sein, daß auch
die Römer bei diesem Straßenbau keinen anderen Zweck im Auge hatten, als
den Saumweg in eine für Militärtransporte praktikable Bahn zu verwandeln. Der
Ausbau der Splügenstraße wird daher in die erste Hälfte des dritten Jahrhunderts
nach Ch. zu setzen sein, als damals gegenüber den andringenden Alemannen die
römischen Streitkräfte südlich des Oberrheins und des Bodensees aus dem Nord-
ausgang der rätischen Übergangslinien herausdeployieren mußten.
Vor den beiden anderen bündner Pässen, die für die Römerzeit in Frage
kommen, liegt als südliches Eintrittsland das heutige Val Bregaglia oder das
Bergeil, die zum Gebiet von Comum gehörige und von Clavenna nach dem
Maloja sich hinziehende Bregallia der Römer. Auch im römischen Altertum war
dieses Gebiet in ethnographischer Hinsicht nicht südlicher sondern alpiner Boden,
insofern dessen Bewohner, die Bergalli, zu den Rätern und nicht zu den Kelten
gehört haben müssen. Diese Zugehörigkeit ergibt sich aus den rätisch klingenden
Ortsnamen im Bergeil (Plurs bei Chiavenna, Vicosoprano=Vespran, Cassacia=
Cassätsch), nicht minder aber auch daraus, daß sich gerade hier reformierte
Gemeinden italienischer Zunge finden. Wahrscheinlich saßen jene Bergalli auch
noch weiter östlich nach dem Bernina zu, wenigstens heißt noch heute eine Alpe
am Bernina-Paß Bregaglia. Es ist nicht unwichtig, daß die Römer gerade dieses
Stück Bergland trotz seines anders gearteten Volkstumes bei ihrer politischen
Einteilung von Anfang an zu Italien und nicht zu Rätien schlugen, allein deshalb,
weil sie mit ihm den Schlüssel zu den nördlich herüberführenden Pässen in
erster Hand in Besitz behielten. Da, wo heute das Schloß Castelmur steht und
noch der Ort Porta die Erinnerung hieran bewahrt, öffnete sich zur Römerzeit
die Porta Bregalliae, der eigentliche Eingang zum Südland. Sobald in Nord-
italien eine kräftige staatsbildende Macht herrscht, wird diese auch stets sich
gerade des Besitzes von jenem Gebiet zu versichern suchen müssen, und so hat
Die Römerstraßen der Alpen. gi
das heutige Königreich Italien daher auch keinem anderen als dem scharf-
blickenden und durchgreifenden Napoleon I. den Besitz des Bergeil zu verdanken.
Noch heute stehen auf dem Julier die zwei alten Römersäulen, ein volks-
tümliches Zeichen, daß einst der Weg über diesen Paß als Römerstraße diente.
Besser freilich als durch jene Steine wird diese Tatsache durch die Münzfunde
entlang der Julierstraße bewiesen, die von Augustus bis Konstantius (f 361 n. Ch.)
reichen. Wenn man diese reiche Ausbeute hier aber weiterhin dem spärlichen
Vorkommen solcher Funde an der Splügen- und an der Septimer-Straße gegen-
überstellt, so muß uns der Julier ohne weiteres als der eigentlich bevorzugte
Römerweg unter den bündner Pässen erscheinen, der die ganze Kaiserzeit hin-
durch unausgesetzt die Hauptstraße für den durch dieses Land ziehenden Verkehr
gewesen ist. Nicht bloß vor dem Septimer wurde ihm der Vorzug gegeben, wie
wir oben gesehen haben, sondern ebenso auch vor dem Splügen; denn obgleich
der Weg von Chiavenna nach Chur über den Julier reichlich um ein Fünftel
länger ist als derjenige über den Splügen, auch die Paßhöhe des Julier selbst
höher als die des Splügen ist, und die Reise über jenen Paß noch dazu den An-
und Abstieg über den Maloja und durch das Oberhalbstein erforderlich macht,
blieb die Straße über den Julier trotzdem der ausgesprochene Römerweg des
westlichen Rätiens wegen der Zuverlässigkeit ihrer Benutzung, da sie vor Lawinen
ganz geschützt ist und auffallend lange schneefrei bleibt. Es ist daher auch nicht
recht einleuchtend, den Namen dieses Passes von dem keltischen Gotte Jul ab-
zuleiten und so hier mitten in alträtisches Gebiet keltische Spuren zu pflanzen.
Trotzdem würde dann aber noch zu entscheiden sein, ob dieser Namensklang
besser in jener bekannten spezifisch rätischen Familie von Ortsnamen^) oder in
denjenigen alpinen Ortsnamen, die von den römischen Juliern herrühren, unter-
zubringen ist'^).
Die archäologischen Funde entlang der eigentlichen Paßlinie des Julier
geben eine willkommene Ergänzung zu den Itinerarien, die uns hier lediglich
durch die Nennung des Namens Tinnetio=Tinzen die sichere Kunde davon
übermitteln, daß hier eben nur eine Römerstraße gegangen sein kann, deren
Lauf daher ohne jene Münzfunde zunächst ebensogut über den Septimer wie
über den Julier möglich gewesen wäre. Ja, es ist noch ein anderer Umstand
vorhanden, der hier bei der Rekonstruktion dieser alten Römerlinien zur Vorsicht
mahnen könnte. Denn da, wo sich am Nordabhang dieser beiden Pässe die
Straße mit dem einen Zweig nach dem Julier, mit dem anderen aber nach dem
Septimer gabelt, liegt der Ort Bivio (Bivium), unzweifelhaft ein römischer Name,
der das alte Straßenbild insofern wiederspiegelt, als von diesem Orte aus einst
zwei Straßen nach Süden abgegangen seirt müssen. Würden jedoch die Itinerarien
nicht gebieterisch nur eine Straße hier zulassen, wären Römerreste nicht lediglich
auf dem Julier zu finden, während solche auf dem Septimer ganz fehlen, und
wäre nicht auch sonst erst der mittelalterliche Ursprung des Septimers als
92 VI. Kapitel.
wirklicher bedeutender Verkehrsstraße wissenschaftlich nachgewiesen^), so würde
also um dieser einen Tatsache willen der Septimer mit dem Julier als Römer-
straße in Konkurrenz treten können. Eine Erklärung zu diesem allen läßt sich
jedoch schließlich in der Annahme finden, daß man die Existenz des Septimer-
wegs freilich nur als untergeordneter Verbindung auch schon zu Römerzeiten
zugibt. Man ist dann auch nicht genötigt, den Ursprung des zweifellos gut
römisch klingenden Namens des Septimers selbst irgendwo anders herzuholen,
zumal da dieser Name sich wie von selbst in die vielen anderen auf Zahlen-
bezeichnungen zurückgehenden römischen Namen einreihen läßt, die gerade in
den Alpen so häufig vorkommen und ihre ganz natürliche Erklärung darin finden,
daß in einem Durchzugsland, wie es die Alpen für die römische Verwaltung stets
in erster Linie geblieben sind, die Entfernungsbezeichnungen so besonders wichtig
waren. Wahrscheinlich hat dieser siebente Meilenstein, an dem der nach dem-
selben bezeichnete Nebenweg nördlich von der Hauptstraße abging, bei Casaccia
gestanden 2').
Wahrscheinlich ist, daß die Julierstraße dann, um weiter nördlich nach Chur
zu gelangen, von Tiefenkasten den Weg über die Lenzer Haide einschlug; schon
die Namen Tiefenkasten und besonders Straßberg (bei Churwalden) deuten heute
noch auf diesen alten Straßenzug. Chur selbst aber bewahrt schon in seinem
Namen nicht bloß die Erinnerung an seine Römergründung, sondern noch dazu,
daß es zeitenweise Hauptquartier der römischen Imperatoren gewesen sein muß.
Als Römerort entstand es zugleich mit der Besitznahme des Landes durch dieses
Volk, und es blieb unausgesetzt der Sitz der Präsides dieses innerrätischen
Regierungsbezirkes, deren eigentlicher Wohnort das Kastell, der heutige Bischofs-
hof, war. Wenn irgendwo in den Bergen, so kann an dieser Stelle selbst die
strengste Kritik der Phantasie gestatten, sich hier dem römischen Altertum nahe
zu glauben. Noch heute hat das Churer-Kastell, zu dem auch damals schon als
Krongut die Alpen im Schanfigg gehörten, in seinem Grundriß und alten Türmen
viel Altrömisches bewahrt. Chur selbst aber ist sich in seiner Größe und
Bedeutung alle Jahrhunderte hindurch fast ganz gleich geblieben, und während
des Altertums mag es hier nur zu der Zeit der Alemannenkriege besonders
lebhaft zugegangen sein. Vieles andere, und nicht zum Mindesten die Tatsache,
daß die Mehrzahl der auf dem Julier gefundenen Münzen aus dem dritten Jahr-
hundert n. Ch. stammt, weist darauf hin, daß die bündner Pässe gerade damals
für den römischen Verkehr besonders wichtig gewesen sein müssen.
Von Chur nördlich laufen nun alle Straßen, vom Lukmanier bis zur Albula
zu einem Strang vereinigt, in gestreckter Rinne zum Bodensee herab. Sicher
ist, daß der römische Hauptstraßenzug hier auf dem rechten Rheinufer lief; denn
an diesem Ufer finden sich nicht nur die auf die alten Straßen hinweisenden
Ortsnamen Altenstadt bei Rankweil und weiter nördlich Straß und Götzis^ä),
sondern auch die alten Stationen der Itinerarien selbst, Maggia und Clunia,
Die Römerstraßen der Alpen. 93
schauen hier noch in Ruinen hervor. In Schaan, dem alten Maggia, auf der
Mitte des Weges zwischen Chur und Bregenz, wo das breite Rheintal sich nach
Süden zu zur Talstraße verengt, ist die viereckige Befestigung mit ihren zwölf
Fuß dicken Mauern und den acht Türmen bloßgeigt worden, während die Station
Clunia in Brederis bei Rankweil, wo gleichfalls eine römische Niederlassung
ausgegraben wurde, gesucht wird. Es ist aber auch wahrscheinlich, daß von
Ragatz aus, wo die von Süden kommende Verbindung über den Walensee nach
Turicum (Zürich) und Vindonissa westlich abzweigte, schon zur Römerzeit auch
noch eine zweite Straße nach dem Bodensee am westlichen Rheinufer entlang
bestanden hat. Jedenfalls deuten die auch auf dieser Rheinseite sich findenden
Ortsnamen wie Altenhof bei Buchs, Sax, Lienz, Oberried, Monthgen (ursprünglich
Montiggl) und Altstädten auf römische Bewohnung hin, während derartig geformte
Namen südlich Ragatz in der Calanda ganz fehlen. Am Bodensee selbst war
naturgemäß das dem Austritte dieser von Süden kommenden Verbindungen dicht
vorliegende Gestade von Brigantium, der bevorzugte Punkt römischer Ansiedelung.
Der ursprüngliche Sitz römischer Befestigung in Bregenz war die dortige Ober-
stadt, und das Ortsbild ähnelt hier derart demjenigen am Churer Kastell, daß
man fast annehmen könnte, die Festsetzung wäre an beiden Orten von ein und
demselben Befehlshaber angeordnet worden. Die bürgerliche Niederlassung der
Römer in Brigantium stieg dagegen später nach dem Ölrain auf der Rhein-
ebene hinab.
Wenn wir von der Nordsüdlinie Comum, Paßhöhe des Julier und Bregenz
aus weiter nach Osten gehen, betreten wir ein Gebiet, über das alle römische
Verkehrsgeschichte schweigt. Es ist dies das südlich von den Bergamasker-
Alpen, Adamello und Brenta, nördlich von den Allgäuer und Lechtaler Alpen
begrenzte, und östlich bis zu der oberen Etsch und dem Innlauf zwischen Finster-
münz und Landeck sich erstreckende, einem Viereck gleichende Gebirgsstück,
das, abgesehen von der problematischen Linie über den Arlberg, während der
Römerzeit kein Straßenzug, auch kein solcher zweiter Ordnung, durchzogen haben
kann. Hier befinden wir uns recht eigentlich inmitten des geschlossenen Kernes
des rätischen Volkes. In dieser Gegend hat das Volk der Räter, wohl der römi-
schen Herrschaft unterworfen und mit ihrer Sprache überzogen, aber sonst wenig
von äußeren Einflüssen berührt, am ungestörtesten das Altertum durchdauert;
denn weder durchgehende Verkehrsbeziehungen noch wirtschaftliche Reizmittel
konnten hier die Herren des Gebirges dazu verlocken, jene hohen, eintönigen
Gebiete zu erschließen. Von allen den Straßenlinien, die seit dem Mittelalter
der Reihe nach sich aus diesen Gebirgszügen herausgehoben haben, die über
den Tonal, über das Wormser Joch, über die Albula, Flüela und über den
Ofen -Paß, finden wir zur Römerzeit nicht die geringsten Andeutungen, und nur
bis an den südlichen Rand dieses Gebietes ist von Mediolanum aus, analog wie
nach Nordwesten in das Tal des Toce, auch hier nach Nordosten hin, in die
94 VI. Kapitel.
Bergamasker Alpen und in das Veltlin, römisches Wesen eingedrungen. Wir
wissen dies aus den Römerresten von Cividate, Rogno und Clusone im Berga-
masi<er Gebiet, besser aber noch aus dem heutigen Völkerbild, das gerade auf
dieser Strecke des südlichen Abhanges der Alpen ganz echtes Italienertum zeigt.
Nur der in dem nördlichen Teile dieses Gebietes gelegene Übergang über den
Arlberg erfordert auch für die Römerzeit eine Klarstellung seines Wesens. Die
Arlberglinie wurzelt in ihren südlichen Zugängen in der den Paß des Reschen-
scheideck übersetzenden Straße, und diese wieder in dem südlichen Teile der
Brennerlinie, so daß wir hiermit auch schon für die Römerzeit in das große
System der Straßen des östlichen Rätiens eintreten. Die Straße über das Reschen-
scheideck läuft von Süd nach Nord zunächst im Tal der Etsch bis Meran stets
im Gleise von nach dem Brennerübergang zuführenden Linien, und erst von
Teriolis aus macht sie sich selbständig, um weiter durch das Vintschgau die Etsch
bis zur Quelle aufwärts, und dann das Inntal hinab nach Landeck zu gelangen,
um hier sich zu überlegen, welche Fortsetzung sie nun sich am besten zu
wählen habe.
Daß durch das Vintschgau eine schon in der ersten römischen Kaiserzeit
angelegte regelrechte Staatsstraße geführt hat, bezeugt ein Meilenstein, der im
Vintschgau bei Rabland gefunden wurde und zu dem weiterhin als Seitenstück
noch ein zweiter bei Feltre gefundener Meilenstein mit gleicher Inschrift tritt.
Der Wortlaut dieser Steine (corpus inscriptionum latinarum V Nr. 8002 und 3)
ist klar und deutlich: „Der Kaiser Klaudius hat die via Claudia Augusta, die sein
Vater Drusus schon gelegentlich der von ihm ausgeführten Eroberung der Alpen-
länder gebahnt hatte, ausgebaut vom Po aus (so steht auf der Rablander Meilen-
säule, während auf der von Feltre „von Altinum aus" steht) bis nach der Donau".
In diesen Inschriften liegen ebenso viele Offenbarungen wie Rätsel. Auffallen
muß bei diesen Zeugnissen, daß sie präziser, eindringlicher und übereinstimmender
als irgendwelche andere Meilensteine in den Alpen diesen Straßenbau verkünden,
auffallen die weite Spanne des Weges, von der sie reden und ebenso gegen die
Gepflogenheit das Fehlen der Angabe eines genauen Zielpunktes im Norden, auf-
fallen aber ganz besonders die Wahl der Ausgangsbasis im Vergleich zu dem
Zielpunkt; denn bei der Straßenführung, wie sie durch die Fundorte jener beiden
Meilensteine konstatiert ist, wird ja nicht eine Nord -Süd -Linie, sondern eine
das ganze Alpengebiet durchquerende, von Südost nach Nordwest laufende
Diagonallinie fertig. Da nun allerdings von Landeck aus nördlich gerechnet alle
und jegliche Funde, die eine direkte Fortsetzung dieser Staatsstraße auch nur
wahrscheinlich machen, fehlen, und außerdem auch diese ganze Route auf den
Itinerarien überhaupt nicht erscheint, so liegt der Schluß natürlich sofort auf der
Hand, daß dieser Bau von Landeck aus nördlich, so wie ihn wenigstens die
Meilensteine verkünden, falsch projektiert war und deshalb überhaupt unvoll-
endet blieb.
Die Römerstraßen der Alpen. 95
Aber damit ist das, was diese Steine reden, noch durchaus nicht erschöpft;
denn sie werfen trotz alledem ein helles Licht auf die ganze damalige Verkehrs-
konstellation. Nicht von Süden, von Verona, sondern von Südosten, von Alti-
num aus, und nicht über den Brenner, sondern über den Reschenscheideck wird
jene Straße gelegt, und der Ton der Inschriften läßt keinen Zweifel, daß dieses
Straßenprojekt zunächst wohl durchdacht gewesen ist und seine ganze Ausführung
als eine Großtat gelten sollte. Damals war eben das venetianische Tiefland mit
einem Schlage ein wichtiges, handelsmächtiges Land geworden, und daher pen-
delten auch nach dorthin, wo dieses lag, alle die Verkehrsstraßen, die jetzt neu
in Aufnahme kamen, während andererseits dem Verkehr nach Norden, nach der
Donau, am Anfang der Kaiserzeit in der Hauptsache noch nicht das Ziel über den
Brenner nach dem heutigen Bayern zu innewohnte, sondern dieser vielmehr nach
denjenigen Strichen nördlich hinauf strebte, wo die römische Organisation am
eifrigsten bei der Arbeit war, nach Augsburg und nach der Gegend des Boden-
sees. Die Erscheinung aber, daß jene beiden Gebiete, Venetien und das südliche
Schwaben, sich im Verkehr gegenseitig suchen, findet sich auch weiter noch im
Lauf der Geschichte und natürlicherweise dann, wenn gerade diese beiden Ge-
biete politisch und wirtschaftlich in Blüte gestanden haben. Nichts aber beweist
mehr die Vollendung der römischen Staatskunst als daß diese damals auch sofort
das vorliegende Bedürfnis erkannte und ihm kräftig entgegenkam. Die Straßen-
legung des Drusus wird auf den Inschriften der Steine zunächst als grundlegend
genannt, und es ist hier wohl an den rätischen Feldzug selbst zu denken, in
dessen Verlauf jener mit seinem Heere vom Vintschgau aus nach dem Bodensee
durchstieß, während Klaudius dann diese militärisch möglich gewordene Linie
durch eine Straße festzufügen suchte. In den ersten Zeiten, in denen es hier
geschichtlich hell wird, scheint überhaupt für die von Süden kommenden Römer
die Richtung über das Reschenscheideck beachtenswerter als diejenige nach dem
Brenner hin gewesen zu sein; denn nach jener zu lag vor allem das alte Maja
(Meran), ein Vorort der Räter, und besonders anfangs während der Zeiten ihrer
passiven Verteidigung mögen die Römer ebenso sehr von hier wie vom Eisaktal
aus der Feinde gewärtig gewesen sein. Auch die Dispositionen des Katulus beim
Empfang der Cimbern zogen in gleicher Weise die Anmarschlinie der Feinde
von Meran wie vom Brenner selbst her in Rechnung. Als dann aber bei dem
Straßenbau des Klaudius die Wahl der römischen Ingenieure tatsächlich auf das
Reschenscheideck fiel, mögen weiterhin als lokale Gründe dabei mitgewirkt haben,
daß der Reschenpaß leichter passierbar war und die dort ansässige Bevölkerung
gründlicher befriedet gewesen sein mag als diejenige im Brennergebiet.
So begleiten uns denn auch auf dem ganzen Wege das Vintschgau entlang
klare und unklare Spuren davon, daß dieses während der Römerzeit ein be-
wohntes Gebiet gewesen ist. Auf die Toll — Teleonum, die Eingangspforte der
Römer bei Meran folgt die Fundstätte bei Rabland, dann die Station Nocturnum,
96 VI. Kapitel.
das heutige Naturns. Im Mittelpunkt liegt dann Schlanders, wo noch im fünften
Jahrhundert nach Ch. sich der Heilige Severin niederzulassen für gut befand,
und unweit von diesem Ort ward bei Laas gleichfalls einst ein römischer Meilen-
stein, der aber wieder verloren ging, aufgefunden. Besonders läuft aber durch
das ganze Vintschgau bis Mals eine ununterbrochene Reihe von Fundstätten von
Römermünzen. Das neben Mals liegende Glurns soll von gloria abgeleitet sein,
auch macht sein Grundriß einigermaßen römischen Eindruck; doch müssen hier
bessere Zeugnisse abgewartet werden, um auch den Ursprung dieses Ortes auf
die Römer zurückführen zu können. Von Mals nördlich beginnt nun allerdings
der für diese Straßenführung sichere Boden zunächst einigermaßen zu wanken.
Im weiteren Verlaufe haben wir zwar noch Münzfunde bei Nauders, Serfaus und
Ried, auch ein Fund römischer Waffen bei Ladis ist wahrscheinlich, und die
Ortsnamen selbst wie Nauders (Oenotrium) Pfunds, Serfaus und Obladis machen
ganz den Eindruck, als habe sie die römische Sprachbildung in den Händen
gehabt; aber alle diese Anzeichen würden doch die Vermutung, eine Römerstraße
sei hier hindurch bis Landeck gelaufen, nicht derart stützen können, wie die
Funde bei Landeck selbst, die dort eine römische Ansiedelung sicherstellen.
Hier liegen die Orte Perfus (per flumen), Perjen (per Oenum) und Lötz.
Der bei Perjen gelegene, recht bezeichnend benannte Götzenacker hat dort eine
reiche Ausbeute römischer Kleinfunde und nicht zum mindesten von Münzen
ergeben, die beachtenswerter Weise zumeist aus dem ersten und zweiten Jahr-
hundert nach Ch. stammen. Läßt man ferner die in der Nähe liegende, heute noch
in instruktiven Resten vorhandene, vom Austritt des schluchtartigen Loetztales
direkt nach dem Nordufer des reißenden Inn laufende Grenzmauer als römisch
gelten, so ergibt sich durch dieses dann tatsächlich eine Situation, nach der hier
unter Benutzung der nördlichen Bergwälle und des Innstromes eine vollständige
Abschließung des Punktes Landeck gegen Nord und Ost nach Art des beliebten
römischen Absperrungssystems erreicht worden wäre. Dieses Befestigungswerk
könnte jedoch auch erst später, als die Grenzen von den Germanen durchbrochen
wurden, in das Werk gesetzt worden sein; es ist aber ebensogut möglich, daß
die Römer bei der Klaudinischen Organisation zunächst hier Halt machten, um
schließlich die ursprünglich über den Arlberg beabsichtigte Straße nunmehr am
südlichen Innufer entlang über den Fernpaß oder die Scharnitz nach der Ebene
nördlich der Alpen hinüberzuleiten.
Hier bleibt aber trotzdem noch die Frage offen, in wie weit sich in der
Richtung, die Drusus einschlug und die auch Klaudius ursprünglich zu nehmen
beabsichtigt haben mag, also über die Vorarlberger Übergänge nach Brigantium
hinüber, ein von den Römern benutzter Straßenzug nachweisen läßt. Auch hier
hat zweifellos im Laufe der römischen Jahrhunderte ein Lokalverkehr stattgefunden,
und es liegt zunächet nahe, für diesen zuerst an den Arlberg zu denken. Doch
ist auch hier Vorsicht am Platze. Denn nicht der geringste Römerfund ist
Die Römerstraßen der Alpen. 97
zwischen der Trisanna-Mündung und Bludenz gemacht worden, und auch die
rätischen Ortsnamen sind hier viel weniger zahlreich als die nachfolgenden
deutschen. Im Gegensatz hierzu weisen aber gerade für die ältesten Zeiten die
Anzeichen merkwürdigerweise mehr auf einen Verkehr durch das Paznaun nach
dem Montafon hinüber. Hier findet sich eine Fülle rätischer Namen, die diese
Täler schon in den ältesten Zeiten als gut bewohnt erscheinen lassen, im
Besonderen aber im Montafon die für einen alten Straßenzug symptomatischen
Ortsnamen Kreuzgaß und an dem Punkte, wo die Hier in das Haupttal bei
Bludenz hinaustritt, Stallär, nicht minder auch haftet einwärts im Tale an dem
Orte Lorünz die bei dem Fehlen aller anderen alten Nachrichten nicht zu unter-
schätzende Kunde, daß hier eine Stadt untergegangen sein soll.
Der Brenner ist vom Westen der Alpen aus gerechnet der letzte, von Osten
aus gerechnet der erste Alpenübergang, der, um über das ganze Gebirge zu
kommen, nur den An- und Abstieg über einen einzigen Kamm nötig macht.
Muß ihm dies schon gegenüber allen östlich von ihm gelegenen Übergängen
besondere Wichtigkeit verleihen, so treten weiterhin noch verschiedene andere
günstige Umstände, wie gute Wegbarkeit, geringe Höhe, bequeme Witterungs-
verhältnisse auf der Paßhöhe selbst hinzu, um den Verkehr über den Brenner
zu erleichtern. Dasjenige aber, was den Brenner vor allen anderen Alpenüber-
gängen auszeichnet, ist, daß die eigentliche Brennerstraße d. h. die Linie Sterzing —
Innsbruck sozusagen das Herz eines weitverzweigten Verbindungsnetzes von
Gebirgsstraßen bildet, die sämtlich von Nord oder Süd, West oder Ost in dieses
einmünden. Zunächst laufen vom italienischen Tiefland, von der Strecke von
Brescia bis Venedig aus, alle Verbindungslinien energisch nach der Brennerstraße
zusammen. Die Straße durch Juidicarien im Tale des Chiese, die Linie des
Gardasees und der Sarka und östlich diejenige aus dem Val Sugana sammeln
sich sämtlich in Trient; bei Franzensfeste mündet dann von Osten die Straße
durch das Pustertal, nachdem sie vorher noch die Ampezzaner Straße in sich
aufgenommen hat und bei Sterzing die von Meran kommende Jaufenlinie.
Ebenso laufen dann aber auch in Innsbruck wiederum nicht nur die Straße vom
Arlberg, sondern auch sämtliche von der ganzen nördlichen Alpenfront von Füssen
bis Traunstein nach Süden zielende Verbindungen zusammen. So übt die eigent-
liche Brennerlinie gewissermaßen eine Herrschaft über das Verkehrsleben weiter
Gebiete aus, und beruht hierauf auch die unverwüstliche Kraft, die gerade das
Leben auf der Brennerstraße durch alle Zeiten bewährt hat. Der Gotthard ist
erst seit sechshundert Jahren in Gebrauch und selbst der altberühmte Sankt
Bernhard im modernsten Sinne nur ein Übergang zweiter Ordnung, während
die Brennerlinie dagegen seit dem römischen Altertum bis heute stets eine
Verkehrslinie erster Ordnung geblieben ist.
Allein für die erste römische Kaiserzeit trifft diese Erscheinung nicht ganz
zu. Daß der Brenner, so weit wir zurückblicken können, stets ein mehr oder
Scheffel, Vcrkebrsgescbichte der Alpen. I.Band. 7
98 VI. Kapitel.
weniger in Gebrauch befindlicher Übergang gewesen sein muß, erscheint fast
überflüssig zu sagen ; aber eine römische Verbindungsstraße ersten Ranges wurde
er doch erst am Ende des zweiten Jahrhunderts nach Gh., während schon Jahr-
hunderte vorher andere Übergänge in seiner Nachbarschaft, die später in ihrer
Wichtigkeit zurüclcgingen, wie die Reschen-Straße und die Linie über den
Pontebba-Paß, mit Straßen von Staatswegen überzogen worden waren. Der
Grund hierfür ist jedoch ganz einleuchtend; denn bis zu dieser Zeit fehlte eben
die Voraussetzung für die Wichtigkeit der Brennerlinie im weiteren Sinne, die
in der Ermöglichung einer kurzen Verbindung zwischen dem Süden und dem
Norden der Alpen beruht. Während der ersten zwei Jahrhunderte unserer Zeit-
rechnung war das heutige Oberbayern wohl römische Provinz, aber im Vergleich
zu Norikum und Pannonien, wo sich das römische bürgerliche Leben zahlreich
niederließ, und noch mehr im Vergleich zu dem Oberrhein, an dem wiederum
der militärische Schwerpunkt lag, blieb Vindelicien zunächst ein weniger wichtiges
Land und für den Handel nur ein Absatzgebiet zweiter Ordnung. Auch für den
Verkehr nach Augsburg mögen anfangs die bündner Pässe genügt und somit die
römische Verwaltung hier zunächst keine Veranlassung gehabt haben, bei der
Öffnung der zum Brennersystem gehörigen Verbindungen mitzuhelfen.
Aus diesem Grunde finden wir auf der Strecke von Verona über Bozen
nach Regensburg anfangs nur eine allmähliche, etappenweise Eröffnung der
Verkehrslinien, bis diese schließlich auch hier, als sich die militärische Konstellation
in der späteren Zeit vollständig verändert hatte, von Staatswegen in einen festen
Rahmen gefaßt werden mußten. Als die Römer zu Anfang des zweiten Jahr-
hunderts vor Ch. hier in das italienische Vorland der Brennerstraße eintraten,
saßen von Brixia aus nach Osten in der Ebene, aber auch noch bis in das
Gebirge selbst hinein als geschlossener Stamm die keltischen Cenomanen, die
deshalb auch als die Gründer der Städte Verona und Brixia genannt werden.
Es ist anzunehmen, daß diese Kelten sich der nördlich von ihnen wohnenden
Räter erfolgreicher als es z, B. nördlich des Komer-Sees der Fall gewesen ist,
zu erwehren imstande gewesen sind; denn wir finden, daß auch ihre Erben,
die Römer, sich dann hier um Verona und den Garda-See herum besonders rasch
heimisch gefühlt haben. Schon den römischen Dichtern KatuU und Virgil waren
diese Striche ein ganz wohlbekanntes Land, und das Aufblühen des östlich
gelegenen venetianischen Tieflandes mag weiterhin das übrige dazu getan haben,
so daß wir nicht viel später, wie es auch in der Kreiseinteilung des Augustus
seinen Ausdruck findet, auch im heutigen Trentino einem mit aller römischen
Kultur überzogenen Landstrich begegnen. Am Garda-See sind Sermione,
Toscolano und Maderno alte Römerpunkte und wie in den späteren Zeiten so
wurden auch schon damals durch die Ufer des Sees zwei verschiedene politische
Bezirke, die Stadtgebiete von Brixia und Verona, westlich und östlich von-
einander geschieden, und ebenso wie bei Beginn des Miuelalters das lombardische
Die Römerstraßen der Alpen. QQ
Volkstum, so nahm auch damals schon das Römertum von Süden her über den
verkehrsfreundlichen Spiegel des Sees denselben Weg hinauf nach Riva, Arco
und Nago, und bis tief nach Juidicarien (Bad Comano) hinein.
In jene Zeit fällt auch die Entwickelung Veronas als Hauptortes der um-
liegenden Landschaft, wenn auch keineswegs schon als südlicher Basis der
Brennerstraße. Nicht nur die Straße aus dem Gebirge sondern vor allem die-
jenigen von Brixia, Cremona, Mantua, Hostilia und Vicetia liefen in Verona
zusammen, in dessen Umgebung das erste römische Kaiserhaus begütert war.
Das augenfälligste Zeichen der Blüte dieser Römerstadt ist ihr Amphitheater,
dessen Umfang so gewaltig ist, daß die Bevölkerung jenes Striches in der römi-
schen Kaiserzeit mindestens ebenso zahlreich wie in der Jetztzeit gewesen sein
muß. Diejenigen Eigenschaften Veronas dagegen, die sich später in seiner Ge-
schichte viel eindringlicher geltend machen, nämlich die, als Bollwerk des Süd-
landes gegen nördliche und östliche Feinde zu dienen, treten bei dieser Stadt
erst im Verlauf des dritten Jahrhunderts nach Ch. in die Erscheinung; von jener
Zeit an hat dann die Stadt diejenige Bestimmung überkommen, die sie auch
heute wieder im jungen Königreich Italien besitzt.
Die Stellen der Römerfunde auf der ganzen Linie der Etschfurche von
Verona bis nördlich nach Trient sind so zahlreich, daß sie die römische Ansicht,
nach der dieses Land heimatlicher italienischer Boden war, vollkommen berech-
tigt erscheinen lassen. Besonders Roveredo muß hier belebt gewesen sein.
Nördlich von Trient zeigen sich die Funde dann aber nicht mehr in dem gleichen
reichen Maße, eine Erscheinung, die auch ganz der damaligen Sachlage entspricht;
denn erst Trient, die letzte wirkliche Stadt, die dem Römer auf einer Reise nach
Norden bis Augusta wieder begegnete, war nach der kraftvollen römischen Auf-
fassung das nördlichste Bollwerk Italiens gegen das Gebirge und wurde daher
auch von Anfang an durchaus als Festung behandelt. Schon die Römer haben
die beiden dominierenden Punkte der Stadtumgebung Trients, östlich der Etsch
die heutige Cidatelle und westlich den Dos Trento, regelrecht befestigt gehabt.
Wie in den alten Städten Italiens hat dann auch hier das nie aussetzende Leben
Schicht um Schicht den Boden der Stadt erhöht; denn Trient ist ein Ort, der
sich stets als besonders widerstandsfähig gegen den Wechsel der Zeiten bewiesen
hat, weil ihm die auf seiner natürlichen Lage beruhende Wichtigkeit durch nichts
genommen werden kann.
Hier laufen zunächst östlich die Straße aus dem Val Sugana und westlich
die von Juidicarien in dem Etschtal zusammen , besonders aber münden auch
dicht nördlich Trients nicht nur die weitverzweigten Talsysteme des Nons- und
Sulzberges sondern auch gegenüber das lange Avisiotal in das Haupttal ein. In
diesen Landschaften, die nur von Trient aus bequem zugänglich sind, hat jene
Stadt daher stets ein weites und unbedingt sicheres Hinterland besessen, das ihr
von keiner Seite her erfolgreich streitig gemacht werden konnte. Von allen
7*
JOO VI. Kapitel.
diesen Zugangslinien war aber damals, und besonders in den ersten Zeiten, das Su-
ganatal, die bei weitem wichtigste, wichtiger sogar als selbst die Etschstraße zwischen
Verona und Trient, weil jene den Verkehr aus dem reichen Venetien auf dem
kürzesten Wege in die Berge hineinzuleiten vermochte. Deshalb wurde auch
die erste große römische Staatsstraße nach Norden durch dieses Tal gelegt und
das Suganatal gehörte damals der ganzen Verkehrskonstellation nach somit noch
viel entschiedener zum Süden als in den späteren Zeiten. Der Eintritt in das-
selbe geschah zu Römerzeiten südlich allein vom Tal der Piave aus über Feltre,
und von dort aus erfolgte daher auch die Erschließung der kleinen Seitentäler
der Brenta. Der Ortsnamen Primör im Cismonetal mag wohl hier tatsächlich
von Norden aus gesehen den äußersten Römerposten bezeichnet haben. Charak-
teristisch für die Art der Römer ist es aber besonders, daß man im langen
Avisiotal, so nahe es auch der römischen Kultur lag, abgesehen von einigen
Münzfunden von römischen Spuren nicht das Geringste entdecken kann. Die
nur von Trient aus zugängliche langgestreckte Furche dieses Tales, das sich ohne
irgendwelchen bequemen Übergang in den abgelegenen Hochalpen verliert, konnte
bei der Armut ihres Bodens auf die Römer durchaus nicht einladend wirken,
während ganz im Gegensatz hierzu die westlich gegenüberliegenden Gebiete des
Nons- und Sulzberges zu diesen Zeiten ganz besonders belebt und kultiviert
gewesen sein müssen.
Wir betreten hier ein Gebiet, das damals hinsichtlich seiner Kultur im Ver-
gleich zu den anderen benachbarten Alpengebieten ein ganz besonderes Gesicht
zeigt. Mag auch die wohnlichere Sohle dieser Täler, die Nähe Trients, der gute
Zugang des Nons- und Sulzberges von dort aus und die durch das Mendel-
gebirge bis zum Gangkofel und den östlichen Flügel der Ortler- Alpen nach
Norden geschützte Lage dieser Gebiete mit in Rechnung gezogen werden, so
liefert dieses alles doch immerhin noch keine genügende Erklärung dafür, wes-
halb sich gerade hier während der Römerherrschaft, im Gegensatz zu den späteren
Zeiten, ein solch' auffallend entwickeltes Leben gezeigt hat. Noch im vierten
Jahrhundert ist hier das Gebirgsland weit und breit bewohnt und von Kastellen
übersät. Nicht nur die Funde des Altertums sind von Trient bis nördlich nach
Fondo und westlich fast bis zur Höhe des Tonal fast ebenso zahlreich wie auf
der Strecke Verona -Trient, sondern auch die Straßenzüge, die sich der Verkehr
hier von selbst geschaffen hat, heben sich aus diesen einzelnen Fundstellen noch
ganz deutlich heraus. Von der Rocchetta, der römischen Straßensperre abgehend,
lief im Altertum die Verbindung auf dem rechten Ufer des Noce über Denno
und Flavon nach dem Hauptort Cles, dem alten Anaunia, um dann von hier in
der Rinne der heutigen Straße nach Ossano und ebenso nördlich nach Fondo
zu ziehen. Die Ortsnamen haben in diesen Gebieten aber sämtlich ein derartig
eigenartiges Gepräge, daß hier für das Altertum ein besonders gearteter Völker-
bodensatz vorausgesetzt werden muß. Ziehen wir nun für die Erklärung desselben
Die Römerstraßen der Alpen. 101
die Verehrung des Saturnus, des alten rätischen Hauptgottes in Rechnung, die
gerade in diesem Gebiet der alten Anaunier besonders zu Hause war, so müssen
wir den Volksstamm, der hier ursprünglich wohnte, zunächst als einen Teil der alten
Räter ansprechen. Diese Anaunier mögen jedoch, nördlich von der Hauptmasse
der Räter getrennt, schon von altersher sich einigermaßen in anderer Weise, be-
sonders aber vielseitiger als ihre Stammesgenossen entwickelt und sich deshalb
auch mit der römischen Eroberung friedlicher auseinandergesetzt haben. Wahr-
scheinlich haben diese Gebiete, zu Zeiten der Römer zugleich abseits und ge-
schützt, aber auch den Quellen der südlichen Kultur näher gelegen, damals ver-
hältnismäßig ein größeres Bild des Wohlstandes als heutzutage gezeigt, da sie
teils durch den Egoismus der Feudalherren teils als unbeachtetes und zurück-
gesetztes Nebenland herabgekommen sind.
Die Tatsache, daß bis zum Ende des zweiten Jahrhunderts nach Ch. keine
eigentliche römische Brennerstraße existierte und der Verkehr dagegen die
Neigung zeigte, von der Stelle, wo heute Bozen liegt, nordwestlich das Etschtal
hinauf den Weg über das Reschenscheideck oder den Jaufen zu wählen, spiegelt
sich nun auch in dem Straßenbild wieder, das während der ersten Zeiten der
Römerherrschaft das Innere Tirols gezeigt hat. In dem von Trient bis Bozen
sich erstreckenden Teile des Etschtales mag zunächst die ursprüngliche Bevölke-
rung von den Römern stärker vernichtet worden, dieser Zerstörung dann aber
auch der römische Ansiedler einigermaßen zahlreicher gefolgt sein, weil gerade
in dieser Gegend die lateinische Sprachbildung in den Ortsnamen besonders rein
hervortritt (Tramin, terminus; Planitzing, planities; Campan, campus; und weiter
nördlich im Etschland Missian, Terlan, Eppan, Vilpian u. a.). Die älteste Straßen-
richtung ist hier von Trient aus nördlich nicht wie dann später auf dem östlichen
Etschufer, sondern westlich am Fuße des Mendelgebirges entlang über Kurtatsch,
Tramin und Planitzing zu suchen, um dann etwa da, wo heute die untere Burg
von Appianum (Hocheppan) römisches Gemäuer anzeigt, nach Nordwesten um-
zubiegen. Auch Pfatten, in der späteren Zeit ein wichtiger Garnisonort Rätiens,
später dann nur ein sumpfumgebenes Weindorf, liegt hier auf dem westlichen
Etschufer. Die Brücke aber, die Drusus in der Nähe jener Biegung der alten
Landstraße über die Etsch baute, sollte den Römern von dort aus den Eintritt
in das Innere Rätiens eröffnen, und deshalb entstand auch später an dieser Stelle
zum Schutze des Uferwechsels das Kastell Formicaria, der Vorläufer von Sig-
mundskron.
Dagegen ist von Bozen selbst als eines wirklich stadtartigen Ortes zur
Römerzeit noch wenig zu spüren. Ständig lag auf seinem Boden wahrscheinlich
nur ein römisches Landgut an der Stelle des heutigen Ansitzes Maretsch, und
auch was sonst eben hier bei Gries und Bozen (Pradein, Troyenstein, Ried als
Talsperre des Sarntales u. a. m.) sich mit mehr oder weniger Sicherheit als
Römerwerk ansprechen läßt, braucht um nichts Anderem als um Festhaltung der
102 VI. Kapitel.
Gegend und Sicherung der Straßenführung willen angelegt worden zu sein. Als
unmittelbare Folge der Erbauung der ganzen Brennerstraße als Staatsstraße unter
Septimius Severus wurde dann aber von Trient ab der den Zugang zu dieselbe
bildende Straßenteil folgerichtig auf das linke Etschufer gelegt, an dem dann
auch für alle späteren Zeiten die Hauptstraße haften geblieben ist. Hier erscheint
uns demnach an Stelle des heutigen Neumarkt die Römerstation Endide (Name
Schloß Enn) und das regelrecht als Straßenkastell benutzte Castellum vetus (oder
foederis) = Castell Feder. Überhaupt muß bei der Rekonstruktion der Bozener
Gegend während der Römerzeit festgehalten werden, daß diese Landstriche erst
vom Beginn des Mittelalters an, dann aber unausgesetzt, eine wichtige ethno-
graphische und politische Grenzzone gewesen sind, eine Tatsache, die jetzt hier
weit und breit der Gegend ihren Charakter aufgeprägt hat. Für die Römer
gabelten sich am Einfluß des Eisak in die Etsch jedoch nur die Straßenzüge
nach Sabiona (Sähen, Klaußen) und Castrum Majense, und es befand sich hier
nur ein Stationspunkt wie jeder andere, aber nicht mehr.
So richtete sich auch die erste Kolonisation der Römer von selbst in und
bei Meran, das schon ein Hauptplatz der alten Räter gewesen war, ein. Auch
hier machen die Münzfunde wahrscheinlich, daß bei der Eröffnung des Verkehrs
vom Süden her zunächst die vorgeschichtliche Richtung über Andrian und
Prissian rechts der Etsch eingeschlagen wurde, und erst in der späteren Kaiser-
zeit dann außerdem eine dem heutigen Straßenbild entsprechende Verbindung
auf dem linken Ufer von Gries bei Bozen bis Meran in Gebrauch genommen
worden ist.
Die Erscheinung, weshalb Meran im Gegensatz zu Bozen, das doch ebenso
wie jenes an der Straße nach dem Reschen lag, schon von Urzeiten her als
bedeutender Ort bestanden hat, erklärt sich durch die Tatsache, daß hier bei
Meran eine wichtige und seit vorgeschichtlicher Zeit begangene Paßstraße, der
Jaufen, von Norden aus in das Etschtal einmündet. Die wirkliche Bedeutung
Merans ist stets mit der Wichtigkeit, die der Weg über den Jaufen innerhalb
des Straßennetzes Tirols besaß, Hand in Hand gegangen, und da derselbe in den
ältesten Zeiten begangen gewesen sein muß, erscheint daher auch damals schon
Meran, während wiederum dieser Ort seit den letzten Jahrhunderten des Mittel-
alters infolge der Vereinsamung der Jaufenstraße an Wichtigkeit eingebüßt hat.
Daß aber das alte römische Maja in erster Linie nur eine Jaufenstadt gewesen
ist, beweist seine Lage abseits der Etsch (an der Stelle von Ober-Mais) unmittelbar
am Eingang des Jaufentales, für den die dicht daneben liegende Zenoburg als
Sperre diente, während oben auf der Höhe das Römerkastell Teriolis nach echt
römischer Art nicht nur jene Passage, sondern auch diejenige nach der Toll
hinüber zu bewachen hatte.
Der Jaufenübergang selbst ist wie kein anderer Paß in den Alpen das
Beispiel einer vollwichtigen Verbindung zweiter Ordnung. Daß er sich zu einer
Die RömerMraßen der Alpen. 103
Verbindung erster Ordnung hätte entwickeln können, dieses haben ein für allemal
die für diesen Teil der Alpen ganz respektable Höhe des Passes von 2094 m,
mehr aber noch die Notwendigkeit verhindert, für die Durchquerung des ganzen
Alpenwalles bei der Benutzung des Jaufens selbst mindestens noch eine zweite
Kammhöhe überschreiten zu müssen. Dagegen konnte der Jaufen in vorzüglicher
Weise für den Lokalverkehr zwischen dem bei Meran südlich in die Breite
gehenden Etschtal und dem eigentlichen Brennergebiet dienen, und dies um so
mehr, als gerade die Gegend, wo er nördlich bei Sterzing ausmündet, der eigent-
liche geographische Mittelpunkt jener ganzen Gebirgszone ist. So sehen wir
denn auch den Jaufen gerade in solchen Zeiten besonders in Aufnahme kommen,
in denen der Verkehr weniger aus dem Innern Tirols herausgegangen ist und
deshalb auch weniger Tatkraft auf die Bezwingung jener schwierigen Wegstelle
der Brennerlinie nördlich Bozens verwendet zu werden brauchte, wie dies auch
in den ersten Zeiten der Römerherrschaft der Fall war. Daß dieser Paßweg
überhaupt im Altertum in Gebrauch gewesen ist, würde abgesehen von den
rätisch-romanischen Ortsnamen seiner Umgebung (Verdins, Saltaus, Six, Plan im
äußersten Pfelders) allein schon der Klang seines Namens selbst beweisen; viel
besser verrichten dies jedoch die Funde von Römermünzen entlang seines Weges
und ebenso auch die Tatsache, daß das Mittelalter diesen Paß ohne weiteres zum
Gebrauch übernahm. Über das freilich noch nicht genügend geklärte Verhältnis,
in dem die Reschenstraße, die über den Jaufen und die Brennerstraße während
der Römerzeit zu einander gestanden haben, würden vielleicht gerade Grabungen
auf der Jaufenhöhe, die noch nicht stattgefunden haben, das rechte Licht ver-
breiten können.
Es ist bislang noch kein stichhaltiger Grund zu finden gewesen, um die
systematische Chaussierung der Brennerstraße von Bozen bis Innsbruck durch
die Römer früher als zu den Zeiten des Kaisers Septimius Severus setzen zu
können, ebenso aber auch schon hervorgehoben worden, daß es nicht anders
möglich erscheint, als daß bereits vor diesem Zeitpunkt der ungeregelte römische
Verkehr auf jener Strecke sich Bahnen gesucht hat. Dicht nördlich Bozen, wo
sich damals der Eisak zwischen Waidbruck und Blumau durch eine enge un-
gebahnte Schlucht hindurchzwängte, lagen hier für die von Süden einsetzende
Erschließung der Berge die größten Schwierigkeiten. An dieser Stelle nun haben
die Römer ihre Straße von Steg und Rentsch im Eisaktale aus auf das hohe
Rittenplateau hinaufgeführt, und das unbedeutende Dorf Rentsch bei Bozen hat
somit als Straßenpunkt mindestens einen ebenso berühmten Ursprung wie Bozen
selbst. Jener über Unterinn und Lengmoos geführte Höhenweg holte demnach
weit und gründlich aus und die alten Straßenteile sind hier auch heute noch in
einem unverwüstlich gutem Zustande — bezeichnenderweise aber nur in größerer
Entfernung von den Ortschaften, weil diese das Plattenpflaster der alten Straße
in ihrer Nachbarschaft zu Bausteinen weggenommen haben. Dieser alte Straßen-
104 VI. Kapitel.
zug hat während der letzten Jahrhunderte infolge der Erschließung des Kunters-
weges zwar seine alte Wichtigkeit verloren, aber es ist doch immerhin bemerkens-
wert, daß im Jahre 1891 aller Verkehr wie von selbst wieder in die alte Rittenstraße
einlenkte, als damals der älteste und mächtigste Feind der Gebirgsstraßen, das
Wasser, hier die modernen Verkehrslinien zerstört hatte, und auch der Kunters-
weg unten in der Talsohle infolge Überschwemmung ungangbar geworden war.
Zu Römerzeiten war ein besonders wichtiger Straßenpunkt Waidbruck, nicht
bloß weil hier die Straße vom Ritten wieder die Talsohle erreichte, sondern
weil auch damals schon von diesem Punkte aus der Hauptzugang zu den Höhen
links des Eisak abging. Hier liegt über Waidbruck Kastelruth. Wenn ein Ort
durch die Lage, wo er gegründet ist, römischen Geist verrät, so ist es das Kastell
auf dem Kasteiruther Schloßberg. Nicht nur die Rittenstraße gegenüber liegt
unter seinen Blicken, sondern es ist ebenso auch der Vorort für die ganze östliche
Umgebung; denn nach dorthin laufen alle Verbindungen vom Tierser bis Groedener
Tal zusammen und so konnte von hier aus die kleine Garnison bequem den
Polizeidienst in der ganzen weiten Umgebung besorgen. Von der Trostburg
läuft heute noch eine mächtige, wie für die Ewigkeit gebaute Straße stundenlang
in schnurgerader Richtung über Kastelruth auf die Seiser Alm, deren Äußeres
auf den ersten Blick ihr sehr hohes Alter anzeigt, und solange nicht der Beweis
geführt ist, daß jene Straße später gebaut ist, kann auch sie für Römerwerk an-
gesprochen werden, zumal da gerade in diesen Gebieten alle Besitz- und
Siedelungsverhältnisse seit den ältesten Zeiten bis in das letzte Jahrhundert ganz
unverändert geblieben sind, und der alte Römerort Kastelruth den wirtschaftlich
besonders wertvollen Besitz der Seiser Alm niemals mit einer anderen Gemeinde
dieses Hochplateaus geteilt hat.
Der nächste Römerpunkt nördlich an der Brennerstraße ist das von der
Natur wie zur Straßenbefestigung geschaffene Klaußen. Es hat den Anschein,
daß dieses Klaußen d. h. vielmehr das alte Sabiona oberhalb desselben in rätischer
und römischer Zeit der Sitz der Gewalthaber über das ganze Eisaktal gewesen
ist. Jedenfalls lassen auch hier die Ortsnamen im Haupttale bis nach Franzens-
feste hinauf nicht bloß auf rätische, sondern ebenso auch aufzahlreiche römische
Besiedelung schließen (Pallaus, Milland b. Brixen, Villanders, Gudifann). Auf
jener Linie geben die Itinerarien zwischen Waidbruck und der römischen Station
Vipitenum (Sterzing) außerdem noch eine Station an, die aber nur mit einer
Wegezahl bezeichnet ist. Man müßte diese schon an sich an die Einmündung
der Pustertallinie legen, wenn dieses nicht auch außerdem durch Römerfunde
an der Ladritzscher Brücke und in Franzensfeste selbst noch wahrscheinlicher
gemacht würde. Wenn aber diese Station an jener Straßen-Vereinigung gelegen
hat, so lag sie jedenfalls dicht an derselben und nicht südlich bei Brixen, auf
dessen Boden jeglicher Römerfund fehlt. Schließlich deutet aber die Tatsache,
daß diese Station namenlos war, und demnach noch kein eigentlicher Flecken an
Die Römerstraßen der Alpen. 105
der Einmündung der Pustertallinie in die Brenneriinie zu finden ist, an, daß zu
Römerzeiten alle diese Linien vorwiegend nur dem militärischen aber nicht
eigentlich einem regeren Handelsverkehr gedient haben können.
Der Kultur-Übergang zwischen Süd- und Nordland, der auch heute bei
Franzensfeste sich ausspricht, hat auch schon in der römischen Zeit bestanden,
und es kann daher von hier aus auf das nördlicher gelegene Tirol nur auf eine
geringe römische Besiedelung, die allein um der Verwaltung des Landes willen
dort ausdauern mußte, geschlossen werden. Weiter nördlich finden sich römische
Wohnstellen dann zunächst bei Mauls und Sterzing, und es ist bei letzterem zu
bemerken, daß hier besonders die Ortsnamen am Eingang des heute ganz seitab
liegenden Pfitscher-Tales sehr alte Siedelung verraten. Am Südausgang der
eigentlichen Brennerhöhe künden dann die Namen Straßberg und Pontigl wiederum
den alten Straßenzug an. Die römische Heerstraße mag von Anfang an freilich
nicht anderswo als über die eigentliche Paßhöhe am Brennersee vorbei gelegt
worden sein; nicht ausgeschlossen erscheint es aber auch, daß vor und nach der
Zeit der ersten römischen Eroberung auch ein die heutige Paßhöhe vermeidender
Übergang westlich über das Sattel-Joch eben von Pontigl aus in Gebrauch
gewesen ist. Neben der Lokaltradition spricht hierfür der echt römische Name
der ältesten Pfarre dieser ganzen Gegend, von Venaders, das direkt am Nord-
abstieg des Sattel-Joches liegt, und von wo aus dann die Römerstraße tatsächlich,
die Schlucht zwischen Gries a. Br. und Stafflach vermeidend, über Nößlach in
gerader Linie auf Steinach weiter gelaufen ist. In Matrei, dem Matrejum der
Itinerarien, hat sich manches vereinigt, um hier noch das Bild der ältesten Zeit
deutlicher als anderswo vor Augen treten zu lassen. Der in der Jetztzeit zurück-
gegangene Ort mag im Altertum überhaupt der einzige größere Wohnplatz des
ganzen Silltales gewesen sein, und so erklären sich auch die vorgeschichtlichen
Funde an dieser Stelle, die ein Vorhandensein rätisch-etruskischen Volkstums
nördlich des Brenner sicherstellen. Die Wichtigkeit Matreis aber hat von alters-
her darauf beruht, daß nördlich des Ortes, wo die Sill wiederum in eine un-
wegsame Schlucht eintritt, zwei Straßenzüge auseinandergehen. Der eine derselben
hat ganz ausgeprägt die Richtung nach dem Unterinntal (Hall), während der
andere nach dem Oberinntal (Innsbruck) zielt^-^). Der Name Altenstadt für den
nördlichsten Teil Matreis, noch mehr aber die Römerfunde an dieser Stelle
zeigen es an, daß hier ein römischer Posten mit der Front nach Norden gelegen
haben muß. Von hier aus ging als älteste, vorgeschichtliche Straße diejenige
nach Hall nordwärts ab, während in die heutige Brennerrichtung der Straßenbau
erst von den Römern gelegt worden ist. Das systematisch langsame Vorschreiten
der Römer nach Norden, dem dann erst der Straßenbau selbst folgte, läßt sich
dann auch noch an der Lage von Veldidena erkennen, das dicht an der Schwelle
der Talsohle, nicht aber an der unbedingt wichtigsten Stelle des späteren Inns-
brucks d. h. am Innübergang angelegt worden ist.
106 VI. Kapitel.
Wenn heute die nördliche Fortsetzung der Brennerlinie infolge der Erbauung
der Eisenhahn für allen Verkehr überwiegend den Weg durch das Unterinntal
eingeschlagen hat, um in die nördliche Ebene zu gelangen, so berechtigt dieses
doch noch lange nicht zu der Anschauung, diesen Strang nun auch für alle Zeiten
als eine Verkehrslinie erster Ordnung gelten zu lassen. Zu Beginn des Zeitalters
der Eisenbahnen mußte allerdings bei dem kostspieligen Bau dieser Wege
natürlicherweise zunächst die leicht ausführbare und sicheren Gewinn bringende
Linie durch das volkreiche Unterinntal in das Leben treten, an die sich dann
wie von selbst die eigentliche Brennerbahn anschloß. Hier entstand also das
Verkehrsbild, das wir jetzt Glied für Glied zu einer großen Weltlinie, der
Brennerbahn, verbunden sehen, abschnittsweise nacheinander unter Rücksicht-
nahme auf die zunächst liegenden lokalen Gesichtspunkte und führte demnach
zu einem Resultat, das den Verkehrslinien der früheren Zeiten ganz entgegen-
gesetzt ist und von dem wir auch nicht annehmen können, daß es großen Ver-
änderungen und neuen Gesichtspunkten der Zukunft standhalten wird. Denn
als geschichtlich gleichwertig existieren seit den ältesten Zeiten neben der Linie
durch das Unterinntal noch zwei andere Verbindungen von Veldidena nach
Norden, die Straße über die Scharnitz nach Partenkirchen und die über den
Fernpaß. Jede dieser drei Linien ist auch schon im Verlaufe der Herrschaft
der Römer in Gebrauch genommen worden, und hat eben das Vorhandensein
dieser zahlreichen und bequemen Verbindungen durch die Voralpenkette es den
Römern in erster Linie ermöglicht, das den Alpen hier vorliegende und sich bis
zur Donau erstreckende Gebiet sehr lange, und besonders trotz aller Limesbauten
viel länger als das westlich benachbarte Dekumatland festzuhalten.
Die kürzeste und zielgerechteste dieser drei Linien ist die über die Scharnitz,
nicht bloß für eine Lokalverbindung zwischen Veldidena und dem Austritte in
die nördliche Ebene, sondern auch im großen für den Verkehr zwischen Verona
und Augsburg; denn diese beiden Orte erscheinen durch eine Straße über den
Brenner und die Scharnitz tatsächlich fast geradlinig verbunden. So war es ganz
natürlich, daß in dem Maße wie Augsburg bedeutend wurde, auch gerade dieser
Straßenzug an Wichtigkeit gewann, und daß die Römer diesen früher und
gründlicher als die beiden anderen Linien gebahnt und für den militärischen
Verkehr benutzt haben.
Auf Zirl aber, woselbst der eigentliche nördliche Anstieg dieses Straßenteils
auf das Gebirge wieder beginnt, waren von Innsbruck aus während der Römer-
zeit zwei Zugänge gerichtet. Der eine, ältere, führte direkt von der Stelle des
ältesten Veldidena aus über die römisch benannten Orte Völs und Kematen nach
dem Innübergang von Perfus (per flumen). Von letzteren Orten ausgehend hat
dann auch der römische Verkehr im Stubai und selbst in dem heute ganz ent-
legenen Sellrain angepocht, während der zweite bequemere Zugang nach Zirl
über das heutige Hötting und Kranebitten und entlang des linken Innufers dann
Die Römerstraßen der Alpen. 107
durch den Bau der Römerbrücke bei Innsbruck selbst entstanden ist. Auf dem
nördlichen Abfall des Seefelder Überganges finden sich dann Römerspuren, und
zumeist von ausgesprochen militärischem Charakter in Scharnitz selbst und
ebenso zwischen Mittenwald und Partenkirchen. An der Stelle ihres nördlichen
Austritts in die Ebene zeigt jene Scharnitzer Straße dann dasselbe Gesicht wie
die Brennerstraße bei Innsbruck, insofern sie sich ebenfalls hier nach der
nördlichen Richtung hin in verschiedene Straßenzüge auseinander spaltet. Von
diesen Ausstrahlungen sind zur Römerzeit jedoch nur die beiden westlichen,
nach Augsburg zielenden, in Gebrauch gewesen, und zwar als älteste zunächst
die heute noch in ihrer ganzen Länge als Landstraße in Gebrauch befindliche
Linie Partenkirchen — Oberau, die dann von Schongau aus vom Lech begleitet
wird, während später auch noch von den Römern die von Partenkirchen westlich
über Murnau und den Ammersee auf Augsburg laufende Straßenlinie hergestellt
worden ist.
Im Gegensatz zu dieser Straße haben wir bei der Straße über den Fernpaß
keinen Anhalt, daß dieselbe sogleich nach der wirklichen Erbauung der eigent-
lichen Brennerstraße von den Römern von Staatswegen als besonders wichtig
behandelt worden wäre. Dagegen liegen genug Anzeichen vor, daß der ungeleitete
Handelsverkehr des Römerreichs schon sehr früh jene Straße benutzt haben muß,
und schon deshalb muß dies der Fall gewesen sein, weil die Stadt, die für den
Verkehr nach Süden ganz besonders auf den Fernpaß angewiesen ist, Kempten,
schon im zweiten Jahrhundert nach Ch. eine besonders große bürgerliche Nieder-
lassung gewesen ist. Daß die Straße über den Fernpaß überhaupt unter den
Römern in Gebrauch war, ist durch zahlreiche Münzfunde an ihrem Nordausgang
bei Füssen und Reutte erwiesen; ebenso finden sich aber auch die Spuren des
römischen Reiseverkehrs südlich des Passes, und zwar sowohl auf dem westlich
von Imst und Landeck wie auf dem östlich von Telfs und Veididena heran-
führenden Ausläufer. Hier haben wir westlich die bezeichnenden Ortsnamen
Stradt und viel Römerfunde bei Tarranz, während die Inschrift eines bei Zirl
gefundenen Meilensteines, allerdings erst für das dritte Jahrhundert nach Gh.,
hier sogar das Dasein einer regelrechten Römerstraße von Bregenz und Kempten
nach Veididena sicherstellt, eine Tatsache, die durch den Klang des an dieser
Linie liegenden Ortes Dormiz (dormitium) nur gestärkt werden kann. Dieses
Dormiz ist der Vorläufer des heutigen Ortes Nassereith, das jetzt hier als Nacht-
station dient. Nur spiegelt die Lage von Dormiz das Verkehrsbedürfnis der
Römerzeit insofern klarer wieder, als dieses allein an dem nach Veididena
führenden Ast der Fernlinie gelegen ist, während an der Stelle des heutigen
Nassereith sowohl die von Landeck wie' die von Innsbruck nach dem Fernpaß
zuführenden Linien zusammentreffen.
Für den Ausbau der von dem Bodensee bis zum Inn über den nördlichsten
Wall des Gebirges führenden Straßen, ebenso wie für die Entwickelung des vor
108 VI. Kapitel.
demselben liegenden nördlichen Vorlandes lassen sich während der Römer-
herrschaft drei bestimmte Perioden erkennen, deren jede von bestimmten geschicht-
lichen Ereignissen ihren Ausgang genommen hat. Die erste begann mit der ersten
Eroberung des Landes, eine Periode, während der außer der Festlegung der
Donaugrenze und der Anlegung der wichtigsten Punkte (wie Augsburgs) hier
wenig von Staatswegen geschehen ist, während die zweite von der Annexion des
Dekumatlandes und mehr noch von der Unterwerfung Daciens durch Trajan, die
auch aus der Ferne hier einwirkte, anhebt. Es war dieses die Zeit, in der das
Römerreich dazu kam, nördlich der Alpen jenen großen Kolonnenweg vom Ober-
rhein nach der mittleren Donau herzustellen, der als solcher, an Augusta und
Juvavum vorüber, nun auch Vindelicien durchquerte. Von Anfang des zweiten
Jahrhunderts nach Ch. an ist daher nun auch auf den von Süden auf diesen
Kolonnenweg zuführenden Linien regeres Leben zu spüren; hierzu gehört die
Entwickelung Kemptens und Augsburgs zu bedeutenderen Städten und besonders
das erste Entstehen der durch das Unterinntal führenden Römerstraße, die dann
während des dritten und vierten Jahrhunderts eine ganz gebräuchliche Bahn für
den Reise- und Lokalverkehr werden sollte. Zwar war diese letztere Linie durchaus
keine wichtige Militärstraße, trotzdem aber belebt und reichlich mit Stationen
besetzt, derart, daß heute hier zwischen Innsbruck und Rosenheim fast alle wich-
tigen Orte am Innufer den Anspruch erheben, von Römergründungen ausgegangen
zu sein. Vor scharfer Kritik hält von allen diesen noch am besten Schloß Matzen
als die alte Römerstation Masciacum Stand.
Die dritte Periode, die das bayerische Vorland unter der Römerherrschaft
erlebt hat, beginnt dann aber nach den Markomannenkriegen Mark Aureis, mit
deren Ausbruch Vindelicien, das' vorher zumeist nur ein Durchmarschgebiet
vom Rhein nach dem Osten des Reiches gewesen war, nun plötzlich auch selbst
zu einem wichtigen Grenzgebiet mit nördlicher Front wurde und wo nun auch
die militärische Verwaltung fest durchgreifen mußte. Jetzt wurde, nachdem durch
Septimius Severus die ganze Brennerstraße von Bozen bis Augsburg regelrecht
ausgebaut worden war, als militärische Zentrale dieses nördlichen Vorlandes
Castra Urusa (Pähl am Ammersee), an der Stelle, wo sich die Straße nach Augs-
burg mit der westöstlich ziehenden Kolonnenstraße kreuzte, eingerichtet. Selbst
die Hauptverbindung nach dem nördlichsten militärischen Posten Vindeliciens,
dem neu befestigten Regensburg, scheint damals nicht durch das Unterinntal und
über Pons Aeni, sondern über Parthanum und Urusa gelaufen zu sein; denn die
Römerspuren, die ähnlich wie bei Partenkirchen und Füssen auch am Austritt
jener ersteren Richtung in die Ebene, d. h. entlang des Innufers zwischen Kuf-
stein und Rosenheim, zahlreich zu finden sind, brechen nördlich Pons Aeni plötz-
lich ab. Ebenso fehlen aber auch weiterhin nördlich alle stärkeren Andeutungen
für eine römische Ortsgründung in der Nähe des heutigen Landshuts, die bei
einer wichtigeren römischen Verbindung nach Regensburg von Kufstein aus an
Die Römerstraßen der Alpen. 109
jenem Orte schon des Isarüberganges wegen unbedingt nötig geworden wäre.
Gerade deshalb aber, weil beim Anmarsch auf Regensburg von Castra ürusa
aus ein solcher Uferwechsel entbehrlich blieb, wird jene direktere Linie — Aus-
tritt des Unterinntals bis Regensburg ~ als Militärstraße von den Römern trotz-
dem wenig benutzt worden sein.
Die Straßen der Ostalpen.
Während in den West- und Zentralalpen die Ausdehnung des Gebirges von
Süd nach Nord geringer, das Massenhafte und die Höhe der Berge aber größer
sind, macht sich nunmehr vom Brenner aus östlich im Bild des Gebirges vor
allem der Einfluß der von West nach Ost streichenden Gebirgsketten geltend,
während außerdem die Höhe der Berge selbst geringer, die Ausdehnung des
Gebirges von Süd nach Nord dagegen größer wird. Dies ergibt für den Teil
des Gebirges, den wir nunmehr betreten, auch von selbst eine andere Beschaffen-
heit der Verkehrswege. Zwar haben die von Süden nach Norden das Gebirge
durchquerenden Verbindungen jetzt nicht mehr nötig, mit gewaltiger Anstrengung
auf die niedriger gewordenen Kämme heranzusteigen; dagegen wird nun die
Länge des Weges von dem einen Ziel zu dem anderen durch die Alpen hin-
durch größer und erfordert außerdem stets noch den An- und Abstieg über
mehrere Kämme. Besonders machen sich jetzt aber auch für die Gestaltung des
Verkehrslebens neben den Nord -Südlinien stärker die innerhalb des Gebirges
zahlreich und in längerer Ausdehnung von West nach Ost streichenden Ver-
bindungen geltend.
So zeigt das Verkehrsnetz der Ostalpen, anders als in den übrigen Alpen-
gebieten, viel zahlreichere, aber auch viel kürzere Glieder, die zueinander in
lebhafteren aber auch wechselnderen Beziehungen stehen. Besonders bilden jetzt
die von Süd nach Nord laufenden Verbindungen nicht mehr ohne weiteres derart
ein geschlossenes Ganze, daß die Ereignisse an dem einen Ausgange dieser
Linien auch zugleich an dem entgegengesetzten zu spüren wären, und somit eine
einzige Maßregel über das Schicksal der ganzen Verbindung zu bestimmen ver-
möchte, sondern diese Linien sind jetzt vielmehr lediglich Straßenrichtungen, die
sich aus verschiedenen, fast selbständigen Gliedern zusammensetzen und sich
nur annähernd zu dem gleichen Zweck vereinigen. Deshalb mußten die zahl-
reichen und verschiedenartigen Straßen der Ostalpen es auch dem Willen eines
Einzelnen viel mehr erschweren, sie in ein bestimmtes System zu fassen; mehr
als anderswo hat daher hier der Zufall oder die von selbst heraufgekommene
Entwickelung der Zeiten das Geschick der Straßenzüge bestimmt.
Schon für die Zeiten der Römer ist dies von Geltung. Auch bei den
römischen Straßenanlagen in diesem Alpengebiet finden wir weniger die großen
Gesichtspunkte, die den Maßnahmen dieses Volkes sonst eigen sind. Auch im
römischen Altertum sind in dem Raum zwischen Brenner- und Birnbaumerstraße
110 VI. Kapitel.
alle Straßenzüge nur schrittweise und so entstanden, wie es das Bedürfnis, das
anfangs zumeist nur ein wirtschaftliches, später dagegen wieder nur ein militäri-
sches war, erforderte. Daher sind auch hier an den Straßen wohl genug römische
Niederlassungen aber viel weniger als anderswo die Spuren zielbewußter Grün-
dungen zu erkennen. Ein weiterer Grund für diese Erscheinung ist aber auch,
daß wenigstens das südliche Norikum bis zum Beginn der Völkerwanderung
vielleicht als die ruhigste und sicherste aller römischen Alpenprovinzen gelten
konnte; denn nördlich hielt die Donaufront von Regensburg bis Carnuntum und
östlich die ausnehmend starke pannonische Front zunächst alle Stürme von diesem
Lande ab.
Daher konnte das norische Straßenbild, mehr noch als das rätische, seine
Wurzeln völlig in dem Handelsland Venetien verankern. Nur ist dabei zu be-
denken, daß die großen lohnenden Absatzgebiete Venetiens zur Römerzeit weniger
in Norikum, als vielmehr in erster Linie genau im Osten und Süden jenes Lan-
des lagen, und Norikum anfangs wenigstens für Venetien kein allzu fruchtbarer
Boden war, weil jenem selbst wieder das nördliche Hinterland fehlte. Erst nach
und nach hat sich der Verkehr auch in diese nördlichen Alpengebiete gezogen.
Wie sehr daher zur Römerzeit das Kulturbild hier im Grunde ein anderes war,
als später zu den Zeiten, als Venetien zum zweiten Male wieder im Mittelalter
die Zentrale des europäischen Handels wurde, erhellt sofort daraus, daß zur
Römerzeit von der im Tal der Piave nach dem Pustertal ziehenden Ampezzaner
Straße noch keine Ansätze zu spüren sind, während diese doch im Mittelalter,
als Venedig mit dem Gesicht nach Norden wies, von allergrößter Wichtigkeit
war. Zur Römerzeit genügte für den Verkehr nach der oberen Donau zunächst
vollkommen die von Feltria durch das Suganatal nach der Brennerstraße ein-
lenkende Staatsstraße und ebenso auch die Ploeckenstraße in Verbindung mit
dem westlichen Teile der Pusterlinie. Im Tal der Piave selbst aber finden sich
Römerspuren nur in Belluno und nicht weiter nördlich als bis Castell Lavazzo-
Laebactes. Überhaupt ist das südlich der Karnischen Alpen liegende Bergland,
das heute als die Venetianer Alpen bezeichnet wird, schon damals dasselbe stille
und abseits der großen Verkehrsstraßen liegende Bergland, wie es auch fast zu
allen späteren Zeiten geblieben ist; denn den dasselbe durchziehenden und nach
Norden gerichteten Verbindungen fehlt durchaus die Energie des Verkehrs, da
jene Straßen, wohl sämtlich in das verkehrsfreundliche Pustertal ausmünden,
von dort aus aber Schwierigkeit haben, eine zielgerechte Weiterführung nach
Norden zu gewinnen.
Auch die älteste dieser Paßlinien, die Straße über den Ploecken, besitzt keine
andere Eigenschaft. Die Ploeckenstraße, die in geringen Umwegen vom süd-
lichsten Tagliamento über den Kamm der Karnischen Alpen und durch das
Gailtal nach dem Drautal führt, ist darum eine für die Ostalpen besonders
charakteristische Straße, weil sie an keiner einzigen Stelle der Straßenlegung
Die Römerstraßen der Alpen. 111
ernstliche lokale Schwierigkeiten zu bereiten vermag. Im Altertum war sie aber
außerdem um deswillen noch besonders wertvoll, weil sie südlich direkt in die Um-
gebung von Aquileja auslief. Von der Benutzung der Ploeckenstraße schon vor
Auftreten der Römer aber haben wir heute die untrüglichsten Zeugnisse durch
die Ausgrabungen von Gurina, einem Orte am Nordabhang des Ploecken- Passes,
wo die Funde bis in das vierte Jahrhundert vor Ch. zurückgehen. Diese Straße
ist somit nach dem Stande der heutigen Forschung neben der Straße über den
Birnbaumer Wald der älteste Alpenweg der Ostalpen, dessen Kenntnis Strabo
und Polybius nur deshalb entgangen ist, weil eben die Gebiete, nach denen die
Ploeckenstraße nördlich zielte, damals noch ganz unbekannt waren. Der Tatsache
aber, daß diese Straße noch zu Anfang des Kaiserreichs zwischen Brenner und
Birnbaumer Straße der einzig begangene Übergang der Ostalpen gewesen sein
kann, entspricht es auch, daß als die Julier hier die Organisation in die Hand
nahmen, hier als erster und einziger Straßenpunkt Zuglio (Julium Carnicum), das
für keine andere als nur für diese Richtung dienen konnte, gegründet wurde. Von
einer eigentlichen Straßenlegung weiter nördlich über den Ploecken- Übergang
selbst erfahren wir dagegen damals noch nichts, auch ist eine solche nicht wahr-
scheinlich, da die erste große Römerstraße, die in den Ostalpen in der Kaiser-
zeit nötig wurde, nur eine solche von Venetien aus nach Norikum sein konnte.
Diesem Bedürfnis mußte aber die Straße über den Pontebba-Paß viel besser
als die Ploeckenstraße genügen, da jene eine überwiegend kürzere Verbindung
nach dem aussichtsreichen Mittelpunkte Norikums, der Ebene von Virunum, ge-
währleistete. Die Vorzüge der Ploeckenstraße, zuverlässige Beschaffenheit des
Straßenkörpers und zielgerechte Richtung nach Norden bis zum Pustertal, die
diese Straße zu jeder Zeit ganz besonders dafür qualifiziert haben, die Teilstrecke
einer für den Süden wichtigen Militärstraße nach Norden zu tragen, kamen da-
gegen erst am Ende des römischen Kaiserreichs zur vollen Geltung, als über
den Ploeckenpaß lediglich aus kriegerischen Rücksichten eine vollendete Militär-
straße gebaut wurde.
Wie Curia die Tochter des Julier, Virunum die der Pontebba-Straße ist, so
kann man Aguntum und ihre spätere Nachfolgerin Lienz als eine Tochter der
Ploeckenstraße bezeichnen; denn diese mündet, nachdem sie in Loncium-Mau-
then das Tal der Gail passiert hat, dann weiter nördlich in das Pustertal und in
den Bereich jener Stadt ein. Die Bedeutung von Lienz weist nicht so sehr nach
Norden oder nach der von West nach Ost ziehenden Pustertalstraße, sondern süd-
lich nach der Verbindung mit Italien; denn sobald die Ploeckenstraße stark in
Gebrauch war, ist auch Lienz bedeutend gewesen. Dies war aber nicht bloß im
Mittelalter, sondern auch schon im Altertum der Fall, als Aguntum gerade zu
Ende der römischen Kaiserzeit als ein wichtiger Ort erscheint. Gerade bei Lienz
sind die Römerfunde stets viel zahlreicher gewesen als weit und breit in der
Nachbarschaft; denn schon damals fiel jener Stadt die Aufgabe zu, hier den regen
112 VI. Kapitel.
von Italien heraufgekommenen Verkehr nach den anderen drei Himmelsrichtungen
zu verteilen.
Mit Aguntum haben wir die lange von Virunum bis nach dem heutigen
Franzensfeste hinziehende Längslinie des Pustertales betreten. Die eigentliche
Bedeutung des Pustertales für den römischen Verkehr ergibt sich noch aus den
Stationen des Antoninischen Reise-Verzeichnisses, nach dem die südlich von Ita-
lien über den Ploeckenpaß in das Pustertal gelangte Straße bei Aguntum mit
ihren Stationen nicht nach Norden oder Osten sondern westwärts nach der
Brennerlinie abschwenkte. Das Pustertal war demnach während der Hauptzeit
der Römerherrschaft zunächst nur ein weniger wichtiges Verbindungsglied nach
der damals noch in viel weiterem Umkreis nach Osten herrschenden Brenner-
straße. Seine größere Wichtigkeit für das europäische Verkehrsleben hat es dann
aber erst in späteren Zeiten erlangt, durch die Bestimmung, die Beziehungen
zwischen dem Herzen der Alpen und dem Osten Europas herüber und hinüber
zu leiten, und je mehr die Verhältnisse in dem östlichen Donauland auf ganz
Mitteleuropa von Einfluß gewesen sind, um so belebter ist daher auch das Puster-
tal gewesen. Im Altertum beginnt sich dieses Verhältnis aber erst nach der
definitiven Beruhigung des Ostens durch die Dacischen Kriege Trajans geltend
zu machen, um dann im Verlaufe der Völkerwanderung immer stärker hervor-
zutreten. Es ist deshalb auch sehr bezeichnend, daß die Funde römischer
Münzen im Pustertal erst von der Zeit der Adoptiv- Kaiser an regelrecht be-
ginnen.
Von Aguntum aus lief die römische Pustertallinie, die nach Überschreiten
der Kammhöhe bei Abfaltersbach in dem breiten, trockenem Tal nirgends lokale
Schwierigkeiten fand, westwärts zunächst nach Littanum, das nur an die Stelle
des heutigen Innichen gesetzt werden kann. Mehr als ein einfacher, mit einem
Namen versehener Stationspunkt wird dieses Littanum unter den Römern jedoch
kaum gewesen sein, wie Innichen überhaupt zu alten Zeiten zwar den Bereich
einer wichtigen Grenz- und Übergangszone bezeichnet, als bewohnter Ort jedoch
stets wenig zu bedeuten gehabt hat. Ein daselbst gefundener, aus dem dritten
Jahrhundert nach Ch. (Gordian) stammender Meilenstein bestätigt nur die An-
nahme von der Benutzung der Pustertalstraße in den späteren römischen Jahr-
hunderten. Der nächste Römerort, annähernd im gleichen Abstand wie Littanum
von Aguntum entfernt liegend, findet sich dann in Sebatum, bei dem heutigen
St. Lorenzen. Die Bedeutung, die dem Umkreis dieses Ortes von altersher
anhaftet, findet sich heute in der östlich benachbarten Stadt Bruneck verkörpert.
Bei St. Lorenzen durchschneidet zur Römerzeit die von Süd nach Nord laufende
Westgrenze Norikums das Pustertal, und die reichlichen und häufigen Römer-
funde an der Stelle des Dorfes Pflaurenz am Eingange des Enneberger Tales geben
die genauere Lage von Sebatum an dieser Stelle an. Und während am westlichen
Ende des Pustertals der Hauptstrang die Richtung nach Norden über die Ladritz-
Die Römerstraßen der Alpen. 113
scher Brücke und Aicha nahm, ist hier auch schon für diese Zeiten, analog dem
heutigen Straßenbiid, eine der ersteren untergeordnete Verbindung nach Süden
durch die alten Ortsnamen Nauders, Vill und Viums festgelegt.
Während nun im Verlauf der Römerherrschaft der südöstliche Teil Norikums
d. h. etwa das heutige Kärnten trotz seines durchaus nordländischer Charakters
mit aller südlichen Kultur überzogen war und beinahe als Teil von Italien selbst
gelten konnte, nimmt im Gegensatz hierzu das Innere Norikums, d. h. die zu
den Flußgebieten der Salzach und der Enns gehörigen Berggegenden, eine ganz
andere, viel stillere Entwickelung. Die Übergänge über die Tauern, die vom
Pustertal ausgehend schließlich in das Gebiet des Inn und der Salzach hinüber-
führen, sind, weil sie von Urzeiten her stets dem Lokalverkehr gedient haben,
wohl sämtlich von dem Hauche alter Geschichte umweht. Für die Möglichkeit,
Nord-Süd-Verbindungen erster Ordnung abgeben zu können, drückt sie jedoch
sämtlich ein gleiches, ungünstiges Geschick; dazu fehlt ihnen infolge der Höhe
der Joche die gute Wegbarkeit auf den Pässen selbst, besonders aber der für
die Fortsetzung nach Süden wie nach Norden notwendige direkte, Umwege und
andere Höhenübergänge ersparende Anschluß an die anderen Nord -Südlinien.
Während nördlich von Innsbruck sich sofort an den Abstieg vom Brenner als
gute nördliche Fortsetzung die Linie Seefeld -Partenkirchen ansetzt, muß selbst
der betretenste der inneren Tauernübergänge, der Velber Tauern, sich von
Windischmatrei auf und ab über Kitzbühel und Saalfelden nach der nördlichen
Ebene hinauswinden, während ebenso sein bequemster Zugang von der südlichen
Seite, die Ploeckenstraße, nicht unmittelbar an seiner Schwelle bei Lienz, sondern
bereits ein ganzes Stück östlich entfernt das Tal der Drau betreten hat. Daher
ist auch niemals der Versuch wahrzunehmen gewesen, über die inneren (west-
lichen) Tauern- Übergänge regelrechte Straßen zu legen, während es sich bei den
Übergängen am östlichen Ende der Tauernkette, am Mallnitzer- und Radstädter
Tauern, freilich anders verhält. Hier hat die Möglichkeit, diese Linie bequemer
und lohnender nach der Kärntner Zentrale Villach- Klagenfurth auslaufen lassen
zu können, eher ein solches Straßenprojekt aufkommen lassen; natürlich konnte
dies aber nur in solchen Zeiten geschehen, wenn die Straßenbautätigkeit gerade
mit besonderer Energie in den Ostalpen einzusetzen Grund hatte.
Wie zu aller Zeit ist auch zur Römerzeit der natürliche nördliche Vorort
des ganzen Tauernsystems die Stadt Juvavum- Salzburg, von wo aus die Zugangs-
linien fächerförmig nach Südwesten, nach dem Salzachtal, das wiederum die
Schwelle der Tauernübergänge bildet, abgehen. Salzburg selbst, an einer der
wohnlichsten Stellen des Nordrandes der Alpen gelegen, schützt seinerseits wieder
dieses südwestlich von ihm gelegene Hinterland, welch' letzteres ihm von der
Natur, ähnlich wie Trient seine Nebentäler, als bleibendes Herrschaftsgebiet ge-
schenkt ist. Dieses Hinterland von Juvavum ähnelt zu Römerzeiten in seinem
Geschick dem Teile des zwischen dem Julier und der Reschenstraße gelegenen
Sc h crfel, Verkebrsgescbichte der Alpen. I.Band. 8
114 VI. Kapitel.
Rätiens; denn auch jenes ist damals bis tief in die Zeiten der Völkerwanderung
hinein stets ein abgelegenes, der Geschichte entzogenes Gebiet geblieben. Auch
Juvavum selbst finden wir zur Römerzeit mit keiner Kunde irgend eines ge-
schichtlichen Ereignisses verknüpft; um so sprechender tritt uns dagegen das
Wesen und die Bedeutung dieser Stadt aus den hier an das Licht getretenen
Ruinen und Funden entgegen.
Die aus den Ortsnamen ersichtliche rätische Volksinsel bei Juvavum 24) und
ebenso die von der Beschäftigung mit der Salzgewinnung herrührenden vor-
geschichtlichen Funde von Hallein und Reichenhall machen es stärker als anderswo
in Süddeutschland zur Gewißheit, daß sich an der Stelle Salzburgs schon vor
Platzgreifen der Römer ein größerer Ort befand, in dem dann die Römer, wie
überall da, wo sie keinen größeren Widerstand gefunden hatten, ungestört weiter
bauten. Wie zumeist im ganzen Osten der Alpen war daher auch Salzburg erst
in zweiter Linie Militärgründung und schon längst ein belebter Ort, als ihm dann
das zweite Jahrhundert nach Ch. auch seine große Bedeutung als Straßenpunkt
brachte. Zunächst wurde Salzburg zu Beginn dieses Jahrhunderts eine Haupt-
station auf der militärischen Längsstraße Augusta-Carnuntum. Gerade die Tat-
sache, daß jene Straße um östlich weiter nach Ovilava=Wels zu gelangen nicht
auf der kürzeren Linie, in der heute etwa die Eisenbahn München -Wels läuft,
sondern über Juvavum selbst gelegt wurde, ist ein Zeichen dafür, daß diese Stadt
schon damals der Hauptort des nördlichen Norikums gewesen sein muß. Jene
Straßenlegung ist aber für Salzburg nun auch für alle Zeiten vorbildlich geworden;
denn seine Bedeutung für den Verkehr liegt vor allem in der horizontalen und
erst in zweiter Linie in der vertikalen, nach den Alpen hin führenden Richtung. Als
nordsüdlicher Straßenpunkt erlangte Salzburg dagegen erst zu Ende der Römer-
herrschaft infolge der Erbauung der Straße über den Radstädter Tauern einiger-
maßen Wichtigkeit.
Im Weichbild von Salzburg selbst nun läßt sich das alte römische Straßen-
bild heute noch leidlich zurückkonstruieren. Westlich der Stadt kündet sich die
vom Chiemsee herankommende alte Hauptstraße zunächst in dem Ortsnamen
Straß an; dann folgte wie heute noch der Uferwechsel über die Saalach bei Frei-
lassing, während der noch wichtigere Übergang über die Salzach innerhalb des
Raumes der heutigen Stadt selbst stattgefunden haben muß. Die Gabelung jener
Hauptstraße erfolgte dann auf dem östlichen Ufer der Salzach, und zwar derart,
daß die Haupt- und Kolonnenstraße nordöstlich in die Ebene zog, um über
Gniggl und Straßwalchen nach Enns zu gelangen, während die Richtung nach
Süden, nach den Bergen zu, nach Aigen abging; an dieser letzteren, nach der
Heimat zu, liegen die antiken Gräber; bei Salzburg fehlt also nichts, um das
Bild einer völlig ausgewachsenen römischen Ansiedelung auf nordischem Boden
vollständig zu machen.
Diese lang andauernde Verdichtung des römischen Wesens auf dem Boden
Die Römerstraßen der Alpen. 115
Juvavums mußte nun auch einigermaßen die Fäden römischer Kultur in das sonst
wenig verlockende südliche Bergland hineintreiben. Als Verbindung nach Süden
konnte zunächst schon aus lokalen Gründen wegen der Lage des uralten Salz-
ortes Hallein, auch bevor Septimius Severus hier die Reichsstraße baute, nur
das Salzachtal selbst dienen. Neben Juvavum und seiner nächsten Umgebung
finden sich dann die Spuren stärkerer römischer Bewohnung zunächst aus Anlaß
der Salzquellen in Reichenhall, nach dem wie heute von Juvavum aus die Straße
über Maxglan abging und in dessen Nähe die Orte Marzoll und Nonn mit ihren
Römerresten vorhanden sind. Es liegt sehr nahe, den Versuch zu machen, diese
Römerspuren nun auch entlang der von hier aus ansetzenden, leidlich zielgerecht
nach Süden dringenden Linie des Saalachtales weiter zu verfolgen. Solche Spuren
sind auch tatsächlich zunächst bei Lofer vorhanden, zu dem aber vielleicht der
Saumweg nicht wie heute auf dem linken, sondern auf dem rechten Saalachufer
über Reit hinführte. In Lofers Umgebung selbst aber haben sich Funde aus der
Römerzeit an zwei sehr bezeichnenden Punkten, einmal an der Schwelle des
Strubbtales, wo die uralte von der Natur vorgezeichnete Verbindung zwischen
Juvavum und Veldidena das Saalachtal verläßt, und südlich bei Gumping, das
wohl die Stelle eines Uferwechsels war, gefunden. Es ist interessant zu erwähnen,
daß an der Stelle, wo Gumping liegt, seit altersher die Sage gehaftet hat, daß
hier eine Stadt begraben liege, — also wiederum ein Fall, wo die Tradition der
Wissenschaft frei in das Gesicht sehen kann, wenn diese nur den guten Willen
hat, ihre schlichte Schwester recht zu verstehen. Dem nächsten Römerrest be-
gegnet man dann südlich in einem Römerstein in St. Martin; das Tasten der
Römer richtete sich hier also — wiederum ein Beweis für die damalige geringe
Erschließung des ganzen Berglandes, das östlich der Innlinie Innsbruck- Kufstein
liegt, — nicht nach Südwesten, sondern durchaus nur nach Süden. Als weitere
Anzeichen, die in dieser Richtung noch auf altes Römertum deuten können, finden
sich dann noch weiter südlicher die Namen des Goetzenschlosses bei Oberweiß-
bach und die Alpe Kematen an den einsamen Abhängen des Berchtesgadener
Landes und als letztes wohl schließlich ein spärlicher Münzenfund und der Orts-
name Marzon bei Saalfelden. Östlich von dieser Linie aber, im Herzen des
Berchtesgadener Landes, erscheinen, jedoch nur wie Stäubchen, um das Bild
eher zu trüben als zu erhellen, die Ortsnamen Illsank und Engadein, die dort
auf eine vorgermanische Besiedelung schließen lassen.
Auch im ganzen Pinzgau kann herzlich wenig an das vorgermanische Alter-
tum erinnern. Ein gleiches gilt von den Übergängen über den Krimmler und
Heiligenbluther Tauern, während der zwischen diesen liegende sogenannte Vel-
ber Tauern schon den Römern bekannt gewesen sein muß. Dies beweisen nicht
bloß der Name seines südlichen Vorortes (Windisch) -Matrei und die dortigen
Funde von Römermünzen, sondern besser noch die halb römischen halb rätischen
Namen Virgen, Prägratten, Göriach, Umbaltal in seiner Umgebung. Östlich dieses
8»
116 VI. Kapitel.
Tauernüberganges finden sich am nächsten gleich ahe Anklänge erst am Mallnitzer-
Tauern. Auch hier sind es nicht so sehr die Reste des sogenannten Römer-
oder Heidenweges, der über die Paßhöhe selbst zieht und der mit der Eröffnung
des Bergbaues in der Rauris und im Gasteiner Tale gleichaltrig sein wird, als
vielmehr die zahlreiche Gesellschaft rätoromanischer Namen, die, sobald jener
Weg südlich das Mölltal betreten hat, anheben und von hier aus sowohl nach
Süden (Aguntum) wie nach Südosten (Teurnia) hinziehen, welch' letzteres im
Drautal an Stelle des heutigen St. Peter im Holz zu suchen ist. An dem zuerst
genannten südwestlichen Abstieg liegt u. a. besonders der alte Ortsname Stalla,
während die Benutzung des anderen, nach Teurnia führenden Weges durch die
Römer durch die Funde auf dem Danielsberg bei Kolbnitz erwiesen ist. Die
Römerreste an der Endstation dieser Linie, auf dem Boden des alten Teurnia,
sind freilich etwas geringfügiger gewesen, als es der im Altertum leidlich oft ge-
nannte Ort erwarten ließ ; wahrscheinlich hat aber hier der Wechsel des Drau-
bettes vieles verwischt. Im Grunde pendelt jedoch jede Straße über den Mall-
nitzer Tauern, ebenso wie ihre östliche Nachbarin, die Straße über den Radstädter
Tauern, nicht direkt nach Süden, sondern vielmehr nach Südosten, nach Virunum
herab, und jene Übergänge sind deshalb auch allein von diesem Orte aus in das
römische Wegesystem einbezogen worden, gleich wie auch heute die über den
Mallnitzer Tauern im Bau befindliche Eisenbahn wieder nach dem gleichen
Knotenpunkt auslaufen soll.
So kündet sich auch an dieser Seite der Herzschlag des norischen Verkehrs-
mittelpunktes, des in der weiten, mitten in das Bergland eingebetteten Drauebene
gelegenen Virunums an, das — so wichtig es selbst auch für die umliegenden
Alpengebiete war — seinerseits vor allem wieder mit seinen HauptFäden südlich
in der venetianischen Handelszentrale wurzelte. Der Brennpunkt des venetiani-
schen Festlandes lag damals an dessen äußerstem östlichen Ende, in Aquileja.
Dreimal hat diese Stadt während des römischen Altertums ihre Bestimmung ge-
wechselt; denn nachdem sie nach Unterwerfung des Ostens und Nordens ihrer
ersten Aufgabe, als großer strategischer Wachtposten zu dienen, enthoben worden
war, wurde ihr dann zunächst das angenehme Schicksal einer blühenden Handels-
stadt zu teil, der nördlich Norikum und östlich Pannonien als unbestrittene
Absatzgebiete ausgeliefert waren. Am Ende des Römerreichs wurde Aquileja
dann aber schließlich wieder auf seine erste Bestimmung, auf die eines Boll-
werkes für Italien, zurückgeworfen. Als Hauptort Venetiens mußte nun aber
Aquileja auch der unbedingte Straßenmittelpunkt dieser ganzen Zone werden.
Das Verkehrsbild aber, so wie es sich hier seit Augustus Zeiten gestaltete, hat
auf der italienischen Seite damals im Grunde schon genau dieselbe Beschaffen-
heit wie in der Jetztzeit gezeigt, nur mit dem Unterschiede, daß heute das viel
weiter südwestlich liegende Venedig an die Stelle Aquilejas getreten ist. Heute
laufen westlich vor Venedig in Padua die Bahnen aus dem Süden Italiens und
Die Römerstraßen der Alpen. 117
die aus dem Westen, von Verona her, zusammen, während im römischen Alter-
tum der westlich von Aquileja liegende Ort Concordia die Stelle Paduas vertrat.
Concordia ist also ein redender Name; denn in jenem Orte „vereinigten sich"
die große aus Rom über Patavium herangekommene Straße und die später ent-
standene Straße von Verona her. Concordia selbst war damals jedoch vor allem
Garnisonort und somit nichts anderes als der militärische Annex der Großstadt
Aquileja; schon damals gehörte es also zur Vorliebe mächtiger Handelskreise,
den Soldaten möglichst von ihren Häusern fern zu halten.
In Italien liefen nächst der Hauptstadt Rom nirgends dichter als in
Aquileja die Fäden aus dem Orient zusammen. Diese Großstadt hatte das Auge
durchaus nach dem Osten gerichtet, und nichts illustriert dieses besser als die
Tatsache, daß die Stadt, gleichwertig mit den großen Metropolen des Ostens,
von früh auf dazu gelangte, der Sitz eines christlichen Patriarchates zu sein.
Für die hohe geistige Qualität dieses Kulturbodens ist es aber außerdem
bezeichnend, daß gerade in Nordostitalien eine ganze Reihe der geistigen Größen
der römischen Kaiserzeit zu Hause war; denn aus Padua stammten Thrasea
Paeto und Livius, aus Hostilia Kornelius Nepos und aus Verona Katull und Vitruv.
Viel deutlicher noch als auf seiner westlichen kehrte daher Aquileja auf
seiner östlichen Seite sein Wesen als Straßenmittelpunkt heraus, aber freilich
hat gerade hier der nach dem Untergang des Römerreichs in der Umgebung
Aquilejas eingetretene tiefe Verfall das antike Straßenbild derart verwischt, daß
dasselbe in der Gestaltung, die es heute angenommen hat, kaum mehr gegen die
alte Zeit wiederzuerkennen ist. Zur Römerzeit liefen von Aquileja mit dem
Hauptziel nach Osten drei Linien ersten Ranges aus: am weitesten nördlich die
norische Straße über den Pontebba-Paß nach Virunum, dann vor allem die älteste
und unentbehrlichste aller Straßen nach dem Osten, die über den Birnbaumer
Wald nach Emona, und schließlich die istrische Straße über die Bäder Mon-
falcones nach Triest. In der Jetztzeit hat von jenen Linien nur die erste dieselbe
Bedeutung behalten, die sie in der Römerzeit besaß, und auch ihr altes Straßen-
gleis selbst wenig verändert, während sich die zwei anderen alten Römerstraßen,
die beide ganz verschiedenen Zwecken dienten, im Grunde heute in eine einzige
Linie in Gestalt der Eisenbahn Venedig — Triest verschmolzen haben.
Die von Aquileja aus nach den karnischen und norischen Alpen gerichtete
Römerstraße schlug zunächst nordwärts in meilenweiter Ausdehnung unmittelbar
bis an den Rand des Gebirges eine derart schnurgerade Richtung ein, daß sie
selbst die älteste römische Kreisstadt dieser Gegend, Forum Julii, das heutige
Cividale, in größerer Entfernung östlich liegen ließ. In der Höhe dieser Stadt,
an der Straße selbst entstand später dann die Stadt Udine; zur Römerzeit lag an
an dieser Stelle der Straße jedoch nur ein unbedeutender Stationspunkt, mit dem
vielleicht das heutige Tricesimo in Zusammenhang gebracht werden kann. Aus
der ausnehmend zielgerechten Anlage dieser Straße läßt sich aber jedenfalls
118 ' .VI. Kapitel.
erkennen, daß bei diesem römischen Wegebau eine ganz bestimmte, nach der
Ferne zielende Absicht bestanden haben muß und wie straff damals Norikum an
das Südland gekettet werden sollte. Nördlich von Osoppo spaltete sich dann
die Straße, westlich nach dem Ploecken und östlich nach dem Pontebba-Paß zu,
und es ist deshalb auch ganz sinngemäß, daß in der Nähe dieses Punktes auch
schon zur Römerzeit ein größerer Ort, Claudia Emona (Glemona), zu finden ist.
Auf der westlichen Fortsetzung, derjenigen nach dem Ploecken zu, begegnen uns
außer in Zuglio dann nur noch schwache Römerspuren bei dem Orte Villa (bei
Tolmein), während die eigentliche Hauptrichtung, die während der ersten Jahr-
hunderte der römischen Herrschaft überwiegend dem Verkehr gedient hat, nun-
mehr wie heute noch als Pontebba-Straße aus dem Tal der Fella in das der
Gailitz herüberführte.
Es ist dies diejenige Linie, die schon während der ersten Kaiserzeit neben
der Birnbaumer-Straße als einzige der Ostalpen mit einer Staatsstraße bedacht
worden ist, und zwar in diesem Falle lediglich aus friedlichen und wirtschaftlichen,
und nicht aus militärischen Gründen. An der Pontebba-Straße stehen uns nicht
bloß Münzfunde wie auf dem Julier oder Meilensteine wie auf dem Brenner zu
Gebote, durch die zunächst nur die Existenz einer Römerstraße an sich bewiesen
werden kann, sondern die Qualität der entlang dieser ganzen Linie bei Pontebba,
Saifnitz und Tarvis gefundenen römischen Inschriften offenbart noch dazu ganz
deutlich den Charakter jener Straße als Handels- und Poststraße. Die Pontebba-
Straße war zur Römerzeit die Zweckstraße von Aquileja nach Virunum, an deren
nördlichem Ausgange bei Villach der Ort Santicum lag, der die Straße dann
weiter in der Rinne der heutigen Staatsbahn an dem Ossiacher See vorbei nach
Virunum hinüberleitete. In Villach und seiner Umgebung lassen uns freilich,
abgesehen von dem ganz zweifellos römischen Namen Federaun, die Römerspuren
mehr im Stich als wir erwarten könnten. Möglicherweise liegen sie aber auch
hier wie bei Chiavenna tief unter dem Boden des heutigen Ortes begraben.
Wenn dem aber auch nicht so wäre, dürfte dieses trotzdem nicht Wunder nehmen,
da der hauptsächlichste Umstand, der Villach im Mittelalter und mehr noch in
der Neuzeit als Straßenpunkt bedeutend gemacht hat, eben in der Römerzeit
noch nicht hervorgetreten ist; denn in jener Zeit war Villach lediglich ein
Stationspunkt auf der Süd-Nordstraße, während es erst später als Kreuzungspunkt
dieser Straße und der horizontalen durch das Drautal gehenden Linie erhöhte
Wichtigkeit erlangte.
Die Zone, in der das alte Virunum lag, hat zu allen Zeiten deshalb eine
für das Verkehrsleben hervorragende Eigenschaft besessen, weil hier eine Zentrale
des ganzen südlichen Ostalpengebietes zu finden ist; dem Umstand aber, daß
St. Veit und Klagenfurth, die später die Wichtigkeit jenes Gebietes versinnbild-
lichen, von der Stätte des alten Virunum, dem Zollfelde, etwas abgerückt sind,
ist es zu verdanken, daß uns die Funde von dieser Römerstadt heute viel un-
Die Römerstraßen der Alpen. 119
mittelbarer und in reicherer Anzahl zu Gebote stehen und so über den Charakter
des alten Virunum keinen Zweifel übrig lassen. Wir müssen annehmen, daß
dieses überhaupt im ganzen Alpengebiet der weitaus entwickeltste, fast einer
römischen Großstadt ähnelnde Ort gewesen ist. Der Grund für diese Erscheinung
ist aber einzig der, daß die Gegend, in der Virunum lag, wie keine andere des
Gebirges der Sonnenseite der damaligen Kultur, dem Süden, offen stand; denn
nicht nur die regelrecht gebaute Pontebbastraße führte von Aquileja her direkt
auf Virunum zu, sondern dieses stand nicht minder auch dem vom Südosten,
von Mösien und Pannonien her kommenden Verkehr offen. Und gerade dieses
mußte von um so größerer Tragweite werden als damals die Länder auf der
Balkanhalbinsel fast ebenso reiche und ungestörte Kulturgebiete wie Italien selbst
waren, ein Bild, das wir uns heute kaum mehr vorstellen können. Allein von
diesem Gesichtspunkte aus kann daher auch die von Celeja über Juenna (Blei-
burg) auf Virunum zuführende Straße, die auf Peutingers Tafel als Verbindungs-
linie erster Ordnung erscheint, ihre richtige Erklärung finden. Diese Linie ist
erst in der neuesten Zeit durch den Ausbau der Eisenbahnen: Belgrad — Agram —
Cilli — Wöllau — Unter-Drauburg, aber freilich nicht annähernd in der Ziel-
gerechtigkeit wie zu Römerzeiten wieder entstanden.
Wie sehr aber dieses Virunum im Gegensatz zu seiner gegen den Süden
geöffneten Lage nach der Nordseite der Alpen zu geschützt gelegen war, hat
seinen sprechendsten Ausdruck darin gefunden, daß von den hier ausgegrabenen
Münzen gerade diejenigen aus dem dritten Jahrhundert nach Ch. bei weitem in
der Mehrzahl sind. Hier war es demnach selbst zu jenen Zeiten noch ruhig,
als am Oberrhein und an der Donau der Grenzkrieg schon in hellen Flammen
stand. Überhaupt sind die aus Virunum stammenden Funde nicht bloß ihrer
Zahl, sondern auch ihrem Wesen nach bedeutender als diejenigen aus den
übrigen Alpenländern; denn sie verraten sämtlich eine viel höhere entwickelte
Kunstfertigkeit als selbst die Funde von Bregenz und Salzburg. Den im Material
hier nicht besonders guten Marmor vertritt das in diesen Gegenden . vorzüglich
und reichlich zur Hand liegende Metall. Für die Kultur dieser Stadt sind die
antiken Bronzefiguren im Wiener und Klagenfurther Museum, die ihrer Vollendung
nach ebensogut auf inneritalienischem Boden gefunden sein könnten, ein wunder-
schönes Zeugnis; das Interessanteste dabei aber ist, daß die aus dem Boden
Norikums stammenden antiken Reste, wie z. B. die Fortuna in keltischer Tracht
mit der langen Halskette (Museum in Klagenfurth) oder der Greif vom Magdalenen-
berg in Kärnten (Wien) eine besondere charakteristische Bildung an sich haben
Man kann sagen, daß sie nicht so spezifisch römisch sind wie die anderen in
den Alpen zutage getretenen Reste der Römerzeit, und man könnte die Erklärung
hierfür darin finden, daß die Noriker, die ein Stück ihres Volkstums un-
geschwächter herüberzuretten und sich mit der römischen Eroberung friedlicher
als andere Alpenvölker abzufinden verstanden hatten, deshalb auch der ein-
120 VI. Kapitel.
dringenden römischen Kolonisation einen selbständigeren Zug aufzudrücken
vermocht haben.
In dem ganzen großen Gebirgsgebiete nördlich Virunum nun, das westlich
von der Moll uud Salzach, nördlich von der Donau und östlich von Donautiefland
begrenzt wird, begegnen wir in der Römerzeit anders gearteten Verhältnissen als
in den übrigen Alpen, die uns hier die Rekonstruktion des alten Straßenbildes
schwieriger machen. Lang ausgedehnt und in ihrer Wegbarkeit an allen Stellen
ihres Laufes ungefähr gleichartig ziehen jene Linien dahin; seltener finden sich
aber auch solche Ortschaften, die infolge des Zusammenlaufens mehrerer Straßen
von altersher zu einer überwiegenden Herrschaft über den Verkehr gelangen
konnten. Wohl wurde dieser ganze Komplex ebenso früh und ebenso gründlich
wie das übrige Alpenland der römischen Herrschaft unterworfen, aber mit der-
selben Intensivität wie in das südliche und östliche Nachbargebiet ist hier die
römische Kultur niemals eingedrungen, weil sie weder durch wirtschaftliche und
zunächst auch nicht durch militärische Rücksichten dazu verlockt werden konnte.
Wohl stehen uns gerade innerhalb dieses Bereiches auf Grund der alten Itine-
rarien besonders zahlreiche römische Ortsnamen zur Verfügung, aber sie beweisen
zunächst auch nicht mehr, als daß auch hier die Römer überall die Meister des
Verkehrs gewesen sind. Denn alle diese römischen Ortsnamen sind hier wirklich
nichts anderes als die Kennzeichen unbedeutender Stationen, die nur Punkte an
den Straßen, nicht auch an sich wichtige Orte waren. Deshalb ist es gerade hier
auch noch am ungenügendsten gelungen, jene alten Römernamen sicher an die
heutigen zahlreichen, an den vielen Biegungen und Brechungen dieser Alpen-
linien gelegenen Dörfer und Städtchen anzubinden, und dies um so mehr, als die
Straßenzüge selbst, nicht nur bereits in der Römerzeit, sondern auch während
der folgenden Zeiten gerade hier besonders starkem Wechsel unterworfen waren.
So markant und dauerhaft für alle Zeiten wie z. B. der Große Sankt Bernhard
und der Brenner als wichtige Alpenübergänge erscheinen, hebt sich hier keine
einzige Straße aus dem sie umschließenden Bergland ab.
Aber auch noch in einer anderen Hinsicht fehlt uns hier ein wesentliches
Hilfsmittel, dasjenige, vermittelst der Ortsnamen das Bild der alten römischen
Straßenzüge zurückkonstruieren zu können; denn nach Verschwinden der Römer
folgten in den Ostalpen nicht wie anderswo bloß eine, sondern zwei neue Be-
siedelungen, erst eine solche durch die Slaven und dann wieder diejenige durch
die Deutschen, die jene mit Feuer und Schwert verdrängte. Die alten keltischen
und lateinischen Ortsnamen sind daher hier viel gründlicher ausgelöscht worden,
und für die Bestimmung der ältesten Straßenzüge bleiben somit nur diejenigen
Ortsnamen übrig, in denen dies heute der deutsche und in seltenen Fällen der
slavische Sinn anzeigt.
Zwei Linien sind es, die von Virunum aus durch das Gebirge hindurch dem
Norden zustreben, westlich die über den Radstädter Tauern nach Salzburg und
Die Römerstraßen der Alpen. 121
Östlicher die über den Sattel von Neumarkt und der Rottemanner Tauern nach
Ovilava (Wels) und Lauriacum (Enns). Dem Haupt-Übergangspunkt dieser ersten
Linie, der Radstädter Tauernhöhe aber floß der Verkehr von Süden auch schon
zur Römerzeit in zwei Rinnen zu, einmal weniger von Virunum als vielmehr von
der Basis Aguntum-Santicum aus durch das Liesertal und über den Katschberg
her, das andere Mal aber von Virunum selbst aus über Straßburg auf Raming-
stein und Tamsweg. In der Zone von Mauterndorf im Lungau müssen sich diese
beiden Zugänge getroffen haben; es ist aber bis heute noch nicht gelungen, den
Standpunkt der Römerstation Inutrium, die diesen Treffpunkt bezeichnete, ge-
nügend festzustellen. Wir wissen, daß die Straße über den Radstädter Tauern
von Septimius Severus gebaut wurde; nach dieser Paßhöhe selbst hin findet sich
aber auf der Peutingerschen Karte zweifelsfrei nur eine Zugangslinie, diejenige
von Virunum über Ramingstein und Tamsweg eingezeichnet, während auf dieser
Karte jener Zugang nach der Paßhöhe vom Liesertal aus ganz fehlt. Demnach
muß jedenfalls die erstere Richtung die wichtigere und bedeutendere von beiden
gewesen sein, was aber auch schon ohne dies durch die Lage von Virunum selbst
erklärlich wäre.
Aber gerade um den genaueren Lauf dieser Straße von Virunum bis Mau-
terndorf zu bestimmen, fehlen uns heute noch die wissenschaftlichen Mittel, und
es wäre doch um so interessanter, auch diese Linie genauer zu kennen, da sie
als Lokalverbindung zwischen Virunum und Juvavum selbst schon vor Festlegung
der Radstädter Tauernstraße als Militärstraße stärker in Gebrauch gewesen sein
muß. Der einzige Anhalt, den uns Peutinger für den Lauf jener Straße gibt, ist
der, daß diese Richtung auf Juvavum von der nach Wels über den Neumarkter
Sattel ziehenden Straße westlich abzweigte; und zwar nördlich Virunum, aber
noch südlich Noreja- Neumarkt. Zwischen Virunum und Noreja haben wir dem-
nach den Anfang der Abzweigung jener jüngeren Reichsstraße über den Radstädter
Tauern zu suchen, und der Oberlauf der Mur von Scheifling an westwärts, der
heute den Haupteingang zum Radstädter Tauern bildet, tritt daher für jenen
römischen Straßenzug zunächst außer Konkurrenz. Somit bleiben als Durchgangs-
gebiete desselben nur noch das von Friesach ausgehende Metnitztal oder das von
Althofen ausgehende Gurktal übrig, wodurch wiederum für den eigentlichen
Gebirgsübergang weiterhin nach Norden nur die Strecke von Fladnitz — östlich
des Eisenhutes an der heutigen Grenze zwischen Kärnten und Steiermark —
bis Stadtl (Stalla?) im Murtal möglich wird, da man von beiden Tälern aus nur
auf diesem Wege in das oberste Murtal herüber den Weg nehmen kann. Welchem
von diesen beiden Tälern nun die Römerstraße zuzuweisen sei, dafür könnte bei
dem Metnitztal der Umstand sprechen, daß bei Friesach reichlich Römersteine
gefunden worden sind, und somit daselbst auch eine lebhafte Straßenstation vor-
handen gewesen sein mag; die größere Wahrscheinlichkeit spricht aber bei dieser
engeren Wahl doch für die Richtung durch das Gurktal zwischen Althofen und
122 VI. Kapitel.
Altenmarkt, weil daselbst durch die auf eine alte Straßenführung hindeutenden
Ortsnamen Althofen, Straßburg und Altenmarkt jener Straßenzug an mehreren
Punkten festgelegt erscheint.
Die Radstädter Straße, besonders die Teilstrecke derselben von Mauterndorf
bis Bischofshofen ist diejenige Linie, an der in den Alpen die römischen Meilen-
steine am reichlichsten gefunden worden sind. Sehen wir also hier einen römi-
schen Militärstraßenzug in den Alpen ohne alle Einwände noch festgelegt, so ist
dies zunächst besonders deshalb wichtig, weil wir tatsächlich an ihm alle jene
charakteristischen Merkmale wiederfinden können, die von je her und überall
der Bauweise der römischen Alpenstraßen zugeschrieben werden. Außerdem
ist an jener Römerstraße über den Radstädter Tauern noch bemerkenswert, daß
ihre Stationen auf der Peutingerschen Karte sämtlich in fast gleichen Zwischen-
räumen voneinander entfernt angegeben werden — was sich jedoch sofort daraus
erklärt, daß diese Straße eben in erster Linie Militärstraße sein sollte — und
ferner aber auch, daß an der Radstädter Straße südlich von Vocarium=Bischofs-
hofen an alle Spuren irgendwelcher Befestigungsanlagen fehlen. Aber auch dieses
darf nicht Wunder nehmen, wenn man die Zeit der Erbauung jener Straße in
Betracht zieht; denn als diese vor sich ging, waren die von der Straße durch-
schnittenen Gebiete längst friedliche Provinz geworden, die solcher Zwangsmittel
nicht mehr bedurften.
Nördlich des Passes begegnen wir in Vocarium=Bischofshofen einem genau
festgelegten Römerort, dem seine Lage vor dem eigentlichen Anstieg schon da-
mals die gleiche Wichtigkeit wie heute verlieh. Die uralten Befestigungen am
Götschenberge bei Bischofshofen verdanken ihre Entstehung jedoch mindestens
schon der Zeit der ersten römischen Eroberung, als es galt, jenen an der Land-
straße gelegenen Ort gegen einen Angriff von Süden oder Westen her zu sichern.
Gerade in der Umgebung Bischofshofens, wo die eigentliche Radstädter Straße
nördlich in scharfer Biegung in das Salzachtal hinabsteigt, ist die heutige Eisen-
bahn besonders genau der alten Römerstraße gefolgt. Auch auf dem Weiterwege
bisjuvavum läßt sich heute noch überall dem römischen Straßenzug nachkommen,
diesmal am besten vermittelst der alten deutschen Ortsbezeichnungen, die auf
den ursprünglichen Straßenzug deuten, und die gerade hier im Überfluß vorhanden
sind, während in Kuchl auch noch der alte römische Ortsname Cucullum weiter-
lebt. Besonders stark erscheinen dann die Spuren der Römerzeit auf der Straßen-
strecke zwischen Hallein und Salzburg, was dadurch seine Erklärung findet, weil
hier die Straßen von Wels und die von Augusta südlich zunächst in eine einzige
zusammengelaufen sind.
Wir kommen nun zu der zweiten großen, weiter östlich gelegenen Straße,
die von Virunum aus nach dem Norden lief. Es ist dies die Straße, die über
Neumarkt und den Bereich des Rottemanner Tauerns auf die in der Donauebene
gelegenen Orte Ovilava=Wels und Lauriacum=Enns zustreben mußte. Daß eine
Die Römerstraßen der Alpen. 123
solche Straße existiert hat, beweisen uns zur Genüge die erhaltenen schriftlichen
Reste, aber auch ohne diese würde sich das Dasein derselben für die spätere
Kaiserzeit schon aus der militärischen Lage zwingend ergeben müssen; denn die
großen Verteidigungskriege, die von den Römern seit Mark Aurel aus der Front
Carnuntum- Regensburg heraus geführt wurden, mußten die Erbauung einer direkt
auf die Mitte dieser Front zuführenden Militärstraße unbedingt notwendig machen.
So sehr wir also im Allgemeinen das Dasein dieses Straßenzuges als solchen bei
der Aufstellung des antiken Wegenetzes voraussetzen können, so wenig kann uns
doch im Einzelnen das genügen, was heute zur genauen Festlegung der von dieser
Straße eingeschlagenen Richtung einwandsfrei vorhanden ist. Gerade hier ist die
Forschung noch am allerwenigsten über die Art und Weise in Übereinstimmung
gekommen, wie die Straße nach Verlassen des Murtales nun wirklich von einem
Orte zum anderen nördlich bis zur Donau gegangen ist. Aber auch dieses hat
seine guten Gründe; denn da die Straße erst spät von den Römern gebaut wurde
und für diese vorwiegend nur als Militärstraße, ganz wenig aber als Handels-
straße in Betracht gekommen ist, konnte sie sich schon deshalb nicht mit der
gleichen Schärfe in die Gebirgswelt einprägen wie andere länger und lebhafter
begangene Alpenlinien, Auch die kriegerische Konstellation, der die Straße ihre
Entstehung verdankte, ist nach dem Ende der römischen Herrschaft in den Ost-
alpen für immer verwischt worden, und niemals wieder haben Enns und Wels
als Bollwerke und Ausfallstore des Südens gegen den Norden dienen müssen.
Unbedingt sicher ist der von Virunum nach Norden gehende römische
Straßenzug zunächt bis Krummfelden im Gurktale festgelegt infolge des Fundes
eines Meilensteines, der hier an seiner ursprünglichen Stelle zum Vorschein ge-
kommen ist; so gut wie sicher dann weiter durch die Römerfunde in Friesach
und diejenigen nördlich desselben in der Einöd, sowie durch den Namen des
Ortes Neumarkt, das nichts anderes als die Station Noreja der Itinerarien sein
kann und dessen Namen in diesen Gegenden wohl nichts anderes bezeichnen
sollte, als daß man sich hier im Grenzgebiet der Noriker gegenüber den Tau-
riskern befand. Auch das nördlich des Neumarkter Sattels liegende Murtal zeigt
von Scheifling an abwärts besonders an den Rändern der kleinen in die Berge
gesprengten Ebene von Judenburg zahlreiche Römerspuren; doch ist es wahr-
scheinlicher, daß diese an jener Stelle nicht viel später als das benachbarte
Virunum selbst infolge des Zusammenlaufens vieler zweitklassiger Verbindungen
und nicht erst zugleich mit der viel später erbauten Nord-Südstraße entstanden sind.
Für den weiteren Verlauf der Straße nach Norden und über die Kämme
der Tauern und Admonter Alpen müssen wir nunmehr auf eine lange Strecke
der vollen Sicherheit entraten, bis wir schließlich erst am Nordrand des Gebirges,
bei Windischgarsten, wieder wirklich festen Boden unter uns finden. Die Bestimmung
der Richtung des Straßenzuges vom Murtal nördlich mußte schließlich besonders
deshalb so unsicher bleiben, weil die Römerfunde äußerst spärlich, und ins-
124 VI. Kapitel.
besondere, ganz im Gegensatz zur Radstädter Straße, hier überhaupt keine Meilen-
steine gefunden worden sind. So itommen denn für den Übergang jener Straße
über die Tauernkette selbst nicht mehr als drei ganz verschiedene Richtungen
in Frage, die sämtlich ihre wissenschaftlichen Verfechter gefunden haben. Der
Weiterweg der Römerstraße nach Norden wird einmal von Niederwölz durch das
Katsch- und Sölktal nach Gröbming, ferner über den Hohenwarth und das
Donnersbachtal nach Steinach- Irdning, und schließlich von den meisten und
neueren Forschern die Rottemanner Straße entlang über Möderbruck und Trieben
nach Lietzen verlegt. Es mahnt aber immerhin zur Vorsicht, zu Gunsten dieser
letzteren Richtung auch die erste dieser Ansichten, die als älteste aufgetreten ist,
so ganz bei Seite zu schieben, wenn wir auf dem Abstieg dieser Richtung am
Sölktal die Namen Stein und Reith finden und ferner die Tatsache berücksichtigen,
daß der mittelalterliche Handelsverkehr, gestützt durch die Bischöfe von Freising,
die ersten, die hier im Mittelalter wieder an den wichtigen Verkehrs -Punkten
erscheinen, sich gerade in Oberwölz^S) festgesetzt hat. Auch ein im Jahre 1234
geschlossener, weit ausgreifender Handelsvertrag berücksichtigt gerade besonders
den von Niederwölz kommenden Verkehr, wie ja für den über den Neumarkter
Sattel gehenden direkten Nord -Süd- Verkehr Niederwölz mindestens ebenso
bequem wie Scheifling und St. Georgen a. d. Mur gelegen ist.
Die dritte Ansicht über den Lauf des Straßenzuges hat in neuerer Zeit be-
sonders ein in Unter -Zeising auf dem südlichen Anstieg zum Rottemann ge-
machter Römerfund gestärkt; es ist aber zum mindesten ein Beweis, daß diese
Straße nach der Donau keinen so gewaltigen Verkehr wie die anderen großen
Alpenstraßen getragen haben kann, wenn wir dann oben in Hohentauern selbst
entgegen allen anderen Paßhöhen der Alpen, über die große Römerstraßen liefen,
auch nicht die geringsten Erinnerungen an jene Zeit weder in Gestalt von Orts-
namen noch von Funden entdecken. Auch in Trieben, das falls die Straße an
diesem vorüberging, ein wichtiger Punkt gewesen sein muß, setzen jene Beweis-
mittel noch ganz aus, bis sie dann schließlich andeutungsweise in Strechau und
in greifbarer Gestalt erst in Liezen im Ennstale wieder anheben.
Der Bau des Gebirges zwingt uns, eine Straße, die vom Ennstal nach
Windischgarsten laufen wollte, über den Pyrn zu führen, und an der Stelle von
Windischgarsten können wir dann auch mit unumstößlicher Sicherheit wirklich
eine römische Niederlassung entdecken. Die Funde, die hier gemacht wurden,
beweisen aber nicht nur diese allgemeine Tatsache, sondern im Besonderen auch
noch, daß dieser Platz im dritten Jahrhundert nach Ch. als regelrechter Etappen-
ort in Gebrauch gewesen sein muß. Das Bild, das sich uns hier durch diese
Funde auftut, entspricht also vollständig den Tatsachen der Geschichte. Denn
wir sind hier jetzt nicht mehr wie bei Virunum in einer ruhigen reichen Provinz,
sondern bereits im militärischen Grenzland, wo allein die römische Militärverwal-
tung praktisch und zielgerecht allen Verhältnissen ihre Gesetze vorschrieb.
Die Römerstraßen der Alpen. 125
Ganz geringwertig aber stellt sich die römische Besiedelung in demjenigen
Teile des Alpenlandes heraus, das sich nun noch östlich der Straße Virunum—
Ovilava bis zum Semmering hinzieht. Hier sind es allein die Gruben von
Eisenerz, an deren Ausbeutung sich schon die Römer versucht haben müssen,
wie auch in dessen Umgebung und noch bezeichnender hier wieder gerade im
Süden, in der Richtung auf Leoben zu, mitten zwischen den zahlreichen reindeut-
schen Namen eine Anzahl Ortsnamen auftauchen, die römische und selbst vor-
römische Bewohnung (Trofa-Joch, Tragoeß-Tal, Trafuß) wahrscheinlich machen.
Aus diesem ganzen Befund ergibt sich nun aber auch die Rolle, die der
Semmeringstraße für die Römerzeit zugewiesen werden muß. Wohl haben sich
auf den Höhen der Semmeringstraße selbst ganz spärliche Reste, die auf römischen
Durchzug deuten, gefunden. Für das Aufkommen des Semmeringes als wichtigen
Straßenzuges ist jedoch zunächst stets der Anbau des Gebietes der Mürz und
desjenigen der oberen Mur, vor allen Dingen aber die Existenz Wiens nicht nur
als militärischer, sondern auch als bürgerlicher Zentrale maßgebend gewesen.
Diese Vorbedingung fehlt jedoch ganz und gar zu den Zeiten der Römer und
das Gebiet des Semmering hat daher auch damals ein im Vergleich mit der
Jetztzeit ganz anders geartetes Bild gezeigt. Als Verkehrslinie hat die Semmering-
straße damals noch durchaus nicht gedient, und ein ähnliches Schutzmittel wie
der dichte Scharnitzer Wald, der als solcher Vindelicien d. h. das äußere glacis-
artige Rätien von dem inneren Bergland trennte, gaben auch hier die den Mons
Cetius (das heutige Semmering-Gebiet) weithin überziehenden Urwälder für
Norikum ab. Gerade an der Semmeringstraße, die uns heute als eine wichtige,
fast unentbehrliche Lebensader des Verkehrs vorkommt, läßt sich besonders
deutlich erkennen, mit welcher Vorsicht der Maßstab der Jetztzeit an die Verkehrs-
bedingungen früherer Zeiten gelegt werden muß und was für falsche geschicht-
liche Bilder im entgegengesetzten Falle dabei herauskommen kennen. Der
ungeleitete, spontane Verkehr hat keine Regeln gekannt, und es haben sich daher
wohl an ungezählten Stellen der Alpen, und so auch am Semmering, einzelne
bewegliche Römerfunde feststellen lassen. Solche Einzelfunde können aber noch
durchaus nicht den Beweis für irgendwelchen ausgetretenen Straßenzug erbringen;
denn hierzu müssen diese, wenn sonstige schriftliche Nachrichten fehlen, sich
wenigstens gliederartig an verschiedenen Stellen derselben Linie aneinanderreihen,
und, was die Hauptsache ist, den Anschein erwecken, teilweise auch von festen
Baulichkeiten und Niederlassungen herzurühren.
Nach Aquileja, dem ursprünglichen römischen Ausgangspunkte zurück-
kehrend, bleibt nunmehr noch die Betrachtung der letzten eigentlichen Alpenstraße,
der über den Isonzo und die südlichsten Teile der norischen Alpen nach
Laibach=Emona führenden und im Voraufgegangenen schon oft genannten Birn-
baumer Straße übrig. Auf den ersten Blick muß in die Augen fallen, wie sehr
diese Straße als ein Gegenbild der an der Nordküste des Ligurischen Meerbusens
126 VI. Kapitel.
vorübergehenden Straße angesehen werden kann, und wie nahe daher ein Vergleich
beider Straßen für die Römerzeit liegt. Beide Straßen sind nur in beschränktem
Sinne Alpenstraßen, weil das Gebirge ihnen an seinen Enden nur noch in
geringer Höhe und Breite entgegentritt; beide sind daher auch als die bequemsten
Straßen, um überhaupt in das Land jenseits der Berge zu kommen gerade von
den ebenso sehr bequemen wie praktischen Römern viel früher als die anderen
Alpenübergänge benutzt worden. In der Art ihrer Benutzung und Erprobung
haben diese beiden Straßen jedoch ein grundverschiedenes Schicksal voneinander
erfahren. Die Besetzung der ligurischen Küstenstraße diente den Römern als
Mittel, um durch sie ihre erste Provinz jenseits der Alpen einzurichten, an die
sich dann stufenweise die Erwerbung Galliens und der Rheinlande und die
Eröffnung der anderen Westalpenpässe anschloß, alles Ereignisse, die in die
kräftigste und dramatischste Zeit der römischen Geschichte gehören. Die Birn-
baumer Straße lag für die römische Politik dagegen zunächst abseits. Nachdem
ein einziges politisches Ereignis, die drohende Haltung Makedoniens, die Römer
einmal dazu geführt hatte, Hand auf diese Straße zu legen, verlor sie dann in
der folgenden Zeit der Republik, während in der Nähe der Westalpen das
militärische Leben niemals ruhte, zunächst viel von ihrer Bedeutung, und auch
während der ersten Kaiserzeit geschah, nachdem Augustus und Tiberius die
Verhältnisse hier endgültig geordnet hatten, organisch und wie von selbst, aber
ohne von großen Ereignissen begleitet zu sein, ihr weiterer Ausbau. Aber
während dann in den letzten Jahrhunderten des Römerreichs die Aufmerksamkeit
der Regierung sich von der ligurischen Küstenstraße und von dem Westflügel
der Alpen abwenden mußte, waren während jener Zeiten die von der Birnbaumer
Straße durchzogenen Gebiete die Bahn, durch die der ertötende Ostwind gegen
die reife Frucht der römischen Kultur heranbrauste. Auch die scharfsinnigsten
römischen Geister, wie Cäsar und Augustus, haben, als sie an dieser Seite
verhältnismäßig mühelos die römischen Grenzen vorschoben, es sicher nicht
geahnt, daß sich hier einst das Schicksal ihres Staates erfüllen sollte.
Daß die Birnbaumer Straße zu der Zeit, als Aquileja am höchsten entwickelt
war, die wichtigste der in diese Stadt einmündenden Verbindungen war, ergibt
sich daraus, daß allein entlang des von ihr eingeschlagenen Weges in der Um-
gebung Aquilejas eine vollständige großstadtartige Vorortsentwickelung zu beobachten
ist. Nach dieser Seite hin finden sich außerhalb Aquilejas Reste über Reste
unter dem Boden, so bei Columbaria, Vilesse und weiter bei Silicianum (Salcano)
und Monfalcone. Weit besser würden wir freilich noch über die Stadtgeschichte
Aquilejas unterrichtet sein, wenn nicht gerade hier die Veränderungen, die der
Isonzolauf nach und nach hervorgerufen hat, das Landschaftsbild vollständig
gegen früher umgestaltet hätten. Die Straße, die heute über Schönpaß und
Heidenschaft nach Oberlaibach geht, wurde im römischen Altertum anfangs nach
dem anliegenden Okra-Gebirge, später aber, als sich die Römer vollständig hier
Die Römerstraßen der Alpen. 127
eingerichtet hatten, nach der Wegestation Ad plrum als die Birnbaumer Straße
bezeichnet, und heute führt auch noch das südlich von ihr liegende Birnbaumer
Waldgebirge den gleichen Namen. Schon bevor die Römer hier die Reichsstraße
legten, war das erste und älteste Ziel der seit alter Zeit in Gebrauch befindlichen
Straße die Tauriskerstadt Nauportus an der Stelle des heutigen Oberlaibach.
Dieser Ort verschwindet aber schon bald in der römischen Kaiserzeit, ein Zeichen,
daß der alte Straßenzug, an den die Römer anknüpften, ursprünglich nur direkt
landeinwärts nach Osten wies, während dagegen im Verlauf der Römerherrschaft
dieses erste Glied der Birnbaumer Straße bis Laibach nach und nach zur Brücke
wurde, um den Hauptteil des Verkehrs von Aquileja aus nicht direkt nach dem
Osten, sondern nach dem Südosten zu leiten. Diese Verschiebung wird dadurch
bezeichnet, daß sich dann in den eigentlichen Römergründungen entlang der
Straße, in Emona, Celeja und Poetovia überall wichtige Ableger nach Siscia und
Sirmium ansetzten.
Anfangs freilich wurde die Straßenlegung nur durch die Handelskonstellation
von Aquileja nach Nauportus hinüber bestimmt, von dem aus die auf der Achse
zu ihm herübergebrachten italienischen Waren aruf dem Wasserwege weiter ver-
frachtet wurden. Die wirtschaftliche Eröffnung der heutigen Balkanhalbinsel
unter den ersten Kaisern mag diesen Zustand jedoch bald verschoben und den
Handel von Nauportus weg nach den Treffpunkten der neu erbauten großen
Landstraßen gelenkt haben. Dem allen entspricht es aber zunächst, daß Strabo
jenen Weg als einzigen unter den Alpenstraßen neben dem über den Kleinen
Sankt Bernhard als fahrbar bezeichnet; nur kann diese Tatsache hier durchaus
nicht den Ausdruck einer besonderen Kulturleistung bedeuten, da die von jener
Straße durchzogenen Gegenden der Alpen überall ihren strengen Hochgebirgs-
charakter verloren haben.
In einer Beziehung beansprucht die eigentliche Birnbaumer Waldstraße aber
noch besonderes Interesse; denn sie ist diejenige Alpenstraße, an der sich noch
am deutlichsten die römischen Befestigungsanlagen erhalten haben. Der Grund,
weshalb solche gerade hier zahlreich gebaut worden sind, liegt auf der Hand;
denn die niedrige Berglandschaft, durch die jener Weg zieht, liefert dem Militär
nicht mehr so reichlich natürliche Hilfsmittel für die Verteidigung, so daß hier
durch künstliche Befestigungen nachgeholfen werden mußte. Diese Verteidigungs-
werke blickten direkt nach Osten. Vor ihrem eigentlichen Zentrum, bei Heiden-
schaft, lagen zunächst drei vorgeschobene Stellungen, die äußerste östliche in
Gestalt einer die Straßenlegung kreuzenden Mauer bei Oberlaibach, die zweite
und dritte, beide mit Kastellen an der Straße versehen, weiter einwärts bei Ober-
loitsch bezl. auf der Paßhöhe in Alpe Julia (St. Gertrudis), bis schließlich bei
dem bezeichnenden Namen Heidenschaft, der römischen Station Ad Frigidum,
die Hauptstellung, ein großes Lager mit sechzehn Türmen, zu finden war. Es
ist also schon hier keine andere Befestigungsweise als wie wir sie auch im neun-
128 VI. Kapitel.
zehnten Jahrhundert entlang der Stilfser Jochstraße angewendet sehen, wo sich
gleichfalls von außen, von der italienischen Seite, nach innen Stellung auf Stellung
von der Teufelsbrücke bei Bormio bis zur Paßhöhe hinzieht. Leider fehlt uns
die Möglichkeit, die Zeit der Herstellung jener römischen Befestigungen genau
zu bestimmen. Ein bei Loitzsch gefundener Meilenstein von Trajan erklärt sich
besser aus dessen dazischen Feldzügen, als dieser Kaiser jene Straße als
Anmarschlinie benutzte. Da jene Befestigungen, die keinen provisorischen,
sondern durchaus permanenten Charakter zeigen, als solche jedoch schon bei
dem Einfall des Kaisers Maximin im Jahre 238 nach Ch. in Wirksamkeit getreten
sein müssen, so liegt die Wahrscheinlichkeit vor, daß sie der Zeit der Marko-
mannenkriege, als der Nordosten zum ersten Mal dem römischen Reiche sein
gefährliches Gesicht gezeigt hat, ihren Ursprung verdanken.
Bei den weiteren Stationen an dieser Straße bezeichnet die Zeit ihrer
Gründung jedes Mal die Entfernung, um die hier nach und nach die römische
Besiedelung vorgerückt ist. Laibach ist zunächst das Emona der Julier, das
schon am Anfang der Kaiserzeit so eng mit dem Südland verknüpft schien, daß
es Augustus auch organisatorisch zu Italien schlagen konnte. Weiterhin hat dann,
um von Emona nach Celeja zu gelangen, die Römerstraße, anders als heute die
Eisenbahn, das Tal der Save gemieden und ist nördlich in gerader Linie auf
Celeja weitergegangen; die Tatsache aber, daß die Römer hier bei ihrer Straßen-
legung dem kurzen Landweg vor dem schon damals vom Handel belebten Fluß-
tale den Vorzug gaben, beweist, daß als die ersten Kaiser hier die Grenzpfähle
vorrückten, lediglich noch die militärischen Rücksichten ausschlaggebend waren.
Von Stationen sind bekannt der Save-Übergang, dann Ad publicandos (Podpetsch)
und Adrantes (St. Oswald am Drauberg).
Celeja selbst hält in seinem Beinamen Claudia die Erinnerung an seine
Gründungszeit fest. Das, was wir über die Größe und Pracht der antiken Ruinen
dieser Stadt und ebenso auch über die Ausdehnung der dortigen religiösen In-
stitutionen während des Altertums wissen, erlaubt ferner den Schluß, daß Celeja
in der späteren Kaiserzeit mindestens ebenso groß wie Emona und prächtiger
als Poetovio gewesen ist. Der Grund dieses Aufblühens mag aber nicht so sehr
nur in der Lage der Stadt an der von Westen nach Osten führenden Linie,
sondern vielmehr darin zu suchen sein, daß Cilli das Haupttor bildete, durch
das sich der ganze aus dem Südosten kommende Verkehr in die inneren Ost-
alpenländer hinein ergoß, wie ja von hier aus auch über Upellis (Weitenstein),
Collatione (Windisch-Grätz) und Juenna (bei Bleiburg im Jauntal) eine Ver-
bindung erster Ordnung nach Virunum geführt hat, während eine direkte Ver-
bindung zwischen Emona und Virunum zur Römerzeit ganz fehlt. Von jener
letzteren Strecke aus ist fernerhin auch ein Ableger, der vom Drautal aus in das
Lavanttal hinein aufwärts bis Wolfsberg führte, wahrscheinlich. Celeja und sein
Gebiet gehörte unter den Römern übrigens bald zur Provinz Norikum, bald zur
Die Römerstraßen der Alpen. 129
Provinz Pannonien; auch dieses kann ein Zeichen von der Vermittlerrolle sein,
die jener Ort damals nicht bloß zwischen dem Westen und Osten, sondern ebenso
zwischen dem Süden und Norden abzugeben hatte.
Auch von Cilli bis Pettau lief der Zug der Römerstraüe nicht im Gleise
der heutigen Eisenbahn sondern kürzer gestreckt nördlich derselben weiter.
Pettau selbst, das schon als Keltenstadt erwähnt wird, mag als Ort älter sein als
Cilli uud seine Entstehung ebenso wie Nauportus der Lage an dem nach Süd-
osten hinströmenden verkehrsfreundlichen Flußlaufe verdanken; seinen römischen
Beinamen führt es als Colonia Ulpia Trajana jedoch erst von Trajan, der im
europäischen Osten das Werk des Klaudius aufnahm und der letzte römische
Kaiser war, der hier nicht abwehrend sondern noch ausgreifend wirkte. Zu
jener Zeit erhielt Pettau mit seinem Kastell, dem heutigen Schloß Oberpettau,
ausgesprochene Wichtigkeit als Ausfallstor gegen Dacien und als rückwärtige
Stellung eines der Hauptgabelpunkte des römischen Straßensystems in diesen
Gegenden. Jener Gabelpunkt, an dem die Straße nach Savaria-Carnuntum und
diejenige nach dem Donauknie bei Aquincum (Budapest) auseinanderliefen, lag
entweder dicht bei Pettau oder weiter östlich am Murübergange, einige Meilen
flußabwärts vom heutigen Radkersburg, und hauptsächlich von dieser Stelle aus
ist dann auch die römische Kolonisation ungestört muraufwärts in das heutige
Steiermark eingedrungen. Als Etappen jenes Zuges nordwärts in die Steiermark
hinein, an dem römisches Wesen nachzuweisen ist, finden wir heute die Namen
Radkersburg, Straß, Leibnitz und Seggau, letztere beide als Töchter des alten
Flavium Solvense, und weiter hinauf im Herzen des Landes Kaisdorf, Straßgang,
Straßengel, Gratz und Voitsberg. Heute laufen dagegen Landstraße sowie
Hauptbahn, um aus dem Gebiet der Save bei Cilli nach dem Gebiet der Drau
und Mur zu gelangen, bereits westlich vor Pettau und über Marburg a. d. Drau
in nördlicher Richtung ab, während Pettau selbst seitab liegt. Es ist dieses eine
Verschiebung, die bereits während des Mittelalters, als die Verbindung nach dem
Orient für jene Striche immer unwichtiger zu werden begann, eintreten mußte.
Überhaupt fällt es an dieser östlichsten Seite des Gebirges am meisten auf,
wie sehr hier die alten römischen Straßenzüge gegen die der späteren und nicht
zum Mindesten auch gegen die der jetzigen Zeiten verwischt erscheinen. Der
Grund hierfür liegt aber einzig darin, daß gerade der Osten Europas in seiner
Bedeutung für den ganzen Erdteil die größte Veränderung gegen das römische
Altertum erfahren hat. In der Jetztzeit sind in den Donautiefländern in Gestalt
von Wien und Budapest selbständige Kulturzentren entstanden, die die Herr-
schaft über jene Gebiete an sich gezogen haben, die sonst sämtlich nach dem
Süden gravitierten, während weiterhin vor Entstehen dieser Mittelpunkte und
gerade in den auf die Römerzeit folgenden Jahrhunderten hier im Osten der
schärfste Rückgang und der größte Ausfall an kulturkräftigen Gebilden ein-
getreten ist. Im zwölften Jahrhundert nach Ch. bestand zwischen den Be-
sehe rrei, Verkchrsgesebjefate der Alpen. I. Band. 9
130 VI. Kapitel.
wohnern von Venedig und denen Serbiens ein Kulturunterschied größer als
zwischen denjenigen des damaligen Roms und Londons, während ein Jahrtausend
vorher die Bürger von Aquileja und Sigindinum (Belgrad) ganz gleichwertig
waren. Im römischen Altertum war eben auch an dem Ostflügel der Alpen wie
auch überall sonst in Europa, der auf dem Forum der Hauptstadt Rom befindliche
goldene Meilenzeiger der Pol, von dem aus allein die das Verkehrsleben des
Erdteils bewegende Kraft ausstrahlte, eine Kraft, die wiederum überall die gleiche
Formel zur Erklärung vdes unendlich kunstvollen Gewebes aller dieser Verkehrs-
linien darbietet.
VII. Kapitel.
Die Alpen und die germanische Völkerwanderung.
Dieses über das ganze Alpengebiet gespannte und im vorigen geschilderte
große Straßennetz stellt sich demnach als ein innerhalb zweier Jahrhunderte
(von Augustus Regierungsantritt bis zu dem Mark Aureis) in aller Regelmäßigkeit
und Ruhe entstandenes und nur um der Herrschaftsinteressen eines großen
Reiches willen angelegtes Werk dar, dessen Festigkeit und Folgerichtigkeit bis
dahin jedoch noch niemals einer ernsteren Probe hatte standhalten müssen. Die
Art und Weise, wie die Römer ihre Herrschaft zu sichern wußten, die Mittel,
die sie hierzu anwendeten, waren in allen unterworfenen Gebieten ungefähr die
gleichen, und es ist deshalb auch nicht anzunehmen, daß sie in den Alpen von
vornherein ihren Machtmitteln eine größere Festigkeit und Widerstandsfähigkeit
zu geben gesucht hätten als in irgend einer anderen Grenzprovinz. Der Gang
der Geschichte hat aber dazu geführt, daß, nachdem sich der Schauplatz der-
selben einmal von Asien nach Europa verschoben hatte, nun auch die großen
äußeren Ereignisse, die in erster Linie über das Schicksal des römischen Reiches
entscheiden sollten, in der Mitte des Erdteils fallen mußten, und so sehen wir
daher jetzt auch das in jener Zone liegende Alpengebiet vollständig in deren
Bannkreis gerückt. Die Rheinlande in erster und die Alpenländer in zweiter
Linie sind neben den vielen anderen Stellen, an denen außerdem noch gekämpft
und zerstört wurde, der wichtigste Schauplatz jenes schweren Ringens gewesen,
wie es vorher und nachher niemals gewaltiger stattgefunden hat; sie waren es,
an denen die eigentliche Entscheidung fiel.
Wann einst der erste wirkliche Kampf zwischen Römern und Germanen
stattgefunden hat, läßt sich nicht mehr bestimmen; denn schon zu Cäsars Zeiten
sehen wir solche Kämpfe in vollem Gange, und sie haben seitdem niemals aus-
gesetzt. Dagegen ist es möglich, ganz genau den Zeitpunkt zu bestimmen, an
dem jene Kämpfe aus unwichtigen Grenzkriegen zu gewaltigen welthistorischen
132 V'I- Kapitel.
Ereignissen geworden sind. Es ist dieses die Zeit des Kaisers Mark Aurel. Die
seit Cäsar bis Mark Aurel von den Römern in Mitteleuropa gegen die Germanen
geführten Kriege, selbst der unglückliche Feldzug des Varus, hatten niemals einen
derartigen bedrohlichen Charakter angenommen, daß sie das Funktionieren des
über die ganze Erde gespannten römischen Staatsmechanismus ernstlich hätten
stören können. Denn es waren nichts anderes als Grenzkriege, ebenso aufreibend
zwar für die gerade von denselben betroffenen römischen Armeeabteilungen wie
unbequem für die Zentralstelle in Italien wegen der Unregelmäßigkeit der Zeiten
und Orte, an denen sie ausbrachen.
Anders ist das Bild jedoch seit den Markomannenkriegen Mark Aureis.' Von
dieser Zeit ab müssen wir eine neue Epoche der "Weltgeschichte setzen, und die
geschichtliche Betrachtung muß sich überhaupt von da ab zwingender als vordem
in zwei Äste spalten. Der eine von diesen kann nur die innere Entwicklung des
Römerreichs zum Gegenstand haben, das, immer subtiler in den politischen
Ideen und immer erfinderischer in den Mitteln, sich an das altgewohnte Dasein
anklammert und somit eine Fülle bunter und kulturgesättigter aber trotzdem saft-
und sonnenloser Erscheinungen bietet, während die andere Seite dieser Geschichts-
epoche geräuschvoll von den Kämpfen Roms gegen seine äußeren Feinde aus-
gefüllt wird. Diese Feinde sind eben damals — ein Fall, der seit Hannibals Tagen
nicht wieder eingetreten war — völlig ebenbürtige Gegner Roms geworden, und
jene ganze dreihundertjährige Periode hindurch kämpft daher dieses Reich im
Grunde stets um nichts anderes als um seine Existenz. Ihren Abschluß findet
jene Periode aber mit der völligen Niederwerfung der alten Kulturmacht, die
äußerlich durch die Eroberung und Besetzung fast aller römischen Gebiete durch
den äußeren Feind in die Erscheinung tritt.
Es war jedoch nicht die ausnehmend große Gewitterwolke, die während
der Regierung Mark Aureis genau an der Nordostecke des römischen Reiches
in Europa mitten während der hellen Sommertage friedlichen Genusses unvor-
hergesehen aufgestiegen war und die sich gewaltsam entladen hatte, sondern unter
ihren vielen Wirkungen nur ein einziges Ereignis, durch das es augenfällig wurde,
daß sich die Zeiten jetzt wirklich geändert hatten. Die Markomannenkriege
lieferten zum ersten Male wieder das Vorkommnis, daß das ganze römische Ver-
teidigungssystem nicht bloß nach der Breite sondern auch nach der Tiefe hin
vollständig versagte, und der Feind plötzlich den geheiligten, drei- und vierfach
versicherten Boden Italiens betreten konnte. Die Tatsache, daß die Markomannen
damals vor Aquileja und Opitergum erschienen sind, ist bei jenen Ereignissen
bedeutender als alles andere. Wir sehen an derselben aber auch die wichtige
Rolle, die der Alpenwall in der Geschichte Europas einnimmt; denn die Durch-
brechung jenes Walles war die Gewaltprobe, mit der sich die neu aufgetretene
Kraft jetzt in die Geschichte einführte, — augenfällig und erschreckend, weil sie
für die damalige Welt alle Begriffe des äußerlichen Daseins in Verwirrung setzte.
Die Alpen und die germanische Völkerwanderung. 133
Daß dieser feindliche Ansturm aber so weit nach Süden auslaufen konnte,
liegt allein in dem stärkeren Einsetzen der germanischen Völkerwanderung. Es
ist bei derselben zunächst die gleiche treibende Kraft und das gleiche Bild, wie
wir es schon bei der keltischen Völkerwanderung kennen gelernt haben. Nur
zeigen sich diesmal — allerdings auch im Hinblick auf das Wenige, was wir
heute noch von der keltischen im Vergleich zu der germanischen Völkerwande-
rung wissen — alle Verhältnisse stärker entwickelt und dramatischer durchgeführt
als ein halbes Jahrtausend vorher. Ob der Grund hierfür freilich außerdem noch
in der stärkeren Kraft der germanischen Völker im Vergleich zu der der Kelten
zu suchen ist, können wir heute nicht mehr entscheiden, da sich der wirkliche
Charakter der Kelten zu den Zeiten als diese ihre Völkerwanderung antraten zu
sehr unseren Blicken entzieht. Sicher aber ist, daß die Austragung des Ringens
während der germanischen Völkerwanderung schon deshalb heftiger werden mußte,
weil diesmal auch der römische Gegendruck kräftiger, bewußter und in den letzten
Stadien des Kampfes vor allem auch erbitterter gegen das Platzgreifen dieser
neuen Kraft ankämpfte.
Die Richtung, von der diese Bewegung ausging und die, nach der sie zu-
strebte, ist dagegen genau dieselbe, wie sie schon bei der keltischen Völker-
wanderung zu spüren war. Vom Osten Europas ausgehend lief auch dieser
Völkerzug in der Hauptsache zunächst in westlicher und einigermaßen in südwest-
licher Richtung. Während aber die keltische Völkerwanderung wahrscheinlich
erst nach Umgehung der Alpen an deren westlichem und östlichem Ende und
auf den Boden Italiens selbst schärferen Widerstand fand, sicherlich aber dieser
Widerstand erst an jenen Punkten in das Licht der Geschichte tritt, ist die ger-
manische Völkerwanderung zeitlich früher und räumlich eher an die Grenzen der
alten Kulturmacht gestoßen. Die Länder, in denen jene ersten Zusammenstöße
erfolgten, sind einerseits vor allem das westliche Deutschland, weil hier der Rhein
in seiner ganzen Ausdehnung von Basel (Äugst) bis zur Mündung die große
Barriere gegen die von Osten kommende Invasion abgeben mußte, und weshalb
auch damals die rheinischen Landschaften ohne weiteres das militärische Haupt-
land Europas ausmachten, und andererseits das Donauufer der heutigen öster-
reichischen Erzherzogtümer, insbesondere die Ebene von Wien. Nördlich dieses
letzteren Gebietes aber muß in der den eigentlichen Markomannenkriegen vor-
aufgegangenen Periode ein starker Teil jener Völkerströmung den geraden Weg
nach Westen bereits vor sich versperrt gefunden haben und diese Gruppierung
so die Veranlassung geworden sein, daß die damals mit dem Namen der Mar-
komannen bezeichneten germanischen Völker selbst in mehr südlicher Richtung
sich Luft zu machen suchten und so in die Grenzen des römischen Reiches ein-
brachen. Während also bei der keltischen Völkerwanderung die der Zeit nach
letzten Ereignisse an der mittleren Donau auftreten, sehen wir im Gegensatz
hierzu bei der eigentlichen germanischen Völkerwanderung sich die fi^ühesten
134 VII. Kapitel.
Ereignisse an jener Stelle abspielen. Daß dieselben hier aber wiederum derartig
überraschende und verheerende Wirkungen hervorrufen konnten, hatte seinen
Grund in dem Aufbau des römischen Weltreichs. Denn dieses war seiner ganzen
Entwickelung nach wohl dazu gekommen, die Rheinlande und den Nordrand der
Alpen als waffenstarrende Grenze derart zu verbarrikadieren, daß die feindlichen
Völkerbewegungen sich jenseits derselben zunächst anstauen mußten. Am Ost-
rand der Alpen aber, wo auch die natürliche Gestaltung des Landes der Abwehr
nicht in dem gleichen Maße gut zu Hilfe kam, waren dagegen die Fronten schwä-
cher geblieben, wie auch die römische Reichsverteidigung an jenen Punkten
nicht in dem Maße durch die vorangegangenen Ereignisse auf das Kommende
hingewiesen worden war.
Viel schärfer als wir heute mögen auch selbst die Römer der damaligen
Zeit nicht die Gründe für die Zeiten und Punkte, an denen diese germanischen
Angriffe eintraten, zu erkennen vermocht haben. Wie wir heute bei diesen Krie-
gen auch nur denjenigen Bewegungen da nachkommen können, wo sie auf die
Grenzen des römischen Reiches auslaufen, so sahen auch damals die Römer
zunächst nur ihre Grenznachbarn vor sich. Dasjenige aber, was hinter dem
Schleier der benachbarten Völker vor sich ging, und was stets die eigentliche
Ursache dieser heute die Bände der Weltgeschichte anfüllenden Kriege bildete»
mußte ihnen ebensosehr wie uns verborgen bleiben. Von Osten ausgehend folgte
Schiebung auf Schiebung, Druck auf Druck, aber wir sehen den Wellenschlag
jener Bewegungen erst dann in die Erscheinung treten, sobald er die römischen
Kulturgrenzen erreicht hat, wo es etwas zu zerstören oder aufzuzeichnen gab; denn
nur durch dieses Beides ist die Kunde von jener Vergangenheit auf uns gekommen.
Die grundverschiedene Beschaffenheit beider Gegner ist das charakteristische
aller Kämpfe der germanischen Völkerwanderung. Bei den Römern eine syste-
matische, bedächtige, mit der vollen Überlegenheit aller geistigen und materiellen
Mittel und Jahrhunderte langer Erfahrungen ausgestattete Kriegsführung, aber
innerlich ein immer mehr überhandnehmender Mangel an der ersten Voraus-
setzung aller Kampffähigkeit, an physischer Kraft der Gesamtheit, bei den
Germanen dagegen ein unerschöpflicher Überschuß an Volkskraft, aber Fehlen
der wichtigsten militärischen Fähigkeiten, Direktions- und Organisationslosigkeit,
und Inkonsequenz der Volksführer, die im besten Falle Heerfürsten, niemals
aber Feldherren sind. Liefert jene Verfassung der Römer ohne weiteres die
Erklärung für die lange, fast dreihundertjährige Dauer dieser Kämpfe, so ergibt
sich aus der Beschaffenheit der Germanen wiederum die besondere Art der
Kriegsführung dieser Zeiten. Denn wie ein blindes Ungefähr erscheinen die
Germanen bald zu jener Zeit, bald auf diesem Schauplatz Mitteleuropas; jene
Unberechenbarkeit ist es, die bei diesen Kämpfen besonders in die Augen
springt und die deshalb auch der Darstellung derselben stets so große Schwierig«
keiten bereitet hat.
Die Alpen und die germanische Völkerwanderung. 135
Jene Unberechenbarkeit hatte aber allein ihren Grund in der durch den
Kräfteüberschuß herbeigeführten leichten Beweglichkeit der germanischen Völker.
Es ist am Anfang wie am Ende der germanischen Völkerwanderung immer das-
selbe Bild. Wohl liegt überall die römische Front dem Feinde vor, aber welche
Punkte an diesen langen Linien er sich zum Angriff aussucht und wie tief er
dabei in die Front selbst hineingelangt, dies scheint keine Gesetze zu kennen.
Cäsar begegnete den Bojern plötzlich bei Genf, nachdem sie vorher am anderen
Ende der Alpen Norikum unsicher gemacht hatten. Bei den Markomannen war
es das Erschreckende, wie tief südwärts sie wider Erwarten nach Italien hatten
hineingelangen können, und unter den das ganze dritte Jahrhundert nach Ch.
anfüllenden Kämpfen der Alemannen ist das bezeichnendste Ereignis jener Art
das Erscheinen derselben vor Ravenna (in den Jahren 259 oder 260 nach Gh.),
wohin sie jedoch außerdem nicht auf dem direkten Wege über die Zentralalpen
sondern auf dem Umwege über die burgundische Pforte und einen Übergang
der Westalpen gelangt zu sein scheinen.
Das Vernichtungswerk aller dieser Kämpfe ist in seiner Summe zwar
schließlich so ungeheuer geworden wie es seitdem, dem Himmel sei Dank,
niemals wieder in der Geschichte zu beobachten ist; es bedurfte aber doch einer
gleichgearteten Arbeit von vollen drei Jahrhunderten, um dieses zu erreichen.
Anfänglich wenigstens konnte die römische Auffassung noch darin Recht behalten,
wenn sie annahm, daß diese mit Donnergepolter auftretenden Ereignisse ebenso
rasch wie sie gekommen waren auch wieder zu verschwinden pflegten, weil es
einesteils diesen einzelnen, blitzartig verlaufenden Feldzügen überhaupt an Zeit
fehlte, ihre Spuren tiefer in den Boden einzugraben, anderenteils aber auch, weil
das sauber und unermüdlich arbeitende Organisations- und Rekonstruktionstalent
der Römer die klaffenden Wunden sehr bald wieder zu schließen vermochte.
Der einzigen Regelmäßigkeit, der sich bei diesen Kämpfen nachkommen läßt, ist
die Erscheinung, daß bei den gleichen Völkern die Zwischenräume, in denen
sie auf den Kampfplatz treten, meist die Dauer eines oder mehrerer Menschen-
alter ausfüllen. Es entspricht dies aber auch ganz der Unbarmherzigkeit jener
Kämpfe, bei denen gewöhnlich die lebende Generation ihre ganze Kraft einsetzen
mußte, und daher erst die nächste oder übernächste wieder imstande war, über-
haupt etwas Selbständiges zu unternehmen.
Da die germanische Völkerwanderung zunächst genau dasselbe Wesen zeigt
wie die vorangegangene keltische, so konnte deshalb auch der Einfluß, den das
Alpengebirge auf ihren Gang ausgeübt hat, kein anderer sein als derjenige wie
er bereits sechs Jahrhunderte früher gewesen war. Auch jetzt bildete der Nord-
abfall der Alpen wieder den Rand, an dem entlang sich die Völkerzüge weiter
nach Westen hin bewegten, nur mit dem Unterschiede, daß vorher allein die
natürliche Beschaffenheit des unwirtlichen Hochgebirges jene Wirkung ausgeübt
hatte, die Bewegung in der ursprünglich eingeschlagenen Richtung zu bestärken,
136 VII. Kapitel.
während diesmal außerdem ein lebendiger Feind in Gestalt der römischen
Truppen am nördlichen Fuße der Höhen auf Posten stand, um jeden Versuch
von der Richtung nach Westen abzubiegen von vornherein zu verhindern.
Waren demnach die Rheinlande die Front, auf deren östliches Vorland die feind-
lichen Angriffe unwiderruflich auftreffen mußten, so bildete der Alpenwall dagegen
damals bei der Verteidigung dieser Linie die rechte Flankensicherung, die ein
günstiges Geschick hier angebaut hatte und die sich die Römer militärisch nutz-
bar gemacht hatten. Im letzten Grunde ging wohl das Streben aller dieser
nördlichen Barbarenvölker nach den wohnlichen und begehrenswerten südlichen
Ländern, aber ein Durchstoßen nach dorthin in direkt nord-südlicher Richtung
haben auch die kriegerischen Bewegungen jener Zeit mit dem Instinkte, der auch
allem anderen unentwickelten Verkehre eigen gewesen ist, zunächst zu vermeiden
gesucht. Auch diese suchten zunächst westlich oder östlich um das Gebirge
herum auszuholen, und erst während der letzten Kämpfe jener Völkerwanderung
geschieht es häufiger, daß der Eintritt der Blutleere in der lebendigen römischen
Verteidigungskraft den Feind zu einem Einfall direkt von Norden nach Süden
durch die Alpen hindurch anreizt.
Der Grundgedanke, nach dem die Römer während dieser Kämpfe der
Völkerwanderung das Alpengebirge bewerteten, ist also ganz durchsichtig und
entspricht in seiner Zweckmäßigkeit vollständig der überragenden militärischen
Beanlagung dieses Volkes. Um das rechts des Rheinstromes liegende Flanken-
hindernis auch als solches wirksam zu erhalten, war es nötig, dem Feinde die
Überschreitung desselben zu verwehren, die wiederum nur dann hätte stattfinden
können, wenn der Marsch über die in einer langen Reihe von Westen nach
Osten über das Gebirge verteilten und defileeartig den Alpenwall durchquerenden
Paßübergänge frei gewesen wäre. Im großen und im kleinen sind die Alpen-
kriege stets Kämpfe um Defileen gewesen. Wir haben es aber schon bei Marius
gesehen, daß die kräftigere Art der Kriegsführung dazu neigt, dem Gegner vor
dem Defilee zu begegnen, und auch in dieser Zeit noch suchten die Römer die
Entscheidung nicht in die Defileen selbst oder hinter dieselben, sondern vor
diese zu legen, oder sie stellten sich, wenn man die Alpen als Gebirgswall an-
sehen will, bereits auf der dem Feinde zugewendeten Seite dieses Walles auf.
Ein Zeichen für den tadellosen Zustand der von ihnen über die Alpen gelegten
Straßen ist es aber, daß sie diesen die Fähigkeit zutrauen konnten, allen An-
forderungen des militärischen Verkehrs zu genügen, der von dem Zentrum ihrer
Macht aus nach der feindlichen Seite hin nötig wurde. So verrichtet denn vom
Anfang des dritten Jahrhunderts nach Ch. an, nachdem der römischen Regierung
der Charakter und der Zusammenhang der germanischen Angriffe wieder völlig
klar geworden war, die Linie von Carnuntum bis Mainz (bezl. bis Windisch und
Äugst) die Bestimmung einer wohleingerichteten militärischen Flankenstellung,
Die Alpen und die germanische Völkerwanderung. 137
von der aus die Verteidigung je nach den Umständen bloß passiv, ebensogut
aber auch durch aktive Vorstöße geführt werden konnte.
Daß aber jene Stellung nördlich der Alpen nicht das einzige Mittel dieser
Verteidigung war, sondern daß auch römischerseits die ganz bestimmte Vorstellung,
die Alpenpässe selbst militärisch sperren zu können bestanden hat, dafür haben
wir ganz bestimmte Zeugnisse aus der Literatur der Altenas). Diese Zeugnisse
treten freilich erst deutlich am Ende jener Kämpfe hervor, als die äußerlichen
Hilfsmittel, die Länder nördlich der Alpen selbst festhalten zu können, immer
mehr zu versiechen anfingen. Die Schriftsteller der Völkerwanderung reden
häufig von den Engpässen der Alpen und heben die Schwierigkeit hervor, die
mit der Durchbrechung dieser Pforten Italiens verbunden ist. Es ist dieses eine
Auffassung, die wie so vieles andere der römischen Organisation unmittelbar
dann auch von dem Regierungssystem Theodorichs des Großen übernommen
worden ist, wenn Kassiodor damals die in Rätien gelegenen Befestigungen ein-
fach die Schlüssel Italiens nennt und das nördlich von diesen liegende Gebiet
als den Anfang der Unkultur bezeichnet.
VIII. Kapitel.
Die Kriegsgescliiclite der Alpenländer von Mark Aurel
bis Probus.
Mit keinem anderen Ereignis ist der Name des römischen Kaisers Mark
Aurel enger verknüpft als mit den von ihm geführten Markomannenkriegen. Es
ist vorher gesagt worden, daß mit diesen Kämpfen eine neue Periode der Welt-
geschichte ihren Anfang genommen hat und auch der Grund, weshalb sich diese
Ereignisse gerade am Ostende der Alpen entladen mußten. Das erste große Er-
eignis dieser Kämpfe war im Jahre 167 nach Ch. der einem reißenden Strome
gleichende Durchbruch der Markomannen mitten durch die alteingerichteten
römischen Ostalpenprovinzen bis hinunter nach Venetien, wo jene erst vor den
Mauern von Aquileja und Opitergum (Oderzo) Halt gemacht haben. Diese Tat-
sache liefert daher einerseits den Beweis, daß die römische Regierung von der
Seite, von der jene Invasion erfolgte, am allerwenigsten eines solchen Angriffs
gewärtig gewesen ist, andererseits aber auch, daß die Verteidigungsmaßregeln
überhaupt an jener östlichen Grenze der Alpen bis dahin nicht allzu gefestigt
gewesen sein können. Wir haben gesehen, daß Augustus es unterlassen hatte,
die Grenzen hier im Osten der Alpen ebenso standfest wie an deren Westflügel
und am Rhein festzulegen, und auch der einzige römische Kaiser, der nach
Augustus dann hier im Osten noch selbständig organisierte, Trajan, hatte bei seiner
Grenzsicherung mehr das Gesicht nach Osten, nach dem ungarischen Lauf der
Donau, als nach Nordosten, nach der Marchebene und der Linzer Pforte gewendet
gehabt. Daher war hier von Anfang an eine schwache Stelle in der Verteidigung
geblieben, deren Ausdehnung wir zunächst schon aus den Punkten, an denen die
Markomannen zuerst in Italien erscheinen, vermuten, genauer jedoch noch aus
den militärischen Maßregeln feststellen können, die dann nach vorläufiger Be-
endigung dieser Kriege von den Römern hier getroffen worden sind.
Die Kriegsgeschichte der Alpenländer von Mark Aurel bis Probus. 139
Das Erscheinen der Markomannen vor Aquileja würde zunächst ebensogut
eine Benutzung der von Carnuntum um den Rand der Ostaipen herum nach
dem Birnbaumer- Walde zu auslaufenden Straße wie derjenigen Verbindungen,
die durch die Ostalpen von Norden und von Virunum auf jene Stadt führten,
möglich machen. Der Umstand jedoch, daß Pannonien damals militärisch weit
besser als Norikum besetzt war und im Zusammenhang damit die Lage Böhmens,
des ursprünglichen Hauptsitzes der Markomannen, macht den Einbruch derselben
auf den letzteren Linien wahrscheinlicher, während der Name Opitergum über-
haupt nur denjenigen Punkt zu bedeuten braucht, bis zu dem die Feinde von
Aquileja aus am weitesten nach Italien hineingelangt sind. Ein Einfall über den
Brenner her ist für die damalige Zeit jedoch deshalb nicht wahrscheinlich, weil
unter den vielen und großen, versteckartig geborgenen Münzfunden der Römer-
zeit, die innerhalb Rätiens zum Vorschein gekommen sind, sich kein einziger
findet, bei dem die Reihe der Münzen zeitlich schon bei Mark Aurel abbräche.
Nach der Vertreibung der Feinde vom Boden Italiens hat dann Mark Aurel
den Krieg vom nördlichen Pannonien und Norikum aus und auf das Donauufer
gestützt mühsam zu Ende geführt. Die militärische Lage mag damals, als der
wohlwollende, feingebildete Mann hier in Wien und Carnuntum resigniert Jahre
lang aushalten mußte, etwas Ähnliches an sich gehabt haben, wie sie sich ergeben
hätte, wenn sich an den Sommerfeldzug von 1866 noch ein zweiter großer Waffen-
gang zwischen Österreich und Preußen angeschlossen hätte. Nach römischer
Auffassung waren diese Kämpfe damals jedoch immer noch nichts anderes als
ein großer Grenzkrieg, und sie konnten zunächst auch noch als ein solcher gelten,
weil die aufgezwungene Verteidigung wiederum nach altem Stile in einen Angriffs-
krieg verwandelt wurde.
Die Lücke aber, die vorher hier in dem Grenzschutz gewesen war, hatte
sich von Carnuntum aus das Donauufer entlang bis Regensburg erstreckt; und
aus den Maßregeln, die sich dann hier unmittelbar an die Waffenruhe anschlössen,
läßt sich nun auch genau ersehen, mit welchen Mitteln diesem Versäumnis damals
abgeholfen werden sollte. Während vorher hier nur wenig und nur Truppenteile
zweiter Güte gelagert hatten, sehen wir jetzt hinter dem Donaustrom kampfbereit
römische Kerntruppen stehen; das Garnisonieren der 10. und 14. Legion in Car-
nuntum und der 3. Legion in Regensburg ist für jene Zeiten sichergestellt. Mit
der Zeit Mark Aureis ist die Wiener Ebene in die Kriegsgeschichte eingetreten,
um seitdem immer wieder von Neuem als ein militärischer Brennpunkt Mittel-
europas zu erscheinen. Damals war es aber vor allen Dingen wichtig, daß durch
die von Süden herankommenden Verbindungen ein ungehindertes Auslaufen auf
jenes römische Vorland sichergestellt wurde, und so sehen wir deshalb auch zur
Römerzeit den Hauptort dieses Gebietes von Wien aus ein Stück weiter nach
Osten, nach Carnuntum selbst gerückt, weil gerade auf diesen Ort die von Poe-
tovio und Savaria kommende Straße unmittelbar einmündete. Ist somit die spe-
140 VIII. Kapitel.
zielle Lage Carnuntums zunächst noch ein weiterer Beweis für die geringe Wichtig-
keit des Weges über den Semmering während der Römerzeit, so ist weiterhin
die Tatsache, daß Carnuntum aus einem ursprünglich keltischen Ort entstanden
ist, in gleicher Weise für die Ansiedelungsart der Kelten wie für die Art der
römischen Organisation bezeichnend.
Von der Zeit Mark Aureis ab trat aber dann bei jenem Ort der Charakter
der bürgerlichen Niederlassung weit hinter dem einer Garnisonstadt zurück und
der Mauerring dieser Stadt mag damals, wie die weite Ausdehnung der über die
heutigen Orte Petronell und Deutsch -Altenburg sich hinziehenden Ruinen ahnen
läßt, besonders auch zur vorübergehenden Aufnahme größerer römischer Armee-
abteilungen bestimmt gewesen sein. Die römischen Cäsaren zogen hier an deren
Spitze herein und heraus, und so scheint infolge dieses häufigen vornehmen Be-
suches jene Vorläuferin Wiens schon damals etwas von einer kaiserlichen Resi-
denz an sich gehabt zu haben. Die in Carnuntum gemachten Funde zeigen
jedenfalls an, daß alles, was die Römer hier angelegt haben, durchaus erstklassiger
Art gewesen sein muß. Zwei Jahrhunderte hindurch blieb Carnuntum nun in
dieser Weise die anerkannte Hauptstadt der Länder an der mittleren Donau, bis
es schließlich im Jahre 375 nach Ch. unter Valentinian von den Quaden mit der
Gründlichkeit, die allem Vernichtungswerk dieser Völkerwanderung eigen gewesen
ist, zerstört wurde und somit als römischer Waffenplatz aufgegeben werden mußte.
Wenn wir von jenem Ereignis auch sonst nichts wüßten, so würden wir doch
schon um einer anderen Beobachtung willen annehmen müssen, daß das Gebiet
um Carnuntum nicht über jene Zeit hinaus von den Römern zahlreich besetzt
gewesen sein kann; denn nur bis zu dieser Zeit gehen die Römerfunde in den
Thermalquellen in Baden bei Wien, deren Benutzung den Römern in Carnuntum
ebenso als Südländern wie als Soldaten Lebensbedingung war.
Ging aber diese erste bewußte Gründung Carnuntums schon auf Tiberius
zurück, so war die eigenste Maßregel Mark Aureis auf dieser Linie der Ausbau
von Lauriacum (Lorch) und dessen Einrichtung als Kolonie, in der Mitte jener
nunmehr so wichtig gewordenen Front. Die Belebtheit von Lauriacum in der
späteren Kaiserzeit wird besonders durch die Tatsache bewiesen, daß es im Jahre
304 nach Ch. als ein Platz genannt wird, wo die diokletianische Christenverfolgung
sehr viel zu tun bekam. Daß bei der Gründung Lorchs jedoch auch nur das
Bild der damaligen römischen Welt vorwaltete, zeigt wiederum seine Lage direkt
an der Schwelle der von Süden kommenden Straße über den Rottemanner Tauern,
während für die späteren Zeiten der Hauptort dieser Zone, Lentlum=Linz, sich
von jenem Punkte entfernt und in der Lage von Linz am Donauufer allein der
nunmehr überwiegend in der Horizontale ziehenden Verkehrsbewegung Rechnung
getragen hat.
Am weitesten westlich, und zwar hier besonders deutlich sind die Folgen
dieser Neuorganisation dann aber in Regensburg zu erkennen, das gleichfalls
Die Kriegsgeschichte der Alpenländer von Mark Aurel bis Probus. 141
erst ZU jener Zeit deutlich in die Geschichte eintritt. Bis dahin war dieser Ort
nur ein befestigter Grenzposten gewesen, wobei allerdings gerade in Bezug auf
das Kommende die Nachricht wichtig ist, daß hier bereits seit der römischen
Eroberung ein friedlicher Handelsverkehr, der durch diesen Ort die Reichsgrenze
heraus- und hereingegangen ist, stattgefunden hat. Unter Mark Aurel wurde
Regensburg dagegen in der Art wie Carnuntum als Haltepunkt für eine ständige
Besatzung zur Festung ausgebaut. Neben der ersten Römerstadt entstand damals
(bei Kumpfmühl) ein weiteres Garnisonlager, während der bürgerliche Verkehr
sich in dem ursprünglichen Ort, der nunmehr nach Römerart eine derart feste
Umwallung erhielt, als ob sie für die Ewigkeit bestimmt wäre, sich weiter bewegte.
Unmittelbar auf dem Boden dieser alten Römerstadt steht der Kern des heutigen
Regensburgs, und auch heute noch mögen hier einige Gassen des ältesten Stadt-
teiles, in der Nachbarschaft des Domes bis zur Donau hin, in ihrem Grundriß
unmittelbar auf die alte römische Ortsanlage zurückgeführt werden können. Der
Unterschied in der Breite zwischen Haupt- und Nebenstraße d. h. die auffallend
engen Seitenstraßen sind eine ganz besondere Eigenart römischer Städtegründung,
und diese Erscheinung ist in keiner anderen süddeutschen Stadt deutlicher als
in Regensburg zu finden.
Aber auch weiter einwärts dieser äußeren Grenzlinie lassen sich damals die
Folgen der großen Erschütterungen des Markomannenkrieges spüren. Zunächst
führte jetzt die zum ersten Male hervorgetretene militärische Wichtigkeit Rätiens
zur Entlastung dieser Provinz durch Abtrennung des Paßlandes des Wallis
(Vallis Poenina) und Zuteilung desselben zu dem westlichen Regierungsbezirk
der Alpi-s Graiae. Es scheint ferner, daß in jener Zeit die Handelsblüte und
der Wohlstand Venetiens und besonders der von Aquileja den ersten schweren
Stoß erhalten hat. Zwar galt Aquileja sei Mark Aurel als die erste Festung des
Reiches. Diese Ehre hat für die Stadt aber nur den Anfang ernster Dinge und
einer herben, alles fröhliche Leben verzehrenden Entwickelung bedeutet. Ein
Zeichen, wie aufwühlend und verhängnisvoll diese Markomannenkriege waren,
in gleicher Weise aber auch für die geringe physische Widerstandsfähigkeit
der damaligen römischen Menschheit ist die furchtbare Gestalt, die die Erbin
jener Kriege, die Pest, damals annehmen konnte, und es ist kein Zufall, daß die
aus dem Orient eingeschleppte und in dem ganzen östlichen Europa wütende
Krankheit gerade in Aquileja am frühesten und schrecklichsten auftrat. Eine
Folge der durch diese Seuche eingetretenen Verheerungen an Menschenleben
war es auch, daß kurz nach Mark Aurel bereits Germanen im Podelta angesiedelt
wurden. Schon damals bereitete sich also der Ruin in dem Bevölkerungszustand
Nordostitaliens vor, der bis zu Anfang des Mittelalters stetig fortschreitend die
Grundlage für die Erklärung der Beschaffenheit des heute südlich der norischen
und karnischen Alpen wohnenden Volkes bildet.
Nach dem Tode Mark Aureis und der Beruhigung der Markomannen ist
142 Vlll. Kapitel.
in den Alpen dann ein volles Jahrzehnt Ruhe zu spüren, und erst nach dem
Regierungsantritt des Septimius Severus (193 — 211 nach Ch.) regt es sich hier
wieder. Die Regierungszeit des Septimius Severus aber ist nicht nur nächst
derjenigen des Augustus die wichtigste Periode in der Verkehrsgeschichte der
Alpen während der Römerzeit geworden, sondern wir müssen ebenso auch lange
Perioden nach vorwärts, bis zum Ende des Mittelalters, durchwandern, bis wir
wieder einer Zeit begegnen können, in der in den Alpen die systematische
bewußte Arbeit an den Verkehrswegen gleich eifrig und gleich weit über alle
Gebiete des Gebirges verbreitet eingesetzt hat.
