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51
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371
Locke* s
V er f u c h
über den
menfchlichen Verftand
aus dem Englifchen übei-fetzt
mit einigen Anmerkungen und einer Abhandlung |
i\ b er
den Empirismus in der Philofophie
von
D. Willielm Gottlieb Tennemann.
ErTter Theil.
I e 11 a,
im Verlag des akademifchen Lereinftituts.
i 7 9 5.
■uwjfMwwp" qrwra *ws«»Bjpen»ir.i.
Vorrede
des
Ueberf etzers*
«ine neue Ueberfetzung von Locke' e
Verfuch über den inenfchlichen Verftancl
dürfte leicht als eine nach dem jetzigen Zu«
ftande der Philofophie ganz überllüfsige Ar-
beit angefehen werden. Wozu, könnte man
Tragen, ein fo weitläufiges Werk überfetzen,
in dem nichts gefagt ift, das nicht feit dem
weit befler und gründlicher abgehandelt wor-
* Ä den
iv Vorrede
den; das neben manchem Guten doch auch
viel Unrichtiges enthält? Und wenn es auch
lauter Wahrheiten in fich fafste, fo find es
doch nun langft bekannte Sachen, welche
durch de-n Stil und den Vortrag des engli-
fchen Philofophen keinen neuen Reitz, kei-
ne neue Empfehlung erhalten. Seine Phila-
fophie und Sprache erhebt fieli nicht über
das Mittelmäßige • er gehet in keiner Unterfu-
chung auf die letzten Gründe zurück, er er-
fchöpft keinen Gegen ftand ; und man fucht
daher vergebens Auffchlüfse über irgend ei-
ne intereflante Speculation oder Idee, Er
trägt nur das vor, was dem gemeinen Men-
fchenverftand , ohne tiefe Forfchungen, Er-
örterungen und Demonftrationen einleuch-
tet, und fchreibt daher auch für keine Phi-
lofophen im ftrengen Sinne diefes Worts,
fondern vielmehr für die zahlreichere Klaffe
von Menfchen von gefundern Verftand. Und
auch für diefe ift fein Buch nicht zweckmä-
fsi*
desUeberfetzers, v
fsig, weil es zu trocken und ohne gefälli-
ge Darftcllung gefchrieben ift. Was für Nu-
tzen foll man alfo von einem Teichen Werke
erwarten. Ift nicht eineUeberfetznng davon
etwas Ueberflüfsi^es, deflen wir in diefen
fchreibfeligen Zeiten fchon fo genug haben ?
Diefe und andere Einwendungen hat fich
der Ueberfetzer felbft Oft vorgehalten , und
er war daher lange unfchlüfGg, ob er diefe
Arbeit übernehmen oder aufgeben follte.
Nach reiflicher Ueberlegung aber fand er auf
der andern Seite eben fo ftarke Gründe, wel-
che für diefe Unternehmung fprachen; und
er liefs fich endlich durch die letzten , wozu
noch die eigne Aufforderung des Verlegers
kam, beftimmen. Davon mufs er jetzt dein
Publicum einige Rechenfchaft ablegen.
So fehr auch die Lockjfche Fhilofophie
von Seiten der Popularität und des Mangels
5 an
vjt Vorrede
an Gründlichkeit vielleicht Tadel verdienet,
fo ift ße doch an Geh und durch die Folgen,
die weitaus fehend genug find, immer eine
merkwürdige Erfcheinung gewefen. Locke
hatte denfelben Zweck als Kint. Er wollte
den Inhalt und Umfang des menfchlitheu
Verftandes beftimmen, und durch Feftfetzung
feines Gebiets der Philo fophie nicht nur eine
fichere Grundlage vorbereiten , fondern auch
aus ihr die Streitfucht und den Geift des Zwei-
fels verbannen. Wenn nun gleich die Ausfäh-
rung dem Zweck nicht entfprach, fo ift doch
diefer H.hon an fich wichtig genug, dafs er euch
]'etzt noch die Aufmerkfamkeit auf diefePhi-
lofophie lenken kann, und er erhält dadurch
noch mehr Intcrefle, dafs in der neueften
Epoche der Philosophie die Kritik des Ver-
ftandesvermögens das Haupthema worden ift.
Es ift wahr, dafs man in dem ganzen
Werke nicht viel neue oder unbekannte
Ideen
des Ueberfetzers. vir
Ideen findet; allein eine Vergleichung mit
der kritifchen Philöfophie wird doch immer
noch merkwürdige Stellen genug aufwei«
fen , in welchen Locke fich den Ideen des
Königsbergifchen Philofophen mehr oder we-
niger näherte, z. B. die Unendlichkeit der
Vorfiellung von Zeit und Raum wegen der
unendlich möglichen Synthefis; andere, wo
er Winke auf fruchtbare Unterfuchungen
hinwirft, die dem künftigen Nachdenken
aufbewahret blieben , und nun durch die kri-
tifche Philöfophie wirklich ausgeführt wor-
den find, z, ß. der Wink von der Unzertrcnn-
lichkeit der Zeit und des Raums 2 B. i5Kap»
§. r2. am Ende. Ueberhaupt ift es interer-
fant, die Lockifche Philöfophie mit der Kri-
tifchen zu vergleichen , und zu bemerken,
wie die erftere von der letztern abweicht
und wie jene meiftenlheils nur Sätze undRe-
fultate aufstellt, zu welchen erft durch die
letztere die wahren Gründe entdeckt wor-
* 4 den
vm Vorrede
den find , wie man z. B. in den Kapiteln
von Zeit, Raum, Subftanz finden wird.
Das ganze dritte Buch ift reich an fcharfün-
nigen B^merkuu^en über die Sprache in phi«
lofophifcher Hinficht,
Es iß wahr, Loeke's Verfuch über den
jnenfchlichcn Yerftand ift nicht fovvohl eine
Speife für die Starken als für die Schwachen.
Die Urfache davon liegt darin, dafs er eine
Philofophie, welche für Jedermann faßlich
und rerftändlich ift, für die wahre hielt, und
d^fs er fich Gemeinnützigkeit und allgemeine
Verftändlichkeit zum Ziel fetzte, und dadurch
die W iiTenfchaft von den unnützen Specula-
tionen zu reinigen fuchte. Aber eben darum
giebt es noch immer eine grofse Amahl von
Lefern , welche auch die lc ichtere Phi-
lofophie eines Locke intereffiren kann.
Denn für diefe enthält fie noch immer Nah-
run»
des Ueberfetzers.
ix
Hing genug für den Verftand, und vielfälti-
gen Stoff und Anlafs zum Nachdenken.
Doch wir wollen hier von dem Inhalte
abftrahiren, und nur bei den Folgen ftehen
bleiben, welche das L o <■ k f c h e Svftem gehabt
hat. Es ift wohl nicht zu leugnen, dafs die-
fes mehr Anhänger und Vertheidiger gefun-
den hat, als jedes andere, felbft als das Leib»
riitzifche. Eine grofse Anzahl von Philofo-
phen in Deutfchland fo wie in andern Lan-
dern betrachtete die Philofophie des Lecke
als die wohlthätigfte Eifcheinung, als die einzig
wahre Philofophie, oder doch als die Grund-
lage zu derfelben; fie fchöpfterj aus derfelben
ihre Grundfätze, welche fie weiter entwikel-
ten, mit neuen Eleweifeii unteriiuUten, und fo
in eiuer andern Geftalt fchriftlich, und münd-
lich lehrten. Es ift hier nicht der Ort zu
unterfuchen, worauf üchdiefe grofse Ausbrei-
tung der Lockifchen Philofophie gründet,
* 5 genug
x Vorrede
genug es ift eine ausgemachte Thatfache, dafs
fle auf den (rang der Pbilofophie in neuern
Zeiten einen fehr groTsen Einflufs hatte*
Selbft Hurne gieng bey feinem Skepticismus,
wodurch er alle dogmatifche Syfteme beitritt,
von Lock s Grui:d(itz von dem empirifchen
Urfprunge aller Vorfteilungen aus. Auch
jetzt noch machen die Anhänger des empiri«
fchen Dogmatisinus oder der Lockifchen
Pbilofophie bei dem Streite, in welchen die
kritifche Philosophie mit der dogmatifchen
verwickelt ift , keine unbeträchtliche Parthie
aust
Eine Philofophie, die alfo in gewiiTen
Rückfichten noch immer , theils Einflufs auf
die Beurtheilung philofophifcher Schriften
und Verfuche hat , theils felbft Object der
Beurtheilung der kritifchen Philofophie ift,
verdient auch jetzt noch eine nähere Betrach-
tung und Kenntnifs, Und woher kann diefe
.befler
des Ueberfetzers» xi
beiTer gefchöpft werden , als aus dem Origi-
ginale oder aus einer treuen und lesbaren
Ueberfetzung ?
Das Original iß aber feiten, fo wie es
mit mehreren englifchen Werken ift, und
eine vollkommene Ueberfetzung ift davon
noch nicht vorhanden. Von den frarzöfi-
fchen kann ich nichts Tagen, weil ich fie
nicht mit dem Original verglichen habe; de
intereffiren uns Deutfche aber auch weniger,
als die Ueberfetzungen in unfre Sprache.
Die einzige bisher erfchienene deutfche
Ueberfetzung von Poley* Altenburg 1767»
4. ift nicht nur fehr weitfehweifig, Jchlep-
pend und daher äufserft unangenehm zu le-
fen , fondern hat auch nicht einmal durch-
gängig das Verdienft der Treue, Es wäre
überflüfsig, diefes Urtheil noch mit Belegen
zu unterfuchen; der blüfse Aofchein fchon
kann, Jeden von der Richtigkeit deflelben
über-
-Mi Vorrede
überzeugen. Aber kann nicht der Auszug
aus I ockes Werk, weichen Tittel Mann-
heim 179? 8. herausgegeben hat, die Stelle
einer Ueberfetznng vertreten, und hat diefer
nicht wohl gar Vorzüge vor einer Ueberfe-
tzung, da er mit Ausladung alles Ueberflüf-
(rgen und aller Wiederholungen , nur den
wefentlichen Inhalt darfteilt?' Daran zwei-
feln wir fe]ir. Ohne uns in eine Kritik die-
fer Bearbeitung und ihres Werths einzulaf-
fen, bemerken wir nur dicfs, dafs diefer
Aufzug — denn das ift es wirklich, was
Hr. Tittel geleiltet hat, ob er gleich ge-
gen diefen Titel proteftiref — fo fehr ihm
auf der einen Seite die Kürze zu ftatten
kommt , auf der andern Seite noch weit
trockener, als das Original geworden ift«
Eine Menge von fremden Worten und nicht
glücklich gebildeten Kunftausdiücken , von
denen das Original nichts weiTs, muffen
rtpthwendig dazu dienen , die Lecture
noch
des Ueberfetzers. *xiri
noch ermüdender und unintereilanter zu
machen.
Aus dieTen Gründen hielt ich eine Ueber-
fetzung diefes philofwphifchen Verfüchs kei-
nesweges für überflüfsig. Ob diefe Gründe
auch dem Publicum entfcheidend fcheineu
werden , weifs ich nicht.
Jetzt nur noch einige Worte von der
Ueberfetzung felbft. Ich habe mich beftrebt,
den Silin des Originals deutlich und richtig
darzuftellen, ohne mich fclavifch an die Wor-
te zu binden. Da der englifche Philofoph etwas
weitfchweifig fchreibt und üch oft wieder-
holet, fo fchien es mir eine unumgängliche
Pilicht des Ueberfetzers zu feyn , den Vor-
trag, fo viel als ohne Verluft für den wefent-
lichen Inhalt und ohne Nachtheil für den
Stil der Ueberfetzung gefchehen konnte, zu-
fammenzudrängen und das Ueberilüfsige zu
be.
Xiv V o r i e d e
befchneiden. Dem ungeachtet ift die Ueber-
fetzung wegen des kleinen Formats fo bo-
genreich geworden, dafs der erfte Band nicht
das Zweite Buch ganz fallen konnte» Das
Ganze wird daher drei Bände ausmachen»
Die Eintheilung des Originals in Bücher,
Kapitel und Paragraphen nebft deren Ueber-
fchrift ift beibehalten worden»
Ich habe bei der Ueberretzung die zehnS
te Ausgabe des Originals gebraucht. An
Effay concerning human Underftanding. In
four Books, written by John Locke
Gentl. The tenth Edition with lar?e Additions.
London 1701. 8. Die Zufätze find meiftens po-
lemischen Inhalts und daher auch nicht mit
üb er fetzt.
Hier und da find einige kleine Anrner«
kungen hinzugekommen , welche vorzüglich
den Zweck haben, auf Locke's Getichis-
punct
des Ueberfetzers, xr
punct aufmerkfam zu machen , und einige
Stellen zu erläutern. Die Behauptungen des
Locke zu prüfen, zu beurtheilen, rwit der
kritifchen Philofophie zu vergleichen , oder
auch zu widerlegen, fchien mir nicht zweck-
mäßig zu feyn , und ich würde dadurch das
Buch, das vielleicht fchon zu weitläufig ift,
nur noch mehr vergrößert haben. Wer
Luft und Beruf zu diefer Art von Geiftesbe-
fchäftigung hat, wird es auch ohne Anmer-
kungen, und mit defto mehr Nutzen und Ver-
gnügen thun , je weniger ihm dabei vorge-
arbeitet ift. Und für andre waren folche
Anmerkungen doch ohne Zweck. Anftatt
derfelben fchien es zweckmäfsiger zu feyn
am Ende des ganzen Werks noch eine Ab-
handlung über den Empirismus in der
Philofophie beizufügen , welche die Ver-
anlagung, den Geift und den Einfluß der
Lockifchen Philofophie im Allgemeinen
darftellen foU.
Wenn
xvl Vorrede des lieber fetzers.
Wenn diefe Ueberfetzung Beifall findet,
fo werde ich nach Beendigung derfelben
Leibnitzens Verfuch über den menfch-
lichen Verftand auf ähnliche Art bearbeiten.
Vor-
Vorrede
des
Vcrfaffers.
••■ch übergebe hier dem Publicum ein Werk,
welches mich in einigen leeren und traurigen
Stunden angenehm befchäftiget hau Ifi es
fo glücklich, dafs es auch dem LeTer pine
angenehme Befchäftigung und nur halb To
viel Vergnügen bey der Lecture, als mir bei
der Ausarbeitung gewahret, fo wird er fo
wenig fein Geld als ich meine Mühe für übel
xvnt Vorrede
angewendet halten. Man glaube nicht , date
ich damit mein Buch empfehlen will, oder
dafs ich zu fehr dafür eingenommen bin,
weil mir die Ausarbeitung defielben Vergnü-
gen machte. Wer die Falken auf Sperlinge
und Lerchen lofsläfst, hat eben fo viel Ver-
gnügen, als wenn er auf bedeutendere ^ ö^el
Jagd macht. Und derjenige hat fehr wenig
Kenntnifs von dem Gegei ftande diefer Ab-
handlungen, der nicht weiTs, dafs in dem
Verhältnifle , alö ad Verfiand das erhabenfie
Vermögen der Seele iit, die Befchäfii^ung
mit demfelben auch ein weit gvöf eres und
dauerhafteres Vergnügen gewähret, denn jede
andre Geiftesarbeit. Das Forfchen des Ver-
ftandes ift eine Art von Falknerei und Jagd
wobei das Nachjagen felbft nicht den klein-
sten Theii des Vergnügens ausmacht. Jeder
Schritt, den der Verftand in dein Streben
nach Erkenntnifs vorwärts thut, führt eine
Entdeckung herbei , welche, wenigftens zu
def
des Verfaffers. xrw
der Zeit, nicht nur neu fonderh auch die
voizüglichfte ift.
Der Verßand urtheilet, wie das Auge von
den Objecten nur allein durch leine eigne
* Anficht; alles was er entdeckt, mufs ihm
Vergnügen gewähren, was ihm entgeht,
macht ihm keine unangenehme Enpfiutlung,
weil er es nicht kennt. Wer zu gTofs denkt,
Um vou Allmofen und den Brocken erborg-
ter Meinungen in Trägheit zu leben, und
wer fein eignes Denkvermögen in Thätigkeit
fetzt, um die Wahiheit 2U finden und za
befolgen , der wird nie des Vergnügens ver-
fehlen, er finde, was er wolle ; jeder Augen«
bli< k feines Nachforfchens wird feine Bemü-
hung mit einigen angenehmen Gefühlen be»
Johnen , und wenn er fich auch keiner gro-
ssen Ausbeute rühmen kann, fo hat er doch
nie Üf fache, <;ie darauf gewandte Zeit alg
verfchwendet zu bedauern.
xx Vorrede
So iß das Vergnügen derer, welche ihren
eignen Gedanken freien Spielraum geben^
und nur das Selbftgedachte zu Papier brin*
gen , und der Lefer follte fie darum nicht
beneiden, weil fie ihm einen ähnlichen Ge-
nuls bereiten , wenn er bei dem Lefen mit
felbft denken will. Auf folche felbft gedach-
te Urtheile und Gedanken der Lefer berufe
ich mich; find fie aber von andern auf Treu
und Glauben angenommen* fo intereffiren fie
mich wenig; denn fie haben nicht die Wahr-
heit, fondern kleinere Rückfichten zum
Zweck. Es verlohnt fich nicht der Mühe,
lieh um das zu bekümmern , was einer fagt
und denkt, der nur andern nachbetet. Wenn
der Lefer nach eigner Einficht urtheilet, fo
bin ich überzeugt, dafs fein Unheil lauter
ift . und dann falle es aus, wie es wolle, es
kann mich weder beleidigen noch kränken.
Obgleich das Buch nichts enthält, von deflen
Wahrheit ich nicht völlig überzeugt bin , fo
weifs
des Verfaff er s, xxr
weifs ich doch zu gut, dafs ich eben fo
leicht irren kann, als der Lefer , und dafs es
mit ihm ftehen und fallen inufs, nicht durch
meine, fondern durch feine Meinung von
demfelben« Wenn ein Lefer wenig neues
oder belehrendes in demfelben findet, fo
darf er mir diefes nicht zum Tadel anrech*
nen. Denn es war nicht für diejenigen, wel«
che den Gegenftand fchon begriffen haben,
und mit ihrem eignen Verftandesvermügen
vollkommen vertraut find, fonJern zu meiner
eignen Belehrung und für diejenigen Freun-
de beftimmt, die fich überzeugt halten , dafs
He diefen Gegenftand noch nicht befriedi-
gend unterTucht hatten. Wenn ich nicht be-
fürchten dürfte, dem lefer mit der Gefchich«
te diefes Verfuchs befchwerlich zu fallen , fo
würde ich ihm erzählen , wie fünf bis fechs
von meinen Freunden bei einer Zusammen-
kunft fich über einen von diefer Unterfu-
chung ganz entfernten Gegenftand unterre-
* * 5 | ■•,
xxir Vorrede
deten. Sie fahen fich bald durch die Scbwie=
rigkeiten , welche fich von allen Seiten her-
vorthaten, fo in die Enge getrieben, dals
fie nicht weifer konnten; und ob fie fich
gleich eine Zeitlang alle Mühe gaben, die
Zweifel , in welche fie fich verwickelt hat-
ten, aufzulöten, fo kamen fie doch keinen
Schritt weite*« Diefes brachte mich auf den
Gedanken, dafs wir einen ganz verkehrten
Weg giengen, und dafs vor allen Speculafio-
nen diefer Art eine Unterfuchung über das
Vermögen des Verbandes und über die Ob-
jecte, welche in feiner Sphäre liegen, unum-
gänglich nothwendig fey. Ich theilte das
der Gefellfchaft mit, und Ce ftimmte fogleich
bei, es wmrde daher befchloffen , dafs diefe
Unterfuchung unfre erfte BefchäfMgnng fern
follte. Einige flüchtige noch nicht verarbei-
tete Gedanken, über diefen vorher noch
nicht in Betrachtung gezogenen Gegenftand,
welche ich für unfre nächfte Zufaiamenkunft
nie-
eles Verfaffers. xxm
niederfchrieb, waren der erfte Anfang zu die-
fer. Abhandlungen, welche durch einen Zu-
fall veranlagt und auf das Bitten der Gefell-
fchaft fortgefetzt wurden. Ich arbeitete eini-
ge unzufammenhängende Theile aus, liefs die
Unterfuchung eine Zeitlang liegen, nahm fie
wieder auf, nachdem es meine Gemüthsftim-
mung und äufsere Verhältniffe erlaubten, und
brachte endlich in einer glücklichen ]\7nfse,
welche die Sorge für meine Gefundhc-it mir
verfchafte, das Ganze in die gegen waitige
Ordnung,
v
Diefe öftere Unterbrechung in der Aus-
arbeitung kann anfser andern zwei entgegen
gefetzte Fehler veranlagt haben, daf* ich
xiehmüch zu viel ut.d zu wenig gefegt habe;
Wenn der Lefer zu wenig findet, fo werde
ich mich freuen, dafs c}.\s was fch gefchrie-
feien habe, einen Wunfeh nach Mehreren bei
ihm erzeugt; fcheint ihm das Werk aber zu
\ weit-
xxiv Vorrede
weitläufig, fo mufs er dem Gegenftande die
Schuld davon heimeilen. Denn da ich zuerlt
die Feder anfetzte, glaub'e ich alles, was
darüber zu Tagen wäre, in einen Bogen zu-
fammenzufaffen. Allein mit jedem Schritt
vorwärts öffnete fich eine Ausficht auf ein
gröTseres Feld ; neue Entdeckungen führten
mich immer weiter, und fo wuchs das Buch
unvermerkt zu der Gröfse an. Es ift wahr,
es hätte etwas kürzer abgefafst werden kön-
nen, und manche Theile könnten wohl et-
was gedrängter feyn, weil die theil weife
Ausführung und die öftere Unterbrechung
natürlich viele Wiederholungen veranlafste •
aber ich bin, die Wahrheit zu gefiehen , jezt
theils zu träge, theils zu befchäftiget , um es
abzukürzen»
Ich weifs nur zu wohl, difs ich nicht
y
lehr für meinen fchriftfiellerif^hen Ruhm be-
dacht bin , wenn ich diefes Werk mit einem
Feh-
des Verfaff ers. xxr
Fehler erscheinen lafle, welchen die Lefer
von Beurtheilungskraft, die immer am we-
nigften zu befriedigen find, ahfehrecken kann.
Wer aber weifs, dafs die Trägheit allezeit
einen Vorwand zur Befchünigung findet, wird
mir verzeihen, dafs ieh mich von ihr über-
wältigen liefs, zumal da ich eine fehr trif-
tige Entfchuldiguug für mich anzuführen ha-
be. Ich will daher zu meiner Rechtferti-
gung nicht anführen , dafs ein Begriff nach
feinen verfchiedenen Beziehungen zur Er-
läuterung oder zum Beweife yerfchiedener
Theile einer und derfelben Abhandlung ge-
braucht werden kann oder mufs; ich gelte-
he vielmehr offenherzig, dafs ich in einer
ganz andern Abficht bei manchen Lehren
lange verweilt, und fie auf verfchieilene Art
vorgetragen habe Diefer Verfuch iß nehm-
lich nicht zur Belehrung fcharffinniger und
geübter Deiker beftimmt; — ich bekenne
mich für einen Schüler diefer JYleiftcv t!er
* * 5 menfeh-
Ä'xvr Vorrede
menfchlichen Erkenntnifs, — und ich raufs
(ie. daher im Voraus warnen , dafs fie hier
nichts anders erwarten , als was aus meinen
eignen grobem Gedanken ausgefponnen und
Menfchen von meiner Fähigkeit ange-
raeffen ift. Diefen wird es vielleicht nicht
unwillkommen feyn, dafs ich mir einige Mü-
he gegeben habe, gewiffe Wahrheiten, wel-
che durch eingerillene Vorurtheile oder ihre
abfrrakt?n Begriffe Schwierigkeiten haben,
für ihr GedankcnJyitein klar und fafslich zu
machen. Einige Objecto muffen von allen
Seiten betrachtet werden j und neue Begriffe»
dergleichen einige in diefern Werke vorkom-
men, oder doch wenigftens manchen von
den gewöhnlichen abweichend fcheinen möch-
ten , finclcu nic-ht bei Jedermann Eingang,
oder laffen doch keinen dauerhaften, klaren
Eindruck zurück, wenn de nur von einer
Seite dargefiellt werden. Es giebt wohl we-
rngs Menfchen, welche nicht bei (kh und
andern
des Verfaffers. xxvit
andern die Beobachtung gemacht haben, dafs
eine Sache, welche durch eine Art des Vor-
trags dunkel blieb, durch andere Ausdrücke
auf einmal klar und verftändlich wurde,
wenn es fich gleich nachher entdeckte, dafs
der Unterfchied fo unbeträchtlich war, dafs
man lieh wundern mufste, warum die eine
Art der Darfteilung weniger verftändlich war,
als die andre. Einerlei Sache wirkt nicht
auf jedes Menfchen Einbildungskraft auf ei-
nerlei Art. Bei dein menfehlichen Vevfiande
finden eben fo viele Unterfchiede ftatt als bei
dem Gefchmackorgan. Wer glaubt, dafs ei-
ne und diefelbe Wahrheit in einerlei Gewän-
de jedem gefallen kann , der mag auch hof-
fen , dafs Jederman einerlei Zubereitung des
Speifen fchmackhaft finden werde. Eine gu-
te nahrhafte Speife ift doch manchen mit die-
fem oder jenem Gewürm zuwieier; fie mufs
auf eine andere Art zugerichtet werden,
wenn fie andern, die fonft einen guten Ma*
gen
xxviii Vorrede
gen haben, behagen foll. Die Wahrheit ver-
hält fich hier eigentlich fo. Diejenigen, wel-
che mir riethen, diefen Verfuch bekannt zu
machen, fanden auch zugleich für gut , ihn
fo dem Publicum zu übergeben , wie er ift»
Und da ich mich einmal dazu habe bereden
lallen, fo wünfcht ich auch, dafs das Buch
von jedem, der fich die Mühegiebt, es zu.
lefen, verftanden werde. Ich habe fo we-
nig Eitelkeit für die Schriftftellerti, dafs die-
fer Verfuch wahrfcheinlich in dem Kreife
einiger Freunde geblieben wäre, die die er-
fte Veranlaffung dazu gaben, wenn man mir
nicht mit der Hofnung geschmeichelt hätte,
dafs er für andere nützlich feyn könne, fo
wie er es mir gevvefen ift. Da al(o der ein-
zige Zweck des Drucks Gemeinnützigkeit
war, fo hielt ich es für nothwendig, alles
was ich zu Tagen hatte, für alle Klaffen von
Lefern fo leicht und verftändlich zu machen,
als nur immer müglieh war« Und ich wollte
lie-
des Verfaffers» xxix
lieber , dafs fcharffmnige und fpeculative
Köpfe hie und da über ermüdende Weitläa.
figkeit klagen, als daTs ein Lefer, der an ab-
ftractes Denken nicht gewöhnt oder durch
abweichende Begriffe eingenommen ift, mei-
ne Meinung nicht fallt ii» oder raifsverftehen
füllte.
Es wird mir vielleicht als eine grofse Ei-
telkeit und als Stolz ausgelegt werden, dafs
ich unfer aufgeklärtes Zeitalter belehren will ;
denn auf nichts geringeres fcheint das Ge-
ftändnifs hinauszulaufen, dafs ich diefen Ver-
fuch, in der Hofnung, er werde für andre
nützlich feyn, bekannt mache. Allein wenn
ich offenherzig meine Meinung von denjeni-
gen fagen foll, welche mit verftellter Befchei-
denheit alles, was fie felbft fchreiben , als un*
nütz veniTtheilen, fo fcheint es mir noch
weit mehr Eitelkeit und Stolz, zu verrathen,
wenn man ein Buch zu einem andern Zweck
her-
xx» Vorrede
herausgiebt, Gewifs , derjenige fetzt die
fchuldige Achtung gegen das Publicum febjr
ans den Augen, der ein Buch drucken läTstj
und folglich erwartet, dafs es wird geleferi
werden , und doch nicht die Abficht haben
will, dafs die Lefer etwas Nützliches indem-
felben für fich und andere finden follen.
Wenn auch an diefern Buche nichts lobens-
Würdiges gefunden wird . fo wird man doch
die Abficht billigen müffi n , und die Güte
derfelben follte fcbon den geringen Werth
des Gefchenks eptfchuldigen, Diefes ift es,
was mkh hauptfächlich gegen die Furcht des
Tadels fiebert , dem ich noch weit weniger,
als beffere^Schriftfteller entgehen werde.
Bei der fo grofsen Verfchiedenbeit der
Grund Tatze, der Begriffe, und des Gefchmacks
der Menfchen , ift es fchwer, ein Buch zu
finden, das allen gefiele oder mifsfiele. Ich
erkenne, dafs unfer Zeitalter wegen gröfse-
*er Verbreitung der Kenmnifls fchwerer als
fünft
des Verfaffers. xxxi
fonft zu befriedigen id. Bin ich nicht fo
jplü. ktich zu g-fallen, fo hA\ dach niemand
Urfache haben , auf mich böTe zu feyn .
denn ich erkläre allen meinen Lerern, ein halb
Dutzend ausgenommen, da;s die er V'evfuclj
anfänglich nicht für fie beftimmt war, und
fie d üifen fich keine Unruhe darüber ma-
chen, daTs ße in die'er Zahl nicht find. Doch
wenn jemand Urfache zu haben glaubt dar-
über zu zürnen und zu fpolien, fo mag er
es nngeßöhrt tbun; ich werde mit etwas
befferen als folchen Unterhaltungen meine
Zeit auszufüllen willen. Dns Bewurstfeyu
mit Lauterkeit Wahrheit und Gemeinnützig-
keit beabfichtrget zu haben, obgleich durch
ein fehr geringes Mittel , wird mich allezeit
fehadlos halten. Es fehlt der gelehrten Ile
publik zu die'er Zeit nicht an gr0fsen Mei-
ftern, deren erhabene Ideen zur fceförde'-
rnng der WifTenfchaften evtfge Denkmäler
der Bewunderung für die Nachkommen He*
ben
xxxi* V o r r e d e.
ben werden ;" aber nicht jeder darf hoffen ein
Boyle oder Sydenhara zu feyn. In
einem Zeitalter, welches einen Huygen,
Newton und andere Genies diefer Art her-
vorbrachte, ift es fchon ehrenvoll genug,
als ein Handlanger zur Auhäumung des Bo-
dens und HinwegfchafFung des Schutts, der
auf dem Wege der Erkenntnifs liegt, gebraucht
zu werden. Das Gebiet der Erkenntnifs
würde unftreitig weit mehr gewonnen haben,
wenn die Bemühungen thätiger und ein-
fichtsvoller Männer nicht durch den fchulge-
rechten aber zwecklofen Gebrauch von bar-
barifchcn , gezwungenen und unverftändli.
chen Kunftworten in den Wiffenfchaften
wären gehemmt, und daraus eine Kunft ge-
macht worden, dafs die Philofophie, die doch
nichts anders , als die wahre Erkenntnifs der
Dinge ift, aus dem Kreis gebildeter Gefell-
fchaften und geiftreicher Unterhaltung als
untauglich ausgefcblofcen wurde» Schwan-
kende
des Verfa ffers, xxxrit
fremde und finnlope Ausdrücke und Mif%bräut
che der Sprache haben , fo lange für Ge-
fceEmniile der VViilenfchaft gegolten; Tauho
und unglüc!' ■ iich angewendete Worte ohnö
viel Bedeutung find chon fo lange im Beiuz.
|itand,für die tieffre Ge.'ehrfamkeit und die hoch-
Iten Speculario'nen gehalten zu werden, dafs
es äufserft Ich wer ift, fowohl diejenigen,
welche Geh derfelberi bedienen , als diejeni-
gen, welche fie hören , zu überzeugen, dafs
fie ein Deckmantel der Unwillenheit, und ein
Hindernifs wahrer Erkpnmnifs Find. ich
glaube, man thut dem menfthhehen Verftand
einen Dierift, wenn man den geheiligt*- a
Tempel der Euelkt-it und der UnwiflVriheÄ
beftürmt. Da die Ueberzeugung , dafs watf
durch d^n Gfbrauch von VVcmen gpiaulcht
wird, oder andere täurcht, oder dafs die
Kanfifpriche einer Secte einen Fehler ent-
halt, der einer L'nterfuchung oder BeiTerun^
fcedüjftig ift, fo feiten ift , fo darf ich wohl
"i f * -17
V er-
xxxiv Vor rede
Verzeihung hoffen, wenn ich mich im drit-
ten Buche etwas lange bei diefer Sache ver-
weilte, und fie fo überzeugend darzullellen
fuchte, dafs niemand mehr weder in dem
Alter des Irrthums, noch in der herrfchendeo
Mode eine Entfchuldigung finden foll, wenn
er fich die Mühe des Nachdenkens über den
Sinn feiner Worte erfparen, oder andern die-
fe Unterfuchung verwehren will»
Ein kurzer Auszug aus diefem Werke,
welcher 1688 erfchien, ift, wie ich gehört
Labe, von einigen ohne ihn geiefen zu ha-
ben, blos deswegen verurtheilt worden,
weil die angebomen Ideen in demfelben ge-
leugnet werden. Sie fchlofsen zu voreilig»
dafs ohne Vorausfetzung diefer die Möglich-
keit eines Begriffs und Beweifes für das Da.
feyn der Geifter beinahe völlig abgefchnitten
fey. Wenn vielleicht der Anfang diefes Bu-
ches eben fo anftöfsig ift, fo wünfehe ich
nur
des VerfafTers. xxw
nur, daTs man es völlig durcblefe; man wird
fjch dann, wie icti bnffe. überzeugen, dafe
die Hiimegräuiming faücher Gründe anftait
fchädlicb vieinehT vorteilhaft für di& VVahr-
heit ift, Das gröfsie Unrecht, das man der
Wahrheit anthun , und die grörste Gefahr, in
welche man fie fetzen kanu, i.1 die Ver-
inifchung mit dem Faifchen und die Gründung
auf Irrthümer«
Der Verleger würde es mir nicht verzei-
hen, wenn ich nichts von der zweiten Aus-
gabe fagte. Er verfprath durch den corre-
cten Druck diefer die vielen Druckfehler
der erftern wieder gut zu machen. Auch
mache ich auf fein Verlangen bekannt , daTs
ein ga< z neues Kapitel über die Identität,
und noch an v er'chiedenen Orten V erbefferun-
gen und Z, ätze hinzugekommen find. Dich
ftuts ich den Leier benachrichtigen, dafs al-
lfes ud» iiitiits ganz Puues. lundein giö.'sten-
♦ * * 2 iUüits
xxxvi V onede
theils Bestätigung oder Erläuterung des fchon
geboten ift, die mir nüthig fchien, um Mifis-
verltaudnifsen mancher Behauptungen der
erften Ausgabe vorzubeugen. im Wefentli-
chen ift nichts geändert worden , aufser etwa
in dem 2i Kap, des 2 Buchs.
Was ich dafelbft über Freiheit und dea
Willen gefchrieben habe, fehlen "mir die
forgfältigfte Unterfuchung zu verdienen.
Denn diefe Gegenftände haben alle Denker
zu allen Zeiten fehr befchäftiget, und ei find
daraus viele Streitfragen und Schwierigkei-
ten hervorgewachfen, welche die Moral und
die Theologie, deren Erkenntnifs für die
Menfchen von der gröfsten Wichtigkeit ift
nicht wenig verwirrt haben. Nach einer
aufmerkramrn Beobachtung der Wirkungen
des menfehlichen Gemüths, und nach einer
fchärfem Unterluchung der Bewegungsgrün-
de und Zwecke, wodurch fie beftimmt- wer»
dejQ
des Verfaffers.
XXXVII
den, fehe ich mich genöthiget von meinen
vorigen Gedanken über den letzten Beftim-
mungsgrund des Willens zu willkührlichen
Handlungen etwas abzugehen. Diefes Ge-
ftänduifs lege ich dem Publicum mit eben
foviel Freimüthigkeit und Offenherzigkeit
v&r, als ich in der erften Ausgabe meine
wahren Ueberzeugungen bekannt machte*
Denn ich halte es für eine gröfsere Pflicht,
feine eigne Meinung zu widerrufen , wenn.
he mit der Wahrheit ftreitet , als die eines
andern zu beftreiten. Ich fache allein Wahr-,
lieit, und fie wird mir allezeit willkommen
ieyn, woher fie auch kommt.
Bei aller dieTer Bereitwilligkeit, eine Mei-
nung aufzugeben, oder etwas Gefchriebenes
zurückzunehmen, fo bald als ich von der
Unwahrheit deflelben deutlich überxeugt bin,
rrsufs ich doch geftehen , dafs ich nicht fo
glücklich gewefen bin, in den Einwürfen
* * * 3 wel-
xxxvin Vorrede
welche gegen diefen Verfuch gedruckt wor-
den find, einige Aufklärung oder einigen
Grund zur Aenderung meiner Behauptung in
den ftrittigen Puncten zu finden. Es fey, dafs
deT Gegenftand diefer Unterfuchung etwas
mehr Nachdenken und Aufmerkfamkeit erfo-
dert, als flüchtige zum wenigften eingenom-
mene Lefer fich gerne auferlegen laffen, oder
dafs meine Behandlungsart und Ausdrücke
ihn in eine Wolke gehüllt, und für den Ver-
band andrer unzugänglicher gemacht haben :
fcnrz ich finde mich oft mifs verbanden, und
nicht immer fo g'ücklich, den wahren Sinn
meiner Behauptungen getroffen zu fehen.
Die vielen Beispiele davon berechtigen mich
und den Lefer zu dem Scblulfe, dafs mein
Euch entweder fo deutlich geTchrieben ift,
dafs es von denen verbanden werden kann,
welche es mit der erforde- liehen Aufmerk-
famkeitund Unbefangenheit durcblefen, oder
dafs ich mich fo unverftändlich ausgedrückt
habe,
des Verf affers, xxxix
habe, dafs es umfonft ift, das Buch von
diefer Seite verbeflem zu wollen. Weichet
von diefen beiden Fällen auch der wahre ift>
fo bin ich doch allein dabei intereffirt, und
es iit daher nicht nöthig, dem Lefer mit dem
befchwerlich zu fallen , was zur Beantwor-
tung der Einwürfe gegen verfchiedene Stel-
len könnte gefagt werden. Denn wer fie
für fo wichtig hält, dafs er glaubt, ihre Wahr-
heit oder Falfchheit verdiene eine Unterfu-
chung, der wird, davon bin ich überzeugt,
fo bald er mich und meine Gegner richtig
verfteht, einfehen können, dafs alles, was
gegen mich gefagt worden, entweder nicht
genug gegründet ift, oder mit meinen Be-
hauptungen nicht Ihreitet»
Wenn einige , die aus zärtlicher Sorgfalt,
damit ihre guten Gedanken nicht verloren
gingen, ihre Uitheile über diefen Verfuch
bekannt machten, demfelben die Ehre an-
4 thun,
XL Vorrede
thun i dafs fie denfelhen rieht für einen Ver-
tuen wollen gelten laffen, fo überl-ifle ich es
dem Publicum, ihre critifcheo \ erdienfte zu
Schätzen, Ich werde die Zeit des Lefers
nicht mit einer fo vergeblichen und undank-
baren Arbeit verlch wenden, dafis ich das
Vergnügen, welches fie fich und andern
dnreh Tchnelle Widerlegungen meines ßueüs
machen, ftöhrea füllte»
Als die Verleger Anßalten'zur vierten
Ausgabe machten, fo gaben fie mir Nach-
richt davon, damit ich dem Verfuche, wenn
ich Mufse hätte, durch zweckmäßige Zufätze
und Veränderungen mehr Vollkommenheit
geben möchte. Aufser mehreren Verhpfle"
rungen an einzelnen Stellen, roufs ich den
Leier auf eine Veränderung aufmerkfam ma-
chen , weil f:e Geh über das ganze Werk ver-
breitet, und weil fehrviel darauf ankommt,
dafs
des Veit' affers» xi4
dafs fie richtig verbanden werde» Ich habe
darüber folgendes zu fageru
Obgleich die Ausdrücke, klare, deut-
liche Vorftellungen (ehr bekannt und
gewöhnlich -find, fo habeich dach Urfache
zu vermuthen, dafs fie nicht von allen, die
fich ihrer bedienen, verftanden werden, und
vielleicht giebt lieh nur hie und da einer die
ÄTühe, fich über die Bedeutung, welche fie
für ihn und andre haben, zu verftändigen»
Ich wählte daher in den rueiften Stellen an
Itatt klar und deutlich den Ausdruck b c-
ftirntnt, (determinate , determined) weil
ich glaubte, er würde meine Leier mit dem,
Sinn meiner Behauptungen befler verftandi-
gen können. Ich verliehe aber darunter ein
gewiffes und daher beftiinmtes Objkct
der Seele, das ift, ein Object von der
Art, als es von der Seele ange-
fchauet oder gedacht wird. Eine
• **4 Vor-
xlii Voried e
Vorftellung, welche, infofern fie zu einer Zeit
ein Object der Seele und alfo beftimmt ift,
mit einem Wort oder Ausdruck als unveiän-
deriichen Zeichen deflelben Obiects verknüpft
wird, kann, wie ich glaube, füglich eine
befummle Vo r f teil u ng heifsen.
Ich will diefes etwas umftändlicher er-
klären. Durch das Wort beftimmt, in Be-
ziehung auf eine ein fache Vorftellung
verftehe ich die einfache Erfchcinung, wei-
che der Seele vorfchwebt, oder welche fie
in lieh wahrnimmt, wenn man fagt, dafs fie
diefe Vorftellung habe; in Beziehung auf ei-
ne zufam mengefetzte Vorftellung
aber nenne ich diejenige Vorftellung be-
ftimmt, welche aus einer gewiflen Anzahl
einfacher oder weniger zufammengefetzter
Vorftellungen beftehet, welche auf die Art
verbunden find, als dem Bewufstfeyn vor-
fchwebt, wenn diefe Vorftellung der Seele
ge-
des Verfaf ers, ' xliiI
gegenwärtig ift, oder gegenwartig feyn Toll-
te, wenn ein Meufch;fie mit einem Wort
bezeichnet. Ich Tage, üe follte, weil nicht
Jeder ja vielleicht keiner fo behutfam mit der
Sprache ift, dafs er nicht eher ein Wort ge-
braucht, bis er lieh die beftimrnte deutliche
Vorftellung, die er mit demfelben bezeich-
nen will, vergegenwärtiget hat. Der Man-
gel ditfer Aufmerkfainkeit ift die Urfacha vie-
ler Dunkelheiten und Verwirrungen in den
Gedanken und den fchriftlicheu Auffätzen»
Ich weife wohl , dafs keine Sprache fo
viel Worte befitzt, um die grofse Martiich-
faltigkeit von Vorftellungen , welche bei dem
Denken vorkommen , auszudrücken. Allein
demungeachtet kann doch jeder, der üch < i.
nes Worts bedient , die bcftiuimte Vor-
ftellung im Bewufsifeyn haben, zu deien
Zeichen er j< nes gebraucht, und beide follte
er unveränderlich mit einander verbinden.
fe
xliv Vorrede
fo lange er von einerlei Gegenftande fpricht»
Wer das Dicht thut oder nicht thun kann,
der macht vergeblich auf kiare und deutliche
Begriffe Anfpruch , und wo diefe fehlen,
da kann man nichts anders als Dunkelheit
und Verwirrung erwarten»
Aus diefein Grunde glaubte ich, def Auj3
druck: beftimmte Vorftellung fejr
weniger dem Mifsverftande ausgefetzt als
de/: klare, deutliche VorTtellung,
Wenn die Menfchen bei allem ihren Denken,
Unterfuchen und Disputieren folche beftimm-
te Begriffe hätten, fo würde ein grofser Theil
ihrer Zweifel und Streitigkeiten ein Ende
haben; demi ein grofser Theil derfelben,
welcher die Menfchen verwirret, hängt von
dem fchwankenden und ungewißen Gebrau-
che der Worte, oder welches einerlei ift,
von den unbeftimmten Begriffen ab, weh he
durch jene ausgedrückt werden follcn. Idi
wähle
des V e t E a f f e r 3. xlv
Wähle dah er den Ausdruck, bertimmte
Vorftellung, um damit anzuzeigen i)
das unmittelbare Objecf der Seele, ••• ei«
ches fie wdhrnimrnt und im Geficht hat,
Von dem Worte als feinem Zeichen im-
teifchieden ift; 2*) dafs eine foiehe be-
stimmte VoT-rtelluns mit dTetem rieftimm-
ten Worte, und diefes mit jener ufi«
Veränderlich verbünden werde. Durch Hül-
fe diefer beftimmten Begriffe würden die Ge-
lehrten nicht allein deutlich unterfcheiden,
wie wert ihre eignen Unterfuchungen und
Erklärungen reichten, Ibndern auch größten*
theils Streitigkeiten und Zänkereien .mit an-
dern vermeiden.
Außerdem wird der Ve: leger für nrjthfg
halten, d&ls ich den Lefer von einem Zufatz
V&n zwei ganz neuen Kapiteln, nehmlich
von der Af!ociaU'»n der VorücJlun-
gen und dem £n thu iiaim us Luuachrich»
tiso.
xlvi Vorrede des Verfaffers.
tige. Diefe und einige andere beträchtliche
Zu fätze hat er verfprochen auf eben diefelbe
Weife und zu denselben Zweck , als in der
zweiten Ausgabe gefchehen ift, eindrucken
zu lallen»
In der fechfren Aufgabe ift wenig verän-
dert und augefetzt werden, Das Neue w.is
in dem 2iften Kapitel des zweiten Buchs
vorkommt, kaun man, wenn man es für be-
deutend hält, mit geringer Alüne an den
Rand der erften Ausgabe beifchreiben.
I n n h a 1 1
XLVIX
Inn halt
des
crften Theils.
Erftes Buch»
Erftes Kapitel. Einleitung S. 1
Zweites Kapitel, Es giebt keine fpe-
cnldtiven angebornen Grnndfätze — jß
Drittes K<tpitel. Es giebt keine prakti.
fchen angebqracn Giiiiidfät7.e n0
Viertes Kapitel. Noch einige ßptrnrii.
tunken über die angebornen, fowohl
fpeeulatireii als präkludiert GrundLue 130
Zweites Buch.
Erftes Kapitel. Von den Vorfiel 1 un-
gen überhaupt S. 184
Zweites Kapitel. Von emUciien
V oriteiiuii^en - — 23o
L> nfc.
xLVnr I d n h a 1 t.
Drittes Kapitel. Von Vorfiellungen
vermittelt eines Sinnes — 2.36
Viertes Kapitel- Von der Dichtheit — 240
Fünftes Kapitel. Von einfachen V01-
ftellungen durch verfchiedehe Sinne — 2Ö2
Sechftes Kapitel. Von den einfachen
Vorftellungen der Reflexion — 255
Siebentes Kapitel Von einfachen
Vorftellungen welche fowohl durch
die Sinnej als durch die Reflexion ge-
geben werden - . ä5^
Achtes Kapitel JtSÜ>ch einige ße-
tv;icht;inge*i übel' die einfachen Vor-
fielhingen - - P.65
NenntesKapitel. Von dem Vorfiellen — 2g6
Zehentes Kapitel Von dem Behal-
timgsveKmögen - 5i4
£ ilf t eV Kapitel. Von dpm Unter-
teile rdnngs vermöge** und andern Thä-
tigkeiten der ireole — 53o
Zwölftes Kapitel. Von zrifamrnen
gefetzten Vorheilungen - — 55i
Dreizehntes Kapitel." Vom Raum
und deffen einfachen Beftimmungen . 36 1
V i e 1 z'e h n t e t Kapitel. Von d er
Dauer - — 39g
Fünfzehntes Kapitel. Rdiun und
Darei in Verhältnis zu ein anaer — Ä/fa
Sechzehntes Kapitel Von der Zahl — ^65
Siebzehntes Kapitel. Von der U11-
endlichkeit - — ^j3
Achtzehntes Kapitel. Von andern
einlachen iScftimimiugen — 5 10
Neunzehntes Ka p i t e 1. Von den
Moalfrcatiöjien des Denkens — £18
Zw«tnzigltes Kapitel Modificatio-
nen. des Vergnügens und Schmerzes. — 525
L o c k e* s
L o c k e' s
Verl ucll
über den
menfchlichen Verftand.
Erftes Buch.
Elftes Kapitel.
Einlei tung.
§. I.
Eine Unter fuchung über den
menfchlichen Veiltand ift nütz-
lich und angenehm.
JLßer Menfch behauptet feinen Rang vor al-
len finnlichan Wef^n nur allein durch den
Verftand ; diefer giebt ihm alle feine Vor-
zvae vor ihnen und die Herr rchaft üher Ge.
Schon um diefes Adels willen ift der Ver-
ftand ein Gegenftand, der die Mühe einer
A Unter
2 E v f t e s B n c h^.
Unterjochung verdienet. Das Denkvermö-
gen hat aber darin einige Aehnlichkeit mit
dem Auge , dafs es uns in den Stand fezt, al-
le andere Gegenftände zu fehen und wahr-
zunehmen, ohne von fich felbft beobachtet
Zu weiden; und es erfordert Anftrengung
und Kunft, wenn man es in eine gewifle
Entfernung bringen, und zum Gegenftand
feines eignen Denkens machen will» Allein
Was auch immer für Hindernifle auf dem We-
ge diefer Unterfuchung liegen, und von weN
eher Art dasjenige feyn mag , was uns vor
uns felbft verbirgt, fo bin ich doch überzeugt,
daTs jede mögliche Aufklärung über unfern
Geift, ddfs jede Bekanntfchaft mit unferrn
Denkvermögen, uns nicht allein Vergnügen
fondern auch grofse Vortheile bei der An-
wendung unfers Denkens zur Unterfuchung
anderer Dinge gewähren wird,
§. 2.
Abricht des Verfaffers.
Eine UnterTuchung über den Urfprung,
über die Gewifsheit und den Umfang der>
rnertfehlichen Erkenntnils, über die Gründe
und
Elftes Kapitel. $
und Grade des Glaubens, der Meinung uad
des Beifalls ift der Gegenftand und Zweck
diefes Werkes, Die phyfifche Betrachtung
der rnenfchlichen Seele werde ich daher hier
ganz auf die Seite fetzen, und die Fragen:
woraus das Wefen derfelben befteht; durch
welche Bewegungen der Lebensgeifter oder
durch welche Veränderungen des Körpers
wir zu Empfindungen durch Hülfe der Orga-
ne , oder zu Vorftellungen des Verftandes ge-
langen ; ob alle oder einige von diefen Vor-
ftellungen von der Materie abhängen oder
nicht, keiner Unterfuchung unterziehen.
Denn so fehr auch diefe Speculationen dem
ForfchungSgeifte Nahrung geben können, fo
liegen fie doch ganz aufser meinem Wege
und Plane. Es ift für meinen Zweck hinrei-
chend, wenn ich das Denk -und Unterfchei-
dungsvermögen des Menfchen unterfuche,
in fo fern pi fiel» auf Objekte beziehet, we'che in
feinem Wirkungskreife hegen. Das Nachden
ken welches ich auf diefen Gegenftand wen-
de, wird dann, wie ich mir fchtneichle,
nicht verfchwendet feyn , wenn ich durch
diefe hiftorifche [empirifche] fafsliche Me-
thode, die Art und Weife wie der Verßand#
A 2 zu
i
Elftes Buch.
zu feinen Begriffen von Objekten gelangt, er-
klären, den Grad der Gewifsheit unfrer £r-
kenntnifs beftirr men oder wenn ich die Grün-
de derjenigen menfchlichen Ueberzeugungen
aufteilen kann , welche , wie die Erfahrung
lehrt, fo veränderlich, abweichend ja Wohl gar
widersprechend find, und doch hier und da
mit folcher Dreuftigkeit und Zuverficht be-
hauptet werden, dafs wenn man die Mei-
nungen der Menfchen überblickt, ihren Wi-
derftreit beobachtet und zugleich bedenkt,
mit welcher blinden Anhänglichkeit und Ehr-
erbietung fie diefelben annehmen, mit wel-
cher Entfchloflenheit und Hitze fie diefelben
verfechten , man vielleicht nicht ohne Grund
auf den Gedanken kommen könnte, die
Wahrheit fey entweder ein Unding, oder es
fehle dem menfchlichen Gefchlechte an ü-
ehern Mitteln, iie mit gewifler Ueberzeugung
zu erkennen.
§♦ 5.
Plan des Verfaffers.
Es ift alTo wohl der Mühe werth, die
Srenzenzwifchendein Meinen und Wis»
fen
Erftes Kapitel. 5
fen , und die Grundfätze zu unterfuchen,
nach welchen wir in Dingen , wo keine ge-
vviile Erkenntnifs ftatt findet, unfern Beifall
und unfere Ueberzeugung beßimrnen follten.
Hierbei werde ich folgende Methode befol-
gen. Erftlich werde ich den Urfprung
derjenigen Ideen oder B egriff e, oder wie
man fie fonft nennen will, welche der Menfch
durch Reflexion über fein Bewufstfeyn in fei-
nem Selbfl findet, und den Weg unterfu-
chen, auf welchem fie dem menfehiiehen
Verftande gegeben werden. Zweitens werde
ich zu zeigeu fuchen, welche Erkenntnifs
der Verftand durch diefe Begriffe erlan-
get, und wie fie in Anfehung der Gewifs-
heit, der Evidenz und des Urnfangs befch äf-
fen ift« Drittens werde ich aber die Natur
und die Gründe des Glaubens oder der
Meinung Unterfuchungen aufteilen. Ich
verftehe aber darunter das Fürwahrhalten
eines Satzes, von de|Ten Wahrheit man keine
gevvilTe Erkenntuifs hat. Hier werden wir
auch Gelegenheit finden, über die Gründe und
Grade des F ü r w ah r h a 1 ten s überhaupt
nachzuforfchen.
A3 $.4,
4 Elftes Bu eh.
§♦ 4»
Nutzen diefer Unter Tu chun g zur
Erkenntnifs der Grenzen u'nfe-
rer Erkenntnifs,
Wenn ich durch diefe Unterfuchung über
dwe Natur des Verbandes die Kräfte deffelben
entdecken , und beftimmen kann , wie weit
fie reichen , welchen Gegenftänden und in
welchem Grade fie angemeifen find , und wo
fie uns verlaflen8 fo wird das, wie ich hoffe, den
Nutzen haben , dem thätigen Geilte des Men*
fchen mehrere Vorficht anzuempfehlen, da-
mit er fich nicht mit Dingen beschäftige,.
welche aufser feinem Gefichtskreife liegen ;
dafs er die äufserften Grenzen feines Willens
nicht überfpringe , und fich bei der Unwif-
fenheit derjenigen Dinge beruhige, welche,
nach vorhergegangener Unterfuchung, fem
Vermögen überfteigen. Wir würden dann
vielleicht nicht, um uns den Schein einer
alles umfaffenden Erkenntnifs zu geben, fo
voreilig fein , über Dinge, für welche unfer
Verftand keine Fähigkeit hat. von welchen
wir keine klaren und deutlichen Begriffe bil-
den können, oder (welches nur zu oft der
Fall
Elftes Kap i t el. 7
Fall ift) von denen wir gar keine Vorfiellnrig;
haben t Fragen aufzuwerfen, und uns und
andere in Streitigkeiten darüber zu verwi-
ckeln, Last es fich ausmachen , wie weit
der Geficlitvkreis des Verftandes reicht , ia
wie fern er das Vermögen hat, Gewißheit zu
erreichen , und in welchen Fällen er blos ur-
theilen und muthmafsen kann, fo wird uns
das zur Lehre dienen, dafs wir uns mit dem
begnügen muffen, was unter diefeu Umilän»
den für uns möglich ifl.
§. 5.
Unfer Erkennt «ifs vermögen ift
unferin Zuftande und unfern
Angelegenheiten angepafst.
Denn obgleich das Gebiet des Verftandes
nur einen kleinen Theil von dem unermefs-
liehen Umfang«- aller Dinge ausmacht, fo na-
hen wir doch Urfache genug, dem gütigen
Urheber unfres Dafeins für das Maafs von
Erkenntnifs zu danken, welches er uns, weit
reichlicher ab allen andern Bewohnern der
Eide, gegeben hat. Die Menfchen können
gar wohl mit dem zufrieden feyn, was
A 4 Gott
fl Elfte» Euch.
Gott ihnen für dienlich erachtete» Denn er
gab ihnen alles, (wie der Apoftel Petrus fagt)
wa- für die Bedürfniffe des Lebens und zur
Erlangung der Tugend nothwendig ift. *) Die
Sorge für die Erhaltung und Annehmlichkeit
diefes Lebens, und die Erkenntnifs des We-
ges, der uns zu einem bellern führen foll,
beftimmte er noch für das Gebiet unters Den-
kens und Erfindens So betränkt und un-
vollkommen auch die Einficht der Men-
fchen in Vergleichung mit einer vollkomme-
nen und allumfaffenden Erkeantnifs aller Din-
ge ift, fo fichert fie doch ihre wichtigften
Angelegenheiten, und giebt ihnen fo viel Licht»
als nöthi.i ift, um fie auf die Erkenntnifs ihre»
Schöpfers und ihrer Pflichten zu leiten. Die
Itlenfchen werden noch immer genug Stoff
finden, um mit Abwechfelung , auf eine an-
genehme und befriedigende Weife ihren
Kopf und ihre Hände zu befcbäFtigen, wenn
fie nicht fo unbeTcheiden find, über ihre eig-
ne Einrichtung zu murren, und den Segen,
der ihre Hände fü'let, deswegen von fich
ftofsen, weil diefe nicht alles fallen können.
Wir
* Zw eiter Brief Petri i. 3.
Elftes Kapitel. 9
Wir werden nicht viel Urfache haben t über
tlie Befchränktheit unferer Seelenkräfre zu
klagen, wenn wir C\e nur allein auf das an-
wenden, was für uns nützlich fern kann;
und dazu findße auch zweckmaTsig eingerich-
tet. Es wäre ein unverzeihlicher und kindi-
scher Eigenfinn, wenn wir deswegen die
Vorzüge unferer Erkenntnifs herabwürdigen,
und ihre Vervollkommnung zu ihren beftimm-
ten Zwecken vernachlaffigen wollten, weil
es sjewiffe Dinge giebt, welche ftufser dem
Kreife derfelben liegen. Darf wohl ein ittn.
ler und widerfpenftjger Knecht, der bei dein
Scheine eines Lichtes feine Arbeit nicht ver-
richten will, fich damit entfchuldi jen.dafs er kei-
nen hellen Sonnenfchein hatte. Das Licht,das in.
unferm Innern aufgedeckt iß, leuchtet uns
für alle unfere Zwecke hinlänglich, und alle
Entdeckungen , welche vermittels defTelben
möglich find, füllten uns zufrieden Hellen.
Unrern Verftaud werden wir dann zweckrnä*
fsig anwenden, wenn wir ihn auf die Weife
und in dem Verhältnifie mit allan Objekten
befchäfiigen , als fie uuferm Vermögen ange-
meflen find ; wenn wir unTere Ueberzcnijung
den Erkenntnifsgriinden anpafsen, welche
A 5 für
io Erftes Buch.
für uns möglich find, wenn wir nicht aus
Trotz oder Unbefcheide/iheit Demonftration
und Gewißheit fodern, wo nur Wahrfchein-
lichkeit möglich ift , aber auch zur Befor-
gung aller unTrer Angelegenheiten vollkommen
zureicht. Wollen wir alles deswegen bezwei-
feln, weil wir nicht alles mit Gewifsheit er-
kennen können, fo handeln wir eben fö
klug als jener, der feine Füfse nicht gebrau-
chen , fondern lieber flüle fitzen und fterben
wollte, weil es ihm an Organen zum fliegen
fehlte.
$. 6.
Die Erkenntnifs unfers Vermö-
gens ift ein Heilmittel gegen
den Skepticismus und gegen
die Trägheit.
Kennen wir imfere Kräfte, To wiffen wir
anch um fo bcffer, was mit der Hofnung ei-
nes guten Erfolgs unternommen werden kann.
Eine reifliche Ueberficht der Kräfte unfers Ver-
(tandes, und richtige Berechnung dellen , was
wir von ihnen erwarten dürfen, wird uns vor
swei Extremen fichern , dafs wir weder aus
Ver.
Erstes Kapitel. l|
Verzweifelung an aller Erkenntnifs, unfer
Leben in Unthätigkeit yerfchlutnmern, und
«las Denkvermögen gar nicht befchäftigen«
noch auf der andern Seile alles in Zweifel
ziehen, und alle Erkenntnifs in Anfpruch
nehmen, wei' gevviUe Dinge von uns nicht
begriffen werden können. Es ift für den
Seglet von grofsem Nutzen, dafs er die Län-
ge feiner Schnur weifs. Wenn er gleich nicht
alle Tiefen des Meeres durch fie meffen
kann, fo weifs er doch foviel , dafs fie an
folchen Plätzen bis auf den Grund reicht, wo-
hin er fegein mufs , und dafs fie ihn vor Un-
tiefen und Meerbänken warnet, die ihn zu
Grunde richten würden. Unfere Beftim-
mung auf diefer Welt ift , nicht alle Dinge,
fondern nur diejenigen zu erkennen, wel-
che unfer praktifches Leben betreffen. Wenn
wir diejenigen Regeln erforfchen können,
nach welchen ein vernünftiges Wefen in den
VerhältnifTen , in welchen lieh der Menfch
während diefes Lebens befindet, feine Mei-
nungen und feine dadurch beftim täten Hand-
lungen regieren kann und füll, fo darf es uns
keine Unruhe machen, dafs viele andere Din-
ge unferer Erkenntnifs entzogen find.
U Elftes Buch
Veranla ffung zu diefem Verfuch«.
Diefe Betrachtungen waren die erfte Ver-
anlaffung zu diefem Verfuche über
den m enfch liehen Verftand. Denn
ich glaubte, das erfte das man thun müfset
um den Mang nach verfchiedenen Unterfu-
chungen, in welche fich der Verftand fo
gerne einläfst, zu befriedigen, beftehe darin,
einen Eorfchenden Blick auf unfer Verftandes-
vermögeu zu weifen, unfere eignen Kräfte
zu prüfen , und die Dinge, denen fie ange-
ineflerj und, zu unterfuchen. Es kam nur
vor, als wenn man, fo lange das nicht ge-
than ift, die Sache am unrechten Ende an-
greife , und als wenn das Streben nach Be-
friedigtirg durch einen ruhigen und fiebern
Befitz. der Wahrheiten, die uns intereffiren,
fo lange vergeblich fey, als man feine Gedanken
regellos auf dem unermefslichcn Ocean der
Dinge herum fch wärmen laffe , gerade als
wenn der Verftand in dem natürlichen und
unbezweifelten ßefitz diefes gränzenlofen Rei-
ches wäre j als wenn alles in demfelben fei-
ner Entfcheidung Geh unterwerfen müfste,
und
E xftes Kapijel. g
und nichts feiner Ein ficht entgehen könnte.
Wenn die Menfcheri auf diefe Art ihr Nach-
forfclaen über die Grenzen ihrer Fähigkeit
ausdehnen, und ihre Gedanken in die Tie-
fen verfteigen lalTen, v.o fie keinen fieberu
Grund finden Können, fo ift es kein Wun-
der, wenn He Fragen über Fragen erheben,
und die Streitigkeiten vermehren, welche
da he nie zu einer klaren Entscheidung körn-
nien, nur dazu dienen, ihren Z-.veifeln Nah-
rung zu geben, und fie am Ende in einem
vollkommenen Skepticisrnus zu befefiigen.
Wäre daher die Fälligkeit unters" Verftandei
gründlich unterfucht, der Umfang unferer
Erkenntnis nur einmal entdekt , und der Ho-
rizont gefunden, welcher die Grenze awi-
fchen der bekannten und unbekannten Welt
de? \rerftandes, zwifchen dem , was für uns
begreiflich und unbegreiflich ift, beftimmt,
fo würden fich die IVlenfcnen vielleicht mit
weniger Unruhe bei der erkannten Dnwiflen-
heit der einen Weit beruhigen, und in der.
andern mit mehr Vortheil und Beruhi<um»
ihr Denkvermögen hsfehäftigen.
§. 8.
*4 Erltes Buch.
Bedeutung des Worts Idee.
So viel hielt ich für nöthig über die Ver-
anlagung zu diefer Unterfuchung über den
menfc blichen Verftand zu fagen. Ehe
ich aber zu den Betrachtungen über dielen
Gegenftand felbft fortgehe , mufs ich den Le-
fer im Voraus wegen des häufigen Gebrauch*
des Worts Idee, in der folgenden Abhand-
lung umVerzeihung bitten, Diefer Ausdruck be-
zeichnet wie ich glaube, am pafsendfren al-
les, was nur immer der Gegenstand des Ver-
bandes beim Denken ift. Und ich habe mich
daher deflelben bedienet, um das, was man un-
ter Phantafie, Notion, Species verfte-
het und überhaupt alles das auszudrücken, wo-
mit fich der Verftand bei dem Denken be-
fchäftigen kann. Der öftere Gebrauch densel-
ben war dalie*- für mich unvermeidlich. *)
Dafs
*') Idee bedeutet alfo nichts anders als einen Be-
griff, fcnYohl einen empii ifchen als einen reinen.
I eh werde raiiih in der Ueberfetzung lieber des
Aus»
Elftes Kapitel.
Dafs folche Ideen in dem Yrfciftande des
JMcnfcnen angetroffen werden, wird mir hof-
fentlich Jedermann gerne eingesehen. Jeder
Menfch findet fie in feinem eignen Bäwufst*-
feyn, und die Worte und Handlungen ande-
rer Meufchen werden zur Genüge beweifen,
dafs fie auch in ihrem Vordellungsvermögen
vorkommen*
Wie kommen nun diefe Ideenin
den Verftand? Diefes wird der Gegen-
stand unferer erften Unterfuchung feyn.
Ausdrucks Begriff, öfterer aber noch des
Vorfiellung, bedienende nachdem esderZufam-
menhang fodert. Denn der Gebrauch jenes
Wortes war von Locke noch nicht ge-
ime beltimmt , und fchwankte zuweilen zwi-
fchen der Gattung und einer Art von Vorftek
Ol
lungen,
Anmerk- d U.
Zwei
1 6 Elftes Buc faJ
Zweites Kapitel.
Es giebt keine angebornen Grundfatze In dem
Verftande,
§. I»
Der Weg, auf welchem wir zu ei-
ner Erkenüt nifs gelangen, be-
weifet fchon hinlänglich, dafs
fie nicht angeboren ift.
•t^s glebt eine Meinung, von welcher eini-
ge Menfchcn lieh feft überzeugt halter . c!afs
in dem Verftande gewiffe angebe, rne
Grund Tatze, urfprüngliche Begriffe (koivxi
svxoioLt) angetroffen werden ; dafs gewiffe
Sei. ift/iige (Chatacters) demfelben einge-
prägt find, welche tue Seele bei ihrem erftea
DaTeyn empfängt , und mit lieh in die Welt
bringt. L'neingenonimene Lefer könnten von
der Falfchheit ciiefer Voraussetzung fchon auf
eine befriedigende Weife überzeuget werden,
wenn ich zeigen wollte — und diefes wird) wie
ich hoffe, in den folgenden Theüen diefer
Schrift gefchehen, — wie die Menfchen ohne
Hülfe
Zweites Kapitel. I«
Hülfe der angebnrnen Eindrücke durch den
blofsen Gebrauch ihrer natürlichen Kräfte,
alle Erkenrtnifle erlangen, und ohne folche
urfpriiogliche Begriffe oder Grund fatze zur
Gewifsheit kommen können. Denn es wird
i
mir wohl Jeder ohne Widerrede eingefteüen,
dafs es nicht fehr vernünftig feyn würde, an-
geborne \ orftellungen von Farben bei einem
Wefen anzunehmen , welchem Gott das Ge-
ficht und das Vermögen gegeben hat, jene
Vorftellungen vermöge der Augen von äufsetrn
Gegenftänden zu erlangen. Es würde aber
nicht weniger unvernünftig feyn, verlchiede-
ne Wahrheiten von den Eindrücken der Na-
tur und den angebornen Schriftzügen abzulei-
ten, wenn wir in uns Kräfte beobachteten,
durch welche wir eine eben fo leichte und
gewiffe Erkenntnifs derfelben erhalten könn-
ten, als wenn fie urfprünglich dem Verftande
eingedrückt wären»
Da aber kein Menfch da5 Recht hat, bei
Unterfuchung der Wahrheit feinen eignen Ge-
danken Zu folgen , wenn fie ihn auch nur
ein wenig von der gemeinen Sträfse abfüh-
ren t ohne fie der ßeurtheilung zu unterwer-
B fen
»8 Eilte» Buch'
fen, fo werde ich hier die Gründe tbir(lellen9
welche mich nöthigen an der Wahrheit je-
ner Meinung zu zweifeln« Habe ich geirrt,
fo werden ebendiefelben meine Entschuldi-
gung feyn. Ich unterwerfe ße der Prüfung
derjenigen Männer, welche eben denfelben
guten Willen haben , als ich , die Wahrheit
anzunehmen, wo he diefelbe nur linden« *j)
*) Die Lehre von' den angebornen Begriffen,
welche in der Piatoni fchcn Philofophie
begründet 3 durch die Cartefifche wieder
in Umlauf und in größeres Anfehen gefegt
wurde, die entgegengefezte Behauptung, und
die darüber entfiandenen Streitigkeiten fchei-
nen zwar nach dem gegenwärtigen Zußande
der Philofophiekein befouderes Intereffe mehr
au verdienen. Denn das Wahre , Welches bei-
de enthielten , ifi nun von dem Zufatz des
Tauchen gefchieden ; jenc-s ifi in die Philofo-
phie aufgenommen, diefes in den Schutt be-
worfen worden. Die Behauptung der Thcfi*
und der Antithelis iit jetzt als ein chemifcher
< Pioeefs anzufeilen , der, nachdem das edle
Metall von dem nnedeln einmal ab^efrhieden
ifi, uns nicht mehr interef/irt, weil er nicht
mehr brauchbar ifi- Allein wenn man nicht
darauf flehet, was die Philofophie jezt ifi, fan-
den
SJweftes Kapitel, xp
§• 2.
Das allgemeine Für währhalten
ift der wichtigfte Beweis der
G e g rl e r;
Nichts wird gewöhnlich für lb ausge^
rnacht gehalten , als dafs es gewifle fpecu-
ß 2 la t i ve
derri Wie und ifdf welchem Wege fie daswur«
de, fo ift jener Streit von fenr grofsem Intet-
effe , infofern er die Entdeckung und benimm.
te Unterfchcidung der reinen und empi«
rifchen VorftcHungen , des Formellen
und Materiellen in unfefer Erkenntnifs
veranlafste und vorbereitete. Eine dunkle Ahn-
dung von diefern fo wichtigen Unterfchiede
gab der Behauptung von artgebdi'hen Begrif-
fen und der Gegenbehauptung ihr Intereffe..
und war die Ui lache, ci.i(s beide fo eitrige
Venheidiger fanden. Aber der Streit Würde
doch Weit früher entfchiedeii worden fevn,
Wenn fich nicht mit dem Wahren , was die
Thefis und Amithefis entliielt, etwas falsches
vereiniget hätte, welches niir durch eine
gründliche CJnterfuchurig des Vorftellungsver-
inogens konnte gefchieden Werden. Die \~ev^
theidi^er der angcborn'en Begriffe behaupteten
nicht reine fonderil ai ;' e b orne, d.i. fo!
che B- griffe, deren Stoff und form nicht trWa i«
dem
So
Elftes Eu eh.
lative und praktifche Grundfätze
giebt, welche von allen Meüfchen allgemein
ein^eltanden werden , und folglich, fchliefst
man weiter, muffen Ge gewifle unveränderli-
che Eindrücke feyn , welche die Menfchen-
feelen
dem Vorltellungsvermögen gegründet Hey, fon-
dern die immer mit oder ohne Bewufstfeyn
vorgeftellt weiden , deren Yorftellung angebo-
ren üt. Sie dachten lieh die Seele als eine
wach ferne Tafel, in welche wefenilich fchon
gewiffeZüge eingegraben feven. die Gegner als
leere Tafel die erft durch die Erfahrung befchrie-
ben werde. Den myftifchen Uifprung der an-
gebornen Begriffe , ihr wirkliches Vorgeftellt-
werden über die Grenzen des Bewufstfevns
liinatis; die unzureichende und nnbeftinrmte
Erklärung von den Merkmalen des Angebor-
nen , der Mangel einer beftimmten Aufftellnng
derfelben, den fchäd liehen Einflufs derfelben
auf die Varvollkommnuiig der Wiflenfchafr,
diefe und andre Blüfsen deckte Locke an
jener Behauptung auf, und verwarf he in
diefer Rückficht mit Recht. In der Ueberfe-
tzung des Leibnitzifchen Yerfhches über den
menfcliiicben Verftand werde ich die Gründe
und Gegengründe beider Phüofophen über
diefen Gegeuitand znfammenUelien und ver-
Bleichen.
5 A. d. ü.
Zweites Kapitel. %\
feelen von ihrem erften Dafeyn an empfan-
gen, und eben fo nothwendig mit auf die
Welt bringen, als irgend ein ihnen angehö-
riges Vermögen.
§. 3.
Aus dem allgemeinen Für wahrhal-
ten kann nichts Angebornes be«
wiefen werden.
Diefer Beweis, der von einem allge-
meinen Beifall fchliefst, hat zum Un-
glück den Fehler an fich , dafs er, wenn auch
das voraussetzte Faktum, dafs es Wahrhei-
ten giebt, welche von allen Menfchen allge-
mein anerkannt werden , gegründet wäre,
doch nicht darthun würde , dafs fie augebo-
ren find , fo bald man einen andern Weg auf-
zeigen kann, wie die allgemeine Beiftiminung
in dem, was allgemein angenommen wird,
entftehen kann. Und diefes läfst Ach, wie
ich glaube, wirklich zeigen.
B 3 $,4.
$p Elftes Buch,
§. 4-
Der Grund f atz der Identität und
des Wider fpruchs werden nicht
allgemein für wahr erkannt.
Allein noch weit fcblimmer ift es, dafs
diefer Grund von einem allgemeinen Für-
wahrhahen, durch den man angeborne.
Grundfätze beweifen will, wie mir fcheint,
gerade das Gegentheil beweift, inCofern es
keine Grundfätze giebt, welchen die Men-
fchen allgemein beiftimmen. Ich fange mit
den fpeculativen an, und führe zum Beweis
i&nefo berühmten Grund fäUe der Drmonftra-
tion an : Was i f t, das ift, und es i ft un-
möglich, daTs eben daffelbe Ding
fey und nicht fey, welche doch wohl vor
allen andern gerechte Anbrüche auf den Ti-
tel angeborne, machen können. Sie haben
fich ein fo Wohl gegründetes Anfehen als all-
gemeingehende Sätze unter den Menfchen
verfch;:fft, dafs der blöke Schein, diefes Fak-
tum bezweifeln zu wollen, ohne Zweifel
fchon auffallen mufs. Gleichwohl nehme ich
mir die Freiheit, zu behaupten, dafs fie, weit
entfernt allgemeine Beifümmung zu Buden,
für
Zweites Kapitel. s!S
für einen großen Theil des uienfchlichen Ge«
fchlechts fogar fo gut ali unbekannt und,
§. 5.
Diefe Gr un dfä tze find nicht ut-
fprün glich dem Verftande ein-
geprägt, weil fie Kindern und
gemeinen Leuten nicht bekannt
find.
Denn für das Erfte iß es klar, dafs alle
Kinder und gemeine, unwiffende
Leute nicht den geringfien Begriff oder
Yorftellung von ihnen haben. Diefe That-
facbe widerleget fchon hinlänglich die allge-
meine Dciftimmung , welche von allen ange-
bornen Wahrheiten unzertrennlich feynmufs.
Denn es fcheint mir faft widerfprechend zu
fe)n, wenn man fagt , es giebt Wahrheiten»
welche der Seele eingeprägt find; und, fie hat
aber, kein Bewufstfeyu und keine Erkenntnifs
von ihnen. Wenn das Wort einprägen etwas
bedeuten foll, fo kann es nichts anders feyn,
als machen, das gewiffe Wahrheiten vorge-
flellt werden. Für mich ift es zum wenig-
fteo kaum gedenkbar, wie etwas dem Gemü-
B 4 the
24 Er ft es Buch.
the eingeprägt fern kann, ohne dafs es ein
Bewnfstfeyn davon hat- Wenn alfo Kinder
und gemeine Leute eine Seele, einen
Verftand mit die em innern Gepräge lieben,
fo müflen fie nothwendig (liefe Wahrheiten
wahTjitljruen , fie kennen, und für vvahr
halten. Da die.'s aber der Fall nicht ift , Tq
ift e* einleuchtend, dafs es keine folchen Ein-
drücke giebt, Denn wenn es keine von der
IN'atur dem Verftande eingepflanzte Begriffe
giebt , wie können fie angeboren; oder ift
jenes, wie können fie unbekannt feyn ? Sagt
man. em Begriff iß der Seele eingeprägt, und
behauptet zu gleicher Zeit, fie wÜTe nichts
und nehme keine Kenntnifs davon , fo ift
das foviel , als den Eindruck zu einem
Unding machen. Von keinem Salze kann
nian Tagen, er ift in der Seele, wenn
fie noch kein Bewufstfeyn noch keine Vor-
ftellung von ihm hat. Denn wäre das bei
einem zulafsig, fo könnte man mit eben dem
Grunde von allen Sätzen , die wahr und von
der Art find, dafs fie der Verftand vielleicht
einmal für wahr halten kann, Tagen, fie wä-
ren eingepflanzt und in der Seele. Soll et-
was in der Seele feyn, welches fie bis jezt
noch
Zweites Kapitel, 25
noch nicht erkannt hat, fo inufs es deswe-
gen feyn, weil fie das Vermögen hat, es zu
erkennen. Die-fes gilt aber von allen er-
kennbaren Wahrheiten, Unter diefer Vor-
ausfetzung können alle Wahrheiten der See!«
eingeprägt feyn, die fie nie erkannte, und
nie erkennen wird. Denn ein Menfch kann
langeleben, und doch zulezt unwiflend in
manchen Wahrheiten fierben , welche fein
Vei'ltand zu erkennen, und zwar mit Qewifs-
heit zu erkennen fähig gewefen wäre. J!t
alfo die Erkenntni stahigkeit der natürliche
Eindruck, um welchen man ftreitet, fo werden
in diefer Rücklicht alle Wahrheiten, deren
ein Menfch nur immer empfänglich iß, an-
geboren feyn, und der grofse Streitpunkt
läuft zulezt nur auf eine uneigentliche Art zu
reden hinaus, welche von dem nicht ab"
weicht, was die Leugner der angehornen
Grundfätze behaupten , fo fehr lie auch
ISliene macht , das Gegentheil zu erhärten.
Denn noch nie hat ein Menfch der Seele
das Vermögen Wahrheiten zu erkennen ab-
gefprochen. Die Fähigkeit, fagt man, ift au-
geboren, die Erke nntnifs aber erworben. Wo-
zu ioll aber dann der Streit über gewifle an-
Ü 5 geborne
2ö Elftes Buch."
geborneGrundfätze? Ift es möglich, dafs dem
Verftande Wahrheiten eingeprägt find, ohne
dafs er fie denkt, fo feheich nicht, welcher
Unterfchied zwifchen den Wahrheiten, wei-
che für den Verftand erkennbar find , in An-
fehung ihres Urfprungs ftatt finden foll. Sie
iniiiTen alle angeboren, oder alle erworben
feyn. Es ift urnfonft, fie unterfcheiden zu
wollen. Wer alfo von angebornen Begriffen
in dem Verftande fpricht, kann das, infofern
es (ich auf eine befondere Art von Wahrhei-
ten beziehen foll, nicht von denen verftehen,
welche der Verftand nie dachte, und von
denen et gar nichts weifs. Denn wenn die-
fe Worte in dem Verftande feyn einen
wirklichen Inhalt haben, fo bedeuten fie das
Gedachtwerden* In dem Verftande feyn,
und nicht gedacht, in der Seele feyn und
nicht wahrgenommen zu werden, heifst alfo
mit andern Worten nichts anders als, etwas
iß in de;n Verftande und ift nicht in dem
Verftande, ift in der Seele, und ift nicht in
der Seele. Wenn die Sätze: Was ift. das
ift, und, es ift unmöglich, dafs
ein und daffelbePingfeyundnicht
fey, ^er Seele durch die "Natur eingeprägt
find,
Zweites Kapitel. 27
und, fo können lie Kindern nicht unbekannt
ft-vn j alle Wefen, die eine Seele haben, luül-
/en de in dem Yerfbnde haben, ihre Wahr-
heit einfehen , und fie Für wahr halten«
5- 6.
s
Beantwortung des E i n w u r f s , d a Ts
die RTenfchen fie erkennen, Tq
bald fie zum Gebrauche ihrer
Vernunft gelangen,
Um diefen Folgerungen auszuweichen,
fagt man gewöhnlich: lene Saue werden
dann von den Menfchen erkannt, und für
wahr gehalten, wenn lie den Gebrauch
ihrer Vernunft erlangen, und die-
fes beweist hinlänglich, da.fs fie angeboren
find. Hierauf antworte ich,
$■ 7-
Zweideutige Ausdrücke, die kaum einen
Sinn haben , galten bei denjeni^e für Grün-
de, welche für eine Meinung eingenommen
find, und daher Geh nicht die Mühe ge-
ben xu nrüfeu, was fie lagen« Wenn wir
die-
ftfl Er ft es Bach.
diefer Antwort einen erträglichen Sinn, der
zu unferer Aufgabe pafst, leihen wollen, fo
rnnfsfieeins von beiden enthalten: entweder,
dafs jene vermeintlichen angebornen Schrift-
züge ein GegenOand der Erkenntnifs und
Wahrnehmung werden, fo bald die Men-
fchen zum Gebrauch ihrer Vernunft gelangen ;
oder, dafs der Gebrauch und die Anwendung
der Vernunft zur Entdeckung jener Grund-
fätze mit wirket, und ihnen eine gevvifle 'Er-
^enntnifs davon gewähret»
§. 8-
Wenn f i e die Vernunft entdeck-
te, fo würde das nichts für das
Angeborenfeyn beweifen.
Wenn man meinet, die Menfchen könnten
diefe Grundfatze durch den Gebrauch ihrer
Vernunft entdecken, und dadurch fey die
Behauptung, dafs fie angeboren find, voll»
kommen bewiefen, fo beruhet diefe Folge-
iung auf folgenden Satze: Alle Wahrheiten,
ivelche uns die Vernunft als gewifs entdecken,
und ihnen unfere unveränderliche Beiftim-
mung verfchafien kann« und von der Natur
dem
Zweites Kapitel. £9
dem VeTftande eingepflanzt. Denn das all-
gemeine Fürwahrhalten, welches das Krite-
rium feyn foll , bedeutet nicht mehr als die-
fes, dafs wir durch den Gebranch der Ver-
nunft im Stande find, zu einer gewiffen £r-
kenntnifs uiul Ueberzeugung von ihnen zu
gelangen. Nach diefet Art zu fchliefsen,
findet zwilchen den mathematischen Gründfä-
tzen und den aus diefen abgeleiteten Lehr-
fätzen, kein Unterfchied ftatt. Man mufs
eingcftehen , dafs die lezten nicht weniger
angeboren find, als die erflert , weil beide
Entdeckungen durch Hülfe der Vernunft, und
Wahrheiten lind, weiche ein vernünftiges
Wefen mit Gewifsheit erkennen kann , wenn
es feine Denkkraft zu diefeua Behuf «weck*
iuäisig anwendet.
$• 9-
Es ift falfch, daTs fie die Vernunft
entdecket.
Wie können aber Männer den Gebrauch
der Vernunft zur Entdeckung derjenigen
Grundfätze für unentbehrlich halten, welche
nach ihrer Vurausfetzung angeboren fiud, da
die
gc Elftes Eu eh.
die Vernunft, wenn man ihnen glauben darf»
nichts anders ift, als das Vermuten, unbe-
kannte Wahrheiten aus Grundfätzen oder
fchon erkannten Sätzen abzuleiten? Unmög-
lich kann das für angeboren gehalten wer-
den, zu de /Ten Enti-lec'Min^ die Vernunft un-
entbehrlich ift, vvoferne wir nicht alle evi-
dente Wahrheiten, welche uns die Vernunft
lehret, für angeboren erklären wollen. Auf
diefe Art muffe es eben fo denkbar feyn, däfs
der Gebranch der \ ernunft für die Augen
unentbehrfich fey , urn fichthafe Gcoenftände
zu fehen, als dafs der Verftand der Vernunft-
thätigkeit nicht entbehren könne, v»'enfi er
das bemerken will, was ihm urfprünglicfi
eingegraben iß; und was nicht in ihm feyn
kann, bevor er es vörgefteHhhat Die Ver-
nunft entdeckt die ängebornen Wahrheiten,
Reifst s!ro fotiel, als, rfer Menfch entdeckt
durch den Gebrauch der Vernunft 4 r.'as er
zuvor fenon wufste. Die Menfchen be fitzen
diefe ängebornen und eingeprägten Wahrhfei-
ten von ihrem Dafeyn an und vor dem Ge-
brauch der Vernunft, und rlorh wifsenfie von
ihnen nichts, bis fie ihre VerntiKfriu gebrau-
chen anfangen, Diefs ift doch in de? Ttist
nichts
Zweites Ktopitel, 5i
nichts anders, als fie erkennen diefe Wahr-
heiten und erkennen fie in der nehmlichen
Zeit aiGht.
§. tö.
Vielleicht wird man fagen > mathemati»
fche Demonftrationen und andere nicht än-
geborne Wahrheiten Werden nicht fo»Ieieh
als inan fie höret, für wahr gehalten, und
dadurch unterfeheiden fie Geh von den Grund-
iatzen und andern angebornen Wahrheiten«
Weiter unten werde ich Gelegenheit haben,
umftändlicher von dein unmittelbaren Für-
wahrhalten zu handeln. Ich gefrehe fefor
gerne, dafs diefe Grundfätze und die tnathe-
matifchen Demonftrationen darin unterfchje-
den find, dafs diefe Räfonnements und Grün-
de erfodern, um S)e zu bewerfen und ihnen
Beifall zu verfchaffen , jene hingegen, fa
bald man fie verliebet , ohne alles Rä-
fonuement angenommen und für wahr gehal-
ten werden. Gleichwohl uiufs ich mit ihrer
Erlaubnifs bemerken, dafs eben diefes die*
Schwache diefer Ausflucht, welche aie Tba-
tigkeit der Vernnnft zur Entdeckung diefer
%lla e-
32 Elftes Buch.
allgemeinen Wahrheiten erfodert, an den
Tag le^et, infofern man einräumen mufs»
dafs dabei gar keine Schläue der Vernunft
angewendet werden. Und ich will nicht hof-
fen, dafs diejenigen, welche diefe Antwort
geben * fich der Uebereilung fchuldig ma-
chen, und. behaupten werden« dafs die Er-
jkennfnifs des Grundsatzes: Es ift unmög-
lich* dafs das nehmliche Ding fey
und nicht fey, eine Deduction aus ünfrer
Verntinft fey. Sie würden rsehmlich da-
durch die Erkenntnifs der Gründfätze von
der TfaMtigkeit uhfers Denkens abhängig ma-
chen, und die Freigebigkeit der Natur, in wel-
che fie fich verliebt zu haben fcheinen, zernich-
ten. Demi jedes Räfonnement ifteiri Stiel; en
und Beachten des Gegen ftan des und kann nicht
ohne angeftrengte Thätigkeit feyn. Und in
welchem erträglichen Sinne Kann man wohl
vorausfetzen, dafs dasjenige durch die Thätig-
keit der Vernunft entdeckt werden müfie,
was die Natur eingeprägt und der Vernunft
zur Grundlage und zum Leitfaden gegeben
hat?
). H.
ZvyeitesKapitel. 33
§, 1 '•
Wer fich die Mühe geben will, mit eini-
ger Aufmerkfanikeit über die Wirkungen des
Verftandes nachzudenken, der wird finden,
dafs das augenblickliche Fürwahrhalten ge-
wifler Wahrheiten , weder * von einer urr
fprünglichen Ein präg ung derfelben, noch
von dem Gebrauch der Vernunft,
fondern von einem Vermögen des Gemüthes
abhänget, welches, wie in der Folge gezeigt
werden foll, von beidem gänzlich verfchie-
den ift. Wenn alfo die Behauptung, dafs
die Menfchen diefe Grund fätze
erkennen und für wahr halten,
■wenn fie zum Gebrauche der Ver-
nunft gelangen, fo viel faget als: die
Thätigkeit der Vernunft ift uns zu diefer Er?
Jienntnifs beförderlich, fo ift fie durchaus
faKch , weil die Vernunft gar nichts beiträgt,
um jenen Wahrheiten Ueberzeugung zu ver-
fchaffen* Geletzt aber auch, fie wäre wahr,
fo würde fie doch nicht beweifen, dafs fif
angeboren find»
g §, ?s.
34 Elftes Buch,
Der Anfang des Vernu nft ge-
brauch s i T t nicht die Zeit, da
in au zur Erkenntnifs diefer
Grund Tatze gelanget.
Soll aber jene Behauptung fo verftanden
werden, dafs der Anfang des Vernunftge-
brauchs die Zeit ift, da fich der Yerftand
diefe Grundfätze zuerft vorfrellet, dafs die
Kinder, fobald fie ihre Vernunft gebrauchen,
fie erkennen und ihnen beftimmen , fo ift üe
auch in diefem Sinne nicht weniger falfch und
zwecklos. Erftens, fie ift falfch. Denn es
ift einleuchtend, dafs diefe Grundfatze nicht
fo früh in der Seele vorkommen , als die
Vernunft ihre Thätigkeit äufsert. Der An-
fang des Vernunftgebrauchs wird alfo fälfch-
lieh für die Zeit ihrer erften Entdeckung ge-
halten. Wie viele ßeweife der Thätigkeit
der Vernunft mögen wir wohl an Kindern
beobachten, ehe fie von dem Grundfatz; das
nehmliche Ding kann unmöglich
feyn und nicht feyn, einige Erkenntnis
haben ? Ein grofser Theil von den Wilden *
und
Zweites Kapitel. 33
und von den ungebildeten Menfchen verlebt
viele Jahre, feibft ihres verft:ir>iib.:en , .Al-
ters ohne an (liefen oder andere all ine
Sätze zu denken. Ich gebe zu,- dafs die
Menfchen die Erkenntnifs der abfträktem
Wahrheiten, die- man für angeboren hält,
nicht eher erlangen, als bis ihre Vernunft zu
wirken anfängt, aber ich fetze hinzu, üljcIi
dann rieht allezeit. Und dieres kommt da-
lier, weil auch dann, wenn lieh die Ver-
nunft thätig bewiefen hat, die abftrakten
Ideen, welche die allgemeinen, fjlf« hücb.
für angeboren gehaltene, Grund'iitze in lieh
faßen, nicht vollkommen ausgebildet in dem
Yerfiande angetroffen werden, Sie find viel-
mehr Entdeckungen und Wahrheiten, welche
auf eben diefelbeArt und Weile und auf dem-
feiben Wege gemacht, eingeleitet und^in den
Verftand gebracht werden, als mehrere ande-
re Salze, welche noch kein Alenfch fo unfin-
nig war, für angeboren auszugeben. Diefes,
hoffe ich, foll in dein Verfolgt diefes Wer-
kes vollkommen klar gemacht weiden. Ich
ge liehe alfo die Nothwendigkeit zu, dafs d:e
Menfchen den Gebrauch ihrer Vernunft haben
muffen, ehe fie die Erkenntnifs diefer allge-
C 2 mei-
36 Elftes Buch.
meinen Wahrheiten erlangen, aber ich leug-
ne, dafs fie diefelben zu eben derselben Zeit
entdecken,
§. i3.
Sie können dadurch von andern
erkennbaren Wahrheiten nicht
nnterTchieden werden.
Zugleich mufs man noch bemerken , dafs
die Behauptung: die Menlchen erkennen
diefe Grundfätze und halten fie für wahr,
wenn fie zum Gebrauch ihrer Ver-
nunft kommen, als Thatfache nicht mehr
enthält als diefes: fie werden vorher nicht
vorgefiellt und erkannt; es ift aber möglich
dafs man ihrer nachher irgend einmal wäh-
rend der ganzen Lebensdauer mit Ueberzeu«
gung bewufst werde. Allein wenn das ge-
fchehen werde, ift ungewifs. Diefes findet
aber nicht allein bei jenen vermeintlich ange-
bornen , fondern auch bei allen andern er-
kennbaren Wahrheiten ftatt. Jene können
daher durch diefes Merkmal von andern nicht
unterfchieden und ausgezeichnet werden, und
es läfst fich daraus nicht, dafs fie angebo-
ren
Zweites Kapitel. 57
ren find, fondern vielmehr das Gegentheil
beweifen.
5. 14.
Wenn auch der Anfang des Ver-
nunftgebrauchs die Zeit wäre,
da diefe Grund fatze entdeckt
würden, f o würde doch da-
durch nicht be wie Ten feyn, dafs
fie angeboren find,
7 weiten?. Gefetzt , es wäre wahr, dafs
die Zeit, da man fie erkennt und fürwahr
hält, eben diefelbe ift, in der die Menfchen
zum Gebrauch ihrer Vernunft gelangen , f©
würde das eben fo wenig für das Angeboren»
feyn derfelben beweifen. Diefe Art zu fol-
gern ift eben fo fruchtlos, als die Vorausfe-
tzung falfch ift. Denn nach welcher Logik
will mandarthun, dafs ein Begriff der Seele
urfprünglich bei ihrer erfien Bildung von drr
ANatur eingeprägt ift , weil er dann zuerft be-
merkt und für wahr gehalten wird , wenn
«'in Vermögen der Seele, welches feine eigen-
tümliche WirkungS3rt hat, fich zu äufscvn
beginnt ? Gefezt wir wollten annehmen,
C 5 der
o3 ErClcs Kapitel,
der erfle Gebrauch der Sprache fey die Zeir,
da man diele Grundfätze anerkennet, welche
Vorausfeti'UDg eben fo wahr feyn könnte,
als jene, fo müfste das ein eben fo bündiger
Beweis dafür feyn, dafs fie angeboren find,
als wenn man fagt, fie find angeboren, weil
fich die A-enfchen von ihnen überzeugen,
wenn he zum Gebrauche ihrer Vernunft kom-
men. Ich bin alfo mit den Vertheidigcin
der angebornen Grundfätze darin einveTftan-
den, dafs keine Erkenutnifs diefer allgemein
ren und durch fich felbft einleuchtenden
Grundfätze vor der felbftthäligen Anwen-
dung der Vernunft ftatt findet; aber ich leug-
ne, dais der Anfang diefes Vernunftgebrauchs
die befiiminte Zeit ift , da man ihrer bevviifst
wird, und auch diefes zugegeben, dafs diefs
für das Angeboren feyn derfeiben etwas
beweib Der wahre Sinn, den man mit
einigein Grunde dem Satze: alle Mer.-
fchen ft im inen jenen Grün df ätzen
bei, wenn fie den Gebrauch der
Vernunft erlangen, geben kannn, «ft
kein anderer als diefer. Die Bildung
der allgemeinen, abftrakten Begrif.
fe und d3S \ 'erflehen der Werte , die fie be-
zeich-
Zweites Kapitel. j^
-Rennen , ßehen mit dem Vernunftvernjögen
in unzertrennlichen Zufammenhsnge, und
wachten mit demfelhen gleichfam auf. D{e
Kinder erlangen gewöhnlich keine Kenntuifj
von dielen allgemeinen Begrifi'en, und ver-
liehen ihre Ausdrücke nicht, bis fie an be-
kanntem und concretern Vorftellungen ihre
Vernunft eine beträchtliche Zeit geübt haben,
und durch ihre gewöhnlichen Reden und
Handlangen gegen andere für fähig erkläret
werden, an einer vernünftigen Unterhaltung
Theil zu nehmen. Wenn jene Behauptung
noch in einem andern Sinne wahr feyn kann,
fo wünfehte ich davon , oder zum wenigfter»
darüber eine Erklärung, wie fie in diefem
oder in irgend einem andern Sinne bevveife,
dafs jene Grundfätze angeboren find.
§. i5.
Wie der Verftand zur Erkenn tnifs
der Wahrheiten gelanget.
Die Sinne führen dem Verftande zuerfl:
particuläre BegrifFe zu, und füUep die Leere
rielTelben aus. So wie der \ erfand nach
und nach mit einigen bekannter wird , io
C 4 -wer.
40 Elftes Buch,
werden Ge in dem GedäYhtnifs geordnet und
mit Worten bezeichnet, Nun gehet der Ver-
ftand weiter, bildet von ihnen Abftraktionen,
und lernt nach und nach den Gebrauch all-
gemeiner Sprachzeichen. Auf diefe Weife
wird die Seele mit Begriffen und mit der
Sprüche bereichert, welches die Materialien
find, an welchen fich ihre Denkkraft übt.
Der Gebrauch der Vernunft wird täglich in
dem Verhältniffe fichtbarer, als die Mate-
rialien, welche fie befchäftigen, auwachfen.
Allein obgleich die Bildung allgemeiner Be-
griffe, der Gebrauch allgemeiner Sprachzei-
chen und die Wirksamkeit der Vernunft mit
einander aufwachfen, fo fehe ich doch nicht,
wie man auf diefe Art beweifen kann, dafs
jene Begriffe angeboren find, Es ift wahr,
man findet die Erkenninifs gewiffer Wahr-
heiten fehr frühzeitig in der Seele j aber die
Art und Weife, wie fie dazu gelangt, zeigt,
daf^ Ge nicht angeboren find* Denn die Be-
obachtung wird uns lehren , dafs diefe Er-
kenntnifs keine ängeborne, fondern erwor.
bene Vorftellungen zum Gegenstände hat, das
heifst, folche Vorftellungen, welche von
äufsernGegenftänden gegeben find, mit denen
die
Zweites Kapitel. 41
die Kinder am früheften zu thun haben, und
die am öfterften Eindrücke auf ihre Sinne
machen. An diefen, auf folche Ait erlangten
Vorstellungen entdeckt der Verftand, wahr«
fcheinlich fo bald als er von dem Gedächtnis
Gebrauch macht, und im Stande ift, deutli-
che Vorftellungen zu empfanden Bnr aufzu-
bewahren, dafs einige zufammenftiinmen»
andere entgegengefezt find. JDeui fey aber
wie ihm wolle , fo ift doch foviel gewifs, dafs
der Verftand lange zuvor , ehe er lieh der
Worte bedient , oder wie man es gewöhn-
lich nennt, zum Gebrauche der Vernunft ge-
langet, diefe Thätigkeit äufsert» Denn ein
Kind erkennet gewifs „ ehe es fprechen kann>
den Unterfchied zwifchen den Vorftellungen
Süfs und Bitter, das ift, dafs das Bittere
nicht füfs ift, fo wie es fpäterhin , wenn
es der Sprache fähig ift, erkennt, dafs YVer-
muth und Zuckeikörner nicht einerlei Dinge
find»
$# l6.
Ein Kind weifs nicht, dafs die Summe von
drei und vier gleich ift, der Zahl heben, bifs
C 5 et
42 Elftes Back
es fieben zählen kann, und das Wort mit dem
Begriffe der Gleichheit gefafst hat. Wenn
man ihm aber alsdann diefe Worte erkläret,
fo film m et es gleich bei, oder beffer , es er-
kennt die Wahrheit dieks Satzes. Diefes
augenblickliche Fürwahrhalien aber erfolgt
nicht deswegen, weil es eine angeborne
Wahrheit ift , und es fohlte nicht deswegen
bis dahin , weil das Kind feine Vernunft
noch nicht gebrauchen konnte, fon-
dein diefe Wahrheit wird ihm einleuchtend,
fo bald als es in feinen Verftand die klaren
und deutlichen Vorftellungen aufgenommen
hat, welche diefe Worte bezeichnen. Es
erkennet dann die Wahrheit diefes Satzes
aus den nehmtichen Griind«i und auf die
nehmliche Weife, ais es vorher erkannte,
dafs eine Ruthe und eine Kirfch? nicht einer-
lei Dinge find, und als es in der Zukunft er-
kennen Kami , aafs ein und das nehmliche
Din* unmöglich feyn und nicht feyn kann.
Was das leite betrifft ^ fo foll es weiter un-
ten noch ausführlicher, bewiefen werden.
Je fpäter alfo ein Menfch die allgemeinen
Begviffe erlangt, welche jene Grunduiue in
Geh fallen; je fpäter er die Bedeutung der
Wo*-,
Zweites Kapitel. 43
Worte, welche fie bezeichnen, erkennet, oder
tue ihnen anhängenden Begriffe in feinem
Ich verbindet , defto fpäter wird er auch von
diefen Grundfätzen überzeugt werden. Denn
da die Sprachzeichen und die Begriffe, Wel-
che bei den Grundfätzen vorkommen, ehen
fo wenig angeboren find, als die Vorfiel! ungen
von einer Katze oder Wiefei, fo mofs er fo
lange warten , bis die Zeit und die ßeobach- .
iung ihn rhit denfelben bekannt macht.
lft das- geschehen, fo ift er fähig die
"Wahrheit diefer Grundfätze zu erkennen, fo
bald er versnlafst wird, die Begriffe in dc<a
Yerflande zu verbinden und nachzudenken,
<pb fie auf die Weife, als fie in den Sü.'zen
v ausgedruckt find, mit einander übe;einüi:n.
weg oder nicht. Daher erkennet ein erwach-
iVienfch , dafs die Summe von ># und
39 der Zahl 37 gleich ift, mit eben derfeiben
Evidenz, als dafs I und 2 gleich 5 itt, Ein
Kind erkennt das aber nicht fobald als jener,
nicht darum, weil es ihm a» dem Gebrauch
der Vernunft fehlet, fondern weil die Begrif-
fe, welche die Worte achtzehn, neunzehn,
lieben und dreyfsig bezeichnen, nicht fo bah;»
/j4 £ l f t e s B u oh.
in den Verftand kommen, als die von Eins,
Zwei und Drei,
$• 17.
Bas unmittelbare Für wahrhalten
beweifet nichts für das Ange-
boreufeyn der Begriffe.
Da diefe Ausflucht mit einem allgemeinen
Fürwahrhalten fehlfchlägt, wie es auch nicht
anders feyn kann, und kein Unterfcheidungs-
rcerkmal zwifchen den angeblich angebornen,
und den andern Wahrheiten, die fpäter erwor-
ben und erkannt werden, an die Hand giebr,
fo bat man fich Mühe gegeben, den fo^e-
nannten GrundTätzen auf eine andere Art
eine allgemeine Beiftimmung zu fichern. Man
behauptet nehmlich, dafs man ihnen allge
mein beiftimme, fo bald fie nur vorgetragen,
und die Ausdrücke, die fie bezeichnen, ver-
ftandea werden. Man beobachtet, dafs alle
Menfchen, feibft Kinder, fo bald fie die Aus-
drücke hören und verftehen, diefe Sätze für
wahr halten, und denkt nun, riief«« fey fchon
Beweifes genug, daf» fie angeboren find.
Und da fie alle Menfchen unter der angege-
benen
Zweites Kapitel- 45
benen Bedingung durchgängig für unbezwei-
felte Wahrheiten anerkennen , fo möchte
Bian gerne daraus folgern, dafs diejenigen
Sätze, welche der Verfhnd obne alle Be-
lehrung bei detri erften Vortrage unmittelbar
aüffafst, mit Ueberzeugung begleitet und
dann nie wieder bezweifelt, unftreitig 'ur-
fprünglich in das Verftandesvermögen gelegt
und.
$. 18,
Wenn diefes Fürwahrhalten ein
Merkmal derangehornen Sätze
wäre, fo müfste auch der, dafs
Eins und Zwei gleich Drei
ift, und unzählig ander« ange-
boren fey n.
Um diefs zu beantworten , frage ich , ob
das augenblickliche Fürwahrhalten eines Sa-
tzes, fobald man feine Ausdrücke hört und
verfteht, ein zuverläfsiges Merkmal der an-
gebornen Grundfätze ift? Ift es nicht, fo
ift es umfonft, hch darauf als einen Beweis
zu berufen. Behauptet man es aber, fo raufs
man alle diejenigen für angeboren erkennen,
denen
46 Erftes Buch.
denen man , fo wie fie gehört werden, nll^e-
niein heifiimmt; und dann würde iri3n Hell
in ehien grofsen Ueberßufs von angebornen
Grundfätzen verfezt fehen. Denn wenn mau
unter jener Voraussetzung däefe Grundfätze
für angeboren ausgeben will, fo mujps man
aus eben demfelben Grunde verfchiedene Sa-
tte von Zahleriverhältrilfjteri dalür erkennen»
Und. fo werden denn die Sätze I -\-Z ~ 3;
2-7-2 ZZ 4 und mehrere dergleichen, die je-
dermann, fo wie er De höret, und ihre Aus-
drücke verliehet, für wahr hält, eine Stelle
unter diefen angebornen Grundfätzen erhalten
muffen, Diefer Vorzug findet i;ch nicht allein
bei vielen, Sätzen , welche Zahienver-
hältniile ausdrücken, fonriern auch die
1
Philolbphie dtr INatur und andere Witten-
fchaften bieten folche dar, welche auf ei-
^ nen unmittelbaren Beifäll ficher rechnen
dürfen, fo bald fie verbanden werden. Dafs
zwei Körper nicht in dem nehm-
liehen Räume f e y n k p nnen, ift eine
Wahrheit, welche grwifs jeder Menfch eben
fobald anerkennt , als folgende : Es ift un-
möglich, dafs ein und das nehmii-
cae
Z vr e it e s X .1 p i t e I. 47
che Ding [^7 und nicht Ter; Weis
ilt nicht Schwarz; Ein Viereck- i f t
kein C i r k e 1 ; Die gelbe Farbe i ft
nicht die Slöfsigkeit* Diefe und un-
zählige andere Siüze di^fer Art , deren An-
zahl iura wenigsten eben !"o grof« ift, als wir
deutliche Begriffe haben, nöthigem |
Mentchen, fo bald he gehöret werften, und
die Worte verftändlich find, die UeberZeü?
gung ab. Wenn die Veriheidiger der ange-
bornen VbrftfeUungen ihrer eignen Maxime
treu bleiben, und das augenblickliche i'ur-
wahrhalten zum Merkmale des Augebornen
machen , fo muffen fie nicht nur eben fo vie-
le angeborne Satze anerkennen, als die Men-
ichen deutliche Vorftellungen haben, fondern
auch fo viel, als fie Urtheile bilden können,
in welchen entgegengefezte VorfteJIungen
von einander getrennt werden. Denn jeder
Satz, in welchem ein entgegengefezter Be-
griff von dem andern verneinet wird, findet
eben fo gewifs Beifh'mmung, fo bald er ge-
hört und verfinnden wird, als der allgemei-
ne Satz: Ein und das nehmlicheDing
kann unmöglich feyn und nicht
fevn,
48 Elfte» Buch.
feyn, oder derjenige, welcher die Grund-
lage von jenem ausmacht und noch verftänd.
ljcher ift : Was einerlei ift, i f t n i c h t
verfcbieden« Nach diefer Vorausfetzung
erhalten lie fchon ganze Legionen von ange-
bornen Sätzen der einen Art, ohne noch die
der andern in Rechnung zu bringen. Da
aber kein Urtheil angeboren feyn kann, wenn
es nicht die Vorstellungen find, welche den
Innalt de5 Unheils ausmachen, fo müTste man
annehmen, dafs alle Vorftellungen von Far-
ben , Tönen , Figuren u, f. w, angeboren
find. Allein kann wohl etwas gedacht wer-
den, welches der Vernunft und Erfahrung
mehr widerfpricht? Eine allgemeine und un-
mittelbare Ueberzeugung« welche auf das
Hören und Verftehen der Worte erfolget, ift,
ich geftehe es t ein Merkmai der innern Evi-
denz (Seif — eviden.ee); aberdiefe hängt nicht
von angebornen Eindrücken, Jon (fern wie
wir weiter unten zeigen werden, von etwas
andern ab, und kommt verfchiedenen Sätzen
zu , die für angeboren zu hajten , noch kein
Menfch fo finnlos war.
§, 19.
Zweites Kapitel. 43
'S- 19;
Die weniger allgemeinen Ur»
i ii e i 1 e werden vor den allge-
meinen erka n n t.
Man Ki£e ja rieht, dafs diefe particuHrert
ön fich einleuchtenden Sülze, welche auceri-
»eittimrhung erb ilten, z, B. i f 2 ~ 3 ;
Grün ift -nicht Roth, als Folgerungen
ä\rs den allgemeinen Sätzen , die angeboren
feyn Jollen, angenommen werden. Denn Je*
der der nicht die Mühe febenet. über da*
nachzudenken, was in dem Verftande vorge-
het, wird Eüverläfsig finden, dafs diefe \ve*
tiiger äflgeineiiien Säue von denjenigen mit
vbhigev UebeVzeügung erkannt werden , wel-
che von jenen allgemeinen ganz und gar
nichts wilTeri. Da jene alfo früher in der
Seele find, als diele fo genannten erfreu
Gruudfatze, fo können fie das augenblickliche
Fiirwahrhalteri ', mit welchem fie aufgenom-
men werden, nicht diefen zu verdanken
habem
1> $, £ö>
5® Erf t es Bu ch,
§- 20.
Der Einwurf, dafs diefe Sätze
nicht allgemein noch von g r o-
fsem Nutzen find, wird beant-
wortet.
Wenn man vielleicht fast: diefe Sätze:
2f2ZZ4 Rothift nicht Blau find kei-
ne allgemeinen Grundfätze und von keinem
grofsen Nutzen, fo antworte ichj diefes hat
keinen Einflufs auf den Beweis von dem au-
genblicklichen Fürwahrhalten, Denn wenn
diefes das fichere Merkmal des Angebornen
ift , To mufs jeder Satz, der eine allgemeine
Beiftimmung erhält, fobald er verfeinden
wird, eben fo gut zu den angebornen Sätzen
gezählet werden , als der Grundfatz des
Wider fpruchs, weil bei beiden einerlei
Grund Itatt findet. Aus dem Unterfchiede, dafs
diefer Satz allgemeiner ift, als jene, folgt, dafs
diefer noch weniger angeboren feyn kann als
jene. Denn die allgemeinen und abftrakten B e-
gr if fe liegen dem erften Bewufst werden nicht
fo nahe, als die particulären evidenten Sätze.
Der mehr gebildete Verftand erhält von die-
len weit früher eine überzeugende Erkenn t-
nifs
Zweites Kapitel.
nifs , als von jenen. Was endlich die Brauch-
barkeit diefer fo gepriefenen Grundfätze be-
trift , fo wird vielleicht eine umftändlichere
Unterfuchung an feinem Orte zeigen , dafs
fie nicht fo grofs ift , als man allgemein lieh
einbildet.
§♦ 21.
Dafs diefe Grundfätze zuweilen
nicht eher bekannt find als
nach vorgängigem Unterricht,
ift ein Beweis, dafs fie nicht
angeboren find.
Doch wir haben diefe Unterfuchung. über
das Für wahrhalten, welches gewif-
f e n Sätzen gegeben wird, fo bald
man fie höret und verftehet, noch
nicht geendiget. Wir muffen zuvörderli be-
merken , dafs diefes keineswegs ein Merk-
mal des Anoeborenfeyns, Tondern vielmehr
ein Beweis für das Gegentheil ift , infofern
es vorausfezt, dafs verfchiedene Menfchen»
welche fchon andere Erkenntniffe belitzen,
von diefen Grundlätzen nichts, willen, bis
D 2 He
52 Elftes Buch,
fie ihnen vorgelegt werden, und dafs He rr.it
diefen Wahrheiten unbekannt feyn lönnen,
bis fie diefelben von andern hören. Denn find
' fie angeboren, fo dürfen fie nicht rrft be-
kannt gemacht werden, um Beiftimmung zu
erhalten. Wenn fie durch einen natürlichen
und urfprünglichen Eindruck in der Seele
find, muffen fie nicht vor sllen andern Wahr-
heiten erkannt werden? Oder Tollte derjeni-
- ge, der diefe Sätze einem andern vorträgt,
fie dem Verfiande klärer einprägen, als die
Natur felbft, Y\ äre diefs, fo würde daraus
folgen, dafs fie nach einer vorrangigen B«!eh-
rrung beffer erkannt werden, als zuvor* folg-
lich müfsten diefe Grundfätze durch fremde Be-
lehrung, mehr Evidenz gewinnen können als
ihnen die Natur durch ihreEinprägung gp peben
hat. DicTes ftiramt nicht gut mit dpr Meinung
von angebornen Grundfätzen überein, und
läfst dieTen wenig Anfehen übrig, oder macht
fie vielmehr zum Fundamente aller unTrer
übrigen Erkenntniffe , wofür man fie doch
ausgiebt, ganz untauglich. So viel ift un-
ftreitig, dafs die Menfchen viele von diefen
evidenten Sätzen erft durch Bekanntmachung
von Aufsen kennen lernen» Wenn das aber
Zweites Kapitei. .. zi
gefchiehet , fo mufs nothwendig Jeder, der
in dem Falle ift, über fich.die Bemerkung ma.
dien, dafs er jezt einen Satz fich deutlich vor-
zufallen anfange, von dem er vorher nichts
wuTste, Von nun an bezweifelt er die Wahl-
heil deüelben nicht mehr, nicht weil er an-
geboren ift, fondern weil 'die Betrachtung
der Natur der Dinge , welche in dem Satze
ausgedrückt ift, ihm nicht verftatten würde,
anders zu denken. Auf welche Art und zu
welcher Zeit er veranlagt worden ift, dar-
über nachzudenken, das th'ut hier nichts
zur Sache. Wenn alles , was man für wahr
hält, fo bald man es höret und die Worte
verftehet, für einen angebornen Grundfatz
gehen foll, fo mufs jede gründliche Beobach-
tung, welche von einzelnen Fällen zu einer
allgemeinen Regel erhoben worden ift, an-
geboren feyn. Und doch ift es eine ausge-
machte Wahrheit, dafs nicht alle Menfchen,
fondern nur fcharflinnige Köpfe folche Beob-
achtungen machen, und fie auf allgemeine
Sätze zurückführen , welche nicht angeboren,
fondern aus fchon vorhandenen Kenntniffen
und aus der Reflexion über einzelne fülle
abgezogen find, DxeTen Sätzen , welche
D 3 von
54 Elftes Buch.
von Beobachtern entdeckt find, können die-
jenigen, welche kein Talent zum Beobach*
ten haben, dennoch nicht ihren Beif.il verta-
gen, wenn fie ihnen vorgetragen werden.
§. 22.
Die dunkle Erkenntnifs derfel-
ben, ehe fie vorgetragen wor-
den find, kann nichts anders
bedeuten, als dafs der Ver
ftand fähig i f t ,fie zu erkennen*
Wenn man fagt, der Verftand hat keine
deutliche fondern nur eine dunkle Erkennt-
nifs von diefen Grundfätzen , ehe fie zum er-
ftenmal gehört werden, — und fo müfsen die-
jenigen fagen , welche behaupten , dafa fie in
dem Verftande find, ehe fie erkannt werden, —
fo weifs man kaum , was man (ich unter ei-
nem unentwickelten, dem Verftande eingepräg-
ten Grundfatz denken füll, aufser, dafs der
Verftand das Vermögen hat, diefe Sätze zu
verftehen, und mit fefter Ueberzeugung an-
zunehmen. Dann muffen aber alle inathema-
tifchö Demonftrationen eben fo gut als die
erften Grundfätze für ursprüngliche Eindrü.
cke
Zweites Kapitel. 55
cke des Verbandes gehalten werden. Allein
ich fürchte fehr, dafs diejenigen, welche es
nicht für fo leicht halten , einem erwiefeneri
Satze beizuftimmen , als ihn zu demonhriren,
diefes einräumen werden. Und wenige Ma-
thematiker werden fich überzeugen können,
dafs die Figuren, die fie ziehen, nur Kopien
von den angebornen Zeichnungen lind , wel-
che die Natur dem Verftande eingegraben
hat.
§. 23.
Der Beweis von dem augenblick-
lichen Fürwahrhalten, grün-
det fich auf die fa 1 f che Vo ra us-
fetzung, dafs keine Belehrung
vorausgehet.
Der vorhergehende Beweis hat, wie ich
fürchte, noch eine andere fohwache Seite.