Septimius Severus war ein einseitiger und kräftiger Herrscher, äußerlich
und innerlich durch und durch Militär, und in dieser seiner Haupteigenschaft
liegt die Größe und die Beschränkung seines Wesens. Wohl standen ihm alle
jene Hilfsmittel zur Seite, die das Wesen des trefflichen Soldaten mitten im
praktischen Leben ausmachen, Geradheit, Gesundheit, Klugheit und Energie in
der Handhabung aller äußerlichen Mittel; um aber geschichtlich Bleibendes
schaffen zu können, dazu fehlte ihm die erste Vorbedingung, die nur durch ein
Geschenk der Natur erworben werden kann, die Fähigkeit, auf den Grund der
menschlichen Dinge zu blicken. So ist auch die Tätigkeit jenes Kaisers in den
Alpen im Vergleich zu der des Augustus ohne tiefere geschichtliche Wirkung
geblieben. Für Augustus waren die Alpenländer ein Gebiet gewesen, in das
dieser meisterhaft die römische Organisation einpflanzte; für Septimius Severus
waren sie dagegen nur eine Randprovinz, die der scharfe Blick des Soldaten als
voraussichtliches Kriegstheater der nächsten Zukunft erkannt hatte und daher
allein für diesen Zweck reichlich mit Heerstraßen überzog. Schon ein Vergleich
des äußeren Aussehens der Meilensteine dieser zwei verschiedenen Bauperioden
illustriert ohne weiteres den Unterschied zwischen der damaligen und der
Augusteischen Bautätigkeit; denn während diejenigen aus der ersten Kaiserzeit
durchweg sorgfältig und aus gutem Material gearbeitet sind, ist es den Meilen-
steinen aus der Zeit des Septimius Severus (und überhaupt der späteren Kaiser)
meist sofort anzusehen, welch' kurze Zeit auf ihre Herstellung verwendet werden
konnte. So umfangreich die Tätigkeit des Septimius Severus daher auch gewesen
sein mag, und so oft wir deshalb auch dem Namen jenes Kaisers in den Alpen
begegnen, so hat das Wirken desselben doch im Grunde seinen Zweck verfehlt,
weil wir schwerlich annehmen können, daß auch ohne Septimius Severus das
Schicksal des Römerreichs oder selbst der Alpenländer sich viel anders als wie
es wirklich eingetreten ist, gestaltet hätte.
Im Obigen ist der Name des Septimius Severus bereits am häufigsten in
Verbindung mit den die Ostalpen durchziehenden südnördlichen Linien (Brenner,
Radstädter Straße) genannt worden, und es konnte dieses auch nicht anders sein,
da die Tätigkeit desselben in dem Bau der Alpenstraßen hier etwas wirklich
Neues bedeutet und außerdem eine Lücke im Vorangegangenen ausgefüllt hat.
Die Kriegsgeschichte der Alpenländer von Mark Aurel bis Probus. 143
Es sind aber diese Straßenbauten durchaus nicht das einzige Feld seiner Tätig-
keit; denn der Bau dieser quer durch die Ostalpen hindurch gezogenen Militär-
straßen ist nur ein Teil der Tätigkeit, die jener Kaiser in dem ganzen römischen
Reiche und innerhalb desselben auch wieder nicht bloß in den Ostalpen, sondern
ebenso auch in dem ganzen Alpengebiet ausgeübt hat. Würde dieses Unter-
nehmen allein schon jenem Kaiser einen Platz unter den befähigsten römischen
Militärs sichern, so ist dabei aber noch die Energie besonders beachtenswert,
die schon damals, ganz entsprechend dem Niedergang der zur Verfügung stehenden
Hilfsmittel, zur Vollendung aller solcher Bauten angewendet werden mußte.
Wir kennen die Straßenbautätigkeit des Septimius Severus in den Alpen auch
am Großen Sankt Bernhard und an den Bündner Straßen, so zahlreich jedoch
nirgends wie in den Ostalpen, und jenes über die Alpen gezogene septimianische
Straßennetz stellt sich überhaupt so ausgedehnt und so genau ausgearbeitet dar,
daß es nicht ein Werk der reinen Notwehr gewesen sein kann, sondern immer
noch aus einem selbständigen, wohldurchdachten Plan der römischen Heeres-
verwaltung hervorgegangen zu sein scheint.
Bei den wirklich großen Unternehmungen aller Zeiten, die lediglich aus
militärischen Gesichtspunkten hervorgegangen sind, läßt sich zumeist die
Beobachtung machen, daß jene in den seltensten Fällen für die augenblicklichen
Ereignisse geschaffen werden konnten, einfach deshalb, weil die raschrollende
Zeit es nicht erlaubte, mitten während des Austrags eines großen Krieges noch
Standfestes zu schaffen. Die Regel ist daher, daß solche große Werke, die dem
Kriege dienen sollten, unmittelbar in den auf den Eintritt einer Waffenruhe
folgenden Jahren entstanden sind. Wohl wurden sie sämtlich nicht um der
Vergangenheit sondern um der Zukunft willen angelegt. Bei dem Un-
vermögen des Menschen, die Zukunft vorauszusehen, mußte es aber dazu
kommen, daß bei ihrer Anlage trotzdem nichts anderes als die Lehren der Ver-
gangenheit die Basis ihres Entstehens und die beste Vorsorge für die Zukunft
abgeben konnten. In jener Weise sind auf dem Boden des Alpengebirgs später
die Sperren der Langobarden und nach dem Abtreten Napoleons L vom Schau-
platz der Geschichte ein Teil der modernen großen Alpenstraßen des neunzehnten
Jahrhunderts entstanden. Nicht den kleinsten Teil aller solcher Anlagen hat
freilich dann das Geschick getroffen, daß die Zukunft es doch ganz anders
brachte als man gemeint hatte, und daß sie ihren Dienst entweder überhaupt
nicht oder doch nur in ganz anderer Weise als wie er ihnen ursprünglich zugedacht
war, erfüllen konnten.
Hiernach läge es nahe, auch bei der Straßenbautätigkeit des Severus in den
Ostalpen den Einfluß der großen vorangegangenen Ereignisse d. h. der Marko-
mannenkriege anzunehmen, derart, daß die von ihm gebauten Straßen vor allem
als Zugangslinien auf die Donaufront von Süden her hätten dienen sollen. Bei
näherer Betrachtung des Bildes, das durch diese neuen Verkehrsmöglichkeiten
144 VIII. Kapitel.
geschaffen wurde, kann man aber doch zu einem ganz anderen Resultate gelangen;
wie man überhaupt meist dann der Wahrheit am nächsten zu kommen pflegt,
wenn man die Absichten, die bei den lediglich militärischen Vorkehrungen der
Römer, abgesehen von denen ihrer letzten Zeiten, vorwalteten, möglichst scharf-
sinnig einschätzt. Wären die Heerstraßen des Severus lediglich aus den Lehren
des Markomannenkrieges heraus entstanden, so wäre dabei zunächst schon der
zeitlich lange Zwischenraum zwischen der nach diesem Kriege eingetretenen
Waffenruhe und dem Beginn jener Bautätigkeit selbst auffallend. Die steinernen
Andenken des Severus stehen aber nicht bloß entlang der Gebirgsstraßen selbst
(am Radstädter Tauern und am Brenner), sondern besonders auch in dem nörd-
lichen Vorland dieser Linien (Windischgarsten, Straßwalchen, der Salzburger
Triumphbogen; Völs bei Innsbruck, Nassenfeis und Stepperg bei Augsburg).
Zieht man nun hierbei außerdem noch die Straßenbauten des Severus in Bünden
in Betracht, so erscheint der Schwerpunkt aller dieser militärischen Vorkehrungen
von dem östlichen Flügel der gegen die Markomannen gerichteten Front west-
wärts nach dem nördlichen Abfall des Scharnitz-Überganges und in die Gegend
von Augsburg gerückt, und der Schlüssel für das Verständnis derselben wird
somit besser in den kommenden als in den vorangegangenen Ereignissen zu
suchen sein. Diese zukünftigen Ereignisse sind aber die großen, das ganze dritte
Jahrhundert nach Ch. ausfüllenden Kriege der Römer mit den Alemannen
gewesen. Das Bestreben des Angriffs war seit Beginn jenes Jahrhunderts auf
die am Main sitzenden Alemannen übergegangen, die von dort aus nach Süd-
westen, und zwar zunächst auf das Dekumatland, drückten. Unmittelbar nach
dem Tode des Septimius Severus sehen wir seinen Nachfolger Karakalla nun
auch wirklich gegen die Alemannen einen Angriffskrieg führen, und zwar, wie
dabei als besonders wichtig hervorgehoben wird, nicht vom Rhein, sondern von
Rätien aus. Es hat also den Anschein, daß schon Severus hier den ganz
bestimmten Zweck verfolgte, durch seine Rüstungen neben der Richtung vom
Rheine her noch eine zweite Angriffsrichtung von Vindelicien her gegen die
Alemannen einzurichten, wodurch jene dann von zwei verschiedenen Seiten aus
zurückgedrückt werden sollten.
Wir sind aber trotz allen diesen zweckdienlichen und systematischen Ver-
anstaltungen durchaus nicht genötigt, eine übermenschliche Fähigkeit das Kommende
vorauszusehen bei jenem Kaiser anzunehmen; denn wenn auch sonst die Geschichte
darüber schweigt, so muß doch bereits zur Zeit des Severus eine Beunruhigung
von der Seite der Alemannen vorhanden und die von dort heranziehende Gefahr
zu erkennen gewesen sein. Wir haben zwei große Münzfunde aus dem Boden
Rätiens (den einen aus Starkenbach bei Landeck, den anderen aus Castelfranchin
bei Fondo), die nur in der Zeit des Severus dort versteckt worden sein können.
Es ist also durchaus wahrscheinlich, daß schon unter Severus ein Ansturm der
Alemannen gegen die Grenzen des römischen Dekumatlandes stattgefunden hat,
Die Kriegsgeschichte der Alpenländer von Mark Aurel bis Probus. 145
der sich besonders an dem Punkte des Dekumatlandes, uo der Valium Trajani
und der Valium Hadriani im spitzen Winkel zusammenstießen (d. h. bei Lorch
in Württemberg) fühlbar machen mußte und dessen Beben sich nun auch in
direkt südlicher Richtung bis in die Alpen hinein fortpflanzte.
So sind während des dritten Jahrhunderts nach Ch. wie für die ganze
damalige Welt so auch für die Alpenländer die wichtigsten Ereignisse diejenigen
Kriege gewesen, die von den Römern gegen die mit dem Sammelnamen Alemannen
bezeichnete germanische Völkergesellschaft geführt worden sind. In Wirklichkeit
können diese Kriege in ihrer Gesamtheit wohl überhaupt als der Entscheidungs-
kampf und Höhepunkt jener ganzen Völkerwanderung angesehen werden, insofern
sie die Periode bezeichnen, in der beide Parteien Jahrzehnte lang ungefähr in
gleicher Stärke sich gegenseitig bekämpft haben, während dann an ihrem Ende
die eigentliche Kraft der Offensive den Römern verloren gegangen ist. Für
unseren Zweck folgt aber hieraus, daß während dieser Feldzüge nun auch die
von den Römern in das Werk gesetzte militärische Einrichtung der Alpenländer
voll in Wirksamkeit getreten und ihre Probe bestanden haben muß, um schließlich
am Ausgang des Jahrhunderts zwar noch nicht als zerstört, aber doch als ver-
stümmelt und als in ihren Fundamenten erschüttert zu erscheinen. Tatsächlich
müssen damals, so gering und oberflächlich auch die einzelnen Nachrichten sind,
ebenso alle schon von Augustus Zeiten her gebauten, von Süd nach Nord über
die Alpen führenden Straßen, wie auch die großangelegte Zutat der späteren
Kaiserzeit, die Kolonnenstraße von Mainz südöstlich nach der Balkanhalbinsel
hinüber, zunächst voll den Zweck, für den sie ursprünglich angelegt worden
waren, erfüllt haben. Der Anfang des folgenden vierten Jahrhunderts zeigt
dagegen ein anderes Bild. Nicht nur jene Kolonnenstraße hatte damals bereits
ihre Bedeutung verloren, da sie durch Aufgabe des Dekumatlandes senkrecht
durchschnitten worden war, sondern auch die eigentlichen römischen Alpenstraßen
haben zum Teil schon viel an ihrer lebendigen militärischen Wirkung eingebüßt,
weil dicht vor ihrem Austritt bereits gefährdetes oder feindliches Gebiet lag,
und so die Bewegungsfreiheit für ein offensives Vorgehen über sie hinüber ein-
geengt war.
Die Alemannenkriege selbst aber lassen sich in verschiedene Gruppen
zerlegen, die bezeichnenderweise in solchen zeitlichen Zwischenräumen aufeinander
gefolgt sind, in denen sich in kürzester Zeit kräftige Generationen zu erneuern
pflegen (der erste etwa 213, die folgenden etwa 236, 259 und 270 nach Gh.).
Der erste von Karakalla vom Jahre 213 an gegen die Alemannen geführte Feld-
zug muß zunächst noch eine nach damaligen Begriffen vollständige Besiegung
dieses Volkes ergeben haben, die sich außerhalb der Reichsgrenzen abspielte.
Wir haben gesehen, wie sorgfältig jener Krieg Jahre lang hindurch von den
Römern vorbereitet worden war, und dieses mag daher auch der Hauptgrund
für die Erfolge gewesen sein, die jener Kaiser damals leichter Hand hier erringen
Scheffel, Verkehrsgeschichte der Alpen. I.Band. 10
146 VIII. Kapitel.
konnte. Die gleichzeitigen und späteren Darstellungen neigen wenigstens dazu,
die persönliche Wirksamkeit Karakallas auf diesem so wichtigen Schauplatz recht
gering anzuschlagen. Es muß aber doch hervorgehoben werden, daß selbst
Mark Aurel gegen die Markomannen nicht viel mehr als Karakalla hier an dieser
Seite ausgerichtet hat. Das aber, worauf es damals ankam, scheint auch Karakalla
jedenfalls ganz genau gewußt zu haben, wenn er die militärische Bautätigkeit des
Severus gerade an der Grenze gegen die Alemannen eifrig fortsetzte und für
seine Zwecke alle Mittel der Kriegführung, Blendwerk und Lüge, und vor allem
Grausamkeit zu Hilfe nahm.
Wenn wir auch ebensowenig über die Einzelheiten des zweiten Alemannen-
krieges (von 237 nach Gh. an) unterrichtet sind, so wissen wir in Bezug auf die
Alpen doch genug durch zwei Tatsachen, die sicher überliefert sind. Die Rolle,
die das Vorland der Alpen in diesem Kriege eingenommen haben muß, ergibt
sich zunächst aus dem Ausgangspunkt der damaligen römischen Operationen, den
nicht wie vorher Rätien, sondern allein der Mittelrhein bildete, und ferner aus
der Tatsache, daß während jenes Krieges selbst eine Verlegung des römischen
Hauptquartiers vom Rhein nach Pannonien stattgefunden hat. Wenn diesmal
zunächst Alexander Severus die Truppen für den Feldzug am Rhein bei Mainz
ansetzte und dann nach dessen Tode (235 nach Gh.) sein kräftiger Nachfolger
Maximin von hier aus den Feldzug wirklich begann, so muß damals der feind-
liche Gegendruck sich keinesfalls in der Hauptsache gegen Süden nach den Alpen
zu sondern entsprechend der Hauptbewegung der Völkerwanderung mehr direkt
gegen Gallien geltend gemacht, also damals eine Verteidigung der Alpenländer
gleichfalls noch nicht in erster Linie gestanden haben. Daß aber überhaupt zu
jener Zeit der ganze römische Verteidigungsapparat nördlich der Alpen noch voll-
ständig funktionierte, ergibt sich wiederum aus der Tatsache, daß Maximin, nach-
dem er die Alemannen vom Rhein aus zurückgedrängt hatte, in aller Ruhe und
Regelmäßigkeit von Mainz nach Sirmium an der mittleren Donau abmarschieren
konnte. Jene große Kolonnenstraße, durch deren Benutzung den Römern so oft
Zeit und Kräfte erspart worden sind, muß also auch damals noch vollständig
intakt gewesen sein.
Der dritte Alemannenkrieg vom Jahre 259 nach Gh. ist der gewaltigste von
allen und er wurde auch schon von den Zeitgenossen selbst als ein furchtbares
Ereignis von größter geschichtlicher Tragweite betrachtet. Er muß ein solches
auch schon deshalb gewesen sein, weil sich gerade während des Verlaufes, den
er genommen hat, das Wesen jener ganzen Völkerbewegung wie im Bilde wider-
spiegelt. Noch stand zwar bei seinem Beginn alles, was zum Alpenwall gehörte,
unter der militärischen Hand der Römer, und der Angriff suchte sich daher auch
in gewohnter Art nicht nach dorthin, sondern westlich nach dem Rhein zu, wo
auch die römische Armee aufmarschiert stand, Luft zu machen. Es ist aber für
den Standpunkt, auf den die gegenseitigen Kräfteverhältnisse jetzt gelangt sind.
Die Kriegsgeschichte der Alpenländer von Mark Aurel bis Probus. 147
bezeichnend, daß wir diesmal nicht das Geringste von einem offensiven Vorgehen
der Römer hören, während im Gegenteil die Alemannen sich plötzlich allüber-
alihin nach Gallien und Helvetien ergießen, von dort aus in gleicher Weise wie
einst die Kelten die Alpen überschreiten und nun in Norditalien in seiner ganzen
Ausdehnung wirtschaften können.
Auch die Markomannen waren wohl schon gleich unerwartet bis Italien ge-
langt. Damals war die römische Front jedoch nur an einem abseits gelegenen
und unbefestigten Teil durchbrochen worden und auch der Einbruch selbst noch
mit solch geringer Durchschlagskraft erfolgt, daß die entscheidenden Ereignisse
jenes Krieges immerhin noch außen an der Reichsgrenze ausgefochten werden
konnten. Eine viel größere Erschütterung des mitteleuropäischen römischen Ver-
teidigungssystems mußte jedoch der Verlauf dieses Krieges bedeuten; denn jenes
wurde damals an seiner stärksten Linie, am Rhein, die von den Römern auch
stets als solche erkannt und behandelt worden war, auseinandergesprengt. Ferner
versagte diesmal aber nicht nur die Verteidigung am Rhein sondern auch der
Alpenwall selbst auf seinem wichtigsten, westlichen Flügel. Die Alemannen
müssen damals nach der Zerstörung von Aventicum über die Westalpen nach
Italien eingedrungen sein. Dies hatte aber nicht bloß eine Invasion Italiens zur
unmittelbaren Folge, sondern bezeichnet vor allem auch den ersten Fall, in dem
die Ketten, mit denen Gallien und Spanien seit Jahrhunderten an die römische
Herrschaft geschmiedet waren, durch einen äußeren Feind zerbrochen worden
sind. Welche Alpenübergänge oder welcher Übergang damals von den Ale-
mannen überschritten worden sind, ist freilich nicht zu ersehen. Am nächsten
läge es an den Großen Sankt Bernhard zu denken, einerseits weil Aventicum,
das direkt an dem Wege zu diesem Übergange liegt, damals von den Alemannen
zerstört wurde, andererseits aber auch wegen der Herstellungsarbeiten, die dann
um die Wende des dritten und vierten Jahrhunderts besonders an dem nördlichen
Teile jener Straße nachgewiesen werden können.
So lag der Schwerpunkt dieses Krieges nunmehr auch schon ganz im Herzen
des römischen Reiches, insofern die Entscheidung über denselben diesseits der
Alpen auf italienischem Boden fallen mußte, und die Kraft des Angriffs durch
eine Niederlage der Alemannen bei Mailand für einige Zeit wirklich gebrochen
wurde. Gerade dieses Ereignis ist bezeichnend für die Beschaffenheit der gegen-
seitigen Kräfteverhältnisse während jener Zeit der germanischen Völkerwande-
rung. Denn während an den Grenzen des Reiches die Verteidigungsmittel der
Römer jetzt von der überlegenen physischen Kraft der Germanen zwar rasch in
Stücke zerschlagen werden, so können jene doch, je tiefer der Feind in die
römische Machtsphäre eindringt, immer noch um so besser in Wirksamkeit treten,
bis die Germanen schließlich wie einst die Cimbern in den Netzen eines den
Römern nur zu wohlbekannten Kriegstheaters gefangen werden.
Eine für unsern Zweck sehr wichtige Frage über den Verlauf dieses Krieges
10*
148 VIII. Kapitel.
muß jedoch ungeklärt bleiben; es ist diejenige, ob auch schon damals die Straßen
Rätiens zu Einfällen der Germanen benutzt worden sind. Zu der Annahme, daß
dieses Land während jener Zeit bereits einer größeren Invasion ausgesetzt worden
wäre, berechtigen jedenfalls weder Nachrichten noch Funde, und es würde im
Gegenteil alles dafür sprechen, daß bis zur Mitte dieses dritten Jahrhunderts das
südlich des rätischen Limes gelegene Gebiet noch unversehrt von den Römern
gehalten worden ist, wenn nicht eine einzige Tatsache dem entgegenstände: die
Neubefestigung Veronas vom Jahre 265 nach Gh., bei der wir diesmal nicht wissen
können, ob sie schon in den vorangegangenen oder nur in der Sorge für die
künftigen Ereignisse ihren Ursprung gehabt hat.
Diese künftigen Ereignisse haben jedoch dann auch auf dem Ostflügel der
Alpen nicht lange auf sich warten lassen; denn bei dem vierten Einfall der Ale-
mannen, der sich allerdings besonders auch durch das gleichzeitige Auftreten
eines neuen germanischen Volkes, der Juthungen, weniger deutlich von den vor-
angegangenen Alemannenkriegen trennen läßt, kommen die Ereignisse dann tat-
sächlich auch von dem Ostflügel der Alpen nach Italien herabgezogen. Während
jener Kämpfe ist es vor allem eine Schlacht am Gardasee, in der Kaiser Klaudius
die Alemannen besiegte und die eine Durchbrechung von der Richtung des
Brennergebietes aus nicht ausgeschlossen erscheinen läßt. Damals begann also
die Umgebung Veronas sich wieder deutlich als eine Zone zu erklären, in der
die Geschicke Italiens ausgefochten wurden, und auch die letzte Entscheidungs-
schlacht gegen die Alemannen während jenes Feldzuges (ca. 271 nach Ch.) unter
Aurelian fand bezeichnenderweise in dem alten militärischen Brennpunkt Ober-
italiens, bei Placentia, statt. Aber auch für jene Zeiten ist noch ein Fall nach-
weisbar, daß die römische Heeresleitung erfolgreich die alte militärische Kolonnen-
straße nördlich der Alpen benutzen konnte, insofern Aurelian den Juthungen, die
schon an den Grenzen Italiens standen, damals von Pannonien her in den Rücken
gezogen ist und diese hierdurch zum Rückmarsch nach der Donau hin gezwungen
wurden. Die Beunruhigung des inneren Rätiens während jener Zeiten aber wird
durch einen großen in Sarnonico bei Fondo gemachten und aus dem Jahre 276
nach Ch. stammenden Münzenfund illustriert.
Am erfolgreichsten scheint dann noch einmal gegen alles, was die Rhein-
und Alpengrenze bedrohte und für jene ganzen Zeiten auch weiterhin lediglich
mit dem Namen der Alemannen bezeichnet zu werden pflegt, von dem römischen
Kaiser Probus vorgegangen worden zu sein. Die Regierungszeit dieses Kaisers
war die letzte, während der das Römerreich in Mitteleuropa seine alten Grenzen
behauptet hat, und die Geschichte ist daher mit Recht gewohnt, das Jahr 282
nach Gh., das Todesjahr jenes Kaisers, als einen Wendepunkt festzuhalten, weil
nach dieser Zeit das Dekumatland dann wirklich nicht mehr weder römische
Provinz gewesen ist noch als solche gegolten hat. Bei dem tatsächlichen Zustand
des damaligen römischen Reiches, an den sich dann innerhalb der nächsten beiden.
Die Kriegsgeschichte der Alpenländer von Mark Aurel bis Probus. 149
Jahrhunderte ein vollständiger Kräfteverfall und die Aufgabe einer Provinz nach
der andern an allen Seiten anschloß, erscheint uns dieses Ereignis heute zunächst
wohl weniger wichtig. Trotzdem bezeichnet aber gerade dieser Zeitpunkt durch-
aus eine Verwandelung der geschichtlichen Zustände. So lange Zeit hindurch
wie das römische Reich hat sich weder vorher noch nachher wieder eine Macht
als wirklichen Herrn der Welt gefühlt, und welche Veränderung in den Macht-
verhältnissen mußte daher jetzt stattgefunden haben, wenn dieser Staat ein Stück
seines Gebietes preisgab und aus diesem Verlust auch ganz bewußt die Konse-
quenzen zog. Denn aus der Aufgabe des Dekumatlandes folgte für die Römer
die Notwendigkeit, das altgewohnte mitteleuropäische Kriegstheater vollständig
umzugestalten. Nicht nur das Werk der eigentlichen Kaiserzeit, die Straße vom
Rhein nach dem Balkan, war durch jene Veränderung gegenstandslos geworden,
sondern auch die Verteidigung der Rhein- und Alpengrenzen selbst mußte von
jetzt ab von Grund aus anders gehandhabt werden.
IX. Kapitel.
Das vierte Jahrhundert nach Ch. und die Alpenländer.
Die Mittelalpen.
Der Zufall hat es gewollt, daß während des nun folgenden vierten Jahr-
hunderts die Gruppierung der in Wanderung befindlichen Völker in der Haupt-
sache eine solche war, daß gerade im eigentlichen Mitteleuropa die Verhältnisse
wieder zu einiger Stetigkeit gelangen konnten, und wir vermögen daher auch die
Art, wie die Römer jetzt die Alpenländer nach den Alemannenkriegen militärisch
zu reorganisieren trachteten, in einiger Deutlichkeit zu beobachten. In der Natur
der Dinge mußte es aber liegen, daß diese Reorganisation in ihren Grundzügen
auf nichts anderes als nur auf die ersten Einrichtungen des Augustus hinaus-
laufen konnte.
Nach Aufgabe des Dekumatlandes war wiederum das Rheinknie bei Basel,
von wo aus an der Nordseite des Schweizer Jura entlang die schon seit der
Urzeit ausgetretenen Bahnen der Völker nach Gallien und Helvetien weiter-
führten, zu einem großen militärischen Brennpunkt geworden. So sehen wir
denn auch in jener Zeit hier das schon von den Juliern gegründete Äugst als
starkbefestigten Punkt mit neu gefüllter Garnison wiedererscheinen und schließ-
lich auch (374 nach Ch.) Basel selbst, wie sein Name sagt, als Hauptquartier
römischer Kaiser entstehen. Diejenige Alpenstraße aber, die gerade zwischen
diesen Gegenden und Italien die eigentliche Lebensader des Verkehrs abgibt, ist
der Große Sankt Bernhard, und auch der erhöhten Bedeutung und Benutzung
dieser Straße können wir daher in jenen Zeiten einigermaßen nachkommen.
Gerade während der Wende dieses dritten und vierten Jahrhunderts lassen sich
verhältnismäßig viel Herstellungsarbeiten auf dem südlichen und nördlichen
Zugang dieser Linie feststellen, und von den Truppendurchzügen jener Zeit
erzählt heute noch der Ortsname St. Maurice, den das alte Agaunum anläßlich
Das vierte Jahrhundert nach Ch. und die Alpenländer. 151
der hier erfolgten Hinrichtung eines höheren römischen Befehlshabers während
der diotvietianischen Christenverfolgung angenommen haben soll.
Am deutlichsten ist aber die Veränderung der militärischen Lage dicht
südlich des Dekumatlandes, also im eigentlichen Zentrum der Alpen zu erkennen.
Die militärische Brauchbarkeit der steil ansteigenden aber äußerst zielgerecht
von Süd nach Nord durch Bünden führenden Straßen muß für die Römer
sogleich mit dem Beginn der Alemannenkriege in die rechte Beleuchtung getreten
sein. Seinen besten Beweis findet dies zunächst darin, daß im Verlauf dieser
Periode auch neben dem Splügen und Julier noch ein dritter durch Bünden
führender Übergang, der Bernhardin oder Lukmanier, an das Tageslicht getreten
ist. Die Römer müssen sich eines dieser Übergänge einmal als militärischer
Marschlinie von Bellinzona aus zu einem Zuge gegen die Alemannen
bedient haben, und ebenso ist auch in umgekehrter Richtung — allerdings
wieder nur in einem einzigen Falle — ein Einfall der Alemannen auf einer
dieser Linien nachweisbar. Mehr als je mußte es aber bei der damaligen Kriegs-
lage für die Römer von Wichtigkeit sein, dicht vor dem nördlichen Ausgang
jener rätischen Pässe gegen den Feind zur Abwehr gerüstet stehen zu können;
denn nach Aufgabe des Dekumatlandes konnte nur der Lauf des Rheines zwischen
Konstanz und Basel wieder wie vorher zu Augustus Zeiten als Reichsgrenze
dienen. Der Raum, der zwischen dieser Grenze und dem Fuße der Berge lag,
also etwa der heutige Thurgau und Aargau, bildete daher jetzt das wichtige, aber
äußerst enge Vorglacis, von dem aus jenen von Nordosten her andringenden
Feinden entgegengetreten werden mußte. Und gerade gegen jene Randprovinz
richteten sich die Angriffe der Alemannen nun auch weiterhin während des
ganzen vierten Jahrhunderts; einer der größeren derselben wurde im Jahre 301
nach Ch. vom Kaiser Konstantius bei Vindonissa zurückgeschlagen.
Auf keinem Punkte der Alpenländer aber ist durchsichtiger als hier noch
die Art der damaligen römischen Abwehrmaßregeln zu erkennen. Den Ver-
teidigungsbauten der Römer — die, wenn sie überhaupt nicht erst am Ende des
dritten Jahrhunderts errichtet, so doch sicherlich erst seit dieser Zeit in Wirk-
samkeit getreten und immer wieder von Neuem instand gesetzt worden sind —
läßt sich auf der ganzen Rheinlinie westlich des Bodensees bis nach Basel nach-
kommen. Sie sind zu finden in Konstanz, Stein am Rhein, Eglisau und Coblenz,
vor allem aber in Oberwintherthur, das genau hinter der Mitte der durch diese
Punkte gebildeten Front gelegen war und somit durch seine Lage auf der inneren
Linie eine Kräfteersparnis bei der Verteidigung jener vier Flußübergänge er-
möglichte. Alle diese Anlagen aber werden wohl nicht mit Unrecht auf die
Tätigkeit eines einzigen Mannes, und zwar auf die des Konstantius Chlorus
zurückzuführen sein, der in jenen Teilen des Reiches um die Wende des dritten
und vierten Jahrhunderts das Regiment geführt hat. Jedenfalls hat sich die
Tradition in diesen Strichen ganz auffallend mit dem Namen jenes Kaisers
152 XI. Kapitel.
beschäftigt; er soll in Chur Hofgehalten, in Maienfeld am Rhein die Befestigungen
gebaut, auf der Seeinsel von Lindau mit seinem Heere Stellung genommen haben
und auch die Stadt Konstanz soll von ihm den Namen führen.
Eine kräftige Hand ist demnach hier zu spüren, und dies ist nichts anderes
als eine der vielen Wirkungen jenes groß angelegten Reorganisationsversuches,
den die Regierungszeit Diokletians (284 bis 305 nach Ch.) für das ganze römische
Reich mit sich gebracht hat. Bis dahin hatte in diesem Reiche eine unerreicht
straffe Regierungsgewalt weithin über alle Stellen geherrscht. Die Kraft des
Zentralsystems mußte aber jetzt gegenüber den unzähligen Nöten und Schwierig-
keiten notwendigerweise erlahmen, die überall im Innern aber mehr noch
von außen her an das Reich herantraten, und so versuchte Diokletian den Er-
fordernissen der veränderten Zeit dadurch gerecht zu werden, daß er zwar nicht
das Reich aber die Reichsregierung in verschiedene Teile zerlegte, um durch
eine solche Teilung der Gewalten neue staatserhaltende Kräfte in das Leben zu
rufen und ebenso einen kräftigeren Zug in den Widerstand nach außen zu
bringen. In den Alpengebieten ist durch die Tätigkeit des Konstantius Chlorus,
der dort nach dem Rechten sah, tatsächlich der beabsichtigte Zweck jener Maß-
regel erreicht worden, die wie alles, auf was die überlegene Kultur damals
verfiel, zunächst richtig gedacht und deshalb, freilich nach der ganzen Lage der
Dinge nur auf kurze Zeit, auch von Erfolg begleitet sein konnte.
Aber auch noch in anderen Teilen der Alpenländer hat dieses veränderte
Regierungssystem seine Folgen hinterlassen. Unter Diokletian erfolgte außerdem
die Teilung der alten römischen Provinz Rätien, die bis dahin über drei Jahr-
hunderte hindurch ein geschlossenes Ganze gebildet hatte. Diese Zerlegung
jener alten Provinz in ein Raetia prima und Raetia secunda war also nichts
weniger als das Resultat einer vorangegangenen zwingenden Entwicklung, sondern
nur eine in den augenblicklichen Verhältnissen begründete Maßregel mittelst der
den von außen kommenden Ereignissen besser begegnet und die Landes-
verteidigung sicherer gehandhabt werden sollte. Der Zufall hat es jedoch gewollt,
daß zu diesem Zeitpunkte die beiden Hauptlandschaften dieses alten Rätiens,
Bünden und Tirol, auf Jahrtausende von sich Abschied genommen und seitdem
eine verschiedene Entwickelung eingeschlagen haben.
So deutlich wie wir also auch der Absicht, die damals bei dieser Zerlegung
selbst vorgewaltet hat, nachkommen können, ebenso unsicher sind wir jedoch
über die eigentlichen Umrisse und Grenzen unterrichtet, in denen diese Teilung
nun wirklich Gestalt gewonnen hat. Die Grenzen der Diözöse Chur, die sich
in der Hauptsache mit dem heutigen Graubünden decken und sich tatsächlich
von den Zeiten der römischen Imperatoren her versteinerungsartig bis tief in
das Mittelalter hinein erhalten haben, lassen sich mit größter Wahrscheinlichkeit
noch als die jenes ersten Rätiens ansprechen. Dies zugegeben, müßte dann zu
dem zweiten Rätien zunächst das heutige Tirol gehört haben. Da aber nicht
Das vierte Jahrhundert nach Ch. und die Alpenländer. 153
nur die Funde von Kempten, Augsburg und Regensburg u. a. sondern auch ein
aus dem vierten Jahrhundert erhaltenes römisches Garnison-Verzeichnis (notitia
dignitatum) mit aller Bestimmtheit ergibt, daß auch der Boden der bayrischen
Hochebene, des alten Vindeliciens, noch während des ganzen vierten Jahrhunderts
von den Römern gehalten worden ist, so muß hiernach die Ausdehnung dieses
anderen Rätiens nach Norden noch bis zur Donau angenommen werden. Sehen
wir uns nun aber die notwendigen Folgen eben dieser Teilung genauer an, so
ergeben sich dabei trotzdem für das Verständnis von heute in zweierlei Hinsicht
Schwierigkeiten. Hat es zunächst schon den Anschein, als ob, rein vom Stand-
punkte der Zweckmäßigkeit aus betrachtet, für die Römer eine Zerschneidung
des alten Rätiens in einen südlichen, vom Gebirge und einen zweiten nördlichen,
von der Ebene eingenommenen Teil viel vorteilhafter gewesen wäre, so liegt die
andere größere Schwierigkeit in der Frage, in welcher Linie überhaupt nunmehr
nach Aufgabe des Dekumatlandes die Westgrenze desjenigen Rätiens zu ziehen
ist, zu dessen Gebiet jetzt noch die bayrische Hochebene gehört haben muß.
Auch bei dieser neuen Gruppierung kann Diokletian auf wenig anderes als
auf die vormalige Augusteische Reichsgrenze zurückgekommen sein, und es bleibt
daher nichts anderes übrig als nach Aufgabe des Dekumatlandes den Lauf jener
Grenze von der Ostecke des Bodensees, von Lindau, bis herüber nach der Hier
und diesen Fluß entlang bis zur Donau zu legen, wie auch einwärts dieser Linie
noch eine große spätrömische Militärstraße über Wangen, Kelmünz und Günz-
burg wahrscheinlich ist. Immerhin bleibt dabei aber die auffallende Tatsache be-
stehen, daß hier eine Linie, deren natürliche Beschaffenheit so geringe Ver-
teidigungsmittel bietet, über ein Jahrhundert hindurch an einer der bedrohtesten
Stellen des Reiches als Grenze gedient haben muß.
Wann und aus welchen Ursachen dann dieser in der Ebene liegende Teil
Rätiens gleichfalls von den Römern aufgegeben worden sein muß, darüber werden
uns die ein Jahrhundert später mit den Alpenkriegen Stilichos in Verbindung
stehenden Ereignisse Klarheit verschaffen können. Wenn dem aber auch nicht
so wäre, so würde uns doch gerade hier die Lokal- Archäologie bei der Ent-
scheidung dieser Frage in ganz besonderem Maße zu Hilfe kommen können;
denn die durch jene gewonnenen Resultate haben neuerdings immer vollständiger
die sehr einleuchtende Tatsache zu Tage treten lassen, daß es gegen das Ende
der Römerherrschaft auch eine Periode gegeben haben muß, in der die nördliche
Ebene zwar schon von den Römern geräumt war, während das Gebirge selbst
aber bis zu seinem nördlichen Rand noch von diesen gehalten wurde, daß also
die heutigen Länder Tirol und Salzburg selbst später als ihr nördliches Vorland
der germanischen Besetzung verfallen sind. Ein untrügliches Zeugnis dieses Zu-
standes sind die Spuren der Römerverschanzungen, die dicht am Fuße der dor-
tigen nördlichen Voralpen nachgewiesen worden sind. Sie finden sich bezeich-
nenderweise am deutlichsten an dem nördlichen Austritt der großen Heerstraßen
154 IX. Kapitel.
in die Ebene und spiegeln durch ihre barrikadenmäßige, rein auf die Verteidigung
berechnete Anlage gleichfalls die damalige, allein auf die Abwehr berechnete
Kampfesabsicht der Römer wieder. Solche Zwischen -Limites aus den letzten
Stunden des römischen Reiches sind bei Partenkirchen (Klais=clausura) nach-
gewiesen, einem Punkte, in dessen südlicher Nachbarschaft jetzt zum ersten Mal
in historischer Zeit auch der große Wald von Scharnitz die Aufgabe eines vor-
trefflichen Grenzschutzes übernahm, — dann weiter am Austritt des Inns bei
Kufstein, einer Position, die besonders sorgFdltig angelegt gewesen sein muß, und
ebenso dicht östlich Salzburg.
Während jener letzten Periode der Römerherrschaft mag es nun auch der
Fall gewesen sein, daß die an den Heerstraßen liegenden Kastelle als die eigent-
lichen Grenzfesten gegen Norden in Wirksamkeit getreten sind, so möglicher-
weise an der Fernlinie die Ehrenberger Klause und Starkenbach bei Landeck,
der Martinsbühel an der Scharnitz Linie, Neubeuern vor dem Unterinntal, und
Kuchl südlich Salzburg. Ein großer Fund vom Martinsbühel bei Innsbruck, bei
dem die Münzen bis zum Jahre 395 nach Ch. herabreichen, kann hier im Beson-
deren noch einen Fingerzeig für den ungefähren Zeitpunkt abgeben, in dem die
feindliche Nachbarschaft nach dem Verluste Oberbayerns bis dicht an den Rand
der Berge vorgeschritten gewesen sein muß.
Es erübrigt nun noch einen Blick auf die damalige Beschaffenheit desjenigen
Gebietes zu werfen, das auf der italienischen Seite hinter jenem schützenden
Gebirgswall der Mittelalpen gelegen war. So lange der nördliche Vorrand der
Alpen sich noch ungefährdet in dem Besitz der Römer befand und es diesen
daher möglich war, dort ungestört ihre Heere aufmarschieren zu lassen, hatte
das Aussehen Oberitaliens in militärischer Hinsicht zunächst keine Veränderung
gegen die letzten Zeiten der römischen Republik erfahren. Nach dem Verlust
jener Bewegungsfreiheit nördlich der Alpen mußte jedoch nun während der beiden
letzten Jahrhunderte der Kaiserzeit dem südlich der Berge gelegenen ebenem
Land die Aufgabe zufallen, als Plan für die Aufstellung der römischen Armeen
zu dienen, die dann von dort aus auf dem kürzesten Wege rasch über das Ge-
birge herüber nach den bedrohten Punkten des jenseitigen Randes geworfen
werden sollten. Bei dieser veränderten Sachlage mußten daher jetzt diejenigen
Plätze Oberitaliens erhöhte Wichtigkeit erhalten, von denen aus die meisten und
bequemsten Straßen nach der germanischen Nordseite der Alpen hinüberführten.
Es sind dies wie auch heute noch Verona und besonders Mailand. Die Existenz
einer großen und bequemen Verbindung zwischen diesen beiden Orten erscheint
uns heute zwar fast wie eine Naturnotwendigkeit. Wie sehr nun aber das Bild
der militärischen Lage Oberitaliens in der vorangegangenen Zeit von Grund aus
von demjenigen, das damals entstand und das heute noch besteht, verschieden
gewesen ist, ergibt sich am besten aus der Tatsache, daß eine wirkliche, jene
beiden wichtigsten Städte des kontinentalen Italiens verbindende Staatsstraße erst
Das vierte Jahrhundert nach Ch. und die Alpenländer. 155
Überhaupt am Ende des dritten Jahrhunderts nach Ch. von den römischen Kaisern
hergestellt worden ist. Der Bau derselben war aber zur dringenden Notwendig-
keit geworden, weil jetzt bereits die Fäden der Verteidigung des ganzen Südens
gegen den Norden nach diesen beiden Punkten zusammenliefen, und die Straße
selbst war daher nichts anderes als eine Militärstraße und eine schwächliche und
eingezogene Wiederholung der großen, einst nördlich der Alpen entstandenen
und durch das Dekumatland führenden Horizontalstraße vom Rhein nach der
Donau; denn auch sie sollte südlich der Alpen in verkleinertem Maße dem
Zwecke dienen, die Truppen auf dem kürzesten Wege nach den verschiedenen
bedrohten Punkten verschieben zu können. Daß eine solche Anlage aber bereits
auf italienischem Boden nötig wurde, zeigt am besten, wie sehr jetzt im buch-
stäblichen Sinne die Macht Roms zurückgegangen war.
In jenen Zeiten konnte daher auch Mediolanum in die man möchte sagen
ihm gebührende Bestimmung eintreten, in die einer Hauptstadt des kontinentalen
Italiens. Sobald eine Macht, die mit ihrem Zentrum in Italien nicht nur über
dieses Land, sondern auch über die Gebiete nördlich der Alpen herrscht, —
wie es ja tatsächlich nur einmal, in römischer Zeit, der Fall gewesen ist — wird
die Bedeutung Mailands kaum über diejenige einer Provinzialhauptstadt hinaus
gelangen können, während dagegen, sobald die Nordgrenze Italiens mit den Alpen
zusammengefallen ist, diese Stadt stets der anerkannte Vorort Norditaliens werden
mußte. So sehen wir auch hier, wie die Neuorganisation Diokletians ganz folge-
richtig dieser Sachlage Rechnung trug, indem Mailand jetzt zur Residenz erhoben
wurde. In jener Stadt haben dann während der letzten Jahre der Römerherrschaft
eine ganze Reihe römischer Cäsaren (Maximian, Konstantius, Valentinian I.,
Gratian, Valentinian II.) ihren Sitz aufgeschlagen und von hier, wie von einem
großen Hauptquartier aus, als Oberfeldherren ihr Gesicht nach dem Norden ge-
richtet gehabt. Wie sehr aber Mailand damals auch die geistigen Kräfte der
römischen Welt an sich gezogen hat, ist mit dem Namen des Bischofs Ambrosius
verbunden, und die Kirchen Sant Ambrogio und San Lorenzo in Mailand sind
die Stätten, in denen heute noch diese selbständige geistige Bedeutung Mailands
während des späteren römischen Altertums verkörpert geblieben ist.
Die nächst wichtige Stadt Norditaliens, vorwiegend in militärischer Hinsicht
mußte dann aber Verona werden, weniger als ein Mittelpunkt als vielmehr als
erster Schlüssel des Landes, weil sie den Übergang über die Etsch beherrschte.
Direkt im Osten der Stadt unter der Wacht der Zitadelle, des heutigen Kastell
San Pietro, trat die Brennerstraße über den Ponte della Pietra, deren Pfeiler noch
heute Römerwerk sind, in den durch den ausbiegenden Bogen der Etsch ge-
schützten Stadtboden Veronas und damit in das eigentliche Italien ein. Die
Römerreste innerhalb des heutigen Stadtbodens Veronas ziehen hauptsächlich aus
der Gegend des Domes über den Piazza Erbe und die Via nuova an der Arena
vorbei nach der Porta Palio. Schon aus der Art, wie sich jene Reste hier zu-
156 IX. Kapitel.
sammengruppieren und aus der Richtung nach Mailand, nach der sie hinziehen,
läßt sich somit die Art, in der Verona gegen den Norden wirken sollte, erkennen,
ebenso aber auch, wie sehr jene beiden Städte, Verona und Mailand im Altertum
militärisch aufeinander angewiesen waren.
Die Ostalpen.
Aus den erhaltenen Nachrichten ließ sich trotz aller Lückenhaftigkeit und
Unklarheit doch die Tatsache ganz klar herausschälen, daß während des dritten
Jahrhunderts nach Ch. einesteils die Rheinlande, anderenteils aber der mittlere
Teil der Alpen und das diesem nördlich und südlich vorliegende Land die Ent-
scheidungszone jener durch die germanische Völkerwanderung hervorgerufenen
Kriege abgegeben haben. Eine Konsequenz dieser Tatsache ist es nun aber auch,
daß im Verlaufe eben dieses Jahrhunderts der lange Flügel der Ostalpen, der
doch dem Ausgangspunkt aller jener Bewegungen räumlich viel näher lag, trotz-
dem weniger heftig umkämpft gewesen ist, und die römische Macht daher auch
in jener Zeit in den Ostalpenländern zunächst weit erfolgreicher als im heutigen
Süddeutschland und in den Rheinlanden ihren Besitz behaupten konnte. Eine
Erklärung für jene Erscheinung wird ferner darin zu suchen sein, daß vor dem
Komplex dieser römischen Alpenprovinzen, vor Norikum und Pannonien, östlich
die zum mächtigen Strome angeschwollene Donau als wirksame Flußgrenze vor-
lag und daß die aus Anlaß der Markomannenkriege hier ausgeführten römischen
Verteidigungsmaßregeln für das folgende Jahrhundert wenigstens voll ihre Wirkung
getan haben werden.
Denn die strategische Bedeutung der Wiener Ebene, nach römischer Auf-
fassung des Bezirkes der Kolonie Carnuntum, war seit den Markomannenkriegen voll
an das Tageslicht getreten. Jene mit allen Mitteln römischer Verteidigungskunst
ausgestattete Landschaft, nach der die neu ausgeführten und unermüdlich in Stand
gehaltenen Südnordstraßen über den Rottemannern Tauern und die Straße von
Poetovio und Savaria zielgerecht heranführten, war mit dem Rücken an die
letzten Ausläufer der Alpen, den Mons Cetius, angelehnt und nach Norden und
Osten durch die Donau geschützt. Wie ein Strombrecher ragte damals Carnun-
tum in die am linken Donauufer entlang nach Westen oder Süden zu abfließenden
Völkerbewegungen hinein. Wir sehen, wie sich an diese Position während der
ganzen folgenden Zeit die römischen Feldherren immer wieder angeklammert
haben, und wirklich waren auch Mainz und Carnuntum damals die Punkte, die,
solange sie in römischem Besitz waren, das Fortbestehen der Herrschaft des
südlichen Volkes nördlich der Mittel- und Ostalpen versinnbildlichen konnten.
Südlich Carnuntum kämpfte Decius (-f* 251 nach Ch.) an der Donau gegen die
andringenden Goten. Noch deutlicher tritt aber diese Situation unter Valerian
(254 bis 260 nach Ch.) hervor. Denn wälirend damals im Westen die Franken
nach Gallien und die Alemannen nach Italien vordrangen und am anderen Ende
Das vierte Jahrhundert nach Ch. und die Alpenländer. 157
des Erdteils die Goten in Griechenland einbrachen, stand das römische Haupt-
quartier selbst bei Wien, um durch diese Aufstellung wenigstens ein Zusammen-
fließen aller dieser Bewegungen zu verhindern.
Und dieses ganze Bild von der Wichtigkeit, die damals die Römer jenem
Teile des Kriegstheaters beilegten, wird auch im kleinen durch die archäologischen
Funde verdeutlicht. An der auf die mittlere Donau zuführenden Rottemanner
Straße haben wir aus dem dritten Jahrhundert den Meilenstein von Krummfelden
nördlich Virunum (von 244 nach Ch.) und ebenso die Funde von Windisch-
garsten, die aus der Zeit des Alexander Severus (222 bis 235 nach Ch.) stammen
müssen, besonders aber die Spuren lebhafter Bautätigkeit bei Carnuntum selbst.
An der Pfarrkirche in Gumpendorf bei Wien befindet sich ein Denkmal Valerians,
und unter diesem Kaiser wurde neben Carnuntum eben noch das Lager von
Vindobona neu ausgebaut. Wie an unzähligen anderen Stellen sind auch diese
Reste ein Zeugnis von der gewaltigen, zähen und ernsten Arbeit, die der römische
Staatsorganismus bis in seine letzten Zeiten entfaltet hat.
Nur an einer einzigen Stelle liefert auch an diesem Flügel der Alpen das
dritte Jahrhundert ein offensichtliches Zurückschreiten des römischen Macht-
gebietes. Unter Aurelian (270 bis 275 nach Ch.) wurde das äußerste, östlichste
Deckblatt, das, vor Pannonien und Norikum liegend, das Kernland Italien schützen
sollte, abgerissen, indem Dacien damals als Provinz aufgegeben und den Goten
eingeräumt wurde. Zu derselben Zeit wie die Aufgabe des Dekumatlandes er-
folgte also auch die Aufgabe dieser Provinz, die ebenso wie jene nur eine Zutat
der späteren Kaiserzeit gewesen war. Dieser Verlust Daciens konnte jedoch im
Gegensatz zur Aufgabe des Dekumatlandes damals noch ohne wichtige Folgen
bleiben, da er eine Umgestaltung des alten römischen Verteidigungssystemes auf
dieser Seite der Alpen zunächst nicht nötig machte.
Denn der wirkliche Zusammenbruch dieses römischen Verteidigiingssystemes
in den Ostalpen ist dann erst fast um ein Jahrhundert später erfolgt. Es ist
dieses die rund um das Jahr 375 nach Ch. liegende Zeitspanne, die überhaupt
gern als der eigentliche Beginn der germanischen Völkerwanderung bezeichnet
zu werden pflegt. In Wirklichkeit bezeichnet jener Zeitabschnitt jedoch nichts
anderes als daß nunmehr diese schon längst im Fluß befindliche germanische
Völkerbewegung ein rascheres Tempo als früher annahm, durch das der Zerfall
des römischen Reiches auch äußerlich beschleunigt wurde. Örtlich und zeitlich
haben die damaligen Ereignisse aber ihren Anfang von dem Auftreten der Hunnen
in dem äußersten Osten Europas genommen. Jenes Volk war als Lebewesen
freilich grundverschieden von den Germanen, aber massenhaft, unstet, zäh und
kulturfeindlich wie es auf den Schauplatz trat, vermochte es die Unruhe und
unheimliche Bewegung, deren Träger es war, auch auf die Germanenvölker und
somit zugleich auf den ganzen Erdteil zu übertragen.
Die Gründe der Ereignisse, die zu dem ersten wirklichen Zerfall des
158 IX. Kapitel.
römischen Reiches in den Ostalpenländern führten, liegen jedoch zunächst viel
näher vor Augen und lassen noch keinen eigentlichen Zusammenhang mit der
von den Hunnen hervorgerufenen Bewegung erkennen. Sie sind in dem Auf-
treten der Quaden zu suchen, die schon etwa um das Jahr 370 nach Ch., also
bevor der Name der Hunnen in der Geschichte überhaupt genannt wird, gegen-
über der römischen Donaugrenze, etwa in der Linie von Lauriacum bis zu den
Karpaten hin, aufmarschiert standen. Es wiederholte sich also damals ganz
dieselbe Kriegslage \fie sie schon einmal zwei Jahrhunderte früher bei den
Markomannenkriegen eingetreten war. Bei jener Gelegenheit kann die römische
Abwehrtätigkeit nun aber plötzlich in einer Zone der Alpen beobachtet werden,
die bisher von militärischen Rüstungen noch wenig berücksichtigt gewesen zu
sein scheint. Es ist dieses wiederum auf einer weit einwärts gelegenen inneren
Linie, und zwar diesmal am Südabhang des Ostalpenflügels der Fall, einer Linie,
die etwa mit der Nordgrenze des heutigen italienischen Venetiens zusammenfällt.
Abgesehen von der Tätigkeit Gratians (375 nach Ch.) an der Etsch bei Bozen
finden wir in jenen Zeiten eine Ausbesserung der Straße durch das Pustertal
(Meilenstein von Julian bei Sonnenburg) und besonders den Neubau der Ploecken-
straße. Der Zusammenhang der Herstellung dieser Straße als militärischer Linie
mit den Quadenkriegen ergibt sich sofort daraus, wenn wir bedenken, daß jene
Straße mit ihrer nördlichen Fortsetzung direkt auf die Quadengrenze bei Lorch
auslief und die Zeit ihrer Erbauung unter Valentinian und Valens in das Jahr
373 nach Ch. d. h. in die Zeit des großen Quadeneinfalls Fällt. Auch in jenen
späten Jahrhunderten verfügte demnach der römische Staatsgedanke immer noch
über neue, selbständige Ideen; denn ebenso wie keine frühere Zeit so hat auch
keine spätere Epoche jemals wieder Veranlassung gefunden, an einen regelrechten
Ausbau der Ploeckenstraße heranzugehen. Daß diese Straßenlegung damals
jedoch nicht etwa nur ein provisorisches sondern ein ganz solides Werk, durch
das aus einem begangenen aber schlecht gepflegtem Bergpfad eine wichtige
militärische Linie geschaffen wurde, gewesen ist, zeigt nicht nur eine gleichzeitige
Inschrift von der Paßhöhe selbst, sondern mehr noch die Tatsache, daß die
Ploeckenstraße noch zwei Jahrhunderte später, im sechsten Jahrhundert, trotz
allen durch die Völkerwanderung hervorgerufenen Verfalles als eine gangbare
und besonders benutzte Straße genannt wird^^). Im allgemeinen mag also der
Ausbau der Ploeckenstraße denselben Erwägungen, die auch den Bau der
Splügenstraße hervorriefen, seinen Ursprung verdankt haben, wie überhaupt in
jenen Zeiten nun auch Venetien dieselbe Rolle wie dem mittleren Oberitalien
zugefallen war, insofern dieses den Schauplatz für die gegen den Nordosten
Europas gerichteten militärischen Rüstungen der Römer zu bilden und somit im
Grunde bereits die Bestimmung einer Grenzprovinz abzugeben hatte.
Um die Rolle, die die Alpen während des Verlaufes des Quadenkrieges
gespielt haben, näher zu erkennen, sind wir lediglich auf die Worte des Ammia-
Das vierte Jahrhundert nach Ch. und die Alpenländer. I59
nus Marcellinus angewiesen, der erzählt, „daß von den Quaden damals der Wall
der julischen Alpen durchbrochen worden ist". Wir wissen also, daß auf diese
Weise Venetien, nun zum zweiten Male während der Völkerwanderung, einer
gewaltigen, von Osten her kommenden Invasion anheimgefallen sein muß, ein
Ereignis, das sich dann während der folgenden beiden Jahrhunderte immer wieder-
holen sollte. Überhaupt ist eben das Ende jenes vierten Jahrhunderts der Zeit-
raum, von dem an beginnend der Schwerpunkt des Völkerdruckes sich mehr von
der Rheinlinie weggewendet und sich dagegen in den Venetien östlich vorlie-
genden Ländern zusammengeballt hat. Seit dieser Zeit bildet daher die Um-
gebung Aquilejas ganz ausnehmend das erste Entscheidungsland für die von Osten
her gegen Rom hereinbrechenden Kriegszüge, und die auf diese Stadt direkt von
Osten, von Pannonien her über den niedrigen Sattel des Birnbaumer Waldes
heranführenden Reichsstraße, auf der vorher von Italien aus die römische Erobe-
rung Zone um Zone nach Osten vorgeschritten war, ist nunmehr im wahrsten
Sinne zu einer großen Völkerstraße geworden, mit der alleinigen Bestimmung,
dem vom Osten kommenden Feinde den kürzesten Weg nach Italien zu zeigen.
Ob freilich gerade auch schon die Quaden diese pannonische Straße für
ihr Eindringen in Venetien benutzt haben, läßt sich aus dem Wortlaut des Ammia-
nus Marcellinus nicht ohne weiteres erkennen. Wahrscheinlich ist es ja, aber
die Julischen Alpen, die jener namhaft macht, können für das römische Altertum
entsprechend der südlich ihnen vorliegenden Orte Julium Carnicum und Forum
Julii auch in größerer Ausdehnung nach Nordwesten zu verstanden werden, und
es wäre demnach für diesen Durchbruch der Quaden auch eine Benutzung der
Ploeckenstraße oder der Straße über den Pontebba-Paß nicht ausgeschlossen.
Ein anderes ist jedoch aus jenen Worten noch ganz sicher zu entnehmen,
die Tatsache, daß dieser Durchbruch der Quaden nicht ohne gleichzeitige
regelrechte Kämpfe zwischen Römern und Barbaren in den Julischen Alpen selbst
stattgefunden haben kann, und daß wir nunmehr also auch in betreff des Ost-
alpenflügels auf jenen Punkt gelangt sind, wo das jenseits der Alpen liegende
Vorglacis von den Römern zeitweise aufgegeben war und auch der Alpenwall
selbst für die schwächer gewordene Verteidigung zu Hilfe genommen werden
mußte.
Aber nicht bloß eine zeitweise sondern auch eine bleibende Aufgabe eines
wichtigen Teiles dieser östlichen Alpenländer hat der Quadenkrieg tatsächlich
herbeigeführt. Seit den Quadenkriegen hat sich die römische Macht für immer
aus dem nördlichen Pannonien, mit einem Worte, von Carnuntum zurückgezogen
und mit der Aufgabe dieses einen Punktes fielen auch die vielen anderen Römer-
posten, die sich in dessen Nachbarschaft zahlreich angesiedelt hatten und deren
Ruinen auch heute noch überall hier aus dem Boden herausragen (Wien, Kloster-
neuburg, Brück a. d. Leitha, Oedenburg). Mit dieser Zeit hat die Römerherrschaft
hier ihr Ende erreicht, wenn es auch ganz natürlich ist, daß gerade in jenem
160 '^' Kapitel.
unverwüstlichen Zentrum des Lebens und des Verkehrs — anders, als in anderen
Strichen, die von der Zerstörung der Völkerwanderung betroffen worden sind —
der Wegzug der römischen Soldaten nicht auch das Aufhören aller Kultur be-
deutet hat. Besonders an der Stelle von Wien und Carnuntum ist, ähnlich wie
später in Vlrunum und Augsburg, zunächst ein Weiterbestehen dieser Orte als
germanischer Heerlager wahrscheinlich.
Die späteren Ereignisse lassen nun aber auch ganz deutlich die Folgen er-
kennen, die der Verlyst Carnuntums auf die Bewegungen des letzten Teiles jener
Völkerwanderung ausüben mußte. Mit dem Falle Carnuntums war das Hindernis
hinweggeräumt, das bisher die anrückenden Völker von der Wahl der kürzeren
bequemeren Richtung durch Pannonien nach dem Westen und Südwesten ab-
gelenkt hatte, und tatsächlich folgte römischerseits nun sofort auch der Verlust
Pannoniens und das ungehemmte Heranrücken der Feinde unmittelbar bis vor
jene berühmten „Pforten Italiens" selbst, die Julischen Alpen. Außerdem war
aber auch mit Carnuntum der Schutz der rechten Flanke für das ganze Gebiet
in Wegfall gekommen, das damals noch auf dem Boden des heutigen Süddeutsch-
lands in römischem Besitz war, und das Aufrollen dieser Linie, von Osten an
beginnend, über das nördliche Norikum und Rätien bis zur Hier hin hätte jetzt
auch ohne die später erfolgenden Maßregeln Stilichos, wenn auch langsamer, so
doch ebenso unausbleiblich, eintreten müssen.
Während so zugleich mit dem Falle des ausnehmend befestigten und hart-
näckig behüteten Carnuntums auch die Herrschaft über die Länder an der mitt-
leren Donau selbst den Römern entglitten war, ist die Tatsache um so bemerkens-
werter, daß das jenen Gebieten dicht benachbarte Norikum trotzdem nicht nur
nicht in diesen Verlust mit hineinbezogen worden ist, sondern daß sich dieses
Land auch noch während der folgenden Jahrhunderte und unmittelbar bis zum
Einbruch des Zeitpunktes, mit dem das Eintreten des Mittelalters sich in den
Ostalpen tatsächlich fühlbar machte, als ein mit dem Südland eng verknüpftes
Gebiet darstellt. Gemeint ist hier aber nicht die ganze Provinz Norikum nörd-
lich der karnischen und julischen Alpen bis herauf zum Donauufer, in dem Um-
fange wie ihn einst die römische Regierung in einem Gefühl der Machtfülle
dekretiert hatte, das fast demjenigen gleichzukommen schien wie es sonst nur
den von der Natur geschaffenen Bedingungen innezuwohnen pflegt. Es ist hier
nur die Rede von dem südlichen Teile dieser Provinz, dem heutigen Kairnten und
den südlich diesem anliegenden Teilen von Krain und Steiermark. Hier hat das
römische Wesen trotz aller Kriegszüge, die auch durch jene Gebiete am Ende
der Völkerwanderung hindurchgingen, auch während der folgenden Jahrhunderte
ununterbrochen fortbestanden und die südliche Regierungsgewalt ohne Störung
weiter gedauert. An der Westgrenze Norikums auf dem Boden des alten Seba-
tum, im Pustertal beim heutigen St. Lorenzen, finden wir noch im Jahre 472
nach Ch. den Neubau einer christlichen Kirche und auch alle anderen Funde
Das vierte Jahrhundert nach Ch. und die Alpenländer. IQl
machen es deutlich, daß die bedeutenden Städte dieser Gegenden wie Flavium
solvense, Virunum, Teurnla und Aguntum hier allen Stürmen der Völkerwande-
rung zum Trotz zunächst noch weiterbestanden haben müssen. Daß aber jenes
Gebiet damals tatsächlich zum Südland gerechnet wurde, ergibt sich weiterhin
aus einer Regierungsmaßregel Odoakers, der, als er Herrscher von Italien ge-
worden war, aus freiem Entschluß die Übersiedelung seiner dort befindlichen
„Staatsangehörigen" nach Italien verfügte. Auch daß die Herrschaft des Ost-
gotenreiches tatsächlich bis in jene Gebiete gereicht hat, ist äußerst wahrschein-
lich, wie auch nach der Zertrümmerung dieses Reiches dessen Rechtsnachfolger,
das oströmische Reich, dann wiederum jenes südliche Norikum ohne weiteres
als seine Provinz betrachtete, und Prokop, der Geschichtsschreiber des großen
Krieges zwischen Ostrom und den Ostgoten kannte auch hier um 562 nach Ch.
durchaus noch nichts anderes als die alte Bevölkerung der Noriker und Karner.
Wir stehen so vor einer Tatsache, die besser als vieles andere die Er-
scheinung in das rechte Licht setzen kann, daß das Gefüge der von der Natur
geschaffenen Verhältnisse doch in seinen Wirkungen auf die Verkehrsgebilde
stets stärker ist als der Menschenwille, mag dieser sich auch noch so energisch
und andauernd zur Geltung zu bringen suchen. Die Festhaltung Carnuntums
durch die Römer war eine ganz bewußte Maßregel gewesen, die durch heiße
Arbeit immer wieder von neuem in Kraft gehalten wurde und zuletzt fast einem
Kunststück gleichkam. Im Gegensatz hierzu ist von jenen während der letzten
Jahrhunderte ihrer Herrschaft durchaus nichts geschehen, um sich auch den Be-
sitz Norikums zu sichern. Trotzdem blieb ihnen aber dieses Land länger als
jedes anderes Gebiet nördlich der Alpen erhalten, weil es durch seine natürliche
Lage eng an das Südland gekettet ist; denn nicht nur von Südwesten, von Vene-
tien, und von Südosten, vermittelst der Flußtäler der Drau und Save, führen die
südlichen Verbindungen bequem in dieses Land hinein, sondern dieses südliche
Norikum war vor allem auch nach der Seite hin, von der damals der große
Völkerdrang anzog, durch den bastionsartig vorliegenden Mons Cetius und die
in ausgesprochen ostwestlicher Richtung und in weiter Ausdehnung sich hin-
ziehenden Tauernkämme geschützt. Gerade die Bauart dieser Gebirgsteile, die
einer Scheidung zwischen dem Süden und dem Norden außerordentlich förderlich
ist und bei denen damals der Charakter des trennenden Waldgebirges noch ganz
rein vorgewaltet haben mag, kann den Schluß gerechtfertigt erscheinen lassen,
daß hier überhaupt während des ganzen römischen Altertums zwischen dem voll-
ständig südländisch gearteten Gebiet von Virunum und den nördlichen Ostalpen-
ländern, dem heutigen Herzogtum Salzburg, dem Salzkammergut und nördlichem
Steiermark, ein größerer Kulturunterschied als jemals später bestanden hat. Jene
nördlichen Teile der Ostalpen werden während des ganzen römischen Altertums
kaum eine reichliche Bevölkerung besessen und somit auch keiner besonders
intensiven Verwaltung bedurft haben. Im anderen Falle hätte es nicht ausbleiben
Scheffel, Verkehrsgcschichie der Alpen. 1. B«nd. H
162 IX.-Kapitel.
können, daß die ländertrennende Macht des Groß -Glockners sich schon damals
aus diesen Gebieten schärfer hervorgehoben haben müßte, denn sobald zu Be-
ginn des Mittelalters die von Norden kommende staatenbildende Arbeit irgend-
welcher Art in den Ostalpen eingesetzt hat, ist es sofort jener Gebirgsstock des
Glockner gewesen, der dabei als der von der Natur gegebene Orientierungspunkt
verwendet und von dem aus die anliegenden Länder mit ihren Grenzen umspannt
wurden. Ein Zeichen, wie sehr während des Altertums der südliche Teil der
Ostalpenländer gegenüber jenem nördlichen vorgeschritten gewesen sein muß, ist
es aber wiederum, daß der südliche Partner des Glockners in den Ostalpen, der
Triglav, schon damals der Angelpunkt der römischen Länder, Venetien, Norikum
und Pannonien, gewesen ist.
X. Kapitel.
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches
im fünften Jahrhundert nach Ch.
Die Ereignisse in Norditalien.
Die nächsten großen Erschütterungen, denen die Alpenländer nach den
Quadenkriegen ausgesetzt wurden, sind die Kriege der Westgoten unter Alarich
und der Scharen des Radagais gegen Westrom gewesen. Diese Kriege stehen
nun auch mit dem Auftreten der Hunnen, das wiederum die Veranlassung zu
den Bewegungen jener Völker von Anfang an gegeben hatte, in direktem Zu-
sammenhang, und sie bezeichnen auch für die allgemeine Geschichte in mehr
als einer Hinsicht einen Wendepunkt. Wohl waren auch schon die früheren
EinPälle der Germanen nach Durchbrechung des Alpenwalles in Norditalien aus-
gelaufen. Waren diese aber in ihrem ganzen Verlauf nur Raub- und Beutezüge
ohne feste Absicht und ohne sichere Leitung gewesen, so stellt sich der Zug
Alarichs zum ersten Male als ein zu einem ganz bestimmten Zwecke unter-
nommener Feldzug dar, an dessen Spitze auch bei den Germanen eine vom
hellen Lichte der Geschichte umstrahlte Gestalt, der Heerkönig der Goten,
steht. Alarich ist der erste der germanischen Führer, der dem römischen Staate
nicht bloß Heeresleitung gegen Heeresleitung, sondern auch seine eigenen
politischen Absichten entgegengesetzt hat. Der Westgotenkrieg unter Alarich
führte außerdem zum ersten Male zu einer Belagerung und Einnahme der Haupt-
stadt Rom durch die Germanen; das Wesentliche bei diesem auch äußerlich
sofort in seiner Wichtigkeit in die Augen springenden Ereignis ist es aber, daß
jene Einnahme Roms nicht in der zufdlligen Kriegslage, sondern ganz eigentlich
in der Konsequenz der Tatsachen ihren Grund hatte, die von einer führenden
Persönlichkeit ausgenutzt worden war. Aber nicht bloß auf germanischer, sondern
auch auf römischer Seite hat diese von gewaltigen Kämpfen ausgefüllte Zeitepoche
164 ^- Kapitel.
geschichtlich bedeutende Männer hervorgebracht. Auf der römischen Seite ist
es damals die Gestalt des Stilicho, in der sich der Widerstand der alten Kultur
verkörpert hat, eine Gestalt, die der geschichtlichen Betrachtung insofern viel
interessanter selbst als Alarich sein muß, da Stilicho wie alles Römische in jenen
Zeiten der größeren physischen Kraft seiner Feinde gegenüber besonders auf die
Hilfsmittel des Menschengeistes, auf überlegene Kriegskunst und Politik, und auf
die Macht seiner eigenen Persönlichkeit angewiesen war.
Aber nicht bloß für die allgemeine Geschichte, auch für die Kriegsgeschichte
der Alpenländer sind jene Feldzüge epochemachend geworden, die Stilicho in
den Alpen selbst und in dem südlichen Vorland des Gebirges geführt hat. Wir
können annehmen, daß jene Kriege die ersten wirklichen Feldzüge in den Alpen-
ländern seit den letzten Zeiten der römischen Republik gewesen sind, Feldzüge
insofern, als auf dem von den Alpen abhängigen Gebiet zwei Parteien von an-
nähernd gleicher Stärke und beiderseits unter kriegsgemäßer Leitung um die
Entscheidung rangen, wenn auch selbst noch in diesen Zeiten die Eigenschaften
der wirklichen feldherrnmäßigen Führung viel deutlicher auf Vömischer Seite,
bei Stilicho, als bei den Germanenfürsten Alarich und Radagais hervortreten.
In diesem Sinne ist daher Stilicho nächst Hannibal der einzige Feldherr des
Altertums, der auf dem Alpenschauplatz gegenüber einem ebenbürtigen Gegner
selbständige Kriege geführt hat. Die Unsicherheit und Dürftigkeit der Quellen
aber ist eine Erscheinung, der wir während der Völkerwanderung oft genug
haben Erwähnung tun müssen, und so ist es auch hier nur jene eine allgemeine
Tatsache, die sich für unseren Zweck sicher heraushebt, während der örtliche
Verlauf jener Kriege im einzelnen jeglicher noch so fleißiger Rekonstruktion spottet.
Das Gerippe der für unseren Zweck wichtigen Ereignisse, die wir mit dem
Namen Stilichos verknüpfen, setzt sich derart zusammen, daß im Jahre |400
nach Ch. zuerst Ostgoten mit Alanen, Vandalen und Sueben vereinigt unter
Führung des Radagais in Rätien einfielen, und daß diesem Einfall dann am Ende
des Jahres 401 der erste Feldzug Alarichs gegen Italien folgte, der im Jahre 403
mit der Besiegung oder man könnte besser sagen Herausmanöverierung Alarichs
aus Italien durch Stilicho endigte. An diese Ereignisse schließt sich dann im
Jahre 404 ein neuer, gleichfalls durch Stilicho abgeschlagener Einfall des Radagais
in Italien und besonders im Jahre 406 der große Durchbruch der Vandalen,
Alanen und Sueben nach Gallien und Spanien an, von denen der letztere dann
wiederum den Anstoß zu dem zweiten erfolgreichen Angriff Alarichs auf Italien
gegeben hat, in dessen Verlauf die Hauptstadt Rom belagert wurde. Ein Zu-
sammenhang der nördlich der Alpen und über den Rhein gehenden Bewegungen
der Völkerwanderung mit denjenigen, die sich südlich der Alpen ihren Weg zu
bahnen suchen, ist also jetzt mehr oder weniger zu erkennen; man merkt dem-
nach auch darin den bewußten persönlichen Einfluß, der jetzt in der Leitung der
Kriegszüge bei den Germanen einigermaßen Platz gegriffen hat.
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 165
Die Feldherrntätigkeit Stilichos in den Alpen beginnt somit im Jahre 401,
als dieser zunächst gegen die Scharen des Radagais zu kämpfen hatte. Für die
Bestimmung des Schauplatzes innerhalb des Gebirges, auf dem jene Kämpfe
stattgefunden haben, bleibt uns zunächst aber mit absoluter Sicherheit nur der
Name Rätien übrig, da wir allerdings von einem Einfall in dieses Land hören.
Aber schon darüber, ob jener Einfall von Norden oder Osten her dorthin gelangt
ist, könnte man zweifelhaft sein, obgleich der Name der Goten bei der Zu-
sammensetzung der in Frage kommenden feindlichen Völker genannt wird, und
diese Goten nicht die Westgoten Alarichs, sondern nur Ostgoten gewesen
sein können, die damals in Pannonien saßen. Ein von Pannonien her auf Rätien
gerichteter Angriff kann aber nur den Weg von Osten her durch das Drautal
und durch Norikum genommen haben. Zu dieser Annahme paßt auch die aller-
dings ganz vereinzelt dastehende Tatsache, daß durch die Ausgrabungen an der
Stelle der alten römischen Stadt Gurina (im Obergailtal und im Bereich des
Pustertales, das eben nach Rätien hinüberleitet) mit absoluter Sicherheit fest-
gestellt worden ist, daß dieser Ort um das Jahr 400 nach Ch. zerstört worden
ist, und somit gerade in jenen Zeiten wirklich einmal eine feindliche Invasion
Norikums stattgefunden haben muß.
Während jener Ereignisse ist dann auch Alarich zielbewußt aus dem südlich
von Pannonien gelegenen Illyrien aufgebrochen, um „auf der gebräuchlichen
Linie" — so drückt sich der römische Dichter Klaudian aus, dem wir noch das
meiste von diesen Ereignissen verdanken — ■ über die julischen Alpen von Emona
her in Italien einzudringen. Dieser erste Feldzug Alarichs ist zunächst ganz
schul^emäß für alle Zeiten weiter verlaufen. Auf erfolgreiche Grenzgefechte am
Timavus folgte seitens der Goten zunächst die Belagerung Aquilejas, dann die
Besetzung Venetiens und schließlich das Vordringen nach der Lombardei, in
deren Mittelpunkte Mailand sich der Sitz der römischen Regierung in Gestalt
des Kaisers Honorius selbst befand. Erst zu jenem Zeitpunkte nun, an dem die
Lage dieser von den Westgoten vollständig zernierten Stadt schon äußerst be-
drohlich geworden war, greift die Feldherrntätigkeit Stilichos auch in Italien
wieder in die Ereignisse ein.
Dieser war gleichfalls noch am Ende des Jahres 401 in eiligem Marsche
und auf dem kürzesten Wege von Rom aus über Mailand nach Rätien abgegangen,
um dort zunächst Ruhe zu schaffen. Wir wissen, daß Stilicho, wie es damals
gebräuchlich war, zunächst zu Schiff den Komer-See durchquerte, um dann von
hier aus den Weg über eine der bündner Heerstraßen nach Norden einzuschlagen.
Klaudian hat diesen Alpenübergang ganz anschaulich geschildert: Die eisige Kälte,
die unsicheren Pfade, die Lawinen, die Menschen und Zugtiere in ein nasses
Grab hinabrissen. Alle diese Einzelheiten passen tatsächlich ganz gut auf den
Weg über den Splügen, wie auch die Zielgerechtigkeit dieser Heerstraße der
Eile entspricht, von der Stilicho damals vorwärts getrieben wurde, und wenn wir
166 X. Kapitel.
bei dieser ganzen Erzäiiiung auch einiges auf die dichterische Ruhmredigiteit Klau-
dians setzen müssen, so bleibt doch jedenfalls so viel übrig, daß dieser Zug damals
ein unter den schwierigsten Verhältnissen und schon in vorgerückter Jahreszeit
ausgeführter Alpenübergang gewesen sein muß, durch den es Stilicho wirklich
gelang, plötzlich im Herzen Rätiens zu erscheinen und hier zunächst auf irgend-
welche Weise der Unruhen Herr zu werden.
Wichtiger und unendlich folgenschwerer, nicht nur für die Alpenländer
sondern auch für das Schicksal des ganzen römischen Weltreiches, sind aber dann
die Maßregeln geworden, die Stilicho in unmittelbarem Anschluß an diesen Kriegs-
zug getroffen hat. Mit dichterischem Hochgefühl erzählt Klaudian, wie damals
Stilicho sein Heer auf dem Boden Rätiens reorganisierte und zu diesem Zwecke
sämtliche verfügbaren römischen Truppen Mitteleuropas, von Brittanien, von
den Rheinlanden und aus den Alpenländern, zu sich heranzog, um mit der ge-
samten römischen Streitmacht dann wieder südlich gegen Alarich in die Poebene
hinab vorzubrechen. Es ist wiederum ein Zeichen, welche Sicherheit im Funk-
tionieren auch damals noch dem ganzen römischen Armeeapparat innegewohnt
hat, da alle diese Abteilungen sich nun auch wirklich bei Stilicho in Rätien ver-
einigten. Da aber Stilicho erst im Frühjahre wieder nach der Lombardei ab-
rückte, und es außerdem durchaus der Tatkraft desselben entspricht, daß er den
Befehl zu jenem Zusammenrücken bereits im Herbste zuvor, bei seinem Auf-
bruche aus Italien erlassen haben kann, so reichte diese Zeitspanne wenigstens
vollkommen aus, um selbst die entferntesten jener Truppenteile noch rechtzeitig
bei ihm eintreffen zu lassen.
Inzwischen waren die Goten unter Alarich weiterhin mit der Belagerung
des festen Mailands beschäftigt, hinter dessen Mauern Honorius ängstlich die
Hilfe Stilichos erwartete. Die erste erlösende Tat dieses Feldzuges römischer-
seits wurde nun jetzt der erfolgreiche Übergang Stilichos über die Adda, der
diesen von den Goten, die schon westlich des Flusses standen, streitig gemacht
wurde. Wir können also aus dieser Situation wenigstens das eine mit Sicherheit
folgern, daß damals Stilicho keinesfalls von den bündner Pässen, die sämtlich
westlich der Adda in Como auslaufen, sondern östlicher, vom Brennergebiet aus,
zurückgekommen sein muß. Aber auch der Jahreszeit, in der dieses Hervor-
brechen aus den Alpen geschah, können wir einigermaßen nachkommen. Stilicho
besiegte die Westgoten dann bei Pollentia. Aus dem Zeitpunkte dieser Schlacht,
die ein ganzes Stück südwestlich Mailand und am Ostertage des Jahres 402 nach Ch.
— 6. April — stattfand, können wir also entnehmen, daß der Marsch des römi-
schen Heeres damals im Frühjahre, der schwierigsten Jahreszeit für Märsche im
Hochgebirge, vor sich gegangen sein muß.
Auf die Schlacht von Pollentia folgte zunächst seitens Alarichs eine Räumung
Oberitaliens in derselben Linie, auf der er eingerückt war, ein Zurückweichen,
das durch ein neues siegreiches Treffen, das Stilicho den Goten in der mittel-^
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 167
sten oberitalienischen Entscheidungszone, bei Verona, lieferte, in eine schärfere
Gangart gebracht wurde. Auch bei diesen Bewegungen spielen die nördlich
benachbarten Alpen insofern eine Rolle, als die alten Schriftsteller hier erwähnen,
daß .\iarich jetzt den Versuch machte, mit seinem geschwächten Heere von der
geraden Rückzugslinie über Aquileja nach lllyrien abzugehen und nördlich nach
Rätien auszuweichen. Stilicho dagegen, dem es damals wohl ganz besonders
darauf ankommen mußte, die Westgoten in keine anderen als in ihre alten Sitze
in lllyrien zurückzudrängen, wußte diese Absicht glänzend zu verhindern, indem
er Alarich zuvorkam und vor ihm die „Alpenpässe" d. h. wohl die Defileen an
dem südlichen Austritt der rätischen Alpenstraßen in die Ebene besetzte. Auch
in diesem Falle sind wir über die genaueren Örtlichkeiten überhaupt nicht unter-
richtet. Wenn Alarich aber von Verona aus nach Rätien abziehen wollte, so
können die hier in Frage kommenden Eintrittsrouten keine anderen als die
Brennerstraße und die Straße durch das Suganatal gewesen sein. Stilicho hat
dann aber nicht nur den beabsichtigten Rechtsabmarsch Alarichs verhindert, son-
dern jenen auch mit seinem ganzen Heere eingeschlossen, so daß der Erfolg
möglicherweise so groß gewesen ist, daß das Schicksal der Goten gänzlich dem
Willen Stilichos ausgeliefert war.
An diesem Punkte zeigt die damalige Kriegslage einigermaßen Ähnlichkeit
mit derjenigen wie sie im Sommer 1796 in demselben Gebiet zwischen Bonaparte
und Wurmser vor der Schlacht bei Bassano sich entwickelt hat, wenigstens in-
sofern als Bonaparte, der ebenso wie Stilicho von Westen, von Mailand her kam,
sich gleichfalls nicht scheute, jene Basis aufzugeben und dann lediglich durch die
Schnelligkeit seiner nördlich im Gebirge ausgeführten Bewegungen das Gebäude
der Absichten des Feindes über den Haufen warf. Ob freilich das Verfahren
Stilichos damals von derselben Kühnheit wie später dasjenige von Bonaparte er-
füllt gewesen ist, kann deshalb zweifelhaft sein, als den Römern auch hier, wie
so oft in ihren Kämpfen gegen die Germanen auf dem Boden Norditaliens, der
Vorteil zur Seite stand, daß sie sich in einem ihnen ganz wohlbekannten Gebiet
bewegten. Wir wissen, daß Stilicho aber trotzdem seinen großen militärischen
Erfolg nicht ausgenutzt hat, insofern er Alarich gestattete, einfach nach lllyrien
wieder abzuziehen. Die Gründe, die Stilicho hierzu bewogen haben, werden ge-
wöhnlich darin gesucht, daß er es sich damals noch vorbehalten wollte, die Macht
Alarichs zu gelegener Zeit gegen Ostrom zu verwenden; vielleicht mag es ihm
aber auch bloß genügt haben, endgültig ein Zusammenfließen der Angriffsbewegung
Alarichs mit derjenigen der Völker des Heerführers Radagais verhindert zu
haben. Denn ein weiteres Motiv für das Verfahren, hier weitere Kämpfe zu ver-
meiden, kann auch in der von den Römern in ihren letzten Zeiten so meisterhaft
geübten Ökonomie der Kräfte gesucht werden, eine Erwägung, die gerade einem
so hervorragenden Militär wie es Stilicho war besonders nahe gelegen haben mag.
Denn schon im Jahre 404 nach Ch. machte es sich wiederum nötig, das
168 X. Kapitel.
römische Heer von neuem gegen Radagais einzusetzen, der von Rätien oder von
den julischen Alpen her in Italien eingedrungen war. Wichtig bei diesem Zuge
und ebenso bei dem zweiten erfolgreichen Einfalle Alarichs vom Jahre 409 nach Ch.
ist es besonders, daß diese Züge von Anfang an die für Rom viel gefährlichere
Richtung direkt südlich nach der Mitte der Halbinsel einschlugen. Der Erfolg
des zweiten Feldzuges Alarichs, der diesem schließlich ganz Italien ausliefern
sollte, wird aber vor allem dadurch verständlich, daß Stilicho inzwischen ermordet
worden war und den Goten somit kein ebenbürtiger römischer Führer mehr
gegenüberstand. Auch dieser zweite Einfall bewegte sich zunächst auf der be-
kannten Linie von Emona aus über die Julischen Alpen durch Venetien; Alarich
gelang es aber dann, ebenso wie später Narses während des Ostgotenkrieges,
südlich auf Ariminum einzulenken, ein Entschluß, der für den ganzen weiteren
Verlauf des Krieges entscheidend geworden ist. In bezug auf die Alpenländer
ist hier noch zu erwähnen, daß in den Verhandlungen zwischen Alarich und der
römischen Regierung, die der Eröffnung dieses Feldzuges vorangingen, die Ab-
tretung Norikums an die Goten eine Rolle gespielt hat; auch damals noch wurde
also Norikum ebenso wie Rätien als eine durchaus zum römischen Reiche ge-
hörige Provinz betrachtet.
Es ist keine geschichtlich überlieferte Tatsache, wohl aber eine aus der
ganzen damaligen Lage sich ergebende Annahme, die deshalb auch allen mit jener
Zeit beschäftigten Forschern immer wieder ganz von selbst entgegentreten mußte ^8),
daß, nachdem Stilicho in der Not des Augenblicks einmal alle jene im Norden
Europas stehenden römischen Besatzungstruppen nach Italien abgeführt hatte, der
römische Staat nun auch niemals wieder so zu Kräften gekommen ist, um seine
Legionen wieder in ihre alten Positionen zurücksenden zu können. Jenes Er-
eignis muß daher als derjenige Zeitpunkt angesehen werden, an dem die Macht
Westroms ebenso am Rhein wie in den nördlichen Vorlanden der Alpen tat-
sächlich zu existieren aufgehört hat. Noch aus der zweiten Hälfte des vierten
Jahrhunderts nach Ch. ist ein römisches Garnison -Verzeichnis, die bekannte
notitia dignitatum, erhalten, aus dem ganz deutlich hervorgeht, wie damals noch
ganz Tirol und Oberbayern von einem wohldurchdachten Netz römischer Be-
satzungstruppen überzogen gewesen ist. Es mag eine dankbare Aufgabe sein, die
einzelnen Orte jenes Verzeichnisses genauer zu bestimmen; für die Geschichte
der Alpenländer ist das Dasein desselben jedoch allein schon infolge der aus
ihm klar hervorgehenden allgemeinen Tatsache wichtig, daß etwa bis um das
Jahr 400 nach Ch. der Donaustrom von Abusina (am Einfluß der Altmühl in die
Donau) über Castra Batava (Passau) bis Lauriacum nicht bloß nominell sondern
auch in Wirklichkeit die Nordgrenze des römischen Reiches gebildet hat. Dieser
ganze lebendige Verteidigungsapparat ist aber dann im folgenden Jahrhundert
plötzlich wie vom Erdboden verschwunden, und schon im Jahre 406 nach Ch.
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 169
bei dem großen nordwärts der Alpen gegen Gallien gerichteten Zug der Vandalen
ist von ihm nichts mehr zu spüren.
Auch durch diese Betrachtung kommen wir daher auf die Schlußfolgerung,
daß etwa vom Jahre 400 nach Ch. ab nur noch die Nordtiroler und Salzburger
Alpen selbst als schützender Wall des Südlandes von den Römern besetzt ge-
blieben sind, während alles Land nördlich desselben für das römische Reich als
verloren betrachtet werden muß. Hierbei ist freilich hervorzuheben, daß jenes
Verschwinden der römischen Besatzungen nicht etwa auch einer völligen Säube-
rung romanischer Bewohner und einem gänzlichen Aufhören südländischen Lebens
in diesen Gebieten gleichzuachten ist. Wir haben im Gegenteil auch für die
folgenden Zeiten noch einige Spuren römischer Besatzung in diesen Donauland-
schaften. Auffallen muß es zwar, daß damals gerade von der größten Grenz-
festung Oberbayerns, von Regensburg, eine Zeit lang alle Kunde fehlt, während
Passau und Quintana (Künzen bei Pleiting) als Römerposten notdürftig weiter-
bestanden haben müssen. Der bürgerlichen Niederlassung der Römer in Kempten war
schon während der Alemannenkriege am Anfang des vierten Jahrhunderts nach Ch.
das Lebenslicht ausgeblasen worden, aber noch im siebenten Jahrhundert muß
das dortige Kastell auf der Burghalde, freilich elend genug, bewohnt gewesen
sein ^). Auch in Augsburg hat zunächst schon die christliche Tradition eine
Kette vom römischen Altertum bis zum frühen Mittelalter gelegt; das Wichtigste
für jede Geschichtsauffassung ist hierbei jedoch die Tatsache, daß jene Kunde
durch die Reihe der Münzfunde, die an diesem Platze gemacht worden sind,
durchaus ihre wissenschaftliche Bestätigung gefunden hat*'). Besonders zäh hat
sich feiner nördlich der Alpen die südländische Kultur zunächst noch an die
Stätte von Lauriacum (Lorch) angeklammert und nach der Aufgabe Carnuntums
mag gerade während des fünften Jahrhunderts nach Gh., als jenen Gebieten der
militärische Schutz des römischen Staates verloren gegangen war, allein diese
Stadt das feste Bollwerk geblieben sein, das hier den von den Germanen be-
drängten romanischen Bewohnern den letzten Halt gewähren mußte. Selbst im
Jahre 540 nach Ch. muß jene Stadt noch leidlich bewohnt gewesen sein '"), und
erst zwei Jahrhunderte später (738 nach Ch.) wurde dieses alte Lauriacum von
den Avaren, dann aber derart, zu Grunde gerichtet, daß der Platz zu derselben
Lebenskraft wie er sie im Altertum besessen hatte, auch in den späteren Zeiten
nie wieder emporkommen konnte.
Als Zerstörer Juvavums werden gewöhnlich die Heruler und als Zerstörungs-
jahr das Jahr 476 nach Ch. angenommen. Unwichtig ist bei dieser Kunde, ob
es mit diesem Zeitpunkt und jenem Volke wirklich seine Richtigkeit hat, wichtig
dagegen das Bild der gründlichen, erbarmungslosen Zerstörung, das uns heute
aus den Ruinen Salzburgs entgegentritt. Wenn heutzutage auch nicht die geringste
Nachricht von den Ereignissen auf uns gekommen wäre, die einst der Zerstörung
des Heidelberger Schlosses vorangingen, so würden wir trotzdem allein aus der
170 X. Kapitel.
Pracht der dortigen Ruinen die Schärfe der Gegensätze, die Planmäßigiteit und
Erbitterung herleiten können, die damals den Arm der Zerstörer führte. Ein
gleiches gilt aber auch von dem Zustand der Ruinen Juvavums, der das Voran-
gehen heißer Kämpfe und eines heftigen Widerstandes vor diesem Ereignis zur
Gewißheit macht. Gleiche Kriegesschrecken, die in jenen Zeiten über jene
Gegenden hinweggegangen sein müssen, veranschaulichen auch die Funde von
Westerndorf in der Nähe Rosenheims, wo die Grabungen die deutlichen Reste
einer großen römischen Töpferei und Ziegelwarenfabrik aufgedeckt haben und
wo sich noch die aufgeschichteten römischen Kupfermünzen in Unzahl vorfanden,
die zur Auszahlung an die dort beschäftigten Arbeiter bestimmt waren. Auch
ein großer Fund römischer Silbermünzen in Niederaschau liefert ein ähnliches
Bild, und es ist natürlich, daß durch diese Ereignisse auch alle jene Betriebe,
durch die nicht nur das Kulturvolk der Römer, sondern auch schon die Kelten
jene Gegenden ununterbrochen ausgebeutet hatten, wie die Steinbrüche am Unters-
berg in Salzburg, der Salzbergbau in Salzburg und Hallein und der Goldbergbau
im Gasteiner Tal in einen jahrhundertelangen Schlummer geraten mußten.
Trotz aller dieser Ereignisse, die somit das Aufhören der römischen Kultur
in Süddeutschland veranschaulichen, ist es in bezug auf die Voraussetzungen,
von denen dann hier das Völkerbild am Anfang des Mittelalters ausgeht, von
Wesenheit, daß gerade dieser Teil Oberdeutschlands von der Enns bis zur Hier
während des fünften Jahrhunderts bis tief in das sechste Jahrhundert nach Ch.
hinein nicht der eigentliche Wohnplatz irgend eines germanischen Volkes geworden
sein kann, sondern in der Hauptsache fast volksleer gewesen sein muß. Um das
Jahr 476 nach Gh., beim Untergange des weströmischen Reiches läuft die West-
grenze des von den Ostgoten und annähernd dann auch diejenige des von den
Langobarden besetzten Gebietes entlang der Westgrenze der alten römischen
Provinz Pannonien bis herauf nach Vindobona. Auch dieses ist ein Beweis für
die Unfertigkeit und Flüssigkeit aller während der germanischen Völkerwanderung
entstandenen staatlichen Gebilde; denn der Fall, daß Wien, damals Fabiana ge-
nannt, und Carnuntum Grenzfesten und Ausfallstore des Ostens gegen den Westen
Europas gewesen sind, ist eine Erscheinung, die sonst niemals wieder in der
Geschichte hervorgetreten ist und die einen vollständigen Niedergang der Kultur-
macht des übrigen Erdteils zur Voraussetzung hat.
Es ist schon gesagt worden, daß vom Beginn des fünften Jahrhunderts an
die germanische Völkerwanderung ihre Hauptrichtung um die Ostalpen herum
nach Südwesten zu einschlug. Seit dieser Zeit nehmen die Völkerzüge, die von
der Wiener Ebene ausgehend sich durch Pannonien über die Julischen Alpen
nach Italien hineinbewegen, nun auch fast sämtlich den gleichen regelmäßigen
Verlauf. Die Reihenfolge der Völker selbst aber, die, jetzt nicht mehr wie früher
durch vorangegangene Grenzkriege aufgehalten und geschwächt, zunächst dicht
massiert in Pannonien sitzen, dann auf den Kriegsschauplätzen südlich der Alpen
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 171
in Oberitalien i^ämpfen und die Herrschaft ganz Italiens antreten, um hierauf
wieder von dem nächstfolgenden abgelöst zu werden, liefert ein gedrängtes aber
vollständig ausreichendes Bild der Gesamtheit der Ereignisse, die damals die
Geschichte Europas erfüllt haben. Die Lebensbeschreibung des Heiligen Severin
(f 482), der am Kahlenberge bei Wien den künftigen Herrscher Italiens Odoaker
mit seinen Rugiern beim Überschreiten der Donau vor seinem Weitermarsch
zum Christentum bekehrte, macht es zunächst deutlich, wie in jenen Zeiten das
Christentum schon überall an der Arbeit war; nicht minder zeigt sie aber auch
den Punkt an, von dem aus die Völker damals in die neue Richtung einzu-
schwenken pflegten. Ein wichtigeres und zuverlässigeres Bild von der unerbitt-
lichen Art der Kriegsführung dieser Zeit bietet uns jedoch eine Schilderung des
griechischen Geschichtsschreibers Herodian, die eben in jenen heiß umstrittenen
Gebieten jenseits der Julischen Alpen, um Emona, spielt. Jene Erzählung hat
zwar im besonderen die Ereignisse im Jahre 238 nach Ch. bei der Verteidigung
Aquilejas gegen das Andringen des Kaisers Maximinus Thrax zum Gegenstand;
sie kann aber in ihrer Art auch ohne weiteres für alle Kriege dieser Periode
angenommen werden.
Soweit wir sehen können, finden wir in der Geschichte keine zweite Periode,
in der sich wie während der germanischen Völkerwanderung Krieg und Zer-
störung in solcher zeitlicher Ausdehnung und deshalb auch in solcher entsetzlicher
Schwere über die Menschheit gehäuft haben. Eine annähernd ähnliche Epoche,
die dem Gedächtnis der Jetztzeit nur viel näher gerückt ist, findet sich allein
während des dreißigjährigen Krieges in Deutschland, und es verdient hervor-
gehoben zu werden, daß gerade innerhalb dieser Zeit sich Erscheinungen der
Verwilderung und Verzweiflung der von dem Krieg betroffenen Menschheit
finden, die an diejenigen während der germanischen Völkerwanderung einiger-
maßen heranreichen. Jedenfalls muß auch schon in jenen Zeiten die Erwartung des
Durchmarsches einer feindlichen Armee für die betroffenen Gebiete den Stillstand
alles Lebens in meilenweiter Entfernung und das Eintreffen derselben eine Zer-
störung alles Wohlstandes auf Jahre hinaus bedeutet haben, wenn wir Herodian
erzählen hören, wie im westlichen Pannonien, das in seiner ganzen Ausdehnung
als Vorglacis Aquilejas betrachtet wurde, vor der Ankunft des Feindes die Be-
wohner des offenen Landes mit Hab und Gut, mit Pferden und Wagen sämmtlich
in den Städten verschwanden, und außerhalb jeder festen Mauer alle Spuren des
Lebens so gründlich erstarben, daß Bäume und Brücken zerschlagen, die Getreide-
felder und Wiesen vor der Zeit gemäht und die Gärten vernichtet wurden.
Überhaupt war in jenen Jahrhunderten Pannonien stets der Plan, auf dem
der künftige Schrecken Italiens auf der Lauer saß, und von wo aus sich, wie
von dem auf der Pfanne gehäuften und entzündeten Pulver, ein Feuerstrom über
dieses Land ergoß. Abgesehen von den Kämpfen zwischen den westlichen und
östlichen Gegenkaisern, wie derjenigen vom Jahre 238 und derjenigen vom Jahre
172 X. Kapitel.
394 nach Ch. zwischen Theodosius und Eugenius, kommt für das Eindringen der
feindlichen germanischen Völiter jene Richtung bei den Markomannen und
Quaden und bestimmt bei den Westgoten unter Alarich in Frage, denen sich
dann der Reihe nach im Jahre 452 nach Ch. die Hunnen unter Attila, die
Rugier unter Odoaker und im Jahre 489 nach Ch. die Ostgoten unter Theodorich
angeschlossen haben. Diesen folgten das oströmische Heer unter Narses und
im Jahre 568 nach Ch. die Langobarden, deren Einmarsch der einzige ist, von
dem wir durch den latigobardischen Geschichtsschreiber Paulus Diakonus näheres
wissen. Paulus Diakonus hat uns den historischen Moment ganz anschaulich
überliefert, wie unmittelbar vor dem Betreten des heiligen Italiens und dem
Überschreiten des Isonzo der Langobardenkönig Alboin mit seinem Gefolge auf
einen aussichtsreichen Berg an den Ausläufern des Karstes, wahrscheinlich den
Monte S. Michele^), stieg und von hier aus auf das Land seiner Sehnsucht
herabblickte.
Aber jener Völkerkanal blieb auch lange nach den Langobarden noch im
Gebrauch, als die germanische Völkerwanderung ausgelaufen war und sich an
dieselbe bereits die der Slaven angeschlossen hatte. Auf dem gleichen Wege
gelangten zu Beginn des siebenten Jahrhunderts die Avaren bis tief nach Venetien
hinein, und auch die südlichste Kolonne der Slaven bewegte sich in der gleichen
Richtung, um schließlich geräuschlos und massenhaft mit ihrer Spitze an der
Wippach, mitten zwischen den Türpfosten Italiens, halten zu bleiben. Das letzte
dieser Völker, die auf jene Weise nach Westen vordrangen, sind dann die Un-
garn gewesen, deren Spuren man im Mittelalter bis tief in der Mitte der Halb-
insel z. B. in Bologna begegnen kann, wo im Jahre 903 nach Ch. von ihnen u. a.
die Kirche Santo Stefano zerstört wurde. Um das Jahr 1000 nach Ch. wird die
alte Birnbaumer Straße in Italien allgemein „die Straße der Ungarn" genannt.
Wie ein Ausdruck der Verzweiflung kündet sich diese Benennung an, und sie
ist treffend geeignet, das Wesen jener Straße zu charakterisieren, die damals acht
Jahrhunderte hindurch nicht von der Bestimmung gelassen hatte, die Invasions-
linie des Ostens gegen den Westen abzugeben.
Die Schicksale jedes einzelnen der an diesem weiten Wege gelegenen Orte
wissen nun auch in furchtbarer Deutlichkeit den wirklichen Charakter dieser
Geschichtsperiode zu illustrieren. Bei dem im Herzen Pannoniens gelegenen
Pettau zeigt die Art der Münzfunde ohne weiteres den Wechsel der Zeiten an;
denn dieselben sind dort für das dritte und vierte Jahrhundert nach Ch. noch
sehr reichlich vorhanden, während sie dann vom Beginn des folgenden Jahr-
hunderts ab sehr spärlich werden. In der Mitte des fünften Jahrhunderts wurde
ganz Pannonien vom römischen Kaiser Theodosius definitiv an die Hunnen ab-
getreten. Aus dieser Tatsache mag es daher herzuleiten sein, daß die Zerstörung
Pettaus und Cillis, beides Städte, die zu Pannonien gehörten, nicht schon durch
die Hunnen erfolgt ist. So wurde Pettau erst im Jahre 475 nach Ch. von den
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 173
Herulern und dann nochmals 825 von den Bulgaren zerstört, während Cilli den
Slaven zum Opfer fiel. Wir können jedoch annehmen, daß jene Völker dort
nicht so gründlich wie vorher die Hunnen an anderen Stellen das Vernichtungs-
werk besorgt haben, weil einerseits noch während des Mittelalters die römischen
Ruinen Cillis in auffallender Ausdehnung und Pracht aufrecht gestanden haben
und andererseits die Weiterexistenz Pettaus als befestigten Ortes und unter Auf-
rechterhaltung der Verbindung mit dem griechischen Osten während der folgenden
Jahrhunderte verbürgt ist-^^). Emona gehörte dagegen nach römischer Auffassung
stets zu Italien und deshalb fiel es den Hunnen bei ihrem großen Einfall vom
Jahre 452 nach Ch. zuerst zum Opfer. Jene Arbeit muß aber damals ebenso
wie bei Aquileja äußerst gründlich von den Hunnen besorgt worden sein, weil
Emona nachher Jahrhunderte lang wüste gelegen hat und erst im Mittelalter eine
völlige Neugründung dieses Ortes erfolgen konnte.
Von Laibach westwärts kommen wir dann auf den heiß umstrittenen Mittel-
punkt dieser Linie, auf die Gegend von Aquileja. Östlich dieser Stadt fließt der
Timavus-Isonzo zum Meere, und nur nach einem Überschreiten dieses Flusses
konnte daher ein Angriff auf Aquileja selbst von Osten her stattfinden. So fand
deshalb hier 238 nach Ch. Maximin die Brücke zerstört, wodurch für ihn ein
dreitägiger Aufenthalt verursacht wurde und an den Ufern jenes Flusses fielen
dann auch die Entscheidungen zwischen Theodosius und Eugenius und zwischen
Theodorich und Odoaker. Der Untergang von Aquileja als Großstadt ist aber
wie der von Laibach bei dem großen Einfalle der Hunnen unter Attila erfolgt.
Der Sage nach ließ Attila in Udine den Hügel aufwerfen, auf dem heute das
Kastell steht, um von ihm aus das Schauspiel des brennenden Aquilejas anblicken
zu können. Wenn jene Kunde auch ohne weiteres den Stempel der Ungenauig-
keit an sich trägt, so ist der Sinn, der durch sie nach Ausdruck ringt, doch nichts
weniger als unhistorisch. Die Markomannen und Quaden, Maximinus und Julian,
und die Westgoten unter Alarich hatten vorher Aquileja vergeblich angegriffen,
aber erst den Hunnen gelang die regelrechte Zerstörung der Stadt, und das Ver-
schwinden Aquilejas vom Erdboden versinnbildlichte daher damals vollends den
Sieg der Unkultur über eine jahrhundertelange Arbeit der alten Welt. Jener
Eroberung durch die Hunnen ist damals eine drei Monate lang währende Be-
lagerung der Stadt vorausgegangen. Dieses erklärt zur Genüge nicht nur die
Erbitterung, die dann im Augenblick der Eroberung bei den Belagerern sich
Luft machen mußte, sondern auch die Stärke dieser Festung selbst. Was für
Antäus die Erde war zunächst für Aquileja das Meer gewesen; denn ebenso wie
bei Stralsund während seiner Belagerung im dreißigjährigen Kriege, bestand auch
die Hauptstärke Aquilejas in seiner Lage am offenen Meere, mit dem es durch
Lagunen, die jetzt versandet sind, verbunden war. Außerdem war der Boden
um Aquileja selbst sehr fest, so daß er alle Belagerungsarbeiten und vor allem
ein Hauptmittel der alten Belagerungskunst, den Bau von Minen, sehr erschwerte.
174 X. Kapitel.
Dieser Zeitpunkt der Eroberung Aquilejas ist nun auch die letzte Grenze, die
für das Weiterbestehen alier anderen römischen Siedelungen in der Umgebung
jener Stadt angenommen werden kann, wie von Pucinum (Duino), Silicianum
(Salcano), und der Thermalquellen an der Stelle Monfalcones, die noch Peutingers
Tafel eindringlich hervorhebt.
Auf die Rechnung jenes Hunneneinfalls wird ferner auch die erste wirkliche
Eroberung von Verona und der Untergang von Altinum gesetzt. So sehr die
Kunde aus dem Altertum es zur Gewißheit macht, daß Altinum eine große
Handelsstadt und als Vermittlerin des Seeweges von Ravenna her nach dem
Norden ein bedeutender Knotenpunkt des Verkehrs gewesen sein muß, so wenig
sind wir doch gerade über die genaueren Schicksale dieser Stadt unterrichtet.
Anders verhält es sich dagegen mit Verona. Dieses war schon vorher während
der Kriege der römischen Gegenkaiser (249 nach Ch. Decius gegen Philippus,
312 Konstantin gegen Pompejanus) und ebenso während der von Norden und
Osten kommenden Germaneneinfälle bestürmt und belagert worden. Am schwersten
mag es aber auch damals unter Attila gelitten haben. Bei Verona, das uns heute
noch wie kaum eine andere Stadt Oberitaliens eine Fülle altrömischer Denkmäler
zeigt, ist aber gerade hervorzuheben, daß es sich überhaupt seit seinem Eintritt
in die Geschichte stets auf der Höhe eines wichtigen Ortes und wirklichen
Verkehrsmittelpunktes erhalten konnte. Der Grund hierfür ist eben das doppelte
Gesicht dieser Stadt; denn diese ist nicht nur eine Pforte der Alpen in nord-
südlicher, sondern nicht minder auch eine Verkehrszentrale in ostwestlicher
Richtung. In den letzten Zeiten der germanischen Völkerwanderung, in denen
die Invasionen von Osten kamen, war Verona daher gerade derjenige Punkt, an
dem die Hauptentscheidungen über jene Kriege zu fallen pflegten. So fanden,
wie wir schon gesehen haben, hier im Jahre 403 nach Ch. jene Kämpfe zwischen
Stilicho und Alarich statt und auch im Jahre 489 nach Ch. wurde Odoaker hier
von den Ostgoten besiegt. Damals hat also Verona bereits in der Hauptsache
ebendasselbe Gesicht gezeigt wie es auch in der Kriegsgeschichte der letzten
Jahrhunderte wieder bekannt geworden ist, in der die Parteien gleichfalls in ost-
westlicher Front gegeneinander zu stehen pflegten, während die Stadt im Mittel-
alter zumeist nur ihre Bedeutung als Alpenpforte für die in nordsüdlicher Richtung
laufenden Kriegszüge hervorgekehrt hat. Auch Mailand vermochte das durch
die Hunnen heraufgeführte Unwetter damals noch mit einer vorübergehenden
Plünderung zu überstehen und sich bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts
nach Ch. zunächst unausgesetzt als Zentrum Norditaliens zu erhalten, so daß es
noch von Prokop, dem Geschichtsschreiber des Ostgotenkrieges, als besonders
bedeutend namhaft gemacht werden konnte. Die Stadt wurde von ihrem Schick-
sal erst im Jahre 539 nach Ch. erreicht, als sie von den Ostgoten dem Erdboden
gleich gemacht und die ganze Einwohnerschaft getötet oder in die Sklaverei ver-
kauft wurde, ein Ereignis, durch das Mailand dann seine Vormachtstellung
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 175
in der Lombardei auf Jahrhunderte hinaus einbüßte und an Pavia abgeben
mußte.
Auch jener Einfall Attilas vom Jahre 452 nach Ch. ist im Grunde jedoch
resultatlos verlaufen, weil die Hunnen schließlich Italien ebenso rasch wieder
verlassen mußten wie sie nach dorthin gekommen waren. So sehr daher jene
durch die Hunnen ausgeführten Verheerungen auch dazu beigetragen haben
mögen, den Wohlstand des alten römischen Venetiens zu knicken, so blieb es
doch erst einem späteren Volke, den Langobarden, vorbehalten, jener alten
bewundernswerten Kultur hier wirklich den Todesstoß zu versetzen. Der Name
der Langobarden ist für die Geschichte des ersten Mittelalters besonders mit der
Aufrichtung der ersten wirklich dauerhaften germanischen Herrschaft über Italien
verknüpft, von der dann weiterhin die Entstehung einer kräftigen, lebensfähigen
norditalienischen Nation ihren Ausgang nehmen konnte. Neben diesem dürfen
jedoch auch diejenigen Ereignisse nicht übersehen werden, die der Aufrichtung
der langobardischen Herrschaft in Norditalien vorangegangen sind und die für
jene Leistungen erst Platz geschaffen haben; denn gerade die Langobarden sind
es gewesen, die vielleicht das größte Zerstörungswerk in Norditalien ausführten,
eine Tatsache, die die harmlos klingende, fast patriotische Schreibweise ihres
Geschichtsschreibers Paulus Diakonus leicht übersehen läßt. Auf die Langobarden
kommt die Vernichtung von Opitergum und Vicenza, vor allem aber die Eroberung
von Padua, das im Jahre 601 nach Ch. durch den Langobardenkönig Agilolf in
furchtbarer Weise zerstört wurde und seitdem nie wieder zu seiner früheren
Blüte gelangt ist. Erst seit jener Zeit hat sich daher das antike Kulturbild Nord-
italiens vollständig verändert. Die alten Römerstädte liegen jetzt fast sämmtlich in
Trümmern, und Pavia, das vorher nur ein unbedeutendes römisches Municipium
(Ticinum) gewesen war, ist zur Hauptstadt des sich über Italien ausbreitenden
neuen Langobarden-Reiches geworden.
Ein Blick auf die Karte lehrt es ohne weiteres, wie alle diese Ereignisse
sich von Emona her in einiger Entfernung entlang der adriatischen Meeresküste
oder wenigstens geradeaus landeinwärts auf Verona zu bewegen mußten, und es
ist daher schon aus dieser Situation erklärlich, daß das dicht nördlich benach-
barte aber trotzdem seitab liegende Gebiet d. h. der Fuß der Venetianer Alpen
und diese selbst weit mehr von jenen Invasionen verschont bleiben konnten.
Nach den Langobarden sind es noch die Avaren, die gleichfalls in Venetien ein-
gebrochen sind. Den Spuren jenes leicht beweglichen sarmatischen Volkes
begegnen wir nun aber auch in jenem nördlichen Gebiet. Im Jahre 611 nach Ch.
wurde von den Avaren das alte Forum Julii=Cividale verbrannt, die letzte
bedeutende Römergründung Venetiens, die bisher von den Verheerungen jener
Zeiten verschont geblieben war. Die Slaven gaben Cividale dann den Namen
Altstadt. Es ist dies aber gerade ein Beweis, daß jene Zerstörung durch die
Avaren nicht nachhaltig gewirkt haben kann, sondern daß sich das Leben in
176 X. Kapitel.
Friaul zu Beginn des Mittelalters trotzdem ganz in altgewohnter Weise weiter
bewegt haben mag, weil den östlichen Nachbarn unter den vielen anderen alt-
berühmten Städten Venetiens allein dieser Ort zur Verfügung stand, dem sie jene
charakteristische Bezeichnung beilegen konnten.
Wir kommen in diesem Zusammenhange auf die Entstehung des furlaner
Volkes, das auch heute noch mit eigener Sprache und besonderen Eigenschaften
ausgestattet, und trotzdem wenig beachtet, sein Dasein fristet. Wenn wir mit dem
Namen Friaul dasjenige Gebiet bezeichnen, in dem man heute noch jene eigen-
artige furlaner Mundart mehr oder minder verbreitet vorfinden kann, so ist unter
demselben das heutige nördliche italienische Venetien bis herüber nach Gradiska
zu verstehen. Dieser ganze Komplex liegt daher an einigen Stellen den öst-
lichsten ladinischen Mundarten, die auf das Volk der Räter zurückzuführen sind,
vor allem den südlichen Seitentälern des Pustertales sehr nahe, wenn er auch
jetzt nirgends mehr räumlich mit jenen zusammenhängt. Das hat aber die fur-
laner Sprache mit den anderen ladinischen Mundarten gemeinsam, daß wir in ihr
gleichfalls eine Sprache vor uns haben, deren Ursprungszeit nicht erst wie die
aller anderen mitteleuropäischen Sprachen am Beginn des Mittelalters zu suchen
ist, und da die Entstehung der bündner und tiroler ladinischen Mundarten aus
den ethnographischen Verhältnissen der alten römischen Provinz Rätien herzu-
leiten war, so kann die furlaner Sprache daher wiederum nur aus denjenigen des
nördlichen Teiles der alten römischen Provinz Venetien ihre Erklärung finden.
Wir wissen aus dem römischen Altertum, daß damals im Allgemeinen bei
der Einteilung der Alpenprovinzen auf die Gruppierung der einzelnen Völker-
stämme große Rücksicht genommen worden ist, und deshalb ist eine Notiz des
Ptolomäus für unseren Zweck besonders beachtenswert, wonach Julium Carnicum
(Zuglio), der römische Hauptort des heutigen Friauls während der Kaiserzeit eine
Sonderstellung zwischen Venetien und Norikum eingenommen hat**). Der Name
zeigt es an, daß jene Sonderstellung sich nur auf ethnographische Verhältnisse
d. h. auf das Vorwiegen der karnischen Bewohner in diesen Strichen gegründet,
haben kann, wie es auch an sich ganz wahrscheinlich ist, daß das südlicher
sitzende Handelsvolk der Veneter damals weder den Willen noch die Kraft be-
sessen hat, hier auf dem festen Lande in jenen wenig verlockenden Berggegenden
schwierige Kolonisation zu treiben, sondern vielmehr, daß dieser Südrand der
karnischen Alpen im Altertum von Norden, von den Ostalpen her, bevölkert
worden ist. Jene Karner waren aber Kelten, und so würden sich zunächst die
fremdartigen, heute schwer verständlichen Elemente in der furlaner Sprache, die
sich auch nicht einmal in den anderen ladinischen Mundarten wiederfinden lassen,
als alter keltischer Bodensatz erklären, vorausgesetzt, daß wir beweisen können,
daß hier seit dem Beginn des Mittelalters nicht noch eine andere Sprachmischung
stattgefunden hat.
Dieser Beweis ist nun aber nicht allzuschwer zu führen. Was, oder viel-
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 177
mehr wie wenig von nördlicher germanischer Beimischung jeder Art die furlaner
Sprache besitzt, erklärt sich zunächst auf den ersten Blick. Aber auch der
Niedergang der ethnographischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des südlichen
Nachbarlandes Friauls, des italienischen Venetiens, hat eine Einflußnahme von
dieser Seite aus nach Verschwinden des Römerreichs bis tief in das Mittelalter
hinein ausgeschlossen, wie sich auch tatsächlich jener Einfluß des italienischen
Venetiens auf Friaul in beachtenswerter Weise erst wieder etwa vom drei-
zehnten Jahrhundert ab geltend gemacht hat. Die Sage von der Ent-
stehung Venedigs, das nach der Eroberung Aquilejas durch Attila von ver-
zweifelten Flüchtlingen gegründet worden sein soll, ist ein Sinnbild der
Schwierigkeiten, unter denen sich damals selbst die dürftigsten Reste der Bevöl-
kerung am Leben erhalten konnten, und die Nachricht des Geschichtsschreibers
Prokop, der erzählt, daß ganz Venetien beim Einbruch der Langobarden ein
menschenleeres Land gewesen ist, würde sich auch schon an sich aus den Er-
eignissen ergeben müssen, die wir während der Völkerwanderung über dieses
Land hinweggehen sahen. Der Zustand des südlichen Venetiens, das durch
Krieg und Pest zunächst fast unheilbar herabgekommen war, brachte es daher
mit sich, daß sich das nördlich von ihm wohnende furlaner Volk sprachlich
Jahrhunderte lang selbst überlassen bleiben konnte, und wir haben demnach auch
in diesem Volke eine der ältesten europäischen Völkermischungen vor uns.
Nach menschlichem Ermessen ist Friaul dagegen jetzt wiederum auf ab-
sehbare Zeit eng an seine alte südliche Zentrale gekettet, und so kann es auch
nicht anders sein als daß seine Mundart damit definitiv der Herrschaft der italie-
nischen Sprache ausgeliefert zu sein scheint. Diesem Umstand allein mag es
zuzuschreiben sein, daß im Großen und im Kleinen gerade Friaul bis jetzt nur
in ganz geringem Maße das wissenschaftliche Interesse herausgefordert hat, anders
als die von dem nördlichen und südlichen Volkstum heiß umstrittenen räto-
romanischen Reste. Die furlaner Sprache ist heute die am wenigsten erforschte
der sogenannten ladinischen Mundarten geblieben, wie auch in der alten römischen
Hauptstadt dieses Gebietes, in Zuglio, die steinernen Andenken jeder Art an das
Altertum noch ganz ungenügend untersucht worden sind, trotzdem sie dort be-
sonders zahlreich und ganz offen zu Tage treten ^).
Die Schicksale der eigentlichen Alpenländer.
Die große Anzahl und der Verlauf dieser letzten Züge der germanischen
Völkerwanderung, die seit Alarichs Zeiten über das östliche Ende der Alpen nach
Italien eindrangen, hat zur Genüge gezeigt, daß sie allein schon hinreichend ge-
wesen wären, das Gebäude der römischen Herrschaft über die Alpenländer eben-
sowohl wie derjenigen über den ganzen Erdteil umzustürzen, auch wenn nicht
noch andere Ereignisse, die sich nördlich der Alpen abgespielt haben, daran mit-
gearbeitet hätten, daß gleiche Resultat hervorzubringen. Wir haben die Mitte
Scheffel, V'erkebrsgeschicbte der Alpen. I- Band. 12
178 ^- Kapitel.
und den westlichen Flügel der Alpenländer zu einem Zeitpunkte verlassen, als
nach Verlust des Dekumatlandes hier zunächst durch neue Rüstungen auf dem
nördlichen Vorglacis des Gebirges Raum für einen längeren Widerstand geschaffen
worden war, und es ist auch schon gesagt worden, daß die neuen Verhältnisse
in der Weise wie sie beabsichtigt waren, in der Hauptsache auch während des
ganzen vierten Jahrhunderts nach Ch. andauern konnten. Die Basis des ganzen
römischen Verteidigungsapparates, von dem die neuen Befestigungen am nörd-
lichen Fuße der Alpen' nur ein Glied darstellten, bildete aber immer noch nichts
anderes als die alte germanische Rheinfront, und nur die Voraussetzung, daß der
Lauf des Rheines selbst, von Basel nördlich beginnend, als wohlverteidigte Barri-
kade des römischen Reiches seinen Zweck erfüllte, konnte auch die sich südlich
an diese anschließende Verteidigungslinie am nördlichen Fuße der Alpen wirkungs-
voll gestalten. Eine dauernde Durchbrechung der Rheinfront mußte dagegen
ohne weiteres auch eine Behauptung jener nördlich der Mittelalpen gelegenen
Befestigungen aussichtslos machen und somit unmittelbar den Verlust der Schwei-
zer Hochebene nach sich ziehen, so daß dann nur noch der Alpenwall als solcher
als schützende Mauer für das geängstigte und machtlose Italien in Frage kom-
men konnte.
Auch während des vierten Jahrhunderts nach Ch. haben die Einfälle und
Beunruhigungen durch die Alemannen sowohl in südlicher Richtung nach der
Schweiz als besonders auch direkt westwärts über den Rhein hinüber niemals
aufgehört. Es ist aber in jener Zeit den Römern trotzdem gelungen, an beiden
Stellen das Gebäude ihres Reiches notdürftig aufrecht zu erhalten. Der Grund
für diesen Vorgang mag diesmal aber weniger in der Widerstandskraft der Römer
selbst, sondern mehr in der Tatsache zu suchen sein, daß die Kraft der ale-
mannischen Vorstöße damals wahrscheinlich eine Zeit lang nicht in der Weise
wie vordem durch den Druck solcher Völker vergrößert wurde, die östlich des
alemannischen Gebietes neu eingetroffen waren, weil die in der Wanderung be-
findlichen Völker, wie schon oben hervorgehoben worden ist, gerade vom vierten
Jahrhundert nach Ch. an zumeist nicht den Weg westwärts nach dem Rheine zu
sondern hauptsächlich denjenigen nach Pannonien hin zu verfolgen pflegten.
Während dieser Epoche hebt sich nun in den Gebieten nördlich der Alpen be-
sonders der Sieg des römischen Kaisers Julian, den dieser im Jahre 357 nach Ch.
bei Hausbergen in der Nähe Straßburgs gegen die Alemannen erfocht, als ein
Ereignis heraus, das einigermaßen größere Bedeutung beansprucht, weil durch
denselben zum letzten Mal die dauernde Festsetzung jener fremden germanischen
Eroberer westlich des Rheines verhindert worden ist. Für längere Zeit jedoch
kann auch hier die weltgeschichtliche Wirkung dieses Sieges nicht aufrecht ge-
blieben sein; denn wenige Menschenalter später, und zwar bereits während der
ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts, sehen wir dann die Alemannen trotzdem
tatsächlich in dem dauernden Besitz nicht nur des Elsaß sondern auch aller Ge-
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 179
biete am linken Rheinufer von Konstanz bis nördlich herauf nach Mainz, und
wie von dem Verlust Carnuntums der schnelle Verfall der römischen Herrschaft
in den Ostalpenländern seinen Ausgang genommen hat, so muß auch hier damals
die Aufgabe der Rheinfront durch die Römer den Verlust der Schweiz, als eines
von dieser Position abhängigen Gebietes, nach sich gezogen haben. Wenn nun
aber der Sieg Julians im Jahre 357 nach Ch. hier das letzte Mal die alten Ver-
hältnisse zurechtrückte, während diese dann trotzdem bereits zu Beginn des
fünften Jahrhunderts von neuem und zwar diesmal für immer gänzlich über den
Haufen geworfen sind, so kommen wir auch in diesem Zusammenhang wiederum
auf jenen so bedeutsamen Zeitpunkt d. h. auf die Wende des vierten und fünften
Jahrhunderts nach Gh., mit der die Herrschaft der Römer in dem größten Teil
der Alpenländer ihr Ende erreicht haben muß.
Diese bleibende Wirkung kann aber auch hier wiederum "nur der einen
Tatsache zugeschrieben werden, daß Stilicho zu jener Zeit auch die Besatzungs-
truppen der Rheinlande und der Schweiz zur italienischen Armee herangezogen
hat. Jene Maßregel, die in dem Augenblick, als sie erfolgte, nur als eine vorüber-
gehende Vorkehrung der militärischen Oberleitung gedacht gewesen sein kann,
ist somit in ihren Folgen zu einem historischen Ereignis größter Tragweite
geworden, wie um deswillen auch der Westgotenkönig Alarich als derjenige,
gegen den diese Maßregel in erster Linie gerichtet war, als der erste wirklich
erfolgreiche Überwinder der alten römischen Großmacht betrachtet werden muß.
Aber auch noch eine andere Schlußfolgerung können uns die Wirkungen dieses
Ereignisses erneut vor Augen führen, die Erscheinung, wie zu Anfang und Ende
des Römerreichs dessen Kraft einzig und allein auf militärischer Handhabung
beruhte. Der Aufgabe, die Herrschaft eines Reiches im vollsten und weitesten
Sinne aufrecht zu erhalten, hat kein anderes Heer jemals wieder so glänzend wie
die numerisch so geringe römische Armee entsprochen, und so tritt uns auch
hier wiederum die alte Wahrheit von der unerreichten Höhe aller römischen
militärischen Einrichtungen entgegen.
Unmittelbar bis zu dem Zeitpunkte, an dem das von Truppen entblößte
Gebiet der Schweizer Hochebene in seiner ganzen Ausdehnung vom Bodensee
bis zum Genfer See wie eine überreife Frucht in die Hände der Alemannen fiel,
ist jedoch die militärische Tätigkeit der Römer auf diesem Boden noch ganz
sicher nachweisbar, wie überhaupt jener Grenzstrich, ähnlich wie der von Car-
nuntum, entsprechend seiner militärischen Wichtigkeit immer wieder von neuem
die Tätigkeit der römischen Rüstungen an sich gezogen hat. Auch in der Nord-
schweiz können die Römerfunde ein Bild von der Schwere der Ereignisse, die
während jener Zeiten in unaufhörlicher Folge hier eingebrochen sind, nicht
minder aber auch eine deutliche Vorstellung von den unermüdlichen Anstrengungen
geben, die auch hier römischerseits gemacht worden sind, um im Besitz dieser
bedrohten Front zu bleiben. So ist an der Hauptzugangslinie nach diesem Gebiete,
12»
180 X- Kapitel.
am Fuße des Großen Sankt Bernhard neben der ursprünglichen Heerstraße am
Nordufer des Genfer Sees in der späteren Kaiserzeit auch noch ein zweites Gleis,
das am Südufer des Sees entlang lief, nachweisbar, und es finden sich gerade in
der Nordschweiz unter den Römerruinen die seltenen Beispiele, wo ein flüchtiger
Wiederaufbau solcher Niederlassungen stattgefunden haben muß, die schon ein-
mal von den Alemannen zerstört worden waren 36). Und selbst der letzte große
Erfolg nördlich der Alpen, eben jener Sieg Julians vom Jahre 357 nach Ch.
gab den Römern immet noch Mut und Gelegenheit, hier ihre Positionen erneut
zu verstärken, insofern unmittelbar nach demselben unter dem Kaiser Valentinian
(364 — 375 nach Ch.) die ganze Rheinlinie zum letzten Male mit Wall und Türmen
befestigt worden ist.
Jener Gang der Ereignisse aber, der fast zwei Jahrhunderte hindurch jede
ruhige Entwickelung ausschloß und immer nur die ebenso beweglichen wie
heimatlosen römischen Soldaten nach jenem Lande zog, hat dann freilich auch
dazu geführt, daß in der Nordschweiz, als diese schließlich um das Jahr 400
nach Ch. gleichfalls von dem römischen Heere geräumt wurde, fast jegliche
Kultur in Ermattung lag, und die Alemannen hier dann tatsächlich ein fast volks-
leeres Land vorgefunden haben müssen. Überhaupt ist die Schweizer Hochebene
ein Gebiet, das nicht in dem Maße wie es auf den ersten Blick scheinen möchte
von Verkehrslinien ersten Ranges und ewiger Dauer durchzogen wird, und ihre
Wichtigkeit beruhte auch in römischer Zeit nur auf vorwiegend militärischen
Grundlagen. Nach Auslöschen dieser Situation mußte daher hier schon um des-
willen ein langer Stillstand alles Lebens eintreten, und anders als in der Wiener
Ebene und selbst in Südbayern mag somit der Wegfall der römischen Garnisonen
gerade hier eine wirkliche Verödung aller jener alten Ansiedelungen im Gefolge
gehabt haben. Die einst blühende helvetische Hauptstadt Aventicum war schon
seit dem Alemanneneinfalle vom Jahre 260 nach Ch. einfach in ihren Trümmern
liegen geblieben, weil das Bedürfnis der Grenzverteidigung den Wiederaufbau
derselben nicht unbedingt erfordert hatte. Jetzt erreichte ein gleiches Schicksal
nun auch alle jene altberühmten Kasernenstädte der Nordschweiz wie Augst,^
Aquae (Baden), Vindonissa und Vitodurum.
Während des römischen Altertums war bereits der von Glarus und Thur-
gau an beginnende und sich südwestlich bis zum Ostende des Genfer Sees er-
streckende Bezirk des eigentlichen Schweizer Hochgebirges stets ein menschen-
leeres Land gewesen. Auch die nördlich an dieses Gebiet sich anschließende
Schweizer Hochebene zeigte nunmehr zu Beginn des Mittelalters kaum ein
anderes Gesicht, so daß daher jener ganze entvölkerte Komplex während des
fünften und sechsten Jahrhunderts nach Ch, ungestört der von Norden kommenden
alemannischen und burgundischen Besiedelung anheimfallen und diese hier die
Grundlage für das heutige Volkstum der eigentlichen Schweizer Republik fest-
legen konnte. Das Schicksal der Schweizer Hochebene nach dem Untergange.
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 181
des weströmischen Reiches ähnelt somit auffallend dem des alten Venetlens.
Diese beiden Gebiete waren während des Altertums die Brennpunkte des um
die Alpen herumlaufenden Verkehrs gewesen, für deren Belebtheit und Wichtig-
keit der ganze Aufbau des römischen Weltreiches die sichere Vorbedingung
gebildet hatte. Es ist daher ein Zeichen, welche veränderten Verhältnisse jetzt
angebrochen waren, wenn sich gerade diese beiden Gebiete während des Mittel-
alters am spätesten unter den Alpenländern wieder zu einer kulturellen Macht-
stellung erheben konnten.
Von aller jener Überflutung durch die von Norden kommenden Germanen
ist jedoch damals ein Teil Helvetiens nicht getroffen worden, der auf Grund der
natürlichen Verhältnisse auch stets eine besondere Stellung im Verkehrsleben der
Alpen eingenommen hat: das Wallis. Infolge seiner geographischen Lage gravitiert
dieses langgestreckte Alpental weder nach dem Osten oder nach dem Norden,
sondern gebieterisch einzig und allein nach dem Westen. Wie das Avisiotal stets
eine Domäne von Trient geblieben ist, so ist Genf, der Vorort des westlichen
Helvetiens, stets auch der Ort gewesen, der den westlichen wichtigeren Teil des
Wallis bis zur Paßhöhe des Großen Sankt Bernhard hinauf unter seinen Einfluß
halten konnte. Schon die römische Provinzialeinteilung hatte einst dieser Situation
dadurch Rechnung getragen, daß sie das Vallis Poenina politisch mit den west-
lich liegenden Alpes Grajae verband, und diese auf natürlichen Grundlagen
aufgebaute Gruppierung hat die ihr innewohnende Kraft dadurch bewiesen, daß
der Umfang jenes alten römischen Bezirkes sich in der Gestalt der Kirchenprovinz
der Tarentaise dann noch Jahrtausende hindurch wiedergespiegelt hat.
So hat das Paßland des Wallis, weil es eben nur dem Westen offen stand,
auch während der letzten Zeiten des Römerreichs keine eigentliche Invasion
zerstörender Wirkung erfahren müssen, und die Geschichte des Großen Sankt
Bernhard, dieser wichtigsten Verkehrslinie der westlichen Alpenhälfte, leitet des-
halb auch ohne Unterbrechung aus dem römischen Altertum nach dem Mittelalter
hinüber. Den Tempel auf jener Paßhöhe hatte schon Konstantin der Große
abbrechen und an dessen Stelle eine Kapelle setzen lassen, wie auch die Gaben
der Münzen, die der heidnische Glaube an jener Stelle zurückzulassen pflegte,
mit dieser Zeit aufgehört haben. Es waren aber dieses alles nur Wirkungen
eines veränderten Kultus, die der fortdauernden Benutzung jenes Alpenweges an
sich keinen Eintrag taten. Noch im Jahre 408 nach Gh. ist unter Arkadius^'')
hier ein ganzes römisches Heer über die Alpen gegangen. Am besten wird die
Belebtheit des Großen Sankt Bernhard während des vierten und fünften Jahr-
hunderts jedoch dadurch bewiesen, daß gerade entlang dieses Weges die Tätig-
keit der christlichen Kirche besonders stark eingesetzt hat. Mag die Mehrzahl
der altchristlichen Lokalgeschichten und Legenden im einzelnen auch noch so
stark in Zweifel zu ziehen oder selbst widersinnig sein, so bleiben diese doch
trotzdem eines der besten Hilfsmittel, um die Grundlagen für den Zug des
182 ' X.Kapitel.
damaligen Verkehrsleben zurückkonstruieren zu können, da die älteste christliche
Tradition jedenfalls nur an solche Stellen angeknüpft haben kann, die gerade in
jenen Zeiten bewohnt und belebt gewesen sind.
Es ist daher für unsern Zweck besonders beachtenswert, daß den Ruhm,
das älteste Kloster diesseits der Alpen zu besitzen, kein anderer Ort als der
nördliche Sammelpunkt des Großen Sankt Bernhard, St. Maurice, das Agaunum
der Römer beansprucht, wie auch die Umwandelung des Namens des alten Octo-
durus in Martinach auf die Tätigkeit des Glaubensboten Martinus an jener Stelle
während des vierten christlichen Jahrhunderts zurückgeführt wird. Aber auch
auf der südlichen Seite jenes Passes haben wir die bestimmteste Kunde von der
frühzeitigen Festsetzung des Christentums in Aosta in Gestalt eines Grabsteines
des dortigen Bischofs Gallus vom Jahre 546 nach Gh., wobei die Tatsache, daß
hier ein Bischofssitz war noch besonders in das Gewicht Fällt. Auch die Grün-
dung des Klosters Moutiers, auf der westlichen Seite des Kleinen Sankt Bern-
hard, wird bereits für das fünfte christliche Jahrhundert angenommen.
Die politischen Schicksale jener Gebiete sind am Ende des Altertums dann
derart gewesen, daß im Jahre 443 nach Ch. in der unmittelbaren Nachbarschaft
der beiden Sankt Bernhard-Pässe zunächst die Reste des burgundischen Volkes
von den Römern angesiedelt worden sind, das vorher am Mittelrhein gesessen
hatte und dessen Herrschaft durch den Hunneneinfall Attilas dort vernichtet
worden war. Die Landschaft Galliens aber, die jenen zugewiesen wurde, wird
Sapaudia genannt und unter diesem Namen führt sich daher damals zum ersten
Male der Begriff des Landes Savoyen in die Geschichte ein. Jene Burgunder
haben dann von dieser Stelle aus in den Westalpen nach allen Seiten hin um
sich gegriffen, nach der Art und Weise wie sie bei dem Zerfall des römischen
Reiches während des fünften Jahrhunderts mehrfach in Mitteleuropa zu beob-
achten ist. Von Genf aus haben sie daher dann auch ganz folgerichtig den Be-
sitz des unteren Wallis angetreten, ein Vorgang, der durch die in St. Maurice
erfolgte Stiftung des dortigen Klosters durch den Burgunderkönig Sigmund (an-
geblich 515 nach Ch.) noch besonders veranschaulicht wird.
In erhöhterem Maße als bei dem Paßwege des Großen Sankt Bernhard ist
nun aber bei allen anderen Alpenstraßen südlich dieses Weges bis herab zur
ligurischen Küstenstraße der Fall eingetreten, daß sie von den Hauptereignissen
der germanischen Völkerwanderung räumlich entfernt lagen. Auch entlang dieser
Linien bedeutet daher der Anbruch des Mittelalters nicht jenen großen Riß in
der Geschichte des Verkehrslebens, sondern dieses hat auch damals, wenn auch
dürftiger und unsicherer als in den besten Zeiten des römischen Reiches, so
doch immerhin ohne große Erschütterungen und Ermattung hier die altgewohnten
Bahnen weiter verfolgt. Der Grund dafür, daß hier in dem Verkehrsleben über-
all die Brücke sicherer von dem römischen Altertum zur folgenden Zeit hin-
überleitet, ist jedoch nicht allein in jener gegenüber den damaligen Weltereignissen
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 183
geschützteren Lage sondern ebenso auch noch in dem Vorgang zu suchen, daß
der Boden des transalpinen Galliens es gewesen ist, auf dem zuerst während des
Mittelalters außer Italien neu geartete, kräftige Reiche emporgewachsen sind, die
einigermaßen den Namen von Kulturgebilden in Anspruch nehmen konnten.
Diese Tatsache hat nicht nur die Grundlage für die bevorzugte Stellung ge-
schaffen, die den Franzosen dann über ein Jahrtausend hindurch unten den Völ-
kern Europas zugefallen ist, sondern auch das Verkehrsbedürfnis zwischen Gallien
und Italien selbst stets lebendig erhalten.
Auch während der schwersten Zeiten des römischen Reiches findet sich die
Erscheinung, daß auf jenem Flügel der Alpen der Völkerverkehr ohne gewalt-
same Ereignisse sich Bahn gebrochen hat; denn über eine der dortigen intakten
römischen Heerstraßen, den Kleinen Sankt Bernhard oder Mont Genevre, zogen
nach dem Tode Alarichs im Jahre 412 nach Ch. die Westgoten unter Athaulf,
nachdem die römische Politik jene geschickt aus Italien nach Gallien abzuschieben
vermocht hatte. Zu den Andeutungen, die das Fortbestehen des friedlichen
Verkehrs während der letzten Zeiten des weströmischen Reiches an jenen Linien
markieren, gehört besonders die wachsende Bedeutung Grenobles, des alten
Cularo, das bereits im dritten Jahrhundert ein Bischofssitz war und im Jahre 379
nach Ch. von dem Kaiser Gratian, dessen Tätigkeit wir bereits in den Ostalpen
kennen gelernt haben, unter dem Namen Gratianopolis neu gegründet wurde.
Dieser Ort ist aber ein ebenso guter Eintrittspunkt für die nach dem Mont Cenis
wie für die nach dem Kleinen Sankt Bernhard führende Linie. Da nun die
Linie über den Mont Cenis selbst jedoch erst am Anfang des Mittelalters an das
Tageslicht tritt, so kann gerade das Hervortreten Grenobles in jenen Zeiten be-
reits auf ein Vorfühlen dieses neuen Weges bezogen werden. Auch das heutige
Embrun, das alte Ebrodunum, das auf der Route nach dem Mont Genevre gelegen
ist, sehen wir schon im Jahre 374 nach Ch. als Bischofssitz. Das Gebiet der
Westalpen ist auf der gallischen Seite dann bis einschließlich der Dürance, d. h.
südlich bis über die Paßlinie des Mont Genevre hinaus, gleichfalls den Bur-
gundern anheimgefallen, eine Entwickelung, die im Jahre 450 nach Ch. abgeschlossen
gewesen sein muß, während der südlichste Rand der Alpen und mit ihm der ganze
Komplex der ligurischen Küstenstraße noch bis zum Ende des weströmischen
Reiches bei Italien verblieb und erst im Jahre 470 nach Ch. vorübergehend von
diesem abgetrennt wurde, um unter die Herrschaft der im westlichen Gallien
sitzenden Westgoten zu gelangen.
Diese ligurische Küstenstraße war schon durch ihre Lage räumlich am weite-
sten von dem Ausgangspunkt der germanischen Völkerwanderung entfernt und
außerdem noch durch das unwegsame Gebiet der Seealpen und den langen Zug
des ligurischen Appenin gegen den Norden geschützt. Daher blieb dieses Ge-
biet während der letzten Zeiten des römischen Reiches ohne weiteres allen ge-
schichtlichen Ereignissen entrückt und es konnte deshalb auch geschehen, daß
184 X. Kapitel.
das Kulturbild an dieser Straße, ähnlich wie im südlichen Norikum, länger seinen
altrömischen Charakter behielt und daß auch die alten Einrichtungen hier teil-
weise länger angedauert haben. So erhielt sich in Genua die altrömische Muni-
cipialverfassung bis in das Mittelalter hinein, während andererseits auch die christ-
liche Tradition an der Riviera sehr frühzeitig angeknüpft hat (St. Pons bei Nizza,
Märtyrer Pontius, 261 nach Gh.). Gerade während der germanischen Völker-
wanderung kehrt jene Straße ihr eigentliches Wesen ganz deutlich hervor, für
das sie für den Verkehr stets vorwiegend in Frage gekommen ist. Kriegszüge
und Völkerbewegungen von bleibender Wirkung finden wir weniger in ihrem
Bannkreis, wohl aber stets, und auch in den dunkelsten und ermattetsten Zeiten
einen durch nichts abzuschreckenden Reise- und Kulturverkehr. Die zahlreichen
steinernen Denkmäler des Altertums sind daher an dieser Linie zumeist auch
nicht wie anderswo im Bereich der Alpen gewaltsam zerstört worden, sondern
nur durch das in unverminderter Stärke weiter pulsierende Leben, das immer
nur auf denselben engen Raum zwischen Meeresküste und Gebirge angewiesen
war, abgetragen worden und in Verfall geraten. Auch eine andere charakteristi-
sche Eigenschaft des Gebietes, durch das jene Straße zieht, läßt sich gerade in
jener Periode erkennen, diejenige, daß die ligurische Küstenstraße ihrer ganzen
Ausdehnung nach bis in das südliche Frankreich hinein infolge ihrer Lage ebenso
willig nach einem Zentrum südlich wie nach einem solchen nördlich der Alpen
gravitiert, und daß sich daher diese ganze Linie bei einiger Anstrengung seitens
des Südlandes ebenso leicht an dieses wie an Frankreich anketten läßt. Erst
während der letzten Stunden des weströmischen Reiches wurde die Provence
d. h. dasjenige Land, das den gallischen Teil dieser Linie in sich schließt, jenem
Reiche entrissen, um dann schon nach wenigen Jahrzehnten unter Theodorich
dem Großen, der in Italien eine kräftige Herrschaft begründete, wieder mit dem
Südlande vereinigt zu werden, und auch nach dem Untergange des ostgotischen
Reiches ist die Provence stets nur ein unsicherer und unvollständiger Besitz des
in Gallien entstandenen fränkischen Reiches geblieben.
Als letztes haben wir nun noch auf die Schicksale Rätiens während der
letzten Zeiten des römischen Reiches einzugehen. Wir haben gesehen, daß vom
Beginn des fünften Jahrhunderts ab dieses Land nur bis zum Nordrand der
Berge in der römischen Machtsphäre verblieben gewesen sein kann. Als solches
hat es nun aber auch während des fünften Jahrhunderts noch durchaus zum Süd-
land gehört, wie auch nach dem Untergange des weströmischen Reiches der
Besitz des heutigen Bündens und Tirols, ohne vorher einer bleibenden Invasion
germanischer Stämme ausgesetzt gewesen zu sein, ohne weiteres von der Herr-
schaft Odoakers und Theodorichs übernommen worden ist.
Gerade in dieser Erscheinung aber tritt die zähe Kraft besonders zutage,
die der von den Römern geschaffenen südlichen Kultur auch während des tiefsten
politischen Verfalles überall noch innegewohnt hat. Diejenigen Teile der Alpen-
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. IgS
länder, deren Lage dem Südland Italien am meisten abgekehrt war und zu deren
Behauptung daher um so gewaltigere künstliche Mittel nötig waren, wie der
ganze Nordrand der Alpen und die Ostalpenländer mußten den Römern natur-
gemäß am frühesten verloren gehen, während andererseits die ligurische Küsten-
straße und das südliche Norikum, deren Zugehörigkeit zum Südiand die Natur
wiederum besonders begünstigt hat, selbst bei dem tiefsten politischen Verfall
des weströmischen Reiches ohne große Anstrengungen noch bei Italien verbleiben
konnten. Die Mitte des eigentlichen Alpenlandes dagegen ist ihrer natürlichen
Beschaffenheit nach dem von Norden wie dem von Süden kommenden Einfluß
ungefähr gleich stark ausgesetzt, und der Verlauf der Geschichte hat es deshalb
auch durchaus bestätigt, daß diesen mittleren Alpenländern stets die Neigung
innezuwohnen pflegt, nach derjenigen Himmelsrichtung zu gravitieren, wo sich
außerhalb des Gebirges die größte politische und völkerbildende Macht ver-
sammelt hat. Während der ersten Jahrhunderte des Mittelalters haben aber
gerade in Bünden und Tirol die von Norden kommenden Alemannen und
Bajuwaren sich nur in langen Zeiträumen und mittelst einer schrittweisen und in
langsamem Tempo fortschreitenden Eroberung bleibend festsetzen können. In
der Richtung auf Bünden zu, das sich allerdings innerhalb des Alpengebirges fast
wie eine natürliche Festung heraushebt, ist das Vorwärtsschreiten jener nördlichen
Kultur nach' Süden sogar dann überhaupt sehr bald ins Stocken geraten, eine
Entwickelung, die dann erst nach der Vereinigung jenes Landes mit der Schweizer
Eidgenossenschaft hier von neuem in Fluß gekommen ist.
Auch für die bewegten und dunklen Zeiten des vierten und fünften Jahr-
hundeus nach Gh. stehen uns in Bünden und Tirol die Spuren des römischen
Verkehrs noch leidlich zahlreich zu Gebote, und auch hier können uns vor
allem die Römerfunde, besonders diejenigen der Münzen, das Gerippe zu jenem
Bilde liefern. Diese Funde nun sind auf dem Boden Bündens und Tirols bis
etwa zum Jahre 400 nach Ch. überall noch leidlich zahlreich, während sie nach
diesem Zeitpunkt in jener ganzen Zone zwar nicht vollständig verschwinden, aber
doch bedeutend schwächer werden. Diese Erscheinung findet aber ihre all-
gemeine Erklärung ohne Schwierigkeit in dem Absterben des römischen Durch-
gangsverkehrs durch diese Gebiete, der nach Verlust des nördlichen Alpenrandes
gegenstandslos geworden war. Besondere Erwähnung erfordert für das westliche
Rätien jedoch noch der auffallende und schwer zu erklärende Befund der Römer-
münzen auf der Paßhöhe des Julier. Allein von dem Übergange über den
Großen Sankt Bernhard und von jenem Passe ist die Tatsache klar erkennbar,
daß hier während des römischen Altertums die heidnische Sitte solche Stücke als
religiöse Widmung zurückzulassen pflegte. Wird nun zwar hierdurch durchaus
der Beweis erbracht, daß jener Weg über den Julier von dem römischen Reise-
verkehr besonders bevorzugt gewesen sein muß, so nötigt uns andererseits die
Entdeckung, daß jene Münzfunde auf dem Julier im Jahre 361 nach Gh., also
186 X. Kapitel.
schon eine ganze Zeitspanne vor der allgemeinen Einführung des Christentums
plötzlich abbrechen, die Schlußfolgerung auf, daß das sich über diesen Paß
zwischen Italien und dem Nordrand der Alpen bewegende Verkehrsleben schon
damals und nicht erst wie sonst überall zu Beginn des fünften christlichen Jahr-
hunderts einen gewaltigen Rückgang erfahren haben muß. Wir müssen es uns
aber in diesem Falle versagen, jene Erscheinung mit einem besonderen geschicht-
lichen Ereignis in Zusammenhang zu bringen. Sie braucht aber auch an sich
keine allzugroßen Bedenken zu erregen, wenn wir berücksichtigen, daß schon zu
jenen Zeiten sogar das Südufer des Bodensees für die Römer nur noch eine
militärische Wichtigkeit besaß, wie auch in Bregenz, das einzig und allein den
Durchgangsverkehr für die bündner Pässe im Norden vermittelte, die römischen
Münzfunde schon für das vierte Jahrhundert nach Ch. ganz geringfügig sind.
Dagegen ist Rätien innerhalb des Gebirges nach wie vor bis in das fünfte
Jahrhundert hinein ein ungestörtes Operationsland der römischen Armeeabteilungen
gewesen. So finden wir unter den Kaisern Maxentius und bezeichnenderweise
unter Julian, dem Sieger über die Alemannen, die letzten Herstellungsarbeiten
an der Brennerstraße, von denen gerade diejenigen unter Julian sehr ausgedehnt
gewesen sein müssen. Besonders wichtig ist ferner auch die Tatsache, daß noch
zu Beginn des fünften Jahrhunderts die alte römische Heerstraße durch das
Vintschgau in ihrer südlichen Hälfte wenigstens in Gebrauch gewesen sein muß,
insofern damals einmal an Meran vorbei Proviant für ein römisches Heer nach
Norden geschafft worden ist. Auch diese Nachricht^), die wie ein vereinzelter
Lichtstrahl hier durch das Dunkel bricht, ist schwer mit einer bestimmten Kriegs-
lage jener Zeiten in Verbindung zu bringen; einigermaßen verständlich wird sie
jedoch durch die Beobachtung, daß gerade die Straße über das Reschenscheideck
und die sich nördlich an diese ansetzende Fernlinie stets dann in ihrer Bedeutung
zugenommen haben, wenn die Tirol nordwestlich benachbarten Gebiete d. h. das
heutige Schwaben gegenüber dem Süden der mächtige und um sich greifende
Teil waren, eine Situation, die auch im Verlaufe der germanischen Völker-
wanderung je länger je mehr hervortrat. Die Straße über den Fernpaß muß
damals einer der Hauptwege gewesen sein, auf der sich die germanischen Zu-
züge nach Tirol hinein Platz zu schaffen gesucht haben, wie auch zu Beginn des
Mittelalters gerade hier, und nicht an der Linie über die Scharnitz die ersten
Ansätze eines neuen Lebens zu finden sind.
Während des vierten und fünften Jahrhunderts nach Gh., in dem das heutige
Tirol als östliches Rätien schon einmal ein ganz gleichartiges, geschlossenes
Gebiet gewesen ist, mußte nun auch weiterhin ganz folgerichtig Meran (Maja,
Castrum Majense) als dessen militärischer und administrativer Mittelpunkt dienen.
Unter Kaiser Theodosius um 379 nach Ch. war dort auf Schloß Tirol der Sitz
des kommandierenden Generals, und die bei dem in der Nähe befindlichen
Edelsitz Stachelberg gemachten römischen Funde halten die Annahme hervor-
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 187
gerufen, daß dort ein römisches Arsenal gewesen sei, eine Hypotliese, die somit
ganz gut in jenes Bild hineinpaßt. Den besten Beweis, daß dieses Rätien zumal
in seinem südlichen Teile damals noch ein ganz volkreiches Land gewesen sein
muß, das an allen Strömungen der Zeitepoche teilnahm, liefert aber auch hier
die älteste christliche Geschichte. Daß Trient bereits im vierten Jahrhundert ein
Bischofssitz war, ist hierbei die grundlegende Tatsache. Sein hervorragendster
Bischof war damals Vigilius (um 397 nach Gh.). Von diesem Heiligen leiten an
den Grenzen des Trientiner Kulturgebietes das Vorgebirge San Vigilio am Garda-
see und der Virgl-Berg bei Bozen ihre Namen her und halten somit jene Er-
innerung an das römische Altertum bis auf den heutigen Tag fest- Nicht ohne
Grund mag sich damals dieser Bischof gerade die stark bevölkerten Gebiete des
Nons- und Sulzberges als ein besonderes Feld seiner Tätigkeit herausgesucht
haben, und der Ursprung des Christentums hat daher auch in diesen Gegenden
ein gleich hohes Alter wie an der belebten Brennerstraße selbst aufzuweisen.
Im mittleren Tirol ist dann die christliche Tradition mit dem Namen des Heiligen
Valentin verknüpft, der im Jahre 470 nach Gh. in Meran, im Mittelpunkte seines
Wirkungskreises gestorben sein soll, während im besonderen und markanter das
Vorwärtsschreiten jener neuen Geistesrichtung nach Norden durch die Entstehung
eines Bischofssitzes in Sähen festgelegt ist. Dieser letztere ist jedoch erst vom
sechsten Jahrhundert ab sicher nachweisbar, und weiter nördlich in Tirol brechen
dann die christlichen Gründungen aus den ältesten Zeiten ganz ab. Es ist dieses
ein Umstand, der von neuem die Tatsache in das rechte Licht setzen kann, daß
die Brennerstraße im römischen Altertum wohl eine militärische, nicht aber auch
schon eine Bedeutung erster Ordnung für alles Verkehrsleben besessen hat, ein-
fach deshalb, weil das nördliche Vorland derselben damals noch nicht in dem
Maße wie später in weiter Ausdehnung der Kultur erschlossen war. In diesem
Zusammenhange mag daher auch die Bemerkung hier Platz finden, daß gerade
der Ort, wo der eigentliche Paßübergang am Brenner gelegen ist, sehr wenig
Funde aus römischer Zeit geliefert hat, wie dieser Punkt auch niemals zu Römer-
zeiten mit dem Namen einer wirklichen Straßenstation bezeichnet worden ist,
während sich im Gegensatz hierzu jene Erscheinungen bei den anderen Alpen-
übergängen ganz deutlich vorfinden, die die Römer mit Vorliebe zu benutzen
pflegten.
Gehen wir nun aber von hier weiter westlich zu jener anderen Hälfte Rä-
tiens im Gebirge, nach Graubünden, hinüber, so werden sich uns jetzt die Ur-
sachen deutlicher enthüllen, warum sich die Entwicklung der beiden Teile der
alten römischen Provinz Rätien, wie diese durch die Organisation Diokletians
geschaffen worden waren, nunmehr ganz grundverschieden voneinander gestalten
mußte. Noch heute ist der Schweizer Kanton Graubünden ein Gebiet, bei dessen
Beschreibung dem Geschichtsforscher mehr als anderswo zunächst der Boden
unter den Füßen zu wanken scheint. Dieses Land ist nicht nur in der Mitte
188 X. Kapitel.
der langen Alpenkette und somit auch in der Mitte des ganzen Erdteils selbst
gelegen sondern auch noch dazu reichlicher als die östlich und westlich benach-
barten Alpengebiete von einer ganzen Anzahl zielgerecht von Süd nach Nord
ziehender Durchgangslinien überzogen. Man sollte daher meinen, daß gerade
Graubünden zu allen Zeiten ganz besonders dazu befähigt gewesen wäre, das
Mittelglied und das Herzstück eines die Alpen bedeckenden Verkehrsnetzes zu
bilden, eine Voraussetzung, wonach wiederum der Ursprung der heutigen kultu-
rellen und ethnographischen Verhältnisse dieses Landes ganz von selbst in das
helle Licht der Geschichte gerückt worden sein müßte. Jener Aufgabe hat jedoch
Bünden niemals in vollem Maße, und nur einmal während des Mittelalters, zur
Zeit der Karolinger und Ottonen, annähernd gerecht werden können.
Wir haben schon bei der Geschichte Bündens während des römischen Alter-
tums gesehen, daß die dortigen Alpenstraßen damals zwar durchaus eröffnet und
dem Verkehre des Weltreiches dienstbar gemacht worden waren, in ihrer Wichtig-
keit und Belebtheit jedoch keinesfalls die östlich und noch weniger die westlich
benachbarten Linien übertrafen, und das deshalb auch die kulturelle Erschließung
des Landes seitab der Verkehrswege durch die Römer gerade hier nicht beson-
ders stark eingesetzt hatte. Diese Beobachtung hatte weiterhin die Annahme
gerechtfertigt erscheinen lassen, daß sich im westlichen Rätien das alte eingesessene
Volkstum der Räter das ganze römische Altertum hindurch einigermaßen in kom-
pakten Massen erhalten konnte. Schon diese Tatsache hat daher dazu geführt,
daß auch noch zu der Zeit des Unterganges des weströmischen Reiches der be-
sondere Charakter Bündens in kultureller und ethnographischer Beziehung be-
stehen geblieben war. Aber auch die Lage Bündens im Herzen der Alpen und
das Verhältnis derselben zu dem Ort, von dem die germanische Völkerwanderung
ausging und besonders zu der Richtung, nach der sich diese bewegte, konnte
ferner nur dazu beitragen, die schon vorhandenen Züge dieses eigenartigen Bildes
teils tiefer einzugraben teils noch neue zu demselben hinzuzufügen.
Die auf der Schweizer Hochebene und am Rhein sich abspielenden Kämpfe
der Alemannen waren es, die der römischen Herrschaft in den Mittelalpen den
Untergang bereiteten und damit auch die Bestimmung Bündens als wichtigen
militärischen Durchzugslandes nach jenen Gebieten hinüber in Wegfall brachten.
Aber trotzdem, daß sich ein Teil jener Kämpfe räumlich in unmittelbarer Nach-
barschaft des westlichen Rätiens abspielte, — so nahe, daß man ihren Verlauf
von den nördlichen Vorketten der rätischen Berge fast mit den Augen verfolgen
konnte — so suchte sich die treibende Kraft dieser Alemannenvorstöße doch so
vorwiegend ihren Weg nach Westen, vor allem nach der burgundischen Pforte
zu, daß wir nur ein einziges Mal den Fall nachweisen können, daß einer dieser
Kriege mit der ungeheuren Verheerung und Vernichtung, die diese unausbleiblich
im Gefolge hatten, seine Wellen auch südlich in dieses Bergland hinein ge-
schlagen hat.
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 189
Dieser Verlauf hatte aber nicht allein seinen Grund in den damaligen ge-
schichtlichen Verhältnissen, sondern findet ebensosehr auch seine Erklärung in
dem natürlichen Aufbau des Landes, wie er zu allen Zeiten in gleicher Stärke
fortbestanden hat. Gewiß wird der Hauptkamm Bündens vom Lukmanier bis
zur Albula von den mannigfachsten Verkehrsstraßen übersetzt, aber alle diese
Linien laufen nach Norden sämtlich nur in einen einzigen Strang, in das enge
Rheintal zusammen. Von einem einzigen Punkte dieser leicht zu sperrenden
Rinne aus lassen sich daher alle Straßen Bündens ebenso leicht nach Süden hin
beherrschen wie deren Verteidigung nach Norden ohne Schwierigkeit durch-
führen. Die Kriegsereignisse der letzten Jahrhunderte haben dies oft genug be-
wiesen, und auch schon für die damaligen Zeiten muß dieses Verhältnis in der
gleichen Stärke und Wirkung bestanden haben. Der Punkt aber, dem allein der
sichere Besitz dieser hervorragenden Stellung innerhalb des Landes zufallen
konnte, ist zu allen Zeiten nur die Stadt Chur gewesen.
Liegen so die Hauptgründe für die Erklärung des eigenartigen Geschickes,
das Bünden nun auch zu Beginn des Mittelalters getroffen hat, im Norden des
Landes, so haben doch auch die geschichtlichen Ereignisse im Süden der Alpen
einigermaßen mit zu diesem Resultate beigetragen. Auch der von Süden aus
nach Bünden hineindringende Verkehr ist zu diesem Zwecke zunächst nur auf
eine einzige Linie, die lange Rinne des Komer-Sees, die nördlich in Chiavenna
endigt, angewiesen. Während nun aber zu den Zeiten der Römerherrschaft auf
diesem Wege von Mailand und Como aus die Fäden, die das westliche Rätien
an Italien ketten sollten, ungestört in das Land hineingezogen und nördlich über
dasselbe hinaus gespannt wurden, zerstörten die kriegerischen Ereignisse, die sich
während des fünften Jahrhunderts in Oberitalien abspielten und hier die Quellen
der alten, in der Richtung nach Norden werbenden Kultur vernichteten, auch
jene Verkehrslage. Die Herrschaft Theodorichs machte zwar auch hier den Ver-
such, die alten Verhältnisse wieder zurechtzurücken; nach dem Untergang der-
selben wurde aber dann auch auf dieser Seite des Landes definitiv jener Zustand
geschaffen, nach dem die Ereignisse, die in den Kulturländern nördlich und süd-
lich der Alpen die fortschreitende Entwickelung mit sich brachte, zunächst hier
vorübergingen, ohne irgendwelche Wirkung auf dieses Land auszuüben und Bün-
den daher Jahrhunderte lang hindurch sich selbst überlassen bleiben konnte.
So haben wir demnach in der Geschichte des alten westlichen Rätiens den
einzig dastehenden Fall vor uns, nach dem nicht bloß ein Landstrich, sondern
ein geschlossenes, fest umgrenztes Land auf friedlichem Wege aus den Kultur-
verhältnissen des römischen Altertums in die des Mittelalters hinübergewandert
ist. Der Riß, der sonst fast überall in den Alpen die Zeit der Römer von der
neu anbrechenden Epoche getrennt hat, war hier auch nicht im geringsten zu
spüren, und noch im neunten Jahrhundert nach Ch. haben daher in Bünden
Rechtsverhältnisse und Regierungsformen bestanden, die in ihrem Ursprung auf
190 X. Kapitel.
nichts anderes als auf die Schablone der einst überall gültig gewesenen römischen
Verwaltungsgesetze zurückgingen. Jene Abgeschlossenheit des Landes von der
Außenwelt während jener Jahrhunderte mußte aber andererseits auch dahin führen,
daß die kulturelle Entwickelung schließlich hier in sich selbst vertrocknete und
die Verhältnisse des Landes, als sie dann unter Karl dem Großen, dessen Re-
gierungszeit zum zweiten Male für die Alpenländer grundlegend geworden ist,
neu geordnet wurden, fast ein mumienhaftes Aussehen gehabt haben müssen.
Der Umstand, daß Chur schon zu Römerzeiten einer der wichtigsten Ver-
kehrspunkte der Alpen und zugleich die einzig bedeutende Stadt des westlichen
Rätiens war, macht es einerseits ganz erklärlich, daß dieser Ort schon im Jahre
451 nach Ch. als Bischofssitz genannt wird, die geringe Erschließung des übrigen
Landes aber andererseits, daß wir irgendwelchen Spuren christlicher Kultur gleich
hohen Alters sonst nirgendwo in Graubünden begegnen können. Es charakteri-
siert die Entwickelung, die damals die bündner Verhältnisse genommen haben,
wenn sich die Reihe jener Churer Bischöfe seit der Gründung des Bistums nun
auch ohne Unterbrechung durch die folgenden Jahrhunderte fortsetzt, und außer-
dem daß dieses Churer Bistum, eben, weil der nördliche Einfluß ihm gegenüber
ganz versagte, bis in das neunte Jahrhundert hinein nominell zu derjenigen Stelle
gehörig verblieb, der es einst seinen Ursprung verdankt hatte d. h. bei dem Erz-
bistum Mailand. So konnte es auch hier nicht anders kommen, als daß, nachdem
einmal Bünden von der römischen Herrschaft aufgegeben worden war und trotz
der Oberhoheit der Ostgoten und Franken in Wirklichkeit ein fast selbständiges
Dasein führte, derjenigen Gewalt folgerichtig auch der politische Besitz des ganzen
Landes zufallen mußte, die allein noch im Lande verblieben war und die nirgendwo
anders als in Chur ihren Sitz aufgeschlagen hatte. Jene war aber allein der
christliche Bischof, der jetzt innerhalb des alten römischen Kastells in Chur Platz
genommen und die Hauptkirche des Landes (St. Luci, ältester Teil aus dem
achten Jahrhundert) hier hineingepflanzt hatte. Diese Churer Bischöfe mögen
nun in jenem abgeschlossenen Alpenlande Jahrhunderte lang ungestörte Zeiten
eines fröhlichen Hohenpriestertums verlebt haben. Alle Anzeichen deuten jedoch
darauf hin, daß sie diese Stellung mehr zum Ausbau ihrer politischen Herrschaft
als zu rein kultureller Arbeit verwendet haben. Gerade in Bünden hat die Aus-
breitung des Christentums in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters keine all-
zuraschen Fortschritte gemacht, während andererseits eine der ältesten Nachrichten,
die aus jener Zeit die Geschichte Bündens erhellen können, diejenige ist, wo-
nach im Jahre 615, als der Durchgangsverkehr sich hier wieder zu regen begann,
der Frankenkönig Chlotar dem Churer Bistum den Besitz seiner „alten Zoll-
steilen" bestätigte. Sehen wir also hier zunächst den Churer Bischof als den
eigentlichen Landesherrn Bündens, so ist bei dieser Nachricht jedoch noch be-
sonders der Wortlaut wichtig, nach dem jene Zollstätten schon am Beginn dieses
siebenten Jahrhunderts als „von altersher" in Gebrauch befindlich bezeichnet
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 191
Verden und als solche daher kaum etwas anderes als eine Fortsetzung der alten
römischen gewesen sein können, wie denn auch hierdurch die Annahme von
neuem illustriert wird, daß in Bünden das Frühmittelalter unmittelbar an das rö-
mische Altertum angeknüpft hat.
Die Tatsache, daß sich in dem weit von der weltbeherrschenden Stadt Rom
entfernten Graubünden mehr wirklich Altrömisches als irgendwo anders in Mittel-
europa am Leben erhielt, ist nun auch wie eine dunkele aber richtige Ahnung
in dem historischen Gefühl aller folgenden Zeiten haften geblieben. Als ein
Kuriosum dieser Art mag angeführt werden, daß nach dem Glauben früherer
Zeiten die Reste von sieben Römerheeren, die vor den Cimbern flüchteten, hier
sitzen geblieben waren ^). Hierzu gehört ferner, und dieses vielleicht mit mehr
Recht, daß der alte bündner Adel stets mit Vorliebe gewohnt gewesen ist, seinen
Ursprung auf altrömisches Blut zurückzuführen. Einer der großen Namen
Bündens ist derjenige der Planta. Ein Geschlecht der Planta hat es allerdings
schon einmal nicht nur in Bünden, sondern auch zur Zeit der Kaiser Klaudius
und Trajan in Rom selbst gegeben, und den Beweis, daß jene Tradition ihres
Geschlechtes nicht zu den historischen Unmöglichkeiten gehört, können die
heutigen Planta wenigstens durch die allgemeine Tatsache erhärten, daß der
hauptstädtische Adel Roms sich während der Kaiserzeit wirklich auch nach jenen
nördlichen Gegenden hin verbreitet hat; denn auch ein Mitglied der altberühmten
Familie der Laterani (Lateran-Palast in Rom) begegnet uns im Jahre 196 nach Ch.
als consul designatus in Augsburg. Gerade das genau in der Mitte Europas
gelegene Graubünden hat infolge seiner Abgeschlossenheit zu allen Zeiten sich
besonders dazu geeignet bewiesen, als sichere Zufluchtsstätte und unbeachtetes
Versteck für solche zu dienen, die den im Norden oder Süden der Alpen sich
bahnbrechenden Ereignissen und Entscheidungen aus dem Wege gehen wollten.
Diese Entdeckung ist aber auch schon dem Altertum nicht entgangen, wie dieses
mit auffallender Klarheit aus einem Briefe des Kaisers Justinian an seinen in Italien
kommandierenden Feldherrn Narses hervorgeht, in dem jener Rätien einfach als
das Fluchtland der Südländer bezeichnet, und der Bourbon Louis Philipp, der
spätere König der Franzosen, der im Jahre 1793 unter dem Namen Chabot un-
erkannt in Reichenau bei Chur als Hauslehrer lebte, war demnach nicht der
erste grand seigneur, der vor den Schrecken einer bösen Zeit in diesem Lande
untertauchte.
Wir können aber an dem Beispiele des westlichen Rätiens auch am deut-
lichsten die Rolle ersehen, die überhaupt auch dem Alpengebirge in seiner
Gesamtheit während der germanischen Völkerwanderung zugefallen ist. Die
durch die Natur gegebene Eigenschaft eines jeden Gebirgslandes, daß es den
Schutz des geistigen und materiellen Besitzes der Menschen erleichtert, ist eine
Erscheinung, die gerade bei den Alpen während jener Zeiten sich ganz besonders
Geltung verschaffen mußte. Denn wie eine Insel lag damals das eigentliche
192 ^- Kapitel.
Bergland der Alpen inmitten der Flut der von Osten hereinbrechenden Ereignisse
und die entlegenen Schlupfwinkel, die dem Verkehr abgewendeten Täler dieses
Gebirges mußten daher jenem geängstigten und geplagten Geschlecht inmitten
all' der erbarmungslosen Verfolgung und Zerstörung immer wieder als die besten
Zufluchtsstätten für Mensch und Gut vor die Augen treten. Noch heute erstaunt
man mit Recht über die Massenhaftigkeit der Funde, die immer wieder von
neuem in Deutschland aus der Erde emporsteigen und die sämtlich allein während
des dreißigjährigen Krieges daselbst versteckt worden sind. Liefert uns daher
diese Beobachtung ohne weiteres ein Bild von der Größe und Furchtbarkeit der
Vernichtung, die jener Krieg für alles friedliche Leben mit sich brachte, so
müssen wir diese Wirkung noch in viel ausgedehnterem und erschreckenderem
Maße für die Kriege jener Zeit in Hinblick auf die aus der germanischen Völker-
wanderung stammenden Funde in ihrer Gesamtheit voraussetzen. Anderthalb
Jahrtausende sind seitdem verflossen, aber allein schon die Summe der innerhalb
der letzten Jahrhunderte gemachten Funde dieser Art, deren Kenntnis gerade
noch auf uns kommen konnte, würde für die Berechtigung jener Annahme
voll genügen.
Innerhalb der Alpen aber, die wie ein schützendes Dickicht in jenes offene
Jagdgebiet hineingesetzt waren, begegnen wir derartigen Funden häufiger, dichter
und man möchte sagen, in instruktiverer Weise. Es ist auch hier immer dasselbe
Bild der geängstigten Menschheit, wenn während des dreißigjährigen Krieges die
Backöfen mit Vorliebe als Verstecke benutzt worden sind, während zu Zeiten
der Römer die Hypokauste d. h. die unter dem Boden der Gebäude angebrachten
und der Heizung dienenden Schächte jenen Zweck verrichten mußten. Wir
haben im Obigen schon oft die Münzfunde als ein willkommenes Mittel heran-
ziehen können, um den Bewegungen des Verkehrs und den Kriegsereignissen
während der Römerzeit im einzelnen nachzukommen. Bei einer Anzahl dieser
Münzfunde, und zudem noch bei den wertvollsten und umfangreichsten, verirren
sich nun aber in auffallender Weise die Fundstellen in derartig einsame Gebiete
der Alpen, daß hier in keiner Weise irgendwelche Schlußfolgerung auf das da-
malige Verkehrsleben zugelassen werden kann. Die ganze Bergungsweise derselben
redet dagegen noch heute eine ergreifende Sprache von der Not jener Zeiten,
weil sie ganz von selbst die Absicht kundgibt, daß jene Schätze hier fluchtartig
versteckt worden sein müssen. Unter solchen Funden sind diejenigen aus den
stillen Tälern des Enneberg (Untermoi) und aus dem ganz abgelegenen Reit im
Winkel zu nennen, besonders aber jener aus Rumo (Südtirol), wo aus einer
Felsschlucht eine Summe von mehreren tausend Stück hervorkam; auch der in
der Nähe von Wettingen in der Schweiz an das Licht gekommene Silberschatz
des dortigen römischen Isistempels gehört hierher. Auch bei Malvaglia im Blegno-
tal ist ein Fund von dreitausend Stück dem dritten Jahrhundert nach Gh. an-
gehörender Münzen gemacht worden. Dieser letztere liefert jedoch ein Vor-
Die Alpen während des Unterganges des weströmischen Reiches. 193
kommnis, zu dem wir deshalb besonders Stellung nehmen müssen, well das
Blegnotal den südlichen Anstieg zum Lukmanier bildet, und wir uns somit hier
in jener genau in der Mitte der Alpen gelegenen Zone befinden, in der das
Verkehrsbedürfnis der späteren Zeiten den wichtigsten Alpenweg der Neuzeit,
den Sankt Gotthard, eröffnete und wo auch schon sehr bald im Frühmittelalter
der diesem ganz benachbarte Lukmanier als gebräuchlicher Alpenübergang und
somit als ein Vorläufer des Sankt Gotthard sich geltend gemacht hat. Für das
Altertum hatten wir jedoch den Sankt Gotthard ebenso wie dessen ganzen Bereich
als unerschlossen und dem Verkehre entzogen vorausgesetzt, und auch jener Fund
von Malvaglia ist nach allem Vorangegangenen auch nur geeignet, die Richtigkeit
dieser Annahme zu stärken, da gerade die Größe jenes Fundes darauf hinzudeuten
scheint, daß derselbe damals ebenso wie die vielen anderen Funde gleicher Art
abseits der von dem großen Verkehr betretenen Bahnen dem Tageslicht entzogen
werden sollte.
Wir sind auf diese Weise wieder an die Südgrenze des alten westlichen
Rätiens gelangt, und da dieses Land von den verheerenden Ereignissen der
germanischen Völkerwanderung fast ganz verschont blieb, ist es nun auch nicht
wunderbar, daß dessen südliche Nachbarschaft d. h. die Mitte des südlichen
Alpenrandes vom Langen See über den Komer-See bis nach Bergamo hin, einer
ähnlichen Wirkung teilhaftig werden konnte. Jenes von der Natur so wunderbar
bevorzugte Gestade ist damals auch von den geschichtlichen Ereignissen mit
einem gleich günstigen Schicksal bedacht worden, insofern es gleichfalls eines
der wenigen Gebiete gewesen ist, in dem der Übergang vom römischen Altertum
nach dem Mittelalter ungestörter und friedlicher als sonst vor sich ging, und
auch in dieser Beziehung zeigt daher die Riviera der oberitalienischen Seen
gleiche Eigenschaften wie die ligurische Riviera. Das treffendste Beispiel, wie
sehr diese Striche während der Zeiten jener Völkerwanderung als sicher und
geschützt galten, ist die Geschichte der Insel Comacina am Westufer des Komer-
Sees. Dem kleinen Eiland, auf dem jetzt nur das Gebäude einer Kirche aus
dunkelgrünen Pflanzungen herausragt und das heute der dicht an ihm vorüber-
flutende Verkehr ganz unbeachtet liegen läßt, ist es nicht anzusehen, daß es in
jenen bewegten Zeiten zu wiederholten Malen die letzte Zuflucht und ein sicheres
Versteck für thronflüchtige Herrscher und versprengte Heerführer abgeben mußte.
Hier verbarg sich u. a. im Jahre 590 nach Ch. ein zurückgebliebener Feldherr
der Byzantiner vor den Langobarden und im Jahre 688 nach Ch. der Langobarden-
könig Kunibert selbst mit seinen Kostbarkeiten vor dem Usurpator Alachis von
Trient. Wie sehr aber auch sonst diesfe Gegenden geeignet waren, die alten
Verhältnisse zu konservieren, ist aus der großen Zahl der dort gefundenen christ-
lichen Inschriften, die aus dem fünften Jahrhundert stammen, und noch mehr
aus dem Klang der zahlreichen auf bio endigenden Ortsnamen in der Brianza
ersichtlich; denn letztere rühren noch unmittelbar von den keltischen Orobiern her,
Scheffel, Verkehrsgeschichie der Alpen. I. Band. 13
194 X. Kapitel.
Demselben Umstände mag aber auch die Erhaltung des reizvollen, eigen-
artigen Stadtbildes, das Bergamo bietet und das heute noch die ursprüngliche
keltische, vorrömische Ortsanlage erkennen läßt, zuzuschreiben sein, während
wiederum in Como der alte römische Grundriß noch ganz deutlich vorhanden
ist. Die Absicht, die bei der Gründung dieser Stadt vorwaltete, die in die
schmale, östlich und westlich durch Anhöhen eingeengte Ebene an der Südspitze
des Sees wie ein Riegel hineingepflan"zt wurde, zeigt sich besonders klar, wenn
man von den hohen. Östlich gelegenen Höhen von Brunate auf Como herabblickt.
Von dort aus liegt wie ein Teppich die Altstadt von Como ausgebreitet, bei der
die jetzige Umwallung mit ihren Ecktürmen noch durchaus in der Trace der
alten römischen Ummauerung hinläuft und wo noch heute die via Principalis in
Gestalt der Via Indipendenza die Stadt durchzieht, und die Porta Vittoria nichts
anderes als die alte porta decumana ist. Ebenso zahlreich und vollständig leiten
aber auch die aus dem Weichbild Comos geborgenen und im Museum der Stadt
befindlichen Funde aus den letzten Zeiten des Römerreichs nach der Lango-
bardenzeit hinüber, wie auch die langobardische Gründungstätigkeit und Bauweise
selbst gerade auf dieser Stelle besonders früh eingesetzt hat (die Kirchen San
Fedele und vor allem Sant' Abbondio).
XI. Kapitel.
Die Alpenländer unter Theodorich dem Großen.