Er foll darthun, dafs diejenigen Sätze, wel-
chen die Menfchen beiftimmen , "fobald fie
diefelben hören , deswegen als angeboren
muffen gedacht werden , weil ihr Beifall
nicht die Folge einer Belehrung, nicht
die Wirkung eines Beweifes ift, fondern durch
D 4 die
56 Elftes Er
die blofse Erklärung und das Verftehen des
Ausdrücke hervorgebracht wird. Und hier
fcheint mir ein Trugfchiiirs mit im Spiele zu
feyn. Man fezt voraus, dafs die Menfchen
dabei nicht belehrt werden, und dafs fie
nichts Neues lernen, und doch gefchiehet cl;+s
■wirklich, und fie lernen etwas, was fie vor-
her nicht wufsten» Denn erulich iffc es ein-
leuchtend , dafs fie die Ausdrücke und ihre
Bedeutung gelernt haben , da keines von bei-
den ihnen angeboren ifi\ Doch das find hier,
noch nicht die einzigen erworbenen Kennt-
»iiTe*. Die Vorftellungen feibft , welche in
dem Satze enthalten find, find eben fo we-
nig angeboren, als die Sprachzeichen, wo-
durch fie ausgedrückt werden; fie find, viel-
mehr fpäterhin erworben. Da nun in den,
§ätzen , welche bei dem erften Anhören au-
genblicklich für wahr erkannt werden , we-
der die Vorftellungen noch die Worte, wel-
che fie bezeichnen, angeboren find, fo möch-
te ich gerne willen, was in denfeiben fonfi
noch angeboren feyn foll. Denn es würde mich
freuen, wenn mir Jemand einen Satz nennen
könnte, in welchem die Vorftellungen oder
4i,e Worte . angeboren find, Wir werden
sä ch
Zweites Kapitel, 57
nach und nach mit Vorftellungen und deren
Sprachzeichen bekannt , und lernen ihre be-
Itimmte Verknüpfung einfehen. federn Sa-
tze, der nur foicbe Ausdrücke enthält, deren
Bedeutung wir verftehen, und diejenige Ein- '
ftimmung oder Entgegenfeuung der Begriffe
auffaget , die wir begreifen können , Itim-
men wir unmittelbar bei, fo wie er uns
vorgetragen wird. Nicht fo ift es bei Sätzen,
' die zwar an (ich eben fo gewifs und evident
find , aber folche Vorftellungen enthalten,
welche wir nicht fo bald oder nicht f'o leicht
verftehen lernten. Ein Kind ftiimnt gewifs
dem Satze, ein Apfel ift nicht Feuer,
gleich bei , wenn es durch eine lange Be-
kanntschaft deutliche Vorftellungen von die-
fen verfchiedenen Objekten und die Bedeu-
tung der Worte Feuer, Apfel in feinen
Verltand aufgenommen hat. Aber vielleicht
verfliefFen noch viele Jahre, ehe es den Satz:
Es ift unmöglich, dafs ebendaffel-
be Ding fey und nicht fey, für wahr
erkennet. Denn obgleich diefe Worte viel-
leicht eben fo leicht als andere zu lernen
find, fo fafst es doch nicht fo bald ihre Be-
deutung, weil üe weiteis umfafseader imd
& % ab«
5S Elftes Euch,
ahftrakter ift, als derjenigen Worte, welche
finnliche Dinge bezeichnen, mit denen es
viel zu thun hat, und es braucht daher mehr
Zeit, um diefe Bedeutung in klare Begriffe >
umzubilden. Ehe das gefchehen ift , wird
alle Bemühung vergeblich feyn, einem Kinde
die Ueberzeugung von einem Satze, der fol-
che abftrakte Worte enthalt, beizubringen.
Sobald es aber der Vorftellungen und ihrer
Ausdrücke bewufst ift, fo tritt es ohne An-
ftand jedem der vorhin genannten Satze, und
zwar aus einerlei Grunde bei, weil es nehm-
lieh findet, dafs die Vorftellungen, welche
in-1 feinem Verftande einftimmig oder entge-
gengefetzt find, in dem Satze von einander
bejahet oder verneinet werden. Wenn man
ihm aber Sätze mit folchen Worten vorleget,
deren bezeichnete Vorftellungen es noch
nicht gefaTst bat, fo kann es ihnen weder
Beiftimmung geben noch verfagen, wenn auch
ihre Wahrheit oder Falfchheit an fich noch
fo evident ift; es bleibt in Anfehung ihrer
unwiflend. Denn die Worte find nur leere
Töne, wenn fie nicht unfere Vorftellungen
bezeichnen , und wir können ihnen nur in
fofern beiftiuunen, als fie unfern vorhande-
neu
Zweites Kapitel. 5j
nen Vorftellnngen entfprechen. Doch di«
Unterteilung der verfchiedenen Kanäle und
Wege, auf welchen dem Verlande Kennt-
nide zugeführt u erden, und der Gründevon
den verfchiedenen Graden des Fürwahrhal-
tens ill der Ge^erdtand der folgenden Abhand-
lung. Es war für meinen Zweck hinreichend,
fie als einen Grund aus welchem ich die ?.n-
gehomen Grundfätze bezweifle, liier nur be-
rührt zu haben«
§. 24«
Iene Grundfätze find nicht ange-
boren, weil fie nicht allgemei-
ne Beiftiminung finden.
Wir wollen jezt die Prüfung des Bewei-
fes aus dem allgemeinen Fürwahrhalten be-
fchliefsen. Ich geftehe den Vertheidigem
der angebornen Grundfätze ein, dafs fie all-
gemein für wahr gehalten werden
muffen, wenn fie angeboren find. Denn
eine angeborne Wahrheit ohne allgemeine
Beiftimmung ift für mich eben fo undenkbar,
als dafs Jemand eine Wahrheit erkenne, und
zu
Co Elftes B u eh.
zu gleicher Zeit fich ihrer nicht bevvufst [ay.
können fie aber nach ihrem eigenen
©eftändnirs nicht angeboren feyn. Denn lie
werden weder von denjenigen für wahr ge-
halten, welche die Ausdrücke picht verlie-
hen , noch von denjenigen, welche die
■orte verliehen-, aber von den Sätzen nichts
, und an fie nicht gedacht haben.
Ja .i-icni Fall befindet fich , wie ich glaube,
i i.ner die eine Hälfte des Menfchenge-
ieclits. Gefezt aber , diefe Zahl wäre
nicht, fo grots , fo ift doch fchon die Behau-
ptung eines allgemeinen Fürwahrhal-
te n s entkräftet, und wenn auch nur die
Kinder von diefen Sätzen nichts willen, lo
ift auch dadurch fchon bewiefen, dafs fic
xiicht angeboren lind.
§. 25.
Diefe Grundfatze find >, i c h t die
zuerft erkannten Wahrheiten.
Damit man mich aber nicht bÄfchuIdige,
als folgerte ich von dem Denken der Kinder,
das wir nicht kennen, und von dem, was in ih-
leiii Verftande vorgehet, ehe He es dur.;h die
Spra-
Zweites Kapitel. 61
Sprache ausdrücken können , fo behaupte ich
zunächft nur loviel, dafs jene allg j
Satze (£. 4.) nicht diejenigen Wahrheiten
find , welche der Verftauri der Kinder zucrft
inne hat, und dafs He auch andern erworbe*
Ben und von Aufsen gegebenen Beg:
nicht vorausgehen, welches doch feyn röüfste,
wenn fie angeboren wiiren. Es giebt linftrei-
tig eine Zeit, da die Kinder anfanget] tu
denken; ob wir fie beftimmen können oder
nicht, darauf kommt hier nichts an; ihre
Worte und Handlungen überzeugen uns da«
von. Darf man nun wohl vernünftig r ivei*
fe vorausfetzen j dafs fie zu , , da fie
des Denkens, de« Erkennens um rhal*
fähig und« von den Begriffen r#hts
wifien , welche ihnen die Natur eilige-1
prä^t hat, v.ot ", dftfj es wirklich fol-
che giebt? Larst es fich mil einigein fchein«
baren Grunde denken« dafs fte die Eindrü-
cke von den Aufsendingen wahrnehmen*, und
doch zur nehmlichen Zeit die Charaktere
nicht erkennen, welche die Natur felbft dem
Verßande einzuprägen, forgfältig be
vvar? Können fie die erworbenen Begriffe
auf«
6z Elftes Buch-
aufnehmen, und für wahr halten, und doch
von denen nichts willen, welche nach der Vor-
ausfetzung mit den Principen ihres YA'efens
innigft verweht, in unvereinbaren Charakte-
ren eingedrückt, und zur Grundlage und
Richtfchnur aller erworbenen Erkenntnifs
und alles künftigen Benkens befihr.mt find?
Diefes würde fo viel feyn.alsdie Natur arbeite
zwecklos, oder fchreihe doch zum wenigften
fehr unleferlich, indem ihre Züge nicht ein-
mal von denjenigen Augen geleTen werden
könnten, welehe doch andere Gegenftande
fehr gut erkennen. Es ift eine fehr grund-
lofe Vorausfetzung, wenn man diejenigen
Sätze, welche nicht zuerft erkannt werden,
und ohne welche eine gewifle Erkenntnifs
anderer Dinge möglich ift, für die deutlichften
Wahrheiten und für die Gründe aller unferer
Erkenntnifs hält. Das Kind weifs gewifs.
dafs die Amme, die es fanget, nicht die
Katze, mit welcher es fpielet, noch der
Mohr ift, vor welchem es erfchrickt; dafs
Wurmfamen und Senfkörner, die es
von ßch ftofst, nicht Aepfel oder Zucker
Ond, nach denen es fchreyt. Davon ift es
ganz
Zweites Kapitel. « - "•
panz eewifs mit Ausfchliefsung alles Zweifels
überzeugt. Allein kann man wohl behaupten,
dafs es vermöge des Grundfatzes des
Wid er fpru chs von diefen und andern
Wahrheiten eine fo unerfcbütterliche Ueber-
zeugung hat; oder, dafs es in einem Alter,
in dem es zuverläfsig viele andere Wahrhei-
ten erkennet, irgend einen Begriff oder eine
Vorftellung von diefem Satze habe ? Wer et-
wa meinte, dafs die Kiuder diefe abftrakten
Speculationen an ihre Saugglafer oder Klap-
pern anknüpfen , von dem könnte man viel-
leicht mit Recht urtheilen, dafs er mit mehr
Leiden fcbaft für feine Meinung eingenommen,
ift, aber dagegen weniger Aufrichtigkeit und
Wahrheitsliebe, als ein Kind von diefem Al-
ter, befizt.
§. 26.
Und deswegen nicht angeboren.
Es giebt alfo zwar verfchiedene all-
gemeine Satze, welche, fobald fie auf-
geteilt find, bei erwachfenen Menfchen,
die allgemeiner abftrakter Vorfiellungen und
ihröf
64 E r f e s B u c Ii, .
ihrer Bezeichnung fähig &nd, eine allgemei-
ne und augenblickliche Beiftitniüiing finden;
allein, da lie in der zarten Kindheit}
in der man gleichwohl andere Dinge er*
fccnnet, nicht angetroffen werden, fo kön*
nen fie auf kein allgemeines Fürwahrhai»
ten aller denkenden Wefen , und in in fo fern
auch nicht auf den Titel von angebornen Sä-
tzen Anfpruch machen. Denn eine angebome
Wahrheit, wenn es folche giebt , kann unmög-
lich, zum wenigften denjenigen nicht unbe-
kannt feyn, welche andere Dinge erkannt ha-
ben» Und wenn es angeburne Wahrhei-
ten giebt, fo mühen es angeborne Gedanken
feyn', da für den Verftand nichts Wahrheit
ift, als was er felbft gedacht hat. Es ift al-
fo hieraus einleuchtend, dafs, wenn es an-
oeborne Wahrheiten in dem Ver-
ftande giebt, fie nothwendig die
erften feyn muffen» welche ge*
dacht werden; die erften, welche in
dem Bewüfstfeya vorkommen»
ä?l
Zweites Kapitel. 65
Sie find nicht angeboren, weil
fie, wenn fieäuch zum Vor«
fchein kommen, am dunkelften
find, c\ a das Angeborne am
deutlichsten gedacht werden
m ü f s t e«
Dafs die allgemeinen Grundfatfce, von
denen wir gehandelt haben, den Kindern,
den gemeinen Leuten und einem gro-
fsen Theile des Menfchengefchlechts nicht
feekanrit find , ift fchon hinlänglich gezeigt
Worden, und daraus folgt unwiderfprechlich,
dafs fie nicht allgemein für wahr gehalten
•Werden, noch allgemeine Eindrücke find. Es
liest aber darin noch ein anderer Grund ge-
gen die angebornen Gruudfätze. Denn wären
diefe Charaktere von der Natur herrührende
urfprüngliche Eindrücke, fo müfsten fie am
teinften und klärften , bei denjenigen Fer fö-
nen zum Vorfchein kommen, in welchen wir
nicht die gering fte Spur von ihnen antreffen
Dafs fie denjenigen iYlenfchen zulezt bekannt
werden, in weichen fie fich auf mehr Stär-
i,6 Elftes Buch.
ke und Lebhaftigkeit äufsern müfsten , wenn
f;e angeboren wären, das iß, wie mir dünkt,
eine ftarke Vermuthung, dafs üe es nicht
find. Denn da Kinder, Wilde, u n-
wiffendeund ungelehrte Menfchen
am allerwenigften von Gewohnheiten und an-
genommenen Meinungen verdorben werden;
da Gelehrfamkeit und Erziehung ihre ur.
fprünglichen Gedanken nicht in neue Formen
ummodelt, und durch Aufiragung fremder
erkünftelter Lehren die reinen Charaktere, Wel-
che die Natur eingefchrieben hat, verwifcht?
fo follte man vernünftigerweife denken t die
ingebomen Begriffe müfsten in dem Verflan*
de diefer Menfchen in ihrer Klarheit für je*
dermanns Auge , wie die Gedanken der Kin*
der, offen da liegen» Man follte mit Grund
erwarten, diefe Grundfatze müfsten den Na-
turmenfehen vollkommen bekannt feyn« dg
fie nach der Vorausfetzung unmittelbar in die
Seele eingeprägt , und von der Organifation
de» Körpers, dem einzigen eingeftandenen
Untetfchiede zwifchen jenen und andern
Menfchen , nicht abhängig feyn können.
Man follte denken , dafs nach den Grundfä*
tzen der Vertheidiger der angebornen Begrif-
fe
Zweite» Kapitel. 67
fe, (liefe natürlichen ' ichtftrahlen, wenn fie
wirklich wären bei denen Menfchen, die kei-
ne Zurückhaltung keine Vorftellungskunft be-
fitzen in ihrem vollen Glanz hervorleuchten,
und uns ehen fo wenig zweifelhaft über ihr
Dafeyn laden müßten, als wir es in Anfe«
hnng ihrer Neigung zum Vergnügen und ih-
res Abfcheues vor Schinerz find. Allein was
für allgemeine Sätze können bei Kindern,
Wilden, unwiffenden und ung elehr«
ten Menfchen gefunden werden? Was
für Grundfütze der Erkenntnifs? Ihre Begrif-
fe find Von kleiner Anzahl und geringen. Um»
fange, und von den Gegenftanden entlehnt,
die fie am meiden beschäftigen und auf ihre
Sinne am öfterften und ftärkften Eindrücke
gemacht haben. Ein Kind kennt feine Amme
und Wiege und nach und nach auch das Spiel-
zeug eines erwachfnern Alters, und ein jun-
ger Wilder hat vielleicht nach dem Herkom-
men feines Stammes feinen Kopf mit det Lie*
be und der Jagd angefüllt. Wer aber bei ei-
nem ununterrichteten Kinde oder einem wil-
den Bewohner der Wälder abftrakte Sätze und
jene berühmten Grundfätze der Wiflenfchaf-
ten erwartet , der wird fich , furcht ich , in
E 2 fei.
68 Elfte 3 Buch.
feiner Rechnung fehr getäufcht finden. In
den Hütten der Indianer wird feiten an fol-
che allgemeine Sätze gedacht. Noch weni-
ger kommen Spuren von ihnen in dem Den-
ken der Kinder und der Naturmenfchen vor.
Sie gehören zur Sprache und Befchäftigung;
der Schulen und Academien unier aufgeklär-
ten Nationen, wo diefe Art von Unterhaltung
gewöhnlich, Gelehrfamkeit und Streitigkeiten
gemein find; fie find zweckmäfsig und brauch,
bar zu künftlichen Beweifen und zur Ueber-
zeugung anderer, aber zur Entdeckung der
Wahrheit und Erweiterung der Erkenntnifs
tragen fie wenig bei» Weiter unten (Buch 4*
Kap» 7») werde ich Gelegenheit haben, noch
umftändlicher von ihrem geringen Nutzen iti
«äiefer Rückficht zu handeln*
Wiederholung,
Wie abgefchmakt diefs den Meifteru iß
der Kunft zu demonftriren vorkommen mag,
weifs ich nicht. Wahrfcheinlich wird es abet
keinem Menfchen, wenn er es zum erften»
male hört, behagen. Ich mufs daher, bitten,
mich
Zweites Kapitel. 69
mich nicht voreilig zu verurtheilen, fondern
fo lange mit dem Richterfpruche zurückzuhal-
ten, bis man mich in dem Verfolg diefer Un-
terfuchung völlig ausgehört hat» Beflern Ur-
theilen werde ich mich gerne unterwerfen.
Und da ich redlich der Wahrheit nachfor-
fche, fo werde ich nicht empfindlich werden,
wenn ich mich überführet fehe, dafs ich für
meine eignen Vorftellungsarten etwas zu
fehr eingenommen war. Diefs, ich will es ger-
ne geftehen, kann uns allen begegnen, wenn
eignes und anhaltendes Denken unfere Köpfe
erwärme: hat.
Was nun die ganze Sache betriff, Fo fehe
ich nicht den geringften Grund, der einen
nöthigen könnte, die zwei berühmten fpecu-
lativen Grundfätze für angeboren zu halten.
Denn nicht alle MenCchen find von ihnen
durchgängig überzeugt j die allgemeine Bei-
ftimmung, welche fie erhalten, ift vollkom.
men einerlei mit derjenigen, welche verfchie-
denen andern Sätzen gegeben wird; und end-
lich entliehet diefe Ueberzeugung auch auf
eine andere Art, und rührt nicht von einer
natürlichen Einprägung her, wie ich in ei
E 3 »er
7ö Elftes Buch.
ner der folgenden Abhandlungen zu erwei-
fen hoffe. Wenn nun diefe erften
Grundfätze der Erkenntnifs und
Wiffenfchaft nicht angeboren
find, fo können andere fpeculati-
ve Sätze wohl mit noch wenigem
Rechte dafür angefehen werden.
Drittes Kapitel.
Es giebt keine angebovnen pvaktifchen Grundfätze.
§• I*
Keine ' tn oralifchen GrundTätze
find fo klar, und gelten fo all-
gemein, als die oben genann-
ten fp eculativen»
Wenn jene fpeculativen Grundfätze, von
denen wir im vorigen Kapitel handelten, kei-
ne wirkliche allgemeine Ueberzeugung bei
dem meafchlichen Gefchlechte finden, wie
dort
Drittes Kapitel. J
dort ift bewiefeu worden , fo ift es einleuch-
tend , dafs d i e praktifchen Grund Ta-
tze noch weniger auf allgemeine An-
nahme rechnen dürfen. Und mao
wird kaum einBeiTpiel von einer moraüfchen
Regel aufweifen können, welche auf eine
fo allgemeine , und augenblickliche Beifilm«
mung Anfpruch machte, als der Satz der
Einftimmung, oder eine fo evidente
Wahrheit wäre, als der Satz des Wider-
fpruchs. Hieraus folgt klar, dafs fie
noch weit weniger Foderungen auf den
Titel von angebornen Sätzen machen kön-
nen, und dafs die Behauptung, nach wel-
cher fie urfprüngliche Eindrücke auf denVer-
ftand find, noch weit ftärkern Zweifeln aus-
gefezt ift, als wir bei den fpeculativen fan-
den. Hierdurch wird aber ihre Wahrheit
felbft keinesvveges in Zweifel gezogen.
Sie find eben fo wahr, aber nicht fo evident
als die fpeculativen Grundfätze, Die Evi-
denz der leztern liegt in ihnen felft. Aber
die moraüfchen Grundfätze erfodern Schlüfse,
Räfonnement und einen geübten Verftand,
um die Gewifsbeit ihrer Wahrheit zu
entdecken, Sie liegen nicht jedes Ein-
E 4 ficht
ffe Elftes 'Buch.
ficht fo offen dar, als natürliche dem Ver-
ßande ehgeprägte Charaktere, welche, wenn
de wirklich vorhanden wären, durch fich felbft
kenntlich, durch ihr eignes Licht gewifs.und
allen MenCchen bekannt feyn müfsten. Hier-
durch verliert aber ihre Wahrheit und Ge*
wifsheit eben fo wenig, als der Satz,
die drey Winkel eines Triangels find zweien
rechten gleich, etwas dadurch verliert, dafs
er nicht fo evident iß, und keine fo unmit-
telbare Ueberzeugung gewähren kann, wie
der Satz j das Ganze ift g r ö f s. e r als
ein Theil. Es ift genug, dals diefe morali-
fchen Regeln einer Demonstration empfäng-
lich find , und es ift unfre eigne Schuld, wenn
wir es nicht zu einer gewifien Erkenntnifs
derfelben bringen» Da aber fo viele Men-
fchen fie gar nicht kennen, andere mit fo
viel Trägheit f4ch von ihnen überzeugen
Saffen, fo ift das ein fieberer Beweis, dafs
ße weder angeboren find, noch fich felbft ohne
alles Suchen dem ßewufstfeyn auldringen.
§, 2<
Drittes Kapitel. ?3
§. 2.
Treue und Gerechtigkeit werden
nicht von allen Menfchen als
Grund fätie anerkannt*
Was die Frage betrift, ob es folche mq-
ralifche Principe gebe, in welchen alle Men-
fchen übereinftiimnen , fo berufe ich mich
auf Jeden, der nur einige Bekanntfchaft mit
der Gefchichte der Menfchheit gemachti und
über die Grenzen feines eignen Keerdes hin.
aus gefehen hat» Wo ift die moralifche Wahr-
heit, welche allgemein ohne Zweifel und Ein-
wendungen angenommen ift. So mufs es aber
feyn, wenn fie angeboren ift. Die Gerech-
tigkeit und Treue in Erfüllung der Ver-
träge fcheint für die ir.eiften Menfchen eine
fliehe allgemein^eltende Wahrheit zu feyn.
Diefes find Maximen, die, wie man glaubt,
fich fogar auf die Holen der Diebe und die
Verbindungen der gröfsten Böfewichter er-
ftrecken. Und felblt diejenigen , welche die
Menschlichkeit am meiften verläugnen, halten
Wort und beobachten die Regeln der Gerech-
E S Hz
74 Elftes Buch.
tigkeit gegen einander. Ich gebe zu , dafs
felbft: die Geächteten fo gegen einander han-
deln. Aber He achten jene Maximen nicht als
angeborne Gefetze der Natur, fondern beob-
achten fie als Regeln der Schicklichkeit inner-
halb ihrer Gsfelifchaft, Es läfst fich nicht
denken, dafs derjenige die Gerechtigkeit aU
einen praktifchen Grundfatz ausübe, der ge-
gen andere Straffenräuber, die feine Genof-
fen find , fich artig beträgt , und zur nehmli«
eben Zeit jeden ehrlichen Mann, der ihm be-
gegnet, plündert oder tödtet. Gerechtigkeit
und Wahrhaftigkeit find die allgemeinen Ban-
de der Gefellfchaft, und daher muffen felbft
Räuber und Verbannte welche mit al-
len Menfchen gebrochen haben, unterein-
ander die Regeln der Treue und Billig,
keit beobachten , fonfl könnten fie nicht
in Gefellfchaft zufammen leben« Wer wird
aber wohl fagen, dafs diejenigen, welche
von Raub und Betrug leben, angeborne Grund-
fätze der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit
haben, und fie als gültig anerkennen?
§• 3-
«■Drittes Kapitel. 75
§. 3.
Der Einwurf wird beantwortet;
die Menfchen leugnen zwar
diefe Grundfätze durch ihre
Handlungen, nehmen (ie aber.
durch ihre Urtheile an.
Vielleicht wird man dagegen einwenden:
der ftille Beifall ihres Verftandes
billige dasjenige, de in fie durch
ihre Handlungen wider fp rechen.
Hierauf antworte ich. Erftlich , die Hand-
lungen der Menfchen habe ich immer für die
zuverläfsigften Ausleger ihrer Gedanken ge-
halten. Da es nun gewifs ift, dafs die Hand-
lungen der mciften und die Öffentlichen
Gewerbe mancher Menfchen diefe Grund-
fätze bezweifelt oder geleugnet haben , fo
kann man, wenn man auch nur auf erwach-
fene Menfchen Rücklicht nimmt , unmöglich
eine allgemeine Einhelligkeit annehmen, ohne
welche jene fchlechterdings nicht für angebo-
ren können erklärt werden. Zweitens, Es
ift fonderbar und ungereimt , angeborne
prak.ifche Principe anzunehmen , welche am
Ende nichts anders als fpeculativifch find.
Prak-
7<5 Elfte» Bück
Praktifche Principe, die von der Natur ab-
geleitet find, müfien auf das Handeln abzwe-
cken, und Einförmigkeit in der Handlungs-
weife, nicht blähe theoretifche Anerkennung
der Wahrheit hervorbringen , fonft werden
fie ohne Grund von den fpeculativen unter«
fcbieden. Ich leugne nicht, dafs die Natut
in den Meufchen ein Verlangen nach Glück-
seligkeit und einen Abfcheu gegen Elend ge-
legt hat. Diefes find in der That angebome
praktifche Principe, welche, wie fchon in
dem Begriff eines praktifchen Grundfatzes
liegt , unaufhörlich und immer einförmig
wirken, und auf alle unfere Handlungen
Einflufs haben; He werden allgemein und
unveränderlich bei allen Perfonen von allen
Altera beobachtet; fie find aber auch nur Nei-
gungen des Begehrens zum Guten, keine Ein-
drücke der Wahrheit auf den Verftand» Ich
leugne nicht, dafs auch verfchiedene natürli-
che Neigungen in der Seele der Menfchen
gegründet find ; dafs ihnen von dem erften
Anfang des Empfindens und Denkens an, ei-
nige Dinge angenehm, andere widerlich find,
und dafs fie gegen einige Neigung, gegen an-
dere Abneigung empfinden. Allein diefes
bewei-
D r 1 1 t e S K a p i t i 1. 77
beweifet iiichts für angebovne CharalueTe in
dem Verftande, welche als Grundfätze der
Erkenhtnifs zugleich Beftimmungsgründe des
Handelns leyn follen. Hierdurch ift nicht
nur nichts für das Dafein folcher urfprüngü-
eher Eindrücke in dem Verftande entfehis-
den , fondern es ift vielmehr ein Beweis da-
gegen. Denn wenn wirklich bePtimmte Cha-
raktere vorhanden wären , welche die Natur
als Grundfätze der Erkenntnis dem Vevftandö
eingeprägt hat, fo müfsten wir ihrer fortdau-
ernden Wirkfamkeit und ihres beständigen Eid-
flufses auf unfer Erkennen bewufst feyn, wie
diefs der Fall mit den natürlichen Eindrücken
auf den Willen und auf das Begehrungsver-
öiögen ift, welche unaufhörlich die Triebfe-
dern und Bewegungsgründe aller unferer
Handlungen find. Denn unfer Gefühl fagt uns,
«lafs fie Uns immer xu denfelben beftimmen,
§♦ 4-
Die raoralifchen Regein bedür-
fen eines Beweifes; alfo find
fie nicht angeboren.
Ein anderer Grund, der mich beftimmt,.
»n den an^ebornen praktifchen Grundfätzen
zu
78 Erfte* ßticli.
tu zweifeln, beftehet darin, dafs, wie mich
duukt, keine tnoralifche Regel auf-
geftellt werden kann, von welcher
nicht Jeder einen Grund zu f o*
dem berechtiget ift- Diefes wäre aber
fehr lacherlich und abgefchmakt, wenn fiß
angeboren , oder welches eben foviel ift, an-
fich evident wären. Denn jeder angebome
Grund fatz mufs durch fich felbft evident feyn,
fo dafs es weder eines Beweifes, um fich
feiner Wahrheit zu verfichern, noch eines
Grundes bedarf, um ihm Beiftimmung zu ver-
fchaffen. Wenn einer foderte, man folle ihm
einen Grund angeben, warum es un-
möglich ift, dafs einerlei Ding
fev und nicht fey, fo würde man von
ihm denken , er habe keinen Menfchen-
verftand. Denn diefer Sau führt Teine eig-
ne Klarheit und Evidenz bei lieh, und be-
darf keines andern Beweifes; wer die
Ausdrucke verftehet, der ftimmt ihm um fein
felbft willen bei, und kann durch nichts
anders beftimmt werden, ihm beizuftimmen.
Wenn aber jene unerfchütterliche Regel der
IVToralität, der Grund aller bürgerlichen Tu-
gend, jeder fo 11 fo handeln, wieer>
\v ü n-
Drittes Kapit-eL 79
wün fchen k a nn , dafs andere gegen
ihn handeln, einem Menfchen vorgelegt
wird, der iie noch nie gehört hat, aber doch
fehon die Fähigkeit befizt, ihren Sinn zu
fallen, könnte diefer nicht ohne fich einer
Ungereimtheit fchuldig zu machen, nach ei-
nem Grunde fragen , warum man fo handeln
Coli, und wäre es nicht Pflicht für den der (lief©
Regel aufftellte diefem die Wahrheit undVer-
nunftmäfsigkeit derfelben zu beweifen? Die-
f es zeigt doch augenfcheinlich, dafs fie nicht
angeboren ift; wäre fie es, fo könnte fie we*
der eines Beweifes bedürftig noch empfäng-
lich feyn, fondern fie müfste — zum wenig"
ften fo bald fie angehört und verftanden ift —
als eine gewiffe Wahrheit, die kein Menfch
nur im geringften bezweifeln kann, angenom-
men und gebilliget werden» Die Wahrheit
aller diefer moralifchen Regeln hängt alfo of-
fenbar von andern hohem Wahrheiten ab,
und raufs aus diefen abgeleitet werden. Die-
fes kann aber nicht flatt findeß, wenn fie an«
geboren, oder welches einerlei ift, durch
fich felbft evident fiad,
& S-
*
8o ' "Elftes Buch.
§. 5,
Erläuterung durch ein Beifpiel
von Erfüllung der Verträge»
Dafs die Menfchen ihre Verträge halten
foHen , ift gewifs eine wichtige und unwider-
fprechüche Regel der Moral, Wenn man
iaun einen Chriften einen Anhänger
des Hoblies und einen der heidni-
fchen Philo fophen fragen follte, war-
um foll man Verträge halten, f 0
würde jeder von ihnen eine andere Antwort
geben. Jener, deflen Blick immer auf die
Gliickfeligkeit eines künftigen Lebens ge*
lichtet ift , wird fagen : Gott fodert es von
uns, er, der über das ewige Leben und deri
ewigen Tod zu gebieihen hat; der zweite:
das Publikum will es, und der Leviathan
itraft uns, wenn wir es nicht thun ; det
dritte endlich: die entgegengefetzte Hand-
lun°sweire ift unfittlich, unter der Würde
des Menfchen , und ftreitet mit der Tugend,
der höchften Vollkommenheit der menfchli»
chen Natur*
§. 6.
Drittes Kapitel. 8l
§. 6.
Die Tugend wird nicht deswe-
gen allgemein g e billiget, weil
fie angeboren, fondern weil
Ue nützlich ift.
Hieraus entTpringt natürlich die grofse
Verfchiedenheit der Meinungen, welche un-
ter den Menfthen in Anfehung der inorali-
fchen Regeln gefunden werden, und die
fich auf die Verfchiedenen Arten von Glück-
feligkeit gründen, welche fie im Geficht ha-
ben, und als Zweck betrachten. Diefes wür-
de aber nicht feyn , wenn die praktifchen
Grund fatze angeboren, und unmittelbar durch
die Hand Gottes in unfer Gemütb geTchrie-
ben wären» Das Dafeyu Gottes ift, ich ge-
ftehe es, von fo vielen Seiten unleugbar, und
der Gehorfam , den wir ihm fchuldig find»
dem Licht der Vernunft fo angemeffen, dafs
ein großer Theil des Menfchengefchlechts
das Gefetz der Natur anerkennet. Und doch
kann man fichor nicht leugnen, dafs vielleicht
viele moralifche Regeln von Menfchen allge-
mein gebilliget werden , ohne dafs fie den
F wah-
gj Erftes Buch.
wahren Grund der Moralität erkennen und
annehmen. Diefer Grund kann nur der Wil-
le und das Gefetz eines Gottes feyn, der die
Menfchcn in dem Verborgenen liehet, Be-
lohnungen und Befhafungen in feiner Hand
bat, und mächtig genug ift, den frechf.cu.
Uebertreter zur Kechenfchaft zu ziehen.
Denn Gott hat die Tugend und die all-
gemeine Glüc kfeligkeit durch ein
unzertrennliches Band verknüpft, und die
Ausübung der Tugend ift daher zur Erhal-
tung der Gefellfchaft unentbehrlich notwen-
dig, und auf Achtbare Weife wohlthätig für
alle diejenigen, mit denen ein tugendhafter
Menfch in Verhältniflen flehet. Und dnher
darf man fich nicht wundern, wenn einer
diefe Regeln nicht nur anerkennt, fondern
auch andern empfiehlt und anpreift, von de-
ren Beobachtung er ficherlich für fich fclbft
Vortheile einerndten mufs. Er kann eben fo
gut aus Intereffe, als Ueberzeugung dasjenige
mit lauter Stimme für heilig erklären , mit
deffen Umfturz und Entheiligung feine eigne
Sicherheit und Wohlfahrt zernichtet wäre.
Obgleich diefes der fittlichen und ewigen.
Verbindlichkeit, welche diefe Kegeln nnwi-
der-
Drittes Kapitel, 83
deifprechlich bei fich führen, nicht den ge-
ringßea Abbruch thut, fo folgt doch fbviel
daraus, dafs difc äufsere Huldigung, welche
ihnen die Menfchej» mit ihren VVorten bezeu-
gen, noch kein Beweis für angeborneGiund-
fiüze ift; ja man kann nicht einmal daraus
fchliefsen, dafs fie ihnen innerlich in ihrem
Herzen als unverletzlichen Regeln ihres eig-
nen Handelns beiftimmen. Denn wir finden,
dafs Eigennutz und Konvenienz des Lebens
viele Menfchen zu einem äußerlichen ßekennt-
nifs und zur Billigung diefer Regeln befti mint,
deren Handlungen doch offenbar be weifen,
dafs fie an den Gefetzgeber, der diefe Res ein
vorfchrieb, und an die Hölle, die er zur Stra-
fe ihrer Uebertretung beltiramte, fehr wenig
denken.
§. 7.
Die Handlungen der Menfchen
überzeugen uns, dafs das Ge-
letz der Tugend nicht ihre in-
nere Maxime ift.
Denn wenn wir nicht aus Höflichkeit
3*n Aeufserungen der Menfchen zu viel Auf-
F 2 richtig-
84 Elftes Euch.
rich'igkeit beilegen, fondem ihre Handlun-
gen ;.ir die»beften Ausieger ihrer Gedanken
halten, fo werden wir keine fo innige Ver-
el rnng diefrr Regeln, keine fo volle Ueber-
ung von ihrer GewiJsheit und Verbind-
lichkeit bei ihnen finden. Das grofse Gefetz
der Moral: man foll fo handeln, wie
man wünfeht, dafs andere gegen
uns handeln, wird mehr empfohlen, als
ausgeübt. Allein die Verletzung diefer Regel
ift eben fo fehr Lafter , als es Wahnfinn und
W'ideifpruch mit dem Interefle ift, um defl'tn
willen fie von Menfchen übertreten wird, wenn
man andere bereden will, fie fei keine morali-
fcheriQch verbindliche Regel. Vielleicht beruft
man (ich auf das GewifTen , welches uns für
folche Verleihungen beftrafet, und fo wäre
auch dann noch die innere Verbindlichkeit
und der Grund des Gefetzes geliehen,
§. 8.
Pas Gewiffen ift kein Beweis,
cijfs es irgend eine angebor-
moralifche Regel giebt.
ine Antwort hierauf ift diefe. Ich
fehu nicht ein-, warum nicht viele Menfchew
auf*
Drittes Kapitel. 85
auf demfelben Wege, worauf fieziK Erkennt*
nifs andrer Dinge gelangen , auch dahin kom-
men rollten , verfchiedene moralifche Regeln
i.'ir wahr zu erkennen, und von ihrer V< r-
bindlichkeit überzeugt zu werden, ohne dafs
&c in ihr Herz gefchrieben find. Andere kön-
nen durch ihre Erziehung, durch den Um-
gang und durch die Sitten ihres Landes eben
diefelbe Ueberzeugung erlangen. Diefe Ueber-
Zeugung [ey nun entftanden wie fie wolle, fo
wird lie doch immer dazu dienen, das G e-
w i f f e n in Bewegung zu fetzet',
welches nichts anders ifr, als unler eignes Ur-
theil oder Meinung von der moralifchen.
Richtigkeit oder Verkehrtheit unferer Hand-
lungen. Und wenn das Gewiffen ein Beweis
für angeborne Grundfätze wäre, fo müfste
es entgegengefetzte angeborne Grundfätze ge-
ben , da einige Menfchen mit eben derfelben
Richtung des Gewilfens demjenigen nach-
flreben, was andere verabfeheuen.
F 5 §9.
86 Elftes Buch.
§» 9*
Beifpiele von empörenden Hand*
lungen, welche ohne G e w i f-
fensbiffe begangen werden.
Allein ich kann nicht einfehen, wie die
Menfchen mit folcher D r eu f t igk e i t und
Ruhe des Gemiiths diefe moralifchen Ra-
gein übertreten könnten, wenn lie angeboren
und ihrem Geifte eingeprägt wären. Welche
Achtung, welches Gefühl gegen die moraii>
fchen Grundsätze, oder welche Regung des
Gewiffens über begangene Gewalttätigkeiten
kann man wohl in einer Armee beobachten,
welche eine Stadt verheeret. Plündern n»
gen, Schändungen, Mordthate»
find nur ein Spiel für Menfchen, welche
von der Strafe und Verantwortung befreiet
find. War nicht unter ganzen Nationen und
fehr eultivirten Völkern das Ausfetzen der
Kinder, dafs man fie auf dem Felde vom
Mangel oder wilden Thieren umkommen,
liefs, eine Gewohnheit, welche eben fo we-
nig für ftrafbar oder ejne Gewiflensfache ge-
halten wurde, als die Erzeugung der Kinder?
Pflegt man nicht jez,t noch in manchen Län-
dern
Drittes Kapitel. 5?
dem die Kinder in ein Grab mit ihren Müt-
tern zu legen, wenn diefe in der Geburtsar-
beit fterben , oder fie in die andre Welt zu
fcbicken, wenn ein vermeintlicher Aftrolog er-
klärte, dafs fie' unter einem unglücklichen
Geftirn geboren feyen? Und giebt es nicht
Oerter, wo die Eltern in einem gewiflen Al-
ter ohne alle Gewiüensunruhe getödtet oder
ausgefezt werden? In einem Theil von Afien
werden die Kranken, wenn ihr Zufall, für un-
heilbar gehalten wird, fortgefchaft, und ehe
fie noch gefiorben find, auf die Erde gelegt;
hier läfst man fie, Wind und Wetter ausge-
lebt, ohne Beiltand und Mitleiden fterben«
(Gruber bei Thevenot 4 Th, S, 13.) Unter
den M in greli an ern , einem Volke, das
fich zum Chriftenthum bekennt, ift es ge-
wöhnlich, ihre Kinder lebendig, ohne alle Era-
phndung des Gewiflens.zu verbrennen. (Lam,
bert bei Thevenot S. 38O An manchen Or-
ten eflen die Eltern ihre eignen Kinder. (Vof-
fius de Nili Origine cap> 18, 19.). Die
Kariben pflegten ihre Kinder zu kaftri-
sen, um fie zu mäften und zu efleiw *) Gar.
F 4 cüaflb
*}Petri Maityris de 01 be «ouo Decades
VIII. Compluti i53o.
88 Elfte» Buch.
cilaffo de la Vega erzählt uns in feiner Ge-
fchichte der Jncas von einem Volk ein Peru,
welches die Kinder von ihren weiblichen Ge-
fangenen zu matten und zu eilen pflegte;
diefe Weiber wurden deswegen als Beifchläfe-
rinnen unterhalten, und wenn fie nicht me'hr
gebahren, ebenfalls getöilet und gpgeffen.
Die Tugenden , durch welche die Touo u-
pinam bos das Paradies zu verdienen glaub-
ten, waren Rache, und viele Feinde zu ver-
zehren. Sie hatten nicht einmal ein Wort
für den Begriff Gottes , nicht die geringste
Ueberzeugung von irgend einer Gottheit, kei-
ne Religion , keinen Gottesdienft. *) Die
Heiligen, welche bei den Türken kanoniürt
werden, führen ein Leben, welches man oh-
ne Verletzung der Befcheidenheit nicht ein-
mal befchreiben kann. Ich theile hier eine
Stelle darüber aus. der Reife des Baum gar-
ten, in den eigenen Worten des Reifebe-
fchreibers mit, weil das Buch etwas feiten
|ft, „Nicht weit davon (bei Balbes in
„Aegypten)
*) De Lery Hiftoire «Tun Voyage fait en 1»
tevte du Brefil. Geneve i5S°.
Drittes Kapitel, 89
«Aegvpten Tahcn wir einen Saracenifchen Hei=
„Iigen zwifchen den Sandhaufen nackend,
„wie er aus Mutterleibe gekommen war, fl-
itzen. Die Ma hom eta ner haben, wie
„wir erfuhren, die Gewohnheit, dafs fie
„wahnfinnige und unvernünftige Menfchen
„wie auch folche, welche eine freiwillige
„Bufse und Arrr.uth wählen, nachdem fie
„hinge Zeit ein fchändliches, Leben geführt
„haben, für Heilige halten, und verehren. Die-
„fe Klaffe von Menfchen hat die fchrankenlo-
„fe Freiheit, in jedes Haus nach Belieben zu
„gehen, zu eilen und zu trinken, ja auch
„Unzucht zu treiben. Und wenn aus diefen
„Umarmungen ein Kind auf die Welt kommt,
„fo wird es gleichfalls für heilig gehalten.
„Man erzeigt diefen Menfchen. fo lange Xle
„leben, die gröfste Ehre, und errichtet ihnen
„nach dein Tode prächtige Tempel und Denk-
„mäler ; ja man hält es für das gröfste Glück,
„fie anzurühren und begraben zu dürfen»
„Diefes und das folgende erfuhren wir von
„unferm Mucrel durch einen Dolmetfcher.
„Der Heilige, den wir an jenem Orte fahen,
^ftehe in grofsen Anfehen bei dem Volke, und
F 5 „wer
cjo Ei'ftes Rhc li«^
jivverde als ein heiliger, göttlicher Mann von
v.unbefcholtnem Charakter angefehen, weil ex
v niemals Unzucht mit Weibern und Knabfri,
^fordern nur mit Efelinnen und Maulefelin-
*,nen getrieben habe. *) u Mehrere ahnliche
Nachrichten von diefen köftlichen Heiligen
bei den Türken kann man in dem Brief des
„ Plefcrja del la Valle vom 25 Januar" 1616
finden. Wo find denn alfo die angebornen
Grundfatze der Gerechtigkeit, Frömmigkeit,
Billigkeit, Keu'chheit ? Oder, wo ift c\ie all-
gemeine Einftimmung, die uns von dem Da-
feyn diefer angehornen Regeln überzeugen
könnte? Ermordungen in Duellen werden
an denjenigen Orten , wo fie die Mode zu e.~
nein Ehrenpunkt gemacht hat, ohne alle Re-
gung das GewÜlens begangen; ja an einigen
Orten ift die Unfchuld in diefem Falle- die
gröTste Schande» Und wenn wir vor. uns
hinbliken , um -die Menfchen , wie fie find,
kennenzulernen, fo werden wir die Beob-
achtung machen, dafs fie an dem einem Orte
über eine begangene oder unterlaflane Hand-
lung
*J Martini a Baumgarten. Va egnnatio
-in Aegyptum, Arabiam, Palaefüium et Syr'i-
am, Norirnbeig.ie 1694,
Drittes Kapitel. gi
lung Gewiflensunruhe empfinden , welche fie
an einem andern für verdienftlich halten.
§♦ io.
Die RTenfchen haben entgegen,-
gefezte praktifc he Grund fätze.
Wer die Gefchichte der Menfchheit auf-
merkfam (tudieret, einen Blick auf die ver-
fcbiedenen Menfchenftäinme wirft, und ihre
Handlungen unpartheiifch beobachtet, der
wird fich vielleicht vollkommen überzeugen,
dafs man kaum ein Moralpiincip nennen oder
eine Regel der Moral denken kann , welche
nicht durch die allgemeine Praxis ganzer Ge-
feüfchaften , die ganz entgegengefezte prakti-
sche Meinungen und Lebensregeln befolgen,
verachtet und verworfen würden. Wir »eh-
men hier diejenigen Regeln aus, ohne wei-
che die Gefellfchaft gar nicht beliehen kann,
welche aber doch auch in dem gegenfeitigen
Verhalten mehrerer Gefellfchaften nur zu of*
versachläfsiget werdqn,
$. II.
9-2 Elftes Buch.
§• U«
Ganze Nationen verwerfen ver-
fchiedene moralifche Regeln,
Man wird mir hier vielleicht mit dem
Einwurf begegnen, dafs man nicht fchliefsen
Ijünne, eine Regel fey nicht er-
kannt, weil f i e v e r 1 e z t wird. Ich
erkenne die Gültigkeit diefes Einwurfes , da
wo die Menfchen ein Gefetz zwar übertreten,
aber doch nicht ableugnen; wo die Furcht
vor Schande, vor dem öffentlichen Urlheil
und vor Strafen doch noch eine Spur von
Scheu und Achtung gegen das Gefetz ver-
räth. Allein es läfst fich nicht denken, dafs
eine ganze Nation das verwerfe und
öffentlich für ungültig erkläre,
was jeder Einzelne mit unwiderleglicher Ge-
wifsheit für ein Gefetz anerkennet; und das
müfste erfolgen, wenn es dem Gemüthe ei-
nes Jeden von Natur eingeprägt wäre. Es
ift möglich, dafs Menfchen zuweilen mo-
ralifche Regeln anerkennen, welche
fie in ihrem innern Bewufstfeyn nicht für
vyahr halten, blos um fich in Anfehen und
Ach
Drittes Kapitel. g5
Achtung; bei denjenigen zu erhalten, welche
von ihrer Verbindlichkeit überzeugt find.
Aber dafs eine ganze Gefelirchaft öffentlich
und absichtlich eine Regel ableugnen und
verwerfen follte, welche alle einzelne Glie-
der in ihrem eignen Bewufstfeyn mit uner-
fchütterlicher Gewifsheit als ein Gefetz anzu-
erkennen gezwungen find, und von welchen
fie willen muffen, dafs es von allen Menfchen,
mit denen fie in Verbindung ftehen, für eben
das angefehen wird , das laTst fich nicht den-
ken Daher müfste jeder unter ihnen von al-
len übrigen alle die Verachtung und den Ab-
fcheu erwarten, welchen derjenige verdienet
der für einen Menfchen will gehalten feyn
der die Menfchheit ausgezogen hat; und je-
der Menfch , der die natürlichen und be-
kannten Regeln des Rechts und Unrechts mit
Füfsen träte, könnte nichts anders erwarten
denn für einen erklärten Feind der Ruhe
und Glückfeligkeit der Gefelirchaft gehalten
zu werden. Jeden praktifchpn Grundfatz,
der angeboren ift, mufs ohne Unterfchied Jo
dermann für gut und gerecht anerkennen.
Es ift daher fall fo gut als ein Widerfpriich,
wenn man meint, ganze Nationen könnten
durch
94 E r f t e 8 B u c h.
durch ihre Reden und Handinngen einftiur
nii^ und allgemein dasjenige verneinen, was
jeder Einzelne unter ihnen mit unwiderfiehü-
cher Evidenz als wahr , gerecht und gut er-
kennte. DifTes wird fchon hinreichend feyn,
«m uns zu überzeugen, dafs keine praktifche
Regel, welche allgemein mit öffentlicher Bil-
ligung oder ZulafTung übertreten wird , für
angeboren gehalten werden darf. Aber ich
mufs noch etwas zur Beantwortung diefes
•Einwurfe hinzufetzen»
§. 12.
Die Uebertretuiig einer Regel, Tagen die
Gegner, ift noch kein Beweis, dafs fie un-
bekannt ift. Ich gebe das zu: aber eine
allgemein erlaubte Verletzung
derfelben, es fey wo es wolle, be-
kaupte ich* ift ein Beweis, dafs fie
nicht angeboren ift. Wir wollen zun»
Beifpiel eine von den Regeln nehmen,' wel-
che durch die natürlichfte Folge aus der Ver-
nunft abgeleitet werden, und mit der na-
türlichen Neigung des grofsten Theils der ?»len-
fchen übereinftimmen ; Regeln, welche zu leug-
nen
Drittes Kapitel. c'j
nen daher auch wenig Menfchen nnver:
fchiinit, oder zu bezweifeln, unbel'onnfn ge-
nug waren. Wenn eine von diefen Regeln
für angeboren Coli gehalten werde« , fo hat
gewiTs keine mehr Anfprüche darauf, alsdie-
ici Ihr E 1 1 e.rn , liebet und erhaltet
eure Kinder, Was vergehet man nun,
wenn man behauptet, dafs diefes eine ange-
borne Regel ift? Entweder, es ift ein ange-
bornes Princip, welches in allen Fällen die
Menfchen zum Handeln regeltnäfsig beltimmt;
oder, es ift eine Wahrheit, welche alle Men-
fchen erkennen und für wahr halten, weil
fie ihrem Verftande eingeprägt ift. Allein
fie ift weder in dem einem noch dem andern
Sinne angeboren, Erftlich, dafs es kein
Princip ift, welches auf die Handlungen aller
Menfchen einen beftiuunenden Einflufs hat, be-
weifen die vorhin angeführten Beifpiele. Auch
dürfen wir die Beifpiele von Eltern, welche
ihre Kinder vernachläffigen , mifsbrauchenr
ja wohl gar zernichten, gar nicht fo weit,
als in Mingrelien und Peru fuchen , oder
diefe Handlungen als Folgen einer mehr als
tbierifchen Unemphndlichkeit wilder und
barbaiifcher Nationen betrachten, wenn wir
nicht
cß Elftes Buch.
nicht vergeffen wollen, dafs es unier tieft
Griechen und Römern eine gewöhnliche i.ini
bürgerlich erlaubte Sitte war, ihre unfchuldi-
pen Kinder ohne alle Regung des Mitleids
oder des Gewiilens auszufetzen. Es ift aber
zweitens eben fo wenig eine angeborne,
allen Menfchen bekannte Wahrheit. Denn,
ihr Eltern erhaltet eure Kinder,
ift nicht nur keine angeborne, fondern auch
überhaupt gar keine Wahrheit; es ift ein
Gebot und kein Satz, und alfo keiner Wahr*
heit oder Falfchheit empfänglich. Soll es das
werden, fo mufs es erft auf einen Satz zurück
geführet werden, z. B. auf diefen : Es ift
Pflicht für die Eltern, ihre Kin-
der zu erhalten. Allein was Pflicht ift,
kann nicht ohne ein Gefetz, und diefes nicht
ohne einen Gefetzgeber , öder ohne Beloh-
nung und Beftrafuug verftanden werden.
Weder diefer noch irgend ein anderer prak-
tifcher Grundfatz kann folglich angeboren,
d.i. demVerftande als eine Pflicht eingeprägt
fevn, wenn wir nicht annehmen, dafs die
Ideen, Gott, Gefetz, Verbindlichkeit, Strafe,
künftiges Leben angeboren find. Denn es
ift an fich einleuchtend , dafs keine Strafe in
die-
drittes Ktpite). $7
diefem Leben auf die Verletzung diefer Regel
folgt , und dafs fie folglich nicht die Kraft
eines Gefetzes in denjenigen I ändern befizt,
wo die allgemein gebilligte Sitte mit derfel-
ben ftreitet. Aber diefe Ideen, welche alle
angeboren feyn müflen , wenn fo etwas als
Pflicht angeboren fejn foll, find fo wenig an-
geboren , dafs man nicht einmal .ein klares
und deutliches Bewufstfejn von ihnen in je-
dem gebildeten und denkenden Menfchen,
gefchweige denn in jedem Menfchen von fei-
ner Geburt an , finden kann. Jn dem folgen-
den Kapitel foll es, wie ich hoffe, jedem
nachdenkenden Menfchen einleuchtend wer-
den, dafs eine derfelben , von welcher man
es noch mit dem fcheinbarften Grunde ver- '
muthen follte, ich meine die Idee einet
Gottheit, nicht angeboren iß.
§. i3.
Wir körinen aus dem, was wh* getagt
haben, wie ich glaube, den fichern Schlufs
.liehen, dafs jede praktifche Regel,
welche irgend wo allgemein und
toit öffentlicher Znfaffung verlebt
G wird,
ö§ Eilte» Buch.
wird, nicht als angeboren kann
angenommen werden. Denn es ift
für Menfchen nicht möglich , eine Regel
ohne Furcht und Schaani mit Venneilenheit
und frohen Minhe zu übertreten, von der
£e, wenn fie angeboren wäre, willen müfsten,
dafs iie Gott gegeben, und ihre Uebertretung
gewifs in einem folchen Grade beltrafeu
wird, dafs es dem ibünder davor grauen itnufs.
Ohne diefe Erkenntnis, kann kein JYlenfch
ßcher willen, dafs etwas feine Pflicht iit, Uij-
wiflenheit oder Zweifei an dem Gefetz ; (Uq
Hofnung der Kenntnifs oder Gewalt des Ge-
fetzgebers zu entgehen, kann lo viel bewir-
ken, dafs man fich von einer gegenwärtiger*
Begierde hinreifsen läfst» Aber man fetze
den Fall j dafs einer den Fehler erkennt, und
die Ruthe daneben; dafs er lieh nebft def
TUebertretung auch das Feuer vorftelle, das
bereit iß, ihn zu ftrafen; dafs er die Rei-
zung eine3 Vergnügens empfinde, und zu-
gleich den Arm der Allmacht , aufgehoben
und Zur Rache bereit erblicke denn f©
mufs es feyn, wenn eine Pflicht dem Ver-
stände eingeprägt ift — und dann möcht ich
willen, ob es für Menfchen möglich iß, un-
ter
Drittes Kapitel. 99
ter einer folchen AusGcht, bei einer folchen
gewiffen Erkenntnifs muthwil ig und ohne
Gewiflenszweifel gegen ein Gefetz zu han-
dein, welches fie in fich mit unvertilgbaren,
Zügen tragen, welches ihnen, während he es
verletzen, gleichfam vor die Augen treten
inufs. Welcher Menfch kann wohl« während
er in fich der eingegrabenen Gefetze eines
allmächtigen Gefetzgebers bevvulst ift, doch
mit frölichem Muthe feine heiligften Gebote
verachten und unter die Füfse treten? Und
endlich follte es möglich feyn , dafs, wenn
ein Menfch dem innern Gefetze und dem
oberfteri Gefetzgeber fo offenbar den Krieg
ankündiget, alle Zufchauer und 2eugen , ja
die Auffeher und Regenten des Volks, die
eben die volle Ueberzeugung von dem Ge-
fetz und dem Gefetzgeber haben, fo ftillfchwei«
gend es gefchehen iiefsen, ohne ihr Mifs-
fallen oder den geringften Tadel zu äufern»
Es find in der That Principe des Handelns in
dem menfchlichen Begehrungsvermogen ver-
webt, aber fie find fo wenig angeborne mo-
rälifche Prim ipe , dafs fie vielmehr, wenn
Ihnen freier Spielraum gelafien würde, den
Menfchen verleiten würden, alle Moralität
G 2 ümzu-
ioo E ffte* ß neb,
umzuftofsen. Es ift vielmehr die Reßimmimg
der moralifchen Gefetze, diefe fchrankenlofen
Begierden einzufchränken und im Zaum zu hal-
ten; Dieres können fie aber nur durch Stra-
fen und Belohnungen, welche das Vergnü-
gen überwiegen , das fich einer aus der
Üebertreiung des Gefeizes verfprechen kann,
Soll alfo in dem Gemüthe des Menfchen et-
was als ein Gefetz eingeprägt fern , fo
mufs er eine gewifle unvermeidliche Ei-
feenntnifs haben, dafs gewille unvermeidli-
che Strafen auf die Verletzung des Gefetze*
folgen werden, Dsnn könnten die Men*
fchen in Anfehung d-Jfen, was angeboren
ift, in einem Zuitand des NichtwiiTens und
Zweifels fevn , fo wäre es ganz zwecklos , fo
fehr auf angeborne Grundlage zu dringen ;
Wahrheit und Gewißheit wären durch fie
ganz und gar nicht gefiebert. Und dann würde»
die Menfchen mit oder ohne angeborne Grund-
fätze in eben deraielben Zuftand der Unge-
wißheit und der fch wankenden Ueberzeugung
fich befinden. Eine gewille unvermeidlich«
Erkeuiitnifs- einer unvermeidlichen Strafe,
die gio's genug ift, dafs he die Lebertrerung
Zu keinem Gegenftandi des Willens macher.
kann.
Drittes Kaj> izel. t«j
kann , muTs ein angebornes Gefetz begleiten,
woferne man nicht aufser diefem noch ein
angebornes Evangelium voraus fetzen kann.
Man verßehe mich hier aber ja nicht unrecht,
als wenn ich nur pofitive Gefetze behauptete,
weil ich die angebornen leugne. Es ift ein grof-
fer Unterfcbied zwifchen einem angebornen,
und einemGefetz der Natur ; zwifchen dem, was
als ein Original unferm Verftande eingedrückt
ift, und zwifchen dem, was wir nicht wif-
fen, aber durch den Gebrauch und zweck»-
rcäfsige Anwendung unfrer natürlichen Kräfte
erkennen können. Nach meiner Meinung
entfernen fich diejenigen gleich weit von
der Wahrheit, welche aus einem Extrem in .
das andere fallen , und entweder ein ange-
bornes Gefetz behaupten , oder die Wirklich-
keit eines durch das bloße l icht der Natur,
d. i. ohne Hülfe einer pofitiven Offenbarung»
erkennbaren Gefetzes leugnen.
Gf $. »4*
SOJ Elftes Buch.
§♦ 14«
Diejenigen, welche angebome
praktifche Grundfätze behau-
pten, fagen nicht, worin fie be-
fteheno
Die Uneinigkeit der MenFchen in Anfe-
bung ihrer praktifchen Grundfätze ift fo klar,
dafs ich wohl kein Wort mehr zu Tagen brau-
che, um die Unmöglichkeit darzutbun, irgend,
eine angeborne moralifche E.egel nach die-
fem Merkmal einer allgemeinen Beiüimmung
aufzufinden. Und wenn man flehet, wie
lehr diejenigen, welche in einem fo zuver-
iichilichen Tone davon fprechen . doch mit
einer beftimmten Erklärung, welches diefe
angebomen Grundfätze find, zurückhalten.,
fo mufs das fchon bei Jedem den Argwohn
erwecken , dafs ihre Vorausfeszung von an-
gebornen Grundfätzen nur eine beliebig ange-
nommene Meinung ift. Eine Erklärung die*
fer Art füllte man doch mit Recht von denen
erwarten, die fo fteif an diefer Meinung han*
gen. Und es erweckt grofses Mifstrauen
entweder gegen ihre Kenntnifs oder gegen
ihren
Drittes Kapite!, xc»3
ihren guten Willen , wenn fie erklären , daß
Gott die Gründe der Erkenntnifs und die
Grundregeln dos Lebens dem Menfchen in
das "Gemüth gefchrieben hat, und doch fo
wenig die Belehrung ihres Nachften und die
Ruhe der Menfchheit befördern, und beider
grofsen Uneinigkeit, welche unter dem Men-
fchengefchlecht herrfcht , diele angebornen
Grund fätze beftimmt anzeigen wollen. Aber
ficherlich würde diefe Belehrung, wenn es
welche, gäbe ganz entbehrlich feyn. Fänden
die Menfchen angeborne, ihrem Verftand ein-
geprägte Sätze, fo würden fie diefelben von
andern Wahrheiten, welche fie fpäter lernen
und von jenen ableiten, leicht unterfcheiden.
Es müfste eine leichte Arbeit feyn, ihren In-
halt und ihre Anzahl zu beftimuien, Ihre
Anzahl könnte eben fo wenig zweifelhaft
Teyn , als die unferer Finger, und jedes Sy«-
ftem würde fie uns denn wohl gefchwind der
Reihe nach suffteilen. Da aber noch Nie-
mand, fo viel ich weifs, ein Vcrzeichnifs von
ihnen gegeben bat, fo darf man es andern
um fo weniger verargen, wenn fio die ange-
bornen Grundfätze bezweifeln, da diejeni-
gen, welche den Glauben an der Wirkliche
G 4 keit
W4 Elfte? Buch.
keit derfelben fodern, noch nicht gefagt ha«
ben, welches diefelhen find. Wenn Mari-
ner von verfchiedenen Sekten ups eine Lifte
von ihnen geben follten, fo ift leicht voraus-
zufehen , dafs fie nur diejenigen aufftellen
würden, welche mit ihren verfchiedenen
Hypotheken vertraglich und tauglich wären,
die Lehren ihrer befondern Schulen oder Kir-
chen zu unterftützen — ein ficherer Beweisi
dafs es keine angebornen Wahrheiten giebt.
Ja ein großer Theil der Menfchen findet fo
wenig folche angeborne nioralifche Principe
in ihrem Seibit, dafs iie vielmehr durch
Leugnung der Freiheit des Menfchen, wo-
durch fie ihn zu einer bloßen Mafchine ma-
chen, nicht allein die angebornen , fondern
alle moralifthe Regeln überhaupt aufheben,
und allen, welche nicht begreifen können,
wie ein Wefen , das nicht frei handelt, ei-
nes Gefetzes empfänglich fey , die Möglich-
keit des Glaubens an moralifche Gefetze durch-
aus rauben. Unter ihrer Vorausfetzung mufs
jeder nothwendig alle Grund ätze der Tugend
verwerfen, der Sittlichkeit und Mechanismus
nicht zufarnmen denken kann* Und beide
Be-
Drittes Kapitel. IoC
Begriffe find auch nicht leicht zu vereinbaren,
fondern widefftreitend»
§. i5.
Prüfungder von Lord Herbert an-
gegebenen angebornen Grund-
fät ze.
Alsichdiefes fchon gefchrieben hatte, erfuhr
ich, dafs Lord Herbert in feinem Buche von
der Wahrheit, diefe angebornen Grund-
fatze wirklich befiimmt habe. Ich {.ag es fo-
gleich zu Rathe, weil ich hoffte, bei einem
fo einfichtsvolleri Manne etwas zu finden,
das mich überzeugte, und meiner Unter Di-
chung ein Ende machte. In dem Kapitel
vom natürlichen Inftinkt (Ausgabe
von l6g6. S. 76.) fand ich folgende fecbs.
Merkmale vqo den allgemeinen oder
angebornen Wahrheiten (notitiae
communis) l) die Priorität, 2) Unab-
hängigkeit, 3) Allgemeinheit, 4)
Gewifsheit, 5) Notwendigkeit,
das ift, wie er fich erkläret, lie müflen für
die menfchliche G&fellfchaft tauglich feyn ;
G 5 6)
*©fi Erftts Buph.
6) die Art der Beiftimmungd, i. das
augenblickliche Farvvahrhalten. *) Am Ende
feiner kleinen Abhandlung von der Reli-
gion des Laien fagt er von diefen an-
gebnrnen GiunclTätzenj «die allgernein-
geltenden Wahrheiten find nicht
etwa in die Grenzen irgend einer
Religion eingefchränckt, denn fie
find vom Himmel herab in die See-
le Felbft gefchrieben, und von
keinen gefchriebenen oder nicht
gefchriebenen Ueberlieferungen
abhängig." Und , u n f er e a llge m ein-
geltenden Wahrheiten find als un-
be zwei feite Ausfprüche Gottes ia
dem
*} Prioiitas, Tndependentia , Unirerfalitas, Cor-
titudo, Ncceflitas, i. e. faciunt ad hominis
convevfatinnem. (Wi* wiflen nipht, was
Poley lind Tutel fich dabei gedacht haben
müflen , da elfterer überfezt : fie tragen znr Er.
Haltung des Menfchen etwas bei. S. 46 , und
lezterer S. 45 , feines Auszugs Notwendigkeit
in Abficht der Menfchenevhaltung darunter
vc! Ttehet. Sollte in ihrem Exemplar conferuatio-
nesn gelundeu haben?; modus conf'ormatjp«
uis i. e. aflenfus null* interpojita mora.
A. d, U.
Drittes Kapitel. j.07
«lern inncm Gerichts ho f nieder ge-
fchrieben *). Nachdem er die Merk-
male von den angcbomen Grund ('atzen an-
gegeben, und behauptet hat, dafs fie durch
die Hand Gottes den Meu'chenfeeien einge-
prägt find, fo Hellt er fie wirklich auf. E$
find folgende: I) das Dafeyn eines
oberften Wefens; 2) diefesWefen
muffe verehret weiden; 3) Tugend
und Frömmigkeit fey die hefte
Art, Gott zu v e r e h r e n ; 4) M a ri rn • ; f-
fe fich von feinen Sünden bekeh-
ren; 5) Nach die fein Leben finde
eine Belohnung ftatt. Ob ich gleich
eeftehe , dafs alle diele Wahrheiten klar und
von der Befchaffenheit find, dafs ein vernünf-
ti°es Wefen kaum aufteilen kann, ihnen, wenn
fie richtig erkläret werden, beizuftimmen,
fo
9-) Ac!eoque ut non unius caiuquis reli^iouiscon-
finio aretentur, qnae ubique vigent veriiatep.
Sunt enlzrJ in ipfa mente coelitus defcriptaQ
nullisque trachtiombus, fiue feriptis liue non,
feviptis, obnoxiae — Veriraies nofti.ie C.ithoH-
cac , quae tanquam indobia Dei effata in foi'Q
üUciioii deTcripta.
ic8 Elftes Buch.
fo elanbe ich doch, dafs Herbert keines*
wege«. bewjefep hat, dafs fie angebome,
in dem innern Gerichtshof nieder-
gefr. hTiebene Eindrücke find. Man
erlaube mir folgende Bemerkungen.
Erftlich. Wenn es vermin ftig ift an»
zunehmen , dafs einige allgemeine Wahrhei-
ten durch den Finder Gottes in unfere Seele
geschrieben find, fo find jene fünf Sätze we«
der alle diele Wahrheiten, noch find fie es mit
nuhierf n; Rechte ajs andere. Dcnnesgiebt an-
dere Sätze, welche nach feinen eignen Ao'aximen
eben fo gerechte Anfprüche auf einem folchen
Utfprung haben, and eben fo gut für ange-
bome Grundfätze gelten können, als alle
oder wenigstens einige von den fünf angege-
benen, z.B. der Satz: Handle fo, wie
du willft, dafs andere gegen dich
handeln. Ein aufmerkfames Nachdenken
wird vielleicht noch mehrere dergleichen
finden.
§ *7-
Dtitrss Kapitel. 109
Zweitens. Seine aufgeßellten Merk-
male finden fich nicht alle in jedem der fünf
Sätze Das erfte, zweite und dritte ftitnmt
mit keinem vollkommen überein; das erfte^
zweite, dritte, vierte und feclifte pafst nicht
gut auf den dritten, vierten und funhenSatz,
Denn, ohne das zu rechnen, dafs , wie uns
die Gefchichte überzeuget, viele Menfehen,
ja ganze Nationen einige oder alle diefe Sätze
bezweifeln oder leugnen, fo kanu ich nicht
einfehen, wie der dritte: Tugend tmd
Frömmigkeitin Vereinigung ift die
befte Verehrung Gottes, ein ange-
borncr Grundfatz feyn kann , da das Woxt
oder der Ausdruk: Tugend fo wenig ver-
ftändlich, fo vielen fchwankenden Erklärun-
gen unterworfen , und das bezeichnete Ob-
jekt noch fo fehr beftritten , und fo fchwer
zu erkennen ift. Jener Satz iß daher eine
fehr unfichere Regel der menfchlichen Hand-
lungen und wenig brauchbar zur Einrichtung
unTers Lebens; er kann daher keine Stelle un-
ter den angebornen praksiiehea Grundsätzen
erhalten»
§. 18*
U© Ex f tes B uch.
$* 18,
Wir wollen jezt diefen Satz: die Tu-
gend ift die befte Verehrung Got-
tes d. h , fie ift ihm am wohlgefälligfien,
feinem Inhake nach etwas näher unterfuchen;
denn in dem Sinne nicht in dem Worte mufs
der Grundfatz oder die allgemeine Wahrheit
enthalten leyn. Wenn unter Tugend, wie
gemeiniglich gefchiehet, folche Handlungen
verftanclen werden, welche nach den ab-
weichenden Meinungen verfchiedener 1 ander
für lobenswürdig gehalten werden, fo ift der
Satz nicht nur nicht gewifs;, fondern nicht
einmal wahr. Bedeutet aber die Tugend
folche Handlungen , welche dem Willen Got-
tes , oder dem von Gott vorgefchriebenea
Gefetz — der einzig wahren Richtfchnur der
Tugend, wenn diefe nichts anders bedeuten
foll, als was von Natur recht und gut i?t —
angemelfen find, fo ift jener Satz fehr wahr
Tünd gewifs, aber von lehr geringem Nutzen
für das menfehliche Leben» Denn er fagt
dann nicht mehr aus, al?, dafs es Gott
wohlgefällt, wenn man thut, was
er befohlen hat; Bhiss könnte ein
Meafch
ÖritteS Kapitel. nt
jVlenfch als gewiTs erkennen, ohne zu wif-
fen , was Gott gebietet, und hätte dann eben
fo wenig eine Hegel oder Riclitfchnur füf fei-
ne Handlungen als vorher* Einen Satz, der
nichts mehr lagt, als dafs Gott Gefallen dar-
an hat, wenn man thut, was er gebietet,
werden wohl nur wenige Menfchen für ein
angebornes, in das Herz aller JVlenfchen ge-
fchriebenes möralifches Princip gelten lallen»
Weil er, fowahr und gewifser auch anfiehift,
doch fo wenig Belehrung giebt* Sollte man
es aber dennoch thun, fo könnte man mit
eben dem Rechte hundert andre Salze für an-
geborne Grund fätze erklären, welche eben
fo ftarke Anfpröche darauf haben, ob fie
gleich noch kein Menfch in die Rangord-
nung der angebomen Principe fezte#
§. 19'
Der vieTte Satz: die Menfch en müT-
fen ihre Sünden bereuen, ift nicht
belehrender , fo lange nicht die Handlungen
beftimmt find, welche unter den Sünden ver-
fianden werden. Das YVort Sünde bedeutet
gewöhnlieh überhaupt jede Handlung, wei-
cht;
ii2 Erftei Bncb.
che dem Thäfer eine Strafe zuziehen kann.
Kann min wohl ein Sau, der faget, wir follea
Reue über das empfinden, und es nicht mehr
thun, was uns in Schaden bringen kann, oh-
ne die Handlungen zu befiimmen, bei wei-
chen das ftatt findet, kann der ein grofsesmo-
falifches Princip fejn? Der Satz ift an lieh
in der That wahr, und kann da Eingang
finden, wo man die Erkenntnifs, welchs
Handlungen in jeder Art Sünden find, vor*
ausfeilen darf. Aber weder diefer noch der
vorige können für angeborne Grundfätze,
und wären fie auch das, für nützliche Wahr-
heiten gehalten werden , woferne nicht auch
die befondetn Kegeln und Unterfcheidungs-
snerknale aller lugenden und Lader in das
roenf« bliche Herz gefchrieben , und angebof-
»e Gruudrätze find, welches aber wohl noch
fehr zu bezweifeln ift. Daher dürfte es
Raum denkbar feyn, etafs Gott dem menfeh-
lichen Geir.üthe Grundfätze in den Worten
von fo ungewißer Bedeutung, als die Worte
Tugend und Sünde find , welche bei ver»
fchiedenen Menfchen verfchiedene Objekts
bezeichnen, oder auch überhaupt in Wor-
ten eingeprägt habe, weiche in den meißen
dt ■ " -
Drittes Kapitel. n5
Grundfätzen diefrr Art von allgemeiner Be-
deutung und nicht ehe verftändlich lind., bis
man die befondern unter ihnen enthaltenen
Objekte erkannt hat. Im Praktifchen muffen
die Maafsrpgeln nrenfures) aus der Erkennt-
nifs der Handlungen felbft abgeleitet, und
die Regeln des Handelns, ohne an Wor-
te gebunden zu feyn, der Kenntmfs ihrer
Sprachzeichen noch vorausgehen. Prakti-
fche Regeln mufs jeder Menfch verftehen,
"was er auch immer für eine Sprache gelernt
hat, und hätte er auch gar keine gelernt, und
verftünde wie die Taubftummen kein Wort»
Wenn man dargethan hat, dafs Menfchen oh-
ne Kenntnifs der Worte, ohne Unterricht
durch die Gefetze und Sitten ihres Landes,
erkennen, dafs es zur Verehrung Gottes ge-
hört, keinen Menfchen zu tödten, nur ein
Weib zu haben ; die Leibesfrucht nicht ab-
zutreiben ; die Kinder nicht auszufetzen;
keinem Menfchen das Seinige zu entziehen,
auch in dem Fall, dafs fie es felbft bedürfen,
im Gegentheil feinem Mangel lieber zu Hül-
fe kommen; und dafs wenn fie das Gegen-
theil gethan haben, Reue, Mißbilligung' und
er Vorfatz, es nicht mehr zu thun, ihrePilicht
H iß;
n/f Elftes Buch.
ift; wenn fnge ich, es erwiefen iß, dafs al-
le Menfchen alle diefe und taufend andere
Regeln erkennen und billigen, welche unter
den oben erwähnten Gattungsbegriffen Tu-
gend und Sünde enthalten find, dann
wird man mit mehr Grund diefe und ähnli-
che Satze für allgemeine Wahrheiten und
praktifche Grundfätze erklären können. Doch
alles diefes zugegeben ? fo wird doch die alJ„
gemeine UebereiüTtimmung (wenn fie nehm-
lieh bei praktifchen Grundfätzen ßatt fände)
bei Wahrheiten , deren Erkenntnifs auf eine
andere Weife möglich ift,' kaum den Schlufs
berechtigen , dafs fie angeboren find. Und
diefs ift alles, was ich behaupte»
§. 20.
Angeborne Grundfätze können
verfälfeht werden. Die f er Ein-
wurf wird beantwortet»
Es wird wenig Einflufs auf die Sache ha-
ben, wenn wir hier einer Einrede der Geg-
ner gedenken, welche fich zwar fehr leicht
darbietet, aber nicht fehr erheblich ift« Sie
fagen
Drittes Kapitel. Ii5
fügen neinlich : tl i e a 11 g e b o r n 6 n G r u n'dr
(ätze der Moraliiiit können durch
Erziehung, Gewohnheiten und
tiie herrfchenden Meinungen der-
jenigen, in deren Gefeil fchaft mau
lebt, verdunkelt und zuleztgauz
und gar aus d e rn G e in ü t h vertilgt
werden. Ifc diefe ihre Behauptung wahr,
fo zernichtet lie den Schltifs von der allgemei-
nen Einltimmung, durch welchen die, Meinung
von angebornen Grundfätzen follte bewiefen
werden Sie müfsten es denn für vernünf-
tig halten, ihre und ihrer Parthei Privatmei-
o
nungen als allgemein eingebundene Wahrhei-
ten geltend zu machen. Freilich gefchiehet
das nicht feiten , wenn Menfchen , die heb,
allein im Befiu der gefunden Vernunft wäh.
nen, die Stimmen und Meinungen der übri-
gen Menfchen als Nullen auf die Seite wer-
fen. Ihr Schlufs hütet denn f o : Die Grund«
fatze, welche alj»e Menfchen fürwahr erken-
nen, find angeboren: Grundfatze, welche Men>
fchen von gefunder Vernunft annehmen,
find für alle Menfchen gültig; wir und aile,
die unbrer Meinung find, find Menfchen von
gefunder Vernunft; da wir nun einfthnmig
H 2 find,
n6 Elftes Buch.
find, fo find unfere Grundfätze angeboren.
Warlich eine feine An zu fchliefsen , und ein
rafcher Schritt zur Untiüglichkeit ! Auf eine
andere Weife läfst fich auch die Wirklichkeit
folcher Grundfätze, nicht wohl begreifen»
welche alle Menfchen einftimmig anerkennen,
und doch ohne Ausnahme durch böfe Ge-
wohnheiten und fchlechte Erzie-
hung aus dem Gemüthe vieler
Menfchen vertilgt werden kön-
nen; welches foviel ift, als, alle Men-
fchen nehmen fie an, aber viele leugnen fie,
oder widerfprechen ihnen. Die Vorausfe-
tzung folcher erften Grundfätze ift auch in
der That faft zwecklos, Es ift für die Ver-
befferung unTres Zuftandes gleichgültig, ob
es welche giebt oder nicht, w7enn fie durch
eine menfchliche Macht z, B, durch den Wil-
len unfrer Lehrer , oder durch die Meinun-
gen unfrer Zeitgenoffen verändert oder zer-
nichtet werden können* Ungeachtet aller
Prahlerei mit diefen urfprünglichen Grund-
wahrheiten und mit dem angebornen Lichte,
wird Dunkelheit und Ungewifsheit eben fo
wohl unfer Loos fej*n , als wenn fie gar
nicht wirklich wären. Denn ohne alle Re.
gel
Drittes Kapitel. 11^
gel feyn, oder zwar eine haben, die fichaber,
es fej fo wenig als es wolle, verdrehen läfst, oder
verlegen feyn , unter mannichfaitigen wider-
ftreitenden Regeln die wahre zu treffen, läuft al-
les auf Eins hinaus. Doch ich wünfche nur. dafs
(Ich die Vertheidiger der angcbornen Grund-
fätze darüber erklären, ob fie durch Erzie-
hung und Gewohnheit verdunkelt und ver-
tilgt werden können, oder nicht. Ift das
lezte , fo müden fie unter allen Menfchen
unveränderlich und in jedem einzelnen klar
feyn. Können fie aber durch erworbene
Vorstellungen verändert werden, fo muffen
wir fie nahe an der Quelle, das ift, bei Kin.
dem und ungelehrten Leuten , auf welche
fremde Meinungen am wenigften Eindruck
gemacht haben , am klärften und deutlichsten,
finden. Welche von beiden Partheien fie
auch ergreifen, fo werden fie fich doch ge-
wifs überzeugen, dafs fie mit offenbaren
Thaifachen und mit der täglichen Erfahrung
unvereinbar ift.
Ha *♦ »'
Il8 E rft es' B uch.
§. 21.
Es g i e b t widerftreitendc Gpund-
fä t z e in der Welt.
Ich »eftehe gerne, dafs es eine gro fse
Anzahl von Meinungen giebt, welche
Menfchen ans vei Tcbiedenen Ländern, von
verfchiedener Erziehung und von entgegenge-
fetziem Temperament als u r fp rü n gli &h e
und un bezweifelte Grund Tatze a r~
genoramen haben, von denen viele,fowobl
we^en ihrer Abgefchmaktheit, ah auch, weil he
felbit mit einander ftreiten, unmöglich
Vf a h r fevn können. Und doch ftehen alle diefe
Satze, fo weif fie fich auch v^in der Vernunft
entfernen, hier und da in einem folchen ehr-
würdigen Anfeilen, dafs felbft Manner, die
in andern Dingen richtig denken, lieber ihr
Leben und was ihnen fonft noch am theuer-
ften ift, aufopfern, als fich und andern ei-
nen Zweifel oder Argwohn über die Wahr-
heit derfelben erlauben.
§♦ 22,
Drittes Kapitel, iiq
§. 22.
Wie die Menfchen gewöhnlich
zu ihren p r a k t i f ch e u G rund Ta-
tzen gela ng en.
So auffallend cliefes Faktum auch fcheint,
fo wird e> doch durch die tägliche Frfahrung
beftätiget; und vielleicht wird fich das Wun-
derbare delfelben verlieren, wenn man die
Mittel u n d V% e g e , auf welchen es zur -
Wirklichkeit kommt, oder die Art Und Weife un-
terziehet, wie es möglich wird, dafs Lehrmei-
n ungen, die aus keiner belfern Quelle, als dem
Aberglauben einer Amme und dem Anfehen
eines alten Weibes entsprungen find , endlich
durch die Lange der Zeit und die Beiftim-
rnung der Nachbarn bis zu dem Range
von Grund Tatzen in der Moral und Re-
ligion emporfteigen können» Denn diejeni-
gen, welche alle Sorgfalt anwenden, den
Kindern (wie fie es nennen) gute Grund fetze
beizubringen — und es giebt wenige Men-
fchen, die nicht eine ganze Reihe von Toi-
chen Sätzen für lieh haben und für wahr
halten— ilöfsen dem noch unachtfamen und
H 4 unein«
120 Erftes Buch.
uneingenommenen Verftande, der wie unbe.
fchriebenes PapieT alle Schiiftziige aufnimmt»
diejenigen Lehren «in, welche fie nach ih-
rem Wunfche behalten und bekennen Collen»
Diefe Sätze werden ihnen, fo bald fie etwas
fallen können, gelehrt, und fo wie fie heran
wachten , mehr befediget, entweder durch
das öffentliche Bekenntnifs und die ftillfchwei-
gende Einftitninung aller derer, mit denen
fie umgehen, oder zum wenigften durch die-
jenigen, von deren Weisheit, Renntnillen
und Frömmigkeit fie eine hohe Meinung ha-
ben, und welche keine andere Erwähnung
von diefen Sätzen thun lauen, als ob fie der
Grund und die Stütze aller Religion und Sitt-
lichkeit wären. Durch alle diefe Mittel er-
langen endlich diefe Lehren das Anfehen von
unbezweifelten , einleuchtenden und angebor-
uen Wahrheiten«
§. 15.
Hierzu rechne man noch diefes. Wenn
fo gebildete Menfchen , nachdem he erwach»
fen find, über ihr Ich nachdenken, fo finden
fie nichts, das einen höhern Urfprung hätte,
ali
Drittes Kapitel. 121
als (liefe Meinungen , welche ihnen einge-
flöfitf wurden, ehe ihr Gedächtnifs anhngi
über ihre Handlungen gleichlatn Buch zu hal-
ten, oder das Datum zu bemerken, wenn
ihnen etwas Neues vorkam. Hieraus ziehen
He ohne alles Bedenken den Schlufs, daTs
diejenigen Sätze, von deren E r-
kenntnifs in ihnen kein Anfang
aufzufinden ift, nicht etwa von
andern angenommen, fondern un-
verkennbare Eindrücke Gottes
und der Natur auf ihr Gemüt h
find. Jezt halten fie auf diefe Sätze , und
unterwerfen fich ihnen, wie Eltern, mit Ehr-
furcht. Nicht als wenn diefe natürlich wäre,
— denn fie fehlt auch bei Kindern, die nicht
fo erzogen und gebildet find — fondern weil
fie allezeit fo erzogen worden find , und fich
nicht erinnern können , wenn diefe Ehrfurcht
angefangen habe, fo halten üe diefelbe für,
ein Werk der Natur,
§. 24»
Wenn wir die rnenfchliche Natur und
die Befcliaffenheit der menfchlichen Gelchät-
H 5 t«
122 Elftes Buch.
te betrachten, fo wird das Obige als eine
fehr wahrfcheir.liche, ja faft unvermeidliche
Folge erfcheiaen. Denn es erheilet daraus,
wie die JVI en.fchen ohne viel Zeit
auf die täglichen B e r u f s g e f c h ä i f t e
zu verwenden, nicht leben, noch
Beruhigung in ihrem Selb fr fin-
den können, wenn f i e nicht einen
Grund oder ein P r i n c i p haben, u rn
ihre Gedanken darauf ruhen zu
laffen.. Nicht leicht findet man einen
Menfchen, wenn er auch noch fo feicht und
wankend in feinen Ueberzeugungen ilt, der
nicht Einige verehrte Sätze hat 9; die. bei ihm
die Steile der Grund fätze vertreten». An die-
fe knüpft er fein Räfonnement ; nach ihnen
beuriht-ilt .er; Wahrheit und Falfchheit, Recht
und Unrecht. Und da es theils an Zeit und
Gefchicklichkeit, theils an Neigung fehlt,
diefe Sätze einer Prüfung zu unterwerfen;
Ja- einigen die Prüfung wohl gar als pflicht-
widrig vorgeftellt wird: fo giebt es wenige
IVlenfchen, die nicht durch ihre Unwillen -
heit , Trägheit, Erziehung oder Mangel an
Ueberlegung der Gefahr ausgefezt find, ihre
Grund-
Drittes Kapitel. l2J
Grundfatze auf Treu 'und Glauben anzu-
nehmen.
§. 25.
DieTs ift offenbar der Fall mit allen Kin-
dern und jungen Leuten. Und da die Ge-
wohnheit , die eine gröfsere Gewalt befizt,
als die Natur, feiten des Erfolges ihrer Wir*
kung verfehlet, dafs diefe Menlchen als gött-
lich verehren, was fie ihnen zur Beherr-
fchung ihres Gemüths und zur Unterjochung
ihres Verftandes .eingeäzt hat, fo ift es kein
Wunder, wenn erwachfeue Menfchen, theils
durch die noth wendigen Befchäftigungen des
Lebens zerftreuet, theils durch die Jagd auf
das Vergnügen erHizt, fichs nicht zur ernft-
lichen Angelegenheit machen , ihre eignen
Meinungen zu prüfen, zumal wenn einer ihrer
Grundfatze ift, dafs Grundfatze nicht unter-
fucht werden dürfen. Und hätten iie auch
Mufse, Fähigkeit und den Willen dazu, wer
unter ihnen dürfte wohl den Mmh befitzen,
die Gründe aller feiner vorigen Gedanken
und Handlungen zu erfchüttern, und fich das
beschämende Geftäudnifs abzunüthigen , dafs
er
iP4 Elftes Euch.
er fo lange Zeit ganz in Irrthum und
Wahn verfunken war? Wer hat wohl Herz
genug, den Vorwürfen zu trotzen, welche
denjenigen von alles Seiten drohen, die es
wagten, den angenommenen Meinungen ihres
Landes, oder ihrer Parthie zu widerfprechen?
Wo iit der Manu zu finden, der mit gelafle-
nem Mut he erwarten kann, den Namen eines
Grillenfängers, eines Zweiflers oder Atheiften
za tragen, welchem keiner entgehen kann,
der in die allgemein angenommenen Meinun-
gen den geringften Zweifei fezt? Er wird
fleh im Gegentheil um fo mehr fcheuen,
diefe Grundfätze zu untersuchen, wenn et
die gewöhnliche Ueberzeugung eingefogen
hat, dafs üe zur Regel und zum Probierfteine
aller andern Meinungen von Gott dem Ver-
ftande eingepflanzt find. Und wenn er fin-
det, dafs lie die älteften unter allen feiwen
Gedanken find, und von andern mitdergröfs-
ten Ehrfurcht angeftaunet werden , was kann
ihn noch hindern, ße für heilige Wahrhei-
ten zu halten?
§. 2%
Drittes' Kapitel. \z5
§♦ 26»
Es läTst fich hieraus ohne Schwierigkeit
begreifen, wie es zugehet, dafs Menfchen
die Götzenbilder verehren, die fie in ihrem
Gehirn aufrichteten, und lieh in Vorftel-
ftelluugsarten un Werblich verlieben , mit de*
nen fie fchon lange vertraut worden find;
Irrthümer und Ungereimtheiten
mit dem Charakter der Göttlich.
keit ftempeln; Bigotte Anbeter von Och-
sen und Meerkatzen werden, und für die
Vertheidigung ihrer Meinungen mit den Waf-
fen fechten und ihr Leben aufopfern. Sie
halten, wie der Dichter fagt, nur die
für gültige Götter, die fie felbft
verehren *). Die Denkkraft, dis faft im-
mer , obgleich nicht allezeit mit weifei Be-
hutfamkeit, gefchäfilg ift, willen die meiften
Menfchen aus Mangel an einem fichern Grund
und leitenden Princip nicht zweckmäßig, an-
zu-
*} Juvanal XV. 'Satyre v. Zj. Qimm folos elf
dat habendos elTo Deos, quos ipfe colit,
126 Erf t es B u eh.
zuwenden. Und da die gröfste Anzahl der
Menfchen aus Trägheit oder Zerftreuung nicht
in die Principe der Erkenntnifs eindringet,
und die Wahrheit bis an ihre ursprüngliche
Quelle verfolget, und ein anderer Theil aus
Mangel an Zeit, wahren Hülfsmitteln und
andern Urfachen das nicht, einmal vermag,
fo ift es natürlich, ja faft unvermeidlich, dafs
fie fich mit geborgten Grundfalzen behelfen,
welche für keines Beweifes bedürftig gehalten
werden, weil ihnen der Wahn das Anfehen
von erften Grundfätzen geliehen hat, aus
welchen die Wahrheit aller andern Dinge
bewiefen werden muffe. Wer einige von
diefen Sätzen aufnimmt, und mit der Ach-
tung heget, die man gewöhnlich Grundfätzen
bezeiget; wer es nicht waget, fie zu unter-
fuchen, fondern lieh gewöhnet, an Ge zu glau-
ben, weil fje geglaubt werden follen ; der
kann von feiner Erziehung und der Mode
feines Landes Ungereimtheiten für angeborne
Grundfatze annehmen, und durch die lange
Anficht der nehmüchen Gegenwände die Seh-
kraft feines Verftandes fo fchwächen, dafs er
Mifsgeburten feines Gehirns für Bildniffe
der Gottheit und Werke ihrer Hand hält.
§. 27.
Drittes Kapitel, 127
§• 27.
Grundfätze muffen unterfucht
werden.
Wie viele Menfchen nun auf diefer Bahn
zu Grundfätzen gelangen, die ihnen für an-
geboren gelten , läfst lieh leicht an der Man-
nichfaltigkeit entgegengefezter Grundfätze be-
merken, welche alle Gattungen und Stände
der Menfchen dtirchzuhtzen und zn verfech-
ten fuch^n. Wer leugnet, dafs diefes der
Weg fey, aufweiche») tue meiden Menfchen
zur Ueberzeugung von der Wahrheit und
Evidenz ihrer Grundfjtze gelangen, der wird
{ich vielleicht in grolser Verlegenheit finden,
auf eine andere Weife die E'ntftehung entge-
gengefezter Meinungen zu erklären, welche
fo feft geglaubt, fo kek behauptet werden,
ja welche unier gewifsen Uinftänden grofse
Haufen mit ihrem Ulute zu verfiegeln bereit
find. Und in iler That, wenn die angebornea
Grundfätze das Vorrecht haben füllten, dafs de
ohne Unterfuchung auf ihr eignes Anfehen an-
genommen werden müTsten, fo fehö ich nicht
«in, was nicht alles geglaubt werden könnte,
•der
128 Elftes BucU«
oder wie man «1 ie Grundfätze eines jeden Mcn-
fchen prüfen foll. Wenn fie geprüft und un-
terfircht werden können und follen, fo möcht
jeh willen , wie es möglich ift , die angebor-
nen Grundfätze zu prüfen. Es ift zum we-
nigsten vernünftig, Kennzeichen und Merk-
male zu fodern, wodurch die ächten ange-
jjornen Grundfätze von denen , die es nicht
find, können unterfchiedeu werden, damit
man in einem fo wichtigen Punkte, bei einer
fo grof-.en Menge von Sätzen, die darauf An-
fpruch machen , vor Fehlgriffen gefiebert
fey. Wenn das gefebehen ift, fo werde ich
folche nützliche und willkommene Sätze fehr
gerne annehmen ; bis dahin aber erlaube
man mir einen befcheidenen Zweifel. Denn
die allgemein« Einftimmung, das einzige bis-
her angeführte Merkmal , dürfte wohl zu
ich wach befunden werden, um meine Wahl
zu leiten, und mich von irgend einem ange-
bornen Satz zu überzeugen. Nach alle dein,
was wir gefagt haben, ift es aufs er allem
Zweifel, dafs es keine, von allen Menfchen
einftimmig angenommene , und folglich auch
keine angeborne praktifche Grundfätze giebt.
Viertes
V i e r t e s K a p i t e 1. 1Ä9
Viertes Kapitel.
Noch einige Betrachtungen über die angebornen,
fuvvohl thcoi -etil eben als praktifchen.
Grurnl Tatze.
§. I.
Grundfätze find nicht angebt),
ren, wenn nicht die Begriffe,
die ihren Inhalt ausmachen,
angeboren find»
•Hatten diejenigen, welche uns gerne von
der Wirklichkeit angeborner Grundfätze über-
zeugen möchten, fie nicht überhaupt und zu-
lammen, fondern einzelnen, und nach den
Theilvorftellungeii , welche ihren Inhalt aus-
machen, betrachtet, fo würden lie vielleicht
mit ihrer Behauptung etwas zurückhaltender
gewefen feyn. Denn wenn die, Begriffe, aus
vvelchen diefe Wahrheiten beliehen, nicht
angeboren find, fo können es unmöglich die
Sätze Mbit fern , fo ift ihre Erkenntnifs uns
unmöglich angeboren» Sind die Begriffe
I nicht
1^0 Erf tos* JB uch.
nicht angeboren, fo ift eine Zeit vorhanden,
da der Verftand diefer Grundfütze entbehrte;
iftdiefs, fo find fie nicht angeboren, fondern
raüflen aus einem andern UiTprung abgeleitet
werden. Denn wo es an gewiffen BegrifFen
fehlet, da ift auch keine Erkenntnifs , keine
Beiftimmung, kein Urtheil und kein Satz in
Beziehung auf fie möglich.
Begriffe, vorzüglich folche, die
zu Grundfätzen gehören, wer-
den nicht Kindern angeboren.
Wenn wir neugeborne Kinder aufmerk-
fam betrachten, fo werden wir wenig Urfa-
che finden, zu denken, dafs fie viele Begrif-
fe mit auf die Welt bringen. Denn die
fchwachen Vorftellungen von Hunger, Dürft,
Wärme und Schmerz , die fie vielleicht im
Mutterleibe empfunden haben , ausgenom-
men, findet man in ihnen nicht die geringfte
Spur von fchon völlig gebildeten BegrifFen,
noch weniger von folchen , welche den
Ausdrücken in den allgemeinen
für
Viertes Kapitel. i5l
für an geboren gehaltenen Sätzen
e 11 1 fpr eche n. Man kann beobachten,
v.'ie nachher ftufenweis Begriffe in ihren
Verftand koirmiexi; aber das find keine an-
dere und nicht mehrere, als welche die Er-
fahrung und Beobachtung der Dinge, die in
ihrem Kreife liefen, ihnen zuführen. Die-
fes mufs uns fchon hinlänglich überzeugen,
dafs es keine urfprüngliche, dem Verftand©
eingeprägte Vorftellungeu giebr,
• §. 5.
Es ift unmöglich, dafs das
nehmliche Ding fey und nicht fey,
mufs unftrehig ein angeborner Grundfatz
feyn , wenn es überhaupt folche giebt. Allein
ift es wohl denkbar, oder wird wohl jemand
behaupten , dafs Unmöglichkeit und
Identität angeborne Begriffe find. Fin-
den lieh diefe bei allen Menfchen, oder brin-
gen üe diefelben mit auf die Welt? Oder
kommen fte bei Kindern am früheften, und
vor andern erworbenen zum Vorfchein? Al-
les nothwendiüc Folgen , wenn he angebo-
ren find. Hat ein Kind eher einen Beari/f
von Möglichkeit und Identität, als
I 2 die
l5& Ei ftes Buch.
die Vorftellung von Weifs und Schwarz,
Süfs und Bitter? Wenn es fchliefst, daTs»
Werinuth auf die Bruft feiner Mutter gerieben
nicht fo fchmeckt, als die Nahrung, die es fonlt-
daher erhielt, ift es eine Folgerung aus dem
Grundfatz des Widerfpruchs? Oder ift es eine
Wirkung von der wirklichen Erkenntnifs
deflelben, dafs es feine Mutter von einer
fremden Perfon unterscheidet ; dafs es dicfe
fliehet, und fich an jene anfchmiegt? Kann
der Verftand und feine Ueberzeugung durch
Begriffe beftimmt werden, die noch nicht vor-
handen find? Oder kann er Folgerungen aus-
Grundfatzen ziehen, die er noch nicht er-
kannt, noch verftanden hat? Die Worte
Unmöglichkeit und Identität be-
zeichnen zwei Begriffe, die fo wenig uns
angeboren , oder mit uns entftanden find, dafs
fie vielmehr nur durch einen hohen Grad
von Nachdenken und Aufmerkfamkeit rich-
tig gebildet werden können. Sie find fo we-
nig mit der Geburt auf die Welt gebracht
und fo weit von der Denkart der Kinder ent-
fernt, dafs ich mit Grundi behaupten kann,
man wird fie in vielen erwachsenen Men-
fchen nicht deutlich entwickelt finden.
Viertes Kapitel. i55
* 4-
Identität, kein angeborner B e-
griff.
Wenn die Identität, um bei diefem Be-
griff flehen zu bleiben, ein ängeborrier Ein-
druck, und folglich uns fo klar und geläufig
ift, dafs wir von der Wiege an ein deutli--
ches ßewufstfevn von demfelben haben, 'o
wünfche ich von einem fiebenjäbrigen oder
fiebiigjährigen Menfchen folgende Fragen be-
antwortet zu fehen. Ob ein MenfcH als ein
aus Seele urul Leib beftehendes Wefcn , noch
der nehmlicbe Menfch ift, wenn fein Körper
verändert ift? Ob Euphorbus undPytha-
goras, die einerlei Seele hatten, einerlei
Menfch waren, ob gleich der lezte einige
Menfchenalter fpäter als der erfte lebte? Ja
ob auch nicht der Hahn, der an der nehmli-
chen Seele Antheil hatte, einerlei Wefen mit
ihnen beiden war? Es wird daraus offenbar
werden, dafs unfer Begriff von Iden-
tität nicht fo beftimmt und klar ift, dafs
er verdiente für angeboren gehalten zu wer-
den. Denn wenn diefe angebornen Begriffe
I J nicht
i34 Er ftes Eu cli.
nicht klar und deutlich find, fo daTs fie all-
gemein gedacht und von felbft für wahr ge-
halten werden, fo können fie keine Geaen-
ftände allgemeiner und »»bezweifelter Wahr-
heiten feyn . fondern fie werden unvermeid-
lich eine unaufhörliche TJ.ogewifsheit veran-
lafsen. Denn ich glaube nicht, dafs Jeder-
mann einen Begriff von Identität habe,
der mit dem des Pythagoras und tau-
fend feiner Schüler überein ftitmut. Welcher
ift dann aber der wahre und.angeborne ? Oder
giebt es zwei verfchiedene Begriffe von
Identität, die beide angeboren find?
:§♦ 5;
Man denke ja nicht, dafs die obigen Fra-
gen in Rückficht auf die Identität eines Men-
fchen blofse leere Speculationen find« WTäre
das auch der Fall , fo folgte fchon daraus,
dafs in dem menfchlichen Verftande kein an-
geborner Begriff von Identität an-
zutreffen ift. Wenn man mit einiger Aufmerk,
famkeit über die Auferftehung nachdenkt, und
überleget, dafs die göttliche Gerechtigkeit an
dem leiten Gerichtstage eben diefelben "Per-
fonen
Viertes Kapitel. i35
Jonen richten , und ihnen Giüc!<feligkeit oder
Elend in jenem Leben austheilen wird, wel-
che in diefem gut oder böTe gehandelt haben,
fo wird man finden, dafs es nicht leicht zu
entfeheiden ift, was den Menfchen zu dem-
felben Menfchen macht , oder worin die
Identität beftehet Und dann wird man mit der
Behauptung, dafs alle Menfchen, felbft Kin-
der, von Natur einen klaren Begriff davon
haben, etwas zurückhaltender feyn.
§. 6.
Die Begriffe von einem Ganzen
und den Theilen find nicht an-
geboren,
Wir wollen jezjt den Grundfatz der Ma-
thematik, das Ganze ift gröfser als
ein Theil, unterfuchen, der, wie ich den-
ke, auch unter die angebornen Grund Tatze
gezählet wird, und gewifs eben fo gerechte
Anfprücbe darauf hat, als jeder andre Satz»
Und doch kann fich das kein Menfch den-
ken, wenn er erwäget, dafs die Begriffe ei-
nes Ganzen und derTheile, welche die
Materie deffelben ausmachen, vollkommen
I 4 relativ
l36 Elftes Buch.
relativ, die pofitiven Begriffe aber , welchen
jene eigentlich und unmittelbar angehören,
und deren VerhälUiijTe jene aufhucken , die
Ausdehnung und die Zahl find Gefezt alfo
die Begriffe von Ganzen ur:d den Theilen,
Und angeboren , fo inüJlen es such die von
der Ausdehnung und der Zahl feyen, denn
es ift unmöglich, ein Verhältnis zu denken,
ohne einen begriff von demjenigen zu haben,
auf welches fic-h das Verhältnifs beziehet, und
worin es gegründet ift. Ob nun die Begriffe
von der Ausdehnung und der Zahl wirklich
dein Verftande urfprünglich eingeschrieben
find, das will ich den Vertheidigern der an.
gebomen Begriffe zur Unterfuchung überlaffen»
§. 7.
Der Begriff von Gottesvereh-
rung ift nicht angeboren*
Dafs Gott verehret werden foll,
ift ohne Zweifel eine der gröfsten Wahrhei-
ten, deren der menfehliche Verftand em-
pfänglich ift, und fie verdienet die erfte Stel-
le untei den praktifchen Grundfätien, Dcm-
un-
Vi fites Kapitel. i37
ungeachtet kann iie keinesweges für ange-
boren gehalten werden, woferne die Begrif-
fe, Gott und Verehrung nicht auch an-
geboren find. Jeder Menfeh wird aber, wie
ich hoffe, ohne Schwierigkeit einräumen,
daf.-. der B e griff, welcher durch das Wort
Verehrung bezeichnet wird, nicht in dem
Verftande der Kinder, nicht in der Seele als
ein Schriftzug urfprünglich eingegraben ,ift,
wenn er überlegt, wie wenig erwachfene
Menfchen einen klaren und deutlichen Be-
griff davon haben. Und es läfst lieh wohl
nichts ungereimteres fagen , als die Kinder
hätten diefen angebornen praktifchen Grund-
fatz: Gott foll verehret werden,
die doch nicht wiiTen , worin diefe Vereh-
rung, zu der fie verpflichtet find, beftehet, —
Doch wir gehen weiter.
§. 8,
Der Begriff von Gott i ft nicht
angeboren.
Wenn irgend ein Begriff die Vermu-
thung für lieh hat, dafs er angeboren fey,
fo ift es aus vielen Urfachen der Begriff von
I 5 Gott,
i53 Elftes Euch.
Gott. Denn angeborne praktifche Grnndfä-
tze 1 ffen fich kaum ohne den angebomenBe-
griß einer Gottheit denken» Ohne den Re-
griß eines Gefetzgebers iß der Begriff eines
Geferzes und der Verbindlichkeit deflelben
nicht denkbar. — Aufser den Goftesläug-
nern , die unter den Alien vorkommen, und
deren Andenken die Denkmäler der Gefchich-
te gebrarHrnarket haben , find zu unfern Zei-
ten durch die Seereifen ganze Nationen
an der Küfte von Soldania, in Brafilien,
in Boranday und auf den Karaibifchen In-
feln entdeckt worden, unter welchen man
keine Spur von diefem Begriff und einer Re-
ligion fiir.d. *) Nicolaus del Tee ho
fagt in feinen Briefen aus l'araquaria von
der Bekehrung der Caaiguen; „diefe Ka-
ution hat, wie ich entdeckt habe, kein Wort
„für der. ßegriß Gott und Menfchenfee-
„le, keine Religionsgebräuche, keine Gö-
tzenbilder.1* **), Djefes lind ßeifpiele von
Natio-
*) Rlioe beiTherenot S. 2, de Lery K. x6. Mar»
tininerej Terry, Ovineton : Voyage to Suratt
in the Year 16S9. London 1696.
*") Nicolai del Teciio Relatio triplex de reb:;s
Tadici» Caaiguoium. Reperi eam geniem nul-
hun
Viertes Kapitel. i3q
Nationen in weichen die rohe Natur ohne
Hülfe der Gelehrfamkeit, d«9 Unterrichts, oh-
ne Kultur der Künfte und Wiffenfchaften fich
felbft überlaiTeii ifh Es siebt aber auch an-
dere Nationen, welche obgleich in dem Ge-
nüfs eines hohen Grades von Kultur, doch kei-
nen Begriff keine Erkenntnifs von Gott haben,
weil ihr Verband auf dielen Gegenstand nicht
gehörig gerichtet worden. Es wird ineinen
Lefern vielleicht eben fo auffallend feyn, als
es mir war, dafs die Siamenfer unter diefe
Nationen gehören* Allein he dürfen nur dar-
über den Bericht des franzöiifchen Gefandten,
in Sir>oi , La Loubere zu Rathe ziehen,
der auch. von den Chinefen keinen befl'em
Begriff giebt. *) Und will man diefem kei-
nen Glauben heimeilen , fo küanen uns doch
die Miffionarien von China , felbft die Jefui-
ten, die fonft fo, grofse Lobredner der Chine-
fen
Iura nomen habere, quod Deum et hominis
animam fignificet, nuila facra habet, null?.
Idola.
') La Loubere Relation du Rovaumc de Slam
Aralteidam 1691. T. 1. c. o, aoj 22.
\ -
j.jo Elftes Buch.
fen find, durch die allgemeine Einftimmung
ihrer Auffegen überzeugen, dafs die Seute
der Gelehrten , die ficü zur alten Religion
diefes Landes benennen, und die höchfte
Ge\" .'alt in Hürden haben, ohne Ausnahme
Atht iften find. *) Wenn wir Lebensbefchrei-
bungen und Reden von Perfoneu aus nicht
fo feinen \ ölktrn mit Aufmerkiamkeit durch-
fucbten, fo würden wir vielleicht nur zu
lehr zu befürchten Urfache finden, dafs vie-
le Verleben in eultivirteren Ländern keine
fcharf und rein geprägten Begriffe von der
Gottheit in ihrem Gemüthe haben, und dafs
die Klagen von der Kanzel herab über den
Atheismus nicht uflgegründet find. Iezt
en twar nur einige nichtswürdige IVTen-
fchen öffer.tlicb, nnt frecher Stirn das Da-
fevn Gottes, wir würden es aber vielleicht
roch von mehreren hö^en , wenn nicht die
Furcht vor dem Schwerdte der Obrigkeit
und dem Strafurtheil der Nebenmenfchen
den
**) La Loubeie, Tom. T. c. 20, 23. Navarette
Collection of Voyages. Hütoria eultus SLnen-
fium.
Viertes Kapitel. ,„
den Mund verfchlüfVe. Wäre die Furcht
vor S;rale und Schande vernichtet, wie
viele würden nicht fo gut mit dem Mumie ih-
ren Atheismus bekennen, als ihr Lebern
fchün üott verleugnet?
§• 9-
Doch auch zugegeben, d?fs alle Men-
fchen in allen I ändern einen Begriff von
Gott haben (wovon nns die Gteibhicfite das
Gegentheil fagef;, fo würde doch daraus
noch gar nicht folgen, dafs er an ge b o r en
fey. Denn wenn auch keine Nation gefun-
den würde , die nicht ein Wort zur Bezeich-
nung diefes Begriffes, und einige dunkele
Vorftellungen von Gott hätte, fo würde die-
fes doch eben fo wenig beweifen, dafs he ar>
geborne Eindrücke des Yerftandes find, als
man aus dein allgemeinen Gebrauche der
Worte, Feuer, Sonne, Hitze, Ichlief- en
kann, dafs die Begriffe von diefen Objekten
angeboren find. Im Gegentheil ift aber der
Mangel eines Wortes in der .Sprache oder ei-
nes Begriffes von Gott in dem Verlande,
eben lo wenig ein Beweis gegen das Dal'eyu
Gut-
ivj2 Elftes Luch,
Gottes , als man daraus d,is rvichtdaTeyn ei-
nes Magneten rn der Welt beweifen knnn,
dafs diefes Wort und diefer Betriff einem
grofsen Theiie der Menfchen unbekannt ift.
Eben fo unrichtig würde es feyn , wenn man
fchliefsen wollte, es gebe keine verfchiede-
nen und beftimmten Arten von Engeln oder
vernünftigen über uns erhabenen Wefen, weil
wir keine Begriffe davon haben. Da die
IVIenfchen ihren Wortvorrath aus der gewöhn-
lichen Landesfprache nehmen, fo muffen fi eh.
ihnen Vorftelhingen von den Dingen aufdrin-
gen , welche in dem Umgänge mit andern
Menfchen oft genennet und erwähnt werden»
Und wenn nun mit einem Worte eine Neben-
vorfreilung von Vortreflichkeit, Gröfse oder
fonft etwas Atifserordentlicheii verknüpft ift;
wenn es Furcht oder ein anderes Interefle
in Begleitung hat, wenn die Furcht vor ei-
ner unumfehränkten und unwiderstehlichen
Macht es dem Verfiande aufdringt, fo mufs
fich auch der anhängende Begriff defto tiefer
einfenken, und weiter ausbreiten, zumal
wenn er dem natürlichen Lichte der Vernunft
angemeflen ift, und aus jedem Theiie unfe-
rer Erkenntnifs ungezwungen abgeleitet wer.
den
iViei'tes Kapitel. 14.3
den kann» Von der Art ift der Begriff von
Gott. Denn die fichtbaren Spuren der aufscr.
ordentlichen Weisheit und Macht offenbaren
lieh fo klar in den Werken der Schöpfung,
dafs kein vernünftiges Wefen, wenn es fie
aufmerkfain betrachtet, Gott verkennen kann»
Und der Einfiufs, welchen die Erkenntnifs
eines folchen Wefens auf das Gemüth aller,
die es nur einmal nennen hören, b3b?n mufs,
ift fo grofs und fuhrt eine folche Fülle
von allgemein mittheilbaren Gedanken bei
fich, dafs ich mich mehr wundern würde,
■wenn man eine ganze Nation fände, die fo
lehr an die Thierheit gränzte, dafs fie gar
keine Vorftellung von Gott hätte, als wenn
ihr die Begriffe von Zahlen oder vom Feuer
fehlten»
§• Io,
Wenn das Wort Gott einmal in irgend ei-
nem Theile der Welt ausgefprochen wurde
um ein erhabenes, mächtiges weifes und un-
fehlbares Wefen auszudrücken, fo müfste
die Angemeffenheit diefes Begriffs für die
Giundfäue der allgemeinen Msüfchenver-
nunft,
144 Elftes Buch.
nunft, ur:d das Intereffe , welches die Men-
fchrn off auf denfelben zurückführte, not-
wendig diefe Entdeckung immer weiter aus-
breiten, und auf ganze Generationen herab
Fortpflanzen. Aber doch kann man von der
allzeit einen Annahme diefe s Worts
und einigen unvollkommenen
Ich wank enden, dadurch veranlafs-
ten Begriffen, die fich bei der weniger
denkenden Klaffe von Menfchen finden,
nicht fchliefsen, dafs diefer Be-
griff angeboren ift. Nur diefes folgt
daraus. Diejenigen» von denen diefe Ent-
deckung herrührte , hatten einen zweckmä-
fsigen Gebrauch von ihren Vernunfrkraften
gemacht, reiflich über die Urfachen der Din-
ge nachgedacht, und fie bis an ihren Urfprung
Verfolgt, und diefer wichtige Begriff konnte
nun nicht wieder verloren gehen , nachdem
weniger denkende Menfchen ihn einmal
von jenen Denkern angenommen hatten,
§♦ II.
Das ift alles, was man folgern könnte,
wenn der Begriff von Gott unter allen Stäm-
men
Viertes Kapitel. i^5
men der Men'chrn allgemein angetroffen,
und von allen erwachfenen Menfchen in allen
Landern anerkannt würde. Denn weiter
kann fich die Allgemeinheit der Erkenntnifs
Go tes nicht erftrecken. Ift das nun zurei-
chend, um zu beweifenvdafs der Begriff
von Gott angeboren ift, fo läfst (ich
auf eben die Weife darthun , dafs die Vor-
ftellnng vom Feuer angeboren ift. Denn
man kann wohl zuverläTsig behaupten, dafs
kein Menfcb in der Welt , der einen Betriff
o
von Gott hat. nicht auch eine vorftellung
vom Feuer befizt. Wenn eine Kolonie
von kleinen Kindern auf. einer Infel angelegt
würde, wo kein Feuer wäre, fo würde ih-
nen ohne Zweifel das Wort und der Begriff
von diefem Gegenftande fehlen, wenn er auch
in der ganzen übrigen Welt allgemein bekannt
wäre. Eben fo würde auch vielleicht fo
lange weder das Wort noch der Begriff von
Gott nur geahndet werden, bis Einer unter
ihnen fein Denken auf die Erforfchung der
Einrichtung und der Urfachen der Dinge
gerichtet hätte. Dadurch müfste er natür-
lich auf den Gedanken Gott geführet wer-
den, und hätte er diefen einmal andern mit-
K geiheilet,
1^6. Elftes Buch,
getheilet, fo würde ihn ihre eigne Vernunft
und eine natürliche Neigung ihres Gemüths
nachher unter ihnen fo verbreiten , dafs er
nicht wieder vertilgt werden könnte.
§♦ 12.
Der Einwurf, Gott muffe diefen
Begriff urfprünglich einge-
prägt haben, weil es feiner Gü-
te angemeffen war, dafs er ein
Eigenthum aller Menfchen fey,
wird beantwortet.
Hier wird ein Einwurf gemacht, auf den
man ein grofses Gewicht leget. Es fey, fagt
man, der göttlichen Güte angemef-
fen, den Begriff von Gott dem
menfchlicben Gemüthe einzuprä-
gen, um die Menfchen in diefer wichtigen
Angelegenheit nicht der Unwiffenheit und
dem Zweifel preis zu geben, und um fich
felbft dadurch die Anbetung und Verehrung
zu verGehern, welche Gott von einem ver-
nünftigen Wefen als der Menfch ift, fodern
kann, Folglich muffe eres auch gethan haben.
Wenn
Viertes Kapitel. I/.7
Wenn diefes Räfonnement einige Ueber-
zeugungskraft befiz.t, fo beweifet es mehr,
als diejenigen erwarten, welche fich deffel-
ben in diefem Fall bedienen. Denn wenn
wir fchliefsen dürfen, dafs Gott alles das für
die Menfchen gethan bat, was ihnen ihrem
Urtheile nach gut ift , weil es der Güte Got-
tes angemelfen ift, fo zu handeln, fo folgt
daraus nicht allein, dafs er dem menfchlichen
Verftande die Vorftellung von ihm felbft mit-
getheilt, fondern auch, dafs er mit kenntli-
chen Zügen , alles dasjenige kl.ir eingeprägt
hat, was Ge von ihm erkennen 'und glauben,
was fie aus Gehorfam gegen feinen Willen
thun lohen ; ja er müTste ihnen einen Wil-
len und eine Gelinnung gegeben haben, wel-
che damit übeinftimmte. Ohne Zweifel wird
diefes jeder Menfch für heiler halten, als
dafs die Menfchen, wie der Apoftel Paulus *)
in Beziehung auf Gott fagt, im Fünftem nach
der Erkenntnifs tappen, als dafs ihr Wille
mit dem Verftande, und ihre Begierden mit
ihrer Pflicht im Streite liegen. Die Käth o-
K 3 * 1 ifchen
*) Apoltel^ef«. Lichts XVII.
148 Elftes Buch.
lifchcn Theologen Tagen: es iit für den
Menlchen am heften und Goites Güte ange-
meffen, dafs auf Erden ein unfehlbarer Rich-
ter aller Streitigkeiten ift, folglich ift er wirk-
lich. Mit dein nehmlichen Rechte kann ich
lagen: es ift für die Menfchen beiler, wenn
jeder einzelne felbft unfehlbar ift. Ob durch
uiefen Schliifs allgemeingültig erwiefen fey,
dafs jeder Menfch unfehlbar ift, will ich ih-
nen zur EntfcheicUing überlaiien. Der un-
endlich weife Gott hat es fo gemacht, und
daher ift es das Hefte: diefs ift meinem
Bedünken nach fehr richtig gefehloflen.
Der Schlufs hingegen: ich halte
das für das befte, und daher hat
es Gott fo gemacht, fcheint mir
vermeffen, und zu viel V7 ertrauen
auf unfere Weisheit zu fetzen. Und
in unfren Falle ift es ein eiteles Unterneh-
men , aus folchen Gründen beweifen zu wol-
len , Gott habe etwas gethan, da die ge.
wiffe Erfahrung lehret, dafs er es nicht ge.
thau hat- Gottes Güti^keit hat fich auch oh-
ne diele ursprünglichen Eindrücke der Er*
kenntnifs, ohne (liefe dem Verßande einge-
prägte Begriffe fichtbar genug an den
Men.
Viertes Kapitel. 1/J9
Menfchen geäufserf, als dafs es diefer Bewcife
bedürfte. Denn er gab ihnen diejenigen
Kriifte , durch welche fie vollkommen in den
Stand gefezt find, alles zu entdecken, was
zu ihrer ßeftimmung gehört? Und ich getraue
mir den Beweis zu führen, dafs fich ein Menfch
durch die zweckmässige Anwendung feiner
natürlichen Fähigkeiten die Erkennuiifs Got-
tes und andrer Dinge, die ihn intfreHiren, oh-
ne angebome Grundsätze erwerl)en kann. Da
Gott dem Menfchen dasjenige Erkenntnifsver-
mögen gegeben hat, in d eilen ßelitz er wirklich
ift, fo war feine Güte durch den Umftand»
dafs viele Menfchen gar keine, oder fehr
unvollkommene Begriffe von Gott und den
moralifchen Prineinien befilzen , eben fo we-
nig beftimmt, die angebornen Begriffe davon,
in ihren Verftand tu pflanzen, als ihnen Brü-
cken und Haider zu bauen, wozu er ihnen
Vernunft Hände und Materialien gegeben
hatte, weil einige fonft fehr verftändige VöL"
ker mit diefen Bcdüifniflen entweder gar
nicht oder fehr unvollkommen verforgt find.
Beide Thatfachen hängen von einer Urlache
ab. Zufrieden mit den Meinungen, .Moden
und allem was ihr Vaterland bedzt, la
K 3 diele
i5o Elftes Buch.
diefe Menlcheii alles beim Alten, erweitern
ihren Gefichtskreis nicht, und wenden ihren
Verftand, ihre Fähigkeiten dnd Kräfte nicht
mit Eifer dazu an. Wäre ich oder ein ande-
rer in der Bey Soldan ia gehören, unfers
Gedanken und Begriffe würden (ich vielleicht
nicht über die Thierheit der dafigen Bewoh-
ner, der Hottentotten erheben; und
wenn der König von Virginien Apo-
chancana in England wäre erzogen wor-
den , fo hätte er vielleicht ein eben fo ge-
lehrter Theolog und guter Mathematiker wer-
den können , als irgend einer in England ift.