Wenn wir in bezug auf die Verkehrsgeschichte der Alpen diejenige Zeit-
spanne, während der Theodorich der Große in Italien herrschte und die weiter-
hin mit dem Vernichtungskampfe Ostroms gegen dieses Ostgotenreich ausgefüllt
wird, noch zu dem Altertum rechnen, so steht dies in direktem Gegensatz zu
der landläufigen Gesichtsauffassung, die diese ganze Zeit schon voll in das Mittel-
alter hineinzulegen pflegt. Mit vollem Recht hat der Ostgotenkönig Theodorich
von der Geschichte den Beinamen der Große erhalten, weil das Werk, das er
unternahm und das er bewußt und folgerichtig sein ganzes Leben durchführte,
tatsächlich das erste gewesen ist, durch das ein germanischer Herrscher der
Völkerwanderung bleibende und durch und durch kulturbringende Wirkungen
zu schaffen suchte. Nur ein einziger Irrtum, eine einzige falsche Voraussetzung
dieses großen Herrschers, die Unmöglichkeit, die damaligen römischen Bewohner
Italiens mit den Goten dauernd zusammenzukitten, ist die Ursache geworden,
daß dieses Unternehmen mißlingen mußte. Gerade die Tatsache, daß das Ost-
gotenreich sogleich nach Theodorichs Tode die weltbeherrschende Stellung, die
dieser ihm gegeben hatte, einbüßte, um schließlich einem zwar zähen aber trotz-
dem nichts weniger als kraftvollen Gegner, wie Ostrom es damals war, zum Opfer
zu fallen, ist einerseits der Beweis für die Macht der Persönlichkeit Theodorichs,
andererseits aber noch viel mehr für die Größe des Irrtums, von dem jener ur-
sprünglich ausgegangen war. Wir haben in Theodorich wohl die Gestalt eines
glänzenden, kräftigen Herrschers vor uns, aber das Fundament seines Gedanken-
kreises bildete auch keine andere Vorstellung als diejenige, die vor ihm schon
Jahrhunderte hindurch die Welt erfüllt hatte, der Glaubenssatz, daß mit dem
Besitze Italiens auch die Vorherrschaft über Europa verknüpft sein müsse. Sein
Irrtum war aber eben, daß der ermattete physische Zustand der eingeborenen
Generation, die er in Italien vorfand, damals weder allein noch auch mittelst
13«
196 XI. Kapitel.
Verschmelzung mit den Ostgoten der Durchführung einer derartigen Aufgabe
mehr gewachsen war. Hier liegt also der Grund, weshalb das Streben und die
Leistungen Theodorichs, die allein aus antiken Anschauungen emporgewachsen
waren, nicht mehr schöpferisch wirken konnten und weshalb sich sein Werk
lediglich als eine Neuauflage der alten römischen Großmachtstellung — nicht
derjenigen des Weltreiches, wohl aber derjenigen wie sie sich etwa nach Be-
endigung des zweiten punischen Krieges herausgebildet hatte — darstellt. Äußer-
lich tritt allerdings dabei sofort der den Anbruch einer neuen Zeit charakteri-
sierende Unterschied zu Tage, daß die römische Macht, die zu den Zeiten der
Republik in Italien herrschte, ihr Augenmerk besonders nach dem Süden ge-
richtet halten mußte, während die Politik Theodorichs den Schwerpunkt ihrer
Wirksamkeit vor allem nach dem Norden der Halbinsel hingerückt hat. Aus
diesem Grunde hat nun auch die Regierung Theodorichs für die Alpenländer
ganz eigenartige und niemals wieder dagewesene Erscheinungen hervorgebracht.
Es ist das beste Zeugnis für den Reichtum seiner einzelnen politischen
Ideen wie für die Größe des Erfolges, den Theodorich zu seinen Lebzeiten er-
reichte, daß er nicht nur seinen Goten sondern besonders auch den zeitgenössi-
schen urteilsfähigen Vertretern der alten Kultur als die bedeutende glänzende
Persönlichkeit erschien, die er wirklich gewesen ist. Selbst der Geschichts-
schreiber Prokop, dessen ganze Anschauungsweise noch durchaus auf dem Boden
der antiken Kultur steht und der mit den Ansprüchen des alten Römertums innig
verwachsen ist, räumt dies unumwunden ein. In der kurzen und erschöpfenden
Charakteristik, die dieser von Theodorich liefert '**'), erscheint ihm die ganze Per-
sönlichkeit jenes Herrschers zunächst aber auch als nichts anderes als diejenige
eines römischen Imperators, also als eine Fortsetzung des Althergebrachten. In
jener Charakteristik wird auch hervorgehoben, daß Theodorich sein Reich stets
vor den Einfällen der Barbaren bewahrt hat. So leicht man nun auch über diese
Bemerkung als selbstverständlich hinweglesen könnte, so bezeichnet es doch ge-
rade im Hinblick auf die sich überstürzenden Ereignisse der damaligen Zeiten»
die eine germanische Herrschaft nach der anderen entstehen und vergehen ließen,
einen der größten äußeren Erfolge Theodorichs, daß es ihm gelang, die noch
mitten im Fluß befindliche germanische Völkerwanderung, die vor und nach den
Lebzeiten Theodorichs ihre Wellen oft genug auch nach Italien hineingeworfen
hat, während seiner Regierungszeit von diesem Lande abzuhalten.
Aber auch der Zweck, der unserer Betrachtung zu Grunde liegt, hat von
dieser Tatsache auszugehen; denn die Alpen bildeten zur Zeit Theodorichs die
natürliche Grenze seines Gebietes, und die Grenzverteidigung, die dieser in
ihrem Bereich gegen die nördlichen, fortdauernd in der Bewegung befindlichen
Völker aufrichtete, ist so zu einem wichtigen und in der Geschichte der Alpen-
länder einzig dastehenden Ereignis geworden. Hatte die römische Republik die
Sicherung Italiens nach Norden von der inneren Linie, von der Poebene aus»
Die Alpenländer unter Theodorich dem Großen. 197
und das römische Weltreich ebendieselbe dann weit entfernt vermittelst seiner
befestigten Grenzen nördlich der Alpen besorgt, so legte Theodorich zum ersten
und letzten Male jene Grenze des Südlandes in das Alpengebirge selbst, und
zumeist entlang der Linie, wo dieses sich zum eigentlichen Hochgebirge erhebt,
um nur an dessen westlichen und östlichen Ende, weil es zur Sicherung des
Reiches hier nicht anders möglich war, über den Kamm des Gebirges hinüber-
zugreifen.
So können die Grenzen Italiens wie sie unter Theodorich gelegt waren für
den italienischen Standpunkt auch heute noch als das Abbild des Erstrebens-
werten gelten. Im Westen gehörte zunächst die ganze Provence zum Reiche
Theodorichs, Massilia war im Besitze der Ostgoten und Arelate ließ damals
Theodorich neu zur Festung ausbauen. Daß dieser Landstrich unverkürzt bei
Italien festgehalten wurde, mag seinen Grund allein in dem ganz richtigen Ge-
danken gehabt haben, daß hierdurch einem Übergreifen des nördlich der Alpen
in der Bildung begriffenen und immer kräftiger sich ausdehnenden Prankenreiches
von vornherein ein Riegel vorgeschoben wurde. Von hier aus mag die wirkliche
Grenze des Ostgotenreiches unentwegt von den Kottischen Alpen bis zum Sankt
Gotthard mit den höchsten Kämmen des Gebirges zusammengefallen sein. Selbst
die Nachricht, daß Theodorich auch die Alemannen unter seiner Botmäßigkeit
gehabt habe, braucht uns in dieser Annahme nicht irre zu machen, da hierdurch
nur dem kräftigen Einfluß des Ostgotenreiches Theodorichs auch nach dieser
Seite nördlich über die Alpen hinüber Ausdruck verliehen wird. Weiterhin im
Osten, in der rätischen Zone, spricht die Wahrscheinlichkeit jedoch mehr dafür,
daß dort das ganze Alpenland wenigstens dem Namen nach zu dem Ostgoten-
reiche gehörte und dessen Grenzen somit vom Tödi an entlang der nördlichen
Vorberge etwa bis Kufstein hinliefen. Wir wissen, daß im Jahre 496 ein Teil
der von den Franken geschlagenen landflüchtigen Alemannen von Theodorich
Wohnplätze in Rätien angewiesen erhielt, und wenn wir sehen, daß heute noch
das Vorarlberg und das Oberinntal, die als der nordwestlichste Teil Rätiens ge-
rade dem Land der alten Alemannen ganz benachbart lagen, tatsächlich eine rein
alemannische Bevölkerung einschließen, so paßt dies sehr gut zu der Annahme,
daß es eben jener Teil Rätiens gewesen ist, der diesen Alemannen von Theodo-
rich damals eingeräumt wurde.
Östlich der Brennerlinie, also in der norischen Zone, werden aber dann
die Möglichkeiten, eine Vermutung über die Abgrenzung des Ostgotenreiches
nach Norden aufzustellen äußerst spärlich, und es ist besser, nunmehr von dem
entgegengesetzten Ende, dem Ostende der Alpen, den Ausgang zu nehmen, um
hier einigermaßen zu einem Resultat zu gelangen. Wie im Westen der Provence,
so bildete auch auf der entgegengesetzten Seite der Alpen die das ganze Fluß-
gebiet der Drau und Save umfassende und sich weit östlich bis Siscia erstreckende
Provinz Savia einen Teil dieses Ostgotenreiches. Für die weitere Ausdehnung
J98 XI. Kapitel.
desselben auf jener Seite nach Norden haben wir dann aber nur einen Anhalt
in der Anschauungsweise Prokops, der u. a. auch Karner und Noriker zu diesem
Reiche rechnete, einen schwächeren ferner auch darin, daß Justinian während
des Zerfalles des Ostgotenreiches die Stadt Norikum und die pannonischen
Festungen an die Langobarden abgetreten hat. Da wir aber andererseits gesehen
haben, daß es gerade ein besonderes Merkmal des Reiches Theodorichs gewesen
ist, daß er überall im Norden eine bestimmte Grenze seines Reiches gegen die
fremden Zuzüge festlegte und der Druck der germanischen Völker auch damals
noch im Nordosten Italiens am allerstärksten war, so sind wir schlechterdings ge-
nötigt, auch hier das Vorhandensein einer bestimmten, von den Goten militärisch
bewachten Nordostgrenze anzunehmen. Diese Grenze wird jedoch schwerlich
entlang des pannonischen Ufers der Donau, sondern vielmehr südlich eingedrückt,
entlang des Kammes der Kärntner Alpen zur Drau hinübergelaufen sein, wodurch
also immer noch der südliche Teil der alten römischen Provinz Norikum von
ihr eingeschlossen werden konnte.
Eine Beschreibung dieser Nordgrenze des Ostgotenreiches würde sich aber
kaum der Mühe verlohnt haben, wenn wir nicht der allgemeinen wichtigen Tat-
sache aus Theodorichs Regierung ganz sicher wären, daß jene nördliche Grenze
seines Reiches für Theodorich nicht etwa wie bei den anderen damals entstan-
denen germanischen Reichen nur einen geographischen und politischen Begriff
bildete, sondern daß dieselbe auch durch eine systematisch gelegte Schnur von
kleinen und größeren Garnisonen als ein lebendiger militärischer Organismus
wirklich in das Leben getreten ist. Auch in dieser Beziehung knüpfte also Theodo-
rich unmittelbar an das Verfahren an wie es unter den Römern bei der Grenz-
bewachung geübt worden war. Die Tatsache, daß zur Zeit des Ostgotenreiches
überall in den Alpen „an den Pforten und Engpässen" Abteilungen gotischer
Truppen mit Weib und Kind unter militärischen Befehlshabern die alten römi-
schen Kastelle bewohnten und hier die Grenzwacht besorgten, ist an sich un-
umstößlich aus Kassiodor und Prokop'") ersichtlich, und es ist daher auch kein
Wunder, daß von je her das Bestreben vorhanden gewesen ist, nun auch im
einzelnen an den wichtigen an den Alpenstraßen gelegenen Punkten die Spuren
jener ostgotischen Grenzwächter wiederzufinden. Wir müssen aber von Anfang
an hervorheben, daß es bis jetzt noch niemals gelungen ist, auch nur einen ein-
zigen Ort in den Alpen (ausgenommen Trient) als Sitz einer solchen alten Goten-
besatzung einwandfrei sicherzustellen und daß dieses Bestreben wahrscheinlich
auch weiterhin erfolglos bleiben wird, so reizvoll es für die Phantasie auch sein
könnte, hier auf irgend einem wissenschaftlichen Wege einmal zu einem sicheren
Resultat zu gelangen.
Folgen wir wie vorher bei der Betrachtung der Nordgrenze des Ostgoten-
reiches nun auch bei der Aufzählung der Nachrichten über die ostgotischen Be-
satzungen in den Alpen der Reihenfolge von Westen nach Osten, so stoßen wir
Die Alpenländer unter Theodorich dem Großen. 199
zunächst für das Gebiet der Westalpen auf jene wichtige Stelle bei Prokop (II, 28),
nach der „in den Alpen, die Gallien von Ligurien trennen und die bei den Rö-
mern die Kottischen hießen, viele Goten in zahlreichen Burgen seit langer Zeit
die Grenzwacht besorgten". Diese Nachricht stellt also wohl überhaupt die Tat-
sache der militärischen Bewachung der Alpen durch die Goten in das hellste
Licht, wie sie auch im besonderen die Linie der Kottischen Alpen, zu der wir
hier ruhig auch noch den Kamm der Grajischen Alpen mit den Sankt Bernhard
Übergängen hinzurechnen können, als ein derartiges Besatzungsgebiet genau fest-
legt; im einzelnen gibt sie aber auch nicht den geringsten Anhalt von der mili-
tärischen Bewachung irgendeines der dortigen Alpenübergänge oder irgendwelcher
bestimmter Alpenfestungen. Wahrscheinlich aber auch nicht zweifelsfrei ist eine
spezielle Nachricht über die Bewachung eines der Sankt Bernhard -Pässe, in-
sofern Kassiodor einmal von den sechzig Mann gotischer Truppen redet, die in
den „clausuris Augustanis" stationiert sind. Auch diese Kunde ist zunächst für
das allgemeine Verfahren der gotischen Grenzwacht förderlicher als für die Orts-
bestimmung im einzelnen. Den Militär mag es interessieren, daß jene Anzahl
der Besatzung sich ungefähr in denselben Grenzen bewegt, wie sie auch heute
noch für ein Gebirgsfort mittlerer Größe notwendig ist, und daß an einer anderen
Stelle dem in Rätien kommandierenden Befehlshaber auch ein regelrechtes Ab-
patrouillieren der Grenzen anbefohlen wird. Die Örtlichkeit selbst ist aber auch
hier nicht unbestritten, da für diese clausurae Augustanae nicht nur der Engpaß
von Aosta, sondern u. a. besonders auch die Fernlinie (bei Füssen) in Anspruch
genommen worden ist.
Am klarsten offenbart sich unserem Auge jener Organismus der gotischen
militärischen Grenzwacht jedoch erst weiter östlich entlang der Brennerstraße.
Dieses findet aber ohne weiteres dadurch seine Erklärung, weil der eigentliche
Mittelpunkt des Ostgotenreiches nicht mehr in Rom sondern ganz ausgesprochen
in Ravenna lag, und die nördlich auf die Mittelzone dieses Gebietes herein-
führende Brennerstraße auf diese Weise erhöhte Wichtigkeit erlangen mußte.
In den Bereich jener Straße führt uns nun die bekannte Instruktion Kassiodors
für den Befehlshaber beider Rätien, Servatus, die unter Anwendung des uralten
militärischen Mittels, der Anstachelung des Ehrgefühls, jenem die Sicherung
dieser Grenzprovinzen als eine besonders ehrenvolle Aufgabe hinstellt, und auch
noch eine zweite Verfügung Kassiodors, durch die er dem Befehlshaber Rätiens
die Schadlosstellung eines Händlers, der im eigentlichen Brennergebiet beraubt
worden war, anbefiehlt. Auf der Brennerstraße finden wir nun auch die einzigen
Punkte, wo die militärische Festsetzung der Ostgoten über allen Zweifel erhaben
ist. Es ist dies zunächst aber nicht der in dieser Beziehung viel genannte eigent-
liche Brennerort Gossensass, dessen Name vielmehr als der Sitz eines Gottfried
zu erklären ist, sondern es sind dies Verona und Trient.
Mit Verona, dem südlichen Ausgangspunkte der Brennerstraße, ist der
200 XI. Kapitel.
Name Theodorichs so eng verknüpft wie mit tceiner anderen Stadt seines Reiches.
Hier erhob sich, schon mehr nach mittelalterlicher Art nicht innerhalb der Stadt-
mauern, sondern oben auf dem alten römischen Kastell seine Königsburg, das
heutige Kastell San Pietro, während unterhalb desselben am Abhang des Berges
beim Eingang in die Stadt die heutige Kirche S. Stefano als Hofkirche diente.
Von hier aus zogen dann die gotischen Befehlshaber, die über das Gebiet des
lacus Benacus gesetzt waren, auf dem kürzesten Wege nach dem Gestade des
Sees, nach Garden hinüber, und so hat gerade hier die Ostgotenzeit ihre
bleibenden Spuren hinterlassen, indem diese große weite Seefläche auch heute
noch von dem jetzt abseits liegenden Orte ihren Namen führt, von dem aus
einst die gotischen Befehlshaber regiert haben. Gerade die ganze jenem Grenz-
schutz nach Norden zu Grunde liegende Absicht, auf die, wie wir gesehen haben,
Theodorich so besonderen Wert legte, macht nun auch die Neubefestigung
Veronas, jener nördlichen und östlichen Festung Italiens, unter ihm ganz erklärlich.
Diese wurde in der Hauptsache dadurch in das Werk gesetzt, daß an der süd-
westlichen Seite der Stadt, wo diese nicht durch die Etsch geschützt ist, die
Herstellung eines Grabens vorgesehen wurde, und durch die Anfüllung jenes
Grabens mit Flußwasser konnte daher die Halbinsel, auf der der eigentliche
Stadtkomplex Veronas gelegen war, vollständig in eine Insel verwandelt werden.
Dieser ganze Befestigungsapparat ist dann auch wirklich im Jahre 552 nach Ch.
einmal in Wirksamkeit getreten, als die in und südlich Verona stehenden Ost-
goten unter Teja hier das Anlaufen des byzantinischen Heeres unter Narses von
Osten her erwarteten, während dieser aber mit besonderem Geschick dicht ent-
lang der Küste des adriatischen Meeres sich an jener Stellung vorbeischnürte
und so den Feinden die Gelegenheit verdarb, aus jener sicheren Position gegen
ihn vorzubrechen.
Gleich sichere Zeugnisse von der Art der ostgotischen Grenzbewachung
haben wir auch in Trient. Die Erbauung der dortigen Stadtmauern, deren
gewaltige ungefügen Reste noch heute ihr hohes Alter verraten, wird auf Theo-
dorich zurückgeführt. Ganz bestimmt wissen wir aber, daß der gotische Befehls-
haber Rätiens auf der von der Natur zur Zitadelle Trients geschaffenen Höhe,
dem Dos Trento, seinen Wohnsitz gehabt hat und jenes Kastell Verucca wird
damals als die idealste Festung der Welt gepriesen. Können wir somit auf dem
südlichen Abstieg der Brennerlinie die Grenzverteidigung Theodorichs in allen
ihren Einzelheiten beobachten, so kann doch gerade der Umstand, daß jene
Grenzverteidigung südlich so weit einwärts gerückt ist, es zweifelhaft machen,
ob auch der nördliche Teil der Alpen auf dieser Seite damals wirklich zahlreich
mit gotischen Besatzungen versehen gewesen ist. Wenn auch der Machtbereich
Theodorichs sich tatsächlich bis an den Nordrand der Berge erstreckt haben
mag, so muß es doch auffallen, daß das so weit südlich liegende Trient direkt
als eine Grenzfestung gegen die wilden Völker namhaft gemacht wird und daß
Die Alpenländer unter Theodorich dem Großen. 201
auch die Sicherheit auf der Brennerhöhe selbst nicht einwandfrei ist. Als ein
weiteres Moment dieser Art tritt auch hinzu, daß bereits zu den Zeiten Theodorichs
der Name des alten Veldidena sich in jenes unergründliche geschichtliche Dunkel
zurückgezogen hat, aus dem jener Ort dann erst ein halbes Jahrtausend später
wieder heraustritt.
Wir wissen, daß diese ostgotischen Besatzungen sich auch weiterhin an der
Nordostseite Italiens fortgesetzt haben; denn noch zur Zeit des Gotenkrieges
redet Prokop in ähnlicher Weise wie von den gotischen Besatzungen auf dem
Westflügel der Alpen von denjenigen in Venetien. So übergaben sich im Jahre
539 nach Ch. nach der Eroberung von Ravenna durch Belisar „die Besatzungen
von Tarvisium und der anderen stärksten Burgen Venetiens" freiwillig den Ost-
römern, und auch noch ein zweites Mal, bei den Ereignissen des Jahres 551,
redet Prokop „von denjenigen festen Plätzen Venetiens, die damals noch den
Goten verblieben." Am östlichen Ende der Alpen begegnen wir dem Namen
Theodorichs noch in der Lokaltradition Monfalcones, dessen Schloß von jenem
erbaut worden sein soll. Diese Annahme hat auch insofern einiges für sich, als
jener Ort an der direkten Straße nach Istrien und Dalmatien gelegen ist,
Provinzen, auf deren Besitz gerade Theodorich immer besonderen Wert gelegt
hatte. Aquileja lag damals bereits in Trümmern, und der Punkt, an dem Mon-
falcone liegt, kann daher in jener Zeit sehr gut die Bestimmung jener Stadt nach
dieser Richtung hin übernommen haben. Auch die Ansicht, daß die Karnburg
bei Klagenfurth, die später die Zitadelle des ganzen Landes Kärnten abgeben
sollte, als große Grenzfestung bereits von Theodorich erbaut worden sein soll, hat
neueraings ihren Vertreter gefunden^-), während die Ableitung des Namens des
alten Dorfes Goisern im Salzkammergut von den Goten wohl nichts anderes als
eine historische Spielerei bedeutet.
Dieser ganze Verteidigungsapparat Theodorichs, der für die Geschichte nur
in seiner Gesamtheit, für den militärischen Standpunkt jedoch auch in allen
seinen Einzelheiten Wichtigkeit hat, ist aber ebenso wie das ganze Reich der
Ostgoten wenige Zeit nach dem Tode dieses Königs vom Erdboden verschwunden,
ohne irgendwelche nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Erst den Langobarden,
als den letzten in der Reihe der vielen fremden Völker, die in Italien wirklich
Fuß faßten, blieb es vorbehalten, am Südfuße der Alpen Bleibendes zu schaffen,
während jenseits des Gebirges nördlich der West- und Zentralalpen diese Be-
stimmung folgerichtig dem Reiche der Franken und weiter östlich den Bajuwaren
zufiel. Die Aufteilung des Erbes Theodorichs im Bereich der Alpenländer hält
gleichen Schritt mit der Zertrümmerung des Ostgotenreiches auf dem Boden
Italiens selbst durch die Generäle Justinians. In jenen Zeiten fielen die vormals
von den Ostgoten besetzten Alpengebiete eines nach dem anderen an die Franken,
so im Jahre 536 nach Ch. dem Namen nach ganz Rätien, dann im Verlaufe der
202 ^^- Kapitel.
Jahre 548 bis 551 das Gebiet der kottischen Alpen bis herab in die ligurische
Ebene und der Hauptteil Venetiens. Zu gleicher Zeit wurden auch die östlichen
Vorländer Italiens von den Gepiden und Langobarden besetzt, deren Raub- und
Plünderungszüge dann unter der antiken Bevölkerung in Istrien und Illyrien so
aufräumten, daß durch dieselben die Kulturbrücke zerstört wurde, die einst das
römische Kaiserreich auf dem Festlande von Venetien aus nach Byzanz herüber-
gezogen hatte. Die Art und Weise jenes Zerfalles entspricht im wesentlichen
durchaus den Machtverhältnissen, wie sie durch die damalige Gruppierung der
nördlichen Völker gegeben war. Auffallend an ihr ist nur das weite Hinüber-
greifen der Franken nach Osten bis nach Venetien — ein Vorgang, mit dem wir
uns aber abfinden müssen, weil Prokop denselben nicht nur ein, sondern mehrere
Male ausdrücklich hervorhebt — und im entgegengesetzten Sinne die Tatsache,
daß damals von einem Auftreten der Markomannen oder Bajuwaren im Norden
Tirols noch nicht das geringste verlautet.
Alle jene Verschiebungen mögen aber damals, wenigstens für das eigentliche
Gebirgsland der Alpen, zunächst nichts weniger als einschneidende Folgen gehabt
haben, sondern abgesehen vielleicht von dem Gebiet der Westalpen, nur der
Ausdruck einer landläufigen Vorstellung gewesen sein, wie weit der Einfluß des
einen oder des anderen Germanenkönigs nunmehr zu ziehen sei. Trotzdem
birgt aber erst das Ende des Ostgotenreiches tatsächlich den Zeitpunkt in sich,
der in der Geschichte der Alpenländer das Altertum von dem Mittelalter trennt.
Bis zu dieser Zeit hatte das Südland Italien den Anspruch unentwegt aufrecht
erhalten können, allein in den Alpenbergen zu herrschen, während nunmehr alles
politische und wirtschaftliche Leben mit einer ihm eigenen Schwere und Ermattung
sich nach den Ebenen nördlich und südlich der Alpen zurückzog. Jetzt lag
wiederum das Alpengebirge selbst nur als ein hoher Wall zwischen zwei Welten,
die beide einander fast fremd und deshalb zunächst auch damit zufrieden waren,
wenn dieses hohe Gebirge als wirksamer, trennender Schutz ihres Machtgebietes
nach Norden oder Süden diente. Die Nordgrenze Italiens während der Lango-
bardenzeit liefert ihrem Aussehen und Werte nach jetzt wieder dasselbe Bild,
wie es schon einmal die letzten Zeiten der römischen Republik hier gezeigt
hatten; denn die langobardischen Herrscher dachten niemals an eine wirkliche
Ausbreitung ihrer Herrschaft nördlich in die Berge hinein und waren froh, wenn
die von ihnen vorsorglich an dem südlichen Austritt der Alpenstraßen angelegten
Sperren den Grenzschutz besorgten. Aber auch die Völker und Reiche nördlich
der Alpen mußten damals noch Jahrhunderte lang hindurch sich konsolidieren
und Kräfte sammeln, ehe sie erfolgreich in die Alpen hinein und südlich über
dieselben herüber werbend auftreten konnten. Die auf dem Zerfall des Ost-
gotenreiches folgenden Jahrhunderte sind die Zeit gewesen, in der wie fast überall
in Europa, so auch in den Alpen die Bildung der heutigen modernen Völker
Die Alpenländer unter Theodorich dem Großen. 203
Europas vor sich ging, und die ersten Zeichen des Lebens, denen wir jetzt
wieder in den Aipeniändern begegnen, leiten sich daher lediglich von der Eigen-
schaft der Vollmer als einer Zusammensetzung einzelner Lebewesen her, die sich
vermehren und ausbreiten und auf diese Weise auf den Bereich der Nachbar-
völker auftreffen. Erst dieser Bewegung ist dann der Eroberer, der mit dem
Schwerte oder der Herrscher, der mit dem Pergament Ordnung schuf, gefolgt.
Anmerkungen.
') Aus Steub: Drei Sommer in Tirol.
2) Sybel: Geschichte der französischen Revolution V. S. 322.
3) Prager Studien, Wanka von Rodlow: Der Verkehr über den Paß von Pontebba pp. Kap. I S. 5.
•*) Leichter ist es allerdings, die Ableitung des Ursprungs der 7 und 13 Kommuni von den
Cimbern in Zweifel zu ziehen oder wegzudeuten als sie zu beweisen. Wenn aber überhaupt die
Cimbern bei ihren Zügen an irgend einem Punkte Gelegenheit gefunden haben könnten, festen
Fuß zu fassen, so wäre es allein hier, in der Nähe der Etsch gewesen, wo' sie nach dem Abzug
des Katulus einen ganzen Winter hindurch sitzen blieben. Bei dieser Frage dreht sich alles
darum, den heute noch lebenden Namen „Cimbern" anderweit genügend erklären zu können, wo-
bei aber davon ausgegangen werden muß, daß jener Name für die deutschen Gemeinden nördlich
Vicenza schon lange vor dem Jahre 1400 gebräuchlich war (Schneller: Deutsche und Romanen in
Südtirol, Petermanns Mitteilungen 1877 S. 374), eine Tatsache, die zunächst schon diese uns jetzt
etwas weit hergeholt scheinende Tradition ohne weiteres um mehr als ein halbes Jahrtausend
jünger und somit auch den Kern der Wahrheit, der in dieser Tradition enthalten sein könnte,
um einiges beachtenswerter macht. Zum vollständigen Beweis gehört jedenfalls außerdem, daß
jene Bezeichnung dann nicht bloß an dieser Stelle sondern ebenso auch bei dem Namen Val di Cembra
bei Trient (in der Nähe von Castelfeder) anderweit genügend erklärt wird. Derjenige, der zwischen
Vicenza und Fonzaso scharf aufpaßt, täuscht sich aber nicht, wenn er bei der dortigen Landbe-
völkerung vereinzelt Gestalten zu begegnen glaubt, die wirklich den antiken, Germanen darstellenden
Skulpturen auffallend gleichen.
5) Galtür im Patznaun gehörte kirchlich ursprünglich zu Ardetz im Unterengadin, Vent im
Ötztal zu Kastellbell im Vintschgau, rätische Dörfer im Lechtale zu Landeck und Imst im Inntal.
6) In Westrätien Castelberg, Gaste, Castels, in Osträtien Castellbell, Castel Tesino, Castello.
Römerspuren weisen auf: Castelmur, Tiefenkasten, Castellatsch, Castelfranchin, Castelfeder, Kastel-
ruth, Castelbarco, Castel Toblino, Castel Lavazzo.
7) Hermes XV S. 393.
8) Im Gebiet des alten Rätiens findet sich zahlreich verbreitet eine Klasse ganz eigentüm-
lich anklingender Ortsnamen, wie sie derart charakteristisch nirgends anderswo vorhanden sind.
Es sind dies die mit Juv und Jui anlautenden Namen (Jufinger Höhe bei Kufstein, Juifen-Berg am
Achensee, Juvavum-Salzburg, Jufen-AIpe bei Kitzbühel, Junsberg und Junsjoch im Hinter-Dux im
Zillertal, Juifenau bei Praxmar im Sellrain, Jauffen-Paß, Burg Juval im Vintschgau, Alpe Juribell
bei Paneveggio, Burg Juvalta bei Rhazüns, Juf bei Andeer am Splügen, — außerhalb der Zone,
die für die Räter als geschlossene Masse in Anspruch genommen wird: Jauken bei Ober-Drau-
Anmerkungen. 205
bürg, Mont Jovet bei Aosta). Der Stamm dieser Wörter muß danach spezifisch rätisch sein und
würde deshalb durch eine ganz einwandfreie Zuweisung dieses Stammes an eine bestimmte, mög-
lichst beschränkte Sprachenfamilie auch zugleich die Frage nach der Nationalität der Räter ihrer
Lösung so nahe wie nur möglich gerückt sein. Es ist nicht zu verkennen, daß die größere Wahr-
scheinlichkeit dafür spricht, diesen Woristamm auch in den indogermanischen Sprachen unter-
bringen zu können (Juppiter, xtqiah;). Für unseren Zweck mag aber hier nur angeführt werden,
daß es auch im Semitischen einen gleichen Sprachstamm giebt (Juval).
ä) Aus Willkomm: Zwei Jahre in Spanien und Portugal.
"*) Aus Franz von Löber: Cypern.
") Die „Dörcher" bei Landeck. Nach Steub zieht in Tirol im Sommer der Adel auf die
Schlösser, der Städter in seine Sommerfrische oder ins Badl, die kleinen Leute auf die Alm oder
zur Wallfahrt.
'-) Wanka von Rodlow : Die Brennerstraße im Altertum und Mittelalter (Prager Studien)
macht hiervon eine Ausnahme.
•3) Rätisch anklingende Ortsnamen im Oberwallis sind u.a.: Naters, Tschampgen, Eignet,
Safnischmatten.
'■•) Dieser Namenskreis läßt sich noch erweitern: Kottische Alpen (auf die Organisation
des Augustus zurückzuführen), Col de Fr^jus, Forum Julii an der Corniche, Julium Carnicum
(Zuglio), von Augustus oder Cäsar gegründet, Julia Emona = Laibach; das Gailtal, noch 567 nach
Ch. vallis Julia, heißt auf italienisch heute noch Valle Gilia.
'^) Caesar Bell. Gallicum Liber VII cap 73.
'6) Caesar Bell. Gallicum Liber VI cap 1.
'') Caesar Bell. Gallicum Liber I cap 10.
'^ F. Keller, Römische Ansiedelungen in der Ostschweiz, Zürich, Mitteilungen der antiqua-
rischen Gesellschaft XV.
'9) Tarvessede = Ort, wo man die Tiere vor den Wagen spannen darf. Denselben Sinn birgt
Eporedeia (am Sankt Bernhard) und Tarvis?
20) F. Berger, die Septimerstraße, Jahrbuch für Schweizerische Geschichte XV, 1890.
2') „Das erste Drittel des Weges zwischen Ivrea und Verres bezeichnet der Ort Settimo,
durch seinen Namen an den siebenten römischen Meilenstein erinnernd" (Oehlmann, die Alpen-
pässe im Mittelalter, Jahrbuch für Schweizerische Geschichte III und IV, 1878 und 1879 Seite 235).
Als Ortsnamen in den Alpen, in denen Zahlen- bezl. Entfernungsbezeichnungen aus dem
lateinischen Sprachstamm enthalten sind, können angeführt werden: An der ligurischen Küsten-
straße: Quinto, Quarto, Ventimiglia. Dann Mont Cenis = Mons Geminus; Octodurus; Quinten
u.a. m. am Walensee; Quinto, Decimo bei Airolo; Trafoi, Gomagoi; Trisanna; Trient, Sexten; Tiers
bei Bozen, Trins im Gschnitztal; Medratz im Stubai ; Quintana (Künzen bei Pleiting); Nonnberg
und Dorf Non bei Salzburg; Primiero; Tricesimo bei Udine; Trenta in Kärnten; Primau im Achen-
tal ; Trafus in Steiermark. Auch hier gilt die Beobachtung, daß derartige Ortsnamen in den Ost-
alpen infolge der slavischen Invasion am seltensten zu finden sind. Ob alle die hier angeführten
Namen freilich schon römische Besiedlung beweisen oder zum Teil auch nur eine solche von
ursprünglich romanischen Bewohnern mag dahingestellt bleiben.
^ Diejenigen Ortsnamen, die heute mit den Zusätzen Straß (Strada), Gasse, Heid (oder
Haid), Stein, Goetz, Alten und Römer versehen sind, lassen zwar nicht mit Sicherheit aber doch
mit größter Wahrscheinlichkeit darauf schließen, daß an ihnen vorbei schon in römischer
Zeit ein Verkehr stattgefunden hat, ebenso wie die jetzt mit den Namen Reiter-, Hoch- und Ochsen-
Straße bezeichneten Wege oft Teile alter römischer Straßenzüge gewesen sind. Die in den Alpen
an manchen Punkten vorkommende Sage, daß dort eine Stadt begraben sei, deutet zumeist darauf
hin, daß dieser Ort in römischer Zeit bewohnt gewesen ist. Alles dieses aber ist bezeichnend für
die Größe des Zerstörungswerkes der Völkerwanderung, nach der das Mittelalter mit aller Kultur
206 Anmerkungen.
wieder neu anfangen mußte und den Resten, die aus dem Altertum noch geblieben waren, gegen-
über das Gefühl hatte, als ob diese aus einer ganz anderen Welt stammen müßten.
23) Auch der Pfeiler der heutigen Sillbrücke in Matrei scheint noch Römerwerk zu sein ;
er gleicht in seinem Aussehen vollständig den römischen Pfeilern der Moselbrücke bei Trier.
-■*) Besonders bezeichnend ist der rätoromanische Ortsname Muntigl in der Umgebung Salz-
burgs. Vgl. Monthgen bei Bregenz und Montigl bei Bozen.
25) Wanka von Rodlow: Der Verkehr über den Paß von Pontebba-Pontafel und den Predil.
(Prager Studien) S. 32. — Über die Verschiedenheit in den Ansichten über den Gang und die
Stationen dieser Straße vgl. Kohn, die römische Heerstraße von Virunum nach Ovilava. Sitzungs-
berichte der Wiener Akademie, philos.-histor. Klasse S. 382, und über die älteste Ansicht: Oehl-
mann, die Alpenpässe im Mittelalter S. 267.
26) Prosper: clausuris quidem Alpibus — Aretinus: Alpes difficillimos aditus habent —
Ammianus Marcellinus: perruptis angustiis Alpium und claustra sunt patefacta Alpium — Zosimus:
superatis angustiis — Sozomen: Italiae portae=Juliae Alpes — Vor allem aber Cassiodor: Raetiae
munimina sunt Italiae claustra.
27) Venatius Fortunatus. Vita S. Martini V. 649 fgd.
28) u. a. Graf Waldersdorff : Regensburg in seiner Vergangenheit und Gegenwart; Bechmann
die Einwanderung der Bayern, Wien, Sitzungsberichte 91. Band.
29) Mitteilungen des Altertums-Vereins zu Kempten.
30) Jaeger, Geschichte von Augsburg 1862.
3') A. Hueber, Geschichte der Einführung und Verbreitung des Christentums in Südost-
deutschland.
32) Wanka von Rodlow vgl. Anm. 25, Seite 17 fgd.
33) Kaemmel, Salzburg und die Tauernpässe, Grenzboten 64. Jahrgang No. 43.
34) Nissen, Italienische Landeskunde, vgl. Zuglio.
35) A. B. Meyer, Gurina im Obergailtal, Dresden 1886.
36) Keller, Römische Ansiedelungen in der Nordschweiz vgl. Anm. 18, Pfäffikon.
3') Meyer: Die römischen Alpenstraßen in der Schweiz. Zürich, Mitteilungen der antiqua-
rischen Gesellschaft No. XIII.
38) Vgl. E. Böcking: Notitia Dignitatum in partibus Occidentis CXXXIV.
39) Daniel, Deutschland pp. 2. Auflage II. Band S. 963.
■lO) Prokop Gotenkrieg I, I.
41) Cassiodor Variae II cp. 5, Prokop Gotenkrieg II, 28.
■'2) Hauser: Die Karnburg pp. Mitteilungen der Central-Kommission Wien 1890.
Verkehrsgeschichte der Alpen
II. Band
Das Mittelalter
von
P. H. Scheffel
Berlin 1914
Dietrich Reimer (Ernst Vohsen)
VI Inhalt.
Viertes Buch.
Die Alpenstraßen des Mittelalters.
I. Kapitel. Seite
Die Straßen der Westalpen .167
II. Kapitel.
Der Gr. S. Bernhard 179
III. Kapitel.
Das Mittelalter am S. Gotthard , 185
IV. Kapitel.
Die Straßen Graubündens 194
V. Kapitel.
Vom Arlberg zum Brenner 214
VI. Kapitel.
Der Brenner und seine Nebenwege 226
VII. Kapitel.
Vom Pustertal bis zur Birnbaumer Straße 261
VIII. Kapitel.
Die Salzburger Machtsphäre 273
IX. Kapitel.
Das Ennstal und das Murtal bis zum Semmering 279
Anhänge 287
Abkürzungen und Erklärungen.
A. ^ Anmerkung.
J-
= Jahr.
Anh. = Anhang.
K.
= Kapitel.
Au. = Auflage.
Kl.
= Klein.
B. = Band.
L.
= Leipzig.
Bch. = Buch.
N.
= Nummer.
Beil. = Beilage.
S.
= Sankt pp.
bzl. = bezüglich.
S.
= Seite.
f. = folgende.
T.
= Teil.
G. Pr. = Gymnasial-Programm.
u.
= und.
Gr. = Groß.
Vgl.
= Vergleiche,
h. = heilig
Ab. = Abel, Jahrbücher des fränkischen Reiches, 1. B., 2 Au. L. 1888.
A. L. = Die Chronik Arnolds von Lübeck, 2. Au. L. Dyk.
Alt. = Die Werke des Abtes Hermann von Altaich, 2. Au. L. Dyk.
Atz. = Atz u. Schatz, der deutsche Anteil des Bistums Trient, Dekanat Bozen, Bozen 1903.
B. W. = Beda Weber, Das Tal Passeier, 2. Au. Meran 1902.
Ber. = Berger, Die Septimer-Straße, Jahrbuch für Schweizerische Geschichte, 15. B. 1890.
Eg. = Egger, Die Barbareneinßlle in die Provinz Rätien. Wien 1901.
Ei. = Einhard, Leben Karls des Gr.
Erb. = Erber, Burgen und Schlösser in der Umgebung von Bozen, Innsbruck 1895.
Da. = Daniel, Deutschland pp. 2. Au. L. 1867 u. 1868.
F. = Ferdinandeum, Zeitschrift für Tirol.
Fischn. = Fischnaler, Sterzing, Sterzing 1906.
Fr. ^ Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit.
Gt. = Gassner, Zum deutschen Straßenwesen, L. 1889.
Gi. = Wilhelm von Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, 2. u. 3. B : 3. Au;
5. B. L. 1880.
Hau. = Hauser, Die alte Geschichte Kärntens, Klagenfurt 1893.
Haush. == Haushofer, Tirol, Bielefeld u. L. 1899.
Jo. = Jordan, Geschichte der Entstehung von Sublavione, Innsbruck 1859.
Ju. = Jung, Römer und Romanen in den Donauländern, 2. Au. Innsbruck 1887.
Kr. = Krones, Die deutsche Besiedelung der östlichen Alpenländer, Stuttgart, Engel-
hom 1889.
L«. = Lambert von Hersfeld, Jahrbücher 2. Au. L. Duncker.
VIII Abkürzungen und Erklärungen.
Lau. = Zwergkönig Laurin, L. Reclam.
Maz. = Mazegger, Die Römerfunde pp. in Mais. 3. Au. Innsbruck 1896.
Meyer = A. B. Meyer, Die Römerstadt Agunt, Vorstudien, Berlin Friedländer 1908.
M. C. L. = Meyers Conversations Lexikon, 5. Au.
M. D. A. = Meyers Reisebücher, Deutsche Alpen.
M. O. L = Meyers Reisebücher, Oberitalien pp. 7. Au.
M. Schw. = Meyers Reisebücher, Schweiz 20. Au.
Mo. = Mommsen, Reden u. Aufsätze, Berlin 1905.
Mor. =: Moroder, Das Groedner Tal, S. Ulrich 1891.
N. A. = Neeb u. Atz, Der deutsche Anteil des Bistums Trient, Bozen 1879.
N. = Noe, Almanach der Südbahn II, Wien, Waldheim.
Oe.I.bzl. II = Oehlmann, Die Alpenpässe im Mittelalter, Jahrbuch für Schweizerische Geschichte,
3. bzl. 4. Band.
O. F. = Otto von Freising, Taten Friedrichs, übersetzt von Kohl, L. Duncker 1883.
P. D. = Paulus Diakonus u. die übrigen Geschichtsschreiber der Langobarden, 2. Au.
L. Dyk.
PI. = Planta, Das alte Rätien, Berlin 1872.
Ra. ^ Rahewins Fortsetzung der Taten Friedrichs, übersetzt von Kohl, L. Duncker 1886.
Riehl. = Riehl, Die Kunst an der Brennerstraße, L. 1898.
Ri. = Riezler, Geschichte Bayerns, Gotha, Perthes.
Sa. L. ^ Mitteilungen für Salzburger Landeskunde.
Sehe. = J. V. von Scheffels Gesammelte Werke, Stuttgart Bonz.
Schu. = A. Schulte, Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen West-
deutschland und Italien pp. L. 1900.
Schw. = Schwarz, Tirolische Schlösser, Heft 1. Innsbruck, Wagner.
Si. = B. Simson, Jahrbücher des fränkischen Reiches II. B. L. 1883.
St. ^ Steub, Zur Namens- und Landeskunde der deutschen Alpen, Nördlingen 1885.
Sta. = Stampfer, Geschichte von Meran, Innsbruck 1889.
Tap. ^ Tappeiner, Zur Majafrage, Meran 1894.
Tir. = Tirolensien V. Bozen, Auer 1894.
Vi. = Vilmar, Geschichte der deutschen National-Litteratur. 21. Au.
Vict. = Victring, Das Buch gewisser Geschichten, L. Dyk.
W. = Wanka, Die Brennerstraße pp. Prager Studien, Prag 1900.
W. P. = Wanka, Der Verkehr über den Paß von Pontebba-Pontafel pp, Prager Studien,
Prag 1898.
Z. A. = Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins.
Vorrede.
Wer diesen Band gelesen hat, wird mit Recht eine zweifache Einwendung
gegen dessen Titel erheben Itönnen. Denn es ist einmal kaum Verkehrsgeschichte
allein, die hier gegeben wird; ferner aber sind nach jeder Richtung die Schick-
sale der Mittelalpen ausführlicher, die des westlichen und östlichen Flügels da-
gegen kürzer behandelt. Gewiß hätte sich dies ganze Werk treffender als eine
»Geschichte der Alpenländcr mit besonderer Berücksichtigung der Verkehrs-
wege" einführen können, aber nicht nur des Witzes auch des Titels Seele ist
Kürze, und der Titel Verkehrsgeschichte will daher nur sagen, daß jene unend-
liche Welt der Interessen und Abhängigkeitsverhältnisse, die zwischen dem Ein-
zelnen und dem Staatenleben liegt, hier vorwiegend unter dem Gesichtspunkt
des Verkehrslebens betrachtet worden ist. Die Bevorzugung der Mittelalpen
aber geschah zunächst mehr notgedrungen als absichtlich; weil dem Verfasser
hier die Quellen reichlicher zur Verfügung standen, und er jene auch öfter be-
reist hat, wir meinen aber, daß diese ungleiche Verteilung des Materials in
diesem Falle nicht eigentlich ein schiefes Bild hervorruft, da die wichtigsten ge-
schichtlichen Vorgänge, die für die Alpen in Frage kommen, sich ja vorwiegend
in deren mittlerem Teil abgespielt haben.
In der Vorrede darf der Verfasser von seinen Absichten reden, und dies-
mal um so mehr, da der erste Band des Werkes ganz ohne eine solche ge-
blieben ist. Leicht ist der Entschluß dem Verfasser überhaupt nicht geworden,
diesen zweiten Band zu schreiben. Es ist wirklich ein „weitschichtiger und
spröder Stoff", der hier zu bewältigen ist (Kölnische Zeitung, 7. 1. 1909, Be-
sprechung der Verkehrsgeschichte I. B.), Mosaikarbeit wie jede andere umfassende
Geschichtsschreibung, aber deshalb so langwierig, weil die Steinchen, aus denen
das Bild zusammengestellt werden muß, gar so klein sind, weil daher auch
deren so sehr viele gebraucht werden, und vor allem, weil diese Steinchen nicht
wie anderswo in der Nähe bereit lagen, sondern weil sie erst wie zerstreute
Körner von überall her zusammengesucht werden mußten. Man sagt ja, daß
die aus kleinen Steinen zusammengesetzten Mosaikbilder die besseren sind, und
es wäre dem Verfasser schon recht, wenn dies auch hier zutreffen würde.
Scherrel, Verkehrsgeschlchtc der Alpen. 2. B«nd. 1
2 Vorrede.
Nicht an den Geschichtsforscher in erster Linie wendet sich dies Buch, sondern
an die gebildeten Leser. Die Wirkung, die es auf letztere ausüben soll, das und das
ganz besonders ist es, was der Verfasser als Zweck seiner Darstellung angesehen
hat, und aus diesem Grunde möchte hier noch etwas über die Art gesagt werden,
die bei dem Zitieren, bei der Angabe der Quellen, eingeschlagen worden ist.
Gewiß wird für einen Gelehrten niemals in der weiten Welt der Fall ein-
treten, die Angabe von Quellen bei einem Buche für unnötig halten zu können;
ja er wird bei zwei Büchern von annähernd gleichem Werte, von denen das eine
Quellenangaben enthält, das andere aber nicht, stets dem ersteren den Vorzug,
und zwar den entschiedenen Vorzug geben. Das ist erklärlich und berechtigt
für den gelehrten Standpunkt, weil die Forschung unendlich erleichtert und daher
auch befördert wird, wenn das Überlieferte auf seine Herkunft nachgeprüft werden
kann. Wie steht es aber nun mit der Geschichtsschreibung, die dies alles auch für
schön und wünschenswert hält, die aber doch ein Kunstwerk schaffen will; denn
die Geschichtsschreibung ist stets ein sehr vornehmes Mitglied der Gelehrsam-
keit gewesen. Man sage was man wolle, jene Noten und Anmerkungen wirken,
wenn sie wirklich in dem Umfang angebracht werden, um dem Gelehrten zu
genügen, schon auf den Darsteller wie eine Schnürbrust, auf den Leser aber
wie ein störendes Geräusch und — hart im Räume stoßen sich die Sachen — hin-
dernd auf die Herstellung eines an sich schon umfangreichen Bandes. Es sind auch
recht Große gewesen, die dies letztere offen ausgesprochen haben (Treitschke,
Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert IL Teil; Flathe, Das Zeitalter der
Restauration und Revolution, Vorworte); aber wenn diesen gegenüber, nicht zum
Schaden der Wissenschaft, jeder weitere Anspruch vor dem Gefühl der An-
erkennung und der Dankbarkeit von selbst verstummt ist, so muß doch auch
den Kleinen das Recht zur Seite stehen, für aufrichtig und sicher gehalten zu
werden, so lange nicht das Gegenteil erwiesen ist, jene Forderung, die schon
Lessing für sich in Anspruch nahm, als er noch selbst zu diesen Kleinen ge-
rechnet wurde (Briefe antiquarischen Inhalts, II. Teil 37). Es ist kein freund-
liches Schicksal, wenn man es ernst meint, nicht auch ernst genommen zu werden,
und wenn ein einflußreicher Hochschullehrer dem Verfasser sagte, der I. Band
der Verkehrsgeschichte käme für ihn wegen des Fehlens der Quellenangaben über-
haupt nicht in Frage, so hat dieser darüber seine eigenen Gedanken.
Die Anmerkungen sind daher in dem Buche derart angebracht worden, daß
zunächst überall da, wo der am Wege der Darstellung stehende Gedanke zum
abseits führenden Gedankengange wird, dieser in einem Anhange am Schluß des
Buches aufgenommen ist. Alles andere und insonderheit die Quellenangaben,
die aber trotzdem, lediglich wegen ihres großen Umfanges, nicht auf Vollständig-
keit Anspruch machen können, erscheint dagegen als Fußnoten und zugleich
unter Anwendung von Abkürzungen, für die am Beginn des Buches die nötigen
Erklärungen gegeben sind. Letzteres Verfahren verursacht wohl einige Un-
Vorrede. 3
bequemlichkeiten, aber es ist ja überhaupt ein zeitraubendes Gebiet, auf das sich
der Queiienforscher nun einmal begeben muß.
Und noch ein zweites mag hinsichtlich der Quellenangaben gesagt sein
Bei der Wanderung durch die weiten Räume der Alpengeschichte glänzte dem
Verfasser einmal unter alträtischem Schutt und Moder ein helles Steinchen ent-
gegen, eine Äußerung des unvergeßlichen Alpenforschers Steub, als dieser ein-
mal sagte, „daß das Vergnügen des Zitierens doch überhaupt auf Gegenseitigkeit
beruhe" (Steub, Zur Ethnologie der deutschen Alpen, Salzburg 1887, S. 48). Es
ist dies ein Vorbehalt, den der Verfasser zu dem seinigen macht. Der finger-
fertigen Kritik gegenüber möge dann auch noch betont werden, daß der Forscher
gewiß die neuesten sein Gebiet betreffenden Entdeckungen und Ansichten stets
mit besonderem Interesse zur Kenntnis nehmen wird, daß diese aber durchaus
nicht überall Trumpf sein müssen, und daß somit deren Unkenntnis nicht ohne
weiteres einen Fehler bedeuten kann. Das Gegenteil gäbe eine schlechte Per-
spektive für alle wissenschaftliche Arbeit; denn da doch keiner an dem Ende
aller Dinge zu stehen glaubt, und keiner jemals ohne Nachfolger bleibt, so würde
dann jeder an seinem eigenen Werke nur eine Totengräberarbeit verrichten.
Mit Karten ist das Buch nicht versehen. Der Leser wird mit den Karten
aus einem guten Atlas auskommen; wer sich aber mit einzelnen Fragen genauer
beschäftigt, der wird am besten die Spezialkarten zu Hilfe nehmen, wie sie sich
in jedem alpinen Reisehandbuch finden. Ein Index kann dem III. Bande bei-
gegeben werden.
Heidelberg a. N., April 1914. DER VERFASSER.
!•
\
Drittes Buch
Das Mittelalter in den Alpenländern.
I. Kapitel.
Die Naturkräfte in der Geschichte der Alpenländer.
Je häufiger man sich mit der Geschichte der Alpen beschäftigt, je tiefer Die Wirkung
man an den einzelnen Stellen in sie eindringt, um so stärker macht sich dabei H^oche^ebi^rge""
immer wieder ein und dieselbe Beobachtung geltend. Sie läßt sich in ihrer
Summe dahin zusammenfassen, daß in dem Schicksal der Alpen die Veränderungen
in der Gestaltung der Erdoberfläche auch in der historischen Zeit eine viel größere
Rolle als anderswo spielen, daß im Hochgebirge nur zu oft allein die Kenntnis
solcher natürlicher Vorgänge den Schlüssel für das Verständnis der Vergangen-
heit abgeben kann, und daß somit auch die eigentliche Geschichtsbetrachtung
hier besonders stark auf jenes rein geographische Moment zu rücksichtigen hat. Es
ist eben in den Alpen nicht so wie in der Ebene und im Mittelgebirgsland, wo
der Anbau des Menschen die wichtigsten Veränderungen in dem Landschaftsbild
hervorruft, und selbst an den Gestaden des Meeres treten innerhalb der wenigen
Jahrtausende, die der historische Blick zu umspannen vermag, die geographischen
Umgestaltungen in ihrer Mannigfaltigkeit zurück gegen diejenigen, die man in
gleicher Weise im Hochgebirge beobachten kann.
Dort wie hier ist es vorwiegend das Wasser, das diese Wirkung hervor-
bringt. Während aber am Meere alle einschneidenden Veränderungen doch immer
nur von dem gleichen Vorgang, von der Hebung und Senkung des Meeresspiegels,
ausgehen, gestaltet sich im Hochgebirge der Einfluß jenes Elementes schon des-
halb mächtiger, weil die Wasserläufe bei den großen vorhandenen Höhenunter-
schieden, bei ihrem ungeduldigen Fall von den höchsten Gipfeln bis hinab zu
den anliegenden Flachländern, eine viel stärkere lebendige Kraft zu entwickeln
vermögen. Ist daher hier schon an sich das Wasser der Träger einer viel größeren
Kraft als anderswo, so sind weiterhin deren Äußerungen und Launen ebenso
wechselnd und unregelmäßig wie das Wetter selbst, das die Erde mit Millionen
Wassertropfen versorgt. Diese ununterbrochenen, unregelmäßigen und gewaltigen
Lebensregungen der Materie bekommen nun aber alle Teile des Gebirges gleich-
8 I. Kapitel.
mäßig ZU fühlen; unausgesetzt, jahraus jahrein, an Sommertagen und in Winter-
nächten, setzen sie ihnen zu, dem nacitten Gestein der höchsten Gipfel wie den
Bodenschichten der steilen Talhänge, nicht minder aber auch den Sohlen der
kurzen und langen, der schmalen und breiten Alpentäler, auf die der Mensch zum
Wohnen angewiesen ist und wo wir daher die in den Alpenländern sich abspielenden
geschichtlichen Ereignisse vorwiegend zu suchen haben.
Verheerende Wenn nun schon hierdurch zu allen Zeiten die Veränderung in der Ge-
Veränderungen Staltung des Erdbodens im Hochgebirge viel rascher vor sich geht, so muß eine
der Landschaft, solche jedoch in noch viel umfangreicherem und tiefgehenderem Maße Platz greifen,
sobald besondere Ursachen und Unregelmäßigkeiten auf jene gewaltige Macht des
Wassers einwirken. Auch am Meere und in den Flachländern sind oft die Über-
schwemmungen und Erdbeben schweren geschichtlichen Ereignissen gleichwertig
gewesen; nirgends aber treten jene Naturerscheinungen an sich so häufig ein und
werden auch in ihren Folgen so gewaltig und einschneidend wie in den hohen
Bergen, hier, wo oft eine einzige übermäßig laue Nacht das Wasser plötzlich in
verheerender Menge zu Tale führt, wo ein einziger schwacher Erdstoß, der im
Niederland wirkungslos bleibt, einen Berghang zu Falle bringen kann, der durch
Verwitterung gelockert oder durch das abfließende Wasser unterwaschen worden
ist. Es ist Tatsache, daß die Geologie und die Geschichte in dem Schicksal
der Alpenländer so nahe aneinandertreten wie vielleicht in keinem andern Gebiet
der Erde. Nicht minder aber haben die Lawinen und Vermurrungen, die Über-
schwemmungen und Anschwemmungen, die Bergstürze und Erdbeben, wie sie in
historischer Zeit tatsächlich stattgefunden haben oder wahrscheinlich sind, und
der Kontrast jener gewaltigen Naturereignisse zu dem Können des Menschen es
mit sich gebracht, daß die Mächte der Geschichte in den Alpenländern zu allen
Zeiten ein langsameres Tempo eingeschlagen haben. Dieser Umstand macht die
Darstellung ebenso anziehend wie schwierig; er bildet aber insbesondere ein so
selbständiges, so inhaltreiches, so folgenschweres Merkmal der Alpengeschichte,
daß diese allein deshalb mit einem besonderen Maße gemessen werden muß,
während ihre Wichtigkeit für die Allgemeingeschichte nunmehr seit dem Beginn
des Mittelalters bis auf den heutigen Tag sich ohne weiteres darin zu erkennen
gibt, daß die innerste Zone des großen europäischen Kulturkreises räumlich mit
dem Alpengebirge zusammenfällt.
Auch die urkundlich verbürgten Nachrichten über Naturereignisse, die all-
mählich oder mit einem Schlage das Landschaftsbild umgestaltet haben, liegen
wie ein Netz über das ganze Alpengebiet gebreitet. Es geschieht aber doch mit
vollem Recht, wenn wir erst an dieser Stelle von ihnen reden, da das Altertum
kaum von einem einzigen derartigen Fall ein Wort verlauten läßt. Zugleich mit
dem Beginn des Mittelalters treten sie dagegen an das Tageslicht. Es mag sein,
daß der geschichtliche Stoff jetzt überhaupt von Jahrhundert zu Jahrhundert
breiter und vielseitiger wird; der Hauptgrund liegt aber doch in der verschie-
Die Naturkräfte in der Geschichte der Alpenländer. Q
denen Denkungsweise dieser beiden Zeitperioden, der Antiice, die an sich wenig
zum Erstaunen neigte, und des Mittelalters, in das wir jetzt eintreten, in dessen
gebundener Seele sich das geschichtliche Denken und das religiöse Empfinden
gegenseitig durchdrangen, das daher auch von Anfang an jedes außerordentliche
Naturereignis auf ein unmittelbares Walten der Gottheit zurückzuführen pflegte
und die Kunde davon schon deshalb der Nachwelt überliefern wollte.
In den Westalpen rührt die eigentümliche Form des Mont Granier bei
Chambery von einem Bergsturz her, der hier im J. 1248 eine Anzahl Dörfer
verschüttete, und an der Straße des Gr. S. Bernhard bei S. Maurice liegt heute
der Ort Evionnaz an derselben Stelle, wo im J. 563 die Stadt Epaunum
durch ein Erdbeben unterging, in dessen Folge damals sogar die Wasser des
Genfersees aus ihren Ufern traten und in Genf selbst die Rhonebrücke zerstört
wurde'). Auch im J. 1835 kam dort vom Dem du Midi wieder ein gewaltiger
Bergsturz herab. Am Südfuß des Monte Rosa wurde vor Jahrhunderten das
Dorf Macugnaga verschüttet, und an der Gemmi hat 1897 ein ähnliches Ereignis
stattgefunden. Ein Teil der mit menschlichen Wohnstätten bebauten Ufer des
Zugersees ist in den J. 1435, 1494 und 1S87 plötzlich in die Tiefe versunken.
Im Mittelalter war am Bodensee nicht Bregenz sondern Rheineck die Mündungs-
stadt des Rheines, der inzwischen sein Delta weit vorgeschoben hat 2). Noch
durchgreifender hat sich aber am südlichen Ausgang der bündner Straßen die
Landschaft in historischer Zeit umgestaltet. Hier bezeichnet zunächst dicht bei
Chiavenna ein mit ungeheuren Steinblöcken bedeckter und jetzt von hohen
Kascanien beschatteter Komplex die Stelle des großen Ortes Plurs, der 1618
durch einen Bergsturz begraben wurde, und der vorher in den Nachrichten
über den Septimerweg oft genannt wird. Südlich Chiavenna aber erzählt
dann der Name Samolaco davon, daß hier einst die Nordspitze des Comersees
lag, und wo demnach im römischen Altertum der Landweg mit dem Wasserweg
vertauscht werden mußte. Die Bestimmung dieser Station erfüllte dann später,
wie gleichfalls der Name zeigt, das eine Stunde abwärts gelegene Riva, während
heute bereits der nördlichste Teil jenes Sees (Lago di Mezzola) derart versandet
ist, daß die Schiffahrt erst in Colico beginnen kann; die Geschiebe der Mera
haben demnach hier allein in historischer Zeit eine Strecke von fast 20 km aus
einem Wasser- in einen Landweg verwandelt-^). Ähnliche Verhältnisse finden
sich übrigens auch an der Nordspitze des Langensees.
In der eigentlichen Hochgebirgsregion liegt dagegen ein ganz zweifelsfreier
Anhalt für solche Veränderungen in der Wegbarkeit an den Jochen der Oetztaler
Alpen vor. Hier ermöglichen die Verbindung zwischen dem Oetztal und dem
Schnalsertal das Niederjoch und das Hochjoch, von denen das Niederjoch (3017 m)
höher, das Hochjoch (2885 m) niedriger liegt, der Gebrauch des letzteren da-
gegen einen eineinhalbstündigen Umweg erfordert. Von diesen beiden Über-
') Oe. 1. S. 238. 2) Schu. S. 26. ^) Oe. II. S. 177. A. 1.
10 I- Kapitel.
gangen war nun in früheren Zeiten das Niederjoch der allein betretene, vteil
die Gletscher sich hier niemals im Vorschreiten befanden, während das Hoch-
joch wegen des berüchtigten Hoch- Vernagt -Ferners ganz unpassierbar war.
Jetzt, nachdem sich dieser Gletscher zurückgezogen hat, ist dagegen der Weg
über das Hochjoch mindestens eben so belebt und betreten wie der über das
Niederjoch. Die tiefsten Furchen ebenso in der Geschichte des Passeiertales
wie in der von Meran selbst haben nicht die von Menschenhand heraufgeführtea
Ereignisse, sondern die wiederholten Ausbrüche des Kummersees (bei Moos),
zwischen 1401 und. 1772 nicht weniger als sieben, gegraben '), wie überhaupt die
Forschung in den Alpen nicht bloß bei der Suche nach den alten Römerpunkten,
sondern nicht minder auch bei der Erklärung mittelalterlicher Ereignisse zu
allererst die Launen der Bergwasser oder irgendwelche andere Verände-
rungen in der Landschaft in Rechnung zu ziehen hat. Deutlich ist dies der
Fall bei der Bestimmung von Vipitenum, Agunt und Teurnia, wie südlich von
Sarnio und ad Palatium, aber auch bei der Untersuchung, welche Stelle der
langen Berner Klause Friedrich Barbarossa im J. 1155 wirklich gesperrt fand, ge-
langt man nicht recht zum Ziel, wenn man sich nicht zugleich zu der Annahme
versteht, daß die Talwände dort in späterer Zeit eine Umgestaltung erfahren
haben müssen 2).
Bei Sterzing und noch ausgesprochener bei Lienz sind die Überschwemmungen
und die Maßregeln, die zu deren Verhütung nötig wurden, das ganze Mittelalter
hindurch ebenso wichtig wie alle anderen Ereignisse der Stadtgeschichte. Das
berühmte mittelalterliche Spital in Klausen, das sich einst nördlich des Ortes
am Eisak befand, haben dessen Überschwemmungen schon längst von jener Stelle
vertrieben 3), und noch einschneidender ist dies eingetreten bei der ersten großen
kirchlichen Gründung in der Bozner Gegend, dem im 12. Jahrhundert gestifteten
Augustiner-Kloster, das ursprünglich wenig entfernt von der Stelle erbaut wurde,
wo Eisak und Etsch zusammenfließen. Wer heute das in der Nähe Bozens
am Talferufer liegende Schloß Maretsch betritt, wird erstaunen, wenn er dessen
Kellermauern überall mit Schießscharten versehen sieht"*); und da dies ein Be-
weis dafür ist, wie gewaltig sich hier der Boden erhöht hat, so wird man es auch
glaublich finden, daß jenes alte, in einer gefährdeteren Zone gelegene Kloster
„in der Aue", nachdem es volle 200 Jahre dort in Gebrauch gewesen war,
schließlich verlassen werden mußte und dann nach und nach gänzlich verschüttet
und begraben wurde, so daß man heute nicht einmal die Stelle genau kennt, wo
es einst gestanden hat^). Aber auch das Schicksal der anderen hier in der Nähe
gelegenen Orte ist in den früheren Jahrhunderten tief abhängig von den Launen
und Wirkungen des Wassers. Voran Bozen selbst, dessen Verbindung mit dem
Sarntal die Talfer wiederholt und im 15. Jahrhundert ganze Jahrzehnte lahmlegte,
dessen Wasserbauten eben gegen die Talfer hin schon im 13. Jahrhundert der
') Vgl. B. W. S. 69 f. 2) Vgl. W. S. 93. 3) n. a. S. 8f. ^) Jo. S. 18. *) Atz. S. 230f.
Die Naturkräfte in der Geschichte der Alpenländer. H
teuerste Besitz der Stadt waren, weil, wenn einem Feinde ihre Zerstörung ge-
lang, der Ort dann „geradezu ersaufen" mußte'). Bereits aus dem J. 1041 er-
fahren wir, daß eine Überschwemmung hier die Weinberge überall fast bis auf
den letzten Grund zerstörte und abwärts in Verona schließlich so stark auftrat,
daß die Menschen dort auf den oberen Stockwerken des alten römischen Amphi-
theaters Schutz suchen mußten-). Auch die Gegend von Leifers befindet sich
infoige der Schuttablagerungen, die hier der aus dem Brantental kommende Bach
herabführt, in fortwährender Veränderung, und südlich hat der Ort Neumarkt
seinen Namen nur daher, weil er im J. 1222 infolge einer Überschwemmung
gänzlich neu aufgebaut wurde.
In den Ostalpen ist aber wohl das Erdbeben bei Villach vom J. 1348
das gewaltigste bekannt gewordene Ereignis dieser Art, als am 25. Januar um
die Vesperzeit sich bei hellscheinender Sonne der Himmel plötzlich verfinsterte
und inmitten von Wolken von Schutt und Staub, auch dort, wo die Zerstörung
nicht eigentlich hinkam, die Bäume im Walde aneinanderschlugen, die Glocken
von selbst ertönten und ringsherum in das Angstgeschrei der Menschen hinein-
schalten. Nicht allein bei Villach selbst, wo die Zerstörung am umfangreichsten
war, sondern auch weit und breit in der Umgebung sind damals einzelne Schlösser
und Dörfer untergegangen ■5), so auch eine Ortschaft in der Nähe von Primiero
(Piu Baco). Im J. 1580 legte ein Hochwasser die Murschiffahrt gänzlich
lahm, und auch in Salzburg wurde im J. 1669 ein Stadtteil von den herab-
fallenden Wänden des Mönchsbergs begraben. Besonders aber ist der nach
Venetien zu abfallende Teil der Alpen ein Gebiet, das jene Naturereignisse seit
alters her nicht zur Ruhe haben kommen lassen. Die Zahlen 1692, 1776, 1814
und 1824 bezeichnen die Jahre, wo am Tagliamento (Borta), in Tramonti di sotto,
bei S. Vito im Ampezzotal und wiederum bei Primiero infolge Bergstürzen
ganze Ortschaften zu Grunde gingen. Besonders groß ist dann aber auch in
jenem Gebiet die Chronik der verheerenden Überschwemmungen, von denen
in sechs Jahrhunderten (1271 — 1851) ganze 29 bekannt sind''); bezeichnender-
weise wissen wir aber bereits am Beginn des Mittelalters von einer solchen;
es ist diejenige vom J. 585, die zugleich ganz Italien und besonders Verona
heimsuchte^).
Es ist auch zu erwähnen, daß die Wissenschaft bei diesen umfangreichen
Zerstörungen oft in besonderer Weise der Leidtragende gewesen ist; denn wenn
1421 in S. Leonhard (Passeier)^) und 1702 in S. Wolfgang (Fusch) das ganze
Archiv mit Stumpf und Stiel durch ein solches Ereignis vernichtet wurde, wenn
einst vom Schloß Tirol mehr als 30 Zimmer'') und vom Schloß Runkelstein
(1868) ein Teil des Gebäudes mit seinen berühmten Fresken in die Talschlucht
versanken, so hat auch hier nur ein plötzlicher Stoß der Naturkräfte gegen die
') Atz. S. 12. 2) Die größeren Jahrbücher von Altaich. 2. Au. L. Dyk. S. 27. 3) Kr. S. 160.
*) Z. A. 1900. S. 369, 371. 5) P. D. S. 63. «) B. W. S. 302. ') Jo. S. 99.
12 I- Kapitel.
Fundamente menschlicher Wohnungen geschichtliche Reste kostbarster Art un-
wiederbringlich dem Auge der Forschung entzogen.
Die Tradition. Auf dem tatsächlichen Zustand, der den Menschen im Hochgebirge immer
wieder von neuem die Allgewalt der NaturkräFte und den durch diese verursachten
Wechsel in den menschlichen Wohnplätzen vor Augen führt, beruht es nun auch,
daß die Sage überall mit mächtigen Fangarmen in dieses Gebiet der Wirklichkeit
eingedrungen ist und gerade in diesem Falle dem Geschichtsforscher oft in recht
unliebsamer Weise seine Kreise stört. Viel häufiger als im Flachland begegnen
wir in den Alpen den Sagen von verschütteten Orten, von verschwundenen Seen,
von unter dem Eise begrabenem Gartenland, und man muß sogar zugeben, daß
der Volksmund dabei zuweilen nicht eigentlich etwas Unmögliches behauptet,
sondern daß er dies vielmehr nüchterner und prosaischer, als sonst die Phanta-
sie zu arbeiten pflegt, vorbringt. Denn der größte Teil dieser Annahmen liegt
naturgeschichtlich durchaus in dem Bereich der Möglichkeit, und es ist eben
nur zweifelhaft, ob die Zustände, von denen die Sage redet, noch in solche
Zeiten hinaufreichen, in denen bereits die Sonne der Geschichte in den Alpen
geleuchtet hat. Und diese Frage wird dadurch noch schwieriger, daß einige jener
Traditionen, wenn auch nicht völlig erweisbar, doch der Wahrscheinlichkeit sehr
nahe kommen, und daß diese letzteren gerade an solchen Punkten haften, die
mit der Wegbarkeit der alten Alpenstraßen in engstem Zusammenhang stehen.
Es ist eine Annahme, und zunächst nur eine solche, daß die Hauptalpen-
straße des Mittelalters, der Gr. S. Bernhard, damals viel wegefreundlicher als
jetzt gewesen ist, daß einst, östlicher, von Zermatt nach Evolena, wo sich heute
die Gletscher des Monte Rosa überallhin ausbreiten, ein betretener Weg über
den Dent Blanche, und daß eben ein solcher aus dem Wallis über die Berner
Alpen nach Grindelwald führte')- Es bedeutete aber doch eine Überraschung,
und das Bewußtsein von den Grenzen menschlicher Schlußfolgerungen drängt
sich stärker auf, wenn in dem heißen Sommer des J. 1911 hier ganz in der
Nähe, am Monte Moro- und Antronapasse, die schneeverzehrende Sonnenglut
plötzlich wirklich sonst unter Eis und Firn vergrabene, dauerhaft gearbeitete
Pfade auf weite Strecken hervortreten ließ^). In Gries a. Br. meinen die Leute,
daß der Brennerübergang bis zum J. 1000 unserer Zeitrechnung nicht wie
heute über den wegsamen und scharf in das Gebirge einschneidenden Brenner-
sattel, sondern viel höher über eines der westlich von diesem gelegenen Joche
gegangen sei. Gewiß eine kühne Behauptung; es giebt aber doch zu denken,
daß eben der Boden dieses Brennersattels früher nachweisbar von umfangreichen
Seen ausgefüllt gewesen ist. Daß der Rhein einst nicht durch den Bodensee
sondern durch den Walen- und Zürichsee weiterfloß, ist eine Tatsache, deren
Spuren heute noch ebenso unverwischt vor Augen stehen, wie das Dasein von
Totengebein unter dem Boden bezeugt, daß einst ein Mensch daselbst begraben
') Da. 1. B. S. 92, 124. 2) Dresdener Anzeiger, 14. 3. 1912, die Walliser Alpen in römischer Zeit.
Die Naturkräfte in der Geschichte der Alpenländer. 13
wurde; wie aber der Richter sich hier mit dieser einen Tatsache nicht zufrieden
geben i<ann, so tcommt für die Geschichte der Alpenstraßen auch dort alles
darauf an, zu wissen, wann jener Wechsel stattfand. Derselbe Gesichtspunkt
wiederholt sich im kleinen im Val Lagarina südlich Trient (»Seetal"), wo noch
im Mittelalter die Sage ging, daß hier einst ein See bestanden habe')? und im
Oetztal steht dieselbe Annahme im engen Zusammenhang mit der Art, wie man
sich dessen Besiedelungsgeschichte im Mittelalter vorzustellen hat-).
Wer wird es beweisen, daß am Schluß des Martelltales, wo heute der Zu-
fallferner herabkommt, einst ein Kloster gestanden hat, ob die Römerstation
Maja durch einen Bergsturz begraben wurde oder nicht, und ebenso ob die in
Timau südlich des Ploeckenpasses inmitten eines Trümmerfeldes gelegene Kirche
Zum alten Gott ihren Namen erhielt, weil sie einst von einem Dorfe umgeben
war, das durch einen Bergsturz unterging, oder ob diese einsame Lage nur die
Veranlassung zu jener Sage werden mußte. Es ist schon so, daß fast überall,
wo einst die Straße höher als jetzt lief, der Talgrund damals ein See gewesen,
daß überall da, wo ein noch so altes Schotterfeld sich ausbreitet, ein Ort unter-
gegangen sein soll; gewöhnlich ist hier auch einmal nach Jahrhunderten eine
Glocke ausgegraben worden, die nur leider zur Zeit bereits wieder abhanden ge-
kommen ist'), und so geht es weiter bis in das Uferlose, bis zu den Wänden
des Schiern, die einst von den Wellen eines großen Sees umspült waren, und
an denen noch eiserne, zum Anbinden der Kähne bestimmte Ringe herausragen
sollen.
Aber selbst diese Vorstellungskreise tragen ihr Teil bei zu einem tiefgehen- Die Natur-
,>, ■ , . , ■ ..V, j u • u • kräfte und der
den Charakterzug der Alpenbevolkerung und somit auch zu jener bereits er- Mensch.
wähnten besonderen Art, wie die Mächte der Geschichte in den Alpen arbeiten.
Schon an sich ist die Natur, wenn sie sich in der Hauptsache nur großartig und
imponierend zeigt, nichts weniger als geeignet, die menschliche Tatkraft zu
fördern. Wo sie aber wie hier im Hochgebirge noch dazu mit den Werken
von Menschenhand so gewaltsam umgeht, wo sie diese so oft hindert oder zer-
stört, da stellt sich auch nur zu leicht das gänzliche Mißtrauen gegen das Ge-
lingen des kühnen Menschenfleißes ein, und dieser selbst wird langsamer im
Denken, Entschließen und Handeln. Begegnet man doch schon auf jedem Gang
durch ein Gebirgstal den Merktafeln, die es zeigen, wie jemand plötzlich von
einem gewaltsamen Tode ereilt wurde, und daß sich hier die Natur selbst die
einfachsten Erfolge menschlicher Arbeit um einen viel höheren Preis abkaufen
läßt; so verzeichnet beispielsweise das Totenbuch des dünn bevölkerten Tales
Moos im Hinterpasseier weit über 300 Personen, die einzeln innerhalb 200 Jahren
auf eine solche Weise zu Grunde gingen ^), und es war auch nur ein solcher Fall,
aber einer, der seinen Dichter gefunden hat, als der Mönch Notker (Anfang des
10. Jahrhunderts) im Martinstobel bei Rorschach vor einem Verunglückten stand
') Oe. 11. S. 214. 2) St. S. 26. J) N. A. S. 79; Z. A. 1902. S. 81. *) B. W. S. 337.
14 I- Kapitel.
und ihm dieser Anblick den Keim zu dem Liede „Media vita in morte sumus"
in die Seele legte.
Auf jenen Einfluß, der für alle Zeiten und überall Geltung hat, ist daher,
ebensosehr wie auf die schwere Zugänglichkeit eines Gebirgslandes an sich, das
langsame Bahnbrechen des Fortschritts, die Rückständigkeit der Kultureinrich-
tungen, das Festhalten an alten Sitten und die Unduldsamkeit bei den Gebirgs-
bewohnern zurückzuführen; alles in allem eine retardierende Macht auf den
Gang der Geschichte, die jedoch gerade in den Alpen infolge der Größe des
Gebirges sich zu besonderer Stärke entwickeln konnte, und die wegen der Lage
dieses Gebirges inmitten eines weiten geschichtlichen Schauplatzes von Jahr-
tausenden um so wichtiger werden mußte. Und so ist es nun auch; denn wir
werden tatsächlich hier bei dem Suchen nach Resten alter Kultur durch eine
derartig reiche Ausbeute, durch einen so vielseitigen Befund überrascht, daß man
dieses Gebirge auch heute noch als das Raritätenkabinett Europas bezeichnen
kann, wie auch andererseits das Wesen jener konservierenden Wirkung sich an
den entlegensten Stellen des Gebirges am deutlichsten enthüllen wird, weil es
hier an seinen letzten Konsequenzen angelangt ist.
Die Reste alter Die bekanntesten Fälle dieser Art liegen nun zunächst auf ethnographischem
evo erung. Qgjjjgj^ Fälle, für die sozusagen als monumentales Beispiel das Dasein der Latiner,
der unvermischten Nachkommen der alten römischen Provinzialbevölkerung, gelten
kann. Wie diese Bevölkerung nach und nach auf ihren heutigen Stand reduziert
wurde, das gehört an eine andere Stelle des Buches; wichtig ist dagegen in
diesem Zusammenhange, d. h. in welcher Weise überhaupt das Hochgebirge die
Erhaltung dieser alten Bevölkerung begünstigt hat, die Lage der Punkte, wo
jene Reste auch heute noch zu finden sind. Diese ziehen sich in einer langen,
wenn auch unterbrochenen Kette von den Tälern des Vorderrheines bis zu den
Vorbergen des Triglav. Es ist dies somit eine Linie, die in der Mitte des
Gebirges läuft, die aber doch weder, wie man vielleicht erwarten könnte, schon
an dem höchsten Teil des Gebirges, am Montblanc beginnt, noch sich bis in
die Ostalpen fortsetzt, wo die Flächenausdehnung des Gebirges am umfang-
reichsn ist.te Wohl aber befindet sich das Gebiet jener Latiner in demjenigen
Mittelstück der Alpen, in dem die Mannigfaltigkeit, Vielseitigkeit und Unregel-
mäßigkeit am stärksten ausgeprägt ist, und wo daher die geographischen Kräfte
den menschlichen Einflüssen am erfolgreichsten entgegenwirken konnten. Es
liegt weiterhin in dem Wesen jener drei Völker, der Italiener, der Deutschen
und der Latiner selbst, begründet, daß die Widerstandskraft der letzteren gegen
die Italiener an sich geringer sein mußte als gegen das deutsche Volkstum, und
daher sehen wir denn auch heute die Latiner vorwiegend in solchen Alpentälern,
die zwar nach Norden offenstehen, nach Süden hin dagegen durch hohe Gebirgs-
riegel abgeschlossen sind. Nur die latinischen Täler Friauls öffnen sich nach
Süden; diese liegen jedoch wiederum so weit von dem Mittelpunkte des ita-
Die Naturkräfte in der Geschichte der Alpenlinder. 15
lienischen Volkstums entfernt, daß dessen Einfluß hier nur weniger nachhaltig
wirken konnte.
Aber auch sonst sehen wir heute noch innerhalb der Alpenbevölkcrung
deutlicher und weniger deutlich die verschiedenartigsten Typen und Spielarten,
ein Zustand, der in früherer Zeit begreiflicherweise noch viel bunter und mannig-
faltiger als heute gewesen ist. So zeigen die Einfischtaler (Wallis) einen ganz
besonderen, fast semitischen Typus; die Leute des Haslitales werden als Friesen
oder Sachsen angesprochen '), und auch die Schwyzer unterschieden sich wenig-
stens noch im fünfzehnten Jahrhundert in Sitte und Sprache scharf von allen
ihren Nachbarn -). Die Leute um Bormio, aber auch nur diese, sprechen genau
denselben Dialekt wie die Einwohner von Florenz; im Vintschgau herrscht
zwischen Latsch und Laas ein ganz eigentümlicher mongolischer Schädelbau-'),
während nördlich die Leute im Schnalsertal sich trotz ihrer deutschen Sprache
fast wie Romanen ausnehmen. Der hinterste Teil des Sarntales zeigt in allem
und jedem auch heute noch kaum ein anderes Bild wie vor 500 Jahren ■*), und
reine Bajuwaren in Tirol kann man heute zwar nicht am Brenner oder im Puster-
tal, wohl aber an dem letzten entlegenen Ende des langen Gailtales (Lessach-
tal) antreffen. Die Bewohner des Tuxertals sind ganz andere Leute als die ihnen
benachbarten Zillertaler; das Trentatal am oberen Isonzo, die Gemeinde Krakau
(bei Murau) und wie viele andere noch haben ihren besonderen Menschenschlag.
Besonders deutlich, weil nicht an einem einzigen, sondern an mehreren
Punkten in gleicher Weise, tritt nun auch jene Schwerflüssigkeit des ethnogra-
phischen Elementes in den Tälern der sogenannten Walser zu Tage. Solche
finden sich heute in Vals-Platz südlich Ilanz, im Davosertal, im Oberhalbstein 5),
in Vorarlücrg und bei Oberstdorf, und schließlich, am weitesten östlich, in Tirol,
wo das eine Tal am Brenner bei S. Jodok, das andere im Pustertal bei Mühlbach
abgeht. Auch das Patznaun ist einst zum Teil von solchen Waisern bewohnt
gewesen^). Wir brauchen hier nicht zu untersuchen, zu welchem deutschen
Stamm diese Walser gehören, oder zu welchem Zeitpunkt die so gefärbten
Steinchen in das Völkermosaik der Alpen eingefügt wurden, auch soll zunächst
nicht einmal gesagt werden, daß überall, wo dieser Name erscheint, er den
gleichen Ursprung haben muß, da ja allein schon die allgemeine Bezeichnung
vallis für Tal da und dort ebendenselben Namen hervorgerufen haben kann'^);
das ist aber Tatsache, daß in einigen der genannten Täler einmal während des
Mittelalters eine deutsche Bevölkerung einzog, die aus dem Oberwallis kam,
und daß deren charakteristische Merkmale in Sprache, in Tracht und im Kultus,
d. h. in der Verehrung des gleichen Heiligen (Theodul, Jodok), bis heute
noch standgehalten haben.
') M. Schw. S. 271. 2) Z. A. 1903. S. 59. -ä) M. D. A. I. T. 4. Au. S. 261. "«) N. A. S. 105f.
5) PI. S. 43. A. 1. 6) F. 1906. S. 144. ■?) So z. B. bei der Valser Alpe im Passeier. Vgl. B. W.
S. 253.
16 I- Kapitel.
Rückständige Aber auch andere, über das ethnographische Gebiet hinausgehende Vor-
erscheinungen stellungslcreise haben in den Alpen zuweilen eine besonders lange Lebenskraft
in den Alpen, entwickelt oder dort eine Zuflucht gesucht, nachdem ihre Zugkraft anderswo
längst gebrochen war. Der Bischof von Aventicum rechnet im J. 594 trotz
aller Frankenkönige noch nach byzantinischen Kaisern '), und die berühmte, noch
heute in Gebrauch stehende Kultstätte S. Romedio ist deshalb ein ganz einzig-
artiger Punkt, weil ihre Entstehung auf das älteste christliche Anachoretentum
zurückgeht. Die Waldenser haben in den stillen Tälern der Westalpen jahr-
hundertelang ihr Leben gefristet, und es kann uns daher auch nicht überraschen,
wenn im J. 1781, nach dem Toleranzedikt Josephs IL, auf einmal in den
Ostalpen eine ganze Anzahl unversehrter evangelischer Gemeinden zum Vorschein
kam. In Buchenstein (Dolomiten) bestand bis in das 19. Jahrhundert eine Sekte
mittelalterlicher Flagellanten^), und die stille Wildschönau (Unterinntal) ist heute
noch der Schauplatz uralter Sitten und Rechtsbräuche •^).
Es ist aber doch auch hier wie überall; in den Lücken und Spalten, wo
der frische Luftzug des Fortschritts nicht hinzudringen vermag, da müssen um
so stärker wie ein böses Unkraut die Mächte der Rückständigkeit und des Aber-
glaubens sich ausbreiten, und es ist besser, daß derjenige, der Menschensiolz
und Menschenglück sucht, nicht allzutief in jene Kulturverhältnisse hineinschaut^).
Wir können es dem Abt von Marienberg schon glauben, wenn er im 17. Jahr-
hundert der Regierung in Innsbruck berichtet, das die latinische Sprache in
den Nebentälern des Vintschgaues damals „dermaßen grob war, daß sie weder
geschrieben noch gelesen, und überhaupt von niemand, der nicht darin geboren
war, erlernt werden konnte^)." In Innsbruck selbst aber lebte später, zu den-
selben Zeiten, als Lessing seine Werke in die Welt sandte, als Vorsteher der
Landesbibliothek ein verdienter und unterrichteter Forscher, Roschmann, sicher-
lich der größte Gelehrte, den es damals in Tirol gab; aber selbst dessen Schriften
sind in einem Deutsch geschrieben, fast so kraus und wirr wie es in den mittel-
alterlichen Chroniken steht ö). Aus Klösterle am Arlberg nahm ein weitberühmter
„erprobter Geistesmann" besonderer Art, der Pfarrer Gaßner, seinen Ausgang, der
noch um 1775 an Tausenden und Abertausenden Wunderkuren und Teufelsaus-
treibungen vornahm'^), und es paßt zu dieser Nachbarschaft, daß auch in Landeck
die letzte Hexenverbrennung stattfand, ein Ereignis, wie es trüber und mittel-
alterlicher nicht gedacht werden kann (1773).
Die Wir kommen nun zu jenem andern Gesichtspunkt, der gleichfalls geschichtlich
Wirkun^g dtr "»cht ohne Folgen geblieben ist, bei ,dem die verbergende, schützende Wirkung
Alpen, der Berge von vornherein erkannt und bewußtermaßen zu einem bestimmten
Zwecke ausgenutzt wurde. Eine derartig tragische Bestimmung, wie sie den
Alpen während der Völkerwanderung zugefallen war, als dieses Gebirge wie
') Quellenkunde, Sammlung Goeschen, I. B. S. 43. 2) m. D. A. 11. T. 6 Au. S.311. 3) Haush.
S. 84. 4) Vgl. Z. A. 1901.S. 119. S) ju. S. 291. A. 2. 6) Vgl. Meyer. S. 201. 7) Schw. S. 150.
Die Naturkräfte in der Geschichte der Alpenländer. 17
eine letzte Zufluchtsstätte von allen Seiten her die Verfolgten und Vorsichtigen
an sich gezogen hatte, ist in den folgenden Zeiten niemals auch nur annähernd
hervorgetreten. Wohl aber haben oft genug einzelne, sobald die Ereignisse über
sie zusammenbrachen, in der Unwegsamkeit und Verstecktheit des Gebirges
ihren letzten und besten Bundesgenossen gefunden. Als Arnulf im J. 894
Rudolf, den König von Hochburgund, mit Krieg überzog und von Italien her-
überkommend auch wirklich auf das ganze Land zwischen Alpen und Jura die
Hand gelegt hatte, blieb der Erfolg allein deshalb aus, weil der burgundische
König selbst, auf dessen Beseitigung alles ankam, vor seinen Feinden plötzlich
in den Bergen verschwand ') Weit bekannt ist dann das Schicksal Friedrichs
mit der leeren Tasche, der im J. 1416, geächtet und verfolgt, sich in der
einsamen Burg Bäreneck im Kaunsertal und vor allem in den Rofener Höfen,
in der damals weltfernsten Ecke der Ötztaler Alpen, verborgen hielt, und es ist
für die Dauerhaftigkeit jener natürlichen Mächte bezeichnend, daß auch die
Pfandlerhütte (Passeier), die Hofer, der andere Volksheld Tirols, 400 Jahre
später als Versteck wählte, in der Luftlinie nur 30 km von jenen !^öfen ent-
fernt liegt.
Der junge Herzog Christoph von Württemberg, den Karl V. als Gefangenen
mit sich führte, benutzte auf einer Reise des Hofes nach Italien eine stille Stelle
der Alpen, um nach Salzburg hin zu entfliehen, ein Unternehmen, das auch wirklich
gelang, infolge der Schwierigkeiten der Verfolgung im Hochgebirge (1532); und
nur die Flucht aus Innsbruck tief in die Berge hinein rettete dann auch Karl V.
selbst im J. 1552 vor Moritz von Sachsen, während zugleich die Burg Rodeneck
bei Brixen für die wichtigsten Schriften und die Kleinode des Kaisers das Versteck
abgeben mußte-). Auch im Jahre 1646 versuchte man bei dem Anrücken der
Schweden alle bewegliche Habe im Wert von 40 Tonnen Goldes in der festen
Bregenzer Klause zu bergen. Während des Türkenkrieges nahm Kaiser Leopold I.
im Schloß S. Wolfgang bei Ischl Aufenthalt^), und wiederum suchten vor der
Revolution in Wien im J. 1848 Kaiser und Hof in Innsbruck ihre Zuflucht.
Auch als im J. 1703 die Bayern von Norden, die Franzosen von Süden in Tirol
eindrangen, fanden sich die Bischöfe von Trient und Brixen in dem stillen Wall-
fahrtsort Dreikirchen (bei Klausen) ein, um gemeinsam und wohlgeborgene dort
oben das Ende des Ungewitters abzuwarten'').
Aber auch diese Eigenschaft der Alpen hat ihre dunkle Kehrseite; denn
es sind vielleicht noch mehr, deren Namen wir nur nicht kennen, die unfrei-
willig und auf Nimmerwiederkehr hier verschwunden sind. Abseits der Welt,
in Hohencms, ließ der Hohenstaufe Heinrich VI. den Thronprätendenten Siziliens,
Friedrich, ein unglückliches, geblendetes Kind, gefangen setzen, und auch im
J. 1618 wurde der mächtige Vertraute des Kaisers Matthias, Kardinal Khlesl,
') Oe. I. S. 246. 2) Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, 7. Au, III. B.
S. 321, V. B. S. 178. 3) schw. S. 134. ■•) N. A. S. 59.
Scberfel, Verkehrsgeschichte der Alpen. 2. Band. 2
IS I- Kapitel.
von dem Thronfolger Ferdinand kurzer Hand dadurch aus dem Wege geräumt,
daß er als Gefangener von Wien nach Tirol (Ambras) transportiert wurde. Wie
grauer Abendnebel lagert es oft über jenen Vorgängen. Da aber die Gestalten
der Sage gern ein solches Helldunkel aufsuchen, so können wir sie auch in
diesem Gebiete antreffen; so soll der Kaisermörder Parricida am Walchensee
unerkannt gestorben und begraben worden sein, und auf der Burg Hohenaschau
(Priental) soll sich Luther, nachdem er vor Cajetan aus Augsburg geflohen war,
aufgehalten haben. Etwas Tatsächliches kann man aber auch aus solchen An-
deutungen mit Bestimmtheit entnehmen; die Stellen, die hier bezeichnet werden,
müssen einstmals wirklich unendlich verborgen und weltverlassen dagelegen haben.
II. Kapitel.
Die Kirche in den Bergen.
Es ist ein einfacher aber durchaus richtiger Standpunkt, wenn man nicht Die junge
allein das Leben des Einzelnen sondern auch das aller der Kreise, die durch Kj^che als
den Zusammenschluß einer Mehrzahl gebildet werden, also aller geschichtlichen geschichtliche
Schöpfungen, als einen fortdauernden Kampf um das Dasein ansieht. Es mag Aipen '" ^"
sein, daß in Zeiten, in denen die Staaten sich konsolidiert haben, die Motive
komplizierter, die Kulturerscheinungen reifer und blühender werden; das Gerüst
der historischen Tatsachen ist doch stets aus Kampf und Krieg geformt gewesen.
In keiner Periode aber tritt dies nackter und offener hervor wie in den ersten
Jahrhunderten des Mittelalters, als in allen jenen Reichen, die auf dem Boden
der alten Welt neu entstanden waren, Herrscher und Herrschende allein um die
Behauptung ihrer Machtstellung zu ringen hatten, als für diese daher alle eigent-
lichen Kulturaufgaben nur ein unzeitgemäßes und unerprobtes Gebiet bleiben
mußten, als die Regierungsgewalt überhaupt sich nur in dem Mittelpunkt ihres
Machtkreises wirklich fühlbar machen konnte, in weiterer Entfernung dagegen um
so weniger nachhaltig zu spüren war.
Da wir aber jene Mittelpunkte nur in der Ebene und abseits der Alpen-
länder zu suchen haben, so ergibt sich hieraus, daß diese zunächst für lange
Zeiten sich sozusagen selbst überlassen blieben, und daß staatliches Leben, so-
weit man überhaupt damals von einem solchen reden kann, hier am allerwenigsten
zu finden war, ein Zustand, der, wie wir gesehen haben, durch die Natur des
zähen Gebirgslandes nur befördert werden konnte. Hier tritt nun aber ein Ele-
ment in die Lücke ein, das in den Alpen während der ersten Jahrhunderte des
Mittelalters als die einzig schöpferische und kulturbringende Macht angesehen
werden muß, die Kirche.
Wenn für das Anbrechen des Mittelalters der Untergang der antiken Welt
und das Aufkommen neuer selbständiger Völker die grundlegenden Tatsachen
sind, so bleibt dann die Stärke des religiösen Gefühls, die Art, wie die Kirche
2*
20 H- Kapitel.
dieses Gefühl für ihre Zwecke verwendet und so selbst als eine geschichtliche
Macht auftritt, von Anfang bis zu Ende der hervorstechende Charakterzug dieser
tausendjährigen Epoche. Wie bewegt und zerrissen aber auch gerade jene Zeiten
vor uns stehen, in denen die Kirche am anspruchsvollsten auftrat, wie sehr es
überhaupt dem Zweifel unterliegen muß, ob die religiösen Motive, wenn sie in
übermäßiger Stärke in das geschichtliche Leben eingreifen, Menschenglück und
Menschenwohl zu befördern vermögen, hier in den Alpenländern haben wir wirk-
lich eine Periode vor uns, in der die Kirche aus sich selbst heraus Geschichte
gemacht hat, lediglich mit einer kulturfördernden und segenbringenden Wirkung.
Es ist fast, als ob dieses Institut damals noch dem Ursprung besonders nahe
gewesen wäre, von dem es auszugehen behauptet; es ist ein sonnenwarmes, herz-
erfreuendes Leben, das uns hier anmutet, und kein Schauplatz auf der ganzen
Erde kann es auch heute noch deutlicher als die Alpenländer erzählen, über
welch' frische und schöpferische Kraft die christliche Kirche in ihrer Jugendzeit
verfügte.
Westalpen, Für alle Teile triiTt diese Erscheinung freilich nicht in gleichem Maße zu;
^"'^Ostalpen ^'^ findet sich weniger ausgeprägt im Westen und am Südrand wie im Osten
des Gebirges, ganz durchsichtig dagegen im eigentlichen Mittelstück der Alpen.
Dort in den Westalpen und am Südrand waren auch damals die Quellen der
Zivilisation nicht völlig verschüttet, so daß das neu einsetzende Leben ungestört
in diese einlenken konnte, während die Ostalpen, wo das Gegenteil nur um so
tiefer Platz gegriffen hatte, zunächst noch ganz abseits von jenem neu entstehenden
Kulturkreis gelegen waren. Im Osten der Alpen hat daher die Kirche erst viel
später mit ihrer Arbeit beginnen können, auch hat sie sich dann hier viel häufiger
und williger von der weltlichen Gewalt die Hand führen lassen.
Überblickt man die Tätigkeit der Kirche während des ersten Mittelalters,
so zeigt es sich überall, daß diese nirgends willkürlich oder selbständig vorgeht,
sondern sich zunächst an solchen Punkten einstellt, deren Zweckmäßigkeit und
Wichtigkeit bereits unter den Römern eine jahrhundertelange Probe bestanden
hatte. Es ist also äußerlich nichts weniger als eine neue Zeit, sondern nur eine
Wiederaufnahme des Lebens zwar mit neuem Inhalt aber doch im alten Rahmen,
und zugleich ein greifbarer Beweis dafür, daß nicht etwa dem Christentum erst
der Anbruch dieses neuen Zeitalters zur Entfaltung seiner vollen Lebenskraft
verhalf, sondern daß jenes vielmehr nur als die bei weitem mächtigste und kultur-
bringende Macht der Antike am Leben geblieben war und als solche nun not-
wendig auch in der veränderten Zeit weiterwirkte.
Deshalb gehört aber auch die Entstehung der christlichen Organisation in
den Westalpen und am ganzen Südrand des Gebirges in das römische Altertum,
wie dieselbe ja auch dort besprochen worden ist '). Fast alle wichtigen kirch-
lichen Gründungen stehen hier buchstäblich auf römischen Fundamenten, in Nizza,
1) Vgl. Verkehrsgeschichte d. A., I. B. S. 182f.
Die Kirche in den Bergen. 21
Susa, Embrun, Ivrea und Aosta so gut wie in Martigny und S. Maurice, in Como,
Brescia und Verona so gut wie in Cividale und Aquileja, und auch Triest tritt
bezeichnenderweise im Mittelalter zuerst als ein von den dortigen Bischöfen be-
herrschtes Territorium hervor, dessen Bezirk mit der alten römischen regio
identisch ist. Wie sehr aber diese Bewegung die Regel war, läßt sich daraus
ersehen, daß sie sich nicht allein an den großen Kulturzentren zeigt, sondern
auch überall bis in die entlegensten Punkte fortsetzt. In Sitten finden sich die
ältesten Reste des Mittelalters, die Katharinenkirche (9. Jahrhundert), auf dem
dortigen Schlosse Valeria. also unmittelbar auf römischer Grundlage; in Giornico
ist es gleichfalls die älteste Kirche der Landschaft, die vorher ein römischer
Tempel gewesen sein soll; auch in Maderno und Toscolano am Gardasee sind
die Römersteine gerade in die ältesten Kirchen eingemauert, und noch im
J. 1220 wurde hier auf der Isola di Garda in die Ruinen eines Juppitertempels
ein Kloster eingebaut. Auch in Trient (S. Apollinaris) und im Suganatal
(Calceranica) wiederholt sich derselbe Vorgang- Neu und ganz mittelalterlich ist
dagegen auch in diesen Teilen der Alpen das Hervortreten der Klöster, und es
ist dabei zu beobachten, daß diese zumeist nur an solchen Punkten erscheinen,
wo die Kirche ausnahmsweise auch hier selbständig vorgehen mußte; wie dies aber
auch durchaus der intensiven und auf das Praktische gerichteten Kulturtätigkeit
entspricht, die durch solche Anstalten hervorgerufen werden sollte.
Einen ganz anderen Weg nimmt nun aber diese Entwicklung am Nordrand Der.Nordteil
der Alpen. Auch dort hatte die Kirche bereits während der Römerherrschaft * "
an den von der Regierung bevorzugten Plätzen ihre Bischofssitze eingerichtet
gehabt, aber gerade dort wurde dann auch der Kreislauf der Kulturströmungen
durch die germanische Völkerwanderung derart gestört und in andere Bahnen
gewiesen, daß die Kirche hier von Anfang an zu neuen und selbständigen Maß-
nahmen gedrängt wurde, Maßnahmen, die, wenn auch im einzelnen ganz ver-
schieden, doch überall eine besondere Fähigkeit erkennen lassen, sich den ver-
änderten Verhältnissen anzupassen. So hielten die Bischöfe von Vindonissa und
Augusta Rauracorum durchaus mit den Zeiten Schritt, wenn sie ihren Sitz da-
mals nach Konstanz bezl. Basel verlegten und so nach Orten übersiedelten,
denen nunmehr die Zukunft gehörte ')• Auch in der antiken Hauptstadt Helve-
tiens, in Aventicum, ließ es sich jetzt so schlecht regieren, daß die Bischöfe von
dort nach Lausanne verzogen, und die Folgezeit hat es auch hier bewiesen, von
welch' scharfem Blick diese Maßregel eingegeben war; denn jener neue Sitz,
„wo sich die Wege der nach Rom Ziehenden, der Franken, Fläminger, Gallier,
Engländer, Sachsen und Skandinavier vereinigen" 2), sollte sich dann so recht zu
einem Brennpunkt des großen Verkehrs auswachsen. Auch in Tirol wiederholt
sich später in Gestalt der Verlegung des Bischofssitzes von Sehen nach Brixen
dieselbe Erscheinung.
') Vgl. Ju. S. 276. Diese Verschiebungen fallen in das 6. bezl. 7. Jahrhundert. 2) Oe. I. S. 238.
22 U- Kapitel.
Man bemerkt also, wie hier die Kirche durchaus neue Leistungen und
Gruppierungen hervorzurufen vermag. Der ausgedehnteste Schauplatz einer
solchen Entwickelung ist nun aber die heutige deutsche Schweiz geworden, die
Gegend südlich des Bodensees, die Ufer des Zürich- und Walensees bis zu den
Glarner Alpen, und von den Urkantonen bis hinein in das Berner Oberland.
Diese im Altertum so weltfernen Gebiete sehen wir jetzt mit einem Schlage zum
Leben erwachen und hier die kirchlichen Institutionen wie am taufrischen Morgen
mit der geistigen und materiellen Erschließung des Landes beginnen.
Die hervorragendste aller jener kirchlichen Gründungen ist die Schöpfung
des h. Gallus, das Kloster S. Gallen, während sich nördlich, an den Ufern des
Bodensees, an sie das Kloster Reichenau anschließt. An diese beiden reihen
sich weiter im Süden die Erschließung von Glarus, wo der h. Fridolin gewirkt
haben soll, und an der nördlichen Pforte Bündens die Gründung Pirmins, das
Kloster PFäfers. Selbst südlich im Herzen dieses Gebirgslandes ist die Ent-
stehung von Disentis eine nach damaligem Sinne ganz moderne Erscheinung,
allein schon deshalb, weil, wie schon der Name es ausspricht, damit ein bisher
ganz weltfernes Gebiet erschlossen wurde. Nordöstlich davon ist dann aus dem
Kloster S. Leodegar das heutige Luzern emporgewachsen, ein Ereignis, mit dem
wir somit dicht an die Schwelle der Schweizer Urkantone gelangt sind, in deren
Bereich die Stiftung von Einsiedeln (cella Meginradi), die der Pfarrkirche in
Thun (993) und der Klöster Engelberg (1121) und Interlaken (1130) unter dem-
selben Gesichtspunkt gehören.
Wichtig ist bei dieser ganzen Entwickelung nun aber ebenso der frühe
Zeitpunkt, an dem sie begann, wie die Tatsache, daß die weltliche Gewalt
dabei entweder überhaupt keinen oder nur einen ganz oberflächlichen Einfluß
ausübte. Einen zwingenden Geburtsschein hat wohl kein einziges dieser Klöster
aufzuweisen, aber es ist doch sehr wahrscheinlich, daß die Entstehung von
S. Gallen und Disentis um die Mitte des siebenten, die von Pfäfers, Reichenau
und Luzern in den Anfang des achten Jahrhunderts zu setzen ist. Die Er-
schließung von Glarus läßt die Sage bereits um das J. 530 vor sich gehen, wenn
auch die Zusammenhänge, auf die sie dabei Bezug nimmt, erst im 10. Jahr-
hundert geschichtlich nachweisbar werden, ihre Ergänzung und Belebung finden
nun aber diese frühen Daten dadurch, daß irgendwelche aus dem römischen
Altertum stammenden Lebensbedingungen bei jenen Vorgängen nicht im geringsten
zu bemerken sind, daß somit ein Einfluß von Süden her bei ihnen ganz aus-
geschaltet ist, und daß sie sämtlich ihren Ursprung allein im Norden der Alpen
haben. Von dort kommen daher auch alle die Helden jener kirchlichen Grün-
dungsgeschichten herangezogen, Gallus vom fränkischen Königshof, Pirmin
(Pfäfers) aus der Gegend von Zweibrücken, Meginrad (Einsiedeln) aus Rotten-
burg; über Glarus übte tatsächlich Säckingen, die Stadt des h. Friedolin, die
Grundherrschaft aus, und diejenige über Luzern besaß das in Murbach (Elsaß)
Die Kirche in den Bergen. 23
gelegene Mutterkloster, ein Zustand, der hier über ein halbes Jahrtausend an-
gedauert hat.
Wenn auch noch so viel von den Nachrichten aus jenen fernen Zeiten verloren S. Gallen,
gegangen ist, wie u.a. imj. 1799 das unendlich wertvolle Archiv von Disentis '),
so ist doch immer noch in Gestalt der S. Gallener Handschriften ein reicher
und weitbekannter Vorrat vorhanden, der es uns ermöglicht, die Art und Weise
jener Entwickelung in ihren Anfängen zu belauschen. Zunächst hat der gläubige
Verfasser in der um das J. 775 entstandenen Lebensbeschreibung des h. Gallus
nur nebenbei einige kleine Züge in seine Darstellung eingeflochten, die aber
deshalb besonders wertvoll sind, weil sie einigermaßen eine Vorstellung von
dem Zustand jener Landschaften zu Beginn des Mittelalters geben können, ein
Bild, wie es auch in weitem Umkreis nicht anders gewesen sein wird. Als im
7. Jahrhundert jene Kolonisten südlich des Bodensees eintrafen, gehörte dieses
Gebiet kirchlich zu dem Bistum Konstanz, was deshalb wesentlich ist, weil gerade
dieser Ort neben den anderen Städten in seiner Nachbarschaft (Brigantium, Vito-
durum, Arbor felix) in der Römerzeit am allerwenigsten genannt wird. Damals
stehen weiterhin Turegum (Zürich) und Arbon noch aufrecht; hier sitzen auch
fränkische Machthaber, während ringsherum auf dem ungeschützten Lande die
Bewohner überall in der größten Dürftigkeit und Roheit dahinleben. Es ist nun
ganz bezeichnend, daß Gallus sich zuerst nach Bregenz wendet, dem alten
römischen Hauptort dieser Gegend, der damals fast in Ruinen' lag, wo aber
bereits während der Römerzeit der christliche Kultus Fuß gefaßt hatte. Dieses
Verfahren hat jedoch nichts weniger als Erfolg, weil die Fäden nach rückwärts
sich hier schon als völlig zerschnitten herausstellen, und die Mönche verlassen
daher jenen Ort, — „eine goldene Schale aber voll von Schlangen", wie der Chronist
so bezeichnend sagt — um sich dann schließlich an der Stelle niederzulassen,
wo S. Gallen entstehen sollte. Es ist auch hier wieder ein Fall, bei dem aus
Elend und Bedrängnis Großes hervorgeht, und „daß ein einzelner Funke von
Sittlichkeit und Gottesfurcht hier ein immer brennendes und leuchtendes Flämm-
chen angezündet hat"; denn infolge der Rückständigkeit der Landschaft konnte
jene Gründung anfangs nur als ein Fluchtwinkel und Zufluchtsort für die Um-
gebung dienen und auf diese Weise ihre Wurzeln iii den Kulturboden eintreiben^).
Zu welcher Bedeutung dieses Stift aber dann heranwuchs, welchen Umfang seine
Machtmittel, sein Einfluß und seine Ansprüche annahmen, vor allem aber, welch'
angeregtes und betriebsames Leben von dieser Stelle ausgegangen ist, davon
können schon wenige Blätter der späteren S. Gallener Geschichtsschreibung in
ihrer merkwürdigen Vielseitigkeit Zeugnis geben.
Aber auch der Werdegang der anderen benachbarten kirchlichen Gründungen, Das Resultat
die damals entstanden sind, wird sich in derselben aufsteigenden Linie bewegt täfigkeit. "
haben, und das Zusammenwirken aller dieser Bestrebungen hat dann in der
') PI. S. 284. 2) Leben des h. Gallus, K. 42,45.
und Tirol.
24 II. Kapitel.
Nordschweiz einen Zug von Betriebsamiieit und Unternehmungslust, besonders
aber auch von Unabhängigkeitssinn entstehen lassen, der noch heute in dem
Charakter der dortigen Bevölkerung nachwirkt. Es mag bereits seine Gründe
gehabt haben, daß wir Arnold von Brescia, dem die Welt überall zu eng und
zu dumpf war, einmal in der Luft Zürichs wiederfinden (um 1140)')» und es
ist dies eine Tatsache, die sich wie ein Pfeiler in der Brücke jener Entwickelung
ausnimmt, daß hier eine rein kirchliche, allerdings in ihrem Ursprünge nicht
von Rom ausgehende Kulturarbeit Zustände geschaffen hat, die der Tendenz der
mittelalterlichen Kirche ganz entgegengesetzt werden sollten.
Oberbayern Als ein Ableger dieser selbständigen Schweizer Bewegung sind auch noch
die ersten christlichen Gründungen im Algäu, in Kempten und Füssen, anzu-
sehen, während die Entstehung der kirchlichen Kolonisation auf der bayrischen
Hochebene und in den Ostalpen an anderer Stelle und unter anderen Gesichts-
punkten zu betrachten sein wird. Auch darin zeigt sich Augsburg als einer der
klassischen Punkte auf deutschem Boden, weil hier das ununterbrochene Fort-
bestehen eines christlichen Bischofs seit der Römerzeit kaum in Zweifel zu
ziehen ist 2), und daselbst, nicht anders als in Rom selbst, die Stelle des Marty-
riums der ersten Christen, die heutige Ulrichskirche, als Kultstätte stets in
Gebrauch blieb. Die älteste christliche Organisation in Oberbayern und noch
mehr in ganz Rätien unterscheidet sich schon dadurch von derjenigen in der
Schweiz, weil hier der Riß wieder viel weniger fühlbar ist, der in den Zentral-
alpen einerseits und in den Ostalpen andererseits die Römerzeit von dem Mittel-
alter trennt, wie wir uns überhaupt nicht bloß in Bünden sondern auch in Tirol
in einem Lande befinden, dessen Charakter in seinen tiefsten Schichten viel
größere Bestandteile der alten südlichen Kultur aufweist, und jene innere Ver-
wandtschaft, die in der Beurteilung der Wichtigkeit der Örtlichkeiten zwischen
der Römerzeit und der frühchristlichen Gründungsweise besteht, tritt daher auch
dort an allen Stellen zu Tage ^).
Es ist ursprünglich nur ein Stück antiker Topographie, wenn die Ziller,
die in der Römerzeit als Grenze zwischen Rätien und Norikum gedient hatte,
später zwei Gaue und bis heute die Diözesen Brixen und Salzburg von einander
getrennt hat. Im Oberinntal leiten zahlreiche Römerspuren nach Serfaus, und
dort befindet sich auch die weitaus älteste Kirche dieser Gegend (Georgskirche,
8. Jahrhundert). Der Ort Meran gehörte ursprünglich zur Pfarre des Dorfes
Tirol, entsprechend den Verhältnissen, wie sie dort im Altertum geherrscht
hatten, und daneben im alten Maja machten sich auch der h. Valentin und Kor-
binian zu schaffen ''). An der Stelle von Sebatum bleibt das unbedeutende
S. Lorenzen jahrhundertelang als Dekanat des ganzen Pustertals bestehen, und
an derselben wichtigen Straßenstelle findet sich auch später das Kloster Sonnen-
burg wieder ein. In Sehen erhebt sich der Sitz der Bischöfe auf dem Boden
1) O. F. S. 158. 2) PI. s. 222; W. S.63; Eg. S. 196. -^) Vgl. Anh. 1. ") ju. s. 264. A. 3.
Die Kirche in den Bergen. 25
eines römischen Isistempels und die Schicicsale des Bistums Trient sind insofern
denen des benachbarten Chur analog, als auch jenes, wenn auch politisch weniger
selbständig, sein Gebiet unverändert aus der Römerzeit in das Mittelalter hin-
übernahm. Bei dem großen Frankeneinfall von 590 in Südtirol sehen wir niemand
anders als die Bischöfe Agnellus von Trient und Ingenuin von Sehen nicht nur
durch ihr Eingreifen die Zerstörung von Verruca, der wichtigen Zitadelle
Trients, hintanhalten, sondern letzteren dann auch noch in das Frankenreich
reisen, um die aus seinem Gebiet weggeschleppten Gefangenen loszukaufen ').
Dieser Vorfall zeigt, wer damals allein hier, selbst inmitten der schwierigsten
Verhältnisse, Kulturaufgaben zu lösen verstand; und es ist daher äußerlich wohl
das alte Schema, aber es sind nichts weniger als verbrauchte Kräfte, die es zur
Anwendung bringen.
Eine besondere Erwähnung erfordert in diesem Zusammenhang jedoch noch
der wichtigste Hauptort Nordtirols. Das letzte, was einer geschichtlichen Nachricht
über das antike Veldidena ähnlich sieht, ist das Vorkommen von Münzen Justi-
nians (527 — 565) auf dem dortigen Boden ^), und auch das erste Lebenszeichen
des Mittelalters tritt uns dann hier nirgendswo anders als auf dem Baugrund
Veldidenas in Gestalt des Klosters Wilten entgegen, freilich mit Sicherheit erst
in einer verhältnismäßig sehr späten Zeit, um das J. 1128, wie die Sage wohl
auch nur auf ihre Weise durch die Annahme, daß Veldidena von den Hunnen
zerstört worden sei, jenen auffallend langen Riß in der Überlieferung zu erklären
versucht-^). Hier klafft also eine weite und tiefe Lücke, nicht allein zeitlich von
vollen 600 Jahren, sondern auch besonders hinsichtlich der Art und Weise der
Gründung des Klosters Wilten, hinsichtlich der Frage, ob jene von bayrischer
Seite oder ob sie etwa, wie in Kempten und Füssen, von der Schweizer Seite
ausging. Die Zusammenhänge, die hier noch aufzudecken sind, müssen aber
zugleich für die Geschichte Nordtirols in der ersten Hälfte des Mittelalters von
grundlegender Wichtigkeit sein, und schließen daher eine Aufgabe in sich, die
weit über das Interesse der Innsbrucker Lokalforschung hinausgeht.
So sind es überall jene starken und werktätigen Seiten der Kirche, die in Das Verkehrs-
der mittelalterlichen Geschichte der Alpenländer so glänzend hervortreten. Da j^s M^jttliaiters
nun aber dieses Gebirge damals infolge seiner Lage das Herzstück des euro- und die Kirche,
päischen Verkehrs war, und da es ebenso infolge seiner Beschaffenheit diesen
Verkehr vor die peinlichsten Aufgaben stellte, so haben sich jene Kraftäußerungen
auch auf diesem ganz und gar praktischen Gebiet versucht und Einrichtungen
geschaffen, wie sie im Mittelalter bitter notwendig waren, und die doch niemand
anders als eben die Kirche in solcher Ausdehnung und Dauerhaftigkeit hätte
zu Stande bringen können- Zum Verständnis der Wechselwirkung, die zwischen
den Kulturbedürfnissen der Menschheit und den übermächtigen Naturkräften in
den Alpen immer vorgewaltet hat, gelangt man nun aber am besten, wenn man
') P. D. S. 70,73. 2) F. 1878. S. 83. 3) pj. s. 232. A. 2.
26 II. Kapitel.
sich die Ursachen klar macht, die in der Jetztzeit zur Entstehung der modernen
ünterkunftshütten geführt haben. Diese Bauten, mit denen heute die eigentlichen
Hochgebirgsregionen übersät sind, verdanken ihren Ursprung allein dem in dem
modernen Geschlechte wurzelnden Trieb, die Gipfel der Alpen zu besteigen,
und jener Trieb mußte, nachdem er einmal eine bestimmte Stärke und Ver-
breitung erreicht hatte, notwendig auch eine Organisation in das Leben rufen,
die sich die Erbauung solcher Hütten zur Aufgabe machte.
Die Zwecke und Ziele, die der Verkehr verfolgt, sind es daher, die der
Gestaltung der Verkehrseinrichtungen von vornherein den Charakter aufdrücken,
Zwecke und Ziele, die zu allen Zeiten auch den schwierigsten Verhältnissen
gegenüber ihren Willen durchgesetzt haben. Auch im römischen Altertum war
es nicht anders gewesen. Der römische Staat, der damals in dem ganzen Alpen-
gebiet allein herrschte, zwang auch dieses schließlich mit übermächtiger Hand
in seine überall gleichmäßig arbeitende Schablone hinein, und die reife Frucht
dieser Entwickelung, die wegen ihrer Geschlossenheit so großartig ist, steht in dem
Bilde vor uns, als damals die Alpen überall mit Heerstraßen und Stationen über-
zogen waren. Während also vorher ein einziger Staatsgedanke gleichmäßig das
Verkehrsleben in den Alpen regelte, beruht der Unterschied zwischen dem
Altertum und dem Mittelalter zunächst darin, daß jetzt ein derartig beherrschender
Gedanke überhaupt nicht vorhanden war. Das Verkehrsbedürfnis an sich bestand
aber auch im Mittelalter, ja es machte sich damals in mancher Beziehung noch
viel reger und vielseitiger als früher geltend. Dieser Zustand mußte somit auch
danach streben, auf irgend eine Weise seine Ziele zu verwirklichen, und es ist
nun, wie bei den Hüttenbauten der neuesten Zeit, nichts anderes als die Selbst-
hilfe im großen Stile, die wir hier an der Arbeit sehen, eine Selbsthilfe, in die
jedoch die an allen Stellen der Alpen wirkende Kirche organisatorisch eingriff,
und die schließlich, wenn auch mit anderen Mitteln, die Alpen überall ebenso
sicher wegsam gemacht hat, wie es schon einmal dem römischen Weltreich ge-
lungen war.
Die Hospize. Die Geschichte hat darin einen Zug der Gerechtigkeit blicken lassen, daß
die Vorstellung von der segensreichen Tätigkeit der von der Kirche angelegten
mittelalterlichen Hospize auch heute noch weit verbreitet im Gedächtnis der
Nachwelt fortlebt; denn trotz der elenden Baulichkeiten, von denen jene aus-
ging, trotz der geringen Anzahl von Menschen, von denen sie ausgeübt wurde,
bildet es doch eine durch und durch achtungswerte Leistung, von diesen un-
wirtlichen Punkten aus unausgesetzt für die Wegbarkeit der Umgebung, für die
Sicherung menschlicher Nahrung und Unterkunft gesorgt zu haben. Wenn diese
Hospize auch an Zahl viel geringer als die modernen Unterkunftshütten geblieben
sind, so stehen sie doch in ihrer Wirkung allein deshalb hoch über den modernen
Anstalten, weil diese nur in der besten Zeit des Jahres offenstehen, jene dagegen
unausgesetzt in Betrieb waren. Ist aber die Bewirtschaftung eines Hospizes
Die Kirche in den Bergen. 27
wegen seiner Lage und noch vielmehr wegen der Unsicherheit seiner Einkünfte
schon während des iturzen Sommers keine leichte, so vervielfacht sich jene auf-
reibende, eintönige und nicht zuletzt undankbare Tätigkeit in der schlechten
Jahreszeit, Schwierigkeiten, mit denen jedoch stets der Kampf aufgenommen
werden mußte, da auch der Verkehr seinerseits sich keine Schranken bezüglich
der Jahreszeiten auferlegen läßt.
Still steht die Geschichte an diesen hochgelegenen, einsamen Gebäuden;
denn es ist daselbst seit Jahrhunderten immer der gleiche Zustand gewesen, das
rauhe Klima, in das Fauna und Flora nur mit ihren letzten Lebensregungen hin-
zudringen vermögen, der dichte Nebel, die kleinen Seen, die sich selbst in den
Augustnächten mit Eis überziehen, die rotgrünglänzenden Moosfelder, zwischen
denen hindurch die alte Straße nicht schon in Windungen sondern in langer
gerader Linie dem Hospize zustrebt; diese selbst vollständig schmucklose, aber
standfeste, untersetzte Bauten, mit plattem Dach, bei deren Betreten man früher
unmittelbar auf ein großes Herdfeuer stieß, um das ringsherum steinerne Liege-
plätze für die Passanten angebracht waren '). Nach den Statuten des Hospizes
auf der Maiser Haide von 1489 soll „der Verwalter, wenn Unwetter, Schnee und
Kälte eintritt. Hilfe ausschicken und die Pilger und armen Leute zu Hofe führen;
dort aber soll das Feuer nimmer, weder Tag noch Nacht zugedeckt werden, und
soll allwegen Holz beim Herd sein, damit, daß wer da kommt sich wärmen möge,
daß er nicht erfriere"^). Ein anschauliches Bild aber, wie es im Mittelalter im
Bereich jener Hospize zuging, liefert uns ein Bericht über eine Reise, die im
Januar 1129 zwei hohe Geistliche von Süden her über den Gr. S. Bernhard
unternahmen. Weihnachten feiern sie noch in Piacenza; als sie aber nach Aosta
kommen, wird das Wetter plötzlich schlecht und in Etroubles schneien sie völlig
ein, so daß es erst nach Tagen wieder vorwärts gehen kann, aber wie natürlich
nur mit Hilfe von Bergführern, deren Ausrüstung übrigens nicht anders als heute
ist. Höher oben in S. Remy müssen sie dann jedoch nochmals liegen bleiben,
ja hier wird es nur noch schlimmer wegen der Lawinengefahr, und weil das
ganze elende Dorf bereits übervoll von Reisenden ist, die gleichfalls nicht weiter
können. Beichte und Abendmahl sind vor jedem neuen Aufbruch unerläßlich,
und wenn schließlich die Paßhöhe doch noch glücklich überschritten wird, so
kann dies doch erst dann geschehen, nachdem das Wetter sich zum Bessern ge-
wendet hat'^).
Es ist erklärlich, daß bei der Entstehung der Hospize da und dort die
Politik der großen geistlichen Stifter oder der Fürsten nachgeholfen hat, aber
trotzdem bleibt das Hospizwesen eines der besten Blätter des mittelalterlichen
Kulturlebens, da sich auf diesem Gebiete die edle selbsttätige Menschenliebe
und die Kirche auch später immer wieder zusammengefunden haben. Das Spital
') In S. Martino di C. war diese alte typische Hospizanlage 1901 noch besonders gut erhalten.
2) St. S. 101. 3) oe. I. S. 254f.
28 11. Kapitel.
auf der MalserHaide verdankt seine Entstehung einem Anwohner aus der
Nachbarschaft Ulnch Primele aus Burgeis (1140)'), und es sind wirklich an das
Herz dringende Tatsachen, die in der Stiftungsurkunde des Hospizes S. Chri-
stoph a. A. erzahlt werden, wie Heinrich, ein Findelkind, der als Knecht eines
am Passe wohnenden Burgherrn seine Laufbahn begann, 10 Jahre lang sich
seinen Lohn sparte, um mit diesem jenes Hospiz in das Leben zu rufen (1385)2).
Die Anlage der Hospize selbst zieht sich nun durch das ganze Mittelalter und
über das ganze Alpengebirge hin, und es bedarf keiner Erklärung, daß, sobald
die Existenz und die Enstehungszeit eines Hospizes bekannt sind, man damit auch
den besten und sichersten Beweis für die Begangenheit eines Alpenpasses ge-
funden haben wird. Freilich liegt der Wert dieser Feststellung mehr auf nega-
tivem Gebiet, nur darin, daß der Übergang nicht unbegangen war, während sie
zunächst von der Stärke und der Art dieses Verkehrs nichts zu verraten braucht
da wie sogleich anzuführen sein wird, auch Pässe, die doch stets nur dem'
Lokalverkehr gedient haben können, ganz alte Hospize aufweisen
So finden wir an der ligurischcn Küstenstraße ein Ospedaletti bei Bordighera
und ebenso Hospize am Mont Genevre, Mont Cenis und am Kl. S. Bernhard
o ■ c ^^'""^^"^ ^^''^ oben deren zwei, eines auf der Paßhöhe, das andere
m Bourg S. Pierre und zwei andere an seiner Nordseite (Aigle und Villeneuve)
Weiterhin waren die Gemmi und die Grimsel mit einem Hospize besetzt3
wahrend sich diese dann am Simplon überall von Sitten über Brieg bis nach
Gondo vorfinden^). In der Nachbarschaft ist hier aber auch auf dem Nufenen-
paß ) und auf dem nicht weniger abseits liegenden S. Giacomopaß ein Hospiz
zu erblicken. Am Gotthard begegnen wir ebenso dem Namen Hospental wie
dem Hospiz auf der Paßhöhe selbst. Westlich in Bünden ist Disentis nichts als
ein großes Hospiz, während sich dann weiter am Lukmanier eine ganze Anzahl
kleinerer wie an einer Schnur aneinanderreihen. Weiter kommen wir zu dem
Z^'Tll uT ^'P^'f^^f' "^^"^ ^" Silvaplana und zu dem auf dem Victorsberg
bei Feldkirch (um 875)6). Das Hospiz am Arlberg und das auf der Maiser Haide
.st schon erwähnt; auch der Jaufen hatte seine Hospize auf der Paßhöhe und
in S Leonhard; dort findet sich aber auch noch oberhalb S. Leonhard ein Hof
m.t Namen Spital 7). Die Brennerstraße ist nicht nur selbst, sondern auch über-
all auf Ihren Nebenwegen mit Hospizen besetzt, ebenso in S.Johann i T und
in Zell a. Z., auf dem Tonal und in Madonna di C. wie auf dem S. Pellegrino-
paß, in Paneveggio, S. Martino di C. und Ospedaletto im Suganatal Östlich
davon liegen dann hier das Hospizio di Falzarego und zwei Ospitale, eines bei
Schluderbach, das andere bei Longarone.
In den Ostalpen stoßen wir auf Ospedaletto bei Venzone, auf das Hospiz
auf dem Loiblpaß, dasjenige in Friesach und in Gastein (1469), auf das Radstädter
Die Kirche in den Bergen. 29
Tauernhaus (1562) und auf die Hospize in Salzburg, besonders aber auf die so
bezeichnenden Ortsnamen Spittal a. d. Drau (1191,) Spital am Pyhrn (1190) und
am Semmering. Man kann demnach bemerken, wie gerade auf diesem Flügel der
Alpen, im italienischen so gut wie im deutschen Sprachgebiet, sich solche An-
stalten später zu Ortschaften erweitert haben, eine Erscheinung, die darin ihren
Grund hat, weil hier die Hochgebirgsnatur weniger beherrschend hervortritt.
Auch wenn man weiterhin hier die Hospize auf die Zeit und die Art ihrer
Gründung untersucht, offenbart sich, daß keines über das J. 1000 hinaufreicht
und daß sie ihre Entstehung fast überall den Maßregeln bestimmter Machthaber
verdanken. Auch darin zeigt sich die besondere Stellung der Ostalpen, nicht nur,
daß diese verhältnismäßig spät im Mittelalter von dem großen Verkehr durchdrungen
wurden, sondern daß derselbe hier dann auch solche geographische Bedingungen
vorfand, wie sie nicht ganz mit dem übrigen Alpengebiet zusammenstimmen.
Bei jenem Einfluß der Kirche auf das ganze Leben der mittelalterlichen Wohlstand der
Alpenwelt kann es nun auch nicht Wunder nehmen, daß die Punkte, wo diese Straßenpunkte
sich einmal niedergelassen hatte, die eigentlichen Sammelplätze und Schutz-
stätten für alle Kulturwerte abgeben mußten, und zwar nicht bloß im geistigen
sondern auch im durchaus materiellen Sinne. Auch hier fand sich schließlich
im Gefolge des praktischen Blickes der materielle Aufschwung ein, eine Ent-
wickelung, die dadurch nur gesteigert werden konnte, weil die geistlichen
Gründungen gerade die wichtigsten Verkehrspunkte beherrschten. Eine Erinnerung
an jenen Zustand ist es aber, wenn man auch heute noch an einzelnen Punkten
der Alpenstraßen Kostbarkeiten von großem Werte antreffen kann, die einst
wirklich durch die Gunst hoher Reisender in kirchlichen Besitz gelangt sein
mögen und nun Jahrhunderte hindurch an derselben Stelle treu behütet worden
sind. Daß jene Entwicklung auch schon im frühen Mittelalter einsetzte, ist des-
halb wahrscheinlich, weil die Sarazenen, die doch für solche Dinge eine gute
Witterung besaßen, den Punkten an den Alpenstraßen so gern ihren Besuch ab-
statteten; so besaß das Kloster Novalese im Anfang des 10. Jahrhunderts eine
kostbare Bibliothek, die bei einem solchen Überfall größtenteils vernichtet wurde')« '
Einzelne der wertvollen alten Stücke, die in der Abtei S. Maurice heute gezeigt
werden, gelten bezeichnenderweise als Geschenke von Mitgliedern des karo-
lingischen Herrscherhauses; sehr alte gute Sachen, an denen zum Teil ähnliche
Traditionen haften, finden sich auch in Moutiers und Aosta, in Reichenau und
Chur, in Brixen, Salzburg, Friesach und Cividale. In Brixen insbesondere ist
es noch heute mit Händen zu greifen, auf welche Weise ein solcher geistiger
Mittelpunkt zu wirken pflegte; denn der dortige Dom und die Kirche zu Neu-
stift, wo sich Jahrhunderte hindurch der Tiroler Adel begraben ließ, stehen mit
ihren Grabsteinen noch heute da als ein steinernes Lexikon der alten Tiroler
Dynastengeschlechter.
') Oe. 1. S. 208.
30 II. Kapitel.
n'Jme?'Se"n ^^ '^' ^'" schwankender Steg, den wir nun betreten, aber die Tatsache
Alpen, kann wohl als ausgemacht gelten, daß dort, wo in einer bestimmten Zone oder
an einer bestimmten Straße sich die gleichen Heiligennamen vorfinden, diese ent-
weder von der gleichen Zentrale ausgegangen sind oder doch wenigstens dem-
selben Vorstellungskreis ihren Ursprung verdanken. Von letzterem Gesichts-
punkt aus ist es nun eine besonders wichtige Erscheinung, daß dem h. Petrus
als dem Ältesten und Vornehmsten in dieser großen und bunten Schar auch die
ältesten und wichtigsten Hospizgründungen geweiht sind, ja nicht allein dies,
sondern daß es fast keiner Ausnahme unterliegt, daß dieser Heilige und kein
anderer überall in den Alpen nach den Stellen hinleitet, die bereits im Alter-
tum bewohnt waren, daß daher, wo heute Peterskirchen stehen, auch Reste und
Fundamente des Altertums in der Nähe waren oder noch sind, und daß an
solchen Stellen das Altertum und das Mittelalter zeitlich und räumlich am näch-
sten zusammentreten'). Auch einem anderen, der zu dem Uradel dieser Herren
gehört, begegnet man besonders häufig, dem h. Martin, der schon deshalb
besonders alpin ist, weil er als Beschützer des Viehstandes gilt. Die Voraus-
sage ist bei dem Vorkommen dieses Heiligen ungefähr die, daß seine Stelle, falls
Petrus fehlt, als der älteste Platz der Gegend anzusehen ist. Aus diesem Grunde
findet man Martinskirchen auch nicht selten auf römischer Grundlage, aber es
ist doch zu bemerken, daß sich das Mittelalter bei der Auswahl jener Punkte
schon viel selbständiger bewegt hat. Dem h. Martin ist dann weiter der
h. Leonhard nachgezogen 2), während sich der h. Christoph, so schön auch
dessen Legende ist, an den Wegepunkten der Alpen nicht so häufig einstellt.
Späteren Zeiten gehören dann zumeist die Gründungen an, die nach dem h. Michael
und dem h. Georg genannt sind, wie diese übrigens auch nicht selten einen
Stich in das Vornehme und Ritterliche haben.
Zu diesen Heiligen gesellen sich dann diejenigen, die auf eine bestimmte
Berggegend beschränkt bleiben und die daher gewissermaßen als Nationaiheilige
auftreten. In dem westlichen Teil der Alpen begegnet man dem h. Moritz
(Bourg S. Maurice, S. Maurice, Luzern, S. Moritz im Lugnetz und im Engadin),
im Wallis dem h. Theodul, in Bünden dem h. Luzius, dem in Innertirol, wenn
auch etwas überwachsen von späteren Einflüssen, der h. Valentin an die Seite
tritt. Dort an der belebten Brennerstraße haben sich überhaupt nicht nur die
Alltagsmenschen sondern auch die Heiligen von allen Seiten her eingefunden,
neben jenem h. Valentin auch die Lokalheiligen von Trient (Vigilius) und Sehen
(S. Cassian, in Groeden, im Enneberg und in Regensburg; Cassiansspitze), zwischen
denen, von Süden her kommend, der h. Zeno, ursprünglich ein alter Bischof
von Verona, der als Helfer in der Wassernot ja auch hier zu tun fand 3), und
von Norden, von Augsburg kommend der h. Ulrich 4) und die h. Afra (Bozen,
Brescia) mitten hindurchschwirren. In den Ostalpen läßt sich bei dem Namen
>) Vgl. Anh. 2. 2) Vgl. B. W. S. 259, 292. 3) s. Zeno di Montagna a. Gardasee, bei Cles, in
Burgeis (Tir. S. 140), Zenoburg bei Meran, im Villnös (N. A. S. 72), in Reichenhall. 4) Vgl. Anh. 3.
Die Kirche in den Bergen. 31
Hermagoras, eines alten Patriarchen von Aquileja, da und dort der frühere Einfluß
dieses Sprengeis feststellen während daselbst derjenige S. Veits vorwiegend wohl
mit slavischen Elementen in Verbindung zu bringen ist.
An diese Heiligennamen, die das Wirken der Kirche in den Alpen veran- Die von
schaulichen, schließt sich nun noch eine andere Klasse von Ortsnamen an, die geschaffenen
weder aus dem römischen Altertum noch aus den modernen Sprachen, sondern Ortsnamen,
aus demjenigen Latein stammen, das im Mittelalter die einzige allgemein übliche
Schriftsprache war, die als solche aber nur von den Vertretern der Kirche ge-
pflegt und gehandhabt wurde. Somit sind auch diejenigen Ortsnamen, denen
durch jenes mittelalterliche Latein Allgemeingültigkeit verschafft wurde '), im
Grunde nichts anderes als ein Zeugnis vergangenen kirchlichen Kulturlebens,
und wenn eben diese Ortsnamen in den Alpen viel zahlreicher als anderswo
vorhanden sind, so kann auch dies jene Entwickelung hier nur besonders intensiv
erscheinen lassen. Interessant ist es nun aber weiterhin, zu beobachten, daß
diese von Anfang an aus einer toten Sprache genommenen Ortsnamen sich sprach-
lich ganz anders verhalten haben als diejenigen, die aus dem römischen Altertum
selbst stammen. Denn während bei letzteren wie bei Angehörigen guten alten
Adels, der mit der Zeit fortzuschreiten weiß, wohl der antike Kern erhalten
geblieben ist, sie aber ebenso auch mit den modernen Sprachen innig verwachsen
sind (Grenoble, Aosta, Konstanz, Augsburg, Trient), ist jenen ein ganz unregel-
mäßiges Schicksal widerfahren. Entweder stehen sie auch heute noch ganz so
da, daß sie ihr unentwickeltes Mönchslatein an der Stirn tragen und „übersetze
mich" rufen (Interlaken, Disentis, Zell, Spital), oder sie sind in das Gegenteil
verfallen und völlig in den modernen Sprachen aufgegangen, so daß man oft er-
staunt sein kann, bei Ortsnamen, die durchaus den bodenständigen Sprachen
anzugehören scheinen, zu entdecken, daß sie einst von einem mittelalterlichen
Geistlichen unter die Taufe gehalten worden sind 2).
Aber nicht bloß im Mittelalter selbst würde es ohne den Fleiß der Kirche Die
um die kulturelle Durchdringung der Alpen schlecht bestellt gewesen sein, auch Reiseberichte
für alle Zeiten würde die Wissenschaft ihrer besten Hilfsmittel entbehren müssen,
wenn damals nicht der einzig bei den Dienern der Kirche vorwaltende Bildungs-
trieb diesen die Herrschaft über die Sprache verschafft und ihnen die Feder in
die Hand gedrückt hätte. Alles, was Geschichte und Kulturgeschichte im Mittel-
alter heißt, ist ja überhaupt fast nur von Geistlichen geschrieben worden, aber
alle diese sonst so wichtigen Quellen würden hinsichtlich der damaligen Topo-
graphie der Alpen doch nur Einzelheiten liefern. Eine recht eigentlich kirch-
liche Berichterstattung ist es dagegen, die in dieser Beziehung im Mittelalter
durchaus den ersten Plaz einnimmt; es sind die Reiseberichte derer, die auf
') Die Tatsache, daß auch das bodenständige Wort fuozzin- Füssen von den Mönchen für ihr
Latein mit Beschlag belegt wurde (ad fauces), zeigt, wie weit verbreitet dieser Gebrauch war.
2) Val d'Entremont (V. Intramontiorum), Pont Orsieres (Pons Ursarii), Frakmünd (fractus mons
für Pilatus), Wörgl (Virgilius), Metz (metae TeutonicaeJ, Pfalzen (Palatium), Werfen (alpes perviae).
32 II- Kapitel.
ihrer Fahrt nach Rom oder dem heiligen Lande die Alpen passierten und deren
Aufzeichnungen man zuerst zur Hand nehmen muß, wenn man ein Bild von
dem Zustand einer Alpengegend, von der Bedeutung und Belebtheit eines Paß-
weges im Mittelalter gewinnen will. Die erste Erwähnnng des Septimers im
Mittelalter (um 800) geschieht nicht etwa gelegentlich eines Römerzuges, sondern
als zwei Männer von Süden her hier herüberwollen, die sich das Kloster S. Gallen
als gute Gesangslehrer verschrieben hatte '), und es will doch etwas bedeuten,
daß das Itinerar eines aus Island stammenden Abtes, Nikolaus von Thingör-),
für die Alpentopographie in den Zeiten Friedrich Barbarossas an Wert kaum
geringer ist als alles dasjenige, was in dieser Hinsicht aus dem besten mittel-
alterlichen Geschichtsschreiber, dem Bischof Otto von Freising, entnommen
werden kann. Die Zahl dieser Reiseberichte ist an sich nicht nur sehr groß
und verteilt sich über alle Jahrhunderte, sondern unter ihren Verfassern sind
auch alle Grade der Hierarchie und die verschiedensten Heimatländer vertreten,
so u. a. Abt Mäjoius von Clugny (um 970), Siegerich von Canterbury (990),
Bischof Bernhard von Hildesheim, Bruno von Toul, Anno von Köln, Bischof
Wolfger von Passau (um 1200), der niederländische Mönch Emo von Werum,
Abt Albert von Stade (1236) und schließlich der Ulmer Predigermönch Felix
Fabri (1480—1483)3), eine gleichgestimmte Gesellschaft, deren Berichte zwar
überall von der alles beherrschenden kirchlichen Lebensauffassung des Mittel-
alters gefärbt sind^), die aber doch je weiter sie zeitlich vorschreiten immer
redseliger werden.
Die Kirche Aber noch eine andere, für das ganze Kulturleben des Mittelalters charak-
des mittel- teristische Tatsache geht aus dem Dasein dieser zahlreichen Reiseberichte hervor,
alterlichen diejenige, daß damals die Art, wie die Kirche in das Leben der Menschen ein-
■ griff, überhaupt der Haupterreger des Verkehrslebens in den Alpen war. Er
gehörte seiner Lebensstellung nach nichts weniger als zu den oberen Zehntausend,
der Mönch Richer, der uns eine Geschichte des westfränkischen Reiches während
des zehnten Jahrhunderts hinterlassen hat, aber wie oft ist dieser nicht in seinem
Leben durch die Alpen nach Italien herüber und hinüber gewandert. Und nicht
allein die Menschen, sondern auch alle Arten Dinge, leicht wie Luft und schwer
wie Stein, die Blutstropfen der Heiligen so gut wie die Marmorsäulen zum
Ausschmücken der Kirchen, setzte dieser Ausbau der kirchlichen Kultur in Be-
wegung ^). Der Zug in die Ferne, der Reisetrieb, der aus religiösen Motiven
entsprang oder diese zum Vorwand nahm, ist im Mittelalter besonders weit ver-
breitet gewesen und selbst viel tiefer in die Schichten hinabgedrungen, die sonst
harte Arbeit und Unfreiheit umfangen hält, und so erscheint Europa im Mittel-
alter von Island bis nach Sizilien, von Portugal bis nach Siebenbürgen als ein
innerlich bewegter aber äußerlich streng geschlossener Kulturkreis, der für die
damalige Christenheit nichts anderes als die Welt bedeutete.
') Oe.II. S. 191. 2) Vgl. Oe. I. S. 257 f, II. S. 283 f. 3) Vgl. Z. A. 1902. S. 79 f. *) Vgl. Oe. I.
S. 173. 5) Ei. K. 26.
III. Kapitel.
Langobarden und Franken in den Alpen,
Auf den ersten Blick schon läßt sich bei einer Betrachtung der Karte der Das Lango-
Alpenländer, wie sie das erste Mittelalter zeigt, die gewaltige Veränderung erkennen, südrancT'der""
die sich jetzt hier gegenüber der Römerzeit geltend gemacht hat. Wenn vorher Alpen,
das ganze Gebirge mit allen seinen Randlandschaften und bis tief in seine ent-
ferntesten und abgelegensten Verästelungen hinein einem Reiche und einem Volke
untenan gewesen war, so gilt nunmehr dieselbe Ländermasse in ihren einzelnen
Teilen den verschiedensten Herrschern angehörig und wird daher auch von
langausgedehnten Grenzen durchkreuzt und durchzogen. Überall entlang der
Gebirgskämme oder durch die Sohlen der Täler laufen jetzt jene Linien, anfangs
nach Art ooerflächlich gezogener Grenzen auf frisch und rasch erworbenem Grunde,
die sich jedoch im Lauf der Zeit immer mehr zu jenen Kultur- und Völker-
scheiden vertiefen, wie wir sie heute noch in unverminderter Stärke über die
Alpen gespannt sehen.
Es ist zugleich ein Zeugnis für den gewaltigen Unterschied, der das Wesen
der neuen Germanenreiche von der antiken Kultur trennt, wie besonders für
die Stärke der letzteren, daß sich in ihrem Kernland, in Italien, erst eine ganze
Anzahl großer germanischer Stämme verbrauchen mußten, ehe es den Lango-
barden gelang, hier ein dauerndes Reich zu begründen, ein Reich, das aber
deshalb auch durchaus als mittelalterlich zu gelten hat, weil ihm gegenüber die
antiken Einflüsse nicht mehr übermächtig wirken konnten. Dieser Tatsache tut
es auch keinen Eintrag, daß das Langobardenreich bereits nach 300 Jahren eine
Beute der Franken wurde. Gewiß sind die Langobarden anfangs nur deshalb
in dem Besitz Italiens geblieben, weil nicht noch ein anderer großer germanischer
Stamm von Pannonien aus ihren Fersen folgte, aber sie befanden sich doch
trotzdem auf dem schwierigsten Schauplatz und wildfremdesten Boden, umgeben
von den Ansprüchen Ostroms und der Begehrlichkeit der Franken, Bayern und
Schcfrel, Verkehrsgeschichte der Alpen. 2. Bind. 3
34 III. Kapitel.
Avaren, und im eigenen Hause bedroht von der überlegenen Politik des jungen
römischen Papsttums.
Schon deshalb mußte die Macht der Langobarden in der Hauptsache auf
Norditalien beschränkt bleiben, in und ringsherum um die große Landschaft,
die heute noch als Lombardei den Namen dieses Volkes trägt und in der damals
ein neues Volkstum und zugleich eine selbständige norditalienische Kultur entstand,
die sich nun von hier aus auch überall nach Norden in die Alpen hinein aus-
dehnte. Da diese Kultur aber auch nach dem Verschwinden des Langobarden-
reiches noch Jahrhunderte hindurch weiterwirkte, so geschieht es nur ganz mit
Recht, wenn nach dem landläufigen Ausdruck die Reste des Mittelalters auf
jenem Boden gemeinhin als langobardisch bezeichnet werden. Diese mittelalter-
liche norditalienische Kultur steht auch in ihrer Eigenart und Geschlossenheit
hoch über den politischen Leistungen des Volkes, von dem sie ihren Ausgang
genommen hat. Für den Kenner der Geschichte liegt es aber doch außer allem
Zweifel, daß sie nur diesem selbst ihren Ursprung verdankt haben kann und
schon zu dessen Zeiten fertig dagestanden haben muß, allein auf Grund einer
einzigen Tatsache, deshalb, weil die Geschichte des Langobardenreiches von
Anfang bis zu Ende von dem Gegensatz zu dem römischen Papsttum erfüllt ist,
das zu allen Zeiten der Bildung eines selbständigen italienischen Staates feindlich
gegenübergestanden hat.
Ein lebensvolles Bild von dem Wesen dieser langobardischen Kultur läßt
sich nun besonders durch die Kunst gewinnen, deren Denkmäler auch heute
in reicher Anzahl vor uns stehen, so charakteristisch, daß sie sich von ihren
südlichen und nördlichen Nachbarn gleich bestimmt unterscheiden, altersgrau
und geheimnisvoll, aber doch einem Zuge unseres Denkens verwandt, wie die
Melodie eines Kirchenliedes, das in der Nähe des Todes gesungen wird. Aber
nicht allein in der oberitalienischen Ebene, sondern auch bereits überall dicht
neben den Bergen sind diese zu finden, in Giornico und Locarno so gut wie
in Como und Brescia, in Trient, Maderno, Verona und Cividale, eine Tatsache,
die daher zeigt, daß auch der südliche Teil der Alpen in der ersten Hälfte des
Mittelalters vollständig von dieser Kultur überzogen gewesen sein muß.
Langobardische Ganz im Gegensatz zu dieser Entwickelung steht es nun aber, daß den
unge^lnner" Langobarden auf dem gleichen Boden so bald die unstäte^ ausgreifende Art
halb des Alpen- abhanden gekommen ist, wie sie sich alle jungen Germanenvölker sonst viel
gebietes. jgj^g^j. gphaiten haben. Nur in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts hören wir
noch von Unternehmungen, die als Versuche der Langobarden angesehen werden
können, ihre Macht auch über die Alpen herüber zur Geltung zu bringen, und
auch diese bewegen sich nur über die Westalpen. Es ist ebenso der beherr-
schende Zug nach dieser Himmelsrichtung wie der Charakter jener Unter-
nehmungen als Raub- und Beutezüge, der hier zum Ausdruck kommt, da damals
am ganzen nördlichen Rande der Alpen allein das südliche Gallien von den
Langobarden und Franken in den Alpen. 35
Verheerungen der vorangegangenen Zeiten einigermaßen verschont geblieben
war. So machten die Langobarden zunächst im J. 571 einen nach damaligem
Sinne erfolgreichen Vorstoß auf der ligurischen Küstenstraße bis nach Nizza,
dem dann im folgenden Jahre ein zweiter folgte, der nur auf der Straße des
Mont Genevre geschehen sein kann '). Bereits diesmal wurden sie jedoch
zurückgeschlagen, und nicht einmal durch den Frankenkönig selbst, sondern nur
durch den an der Grenze kommandierenden Befehlshaber Mummulus, wie es
überhaupt bemerkenswert ist, wie sicher damals überall in Südgallien gegenüber
jenen Feinden die Selbsthilfe funktioniert, und im besondern, daß die Männer,
die an deren Spitze stehen, sämtlich wie dieser Mummulus keine germanischen
sondern noch gut römische Namen führen (Hospitius, Amatus, Sisinnius). Man
glaubt die Wallungen altrömischen Blutes zu bemerken, wenn dieser Mummulus
die über die Alpen gedrungenen Feinde dann auch bei allen ihren späteren
Unternehmungen erst in Grund und Boden manövriert und zuletzt aus dem
Lande hinaustreibt; aber nicht weniger mächtig macht sich doch auch in jenen
Vorgängen der Beginn einer neuen Zeit fühlbar; denn wir sehen hier wirklich
zum ersten Mal, aber klar und entscheidend genug, daß nun das Mittelalter an-
gebrochen ist, jene Lagerung der Kräfte, bei der die größere Energie, die Über-
legenheit des Willens, nicht mehr im Süden, sondern im Norden der Alpen
gesucht werden muß.
Jene späteren Invasionen, die von Kriegen, Manövern, Beutezügen, von allen
etwas an sich haben, fallen dann in das J. 574, als die Langobarden über den
Gr. S. Bernhard bis S.Maurice vordrangen-), und als letzte und größte Unter-
nehmung in das J. 575. Damals waren es die langobardischen Herzöge, Amo,
Zaban und Rodanus, also wie die Namen zeigen echte Germanenfürsten, die
erst vereinigt das Tal der Dora Riparia hinanstiegen, um dann, wie es die Struktur
der Gebirgswege dort an die Hand giebt, mit ihren Heerhaufen strahlenförmig
auseinanderzugehen. Diesmal gelangten jene nun auch wirklich bis weit in das
alte Gallien hinein, die südlichste Kolonne bis in die Provence, nach Marseille
und Aix, das sich mit 22 Pfund Silber von der Belagerung loskaufen mußte, die
mittlere bis Valence und die nördlichste bis Grenoble. Aber auch hier war es
Mummulus, dem es gelang, die Front der Feinde durch einzelne vernichtende
Schläge, von Norden anfangend, aufzurollen und sie dadurch über das Gebirge
zurückzuwerfen, und es ist nur bezeichnend für die damalige Kriegführung, wenn
dabei ausdrücklich hervorgehoben wird, daß der letzte Haufen, der die reichste
Beute mit sich schleppte, diese dann doch noch auf der Flucht in dem Schnee
der Alpen zurücklassen mußte ^). Auch ein Teil der Sachsen hatte sich damals
zugleich mit den Langobarden bis nach Italien verirrt, und auch jene Sachsen
sind, als sie nun von der einen Seite von den Langobarden, auf der anderen
von den Franken wieder abgeschoben werden sollten, in jenen Jahren auf ver-
') P. D. S. 51 f. 2) Oe. I. S. 239. •') P. D. S. 55.
3«
36 III- Kapitel.
schiedenen Wegen über die Westalpen herüber und hinübergezogen, eine Tat-
sache, aus der besonders auch hervorgeht, wie damals das alte, von den Römern
errichtete Straßennetz hier noch vollständig intakt gewesen sein muß.
Die Nordgrenze Seit diesen Ereignissensehen wir nun die Staatskunst der langobardischen
barde^nreiches! Herrscher sich lediglich auf die Sicherung ihrer Nordgrenze beschränken, für
die das Alpengebirge allein den Schutz und die Mauer des Reiches abgeben
sollte. Die Sterne Theodorichs sind also untergegangen, und wir finden jetzt
ganz dieselbe Grenzbehandlung wieder, wie sie schon von der römischen Republik
gehandhabt worden fWar; denn auch das langobardische Machtgebiet begann nicht
eigentlich auf dem Alpenkamm selbst, dort, wo rechts und links der Straßen-
ränder sich die weißen Gipfel des Hochgebirges erheben, sondern erst an den
südlichen Vorbergen, wo die Hauptwege in die blauende Ebene auslaufen. Hier
hat nun aber auch während der Langobardenzeit ein regelrechter Grenzschutz
bestanden, dessen Erhaltung und Ausbau in der folgenden Zeit für die lango-
bardischen Herrscher eine immer nötigere und dringendere Aufgabe wurde, der
aber, wie es in dem Wesen jeder tatenscheuen und vorsichtigen Verteidigung
liegt, seinen eigentlichen Zweck nicht erfüllen, sondern im besten Falle nur
retardierend wirken konnte.
So finden wir zunächst an einigen wichtigen Straßenstellen der Alpen, und
zuweilen auch schon im eigentlichen Hochgebirge (Hospental, Stalvedro, Giornico,
Locarno, Splügen, Garda) alte Befestigungsbauten, deren Ursprung von je her den
Langobarden zugeschrieben worden ist. Wenn das Aussehen und die Lage dieser
Bauten auch überall ohne weiteres ihr hohes Alter und den Zweck erkennen
läßt, dem sie einst dienen sollten, so ist doch noch bei keiner einzigen wirklich
der Beweis für jene Annahme erbracht worden. Indessen läßt sich doch auch
diesmal ein brauchbarer Kern aus jener Übereinstimmung der Überlieferung
herausschälen, da aus ihr als geschichtliche Tatsache nichts anderes als die rein-
liche und ängstliche Grenzsicherung nachklingt, wie sie von den Langobarden
einst an ihrer Nordgrenze tatsächlich gehandhabt worden ist. Ein anderes Indi-
zium dieser Art könnte man auch in dem Dasein der vielen kleinen Herzog-
tümer erblicken, die sich entlang der Nordgrenze des Langobardenreiches wie
ein Kranz aneinander reihten. Zwar war dieses Reich überall in solche Gebiete
geteilt, und wir wissen daher nicht, ob jene Organisation an dieser Stelle auch
nur der Schwäche der Zentralgewalt entsprang, oder ob ihr bereits derselbe Ge-
danke zu Grunde lag, der in den Tagen der Sachsen- und Frankenkaiser den
Osten Deutschlands mit Markgrafschaften umgürtete; es trifft aber jedenfalls zu,
daß an zwei Stellen, in Trient und am Langensee, jenen Herzögen wirklich auch
die Aufgabe des Grenzschutzes übertragen war').
Die wichtigsten und zugleich noch am deutlichsten erkennbaren Grenz-
sicherungen der Langobarden verkörpern sich dagegen in den sogenannten Klausen.
') P. D. S. 55, 73.
Langobarden und Franken in den Alpen. 37
Es waren dies starke, über die Sohle der Täler gespannte Schanzlinien, die nötigen-
falls mit Kriegsmaschinen armiert werden konnten, und die auf diese Weise die
von den Alpen nach Italien laufenden Wege gleichsam hermetisch abschließen
sollten. Solche Klausen wurden von den Langobarden im Tal der Dora Riparia
und Dora Baltea und am Austritt der von den bündner Pässen, dem Brenner-
und dem Pontebbapaß herabkommenden Straßen erbaut, an Punkten von gleich-
mäßig charakteristischer Lage, deren ursprüngliche Stelle wir zum Teil auch
heute noch dort in der Ortsbezeichnung wiederfinden können (Chiusa bei Susa,
Chiuso am Comersee, Chiusa nördlich Verona, Chiusa oberhalb Venzone)').
Auch das paßt zu diesem zwar ängstlichen, aber vom militärischen Standpunkt
aus doch völlig durchdachten Verteidigungssystem, wenn das an dem bedrohtesten
Abschnitt der Nordfront und auf der inneren Linie gelegene Turin im 8. Jahr-
hundert so stark befestigt war, daß es Karl d. Gr. fast uneinnehmbar fand 2).
Ein Teil dieser Klausen hat nun auch wirklich in den Kriegen gegen die Franken
eine Rolle gespielt-'); einen entscheidenden Einfluß haben sie jedoch niemals aus-
üben können, wenn auch ihr Name dann noch Jahrhunderte hindurch in den
Alpen für Wegesperrungen Anwendung fand, die dem gleichen Zwecke dienen sollten.
Schon aus dem Vorangegangenen ist es daher erklärlich, daß, wenn über- Die Unter-
haupt die Geschichte der Alpeniänder in den ersten Jahrhunderten des Mittel- der 'Fra"n^ken
alters Unruhe und Bewegung gezeigt hat, diese nur von den nördlich wohnen- in den Alpen,
den Völkern in jene hineingetragen worden sein kann. Aber auch die zahlreichen
Angriffskriege der Franken über den Alpenkamm nach Italien hinüber, von denen
diese Zeiten erfüllt sind, vermochten bis auf Karl d- Gr. eine Vernichtung der
langobardischen Herrschaft keineswegs herbeizuführen; bemerkenswert ist an
ihnen dagegen die Zähigkeit, mit der sie ausgeführt wurden, und die räumlich
große Ausdehnung, mit der die Franken immer wieder an den verschiedensten
Punkten der Alpen auftreten. Es ist eine Art der Kriegführung, die ganz und
gar noch das Wesen der Kriege der germanischen Völkerwanderung zeigt, und
bei der insbesondere auch der fast unversiegbar scheinende Kräfteüberschuß des
fränkischen Volksstammes hervortritt, bis er schließlich von dem Größten der
Pippiniden in feste Bahnen geleitet und als Werkzeug für die Begründung seiner
Herrschaft über das Abendland benutzt werden sollte. Für die Alpengeschichte
sind jene fränkischen Züge aber auch deshalb wichtig, weil sie sich nicht wie
die Züge der Langobarden allein auf die Westalpen, sondern auch weit über die
Zentralalpen hin erstrecken, und wenn von dorther aus dem Altertum nur die
Reste der römischen Organisation ihre imponierende aber eintönige Sprache
reden, so wird es dagegen nun auch hier von geschichtlichen Ereignissen lebendig,
die mit dröhnendem Schritt von Norden her herankommen und deren Nachhall
sich immer zahlreicher und sicherer mit den Gebirgslandschaften und Straßen-
punkten selbst verknüpft.
') Oe. I. S. 199. 2; M. O. I. S. 205. 3) P. D. S. 168, 169, 187.
38 III- Kapitel.
Bereits um das J. 580 sehen wir die Franken plötzlich an einem weit
von dem Sitze ihrer Macht entfernten Punkte gegen die Grenzen Italiens heran-
rücken, als sie in Südtirol Nano (bei Cles im Nonsberg) besetzen und sich hier
zunächst mit einem langobardischen Grenzgrafen herumschlagen. Die Besiegung
des letzteren auf den rotalianischen Feldern — gemeint ist die Rocchetta, der
Eingangspunkt in das Etschtal von jenen Gegenden aus — öffnet den Franken
dann sogar den Weg bis Trient. Als sie aber von dort, natürlich mit Beute be-
laden, wieder nach Norden abziehen, erscheint dann auch der langobardische
Herzog in Trient auf der Bildfläche, der ihnen nachrückt und bei Salurn dann
auch derart zusetzt, daß sie das ganze an der Grenze besetzte Gebiet wieder
räumen müssen. Schon bei dieser Nachricht des Paulus Diakonus ')> die dieser
in seiner kurzen, chronikartigen Rede wiedergibt, wird es uns vor allem inter-
essieren, auf welchen Alpenwegen die Franken schließlich bis nach Südtirol ge-
langt sind, und besonders gerade dorthin, wo sie zuerst auftauchen, in dem ganz
abgelegenen und von Norden nicht allzu leicht erreichbaren Nonsberg. Es ist dies
jedoch eine Frage, deren sichere Beantwortung so gut wie aussichtslos ist. Ge-
wiß deutet das Vorkommen von Salurn, des letzten Ortsnamens in diesem Zu-
sammenhange, darauf hin, daß den Franken auch die Brennerstraße nördlich von
Trient offengestanden haben muß. Zwingend würde dies aber doch nur für die
Strecke bis Bozen sein, während von hier ab nördlich wieder völlige Unklarheit
herrscht, ob die Brennerstraße selbst oder die Reschenstraße, oder gar der Tonal
als der Kanal für jene Ereignisse anzusehen ist.
Der gewaltigste Angriff der Franken auf das Langobardenreich ist bis auf
Karl d. Gr. derjenige vom J. 590 2), der deshalb auch alle die Züge des
Bildes in sich vereinigt, das wir uns von den Alpenkriegen der damaligen Zeit
machen können. Es sind weit ausgreifende, groteske Kriegszüge, zugleich aber
ihrer Anlage nach von einer unendlichen Ziellosigkeit und Unklarheit, die sich
bis in die Zeilen der Überlieferung fortsetzt, derart, daß der Verlauf jener Be-
wegungen nach Zeit und Ort auch nur in ebenso gewaltigen wie undeutlichen
Umrissen feststeht. Aber aus ihnen klingt trotzdem wie ein einziger erhabener
Grundton die wichtige Tatsache heraus, daß die Franken damals in mehreren
Heersäulen die Mittelalpen überschritten und so plötzlich an einer Stelle der
Nordgrenze Italiens erschienen, wo mit solchem Nachdruck noch niemals ein
Feind vom Gebirge her in jenes Land eingerückt war. Welche Alpenstraßen
die Franken dabei benutzt haben, davon giebt freilich weder die eine noch die
andere Quelle genaue Kunde, weil sie eben nur jene Örtlichkeiten nennen, an
denen die fränkischen Kolonnen schließlich auf den Boden Italiens aufgetroffen
sind^). Diese Örtlichkeiten sind einesteils Bellinzona und die Umgebung Mai-
lands, andernteils Verona; nur ist es hier bereits unklar, ob diejenigen Franken,
die in der Nähe Mailands und vor Bellinzona auftreten, vorher vereint oder in
1) P. D. S. 55; vgl. Eg. S. 216 f. 2) P. D. S. 63, 66, 68 f. 3) Vgl. Anh. 4.
Langobarden und Franken in den Alpen. 39
zwei Abteilungen getrennt über die Alpen marschiert sind, während das eine
allerdings sicher ist, daß die östlichste Kolonne für sich allein einen besonderen
Weg durch die Alpen einschlug, für den nur der Julier oder irgend ein Über-
gang östlich desselben in Frage kommen kann. Daß ein auf Südtirol zu führen-
der Übergang den Franken damals gewohnt gewesen ist, konnten wir schon aus
den Ereignissen herleiten, die sich etwa 10 Jahre vorher um Nano und Trient
abspielten; viel größere Beachtung verdient dagegen bei diesen Einfällen das
Vorkommen des Ortes Bellinzona, weil derjenige, der damals diesen Punkt von
Norden angriff, vorher nur über den Gotthard, den Lukmanier oder den Bern-
hardin die Alpen überschritten haben kann, und weil daher nunmehr auch der
Schleier von jenen innersten Übergängen der Alpen hinweggerissen worden ist,
die das römische Altertum stets als militärisch gänzlich unwichtig bei Seite liegen
gelassen hatte.
Interessant aber in ihrer Beantwortung gleich unsicher ist weiterhin auch
die Frage, welchen Weg die Franken bis dahin genommen haben, wo sie schließ-
lich nördlich des Alpenkammes in einzelne Abteilungen auseinandergegangen sind.
Da nun aber die Alpenüberschreitung selbst, für einen Teil der Franken wenig-
stens, mit der größten Wahrscheinlichkeit auf die bündner Pässe hinweist, so
kann man sich auch ganz gut vorstellen, wie das von Metz herankommende
fränkische Heer von dort zunächst auf der Bahn jener alten Römerstraße über
Äugst und Windisch weitergezogen ist '). Auch hier zeigt sich also wiederum
die Veränderung der Weltlage; es sind dieselben geographischen Grundbedingungen,
aber die Kräfte, die von ihnen Gebrauch machen, bewegen sich in einer ganz
neuen, dem römischen Altertum durchaus entgegengesetzten Richtung.
Auch darüber, wie der eigentliche Feldzug nach Überschreitung der Alpen
in Oberitalien ausgelaufen ist, läßt sich kein deutliches Bild gewinnen. Auf
das Verhalten der vor Mailand stehenden fränkischen Abteilung scheint zunächst
bestimmend eingewirkt zu haben, daß sie auf das Eingreifen eines byzantinischen
Hilfsheeres rechnete, eine Lage, die jedoch, wie in den weitaus meisten Fällen
gleicher Art, auch diesmal nur dazu geeignet war, die Energie der Führung zu
schwächen. Bei beiden Gegnern hat die Kriegführung dann auch hier jene zähe
furchtbare Gestalt angenommen, wie sie sich stets in solchen kulturfeindlichen
Zeiten herausbildet, in denen der Angriff mit der Eroberung in der gröbsten
Form, mit Raub und Zerstörung gleichbedeutend ist, während der Angegriffene
sich in seine festesten Plätze zurückzieht, und das Schicksal des Feldzugs allein
von deren Widerstandskraft abhängig bleibt; und wenn die Franken hier zuletzt
durch eine verheerende Seuche zum Rückzug auf der ganzen Linie gezwungen
wurden, so ist dies gleichfalls ein Abschluß, wie er sich bei einer solchen Krieg-
führung besonders häufig einzustellen pflegt.
Gewissermaßen als Episode, aber als eine solche, die ein Meer von Pro-
') Eg. S. 220.
40 III. Kapitel.
blemen niederen Ranges in sich schließt, steht am Schlüsse dieses Feldzugs bei
Paulus Diakonus noch die Notiz, in der dieser von der Eroberung des Trienter
und Veroneser Gebietes durch die Franken erzählt und dabei diejenigen Punkte
namhaft macht, wo der langobardische Widerstand gewaltsam gebrochen werden
mußte. Dieser Verlauf teilt sich zeitlich und örtlich genau in zwei Abschnitte,
in den zweiten, bei dem das Valsugana und Verona darankamen, und in den
diesem vorangegangenen, als in Südtirol nicht mehr als zehn Burgen von den
Franken zerstört wurden '). Auf diesen letzteren Punkten lastet nun freilich ein
schweres Schicksal, da nur zwei von ihnen, Male und Cembra, auf den ersten
Blick mit Sicherheit wiedererkannt werden und so hier die Rolle des Polar-
gestirnes abgeben können, die anderen acht dagegen immer und immer wieder
zu verschiedenen Deutungen Veranlassung geben müssen. Aber trotzdem ge-
wahren wir doch auch hier mit aller Deutlichkeit, wie die südliche Brenner-
straße und sogar ihre sonst so stillen und abseits liegenden Nebengebiete damals
von Wohlstand und Leben überzogen und eben deshalb ein beliebtes Ziel der
feindlichen Einfälle gewesen sind. Eine gewaltige Zeit, ein bewegtes Stück der
Geschichte Südtirols liegt demnach hier begraben; aber es mag doch erwähnt
werden, daß Einzelheiten der alten deutschen Heldensage, für deren historische
Bestandteile wir sonst kaum irgendwo anders eine bessere Beziehung ausfindig
machen können, sich gerade hier gern an solche Punkte anklammern, auf die
wir bei der Durchforschung jener Frankenkriege auftreffen. So spricht man
noch heute in der Gegend der Rocchetta von einer großen Schlacht, die einst
dort geschlagen worden sein soll; über Salurn liegt die sagenberühmte Hader-
burg, und wer an einen Zug Karls d. Gr. über Madonna di C. nicht glauben
mag2), der muß wenigstens mit der Tatsache rechnen, daß hier wirklich einmal
bei Deggiano (Tesana) und Male ein fränkisches Heer das Gebirge unsicher ge-
macht hat.
In den späteren Zeiten scheinen sich die Franken dagegen bei ihren Ein-
Fällen nach Italien fast nur auf die Westalpen beschränkt zu haben; sicher ist
dies jedenfalls bei jenem Zuge, der in der Mitte des 7. Jahrhunderts bis in die
Gegend von Asti gelangte und dort durch einen Sieg des Langobardenkönigs
Grimoald zum Stehen gebracht wurde^). Besonders kamen aber dann alle die
Angriffe, die später von den Pippiniden Schlag auf Schlag gegen das Langobarden-
reich gerichtet wurden, lediglich über die westlichen Pässe herangezogen; so be-
nutzte Pippin zu dem ersten Zug vom J. 754 den Mont Cenis, zu seinem
zweiten im J. 756 diesen oder den Gr. S. Bernhard, während Karl d. Gr.,
als er 773 zu dem letzten entscheidenden Stoße ausholte, in zwei Kolonnen die
Westalpen überschritten hat"*). Der Grund dafür aber, daß jene letzten Züge
nicht wie die früheren an dem Nordrand Italiens stecken blieben, sondern bis
zur feindlichen Hauptstadt Pavia ausliefen, mag vor allem in den Persönlichkeiten
') Vgl. Anh. 5. 2) Vgl. Anh. 8. 3) p. d. s. 106. *) Oe. 1. S. 201.
Langobarden und Franken in den Alpen. 41
der Herrscher zu suchen sein, die jene von der Natur vorgeschriebenen, in das
Herz des Langobardenreiches führenden Alpenstraßen zielgerecht zu benutzen ver-
standen.
Vollständig klar zeigt sich dies jedenfalls bei dem Zuge vom J. 773. Der Alpenfeid-
Wie bei genauerer Betrachtung unter den Eigenschaften Karls des Gr. diejenigen c^r vom j. 773.
des Feldherrn mindestens ebenso glänzend wie alle anderen heraustreten, so war
auch jener von ihm persönlich angelegte Feldzug ein Meisterstück ersten Ranges;
denn es gelang Karl hier, nach getrenntem Marschieren vereint zu schlagen, und
zwar noch dazu unter besonders erschwerenden Umständen, nach einem getrennten
Marsche über das Hochgebirge. Es ist bekannt, mit welch' lebhaften aber auch
unklaren Zügen die Sage diesen siegreichen Alpenfeldzug Karls ausgeschmückt
hat '), wie ein langobardischer Spielmann den Franken den Weg über das Hoch-
gebirge gezeigt haben soll, und wie Desiderius, der unten in der Ebene in seinen
Befestigungen bis auf die Zähne bewaffnet den Feind erwartete, dann, als ihm
Karls Persönlichkeit vor Augen trat, von Schrecken gepackt blindlings nach
seiner Hauptstadt Pavia geflohen sei. Der große und unerwartete militärische
Erfolg, den Karl hier errang, ist es also, der, gewaltig und einzigartig wie er war,
aus allem diesen noch herausklingt, eine Tatsache, die übrigens auch alle anderen
Quellen über jene Vorgänge gleich deutlich erkennen lassen, wenn jene auch
sonst gerade hier von einer verzweifelten Unklarheit sind, so daß man sich weiter-
hin an der Erklärung der lokalen Einzelheiten dieses Feldzuges fast bis zum
Mißmut versuchen kann.
Sicher ist bei jenem Zuge Karls zunächst nur, daß vorher Genf der Sammel-
punkt des Heeres war und daß dieses hierauf in zwei Kolonnen, die nördliche
unter Kar's Oheim Bernhard über den Gr. S. Bernhard, die südliche unter Karl
selbst über den Mont Cenis das Gebirge überschritt, und daß beide so bis an
den Südfuß des Gebirges gelangten. Durchaus unklar ist dagegen, welche Maß-
nahmen dann zu jenem vollständigen Erfolge führten, derart, daß der Langobarden-
könig plötzlich jeden Widerstand aufgeben und Hals über Kopf seine starke
Stellung bei Susa räumen mußte-). So ist dieser Alpenfeldzug Karls durchaus
ein Seitenstück zu Hannibals Marsch über die Alpen, als großartige militärische
Leistung, nicht minder aber auch hinsichtlich der über seinen lokalen Verlauf
gebreiteten Unklarheit, ein Verhältnis, das aber eben hier wie dort, wie eine
lebendige Quelle, die bald versiegt und dann um so stärker emportreibt, der
Forschung immer wieder neuen Stoff und neue Anregung geliefert hat.
Wenn die Überlegenheit der Franken über die Langobarden während jener Die Bedeutung
Jahrhunderte eine Tatsache ist, die durch jede Zeile der geschichtlichen Über- KiauTeV.'**^ *"
lieferung ihre Bestätigung findet, so würde uns doch auch ohne dies ein noch
heute in unverminderter Stärke fortwaltender Zustand hierfür einen mindestens
ebenso starken Beweis liefern können. Zu allen Zeiten, in denen die Grenzen
') P. D. S 187 f. ^) Vgl. Ab. S. 141 f. u. Anh. 6.
42 III. Kapitel.
zweier Gebiete mit dem Lauf der Gebirgskämme zusammenfielen, ist dies auch
ein Zeichen dafür gewesen, daß auf keiner Seite ein Bestreben, sich auszudehnen
vorlag, und daß daher auch zumeist die Machtverhältnisse diesseits und jenseits
annähernd gleichwertig waren. Sobald aber auf der einen Seite die Mächte des
Fortschritts sich rühren, so wird stets, je stärker diese emporkommen, auch um
so mehr das Bestreben sich geltend machen, die eigenen Grenzen wenn nicht
auszudehnen, so doch zum mindesten auf die vollendetste Art zu sichern. Das
Wesen einer solchen Grenzgestaltung hat nun aber in allen Gebirgsländern
und zu allen Zeiten niemals in deren ununterbrochenem Lauf entlang der höchsten
Kämme bestanden, sondern jene mußte sich wie mit Naturnotwendigkeit überall
da, wo diese Kämme von den wichtigen Paßwegen überschritten werden, ein
ganzes Stück in das Nachbargebiet vorschieben, um diese Übergänge für sich
allein zu beliebiger Benutzung freizuhalten, als ein wirklich in das Dasein ge-
tretener Beweis und als eine andauernde Mahnung für den jenseitigen Nachbar,
daß man sich ihm gegenüber als der Mächtigerere fühlt. Solche Zustände haben
dann aber auch, weil sie zumeist lange Zeiträume andauerten, in dem Kultur-
bild des Gebirges viel tiefere Spuren zurückgelassen als einzelne Ereignisse von
augenblicklich noch so imposanter Wirkung.
Ein besonders deutliches Beispiel dieser Art treffen wir nun auch im frühen
Mittelalter. Wenn im allgemeinen auch richtigerweise das damalige Wesen am
Südrand der Alpen als langobardisch bezeichnet wird, so trifft dies doch für eine
Stelle nicht zu. die nach dem Vorangegangenen nur dort gesucht werden kann,
wo die der fränkischen Macht am nächsten liegenden westlichen Wege der Alpen
nach Italien hinabliefen. Schon in den ersten Kämpfen zwischen Franken und
Langobarden muß die beherrschende Lage jener Übergänge innerhalb der damaligen
Machtverhältnisse so deutlich hervorgetreten sein, daß die Franken sich sofort in
deren Besitz setzten. Die Zugehörigkeit der Stadtgebiete von Susa und Aosta
zu dem burgundischen bezl. fränkischen Reiche ist seit dem J. 572 sicher
nachweisbar'); besonders sind aber weiterhin genug Anzeichen vorhanden, daß
die nördlichen Machthaber auch wirklich von Anfang an alle Anstalten trafen,
diese Gegenden dauernd festzuhalten. Es liegt also hier der seltene Fall vor,
daß wir selbst in jenen unfertigen Jahrhunderten, denen eine genaue Feststellung
der Grenzen sonst ganz fernlag, einer Grenzsicherung bis in das Kleinste nach-
kommen können, wie sie zu allen Zeiten für eine überlegene Macht vorbildlich
gewesen ist.