Der Unterfchied zwifchen ihm und einem
cultivirteren Engländer beßehet blos darin*
dafs die Thätigkeit feiner Kräfte in dem ge-
wöhnlichen Wirkungskreife, innerhalb den
Moden und Begriffen feines Landes einge-
fchränkt blieb, und auf keine andern neuen
Entdeckungen geleitet wurde. Wenn er
keinen andern Begriff von Gott hatte, fo lag
es blos daran, dafs er die Gedankenreihe,
welche ihn darauf würde geleitet haben,
r-iclu verfolgte«.
§• 13*
Vietttes Kapitel, l5i
Die Begriffe der Menfchen von
Gott find fehr v^rfchieden.
Es ift wahr, wenn Geh wirklich ein Be-
grifffände, der dem menfehlichen Verftande
eingeprägt wäre, fo müfste ■ es der Begriff
von dem Schöpfer feyn , womit er fein eig-
nes Gebilde gleichem geftcmpelt hätte, um
den Menfchen an feine Abhängigkeit und
Pflicht zu erinnern. Dann müfsten aber an
diefern Begriff die erften Spuren der menfch-
lichen Erkenutnifs erfcheinen. Allein wie
fpät läTst fich diefer Begriff in Kindern auf-
fpüren? Und wenn wir ihn da finden, ift er
jaicht mehr der Nachhall der Meinungen und
Begriffe des Lehrers, als eine Vorftellung des
wahren GoHes? Wer den Gang des Verstan-
des in Kindern beobachtet, wie lie zu ihren
Kenntniflen gelangen, der wird bemerken,
dafs diejenigen Gegenftände die erften Ein-
drücke auf ihr Gemüth machen, mit welchen
Fe Geh am erften und 'meiften befchäftigen,
aber von Vorftellungen anderer Gegenftände
keine Spur finden, Man beobachtet fehr
K 4 bald,
i5s Elftes Bück,
bald, wie fich ihr Denken erweitert, und
zwar nur in dorn Verhältnifs, als fie mit einer
gröfsern Mannichfaltigkeit von finnlichen Ob-
jekten bekannt werden , die Yorftellungen
davon in dem Gedachtnifs aufbewahren, und
die Fähigkeit erlangen , Begriffe zu entwi-
ckeln , zufainmenzufetzen , und auf verfchie-
dene Art zu verbinden. Wie lieh auf (liefern
Wege der Begriff von Gott in dem menfeh-
üchen Verftande bildet, werde ich weitet
unten zeigen,
§• I4.
LaTst es fich denken, dafs die Begriffe,
Welche die Menfchen von Gott haben, Cha-
raktere und Merkmale von ihm find, durch
feinen Finger in ihren Verftand gegraben , da
wir fehen, dafs fich die Menfchen in einem
Lande, unter einerlei Worte, fo verfehle-
dene. ja e nt gegen g e fe z t e und u n-
ve-reinbarliche Vorftellungen von
ihm machen? Ihre Einhelligkeit in dem
Worte oder Laute kann kaum etwas für das
Angeborenfeyn des Begriffs beweifen,
§♦ IS-
Viertes Kapitel, i55
§. i5.
Konnten diejenigen einen wahren oder
ertr.i.luhen Betriff von Gott haben, welche
hundert Götter erkannten und verehrten?
Jede Gottheit, die Ge über den Einen anbe-
teten, war ein untrügliches Zeugr.ifs, dafs
üe den Einen nicht kannten , und ein Beweis,
dafs fie keinen wahren Betriff von Gott hat-
ten , indem ans ihm die Einheit , Unendlich,
keif und Ewigkeit ausgefchloflen war Rech-
nen wir noch dazu die groben Begriffe von
Körperlichkeit, die Hch in de>i Abbildungen
und Darftellunsen ihrer Gottheiten offenbar-
ten , die Streitigkeiten und andere niedrig
Eiüenfchaften , die lie ihnen beilegten, f0
haben wir wenig Grund, anzunehmen, d.ife
die heidnifche Welt, d i, der gröfste Theil
der Menfchheit, folche Begriffe von Gott
f;ch dachte, als er ihnen hätte mittheilen
muffen, wenn er die Abficht gehabt hiittr, fal-
fche Vorftellungen von ihm zu verhüten. Und
wenn die allgemeine Einftimmung , anF wel-
che man fo viel bauet, einen ifrlprüiiglichen
K 5 Em-
i54 Elfte« Buch.
Eindruck beweifet, fo wäre es doch nur fo
viel : Gott prägte in den Verftand aller Men-
fchen , die einerlei Sprache reden, nicht etwa
©inen Begriff, fondern nur ein Wort, um ihn
zu bezeichnen. Denn obgleich die Indivi-
duen eines Volkes in dem Worte einftimmig
und, fo weichen doch ihre Vorfiellungen
von dem Gegenfiande fehr weit von einander
ab. Man wendet zwar ein , die mannichfal-
iigen Gottheiten, welche die Heiden verehr-
ten, wären nur figürliche Ausdrücke von den
Eigenfchaften diefes unbegreiflichen Wefens
oder von den verfchiedenen Aeufierungen der
Vorfehung gewefen. Allein kein Menfch
wird behaupten wollen, dafs das gemeine
Volk fich diefelben fo gedacht habe, ob ich
gleich hier nicht unterfuchen md* , was üe
urfprünglich waren. Die Reifebefchreibung
des Bifcbofs von Beryte Kapit. 13. (ohne
andere Zeugniffe z,u rechnen ) wird jeden
Lefer überzeugen, dafs die Vielgötterei ein
Glaubensartikel der Theologie der Siamer
ift; nach den feharfCnr.igen Bemerkungen
des Abbe de Choify in feinem Tagebuch
eiaer Reife nach Slam, hingegen leugnet fie
eigen t-
Viertes Kapitel. i55
eigentlich das Dafeyn einer Gottheit über-
haupt *)♦
§. IS.
Man Tagt ferner: die weifen Männer
unter allen Kationen gelangten zu richti-
gen Vor ftell unge n von der Einheit
und Unendlichkeit Gottes. Ich läug-
ne diefe Thatfache nicht. Aber dann fchlipfst
man die Allgsmeinheit der Einftiminung in
allen andern Punkten als dem Worte aus.
Denn die Anzahl der Weifen war klein, viel-
leicht unter taufenden kaum einer. Die All-
gemeinheit wird alfo fehr eingeschränkt.
Zweitens fcheint mir diefes Faktum offenbar
zu beweifen, dafs die beften und richtigiten
Begriffe der Menfchen von Gott nicht ange-
boren, fondern durch Denken, Nachforschen
und den richtigen. Gebrauch der Seelenkr^fte
erworben find. Denn die weifen und nach-
denke«-
*} Relation dn Voyage de Mv. 1 Eveqae de Be,
ryte Paris 16C6. ö. Journal 011 Snue du \
de Siam par M*. AbL-' de Choify Paris
i56 Elftes B uch.
denkenden Menfchen in der ganzen VVelt
erlangten durch zweckmäßigen und forgfäl-
tigen Gebrauch ihrer Vernunft auf dem We-
ge des Nachdenkens richtige Vorftellungen
nicht allein von diefem fondern auch von
andern Gegenständen , während der träge
und cedankenlofe Theil der Menfchen , der
bei weitem die Mehrheit ausmacht, ihre Be-
griffe von dem Zufall der gemeinen Ueber-
lieferung und der Vorftellungsart des Volks,
ohne vieles Kopfbrechen annahm. Sollte
aber der Begriff von Gott aus demGrun-
de für angeboren zu halten feyn , weil er fich
bei allen weifen Männern findet , fo müfste
man eben fo auch von der Tugend urtheilen,
denn diefe hatten auch alle Weife.
§. 16*
In diefem Falle befand fich offenbar das
ganze Heidenthum» Aber auch unter den
Juden, C h r i 1 1 e n und Mahoraeta-
nem» die nur einen Gott bekennen, konn-
te diefe Lehre und das eifrige Beftreben , mit
dem man unter diefen Kationen richtige Vor-
ftellungen von einem Gott zu verbreiten
fucht,
Viertes Kapitel. 167
flicht , nicht Toviel bewirken, dafs alle Men-
Ichen einerlei und richtige VoTftellungen von
ihm haben. Wie viele ^enfchen würde
man nicht auch unter uns finden, wenn man
nachfoT fehle, die fich Gott unter der Geftalt
eines Mannes, der im Himmel fizt , vortei-
len, und noch andere ungereimte, unwürdige
Begriffe von ihm haben? Es gab unter den
Chrillen nicht weniger als m ter den Türken
ganze Sekten, welche in allem Lrnft behaupte-
ten und dafür ftritten, dafs Gott eijj 1 ornei-
liehes Wefcn und von Men'chepgeftait 'ey.
Liiler uns bekennen hch zwar wenige zu
dem Anlhropomorphibinus (doch L,:be ich
einige gekannt, die kein Hehl davon ma-
chen); allein wenn man das zum Gegenftand
feines INachforfchens machte, fo würde man,
glaube ich, unter den unwiffenden und
I'thlecht unterrichteten Chriften viele Anhän-
ger diefer Meinung finden. Man rede nur
mit Landleuten von jedem Alter, mit jungen
Leuten aus jedem Stande , und man wird lieh
bald übeizeuf-en, dafs, ob fie gleich den INa-
iiua üottes lehr häutig in dem Munde tüh-
dennoch die Yorftellüngen, welche
J.e mit diefejn Worte verbinden, fo abge-
fcinuakt,
i5ö Elftes Euch.
fchmakt, medrig und erbärmlich find , dafs
kein Menfch tie für die Frucht des Unter-
richts eines vernünftigen Mannes , noch we-
niger für ein Gepräge der Finger Gottes hal-
fen kann» Ich fehe auch nicht ein, warum
dadurch die Gütigkeit Gottes mehr herabge-
fezt werden foll, dafs er unferm Geifte keine
Begriffe von ihm mittheilte, als dafs er un-
fern Körper ohne Kleider auf die Welt kom-
men, oder uns keine Kunft und Gefchicklich-
Ikeit angeboren werden liefs, Denn da uns
das Vermögen diefe Kunftfertigkeiten zu er-
werben, gefchenkt ift, fo müflen wir es dem
Mangel unlerer Thätigkeit und unfers Nach-
denkens, nicht dem Mangel feiner Güte zu-
rechnen, wenn wir fie nicht haben, Das
Dafevn Gattes ift eine fo ausgemachte Wahr-
heit, als dafs die entgegengefezten Winckel
2wcier geraden durehfchmitenen Linien gleich
Tiiid» Noch kein vernünftiges Wefen konnte
diefen Sätzen feine Beiftimmtrag verfagen,
wenn es fieh die Mühe gab , ihre Wahrheit
ju prüfen, und ehrlich dabei zu Werke gieng.
Aber gleichwohl ift es keinem Zweifei unter-
worfen, dafs viele Menfchen weder von dem
einem noch dem andern Satze etwas willen,
weil
Viertes Kapitel, 159
weil fie ihre Denkkraft nicht auf diefe Gegen-
ftände gerichtet haben. Wenn man fich da-
durch für berechtiget hält , das (in dem wei.
teften Umfang genommen) eine allgemeine
Ucbereinftimrnung zu nennen , fo habe ich
nichts dagegen; allein man kann daraus eben
fo wenig beweilen, dafs der Begriff von
Gott, als dafs der Begriff von jenen Win»
kein angeboren ift,
§■ »7»
Wenn der Begriff von Gott nicht
angeboren ift, To läfst Tich das
noch weniger von einem an»
dem Begriffe vorausfetzen»
Die Erkenntnifs Gottes ifl; alTo zwar eine
fehr natürliche Entdeckung der rnenfchlichen
Vernunft, aber der Begriff felbft ift nicht
angeboren» Wenn diefes, wie ich mit
Schmeichle, durch das Vorhergehende erwie-
fen ift, fo dürfte wohl kaum ein anderer
Begriff gefunden werden , der auf den Titel
von angebornen Anfpruch machen könnte»
Denn hätte Gott dem rnenfchlichen Verfiamls
eine
160 Ei : f tes Bach.
eine Vorftelhuig. ein Merkmal von irgend
einem Objekte eingeprägt, fo nmfste inan
wohl vernünfiigerweife erwarten , tlafs es
ein klarer und einförmiger Begriff von ihm
felbft gewefen wäre, infofein unfer fchwa-
cher Verftand ein fo unbegreifliches und un-
endliches Wefen hätte fallen können. Da
aber rliefer Begriff, an dem uns doch fo viel
gelegpn ift, in dem Verftande von feiner er-
ften Periode an, nicht vorkommt, fo ift das
eine Harke Vermuthung gegen alle
übrigen angebornen Begriffe, So
weit mein Nachdenken gehet, h?.be ich kei-
nen andern Begriff gefunden , d?r mit mehr
Recht angeboren feyn könne. Doch werde
ich mich freuen, wenn ich. von andern eines
Belfern belehrt werde.
§. 18.
Der Begriff Subftanz ift nicht
angeboren.
Ich muTs geftehen, es giebt noch einen
andern Begriff, deffen BeGtz von allgemeinen
Nutzen für die Menfchen feyn würde; ein Be-
griff,
Viertes Kapitel. l5l
griff, von dem man allgemein fo fpricht , als
wenn man wirklich im ßelitz deffelben wäre»
Es ift der Begriff von Subftanz, den
wir weder durch die Empfindung noch
durch die Reflexion haben oder haben
können. Wenn die Natur darauf gedacht
wäre, uns mit Begriffen zu verforgen, fo
müTsien es , follte man denken , folche feyn,
die wir uns durch unfere eignen Kräfte nicht
verfcbaffen können. Davon erfahren wir
hier aber das Gegentheil, Weil diefer Be-
griff nicht auf denfelben Wegen, wie die
übrigen unfern Verftande zugeführet wird, f0
haben wir auch überhaupt kein klares B e-
wufstfeyn von ihm; wir bezeichnen da-
her durch das Wort S ubftanz nur ein ge-
wifles unbeftimmtes Setzen irgend eines, wir
wiiTen nicht welches, Begriffes (das heifsr,
die Annahme eines Dinges, von dem wir
keine befondere, deutliche und pofitive Vor-
ftellung haben,) und halten diefen unbe-
fiimmten Begriff für das Subftrat oder
Grund derjenigen Begriffe, welche wir er-
kennen.
§• 19»
l6t Elftes Buch,
Angeborne Sätze find unmög-
lich, weil kein Begriff ange-
boren if t.
Es ift alfo , was man auch immer von den
angeborneii , fowohl fpeculati ven, als
,pr aktif chen, Grundfätzen Tagen mag,
doch in Anfehung der Denkbarkeit einerlei,
ob man fageu Ein Mann hat ioo Thaler in.
feiner Tafche, aber keinen Pfennig, keinen
Grofchen , keinen Thaler, keine andere Mün-
ze, welche jene Summe ausmachen könnte
oder ob man fagt: gewifl'e Sätze find ange-
boren, deren Begriffe auf keine Weife für
angeboren gehalten werden können. Die
allgemeine Annahme oder Eeifdinmüng, die
fie erhalten, bevveift ganz und gar nicht, dafs
die in ihnen ausgedrükten Begriffe angebo-
ren find; denn in vielen Fällen wird das Für-
wahrhalten durch die Worte, welche die Ein-
ftitnmüug oder Entgegenfetzung der Begriffe
ausdrücken, nothvvendig beftiromt , ohne
Rückficht auf den Urfprung der leztern zu
nehmen. Wer nur einen richtigen Begriff
Ton Gott und Gottesverehriing hat,
wird
Viertes Kapitel, l(5j
Wird dem Satze : Gott Toll verehret werden,
beiftimmen , wenn er in einer ihm verständ-
lichen Sprache ausgedrückt wird. Jeder ver-
nünftige Mann, der heute dielen Satz noch
nicht dachte, kann morgen geneigt feyf),
feine Wahrheit anzuerkennen. Demungeach-
tet darf man wohl annehmen, dafs Millionen
Menfchen bis jezt weder den einen noch den
andern Begriff kannten. Denn wenn wir
auch einräumen, dafs die Wilden und die
meilten Landleute fie befitzen, welche Vor-
ausfetzung aber der Umgang mit diefen Men-
fchen eben nicht fehr begünftigct, fn kann
n.an es doch wohl von wenigen Kindern
behaupten. Es mufs alfo t'ir.e beftimmte Zeit
geben, wo fie diefer Begriffe zuerft bewufst
werden, und dann werden fie auch anfangen,
jenein Satz beizuftimmen , ohne ihn hernach
weiter in Zweifel zu ziehen. Allein diefer
unmittelbare Beifall beweifet eben fo wenig,
dafs diele Begriffe angeboren find , als dafs
ein Blindgebomer, dem morgen der Staar
geftochen werden foll, angeborne Begriffe
von der Sonne, dem Lichte, dem Safran und
der gelben Farbe habe , weder, fobald fein
Geficht hergtftellt ift, den Satz, die Sonne
L s ift
»C4 Rrftea Bei bi
ift ein leuchtender Körper, oder der Safran
ift gelb, gini gewifs für wahr halten \vu.!.
Und daraus fol^t , dafs da» unmittelbare I ur-
wahrbalfpii nicht beweifen kann, dafs die
Begriffe, noch weit weniner abei , difl
die daram irAXarmneogeletiicn Urtheile
boren lind. Ilt Jemand wirklich im !
von ingeboraea Begriffen % fo wttrde ti
mir ftln angenehm feyn , wenn er muh mit
ihnen und ihrer bcftimuitcn An.-ahl bekannt
nachte.
$. 20.
Es giebt keine a n g e b 0 r n e n Regrif-
fe in dem U ed a c ht m fs.
Man erlaube mir, noch folgende Rctraeh-
tung hiu/u/ufeuen. Wenn es gewifl'e ange-
In'TtM- Hegnlre in det Seele giehl . wrlrhc dtl
Verband nicht wirklich denket, fo muhen
\)c in dem Ged uhtnifs aufbewahret feyn, und
daraus durch die Erinnerung zum Bewufst-
feyn gebracht werden, das ilt, wenn man
fich ihre» erinnert, mufs man willen, rjafl ß«
rchon vorher Von der Seele vorgcliellt wann
Ki
Viertes Kapitel. 165
Fs mü-fste denn die Erinnerung oline Erinne-
rung möglich feyn. Denn lieh erinnern, heifst,
lieh etwas mit dem Gedachtnifs oder mit
dem Bewirfst fern vorteilen, dafs es vorher
fchon erkannt oder vorgestellt war. Da diefes
Bewufsfevn das Unterfcheidungsmerkmal ift,
welches das Erinnern von jeder andern Art
des Vorftellens unterfcheidet , fo ift ohne daf-
felbe jede Vorftellung, die zum Bewufstfeyn ge-
langt, eine neue noch nicht vorgeftellte Vorstel-
lung. Keine Vorftellung ift ia der Seele , die
fie lieh nicht einmal vorgeftellt hat. Jede
Vorftellung in dem Gemüthe ift entweder
eine wirkliche Vorftellung, oder eine wirkli-
che gewefen , und fo in der Seele vorhan-
den, dafs fie durch das Gedachtnifs wieder
zur wirklichen Vorftellung werden kann.
Wenn eine Vorftellung wirklich ohne Ge-
dachtnifs vorgeftellt wird, fo ift fie völlig neu
und war bis dahin demVerftande unbekannt.
Bringt das Gedachtnifs eine Vorftellung zum
wirklichen Bewufstfeyn , fo ift damit ein Be-
wufstfeyn verbunden, dafs fie fchon vorher
in dem Bewufstfeyn war, und nicht mehr
fremde für das Gemiith ift. Was die Wahr-
heit diefer Sätze betriff , fo berufe ich mich
L 3 tuf
i(J(S Erftes Euch.
auf eines jeden eigne Beobachtung, Und
nun nenne man mir einen Begriff von denen,
die angeboren feyn Collen , welchen man, ehe
er durch Empfindung veranlafst wurde, er-
neuern und als einen ehemals gedachten Be-
griff ins Gedächtnifs zurückrufen konnte,
ohne welches BewuCstfeyn des ehemaligen
Vbrftellens doch keine Erinnerung möglich
ift. Und jeder Begriff, der in die Seele ohne
diefes Bewufstfeyn kommt, ift kein Erinne-
Tungsbegriff; er kommt auch nicht aus dem
Gedächtnifs , und man kann von ihm nicht
*agen , dafs er in der Seele vor diefem Vor-
«ellen war. Denn was weder in dem wirk-
lichen Bewufstfeyn noch in dem Gedächtnifs
ift, das ift gar nicht in der Seele, und fo
gut , als wenn es noch gar nicht in derfelben
gewefen wäre. Man denke fich folgenden
Fall. Ein Kind , welches den Gebrauch f&L
»er Augen fo lange hatte, dafs es die Farben
kannte und unterfchied , bekam darauf den
Staar, lebte vierzig oder fünfzig Jahre in völ-
liger Blindheit, und verlor in diefer Zeit alle
Vorftellungen von den Farben , die es fonß
kannte, aus dem Gedächtnifs. In diefem
Fall befand lieh ein Blinder, den ich einft
fpracb.
Viertes Kapitel. tGy
fprach. Er verlor fein Geficht in der Kind'
heit durch die Blattern, und hatte jezt ebea
fo wenig eine Vorftellung von den Farben
als ein Blindgeborner. Ich fr3ge jezt, kann
man wohl lagen, dafs diefer Mann mehr
Vorftellungcn von den Farben in feiner Seele
hatte, als ein Blindgebompr ? ich denke, kein
Menfch wird das eine oder andere behaupten«
Sein Staar wird kurirt; jezt erhält er die Vor-
ftellungen von Farben (deren er fich nicht
mehr erinnert) von Neuem, indem fie ihm
durch fein hergsftelltes Geficht wieder zuge-
führet werden, und zwar ohne Bewufstfeyn
einer vorigen Bekanntfchaft. Diefe Vorfiel*
lungen kann er nun erneuern und auch in
fich hervorrufen , wenn er im Dunkeln iü *
von ihnen fagt man, fie find in der Seele,
infofern fie in dem Gedächtnifs aufbewahret
find, und als fchon bekannte in das Bewufst-
feyn wieder zurückgerufen werden können*
Hiervon mache ich folgende Anwendung.
Ein Begriff , d eilen man fich nicht wirklich
bewuft ift, kann nicht anders in der Seele
feyn , als wenn er in dem Gedächtnifs iftj
ift er nicht in dem Gedächtnifs, fo ift er
auch nicht in der Seele; und wenn er in d^m
L 4 Ge-
if>8 Eif*e s Buch.
'•edächtnifs ift , fo kann er nicht zum wirkli-
chen Bewufstfeyn ohne die Vorftelluog ge-
»angen , dafs er aus dem Gedachtnifs komjnt,
das heifst, dafs man, ihn fonft fchon hatte,
nlid fch jezt feiner erinnert. Giebt es nun
borne Begriffe, fo muffen fie in dem Ge-
dächtniTse fern, oder fie find gar nicht in der
; ift jenes, fo können fie ohne einen
äöfVeni Eindruck erneuert werden; und
fjin fie zum Bewufstfejn gebracht werden,
fe lind fieErinneiungsbegriffe, d. h. es hängt
ihnen die Vorfrellung an, dafs fie nicht ganz
neu find. Diefes ift das unveränderliche Un-
terftheidungsmerkmal zwifchen dem, was in
dem Gedäcb'nifs und der Seele ift, oder nicht
ift. Wenn etwas vorgeftellt wird , das nicht
in dem Gedächtuifs ift, fo erfcheint es als
völlig neu und noch nicht vorgeftellt , wenn
es aber in dem Gedachtnifs und der Seele ift,
und das Gedachtnifs bietet es wieder dar, fo
wird es nicht als etwas Neues vorgeftellt;
das Gemüth findet es in fich felbft, und er-
kennet , dafs es ihm fchon vorher angehörte»
Durch diefe Probe kann es entfehieden wer-
den, ob es angeborne Begriffe in der Seele
giebt, welche vor aller Empfindung und Re-
flexion
Viertes Kapitel. 169
flexion vorausgelien. Ich wünfche recht fehr,
den Menfchen zu fehen, der lieh, nachdem
er zum Gebrauch der Vernunft gelaugt ift,
oder zu einer andern Zeit eines folchen Be-
griffs erinnerte , und dem er nach feiner Ge-
burt nicht als neu vorkam. Wollte Jemand
fagen.es giebt Begriffe in der Seele, die nicht
in dem Gedächtnifs find, fo mag er fich erklä-
ren, und feinen Gedanken verfiändlich machen«
§. 21.
Die Grundfätze find nicht ange-
boren, weil weder ihr Nutzen
noch ihre Evidenz von grofsem
Belang ift.„
Ich habe aufser dem, was ich fchon ge-
fagt habe, noch einen andern Grund, um
diefe und andere angebornen Grundfätze zu
bezweifeln, * Bei meiner innigften Ueberzeu-
gung, dafs der unendlich weife Gott alle Din-
ge auf das weifefte einrichtete, kann ich mir
nicht einen befriedigenden Grund denken,
warum man annehmen follte , er habe in den
menfehlichen Verftand gewiffe allgemeine
Grundfätze gepflanzt; Grundfätze, von wel-
chen die vermeintlich angebornen fpecula-
L 5 tiven
xyb Elftes Buch,
tiven von keinem grofsen Nutzen;
und die praktifchen nicht durch
fich felbft evident find; beide aber
von gewiffen andern Wahrheiten,
die nach dem allgemeinen Einge-
Ttändnifs nicht angeboren find,
nicht unterfchieden werden kön-
nen. Drnn zu welchem Zweck follten durch
den Finger Gottes Charaktere in den Verftand
eingegraben feyn , die nicht klärer find , als
fpätcr hinzugekommene, und vor diefen nichts
Auszeichnendes haben? Ift Jemand überzeu-
get, dafs es folche angeborne Begriffe und
und Sätze giebt, welche durch ihre Klarheit
und Nützlichkeit von allen fpäter erworbenen
zu unterfcheiden find, fo kann es ihm nicht
fchwer fallen , beftimmt anzugeben , welche
das find, und dann wird jeder IVIenfch im
Stande feyn , die Wahrheit der Auflage zu be-
urtheilen. Denn giebt es folche angeborne
Begriffe und Eindrücke, die fich von alien an-
dern Vorftellungen und Kenntniffen völlig un-
terfcheiden, fo mufs das jeder IVIenfch in fich
felbft wahr finden. Von der Evidenz der ver-
meinten angebornen Grundfätze habe ich oben
fchon gehandelt; weiter unten werde ich Ge-
legenheit haben, von ihrem Nutzen zu fprechen«
§. 22.
J
Viertes Kapitel, 171
§> 22.
Der Unter fchied der Entdeckun-
gen der Menfchen hängt von
der verfchie denen Richtung
ihrer Kräfte ab,
Das Refultat ift diefes. Einige Begriffe
bieten fich bald von felbft jedem menfchli-
chen Verftande dar; einige Wahiheiten ent-
fprirgen unmittelbar ans gevviften Begrif-
fen, fo bald fie der Verftand zu einem Ur-
theil verbindet; andere Wahrheiten fetzen
eine ganze Reihe eine gewiffe Anordnung,
Verjdeicnung und mühfame Ableitung der
Begriffe voraus , ehe he entdeokt werden und
Beifall finden. Einige Begriffe der erften
Art, find wegen ihrer allgemeinen und leich-
ten Annahme falfchlich für angeboren gehal-
ten worden. Allein die Wahrheit d?von if|
diefs« Die Begriffe find uns eben fo weni°-
angeboren, als die Künfte und Wiüenfchaf-
ten , obgleich einige von ihnen fich leichter
und von felbft demVorftellungsvermögen dar-
bieten, und daher allgemeiner angenommen,
"werden , doch aber in dem Verhältnifs, al$
die Organe unfers Leibes und die Kräfte der
Seele
!•]% ' Erftes Buch,
Seelein Wirksamkeit gefezt werden. Denn
Gott f r h e n k t e d e in M e n f c h e n K r ä £-
te und Mittel zur Entdeckung,
Aufnahme uud Aufbewahrung der
Wahrheiten, infoferne er von je-
nen Gebrauch macht. Die grofse Ver-
schiedenheit in den Begriffen der Menfchen
entspringt von der verichiedenen Art der An-
wendung, die he von ihren geiftigen Ver-
mögen inachen. Der gröfie Theil der Men-
fchen nimmt alles aiaf '! reu und Glauben an,
und mifsbraucht das Vermügeu, der Wahr-
heit beizuftimmen , indem He ihren Geift
durch frpmde Machtfprüche und Herrfchaft
in Feffeln legen lallen, und das in denjeni-
gen Lehren, wo es ihre Pflicht ift, fie Sorg-
fältig zu prüfen, und nicht blindlings mit ei-
nem Köhlerglauben anzunehmen. Andere
wenden ihre Denkkraft nur auf einige weni-
ge Gegenftände an, machen Sich mit ihnen
innJgfi: bekannt , erlangen einen hohen Grad
vdn Wiffenfchaft darin; in allen andern Din-
gen hingegen find fie unwiflend, weil fie ih-
re Gedanken in ErforSchung andrer Dinge
nie freien Spielraum liefsen. Der Satz : die
drey Winkel in einem Dreieck find zweien
rech-
Viertes Kapitel. 1^5
rechten gleich, i(l eine fo eewiffe Wahrheit,
als irgend eine andere, und hat vielleicht mehr
Evidenz, als viele Satze, die als Grtmdfätze
gelten Gleichwohl giebt es Millionen Men-
fchen, die bei vielen andern Kenntniilen von
diefer Wahrheit gar nichts willen , weil Och
ihre Denkkraft niemals mit ihr befcbäftiget
hat. Es ift möglich, dal's einer der diefen
Satz mit apodiktifcher Gewifsheit erkannt hat,
doch von der Wahrheit anderer wathemati-
fchen Sätze, welche diefem an Klarheit und
Evidenz nicht<»nachgeben , fo viel als nichts
verftehet, weil er bei Unterfuchung diefer
znathematifchcn Wahrheiten feinem Denken
zu bald Grenzen fezte , und nicht weit ge-
nug vordrang. Eben lo kann es mit den Be.
griffen gehen, die fich auf das Dafeyn Gottes
beziehen, Es giebt gewifs keiue Wahrheit,
von welcher fich ein Menfch fo klar überzeu-
gen kann, als die Exiftenz Gottes; allein
wenn Jemand feine ganze Befriedigung in
den Dingen diefer Welt fuchet, infofern f:e fei-
nen Vergnügungen und Leidenfchaften fchmei-
cheln, ohne ihren Urfachen, Endzwecken
und künftlichen Einrichtungen nachzufor>
fchen^ und darauf fein Decken Ölit Intereflo
und
174 Elften Buch,
und Aufmevkfainkeit zurichten* fo wird viel-
leicht ein grofser Theil feines Lebens ve.r"
ftreichen , e!e er den Begriff eines folchen
Wefens ahndet. Es ift möglich, dafs maa
vom Hörenfagen diefen Begriff in das Gemüth
fafst und ihn für wahr erkennet. Allein ohne
eigne Unterfuchung hat man eine eben fo un-
vollkommene Erkenntnifs , als derjenige , der
gehört hatte, dafs die drei Winkel in einem
Triangel zweien Rechten gleich find , und
das auf Treu und Glauben, ohne Prüfung
der Demonftration annimmt, Diefer kann
dem Satze als einer wahrfuheirdichen Mei-
nung beiflimtnen, aber von der Wahrheit def-
felben bat er keine Erkenntnifs; doch kann
er auch diefe erlangen , wenn er feine Denk-
kraft lorgfdltiger anwendet, Doch ich be-
merke diefs nur im Vorbeigehen, um zu zei-
gen , wie fehr unfre Erkenntnifs
von dem richtigen Gebrauch der
Kräfte, die uns die Natur gegeben
hat, und wie wenig fie von folchen ange-
bornen Grundfätzen abhängt, die man in al-
len Menfchen als leitende Principe der Er-
kenntnifs ohne Grund vorausfezt, Grundfätze
die alle AZenfchen erkennen müfsten , wenn
he
Viertes Kapitel. 176
fie wirklich vorhanden, und nicht zwecklos feyn
füllen. Da fie aber nicht von allen Menfchen
erkennet werden, auch fich nicht von andern
erworbenen Wahrheiten unterfcheiden lallen,
fo darf man wohl fchliefsen, dafs fie nicht
exiftiren.
Die Menfchen muffen für fich
felbfi. denken und erkennen.
Ich kann nicht beftimmen, welche Urtheils
ein Mann, der die angebornen Grundfatzs
bezweifelt, von Menfchen erfahren werde,
die feinen Zweifel wohl gar für einen Ver»
fuch , die alten Fundamente der Erkenntnifs
und der Gewifsheit umzuftürzen halten, möch-
teu. • Aber ich fchmeichle mir doch, dafs
der Weg, den ich verfolgt habe, der Wahr-
heit angemeflen ift, und jene Fundamente fi-
cherer legt. Und davon bin ich gewifs über-
zeugt, dafs es meine Abficht in der folgen-
den Abhandlung nicht war, irgend eine Au-
ctorhät zu verlafTen, oder zum Führer zu
nehmen, Die Wahrheit war mein emsige*
176 Ei ftes Buch.
Ziel, und wohin mich diefe zu leiten fchien,
dahin folgten meine Gedanken unpartheii ch
nach, ohne darauf zu achten, ob die Fufs-
tapTen irgend eines andern auch auf denfel-
ben Weg führen oder nicht. Nicht als wenn
e« " ir an der gehörigen Achtung gegen die
Meinungen andrer Menfchen fehlte, fondern
weil vor allen Dingen der Wahrheit die
gröfste Achtung gebühret. Und ich
hoffe, man wird es mir nicht als Anmaafsung
auslegen, wenn ich fage , dafs wir in den
Entdeckungen der theoretifchen Erkenntnifs
vielleicht gröfsere Fortfehritte machen wür-
den, wenn wir fie an ihrer Quelle, in
der Betrachtung der Dinge felbft
auffuchten, und dazu lieber unfer eignes
Denken als fremde Gedanken auwendeten.
Denn mit fremden Augen fehen, oder mit
dem Verstände anderer erkennen wollen, ift
wohl eins fö vernünftig aU das andere. Wir
befitzen nur fo viele reale und wahre Er-
kenntnifs, als wir fe'.bft denken, und die
Wahrheit mit ihren Gründen felbft einfehen.
Die Ebbe und Fluth fremder Meinungen in
unterm Kopfp bringt uns keinen Schritt in
der Erkenntnifs weiter, wenn fie auch wahr
lind.
Viertes Kapitel. 177
find. Was bei andern WilTenfchaft war , das
ift bei uns nur ein Meinen , wenn wir unter
fürwahrhalten nur durch verehrte Namen
beftimmen laffen, und nicht, nach dem Bei-
fpiel grofser Denker, unfre eigne Vernunft
anwenden, um die Wahrheiten zu be-
greifen, welche diefen ihren Ri hm erwar-
ben. Ariftoteles war gewifsein denken-
der Kopf; aber noch nie hat ihn ein Menfch
für das gehalten , weil er fremde Meinun-
gen blindlings annahm und dreufte als
feine Ueberzeugungen verbieiteie; und wenn
er nicht dadurch ein Philoloph wurde, weil
er die Grundfatze eines andern ohne eigne
Unterfuchung annahm, fo wird es wohl
fcbwerlich ein anderer, auf diefera Wege wer-
den. In den Witten fchaften befizt jeder
nur foviel, als er wirklich denket und be-
greift; was er nur glaubt und auf das Art-
fehen eines andern annimmt, das ift nur Ab-
gang und Auskehricht, welches, fo viele
Haufen man auch davon fammelt, doch das
Kapital des Sammlers nicht beträchtlich ver*
mehret. Solch ein erborgter Schatz ift nicht
beffer, als bezaubertes Geld, welches in der
Hand des Gebers Gold ift, aber in Blätter
JM nnd
178 Elftes Buch.
und Sfaub verwandelt wird, fo bald man es
ausgiebr.
Woher die Meinung von a n g e.
bornen Grundfätzen entftand.
So wie die M en fchen einige allge-
meine Sätze fanden, die, fo bald man
fie verftand, nicht mehr bezweifelt werden
konnten, fo begreife ich wohl, dafs fie nur
noch einen kleinen Schritt zu thiin hatten,
um auf den Schlufs : fie f i n d angeboren,
zu verfallen. Diefe einmal angenommene
Hypothefe befreiete die Trägen auf einmal
von einer mühfamen Unterfuchung über das
was nun als Angeboren galt, und machte der
Nachforfchung der Zweifler ein Ende. Und
diejenigen, welche liir VVifTer und Lehrer
ansefehen feyrt wölben, fanden nicht wenig
ihre Rechnung dabei, es zum Grundfatz
aller Grundfätze zu machen, dafs
Grundfätze nicht dürfen «nterfucht werden.
Denn nachdem fie mit ihrer Behauptung,
dafs es angebCrne Grundfätze gebe, Eingang
ge-
x Viertes Kapitel. i*g
gefunden hatten, fo fahen fich ihre Anhänger
in die Notwendigkeit verfezt, einige Lehren
als fulche anzunehmen, welches eben fo viel
war , als diele Menfchen von dem Gebrauch
ihrer eignen Vernunft und Beunheilung zu
entbinden, und fie der blinden Macht des
Glaubens und der Auktorität, ohne alle wei-
tere UnteTfuchung der Wahrheiten zu unter-
werfen. Unter dem Scepter.des blinden
Glaubens konnten fie freilich von einer gewif-
fen Klaffe von Menfchen, weiche die Ge«
fchicklichkeit und den Beruf hatte, andere
d'irch ihre Grundfätze zu rr^ieren , gemäch-
licher bpherrrcht und zu ihrem Vortheil gp_
brujcht wprden. Ein Menfch erhält in der
That keine kleine Gewalt über den andern,
wenn er in dem Anfehen ftehet, der Dikta-
tor dpi Gryndfätze und der Lehrer unbezwei-
felrer Wahrheiten zu feyn; und wenn er ma-
chen kann , dafs andere als einen angebor-
neu Grundfatz ver chlucken , was für leine
fubj-ktiven Zwecke diei.lich ift. Hätte man
dagegen die Art und Wehe unterfuchet, wie
die Menfchen zur Erkenntnifs allgemeiner
"Wahrheiten gelangen , fo würde man gefun-
den haben, dafs ffe au< der redlichen und
M 2 ernft-
»So Etiles Buch.
ernftlichen Unierfuchung des We^ns der
Dinge entfpringen, und durch die gewiflen-
hafte Anwendung derjenigen Kräfte entdeckt
werden , welche uns die Natur zur Annahme
wnd Beurtheilung derfelben gab *>
§• 25
*) Die Entfiehungsart der Meinung von ange-
bornen Begriffen ift von Locke eben
nicht fehr befriedigend erkläret worden. Ei-
gentlich hat er fie aber gar- nicht erkläret, fon-
dern nur angedeutet. Was er darüber fagt,
betrifft mehr die TJrfachen, welche diefer
Voifie»lungs'art fo vielen Eingang verfchaften,
welche er mit Recht, ztun wenigften zum Theil
in der Trägheit des rnenfchlichen Geifies, fich
die Unterfuchnng über die lezten Gründe al-
les Willens möglichit leicht und bequem zu
machen , und in dem natürlichen Hange ande-
re zu beherifchen , zu finden glaubte. £)er
Grund, welcher der Behauptung von a n ge-
bor ncn Begriffen fein Dafeyn gab, liegt
eigentlich in der Bemerkung , dafs es Begriffe
giebt , welche aus keinem empirilchen Ur-
iprunge erklärt werden können , und denen
ein Objekt in der Erfahrung entweder gar
aiicht oder nicht vollkommen entfpricht. So
kam Plato auf feine Ideen, welche, ob-
gleich nicht den Worteil, doch der Sache
nalh
Viertes Kapital. iö*
Befchltifs des erften Buche?»
Die folgende Abhandlung hat
<1en Zwek, zu zeigen, wie der Ver«
Ttand da^ei verfahret. Ehe ich zu
derfelben fortgehe, mufs ich noch eine Be-
merkung machen. Wenn ich mir den Weg
zu den, wie ich glaube, einzig wahren Grün-
den bahnen wollte, auf welchen ein Gebäu-
de von den Begriffen , die wir aus unfrer
eignen Erkenntnifs haben können, gegrün-
det werden. kann, fo war ich bis hieher ge-
nothiger, Rechenfchaft von den Gründen ab-
zulegen! aus welchen ich die angehörten
Grundfätze bezweifelte. Und da einige Be-
M 3 weife
n>:ch , an^eborno Pe^riffe waren. Aus dieTem
Grund hielt Cartes die Idee von Gott für
angeboren. Fiincioia Ph ilo Tophi ae P. L
§. XV, XVIII. Was aber vorzüglich dicfe
Vorftellungsart veranlaTstc, war der Umfiand,
daTs man noch nickt im Stande war, die Be»
griffe, die man nicht empiiiTcli erklären konn-
te , aus den Formen und GeTetzen des Veirno»
gens des Gernütbs abzuleiten,
A. d. U.
%$2 Elftes Buc h.
Weife gegen die angebomen Grundfätze aus
gewöhnlich angenommenen Meinungen ent-
fpringen , fo mufste ich manches als einpe-
ftanden vorausfetzen; ein Verfahren, das
nicht leicht zu vermeiden ift , wenn man die
Falfchheit oder Unwahrfcheinlichkeit einer
Behauptung zeigen will. Es gehet in gelehr.
ten Streitigkeiten wie bei Belagerung einer
Stadt; wenn nur der Boden worauf die Bat-
terien errichtet werden , feft und zu dem ge-
genwärtigen Zwecke tauglich ift, fo fragt
man nicht darnnch, wem er ab^eborgt ift,
oder wem er angehört. Aber in dem folgen-
den Theile dieles Werkes, deffen Zweck ift,
ein einförmiges mit fich felbft zufammenhän-
gendcs Gebäude aufzuführen, fo weit meine
eigne Erfahrung und Beobachtung mir dazu
behülflich ift, hoffe ich dafielbe auf einem
foichen Grund zu erbauen, dafs ich nicht
nöthig h^be , es mit Bogen und Pfeilern zu
unterftiitzen , welche nur auf einem ei borg-
ten oder erbettelten Boden ruhen. Und
wenn mein Gebäude auch in die Luft ge-
bauet wäre , fo will ich mich doch zum \ve-
rügten beftreben , d^fs alles aus einem Stück
gearbeitet und zufauunenhängend ift. Hier
inufs
Viertes Kapitel. a8«5
mufs ich die Lefer noch warnen , dafs fie kei-
ne firengen apodiktifchen Deinonftraiinnen
erwarten ; fie mulsten denn mir ein Privilegium
einräumen, deiTen fich andere nicht feiten
anmaafsen, nieine Grundfätze für allgemein
zugeftandene Satze zu halten, in welchem
Fall ich auch wohl demonftriren könnte. Al-
les was ich von denjenigen Grundfätzen noch
zu Tagen habe, die der Unttrfuchung zur
Grundlage dienen, ift, dafs ich mich, was
ihre Wahrheit betrift, auf jedes Menfchen
unbefargene Erfahrung und Beobach-
tung berufe. Und mehr kann auch von ei-
nem Manne nicht gefodert werden, der
nicht mehr verfpricht, als feine eignen Wahr-
fcheinlichkeiten über einen noch etwas in
Dunkelheiten verhüllren'Gegenftand freiuü-
thig und offen darzulegen, and er da bißt
keinen andern Zweck hat , als die Wahrheit
unuartheiifch zu unierfucben.
M 4 Zwei.
«84
Zweites Buch,
Erftes Kapitel.
Voji den Vprftellungen überhaupt und ihrem
Urfprunge.
§• I.
Vorftellung ift der Gegenftand des
Denkens.
Jede* Menrch ift lieh bewufst, dafs er den.
ket, und dafs dasjenige, womit fich die See-
le bei dem Denken befchä füget, die in demfel-
ben vorhandenen Vor ft eilungen find. Hier-
durch ift es aufser allem Zweifel gefeit, dafs
in der Seele des Menfchen verfchiedene Vor-
fiellangen gefunden werden. Solche Vorftellun-
aen Gnd es z. B* welche durch die Worte : d a s
Weifse. die Härte, die Süfsigkeit,
das Denken, die Bewegung, der
Meafch,
Z vre i tcs Buch. Elftes Kapi te I, 185
Mcufch, der Elephant, die Armee»
die Trunkenheit u. ft w« ausgedwükt
werden. Hier entliehet nun zuerft die Fra-
ge : Wie kommt der Menfch zu diefen Vor-
ftellungen? Ich weiTs wohl, es ift eine an^e-
nommene Meinung , dafs die Menfchen an-
geborne Begriffe haben, und dafs gewifle
Charaktere feit dem Anfang ihres Dafeyns in
ihren Verftand gefchrieben find, und fie dt
fchon in dem vorigen weitläufig untersucht
worden. Allein was darüber in dem erften
Buche gefagt i(t, wird, wie ich denke, noch
mehr Beifall finden, wenn ich £e/-ei£t habe,
woher der Verftand alle uiue Begriffe erhält,
und auf Welchen Wegen und durch welche
Abftufungen fie in den Verftand Einsang fin-
den. In diefen Punkten werde ich mich auf
die Erfahrung und Beobachtung jedes einzel-
nen Merffchen berufen, *)
M 5 §♦ 2.
») Wenn man unter angebomen Begriffen , Vor-
rtellungen verliehet , welche von dem vovftel-
lenden Subject von dem eilten Anfan» feines
Dafeyiis mit klaren Bcwnfs'ffeyn vorgeficllt wer-
den , fo ift es eine Thatfache das Bewu'fstfeyn
und
*86 Zweites Buch.
§. 2.
Alle VorTtellungen entfpringen
aus d erEmpfindung (Senfation)
oder fie f lex io n.
Gefezt wir nahmen an, die Seele Tey,
wie man fagt, ein weifses unbefchriebenes
Papier,
und die Wahrheit der Behauptung müfste a
pofteriori bewiefen weiden. Sie üt daher
fclion widerlegt, wenn man , wie Locke ge-
thanhat, zeigt, dafs fie zu gewilTen Zeiten nicht
im Bewnfstfeyn gefunden werden, und dafs
alles Denken einen empirifchen Urfpruns, in
der Zeit hat. Diefer Widerlpiuch mit der
Erfahruns; nöthiete die Veitheidiger der ange-
hi inen Begriffe, das Bewnfstfeyn von den
Bedingungen des Vorftellens auszufchliefseti.
Sie fchloffen fo : die Seele iß eine vorfallende
Subftanz. Die Vorftellungskraft macht ihr
Wefen aus, lie mnfs daher zu jeder Zeit vor-
stellen ; da man fich nun licht immer bewnfst
ift, dafs man Vorftclluneen habe, fo mufs die
Seele auch ohne Ik-wufstfevn-voi hellen und
de; ken können Diefe Behauptuno; widerleget
Locke in diefem Kapitel, weil he unge-
reimt, mit der Erfühl uns; ftreitet, und weil
fie aus blufsen Begriffen auf eine objektive
Rea-
Elftes Kapitel, 187
Papier, ohne alle Vorftellungen, wie wird
fiedann mit denfelben verfehen ? Woher be-
kommt
Realität fcliliefst. Indem Locke keine ans;«*
bomen Begriffe in dem angegebenen Sinn an-
nahm , fo mvlfste er lie freilich als Vorltellun-
gen betrachten, deren Bewufstfeyn einmal ia
der Zeit angefangen hat. Einpiiifche und rei-
jie Vorftellungen haben diefes mit einander
gemein Da aber die Untcrfcheidung beider
die deutliche Unterfcheidung der Form und
des Stoffs der Vorftellungen yorausfezt , und
der menfehliche Geilt diefe Entdeckung noch
nicht gemacht hatte, fo wurden die eniphi.
fchen Vorfiellungen den angebornen eYUgegen*
gefezt Zu diefer Verwech feiung trug poch
ein Umftand bei. Die grüfste Anzahl unfrei
Vorftellungen lind aus einem von Außen ge-
gebenen-Stoffe erzeugt , und die reinen wer*
de« nur durch die Erfahrung an empirifchen
entwickelt. Die lezten konnten daher leicht
überleben , und mit den etilem vurwcchfelt
•werden. Hierauf gründete fich Locke's
Verfucb, die Stammbegriffe des menh. laichen
Verftandes, die uifprünglicuen Voriicüungen
auffcufuchen und zu klaßificiren, und die Art
mm Weife zu befiimmen, wie durch man.
nichfaltio-e Verbindungen deiTelben unfex
ganzer lleichlhurn au Voftellungen entliehe»
könne,
l83 Zweites Euch.
kornrat fie den unermefslichen Vorrath, mit
welchem fie durch die gefchäftige und gren-
zenlofe
könne, ein Vertuen s der deßo verdienftlicher
jit , weil er der Mite diefer Art ift.
Es wird liier nicht unzweckmäßig feyn, noch
einige Bemerkungen über Locke's Begriffe
von Vbrftellangsvermögen und den Gebrauch
einiger Worte beyzufügen. Das ganze Vor-
ftellungsvermögen begreift nach diefen Philo-
fophen zweierlei in lieh, das Empfangen
der Vorftellungen und das Verarbei-
ten derfelben. Alle urfprünglicben, ein-
fachen Vorftellungen werden dem Gemüthe
gegeben , und es thut an ihnen weiter nichts«
als dafs es fie aufnimmt, empfängt. So
bald es eine V'orftelluug empfängt, hat lie auch
ein Bewnfstfayn davon. Diefe beiden Veiin-
derun^en drückt Locke oft durch ein Wort,
r.chmlich Perception tir d pereeive aus.
Dabei verhält lieh das Gemöth ganz leidend.
tt V,. g Ch. Nachdem das Gemütk diefe eiu-
fachen Vorftellungen erhalten hat, fo äufsert
fieb erft die lelbftthätige Voiitellungs.kraft
durch das B e h a 1 1 e n , Vergleichen, U n-
t e r f c h o i d e n , Trennen und Verbin-
den derfelben. Das Denken begreift im wei-
tem Sinn fowohl jenes blos leidende Empfan-
gen,
Elftes Kapitel. 189
zeniofe Einbildungskraft in faft unendlicher
Mamnchfaltigkeit ausgemalt wird. "Woher
hat fie alle Materialien des Denkens und der
Erkenntnifs ? Ich antworte hierauf mit einem
Worte, aus der Erfahrung. Alle Erkennt-
nifs gründet fich auf die Erfahrung und
entfpringt zulczt aus ihr. Unfre Beobach-
tung, welche theils die äufsern
wahrnehmbaren Gegen ftände,
theils die innern, von uns durch
Reflexion wahrgenommenen Wir-
kungen unfers Geiftes zum Gegen-
ftande hat, verforgt unfern Ver-
stand mit aliemStoffe zumDenken»
Die-
gen3 als auch die felbfithätige Verarbeitung
der Vorßellun^en ; im entern Sinne wird
diefeä Wort nur zur Bezeichnung der Funktio.
neu des felbittüä Ligen Vorfteller.s gebraucht.
II. B. 9 Ch. i\Ian flehet daraus, wie weit
Locke noch von dem vollftändigen Belnif-
des Vorftellungsvermügens und der deutlichen
Unteifcheidting der Arten deflelben einlernt
war , und d<<fs er der Seele die Vor&ellungea
ganz gegeben werden Lfst , ohne das zu un.
terfcheidun , was ii. empfängt, und was iie
ausfioh feibft dazu giebt oder dazu
thu|. A. d. U.
*90 Zweites Buch,
Biefes Und die zwei Quellen der Erkenntnis,
woraus alle Begriffe, entringen , die
wir wirklic h haben, oder natürlicher Weife
haben können.
§. 5.
Die Objekte der Empfindung
find die eine Quelle der Vor-
f teil u n gen,
Erftens- Die Sinne, welche fich mit
befondern finnischen Objekten befchäftigen,
führen der Seele inannichfahige deutliche
Vorftellungen von Dingen zu, welche der
verschiedenen Art und Weife entfprechen , auf
weicheriiefe Objekte die Sinne afficiren. Lid
fo erlangen wir unfre Vorftellungen von
«I e in Gel be n, W eilen, von der Hitze
und Kälte, von der Weichheit und
der Härte, von der S ü Fs i g k e i t und B i t-
terkeit, und überhaupt von den fogenann-
ten ilnrltchen Befchaifenheiten, Wenn ich
laoe die Sinne führen der Seele diefe.Vor_
f'teilLingen zu. fo will ich damit nur fo viel
fagen : fie führen von den äufsern Ob-
jekten dasjenige in die Seele, was hier diefe
Vor-
Erftes Kapitel. I$i
Vorftellungen hervorbringt. Diete grofse
Quelle unTrer rneiften Begriffe , welche ganz
von den Sinnen abhängen, und von diefen
in den Verftand geleitet werden, nenne ich
die Empfindung (Senfation),
§. 4.
Die Thätigkeiten unfers Ge-
müths find die zweite Quelle
der Begriffe»
Zweitens, Die andere Quelle, aus
welcber die Erfahrung den Verftand mit Be-
griffen bereichert, ift das Bewufstfeyn
(perception) der Thätigkeiten des G e-
rnüths in uns felbft, infoferu he an den vor-
handenen Verkeilungen ausgeübt werden,
Wenn die Seele diefe Thätigkeiten «beachtet
und über fie redektirt, fo erhält der Verftand
eine andere Reihe von Vorftellungen, welche
nicht von den AulTendingen entfpringen kön-
nen. Solche Thätigkeiten des Gemiiths find
unter andern, das Wahrnehmen, Den-
ken, Zweifeln, Glauben, Schlie-
fsen, Erkennen, Wollen. Wenn wir
derfalben bevvulst werden, und iie in uns
beobach-
1J)2 Zweites Buch,
beobachten , fo erhält der Verftand von ih-
nen eben fo deutliche Begriffe als von Kör«
pern, die die Sinne afficiren, Diefe Quelle
von Begriffen hat jeder Menfch in fich felbft
vollßändig. Sie ift zwar kein Sinn , weil Oe
mit äufsern Objekten nichts zu tbun hat,
aber doch etwas Aehnliches , und könnte mit
gutem Grunde der innere Sinn genennt
•werden* Ich nenne diefe Quelle die Re-
flexion i fo wie die erftere , die Empfin-
dung (Senfstiort) , da die Begriffe, welche
aus jener emfpringen, nur folche find, wel-
che die Seele durch die Richtung des Den-
kens auf ihre eignen Operationen in ihrem
Seibft erhalt. In der Folge verftehe ich alfo
unter Reflexion allezeit die ErKenntnifs der
See e von ihren eignen Wirkungen und ih-
rer beftimirsten Art , wodurch der Verftand
Begriffe von eben denselben Gegenständen
erhält. Die äufsern materiellen Din^e als
Objekte der Empfindung, Un d die
Wirkungen der Seele in uns als Objekte
der Reflexion fmd nun meines Erach-
tens die einzigen Grundstoffe , aus welchen
alle unfere Begriffe entfpringen. Das
Wert Wi rkunge n (Operations.) wird hier
in
Elftes Kapitel. ig5
in dem weitern Sinn genommen, und begreift
nicht nur die Tbütigkeiten der Seele, welche
fich auf ihre Vorftellungen beziehen , fondem
auch gewifle leidende Zuitande, welche aus
ihnen zuweilen, wie z. B. das Gefühl der Luft
oder Unluft aus einem Gedanken, entfpringen.
§♦ 5.
Alle unfre Begriffe ftammen aus
einer ditfer Quellen ab.
Man findet, wie es mir fcheint, in dem
Verftande nicht die geringfte Spur von einer
VorfteNung, die nicht aus einer Von die-
len beiden Quellen entftanden ift. A eu fser e
Ge^enftände gewähren der Seele
Vor f t el 1 u ng en von finnlichen B e-
f cha f fen h ei t en , und diefe find die .ver-
fchiedenen Vorftellungen, welche jene Objekte
in uns erzeugen. Die Seele giebt dem
Verftande Vorftellungen von ih-
ren eignen Wirkungen,
Wenn wir eine vollftändige UeberCcht
von diefen Begriffen, ihien Befchaffenhei-
N ten
»94 Zweites Buch.
ten, Verbindungen und Verhältniflen gege-
ben haben , fo wird es (Ich finden , dafs fie
den ganzen Stamm aller unferer Begriffe aus-
machen , und dafs nichts in der Seele ift,
was nicht auf einem von diefen beiden We-
gen in fie kam. Man unterfuche feine eignen
Gedanken, man durchforfche feinen Ver-
ßand, und Tage dann, ob noch andere Stamm-
begriffe als von den Objekten der Sinne, oder
von den Wirkungen der Seele, als Gegenftände
der Reflexion betrachtet, in feinem Selbft
gefunden werden. Und wenn auch Jemand
die Summe feiner Erkenntnifs noch fo hoch
anfchlägt, fo wird er doch nach einer ftrengen
Mufterung keine Vorfteilung entdecken, die
nicht auf einem von beid'en We-
gen in die Seele gekommen ift.
Aber freilich kann der Verftand, wie wir nach-
her fehen werden, diefe Vorftellungen auf eine
unendlich mannichfaltige Weife zufammen-
fetzen.
§• 6.
Diefes läfst fich b ei Kindern be-
ob a chten.
Wer den Zuftand eines Kindes bei feinem
«rften Eintritt ia die Weh aufmerkfam be-
trach
Erftes Kapitel. jpy
trachtet, der wird keine Urfache finden, in
!ben einen grofsen Vorrath von Vorftel-
lungen, als Stoii ffiner künftigen Erkenntuifs
anzunehmen. Es wird mit deufdben nur
nach und nach verforget* Und obgleich die
auffallenden und bekannten Eigeufchafien
der Dinpe in Vorstellungen gelalst werden,
ehe das Gedächtnifs über die Zeit und Ord-
nung dei eiben gleichfam Regiiter zu halten
anfängt, fo gehet es doch oft fo largfara,
ehe einige ungewöhnliche Eigen Jena ften fich
darbieten . dals nur wenige Mer.fchen f:ch
auf die Zeit befmnen können, da ihre Et-
kanntfchaft n:it dielen anfing. Und wenn es
lieh der Mübe lohnte, fo könnte man ein
Kind ohne Zweifel fo aufziehen, dafs es eine
fehr kleine Anzahl felbft von den gewöhnli-
chen Begriffen erhielte Da aber alle die
auf die Welt kommen, von Körpern umgeben}
find, von welchen lie beftändig und auf nannich-
falüge Weife afheiret werden, fo wird mit oder
ohne felbftthätige Veranftaltung, eine grofse
Älannichfaltigkeit von Vorftellungen der
Seele der Kinder zugeführet. Das Licht und
die Farben ftellen f;ch .:11er Orten dar,
■wo das Auge offen ift; die Töne und eil i-
K 2 2.9
ig6 Zweites Bu-ch.
ge fühlbare Eigen fc haften, reifzen
ohne Umeilafs den ihnen entsprechenden
Sinn, und öfnen fich gleichfam mit Gewalt
einen Eingang in die Seele. Wenn aber
ein Kind in einein Plane eingefchloffen wür-
de, wo es bis an fein männliches Alter nichts
anders als vveiffe und fchwarze Gegenfiäude
fähe, fo wird wohl Jedermann ohne Schwie-
rigkeit eingefiehen, dafs es eben fo wenig
eine Vorftellung von der fcharlachrothen oder
grünen Farbe haben, als ein Menfch fich vor-
teilen kann, wie Aufternoder Ananas fchmek-
ken, der fie von feiner Kindheit an noch nie
gekoftet hat.