Die militärischen Maßregeln der Franken beschränkten sich aber nicht
allein auf die Besetzung jener Städte, sondern sie legten nun auch ihrerseits
jenseits des Gebirges besondere, gleichfalls mit dem Namen Klausen bezeichnete
Grenzsperren an, die ihrer Lage und Orientierung nach daher denjenigen der
Langobarden direkt entgegengesetzt sein mußten. Wir wissen, daß solche frän-
1) Oe. I. S. 191.
Langobarden und Franken in den Alpen. 43
kische Klausen bei Susa und Aosta bestanden haben, und es werden auch im
J. 894 noch dieselben Werke gewesen sein, an denen Arnulf nördlich Ivrea
so besonders hartnäckigen Widerstand fand, als er damals einen Angriff gegen
das neu entstandene burgundische Reich von Italien aus unternahm '). Daß aber
auch ein ständiger Polizeidienst hier gehandhabt worden ist, zeigt das Schicksal
Griphos, eines fränkischen Thronprätendenten, der im J. 753 auf seiner Flucht
nach Italien von den in der Maurienne stationierten fränkischen Grenzwächtern
erschlagen wurde '). In Gestalt der Anfügung sowohl des Tales von Susa wie
desjenigen von Aosta an fränkische Diözesen lieferte dann die kirchliche Organi-
sation ein weiteres und in diesen Zeiten besonders kräftig wirkendes Mittel, um
die Vereinigung dieser exponiert liegenden Gebirgstäler mit dem fränkischen
Reiche zu befördern. Das Tal von Aosta gehörte zur Kirchenprovinz der Taran-
taise, während Susa sich bereits 588 auf Kosten Turins mit der neu konstituierten
Diözese von Maurienne vereinigt findet. Ein Zeichen aber dafür, wie fest
schließlich jene Nordwestecke Italiens mit dem Nordland zusammenwuchs, und
wie rasch diese Verbindung sich in der Vorstellung des Mittelalters einlebte,
liegt schon in der Divisio imperii Karls des Gr. (806) vor, die das Tal von Aosta
ohne weiteres als einen Teil von Burgund ansieht ^). Auch im J. 1026 wird
die Gegend von Bard als die äußerste Grenze Italiens bezeichnet, und die
mittelalterlichen Reiseberichte lassen ganz genau erkennen, wie erst östlich Susa
die Rechnung nach italienischen Meilen beginnt ■*). Ein sprechender Nachklang
jenes Zustandes, lebensvoller als alle aus alter Vorzeit hervorgeholten Zeugnisse,
ist aber darin erhalten geblieben, daß heute noch in jenen Tälern auf der italie-
nischen Seite des Alpenkammes die französische Sprache herrscht. Noch heute
reicht hier das französische Sprachgebiet fast genau bis dahin, wo einst die
fränkischen Besatzungen von ihren Klausen auf die nach Italien führenden Wege
herabblickten, und es sind zwar Südländer, aber doch keine eigentlichen Italiener,
die in Aosta Viktor Emmanuel II. als ihrem roi chasseur ein Denkmal gesetzt
haben.
') Oe. I. S. 200, 240, 245. 2) Oe. I. S. 201. 3, Oc. I. S. 239. '>) Oe. 1. S. 239, II. S. 296.
IV. Kapitel.
Die Bayern.
Die Herkunft Wenn das Einfache nur bei geordneten Verhältnissen das Wahrscheinliche
ayern. .^^^ ^.^ germanische Völkerwanderung aber alles andere als dieses bedeutet,
so ist auch in jenen Zeiten das Ungewohnte und Plötzliche oft das Zutreffende,
wie wir dies eben erst an jenem Teil der Sachsen beobachten konnten, die mit
den Langobarden von Osten her nach Italien gekommen waren und durch Frank-
reich nach Norddeutschland in ihre alten Sitze zurückwanderten '). Eine ähnliche
merkwürdige Tatsache steht nun auch in der Art und Weise vor uns, wie die
Bayern in der Geschichte auftreten, von denen wenigstens dem Namen nach
vorher nicht das Geringste verlautet hat, und die nun plötzlich in der zweiten
Hälfte des 6. Jahrhunderts als ein zahlreiches und kräftiges, geschlossenes und
gleichartiges Volk nördlich der Alpen sich geltend machen.
Auch über die Herkunft der Bayern wird die Forschung wohl niemals eine
allen Zweifel ausschließende Antwort geben können. Das Wahrscheinlichste
bleibt aber doch, daß diese nichts anderes sind als das Volk der Marcomanen
(Sueben), die im Altertum in Böhmen saßen und als solches in den Marcomanen-
kriegen Mark Aureis auch genug Zeugnisse ihres Daseins gegeben haben- Schon
deshalb hat jener Gedanke etwas für sich, weil es so am leichtesten ist, das
Schicksal der Marcomanen selbst zu enträtseln, die sonst als einer der gewaltigsten
germanischen Stämme des Altertums einfach vom Erdboden verschwunden sein
müßten. Wir wissen außerdem, daß diese sich zwar jahrhundertelang in der
römischen Klientel befunden haben, aber ebenso auch niemals von den Römern
völlig überwunden worden sind 2). Ist demnach kein eigentliches Ereignis be-
kannt, wodurch die Marromanen wirklich untergegangen sein könnten, so paßt
andererseits zu jenem Einfluß von Süden her, dem diese ein halbes Jahrtausend
hindurch ausgesetzt gewesen sein müssen, ganz und gar das Wesen der Bayern
und deren körperliche Bildung, wie wir sie von Anfang an vor uns haben, nicht
1) P. D. S. 52 f. 2) Vgl. Mommsen, Römische Geschichte. 5. Au. V. B. S. 195, 197, 215.
Die Bayern. 45
mit SO rein germanischen Zügen, nicht so blond und blauäugig wie die übrigen
Germanen; auch jene ausgesprochene Neigung für eine feste monarchische Führung
findet sich bei beiden, bei Marcomanen und Bayern, in gleicher Weise.
Schwierig ist es freilich, einen Zusammenhang in den Ereignissen zu kon-
struieren, durch die das geschlossene Volk der Marcomanen Böhmen verlassen
und sich südlich der oberen Donau und in weitem Umkreis um Regensburg
niedergelassen hat. Wenn aber die Franken unter Chlothar im J. 531 das
Doppelreich der Thüringer niederwerfen, jene selbst aber ein Menschenalter
später in denselben Landschaften von den Avaren völlig geschlagen wurden '),
so müssen einerseits auch die Marcomanen in diese Kämpfe mit verwickelt
worden sein. Da man aber andererseits jenen beiden Parteien, die hier von
weither aufeinandertrafen, den Franken so gut wie den Avaren, damals kaum
die Kraft zutrauen kann, einen großen germanischen Stamm völlig zu vernichten,
so bleibt doch die Möglichkeit übrig, daß die Marcomanen, von Franken und
Avaren gedrängt, nach Westen auswichen, und nun anstatt ihrer die Slaven in
Böhmen einzogen, die wir jetzt überall an den Fersen der Avaren hängen sehen.
Es ist bezeichnend für die ganze, nunmehr ein und ein halbes Jahrtausend Das alte
hindurch in selbständiger und ununterbrochener Folge existierende bayrische Herrscherhaus.
Geschichte, daß dieses Volk, sobald es überhaupt zum ersten Mal genannt wird,
auch sogleich als eine Art europäischer Macht auftritt. Das Gebiet aber, das
wir ihm damals zunächst zuweisen müssen, bildete die alte römische Provinz
Vindelicien nebst dem westlichen Teile des alten Ufernorikums, jedoch so, daß
der Schwerpunkt der bayrischen Macht ganz ausgesprochen in der nördlichen
Hälfte dieses Komplexes lag, und daß westlich der Lech und östlich die Enns
nur als die ungefähren Grenzen jenes Machtbereichs gelten können. Der Sitz
der bayrischen Herrscher selbst ist aber Regensburg geworden, das schon im
S.Jahrhundert als eine ausnehmend feste Stadt geschildert wird, „von Quader-
steinen erbaut, überragt von hohen Türmen, reich an Brunnen" ^), und man sieht,
wie sich hier bei dem Reichtum an Quadersteinen und an Wasserversorgung
noch ganz die Merkmale der römischen Bauweise erhalten haben. Von hier
aus hat also damals das bayrische Herrschergeschlecht der Agilolfinger ungestört
die Arbeit der Konsolidierung des Reiches durchgeführt, wobei es weiterhin
wichtig ist, daß jenes trotz seiner äußerlichen Abhängigkeit vom fränkischen
Reiche durchaus in der Rolle einer europäischen Dynastie erscheint. Dies zeigt
sich darin, daß Paulus Diakonus dem Bayernherrscher Garibald zweimal den
Titel König giebt^), und besonders in der fortdauernden Verwandtschaft der Agilol-
finger mit dem fränkischen und langobardischen Königshaus, ein Verhältnis, das
in jenen monarchischen Zeiten am allerehesten als ein Sinnbild nicht allein der
Ebenbürtigkeit der Dynastien sondern auch der von ihnen beherrschten Reiche
') P. D. S. 38; Vgl. Bachmann, die Einwanderung der Bayern, Wien, Sitzungsberichte 91 B.
2) Ri. I. B. S. 57. 3) p. D. S. 55,66.
46 'V. Kapitel.
angesehen werden kann. Von den Eigenschaften und Schicksalen jener Bayern-
fürsten — selbst darüber, ob sie ursprünglich ein einheimisches oder gar ein
fränkisches Geschlecht waren — wissen wir freilich noch weniger als von den
damaligen Langobarden- und Frankenkönigen, eine Lücke, die aber nur den
Schluß rechtfertigt, daß deren Stellung im Innern durchaus gefestigt war, und
es muß ferner auch auffallen, daß man Kriegs- und Beutezügen, wie überhaupt
jenem damals üblichen, weiten und uferlosen Ausgreifen über die Grenzen hinaus,
in der ältesten bayrischen Geschichte am allerwenigsten begegnet.
Die Tätigkeit Denn die Tätigkeit der Agilolfinger muß zu allen Zeiten ihrer Herrschaft
gl 0 "g«''. y.^j mehr nach innen als nach außen gerichtet gewesen sein. Mit Recht messen
wir aber gerade in unfertigen, kriegerischen Perioden die Größe eines Herrschers
weniger nach seiner Wirksamkeit nach außen, sondern auf Grund der Schwierig-
keiten in der Ausführung mehr nach seiner Regierungstätigkeit im Innern. Weil
sie die Hauptaufgabe ihres Lebens in der Schaffung einer neuen Kultur suchten,
deshalb haben der Ostgote Theodorich und der Franke Karl den Beinamen des
Großen erhalten. Auch den Agilolfingern kommt hier im kleinen Kreise der-
selbe Ruhm zu, wie sie daher nach dem Maßstabe der damaligen Zeiten als ein
aufgeklärtes und hochstehendes Geschlecht betrachtet werden müssen.
Dies tritt nun ebensosehr in der Entschiedenheit hervor, mit der sie sich
der Kirche bedienten, durch deren Hilfe sie damals am mächtigsten in ihren
Zielen gefördert werden konnten, wie in der Selbständigkeit, mit der sie ihren
Willen und ihren Einfluß bei der Auswahl der Punkte für jene kirchliche Wirk-
samkeit geltend machten. Der Geschichtsschreiber fühlt sich nie ganz wohl,
wenn er Heiligengeschichten, seien sie auch noch so fromm, selbst noch so alt,
für seine Zwecke verwendet. Aber es ist doch vielleicht ein Stück ungetrübter
historischer Wahrheit, wenn aus dem Leben des h. Emmeran (f 652) berichtet
wird, daß dieser, als er nach Osten zur Bekehrung der Avaren reisen wollte, in
Regensburg von dem Bayernherzog Theodo veranlaßt worden sei, dauernd dort
zurückzubleiben, und daß diesem Entschluß jenes berühmte Regensburger Kloster
seinen Ursprung verdankt. Ebenso ging dann nach der Zerstörung Lorchs (738)
die Rolle des dortigen Bistums ganz von selbst auf das neugegründete Passau
über, wodurch nun auch diese zweite Residenz der Agilolfinger zu einem Bischofs-
sitze kam, dessen Machtbereich in der ersten Hälfte des Mittelalters östlich weit
die Donau entlang bis zur ungarischen Grenze hinabreichte.
Überhaupt wird es kaum ein anderes Land geben, in dem gerade allein im
S.Jahrhundert eine so vielseitige kirchliche Kulturtätigkeit eingesetzt hat wie in
Bayern. Wo aber auch solche Gründungen vorhanden sind, wird als ihr Stifter
fast immer zugleich auch ein Agilolfinger genannt. Im eigentlichen Kernlande
der bayrischen Macht sind jene begreiflicherweise am zahlreichsten zu finden.
So half im J. 724 Grimoald Korbinian das Bistum Freising gründen, 740 ent-
stand Benediktbeuern, als dessen Gründer die Grafen Landfried, Waltram und
Die Bayern. 47
Eleland, möglicherweise auch Mitglieder der herrschenden Familie erscheinen,
und wo bei der ersten Anlage auch sofort die Loisach überbrückt und durch
das sumpfige Tal eine Straße geführt wurde '). 741 entstand unter Herzog Odilo
Eichstädt, und 746 stifteten zwei Agilolfinger, Adalbert und Ottokar, Tegernsee,
während Tassilo II. dann Wessobrunn (753), Scharnitz (764) und 764 und 783 die
Klöster auf den Inseln des Chiemsees gründete; die Zahl 783 ist nebenbei die
letzte derartige vor dem Verschwinden jenes alten Herrschergeschlechtes aus
der Geschichte.
Nicht so zahlreich begegnet man dagegen solchen Gründungen in den
bayrischen Nebenländern, obgleich gerade diese für uns die wichtigeren sind,
weil wir an ihnen zugleich erkennen können, wie weit sich damals bereits die
bayrische Macht in die Alpen hinein erstreckt hat. Die Schenkung auf dem
Grund und Boden des alten Juvavum an den h. Rupert durch Herzog Theodo
im J. 696-) würde, wenn sie wirklich stattgefunden hat, auch die damalige
Zugehörigkeit des alten Ufernorikums zu Bajuvarien beweisen, eine Tatsache,
die weiterhin jedoch aus der Gründung der Benediktinerabtei Mondsee im Salz-
kammergut (748) durch Odilo II. zweifelsfrei hervorgeht. Direkt nach Süden, in die
Alpen hinein, ist dagegen nur eine einzige derartige Gründung aus agilolfingischer
Zeit zu entdecken, das Kloster Innichen im Pustertal, wohin Tassilo II. Mönche
aus dem Kloster Scharnitz verpflanzte. Die Urkunde hierüber wurde im J. 770
von Tassilo in Bozen ausgestellt, als er von einer Reise aus Italien zurückkehrte •'),
und wenn es auch in späteren Zeiten bei Klostergründungen ein ganz gebräuch-
licher und nichtssagender Ausdruck wird, daß die für sie gewählten Plätze von
alters her wüste und leer gelegen hätten, so ist derselbe Zusatz bei dem hohen
Alter dieser Urkunde und angesichts der Slavenkriege, die über jene Gegend
vorher gegangen sind, doch vielleicht wirklich etwas wörtlicher zu nehmen. Im
äußersten Osten, an der Enns, wird dagegen die Grenze des alten bayrischen
Machtgebietes durch die Erbauung der Abtei Kremsmünster (777) bezeichnet.
Gerade Kremsmünster, dessen Entstehung von einem Kranze sinniger Sagen
umwoben ist, wurde von seinem Gründer ganz bewußt als Kulturträger und als
ein Bahnbrecher gegen die Slavenwelt geschaffen; es sind daher auch keine
Redensarten, sondern Worte schweren geschichtlichen Inhalts, wenn Tassilo hier in
der Stiftungsurkunde sagen läßt, seine Vorfahren hätten ihre Hauptaufgabe in der
Erbauung von Kirchen und Klöstern und in der Freigebigkeit gegen diese erblickt,
ein Bestreben, dem auch er nicht nachstehen wolle, und wie eine Vorahnung
des über jene Dynastie hereinbrechenden Schicksals mutet es an, wenn hier
noch einmal, wenige Jahre vor deren Untergang, das Fazit ihrer Arbeit gezogen
wird ••).
Diese Klostergründungen inmitten der Berge führen uns nun aber zu der Das Eindringen
Frage, in welcher Weise sich die Bayern überhaupt nach Süden, Südosten und ^^j^^lT*""
2—: i L ' in die Alpen.
') Ri. I. B. S. 112f. 2) Ri. I. B. S. 93. -5) Ab. S. 67. ") Ab. S. 281 f.
48 JV. Kapitel.
Osten in die Alpen hinein ausgedehnt haben. Es ist dies jene, von der heutigen
bayrischen Hochebene ausgehende Expansionsbewegung auf politischem, kultu-
rellem und ethnologischem Gebiet, die während der ersten Hälfte des Mittel-
alters für Südostdeutschland das eigentliche Grundelement der historischen Ent-
wickelung ausmacht, und die, bereits mit den ersten Agilolfingern beginnend, bis
zu den Zeiten Friedrich Barbarossas angedauert hat. Sie ist als solche zugleich
nichts anderes als ein Teil der Zurückeroberung der ganzen östlichen Hälfte des
heutigen Deutschlands durch das deutsche Volkstum, aber doch zeitlich und
räumlich ein besonders selbständiger und scharf umrissener Abschnitt derselben,
weil diese hier volle drei Jahrhunderte früher als an der Saale und Elbe ein-
gesetzt hat und überwiegend allein von dem bayrischen Stamm durchgeführt
worden ist. Und wenn wir bisher stets gewohnt gewesen sind, unsere Blicke
von dieser ganzen Entwickelung hinweg auf die glänzenden Ereignisse der deut-
schen Reichsgeschichte, auf die Taten und Schicksale der deutschen Herrscher
zu richten, derart, daß eine zusammenfassende Geschichte dieser großen deut-
schen Eroberungen auch heute noch fehlt, so ist dies selbst nur ein verirrter
Nachklang des Mittelalters, jener eigenartigen Bewertung der geschichtlichen Kräfte,
wie sie damals üblich war, die der Lebensauffassung der Antike wie ebenso
der der späteren Zeiten ganz entgegengesetzt gegenübersteht.
Die Völker, denen die Bayern bei ihrem Vordringen damals begegnen
mußten, konnten aber keine anderen sein als im Süden die Langobarden, im
Südosten und Osten dagegen die Slaven und Avaren. In einer Reisebeschreibung
aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts')» die wir dann noch einmal bei der
Beschreibung der Ploeckenstraße zu erwähnen haben, erzählt der Verfasser:
„Wenn dir von Augsburg aufbrechend nicht die Bayern hinderlich sind, die
neben dem Brenner wohnen, so reise weiter durch die Alpen und betritt diese im
Inntal". Hier gewahren wir also die Bayern nicht nur deutlich am Nordrand
der Alpen, sondern möglicherweise auch schon bereits in Nordtirol, sicherlich aber
noch nicht auf der Brennerhöhe selbst, während weiterhin noch jene Andeutung,
daß der Reisende gerade bei den Bayern in Unbequemlichkeiten geraten könne,
auf ein kräftiges, sein Hausrecht energisch wahrendes Volk schließen läßt. Jeden-
falls stimmt es mit jener Sachlage überein, daß auch im Nibelungenlied, das in
diesem seiner Bestandteile die Verhältnisse der gleichen Zeitperiode als Unter-
lage hat, die Burgunderkönige bei dem Durchzug durch Bayern auf ihrer Reise
nach Ungarn, und eigentlich ohne jede rechte Motivierung, auf Schwierigkeiten
stoßen.
Ist somit der Anfang jener Bewegung bestimmbar, so können wir ihren
Fortgang aus einigen Stellen der Langobardengeschichte des Paulus Diakonus
erkennen, als dieser einmal von den Kämpfen der Bayern gegen die Slaven im
Pustertal und das andere Mal von solchen gegen die Langobarden in der Bozner
>) w. s. 63.
Die Bayern. 49
Gegend redet')- Es ist jedoch hervorzuheben, daß es bei diesen Kämpfen ins-
gesamt zweifelhaft bleiben muß, ob sie wirkliche Kriegszüge oder nur Grenz-
streitigkeiten untergeordneter Art bedeuten, wie noch vielmehr, daß sie auch
sonst einen verschiedenen geschichtlichen Wert besitzen. Denn jene Kämpfe
der Bayern mit den Langobarden in Südtirol sind schon damals nur der Ab-
schluß einer bestimmten Erweiterung der bayrischen Grenze, während die mit
den Slaven ganz im Gegenteil als nichts anderes als der Beginn der Zurück-
eroberung der Ostalpenländer unter die bayrische, fränkische und deutsche Herr-
schaft anzusehen sind. Zeitlich wissen wir aber aus jenen Nachrichten doch so
viel, daß die Bayern spätestens am Beginn des 7. Jahrhunderts am Südfuß des
Brenner angelangt gewesen sein müssen, da sie um 610 bei Aguntum mit den
Slaven im Pustertal zusammentreffen, und ebenso, daß in der Mitte dieses Jahr-
hunderts dann auch das heutige deutsche Südtirol von ihnen okkupiert gewesen
ist, da wenig später (679) ein bayrischer Graf in Bozen seinen festen Sitz hat.
Mit jener letzten Nachricht des Paulus Diakonus betritt also die Geschichte
dauernd das heutige Deutschtirol, das im römischen Altertum kaum mehr als ein
Teil einer glücklichen und stillen Randprovinz gewesen war, und wenn damals
von Bauzanum und den anderen Kastellen in dessen Umgebung die Rede ist,
so können wir uns schon jetzt den Bozner und Meraner Kessel als jene Burgen-
landschaft vorstellen, wie sie auch heute noch hier vor uns ausgebreitet liegt.
Vor allem ist es nun auch endlich einmal möglich auf Grund des Wortes Bau-
zanum in Bozen selbst festen Fuß zu fassen, während die Namhaftmachung der
anderen Burgen in jener Gegend, die der Geschichtsschreiber im Sinne gehabt
hat, nur Vermutungen zuläßt. Aber gerade hier haben wir einen Fall vor uns,
bei dem die in das Einzelne gehende Forschung vollständig überflüssig ist neben
dem Augenschein, der in dieser Gegend überall an Ort und Stelle eine Ahnung
von dem Charakter jener Zeiten im Großen und Hauptsächlichen zurückzubannen
vermag. So erhebt sich, um nur ein einziges Beispiel herauszugreifen, heute ganz
verlassen an der Nordseite des Bozner Kessels das Sarner Schloß, das nicht nur
seinem Umfange nach für das dortige einsame Hochplateau eine ungeheure bau-
liche Leistung darstellt, sondern auch eben jener Lage wegen nicht etwa als
Straßensperre, sondern vielmehr von Anfang an nur als mittelalterliche Grenz-
festung und als Ausguck größten Maßstabes ausgeführt worden sein kann. Dieser
Bau ist nun aber im Grundriß und besonders mit seinem gewaltigen Hauptturm
so ausgesprochen mit der Front nach Süden orientiert, daß das große weiße
Gemäuer auch heute noch für den von Trient auf der Brennerstraße heran-
kommenden Wanderer in stundenweiter Entfernung als Wahrzeichen der alten
nördlichen Grenze zu erkennen ist.
Es liegt in dem Charakter jener unfertigen Zeiten, in denen die Grenzen
1) Die Slavenkämpfe (P. D. S. 75, 77, 92) um die J. 595 und 610; die Kämpfe gegen die Lango-
barden (P. D. S. 119) um 679.
Scheffel, Verkehrsgeschichtc der Alpen. 2. Band. 4
50 'V. Kapitel.
nicht Linien sondern Landstriche von manchmal ganz erheblicher Tiefenausdehnung
waren, daß der Besitz jener Gebiete am Eisak und an der oberen Etsch zunächst
zwischen den Langobarden und Bayern gewechselt haben mag. In den alten
Heiligengeschichten, die in der Gegend des heutigen Meran spielen, ist wohl
das historisch Wertvollste, daß wir aus ihnen ersehen, wie noch im S.Jahrhundert
sich dieser Punkt einmal in den Händen der Bayern und dann wieder in denen
der Langobarden befindet und welch' scharfe Grenzbewachung dort gehandhabt
wird'); und wenn wir heute hier nördlich auf der Höhe, von Goyen über
Schenna und Auer bis nach Thurnstein, jene Burgenreihe gewahren, die das
unten gelegene Meran und Mais wie ein Limes im Halbkreis umzieht, so läßt
sich dieses Bild ganz so an, als ob es seine Enstehung nur jener Periode ver-
danken kann, in der dieser Landstrich ein heiß umstrittenes Grenzland war^).
Hier am Rande des alten bayrischen Machtgebietes haben wir also immerhin
einige Anklänge der ältesten bayrischen Geschichte. In Nordtirol verlassen uns
dagegen auch diese. Alte Traditionen bezeichnen hier nur Ambras und Thaur
bei Innsbruck als Sitze altbayrischer Grafengeschlechter. In Thaur ließ im
15. Jahrhundert sogar Graf Friedrich von Tirol einmal nach Schätzen graben 3),
ein Zeichen, daß dieser Ort, der sonst keine Römerfunde aufzuweisen hat, schon
damals in dem Ruf einer rätselhaften Vergangenheit stand.
Die slavische In der Richtung nach Südosten und Osten stoßen wir nun aber zum ersten
wande°ung- ^^' ^^^ "^^^ Namen der Slaven, und zwar als einen durchaus gleichberechtigten
Faktor im Völkerbilde der Alpen; denn wie die Kelten und Germanen vorher
in das Gebirge von allen Seiten eingedrungen waren, so haben auch jene einst
fast das ganze östliche Drittel der Alpen als ihr Wohnland besessen, und auch
heute noch streicht hier der Bergwind morgens und abends über weite Stätten
der Menschen mit slavischer Zunge dahin. Nachdem die germanische Völker-
wanderung ausgelaufen ist, stehen wir unmittelbar danach vor einer dritten der-
artigen Bewegung, und wenn auch der Ausdruck „slavische Völkerwanderung"
in der Wissenschaft keine Geltung hat, so ist der Grund hierfür nicht in der
geringen Stärke und Tiefe, wohl aber in dem Erfolg dieser Bewegung zu suchen,
weil die Slaven es allerdings nicht vermocht haben, in die eigentliche Mitte des
Erdteils einzudringen, um hier, ebenso wie vorher die Kelten und Germanen,
in Mainz und Paris, in Rom und London, mit der Rücksichtslosigkeit des Empor-
kömmlings Spuren ihrer Anwesenheit zu hinterlassen. Überhaupt wissen wir
von dem Verlauf der slavischen Völkerwanderung kaum mehr als von dem der
ersten, der keltischen Völkerwanderung, aber eine solche bleibt sie doch und
ihr erstes Resultat jenes Schauspiel, als die Slaven plötzlich um das J. 600
ebenso an der Nordspitze der Adria wie am Fichtelgebirge und an der Oder-
mündung angelangt sind, als östlich dieser Linie nicht ein einziger germanischer
>) Sta. S. 16, 17, 337; vgl. Oe. II. S. 218 u. P. D. S. 154. 2) Der Bach nördlich Schloß Tirol
heißt heute noch Finale (Jo. S. 97). 3) Atz, Kunstgeschichte von Tirol, Bozen 1885, S. 42, 52.
Die Bayern. 51
Stamm mehr anzutreffen ist, und wie sich nun hier das massenhafte, wenn auch
in seinen einzelnen Teilen noch völlig namenlose Gewirr jener Völkerfamilie
ausbreitet.
Es ist aber neben diesem Massenhaften doch vielmehr ein anderes Moment,
das in jenen Zeiten durchaus die Art des Eingreifens der Slaven in die Geschichte
bestimmt, ihre viel geringere Kulturfdhigkeit im Vergleich zu den Romanen,
Kelten und Germanen')- Zahlreich und bedürfnislos, aber zunächst ohne jede
Organisation, ohne Fürst, Adel, Freie und Knechte, durch Tausende jeder der
Gleiche, vermögen sie nicht, jene Durchschlagskraft auszuüben, die vorher die
Germanen in den Stand gesetzt hatte, in die Gebiete einer festgefügten und über-
legenen Kultur einzudringen, und von Feldzügen und siegreichen Schlachten,
von denen die germanische Völkerwanderung bis zum Wirrnis erfüllt wird, ist
daher jetzt nichts zu finden. Damals ist jedenfalls das Wirken der Slaven über-
wiegend nur negativer Natur gewesen, und unfähig, selbst eigene Reiche zu
gründen, gingen dort, wo die slavische Völkerwanderung hinkam, nur die letzten
Reste der alten Kultur unwiederbringlich zu Grunde, so in den Ostalpen, Virunum,
Teurnia und Agunt, und besonders Lauriacum (Lorch), das lange noch wie eine
Insel aus aller dieser Verödung herausgeragt hatte.
Die Richtigkeit einer Beobachtung, die auch heute noch Geltung hat, können
wir aber auch schon damals bestätigt finden; es ist diejenige, daß die Slaven-
welt ihre Stärke zu vervielfachen und sich gleichsam zu einem gewaltigen Macht-
faktor zusammenzuballen pflegt, wenn es einem großen Herrscher oder einem
kräftigen Volksstamme gelingt, mit fester Hand in dieses Chaos einzugreifen und
dasselbe mit sich fortzureißen. Auch in jenen frühesten Zeiten steht dieser Fall
deutlich vor uns, insofern damals das Volk der Avaren durchaus in einer solchen
Rolle auftritt. Die Avaren, die damals an der unteren Donau saßen, haben als
Volk mongolischer Abkunft große Ähnlichkeit mit den ihnen vorangegangenen
Hunnen und ebenso mit den später sie ablösenden Ungarn; auch die Art ihrer
unstäten und beweglichen Kriegführung ist die gleiche, die nicht allein auf Ver-
heerung sondern auch auf Unterwerfung gerichtet war, deshalb aber nur um so
mehr Beunruhigung hervorrufen mußte. Darin aber lag die eigentliche Furcht-
barkeit der Avaren, daß sie nicht wie jene beiden anderen Völker nach ver-
hältnismäßig kurzer Zeit vom Schauplatz verschwanden, sondern daß sie sich als
das führende Volk einer den germanischen Reichen feindlichen Völkergruppierung
gewissermaßen austoben und so Mittel- und Osteuropa jahrhundertelang in
Atem halten konnten. In der Mitte des sechsten Jahrhunderts fanden wir sie
bereits in Böhmen; um 596 fallen sie von neuem in Thüringen ein, 601 erscheinen
sie in Thracien, 610 und 663 verheeren sie weit und breit Friaul'), und noch
im J. 788 ist unter den Augen Karls des Gr. Augsburg von ihnen niedergebrannt
worden.
I) Vgl. Ju. S. 228 f. 2) p. D.s. 77, 80, 86 f, 112 f.
52 IV. Kapitel.
Die Kämpfe Kehren wir nun aber zu den Kämpfen der Bayern gegen die Slaven selbst
lit den Slaven" zurück, SO sehen wir einmal die Bayern um 595 unter Führung ihres Fürsten
Tassilo einen erfolgreichen Beutezug gegen die Slaven unternehmen, während
jene bald darauf bei einem zweiten derartigen Zuge auch auf die Avaren stoßen
und dieser daher nur um so schlimmer abläuft. Das andere Mal aber, um 610,
machen, wohl aus Anlaß des Todes Tassilos, die Slaven ihrerseits einen Einfall
in das bayrische Gebiet in der Gegend von Agunr, der, anfangs nicht ungefähr-
lich, jedoch schließlich von Tassilos Sohn und Nachfolger Garibald zurück-
geschlagen wird, ynd zwar derart, daß die Slaven aus dem Lande gejagt werden
und auch ihre Beute ihnen wieder abgenommen wird. Die erste Nachricht läßt
also bei den Bayern mehr ein offensives Verhalten erkennen, steht aber leider
örtlich ganz in der Luft; bei der späteren befinden sich die Bayern dagegen
mehr in der Abwehr; diese ist aber deshalb um so wertvoller, weil sie uns in
eine bestimmte Gegend führt, wo damals die bayrischen Grenzen den Slaven
gegenüber lagen. Denn Agunt ist nichts anderes als die Gegend des heutigen
Lienz, und wenn es auch zweifelhaft sein mag, ob der Schauplatz jener Kämpfe
bei Lienz selbst, oder mehr östlich oder westlich davon (Oberdrauburg, Innichen)
zu suchen ist, so bleibt doch dies ein Bezirk, der bereits nicht allzuweit von der
geographischen Mitte der Alpen entfernt liegt, und wir befinden uns noch dazu
an der Pforte des Pustertales, jener Linie, die zu allen Zeiten dem europäischen
Osten dazu dienen mußte, seinen Einfluß auf dem kürzesten Wege auch an dem
Herzen Europas geltend zu machen.
Nach diesen Nachrichten des Paulus Diakonus, die zwar wenig, dieses aber
doch frisch und wuchtig sagen, haben die Ereignisse aus jenem Geschichts-
abschnitt umfangreicher und bunter, aber vielleicht weniger waschecht in einem
kirchlichen Libell abgefärbt, der „Bekehrungsgeschichte der Bayern und Karan-
taner" '). Nun ist also auch die Kirche hier auf dem Platze, und wir sehen
deutlich jetzt, freilich erst nach einem vollen Jahrhundert, die beiden allein maß-
gebenden Instanzen Bayerns, Krone und Kirche, ebenso ein und dasselbe Ziel
verfolgen, wie besonders bei ihrem Vorgehen gegen die Slaven örtlich eine neue
Richtung einschlagen, und zwar diejenige, der die bayrische Kolonisation nun
auch bis zu ihrem Ermatten stets vorwiegend gefolgt ist. Denn wenn jetzt die
in Karantanien wohnenden Slaven die bayrische Schutzhoheit anerkennen (um 749)
und das Salzburger Bistum sich deren Bekehrung, mit den slavischen Häuptlingen
anfangend, angelegen sein läCt, so hat diese Bewegung ihren Weg von Nord-
westen aus über Salzburg mitten in die Ostalpenländer hinein genommen, und
schon damals tritt der Lungau als das Vorglacis heraus, dessen Besitzes sich die
nördliche Macht für ihre Zwecke vorwiegend versichert halten muß.
Es verlohnt sich, zu erwähnen, daß auch die Lokaltradition, die in Tirol
bei den Kämpfen der Bayern gegen die Langobarden nichts verlauten läßt, sich
') Vgl. Kr. S. 28 f.
Die Bayern. 53
jener Slavenkämpfe bemächtigt hat, und es ist ein Beweis, daß das Volksbewußt-
sein einst jenes Vorgehen nicht gering einschätzte, wenn die Sage in und um
den Lungau, überall da, wo die Wege nach der Drauebene hinabführen, von den
Kämpfen des Herzogs Diet (Theodo) gegen die Slaven erzählt'), wenn bei Tob-
lach der Viktoribühel liegt, wo die Bayern einst einen großen Sieg erfochten
haben sollen, und es ist schon mehr Geschichte als Sage, daß manche Orts-
namen hier in der Umgebung, Tesselberg und Uttenheim, Dietenheim und Greim-
walden mit den Hausnamen der Agilolfinger, Tassilo, Uta, Theodo und Grimoald
merkwürdig übereinstimmen-). Das Pustertal ist wirklich die erste deutsche
Markgrafschaft im ursprünglichen Sinne.
In den letzten Zeiten der Agilolfinger nimmt dann aber die reine Kultur-
tätigkeit neben dem kriegerischen Vorgehen gegen die Slaven einen viel größeren
Raum ein, was darin seine Erklärung findet, daß der Arm dieses Herrscherhauses
jetzt immer mehr von der von Westen her drohenden Überlegenheit des Karo-
lingerreiches gelähmt wurde. Es sind eben nur allmähliche kolonisatorische Er-
folge, die Tassilo von der Gründung des Klosters Innichen erwarten konnte,
und selbst diese lassen sich in der folgenden Zeit hier wohl in der näheren
Umgebung, weniger aber nach der unbedingt wichtigsten Seite hin, nach Osten
entlang des Drautales, feststellen. Auch an den anderen Grenzen Altbayerns
kann man es damals beobachten, wie die kriegerische Tätigkeit der Bekehrungs-
arbeit Platz gemacht hat, und wie diese selbst zwar im Einverständnis mit Tassilo,
aber doch vorwiegend von dem Salzburger Bischof in die Wege geleitet wird-*).
Jahrhunderte später erscheinen die Slaven dann noch tief im Herzen Deutsch-
lands, an der Mündung der Elbe, an den Ufern der Fulda und Pegnitz; hier in
den Alpenländern sind sie dagegen in größeren Massen westlich kaum über die
Drauquellen und den Venediger hinaus gelangt; früher als anderswo kam hier ihr
Vorgehen zum Stehen und noch dazu zu jener Zeit, in der ihnen die Avaren als
mächtiger Rückhalt dienen konnten. Es ist dies eine Tatsache, die allein durch den
Widerstand möglich geworden ist, den der bayrische Stamm den Slaven entgegen-
gesetzt hat. Unmittelbar an jene schließt sich nun aber als nächstes notwendiges
Glied in der Zurückeroberung des deutschen Ostens die Niederwerfung der
Avaren selbst an. Eine solche hätte der bayrische Stamm allein jedoch nie
durchführen können; sie war nur möglich unter Zusammenfassung der gesamten
Kräfte Mitteleuropas und zugleich unter Führung einer mächtigen, weit gebietenden
Persönlichkeit, wie es unter Karl dem Gr. auch wirklich geschehen ist.
') Kr. S. 26; Ri. 1. B. S. 78. 2) Ri. I. B. S. 76. •') Ab. S. 215, 218.
V. Kapitel.
Die Herrschaft Karls des Großen in den Alpen.
Die Wirksam- Es ist schwer zu entscheiden, auf welchem Teile Mitteleuropas die Regenten-
keit Karls des r- o
Gr.im Südosten '^''S*^^'' Karls des Gr. einst das Größte und Schwierigste geleistet hat; sicher
Mitteleuropas, aber ist, daß ihre Folgen nirgends dauerhafter und gewaltiger geworden sind als
im Osten Mitteleuropas, wo der Arm jenes Herrschers weithin in Gebiete drang,
über die seit dem Verschwinden der Römerherrschaft jede genauere Kunde fehlt.
Von den Geschicken Italiens, Frankreichs und Westdeutschlands weiß die mittel-
alterliche Geschichte auch vor Karl dem Gr. schon genug zu erzählen, während
das östliche Europa damals unausgesetzt jenem unfertigen Zustand ausgeliefert
war, den das Erscheinen immer von neuem dort eindringender halbbarbarischer
Völker bedingte. Seit Karl dem Gr. beginnt nun aber auch am Ostrand der
Alpen und am Mittellauf der Donau die Geschichte wieder, eine Erscheinung,
die eben deshalb eine um so größere Leistung zur Voraussetzung hat, weil die
Fundamente der Römerzeit hier wirklich fast überall, so wie die Legende des
h. Rupert die Stelle des alten Juvavum schildert, von einer dichten Wildnis über-
wuchert waren, und daher alles, was hier geschah, auf ganz neuen, ganz selb-
ständigen Grundlagen aufgebaut werden mußte.
Es ist aber auch die große räumliche Entfernung von den Stätten, wo damals
die eigentlichen Sitze der Kultur lagen, die bei der Tätigkeit Karls im Osten
Mitteleuropas nicht außer acht gelassen werden darf und die jene Erfolge in um
so hellerem Licht erscheinen läßt, weil sie alles Eingreifen hier von vornherein
viel schwieriger machte. Karls Wirksamkeit selbst aber füllt die Dauer eines
vollen Menschenalters aus; ihre ersten Anfänge zeigen sich bereits 776, während
sie in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts ungefähr als abgeschlossen
gelten kann. Es ist dieses somit zugleich die Zeit, in der Karl auf der Höhe
seiner Manneskraft stand, jenes Lebensalter, das neue Gedanken und energische
Tatkraft mit innerer Ruhe und schöpferischer Überlegenheit zu verbinden pflegt,
eine Zeit, in der bei glücklichen Menschen Saat und Ernte in schönem Verhältnis
Die Herrschaft Karls des Großen in den Alpen. 55
Stehen. Betrachtet man aber weiterhin den Verlauf jener Wirksamkeit, so zeigt
es sich, daß Kar! zu dem Unternehmen, die Ostaipenländer im weitesten Sinne
äußerlich und innerlich in das Frankenreich einzufügen, keineswegs von Anfang an
den festen Vorsatz mitbrachte, sondern daß ihm die Verhältnisse, ähnlich wie
bei seinem Vorgänger Augustus, hier erst nach und nach in ihrer vollen Trag-
weite klar wurden, bis er zuletzt bewußt und planvoll eingriff.
Die Niederwerfung einer reichsfeindlichen Bewegung an der Nordostecke Nordostitalien.
Italiens, in Treviso und Cividale, ist das erste Ereignis, durch das Karl auf den
fernen Osten seines Reiches deutlicher hingewiesen wurde (776) '). Er feierte
dort in Treviso damals das Osterfest, so weit östlich, wie er bis dahin per-
sönlich noch niemals gelangt war. Zwei Jahre später sehen wir dann plötzlich,
wie in Istrien, in einem Gebiet, das seit den Tagen des Narses stets der byzan-
tinischen Interessensphäre angehört hatte, ein Bischof Mauritius abgesetzt und
geblendet wird unter der Anklage, daß er dieses Land den Franken habe in die
Hände spielen wollen-). Obwohl letzterer Vorfall im einzelnen wenig klar ist,
so weist er doch deutlich auf die Richtung hin, aus der vorher der Widerstand
gegen Karl in Friaul seine Nahrung gezogen haben muß, und er läßt zugleich
auch das Gefühl der Beunruhigung erkennen, das die Überlegenheit der frän-
kischen Macht jetzt selbst in jenen entlegenen Gegenden auszuüben begann.
Im J. 782 treffen wir dann bei Karl in Sachsen zum ersten Mal eine Gesandt-
schaft der Avaren, jenes Volkes, das damals inmitten der von den Ostalpcn bis
zum Balkan auf und ab wogenden Slavenwelt der einzig ausschlaggebende Faktor
war, ohne daß jedoch etwas Genaueres über den Zweck dieser Verhandlungen
bekannt wäre, und auch etwa zwei Jahre später müssen bereits in Südtirol irgend-
welche Reibungen zwischen den bayrischen Grenzgrafen und dem in Trient
befehligenden fränkischen Machthaber stattgefunden haben ^). Es sind auch dies
alles Vorgänge, die man nur undeutlich wie die Wasserpflanzen unter dem See-
spiegel erblicken kann, die aber doch zeigen, wie sich dort an der östlichen
Grenze des Frankenreiches große Ereignisse vorbereiteten.
Im J. 787 hat dann aber wirklich jene Auseinandersetzung Karls mit Tassilo Die Unter-
stattgefunden, infolge deren nun die fränkische Macht in jenen östlichen Gegenden Bayerns,
festen Fuß faßte. Karl hat sich damals auf einen regelrechten Feldzug einge-
richtet und drei Heere aufgeboten, die konzentrisch gegen Bayern vorrückten,
ein von Norden aus in Marsch gesetztes mit der Richtung auf den Lauf der
Donau zwischen Ingolstadt und Regensburg, ein zweites von Süden, von Italien
her, unter seinem Sohne Pippin, das jedoch zunächst nur bis Bozen kam, während
Karl selbst mit dem besonders starken Hauptheer durch Schwaben an den Lech
rückte und sich dort auf dem Lechfelde bei Augsburg aufstellte''). Man sieht
also, es sind vernichtende Schläge, die von überlegener Hand vorbereitet von
Westen her gegen die obere Donau herangezogen kommen, eine Kriegführung,
') Ab. S. 251. 2) Ab. S. 322. ■») Ab. S. 477; Jo. S. 87. <) Ab. S. 597; W. S. 72.. A. 9.
56 V. Kapitel.
die genau ein Jahrtausend später in derjenigen Napoleons I. im J. 1805 ein
Gegenstück gefunden hat, sowohl im einzelnen, als dieser damals bei Ulm die
österreichische Armee unter Mack vernichtete, wie noch vielmehr darin, daß
diese Ereignisse beide Male nur den ersten Akt eines groß angelegten Feldzugs
bedeuteten, dessen eigentliche Entscheidung dann viel weiter östlich, am Mittel-
lauf der Donau, ausgefochten worden ist. Überhaupt stehen wir hier mitten in
einem wichtigen historischen Moment, der auch dem damaligen Geschlecht nicht
entging, und man kann noch heute die Stimmung in der Umgebung Karls deutlich
durchfühlen, wenn Einhard in der Lebensbeschreibung Karls sein Urteil über
jene Ereignisse dahin zusammenfaßt, daß gerade dieser Krieg auf fränkischer
Seite für äußerst gefahrvoll angesehen wurde '). Denn im Grunde waren es
nicht bloß Karl und Tassilo sondern die Vertreter zweier entgegengesetzter
Machtgruppierungen, des europäischen Westens und des europäischen Ostens,
die sich hier gegenübertraten, und im besondern erscheint auch an dieser Stelle
zum ersten Mal jene Vermittlerrolle Bayerns zwischen diesen beiden Macht-
zentren, wie sie in den späteren Jahrhunderten noch oft genug zu beobachten
ist und die der bayrischen Politik zuweilen eine weit über die deutschen Grenzen
hinausgehende Bedeutung verliehen hat.
Es ist damals zwar durchaus nicht, wie man allgemein erwartet hatte, zu
großen kriegerischen Ereignissen, aber trotzdem zu einem völligen Zusammen-
bruch der in der Persönlichkeit Tassilos verkörperten Richtung gekommen, ob-
wohl über die wirklichen Ursachen dieser Vorfälle auch hier jenes Halbdunkel
gebreitet liegt, in das nur zu oft gerade die wichtigsten geschichtlichen Tatsachen
für alle Zeiten gerückt sind. Wenn man die Vergangenheit und die feste Stellung,
die vorher die Agilolfinger in ihrem Reiche besessen hatten, in Betracht zieht,
muß dießer Verlauf jedenfalls überraschen, und man möchte fast glauben, als
ob damals unter den Bayern selbst die öffentliche Meinung laut die Stimme
erhoben hätte, die sich genau darüber klar war, daß man jetzt nur noch zwischen
den Franken und Avaren zu wählen hatte, und daß das Bündnis mit diesen zu-
gleich auch die ganze vorangegangene Entwickelung Bayerns in Frage stellen mußte^).
Auch der Papst hat damals ganz entschieden gegen Tassilo Partei genommen
und diesem so den Boden unter den Füßen weggezogen, ein Verhalten, wie es
freilich von der Kurie zu einer Zeit, als deren Interessen und die der fränkischen
Königsmacht noch genau übereinstimmten, nicht anders zu erwarten war; „denn
die Politik des römischen Hofes ist ebenso beständig gegen seine Untertanen
wie gegen die Könige" ^). Ein tragisches Geschick liegt aber doch über dem
Ende dieses Herrscherhauses, das, nachdem es der Kirche Jahrhunderte hindurch
überzeugt und erfolgreich gedient hatte, jetzt einer veränderten Weltlage gegen-
über von ihr ohne weiteres fallen gelassen wurde.
') Ei. K. 11. 2) Ab. S. 599. 3) Stendal, Römische Spaziergänge, Jena 1910. S. 182.
Die Herrsch«ft Karls des Großen in den Alpen. 57
Bereits im folgenden Jahre (788) ist dann über Tassilo die letzte Katastrophe
gekommen, zu der die unmittelbare Veranlassung nur gewesen sein kann, weil
dieser nunmehr die Avaren zu einem Angriffskrieg gegen das Frankenreich ver-
anlaßt hatte. Jener Zusammenhang geht klar aus der Tatsache hervor, daß die
Avaren noch in demselben Jahre, obgleich sie vorher lange Zeit nicht das
Geringste gegen Bayern und das Frankenreich unternommen hatten, in einem
weit angelegten Feldzug gegen Westen vorbrachen. Wir wissen nicht, wie es in
dem Herzen Tassilos bei jenem Schritte der Verzweiflung aussah, als er, nicht
mehr jung an Jahren und nach einer etwa vierzigjährigen Regierung, mit allen
Traditionen brach und sich den Avaren gänzlich in die Arme warf. In den
Zustand des damaligen Europas kann man aber tief hineinblicken und den Gegen-
satz erkennen, der die junge christliche Kulturwclt von jenen östlichen Völkern
trennte, wenn eben jenes Einverständnis mit den „Hunnen" Tassilo aller Sym-
pathien beraubte; zugleich gewahrt man aber auch hier ganz deutlich, wie auch
damals die Tatsachen mächtiger als der Wille des Einzelnen sein konnten, und
wie Karl selbst nun Schritt für Schritt in jene östlichen Verhältnisse hineinge-
zogen wurde. Der Angriff der Avaren gegen das Frankenreich erfolgte jetzt mit
drei verschiedenen Heeren und an zwei räumlich weit von einander getrennten
Punkten, im Süden gegen Friaul und im Norden im Donautal, eine Kräftever-
teilung, die somit ganz der altgewohnten ausgreifenden Kriegführung dieses
Volkes entsprach. An beiden Punkten prallte jedoch auch bereits damals jener
ungeregelte Ansturm an den festgefügten fränkischen Streitkräften auseinander,
zuerst an der Grenze Friauls und dann ebenso im Norden, wo es zu zwei blutigen
Schlachten an den Ufern der Donau kam; von der ersten derselben ist auch die
Stelle genauer bekannt; sie wurde in der Nähe der Mündung der Ibs in die
Donau (Niederösterreich) geschlagen ')•
Der größte Feldzug gegen die Avaren, zugleich auch der einzige von allen, ^'^ ^^k^*"i'
der von Anfang bis zu Ende unter Karls persönlicher Leitung durchgeführt des Gr.
wurde. Fällt dann in das J. 791, und er liefert außerdem seit den Tagen Trajans
das erste Vorkommnis, daß wieder eine europäische Macht von Westen her einen
erfolgreichen Vorstoß nach Osteuropa hinein machen konnte. Die fränkischen
Streitkräfte wurden von Karl diesmal derart angesetzt, daß sie auf den an der j
Nord- und Südseite der Ostalpen entlang laufenden, von der Natur vorge-
schriebenen Richtungslinien konzentrisch gegen die Donauebene vorrücken sollten.
Das südlichste Heer der Franken unter König Pippin marschierte von Friaul
her heran, während nördlich an der Donau Karl drei weitere Heere unter
seinem Oberbefehl vereinigte. Wie vorher bei dem Kriege gegen Desiderius
Genf, so bildete jetzt Regensburg zunächst das Hauptquartier; von den drei
Armeeabteilungen Karls rückte die nördlichste dann entlang des linken, die süd-
lichste, bei der sich Karl selbst befand, entlang des rechten Donauufers vor; die
VÄb. S. 639 r.
58 V. Kapitel.
mittlere dagegen, die zwischen diesen beiden die Verbindung zu unterhalten
hatte, wurde auf Schiffen den Strom abwärts transportiert' ). Daß diese letztere
Abteilung, der somit keine eigentliche Gefechtsaufgabe zufiel, gerade aus den
Bayern bestand, erlaubt vielleicht den Schluß, daß Karl der Gesinnungen der-
selben damals noch nicht vollständig sicher war; die Menge Proviant aber, die
jene auf den Schiffen mitzuführen hatten, kann ebensogut ein Anzeichen für den
großen Umfang dieser Heere wie für die Art der gegen die Avaren notwendigen
Kriegführung bilden, da man bei dieser in Landschaften eindringen mußte, deren
Kulturzustand nicht die geringsten Hilfsmittel gewähren konnte. Und wie auch
sonst die Art, wie Karl diesen Feldzug anlegte, ganz mit der Kriegführung
Napoleons I. gegen Österreich übereinstimmt, so diente im besondern auch hier
bereits der Lauf der Donau dazu, das Kriegstheater seiner ganzen Länge nach
in zwei Teile auseinanderzuspalten, ein Einfluß, der sich auch bei allen späteren
Feldzügen in Sädostdeutschland bis zu dem Kriege von 1809 gleichmäßig wieder-
holt hat.
Die Armeeabteilung unter Karl ebenso wie die der Bayern haben dann
zunächst an der Enns Halt gemacht; es läßt sich also erkennen, daß man hier
an der äußersten Reichsgrenze angelangt war, und wie man von nun an der
Feinde gewärtig sein mußte. Die frische Stimmung aber, die in jenen Tagen
bei Karl selbst zu bemerken ist, und nicht minder auch der Gottesdienst, den
er nun hier im Lager drei Tage lang anstellen und dessen genaue Durchführung
er sich sehr angelegen sein ließ, zeigen, wie man sich allgemein am Vorabend
großer Entscheidungen glaubte. Als die fränkischen Heere jedoch bei dem
weiteren Vormarsch auf die avarischen Verschanzungen stießen, die sich sowohl
nördlich der Donau bei Krems wie südlich derselben bei Tuln (bei Klosterneu-
burg) befanden, waren diese bereits vom Feinde verlassen, wahrscheinlich des-
halb, weil bereits hier der kombinierte Angriff Karls seine Wirkung getan hatte.
Die Franken gelangten dann noch weiter auf den Spuren der Avaren bis an die
Mündung der Raab in die Donau, aber im Grunde blieb dieser letzte Teil des
Unternehmens doch nur ein Stoß in die Luft, ein Ausgang, wie er sich übrigens
sehr häufig bei einem solchen Feldzug einzustellen pflegt, bei dem mit einer
regulären Armee über weite Räume hinweg gegen einen halbbarbarischen Feind
vorgegangen wird. Den Rückmarsch, der nun angetreten wurde, ließ Karl jedoch
nicht auf der direkten Linie, sondern rechts abbiegend über Savaria (Steinam-
anger) ausführen, und wenn diese Richtung auffallen kann, so mag sie vielleicht
deshalb gewählt worden sein, weil man auf diese Weise am raschesten wieder in
kultivierte Gegenden gelangen konnte. Jedenfalls muß es uns interessieren, daß
wir auch damals noch die alten Römerstädte Savaria, Carnuntum und Comagenae
(Tuln bei Klosterneuburg) als vorhanden und mit ihrem alten Namen bezeichnet
antreffen, und daß dieser Befund demnach wiederum die lebenskräftige Kultur der
') Si. S. 16f.
Die Herrschaft Karls des Großen in den Alpen. 59
Wiener Ebene voll heraustreten läßt, während weiter östlich uns sonst keine
einzige Ortsbezeichnung mehr begegnet.
Wenn die Niederwerfung der Avaren diesmal auch noch nicht vollständig
geworden war, so läßt es sich doch deutlich beobachten, wie seit jenem von
Karl persönlich geführten Feidzug der Zerfall der avarischen Machtgruppierung
ein viel rascheres Tempo einschlug, daß aber nunmehr auch die Slaven, nachdem
der Druck der Avaren von ihnen genommen ist, um so lebhafter auf den Schau-
platz treten. Die weiteren kriegerischen Maßnahmen hat Karl später nicht mehr
persönlich in die Hand genommen, sondern durch seine Machthaber ausführen
lassen. Der Mittelpunkt der avarischen Macht aber lag damals nach wie vor in
der Ebene zwischen Donau und Theiß, in jenen eigenartigen Befestigungen, die
infolge ihrer barbarischen Anlage und der reichen Beute, die aus ihnen hervor-
geholt wurde, der Phantasie des Mittelalters nicht mit Unrecht so viel zu denken
gegeben haben '). Und wenn wir hören, daß sich auch jetzt nach der Einnahme
des Hauptringes der Avaren — ebenso wie einst nach der Eroberung der Resi-
denzen der Perserkönige durch Alexander den Gr. — ein alle Erwartungen
übertreffender goldener Regen über das Frankenreich ergoß, so wirft dies wirklich
ein grelles Schlaglicht auf die damalige Weltlage; es zeigt, wie tief damals der
Orient in das Abendland eingedrungen war; denn jenes ungemessene Anhäufen
von Schätzen ist nichts anderes als echt orientalische Despotenart, die sich hier
Jahrhunderte hindurch auf europäischem Boden heimisch gefühlt hatte-).
Die nächsten Feldzüge gegen die Avaren, an deren Spitze bald Karls Sohn
Pippin bald der Markgraf von Friaul stand ^), wurden dagegen sämtlich nur vom
Süden der Alpen aus angesetzt, und allein wohl aus dem Grunde, weil jetzt auf
dieser Seite die kürzeste Anmarschlinie gegen den Feind gelegen war. Auch in
den J. 803 und 811 hat Karl noch Heere nach „Pannonien" geschickt^), diesmal
wieder von Bayern aus; bei diesen letzten Unternehmungen handelte es sich
jedoch schon weniger um Kämpfe gegen die Avaren, sondern um solche gegen
die Slaven, während andererseits die Tatsache, daß jene Züge von keinen großen
Ereignissen erfüllt sind und nichts Genaueres von ihnen gemeldet wird, schon
darauf hindeutet, daß die äußerliche Einfügung jener östlichen Völkerschaften
in die Grenzen des Frankenreiches jetzt nach Beseitigung der avarischen Unruhe
viel glatter vor sich gehen konnte.
Dort an dieser Südostseite Mitteleuropas ist eine staatenbildende Kraft infolge Di« Folgen der
der in breiter Ausdehnung in die Ebene auslaufenden Ostalpen aber überhaupt
bei ihrer Arbeit vor die größten Schwierigkeiten gestellt, und jene zahlreichen
kriegerischen Unternehmungen Karls haben daher nicht allein das Mittel gebildet,
um die Grenzen des Frankenreiches vorzuschieben, sondern besonders auch, um
einwärts derselben für die Regententätigkeit Karls Platz zu schaffen, eine Tätigkeit,
die es schließlich auch erreichte, daß der Bereich der abendländischen Kultur
'» Si. S. lOOf. 2) Vgl. Mo. S. 252. •») Si. S. 98, 121 f., 133. *) Si. S. 297, 468.
60 V. Kapitel.
sich nunmehr an dieser Stelle gesichert und festgefügt viel weiter nach Osten,
etwa bis zum heutigen Preßburg und die Ostgrenze der Steiermark entlang bis
südlich nach Fiume erstreckte. Es ist somit, wenn auch der Schwerpunkt der
reichsbildenden Macht sich diesmal nicht südlich sondern nördlich der Alpen
befand, doch im Grunde hier dieselbe Situation wiedergekehrt, wie sie schon
einmal im zweiten nachchristlichen Jahrhundert eingetreten war, nachdem die
römischen Kaiser in denselben Ländern die Grenzen ihres Machtgebietes fest-
gelegt hatten. Auch jetzt ist jene Zone, die das Altertum mit Carnuntum, die
neue Zeit mit Wien bezeichnet, wieder ein nordöstlich weit vorgeschobener
Posten des Abendlandes, das den Besitz derselben für sich beanspruchte und
ihn mit festen Fäden an sich zu ketten suchte.
In diesem Zusammenhange kann es auch kaum als Zufall erscheinen, daß
unter Karl wieder über den Rhein bei Mainz eine Brücke gebaut worden ist'),
wie sie schon unter den Römern bestanden hatte, weil erst damals wieder Süd-
deutschland in seiner weitesten Ausdehnung ein geschlossenes Glied innerhalb
eines großen abendländischen Weltreiches geworden war. Die Grundrisse der
römischen Organisation waren in dem Augenblicke, als sie entstanden, festgefügter,
klarer durchdachter, und sie sind deshalb auch für uns heute noch durchsichtiger;
aber sie haben trotzdem nur drei Jahrhunderte Stand gehalten. Das Werk Karls
wirkt dagegen auch heute noch in der Scheidung zwischen Cis- und Transleithanien
einigermaßen fort, und wirkliches Leben hat es mindestens noch einmal so lange
als die römische Organisation besessen, da nirgends anders als gerade hier an
der südöstlichen Seite des römisch-deutschen Reiches die Grenzen desselben in
der Gestalt wie sie Karl der Gr. geschaffen hatte bis zum Ende des Mittelalters
unverändert aufrecht geblieben sind, und ihnen erst die Entstehung des öster-
reichischen Staates den eigentlichen Inhalt entzogen hat.
Karl der Gr. Zu allen Zeiten ist der Name Karls besonders mit seiner Stadt Aachen
egens urg. yg,.j^,,^pf( gewesen. Es giebt aber in Deutschland auch noch eine andere Stadt,
die es fast ebensosehr verdient, in Verbindung mit jenem großen Herrscher
genannt zu werden: Regensburg. Zum ersten Male betrat Karl diese Stadt im
J, 788 nach dem Sturze Tassilos; im Frühsommer 791, vor dem Avarenkriege,
verlegte er zunächst sein ganzes Hoflager dorthin, wie er dann auch, nachdem
er sich selbst in das Feld begeben hatte, seine Gattin Fastrada und seine Töchter
dort zurückließt). Nach Beendigung des Krieges aber sehen wir Karl nun volle
zwei Jahre hindurch, bis tief in das J. 793 hinein, von jener Stadt aus regieren,
die von ihm zu einer civitas regia und zu einem freien Handelsplatz erhoben
worden war^). Wir kennen das Regensburg des ersten Mittelalters als Residenz
der bayrischen Herzöge und zugleich als Übergangsstelle über die Donau und als
letzten nördlichsten Ausläufer der Brennerstraße, während nunmehr diese Stadt
der anerkannte Hauptort Südostdeutschlands und noch viel mehr als Vermittler
1) Ei. K. 17. 2) si. S. 20. 3) Da. II. B. S. 229.
Die Herrschaft Karls des Großen in den Alpen. 61
der zwischen dem Westen und dem Osten hin und her laufenden Verkehrs-
beziehungen von Bedeutung wurde. Sie ist schon längst vorbei, sie hat auch
nicht allzulange gedauert, aber sie war doch wirklich einmal, die Zeit, in der
jener glänzende Titel als Schwelle des Ostens, wie später Venedig und dann
Wien oft genannt worden sind, dem jetzt so stillen Regensburg zukam. Hier
hat nun auch Karl wie überall seine große Regententätigkeit entfaltet- So wurden
hier während jenes Aufenthaltes zwischen 791 und 793 eine kirchliche Synode
und jene Reichsversammlung abgehalten, die das Urteil über Karls Sohn Pippin
und dessen Mitverschworene sprach'); hierzu kamen Vorbereitungen für die
weiteren Züge gegen die Avaren und vor allem der Bau des Karlsgrabens, jenes
zwischen Regat und Altmühl, also zwischen der Nordsee und dem Schwarzen
Meer geplanten Kanals-); es ist ein Zug, der bei vielen großen Regenten in
gleicher Weise wiederkehrt, daß sie den Anforderungen des Verkehrs erhöhte
Aufmerksamkeit gewidmet haben, und jenes Unternehmen kann daher diese
Eigenschaft auch bei Karl in besonders deutlichem Lichte erscheinen lassen.
Neben diesen offen daliegenden Ereignissen der großen Reichspolitik müssen Das Karolinger-
für uns jedoch jene Maßregeln eine viel größere Beachtung beanspruchen, durch ostaipen.
die nun Karl in denselben Jahren und von ebenderselben Stelle aus ganz Bayern,
Stammland so gut wie Nebenländer, nach seiner Weise zu einem wirklichen
Glied des Frankenreiches zu machen suchte. Sicherlich ist auch dies eine lange
systematische Kette von Maßregeln gewesen, und wenn diese Tätigkeit auch nur
verstümmelt überliefert ist, und wir uns deren Einzelheiten mühsam zusammen-
suchen müssen, so tritt das, was durch sie schließlich erreicht worden ist, doch
immer noch deutlich genug heraus.
Gerade hier stehen wir demnach an einem Punkte, an dem sich ebensosehr
der Unterschied des Charakters zwischen den Quellen der Antike und denen
des Mittelalters offenbart, wie die veränderten Aufgaben, die aus jener Ver-
schiedenartigkeit für die Geschichtsschreibung erwachsen. Im klassischen Altertum
sind jene Quellen zwar an Zahl geringer, aber jede einzelne bietet doch zumeist
infolge der der Antike innewohnenden tiefen Klarheit eine Offenbarung aufweite
Strecken. Im Mittelalter dagegen werden — und je länger je mehr ^ die Er-
eignisse bunter, die Örtlichkeiten, an denen etwas geschieht, und die Persönlich-
keiten, die erscheinen, mannigfaltiger, auch die Anzahl der Quellen ist an sich
viel zahlreicher, an Wert des Inhaltes jedoch nur zu oft viel unselbständiger und
belangloser, weil die Worte sich dem Sinne dessen, was gesagt werden soll, viel
mehr versagen. Das ist der Grund, weshalb die mittelalterlichen Quellen der
Wiedergabe des Verhältnisses von Ursache und Wirkung, das doch den Lebensnerv
jeder Geschichtsschreibung bildet, überall viel größere Schwierigkeiten bereiten.
Als Karl im J. 788 nach der Beseitigung des bayrischen Stammesherzogtums
die inneren Verhältnisse des Landes nach denen des Frankenreiches umgestaltete,
') Si. S.45f. 2) si. S. 55. f.
Q2 V. Kapitel.
ging er auch hier wohl vornehmlich von der Einführung der fränkischen Graf-
schaftsverfassung aus. Bemerkenswert ist aber dabei, daß er damals einen seiner
hervorragendsten Beamten, den schwäbischen Grafen Gerold, den Bruder seiner
verstorbenen Gemahlin Hildegard, zum Vorsteher Bayerns ernannte'), ein Ver-
hältnis, bei dem ebensosehr die bis dahin schon weit vorgeschrittene Landes-
einheit wie die Lage Bayerns als Grenzland in Rechnung gezogen worden zu
sein scheint. Die anderen Maßregeln Karls, die seit seinem Regensburger Aufent-
halt bis in die späteren Jahre hinein kaum eine Unterbrechung erfuhren, be-
standen darin, daß er einesteils seine trefflich geschulten und in einer überlegenen
Verwaltungskunst erprobten Beamten hier festen Fuß fassen ließ, anderenteils
aber in dem schon von den Agilolfingern geübten Verfahren, daß er der Kirche
persönlich die Richtungslinien anwies, in denen diese hier für die Ausbreitung
der abendländischen Kultur weiterzuarbeiten hatte. So erhielten zunächst die
Erzbischöfe von Metz und von Köln, die beide zu Karl als seine Kapellane in
persönlichem Verhältnis standen, Klöster in Bayern verliehen, der von Metz das
Männerkloster Chiemsee, der von Köln die Abtei Mondsee (Salzkammergut) 2),
während das hervorragendste Werkzeug dieser Art der Erzbischof Arno von
Salzburg wurde, ein Geistesverwandter Alkuins und einer aus jenem Kreise, in
dem sich die ganze Vortrefflichkeit der karolingischen Kulturbestrebungen ver-
körpert hat.
Das Bistum Arnos wurde schließlich auf Wunsch Karls vom Papste im
J. 797 zur Metropole Bayerns erhoben, und diesem so die Bistümer von Sehen,
Freising, Regensburg und Neuburg unterstellt. Das Breve des Papstes aber,
durch das jene Organiation in das Leben trat, stellt den wahren Sachverhalt auch
ganz richtig dar, wenn es jene Maßregel als nichts anderes als den Abschluß der
von Karl in das Werk gesetzten Neuordnung Bayerns in allen seinen Teilen
gelten lassen will 3). Auch der erste Ratgeber Karls, Alkuin, hat jener östlichen
Politik seine Aufmerksamkeit gewidmet; denn im J. 796 steht dieser gelegentlich
des Avarenkrieges mit Arno in Briefwechsel über die Art, wie dort im Osten
die christliche Bekehrung gehandhabt werden sollte, eine Frage, die zu gleicher
Zeit auch den damaligen Patriarch Paulinus von Aquileja beschäftigte, da dieser
ja die Stelle verkörperte, der dieselbe Arbeit im Süden der Ostalpen zufiel'').
Dem Namen Karls selbst begegnet man dann als Gründer des Benediktiner-
stiftes Metten bei Niederaltaich^) und in Kremsmünster, wo er das, was Tassilo
begonnen hatte, weiterführte. Auch die Stadt Klosterneuburg soll von ihm an
der Stelle eines Römerkastells erbaut worden sein, wie überhaupt die deutschen
Dynastengeschlechter, die später in diesen Grenzlanden seßhaft waren, die Ver-
anlassung für ihre Übersiedelung nach dorthin mit Vorliebe auf jene Kämpfe
unter Karl den Gr. zurückgeführt haben ^).
") Ab. S. 643. 2) Ab. S. 644. 3, si. S. 138. A. 1. 4) Si. S. 128f. 5) Da. IL B. S. 225.
6) Ri. I. B. S. 185; Weidmann, die Umgebungen Wiens, Wien 1839, S. 307.
Die Herrschaft Karls des Großen in den Alpen. 63
Ein letzter Absatz in jener Tätigiveit Karls läßt sich dann noch etwa im
J. 803 erkennen. Er ist damals noch einmal in Regensburg und auch in Salzburg
gewesen, ein Zeitpunkt, in dem die Gründung des Stiftes S. Zeno bei Reichenhail
und wahrscheinlich auch die endgültige Abgrenzung jener südöstlichen Marken
zum Schutze des Reiches erfolgte, die wir dann jedenfalls im J. 811, als die
Fürsten der Avaren und der Südslaven sich bei Karl in Aachen einfanden, fest
begründet sehen'). Wie jene Grenzen damals im einzelnen gezogen worden sind,
dieses läßt sich freilich nicht mehr ersehen; einigermaßen deutlich erscheint hier
nur die Ostmark, die Vorläuferin des späteren Herzogtums Österreich, während
die Ausdehnung der eigentlichen pannonischen Mark, die möglicherweise bis an
die Raab reichte, und auch die Gestaltung Kärntens im Dunkeln bleibt-). Nicht
unwahrscheinlich ist es außerdem, daß die Machtsphäre der Markgrafen von Friaul
sich damals bis nach Kroatien erstreckt hat"*), so daß die eine große Tatsache
jedenfalls voll heraustritt, wie hier von jenem großen abendländischen Herrscher
ein Keil germanischen Wesens nach Osten vorgetrieben wurde, der ein Zusammen-
fließen der Nord- und Südslaven bis heute verhindert haf*).
Auch die Einteilung der großen kirchlichen Bezirke in den Ostalpen wurde
damals geregelt, insofern jetzt die Drau ihrer ganzen Länge nach als Grenze des
Patriarchates Aquileja und des Erzbistums Salzburg bestimmt wurde =), eine Ab-
grenzung, in der die Überlegenheit des Salzburger Bezirkes und damit die des
ganzen Nordens gegenüber dem alten Patriarchensitze aus der Römerzeit deutlich
zum Ausdruck kommt. Aber selbst in diesem kirchlichen Zentrum, das unter
den Langobarden nur sein Leben gefristet hatte, setzte seit dieser Zeit ein neuer
Aufschwung ein; denn der von dem Weltreiche Karls des Gr. ausgehende Im-
puls war at'ch südlich der Ostalpen gleich stark zu fühlen. Hierauf weisen be-
sonders die hartnäckigen Kämpfe hin, die damals Pippin in Italien mit Venedig
geführt hat, während andererseits die Tatsache, daß diese Stadt, gestützt auf
Byzanz, mindestens eine Sonderstellung innerhalb des fränkischen Reiches ein-
nahm, wiederum die verbindenden Fäden enthüllt, die von jenem Nordende der
Adria nach dem Orient hinüberlaufen, und so die Überlegenheit der geogra-
phischen Verhältnisse auch gegenüber der stärksten Menschenkraft in Erinnerung
bringt.
Da die Gauverfassung mehr als alles andere die Grundlage der fränkischen Karoiinglsche
Staatseinrichtungen bildete und der östliche Teil der Alpenländer erst unter Karl Afpen!"
dem Gr. in jene eingefügt wurde, so haben wir jetzt Veranlassung, die Gaue zu
nennen, die damals in diesem Teil des Gebirges erkennbar sind. Es sind dieses
freilich alles Bezirke, von denen die wenigsten ein längeres selbständiges Leben
entwickelt haben und deren genauere Erforschung daher nur einen bedingten
Nutzen haben kann, da die Wirksamkeit dieser Gauverfassung auch hier wie
') Sl. S. 472. 2) Ri. 1. B. S. 185 f; vgl. auch Z. A. 1901. S. 132. 3) si. S. 297. A. 3. •») Vgl.
Ei. K. 15. 5) ju. S.272.
64 V. Kapitel.
überall mit dem Verfall des Karolingerreiches ihr Ende gefunden hat. Als solche
Gaue können nun, wenn wir vom Schwarzwald aus in das Alpenland eintreten,
genannt werden der Aargau, Thurgau und Linzgau'), das Algäu (Alpe gowe,
Albigau) und dann der Huosigau (pagus Hosiarum)^), der weiter östlich das
Alpenvorland bis zur Loisach und Isar einnahm. Auf diesen folgt dann weiter
der Sundgau (Südgau), der sich gleichfalls am Rande der Berge bis über den
Inn hinaus erstreckte. Südlich dieser Gaue aber lagen im eigentlichen tiroler
Gebirge der Gau Inntal, das heutige Unterinntal mit seinen Nebentälern, der
als solcher nach Westen zu, etwa von Zirl ab, dem Gau Poapintal (d. h. dem
des Poapo) Platz machte, eine Bezeichnung, die ebenso wie der Huosigau des-
halb bemerkenswert ist, weil sie erkennen läßt, daß jene Gebiete wirklich einst
von bestimmten Gaugrafen verwaltet worden sind. Dieser Gau Poapintal, der
das obere Inntal und vor allem auch das ganze Ötztal umschloß, wird dann
südlich vom Vintschgau (Finsgowe) abgelöst, der östlich bis an die Passer reichte.
Das eigentliche Brennergebiet aber umfaßte der Gau Norital, nach mittelalter-
lichem Sinne also ein vorwiegend von Bayern bewohntes Gebiet. Dieser Gau
Norital erstreckte sich anfangs südlich weit hinab bis zur Mündung des Noce
in die Etsch, während später (1027) dann seine südliche Grenze der das Tierser
Tal durchfließende und bei Blumau in den Eisak mündende Breibach (Bria
fluvius) war^). Vom Tal der Rienz und dem der oberen Drau wurde dann der
Gau Pustertal (Pustrissa) gebildet, eine heute noch fortlebende Bezeichnung, die
von den einen von Byrrus, dem lateinischen Namen der Rienz, von anderen
wieder aus dem Slavischen, was dann Wüste bedeuten würde, abgeleitet wird"*).
Östlich und nördlich des Pustertales lagen der Lurngau (Tiburnia)^), der Pinzgau
(Binsengau) 6) und der Pongau, von denen die beiden letzteren in ihrer alten
Bezeichnung und auch ungefähr in ihrem früheren Umfange auch heute noch
fortbestehen, während an den Sundgau anschließend von Westen nach Osten zu
der Chiemgau, der Salzburggau, der Attergau und der Traungau zu finden waren.
Die Alpensage Sind wir somit an dieser Stelle mit demjenigen zu Ende, was lediglich aus der
Geschichte von dem Wirken Karls in den Ostalpen bekannt ist, so darf es doch
nicht verschwiegen werden, daß auch die Tradition in den südlich der bayrischen
Ebene liegenden Bergen sich merkwürdig oft mit dem Namen dieses großen
Kaisers zu schaffen gemacht hat. Es ist ja richtig, daß man diese Erscheinung
eben nur so hinzunehmen braucht wie sie ist; es wird aber doch immer auch
solche geben, die angesichts der Tatsache, wie gewaltig die Tätigkeit Karls hier
einst wirklich gewesen ist, der Ansicht sind, daß jener Nachklang sich nicht
ohne Grund eingestellt hat. So zieht sich zunächst wie die Spur eines edlen
Wildes, das längst das Weite gesucht hat, von der Schweiz beginnend eine Kette
solcher Anklänge bis nach Salzburg hinüber. Von Zürich, dessen Münster noch
') PI. S. 370. 2) Vgl. Ri. I. B. Beil. II. 3) n. A. S. 90; vgl. Anh. 7. *) W. P. S. 20; Eg.
S.373; Unterforcher G. Pr. Eger 1890, Sonderabdruck S. 12. 5) pj. s. 222. 6) St. S. 128.
Die Herrschaft Karls des Großen in den Alpen. 65
heute ein den Namen Karls tragendes Standbild besitzt, wo der Kaiser besonders
gern sich aufgehalten und die Schlange bei ihm ihr Recht gesucht haben soll'),
geht sie hinüber nach Kempten, wo Hildegard, die Gemahlin Karls, im J. 773
das Benedii^tinerkcloster gegründet und die Burghalde an dasselbe geschenkt
haben soil^), eine Annahme, zu der freilich zu bemerken ist, daO jener Zeitpunkt
nicht ganz geschickt gewählt scheint, da eben in diesem Jahre Hildegard ihren
Gemahl auf seinem Zuge gegen Desiderius nach Italien begleitet hat. Das alte
Schloß Pähl an der Südspitze des Ammersees gilt als ein Jugendaufenthalt Karls^)
und eine Mühle am Starnbergersee sogar als sein Geburtsort''), und auch das in
Oberbayern geübte Haberfeldtreiben, bei dessen Formalitäten mit dem Namen
dieses Kaisers viel Unfug getrieben zu werden pflegt, wird als ein verwilderter
Schößling des einst von Karl eingeführten Rügengerichts betrachtet. Seinen
glänzenden Abschluß aber findet dann dieser Zug in Salzburg, wo Karl der Gr.
der Mittelpunkt eines reichen Sagenkreises ist, wo er im Untersberg wohnt und
aus diesem einmal wieder in voller Herrlichkeit hervortreten soll.
Nicht minder merkwürdig ist es aber, daß uns auch am südlichen Rande
desselben Alpenflügels ganz ähnliche Anklänge begegnen. Tatsache ist zunächst,
daß Karl im J. 803 die Grafschaft Chiavenna der Kirche von Como schenkte^),
und daß er in der Gegend des Gardasees, wo auch die letzten Langobarden-
könige häufig anzutreffen sind, besonders über Peschiera, das Kastell Sermione
und die Isola di Garda verfügte*^). An dem reichen Portal des Domes in Verona
schauen noch heute die alten Standbilder von Roland und Olivier, der Paladine
Karls des Gr., auf uns herunter; die Berner Klause hieß im Mittelalter semita
Caroli und auch das in der Nähe derselben gelegene Kastell Maicesine soll der
Sage nach "on Karl erbaut worden sein'). Die rätselhafteste Reihe solcher
Andeutungen zieht sich aber doch von hier aus nordwestlich in das Gebirge
selbst hinein. So soll Karl ungefähr im J. 775 südlich vor Madonna di Campiglio,
dort, wo am Eingange des Val di Genova die Kirche S. Stefano liegt, mit seinem
Heere einmal vorbeigekommen sein; oben auf dem Passe aber liegt ein großes
geschütztes Plateau, seit alters Campo di Carlo Magno geheißen, weil der
Kaiser hier sein Lager aufgeschlagen haben soll*^). Weiter nordwestlich im
Münstertale, an dieser Stelle freilich im J. 774, soll sich Karl mit seiner
Gemahlin gleichfalls einmal aufgehalten und daselbst das Kloster Taufers gegründet
haben-'), und wiederum, nicht allzuweit nördlich von hier, findet sich im Scarl-
tale, einem Seitentale des Unterengadins, eine kleine Kirche, die von der Tradition
zu einer Gründung dieses Kaisers gestempelt wird, während man schließlich als
die letzte Kette dieses Gliedes die Annahme betrachten kann, daß einer der
Römerzüge Karls auch einmal von Konstanz aus angetreten worden sei; für dieses /
') Z. A. 1902. S. 90; M. C. L. 17. B. S. 1110. ^) M. C. L. IG. B. S. 45; M. D. A. I T. 4. Au. S. 66.
3) M. D. A. I. T. 4. Au. S. 47. '>) Da. I. B. S. 226. -"■) PI. S. 425. ß) Ab. S. 193, 195. 7) Oe. II.
S. 215; M. D. A. I. T. 4. Au. S.335. ») M. D. A. I. T. 4. Au. S. 307; 9. Au. S. 318. 9) PI. S. 379.
Scherfcl, Verkehrsgeschichie der Alpen. 2. Bind. 5
Qß V. Kapitel.
Ereignis wird aber wieder das J. 780 genannt'). Und selbst in die Sagenwelt der
Urkantone spielt der Name Karls des Gr. hinein, da der besondere Charakter
der Schwyzer durch ihre Herkunft von friesischen Leuten erklärt wurde, die
sich einst daselbst auf der Rückkehr von einem Römerzug Karls niedergelassen
haben sollten 2).
Der Eintritt Während der Zustand der Westalpen unter Karl dem Gr. kaum eine
^*" "in das Veränderung erfahren hat, einfach deshalb, weil dieser Teil des Gebirges bereits
Mittelalter, seit langer Zeit einen alteingerichteten Teil des Frankenreiches bildete, ist es
nach dem Vorangegangenen ganz erklärlich, daß die Wirksamkeit Karls nun auch
vor jener Landschaft in den Alpen nicht Halt machte, die bis dahin seit dem
Ende des Ostgotenreiches ein fast selbständiges Leben geführt und wie Bayern
bisher nur in einem ganz losen Abhängigkeitsverhältnis zu dem Frankenreiche
gestanden hatte. Es ist diese der heutige Kanton Graubünden, an dem damals
noch der einst in viel größerem Umfange geltende Name der römischen Provinz
Rätien haften geblieben war, und für den man den Eintritt des Mittelalters
schlechterdings erst am Ende des achten nachchristlichen Jahrhunderts ansetzen
kann; gewiß eine merkwürdige Tatsache, die ihre Erklärung jedoch durchaus in
den geographischen Verhältnissen findet, in der Abgeschlossenheit des Massen-
gebirgslandes, in der Sprödigkeit und den Kräften der Beharrung, die jene genau
in der Mitte der Alpen gelegene Hochgebirgslandschaft stets in besonderer Stärke
in sich versammelt hat. In jener stillen Zeitspanne begehrten nur die von
Alemannien ausgehenden neuen kirchlichen Kulturströmungen schüchtern Einlaß
im Lande, während im Innern die Churer Bischofsgewalt ein naturwüchsiges
theokratisches Regiment ausübte, das sich zugleich Jahrhunderte hindurch in
derselben Familie, derjenigen der Viktoriden, Glied um Glied forterbte. Auch
die Politik der Frankenkönige hatte damals noch keine Veranlassung, hier fest
zuzugreifen, da die durch Bünden führenden Straßen neben denen der Westalpen
für sie stets in zweiter Linie stehen mußten.
Zu der Zeit Karls des Gr. geht nun aber auch hier eine Veränderung jenes
Zustandes in allen seinen Grundlagen vor sich. Das erste Zeugnis hierfür liefert
zunächst eine Urkunde, in der plötzlich der Bischof von Chur nicht wie sonst
Victor sondern Constantius genannt wird, und als solcher auch nicht mehr als
Praeses sondern als rector im Lande gelten soll. Die Urkunde stellt ferner
zwar die altgewohnten Gesetze Rätiens unter Karls besonderen Schutz, findet
aber doch Veranlassung, hinzuzufügen, daß dieser Schutz einerseits von der
Treue der Räter gegen Karl selbst abhängig zu machen sei und andererseits
besonders auch gegen fremde Leute zu gelten habe, die hier wohl mit Absicht
nicht näher bezeichnet werden^). Leider fehlt uns gerade bei diesem Schriftstück
^ die genaue Kenntnis von dem Zeitpunkt seiner Entstehung. Wenn es aber
richtig ist, daß diese in das J. 784 oder 785 fällt, so liegt der Gedanke sehr
1) Oe. I. S. 242; vgl. Anh. 8. 2) pr. 16. Au. 11. B. 1. Abteilung. S. 414. 3) PI. S. 300f.
Die Herrschaft Karls des Großen in den Alpen. 67
nahe, daß jenes Eingreifen Karls in die rätischen Verhältnisse mit der Ausein-
andersetzung mit Tassilo in Verbindung stand, die ja wenig später (787) dann
auch wirklich stattgefunden hat, daß daher unter jenen fremden Leuten niemand
anders als Tassilo und seine Parteigänger gemeint waren, und daß somit Karl
hier bereits irgendwelchen Schritten von bayrischer Seite her zuvorgekommen ist.
Immerhin hat aber doch damals die Machtstellung des Churer Bischofs selbst
äußerlich wenigstens noch keinen Schaden erlitten, während wir dann im J. 807
nun wie überall so auch hier einen fränkischen Grafen, Hunfried mit Namen,
im Lande finden und so die Zügel der Regierung straff angezogen sehen '). Aber
auch der Zeitpunkt, in dem diese letztere Tatsache erkennbar wird, fügt sich
durchaus in den Verlauf hinein, den die Regierung Karls in den Alpen genommen
hat, da dieser, wie schon erwähnt, überhaupt in den ersten Jahren des neuen
Jahrhunderts die letzte Hand an die Ordnung der Alpenländer legte.
Aber auch noch nach einer anderen Seite hin findet sich ein Motiv, weshalb
sich die Aufmerksamkeit Karls damals wieder auf Rätien gerichtet haben
mag; denn in derselben Zeit, im J. 806, war es auch, als Karl die Divisio imperii
verfügte, jene Länderteilung, wie sie nach seinem Tode unter seinen Söhnen in
Kraft treten sollte-). In dieser erscheint nun auch der Weg über Chur als eine
der wichtigsten Verbindungen zwischen Deutschland und Italien, und es kann
dies daher auch nichts anderes bedeuten, als daß jetzt auch der Besitz der bündner
Alpenstraßen, an denen bisher der Churer Bischof ungestört das Hausrecht aus-
geübt hatte, für die fränkische Reichspolitik ein Gegenstand des höchsten Interesses
geworden war, und daß diese nunmehr auch hier für sich selbst das erste und
letzte Wort beanspruchte. Daß jener Zustand aber doch den Bischöfen in Chur
recht wenig sanft eingegangen sein mag, zeigt sich darin, daß diese sich später
Ludwig dem Frommen gegenüber, als der Wind bereits anders zu wehen begann,
offen über die von dessen Vater getroffenen Maßregeln beklagen-'). Auch in
den folgenden Jahrhunderten haben die deutschen Herrscher dann noch oft
genug Veranlassung gehabt, sich mit den durch Bünden führenden Alpenstraßen
zu beschäftigen. Die Ursache hierzu ist aber doch allein in der durch Karl den Gr.
heraufgeführten Entwickelung zu suchen, da erst durch diesen jener Teil
Deutschlands, der nördlich der östlichen Hälfte der Alpen liegt, mit unlösbaren
Banden in den abendländischen Kulturkreis einbezogen worden ist. Für Bünden
selbst hat die neu geschaffene Weltlage dann im besonderen auch noch die
Wirkung gehabt, daß das Bistum Chur dem Erzbistum Mainz unterstellt und
so von seinem alten Metropolitansitze Mailand abgelöst wurde, obwohl es diesem
räumlich ja viel näher gelegen war''). Diese Änderung geschah um das J. 845,
wie sie daher wohl mit der in Verdun getroffenen Reichsteilung (843) unmittel-
bar zusammenhängt.
') PI. S. 354. 2) W. S. 69. 3) PI. S. 355. ") PI. S. 393.
5»
VI. Kapitel.
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge.
Die Alpen und Wie Cäsar und Augustus die römische Macht über die Alpen nach Norden
Weltanschau^ geführt haben und so die Urheber geworden sind, daß die römische Politik nunmehr
ung des Jahrhunderte hindurch dem Verkehr über das Hochgebirge ihre Aufmerksamkeit
■ zu schenken hatte, so ist Karl der Gr. der Schöpfer jener mittelalterlichen Konstel-
lation gewesen, die in einer langen Reihe die deutschen Herrscher nördlich der
Alpen nach Italien ziehen ließ, um sich dort die Kaiserkrone zu holen. Wenn
dieser Vorgang es äußerlich zum Ausdruck brachte, daß die Herrschaft über
Deutschland und Italien in einer Hand zu liegen habe, so finden wir demnach
auf der Höhe des Mittelalters lange Jahrhunderte hindurch dieselbe Weltanschauung
wieder, wie sie die römische Kaiserzeit zur Reife gebracht hatte; es ist dieses
der Vorstellungskreis, nach dem die Alpen im Mittelpunkte eines großen abend-
ländischen Reiches liegen, und der dem Aufbau und der inneren Kraft dieses
Reiches von vornherein die Fähigkeit zutrauen mußte, die trennenden Kräfte zu
überwinden, wie sie die Natur einem ausgedehnten Hochgebirge den menschlichen
Kulturbestrebungen gegenüber verliehen hat. Nur darin zeigen die mittelalter-
lichen Verhältnisse auch auf den ersten Blick eine Verschiedenheit von denen
des Altertums, insofern sich jetzt der Schwerpunkt jenes abendländischen Reiches
ebenso wie die Heimat seiner Beherrscher im Norden der Alpen befindet, während
das Gebirge selbst den Anforderungen, jene ganze Ländermasse nach einem ein-
heitlichen Willen zu leiten, keine anders gearteten Schwierigkeiten, weder größere
noch geringere als vorher, entgegenzusetzen hatte.
Das Wesen Die Art nun, wie das Mittelalter jenen Aufgaben gerecht zu werden suchte,
omerzuge. .^^ .^ ^^^ Römerzügen der deutschen Herrscher in die Erscheinung getreten,
durch die diese in Rom die Kaiserkrone zu erwerben, nicht minder aber auch
ihre Oberhoheit südlich der Alpen zur Geltung zu bringen unternahmen. Aber
gerade in der Gegenüberstellung dieser beiden Ziele, aus dem Vergleich, welch'
geringe lebendige Kraft auch nach stattgefundener Kaiserkrönung einem solchen
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge. 59
mittelalterlichen Herrscher tatsächlich zuwuchs, offenbart sich der wirkliche
Charakter jenes römisch-deutschen Reiches und damit zugleich das Mißverhältnis
zwischen Schein und Wirklichkeit, das als Leitmotiv des mittelalterlichen Kultur-
lebens überall heraustritt. Die Geschichte zeigt es allenthalben, wie das Oberhaupt
eines festgefügten und in sich sicheren, wenn auch noch so großen Reiches es
durchaus nicht nötig hat, fortgesetzt an den verschiedensten Stellen seines Macht-
gebiets zu erscheinen und daselbst durch seine Persönlichkeit einzugreifen; bei
den großen und langlebigen Weltreichen ist sogar das Gegenteil, die feste und
sichere Leitung von ein und derselben Stelle aus, die Regel gewesen. Auch von
dem römischen Weltreich waren die Länder nördlich der Alpen, wie es fester
und unerbittlicher nicht geschehen konnte, in das von der Hauptstadt ausgehende
und sich nach allen Seiten hin betätigende Regierungssystem einbezogen worden,
ohne daß doch die römischen Kaiser in den langen Zeiten ihrer Machtfülle öfters
persönlich im Norden der Alpen zu erscheinen nötig hatten, wie in ihrer häufigeren
Anwesenheit auf der Schattenseite des Reiches je länger je mehr nur ein Zeichen
für die Lockerung der alten Verhältnisse zu Tage tritt.
Die fränkischen und deutschen Könige haben dagegen seit Karl dem Gr.
Jahrhunderte hindurch kein anderes Mittel gefunden, um ihrer Stellung als Herrscher
des Abendlandes zu genügen, als unausgesetzt mit den Orten ihres Aufenthaltes
zu wechseln und bald vom Norden bald vom Süden der Alpen aus zu regieren.
Eine solche Art der Regierungstätigkeit mußte jedoch schon deshalb auf das Er-
starken einer politischen Machtfülle nachteilig einwirken, weil sie den Kräften
des Einzelmenschen zu viel zumutet, und so dem Haupterfordernis jedes dauernden
Erfolges, der innerlichen Sammlung, entgegenarbeitet, in der sich allein die Grenzen
des Möglichen und Erreichbaren zu enthüllen pflegen. Die ganze Geschichte
der mittelalterlichen deutschen Kaiserzeit ist daher äußerlich zwar eine ebenso
glänzende und dramatische Reihe großer Ereignisse, innerlich dagegen nur ein
wechselvolles und keineswegs erhebendes Bild menschlicher Lebenslagen. Die-
selben Erscheinungen, Römerzüge und Kreuzzüge, die Kämpfe mit der Kurie,
mit den Vasallen und diejenigen gegen die Slaven folgen in bunter Folge auf-
einander, während die Hauptsache, die durch jenen glänzenden Schein verhüllt
wird, die Lebensfähigkeit des abendländischen Kaisertums selbst, einer unglaub-
lichen Unstetigkeit, einem jähen Wechsel zwischen den höchsten Ansprüchen der
Weltherrschaft und der mühsamen Behauptung in der Stellung eines deutschen
Wahlkönigs unterworfen ist.
Vieles ist eigenartig an dieser Entwickelung und uns heute fast wunderbarer
als manche noch viel weiter in der Vergangenheit zurückliegende Ereignisse;
das Merkwürdigste bleibt aber doch die lange Dauer jenes Zustandes, der sich
in derselben Weise vom Beginn des neunten bis in das dreizehnte Jahrhundert
hinein immer wiederholte, als der größte und aufreibendste circulus vitiosus, den
die Weltgeschichte kennt. Es ist gewiß auffallend, daß in jener langen Epoche
70 VI. Kapitel.
kaum ein deutscher Herrscher im buchstäblichen Sinne die Bahnen seiner Vor-
fahren verlassen hat, ja daß die tüchtigsten und tatkräftigsten, wie Otto I. und
Friedrich Barbarossa, auf jene ihre Zeit bewegenden Ideen am stärksten reagiert
haben. Gerade hierin aber offenbart sich die zwingende Überlegenheit der die
einzelnen geschichtlichen Epochen erfüllenden Geistesrichtung gegenüber dem
Einzelmenschen, der seine Vorstellungen schließlich doch nur aus dem Vorrat
der geistigen Werte schöpfen kann, die ihm von seiner Zeit zu Gebote gestellt
werden. Eben deshalb ist aber auch der Hohenstaufe Friedrich II., der inmitten
seines Geschlechtes ein wildfremder Mensch war, für die Geschichte eine so
besonders interessante Gestalt, weil er sich bewußt von der Regierungsmethode
seiner Vorgänger lossagte und sein Gesamtreich vorwiegend nur von der einen
Seite der Alpen aus zu regieren suchte.
So sind die Römerzüge nicht nur im einzelnen, sondern auch hinsichtlich
ihrer Häufigkeit und des langen Zeitraumes, über den sie sich verbreiten, eine
Erscheinung, die tief in dem mittelalterlichen Geisteszustand begründet ist, ins-
besondere aber auch dasjenige Moment, das den Alpenstraßen auch in dieser
Periode ihren hervorragenden Platz in der Weltgeschichte sichert. Denn jene
Verkehrslinien hatten auch damals wie zu allen Zeiten für das Völkerleben eine
wirtschaftliche Bedeutung im weitesten Sinne, nicht minder aber auch eine große
politische Wichtigkeit für diejenigen, die über Deutschland und Italien zugleich
die Herrschaft ausüben wollten, eine Wichtigkeit, die nicht anders als wie
zur Römerzeit ihre Vorkehrungen erheischte, um den freien Durchzug durch
jene schwierigen Gebirgsstraßen offen halten zu können. Es entspricht aber der
andersgearteten Machtfülle der mittelalterlichen Herrscher, die sich damals rein
praktischen Aufgaben gegenüber nur mit ganz geringen Erfolgen begnügen mußten,
daß das Streben nach dem Besitz der Alpenstraßen jetzt zunächst mit ganz anderen
Mitteln arbeitete, ferner aber auch niemals zu jenem großen Resultate führen
konnte, wie es die römische Kaiserzeit in ihren wohldurchdachten, über die Alpen
gelegten Kunststraßen erreicht hatte.
Die in der Nach mittelalterlichen Begriffen bildete das Reich Karls des Gr. ein besonders
Reichsteilung . „ ^ . j. »i i
Karls namhaft festgefügtes und geschlossenes Ganze, das rings um die Alpen gelagert war, und
gemachten dessen einheitliche Beherrschung und Verwaltung daher auch den ungehinderten
' Verkehr über dieses Gebirge hinüber zur Voraussetzung hatte. Der im J. 806
von Karl verfügte Entwurf einer Reichsteilung (Divisio imperii), wie er nach
seinem Tode eintreten sollte und in dem die einzelnen Abschnitte für jeden
der drei Söhne Karls bestimmt werden, macht unmittelbar nach den Worten der
Teilung selbst die Alpenübergänge namhaft, die auf diese Weise einem jeden der
drei künftigen Frankenherrscher zur Verfügung ständen'). Dieser Zusammenhang
beweist ohne weiteres, wie hoch gerade jener große Herrscher den Besitz der
Alpenstraßen einschätzte, und allein diese Tatsache ist daher das weitaus wichtigste
1) Vgl. Anh. 9.
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge. 71
neben dem vielen anderen, über das jene Stelle sonst noch für unseren Zweck
Licht verbreiten kann. Die vorgesehene Dreiteilung selbst, ein westlich zur Seite
gedrücktes Frankreich, ein in gleicher Weise nach Osten geschobenes Deutsch-
land und ein zwischen diesen beiden in der Mitte liegendes Reich ist zwar zu-
nächst nicht zur Ausführung gekommen, später, nach dem Vertrag von Verdun
(843), und mit einigen Veränderungen dagegen schließlich doch noch zur Wirk-
lichkeit geworden; und wenn wir weiterhin sehen, daß solche zwischen Frankreich
und Deutschland mitten inne liegende Zwischenreiche auch wieder zu den Zeiten
Karls des Kühnen und nach dem Wiener Kongreß in das Leben getreten sind,
so scheint deren Entstehung an solche Zeitlagen geknüpft zu sein, in denen
man geneigt ist, den Einfluß der nationalen Kräfte auf das Staatenleben nicht
allzuhoch einzuschätzen.
Unter den Alpenwegen selbst, die in der Divisio namhaft gemacht werden,
sind jedoch nur Gruppen von Übergängen zu verstehen, so daß aus derselben
eine Aufklärung über die Begangenheit einzelner bestimmter Straßen zu jener
Zeit nicht gewonnen werden kann. Diese Gruppen verteilen sich nun weiterhin
derart, wie sie den einzelnen Reichen ihrer Lage nach nicht anders zufallen
konnten; für das westliche Reich die Straßen, die in das Tal von Susa auslaufen,
also die eigentlichen französischen Alpenstraßen, für das Reich in der Mitte die-
jenigen, die in das Tal von Aosta münden, wobei in diesem Falle allerdings kaum
ein anderer Weg als der Gr. S. Bernhard gemeint gewesen sein kann, weil dieser
infolge seiner diagonalen und vermittelnden Lage für das große, den Rhein entlang
liegende Zwischenreich wie geschaffen war — während die Straßen des Ostreiches
hier als über die Norischen Alpen und über Chur führend angegeben werden
und demnach die Linien des Brennersystems und die bündner Pässe umfassen.
Es sind letzteres die Wege, die gleichfalls ihrer Lage nach nur für das Ostreich
in Frage kommen konnten, und deren Benutzung für das Frankenreich erst Karl
der Gr. wieder sichergestellt hatte. Erst durch diesen ist daher jener wichtige
Zustand eingetreten, daß auch die über die Mittelalpen führenden Linien den
westlichen Alpenstraßen in ihrer Bedeutung für den Weltverkehr vollständig
ebenbürtig wurden, wie es ja auch gerade jene Linien gewesen sind, über die
sich später vorwiegend die Römerzüge der deutschen Herrscher bewegt haben.
Die Linien der Ostalpen fallen dagegen hier noch ganz aus, was darin seine
Erklärung findet, daß diese Straßen überhaupt erst dann einen gleichen Wert wie
die anderen Alpenstraßen erlangen können, wenn sich die Länder am Mittellauf
der Donau zu einem großen Reiche zusammengefunden haben.
Aber auch noch aus einem anderen Vorgang, der mit den letzten Regierungs- Karls Testa-
maßregeln Karls in Verbindung steht, läßt es sich erkennen, welche Bedeutung Alpenstädte,
damals den Alpenländern innerhalb des Frankenreiches zugesprochen wurde.
In seinem jm J. 811 gemachten Testament bedachte Karl die 21 Metropolitan-
sitze seines weiten Reiches, und wenn es auch nicht wunderbar ist, daß uns
72 VI. Kapitel.
unter diesen, mit Ausnahme von drei '), nur Städte mit einer glänzenden
Geschichte entgegentreten, die seit der Römerzeit bis in unsere Tage angehalten
hat, so ist es hier doch um so wichtiger, wenn unter jenen 21 nicht weniger
als fünf innerhalb des Bannkreises der Alpen gelegen sind: Salzburg und Cividale
am Fuße der Ostalpen, dann besonders Grenoble, der französische Vorort der
westlichen Alpenstraßen, und ebenso Embrun an der Linie des Mont Genevre
wie Moutiers an derjenigen des Kl. S. Bernhard. Letztere beiden sind jetzt zu
ganz stillen Orten geworden; ihre damalige bevorzugte Stellung können sie jedoch
nur ihrer Lage an jenen wichtigen Gebirgsstraßen verdankt haben.
Die Römer- Karl selbst ist zehnmal über die Alpen nach Italien und wieder zurück
des Großen, gezogen, aber nur bei drei von diesen Alpenüberschreitungen sind wir auch
über den Weg, den er dabei gewählt hat, ganz im klaren 2). Es gilt dies zunächst
für den Zug von 773, bei dem er persönlich über den Mont Cenis kam, und
der übrigens als einziger von allen zugleich ein über das Gebirge hinüber aus-
geführter Feldzug und nicht wie die übrigen nur ein bloßer Reisemarsch war.
Ferner steht bei den Zügen von 776 und 801 aus Italien nach Deutschland die
Richtung über den Gr. S. Bernhard außer allen Zweifel, weil hier beide Male
ein Aufenthalt Karls in Ivrea sichergestellt ist; auch bei den anderen Zügen
, Karls bleibt diese Richtung die wahrscheinlichere, wenn auch bereits hier
ebenso wie bei den meisten anderen späteren Römerzügen die verstümmelte
Überlieferung den durch die Alpen eingeschlagenen Weg nur andeutungsweise
erkennen läßt.
Das Straßen- Wenn im Altertum die Reichsregierung selbst auch den Bau der Alpen-
Mittelalters. Straßen in die Hand genommen hatte, so war dies begründet nicht nur in dem
folgerichtigen römischen Staatsgedanken, der sich bewußt war, wie gewaltig die
Geschlossenheit eines großen Reiches durch die Erleichterung des Verkehrs
gefördert wird, noch viel mehr aber in dem Übermaße aller materiellen Hilfs-
mittel, die sich die antike Kultur zur Erreichung dieses rein praktischen Zieles
von Anfang an zu nutze machen konnte. Ganz im Gegensatz hierzu steht nun
aber, ebenso im Flachland wie in den Alpen, der Einfluß, den die mittelalterlichen
Herrscher auf das Straßenwesen ausübten, weil damals jene Grundlagen fast
ganz fehlten, die dem Straßenbau des römischen Altertums zu so gewaltigen
Leistungen verholfen hatten. Im Mittelalter war die Geschlossenheit des Reiches
und die Machtfülle seines Oberhauptes eben nur in der Vorstellung vorhanden,
während in Wirklichkeit der verschiedenartige Wille einer Anzahl neben und
übereinander gestellter Machtkreise von Herzögen, Grafen, Bistümern, Klöstern
und später auch Reichsstädten über das Schicksal und den Zustand der ihre
Gebiete durchziehenden Verbindungen bestimmte. Es ist aber natürlich, daß
alle diese Instanzen den Verkehr innerhalb ihres Machtkreises in erster Linie
nur von dem Standpunkte ihres eigenen Vorteils, zumeist also von demjenigen
') Ei. K. 33. Diese drei sind Grado, Moutiers und Embrun. 2) Oe. I. S. 241, II. 306.
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge. 73
des Zollwesens aus, betrachteten, und daß kaum irgendwelche anderen Rücksichten
als diese darüber entschieden, ob der Verkehr gefördert oder gehindert, ob die
Straße selbst in gutem oder schlechtem Zustand erhalten werden sollte. Gerade
diese letztere Tatsache, daß ein Machthaber ebensooft ein Interesse daran hatte,
den sein Gebiet durchziehenden Verkehr zu erschweren oder gar eingehen zu
lassen, findet sich im Mittelalter fast ebensohäufig wie das Gegenteil, und sie
liefert daher auch die beste Erklärung nicht allein für die Veränderungen, die
das Straßennetz während jener Zeiten erfahren hat, wie überhaupt für manche
aufifallenden und unregelmäßigen Erscheinungen des damaligen Verkehrslebens').
Die andere Ursache aber, weswegen im Mittelalter der Straßenbau selbst
nur geringe Leistungen aufweisen konnte, liegt in der Geringfügigkeit der
praktischen Hilfsmittel, die den damaligen Geschlechtern zu Gebote standen 2),
und zwar nicht nur in den dem Altertum nachstehenden technischen Kenntnissen,
sondern vor allem auch in dem Mangel an Arbeitskräften, die sich der Kapital-
wirtschaft gegenüber stets viel williger zeigen als gegenüber der Naturalwirtschaft,
wie sie im Mittelalter zumal in den Alpen besonders lange und besonders rein
ausgeprägt war. Der wichtigste Grund aber, weshalb die baulichen Leistungen
des Mittelalters von Anfang an so weit hinter denjenigen des Altertums zurück-
stehen, bleibt doch der, daß jenes keine Arbeit von Sklaven kannte. Die Sklaven
des römischen Fiskus haben auch die großen Alpenstraßen des römischen Reiches
gebaut. Es ist richtig, daß die weißen Sklavenheere schon am Ende des Altertums
selbst ausgestorben sind, aber auch ohne diesen Ausgang bleibt das Aufhören
der Sklaverei einer der folgenschwersten kulturellen Gegensätze, der das Mittel-
alter, nicht zum Nachteil seines inneren Wertes, von dem Altertum unterscheidet.
Hieraus ist es demnach durchaus erklärlich, daß eine Straßenbautätigkeit
im großen Stile im Mittelalter niemals und am wenigsten in dem schwierigen
Alpengeoiet eintreten konnte, und daß selbst ein weiter Blick, auch die gewaltige
Energie eines Einzelnen sich hier nur mit ganz geringen Resultaten begnügen
mußte, wenn es auch bestehen bleibt, daß die großen Herrschernaturen aus ihrem
Gesichtskreis heraus nach wie vor auf jenes Bestreben hingewiesen wurden.
Vor Karl dem Gr. haben wir zunächst überhaupt keine Andeutungen über irgend-
welchen mittelalterlichen Straßenbau-^); erst unter diesem und unter dessen
Nachfolgern, die mit dem Titel des römischen Kaisers auch jene antiqua consuetudo
mit übernommen haben mögen, läßt es sich erkennen, daß die Herrscher selbst
auch der Fürsorge für die das Reich durchziehenden Straßen einige Aufmerk-
samkeit gewidmet haben. Das Kapitulare von Mantua (787) giebt davon den
ersten Beweis, als die Reichsregierung die Gewohnheiten, die sich bei der
Instandhaltung der Straßen, besonders der Brücken, ausgebildet hatten, zum
Gesetze erhob; ein späteres, etwas deutlicheres Zeugnis liefert dann der Mönch
von S. Gallen, Notker der Stammler^). Hier sind es die Geistlichen, besonders
') Vgl. F. 1834. S. 266. 2^ Ca. S. 55. J) Ga. S. 32. ■», Ga. S. 34f.
74 VI. Kapitel.
aber die Grafen, beides die eigentlichen zur inneren Verwaltung des Karolinger-
reiches berufenen Instanzen, denen mit Hilfe ihrer Untergebenen die Instand-
haltung der bestehenden Wege obliegt, während bei den wichtigeren Unter-
nehmungen dieser Art, besonders bei den Neubauten, alle einschlagenden Gewalt-
haber zur Teilnahme verpflichtet sein sollen, ein Verfahren, bei dem diese dem
Könige durchaus verantwortlich sind und das durch dessen Sendboten kontrol-
liert wird.
Auffallen muß es aber doch, daß Verordnungen gleicher Art aus dem zehnten
und elften Jahrhundert nicht existieren, auch nicht von Otto dem Gr. oder
Heinrich III., jenen kräftigen Herrschern, unter denen der Begriff der Reichs-
einheit diesseits und jenseits der Alpen verhältnismäßig am weitesten zur
Vollendung gekommen ist. Erst unter Friedrich I. wird es im J. 1158 auf
den ronkalischen Feldern wieder als Grundsatz ausgesprochen, daß die öffent-
lichen Verkehrswege, und zwar im weitesten Begriffe, Landstraßen, Brücken,
Wasserstraßen, Häfen und Zölle nur dem Könige gehören; und auch Friedrich II.
erhebt in den Verordnungen auf dem Reichstage zu Mainz (1225) noch einmal
dieselben Ansprüche'). Es sind aber hier wie dort doch nur mehr allgemeine
Mißstände, vor allem die vielen unberechtigten Zölle und Hindernisse, die mit
der Zeit den Verkehr der Willkür der mannigfachen an den langen Straßenlinien
liegenden Gewalten ausgeliefert hatten, gegen die jetzt von den Herrschern im
Prinzip Front gemacht wird. Wenn jene Maßregeln daher auch zeigen, daß die
Reichsgewalt, sobald sie sich vorübergehend zu einem kräftigen Schwünge erhob,
durch die Logik der Tatsachen auch auf die Fürsorge für die Straßen geführt
werden mußte, so konnten doch auch in solchen Fällen die praktischen Ergebnisse
im Vergleich zu den erhobenen Ansprüchen stets nur ganz geringfügig bleiben.
Nicht ein einziges Mal ist daher auch im Mittelalter der Fall eingetreten, daß
von dem Reichsoberhaupte selbst eine Straße in langer Linie durch die Alpen
gebaut oder auch nur verbessert worden wäre.
Die Sperrung Nach einer anderen Richtung hin, die sich jedoch nicht auf ganze Linien
Alpenstraßen, sondern auf einzelne besondere Punkte an den Alpenstraßen erstreckte, ist dagegen
das Mittelalter von Anfang an ganz selbständig vorgegangen, in der Errichtung
von Klausen. Es waren dies Befestigungen zur Beherrschung der einmal vor-
handenen Alpenwege, eine Erscheinung, die nun auch besonders deutlich erkennen
läßt, auf welche Weise sich damals allein der Einfluß der großen Machthaber an
den Alpenstraßen geltend zu machen pflegte, und die weiterhin auch die Ursache
zu der wichtigen Tatsache geworden ist, daß auch im Mittelalter ebensogut wie
im Altertum die Verbindungen zwischen Deutschland und Italien in breiter Front
besetzt und abgeschlossen werden konnten.
Der früheste Vorgang dieser Art ist wohl etwa um das J. 942 gelegentlich
der Kämpfe zwischen den italienischen Gegenkönigen Hugo von Niederburgund
>) Ga. S. 45f.
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge. 75
und Berengar II. von Ivrea zu beobachten')- Besonders häufigen und besonders
erfolgreichen Versuchen dieser Art begegnet man dann während der bewegten
Zeiten Heinrichs IV., was aber vor allem anderen auch deshalb möglich werden
konnte, weil jetzt nach einem langen und kräftigen Walten der deutschen Kaiser-
macht die Zusammengehörigkeit Deutschlands und Italiens auch wirklich einige
Fortschritte gemacht hatte, und dabei nun auch der Apparat für den politischen
Verkehr zwischen diesen beiden Ländern zu einer verhältnismäßig größeren
Vollendung gelangt gewesen sein muß. So ließ Heinrich IV. im J. 1075,
als der Aufstand der Sachsen in hellen Flammen stand, der Kampf mit Gregor
aber noch nicht begonnen hatte, „alle Alpenpässe sperren, um keine Nachrichten
von diesen Vorgängen nach Rom gelangen zu lassen" 2). Am Ende des J. 1076
aber, als die Ereignisse über Heinrich zusammengebrochen waren, taten dann
wieder die Fürsten dasselbe und besetzten, um die Reise Heinrichs zum Papste
zu verhindern, „im Voraus mit Wächtern alle Wege und Zugänge, die nach
Italien führen und die man gewöhnlich Klausen nennt" ^), wodurch Heinrich,
wie bekannt, zu jenem weiten Umweg über den Mont Cenis genötigt wurde.
Dieser wendete dann aber auch seinerseits und zwar mit vollem Erfolge, sobald er
nach seiner Rückkehr nach Deutschland wieder zu Kräften gekommen war,
kein anderes Verfahren an und vereitelte so die geplante Zusammenkunft Gregors
mit den deutschen Fürsten zu Augsburg, von der er das Schlimmste zu erwarten
hatte. Später aber im J. 1093 besetzten die lombardischen Städte Mailand,
Cremona, Lodi, Piacenza u. a. die von Italien nach Deutschland führenden Wege
und hielten auf diese Weise Heinrich von seinen deutschen Anhängern fern, so
daß er selbst deshalb jahrelang machtlos in Italien zurückbleiben mußte'*).
Auch aus dem folgenden Jahrhundert ist noch ein Fall ersichtlich, bei dem
die Sperrung der Alpenstraßen in breiter Front besonders gut funktionierte und
durch eine solche Maßregel ein entscheidender Einfluß auf den Gang der
Ereignisse ausgeübt wurde. Als Friedrich Barbarossa im J. 1186 durch Bünden
aus Italien zurückkehrte und zugleich einen feindlichen Papst im Rücken wie
Deutschland in halbem Aufruhr vor sich hatte, mußte für ihn alles darauf
ankommen, seine Feinde zu trennen; auch er ließ daher, sobald er nördlich der
Alpen angelangt war, „die Pässe der Alpen und aller umhergelegenen Länder
sperren, so daß niemand in irgend einer Angelegenheit zum apostolischen Stuhle
gelangen konnte" 5). Auch zwei Römerzüge desselben Kaisers, der vom J. 1167
von Italien nach Deutschland und derjenige vom J. 1174 in umgekehrter Richtung
bewegten sich nur deshalb über den Mont Cenis, weil die anderen Alpenstraßen
gesperrt waren^), und ebenso fand Friedrich II. im J. 1212 bei seinem ersten
Zug aus Italien nach Deutschland die von Trient aus nördlich nach Schwaben
führenden Straßen verschlossen, so daß er damals nur auf Umwegen und über
schwierige Gebirgsübergänge nach Chur gelangen konnte').
') Oe. I. S. 215. 2) Bruno Sachsenkrieg. K. 64. ^ La. S. 282. «) Oe. II. S. 228. 5) A. L. S. 122.
6) Oe. 1. S. 227 f. ') Oe. 11. S. 188.
76 VI. Kapitel.
Die Klausen. Die Befestigungsbauten selbst aber, durch die eine solche Sperrung der
Alpenstraßen in das Werk gesetzt wurde, führten im Mittelalter allgemein den
Namen Klausen (clusae), eine Bezeichnung, die uns zuerst bei den Langobarden
und Franken begegnet ist, und deren Klang den Zweck, dem diese Bauten dienen
sollten, ganz deutlich veranschaulicht. Solche Sperren waren im Mittelalter
über das ganze Alpengebiet verbreitet; es ist aber hervorzuheben, daß jener
Name selbst im geschichtlichen Sinne zunächst durchaus von der gleichlautenden
geographischen Bezeichnung unterschieden werden muß, da mit dieser überhaupt
in den Alpen alle quer durch die Gebirgserhebung hindurchgehenden, mit
symmetrischen Seitenwänden versehenen Spalten bezeichnet zu werden pflegen,
wenn es auch klar fst, daß die Erdkunde bei der Geschichte hier nur eine
Anleihe aufgenommen hat, da jene mittelalterlichen Klausen eben einst vorwiegend
in solchen Querspaltentälern zu finden waren. Es ergiebt sich nun von selbst,
daß die Stellen, wo einst nachweisbar solche mittelalterlichen Klausen bestanden
haben, damals auch für den Verkehr von besonderer Wichtigkeit sein mußten,
während weiterhin dort, wo die alten Befestigungen selbst noch leidlich erhalten
sind, uns der Augenschein sofort die Art, wie sie wirken sollten, vergegen-
wärtigen kann. Es ist auch zu beobachten, daß diese Klausen sich weniger auf
den Paßhöhen sondern vorwiegend an solchen Stellen finden, wo die Straße
eine Biegung macht, besonders aber, wo durch unwegsame Höhen oder steile
Abfälle dicht neben der Straße eine Umgehung ausgeschlossen erscheint. Hier
waren nun die Straße selbst und der enge Raum rechts und links bis dahin, wo
das natürliche Hindernis begann, hermetisch durch eine hohe Mauer abgeschlossen,
deren einziger Durchlaß, zumeist ein starker Torturm '), wenn es nötig war, Tag
und Nacht von einer Besatzung bewacht wurde, die irgend ein mächtiger Gewalt-
haber daselbst stationiert hatte. Manchmal, aber durchaus nicht als Regel, findet
sich dann auch noch neben der eigentlichen Klause eine wirkliche Burg im
mittelalterlichen Sinne.
Diese ganze, nur an einzelne Punkte angewiesene, dort aber um so ener-
gischer wirkende Straßenbefestigung ist nun aber tief in dem Wesen des mittel-
alterlichen Verkehrslebens begründet, das als Beförderungsmittel des Menschen
fast nur das Reitpferd kannte. Solche Klausen ließen daher, wenn sie gut bewacht
waren, nur wenig Möglichkeiten, die Reise zweckentsprechend fortzusetzen; denn
bei den unentwickelten Angriffsmitteln des Mittelalters konnten hier überhaupt
nur größere Streitkräfte daran denken, Gewalt zu brauchen, während ein Um-
kehren vor der Klause, und der Versuch, etwa an einer benachbarten, schlechter
bewachten Stelle durchzukommen, zunächst ein recht unsicheres und bei der
ganzen Struktur der Gebirgswege jedenfalls sehr zeitraubendes Unternehmen
bedeuten mußte. Der am nächsten liegende Ausweg aber, derjenige, eine solche
Klause auf Fußpfaden, die es überall giebt, zu umgehen, war nur möglich, wenn
') Vgl. Oe. I. S. 204.
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge. 77
der Reiter sich von seinem Pferde trennte, und er lag daher schon deshalb dem
Mittelalter fern, wie ja tatsächlich erst die selbständige Kampfesweise des Fuß-
volks auch die Wirkung jener mittelalterlichen Befestigungen je länger je mehr
herabgemindert hat.
Wie wenig überhaupt jene Zeiten sich zu Fuß oder zu Wagen bewegten,
und welche Schwierigkeiten für den damaligen Reisenden der Verlust seines
Reitpferdes bedeutete, dafür mögen zunächst zwei in den Alpen selbst spielende
Vorfdlle als Beispiel dienen. Im J. U93 wurden der Kardinallegat Cincius und
seine Begleiter auf der Reise nach Italien auf dem Septimer von einem Ritter
von Marmels ihrer Habe und Pferde beraubt, jedoch nur der Legat allein gefangen
weggeführt. Aber auch den übrigen konnte es jetzt gar nicht mehr einfallen,
die lange Reise fortzusetzen, sondern sie kehren einfach wieder nach Chur zurück
und erst, nachdem sie dort sämtlich ihre Pferde wiedererlangt haben, geht es von
neuem weiter '). Im J. 1026 aber, als der Bischof Bruno von Toul aus der Lombardei
nach Deutschland reiste und auf diesem Wege am Gr. S. Bernhard gewaltsam fest-
gehalten werden sollte, gelang es diesem selbst wohl glücklich durchzukommen;
zwei seiner Begleiter wurden dagegen gefangen, und zwar nur deshalb, weil sie
sich nicht entschließen konnten, rechtzeitig ihre übermüdeten Pferde in Stich zu
lassen 2). Auch die Waren wurden im Mittelalter nur auf Saumpferden über das
Gebirge transportiert -*), und selbst der ärmste nach dem Heiligen Lande ziehende
Pilger verließ den Rücken dieses Tieres erst kurz bevor er das Schiff bestieg;
infolgedessen war Mestre bei Venedig der Ort eines lebhaften Pferdehandels''),
wie überhaupt dieser Handelsartikel damals eine besonders große Rolle spielte
und die Pferde daher auch in allen Zollkatalogen angeführt werden; so ver-
zeichnen allein die Zollstellen am Gr. S. Bernhard für das J. 1283 auf 1284 die
Durchfuhr von nicht weniger als 2225 gewöhnlichen und 99 englischen Pferden-"').
Es sind uns nun auch genug Vorfälle überliefert, die uns ebensosehr das
Leben und Treiben an jenen Klausen veranschaulichen wie die Vorteile und
Nachteile derselben vergegenwärtigen können. So fand, wie eben gesagt, jener
Bischof von Toul, übrigens der spätere Papst Leo IX., an der Linie des Gr.
S. Bernhard bereits von Ivrea aus alle Vorkehrungen getroffen, um seinen Durch-
zug zu verhindern. Um sein Ziel trotzdem zu erreichen, griff er zweimal hinter-
einander zu derselben List, indem er allein als einfacher Reisender seinen Be-
gleitern vorauseilte und so die Wachen täuschte, die den Kirchenfürsten erst
unter dem nachrückenden Haupttrupp vermuteten. Der Kanzler Heinrichs IV.,
Oger von Ivrea, den der Kaiser im J. 1093 von Italien nach Deutschland sendete
und der gleichfalls den Weg über den Gr. S. Bernhard einschlagen wollte, wurde
dagegen an derselben Stelle einfach von den Gegnern des Kaisers abgefangen'').
Man sieht also hieraus, daß, wenn jene Straßensperren richtig funktionieren sollten,
') Oe. II. S. 200. 2) Oe. I. S. 251. ^) W. P. S. 31. ^) Oe. II. S. 245; Vgl. Ga. S. 120.
f) Schu. S. 150, 482. 6) Oe. I. S. 252.
78 VI. Kapitel.
einesteils strenge Wachsamkeit Vorbedingung war, besonders aber auch, daß die
Besatzungen in jenen Klausen genau instruiert sein mußten, wen sie durchzulassen
hatten und wen nicht, und daß die Schwäche jener Vorrichtungen in der Schwierig-
keit bestand, in jedem Fall richtig zwischen Bande und Konterbande zu unter-
scheiden.
Ein weiterer Zustand, der auf die Handhabung dieser Klausen nur ungünstig
einwirken konnte, war in den unsicheren Machtverhältnissen begründet, wie sie
das ganze Mittelalter hindurch in der Reichsregierung vorherrschten. Da die
mächtigen und weniger mächtigen Vasallen, denen die Besetzung der Klausen
oblag, oft genug im Zweifel waren, welchem Machthaber in der nächsten Zukunft
die Herrschaft zufallen werde, und da jene deshalb auch selbst oft genug die
Partei wechselten, so mußte sich diese Unsicherheit auch auf deren eigene Maß-
regeln und so auch auf die Besatzungen in den Klausen übertragen. Aus dem-
selben Grunde konnte es außerdem auch nicht selten geschehen, daß die Zweck-
mäßigkeit irgendwelcher an den Klausen ergriffener Maßregeln unmittelbar darauf
durch die Ereignisse in das Gegenteil verkehrt wurde.
Auch für diese Zustände sind zwei Ereignisse charakteristisch, die sich an
der Brennerstraße abgespielt haben. Etwa im J. 944 versuchte Berengar II. von
Ivrea aus Deutschland nach Italien zurückzukehren. Er nahm dazu zunächst den
Weg durch das Vintschgau '), wurde dann aber, als er bei Bozen, also an der
Nordgrenze Italiens angelangt war, bei der Burg Formicar (Sigmundskron), die
an der dortigen Straßenbiegung liegt, nicht weiter vorwärts gelassen. Der Be-
fehlshaber der Festung selbst war ein Kleriker, der hier aber nicht auf eigene
Hand sondern im Auftrage des Bischofs Manasse von Trient handelte. An einen
gewaltsamen Durchbruch war für Berengar nicht zu denken, aber es gelang ihm
trotzdem, sich dadurch den Weg frei zu machen, daß er für später d. h. in dem
Falle, wenn er die Krone Italiens für sich glücklich erobert haben würde, ebenso
dem Befehlshaber von Formicar, wie dem Bischof von Trient selbst Bischofssitze,
jenem den in Como, diesem aber den erzbischöflichen Sitz in Mailand in Aus-
sicht stellte. Man sieht also, wie stark damals die Unsicherheit der Macht-
verhältnisse, die Erwägung, daß Berengar möglicherweise die Zukunft in Italien
gehören könne, auf die Entschlüsse jener eingewirkt hat.
Ein nicht weniger bezeichnender Vorfall dieser Art ereignete sich auch 1106,
gleichfalls in Südtirol 2). Damals schickte Heinrich V. kurz vor dem Tode seines
Vaters eine ganze Anzahl deutscher Bischöfe über die Alpen nach Rom, um dort
die Klage gegen Heinrich IV. zu führen. Jene Gesandten reisten nun auch
ungehindert auf verschiedenen Wegen durch das Gebirge und trafen sich zunächst
in Trient, das ihnen zum Sammelpunkt angewiesen war. Hier angelangt wurden
sie dann aber plötzlich im Auftrage des alten Kaisers von einem Grafen Adalbert,
wahrscheinlich von dem Grafen im Vintschgau, dem Ahnherrn der alten Grafen
>) Oe. I. S. 216. 2) Oe. II. S. 229.
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge. 79
von Tirol, festgenommen. Dieser Machthaber war demnach entweder von Anfang
an mit Heinrich IV. im Einverständnis gewesen und hatte jene nur deshalb durch
das Gebirge gelassen, um sie dann desto sicherer aufzuheben, oder er hatte selbst
inzwischen die Partei gewechselt. Jene Gefangenen gelangten dann aber trotzdem
bald wieder in Freiheit, weil nunmehr der Herzog von Bayern, Weif V., ein
Anhänger des jungen Kaisers, mit jener schonungslosen Energie, die den bayrischen
Weifen gegenüber den tiroler Dynasten immer eigen gewesen ist, persönlich gegen
Adalbert einschritt, mit starker Hand die in Tirol gelegenen, im Besitz Adalberts
befindlichen Klausen durchbrach, jene Gesandten befreite und auch in Trient
selbst die Ordnung zu Gunsten Heinrichs V. herstellte, — alles Vorgänge, die
in ihrem Verlauf so deutlich wie nur möglich die Unsicherheit der Macht-
verhältnisse jener Zeiten widerspiegeln, wodurch auch die Herrschaft an jenen
Klausen bald in diese, bald in jene Hand überging.
Derartige Befestigungen nun, die im Mittelalter die Bestimmung solcher
Klausen erfüllten, bestanden in den Alpen am Gr. S. Bernhard, zunächst ober-
halb S. Remy, wo das Tal durch eine Mauer abgeschlossen war'), und südlich
in Bard, dessen Befestigungen im elften Jahrhundert errichtet wurden. Weiter
östlich finden wir in Bellinzona mit seinen drei, durch Mauern mit einander
verbundenen Burgen, die, wie heute noch erkenntlich, einst das Tal völlig ab-
schlössen, eine spätmittelalterliche Klause im größten Maßstabe. Im Prättigau
lag zwischen Lanquart und Seewis die Klus neben der Feste Fragstein und im
Wallgau eine Klause westlich Feldkirch^). Eine echt mittelalterliche Klause ist
auch Altfinstermünz, das im Gegensatz zu Neufinstermünz tief in die enge Wald-
schlucht eingezwängt ist, und das auch in den churrätischen Urkunden häufig
einfach nur clusa genannt wird 3). Nördlich der altberühmten Berner Klause be-
gegnen wir der gleichfalls sehr alten Salurner Klause mit der Haderburg darüber,
westlich am stillen Idrosee den clusae, quae ad civitatem Brixiam transmittunt,
d. h. der Klause von Lodrone und östlich am schluchtartigen Eingang des Sugana-
tales jener Feste Covel, die dadurch einzig in ihrer Art war, daß der Zugang
zu ihr nicht einmal durch einen schmalen Fußsteig, sondern nur durch einen
Aufzug bewerkstelligt werden konnte. Zu den großen südlichen tiroler Klausen
gehört dann aber vor allem auch das erst im späteren Mittelalter recht zur Be-
deutung gelangte Peutelstein, einstmals ein gewaltiger Bau, der aus dem Gebirgs-
wald heraus die von Italien in schnurgerader Linie herankommende Straße auf
stundenweite Entfernung überblicken konnte.
Ein wahres Labyrinth solcher Klausen, ein Gebiet, das mit diesen Fangarmen
einst fast völlig überzogen war, muß nun aber das südliche Innertirol gewesen
sein, und dies aus keinem anderen Grunde, weil schließlich fast alle von Norden
kommenden Alpenwege des heutigen Tirols keiner anderen Stelle zustreben als
derjenigen, wo der Eisak mit der Etsch zusammenfließt. Hier lag zunächst am
') Schu. S. 5. 2) Oe. 11. S. 256. 3) Oe. II. S. 191.
80 VI. Kapitel.
südlichen Ende der Jaufenstraße die Klause Ortenstein in Meran, während als
Falle für die aus dem Vintschgau Herankommenden der bei Terlan liegende
Weiler Klaus mit der Feste Neuhaus darüber zu dienen hatte, gleichfalls ein
besonders bezeichnender Punkt, weil jene Straßenbiegung einst auf der einen
Seite von der steilen Bergwand, auf der anderen aber von den Sümpfen der
Etsch eingeschlossen war')- Südlich Bozen selbst aber, am Virglberge, lag ein
anderer typischer Klausenapparat, von dem heute freilich jede Spur verschwunden ist,
hier, wo auf der Höhe die Burg Weineck stand, von der aus sich eine feste Mauer
mit dem nötigen Torturm bis zur Straße hinabzog 2). Auch nördlich dieser Stadt,
vor dem Ausgang des Sarntales finden sich ähnliche Anzeichen^). Die wichtigste
Klause an der Brenrierstraße selbst blieb aber doch die Sebener Klause, eben
das heutige Klausen, während weiter nördlich die Einmündung der Pustertallinie
in jene Straße von der Brixener und der Mühlbacher Klause bewacht wurde,
die beide heute noch in umfangreichen Ruinen sichtbar sind. Die nördlichen
Eingänge Tirols wurden von der Bregenzer-, der Ehrenberger- und der Klause
bei Kufstein beherrscht, von denen übrigens die erste und die letztere ganz das
gleiche Aussehen haben, weil hier nur an der einen Seite der Berg, an der
anderen Seite aber der Wasserspiegel den Straßenraum einengt.
Auch im Berchtesgadener und Salzburger Land, deren Abgeschlossenheit
nach allen Seiten hin auch durch den Bau des Gebirges begünstigt wird, konnte
sich jenes mittelalterliche Absperrungssystem an den wenigen Pforten, die hier
die Natur gelassen hat, besonders betätigen. Ein Zeugnis hiervon sind die alten
Befestigungen am Hirschbühel und vor allem am Paß Hallthurm, wo noch heute
eine grob gebaute aber ausgedehnte Mauer quer durch den Hochwald sich hin-
zieht. Im Salzburger Land bezeichnen dagegen der Klammpaß mit der Ruine
Klammstein (Gasteiner Tal), die Befestigungen am Paß Strub, der an der engsten
Stelle kaum 13 m breite Paß Lueg an der Salzach, der schon im vierzehnten
Jahrhundert stark befestigt war, und das alte Klausentor in Salzburg selbst ein
vollständig entwickeltes mittelalterliches Klausensystem. In den Ostalpen, wo wir
übrigens für den geographischen Begriff der Klause auch dem Namen Klamm
begegnen, wo diese Erscheinung aber überhaupt infolge der breiten und langen
Gebirgstäler seltener angetroffen wird, ist noch die Lienzer Klause, die Klause
an der Pontebbastraße (Chiusaforte), die Klamm am Semmering und für ein
Nebengebiet die Klause bei Mödling zu nennen.
Wenn wir später der Geschichte der einzelnen Alpenstraßen nachgehen
werden, wird es sich überall herausstellen, daß sich das Mittelalter zunächst vor-
wiegend in den von den Römern angelegten Bahnen bewegt und jedenfalls stets
nur langsam und zögernd neue Linien eröffnet hat. Um so seltener findet sich
dagegen ein Anhalt, daß den Punkten, wo diese Epoche ihre Straßenbefestigungen
anlegte, auch schon von den Römern eine militärische Wichtigkeit beigelegt
') Atz. S. 314. 2) Atz. S. 12. 3) Atz. S. 197; N. A. S. 99.
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge. 81
worden wäre. Wirkliche Feldzüge, kriegeriscine Bewegungen großen Stiles sind
während des Mittelalters niemals in die Berge gedrungen, und erst seit den
Freiheitskriegen der Schweizer kann man wieder von eigentlichen kriegerischen
Operationen in den Alpen reden. Wenn wir nun aber sehen, wie auch in der
neueren Zeit, bei den großen Alpenfeldzügen, gerade jene damals zumeist schon
halbverfallenen mittelalterlichen Klausen mit Vorliebe die Heeresbewegungen an
sich ziehen und zu Brennpunkten des Kampfes werden, so ist dieses gewiß kein
schlechtes Zeichen für den praktischen Blick, den das Mittelalter bei der Aus-
wahl jener Punkte entwickelt hat').
Unter Römerzügen versteht der geschichtliche Sprachgebrauch heute samt- Anzahl, Dauer
i-tf-.. j w^- ■ j r^i .1 jj j L tT 1 j und Richtung
liehe Reisen der Konige des Frankenreiches und der deutschen Herrscher des der
Mittelalters zwischen Italien und den Ländern nördlich der Alpen, also nicht Römerzüge,
bloß die eigentlichen Römerzüge, bei denen Rom und die Krönung daselbst
durch den Papst der Zweck und das Ziel der Reise waren 2). Wir wissen im
ganzen von etwa 144 solchen Zügen, 74 Zügen aus dem Norden nach Italien
und 70 in umgekehrter Richtung, die sich über einen Zeitraum von genau sieben
Jahrhunderten erstrecken, wenn als der erste derselben der Zug Pippins im
J. 754 nach Italien und als letzter die Rückkehr Friedrichs III. im J. 1452 ange-
sehen wird. Läßt man nun aber die 17 Römerzüge seit dem Untergange der
Hohenstaufen ganz weg, da diesen im Vergleich zu den vorangegangenen eine
viel geringere geschichtliche Schwerkraft innewohnte, so wird jenes Bild noch
viel eindrucksvoller; denn auf diese Weise bleiben dann für ein halbes Jah«"-
tausend etwa 125 Römerzüge übrig, an sich schon eine stattliche Anzahl, nach
der demnach während jener Zeit auf jedes vierte Jahr eine solche Alpenüber-
schreitung fällt. Außerdem kann aber auch der Umstand, daß einige dieser
Züge nur ganz andeutungsweise überliefert sind, und der besondere Fall, daß
Friedrich II. im J. 1242 wahrscheinlich einmal heimlicherweise von Italien nach
Deutschland gekommen und von dort wieder zurückgekehrt ist, auf den Gedanken
führen, daß uns einige wenige solcher Züge möglicherweise überhaupt nicht
bekannt geworden sind, und daß man daher bei jener Zahl eher zu niedrig als
zu hoch gegriffen haben wird. Aber auch sonst sind fast alle jene Römerzüge
hinsichtlich ihres örtlichen Verlaufes innerhalb des Gebirges ein Gebiet, das
mit allen seinen farbenprächtigen, wechselvollen Bildern zum größten Teil in
das Meer der Vergessenheit versunken ist und von dem nur noch einzelne inte-
ressante Bruchstücke in die Gegenwart heraufragen. Trotzdem bietet selbst das
wenige, was erhalten ist, auch heute der Forschung ganz lohnende und noch
lange nicht erschöpfte Aufgaben^).
Dieser Tatbestand wird sofort klar werden, wenn wir nach demjenigen
fragen, was uns bei diesen Römerzügen am meisten interessieren muß d. h.
danach, über welche Alpenpässe die Herrscher in Person gezogen sind. Genauere
I) Vgl. Anh. 10. 2) Vgl. Oe. II. S. 304f. ^) Vgl. Anh. 11.
Scberfel, Vcrkehrsgeschichle der Alpen. 2. Band. Q
82 VI. Kapitel.
Resultate dieser Art könnten hier freilich nur dann erzielt werden, wenn man
die Vergangenheit sämtlicher Pässe, aber jeden Paß ganz im einzelnen, rück-
sichtlich der Römerzüge untersucht, die für denselben überhaupt in Frage kommen
könnten, ein Verfahren, für das bis jetzt freilich nur für zwei Pässe, für den
BrennerpaO und den Pontebbapaß Beispiele vorliegen '). Bei dieser Unter-
suchung hat sich nun aber ganz klar herausgestellt, daß die Zahl der Römer-
züge, die man ganz zweifelsfrei auf einen jener Übergänge verlegen kann, ver-
schwindend klein ist im Vergleich zu denjenigen, bei denen für diese Tatsache
bloß die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit vorhanden ist. So sind es
von den 45 Römerzügen, die seit den Zeiten Ottos I. bis zum Ende des Mittel-
alters überhaupt übet' den Brenner gegangen sein können, im ganzen doch nur
12, die sich in jene enge räumliche Gabel einfügen lassen, wo eine wirkliche
Gewißheit für die Benutzung jenes berühmten Passes vorliegt, während bei
weiteren 15 Zügen nur die größere, bei anderen 10 eine geringere Wahrschein-
lichkeit, bei den letzten 8 dagegen lediglich nur eine Art von Möglichkeit für
jenen Fall zugegeben werden kann 2). Dieser Befund deutet aber zur Genüge
das Resultat an, das in dieser Hinsicht auch anderen gleichartigen Unter-
suchungen bevorstehen würde.
Der Hauptgrund jener Schwierigkeiten liegt aber nun nicht allein in der
Lückenhaftigkeit sondern auch in der Unklarheit der Überlieferung, wie sie
durch einen Sprachgebrauch des Mittelalters bedingt ist. Dieser besteht darin,
daß jenes Zeitalter im Gegensatz zu dem Altertum und ebenso auch zu der
neuen Zeit die über den Alpenkamm führenden Wege niemals nach den eigent-
lichen Paßhöhen sondern gewöhnlich nur ganz summarisch bezeichnete, im besten
Falle nach Städten, die man betreten hatte, gewöhnlich aber nach den Tälern,
die man bei der Reise zuerst oder zuletzt im Gebirge durchziehen mußte. Es
ist dies ein Verfahren, das deshalb der Unsicherheit so großen Raum läßt, weil
jene Austritts- oder Eintrittsrouten sich stets nur als Sammelrinnen verschiedener
Übergangswege über das Hochgebirge darstellen, die geschlossen nach ihnen
zusammenführen oder strahlenförmig von ihnen auseinandergehen. Der Bau der
Alpen bringt es weiter mit sich, daß diese engen und langen Täler selbst zu-
meist an der Südseite des Gebirges gelegen sind, während der Grund für jene
Ausdrucksweise wohl nur in der Art zu suchen ist, wie das Mittelalter über-
haupt seinen Einfluß auf die Beherrschung der Alpenlinien geltend zu machen
pflegte, da vorwiegend in solche Täler auch jene Straßenbefestigungen eingelassen
waren, deren Passierung allein über die Möglichkeit entschied, den Übergang
über das Gebirge erfolgreich zu bewerkstelligen.
So kann zunächst bei einem Marsche durch das Tal von Susa (per vallem
Segusianam, Susianam), wie damals das Tal der Dora Riparia genannt wurde,
ebensogut ein Weg über den Mont Cenis wie ein solcher über den Mont Genevre
1) W. u. W. P. 2) w. S. 80 f.
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge. S3
vorangegangen oder gefolgt sein, wenn auch die gleichfalls häufig gebrauchte
Bezeichnung per vallem Maurianam (per Maurianae comitatum) den Weg über
das heutige S.Jean de Maurienne auf französischer Seite anzeigt, und in diesem
Fall allerdings über die Wahl der Mont Cenis-Straße kein Zweifel übrig bleibt')-
Der Weg per vallem Augustanam bedeutet weiter nichts anderes als den durch
das Tal von Aosta, der also ebensowohl bei einem Übergang über den Großen
wie über den Kl. S. Bernhard eingeschlagen werden mußte. Wenn der Weg
durch Bünden genommen wurde, so findet dies seinen Ausdruck durch die
Worte per Curiam oder per Cumanum lacum-), wobei jedoch, wenn Chur ge-
nannt wird, sämtliche Übergänge vom Lukmanier bis Julier und wenn der Weg
über den Comersee führte, immer noch die Wahl zwischen Splügen, Septimer
und Julier im unklaren bleibt. Der Weg über den Brenner hieß der Weg durch
das Trienter Tal, in das jedoch nicht nur der Brenner selbst sondern ebenso
auch die im Mittelalter viel begangenen Wege über die Maiser Haide und den
Jaufen einmünden; zuweilen finden sich hier auch die Worte per Alpes Noricas,
was aber auch zu keiner größeren Sicherheit führt, da dies eben nur durch Tirol
bedeutet. Und wenn die Pontebbastraße im Mittelalter als der Weg durch den
Canal bezeichnet wurde, so blieben damit doch alle die Anlaufwege ungenannt,
die nördlich von den Ostalpen her in jene Rinne einmünden.
Aber selbst aus dieser Ausdrucksweise läßt sich, da sie in jedem Falle
wenigstens ganz bestimmte Faßgruppen sicherstellt, ein geschichtlich wertvolles
Bild über die Auswahl der Alpenübergänge gewinnen, wie sie im Laufe der
Jahrhunderte durch die deutschen Herrscher stattgefunden hat. Sämtliche für
die Römerzüge in Frage kommenden Alpenüberschreitungen gliedern sich zu-
nächst in vier Gruppen, von denen die erste durch die Züge über die Westalpen
und den Gr. S. Bernhard, die zweite durch diejenigen durch Bünden, die dritte
dann durch diejenigen über den Brenner und dessen Nebenlinien, und die
vierte schließlich durch die über die Ostalpen gegangenen Römerzüge gebildet
wird. Innerhalb dieser vier Gruppen entfallen nun aber — eine Zusammen-
stellung, bei der freilich die einzelnen Zahlen nur den Anspruch auf Wahr-
scheinlichkeit machen können — auf die Westalpen 35 Züge (Gr. S. Bernhard 21,
die westlichen Übergänge 14), auf die bündner Pässe insgesamt nur 21, auf das
Brennergebiet dagegen ganze 66 und auf die Straßen der Ostalpen etwa 11 Züge.
Schon dieses Verhältnis zeigt also ganz klar, daß die Römerzüge vorwiegend
über die Mittelalpen gegangen sind. Noch deutlicher wird aber diese auf natür-
lichen Ursachen beruhende Abwandlung, wenn man die Jahrhunderte zum Ver-
gleich heranzieht, in die jene Züge durch die Mittelalpen selbst fallen. Denn
von den 35 Zügen durch die Westalpen haben die Karolinger von Pippin bis
Arnulf allein 24 unternommen, und nur der weitaus kleinere Teil dieser Züge
fällt daher in die späteren Zeiten. Die Pässe der eigentlichen Mittclalpen waren
') Oe. I. S. 195 f. 2) Oe. 11. S. 198.
6»
84 VI. Kapitel.
demnach ganz vorwiegend in der Zeit von den Sachsenkaisern bis einschließlich
der Hohenstaufen in Gebrauch, eine Erscheinung, wie sie bei der natürlichen
Lage des damaligen römisch-deutschen Reiches auch nicht anders zu erwarten
ist, während die außergewöhnliche Benutzung ebensowohl eines durch die West-
alpen wie durch die Ostalpen führenden Überganges innerhalb jenes Zeitraumes
stets auch auf eine ganz besondere Veranlassung schließen läßt, die man zumeist
auch heute noch deutlich erkennen kann.
Die Stärke Wenn wir die Anzahl der deutschen Krieger betrachten, die nun bei einem
der I~l£6rc
■ solchen Römerzug über die Alpen nach Italien in Marsch gesetzt wurden, eine
Anzahl, in der somit die bei jenen Unternehmungen aufgewendete Kraftäußerung
in erster Linie zum Ausdruck kommt, so ist dabei zunächst jene das Kriegswesen
des Mittelalters charakterisierende Tatsache zu berücksichtigen, daß man auch
damals, ebenso wie im Altertum, grundsätzlich zwischen zwei verschiedenen
Arten von Kriegern, diesmal zwischen den schwerbewaffneten Reitern und den
zu diesen gehörigen Knappen und Pferdepflegern unterschied. Der eigentliche
Wert der Heere aber wurde allein nach der vorhandenen Anzahl der ersten
Gattung, der Ritter, bestimmt, die stets mindestens in derselben Höhe von den
anderen, gleichfalls berittenen Bedienten begleitet waren'). Es ist weiterhin be-
kannt, daß man gut tut, den Zahlenangaben der mittelalterlichen Quellen stets
mit einiger Vorsicht zu begegnen, da sie nur in den seltensten Fällen genau,
zumeist aber viel zu hoch gegriffen sind. Man wird daher der Wirklichkeit
nahekommen, wenn man die Stärke eines zu einem solchen Römerzug aufgebotenen
Heeres etwa auf zehn, zuweilen auch bis auf fünfzehn Tausend kampffähige Reiter
nsetzt, Zahlen, die jedoch nur für die Zeiten bis zu dem Untergange der Hohen-
staufen Geltung haben, als jene Heere wirklich das Mittel sein sollten, um dem
Willen der Herrscher in Italien Geltung zu verschaffen. Die letzten Römerzüge
■waren dagegen nichts anderes als Schaustücke, die durchweg mit einer viel ge-
ingeren Zahl von Kriegern unternommen wurden, und die man kaum mehr
militärische Operationen nennen kann. So zog Ludwig der Bayer 1327 mit nur
100, Karl IV 1354 mit 300 Rittern in Italien ein. Auch das verhältnismäßig große
Heer Ruprechts von der Pfalz von 5000 schweren Reitern wurde sogleich bei
dem ersten Versuch, in Italien nachdrücklich aufzutreten, bei Brescia in das
Gebirge zurückgeworfen 2).
Art und £jne genaue Betrachtung des Verlaufes der einzelnen Römerzüge läßt nun
vcTgigg der
Überschreitung aber weiterhin die Tatsache hervortreten, daß wir uns heute hinsichtlich der Art,
des Gebirges, ^{q diese angesetzt und durchgeführt worden sind, wohl zumeist eine falsche
Vorstellung zu machen pflegen- Wenn wir meinen, daß das zu einem Römerzug
aufgebotene Heer sich vorher in Deutschland vollzählig versammelt, dann in
Vorhut, Haupttrupp und Nachhut geteilt unter Führung des Herrschers den Marsch
') So verlangt Alberich (1155) an der Berner Klause (O. F. S. 175) von jedem Ritter Panzer und Pferd.
Dies bedeutet also nicht, daß nun jene sämtlich hätten zu Fuß weiterziehen müssen. 2) Oe. I S. 181.
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge. 85
angetreten und auf einem bestimmten Gebirgsweg den Übergang über die Alpen
ausgeführt habe, so ist dieses eine Annahme, die nur in den seltensten Fällen
zutrifft. Wir haben uns vielmehr von der Art, wie sich solche Heere über die
Alpen bewegt haben, ein ganz anderes Bild zu machen, eine Vorstellung, die zu
ihrer Grundlage zunächst nichts anderes als die mittelalterliche Art des Aufgebots
nehmen kann, das wiederum nur von dem damals alle Verhältnisse beherrschenden
Lehnswesen bestimmt wurde. Die deutschen Heere haben fast stets in zahlreiche
verschiedene Abteilungen geteilt, die von den einzelnen Machthabern dem Könige
zugeführt wurden, den Marsch nach Italien angetreten und diesen auch auf ganz
verschiedenen Gebirgswegen, wie sie gerade vom Ausgangsort aus am bequemsten
lagen, konzentrisch nach demjenigen Punkte jenseits der Alpen hin ausgeführt,
wohin sie vorher von dem Kaiser bestellt worden waren.
Außerordentlich zahlreich sind die Beispiele für dieses Verfahren. So be-
absichtigte im J. 1065 Erzbischof Anno von Köln persönlich über den Gr. S. Bern-
hard zu gehen und sich dann erst bei Verona mit dem übrigen Heere, das zu-
meist über den Brenner gekommen war, zu vereinigen '). Auch bei dem dritten
Zug Heinrichs IV. (1090) traf der Bischof von Zeitz erst nachträglich in Verona
ein, nachdem der Kaiser bereits dort angelangt war, und im J. 1110 bei dem Zuge
Heinrichs V. rückte das Heer sowohl über den Gr. S. Bernhard wie über den
Brenner^). Bei dem Römerzug Friedrichs II. im J. 1236 zog ebenso Graf Geb-
hard von Arnstein mit 500 Söldnern dem Kaiser voraus und erwartete diesen
in Verona-'); auch der letzte Staufer Konradin sammelte im J. 1267 seine Haufen,
die auf verschiedenen Wegen herankamen, erst in Trient. Besonders deutlich
aber können wir in die Anlage jenes großen Römerzuges Friedrich Babarossas
hineinblicken, der im J. 1158 dem Reichstag auf den ronkalischen Feldern und
der Eroberung Mailands voranging. Damals rückte das Heer in vier Kolonnen
nach Italien hinüber, auf Wegen, wie sich diese gerade für die einzelnen Ab-
teilungen als die zielgerechtesten darboten; so zogen bezeichnenderweise die
Burgunder und Lothringer unter Berthold von Zähringen über den Gr. S. Bern-
hard; die drei anderen Abteilungen bewegten sich dagegen über den Septimer,
durch die Ostalpen und über den Brenner. Bei der letzteren befand sich der
Kaiser selbst^), aber auch bei dieser ging der Marsch keineswegs geschlossen
vor sich. Voran zogen dort die Böhmen unter Wladislav 11.^), auch Friedrichs
Staatsmänner, Reinald von Dassel und der Pfalzgraf Otto waren damals dem
Kaiser noch persönlich vorausgegangen '5). Auch bei der Rückkehr Friedrichs
im J. 1155 erfahren wir, daß sich die einzelnen Scharen zum Teil bereits von
Italien aus und dann wieder von Bozen aus zerstreuten "0, wie überhaupt ja ge-
rade die mannigfachen und bequemen über Tirol verbreiteten Übergänge, die im
Süden zuletzt sämtlich in dem breiten, reich angebauten Trienter Tal zusammen-
1» Oe. I. S. 184. 2) Oe. II. S. 229. ^ Oe. II. S. 236. ^) Ra. S. 45. ^) Oe. 11. S. 234.
6) Ra. S. 35. ') O. F. S. 173, 178.
86 VI. Kapitel.
laufen, für das bei den Römerzügen geübte Verfahren wie geschaffen gewesen
sind. Auch auf diesen Umstand wird daher die häufige Benutzung des Brenners
durch die Herrscher bei den Römerzügen zurüctczuführen sein, während das
Bild der bündner Straßen, die nördlich durch das Rheintal und südlich nochmals
durch die enge Rinne des Comersees zusammengeschnürt werden, das direkte
Gegenteil hierzu bildet.
Die Jener Annahme, daß die Heere der deutschen Herrscher in geschlossener
im'^Geblrge^ Masse die Alpengegenden durchzogen hätten, mußte sich auch der Gedanke um
so stärker aufdrängen, mit welchen Schwierigkeiten die Verpflegung solch' großer
Menschenmassen verbunden ist, und daß jene Durchzüge daher Jahrhunderte
hindurch den armen Gebirgsgegenden schwere Lasten aufgelegt hätten'). Das
Marschieren in einzelnen kleineren Abteilungen bleibt aber, sobald es überhaupt
möglich ist, eine in jeder Hinsicht praktischere und unschwierigere Maßregel,
in deren Gefolge daher auch die Schwierigkeiten der Verpflegung, weil sie sich
über einen größeren Raum und über einen längeren Zeitraum verteilen, nicht
derart gewaltsam aufzutreten pflegen. Auf Grund dieser Tatsache werden wir
daher jene Begleiterscheinung der Römerzüge für das damalige Kulturleben in
den Alpen nicht allzutiefgehend einzuschätzen brauchen, wie es auch weiterhin
hierzu vollkommen im Einklang steht, daß derartige Nachrichten aus dem Mittel-
alter nur ganz vereinzelt sind. Allerdings wird von jenem Vortrupp der Böhmen,
der dem Zuge Friedrichs I. voraufging, berichtet, daß diese schon von Regens-
burg an wie in Feindesland wirtschafteten, Vieh und Lebensmittel gewaltsam weg-
nahmen, so daß in den Alpen dann die Bewohner vor ihnen die Flucht ergriffen,
und daß dies wirklich dann auch die nachrückenden Abteilungen zu fühlen be-
kamen. Der Kaiser selbst wußte damals diesen Mißständen dadurch abzuhelfen,
daß er durch seine Sendboten die Bewohner von Brixen und Trient veranlaßte,
die Märkte wieder mit Lebensmitteln ;zu beschicken 2). Jener Vorfall wird daher,
schon weil er besonders erwähnt wird, nur eine Ausnahme von der Regel ge-
wesen sein und seine Ursache vielmehr in jener Neigung zu Plünderung und
Unordnung haben, die zu allen Zeiten die Heere der Slaven ausgezeichnet hat.
Noch ein anderer Fall, gleichfalls von einem Römerzuge Friedrichs L, dem-
jenigen von 1154, ist bekannt, bei dem das Heer an den engen Gebirgspassagen
Mangel litt und infolgedessen an einigen der Kirche gehörigen Besitzungen gewalt-
sam vorging-'). Friedrich selbst machte dies jedoch damals sofort dadurch wieder
gut, daß er im Heere eine Geldsammlung veranstaltete und diese, die noch dazu
reichlich ausfiel, den Bischöfen von Brixen und Trient für die betroff'enen Stellen
zur Schadloshaltung überwies, eine Maßregel, die auf den Stand der damaligen
Zivilisation nur ein recht günstiges Licht werfen kann. Aber auch diese Vor-
gänge mögen, da sie das Interesse des gleichzeitigen Geschichtsschreibers so
besonders herausgefordert haben, nur vereinzelt gewesen sein, und man kann
1) Vgl. Oe. I. S. 183; W. S. 85. 2) Vgl. W. S. 86; Oe. II. S. 234. 3) O. F. S. 134.
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge. 87
gerade hier wirklich auf den Gedanl^en icommen, daß dem jungen Herrscher
damals bei seinem ersten Römerzuge in betreff der Heeresverpflegung noch die
nötige Erfahrung gefehlt haben mag'). In dieses Kapitel gehört auch die Tat-
sache, daß schon in einer Urkunde Ludwigs des Frommen vom J. 829 als alte
Gewohnheit bezeugt ist, daß das Kloster Reichenau die Mitglieder des Herrscher-
hauses auf dem Wege durch Konstanz und Chur zu verpflegen verpflichtet war-),
und daß Erzbischof Anno von Köln (1065) seine über den Gr. S. Bernhard ge-
plante Reise damit motivierte, weil er auf der Brennerstraße für Mann und Roß
keinen Proviant finden würde, alles Andeutungen, wie das Mittelalter sich der
Schwierigkeiten, die im Gebirge die Verpflegung größerer Heeresmassen mit
sich bringt, voll bewußt war und denselben nicht unzweckmäßiger als andere
Zeiten, nur nach seiner Weise begegnet ist.
Auch die Untersuchungen über die Geschwindigkeit, mit der die Herrscher Marsch-
sich über die Alpen bewegt haben, führt zu keinen erstaunlichen Resultaten, keu'^un'd" '^"
Denn diese beträgt im Durchschnitt reichlich 20 km für den Tag-'), ein Maß, Jahreszeiten,
wie es auch heute noch bei militärischen Reisemärschen nicht anders üblich ist,
und das sogar, da jene Märsche zu Pferde zurückgelegt wurden, eher gering
erscheinen könnte, obgleich diesem jedoch wieder der Unterschied zwischen
Berg und Tal die Wage hält, wie ihn gerade die Gebirgswege mit sich brachten.
Wenn man aber ausnahmsweise einem anderen Durchschnitt begegnet, so sind
dies zumeist Fälle, bei denen sich die Gründe hierfür auch heute noch erkennen
lassen, so z. B. bei dem Zuge Lothars im J. 1132 (10 km täglich), bei dem nur
der Zustand des kranken Herrschers die Veranlassung gewesen sein kann,
oder bei dem Rückzuge Friedrichs I. (1055, 12 km täglich), der, wie wir
wissen, in aller Gemächlichkeit vor sich ging"*). Auch bei der Betrachtung der
Jahreszeiten, in denen die Römerzüge ausgeführt wurden, enthüllen sich keine
auffallenden Erscheinungen. Die Tatsache, daß für jedes Reisen im Gebirge
der Hochsommer die günstigste, das Frühjahr dagegen die ungünstigste
Jahreszeit ist, hatte auch das Mittelalter ausprobiert; so sagt Friedrich L einmal
ausdrücklich, „daß er im Hochsommer, der als die beste Zeit für die Heeres-
bewegungen bekannt sei, die Alpen überschreiten wolle" ^), obwohl auch die
schlechteste Jahreszeit damals die menschliche Energie niemals ganz von mili-
tärischen Operationen im Gebirge abgeschreckt hat. Römerzüge während der
Wintermonate sind daher durchaus keine Seltenheit, und selbst in den schlimmsten
Monaten haben solche stattgefunden; so zogen im Februar 1116 Heinrich V.,
und im März 1055 und 1081 Heinrich IM. bezl. Heinrich IV. über den Brenner,
Weif der Jüngere dagegen im März 1167 über den Septimer, wenn diese Unter-
nehmungen auch in jedem Falle nur ein günstiges Licht auf die Tatkraft des
betreffenden Heerführers werfen können.
>) W. S. 85. 2) Oe. II. S. 192. •») W. S. 17. ') W. S. 96 f. S) Oe. I. S. 180.
88 VI. Kapitel.
Vereinzelte Da die Römerzüge infolge ihrer Häufigkeit im Mittelalter überhaupt keiiie
au/^besonde^s außerordentlichen Ereignisse waren, und auch die Quellen, dieser Erscheinung
schwierigen Rechnung tragend, diese als solche nur ganz kurz anzuführen pflegen, so kann
Gebirgswegen. ^^^ diesem Befund keine andere Tatsache heraustreten, als daß jene Reisen
zumeist ganz glatt vor sich gegangen sind, und daß daher auch damals die
Hauptwege der Alpen im großen und ganzen in einem derartigen Zustand waren,
um dem starken Verkehr zu genügen, der seine Bahnen von Deutschland nach
Italien und wieder zurück suchte. Auch wird weiterhin ein Schluß auf die
Brauchbarkeit und Begangenheit der einzelnen Alpenstraßen im Mittelalter gerade
besonders gut eben aus den Römerzügen selbst zu ziehen sein, da jene hohen
Herren bei ihren Reisen zunächst durchaus keine Veranlassung hatten, andere
als nur ganz gangbare Übergänge zu wählen. Falls aber ausnahmsweise die
Quellen bei den Gebirgsüberschreitungen die difficultates und ardua der
Alpen besonders hervorheben, so liegt andererseits kein Grund vor, daran
zu zweifeln, daß diesmal nicht auch wirklich Schwierigkeiten eingetreten sind,
wenn auch der Ausdruck selbst nur unbestimmt gehalten ist und so einen rhe-
torischen Anstrich hat. Der einzige Alpenübergang, bei dem Karl der Gr. im
Gebirge Schwierigkeiten fand, war sein erster Zug gegen Desiderius; aber auch
nur bei diesem allein redet Einhart von den himmelhohen Felsen und wilden
Schluchten und von den Anstrengungen, die der Marsch durch das Gebirge mit
sich gebracht hat'). Auch bei der Umgehung der am südlichen Ausgang des
Gr. S. Bernhard gelegenen Befestigungen, zu der sich Arnulf im J. 894 genötigt
sah, heben die Annalen von Fulda nicht ohne Grund die Schwierigkeiten jenes
steilen Gebirgsmarsches hervor, natürlich ohne daß man aus den Örtlichkeiten
selbst ganz klug werden könnte 2). Dem Bischof von Zeitz, der im April 1090
Heinrich IV. über das Gebirge nachzog, können wir es gleichfalls glauben, daß
er irgendwo auf seiner Reise „unermeßliche Mühe und große Gefahr gehabt hat" 3),
wie auch die Worte des Chronisten Burchard von Ursperg, der erzählt, daß
Friedrich II. im J. 1212 seinen Weg de valle Tridentina per asperrima loca Alpium
invia et juga montium eminentissima nach Deutschland nahm, wohl nur buch-
stäblich als die Nachricht von einer in ungewohnter und gefährlicher Richtung
ausgeführten Alpenüberschreitung aufgefaßt werden müssen'^). In allen diesen
Andeutungen verbergen sich somit Ereignisse, die denen ähnlich gewesen sein
mögen, wie sie sich bei dem Zuge Heinrichs IV. im J. 1077 über den Mont
Cenis oder bei der Rückkehr Friedrichs I. an der Berner Klause im J. 1155
abgespielt haben, und die ihrem Inhalt nach durchaus die interessanteste Seite
der Römerzüge der deutschen Herrscher darstellen, die uns aber freilich nur in
^"r^deutschen den seltensten Fällen genauer erhalten geblieben sind.
Herrscher im Die Lückenhaftigkeit der Überlieferung zeigt sich weiter besonders darin,
Römerlüge"^ daß wir so wenig Namen der Punkte kennen, wo die mittelalterlichen Herrscher
') Ei. K. 6. 2) Oe. I. S. 245f. 3) Oe. II. S. 227. *) Ber. S. 59.
Das Straßenwesen des Mittelalters und die Römerzüge. 89
bei ihren vielen Reisen durch das Hochgebirge Quartier genommen haben.
Eigentliche zu diesem Zwecke bestimmte Absteigestationen (palatia, curia), wie
sie die römischen Kaiser überall in den größeren Städten des Reiches, und z. B.
auch in den Alpen in der curia Raetorum besessen hatten'), kannte das Mittel-
alter nicht in dem Maße. Damals haben die Herrscher auf ihren Reisen zumeist
die neben der Straße befindlichen, höher gelegenen Burgen bewohnt, während
sie, sobald sie sich in den Städten selbst aufhielten, in einem Kloster oder im
Hofe des Bischofs einzukehren pflegten, wie eine solche Andeutung für die
Orte Konstanz und Chur eben in jener Verpflichtung des Klosters Reichenau
vorliegt-). Bei Verona ist es ein neben der Kirche S. Zeno gelegenes Kloster
gewesen, von dem heute noch ein Turm aufrecht steht, das die Kaiser bei ihrer
Durchreise zum Aufenthalt gewählt haben^). Es geschah dies wohl deshalb,
weil die durchziehenden deutschen Heere nach einem alten Brauch jene Stadt
selbst nicht betreten durften und die Etsch daher hier auf einer Schiffbrücke
zu überschreiten pflegten, in deren Nähe jenes Kloster gelegen war"*). Am Aus-
gang der bündner Straßen aber haben sich die Kaiser besonders häufig bei Como
aufgehalten; hier ist es das südlich der Stadt hoch über der Landstraße nach
Mailand liegende Kastell Torre Baradello, wo im J. 1176 Kaiser Friedrich I. mit
seiner Gattin weilte^), und die alte Kirche S. Carpoforo, die an dessen Fuße
steht, kann hier dem geschichtskundigen Wanderer eine rechte Freude bereiten,
da deren auch sonst fast deutsch anmutende Bauart noch heute die Teilung in
eine Ober- und Unterkirche zeigt und es so verrät, daß sie einst zu nichts
anderem als zum Gottesdienst für eine mittelalterliche Hofhaltung bestimmt war.
Weit deutlicher treten jedoch wieder jene anderen Punkte heraus, die für
die ganze Anlage der Römerzüge die größte Wichtigkeit haben mußten, jene an
dem südlichen Fuße der Alpen gelegenen Sammelstellen, denen die deutschen
Scharen von allen Seiten aus dem Gebirge her zuströmten. Neben den altbe-
rühmten ronkalischen Feldern bei Piacenza''), die ihrer genau mittleren Lage
nach hierzu wie geschaffen waren und wo sich auch das italienische Aufgebot
einzufinden pflegte, werden als solche weiterhin besonders häufig die S. Daniels-
wiesen zwischen Verona und Desenzano genannt, wie auch dieses wiederum ein
Umstand ist, der die häufige Benutzung der Brennerstraße bei den Römerzügen
erkennen läßt. Die dreißig Tausend Mann, die Heinrich V. (1110) nach Italien
führte, sammelten sich auf den ronkalischen Feldern, wo in der Nacht der Feuer-
schein der vor jedem der unzähligen Zelte angezündeten Fackeln die Größe des
Lagers verkündete^); auch die Zusammenkunft der zu dem Zuge Friedrichs L
im J. 1154 aufgebotenen Streitkräfte fand daselbst statt, an die anschließend dann
hier ein Reichstag abgehalten wurde. Bei den Zügen von 1158, 1209 und 1220
sammelten sich die Heere dagegen auf den Danielswiesen ^) und im J. 1158
") Vgl. PI. S. 418. A. 2. 2) Oe. II. S. 192. 3) m. O. S. 105. •») Oe. II. S. 215. 5) M. O. S. 157.
6) O. F. S. 134; über die genaue Lage vgl. Schu. S. 20f. ") Oe. I. S. 253. «) Oe. II. S. 215, 235f.
90 VI. Kapitel.
waren es auch hier wieder die Böhmen, die sich unliebsam bemerkbar machten,
indem sie die kostbaren Olivenbäume wie heimische Weiden umhieben, um das
Holz für ihr Lagerfeuer und das Laub zur Streu für ihre Pferde zu verwenden.
Geschieht- Aber auch an dieser Stelle muß noch einmal auf die eigentliche Wirkung
We'rder ^Her jener mittelalterlichen Römerzüge, die ihren Weg über die Alpen nahmen,
Römerzüge, hingewiesen werden, und wie sehr sie sich darin von den gleichen militärischen
Unternehmungen der Römerzeit unterscheiden. Im Altertum waren die Legionen,
so lange Rom überhaupt solche über die Alpen schicken konnte und sobald
diese einmal jenseits der Berge angelangt waren, auch ein wirkliches Sinnbild
der Kraft ihres Staates und das beste Mittel, durch das dieser auch dort die
Herrschaft führte. Anders im Mittelalter; jene ungezählten deutschen Scharen,
die mit den Römerzügen die italienische Ebene betraten, haben daselbst niemals
zu irgendwelchen dauernden Schöpfungen Veranlassung gegeben; sie sind viel-
mehr zum guten Teil von der überlegenen südlichen Kultur verbraucht oder
abgestoßen worden. So stellen die Römerzüge im Grunde nur einen Jahr-
hunderte hindurch stetig andauernden Kräfteverlust des deutschen Volkstums
dar; aber sie wären doch nicht möglich gewesen, ohne die Überfülle der
physischen Kraft, über die jenes bei seinem Eintritt in die Geschichte verfügte
und die es ihm ermöglichte, trotz einer verfehlten und verlustreichen politischen
Entwickelung, nach einer anderen Richtung hin zu viel großartigeren Erfolgen
zu schreiten, zu Erfolgen, deren Wirkungen auch heute noch aufrecht stehen.
In die Erscheinung getreten sind aber diese wirklichen Erfolge nicht nur über-
all im Osten zwischen Elbe und Oder sondern ebenso mächtig auch nach jener
Himmelsrichtung hin, nach der sich auch die Römerzüge selbst zunächst be-
wegten, also weit und breit in den Alpenländern. Während sich ein Teil der
deutschen Kraft, und noch dazu nicht der schlechteste, in Italien verbrauchte,
war diese trotzdem noch fähig, im Osten die Slaven und im Süden, in den
Bergen, ebenso diese, wie besonders auch die Nachkommen der Römer, die
damals noch in geschlossener Masse das Mittelstück des Gebirges bewohnten,
zu entnationalisieren und hierdurch weitaus den größten Teil des Alpengebietes
zu einem deutschen Lande umzuschaffen.
VII. Kapitel.
Die Völker der Alpen im Mittelalter.
Die Größe dieser Entwicicelung wird aber erst dann richtig verständlich, Das Dasein
wenn wir uns das Völkerbild vergegenwärtigen, das in den Alpenländern in den „ischen Nation
ersten Jahrhunderten des Mittelalters zu finden war. Bis in das neunzehnte Jahr- in den Alpen
hundert hinein hat die Wissenschaft es einfach als Tatsache hingenommen, daß Mittelalters.
mit dem Verschwinden der politischen Herrschaft des Römerreichs auch zu
gleicher Zeit das römische Volkstum selbst mit seiner Sprache und seinem ganzen
Wesen aus den Bergen Abschied genommen habe, und daß an dessen Stelle im
Westen das französische, im Süden das italienische, in dem Hauptteile des Ge-
birges dagegen mit einem Male das deutsche Volkstum eingezogen sei und sich
hier häuslich eingerichtet habe. Noch nicht hundert Jahre sind es her, als dieser
ganze Vorstellungskreis unumschränkt in Geltung war. Der erste, der in den
vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hier die Alarmglocke rührte, ist der
Alpenforscher Steub gewesen '), dessen Forschungen und Fragestellungen zunächst
nur für Tirol eine ganz neue, bisher versunkene Welt, eine Fülle vergessener
Zustände, damit aber zugleich auch eine Anzahl ungelöster geschichtlicher Probleme
wieder zum Leben heraufbeschworen. Diesem ersten Bahnbrecher sind dann
nicht nur für das Kernland der Alpenromancn, Tirol, sondern auch für die an-
liegenden Gebiete viele andere gefolgt, die Stück um Stück von jener eintönigen,
gleichfarbigen Hülle entfernt haben, die vorher über jenem Gebiet gelagert war,
so daß heute eine ebenso neue und unerwartete wie wichtige Tatsache offen vor
uns liegt.
Est ist dieses die Entdeckung, daß während des Mittelalters Jahrhunderte
hindurch in dem großen Mittelstück der Alpen eine den modernen Völkern ganz
fremdartige sublatinische Nation wohnte, der jene, und an der Spitze das deutsche
Volkstum, nun innerhalb langer Zeiträume langsam Dorf um Dorf, Tal um Tal
abgewannen, um erst mit dem Ende des -sechzehnten Jahrhunderts ungeiähr an
') Vgl. Eg. S. I f.
92 VII. Kapitel.
dem Punkte der Herrschaft angelangt zu sein, an dem wir sie heute sehen. Da
die Besiedelung der Alpen durch die modernen Völker aber doch zweifellos als
ein wichtiges historisches Ereignis anzusehen ist, so haben wir demnach hier
den Fall vor uns, daß die Geschichte den Eintritt eines solchen plötzlich um
ein volles Jahrtausend zu korrigieren hat. Im zwölften Jahrhundert schrieb ein
Mönch in Tegernsee die Verse „Du bist mein, Ich bin Dein, des sollst Du gewiß
sein" — Worte, die man glaubt es nicht wie gut, aber auch wie gut deutsch
klingen, — in seine Briefsammlung ein'). Es wirkt aber gewiß großartig und
wie eine Befreiung von alten Vorstellungen, wenn wir entdecken, daß jener
Mönch damals in der unmittelbaren Nachbarschaft von Leuten wohnte, die zu
einem ganz anderen Volke als er selbst gehörten und denen daher auch der
Klang dieser Worte ganz unverständlich sein mußte.
Die treibenden Das Hauptkapitel der Völkergeschichte der Alpen im Mittelalter ist daher
mittelaiter- ^^^ Untergang dieser alten romanischen Nation und ihre Zertrümmerung bis
liehen auf jene heute noch existierenden, geringen und auseinanderliegenden Reste,
^/ Öl kc rl fi nG n
der Alpen, während man bei der Erklärung dieser Entwickelung wiederum von nichts anderm
auszugehen hat als von dem Völkerbild, das die Alpen beim Anbruch des Mittel-
alters und nach dem Aufhören der germanischen Völkerwanderung geboten
haben. Wie der Hauptzug dieser Völkerwanderung von Osten nach Westen lief,
so nahm auch die Tiefe und Intensivität der von ihr hervorgerufenen Zerstörung
der antiken Kultur und des antiken Volkstums von Osten nach Westen zu ab,
aber doch so, daß sich diese in den Flachländern nördlich und südlich der Alpen
jedenfalls viel rascher und ausgedehnter geltend machen konnte als in dem
schützenden Gebirge selbst. Jene Abstufung und Abtönung der Entwertungs-
zonen nun ist nördlich der Alpen geradezu in einer gewissen Regelmäßigkeit zu
beobachten, wie auch hier außerdem noch ein besonderes, das Gebirgsland
schützendes Moment in Wirksamkeit getreten ist, der Bau des nördlichen Alpen-
randes, der an seinem östlichen Ende, im Wiener Wald, zugleich auch am weitesten
nach Norden vorspringt, um sich dann je weiter nach Westen desto mehr nach
Süden zu versagen, ein Umstand, der daher hier die von Osten kommende Flut
in noch viel stärkerem Maße von dem Inneren des Gebirges ablenken mußte.
Enger zusammengedrängt und daher schon deshalb viel ausgeprägter zeigt sich
dagegen das Bild am Südrand der Alpen. Hier haben die letzten Ereignisse der
Völkerwanderung, die ihren Weg vorwiegend an jener Seite entlang nahmen,
schließlich einen derartigen Zustand geschaffen, daß Nordostitalien fast ganz ver-
ödet lag, während sich je weiter nach Westen die Reste der alten Kultur um so
vollständiger erhalten hatten.
Aus dieser Sachlage erklärt sich nun aber auch allein die Art und Weise,
wie die treibenden Kräfte des Völkerlebens zu Beginn des Mittelalters nach den
Alpen hin in Wirksamkeit treten konnten. Im Westen trotz aller reichlichen
>) Fr. 15. Au. I. B. S. S31.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 93
Reste der Antike infolge der geringeren Ausdehnung des Gebirges selbst ein
ungehemmtes Aufkeimen der neuen Kulturen und so gerade hier eine viel raschere
und sauberere Aufteilung des Landes zwischen den beiden neu entstehenden
Nationen, den Italienern und den Franzosen; bei dem großen Mittelstück der
Alpen, schon vom Gr. S. Bernhard ab, dagegen umfangreichere Verödung in den
anliegenden Flachländern; deshalb und nicht minder infolge der immer mehr
nach Osten zu sich vergrößernden Flächenausdehnung des Gebirges stärkere
Widerstandskraft der alten Verhältnisse im Gebirge selbst und langsameres Ein-
dringen der neuen Kräfte von außen her, wobei jedoch entsprechend der größeren
Ermattung auf der italienischen Seite dem Norden durchaus die führende Rolle
zufällt. Diese ganze Konstellation ist daher durchaus die Vorbedingung gewesen,
weshalb in dem Hauptteil der Alpen schließlich die deutsche Herrschaft so gut
wie die deutsche Kolonisation den Sieg davontragen mußten; sie bedingt es aber
auch, daß ebendort die Unregelmäßigkeiten in der Verteilung der einzelnen
Völkergruppen und Völkerstämme, die Unterscheidungszeichen und Schattierungen
von Westen nach Osten zunehmen, und daß deshalb auch der für die Erklärung
dieser Entwickelung vorhandene Stoff viel reicher und vielseitiger, aber auch
viel schwieriger zu handhaben ist, weil hier viel kompliziertere Vorgänge in der
Vergangenheit begraben liegen.
Für den Entwicklungsgang der Bevölkerung auf der Schweizer Hochebene D'^ Ent-
sind trotz der Nachbarschaft des Hochgebirges doch nur die für das Flachland Bevölkerung
maßgebenden Verhältnisse ausschlaggebend gewesen. Der Unterschied zwischen 'n der
der deutschen und welschen Schweiz, der gewissermaßen schon im römischen
Altertum bestand, hat sich hier, wenn auch aus verschiedenen Gründen, durch
alle Zeiten erhalten. Die französische Sprachgrenze läuft heute mitten durch
ebenes Land, den Lauf der Saane entlang bis zur Nordspitze des Bielersees, eine
Erscheinung, die auffallen muß, und die wohl auf den Zug des Jura zurück-
zuführen ist, der das französische Vordringen gehemmt hat, da wir südlich im
Wallis, wo jenes Vordringen durch die verkehrsfördernde Wirkung des großen
Genfersees unterstützt wurde, dieselbe Grenze viel weiter nach Osten gerückt
sehen. Aber auch die deutschen Schweizer selbst sind in sich durchaus kein
gleichgeartetes Volk. Eine nicht zu verkennende Verschiedenheit besteht zu-
nächst zwischen den Deutschen in der Westschweiz und denen in der Ostschweiz
da jene (Solothurn, Bern, Interlaken, Freiburg) burgundischen, diese dagegen
(Basel, Zürich, S. Gallen) alemannischen Stammes sind, wie diese Verschiedenheit
auch noch dadurch gefördert worden ist, daß beide Teile Jahrhunderte hindurch
nicht zu den gleichen politischen Verbänden, die einen zu Burgund, die anderen
aber als der südliche Teil des alten Herzogtums Schwaben zum deutschen Reiche
gehörten. Wenn man genau hinsieht, kann man aber auch noch einen feinen
Unterschied in jener östlichen Gruppe selbst, zwischen den Schweizern der
94 VII. Kapitel.
Urkantone und ihren nördlichen und nordöstlichen alemannischen Nachbarn,
entdecken ')•
Letztere, diese südlichsten Schwaben, haben wir daher zunächst hier auf
dem nordöstlichen Teile der Schweizer Hochebene, im Aargau, am unteren
Zürichsee und südlich des Bodensees, und bis in die Berge hinein, am Rigi und
in den Glarner Alpen, zu suchen. Hier liegt somit das älteste deutsche Alpen-
* land, in das schon zu Beginn des Mittelalters das alemannische Volkstum ein-
gezogen war, und das sich es dann auch hier je länger je mehr wohl sein ließ.
Wichtig ist jedoch, daß diese ganze Entwickelung sich etwa wie ein Mann aus-
nimmt, der nicht ganz hält was er in der Jugend versprochen hat, da dieses
alemannische Vordringen hier später nur nach Osten, über den Arlberg hinüber,
noch im Vorwärtsschreiten zu erkennen ist, während es direkt nach Süden hin
sehr bald zum Stehen kam. Das heutige Graubünden, das Rätien des Mittel-
alters, gehörte damals politisch zwar gleichfalls zu Schwaben, seine ethnographische,
dem deutschen Wesen entgegengesetzte Eigenart hat es dagegen besonders zäh
behauptet.
Das Wallis. Anders, vielseitiger und deshalb auch weniger durchsichtig liegt die Ab-
wandlung dieser Verhältnisse im Wallis, wie überhaupt dieses weitaus größte
Längental der Alpen, in dem u. a. auch jene charakteristischen Einschnürungen,
die Klausen, nirgends vorhanden sind, nicht allein seine geographischen sondern
ebenso auch seine geschichtlichen Besonderheiten aufweist. Heute liegt hier
die Sprachgrenze bei Siders, also derart, daß die größere Hälfte des Tales dem
romanischen Volkstum angehört, das sich im ersten Mittelalter übrigens noch
viel weiter ostwärts erstreckte. Im obersten Wallis erscheinen dagegen auch von
alters her die Deutschen durchaus fest und bodenständig als ein an sich schon
weit im Süden befindlicher germanischer Posten, der hier nun auch noch viel
weiter südlich jenseits des letzten Alpenkammes in Gebieten anzutreffen ist, die
geographisch durchaus zu Italien gehören. Wir können es an dieser Stelle zu-
nächst unerörtert lassen, wann und aus welcher Richtung jene Deutschen einst
hierhergekommen sein mögen; daß die kulturellen Beziehungen dieser Leute
aber im fünfzehnten Jahrhundert jedenfalls nach Norden gewiesen haben, läßt
sich aus jener Reise des fröhlichen Thomas Platter erkennen; denn auch dieser,
der vorher im Vispertal die Ziegen gehütet hatte, zog, als ihm der Trieb ankam,
ein fahrender Schüler zu werden, von hier nicht nach Genf oder Lausanne,
sondern über die Grimsel und Luzern nördlich hinaus, dem Meißner Lande zu^).
Verteilung Andererseits begegnen wir nun aber im Oberwallis zum ersten Mal auf
romanischen Unserem Weg nach Osten jenen fremdartigen und altertümlichen, weder ganz
Ortsnamen deutsch aber ebensowenig ganz französisch, italienisch oder slavisch anklingenden
in den Alpen.
') Vgl. Z. A. 1903. S. 65. Die aus Z. A. 1902, S. 39.— 70. und 1903, S. 42.-76. angeführten Daten
sind entnommen aus der Abhandlung A. Schibers: Das Deutschtum im Süden der Alpen.
2) Fr. 16. Au. II. B. 2. Abteilung, S. 14 f.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. Q5
Ortsnamen, deren Erklärung im einzelnen zwar zu den verschiedensten Deutungen
Anlaß geben mag, deren Vorhandensein aber überall in den Bergen das sicherste
Zeichen dafür bildet, daß wir den Boden jenes großen Gebietes betreten haben,
das im Mittelalter eine Zeit lang von den Alpenromanen bewohnt gewesen sein
muß. Jene Namen, die sich hier im Oberwallis') und ebenso am Oberlauf der
Reuß-) zunächst nicht allzuhäufig finden, werden dann jedoch bereits zahlreicher
am Walensee und im östlichen Toggenburg entlang des Rheines, um weiter süd-
lich und östlich, bald in kompakten Massen, Ortsname neben Ortsnamen gelagert,
bald wieder mehr oder weniger von deutschen oder italienischen, manchmal
sogar von slavischen umgeben, ganz Graubünden, Vorarlberg, Tirol und Salzburg
bis zu den Quellen der Mur und Drau hin zu erfüllen. In diesem Zusammen-
hange kommt es nun freilich — anders als bei der Geschichte der Alpen im
Altertum — viel weniger darauf an, ob jenen Namen mehr ein romanischer oder
mehr ein solcher Kern innewohnt, der seinen Ursprung in den Völkern hat, die
vor dem Eindringen der Römer diese Gegenden bewohnten; diesmal ist es allein
wichtig, daß alle jene Ortsnamen die Spuren der antiken Bevölkerung überhaupt
in dem Hauptteil der Alpen heute noch so sicher und deutlich erkennen lassen.
Schon dieser Befund an sich kann daher auf den Gedanken führen, daß in
jenem weiten Komplexe noch lange nach dem Untergange des römischen Reiches
ein in sich gleichartiges Volk zurückgeblieben ist, das schließlich im Süden vom
italienischen, zum weitaus größten Teile dagegen im Norden vom deutschen
Volkstum verdrängt und aufgesogen wurde, eine Entwickelung, die jedoch bis
zu ihrer Vollendung lange Jahrhunderte gebraucht hat, und die, wie ein Blick auf
die Reste der Alpenlatiner beweist, auch heute noch nicht völlig abgeschlossen ist.
Wenn die höchsten Längskämme der Gebirge und auch die der Alpen sonst Die nördliche
auch zugleich die Grenze zweier verschiedener Völker zu bilden pflegen, so Alpenromanen
hätten wir demnach hier zunächst ein ganz anderes Bild von der Besiedelung
eines Gebirges vor uns, derart, daß dasselbe Volk über die Kämme hinweg von
dem einen Fuß des Gebirges bis zu dem anderen hin gewohnt hat. Und
wiederum sind es die Ortsnamen, die uns bei dem Beweis dieser Tatsache nicht
im Stich lassen, da entlang des Nordrandes jenes Gebietes, das man für die
mittelalterlichen Alpenromanen in Anspruch nehmen kann, von dem Abfall der
Urkantone bis zum Salzkammergut, sich Glied an Glied aneinandergereiht eine
ganz bestimmte Gattung von Ortsnamen hinzieht, durch die es die nördlicher
wohnenden Deutschen einst tatsächlich zum Ausdruck brachten, daß jenseits der-
selben das Gebiet der Welschen begann.
Es mag zweifelhaft sein, ob in dem Namen des Vierwaldstätter-Sees sich
wirklich vier welsche Gemeinden verbergen 3); dicht östlich davon am Zugersee
') Visperterminen, Mangepan, Morel, Grengiols, Lax (es gibt ein Laax bei Flims und ein Laas
i. Vintschgau und im oberen Gailtal). Vgl. Z. A. 1903. S. 58, 66. 2) Gurtnellen (cortinelle),
Kehrsiten (Carisiacum), Stans. Z. A. 1902. S. 42. 3) Z. A. 1902. S. 42.
96 VII. Kapitel.
folgt aber doch sogleich ein Walchwil, dann weiter der Walensee und jenseits
des Rheines der Wallgau a. d. 111. Auch die Gegend am nördlichen Ufer des
Bodensees hieß im zehnten Jahrhundert das comitatus Walahensis und in der
Pfrontener Gegend unterschied man noch bis in die neuere Zeit zwischen Walchen
und Schwaben, während die weiteren Glieder dann der Walchengau und Walchen-
see südlich Murnau ') und bei Wörgl im Unterinntal die heute fast verklungenen
Namen wie Walchenstatt, Walchengüter und Walchenhof bedeuten 2), und wenn
letztere Stelle gerade hier südlich in die Berge hinein ein Stück eingedrückt
ist, so weist auch dieses darauf hin, daß das Unterinntal für die deutsche Ein-
wanderung sehr früh in Benutzung trat. Zwischen Kufstein und Kössen treffen
wir dann wieder einen Walchsee und bei Traunstein ein ganzes Nest solcher
Namen wie Katzelwalchen, Traunwalchen, Lützelwalchen, Oberwalchen, Reit-
walchen u. a. m.^). Bei Berchtesgaden liegen in der Schönau ein Hof Walch
und am Obersee die Walchhüttenwand, bei Salzburg selbst aber die Walser
Felder und nordöstlich der Wallersee und Straßwalchen; ebendort findet man
auch, was dasselbe sagt, eine Ortschaft mit Namen Latein''). Auch am Attersee
trifft man ein Seewalchen.
Und selbst dort, wo einst die Slaven solchen Alpenromanen, wenn auch
vereinzelt, begegnet sind, sehen wir andeutungsweise dieselbe Grenze gezogen;
denn auch in den Ostalpen treffen wir einen Walchberg bei Melk, ein Walches-
bach bei Admont und ein Walchen bei Gröbming, südlicher an der Mur ein
Walchesdorf (bei Judenburg) und schließlich ein Walsdorf unterhalb Graz^). Es
ist gewiß richtig, daß auch auswärts und einwärts der angebenen Linie ver-
einzelt soche Namen vorkommen, und daß dies nur bedeuten kann, daß auch an
diesen Punkten die welschen Bewohner einst besonders lange wohnen geblieben
sind 6), und es ist auch nur natürlich, daß noch viel mehr derselben Namen heute
verklungen sein mögen. Aber hier tut es doch vor allem die Masse und die
Richtung, in der jene Namen streichen; denn dieser Befund ist nicht etwa bloß
das sicherste Anzeichen dafür, daß hier überhaupt einmal im Mittelalter Welsche
wohnten, sondern er beweist auch, daß dieser Zustand eine lange Zeitspanne
hindurch als feststehend angesehen worden sein muß. Im anderen Falle hätten
sich ja überhaupt jene Ortsnamen mit ihrem bezeichnenden Klange keine All-
gemeingültigkeit verschaffen können, wie ja auch südlich jener Linie, an einigen
Stellen sofort und in der Überzahl, an anderen erst, nachdem man ein Stück
tiefer nach Süden vorgedrungen ist, auch jene anderen charakteristischen Orts-
namen anheben, von denen eben gesprochen worden ist, und die gleichfalls nur
durch das Dasein einer geschlossenen romanischen Nation in den Alpen während
des Mittelalters ihre Erklärung finden können.
')Ju. S.261. 2) Vgl. F. 1834. S. 271 u. F. 1906. S. 124. ^jjy. S.262. *) St. S. 127. 5) Kr. S. 33.
6) Walchstadt bei Wolfratshausen (Ju. S. 258) oder im Gebirge selbst Wälschwinkel bei Bozen
(Atz. S. 199), die Propstei Walchen im äußersten Passeier (B. W. S. 35), Walchen im Pinzgau,
Wallingwinkel bei Abtenau (Sa. L. XXI S. 17), Wallchen am Dachstein.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 97
Zur Gewißheit aber wird jene Tatsache, wenn wir die besten, die urkund- Die urkund-
lichen Belege zum Beweise heranziehen; denn diese enthüllen, wenn sie auch für das ^ *^^
stets nur für einen beschränkten lokalen Umkreis zwingend sind, doch an un- Dasein der
zähligen Stellen stets dieselbe Erscheinung, die Tatsache, daß im Mittelalter da penromanen.
und dort, früher oder später, zahlreich oder weniger zahlreich, Latini, Romani,
Retiani, Leute, die nach romanischem Rechte leben, oder wie sie sonst noch
genannt werden'), innerhalb des in Frage stehenden Gebietes zwischen den
neuen Ankömmlingen vorhanden gewesen sind. Das Testament des Bischofs
Tello von Chur hat, wenn es echt ist, auch als eine der wichtigsten Grundlagen
für die Geschichte des frühmittelalterlichen Rätiens (766) zu gelten 2), und nur
einer von den dreizehn unterzeichneten Zeugen ist in ihm als Deutscher zu
erkennen. Es ist dies dieselbe Zeit, in der auch am Brenner ein vornehmer
Romane, Dominicus mit Namen, erscheint-^); auch im J. 828 wird bei Sterzing
noch ein anderer vermögender Herr, Quartinus, nebst seiner Mutter Claudiana
genannt''), Zeugnisse, die deshalb besonders zu beachten sind, weil uns damals
jene romanischen Herrschaften noch durchaus in führenden Stellungen entgegen-
treten. Die im achten Jahrhundert entstandene Lebensbeschreibung des h. Gallus
bestätigt ausdrücklich das Dasein zahlreicher Romanen in der Gegend von
Bregenz^), und auch die späteren Nachrichten aus S. Gallen lassen, als dort am
Fuße der Berge die deutsche Kolonisation schon festen Fuß gefaßt hatte, doch
ganz deutlich den natürlichen Gegensatz erkennen, der zwischen den deutschen
Klosterleuten selbst und den in ihrer unmittelbaren südlichen Nachbarschaft
wohnenden Rätern bestand. In einer Gerichtsverhandlung, die 920 in Rankweil,
also in ganz geringer Entfernung vom Bodensec abgehalten wurde, sind die 58
Richter in dem zwischen dem Kloster S. Gallen und dem Bistum Chur
anstehenden Streite mindestens zur Hälfte zweifellos echte Romanen^); es
erscheinen da echte Römernamen wie Sejanus, Constantius, Artinius und Valerius.
In Regensburg giebt es im achten Jahrhundert ein Quartier „inter Latinos",
später eine Walchenstraße; und wenn man auch hier vielleicht an den Wohnsitz
auswärtiger, aus dem Süden gekommener Kaufleute denken könnte, so macht
doch die Tatsache, das zu derselben Zeit auch die Urkunden des Klosters
S. Emmeran daselbst von in der Nähe Regensburgs ansässigen Romanen sprechen,
das Vorhandensein von Resten der Bewohner des alten Römerreichs auch in
jener Gegend noch damals mehr als wahrscheinlich''). Im Salzburgerland sind
im achten Jahrhundert die tributales Romani d. h. die zurückgebliebenen römischen
Zinsbauern eine ganz gewöhnliche Erscheinung, wie daher auch in dem unter
Karl dem Gr. begonnenen Salzburger Verbrüderungsbuch die ältesten Namen
noch einen durchweg romanischen Klang zeigen (Latinus, Quadratus, Quartus,
Tomella, Genia, Latina)*^), und selbst noch im zwölften Jahrhundert führen die
') Ju. S. 286. 2) PI. s. 284f. 3) ju. S. 268. ■•) Ju. S. 267. 5) Leben des h. Gallus, K. 7,43.
e) PI. S. 397 f. 7) Ju. s. 260. S) Kro. S. 33.
Scherfel, Verkebrsgescbichle der Alpen. 2. Band. 7
98 V. Kapitel.
dortigen Nekrologien fünf Personen als Latiner an')- Noch im elften Jahrliundert
finden wir Spuren von romanischem Wesen bei Ebersberg bei München 2) und
auch in einer Berchtesgadener Urkunde von 1126 wird jemand genannt, der
nach römischem Recht zu leben bekennt. Auch im Pustertal begegnen wir im
neunten Jahrhundert, allerdings nur in den niederen Ständen, ganz ausgeprägt
derselben Erscheinung; so finden sich daselbst in jener Zeit um Toblach noch
Personennamen wie Secundus, Dominicus, Currentius, Seeundina und Marcellina
und an einer anderen Stelle, später, etwa um das J. 990, ein Saturnus, eine Lava
und Laurenza u.a. m.3). Sogar in der Innsbrucker Gegend trifft man im zwölften
Jahrhundert noch vereinzelt romanische Personennamen (Badillus, Vivianus) ''),
die zu derselben Zeit (1164) tiefer im Gebirge, um Meran, noch viel häufiger
sind (Vitus, Viventius, Laurentia, Bellizona).
Ihre Fortsetzung finden nun jene einzelnen urkundlichen Belege durch die
näher an die Gegenwart heranreichenden Nachrichten, die es außer Zweifel stellen,
daß einst in weiten umfangreichen Gebirgslandschaften, in denen jetzt nur die
deutsche Sprache erklingt, die romanische allgemein und auch von Rechtswegen als
die herrschende angesehen wurde. So hat sich eben in der Gegend zwischen Jenbach
und Innsbruck die alte Mundart noch bis in das dreizehnte Jahrhundert erhalten^),
und im hinteren Stubai ist sie wahrscheinlich erst im sechzehnten Jahrhundert
ausgestorben 6). Das Vintschgau mit allen seinen Nebentälern, wo man übrigens
noch heute den starken nicht germanischen Bodensatz in der arg fortgeschrittenen
Waldverwüstung erkennen kann, war im vierzehnten Jahrhundert noch ein durch
und durch romanisches Land, in dessen Hauptort Glurns der Richter daher auch
allein in jener Sprache verhandelte'^). Oberhalb zeigt Nauders dieselbe Erscheinung
noch bis in das sechzehnte Jahrhundert, und noch in denselben Zeiten sehen
wir sogar in Partschins bei Meran einzelne rätisch sprechende Leute wohnen s),
während oben im Vintschgau die Klosterleute von Marienberg insgesamt energisch
gegen die Einführung des Deutschen als Gerichtssprache prostestieren, weil sie
dessen wirklich noch nicht mächtig sind 9). In Burgeis und im Matscher Tal
aber hat sich das Romanische noch bis in das siebzehnte, im Schlinigtal bei
Burgeis sogar bis in das achtzehnte Jahrhundert erhalten. Auch im Wallgau, also
in der unmittelbaren östlichen Nachbarschaft von Feldkirch, wurde noch im
sechzehnten Jahrhundert teilweise romanisch geredet und in dem entlegeneren
Montafon und Patznaun sogar noch im achtzehnten Jahrhundert, alles Tatsachen,
aus denen das natürliche Bild jener Entwickelung heraustritt, die ebenso langsam
wie unaufhaltsam vorschreitend schließlich die Alpenromanen bis auf wenige
vereinzelte Trümmer aufgesogen hat, derart, daß heute kaum für deren umfang-
reichste Rechte, die Latiner Bündens und die Furlaner, der Begriff Volk Geltung
haben kann.
') Ju. S. 261. 2) z. A. 1902. S. 41. 3) Kr. S. 32. ■*) Ju. S. 307. 5) z. a. 1902. S. 41.
6) Ju. S.308. 7) Ju. s. 288. ») Ju S. 289. 9) Ju. S. 291.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 99
Wir wären daher hier zunächst an dem Punkte angelangt, an dem sich die Die Ursachen
des Unter-
Frage aufdrängt, wie es überhaupt kommen konnte, daß dieser geschlossene ganges der
romanische Völkerteil, der zu Beginn des Mittelalters die Alpen vom S. Gotthard Alpenromanen
bis zur Adria, von der Ostspitze des Bodensees bis zum Dachstein bewohnte,
bis auf jene geringen Bruchstücke so vollständig dem Untergange verfiel, und
warum dieses Volk, das einst hinsichtlich seiner Menschenzahl und hinsichtlich
des von ihm bewohnten Raumes keine schlechteren Existenzbedingungen zu
haben schien als die heutigen Rumänen oder Portugiesen, auch in der Geschichte
so geringe Spuren hinterlassen hat. Es ist dieses ein Resultat, zu dem jedoch
nicht allein die Überlegenheit der benachbarten Nationen beigetragen hat, sondern
ebensosehr die Beschaffenheit des von den Alpenromanen bewohnten Gebietes
selbst, das als reines Gebirgsland nach allen Seiten hin viel geringere Kultur-
möglichkeiten bot und vor allem einer wirklich lebenskräftigen Staatenbildung
hinderlich war. Gewiß ist jedes Gebirgsland, und nicht zum wenigsten die
Alpen, besonders geeignet, die alte Bevölkerung zu konservieren, aber doch nur
in passiver Hinsicht, in einzelnen getrennten Resten, die sich viel schwerer
und viel seltener zu einer geschlossenen, über ihre Berge selbst hinaus werbenden
Kraftäußerung zusammenzufinden pflegen. Starke staatliche Instanzen, jene
Wechselwirkung zwischen politischer Macht und nationaler Selbständigkeit, die
sich beide gegenseitig ihre besten Kräfte zur Verfügung stellen, vermögen da-
gegen nur in der Ebene zu entstehen, wo selbständige Kulturen emporwachsen
und zugleich die Zügel der Herrschaft fest angezogen werden können-
Die Ebenen nördlich und südlich der Alpen waren dagegen schon seit dem
Untergange des römischen Reiches den Volksverwandten der Alpenromanen
verloren gegangen, und diesen selbst daher die einzige Möglichkeit, ihr Volks-
tum erfolgreich zu entwickeln, von Anfang an versagt. Die einzige Stelle, die
unterstüzt durch ihre zentrale Lage sich einigermaßen in einer führenden Rolle
gegenüber den Alpenromanen bewegen konnte, sind die Churer Bischöfe gewesen,
die diesen Zustand auch tatsächlich im ersten Mittelalter durchaus zu ihrem
Vorteil auszunutzen wußten, und deren politische Machtstellung deshalb auch
besonders lange erhalten blieb. Aber abgesehen von diesem doch nur in einem
beschränkten Umfange wirkenden Halt stand damals jenen Nachkommen der
Römer an allen ihren Grenzen als mächtiger ungeduldiger Erbe das an Volks-
kraft weit überlegene und auch politisch geeinte römisch-deutsche Reich gegen-
über, das nun seinerseits vor jenem Bergland nicht Halt machte und den
Überschuß seiner Kraft unaufhaltsam in dieses hineinsendete, eine Entwicke-
lung, der gegenüber selbst der weitblickendste und festeste Menschenwille macht-
los bleiben mußte, und die somit zugleich erkennen läßt, wie tief und un-
entrinnbar manchmal die Schicksale der Völker und Staaten von der Natur
abhängig sind ').
') Vgl. Anh. 12.
7*
100 VII. Kapitel.
DerVeriaufdes Es liegt nahe, nun auch eine Schilderung zu versuchen, welchen lokalen
des"Deutlch- Verlauf im einzelnen jene zugleich von Süden aber noch weit stärker von Norden
tums in die aus einsetzende Zerstückelung der Alpenromanen genommen hat, die einen
''^"' Zeitraum von fast einem Jahrtausend ausfüllt; es soll aber auch von vornherein
hervorgehoben werden, daß diese Darstellung, wie die weitaus meisten Unter-
suchungen, die sich mit der Abwandlung ethnologischer Verhältnisse befassen,
nur auf einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit Anspruch machen kann.
Festzuhalten ist, daß wir hier keineswegs an eine gewaltsame Austreibung der
alten Bewohner, an eine Eroberung mit Feuer und Schwert zu denken haben,
die über jene Gebiete gezogen wäre, und daß man im Mittelalter, wenigstens
gegenüber der Alpenromanen, sogar nur äußerst selten irgend welchen Maßregeln
begegnen kann, die der Absicht ähnlich sehen, die Besiedelung der Alpentäler
in irgendwelcher Weise zu beeinflussen. In der Verdrängung der Alpenromanen
durch die modernen Völker ist tatsächlich von Anfang an nichts anderes als das
Resultat einer langen, aber durchaus friedlichen Entwickelung zu erblicken, wie
die ältere Kultur von der jüngeren und kräftigeren aufgesogen wird. Wenn
dieses aber feststeht, so bieten sich wieder jene fremdartigen, undeutsch oder
nicht völlig italienisch klingenden Ortsnamen als Mittel dar, um den Gang jener
Bewegung ganz in großen Zügen zurückzukonstruieren; und wie man im Alter
sich keines der eigenen, längstverflossenen Jahre als inhaltslos vorstellen kann,
so darf auch die Geschichte die verschiedene Lagerung dieser Namen als den
Bodensatz weit zurückliegender Umgestaltungen und Vorgänge ansehen. Denn
die Wahrscheinlichkeit liegt vor, daß da, wo in jenem Gebiete das moderne
Element in den Ortsnamen vorherrscht, auch hier die neue Besiedelung nicht
nur am nachhaltigsten sondern auch am frühesten erfolgte, während überall dort,
wo die alten Namen sich in der Überzahl finden, auch die Entnationalisierung
dieser Striche in eine jüngere Zeit hinabreicht.
Schon die äußeren Ereignisse der Geschichte wiesen darauf hin, daß die
erfolgreichste Arbeit dieser Art vom Norden und hier wieder vom bayrischen
Stamm ausgegangen ist; denn selbst das Umsichgreifen des alemannischen Stammes
bleibt klein neben den Resultaten, die der benachbarte bayrische Stamm in dieser
Hinsicht aufzuweisen hat. So ist es zunächst der Teil des Unterinntals zwischen
Kufstein und der Mündung des Zillerbaches, in dem sich jene anderslautenden
Namen nur ganz vereinzelt finden, der überhaupt in allem einen reindeutschen
Charakter zeigt und sich kaum irgendwie von seiner nördlichen Nachbarschaft
unterscheidet'), ein breites Voralpental, in das sich demnach am frühesten und
nachhaltigsten germanisches Wesen wie ein Keil mitten in die vom Bodensee
bis zum Salzkammergut wohnenden Romanen der Nordalpen hineingeschoben
haben mag. Weiterhin erscheinen als Gebiete, wo deutsche Ortsnamen entschieden
überwiegen, und demnach gleichsam als weit vorgeschobene Posten einer früh
') Eg. S. 14.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. IQ\
daselbst eingepflanzten deutschen Besiedelung das Oberinntal von Innsbruck bis
Imst, die Ebene von Sterzing, das Pustertai und, ein ganzes Stück südlicher,
das Sarn-, Ulten- und der untere Teil des Passeiertales. An jener ersten Stelle,
im Oberinntal, trifft man nicht nur zahlreich echt deutsche Ortsnamen, wie
Tirschenbach, Oberhofen, Pfaffenhofen sondern auch eine Reihe altdeutscher
Namensformen wie Hötting, Flauring, Haiming u.a.m.'). Auch das benachbarte
Oetztal hat einen entschieden deutschen Typus, während die abseits gelegenen
Täler, schon das Pitztal, und noch mehr das Kaunser- und Patznauntal, vor-
wiegend romanische Ortsnamen zeigen. Hier liegt also für das Haupttal gleich-
falls die Wahrscheinlichkeit einer frühzeitigen und intensiven germanischen
Besiedelung vor, eine Besiedelung, die jedoch infolge der auffallenden Verschie-
denheit der Ober- und Unterinntaler-) schwerlich von bayrischer Seite aus-
gegangen sein kann, und die möglicherweise überhaupt als die älteste derartige
innerhalb des nördlichen Gebirges selbt anzusehen ist, wenn man sie mit jenem
Teile der Alemannen in Zusammenhang bringt, die während der Regierungszeit
Theodorichs innerhalb der rätischen Grenzen Aufnahme fanden^).
Auch das Pustertal selbst zeigt seiner ganzen Länge nach eine große Anzahl
vor allem auch archaistisch deutscher Ortsnamen; doch muß gerade dieser
zeitigen deutschen Besiedelung eine größere Expansionsfähigkeit deshalb abge-
sprochen werden, da in den südlichen Seitentälern hier noch latinisch gesprochen
wird und auch die nördlichen in der Mehrzahl romanische Ortsnamen beherbergen'').
Entlang der Brennerstraße aber begegnen wir südwärts von Jenbach erst wieder
reichlichen deutschen Ortsnamen in der Gegend von Sterzing (Gossensaß,
Sterzing, Wiesen, Elzenbaum, Gasteig), die sich dann gleichfalls, aber nur dicht
an den Ufern des Eisak, bis an die Schwelle von Bozen fortsetzen (Freienfeld,
Mittewald, Oberau, Atzwang — Adalbertsfeld, Deutschen, Blumau). Die Seitentäler
haben dagegen auch hier und oft in der unmittelbaren Nachbarschaft des Haupt-
tales einen um so ausgesprocheneren latinischen Charakter, nicht nur Groeden,
sondern ebenso auch Villnös, Afers, Lüsen und Ridnaun^), und selbst Brixen
hat heute noch zwei romanische Straßennamen^). Überhaupt ist das Vorwiegen
der romanischen Nomenklatur in den Seitentälern entlang des Brenner durchaus
die Regel, wie es nach dieser Richtung hin besondere Beachtung verdient, daß
verhältnismäßig weit nördlich vorgeschoben, in der Gegend von Innsbruck, vor-
wiegend am rechten Innufer, uns jene fremdartigen Namen plötzlich wie ein
böser Schwärm überfallen, und daß diese Häufung am Brenner bis über Matrei
hinauf anhält, um erst dicht nördlich des Passes wieder abzunehmen''). Man
') Eg. S. 15, 184. 2) Eg. S. 183; Vgl. Z. A. 1901. S. 101 105. 3) Eg. S. 184; über Imst insbe-
sondere vgl. F. 1906. S. 135 f. 4) Eg. S. 18. ?) Ju. S. 309. A. 4. 6) Z. A. 1902. S. 43. ") Volders,
Tulfes, Sistrans, Vill, Patsch; bei Matrei: Gedeier, Pfons, Pastull, Navis, Lizumalpe. Im Wattental
südlich Hall liegt heute noch ein Walchenwirtshaus, und dicht bei Innsbruck findet sich auch
jenes Kulturspiel der drei einander benachbarten Ortsnamen Thaur, Rum, Arzl , wie sie in
gleicher Lage als Toro, Rumo, Arz im Nonstal wiederkehren, dessen früheres Latinertum ja noch
viel augenfälliger daliegt.
102 VII. Kapitel.
kann also wohl daran glauben, daß zu den Zeiten, als Innsbruck Stadtrechte
erhielt (1239), ein guter Teil seiner Bürger noch Latiner war'), und daß gerade
diese vom Zillertal nach dem Stubai hinüberreichende Gegend noch etwa vom
Anfange unseres Jahrtausends an einen längeren Zeitraum durchlebt hat, in dem
sie die letzte Scholle bildete, die den Zusammenhang der Alpenlatiner von
Salzburg bis tief in die Schweiz hinein aufrecht erhielt, während dieser südlicher
an der Brennerstraße schon viel zeitiger aufgelockert worden war.
Wirkungen des Denn der Brennerweg ist es doch ganz besonders gewesen, der in Tirol
""^vefkehrs f"'" ^^^ deutsche Vordringen das Rückgrat abgegeben hat, aber nicht etwa auf
auf die Grund seiner Eigenschaften als Verkehrsstraße sondern allein wegen der Wohn-
"^^de^ Be^ lichkeit und Kulturfreundlichkeit seiner Ränder. Wäre die deutsche Kolonisation
völkerung. lediglich dem Straßenzuge selbst gefolgt, so hätte sie damals nicht im Unterinntal
sondern zuerst zwischen Partenkirchen und Zirl einsetzen müssen, aber gerade
Partenkirchen muß spät germanisiert worden sein'), und das der Scharnitz an-
legende Gebirge steckt noch heute übervoll von romanischen Namen''). Über-
haupt muß es hervorgehoben werden, daß selbst die betretensten Straßenlinien
auch in ihrer nächsten Nachbarschaft das Leben im Gebirge viel weniger beein-
flußt und umgestaltet haben, als man annehmen könnte, und daß jener Durch-
gangsverkehr, mag er seine Wurzeln in noch so weiter Ferne haben und noch
so lebhaft sein, doch aus den Bergen gewissermaßen in die anliegenden Ebenen
hinabzugleiten und erst dort seine kulturfördernden und anregenden Wirkungen
zu entfalten pflegt. Deshalb finden wir auch oft in den Alpen die merkwürdige
Erscheinung, daß dicht neben den wichtigsten Straßenpunkten, an deren Offen-
haltung die mächtigsten Instanzen von weither interessiert sind, die stillsten und
weltfernsten Gebiete liegen. Die Wildschönau, die wir als eines der abge-
legensten Täler Tirols schon kennen, ist trotzdem dem uralten Straßenpunkt
Wörgl, wo heute wieder die Giselatalbahn einmündet, unmittelbar benachbart;
die Täler westlich Aosta, in denen heute allein noch der Steinbock vorkommt,
waren bis in das neunzehnte Jahrhundert noch eine der abgelegensten Stellen
der Welt, und der Gotthard- Übergang ebenso wie Thusis, der nördliche
Sammelpunkt der bündner Straßen, und Cortina d'Ampezzo, einer der wich-
tigsten Umsatzplätze für den mittelalterlichen Handel zwischen Venedig und
Augsburg, liegen sämtlich heute noch dicht neben latinischem Sprachgebiet.
Die Herkunft Im südlichen Tirol, in der Meraner und Bozner Gegend, stehen wir dann
der Deutschen
in Südtirol, weiter auf einem ausgedehnten Gebirgsstrich, der, wenn auch nur strichweise,
schon wegen der Ortsnamen, aber doch vielleicht noch mehr auf Grund der
Fülle des dortigen deutschen Lebens und der bodenständigen Art dieser Bevöl-
kerung den Eindruck macht, daß hier schon in der frühesten Zeit eine besonders
kräftige deutsche Besiedelung stattgefunden hat. Die Art des dortigen deutschen
Elementes, die von dem bajuvarischen entschieden abweicht''), ebenso die ver-
') St. S. 12. 2) z. A. 1902. S. 41. 3)Ju. S. 170. A. 4. ■»)Ju. S. 293.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 103
hältnismäßig große Entfernung von dem eigentlichen Sitze der bayrischen Macht,
haben daher auch hier auf den Gedaniten geführt, daß das Dasein dieser Leute
bereits in Ereignissen zu suchen sei, die mit der germanischen Völkerwanderung
selbst zusammenhängen, und daß deren Ursprung ebensogut im Süden der Alpen
gelegen haben könne. Es ist dies eine Annahme, die sich jedoch nicht bloß
hinsichtlich jener Deutschen an der oberen Etsch sondern noch viel stärker
hinsichtlich der vielen anderen mittelalterlichen deutschen Siedelungen am Süd-
fuße der Alpen aufdrängen muß, wenn sie auch im einzelnen stets den verschie-
densten Meinungen den freiesten Spielraum offen lassen wird, da an jeder ein-
zelnen Stelle immer wieder die Frage besonders aufgeworfen werden kann, ob
jene Deutschen nun vom Norden oder vom Süden der Alpen aus dorthin
gelangten, und ebenso ob im letzteren Falle dann Cimbern, Juthungen, Goten
oder Langobarden als deren Urväter anzusehen sind. Aber trotzdem vermag
jene bloße Annahme, daß schon von den Zeiten der eigentlichen Völkerwanderung
her ein dichterer Grundstock germanischer Bevölkerung am Südrande der Alpen
haften geblieben ist, die Bewegung der Bevölkerung innerhalb des Gebirges
während des Mittelalters besonders anschaulich zu machen, da jene südlichsten
deutschen Enklaven nur von selbst die Rolle der am weitesten von Norden aus
vorgeschobenen Posten übernahmen, die ein italienisches Eindringen in die
Alpen an vielen Stellen zunächst fernhielten, während ebenso das von Norden
kommende deutsche Volkstum da und dort mit ihnen zusammenfließen konnte;
sie sind es gewesen, die diese Bewegung dadurch so wirkungsvoll machten, weil
sie ihr von Anfang an ein so weites Ziel gesteckt haben.
Weit verbreitet, allbeliebt und von der Dichtung mit goldenem Schimmer
umwoben ist die Annahme, daß die Deutschen aus der Umgebung Merans von
den Goten abstammen, und auch die strenge Wissenschaft wird daran so viel
gelten lassen können, daß wir hier wirklich echte Abkömmlinge hervorragender
Germanenstämme vor uns haben'). Dieses trifft nun aber nicht minder auch
auf die Bewohner des Ulten- und Sarntals und auf die Leute auf den Höhen
östlich der Etsch, Deutschnofen, Aldein und Radein, zu, die sich alle ebenso wie
die Bewohner des Passeier durch hohe Gestalt, stattlichen Wuchs und Kraft
auszeichnen. Am interessantesten nach dieser Richtung hin erscheint aber doch
durchaus das Sarntal; denn im ganzen südlichen Tirol findet man auch dort
allein — abgesehen von Sarnthein selbst — nur zweifellos deutsche und dazu
sehr alte Ortsnamen (Nordheim, Asten, Reinswald d. h. Wald des Regino, Durn-
holz, Rabenstein)^). Dazu kommt aber noch etwas, das gleichfalls nur dort und
sonst nirgends weit und breit in der Nachbarschaft anzutreffen ist, und das bei
einem Besuche dieses Tales jedem sofort in die Augen fallen muß. Es ist dies
die merkwürdige Bauart der Bauernhäuser, die mit ihren steilen und mit der
Traufe fast bis zum Boden reichenden Strohdächern ganz und gar der typischen
') Eg. S. 17. 2) Ju. S. 293.
104 VI. Kapitel.
Form des Schwarzwälder Bauernhauses gleichen '). Wer die Herkunft der Be-
wohner des Sarntales erforschen will, würde daher diese Erscheinung ganz be-
sonders auf das Korn zu nehmen haben.
Über die größere oder geringere Ausdehnung jener ersten Deutschen in
Südtirol sind wir aber doch durchaus im unklaren, wie es auch den Anschein
hat, als ob dieselbe anfänglich überhaupt nicht allzustark gewesen sei. Aber
gerade hier ist es auch besonders wahrscheinlich, daß jenen später durch das
bayrische Vordringen neue Nahrung zugeführt wurde, und daß sich die deutsche
Kolonisation nun mit erneuten Kräften von Bozen aus das Etschtal herab geltend
gemacht hat^). Dieser Bewegung können dann auch die heute vereinzelten
deutschen Enklaven in jener Nachbarschaft, wie die Gemeinden Altrei und Truden
im Tal des Avisio, und westlich der Etsch, im Tale der Novella, eines Neben-
flusses des Noce, die Gemeinden Unsere Frau im Wald, S. Felix, Laurein und
Proveis den Ursprung verdanken 3). Hinsichtlich dieser letzteren verdient es
auch besondere Beachtung, daß an der nördlichen Schwelle des Gampenpasses,
der vom Etschtal aus als der kürzeste und niedrigste Übergang zwischen dem
Hochwart und Gantkofel in das Tal der Novella hinüberführt, eine mittelalter-
liche Ruine mit Namen Payrsberg liegt, und daß überhaupt gerade dort zwischen
Nals und Tisens auch heute noch der Augenschein zeigt, welch' blühendes
deutsches Leben hier von alters her zu Hause gewesen ist. Auch in die süd-
lichsten Verästelungen des Oetzlales kann die deutsche Besiedelung ebensogut
von Meran her wie vom Oberinntal aus gelangt sein. Sicher ist dagegen, daß
nach dem Westen, nach dem Vintschgau zu, der Fortschritt von jener Seite her
am spätesten eingesetzt hat.
DasVordringen Wir hätten nunmehr das dem nördlichen germanischen Vordringen analoge
in die Alpen, italienische Vorwärtsschreiten zu betrachten, das von Süden her gleichfalls seinen
Teil zur Zersetzung der Alpenromanen beitrug. Die Eigenschaften, die dem
deutschen Volkstum von Norden her von Anfang an so gewaltige Erfolge ver-
schafften, der Kräfteüberschuß wie die politische Herrschaft, standen freilich dem
italienischen Volkstum im Mittelalter zunächst viel weniger zu Gebote, während
diesem dagegen ein anderer Umstand hierfür nicht weniger gut zu statten kommen
konnte, der seinen Ursprung lediglich in der natürlichen Beschaffenheit der Alpen
hat. Am Südrand der Alpen liegt vom Lago d'Orta bis zum Gardasee jene
Reihe von Seen, die von der italienischen Ebene anhebend sich in langer
schmaler Linie nördlich in die Bergwelt hinein erstrecken. Diese Wasseradern
haben daher hier dem südlichen Volkstum von Anfang an die Möglichkeit ge-
boten, vorzudringen, als ein sich immer gleichbleibendes, bequem schiffbares
Element, auf dem auch die Menschenhand dem Völkerverkehr stets die geringsten
Schwierigkeiten zu bereiten vermochte. Gerade das Mittelalter hat deshalb die
Wasserstraßen mit Vorliebe benutzt und sie überall, wo es die Wahl hatte, vor
') Vgl.Jenssen, der Schwarzwald, Berlin 1890, S. 116 Abbildung. 2) jy. s. 299. 3) z. A. 1902. S. 44.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 105
den Landwegen bevorzugt. Auch in den Alpen hat daher damals die Schiffahrt
eine viel größere Rolle als heute in dem Verkehrsleben gespielt, auf jenen süd-
lichen Seen so gut wie auf dem Vierwaldstätter-See, auf der Reuß und Limmat
wie auf dem Walensee, auf der Etsch und auf dem Inn wie auf der Salzach und
auf der Mur').
Auf diesen Zustand ist es somit zurückzuführen, daß wir schon während
des Mittelalters das italienische Volkstum in der Leitlinie jener Seen unaufhaltsam
in die Berge eindringen und die Hochgebirgstäler vom Gotthard-Stock bis zum
Wormserjoch vorwiegend mit seiner Sprache überziehen sehen, eine Wirkung,
wie sie besonders deutlich bei dem Veltlin hervortritt, dessen Bevölkerung von
alters her stets nur südlichen, niemals aber deutschen Einflüssen zugänglich ge-
wesen ist, trotzdem dieses Tal nicht näher an Italien anliegt als Trient oder der
Nordabfall des Gr. S. Bernhard-Weges. Auch weiter nördlich sind hier sogar
zwei Täler von der italienischen Sprache erobert worden, die dem Nordabfall
der Alpen angehören, das Val di Lei (am Splügen), dessen Wasser dem Rheine,
und das Val di Livigno, dessen Wasser dem Inn zufließen. Auch in der Gruppie-
rung der südtiroler Bevölkerung spiegelt sich das Wesen des Größten dieser
Seen, des Gardasees, wieder; denn während hier am östlichen Etschufer der
deutsche Bestand in der Bevölkerung einst von Bozen bis nach Vicenza hinab-
reichte, ist er westlich der Etsch auch damals südlich nie über das Nonstal
hinausgelangt; alles, was jenseits der Linie Adamello-Presanella und Brenta liegt,
ist dagegen schon in den ersten Zeiten des Mittelalters vollständig von dem
lombardischen Volkstum erobert worden, so daß Guidicarien und das Sarcatal
heute im Vergleich zu den anderen Teilen Südtirols in der Bevölkerung den
ausgeprägtesten italienischen Charakter zeigt.
Die einzelnen Abtönungen in der Bevölkerung, wie sie zwischen den Alpen- Die
romanen einerseits und dem rein deutschen und rein italienischen Volkstum einz°e"ne^
andererseits bis heute möglich geworden sind, lassen sich dagegen in keinem Bevölkerungs-
anderen Übergangsgebiet besser beobachten, als hier gegenüber, östlich der Eisak- ^°"^"'
und Etschlinie, jedoch nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft dieser Flüsse
sondern ein Stück weiter östlich, in jenen Gebirgstälern, wo die Entwickelung
der Bevölkerung, ohne von übermächtigen natürlichen oder politischen Einflüssen
gestört worden zu sein, stets einen viel langsameren Schritt eingeschlagen hat.
Hier finden wir zunächst noch in Groeden die unberührtesten Reste der Alpcn-
romanen, im Grunde uraltes Bauernblut, Leute mit schwarzen Augen und Haaren,
eher klein als groß, breitschulterig, mit wenig lebhaften Zügen, ohne Beweglichkeit
und Pose, die trotzdem, daß sie eine romanische Sprache sprechen, von den
heutigen Italienern ganz verschieden sind. Auch südlicher, auf den Hochebenen
von Seis und Völs sind es nur insofern andere Leute, als daß diese hier die
deutsche Sprache angenommen haben. Weiter südöstlich im mittleren Avisiotale,
') Vgl. Schu. S. 25, 32, 415; Oe. 11. S. 187. A. 1; Sa. L. XXI. S. 57.
106 VII. Kapitel. I
bei Predazzo und Moena, stehen wir dann in einer Zone, in der nun neben dem
alten latinischen Element und dem deutschen, das nach hier von Bozen aus über
den Karerpaß einen guten Zugang hat, zum ersten Mal der Einfluß des italienischen
Elementes zu erkennen ist. Hier sind das Aussehen und die Haltung der Be-
völkerung noch ganz so wie in Groeden; jedenfalls weist diese hierin weder
ausgesprochen deutsche noch ausgesprochen italienische Züge auf. Deutsches
Wesen zeigt sich dagegen in den hier herrschenden Begriffen von Reinlichkeit
und Sauberkeit, in der Art der Behandlung der Haustiere und in dem guten
Zustand der Wälder, italienisches wieder besonders in der Sprache und in den
ganz aus Stein gebauten Häusern mit den niedrigen Dächern, wo vor den Fenstern
die Blumen und vor den Türen die Hausgärtchen fehlen. Weiter nach Süden,
nach dem Cismonetal zu, verstärken sich dann alle diese Züge; mit den Tieren
wird nach südlicher Art umgegangen, die Wälder treten mehr von der Talsohle
zurück und sehen zerzauster aus; auch die Menschen erinnern in ihrem freieren
Auftreten und in ihrer Kleidung, die Frauen auch durch den Similischmuck mehr
an das Italienische; Eindrücke, die dann im Suganatal bestehen bleiben, wenn
auch nicht stärker werden. Aber selbst dort in jenen italienisch sprechenden
und Italien dicht benachbarten Gebieten ist das Bild doch nicht völlig dem einer
italienischen Landschaft kongruent. Dies zeigen die alten, nach deutscher Art
gefertigten Gasthofsschilder, die alten gotischen Kirchen (Pergine, S. Christoforo,
Primiero), die sorgfältigere Pflege der Kirchhöfe und nicht zuletzt das Wesen
der Bewohner selbst, deren Tätigkeit geräuschloser, deren Fleiß stiller, deren
Benehmen zwar freundlich, aber nicht zuvorkommend ist, wenn es auch zweifel-
haft sein mag, ob dieser Unterschied, der nur in der inneren Seelenstimmung,
in der Lebensauffassung, begründet sein kann, von einem andersgearteten Volks-
tum herzuleiten ist oder nur von der nordischen Regierungsweise, die bis jetzt
seit Jahrhunderten hier gewaltet hat.
Eigentümlicher Es ist schon gesagt worden, welch' eigentümliches Gepräge viele jener Orts-
roman?fchen "anien aufweisen, die in dem Gebiet der früheren Alpenromanen vorkommen;
Ortsnamen es ist jedoch auch weiter in dieser Beziehung zu beobachten, daß sich die weit-
in en pen. ^^^ sonderbarsten und fremdartigsten derselben gerade in solchen Gebirgsgegenden
finden, die heute von Italienern oder noch von den Latinern selbst bewohnt
werden. Alle jene Ortsnamen geben ja überhaupt eine geradezu unheimliche
Erscheinung für den Sprachforscher ab, aber es bleibt doch nur ein Zeichen für
die Stärke und Unermüdlichkeit des menschlichen Wissenstriebes, wenn der
Streit über ihre Erklärungen niemals austoben wird, während an dieser Stelle
eine kleine Blütenlese solcher Namen genügen mag, um ihren verzweifelt merk-
würdigen Klang anschaulich zu machen. So liegt in Bünden heute ein Rueras
und Camischolas, Alvaschein, Belalüna und Vazerols, im Val Camonica ein Ort
Mu (bei Edolo), bei Madonna di Campiglio ein Ort Bandalors und ein Berg
Sabbion. Bei Meran begegnen wir Namen wie Gargazon und Farmazon'); in
') B. W. S. 329.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 107
der Sellagruppe Pisciadu und Setus, im Avisiotal Panchia, Val Lagorei, Joch
Lavaze, bei Paneveggio dem Colbriconpaß, in der Umgebung von Cortina d'Am-
pezzo Travernanzes und den Bergen Nuvolau und Giau, und bei Saifnitz einem
Berg Nabois. Eigenartige Ausblicke mögen sich ferner auftun, wenn eine An-
zahl dieser Ortsnamen heute eine auffallende Ähnlichlteit mit solchen zeigen, wie
sie sich auf der iberischen Halbinsel und somit auch in den später von den
Spaniern und Portugiesen tcolonisierten Erdteilen finden. Als solche itönnen
angeführt werden Magras, Tuenno, Segonzon, Terzolas im Nons- bezl. Sulzberg,
Amblar, Don, Tavon bei Fondo dicht südwestlich der Mendel, einsame Gebirgs-
orte, die von Norden wie von Süden her stets gleich unbequem zu erreichen
waren, wie es gewiß auch kein Zufall ist, daß gerade auch in den obersten Ver-
ästelungen dieser Täler jene zahlreichen Depotfunde römischer Münzen an das
Tageslicht gekommen sind, die während der Völkerwanderung hier versteckt
worden waren. In Spanien finden wir ein Vigo, in Portugal ein Elvas und ein
Guarda. Ein Vigo liegt aber auch im Avisiotal, ein Elvas bei Brixen und ein
Guarda und eine Burg Guardaval im Engadin. Und wenn heute im fernsten
Morgenlande das Kap Guardafui weit in die heißen Fluten hineinragt, so ringt
möglicherweise auch kein anderer Begriff in dem Hof Gstatsch zum Ausdruck,
der am westlichen Ende der Seiser Alm, wie ein Wachtposten vorgeschoben,
über das Hochgebirgsplateau zu seinen Füßen hinabschaut'). Man sieht also, sie
hat sich zwar verscheuchen lassen, aber sie wollte doch herantreten, jene Fee,
die diesen Alpenromanen die Zukunft einer selbständigen Nation in die Wiege
legen wollte.
Die unendliche Mannigfaltigkeit in dem Habitus der Bevölkerung und ebenso Überein-
in der Verteilung der modern und fremdartig klingenden Ortsnamen lassen nun Gruppierung
zunächst für jeden einzelnen Teil der Alpen ein anderes Bild zu, nicht nur der Ortsnamen
_ . , . , . , . i,..ii L innerhalb des
hmsichtlich des Zeitpunktes, m dem jener von den modernen Volkern erobert Gebirges,
worden ist, sondern auch hinsichtlich der größeren oder geringeren Schnelligkeit,
mit der die neue Besiedelung einst Platz gegriffen hat. Trotz aller dieser Ver-
schiedenheiten läßt sich aber doch bei der Lage der Ortsnamen innerhalb der
einzelnen Alpentäler eine Beobachtung machen, die mit geringen Ausnahmen
für das ganze Gebiet der früheren Alpenromanen zutrifft; es ist diejenige, daß
die am Taleingange gelegenen Punkte und ebenso die Hauptorte selbst mehr
moderne Ortsnamen zeigen, während uns dann höher hinauf an den Hängen und
Enden der Täler, und je abgelegener, um so stärker, die fremdartigen Namen
in der Überzahl begegnen. Dieser ganze Befund läßt aber nun zwei Tatsachen
erkennen, die für den Zustand und die Bewegung der Bevölkerung in den Alpen
Allgemeingültigkeit besitzen, zunächst diejenige, daß jene neue Besiedelung der
Alpen während des Mittelalters nur langsam und den natürlichen Verhältnissen
folgend von der Talsohle an aufwärts vor sich gegangen ist, ohne sich irgendwie
') Das Volk sagt hier Guastatscher.
108 VII. Kapitel.
gewaltsamer Mittel zu bedienen; andererseits müssen die Alpen aber auch, weil
in den seitab liegenden Tälern überall reichlich die alten Ortsnamen auftreten,
auch schon vor dem Eindringen der modernen Völker eine zahlreiche Bevöl-
kerung beherbergt haben.
Jene Gruppierung der Ortsnamen aber, die diese Verhältnisse widerspiegelt,
ist heute an unzähligen Stellen der Alpen zu finden'). Ein besonders charak-
teristisches Beispiel für jene Verteilung liefert das lange Oetztal, wo die Namen
in der breiten Sohle des Haupttales ganz alltäglich deutsch klingen (Umhausen,
Längenfeld, Hüben, Zwieselstein), während uns hinten in der Hochgebirgswelt
eine ganz andere Gesellschaft begegnet (Ramol-Joch, Firmisanspitze, Fanatspitze,
Similaun, Finailspitze). Im hintersten Lechtal liegen über Steeg und Warth das
Almejurtal und der Formarlnsee, im Gschnitztal unter Steinach und Gschnitz,
oben die Alpe Lapones und der Tribulann, im Seirain unten Seirain und Gries,
oben Praxmar und Kühetai. Auch das Passeier hat an allen wichtigen Punkten
der Talsohle von Schenna bis herauf nach Walten und Moos moderne Namen,
während daselbst an den unwichtigen und hohen Stellen zumeist fremdartige
vorkommen (Vernuer, Six, Plön, Lazins). Auch im abgelegenen Lessachtale
und hoch oben im Kaisertal erscheinen die romanischen Namen plötzlich in der
Überzahl, nachdem man den Weg zu ihnen durch deutsche und slavische Orts-
namen hat hindurchnehmen müssen^). Verfolgen wir nun aber jene Entwickelung
bis an ihre äußersten Grenzen, so verkehrt sich dann freilich dieser Befund
zuweilen in das Gegenteil, insofern es nicht selten vorkommt, daß in der Zone
der höchsten Erhebungen, in der Nachbarschaft der eigentlichen Gebirgsriesen,
nun wieder die fremdartigen Namen aufhören und solche an deren Stelle treten,
die den modernen Sprachen angehören. Diese Erscheinung ist teilweise am
Ortler, besonders deutlich aber in dem westlichen Komplex der Oetztaler und
an den höchsten Spitzen der Zillertaler Alpen wie am Großglockner zu be-
obachten. Auch im italienischen Sprachgebiet finden wir ganz ausgeprägt am
Adamello, und annähernd auch an der Marmolata und am Bernina dasselbe Bild.
Die Rolle des Einer der wichtigsten Schlüsse auf das Schicksal der mittelalterlichen
Namen der Bevölkerung der Alpen geht schließlich aus der Gestaltung einer ganz besonderen,
Mittelalter- gerade in den Alpen außerordentlich zahlreich verbreiteten Klasse von Ortsnamen
in den Mpen. hervor, aus derjenigen der mittelalterlichen Burgen. Mit schnellen Schritten hat
während der ersten Jahrhunderte des Mittelalters das Kulturleben einen ausge-
prägt klerikalen und noch mehr feudalen Charakter erreicht, derart, daß die
herrschenden Klassen ein entschiedenes Übergewicht in allen LebensäußeruDgen
der Völker besaßen, und daß von jenen allein im großen und im kleinen die
politische Herrschaft jeder Art ausgeübt wurde. Dieser Herrenstand, neben den
vornehmen Dienern der Kirche besonders die großen und kleinen weltlichen
1) Für ein einzelnes Tal schildert diesen Vorgang sehr anschaulich: Mader, die Besiedelung von
Afers bei Brixen. F. 1906. S. 157f. 2) Unterforcher. G. Pr. Leitmeritz 1885, Separatabdruck S. 6.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. lOg
Dynasten, hatten aber ihren ausschließlichen Sitz nirgends anders als in den
mittelalterlichen Burgen und Festen, die damals die bevorzugtesten und besten
menschlichen Wohnstätten waren, weil sie nicht nur die persönliche Sicherheit
am stärksten gewährleisteten, sondern besonders auch ihrerseits das Mittel bildeten,
um die ungeschützte Nachbarschaft in Botmäßigkeit zu erhalten. Jene mittelalter-
lichen Herrschaftssitze sind nun aber in den Alpen nicht nur besonders zahlreich,
sondern sie führen auch, was in diesem Zusammenhange die Hauptsache ist, in
der großen Mehrzahl und selbst in Gegenden, wo auch heute noch die alten
romanischen Ortsnamen durchaus in der Überzahl sind, rein deutsche Namen,
Bezeichnungen, wie wir sie uns außerdem manchmal nicht romantischer vorstellen
können. Dieser Befund tritt also ganz von selbst als eine Ergänzung zu dem
vorher gezeichneten Gange der Umgestaltung der Alpenromanen hinzu. Die
deutschen Herren, die zugleich mit der politischen Besitznahme der Alpenländer
durch den Norden in das Bergland kamen, sind es gewesen, die sich zuerst
zwischen einer anders gearteten und anders sprechenden Bevölkerung nieder-
ließen; sie haben ebenso unwiderstehlich als Vertreter des herrschenden Standes
wie als Träger einer neuen Kultur für diese ganze Bewegung gewissermaßen die
Anführer und Pfadfinder abgegeben und dann hier ein Kulturleben hervorgerufen,
dessen mannigfache Äußerungen an einer anderen Stelle zu betrachten sein
werden, während hier nur einige Beispiele hervorgehoben werden sollen, die für
das entschiedene Vorkommen der deutschen Bezeichnungen in den Burgennamen in
der unmittelbaren Nachbarschaft der alten Namen besonders charakteristisch sind.
So finden sich am südlichen Ausgang des Fernpasses, wo uns unten an der
Straße selbst als offene Orte Namen wie Dormitz, Stradt, Tarrenz und Imst
begegnen, hoch über denselben als beherrschende Punkte die Burgen Fernstein,
Gebratstein und Altstarkenberg; weiter südwestlich liegen Angedair und Perfuchs,
Pians und Perjen, ungeschützte Flecken, in der Nachbarschaft der Burg Schroffen-
stein und der gewaltigen Burg Landeck. Gehen wir von hier das Inntal abwärts,
so heben sich, wenn auch zumeist unter deutschen Ortsnamen Burgennamen
wie Kronburg, Stein am Rofen, Petersberg, Weifenburg und Hörtenberg heraus,
während dann besonders am Eintritt der Scharnitzlinie in das Inntal die Ruine
Fragenstein auf die Orte Zirl und Perfus herabblickt. Am Eingange des Navis-
tales liegen die Reste der Burg Aufenstein (Eulenstein, jetzt S. Kathrein) einsam
zwischen romanischen Namen und selbst im altlatinischen Gebiete von Groeden
und Seis die Burgen Wolkenstein und Hauenstein. Ein richtiges Bild der
Bestimmung der unzähligen volltönenden Burgennamen an den Hängen des Etsch-
tales zwischen Bozen und Meran wird erst dann gewonnen, wenn man zugleich
die in der Talsohle liegenden Flecken von Terlan bis Gargazon betrachtet, bei
denen ein romanischer Name auf den anderen folgt. Am weitesten nördlich am
Rande der Alpen findet sich bei Reichenhall und Salzburg bis in die Ebene
hinein vortretend eine zahlreiche Gesellschaft romanischer Ortsnamen vor, aber
HO VII. Kapitel.
auch hier sind die Burgennamen wie Gruttenstein, StaufFeneck, Karlstein, Glaneck,
Neuhaus, Urstein und Kahlsperg überwiegend deutsch. Auch im Mölltal, das
ebenso zahlreich romanische wie slavische Ortsnamen beherbergt, haben die
Burgen deutsche Namen wie Groppenstein, Wildegg und GroO-Kirchheim.
Allein in der Hochburg des Alpen-Latinismus, in dem alten Sprengel des
Bistums Chur, sehen wir, daß auch die Burgen, an einzelnen Stellen vereinzelt,
an anderen dagegen in der Überzahl, romanische Namen tragen, eine Erscheinung,
die zwar die Tatsache nicht berührt, daß auch hier der Adel im Mittelalter die
führende Stellung behauptete, die aber den Schluß nahelegt, daß sich hier einst
unter den mittelalterlichen Dynasten zum Teil der alteingesessene Stamm erhalten
konnte. Wichtig bleibt es aber, daß wir doch auch hier inmitten einer anders
sprechenden Bevölkerung, in Gegenden, in denen sich sonst nicht ein einziger
deutscher Ortsname findet, nicht minder Burgen mit ausgesprochen deutscher
Bezeichnung entdecken, woraus sich also wiederum erkennen läßt, daß auch vor
diesem Gebiet jene mittelalterliche Bewegung, jene Einwanderung von oben her,
nicht Halt gemacht hat. Im Domleschg, der bevorzugten Stätte des bündner
Adels teilen sich die Burgennamen in solche wie Rhazüns, Juvalta, Canova und
Realta und solche wie Ortenstein, Ehrenfels, Nieder-Tagstein, Rietberg und
Baldenstein; gleichfalls im Herzen Rätiens .treffen wir Rauschenberg (bei Conters),
Löwenberg (bei Laax), Jörgenberg und Rinkenberg (bei Tavanasa) und Straßberg
(bei Churwalden). Auch an der Albulabahn liegen einander benachbart die
Ruinen Beifort und Greifenstein und am Flüelaweg neben der Burg Castels die
Ruine Strahlegg. Auf dem Wege von Landquart durch das Prättigau aber, wo
sonst kein einziger Ortsname deutschen Klang hat, begegnen uns doch deutsche
Burgennamen, wie Facklenstein und Fragstein, und weiter nordöstlich sehen
wir über Tobadill und der Rosanna und Trisanna die Ruine Wiesberg. Auch
im Unterengadin mit seiner ganz romanischen Nomenklatur heißt die sich über
Ardetz erhebende Burg doch nur Steinsberg, und wie bezeichnend liegt nicht
das die ganze Gegend beherrschende deutsche Lichtenberg inmitten der vielen
fremdartigen Ortsnamen des Glurnser Bezirkes und insbesondere neben dem
benachbarten Dorfe, das ursprünglich Subende hieß und erst später nach der
Erbauung des Schlosses den Namen desselben annahm ')• Auch im Etschtal
zwischen Bozen und Meran existieren für die deutschen Burgen Schwanburg
und Pfeffersburg seit alters her auch andere volkstümliche Ortsnamen (Gaul
bezl. Casatsch).
Überhaupt werden von der Westgrenze Tirols ab die deutschen Burgen-
namen so gut wie zur Regel, und wenn wir romanische Burgennamen sich dort
einzig und allein in der Richtlinie des oberen Etschtales weit nach Osten hin
fortsetzen sehen, so ist dies nur einer der vielen Züge, der gerade in dieser
Zone den Widerstand der romanischen Kultur so besonders stark erscheinen
>)Tir. S. 19.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. Hl
läßt, Qie in Chur, jener inneralpinen Zentrale, ihren stärksten Stützpunkt hatte
und von hier lange Zeiten hindurch sogar bis vor die Tore Bozens reichte.
Daher finden sich im Vintschgau noch Burgennamen wie Montan, Castelbell und
Hochnaturns, bei Meran solche wie Tirol, Goyen (Gajanum), Dornsberg (Tarants-
berg) und Rubein; auch bei Bozen führen einige der stattlichsten Schlösser wie
Formigar, Hocheppan und Boimont ganz romanische Namen, während nördlicher
am Eisak nur ganz vereinzelt die Burgen Gufidaun und Paliaus zu finden sind.
In welch' gleichartigen Streifen diese Entwickelung überall die Berge über-
zog, läßt sich aber auch daraus erkennen, daß die Burgennamen mit demselben
Klange an den verschiedensten Stellen wiederkehren, eine Erscheinung, die
freilich oft nur darin ihren Grund gehabt hat, weil jene Herrengeschlechter ihre
neu erworbenen Besitzungen, nach denen hin sie weiter vorwärts getrieben
wurden, nach ihrer ersten Heimat zu nennen pflegten. So gaben die Grafen
von Eschenlohe nach ihrer bei Partenkirchen gelegenen Stammburg der neu
erbauten Burg im Ultental gleichfalls den Namen Eschenlohe, und die ersten
Besitzer der Burg Gerstein bei Klausen finden wir dann auf den nach ihnen
benannten Türme.i und Höfen im Salzburger Lande wieder')- Aber auch ohne
dies mögen diese Burgengründungen, weil ihnen stets dasselbe Motiv zu Grunde
lag, ganz von selbst auch zu solchen gleichartigen Namen gegriffen haben, und
es ist interessant, zu sehen, daß diese Beobachtung sogar bei den romanischen
Burgennamen zutrifft. So giebt es ein Beifort in Bünden und ein solches im
Nonsberg, ein Rodunt, von denen das eine jetzt Radunt-), das andere aber
Rodeneck heißt, im Glurnser Bezirk bezl. bei Brixen. An allen Ecken und
Enden der Berge kehren nun aber die gleichlautenden deutschen Burgennamen
wieder. Ein Straßberg finden wir bei Churwalden und bei Gossensass, ein
Fragstein im Prättigau, ein Fragenstein bei Zirl, eine Fragsburg 3) bei Meran,
ein Greifenstein an der Albulabahn und bei Bozen, ein Greifenburg an der Drau.
Ein Löwenberg liegt in Bünden (bei Laax) und ein solches auch bei Meran
(Lebenberg) und bei Kitzbühel; ein Rafenstein, ein Wolfsthurn und eine Pfeffers-
burg treffen wir bei Bozen, ein Rabenstein ebenso auch in Friaul, ein Wolfs-
thurn bei Sterzing und ein Pfeffersberg bei Brixen; ein Schloß Schneeberg liegt
im Gschnitztal und ein Schloß Schneeburg giebt es auch bei Hall. Bei Sterzing
haben wir ein Reifeneck und ein Reifenstein; bei Salurn stand einst eine Burg
Reichenberg, wie eine solche heute noch im Vintschgau zu finden ist"*); ein
Ortenstein liegt im Domleschg und eine Ortenburg im Pustertal, eine Ruine ^ ,,
° *' *' ' Das Deutsch-
Hauenstein bei Seis und ebenso bei Voitsberg in der Steiermark. tum des mittel-
Der sicherste Beweis, auf welcher Seite die völkerbildende Kraft dieser a'teriichen
' Adels in
Bewegung zu suchen ist, liegt aber doch darin, daß wo wir auch in die schrift- den Alpen.
1) Sa. L. XXI. S. 70f. 2) jir. S. 89. 3) Frag, Fragant u. a. m. bedeutet Grund und Boden, der
schon einmal bebaut war und dann eine Zeit lang öde lag, vgl. Achleitner, Tirolische Namen, Inns-
bruck 1901, S. 25. ■•) Tir. S. 90.
112 VII. Kapitel.
liehen Zeugnisse der Vergangenheit hineinblicken — mögen diese nun zeitlich
noch so tief in das Mittelalter hinabreichen oder ihr Schauplatz noch so weit
von der heutigen deutschen Sprachgrenze entfernt sein — jener Herrenstand fast
überall nur deutsche Vornamen trägt. Einen altertümlichen und ungefügen aber
doch keinen eigentlichen fremdartigen Klang haben sie übrigens alle diese
Namen, bei denen der Kenner des deutschen Altertums seine helle Freude
empfinden kann '). Wie zeitig und wie ausgesprochen von oben her diese
Bewegung eingesetzt hat, zeigt sich besonders bei den Sebener Bischöfen, die
am Anfang des Mittelalters die ersten Dynasten des östlichen Rätiens waren und
die bereits seit dem neunten Jahrhundert die romanischen Namen (Ingenuin, Alim
ca. 804) zu Gunsten der deutschen abstreifen 2). Im J. 902 lebt in Nordtirol ein
reicher Grundbesitzer mit dem deutschen Namen Ratold, während dessen Gattin
noch den romanischen Namen Adalonna führt, und als sich im J. 972 elf
vornehme Herren aus Bünden in Konstanz vor Otto I. einfinden, treffen wir
unter diesen bereits fünf mit deutschem Namen ^). Und wenn wir dann nach
Jahrhunderten sehen, daß Herren mit solch' welschen Namen wie Montfort und
Rubeln (Ruvina) deutsche Dichter geworden sind, wenn die Taranten (vom
Schlosse Tarantsberg bei Meran) im Laufe der Zeiten ihren welschen Namen in
Dornsberg und ihre Wappenzeichen, die drei giftigen schwarzen Spinnen (Taran-
tolen) in drei harmlose schwarze Adler umändern'*), wenn die Herren von
Castelbark und Arco 1298 auf dem Schlachtfelde von Göllheim in der deutschen
Rheinpfalz mitkämpfen^), so sind dieses alles nur Beispiele, welch' tiefe und
weite Kreise schließlich diese ganze Bewegung gezogen hat.
Als ein besonderer Ausläufer derselben, der ganz gleichartig wie in dem
übrigen Gebirgsland einsetzte aber trotzdem gewissermaßen in den Anfängen
stecken blieb, sind noch die deutschen Burgennamen in Friaul zu nennen, die
heute längst verklungen sind, einst aber auch dort weit verbreitet waren. Auch
in Friaul ist einst im zehnten und elften Jahrhundert der deutsche Adel zahl-
reich eingedrungen, hat seine Burgen in Besitz genommen und auf ihnen eine
Zeit lang geschaltet und gewaltet, ein Leben, das uns Thomas der Zirkler in
seinem „welschen Gast" köstlich genug beschreibt^). So lagen einst bei Venzone
Schrattenberg (Satimberch) und Starkenberg (Montfort), bei Ospetaletto Grossen-
berg (Grossumbergo) Rabenstein (Ravistagno) und Pramberg (Prambergo), bei
Udine Perchtenstein (Partistagno), bei Cividale Scharfenberg (Soffumbergo),
Auersberg, Grünberg und Haumberg, westlich am Tagliamento Schönberg (Solim-
bergo), Neuhaus (Castelnovo) und vor allem Spengenberg (Spilimbergo), eine
gewaltige und auch heute noch gut erhaltene Feste'). Dieses alles ist jedoch
nur eine kleine Auslese solcher Burgen, deren Zahl einst mehr als zweihundert
>) Vgl. Anh. 13. 2) ju. S. 267. i) Schw. S. 47; PI. S. 430. ■») p. i846. S. 189. 5) F. 1906.
S. 287, 295. „Roderich" von Arco soll damals mit eigener Hand Adolf von Nassau getötet haben.
6) Kr. S. 1 18. 7) Kr. S. 1 19; Ju. S. 300.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 113
betragen haben soll '), während sich heute nichts mehr über dem Gebiete kräuselt,
wo jene deutschen Rittersitze einst in den Strom hinuntergesunken sind.
Als Anlaß diente auch dort die politische Vereinigung Friauls mit dem
Norden, nachdem Otto der Gr. diesen Landstrich zugleich mit Trient, der
Veroncser Mark und Istrien an den Bayernherzog gegeben hatte, und dieses
Verhältnis wirkte auch darin Jahrhunderte hindurch nach, daß das heutige
Venetien und Istrien, damals das Patriarchat Aquileja und die Görzer Grafschaft,
nicht nur kulturell sondern auch politisch ein dem Deutschen Reiche zugewandtes
Gebiet blieben. Deutsche Namen führen die Patriarchen von Aquileja, einer
nach dem anderen vom J. 762 bis 1251, so die älteren: Sigvald, Theodemar,
Engelfred, Radualt und Poppo (oder Wolfgang), dann weiter Eberhard, vormals
Domherr zu Augsburg, Gotpold, ein Verwandter des salischen Kaiserhauses
und Sieghard, der treue Anhänger Heinrichs IV.; wie auch die späteren: Ulrich I.,
Pilgrim I., Ulrich IL, Gottfried, Pilgrim IL, Wolfger und Berthold, der Oheim
der heiligen Elisabeth, sämtlich mächtigen deutschen Geschlechtern entstammten 2).
Ein Zeichen aber, wie lange sich hier die Verhältnisse noch in einer von
dem italienischen Einfluß ganz selbständigen Richtung abwickelten, ist die Art
und Weise, wie jene Patriarchen noch im dreizehnten und vierzehnten Jahr-
hundert ihre Herrschaft am Isonzo zu befestigen suchten. Flitzsch, Karfreit und
Tolmein waren damals hier die Grenzorte des Patriarchates mit deutschem
Rechte, und noch die Patriarchen Berthold (f 1251) und Ottokar (f 1315) haben
der Ansiedelung deutscher Kolonisten in Deutsch -Ruth, Gradiska u.a.m. ihre
Sorgfalt zugewendet^), zu einer Zeit, als im westlichen Oberitalien schon längst
das Selbstgefühl der bodenständigen Mächte erwacht und mit Maßregeln gegen
das Deutschtum in seiner Nachbarschaft vorgegangen war^). Die politische
Zugehörigkeit Friauls zum Deutschen Reiche fand aber ferner ihren Ausdruck durch
das Erscheinen des Patriarchen von Aglei auf den bayrischen Hoftagen des Königs^);
es ist demnach hier das entgegengesetzte Bild zu dem staatsrechtlichen Verhält-
nisse auf Grund dessen später die Krone Schweden ihren Sitz im Regensburger
Reichstag einnahm, und wenn schließlich auch jener Zusammenhang infolge der
exponierten Lage jener Gebiete völlig verschwinden mußte, so läßt sich doch
gerade hier besonders deutlich erkennen, wie die Besiedelung der Alpen durch
die deutschen Dynasten mit der politischen Herrschaft des Nordens Hand in
Hand ging, und beide ihrerseits erst die Vorbedingungen gewesen sind, an die
anschließend sich auch eine völlige ethnographische Umwandlung durchsetzen
konnte.
Dieser Befund läßt somit die Besiedelung der Alpen durch die modernen Nachrichten
° "^ über die
Völker als eine aus den tiefsten und stärksten Gewalten des damaligen Kultur- besondere
lebens entströmende Bewegung erscheinen, die sich an unzähligen Stellen des Besiedelung
t> t. » o einzelner
Gebirges geltend machte und Jahrhunderte lang in gleicher Weise angedauert Alpentäler.
') Vgl. Z.A. 1902. S. 47. 2) Kr. S. 87. 3) Kr. S. 117. ■*) Z. A. 1903. S. 75. 5)ju. S. 299. A. 1.
Scberrel, Verkchrsgeschtcbie der Alpen. 2. Band. g
H4 VII. Kapitel.
hat. Ein unendlich schwierigeres Material für die Forschung bieten dagegen die
einzelnen, an sich auch nicht besonders zahlreichen Nachrichten, die in manchen
Alpentälern das Dasein der heutigen Bewohner auf eine bestimmte Einwanderung
in größerer Zahl und zu einem besonderen Zeitpunkte zurückführen, wie über-
haupt eben diese Nachrichten und Annahmen nicht selten erst dadurch entstanden
sein mögen, weil die besondere, von der Umgebung scharf unterschiedene Art
der Bevölkerung einzelner Gebirgsteile nachträglich zu einer solchen Erklärung
herausforderte. Aufmerksamkeit verdient allerdings, daß gerade an solchen
Stellen zumeist auch die Adelsburgen fehlen, eine Beobachtung, die daher jene
Gebirgsteile schon deshalb außerhalb der allgemeinen Entwickelung stellt, und
die es wahrscheinlich macht, daß sie einst, bevor der besondere, fremdartige
Volksteil hier einzog, tatsächlich fast unbewohnt waren. So sollen die Bewohner
des Villgratentales zunächst aus Sachsen eingewandert sein und dann später im
zwölften Jahrhundert noch einen Ableger südlich der Karnischen Alpen nach
Sappada (Bladen) geschickt haben '). Auch bei den Bewohnern Deutschnofens
im Eggental bei Bozen macht es schon der Ortsname (neben Welschnofen) er-
sichtlich, daß sie einst eine besondere Enklave innerhalb ihrer Umgebung gebildet
haben, aber hier ist auch besonders klar zu erkennen, wie allein eine solche
auffallende Erscheinung nun auch die verschiedensten Deutungen hervorzurufen
pflegt, von denen „jede falsch, unmöglich aber mehr als eine richtig sein kann".
Denn diese Leute, die sich selbst für importierte Schwaben halten, werden
von ihren Nachbarn als Hessen angesprochen, während sonst auch eine Pest,
die vorher die Gegend verödete, oder der Bergbau, der einst hier betrieben
wurde, als Anlaß für diese Einwanderung herhalten muß 2).
Südlich Deutschnofens beginnen nun aber die vielen deutschen Ansiedelungen,
die einst im Mittelalter über das Joch Grimm hinüber durch das Gebirge hin-
durch wie eine ununterbrochene Kette bis tief in die oberitalienische Ebene
hinab bestanden haben^), und deren Reste sich heute noch wie kümmerliche
Halligen inmitten eines fremden Elementes von den Gemeinden Altrei und
Truden im Tal des Avisio über das Fersental nach Luserna und S. Sebastian
und schließlich zu den alten Plätzen der XIII und VII Cimbrischen Kommunen
hinabziehen. Wenn es von diesem ganzen deutschen Besitzstand nun durchaus
feststeht, daß er einst eine weit größere Ausdehnung als heute gehabt haben
muß, so fehlt doch auch hier überall jeder sichere Anhalt über seine Herkunft
und insbesondere darüber, ob sein Ursprung in der Hauptsache nur im Norden
zu suchen ist, oder ob gerade in diesem Teil des Gebirges die Ereignisse der
germanischen Völkerwanderung von Italien her so tief in das Gebirge einge-
drungen sind, daß sie dann in breiterer Front mit der bajuvarischen Bewegung
') St. S. 29; M. D. A. 11. T. 6. Au. S. 310. 2) Atz. S. 1 17, 138; Z. A. 1900. S. 305, 323. 3) Ju. S. 299 :
Folgaria, Vall' Arsa, Val Roncbi (östlich bei Rovereto bezl. Ala einmündende Seitentäler der Etsch),
deutsche Gemeinden im Valsugana, im Fersinateil, in Fleims.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 115
zusammenfließen konnten. Dieser Mangel ist aber um so mehr zu bedauern,
da wir allein hier und nirgends anders an der Linie stehen, wo einmal — man
kann hierfür ungefähr die zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts setzen —
die Alpen in ihrer ganzen Ausdehnung von dem deutschen Volkstum durchsetzt
gewesen sein müssen ').
Nicht zahlreicher, aber ebenso schwierig für die Forschung sind ferner die
Fälle, nach denen im Mittelalter einmal eine solche Umformung der Bevölkerung
von oben her in die Wege geleitet und auf diese Weise eine neue Ansiedelung
in größerer Masse absichtlich in eines der Alpentäler verpflanzt wurde. Das
Verhalten der Patriarchen von Aquileja hatten wir bereits kennen gelernt. Als
ein deutlicher Fall dieser Art erscheint ferner die Maßregel, die der Bischof
Friedrich von Bamberg 1351 nach dem furchtbaren Erdbeben von Villach ergriff,
der damals jenen Gegenden durch eine planmäßige ostfränkische Neubesiedelung
und durch fünfzehnjährige Abgabenfreiheit aufzuhelfen suchte 2). Andere be-
kanntere Beispiele sind auch die Einwanderung der freien Walser Leute in das
Davosertal, die dort im dreizehnten Jahrhundert durch einen Freiherrn von Vaz
angesiedelt worden sein sollen, und dieselbe Maßregel im obersten Tale des
Hinterrheins, wo gleichfalls ein Walter von Vaz 1277 die neuen Einwanderer
„in seinen Schutz nahm"^). Hier sehen wir also ein mächtiges Dynastengeschlecht
Bündens auch nach dieser Seite hin in die Geschicke des Landes eingreifen,
da sich jene beiden fremdartigen Enklaven bis heute noch in ihrer Besonderheit
erhalten haben. Bei den letzteren, bei den „Freien am Rhein" mag jene Tat-
sache nun weiterhin auch die Veranlassung zu der Annahme geworden sein,
daß jene deutschen Leute hier einst von Friedrich Barbarossa als Wächter der
Alpenübergänge angesiedelt worden seien'*), ein Fall, bei dem man außerdem
die Arbeit der Tradition wie in einer Werkstatt belauschen kann; denn auch
die Käfirstämme im westlichen Himalaya, die innerhalb ihrer Nachbarschaft ein
ganz fremdartiges Element bilden, leiten ihre Herkunft und ihre Freiheit von
Alexander dem Gr. her, der diese auf seinem indischen Zuge hier zurück-
gelassen haben soll.
Auch die Bewohner des Fersentales, die Mocheni, wie sie von den Italienern
genannt werden, sollen im fünfzehnten Jahrhundert auf die Veranlassung der
Bischöfe von Trient dorthin gekommen sein^), während es andererseits Tatsache
ist, daß im J. 1216 gleichfalls ein Trienter Bischof, Friedrich von Wanga, die
diesem Tal südlich gegenüber und in der nächsten Nachbarschaft der VII Cim-
brischen Kommunen liegenden Höhen von Costa Cartura bis Ceuta an zwei
Bozner Bürger überließ, um daselbst neue Höfe zu gründen, Arbeiter dahin zu
berufen und so das ganze Gebiet urbar — und steuerfähig zu machen ö). Die
') Dieser, wenn auch schmale Streifen läuft ungefähr in der Linie des Längengrades, der Inns-
bruck durchschneidet, 2) Kr. S. 160. 3) Oe. I. S. 170. <) Da. I. B. S. 140. ») Vgl. Anh. 14.
6) Ju. S. 298.
8»
116 VII. Kapitel.
schwerste und folgenreichste Maßregel dieser Art ist dagegen erst am Ende jener
ganzen Entwickelung durch die Tiroler Fürsten in die Wege geleitet worden.
Zu den Zeiten der Reformation war plötzlich in Bünden Hand in Hand mit
der evangelischen Bewegung eine Erstarkung des rätoromanischen Geistes vor
sich gegangen. Die Besorgnis der Tiroler Habsburger, die von ihrem Standpunkt
aus ganz berechtigt war, daß jene Bewegung auch auf die von ihnen beherrschte
rätoromanische Bevölkerung übergreifen und deren Zugehörigkeit zu Tirol lockern
könne, veranlaßte jene damals, die Entwelschung ihres Gebietes nun auch durch
Regierungsmaßregeln in eine raschere Gangart zu bringen '). Die erste Trennung,
durch die der kompakte Besitz der Alpenromanen in ein kleineres östliches
Gebiet (von Friaul bis Brixen) und in einen ausgedehnteren Komplex im Westen
auseinandergespalten wurde, war schon im Laufe des Mittelalters auf friedlichem
Wege entlang der Brennerstraße zur Tatsache geworden. Jetzt erfolgte nun auch,
und zwar auf gewaltsamem Wege, die Errichtung eines zweiten Keils innerhalb
jenes größeren Komplexes, und zwar im obersten Vintschgau, wodurch zunächst
alles, was in Innertirol noch romanisch geblieben war, wiederum von Bünden
abgeschnitten wurde, während zu gleicher Zeit das Italienertum mit frischen
Kräften gegen die südlichen Teile dieser alten romanischen Zone, in die Täler
südlich des Ortler und in den oberen Nonsberg, vordrang.
Die drei Haben wir somit im Innern der Alpen überall den Siegeszug des Deutsch-
Deutsc^inums tums gegenüber den Alpcnromanen verfolgen können, so liegt es nahe, dieses
im Süden juch an den Stellen zu betrachten, wo es räumlich die größten Entfernungen
^^ ^^^' zurückgelegt zu haben scheint d. h. dort, wo es sich heute noch vereinzelt am
Südrande der Alpen vorfindet. Wenn wir nun dessen zerstreute Enklaven zu-
nächst einmal an unserem Blick vorüberziehen lassen, so begegnen wir im
Westen zuerst den uns schon bekannten Deutschen südlich des Wallis, Es sind
dies die sogenannten Silvier. Diese finden sich, heute stets nur in den obersten
Teilen der Täler, im Val de Gressoney, Val Sesia, Val Sermenta, Val Mascalone,
Val Macugnaga, im Vedrotal (Simpeln), im Tocetal und schließlich in Bosco
(Gurin), einem im Kanton Tessin gelegenen und zum Gebiet der Maggia gehörigen
Seitentale; man sieht also, es ist ein Raum, der sich aus der unmittelbaren Nach-
barschaft der Gr. S. Bernhardlinie bis zur Nordspitze des Langensees hinzieht..
Das nächste, in einem großen Zwischenraum sich daran anschließende derartige
Gebiet steht dann in Gestalt der Reste der XIII bezl. VII Cimbrischen Kom-
munen vor uns, und zwar genau nördlich Verona Gliezen und Fonta (Chiazza
und Campo Fontana) als dürftiger Überrest der XIII Kommunen, während ein
ganzes Stück nordöstlich davon die fünf Orte Asiago (Siege), Roana (Roban),
Rotzo (Rotz), Gallio (Ghel) und Fozza (Wüsche) den Platz der alten VII Kom-
munen bezeichnen. Wiederum nordöstlich, aber gleichfalls am Südrand des
südlichsten Alpenzuges liegt Bladen (Sappada) und südlich davon an einem
1) Ju. S. 291 f.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 117
Nebenflusse des Tagliamento Sauris (die Zahre). Östlicher war bis vor kurzem
noch das südlich des Plocckenpasses gelegene Tischelwang (Timau), auch das
Fellatal zum Teil deutsch, bis wir schließlich im Gebiet des Isonzo, in Deutsch-
Ruth und in Görz, die letzten deutsch sprechenden Gemeinden im Süden der
Alpen antreffen ')•
Betrachten wir aber jene Reste in der Vergangenheit, so entdecken wir, daß
deren Umfang einst viel ausgedehnter gewesen ist als heute, und daß sie jetzt
nur als die letzten Marksteine verschiedener deutscher Stämme dastehen, die
hier einst im früheren Mittelalter weite Strecken des oberitalienischen Bodens
bewohnten Alles dieses deutsche Gebiet muß somit in den letzten Jahrhun-
derten des Mittelalters und in der folgenden Zeit von dem italienischen Volks-
tum erobert worden sein. Diese Entwickelung steht aber nun in direktem
Gegensatz zu der Bewegung der Bevölkerung in den Alpen selbst, wo das
Deutschtum gegenüber den Alpenromanen stets im Vorwärtsschreiten geblieben
ist, und für dieses alles kann daher schon um deswillen keineswegs die Erklärung
genügen, daß diese Deutschen in Oberitalien nichts anderes als die südlichsten
Vorposten derjenigen gewesen wären, die während des Mittelalters von Norden
her in die Alpen eingedrungen sind. Hier steigt also wiederum die Frage nach
der Herkunft jener Deutschen auf, die wir nachweislich schon im frühen Mittel-
alter in kompakten Massen in Oberitalien vorfinden, jene Frage, die ja die
deutsche Gelehrsamkeit so besonders interessieren muß, zu der hier aber nur
insoweit Stellung genommen werden soll, um ihren Zusammenhang mit der
Bewegung der Bevölkerung in den Alpen selbst in das rechte Licht zu rücken.
Hierzu gehört nun zunächst die ungefähre Feststellung des Gebietes am
Südfuße der Alpen, das einst zu Anfang und auf der Höhe des Mittelalters von
Deutschen bewohnt gewesen sein muß. Wie aber noch heute die dortigen
deutschen Reste sich auf drei verschiedene Stellen verteilen, so treten uns auch
in der früheren Zeit daselbst drei verschiedene aber ungleich umfangreichere
Gruppen deutscher Bevölkerung entgegen. Von diesen drei ist nun zunächst
die mittlere, die der sogenannten Cimbern, nicht nur die älteste sondern auch
die bei weitem umfangreichste gewesen, wie sie daher auch heute die größte
Einbuße erlitten hat. Spätestens im neunten Jahrhundert müssen jene Deutschen
in ihren Sitzen zwischen Brenta und Etsch schon alteingesessen gewesen sein 2),
eine Tatsache, die aus einer Trienter Urkunde vom J. 845 hervorgeht, in der
in Oberitalien und nicht allzuweit von Trient eine deutsche Bevölkerung aus-
drücklich erwähnt wird, und die bei dem allseitigen Mangel an Nachrichten
dieser Art doppelte Wichtigkeit hat. Die Ausdehnung jenes Gebietes stellt sich nun
aber als derart umfangreich heraus, daß dieses fast nicht mehr den Raum einer
Landschaft sondern eines Landes ausmachte; es geht hinüber vom Val Policella
westlich Verona bis zur Brenta, von den Alpenbergen südöstlich Rovereto^) über
') Vgl. Z. A. 1902. S. 44f. 2) Z. A. 1902. S. 63, 1903. S. 51. ^) Vgl. Ju. S. 299. A. 2.
118 VII. Kapitel.
die Monti Berici bis zu dem Fuß der Euganeischen Hügel. Bis in die jüngste
Vergangenhieit haben hier die nördlich und östlich Veronas gelegenen Alpentäler
einen Grundstock dieser Bevölkerung beherbergt, während ihr frühester Mittel-
punkt wohl das Vicentino (Wisentheim) gewesen sein mag. Als im J. 1311 sich
die Paduaner und Vicentiner im Kampfe gegenüberstanden, hielt ein Graf
Siegfried Ganzera zu den Vicentinern, um von den Paduanern nicht verstanden
zu werden, eine deutsche Ansprache'), und noch 1598 wird aus diesen Gebieten
an die venezianische Regierung amtlich berichtet, daß man hier zehn Tausend
streitbare deutsche Mannschaften aufbieten könne.
Nicht so überra-schend groß aber doch immer viel ausgedehnter als heute
stellt sich auch der frühere Umfang der Silvier heraus. So wurde einst auch
in dem zum Gebiet der Dora Baltea gehörigen Chalanttale deutsch geredet; vor
allem reichte aber das Deutschtum auch einst in den zum Gebiet der Sesia
und des Toce gehörigen Voralpentälern viel weiter nach Süden herab; Ornavasca
und Miggiardone (Urnavasch und Misendone) redeten noch vor wenigen Jahr-
hunderten deutsch. Noch viel mehr Bedeutung gewinnt dieses alles aber dadurch,
wenn man die heute freilich längst bis zur Unkenntlichkeit verwischten Spuren
einstiger deutscher Anwesenheit im Maggiatal, bei Biasca im Tessin, im Blegnotal
am Wege zum Lukmanier, im Tal der Moesa und im obersten Teil des Valle
Seriana (nördlich Bergamo) in Betracht zieht 2).
Die östlichste der drei früheren deutschen Bevölkeruugszonen Oberitaliens
schließlich ist etwa ebenso umfangreich wie die der Silvier, in ihren alten Grenzen
aber viel deutlicher zu erkennen. Ihre westliche Hälfte bildete zunächst Friaul,
wo es jedoch durchaus feststeht, daß dieses Deutschtum hier nicht den Ereignissen
der Völkerwanderung sondern allein späteren Völkerbewegungen seinen Ursprung
verdankt. Weiter nach Südosten ragt dagegen auch hier eine ältere Schicht hinein,
die in den Ortsnamen Flitsch und Karfreit am Fuße des Predil, weiter südöstlich
in Tolmejn und S. Veitsberg, in Görz und besonders im Tal der Wippach mit
seiner deutschen Nomenklatur sich vor unseren Blicken nicht verstecken kann''),
und als deren südlichstes Glied wirklich jene gotischen Meraner anzusehen sind,
die einst hier bei Monfalcone und Duino bis nach Istrien hin gewohnt haben'*).
Herkunft der Der große frühere Umfang aller dieser Gebiete vermag daher nur die Wahr-
^Oberitaiien" scheinlichkeit zu bestärken, daß jener Zustand nimmermehr von denjenigen
Deutschen ausgegangen sein kann, die seit dem Beginn des Mittelalters von
Norden her in die Alpen kamen, sondern daß hier bereits die Ereignisse der
germanischen Völkerwanderung ihre Spuren hinterlassen haben, wie sich ja
auch immer und immer wieder der Eindruck geltend macht, daß fast alle früheren
und heutigen deutschen Elemente in Oberitalien trotz ihrer offenen Verwandt-
schaft mit dem späteren Deutschtum „doch noch etwas durchschimmern lassen,
«) Z. A. 1902. S. 52. 2) Z. A. 1902. S. 47, 1903. S. 60, 61, 75. 3) z. a. 1902. S. 47. ■*) Z. A.
1903. S. 44.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. IIQ
das von weiterher stammt." Eine Feststellung des Ursprungs jener Deutschen,
die bereits während des frühen Mittelalters in Oberitalien wohnten, würde aber
auch für die Alpengeschichte einen besonderen Wert beanspruchen können, so-
bald damit zugleich Sicherheit darüber gewonnen würde, wo nun in den süd-
lichen Alpenbergen selbst das spätere von Norden aus gekommene deutsche Ein-
dringen mit jener früheren germanischen Besiedelung zusammengestoßen ist.
Eine Beobachtung giebt es aber auch hier, die man, wenn auch mit Vorsicht,
als ein Verdachtsmoment nach der einen oder anderen Richtung hin verwenden
kann. Es ist wiederum die Entstehung und weite Verbreitung der Adelsburgen,
die, wie wir wissen, durchaus ein Merkmal der späteren Eroberung der Alpen
durch das Deutschtum gewesen ist; und wenn wir nun sehen, wie dieser Vor-
gang in Friaul besonders deutlich hervortritt, während gerade nicht allzuweit von
hier entfernt, in dem Gebiet der Cimbrischen Kommunen, die Adelsburgen fast
ganz fehlen, dort, wo noch dazu eine über das Mittelalter hinaufreichende deutsche
Besiedelung am allerwahrscheinlichsten ist, so kann diese Gegenüberstellung gewiß
dazu dienen, jene Verschiedenheit besonders zu unterstreichen.
Dieser Umstand würde dann aber auch bei den Silviern, bei den Deutschen
im Oberwallis, ja bei den Schweizern der Urkantone, nicht außer acht zu lassen
sein, und er tritt daher zu den vielen anderen Gründen für die Annahme hinzu,
nach der neuerdings die Silvier so gut wie die Deutschen des Oberwallis und
alle anderen, die heute in der Schweiz südlich des Thuner- und Brienzersees
und vom Galenstock bis zum Tödi hin wohnen, in der Hauptsache als der Rest
einer großen germanischen (und zwar ostgotischen) Siedelung aus der Völker-
wanderung angesprochen worden sind, die sich nach und nach von Oberitalien
aus nordwärts in die Zentralalpen hineingeschoben hat')- Für uns ist diese An-
nahme aber deshalb so wichtig, weil sie sich sozusagen als das Ei des Kolumbus
für die Erklärung einer der rätselhaftesten Erscheinungen der alpinen Bevölke-
rung, der in der Diaspora befindlichen Walliser präsentiert. Da nun einmal bei
einigen der heutigen Walsertäler eine Einwanderung echter, aus dem Wallis ge-
kommener Deutscher zweifellos feststeht-), so schlägt diese Tatsache doch der
weitverbreiteten Annahme geradezu in das Gesicht, daß eben dasselbe Oberwallis
vorher von Norden und über die Furka hinüber von den Deutschen besiedelt
worden sei; denn wie soll es möglich sein, daß die im zwölften Jahrhundert in
das Wallis von Norden, von den Waldstätten her eingewanderten Deutschen
sich noch in demselben oder im nächsten Jahrhundert schon wieder als freie
Walser Leute nach Osten hin auf die Reise gemacht hätten 3). Auch bei der
frühesten Geschichte des Gotthardweges werden wir es nochmals mit jener Frage
zu tun bekommen, aus welcher Richtung eigentlich die Strömung trieb, die dort
während des Mittelalters in der Bewegung der Bevölkerung wahrzunehmen ist.
I) Vgl. Z. A. 1903. S. 59, 63, 68, 76. 2) z. A. 1903. S. 62, 69. 3) Z. A. 1903. S. 73, vgl. dagegen
Schu. S. 217, 171.
120 VII. Kapitel.
Der deutsche Besondere Bedeutung gewinnt die Tatsache, daß das Deutschtum früher
^''^ Al^pen Im ^^^^ '"^ Süden der Alpen so zahlreich verbreitet war, aber dadurch, weil sie in
Mittelalter; das ganze Kulturleben, wie es in den Alpenländern vom Gr. S. Bernhard bis
deutsche ^um Triglav im Mittelalter geherrscht haben muß, erst die richtige Schattierung
Ortsnamen, hineinträgt. Während heute dieser mittelste Hauptteil der Alpen in seiner nörd-
lichen größeren Hälfte durchaus dem deutschen, in seiner kleineren südlichen
ebenso unbestritten dem italienischen Kulturkreis angehört, muß es dagegen einst
eine Zeit gegeben haben, während der jenes ganze Gebiet in seiner oberen und
maßgebenden Schicht überall von der mittelalterlichen deutschen Kultur über-
zogen war, und in der für den von Basel oder Salzburg nach Welschland
Wandernden die ausgesprochen fremdartigen Eindrücke nicht wie heute bereits
in Bellinzona oder Verona sondern erst südlicher in Mailand oder Mantua be-
gannen. Es sind damit freilich Zustände gemeint, die damals wie heute leichter
durchzufühlen als in Worte zu fassen waren. Eine leise Vorstellung jener Zeit-
spanne aber kann der aus dem Norden stammende Reisende heute vielleicht
noch dadurch gewinnen, wenn er, aus dem Süden Italiens kommend, an dem
Nordrand der oberitalienischen Ebene angelangt ist und dort plötzlich entdeckt,
welch' anderes Gesicht hier z. B. Brescia oder Verona im Vergleich zu Florenz
oder Bologna zeigen. Dieser Eindruck beruht aber im wesentlichen auf nichts
anderem als auf jener älteren Schicht, die hier einst vorhanden und dem deutschen
Kulturleben nahe verwandt war, ein Zustand, der im dreizehnten und vierzehnten
Jahrhundert seinen Höhepunkt erreicht haben mag, als die Entnationalisierung
der Alpenromanen schon verhältnismäßig große Fortschritte gemacht hatte, das
Deutschtum im Süden der Alpen dagegen noch in leidlichen Stücken aufrecht
stand.
Eine selten lebhafte Illustration dieses Kulturzustandes liefert nun aber die
Musterung derjenigen Orte, für die früher mehr oder weniger welsche und
deutsche Namen zugleich in Gebrauch waren, während heute tatsächlich nur der
erstere als ein Lebender Recht behalten hat'). Eine gewisse Verschiedenheit
waltet jedoch auch innerhalb dieser Namen vor; denn dort, wo der aus einem
fremden Lande kommende Reiseverkehr andauernd durchzugehen pflegt, hat er
sich auch oft für seinen Hausgebrauch selbständig seine Ortsnamen gebildet,
ohne daß hier jemals eine zahlreiche Bevölkerung dieser Art ansässig gewesen
wäre. Solche Beispiele sind heute noch Mailand und Venedig und im entgegen-
gesetzen Sinne Fiora für Flüelen, Orsera für Urseren, Celurno für Glurns, So-
landri für die Sulzberger, Campo rosse für Saifnitz; und auch diese Art Namen
sind im Mittelalter viel häufiger anzutreffen, wie die heute nicht mehr gebräuch-
lichen Bezeichnungen Osten für Aosta, Luggarus für Locarno, Kam für Como,
Halden für Cortina d'Ampezzo, Masters für Mestre zeigen. Weit zahlreicher ist
dagegen doch diejenige Gattung, bei der man heute den Alldeutschen den ersten
>) Vgl. Anh. 15.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 121
Platz unter den Leidtragenden einräumen muß, wo wirklich einst der deutsche
Ortsname seinen Grund vielmehr darin hatte, daß hier auch einmal in größerer
oder geringerer Menge eine deutsche Bevölkerung ständig ihre Tage verbrachte.
Die Überraschungen aber, die eine allgemeine Demaskierung dieser heute ins-
gemein ganz italienisch klingenden Namen bereitet, sind recht verschiedener
Art; die einen entpuppen sich als alte aber recht spießbürgerliche Bekannte, so
wenn für Domo d'OssoIa nichts anderes als Duhm, für Avio Aue, für Flavon
Pflaum und für Vigo Wiegen in Gebrauch war; bei den anderen aber hallt es
doch wie „eine alte Kunde, dumpf und trüb" zu uns herüber, nicht nur, wenn
der Chronist noch im j. 10Ü2, als die Leiche Ottos IIL durch Verona getragen
wird, ganz einfach nur von Bern redet'), sondern auch bei solchen Namen wie
Bellenz (Bellinzona), Cläfen (Chiavenna), Worms (Bormio) u. a. m.; wir fühlen
dabei, wie der Reichtum der europäischen Geschichte, die Gedankenfülle einer
alten Kulturwelt die Alpen wie ein warmer Hauch überall durchflutet.
Wenn wir heute die Bevölkerungskarte Mitteleuropas betrachten, so sehen Bevöikerungs-
wir, wie das Deutschtum im Südosten wie ein viereckiger Keil in die anders- ostaipen am
sprechende benachbarte Welt hineinragt, derart, daß die Kanten dieses Keils, im Beginn des
i^ittcl alters
Süden dem Tal der Gail und der Drau folgend, nach der Steiermark hinziehen
und von hier, nach Norden im rechten Winkel abbiegend, bis zur Nordostspitze
Niederösterreichs laufen, um dann in einer geraden Linie in der Richtung auf
Regensburg zurückzustreichen. Dieses ganze von den Deutschen bewohnte Ge-
biet schließt demnach auch die Ostalpenländer mit Ausnahme ihres südlichen
Randes, der Julischen Alpen und der Karawanken, ein. Wenn so auch der östlichste
Teil der Alpen heute überwiegend von einer deutschen Bevölkerung bewohnt
wird, so ist doch die Entwickelung, die diese genommen hat, von derjenigen in
den anderen Alpenländern ganz verschieden, da hier schon seit den letzten Zeiten
des Römerreichs die geschichtlichen Ereignisse nicht nur mit einer anderen
und zumeist schärferen Wirkung aufgetreten sondern besonders auch anders-
geartete ethnologische Substanzen hinzugetreten sind, die nur bis hierher aber
nicht weiter westlich in die Alpen hineingelangen konnten.
Um den Werdegang der heutigen Bevölkerung der Ostalpenländer zu zeich-
nen, müssen wir zunächst zu dem Bilde zurückkehren, von dem wir am Anfang
dieses Kapitels ausgegangen waren. Es ist dieses die Erscheinung, daß die
gewaltigen grundlegenden Ereignisse der germanischen Bevölkerung gerade am
Ostrand der Alpen, wie es nicht anders sein konnte, besonders anhaltend und
ungestüm gewirkt und hier wirklich in der antiken Bevölkerung eine viel größere
Zerstörung hervorgerufen haben, eine Tatsache, die, wenn sie in dem langsam
schaffenden Gebirgsleben einmal eingetreten war, dort auch das Fortbestehen
') W. S. 82. A. 20.
122 VII. Kapitel.
der Keime der alten Kultur viel nachteiliger beeinflussen mußte. Aus diesem
Grunde haben wir zunächst in dem östlichen Teil der Alpen allgemein mit
einem viel schwächeren antiken Untergrund in der Bevölkerung zu rechnen, wie
dieses auch daselbst überall aus der viel geringeren Anzahl der aus der Antike
stammenden Ortsnamen hervorgeht'), und im besondern an der Stelle des alten
Virunum ganz deutlich vor Augen tritt, hier, wo heute zwar Stein auf Stein,
Fund auf Fund das Dasein der größten Römerstadt der Alpen immer wieder in
Erinnerung bringt, wo aber trotzdem, ganz anders als in Chur oder am Eisak,
die Ortsnamen und das ganze spätere Kulturleben wie durch einen tiefen Riß
von der antiken Vergangenheit getrennt sind. In diesen an Menschenleben zwar
nicht leeren aber doch ganz erschöpften weiten Raum, wie wir ihn uns um die
Wende des sechsten und siebenten Jahrhunderts vorzustellen haben, fließt nun
damals an allen Stellen, von Norden und Osten, am nachhaltigsten aber von
Südosten, vom Unterlauf der Drau her, jene ebenso von der antiken Welt wie
von den germanischen Völkern verschiedene Strömung der Slaven herein, die
heute in dem südöstlichen Teil der Ostalpen das Hausrecht besitzen, deren
nördliche Grenze hier jetzt aber doch nichts anderes als eine breite Rückzugs-
front darstellt, bis zu der jene von den Deutschen im Laufe des Mittelalters
wieder aus dem Gebirge herausgedrängt worden sind.
Das Vordringen So erscheint als das zweite Moment für die Entwicklung der heutigen
' Bevölkerung der Ostalpenländer die Feststellung, bis wie weit und mit welcher
Dichte und Nachhaltigkeit die Slaven einst hier eingedrungen sind. Tatsache
ist nun, daß sie am Anfang des siebenten Jahrhunderts nördlich an der Traun,
in der Gegend von Wels, erscheinen, daß sie dann auch im Pongau auftauchen^)
und daß sie sich zu derselben Zeit, wie wir sahen, besonders nachdrücklich im
Pustertal geltend machen, wie sie sich wenig später auch in Friaul mit den
Langobarden herumgeschlagen haben 3). Überblicken wir nun aber diese vier
Punkte hinsichtlich ihrer Lage, so zeigt schon der Vergleich, wie weit die beiden
südlichen, vor allem Lienz im Pustertal, gegenüber den beiden nördlichen nach
Westen hin vorgeschoben sind, die Seite an, wo damals dieses neue Völker-
reservoir seine größte Tiefe hatte, während in der Tatsache, daß die Slaven in
Friaul nur vorübergehend auftreten, wiederum nur die geographische Wirkung
der Alpen zum Ausdruck kommt, die diesmal jenen zwar dick und zäh aber
viel weniger gewaltsam fließenden Strom von Italien abzulenken vermochten.
Wenn nun weiterhin auch der Pongau für die Linie des slavischen Vordringens
zwischen Lienz und Wels einen Verbindungspunkt abgiebt, so ist doch auch
jenseits dieser Linie, in dem Gebiet des Gr. Glockner ein solches Vordringen
nicht von der Hand zu weisen, wie einwandfrei der Name Windisch-Matrei und
die vielen slavischen Ortsnamen im Virgental beweisen'*), nicht zu gedenken,
') Hau. S. 109; Kr. S. 40. 2) ju. S. 257, 258. 3) p. d. S. 114, 148. •») Unterforcher, G. Pr.
Eger 1890, Sonderabdruck S. 12 f.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 123
daß selbst in der Gegend des oberen Pinzgaues sagenhafte Anklänge dieser Art
existieren '). Einwärts jener geschichtlich feststehenden Linie aber künden die
slavischen Ortsnamen im Lungau, besonders um den Hochgolling herum, und
diejenigen östlich des Eisenhutes bei Fladnitz und Metnitz genugsam das Dasein
früherer slavischer Bewohner daselbst an, und wenn heute das Gailtal bis Her-
magor durchaus slavisch ist, so muß hier auch einmal das diesem gleich-
laufende und ebenso wegsame Haupttal der Drau bis Greifenburg von Slaven
besiedelt gewesen sein-).
Hier haben wir demnach jetzt ebenso wie in den Mittelalpen eine deutsche Die Zurück-
Eroberung weiter Gebiete vor uns, die aber, wenn sie auch zu demselben Resul- ostaipen durch
tat geführt hat, doch in der Hauptsache durchaus anderen Völkern als dort die Deutschen,
abgewonnen wurde und deshalb auch mit anderen Mitteln gearbeitet und innerlich
einen anderen Verlauf genommen haben muß. Wenn diese Entwickelung sich
auch in der Hauptsache gegen die Slaven gekehrt hat, so muß, in ihrem Anfange
wenigstens, auch der avarische und ungarische Widerstand in Rechnung gezogen
werden, der ungarische schon insofern, weil die Angriffskriege dieses Volkes,
deren Ziel nicht nur das Deutsche Reich nördlich der Alpen sondern ebenso
auch die südlichen Ostalpenländer und Italien waren^), erst in der Mitte des
zehnten Jahrhunderts ihr Ende erreichten. Die deutsche Kolonisation, die
gegenüber den Alpenromanen schon viel früher begonnen hatte, hat daher in
den Ostalpenländern erst viel später in ungestörte Bahnen einlenken können.
Wie dort, so zeigt sich auch hier der Adel an der führenden Stelle, und
deshalb finden wir auch heute die deutschen Ostalpen überall mit deutschen
Burgennamen überzogen; es ist aber besonders wichtig, daß diese Erscheinung
hier doch nicht ganz so scharf ausgeprägt ist, weil jenes feudale Element nicht
das einzige am Platze war, und sich hier auch noch andere soziale Kräfte an der
Arbeit beteiligten, wie sie sich auf jungfräulichem Boden und gegenüber Völkern
niederer Kultur immer einzustellen pHegen. Während in den Mittelalpen die
alte romanische Bevölkerung den neuen Herren ihre führende Stellung doch
nur um den Preis einer gewissen Assimilierung verkaufte, während dort Altes
und Neues innig zusammenwuchs, ist hier auf weiten Gebieten nicht nur der
Herr mit seinem Gefolge, sondern auch von weither und nur aus dem Norden
kommend in dichten Scharen der deutsche Bauer mit seinem schweren Pflug,
der deutsche Waldarbeiter mit seiner Axt eingezogen''). Und wie hinsichtlich
der geschlossenen städtischen Entwickelung sich die deutsche Kultur der roma-
nischen gegenüber zwar stets kraftloser, der slavischen gegenüber aber stets über-
') Schw. S. 64. Zu den angeblichen Slavenkämpfen in Tirol vgl. Hau. S. 64 u. N. A. S. 76 A.
2) Ein Unterschied deutscher und slavischer Ortsnamensgebung besteht u. a. auch darin, daß
dieselben Namen, die durch Ober und Unter näher bezeichnet werden, bei einem deutschen Ursprung
gewöhnlich nahe aneinander, bei einem slavischen dagegen oft meilenweit getrennt liegen. Dies zeigt
sich auch hier: Ober und Unterdrauburg. ^) Zu den Ungarneinfällen in den Alpen vgl. Oe. I.
S. 214, 218, II. S. 247. *) Kr. S. 143, 146.
124 VII. Kapitel.
legen gezeigt hat, so sind die zahlreichen, wenn auch kleinen Städte innerhalb der
Ostalpen fast ausschließlich ein Werk dieser Periode. Welch' gutes Mittel, der
Slavenwelt Boden abzugewinnen, aber diese geschlossenen deutschen Gemein-
wesen mit ihrer Selbsthilfe und Selbstverwaltung abgaben, läßt sich besonders
dort beobachten, wo jene deutsche Kolonisation schließlich zum Stillstand ge-
kommen ist. Noch heute stehen südlich der Karawanken, wo das Landvolk
niemals anders als slavisch war, die deutschen Bestandteile innerhalb jener
Städte aufrecht, die das Deutschtum einst als seine äußersten Posten hier vor-
geschoben hatte (Bischoflaak, Laibach, Laas, Gurkfeld, Landestrost) '), und einzig
in den Ostalpen können wir nun auch aus den Ortsnamen eine Musterkarte aller
jener deutschen Stämme zusammenstellen, die während des Mittelalters von
ihren alten Sitzen aus mit einer fast unerschöpflichen Kraft nach Osten vor-
drangen; neben den Bayern treffen wir die Schwaben so gut wie die Sachsen,
die Franken so gut wie die Thüringer und die Flamländer.
Der bayrische Aber wenn auch diese Beobachtung dazu dienen kann, die besondere Art
*'"'"■ jenes deutschen Platzgreifens, die verschiedenartige und reichlichere Zufuhr des
neuen Volkstums, wie sie in den Alpentälern nur hier stattgefunden hat, zu
beleuchten, so muß doch daran festgehalten werden, daß zu diesem ganzen
Resultat der bayrische Stamm weitaus die Hauptarbeit beigetragen hat^). Viel
mehr noch als politisch ist ethnographisch auf der Höhe des Mittelalters der
ganze Südosten Deutschlands so recht ein bayrischer Machtkomplex gewesen,
als das alte Herzogtum im Norden von den Alpenländern südlich und südöstlich
wie von einem Neuland umrahmt wurde, in das von dort aus die besten und
zukunftsreichsten Kräfte abflössen. Wenn schon innerhalb dieser Zone hieran
die ihren bayrischen Ursprung bezeugenden Ortsnamen genugsam erinnern
(Payrdorf bei Brixen, und andere viele in den Ostalpen)^), so verlohnt es sich
doch auch, die Grenzen jenes alten Gebietes an der Hand der heute noch
lebendigen oder in den Urkunden begrabenen Zeugen abzugehen. Wir kennen
bereits die Feste Payrsberg am nördlichen Rand des Nonsbergs, und wenn einst
an der großen Hauptstraße südlich Trient im Val Lagarina mit Bajovarius be-
zeichnete Ortsnamen vorkommen ''), wenn unter den Grafen von Arco nur das
bayrische Geschlecht derer von Bogen fortlebte, so bedeutet dieses doch nichts
anderes, als daß auch hier vereinzelt Grund und Boden zu finden war, auf dem
sich Bayern als Herren fühlten. Auch in Istrien lebten um das J. 1000 der
Markgraf dieses Landes Ulrich II. und seine Gemahlin Adelheid nach bayrischem
Stammrecht^), und heute noch gewahren wir im Osten der Alpen den Ort
Die ethno- Payerbach am Semmering und wie dort das (Bayrische) Gratz dem slavischen
graphische ,„,,. ,.,..■. ,
Besonderheit (Wmdischgratz) entgegenschaut.
der Nordost- Dort aber, in dem Raum zwischen den Julischen Alpen und der Adria,
ecke Italiens. ■ — — — ■
') Kr. S. 108f. 2) Vgl. Hau. S. 113; Kr. S. 146. 3) Kr. S. 136, 151, 157. ■») Ju. S. 296.
5) Kr. S. 115.
Die Völker der Alpen im Mittelalter. 125
findet sich nun auch eine Zone, die ethnographisch schon seit Jahrhunderten
fast unverändert geblieben ist und in dieser Beziehung ganz einzigartig dasteht,
weil hier die drei großen Völkergruppen Europas, die romanische, die germa-
nische und die slavische, sich unmittelbar berühren. Es ist interessant zu sehen,
wie schon der kluge Äneas Silvius diesen merkwürdigen Zustand heraus-
fühlte, als er im fünfzehnten Jahrhundert durch diese Gegenden, wohl über den
Pontebbapaß, reiste, und es ihm auffiel, daß die Leute hier sich zwar in drei
Sprachen, im Deutschen, Italienischen und Slavischen, in keiner aber ordentlich
verständlich machen konnten '). Als ein rechtes kulturelles Unikum kommt es
daher auch allein hier vor, daß für ein und denselben Ort aus allen diesen
drei Sprachen eine lebendige Bezeichnung existiert oder existiert hat; so ist
Venzone, das slavische Puschave, nichts anderes als das deutsche Puscheldorf,
und für Moggio war früher der slavische Name Mosenice und der deutsche
Mosach gebräuchlich. Nicht minder ist es auch hier eine ganz weit verbreitete
Erscheinung, daß Orte mit slavischem, italienischen und deutschen Namen im
trauten Verein nebeneinander liegen. So findet sich neben Karfreit (Caporetto)
das slavische Mlinsko; westlich Görz, ganz auf italienischem Boden, entdecken
wir ein Podgora, und das italienische Ober- und Unter-Idria liegen neben dem
deutschen Schwarzenberg und dem slavischen Godowitsch. Entlang der Pontebba-
straße aber können wir sogar vier solche verschiedene Namensklassen aufbringen,
da sich hier zu den slavischen (Saifnitz, Uggowitz), den deutschen (Leopolds-
kirchen, Wolfsbach) und den italienischen (Chiusaforte, Malborgeth) auch noch
der aus der Antike stammende Name Gemona hinzugesellt. Von welchen Gesichts-
punkten wir nun aber auch die Kultur an der Nordspitze der Adria betrachten,
immer und immer wieder treten dort die Beziehungen zu dem fernen Osten
als besonders zugkräftig hervor; denn wenn hier, wo die Verhältnisse des Hoch-
gebirges nicht mehr in Frage kommen, verschiedene geschlossene Völkerteile
unvermischt durcheinander leben, so ist dieses ein Vorkommnis, das man in
Innereuropa kaum irgendwo antreffen wird, für östliche Verhältnisse dagegen
eine nichts weniger als ungewohnte Erscheinung.
') Oe. II. S. 264.
VIII. Kapitel.
Die Deutsche Reichspolitik und die Alpenländer.
Der Anfang Der ethnologische Zustand der Alpenländer während des Mittelalters würde
Endziel der ^^^'" ^^^^ schon um deswillen besondere Beachtung verdienen, weil er zugleich
staatlichen den Schlüssel für das Endziel der politischen Entwickelung abgiebt, dem jene
"'*"^in den Länder nun lange Jahrhunderte hindurch zielgerecht zusteuern mußten. Die
Alpenländern. Grundlage der politischen Entwickelung bildet in den Mittel- und Ostalpen eben
auch nichts anderes als die Tatsache, daß jene hier mit einer tiefgehenden ethno-
graphischen Umgestaltung zusammenwuchs, ein Zustand, der damals in Mittel-
europa nur noch im Osten Deutschlands ganz in gleicher Weise zu beobachten
ist, wo vormals slavische Gebiete in deutsche Staaten verwandelt wurden, wie
ja die Ostalpen selbst den südlichen Teil dieses Komplexes ausmachen. Es ist
aber weiterhin eine im geschichtlichen Leben immer wiederkehrende Erscheinung,
daß jene körperliche und geistige Energie, wie sie zwar nicht für die Vernichtung
und Erdrosselung unterjochter Völker, wohl aber für die tiefgehenden ethno-
graphischen Umgestaltungen Vorbedingung ist, bei der siegenden Partei auch
eine gesteigerte innere Überlegenheit hervorzurufen und ein solches Maß poli-
tischer Fähigkeiten anzuhäufen pflegt, daß dieses geistige Kapital noch Jahrhunderte
lang in der Staatenbildung nachwirkt. Bis zu dem Punkte, an dem jene aus den
untersten Ursprungstiefen wirkenden Ursachen äußerlich in die Erscheinung treten,
ist es freilich auch in den Alpenländern ein weiter Weg gewesen. Aber früher
und klarer heben sich gerade hier die auf jenem vorher völlig umgeackerten
Boden entstandenen Staaten heraus, wo die Regierungsgewalt durch eine lange
vorangegangene Kulturarbeit ein sicheres Gefühl ihrer Kraft gewonnen hatte.
Zu Beginn der neuen Zeit sind es neben Kurbrandenburg und Kursachsen die
österreichischen Erblande, die Schweiz und Savoyen, denen im weiten Umkreis die
Zukunft Innereuropas gehört, eine Lagerung der politischen Kräfte, die zahlreiche
und kräftige Äste getrieben hat und deren Wurzeln in ihrer Lebensfähigkeit auch
heute noch nicht erschöpft sind. Auch zu demjenigen, was vorher über die
Die deutsche Reichspolitik und die Alpenländer. 127
geringe politische Entwickelungsfahigkeit der Aipenromanen gesagt worden ist,
kann jene Erscheinung keinen Widerspruch bilden, da eben hier jene in langer
Arbeit gewonnene Energie schließlich aus dem Gebirge in die Ebene hinunter-
stieg (Wien, Zürich und Bern, Turin).
Als bald nach dem Tode Karls des Gr. dessen Reich in verschiedene Teile Die Aipen-
zerfiel, erreichte auch jener Zustand sein Ende, nach dem die Alpenländer in dTm^Tocfe*^
ihrer Gesamtheit das Glied eines großen einheitlichen Reiches gebildet hatten, Karls d. Gr.
eine Kombination, wie sie schon einmal während der römischen Kaiserzeit Jahr-
hunderte hindurch existiert und die sich diesmal nur für Jahrzehnte wiederholt
hatte, die aber seitdem bis auf den heutigen Tag niemals wieder zur Wirklichkeit
geworden ist. Der Vertrag von Verdun (843) spaltete die Alpenländer in zwei
annähernd gleichgroße Teile auseinander, derart, daß seitdem die Westalpen und
ein Teil der Zentralalpen zum Reiche Lothars, der größere Teil der Zentral-
alpen und die Ostalpen dagegen zum Reiche Ludwigs des Deutschen gehörten.
Die durchaus wertvollere Hälfte war aber damals der Besitz Lothars, weil er
die älteste Kultur und zugleich die wichtigsten Alpenwege selbst in sich schloß;
er erstreckte sich von den Seealpen Piemonts bis in das Herz der Schweizer
Urkantone, wo die Grenze ungefähr in der Linie des Reußtales und weiter in
nordwestlicher Richtung nach Basel hinablief. Diese Grenze blieb dann aber
auch bestehen, nachdem das Reich Lothars auseinandergefallen und an dessen
Stelle die burgundischen Reiche entsanden waren, von denen besonders das
Königreich Hochburgund sich eine Zeit lang recht eigentlich zu einem alpinen
Reiche auswuchs, weil es sich fast ganz auf das Gebirge beschränkte und als
solches nur das heutige Savoyen und die westliche Schweiz umfaßte. Beide
Reiche wurden dann 933 zum arelatischen Reiche vereinigt und führten als
solches vom zehnten bis in das elfte Jahrhundert ein ganz selbständiges Dasein
unter Lebensbedingungen, die uns heute fast unverständlich erscheinen, die aber
von der Unfertigkeit der damaligen europäischen Zustände ein deutliches Zeugnis
abgeben. Dieses arelatische Reich, das große Königreich Burgund, kam im J. 1032
durch Erbfolge an das Deutsche Reich, ein großes aber innerlich taubes Ereignis,
da es nur zu einer langsamen, unaufhaltsamen Aufteilung dieser Erbschaft zwischen
Frankreich und Deutschland selbst die Veranlassung wurde. Nur der weitaus
kleinere Teil dieses Reiches, die östliche Schweizer Hochebene, Solothurn und
Bern, die Berner und Walliser Alpen, hat während des Mittelalters tatsächlich zu
Deutschland gehört, während sein Hauptteil sich an Frankreich angliederte. Dort
aber, wo jene beiden Machtsphären im Gebirge aneinanderstießen, wuchs schon
damals in Gestalt der Grafschaft Savoyen von neuem ein lebenskräftiges Herr-
schaftsgebiet heraus, das hier in kleinem Kreise die Erbschaft des alten König-
reichs Hochburgund übernahm.
Der Hauptteil der Mittelalpen und die Ostalpen dagegen, die durch den
Vertrag von Verdun den deutschen Karolingern zugefallen waren, hatten schon
128 1- Kapitel.
damals als die südlichen und südöstlichen Grenzlande des Deutschen Reiches
zu dienen, eine Bestimmung, die sie nun auch Jahrhunderte hindurch festgehalten
haben. In dem Augenblicke der Teilung freilich war jener Besitz in seinen
einzelnen Gliedern seiner Wichtigkeit nach ein ganz verschiedener, da er je
weiter nach Osten desto schwieriger zu behaupten war, und damals nur Bünden,
Tirol und Salzburg wirklich fest zum Reiche gehörten. Äußerlich galten diese
Länder nunmehr weiterhin als Teile der großen deutschen Stammesherzogtümer,
Schwabens und vor allem Bayerns, die sich nördlich von ihnen in der Ebene
ausbreiteten. Die politische Entwicklung geht dann auch hier später denselben
Weg, wie sie ihn überall gegangen ist, indem die Macht des Reichsoberhauptes
so gut wie die der alten Stammesherzöge immer mehr zurücktrat und sich an
deren Stelle zunächst eine Anzahl kleiner Machtkreise zu selbständigem Leben
erhoben, jedoch so, daß gerade in jenen Alpenländern diese letzteren besonders
früh an das Tageslicht treten, und daß unter ihnen die geistlichen Herrschaften,
die Besitzungen der Kirche, einen besonders großen Raum einnehmen. Von
niemand anders als von den deutschen Herrschern selbst ist nun aber das Empor-
kommen eben dieser geistlichen Gewalten verursacht und gefördert worden, als
die einzige Kraftäußerung, durch die das Reichsoberhaupt seinen Willen an den
wichtigen Alpenstraßen zur Geltung bringen konnte. Später, nach dem Siege
des Papstes und der deutschen Fürsten über die deutsche Kaisermacht, haben
dagegen dann auch hier nur die weltlichen Territorien das erste Wort zu sprechen
gehabt.
Die deutschen Es ist bekannt, daß die deutschen Karolinger je länger je mehr an Macht
in den'^°Aipen^ einbüßten und schließlich nur auf den Südosten Deutschlands beschränkt blieben.
So erscheinen jene letzten Erben Karls des Gr. in Deutschland zunächst kaum
in einer anderen Gestalt als in derjenigen der alten bayrischen Stammesherzöge,
wie sie auch in der Residenz derselben, in Regensburg, ihren Sitz aufgeschlagen
hatten. Aber gerade dies ist der Grund, daß man einigen Spuren ihres Wirkens
nun auch im Süden des ihnen bis zuletzt gebliebenen Gebietes begegnen kann.
Im J. 853 stiftete Ludwig der Deutsche die Fraumünsterabtei in Zürich'); um den
Wallfahrtsort Einsiedeln aber soll sich dessen Tochter Hildegard, die Äbtissin
dieses Stiftes war, verdient gemacht haben, und auch der Besitz Salzburgs im
Zillertal und zum Teil derjenige in der Steiermark und an der ungarischen
Grenze rührt bereits von Vergabungen dieser letzen Karolinger her^). Am deut-
lichsten äußert sich dieses Verhältnis jedoch an dem eigentlichen bayrischen
Alpenweg, an der Brennerstraße, und zwar in Verbindung mit einem bestimmten,
mitten im Gebirge gelegenen Straßenpunkt. Hier saßen, nachweislich seit der
Mitte des sechsten Jahrhunderts^), auf hohem Felsen die Bischöfe von Sehen,
die wir als solche auch auf den Synoden von Grado und Mariano sich einstellen
sehen'*). Schon Ludwig der Deutsche war es, der (845) diese Bischöfe von den
1)M. C. L. 17 B. S. 1110. 2) schw. S. 160; Kr. S. 48. 3) ju. S. 267. *) W. S. 62.
Die deutsche Reicbspolitik und die Alpenländer. 129
fränkischen Gaugrafen unabhängig machte, während später (901) durch den letzten
Karolinger, Ludwig das Kind, auch ein {königlicher Meierhof Prichsna an den
Bischof Zacharias von l'.;ben geschenkt wurde, eine Erwerbung, die deshalb
bedeutsam werden sollte, weil nach einem Jahrhundert (994) die Bischöfe selbst
nach diesem neuen Besitz überzusiedeln für gut befanden. Hier zeigen sich also
ganz deutlich neue Kräfte an der Arbeit. Seben, wo einst die römischen Be-
amten ihren Sitz aufgeschlagen hatten, tritt jetzt an Bedeutung zurück neben
jenem Zuwachs aus dem königlichen Pfalzgut, der nichts anderes als der Kern
des heutigen Ortes Brixen ist, und dessen Lage demnach für die damalige Zeit
besonders wichtig und günstig gewesen sein muß.
Mit raschen Schritten sehen wir nun auch die fernere Entwickelung den
beabsichtigten Gang gehen. Brixen, das als mittelalterliche Gründung somit viel
älter als Innsbruck ist, bildet jetzt für Jahrhunderte den Hauptplatz an der
BrennerstraCe, und seine Bischöfe, die zumeist den mächtigsten Geschlechtern
Bayerns entstammen, erscheinen in weitem Umkreis als die eigentlichen Herren
„dieses Landes im Gebirge" und wohnen als solche auch den bayrischen Synoden
und Hoftagen zu Regensburg bei. Hier, wo damals die Fäden von Süden her
sämtlich zusammenliefen, finden wir sie nun auch seit dem J. 1002 im Besitz
eines Hofes und eines Landgutes'), und ebenso entspricht es ganz der Lage
Brixens am Ausgangspunkt der nach Osten führenden Straße durch das Pustertal,
daß es zu derselben Zeit, wenn auch vorübergehend, bereits weit entfernt im
Quellgebiet der Save, in Villach und Veldes, Fuß gefaßt hat^).
Wenig später wie hier in Tirol wiederholt sich dann auch im benachbarten Die Regierung
Bünden ganz dieselbe Erscheinung. Es ist dies ganz ausgesprochen der Zeit- ;„ ^gn
punkt, an dem, mit den kraftvollen Sachsenkaisern beginnend, die von Deutsch- Alpenländern.
land naf^h Italien hinüber führenden Alpenstraßen für die Reichspolitik eine er-
höhte Wichtigkeit gewannen. Wenn wir nun aber finden, daß die durch Grau-
bünden führenden Straßen gerade von den sächsischen Kaisern ganz vorwiegend
für ihre Züge nach Italien benutzt worden sind, so liegt hierin zugleich auch
die Erklärung für die Schicksale dieses Landes in jener Periode und für das
erneute Emporschnellen der Chuier Bischofsgewalt, die sich damals nicht zu
ihrem Ungunsten als ein nützliches Werkzeug der deutschen Reichspolitik ge-
brauchen ließ. Es ist eine lange Reihe von Schenkungen und Vergabungen, von
Gnadenbeweisen und Bestätigungen, durch die im Verlaufe des zehnten Jahr-
hunderts die Bischöfe von Chur alles das wieder an sich brachten, was ihnen
unter Karl dem Gr. abgerungen worden war, und infolge deren diese um die
Wende des Jahrtausends, ebenso wie drüben ihre Nachbarn in Brixen, in die
Stellung von selbständigen Reichsfürsten hineinwuchsen. Der Machtbereich des
Churer Bischofs, der sich unter Karl dem Gr. immer mehr nach Chur selbst
zurückgezogen hatte, schnellt jetzt plötzlich wieder von dort nach allen Seiten hin
>) Ju. S. 305. ^Tkh. S. 58, 84.
Sc befrei, VcrkehrsBcschlchie der Alpen. 2. Band. Q
130 VIII. Kapitel.
und bis an die Grenzen des Teiles Rätiens zurück, wie er jenen in den Tagen
Dioicletians als Erbanspruch zugefallen war. Es ist daher kein Entstehen neuer,
sondern nur das Aufleben alter Verhältnisse, wenn jetzt die halbe Stadt Chur,
— die andere Hälfte verblieb zunächst noch dem Reiche — Steuern und Zölle
daselbst und das Münzrecht in den bischöflichen Besitz übergeht. Auch in den
Königshof in Chur d. h. in das alte Römerkastell, in dem seit 806 der rätische
Graf residiert hatte, halten jetzt die Bischöfe wieder ihren Einzug, und das
Schicksal der Alleinherrscher des Abendlandes spiegelt sich in unendlicher
Verkleinerung wieder, wenn von dem ganzen umfangreichen, zu jenem Platze
gehörigen Grundbesitz mit seinen großen Einnahmen, die nach römischem und
germanischem Recht ursprünglich dem Reichsoberhaupt zu freier Verfügung
standen, schließlich nur die Falkenjagd als ausschließliche königliche Berech-
tigung übrig blieb ').
Aber auch ringsherum erstreckt sich jener Machtzuwachs, und wenn hier
ein Dorf und dort ein Hof als Schenkung genannt wird, so fallen jene Punkte
auch mit allem und jedem, „mit der Kirche und ihren Zehnten, mit EinFängen,
Gebäuden, Hörigen, Äckern, Wiesen, Weinbergen, Wäldern, Weiden, Alpen,
Inseln, Mühlen und der Fischerei" dem Bischof zu^). Solche Flecken liegen
aber ebenso im Norden im Vorarlbergischen (Bludenz, Menzingen)^) und am
Walensee, wo der Bischof die Fischerei und das Recht erhält, neben den vier
königlichen Schiffen selbst zollfrei noch ein fünftes zu laden, wie im Unter-
engadin (Sins) und im Vintschgau, und besonders auch im Süden der Churer
Machtsphäre. Hier ist der Übergang des Bergeil, das im J. 960 von der Graf-
schaft Chiavenna und damit von dem Bistum Como abgetrennt und dem Bischof
von Chur als selbständige Grafschaft eingeräumt wurde, in mehr als einer
Hinsicht bemerkenswert. Einmal dafür, wie stark damals die politische Anzie-
hungskraft des Nordens war, insbesondere aber, weil mit dem Tal Bergeil selbst
auch ein „von reisenden Kauflleuten" erhobener Zoll abgetreten wurde, eine
Tatsache, aus der also hervorgeht, daß damals die nach dorthin auslaufenden
Straßen auch von dem Handel eifrig benutzt worden sein müssen. Auch darin,
daß sich Chur dann noch zweimal (988 und 1005) ausdrücklich die Herrschaft
über diese Grafschaft bestätigen ließ, kommt nichts anderes als der hohe Wert
dieses Besitzes zum Ausdruck '*).
In die Jahre zwischen 951 und 960 fallen jene Schenkungen, durch die
Otto der Gr. dem Bistum Chur so durchsichtig und absichtlich zu Macht und
Einfluß zu verhelfen suchte, und der Bischof Hartbert, der den Kaiser im J. 961
auf seinem Krönungszug nach Italien begleitete und dessen Unterschrift man
daher auch auf den damals in Rom ausgestellten Reichsurkunden finden kann,
ist es gewesen, der diese günstige Konstellation so gut auszunutzen verstand.
Ein hübsches Beispiel für die Art, wie damals die Staatskunst die wirklichen
') P). S. 422. 2) PI. s. 410. 3) PI. S. 403 f. 4) pi. s. 417, 425f.
Die deutsche Reichspolitik und die Alpenländer. 131
Gründe für eine politische Maßregel vor dem laienhaften Verständnis zu ver-
schleiern pflegte, ist es aber, wenn als Veranlassung für jene außerordentlichen
Zuwendungen an Chur die Krone die Einbuße anführt, die das Bistum durch die
Raubzüge der Sarazenen erlitten und die der Kaiser auf seiner Rückreise selbst
mit eigenem Auge wahrgenommen habe.
Auch andere geistliche Gewalten in den Alpen sehen wir in jener Periode
In besonderer Beziehung zum Reichsoberhaupt stehen und sich mit dessen Hilfe
zu selbständigen Herrschaftsgebieten auswachsen. So erscheint das Kloster
Pfäfers, dessen Besitzungen ebenso wie diejenigen von Chur über ganz Rätien
hin verbreitet lagen, schon unter den letzten karolingischen Königen als reichs-
unmittelbar'), wie derselbe Zustand sich im elften Jahrhundert dann auch bei
Disentis ganz deutlich erkennen läßt. In der Lokalgeschichte von Einsiedeln,
Tegernsee und Innichen begegnet uns dagegen wiederum der Name Ottos I. als
desjenigen, dem jene Stiftungen ihre Machtstellung verdankt haben sollen, während
die Wichtigkeit der durch Bünden führenden Alpenstraßen für die sächsischen
Kaiser sich insbesondere darin zeigt, daß damals dort, im Oberrheintal und
Schamser Tal, eine ganze Anzahl neuer Burgen entstanden sind. Auch die
Römerzüge selbst haben in das persönliche Schicksal Ottos I. tief eingegriffen.
Adelheid, die Witwe Lothars von Niederburgund, war es, mit deren Hand da-
mals zugleich der Besitz Italiens verknüpft schien, die der Gegenkönig Ottos,
Berengar von Ivrea, gegen ihren Willen für seinen Sohn zur Gattin begehrte
und in der Burg Garda am Gardasee in strenger Haft hielt. Ein Priester be-
freite sie dann aus jenem Gefängnis, worauf sie nach einer abenteuerlichen
Flucht schließlich in Canossa eine sichere Zuflucht fand, von hier aus den Schutz
Ottos anrief und ihm ihre Hand mit dem Besitz von Italien antrug. Alle jene
Ereignisse verlieren aber durch ihre romantische Färbung, die schon auf die
Zeitgenossen ihren Zauber ausübte, nichts von ihrer geschichtlichen Tragweite;
denn sie wurden die Veranlassung zu dem ersten Römerzug Ottos im J. 951,
der in Pavia zunächst zur Vermählung Ottos mit Adelheid und schließlich zur
erneuten Unterwerfung Italiens unter die deutsche Krone führte, eine Aufgabe,
in der die deutschen Herrscher nun drei Jahrhunderte hindurch das erste und
das letzte Ziel ihrer Regententätigkeit erblickt haben.
Wichtig ist die Regierungszeit Ottos I. für die Alpenländer auch deshalb,
weil dieser das ganze Land am östlichen Südfuß des Gebirges, von Trient bis
Istrien, zu zwei deutschen Markgrafschaften, Verona und Aquileja, einrichtete
und diese dem Herzog Heinrich von Bayern unterstellte, und niemals, weder
früher oder später, hat sich daher die politische Anziehungskraft des deutschen
Reiches so weit nach Süden über die Alpen hinüber erstreckt. Auch noch nach
einer anderen Seite ist das Wirken jenes Kaisers für die Alpenländer epoche-
machend geworden, nach Osten, insofern dieser zum letzten Mal und entscheidend
') PI. S. 389f.
9»
132 VIII. Kapitel.
den letzten Angriff der Ungarn zurückschlug, den letzten Wellenschlag der
Völkerwanderungen, der jetzt wirkungslos an der abendländischen Kultur zurück-
prallte. Auch auf jenem beschränkten Gebiet, wie es die Geschichte der Alpen-
länder innerhalb der großen Geschichte des Mittelalters ist, sehen wir somit
Otto den Gr., der neben dem Großen Karl unter den deutschen Herrschern allein
noch jenen gewaltigen Beinamen führt, sich wirklich in den Bahnen dieses seiner
Vorgänger bewegen. Es hat eine eigene Bewandnis mit diesen Beinamen, dem
Besten, was die Menschheit den Toten zu geben vermag; denn in früherer
oder späterer Zeit hat die Geschichte, diesmal auch als ehrliche und gerechte
Instanz, über deren .Berechtigung gewacht, und so über sie niemals die Mitwelt,
sondern stets die Nachwelt das entscheidende Wort gesprochen. Es war aber
durchaus kein geistig hochstehendes und aufgeklärtes Zeitalter, dieses zehnte
Jahrhundert, das Otto I. schon zu seinen Lebzeiten mit einem solchen Beinamen
beehrte, und wenn jenem trotzdem die Geschichte Recht gegeben hat, so liegt
hierin zugleich ein Hinweis, daß auch derjenigen Geschichtsschreibung, die
nicht eigentlich von Gelehrten gemacht wird, ein sicheres Gefühl für die Wahr-
heit, ein dunkler aber tiefer und mächtiger Drang nach der Erkenntnis des
Kernes der Dinge innewohnen kann.
Heinrich II. Auch bei dem nächsten deutschen Könige, der nun zu nennen ist, läßt es
Konrad II. ^'"^^ beobachten, daß er sich auf unserem besonderen Schauplatz ganz in dem-
selben Lichte zeigt, wie ihn auch sonst die Geschichte kennt. Es ist dieses
Heinrich II., der den Namen des Heiligen erhalten hat, nicht deshalb, weil
sein Charakter hierzu besondere Veranlassung gegeben hätte, sondern als Herr-
scher mit viel besserem Rechte, weil er es vorzüglich verstand, die segensreichen
und kulturfördernden Kräfte der Kirche auf das praktische Gebiet zu lenken
und dem Wohle seines Reiches dienstbar zu machen. Es paßt daher auch ganz
zu dem Wirken dieses geistig so hochstehenden Mannes, der als Organisator
in der langen Reihe der deutschen Könige des Mittelalters nur in Karl dem Gr.
und Friedrich II. seines Gleichen hat, wenn wir seinem Namen nun in Ver-
bindung mit der Kirche überall in den Alpen begegnen, in Basel, wo er den
ersten Bau des Münsters errichten ließ (1010 — 19), in Einsiedeln, wo heute noch
am Aufgang der Kirche neben demjenigen Ottos I. sein Standbild als Beschützer
des Klosters steht, in Disentis, das er an Brixen schenkte '), im Unterinntal, wo
er an einer einsamen Stelle der Landstraße dem h. Leonhard eine Kirche er-
baute^), in Salzburg, wo er das Kloster auf dem Nonnberg gründete, und weiter
östlich in Kremsmünster, wo er die Tätigkeit Karls des Gr. fortsetzte.
Und wie wir jenem sehr oft in Regensburg begegnen konnten und er von
dort aus in das Schicksal der Ostalpen eingriff, so ist ein Gleiches auch bei
Heinrich IL zu beobachten. Die innere Politik dieses Herrschers — man kann
') PI. S. 430. -) Haush. S. 84. Dagegen ist es kaum gestattet, den Namen des in der Nähe liegenden
Ortes Kundl von Kunigunde, der Gemahlin Heinrichs, abzuleiten. Vgl. F. 1906. S. 123.
Die deutsche Reicbspolitik und die Alpenländer. 133
hier wirklich fast dieses Wort gebrauchen — zeigt sich nun aber nach dieser
Seite hin in einer besonders weittragenden und charaltteristischen Weise, weil
er dort neben den bereits bestehenden bodenständigen kirchlichen Gewalten
auch solchen Einlaß und Macht verschaffte, deren Hauptsitze weit außerhalb des
Gebirges selbst gelegen waren. Vor allem ist es das fränkische Bistum Bamberg,
die Lieblingsstiftung dieses Kaisers, die damals hier ihre hervorragende Stellung
dadurch begründete, daß ihr von Heinrich zwei diesem vorher als Erbem des
bayrischen Herzogtums gehörige, in Kärnten gelegene Grafschaften, die Villacher
und Wolfsberger, überlassen wurden (1007), Besitzungen, zu denen dann bald
auch solche am Rottenmann und Salinen zu Hall bei Admont hinzutraten ').
Auch der Besitz' Freisings, das selbst noch 955 von den Ungarn zerstört worden
war, greift jetzt weit in die Ostalpen hinüber; diesem fielen 1007 die bei Katsch,
Oberwölz und Lind gelegenen Kammergüter und später auch Besitz in Unterkrain
zu, alles Erwerbungen, deren Bedeutung dadurch in das rechte Licht tritt, wenn
man bemerkt, daß sie nicht allein wie die Salinen bei Hall an sich selbst, sondern
wie Villach, Oberwölz und das Pfalzgut am Rottenmann auch durch ihre Lage
an zukunftsreichen Straßenpunkten wertvoll waren. Auf jene Maßregeln Heinrichs
ist es daher auch zurückzuführen, daß die geistlichen Territorien gerade in den
Ostalpen eine viel größere Lebensfähigkeit als sonst im Gebirge entwickeln
konnten, ein Zustand, der sich in seinen Trümmern selbst noch zu Beginn des
neunzehnten Jahrhunderts erkennen ließ, als hier die Flußgebiete der Drau und
Save von einer ganzen Anzahl kleiner geistlicher Besitzungen überzogen waren,
und der daselbst in den Namen der sogenannten Bamberger Höfe noch heute
fortlebt 2).
Wenn die Sachsenkaiser bei ihren Römerzügen den durch Bünden führenden
Straßen durchaus den Vorzug gaben, so treten diese Linien in der ganzen folgenden
Zeit jedoch weit zurück hinter der Brennerstraße, die von den fränkischen Kaisern
und den Hohenstaufen weitaus am häufigsten für ihre Reisen nach und von
Italien benutzt worden ist. Schon hierdurch wird nun aber auch der enge Zu-
sammenhang verständlich, in dem während jener Zeit die an dieser Straße sitzenden
Gewalten mit dem Reichsoberhaupt standen, und insbesondere dasjenige Ereignis,
mit dem sich jene Epoche einleitet und das für Tirol nicht mit Unrecht, wie die
Freiheitskämpfe der Urkantone für die Schweiz oder die Beschränkung Heinrichs
des Löwen auf Braunschweig-Lüneburg für Hannover, als fester Ausgangspunkt
seiner Geschichte angesehen werden kann. Es ist dies jene Maßregel Kaiser
Konrads IL, des ersten Saliers, vom J. 1027, als dieser dem Bischof Ulrich II.
von Trient — man beachte den deutschen Namen — die Grafschaft Trient und
diejenige im Vintschgau, dem Bischof Hartwig von Brixen dagegen diejenige im
Eisaktal und diejenige im Unterinntal verlieh-'), wie dieser Vorgang hinsichtlich
des Überganges der Grafschaft im Vintschgau an Trient auch noch deshalb be-
') Kr. S. 72,84. 2, Carinthia 1906. S. 46. •*) W. S. 86; Ju. S. 279, 306.
134 VIII. Kapitel.
merkenswert ist, weil, wie man sieht, Chur dabei leer ausging und damals also
hier Trient diesem äußerlich den Rang abgelaufen hat'). So reichte jetzt die
weltliche Herrschaft Trients südlich von Riva am Gardasee bis nördlich nach
Bozen und nordwestlich sogar bis Pontalt im Engadin, diejenige Brixens dagegen
von Waidbruck bis Brixlegg im Unterinntal, Gebiete, die, wenn man sie zusammen-
faßt, den Kern des heutigen Tirols ausmachen. Alles dieses Land geht jetzt
definitiv den alten deutschen Stammesherzogtümern, Schwaben so gut wie Kärnten,
besonders aber Bayern verloren, um an die hier heimischen Dynasten zu fallen
und in deren Händen nun ein halbes Jahrtausend hindurch seine besonderen
Schicksale zu erleben.
Das Bistum Die enge Verbindung zwischen der Krone und den Maclithabern an der
"^Patriarchat Brennerstraße ebenso wie der Einfluß der letzteren auf die Geschichte des Reiches
Aquiieja unter selbst erreicht nun aber seinen Höhepunkt gerade in einer der folgenschwersten
■ geschichtlichen Epochen, unter Heinrich IV., dem vielleicht mehr als jedem
anderen der deutschen Herrscher des Mittelalters äußerlich und innerlich die
bewegtesten Schicksale beschieden waren. Auch der kühle Beobachter mußte
es, als vor einigen Jahren im Dome zu Speier die Reste der dort bestatteten
deutschen Könige an das Tageslicht gezogen wurden, als ein auffallendes und
ergreifendes Vorkommnis empfinden, daß man bei dieser Gelegenheit gerade die
Hand Heinrichs IV. allein noch mit einem kostbaren Bischofsring geschmückt
fand, jenem Symbol, durch das bei dessen Lebzeiten das ausschließliche Recht
des Königs auf die Ernennung und Bestätigung der Bischöfe seinen Ausdruck
fand. Der Kampf um dieses Recht mit allem, was damit zusammenhängt, hat
das Leben jenes Herrschers verschlungen, und er selbst den Anspruch auf dieses
Recht mit in das Grab genommen, aber auch heute noch in der Gegenwart bleiben
die Folgen der Tatsache bestehen, daß ebensosehr die Kirche wie die deutsche
Fürstenmacht aus jenem Kampfe als Sieger hervorgingen.
Vor allem den Bischof Altwin von Brixen, der, wie wir wissen, damals ein
mächtiger Reichsfürst war, finden wir jetzt als einen der energischsten und über-
zeugtesten Anhänger des deutschen Königtums und zugleich als Haupt der Oppo-
sition gegen Papst Gregor VII. Es ist niemals, und am allerwenigsten in jenen
Zeiten des Mittelalters so gewesen, daß der Einzelne ein ganz unabhängiges
Wesen von seiner Heimat, seiner persönlichen Umgebung und dem Milieu, in
das er gestellt war, hätte entwickeln können, und daher muß auch zu dieser
halb hochstrebenden halb aufdringlichen Rolle, in der sich jener Bischof von
Brixen damals bewegte, ein besonderer Unterton vorhanden gewesen sein. Rasch
und sicher hatte dieses Bistum in der vorangegangenen Zeit eine Stufe der Macht
nach der anderen erklommen, bis zu der höchsten, als der Bischof Poppo von
Brixen von Kaiser Heinrich III. zum römischen Papst selbst bestimmt worden
war. Dieser, der einem der ersten bayrischen Geschlechter angehörte und sich
') Vgl. Anh. 16.
Die deutsche Reichspolitik und die Alpenländer. l35
als Papst Paschalis II. nannte, starb aber bereits drei Wochen nach seiner Weihe
(1048), und unmittelbar unter seinem Nachfolger, Leo IX., setzte nun jene ge-
waltige Tätigkeit Hildebrands ein, der damals überhaupt eine ganz neue Welt-
anschauung vertrat, der im besondern aber auch, wenn er zum Siege gelangte,
den Brixener Kirchenfürsten ihre hochstrebenden Ziele für immer versperren
mußte. Es ist also wirklich der heiße Odem der menschlichen Leidenschaft, der
uns hier entgegenweht, und die tiefste Enttäuschung des menschlichen Ehrgeizes,
durch die sich jenes Verhalten des Bischofs Altwin von Brixen unter Heinrich IV.
am besten erklären läßt.
So konnte Brixen zum Sitz jener Kirchenversammlung werden, die es auf
sich nahm, Gregor VII. abzusetzen und einen neuen Papst an dessen Stelle zu
erwählen, wenn es auch richtig ist, daß bei der Wahl dieses Ortes Gründe der
Zweckmäßigkeit mitgesprochen haben werden, da jene Versammlung selbst neben
sieben deutschen vor allem aus neunzehn italienischen Bischöfen gebildet wurde,
die sich hier auf halbem Wege trafen. Es war zur Sommerszeit, zur schönen
Sommerszeit, Ende Juni 1080, als sich Heinrich mit seiner Gemahlin hier auf-
hielt, nach Otto von Freising „in Brixinora, einer Stadt Bayerns, mitten in den
Pyrenäen, nicht weit vom Trienter Tal gelegen' '), oder, wie ein anderer miß-
gelaunter oder mißwollender Zeitgenosse sagt, an einem kleinen Orte, wo die
Grenzen Deutschlands und Italiens nahe rücken, zwischen hohen Felsen, wo
ewig Hunger und Kälte herrschen und das Christentum kaum noch bekannt ist-).
Die anwesenden Kirchenfürsten selbst aber stammen aus Utrecht ebenso wie aus
Mailand, aus Ravenna wie aus Brandenburg, während es für uns besonders in
Betracht kommt, wenn wir hier unter den entschlossenen Anhängern Heinrichs
auch die Bischöfe von Bamberg, Freising und Chur sowie den Patriarch von
Aquileja wiederfinden, und wie dann auch die praktischen Folgen der treuen
Parteinahme des Bischofs von Brixen dadurch in die Erscheinung traten, daß
diesem zehn Jahre später (1091), nach dem Aussterben der alten im Pustertale
heimischen Dynasten, deren Gebiet, die Grafschaft im Pustertal, von Heinrich IV.
verliehen wurde ^).
Als die deutschen Fürsten im J. 1077 die direkt von Deutschland nach
Italien führenden Alpenstraßen gesperrt hatten, sah sich Heinrich IV. auch bei
seiner Rückreise nach Deutschland gezwungen, einen Umweg, diesmal in weitem
Bogen über die Ostalpen, zu machen. Nach seiner Abreise von Canossa befand
sich Heinrich am Palmsonntag zu Verona, zu Ostern bereits im Gebiet von
Aquileja, und hier war es, wo er in dem damaligen Patriarchen Sieghard, der
bisher durchaus auf der Seite Gregors gestanden hatte, plötzlich einen treuen
Anhänger gewann; wie man überhaupt beobachten kann, daß dieser Herrscher
überall dort, wo er selbst zugegen war, die Geister auf seine Seite zu ziehen
vermochte, und man daher die Macht, die von dessen Persönlichkeit ausging,
') O. F. S. 15. 2) Gi. III. B. S. 502, 1147. i) Ju. S. 306.
136 VIII. Kapitel.
die Liebenswürdigkeit, die er spielen lassen konnte, nicht gering einschätzen
darf. Damals verlieh Heinrich dem Patriarchen drei Markgrafschaften, Friaul,
Krain und Istrien '), während er nun selbst, von Sieghard geführt und geleitet,
den Weg nach Regensburg offen fand. Der Kaiser ist damals wohl kaum anders
als über den Pontebbapaß und dann über einen der Tauernpässe gezogen 2), und
auch Altwin von Brixen hat ihm bereits bei dieser Reise seine Dienste geleistet.
Besonders aber Sieghard entwickelte jetzt auch weiterhin eine auffallende Energie
für Heinrichs Sache^); denn sobald Heinrich Bayern betreten hatte, kehrte jener
selbst sofort nach Aquileja zurück, um dem König von dort neue Hilfskräfte zu-
zuführen, mit denen er nun auch bereits im August desselben Jahres wieder in
Regensburg anlangte. Für die aufgeregten Gemüter der damaligen Zeit aber
mußte es ein erschütterndes Schauspiel werden, als er und eine Anzahl seiner
Begleiter hier kurz nach ihrer Ankunft in Wahnsinn verfielen und eines plötz-
lichen Todes starben.
Übersicht des Es ist eben das ausgehende elfte Jahrhundert, in dem dies geschah, als in
Besiues in^den Deutschland und Italien der Höhepunkt in dem Kampf zwischen Kaisertum und
Alpenländern. Papsttum herannahte und zugleich in ganz Mitteleuropa die Macht der Kirche
durch den ersten der Kreuzzüge in gewaltigen äußeren Ereignissen zum Aus-
druck kam, eine Zeit, in der, nur einmal so ausgeprägt in der Geschichte
Europas, das religiöse Empfinden alles Leben der armen Menschheit bis in seine
tiefsten Verästelungen und alle seine Äußerungen im Wachen und Schlafen
durchdrungen hatte. Zu dieser ganzen Atmosphäre liefert es nun aber auch
eine passende Illustration, daß zu derselben Zeit auch in den Alpenländern die
Macht der Kirche ihren Höhepunkt erreicht hat, nicht nur in kultureller
Beziehung, sondern auch in der Weiterentwickelung derselben, in der Aus-
dehnung der geistlichen Herrschaften, in dem Umfang des politischen Einflusses
und des materiellen Besitzes, und daß die weltlichen Dynasten jetzt tatsächlich
durchaus in die zweite und dritte Linie zurückgedrängt sind. Es ist gewiß
richtig, daß dieser Zustand von den deutschen Herrschern mächtig gefördert
worden ist; möglich geworden ist er aber doch nur deshalb, weil auch damals
noch in den Alpenländern jene Kräfte nachwirkten, mit denen die Kirche hier
vorher den ersten Anstoß zu einem ganz neuen Kulturleben gegeben hatte.
Wenn wir es nunmehr zusammenfassen, zu welcher Ausdehnung und zu
welch' großer Selbständigkeit damals der kirchliche Besitz in den Alpenländern
gelangt war, so Fällt dabei sofort der Unterschied zwischen den Westalpen und
dem übrigen Alpengebiet in die Augen. In dem kleineren westlichen Flügel der
Alpen, den man jetzt zunächst mit Recht als den burgundischen bezeichnen
kann, tritt jene Entwickelung überall viel weniger hervor; hier haben die bur-
gundischen Könige, lediglich deshalb, weil sie auf einen kleinen Kreis beschränkt
waren, und dann deren Rechtsnachfolger, die im Schatten des Montblanc sitzenden
') Gi. III. B. S. 442. 2) w. P. S. 22. 3) Gi. III. B. S. 443, 449.
Die deutsche Reiehspolitik und die Alpenländer. 137
Grafen von Savoycn, so gut wie die Markgrafen von Susa und Ivrea, die poli-
tische Macht selbst nicht aus der Hand gelassen, wie dies auch an der wich-
tigsten Alpenstraße in jenem Gebiete, am Gr. S. Bernhard, mit aller Deutlichkeit
zu erkennen ist. So günstig Lausanne auch für den Verkehr des Mittelalters
gelegen und so fest auch die Abtei S. Maurice in die nördlichen Türangeln der
Walliser Pässe eingelassen war, so treten doch ebensosehr die Bischöfe jener
Stadt wie die Äbte dieses Platzes zurück hinter der sicheren Stellung, die das
Haus Savoyen im Chablais besaß und der Vogtei, die es über S. Maurice selbst
ausübte')- Die einzigen Kirchenfürsten, die hier wirklich eine politische Macht-
stellung besessen haben, sind die Bischöfe von Sitten gewesen, denen Rudolf III.
von Burgund im J. 999 die Grafschaft im Wallis verliehen hatte, und deren
Gebiet auch anfangs bis dicht an die Linie des Gr. S. Bernhard heranreichte.
La Batiaz oberhalb Martigny, ein Punkt, wie er auch in den Alpen beherrschender
kaum gedacht werden kann, ist dort von jenen Bischöfen erbaut worden. Aber
gerade an dieser begehrenswerten Seite bekamen sie die Konkurrenz von Sa-
voyen bald derart zu fühlen, daß sie seit dem dreizehnten Jahrhundert nur auf
das eigentliche Wallis beschränkt blieben. Auf diesem Boden vermochte dann
aber das Bistum Sitten den von Westen kommenden Ansprüchen um so erfolg-
reicher entgegenzutreten, indem es die Kräfte des Widerstandes von der ent-
gegengesetzten Seite holte, und die sieben Zehnten d. h. die deutschen Gemeinden
im Haupttal des Oberwallis sind es gewesen, die im Mittelalter den festen Rück-
halt für die Machtstellung der Bischöfe in Sitten abgegeben haben.
Je weiter wir aber nach Osten gehen, um so umfangreicher und fester
begründet zeigt sich nun überall im Bereich der Alpenländer der politische Ein-
fluß der Kirche. Wie Brixen, so verdankt auch das Bistum Basel seine Bedeutung
nur den deutschen Herrschern, und diese Stadt selbst wieder ihre Neugründung
und Befestigung nur ihren Bischöfen. In deren östlicher Nachbarschaft ist es
dann besonders die Fraumünsterabtei zu Zürich, deren Besitz sich weit und
breit ringsherum und bis hoch in die Urner Berge hinauf erstreckte, während
auch sonst alle jene Ausstrahlungspunkte der kirchlichen Kultur, die vorher hier
eingepflanzt worden waren, Engelberg, Einsiedeln und nicht zuletzt S. Gallen
ihre Machtstellung nun auch nach der politischen Seite hin ausgebaut hatten,
eine Entwickelung, die in diesem Falle freilich in geschichtlichen Ereignissen
deshalb nicht in die Erscheinung treten konnte, da auch damals noch die Zentral-
schweiz dem Weltverkehr ganz abgewendet lag.
Und wenn dann weiter ostwärts alle die bodenständigen Bistümer im Ge-
birge zu mächtigen Reichsfürstentümern emporwachsen, so erscheinen neben
diesen doch auch noch viele andere, fremde und einheimische, die gleichfalls
hier mit in die Schüssel gegriffen haben. So erstreckten sich die Güter von
Disentis bis herab zum Langensee, und noch umfangreicher finden wir solche
') Schu. S. 211.
138 VIII. Kapitel.
von Reichenau in einer ganzen Anzahl Orte am Comersee vertreten ')• Das
Bistum Augsburg hatte Besitz ebensogut am nördlichen Alpenrand, in Füssen,
wie tief in den Seitentälern des Eisak^), Bamberg in der Gegend von KitzbüheP)
und das „gar arme" Bistum Regensburg im Unterinntal, in Kufstein und Ratten-
berg, und im Brixental. Diese letzteren Punkte waren eine besonders alte Er-
werbung der Regensburger Bischöfe, die diese zum Teil bereits im J. 902 an sich
gebracht hatten, und die sie auch bis in das vierzehnte Jahrhundert hinein gegen-
über Bayern und Sahburg glücklich festzuhalten wußten''). Aber auch die alt-
bayerischen Klöster haben sich wie ein dichter Schwärm dieser Bewegung an-
geschlossen und sich, eines wie das andere, ihren Salzanteil zu Reichenhall, ihre
zinspflichtigen Höfe' und Hufen im Gebirge oder ihre Weingüter im Etschland
gesichert; der Flachsbau, der heute in Innertirol betrieben wird, rührt noch aus
jenen Zeiten her, als das Kloster Frauenchiemsee dort Besitzungen hatte^).
Unter allen diesen verdient nun aber der Besitz Freisings eine besondere
Aufmerksamkeit. Wenn dieses Bistum unter Heinrich II. auch in den Ostalpen
seinen Anteil erhielt, so ist es doch im heutigen Tirol noch viel früher und an
so zahlreichen und wichtigen Punkten auf dem Platze wie keine andere dieser
auswärtigen kirchlichen Instanzen, derart, daß zu Zeiten selbst die einheimischen
kirchlichen Gründungen, vor allem Brixen, ihre liebe Not gehabt haben mögen,
neben diesem fremden Gast ihr Hausrecht erfolgreich zu wahren. Schon im
achten und neunten Jahrhundert finden wir den Einfluß oder den Besitz Frei-
sings bei Meran und bei Partenkirchen, im Pustertal (Innichen) und im Drautal
(S. Peter im Holz), und um die Wende des Jahrtausends noch dazu im Bozner
Talkessel und an den beiden Ufern des Eisak, in Groeden und Tiers und gegen-
über in Barbian, vertreten ß). Trotzdem hat gerade das Wirken dieses Bistums
in den Alpen nur ganz geringe Spuren hinterlassen, weil ein solch' zerteilter
und verstreuter Same viel schwerer Boden schlagen konnte, und so vermag man
auch in Freising selbst heute besonders mächtig und eindrucksvoll etwas von
dem gewaltigen Wechsel der Zeiten zu spüren, wenn man die alten unscheinbaren
kirchlichen Gebäude daselbst und das Bild der stillen Landstadt mit der Be-
deutung und dem Machtkreis in Vergleich stellt, dessen Mittelpunkt vor einem
Jahrtausend hier zu finden war.
Die Stellung Am mannigfaltigsten und umfangreichsten zeigt sich nun aber der kirchliche
"^"saUbürg^Tm Besitz in den Ostalpen, und zwar schon deshalb, weil hier das Gebirgsland
Mittelalter, selbst räumlich am ausgedehntesten ist; doch hat dieser östlichste Teil der Alpen
auch darin seine Besonderheit, weil hier eine einzige bodenständige kirchliche
Gründung von Anfang bis zu Ende und ganz aus eigener Kraft weit über alle
anderen hervorragt. Es kann diese nur Salzburg sein, dem die Natur dadurch,
wie sie das ganze Flußgebiet der Salzach südlich ihm angliederte, eine Stellung
') Schu. S. 65. 2) N. A. S. 92. 3) Schw. S. 78. *) Schw. S. 47 f., S. 85. 5) Ju. S. 303 f.
6) Ju. S. 302; Kr. S. 48; N. A. S. 57, 90; Atz. S. 221.
Die deutsche Reicbspolitik und die Alpenländer. 139
verliehen hat, die sich jedem geschichtlichen Wandel anzupassen vermag, und
auf diese ist es daher auch zurückzuführen, daß die Salzburger Geschichte stets
mit besonderem Maße gemessen werden muß, und daß so auch die Politik dieses
Hochstiftes im Mittelalter ganz selbständige Bahnen einschlagen konnte. Tat-
sächlich hat es ein ganzes Jahrtausend hindurch, seit den Zeiten der Agilolfinger,
eine wirkliche Salzburger Geschichte gegeben, die auch dann noch zu Recht
bestand, als die anderen geistlichen Gewalten in den Alpen längst den weltlichen
Machthabern Platz gemacht hatten. Aber schon die Lage Salzburgs inmitten der
Machtverhältnisse des Mittelalters, seine Rivalität zu Bayern, und nicht minder
zu dem benachbarten und stets mit der Reichsgewalt verbündeten Brixen, mußte
hier den Reiz der Gegenwirkung hervorrufen und jenem selbst die entgegen-
gesetzte Bahn vorzeichnen, die in nichts anderem bestehen konnte als in der
festen Anlehnung an die Kurie, so daß die Funktion eines Legaten des aposto-
lischen Stuhles, die damals die Salzburger Erzbischöfe innehatten, hier wirklich
in Taten umgesetzt worden ist.
Die Zeiten der alten deutschen Kaiser bis zu Friedrich Barbarossa sind
auch die Glanzzeit der Salzburger Geschichte, während der dieses immerhin
mehr abseits gelegene Bistum seinen Besitz ungestört und stückweise über die
ganzen Ostalpen und bis hart an die ungarische Ebene ausdehnte, während der
aber auch jeder derartige Machtzuwachs zugleich eine dauernde Erwerbung für
die abendländische Kultur in sich schloß. Schon im neunten Jahrhundert treffen
wir Salzburger Besitzungen an der Mur und Mürz, im Lavanttale, in Hoch-
OstePA'itz, in Marit-Saal, bei Drauhofen und selbst dicht an der ungarischen
Grenze, in Steinamanger'). Ein reicher und folgenschwerer Zuwachs fällt dann
weiter in die Mitte des elften Jahrhunderts, als eine in Kärnten und in der
Steierm?rk begüterte Gräfin Hemma dadurch den Namen einer Heiligen erwarb,
daß sie ihr gesamtes großes Erbe kirchlichen Stiftungen überließ-). Aus diesem
ist damals zunächst das Stift zu Gurk entstanden, wo 1042 Erzbischof Balduin
von Salzburg den Dom eingeweiht hat, während die benachbarte Grafschaft
Friesach, die von der alten über den Neumarkter Sattel laufenden Verkehrs-
straße durchzogen wird, aus der gleichen Erbmasse an Salzburg selbst fiel.
Andere in der Steiermark gelegene Teile dieses Erbes wurden dann später für
Erzbischof Gebhard von Salzburg die Veranlassung zur Gründung von Admont,
einer Kolonie von Mönchen aus S. Blasien im Schwarzwald, die nun im Enns-
tal und ringsherum, und selbst südlich bis nach Graz hin, eine wichtige An-
siedelungstätigkeit entwickelten-^). Überhaupt übte gerade damals in jenen Grenz-
gebieten gegen Osten, besonders in der südlichen Steiermark, Salzburg seine
Mission am kräftigsten und folgenreichsten aus; so ließ im J. 1135 Erzbischof
Konrad \. hier in Pettau, Reichenberg und Leibnitz starke Burgen zum Schutze
gegen Ungarn aufführen, von denen besonders letzteres außerordentlich oft auch
als Aufenthaltsort der Erzbischöfe genannt wird'*).
1) Kr. S. 48. -) Kr. S.71. -5) Kr. S. 7ö. ^) Oe. II. S. 2ö9.
140 VIII. Kapitel.
Jener Erzbischof Gebhard ist es nun aber auch, unter dem die eigenartige
Stellung Salzburgs innerhalb der Reichspolitik am allerdeutlichsten hervortritt, der
seine ausgreifende Tätigkeit nicht unter dem Schutze, sondern im Gegensatz zu
der Krone durchführte, er wohl auch eine jener feurigen Naturen, an denen jene
Periode so reich ist, in Energie ein Ebenbild, in Gesinnung und Streben da-
gegen ein Gegenstück zu seinem Nachbar Altwin in Brixen und so ein ent-
schiedener Gegner Heinrichs IV. '). Besonders im J. 1085 war er der Wortführer
der Gregorianischen Partei auf den Reichsversammlungen zu Berka und Quedlin-
burg2), und es hat weiterhin etwas für sich, daß auch die Burgen, die er eigens
errichten ließ, mit der Feindschaft gegen Heinrich IV. in direktem Zusammen-
hang stehen. Wir <vissen, daß es diesem gelungen war, im April 1077 von
Aquileja binnen wenigen Tagen nach Regensburg zu gelangen, eine Route, die
daher zuletzt ein Passieren des Salzburger Gebietes sehr wahrscheinlich macht.
Wenn wir nun aber sehen, daß Erzbischof Gebhard im Sommer desselben Jahres
sich nicht allein in Salzburg selbst, sondern ebenso bei Friesach wie auch bei
Werfen im Salzachtal zu gewaltigen Burgbauten entschloß, so läßt sich jene
Maßregel wirklich gerade so an, als ob sie vorgenommen wurde, um einen
Durchzug, den man vorher nicht hatte hindern können, für die Zukunft unmög-
lich zu machen 3).
Der selbständige Zug der Salzburger Geschichte berechtigt uns nun auch,
sie bereits an dieser Stelle bis in die Zeiten zu verfolgen, als die Macht der
kirchlichen Dynasten in den Alpen schon überall im entschiedenen Niedergang
begriffen ist. Genau ein Jahrhundert später, unter Friedrich Barbarossa wieder-
holte sich zunächst genau derselbe Gegensatz zwischen der Krone und dem
Salzburger Erzstift. Damals war es Erzbischof Konrad, der Oheim des Kaisers
selbst, der ebenso wie sein Vorgänger Gebhard dem von dem Kaiser eingesetzten
Papst Paschalis III. die Anerkennung versagte und treu bei dem „Kardinalpriester
Roland", Alexander III., ausharrte, ein Verhalten, das diesmal jedoch für das
Salzburger Erzstift verhängnisvoll werden sollte, weil deshalb der Erzbischof
selbst vom Kaiser geächtet und dessen Gebiet planmäßig verheert und verwüstet
wurde, wobei besonders auch fast die ganze Stadt Salzburg selbst in Flammen
aufging (5. April 1167)4),
Jene große Katastrophe, als der Kaiser und bezeichnenderweise mit be-
sonderem Eifer die dem Erzstift benachbarten weltlichen Dynasten über Salzburg
herfielen, hätte damals in noch viel stärkerem Maße auf dessen ganze Macht-
stellung nachteilig einwirken müssen, wenn dem Erzstift nicht wiederum der
Sturz Heinrichs des Löwen Luft gemacht hätte, der um ein Jahrzehnt später
eintrat und zugleich eine Schmälerung der bayrischen Herzogsgewalt im Gefolge
hatte. Immerhin ist jedoch seit jenem Zeitpunkt eine Einbuße in der alten
') Dies erkennt man besonders daran, daß ihm der Clironist von S. Blasien so großes Lob
spendet. 2) ci. III. B. S. 603 f. 3) Oe. II. S. 272, 275. i) ci. V. B. S. 501 f.
Die deutsche Reichspolitik und die Alpenländer. 141
hervorragenden Rolle nicht zu verkennen, die Salzburg bis dahin in der großen
Politik und nach Osten hin eingenommen hatte, wie diese Erscheinung im
kleinen auch dadurch illustriert wird, daß das Stift Berchtesgaden, das solange es
existierte stets die begehrlichen Blicke ebenso Salzburgs wie Bayerns auf sich
lenken mußte, gerade im J. 1189 eigene Gerichtsbarkeit erlangen konnte. Die
Entwickelung des Erzstiftes schwenkt jetzt ganz ausgesprochen in die Bahn ein,
die ihm durch die natürliche Lage Salzburgs fest vorgezeichnet war, in den
Ausbau der Territorialmacht und in die Festhaltung der geographisch von ihm
abhängigen Gegenden, die dann in ihrer Summe bis zum Ende des alten deutschen
Reiches das Gebiet dieses Staates ausmachten. Stationen auf diesem Wege sind
im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts die Erwerbung des „herrlichen Gutes
Reichenhair')» 1228 die Erwerbung von Mittersill und 1297 diejenige von
Gastein (Kastaun), sowie 1295 die Zerstörung der Salzwerke von Hallstatt durch
Erzbischof Konrad IV. von Vonstorf, weil diese mit dem zu Salzburg gehörigen
Hallein zu rivalisieren wagten.
Die gleiche Rolle, die Salzburg seit dem Beginn des Mittelalters in den Das
Patrisrchsit
nördlichen Ostalpen eingenommen hat, hätte in demselben Maße im Süden des Aquileia.
Gebirges dem Patriarchat Aquileja zufallen müssen. Während sich aber Salzburg
in dieser Bestimmung tatsächlich lange Jahrhunderte hindurch und bis an die
Pforten der neuesten Zeit auslebte, ist jenes Patriarchat, dessen Machtansprüche
hier an der südlichen Seite der Alpen ursprünglich viel älter und viel umfang-
reicher als diejenigen Salzburgs waren, bereits während der letzten Periode des
Mittelalters vollständig von der Bildfläche verschwunden und sein Name daher
heute schon längst nichts als ein historischer Begriff. Für die Veranschaulichung
der Tatsache, zu welch' gewaltigem Machtbesitz die Kirche im Anfang des
zwölften Jahrhunderts gelangt war, wirkt es aber nur um so eindrucksvoller,
wenn wir in jenen Zeiten auch Aquileja die führende Stellung in den südlichen
Ostalpen einnehmen sehen. Die ersten Rechtstitel Aquilejas nach Osten hin
treten 1001 hervor, als Otto III. dem Patriarchen Johannes, an dieser Stelle zur
Entschädigung für die „durch die Wut der Ungarn" erlittenen Einfälle, bei
Salcano und Görz Besitz verleiht^); unter dem Patriarch Poppo kommen dann
Güter am Isonzo und an der Piave und vor allem auch in Krain hinzu, während
wir den Höhepunkt dieser Entwickelung in Gestalt jener Verleihungen Heinrichs IV.
an das Patriarchat schon kennen gelernt haben (1077). Auch unter den folgenden
Patriarchen, Heinrich und Udalrich, bleibt dieser Besitzstand Aquilejas südlich
und nördlich der Julischen Alpen überall erhalten, so daß damals neben dem
heutigen Friaul besonders ein großer Teil des heutigen Krain volles Eigentum
dieses Patriarchates gewesen ist-^). Nicht minder wichtig und bezeichnend ist
es aber, daß auch diese Macht hier ihre Kulturaufgaben nicht außer acht ließ;
die Abtei Rosazzo südlich Cividale, die mit Mönchen aus S. Gallen bevölkert
') Alt. S. 7. -i Kr. S. 86. •*) Kr. S. 85.
142 VIII. Kapitel.
wurde'), Mosach in Friaul und das Chorherrenstift Eberndorf in Unterkärnten
sind Beispiele hierfür, während die Gründung eines Hospizes auf dem Loiblpaß
im J. 1239 wohl zeitlich und räumlich den weitesten Punkt bezeichnet, bis zu
dem jener Einfluß Aquilejas jemals gelangt ist.