§- 7-
Die Menfchen erhalten auf Ter-
fchiedene Weife Vorftellungen
aus d ie fe n Q u eil e n,in fo fern die.
Objekte verfchieden find, mit
denen. fie in Verbindung ftehen.
Die Menfchen erhalten mehr oder weni-
ger einfache Vorftellungen von Aufsen, je nach-
dem die Objekte, mit denen fie fich befchäf-
tigen,
Elftes Kapitel. jqj
tigen , eine gröfsere oder kleinere Mannich-
faltigkeit darbieten; und von den Wirkun-
gen der Seele in ihneD , je nachdem üe mehr
oder weniger über fie reflektiren. Denn
wer die Wirkungen feiner Seele betrachtet,
wird zwar immer eine klare Vorftellung von
ihnen haben j allein ohne die Richtung fei-
nes Denkens auf diefen Gegenftand und ohne
aufmerkfame Beachtung deffelben wird es ihm
eben fo an klaren und deutlichen Begrif-
fen v_o n allen Wirkungen derselben,
und von alle dem, was in feinem Selbft
wahrnehmbar ift, fehlen, als derjenige nicht
alle Theilvorftellungen von einem Land-
fchaftsgemälde oder den Theilen und dem
Mechanismus einer Uhr hat, der feine Augen
nicht darauf richtet, und nicht alle Theile
mit Aufmerkfamkeit beobachtet. Das Gemäl-
de und die Uhr kann fo geftellt feyn, dafs
lie ihm alle Tage in die Augen fallen; und
doch wird fein Begriff von allen ihren Thei-
len fo lange undeutlich feyn , bis er felbft-
t hat ig feine Aufmerkfamkeit auf
die vollüändige Betrachtung derfclben richtet.
N 3 §.8.
ig% Zweites Bucli.
§. 8.
Die Vor Prellungen der Reflexion
find f p il l e r n U 1 f p r u ngs, weil ! i e
Aufmerkfarakeit vorausfetzen.
Und hier fehen wir die Urf3f.be, warum
Kinder fo fpät eine Vorftellung von (\en Wir-
kungen ihrer Seele erlangen, und warum einige
Menfchen ihr ganzes Leben hindurch keinen
vollkommen klaren und vollftändigen Betriff
Von den meiften Thatigkeiten ihres Gemüths
haben» Unaufhörlich gehen zwar Verände-
rungen in ihrem Innern vor; aber weil He
gleich flüchtigen Erfcheinungen keinen tiefen
Eindruck machen, fo laffen fie keine klaren
deutlichen und dauerhaften Vorftellungen in
der Seele zurück, bis der Verftand auf fich felbft
gerichtet, überfeine Thärigkeiten re-
flektirt, und fie zum Gegenftand feiner eig-
nen Betrachtung macht. Die Kinder befin.
den fich in ihren erften Jahren in einer für
fie ganz neuen Welt, Alle Objekte ziehen
das Gemüth durch unaufhörlichen Reiz der
Sinne von fich felbft ab ; das Gemüth ift fchon
an fich geneigt, nur das Neue zu bemerken, und
es ftrebt von Natur nach dem Vergnügen, wel-
ches
E t [ c e s Kapitel. 195
ches aus der Mannigfaltigkeit immer vvech-
felnder Gegenftände entfteht, Die erften
Jahre werden alfo gewöhnlich in der zer-
ftreuenden Befchauung der AulTendinge zuge-
bracht. Die Menfchen befchäftigen fich jezt
nur damit, mit dem, was aufser ihnen ift,
bekannt zu werden, und indem fie in der be-
ständigen Aufmerkfamkeit auf aufsere Empfin-
dungen aufwachfen , fo werfen fie feiten ei-
nen beobachtenden Blick auf das, was in ih-
rem Selbft vorgehet , bis fie zu reifern Jah-
ren kommen. Einige aber reflektiren darüber
auch ihre gan?.e Lebenszeit nicht»
§• 9*
Die Seele hat V o rftellungen , fo»
bald fie etwas wahrnimmt«
Wenn man fragt, zu welcher Zeit ein
Menfch die erften Vorflellungen hat , fo fragt
man, wenn er anfängt zu empfinden, und fich.
bewirfst zu werden (perceive). Denn Vorltel-
lungen haben , und fich etwas bewufst feyn,
ift einerlei. Ich weifs wohl, es giebt eine
Meinung, dafs die Seele immer denkt, und
N 4 ein
ioo Zweites Euch.
ein wirkliches Bewnfstfeyn von Vorftellunjen
in fich hat, fo lange als fie exiftiret; dafs
das wirkliche Denken fo unzertrennlich von
der Seele ift, als die Ausdehnung vom hör-
per. Ift diefes wahr, fo heifst die Frage:
wenn fängt der Menfch an, Vorftelhm-
gen zu haben, eben fo viel, als: wenn
fängt fich das Dafevn der Seele an ?
Denn nach diefer Vorftellnngort mufs die
Seele rait ihren Vorftellungen, wie der Kör-
per, und die Ausdehnung zu jeder Zeit unzer-
trennlich vorhanden feyn»
§. IO.
Die Seele denkt nicht immer, denn
es ift nicht erwiefen.
Ob man annehmen muffe, dafs die Seele
vor der erften Bildung und Organifation des
Leibes i vor dem Anfang des thierifchen Le-
bens, oder zugleich, oder einige Zeit nachher
exiftire, das mögen diejenigen ausmachen,
welche reiflicher über diefe Sache nachge-
dacht haben. Ich mufs gefcehen , meine
Seele gehört in die Klaffe der blödfinnigen,
"welche rieht wahrnehmen wollen, dafs fie
immer denken, und eben fo wenig die Noth-
wen-
Elftes Kapitel. 2oi
wendigkeit einfeben können, warum die
Seele immer d e n ken, als warum der Kör-
per immer in Bewegung feyn rnülle Denn
das V orfteilen ift, wie ich mir die Sa-
che denke, für die bee\e eben das, was
für den Köiper die Bewegung ift, nicht
ihr Wefen , fon lern eine ihrer Wirkun-
gen. Man ftelle lieh das Denken noch fo fehr
als die eigentümliche Handlung der Seele
vor, fo ift es doch nicht noth wendig anzu-
nehmen, dals fie immer denke, immer thätig
fey. Die'.s ift vielleicht ein Vorzug des un-
endlichen Urhebers und Erhalters der Din»e
der nie fehl um inert noch fchläfr
aber es kommt keinem endlichen Wefen, zum
wenigften nicht der menfehlichen Seele »u.
Wir wiffen durch die Erfahrung mit Gevvifs-
heit, dafs wir zuweilen denken, und ziehen
daraus die untrügliche Folgerung , dafs in
uns Etwas ift, welches das Vermögen zu
denken hat. Üb aber diefe Subftanz beftän-
dig denkt oder nicht, können wir nur in fo-
fern wiffen, als uns die Erfahrung Kenntnifs
davon giebt. Denn wenn man fagt, das
wirkliche Denken gehöret zum Wefen der
Seele und ift von ihr unzertrennlich, fo be-
N S vveift
$03 Zweites' Buch.
weift man nicht aus Gründen, welches doch
gefchehen müfste, wenn jenes kein an fich
evidenter Satz ift, fondern fezt, fchon als be-
wiefen voraus , was bewiefen werden follte»
Und was die innere Evidenz des Satzes :
die Seele denkt zu jeder Zeit, be-
triff, dafs ihm jedermann beiftimmen müfse,
der ihn hört, fo berufe ich mich auf das Ur-
theil jedes Menfchen. Es ift zweifelhaft, ob
ich die ganze vergangene Nacht gedacht habe,
oder nicht. Hier ift alfo die Rede von einer
ftreitigen Thatfache; und man fetzt fie fchon
als erwiefen voraus, wenn man zu ihrem
Beweis eine Hypothefe auffteüt, welche die
Streitfache felbft enthält. Auf diefe Art läfst
fich alles erweifen. Man darf nur vorausfe-
zen, dafs alle Uhren, während der Perpendi-
kel fich bewegt, denken: und dann ift es eine
erwieTene und unbezweifelte Wahrheit, dafs
meine Uhr die ganze vergangene Nacht
dachte. Allein man follte, um fich nicht zu
täufchen , feine Hypothefen auf Thatfachen
ftützen, und fie durch die Erfahrung bewei-
fen , aber nicht umgekehrt , der Hypothefe
•wegen, das ift, weil man vorausfezt, es fey
fo, Thatfachen annehmen» Diefe Art zu be-
weifen
Er fies Kapitel. 203
weifen gehet aiu: (liefen Schlufs hinaus: Es
ift noth wendig, dafs ich die ganze vergange-
ne INacht dachte, weil ein andrer vorausfezt,
dafs ich immer denke, ob ich gleich in mei
nein ßewufstfeyn nichts davon wahrnehme.
Die Menfchen künnen nicht nur aus Vor-
liebe zu ihren Meinungen das vorausfetzen,
wovon noch die Frage ift , fondern auch zu
diefein P.ehuF Tharfachen verdrehen! Wie
hätte fpnft ein Gewitter den Satz für meine
Folgerung aasgeben können; Ein Diu»
exi ft i r t nicht, weil wir feines
Dafeyns in dem Schlafe nicht
bewufst find. Ich behaupte nicht, dafs
ein Menfch im Schlafe keine Seele hat; weil
er fieh da derfelben nicht bewufst ift, fon-
dern nur, dafs man nicht denken kann, es
fey im wachenden oder fchlafenden Zuftande,
ohne ein ßewufstfeyn davon zu haben. Das
Bewufstfeyn ift nicht für die Exiftenz eines
Dinges aber wohl für unfere Gedanken not-
wendig; und diefe Noth wendigkeit wird fo
lange beftehen , als wir nicht .ohne Bewufst«
Teyn denken können,
§. II»
20/f Zweites Buch.
§• II»
Die Seele ift fich nicht allezeit
des Denkens bewufst»
Ich räume ein, dafs die Seele in einem
wachenden Menfchen immer denkt, denn dar-
in befteht eben das Wachen. Ob aber ein
Schlaf ohne Traum, nicht ein Zuftand des
ganzen Menfchen, der Seele fovvohl , als des
Körpers fey, ift eine Frage, die wohi ver-
diente, von einem Wachenden unterfucht zu
werden. Denn es ift kaum denkbar, dafs
ein Wefen denke, ohne fich deiTen bewufst
zu feyn ! Wenn die Seele eines fchla-
fenden Menfchen denkt, aber ohne
Bewufstfeyn, fo frage ich : bat/ie während dem
Denken ein Gefühl von Luft und Unluft, ift
fie der Glückfe'igkeit oder des Elends em-
pfänglich? Allein ich denke ein folcher
MenTch ift deflen fo wenig empfänglich, als
das Bette oder die Erde, worauf er liegt,
Dennglückrelig oder elend feyn, ohne davon
ein Bewufstfeyn zu haben , fchefnt ar.ir wi
derfprechend und .unmöglich. Oder wenn
es möglich ift, dafs die Seele, wäh-
rend
Elftes Kapitel. 2o5
rend deflen der Körper fchlaft, für fich den-
ket, für lieh ihren eignen Genurs, Kummer,
Vergnügen und Schmerz hat, wovon der
Meufch nichts vveifs, woran er keinen An-
theil nimmt, fo ift gewifs der fchlafende
Sokrates und der wachende Sokra-
tes nichteine und diefelbe Perfon , fondem
der wachende Sokrates, der aus Leib und
Seele beftehet , und die Seele des Sokrates,
wenn er fchlaft, find zwei Perfonen. Denn
der wachende Sokrates hat keine Kenntnis
von dem, was feine Seele in dem Schla e
denket, und ift fo gleichgültig gegen das ganz
ifolirte angenehme oder unangenehme Gefühl
derselben in dieTem ihm unbekannten Zuftan-
de, als gegen das Glück oder Unglückeines
unbekannten Menfchen in Indien. Denn
worinn follte man noch die Identität der Per-
fon fetzen, wenn man alles Bewufstfeyn un-
frer Handlungen und Empfindungen, vorzüg-
lich des V"ergriügens und des Sehmerzens,
und des damit verknüpften Intereffes aufhebt?
>. 12,
206 Zweites B u c h.
§. 12.
Wenn ein fchlafender Menfch
denkt, ohne (ich defffn be-
w u f s t z u f e y n , f o fi n d d e r S c h 1 a-
fende und der Wachende zwei
Per fon en»
Die Seele, Tagt man, denkt auch im tiefen
Schlafe. Während fie denkt und
fich etwas vorftellt, ift fie gewifs
unter andern auch der Empfindungen von
Luft und Ursluft empfänglich, und fie mufs
nothw endig ihrer eignen Vorftel-
lungen bewufst feyn. Das alles aber
hat fte für fich allein, und es liegt am Tage,
dafs der Schlafende nichts von dem allen
weife. Wir wollen alfo fetzen, die Seele des
Caftor habe ftch, während dafs diefer
fchläft, aus dem Leibe entfernt, - eineHypo-
thefe , welche den Männern, mit denen wir
es hier zu thun haben, nicht unmöglich vor-
kommen darf. Sie die fonft fo freigebig al-
len andern Thieren ein Leben ohne eine den-
kende Seele beilegen, dürfen es für keine
Unmöglichkeit, für keinen Widerfpruch hal-
ten,
Elftes Kapitel. 207
•ten, daß der Körper ohne Seele leben, und
die Seele ohne den Körper exiftiren, denken,
Empfindungen von ihrem angenehmen und
unangenehmen Zuftande haben foll *). Lafst
i'ns alfo, wie ich gefagt habe , annehmen, die
Seele des Caftor trenne fich, während
diefer fchläft, von feinem Leibe, um für
fich allein zu denken; lafst uns ferner anneh-
nehmen , fie wähle fich den Körper eines
andern Menfchen z. B. des P o 1 1 u x, der auch
ohne Seele fchläft, zur Scene ihres Denkens.
Denn wenn die Seele des Caftor, während
diefer fchläft, denken kann, ohne dafs diefer
ein ßewursifeyn davon hat, fo ift es einerlei,
was fie fich für einen Ort zum denken wäh-
let. Wir haben dann nach diefer Vorausfe-
tzung die Leiber von zwei Menfchen, die
nur eine Seele gemein haben, und die wech-
. feii-
*) Diefes beziehet fich auf die Behauptung des
Caites und 'einiger feiner Anhänger, dati
die Thiere keine Seele haben, ob he <deic!i
durch bloben Mechanismus des Körpers
Handlungen hervorbringen, welche Ähnlich-
keit mit den vernünftigen Handhuigen der
Menfchen zu haben f ehernen«
A. d. ü.
20$ Zweites Buch.
felsweife wachen und fchlafen (ollen* und
dieSeele des Wachenden denkt unaufhörlich,
wovon aher der Schlafende ganz und gar
kein Efewufstfeyn, Keine Empfindung hat.
Jezt frage ich, ob nicht Ca fror und Po 11 ux,
die beide eine gemeinfcija't iche Seele haben,
welche in dem einem denkt i.nd empfindet,
dcflen Geh der andere nicht bewuist ift, und
•was ihn nicht intereffiret, eben fo gut zwei
verfchiedene Perfonen find, als Caftor
und Herkules, oderSokrates und P la-
to waren? und ob nicht der eine fehr glück-
feiig., der andere fehr elend feyn kann?
Aus e ben demfelben Grunde machen he die
Seele und den Menfchen zu zwei Perfonen,
wenn he annehmen, die Seele könne für fich
altein denken, ohne dafs der Menfch ein P>e-
wufstfeyn davon hat. Denn ich denke nicht,
dafs Jemand die Identität der Perfon in der
Vereinigung der Seele mit eben denfelbennu-
merifchen Partikeln der Materie fetzen wird.
Beruhete die.; Identität auf diefer Bedingung,
fo konnte ein Menfch , bei der beftändigen
Veränderlichkeit der Theile unfers Leibes
nicht zwei Page oder auch nur zwei Augen-
blicke hinter einander einerlei Perfon feyn.
Elftes Kapitel; *ojj
§. i5.
Diejenigen, welche ohne Trau-
me fchlafen, können nicht
überzeugt wer den, dafs fie in
dem Schlafe denken.
Und fb erfchüttert, wie mich dünkt, jedes
Kopffenken im Schlummer die Behauptung,
dafs die Seele immer denke. Zum wenigften
können diejenigen, welche ohne Träu-
me fchlafen, nicht überzeuget werden»
dafs ihre Denkkraft zuweilen vier Stunden
nach einander belchäftiget fey, ohne dafs fie
etwas davon wüten. Und wenn man fie
auch über diefe Thätigkeit überrafcht, und
aus diefer Träumerei aufweckt, fo können
fie doch nicht das geringfte davon fagen,
§♦ 14.
Es ift eine leere Ausflucht,'
wenn man fagt, die Menlchen
träumen, ohne lieh deffen ent«
Finnen zu können.
Vielleicht wird man fagen : Die Seele
denktauch in dem tiefften Schla-
2fts Zweites Buch.
fe, aber das Gedachtnifs erhält kei-
ne Spur davon. Allein es ift kaum ge-
denkbar, dafs die Seele eines fchlafenden
Menfchen den einen Augenblick mit Denken
befchäftiget , und den darauf folgenden des
Erwachens alles aus dem Gedachtnifs ver-
schwunden fey. Die Ueberzeu^ung davon
erfodert andere Beweife , als die blofse Be
hauptung. Denn wer wird wohl ein blofses
Meinen für einen Beweis gelten lallen, dafs
der grölste Theil der Menfchen ihr ganzes
Leben hindurch täglich einige Stunden über
etwas denket, und doch, wenn man fie felbft
Während diefer Handlung fraget, fich nicht
eines einzigen Gedanken erinnere? Der
gröfsfe Theil des Schlafes fliefset , wie ich
glaube, bei den meiiten Menfchen ohne
Träume hin. Ich kannte einft einen jungen
Gelehrten von keinem unglücklichen Gedacht-
nifs, der, wie er mir erzählte, nie in feinem
Leben träumte? als in dem Fieber, von dem
er eben jezt genefen war, und das war un-
gefähr in dem fünf oder fechs und zwanzig-
sten Jahre feines Alters. Es laffen fich wohl
iroch mehrere folche Beifpiele finden, und die
Erfahrung wird jeden mit genug Perforier!
be-
Elftes Kapitel, 2i*
bekannt machen * welche die meifteri Nächte
nicht träumen.
§♦ i5.
Nach diefer Hypothefe müTsten
die Gedanken eines fchlafen-
den Menfchen die vernünftig-
ften feyn.
Oft denken, und keinen Augen«
blick etwas davon im GcdächtniTs
behalten, ift eine fehr unnütze
Art zu denken. Die Seele hat, bei ei-
nem folchen Denken, wenig oder keinen
Vorzug vor einem Spiegel, welcher unauf-
hörlich eine grofse Mannichfaltigkeit von
Bildern und Vorftellungen empfängt , abef
lteine derfelben fefthält; fie verlieren fich
aus dem Geiicht und verfchwinden ohne ei-
ne Spur zurückzulalTen. Die Seele befindet
fich bei folchen Gedanken nicht beifer, als
derSpiegel bei diefen Abbildungen. „Bei dem
Denken iu dem wachenden Zuftande, wird
man vielleicht fagen. Werden gewille Orga«
ne des Körpers in Bewegung gefezt und be-
O 2 febäfti"
2}2 Zweites Euch.
fchaftiget; das Gedachtnifs bewahret die Ge-
danken auf, vermöge der Eindrücke und Spu-
len, welche das Denken in dem Gehirn zu-
rückläfst. Allein bei dem Denken, deflen
fich ein Menfch in dem Schlafe nicht bewufst
ift, denkt die Seele für fich allein, fie macht
keinen Gebrauch von den Organen des Kör-
pers, fie hinieriäfst keine Spuren in demfel°
ten; und daher findet kein Gedachtnifs die-
fer Gedanken ftatt" — Ich will hier nicht
wieder der Ungereimtheit einer gedoppelten
Perfönlichkeit gedenken, welche aus riiefet
Vorausfetzung folgt, fondern nur diefes ant-
worten. Kann die Seele irgend einige Vor-
ftellungen obne Hüife des Körpers erlangen
und betrachten , fo mufs fie diefelben auch,
nach einem vernünftigen Schluffe ohne Hül-
fe des Körpers erhalten können. Die Seele
oder ein vom Körper getrennter Geift würde
foult wenig Vortheile von dem Denken ge-
winnen. Wenn fie nicht im Stande ift, ihre
eignen Gedanken zu behalten , zu ihrem Ge-
brauch aufzubewahren , und bei Gelegenheit
wieder ins Gedachtnifs zu rufen ; wenn fie
über das Vergangene nicht nachdenken, und
VQit. ihren altem Esfahrucgen, Schi üfferi und
' Elftes Kapitel. ?i3
Betrachtungen keinen Gebrauch machen kann,
2u welchem Zweck denkt fie denn? Diejeni-
gen , welche die Seele für ein folches den-
kendes Wefen erklären , machen fie wirklich
zu keinem edlern Wefen , als ihre Gegner,
die von ihnen verdammt werden, weil fie die
Seele für die feinfte Materie halten, Züge auf
Staub gezeichnet , welche der eifte Hauchr
des Windes verwifcht, Eindrücke auf einen
Haufen Atomen, oder auf die Lebensgeißer
find eben fo nützlich, und veredeln das Sub-
jekt eben fo fehr, als die Gedanken einer
Seele, welche während dem Denken fchoa
wieder zernichtet werden, die wenn fie einmal
dem Gefichte entkommen, für immer ver-
schwunden find, und • in dem Gedächtnifs
nicht die geringste Spur zurücklafien. Die
Natur bildet das Vortrefliche nie zu einem
niedrigen oder zu gar keinem Zweck. Und
es läfst fich kaum denken, wie der unendlich
weife Schöpfer ein fo bewunderungswürdi-
ges Vermögen, als das Denkvermögen ilt,
welches felbft der Hoheit feines unbegreifli-
chen Wefens am nächften kommt, zu einem
folchen vergeblichen und fruchtlofeu Ge-
brauch gebildet , clafs es zum wenigüen den
O 3 riey-
%U\ Zweites Buch.
vierten Theil feines Dafeyns beftändig ohne
Bewufstfeyn, zu keinem Nutzen für fich
feibft oder ein anderes Wefen der Schöpfung
denken follte. Man denke nach, und man
wird kaum eine Bewegung der vorftellungs-
lofen Materie in dem Univerfum finden, wel
che von fo wenig Nutzen und fo verfchwen-
det ift.
§. \6.
Wir haben zwar zuweilen im Schlafe Vor-
ßellungen mit Bewufstfeyn und behalten fie
im Gedächtnifs, Allein wie ausfchweifend,
unzufammenhängend und wie wenig der
Vollkommenheit und den Gefetzen eines ver-
nünftigen Wefens angemeffen fie find, brau-
che ich denen nicht zu fagen, welche wiffen,
was Träume find. Nur die Frage wünfchte
ich beantworter zu fehen , ob die Seele we-
niger vernünftig handelt , wenn fie für fich
und als wäre fie vom Körper getrennt, oder
wenn fie in Verbindung mit dem Körper
denkt? ift das lezte, fo muffen fie annehmen,
das die Seele die Vollkommenheit, vernünf-
tig zudenken, dem Körper verdanket; ift
das
Elftes Kapitel. 2iS
das erfte , fo mufs man lieh wundern , dafs
iinfre Träume gröfstentheils fo thüricht und
unvernünftig find, und djfc die Seele von
ihren vernünftigem Selbftgefprächen un(J
Betrachtungen nichts behält.
§• 17-
NachdieferHypothefemüfste die
SeeleVorftellungen haben, wel.
che weder aus der Empfindung
noch aus der Reflexion ent-
ftanden find; denn von beiden
kommt da keine Spur vor.
Wenn man fo zuverfichjlich behauptet,
die Seele denke zu jeder Zeit, fo mücht ich
gerne wiffen, von welcher Art die Vorftellun-
gen in der Seele eines Kimles find, vor oder
gerade während der Vereinigung derfelben
mit dem Körper, da fie noch keine durch die
Sinne erhalten hat. Die Träume find
meiner Einficht nach nicht« als eine
Reihe Vorft eil ungen aus dem wa-
chenden Zuftaiule. nur dafs fie auf eine
fehfaiue Art zufammeu goreihet find. Sollte
O 4 nicht
3si6 Zweites Buch.
nicht die Seele von ihren eignen, nicht von
den Sinnen und der Reflexion abge-
leiteten Vorftellungen — und folche
müTste fie haben, wenn fie denkt, ehe fie
Eindrüke von dem Körper erhält — einige
in dem Gedächtnifs aufbewahren ? Sollte fie
nicht aus ihrem ifolirten Denken, welches fo ge-
heim ift,dafs der Menfch felbft nichts davon er-
fähret, den Augenblick, da fie aus ihrer
Träumerei erwacht , einige Vorftellungen feft
halten, und den Menfchen mit neuen Ent-
deckungen erfreuen? Das wäre eine ATt von
Wunder, Wer mufs es nicht für ungereimt
halten, dafs die Seele, die in ihrem ifolirten
Zuftande des Schlafs fich viele Stunden mit
Vorftellungen befchäftiget, doch nicht ein ein-
zigesmal bei denjenigen verweilet, weiche fie
nicht durch die Sinne oder durch die R e-
flexion erhiplt oder dafs fie in dem Gedächt-
nis nur die Spur von folchen erhält, welche
durch den Körper veranlagt, dem Geilte weni-
ger natürlich feyn niüllenV Es ift fonderbar,
dafs die Seele nicht ein einzigesmal in dem Le-
ben eines Menfchen einen von ihren reinen an-
gebornen Begriffen die lie befafs, ehe fie
poch etwas vom Körper entlehnte, zurück-
ruft,
£rftcs Kr, piteL 21?
juft, und dem Bewuf'treyn eines wachenden
Menfchcn nie andre Vorftellungen darfteÜt,
als welche nach dem Fafse riechen, und ihre
Entftehung ofFenbar aus der Vereinigung der
Seele mit dem Körper herleiten. Wenn dia
Seele immer denkt und fchon Begriffe hat,
ehe fie mit dem Körper vereiniget war, oder
von diefem Vorftcllungen bekam, fo müfste
fie , folhe man denken , in dem Schlafe ihre
eingebornen Begriffe erneuern , und in dem
Zuftande, da fie alle Gemeinfchaft mit dem
Körper aufgehoben hat, und für fich denkt,
zum wenigften elriigernale fich nur mit fo!»
chen natürlichem und geiitigern Vorftellun-
gen beschäftigen, welche fie in fich feJbfthat,
und nicht vom Körper oder von ihrer Bear-
beitung der erworbenen abgeleitet fird* Da
aber kein Menfch fich diefer Vorstellungen
je erinnert, fo müilen wir aus diefer Hvpo-
thefe fchliefsen, dafs die Seele entweder
ein eignes Erinnerungsvermögen hat, das
dem Menfchen fehlet, oder da s das Gedacht»
nifs fich nur auf die Vorltelhmpen beziehet,
welche vom Körper oder von den darauf
gerichteter! Thätigkeiten der Seele ernfprin-
gen.
0. 5 §. I|t
2i8 Zweites Buch.*
§. i8t
Wie kann man erkennen, dafs
die Seele immer denkt? Denn
die Ter Satz mufs bewiefen wer-
den, wenn er nicht durch fich
felbft evident ift.
Ich möchte wiffen , wie diejenigen , wel-
ehe fo dreufie behaupten, dafs die Seele,
oder welches eins ift, dafs der Menfch im-
mer denkt, zu diefer Kenntnifs gekommen find,
ja wie fie felbft wiffen können,
dafs fie immer denken, da fie fich
deffen nicht immer bevvufst wer»
cl en. Ich befürchte, man hat hier eine Ueber-
»eugung ohne Gründe; und eine Erkennt-*
nifs ohne Wahrnehmung ift doch wohl mir*
ein undeutlicher zum Behuf einer Hypothefe
angenommener BegrifF, aber keine von den
klaren Wahrheiten , deren Ueberzeugung uns
entweder durch innere Evidenz oder durch die
unwiderfprechliche Erfahrung abgenöthiget
wird. Denn alles, was fiehöchfiens zur \ erthei-
digung des Satzes fagen I'önnen , ift, es fey
möglich, dafs die Seele immer denke, ohne dafs
fich
Elftes Kapitel. 219
fleh das Bewufstfeyn davon allezeit im Ge-
dächtnifs erhalte. Allein es ift eben fo mög-
lich, dafs die Seele nicht allezeit denkt, und
noch wahrfebeiulicher , dafs fie zuweilen
nicht denkt, als dafs fie fich oft lange Zeit
nach einander mit Vorfiellungen befchäftigen,
und in dem nächften Augenblick nichts davon
willen füll.
§. 19,
Es ift fehr u n w ahr f ch ei n li ch»
d a f 0 f i c h ein Menl'ch mit Vor-
ftellungen befchäftige, und
den nächften Augenblick kein
Bewufstfeyn davon habe.
Wenn die Seele denken und der Menfcli
es fich bevvufst werden fo II , fo macht man, wie
ich fchon gefagt habe, aus Einem »VJenfchen
zwei Perfonen. Und nach einer aufmerkfa-
men Erwägung der Worte, deren fich die
Freunde diefer Behauptung bedienen, follte
man faft glauben, dafs das wirklich ihre
Meinung fey. Denn (ie fagen , foviel ich
mich erinnern kann , nie , ein M e n f c h ,
Ion-
2,2.0 Zweites Buch.
fondern die Seele denkt immer. Kann
aber die Seele denken, ohne dafs auch der
Menfch denkt? Oder kann ein Menfch den-
ken , ohne fich deiFen- bewufst zu feyn? So
etwas würde man bei andern Leuten für ein
rinverfiändlichei Gewafch halten. Wenn fi«
fagen; der Menfch denkt allezeit , aber er
hat nicht immer ein Bewnrsffeyn davon, fo
können He mit eben dem Rechte Tagen: der
rnenfchliche Körper iü ausgedehnt, aber er
hat keine Theile. Denn ein ausgedehnter
Körper ohne Theile ift fo denkbar, als das
Denken ohne Bewufstfeyn. Sie kön-
nen, wenn es ihre Hypothefe erfodert, mit
'eben fo viel Grund Tagen j der Menfch ift ina-
jner hungrig, aber er hat nicht immer ein Ge-
fühl davon. Und doch beftehet der Hunges
eben in diefem Gefühl, To wie das Denken
in dem Bewüfsrfeyn , dafs man denkt» Viel-
leicht werden he Tagen ; ein Menfch ift {ich
Feines Denkens immer bewufst. Allein wo-
her willen fiedas? Das Bewufstfeyn ift Wahr-
nehmung deffen, was in eines jeden Men-
fchen eignem Gemüthe vorgeht. Kann ei'a
anderer Menfch wohl wahrnehmen, dafs ich
mir eines Dinges bewufst bin, wenn ichfelbft
es
jErftes Kapitel. £-2±
es nicht wahrnehme? Die Erkenntnifs eines
JVlenfchen kann nie über die Grenzen feiner
Erfahrung Geh erftrecken. Man wecke einen
aus einem tiefen Schlaf auf, und frage- ihn,
was er denleiben Augenblick dachte; wenn
er fich keines Gedankens bewufst ifi, fo mufs
es ein trefiieher Seher der Gedanken feyn,
der ihm betheuern kann , er habe wirklich
gedacht. Könnte er ihn nicht init noch mehr
Grund überzeugen, er habe gar nicht ge*
fchlafeu? Diefs Überfielt alle Philoluphie.
Nichts Geringeres als eine Offenbarung kann
einem ändern Gedanken meines Ichs entde-
cken, die ich felbfi nicht da finde. Was für
durchdringende Augen inüfsten nicht diejeni-
gen haben, Welche untrüglich leheri wollen,
dafs ich denke, wenn gleich mein Bewufst.
feyn nichts davon weifs, und meine eigene1
Erklärung dem widerspricht, und doch be-
merken können, dafs die Hunde und Ele-
phanten nicht denken, obgleich diefe Thiere
alle mögliche Beweife davon geben, ausge-
nommen , dafs De es durch die Sprache nicht
2u erkennen geben können. *) Diefs dürfte
viel«
*) Man fehe- die Anmerkung za d, §. 12,
£22 ' Zweites Euch,
vielleicht noch über die geheime WiflenfchaFf.
der Rofenkreuzer gehen» Denn es
fcheint doch warlich leichter Geh unüchtbar
in machen, als eines andern Gedanken zu of-
fenbaren, von denen dieferfelbft nichts weifs*
Doch man darf nur die Seele als eine unauf-
hörliche denkende Subftanz definiren, fo Gnd
alle Schwierigkeiten gehoben. Wenn eine
folche Erklärung noch etwas gelten foll, fo
fehe ich doch nicht, wozu fie nutzen foll,
auITer etwa dazu, viele Menfchen auf
den Gedanken zu bringen , dafs lie gar keine
Seele haben, wenn fie bemerken, Welch einen
gvofsen Theil des Lebens fie ohne Denken zu-
bringen« Keine Definition, keine Hypothefe
irgend einer Sekte ift, meiner Einficht nach,
im Stande, eine allgemeine Erfahrungswahr-
heit umzuftofsen , Und vielleicht rühren alle
unnütze Streitigkeiten und fo viel vergebli-
cher Lerm in der Welt nur davon her, dafs
jwan den Schein haben will, mehr zu Witten,
als man wahrnehmen kann»
§. 2C,
Erftea Kapital ti.b
$. 20,
Es giebt keine andern Vor ft ei-
lungen, als welche aus der Em-
pfindung und der Reflexion
entfpringen. Diefs wird durch
Beobachtungen an Kindern
klar.
Ich fehe alfo keinen Grund, anzunehmen,
tlafs die Seele Tchon denke, ehe fie
nochdurchdieSiuneVorftellungen,
als Materialien zum Denken erhält.
In dem VerhältniTs. als (ich diefe vermehren,
und in dem Gedächtnifs aufbewahret werden,
wird auch die Denkkraft durch die Uebung
in allen ihren verfchiedenen Aeufferungen
ausgebildet. Eben diefs gefchiehet auch
nachher, wenn das Gemüth diefe BrgrifFe
zufammen fezt und über feine Thätigkeiten
»eflectirt. Hierdurch vermehrt fich nicht
nur der Vorrath an Begriffen, fondern auch
die Erinnerungskraft, die Einbildungskraft, die
Vernunft und andere Kräfte erlangen eine
gröfsero Fertigkeit,
§. 2l<
*24 Zweites Buch;
§i 12.
'''.■
Wenn man fich durch Beobachtungen und
die Erfahrung belehren lallen, und nicht
feine Hypothefen zu Gefetzen der Natur ma-
chen will, fo wird man an neugeborneri Kin-
dern wenig Spuren einer Fertigkeit der Seele
im Denken, noch weit weniger aber imS'chiie*
Isen entdecken» Sollte die Seele fo viel den-
ken, und dabei keine Schlüfse machen?
Das läTst fich kaum denken. Die Kinder, die
erft auf die Welt gekommen find, bringen
den größten Theil der Zeit mit Schlafen zu,
und erwachen feiten daraus , wenn fie nicht
der Hunger andießruft der Mutter treibt, oder
die unbehaglich fie Empfindung, der Schmerz,
oder eine andere heftige Erschütterung dei
Körpers die Aufmerkfamkeit der Seele darauf
lichtet« Wenn man üiefe Fakta bedenkt, fo
■wird man Fich vielleicht zu dem Schluffe be-
rechtiget glauben, dafs der Zuftand des Fö.
tus im Mutterleibe nicht lehr voii dem Pflan-
aenleben verschieden iß, fondern dafs er den
groTsteh Theil der Zeit' ohne Vorßellungeii
und Gedanken verlebet, und faß ohne alle
Tfalltigkeit an einem Orte verfchikft » wo ei
feine
EiTtea Kapitel. 32$
feine Nahrung nicht Tuchen mufs; wo es von
einer allenthalben gleich fanften und faß gleich
temperirten Flüf-igkeit umgeben ift; wo auf
die Augen kein Lichtftrahl fällt, und die
verfchloilenen Ohren Keinen Schall auf-
nehmen; wo es, um die Sinne zu afFiciren»
gar keine oder nur eine geringe Mannichfal,
tigkeit und Abwechslung der Gegenftände
giebu
§. 22.
Man beobachte die Veränderungen, tvel*
che mit einem Kinde von feiner Geburt an
vorgehen, und man wird finden, dafs die
Seele immer mehr aus ihrem Schlummer er-
wacht, je mehr Vorftellungen ihr die Sinne
zuführen, und in dem Verhältnifse mehr
denkt, als fie mehreren Stoff dazu erhält,
Mach, einiger Zeit Fängt das Kind an , diejeni-
gen Objekte zu erkennen, welche durch nä-
here Verbindung mit ihm dauerhaftere Ein-
drücke zurückgelaffen haben. So lernt es
nach und nach Perfonen, mit denen es täg-
lich umgehet, kennen, und von fremden un-
terfcheiden , -— ein Beweis , dafe es anfängt,
P die
ß26 Zweites Buch,
die Vorftellungen , die es durch die Sinne
erhält, feft zu halten und zu vergleichen.
Auf diele Weife läfst fich die ftufenweife Aus-
bildung des Gemüths beobachten, wie es
nach jenen Vorübungen zur thätigen Aeufse-
rung anderer Vermögen» die Begriffe zu ent-
wickeln, zu verbinden, zu abftra-
hiren, zu urt heilen, und über alle
diefe Handlungen zu reflektiren fori-
fchreitet. Ich werde weiter unten Gelegen-
heit finden, von dielen Vermögen weitläufiger
zu, handelni
§♦ 23,
t)ie richtige Antwort auf die Frage ♦ wenn
ein Menfch anfängt, Vorftellun-
gen zu haben, ift alfo meiner Einficht
nach, diefe: wenn er den erften Sin-
neneindruck erhält. Denn da keine
Vorftellungen in der Seele zu finden find,
ehe fie welche durch die Sinne erhält, f«
find fie, wie ich mir die Sache vorftelle, mit
den Eindrücken der Sinne gleichzeitig. Ich
verftehe aber unter einem Eindruck (Senfa-
tion) eine Bewegung oder Veränderung in
irgend
Erfteä Kapitel. <iV>
irgend einem Theile des Körpers, infofem
fie eine Vorstellung in dem Verftande hervor-
bringt. An dielen , welche äufsere Gegen-
stände auf die Sinne machen , fcheint die
Seele zuerft ihre Thätigkeiten z, B. das
Wahrnehmen, Erinnern, Beach-
ten, S c h 1 i e f s e n u. f. wt in Wirkfamkeit
zu fetzen.
§. 24.
Ürfprung aller unfrer Erkennit-
nif s;
Nach einiger Zeit fängt die Seele an übes
jhre eignen AVirkungen zu reflectiren , wel-
che die durch die Sinne erlangten V orftellun»
gen zum Gegenßande haben , und verfchafft
fich dadurch eine neue Reihe von BegrifFen,
welche ich Begriffe der Reflexion
nenne. Sowohl die Eindrücke, Welche äufsere
Gegenftände auf unfere Sinne hervorgebracht
haben, als auch die felbftthätigen innern Wir-
kungen , die von innern der Seele zugehöri-
gen Kräften entfpringen , und durch ihre
Reflexion Gegenftände ihrer Betrachtung wer«
P 2 den,
22Ö Zweites Buch,
den, find, wie fchon gefagt, die Quelle
aller unfrei Erkenntnis. Das erfte
Vermögen des menfchlichen Verbandes befte-
het alfo in der Fähigkeit der Seele, die Ein-
drücke aufzunehmen , welche theils durch
dij Sinne von äufsern Gegenfiänden, theils
bei der Reflexion von ihren eignen Thä-
tigkeiten auf fie gemacht werden. Und diefs
ift der erfte Schritt zur Entdeckung eines
Dinges, und die Grundlage, aufweiche das
ganze Gebäude von Begriffen , die die Men-
fchen auf dem natürlichen Wege erlangen
können, errichtet werden muFs. Alle erha*
jbenen Gedanken, welche (Ich über die VVol*
ken , ja bis zu dem hohen Himmel fchwin«
gen , finden hier ihren Urfprung und den
Grund, der ße trägt. Wenn auch die Seele
den gröfsten Umfang von Kenntniilen durch-
läuft , und fich in die entlegendften Specula-
tionen zu erheben fcheint, fo gehet ße doch
nicht einen Punkt über die Begriffe hinaus,
welche die Sinne oder die Ref lexio n für
ihre Betrachtun» dargeftellt haben.
§• 2?,
Erftes KapiteJ. SJj
§• 25.
Der Verftand verhält fich bei
dem Empfangen der einfachen
Vorftellungen gr ö f ste ntheils
leidend.
Hierbei verhält fich der Verftand blos
leidend, und es fteht nicht in feiner Ge-
walt, ob er diefe Elemente und eigentlichen
Materialien der Erkenntnifs haben will, oder
nicht. Denn die meiften Objekte unfrer Sin-
us dringen der Seele die einzelnen Vor-
ftellungen auf, ße mag fie wollen oder
nicht; und fie kann nicht thatig feyn, ohne
zum wenigften einige dunkle Vorftellungen
von ihren Thätigkeiten zurückzulaufen. Wenn
ein Menfch denkt, fo mufs er nothvvendig
einige Kenntnifs von diefer feiner Handlung
nehmen. Diefe ein fa c ben Vorftellun-
gen nicht aufzunehmen, wenn fie der Seele
gegeben werden, oder zu verändern, wenn
fie eingedrückt find, oder wieder zu vertil-
gen, und felbftmächtig neue hervorzubrin-
gen, ftehet eben fo wenig in der Gewalt des
Verftandes, als der Spiegel die Bilder, von
Jen vor ihm flehenden Objekten zurückwei-
P 3 fen,
230 Zweites Buch.
Ten, ändern oder zernichten kann. Die See-
le mufs die Eindrücke aufnehmen , fo wie
die uns umgebenden Körper die Sinnenorga-
ne auf verschiedene Art affineren, und fie kann
das Bewufstfeyn der daran geknüpften Be°
griffe auf keine Weife entfernen.
Zweites Kapitel.
oa einfachen Vorf tellungeti.
Einfache Wahrnehmungen.
Z<ur befsren Einficht in die Natur, die Art
vnd den Umfang unfrer Erkenntnifs dient
vorzüglich die Bemerkung, dafs unfere Vor-
stellungen theils einfach tbeils zufam-
mengefezt find.
Die
Zweites Kapitc!. 23»
Die BeTchafFenheiten (Qualitäten), wel-
che unfre Sinne afficiren , find zwar in den
Dingen felbff, fo vereiniget und verwebt,
dafs keine Trennung und Abfonderung bei
ihnen flatt findet; allein die Vorftellungen,
welche fie in der Seele hervorbringen, gehen
doch offenbar einzeln und nicht verbunden
durch die Sinne. Denn obgleich das Geficht
und das Gefühl oft zu gleicher Zeit von einem.
Objekte verfchiedene Vorftellungen aufnimmt,
2. B. man flehet auf einmal die Farbe und
die Bewegung eines Körpers ; die Hand füh-
let an einem Stück Wachs das Sanfte und die
Wärme: fo find doch die einfachen Vorftel-
lungen, welche auf diefe Weife in einem
Objekte vereiniget find, eben fo durchaus
verfeinerten, als diejenigen, welche durch
verfchiedene Sinne in die Seele gelangen.
Die Kälte und die Härte, welche man an
einem Stück Eis fühlet, find eben fo ver-
fchiedene Voniellungen in der Seele, als der
Geruch und die weifse Farbe der Lilie, oder
als die Siifsigkeit des Zuckers und der GerucU
der Rofe. Das klare und deutliche Bewufst»
feyn diefer einfachen VorfteUungec
ift die hüchfie Klarheit und Evidenz für den
P 4 Men<
SZz Zweites Buch.
Menfchen, denn fie find an fich Dicht zufam»
tnengefezt, in keine verfchiedenartige Vor-
ftellungen auflösbar, und enthahen nichts als
eine einförmige Wahrnehmung
(appearance) oder Vorftellung der Seele.
§♦ 2.
Die Seele kann fie wede r hervor-
bringen noch zernichten.
Diefe einfachen Vorftellungen, die Mate-
rialien aller unfrer Erkenntnifs werden der
Seele nur allein auf den beiden oben erwähn-
ten Wegen nehmlich durch die Sinne und
die Reflexion zugeführet. Der Verftand
kann den erlangten Vorrath von einfachen
Vorftellungen erneuern, vergleichen und auf
eine unendliche mannichfaltige Weife ver-
binden, und nach Willkuhr neue zufammen-
gefezte Vorftellungen daraus bilden. Aber
eine neue einfache Vorftellung, die
die Seele nicht auf die vorhin beftimmte Art
erhielt, durch Scharffmn oder Veränderung
der Gedanken zu finden oder zu bilden, das
überfteigt die Macht des erhabeuften und
weit-
Zweites Kapitel. 233
weittimfahendften Verftandes eben fo fehr,
als eine von den fchon vorhandenen zu ?.ef'
nichten. Der Wirkungskreis des Menfchen
in der kleinen Welt feines eignen Denkens
und feine Herrfchaft in der grofsen Hchtba-
Ten Welt ift beinahe in einerlei Grenzen ein-
gefehloflen. In der lezten reichen feine
Kräfte, wenn Fe auch noch fo fehr durch
Kunft und Einficbt unterftützt werden , doch
nicht weiter, als die fchon vorräthigen Mate-
rialien znfammenzufetzen und zu trennen,
aber fie find zu ohnmiiehti? , das kleinfte
Theilchen Materie zu fchaffen , oder einen
wirklichen Atom zu zer Rohren, Diefes Un-
vermögen findet der Menfch auch in feinem
Selbft, wenn er eine einfache Vorstellung
durch feinen Verftand bilden will , die er
nicht durch die Sinne von liufsern Objekten
oder durch die Reflexion von den Thätigkei-
ten feines Gemüths empfieng. Man mache
nur einen Verfuch , ob man durch die Phan-
tafie eine Vorftellung von einem Gefchmack
oder einem Geruch erzeugen knnn, wovon
fein Gaumen und Nafe nirb. ■ fenvpfufiden bat;
und wenn (bs möglich ift ; fc will ich auch
glauben, dasein Plinder richtige urt'd .':.
P S che
234 Zweites Buciii.
che Verkeilungen von den Farben und ein
Tauber von den Tonen hat,
§. 5.
Aus diefem Grunde kann man an Körper»
nichts weiter als Töne, Gefchmackseiridrücke,
Gerüche, fichtbare und fühlbare Befchaffen!-
heiten vorftellen, ob es gleich nicht undenk-
bar ift, dafs Gott Gefchöpfe mit andern Or-
ganen und mehreren Mitteln, Kenntniffe von
der Rörperwelt zu erlangen, als den fünf Sin-
ne« des Menfchen, bilden konnte, und wenn
auch die Körper noch weit mehreren Stoff zu
Vorftellungen in ihrer Einrichtung enthalten
feilte« Hätten die Menfchen nur vier Sinne, (b
Würden alle Gegenstände des fünften fo weit
aufser der Sphäre unfrer Kenntnifs, Vorfiel'
lang und Einbildungskraft liegen, als es jezt
die Objekte des fechften, Siebenten
oder achten Sinnes nur immer feyn
kqnnen. Es würde immer eine grofse Ver-
jneffenheit feyn , die Möglichkeit folcher We»
fen mit mehreren Sinnen in einem andern
The !e des unermeßlichen Univerfums zu
leugnen» Wenn lieh der Mcnfch nicht aus
Stolz
i5weite3 Kapitel. 23$
Stolz für das vollkommenfte Gefchöpf hält,
fondern die Unermefslichkeit diefes Weltge-
büudes , die grofse Mannichfaltigkeit in dem
kleinen unbeträchtlichen Theile deffelben,
worin er fein Wefen treibt, Teiüich überle-
get, fo wird er es nicht für unmöglich halten,
dafs es in andern jTheilen andere von uns
verfchiedene denkende Wefen geben könne,
von deren Erkenntnifsvermögen er fo wenig
eine Vorftellung oder nur Ahndung hat, als
ein iq einem Schranke eingefch'ofTener Wurm,
von den Sinnen und dem Verftaade eines
Menfchen. Eine folehe Mannichraitiokeft
und Vortieilichkeit entfprichi der Weisheit
und Allmacht des Schöpfers. — Ich bin hier
der gewöhnlichen Meinung gefolgt , welche-
den Menfchen nur fünf Sinne beilegt, ob
man gleich mit gutem Grunde mehrere zäh-
len kann. Untcrdeffen begünüi-et doch die
eine Vorausfetzung fo gut als die andere anei-
ne Behauptung,
Drittes
23$ Zweites Buch.
Drittes Kapitel,
Von Vorfiellungen vermittelt! eines Sinne?,
§■ 1-
-Eintheilung der einfachen Vorftel-
.lungen.
Zj\\x heuern Kenntnik der Vorfiellungen, wel-
che wir durch die Sinnlichkeit erlangen,
wird es nicht unzweckmäßig feyn, wenn wir
die verfchiedenen Wege betrachten, auf
welchen fie fich der Seele darfteilen , und
vorftellig werden.
Erftens, Einige von dielen Vorfiellun-
gen kommen nur vermittelft eines
Sinnes in die Seele.
Zweitens. Andere werden der Seele
durch das Medium von mehreren
Sinnen zugeführet.
Drit-
Drittes Kapitel. 237
Drittens. Andere erhält üe blos durch
die Reflexion,
Viertens Einige Vofflellungen bieten
fich der Seele auf jedem Wege der
Sinnlichkeit und der Reflexion
feibft dar.
Wir werden fie nach diefen verfchiede«
nen Gefichtspunkten befonders betrachten,
Erftens. Es giebt Vorftellun-
gen, welche nur durch ein Sinn»
orsan. das zu ihrer Aufnahme be-
fonders eingerichtet ift, Eingang
in die Seele finden, z. B, das licht
und die Farben , alsWeifs, Roth, Gelb, Blau
reit ihren verfehiedenen Abftufungen , Sch3t-
tirungen und Vermifchungen, als Grün
Scharlach, Purpur, Meergrün u. f. w. durch
die Augen , alle Arten von Tönen und Schäl-
len durch das Ohr; die verfehiedenen Ge.
Tuche und Gefchmacksempfindungen durch
die Nafe und den Gaumen. Wenn diefe Or-
gane oder Nerven , welche diefe Vorftellun*
£en von Aufsen in das Gehirn, das fo zu ta>
2}Q Zweites Buch,
gen das Audienzzimmer der Seele iß, einfüh-
ren, f'o zerrüttet find, dafs fie . ihren Dienfl:
nicht verrichten können , fo finden diefe Vor-
ftellungeu keine andere verborgene Thüt
oder keinen andern .Kanal, auf dem fie könn-
ten eingeladen und ins Bewufstfeyn gebracht
werden«
Die merkwürdigßen Vorftellungen ^ wel-
che dem Gefühl angehören, find Hitze j Käl-
te und Dichtheit; die übrigen, deren Inhalt
theils die wahrnehmbare Verbindungsart der
Theile , z» B. das Glatte und Kauhe, theils
dergröfsere oder kleinere Zufarnmenhang der
Theiie, z. B. Hart, Weich, Zähe, Spröde
faft nur allein ausmacht , find bekannt genug.
§. i*
Alle einfachen Vorftelluhge'ß jedes Sinnes
einzeln aufzuftellen ilt nicht nöthig , aber
auch nicht möglich, weil es weit mehre«
ie giebt, als wir mit Worten be-
zeichnen können. Für die grofse Mari-
cichfaUigkeit von Gerüchen , welche faft
eben fo zahlreich, wo nicht noeh zahlreicher;
als
D~i.it tes Kapitel. 23q
als die Arten der Körper find, fehlt es uns faß
gänzlich an Wolter, Durch die Worte
wohlriechend , ftinkend, mit denen wir
uns begnüngen mülTen , kürtnen wir die Ge-
rüche nur in zwei Klaffen, angenehme und
unangeneh;ne bringen. Aber der Geruch der
Kofe und, des Veilchens Gnd 2\rar beide an-
genehm, aber doch dabei ganz verfchiedene
Vorftellungen. In Anfehung der verschiede-
nen Gefchmackseindrucke, die wir durch
den Gaumen erhalten, ift unfre Sprache nicht
leicher. SüTs, Bitter, Sauer, Herbe, Sal-
zig find faft die einzigen Worte, womit wir
die zahilofe IVIannichfaltigkeit von Modifica-
tionen des Gaumens benennen können, wel-
che nicht allein bei jadeiu Gefchöpf, fondern
auch bei jedem einzelnen Theile derfeiben
Pflanze , Frucht und Thierart rerfchiedea
find. Eben das läfst Geh auch von den Far-
ben und Tönen fagen. Ich werde mich daher
in der folgenden Abhandlung von den ein-
fachen Vorftellungen nur auf diejeni-
gen einfehränken t welche au meinem Plan
Wefentlich gehören, oder an fich wenige!
deutlich Gnd , ob fie gleich als Beftandtheile
der zufamnaengefezten Begriffefehr
24o Zweites Buch."
oft vorkommen. Uuter die lezten gehört der
Begriff der Dichtheit; ich werde daher
von ihm in dem nächften Kapitel handeln«
Viertes Kapitel,
Vou der Dichtheit ('Solidity)*
Wir erlangen diefeh Begriff
durch das Gefühl.
W ir erlangen den Begriff der Dicht-
heit durch unfer Gefühl. Er entfpringt von
dem Widerftande, welchen ein Körper dem
Eindringen eines andern in den nehu.lichen
Raum folange enrgegengefezt, bis er denfel-
ben veTläfsti Kein Begriff wird uns durch
die Sinne fo ufiabläfsig zugeführt, als diefer*
Bei jeder Bewegung, bei jedem StilHtand, in
jeder Lage fühlen v;ir etwas unter uns, das
uns trägt, und das tiefere Einfinken verhin-
dert. Die Körper , die wir täglich in Hän-
dert
V'ertes Kupitel, iftf
den haben, führen uns atirdie Währnehrriunf^
di ('s He} ?o lange He von unfern Händen ge-
dvückt werden, dtnch eine unwuUrftehik he
Kraft die völlige Annüherun.: derselben Ver«
hindern. D;^jeni"e, w..? i!:s A:i:\; h«n:i zweie*
E?r, die Geh • he&ege'ri
verbindert, nerinp ich die O i c h t h e i'i :Cri
iVill hier nicht darüber ftreiten , üb di' fe Er>
Klärung des Worts dicht feiner klffpt angli-
chen Bedeutung näher kommt, ah die inatue-.
ihafifehö. Genug; der gbxX'öhnliche ßecrnff
von der Dichrxreit verfr3gt fich mit <iie em
Gebrauch de* Wortes wenn er ihn at
rßi [fertige?* Wollte man übrigen? diefe
Dichtheit lieber V n d ur c h d r i n « li ( .- » k< 1 1
nennen, fo habe ich niebis dagegen Nur
fcheint nur tia, Wort D i c h 1 1* e i t paffenden
zun: Andruck diefes Begriffs, foutfhl um: der
gewöhnliche Sprachgebrauch mit diefer Be*
deunmg iihereinftimmt , als auch weil er ei-
nen pofitiven Inhalt hat. Die U n H n r ch*
dringlichkeit ift mehr negativ und viel-
leicht mehr eine Folge d^r Dichtheit, ^ls
he felbft. Diefer Begriff fcheint unter allen,
mitdem K&pet an: innig [tön vtikriüpft und
ihm wefentlich zu feyn. Die Dichtheit wifd
Q daher
f 42 Zweites Buch.
daher nur an der Materie gefunden , und ift
nur an ihr vorftellbar. Und ob "wir gleich
diefe Eigenfcbaft nur an gröfsern Mafien der
Materie wahrnehmen , die in uns eine Vor-
ftellung erwecken können , fo erweitert doch
die Seele den Umfang des Begriffes , den fie
nur von gröfsern Körpermafsen erhalten hat»
fo weit, dafs He ihn wie die Figur, als eine
Eigenfchaft des kleinften Theils der Materie,
Welche exiftiren kann, und als unzertrenn-
lich von dem Wefen eines Körpers , in jedem
Räume und ,von jeder Beschaffenheit, be-
trachtet»
§♦ 2."
Das Dichte erfüllt den Raum,
Diefer Begriff ift ein Merkmal des Kör.
pers. Wir denken uns daher das Dichte als
den Raum erfüllend. Der Begriff von der
Erfüllung des Raumes enthält eigentlich die-
fes. Wo wir uns einen Raum vorftellen,
den eine dichte Subftanz einnimmt, fo den-
ken wir ihn fo erfüllt , dafs jede andre dich-
te Subßanz daraus ausgefchloflen ift, und
2wei Körper, die /ich in gerader Richtung
auf
Viertes Kapitel. 2/ß
auf einander zu bewegen, fich nicht berüh-
ren können , woferne nicht jene Subftanz,
welche zwifchen beiden ift, in einer Linie»
die mit jener Richtung nicht parallel ift, aus
der Mitte heraustritt. Alle Körper, mit de-
nen wir gewöhnlich zu thun haben , geben
uns dielen Betriff in reichlicher IVlaaLe«
§. 3.
Die Dichtheit ift von dem Räume
verf c hied en,
Der Widerftand , durch welchen ein Kör.
per aus dem Räume, den er einnimmt, ande-
re zurückhält, ift fo grofs, dafs keine noch
fo grofse Gewalt ihn überwinden kann. Wenn
alle Körper der Welt einen Tropfen WalTer
von allen Seiten drücken , fo find fie doch
nicht im Stande, den Widerstand diefes fonft
fo kleinen gefchmeidigen Körpers gegen ihre
Berührung aufzuheben , bis er ihnen aus dem
Wege gehet. Hierdurch u n ter fch eid et
fich unfer Begriff der D ic htheit von dem
desblofsen Raumes, de-? keines Wider-
Randes und keiner Bewegung icihig ift, und
von dem gewöhnlichen Begtiff der Härte.
Q 2 Denn
244 Zweites Euch,
Denn man kann fich zwei Körper in einer
ge willen Entfernung vorftellen , welche fich
einander fo lange nähern, bis jhre Oberflächen
zu lammen treffen , ohne dafs fie einen andern
dichten Körper berühren, und aus feiner Stelle
treiben. Ohne jezt auf die Zernichtung eines
einzelnen Körpers zurückzugehen , frage ich
nur, ob man fich nicht ein^n einzelnen Kör-
per fo in Bewegung denken kann, dafs kein
andrer unmittelbar an deflen Stelle fortrückt.