Besonders häufig kehrt nun auch in dem Leben der Patriarchen Aquilejas
die Beobachtung wieder, daß sie den deutschen Herrschern besonders nahe
gestanden haben und an den das Reich bewegenden Ereignissen beteiligt gewesen
sind. Der durchaus deutsche Charakter des Patriarchates mag hierzu beigetragen
haben; der Hauptgrund liegt aber auch hier in der natürlichen Verwandtschaft
zwischen der Krone und den geistlichen Kirchenfürsten, auf die gerade Aquileja
bei der Verteilung der damaligen Machtverhältnisse, bei seiner Feindschaft zu
seinem alten Gegner Rom und zu seinem jungen Gegner Salzburg, und zuletzt
bei seiner Rivalität zu dem dicht neben ihm aufstrebenden Venedig, gebieterisch
hingewiesen wurde. Die Vermittlerrolle, die das Patriarchat aber eben infolge
dieser Sachlage zuweilen einnehmen konnte, tritt hervor 1037, als Erzbischof
Aribert von Mailand nach seiner Empörung gegen Konrad II. dem Patriarch
Poppo in Gewahrsam gegeben wurde ^), dann dadurch, daß der Patriarch Udal-
rich von Eppenstein 1105 in Quedlinburg Heinrich IV. mit seinem Sohn zu
versöhnen suchte^), und besonders 1160 unter Friedrich I. vor Crema, wo der
Patriarch Peregrin zwischen dem Kaiser und den Belagerten erfolgreich ver-
mittelte^). Auch an einem der schwersten Schicksalstage des alten deutschen
Reiches und ganz inmitten deutscher Tannenwälder stand der Patriarch von Aqui-
leja, Gotebold, dicht neben dem Kaiser, am 5. Oktober 1056, als Heinrich III.
auf seiner Pfalz Botfeld im Harz plötzlich vom Tode ereilt wurde 5).
Die kirch- Aber auch der Besitz der fremden kirchlichen Gewalten hat in den Ost-
licticn
Gewalten alpen eine besonders lange Dauer gehabt. Es will immer etwas bedeuten, wenn
im Innern die Stadt Bischoflaak, die tief in Krain und länderweit von Freising entfernt
■ liegt, von 994 bis 1802 in der Hand dieser Bischöfe geblieben ist. Noch viel
mehr aber hat es damals Bamberg verstanden, sich einen geschlossenen Macht-
komplex zu schaffen, und zwar an einer besonders wichtigen Linie, entlang der
über den Pontebbapaß führenden Straße. Hier ist schließlich das Herrschafts-
gebiet Bambergs von Villach aus bis zur Paßhöhe und so bis unmittelbar an die
Grenzen des Patriarchates Aquileja vorgedrungen. Auf Villach folgte hier bis
zum jenseitigen Abhang des Gebirges, bis Pontafel selbst, ein bambergischer
Ort und ein bambergisches Schloß nach dem andern ö). Auch das bayrische
Kloster Oetting hatte sich hier in der bambergischen Nachbarschaft festgesetzt;
es besaß Gebiet am Ossiacher See, ein Erwerb, der schon aus den Zeiten der
Karolinger stammte und gleichfalls aus nichts anderm als aus der Schenkung
eines königlichen Pfalzhofes (Treffen) hervorgegangen war''). Von den in zweiter
') Kr. S. 88. 2) Gi. II. B. S. 321. 3) Hildesheimer Jahrbücher. J. 1105. 4) Ra. S. 186.
5) La. S. 40. 6) W. P. S. 34 f. ') Kr. S. 48. A. 110. "
Die deutsche Reichspolitik und die Alpenländer. 143
Linie stehenden bodenständigen icirchlichen Gewalten aber finden wir hier als
ältestes das Stift zu Gurk, das sich bald zum Bistum auswuchs und dessen
Besitzungen sich nicht nur in Kärnten sondern später auch in Krain und in der
Steiermark ausbreiteten, während die Bischöfe selbst zumeist in Weitenstein resi-
dierten '). Später als dieses, erst in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahr-
hunderts sind dann hier auch noch die Bistümer Seckau und Lavant, beide auf
Veranlassung von Salzburg entstanden; den Kern von Lavant bildete die Herr-
schaft S. Andrae im Lavanttale, Seckau war dagegen besonders im Innern
der Steiermark begütert-).
Und so lassen sich auch heute noch, wenngleich in schwachen Umrissen, Die letzten
da und dort in den Alpen die geschichtlichen Wirkungen jener kirchlichen der'^Herrschaft
Politik erkennen, wie sie einst auf der Höhe des Mittelalters hier schalten und der Kirche
walten konnte. Es ist schon gesagt worden, daß das Deutschtum im Oberwallis '" ^" 'P^""
und ebenso die Latiner in Bünden von den Kirchenfürsten bewußt gestützt
worden sind, in deren Machtgebieten jene Bevölkerungsteile gelegen waren.
Auch bei Trient läßt sich Ähnliches beobachten, als dieses im späteren Mittel-
alter, um sich den Eingriffen Venedigs zu entziehen, Maßregeln traf, die dem
Fortschritt des italienischen Volkstums innerhalb seiner Grenzen nichts weniger
als Vorschub leisteten, wie auch das von Venedig in gleicher Weise bedrängte
Patriarchat Aquileja sicherlich keinen Grund gehabt hat, dem Fortbestehen der
furlaner Sprache entgegenzutreten, die nun heute noch in weitem Bogen am
Rande von Nordostitalien gesprochen wird. Auch im Innern Tirols kehren solche
Andeutungen wieder; denn es bleibt immerhin beachtenswert, daß die Reste
des Latinismus sich in der unmittelbaren Nachbarschaft von Brixen viel stärker
konserviert haben als z. B. in der Umgebung von Meran, wo die Macht des
Landesfi'rstentums sich viel früher und energischer durchsetzte. Überhaupt
zeigt das Kulturbild in der Mitte und in dem nördlichen Teil der Alpen gerade
dort, wo die Kirche am längsten ihre politische Macht behauptete, auch heute
noch einige leise Züge, die allein davon herrühren, daß die Kirche später hier,
um ihren Besitz zu sichern, bewußt den nördlichen Einflüssen entgegenarbeitete,
den südlichen dagegen ungehindert Eintritt verschaffte. So ist Villach ebensoweit
von Italien entfernt wie Bozen oder Luzern und hat trotzdem, weil es lange in
geistlichem Besitz blieb, in seiner Bauart einen durchaus südlichen Charakter,
und dieselben Kulturbeziehungen lagern auch jetzt noch über der Landschaft
von S. Gallen, Berchtesgaden und Salzburg, wenn sich die Kuppeln der dortigen
Kirchen vom Abendhimmel abheben.
Der Sieg der Hierarchie über das deutsche Königtum hat die folgenschwere Das Auf-
Entscheidung darüber gebracht, daß Deutschland ebensowohl wie Italien auf weUiTchen ^^
lange Jahrhunderte für sich allein keine selbständigen und in sich geschlossenen Gewalten.
Reiche bilden konnten; er hat aber auch dem Papsttum nichts weniger als einen
') Kr. S. 71 f., 98. 2) Kr. S. 93.
144 VIII. Kapitel.
dauernden Genuß des Sieges verschafft und diesen vielmehr nur einer dritten
Gewalt in die Hände geliefert, den jüngeren, im kleineren Kreise gebietenden
weltlichen Mächten. Jene neuen Mächte, die nunmehr hervortreten, sind aber
weder in Italien noch in Deutschland eine Fortsetzung der alten bodenständigen
Gewalten, die vordem gleichfalls den Arm des Königtums geschwächt hatten
und von der Kurie in ihrem Kampfe gegen jenes oft genug zu Hilfe gerufen
worden waren, sondern es sind ganz anders geartete, mannigfaltige Herrschafts-
gebilde, in Italien mehr republikanischen, in Deutschland mehr monarchischen
Charakters; sie sind aber sämtlich dadurch bedeutungsvoll, daC sie die Grundlagen
der künftigen geschichtlichen Entwickelung Mitteleuropas umschließen, und daß
man in ihrem Schöße zum ersten Mal wieder seit den Tagen Karls des Gr.
etwas finden kann, das sich zu einem wirklichen Staatenleben zu entwickeln
vermag. Die alten deutschen Stammesherzöge und italienischen Markgrafen, die
weitgebietenden geistlichen Fürsten im weltlichen Gewände sind durch und durch
Produkte des Mittelalters; das, was jetzt allmählig emporkeimt, Savoyen und die
Schweizer Eidgenossenschaft, die sich um das Reich und alles was damit zu-
sammenhängt überhaupt nicht kümmern, die Grafen von Tirol, die sich kuckucks-
artig in dem Nest der Fürstbischöfe von Trient und Brixen ausbreiten, die Re-
publik Venedig, die das Gebiet des Patriarchates Aquiieja aufzehrt und den
Patriarchen selbst als Oberpfarrer ihrer Hauptstadt endigen läßt, das junge
Herzogtum Osterreich, dessen Bewohner mit einem bewußten Gegensatz zu
ihrem alten Stammland Bayern erfüllt sind '), — alle diese Großen und Kleinen
bergen in sich ein zukunftsreiches Leben und ragen daher auch fast sämtlich
bis an die Schwelle der Gegenwart heran.
Es mag sein, daß ein Herrscher mit überragender Menschenkraft über ein
buntes Mosaik von Staaten geraten und der Landkarte plötzlich ein ganz anderes
Bild geben kann; die Regel bleibt aber doch, daß ein solcher Umschwung sich
in der Stille auf geistigem Gebiet vorbereitet und die alten Zustände zunächst
einer langsamen Zersetzung verfallen, und daß die Veränderungen erst dann,
nachdem sie auf diese Weise herangereift sind, durch äußere Ereignisse in die
Erscheinung treten. Und einen solchen Verlauf haben wir auch hier vor uns;
denn die Regierungszeit der Staufer bildet für die Alpenländer in ungefähren
Umrissen jene Periode, während der dort unmerklich die Vorherrschaft aller
alten Gewalten an Kraft verliert, insbesondere aber auch die politische Macht der
geistlichen Fürsten in die ihrer weltlichen Diener hinübergleitet, bis schließlich
nach den Anschauungen des Lehnswesens die Herren von den Dienern über-
wachsen worden sind, oder nach allgemeinen Begriffen das Gesetz des histo-
rischen Undanks wieder einmal Recht behalten hat. Dieser Verlauf läßt sich
aus unzähligen einzelnen Ereignissen belegen; er läßt sich aber auch schon aus
der einfachen Tatsache erkennen, daß wir in den Zeiten der Staufer, in denen
') Vict. S. 184.
Die deutsche Reichspolitik und die Alpenländer. I45
die RömerzQge nach wie vor eine geschichtliche Notwendigkeit waren, und der
Besitz der Alpenwege auch den Herrschern selbst nichts weniger als gleichgültig
sein konnte, doch von jenem Zusammengehen der Krone und der geistlichen
Gewalten so gut wie nichts mehr wahrnehmen; je länger je mehr finden sich
dagegen jetzt die Beispiele, daß die weltlichen Dynasten aus dem Bereich der
Alpen im Gefolge der deutschen Körige zu erblicken sind, und daß sich diese,
wenn sie in den Alpenländern ihren Einfluß ausüben wollen, dabei jener und
nicht der daselbst heimischen Kirchenfürsten bedienen.
Besonders in dem Leben Friedrich Barbarossas haben sich genug entschei- Friedrich
dende und aufregende Begebenheiten während seiner Züge durch die Alpen „„j j^g^^*
abgespielt, aber man kann trotzdem nur selten bei ihm Maßregeln begegnen, die Alpenländer,
dem Bestreben ähnlich sehen, irgendwelchen EinHuß auf die Alpenstraßen selbst
auszuüben. Die wichtigsten dieser Art fallen in den Bereich der bündner Pässe,
so besonders, um 1157, als Friedrich die Entscheidung traf, daß Chiavenna als
eine zu Schwaben gehörige Grafschaft anzusehen sei'), und als er im J. 1179 den
Bewohnern des oberen Bergeil für ihre tapfere Hilfsleistung im Kriege gegen
Mailand unter anderm das Recht einräumte, zu Vicosoprano einen Zoll zu er-
heben-), wobei demnach zu bemerken ist, daß durch diese Verfügungen niemand
anders als das Bistum Chur hart betroffen werden mußte. Bezeichnend ist es
außerdem, daß man jetzt in Friedrichs nächster Umgebung wohl auch noch den
Bischof Hartmann von Brixen, viel häufiger aber weltliche Große aus den Alpen,
besonders den Grafen Albert von Tirol und den Herzog Heinrich von Österreich
antrifft, und auch darin kündet sich die Veränderung der Zeiten leise an, daß
dem Bischof Hartmann zwar wegen seiner Gesinnung und Weisheit volles Lob
gespendet wird, daß die beiden anderen aber in ganz anderer Weise, als Männer
der Tat, bei der Belagerung Mailands (1158) von sich reden machen 3).
Trotzdem können wir in Friedrich Barbarossa auch von unserem Gesichts-
punkt aus ganz und gar den großen Herrscher erkennen, da die zahlreichen
Maßregeln zum guten Teil auch noch heute nachwirken, durch die er einst in
das Schicksal der östlichen Hälfte der Alpen eingegriffen hat. Die Demütigung
des Erzbistums Salzburg ist so nur ein Glied in der Kette der Maßregeln, durch
die Friedrich das Reich im Südosten zu festigen suchte, ein Ziel, bei dem er
jedoch ebensowenig auf die Hilfe der Kirche oder der alten Stammesherzöge
zurückgriff, sondern bei dem er sich jetzt allein der bisher in zweiter Linie
stehenden weltlichen Fürsten als Werkzeuge bediente. Der erste Schritt dieser
Art geschah bereits 1156, als Heinrich von Babenberg, der damals noch als
bayrischer Herzog im großen Stile über Bayern und die Markgrafschaft Öster-
reich zugleich schaltete, Bayern allein an Heinrich den Löwen abgeben mußte,
Österreich dagegen nunmehr nicht als Markgrafschaft sondern als Herzogtum
mit besonderen Vorrechten verliehen bekam. Es bedarf für uns heute keiner
') Schu. S. 86. -') Oe. II. S. 184. ^) Ra. S. 29, 64 f.
Scberrel, Verkebrsgeschlcble der Alpen. 3. Band. 10
146 VIII. Kapitel.
Erwähnung, daß diese Vorrechte damals kein Stein anstatt eines Brotes waren,
und daß hier ein staatsmännischer Blick Friedrich die Hand führte'). Die Maß-
regeln, die Friedrich später (1180) nach der Achtung Heinrichs des Löwen traf,
waren daher nur die umfangreichen Konsequenzen dieses Vorganges, die mit dem,
was von der Vormachtstellung des bayrischen Herzogtums noch übrig geblieben
war, gründlich aufräumten. Zugleich wurden von Friedrich damals aber auch die-
jenigen Dynasten zu Herzögen erhoben, die den übrigen alten Außenbesitz
Bayerns innehatten. Es waren dies einmal die Grafen von Andechs, die Herren
von Nord- und Mitteltirol, und ebenso die Grafen von Steyer, die den Traungau,
also das heutige Oberösterreich, und von dem damaligen Kärnten die sogenannte
Kärntner Mark besaßen. Letztere ist jedoch nicht das heutige Kärnten sondern
das Land, das dieses nördlich und östlich umschließt und das nach diesen seinen
alten Herren noch heute die Steiermark heißt.
So ist jetzt der weltliche Besitz dieser Gebiete ebenso bereits der Kirche
fast völlig aus den Händen gewunden, wie vor allem auch für die Herzöge von
Bayern definitiv verloren gegangen. Jene Herzöge von Bayern nach altem
Schlage hatten vorher zumeist über ein Land geherrscht, in dem die Kräfte, die
zur vollen Selbständigkeit strebten, wenig schwächer waren als diejenigen, die
es an das Reich zu fesseln vermochten, eine Rolle, wie sie in der modernen
Zeit etwa Polen zu Rußland oder Ungarn innerhalb Österreichs einnimmt. Als
die Witteisbacher im J. 1180 Bayern erhielten, war es jedoch nicht das alte weite
Gewand Tassilos, das ihnen umgetan wurde, sondern ein engeres mit beschei-
deneren Rangzeichen. Die folgenden sechs Jahrhunderte, eine Zeitspanne etwa
in derselben Länge wie jene vorher, ist daher Bayern auch nur ein Reichsstand,
ein Staat wie alle anderen deutschen Staaten gewesen. Die Zeit Napoleons L,
der, in der Geschichte Karls des Gr. sehr beschlagen, wohl bewußt die groß-
bayrische Idee wieder aufleben ließ, bedeutet dagegen den Beginn einer neuen
Epoche Bayerns; denn das Bayern von 1816 steht innerlich demjenigen vom
Jahre 1000 viel näher als demjenigen vom Jahre 1790, und die geographischen,
ja selbst die ethnographischen Möglichkeiten, die sich östlich, südöstlich und
südlich desselben ausbreiten, sind auch heute noch keine anderen wie vor
tausend Jahren. Sie sind aber doch nur wie ein Segel, das nichts ist ohne den
Wind, und in das dieser jetzt von der entgegengesetzten Seite hineinbläst.
Die weltlichen Es mag daher jetzt am Platze sein, über das ganze Alpengebiet hin die
Di^ w'estatife^n E"'stehung der weltlichen Territorien als den die kirchliche Entwickelung da-
und die selbst ablösenden Vorgang zu betrachten. In der Provence und in der Dauphinee,
Schweiz, jjjg (jgjj äußersten Westen der Alpen in sich schließen, haben die einheimischen
Fürsten, wie es die seitab gelegene Stellung ihrer Gebiete mit sich brachte, bald
eine fast völlige Unabhängigkeit erlangt. Besonders gilt dies von den Grafen
von Arles und deren Nachfolgern in der Provence, während den Dauphins,
') Alt. S. 22. Der redselige Abt, der damals überall gut hinzuhören verstand, trifft hier den
Nagel auf den Kopf.
Die deutsche Reichspolitik und die Alpenländer. 147
deren Namen in anderer Bedeutung, als der Erben Frankreichs, heute noch
fortlebt, das Leben anfangs durch die fünf im Lande befindlichen Bistümer und
durch die Nachbarschaft Savoyens nicht ganz so leicht gemacht worden ist. Beide
Gebiete sind später, die Dauphinee zuerst (1349) und dann auch die Provence
(1382) in die Hand Frankreichs hinübergeglitten, so daß die französische Krone,
obgleich das französische Volkstum damals bereits auf dem ganzen westlichen
Flügel der Alpen geschlossen von Genf bis Nizza herrschte, doch gerade an
jener entferntesten Stelle des Gebirges am frühesten Fuß gefaßt hat. An die in
dem Mittelpunkt des alten burgundischen Reiches sitzenden Grafen von Savoyen
trat dagegen das Schicksal in seiner ganzen Fülle in jenem Jahre heran, als
(um 1050) Graf Oddo von Savoyen durch Heirat in den Besitz der Markgraf-
schaft Turin gelangte. Von dieser Zeit ab treten die Grafen von Savoyen nun
auch in der großen Geschichte viel häufiger hervor, an der Seite der deutschen
Könige oder als Teilnehmer an den Kreuzzügen, wie die Veränderung, die bei
diesem Hause auch innerlich vor sich gegangen ist, sich auch darin zu erkennen
giebt, daß seine Mitglieder jetzt nicht mehr deutsche sondern welsche Vornamen
aufweisen. Als entschiedener Anhänger Friedrichs II. ist besonders Thomas L
zu nennen, aber gerade daran, daß jene gefährliche Parteinahme für Savoyen
selbst einen Machtzuwachs, Chambery, im Gefolge hatte, kann man ersehen, wie
gefestigt schon damals die Stellung dieser Dynasten auf ihrem eigenen Grund
und Boden gewesen sein muß.
Auch Helvetien, d. h. das Gebiet, das zunächst das Land zwischen dem
Jura und der Urschweiz — dieses das nördlichste Stück des alten burgundischen
Reiches — und östlich den Zürichgau umfaßte, schließt sich jetzt plötzlich zu
dem Machtbereich eines weltlichen Fürsten zusammen. Im J. 1097 wurde dieses
Land von Heinrich IV. zu einem Herzogtum gemacht und an Berthold von
Zähringen gegeben, eine Maßregel, bei der besonders ihr früher Zeitpunkt
wichtig bleibt; denn wenn damals die Zähringer als Vögte über die Fraumünster-
abtei in Zürich an des Kaisers Stelle und als Herren des Zürichgaues an die
Stelle der Herzöge von Schwaben traten, so ist damit eben bereits jene neue
Instanz in das Leben getreten, die später überall den Sieg über die deutschen
Stammesherzöge und über Krone und Kirche zugleich davontragen sollte. Man
kann ferner bemerken, wie diese Zähringer hier nun auch bald auf dasjenige
Mittel verfielen, das von den Landesfürstentümern dann so oft zur Befestigung
ihrer Herrschaft und als Gegengewicht gegen einen widerspenstigen Adel an-
gewendet worden ist, auf die Begünstigung des Städtewesens; so ist von ihnen
1178 Freiburg und 1191 Bern gegründet worden. Östlich haben dagegen noch
bis zum Ende des Mittelalters S. Gallen und der Bischof von Chur ihre Selb-
ständigkeit behauptet, aber auch hier recken und dehnen jetzt die weltlichen
Herren, nördlich die Toggenburger und Montforter Grafen, und südlich die
Herren von Vaz, viel unbequemer ihre Glieder.
10»
148 VIII. Kapitel.
Tirol. Ein Musterbeispiel für die Art und Weise des Auficommens der weltlichen
Dynasten an Stelle der geistlichen in den Alpen bildet dagegen die Entstehung
des Tiroler Landesfürstentums. Die Zustände des Lehnswesens hatten es hier
zunächst mit sich gebracht, daß die Bischöfe von Trient und Brixen ihren aus-
gedehnten Landbesitz wohl oder übel einer zweiten Hand übergeben und an
weltliche Große verleihen mußten, und zwar erscheinen als solche Lehnsträger
für Trient in der Grafschaft Trient selbst, d. h. im Etschtal von Meran bis süd-
lich Bozen, die Grafen von Eppan, und dann besonders im Vintschgau die
Grafen von Tirol, die diesen Namen von ihrem Stammsitze, der am südlichen
Eingange jener Grafschaft gelegenen Burg Tirol, führen. Kein anderes Verfahren
hatten aber auch die Bischöfe von Brixen eingeschlagen, da diese denselben
Grafen von Tirol ihren Besitz im Eisaktale, den Grafen von Andechs dagegen
denjenigen im Pustertal und im Unterinntal zu Lehen gegeben hatten. Letztere,
damals eines der reichsten Geschlechter der Welt, dessen Besitzungen sich eine
Zeit lang von der Adria bis zum sächsischen Erzgebirge hin erstreckten, wurden,
wie wir sahen, von Kaiser Friedrich Barbarossa zu Herzögen erhoben und
nannten sich nunmehr Herzöge von Meran (Meiranien und Istrien). Dieser Titel
rührt demnach von einer Herrschaft an der Adria und keineswegs von dem in
den Bergen gelegenen, wenn auch gleichfalls hochfürstlichen Meran her, wie
überhaupt, falls ein Zusammenhang dieser beiden Namen und Plätze tatsächlich
existiert hat, er doch noch nachgewiesen werden muß '). Jedenfalls sind dies
alles nichts weniger als übersichtliche Besitzverhältnisse. Aber auch aus der
Zeiten Ferne sieht sich alles reiner: sie laufen doch nur auf einen Kampf aller
gegen alle hinaus.
In jenem Ringen, in dem die weltlichen Großen gegen die Bischöfe, ebenso
aber auch selbst gegen einander drängen und drücken, zeigt sich nun besonders
das Geschlecht der Grafen von Tirol von einer ganz ungestümen Lebenskraft.
Wahrscheinlich hat diesem auch jener Adalbert, der 1106 die Gesandten Hein-
richs V. in Trient aufhob, und sicher jener Albert angehört, der 1158 vor Mailand
kämpfte. So haben diese ersten Grafen von Tirol zunächst ihren älteren und
vornehmeren Nachbarn, den Grafen von Eppan, den Rang abgelaufen, um sich
dann im Verein mit den ihnen verbündeten und verwandten Andechsern auch
erfolgreich an ihren Lehnsherren in Brixen zu versuchen. Auch hier hat sich
schließlich zu der Tapferkeit und Rücksichtslosigkeit, die damals allein die
Tüchtigkeit bedeutete, das Glück gesellt, insofern 1248 nach dem Aussterben
der im höheren Range stehenden Andechser deren im heutigen Lande Tirol
befindliche Besitzungen durch Erbschaft an jenes Grafengeschlecht kamen, so
daß also auch hier bereits in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts der Um-
schwung an seinen letzten Konsequenzen angelangt und nunmehr ein weltliches
Land Tirol aus der alten geistlichen Schale herausgewachsen ist.
') N. S. 20; Vgl. Aah. 17.
Die deutsche Reicbspolilik und die A.lpenländer. 149
Wie sehr aber dieses Resultat den ausschlaggebenden Kräften der Zeit
entsprach, läßt sich daraus erkennen, daß jener Besitz auch weiterhin zusammen-
hielt, trotz des großen Strebens, das gerade um die Wende des zwölften und
bis tief in das dreizehnte Jahrhundert hinein unter den großen Geschlechtern
der deutschen Alpen zu beobachten ist, und dem auch jene alten Tiroler Grafen
selbst, die Nachkommen Adalberts, wie sie gemeinhin genannt werden, zum
Opfer gefallen sind (1253) '). Einer einzigen Linie, den Grafen von Görz, ge-
lang es dann, obgleich sie ursprünglich nur auf die Hälfte Anspruch hatte, den
ganzen Teil des Erbes weiterzuführen. Aber auch dieser Stamm, der nunmehr
als zweite Dynastie das Landesfürstentum tiefer in den Kulturboden Tirols ein-
drückte, hat sich innerhalb eines Jahrhunderts (1258— 1363) auf jenem alle Kräfte
anspannenden Schauplatze verbraucht und starb mit Meinhard IIL, dem jungen
Sohn der Margarete Maultasch, aus. Sein hervorragendster Vertreter ist Mein-
hard II. gewesen (1258-1295), der Gemahl Elisabeths, der Witwe Konrads IV.
und Mutter Konradins, ein Mann, der die Tatkrjft seiner Vorgänger mit jener
kühlen, berechnenden Schlauheit verband, die als Reaktion gegen die Erreg-
heit und die Gedankenfülle der vorangegangenen Epoche ein Merkmal der letzten
Jahrhunderte des Mittelalters bildet. Der scharfe Blick Meinhards IL zeigt sich
vor allem darin, daß er sich in dem Kampf zwischen dem Böhmenkönig Ottokar
und Rudolf von Habsburg entschieden auf die Seite des letzteren stellte und
für diese Unterstützung dann auch 1286 Kärnten in seinem heutigen Umfange
zu seinem Besitz hinzufügen konnte.
In den Ostalpen waren schon seit den Zeiten der Ottonen die Herzöge Die Ost-
von Kärnten die ältesten Vertreter eines Landesfürstentums gewesen, die als die^SteUung
solche von den deutschen Königen in direktem Gegensatz zu Bayern in das der Baben-
Leben gerufen worden waren, und deren Ansprüche sich anfangs von den Tauern ^^^^^'
bis an den Fuß der ungarischen Ebene und bis zu den Küsten der Adria er-
streckt hatten. Aber auch hier war diese Entwickelung geschwächt und unter-
brochen worden, nicht nur durch die Maßregeln der Krone selbst, die in ihrem
Interesse gerade dieses junge Herzogtum schon wegen seiner Unfertigkeit leicht
aus einer Hand in die andere liefern konnte, sondern vor allem durch das Ein-
dringen der kirchlichen Herrschaftsgebiete, die bald jenes ganze Land, das äußer-
lich ein Besitz der Herzöge sein sollte, innerlich durch und durch mit ihren
Besitzungen durchsetzt hatte. So wechselt zunächst während des elften Jahr-
hunderts die herzogliche Würde in Kärnten zwischen den verschiedensten großen
Geschlechtern des Reiches, zwischen den Herzögen von Rheinfranken und den
Eppensteiner Grafen, den Weifen und den Zähringern, um schließlich vom
J. 1122 ab über ein Jahrhundert bei dem Hause der Sponheimer Grafen zu ver-
bleiben. Es ist jedoch zu wiederholen, daß der Schwerpunkt der Entwickelung
in jenen Zeiten ganz und gar nicht bei den Namen dieser Herzöge sondern
') Vgl. Anh. 18.
150 VIII. Kapitel.
innerhalb der einzelnen Teile jenes Gebietes gelegen hat, als die Kirche überall
jenes Neuland kolonisierte, während sich zugleich die außenstehenden Teile als
selbständige Glieder von dem alten Stamm ablösten.
Am Ende des zwölften Jahrhunderts stehen demnach auch hier plötzlich
die einzelnen Ostalpenländer, wie sie jetzt noch in den österreichischen Kron-
ländern weiterleben, in Umrissen vor uns; Salzburg allein als geistliches Fürsten-
tum, die anderen dagegen, Kärnten, Krain, Steiermark, Österreich, als fast fertige
weltliche Gebiete unter verschiedenen Herrschern, Das bei weitem Wichtigste
an dieser Erscheinung ist jedoch, daß jener Zustand, so entschieden er sich
auch nach der kulturellen Seite hin erklärt hat, doch dynastisch nur mehr den
Charakter einer Übergangszeit zeigt, und daß er bereits damals nach einem
entfernten, uns heute völlig verständlichen Ziele hindrängte. Wir haben mehr
als ein Anzeichen dafür, daß der Zusammenschluß aller dieser östlichen Länder
unter österreichischer Oberhoheit schon in jener Zeit sozusagen in der Luft
lag, und daß das kräftige und glänzende Geschlecht der österreichischen Baben-
berger Anstalten machte, in jene Mission hineinzuwachsen. Schon 1192, nach
dem Aussterben der Steyerer Grafen, ist deren großer Besitz, Oberösterreich
und die Steiermark, nicht an Bayern oder Kärnten zurückgefallen, sondern hat
östlich an Österreich Anschluß genommen, wie auch Leopold der Glorreiche
von Österreich (1198 — 1230) sich so recht in jene neue Vormachtstellung ein-
^ gelebt hat und besonders schon auf weiten Linien einen großen Teil der in
Krain gelegenen Besitzungen Freisings an sich zu bringen wußte.
Und nun zieht während dreier Jahrzehnte ein Schauspiel an uns vorüber,
als ob es geschaffen worden wäre, das Problem von Notwendigkeit und Zufall,
und so die Frage nach den letzten Gründen aller menschlicher Schicksalsfügung
und alles historischen Denkens in starren wahren Tatsachen vor uns hinzustellen.
Auch hier erscheint jene unheimliche und unberechenbare Macht, die damals
so oft und 30 übermächtig in das Schicksal der Länder eingriff; denn der Tag,
an dem das Geschlecht der Babenberger ausstarb (1246), mußte dazu dienen,
um die soeben für eine höhere Kultur gewonnenen Ostalpenländer unter die
halbbarbarische böhmische Herrschaft und in den Großbetrieb eroberter
Provinzen zurückzuwerfen. Durch das Schlachtenglück eines einzigen Tages,
als Rudolf von Habsburg auf dem Marchfeld (1278) den Böhmenkönig Ottokar
besiegte, ist dann aber auch hier jene Entwickelung wiederum in ihre alten
Bahnen zurückgelenkt worden. Die Habsburger haben deshalb aber auch, als
sie in Wien die Burg der Babenberger bezogen, sich selbst keine neuen Ziele
Einfluß des gesteckt, sondern nur die alten vorgeschriebenen mit Verständnis und Ausdauer,
^^^"^^a^uf^dle ""'^ "''^'^^ zuletzt mit mehr Glück weitergeführt.
Grenzen der Während der Jahrhunderte der Römerherrschaft sind auch die Grenzen der
"'"^i'ich^n Alpenprovinzen in der Hauptsache ganz so geblieben, wie sie die römische
Alpenländer. Regierung von Anfang an abgesteckt hatte, eine Erscheinung, wie sie nicht
Die deutsche Reichspolitik und die Alpenlinder. 151
anders auch während der letzten fünf Jahrhunderte, die bis zur Gegenwart her-
anreichen, zu beobachten ist, in denen gleichfalls die vom Mittelalter über-
nommenen Grenzen hier nur ganz geringe Veränderungen erfahren haben. Wenn
dieses daher beide Male langandauernde Zustände voraussetzt, in denen die Be-
harrung in politischer Beziehung durchaus vorgeherrscht hat, so liefert dagegen
das zwischen diesen beiden Perioden liegende, fast tausendjährige Mittelalter
hierzu das direkte Gegenteil, ein Bild, bei dem die staatcnbildenden Tendenzen
ebenso mannigfaltig wie ziellos durcheinanderwogen, und bei dem in den Alpen-
ländern niemals ein Stillstand, sondern immer nur ein ununterbrochener Wechsel
in dem Entstehen und Vergehen der politischen Machtkreise wahrzunehmen ist.
Um so mehr werden wir aber hier auf die Frage geführt, inwieweit man nun
auch damals die Wirkungen jenes unveränderlichen und zu allen Zeiten und
überall in gleicher Stärke arbeitenden geographischen Momentes wieder finden
kann, das die Natur hier hingestellt hat, und mit dessen starrer überlegener
Macht sich alle Kulturströmungen, alle geschichtlichen Zeitalter nach ihrer Weise
abfinden müssen.
Es sind dieses jedoch nichts weniger als die Paßwege, mit deren Hilfe die
menschliche Kultur seit alters her die gegenteilige Wirkung erzielt und die
geographischen Einflüsse gemildert und abgeschwächt hat, sondern die großen
Gebirgsstöcke selbst, die als mächtige Pfeiler emporragen, die von ihren Schultern
die Wegebauten abschütteln und die sich daher für den Menschenwillen nur
nach einer einzigen Richtung hin zur Verwendung herbeilassen, als Punkte, nach
denen die Grenzen der einzelnen Herrschaftsgebiete zusammenlaufen und wo
diese nun mit einer Kraft festgehalten werden können, die in ewig junger Stärke
aus der Erde selbst emporsteigt. Es ist weiterhin zu bemerken, daß das Maß
dieser Wirkung weniger von der absoluten Höhe dieser Gebirgsriesen sondern
von ihrer Massigkeit abhängt und von der Anzahl und der Ausdehnung der
Gebirgsketten, die dort zusammenstoßen. Und auch im Mittelalter zeigt sich
trotz der Vielseitigkeit und Veränderlichkeit der politischen Machtkreise der
trennende Einfluß jener Kulminationspunkte nicht weniger mächtig, ein Zustand,
dessen tiefe unveränderliche Ursachen dadurch nur um so stärker vor Augen
treten, weil den damaligen Geschlechtern noch jede nähere Kunde von dem
Wesen dieser höchsten Gegenden der Alpen fehlte').
In den Westalpen ist es jetzt zunächst der Monte Viso, in dessen Nähe
sich die Grenzen der Provence, Dauphinee und der italienischen Markgraf-
schaft Saluzzo begegnen, während bei dem höchsten Berge der Alpen, dem
Montblanc, der keine langen Gebirgskämme unmittelbar von sich aussendet und
an dessen Wänden daher auch die Straßen des Gr. und Kl. S. Bernhard hoch
hinaufzusteigen vermögen, dieses Verhältnis nicht in einer der Großartigkeit
dieses Gebirgsstockes entsprechenden Stärke vorgewaltet hat. Wenn auch hier
•) Z. A. 1902. S. 79.
152 Vlll. Kapitel.
im Altertum die Grenzen der Gallia Narbonensis und der Gallia Belgica zu-
sammenstießen, so blieb die Zone des Montblanc doch in der ersten Hälfte des
Mittelalters recht eigentlich der Mittelpunkt, die natürliche Hochburg des Bur-
gunderreiches, um später jedoch wieder als die Stelle zu erscheinen, von der
aus die einzelnen Teile dieses Reiches auseinanderfallen, südlich Savoyen, öst-
lich das Bistum Sitten und nördlich das zunächst bei dem deutschen Reiche
verbleibende burgundische Gebiet. Und wenn dann in der neuesten Zeit der
Montblanc wieder wie der Ararat als Grenzstock dreier großer Staaten, von
Frankreich, Italien und der Schweiz gewirkt hat, so ist eben die verminderte
Wichtigkeit der Bernhardpässe für den modernen Verkehr nur die Kehrseite
dieser Erscheinung. Als der bei weitem stärkste Grenzpunkt hebt sich da-
gegen in der Mitte des Gebirges der S. Gotthard heraus; hier, wo dieser
im Altertum als Adula Gallien, Rätien und Italien trennte, vervielfacht sich dann
jenes Verhältnis und in schmalen, zugespitzten Zipfeln klettern nun bis zu dieser
Zone die Sprengel der einzelnen Bistümer empor, Sitten bis an die Furka,
Lausanne bis zur Grimsel, Konstanz bis Uri, Chur bis Urseren, Mailand bis
zum Blegnotal, Como bis zum Maggiatal und Novara bis zum Gebiet der Tosa').
In weltlicher Beziehung stießen dagegen am S. Gotthard zu gleicher Zeit Bur-
gund, Italien und das alte deutsche Reich zusammen, wie sich daher auch heute
noch hier in Gestalt der Kantone Uri, Graubünden, des italienischen Tessin
und des zur französischen Zone gehörigen Wallis jene vier Bestandteile der
Schweiz begegnen, die einen verschiedenen Ursprung haben und innerlich nicht
gleichartig sind. Auch westlich in der Nähe, am Galenstock, ist die schon aus
dem Mittelalter herrührende Trennung von Uri, Bern und Wallis erhalten ge-
blieben.
Nicht weniger vielseitig arbeitet aber dieselbe Macht auch an anderen Stellen
des Gebirges und bringt so Lagerungen hervor, die heute zum Teil durch den
Zusammenschluß in größere Kreise schon längst überholt worden sind. So liefen
am Arlberg einst die Diözesen Chur und Konstanz, Brixen und Augsburg^),
in weltlicher Beziehung dagegen Bayern, Schwaben und, wie noch der Name
Landeck an dieser Stelle erzählt, Tirol zusammen. Der hohe First im Passeier
war der Markstein der Diözesen Brixen, Chur und Trient, während sich der
Ortler im Mittelalter fast dem S. Gotthard an die Seite stellen konnte. In dessen
Zone ragten anfangs die letzten Enden von Italien, Schwaben und Bayern, dann
diejenigen von Mailand, Chur, Tirol und Trient hinauf, bis es im fünfzehnten
Jahrhundert durch den Hinzutritt venezianischen Gebietes schließlich hier sogar
ihrer fünf werden sollten; der Einschmelzungsprozeß der neueren Geschichte
hat aber auch hier jene Grenzen auf drei verringert, die sich heute auf der
Dreisprachenspitze begegnen.
Überhaupt offenbart sich der staatenbildende und staatentrennende Einfluß
') Oe. I. S. 273. 2) Da. I. B. S. 152.
Die deutsche Reicbspolitik und die Alpenländer. 153
dieser Bergstöcke gerade im Mittelalter bei weitem am vielseitigsten und mannig-
faltigsten, eine Tatsache, wie sie bei der Unfertigkeit und dem starken Wechsel
der damaligei> Machtverhältnisse nicht anders eintreten konnte, die es aber doch
auch zeigt, wie dieses Zeitalter an vielen Stellen des Gebirges durchaus selb-
ständig vorgegangen ist. So sind es im Süden der Ostalpen zwar zunächst
keine anderen Gipfel als diejenigen, die bereits im Altertum die Grenzen fest-
gehalten haben, einmal die Marmolata, an der sich die Gebiete Trients, Brixens
und der Mark Verona (später venezianisches Gebiet) begegneten, und weiter der
Triglav, wo der Besitz Bambergs, Brixens und Aquilejas zusammenlief, der sich
heute hier in die Landesgrenzen von Kärnten, Krain und des österreichischen
Küstenlandes verwandelt hat. Im Norden hebt sich dagegen jetzt ebenso neu
wie dauerhaft der Großglockner heraus, der bereits seit den Tagen der Ottonen
die Länder auseinander gehalten hat, die heute Kärnten, Tirol und Salzburg
bedeuten; ähnlich wirkt auch die Dreiherrenspitze im Mittelalterzwischen Tirol,
Salzburg und den Ausläufern des bayrischen Zillertals, während heute dieselben
Länder in der Nähe der Loferer Steinberge auseinandertreten. Auch die Steier-
mark, die ebenso wie Salzburg ihre Entstehung durchaus dem Mittelalter verdankt,
hat sich an allen ihren Ecken in jene beherrschenden Gebirgsknoten eingelassen,
am Dachstein, wo sie mit Salzburg und Oberösterreich, am Tanzboden, in der
Nähe des Hochkar, wo sie mit Oberösterreich und Niederösterreich, am Königs-
stuhl, wo sie mit Kärnten und Salzburg, und an der Oistriza, dem westlichsten
Punkt der Sannthaler Alpen, wo sie mit Kärnten und Krain zusammenstößt.
IX. Kapitel.
Prosa und Poesie der mittelalterliclien Alpenwelt.
Der feudale Alle die Fälle, wo während des Mittelalters der Name eines einzelnen be-
^^Mitfötalters festigten Punktes, einer Burg, auf ein ganzes Land übergegangen ist, halten nur
in den Alpen, die Erinnerung an jene Entwickelung fest, daß die Herren jener Plätze einstmals
von dort aus weit über Berg und Tal herrschten, und daß es diesen schließlich
gelungen ist, die nähere oder weitere Umgebung solcher Punkte zu einem ge-
schlossenen Machtbesitz zusammenzufassen. Auch anderswo findet sich diese
Erscheinung (Württemberg, Brandenburg), nirgends aber so ausgeprägt wie in
den Alpenländern. So war Hohen-Rätien einst die Citadelle für ganz Rätien;
in der Karnburg, wo sich noch bis vor kurzem der steinerne Thronsessel be-
fand, auf dem die Herzöge einst die Huldigung entgegennahmen, und in Krain-
burg saßen im Mittelalter die weltlichen Herren von Kärnten bezl. von Krain;
von einer einzigen unter hundert anderen Burgen, von der Styraburg und der
Burg Tirol, gingen jene Namen auf ganze Länder über; Hohensalzburg war
nicht nur die Hochburg einer Stadt, sondern auch des ganzen Landes Salzburg,
und auch darin, daß die Schweiz heute von der in ihrem Herzen gelegenen
natürlichen Bergfestung Schwyz den Namen führt, ist kein anderer Vorgang zu
erblicken. Die Tatsache, daß jene Art der Namensgebung in den Alpen so
häufig wiederkehrt, kann nun aber besonders deutlich das Wesen offenbaren, in
dem sich dort die treibenden Kräfte des Mittelalters bewegt haben; denn sie
verrät ebensosehr in dem, was sie wegläßt, darin, daß heute in den Ländernamen
der Alpen die Namen der Völker ganz zurücktreten, den Umwandlungsprozeß,
der einst hier vor sich ging; noch viel mehr betont sie aber in dem, was sie
offen ausspricht, das eigentliche Element des mittelalterlichen Kulturlebens da-
selbst, seinen überwiegend feudalen und dynastischen Charakter; sie beweist,
daß damals immer noch in stärkerem Maße als anderwo hier recht eigentlich
der Adel die herrschende Klasse gewesen ist.
Dasselbe Bild zeigen ja auch die vielen Schlösser und Burgen, mit denen
Prosa und Poesie der mittelalterlichen Alpenwelt. 155
heute noch die Alpen weit zahlreicher als die Landschaften der Ebene bedeckt
sind; wie dieser Zustand zugleich auch die Tatsache illustriert, daß es in den
hohen Bergen den großen Gewalten während des Mittelalters viel schwieriger
gemacht war, fest durchzugreifen, und daß die kleinen Kreise, die abgeschlossenen
Talgebiete, unter der Herrschaft ihrer bodenständigen Besitzer hier viel länger
ein gesondertes, selbständiges Leben führen konnten. Ein Unterschied springt
freilich bei diesem Anblick sogleich in die Augen; es ist derjenige, daß die
Zeugen jener Entwickelung, die Burgruinen selbst, in der Mitte und im Osten
weit reichlicher vorhanden sind als in dem westlichen Flügel der Alpen. Ver-
schiedene Ursachen mögen bei dieser Erscheinung zusammengewirkt haben.
Wenn schon überhaupt im Westen der Alpen in dem Bau des Gebirges die
Zerteilung und Verästelung weniger ausgeprägt ist, so kann jener feudalen Ent-
wickelung hier an anderen Stellen ebenso auch der Charakter der Bevölkerung
selbst von Grund aus abhold gewesen sein. Durchaus deutlich läßt es sich ferner
erkennen, daß die burgundischen Könige und die Grafen von Savoyen es hier
niemals an einem scharfen Regiment fehlen gelassen haben, und daß gleich
ihnen auch die Schweizer Eidgenossenschaft von Anfang an mit feindseliger und
energischer Hand gegen die kleinen einheimischen Dynasten vorgegangen ist.
Es verlohnt sich, diese Burganlagen genauer zu betrachten, da sich in ihnen Die ver-
das Leben des Mittelalters in den Alpen in seinen Grundbedingungen und Trieb- Arten der"
federn wunderbar widerspiegelt. Der Römer Art war es nicht gewesen, das Burganlagen.
Gebirge an unzähligen Stellen mit Befestigungsanlagen zu übersäen, da damals
der starke Arm des Imperiums von vornherein jede Sonderentwickelung ausschloß.
Die wenigen befestigten Punkte der Römerzeit lagen daher nur an den wichtigsten
Straßenstellen und stets nahe der Talsohle, wo dann das Dasein einer römischen
Besatzung auch zugleich die Beherrschung der Nachbarschaft in weitem Umkreis
verbürgte (Octodurus, Brigantium, Veldidena). Anders im Mittelalter. Jetzt
nimmt derjenige, der sich den Nachbarn zum Trotz an den gleichen wichtigen
Stellen behaupten will, seinen Sitz zunächst unter allen Umständen auf der Höhe,
an sicheren, schwer zugänglichen Punkten (la Bhatiaz, Hohen-Bregenz, Ambras),
da es jetzt die Hauptsache ist, sich vor einem plötzlichen Überfall zu sichern,
während die Kampfesmittel des Mittelalters an sich weder entwickelter noch
unentwickelter sind als In der Römerzeit. Solche Burgen, von denen der Adel
wie der Raubvogel von seinem Horst aus die Umgebung beherrschte, sind an
unzähligen Stellen der Alpen zu finden, Punkte, deren unvergleichlich schöne
Aussicht das Auge entzückt, so daß sich manchmal geradezu die Frage aufdrängt,
inwieweit das ästhetische Gefühl bei der Auswahl dieser Plätze mitgesprochen
haben könnte.
Die eigenartigen Kulturverhältnisse, denen alle jene Burgen ihre Entstehung
verdanken, enthüllen sich aber doch erst vollständig dadurch, wenn man sich
die Lebensbedingungen vergegenwärtigt, durch die eine Bewohnung und Fest-
156 IX. Kapitel.
haltung solcher Punkte überhaupt möglich wurde. So liegt heute am Rande
des Mittelgebirges in der Umgebung Bozens die ausgedehnte Burgruine Hoch-
eppan, von der nicht weniger als sechsunddreißig Burgruinen zu erblicken sind,
einstmals eine gewaltige Anlage, zu der aber auch zu allen Zeiten niemals ein
weniger langer und weniger schlechter Weg als wie er heute besteht herauf-
geführt hat, und die niemals von Acker- oder Gartenland sondern stets nur von
ausgedehntem Hochwald umgeben gewesen sein kann. Von hier aus haben
Jahrhunderte hindurch die alten Eppaner Grafen das Etschtal von Nais bis Auer
und das Überetsch in Abhängigkeit gehalten; welch' scharfes Anziehen der Zügel
des feudalen Regiments, welche Arbeitsleistung und anhaltende Abhängigkeit
seitens der Beherrschten setzt es aber voraus, daß ein solcher Bau über-
haupt entstehen und dann unausgesetzt mit den Bedürfnissen des täglichen Lebens
versehen werden konnte. Derartige Festen, ebensogroße und kleinere, hat es
aber in den Alpen an gleich abgelegenen Stellen zu Hunderten gegeben; als ein
anderes, ebenso charakteristisches Beispiel, nur für einen kleineren Kreis, mag
die Ruine Hauenstein dienen, die abgeschieden tief im Tannenforst und an den
Wänden des Schiern angeklebt liegt, deren Besitz im Mittelalter aber gleichfalls
nur das Mittel bildete, um einen Teil der vor ihr ausgebreiteten Seiser Hoch-
ebene zu beherrschen.
Es lassen sich nun auch einige besondere Arten dieser Burganlagen hin-
sichtlich des Zweckes, den sie erfüllen sollten, herausheben, wenn auch durch
eine solche Unterscheidung nur eine Betrachtung nach verschiedenen Gesichts-
punkten, niemals jedoch eine reinliche Scheidung erreicht werden kann. Die
nur dem Mittelalter eigentümliche, damals auch weit verbreitete und deshalb
wichtigste Art ist eben diejenige als Sitz mehr oder weniger selbständiger
Dynasten, die „Wildbann, Fischweid, Federspiel, Holz, Wiesen und Äcker*
ringsherum besaßen, und denen so mit jener Erwerbung zugleich die Herrschaft
über eine größere oder kleinere Gebirgslandschaft zugefallen war. Solche Burgen
trifft man nun aber erklärlicherweise nirgends anders als an den Punkten, von
denen aus die Kontrolle über jenen Bereich am leichtesten auszuüben war, an
Stellen, wo nicht allein die Wege sondern Berg und Tal ringsherum vor dem
Wächter ausgebreitet lagen, während die scharfe und rücksichtslose Gewalt, die
damals von dem Herrenstand ausgeübt wurde, in der hohen Lage und Unzu-
gänglichkeit solcher Plätze durchaus kein Hindernis für ihre Zweckmäßigkeit
zu erblicken brauchte. Diese eigentlichen Herrenburgen, die von Anfang an
mit verhältnismäßig großen Mitteln entstehen konnten, und in denen, als den
Wohnstätten der herrschenden Klasse, dann auch längere Zeit hindurch aus
einem bestimmten Umkreise der Besitz zusammenfloß, zeigen daher zumeist
eine umfangreiche und solide Bauanlage, wie sie deshalb auch am häufigsten
heute noch irgendwelche greifbare Reste aufweisen, die jede in ihrer Art für
die mittelalterliche Bauweise oder die Kulturgeschichte an sich besonders wert-
V
Prosa und Poesie der mittelalterlichen Alpenwelt. 157
voll sind. Man braucht hierfür nur an das Schloß Tirol zu erinnern, dessen
Inneres heute die Räume eines mittelalterlichen herrschaftlichen Hauswesens
einschließt, dessen Besitzer aber anfangs auch nichts anderes als Standesge-
nossen der Eppaner Grafen waren. Ähnliche Entdeckungen kann man aber auch
bei den Fresken auf dem Sarner Schloß bei Bozen, in Reifenstein bei Sterzing,
und auf der Fragsburg bei Meran machen '), und die Burg Reineck oberhalb
Sarnthein, wo einst die Herren des Sarntales saßen, steht heute noch, wenn
auch ganz unbeachtet, mit ihrem altersgrauen Pallas und den zierlichen Fenster-
verkleidungen da als der echte Typus eines in lombardischem Stile aufgeführten
mittelalterlichen Adelssitzes-).
Eine zweite Art der Burganlagen bilden dann diejenigen, die an solchen
Stellen liegen, wo ein Seitental in das Haupttal einmündet, Befestigungen, die
daher ebenso das ganze oder den unteren Teil dieses Seitentales selbst, wie be-
sonders dessen Eingang von der Hauptstraße her beherrschen sollten. Diese
Talsperrungsburgen, die jedoch in selteneren Fällen selbständige Dynasten,
sondern häufiger nur wirklich abhängige Lehnsleute Mächtigerer beherbergten,
leiten so in doppelter Beziehung zu den eigentlichen Straßensperren hinüber.
Da aber andererseits das geographische Verhältnis, dem sie ihre Entstehung ver-
danken, in den Alpen überall gleich stark verbreitet ist, so ist gerade diese Art
Burgen weitaus am häufigsten im Gebirge zu finden; und weil außerdem bei
ihnen die Vorliebe des Mittelalters, überhöhende und unzugängliche Stellungen
aufzusuchen, nicht weniger ausgeprägt zur Geltung kommt und sie überdies stets
ihre stattlichste Seite der Hauptstraße zukehren, so sind sie es im besondern, die in
den Alpen an den vielen Stellen, wo die Seitentäler abgehen, jene romantische
mittelalterliche Färbung festgehalten haben, die noch heute daselbst zu uns in
so starken Tönen redet. Es genügt daher «uch, hier nur einige zu nennen,
so die Ruinen S.Jean und S. Etiez bei Sembrancher, wo das Val des Bagnes in
die Straße des Gr. S. Bernhard, Silenen, wo das Maderaner Tal in die des
S. Gotthard einmündet, Fragstein am Eingange des Prättigau vom Rheintal aus,
das hoch und unzugänglich gelegene Wiesberg, wo das Patznann von der Arl-
berglinie abgeht. Ober- und Untermontan im Vintschgau am Eingange des Martell-
tales, Kropfsberg im Unterinntal an dem des Zillertales, Karneid bei Bozen und
Kronmetz, jenes an der Einmündung des Eggentales und dieses an der des
Nonsbergs in die Brennerstraße, und Heimfels (bei Sillian) an der Einmündung
des Villgratentales in die Hauptlinie des Pustertales.
Eine dritte Art dieser Burgen sind dann die eigentlichen Straßensperren,
deren hervorragendsten und geschichtlich wirksamsten Vertretern wir in der
') Die Fragsburg, früher Tifrags (F. 1906. S. 200), die Vorburg des den Meraner Kessel süd-
östlich abschließenden Geblrgshanges, übertrifft alle anderen ihresgleichen durch den langge-
streckten Grundriß und durch ihre vornehme Bauanlage, während im Gegensatz hierzu ihre
Geschichte ganz und gar ungeklärt und unerforscht ist. ^} Vgl. N. A. S. 103.
158 IX- Kapitel.
Gestalt der Klausen schon zweimal begegnet sind. Es ist natürlich, daß wir
solche Straßensperren, große oder kleine, frühere oder spätere, langlebige oder
kurzlebige, vornehmlich nur in den Haupttälern der Alpen finden werden, dort wo
sich die Straße vorwärts und rückwärts auf weite Strecken gut übersehen ließ,
und daß ferner bei deren Anlage der Charakter der Wohnstätte am allermeisten
hinter demjenigen der eigentlichen Befestigungsanlage zurücktreten mußte, da
sie stets nur in ausgesprochen gewaltsamer Absicht errichtet worden sind ').
Und wenn eben die wichtigsten und wirksamsten dieser Straßensperren zumeist
in der Hand der großen Dynasten geblieben sind und auch ihre Wirkung auf
den Gang der geschichtlichen Ereignisse nicht verfehlt haben, so konnte es bei
der unendlichen Zersplitterung, bei dem raschen Wechsel der Machtverhältnisse
im Mittelalter doch nicht ausbleiben, daß sich oft auch kleine Herren auf eigene
Faust an dem gleichen Geschäft versuchten. Jedenfalls sind es alle diese Straßen-
sperren gewesen, die am nachhaltigsten und lästigsten in das Verkehrsleben des
Mittelalters eingegriffen, aber auch am meisten den Haß und die Gegenwehr
herausgefordert haben und so den bewegtesten Schicksalen ausgesetzt gewesen
sind. Daher sind jene Burganlagen auch heute am stärksten der Zerstörung
verfallen, derart, daß sie oft bis auf den letzten Rest verschwunden sind und
man von ihnen kaum die Stelle mehr kennt, wie das Schloß Lueg am Brenner,
oder sie kleben an den Hängen über der Straße als gebrochene, geschichts-
und sagenlose Gemäuer, neben denen manchmal vereinzelte grüne Laubbäume
inmitten des dunklen Tannenwaldes es anzeigen, daß auch dort einst eine
Menschenhand gewaltet hat.
Es ist natürlich, daß die Wasserburgen, jene Befestigungen, die durch
Wasserläufe geschützt sind, und die nur auf ebenem Grunde liegen können, in
den Alpen im allgemeinen ganz zurücktreten werden. An einer einzigen Linie
sind jedoch auch solche häufiger anzutreffen. Der Geograph wird jene aber rascher
ausfindig machen als der Geschichtsforscher ; sie kann nur dort liegen, wo die
Talebenen innerhalb des Gebirges verhältnismäßig große Ausdehnung annehmen,
also an der Brennerstraße, und hier sind daher auch eine ganze Reihe solcher
Burganlagen zu erblicken (Kufstein, Ottoburg in Innsbruck, bischöfliche Residenz
in Brixen, Maretsch und Gries bei Boxen, auch Trautson). Abseits und ganz
einzig in seiner Art erhebt sich dagegen das in den Genfersee hineingebautc
Chillon. Es ist die majestätische und feierliche Ruhe der Gebirgsgegend und
die Erinnerung an die vielen Grausamkeiten, die Scharfrichteratmosphärc im
Innern des Gebäudes, die sich, wie so oft bei einem Besuch solcher mittelalter-
licher Burgen, gerade hier besonders grell und störend gegenübertreten, ein
') Der Unterschied in der Bauanlage zwischen den großen Wohnburgen und den eigentlichen
Straßensperren zeigt sich gleichfalls besonders instruktiv bei Hocheppan, wo die unter der
Wohnburg an der Straße selbst liegende Befestigung allein aus einem Turm bestand, der von
einer Mauer im Viereck umgeben und nur durch eine Leiter zugänglich war.
Prosa und Poesie der mittelalterlichen Alpenwelt. 159
Eindruck, der, wenn man ihm auf den Grund geht, ebenso die Freude über den
glücklichen Kulturfortschritt unserer Tage wie das Bewußtsein von dessen
Unsicherheit, von der Schwäche und Befangenheit der Menschennatur, in sich
schließt').
Diese vielen Befestigungen, von denen eine oder mehrere das Mittel bildeten. Die kleinen
um die Macht im kleinen Kreise zusammenzuhalten, sind nun auch der Ausdruck y"** *^"-
der unendlichen Zersplitterung und Zergliederung, die einst über das Alpenge-
biet gebreitet lag, und der erst das Aufkommen einer praktisch wirkenden welt-
lichen Fürstenmacht oder die Herrschaft der Eidgenossen ein Ende bereitet hat.
In Wirklichkeit sind daher die heutigen Alpenländer, wenn sie auch bereits in der
Vorstellung vorhanden waren, während der Hauptzeit des Mittelalters in un-
zählige kleine Machtgebiete zerfallen, und fast jedes Tal, jeder Gebirgsabschnitt
hat so einmal seine eigenen Dynasten über sich gesehen, die dort längere oder
kürzere Zeit geherrscht, mehr oder weniger vermocht, und denen, die sich als
die wirklichen Landesherren fühlen wollten, mehr oder weniger zu schaffen
gemacht haben. So führten damals selbst Landschaften, die ihrer natürlichen
Beschaffenheit nach durchaus ein geschlossenes Ganze bilden, in ihren einzelnen
Teilen ein gesondertes Leben. Das Veltlin bestand einst aus drei verschiedenen
Gebieten, der Grafschaft Chiavenna, dem Val Teilina und der Grafschaft Bormio;
genau dasselbe findet sich im Pustertal und Ähnliches im Rheintal zwischen
Chur und Bregenz, oder im Vintschgau, wo die Vögte von Matsch sich zwischen
den Gebieten der Grafen von Tirol und der Bischöfe von Chur^) und im
Passeier, wo die Herren der Jaufenburg sich zwischen Meran und Brixen die
Arme freizumachen suchten-^). Im Norden Tirols haben wir die Grafen von
Werdenfels, im Süden die Grafen von Arco und Caldonazzo, und im Umkreis
der Tauern zeigt sich jene Zersetzung, ohne daß sie geschichtlich jemals viel
von sich reden gemacht hat, eine Zeit lang besonders stark ausgeprägt, hier, wo
die Herren von Hohenaschau südlich des Chiemsees, die Herren von Taufers
im Tauferer Tal, das Geschlecht derer von Marquard in Kitzbühel, die Grafen
von Mittersill im oberen Pinzgau, die Herren von Vischern (Fischhorn) an den
Ufern des Zellersees, die Pciisteiner im Gasteinertal, die Lichtensteiner von der
Frauenburg bei Unzmarkt aus, alle in größerer und geringerer Selbständigkeit
neben den Fürsten und Bischöfen des Reiches herrschten. Auch die Weißbriach
im Gailtale, die Grafen von Cilli und die Herren von Putten, die in Seeben-
stein am östlichen Abfall des Semmering saßen, sind einige wenige der unzähligen
Beispiele für diese Erscheinung. Über alle jene Dynasten ist dann aber, wenn
auch auf verschiedene Weise, unter der Einwirkung des Umschwungs der wirt-
schaftlichen Kräfte während der letzten mittelalterlichen Jahrhunderte das Ende
hereingebrochen; sie sind ausgestorben oder, mit Gewalt unterdrückt, in dem
niederen, wirklich botmäßigen Adel aufgegangen; sie sind vertrocknet und ver-
') Vgl. Anh. 19. 2) Ju. S. 281f. •*) B. W. S. 32 f.
160 IX. Kapitel.
verschuldet wie die Grafen von Hohenems, oder verdrängt und vertrieben
worden wie die Freundsberg aus dem Unterinntal.
Die Minne- Die Tatsache, daß sich der mittelalterliche Adel in den Alpen so lange
^''"^A^pen"! ""'^ ^0 recht ausleben konnte, giebt nun wohl auch die beste Erklärung für jene
interessante Erscheinung, daß in der Litteratur jener Zeiten überhaupt und vor
allem unter den Minnesängern die Herren, die hier zu Hause waren, so besonders
zahlreich vertreten sind '). Ob freilich gerade der berühmteste, Walter von der
Vogelweide, auch wirklich ein Sohn des Eisaktales gewesen ist, mag dahingestellt
sein, aber wenigstens von seinem Gegner, Thomas dem Zirkler, ist es gewiß,
daß dieser aus dem friauler Burgenland stammte 2). Überhaupt ist der Umkreis
der Brennerstraße in ihrer ganzen Ausdehnung dicht mit den Sitzen solcher
Dichter überzogen, deren Lieder oder wenigstens deren Namen heute noch
bekannt sind; so Rottenburg am Eingang des Zillertales (Heinrich von Rotten-
burg), im Pustertale Sonnenburg (Friedrich von Sonnenburg) und der Kürnberg
bei Lienz (der Kürenberger, der als Dichter des Niebelungenliedes in Frage ge-
kommen ist), Sehen (Leutold von Sehen), Hauenstein (Oswald von Wolkenstein),
Rubeln bei Meran (Rubin) bis herab nach Kronmetz (Walter von Metz); und
schon deshalb ruft es kein eigentlich falsches Bild hervor, wenn heute im Mittel-
punkt dieser Zone, in Bozen, das Denkmal des hervorragendsten Vertreters des
Minnesangs, von Walter von der Vogelweide, zu finden ist.
Aber auch in den anderen deutschen Alpenländern haben wir fast dasselbe
Bild. In den Ostalpen kommen für die weitere Umgebung Salzburgs der Tann-
häuser, Hartwig von Raute, Werner der Gärtner und schließlich auch Heinrich
von Ofterdingen, für Kärnten und die Steiermark dagegen Ulrich von Lichten-
stein, Waltram von Gersten, Konrad von Soneck und die von Oberburg, von
Scharfenberg und von Wildonie in Frage. Ebenso zahlreich ist auch die deutsche
Schweiz vertreten. Selbst im Wallis (Obergestelen) finden wir Otto zum Turne,
dann am Brienzer See Johannes von Rinkenberg, in der Gegend von Luzern
Rudolf von Rotenburg und im Baseischen Werner von Honberg. Als die er-
giebigste von allen tritt aber doch jene Gegend südlich des Bodensees von der
unteren Aare bis zum Rheintal heraus, die ja der Geistesfreiheit immer freund-
lich gewesen ist; hier, wo Herr Steinmar, Meister Johannes Hadlaub und der
Kanzler von Zürich, Werner von Teufen, Dietmar von Aist, Heinrich von Rugge,
Jakob von Wart, Konrad der Schenk von Landegge, Ulrich von Singenberg, der
Hardegger, — letztere drei, der erste Erbschenk, der andere Truchseß, der
dritte Dienstmann von S. Gallen — ebenso Rudolf von Hohenems, Hugo von
Montfort und Heinrich von Sax zu Hause waren, und man sieht auch, wie die
') Für dieses Verhältnis ist es bezeichnend, daß in einem Verzeichnis, das die teils zweifels-
freie, teils mutmaßliche Herkunft der neunzig bekanntesten Minnesänger aufzählt (Volckmar,
Auswahl der Minnesänger, Quedlinburg und L. 1845. S. XlXf), nicht weniger als dreißig als dem
Alpengebiet angehörig angeführt sind. ^) Ju. S. 300.
Prosa und Poesie der mittelalterlichen Alpenwelt. 161
ersten Geschlechter unter jenen Namen vertreten sind. Hinsichtlich der
Elastizität, die sie entwickeln, und in der Art, wie sie sich in guten und bösen
Tagen durch das Leben zu schlagen wußten, sind aber doch die eigenartigsten
von allen Dichtern der Alpen Oswald von Wolkenstein und Ulrich von Lichten-
stein gewesen, und wie zur Lotosblume der stille tiefe Wasserspiegel, so gehört
zu deren Liedern der Hintergrund der hohen Berge. Überhaupt haben gerade
in jener besten und geistig regsamsten Zeit des Mittelalters auch die Bewohner
der Alpen insgesamt fast ebenso stark wie alle anderen an den die Menschheit
bewegenden Ideen teilgenommen, eine Tatsache, die in einem ernsten Gegensatz
zu der Stille des Geisteslebens steht, das später Jahrhunderte hindurch über den
größten Teil dieses Gebietes gebreitet lag.
Sind wir nun einmal bei den Regungen des Volksgeistes angelangt, so mag Die Volkssage
es auch hier am Platze sein, auf seine tiefsten und ältesten Äußerungen einzu- ^^ P*"'
gehen, die in den in den Alpen verbreiteten Sagen zu Tage treten. Von der
eigentlich niederen Volkssage, von derjenigen, die nur rein lokale Beziehungen
in sich schließt, ist zunächst zu bemerken, daß diese an Zahl und Inhalt überall
mindestens ebenso umfangreich und reichhaltig wie anderswo auftritt. Eine Be-
sonderheit zeigt die niedere Volkssage der Alpenberge jedoch allgemein darin,
daß sie die menschlichen Wohnstätten selbst viel stärker meidet und mit Vor-
liebe an unbewohnte Stellen, nicht nur an die verlassenen Gemäuer, sondern
noch mehr an die Bergspitzen, an die Almen und Viehweiden, an die engen Tal-
schluchten und an das einsame Wasser anknüpft. Ein anderer, noch eigen-
tümlicherer Zug geht nun weiter mit dieser Beobachtung Hand in Hand; es ist
derjenige, daß unter den Gestalten der Alpensagen nicht so sehr die Geister in
Menschengestalt, sondern die Tiere eine so große Rolle spielen'). Unter diesen
sind es nun aber wieder die Amphibien, „das Gewürm", die Kröten mit dem
feurigen Munde, die kleinen Schlangen mit der goldenen Krone, die nach der
Richtung des Edelerzes im Gebirge züngeln, die großen weißen, die so lang und
dick sind wie der stärkste Mann, die Drachen und Greifen, die der Phantasie
Nahrung gegeben haben, wie ja bezeichnenderweise auch das unverstandenste
und häßlichste Kind aller Sage, der Aberglaube, in dieser Hinsicht, in der Über-
zeugung von dem wirklichen Vorhandenhein solcher drachenartigen Geschöpfe,
in den Alpen ein merkwürdig zähes Leben entwickelt hat^).
Geradezu in der Potenz aber tritt diese Art der Lokalsage in Kärnten auf^).
In Klagenfurt erinnert nicht allein die Gründungssage der Stadt, sondern auch
das Wappen und der nicht allzumoderne Lindwurmbrunnen (1590) lebhaft an
jenen Vorstellungskreis; die gleiche Sage wie hier findet sich in Arnoldstein
und in der Nähe haben wir auch einen Ort Greifenburg. Besonders wichtig
bleibt es aber doch, daß man eben diese Bestandteile der Sage hier sogar bis
') Dasselbe sagt auch Ramsauer: Die Alpen im Mittelalter, Z. A. 1902. S. 90. 2) Vgl. die
Drachensage im Alpengebiet Z. A. 1887. S. 208 f. ^) Vgl. Carinthia 1907. S. 92.
Scbeffel, Vcrkehrsgcschichte der Alpen. 2. Bind. 11
162 IX- Kapitel.
in das römische Altertum zurückverfolgen kann, wie jenes aus der Römerzeit
stammende und hervorragend gearbeitete Greifenstandbild beweist, das auf dem
Magdalenenberge in Kärnten zum Vorschein kam. Man wird es zwar zugeben,
daß die Umgebung Klagenfurts besonders lange und bis zu dem ersten Morgen-
grauen der Geschichte ein weites Reich des Wassers und des Sumpfes gewesen
sein kann, und daß die Reste solcher vorweltlicher Tiere daher hier stets um
so häufiger zum Vorschein gekommen und so der menschlichen Vorstellung
nahe getreten sind; es verdient aber auch deshalb Beachtung, wenn bereits im
Altertum diese Sage gerade hier, in der Nähe der norischen Goldbergwerke,
so deutlich erkennbar auftritt, da ja der Greif damals allgemein als der Wächter
dieses Edelmetalls angesehen wurde.
Weil ferner jede Sage ganz vorwiegend ein Produkt des Volksgeistes ist,
so muß sich in ihren Besonderheiten auch die Schichtung und Lagerung der
Völkerstämme widerspiegeln, wie sie nach und nach in den Alpen Platz gegriffen
hat. Diese Erscheinung gilt besonders für die Ostalpen, wo durch das Ein-
dringen der Slaven noch in verhältnismäßig später Zeit ein ganz neugearteter
Bestandteil hinzutrat, und wo heute daher auch das der slavischen Volkssage
eigentümliche Wesen in tausend kleinen Zügen zu erkennen ist. So stimmt es
jedenfalls merkwürdig zu jenem geschichtlichen Vorgang, daß die Slaven einst
bis in das Pustertal vordrangen, wenn wir heute plötzlich hier ganz in der Nähe,
in einem südlichen Seitental, im Enneberg, Volkssagen begegnen, die mit den
schlesischen Märchen von Rübezahl eine auffallende Ähnlichkeit haben.
Die Helden- Einen größeren Wert und deshalb auch einen größeren und verführerischen
S3?£ in den
Alpen. ^^'^ haben für die Forschung dagegen überall diejenigen Alpensagen, bei denen
zunächst wie bei jeder Sage Freierfundenes neben historisch Realem einhergeht,
bei denen aber nun die letzteren Bestandteile ihre Beziehung zu großen ge-
schichtlichen Ereignissen nicht verleugnen können, die sich einst im Gebirge
abgespielt haben. Diese Heldensagen der Alpen, wie man sie doch kaum besser
nennen kann, berühren sich nun zunächst in einer Beziehung ganz mit der
niederen Sage, insofern auch hier sehr häufig jene schreckhaften Amphibien
wiederkehen, von denen übrigens der Greif am besten qualifiziert war, wie uns
heute noch die frühmittelalterlichen Steinbilder von der Kirche S. ApoUinaris in
Trient attestieren, da hier der Löwe von dem Drachen, dieser aber wieder von
dem Greifen verschlungen wird. Auch diese Tiere machen daher den Helden
jener Sagen nicht wenig zu schaffen; so unterliegt Otnit den Lindwürmern, die
vom Gebirg aus bis herab zur Burg von Garten das Land verheeren, Wolf-
dietrich wird von einer feuerspeienden Viper der Schild von der Hand ver-
brannt'), und eine Schlange und eine Kröte sind es auch, die sich in Zürich bei
Karl dem Gr. einstellen. Die ältesten, wenn auch sehr spärlich auftretenden
Bestandteile der alpinen Heldensage kann man nun bereits bis in das römische
'j Die Alpen in der deutschen Heldensage, Jahrbuch des Österreich. Alpenvereins. 6. B. S. 327.
Prosa und Poesie der mittelalterlichen Alpenwelt. 163
Altertum zurückverfolgen, wie die Sagen, die sich an den Pilatus')» an Hohen-
Rätien und an Klausen a. E. knüpfen. Ungleich reichhaltiger und farbenprächtiger
sind solche jedoch aus jener Epoche vorhanden, als sich die Heerfürsten der
jungen germanischen Reiche, als deren letzten wir an dieser Stelle Karl den Gr.
betrachten müssen, inmitten der altrömischen Kultur breitmachten und zugleich
hier siegreich und stürmisch das Christentum einzog. Da nun aber die histo-
rischen Ereignisse in dieser Weise viel weniger in den Westalpen und in der
Schweiz, wohl aber in Tirol und in den Ostalpen aufgetreten sind, so läßt sich
auch annehmen, daß die ganze östliche Hälfte der Alpen einst ein Schauplatz
der ältesten deutschen Heldensage gewesen ist, und wenn wir heute jenen Quell
doch nur vorwiegend nach der Mitte zu, in Tirol, emportreiben sehen, so hat
dies seinen Grund nur darin, daß dessen Wasser im Osten dann wieder durch
die slavische Völkerwanderung verschüttet worden sind.
Dort in Tirol liefert aber das Neben- und Übereinanderliegen der ver-
schiedenen altdeutschen Sagenkreise nicht nur eine Illustration zu jenem histo-
rischen Vorgang, daß hier eine von Süden gekommene germanische Besetzung
mit einer gleichen von Norden zusammentraf, sondern es stimmt diese Lagerung
hier weiterhin auch mit der Ausdehnung der germanischen Reiche durchaus
überein, wie sie wirklich einst hier entstanden sind. Denn wenn der lombardische
Sagenkreis sich lediglich auf das südlichste Tirol beschränkt, der ostgotische
dagegen fast ganz Tirol überzieht-), so erkennen wir darin die Tatsachen wieder,
daß die Langobarden niemals nördlich über Bozen vordrangen, während es zum
mindesten noch niemals in Zweifel gezogen worden ist, daß sich die Herrschaft
Theodorichs bis zum Brenner erstreckt hat. Daher ist auch das ein Abbild
historischer Zustände, wenn der Riese Ecke, der nach Verona zieht, um dort
Theodorich zu bestehen, durch den alten Hildebrand von Bern nach dem Etsch-
gebirgc gewiesen wird, wo Theodorich zu finden sein werde, und wo dann dieser
Riese von jenem überwunden wird^), und noch Arnold von Lübeck sagt um
1209 von der Burg Rivoli ausdrücklich, „daß diese seit uralten Zeiten Hilde-
brandsburg heißt"''). Jene Riesen aber, die in Eckens Ausfahrt und ebenso auch
plötzlich im Zwergkönig Laurin^) als die Gegner Theodorichs aus der Erde
wachsen, sind ja überhaupt nur „eine Reminiszenz an fremde, alte, im Unter-
gehen begriffene Volksstämme, die einst da gewohnt haben, wo das spätere Ge-
schlecht nachher sich ansiedelte"^), und auch darin hat sich die Sage nur einen
Faden von dem Webstuhle der Geschichte genommen, wenn sie jenen Riesen
manchmal auch den ersten Betrieb des Bergbaues zuschreibt, wie dies ja tat-
sächlich bereits von den Römern geschehen ist^). So trägt auch der Zwergkönig
Laurin in Tirol, der gleichfalls von Dietrich von Bern besiegt wird, einen
') Vgl. Vi. S. 154. ~) Vi. S. 49 f. ^} Vi. S. 88. Bei Bozen liegt heute noch ein Eggental.
*) A. L. S. 351. ^) Lau. V. 1490 f. 6) Vi. S. 87. ' ■?) Die österreichisch-ungarische Monarchie
in Wort und Bild. 5. Heft. S. 145.
164 IX- Kapitel.
romanischen Namen und bestraft diejenigen, die ihm verfallen sind, mit dem
Verlust der linken Hand und des rechten Fußes, so wie es den entlaufenen
römischen Sklaven erging.')
Die das erste Mittelalter beherrschende Kulturströmung, der Siegeszug des
Christentums, kommt dagegen in den deutschen Heldensagen der Alpen zumeist
darin zum Ausdruck, daß die Unterliegenden insgemein Heiden sind^) und sich
schließlich zum Christentum bekehren müssen, und es ist daher auch nur eine
Übersetzung in die lichte Wirklichkeit, wenn diejenigen Orte, wo sich einst die
Reste der römischen Kultur am zähesten erhalten konnten, heute nicht selten
mit dem Zunamen der Heiden bezeichnet werden. Auch die Haimonsage, die
sich in der Richtung von Nord nach Süd die Brennerstraße hinabzieht, birgt
keine anderen geschichtlichen Momente. Bei dieser Sage, die wohl mit dem
Eindringen der Bayern in Tirol in Zusammenhang steht, wird der Streit der
beiden Riesen, Haimon und Thyrsus, zunächst oben an der Reitherspitze aus-
getragen, wo das dort gewonnene Steinöl noch heute als das Blut des erschlagenen
Thyrsus gilt. Es ist natürlich selbstverständlich, daß hier der Besiegte Thyrsus
nur einen romanischen 3), der Sieger Haimon aber nur einen germanischen
Namen tragen kann, und ebenso bezeichnend, wenn bei diesem die Überlegen-
heit seiner Vorzüge noch besonders durch die von ihm bewirkte Gründung des
Klosters Wilten unterstrichen wird. In der Hofgasse von Innsbruck aber steht
heute noch ein Haus, an dem das Standbild des historischen Hofriesen Erz-
herzogs Sigismunds in aller seiner Pracht angebracht worden ist (1490), und es
fragt sich doch, ob dieser Herr nicht bloß deshalb zu einem so großartigen Mo-
nument kam, weil solche Gestalten gerade hier von alters her mit einem beson-
deren Nimbus umgeben waren.
Und so ragen auch heute noch die Reste der deutschen Heldensage hier
überall in die Wirklichkeit hinein. Wir können sie greifbar vor uns sehen ih den
Standbildern jener Riesen an der Klosterkirche in Wilten, in den fabelhaften Tieren,
den Löwen und Greifen, an den Kirchenportalen (Bozen, Trient, S. Zeno in
Verona, Innichen, Lienz, Maria Gail bei Villach), und in der Gestalt Theodorichs
in der Hofkirche in Innsbruck. Und wenn es schon das gute geschichtliche Recht
dieses Herrschers war, daß er hier als alter Landesherr Tirols inmitten jener
bronzenen Umgebung seinen Platz gefunden hat, so ist doch nicht minder in
diesem Apollo im Harnisch die männliche Schönheit und die Gedankentiefe
wunderbar klar zum Ausdruck gekommen, ganz so wie die Sage ihren Helden
verstanden wissen wollte. Aber auch unsichtbar und ungreifbar umgiebt uns
dieser Kulturkreis; wir leben und weben in ihm, wenn wir im Riesen oder im
Greifen logieren, und selbst in Südtirol klingen seine Töne neben italienischen
Zeitungen und italienischen Liedern leise an, wenn wir dort zufällig in einem
Wirtshaus Ai due Giganti eingekehrt sind.
•) Lau. V. 73. 2) Lau. V. 1110. ^) Eine andere Erklärung dieses Namens findet sich N. A. S. 76.
Viertes Buch.
Die Alpenstraßen des Mittelalters.
I. Kapitel.
Die Straßen der Westalpen.
Neben der größeren Anzahl der Quellen und geschichtlichen Reste, neben Grund-
der Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit der Kulturerscheinungen ist es ein ganz des'rnittel*"
besonderer Unterschied, der im Vergleich zu der Römerzeit für die Beschreibung alterlichen
der einzelnen Alpenstraßen des Mittelalters mehr als alles andere in Frage igbetTs in
kommt. Trotz aller natürlichen Verschiedenheiten der einzelnen Alpenwege den Alpen,
hatte im Altertum doch auf das Schicksal dieser Linien in ihrer Gesamtheit
nicht nur der Wille der römischen Regierung sondern noch viel mehr die sich
immer gleichbleibende Weltlage, die Existenz des einen, großen, um das Mittel-
meer gelagerten Weltreiches, einen entscheidenden Einfluß gewinnen können.
Bei der Auflösung des Kulturlebens im Mittelalter treten dagegen auch hier die
gleichartigen Gesichtspunkte viel weniger, die natürlichen Besonderheiten da-
gegen um so stärker hervor, so daß sich jetzt die Geschichte der Paßwege der
Alpen nicht mehr wie vorher wie eine Garbe annähernd gleichartiger und zu-
sammengehöriger Halme sondern mehr wie ein Strauß wenn auch ähnlicher
aber innerlich viel selbständigerer Monographien ausnimmt.
Wenn wir nun dabei wiederum im Westen, bei der ligurischen Küstenstraße,
beginnen, so sehen wir gerade hier auch heute noch ein Landschaftsbild vor
uns, wie man es malerischer und eindrucksvoller kaum finden kann, um das
verschiedene Wesen der drei großen geschichtlichen Perioden, die Europa
durchlebt hat, und den Wechsel des Verkehrslebens innerhalb dieser Zeiten
deutlich zu machen. Dort, wo auf dem natürlichen Mittelpunkt dieser Linie
das Alpengebirge unmittelbar aus dem mittelländischen Meere aufsteigt, hatten
die Römer einst ihre Straße nicht notgedrungen und allein aus technischen
Gründen über die Höhe geführt, und so steht auch heute hier noch Turbia da
als ein Zeugnis langandauernden, friedlichen antiken Kulturlebens. Tief im
Grunde, fast von der Brandung umspült, laufen dagegen heute auf derselben
Wegestrecke die Straßenbauten der neueren Zeit dahin und zeigen es so, daß
168 I- Kapitel.
die Technik jetzt mit anderen Mitteln, vielseitiger und erfolgreicher zu arbeiten
pflegt, daß sie aber andererseits doch, um zu solchen Leistungen zu gelangen,
Tor allen Dingen einer friedlichen Weltlage und einer Kultur bedarf, bei der
das Menschengeschlecht nicht durch die Sorge um die Sicherheit seines Besitzes
in Atem gehalten wird. Welch' andere Sprache redet nun aber hier die Stelle,
wo im Mittelalter lange Zeit der Schwerpunkt dieser Gegend lag, das auf hohem
Felsen und zwischen tiefen Schluchten gelegene, düstere und altersgraue Städtchen
Ezc, eine Stätte, die vor Piraten sicher war aber auch selbst solche beherbergen
konnte, und die es veranschaulicht, in welchen Formen sich damals hier das
Leben der Menschen bewegte.
Die Sarazenen Sogar dieser Strich mit seiner Straße, die sich ebenso für die Verbindung
in den pen. zwischen Genua und dem Mündungsland der Rhone wie für den Lokalverkehr
jener gesegneten Gegenden eignet, ist damals eine Zeit lang nicht viel mehr als
eine Küstenlandschaft und zwar ein bedrohtes, gefährdetes und geängstigtes Gestade
gewesen, an das mit den Wellen des Meeres zugleich fremdartige und kultur-
feindliche Mächte herangetrieben wurden. Ist doch das Hauptereignis, das von
dieser Seite der Alpen während des Mittelalters zu berichten ist, nichts anderes
als jener Einbruch der Sarazenen, die sich jetzt hier, in der Heimat jener
humanen Gestalten wie Julius Agricola und Cornelius Gallus, festsetzten und
nun von dort Südfrankreich, Oberitalien und vor allem auch weithin die Alpen-
wege fast ein Jahrhundert hindurch in Schrecken hielten. Es ist dies ein Schau-
spiel, das uns heute ganz fremdartig anmuten und fast den Eindruck erwecken
kann, als ob die Geschichte damals ihren Kreislauf von neuem hätte beginnen
wollen, wenn wir uns erinnern, daß in den Zeiten, als es im Altertum geschicht-
lich hell zu werden beginnt, die ersten, die hier erscheinen, gleichfalls Gäste
aus dem fernen Osten, Phönizier und Griechen, waren.
Dort, wo im heutigen Departement Var die weit in das Meer hinausragende
Landspitze bei S. Tropez den Seefahrer anlockt, sind die Sarazenen um das
J. 888 plötzlich im Herzen Mitteleuropas zu finden; hier wurden die Ortschaft
Fraxinetum (Garde-Frainet) mit ihrem günstigen Anlegeplatz und eine benach-
barte höher gelegene Befestigung, die beide ganr nach Barbarenart zunächst gegen
die Landseite hin durch dichtes Dornengestrüpp gesichert wurden, die unan-
greifbare Position, von der aus sie dann ihre Raubzüge immer häufiger, immer
dreister und auf immer größere Entfernung in die Alpenländcr hinein ausdehnten').
906 finden wir die Sarazenen daher bereits mitten im Gebirge, am Mont Cenis
und Mont Genevre, zu gleicher Zeit aber auch in den diesem Alpenflügel an-
liegenden Landschaften, auf französischer Seite in Embrun, vor Aix und Marseille
und jenseits in Acqui und Vcrcelii. Besonders blieben es aber doch die Straßen
im Gebirge selbst, die sie bei ihren Unternehmungen bevorzugten und wo sie
während der ersten Hälfte des zehnten Jahrhunderts von den Seealpen bis nach
>) Oe. I. S. 205 f.
Die Straßen der Westalpen. 169
Graubünden recht nach Brigandenart allen Verkehr unsicher machten; so wurde
von ihnen (um 940) nicht nur das Kloster S. Maurice am Gr. S. Bernhard ver-
brannt sondern ebenso auch das Gebiet des Churer Bistums nördlich bis an die
Grenzen von S. Gallen heimgesucht. Wie sehr die Sarazenen damals aber
überhaupt an den Straßen der Alpen die Herren der Lage waren, dafür ist das
beste Zeugnis die Rolle, die sie in dem Streit um die Krone Italiens zwischen
Hugo von Niederburgund und Berengar von Ivrea gespielt haben; denn, während
letzterer nach Deutschland gegangen war und sich dort Bundesgenossen suchte,
wuQte Hugo seinerseits (um 942), um jenem den Rückweg zu verlegen, nichts
besseres zu tun, als einen regelrechten Vertrag mit den Sarazenen zu schließen,
der diese zu Wachtposten an den Gebirgsstraßen bestellte, und was Berengar
dann auch tatsächlich zwang, bei seiner Rückkehr einen Umweg durch Tirol
einzuschlagen.
Es treten demnach in jenen Zeiten hier im Herzen Europas in kultureller
Hinsicht Zustände zu Tage, wie sie heute kaum am südöstlichsten Rande des
Erdteils, in der Balkanhalbinsel, anzutreffen sind, und die mit jener politischen
Zersetzung durchaus übereinstimmen, die, wie wir gesehen haben, damals zu-
gleich das Dasein eines selbständigen, allein auf das Alpengebirge beschränkten
burgundischen Königreichs möglich machten. Aber eben deshalb ist auch das
auf den Tod Ludwigs des Frommen (840) folgende Jahrhundert mehr als alles
andere geeignet, nicht nur die hervorragenden Eigenschaften Karls des Gr.
sondern auch für alle Zeiten die Segnungen in das rechte Licht zu setzen, die
von einer starken Regententätigkeit ausgehen können. „Die Zahl der Christen,
die von den Sarazenen getötet wurden, war so groß, daß niemand sie ermessen
kann als der, der ihre Namen eingetragen hat, in das Buch des Lebens"'); die
Wahrheit der Empfindung, die aus diesen Worten eines Zeitgenossen unaus-
löschlich herausklingt, offenbart daher ebenso die Not jenes Geschlechtes wie
die Tiefe seiner religiösen Stimmung, die sich später dann eben infolge ihrer
Stärke und Allgemeinheit noch viel mehr in eine alles beherrschende geschicht-
liche Kraft umsetzen sollte.
Nicht wie offene Feinde sondern wie sie gekommen waren, als Diebe und
Räuber sind die Sarazenen dann jedoch auch wieder aus den Alpenländern ver-
drängt worden. Zuerst, schon seit der Mitte des Jahrhunderts verschwinden sie
in Graubünden, wo die kräftige Hand das ihre dazu beigetragen haben mag, die
mit Otto I. auch in diesem Teile des deutschen Reiches zur Wirkung gekommen
war. In dem westlichen Teile der Alpen ist es aber schließlich doch nichts
anderes als die von den kirchlichen Gewalten organisierte Selbsthilfe gewesen,
die jenes Resultat erreicht hat. So stellte sich Bischof Isarn um 970 in Grenoble
an die Spitze des Widerstandes, während unmittelbar darauf, 972, das Schicksal
besonders verhängnisvoll werden sollte, das der Abt Majolus von Cluny von
') Oe. I. S. 217.
170 '• Kapitel.
den Sarazenen erfuhr. Dieser war auf einer Reise durch die Alpen von ihnen
gefangen genommen und nur gegen ein ganz gewaltiges Lösegeld wieder in Frei-
heit gesetzt worden. Eine derartige Behandlung eines hohen Kirchenfürsten
mußte aber damals mehr als alles andere die Welt herausfordern, und sie brachte
daher auch den Widerstand gegen jene ungebetenen Gäste an allen Stellen in
eine raschere Gangart, so daß bald darauf zuerst das Festland und schließlich
auch die ligurische Küstenstraße von ihnen gesäubert werden konnte; dort wurde
zuletzt von dem Grafen Wilhelm von Arles und dem Markgraf Arduin von
Ivrea auch ihr Hauptstützpunkt Fraxinetum selbst eingenommen und zerstört,
nachdem sie freilich noch wenige Jahre vorher (970) das Kloster S. Pons bei
Nizza in Asche gelegt hatten.
Daß jenes Auftreten der Sarazenen aber nicht bloß ein rasch vorübergehen-
des Unwetter war, sondern als eine tiefe Störung in alle Verhältnisse eingriff,
zeigt sich auch darin, daß die Erinnerungen an jene Periode auch heute noch
zahlreich genug vorhanden sind. So galten die an der Straße des Gr. S. Bern-
hard wohnenden Führer der Reisenden, die Marronniers wie sie allgemein
hießen, als Nachkommen der Sarazenen. Die besten Zeugnisse jener Zeit sind
jedoch auch hier wieder die Ortsnamen, die an den wichtigen Straßenpunkten
gerade dort, wo jene einst ihr Unwesen trieben, haften geblieben sind und die
sich durch die ganze Zone, von Graubünden (Pontresina, Ponte Saraceno) bis
zur Riviera hinziehen (Chäteau-Sarrasin, Pont-Sarrasin, Torre dei Sarazeni).
Hier, wo ihre eigentliche Angriffsfront lag und wo daher auch heute noch die
südlichste Kette der Seealpen den Namen der Mauren führt, finden sich die
Erinnerungen an jene Zeit begreiflicherweise am zahlreichsten, wie in den Blei-
bergwerken bei S. Dalmazzo di Tenda, die einst auch von den Sarazenen aus-
gebeutet wurden und deren oberster Schacht heute noch die Galleria dei Sara-
zeni heißt'), oder an den alten Türmen am Meeresstrande (z. B. S. Lorenz©
östlich S. Remo), die auch nach der Vertreibung der Sarazenen noch lange Zeit
als Schutzbauten gegen das von diesen ausgeübte Piratentum dienen mußten.
Die späteren Sichere und dauernde Zustände sind an der Corniche erst dann entstanden,
der^Corniche^. *'s dieselbe mit ihrem größeren westlichen Teile an Savoyen kam, das hier zu-
gleich von Norden wie von Westen her eindrang. 1382 ist Cuneo am Fuß des
Col di Tenda und 1388 Nizza savoyisch geworden. Sonst sind es aber, wie zu
erwarten steht, an dieser südlichsten Seite der Alpen ausnahmslos südliche
Mächte und südländische Kulturbeziehungen, denen wir hier begegnen. So ge-
hört der östliche Teil der ligurischen Küstenstraße von Anfang an in den Be-
reich Genuas, dessen mittelalterliche Geschichte infolge der dem kontinentalen
Italien abgewendeten Lage dieses Ortes einen ganz selbständigen Verlauf genommen
hat, wenn sie sonst auch nur mit einem steten Kampf um das Dasein, mit Zank und
Streit gegen Pisa, die Lombardei und Venedig erfüllt ist. Dann treffen wir hier
') Hörstel, Erinnerungen an die Seealpen Piemonts. L. Zeitung 1901, Nr. 215.
Die Straßen der Westalpen. 171
an den wichtigen Straßenpunkten nicht nur wie überall die Johanniter (Bordig-
hera, Madonna delia Ruota) sondern auch die besonders auf romanischem Kultur-
boden heimischen Templer wie sie bei S. Raphae! (zwischen Cannes und Frejus)
ihre Schutzbauten gegen die Seeräuber errichten. Aus Savona stammten die
Päpste Sixtus IV. und Julius II. (beide aus dem Geschlecht der Rovere) und aus
Tenda die reiche Beatrice di Tenda, die als Gemahlin des Herzogs Filippo
Maria Visconti von Mailand ein furchtbares Ende fand (f 1418). Auch eine
geschichtlich denkwürdige Reise hat diese Linie berührt, diejenige des Papstes
Innocenz IV., der im J. 1244 vor Friedrich II. aus Rom zunächst zur See nach
Genua entfloh, um sich dann von dort aus zu Lande nach dem Konzil von
Lyon zu begeben; und hier in Genua war es, wo dieser nach seiner Landung
im Vollgefühl der Bewegungsfreiheit frohlocken konnte, „daß seine Seele nun
wie ein Vogel dem Stricke des Voglers entronnen wäre."
Nicht nur in den Zeiten des Altertums sondern auch noch im Mittelalter Das Auf-
können wir nördlich der Corniche sämtliche Alpenübergänge außer acht lassen straße über
bis wir wieder in die Zone des Mont Genevre geraten. Bei der Betrachtung den Mont
der mittelalterlichen Obergänge in den Westalpen, auf der ganzen Strecke von
der ligurischen Meeresküste bis zum Montblanc, stehen wir nun aber zunächst
vor jener wichtigen Tatsache, daß hier bald nach dem Untergange des römischen
Weltreiches in dem Verkehrsbild eine grundlegende Veränderung vor sich geht,
insofern jetzt plötzlich die beiden von den Römern geschaffenen Alpenstraßen,
die Linie des Mont Genevre ebenso wie die des Kl. S. Bernhard als Hauptwege
fast ganz zurücktreten, während an ihrer Stelle nur eine einzige Straße, die über
den Mont Cenis in Gebrauch kommt. Es ist dies übrigens eine Verschiebung,
die sich am Beginn dieser Periode in gleicher Weise noch an einer anderen
Stelle, in Graubünden, wiederholt, wo ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen,
die beiden alten Römerwege, der Splügen und der Julier, plötzlich der Verein-
samung verfallen und dagegen der zwischen beiden gelegene Übergang über den
Septimer in Benutzung tritt.
Die Paßhöhe des Mont Cenis selbst, für deren regelmäßigen Gebrauch
während der Römerzeit jedenfalls kein Zeichen vorliegt, befindet sich nun freilich
in solch' naher Nachbarschaft von dem Übergang der antiken Straße über den
Mont Genevre, daß auch für sie von der italienischen Seite her keine andere
Zugangslinie wie für den Mont Genevre selbst, d. h. das Tal der Dora Riparia
zwischen Turin und Susa, zur Verfügung steht. Die Verschiedenheit in dem
Wesen dieser beiden Übergänge macht sich daher allein in der Art des Abstiegs
auf ihrer westlichen Seite geltend, hier, wo die Linie des Mont Genevre im
Tal der Dürance in ausgesprochen südwestlicher Richtung zu dem Mündungs-
land der Rhone hinabzieht, während bei der des Mont Cenis vermittelst des
Tales der Are das Gegenteil erreicht und der Reisende nach Grenoble und Lyon,
also in das Vorland des nördlichen Frankreichs geführt wird. Da nun auch die
172 I. Kapitel.
Eisenbahn der Neuzeit von Franicreich her dieses Tal der Are als Eintrittsrinne
in das Gebirge benutzt, so ist auch diese nicht ganz mit Unrecht nach dem
Mont Cenis genannt worden, ^venn sie auch in der Zone des eigentlichen Hoch-
gebirges dann plötzlich die Richtung jenes Überganges selbst ganz ignoriert und
ein ganzes Stück südlich durch den Col de Frejus ihren Weg sucht, der von der
Paßhöhe des Mont Cenis kaum weniger weit wie von demjenigen des alten
Mont Genevre-Überganges entfernt liegt.
In dieser Orientierung der mittelalterlichen Straße einerseits — auf ita-
lienischer Seite derselbe Anlaufweg wie im Altertum, auf französischer dagegen
das entschiedene Hervortreten der nordwestlichen Richtung — und andererseits
in der Tatsache, daß jetzt überhaupt nur diese eine Straße, nicht wie im Alter-
tum zwei, der Mont Genevre und Kl. S. Bernhard, dem Verkehrsbedürfnis
genügen konnten, spricht sich nun aber deutlich genug die Veränderung aus,
die jetzt in dem Kulturbild jener Länder vor sich gegangen ist; sie zeigt beson-
ders, wie auf der westlichen Seite des Gebirges die Landschaften an der mittleren
Rhone und noch mehr die in deren Mündungsgebiet an Wichtigkeit zurückge-
treten sind, und wie sich der Schwerpunkt jetzt ganz entschieden nach dem
nördlichen Frankreich verrückt hat, eine Erscheinung, die dann außerdem noch
in der erhöhten Bedeutung des Gr. S. Bernhard zu beobachten sein wird ').
?esMomCeSis ^^" ^^^ ^^^^ "^^^ ^''"' ^^"'^' besonders aber seinen westlichen Anstieg,
in der ersten ^^^ ^^^ ^^^ Arc, nannte das Mittelalter vallis Mauriana, ein Name, der verschieden
AlSuer" ^!"'^'^'"^ worden ist, teils von den Mauren, teils sogar von einer in römischer Zeit
• hier stationierten Garnison mauretanischer Reiter, am passendsten aber wohl von
den finsteren Gebirgswässern, a mauris aquis, die jenes Alpental durchfließen,
das auch wirklich einen besonders ernsten Charakter zeigt. Hier haben wir
also jetzt geschichtliches Neuland vor uns, während andererseits das Vorhanden-
sein irgend welcher Nachrichten aus diesem für den Verkehr neu eröffneten
Landstriche nun auch die Existenz einer Straße über den Mont Cenis selbst in
die Grenzen der Wahrscheinlichkeit rücken muß. Und solche Nachrichten treten
wirklich zugleich mit dem Beginn des Mittelalters an das Tageslicht. Der Vor-
ort der Maurienne ist S.Jean, ein Punkt, der seinen Namen von einer dort
befindlichen Kirche Johannes des Täufers erhalten hat; und wenn es auch zweifel-
haft ist, ob ein auf dem Konzil zu Rom im J. 341 als episcopus Maurianensis
verzeichneter Lucianus wirklich bereits hierher gehört, so haben wir dann doch
für das J. 588 ganz sicheren Boden unter den Füßen, als damals König Guntram
von Burgund sich wirklich mit der Einrichtung der civitas Morienna befaßte
und bei dieser Gelegenheit kirchlich auch jenseits das Gebiet von Susa mit ihr
vereinigte2), eine Maßregel, die nur Zweck und Sinn gehabt haben kann, wenn
der zwischen diesen beiden Tälern gelegene Übergang selbst damals bereits dem
Verkehre erschlossen war.
') Vgl. Anh. 20. 2) Oe. I. S. 197.
4
Die Straßen der Westalpen. 173
Der Name des Passes erscheint als Mons Cenisius dann zu Beginn des
achten Jahrhunderts (731) in dem Testamente eines der fränkischen Grafen, die
damals in Susa ihren Sitz hatten. Bei dieser Gelegenheit findet aber nicht nur
wiederum die kulturelle und politische Zusammengehörigkeit des westlichen und
östlichen Anlaufsweges des Passes ihre Bestätigung, sondern es tritt auch das
Bild im Tale von Susa selbst deutlicher hervor. Auch hier finden wir damals
die Kirche als Nährmutter des neu sich gestaltenden Lebens, ein Kloster in
Oulx, an der Stelle der alten Römerstation villa Martis, und weiter abwärts nicht
minder das im J. 726 gegründete Peterskloster zu Novalese. Dieses Kloster,
dessen Name durch die aus demselben stammende Chronik mit ihrem wie
früheste Morgendämmerung anmutenden Inhalt auch in die große Geschichte
übergegangen ist, gelangte bald zu großem Reichtum und zu einer hervorragenden
Stellung, derart, daß sich besonders zu den Zeiten Karls des Gr. viele fränkische
Große unter seinen Mönchen befanden, während jedoch seine Blüte bereits durch
den Sarazeneneinfall vom J. 906 unheilbar geknickt werden sollte. Nicht allzu-
früh ist dagegen am Mont Cenis das nahe der Paßhöhe gelegene Hospiz selbst
entstanden, das von Lothar, dem Sohne Ludwigs des Frommen, aber direkt auf
die Veranlassung des letzteren, und durchaus als eine fromme Stiftung gegründet
wurde ').
Die verhältnismäßig geringe Schwierigkeit dieses Alpenweges und ebenso
seine Richtung, die von Frankreich auf dem kürzesten Wege in das frühmittel-
alterliche Zentrum Oberitaliens, nach Turin und Pavia, hinabführte, macht es
nun auch ganz erklärlich, daß sich auf ihm bereis die Unternehmungen der
Pippiniden gegen das Langobardenreich bewegt haben. Seit den Zeiten Karls
des Gr. dagegen, als sich der Schwerpunkt des Frankenreiches nachdrücklich
nach dem unteren Rheine verschoben hatte, ist der Mont Cenis nur ausnahms-
weise bei den geschichtlichen Ereignissen selbst zu nennen, während, wenn dies
trotzdem der Fall ist, hierfür wie erklärlich zumeist eine besondere Veranlassung
vorgelegen haben wird. Das erste Ereignis dieser Art ist die Reise Karls des
Kahlen, 877, nachdem er gegenüber Karlmann die Eroberung der Lombardei
aufgegeben hatte und nun fluchtartig nach Frankreich zurückkehren wollte. Da-
mals hat jenen, dem vorher in Italien von einem jüdischen Arzt Gift gegeben
worden war, auf diesem Wege selbst der Tod ereilt, eben in der Maurienne,
wohl in Brios, dem heutigen Avrieux. Dorthin hatte er auch seine Gattin
Richildis, die ihm bereits vorausgeeilt war, zurückrufen lassen, und es spielte
sich nun hier eines jener gräßlichen Schauspiele ab, wie sie im Mittelalter bei
Vergiftungen einzutreten pflegten, bei denen die Wirkung des Giftes so entsetzlich
die Verwesung beschleunigte, daß die Pfleger des Leichnams die Fassung ver-
loren; es ist hier z. B. genau dasselbe Bild wie bei dem Ende des Markgrafen
Albrechts I. von Meißen, der 1195 gleichfalls in einem elenden Dorfe in der Nähe
Freibergs der Vergiftung erlag.
'» Oe. I. S. 204.
174 '• Kapitel.
Der Übergang Der Übergang Heinrichs IV. über den Mont Cenis im J. 1077 ist wohl der-
im ^'ah're ]oii. Jc^ig^ Alpenübergang eines deutschen Herrschers, der nicht nur geschichtlich
am folgenreichsten geworden ist, sondern der auch in seinen ergreifenden Einzel-
heiten am besten bekannt zu sein scheint. Es soll auch daher hier nicht erzählt
werden was alle wissen, sondern nur auf einige für unseren Zweck wichtige
Umstände hingewiesen werden. Die Kunde von den Einzelheiten dieses Über-
ganges stammt allein aus Lambert von Hersfeld'), und man wird bei der Beur-
teilung dieser Geschichtsquelle zunächst wohl das Richtige treffen, wenn man
annimmt, daß jener absichtlich zwar nicht tendenziös schrieb, daß er aber seiner
ganzen Lebensauffassung nach die Dinge doch nur aus einem bestimmten Gesichts-
punkt ansehen konnte, der für Heinrich IV. zum mindesten nicht günstig war.
Wesentlich ist aber außerdem für die diesen Alpenübergang und in gleicher
Weise dann auch für die jene unendlich ernsten Tage in Canossa behandelnden
Abschnitte, daß sie sich gerade dort finden, wo Lambert bald darauf mit seinem
ganzen Werke plötzlich abbricht, und daß demnach bei der Schilderung dieser
Begebenheiten sich die Schreibweise Lamberts in allen ihren Vorzügen und
Schwächen besonders scharf ausgeprägt hat. Hierauf beruht nun ebensosehr die
lebensvolle Darstellung jener Kapitel wie auch die Leichtigkeit, mit der man
trotzdem in diesen die einzelnen Tatsachen wie die verschieden gefärbten Fäden
eines Gewebes auf ihre Wahrheit und Echtheit hin auseinandertrennen kann.
So stellt es Lambert, und deshalb auch viele Spätere, als ganz unerhört hin,
daß sogar Heinrichs Verwandte diesem erst dann die Durchreise erlaubten, nach-
dem sie für sich selbst einen stattlichen Gewinn herausgeschlagen hatten. Es
ist dies aber doch eine Gelegenheit, die sich in der Politik, wie sie nun einmal
stets gewesen ist, niemals eine aufstrebende Macht entgehen lassen wird. Wir
befinden uns ja hier zugleich mitten in dem Zeitpunkt, während dem der Anfall
aller dieser Gebiete an Savoyen vor sich ging, und es ist recht wertvoll, daß
wir hier nicht nur von Lambert ausdrücklich erfahren, daß die Macht der Mark-
grafen von Susa schon damals in diesen Gebieten besonders gefestigt war,
sondern daß wir auch die Tatkraft kennen lernen, mit der diese jetzt jene Sach-
lage ausnutzten.
Als Heinrich von Besan?on aus den Weg nach dem Mont Cenis hinan-
steigen wollte, kam ihm trotz des harten Winters die Mutter seiner Gattin, die
Markgräfin Adelheid von Susa, von der anderen Seite rechtzeitig entgegen und
ließ ihn nicht eher die Reise fortsetzen, als bis er den Preis für den Durchzug
gezahlt hatte, und — man gestatte einmal in einen anderen Ton zu fallen —
nach allem Vorangegangenen wird jene energische Schwiegermutter auch nichts
weniger als Veranlassung zu einem besonders liebevollen Empfang gehabt haben.
Damals muß also hier im Hochgebirge, wenig westlich des Paßüberganges, bei
Schnee und Kälte, jene Auseinandersetzung stattgefunden haben, auf die „viel
') La. S. 282 f.
I
Die Straßen der Westalpen. I75
Arbeit und Zeit verwendet wurde" und bei der sich der König jedenfalls in
einer ungeheuer bedrängten Lage befand, durch die Härte des Winters, noch
mehr aber, weil mit jeder Stunde, um die sich die Reise verzögerte, die kurze
Frist verringert wurde, die Heinrich noch bis zur Lösung vom Banne blieb.
Die Aufnahme, die der König später bei den Italienern fand und die ihm die
Freiheit verschaffte, nach Belieben dem Papste mit Waffengewalt entgegenzutreten
oder diesen auch nur persönlich zu stellen, zeigt aber doch, daß der gezahlte
Preis nicht zu hoch war.
Die Art, wie dann der Abstieg bei der ungünstigen Witterung vor sich
geht, als „kundige" Führer gemietet, die Frauen auf Ochsenhäutc gesetzt und
die Pferde „mit Hilfe gewisser Vorrichtungen" herabgelassen werden, lassen nun
auch einen Blick in die Technik der mittelalterlichen Verkehrseinrichtungen in
den Hochalpen tun; denn alle diese Anstalten müssen für die Fälle der Not
damals durchaus gebräuchlich und ausprobiert gewesen sein, und sie waren eben
nur bei der Reise dieses Herrschers etwas Außergewöhnliches, der hier mit
Gattin und Kind unbedingt vorwärts mußte und kein günstigeres Wetter abwarten
konnte, wie Lambert ja alle diese Schwierigkeiten auch nur deshalb hervorge-
hoben hat, um die Katastrophe des Königs recht eindringlich hinzustellen.
Auch hier läßt sich nebenbei bemerken, welche große Rolle die Erhaltung der
Pferde auf allen solchen Reisen gespielt hat. Es ist ferner nur eine Vermutung,
aber eine solche, die in dem innersten, sich ewig gleichbleibenden Wesen der
Menschennatur begründet ist, daß wenn nicht überhaupt der Gedanke zu diesem
Zug nach Italien, so doch die Wahl des Weges auf die Gattin Heinrichs, jene
Berhta von Susa, zurückzuführen ist, bei der damals »wie es bei rechten Frauen
immer der Fall ist, das Unglück die volle Kraft ihrer Natur, die in solchen
Lagen die Männer oft beschämt" '), entwickelt zu haben scheint, und wenn vor-
her Lamberts Geschichtsschreibung an dieser Stelle mit einem Gewebe verglichen
worden ist, so sind der Name der Berhta von Susa die goldenen Fäden, die in
dieses geflochten worden sind, und deren echter Glanz an Dauer und Schönheit
noch heute alle anderen überstrahlt.
Auch bei den anderen drei Fällen, bei denen der Mont Cenis noch von Spätere über-
einem deutschen Herrscher für den Übergang über die Alpen gewählt wurde, ffe"r^scher
sind deren Motive noch ganz deutlich zu erkennen, so bei der Rückkehr Frie- über den
drich Barbarossas im Frühjahr 1168, als er vor Rom durch die Macht der
Elemente, durch eine infolge des Umschlags der Witterung entstandene Seuche,
sein unvergleichlich schönes Heer verloren hatte und nun, da die anderen Pässe
gesperrt waren, hier durchzukommen suchen mußte. Damals spielte sich in
Susa jener Vorfall ab, als auf den Kaiser, der mit kleinem Gefolge reiste, ein
Mordanschlag geplant war und als Hartmann von Siebeneichen die Rolle Friedrichs
übernahm. Erst sechs Jahre später, 1174, konnte der Kaiser hierfür durch die
•) Mo. S. 61. Auch Berhta lebte nicht lange (f 1087).
176 I- Kapitel.
Einäscherung von Susa Rache nehmen, bei Beginn seines fünften Römerzuges,
der durch die Schlacht von Legnano besonders verhängnisvoll werden sollte
und zu dem er jedoch auch nur deshalb den Weg über den Mont Cenis wählte,
weil dieser allein frei war. Das letzte Mal, daß ein deutscher Herrscher hier
herüberzog, fällt dann in das J. 1310, zugleich recht eigentlich der letzte Römer-
zug, der überhaupt stattgefunden hat; damals nahm Kaiser Heinrich VII. diesen
Weg infolge seiner engen Beziehungen zu dem Herzog von Savoyen. Der
Übergang selbst mit nur einigen hundert Bewaffneten erfolgte während des Ok-
tobers, als hier schon der Winter eingetreten war. Wie einst der Langobarden-
könig Alboin auf einem Gifpel der Julischen Alpen, so soll auch Heinrich hier
auf der Paßhöhe i'm Angesicht von Italien auf die Kniee gesunken sein und die
göttliche Hilfe angerufen haben. Man sieht also, wie das Gefühl, daß die Über-
schreitung der Alpen den Anfang einer großen Zukunft bedeuten müsse, auch
jetzt noch dieselbe überwältigende Wirkung ausübt, und wie der Unterton in
dem Gedankenkreise der geschichtlichen Persönlichkeiten volle sieben Jahr-
hunderte hindurch der gleiche geblieben ist.
Der mittelaiter- £)ie eigentliche Bedeutung der Mont Cenis-Straße im Mittelalter ist dem-
verkehr über "äch viel mehr in dem Kulturverkehr zu suchen, wofür der beste Beweis da-
den Mont durch geliefert wird, daß wir gerade für diese Route die meisten und zum Teil
^ Akssandr?a. auch recht ausführliche Reiseberichte besitzen '). Wir haben solche aber nicht
nur von Franzosen (König Philipp August, 1191, bei der Rückkehr aus dem
heiligen Lande) sondern auch von Engländern und Niederdeutschen, wie es in
dieser Hinsicht besonders bemerkenswert ist, daß auch einer der besten Gewährs-
männer dieser Art, Albert von Stade, diese Route ganz genau beschreibt und sie
wahrscheinlich auch selbst gegangen ist. Von der Tatsache aber, daß einesteils
der Weg über den Mont Cenis und anderenteils derjenige über den Gr. S. Bern-
hard in der längsten Zeit des Mittelalters die weitaus begangensten Straßen in
der ganzen westlichen Hälfte der Alpen waren, ist nun die unmittelbare Folge
gewesen, daß dort, wo diese in Oberitalien in ihrer Verlängerung schließlich
zusammenlaufen, am sandigen Unterlauf des Tanaro, jetzt plötzlich zwei Orte
erscheinen, deren Bedeutung nur durch jene Verkehrslagerung verständlich wird,
Asti und Alessandria.
So ist Asti, das heute fast in Vergessenheit geraten ist, der früheste mittel-
alterliche Handelsplatz Oberitaliens und als solcher die hohe Schule des da-
maligen Geldhandels gewesen-). Die Söhne dieser Stadt stellten sich einst als
gewiegte Praktiker weit und breit nördlich der Alpen ein, um hier ihr aus der
Heimat überkommenes Gewerbe zu betreiben, das in den Augen der in einer
ausgeprägten Naturalwirtschaft lebenden großen Masse jener Zeiten freilich einer
schwarzen Kunst sehr ähnlich gesehen haben mag, und das wirklich an Härte
nichts zu wünschen übrig ließ. Dies erklärt aber auch zur Genüge, wenn
') Vgl. Oe. II. Beil. I. 2) Vgl. Schu. S. 308 f.
Die Straßen der Westalpen. 177
jenem Gemeinwesen bereits im J. 1037 von Konrad II. der freie Handelsweg
auf allen Straßen des Reiches und ausdrücklich auch „im Tale von Susa" zu-
gesichert wurde'). Der Ort aber, wo Alessandria im J. 1168 von dem lom-
bardischcn Städtebund eigentlich so recht als erstes nationales Bollwerk Italiens
seit den Tagen der Römer gegründet wurde, ist im Altertum noch viel mehr
leerer Raum gewesen, und es ist bezeichnend, daß diese Stadt auch heute noch
trotz ihrer Größe nicht durch eine einzige Sehenswürdigkeit sondern allein durch
ihre Lage und durch ihre bewegte Geschichte merkwürdig ist. Sie ist demnach
nichts anderes als das westliche Seitenstück des antiken Mantua, das an dieser
Stelle freilich erst im Mittelalter nötig wurde, da es denjenigen Unternehmungen
die Stirn bieten sollte, die jetzt auch von dem Nordwestflügel der Alpen gegen
Italien herangezogen kamen. Der Einfluß von Asti und besonders der von
Alessandria zeigt sich übrigens bereits zu Beginn des fünften Römerzuges Fried-
richs I. (1174—1178), als dieser, vom Mont Cenis herabkommend, zuerst Asti
erobern mußte und dann dasselbe vergebens an Alessandria versuchte, das
während dieser ganzen entscheidenden Jahre durchaus als das Rückgrat des
italienischen Widerstandes dienen konnte.
Neben dem Mont Cenis treten dagegen die Verhältnisse an den großen Der Weg über
antiken Straßen über den Mont Genevre und den Kl. S. Bernhard im Mittel- cenevre und
alter fast ganz in den Bereich der Lokalgeschichte zurück. Auf dem Mont der über den
„ ,.,._., . ,1 . j u • r-> c r> • Kl. S.Bernhard.
Genevre geschah die Stiftung eines Hospizes durch einen Graten von Brian^on
erst im J. 1340-), und nur ein einziger von allen deutschen Herrschern, gleich-
falls Friedrich I., hat diesen Paß, den Mons Januae wie er damals hieß, einmal
überschritten, als er sich (1177) in Arles als König des arelatischen Reiches
krönen ließ, und wobei demnach jene Route für den aus Italien kommenden
Kaiser durchaus vorgeschrieben war. Wir wissen ferner, wie intensiv sich das
religiöse Leben im Mittelalter äußerte, so daß damals selbst die Bewohner einer
so weltfernen Insel wie Island ein Kontingent der Rompilger ausmachten, und
wenn uns nun heute überhaupt die Nachrichten, die über jene Reisen vorhanden
sind, selbst schon bei oberflächlicher Betrachtung den Blick in eine Welt ver-
sunkener, fremdartiger und zum Teil recht schwer erklärlicher Kulturzustände
tun lassen, so ist an dieser Stelle zu erwähnen, daß unter den Straßen, die von
den Isländern bei ihren Reisen über die Alpen benutzt zu werden pflegten, der
sogenannte Iliansweg eine gewisse Rolle spielt. Unter diesem Weg hat man
nun aber ebenso den Weg über den Lukmanier (Ilaaz oberhalb Chur) wie
neuerdings auch denjenigen über den Mont Genevre zu erkennen geglaubt; es
ist dies nebenbei eine der hübschen gelehrten Streitfragen niederer Ordnung,
über die sich niemals völlige Gewißheit wird erzielen lassen, die aber doch
') Oe. 1. S. 225. 2) Da. I. B. S. 118.
Scheff:!, Vcrkchngescbfchte der Alpen. 2. B<nd. 12
178 '• Kapitel.
interessant genug sind, um immer wieder eine neue Stellungnahme und neuen
Streit hervorzurufen ').
Ist nun aber das Zurücktreten der Mont Genevre-Straße wegen des Auf-
kommens der nahe benachbarten Mont Cenis-Straße im Mittelalter ganz begreif-
lich, so reicht dieser Umstand jedoch nicht aus, um dieselbe Erscheinung auch
für den Kl. S. Bernhard, einer in ihrer Wegbarkeit so bequemen Alpenpassage,
wo noch dazu von den Römern so sorgfältig vorgearbeitet worden war, genügend
zu erklären. In den ersten Zeiten des Langobardenreiches, als die Sachsen hier
einmal in hellen Haufen nach Gallien herüberzogen, muß diese Straße jedenfalls
noch vollständig in Gebrauch gewesen sein 2), während sie dann bis in die
neueste Zeit einer immer größeren Vereinsamung verfallen ist, und ihre Schick-
sale recht eigentlich ein unerforschtes Gebiet genannt werden müssen. Auch
hier würde die Lokalgeschichte von Bourg S. Maurice und Moutiers zu einem
Schluß auf die Schicksale dieses Alpenweges selbst verhelfen können, und es
ist in dieser Hinsicht bemerkenswert, daß diese beiden Orte wenigstens noch
Spuren frühmittelalterlicher Kultur aufweisen, so Bourg S. Maurice infolge des
alten in dieser Zone beliebten Heiligennamens, und noch mehr Moutiers, weil
es noch in dem Testament Karls des Gr. unter den Metropolen des Franken-
reiches genannt wurde. Dagegen ist es kaum gestattet, auch die Divisio im-
perii Karls (806) als Zeugnis für die damalige Benutzung des Weges über den
Kl. S. Bernhard zu verwerten, da diese hier nur den Weg über Aosta als Ein-
trittsroute nach Italien nennt, und sonst nirgends ein Fall nachgewiesen werden
kann, bei dem durch letzteren Ausdruck nicht der Weg über den Großen
sondern über den Kl. S. Bernhard hätte bezeichnet werden sollen. Auch sonst
muß es auffallen, daß die Adelsburgen an diesem Wege fast ganz fehlen, und
daß man diesem Übergang im Mittelalter schlechterdings niemals in der Ge-
schichte begegnet, während sein jetziger Name einfach daher rührt, weil das da-
selbst befindliche Hospiz früher von Mönchen aus dem Kloster des Gr. S. Bern-
hard bestellt wurde.
') Vgl. Schu. S. 100 f.; Oe. I. S. 257 f. Es ist zunächst zweifelhaft, ob es ein oder zwei Ilianswege
gegeben hat, und es wäre vielleicht auch zu erwägen, ob der Ausdruck llians nicht überhaupt
nichts anderes als Isländisch selbst bedeutet. 2) p. £>. s. 52.
II. Kapitel.
Der Große S. Bernhard.
Wir kommen nunmehr zu dem Gr. S. Bernhard, der für die ersten achthundert Beherrschende
I_iä?c des Gr
Jahre des Mittelalters recht eigentlich der König der Alpenpässe genannt werden s. Bernhard im
muß. Zwar hatten auch schon die Römer die Vorteile von dessen Lage erkannt und Mittelalter.
ihr im Prinzip Rechnung getragen; voll zur Geltung kam sie jedoch erst im Mittel-
alter, als damals einesteils Ober- und Mittelitalien und anderenteils das nördliche
Frankreich, die Rheinlande und am Rande dieses Kreises später auch England
die belebtesten, reichsten und wichtigsten Gebiete Europas waren, und nun allein
dieser Alpenweg, ohne daß schon andere seiner Konkurrenten an das Tageslicht
getreten wären, die Verbindungen zwischen jenen beiden Zentren der damaligen
Kultur auf weite Strecken an sich zog. Es ist dies zugleich eine Erscheinung,
die wiederum die für alle Zeiten und an allen Teilen der Erde geltende Wahr-
heit bestätigen kann, daß bei der Auswahl der großen Weltstraßen die weiten
Ziele des Verkehrs, wenn sie nur erst einmal aktuell geworden sind, stets das
erste Wort zu sprechen pflegen, und daß jener Antrieb, nachdem er sich einmal
eingespielt hat, dann auch ruhig einzelne schwierige und unbequeme Stellen auf
der im ganzen erprobten und lohnenden Bahn in Kauf nimmt. Denn die Gang-
barkeit dieses Alpenweges ist von seinem Eintritt bis zu seinem Austritt aus
dem Gebirge auch im Mittelalter trotz aller seiner Belebtheit schwierig genug
gewesen, und selbst wenn die Natur in der eigentlichen Hochgebirgsregion
jener Linie früher ein milderes Gesicht gezeigt haben mag, so treten doch ge-
rade hier alle die unvollkommenen Seiten des mittelalterlichen Verkehrslebens,
wie das Unvermögen im eigentlichen Straßenbau und die Unsicherheit und
Gefährdung des Transportwesens durch die rücksichtslose Ausnutzung der Straßen-
sperren, nur um so greller zu Tage.
Selbst wenn keine anderen Anzeichen für die Belebtheit und Bedeutung Reise- und
der Straße über den Gr. S. Bernhard im Mittelalter vorhanden wären, so würde verkehr,
dies schon aus den Ortschaften entlang des Weges, die jetzt plötzlich viel zahl-
12*
180 II- Kapitel.
reicher als in der Römerzeit auftreten, und ganz besonders aus der Art ilirer
Namen hervorgehen; denn wie in Parade ziehen hier die besten Heiligen an
uns vorüber: S. Triphon, S. Maurice, Martigny, S.Jean und S. Etiez, Orsieres
(Pons Ursarii), Boury S. Pierre (S. Petri castellum), das Bernhardhospiz, S. Remy
(villula S. Remigii), S. Christophe, S. Marcel, S. Vincent, S. Germain bis herab
nach Pont S. Martin, wo die Straße von dem Gebirge Abschied nimmt. Ein
nicht weniger in das Gewicht fallendes Indizium liefert aber auch die Tatsache,
daß jene Straße von der Geistlichkeit, die damals den weitaus stärksten Teil
der friedlichen Alpenreisenden ausmachte, mit Vorliebe benutzt wurde, während
weiterhin der internationale Charakter jener Route sich auch darin ausspricht,
daß in der Lebensbeschreibung des h. Bernhard selbst der durchreisenden
Engländer besonders Erwähnung geschieht')- Es ist denn auch eine lange Reihe
solcher Personen hohen und niederen Ranges, die wir hier herüberziehen und
den verschiedensten Zielen zustreben sehen, so u. a. Papst Stephan III., als er
753 zum König Pippin reiste, Bischof Udalrich von Augsburg, Abt Majolus von
Cluny, 990 Sigerich von Canterbury, 1001 Bernhard von Hildesheim, verschiedene
Male Bischof Bruno von Toul, den spätem Papst Leo X., und 1127 den Bischof
von Lüttich und den Abt von S. Trond-).
So ist es denn auch ganz erklärlich, daß keine andere als diese Straße im
Mittelalter zur ersten großen Handelsstraße der Alpen werden mußte. Die erste
Erscheinung, durch die sich der Handelsverkehr jener Zeiten aus der Dürftig-
keit, Unregelmäßigkeit und Unergründlichkeit rein naturalwirtschaftlicher Ver-
hältnisse zu einem bestimmten, stetigen und abgegrenzten Stromgebiet heraus-
gearbeitet hat, tritt an die geschichtliche Oberfläche im zwölften und dreizehnten
Jahrhundert, als die Straße über den Gr. S. Bernhard ihre hervorragende Stellung
in dem Verkehrsleben der Alpen noch voll behauptete, und als nun auch der
Handel die Konsequenzen dieses Zustandes gezogen und sich an der oberen
Seine ein Gebiet geschaffen hatte, wo die Hauptfäden des mittelalterlichen
Lebens Mitteleuropas zusammenliefen. Es sind dies die Messen in der Kam-
pagne, in Bar s. A. und Troyes, in denen dieser Zustand feste Formen ange-
nommen hat und zu denen nun auch der von Oberitalien kommende Handel
hinstreben mußte •^), während die engen Beziehungen der Linie über den
Gr. S. Bernhard als Handelsstraße zu jenem Zentrum in der Kampagne durch
nichts besser beleuchtet werden, als durch die eine Tatsache, daß das Hospital,
das sich auf dem Markte von Troyes befand, dem Kloster des Gr. S. Bernhard
unterstellt war''). Das erste Zeugnis eines über diesen Paß laufenden regelrechten
Handelsverkehrs datiert freilich bereits aus dem J. 960, als der Bischof von
Aosta die Höhe der Zollsätze von den Waren bestimmte, die in diesem Orte
selbst verkauft werden oder ihn passieren sollten =). Der Kreis der einzelnen
') Oe. I. S. 248. 2) Oe. I. S. 239 f, 247, 250. ^} Eine von Troyes nach Ivrea gezogene Gerade
schneidet auch Martigny. 4) Schu. S. 161. =) Oe. I. S. 249.
Der Große S. Bernhard. 181
Warengattungen ist jedoch damals noch nicht allzugroß und beschränkt sich
neben Metallen auf allerlei Waffen und Ausrüstungsstücke, außerdem auf Pferde,
Falken und Affen; er erstreckt sich also fast nur auf die ersten und not-
wendigsten Bedürfnisse des mittelalterlichen Kulturlebens. Wie ungeheuer dann
aber der Handelsverkehr hier zugenommen haben muß, zeigt später, als die
Messen in der Kampagne in Blüte standen, an Menge wie an Verschiedenartig-
keit das Verzeichnis der Waren Tuche, Wollen, Felle, Kramwaren, Pferde — ,
die den Zoll von Villeneuve hei Chillon passierten ').
Nicht im Vergleich zu der Ausdehnung dieses Kulturverkehrs stehen nun Die Römerzüge
aber die geschichtlichen Ereignisse, insonderheit solche aus den Römerzügen, ~^er den Gi^
bei denen die Straße über den Gr. S. Bernhard zu nennen ist. Diese Tatsache s. Bernhard,
findet jedoch darin ihre Erklärung, weil jener Weg für die nach Italien streben-
den Herrscher nur bis zum Ende des Karolingerreiches wirklich bequem und
zweckdienlich gelegen war, und weil die späteren deutschen Könige durch die
östlicher gelegenen Übergänge viel kürzer zu demselben Ziel geführt wurden.
Als Karl der Gr. im J. 801 hier herüberzog, feierte er in Ivrca Weihnachten
und setzte dann tief im Winter die Reise fort; es ist demnach auch hieraus zu
ersehen, daß im Mittelalter ungünstige Witterungsrerhältnisse im Hochgebirge
an sich noch durchaus nicht ein allzugroßes Reisehindernis zu bedeuten brauchten.
Auch die historische Reise des Papstes Gregor IV. (833) nach dem Lügenfelde,
wo dieser die Katastrophe Ludwigs des Frommen in Szene setzte, ist denselben
Weg gegangen. Karl der Dicke (i* 888), der dann noch einmal die ganze
Monarchie Karls des Gr. in seiner Hand vereinigte, ist nebenbei auch derjenige,
der von den Herrschern nördlich der Alpen die meisten Alpenübergänge, vier-
zehn, und somit selbst mehr als Friedrich Barbarossa, ausgeführt hat, aber nur
von einem einzigen dieser Züge, von dem Rückweg aus Italien im J. 880, steht
es wirklich fest, daß dabei der Gr. S. Bernhard benutzt worden ist.
Weitere Fälle, bei denen die deutschen Herrscher in Person sicher diesen
Weg betreten haben, liegen dann nur noch für das J. 1110, als Heinrich V. zu
seinem ersten Römerzug aufbrach, und 1414 bei der Rückkehr Sigismunds aus
Italien vor, obwohl es außerdem, wie wir gesehen haben, durchaus üblich war,
daß bei den Römerzügen großen Stiles die in Westdeutschland aufgebotenen
Streitkräfte vor ihrer Vereinigung mit dem Hauptheere oder nach dessen Auf-
lösung in Italien als selbständige Kolonnen hier herüberzogen. Eine geschicht-
lich ganz einzig dastehende militärische Bewegung sah der Gr. S. Bernhard
außerdem unter der Regierung Konrads II., als dieser zur Besetzung des burgun-
dischen Reiches (1034) ein italienisches Hilfsheer verwenden konnte, das damals
hier herüber bis nach Genf vorrückte; es ist dies demnach der einzige Fall, bei
dem einmal während des Mittelalters italienische Streitkräfte nördlich der Alpen
in Wirksamkeit traten^), und zugleich eine Bestätigung der Beobachtung, daß zu
') Um 1290. Vgl. Schu. S. 164. 2) Oehlmann (Oe. 1. S. 251) macht mit Recht hierauf aufmerksam.
182 II- Kapitel.
den Zeiten der Salier die Verbindung zwischen Deutschland und Italien auch
praktisch verhältnismäßig am weitesten vorgeschritten gewesen ist.
Ivrea. Eine lange und nichts weniger als bequeme Gebirgswanderung hat man bis
zu den Ufern des Genfersees zurückzulegen, nachdem man in Ivrea die
Italienische Ebene verlassen hat. Und doch endigt bereits hier das Südland im
eigentliche Sinne, nicht nur weil wenig nördlich dieser Stadt die französische
Sprache sondern ebenso auch die schwierigen und engen Gebirgswege beginnen,
wie sie gerade am Südrande der Alpen die Natur überall so ausgeprägt ge-
schaffen hat. Anders jedoch als Como oder Udine, die gleichfalls am südlichen
Ausgang wichtiger Alpenstraßen liegen, hat sich dieses Ivrea niemals zu dem
Range einer Mittelstadt zu erheben vermocht, weil es immer noch der Innen-
seite jener Biegung zu nahe gerückt liegt, mittelst der die Alpen hier aus der
südnördlichen in die westöstliche Richtung übergehen. Um so mehr ist es da-
her zu bemerken, daß die geschichtliche Bedeutung dieses Ortes sich einmal
sozusagen vervielfacht hat, im zehnten Jahrhundert, als die dortigen boden-
ständigen Markgrafen plötzlich als nationale Könige Italiens auftraten, ein skrupel-
loses und gewaltsames Geschlecht, zwar mehr Prätendenten als eigentliche
Herrscher, aber immerhin doch so einflußreich, daß sie fast ein Jahrhundert
hindurch ihre Ansprüche aufrechterhalten konnten und die Sachsenkaiser sich
mehr als einmal mit ihnen auseinandersetzen mußten. Noch Heinrich II. hatte
mit Arduin II. von Ivrea abzurechnen, der schließlich (1014) in einem Kloster,
dem Exil der mittelalterlichen Herrscher, endigte. So sehen wir also in der-
selben Randprovinz, aus der achthundert Jahre später für Italien die nationale
Dynastie herkommen sollte, schon damals ähnliche Lebensregungen auftreten,
eine Tatsache, die es einesteils wieder vor Augen führen kann, wie vielen ver-
schiedenen Möglichkeiten die Unfertigkeit der staatlichen Zustände Europas nach
dem Untergange des Karolingerreiches Raum bot, und die andererseits von neuem
das nordwestliche Oberitalien als dasjenige Gebiet heraustreten läßt, wo während
der ersten Hälfte des Mittelalters der kulturelle Schwerpunkt des ganzen Landes lag.
Von Bard über Nördlich Ivrea tritt dann die Straße in jenen Engpaß ein, den nach Norden
Hospu'"a^uM^ z" das heutige Fort Bard (castellum Bardum) abschließt. Hier sehen wir nun
Paßhöhe, ein Bild vor uns, wie es im Mittelalter an dem südlichen Ausgang der Alpen-
wege durchaus typisch und deshalb auch von demjenigen während der römischen
Kaiserzeit ganz verschieden ist, eine Situation, die u. a. ganz in gleicher Weise
damals auch an der Berner Klause wiederkehrt. Einst hatte die römische Er-
oberung, nachdem sie sich einmal in weitem Sprunge nach Norden vorwärts-
zuschreiten entschlossen hatte, überall durch jene Engpässe einfach die Straße
durchgebrochen und dann in angemessener Entfernung und an bequemen Stellen
ihre Stationen angelegt. Dies ist daher zunächst der Grund, weshalb von allen
jenen Engpässen selbst im Altertum fast nichts verlautet, während sie dann im
Mittelalter nur um so mehr als Bollwerke des Südlandes, als Klausen und
Der Große S. Bernhard. 183
Sperren dienen mußten. Vergleichen wir nun aber im besonderen die Art, wie
sich einesteils dieser Engpaß und anderenteils die Berner Klause geltend ge-
macht haben, so läßt sich auch darin das verschiedene Wesen der beiden Alpen-
straßen erkennen, die durch jene gesperrt werden sollten; die Berner Klause
mit ihrem volltönenden Namen, die bis zum Ende der Staufer so viele Heer-
führer vor harte Aufgaben stellte, hier am Gr. S. Bernhard dagegen die farblose
Bezeichnung der Engen von S. Marti«, die einzelnen Reisenden zwar auch oft
ein Halt zugerufen, die in den großen geschichtlichen Ereignissen aber viel
weniger eine Rolle gespielt haben.
Wenn heute Straße und Bahn bis Aosta das linke Ufer der Dora nicht
verlassen, so läßt doch der Umstand, daß Pollein (Publeja) in den mittelalter-
lichen Itinerarien genannt wird, vermuten, daß damals der Weg auf dem rechten
Ufer der Dora gelaufen ist'). Von Aosta selbst ist dagegen im Mittelalter wenig
zu sagen, da es jetzt von der Bestimmung eines großangelegten, zwei römische
Militärstraßen beherrschenden Postens zu einem Punkt herabgesunken ist, der
nur auf den Verkehr der vom Gr. S. Bernhard herabkommenden Straße un-
mittelbar Einfluß haben konnte, und weil auch damals, ebenso wie zu allen
anderen Zeiten, dieser Ort durch seine Lage inmitten des Gebirges daran ge-
hindert war, den Handel an sich zu fesseln, der jenen Platz immer nur unter
dem Gesichtspunkt betrachten kann, wie er von hier möglichst rasch und be-
quem nach dorthin gelangt, wo mehrere Straßen aus verschiedenen Absatzgebieten
zusammenlaufen. Wer das Wesen eines Ortes im Mittelalter kennen lernen will
muß zunächst nach den Kirchen gehen, und so finden wir in Aosta an jenen
Gebäuden (Kathedrale, S. Ours) die bemerkenswertesten Zeugnisse mittelalter-
licher Bautätigkeit an dem ganzen Lauf der Straße des Gr. S. Bernhard durch
das Gebirge, wie jene daher auch im Vergleich zu dem vornehmen antiken
Rahmen, in den sie eingelassen sind, zwar durchaus nicht den Unterschied
zwischen den wirklichen Kulturmitteln der Römerzeit und denen des Mittelalters,
wohl aber besonders deutlich die veränderte Stellung Aostas innerhalb dieser
beiden Perioden veranschaulichen können. Politisch gehörte Aosta, nachdem
es mit dem Verfall des Karolingerreiches von den fränkischen Grafen verlassen
worden war, zunächst zu Hochburgund, bis auch hier die Savoyer Fuß faßten,
die bereits zu Anfang des elften Jahrhunders dort die Grafengewalt ausgeübt haben
und dann auch weiter systematisch entlang dieser Linie nach Italien vordrangen,
1242 bis Bard, das Amadeus von Savoyen nach langer Belagerung eroberte, und
1313 bis Ivrea. Wer die Geschichte der Hauses Savoyen schreibt wird daher
besonders zu bemerken haben, daß jene fern von Rom liegenden Alpentäler von
Aosta selbst dem Stadtgebiet von Turin den Rang als ältesten unveränderten
Besitz dieser Dynastie streitig machen können.
Von Aosta nördlich beginnt der eigentliche Hochgebirgsweg, der, bevor er
zur Fahrstraße ausgebaut wurde, noch bis in die allerneueste Zeit auf eine fünf
') Oe. I. S. 235, 250.
184 11. Kapitel.
Stunden lange Strecke südlich und nördlich der Paßhöhe nichts anderes als ein
beschwerlicher Saumpfad gewesen ist, im Mittelalter aber in noch viel größerer
Ausdehnung und in stärkerem Maße diesen Charakter an sich hatte. Auch da-
mals wird Etroubles als Restopolis viel genannt, wo die Reisenden Sommer und
Winter in Scharen durchpassierten. Die nachweisbar älteste Gründung des
Mittelalters im Bereich der höchsten Zone der Straße liegt jedoch nicht auf der
Paßhöhe selbst sondern nördlich bei der letzten eigentlichen Ortschaft, dem
1663 m hoch gelegenen Bourg S. Pierre, wo sich schon im Anfang des neunten
Jahrhunderts ein Kloster, die abbatia montis Jovis S. Petri, vorfindet'), das
schon um seines Namenswillen angesehener als andere gewesen sein muß, und
dieses Kloster ist es wohl auch, das hier als wichtiger Straßenpunkt in den
Teilungsverträgen der Karolinger eine Rolle spielt. Dies schließt jedoch nicht
aus, daß zu der gleichen Zeit auch auf der Paßhöhe selbst bereits ein Hospiz
bestanden haben kann, und daß dieses von den Sarazenen zerstört wurde. Die
eigentliche Geschichte dieses weltberühmten Hospizes hebt dagegen erst zu
Anfang des neuen Jahrtausends mit der Gründung durch den h. Bernhard von
Menthon (f 1008) an.
Die Gebäude jener Anstalt, die nunmehr eine lange Reihe von Jahrhunderten
hindurch stets ganz in derselben Weise ihre ebenso schwierige wie kulturfreund-
liche Bestimmung erfüllt hat, sind so wie wir sie jetzt vor uns haben auch schon
fast vierhundert Jahre alt, wie überhaupt erst die Erbauung der Fahrstraße in
das Bild des Reiseverkehrs an dieser unter der Allgewalt des Hochgebirgs
stehenden Wohnstätte einige Veränderung hineintrug. Auch heute noch ver-
knüpft sich vornehmlich mit dem Namen des Gr. S. Bernhard die Vorstellung
einer Alpenreise, nicht einer solchen der Jetztzeit, aber einer mit allen jenen
Mühen und Gefahren, die den früheren Geschlechtern nun einmal nicht erspart
blieben. Aber deshalb vermag auch die Geschichte dieses Alpenüberganges in
doppelter Beziehung den Beweis zu liefern, welch' tiefe Wurzeln die wirklich
segensreichen Kulturschöpfungen in dem Gedächtnis der Nachwelt zu treiben
pflegen; denn wenn heute jener Name noch auf lange hinaus seinen inhaltsreichen
Klang behalten wird, so hat es doch ebensolanger Zeiträume bedurft, bis er
schließlich seinen antiken Vorläufer verdrängen konnte. Noch in der ganzen
ersten Hälfte des Mittelalters hieß jene Paßhöhe zuweilen der Weg des Julius
Cäsar, sonst aber zumeist Mons Jovis-); auch noch im J. 1128 erwähnt ein
Reisebericht in keiner Weise daselbst die Existenz eines Hospizes, wohl aber das
heidnische Heiligtum des Juppiter-^), und erst zu den Zeiten, als dessen Ruinen
vollständig vor den Augen der Durchreisenden verschwunden sein mögen, hat
daher das greifbare Symbol der neuen Religion seinen Platz in dem Gedanken-
leben der Völker einnehmen können.
') Schu. S. 60f. Vgl. auch Oe. 1. S. 235f. Eine reizvolle Aufgabe wäre es, die genaue Lage jenes
Klosters festzustellen, wie überhaupt die Lokalgeschichte in der obersten Zone dieses Alpenweges
große Lücken aufweist. 2) Ekkeharts IV, Casus S. Galli, L. Dyk. S. 15; Ra. S. 45. 3) Oe. I. S. 257.
III. Kapitel.
Das Mittelalter am S. Gotthard.
Wer zu den Zeiten der Römerzüge vom Gr. S. Bernhard aus das Alpen- Die über die
gebiet nach Osten überblickte, der fand damals hinsichtlich des Verkehrsbildes un^ Berner
noch kaum eine andere Situation vor als wie sie bereits ein Jahrtausend früher Alpen führen-
„ . , , , , ... r,.. , , den Übergänge
unter dem Romerreich bestanden hatte, als östlich erst wieder in Bunden und j^, Mittelalter.
in weiter Entfernung von hier wirklich betretene und ausprobierte, von Italien
nach dem Norden führende Straßen das Alpengebiet übersetzten. Nicht allzulange
darauf, zu der Zeit, in die man den Beginn der letzten Periode des Mittelalters
zu setzen pflegt, hat sich dann aber diese Lage wie mit einem Schlage gänzlich
verändert. Die Erscheinung, daß zu jenem Zeitpunkt sich die alten Verkehrs-
verhältnisse verschieben, und daß vor allem jetzt nach und nach eine ganze Reihe
neuer Verbindungen dem großen Verkehr dienstbar gemacht werden, gilt nun
zwar überhaupt für das ganze Alpengebiet; nirgends aber hat sie doch die alten
Verhältnisse so von Grund aus verrückt als eben in jener Lücke zwischen dem
Gr. S. Bernhard und den bündner Straßen, in der jetzt dort plötzlich der Weg
über den S. Gotthard an das Tageslicht tritt.
Trotzdem müssen wir, bevor wir in diesen selbst herantreten, noch einen
Blick auf das Schicksal werfen, das die westlich desselben gelegenen Alpenland-
schaften und Gebirgswege im eigentlichen Mittelalter durchlebt haben. Schon
das eben Gesagte ergiebt, daß auch für den Simplon die Hauptzeit des Mittel-
alters nur eine dunkle und stille Periode gewesen sein kann, während der er
eine Verbindung zweiter Ordnung war und blieb, ein Zustand, der sich besonders
darin widerspiegelt, daß irgendwelche ältere Gründungen sogar in noch stärkerem
Maße als die Römerspuren hier an der eigentlichen Gebirgslinie zwischen Domo
d' Ossola und Brieg fehlen. Wie geschichtslos liegt auch heute noch jenes neben
Chiavenna und dieses neben Thusis da, und wenn auch abwärts in Sitten das
Bild sich ändert und dort die Erinnerungen an das Mittelalter zahlreicher und
wichtiger werden, so hatte diese Stadt ihre damalige Bedeutung doch viel weniger
186 III. Kapitel.
dem vom Simplon gekommenen Verkehre sondern vielmehr ihrer Stellung als
unbestrittener Vorort des langen Wallis zu verdanken.
Die lebendige Kraft aber, die allein den großen Verkehr nach dem Simplon
zu leiten vermag, liegt bei diesem noch viel ausgesprochener als bei dem S. Gott-
hard allein in Mailand, weil für das Verkehrsbedürfnis, das von dort nach Nord-
westen, nach den Gestaden des Genfersees und in das Herz Frankreichs zielt,
keine kürzere und zielgerechtere Linie als durch die Schlucht von Gondo ge-
funden werden kann. So ist der Simplon, wie die ganze spätere Geschichte
dieses Weges beweist, tatsächlich eine Alpenlinie, die nur für Frankreich und
Oberitalien, für diese beiden aber um so größere Wichtigkeit hat, und die außer-
dem, trotzdem sie der geographischen Mitte der Alpen äußerst nahe liegt, doch
allen Einflüssen aus direkt nördlicher Richtung ganz entrückt ist. Erst der
Zusammenbruch der deutschen Herrschaft in Oberitalien, der auf diesem Boden
mit dem Ende des Mittelalters gleichbedeutend ist, hat Mailand seinen gesicherten
Rang einer Hauptstadt der Lombardei verschafft. Schon während sich dieses
Verhältnis vorbereitet, sehen wir nun aber auch entlang der Simplonstraße Leben
erwachen. Gerade dort ist daher das J. 1234, in dem das Johanniterhospiz auf
dem Simplon zum ersten Mal erscheint, von doppelter Wichtigkeit, weil das
Dasein eines solchen überhaupt einen Verkehr voraussetzt '), während dann bald
darauf, und besonders im vierzehnten Jahrhundert es nur die Mailänder sein
können, von denen die Instandhaltung jenes Weges systematisch in die Hand
genommen wird, als hier in langer Reihe, in Sitten, Leuk, Visp, Brieg, Domo
d' Ossola und Vogogna Susten (Lagerhäuser) entstehen, Transportgenossenschaften
eingerichtet werden und auch die Zahl der Hospize (1425 Gondo) sich mehrt-).
Wir befinden uns eben jetzt schon mitten in jener letzten Periode des Mittel-
alters, in der die materiellen Interessen eine solch' ausnehmende Wichtigkeit
erlangt haben, daß sich sogar die Politik überall von ihnen ins Schlepptau nehmen
lassen muß, ein Zustand, der in einem so ausgeprägten Durchgangsgebiet, wie
es die Alpen immer gewesen sind, in doppelter Stärke auftritt. Die erste be-
zeugte Simplonfahrt, die eines Erzbischofs von Rouen, gehört in das J. 1254,
und im J. 1331 ist dann auch einmal Karl IV., als er noch nicht Kaiser war,
von Luxemburg und Lausanne kommend über den Simplon nach Pavia gezogen;
es ist ein kleiner aber bezeichnender Zug für den Charakter dieses unterneh-
menden und praktischen Mannes, daß er sich gerade jenen neuen Weg, der für
sein Reiseziel so zweckentsprechend lag, herausgesucht hat.
Westlich des Simplon führen dann noch über den Theodulspaß (Matterjoch),
den Monte Moro- und den Antronapaß Verbindungen über die Penninischen
Alpen. Es sind dieses aber alles Übergänge, die wegen ihrer gewaltigen Höhe
stets doch nur in der guten Jahreszeit sicher passierbar waren ^), und die daher
auch schon um deswillen niemals für den großen Verkehr ernstlich in Frage
') Schu. S. 212. 2) schu. S.215. 3) Schu. S. 5.
Das Mittelalter am S. Cotthard. 187
kommen konnten. Dieser Sachlage tut es jedoch keinen Eintrag, daß der Lokal-
verkehr, der sich ja überall seine Wege sucht, möglicherweise auch jene Linien
früher viel eifriger benutzt hat, und daß sie einst, bevor der Simplon zur großen
Alpenstraße wurde, diesem selbst an Wichtigkeit kaum nachgestanden haben
mögen. Es verdient deshalb auch einige Beachtung, wenn heute südlich Visp
ein Ort mit Namen Stalden (Stalla) anzutreffen ist, gerade dort, wo der Weg
vom Theodulspaß und der vom Monte Moro in einen zusammenlaufen. Die
gegenüberliegenden Übergänge der Berner Alpen, die Gemmi und die Grimsel,
sind nun zwar an sich niedriger als jene, aber auch diese werden sich niemals
zu Alpenstraßen erster Ordnung entwickeln können, da vor ihrem südlichen
Ausgang, ähnlich wie bei den Tauern, eben noch jener zweite Alpenwall vorge-
lagert liegt. Als Lokalverbindungen ist jedoch deren geschichtliche Rolle von
Anfang an viel durchsichtiger und auch deren Bedeutung schon seit langer Zeit
viel größer als die jener Obergänge, die sich heute durch die Gletscher des
Monte Rosa-Gebietes hindurchwinden.
Wenn das Berner Oberland bis zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Bern,
noch eine terra incognita war, so ist dies nur die letzte Epoche eines Zustandes
gewesen, der sich im Mittelalter von hier in noch viel größerer Ausdehnung bis
dahin erstreckte, wo die letzten Ausläufer der Alpen in der von der Aare durch-
flossenen Ebene verschwinden* Es heißt, daß Berchtold V. von Zähringen, als
er 1191 Bern gründete, diesem Platz jenen Namen in Erinnerung an die ehemals
von seinem Hause besessene Markgrafschaft Welschbern (Verona) gegeben habe;
und wenn dies auch bloß eine Tradition sein mag, so verbirgt sich in ihr doch
die gleiche geschichtliche Tatsache; sie hätte nicht entstehen können, wenn nicht
dort, wo heute die Türme Berns emporragen, damals kulturelles Neuland ge-
legen hätte, und wenn nicht die Geschichte jenes ganzen Landstriches tatsächlich
erst zu dem Zeitpunkte, in dem Bern entstand, ihren Anfang nähme. Dies ist
nun aber auch genau derselbe Augenblick, als in den Alpenländern jene neuen,
ganz anders gearteten Kräfte zu wirken einsetzen, von denen emporgehoben das
nach dem Aussterben der Zähringer (1218) zur freien Reichsstadt gewordene
Bern nun hier plötzlich wie über Nacht als ein zukunftreiches, von Erfolg zu
Erfolg schreitendes Gemeinwesen heraustritt. Damals hat dieser Ort dank seiner
sicheren Rückendeckung, die er in dem stillen Alpenland besaß, zunächst die
Ansprüche der Habsburger zurückgewiesen, um dann mit gesammelter Kraft
seine Herrschaft ringsherum, besonders ausgreifend und dauerhaft jedoch in die
Berge hinein auszubreiten, dorthin, wo seinen Widersachern von außen her die
wenigste Hilfe kommen konnte') Mit dem vierzehnten Jahrhundert bereits ist
diese Entwicklung abgeschlossen, und noch heute ist ihr Resultat in der Gestalt
des Kantons Bern erhalten geblieben, der ein ganzes Drittel der Schweiz ein-
') Diese günstige Stellung Berns hat schon ein Zeitgenosse, Thomas von Victring (Vict. S. 82),
ganz treffend charakterisiert-
188 111. Kapitel.
nimmt, und dessen Vorort, ebenso wie Chur und Salzburg, nördlich und talab-
wärts liegt, während sich sein natürliches Hinterland südlich breit und weit in
die Alpen hinein erstreckt.
So sehen wir daher sehr bald die Macht dieser Stadt bis an die Kämme
der Berner Alpen selbst heraufrücken und deren Pforten, die Gemmi und die
Grimsel, in ihre feste Hand nehmen. Vor allem Interlaken (1265) und das
Haslital (1334) sind früh von Bern abhängig geworden, was deshalb ganz folge-
richtig erscheint, weil von hier aus in Gestalt des Laufes der Aare und des
langen Thuner- und Brienzersees gerade nach dorthin eine von der Natur ge-
schaffene bequeme Verbindung führt. Auch auf der Gemmi findet sich schon
1318 ein Hospiz, wie überhaupt die Anzeichen für die Beziehungen zwischen
dem heutigen Berncr Land und dem Wallis zeitlich sehr tief hinabreichen. Es
ist besonders derselbe Adel hüben und drüben (Raron, Turn), der hier die
älteste erkennbare Schicht der mittelalterlichen Geschichte bildet, und dem
später durch die eiserne Faust der Berner ein Ende bereitet wurde, während
sein Dasein auch heute noch da und dort in den Burgruinen zu erkennen ist')-
Lokale Ver- Wer heute die Gotthardstraße von Flüelen bis südlich in das Livinental
B^ereicrdes durchwandert, der kann, schon wenn er bloß das Auge walten läßt, aus dem
S. Gotthard Fehlen der Burgruinen und daraus, daß kein einziger Ort an diesem Wege
ersteif"Häffte ^'"^ wirklich große Vergangenheit aufweist, den Schluß ziehen, daß diese Route
des Mittelalters, kein von altershcr gebräuchlicher Alpenübergang ist. Erst in der ersten Hälfte
des dreizehnten Jahrhunderts (um 1225) kann der Gotthardwcg, so wie wir ihn
heute verstehen, eröffnet worden sein 2), und es gehört sicher der allgemeinen
Geschichte, doch schon kaum mehr der des eigentlichen Mittelalters an, welch'
weite Kreise der Streit um seinen Besitz einst gezogen und wie sich hier nach-
einander die verschiedensten Gewalten, die deutsche Kaisermacht, die Habs-
burger, Mailand und die Eidgenossenschaft, den Rang abgelaufen haben; die
tiefgehenden Folgen aber, die durch die endgültige Entscheidung hervorgerufen
worden sind, treten auch am Gotthardmassiv selbst dadurch zu Tage, daß die
Situation, die vorher hier vorwaltete, durch sie vollständig in das Gegenteil ver-
kehrt wurde, und daß die junge Schweizer Eidgenossenschaft im Stande war,
diesen Grenzstock der verschiedensten Gebiete zum Mittelpunkte ihres ge-
schlossenen Machtbereichs zu verwandeln.
Aber auch zur Erklärung der frühesten Geschichte dieses Alpenweges
können die Verhältnisse an jenem Übergang, wie sie die Natur geschaffen hat
und wie der Mensch ihnen anfänglich gegenüberstand, in besonderem Maße
beitragen. Bei weitaus der Mehrzahl der großen Alpenstraßen findet sich die
Erscheinung, daß der Anstieg von Norden her verhältnismäßig bequem ist, und
daß sich erst am Südabhang die wirklich schwierigen Wegestellen vorfinden,
die nun auch durch die anfangs durchaus nur von Süden her an die Alpen
') Schu. S. 477. 2) Schu. S. 170.
Das Mittelalter am S. Gotthard. 189
herantretende Kultur viel unmittelbarer und nachdrücklicher dem Verkehr er-
schlossen worden sind. Nur vor einigen der bündner Pässe liegt nördlich auch
in Gestalt der Via mala eine wirklich schwierige Stelle, die aber doch, weil sie
wenigstens eine Umgehung gestattete, noch bei weitem nicht an das ursprünglich
am Nordausgang des Gotthard, zwischen Flüelen und Andermatt bestehende
Hindernis heranreichte, hier, wo die Ufer der zu Tal herabstürzenden Reuß
nur steile, zerklüftete Wände waren, so daß nicht einmal für den Fuß eines
Kletterers Raum blieb, und wo hauptsächlich auch rechts und links die Kämme
des Hochgebirges sogleich wieder so trotzig und wegefeindlich emporsteigen,
daß sich hier nicht einmal ein genügsamer Lokalverkehr zu entwickeln vermochte.
Nichts anderes als dieser natürliche Zustand ist daher auch der Grund gewesen,
wenn der Verkehr zwischen Deutschland und Italien im Mittelalter, als er nach
dem Verschwinden des antiken Kulturbildes schon längst eindringlich auf die
Mitte der Alpen hingewiesen worden war, doch hier zunächst nicht den Gotthard
sondern den Lukmanier oder Bernhardin für seine Zwecke dienstba. zu machen
suchte.
Oben an dem Nordabhang des Gotthard müssen wir uns daher in jenen
Zeiten nördlich LIri und südlich Urseren als zwei streng geschiedene Welten
vorstellen, ein Zustand, bei dem das nach dem Maßstabe des Hochgebirges
durchaus nicht unwohnlichc Urseren zwar von Osten und Westen, im geringen
Maße wohl auch von Süden über den Gotthardpaß selbst, keinesfalls aber von
Norden her mit der Außenwelt in Verbindung stand. Diese Lage spiegelt sich
auch darin wieder, daß sich Urseren in dem Augenblick, in dem es in die
Geschichte eintritt, unter der Oberhoheit von Disentis befindet '), weil es gerade
von dieser Seite her immer am leichtesten zugänglich gewesen ist. Auch sonst
kann man aber auch heute noch hier an Ort und Stelle Mancherlei entdecken,
das zur Aufklärung der ältesten Schicksale des S. Gotthard beitragen kann. Es
ist dies einmal das Vorhandensein zweier so nah benachbarter Orte in Urseren,
von Andermatt und Hospental, da einst in der Zeit der Naturalwirtschaft ein ein-
ziges Dorf hier völlig genügt haben würde. Diese Tatsache legt also den Ge-
danken nahe, daß einer jener Orte bereits Ursachen seine Entstehung verdankt,
die über Urseren selbst hinausreichen. Es kann dieser letztere aber schon seines
Namens wegen nur Hospental sein. Noch mehr auffallen müssen aber einige
besonders alte und echt mittelalterliche Baureste in dieser Gegend, der Turm
in Hospental wie auch südlich derjenige in Stalvedro, und eine Kirche bei
Andermatt, bei denen es sich die Tradition natürlich nicht nehmen läßt, sie
sämtlich als langobardisch anzusprechen. Von jenen Gebäuden ist nun aber
Zweifellos der gewaltige Turm in Hospental, der sich wie eine Illustration zu
einem Roman aus der frühmittelalterlichen Heldenzeit ausnimmt, seiner ganzen
Bauweise nach schon viel älter als die Periode, in der der Streit um den Gott-
') Schu. s. 43a
190 III. Kapitel.
hardübergang die hohe Politik zu beschäftigen begann. Wir stehen also hier
zunächst vor der Wahrscheinlichkeit, daß Urseren auch im früheren Mittelalter
für den Durchgangsverkehr von einiger Wichtigkeit war, welch' letzteres sich
aber weiterhin zunächst mit dem Vorhandensein eines solchen in der Längs-
richtung zwischen Disentis und der Furka ganz gut erklären läßt, da einerseits
der Name der Furka, der die Wirkung derselben auf das Verkehrsbild so treu
wie nur möglich widerspiegelt, mindestens ebenso alt ist wie der des Gotthard
selbst, und da anderseits die vollendete Nordsüdrichtung Flüelen, Gotthardpaß,
Livinental schlechterdings nicht früher als im dreizehnten Jahrhundert an das
Tageslicht tritt.
Ganz so leichten Kaufes kommen wir aber doch nicht an dieser Erklärung
vorüber; denn trotzalledem bleibt die Tatsache bestehen, daß jene zwei Lango-
bardentürme doch in erster Linie auf eine Verbindung über den Gotthard selbst
hinweisen, ebenso der in Hospental, der genau an der nördlichen Schwelle dieses
Weges und noch vielmehr derjenige in Stalvedro, der an der anderen Seite und am
Eingange eines daselbst beginnenden Engpasses liegt. Vor allem letzterer bedeutet
demnach eine echt mittelalterliche Straßensperre, die u. a. der wie wir sie eben
in Bard kennen gelernt haben, ganz ähnlich sieht. Es muß daher auch schon
vor der Eröffnung der Gotthardstraße nach Norden hin hier einmal eine Epoche
gegeben haben, in der irgendwelche Machthaber ein Interesse daran hatten, auf
die durch Hospental und Stalvedro führenden Wege ihre Hand zu legen, und
in der auch bereits der Übergang über den Paß selbst, wenn auch im geringen
Maße, als betreten vorausgesetzt werden muß. Es sind dies freilich Verhältnisse,
deren genaue Kunde nicht mehr zu enträtseln ist, die aber nichts Unwahrschein-
liches an sich haben in anbetracht der Tatsache, daß hier während des Mittel-
alters fast ein Jahrtausend hindurch die Grenzen der verschiedensten Reiche
zusammenstießen. Jene Annahme von dem Dasein eines beschränkten aber in
sich sicheren Lokalverkehrs, dem jedoch urkundlich nicht beizukommen ist,
bildet ja überhaupt oft das einzige Mittel, um manche, den geschichtlichen Tat-
sachen auf den ersten Blick fast widersprechende Erscheinungen an jenen großen
Alpenlinien zu erklären, die als solche erst später in die Geschichte eingetreten
sind, und die man sich deshalb vorher leicht als ganz unbetreten vorstellt').
Die Her- Dieses ganze Bild verträgt sich nun zwar durchaus mit der scharfen
Verbindung Trennung, wie wir sie bis zur Wende des zwölften Jahrhunderts zwischen
zwischen Urseren und Uri voraussetzen müssen, bietet aber doch ebensowenig irgend-
Uri als Ur- welchen Anhalt für die Erklärung des Vorgangs, durch den dann wirklich jener
Sache der Riegel gesprengt wurde und dadurch schließlich die Gotthardstraße als Welt-
eigentlichen linis in <i3s Leben gerufen werden sollte. Da Naturereignisse hier ausgeschlossen
Nordsüdlinie, sind, und da es ebensowenig den Verhältnissen des Mittelalters entspricht, daß
') Vgl. besonders den Namen Bivio und das Verhältnis des Septimer zum Julier während der
Römerzeit, Verkehrsgeschichte 1. B. S. 93.
Das Mittelalter am S. Gotthard. IQl
Einflüsse von weit her am Werite gewesen sein könnten, so werden jene Ur-
sachen auch nur in der nächsten Nachbarschaft und in irgendwelchen Veränder-
ungen zu suchen sein, die an Ort und Stelle Platz griffen. Die mittelalterliche
Geschichte der Alpen kennt nun aber keine mächtigere, ausgebreitere, alle Kultur-
verhältnisse gleich in Fluß erhaltende ebenso aber auch den greifbaren geschicht-
lichen Nachrichten mehr entzogene Bewegung als den Wechsel und die Um-
gestaltung der Bevölkerung in den Bergen, und es liegt daher der Gedanke
nahe, auch hier einen solchen Vorgang anzunehmen, derart, daß einst in einem
dieser Täler eine neue Bevölkerung die Oberhand gewann, die zugleich auch
ein Interesse daran hatte, eine Verbindung jener beiden Nachbargebiete herzu-
stellen, die bisher durch die Schlucht der Schöllenen streng von einander getrennt
waren. Wenn wir nun aber Urseren seit 1309 deutsch sehen'), während früher
auch dort und noch heute dicht in der Nachbarschaft, östlich der Oberalp,
romanisch gesprochen wird, so paßt für jene Veranlassung nichts so gut als das
Platzgreifen eben dieser deutschen Bevölkerung in Urseren selbst, die nunmehr
an das gleichfalls deutsche Uri Anschluß suchte.
Wir hatten ja bereits auch andere Anzeichen dafür gefunden, daß jene Um-
gestaltung der Bevölkerung in der näheren und weiteren Umgebung des Ober-
wallis besonders lebhafte Kreise gezogen hat, und weiterhin die Annahme
erwähnt, daß die treibende Kraft dieser Verschiebungen gerade hier in der
Hauptsache in dem Vorrücken deutscher Elemente von dem nördlichen Rande
Oberitaliens in die Zentralalpen hinein zu suchen ist. Dieser Gesichtspunkt
besteht nun aber hier nicht nur im einzelnen seine Probe, da heute noch die
Bewohner von Urseren viel weniger den Urnern, viel mehr aber denen des
Oberwallis gleichen 2), sondern seine Nutzanwendung liefert überraschender Weise
diesmal auch die Erklärung für ein Ereignis, das weltgeschichtliche Folgen ge-
habt hat, dessen Ursachen man aber sonst fast ratlos gegenüberstehen würde^).
Es ist immerhin eine bemerkenswerte Erscheinung, wenn das Landschafts- Die Landschaft
bild am Nordabhang der Gotthardstraße, die nun doch schon seit einem halben ^"^ ^^^'
Jahrtausend eine der wichtigsten Durchgangsstraßen Mitteleuropas geblieben ist,
so wenig historische Erinnerungen, so wenig Zeugnisse eines reichen Kultur-
lebens hervortreten läßt. Neben der Armut der Gegend und der Enge des Tal-
weges mag als besondere Ursache mitgewirkt haben, daß diese Linie anfangs
lange Zeit zugleich einer der heißumstrittensten Punkte der Welt war, und weil
die stetige Kampfstellung, in der sich die Anwohner befanden, damals hier
keinen Wohlstand aufkommen ließ. Selbst in dem Stadtbild Luzerns sucht man
deshalb vergebens die Züge einer reichen Vergangenheit, während die Ort-
schaften weiter bergauf, wie es nicht anders zu erwarten ist, überhaupt erst nach
der Eröffnung des Weges im dreizehnten Jahrhundert und als einfache Straßen-
punkte an das Tageslicht treten •*). '
') Schu. S. 172. 2) M. Schw. S. 210. •'■) Vgl. Anh. 21. ^) Oe. 1. S. 274, 285.
192 III. Kapitel.
So recht sang und klanglos im geschichtlichen Sinne führt aber auch die
Straße weiter von Hospental über den Gotthard nach Airolo hinüber. Im Be-
reich dieses Überganges, der heute nach der Erbauung der Eisenbahn vielleicht
wieder der stillste aller großen Alpenpässe geworden ist, hat sich übrigens der
alte Saumweg des Mittelalters überall sehr gut erhalten, der viel tiefer liegend
als die neue Straße und wenig breit, nur für Reiter, Fußgänger und Saumtiere
geeignet, dicht neben der jungen Reuß stracks die Höhe hinaneilt, und an dem
auch noch die verlassenen, alten, durch aufgeschichtete Steine und ohne Ver-
wendung des Mörtels errichteten Schutzbauten vorhanden sind. Bis vor kurzem
stand hier auf der Höhe auch noch das alte Hospiz aufrecht, das neben den
anderen Gebäuden aus neuerer Zeit schon deshalb nicht zu verkennen war, weil
allein an diesem vorbei die alte Straße führte, die sich an jener Stelle zu einem
gepflasterten Vorplatz erweiterte. Dieses Hospizes auf der Paßhöhe wird zum
ersten Mal im J. 1331 gedacht'), also etwa ein Jahrhundert nach der Entstehung
der Gotthardstraße als eigentlicher Alpenlinie; zu gleicher Zeit befindet sich
daselbst aber auch bereits eine Sust, wodurch demnach vor Augen tritt, wie
eifrig sich sogleich der Handel diese Verbindung zu nutze gemacht hat. Der
h. Gotthard selbst gehört freilich durchaus nicht zu jenen Heiligen, die in den
Alpen alteingesessen sind, und wie jener Bergstock zu dem Namen dieses alten
Hildesheimer Bischofs gekommen ist, dafür läßt sich die einzige Andeutung
darin finden, daß es auch in Mailand eine Kirche S. Godehards gab, und daß
der Namenstag desselben, der 4. Mai, dort als Festtag gefeiert wurde-).
Im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, in jener ersten Periode, in
der der Gotthard, von den Lombarden Ursare genannt^), bereits als große Welt-
straße benutzt wurde, war ja auch die ganze südliche Hälfte dieses Weges bis
nördlich an die Ränder von Urseren, wo heute der Kanton Tessin endigt, durch-
aus den Einflüssen Mailands unterworfen. Infolge dieses Zustandes hat nun
damals aber auch zugleich das Kulturbild der Gestade des Langen- und des
Luganersees eine so gewaltige Umgestaltung erfahren, daß heute der frühere
Zustand hier kaum noch zu erkennen ist. Wie aus der Römerzeit aus diesen
schönen Landschaften eine viel geringere Kunde dringt als vom Comersee und
von den dort nordwärts in die Alpen führenden Tälern, so waren diese auch im
folgenden Jahrtausend zunächst nur ein stilles Hinterland Mailands, ganz ohne
Bedeutung für den Welthandel, in das nur der über den Lukmanier und Bern-
hardin gehende Reiseverkehr von außen her einiges Leben brachte. Schon da-
mals hat daher zwar als Pforte dieser beiden Übergänge Bellinzona seine Be-
deutung gehabt^*), das den Verkehr dann in gerader Linie über die Wellen des
Langensees nach Mailand weiterleitete. Während aber damals das Livinental
von Biasca aufwärts eher stiller und abgelegener lag als heute das benachbarte
Blegnotal, war abwärts die eigentliche Herrin am See und zugleich in den
') Schu. S. 407. 2) Schu. S. 226. ^ Oe. i. S. 273. ♦) Schu. S. 14.
Das Mittelalter am S. Gotthard. 193
Tälern des Hinterlandes Locarno. Noch heute zeigt dies die Bauart des dortigen
Schlosses, und im dreizehnten Jahrhundert soll diese Stadt fünftausend Ein-
wohner gehabt haben. Nach der Entstehung des Gotthards als Weltstraße wird
aber dann zunächst in dieser ganzen Zone das Livinental wichtiger als alles andere
und sein eigentlicher Schlüssel, Bellinzona, daher ein heiß umstrittener Besitz.
Locarno büßt dagegen jetzt seine Vormachtstellung ein, um dann später, als die
Eidgenossen auch hier festen Fuß gefaßt haben, von diesen bewußt herabgedrückt
zu werden, weil es vom Norden her schwerer zu beherrschen war. Heute
sehen wir daher nicht Locarno sondern Lugano als den Hauptort dieser Gegen-
den, wie ja bereits Luini, der in dieser Gegend (Luino) zu Hause war, dort
und nicht in Locarno Arbeit fand.
Scheffel, Verkehrsgeschichtc der Alpen. 2. Band. {3
IV. Kapitel.
Die Straßen Graubündens.
Andauernde Wir kommen nunmehr nach Bünden, jener Landschaft, die sich schon
Wichtigkeit
Graubündens geographisch als eine rechte Straßenprovinz aus dem Alpengebirge heraushebt
als Straßen- und deren Gebirgswege allein wie nur diejenigen in den Westalpen auch niemals
Mittdaiter. ihrer Wichtigkeit nach in die zweite Linie gedrängt worden sind. Wir kennen
die westliche Hälfte Rätiens während der Römerzeit als ein festgefügtes Glied
in der römischen Provinzialorganisation, das uns heute eine Unzahl von Fund-
stellen von Römermünzen gleichsam als Samenkörner für die geschichtliche Dar-
stellung aufgeschlossen hat, und das von zwei ausprobierten Durchgangslinien
nach Germanien hinüber durchzogen wurde. Es sind dieses der Splügen und
ein Übergang östlich davon (Julier), die auf Grund der Itinerarien außer allen
Zweifel stehen, zu denen sich dann noch in den letzten Stunden des Altertums
jene Nachrichten gesellen, als einige Kämpfe der Völkerwanderung sich um
Bellinzona bewegen und demnach jetzt auch der Lukmanier und der Bernhardin
von den ersten kühlen und dünnen Strahlen der aufgehenden Sonne der Ge-
schichte umspielt werden.
Ist dies die Situation im Altertum, so ergiebt sich für das Mittelalter auf
den ersten Blick kaum ein anderes Bild; denn die Stelle, wo vorher die Haupt-
straßen durchliefen, hat auch damals nichts an ihrer Wichtigkeit eingebüßt. Hier
hebt sich jetzt in dem Raum zwischen den beiden alten Römerstraßen das ganze
Mittelalter hindurch der Septimer unbestritten als die bei weitem wichtigste
Straße Bündens heraus, während der Aufhellung des anbrechenden Tages ent-
sprechend, und je länger um so mehr, auch die übrigen Straßen des Landes
vom Lukmanier bis zur Albula dem Verkehre erschlossen werden. Dies der
geschichtliche Befund in der Hauptsache, der bei Betrachtung aus der Ferne
jene einfachen Züge Jahrhunderte hindurch festhält und so genügt, um die
Kontinuität der Wichtigkeit der bündner Straßen zu illustrieren, der bei näherem
Zusehen jedoch zwischen seinen Hauptlinien noch eine ganze Anzahl trüber
Die Straßen Graubündens. 195
Schattierungen erkennen läßt, die für uns die ungelösten Probleme in der Ge-
schichte dieses Landes anzeigen.
Von jener Tatsache, bei der wir Bünden am letzten Ende des Altertums
verlassen hatten, müssen wir auch hier wieder ausgehen; es ist diejenige, daß
der Frankenkönig im J. 615 die „alten" Zollstellen in diesem Lande bestätigte').
Diese Nachricht macht es nun zwar zur Gewißheit, daß der durch Bünden
gehende Verkehr bis zu jenem Zeitpunkt keine Unterbrechung erlitt; sie giebt
uns an dieser Stelle aber doch zugleich deshalb ein Rätsel auf, weil wir kaum
zwei Jahrhunderte später hier vor der vollendeten Tatsache stehen, daß die
beiden alten Paßübergänge der Römer, der Julier und der Splügen, schlechter-
dings verlassen liegen, und daß dagegen der zwischen diesen gelegene Septimer
jetzt plötzlich ein durchaus gebräuchlicher Alpenweg geworden ist, der sich an
Wichtigkeit den andern mittelalterlichen Hauptübergängen, dem Mont Cenis,
dem Gr. S. Bernhard und dem Brenner, durchaus an die Seite stellen kann.
Wenn aber in den Westaipen die Ursachen für den Wechsel zwischen dem Mont
Cenis- und dem Mont Genevre-Übergang in der Veränderung der ganzen
Weltlage klar vor Augen lagen, so läßt es sich von vornherein feststellen, daß
diesmal mit einer gleichen Begründung nichts anzufangen ist, da der Septimer
im Norden wie im Süden keine anderen Endpunkte als der Julier und der
Splügen selbst vor sich hat.
Aus jener Tatsache, daß der Frankenkönig 615 Veranlassung hatte, der
Aufrechterhaltung der alten Verkehrsverhältnisse in Bünden seine Aufmerksamkeit
zu widmen, wie nicht minder daraus, daß sich dies in den J. 755 und 779 unter
Pippin und Karl dem Gr. in noch energischerer Weise wiederholte, geht jeden-
falls so viel unzweifelhaft hervor, daß damals hier irgend etwas im Werke ge-
wesen sein muß, das geeignet war, eine Veränderung in dem bis dahin bestehen-
den Straßenbild hervorzurufen. Das einzige Mittel, um bei der Erforschung
dieser Sachlage einen kurzen und unsicheren Schritt vorwärts zu kommen, giebt
uns aber auch hier nur die Gegenüberstellung des Kulturbildes in den ersten
Jahrhunderten des Mittelalters und der in den Alpenstraßen Bündens ihrer geo-
graphischen Beschaffenheit nach liegenden Möglichkeiten. Die Natur hat es so
und nicht anders vorgeschrieben, daß unweit von Chur, dort, wo sich die ver-
schiedenen Arme des jungen Rheins zu einer Rinne versammeln, das einzige
nördliche Tor für alle durch das Land von Italien kommenden Straßen, vom
Lukmanier bis zum Flüelapaß, liegt. Auch im Süden wiederholt sich, wenn auch
nicht in der gleichen Schärfe, derselbe Zusammenschluß; denn auch hier werden
alle, die über den Splügen oder einen anderen östlicheren Übergang wandern,
nach derselben Stelle, der Nordspitze des Comersees hingedrängt, und nur die
kleinere westliche Gruppe der Übergänge, die vom Lukmanier bis Bernhardin,
die sich nach dem Ticino und Bellinzona zu öffnet, macht hiervon eine Aus-
1» Oe. II. S. 179.
13*
manier.
196 IV. Kapitel.
nähme. Aber gerade aus dieser an sich geringen Divergenz im Süden ergiebt
sich doch, wenn man die Kulturverhältnisse des ersten Mittelalters in Rechnung
zieht, eine notwendige Verschiedenheit in der damaligen Wichtigkeit dieser beiden
Straßengruppen. Seit den Zeiten der römischen Republik hatte der gegebene
und gewollte südliche Eintrittspunkt für die Straßen durch Bünden allein bei
Como gelegen; als sich der Schwerpunkt Oberitaliens jedoch westwärts nach
Pavia (Ticino) verschoben hatte, mußten nunmehr auch jene fiach dem Ticino
und nach Pavia zu auslaufenden Linien eine erhöhte Bedeutung erlangen, und
wir können daher annehmen, daß auch diese damals zum ersten Male einiger-
maßen von dem großen Verkehr benutzt worden sind.
Der Luk- Diese Wahrscheinlichkeit wird aber noch deutlicher hervortreten, wenn wir
nun das Wenige unter die Lupe nehmen, das die mittelalterliche Geschichte von
der westlichsten der bündner Straßen, der über den Lukmanier, erkennen läßt.
Diese geht wie alle anderen Straßen Bündens nördlich von Chur ab, führt aber
von dort zunächst in fast westlicher Richtung in langer Linie das Vorderrheintal
hinauf, um erst fast an dessen Ende, bei Disentis, in die direkt südliche Richtung
umzubiegen und dann bald nach Überschreitung des eigentlichen Alpenkammes
durch das Blegnotal im Tal des Ticino bei Biasca anzukommen. Der einzige
Nachteil dieser Alpenlinie besteht demnach nur darin, daß die absolute Ent-
fernung, die hier bei einer Reise von Chur nach dem Rande Italiens bewältigt
werden muß, größer als die bei Gebrauch der anderen benachbarten Paßstraßen
ist, obwohl sonst die Bedingungen der Wegbarkeit, wie die bei diesem Teil der
Alpen geringe Höhe des eigentlichen Überganges (1917 m) und der Einfluß
schwieriger Straßenstellen gerade beim Lukmanier weit günstiger als anderswo
genannt werden können. Der Name des Überganges selbst, auf dem heute als
Grenzzeichen zwischen Graubünden und Tessin ein Kreuz steht, findet sich als
solcher urkundlich erst im J. 1303 als der Ort „zuo dem Kriuz uff Luggemein "').
und es ist nicht allzuwesentlich, ob er besser als locus magnus „Auf der Höhe"
oder als Paß des großen Waldes (lucus magnus) zu erklären ist^).
Die Untersuchung über die Benutzung der einzelnen bündner Straßen im
Mittelalter leidet nun aber von Anfang bis zu Ende an der mangelhaften Orts-
bestimmung, die freilich in dem geschlossenen Bau dieses Straßennetzes hier
noch ihren besonderen Grund hat. Denn die mittelalterlichen Quellen lassen,
selbst wenn sie Clavenna oder den Comersee als die Richtung des eingeschlagenen
Weges angeben, dabei doch immer noch die Ungewißheit der Straßen vom
Splügen bis zum Julier übrig, während — was noch dazu der häufigere Fall ist
— lediglich bei einer Angabe des nördlichen Vororts Chur schlechthin- alle
Übergänge des Landes vom Lukmanier bis zum Ofenpaß benutzt worden sein
können. Bei der ersten dunkelsten Periode der Römerzüge ist, wie begreiflich,
auch die Unklarheit über die Benutzung der einzelnen Übergänge am aller-
») Oe. I. S. 267. 2) Baedeker Schweiz, 22. Au. S. 349; Z. A. 1902. S. 39.
Die Straßen Graubündens. 107
Stärksten; so viel bleibt aber auch hier bestimmt übrig, daß bei jenen Unter-
nehmungen, die an sich durchaus nicht selten waren, auch die Straßen durch
Bünden benutzt worden sein müssen'), und ebenso, daß damals trotzdem noch
keine Anzeichen auf den späteren Hauptübergang des Landes, den Septimer,
hinweisen. Wenn wir nun aber bedenken, daß das Hauptziel dieser ersten Züge
zumeist Pavia war, so ist dies eine Überlegung, die unsern Bück schon an sich
auf jene westlichen Straßen Bündens lenken muß, und die jedenfalls schon des-
halb auch die Benutzung des Lukmanier im ersten Mittelalter in den Bereich
der Möglichkeit rückt. Entscheidend tritt nun aber weiterhin hinzu, daß später,
in der deutschen Kaiserzeit, als die einzelnen Alpenstraßen für die Bedürfnisse
des Mittelalters durchaus ausprobiert waren, und bei der man auch der Richtung
der einzelnen Römerzüge besser nachkommen kann, ein Teil der auf Bünden
fallenden Römerzüge zweifellos über den Lukmanier oder den Bernhardin ge-
gangen sein muß. Es sind dieses zunächst vier Züge, die von 1004, 1164, 1413
und 1431 2). Und wenn bei diesen Zügen auch nur die größere Wahrscheinlich-
keit für den Lukmanier und nicht für den Bernhardin spricht, so hat doch
allein der Lukmanier, nicht aber der Bernhardin zwei Römerzüge aufzuweisen,
die nachweisbar über ihn gegangen sind; es sind dies einmal der Zug vom
J. 965, als Otto der Gr. nach der Wiederherstellung des Kaisertums nach
Deutschland zurückkehrte, und ferner der Zug Friedrichs I. nach Deutschland
vom J. 1186. Sicher ist auch, daß dieser Kaiser einmal hier auf der Burg
Serravalle im Blegnotal Quartier genommen hat'').
So hat es denn durchaus nichts Unwahrscheinliches an sich, daß in der Disentis
ersten Hälfte des Mittelalters dieser in der "Mitte der Alpen gelegene Übergang vorder-
einigermaßen die Rolle des noch unerschlossenen S. Gotthard ausgefüllt hat, rheintai.
wie es überhaupt für den, der Augen hat zu sehen, dieser ganzen Erwägungen
nicht bedarf im Anblick von Disentis, das in der unmittelbaren Nachbarschaft
des Lukmanier plötzlich zugleich mit dem Anbruch des Mittelalters aus dem
Dunkel heraustritt. Mag der Zufall auch noch so weit und noch so tief alle
Verhältnisse durchdringen, es wird zum wenigsten zweifelhaft sein, ob dies auch
zu seinem Reiche gehört, daß der Zeitpunkt (614), in dem die Gründung von
Disentis gesetzt wird ''), mit jener ersten Bestätigung der Zollstellen Bündens
durch den Frankenkönig Chlotar vom J. 615 genau zusammenfällt. Im J. 717
bezl. 747 sollen Karl Martell bezl. Karlmann einmal an Disentis vorübergezogen
sein 5), und daher mag es wohl kommen, daß der Lukmanier mit Vorliebe
schlankweg als die alte Pippinidenstraße bezeichnet zu werden pflegt^), wenn
dieser Weg urkundlich dann freilich erst seit dem vierzehnten Jahrhundert auch
als Handelsstraße erscheint, und als solche mit allem und jedem, mit Hospizen,
Zöllen und Lagerhäusern besetzt ist').
') Schu. S. 7. ^) Oe. II. S. 317. •^) Scbu. S. 62, 90. •)) PI. S. 276. ^) PI. S. 274. «) Ber.
S. 168; Sehe. III. B. S. 84. ') Schu. S. 366f.
198 IV. Kapitel.
Und jene Zeugnisse einer belebten Vergangenheit lassen uns auch an den
einzelnen Orten entlang des Weges nicht im Stich, wie es überhaupt auffallen
muß, daß die Geschichte des Vorderrheintales, von dem in römischer Zeit
nichts zu sagen ist, sogleich mit dem Beginn des Mittelalters eine besonders leb-
hafte Färbung annimmt. Da ist Ilanz, das als villa Ilianda urkundlich schon im
achten Jahrhundert erscheint') und das während des Mittelalters gemeinhin „die
erste Stadt am Rhein" genannt wurde, eine Bezeichnung, die aber doch nur aus
dem Gesichtspunkt des nach Norden Reisenden verständlich ist und eine Be-
gehung des Lukmanier geradezu voraussetzt, da dieser allein von Süden her
auf diesen Ort herabläuft. Die älteste Geschichte von Disentis ist uns verloren;
urkundlich kommt es zum ersten Mal im J. 766 vor, als es von Bischof Tello
von Chur, der einmal dessen Abt gewesen war, testamentarisch bedacht wurde^);
da aber dieser Tello dem ersten Geschlecht des Landes angehörte, so kann man
auch annehmen, daß schon damals mit jener Stellung ein hervorragender Rang
verbunden war. Bemerkenswert ist bei Disentis auch, daß dieses während der
Sachsen- und Frankenkönige durchaus als königliches Eigentum galt, aber trotz-
dem von den Herrschern immerfort aus der einen Hand in die andere geschenkt
wurde^); es mag sich demnach auch hier ganz ähnlich wie bei dem Straßen-
punkt Chiavenna verhalten haben, in dessen Schicksalen sich die alte Wahrheit
widerspiegelt, daß das sich schwer festhalten läßt, was viele zugleich begehren.
Auch in den zahlreichen Adelsburgen (Hohentrins, Löwenberg, Jörgenberg,
Saxenstein, Rinkenberg, Castelberg) ragt, besonders wenn man dieses Bild mit
dem nahe benachbarten Reußtal vergleicht, hier noch ein Stück echt mittelalter-
lichen Lebens heraus, und auch im Bereich des Lukmanier selbst braucht man,
wie dies freilich auch auf allen anderen Pässen Bündens der Fall ist, nicht ver-
gebens nach alten Straßenresten auf die Suche zu gehen '*).
Der Der nächste Alpenübergang, mit dem wir uns hier in den Zeiten des
'Mittelalters zu beschäftigen haben, ist der Bernhardin, der seiner Lage nach
bereits ein Mittelglied zwischen dem Lukmanier und der östlichen Gruppe der
bündner Straßen bildet, da er wie jener zwar südlich in das Gebiet des Ticino
ausmündet, im Norden dagegen nicht das Vorderrheintal sondern ebenso wie
der Splügen von Tamins bis zum Dorfe Splügen das Gebiet des Hinterrheins
zu seiner Anlaufstrecke benutzt. Der jetzige Name des Passes stammt erst aus
dem fünfzehnten Jahrhundert. Noch heute aber heißt ein benachbarter Gipfel
hier Pizzo Uzzello^), und als Mons qui dicitur Vogel d. h. als der Berg, wo die
Zugvögel vorüberziehen, erscheint er daher auch bereits einmal viel früher, bei
einer besonderen Gelegenheit, als 941 die Sarazenen die Alpenpässe sperrten,
und es Willa, der Gattin Berengars, trotzdem gelang, in kalter Winterszeit diesem
') PI. S.297. 2) PI. S. 284. ^) PI. S. 430. ■*) Oe. I. S. 267. Die mittelalterliche Bedeutung
des Lukmanier müßte übrigens durchaus aus der bisher noch nicht genügend erforschten Stadt-
geschichte Bellinzonas zu erkennen sein. 5) Oe. II. S. 170; M. Schw. S. 63.
Die Straßen Graubündens. 199
hier herüber aus Italien nach Deutschland nachzureisen'), aber gerade dieser
Umstand deutet nicht so sehr auf eine damalige Gebräuchlichkeit jenes Über-
ganges sondern eher auf das Gegenteil hin.
In späteren Zeiten zeigt sich dann die Rolle des Bernhardin deutlicher in
der Lokalgeschichte der ihm südlich und nördlich anliegenden Alpentäler, in-
sofern die lebhaften Beziehungen, die jetzt zwischen diesen existieren, doch nur
dadurch möglich geworden sein können, daß der Bernhardin selbst jetzt als Ver-
kehrsweg nach und nach in Aufnahme kam. Südlich bildet hier das Tal Misox
ein geschlossenes und auch heute von einer besonders gearteten italienischen Be-
völkerung bewohntes Alpental, das im Mittelalter daher mit dem jetzt in Ruinen
liegenden Schlosse Mesocco für eine einzelne Dynastenfamilie wie geschaffen
war. Im J. 1026 sehen wir dieses comiiatus Mesaucinus noch, ganz seiner süd-
lichen Lage entsprechend, als ein Lehen des Bistums Como-), bis dann schließ-
lich auch hier, als die letzte Konsequenz der Entstehung einer belebten, über
den Bernhardin gehenden Handelsstraße, im fünfzehnten Jahrhundert der Anfall
dieses südlichen Alpentales an das Gebiet der Eidgenossen nicht ausgeblieben ist.
Allen von Nord nach Süd laufenden Alpenstraßen Btindens liegt der am Vom Bodensee
Oberalpsee aufsteigende und sich in gestreckter östlicher Richtung über den Tödi
bis zur Calanda hinziehende, lange und hohe Bergwall vorgelagert, der nicht
nur bis heute den bündner Romanen als schützende Grenze gegenüber dem
nördlichen germanischen Volkstum gedient hat, sondern der es auch zum ewigen
Gesetze macht, daß den aus der nördlichen Ebene auf Bünden gerichteten Zu-
gangslinien kein anderer Eintrittspunkt in dieses Land als das Rheintal zwischen
Maienfeld und Chur offensteht. So erscheint Chur auch für den von Norden
kommenden Wanderer als das eigentliche Herz Bündens, wie dieser Stadt dadurch
auch, mag nun der Schwerpunkt Europas nördlich oder südlich der Alpen liegen,
zu allen Zeiten ihre beherrschende Position im Gebirge selbst gesichert ist.
Jener nördlichen Zugangslinien giebt es aber überhaupt nur zwei, und sie können
keine anderen sein als diejenigen, die von der Natur durch den in ein einziges
Bett versammelten Rheinstrom vorgezeichnet worden waren, die Rinne, in der
dieser Strom einst floß, und diejenige, die er heute inne hat. Die erstere, die
bei Ragatz in das heutige Rheintal einmündet, ist in ihrer Fortsetzung an den
langgestreckten Gestalten des Walensees und Zürichsees sofort zu erkennen,
eine Linie, deren Belebtheit auch in der ersten Periode des Mittelalters voraus-
gesetzt werden muß, wenn man allein die Bedeutung Zürichs in den Zeiten der
Karolinger und besonders am anderen Ende das Dasein des alten Klosters
Pfäfers in Rechnung zieht-').
Die andere ist dagegen das wirkliche Rheintal von Malans (Malanzes) bis
zum Bodensee. Wer heute dort von den Höhen oberhalb Dornbirns auf dieses
herabblickt, dem muß die Ähnlichkeit des Landschaftsbildes mit dem Etschtal
') Oe. 1. S. 215, 11. S. 171. 2) Oe. 11. S. 170. •3) PI. S. 276.
200 IV. Kapitel.
südlich Bozen sofort auffallen, hier, wo das zum gewaltigen Strom angewachsene
Gewässer in der Mittellinie des Tales fließt, und auch der Talboden selbst sich
schon derart verbreitert hat, daß auf beiden Ufern und entlang der beiden hohen
Talwände Platz für ausgetretene Straßenlinien geblieben ist. Wir kennen, ebenso
wie in jenem Teile des Etschtales, das Dasein dieser beiden Straßenrichtungen
auch schon in der Römerzeit. Während die Römer aber hier von Anfang an
das Hauptgewicht auf die östliche Richtung legten, die unmittelbar auf Bregenz
und auf die von ihnen allein bevorzugte Ostspitze des Bodensees heranführte,
gebrauchte das Mittelalter hier vielmehr die Straße auf dem entgegengesetzten
Ufer.
Dies findet darin seine Erklärung, weil der Bodensee im Mittelalter gleich-
sam ein Weltwasser im kleinen und andauernd, ringsherum und in weiter Ent-
fernung ein Brennpunkt des damaligen Kulturlebens gewesen ist. Wir konnten
die Anfänge dieser Entwickelung schon zugleich mit dem Beginn des Mittelalters
bei der Entstehung der dortigen kirchlichen Gründungen (Reichenau, S. Gallen)
beobachten, Namen, zu denen sich dann auch die anderen Orte am See wie
Arbon (Arbor felix) Konstanz (Constantia) Überlingen (Iburninga) Bodmann (zu
den Bodemen) Lindau (882 Lintowia) gesellen. Es ist aber weiter bezeichnend
für die Bedeutung jener Zone im Mittelalter, daß auch nördlich des Sees, wo
von den Römern sehr wenig vorgearbeitet worden war, dann plötzlich am Ende
des ersten Jahrtausends eine Menge von neuen Orten entstanden sind (Ulm,
Biberach, Ravensburg, Memmingen), und daß in unmittelbarem Anschluß daran
sich der eigentliche Hausbesitz des glänzendsten deutschen Herrscherhauses,
der Staufer, ausbreitete, das aus jenen Gegenden seine besten Kräfte zog. Im
zwölften Jahrhundert lagen hier die staufischen Besitzungen von den Donau-
quellen über Ravensburg und Memmingen bis zur Zugspitze, wie der Untergang
jenes Geschlechtes dann auch die unmittelbare Veranlassung wurde, daß alle jene
Orte die Reichsfreiheit erlangten oder erst ihrer froh wurden. So finden wir
zuletzt hier eine freie Reichsstadt neben der anderen, 1155 Ulm, 1275 Lindau,
1276 Ravensburg, 1296 Memmingen, 1312 Biberach, bis zu den Kleinen und
Kleinsten, Wangen, Buchau, Buchhorn, Leutkirch und Pfullendorf. Etwas Folge-
richtiges und Gesundes muß diese Einwickelung aber doch an sich gehabt haben,
wenn wir dann sehen, daß gerade jener Teil Oberdeutschlands schon seit dem
Konstanzer Konzil so ausnehmend auf die am Ende des Mittelalters empor-
kommenden Kräfte reagiert, und wie nicht nur die Schweiz südlich des Boden-
sees sondern auch jene schwäbischen Reichsstädte fast mit derselben Entschieden-
heit wie oben im Norden die Gegend von Wittenberg und Magdeburg für die
Elemente des kulturellen Fortschritts Verständnis zeigen.
Kehren wir aber jetzt zu der Stelle zurück, wo der Rhein in den Boden-
see einmündet, so beginnen bereits bei Rorschach die mittelalterlichen Burg-
ruinen, die, sämtlich mit reindeutschem Namen, sich an der westlichen Talwand,
Die Straßen Graubündens. 201
eine nach der anderen bis Ragatz fortsetzen und so hier das Eindringen des
deutschen Lebens veranschaulichen. Die Straße selbst lief dagegen von Rhein-
eck aus in der Talsohle weiter; hier lag dann Höchst, wo sich Otto II. am
19. Oktober 980 auf seinem Zuge nach Pavia aufhielt'), und bei Oberried, an
der Grenze der Bistümer Konstanz und Chur, der schon in der Merowingerzeit
genannte , Herrenhof Montigels", das heutige Montlingen-). Dort aber, wo weiter
südlich diese Richtung bei Ragatz auf das alte Rheinbett auftrifft, begann jener
bis Chur herauf sich erstreckende fruchtbare Strich, als geschlossener Besitz der
Churer Bischöfe „die Herrschaft" genannt. Sein Hauptort ist Zizers, das zuerst
als Zizuris eine mit allen wirtschaftlichen Vorzügen ausgestattete königliche
Besitzung war, und deren dauernde Erwerbung daher auch den Churer Bischöfen
einige Anstrengungen gekostet hat-*).
Wenn die durch Bünden führenden Alpenstraßcn hinsichtlich der Punkte, Der Spiügen
wo sie schließlich Italien erreichen, in zwei Gruppen zerfallen, in diejenigen, v"a mala,
die nach dem Langensee und in diejenigen, die nach dem Comersee auslaufen,
so machte sich doch für die Reise durch das Gebirge gerade im Mittelalter in
Chur auch noch ganz nachdrücklich eine andere dreifache Gruppierung fühlbar.
Noch unter den Toren von Chur selbst zweigten von den anderen westlicheren
Straßen zunächst die nach dem Septimer wie Julier und nach dem Albula ab,
um von hier in genau südlicher Richtung nach der Lenzer Heide hinanzusteigen,
während die Straße zum Lukmanier in direkt westlicher Richtung im langen
Vorderrheintal blieb, die Straßen zum Bernhardin und Spiügen dagegen als dritte
Gruppe dieses bereits bei Tamins verließen und nun in das Tal des Hinterrheins
eintraten. Ehe diese letzteren jedoch Thusis und damit die Via mala selbst
erreichten, war hier noch ein stundenlanges Talstück vorgelagert, in dessen
breiter Sohle in früheren Jahrhunderten das unruhig und unregelmäßig fließende
Gebirgswasser ähnlich wie die Etsch zwischen Meran und Bozen keine Straßen-
anlagen duldete und wo sich daher auch hier die Wege an die höheren Tal-
wände anschmiegen mußten. Es sind dies östlich das Domleschg und westlich
der Heinzenberg, milde, von der Natur bevorzugte Landschaften, wo noch heute
nördliches und südliches Wesen bunt nebeneinander liegen, und die als eine
rechte Burgenlandschaft einst ein Mikrokosmos des mittelalterlichen Kulturlebens
in den Alpen gewesen sind.
Bei Thusis (Tuseum) angelangt stoßen wir nun aber auf jenen vielgenannten,
bis zum Dorf Spiügen sich erstreckenden Straßenteil, der die Via mala in sich
schließt, und der durch die Art, wie sich der Verkehr mit ihm auseinandersetzte,
zu allen Zeiten zwingend auf die Benutzbarkeit ebenso der Bernhardin- wie der
Splügenstraße eingewirkt hat. Hier sehen wir aber nun auch im Mittelalter
Jahrhunderte hindurch zunächst nichts anderes als jene eigentümliche Straßen-
führung in Gebrauch, durch die alle Schwierigkeiten der Via mala von weither
') Oe. II. S. 197. 2) PI. S. 269. 3) PI. S. 373.
202 IV. Kapitel.
umgangen wurden, und deren Entstehung, da nun einmal zur Römerzeit eine
Straße von der Paßhöhe des Splügen nach Chur geführt haben muß, mit gutem
Recht dem Altertum zugeschrieben wird. Von jenem, sechs Fuß breiten, ge-
pflasterten Weg sind nun auch heute noch hie und da Überbleibsel vorhanden;
er führte vom Heinzenberg über die Nolla bei Thusls und dann noch oberhalb
der Dörfer Lohn, Mathon und Wergenstein auf Sufers und den Ort Splügen,
in einer Zone, die um eine ganze Gebirgshöhe über der heutigen Straße liegt').
Diese alte Straße wurde als der gute Weg, die vereinzelten Fußsteige dagegen,
die tief am Rheine selbst hinliefen, als der schlechte Weg bezeichnet^). Wenn
so dieser Straßenteil an sich zwar als ein großartiges Zeugnis der Erfindungs-
gabe des Menschengeistes dasteht, so sind wir doch gerade hier ganz im unklaren,
ob er selbst und ebenso die Paßhöhen, nach denen er hinstrebte, während der
Hauptzeit des Mittelalters wirklich dem großen Verkehr oder nur dem Lokal-
verkehr dienstbar gewesen sind.
Denn auch die Geschichte des Splügen ist ein dunkles Kapitel der mittel-
alterlichen Geschichte, da über diesen Paß, nachdem er in den Itinerarien der
römischen Kaiserzeit seine erste und einzige Erwähnung gefunden hat, ein volles
Jahrtausend hindurch keine einzige schriftliche Nachricht vorliegt, nach der er
einmal in Gebrauch gewesen wäre. Es kann ja kaum anders sein, als daß der
Name des Überganges selbst und der des Dorfes Splügen zusammengehören;
auch daß dieser Name von specula (Wartturm), wie sich ein solcher auch heute
noch hier findet, herrührt, mag angenommen werden. Aber eben die Erscheinung,
daß dieser Name so farblos klingt und so wenig weit in die Vergangenheit
hinaufreicht, ist eher ein Zeichen für die Unwichtigkeit dieses Weges in früheren
Zeiten. Nur steht diesem wieder die Zielgerechtigkeit dieser ganzen Straßen-
richtung und auch die Tatsache entgegen, daß die mittelalterliche Kultur hier
auf beiden Seiten und bis dicht an die Paßhöfe heran so mannigfachen und so
alten Ursprungs ist. So ist es bemerkenswert, daß in den Orten des Domleschg
schon im dreizehnten Jahrhundert eine Reihe zinspflichtiger Gasthäuser exi-
stieren 3); auch ist es interessant, wie die Dörfer dicht arn unwirtlichen Südab-
hang des Passes, die wie gespensterhafte Steinnester von einem anderen kalten
Planeten aussehen, reine Kosenamen (Isola, Campodolcino) führen, Bezeich-
nungen, die doch nur derjenige voll berechtigt finden kann, der aus der Hoch-
gebirgswelt sich glücklich nach dorthin hinabgerettet hat. Jedenfalls steht, ähnlich
wie der Lukmanier, auch der Splügen von alters her in dem Rufe, von den
deutschen Herrschern bei ihren Römerzügen durch Bünden benutzt worden zu
sein, eine Annahme, die trotz der vielen Züge, die nachweislich durch dieses
Land gegangen sind, doch ebensoschwer zu beweisen wie zu widerlegen ist, weil,
wie schon gesagt, gerade hier der mittelalterliche Berichterstatter durch die
Struktur des Landes noch besonders dazu verleitet wurde, sich die Angabe
einer genauen Reiseroute zu ersparen.
1) Schu. S. 10. 2) Da. I. B. S. 139. 3) Oe. II. S. 169.
Die Straßen Graubündens. 203
Am südlichen Ende der Via mala liegt dann das Schamsertal, in dem zwar
schon im zehnten Jahrhundert die Churer Bischofsgewalt Fuß faßte'), das aber,
solange es vom Verkehr westlich über die Höhen umgangen wurde, einst wie
Uri Jahrhunderte hindurch eine Welt für sich blieb, und in dem sich bezeich-
nenderweise schließlich das Streben nach Gemeinfreiheit in ähnlicher Weise wie
dort Bahn gebrochen haben soll. Im fünfzehnten Jahrhundert trat hier der
Landvogt von der Burg Fardün in die Hütte eines ihm verfeindeten Bauern,
spuckte in den als Mittagessen bereitstehenden Brei und wurde deshalb von
dem Bauern mit dem Kopfe in die heiße Speise gestoßen und erwürgt, eine
Sage, die in ihrer tiefen Leidenschaft nur auf dem Boden des rätischen Volks-
tums gewachsen sein kann.
Wir hatten schon während der Römerzeit Gelegenheit, die Ähnlichkeit der
Straßenführung im Bereich der Via mala und derjenigen am Kuntersweg nördlich
Bozen zu beobachten; denn jene besonders schwierigen Stellen im Gebirge sind
es eben, an denen das Maß der technischen Leistungsfähigkeit der einzelnen
Zeitalter stets am deutlichsten zum Ausdruck kommt, die es zugleich aber auch
zu allererst erkennen lassen, sobald eine grundlegende Veränderung in den
treibenden Kräften des großen Verkehrslebens Platz gegriffen hat. So werden
wir auch hier nach allem dem, was wir von dem Wesen der letzten Periode
des Mittelalters kennen gelernt haben, auf die Wirkungen derselben und im be-
sonderen auch an dieser dem Gotthard benachbarten Stelle den Streit um dessen
Besitz seine Kreise ziehen sehen. Dieser Zusammenhang tritt zuerst am Ende
des vierzehnten Jahrhunderts hervor, als die Eidgenossen den Mailändern an
der Gotthardstraße unbequem sind und diese nun mit dem Grafen von Werden-
berg verhandeln, um ihrem Handel auf den bündner Straßen eine sichere Bahn
zu verschiffen, und wobei das Wichtigste ist, daß bei dieser Gelegenheit unter
den hierfür in Frage kommenden Linien auch plötzlich der Splügen erscheint^).
Wenn jenes Vorhaben hinsichtlich des Splügen auch damals nicht über das
Projekt hinauskam, so müssen doch dieselben Erwägungen, die es damals ent-
stehen ließen, in der folgenden Zeit derart an Stärke zugenommen haben, daß
dann ein Jahrhundert später die Einrichtung dieses Weges als Handelsstraße
wirklich zur Tat werden konnte. Jetzt sehen wir nun hier alle interessierten
kleinen Kreise in weitem Umfange, südlich Chiavenna und Misox, nördlich
Schams und Rheinwald, das ganze Land Domleschg und wiederum die Grafen
von Werdenberg an der Spiügenstraße alle die Einrichtungen treffen, die der
Handelsverkehr der damaligen Zeit nicht entbehren konnte^), während die Tat-
sache, daß auch Misox dabei beteiligt ist, außerdem zeigt, wie die natürlichen
Bedingungen, auf denen die Brauchbarkeit der Bernhardin- und der Spiügen-
straße beruhen, auf der nördlichen Seite ganz dieselben sind.
Die erste Vorbedingung, um hier wie dort zum Ziele zu gelangen, konnte
1) PI. S. 403. -) Schu. S. 3(50. ^) Schu. S. 371f.
204 IV. Kapitel.
aber nur darin bestehen, die zeitraubende Wirkung der die Via mala umgehenden
Höhenrichtung auszuschalten. Das, was damals im Wegebau zu Stande gekommen
ist, war freilich nur ein an der Rheinwand entlang laufender, nichts weniger als
bequemer und gefahrloser Schluchtweg, wie dieses dem Tunnelbau unkundige
Zeitalter auch dem nördlichen Teile der Via mala zwischen Thusis und Ron-
gellen noch ganz machtlos gegenüberstand und daher dort in abgeschwächtem
Maße noch der alte Höhenweg in Gebrauch blieb. Überhaupt sind alle diese
Ereignisse vielmehr dadurch bemerkenswert, weil sie die Regsamkeit charakte-
risieren, die jetzt überall in die Straßenbautätigkeit in den Alpen gekommen
war, als daß sich nun in ihrer Folge jene bündner Straßen neben dem Gotthard
zu großen Handelsstraßen ausgewachsen hätten.
Über die Wie wenig weit der Septimer vom Splügen entfernt ist, so haben wir in
^^"nach dem jenem doch nunmehr einen Gebirgsübergang vor uns, der dem Verkehr ganz
Septimer. andere Aufgaben stellt als die großen Paßwege in der westlichen Hälfte der
Alpen, da bei dessen Benutzung — ebenso wie bei der aller anderen östlicheren
Übergänge mit der einzigen Ausnahme des Brenner — die Reise von Nord nach
Süd nur durch den An- und Abstieg über mehrere Gebirgskämme bewältigt
werden kann. Wenn dieses Verhältnis seinen natürlichen Grund in der nach
Osten zu immer größer werdenden Tiefenausdehnung des Gebirges hat, so wird
die Zugehörigkeit des Septimer im Mittelalter zu dieser Art der Alpenlinien
doch erst dadurch verständlich, weil damals in der Sohle des Albulatals zwischen
Thusis und Tiefencastel, dort, wo heute die Schynstraße läuft, überhaupt kein
brauchbarer Weg führte, und weil daher alle jene in das Bergeil oder Engadin
einmündenden und heute ebensogut durch das Domleschg zugänglichen Übergänge
früher allein über die Lenzer Heide erreicht werden konnten.
So war der Weg über den Septimer im Mittelalter zwar eine direkt nach
Süden führende, aber doch nicht allzubequeme Richtung, da man dabei von
Chur aus zunächst um fast tausend Meter auf die noch dazu durch ihr rauhes
Klima gefürchtete Lenzer Heide hinansteigen mußte, um dann wieder reichlich
die Hälfte nach Tiefencastel herabzusteigen, wo sich der Höhenweg nach dem
Oberhalbstein fortsetzt. Die Begangenheit jenes Straßenteiles im Mittelalter zeigt
aber doch neben den Burgruinen und den alten Herbergen am Wege') besonders
das Dasein des Klosters in Churwalden (romanisch Ascheras), das bereis zu den
Zeiten der Karolinger bestand^). Einen hübschen Einblick in das mittelalterliche
Kleinleben jener Gegenden gewährt es auch, daß einst dem Bischof von Chur,
sobald ihm die Reiselust ankam, vier Saumtiere aus dem Oberhalbstein nach
Prada (dicht östlich Chur) entgegengeschickt wurden, die er nun von dort aus
nach Belieben nach allen Richtungen hin benutzen konnte^), und an der richtigen
Stelle, da, wo sich die Lenzer Heide nach dem Albulatal hinabsenkt, liegt hier
1) Oe. II. S. 176. A. 3. 2) Ber. S. 164. ^) Oe. II. S. 188.
Die Straßen Graubündens. 205
auch Obervaz, um an den Namen jenes mächtigen Geschlechtes zu erinnern,
das in der Geschichte Bündens eine so große Rolle gespielt hat').
Dafür aber, daß der Septimer einst ein besonders gebräuchlicher und be- Alter, Be-
liebter Alpenweg war, ist und bleibt der beste Beweis, daß wir auf seiner Paß- Bede"u"tung"^
höhe ein echt mittelalterliches Hospiz und noch dazu gerade hier das älteste Jes Septimer-
antreffen, das wir überhaupt kennen. Es ist dieses das xenodochium des IJ^^ftg^j^r.
H. Petrus, das um 830 in einer Urkunde Ludwigs des Frommen „in den Besitz
des Bistums Chur zurückkommt" 2), ein Ausdruck, der somit noch dazu darauf
schließen läßt, daß jenes Hospiz damals bereits eine Zeit lang als solches be-
standen hat. Auch die erste Erwähnung des Septimers selbst als eines gebräuch-
lichen Alpenweges Fällt übrigens gleichfalls bereits in das neunte Jahrhundert^),
und das Hospiz kehrt dann auch in den mittelalterlichen Urkunden immer
wieder; es wird mit Schenkungen bedacht, 1120 wird es einmal neu hergestellt,
und als dann um das J. 1275 in Chur ein neues Ordenshaus errichtet werden
soll, hält der Bischof diese Maßregel deshalb ganz besonders begründet, weil
„diese Stadt am Fuße des Septimer liegt und daher für die Durchreisenden als
Rastort außerordentlich geeignet erscheint"''). Aus allen diesen Tatsachen geht
also nicht nur hervor, daß der Verkehr hier niemals eine ernstliche Unter-
brechung erlitt, sondern sie macht es auch von vornherein wahrscheinlich, daß
dieser Paß auch die Mehrzahl der von weither gekommenen und geschichtlich
denkwürdigen Alpenübergänge gesehen hat, die im Mittelalter ihren Weg durch
Bünden genommen haben.
Wir wissen ja nun freilich, wie schlecht es dabei mit der genauen Be-
stimmung des Weges bestellt ist, und daß der Zweifler, selbst wenn Chur und
Chiavenna zugleich genannt werden, einen solchen Zug neben dem Septimer
immer noch ebensogut auf den Splügen wie auf den Julier verlegen kann^);
aber es giebt doch wenigstens einige dieser Reisen, bei denen mit dürren wenn
auch krausen Worten der Septimer selbst genannt wird, so 1128 der Zug des
Gegenkönigs Konrad nach Italien, 1167 der Zug Welfs des Jüngeren und 1191
die Reise des Gislebert von Mons zu Heinrich VI. ebendorthin. Weit größer
ist dagegen die Zahl der Römerzüge, für deren Verlegung auf den Septimer
man nur Gründe, aber doch recht gute Gründe hat, und die, wie wir sahen,
zum größten Teil in das zehnte Jahrhundert fallen. Viel später, zu Anfang des
J. 1176, hat dann aller Wahrscheinlichkeit nach in oder dicht bei Chiavenna
jene Auseinandersetzung Friedrich Barbarossas mit Heinrich dem Löwen statt-
gefunden. Wir kennen wohl recht gut die geschichtliche Tragweite dieses Er-
eignisses; einen vollen Erfolg und eine bleibende Wirkung hat doch aber auch
') Jahrbuch für Schweizerische Geschichte, 14. B. S. 213f.; Oe. II. S. 175, 185; Sehe. III. B. S. 92, 95.
Untervaz liegt in der Calanda nördlich Chur. 2) schu. S. 61 ; Oe. II. S. 175. 3) Schu. S. 57;
Oe. II. S. 191. ■•) Oe. II. S. 201. S) Oehlmann (Oe. II. S. 191 f.) verlegt sämtliche Züge zwischen
Chur und Chiavenna auf den Septimer; es ist dies wohl sehr wahrscheinlich, aber doch nicht sicher.
206 IV. Kapitel.
jener menschliche Scharfsinn gehabt, der es sich damals zur Aufgabe machte, die
Einzelheiten dieser Begegnung an Ort und Zeit, die persönlichen Stimmungen
und Gegensätze, die hier nackt und unversöhnlich aufeinander stießen, vor der
Mic- und Nachwelt in ein ewiges Geheimnis zu hüllen. Und auch uns ist da-
mit ein Streich gespielt worden; denn da wir nicht genau wissen, wo jene Zu-
sammenkunft stattfand, so kennen wir auch die Wege nicht, die zu ihr einge-
schlagen worden sind. Wenn es aber der Septimer gewesen ist, auf dem
Heinrich der Löwe herankam, so hätten wir darin das bei weitem wichtigste
Ereignis vor uns, das sich jemals an diesem Passe zugetragen hat').
Die letzte Periode des Mittelalters kehrt dann auch hier ihren besonderen
Charakter hervor, und sie kann an dieser Stelle nur ausgefüllt sein mit gewaltigen
Anstrengungen und einem harten Ringen gegen die neu aufkommenden Mächte,
in dem sich jene alte Linie auch wirklich noch einmal erfolgreich durchgesetzt
hat. Die hervorragende Stellung, die der Septimer bis zur Eröffnung des Gott-
hard in den Mittelalpen einnahm, schließt es in sich, daß die Folgen jenes Er-
eignisses sich gerade hier unmittelbar und nachdrücklich fühlbar machen mußten,
eine Situation, deren drohende Züge wir noch heute unter dem Mantel der
Versprechungen erkennen können, zu denen sich im J. 1278 die am Septimer
interessierten Machthaber, voran der Bischof von Chur, den Reisenden gegen-
über verstanden. Wenn damals schon allen, die jene Straße überhaupt benutzen,
in Bausch und Bogen gutes Geleit und guter Frieden zugesichert wird, so
werden die von Luzern und Zürich Kommenden außerdem noch mit besonderen
Vergünstigungen bedacht. Aber es ist nichts weniger als die Menschenliebe
sondern allein das Streben, den Verkehr um jeden Preis in seiner alten Bahn
festzuhalten, das jene Bestimmungen hervorruft^), und der Aufschwung, den der
Gotthardweg trotzdem nahm, zeigt dann seine Wirkung in den Maßregeln, die
ein Jahrhundert später erneut zur Behauptung der alten Stellung nötig werden,
und die jetzt zu einem wirklichen Straßenbau am Septimer selbst führten. Um
1390 hat Jacob von Castelmur als bischöflicher Verweser hier von Bivio bis
Casaccia einen gepflasterten Weg gebaut^), der eine für jene Zeiten immer noch
ganz gewaltige und technisch einzig dastehende Leistung, zugleich aber auch wohl
den letzten Fall bedeutet, bei dem ein Kirchenfürst in den Alpen eine tief-
greifende Regententätigkeit ausübte, wie sie diesen früher hier überall so ver-
traut gewesen war.
Wir erinnern uns sogleich, daß diese gründliche Sanierung der Septimer-
straße zeitlich genau mit jenen ersten Bestrebungen zusammenfällt, durch die
auch der Splügen und der Bernhardin dem Handelsverkehr dienstbar gemacht
werden sollten. Es ist daher wohl auch möglich, daß die Kosten, die damals
in die altbewährte über den Septimer laufende Straße gesteckt wurden, auch zu-
gleich der Konkurrenz von dessen nächsten Nachbarn begegnen sollten, ein
') Vgl. Gi. V. B. S. 777 f.; Schu. S. 92. 2) Schu. S. 189; Oe. II. S. 182. 3) ßer. S. 169.
Die Straßen Graubündens. 207
Zug, der jedenfalls in jene durch und durch von kaufmännischen Gesichtspunkten
beherrschte Geschichtsepoche sehr gut hineinpaßt. Selbst im fünfzehnten Jahr-
hundert sehen wir daher den Septimer noch als eine belebte Handelsstraße und
auch baulich in einem guten Zustand '), während er heute neben seinen Nach-
barn fast gänzlich verlassen und vergessen daliegt, die Landschaft entlang dieses
Weges deshalb aber auch gerade hier wirklich „ein von einer längst vergangenen
Begebenheit übrig gebliebenes Stück Wirklichkeit" ist.
Auf der Strecke von Tiefencastel (Imum castellum) mit seinem redenden Von Tiefen-
Namen bis herauf nach Stalla (Stabulum Bivio)-) laufen die Septimer- und die casaccia.
Julierstraße noch in einem Strang zusammen, und hier redet das Mittelalter
nicht nur aus den Urkunden, durch die hier das Dasein alter Herbergen bezeugt
wird-'), sondern noch viel anschaulicher aus den Stellen am Wege, wo heute
noch die alten Straßenfesten, wenn auch zum Teil nur in Ruinen, aufrecht
stehen; wie wir ja eine derselben, Marmels (Marmorea), und ein in deren Nähe
ausgeführtes Raubritterstückchen schon bei Gelegenheit der Römerzüge kennen
gelernt hatten. Es giebt heute in den Alpen lohnendere und bequemere Auf-
gaben, als bei Bivio von der Julierstraße abzubiegen und nun den Weg über den
Septimer einzuschlagen, wo alles still und verödet, auch das alte Hospiz nur
noch eine Ruine ist, und wo sich daher auch jetzt die natürlichen Nachteile
dieses Überganges, die zu allen Zeiten dieselben waren, nur um so deutlicher
geltend machen, die Armut der Gegend und auf der Höhe die Neigung zu aus-
gedehnten Moorbildungen, die hier die Instandhaltung des Straßenkörpers stets
besonders erschwert haben. Zielgerecht aber unendlich steil, selbst nach dem
Maßstab des Hochgebirgs gemessen, ist dann der Abstieg nach Casaccia; gerade
hier aber finden wir auch heute noch das Plattenpflaster des alten Weges auf
weite Strecken in gut erhaltenem Zustand und können so eine deutliche Vor-
stellung von dem Wesen der Straßenbautätigkeit alter Zeiten gewinnen, die an
dieser Stelle von den Werkmeistern der Churer Bischöfe gehandhabt wurde.
Wie schwierig es aber im allgemeinen ist, solche alte Straßenreste einer be-
stimmten Bauperiode zuzusprechen, mag daraus hervorgehen, daß die alten in
Plattenpflaster ausgeführten Straßenteile, die sich heute ebenso auf der Bern-
hardin- und Splügen- wie auf der Septimerstraße finden, sämtlich in der Art
ihrer Herstellung ganz von einander verschieden sind, obgleich diese Straßen
doch so viele gemeinsame Schicksale durchlebt haben müssen''). Chur und
Derjenige, der annimmt, daß der Septimer eine alte ausgetretene Römer- sg^^^J^g^'^nd
Straße gewesen ist, wird auch dessen berühmte mittelalterliche Vergangenheit juiier;
nicht wunderbar finden; demjenigen aber, der anders denkt, und der die alte V"^?^! ^"''
' ' o ' ' das Auf-
einst durch Tinzen führende Römerstraße nicht auf den Septimer sondern auf kommen des
den lulier verlegt, wird jener Wechsel um so erstaunlicher vorkommen müssen, ^^^''^'f/ ?.'\
•^ b ) j mittelalterliche
Schon bei der Erklärung des römischen Straßenbildes hatte das Dasein des Hauptstraße.
') Schu. S. 362f. 2) Oe. II. S. 173. ■') Oe. 11. S. 176. <) Ber. S. 36f., 54; PI. S. 92.
208 IV. Kapitel.
Namens Bivio (Straßengabelung zwischen der Julier- und der Septimerstraße)
uns genötigt, zu einer Annahme unsere Zuflucht zu nehmen, und ein eigener
Zufall will es, daß wir nun wieder an derselben Stelle zu einem gleichen Ver-
fahren genötigt sind, so ungern auch der Geschichtsforscher die Grenze über-
schreitet, die das Gebiet, wo die sicheren Tatsachen in der Darstellung die
Herrschaft führen, von dem Reich der Hypothese trennt. Trotzdem bleibt die
Sachlage hier aber doch die, daß sie eine Stellungnahme zu der Frage unbedingt
herausfordert, warum der Septimer, für dessen Benutzung in der Römerzeit im
Vergleich mit dem Julier und Splügen so geringe Anzeichen existieren, von dem
Mittelalter zu einem Hauptübergang erwählt worden ist.
Ebenso deutlich wie die hervorragende mittelalterliche Bedeutung des Sep-
timer an sich tritt nun auch die Tatsache heraus, daß er der eigentliche Churer
Paß war'), und daß dieses Bistum von Anfang bis zu Ende den Besitz dieser
Alpenstraße als eine der Hauptgrundlagen seiner eigenen politischen Macht-
stellung betrachtete. Wenn nun der Kriminalist vor die Aufgabe gestellt wird,
dunkle Vorgänge aufzuklären, und zu diesem Zwecke den Schauplatz, wo diese
sich abspielten, untersucht, so pflegt er diejenigen Erscheinungen doppelt scharf
in das Auge zu fassen, die hier auf etwas Ungewohntes, Besonderes hindeuten.
Schlagen wir nun hinsichtlich des Bildes, das der Septimer und der Julier zu-
gleich in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters darbieten, dasselbe Verfahren
ein, so stoßen wir nun auch hier auf eine ganz auffallende Tatsache; es ist die-
jenige, daß wir gerade in jener Zone, und so früh als wir nur überhaupt ver-
langen können, auf Besitzungen des Klosters Pfäfers stoßen, auf Güter desselben
im Bergeil, und besonders auf eine demselben angehörige, am höchsten Ende
dieses Tales jgelegene Kirche S. Gaudentius^). Wir brauchen hier nicht zu
wiederholen, welch' scharfen Blick die kirchlichen Instanzen im ersten Mittel-
alter für die wichtigen Wegestellen hatten, und es genügt auch, hervorzuheben,
daß die Begünstigungen, die dem Kloster Pfäfers von der Krone zugewandt
wurden, mit denen Churs bis zu den Zeiten der Ottonen fast gleichen Schritt
halten 3), um auf den Gedanken zu kommen, daß hier einst ein Wettlaufen
zwischen diesen beiden Gewalten um den Besitz der wichtigsten Verkehrslinie
Bündens stattgefunden hat. Nun kann man auf Grund der Lage jener alten
Besitzungen von Pfäfers zunächst auch bloß mutmaßen, daß sich jene Konkurrenz
allein auf den Septimer erstreckte; sieht man aber genau hin, so liegt gerade
die wichtigste derselben, die Kirche S. Gaudentius, viel weniger zwingend für
jene Stelle, wo man aus dem Bergeil zum Septimer abbiegt, sondern vielmehr
nur dicht neben der Malojastraße, also neben der zum Julier heraufführenden
Richtung 4). So schaut uns denn diese Kirche mit ihren frommen gotischen
1) Ber. S. 161. 2) Ber. S. 127, 164; Schu. S. 65; Oe. II. S. 176. 3) pi. s. 383f, S. 389f. 4) Die
Tatsache, daß auch Präfers hier alten Besitz hat, ist schon Berger (Ber. S. 162, 164) aufgefallen;
er nimmt dabei jedoch nur Absichten dieses Klosters auf den Septimer, nicht auf den Julier an.
Die Straßen Graubündens. 209
Ruinen noch heute wie eine bösartige Sphinx an, da sie uns vor die Frage
stellt, ob es das Kloster Pfäfers ursprünglich nicht etwa auf den Julier abgesehen
hatte, und ob es nicht etwa später von dem Bistum Chur hier dadurch aus dem
Sattel gehoben wurde, daß sich dieses im Gegensatz zu Pfdfers auf dem Sep-
timer festsetzte und dann auch den Verkehr vom Julier hinweg und dort herüber
zu leiten verstand.
So wird des Juliers zwar schon im J. 1179 als Gebirge, des Wahrzeichens
seiner großen Vergangenheit, der alten auf jener Paßhöhe stehenden Stcinsäulen
dagegen erst 1396 als „des marmelsteins uf dem Julierberge" gedacht'), wie
die Tatsache, daß dieser Weg damals von dem großen Verkehr gemieden wurde,
nicht nur aus dem Fehlen aller anderen Nachrichten sondern auch daraus zu
erkennen ist, daß uns die mittelalterlichen Wahrzeichen entlang der eigentlichen
Straße ganz im Stich lassen. Im anderen Falle müßten wir solche besonders
am Südfuße zwischen Silvaplana und Casaccia viel zahlreicher vorfinden, hier,
wo heute nur die Ruine Chaste auf den Silser See hinabschaut, und wo in
Silvaplana erst im J. 1233 ein Hospiz anzutreffen ist, dessen Entstehung sich
aber ebensogut nur durch den aus dem Engadin kommenden Lokalverkehr er-
klären läßt.
Verfolgen wir von dort unseren Gang weiter nach Süden, so betreten wir Durch das
jenseits der Malojahöhe das nördlichste Ende jener ganzen Zone, die als ge- chiavenna.
schlossenes Vorland südlich der Ausgänge fast sämtlicher bündner Straßen liegt,
und die sich von der obersten Stufe des Bergeil weithin über Chiavenna und
den Comersee bis zu den südlichsten Toren Comos herab erstreckt. Auch im
Mittelalter war hier ebensogut wie heute nur eine südliche Natur zu finden und
ein südliches Volkstum, das aber damals infolge des lebhaften hier durchlaufenden
Reiseverkehrs einen eigentümlichen Einschlag und eine von nördlichen Einflüssen
durchsetzte Färbung angenommen haben muß. Wie stark und wie wichtig aber
jener Reiseverkehr gewesen ist, zeigt sich auf dem Wege durch das Bergell so-
gleich in den vielen mittelalterlichen Zollstellen, von denen hier eine auf die
andere folgte, diejenigen in Vicosoprano (Vicus sopranus), in Castelmur, bis
herab nach Plurs und Chiavenna-). Die wichtigste Stelle war aber auch hier
noch ebenso wie im römischen Altertum keine andere als die Porta Bergalliae,
wo im Orte Porta an der Straße selbst sich die Herberge befand, während an
den beiden Talwänden die Burgen Castellatsch und Castelmur einander gegen-
überlagen und von der letzteren die Vögte dieses Tals auf das Land herab-
schauten.
In Chiavenna erinnert heute freilich noch wenig an die belebte mittelalter-
liche Vergangenheit des Ortes; es genügt aber doch, um das, was wir schon
wissen, zu bestätigen. Die vom Maloja und die vom Splügen herabkommenden
Straßen vereinigen sich heute innerhalb des Ortes auf einem kleinen Platz,
') Oe. II. S. 184; M. Schw. S. 83. 2) Oe. II. S. 177, 179f; PI. S. 427.
ScheffeU Verkehrsgeschichte der Alpen. 2. BanJ. 14
210 IV. Kapitel.
nachdem die letztere vorher die Mera überschritten hat. Der Kern der Stadt,
ebenso die in Ruinen liegende Citadelle wie die Hauptkirche und die wichtigsten
alten Gasthäuser liegen dagegen nördlich davon an der nach dem Bergeil füh-
renden Straße und zeigen so, daß diese Richtung hier auch schon in den früheren
Jahrhunderten neben dem Splügen die wichtigere gewesen sein muß. Ungleich
deutlicher redet dagegen dasjenige, was wir von den Schicksalen Chiavennas im
Mittelalter wissen, da der Besitz dieses Punktes immer von denen am eifrigsten
erstrebt wurde, die auch oben auf den Bergen das erste Wort führen wollten,
so daß die Zugehörigkeit Chiavennas zu nördlichen oder südlichen Gewalten in
den einzelnen Zeitaltern zugleich erkennen läßt, wo damals der politische Schwer-
punkt dieser ganzeil Gegenden lag. Wenn wir erfahren, daß um das J. 701 ein
langobardischer Machthaber über Chiavenna glücklich nach Bayern entkam'), so
sehen wir daraus, wie diese Stadt gleich den bündner Straßen auch im frühen
Mittelalter ein wichtiger Durchgangspunkt geblieben war; damals gehörte sie
ihrer südlichen Lage entsprechend zum Bistum Como, ein Verhältnis, das auch
im J. 803 von Karl dem Gr. bestätigt wurde 2). Unter den Ottonen drang dagegen
das Bistum Chur auch bis hierher vor, um nun an diesem Orte zweihundert
Jahre hindurch seine Zölle zu erheben 3). Es sind dies die Zeiten der größten
Machtentfaltung der Churer Bischöfe, in denen aber dann ein Umschwung ein-
trat, als Chiavenna von Friedrich Barbarossa zu einer besonderen Grafschaft
gemacht wurde, die als solche jedoch bereits 1219 in den Besitz des Bistums
Como gelangte"*). Die Stadt bleibt nun zunächst in der Hand südlicher Mächte;
1335 wird auch sie durch die Viskonti von Mailand aus beherrscht, bis sie dann
am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts von neuem von den Bündnern erobert
wurde.
Der Comersee Dicht südlich Chiavenna wurde der Landweg nun auf weite Entfernung bis
Como oder Lecco durch die Wasserstraße des Sees unterbrochen, eine Strecke,
in deren mittelalterlichen Schicksalen auch wieder ein Grundzug jener Zeiten,
die Unsicherheit des Lebens und Eigentums und die Tendenz zur Gewaltsam-
keit grell hervortritt. Wenn die Ränder dieses wunderbaren Gestades in den
letzten Jahrhunderten von neuem und in erhöhtem Maße jener Bestimmung
dienen können, die sie schon in der römischen Kaiserzeit hatten, und so Land-
häuser und Gärten tragen, in denen ein verfeinerter Lebensgenuß sich ruhig
entfaltet, so war im Mittelalter hier nichts von allem diesen zu finden, als die-
selben felsigen Uferwände unter der Gewalt kleiner Dynasten standen, die hier
von ihren Schlupfwinkeln aus den Verkehr unsicher machten. Selbst von
Friedrich Barbarossa findet es der Chronist besonders bewunderswert, wenn
dieser wieder einmal „jene wilden und an Seeräuberei gewöhnten Bewohner der
Isola Comacina" zur Vernunft brachte (1159)^), und noch im J. 1526 mußten hier
Mailand und die Eidgenossen mit vereinten Kräften und nach langer Belagerung
') P. D. S. 134. 2) PI. s. 425. 3) Qe. II. S. isä *) Schu. S. 87. =) Ra. S. 134.
Die Straßen Graubündens. 211
einem solchen Gewalthaber auf der Rocca die Musso (bei Dongo) den Garaus
machen. Überhaupt bildet der lange, schmale und gewundene Comersec mit
seinen hohen, dicht die an die Ufer herantretenden Gebirgswänden im militä-
rischen Sinne ein so scharf ausgeprägtes Defilee, daß er die Kriegkunst aller Zeiten
vor die schwierigsten Aufgaben stellt, sobald der Kampf selbst nicht allzuweit ent-
fernt von dieser Stelle ausgetragen werden muß. Einmal ist dieses Verhältnis
auch hier von entscheidenden Folgen gewesen; denn die Schlacht bei Legnano,
1176, ging für Friedrich Barbarossa vor allem dadurch verloren, daß dessen
einzelne, von Norden herankommende Kolonnen hier nicht so, wie es be-
absichtigt war, ihre Vereinigung bewirken konnten, und weil der Kaiser
daher die Schlacht von Anfang an in einer für ihn ungünstigen Lage an-
nehmen mußte ').
Das Stadtbild Comos aber ist für den Geschichtsforscher deshalb so an-
ziehend, weil hier bis heute die Zeugnisse aller Zeitalter erhalten geblieben
sind, die dieser Ort jemals durchlebt hat. Die Zeit der mittelalterlichen deutschen
Herrschaft bezeichnet zugleich die zweite Blütezeit Comos, als fast der gesamte
durch Bünden gehende Reiseverkehr seinen Weg hier durchnehmen mußte und
so auch die deutschen Könige allen Grund hatten, sich den Besitz der Stadt zu
sichern. Tatsächlich war Como damals stets eine ihrer festesten Stützen auf
lombardischem Boden, und noch 1239 konnte Friedrich II. es „den Schlüssel für
den Einmarsch in Italien von Deutschland her" nennen 2), wenn dieses Verhältnis
auch durchaus nur in materiellen Ursachen und besonders in der Rivalität des
Ortes gegen Mailand seinen Grund hatte. Am Südausgang der Stadt liegt auch
heute noch bei S. Anna das alte Hospiz, und weiter hinaus folgt Kirche auf
Kirche in der Vorstadt und entlang der der Mitte der lombardischen Ebene
zustrebenden Landstraße. Es ist dies eben dieselbe Linie, auf der auch alle
Reisenden des Mittelalters gezogen sind, die durch Como kamen; einer derselben,
Bischof Gerdag von Hildesheim ist hier im J. 992, als er von einer Wallfahrt
aus Rom zurückkehrte, gestorben-^) und auch Heinrich der Löwe hat sich im
J. 1161 einmal in Como aufgehalten'').
Wenn dann der Untergang der Hohenstaufen für die Vorherrschaft Mailands
endgültig die Bahn freimachte, so bedeutete dies für Como zwar auch den
Verlust seiner politischen Stellung und die Unterwerfung unter jenes, aber doch
nichts weniger als einen Niedergang sondern nur eine Abstoßung nördlicher
Kultureinflüsse. Es ist dies die letzte Periode des Mittelalters, die hier wieder
wie die Antike in die Mitte der Umwallung zurückkehrte und dort mit ge-
sammelter Kraft jenen Dom erbaut hat, dessen Größe und Kunstwert noch heute
ein Zeugnis von dem damaligen Können und dem Reichtum jener Stadt ablegt.
Bedeutend war Como während des fünfzehnten Jahrhunderts zwar noch nicht
durch seinen Seiden-, wohl aber durch seinen Wollhandel, wie damals selbst
>) Schu. S. 89. 2) oe. II. S. 179. •») Hildesheimer Jahrbücher J. 992. <) Gi. V. B. S. 782.
14*
212 IV. Kapitel.
der kleine Ort Torno am östlichen Ufer des Sees nicht weniger als fünfzehn
derartige Fabriken besaß.
Vom Julier Die Übrigen in das lange Engadin einmündenden Alpenstraßen liegen nun
Wormserjoch. inm'^en eines ausgedehnten, nördlich bis zum Arlberg, südlich bis zum Wormser-
joch und östlich bis zur Reschenstraße sich erstreckenden Berglandes, über das
auch die mittelalterliche Geschichte nicht allzuviel zu sagen weiß, und das
ebenso wie in der Römerzeit wenigstens bis zum Anfang des zwölften Jahrhunderts
ohne zwingenden Grund kaum ein von weither gekommener Reisender betreten
haben mag. Daher werden wir auch vergebens Nachrichten über die Benutzung
der dem Julier nahe benachbarten Albulastraße suchen, wenn sich auch hier die
Landschaft selbst nicht ganz so schweigend verhält, angesichts der alten Kirche
in Bergün (1188), der Burgen Beifort und Greifenstein am nördlichen und der
Burg Guardavall am südlichen Ausgang. Letztere, die um 1251 von Bischof
Volkard von Chur erbaut wurde und als Zollstelle diente'), läßt somit erkennen,
nach welcher Richtung hin der Besitz jener Linien im Mittelalter für Chur
von einiger Wichtigkeit war, insofern hier die Verbindung nach dem Vintschgau
durchführte, das damals einen östlich weit vorgeschobenen Posten der Interessen-
sphäre dieses Bistums bildete. Ebenso wie die Albulastraße ist aber auch der
Weg über den Flüelapaß für jenen Zweck geeignet, obgleich wir bei diesem als
Zeugnis seiner mittelalterlichen Benutzung allein die Burg Fortezza bei Süs
auftreiben können. Als Fortsetzung dieser beiden Linien nach Südosten steht
dann nur der Weg über den Ofenpaß zur Verfügung, dem auch noch deshalb
eine größere Wichtigkeit zuzusprechen ist, weil in ihn die Straße über das
Wormserjoch einmündet, während das Engadin, das alle diese inneren Straßen
Bündens, auch der Weg über den Berninapaß, an irgend einer Stelle, in Silva-
plana, Samaden, Ponte, Zernetz oder Süs, einmal betreten müssen, als solches
im Mittelalter noch ganz außerhalb des Verkehrs gelegen war'). Auf einer dieser
inneren Straßenrichtungen Bündens muß übrigens Friedrich IL im J. 1212 sich
bewegt haben, als er damals aus dem Gebiet der Etsch in seine deutsche Erb-
schaft hinübereilte^); auch Karl IV hat bei der Rückkehr von seinem ersten
Römerzug (1355) einmal diese Gebirgsgegend, wahrscheinlich über den Bernina-
und Albulapaß durchritten "*),
Lebhafte Zeugnisse eines mittelalterlichen Kulturlebens, und damit zugleich
auch die Spuren eines alten Verkehrs, treffen wir nun aber im Münsterer- und
Tauferertal an, dort, wo die Ofenstraße und die Straße über das Wormserjoch
nördlich in eine, nach dem oberen Vintschgau führende Linie zusammenlaufen.
Daß wir uns hier an einer Stätte alter kirchlicher Tätigkeit und alten kirchlichen
Besitzes befinden, zeigen schon die Namen S. Maria und Münster an, wie ja das
Alter der Benediktinerabtei in Münster, auch abgesehen von den dortigen Erinne-
rungen an Karl den Gr., tatsächlich bis in die Karolingerzeit hinaufreicht. Wenn
') Oe. II. S. 188. 2) Schu. S. 16. 3) Vgl. Anh. 22. •») Oe. II. S. 189.
Die Straßen Graubündens. 213
wir nun aber ebensofrüh die Churer Bischöfe als die Herren dieser Gegend
sehen '), so tritt später auch der praktische Wert dieses Besitzes ganz deutlich
heraus, als hier über Taufers drei Burgen, entlang des Weges Wirtshäuser und
Schmieden, vor allem aber auch eine Anzahl bischöflicher Zollstellen entstanden
sind-). Die dortigen Zollbestimmungen reden nun auch eine ganz deutliche
Sprache von einem über das Wormserjoch gehenden Handelsverkehr, der sich
hier etwa vom dreizehnten Jahrhundert ab zwischen Finstermünz und Meran
einerseits und der Lombardei andererseits eingelebt hatte. Bei der versteckten
Lage des Wormserjoches in der Bergwelt und bei der großen Höhe dieses Über-
ganges (2512 m), die im Mittelalter nur bei dem Gr. S. Bernhard ihresgleichen
hat, ist dies zunächst eine fast befremdende Erscheinung. Sie findet ihre Erklärung
jedoch darin, daß man hier weit und breit keinen besseren Übergang als jenes
Joch finden kann, das noch dazu gerade in der Mitte jenes von der Cima di
Castello (am Bergeil) bis zur Mendel (bei Bozen) sich erstreckenden Gebirgs-
walles gelegen ist, der hier wie ein gewaltiges Rückgrat das mittlere Alpenland
durchzieht. Es ist daher nur eine notwendige Folge der im Laufe der Jahr-
hunderte immer weiter fortschreitenden Kultivierung der Alpenländer, wenn sich
der Verkehr schließlich auch hier eine neue, selbständige Bahn eröffnete.
') PI. S. 378f. -) Oe. II. S. 254.
V. Kapitel.
Vom Arlberg bis zum Brenner.
Die Landschaft Einen ähnlichen Verlauf wie die Geschichte des Wormserjoches zeigt im
am r erg. j^jjtgiaifg,. auch diejenige des diesem nördlich genau gegenüberliegenden Arl-
bergs. Wir müssen aber hierzu wieder nach dem oberen Rheintal zurückkehren,
nach dem ja der Weg von jenem Übergang westlich hinabläuft. Es ist das
Drusustal des ersten Mittelalters, das sich hier von Bludenz bis zum Rheine
ausbreitet und dessen Ortschaften wir gleichfalls kennen lernen, als Bludenz
Plutenes) von Otto I. an Chur und Rankweil (Villa Vinomna) von Karl dem
, Dicken an S. Gallen geschenkt wird')- In Rankweil hielt sich einmal (823)
Lothar, der Sohn Ludwigs des Frommen, auf seiner Rückreise von Italien auf,
und hier in der Nähe diente auch seit den Zeiten der Merowinger bis in das
fünfzehnte Jahrhundert ein Hügel als Stätte der öffentlichen Gerichtsverhand-
lungen, wie auch eine derselben, die um das J. 807 ganz nach dem im Karo-
lingerreich üblichen Verfahren stattfand und deren Urkunde wir noch besitzen,
den damaligen Kulturzustand dieser Gegenden getreu widerspiegelt 2). Im
weiteren Verlauf des Mittelalters verschwinden dann aber hier zunächst im
Rheintal ebensosehr die Spuren der Macht der Krone wie die von Chur und
S. Gallen und es erscheinen jetzt in fester Position eine Anzahl kleiner Dynasten,
so in Bregenz die alten Grafen von Bregenz, und deren Erben, die Grafen von
Pfullendorf, dann auch die Montfort, deren Hauptort Feldkirch war, und auf
Hohenems die nach dieser Festen genannten Grafen.
Dringen wir nun aber in die Gebirgstäler selbst ein, die sich in der Um-
gebung von Bludenz nach allen Seiten hin öffnen, so befinden wir uns hier
plötzlich inmitten eines eigenartigen und von der Forschung auch heute noch
nicht genügend gewürdigten Kulturgebietes, das sich von seinen beiden Nach-
barn im Gebirge, Bünden und Tirol, scharf unterscheidet. Von dort, wo die
Höhen des Bregenzer Waldes aus der Ebene aufsteigen, bis zur Silvretta, und
') PI. S. 396, 373. 2) PI. S. 354.
Vom Arlberg bis zum Brenner. 215
von Bludenz bis zur Trisannamündung, werden wir zunächst vergebens die Reste
mittelalterlicher Herrensitze suchen. Ebenso bemerkenswert ist aber hier auch
die Lagerung der Ortsnamen, derart, daß in der nördlichen Hälfte jenes Ge-
bietes bis zum Kloster- und Stansertal bei diesen die reindeutschen durchaus
in der Überzahl sind'), während dann südlich im Montafon und Paznaun sich
dieses Verhältnis rein in das Gegenteil verkehrt und hier in geschlossener Reihe
die aus dem Altertum stammenden Namen anheben. Es ist dies aber alles nur
ein Abbild der Schicksale, die jene Gegenden in der ersten Hälfte des Mittel-
alters gehabt haben, als in diese jetzt mit deutschen Namen besetzten und nach
Norden und Westen offen stehenden Täler die neue alemannische Bevölkerung
einzog und vorwärts drängte, um erst östlich des Arlbergs Halt zu machen, eine
Bevölkerung, in der aber auch die feudale Entwickelung des Mittelalters hier
niemals tiefe Wurzeln geschlagen hat, und unter der sich deshalb auch an vielen
Stellen freie Bauernschaften viel länger als anderswo erhalten konnten.
Es ist eine lange Zeitspanne von den Tagen des Drusus und von jener Die Ariberg-
problematischen Römerstraße über den Arlberg bis dahin, als der Arlberg wieder M^neUitTr-
seine Eigenschaften als Grenzstock abzustreifen beginnt und wir auf seinem Besonderheit
Kamme einen von Schwaben nach Tirol führenden Weg erkennen können, innerhalb
Wenn dann infolgedessen die alten Namen Drusustal und Wallgau verschwinden des alpinen
und der Bezeichnung Vor dem Arlberg Platz machen, so weist auch dieser " ennetzes.
Vorgang wieder deutlich nach der Gegend hin, die damals hier überall das erste
Wort zu sprechen hatte, nach dem Gestade des Bodensees, wie dieser Gesichts-
punkt sich auch weiter südlich in den Bezeichnungen Montafon und Davos wieder-
holt, da jenes das vordere, dieses das hintere Tal bedeutet. Erst am Ende des
vierzehnten Jahrhunderts (1385) kündet die Entstehung des Hospizes S. Christoph
an der Paßhöhe den Arlberg selbst als begangenen Weg an, und es ist auch da-
mals bereits eine für das eigentliche Wesen dieser Linie bezeichnende Ursache,
die Erschließung der Salzbergwerke in Hall bei Innsbruck, die hier von fern
einwirkt und die den Arlberg nun zunächst zu einer mittelalterlichen Salzstraße
werden läßt. So sehen wir denn auch, wie diese Straße in den folgenden Zeiten
von dem Handelsverkehr immer mehr in Rechnung gezogen wird, obwohl
andere wichtige Ereignisse damals ebenso wie später hier ganz ausgeblieben
sind. Nur eine einzige geschichtlich denkwürdige Reise ist einmal über den
Arlberg gezogen, und noch dazu die eines sonderbaren Heiligen, des Papstes
Johann 23., als dieser sich im Oktober 1414 nach Konstanz zum Konzil begab.
Eine eigene Laune des Zufalls hat es aber gewollt, daß gerade die Erinnerungen
an diesen Reisenden noch zahlreich an den Gebirgsorten haften, durch die er
seinen Weg genommen hat, so in Meran, wo er mit Herzog Friedrich von Tirol
') Ju. S. 275. A. 4. Außerdem ist gerade diese Gegend für jene oft beobachtete Erscheinung ganz
vorbildlich, daß die von Menschen bewohnten Orte zuerst die neue Bezeichnung annehmen, während
an den Bergen und Flüssen die alten Namen viel länger haften zu bleiben pflegen.
216 V. Kapitel.
zusammentraf und nebenbei das Kloster Gries bei Bozen mit Gnadenbeweisen
beglücltte'), in Latsch im Vintschgau, wo er eine Kirche weihte, und schließlich
als würdiger Abschluß jene bekannte Szene bei dem Orte Klösterle am Arlberg,
wo das Gefährt des Papstes auf dem schlechten Wege umwarf und nun der
im Schnee liegende hohe Herr zum Entsetzen der ihn begleitenden Gebirgs-
bewohner in ein entsetzliches Fluchen ausbrach.
Wenn wir uns den Weg über den Arlberg von Bludenz bis Landeck und
sein Verhältnis zu den Linien der Nachbarschaft genau ansehen, so werden wir
bald entdecken, daß er einen ganz besonderen Charakter besitzt, wie er sonst
bei keiner anderen Alpenstraße wiederkehrt. Diese Besonderheit beruht jedoch
nicht so sehr darauf, weil wir auch hier einen der wenigen großen, direkt von
West nach Ost ziehenden Alpenwege vor uns haben, sondern sie ist vielmehr
darin begründet, daß allein diese Längslinie in sich ganz isoliert ist und, anders
als die Straße über die Furka oder diejenige durch das Pustertal, nirgends von
einer von Nord nach Süd ziehenden Linie durchschnitten wird. Deshalb ist
dieser Weg aber auch die einzige Linie, an der man das Wesen und die Stärke
des die Alpen in der Längsrichtung durchziehenden Verkehrs ganz unvermittelt
beobachten kann. Wenn nun der Weg über den Arlberg je näher wir an die
Gegenwart heranrücken auch weiterhin von Kriegszügen gemieden und von der
Politik vernachlässigt, für den Handel allein dagegen immer wichtiger wird, so
lassen sich hieraus zwei für die Verkehrsgeschichtc der Alpen wichtige und zu
allen Zeiten gültige Gesichtspunkte gewinnen, einmal, daß von den durch die
Alpen auf und ab gehenden Kulturbeziehungen diejenigen zwischen dem Norden
und Süden stets die umfangreicheren und geschichtlich wertvolleren gewesen
sind; ebenso läßt es sich dabei aber auch bemerken, daß die Kräfte, die den
Handelsverkehr in das Leben rufen und ihm die Wege weisen, mit einem ganz
besonderen Maß gemessen sein wollen, und daß wir daher in der Handels-
geschichte einem innerlich besonders selbständigen Zweig der Kulturgeschichte
gegenüberstehen.
Die Straße Östlich des Arlbergs kündet uns nun aber schon die große, hoch über
Maiser Haide. Landeck thronende Burg eine andersgeartete geschichtliche Atmosphäre an.
Wir betreten hier den Bereich jener Alpenstraße, die südlich vom Vintschgau,
also vom Gebiet der Brennerstraße herankommend, über die Maiser Haide
und die Reschenscheideck durch das obere Inntal läuft, um sich dann einesteils
nach dem Arlberg zu, besonders aber auch nach der Fernlinie auseinanderzu-
spalten und so an lezterer Stelle wieder zu dem großen System der Brenner-
straße zurückzukehren. Auch diese Straße ist dadurch eigentümlich, daß ihre
Bedeutung von Anfang an einem besonders starken Wechsel unterworfen ge-
wesen ist, daß sie ihrer Wichtigkeit nach zuweilen vollständig an die anderen
großen Alpenlinien heranreichte, um dann plötzlich wieder in den Rang einer
') Sta. S. 49; Atz. S. 237.
Vom Arlberg bis zum Brenner. 217
untergeordneten Lokalverbindung zurückzutreten. Obgleich schon die Anlage
der ersten römischen Staatsstraße durch Tirol vielmehr hierher als nach dem
Brenner hinwies, so scheint trotzdem doch am Ende des Altertums an der
Maiser Haide alles Leben wie ausgestorben zu sein. Auf der Höhe des Mittel-
alters sehen wir dagegen dann plötzlich auch hier einen regen Handelsverkehr
hindurchziehen, während später im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert
dieselben Striche wieder nur ein stilles Gebirgstal gewesen sind, um jedoch
jetzt, im zwanzigsten Jahrhundert, von neuem Anzeichen erkennen zu lassen,
daß hier die Zustände des vierzehnten Jahrhunderts im Maßstabe der modernen
Zeit Wiederaufleben wollen.
Für den Zeitpunkt, an dem es im Mittelalter an dieser Linie lebendig
wurde, haben wir einen wichtigen Anhalt in der Gründungszahl der Abtei
Marienberg von 1090 und noch mehr in derjenigen des Hospizes S. Valentin
auf der Haid von 1140. Da diese Daten aber nun um Jahrhunderte früher als
die Eröffnung der Arlbergstraße liegen, so kann der damals dort anklopfende
Verkehr seinen Ursprung auch nur südlich am Wormserjoch bezl. im Etschtal
und nördlich an der Fernlinie gehabt haben. Wie rasch dieser Verkehr dann
aber überhaupt an Stärke und Wichtigkeit zugenommen hat, davon redet mehr
als alles andere das Dasein des am Südfuß der Maiser Haide gelegenen Ortes
Glurns; denn es ist doch gewiß auffallend, wenn wir plötzlich (1304) auf jener
kleinen, reichlich hoch gelegenen Ebene dicht neben dem alten Römerort und
Straßenpunkt Mals noch einen zweiten Punkt in Gestalt einer nach damaligen
Begriffen völlig ausgewachsenen Handelsstadt finden, die später auf der Stände-
bank Tirols den siebenten Platz einnahm. Wie verhältnismäßig selbständig aber
der über die Maiser Haide gehende Verkehr neben dem Brennerverkehr war,
zeigt sich auch darin, daß man auf jener Linie nicht etwa schon bei Bozen ver-
mittelst der Brücke über die Talfer (Talavera) in die Brennerstraße einschwenken
mußte, sondern diese über Terlan und das Überetsch, ganz ebenso wie die erste
Straße der Römer in jenen Gegenden, auch erst südlich bei Neumarkt erreichen
konnte'), wie überhaupt jener Straßenzug in früheren Zeiten neben der eigent-
lichen Brennerstraße als die obere Straße bezeichnet zu werden pflegte und die
Erinnerung an seine frühere Bedeutung auch in Tirol stets lebendig geblieben ist 2).
Wandern wir aber nun von Imst aus südwärts der Reschenscheidcck selbst
zu, so laufen die Spuren des ältesten Straßenzuges zunächst nicht wie heute an
Landeck vorbei, sondern durch das unterste Piztal und dann über das Pillerjoch
nach Prutz-'). Bei Pfunds und bei Nauders (Novders) finden wir dann mittel-
alterliche Zollstellen und südlich der Maiser Haide, die übrigens ebenso wie
die Lenzer Heide durch ihre Schneestürme berüchtigt ist, nehmen dann auch
mit jedem Schritte, den wir neben der jungen Etsch hinabgehen, die Zeugnisse
des Mittelalters in überraschender Weise zu, hier, wo bei Burgeis Marienberg
I) Jo. S. 21. 2) W. S. 77. 3) Z. A. 1900. S. 111.
218 V. Kapitel.
und die Fürstenburg, Mals mit seinen zwei Schlössern und sieben Kirchen,
Glurns und Lichtenberg, Schluderns mit der Churburg und Matsch mit seinen
Ruinen dicht nebeneinander liegen.
Das Tatsächlich ist auch jene Stelle, wo das Etschtal aus der südlichen in die
intsc gau. 55(ijgj^g Richtung umbiegt, Jahrhunderte hindurch der Mittelpunkt gewesen, in
den die Machtansprüche der mittelaterlichen Gewalthaber von nah und fern wie
heftige Winde von allen Seiten her hineingeschlagen und hier nun Schicht aur
Schicht aufeinander gehäuft haben. Die früheste Kunde dieser Gegend haben
wir zunächst in einer Urkunde vom J, 824 vor uns, als dem Bistum Como seine
Rechte in Bormio und Matsch bestätigt werden'), eine Ausdrucksweise, die
somit zugleich offenbart, daß es sich dabei nur um bereits bestehende Verhält-
nisse gehandelt haben kann, deren Ursprung in diesem Falle noch im römischen
Altertum zu suchen sein wird. Kein Zufall ist es wohl aber, wenn sich zu
ebenderselben Zeit, wie wir gesehen haben, auch schon der Bischof von Chur
im Münstertal festsetzt, und daß wir daher bereits jetzt noch einen zweiten
Interessenten behutsam die Grenzen dieses Gebietes umschleichen sehen. Rein
äußerlich, nach fränkischem Staatsrecht, war damals auch diese Gegend in weitem
Umfange zu einer Grafschaft zusammengefaßt. Es ist dies jene alte von der
Passer bis Pontalt im Engadin reichende Grafschaft Vintschgau, die jedoch mit
der späteren gleichen Namens nicht allzuviel gemein hat, da diese östlich und
westlich beschnitten sich nur vom Schnalsertal bis Finstermünz erstreckte.
Allzuviel Lebenszeichen sind uns freilich von jenen alten Grafen im Vintsch-
gau aus jenen dunklen Jahrhunderten nicht übrig geblieben. Jedenfalls werden
sie, nachdem sie im J. 1027 unter die Oberhoheit von Trient gekommen waren,
auch kaum anders als vorher weitergelebt haben, da dieses wirklich festen Fuß
im Vintschgau überhaupt niemals fassen konnte; denn die eigentlich werbende
Kraft kam hier vielmehr vom Westen her, mit dem der obere Teil des Vintsch-
gaues zunächst immer enger zusammenwuchs. Marienberg wurde von einem
Grafen von Tarasp gegründet, und dann ist es vor allem das Bistum Chur, das
hier Schritt für Schritt vordrang, das sich 1278 die Fürstenburg bei Burgeis
erbaute, das am Eingang des Martelltales das Schloß Montan als Lehen vergab-)
und dem Mals, Schlanders und Allgund bei Meran seinen Pfeffer steuern mußten 3).
Bis nach Bozen herab reichen jene Beziehungen, wo die Burg Ried ein chure-
risches Lehen war, und zeitlich bis in das siebzehnte Jahrhundert, als die
Bischöfe von Chur, sobald ihnen daheim der Boden zu heiß wurde, sich nach
Meran zurückzuziehen pflegten"*). Erst die letzte Periode des Mittelalters läßt
dann hier eine von Osten kommende Gegenströmung entstehen, die jedoch erst
tief in der neuen Zeit (1665) ihren Abschluß fand, und durch die dann Chur
wieder nach und nach bis an die heutigen Grenzen des Tiroler Landes zurück-
gedrängt wurde.
1) Ju. S.273. A.2. 2) Ju. S. 281. A. 5. 3) Oe. II. S. 254. 4) Sta. S. 99, 121.
Vom Arlberg bis zum Brenner. 219
Aber auch noch Tür andere, von weiter her stammende Beziehungen, die Das Vintsch-
,„, - . , ■ . . . j. »1 o-j ßau als ethno-
schwerer in Worte zu fassen sind, hat jene eigenartige, die Alpen von Sudwesten graphische
nach Südosten durchziehende Diagonallinie als Leitfaden gedient. Wenn die Leitlinie von
Spuren des alemannischen Vordringens sich gerade in stärkerem Maße nach „^^.j, Südost.
Osten, über den Arlberg und in das nordwestliche Tirol hinein beobachten lassen,
so können wir die Wellenschläge dieser Bewegung noch in der Bevölkerung an
der Maiser Haide erblicken, wo heute die schwäbische Mundart herrscht'). Es
entspricht weiterhin der führenden Rolle, die der Adel im Mittelalter einnahm,
daß dieser auch bei jener Bewegung von Schwaben in die Berge hinein die
größten Entfernungen zurückgelegt hat. Als weitester Punkt dieser Art kann
wohl Lazise am Gardasee gelten, das 1015 von einem schwäbischen Ritter erbaut
worden sein soll; auch die Herren der Burg Enn bei Neumarkt läßt ein unbe-
stimmter Nachklang um das J. 1000 aus der Schweiz eingewandert sein, Andeu-
tungen, die sich greifbarer bei den Namen der Brandis und der Wanga wiederholen,
die gleichfalls alte schwäbische Geschlechter, auch in Südtirol zu Hause waren^).
Noch deutlicher sehen wir aber auch ein großes deutsches Fürstengeschlecht,
die Weifen, denselben Weg einschlagen. Wenn diese Familie, deren Stammsitz
ja am Bodensee lag, wirklich eine Seitenlinie der alten bayrischen Agilolfinger
gewesen ist^), so hätten wir in ihr heute wohl die älteste Dynastie der Welt
vor uns. In den Alpenländern treffen wir sie zuerst auf dem Boden der heutigen
Westschweiz, wo bereits im J. 864 ein Weife Konrad als Graf zwischen dem
Jura und den Alpen erscheinf*), greifbarer und zahlreicher jedoch mit dem
Beginn des neuen Jahrtausends, und zwar eben nach der anderen Richtung, nach
Südosten hin. Ein Weif war bis 1027 Graf im Eisak- und Inntal^); es ist der-
selbe, der damals von dort durch Konrad II. zu Gunsten Brixens verdrängt
wurde, wphrend dann später (1047) wieder Weif III. in den Besitz der Mark
Verona und 1070 Weif IV. in den von Bayern gelangte. Letztere Vorgänge
scheinen nun aber auch die Veranlassung geworden zu sein, daß die ganze wei-
fische Familie, auch die Vettern zweiten und dritten Grades, dieser Bewegung
folgten. So sind nicht nur die alten Eppaner Grafen sondern wahrscheinlich auch
die alten Grafen von Fuchs und die Vögte von Matsch dieses Stammes gewesen,
da sich diese beiden Familien nicht nur bei den Welfenspielen in Zürich (1163)
einfinden, sondern weil man bei ihnen auch dem jenem Geschlechte eigen-
tümlichen Namen Egno begegnen kann"). Jedenfalls sehen wir nun auch bald
darauf fast die ganze westliche Hälfte Tirols, Füssen und die Gegend am Fern-
paß, das Inntal zwischen Zirl und Imst, das Vintschgau, das Passeier- und das
Sarntal und selbst die Umgebung Bozens mit weifischem Besitz durchsetzt''), wie
1) St. S. 10; Vgl. Anh. 23. 2) Erb. S. 181; Atz. S. 192. 3) ß. W. S. 21, vgl. Annalista Saxo, J. 1 126.
<) Otto von Freising, Chronik, 6. u. 7. Bch., L. Dyk. S. 6. A. 6. ») Ju. S. 304. 6) B. W. S. 48;
Tir. S. 40; Stampfer Schlösser in Meran pp, Innsbruck 1894, S. 182. ") Archiv für österreichische
Geschichte, 63. B. S. 651f;Steub, zur rätischen Etnologie Stuttgart 1854, S. 67; B. W. S.21; N.A.S.99.
220 V. Kapitel.
noch heute jene Burgennamen Weifenburg am Inn, Weifenstein am Eisak und
Welsberg im Pustertal an diesen Zustand erinnern. Wenn diese Entwickelung
auch nur in ihren Umrissen zu erkennen ist und bereits am Ende des zwölften
Jahrhunderts in das Wanken geriet, so hat sie doch vollständig einen dieser
Familie von alters her eigentümlichen Zug an sich, eine Zurückhaltung gegen-
über großen Problemen, dafür aber jenes einseitige starke Verständnis für die
Handhabung der Staatskunst vom materiellen Gesichtspunkte aus.
Das Überhaupt vermag kaum eine andere Gegend in den Alpen hinsichtlich
'" hi^storrsche der geschichtlichen Erinnerungen eine so mächtige Sprache wie das Vintschgau
Landschaft, zu reden, wo die Spuren einer großen, tiefbewegten Vergangenheit auch heute
überall noch wie rtiit Händen zu greifen sind. Es ist dies freilich doch nur eine
Sprache, die mit einem Gefühl des Erstaunens und der Trauer überall ausklingt.
Wie stattlich erscheint aus der Ferne Glurns mit seinem schmucken Mauerkranz,
der einst so solid und stark aufgeführt werden konnte, daß selbst heute noch
kaum ein Stein aus ihm ausgefallen ist — und wie gewaltig ist dann der Kontrast
im Innern des Ortes, dessen große Häuser meist tot und verwahrlost dastehen,
und wo nicht mehr Handelsleute sondern nur der Bauer in trägem Schritt und
dessen Vieh die Gassen durchzieht. Auch die verfallenen und verlassenen Adels-
burgen reichen hier ihrer Zahl und Größe nach durchaus an diejenigen heran,
wie man sie am Rhein und bei Bozen findet, und zuweilen kann es uns auch
dort wie ein Hauch von jener versunkenen Epoche anwehen, wenn wir erfahren,
daß am Eingang des Vintschgaues auf dem Schlosse Forst Oswald von Wolken-
stein gefangen saß, daß auf dem Schlosse Obermontan eine Handschrift des
Nibelungenliedes zum Vorschein kam, Jund wenn wir heute von den gewaltigen
Wänden der Ruine Lichtenberg die Fresken aus Laurins Rosengarten mit ihren
bunten Farben auf den mit Schutt und Steintrümmern bedeckten Erdboden
herabschauen sehen.
Der jaufen (jni die mittelalterliche Bedeutung Merans, das von der aus dem Vintsch-
ira Mittelalter. jc-n.. -j-u- u
gau kommenden Straße durchzogen wird, richtig zu verstehen, müssen wir uns
noch mit einer zweiten Straße auseinandersetzen, die dort in jene einmündet,
mit dem Weg über den Jaufen. Wenn der allgemein beliebte Römerursprung
der Jaufenstraße auch heute noch auf sichere Beweise wartet, so ist dies jeden-
falls viel weniger verwunderlich, als daß auch die Ansichten über deren mittel-
alterliche Bedeutung bisher recht verschieden gewesen sind '), da diese Frage
doch mit den Schicksalen des Passeiertales innig zusammenhängt. Und wenn
wir nun aber von vornherein sehen, wie die mittelalterliche Geschichte des
Passeiertales ungleich älter und inhaltreicher ist als diejenige aller anderen be-
nachbarten Alpentäler, die niemals zu einem betretenen Übergang hinaufführen
konnten, so kann dies bereits für einen Umstand gelten, der auch für die Be-
nutzung des Jaufens selbst sprechen muß. Es ist und bleibt schon etwas Be-
1) Vgl. W. S. 120.
Vom Arlberg bis zum Brenner. 221
sonderes, wenn der Name des Passeier, so wie er heute lautet, bereits im
J. 1116 vorkommt'), wenn nicht nur einst die Grenzen der Grafschaften Bozen
und Vintschgau sondern über ein Jahrtausend hindurch diejenigen der Bistümer
Trient und Chur hier den Talbach entlang liefen, und wenn hier am linken Ufer
der Passer die Kirche von S. Leonhard bereits im J. 1116 vom Bischof Geb-
hard von Trient und am rechten Ufer diejenige von S. Martin im J. 1356 vom
Bischof Petrus von Chur eingeweiht wurde-), Vorgänge, aus denen daher eben-
sosehr die lebendige Kraft jener Grenzlinie wie die Belebtheit dieses Tales
selbst im Mittelalter hervorgeht.
Aber auch sonst sind gerade die Schicksale des Passeier ganz und gar ein
Abbild der politischen Geschichte Tirols in der zweiten Hälfte des Mittelalters,
wie es äußerlich unter der Oberhoheit von Trient aus den Händen der Weifen
in die der Hohenstaufen und dann 1266 in die der Grafen von Tirol überging,
die sich nun rückwärts von Meran ihren ersten geschlossenen Regierungsbezirk
einrichteten. Um das J. 1300 steht diese Entwickelung hier auf ihrem Höhe-
punkt, als die Schildhöfe im Passeier in patriarchalischer Weise den landes-
fürstlichen Haushalt zu versorgen hatten, und zugleich durch das Tal über den
Jaufen herüber ein lebhafter Verkehr zog, den jene Fürsten durch ihre Privi-
legien bewuOt unterstützten^), und an dem sie schon deshalb ein besonderes
Interesse hatten, da damals diese von Meran nach Innsbruck laufende Linie das
eigentliche Rückgrat bildete, an das sich der Machtzuwuchs des Landesfürsten-
tums räumlich angliedern konnte. Zwei Ereignisse ganz verschiedener Art haben
dann freilich bald nachher jenem Leben auf der Jaufenstraße derart das Grab
gegraben, daß sie seitdem bis auf den heutigen Tag zu einer Linie zweiten
Ranges herabgesunken ist, einmal die Eröffnung des Kuntersweges (um 1320),
durch die der Brenner auch den innertiroler Handel nach und nach völlig an
sich riß, und dann noch vielmehr die Verlegung der mittelalterlichen Residenz
von Meran nach Innsbruck, die den Jaufen nun auch in politischer Beziehung
unwichtig machte. Seit dem fünfzehnten Jarhundert haben daher hier nur noch
die mit Meraner Wein beladenen Fuhren das Passeier bis nach Innsbruck durch-
zogen, wozu dann später auch der neu aufgekommene Bergbau am Schneeberg
einiges Leben, aber nur in der näheren Umgebung des Paßüberganges selbst,
gebracht haf*).
Wandern wir nun über den Jaufen nach Meran hinab, so ist es jedenfalls
ein höchst widerspruchsvoller Befund, der sich zunächst bei der Betrachtung
des Hospizes am Passe, dem sogenannten Sterzinger Jaufenhaus, aufdrängt.
Denn wie es schon zu der großen Wahrscheinlichkeit, daß der Jaufen eine recht
alte Verkehrsstraße ist, und zu der allgemein und tief eingewurzelten Tradition
von dem hohen Alter dieses Hospizes selbst nicht recht passen will, daß das-
selbe urkundlich doch erst verhältnismäßig spät (um 1200) nachgewiesen werden
•) B. W. S. 22. h B. W. S. 293, 260. ■') B. W. S. 24. *} B. W. S. 39.
222 V. Kapitel.
kann, so muß ebenso bei seinem Anblicke die geradezu herausfordernd unge-
schützte Lage dieses Gebäudes innerhalb seiner nächsten Umgebung auffallen.
Da aber keine gegenteiligen Anzeichen vorliegen, so muß es nun doch wohl
schon siebenhundert Jahre an der gleichen Stelle wie heute gelegen haben ').
Auch abwärts in S. Leonhard kann das Hospiz nicht später als im J. 1212 ent-
standen sein, da sich der deutsche Orden damals dort niederließt). Weiter hinab
kündet schon der Name S. Martin das hohe Alter dieses Ortes an, der tatsäch-
lich auch schon im zwölften Jahrhundert mehrmals genannt wird, und hier, wo
der Zoll erhoben wurde, haben auch bis vor kurzem noch einzelne Häuser be-
standen, deren eigentümliche Bezeichnungen in dem mittelalterlichen Leben und
Treiben daselbst ihren Ursprung hatten (Mailänderhaus für die Kaufleute, Esel-
haus für die Saumtiere, Sperberhaus für die Züchtung dieser Jagdvögel, Wascher-
und Wachthaus)^). Wie sehr aber einst der Jaufen der eigentliche Meraner
Paß war, offenbart sich besonders darin, daß gerade dort, wo sich jene Straße
der Stadt nähert, reichlich solche Stellen zu finden sind, die in der mittelalter-
lichen Geschichte Merans einen besonderen Rang einnehmen. So zunächst
Kains, wohin die Spuren Corbinians hinweisen "*), und gegenüber die schöne
alte S. Georgskirche, dann die Zenoburg, auf deren Hügel sich König Heinrich
von Böhmen eine stattliche Burg erbaute^); zu allerletzt aber, in dem Augen-
blick, in dem wir in das Stadttor Merans selbst eintreten, tritt uns dann dasjenige
Zeugnis entgegen, das mehr als alles andere geeignet ist, den Jaufenweg in die
Reihe der wichtigeren mittelalterlichen Straßen zu erheben; denn der Torturm
daselbst bildet den Rest der alten Feste Ortenstein, in der ursprünglich die
Burggrafen als die unmittelbaren Verweser des deutschen Königs ihren Sitz
hatten, und die einst den Namen Klause führte, weil sie hier die durch den
engen Raum zwischen dem Passerufer und dem steilen Hang des Segenbühels
führende Straße vollständig absperrte^).
Es liegt trotzdem in der Natur des Jaufens, der für die direkte Linie
zwischen Deutschland und Italien stets einen Umweg bilden wird, daß er während
der eigentlichen Römerzüge kaum jemals von den deutschen Herrschern in Person
betreten worden sein kann. Dagegen ist er im vierzehnten Jahrhundert von
Ludwig dem Bayer mehrmals benutzt worden, aber auch nur deshalb, weil dessen
Ziel damals neben Italien zugleich auch Meran war. Auch ein besonderer Vor-
fall von einer jener Reisen ist auf uns gekommen, als Ludwig im Februar 1342
zur Hochzeit seines Sohnes mit Margarete Maultasch nach Meran zog, und als
der in dem zahlreichen Gefolge des Kaisers befindliche Bischof von Freising
oben auf dem Passe mit dem Pferde stürzte und dabei tötlich verunglückte'').
1) Fischn. S. Ö8; B. W. S. 312. 2) B. W. S. 293. ^) B. W. S. 274. *) Maz. S. 30. 5) Xap. S. 7.
6) G. Pr. Meran 1888, S. 19, 11. ') Oe. II. S. 230, 238; W. S. 138. 1913 wußte die alte Wirtin
des Jaufenhauses zu erzählen, daß die Stelle, wo sich dieser Vorfall ereignet habe, wenig südlich
der Paßhöhe, durch ein Steinkreuz bezeichnet gewesen sei, das erst bei dem Bau der neuen Straße
entfernt worden wäre.
Vom Arlberg bis zum Brenner. 223
In Meran selbst betreten wir zunächst ein heiß umkämpftes, und zwar nicht Meran.
von Blut aber von Tinte dunkel gefärbtes Schlachtfeld. Wie die an der Toll
gefundene Römerinschrift, durch die das Dasein eines castrum Majense erwiesen
ist, den Streit darüber nicht hat verhindern können, ob dieses castrum bei Meran
oder anderswo gestanden hat, so haben auch weiterhin die aus dem frühen
Mittelalter stammenden Geschichten vom Leben des h. Valentin und Corbinian,
die ja zweifellos zum Teil in der Gegend Merans spielen, sich für die Forschung
als ein rechtes Danaergeschenk erwiesen, weil sie weder über die Lage des von
ihnen genannten castrum Majense noch über dessen eigentliche Bedeutung im
ersten Mittelalter irgend etwas Bestimmtes verlauten lassen, trotz aller Tatsachen
und Schlüsse, die man aus ihnen entnehmen zu können glaubt')- Wenn jener
Mangel an sicheren Nachrichten sich nun in dem ersten halben Jahrtausend des
Mittelalters an unzähligen anderen Stellen wiederholt und daher zunächst nur
vom Standpunkte der Lokalgeschichte aus wirklich zu bedauern wäre, so wird
durch ihn doch auch die Erklärung des Namens des heutigen Meran ganz be-
sonders erschwert. Dieser Umstand allein ist es aber, der gerade hier nachteilig
in das Gewicht fällt, weil sich ja auf der Bühne der großen Geschichte hinter
der deutlich erkennbaren aber unscheinbaren Gestalt der spätmittelalterlichen
Stadt Meran noch wie ein gewaltiger Geist in anspruchsvollen aber unklaren
Umrissen derselbe Name als Wohnsitz der Goten und als deutsches Herzogtum
Meran erhebt.
Wenn heute die Landschaft bei Meran nicht nur in geographischer sondern
auch in kultureller Beziehung so viele verwandte Züge mit dem benachbarten
Bozen aufweist, so ist dies freilich eine Ähnlichkeit, die nur auf den ersten
Blick standhält; denn zwischen diesen beiden Punkten besteht insofern eine
große Verschiedenheit, als der Stadtgrund Bozens seit dem dreizehnten Jahr-
hundert wirklich stets der zugkräftige, ausschlaggebende Mittelpunkt des benach-
barten Gebietes gewesen ist, während die Stadt Meran an sich niemals zu einer
solchen Überlegenheit emporwachsen konnte. So ist es das eigentliche Merkmal
der Meraner Landschaft, daß jedes Zeitalter hier an einer anderen Stelle das
Wichtigste zu tun hatte, und daß die geschichtlich denkwürdigen Punkte hier
überall in der Umgebung zerstreut liegen. Von den langobardischen und
bayrischen Grenzburgen, die fern vom Etschufer die hohen Bergwände um-
säumen, von der Stätte der ältesten Arbeit der christlichen Kirche unten im
Tale, verschiebt sich der Schwerpunkt dieser Landschaft dann seit der Wende
des ersten Jahrtausends ausgesprochen nach dem Schlosse Tirol, das hier im
Alpenlande als einer der vorbildlichen mittelalterlichen Fürstensitze erscheint,
durchaus ein Seitenstück zu Thüringens Wartburg, nicht allein als Baudenkmal
sondern auch seiner Wirkung nach, weil hier wie dort die Fäden der Herrschaft
über ein ganzes Land zusammenliefen, und jener Zustand auch heute noch in
') Vgl. Maz. S. 3If.; Sta. S. 12 f.; Tap.
224 V. Kapitel.
den über das Schloß Tirol vorhandenen Geschichten, wenn auch nicht mit dem
gleichen sonnigen Schimmer wie bei den Sagen der Wartburg, nachzittert.
Wenn wir dann im J. 1239 auch Meran selbst zuerst als forum und später
bis 1320 auch als burgum, oppidum und civitas genannt finden '), so haben wir
damit zwar endlich jenen unstäten, in die Ferne schweifenden Ortsnamen in
Fesseln geschlagen und an die Stelle der heutigen Laubengasse in Meran an-
geschmiedet, geschichtlich aber auch nichts mehr als eine Wirkung des Anbruchs
jenes materiellen Zeitalters vor uns, das eben auch hier wie überall anders als
städtebildend hervortrat. Damals, vor allem während des vierzehnten Jahrhunderts,
befand sich der Schwerpunkt dieser Landschaft also wirklich auch einmal in
dem von seinen mittelalterlichen Mauern umschlossenen Stadtgrund Meran. Es
sind dies die Zeiten, als die hohen Häuser ebenso ansehnliche Kaufmannsge-
schlechter mit ihren Warenvorräten wie die Wohnungen der Fürsten und Bischöfe
und die Ställe für deren Pferde beherbergten, als am Rennweg die Ritterspiele
abgehalten wurden, und als sich besonders die Hofhaltung der Tiroler Fürsten
mit allen ihren Bedürfnissen hier vollständig eingelebt hatte^). Von den Lebens-
bedingungen eines solchen Herrschers aber, bei dem man nicht weiß, wo der
hohe Herr aufhört und der Spießbürger anfängt, kann man sich eine Vorstellung
machen, wenn König Heinrich von Böhmen im J. 1317 einmal verordnet, daß
die in Meran feilgebotenen Fische nirgends anders als vor seinem Hause ver-
kauft werden dürfen, oder wenn ein anderes Mal die Anlage der städtischen
Aborte ein besonderer Gegenstand seiner Sorge ist 3). Als später freilich der
Handel auf der Reschen- und Jaufenstraße abstarb und auch die Fürsten immer
seltener von Innsbruck herüberkamen, hat dann auch hier jenes Bild einem
anderen Platz gemacht, und Meran ist dann bald nichts mehr als eine kleine
Landstadt, die nur durch ihre Läden und Werkstätten die Umgebung versorgte,
während zunächst die wohlhabenden Schösser und Adelssitze außerhalb des
Ortes und heute noch viel mehr die weitverstreuten Villen des Kurortes der
Landschaft ihr charakteristisches Gepräge aufdrücken.
Das Etschtai Von Meran liefen dann, zu einer Linie vereinigt, die Straße aus dem
7 w 1 SC h c n
Meran und Vintschgau und diejenige vom Jaufen her südlich das Etschtai hinab. Wir
Bozen, haben hier ein Stück Gebirgsland vor uns, das dicht neben der benachbarten
Brennerstraße zwar nicht so sehr als mittelalterliches Straßenglied wichtig ist,
das aber um deswillen um so mehr Beachtung verdient, weil das Kulturbild
dieses Striches auch in den letzten Jahrhunderten ganz geringe Veränderungen
erfahren hat, und daher auch heute noch hier überall die Lebensart der alten
Zeiten in frischer Anschaulichkeit zu Tage tritt. Die Straße lief damals wie auch
heute noch entlang des nördlichen Talrandes über Gargazon, wo sich Kaiser
Lothar im September 1132 einmal aufhielf*), und Terlan, das, von je her ein
wichtiger Ort, als Torilan bereits im J. 923 vorkommt, und wo auch die Art
1) Maz. S. 36. 2) sta. S. 327f. 3) Sta. S. 347, 350. *) Oe. II. S. 230.
Vom Arlberg bis zum Brenner. 225
der Bebauung der Gegend, die Abgrenzung der Güter und zum Teil auch die
Benennung der Höfe bis in unsere Tage noch dieselbe wie einst im dreizehnten
Jahrhundert war'). Wie aber auch hier bereits das Altertum, wie die Römer-
funde in Nals, Terian und Moritzing und alle die romanisch klingenden Orts-
namen beweisen, sich seine Wohnstätten abseits des sumpfumsäumten Etschbettes
am Rande der höher gelegenen Taihänge suchen mußte, so paßte sich das
Mittelalter nach seiner Weise noch viel entschiedener dieser Notwendigkeit an,
indem es mit seinen Burganlagen noch einen Schritt höher hinaufstieg. Wie
viel begehrt und heiß umstritten aber auch jene Landschaft einst gewesen ist,
kann schon die große Anzahl dieser Burgen deutlich machen. In allen Arten
sind sie vertreten, und so dicht bei einander wie sonst nirgends in den Alpen;
zunächst unten im Tale die Klause bei Neuhaus dicht neben der Landstraße,
bevor sich diese in die Richtungen nach Bozen und nach dem Überetsch aus-
einanderspaltete; oben an den Hängen dann ebenso die Burgen am Eingange der
Seitentäler (Eschenlohe, Wehrburg, Zwingenberg) und vor allem jene gewaltigen,
umfangreichen Anlagen mit ihren bewegten Schicksalen als Mittelpunkte wirk-
licher kleiner Herrschaftsgebiete (Mayenburg, Leonburg, Payrsberg, Greifenstein);
dazwischen verstreut aber auch jene öden, stummen, schwer zugänglichen Ge-
mäuer, von deren Vergangenheit jede Kunde erstorben ist (Wolfsthurn, PfefFers-
burg, Festenstein), und zuletzt dann diejenigen aus der letzten Periode des
Mittelalters, die mit der Zunahme der Sicherheit des Lebens wieder die Nach-
barschaft der Ortschaften aufsuchten und so den Übergang von dem befestigten
Hause zu dem Herrensitz unserer Tage veranschaulichen (die Schwanburg in
Nals, nach der schließlich die Herren des hoch über jenem Ort gelegenen Payrs-
berg hinabstiegen; Katzenzungen neben Prissian mit seinem Wallgraben und
Pechnasen, aber ebenso mit seinen prächtigen Innenräumen; Fahlburg, Sieben-
eich)2). Das letzte und wichtigste Ereignis in der Geschichte aller dieser Burgen
bleibt aber auch hier, daß ihre Besitzer freiwillig oder unfreiwillig den Tiroler
Fürsten huldigen mußten, die von Meran her während des dreizehnten und vier-
zehnten Jahrhunderts allmählich die Macht des alten Landesherrn, des Bischofs Ton
Trient, nach Süden zurückdrängten, eine Entwickelung, die an dieser Stelle aber
deshalb besonders folgenschwer werden sollte, weil sie zugleich über das Schicksal
dieser ganzen Gegend entschied, und auf diese Weise jener so tief im Süden
gelegene und den italienischen Einflüssen offen stehende Landstrich bis auf
unsere Tage mit dem deutschen Kulturkreis vereinigt worden ist.
') Atz. S. 289 f. -) Erb. S. 158, 170.
Scbefrel, Verkehrageschichle Ur Alpsn. 2. Band. J5
VI. Kapitel.
Der Brenner und seine Nebenwege.
Hervorragende Wenn wir nunmehr zu der Geschichte des Brenners in seiner ganzen Aus-
der Brenner- Dehnung Übergehen, so geraten wir damit in ein Alpengebiet, über das im
Straße im Mittelalter sehr viel zu sagen ist. Zahlreiche und mannigfache Gründe sind es,
itte a ter. ^^p denen dieses Verhältnis beruht. Faßt man allein die Länge des Weges in
das Auge, wie er am Nordrand der bayrischen Alpen das Gebirge betritt und
dieses erst dicht vor Verona wieder verläßt, so ergiebt sich schon, daß keine
andere Alpenstraße mit dieser großen Ausdehnung konkurrieren kann, ein Maß,
das außerdem noch viel mehr in das Gewicht fällt, wenn man sich erinnert,
daß auch kein anderer Alpenweg überall in seiner Nachbarschaft so viele Neben-
straßen besitzt, die alle mehr oder weniger mit dem Hauptübergang verwachsen
sind. Wenn weiterhin zu der Wegefreundlichkeit des Brenners auch die geringe
Höhe des Paßüberganges (1371 m) selbst beiträgt, so gründet sich jene doch
nicht minder auf die Beschaffenheit der beiden Anlaufwege, da hier nördlich
und auch südlich in geringerem Maße sich schwierige Stellen, steile Höhen-
unterschiede und schmale Engpässe, finden, wie sie sonst überall an den Straßen
der Mittelalpen anzutreffen sind.
Der Hauptgrund für die Kulturfreundlichkeit der Brennerstraße wird jedoch
zu allen Zeiten nicht auf dem Straßengrund selbst sondern rechts und links
desselben zu suchen sein. Keine andere Alpenstraße durchzieht auch im Be-
reiche des Hochgebirges so häufig größere und kleinere, für das menschliche
Wohnen günstige Ebenen, Überblickt man den Weg des Gr. S. Bernhard von
Ivrea bis Vevey, den des S. Gotthard von Bellinzona bis Luzern, so haben wir
hier selbst in den belebtesten Zeiten an den Straßenpunkten doch nur einen
rasch vorübereilenden Durchgangsverkehr vor uns. Am Brenner erweitert sich
dagegen jenes Verkehrsleben überall, in Schwaz und Innsbruck, in Sterzing,
Brixen und Bozen zu einem vielseitigen, inhaltsreichen Getriebe, das auch die
Abwandlungen der mitteleuropäischen Kulturgeschichte in allen ihren Farben
Der Brenner und seine Nebenwege. 227
viel deutlicher ericennen läßt. Im Altertum, als das der Kultur erschlossene
Gebiet nördlich bereits an den Ufern der Donau aufhörte, konnte diese geschicht-
liche Produktivität freilich nur unvollständig in die Erscheinung treten; nachdenfi
aber einmal auch diese Linie nach allen Seiten hin von einem weiten Kultur-
gebiet umgeben war, mußte sich auch sofort die lebendige Kraft jener günstigen
geographischen Bedingungen offenbaren, die dem beschränkten Menschengeist
heute fast unverwüstlich erscheinen kann, und auf die es jedenfalls auch zurück-
zuführen ist, daß wir nunmehr die Brennerstraße seit den Zeiten des deutschen
Königs Heinrich I., des Städteerbauers und Slavenbesiegers, bis auf unsere Tage
ununterbrochen ihre hervorragende Stelle behaupten sehen, so sicher, eine so
lange Zeitspanne hindurch, wie es bei keiner anderen Alpenstraße, weder bei
dem Gr. S. Bernhard noch bei dem S. Gotthard, der Fall gewesen ist.
Dies ist auch der Grund, weshalb sich gerade in der Geschichte dieser Die Periode
Alpenstraße deutlicher als anderswo verschiedene ganz bestimmte Perioden er- ^^gg °
kennen lassen. Sie beginnen zunächst mit dem ersten halben Jahrtausend des
Mittelalters, in dem sich die neuen Verhältnisse zurechtrücken und die Grenzen
der jungen mittelalterlichen Reiche in fortwährender Bewegung sind, eine Zeit
in der der Brenner an Wichtigkeit jedoch noch durchaus neben den westlichen»
Straßen der Alpen zurücktritt, während dann seit dem Erstarken einer eigent-
lichen deutschen Herrschermacht, mit dem Vorrücken der Reichsgrenze nach
Osten, in die Gebiete der Slaven hinein, auch sofort der Brenner als die Linie
erscheint, deren sich der Verkehr des Reiches nach dem Südlande vorwiegend
bedient. Wir haben hier die Zeit der Römerzüge vor uns, die den Brenner nun
recht eigentlich zum deutschen Paß der Alpen gemacht hat, auch schon deshalb,
weil jene ganze Straße damals überall, und auch am weitesten nach Süden hin,
deutsches Gebiet durchzog.
Die Wanderung durch die Orte entlang der Straße wird es uns klar machen,
daß wir uns hier in einem Stück des alten deutschen Reiches befinden, in dem
sich die deutschen Herrscher ebenso häufig, ebenso zahlreich wie an den Ufern
des Rheines, auf den Burghöhen Schwabens und des Harzes aufgehalten haben,
und das so die Erinnerungen an die bewegtesten Zeiten des deutschen Mittel-
alters in sich schließt. Der Beweis dafür, daß der Brenner am allermeisten von
den deutschen Königen bei den Römerzügen benutzt wurde, ruht freilich auch
hier vielmehr nur darauf, weil die Zahl derjenigen Römerzüge so besonders
groß ist, bei denen die Wahl jedes anderen Überganges viel unwahrscheinlicher
bleibt als eben die des Brenners, viel weniger dagegen auf jenen zwölf Zügen,
die unbedingt hier herüber gegangen sein müssen '). Die Kalamität in der Orts-
bezeichnung der mittelalterlichen Berichterstattung ist also auch hier vorhanden,
da jener Weg, wenn er überhaupt genannt wird, nur als per vallem Tridentinam
oder per Alpes Noricas bezeichnet wurde, wie ja im Mittelalter überhaupt Bayern
') Vgl. W. S.SOf.
15*
228 VI. Kapitel.
als Noricum, Regensburg und sogar Nürnberg als norische Städte'), die Brenner-
gegend selbst aber als Norital angesprochen wurde 2). Sobald also bei einer solchen
Reise diese Bezeichnung gebraucht oder auch nur Verona als Durchgangsstation
genannt wird, ist es jedenfalls gewiß, daß dabei eine Durchquerung Tirols in
meridionaler Richtung vorliegt und deshalb auch die Benutzung des Brenners
an sich sehr wahrscheinlich. Um freilich eine Brennerpassierung im Sinne des
Untersuchungsrichters festzustellen, dazu würde gehören, daß dabei Wilten oder
Rentsch (bei Bozen, nicht aber dieses selbst) oder ein zwischen diesen beiden
an der Straße gelegener Ort verzeichnet ist, eine Bedingung, die wie gesagt nur
bei zwölf Zügen zutrifft.
Glanzzeit der Seit dem Tode Friedrich Barbarossas, zu demselben Zeitpunkt, in dem
im späteren die geschichtliche Bedeutung der Römerzüge nachzulassen und so die Brenner-
Mittelalter. Straße für die Reichspolitik weniger wichtig zu werden beginnt, setzt dann aber
hier eine dritte, andersgeartete, langandauernde Periode ein, eine Periode, in der
die Brennerstraße mit fast unverwüstlicher Kraft vorwiegend als Handelsstraße
diente, und die recht eigentlich als die Glanzzeit dieses Weges bezeichnet werden
muß. Wenig Neues unter der Sonne. Wie einst auf die Gestaltung des
römischen Straßennetzes in Rätien und Norikum in weiter Ferne die Verhältnisse
an der Donaumündung und die Sicherung von Konstantinopel eingewirkt haben,
so wird auch diesmal jener Umschwung an derselben Stelle erst dadurch ver-
ständlich, wenn wir den Blick weit nach Osten richten, dorthin, wo der Occident
und der Orient aneinanderstoßen. In der ersten Hälfte des Mittelalters war der
Verkehr zwischen diesen beiden Kulturkreisen auf dem Landwege an Regens-
burg vorbei die Donau entlang und über Byzanz gegangen, auf derselben Bahn,
auf der sich auch die ersten Kreuzzüge bewegt hatten, während dann mit dem
Vordringen des Islam, mit dem Verfall Ostroms, diesem Zustand immer mehr
der Boden entzogen wurde und hier immer deutlicher eine andere Verkehrs-
richtung in das Leben trat, die den Landweg vermeidend und südlich abschwen-
kend von Syrien aus sich den Strömungen des mittelländischen Meeres anver-
traute. Es ist der Name Venedigs, auf den wir hier auftrefFen, das durch diesen
Umschwung seine Bedeutung erlangte, besonders aber die hieraus entstandene
Konstellation mit einem bewundernswerten Scharfsinn und mit einer harten Ziel-
gerechtigkeit Jahrhunderte hindurch auszunutzen verstand. Die Geschichte
Venedigs beginnt bereits, als es seine Selbständigkeit gegen Karl den Gr. zu
behaupten suchte, wie das Emporkommen dieser Stadtrepublik nur infolge ihrer
Lage möglich gewesen ist zwischen jenen zwei großen politischen Machtkreisen,
dem fränkischen und dem byzantinischen Reiche, deren Mittelpunkte so weit
von Venedig selbst entfernt waren, daß auch dem starken Arm bei einem Aus-
holen nach dieser Stelle hin die Kraft versagen mußte. So bietet Venedig über-
') O. F. S. 179; Vict. S. 80; Augsburg heißt dagegen eine Stadt Rätiens, Ra. S. 35. 2) Schloß
Arnholz bei Matrei hieß einst Norenholz.
Der Brenner und seine Nebenwege. 229
haupt von Anfang bis zu Ende das Abbild eines Pufferstaates, mit allen Chancen,
allen Schicksalen, die aus einer solchen Situation geboren werden können, zu-
gleich aber in einer Großartigkeit, wie es in der Geschichte kein zweites Mal
wieder anzutreffen ist.
Die unbedingte Herrschaft, die Venedig fast vier Jahrhundertc hindurch
über den Handel im südöstlichen Europa behauptete, und der übermächtige
Einfluß, den es somit auch auf die Gestaltung der östlichen Alpenwege ausübte,
werden aber erst dadurch richtig verständlich, wenn man sieht, in welcher
Weise es seine Handelsgesetze und sein Hausrecht an Ort und Stelle selbst hand-
habte. Denn der am Canale grande dicht an der Rialtobrücke gelegene, 1228
zum ersten Mal erwähnte, dann mehrmals erweiterte und schließlich 1505 nach
damaligen Begriffen in den größten und reichsten Verhältnissen umgebaute
Fondaco dei Tedeschi ') hatte durchaus nicht etwa nur als Sammelpunkt und
Unterkunftsort der deutschen Reisenden zu dienen, sondern er war mehr als
alles andere die Zentralstelle, die alle aus Deutschland kommenden und nach
Deutschland gehenden Waren passieren mußten, um hier — was das erste und
das letzte war — den venezianischen Zollbestimmungen unterworfen zu werden^).
Mit einer Härte und Eigensüchtigkeit, wie sie nur in den letzten Jahrhunderten
des Mittelalters möglich war, hat hier Venedig jenes Verfahren durchgeführt,
und es ist nicht zu viel gesagt, daß es Zeiten gegeben hat, in denen in Deutsch-
land kaum ein Fetzen Seide, kaum eine Messerspitze Pfeffer existierte, deren
Wert nicht einmal unter den Wölbungen jenes Fondaco verrechnet worden
wäre, und von der nicht bloß der venezianische Kaufmann sondern auch der
dortige Fiskus sein Promille als Vorteil eingestrichen hätte.
Wenn wir daher alle nach Venedig hinführenden Straßen der Ostalpen,
unter diesen aber an erster Stelle die Tirol durchziehenden Straßen, seit dem
vierzehnten Jahrhundert zu lebhaften Handelswegen werden sehen, so tritt uns
darin zunächst nichts anderes als der Grundzug der handelsgeschichtlichen
EntWickelung der ganzen östlichen Hälfte der Alpen im Mittelalter entgegen,
und zugleich die Ergänzung zu jenem Bilde, das sich in derselben Zeit in den
Westalpen eingelebt hatte, als dort der Handelsverkehr aus Nordwestitalien nach
den Messen in der Kampagne herüber und hinüberlief. Es sind dies demnach
Zustände, die mit ihren Wurzeln hier wie dort noch tief in den alten mittel-
alterlichen Verhältnissen stecken, die aber, wie besonders hervorgehoben werden
muß, im Westen sehr bald durch die Eröffnung des Gotthard von Grund aus
verändert worden sind, im Osten dagegen viel länger und stetiger angedauert
haben. Das Dasein Venedigs als Handelsmacht ersten Ranges erstreckt sich
über vier Jahrhunderte, und noch länger sogar, in gewissem Sinne bis auf den
heutigen Tag, wenn auch in den letzten Jahrhunderten nicht in derselben hervor-
ragenden Weise wie vorher, hat auch die Brennerstraße eine Epoche als große
•) W. S. 98, 141. 2) Schu. S. 351 f.
230 VI. Kapitel.
Handels- und Weltstraße durchlebt, ein Zeitraum, der auch dadurch etwas ganz
Besonderes an sich hat, weil er sich in die gewohnten, althergebrachten Ab-
schnitte der großen Geschichte schlechterdings nicht einfügen will und, innerlich
ganz gleichartig, sich aus dem Mittelalter bis tief in die neue Zeit hineinerstreckt.
Schwer ist es nicht, den Anbruch jener Periode und ihre befruchtende
Wirkung an der Brennerstraße und an deren Zugangslinien zu bemerken; er
offenbart sich auf den ersten Blick dadurch, daß, besonders in dem nördlichen
Teile Tirols, jetzt nicht mehr bloß die Burgen und Klöster, sondern auch die
Ortschaften selbst entweder ganz neu an das Tageslicht treten, oder doch erst
recht eigentlich von sich reden machen. Es ist dies übrigens ein Vorgang,
wie er ganz und gar für die kulturelle Entwickelung des Mittelalters charakte-
ristisch bleibt, da die Gründung und das Aufblühen der Städte überall durch-
aus nicht die Ursache sondern nur die Folgerscheinung der Zunahme des
Handels und des Gewerbes gewesen ist'). Ein sichtbares Andenken an jene Bau-
periode, das allein dem damals an allen Orten sich geltend machenden Durch-
gangsverkehr seinen Ursprung verdankt, haben wir in den Tiroler Städten in
den charakteristischen Laubengängen vor uns, die dort überall an den beiden
Seiten der langen Hauptstraßen (niemals der Nebenstraßen) entlang laufen und
heute noch besonders treu das Leben der alten Zeiten veranschaulichen können.
Solche Laubengänge, die übrigens durchaus nicht einer Verwandtschaft mit dem
Süden sondern vielmehr nur einem klimatischen Bedürfnis entsprungen sind,
finden sich auch sonst an unzähligen anderen Orten nördlich und südlich der
Alpen 2); der Umstand, daß sie gerade in Tirol so zahlreich auftreten, zeigt aber
doch, welch' wichtigen Faktor hier der ungehinderte Verkehr vor den großen
Gast- und Wohnhäusern in dem wirtschaftlichen Leben gebildet hat. Wie scharf
aber auch jener Umschwung in die dortigen sozialen Verhältnisse hineingeblasen
haben mag, kann man aus dem Schicksal der Schongauer, jener berühmten
Künstlerfamilie ersehen, die im zwölften Jahrhundert noch in Bozen ansässige
weifische Dienstmannen, im dreizehnten bereits Bürger von Augsburg geworden
sind^).
Aber auch noch in einer anderen, echt mittelalterlichen Weise kommt
jene plötzliche Verkehrszunahme zum Ausdruck, darin, daß um dieselbe Zeit
an der Brennerstraße die Hospize überall fast wie Pilze aus der Erde schießen'').
Diese jüngeren Hospize stellen sich jedoch hier zumeist bereits als eine Weiter-
bildung des alten mittelalterlichen Hospizwesens und als ein Übergang zur
späteren Gasthofswirtschaft dar, da sie sich an die Ortschaften anschließen, wo
der Betrieb leichter aufrechtzuerhalten war. Besonders ist es der deutsche
Orden, der bewußt in diese Bewegung eingegriffen hat und so von einem ge-
sunden Tatendrang geleitet wurde, als er nach dem Abflauen der Kreuzzugs-
1) Schu. S. 153. -) Metz, Alienstein, Bologna u.a. Vgl. F. 1906. S. 30, dagegen Riehl. S.U.
3) F. 1906. S. 336. *) W. S. llOf; N. A. S. 8.
Der Brenner und seine Nebenwege. 231
bewegung seinen Wirkungskreis aus dem Orient auch nach Tirol verlegte und
dort seine Niederlassungen gründete. 1202 fällt die Gründung der deutschen
Ordens-Komturei in Bozen, und es steht damit nur ganz im Einklang, wenn dies
genau dasselbe Jahr ist, in dem wir zum ersten Male auch von den in dieser
Stadt abgehaltenen Jahrmärkten hören'). Bald darauf treffen wir den Orden
dann in Gestal; der Bailei an der Etsch und im Gebirge auch überall in der
Nachbarschaft, n Schlanders (1212), im Passeier (1219), in Prissian (Zwingen-
burg)-), in Lani und Sarnthein (1396)-'), am zahlreichsten jedoch an der Brenner-
straße selbst, ao sich seine Besitzungen von Süd nach Nord wie an einer
Schnur aufeinanderreihten (1283 Trient; Bozen; 1227 Lengmoos; 1297 Velthurns;
1254 Sterzinj und 1470 Reifenstein)'*).
Eine venn auch mehr seitab im Nordosten gelegene aber noch durchaus P'e Straße
zum Brennersystem gehörige Linie ist die Straße über den Fernpaß. Betrachtet pernpaß.
man diese zunächst hinsichtlich der Punkte, deren Verbindung sie in weiter
Ferne ermöglicht, so offenbart sie eine innerhalb der Alpenstraßen nicht allzu-
häufige Eigenschaft, insofern sie nicht in direckt nordsüdlicher Richtung sondern
ausgespro:hen in der Diagonale, von Nordwest nach Südost, den Voralpenwall
durchschreidet. Dieser Umstand, der außerdem noch dadurch an Wichtigkeit
gewinnt, veil westlich jener Straße bis zur Bregenzerklause eine andere brauch-
bare Lini;, um in das Innere des Gebirges einzudringen, ganz fehlt, wird mithin
der Ferainie im militärischen Sinne stets eine erhöhte Bedeutung verleihen,
eine SacHage, die dann auch in den Kriegsereignissen der neuen Zeit ganz
offen zu Tage getreten ist. Es hat aber doch auch hier den Anschein, als ob
ebendiesdbe Eigenschaft schon einmal in den unseren Blicken viel mehr ent-
zogenen ersten Jahrhunderten des Mittelalters, während dem Auf und Ab der
germanisihen Völkerverschiebungen, in Wirksamkeit getreten wäre, und daß sich
ein Seiteistrahl des von Schwaben nach dem Gebirgsland gerichteten Vordringens
des deuf.chen Volkstums auch auf dieser Bahn bewegt hat. Es ist nicht bloß
die Sage, die gerade den Fernpaß im reichen Maße umspielt, sondern auch ein
gewichtiges geschichtliches Zeugnis, das die Begangenheit dieser Straße schon
im erster Mittelalter außer allen Zweifel stellt, dasjenige, daß Imst und zwar
als oppidim Humiste bereits im J. 764 (in der Gründungsurkunde des Klosters
Scharnitz) genannt wird^), gewiß eine auffallende Tatsache, da überhaupt die
Namhaftnachung einer Stadt in Nordtirol in so früher Zeit ganz einzig dasteht.
Abgsehen von jener nach weithin sich äußernden Eigenschaft war jedoch
die Besciaffenheit der Fernstraße (Mons Fericius) wegen der Moorbildungen
(Lermoos Biberwier) und der ausgedehnten Waldungen im Bereich der Paßhöhe
") B.w. S.!93; W. S. 114. 2, Erb. S. 175. •») N. A. S. 100. *) B. \f^. S. 293; Atz. S. 10, 166,
75, 80; FiSihn. S. 31, 43. 5) F. 1906. S. 135.
232 VI. Kapitel.
nach dem Maßstabe der alten Zeiten nichts weniger als wegefreundlich, und der
reimfröhliche Pilger, der im J. 1487 von Kempten durch jenes Gebirge nach
dem Brenner zog, hatte daher ganz Recht, wenn er den Verren nur als „den
langen, hohen berg" bezeichnete'). Trotzdem ist es uns auch hier nicht schwer
gemacht, noch die Spuren des alten Verkehrslebens zu entdecken, nicht nur in
den Befestigungen am Wege, Fernstein und der echt mittelalterlichen Klause
von Ehrenberg 2), sondern besonders infolge des Milieus, das sich am Südaus-
gang der Straße findet, das noch heute ganz dem an den begangensten mittel-
alterlichen Straßenstellen gleicht und in seiner Mannigfaltigkeit in Nordtirol
nirgends seinesgleichen hat, hier, wo Tarrenz mit seinen vielen alten Gasthäusern
liegt und Imst mit. den Burgruinen in der Umgebung und den interessanten be-
festigten Punkten im Orte selbst (Rofenstein, Sprengenstein, Austenurm)^). Die
im vierzehnten Jahrhundert errichtete Hauptkirche zeigt hier schon durch ihre
Lage dicht neben der Hauptstraße und am Nordausgange des Ortes an, wohin
das Gesicht dieser Stadt damals vornehmlich gerichtet war, wie sie luch wegen
ihrer Größe nur ein Werk besonders entwickelter bürgerlicher Woilhabenheit
gewesen sein kann. Auch bei zwei ernsten Ereignissen der deutschen Kaiser-
geschichte ist die Fernlinie zu nennen, einmal als Kaiser Lothar auf der Rück-
reise aus Italien im J. 1137 in Breitenwang (Breduvanc) bei Reuttt in einer
elenden Bauernhütte starb, und seine Leiche dann von hier nach Kinigslutter
transportiert wurde, und das andere Mal, als 1267 Konradin fast von derselben
Stelle, von Hohenschwangau aus, seinen verhängnisvollen Römerzug aitrat.
Die Straße Wir kommen nunmehr zu der Straße über die Scharnitz, die melr als alle
uDGr die
Scharnitz. anderen Linien Nordtirols als ein wirkliches Glied der Brennerstraße betrachtet
werden muß, schon äußerlich, weil sie die kürzeste Verbindung zwischm Verona
und Augsburg einschließt, aber noch viel mehr deshalb, weil sie als silche nun
auch fast zu allen Zeiten wirklich in Gebrauch gewesen ist. Gerade Her haben
wir daher auch wieder ein treffliches Beispiel von der Lebenskraft der »mischen
Straßenführung vor uns, da diese ganze nördliche Hälfte der Brennerstiaße auch
meilenweit in der Ebene, wo ja die Gestaltung der Straßenzüge vie williger
den Launen der einzelnen Zeitalter nachzugeben pflegt, jedenfalls bis ;um vier-
zehnten Jahrhundert genau so blieb wie sie die Römer einst angelegt hatten und
auch heute noch nicht vollständig außer Gebrauch gekommen ist. Eort aber,
wo die Straße das Gebirge selbst betritt, begann einst jener große Vald von
Scharnitz, der sich in dichter Ausdehnung von Partenkirchen bis Serfeld aus-
breitete, und dessen Mitte noch heute durch den Namen Mittenwald Iiezeichnet
wird. Daß jedoch die Begangenheit der hier durchlaufenden Linie auchzwischen
dem Altertum und dem Mittelalter kaum eine Unterbrechung erlitt, geit daraus
hervor, daß die Kirchen zu Mittenwald und Partenkirchen dem h. Petru geweiht
') W. S. 164. 2) früher Ernberger Klause, ebenso wie Ehrwald früher Erwald, F. Ii06. S. 138.
3) F. 1906. S. 137.
Der Brenner und seine Nebenwege. 233
waren, und daß auch am Wege selbst die alten Ortsnamen (Partenkirchen, Klais,
Scharnitz) zum Teil noch erhalten geblieben sind. Die genaue Lage des Klosters
Scharnitz bleibt dagegen noch zu erforschen; auch dieses ist bereits im J. 764
gegründet, sehr bald aber aus jener Gegend hinweg nach Schlehdorf am Kochel-
sce verlegt worden ').
Auch weiterhin läßt sich die lebhafte Benutzung jenes Weges, schon lange
bevor hier ein eigentliches Handelsleben einsetzte, aus den mittelalterlichen
Itinerarien erkennen, die hier die einzelnen Straßenpunkte — Enspruc, Zirle,
Medewald, Bardenkerke, Schongowc — fast wie Poststationen der neuen Zeit
anführen 2). Der wichtigste Punkt dieser ganzen Linie war damals übrigens
nächst Scharnitz das heutige Partenkirchen, weil in dessen Nähe (nördlich bei
Oberau) sich jene schon von den Römern geschaffene Straßengabelung befand,
die sich in die Richtung nach dem Lech (Schongau) und in diejenige nach dem
Ammersee (Weilheim) auseinanderspaltete. Auf dieser Situation war daher auch
die Wichtigkeit der über Partenkirchen liegenden Burg Werdenfels begründet,
die, wie man sich noch heute überzeugen kann, den von Nord nach Süd führen-
den Straßenzug, aber auch nur diesen, meilenweit überschaut, und es ist
interessant, daß sich auch der Weg über Murnau und Weilheim als eine für die
Römerzüge gebräuchliche Bahn feststellen läßt; dean hier zog 1021 Heinrich II.
und 1237 Friedrich II. vorüber; auch die Leiche Ottos III. ist, als sie im J. 1002
aus Italien nach der Heimat gebracht wurde, hier durch Polling (südlich Weil-
heim) getragen worden, wo sich der Herzog von Bayern bei ihr einfand^).
Von der Schcrnitz bis zur Klause bei Kufstein, also bis dort, wo der Inn Das Unter-
das Gebirge verläßt, streicht in langer Linie der Voralpenwall dahin, der dabei
in der Mitte von der über den Achenpaß gehenden Straße überschritten wird.
Wenn wir diese Straße ebenso wie jenes ganze Gebiet im Mittelalter als eine
der stillsten und abgelegensten Gegenden der Alpen ansprechen können, so
umschließt es doch gerade deshalb auch heute noch in voller Stärke die Er-
innerung an die Tätigkeit der alten christlichen Kirche; denn die Benediktiner-
klöster Benediktbeuern und Tegernsee im Norden und südlich das in tiefer Ein-
samkeit gelegene, 1705 nach Fiecht bei Schwaz verlegte Georgenberg'') sind es
allein, die Jahrhunderte hindurch in diesen stillen Tälern gearbeitet und ge-
schaltet haben.
Die Geschichte der Straße durch das Unterinntal aber ist die Geschichte
des Unterinntales selbst, da die Natur in der breiten und wohnlichen aber auch
langgestreckten Talsohle hier kaum irgendwelche schwierige Wegestellen ge-
schaffen hat, obwohl andererseits die Zielgerechtigkeit dieses Tales als Reiselinie
selbst nichts weniger als hervorragend genannt werden kann. Nur derjenige,
der vom Brenner aus direkt nach Regensburg gelangen wollte, konnte früher
mit Vorteil jenen Weg einschlagen, und in diesem Verhältnis ist daher auch
I) Ab. S. 56. 2) W. S. 118. J) W. S. 119. *) Riehl S. 20.
234 VI. Kapitel.
allein die Wichtigkeit des Unterinntals als Straßenteil während der ersten Hälfte
des Mittelalters zu suchen. Wenn uns heute ferner jener Strich nicht weniger
fest wie alle anderen Teile Tirols mit diesem Lande verwachsen scheint, so ist
dieser Zustand doch gerade hier viel jünger als anderswo, da das Unterinntal,
wenigstens mit seiner größeren nördlichen Hälfte, erst im sechzehnten Jahr-
hundert als letztes Glied jenem Gebirgsland angefügt wurde. Das ganze Mittel-
alter sehen wir dagegen auf diesem Boden neben den Herzögen von Bayern
die verschiedensten geistlichen Gewalthaber mit einander ringen, Brixen und
Salzburg, Bamberg und Regensburg, die von Süden, Osten und Norden her
hier mit ihren Machtkreisen aufeinanderstoßen. So bedeutet der Name Absam bei
Innsbruck wahrscheinlich nichts anderes als einen Sitz von „Abtleuten" '), und
es ist interessant, zu beobachten, wie gerade die von Salzburg herüberführenden
natürlichen Verbindungen die Rinnen gebildet haben, mittelst deren dieses Bis-
tum bis an die Ufer des Inn gelangen und nun hier Jahrhunderte hindurch die
Burgen Itter an der Mündung des Brixentales und Kropfsberg an der des Ziller-
tales behaupten konnte 2).
Der Hauptteil der mittelalterlichen Geschichte spielt sich demnach auch
hier viel weniger in den kleinen Straßenorten sondern oben auf den Burgen ab,
in Frundsberg bei Schwaz, in Tratzberg d. h. der Trutzburg, in Matzen, das im
J. 1176 das erste Mal genannt wird, und selbst bei Kufstein zunächst nicht unten
am Inn sondern oben auf Tierberg, wo heute nur noch der wunderbar gelegena
und unendlich weit ausschauende Bergfried vorhanden ist. Auf die Zähigkeit,
mit der jene hohen Reichsstände sich einander den Rang streitig zu machen
suchten, wird es nun aber auch zurückzuführen sein, daß ein mächtiger boden-
ständiger Adel hier nicht recht eigentlich aufkommen konnte. Als das einzige
mittelalterliche Geschlecht, das im Unterinntal wirklich eine Rolle gespielt hat,
treten die Frundsberg hervor, die aber dann im fünfzehnten Jahrhundert nach
Schwaben übergesiedelt sind-'). Von den Orten an der Straße ist Kufstein im
J. 1205 nur ein castrum, 1329 dann aber als Besitz Kaiser Ludwigs des Bayern
„bürg und statt". Weiter flußauf bezeichnet dann Rattenberg die alte bayrische
Zollstätte und zugleich einen Punkt, den die Bayern mit besonderer Zähigkeit
festgehalten haben, und der erst spät (1505) und nach langen Kämpfen von ihnen
aufgegeben worden ist. Wenn auch Schwaz schon am Anfang des zehnten Jahr-
hunderts als Suates genannt wird*) und damals besondere Beziehungen zum Bis-
tum Brixen gehabt zu haben scheint, so fällt sein Aufschwung doch erst ganz
in jene der neueren Zeit viel näher stehende Periode hinein, als Schwaz und
Hall und selbst Innsbruck hier plötzlich als Bergstädte und unter der unmittel-
Die Kaiser- ^aren Einwirkung der Tiroler Fürsten emporkamen.
Straße. Bevor wir Innsbruck betreten, muß noch kurz einer Straßenlinie gedacht
1) F. 1906. S. 124. 2) Schw. S. 45f. S. 157f.; Itter gehörte ursprünglich zu Regensburg.
3) Schw. S. 125, 143. *} F. 1906. S. 123.
Der Brenner und seine Nebenwege. 235
werden, die den Verkehr von Nordosten her der Brennerstraße zuführt. Es
ist dies die von Salzburg und Reichenhall über Lofer, Waidring und S. Johann
auf Wörgl laufende Verbindung, die zwischen S. Johann und Wörgl auch den
Namen Kaiserstraße führt, weil sie hier am Fuße des Kaisergebirgs entlang läuft,
ein Name, der freilich mit dem großen Worte Kaiser nicht das Geringste zu
tun hat, sondern von Käser d. h. Sennhütte herrührt'). Diese Straße ist heute
dadurch, daß sie von der Giselabahn südlich umgangen wird, vollends in den
Hinflergrund getreten, und ein Blick auf die Karte zeigt auch, daß ihre Be-
deutung allein von der Rolle abhängen wird, die Reichenhall und vor allem
Salzburg in den Ostalpen einnehmen; aber gerade deshalb muß sie im Mittel-
alter als begangen vorausgesetzt werden, wie dies auch durch das Dasein eines
Hospizes in S. Johann nachdrücklich bestätigt wird, das hier bereits im J. 1262
bestanden hat. Sonst kann man in jenen stillen Alpentälern auch noch die Be-
obachtung machen, daß die Ortsnamen hier, anders als im Unterinntal oder in
der Umgebung von Reichenhall und Salzburg, nirgends ein hohes Alter sondern
in der Hauptsache nur einen reindeutschen Charakter zeigen, während in den
mit Heiligennamen versehenen (S. Johann, S. Ulrich, S. Jacob bei Waidring) die
von Salzburg und Reichenhall ausgehende Kulturarbeit zu erkennen ist. Diese
Beziehungen lassen sich gleichfalls^ sogar bis dorthin verfolgen, wo jene Linie
in das Unterinntal einmündet, da in Wörgl nichts anderes als der Name des
alten Salzburger Bischofs Virgilius (8. Jahrh.) enthalten sein soll 2).
Die Geschichte Innsbrucks spielt sich im Mittelalter an zwei ganz ver- !""^^^!""'^)',,
'^ . im Mittelalter.
schiedenen und räumlich getrennten Punkten ab, zunächst bis zum zwoüten
Jahrhundert am äußersten Rande der Ebene im Stifte Wilten und dann auf dem
Boden der heutigen Stadt. Bei Wilten selbst ist nicht bloß „dessen Name in
seinem rätischen Rätsel Veldidena stecken' sondern auch dessen Platz genau
an der Stelle stehen geblieben, wo sich dieser Ort zur Römerzeit befand. Diese
liegt nun freilich für die Richtung nach dem Brenner so zwingend wie nur
möglich, weil die zu dem Paß heraufführende Straße, nachdem einmal der Inn
überschritten worden ist, sich westlich der Sill schlechterdings keinen anderen
Punkt heraussuchen kann als denjenigen, wo sie unmittelbar vor dem Anstieg
auf den Berg Isel an dem heutigen Wilten vorbeigeht. Jene erste Stufe der
eigentlichen Brennerstraße, vom Portal der Wiltener Klosterkirche bis zur Station
Plateau der heutigen Stubaitalbahn, ist daher auch eine Straßenstrecke, die seit
den frühesten Zeiten bis in das neunzehnte Jahrhundert, als dann hier die neue
Kunststraße in einer großen Kehre nach Westen ausholte, immer in derselben
Weise in Gebrauch geblieben sein muß, und deren hohes Alter auch heute noch
in den Resten alter, wenn auch fast gänzlich abgetragener und eingesunkener
Befestigungen deutlich vor Augen tritt. Es kann aber trotzdem kaum für eine
besondere Bedeutung Wiltens im Mittelalter sprechen, wenn dieses Klosters
') N. S. 1. 2) F. 1906. S. 122.
236 '^J- Kapitel.
weder gelegentlich der vielen Römerzüge, die hier unbedingt vorübergekommen
sein müssen, noch irgendwie sonst einmal gedacht wird.
Bei Innsbruck zeigt dagegen schon der reindeutsche und redende Name
den späteren Ursprung der Stadt an; denn es ist richtig, daß dieser Ort, wenn
er noch in der romanischen Periode entstanden wäre, heute wohl Pfunzen (Pons
Oeni) heißen müßte, das Produkt einer Sprachbildung, wie es an einer anderen
gleichgearteten Stelle am Inn, in der Nähe von Rosenheim, uns auch wirklich
entgegentritt'). Ob freilich die Entstehung Innsbrucks auch ihrem Wesen nach
als ein Werk des Mittelalters oder nur als ein Wiederaufleben antiker Verhält-
nisse anzusehen ist, darüber würde allein die Tatsache zu entscheiden haben,
inwieweit sich der Innübergang, der dort auch zur Römerzeit bestand, schon
damals zu einem stadtartigen Platze entwickelt hat. Die erste mittelalterliche
Ansiedelung steht hier jedenfalls bereits durchaus unter dem Zeichen des Handels-
verkehrs; sie befand sich zunächst auf dem schmalen linken Innufer, rückte
jedoch sehr bald, um Raum zu gewinnen, auch auf das andere Ufer hinüber,
als im J. 1180 die an dem Aufkommen des Platzes interessierten Andechser
Grafen dort von dem Kloster Wilten ein Stück Land erlangten und nun auf
diese Seite den Markt verlegten 2). In rascher Folge giebt nun auch jene Stadt
ihre Lebenszeichen von sich. Am 20. Juni 1204 berichtet uns der Bischof
Wolfger von Passau von der Zeche, die er dort für sich und sein Pferd gemacht
hat^), 1239 erhält der Ort von dem letzten Andechser, Otto III., das Stadtrecht
und zugleich das Niederlagsrecht, das darin bestand, daß die Waren hier ab-
geladen und auf neuer Achse weiterbefördert werden mußten, und das mithin
einen regelrechten Warendurchzug voraussetzt "*). Aber auch in der großen Ge-
schichte sehen wir Innsbruck jetzt plötzlich auftauchen; denn bei dem Römer-
zug Ottos IV. (1209) nennt dessen Chronist Arnold von Lübeck diesen Ort mit
Namen und charakterisiert noch dazu die Lage jenes Bereiches (civitas) mit
kurzen aber ganz treffenden Worten^). Weniger bekannt ist es dagegen vielleicht,
daß um dieselbe Zeit auch schon in weiter Ferne von seiner Heimat ein Inns-
brucker Kind von sich reden gemacht hat, Wilhelm von Innsbruck, der um 1234
in Pisa den berühmten schiefen Campanile um drei Geschosse höher hin-
aufbaute^).
Auch aus dem heutigen Innsbruck kann man noch unschwer jenen ältesten
Kern herausschälen, der, nicht anders wie alle anderen Tiroler Straßenpunkte,
in der Hauptsache nur aus einer langen, mit Lauben versehenen Straße bestand.
Es ist dieses die heutige Herzog Friedrichstraße, die ebenso wie die später an
sie angesetzte Maria-Theresiastraße genau von Nord nach Süd, in der Richtung
der großen Brennerstraße läuft. An diese schloß sich am Innufer der befestigte
Sitz der Andechser, die heutige Ottoburg, deren Namen demnach hier wie ein
') F. 1906. S. 126. 2) W. S. 115. 3) W. S. 107. ^} W. S. 105. ^ A. L. S. 351.
6) Schubring, Berühmte Kunststätten Nr. 16. L. 1902. S. 41.
Der Brenner und seine Nebenwege. 237
letzter Schatten aus längst vergangener Zeit an die eigentlichen Gründer dieser
Stadt und an die Macht jenes berühmten Geschlechtes erinnert. Auch die Jacobs-
kirche, die Pfarrkirche der Stadt, liegt hier in unmittelbarer Nähe. Später
hat sich der Platz, von dem der Herzschlag Innsbrucks ausging, dann immer
mehr vom Innufer selbst entfernt, zunächst nach dem Goldenen Dach!, als der
Ort noch nichts anderes als die Residenz des habsburgischen Landesfürstentums
war, später nach der Hofburg und nach der Franziskanerkirche, als dieselben
Habsburger Landesfürsten zugleich eine Weltstellung vertraten, während dann
weiter östlich die Jesuitenkirche und heute der Hauptbahnhof — jedes in seiner
Art — uns die beiden letzten Stationen dieses Zuges vor Augen führen kann.
Genau halbwegs zwischen Innsbruck und der Brennerhöhe stoßen wir dann Matrei
auf das kleine aber kulturgeschichtlich unendlich vielseitige Matrei, einen Brennerpaß.
echten Alpenstraßenpunkt, dem dieser Lebensnerv in allen Zeiten erhalten ge-
blieben ist. Auch heute zeigt dieser Markt vorwiegend nur jene lange von Nord
nach Süd laufende Hauptstraße, an deren zum Teil riesigen Häusern fast überall
ein schmiedeeisernes Gasthofsschild weit hinausragt, die aber doch, weil der
Ort niemals Stadtrechte besessen hat, keine Lauben aufweist. Vervollständigt
wird dieses Bild dann durch das am südlichen Ende jener Straße gelegene
mittelalterliche Hospiz (1447) und nicht minder durch die vielen Burgen und
festen Häuser, die sich einst um jenen Ort herumgruppierten (Trautson, Aufen-
stein, Arnholz, Latschburg, Bergstein), und die wir gleich zahlreich erst wieder
in Sterzing und Brixen antreffen.
Auf die eigentliche Ursache der Bedeutung Matreis führt uns aber ein
Gang nach dem Nordausgang des Ortes, weil hier, unmittelbar unter der Burg
Trautson, jene wichtige Straßenteilung liegt, durch die sich der Weg nach dem
Inntal in zwei, durch die tiefe und lange Schlucht der Sill getrennte Arme
spaltet. Von diesen ist der eine westliche die eigentliche Brennerstraße, die
wir bei Wilten betreten hatten, während der andere, östliche, die Richtung nach
Hall einschlägt. Auf letzterer Linie, die in ihrer Anlage von der gegenüber-
liegenden Brennerstraße ganz verschieden ist, und die in großen aber unmodernen
Windungen die Schluchten der in die Sill herabstürzenden Bergbäche umgeht,
um dann hoch über das Plateau nach Hall hinabzuziehen, zeigt schon der Augen-
schein ebenso wie die alten Ortsnamen (Pfons, Gedeier, S. Peter, Igls, Vill,
Lans) das hohe Alter der Straße an. Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß das
selbständige Ziel dieser Straße nur der östlich der Sill gelegene Teil des Unter-
inntals sein kann, und daß ihre Existenz daher durchaus geeignet ist, nicht nur
die frühere Bedeutung von Hall sondern auch diejenige von Ambras zu unter-
streichen. Ebenso kann aber auch die seit der Römerzeit kaum eine Unter-
brechung erleidende Geschichte von Matrei selbst darauf führen, dieser Strecke
ein hohes Alter zuzusprechen; denn es ist jedenfalls Tatsache, daß wir uns im
Mittelalter dort viel früher als in Wilten auf sicheren historischen Boden be-
238 VI. Kapitel.
finden. Schon 1060 wird Matrei und dann immer wieder genannt'), und bereits
vor den Grafen von Tirol sind die Bischöfe von Brixen als die Herren dieses
Platzes erkennbar, wie auch die hier ansässigen Lehnsleute derselben, die Aufen-
stein und die Trautson, zu den ersten Geschlechtern des Landes im Gebirge
gehörten.
Wenn wir das Bild des Brennerpasses selbst mit demjenigen an den anderen
belebten Alpenpässen vergleichen, so muß es sofort auffallen, daß dieser nicht
über ein weites unwirtliches Hochplateau sondern in einem sauber abgemessenen
und von hohen Bergwänden umgebenen Engpaß nach Süden hinüberzieht, und
wenn das Mittelalter einst hier die Stelle am Lueg in antro oder in spelunca
nannte, so hat es damit ganz das Richtige getroffen-). Zu bemerken wäre auch
das Fehlen irgendwelcher Hospizgründung auf dieser so außerordentlich betre-
tenen Übergangsstelle, obwohl jener Mangel seine Erklärung darin findet, weil
an dieser wirtlichen Alpensiraße die Ortschaften selbst südlich und nördlich
bis nahe an die Paßhöhe herantreten können. Trotzdem enthüllen sich gerade
hier in der Nähe dieser Paßhöfe, wenn man in das Kulturbild der alten Zeiten
tiefer einzudringen sucht, eine ganze Reihe ungeahnter Fragestellungen und
Schwierigkeiten. Denn wenn man nördlich Steinach den Spuren des alten
Straßenzuges nachgeht, so laufen diese nicht wie heute durch die Schlucht von
Stafflach und dann durch Gries hindurch sondern ganz offensichtlich höher, am
westlichen Talrand entlang über Noesslach, um dann in Vinaders anzukommen.
Dieses Vinaders liegt nun zwar ganz abseits der Richtung, die heute direkt
nördlich auf den Brennerpaß zuführt; es ist aber trotzdem die älteste Pfarre der
Gegend und als solche auch dem h. Leonhard geweiht, der sich ja nicht selten
an den mittelalterlichen Straßenpunkten einzustellen pflegte; auch den Namen
Vinaders selbst hat man als Station der Weinhändler zu erklären versucht^).
Südlich des Brenners treffen wir dann den ersten sicheren geschichtlichen Unter-
grund wohl weniger in Gossensass selbst als in dessen unmittelbarer Nähe, in
Straßberg, wo nicht nur der Name sondern auch die ganze Anlage heute die
frühere Bestimmung dieses Platzes als einer rechten Straßensperre kundtun,
dessen Besitz aber sehr bald den Händen der Bischöfe von Brixen entglitt und
in die Gewalt der Tiroler Fürsten kam, deren Pfieger hier zugleich als Richter
von Sterzing seit 1309 ihren Sitz aufgeschlagen hatten'*).
Sterzing. Wenn, wie wir schon erfahren haben, im J. 828 jener Quartinus ercheint
und bei dieser Gelegenheit auch dessen in jener Gegend gelegene Besitzungen
aufgezählt werden 5), so ist dies eine Nachricht, die wie ein Blitz aus dunkler
Nacht einmal auf die Verhältnisse am Südabhang des Brenners ein rasch ver-
schwindendes Licht wirft, und die besonders deshalb interessant ist, weil sie
den Schluß rechtfertigt, daß damals in jenem Landstrich ganz geordnete, wenn
') F. 1906. S. 148. 2) \y. s. 134. 3) st. S. 53; vgl. Scheffel, Die Brennerstraße zur Römerzeit
Berlin 1912, S. 54f. ^) Fischn. S. 12, 57. '-) Ju. S. 267.
Der Brenner und seine Nebenwege. 239
nicht ganz behagliche Verhältnisse geherrscht haben mögen. Volle vier Jahr-
hunderte gehen aber seitdem wieder dahin, in denen von jener Gegend nicht
das Geringste verlautet. Aber auch hier kann uns, ebenso wie bei Bozen oder
Meran, ein Blick auf die Landschaft sofort darüber belehren, daß wir die eigent-
liche mittelalterliche Geschichte Sterzings nicht in dem Orte selbst sondern in
den Burgen und Ortschaften zu suchen haben, die, höher als die Talebene ge-
legen, jenen Ort wie ein Kranz umwinden. Außer Straßberg sind dies das nach
dem Jaufen zu gelegene Wolfsthurn und Reifeneck, dann weiter Thunburg,
Elzenbaum (1149 Elsenpoum) Reifenstein (1100 Riffinstein), Sprechenstein und
Trens (1060 Trentis), und wir sagen auch hier bereits nichts Neues mehr, daß
das Hauptereignis in der Geschichte der dortigen Burgen nichts anderes ist,
als wie sie auf diese oder jene Weise in die Gewalt der Tiroler Fürsten ge-
kommen sind.
Im dreizehnten Jahrhundert, also mit dem Beginn jener besonders gearteten
Zeitepoche, die eben in der Geschichte der Alpenländer, wie man will, viel
zeitiger oder viel später als anderswo eintritt, stellt sich dann aber auch hier
pünktlich der Ort Sterzing ein, und auch fast in derselben Weise, wie wir es
schon bei Innsbruck kennen gelernt haben. Wie dort wenn auch nicht der
redende Name des Ortes, aber doch der gottesarme Wegfahrer als redendes
Stadtwappen, das hier aus der Not eine Tugend macht. 1204 wird Sterzing das
erste Mal urkundlich genannt, hierauf 1252 und 1296, bis man 1314, was nicht
unwichtig ist, sogar eine Leihbank daselbst vorfindet'). Wenn nun aber bei dem
Verlaufe dieser ganzen Entwickelung die Ähnlichkeit mit Innsbruck zunächst
besonders in die Augen fällt, so müssen doch hier trotzdem andere Kräfte als
dort am Werke gewesen sein, wo die mächtigen Andechser Grafen recht eigent-
lich die Entstehung von Innsbruck in die Hand nahmen, und wir werden jene
in Sterzing darin zu suchen haben, daß gerade hier die nördliche Schwelle der
laufenstraße lag, deren Glanzzelt ja auch in das dreizehnte Jahrhundert fällt.
In der Gegend von Franzensfeste und Brixen hat das Zeitalter der Eisen- Brixen und
bahnen dagegen in kurzer Frist so viele neue Bedingungen geschaffen, daß es gebung im
heute hier viel schwerer ist, sich das Straßenbild der alten Zeit zurückzurufen. Mittelalter.
Die Wichtigkeit dieser Stelle hat ja stets darauf beruht, daß sich hier die Straße
aus dem Pustertal mit der Brennerstraße vereinigt, ein Treffpunkt, der heute
für den Verkehr einzig und allein gebieterisch in dem Bahnhof Franzensfeste
mit allem, was zu diesem gehört, verankert liegt. Im Mittelalter sehen wir je-
doch dort ringsherum ein ganz anderes, komplizierteres Wegebild vor uns, das
jedoch, wenn man genau hinsieht, in dem Bau der Landschaft, in der Mischung
von Hochgebirge und Mittelgebirge und in der Richtung der nach Süden durch-
brechenden Gewässer, seine zwingende Grundlage hatte. Der Abfall des Mittel-
gebirges, der sich vom Hochplateau von Spinges aus zungenartig nach Süden
I) W. S. 113, 115.
240 VI. Kapitel.
bis nach Neustift hinab erstreckt, und der östlich und westlich von den tief ein-
geschnittenen Flußtälern des Eisak und der Rienz umfaßt wird, mußte früher
ganz von selbst zwei verschiedene Ablaufpunkte entstehen lassen für diejenigen,
die aus dem Pustertal kommend auf der Brennerstraße weiter ziehen wollten,
derart, daß die einen, deren Ziel in Brixen oder weiter im Süden lag, bereits
bei Schabs die Straße aus dem Pustertal verließen, die anderen, nach Norden
Reisenden dagegen noch den Eisak mittelst der Ladritscher Brücke überschritten
und erst dort in die Brennerstraße einbogen. Dieser letztere Vereinigungspunkt
lag demnach bei dem heutigen Weiler Unterau und war, wenn auch überschattet
von umfangreichen modernen Bauten, bis vor kurzem an der Straßenkirche und
an dem alten Gasthaus daselbst noch ganz deutlich zu erkennen, während sich
als eigentlicher Wachposten dicht neben ihm die Brixener Klause erhob.
Von hier zog dann die Brennerstraße weiter nach Süden, bis Waidbruck
sich immer eng an die westliche Talseite anschmiegend und so auch nur an
dem westlichen Rand der Stadt Brixen vorbeiführend, dort, wo heute das alte
Gasthaus zum Elefant liegt, so daß an dieses einst sein Besitzer mit vollem Recht
den Spruch anschreiben lassen konnte: Wer da baut an der Straßen muß jeder-
mann von sich reden lassen. Schon hierdurch kommt es aber auch zum Aus-
druck, daß wir in Brixen, anders als in Innsbruck, Sterzing oder Bozen, durch
die jene Straße mitten hindurchführt, niemals einen eigentlichen Handelsort zu
suchen haben, und daß die geschichtliche Bedeutung dieses Platzes eine Schicht
tiefer, in der Periode der Römerzüge liegt. Wir befinden uns aber auch hier
wirklich an einem Punkte der Brennerstraße, an dem wie nur noch in Trient
oder Verona die deutsche Kaisergeschichte haftet. Zwar wissen wir nicht, wie
viele der deutschen Herrscher hier einmal vorübergezogen sind, aber selbst die-
jenigen, die sich zweifellos in Brixen aufgehalten haben, bilden eine stattliche
Reihe; neben Heinrich IV. (1080) sind es Otto II. (967), Konrad IL (1027),
Heinrich III. (1055), Otto IV. (1209), Friedrich II. (1236) und dessen Sohn Hein-
rich (1226)')-
Der älteste Teil Brixens, und so auch derjenige, um den sich alles jenes
durch die Römerzüge hervorgerufene Getriebe herumgruppiert hat, steht heute
noch in den Grundmauern der Domkirche, die imj. 1174 das erste Mal ab-
brannte, und besonders in dem an sie südlich anstoßenden Gebäuden, dem
Kreuzgang, der Johannes- und der Liebfrauenkirche vor uns, und gerade letztere
gehört deshalb wohl zu den denkwürdigsten Stätten der Alpen, weil in ihr ein
Teil der ältesten Wohnung der Brixener Bischöfe erhalten geblieben ist, bei
denen auch die deutschen Herrscher bei ihrer Durchreise einzukehren pflegten.
Dicht unter dem Schatten der Domtürme, im Kreuzgang und in der Johannis-
kirche haben wir nun auch den Ort jenes Konzils vom J. 1080 zu suchen, und
es ist schon etwas von ernster Stimmung, die denjenigen überkommen kann, der
') W. S.SOf.
Der Brenner und seine Nebenwege. 241
heute durch den stillen Ort nach jenen einfachen und mit ganz geringen Mitteln
aufgeführten kirchlichen Gebäuden schreitet und dabei an die Zeiten denkt, als
hier jene Versammlung stattfand, an der das ganze Abendland auf das Tiefste
interessiert war.
An keinem anderen Punkte der Brennerstraße aber ist bis heute wohl das Klausen und
Bild des Mittelalters treuer erhalten geblieben als in Klausen. Dies zeigt sich ^ ^"'
Überali, an dem eng zusammengedrängten Ort, dem es durch seine Lage
einfach unmöglich gemacht ist, sich über den alten Kern auszudehnen, an dem
Stadttor mit der (neueren) Hospizkirche dicht daneben, und — ein kleiner aber
wichtiger Zug — an dem Erdboden, der im Laufe der Jahrhunderte sich derart
erhöht hat, daß jetzt hier ebenso wie in den altberühmten Stätten Italiens der Fuß-
boden der Kirchen stufentief unter der Straßenoberfläche liegt. Das, was an Klausen
von je her das Wichtigste war, findet sich aber ganz ausgesprochen am Südende
des Ortes, dort, wo die Pfarrkirche und die Eisakbrücke liegen, und wo sich
dicht darüber der Turm Branzoll erhebt, an dem der einzige Weg vorbei muß,
der überhaupt nach Seben hinaufführt.
Dieser Sebener Felsen kann nun aber nicht etwa bloß wegen seiner Ge-
schichte einen besonderen Gegenstand des Interesses bilden, sondern allein
schon wegen seiner eigenartigen Gestalt und seiner beherrschenden Lage; er ist
merkwürdig ebenso durch seine hohen, in regelmäßiger Steilheit sich erhebenden
Wände wie durch die verhältnismäßig große Ebene, die sich auf dieser ge-
schützten Höhe ausdehnt und die dadurch um so wohnungsfreundlicher wird,
weil sie, von Norden langsam abfallend, der begehrenswerten Südseite ihr volles
Gesicht zeigt. Schon auf diesen Tatbestand gründet es sich daher, daß wir
hier an einer Stätte uralter Kultur stehen, und daß wir auch im Mittelalter dort
oben, nicht unten in Klausen, den Brennpunkt der ganzen Umgegend zu suchen haben.
Die mannigfachen kirchlichen Gebäude, die sich heute hier erheben und
die zum weitaus größten Teil erst aus der neueren Zeit stammen, lassen trotz-
dem noch ganz gut erkennen, wie es hier im Mittelalter ausgesehen hat, als die
dortigen kirchlichen Bauten in starke und ausgedehnte Befestigungsanlagen ein-
gebettet lagen. Diese Anlagen bedeckten damals die ganze Oberfläche der Höhe
und waren unverkennbar in verschiedene Abschnitte gegliedert, deren wichtigster,
die eigentliche Hochburg, wie es die Gestalt des Sebener Felsens nicht anders
zuläßt, im Norden gelegen war. Der Umfang dieses letzteren Teiles entspricht
weiterhin genau dem heute von dem Nonnenkloster eingenommenen Raum, und
es klingt nicht unwahrscheinlich, daß, wie berichtet wird '), gerade an dieser
Stelle noch wichtige Reste jener alten Burg existieren, — Prätorium und Königs-
saal werden sie mangels anderer besserer Bezeichnungen genannt — die ein-
gebaut in die glatten Fronten des Nonnenklosters heute den Blicken der Außen-
welt entzogen sind.
') N. A. s. 16f.
Schefrel, Verkehrs^escbichte der Alpen. 2. Band. 16
242 VI. Kapitel.
So vereinigte dieser Straßenpunkt alle Eigenschaften in sich, um Sehen und
Klausen auch im Mittelalter eine hervorragende Wichtigkeit zu verleihen, und
wir treffen hier daher auch einen kostbaren Besitz der Brixener Bischöfe an,
der diesen, als sie wirkliche Fürsten des Reiches waren, nicht nur als wirksame
Straßensperre sondern besonders auch als eigentliche Landesfestung dienen
mußte. Tatsächlich erscheint nun auch das Geschlecht der alten Sebener Burg-
grafen, das nebenbei, wie die Namen seiner Mitglieder erkennen lassen, deut-
schen Stammes gewesen ist'), im elften und zwölften Jahrhundert durchaus als
die rechte Hand seiner geistlichen Lehnsherren, während die Ritter und Pfleger
von Sehen, denen es später Platz gemacht hat, sich in nichts von dem übrigen
Tiroler Adel unterscheiden. Auch der Klause unter Sehen wird von den mittel-
alterlichen Geschichtsschreibern mehrmals gedacht, wie dies an sich schon ein
seltener Fall ist, wenn man eine solche Sperre nicht nur als allgemeinen Begriff
sondern wirklich in Verbindung mit einer bestimmten Örtlichkeit genannt findet.
Die Bezeichnung als clusa sub Sabione sita, wie sie zum ersten Male im J. 1027
vorkommt^), ist aber besonders um deswillen interessant, weil dies ja genau
derselbe Name (Subsabione) ist, den jener Ort schon vor einem Jahrtausend
führte, und weil wir demnach hier ein treffliches Beispiel der Kontinuität der
Kulturentwickelung Südtirols in dem ersten nachchristlichen Jahrtausend vor
uns haben. Genannt wird jene Klause dann ebenso im J. 1177 als Brixener
Zollstelle und besonders noch 1237, als Kaiser Friedrich II. auf seinem Römer-
zug hier Station machte^). Aus den dürftigen und unsicheren Nachrichten, die
wir sonst noch über die in Tirol gelegenen Klausen haben, die wir aber doch
mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die Sebener Klause beziehen können, schimmert
übrigens so etwas hindurch, als ob zuweilen auch die Herzöge von Bayern ge-
waltsam an diesem Punkte eingegriffen hätten^).
Von Klausen Der Weg von Klausen südwärts, wo sich das Eisaktal immer mehr zur
Schlucht verengt, ist eine Straßenstrecke, an der man besonders deutlich wieder
jene Beobachtung machen kann, daß die Wirkungen des Verkehrs auch in
früheren Zeiten seitwärts der großen Heerstraße kaum weiter zu dringen pflegten
als der Hufschlag der Reittiere oder das Rädergerassel der durchgehenden
Wagen zu vernehmen war. So finden wir hier östlich der Brennerstraße, vom
Villnöstal bis nach Aldein sich hinziehend, jenes hochgelegene aber wohnliche
Bergland, zu dem erst im neunzehnten Jahrhundert bequeme Zugänge vom
Eisak- bezl. Etschtal her geschaffen worden sind, und das daher auch heute noch
wie die Seiten eines alten aufgeschlagenen Buches vor uns liegt. Die vielen
Ortschaften, die dort wie aus einer Musterkarte nach den typischen Heiligen
dieses Gebirgslandes benannt sind (S. Peter, Valentin, Vigil, Ulrich, Christina,
Oswald, Nicolaus, Georg), reden eine deutliche Sprache, welch' überwiegender
Anteil an der Entstehung der dortigen Kultur der Kirche zuzusprechen ist; sie
>) Mor. S. 15. 2)Ju. S. 306. 3) n. a. S. 4f. ") N. A. S. 18.
Der Brenner und seine Nebenwege. 243
müssen aber gerade deshalb die Aufmerksamkeit um so mehr auf diejenigen
lenken, die jenes vermissen lassen, weil wir in diesen zweifelsfrei die ältere
Schicht vor uns haben (Tiers, Seis Siusis, Prösels Presseis, Völs Fellis). Auch
heute noch hebt sich als der alte Vorort dieser Gegend Kastelruth heraus. Wenn
dieses als casiellum ruptum urkundlich schon im J. 985 genannt wird, so lag dem-
nach damals die über dem Orte gelegene Burg in Trümmern; sie muß aber doch
dann später noch einmal aufgebaut worden sein, da sie im dreizehnten Jahrhundert
von neuem einen umstrittenen Punkt abgegeben hat ').
Die tief unter Kasteiruth gelegene Trostburg (Tirestberch) beherrschte da-
gegen einst die wichtige Stelle, wo die Brennerstraße vom Eisaktal auf Nimmer-
wiedersehen Abschied nahm, um weiter bis Bozen den Weg über den Ritten
einzuschlagen. Dem Burgenkundigen wird es sofort auffallen, wie diese Feste
mit ihrer schlanken Gestalt ganz jenen malerischen mittelalterlichen Wasser-
burgen gleicht, ein Aussehen, das sie deshalb angenommen hat, weil sie, auf
engem und geschütztem Räume zusammengedrängt, mit ihrer ganzen Anlage in
die Höhe rücken mußte, während im Innern besonders der untere Teil schon
durch seine riesigen und durch das Alter buchstäblich geschwärzten Quadern
zu erkennen giebt, daß er in viel früherer Zeit als die höheren, im sechzehnten
Jahrhundert errichteten Stockwerke entstanden ist-). Nicht weniger eindrucks-
voll redet hier jedoch von dem mittelalterlichen Straßenleben auch die Leonhards-
kapelle gegenüber in Kollmann. Dieser alte Bau, der sich genau an der Stelle
findet, wo einst der alte Weg vom Tale nach der Höhe abbog, steht infolge
seiner Größe und seines anspruchsvollen Grundrisses als Straßenkirche ganz
einzig da, und wenn die Kette, die diese Kirche von außen umschloß, ganz aus
den Hufeisen geschmiedet war, die im Laufe der Zeiten von den Saum- und
Fuhrleuten geopfert wurden ^^), so hätten wir demnach hier in mittelalterlicher
Weise dieselbe Regung, dasselbe Motiv vor uns, das einst die Reisenden des
Altertums veranlaßte, Münzen an den schwierigen Wegestellen als Weihgabe
niederzulegen.
Von Kollmann bis zum Dorfe Rentsch bei Bozen erstreckt sich nun jener
Höhenweg, der bis zur Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts'*), also ein und ein
halbes Jahrtausend hindurch, als Teilstrecke einer der wichtigsten Heerstraßen
Europas benutzt worden ist. Er mußte entstehen, da sich hier unten im Tale
der Eisak durch eine enge, stundenlange und früher fast unwegsame Schlucht
hindurchzwängte, und er konnte auch nur die Richtung über den Ritten ein-
schlagen, da die Reise von Waidbruck nach Bozen sich hier nicht nur kürzer
gestaltet, sondern weil sie, nachdem einmal der Anstieg überwunden ist, auch
viel bequemer und ebener dahinführen kann als auf der durchschnittenen und
') N. A. S. 77, 79. 2) Der kulturgeschichtlich wertvollste Teil der Trostburg war bis vor kurzem
ein im Erdgeschoß neben der Kapelle gelegenes, mir drei Tonnengewölben überdecktes und ganz
in romanischem Stile errichtetes Profanzimmer. ^) N. A. S. 62. ^) W. S. 149.
16»
244 VI. Kapitel.
unregelmäßig gebildeten Gebirgslandschaft, die sich dort östlich des Eisak aus-
breitet. Die Besiedelung des Rittens im Altertum ist schon aus den mannig-
fachen antiken Ortsnam.en daselbst ersichtlich; gegen die Begangenheit und
Belebtheit dieses Weges im Mittelalter braucht es aber gerade hier nicht zu
sprechen, wenn diese heute mehr abseits gedrängt worden sind, und wenn heute
hier die eigentlichen Straßenpunkte sämtlich nur einen reindeutschen Klang
haben. Denn diese Orte erscheinen nun auch ganz deutlich in den mittelalter-
lichen Reiseberichten, an der Spitze, als die gebräuchliche Nachtstation zwischen
Klausen und Bozen, Lengstein'), dem im J. 1177 von Friedrich Barbarossa in
Venedig das Recht zur Abhaltung eines Marktes verliehen wurde, dann Unter-
inn (Unna) und Lengmoos, das einst bezeichnenderweise Ober- und Unterstraß
hieß2), und wo auch einmal der Aufenthalt eines deutschen Herrschers bezeugt
ist, da die bekannte Verfügung, durch die Konrad II. den Bischof von Trient
mit den Grafschaften an der Etsch belehnte, von jenem im Frühjahr 1027 hier
oben erlassen worden ist 3). Der Punkt, wo dies geschah, wird damals freilich
nur als Mons Ritena locus, qui dicitur fontana frigida, bezeichnet; es kann dieser
aber kaum ein anderer als Lengmoos gewesen sein, wenn man entdeckt, daß
die Quelle, die hier zum Hause des deutschen Ordens geleitet wird, noch heute
Kaltenbrunn heißt^).
Und so vermag auch heute noch jener alte Weg, der freilich, wie sein
Name sagt, nur zu Pferd und nicht zu Wagen benutzt werden konnte, noch ge-
nug Zeugnisse des alten mittelalterlichen Straßenlebens aufzuweisen, hier, wo
überall und besonders auch an den wichtigen Wegestellen (S. Verena, Sebastian,
Justina) eine Kapelle auf die andere folgt, wo ebenso das alte, aus großen
Quadern errichtete Pflaster und auch an dessen Rändern jene alten ausgemau-
erten Schächte vorhanden sind, die zum Sammeln des Regenwassers auf diesem
dürren Hochplateau dienen sollten. Einige Aufmerksamkeit können hier aber
auch manche der alten an der Straße gelegenen Höfe auf sich lenken, weil deren
ganze Bauart durchaus nicht auf landwirtschaftlichen Betrieb eingerichtet ist.
Die Kapellen, die hier innerhalb der Umfriedigungen liegen, die festen Gewölbe,
die weiten Torbögen, die auf letzteren befindlichen, auf Schmiedearbeit hin-
weisenden steinernen Hausmarken, lassen vielmehr darauf schließen, daß jene
Gebäude einst als Einkehr für die Reisenden dienen sollten, und daß wir daher
hier möglicherweise eine besonders alte Art der mittelalterlichen Gasthöfe vor
uns haben. Auch die für jene Höhengegend immerhin stattliche und ganz in
einem Gusse in gotischem Stile errichtete Niederlassung des deutschen Ordens
in Lengmoos fügt sich wie das Herzstück in alles dieses hinein.
Charakter Dieser einzig dastehende mittelalterliche Höhenweg ist es nun auch, den
Landschaft Vincenz von Prag im Auge gehabt hat, als er bei einem Römerzuge Friedrich
im Mittelalter. Barbarossas von dem Mons Pausanus redet^). Der Aufenthalt deutscher Herr-
') N. A. S. 5; W. S. 127. 2) Atz. S. 148. 3) w. 126. A. 7. "») Atz. S. 165. S) W. S. 96.
Der Brenner und seine Nebenwege. 245
scher in Bozen gelegentlich der Römerzüge ist außerdem bezeugt bei dem Rück-
zug desselben Kaisers im J. 1155, kurz nachdem er sich durch die von den
Veronesern besetzte Klause glücklich Bahn gebrochen hatte'), dann im J. 1191
bei dem Zuge Heinrichs VI., 1220 bei demjenigen Friedrichs II.-), und zuletzt
1267 bei dem Zuge Konradins^). Man bemerkt sofort, daß diese Fälle sämtlich
nur der Zeit der Staufer angehören, und daß es demnach seinen besonderen
Grund haben muß, wenn der Ort Bozen nicht früher erwähnt wird. Die Er-
klärung liegt aber allein darin, daß dieser Ort erst in den letzten Jahrhunderten
des Mittelalters der Schwerpunkt jener ganzen Gegend geworden ist, und daß
deren reiche und bewegte Geschichte vorher von einem jener mittelalterlichen
Dynastensitze nach dem anderen gewandert ist, die hier gleichfalls so zahlreich
wie nur möglich überall im Tal und auf den Berghängen verstreut liegen.
Ein eigentümlicher, fröhlicher Unterton ist es nun, der zumeist in den
Berichten jener letzten Römerzüge, sobald sie von Bozen reden, anklingt, die
Kunde von dem Bozner Wein, der auf alle, die hier durchkamen, hoch und
gering, einen gewaltigen und berechtigten Eindruck gemacht hat. Aber auch
dies ist nur ein getreuer Ausdruck der Wirklichkeit, da diese ganze Gegend
bis zu den Zeiten, als Bozen zur Handelsstadt wurde, wirtschaftlich allein unter
dem Zeichen der Weinkultur gestanden hat, und hier wirklich Jahrhunderte
hindurch um diesen roten Wein, um den Besitz der Weingüter, auch viel rotes
Blut geflossen isf*). Zwei Diener der Kirche, der Bischof von Freising und der
Abt von Innichen, eröffnen mit einem solchen Streit diesen Reigen bereits in
der Mitte des neunten Jahrhunderts''), und so geht es weiter die Jahrhunderte
hindurch; auch die Stiftungen, die dann am Ende des Mittelalters für die Bozner
Pfarrkirche gemacht werden, sind fast durchgängig auf den Einkünften begründet,
die aus solchen Weingütern Hießen'').
Der Reichtum und die Vielseitigkeit der geschichtlichen Erinnerungen, wie
sie bei Bozen dem Besucher entgegentreten, haben ihren Hauptgrund in der
Stellung jener Gegend als geographischer und politischer Grenzpunkt und in
der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Gewalten, die sich hier nacheinander in
hellem Streit oder in zähem, berechnenden Ringen den Rang abgelaufen haben.
Es kann tatsächlich kein besseres Zeugnis für die Vortrefflichkeit dieses Land-
striches geben, als wenn wir um die Wende des ersten Jahrtausends, also zu
den Zeiten der größten wirtschaftlichen Machtentwickelung der Kirche, nicht
mehr als zwanzig und einige kirchliche Gewalten die Hände nach jenem Besitz
ausstrecken und in der Bozner Gegend begütert sehen ^). Wenn zu gleicher
') O. F. S. 178. 2) Aji' s. 82, 83. ^) Oe. II. S. 237. ■♦) Wenn Otto von Freising (O. F. S. 178)
sagt, daß Bayern von Bozen „mit einem süßen und zur Ausfuhr nach auswärtigen Gegenden ge-
eigneten Landwein versorgt wird", so ist dies deshalb von Interesse, da diese Kunst jetzt einiger-
maßen verloren gegangen zu sein scheint. •') Atz. S. 200. ^) Spomberger, Geschichte der
Pfarrkirche, Bozen 1894, S. 77 f. ') Atz. S. 6, 197, 200.
246 VI. Kapitel.
Zeit hier die Landesherrschaft aus dem Besitz der Karolinger in die der Herzöge
von Bayern und von diesen wieder in die der Bischöfe von Trient übergeht,
so hat dies alles, auch im letzteren Falle, jedoch viel weniger zu bedeuten als
Die Eppaner die wirklichen Zeichen eines scharfen Regiments, das hier von den Eppaner
"^^ ^"' Grafen ausgeübt wurde, und das so den ältesten erkennbaren Abschnitt der
mittelalterlichen Geschichte der Bozner Gegend bildet. Die Blüte dieser Eppaner
Grafen, einer Seitenlinie der Weifen '), fällt in das elfte und zwölfte Jahrhundert;
sie waren in der Bozner Grafschaft die Lehnsleute des Bistums Trient, aber
sicherlich keine sehr bequemen, und es macht überhaupt ganz den Eindruck, als
ob das Schicksal diesem Geschlecht zuerst vor allen anderen jene große Zukunft
in den Schoß gelebt habe, in die weltliche Herrschaft über Tirol hineinzuwachsen.