Die Möglichkeit eines folenen Begriffes liegt,
wie ich glaube, am Tage. Denn der Begriff
der Bewegung eines Körpers fchliefst fo we-
nig den Begriff der Bewegung eines andern
ein, als der Begriff der viereckigten Geftalt
eines Körpers die Vbrftellung eines andern
Viereckes. Ich frage nicht , ob die Körper
fo exiftieren können, dafs die Wirklichkeit
der Bewegung des einen nicht von% der Be-
wegung des andern abhängt, — denn eine
beftimmte Antwort darauf würde die Streit-
frage wegen des leeren Raums febon ent-
weder bejahend oder verneinend entfeheiden,
•— fondern meine Frage gehet nur dahin : ob
mau fich einen Körper in Bewegung denken-
könne, während dafs andre ruhen? Und
das
Viertes Kapitel, 8^5
das wird niemand verneinen. Diefes vor-
ausgefezt, fo giebt uns die veriafsne Stelle
des Körpers einen Begriff von dem blofsen.
Baume ohne Dichtheit, welchen ein andre»
Körper einnehmen kinn , ohne Widerftand
zu finden , oder einen andern aus feiner
Stelle fortzudrängen. Wenn der Plumo-
ftock in einer Wafferpumpe gezogen ift
fo bleibt der Raum, den er erfüllte, der nehrn-
liche, es mag ein anderer Körper an jenes
Steile treten oder nicht. Dafs die Bewegung
eines Körpers, nicht auch die Bewegung ei-
nes neben ihm irn Räume befindlichen nach,
fich ziehen muffe, ift kein Widerspruch; die
Notwendigkeit einer folchen Bewegung be«
ruhet nur auf der Vorausfetzungs dafs es kei-
nen leeren Raum in der Welt giebt; nicht
auE den deutlichen Begriffen von Raum und
dem Dichten, welche fo verfchieden find,
als. Widerftand und Stofs und ihr comradik,«'
tjoriTches. Gegentheil. Dafs die lVlenfchen
Vorftellungen von einem nicht erfüllten Räu-
me haben, beweifen ihre Streitigkeiten über
den leeren Raum augenfeheinlich, wie ich
an einem andern Orte zeigen werde»
Q 3 §. 4*
$4* Zweite« Bück;
§. 4-
Va ter fchei düng des Begriffs von
der Dichtheit und der Härte.
Hierdurch unterfcheidet fich auch die
Dichtheit von der Härte, Iene befte-
het in der Erfüllung des Raums und der Aus-
fchliefsung anderer Körper aus denselben;
diefe aber in einem feilen Zufamraen hange
der materiellen Beftandtheile in wahrnehm-
baren Matten fo, dafs das Ganze nicht leicht
feine Geftalt ändert» Eigentlich legen wir
den Körpern nur in Beziehung auf die Ein-
richtung unfers eignen Körpers Härte und
Weiche bei, indem wir denjenigen hart nen-
nen, der uns eher Schmerz verurfacht, als
dafs er durch den Druck eines Theiles un-
fers Körpers feine Geftalt veränderte ; im Ge-
gentheil aber ift er weich, wenn er die Lage
feiner Theile nach einem leichten und un-
fchraerzhaften Druck abändert.
Allein diefe Schwierigkeit, die Lage der
wahrnehmbaren Theile , oder die Geftalt des
Ganzen zu ändern, giebt dem härteften Kör-
per nicht mehr Dichtheit , als dem weichften«
Der
Vioi'te» Kapitel, *47
Der Diamant ift im geringften nicht dichter
als das Wafler. Denn obgleich zwei Ober,
flachen von zwei Marmorftücken einander
eher berühren muffen, wenn nur Luft oder
WaJTer, als wenn ein Diamant zwifchen ihnen
befindlich ift; fo liegt doch die Urfache da-
von nicht darin, dafs die ßeftandtheile des
Diamants dichter find, oder mehreren Wi-
derftand leiften , als die des WaiTers, fondern
dafs die lezten fich leichter von einander
trennen lafsen , durch eine Bewegung
nach der Seite ausweichen , und der Beruh*
rung der zwei Marmorplatten Platz machen.
Könnte man das lezte verhindern, fo würde
Luft und Wafler eben fo gut als der Diamant
die Berührung der Platten in Ewigkeit ver-
hindern , und ihr Widerfiand wäre nicht we-
niger als der Widerftand des Diamants für je-
de Kraft unüberwindlich. Der weichfte Kör-
per fo wie der härteße wird dem Zufammen-
treffen zweier anderer Körper unüberwind-
lich widerftehen, fo lange er in ihrer Mitte
bleibt, und nicht aus dem Wege geräumt
■wird. Man fülle einen weichen nacbgeben-
den Körper wohl mit Waffer oder Luft an,
und man wird fogleich den Widerftand def-
Q 4 fclben
2/f8 Zweites Brich..
felben beobachten; und ein mit Luft ange-
füllter Ballon kann- jeden übvriena&a , dajft
nicht allein harte Körper die Berührung der
Hände \ erhindern können« Tvoch ein Be-
weis für die Dichtheit eines lo weichen
Körper* , als das Wniler lft, ilt dt*r Ver-
fuch, den man, wie ich gehört habe, in
Florenz mit einer hohlen Kugel von G<, d
antreibe. Man füllte nehmlicb diefe mit Waß
fer an, verfchlofs die Oefnung fuiafahig,
und brachte fie unter eine Prelle; als fie nun
durch die größte Gewalt der Schrauben zu-
faunner-gedrüf kt wurde, fo öfnete (ich das
Waüer einen Weg durch die Zwilchenräume
dieses dichten Metalls; und da es in fich kei-
nen Raum zur nähern Vereinigung feiner
Theile fand, fo drängte es Reh zur äufsern
Oberfläche heraus, wo es in Tropfen, als
Thau herabfiel, ehe die Kugel flachen gezwun-
gen werden konnten, dein heftigen Druck der
Mafchine nachzugeben.
$. *.
Viertes Kapite}. zfä
§. 5k
Auf die Dichtheit gründet ("ich
der Anftofs, der W i d e r f t .-i n d,
und die Bewegung durch den
Sjo 1s,
l).7rth diefen Betriff der Dichtheit ifl die
Ausdehnung eines Körpers von der
A usd eh» un s des Raumes unterfchie-
den. Jene ift nichts anders als, der Zufanu
ing oder Uetigt- Verbindung dichter,
trennbarer und beweglicher Theüe; diefe
das iNehsneinandcrfevn nicht dichter unzer-
trennlicher'i heile. Auf die Dichtheit
der Körper gründet lieh auch ihr
gegenfei tig er Anftofs, YVi a er i'ta nd
und die Bewegung durch den S t o f s,
Es giebt viele Deuker — und zu dielen be-
kenne ich auch mich — welche von dem
blofsen Räume und der Dichtheit klare und
deutliche Begriffe zu belitzen glauben; und
diefe find überzeugt, dafs fie lieh einen
Baum denken können, ohne dafs in demsel-
ben etwas Widerftand leittet, oder von einem
Körper bewegt wird. Darin beitehet eben
Q 5 ^er
ä5o Zweites Buch.
der Begriff des blofsen Raums, der
für fie eben fo klar ift, als die Ausdehnung
der Körper; denn die Vorftellung von dem
Abftande zwifchen den entgegengefezten Sei-
ten einer hohlen Fläche ift eben fo klar»
man mag fich dichte Theile in demfelben
vorteilen oder nicht. Auf der andern Seite
find fie auch überzeugt , dafs fie einen von
der Vorftellung des blofsen Raum» verfchied-
jien Begriff von einem Etwas haben , das den
Kaum erfüllet, durch den Srofs andrer Kör-
per fortgeftofsen werden , oder diefer Bewe-
gung widerfiehen kann. Wenn andere diefe
beiden verfchiedenen Begriffe nicht unter-
Fcheiden , fondern mit einander verwech-
feln und für identifch anfehen, fo begreife
ich nicht, wie Menfchen, welche einerlei
Begriff mit verfchiedenen Worten oder ver«
fchiedene Begriffe mit einerlei Wort bezeich-
nen , fich verftandigen können» Eben fo gut
mag ein Menfch mit gefundem Gehör und
Geficht, der klare Vorftellungen von der Far-
be des Scharlachs und dem Tone der
Trompete hat , über die Scharlachfarbe mit
einem Blinden fprechen, der, wie ich an ei-
nem andern Orte erwähne > fich die Schar-
lachfarbe
Vierte» Kapitel. 25»
laehfarbe als etwas dem Trompetenfchalle
ähnliches voi Hellte.
Was die Dichtheit ift.
Wenn ich gefragt werde : was die Dicht-
heit ift, fo ver weife ich den Frager an feine
Sinne; er nehme einen Flintenftein oder einen
Ballon zwifchen feine Hände, fuche diefe zu
vereinigen, und dann wird er willen, was fie
ift. Wenn ihn das noch nicht befriediger,
fo verfpreche ich ihm] eine Erklärung über
das was die Dichtheit ift, und worin fie be-
ftehet , zu geben , wenn er mich vorher be-
lehret, was das Denken ift, und worin es
beftehet , oder eine vielleicht noch leichtere
Frage, was die Ausdehnung und Bewegun»
ift, beantwortet. Unfre einfachen Vorftel-
lungen find das, was uns die Erfahrung lehret.
Der Verfuch , fie noch über das durch Worte
klärer zu machen, gelingt nicht befler, als
die Bemühung, die Dunkelheit eines Blinden
du*ch die Sprache aufzuhellen, und ihm
durch Worte die Vorßellungen von Licht uad
Far-
i5s Zweites Buch/
Farbe einzuflößen. Der Grund davon wird
au einem andern Orfe entwickelt werden.
^Fünftes Kapitel.
"Von einfachen Vorstellungen durch. Verfehle«
dene Sinnej
Die Vorfrellungen, welche wir durch mehr
als einen Sinnerlangen, find die Vorftellungen
vom Räume oder von der Ausdehnung,
von der G e f t a 1 1, Ru he und ß e w egung,
Penn diele Gegenftände machen fowohl auf
die Augen als auf das Gefühl Eindrücke, und
die Vorstellungen von Ausdehnung, Gettalt
Bewegung und Ruhe der Körper können
durch beide Sinne in die Seele geleitet wer-
den, ich zähle fie hier aber biosauf, weil
ich an einem andern Orte Gelegenheit finden
werde, weitläufiger von ihnen zu handeln»
Sechs-
Sechstes Kapitel* 255
Sechstes Kapitel.
Von einfachen VorJullungeii der E.eflexion,
Die Fe Vorftellungen entfp ringen
aus der Thätigkeit, welche das
Gemüthan ihren andern Vor-
^ ftellungen' äussern
W enn das Gemüth, nachdem es die Vor-
fteilnngen , weiche wir in den vorhrrgehen-
den Kapiteln erwähnt haben, von Auflen em-
pfangen hat, feinen Blick auf fein Inneres
richtet, und die auf diefe Vorftelbnjjen ee_
richtete Thätigkeit beobachtet, fg erhält es
daher andere YorftcHungen , -welche eben fo
gut, ah die von Auflendingen ein Ge^enfUnd
der Betrachtung werden können,
§♦' 2.
Der Begriff von dem Vorf teilen
und dem Wollen, den wir aus
der Reflexion erhalten.
Das Vorf teilen (perception) oder das
D enken , und das VV o llen find uu
s£>4 Zweites Buch,
weit umfarsendflten und vornehmflen Hand-
lungen des Gemüths. Sie kommen fo oft vor,
und bieten (ich dem Nachdenken bei fo vie-
len Gelegenheiten dar, dafs fie jedermann in
fich wahrnehmen kann. Das Vermögen zu
denken wird der Verftand, und das
Vermögen zu wollen der Wille, beide Ver-
mögen oder Fähigkeiten aber Seelenkräf-
te (Faculties) genennt. Von einfachen Vor-
ftellungen der Reflexion diefer Art, als Er-
innern, Unter fcheiden, Schlie-
fsen, Urtheilen, Erkennen, Glau-
ben, u. f. w» werde ich weiter unten Ge-
legenheit ßnden zu handeln.
Siebentes Kapitel«
Von einfachen Vorftellungen , welche fowohl
durch die Sinne als die Reflexion gegeben
werden.
Eis giebt andere einfache Vorftel-
lungen, welche auf alle mögliche Arten
durch
Siebentes Kapitel. s55
durch die Sinne und die Reflexion der Seele
zugeführt werden, nehmlich Vergnügen
oder Luft und das Gegentheil S c h m e r z,
oder Unluft, Kraft, Exiftenz, Ein»
heit«
S. 2.
Vom Vergnügen und Schmerz.
Luft und UnluTt find Vorftellungen,
welche fich faft mit allen Vorftellungen der
Sinnlichkeit und Reflexion verbinden. Beinahe
jede Einwirkung der Auflendinge auf die Sin-
ne, jeder aus dem Innerften des Gemüths ent-
fprungener Gedanke kann in uns Vergnü-
gen oder Schmerz hervorbringen. Unter
Vergnügen und Schmerz verliehe ich
alles, was uns wohl thut, und zur Laft fällt,
es mag von Vorftellungen des Gemüths oder
von den Veränderungen des Körpers entrin-
gen. Befriedigung, Luft, Vergnügen, Glück-
feligkeit, und im Gegentheil, Unbehaglich-
keit, Unruhe, Schmerz, Quaal, Angft, Elend
u. f. w. drücken nur verfchiedene Grade ei-
ner und derfelben Art von Vorftellung aus,
und gehören alle zu dem Umfang der Vorftel-
lungen
256 Zweites Buch.
lungen , Ver £n üsen, Schmpr?, Luft,
Unluft. Ach Werde mich in den ineiften
Fällen der legten Ausdrücke bedienen, um
alle einzelnen Vorftellungen diei'er Art zu
bezeichnen«
§. 5,
Öer unendlich weife Urheber imfers Da«
feyns-gab un? eine will küh*-ji che Macht über
verschiedene Theile unfers Körpers, um fie
nach Gntbefinden zu bewegen oder ruhen zu
lafien , und dadurch auch uns felbft und an-
dere Körper neben uns in Bewegung zu
feixen, worin alle Thätigfcfeit des Körpers be-
fiel1 t ; ergab ferner unferm Greifte das \ er-
nten, in vielen Fällen die Vpjrftellungen
zu wählen , über welche er nachdenken wilh;
die UrierlVchung diefes oder jenes Gegen-,
ftandes mit Be.'bnnenheh und A.ufnietkfamkeit
2u verfolgen, und uns zu denjenigen trifti-
gen und körperlichen Thätigkfiten zu beftim-
rnen , deren wir fähig ßjid ; es gefiel endlich
auch feiner Weisheit eine Vorftellung
von- Luft mit verschiedenen Gedanken und
Empfindungen zu verknüpfen. Ohne diefe
Ver
Siebentes Kapitel, 257
Verbindung fehlte es uns an einem Beitim.-
rnungsgrunde einen Gedanken dem aridem,
eine Handlung der andern, Unacutiau^vtit
der Aufmerkfamkeit , Thäugkeu der Lnmä-
tigkeit vorzuziehen. L!nJ dinn würden wir
weder unfern Rüiper bewegen, noch unfern
Geift beCchäftiger; , fondem unfre \ orltti,un-
gen und Gedanken ohne Zweek und Plan
herum fchwärmen, und unbemerkten ;>chatten
gleich, nach dem blinden Zutall erfchemen
laflen , ohne darauf zu achten. Der Menfch
obgleich mit dem Verftandes- und VYiüens-
vermügen auvgerüftet , würde doch in einem
folchen Zufiand faul und unthätig feyn, und
feine Zeit in einem trügen Schlummer ver-
träumen. Der weife Schöpfer fand es daher
für gut, an gewifle Objekte und ihre Voiftel-
lungen, wie auch an gewitfe Gedanken unfers
Geiftes ein begleitendes Vergnügen zu knü-
pfen, und zwar fo reichlich und in fo ver-
fchiedenen Graden, damit die Fähigkeiten, die
er uns gefchenkt hat, nicht ganz ungenützt
und ungebraucht blieben.
$. 4>
258 Zweites Buch,
§• 4-
Der Schmerz hat mit" dem Vergnügen ei-
nerlei Wirkung und Zweck, nehmlich uns zur
Thätiukeit anzukörnen. Denn wir find eben
fo geneigt, unfre Kräfte anzuwenden, um
den Schmerz zu entfernen, als Vergnügen
zu erftreben. Nur diefs verdient noch dabei
unfere Aufmerkramkeit, dafs oft durch
eben diefelben Objekte und Vorftellun-
gen Schmerz veruifacht wird, wel-
che auch Vergnügen erzeugen. Die»
£e innige \ erbindung beider Gefühle, wel-
che Urfache ift, dafs wir oft bei den
Vorftellungen Schmerz empfinden, wo wir
Vergnügen erwarteten , giebt uns neue
Veranlagung, die Weisheit und Güte unfers
Schöpfers zu bewundern, der zur Erhal-
tung unfrer Exiftenz mit dem Verhälinifs
gewifler Dinge zu unfern Körper Schmerz
veiknüpfte , damit wir dadurch vor dem
Uebel gewarnt, das fie anrichten könnten, uns
von ihnen entfernten. SeinZweck war aber nicht
unfre Erhaltung fchlechtweg , fondern die Er-
haltung jedes Theils und jedes Organs in fei-
ner Vollkommenheit; deswegen verwebte er
ia vielen Fallen mit denjenigen Vorftellun-
gen
Siebentes Kapite1. o.Sg
gen ein unangenehmes Gefühl , welche uns
fonft Vergnügen machen. So wird uns die
Wärme, welche in einem beftimmten Grade
fehr angenehm ift, höchft peinlich, wenn fie
zu einem höhefn fteigt, und felbft das ange-
nehmfte finnliche Objekt, das Licht verurfacht
eine ziemlich fchmerzhafte Empfindung, wenn
feine intenfive und extenfive Gröfse das rich-
tige Verhältnirs zum Auge überschreitet. Diefs
iß eine weife Und wohlthätige Einrichtung
der Natur, damit wir, wenn ein Objekt die
Sinnorgane, deren Bau äufserft fein und zart
feyn mu^ste, durch feine zu ftarke Einwir-
kung in Unordnung bringen könnte, durch
den Schmerz gewarnt , uns von ihm entfer-
nen , ehe noch das Organ ganz zerrüitet und.
'ZU feinem künftigen Gebrauche unbrauchbar
gemacht wird. Die Betrachtung der Gegen-
ftande, welche Schmerz hervorbringen, kann
uns überzeugen, dafs das wirklich fein Zweck
und Nutzen ift. Denn fo unerträglich für
das Auge der hochfte Grad des Lichts ift 4 fo
Wenig ift es der hüchfte Grad der Finfternifs,
weil er das künftliche Organ durch keine un-
ordentliche Bewegung ftöhret, fondern in fei-
nem Zuftand lafst» Hingegen ift ein Ueber-
R 2 raaafs
üöu Zweites Euch.
maafs von Wärme und Kalte gleich peinlich»
Denn fowohl das eine als das andere zerftblv
ret die Temperatur, welche zur Erhaltung
des Lebens und zur Ausübung verfchiedener
Functionen des Körpers nothwendig ift, und
in einem gemäfsigteu Grad der Wärme, oder
wenn man lieber will, in einer beftimmten
Grenzen unterworfenen Bewegung der fein.-
öen Tätlichen unfers Körpers belle hl.
AufseT dielem läfst fich noch ein andre?
Grund entdecken, warum Gott fo ver-
fchiedene Grade von Schmer»
und Vergnügen mit allen Dingen,
die »uns umgeben und afficiren,
verwebte, und bei alle dem, was die Sin-
ne und den Yeiftand befchäftiget, beide Ge-
fühle mit einander verkettete. Wir foliter*
nehüdich bei allem Genufs, den uns die Ge-
fchöpie gewähren können, Vn Vollkommen-
heit, NichtbeTriedigung und Mangel der voll«
kommnen Glückfeligkt-it finden, und dadurch
veranlagt werden, das alles in dem GenuTs
deüea zafushea, bei dem Fülle der
Freud©
Siebentes Kapitel, 261
Freude und ewig dauernde Selig-
Leit zu feiner rechten Hand ift.
§. 6.
1
Was wir hier gefagt haben , wird zwar
die Begriffe von Schmerz und Vergnü"
gen nicht deutlicher machen, als Ge uns die
Erfahrung giebt , durch welche wir fie allein
empfangen können, Allein die Unterfuchung
der Urfachen , warum Schmerz und Vergnü-
gen mit fo vit'en Vorftellungen verwebt find,
war doch vielleicht nicht imzweckmäfsig für
den Hauptgegenftand diefer Unterfuchungen,
weil Hein uns die pflichtmäfsigen Empfindun-
gen gegen die Weisheit und Gute dc-shöchflen
Regierers der Welt erweckt, defienErkenntnifs
und Verehrung der Hauptzweck aller unfrer
Gedanken und die angemeflenfte Beschäfti-
gung unfers Geifies ift»
§■ 7.
Exiftenz und Einheit»
Exiftenzund Einheit find zwei an»
Are Begriffe, welche durch jedes Objekt von
R 5 . Aufsen
ggg Zweites Buch.
Außen und durch jeden Betriff von. Innen
dem Versande dargerei« ht werden. Alle Vor-
ftellungen betrachten wir als etwas, das in
Uns, und alle Objekte, als etwas aufser uns»
d. h. fie exiftiereu. oder haben Wirklich- „
k e 1 1. Und alles , was wir als ein Ding den-
ken können , es Tey ein reales Objekt
oder eine Vorftellung, giebt dem Verftandf
den Begriff von der Einheit.
.$, 8.
Kraft»
Ein audrer einfacher Begriff, den wir
durch die Sinne und die Reflexion er-
halten, ift der Begriff von Kra ft. Denn wir
beobachten in uns felbft, dafs wir verfchiede*
ne ruhende Theile unfers Körpers willkür-
lich in Bewegung fetzen können, und die
Wirkungen, welche ein Körper in dem an*
dem hervorzubringen vermag, fiellen fich
alle Augenblicke unfern Sinnen dar. Durch
beides wird uns der Begriff der Kraft gG*
geben.
§9.
Siebentes Kapitel. 263
§. 9.
Begriff der Folge in der Zeit.
Aufser diefen ift noch der Begriff der Fol-
ge, der obgleich auch durch die Sinne, den-
noch auf eine ftetigere Weife durch das , was
in unferm Gemüth vorgehet, dem Verftande
gegeben wird. Denn wenn wir in iinfer In-
neres blicken, und über das, was hier be-
obachtet werden kann , reflektiren , fo wer-
den wir finden, dafs unfre Vorftellungen , in
dein Zuftande des Wachens und des Vorfiel -
Jens eine Reihe ausmachen, iu der unauf-
hörlich die eine vorübergehet, und die andre
an jener Statt zum Vorfchein kommt,
§. 10.
Die ein fachen Vo r ftellungen find
die Materialien aller unfrer
Erkenn tnifs.
Diefes find, wo nicht alle, doch die merk-
würdigen einfachen Vorftellungen des
Verbandes , aus welchen alle unfre Erkennt-
nifs beftehet. Die Seele eThält fie einzig auf
R 4 dem
264 Zweites Buch.
dem vorhin erwähnten Wese durch die Sin-
ne und die Reflexion. Man denke nicht,
dafs diefes zu enoe Grenzen für den weitum-
fafTenden menfchlichen Verftand find, um
fjch in denfelben auszubreiten; für den Ver-
ftand, der fich über die Sterne erhebt, fich
nicht in dein Raum diefer Welt befchränken
läfst, fondern feine Gedanken über die Gren-
zen der ausgedehnten Materie fchwingt, und
in die Regionen des unbegreiflichen leeren
R au mes ausfch weift. Ich gebe alles diefes
zu, aber man nenne mir eine einfache
Vorftellung, die nicht auf einem von je-
nen zwei Wegen von der Seele aufgenom-
men, oder eine zuf a m m e n ge f e z t e, die
nicht aus den einfachen gebildet
ift. Wenn man bedenkt wie viele Worte
aus einer Zahl von 24 Buchftaben durch man-
nichfnltige Zurainmenfetzungen entftehen kön-
nen, fo wird man es weniger befremdend fin-
den, dafs diefe wenigen Vorftellungen den
fcharffinnigften und utnfafsendften Verftand
hinlänglich befchäftigen, und den zureichen-
den Stoff zu den mannichfaltigen Erkenntnif-
feu, Pfaantafien und Meinungen aller Men-
fchen hergeben follen. Noch weniger wird
es
Siebentes Kapitel. 265
es auffallen , wenn man über die mannichfal.
tigen Verbindungen eines einzigen der oben
angeführten Begriffe, nehmüch der Zahl, wel-
che unerschöpflich und in dem eigentlichen
•Sinne unendlich find, nachdenkt, und betrach-
tet, welch ein grofses unerinefsliches Feld
nur allein die Ausdehnung den Mathemati-
kern darftellt.
Achtes Kapitel.
Noch einige Betrachtungen über die einfachen
Voiftcliunpen.
§. I.
Politive Vorftellungen aus priva.
tiven Ur fachen.
-*- olgende Bemerkung mufs in Anfehung der
einfachen Vorftellungen durch die Sinne nicht
überlehen werden. Alles was in der Natur
fo eingerichtet ift, dafs es durch Afficirung
der Sinne einen Eindruck in der Seele her.
R 5 vor
:.6f> Zweites. Buch.
vorbringen kann , das erzeugt dadurch auch
in dem Verftande eine einfache Vorfiel-
lung; und diefe wird, wenn He in eiuen
deutlichen Betriff gefaxt ift, in dem Verftan-
de wie jede andere Vorftellung als ein rea-
ler pofitiver Begriff betrachtet, was
fie auch immer für eine Urfache hat, und
follte he auch vielleicht nur in einer Berau-
bung des Objekts gegründet feyen.
§. 2.
So find die Vorftellungen von Hitze und
Kälte, Licht und Finfternifs, Weifs und
Schwarz, Bewegung und Ruhe ohne Unter-
fchied gleich klare und pofitive Vor*
ftel Jungen in der Seele, wenn gleich die
Ui fachen von eir.igen derfelben etwas bloTs
privativem in den Objekten ift , von wel-
chen fie die Sinne empfiengen. Der Verftand
betrachtet alle diefe nach feiner AnGcht als
deutliche pofitive Begriffe, ohne auf die her-
vorbringenden Urfachen Pxückficht zu nehmen.
Denn die^e Unterfuchung betrifft nicht den
Begriff, infofern er in dem Verftande ift, fon-
dern die Natur der Dinge , die aiffser uns
find,
Achtes Kapitel. 267
find , welches wohl unterfchieden werden
mufs. Denn ein andres ift es, das Weifse
oder Schwarze fich vorteilen und erken-
nen, und etwas ganz andres, die Unterfuchung
von welcher Art und beffimmten Lage die
Theile auf der Oberfläche feyn müflen, wenn
ein Objekt weifs oder fchwarz erfcheinen
füll,
Ein Maler oder Färber, der vielleicht nie
Über die Urfachen der Farben nachdachte, be-
fitzt eben fo klare, deutliche und vollkomtnne
Vorftellungen von der weifsen, fchwarzen
Farbe u. f. w« als der Philofoph, und fie über-
treffen darin vielleicht noch die des lezten,
obgleich diefer ihr Wefeu zu ergründen fuchti
und zu erkennen glaubt, in wiefern jede der-
selben in Etwas pofitiven oder privativen ge-
gründet fey. Die Vorftellung von der fchwar-
zen Farbe ift aber in feinem Verftande eben
fo poütiv als die von der weisen, wenn auch
die Urfache von der erften in den äufsernOb»
jecten eine blofse Beraubung ift»
§♦4*
2.GQ Zweites Bück,
s- 4»
Wäre es hier meine Abficht die natürli-
chen Urfachen und Entrtehung<>gründe der
Vor^eHungen zu untersuchen, fo würde ich
das Factuun, dafs eine privative Urfa.
che, zum wenigen in einigen Fällen, ei-
ne pofitive Vorftellung hervor-
bringen kann, aus folgendem Grunde er-
klären. Jeder Eindruck auf die Sinne wird
hlofs durch verfchiedene Grade oder Arten
der Bewegung in den I ebensgeiftern gewirkt,
indem ße von äußern Objekten auf eine ver-
fchiedene Art afficirt und in Bewegung gefezt
werden. Daher inufs die Verminderung einer
vorbeigehenden Bewegung eben fo gut einen
neuen Eindruck hervorbringen, als die Ver-
änderung oder Steigerung derfelben. Und
auf diefe Art kommt eine neue Vo rft ei-
lung in die Seele, welche nur allein von
einer verfchiedenen Bewegung der Lebens,
gtifter in dem Organ abhängt.
§. 5.
Doch ich mag hier nicht entfcheiden, ob
diefe Erklärung gegründet ift, fondern berufe
wich
Achtes Kapitel. £69
mich nur auf eines Jeden ei^ne Erfahrung, ob
nicht der Schatten eines Merifchen, der dcnh
nur in der Abwefenheit des Lichtes befte'iet,
und defto deutlicher ift, je mehr Licht fehlet»
wenn itan ihn anfehauer, eine eben fo klare
und pofitive Vorfrellnng in der Seele erzeu-
get, als der Menfch felbft, würde er auch
vom Kopf bis auf die t'ü se von der Sonne
♦
befchienen ? Auch das Gemälde von ei-
nem Schatten ift Etvv^s pofitives. Wirklich
haben wir auch negative Worte, welche
nicht geradezu pofitive Vorfteüungen fondern
ihre Abwefenheit bezeichnen, z, B. u n-
fchmackhaft, Stille, Nichts u. f. w.
Sie enthalten die pofitiven VorfteHungen;, G e-
fchmak, Töne, S e y n nebft der Auieige
ihrer Abwefenheit,
§. 6.
Auf diefe Art kann man wirklich Tagen,
dafs man die Finfternifs Gebet Man fetze
ein ganz finftres Loch, von welchem nicht
ein einziger Lichtftrahl zurückgeworfen wird,
fo liehet man doch gevviis die Geftalt deJTel-
ben
Hrjo Zweites Buch.
ben, und es kann daher auch abgemalet wer*
deti. Ob- die Tinte, mit welcher ich Ich rei-
be, eine andere Vorstellung hervorbringe ,
das ift noch eine Frage, Die privativen Uf
fachen , welche ich hie» von den poßtiven
Vorftellungen angegeben habe, ftiinmen mit
der gewöhnlichen Vorftellungsart überein»
AHein es iafst fich in Wahrheit fchvver ent*
fcheiden, ob wirklich eine Vorfiellung aus
einem privativen Grunde entliehe, fo lange
noch nicht ausgemacht ift, ob die Ruhe
oder die Bewegung mehr eine ßea
r a u b u n g i f tä
§< 7*
Voxftellutogen in der Seele* Eigen*
fchaften in den Körpern,
Um die Natur unfrer Vorftellungen defto
heiler zu entdecken und vernünftiger über
Jfie zu denken , wird vorzüglich die Unter-
fcheidung dienen , in wiefern die Vorftellun-
gen Vorftellungen der Seele, und infofern fie
Modifikationen der Materie in den Körpern
find, welche die Vorftellungen in uns verur-
facheu« Sie wird den gewöhnlichen irrihurrt
ver-
Achtes Kapitel. £71
verhüten, die Vorfiel! mren für Bilder zu
halten , welchen im Objekte etwas Reales ent
fpräche , da docb die meiüen linnlichen Vot-
ftellungen eben fo wenig einem aufser uns
exiftierenden Dmge ähnlich find, als die
Worte den bezeichneten Vorstellungen , ob-
gleich diefe durch jene hervorgerufen werden»
§. 8.
Was dasGemüth in fich felblt wahrnimmt,
oder was das unmittelbare Objekt des ße.
wufstfeyns des Denkens und Vorfteliens ifl,
das nenne ich Vorftellung (Ided), die
Kraft aber, eine Vorftellung in uns hervor-
zubringen , Eigen fchaft (Quality) des
Objekts , welches die Kraft befizt. So be-
fiztder Schneeball die Kraft, die Vorftelhn-
gen vom weifs, kalt, rund in uns zu
erzeugen, die Kräfte, diefe Vorftellungen in
uns hervorzubringen , nenne ich, infufern
fie in dem Schneeball find, Eigen fc haf-
ten, Vorftellungen aber, infofern fie
Empfindungen oder Wahrnehmungen in dem
vorteilenden Subjekte werden. Wenn ich
(lauer zuweilen von Vorftellungen rede, als
^ären
27~ SJ W e i 1 4 s E ti'c h,
wären fie in den Objecten felbft, fo will ich
darunter die Eigenfchaften der Objekte, durch
welche fie erzeugt werden, verftandea wiflen.
§♦ 9»
Ur f pr üngliche Eigenfchaften
( Gr und eigen fc haften, prirnary
Qualit ies.)
Zu diefen Eigenfchaften der Körper gehü-
Ten e r ft lieh folche, welche vom Kör-
per in jedem Zuftande unzertrennlich
find, welche an ihnen bei allen Verände-
rungen, bei allem Wechfel und bei jedem noch
fo gewaltfamen Einflufs beftandig haften; wel.
che die Sinne in jedem anfchaulichen
Tiieil der Materie jederzeit wahrnehmen;
welche fieh der Verft-and als unzertrennlich
von jedem auch dem kleinften , nicht in die
Sinne fallendem Theiie der Materie denket»
Man theiie z. B, ein Waizenkorn in zwei
Theiie, noch immer behält jeder derfelben
Dichtheit, Ausdehnung, Geftalt,
u n d B e w e g 1 i e h k e i t. Und wenn man die
Theilung nochfo lange fortfezt, bis die Theil-
chen
Achtes Kapitel, 27$
ohen nicht mehr bemerkbar find, fo bleiben
doch alle diefe Eigenfchaften und müden un-
verändert bleiben. Denn die Theilung, d. h,
die Zerlegung eines Körpers in feine unmerkli-
chen Beftandtheile, was auch Mühlen und Mör-
ferftairpfen im Grofsen bewirken, kann dem
Körper jene Eigenfchaften ganz und gar nicht
nehmen, fondern nur ein Stück Materie in
mehrere getrennte Mafien zerlegen- Diefe ma-
chen nach der Theüung eine befiimmte Zahl
aus , und werden als eben fo viele Körper
betrachtet. Diefe Eigenfchaften der Körper
nenne ich die urfprünglichen, oder
Gr u n d eige n fcha f ten, (original, prima-
ry Qualities) welche, wie man leicht denken
kann, die einfachen Vorftellungen
der Dichtheit, der Ausdehnung, der Figur,
der Bewegung, der Ruhe und der Zahl in uns
hervorbringen.
§> IO,
Es giebt zweitens andere Eigenfchaften,
denen in den Objekten eigentlich nichts an-
dres zum Grunde liegt, als gewifie Kräfte, durch
Hülfe der Grundeigenfchaften , oder derGrö-
S fse
/
2^4 Zweites B u c h.
fse. Figur, Stuctur und Beweguugderkleinften
Beftandtheile, mannichfaltige finnliche Vor»
Heilungen z. ß. Farben, Tone, Ge'chmacks-
empfiudungen zu erzeugen. Diefe nenne ich,
abgeleitete (fecondary) -E ig enfc haf-
ten. Man könnte aufserdiefen noch eine drit-
te Art von Eigenfcbaftei annehmen; nehm«
lieh folche , welche auch nur als blofse Kräf-
te zu betrachten, aber doch eben fo gut reale
Eigenfchaften in den äufsern Objecten find,
als diejenigen, welche ich aus Gefälligkeit
gegen den gemeinen Sprachgebranch Eigen»
fchaften, aber zum Unterfchied von den
erftern abgeleitete nennte. Denn die
Kraft des Feuers durch feine " Grundeigen-
fchaften eine neue Farbe oder eine andere
Konüftenz an dem Ton und Wachs her-
vorzubringen , ift eben fogut eine Eigenfchaft
des Feuers als die Kraft, in mir eine neue
Vorftellung von Wärme oder dem Brennen
zu erzeugen, von denen ich durch die nehm-
lichen Grundeigen fchaften vorher noch kei-
ne Empfindung hatte *),
«. «,
*_) Deutlicher wird der Inhalt diefes § durch die
"Vergleichung mit dem §, 23,
Achtes KapiteL yj5
§. II.
Wie die ur fpr ü n gl ic h en Eigpn-
fchafcten Vorfteliungen von
fich erzeugen.
>
Nächft dieTem mnfs die F™ge nnterCucht
werden , wie die Körper Vorfteliungen
in uns erzeugen? Diefs gefchiehet offen-
bar durch den Stofs, (Bewegung) die ein-
zige für uns denkbare Weife, wie Körper
auf einander wirken,
§. 12.
Da die äufsem Objekte nicht mit der See-
le vereiniget lind, wenn fie in ihr Vorftellun'
grn hervorbringen , und gleichwohl die
Grnndeigenfchafte.". eines jeden anfehaulichen
Körpers von der Seele erkannt werden, fo
qrhellet daraus die Noth wendigkeit einer ge*
wiffen Bewegung, w»elche von ihnen durch
einige Theile des Körpers vermittelt der Ner-
ven oder der Lebensgeifter bis in das Gehirn
oder den Sitz des Bewuf&tfe) ns fortgepflianzt
wird, um dafelbft die beftimmten
\ orfte Illingen von ihnen hervorzu-
S 3 hr in-
27S Zweites Buch.
bringen. Und weil wir die Ausdehnung,
Geftalt, Zahl und Bewegung der Körper von
merklicher GrÖfse fchon in einiger Entfernung
durch das Geficht wahrnehmen können, fo
muffen nothwendig gewiffe einzeln nicht
wahrnehmbare Körper von ihnen in die Au-
gen l'ominen , von da eine gevville Bewegung
bis zu dem Gehirn fortführen, welche dann
jene Vorftellungen erzeuget»
§♦ i3.
Wie die abgeleiteten Ei gen Fe haf-
ten Vorftellungen von fich er-
zeugen»
Eben fo Iarst fleh auch die Art und Wei-
fe denken, wie die Vorftellungen
Von den abgeleiteten Eigen fc ha f«
ten en t ft e h en, nehmlich durch die Wir-
kung gewiffer nicht wahrnehmbar
xer Theilchen auf unfre Sinne. Denn
es ift offenbar, dafs es eine gmfse Menge
von fo kleinen Körpern giebt, dafs wir durch
keinen Sinn ihre Gröfse, Geftalt und Bewe-
gung entdecken können ; von welcher Art
nnftreitig die Theile der Luft und des Waf-
fers
Achtes Kapitel. 277
fers find : aber vielleicht giebt es noch viel
kleinere, die fich gegen diele, wie VVafler-
und Lufttheilchen gegen Erbfen und Hagel-
fteine verhalten. Wir dürfen hier aifo an-
nehmen , dafs die verfchieclenen Modificatio-
nen in der Bewegung, Geftalt, Gröfse und
Zahl diefer Theilchen unfcre Sinnorgane affi"
ciren, und dadurch die mannichfaltigen Vor-
ftellungen von den Farben und Gerüchen der
Körper hervorbringen. So kann z, B, das
Veilchen durch den Stofs folcher nicht an-
fchaulicher materiellen Theile von verfchie-
dener Geftalt und Gröfse und durch eine dem
Grad und der Art nach mannichfaltige modi-
hcirte Bewegung die Vorftellung von der
blauen Farbe und dem Wohlgeruche diefer
Blume erzeugen. Es läfst Geh zum wenig-
ften eben fo ohne WiderTpruch denken, dafs
Gott an folche Bewegungen Vorftellungen
knüpfte, welche mit denfelbeu keine Ähn-
lichkeit haben, als dafs er das Gefühl von
Schmerz mit der Bewegung eines Stücks
Stahl, der die fleifchigten Theile eines thieri-
fchen Köipers zerfchneidet , verknüpfte, zwi-
fehen welchen auch nicht die geringftc Aehn-
lichkeit ltatt findet,
S 5 %. 14«
278 Z vr e i t e s Buch.
§ »4*
Was ich von den Farben und Gerü-
chen gefagt h^be, läfst fich auch auf die
Gelen macksempfindungen, Töne
und andere ähnliche empfindbare ße-
fchaffenheiien anwenden. So fehr man ih-
nen auch aus Irrrhum Realiiät beileget, fo
find fie doch in den Objekten nichts anders
als gewiffp Kräfte, finnliche Vorfiel] 'ingen
in uns zu erzeugen, und fie find von den ur*
fprünglichen Ei^enfchaften abhängig.
§. IS-
Die V or ft el 1 un ge n der urfprüng
liehen Eige n f c h a ft e n haben
Aehnlichkeit mit den Kör.
pern, aber nicht die abgelei-
teten.
Hieraus ergiebt fich von felbft die Bemer-
kung, dafs die Vo r ftell un gen der u r-
fprünglichen E igen f c ha f t en Kopi-
en der Körper find, und dafs das Ori-
ginal von ihnen wirklich in diefen exiftieret.
Die Vorstellungen hingegen, welche
durc;a
Achtes Kapitel. £79
durch die abgeleiteten Eigen Tc haf-
ten hervorgebracht werden, haben gar kei"
ne Aehnlichkeit mit den Körpern.
Diefe enthalten nichts, was jenen entwicht,
fondern nur gewifle Kräfte, Vorftellungen her-
vorzubringen , nach welchen wir die Körper
benennen. Was wir uns als Süfs, Blau oder
Wann vorfallen , ift in den Körpern, denen
wir diefe Prädicate beilegen , nur eine be-
i'tiinmte Gröfse, Geftalt und Bewegung ihrer
nicht bemerkbaren Beftandtheile.
§. 16.
Man legt der Flamme das Merkmal, heifs
und helle ; dem Schnee, weifs und kalt ; dem
Manna weifs und füTs bei, und das, wegen der
Vorftellungen , welche fie uns mittheilen,.
Man glaubt gewöhnlich, dafs diefe Eigen-
fchaften in den Körpern eben das, was die
Vorftellungen davon in uns, find, und dafs
xwifchen beiden eine fo vollkounnne Aehn-
Uchkeit ftatt findet , als zwifchen einem Ob-
jekte und feinem Bilde in dem, Spiegel. Da6
Ge^entheil würden die meifleu Menfchen für
Unfmn halten. Allein die Bemerkung, dafs
S 4 eben
2cV> Zweites Buch.
eben dafselbe Feuer in einer gewiiTen Entfer-
nuip; die Empfindung der Wärme, bei einer
großem Nähe aber ein davon ganz verfehle*
denes fclniif-izhaftes Gefühl hervorbringt,
follte doch Jeden zum Nachdenken reitzen,
aus welchem Grunde er die Wärme als in
dem Feuer, und das unangenehme Gefühl als
rieht in dem Feuer exiftierend fich den-
ke , da doch beide Vorftellungen dureh das
Feuer auf einerlei,' Art in dem Gemüthe er-
zeugt werden. Warum iffc die weifse Farbe
und die Kälte, und nicht auch die unange-
nehme Empfindung in dem Schnee? da er
doch beide Vorftellungen und zwar nicht an«
ders als durch die Gröfse, GeftaU, Zahl und
Bewegung feiner dichten Theile hervorbringt.
§. 17-
Die beftimmte Gröfse, Zahl, Ge-
ftalt, und Bewegung der Theile
des Feuers, Scbneesu. f. w. i f t wirk-
lich in diefen Objekten vorhan-
den, die Sinne mögen fie wahrnehmen oder
nicht, und wegen diefer objeetiven Realität
in den Körpern können He reale Eigen-
f chaften genannt werden. Aber Licht,
Hitze,
Achtes Kapitel. 251
Hitze, Kalte, weifse Farbe haben,
eben fo wen ig e in reales Dafeyn in
denfelben, als Krankheit oder Seh in e r*
in dem Manna. Wenn man von ihnen das
Vorgeftelltwerden trennet, wenn die Augen
nicht das Licht oder die Farben fehen, die
Ohren nicht die Töne hören, der Gaumen
nicht fchmecket, und die Nafe nicht riecht»
fo verfchwinden alle diefe befondern Vorfiiel-
lungcn, alle Farben, Gerüche, Gefchmacksem-
pfmdungen und Töne, und es bleibt nichts
übrig, als das, was fie verurfachte, d. i.
die Gröfse, Gehalt, und Bewegung derTheile*
§. 18.
Ein Stück Manna von merklicher Gröfse
kann in uns die Vorftellung von einer runden
oder viereckigten Figur, und wenn es von
einem Orte zum andern fortgerückt wird, die
Vorftellung von der Bewegung verurfachen.
Die lezte Vorftellung ftellt die Bewegung dar,
wie fie wirklich an diefem bewegten Körper ge-
funden wird. Ein Cirkel und ein Viereck in
der Vorftellung und in der Natur, in der See-
le und in dem Manna find ein und eben daf-
S 5 felbe
2.Ü2 Zweites Buch.
Teibe Ding» Die Figur und die Bewe-
gung und etwas Reales an dem Marina,
wir mögen fie wahrnehmen oder nicht. Diefs
wird von allen ohne Weigerung eingeltau-
den, Aufserdem belitt das Manna vermöge
der Gröfse, Geftalt, Zufammenfetzung und
Bewegung feiner Theile die Kraft, Empfin-
dungen von Unbehaglichkeit, ja zuwei-
len von einem fchneid enden Schmerz oder
Grimmen in ufA fetin Körper zu erregen. D i e-
f e Empfindungen von Unbehag-
lichkeit. und Schinerz find nicht
i n il e m M a n n a , foudern nur Folgen fei-
ner Wirkungen auf uns, und exittieren nir-
gends, wenn wir fie nicht empfinden. Auch
diefes wird ohne Widerrede angenommen.
Gleichwohl halt es fo fchwer, die Meiifchen
zu überzeugen, dafs die weifse Farbe und
die Süfsigkeit nichts Reales in
dem Manna find. Und doch find die
weifse Farbe und die Süfsigkeit, fo wie die
Unbehaglichkeit und der Schmerz, nur Erfolge
von den Veränderungen, welche die Beftand-
theile des Manna durch ihre Bewegung, La-
ge und Geftalt — die einzige Art, wie Kör-
per auf einander wirken können *- 1 dort in
dem
Achtes Kapitel. 283
dem Auge und dem Gaumen, hier in dem
Magen und den Gedärmen hervorbringen.
Als wenn nicht das Marina eben fo gut auf
die Augen und den Gaumen als auf den Ma-
gen und die Gedärme Wirken, und dadurch
Vorstellungen hervorbringen könnte, deren
Inhalt, wie man auch in dem legten Fall
eingefieht , nicht in dem Manna felnft ent
halten iß. Da alle diefe Vorftcllun»en Ertoi-
ge der durch die Lage, Geftalt, Zahl und
Bewegung der Theile bcfiimuiten W'irkfam-
keit defselbon auf verfcniedene Theile des
menschlichen iuirpers lind , warum folhen
denn die Vorftellungen mehr Reahtät in dem
Manna befitzen , welche lieh auf die Verän-
derung des Auges und des Gaumens, als die
(ich auf den veränderten Zuftand des Magens
und der Gedärme beziehen ? Oder warum
folbe der Unbehagliohkeit und dem Schmerze
keine Wirklichkeit aufser in der Empfindung,
der weitsen Farbe aber und der Süfsigkeit
aufser der Vorliellung noch ein objektives
Seyn in dem Manna beigeh p werden, da fo-
wohl jene als diele \\ irkungen eben deflel
ben Körpers auf verfchiedene Theile des
menfchlichen Leibes find, und beide auf ei.
nerlei
23-£ Zweites Buch.
nerlei unbegreifliche Weife entftehen? Das
müßte doch aus Gründen erklärt werden.
§• *9-
Man betrachte die rothen und weiffen Far-
ben des Porphyrs ; man entferne alle Licht-
ftrahlen von denifelben, fogleich verfchwin-
dtn alle Farben, und er verurfacht keine \ or-
fieHung mehr davon. Man gebe ihm das
Licht zurück , dann bringt er die nehmliche
Erlcheinung wieder hervor, lft es denkbar,
dafs durch die Abwefcndheit und Gegenwart
des Lichts reale Veränderungen in dem Por-
phyr vorgehen , oder dafs er vom Licht he-
ichienen die rothe und weifse Farbe wirk-
lich in fich enthalte, da fie ihm offenbar in
der Dunkelheit fehlen? Ein gewiUes Ver-
hältnifs, eine gawiße Bildung der Theile, wo*
durch die zurückprallenden LichtRrahlen
bald dieVorftellung der rothen, bald der wei.
fsen Farbe erzeugen , befizt es wirklich bei
Tag und Nacht; aber diefe Farben felbft
exiftieren zu keiner Zeit in ihm.
§• 20.
Achtes Kapitel« 285
§. 20.
Wenn man einen Mandelkern in dem Mür-
fer zerftöfst, fü verwandelt fich die reine
weifse Farbe in eine (ch mutzige und der fiifse
Gefchmack in einen ölichten. Kann aber
das Stofsen der Mörferkeule eine andere reale
Veränderung in einem Körper bewirken, als
dafs die Art der Zufammenletzung der Theile
geändert wird?
§. 21,
Diete Erklärung und Unterfcheidung der
Vorftellungen fezt uns in den Stand, ein Pha.
nomen zu erklären, wie nemlich dalTelbe
Waffer zu einer Zeit an der einen Hand die
Vorftellung der Kälte und an der andern die
der Wärme hervorbringen kann. Denn wä-
re der Stoff diefer Vorftellungen etwas Reales
in dem Waffer, fo könnte es unmöglich zu
einer Zeit kalt und warm feyn. Si eilen wir
uns aber unter der Wärme, inTofern fie
in unfrer Hand ift, nichts anders als
eine gewiffe Art, einen gewiffen
Grad in der Bewegung der kleinen
Theil-
28 j Zweites 1! u c It.
Tb eilchen unfrer Nerven oder Le-
bensgeifter vor, fo begreifen wir die
Möglichkeit, wie daflelbe YVafler zu einer
Zeit an einer Hand die Empfindung der Kälte
und an der andern die enfgegengefezteder Wär-
me erzeugen kann. Dicfes findet in Anfe-
hung der Geftalt nie ftatt. Kein Körper er-
zeugt in der einen Hand die VorfteJIung des
Vierecks und in der andern die einer Kugel»
Wenn aber die Empfindung der Hitze und
i Kälte nichts anders ift, als die vermehrte oder
verringerte Bewegung in den kleinen Thftilen
unfers Körpers, welche von den Beftandthei-
len eines andern Körpers gewirkt wird , fo
ift es denkbar, clafs (liefe Bewegung in der
einen Hand großer aU in der andern ift.
Wenn die Bewegung der kleinften Beftand-
thrile eines Körpers, der auf beide Hände
wirkt, gröfser, als die Bewegung der orga-
nifchcn Theile der einen Hand und klei-
ner, als die der andern ift, fo wird he die Bewe-
gung in jener vermehren , und in diefer ver-
mindern, und dadurch die entgegengefezten
Empfindungen von Hitze und Kälte be-
wirken.
§» 22.
Achtes Kapitel.
§. 22.
Ich habe mich in den Vorhergehenden
viellt-icht etwas weiter in phvfikalifche Un-
terfuchungen ringelaflen als meine Abliebt
war. Allein da es nothwendi* war, utn die
Natur einer finnlichen Vorftellung etwas auf-
zuklären, und den Unter fchied zwi.
fchen den körperlichen Eigen,
fc haften und den dadurch erzeug-
ten Vor ("teil ungen deutlich zumachen,
ohne welches man nicht verftändlicb über die
letzten philofophieren kann; fo wijd man
mir, wie ich mir fchrneichle, die kle?ne Aus-
schweifung in das Gebiet der natürlichen
fhilofophie verzeihen. Es ift in diefer Unter-
jochung von wefentlicheui Einflufs, die u r-
fprünglichen und realen Eigen-
fchaften der Körper, die von ihnen unzer-
trennlich find, als die Dichtheit, Ausdeh.
nung , Oeftalt, Zahl, Bewegung und Ruhe,
und von uns allezeit wahrgenommen wer-
den, wenn die Körper, an denen fie haften
die gehörige Gröf<e haben, dafs fie der An.
fchauung empfänglich find, von don abge-
leiteten und uneigentlich fogeoa nuten Ei,
gen-
288 Achtes Kapitel.
genTc haften zu unterfcheiden, welche
nichts anders find , als die in den mannich-
faltigen Verhältniflen der urfprünglichen Ei*
genfchaften gegründeten Kräfte, wenn fie fo
wirken, dafs fie nicht deutlich unterfchieden
werden können. Hieraus lafst fich beftim-
n;en , welche Vorftellungen mit dem in Kör-
pern , die wir nach ihnen benennen, befind-
lichen Realen entfprechen oder nicht ent-
fprechen,
§. 23.
Es giebt drei Arten von Eigen*
fchaften in den Körpern.
"Die Eigen fc haften in den Körpern
find alfo nach reiflicher Betrachtung, von
drei Arten,
1) Die Gröfse, Gehalt, Zahl.
Lage, Bewegung oder Ruhe ihrer
dichten Theile. Diefe find wirklich in ihnen»
wir mögen fie wahrnehmen oder nicht. Und
wenn ein Körper feiner GröTse nach anfchau-
lich ift, fo erhalten wir durch fie eine Vor-
fiel-
Achtes Kapitel. 289
ftellung von dieTem Dinge, wie es
an fich ift. Bei Werken der Kunft ift diefs
einleuchtend. Ich nenne fie urfprüngii-
Che (primary) Ei gen fc h af ten.
3) Die Kraft eines K ivp^rs vermöge fei.
iier nicht finnlich wahrnehmbaren urfprüng-
lichen Eigenfchaften auf eine befummle Wei-
fe aiif einen unlrer Sinne zu wirken, und
dadurch veiTchicdene Vo r 1 1 ellu ngeu von
Farben, Tonen, Geruch und Gefchmack in
uns hervorzubringen. Man nennt
diefe gewöhnlich finn liehe Eigen-
fcha f t en»
5) Die Kraft eines Körpers vermöge der
befonciern Befchallünheit f e i n e r u r p r ü H g_
liclien Eigenfc haften in der Gröfse
G e f t a 1 1 , Z 11 fa in in e n f e t z u n g und Be-
wegung eines ardern Körpers folche
Veränderungen hervorzubringen , dafs
diefer nun unfre Sinne andeis afliciert als
vorher. So hat die Sonne die Kraft, das
Wachs zu bleichen, und das Feuer das Blei
zu fchmelzeu. Gewöhnlich nennnt man die-
fe Eigenfchaften Kräfte.
T Di«
a<j)o Zweites Buch.
Die erften können , wie ich fchon gefaxt
habe, mit Recht reale, ur fpr üiig 1 i c h e
und erfte Eigenfchaften heilen, weil Ge
in den Dingen felbft find , man nehme fie
wahr oder nicht, und wed die abgeleiteten
von ihren mannichfaltigen Modifikationen ab-
hängen. — Die zweiten und dritten- find
biofs Kräfte, auf verfchiedene Weife auf
andre Dinge zu wirken, welche aus den
mannich'altigen Modifikationen der erften
entfpringen *).
f
§. 24.
*) Locke nennte oben §. 8. alles was in den Kör-
pern Grund einer Voiftellung des Gemüthä
ift, Ei^enfchdft. Eigenfchaften und Kräfte
weiden da als Synonymen gebraucht. Man
fiehet daher nicht recht deutlich ein , warum
er hier und an andern Orten fo fehrauf Unter-
fcheidung der Eigenfchaften und Kiäfte drin-
get. Der TJnterlcliied beruhet darauf. Die
Vorftellungen , welche durch die Eigenfchaften
begründet werden , find entweder von der
Art , dafs üe den Eigenfchaften felbft entfpve-
chen, oder fie entfprechen ihnen nicht lu deru
erften Fall werden die Eigenfchaften felbft, im
andern nicht die Eigen fchahen , fondern nur
ihre Wirkungen auf andere Korper vorgeftellt.
Dort
-Achtes Kapitel, agi
§• 24.
Die erften E ig enfch a f ten find
objectiv wahre Kopien, die
zweiten werden dafür gehal-
ten, find es aber nicht, die
dritten find es nicht, und wer-
den auch nicht dafür gehalten.
Ob gleich die zwei letztern Arten von
Eigenfchaften nichts anders als Kiäfte in Ver-
hältnifs zu verfchiedenen andern Körpern, und
von den Modificarionen der urfprünglichen Ei-
genfchaften abhängig und, fo weicht doch 'das
gewöhnliche Urtheil über die zweite Art davon
ab. Die Kräfte durch Aflicirungder
Sinne Vorftellungen in uns, zu er-
zeugen, werden nein lieh für reale
Eigen fc haften in den Dingen, die
uns afiicieren; die Eigenfchaften der
T 2 drit.
Dort kann die Voiftellung felbit dem Ob-
jeete als Eigen fchaft beigelegt werden, abei"
hier geht e» nicht an.
ar)2 Zweites Buch.
dritten Art hinsehen für blofse
Kräfte gehalten. Die Vorftellungen von
der Hitze oder dein Lichte, welche wir durch
das Gelicht oder das Gefühl von der Soune
erhalten, wären, rneint man, reale Eigen-
schaften in der Soune und etwas mehr als
blofse Kräfte. Wenn man die Sonne in Be-
ziehung auf das dureti He gefchmolzene oder
gebleichte Wachs betrachtet, fo hält man die
weifse Farbe und Flüffigkoit, welche in dem
Wachfe entftanden find, nicht für Etgenfchaf-
ten der Sonne, fondern für Wirkungen ihrer
Kräfte. Allein wenn man reiflicher nach-
denkt, fo find die Eigenfchaften des Lichts
und der Wärme — eigentlich nur Vorftellungen
in mir , wenn ich von der Sonne beleuchtet
und erwärmt werde — auf keine andre Wei-
r> in der Sonne, als die Veränderungen, wel-
che mit dem Wachfe bei dem Bleichen und
Schmelzen vorgehen. Sie find alle beide
nicht mehr und weniger Kräfte der Sonne,
welche von ihren urfprünglichen Eigenfchaf-
ten abhängen; und wodurch fie die Gröfse,
Geft-dt , Zufainmenfetzung und Bewegung der
feinften Theile meiner Augen und Hände
und des Wachfes fo verändern kann, dafs
da*
Achtes Kapitel. 2g3
dadurch in jenem Fall die Vorfrellung von
Licht und Warme, in dorn andern von der
weifsen Farbe und dem Fl iiffig werden erzeugt
wird.
25-
Die UrTaclie, warum die einen ge-
wöhnlich für reale Ei gen fc hatte n.
die andern für blofse Kräfte gehal-
ten werden, fcheint mir darin zu Liegen*
Untre Vorftellun/jen von beftimmten Farben,
:i u f. w, enthalten nichts von Gröfse,
Geftait oder Bewegung; die Sinne bemerken
keine Spur von Mitwirkung der urfprüngü-
chen Eigeni'chafteu zur Erzeugung dieferVor.-
Heilungen , und es Iäfst fich keine fichtbare
Beziehung oder Verbindung Zwilchen beiden
entdecken. Daher ift man geneigt diefe Vpr-
ftellungen nicht für Wirkungen der urfprüng-
lichen Eigenfchafien , fondern für Bilder von
etwas Realem in den Objecten felbft exiftiren:
dfin zu halten. Dazu kommt noch, dafs dio
Vernunft nicht zeigen kann, wie Körper
durch ihre Gröfse, Geftait und Bewegung die
Yoiftcllung von der blauen, gelben Farbe, u,
T * f. w.