Eine Katastrophe eigener Art, über die wir zufällig genauer unterrichtet
sind, weil ihre Kreise in die deutsche Reichsgeschichte hinübergreifen, mußte
dazu dienen, diese Entwickelung zu zerstören. Als im J. 1158 Papst Hadrian IV.
zwei Gesandte aus tauen zu Kaiser Friedrich Barbarossa abgeschickt hatte,
wurden diese auf ihrer Reise durch Tirol von den Grafen von Eppan, „bei
denen der verruchte Hunger nach Gold die Oberhand gewonnen hatte, gefangen
genommen, ausgeplündert und in Banden gelegt, eine Roheit, die jedoch der
Herzog von Bayern (Heinrich der Löwe) bald darauf gebührend rächte" 2). Wenn
sich nun auch der Hunger nach Gold durchaus mit weifischen, und der Vettern-
haß des Herzogs mit allgemein menschlichen Eigenschaften in Einklang bringen
läßt, und wenn hier, wie natürlich, auch die Gewaltsamkeit des Mittelalters in
Rechnung zu ziehen ist, so bleibt trotzdem bei diesem Unternehmen ein solcher
Teil Verwegenheit, ein durch Generationen hindurch großgezogener Übermut
übrig, daß jene Leute schon um deswillen das Interesse herausfordern müssen.
Aber gerade nach dieser Richtung hin machen sich auch die mangelhaften Seiten
der mittelalterlichen Geschichtsquellen geltend. Gewiß, wir wissen schon einiges
von diesen Eppaner Grafen, aber über allen diesen Gestalten lagert es doch wie
eine dichte Staubschicht, die uns die feineren Formen, die geistigen Regungen
verschleiert, und es ist sicher, daß uns alle jene Vorgänge, selbst wenn wir bloß
die Hälfte der Nachrichten über sie besäßen, viel klarer vor Augen stünden,
wenn sie dem klassischen Altertum angehören würden.
Tatsache bleibt aber, daß seit diesem Zeitpunkt die Stellung der Eppaner
an Festigkeit eingebüßt hat, und daß sie dann bald völlig vom Schauplatz ver-
schwinden, wenn auch die Beseitigung dieser mächtigen Vasallen viel weniger
dem Hochstift Trient sondern zuguterletzt einem Dritten, dem Tiroler Grafen-
geschlecht, zur Freude gereichen sollte. Im folgenden dreizehnten Jahrhundert
ist freilich nun die Macht Trients zunächst wieder mit doppelter Stärke nach
Norden vorgeschritten und hat hier alle Verhältnisse durchdrungen. Damals
besaß dieses Bistum auf dem Ritten einen Hof^) und um Bozen herum eine
I) Vgl Anh. 24. 2) Rg. s. 40 f. 3) Atz. S. 148.
Der Brenner und seine Nebenwege. 247
Burg neben der anderen; Weineck und Greifenstein sind seine Lehen, und
auch diejenigen, die neu gebaut werden, wie Wanga und Runkeistein, „sollen
jederzeit dem Bischof offenstehen" '). Das Wichtigste von allen diesen scheint
aber doch bereits damals die Stadt Bozen selbst gewesen zu sein, wenn wir Die Stadt
aus dem J. 1256 hören, daß sie tausend Pfund Berner an jährlichen Steuern
nach Trient zahlen mußte-). Je länger um so bedrohlicher haben dann aber
auch hier von Norden her die Tiroler Grafen an die Pforten dieser Stadt an-
gepocht. Der erste Posten, den sie dicht vor Bozen an sich brachten, ist das
Schloß in Gries gewesen, das, wie heute noch ersichtlich, deshalb so besonders
stark und fest gebaut sein mußte, weil es mitten in der Ebene lag. Schon am
Ende des dreizehnten Jahrhunderts hat daher einmal zwischen den Bischöfen
von Trient und Meinhard II. von Tirol der Streit um die Stadt Bozen in hellen
Flammen gestanden-'), wenn er dann auch noch zwei volle Jahrhunderte hindurch
weiterbrannte, und erst im J. 1473 kann er als wirklich entschieden gelten, als
die Zitadelle der Bozner Ebene, Sigmundskron, in den Besitz der Tiroler
Grafen überging.
So kann man auch nicht vordem dreizehnten Jahrhundert von einer eigent-
lichen Geschichte der Stadt Bozen reden, und v/enn jene außerdem ganz ähn-
liche Züge wie diejenige Innsbrucks zeigt, so ist dies nur ein Zeichen dafür,
wie stark und gleichmäßig hier überall das neue Zeitalter hereingebrochen ist.
Wie dort liegen auch hier die ältesten mittelalterlichen Gründungen ein Stück
abseits der späteren Handelsstadt, in Gries, das zuerst Zella hieß und 1166 dem
Bistum Freising gehörte''), und „in der Aue" südlich davon, wo das erste Klostei
in dieser Gegend angelegt wurde ^). Auch bei Bozen weist das älteste, heute
nicht mehr gebräuchliche Stadtwappen eine Brücke auf. Während des drei-
zehnten Jahrhunderts tritt dann aber auch hier ein Zeugnis nach dem anderen
an das Tageslicht, das die aufstrebende Handelsstadt kennzeichnet, die Zölle, die
jetzt reiche Einnahmen abwerfen, die Geldinstitute und die zweimal im Jahre
stattfindenden Messen^). Dies sind nun auch dieselben Zeiten, in denen das
alte Stadtbild Bozens, so wie es sich heute noch erkennen läßt, fertig geworden
ist. Damals begann auch der Bau der Bozner Pfarrkirche, an der deshalb nicht
vorübergegangen werden darf, weil in dem Aussehen dieser einen Kirche sich
das Schicksal der ganzen Landschaft wie im Bilde widerspiegelt. Die ersten
Anfänge lassen in der Anlage und im Einzelnen hier durchaus die Nachbarschaft
des Südens und im besondern die von Trient erkennen, während der Bau dann
später, freilich nicht zum Vorteil des künstlerischen Resultates, immer mehr
in die gotische Form hineinwächst. Es ist dies alles aber nichts anderes als
eine Folge der politischen Zugehörigkeit Bozens zu Tirol, die hier zugleich den
nördlichen Kultureinflüssen vollends die Pforte öffnete. So scharf und mit
') Atz. S. 192; Erb. S. 7. 2) W. S. 115. 3) Atz. «. 12. ■*) Atz. S. 196, 201. =) Atz. S. 230.
6) W. S. 102, 103, 113, 100.
248 VI. Kapitel.
jenem leidenschaftlichen Einfluß auf das Denken und Handeln wie heute pflegten
sich freilich während des Mittelalters die nationalen Empfindungen ganz und gar
nicht zu äußern '), aber eine stille, nachhaltige Wirkung ließen sie sich auch da-
mals nicht nehmen, und schon deshalb war es kein unwichtiges Ereignis, wenn
schließlich in Sigmundskron der Gastaldo Trients, der hier Jahrhunderte hin-
durch seinen Sitz gehabt hatte, dem Richter der Tiroler Fürsten Platz machte.
Wie aber die antike Topographie der Bozner Ebene der Forschung so be-
sonders schwere Aufgaben stellt, so läßt auch das Mittelalter nicht ab, uns hier
seine Rätsel aufzugeben; denn die Geschichte der heutigen Stadt Bozen wird
so lange nicht auf sicherer Grundlage ruhen bis nicht die Ursache dafür ge-
funden ist, warum die längste und wichtigste Straße der Stadt, die Laubengasse,
nicht in der hier doch alles beherrschenden Richtung von Nord nach Süd
sondern in direktem Gegensatz hierzu von Ost nach West läuft. Das spätere
Stadtbild, bei dem die vom Ritten herabkommende Brennerstraße durch die
heutige Bindergasse, wo die ältesten Gasthöfe der Stadt liegen, dann durch die
Lauben und schließlich durch die heutige Goethestraße zur Eisakbrücke ge-
langte, ist ja doch nur ein Abbild, wie der Verkehr sich mit jener Orientierung
auseinandergesetzt hat, die er bereits hier vorfand. Eine noch viel bösere Stelle
findet sich nun aber nicht weit außerhalb der Stadt, nördlich, am Eingange des
Sarntales. Heute sehen wir hier auf einem verhältnismäßig engen Raum zu-
sammengedrängt eine überraschende Menge von Burgen (Troyenstein und Kleben-
stein, Runkelstein und Ried, das Fingellerschloß, Wangen u. a. m.), eine Situation,
wie man sie schießlich zwar noch hie und da in den Alpen, aber dann doch
nur an den allerwichtigsteu Wegestellen auftreiben kann. Was wollen alle diese
Burgen hier! Es ist klar, daß, wenn man hierfür eine Erklärung sucht, die
mittelalterliche Bedeutung des Sarntales in erster Linie mitzusprechen hat. Daß
auch auf dieses einmal der Verkehr ein Auge geworfen hätte, dafür könnte
nun allerdings das Vorkommen des deutschen Ordens in Sarnthein als Anhalt
dienen^), obgleich doch auch wieder ein Blick in diesen Ort zeigt, daß er sonst
nicht das Geringste von jenen charakteristischen alpinen Straßenpunkten an sich
hat. Hätten wir in jenen Befestigungen am Eingange des Sarntales dagegen
lediglich Talsperren vor uns, so wären doch wieder ein oder zwei derselben
genügend gewesen, und wenn wir schließlich auch mit Recht in Betracht ziehen
müssen, daß wir uns hier in einem alten Grenzland befinden, so bleibt doch
immer noch die Frage übrig, warum dieser Grenzschutz gerade an jener Stelle
so reichlich ausgefallen ist^).
Von Bozen Ungleich deutlicher in ihren früheren Schicksalen liegt dagegen jene
Gegend vor uns ausgebreitet, die man von den Burgen am Eingange des Sarn-
tales weit überschauen kann, das Überetsch. Heute ist dies ausgedehnte Plateau
fast überall von der Weinkultur erobert worden, während wir uns dasselbe im
I) Schu. S. 218. 2) N. A. S. 100. 3) Vgl. Anh. 25.
nach Trient.
Der Brenner und seine Nebenwege. 249
Mittelalter noch viel mehr mit Wald bedeckt vorstellen müssen. Für die Phan-
tasie aber giebt es ein wundervolles Bild, als hier, wo die Sonnenstrahlen es
so gut meinen, die vielen mittelalterlichen Burgen aus den grünen Baumkronen
herausragten und deren Herren zu fröhlichem Jagen auszogen. Daß diese Vor-
stellung aber durchaus der Wirklichkeit standhält, dafür sind der beste Beweis
die alten Fresken auf Hocheppan, wo der Jäger zu Pferd mit seinem Hunde den
Hirsch verfolgt. Auch unterhalb jener Burg, am jenseitigen Talrand liegt ein
Ort mit Namen Siebeneich'), und noch heute findet man in den Schlössern des
Überetsches (Kampenn bei Kaltem, Gandegg) in großer Zahl die Geweihe der
Hirsche, die einst hier erlegt worden sind.
Wir kennen übrigens den das Überetsch durchziehenden Weg bereits als
das letzte selbständige Glied der von Norden, von der Reschenscheideck, herab-
kommenden Straßenrichtung, und ebenso wie dessen nördlicher, dicht unterhalb
Sigmundskron gelegener Anfangspunkt so hebt sich auch dessen südlicher End-
punkt noch heute ganz deutlich aus der Gegend ab. Dieser letztere befand sich
bei Gmünd, Auer und Neumarkt gegenüber, und so finden wir denn auch dort,
freilich in unendlicher Einsamkeit und fast vom Buschwald versteckt, die Ruinen
einer mittelalterlichen Feste ersten Ranges, der Leichtenburg, von deren früheren
Schicksalen freilich kaum ein Schall auf uns gekommen ist, deren Lage aber
trotzdem ohne weiteres erkennen läßt, daß sie einst hier dem Verkehr die Ge-
setze vorschreiben wollte. Von Neumarkt ab gegen Süden zieht dann aber die
Brennerstraße auf dem linken Etschufer in einem einzigen Strange dahin, an
dem auch die Reste des mittelalterlichen Verkehrslebens nicht fehlen, wenn
diesen auch von hier ab die südliche Art der Kultur viel schärfer zugesetzt hat.
Hierzu gehört Neumarkt selbst mit seinen Lauben und überall die früher als
Gasthöfe benutzten großen Gebäude sowie die alten Kirchen (S. Florian bei
Salurn, S. Lazzaro bei Lavis), köstliche Baudenkmäler, die unbeachtet und wohl
auch unbenutzt am Rande der Straße liegen, bis dann bereits nördlich Gardoio,
einem gleichfalls von Alter geschwärzten Straßenpunkt, weithin der Torre verde
als point de vue die Nähe Trients ankündet.
Da diese Stadt so recht als Sammelpunkt heraustritt für die Römerzüge, Das mittel-
alterliche
die von Norden durch Tirol nach Italien beabsichtigt waren, finden wir in ihr Trient.
auch alle jenen deutschen Herrscher wieder, die wir vorher ebenso in Brixen
wie in Bozen angetroffen hatten, wie es auch Tatsache ist, daß sich Trient, ganz
im Gegensatz zu Verona, in seiner Gesinnung der deutschen Reichspolitik stets
durchaus zuverlässig gezeigt hat. Daher ist auch nur ein einziger Fall zu er-
kennen, bei dem ein deutscher Herrscher einmal bereits hier bei seinem Durch-
marsche Schwierigkeiten gefunden hat. Als Kaiser Lothar im J. 1136 nach
Italien zog und sich dem Gebiet von Trient näherte, fand er dort in feindlicher
Absicht die Etschbrücke zerstört und konnte nur vermittelst einer Furt den
') Vgl. Anh. 26.
250 VI. Kapitel.
Übergang erzwingen. Diese Bewegung setzt übrigens voraus, daß Lothar vorher
auf dem rechten Etschufer marschierte, und die Stelle, wo er den üferwechsel
bewerkstelligte, kann daher ebensogut gegenüber Trient selbst wie ein ganzes
Stück nördlich desselben gelegt werden. Da der Kaiser aber damals jedenfalls
den Weg durch das Überetsch eingeschlagen haben muß, so ergiebt sich in
weiterer Entfernung noch die Wahrscheinlichkeit, daß wir hier einen Römerzug
vor uns haben, bei dem der Führer selbst nicht vom Brenner sondern vom
Vintschgau herabgekommen ist').
Wichtig ist aber auch, daß wir neben den späteren deutschen Herrschern
bereits die Karolinger in den Mauern Trients finden. Außer Pippin, dem Sohn
Karls des Gr. (781), müssen sich Karlmann, Karl III. und Arnulf hier aufgehalten
haben, und im J. 838 fand daselbst eine besondere Zusammenkunft Ludwigs
des Deutschen mit seinem Bruder Lothar statt^). Dieses letztere führt uns nun
aber auf dasjenige, worin wir die eigentliche Bedeutung Trients während der
langen Jahrhunderte des Mittelalters zu erblicken haben; denn dieser Platz liegt
so günstig wie kein anderer, um die Beziehungen zwischen Italien und Deutsch-
land zu vermitteln, die damals viel enger und vielseitiger als heute ineinander
verwachsen waren und sich tief in die Vorstellung der Völker eingelebt hatten.
Ihren welthistorischen Ausdruck hat ja diese Tatsache schließlich während des
sechzehnten Jahrhunderts in dem in Trient abgehaltenen Konzil gefunden, an
dessen Bedeutung kein anderes heranreicht, und dessen Folgen — für den Blick
von uns Eintagsmenschen wenigstens — noch auf lange, ungezählte Generationen
nachwirken werden.
Bei der Wahrnehmung, wie Trient heute neben Bozen einen völlig italieni-
schen Eindruck macht, bei der Frage, wie sich infolgedessen die politische
Zukunft dieser Stadt gestalten mag, bei allen jenen Gedanken, die sich dem
modernen, von nationalem Empfinden beherrschten Besucher hier aufzudrängen
pflegen, wird man aber nur zu leicht dazu veranlaßt, das in seiner Art einzig
dastehende Bild zu übersehen, das dieser Ort in geschichtlicher Beziehung
bietet. Wie die Gegend von Bregenz heute deshalb so interessant ist, weil sie
den letzten Rest der reindeutschen vorderösterreichischen Länder darstellt, so
stehen wir auch hier an einer bevorzugten Stelle, wo wir heute noch, in ihren
Grundlagen wenig verändert, jene Mischung zwischen nördlichem und südlichem
Wesen vor uns haben, wie sie im Mittelalter viel weiter an dem Südabfall der
Alpen verbreitet war, den man damals ebensogut den Süden Deutschlands wie
den Norden Italiens nennen konnte. Wenn die mittelalterlichen Bischöfe Trients
stets nur deutsche Namen führen, wenn das älteste Statut der Stadt aus dem
dreizehnten Jahrhundert deutsch abgefaßt ist, so ist dies nur ein Ausdruck der
Tatsache, daß damals die herrschenden Klassen, die Obrigkeit, wie die alte
') Oe. II. S. 230. Auch bereits bei dem Zuge Lothars von 1132 kann man wegen des Aufenthaltes
in Gargazon auf die gleiche Vermutung kommen. ^) Oe. II. S. 220, 221, 247.
Der Brenner und seine Nebenwege. 251
Kirche sagte, auf diesem Boden überall von Deutschland abhingen, ändert aber
doch nichts daran, daß dort das aus der Antike stammende Wesen immer noch
nachwiriite, und daß so auch das dortige Kulturleben aus dem, was einmal
gewesen war, einen Teil seiner Kräfte zog. Und ein genaues Abbild jenes Zu-
standes liegt nun auch in dem Stadtbilde Trients vor uns, das übrigens auch in
der Jetztzeit viel weniger als die anderen Orte an der Brennerstraße über seinen
früheren Umfang hinausgewachsen ist. Es ist dies freilich auch nichts anderes
als die entwickelte römische Stadtanlage, die von dem Mittelalter ohne weiteres
übernommen und mit dessen Zutaten versehen wurde. Aber eben deshalb
müssen die Städte mit einem solchen Aussehen einst noch viel zahlreicher im
Süden der Alpen zu finden gewesen sein, da diese Epoche dort ja fast überall
unmittelbar an die Römerzeit angeknüpft hat. Das sechzehnte und siebzehnte
Jahrhundert, als der Wohlstand mächtig aufblühte, haben dann freilich auch in
Trient die oberen Stockwerke der Häuser nach ihrer aus dem Süden gekomme-
nen, ausdrucksvollen und kunstgerechten Weise umgebaut, aber die Erdgeschosse
mit den altertümlichen Türeinfassungen, die langen, regelmäßigen Straßenlinien,
die gewaltige Erhöhung des Fußbodens, die mächtigen, sauber gebauten Stadt-
mauern zeigen doch auch hier, wie der alte Grundriß der Stadt fast unverändert
geblieben ist.
Die beiden mittelalterlichen Brennpunkte des Ortes sind der Dom und das
Kastell, die frühere Bischofsburg, die auch durch die späteren künstlerischen
Umbauten nichts von ihrem feudalen Charakter verloren hat. Auch am Dom
sind zwei Bauperioden zu unterscheiden, da dessen Entstehung in die Zeit
Bischof Ulrichs II. (1022-1055) fällt'), während er in seiner jetzigen Gestalt ein
Werk des dreizehnten Jahrhunderts ist. Hier haben demnach ganz deutlich
jene beiden Epochen ihre Spuren hinterlassen, in denen die Bischöfe Trients
einen Anlauf zu politischer Machtentwickelung machen konnten, zunächst das
elfte Jahrhundert, als sie wirkliche Reichsfürsten wurden, und dann wieder die
erste Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, nachdem es ihnen noch einmal ge-
lungen war, ihre weltlichen Vasallen einigermaßen von sich abzuschütteln, von
deren Übermut während des zwölften Jahrhunderts der Weg zwischen Trient
und Bozen so viel erzählen kann. In diese zweite Epoche gehört nun jener
berühmte Bischof Friedrich von Wanga (1207—1218), dessen Name heute in
dem dortigen Torre Wanga fortlebt, und man fühlt, daß die Zeiten Friedrichs II.
angebrochen sind, wenn unter diesem neben dem Bau des Domes Kolonisten in
das Land gezogen, die Schulden getilgt, der Bergbau getrieben und ein Gesetz-
buch (codex Wangianus) zusammengestellt wird-). Bemerkenswert ist auch, daß
in der näheren Umgebung Trients die mittelalterlichen Adelsburgen fast ganz
fehlen, was aber seinen Grund nur darin hat, daß eben hier „der Czar nicht
weit war". Selbst jene wichtige Befestigung, die hier im Altertum von dem
') Riehl S. 227. ^) Atz. S. 228.
252 VI. Kapitel.
Dos Trento auf das Etschtal herabblickte, ist während des /vlittelalters nach und
nach so vollständig verschwunden, daß ihre Stelle schließlich zu einem Vogel-
herd verwendet wurde.
Die Berner Es ist erklärlich, daß am südlichen Ende der Brennerstraüe sich nun die
■ Spuren der Römerzüge immer reichlicher zusammendrängen. Darum stehen
aber auch die Gräber hier viel zahlreicher am Wege. In Trient war es, wo
Kaiser Lothar von tötlicher Krankheit ergriffen plötzlich zusammenbrach'); hier
wurde 1038 der in Italien gestorbene Herzog Herrmann von Schwaben bestattet.
In Verona starb im J. 1215 der Bischof von Ratzeburg'), und daselbst findet
man auch an der Südseite von S. Zeno das Grabmal von Pippin, dem Sohne
Karls des Gr. 3). Seine besondere Ursache hat es aber auch, wenn jetzt in
dieser Gegend bei den Römerzügen Stationen genannt werden, die an sich ganz
unbedeutend sind, wie Lizzana bei Rovereto (1014), Volargne (1047 und 1055)
und Marciaga nördlich Garda (1111); denn wohl oder übel haben sich die
Herrscher dort aufhalten müssen, da wir nunmehr in den Bereich der Berner
Klause eingetreten sind.
Die Berner Klause ist jene Stelle, wo die Etsch zum letzten Male vor
ihrem Eintritt in die Ebene ein enges, von hohen und steilen Wänden eingefaßtes
Gebirgstal durchfließen muß. Wenn diese Erscheinung am Südabhang der
Alpen auch bei fast allen anderen Straßenzügen ganz in gleicher Weise wieder-
kehrt, so mußte sie doch hier schon wegen der Belebtheit der Brennerstraße
und deshalb von um so größerer Bedeutung werden, weil die Berner Klause
sich unter allen jenen Engpässen wenn nicht durch ihre Länge so doch durch
ihre Schmalheit besonders unvorteilhaft auszeichnet. Da wir direkt von Bozen
und dem Ritten herabkommen, so drängt sich außerdem sofort der Gedanke auf,
warum das Altertum nicht auch hier auf eine Höhenführung abseits der Schlucht
verfallen ist. Wenn ein solches Werk hier aber schon deshalb nicht zur Aus-
führung zu kommen brauchte, weil der Weg durch jenen Engpaß nicht allzulang
ist, so bleibt eine Erwägung nach dieser Richtung hin doch trotzdem von Wert,
da sie unsere Aufmerksamkeit von der Klause selbst auch auf deren seitliche
Umgebung richtet, und eine Betrachtung der letzteren nicht außer acht gelassen
werden darf, wenn man zu einer richtigen Beurteilung dieses wichtigen militä-
rischen Punktes gelangen will.
Wir können zunächst die Tatsache hinnehmen, daß uns kein einziges sicheres
Zeugnis erhalten ist, nach dem diese Wegestelle während der Römerzeit einmal
eine besondere Rolle gespielt hat, daß sie aber dann sofort bei Anbruch des
Mittelalters als wichtiges Eingangstor Italiens zu Tage tritt. Die von der Sage
überwucherten Andenken an jene Zeit haften nun aber nicht nur an der Berne-
clus selbst sondern noch viel ausgesprochener oben an der Burg Rivoli, die
westlich der Klause am rechten Etschufer gelegen war, und wieder weiter west-
1) W. S. 82. A. 24. 2) Oe. II. S. 226, 236. 3) Baedeker Oberitalien 9. Au. S. 190.
Der Brenner und seine Nebenwege. 253
lieh an dem auf gleicher Höhe befindlichen Garda (Garden), und wenn von den
drei Punkten, die hier jene Barriere bilden, jetzt die Berner Klause in der
Geschichte weitaus den größten Raum einnimmt, so hat dies nur seinen Grund
in der ausführlichen und lebensvollen Schilderung, die uns Otto von Freising
von der Eroberung derselben durch Friedrich Barbarossa im J. 1155 hinter-
lassen hat')- Es giebt aber noch eine ganze Anzahl anderer Römerzüge, bei
denen sich die Herrscher mit jener Gegend auseinandersetzen mußten, und die
nur einen wortkargeren oder verständnisloseren Herold gefunden haben, bei
denen die Spannung aber nicht geringer als damals gewesen sein mag.
So wissen wir, daß schon im J. 1003, als das Herannahen Heinrichs II.
vom Brenner her erwartet wurde, der Bischof von Verona die Klause besetzen
ließ, um sie für den deutschen König offenzuhalten, daß aber der italienische
Gegenkönig Heinrichs, Arduin von Ivrea, sie noch rechtzeitig dem Bischof ent-
riß und nun hier zweimal, erst den deutschen Vortruppen und dann dem Heere
des Königs selbst Widerstand leistete^). Ebenso mußte sich Lothar im J. 1136
auch hier mit Gewalt Bahn brechen-^), und Friedrich Barbarossa fand bereits
auf seinem ersten Zuge nach Italien 1154 Rivoli von Feinden besetzt und ließ
die dortigen Veroneser hängen'*). Auch im J. 1166 konnte letzterer dann
schließlich zum dritten Mai hier nicht vorwärts kommen, da Rivoli von den
Veronesern eingenommen und so die Klause wieder in deren Händen war=).
Nicht anders erging es dann auch Heinrich, dem Sohne Friedrichs II., der im
J. 1226 sechs Wochen in Trient lagerte und dann trotzdem unverrichteter Sache
umkehren mußte, „da die Veroneser, die damals im Besitz der dortigen Klausen
waren, sich gegen ihn im Aufstand befanden"''). Vollständig glatt verlief dagegen
der Zug Ottos IV. (1209), aber nur infolge des günstigen Zufalls, weil diesem
bei seinem Erscheinen sofort die Burg Rivoli von einer Anzahl Veroneser über-
geben wurde, die jenen Platz besetzt hielten, der in der Stadt herrschenden
Partei aber selbst feindlich gegenüberstanden^). Ebenso wird bei den vielen
Vorbereitungen, die Friedrich Barbarossa im J. 1158 für seinen zweiten Römer-
zug traf, ausdrücklich hervorgehoben, daß damals schon Monate vorher der
Kanzler Rainald von Köln und der Pfalzgraf Otto nach Italien vorausgeschickt
wurden, und „daß diese sich gleich anfangs der an der Veroneser Klause ge-
legenen und durch ihre natürliche Lage unüberwindlichen Burg Rivoli ver-
sicherten, weil durch deren Besetzung der Marsch durch diesen Engpaß sicher
gewährleistet wurde" ^). Neben Rivoli und der Klause spielt nun aber auch
noch die Burg Garda eine Rolle, etwa derart, daß erst wenn auch diese be-
setzt ist, hier ganz reiner Tisch gemacht ist. Erst nachdem auch diese sich er-
geben hat, zieht Lothar 1136 in Verona ein; 1158 wird sie einmal von Friedrich
') O. F. S. 173f. 2) Oe II. S. 247. ^ Oe. II. S. 231. ••) Jahrbücher von Pölde, J. 1154.
5) Oe. 11. S. 234. 6) W. S. 94. A. 60. ') Oe. II. S. 235. «) Ra. S. 36.
254 VI. Kapitel.
Barbarossa vergebens berannt und auch 1209 versichert sich Otto IV. vor dem
Weitermarsch noch besonders ihres Besitzes').
Aus allen diesen Nachtrichten geht nun aber zweierlei hervor, das für das
Verständnis dieser im Mittelalter so ausnehmend wichtigen Position durchaus
ausschlaggebend ist, einmal, daß der Schwerpunkt derselben nicht so sehr in
der Klause als vielmehr in Rivoli lag, so daß nur derjenige, der Herr dieser
Burg war, auch über die OfFenhaltung und Schließung jener bestimmen konnte^),
sowie ferner, daß sobald die deutschen Herrscher hier Widerstand fanden, auch
stets die Veroneser dabei die Hand im Spiele hatten. Diese beiden Gesichts-
punkte können nun aber auch dazu dienen, über jene berühmte Eroberung der
Klause durch Otto' von Witteisbach im J. 1155 noch einiges Licht zu verbreiten,
obgleich jenes Ereignis bereits eine ganze Litteratur hervorgebracht hat^). Man
muß hier davon ausgehen, daß der Kaiser damals plötzlich zur raschen Rück-
kehr nach Deutschland gezwungen war. Dieser hatte daher, als er an den Süd-
ausgang der Brennerstraße kam, auch bereits einen Teil seines Heeres entlassen'*),
wie ebenso vorher wohl auch keine Zeit gefunden, sich der Gesinnung der
Veroneser und der Burg Rivoli zu versichern. Deshalb ließ er auch von vorn-
herein Rivoli links liegen und zog oberhalb Veronas, ganz wie die Veroneser
verlangten, von dem rechten auf das linke Etschufer. Trotzdem tat aber bereits
hier der Anschlag seine Wirkung, der von den Veronesern damals, ähnlich wie
später in Susa, direkt gegen die Person und gegen die Umgebung des Kaisers
geplant war; denn jene ließen nun mächtige Holzstöße gegen die von dem
Heere benutzte Brücke antreiben, um diese dadurch zu zerstören und so die
Marschkolonnen auseinanderzureißen. Dieses Mittel scheint übrigens hier sozu-
sagen in der Luft zu liegen, da die Cimbern dasselbe schon einmal in jener
Gegend gegen die von den Römern geschlagene Brücke angewendet haben.
Daß Friedrich dann aber auch die Klause selbst gesperrt fand, ist um so weniger
wunderbar; und es ist wirklich das Verdienst Otto von Witteisbachs, wenn dieser
Anschlag nicht nur vereitelt werden, sondern daß ihm vor allem auch die Strafe
auf dem Fuße folgen konnte. Eigentümlich ist auch hier die Rolle, — halb Be-
fehlshaber der Veroneser, halb Straßenräuber — in der sich Alberich, der An-
führer der in der Klause befindlichen Feinde, bewegt, und man merkt, wie sich
selbst auch Otto von Freising über diesen nicht recht klar gewesen ist; wir
wissen aber, daß wir uns hier in der Heimat der späteren Kondottieri befinden.
Verona. Wenn auch Verona heute eine Stadt Italiens ist, so gehört es doch trotzdem
durchaus und in erster Linie zu jenen Stellen, die mit der Erinnerung an die
deutsche Geschichte so eng wie nur möglich verknüpft sind; denn es wird
schwer halten, selbst auf deutschem Boden einen Ort ausfindig zu machen, den
1) Oe. II. S. 231,235; Ra. S. 80. 2) Entscheidend für das gegenseitige Verhältnis von Rivoli und
der Klause ist die Feststellung des Alters der Brückenstelle, die sich heute dort bei dem Orte
Incanol befindet. 3) Vgl. W. S. 87f. *) O. F. S. 173.
Der Brenner und seine Nebenwege. 255
wie hier Verona die deutsciien Kaiser immer wieder betreten haben. Finden
wir doch hier alle jene wieder, die einmal durch Tirol gezogen sind, derart,
daß durch drei Jahrhunderte hindurch nur ein einziger, Konrad III., fehlt in
der langen Reihe von Otto I. bis Konradin. Wir wissen bereits, daß die
deutschen Herrscher zumeist das nordwestlich der Stadt am Etschufer gelegene
Benediktinerkloster bei S. Zeno als Aufenthaltsort wählten, und es kann das Bild
nur lebendiger machen, wenn wir sehen, wie sie es zuweilen so einrichteten,
daß sie hier, wo ja ein natürlicher Ruhepunkt in der Reiseroute gegeben war,
die hohen Feste der Christenheit verleben konnten; so haben Konrad II. (1036)
und auch Papst Leo IX. (1049) hier Weihnachten, Heinrich IV. (1081) Ostern
und Heinrich V. (1111) Pfingsten gefeiert'). Auch entspricht es ganz der
günstigen Lage Veronas, daß es gern als Platz gewählt wurde, wo die entschei-
denden Instanzen Deutschlands und Italiens auf halbem Wege zusammenkamen,
und so treffen wir hier den dritten Punkt an der Brennerstraße, an dem ein
Kirchenkonzil stattgefunden hat. Es ist dies dasjenige vom J. 1184, bei dem
auch der damalige Papst Lucius III. persönlich anwesend war. Im J. 983 hielt
Otto II. kurz vor seinem Tode hier einen Reichstag ab, und auch im J. 874
reisten König Ludwig (der Deutsche), Kaiser Ludwig von Italien und der Papst
hierher, um miteinander zu verhandeln 2). Wie in den Zeiten Theodorichs, so
galt noch im achten Jahrhundert Verona als der festeste Platz des Langobarden-
reiches''), und dann ist diese Stadt das ganze Mittelalter hindurch noch durch-
aus die Pforte gewesen, durch die der Verkehr zwischen Deutschland und
Italien heraus und herein zog, während ihre Beziehungen nach Osten, die in
der römischen Kaiserzeit und dann in der neueren Zeit gleich stark hervortreten,
damals ganz abgestorben sind.
Das. was heute Verona an echt mittelalterlichen Andenken aufzuweisen hat,
findet sich in der Hauptsache nur außerhalb der eigentlichen Stadt, östlich dicht
um das Kastell S. Pietro, einst cattedra di Pipino genannt, wo demnach die
Zeit der Karolinger unmittelbar an die der Langobarden angeknüpft hat, und
westlich gegenüber, eben bei der Kirche S. Zeno, die bezeichnenderweise auch
in eine Ober- und Unterkirche geteilt ist, und deren Umgebung trotz ihrer
elenden Gassen es deutlich verrät, daß hier einst ein viel wichtigerer und vor-
nehmerer Stadtteil gelegen haben muß. Wie aber überhaupt die Ablehnung und
Zurückhaltung gegenüber der deutschen Reichspolitik zumeist die Veroneser
Geschichte beherrscht hat, so sind dann im fünfzehnten und sechzehnten Jahr-
hundert die frei gewordenen nationalen Kräfte hier vollends so nachhaltig auf-
getreten, daß jetzt im Innern der Stadt vom Mittelalter fast nichts mehr zu er-
kennen ist.
Indessen haben wir doch auch hier ein Zeugnis dafür, daß auch Verona, Die Gotik
wie es seiner Lage nach auch gar nicht anders möglich war, einst reichlich von '" '^''^"•
I) Oe. II. S. 225, 226, 227; Gl. III. B. S. 822. -) Oe. II. S. 220. •<) P. D. S. 183.
256 VI. Kapitel.
nördlichen Elementen durchsetzt gewesen sein muß. Es besteht dieses darin,
daß wir heute hier nicht weniger als drei Kirchen ausfindig machen können, die
im gotischen Stile aufgeführt worden sind (Dom, S. Anastasia, S. Fermo Mag-
giore). Wenn die romanische Bauweise den Ländern nördlich und südlich der
Alpen gleichmäßig angehört, so gilt dies doch viel weniger für die Gotik, die
nach Italien von Norden her eingeführt wurde und inmitten der südlichen Kultur
nie recht heimisch worden konnte. Dies bedeutet aber auch, daß wir gotische
Bauten in Italien vornehmlich an solchen Stellen finden werden, wo irgendwelche
Verwandtschaft mit dem nördlichen Kulturleben zu jenen Zeiten noch besonders
stark vorhanden war, als sich die Gemüter hier bereits allgemein der neuen
nationalen Kunstwfeise zuzuwenden begannen. Man kann übrigens nicht nur
ganz genau beobachten, wie die von Norden gekommene Gotik in Italien nach
Süden zu immer mehr an Kraft verliert, sondern auch, daß die verhältnismäßig
stärkste Strömung dieser Art über den Brenner gekommen ist und von dort den
uralten Weg nach der Hauptstadt des Landes eingeschlagen hat (Verona; Mantua,
Palazzo ducale; Bologna, S. Petronio; Florenz; Orvieto). So besitzt selbst Rom
heute eine gotische unter seinen ungezählten Kirchen, S. Maria sopra Minerva,
die sich freilich hier wie ein Fremdling aus einer anderen Welt ausnimmt, bei
deren Besuch es dem Deutschen aber wie die Erinnerung an liebe Bekannte
oder wie das Rauschen des von den Alpen herabkommenden Nordwindes
anmutet.
Die westlich Infolge der nachhaltigen Wirkung der Veroneser Klause als Straßensperre
der Berner mußten nun Übrigens auch die westlich und östlich der Brennerstraße nach
Klause nach Italien auslaufenden Verbindungen eine erhöhte Bedeutung erlangen, eine Er-
führenden scheinung, die bis in die neueste Zeit in Geltung gewesen ist, und die deshalb
Verbindungen, auch das südliche Tirol im kriegsgeschichtlichen Sinne zu dem interessantesten
Teil des ganzen Alpengebiets gemacht hat. Es ist natürlich, daß auch schon
die deutschen Herrscher, sobald sie Rivoli und der Klause seitwärts auszu-
weichen suchten, damit ein größeres Wagnis auf sich nahmen, wie dies auch
aus den mittelalterlichen Quellen zuweilen ganz deutlich herausschimmert. Als
Friedrich Barbarossa 1166 seinen Zug in gerader Richtung nicht weiter fort-
setzen konnte, marschierte er durch das Val Camonica und erschien von dort
ganz unerwartet in der Lombardei '), eine Bewegung, die recht eigentlich mili-
tärischen Scharfblick verrät, und die auch deshalb interessant ist, weil der
Kaiser bei derselben den Weg über den Tonal einschlug, dessen Schicksale im
Mittelalter sonst ganz im Dunkeln liegen. Eine andere erfolgreiche Bewegung
seitab der Brennerstraße führte auch bereits Lothar aus, der im August 1133 von
Brescia den Weg den Chiese aufwärts wählte und dabei die dort als Klause
dienende Burg Lodrun (Lodrone) eroberte 2), und es ist gewiß auch ein be-
>) W. S. 54. A. 59. 2) Oe. II. S. 230.
Der Brenner und seine Nebenwege. 257
merkenswertes Vorkommnis, wenn uns hier am Rande des stillen Idrosees bei
einer jener Ruinen, wie sie auch an den einsamen Gebirgsstraßen nichts Seltenes
sind, plötzlich bestimmt und scharf umrissen jene Erinnerung an die deutsche
Kaiserzeit entgegentritt. Auch Ludwig der Bayer (1327) und König Ruprecht
(1401) haben sich, als ihnen der Weg im Süden von Trient gesperrt war, hier
westlich der Brennerstraße, freilich mehr wie listige Abenteurer in die Lombardei
hineingeschmuggelt ').
Wenn die politischen Schicksale der weiten Gestade des Gardasees sich
auch im Mittelalter in der Hauptsache in der durch die Natur vorgeschriebenen
und im Altertum bereits wirksamen Richtung bewegen, und daher auf dem öst-
lichen Ufer Verona, auf dem westlichen Brescia das Hausrecht besaß, so tritt
doch jetzt hier noch eine Besonderheit zu Tage, die ihren Grund in der Aus-
nahme von einer Regel hat. Denn obwohl ein weites Gewässer sonst stets ein
verbindendes Moment abgieht, so haben sich diesmal an der Nordspitze des
Gardasees die steil abfallenden und von beiden Seiten das Gewässer einengenden
Berge ihre trennende Kraft nicht nehmen lassen und hier einen dritten geson-
derten Teil der Uferlandschaft geschaffen, der durch seine Landverbindungen
fest an den Norden gekettet war. Darum ist Riva im Mittelalter zumeist ein
wenn auch heiß umkämpftes Bollwerk des nördlichen Gebirgslandes gewesen,
und noch heute hat derjenige, der Trient besitzt, es nicht aus der Hand gelassen.
Ebenso sehen wir damals nun auch die zahlreichen und gewundenen Gebirgs-
täler westlich und östlich der Etsch in dauernder Abhängigkeit von dieser Stadt,
wie der Name Giudicarien heute noch an jenen Zustand erinnert, weil hier, in
Stenico, die Richter der Trienter Bischöfe ihren Sitz hatten^).
Wer aber dann aus dieser in der Hauptsache ganz italienisch gefärbten
Alpenlandschaft über einen jener Übergänge hinübersteigt, auf die ernst die
Gipfel der Brenta herabschauen, der kann schon auf diesen Wegen, die keine
Spuren alten Verkehrs verraten, und noch mehr am Ziele seiner Wanderung
erkennen, daß er in ein besonders geartetes Gebiet gelangt ist. Es ist aber nicht
so sehr die ethnographische Verschiedenheit, sondern ein ganz charakteristischer
Kultureindruck, wie er sich in dieser Weise heute in den Alpen sonst an keiner
Stelle vorfindet, der hier seine Fragen stellt. Ein überraschendes Bild gewährt
es, wenn hier die Landschaft weit und breit, in den langen Linien der Tal-
sohlen, aber nicht minder auf den grünen Hängen, von einer ungezählten Menge
von Ortschaften übersät ist, Ortschaften, die alle ein und dasselbe Aussehen
haben, weiße Punkte, geschlossene Steinnester, unter denen auch die mittel-
alterlichen Burgen und Adelssitze zahlreich vertreten sind. Es ist eine reich
bevölkerte, an allen Stellen von fleißiger Menschenhand beherrschte Gegend,
auf die man aus der Vogelschau hier hinabzublicken glaubt, jener Nonser Perg,
dessen Reichtum „an Fisch, Wildpret, Wein und Korn" noch das Mittelalter zu
') Oe. II. S. 231. ^) Eine ganz ähnliche Namensgebung liegt auch im mitteldeutschen Vogtland vor.
Scherrd, Verkthrsgsschichic der Alpsn. 2. BanJ. 17
258 * VI. Kapitel.
rühmen wußte. Tritt man aber heute in jene Ortschaften selbst hinein, so be-
merkt man staunend, daß das, was man voraussetzt, vor Jahrhunderten allerdings
einmal Wirklichkeit war, daß aber jetzt in einem Dorfe, in einem Hause wie
dem anderen ein Verfall, ein Niedergang eingezogen ist, und daß diese Ent-
wickelung in gerader, unaufgehaltener Linie einen stillen und ernsten Zug von
Jahrhunderten hinter sich hat. Wir haben an dieser Stelle nicht die Gründe
jener Erscheinung zu untersuchen, sondern nur festzustellen, daß uns während des
Mittelalters kein Reisebericht, kein irgendwie wichtiges Ereignis in diese ebenso
abgelegenen wie in sich geschlossenen Täler hinabführt, die damals aber trotzdem
noch ein gleich wohlhabendes Gebiet wie im Altertum gewesen sein müssen.
Wer wiederum ein anderes eigentümliches Kulturbild kennen lernen will,
aber ein solches, das in seinen Schicksalen ganz offen daliegt, der findet dieses
östlich der Etsch in der unmittelbar dem Nons- und Sulzberg gegenüberliegenden
Alpenlandschaft. Hier zieht das unendlich lange Tal des Avisio von Lavis aus
in nordöstlicher Richtung immer höher hinan, um schließlich im Schatten der
Marmolata zu endigen, ein Tal, das trotz seiner Ausdehnung und trotz seiner
guten Wegbarkeit doch stets ein armes Nebenland geblieben ist und wo daher
auch die geschichtlichen Erinnerungen fast inhaltslos sind, während in den be-
waldeten Seitentälern, die von hier und ebenso südlich vom Travignolo und
oberen Cismone aus in die Gebirgswelt hineinführen, sich noch heute jene
geheimnisvolle Stille und Unberührtheit ausbreitet, als ob der erste Tag der
Schöpfung angebrochen wäre. Eine Illustration zu jener ereignislosen Vergan-
genheit ist es aber auch, wenn wir gerade hier wieder häufiger die Heiligen-
namen als Ortsnamen verwendet finden {S. Lugano, Pellegrino; Val di S. Nicolo,
di S. Lucano; S. Martino d. C; S. Ursula im Fersental), wie ja diese Striche stets
wohl der sicherste Teil des Hinterlandes von Trient gewesen sind, und jene
Kulturarbeit daher auch nur von dieser Stadt ausgegangen sein kann.
Überhaupt liegen die Verkehrsmöglichkeiten auch auf dem linken Ufer der
Etsch kaum anders wie auf dem rechten; denn auch hier gelangt man nach
Süden zu aus jenem unwichtigen in ein um so wichtigeres Gebiet, in das Suga-
natal mit seiner Straße, die wie schon zu der Römer Zeiten auch im Mittelalter
die belebteste Straßenlinie Südtirols nächst der Brennerstraße selbst geblieben
ist. Schon deshalb wird auch der Weltverkehr diese Straße nie ganz aus dem
Auge verlieren, weil sie nur noch eine verhältnismäßig kurze Strecke das Gebirge
durchzieht und dann der Nordspitze der Adria zueilt, also die Verbindung des
im Gebirge und an der Brennerstraße gelegenen Trient mit dem Meere auf dem
kürzesten Wege bewerkstelligt; in ihrer nördlichen Hälfte, wo sie noch ganz
eine Alpenstraße ist, hat sie außerdem aber auch stets eine militärische Bedeutung
besessen, weil sie von Trient aus eine zweite, nicht bessere oder schlechtere
Möglichkeit als die Brennerstraße selbst darbietet, um den Fuß auf den Boden
Oberitaliens zu setzen.
Der Brenner und seine Nebenwege. 259
Als eine ganz gebräuchliche Reiseroute lassen die mittelalterlichen Reise-
berichte auch diesen Weg erkennen und nennen so auch seine Stationen, so wie
sie heute vorhanden sind, und wie sie zum Teil schon unter den Römern be-
standen haben'). Die Straße tritt, nachdem sie Trient hinter sich gelassen hat
und zunächst das Fersinatal hinangestiegen ist, dann in das Tal der Brenta ein,
dort, wo einst die stattliche und ausgedehnte Burg Fersen als ein viel begehrter
Besitz nicht nur diese dicht unter ihr liegende Straßenstelle sondern auch weit-
hin alle Täler der Umgebung als ihre Pflegschaften beherrschte. Der nächste
wichtige Punkt findet sich weiter genau in der Mitte des Gebirgsweges, in Borgo,
„der Burgenstadt", das als alter Straßenpunkt in den Bergen in seinem Aussehen
überraschend Klausen a. E. gleicht, wo auf dem sich über dem Tal erhebenden
Felsen zwei Burgen übereinanderliegen, während unten dem Ort selbst die
durchlaufende Landstraße den Grundriß vorgeschrieben hat. In Primolano und
unter den Ruinen der Feste Cofel stehen wir dann an einer wirksamen Straßen-
teilung, weil hier genau östlich die schon von den Römern gebaute Straße
nach Feltre und von da nach der Adria abging, eine zweite Linie dagegen, die
erst im Mittelalter deutlich fühlbar wird, als die eigentliche Fortsetzung des
Suganatals in der langen, engen und düsteren Schlucht der Brenta weiterführte,
um dann plötzlich wie durch ein goldenes Tor in der von Sonne und Leben
durchfluteten italienischen Ebene anzukommen. An diesem letzteren Punkte
liegt Bassano, eine echte Voralpenfestung, von der im Altertum kaum irgend-
welche Spuren vorhanden sind, die aber in ihrer besonders gut erhaltenen Um-
wallung ihr mittelalterliches Gesicht nur um so trotziger herauskehrt.
In der Geschichte tritt nun aber auch ganz deutlich die verschiedene Be-
stimmung jener beiden Straßenrichtungen hervor, ersterer, wo der spätere Reise-
verkehr wieder nur ein altes ausprobiertes Römergleis für seine Zwecke über-
nahm, und letzterer, die sich dem nach Süden ziehenden Feldherrn anbot, weil
sie auf kurzem Wege die Berge hinter sich ließ. Damit ist indessen auch die
mittelalterliche Bedeutung dieser Straßen erschöpft, da ein eigentlicher Handels-
verkehr hier niemals gelaufen ist; dies zeigt ebenso das Schicksal von Ospeda-
letto, das als Hospiz hier zwar an einsamer Stelle entstand, aber doch ganz in
seinen Anfängen stecken blieb, wie ein Besuch der anderen an der Straße ge-
legenen Flecken, in denen sich die Hauptgebäude nirgends zu jenem stattlichen
Aussehen ausgewachsen haben, wie es der Handelsverkehr mit sich zu bringen
pflegt. Hier, wo Venedig nicht mehr allzuweit entfernt ist, merken wir auch
um so deutlicher den Einfluß dieser Stadt, der das Suganatal nur dann nicht
gleichgültig gewesen wäre, wenn es zu ihrem Machtbereich gehört hätte. Die
Grenzen Venedigs sehen wir aber nun bereits zu Ende des vierzehnten Jahr-
hunderts im Norden auf dem Festlande genau abgesteckt, wo sie an dieser Stelle
mit dem Stadtgebiet von Bassano endigten, nordöstlich dagegen auch ein weites
i> Oe. II. S. 246.
17'
260 VI. Kapitel.
Stück des Gebirgslandes, „die Venezianer Alpen* einschlössen; und hier lief
jene Straße im Tal der Piave nach Cortina d' Ampezzo hinan, die, weil sie viel
länger das Gebiet Venedigs durchzog, nun auch von dessen Handel konsequent
als die gegebene Verbindungslinie mit dem Norden benutzt worden ist.
Es sind nun noch diejenigen kriegerischen Unternehmungen des Mittel-
alters zu nennen, die, als die Berner Klause gesperrt war, sich den Weg durch
das Suganatal zu bahnen suchten. Als Karlmann 875 aus Tirol herabkam und
sein Gegner Karl der Kahle die Klause besetzt hielt, machte ersterer „diese
Stellung dadurch wirkungslos, daß er sie rasch auf einem sonst schwierigen
Gebirgswege umging" ')• Da nun aber bald nachher die beiden Gegner nirgends-
wo anders als an der Brenta eine Zusammenkunft hatten, kann auch schon für
diese Operation das Suganatal in erster Linie in Frage kommen. Außer Zweifel
und besonders lebensvoll steht dagegen auf dieser Strecke der erfolgreiche Zug
Heinrichs II. im J. 1004 vor uns, der in seinen entscheidenden Stunden übrigens
ganz in derselben Weise verlaufen ist wie später die Einnahme der Berner
Klause durch Otto von Witteisbach. Auch hier sehen wir im Gebirge irgendwo
an der Brenta den Marsch stocken, weil eine schwer zu nehmende Stellung an
der Straße vom Feinde besetzt ist. Der König teilt seine Truppen; während
die eine Abteilung die Feinde unten und in der Front beschäftigt, umgeht die
andere, die aus Kärntnern d. h. aus tüchtigen Kletterern zusammengesetzt ist,
die Sperre und ersteigt eine über dieser gelegene Höhe; dann erfolgt das Zeichen,
— diesmal ein Trompetensignal — daß die Bewegung ausgeführt ist, und der
Sieg läßt nicht auf sich warten^). Da der über diesen Vorgang erhaltene Bericht,
so lebensvoll er auch ist, keine Personennamen und vor allem außer der Brenta
keine Ortsnamen enthält, wird der Geschichtsforscher freilich erfolglos versuchen,
die genaue Stelle dieser Ereignisse ausfindig zu machen; für den Militär sind
sie aber doch auf echtem Goldgrund geschrieben, da auch diese ein Jahrtausend
alte Erzählung nur jene Regel bestätigt, daß auch im Gebirge der Verteidiger,
der sich an einen Punkt anklammert, dem energischen Angreifer erliegen muß,
weil diesem stets mehr als ein Weg zur Verfügung steht.
<) Oe. II. S. 247. A. 1. 2> Oe. II. S. 249.
VII. Kapitel.
Vom Pustertal bis zur Birnbaumer Straße.
Wie die von West nach Ost laufende Furka in das Herz der Zentralalpen, Das Pustertal.
der Arlberg zu den Wegen des Brennersystems hinüberführt, so dient die in
gleicher Richtung durch das Pustertal laufende Straße dazu, die Verbindung
der Mittelalpen mit den Ostalpen herzustellen. Die verkehrsfreundliche Wirkung
ist aber hier um so ausgeprägter, da diese Straße an Länge ebensosehr dem
Arlberg gleichkommt, aber doch nicht wie dieser am Rande der Alpen sondern
nicht anders wie die Furka genau in der Mitte des Gebirges gelegen ist. So
gelangt man tatsächlich auf dem Wege von Franzensfeste nach Lienz aus dem
Bereich einer mitteleuropäischen Hauptstraße, wie wir den Brenner kennen ge-
lernt haben, plötzlich in eine Gegend, wo der Herzschlag Osteuropas schon viel
deutlicher zu spüren ist; und wie die Wellen der drahtlosen Telegraphie wohl
den Ausgangspunkt, nicht aber den Weg, den sie genommen haben, erkennen
lassen, und doch an einem bestimmten Ziele anlangen, so haben hier oft genug
die Ereignisse ihren Widerhall gefunden, die ihren Ursprung länderweit entfernt
im Orient hatten. Es ist ja nur ein Abbild dieser Beziehungen, wenn in der
Zeit der Kreuzzüge die nach Palästina reisenden Pilger Tag für Tag scharen-
weise an dem Kloster Sonnenburg vorbeiziehen'), wenn im J. 1348 die aus dem
Orient gekommene Pest gerade um Neustift herum besonders verheerend auf-
tritt^), und wenn dieses und Salem, der über Brixen gelegene Sommersitz der
Bischöfe, später aus Furcht vor den Türken befestigt wird^).
Schon der Wanderer, der von Brixen aus die Straße nach dem Pustertal
einschlägt, kann es als ein Zeichen für deren Belebtheit auffassen, wenn er dort
an dem Aussehen der Gassen, an den Kirchen am Wege bemerkt, wie die alte
Stadtentwickelung ganz besonders in jene Richtung hineingewachsen ist. Ganz
deutlich tritt diese Erscheinung dann aber in dem Dasein von Neustift vor
') Oe. II. S. 240. 2) w. S. 132. Eine hierher gehörige Lokalsage erzählt Erb. S. 94. 3) Rjehl
S. 109; N. S. 244.
262 VII. Kapitel.
Augen, dessen Lage östlich des Eisak zeigt, daß dieses große mittelalterliche
Hospiz mit der Brennerstraße weaig zu tun hatte, dessen Gründungszeit (1142)
und dessen rasche Entwickelung dagegen um so mehr die Bedeutung der Linie
durch das Pustertal in der zweiten Hälfte des Mittelalters illustrieren. Derjenige
Punkt freilich, der von Anfang an das westliche Ende jener Straße mit starker
Faust beherrschte, findet sich in Rodeneck, einer Anlage, die übrigens nicht
recht mit den mittelalterlichen Baugewohnheiten übereinstimmt, weil sie nach
Süden zwar weit und sicher in das Land hineinschaut, aber durchaus nicht auf
einer schwer zugänglichen Stelle und auch ein ganzes Stück von der alten
Straße selbst entfernt liegt. Trotzdem sehen wir dieses Rodank schon um das
J. 1000 unter der Oberhoheit der Bischöfe von Brixen, 1269 dagegen in den
Händen der Tiroler Fürsten, die es nicht mit Unrecht als eine besonders wert-
volle Erwerbung betrachteten.
Wenn wir heute das Pustertal sich von Mühlbach bis Lienz erstrecken und
sauber an Tirol angegliedert sehen, so ahnen wir freilich nicht, welche Fülle wider-
strebender Schicksale, welches Durcheinander abgestorbener Gewalten auch hier
unter dieser einförmigen Decke begraben liegt. Wie Tirol selbst, so ist auch
dieser Name in das Große gewachsen, da die Grafschaft Pustrussa im J. 973
nur bis Toblach reichte'), und erst nach fünfhundert Jahren die Gegend von
Lienz, den alten Lurngau, und zuletzt auch das Gebiet von Innichen mit ihrem
Namen überzogen hat. Unter denen aber, die einst hier mit ihren Machtan-
sprüchen aneinander gerieten, sind alle mittelalterlichen Instanzen Tirols ver-
treten, unter ihnen besonders früh auch die Kirche in der Gestalt des Bistums
Freising, das durch seinen Besitz in Innichen hier die bodenständigen kleinen
Dynasten auseinanderhielt. Es ist außerdem bemerkenswert, daß auch die alten
Grafen des Pustertales hier kaum später und verhältnismäßig klar umrissen
auf der Bühne erscheinen, Otger und Vokold, die nach damaligen Begriffen
sehr aufgeklärte Leute gewesen sein müssen, weil der erstere, nachdem er sich
vor der Zeit seines Erbes begeben hatte, hoch im Enneberg den Rest seines
Lebens verbrachte 2), und ebenso sein Sohn Vokold, der im Anfang des elften
Jahrhunderts das Kloster Sonnenburg als Burg der Sühne (Suanapurck) gründete,
dessen Schirmvögte übrigens die Bischöfe von Trient, nicht die von Brixen
waren 3). Letztere halten dann aber trotzdem sehr bald nach dem Aussterben
dieses Geschlechtes in dem alten Pustertal ihren Einzug, während die Gegend
von Lienz noch weiter unter der Hand ihrer Grafen bleibt. Auf alle diese
folgen dann aber auch hier vom dreizehnten Jahrhundert ab die Grafen von
Tirol, die nun sicher wenn auch langsam Blatt um Blatt abschälen und schließ-
lich das ganze lange Tal in ihr Land einfügen.
An ein solches Rennen und Ringen erinnert nun auch besonders lebhaft
') Unterforcher, G. Pr. Eger 1890; Sonderabdruck S. 11. -) Haush. S. 157. ■') F. 1906. S. 207;
Ju. S. 311.
Vom Pustertal bis zur Birnbaumer Straße. 263
das Schicksal der Orte, denen wir auf jenem Wege begegnen. Diese zerfallen
ganz deutlich in zwei Arten, die einen, die schon im frühen Mittelalter hervor-
treten und deren Bestimmung ohne weiteres zu erkennen ist, und die späteren,
die den verschiedenen Machthabern ihren Ursprung verdanken, die sich hier
häuslich einzurichten gedachten. Zu den ersteren gehören S. Lorenzen mit der
Michaelsburg und Ehrenburg am Taleingang des Enneberg, Olang und Toblach
(Douplachi). Die letzteren beginnen dagegen mit Mühlbach, einer etwas ver-
fehlten Gründung der Grafen von Tirol als Handelsplatz und Rivalin Brixens.
Dann folgt S. Sigmund, das seinen Namen vom Grafen Sigmund von Tirol hat,
und Sonnenburg, heute ein verwahrlostes Gebäude, aus dem das warme Leben
entflohen ist, das aber an jener wichtigen Straßenstelle liegt, wo hier der Weg
von der Hauptstraße in das umfangreiche Enneberg abgeht')- Dort im Enne-
berg hat damals wohl die Kirche die Ortschaften nach ihren Heiligen benannt,
und der deutsche Adel sich seine Burgen und Ansitze gebaut, aber die roma-
nische Bevölkerung zeigt doch, wie alle diese Täler hier Jahrhunderte hindurch
von den Weltereignissen ganz unberührt geblieben sind. Die Stelle des alten
Mittelpunktes des Pustertales hat sich dann später von S. Lorenzen nach Bruneck
hin verschoben, das erst um 1250 durch die Bischöfe von Brixen (Bischof
Bruno) entstanden ist. Noch heute hat dieses kleine Gebirgsstädtchen etwas
Eigenartiges und besonders Zierliches an sich, und es mag gesagt sein, daß es
trotz der großen Entfernung merkwürdig an einen kleinen Ort an der Ostsee,
an Putbus, erinnert; es ist aber wirklich dasselbe zarte Parfüm, der Eindruck
der Liliput-Residenz, der uns hier wie dort umduftet. Der älteste Sitz der
Brixener Bischöfe im Pustertal ist dagegen Aufhofen (Ufhova) gewesen. Innichen
kennen wir bereits als einen anderen kirchlichen und Welsberg als alten weifischen
Besitz, und auch eine Erinnerung an die Görzer Grafen liegt hier in der Nähe,
„Pfalzen", das einst zwar ein Jagdhaus derselben, immer aber ein stiller Alpen-
ort war. Es geht den Namen demnach wie den Menschen; sie wissen nie, wo
sie einmal hingeraten können, da dieses Paiatium hier nicht mit weißem Marmor,
wohl aber mit weißem Gebirgsschnee aufwarten kann.
Darin aber gehört das Pustertal ganz zu den Ostalpen, daß dessen Straßen- Lienz.
geschichte plötzlich einen anderen und lebhafteren Charakter annimmt, sobald
auch hier im zwölften Jahrhundert jene ganz neue, von dem Handelsleben be-
herrschte Periode angebrochen ist. Dies äußert sich besonders in Lienz, dessen
Schicksale vorher ganz im Dunkeln liegen, während die Art, wie es sich dann
geltend macht, wieder an die Entwickelung von Innsbruck oder Sterzing erinnert.
Auch hier erscheint der Ort, der vorher anderswo (Debant = Agunt, Oberlienz
= im elften Jahrhundert Luenzia) gelegen hatte, plötzlich an der Stelle, wo wir
ihn heute sehen, und es ist dies auch der Grund, weshalb heute kein einziges
Gebäude in demselben an Alter über das vierzehnte Jahrhundert hinaufreicht.
I) Vgl. Ju. S. 310.
264 VII. Kapitel.
Aber auch hier lockt dann der immer mehr steigende Wohlstand auch die welt-
lichen Besitzer der Stadt, die Grafen von Görz, in deren Bannkreis. Diese be-
ziehen im J. 1272 das über Lienz gelegene Schloß Brück, das sich schon auf
Grund seiner aus zwei Stockwerken bestehenden Kapelle als ein mittelalterlicher
Fürstensitz ausweist, und in dem überhaupt das älteste geschichtliche Denkmal
jener Stadt zu erblicken ist.
Charakteristik Auch deshalb befinden wir uns in Lienz bereits ganz in den Ostalpen, weil
der'^Os'taipen von den Straßen, die von hier nach allen Himmelsrichtungen ausgehen, die weit-
im Mittelalter, aus wichtigste doch Stets diejenige des Drautales geblieben ist, das von hier
immer bergab in langer gerader Linie aus den Alpenländern herausführt. Alle
diese von Westen nach Osten streichenden und in den Ostalpen so zahlreich
vertretenen Flußtäler haben nun zwar diesen Teil des Gebirges von je her be-
sonders fest mit seiner östlichen Nachbarschaft zusammenwachsen lassen; sie
sind zugleich aber auch die Ursache dafür, daß das Straßensystem selbst viel
ausgedehnter, unregelmäßiger und komplizierter wird, und daß besonders gerade
hier die Zielgerechtigkeit der von Nord nach Süd ziehenden Linien viel weniger
ausgeprägt ist. Und wenn die hierdurch bedingte Schwierigkeit, die Straßen
der Ostalpen in ein bestimmtes System zu fassen, schon den willensstarken
Römern gegenüber nicht ohne Wirkung blieb, so mußte jenes noch viel mehr
im Mittelalter zur Geltung kommen, als eine kräftige staatenbildende Macht
dort Jahrhunderte hindurch nicht zu finden war. Damals sind die Straßen der
Ostalpen tatsächlich insgesamt in zahlreiche einzelne Glieder auseinandergefallen,
die jedes für sich ein ebenso selbständiges wie spießbürgerliches Leben führen,
auf denen infolgedessen aber auch der Wechsel der Kulturbeziehungen viel
schwächer abfärbt und die Wirkungen des Weltverkehrs viel leiser anklingen.
So ist die Beschreibung der mittelalterlichen Straßen der Ostalpen bei weitem
nicht das leichteste, sicherlich aber das am wenigsten interessante Kapitel der
ganzen Verkehrsgeschichte der Alpen.
Viiiach. Wir beginnen bei diesem mit der über den Pontebbapaß ziehenden Straße,
und zwar deshalb, weil diese auch damals auf dem Ostflügel des Gebirges vor-
wiegend der Verbindung zwischen dem Südland und dem Nordland gedient hat,
und ihr so jenes Moment anhaftet, das den Alpenstraßen überhaupt zu allermeist
Farbe und Leben verleiht. Der nördliche Fußpunkt dieser Straße, die sich
übrigens als ein besonders geschlossenes Glied aus den Ostalpen abhebt, liegt
im Herzen Kärntens, in Villach. Wer einen Eindruck des Mittelalters daselbst
bekommen will, der mag die Grabsteine der dortigen Pfarrkirche mustern, die
mit einem unendlichen Zeitaufwand, aber auch mit einem unendlichen Behagen
gearbeitet sind; denn es ist wirklich eine verhältnismäßig friedsame Vergangen-
heit, ein stilles, in sich gesättigtes Kulturleben, das hier vorübergezogen ist,
obwohl wir freilich sonst vergeblich nach irgendwelchen ausdrucksvolleren
geschichtlichen Resten suchen werden. Wie dem Arbeiter, dessen Spaten nach
Vom Pusiertal bis zur Birnbaumer Straße. 265
langem gedankenlosen Graben plötzlich klirrt, wenn er auf einen harten, in der
Tiefe liegenden Stein stößt, so ist es dem Geschichtsschreiber bei dem wichtigsten
Ereignis der Villacher Geschichte, dem Schicksalstag des Erdbebens vom
25. Januar 1348 zu Mute; auch er fühlt, daß hier eine andere, unbildsame aber
unendlich mächtige Kraft seine Gedanken stört. Wenn übrigens Villach bereits
877 als Brückenstelle, 1060 dagegen als Markt erwähnt wird'), so sind dies für
jene Gegend auffallend alte Daten, die sich eben nur aus der wichtigen Lage des
Ortes erklären lassen; auf den Handelsverkehr und in gleicher Weise auf jenes
unsagbare östliche Milieu deutet dann auch das Dasein einer Judengemeinde im
J. 1255 hin.
Weiter südlich erheben sich dann einander gegenüber, beide zugleich als p^^,gj,(j3
Sperren des langen Gailtales, die Schlösser Federaun (Veterona) und Arnold- straße.
stein, von denen ersteres gleichfalls 1348 bei jenem Erdbeben einstürzte 2),
während Arnoldstein später als das alte Veterona erbaut und schon um 1120
von Bamberg aus zu einem Kloster eingerichtet wurde^), eine Umwandlung, die
zeigt, auf welch' sicheren Füßen bereits damals hier die bambergische Herrschaft
gestanden haben muß. Der eigentliche Anfang der Gebirgsstraße liegt dann
unter dem Schlosse Straßfried bei Thoerl, 1227 ausdrucksvoller „zu dem Tor"
genannf*), von wo man über Tarvis, das erst 1399 das erste Mal erscheint^''), die
Paßhöhe bei Saifnitz erreicht. In Saifnitz (d. h. Froschfeld) dagegen, wo sich
auch die älteste Pfarre des österreichischen Kanaltals befindet, kann man fast
daran glauben, daß hier die Besiedelung seit dem Altertum keine Unterbrechung
erlitten hat. Hier, in Sevenich, sehen wir um die Wende des zwölften Jahr-
hunderts daher auch zweimal den Bischof Wolfger von Passau Station machen,
der dabei übrigens gar kein schlechtes Gasthaus vorgefunden haben kann^).
Auch Uggowitz findet sich schon 1260. Da aber, wo heute Malborghet steht,
befand sich ursprünglich nur ein dem Bischof von Bamberg gehöriger Hof, und
der alte Name Bamborghet (1354) ist demnach erst später zu Malborghet ge-
worden, als die Bischöfe hier eine Feste gebaut, und diese sich wirklich den
Friaulern gegenüber als ein »schlimmes Bollwerk" bewährt hatte ^). Leopolds-
kirchen kommt das erste Mal 1275 vor, aber auch dieser Name führt ein rechtes
Versteckenspielen auf, da er ursprünglich Diepoltskirchen lautete. Dieser Heilige,
den niemand anders als die Waldbarbeiter als ihren Patron verehrten, hatte sich
aber doch bei jener Holzknechtsansiedelung inmitten eines großen Waldreviers,
wie es der Ort früher war, ganz an der richtigen Stelle eingefunden*'). Über-
haupt stimmen die ältesten Nachrichten über die Orte an jenem Gebirgswege
gerade darin überein, daß jene Gegenden im ersten Mittelalter nur ganz dünn
besiedelt waren^), eine Beobachtung, durch die somit auch jene allgemeine An-
1) Kr. S. 101. 2) Kr. S. 160. •^) Kr. S. 102. ") W. P. S. 37. '^ Z. A. 1900. S. 417.
6) Z. A. 1900. S. 416. ^ Carinthia, 1906. S. 45. ») Carinthia. 1906. S. 44. ») Z. A. 1900.
S. 417.
266 VII. Kapitel.
nähme von der Volksleere der Ostalpen in jenen Zeiten im einzelnen ihre Be-
stätigung finden kann.
Von Pontebba ab beginnt dann das wirkliche Kanaltal, in dessen Mitte die
alte eigentliche Klause (Chiusaforte, 1227 Zer Cluse) liegt'), die im Mittelalter
eine der wichtigsten Besitzungen der Patriarchen von Aquileja war. Weiter talab,
aber noch in den Bergen, liegt Venzone neben der Stelle, wo die Straße vom
Ploecken her in das Kanaltal einmündet, während man dann auf halbem Wege
zwischen diesem Ort und Gemona, und genau dort, wo man schließlich am
Ende des engen düsteren Tales die lichte Ebene vor sich sieht, Ospedaletto,
einem von den Patriarchen von Aquileja gegründeten Spital begegnete. Heute
laufen Straße und Bahn mitten in der Ebene weiter; der Straßenzug der alten
Zeiten hielt sich dagegen noch östlich am Bergabhang und betrat so Gemona,
recht eigentlich den alten südlichen Eintrittspunkt der durch die Ostalpen
führenden Wege. Es ist bemerkenswert, daß selbst im siebenten Jahrhundert
die Existenz dieser Stadt verbürgt ist^), und wir wissen auch, daß sich zwei
deutsche Herrscher, Konrad III. (1149) und Karl IV. (1354) einmal hier aufge-
halten haben. Im dreizehnten Jahrhundert besaß die Stadt eine Zollstätte und,
was wichtiger ist, das Niederlagsrecht^); wenn aber hier und ebenso in Venzone
auch noch heute die in demselben Jahrhundert errichteten gotischen Kirchen
die vergangene Blütezeit dieses Striches kundtun, so genügt dies doch in keiner
Weise, um den Niedergang des alten Wohlstandes zu verschleiern, der auch
hier durch den Umschwung der Verkehrsverhältnisse eingetreten ist.
Südlich Gemona in der Ebene teilt sich die Straße in zwei Richtungen,
von denen die eine, die nach Venedig zielt, nicht viel jünger als dieses selbst
sein kann, die andere, bereits aus dem Altertum stammende und nach Udine
laufende, dagegen im Mittelalter die eigentliche Lebensader des Patriarchates
Aquileja war. Wenn Udine heute besonders lebhaft den Eindruck der hoch
entwickelten und in sich geschlossenen venezianischen Kultur verkörpert, so
schaut unter diesem prächtigen Überwurf doch noch leidlich sichtbar ein älteres
Gewand hervor, das deshalb geschichtlich nicht minder Beachtung verdient, weil
es einzig an diesem Orte anzutreffen ist; denn jene Stadt war, bevor sie an
Venedig kam, zwei Jahrhunderte hindurch (1238 — 1420) der Sitz der Patriarchen
von Aquileja, die hier als Herrscher Friauls den letzten Abschnitt eines fast
tausendjährigen hochfürstlichen Daseins verlebten. Östlich von Udine liegt ab-
seits und dicht an den Bergen Cividale, das heute durch seine Erinnerungen an
die Langobardenzeit berühmt ist, wie es deren Erhaltung wohl zumeist nur jener
geschützten Lage zu verdanken hat.
Die Straße über den Pontebbapaß heißt im Mittelalter allgemein die Straße
durch den Kanal ■*), und sie tritt von Anfang an als der letzte bezl. erste Wege-
teil heraus, den die zwischen den Ostalpenländern und Italien verkehrenden
') W. P. S. 37. 2) P. D. S. 87. 3) W. P. S. 33. 4) w. P. S. 24.
Vom Pustertal bis zur Birnbaumer Straße. 267
Reisenden zu benutzen pflegten. Mit jenem Namen wurde hier das rinnenför-
mige, tief eingeschnittene Tal bezeichnet, das die nach Süden laufende Fella
von Pontebba bis Venzone benutzen muß. Zum ersten Mal erscheint diese
Alpenstraße bestiinmt in der Geschichte im Mai 1149, als Konrad III., der erste
Staufer, nach Beendigung des zweiten Kreuzzuges hier nach Deutschland herüber-
zog'); es ist dies nebenbei derjenige Staufer, dessen Name innerhalb der Römer-
züge ganz zurücktritt und der auch niemals in Verona gewesen ist. Seit diesem
Zeitpunkte folgen dann aber die Beweise für die Benutzung der Kanalstraße
rasch aufeinander; so wurde von Friedrich Barbarossa bei dem Römerzug im
J. 1158 die östlichste Kolonne, die aus den Streitkräften der Herzöge von Kärnten
und Österreich und aus ungarischen Hilfstruppen bestand, hier zum Marsche
nach der Lombardei angesetzt'), und nicht weniger spricht für die Bedeutung
dieser Linie, daß zu derselben Zeit auch die wichtigsten geistlichen Stifter in
den Ostalpen es für nötig hielten, sich rechtzeitg Mautbefreiungen zu Chiusa-
pforte sicherzustellen^), und wie wir dem vielgereisten Bischof von Passau hier
begegnet sind, so ist selbst der Schalk nicht ausgeblieben, der in der Gestalt
des als Frau Venus verkleideten Ulrich von Lichtenstein von Treviso an die
Orte am Wege mit seiner Anwesenheit beglückte, um schließlich dann am neunten
Tag in Villach „stille zu liegen""').
Diejenige Urkunde aber, die diese Straße auch als einen wichtigen Handels-
weg erkennen läßt, liegt vor in einem im J. 1234 zwischen dem Patriarchen von
Aquileja und dem Grafen von Görz geschlossenen Vertrage. Damals waren die
Einkünfte der Patriarchen am Zoll zu Chiusaforte dadurch bedroht, daß die
Kaufleute aus Österreich, Steiermark und Kärnten immer häufiger den Weg über
den Ploecken wählten und auf diese Weise „die seit langer Zeit benutzte
Straße durch den Kanal" außer Gebrauch zu kommen begann 5). Der Patriarch
vermochte damals jedoch noch erfolgreiche Gegenmaßregeln zu treffen, so daß
der Handel noch ein volles Jahrhundert hindurch über diese Straße zog; wenig-
stens warf die Verpachtung der an ihr gelegenen Zollstellen den Patriarchen in
den J. 1255 und 1279 noch recht ansehnliche Summen ab.
Es sind aber doch Kaufleute aus Siena und Florenz, denen wir dort als
Zollpächtern begegnen, und wie Venedig auf dem Festlande durch den Gegen-
satz zu dem Patriarchat Aquileja emporgekommen ist, so konnte es auch nicht
ausbleiben, daß jenes, als es am Ende des vierzehnten Jahrhunderts hier die
Arme frei bekam, auch die Zügel fester anzog und den Handel auf diejenigen
Straßen lenkte, die es auf einer längeren Strecke in Besitz hatte, und auf denen
die Transportverhältnisse infolge der von Venedig ausgehenden energischen
Fürsorge auch tatsächlich günstiger waren. Auch die Pontebbastraße hat daher
damals durch die neu entstandene Straße über den Predil, vor allem aber durch
die Ampezzaner Straße, den größten Teil ihrer Handelsbedeutung verloren.
') W. P. S. 27. 2) w. p. s. 28. ■*) W. P. S. 31. •>) W. P. S. 36. '^) W. P. S. 31 f.
268 VII. Kapitel.
Der eigentliche Reiseverkehr ist dagegen niemals von ihr zu verscheuchen ge-
wesen, und wie Karl IV. auf seinem Römerzug im J. 1354 den Pontebbapaß be-
nutzte, so ist auch das letzte Unternehmen, das wir überhaupt so nennen können,
die Reise Friedrichs III, nach Italien (1451) diesen Weg hin und her gegangen. Alte
Zöpfe hat es stets gegeben; das Wichtige und Zukunftsreiche ist dabei nur, daß
sie }etzt gerade hier hindurchgetragen wurden; denn die geschichtliche Bedeutung
Karls IV. und Friedrichs III. besteht doch viel weniger darin, daß sie Nachfolger
der Staufer sondern daß sie die Vorläufer jener Fürsten waren, die bald nach
ihnen die Herrschaft über die ganze östliche Hälfte der Alpen angetreten und
dieses weite Ländergebiet zu dem Glied eines wirklichen Reiches zusammenge-
faßt haben.
o, ,^'^ Wir mußten die Ploeckenstraße schon bei der Geschichte der Pontebba-
Ploecken-
Straße. Straße Streifen und tatsächlich gehören diese beiden Wege auch eng zusammen,
da sie südlich in dieselbe Bahn zusammenlaufen und auch nördlich von derselben
Basis ausgehen. Diese bildet ebenso das Drautal wie das Gailtal, von denen
auch das letztere in unendlich langer und gerader Linie, gleich als ob sie mit
dem Lineal gezogen wäre, von Osten her in die Berge eindringt, und in dessen
Vergangenheit daher auch die aus dieser Himmelsrichtung gekommenen Ereig-
nisse, die Einwanderung der Slaven und später die Türkenkriege, tiefe Spuren
hinterlassen haben, während das Gailtal das, was es im Mittelalter an dauerhafter
Kultur besaß, allein dem Erzstift Bamberg zu verdanken hatte. Vergleicht man
die Ploeckenstraße mit der Pontebbastraße, so muß zunächst die Zielgerechtig-
keit in der Nord-Südrichtung auffallen, durch die sich jene Straße so vorteilhaft
von der Kanalstraße auszeichnet. Ihr Nachteil liegt dagegen in der Höhe des
Überganges (Ploecken 1360, Saifnitz 800 m) und darin, daß man bei ihr auf
dem Wege von der Drau her noch einen zweiten Höhenrücken, den Gailberg-
sattel, übersteigen muß; und wenn wir nun tatsächlich sehen, daß die Ploecken-
straße neben der Pontebbastraße stets die weniger wichtige geblieben ist, so
liefert dies, ähnlich wie bei dem Splügen, ein lehrreiches Beispiel für die Zug-
kraft der mannigfachen Gründe und Nebenumstände, die der Verkehr neben
der Zielgerechtigkeit der Linien an sich in Rechnung zu stellen pflegt.
Darin aber ist die Ploeckenstraße wieder ganz und gar ein Ebenbild der
Reschenstraße, weil auch ihre Bedeutung von Anfang an ganz ungleich gewesen
ist, weil sie plötzlich fast als ein Übergang erster Ordnung erscheint, um nach-
her wieder Jahrhunderte hindurch fast unbenutzt und unbetreten ihr Dasein zu
fristen. Nachdem ihre Wichtigkeit durch den im vierten Jahrhundert hier aus-
geführten Straßenbau Valentinians ganz offen zu Tage tritt, muß sie dann auch
noch bis zum Ende des sechsten Jahrhunderts ein gebräuchlicher Reiseweg ge-
blieben sein. Fortunatus, der spätere Bischof von Tours, hat damals zu Ehren
des h. Martin ein Gedicht verfaßt, das zunächst wie viele andere gleichartige
Erzeugnisse auch nur ein Merkmal der Übergangszeit zwischen dem Altertum
Vom Pustertal bis zur Birnbaumer StraOe. 269
und dem Mittelalter darstellt, weil die in ihm enthaltene strenge kirchliche
Weltanschauung für ihren Ausdruck noch ganz auf die antike Form angewiesen
bleibt, das für die Alpengeschichte aber deshalb einzigartig zu nennen ist, weil
der Verfasser sich in ihm genauer über den Weg verbreitet, den er selbst auf
seiner Reise von Tours nach Ravenna eingeschlagen hat. Als einst dem frommen
Mann die Verse so willig aus der Feder flössen, hat er es gewiß nicht geahnt,
daß er in den Alpen, in dem Raum zwischen der Reschenstraße und der Pon-
tebbastraße, zwar nicht wegen des Feuers seiner Muße, auch nicht einmal wegen
seiner Frömmigkeit, sondern nur wegen jener eingeflochtenen Reisebeschreibung
Unsterblichkeit erlangen sollte; denn da die Ortsbestimmung des Fortunatus an
vielen Stellen zweifelhaft bleiben muß, so hat die Gelehrsamkeit der fleißigen
späteren Lokalforscher schließlich bereits jeden nennenswerten Alpenweg, der
zwischen jenen beiden Straßen liegt, schon einmal für die Reise des Fortunatus
in Anspruch genommen. Eine Tatsache kann aber auch bei ihr wenigstens als
sicher gelten, diejenige, daß Fortunatus als letzte Teilstrecke im Gebirge den
Übergang über den Ploecken benutzt hat, da er von Agunt (d. h. dicht östlich
Lienz) aus dem Drautal „in scharfer Biegung" ') hoch auf die Berge hinauf-
steigt und dann schließlich bei Osoppo nach Friaul gelangt.
An diesen Zeitpunkt schließt sich nun aber wieder eine lange, dunkle und
verlassene Periode an, bis im dreizehnten Jahrhundert, in dem sich der Handel
stürmisch und erfinderisch alle Alpenwege dienstbar machte, auch plötzlich die
Ploeckenstraße als eine beachtete und wertvolle Linie hervortritt. Hauptzeugnis
dafür ist eben jener Handelsvertrag vom J. 1234, aus dem hervorgeht, wie der
Ploeckenpaß (Mons Crucis) jetzt sogar der Pontebbastraße Konkurrenz macht-);
wie weiter als Beweis dafür, daß dieser Zustand fast zweihundert Jahre anhielt,
das Dasein einer Zollstelle in Tolmezzo im J. 1279 und besonders die Tatsache
dienen kann, daß auch die Habsburger, als sie ein Jahrhundert später in den
Besitz von Kärnten gelangten, der Offenhaltung der Ploeckenstraße denselben
Wert wie der der Pontebbastraße beilegten''). Und um allem zu genügen, so hat
auch dieser Übergang damals seinen Römerzug gesehen; denn Ruprecht von der
Pfalz zog im J. 1401 hier herüber nach Italien, wobei er sich in Mauthen und
Venzone aufgehalten haf*). Aber auch auf diese zweite Blüteperiode folgt dann
hier eine um so größere Vereinsamung, eine Erscheinung, deren Ursachen hier
kaum andere gewesen sein können, als wie sie damals auch den Niedergang
der Pontebbastraße hervorgerufen haben, die hier jedoch bis auf heute nach-
wirken. Wie man schon aus der Tatsache, daß Oberdrauburg kein alter Ort
ist^), auf die geringe Benutzung der Ploeckenstraße im früheren Mittelalter
schließen kann, so lassen auch heute noch die Orte am Wege, von Mauthen bis
Tolmezzo, jenes Aussehen vermissen, das von einer wichtigen Vergangenheit
") „rapte" Vgl. P. D. S. 38; W. P. S. 20; W. S. 63; Oei II. S. 242; B. W. S. 20. -) W. P. S. 32 f.
3) W. P. S. 43. ^) Oe. II. S. 243. -^) Kr. S. 103.
270 VII. Kapitel.
redet, wie es diesem Umstand aber auch zu verdanken ist, daß auf dem Ploecken-
übergange selbst auch heute die Römerreste um so zahlreicher erhalten sind,
und so hier für die Lokalforschung noch ein reiches und dankbares Arbeitsfeld
offen daliegt.
Die Straße Als dritte der über den südlichsten Gebirgskamm der Ostalpen laufenden
Birnbaumer Straßen, die somit sämtlich den Einflüssen des Nordlandes viel weniger unter-
Wald, worfen, an Italien dagegen um so fester gekettet sind, haben wir nun jene alte,
von Aquileja in direkt östlicher Richtung laufende Straße zu betrachten, die
nach keiner allzulangen und allzusteilen Gebirgswanderung in dem Gebiet der
Save anlangt, um sich dort in verschiedene Arme zu teilen, die sich als rechte
Landstraßen bald in der Donauebene verlieren. Wir kennen diese Straße aus
dem Altertum als eine Bahn, auf der zunächst die römische Macht zielbewußt
gegen den Osten vordrang, die jene Kräfte aber dann mit einer in das Tragische
gesteigerten Gegenwirkung nach dem Westen zurückwerfen sollte, eine Ver-
gangenheit, durch die das von jener Straße durchzogene Gebiet für alle Zeiten
zu einer der geschichtlich denkwürdigsten Stellen der Welt gestempelt worden
ist. Überblicken wir nun aber die Schicksale jener Straße im Mittelalter, so
ist es fast, als ob die Geschichte hier einmal ein Musterbeispiel dafür habe
schaffen wollen, wie sehr sich die Zeiten ändern können, und wie unberechen-
bar die Kräfte sind, die sie spielen läßt; denn, nachdem die letzten trüben
Wellen der Völkerwanderung sich verlaufen, nachdem die Ungarneinfälle auf-
gehört haben, vergehen Jahrhunderte, in denen die Weltereignisse hier achtlos
vorübergehen, und in denen auch jener Straßenzug selbst für den großen Ver-
kehr ganz abseits liegt.
Nur in einer einzigen Hinsicht bleibt diese Landschaft auch jetzt für die
Geschichtsbetrachtung lehrreich. Wer die mittelalterliche Geschichtsschreibung
von ihrer schwierigsten und undankbarsten Seite kennen lernen will, der mag in
jenen Jahrhunderten die politische Entwickelung dieser Landschaft darstellen, die,
immerhin recht umfangreich, sich von Aquileja bis nach Landstraß und Pettau
und von den Quellen der Save bis nach Istrien hin ausdehnt. In diesem welt-
fernen Gebiet, das die Begehrlichkeit der Mächtigsten weniger reizen konnte,
und das in jenen Zeiten darum auch niemals die Regententätigkeit eines großen
Herrschers auf sich gelenkt hat, sehen wir nun um so ausgesprochener einen
Tummelplatz der Größen zweiten und dritten Ranges, ein zügelloses Durchein-
ander der verschiedensten Gewalten vor uns, die eine die andere verschlingen
und trotzdem in veränderter Form neu entstehen. Neben dem bodenständigen
Patriarchat von Aquileja treffen wir vorübergehend und weit verstreut die Stifter
Salzburg in Krain, Brixen bei Görz, Freising in Istrien'), von weltlichen Gewalten
leben und vergehen dagegen die Markgrafen von Friaul, die Grafen von Görz
und die Markgrafen von Istrien^), und unter diesen die Herren von Salcano und
') Kr. S. 85, 88, 115. 2) Kr. S. 86, 87, 85.
I
Vom Pustertal bis zur Bimbaumer Straße. 271
Duino'), während die Save abwärts die Herzöge von Kärnten vordringen und
weiter östlich die Grafen von Cilii emporkommen. Es ist eine bunte und aus
allen Richtungen der weiten Nachbarschaft gekommene Gesellschaft, eine Blüten-
lese mächtiger Geschlechter, die wir hier auf und ab wogen sehen; sind doch
die Grafen von Görz nur ein Zweig des alten Grafengeschlechtes aus dem Fuster-
tal, und unter der Markgrafschaft Istrien begegnen wir im zwölften Jahrhundert
nichts anderem als einer jener ungezählten Besitzungen der Andechser Grafen,
deren Schwerpunkt, wie wir wissen, jedoch durchaus in Tirol lag, und die nur
von diesem Küstenstrich (Mairania) ihren Titel als Herzöge von Meran führten,
eine Haut, die demnach leicht eine falsche Vorstellung von diesem Geschlecht
erweckt, aus der es aber bis an das Ende aller Dinge nicht mehr herauskann.
Wenn um die Wende des Jahrtausends die alte Birnbaumerstraße als Straße
der Ungarn in den Urkunden eine ganz gebräuchliche Bezeichnung ist-), und die
von ihr gezogene Furche auch jetzt noch immer das beste Mittel für die Grenz-
bestimmung abgeben muß, so weist dies ebenso auf die große Vergangenheit
dieses Straßenzuges wie darauf hin, wie tief sich dessen Spuren in der Landschaft
eingeprägt hatten, und daß er auch damals noch das Rückgrat der ganzen Gegend
bildete. Besonders auf der italienischen Seite steht hier noch während der ersten
Hälfte des Mittelalters ganz der alte Rahmen aufrecht, aber doch so, daß er je
länger je mehr in sich selbst zusammenfällt. Concordia ist noch 1137 eine
Bischofsstadt''); in Aquileja aber sitzen die Fatriarchen und hier geht zunächst
auch noch der aus dem Orient kommende Seeweg in den Landweg über"*). Weiter
östlich am Rande der Berge steht im J. 1001 noch Salcano aufrecht, aber wichtiger
als dieses erhebt sich wenig südlich davon Görz, der Ort, „der slavisch Goriza
heißt" ^), als eine Pfalz seiner Grafen, die später sogar einmal in der Reichs-
geschichte von sich reden machen, als Albert IL von Görz neben Rudolf von
Habsburg als Thronkandidat auftrat. Auf der Strecke zwischen Görz und Laibach
ist im Mittelalter dagegen weit und breit nur der Ort Wippach nachweisbar^),
und über jener römischen Alpenstraße, die einst mit dem ausgedehntesten und
vollendetsten Befestigungsapparat umgürtet war, lag bereits damals wie jetzt, wie
hohes grünes Moos über einer alten beschriebenen Steinplatte, nur ein weites
Waldgebiet gebreitet. Es veranschaulicht die Vereinsamung dieser Straße, wenn
wir im Mittelalter hier im Bereich des Überganges keiner Hospizgründung, keiner
Straßenfeste begegnen. Auf den Trümmern des Römerkastells bei Hrusica hat
damals nur eine heute längst verschwundene Kapelle der h. Gertrud gestanden, ein
Heiligenname, aus dem sich jedoch auch keine Schlüsse auf irgendwelchen
Durchgangsverkehr ableiten lassen.
So ist auch die mittelalterliche Lebensader Laibachs durchaus nicht wie
vorher diese von Westen herankommende Straße sondern vielmehr die nördlich
') Kr. S. 116. ■?) W. P. S. 20; Kr. S. 86. ^ Annalista Sa.\o. J. 1137. ^) O. F. S. 44
5) Kr. S. 86. b") Kr. S. 1 10.
272 V- Kapitel.
der Save herantreibende deutsche Kolonisation gewesen. Auch Laibach feiert
seine Auferstehung als eine Pfalzburg weltlicher Dynasten. Wichtig ist aber vor
allem ein Vergleich der ersten urkundlichen Erwähnung des Ortes um 1144 mit
derjenigen von Villach vom J. 877, weil man daraus ungefähr ablesen kann, in
welch' langsamen zeitlichem Tempo die deutsche Kolonisation damals hier nach
Südosten vorgedrungen ist. Im dreizehnten Jahrhundert steht dagegen auch in
Laibach der ganze städtische Apparat fertig vor uns'), das Schloß, die im Besitz
auswärtiger Klöster befindlichen Höfe, die deutschen Bürgernamen mit ihren
verschiedenen Berufsarten und besonders auch das Haus einer Kommende des
deutschen Ordens daselbst (1228), dessen Anwesenheit übrigens darauf schließen
läßt, daß damals jene ganze kolonisatorische Bewegung hier noch durchaus im
Vorschreiten begriffen war. Die östlichsten Punkte, mit denen wir uns hier noch
zu beschäftigen haben, liegen dann meilenweit entfernt südlich in Landstraß und
nördlich in Cilli und Pettau. Es kann keinen lebensvolleren mittelalterlichen
Ortsnamen geben als dieses Landstraß d. h. Landestrost an der Grenze der un-
verbesserlichen kroatischen Welt, wo wir hier im J. 1234 dieselbe Entwickelung,
wie sie ein halbes Jahrtausend vorher überall am Nordabhang der Berge statt-
gefunden hatte, sich im kleinen wiederholen und vor allem andern ein Kloster
entstehen sehen, das, wie seine wirtschaftliche Fundierung zeigt, für sein Be-
stehen nur auf die Kräfte in seiner nordwestlichen Nachbarschaft angewiesen war 2).
In Cilli und besonders in Pettau haben wir dagegen den seltenen Fall vor uns,
daß die deutsche Herrschaft hier bei ihrer Ankunft noch das antike Gehäuse
für ihre Zwecke verwenden konnte. Als mittelalterlichen und deutschen Ort
sehen wir Cilli im J. 1185, während auf Pettau direkt von Norden, vom Murtal
aus, durch die damalige Vormacht der Ostalpen, Salzburg, schon viel früher die
Hand gelegt worden ist^).
') Kr. S. 107, 109, HO. 2) Kr. S. 106, 107, 113. 3» ju. S. 257; Kr. S. 99, 98.
VIII. Kapitel.
Die Salzburger Maciitsphäre.
Als das Herzstück des mittelalterlichen Verkehrsnetzes der Ostalpen, aber Das Innere
doch nur als ein solches, dem es schwer Fällt, den ganzen Körper zu speisen '■"•^"^■
und recht zu beleben, kann jener Landstrich betrachtet werden, der sich südlich
vom Ossiacher- und Wörthersee, die Täler der Glan, Gurk und Olsa ein-
schließend, bis nördlich zu dem Sattel von Neumarkt hinzieht. Es ist auch jetzt
wieder die tiefgehende Verschiedenheit mit dem römischen Altertum, die sich
bei einer Betrachtung jener Landschaft vor allem andern aufdrängt; zur Römer-
zeit, als hier das Dasein Virunums alles regelte und beherrschte, und im Mittel-
alter, als von diesem jede Spur verschwunden ist, aber nun farbenreich und an-
mutig, wie in einem Garten, der zu allem dienen muß, Kirchen und Klöster,
Burgen und Städtchen nebeneinander emporwachsen. Wenden wir von hier den
Blick nach Osten und Süden, nach dort, von woher im Altertum wichtige Ver-
bindungen in jene Gegend hereinführten, so ist die Geschichte des unteren
Drautales im Mittelalter zunächst nur eine unwichtige lokalgeschichtliche Episode,
in der, wie bei hundert anderen im deutschen Osten, das Vordringen der deut-
schen Kultur den größten Raum einnimmt. Völkermarkt ist zwar bereits um
1100 ein Volchinmercatus; der Markt Unterdrauburg wird dagegen erst 1237
angeführt'), und selbst Klagenfurt kann nur unter jenem Gesichtspunkt betrachtet
und nicht eigentlich als die Tochter sondern nur als die Enkelin Virunums ange-
sehen werden; denn es sagt genug, daß diese Furt an der Glan im J. 1213 immer
noch nichts anderes als „Stadibauern" zu Bewohnern-) und, wie auch heute der
Augenschein zeigt, nicht das geringste mittelalterliche Gepräge an sich hat.
Auch der Weg, der südlich von Klagenfurt über den Loiblpaß führt, kann mit
wenigen Worten abgetan werden. Auch hier sehen wir eine langsam vorschrei-
tende und durchaus kirchliche Kulturarbeit vor uns, wenn im J. 1143 an dem
nördlichen Fußpunkt dieses Weges das Crsterzienserkloster Victring entsteht,
') Kr. S. 103. 2) Kr. S. 101.
Scbcffcl, Verkebrsgeschicbie der Alpen. 2. Btnd. |g
274 VIll. Kapitel.
dessen Mönche von weither, aus Villars in Frankreich, bezogen wurden '), wenn
ein Jahrhundert später auf dem Passe selbst das Hospiz mit seiner Leonhards-
kirche erscheint, und wenn schließlich im vierzehnten Jahrhundert dann auch
südlich des Passes Neumarktl als novum oppidum auftaucht').
Eine gute Illustration, in welcher Richtung im Mittelalter der Weg von
Villach aus nach Norden weiterführte, bietet uns auch hier wieder eine Reise
jenes Bischofs Wolfger von Passau, der einst hier entlang des Ossiachersees über
Feldkirchen nach Friesach und dann weiter zog^). Wenn überhaupt in jener Zone
ein wichtiger Ort genannt werden soll, so kann dies bis in das dreizehnte Jahr-
hundert nur S. Veit sein, das damals die Pfalz der Herzöge Kärntens war'*) und
wo auch im J. Il49 Konrad III. durchgezogen ist. Wirkliche mittelalterliche
Straßengeschichte, nicht weniger reichhaltig, wie sie sonst nur an den belebtesten
Nordsüdlinien der Alpen zu finden ist, tritt uns dagegen plötzlich in Friesach
entgegen. Wir kennen diesen Punkt, an dessen Alter (928) in jener Periode
kaum ein anderer in den inneren Ostalpen heranreicht, bereits als einen Besitz
der Salzburger Erzbischöfe, an deren Herrschaft hier nun zunächst auch alles und
jedes innen und außen erinnert; außen das erste Dominikanerkloster Kärntens
und das Stift Virgilienberg (1232)^) und nicht minder die Schlösser, vor allem
Petersberg, das auch eine salzburger Münzstätte einschloß, dann aber auch die
Gründung des Ortes als Stadt selbst durch Erzbischof Konrad I. um 1125, mit
der zugleich die Entstehung eines Hospizes verbunden war^). Wenn dieses
Hospiz dann aber um 1215 in den Besitz des deutschen Ordens gelangt und
dessen Kommende für ganz Kärnten in Friesach ihren Halt findet, so fühlen
wir darin nur den Pulsschlag des Verkehrslebens, wie wir ja auch Konrad III.
am 15. Mai 1149 hier wiederantrefi^en können und wahrscheinlich auch Friedrich II.
(1235) und Karl IV. (1368) durch Friesach gezogen sind''). Zu Anfang des drei-
zehnten Jahrhunderts hat übrigens einmal hier eines der größten Turniere, von
denen wir überhaupt wissen, stattgefunden, während die spätere Bedeutung der
Stadt als Handelsplatz heute noch ohne weiteres an dem Aussehen der großen
Wohnhäuser und der alten Gasthöfe erkenntlich ist.
Indessen verlohnt es sich doch auch hier in die Urkunden selbst hinabzu-
steigen, weil wir in dem Leben und Treiben dieser jungen städtischen Ansiede-
lung während des zwölften Jahrhunderts wie im Spiegel ein Bild der Kultur-
entwickelung vor uns haben, wie sie damals in den Ostalpen geradezu vorbildlich
gewesen sein muß. Es sind zunächst nichts anderes als deutsche Vornamen mit
ihrem alten Klange, die uns hier bei den Bürgern begegnen, für deren weiteres
Signalement nun aber, weil sie schon nichts weniger als Exemplare ihrer Gattung
geworden sind, auf ganz drastische Beinamen zurückgegriffen werden muß. Auch
mannigfache Gewerbe, u. a. der Bergbau, sind vertreten; die Hauptrolle spielt
') Kr. S. 80. 2) Kr. S. 103, 114. -') Oe. II. S. 263. «) Kr. S. 101. ?) Kr. S. 56, 100.
6) Oe. II. S. 267. 'O Oe. II. S. 275, 277.
Die Salzburger Machtsphäre. 275
aber immer noch die verschiedene Stammesart dieser Leute; aus Würzburg und
Köln, aus Sachsen und Schwaben, von allen Enden des deutschen Landes sind
sie hierher gekommen, ein Zug, wie er für diesen Boden so besonders
charakteristisch ist ').
Da wir nun aber bereits hier in Friesach so deutlich den Einfluß Salz- f^'e Stadt
burgs walten sehen, so muß uns dies um so mehr in Erinnerung bringen, daß im ^/vi'it'telalter.
wir jetzt in jener Zone angelangt sind, die im Mittelalter vorwiegend von dieser
Voralpenstadt abhängig war, und die sich südlich bis nach Kärnten und west-
lich und östlich vom Zillertal bis nach Admont hin ausbreitete. Wenn es nicht
auch die Geschichte selbst, einwandfrei und zweifellos, erzählte, so würde doch
schon die Art, wie die Sage, ganz so farbenreich und ganz so deutsch, über
Salzburg gelagert ist, den Schluß rechtfertigen, daß im Mittelalter eine große
und berühmte Vergangenheit, ein bewegtes und echt deutsches Leben an diesem
Orte vorübergegangen ist. Und es ist auch nichts weniger als eine falsche Vor-
stellung, wenn man annimmt, daß einst auch das Städtebiid Salzburgs ganz dem
jener alten deutschen Städte wie Speier und Regensburg geglichen haben mag,
als sich die alten noch heute stehenden Kirchen hier an derselben Stelle aber
in reinem romanischen Stile erhoben, als aber auch zugleich die Salzburger
Bischöfe oft genug fern von ihrer Stadt weilten, um an der Ostgrenze des Reiches
oder im Gefolge der deutschen Herrscher selbst auf die große Politik ihren
Einfluß geltend zu machen.
Ein ganz anderes Gesicht ist es dagegen, das Salzburg heute zeigt, ein
Ausdruck, der zwar auch das Eine, Wesentliche besonders treu festgehalten hat,
daß hier die ganze Vergangenheit, alle Macht und Herrschaft allein der Kirche
gehört, der aber, so geschlossen und charakteristisch er auch vor uns steht, doch
ganz und gar das Produkt einer andersgearteten und viel späteren Kulturperiode
ist. Dies hat es aber auch verursacht, weshalb Salzburg von dem, was es einst
im Mittelalter so groß und mächtig gemacht hat, heute nur die allergeringsten
Erinnerungen in sich schließt. Zu greifen sind sie nur an den Resten der
Kleinkunst, an Kirchenportalen und Wandmalereien, aber man vermag sie doch
nachzufühlen, jene Zeit des mächtigen mittelalterlichen Kirchenfürstentums, wenn
man in Betracht zieht, daß die enge räumliche Verbindung zwischen Kirche und
Bischofshof ein charakteristisches Merkmal der mittelalterlichen Bauweise war,
und wenn daher heute noch die Räume der dortigen Residenz unmittelbar mit
zwei großen Kirchen in Verbindung stehen, wenn man von jener mittelst weniger
Schritte den Chor der Franziskanerkirche betreten und nun in das Innere dieses
Gebäudes hinabblicken kann, das gerade von dieser Stelle aus seine gewaltige An-
lage und seinen mittelalterlichen Ursprung am allerdeutlichsten zu erkennen giebt.
Der Höhepunkt der Salzburger Geschichte ist das Jahrhundert von 1077
bis zur Zerstörung der Stadt unter Friedrich Barbarossa (1167), und es beginnt
') Kr. S. 101.
18»
276 VIII. Kapitel.
mit der Erbauung der Feste Hohensalzburg, die deshalb ein außergewöhnliches
Unternehmen bedeutet haben muß, weil auch schon den Zeitgenossen die Stärke
dieser Befestigung auffiel '). So wie dieser Bau heute vor uns steht, gehört er
freilich ebensowenig wie alle anderen geschichtlichen Baudenkmäler Salzburgs
dem Mittelalter an; seinen ursprünglichen Charakter hat er jedoch insofern nicht
eingebüßt, da er stets vor allem als Festung und erst in zweiter Linie als Wohn-
sitz der Bischöfe diente, und daher auch ihm, wie allem anderen, was in Salz-
burg Geschichte atmet, von Anfang an der Saum des Frauengewandes gefehlt
hat. Die älteste mittelalterliche Gründung ist dagegen auch hier, wie schon der
Name anzeigt, das Stift S. Peter, das bis zum J. 1110 zugleich die Wohnung
der Bischöfe einschloß, die übrigens wie ihre Nachbarn in Brixen auch seit 976
in Regensburg einen Hof als ihr Absteigequartier besaßen. Der Aufschvv'ung
Salzburgs während des zwölften Jahrhunderts zeigt sich dann besonders in der
Wiederaufnahme des Salzbergbaues in Hallein, der von nun an eine unversieg-
bare Einnahmequelle der Bischöfe bildete, und in der Entstehung von zwei
Hospizen in der Stadt selbst (1126, 1143)2), g^gr wie bei Regensburg, so wiesen
auch hier die Verkehrsbeziehungen während der Hauptzeit des Mittelalters
ebensosehr nach dem Osten wie südlich nach den Alpen hin. Von den deut-
schen Herrschern hat einmal im J. 1149 Konrad III., als er von einem Kreuz-
zuge zurückkehrte, in Salzburg Pfingsten gefeiert, während sein nächstes Ziel
damals auch nur Regensburg sein konnte-').
Die Straße Wenn wir uns nun nach den Verbindungen umsehen, die von Salzburg
Über den
Radstädter "äch Süden Über die Alpen hinüber nach Italien führen, so kann man sofort
Tauern. bemerken, wie hier nach dieser Richtung hin ebenso der zerteilte und unüber-
sichtliche Bau der Ostalpen wie die verhältnismäßig große Höhe der Tauern
durchaus ihren Einfluß gellend machen; denn so viele Paßwege auch diese
lange Kette überschreiten, so ist doch nur ein einziger derselben, der über den
Radstädter Tauern, so beschaffen, daß er in früheren Zeiten annähernd die Be-
stimmung einer Teilstrecke einer durch die Alpen von Nord nach Süd laufenden
Straßenrichtung erfüllen konnte. Es ist dies dieselbe Linie, die wir bei Friesach
verlassen haben, die während des Mittelalters tatsächlich für die Reisen von
Salzburg nach Aquileja oder Venedig zumeist benutzt worden ist, und auf deren
nördlicher Hälfte man nun damals auch an allen wichtigen Punkten die Herr-
schaft der Salzburger Erzbischöfe zu fühlen bekommen konnte. Im zwölften
Jahrhundert sagten die Leute der Salzburger Bischöfe von der Burg Werfen im
Salzachtal mit Stolz, „daß den Reisenden durch ihren Anblick ein unerbittliches
Halt zugerufen wurde"; es ist aber nicht weniger bezeichnend, daß sie dabei
nur solche Reisende im Auge haben, „die nach Kärnten oder ins Pongau oder
ins Pinzgau ziehen wollen"^).
Zielgerecht und wie geschaffen als enge Straßenrinne durchschneidet das
1) La. S. 304. 2) Oe. II. S. 273. 3) Oe. II S. 275. 4) Oe. II. S. 272.
Die Salzburger Machtsphäre. 277
Salzachtal zunächst den nördlichsten Gebirgswall, ein Straßenteil, der daher bis
Bischofshofen so eng wie nur möglich mit Salzburg verwachsen ist, und dessen
Punkte somit auch zum Teil ebensofrüh wie dieses selbst an das Tageslicht
treten. Eine sehr alte, aber etwas anrüchige Vergangenheit hat Golling aufzu-
weisen, da es früher (1384) Galigen hieß und von nichts anderem als von Galgen ')
herkommt. Die Spuren einer weltlichen Herrschaft führen hier übrigens zunächst
nach Kuchl (710 Cucullae) als den Sitz der karolingischen Gaugrafen hin; es ist
aber auch hier derselbe Vorgang wie in Bünden und Innertirol; in der nächsten
Nachbarschaft der bodenständigen Bischöfe verflüchtigt sich und verschwindet
sehr bald diese heimatlose Instanz-). Der Sitz der bischöflichen Macht an dieser
Strecke wird dagegen vor allem Werfen, die im J. 1077 enstandene Straßenburg,
deren Erbauer, Erzbischof Gebhard, auch dort im J. 1088 gestorben ist, und an
deren Fuße bald auch ein Burgflecken gleichen Namens entstand. In die Tätig-
keit der damaligen Bischöfe kann man aber gut hineinblicken, wenn dieser Ort
nun sogleich auch mit Zoll- und Marktrecht ausgestattet und mit Herbergen und
Handelshäusern versehen wird^).
Es kann jedoch kaum für die Bedeutung der Radsiädter Tauernstraße sprechen,
wenn im zwölften Jahrhundert hier auf der Paßhöhe nur eine Kapelle"*), und erst
viel später (1562) ein wirkliches Hospiz zu finden ist, so oft auch die Salzburger
Bischöfe sonst auf ihren Reisen nach und von Kärnten diese Straße betreten
haben müssen; zwei derselben, Konrad I. (1147) und Eberhard II. (1246) sind
übrigens auf diesem Wege selbst gestorben '^). Radstadt (Radistadt) ist dann im
j. 1296 einmal von Herzog Albrecht von Österreich, wenn auch erfolglos, belagert
worden '5); man sieht also, wie jetzt auch die Punkte an jenem Straßenteil für
einen wertvollen Besitz zu gelten anfangen.
Nicht so früh und nicht so mühelos ist dagegen die Herrschaft Salzburgs Das Pinrgau
in die weiten Gebiete des Pinzgaues vorgedrungen. Es ist richtig, daß wir in zniertat.
den letzten Jahrhunderten des Mittelalters den ganzen Pinzgau fest und sogar
das Zillertal einigermaßen an Salzburg angegliedert sehen; aber vorher hat doch
gerade in diesen, damals dem großen Verkehr ganz abgewendeten Tälern auch
die Hand Bayerns über die vielen kleinen Dynasten hinweg noch am längsten
bis tief in die Berge hineingereicht. Der Weg durch das Pinzgau und über
die Gerlos hinüber ist jedenfalls im Mittelalter von denjenigen nicht selten be-
nutzt worden, die von Salzburg nach der Brennergegend oder nach Verona
reisen wollten. Auf diesem Wege zog im J. 1162 der Erzbischof von Salzburg
nach Verona zum Kaiser"); auch Karl IV. selbst hat die Gerlos überschritten,
und das im J. 1189 in Zell a. Z. entstandene und von Salzburg aus gegründete
Hospiz zeigt besonders deutlich jenes Verkehrsbedürfnis an. Es muß aber
trotzdem auffallen, daß das Zillertal (Ciristal) auch heute noch im Vergleich zu
') Sa. L. XXI. S. 2. 2) Sa. L. XXI. S. 10. S) Sa. L. XXI. S. 34. ") Qe. II. S. 272. ?) Oe. II.
S. 274. 6) vict. S. 114. ")0e. II. S. 273.
278 Vm. Kapitel.
seiner ganzen Nachbarschaft einen ganz anderen Charakter aufweist, hier, wo
alle Burgruinen fehlen, und wo die Ortsnamen fast sämtlich nur einen rein-
deutschen aber wenig inhaltreichen Klang haben, und es ist auch Tatsache, daß
vor allem die Ausläufer des ZiUertales noch bis tief in die neue Zeit hinein ein
ganz und gar abgelegenes Stück Welt gewesen sind.
Die Hohen Von den zahlreichen Übergängen aber, die westlich der Radstädter Straße
■ die Tauernkette überschreiten, hebt sich im Mittelalter zunächst derjenige über
den Velber Tauern neben seinen beiderseitigen Nachbarn, dem Krimmler und
Kaiser Tauern, wie demjenigen von Heiligenblut durchaus als der bei weitem
wichtigste heraus, wie dies in den Burgen und alten Kirchen an der nördlichen
und südlichen Schwelle jenes Weges, in Mittersill und Windischmatrei, und
nicht zuletzt auch dadurch vor Augen tritt, daß Salzburg schließlich eben allein
diesen Übergang in seiner ganzen Ausdehnung bis nach Windischmatrei hinüber
an sich gebracht hat, während sich vorher auch hier eine Ausstrahlung bayri-
schen Einflusses in der Linie Kitzbühel, Mittersill, Windischmatrei bis nach
Lienz herab beobachten läßt. Wenn dann weiter, wie schon im Altertum, auch
die beiden aus dem Mallnitzer Tal in die Rauris bezl. nach Gastein führenden
Tauernübergänge die Spuren mittelalterlichen Verkehrs zeigen, so hatte dies je-
doch auch damals seinen Grund nicht in der Ferne, sondern an Ort und Stelle,
in dem Bergbau. Aus der Gründungszahl 1489 des Hospitzes in Gastein läßt
es sich erkennen, daß dieser hier erst am Ende des Mittalters wieder in Auf-
nahme gekommen ist, derart, daß er wie aller rasch erworbener Reichtum die
Lebensbedingungen dieser Gegend plötzlich von Grund aus umgestaltete, um
dann aber auch nach seinem Versiegen nur desto vergrämtere Züge in der
Gegend zurückzulassen. Eine andere, noch vollständig zu den Tauern gehörige
Teilstrecke ist ferner der aus dem Murtal über Rennweg und Gmünd nach
Spittal im Drautal führende Übergang. Die Begangenheit dieses Weges im
späteren Mittelalter wird durch jenes im J. 1191 von den Grafen von Ortenburg
im Einverständnis mit Salzburg gegründete Hospiz bezeugt'). Auch das am
Zusammenfluß der Liser und Malta gelegene Gmünd selbst erscheint als ein
alter Ort^); nicht weniger wichtig ist es aber, daß das dortige Schloß den Erz-
bischöfen von Salzburg gehörte, und da ebenso weiter nordöstlich, im Schlosse
Moosham bei Tamsweg, auch an dieser südlichen Schwelle der Radstädter
Tauernstraße die Pfleger Salzburgs ihren ständigen Sitz hatten, so sehen wir
hier während der letzten Jahrhunderte des Mittelalters in einem Teile der Alpen
wieder dieselbe Erscheinung vor uns, wie eine selbstbewußte Herrschaft es
verschmäht, die hohen Gebirgskämme als ihre Grenzen hinzunehmen, sondern
ihre Überlegenheit dadurch zum Ausdruck bringt, daß sie jene an den wich-
tigsten Punkten, an den Straßenübergängen, weit in das jenseitige Gebiet hinein-
treibt.
1) Oe. 11. S. 271. 2) Kr. S. 103.
IX. Kapitel.
Das Ennstal und das Murtal bis zum Semmering.
Wenn wir nun die späteren Schicksale der großen römischen Straße in das Die Wege
Auge fassen, die ihren Weg aus Venetien durch Norikum nach Lauriacum und '^}'." •*'*
° ' " Niederen
der Donau suchte, so können wir an ihnen besonders gut die Art erkennen, wie Tauern.
sich das Verkehrsleben in den Ostalpen während langer Jahrhunderte des Mittel-
alters geltend zu machen pflegte; denn einen eigentlichen Straßenzug haben wir
jetzt hier überhaupt nicht mehr vor uns, sondern nur eine Verkehrsrichtung, in
deren einzelne Glieder auf ganz verschiedene Weise und zu ganz verschiedenen
Zeiten neues Leben hineinfließt, und die daher auch nur in einem bestimmten
Maße zu einander in Beziehung stehen. Es ist zunächst derselbe Übergang, der
über den Neumarkter Sattel, den auch diejenigen benutzen mußten, die im
Mittelalter nicht nordwestlich nach Salzburg, sondern auch in direkt nördlicher
Richtung nach Wels und Enns gelangen wollten, ein Übergang, dessen damalige
Wichtigkeit auch in den dortigen Burgruinen ganz deutlich vor Augen tritt.
Heute verdankt das ganze Straßennetz nördlich und östlich dieses Überganges
allein dem beherrschenden Willen Wiens seinen Ursprung, derart, daß die für
jene Zentrale unwichtig gewordenen Linien jetzt fast völlig verödet liegen. Aber
nicht einmal die Straße über den Kottenmann, die vorher für die Verbindung
von Süd nach Nord lange Jahrhunderte in Gebrauch war, zeigt hier die früheste
und wichtigste mittelalterliche Straßenrichiung an; denn diese ging nicht dort
herüber, sondern sie verließ das Murtal sogleich wieder, um in direkt nördlicher
Richtung auf Oberwölz und S. Peter zu laufen und dann über die Sölker Scharte
in das Ennstal hinabzusteigen ').
So liegt denn auch hier, in diesem jetzt so stillen Tale, ein bezeichnendes
Stück alter Geschichte vor uns, und wir können in dessen Vergangenheit heute
auch einigermaßen jene zugkräftigen Erscheinungen wiederfinden, denen wir sonst
an den großen mittelalterlichen Alpenstraßen begegnet sind. Da eben Oberwölz
') Oe. II. S. 267.
280 IX. Kapitel.
(Weliza) selbst nur an diesem Wege und ein ganzes Stück abseits des Murtals
gelegen ist, so muß es als eine ebenso auffallende wie wichtige Tatsache gelten,
daß wir bereits im J. 1007 das Bistum Freising in dem Besitz dieses Punktes
und in dem des ganzen Tales antreffen, das hier zur Sölker Scharte hinaufführt.
Diejenige Macht, die zuerst die friedliche Durchdringung der Ostalpen in die
Hand genommen hat, ist Freising gewesen. Wenn nun aber hier in der Nachbar-
schaft, und u. a. auch am Rottenmann, sich fast zu derselben Zeit das neu-
gegründete Bistum Bamberg festsetzt '), so kann man hieran ebensosehr den Eifer
erkennen, der jener ganzen Bewegung innewohnte, zugleich aber auch selbst in
diesen abseits liegenden Gebieten fast ein ähnliches freundnachbarliches Ver-
hältnis voraussetzen, wie es folgenreicher und einschneidender in jener Periode
auch an den bündner Straßen zwischen Pfäfers und Chur zu beobachten war.
Daß dieser ganze Straßenteil aber einst tatsächlich eine besondere Bedeutung
gehabt haben muß, das verkünden auch heute noch das durchaus stadtartige
Aussehen von Oberwölz mit seinen Mauern und seiner mittelalterlichen Spital-
kirche, sowie die Burgen in der Umgebung des Ortes, die uns dann auch in
besonders großer Anzahl wieder an der nördlichen Ausmündung dieser Linie,
bei Gröbming im Ennstal, entgegentreten, und ebenso suchen wir auch hier wie
dort nicht vergebens nach jenen Ortsnamen, wie sie überall in den Alpen von
einer bis tief in das Mittelalter hinaufreichenden Vergangenheit Zeugnis geben
(südlich Althofen, S. Peter; nördlich Stein a. d. E., S. Martin u. a. m.).
Es ist zu bemerken, daß auch jener Handelsvertrag zwischen Görz und
Aquileja vom J. 1234, den wir schon kennen und der sich in erster Linie mit
den Straßen über die Karnischen Alpen beschäftigt 2), neben anderem von einem
ganz bestimmten Strom des Handelsverkehrs redet, der sich damals in alt-
gewohnter und sicher vorgezeichneter Bahn nicht etwa von Osten aus dem
Murtal sondern allein von Norden her über Niederwölz bewegt haben muß.
Da aber hier nicht Oberwölz, sondern nur das südlicher, an der Mur selbst
gelegene Niederwölz namhaft gemacht wird, so kann man freilich für jenen
Handelszug neben dem Weg über die Sölker Scharte ebensogut auch den über
den Rottenmann in Anspruch nehmen; die Tatsache bleibt aber doch bestehen,
daß damals östlich der Straße über den Radstädter Tauern hier jedenfalls auch
über die Niederen Tauern ein belebter und ausgetretener Weg geführt haben muß.
Allzugroß kann aber trotzdem die Bedeutung der Straße über den Rotten-
mann im eigentlichen Mittelalter nicht gewesen sein; dies geht aus dem ganzen
Aussehen dieser Strecke, wo die Burgen und auch die alten Hospizanlagen
fehlen, und besonders daraus hervor, weil damals der südliche Fußpunkt dieser
Straße, Oberzeyring (Wenge), neben Oberwölz ganz in den Hintergrund tritt^).
Wichtig sind an dem Wege über den Rottenmann nur die vielen nach Heiligen
benannten Ortsnamen, und sie zeigen es daher auch hier wieder an, wie die
') Kr. S. 84. 2) W. P. S. 31. i) Kr. S. 96. A. 227.
Das Ennstal und das Munal bis zum Semmering. 281
Erschließung des Innern der Ostalpen fast ausschließlich der Tätigkeit der mittel-
alterlichen Kirche zu verdanken ist. Es ist aber noch durchaus keine Straßen-
politik, sondern zunächst nur die reinste Kolonisationsarbeit, die sich gerade
dort geltend machen konnte, wo die Enns mit allen ihren Nebenflüssen das Das Ennstal.
Gebirge durchfließt, und der heutige Name Windischgarsten wie die Tatsache,
daß der slavische Name Cirmina erst seit der Wende des zwölften Jahrhunderts
dem deutschen Rotienmann Platz macht, lassen es erkennen, daß der Boden für
jede bleibende Erwerbung hier vorher erst der Slavenwelt abgewonnen werden
mußte. Hieraus erklärt sich nun aber auch der verhältnismäßig späte Beginn
dieser Entwickelung; denn wenn nördlich in der Ebene Kremsmünster seine
Tätigkeit schon dreihundert Jahre früher begonnen hatte, so fällt die Gründung
von Admont doch erst in das Ende des elften Jahrhunderts; zu gleicher Zeit
erscheint auch der Ort Lietzen in der Nachbarschaft') und ebenso, 1082, das
Stift zu Windischgarsten. 1138 entsteht S. Gallen, und erst nach geraumer Zeit
stellt sich auch hier ganz folgerichtig der Verkehr selbst ein, dessen Vorhanden-
sein nun im J. 1190 die Gründung eines Hospizes am Fuße des Pyhrn zur Folge
hat. Man sieht aber doch, wie jung und hilfsbedürftig selbst damals noch hier
die Kultur gewesen sein muß, wenn das Wesen dieses Spitals dadurch charak-
terisiert wird, daß es an den äußersten Grenzen Norikums liegt, und daß der
Erzbischof von Salzburg und der Bischof von Bamberg sich die Bruderhand
reichen müssen, um dieses Werk überhaupt zu stände zu bringen^).
Der Verkehr aber, der jetzt auch den nördlichsten Abschnitt jener alten
Nordsüdlinie wieder zu beleben sich willig zeigt, konnte auch damals als sein
letztes Ziel nur die Donauebene betrachten. Dort ist Enns als der Erbe des
alten Lauriacum auch während des eigentlichen Mittelalters kein unbedeutender
Ort gewesen, aber doch vor allem deshalb, weil an ihm der Donauhandel vor-
überzog, während Steyer als eine Pfalzburg stets nur der Mittelpunkt eines
mittelalterlichen Herrschaftsgebietes blieb. Es sind schon einige Ansätze einer
größeren Zukunft, die im zwölften Jahrhundert schließlich auch hier, auf dem
Boden des heutigen Oberoesterreich, in die Erscheinung treten, eine Entwickelung,
die jedoch durch den im J. 1192 erfolgten Anfall dieses Landes an die oester-
reichischen Babenberger auf einmal durchschnitten wurde. Für die Herren
Wiens war es aber dann eine nicht schwer zu erkennende und nicht schwer zu
lösende Aufgabe, wenn sie die zwischen Enns und den Neumarkter Sattel lau-
fenden Fäden von dort hinwegzulenken und mit ihrer eigenen Hauptstadt zu
verknüpfen suchten.
Nicht so sehr als Straßenzug, aber als abwechselungsreiches Kulturgebiet Das Murtal.
behauptet in der Geschichte das Tal der Mur seine Rolle. Dieses beginnt im
Westen im engen Murwinkel, in den noch die weißen Gipfel der Hohen Tauern
hinabschauen, um von dort in unendlich langer, wenn auch einigermaßen ge-
') Kr. S. 75, 96. 2) Oe. II. S. 268.
282 IX. Kapitel.
wundener Linie bis Brück, oder, wenn man Wasser Wasser sein läßt, in der
Fortsetzung des Mürztales bis zum westlichen Abhang des Semmering die Mitte
der Ostalpen zu durchziehen. Nicht zu verkennen ist die Ähnlichkeit mit dem
Engadin, wenn auch dort alles pointierter und zusammengedrängter, hier dagegen
alles verflüchtigter und verbreiterter sich darstellt. Aber es ist doch dasselbe lange
Längstal, das ebenso durch die Spaltung des Gebirges in zwei verschiedene, ein-
ander gleichlaufende Ketten, hier der Niederen Tauern und der Kärntner Alpen,
entsteht, und das wie jenes als Straßenlinie selbst zwar unwichtig ist, aber doch
von um so mehr Verkehrswegen in der nordsüdlichen Richtung durchkreuzt wird.
Darin aber unterscheidet sich das Murtal von dem Engadin, daß die mittelalter-
liche Geschichte hi,er viel bunter als dort ist, und daß es damals, ganz im
Gegensatz zu dem es umgebenden Gebirgsland, alles andere als ein einsames
Stück Welt, sondern ein Strich war, in dessen leidlich wohnlicher Sohle sich
das Leben von je her viel inhaltreicher entwickeln konnte. Es ist, als ob die
Sonne durchbrechen wollte, wenn wir sehen, wie dort in der Frauenburg bei
Unzmarkt Ulrich von Lichtenstein sein Wesen treibt und von hier seine Fahrten
unternimmt, die aber doch ohne einen ganzen Teil Frohsinn und Leichtsinn nicht
möglich gewesen wären, und es ist ebenso ein mehr prosaisches aber bezeich-
nendes Zeugnis der gleichzeitigen mittelalterlichen Lebensbedingungen daselbst,
wenn der Name dieses Unzmarkt als Huntismarckt d. h. als ein Platz gedeutet
werden muß, wo Hunde gezüchtet oder verkauft wurden'); es zeigt, wie sich
damals hier weit und breit nichts anderes als ein großes Waldgebirge ausbreitete,
und wie die Welt daher dort wirklich noch zum guten Teil nur durch die Weis-
heit dieses Tieres bestehen konnte. Auch Knittelfeld bedeutet nur einen Flecken,
der dem Walde abgewonnen worden ist.
Auch hier giebt, ähnlich wie nördlich im Ennstal, ungefähr das zwölfte
Jahrhundert den Zeitpunkt an, in dem alle die Orte in der Talsohle in den
Urkunden auftreten, und in dem wir daher diese ganze Gegend überall plötzlich
von deutschem Leben überzogen sehen. Es kann dieses aber doch gerade hier
weniger eine völlige Neukolonisierung sondern nur die Tatsache zum Ausdruck
bringen, daß damals nun auch das lange Tal der Mur völlig von den deutschen,
von Westen her gekommenen Mächten in Besitz genommen wurde. Wenn
irgendwo in den inneren Ostalpen so ist es an jener geschützten Talstrecke
zwischen Judenburg und Leoben wahrscheinlich, daß sich hier nicht allein die
antike Bevölkerung, wenn auch in schwachen Resten, länger als anderswo er-
hielt, sondern daß dann besonders auch das slavische Wesen schon vor dem
Platzgreifen der deutschen Herrschaft einigermaßen festere Kulturformen ange-
nommen hatte. So haben wenigstens Judenburg und Leoben eine Art Vergan-
genheit aufzuweisen, die über die deutsche Besiedelung hinaufreicht, und die so
etwas von einem mittelalterlichen Stapelplatz an sich hat. Judenburg wird bereits
') Kr. S. 95, 156.
Das Ennstal und das Murtal bis zum Semmering. 283
1074 genannt und die dortige Judengemeinde ist wirklich beinahe so alt wie
dieser Ort selbst, während in Leoben, obwohl dieses später auftritt'), sich sogar
der slavische Name erhalten konnte, und überhaupt die Bauanlage und besonders
der große rechteckige Marktplatz daselbst ganz und gar typisch für jene ost-
deutschen städtischen Neugründungen sind, wie sie einst dort überall aus den
früheren slavischen Niederlassungen emporwuchsen.
Dort aber, wo die Mur bei Brück umbiegt und nun in südlicher Richtung
das Alpenvorland der Steiermark durchHielJt, stehen die treibenden Kräfte der
damaligen Zeit noch einmal in aller Einfachheit und Deutlichkeit vor uns.
Wenn hier einst im Altertum allein von Süden her das Römertum einzog, so
kommen die Mächte, die jetzt von diesem Lande Besitz ergreifen, aus der genau
entgegengesetzten Richtung, aus dem Norden. In diesen übersichtlichen Ver-
hältnissen ist es bis zu den Zeiten Heinrichs III. (1054) die Hengistiburg, an
der Stelle des heutigen Marktes Wildon südlich Graz, gewesen, von der aus
hier die Herrschaft und der Grenzschutz ausgeübt wurde-), ein Platz, dem
ganz jener große aber dunkle Nachklang anhaftet wie allen jenen Schauplätzen,
an denen die Entscheidungen im Verlauf der Rückeroberung des deutschen
Ostens gefallen sind. Aber wenn hier einst auch die deutschen Herrscher in
Person eingegriffen haben, so sind dann nach ihnen die Salzburger Erzbischöfe
und die Grafen von Steyer auf demselben Plan erschienen, eine Entwickelung,
wie sie überall auf dem Boden des alten Reiches durch den Wechsel in der
Art der herrschenden Gewalten bedingt war. Den letzteren, den Grafen von
Steyer, verdankt in der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts Graz seine Ent-
stehung, wie Steyer eine rechte „Burgstadt", wo der Sitz der Fürsten das Bürger-
tum an sich zog und auch bis zu einem gewissen Grade förderte^), um dadurch
zugleich eine intensive und nachhaltig wirkende Angliederung dieses Gebietes
an das Deutschtum in die Wege zu leiten.
Diese mächtige und selbständige, allein von dem Westen ausgehende und P^"" ^^8
fest an den Westen kettende Kulturströmung ist nun aber auch der Grund, daß Semmering.
im Mittelalter die Erschließung des Semmerings, trotz der Existenz Wiens, nur
von jener Himmelsrichtung her erfolgen konnte, Überhaupt ist der Semmering,
wie kein anderer sonst, ein Alpenweg, dessen Bedeutung sich im Verlauf der
Geschichte in einer stetig aufsteigenden Richtung bewegt hat; denn dieselbe Straße,
die während der Römerzeit eine unwichtige Verbindung blieb und bleiben mußte,
wird dann, in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters wenigstens, bereits zu
einer der belebtesten und betretensten Linien der ganzen Ostalpen, um schließ-
lich, gleich wie Wien selbst, ein Träger des Weltverkehrs zu werden. Die
früheste mittelalterliche Gründung aber kann auch hier, wie es in den Alpen
fast überall der Fall ist, nur eine kirchliche sein, die wir in Gestalt der Abtei
Gloggnitz in der Nähe des Übergangs selbst entdecken, und die, der entfernten
') Kr. S.95. ^ Kr. S. od. J) Kr. S. 96.
284 IX. Kapitel.
Lage jenes Gebietes entsprechend, erst am Ende des elften Jahrhunderts (1094)
hier nachweisbar ist. Aber auch hier mag zunächst, ähnlich wie bei Admont,
die reine Kulturtätigkeit in erster Linie gestanden haben, inmitten jenes großen
Waldkomplexes, der damals um den heutigen Übergang ringsherum und in be-
sonders weiter Ausdehnung die nordwestlich desselben gelegenen Berge und
Täler überzog. Es ist dies der Zerwald, eine Bezeichnung, die vor allem nach
der steiermärkischen Seite hin üblich war, und die als deutscher Name wohl
nichts anderes als Zirbelwald bedeutet, während, eine immerhin merkwürdige
Erscheinung, der slavische Name Semmering erst seit dem dreizehnten Jahr-
hundert allgemein Geltung gewonnen hat'). Nicht unwahrscheinlich ist es
übrigens, daß auch scjion einmal in jenen frühesten Zeiten ein deutscher Herrscher,
und nicht ohne Grund, diesen damals ungewöhnlichen Weg betreten hat; denn
als es Heinrich IV. nach langem, erzwungenen Aufenthalt in Italien im J. 1097
endlich wieder möglich wurde, nach Deutschland zurückzukehren, zog er über
die Ostalpen, wo er dann auf deutschem Boden zuerst wieder in Nußdorf bei
Wien anzutreffen ist 2).
Wirklich inhaltreich stellt sich nun aber gerade an jener Linie die Art
heraus, wie hier die Entstehung eines Hospizes vor sich geht; denn die Tatsache,
daß dieses, das heutige Spital, im J. 1160 von dem Markgrafen von Steyer am
Südabhang des Überganges gegründet wird, beweist nicht nur, daß damals der
von Westen kommende Verkehr hier durchaus der ausschlaggebende war, sondern
sie zeigt auch, wie in jenem nordöstlichsten Teil des Alpenlandes sehr bald nicht
so sehr die Kirche sondern die weltlichen Dynasten in den vollen Besitz der
Herrschaft traten. Es sind dies auf der westlichen Seite des Semmerings eben
die Markgrafen der Steiermark, auf der östlichen, auf dem Boden des Wiener
Waldes, dagegen zunächst die in Putten seßhaften Machthaber^). Beide machen
dann aber, diese früher, jene später, den Babenbergern Platz, deren erste
Gründung an diesem Wege selbst in Wiener Neustadt vor uns stehf*). Die
Art aber, wie eifrig dann auch im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts für die
Unterhaltung jenes Hospizes gesorgt wird, läßt weiterhin erkennen, daß diese
Anstalt damals bereits auf weite Strecken ein Lebensbedürfnis geworden war^),
und auch deshalb muß jene Gründung von besonders weittragender Bedeutung
gewesen sein, weil sich nun auch dieser ganze Weg plötzlich innerhalb der ge-
schichtlichen Ereignisse als eine betretene Bahn geltend macht.
Wenn wir uns erinnern, daß die Kreuzzugsbewegung damals noch in vollem
Gange war, daß sie aber jetzt zum Teil auch ihren Weg zur See, von der Adria
aus, nach Asien nahm, so werden wir auch darin einen Grund für die plötzliche
Belebtheit der Semmeringstraße zu suchen haben; und an irgend einem Punkte
auf diesem Wege muß es daher auch gewesen sein, an dem der König von England,
Richard Löwenherz, im Dezember 1192 auf dem Rückweg aus dem heiligen
') Kr. S. 169. 2) Oe. II. S. 276. ^) Kr. S. 66, 168. ■») Kr. S. 95. ?) Oe. II. S. 269.
Das Ennstal und das Murtal bis zum Semmering. 285
Lande und als Pilger verkleidet in die Gefangenschaft des Herzogs von Öster-
reich fiel. Zu gleicher Zeit stellt sich auch der Bischof Wolfger von Passau
ein, der auf seiner Reise von Bologna nach Wien auch hier bis zuletzt wieder
gewissenhaft die einzelnen Stationen, Leoben, Krieglach (Crugelar), Gloggnitz
(Glockenze) und Neustadt (Nova civitas) verzeichnet'), und wenn nicht mehrmals,
so ist doch einmal, im J. 1217, Walter von der Vogelweide diesen Weg gezogen.
Diesem folgt dann ebenso Ulrich von Lichtenstein, 1227 und 1240, um auf seine
Weise den Hof zu Wien unsicher zu machen, und, da er einmal bei Laune ist,
beschreibt er auch seine Fahrt, und wir lernen auf diese Art seine Nachtquartiere
kennen, Mürzzuschlag und Gloggnitz, und insbesondere nebenbei, daß jener Weg
selbst damals ein betretener und begangener Übergang war, und als solcher auch
allgemein Semmering hieß-). Wie würde der Dichter wohl über uns den Kopf
schütteln, wenn er erführe, daß uns heute gerade diese Tatsachen wichtig sind;
aber dieses Verhältnis beruht doch nur auf Gegenseitigkeit; denn auch wir
können ja den unstäten Gesellen nicht mehr verstehen, wie er damals in einem
farbenfreudigen Anzug, in weißem Sammetmantel und mit dicken, mit Perlen
geschmückten Zöpfen hier herüberzog.
Damals ist es also bereits das in Wien zusammenströmende Leben, vor Die
VC^icncr Ebene
allem die prächtige Hofhaltung der Babenberger, der alle jene Reisenden zu- „„d
streben, und unter die vielen Folgen, die für Wien die Erhebung zur ständigen Wien im
•• n o Mittelalter
Residenz der Herrscher Österreichs gehabt hat, gehört es nun auch, daß sich
diese Stadt, wie München und Bern, jetzt immer mehr zu einer rechten Vor-
alpenstadt auswächst. In jenem Zeitraum von vollen sieben Jahrhunderten, der
zwischen dem Verschwinden der römischen Herrschaft in Wien und Carnuntum
und dem Beginn dieser Entwickelung liegt, haben wir dagegen hier einen Zu-
stand vor uns, der mit der Geschichte der Alpenländer so gut wie in keinem
Zusammenhang steht, und während dem von hier nach Süden und in die Berge
hinein nur ganz dünn und locker geknüpfte Verbindungen führten. Denn dort,
wo die letzten östlichsten Ausläufer der Alpen an die Donau herantreten, lag
seit den Zeiten Karls des Gr. nur eine deutsche Markgrafschaft, von Anfang an
wohl die wichtigste und stärkste von allen, aber doch nur ein Grenzland, und
bezeichnenderweise treffen wir auch Wien selbst im Mittelalter zum ersten Mal
wieder an, als es im J. 1030 von den Ungarn eingenommen wird-'). Früher
aber, und am äußersten Ende jenes Gebietes steht hier die Hainburg vor uns,
ebenso wie die Hengistiburg zum Teil noch in Sage getaucht, als ein viel um-
strittener, aber stets nur nach Osten oder Westen schauender Punkt. Zugleich
wie Wien macht sich dann aber auch einwärts und in der Leitlinie der Donau
ein Platz nach dem anderen und ein vielseitigeres Leben bemerkbar, in den
Adelsburgen, den Gründungen der Kirche, den Städten in ihrer ersten dürftigen
') Oe. II. S. 263. 2) L. Zeitung, Wissenschaftliche Beil. 1904. N. 95. 3) Die gröaeren Jahr-
bücher von Altaich, 2. Au. L. Dyk. S. 13.
286 IX- Kapitel.
Entwickelung, zwischen denen verstreut sich die Pfalzen der Landesherren, Hainburg
und Melk, die Feste auf dem Kahlenberge, Klosterneuburg und Mödling erheben.
Die Tatsache aber, daß die ßabenberger dauernd von Wien angezogen
wurden, ist deshalb so wichtig, weil in ihr die Veränderung zum Ausdruck
kommt, die jetzt innerhalb dieses ganzen Gebietes Platz gegriffen hat. Es ist
äußerlich zunächst kein anderes Verhältnis, wie es in demselben Jahrhundert
zwischen Innsbruck und den Grafen von Andechs vorgewaltet hat, als der Herr
des Landes, Heinrich IL, im J. 1142 seinen Sitz nach Wien verlegte. Aber hier
schließt dieser Vorgang einen viel größeren Inhalt ein; denn wenn jetzt die
ßabenberger sich in diesem, nach damaligen Begriffen weniger geschützten Platz
zu wohnen entschließen, so muß inzwischen aus dem gefährdeten Grenzland ein
sicheres Herrschaftsgebiet geworden sein; vor allem sieht man aber auch, wie
die Kräfte der Dezentralisation, die ja ein Merkmal des mittelalterlichen Kultur-
lebens ist, hier bereits im Absterben begriffen sind und wie dieses Zeitalter
gerade dort besonders früh zur Neige geht. Daß das mittelalterliche Wien aber
eine deutsche Stadt war, so mannigfaltig deutsch vielleicht wie es später niemals
wieder der Fall gewesen ist, geht aus dem Dasein der gleichzeitigen gotischen
Bauten daselbst zur Genüge hervor, während das Selbstbewußtsein, der steife
Nacken, der die Wiener Bürgerschaft im zwölften und dreizehnten Jahrhundert
auszeichnet, wohl darin seine Erklärung findet, daß gerade die dortige Bevöl-
kerung ganz besonders durch den Zuzug aus den verschiedensten Teilen Deutsch-
lands entstanden ist.
Die Entwickelung des Gotthardweges zur Weltstraße einerseits und der Zu-
sammenschluß der Ostalpenländer unter Österreich andererseits sind es, die beide
die Fundamente für eine ganz neue Periode in der Geschichte der Alpenländer ab-
geben, eine Periode, die sich scharf von dem vorangegangenen Mittelalter daselbst
abhebt und die hier nun auch ein volles halbes Jahrtausend, bis zu den Zeiten
Napoleons I. angedauert hat. Wer das Leben in der weiten Ebene, wo die
meisten Menschen wohnen, mit demjenigen im Hochgebirge vertauscht, muß
früher oder später sich doch den veränderten Bedingungen unterwerfen, denen
die Natur ihn dort gegenüberstellt. Aber auch die Geschichte trifft dasselbe
Schicksal, und im besondern versagt sich hier die Betrachtung und Einteilung
des geschichtlichen Verlaufs nach jenen sonst allgemein üblichen und zeitlich
genau abgegrenzten großen Perioden. Doch was ist schließlich alle Geschichte
des Mittelalters in den Alpen, mag sie nun auf anerkannte oder ungewohnte
Gesichtspunkte, auf erwiesene oder zweifelhafte Tatsachen eingestellt sein, anderes,
als ein Stück der Vorstellung eines Einzelnen, desjenigen, der sie gerade ge-
schrieben hat. Wir stehen alle dem Glauben viel näher und dem Wissen viel
ferner, als wir es gern zugeben oder wünschen möchten, und nicht die Geschichte,
wohl aber der Geschichtsschreiber, wird an seiner schmerzlichsten und schmerz-
haftesten Seite durch das Wort Goethes getroffen: Wenn man sich bei der Ge-
schichte nicht beruhigt wie bei einer Legende, so löst sich sonst alles in Zweifel auf.
X
Anhänge.
1.
Die auf klassischem Boden so weit verbreitete Erscheinung, daß die ältesten
und vornehmsten Kirchen ganz ausgesprochen außerhalb der alten römischen
Stadtmauer liegen, kehrt auch in den Alpenländern wieder (Como, Verona, Trient,
Neumarkt a. d. E., Bozen und Gries, Glurns, Sterzing, Bruneck, Lienz, Reichen-
hall), und mit Recht mutet sie uns so eigentümlich an, da in ihr ein Stück der
ältesten christlichen Denkweise und Lehensart verborgen liegen muß. Es kann
in der Tat kaum ein besseres Zeugnis für das Alter und die weite Verbreitung
dieser Sitte geben, als wenn Eugippius schon um 510 im Leben Severins (K. 22)
die Existenz „einer außerhalb der Mauern Passaus gelegenen Kirche" als etwas
ganz Alltägliches anführt. Atz meint einmal, daß man „in der Altstadt selbst
(Bozen) kein religiöses Gebäude suchen dürfe, weil ein solches in einer befestigten
Stadt, unmittelbar hervorgegangen aus einem römischen Standlager, nicht be-
stehen durfte" (Atz S. 6). Diese Erklärung kann aber doch nicht alles enthalten;
denn einmal findet sich jene Erscheinung auch in viel späterer Zeit und an Orten,
wo bei dem Einzug der Kirche auch nicht eine Spur vom römischen d. h. heid-
nischen Altertum mehr vorhanden gewesen sein kann (Bruneck), und andererseits
stehen auch oft genug solche außen gelegene kirchliche Gebäude auf römischen
Grundlagen (S. Zeno in Verona, Sterzing), wie ebenso auch innerhalb der römischen
Stadtmauern selbst Kirchen existieren, die älter sind als die außerhalb befindlichen
(Trient, S. Pietro). Wahrscheinlich wird hier die Art der Bestattung ein Wort
mitzureden gehabt haben.
Schon Schulte (Schu. S. 61) sagt: „Und ist es nicht auffallend, daß die
Hospize am Gr. S. Bernhard und auf dem Septimer den Namen des h. Petrus
tragen, standen sie vielleicht im Besitz der römischen Kirche, man kann die Frage
aufwerfen, aber nicht beantworten", während N. A. (S. 31, 38, 69, 83) die Tatsache
einfach als ausgemacht annehmen, daß die Peterskirchen überall älter als alle
288 Anhänge.
anderen sind. Die Legende, wie der h. Rupert von den Ruinen Juvavums an-
gezogen wird, und dort wie selbstverständlich zu Ehren des h. Petrus eine Kirche
gründet (Hau. S. 127), plaudert eben nur Alltägliches aus, und es ist nicht zu
viel gesagt, daß dieser Heiligenname in den Alpen geradezu die Wünschelrute
abgeben kann für denjenigen, der hier nach Römerresten sucht.
Zum Beweis dieses für die Archäologie nicht unwichtigen Fingerzeiges seien
hier folgende Peterskirchen angeführt, in deren unmittelbarer Nähe Römerfunde
gemacht worden sind: Die Kastelle in Verona und Trient, S. Pietro südlich Ala
(F. 1878. S. 62), Borgo Kastell, Leifers (Atz S. 109), Maretsch bei Bozen, Schloß
Tirol, Kastelruth, Sehen. Auch dort, wo bei Matrei a. Br. ein berühmter Etrusker-
fund zum Vorschein kam, liegt ganz benachbart, bei Mitzens, eine Peterskirche,
die übrigens in Nordtirol nicht allzuhäufig sind, wie überhaupt schon, selbst wenn
alle anderen Beweise fehlten, das Vorhandensein so vieler Peterskirchen auf der
Linie zwischen Verona und Klausen und die Seltenheit dieser nördlich davon
auf das verschiedene Schicksal jener beiden Hälften der Brennerstraße während
der Römerzeit einen Schluß gestatten würde.
3.
Man kann den Namen S. Ulrich in Groeden damit in Verbindung bringen,
weil das Bistum Augsburg dort Besitzungen hatte. Da aber diese Ortschaft
latinisch Urtischei heißt (Mor. S. 13), liegt auch der Gedanke nahe, daß die
Kirche es sich hier überhaupt nicht allzuschwer machte und den h. Ulrich einfach
wegen des Gleichklanges der Namen heranholte. Dieselbe Ähnlichkeit findet
sich auch bei S. Orsola, deutsch Aichberg, im Fersental.
4.
Wohl alle früheren Bearbeiter dieser Züge (besonders auch Eg. S. 220, A. 5)
nehmen stets drei fränkische Kolonnen an, die getrennt über die Alpen marschierten,
und verteilen jene nun auf drei verschiedene Übergänge. Dieses ergiebt sich aber
durchaus nicht ohne weiteres aus den Quellen (Gregor von Tours X. 3 ; P. D.
S. 69); denn diese reden zunächst nur von einer rechten und linken, aber nicht
ausdrücklich von einer mittleren Angriffsrichtung. Außerdem erheben sich bei
der Annahme von drei Kolonnen viel größere Schwierigkeiten, wie man dann
die drei Hauptführer der Franken, Auduald, Olo und Cedinus, und die anderen
zwanzig Herzöge auf die einzelnen Kolonnen verteilen soll; denn bei drei
Kolonnen würden auf die rechte Auduald und sechs Herzöge, auf die linke Cedinus
und dreizehn Herzöge, auf die mittlere dagegen nur Olo und ein Herzog entfallen
müssen. — Die Schwierigkeiten werden freilich auch dann nicht behoben, wenn
man, wie Paulus Diakonus zu tun scheint, die drei besonders namhaft gemachten
Hauptführer in die Zahl der zwanzig Herzöge hineinrechnet. Dasselbe Recht
auf Wahrscheinlichkeit hat es daher, wenn man bloß zwei Kolonnen annimmt.
Anhinge. 289
Cedinus und dreizehn Heriöge links, Auduald, Olo und die übrigen rechts, wo-
bei CS aber auch unklar bleiben muß, in welchem Verhältnis Olo zur rechten
Hauptkolonne stand, und wo er sich etwa von dieser abgezweigt hätte.
5.
Die Stelle (P. D. HI. Bch, K. 31) lautet: Perveait etiam exercitus Francorum
usque Veronam, et deposuerunt castra plurima per pacem post sacramenta data,
quae se eis crediderant nullum ab eis dolum existimantes. Nomina autem
castrorum quae diruerunt in territorio Tridentino ista sunt: Tesana, Maletum,
Sermiana, Appianum, Fagitana, Cimbra, Vitianum, Bremtonicum, Volaenes,
Ennemase, et duo in Alsuca et unum in Verona. Haec omnia castra cum diruta
essent a Francis pp.
6.
Vom militärischen Standpunkt bleibt doch die erschöpfende Erklärung für
jene Vorgänge nur die, daß die Worte der Lorcher Annalen „ad clusas se con-
jungentes" so zu verstehen sind, daß hier, wie beides auch nach dem Sprach-
gebrauch durchaus möglich ist, nur eine Klausenstelle, und zwar die bei Susa
gemeint ist, und daß ad nicht westlich sondern nur in der Nähe der letzteren
Klause zu bedeuten hat.
Von Genf aus hatte Karl jedenfalls den kürzeren Weg, Bernhard die weitere
Umgehung übernommen. Karl hielt, wie deutlich zu ersehen ist, Desiderius
einige Tage lang, bis zu Bernhards plötzlichem Eingreifen im Rücken der Lango-
barden, mit Verhandlungen hin. Wenn die Sage Karl selbst eine Art Umgehung
machen läßt und diesem alles Verdienst zuerkennt, so hat sie damit nicht eigent-
lich Unwahres gesagt, sondern nur, wie üblich, den Mund etwas zu voll genommen;
denn der intellektuelle Urheber des Erfolges war sicher Karl, die entscheidende
Umgehung besorgte dagegen Bernhard. Auch die Worte der Lorcher Annalen,
daß Bernhard ainit einigen Getreuen seinen Zug unternahm", legen eine voran-
gegangene genaue Verabredung mit Karl nahe.
7.
Unmittelbar südlich Schönberg befindet sich heute an der Brennerstraße
ein altes Steinkreuz. Da diese Merkmale jetzt allgemein als mittelalterliche
Grenzzeichen angesehen werden, und da irgendwelche andere Grenze hier sonst
niemals bestanden hat, so kann man daher die Stelle jenes Kreuzes kaum anders
als einen Punkt ansehen, wo einst der Gau Norital nördlich mit dem Gau Inn-
tal zusammenstieß.
8.
Alle diese Andeutungen sind doch immer interessant genug, um das Für
und Wider eines Römerzuges Karls des Gr. in der Richtung Gardasee —
Scbcffel, Vcrkebrstescbicbie der Alpen. 2. Bind. 19
290 Anhänge.
Madonna di C. — Münstertal — Chur bezl. umgekehrt einmal zu erörtern.
Tatsächlich fällt in das J. 774 — nicht 775 — ein Zug Karls von Italien über
die Alpen nach Deutschland. Karl war am 16. Juli noch in Pavia und noch vor
dem 14. August in Speier. Oehlmann (Oe. II. S. 306 u. I. S. 241) verlegt diesen
Zug wegen der Marschrichtung nach dem Mittelrhein und der eben nicht langen
Zeit auf den Gr. S. Berhard. Diese Begründung ist jedoch nicht zwingend. Die
Wahl jenes Weges, auf den die Sage fortwährend zurückkommt, würde nun allein
wegen ihrer Absonderlichkeit zunächst durchaus kein Ding der Unmöglichkeit
darstellen, da auch andere Römerzüge bekannt sind, die sich auf recht unge-
wohnten Pfaden bewegt haben (Friedrich II., 1212); auch die von Pavia bis
Speier notwendige Zeitspanne würde bei der in Frage kommenden guten Jahres-
zeit selbst für einen längeren Reiseweg voll ausreichen. Unbedingte Voraus-
setzung, um jene Richtung überhaupt für möglich zu halten, wäre aber, daß man
irgend ein geschichtlich annehmbares Motiv für ihre Wahl auftriebe. Ein ganz
schwacher Fingerzeig dieser Art könnte vielleicht sein, daß Karl gerade am
16. Juli 774 in Pavia über jenes langobardische Pfalzgut verfügte, das im Val
Camonica und am Gardasee gelegen war (Ab. S. 193), in einer Zone, die dem-
nach die südliche Basis dieser sagenhaften Marschrichtung zu bilden hätte.
Wenn es sich dann weiter erweisen ließe, daß Karl an seine in Pavia getroffenen
Verfügungen noch eine Besichtigung an Ort und Stelle angeschlossen hätte, oder
daß etwa jene Verfügungen überhaupt erst dort getroffen worden wären, was
übrigens im Mittelalter wegen des schwierigen Transportes der Urkunden, die
man doch so gern bald und sicher nach Hause trug, eher das Gebräuchliche
war (Vgl. Oe. II. S. 198; ein besonderer Fall auch N. A. S. 5), so würde die
Wahrscheinlichkeit dieser Marschrichtung noch viel stärker hervortreten.
Es giebt aber auch noch eine andere Möglichkeit, die hier in Betracht ge-
zogen werden kann. Der nächste Römerzug nach dem J. 774 Fällt bereits in
das Frühjahr 776. Karl mußte damals rasch über die Alpen nach Friaul ziehen,
um dort jenen Aufstand niederzuwerfen. Auf deutschem Boden finden wir ihn
zuletzt Weihnachten 775 in Schlettstadt, während er dann, was demnach für
unsere Erwägung nicht unwichtig ist, mit kleinem Gefolge die Reise antrat (Vgl.
Ab. S. 250). Über den Weg, den er einschlug, haben wir aber keinen anderen
Anhalt als die Worte der Lorcher Annalen: Carolus Italiam ingressus est par-
tibus Forojuliensium petens. Oehlmann (Oe. II. S. 275) meint, daß Karl damals
durch die Ostalpen gezogen sei, eine Annahme, die aber doch wohl unzulässig
ist, wenn man bedenkt, daß er auf diese Weise ganz und gar durch Tassilos
Gebiet hätte ziehen müssen, wo er damals auch nicht das Geringste zu suchen
hatte. Aber eben die Feindschaft gegen Tassilo einerseits und das abgelegene
Marschziel und die Eile, die nötig war, andererseits können auf den Gedanken
führen, daß er damals von Westdeutschland aus auf dem kürzesten Wege an
Tassilos Grenze vorbeizukommen suchte, und von diesem Gesichtspunkt aus
Anhinge. 291
wäre eine Marschrichtung, etwa Bodensee, Rätien, Gardasee, ganz zweckent-
sprechend gewesen.
9.
Demum Carolo assignavit, quidquid de suo regno extra hos terminos fuerit,
ita ut Carolus et Ludovicus viam habere possint in Itaiiam, Carolus per vallem
Augustanam, quae ad regnum ejus pertinet, et Ludovicus per vallem Segusianam,
Pippinus vero et exitum et ingressum per Alpes Noricas atque Curia. Vgl. Oe. I.
S. 202 f.
10.
Von mittelalterlichen Klausen, die auch in den Kriegsereignissen der neueren
Zeit eine Rolle gespielt haben, sind anzuführen: Fort Bard 1800; Anfo (Lodrone)
1526, 1848, 1859, 1866; Rivoli (Berner Klause) 1797; Primolano (Covel) 1796,
1866; Pontebba (Chiusaforte) 1797; Martinsbruck (Altfinstermünz) 1798; Bregenzer
Klause 1646; Ehrenberger Klause 1546, 1552, 1632, 1703; Klaus bei Neuhaus
1797; Klausen a. E. 1797, 1809; Brixener Klause 1797; Mühlbacher Klause 1809;
Lienzer Klause 1809; Hirschbühel 1809; Paß Lueg 1805, 1809; Paß Strub
1800, 1805, 1809.
11.
Eine besonders verdienstvolle Arbeit dieser Art hat Oehlmann geliefert.
Dieser führt in Beilage II und III (Oe. II. S. 304 f) sämtliche Römerzüge nach
ihren Pässen und Jahrhunderten mit Quellennachweis an, eine Zusammenstellung,
die durchaus die Bestimmung eines erschöpfenden Leitfadens erfüllt, für alles,
was über die Römerzüge überhaupt bekannt ist.
Aber auch hier lassen die bei den Namen der Pässe angeführten Frage-
zeichen deutlich genug die über jenes Gebiet verbreitete Unsicherheit erkennen,
eine Unsicherheit, die sich noch als viel größer herausstellt, wenn man entdeckt,
daß zuweilen selbst die Benutzung der von Oehlmann als sicher angegebenen
Übergänge nicht standhält; so nimmt z. B. Oehlmann nicht mehr als 36 Züge
über den Brenner als sicher an, während Wanka (W. S. 80) mit Recht in der-
selben Zeit nur ganze 12 als solche gelten läßt.
12.
Während das, was in den Alpen aus dem vorrömischen Volkstum noch
nachwirkt, uns niemals mit jener Klarheit vor Augen treten wird, die jeden
Zweifel ausschließt, ist einiges von dem auch heute noch mit aller Deutlichkeit
zu erkennen, was von den Alpenromanen in ihren alten Sitzen fortlebt. So sind
hier für die Ausdrücke des Gemeindelebens und der Wirtschaftsführung Worte
in Gebrauch, die ihren Ursprung allein in jener romanischen Sprache haben,
die vor der Herrschaft der modernen Sprachen in Geltung war. Viele Tier-
und Pfianzennamen, solche, die sich auf die Almwirtschaft (Eg. S. 19), auf Vieh-
zucht und das Wassernutzungsrecht beziehen, gehören hierher, wozu (Ju. S. 171)
19*
292 Anhänge.
in den südtiroler Gegenden auch noch die mit der Weinkultur zusammen-
hängenden Ausdrücke treten (Torkel, Praschglet, Bazeide, Pergel, Saltner). Auch
die noch heute geltenden Bezeichnungen für die Gemeinde und deren Unter-
abteilungen wie Technei an der oberen Etsch, Technei, Malgrei und Terze in
Südtirol und am Eisak, und Oblei im Pustertal sind romanischen Ursprungs;
ein Gleiches gilt auch für viele tirolische Familiennamen (St. S. 67 f, 160 f); so
findet sich z. B. bei Prutz häufig der Name Venir (Jäger), weil sich dort einst
das landesfürstliche Jagdamt befand.
13.
Solche mittelalterliche Personennamen, denen man in der Alpengeschichte
begegnet, sind in Bünden: Helanengus, Hunfrid, Herloin, Ruodpert (PI. S. 299,
359, 360, 362, 393) und als Bischöfe von Chur: Gerbrach, Hartbert, Hildibold
und Volkard.
In Nordtirol treffen wir: Ratold, Rapoto, Hiltprant, Wahrmunt (Schw. S. 47,
48, 86, 91), in Südtirol: Minigo, Goteschalk, Engilda, Isigren, Trutmar (N. S. 243),
dann Wago, Warinbert, Chael, Sivrid, Reginbert, Merboto, Reimprecht (N. A.
S. 33, 71, 103, 105; Mor. S. 15) und im zehnten Jahrhundert als Bischöfe von
Brixen: Wisund und Richprecht (N. A. S. 33). In der Geschichte Innichens
bezl. Freisings sind zu finden: Erembert, Atto, Hitto, Erhambert, Waldo, Utto,
Drachholf, Egilbert, Ellenhard, Meginward, Engildin, Egelolph, Ortolf, und in den
Ostalpen: Werihent, Rodulf, Godoschalk, Adalgar, Piligrin (Kr. S. 86, 79, 81),
als Patriarchen von Aquileja, ferner Gotpold, Rabinger, Sighard, Markward (Kr,
S. 87, vgl. auch S. 56).
Frauennamen sind: Theusinda, Odda (PI. S. 295), Irminlind, Sifftl (Sofia),
Diemut, Ofnia (N. A. S. 33, 73, 102), dann Adalswind, Ilmengard, Willibirg und
Richlinde (Kr. S. 58, 79, 86).
14.
M. D. A. II. T. 6 Au. S. 360. — Deutsch sind heute noch daselbst die Dörfer
Gereut (Frassilongo), Aichleiten (Rovete), S. Franz, S. Felix und besonders Palei
im hintersten und höchsten Teile des Tales (Z. A. 1902. S. 44). Wenn jedoch
im Fersental sogar die Bergnamen zum Teil deutsch sind (Zingerle, Tirolensia,
Innsbruck 1898, S. 13), so würde dies eher für eine Besiedelung sprechen, die
weiter als das fünfzehnte Jahrhundert zurückreicht.
15.
Verzeichnis einer Anzahl fremdländischer Ortsnamen im Süden der Alpen,
für die früher auch eine deutsche Bezeichnung üblich war. Ausgehend von
jenen drei alten germanischen Gruppen Oberitaliens sind unter I die Orte bis
zum Ticino, unter II die bis zur Brenta, und unter III die bis Istrien vorkom-
menden Orte angeführt:
Anhänge.
203
Aigle, Aelen
Aosta, Osten
Domo d'Ossola, Duhm
Foppiano, Unterwald
Gondo, Gunz
Val Maggia, Mayental
Vevey, Firvizuburg
Alfarei, Alfreid
Avio, Aue
Brendola, Brünndel
Caldonazzo, Galnetsch
Cavalese, GableO
Chiazza, Gliezen
Como, Kam
Folgaria, Vilgereut
Frassilongo, Gereut
Val Lagarina, Lagertal
Lugano, Lauis
Molveno, Malvein
Poschiavo, Puschiav
Roncegno, Rundschein
Monte Scanuppia, Knap-
penberg
Sporo, Spaur
Trezzo, Tesserete
Vigo di Fassa, Wiegen
Ampezzo, Peitsch
Capo di Ponte, Plassprugg
Cittanuova, Neuenburg
Conegliano, Künzlau
Duino, Tybein
Gradiska, Grädisch
Monfalcone, Neumarkt
Pirano, Pyrian
Sappada, Bladen
Tagliomento, Tulement
Tolmino, Tolmein
Venzone, Puscheldorf
I.
Airolo, Eriels
Bellinzona, Beilenz
Faido, Pfaid
Giornico, Irneß
Livorno, Lavur
Martigny, Martinach
IL
Anco, Arch.
Beseno, Bisein
Brusio, Brüs
Canazei, Kanascheid
Cembra, Zimmers
Chiusa, Berneclus
Ficcarolo a. P., Figurol
Fondo, Pfund
Gallio, Ghel
Lavarone, Lafraun
Masetto, Alzeit
Noze, Ueltzbach
Riva, Reiff
Rovereto, Rovereith
Schio, Schieid
Tiene, Thinen
Vallarsa, Brandtal
Visione, Visiaun
IIL
Aquileja, Agiei
Caporetto, Karfreit
Cividale, Sibidat
Convedo, Cubida
Fiume, S. Veit a. Pflaumb
Mestre, Meisters
Ospetaletto, Spitalett
Parenzo, Paranz
Sauris, Zarah
Timau, Tischelwang
Trecento, Tritshent
Val d'Anzasca, Falzask
Bourg S. Pierre, Peters Ka-
stell
Formazzatal, Pommat
Gislarengo, Geiselhering
Locarno, Luggarus
Valle d'Ossola, Eschental
Asiago, Siege
Bormio, Worms
Calceranica, Kalkrain
Canezza, Ganetsch
Chiavenna, Claefen
Cismone, Sysmo
Flavon, Pflaum
Fozza, Wüsche
Garda, Garden
Levico, Leuin
Mendrisio, Mundriz
Nogaredo, Haseldorf
Roane, Roban
Rovete, Aichleiten
Soglio, Sils
Torcegno, Durchschein
Verona, Bern
Cadore, Kadober
Castna, Khöstau
Cleulis, Klalach
Cortinad'Ampezzo, Heiden
Gemona, Klemaun
Moggio, Mosach
Piave, Plabc
Rosazzo, Rossach
Serravalle, Sperval
Tolmezzo, Schönfeld
Udine, Weiden
294 Anhänge.
Die westlichen der unter II angeführten One können übrigens ebensogut
für die Gruppe I in Frage Icommen. — Die Alldeutschen haben sich in Pergine
(Persen, Suganatal) einen für ihre Bestrebungen sehr günstigen Angriffspunkt
herausgesucht und nun dort auch sogleich alle und jede Orte der Umgebung
unnachsichtlich in deutsche umgetauft. Es ist aber interessant zu sehen, wie
auch hier die tiefinnere Natur der Dinge solchen forcierten Bestrebungen gegen-
über Recht behält; denn dicht vor den Fenstern der Burg Persen liegt ein Ort
Susa, dessen Namen alles andere nur nicht deutsch sein kann, der wie Granit
in diese moderne Strömung hineinragt und bei dem auch von vornherein auf
jede Umdeutung verzichtet werden mußte.
16.
Die unmittelbare Veranlassung zu diesen Verleihungen war jedoch nicht
so sehr, wie die Tiroler Geschichtsschreiber gern meinen, die ausgesprochene
Absicht Konrads IL, den Brennerweg in verläßlichen Händen zu wissen, sondern
sie ist in dem Aufstand Ernsts von Schwaben gegen den Kaiser zu suchen; wur-
den doch die beiden Grafschaften, die an Brixen kamen, niemand anderem als
dem Grafen Weif, Ernsts bestem Verbündeten, abgenommen. Vgl, Gi. II. B. S. 253.
17.
Tatsache ist einerseits, daß im zwölften Jahrhundert die Bewohner des
Küstenlandes an der nördlichsten Adria als Nachkommen der Goten angesehen
wurden, und daß dieser Landstrich damals Merania hieß (Z. A. 1903. S. 46 f),
und Tatsache ist andererseits, daß der Byzantiner Eunapius bei den alten Goten
»die Leiber für die Beine zu schwer" fand, und daß diese Eigentümlichkeit
heute auch bei der Bevölkerung um Meran in Tirol zu beobachten ist. Sie
wird bezeugt durch Hörmann (Z. A. 1901. S. 110), und der Verfasser, der be-
sonders auch gute alte Bilder dieser Art vor Augen gehabt hat, muß sie be-
stätigen. Tatsache ist auch, daß Schneller den Namen der Stadt Imst aus dem
Gotischen ableitet, und daß sonst nirgends, nur im Passeier, bei einer Alpe
der gleiche Name wiederkehrt (F. 1906. S. 139).
Als Mittelglieder der Schlußfolgerung, daß die heutigen Burggräfler Nach-
kommen der Goten seien, drängt sich somit ebenso überraschend und aufdring-
lich wie schwer zu fassen nicht nur jene Namensähnlichkeit an sich, sondern
auch die Möglichkeit auf, daß die Andechser zu diesen beiden Plätzen Be-
ziehungen hatten, und man möchte glauben, daß, selbst wenn die Anwesenheit
der Andechser hier und dort sich als ein Spiel des Zufalls herausstellt, so doch
wenigstens jener Gleichklang der Namen auch andere gleichartige Substanzen
in sich schließt. Dies alles wäre schon eine wissenschaftliche Untersuchung
wert, die aber von der Feststellung ausgehen müßte, wann die Meinung von dem
Gotenursprung der Burggräfler zum ersten Male zu Tage tritt. Ist diese jetzt
Anhänge. 295
wirklich älter als ein Jahrhundert, so wären dann von zwei verschiedenen Stellen
aus in das, was die Zeiten verschüttet haben, Schächte hineinzutreiben, einmal,
ob und inwieweit die Andechser auch zu Meran i. T. in Beziehung standen, und
dann, ob jene beiden Ortsnamen überhaupt desselben Stammes sind. Vor letzterer
Stelle liegt auch schon einiges Werkzeug, unbrauchbares und brauchbares, um-
her. So soll der Name des tirolischen Meran von den Marcomanen herkommen
oder so viel wie „am Maiser Rain" heißen (Giovanelli, Ära Dianae, Bozen 1824,
S. 73); nach anderen bedeutet er „an der Murre" (Sta. S. 24; Tir. S. 127). Seine
älteste nachweisbare Form ist übrigens Maranum (1273), während es zweifelhaft
bleibt, ob ein im J. 857 im Trienter Tal gelegenes Mairania mit ihm gemeint ist
(Unterforcher, G. Pr. Eger 1892, Sonderabdruck S. 54). In dieser letzteren Form,
also Mairania, erscheint aber manchmal auch der Name für das adriatische
Küstenland (Kr. S. 85).
18.
Dieses Aussterben betraf u. a. die alten Eppaner Grafen (1170), die Traun-
gauer (1192), die Grafen von Mittersill , die Grafen von Lechsgemünd und
Matrei (um 1200), die Zähringer (1218), die Herren von Peilstein (1219), die
Hallgrafen von Plein (1219), die Grafen von Ulten (1248), die Wanga (1280).
Andere Geschlechter mit gleichem Loos vgl. Kr. S. 125, — Eine Häufung solcher
Fälle, aber doch nicht in derselben Ausdehnung, ist übrigens dann wieder am
Ende des fünfzehnten Jahrhunderts zu bemerken, vgl. auch B. W. S. 30.
Es läßt sich beobachten, daß eine Familie in derselben Stellung selten über
vierhundert Jahre aushält. Nach rückwärts gerechnet käme man also hier auf
die Zeit Karls des Gr., und so tatsächlich in eine Periode, in der ganz Südost-
deutschland zahlreich mit neuen Herrengeschlechtern bevölkert wurde. Man
kann aber auch daran denken, daß damals der durch die Kreuzzüge hervor-
gerufene Kräfteverlust nachgewirkt hat. Den Ursachen dieser Erscheinung nach-
zugehen, ist jedoch überhaupt mißlich; denn wie die Schneelawine aus unendlich
vielen Schneeflocken zusammengesetzt ist, so ist auch dieses Problem nur ein
Konglomerat über das Entstehen und Vergehen vieler einzelner Menschenleben,
und es ragt daher in jenes Gebiet hinein, das sich von vornherein jeder strikten
Erkenntnis entzieht.
19.
Zu den mittelalterlichen Burganlagen ist noch zu sagen, daß bei diesen das
Vorhandensein unterirdischer, zur Flucht bestimmter Gänge doch vielleicht nicht
so völlig in das Gebiet der Fabel zu verweisen ist, wie es gewöhnlich geschieht.
Wer nur das Gegenwärtige vor sich sieht, wird mit Recht geltend machen, daß
solche Anlagen unendlich schwer auszuführen waren, außerdem, selbst wenn
vorhanden, schwer unbekannt und vom Feinde leicht wirkungslos gemacht werden
konnten. Es muß aber auch in Betracht gezogen werden, was vergangen und
vergessen ist, das entsetzliche Schicksal, das nach einer langen Belagerung den
296 Anhänge.
Überwundenen erwartete; man denke nur an das Los der Kufsteiner Besatzung
noch im J. 1504 (Schw. S. 6). Daher liegen wenigstens dort solche Fluchtmittel
im Bereich der Möglichkeit, wo eine langandauernde feudale Entwickelung be-
standen hat, die über große Mittel verfügte. Unbewiesene Annahmen von dem
Vorhandensein unterirdischer Gänge existieren in Kapsburg (Schw. S. 77), Traut-
son (Matrei), Klausen a. E. (von der Stadt nach Sehen) und in Salzburg (von der
Residenz nach Hohensalzburg). Vgl. auch Sehe. III. B. S. 176f; Sa. L. XXI. S. 11.
20.
Oehlmann (Oe. I. S. 186f.) weist darauf hin, daß von den Wegen der West-
alpen der Mont Cenjs am meisten die Bedingung westöstlicher Richtung erfüllt,
und führt hierauf dessen Benutzung im Mittelalter vorwiegend zurück. Dies
scheint jedoch deshalb nicht stichhaltig zu sein, da gar kein Grund vorliegt,
warum den Römern, die gerade in den Westalpen ihr Straßennetz ganz syste-
matisch ausgebaut hatten, dieser Umstand entgangen sein sollte.
21.
Man könnte einwenden, daß bei einer deutschen Bewegung von Süd nach
Nord, wie sie hier angenommen wird, die deutschen Uris dann doch wahrschein-
lich gleichfalls aus dem Süden gekommen sind, und daß schon diese, um ihren
Weg überhaupt auszuführen, die Schlucht der Schöllenen vorher hätten wegbar
machen müssen. Diese Schwierigkeit ist zuzugeben. Um so wichtiger mußte es
daher dem Verfasser sein, als er, lange nachdem er seine Ansicht trotzdem nicht
anders niedergelegt hatte, bei einer nochmaligen Durchsicht der Abhandlung
Schibers dessen Äußerung entdeckte, daß dieser „sich die deutschen Siedler des
Reußtales nicht vom Gotthard sondern vom Sustenpasse kommend denkt"
(Z. A. 1903. S. 72. A. 1.).
Auch Schulte (Schu. S. 217 f., S. 171 f.) ist hinsichtlich der Art der treibenden
Kraft derselben Ansicht; er legt jedoch die Richtung dieser ganzen Bewegung
von Nord nach Süd, nicht von Süd nach Nord.
22.
Oehlmann (Oe. II. S. 188), der bei der Reise des Kaisers von Trient nach
Chur zunächst an die gerade Linie denkt, gerät dabei richtigerweise zunächst
auf den Ofenpaß, wenn man nicht aber überhaupt bei jenem überraschenden,
energischen Entschluß auch an andere ungewöhnliche Alpenwege denken kann.
Bemerkt sei, daß — aber doch wohl ohne jeden besseren Grund — für die
rweite Hälfte dieser Reise sonst zumeist der Julier genannt wird (M. Schw. S. 82;
Da. I. B. S. 147, wo übrigens auch die Jahreszahl 1215 steht. Vgl. auch Schu. S. 91).
23.
Ein Unglück ist es nicht, wenn darüber so viele verschiedene Meinungen
existieren, wie weit ostwärts in die Alpen sich die Grenze des alemannischen
Anbinge. 297
Vordringens erstreckt hat. Wir sind, wie einem alten guten Hausmittel der
Ansicht Steubs gefolgt, der auch einmal gesagt hat, „daß an der Malser Haide
die letzten Schwaben wohnen". Beda Weber (B. W. S. 18 f.) läßt Alemannen aus
dem Oetztal auch in das Hinterpasseier kommen; im Sarntal sind die Bauern-
häuser jedenfalls ganz den schwäbischen ähnlich, und nach Christomannos (Z. A.
1900. S. 323) soll dies hinsichtlich der Mundart sogar bei den Bewohnern
Dcutschnofens der Fall sein. Neuerdings (54. G. Pr. Innsbruck S. 36) hat freilich
Zoesmair wieder die Alemannen mit Stumpf und Stiel aus ganz Tirol verbannt.
24.
Auch die Vornamen der alten Eppaner Grafen bestätigen diese Tatsache;
denn bei ihnen findet sich nicht nur der bei den alten Weifen besonders charak-
teristische Elicho = Egno, sondern auch alle anderen gebräuchlichen wie Heinrich
und Arnold.
Nach Atz (Atz. S. 5) liegt bei Leifers ein Seslbrunnen = Ezilobrunnen, ein
Name, der daher auch mit diesem Geschlecht zusammenhängen kann. Vgl. auch
Archiv für österreichische Geschichte 63. B. S. 642.
25.
Auch die Heiligennamen an dieser Stelle (S. Johann, Anton, Georg), be-
sonders aber S. Peter und Martin, jene alten Herren, geben zu denken. Est ist
übrigens bemerkenswert, daß Neeb und Atz (N. A. S. 90), die als Ortskundige
besonders Bescheid wußten, „die hohe fernere Bedeutung der Ausmündung des
Sarntales seit älteren Zeiten" einfach als bekannt voraussetzen, als Ursache hier-
für nehmen sie aber zweierlei zugleich, einmal den Grenzschutz und ebenso die
Belebtheit des Weges durch das Sarntal an.
26.
Wenn die Tatsache auch nicht erweisbar ist, daß nach diesem Ort jener
Hartmann benannt war, der sich im J. 1168 in Susa im Gefolge Friedrich Barba-
rossas befand, so liegt sie doch um deswillen durchaus im Bereich der Mög-
lichkeit, weil ein wirklich hierher gehöriger Heinrich im J. 1220 in der Um-
gebung Friedrichs II. anzutreffen ist (Erb. S. 150). Ein anderer Ort dieses
Namens liegt bei Meißen, ein anderer in Schlesien.
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