394 Zweites Buch.
f. w, in der Seele hervorbiingen können.
Aber in dem zweiten Fall, da Körper auf
einander wirken, und einer des andern Ei-
genfchaften verändert, fehen wir ganz klar»
dafs die hervorgebrachte Eigenfchaft meiftens
keine Aehnlichkeit mit irgend Etwas in dem
Hervorbringenden hat, und betrachten fie
daher blos als Wirkung einer Kräh, Wenn
die Sonne in uns die \ orftellung von Licht
und Wärme erzeugt , fo verfallen wir leicht
auf den Gedanken, das Vorgeftellte habe
Aehnlichkeit mit einer folchen Eigenfchaft in
der Sonn©; nicht fo aber, wenn wir die Far-
be des Wach Tes oder eines fchönen Gefichts
durch die Sonne verändert fehen , weil wir
keine folche Verfchiedenheit der Farben in
der Sonne felbft wahrnehmen. Denn da un-
fre Sinne die Aehnlichkpit oder Uliähnlich-
keit der finnlichen EUenTchaften in zwei ver-
fchiedenen äufsern Objecten beobachten kön-
nen , fo machen wir fehr bald den Schluls,
dafs die Erzeugung einer hnnlichen Eigen-
fchaft in einem Objecte die Wirkung einer
blolsen Kraft und keine Mittheilung einer
realen in der ürf^che befindlichen Eigen-
fchaft ift, wenn diefe dafelbft nicht .gefun-
den
Achtes Kapitel. 2q5
den wird, Wenn aber unfre Sinne keine
Unähnlichkeit zwifcfien der Vorfiellung in
uns und der Eigenfchaft in dem Objecte, wel-
che jene verurfachte , entdecken können, fo
entfrehet leicht die Täufchung, als wären
unfre Vorftellungen Bilder von Etwas in dem
Objecte befindlichen, nicht aber Wirkungen von
gewiflen Kräften , die in den Modificationen
der urfprünglichen Eigenfchaften gegründet
find, mit welchen diele von ümen bewirkten
Vorftellungen keine Aehnlichkeit haben.
§. 26.
Die abgeleiteten Eigenfchaften
find von doppelter Art,
Alle Eigenfchaften, welche wir aufscr den
angeführten urfprünglichen Eigenfchaften, an
Körpern wahrnehmen, und wodurch wir fie
voneinander unterscheiden , find nichts an*
ders als verfchiedene Keifte, welche vonden
urfprünglichen Eigenfchaften abhängen. Durch
diefe Kräfte können die Körper entweder
unmittelbar unfern Körper aflicieieu, und da-
durch mannichfaliige \ orftellungen in uns
vcranlaüen, oder auf andre Körper wirken,
T 4, und
2g6 Zweites Euch.
und ihre urrpTünilichen EigenfchaftPn fo ver-
ändern, dafs fie nun neue und andere Dar-
ftellungen erzeugen. Die erften von diefen
abgeleiteten Eig e n fc h aft en können
füglich unmittelbar wahrnehmbare,
die zweiten aber, mittelbar wahrnehm-
bare genannt werden»
Neuntes Kapitel.
Jfon dem Vorltellen , perceptioi!.^
§. I.
Die erTte einfache Vorftellung
durch die Reflexion ift die
vom Voiftellen.
Das Vor ft eilen ift das er fte Vermögen
der Seele, welches fich in Beziehung auf
Vorftelbiugen äußert, und der BegrifF davon
der eilte und einfachste, welchen wir durch
die
[Neuntes Kapital, uqj
die Reflexion erhalten. Di^fes Vermögen
wird von einigen das Denken überhaupt ge-
xiennt. Allein nach dem Sprachgebrauch ver-
liehet tri3n unter dem Denken diejenige Wir-
kung der Seele, da Ce in Beziehung auf ihra
Vorflellungen thütig ift, und mit einem ge-
willen Grad von freier Aufmerkfamkeit einen
Gegenftand betrachtet» Bei dem blofsen Vor-
teilen hingegen ift uars Gemiüh gröfstentheiis
blos leidend, und was es wahrnimmt, das
mufs es wahrnehmen,
§♦ 2.
Das Vorftellen beftehet bloy
darin, dafs die Seele die £in-
drükke empfängt.
Was das Vorftellen ift, wird Jeder
beffer durch die Reflexion über das, was bei
ihm vorgeht, wenn er lieht, hört fühlet u.
f. w. oder denkt, als durch meine Erklärung
eikenuen. VV er diefe Reflexion anftellt, dein
kann es nicht an diefem Begriffe fehlen, und
•wer nicht reilectirt, dem können alle Worte
in der Welt keinen davon geben,
T 5 «.3,
£98 Zweites Buch.
Aber fo viel ift ausgemacht, dafs kein Vor-
fielen ftatt findet, wenn nicht die Verände-
rungen in dem Körper die Seele rühren, oder
die Eindrücke auf die äuf%ern Theile de fiel«
ben im Innern wahrgenommen werden.
Das * Feuer kann wohl unfern Körper
brennen, aber mit keinem andern Erfolg,
als ein Papier, wenn nicht die Veränderung
bis zum Gehirn fortgepflanzt wird, und da-
felbft die Empfindung der Hitze oder des
Schmerzens in der Seele erzeuget. Darin
beftehet das wirkliche Vorf teilen.
§. 4*
Wie oft kann nicht ein Menfch die Beob-
achtung an fich felbft machen, dafs während
feine Seele nur allein mit der Betrachtung ei-
nes Gegenftandes und forgfäitiger Erwägung
gewiffer Vorfteüungen befchäftiget ift, fie
nicht auf die Eindrücke tönender Körper
auf das Gehörorgan achtet, obgleich eben
diefelbe Veränderung vorhanden ift, die fonft
die Vorftellurig eines Tons verurfachte? Der
Ein-
Neuntes Kapitel. 299
Eindruck auf das Orgi»n kann ftark genug
feyn, aber da er nicht bis zum Bewufstfeyn
der Seele dringt, fo erfolgt kein Vorffellen.
Die Bewegung, welche die Vorftellung ei-
nes Tones hervorzubringen pflegt, ift in derd
Ohre hervorgebracht, aber man höret doch
keinen Ton. Es erfolgt in diefem Falle kei-
ne Vorftellung, nicht wegen eines Gehre
chens des Organs, nicht weil es weniger
afficieret wird, als 'onft beim Höien gefchie-
het. fondern weil das, was fje foult hervor-
zubringen pflegt, zwar in das gehörige Or
gan geleitel, aber von dem vorft eilenden Sub-
jeet nicht wahrgenommen, uud daher die
Vorftellung in demfelben nicht eingedrückt
worden ift. Wo a 1 f o eine Empfindung.
eine Wahrnehmung ift, da wird
wirklich eine Vorftellung hervor-
gebracht, und demVerftande dar-
ceftellt.
§. 5.
Kinder haben zwar Vorftellun-
gen im Mutterleibe aber keine
angeborneu.
Die Kinder erhalten daher, wie ich
nicht zweifele, wenn Gel) ihre Sinne mit den
3oo Zweites Buch.
Objecien befchäftigen, welche fie in dem Lei-
be der Mutter affilieren, vor ihrer Geburt
f mige wenige Vorfteliungen , als unvermeid-
liche Wirkungen theils der fie umgebenden
Körper, theils ihres Bedürfniffes und ihrer
Unbehaglichkeit. Unter diefe gehören viel-
leicht, — wenn man da Vermuihungen gel-
ten lafTen will, wo keine firenge Unter fli-
eh, im g möglich ift — die Vorfteliungen von
Hunger und Warme , und diefe find wahr-
scheinlich die erften,. welche die Kinder er-
langen , und nachher wohl nicht leicht wie-
der verli&ren>
Wenn es aber gleich eine vernünftige Hy-
pothrfe ift, riafs die Kinder, ehe fie auf die
Welt kommen , Vorfteliungen erhalten , fo ift
doch zwifchen diefen einfachen Vorfteliungen
und jenen angebornen Grund Tatzen,
welche einige behaupten, und wir oben ver-
worfen haben , ein fehr grofser Abfand.
Denn diefe find nur Wirkungen gewifler Ein-
drücke auf die Sinne; fie entfpringen aus den
Veränderungen, welche der Körper des Kin-
des
Neuntes Kapitel. bot
des im Mutterleibe erleidet, und hängen alfo
von Etwas aufser der Seele ab ; auch find fie
In Anfehong der Entfiehungsart von andern
finnlichen Vorftellungen nur der Zeit nach
verfchieden. Die fo genannten angebornen
Grundfätze hingegen lind von ganz andrer
Natur, indem fie nicht durch zufällige Verän-
derungen in, oder Einwirkungen auf den Kör.
per in die Seele kommen , fondern als ur-
fprünoliche Charaktere der Seele von dem el-
ften Augenblick ihres Dafeyns an eingeprägt
und»
§. 7*
Welche Vo rftellungen zuerft in
die Seele kommen, läfst fich
nicht beftimmen.
Man darf mit gutem Grunde annehmen,
dafs die Seele der Kinder im Alutterleibe ver-
fchiedene Vorftellungen erhält, welche zu
den Bedürfnillen ihres Lebens und Au^enc.
halts dafelbft nothwendig find. Nach ihrer
Geburt werden ihnen die \ orftellungen von
denjenigen finnlichen Eigenfchaften am Irii-
heften gegeben , welche fich ihnen am erften
dar-
3ol Zweites Buch.
dai bieten. Unter diefen nimmt das Licht
auch wegen feines Einfluiles nicht die letzte
Stelle ein. Wie fehr (Ich die Seele beftrebt»
Vorftellungen, die nicht mit unangenehmen
Gefühlen gepaaret und, zu erhalten, Iäfst fich
fcbon einigermaßen aus der Beobachtung
fcliliefsen, dafs neugeborne Kinder in jeder
Lage ihre Augen dahin richten , woher das
licht kommt. Da aber die erften bekannte.
ften Vorftellungen eben fo verlchieden find,
als die Umftände, unter welchen die Kinder
in die Welt treten, fo ift auch die Ordnung,
in welcher fie in die Seele gelangen, fehr ver-
fchieden und unbeftimmbar. Doch liegt auch
an diefer Eikenntuifs nicht fehr viel,
§. 8.
Sinnliche Vorftellungen werden
oft durch die Urtheilskraft
veränd ert.
Hier findet noch eine Bemerkung ftatt.
Die Vorfiel] unge n, welche aus
finnlichen Eindrücken entftehen,
werden oft bei erwachlenen Men.
fchen unvermerkt durcn Üriheile
ab-
Neuntes Kapitei. *5w3
abgeändert. Man (teile eine einfarbige
Kugel z B. von Golil , Alabafter oder Agat
vor die Augen, fo erhalt maxi unläugbar
durch den Eindruck nur eine Vorftellung von
einer Cirkelfläche mit verfchiedenen Graden
des Lichts und Schattens. Da wir aber durch
öftere Vorftellung fchon gewohnt fiud uns vor"
zuftellen, wie ein rund erhabener Körper uns
zu erfcheinen, und welche Veränderungen
in der Brechung der Licbtftrahlen durch die
verfchiedenen Geftalten der Körper zu ent-
liehen pllegen , fo verwandelt die Urtheils-
kraft in\ diefein Falle aus Gewohnheit die
Erfcheinung in ihre Unache. Sie fchliefst
nehmlich aus der Verfchiedenheit der Farbe
und des Schattens, auf die Figur, macht jene
zu einem Merkmal diefer und bildet die
Vorftellung von einer rund erhabenem Figur
und einer einartigen Farbe hinzu, da doch
die Vorftellung, welche wir hier erbalten,
wie aus der Malerei erhellet, nur eine Flache
mit verfchiedenen Farben ift. Hieher gehö-
ret ein Problem, welches der fcharflinnige
und eifrige Beförderer aller WilTenfchaften,
IVIolineux mir neulich in einem Briefe mit-
theilte» Hier ift die Stelle feines Briefs.
Wir
oo4 Zweites Buch.
„WJr wollen uns einen erwach fenen Bllnd-
„geborneu denken, welcher gelernt hatte,
„einen Würfel und eine Kugel aus einerlei
„Metall und faft von einerlei Grörse zu un-
„terfcheiden, fo daTs er, wenn er beide ange-
fühlt hatte, fogleich Tagen konnte, welches
„die Kugel und. welches der Würfel tey* Ge-
setzt der Mann wird fehend, und man legt
„den Würfel und die Kugel auf einen Tifchs
„vor ihm * fo fragt es lieh nun, kann er bei-
„de durch das Geh cht unterscheiden , ehe er
„fie noch betaftet? — Der fcharfünnige und
einiichtsvolle Urheber diefes Problems be-
antwortet diefe Frdge mir nein. — „Denn,
fagt er, ner hat zwar die Erfahrung gemacht,
„wie die Kugel und der Würfel fein Gefühl
„afficieren, aber er weiß noch nicht aus Er-
fahrung, dals ein Object. das fein Gefühl auf
„eine gewiffe Art afficiert, auch auf feine Äu~
„gen fo oder fo wirken müfle , oder ob
„ein vortpriPgerdeT Winkel des Würfeln, der
„feine Hand ungleich drückt, auch feinen
„Augen fo vorkommen werde. — Ich iin-
terfchiesbe die Antwort ciiefes Denkers, auf
deifen Freundfchaft ich ftoiz bin. Her Bun-
ds wird, wie ich glaube, benn erlien Anblick
nicht
Neuntes Kapitel, 5o£
nicht im Staude feyn, mit Gewißheit zu Ta-
gen, welches die Kugel oder der Würfel fpy,
aber durch das Gefühl und die Veri'chie len-
heit der Figuren kann er fie mit untrüglicher
Gewifsheit unterlctjeiden. Ich theile dieles
meinen Lefern in der Ab'icht mit, um in ih-
nen die Bemerkung zu veranlagen , wie viel
man der Erfahrung und den daraus gefcuöpf-
ten Begriffen und ErkenntniOen auch da zu
verdanken hat, wo man von der Seite kei-
nen Nutzen und keine Hülfe erwartete: aber,
noch mehr Wegen einte* Bemerkung defiviben
fcharflinnigen Schriftftellers. ,..Er habe, fährt
er fort) ,.anf \ eranl dlui.g meine« Rnrhs diefe
„Frage mehreren Männern von Verltand vor-
«gtJ'eg! . aber kaum einen gefunden, der f0.
„g'eicii die, wie er glaube, einzig wahre Ant-
„wort gegeben habe, bis ße durch feine
^Gründe wären überzeugt worden/1
Diefes Factum findet ßch aber wohl ge>
wöhnlicherweife nur bei den VorhVIlungen
welche wir durch den Sinn des Gerichts er-
halten. Denn diefer Sinn der reicbhalti^fte
U unter
gc£ Zweites Buch.
unter allen, führt der Seele nicht allein die
Vorftellungen von Licht und Farben, die ihin
eigentümlich angehören, fondern auch noch
eine ganz andre Art von Vorftellungen zu,
nehmlich die von Raum, Geftalt, und Bewe-
gung, deren mannichfaltjjige Modificationen
felbft die Erfcheinung der Farben und des
Licht-» ändern. Die erften nach den lezten
und diefe nach jenen zu beurtheilen, wird,
bei uns znlezt zur Gewohnheit, Diefes ge-
fchiehet in manchen Fällen bei Dingen, von
denen wir viele Ei fahrungen haben, fo re°el-
mäfsig und fchnell, dafswirdas, was eine
\'orftellurg des Verftandes ift , für eine Wahr-
nehmung der Sinne halten, und dann dient
die lezte nur dazu, die crfte zum ßewufst-
feyn zu bringen, ohne felbft die Aufmerkfara-
keit auf (ich zu ziehen : fo wie ein Mann der
aufmerkfam -und mit Nachdenken etwas lieft
oder höret, wenig auf die Sprachzeichen und
Laute, aber deftomehr auf die Begriffe achtet,
die dadurch veranlaget werden follen.
§. 10*
Neuntes Kapitel. 807
§. IÖ.
Dafs dieres fafl ohne Bewufstfeyn gefchie-
hpt, darf uns nicht Wunder nehmen, wenn
wir bedenken, wie fch n eil die Ha n d l u n-
gen der Seele vollzogen werden»
Denn fo wie fie als ein aufsenäumii< hes
nicht ausgedehntes ^efen gedacht wird, fo
fcheinen auch ihre Handlungen an keine Zeit
gebunden zu feyn. fodafs viele derfelben fich in
einen Augenblick zulammen drängen, ich fage
dieles nur in v ergleichun^ mit den Wirkungen
des Körpers. Diefe Tnat fache kann Jeder
an Temen Gedanken wahrnehmen, wenn er
über lie refleclirt. Wie fcbnell , als wäre es
in einem Augenblick, überfcliaut die Seele
nicht mit einem Bück , alle Gliedert einer De.
jnonftration , welche in ß< tracht der Zeit, die
eserfodert, lie in Worte zu fallen, und ei-
nem andern Schritt vor Schritt darzultellen,
gar wohl eine lange Reine genannt werden
kann. Das Auffallende jenes Fäciums verliert
fich auch zweitens durch die Bemerkung,
dafs die Fettigkeit eivvas zu thun . die durch
Gewohnheit entftand , oft zur Folge hat, dafs
U 2 man
3o8 Zweites Bncli,
man es ohne Befonnenheit thut. Vorzüglich
ift das der Fall bei Fertigkeiten, zu welchen
in der frühen Jugend der Grund gelegt wur-
de; man thut zulezt Handlungen, wel-
che fich oft unfrer Bemerkung
ganz entziehen. Wie oft des Tages fchlie-
fsen wir uufere Augenlieder, ohne wahrzu-
nehmen, daTs wir uns ganz im Dunkeln be«
finden? Wer lieh ein gewifles Beiwort ange-
wöhnt hat, fpiicht faft bei jedem Satze Lau-
te aus , die er weder hüret noch beobachtet,
ob He gleich von andern bemerkt werden.
Es darf uns daher nicht befremden, wenn
unfer Gemüth oft eine Vorfte'llung {der Sinn-
lichkeit in eine Vorftellung des Verßandes
verwandelt, und ohne Befonnenheit die eine
blos zur Erweckung der andern braucht.
§. II.
Das V o r T t e 1 1 uns« vermögen ife
das U n t e r f c h e i d u 11 g s in e r k tu a 1
zwifchen den Thieren und den
leblofen Dingen.
Die Vorfiellungsfähigkeit fcheint mir das
eben
dem
Unter fcheidun^srneriimalzwifehen
N e u n t e 8 Kapitel. Sog
dem Trfierreiche und den andern
Katurwefen auszumachen, Einige
Pflanzen find zwar eines gewtffen Grades von
Bewegung fähig, fie ändern auf die ver-
fchiedene Berührung von andern Körpern ih-
re Geftalt und Bewegung fehr rafch, und
werden daher, weil ihre Bewegung mit der,
weichein Thieren auf die Empfindung folget,
einige Aehnlichkeit hat, empfindende Pflan.
zen genannt. Doch ift alles das meines Er-
achtens blofser Mechanismus, fo wie das
Hüpfen des Wildhafers, wenn er durchnäfst
und das Rürzerwerden eines Seils, wenn es
mit Waffer begoßen wird. Allein diele Ver-
änderungen erfolgen ohne Empfindung, oh-
ne Vorl'tellung in diefen Ob/ecten.
$.
Das VaTfleUungsvermögerj finlet fich, wie
ich glaube, bei allen Thieren von jeder Art
iu einem gewiffen Qiade, wenn e> {
möglich ift, du s einige fb wenige von der
Natur zur Aufnahme der Eindrücke einge-
richtete Organej eine fo fch wache Empfäng-
lichkeit und ein fo dunkles ßewuCstfeyn für
U 3 fie
3io Zweites Buch,
jie haben, dafs de andern Thierarten in An-
fehung der Lebhaftigkeit und der Mannich-
faltigkeit von \ orftellungen weit nachftehen.
Aber diefer geringere Gtad ift für diele Thie-
re zureichend , und itirem Zuftande angemef-
fen , fo dafs fich die Weisheit und Güte des
Schöpfers in allen Theilen des erltaunungs-
würdigen Weltbaues und in allen Abftufun-
gen und Rangordnungen der Gefcuöpfe offen-
baret.
§. i3.
Wir können, wie ich glaube, aus dem
Bai) einer Aufter oder Meerfcbnecke ganz rieh,
tig fehljefsen, d.^s fie nicht fo viele und leb-
hafte Sinne als ein IVIenfch oder andre Thie-
re haben, und hätten fie auch diefelben, fie
wären in ihrem Zuftand und bei dein Unver-
mögen, fich von einem Orte zum andern zu
bewegen, nicht beffer daran. Was könnte
das Geticht oder Gehör einem GeCchöpfe nü-
tzen . welches fich weder den Objecten nä-
hern noch von ihnen entfernen kann , an de-
ren es fchon in der Ferne Gutes oder Hofes
wahrnimmt? Und wäre eine lebhafte Empfin-
düng
Neuntes Kapitel, Sil
düng nicht ein Uebelftand für ein Thier, das,
•wo es der Zufail hingeworfen hat, fülle lie-
gen, und da dem Einflufs des warmen und
kalten , reinen und faulen Wallers, wie es
trifft, ausgefetzt feyn mufs?
§♦ i4«
Aber eine geringe und fchwache Empfin-
dung fcheint mir doch auch hei diefen ange-
nommen werden zu muffen, wodurch fie
fich von ganz empfiudungslofen Wefen unter-
fchfiden. Für die Möglichkeit diefer Vor-
aussetzung fprechen klare Thatfachen, die wir
felbft bei den Meufchen finden, Man denke
fich einen Greis, in dem das Alter das Ge-
dächtnis feiner frühern Kenntniffe vertilgt,
alle altern Vorftellungen verwircht, fein Ge-
ficht, Gehör und Geruch ganz und fein Ge-
fühl gröfstentheils zeiftühret , und dadurch
fdft alle Eingänge für neue Vorftellungen ver-
ftopft hat. Und wenn auch einige Ca-
iiäle noch halb geöfnet lind , fo nimmt er
doch die Eindrücke kaum wahr, und fafst fie
faf*t gar nicht in das Gedä>htnifs auf. Wie
weit lieh ein folcher Menfch in Anfehung fei.
L1 4 ner
5n Zweites Buch.
«er ErkenntnifTe und \ erftardeskräfte. aller fo
fehr ^eiühinten angebornen Grundfätze unge-
achtet, über den Zuftaud einer Außer oder
IVleerfchnerke erhebe, will ich der Betrach-
tung meiner ' efer überladen« Hätte bei ei-
nem Menfchen die er Zuftand fechiig Jahre
gedauert, welches eben fo mög ich ift, als
dafs er drei Tage dauert, fo würde es ein
Wunder" fejn, wenn zwifchen ihm und einem
Thier der niedrigen Art noch ein Unter-
fcl'i^d in Anfehung dergeiftigen Vollkommen-
heit ftatt fände.
§♦ i5.
Das Vorftellungsvermogen ift
der einzige Kanal aller Er-
kenn tn if s.
Das Vorfrellen ift der erfte
Schritt und die erfte Bedingung
zur Erkenntnifs, indem durch fie
alle Materialien derfelben in die
Seele eingeführet werden. Jewe-
iliger Sinre ein Menrch oder ein andres Ge-
fchöpf hat; je fchwächer und weniger die
Ein-
Neuntes Kapitel, 3x3
Eindrücke auf dierelben , und je weniger leb-
haft die Seelenkräfte find , welche lieh mit
derselben befehäftigen , defto grüfser iit der
Abftand zwilchen ihrer Erkenntnifs und der-
jenigen, welche bei andern Menfcheu gefun-
den wird. Der mannigfaltige Unterfchied
in den Graben derleiben, der unter den Men-
fchen wahrgenommen wird» läfst iich aber
bei v^rfchiedenen Thieranen , noch we-
iliger bei einzelnen Individuen derfelben ge-
nau beftimmen. Ich wollte hier nur bemer-
ken , dafs das Vorlieben , die erfte Wirkung
unfrer geiftigen Kräfte , und der Kanal ift ,
durch weichen alle Erkenntnifs in die Seele
geleitet wird. Und für mich ili es fehr wahr-
feheiniieh , dals der niedrig Ite Grad dell'ei-
ben die Grenzlinie zwifchen dem Tfuerreich
und den übrigen Gefchöpfen von niedrigem
Range ausmacht. Doch diefs ift nur eine
beiläufige Vermuthung, die, wie fie auch von
den Gelehrten entfehieden werde , auf unfern
Gegenftand keine ßezieaung hat,
US Zehn-
3i4 Zweites Buch.
Zehntes Kapitel.
Von dem Eehaltungsvermögen (Retention,),
§. i.
Von der Betrachtung.
^^as zweite Vermögen der Seele, wodurch
fie (ich der Erkenntnifs noch mehr nähert, ift
das Behalten oder die Aufbewahrung der
einfachen, dnrch die Sinne und Reflexion er-
zeugten Vorftellungen. Diefes gefchiehet auf
eine doppelte Art. Erftlich können die Vor-
ftellungen, welche der Seele gegeben wor-
den , einige Zeitlang wirklich im Bewufst-
feyn erhalten weiden. Diefes nennt man
Betrachtung (.contemplation).
Von dem Gedächtnifs.
Die zweite Art be flehet in dem Vermögen,
die Vorftellungtii , welche nach dem Eindru-
cke
Zehntes Kapitel. 5i5
cke verfchwunden , oder gleichfam ans dem
Gefichte auf die Seite gelegt worden , wieder
in erneuern. Das gefchiehet z. B. wenn
wir uns die Hiue, das Licht, die SüTsigkeit
eder die Farbe eines nicht gegenwärtigen
Objects vorftellen. Diefes Verniögea ilt das
Gedächt nifs, gleichtun die Vorrathskarn-
mer unfrer Vorftellungen. Denn da der be-
schränkte Verftand des Menfchen nicht viele
VorhVllungen auf einmal im Bewufstfeyn ha*
ben und betrachten kann, fo muffte er eine
Niederlage zur Aufbewahrung derjenigen ha
ben, welche er ein andermal wieder brau-
chen könnte. Unfere Vorstellungen find aber
nichts anders als Arten des Bewufstfeyns,
und fie hören mit dem Bewufstfeyn auf, etwras
zu feyn. Daher bedeutet das Niederle-
gen in dem Behältnifs des Gedächt-
nifses nichts anders, als das Vermögen der
Seele, in vielen Fällen ihre ehemals gehabten
Vorftellungen mit dem ihnen anhängenden Be.
wufstfeyn, dafs fie diefelben ehemals hatte, zu
erneuern. In diefem Sinne lägt man auch,
die Vorftellungen find in dem Gedachtnifs, da
fie doch in Wahrheit nirgends find; man ver-
liehet darunter nur ein Vermögen der Seele,
fie
3x6 Z W e i t e s Euch.
fie wieder zu erwecken, und gleichTatn von
neuen bald mit mehrerer, bald mit geringerer
Schwierigkeit, bald mit lebhaften, bald mit
fchvvächern Farben zu malen. Und fo kann
mau unter der Bedingung dieTc; Vermögens
fagen, dafs wir alle Vorftellungen im Verftan-
de haben, welche wir zwar nicht wirklich
betrachten, aber doch wieder ins Eewufst-
feyn bringen und darfiellen können, fo dafs
fie ohne Hülfe der finulichen Ei°enfchaften,
welche fie zuerft einprägten, Gegenftände
ynfers Vorßellgns werden.
§. 3.
Au tmerkfamkeit, Wiederholung,
Vergnügen und Schinerz fixi-
ren die Vorftellungen.
Die •Aufmerkramkeit und die Wiederho-
lung trafen das meifte zt:r feltem Aufbewah-
rung der Vbrftellimgjeii bei. Diejenigen aber,
welche gleich beim erften Vorftellen von
fclbft den tiefften und dauerhafteften Ein-
dru«.k machen, find die mit Vergnügen
und S chiii er z vergefüif chatteten Vorftel-
luB-
Zehntes Kapitel. 3j7
lungen. Da die Sinne die wichtige Beffint-
inung haben, uns auf das, was unfenn Kör-
per febädlich oder vorteilhaft Ift, aufmerk-
fam zu machen , fo bat es die Natur weislich
veranftahet, ddfs mit dem Empfangen gewif-
fer Vorftelhingcn Schinerz verbunden ift, der,
indem er in Kindern die .Stelle der Uenerle-
gung un 1 der Vernunft vertritt, und in £r-
wachfenen gefchwiuder als die Ueherleguhg
wirket, füAohl (liefe als jene, fo eilig; als
es zu ihrer Erhaltung oötlnwi u ig i» beiH uit,
die Urfachen des Unangenehmen G« ülds
zu vt t. le Auf diese Art febäff^ der
Schmerz .ii n bedaciiiüifs Bekuuaiukeit lux
die Zukunh ein.
$. 4*
Die Vor ftellu n gen vprfchwinden
aus dem Gedächtntfs.
Ueber die verschiedenen Grade der Dauer
mit welcher die Vofftellungen dem Gedacht«
niffl eingeprägt werden , 1 Ihn Geh folgende
Bemerkungen machen. Einige werden in
dem \ erftanda nur durch ein Übject hervor-
g*
5i8 Zweites Buch.
gebracht, welche? dieSinne nur ein einziges-
iual afficieret; andere Objecte ftellen Och
den Sinnen öfterer dar, werden aber nicht
lehr bemerkt, weil die Seele entweder un«
achifain ift, wie bei Kindern, oder wie bei
Erwachfenen, anderswo befchäftiget und
auf einen andern Gegenftand gerichtet ift,
einher das Gepräge nicht feit j;enug eingedrückt
wird. Bei einigen Vorflellungen , welche
forofältig und zu vviderholtenmalen auf-
getaut werden i ift doch das Gedachtnifs
fchwach i ent^eier we-en ßcfchaffenheit
des Körpers oder wegen eines andern Feh-
lers. In allen dieieu Fällen werden die Vor»
ßellungeti matier und verfchwinden öfterer
ganz, und gar aus dein VerLtan ie, ohne eine
Spm oder einen Zug zurück tu lallen, wie
die über ein Kornfeld liiegenden Schatten^
und dann i(t die Seele lo von ihnen . entledi-
get, a!s wenn he nie in derleiben geweleni
wären,
§. 5,
Auf diefe Weife gehen viele von den
Vorftellungen , weiche in der Seele der Kin-
der
Zehntes Kapitel. 319
der zur Zeit, als ihre Sinnlichkeit Och zu
äufserii anfing, — vielleicht auch noch frü-
her und vor ihrer Geburt , zumal gewille an-
genehme oder unangenehme Gefühle — er-
zeugt worden 'find, wenn lie nicht in den
folgenden Perioden des Lebens wieJerfiolet
werden, bis auf die geringste Spur verloren.
Diefe Beobachtung läfst fich bei folchen Per-
fönen machen , welche in ihrer frühen Ju-
gend durch einen Unglücksfall ihr^s Gefichts
beraubt wurden. Hier pllegtn die Vorftel-
lungen von Farben, weiche nur leicht auf
gefaist und nicht öfterer erneuert werden,
bald verdunkelt zu werden, fo dafs nach eini-
gen Jahien eben i'o wenig als bei ßiind-ebor-
neu eine Vorltellun^ oder ei^e Spur ddvon
in ihrem Gedächtnifs geiunden wird* Lei
einigen Alenlchen ift zwar das G^la httiifs
oft zum Lritaunen feite, aoer deiinocii icheint
eine allgemeine Abnanu e bei aller! unleru
\orftellungen l'<_iu:t den am ututen eingeklag-
ten und in üeui gluQklicülH n Gedatütin s lidit
zu finden. Wenn 11 e daher meut duitü wie-
derholte Anwendung der öinne und der Ke«
flexion auf denfeiben Gegenltand,- erneuert
werden, fo gehet nach und nach das «Jtpra^e
aus
5:ö Zweites Buch,
aus , bis zulezt nichts mehr davon fichtbar
ift. So fteiben die Vorftellungen gleich Kin-
dern unfrer Jugend oft vor uns hin ; unfre
Seele mahnt uns an die Grabmäler, denen
wir uns nähern , an denen zwar das Erz und
Marmor bleibt, aber die Infchriften durch
die Zeit vertilgt werden, und die Bildnerei
hinlchwindet. So ift auch die Malerei in
üftfrer beele mit vergänglichen Farben aufge-
tragen, welche verfchwinden , wenn fie
nicht zuweilen aufgefrifcht werden. Ich will
hier tiichi unterfuchen, in wiefern die Be-
fchaffetiheit uufrer Körper und die Struktur
der Lebeneoeifter dabei mit im Spiele ift, und
ob nicht 3uf der Tempera -■? des Gehirns die
Verffchiedenheit des Gedächtnifses beruhet,
dafs e. bei einigen Menfchen die eingepräg-
ten Züge der VorhVüünsen als Marmor, in
andern als ein Qu-ideritein , in andern nicht
viel behVr als Sand erhält Aber wahrschein-
lich ift &s doch immer, dafs die Beschaffen,
heit des Körpers Einflufs auf das Gedächtnis
hat weil »vir oft bemerken, dafs eine Krank-
heit alle Vörfielluhgfen gleiehfam abftreifet,
und die Fieberhitze alle Bilier, denen wir
«ine ewige Dauer verfprachen , als wären fie
in
Zehntes Kapitel. 3ar
in Marmor gegraben , in wenig Tagen in ein
Chaos von Staub verwandelt;
§. 6.
Behändig wiederholte Vor Tei-
lungen verlieren fieh nicht
leicht.
Was aber die Vorftellungen felbft betrifft)
fo ift leicht zu bemerken , dafs diejenigen
(ich am fefteften dem Gedächtnifs einprägen,
und am längften in ihrer Klarheit erhalten»
welche durch das öftere Vorkommen der Ge-
genwände und der Handlungen, aus welchen
fie entftehen , am häufigiten erneuert werden«
*L\i dielen gehören diejenigen , welche auf
mehr als einem Wege in die Seele kommen.
Die Vorftellungen von den urfprünglichen
Eigen (chatten der Körper als Dichtheit»
Ausdehnung, Geltalt, Bewegung
und Ruhe; Vorftellungen von folchen Eigen-
fchaften, welche fall immer auf unfern Körper
wirken, als Hitze und Kälte; Vorftellunsen
VonEigenfchafien die allen Din en von jeder
Art gemein find, als Exiftenz, Dauer,
Zahl —Vorftellungen, welche faß jedes Object,
das unfre Sinne afficiert, jeder Gedanke, der
X unfern
3^,2 Zweites Buch.
unfernGeiftbe[cbäftiget,mit Och führet, — diefe
und ähnliche gehen feiten ganz, verloren, fo
lange das Gemüth nur noch überhaupt einige
Vorfteliungen feft halt.
§. 7.
Die Seele ift oft thätig bei Er in«
nerung der Vorfteliungen.
Bei der zweiten Vorftellung, wie ich es
nennen möchte, oder der Zurückrufung der
Gedächtnifsvorßellungen in das Bewufstfeyn
ift die Seele öfters etwas mehr als
leidend, indem die Wiedeibelebung die-
fer fchlummernden Bilder zuweilen von dem
Willen abhängt. DdS Gemüth wirkt oft
jfelbftthätig dahin, um dunkle Vorfteliungen
aufzugehen, und richtet gleich/am das Auge
der Seele darauf. Doch zuweilen drängen
fich die Vorfteliungen von felbft empor und
Jßellen fich freiwillig dem Verftande dar ; oft
Xtürzen fie bei ftürmiiehen I-eidenfchaften aus
•ihren dunkeln Zellen ans Licht hervor j eini-
ge werden durch unfre Affecten ins Bewufst-
feyn gebracht, welche aufserdem in ewiger
Vergeüenheit gefchlumrnert hätten. — In
Aa-
Zehntes Kapitel. 325
AnTehuHj» der Gedächtnirsvorfldlungen und
ihrer Erneuerung ift Doch zu bemerken, dafs
fle nicht nur keine; neuen Vorfrellun^en find,
welches das Wort Erneuern fchon mitfich
bringt, fondern daTs auch das Gernüth ihre»
nicht anders als ehemaliger. Eindrucke wie«
der bevvufst wird, und ihre alte Bekannt-
fchaft mit ihnen nur wieder erneuert, Ael-
tere Vorftellungen find alfo zwar nicht immer
gegenwärtig, aber bei der Erinnerung ftellt
fich die Seele allezeit vor, dafs fie einft fchon
gegeben d. i. gegenwärtig waren, und vor*
geitellt worden find,
§. 8.
Zwei Un Vollkommenheiten des
Gedächtniffes, Vergeffenheit
und Langfa tu k e i t.
Nächft der VorftelIungsf;ihigkeit ift das Ge.
dächtnifs für ein vorftellendes Wefen am un-
efitbehrlicbften, und Von fo großem Einflufs,
dafs alle unfre übrigen Vermuten ohne diefes
gröTstentheils unnütz find. Wenn uns das
GeiUchtnifs nicht zu Hülfe käme, fo würden
X 3 . wir
324 Zweites Buch,
wir in unferm Denken, Schliefsen und Er-
kennen nur auf das Gegenwärtige einge-
fchränkt feyn. Es find aber bei demfelben
zwei Mängel denkbar. Erftlich wenn es die
Vorftellungen völlig verlieret, und infotern
Unwiflenheit erzeuget. Denn wir willen nur
das, wovon wir eine Vorstellung haben ; ift
diefe verfchwunden , fo find wir in eine völ-
lige Umviilenheit verfetzt Die zweite Un«
Vollkommenheit ift Langfamkeit, (Trägheit)
wenn es die vorräthigen Vorftellungen nicht
fchnell genug hervor langt, und den Geift
nicht gehörig unterftiitzt. Ein höherer Grad
diefes Fehlers heifst Dummheit* Ein
JMeulcii, der wegen diefes Fehler., ciie Vorftel-
lungen, die in dem Gedächtniis wirklich auf-
bewahret lind , nicht in Bereitschaft hat, wenn
es nöthig ift, ift nicht belTer daran, als wenn
er üe gar nicht hätte, weil er keinen Ge-
brauch von ihnen machen kann , und der
Dumme ift nicht glücklicher bei feinen Kennt-
niüen, als der ganz unwilTendej denn wäh-
rend er in dem Gedächtnifs Vorftellungen
fucht, die zu feinen Zwecken pailen , ift die
Gelegenheit} fie zu gebrauchen fchon ver-
fchwunden. Das Gedächtniis ift alfo dazu
be-
Zehntes Kapitel. 325
beftimmt, der Seele die fchlummernden Vor-
ftellungen in dein Maafse herbeizufchaffen»
als f:e diefelben nöthig hat. Ein glückliches
Gedächtnifs, dafs man diefe Vorftellungen
bei alieii Gelegenheiten in Bereitlchaft hat,
macht das aus , was man Erfindungs«
kraft, Einbildungskraft und fchn ei-
len Witz nennt,
Diefes Und die Mängel des Gedächtnifse«,
infofern wir einen Menfcnen mit dem andern
vergleichen. Es läfstfich aber noch eine an-
dre Unvollkommenheit denken, wenn wir
den Menfchen überhaupt mit einem höhern
verftändigen Wefen in Vergleichung fetzen»
Denn diefes kann inkAnfehung des Gedächt-
niffes foweit den Menfchen übertreffen, dafs
ihm die ganze Reihe aller feiner vorigen
Handlungen beftändig gegenwärtig ift, und
nicht ein einziger Gedanke aus dem ßewufst-
feyri entfchlüpft. Die AllwifTenheit Gottes,
der alle vergangene, gegenwärtige und künf-
tige Dinge weifs, und dem alle Gpdaiiken
des mer.fchlichen Herzens zu allen Zeiten of.
X 5 fenbar
325 Zweites Buch.
fenbar find, kann uns von der Möglichkeit
eines folchenGedächtniffes überzeugen. Denn
follte Gott nicht einige feiner Vollkommenhei-
ten in dem Grade als es ihm gefallt, und def-
fen ein endliches Wefen fähig ift, den erha«
benen Geiftern, die zunächft an feinem Thro-
ne ftehen , mittheilen können? Man erzäh-
let vom Pascal, diefem von Seiten des Gei-
ftes außerordentlichen Manne, dafs er, fo lan-
ge Kränklichkeit fein Gedächtnifs nicht
fchwächte, von alle dem, was er in den
Jahren des Verftandes gethan , gelefen und ge-
dacht hatte, nie das geringfte vergafs, — ein
Vorzug, von dem die meiften Menfchen nichts
willen, und den diejenigen für unglaublich
halten werden, welche andere nach dem ge-
wöhnlichen Maafsftabe, nach fich meffen. Diefe
Betrachtung kann aber dazu dienen, unfern
Verftand die Vorftellung größerer Vollkom-
menheiten des Gedacht nilTtjs in erhabenem
Geiftern zu erleichtern. Denn das Gedächt-
nifs des Pascal hatte doch noch immer die
Einfchränkung an fich, welche von dein
menfchlichen Geifte hienieden unzertrennlich
ift ; es umfafste eine grof>e Mannichfaltigkeit
von Vorltellungen , aber nicht auf einmal, fon-
dern
Zehntes Kapitel, 327
dem nach und nach. Engel von gewiffen Ran-
ge haben hingegen wahrfcheinlich einen grü-
fsern Gesichtskreis , und Cnd mit dem Ver-
mögen ausgestattet worden, alle ihre vorigen
KenntnifTe auf einmal und neben einander zu
behalten, und beftändig wie in einem Gemäl-
de fich vorzuhalten. Für einen Denker unter
den Sterblichen würde das, wie fich leicht den-
ken liifst, kein kleiner Vortheil bei feiner Er-
kenntnifs feyn , wenn ihm alle feine altern
Gedanken und. Schlüfle immer gegenwärtig;
wären. Diefs ift alfo wohl einer von denGe-
fichispunkten, in welchem die Erkenntnifs der
blo-fs geiftigen Wefen die unfrige weit hinter
fich läfst.
§. Io»
Die Thicre beTitzen ein 6 e-
däcb, tnifs.
Das Vermögen , die von der Seele aufge-
faßten Vorftcllungen zu behalten und aufzu-
bewahren findet fich auch, wie es fcheint, bei
verfchieuenen Thieren und in eben dem Gra-
de als bei Mehfchen. Denn, um nnr ein
X 4 Bei-
3ü8 Zweites Kapitel.
Beifpiel anzuführen , die Vögel lernen Melo-
dieen, und bemühen fich , wie ruan ganz
deutlich bemerken kann , die Töne richtig zu
treffen. Diefs fcheint mir aufser allen Zwei-
fel zu fetzen, dafs fie Vorftellungen haben,
fie im Gedächtnifs behalten, und als Mufter
gebrauchen. Unmöglich könnten fie fich be-
ftreben, ihre Stimme mit den Noten einftim-
rnig zu machen, wie fie doch offenbar thun»
Wenn fie keine Vorftellungen von den Tö-
nen hätten* Ich leugne nicht, dafs ein Ton*
während er wirklich gefpielet wird, niecha»
xiifch gewifle Bewegungen in den Lebensgei-
iiem des Gehirns bei den Vögeln hervorbrin-
gen kann. Diefe Bewegungen mögen fich,
wohl bis zu den Mufkela ihrer Flügel fortpflan-
zen , und fo können die Vö^el durch ein ge-
wiffes Geräufch mechanifch fortgetrieben wer-
den , weil das vielleicht zu ihrer Erhaltung
abzwecken mag» Allein da die Nachahmung
aoichts zur Erhaltung des Vogels beiträgt, fo
kann diefs rieht als Grund angenommen wer-
den, warum eine vorgefpielte Melodie —
noch weit weniger aber wenn man damit auf-
gehöret hat — eine folche Bewegung in fei-
nen Sthmuorganen hervorbringe, dafs er die
> Töne
Zehntes Kapitel. 029
Töne einer fremden Melorlie nachbildet«
Aber was noch mehr ift , man kann mit kei-
nem fcheinbaren Grunde vorausfetz,en , noch
weniger aber beweifen , dafs die Vögel ohne
Vorftellung und Gedächtnis ihre Töne nach
und nach einer geftern gefpielten Melodie an-
nähern können. Ifl keine Vorftellung davor*
in ihrem Gedächtnifs, fo ift fie für fie gar
nicht vorhanden ; fo haben fie kein AJufter
zur Nachahmung, dem hefich durch wiederhol-
te Verfuche nähern könnten. Denn es. läfsr.
fich kein Grund denken, warum der Ton ei-
ner Yogelflöte Spuren in ihrem Gehirne zu»
rütk-lalle, die nicht das erltemal fondern
durch ihre wiederholten Verfuche ähnliche
Töne hervorbrächten : oder warum ihre ei»,
ren Töne nicht Spuren zurücklaflen feilten,
die fie eben fo gut als die der Vogelilöte nach"
ahmen konnten.
X 5 Eilf-
353 Z w e i t e s Buch.
Eilftes Kapitel.
Von dem UnteiToheidungsvermöejen und andern
Thäti»ke,iten der Seele.
Ohne Unter fc he idurtg 'i ft keine
F. r k e n n t n i f s,
r
ir entdecken noch ein andres Vermögen
in der Seele, nehmlich das Vermögen die
vorhandenen Vo r f teil u n g e n zu tren.
nen und zu unt er fch eiden. Es ift nicht
genug, eine undeutliche Vorftellung von ei-
nein Dinge überhaupt zu haben. Ungeach.
tet aller Wirkfamkeit der Körper um uns,
wenn de uns afficieren unbeachtet der Thä-
ti<ikeit des Gemiiths im Vorftellen würde es
doch nur einer fehr geringen Erkenntnifs em-
pfanglich fern, wenn es nicht deutliche Vor-
sehungen von verfchiedenen Objecten und
ihren Eigenfchaften hatte. Auf das Unter-
fcheidungsvermögen gründet heb die Evi-
denz und Gewifsheit vieler Urtheile,
ieiDft
Eilftes Ji.ipitel. 53 1
felbfl der allgemeinen , die bisher für ange-
borne gegolten haben. Denn man überfiehet
gewöhnlich die wahre Urfache, warum diefe
Sätze allgemeine Beiftimmung finden , und
fchreibt fie daher nur allein den angebornen
einartigen Eindrücken zu , da fie doch eigent-
lich in dem Vermögen der Seele gegründet ift»
Vorftellungen deutlich zu unterlcheiden , und
zu beftiramen, ob fie einerlei oder verfchie- '
den find. Doch davon an einem andern Ort
ein Mehrere*,,
§. 2.
Unter fchied zwifchen dem Witz
und dem Unheils ver mögen.
In wiefern der Mangel einer fcharfen Unm
terlcheidung deT Vorftellungen in der Stumpf-
heit oder andern Fehlern der Sinnorgane, oder
in dem Mangel des Scharffinns, der Uebung
und Aufmerkfamkeit des Verftandes, oder
endlich im Leichtfinu und Uebereilung, die
gewiffo.i Temperamenten natürlich find, ge-
gründet fey , will ich hier nicht unterfucheru
Es ift °enug, wenn ich bemerke, clafs es ei-
ne von den Wirkungen der Seele ift, die
mau
332 . Zweites Buch.
man reflectiren und beobachten kann, Si«
ift von io giofsem Einllufs auf uufre Erkennt-
nifs, tia!s in dem ^eihältnifr, als diefes Ver-
mögen zu ftumpf ift, oder nicht recht ange-
wendet wird , um ein Ding von dem andern
zu unterfeheiden , in dem \ prtiäftniTs unfre
Begriffe undeutlich, unfre Urtheiie und Schlüf*
fe verwirrt und fauch find. Wenn der Witz
darin beftehet, dafs man die Gedächtuifsvor-
ßellungen immer in Bereitichaft hat, fo macht
die Deutlichkeit der Begriffe und die Fähig-
keit ein Ding von dem andern bis auf die ge-
ringflc Verfchiedenheit fcharf zu unterfehei-
den , das treffende Urtheil und die klaren
Schlüffe, worin ein Menlch dem andern über-
legen ili , gröfstenthejls aus. Hieraus läfst
fich vielleicht die gemeine Beobachtung er-
klären, dafs Menfchen von grofsem Witz
und fchnellen Gedächtnifs nicht allezeit die
hellefte Beurtheilungskraft und die gründlicli-
fte Einficht befitzen. Denn der Witz be-
ftehet gröfstentheils nur in einer fchnellen
und mannichfaltigen Zufammenftellung der
Vorftellungen, die in gewiffem Grade ähnlich
oder zufa mm er: paffend Gnd, um daraus rei-
tzende Gemälde und angenehme Bilder für
die
Eilftes Kapitel. 355
die Phantafie zu erzeugen. Die Beurthei-
]ungs kr alt iß: hingegen das entgegengefetzte
Verfahren, die Vorstellungen forgfähig von
einander zu trennen, in denen die kleinfte
Verfchiedenheit gefunden wird , um "nicht
durch die Aehulichkeit oder Verwand fchaft
getäufcht, ein Ding mit dem andern zu ver.
wechfeln. Diefes Verfahren ift den Meta-
phern und Anlpielungen grade entgegenge-
fetzt, Worin gröfstentheils das Unterhaltende
undBeluftigende des Witzes liegt. Der Witz
rühret die Phantafie fehr lebhaft, und des-
wegen gefällt er fo allgemein; feine Schön-
heit leuchtet beim erften Anblick in die Augen
und er erfodert kein angestrengtes Denken,
um zu erforfchen, wie viel Wahrheit oder
Vernunft in dem witzigen Einfall liege. Die
Seele beluffiget fich an dem Reitz der Schil-
derungen und den muntern Farben der Phan-
lafie, ohne alle weitere Anfoderung. Die
Aeufserungen des Witzes nach den (trengen
Regeln der Wahrheit und der Vernunft zu
prüfen, wäre eine Art von Beleidigung »e.
gen fie; aber daraus erhellet auch fo viel,
dafs fie jenen Regeln nicht völlig emfprechen,
§♦ 3,
334 Zweites B u c h ,
Klarheit der Vor Heilungen das
einzige Mittel gegen die Ver-
worrenheit derfelben.
Um die Vorßellungen genau zu unterfchei-
den , kommt es hauptfächlich darauf an, dafs
He klar und beftimmt find; dann kann
nicht leicht eine Verwirrung oder ein Irr-
thum veranlafst werden , wenn auch gleich
die Sinne — wie es wirklich manchmal der
Fall ift, — unter verfchiedenen Verhältniffen
von einerlei Objett verfchiedene Vorftellun-
gen erzeugen, und daher zu ii.en fcheinen»
Denn obgleich einem Fieberkranken der Zu-
cker bitler fch/necken kmn , dtr für ihn fonft
füfs fchmeckend war, fo rnufs doch fein Ver-
band die Voifteliung der Bitterkeit und der
Süfsigkeit eben fo klar und deutlich unter-
fcheiden, als wenn er nur allein Galle geko-
ftet hätte. Beide Vorftellungen können des-
wegen, weil ein Körper zu verichiedenen
Zeiten beide durch den Gefchmack verur-
facht, eben fo wenig verwechlelt werden»
als die Vorftellungen von Weifs und Süfse, oder
Weifs und Rund, weil dieie durch das nehm-
liche
Eilftes Kapitel. o.V>
liehe Stück Zucker zu einer Zeit in der Seele
erzeuget werden. Die Vorftellurfgen von der
himmelblauen und der Orangefarbe und eben fo
klar, wenn fie beide durch die nephritifche
Tinctur (infufion of lignum nephriticurn) als
wenn fie durch zwei verfchiedene Körper
hervorgebracht werden.
§• 4.
Vergleichung der Vo rftell iingen.
Eine andere Thätigkeit des Gemüths in
AnTehung der Vorßellungen, ift ihre V e r-
gleichung in Arife'iung des Urnfangs und
Grades, in Anfehung der Zeit- und llaumver-
hältniffe und anderer Umftände. Hieraus
entspringt eine zahlreiche Verwandfchaft von
Vorftellungen, welche wir unter dem Worte
Verhälmifs zufammen fallen. Von wel-
chem Umfang diefer Begriff iß , wird weiter
unten gezeigt werden,
§. 5.
335 Zweites Buc )u
§. 6.
Auch die Thiere vergleichen
Vor ft eilung en aber auf keine
fo vollkommne Art.
In wiefern die Thiere an diefem Vermö-
gen Antheil haben, läfst fich nicht leicht be-
ftimmen; aber meines Erachtens belitzen fie
es in keinem grofsen Grade. Denn he haben
zwar manche klare V orfteil ungen, aber es
fcheint ein Vorzug des menfchlichen Verban-
des zu feyn, dafs er, wenn er gewifle Vorftel-
lungen vollkommen unterfehieden , und ais-
ganz entgfgengefeut und der Zahl nach ver»
fchieden erkannt hat, übei legen und nach-
denken kann, in welchtii Beziehungen eine
Vergleichimg unter ihnen mÖg ich ift. Und
daher vergleichen die Thiere, wie kh glau-
be, ihre Vorfielhingen nur in Rücklicht auf
einige finnliche Verhaltniile, die die Objecte
felbft angehen. Das Vermögen allgemeine
Begriffe zu vergleichen, welches zum abftra-
cten Denken von INutzen ift, dürfte ihnen
wahrfcheinlich fehlen»
Eilftes Kapitel. $5j
Von dem Verbindungsvermögen»
Nächft jenem beobachten wir in der Seele
noch ein Verbi n dungs ver m ügen , wo-
durch fie verfchiedene von den Sinnen und
der Reflexion erhaltene einfache Vorstellun-
gen verbindet , und zufainmengefetzte daraus
bildet. Zu diefer Verbindung kann man auch
die Erweiterung der Vorftellungen rech-
nen. Obgleich hier die Verbindung nicht fo>
fichtbar ift, als in zufammeugefetzten Begrif-
fen, fo werden docli wirklich \ orfttdlungeu,
obgleich nur einartige zufammengefetzt« So
erzeugen wir den Begriff von einem Dutzend,
durch Zufammenfetzung mehrerer Einheiten
und die Vorftellung von einer feldwegs Län-
ge durch Verbindung mehrerer Ruthen.
§♦ 7-
DieThieTe be fitzen das Verbi n-
d ungs ve rmögen in einem fehr
geringen Grade«
Auch darin fcheint mir der Menfch gro-
fte Vorzüge vor dem Thiere zu haben« Denn
Y ob
35s Zweites B u c lu
ob fie gleich verrchiedene Verbindungen auf-
laden und behalten — fo beftehet die Vor-
ftellung des Hundes von feinem HeTrn aus
den einfachen Vorfteilungcn von feiner Ge-
ftalt, Stimme und feinem Geruch , wenn die-
fes nicht vielmehr eben fo viele einzelne
Merkmale find, an denen er ihn erkennt — fo
glaube ich doch nicht, dafs er felbft diefel-
ben verbindet, und daraus zufammengefetz-
te Vorftellwrgen bildet. Und felbft wo wir
diefe bei ihnen vorausfetzfn , ift es vielleicht
nur eine einfache Vorftellung, die fie bei der
Erkenntnis verfchiedeuer Dinge leitet, wel-
che fie vielleicht weniger, als wir glauben,
durch das Geficht unterfcheiden, IVlan hat
mir verfichert, dafs eine Hündin junge Füch-
fe fo gut als ihre eignen Jungen fange, mit
ihnen Ipiele und zärtlich thue, wenn man fie
nur einmal dahin gebracht hat, die jungen
Füchfe an ihren Brüften fo lange faugen zu
lalTen, bis die Milch durch ihren Körper cir-
Culiret. Die Thiere, welche viele Junge, auf
einmal gebühren , fcheinen keine Kenntnifs
von ihrer Zahl zu haben« Die Mutter ift
zwar feh'r bekümmert, wenn man eines der-
felben wegnimmt, fo lange fie diefelben vor
den*
Eilftes Kapitel. 55g
-den Augen hat, oder hüiet; aber wenn uian
einige in ihrer Abwefenheit und ohne Ge-
räuTch wegnimmt, fo fcheint iie diele Ihen
nicht zu vermilTen, odeT zu bemerken, clafs
die Zahl ihrer Junten verringert worden*
§. ö.
Bereich n ungen der Vor ft ellun-
gen durch die Sprache.
Die Kinder lernen nach und nach den Ge*
brauch der Zeichen , wenn firh ihre Vorftel-
lungen durch wiederholte Eindrücke rn dem
Gedüchtnifs fixirt haben, und nach erhngtpr
Fähigkeit die Sprachorgane zu Hervorbrin«
gung articulirter Töne lelbltthaiig anzuwen-
den, fangen fie an, fich der Worte zu be-
dienen, um andern ihre Vorftellungen rnitzu-
theilen. Sie borgen «liefe Spr^chzeichen
theds von andern, tbeüs bilden fie fie fe!hu\
So bemerkt man, dafs fie beim Anfange ihres
Sprachgebrauchs den Gegenftänden oft neue
ond ungewöhnliche Benennungen geben.
Y * $. fr
3/i(j Zweites B u c li.
f. 9.
Abftract ion.
Die Woite werden als äufsere Zeichen
unTier innern Vorltellungen gebraucht. Da
diefe von einzelnen Dingen aufgenommen
find, fo tnütste es eine unendliche Zahl von
Sprachzeichen geben, wenn jede einzelne
VorlteJlung , die wir empfangen , eine hefon-
dere Benennung haben follte. Da hilft fich
aber die Seele damit, dafs fie die befondern
Vorftellungen zu allgemeinen erhebt, und
zwar auf folgende Art, Sie betrachtet Ge als
innere, von allen andern existierenden Din-
gen, von allen zufälligen Befchaffenheiien
der realen Exiftenz als Zeit und Raum und
allen andern begleitenden Vorfiellungen ab-
geänderte Veränderungen der Seele. Diefeff
heifst Ab Strahieren, Die Vorftellurgen
einzelner Objecte werden dadurch allgemeine
Begriffe der ganzen Gattung, und ihre Sprach-
zeichen bekommen eine allgemeine Anwend-
barkeit für alles, was mit diefen abftrakten
Begriffen einftimmig ift. Der Verftjnd be-
wahret diefe beftimmten, blos geiftigen Vor-
ßellungen mit den anhängenden Sprachzei-
chen auf, ohne darauf zu achten, wie, we-
he«
Eilftes Kapitel. ZAl
her und mit welchen begleitenden Vorfiel«
Junten fie in die Seele komme, und betrach-
tet lie als Regeln , für die Klaffificirung und
Benennung der exiftierenden Dinge, infofern
fie mit ihnen als Muttern übereinftimmen.
Wenn ich heute die nehmliche Farbe an dem
Kalk oder dem Schnee beobachte, die ich
gertern an der Milch fand , fo betrachtet der
Verftand diefe Vorftellung befonders , und
macht fie zur Stellvertreterin der ganzen Art;
und der Ausdruck, weifs, womit fie be-
zeichnet wird, bedeutet nun diefe Befchaf-
feuheit, wo fie nt:r gefunden oder vorgeftellt
wird. Auf diefe Weife werden allgemeine
Begriffe und Spracheeichen gebildet,
5. 10.
Die Thiere abftrahiren nicht.
Sollte es vielleicht zweifelhaft feyn, ob
die Thiere auch auf diefe Art und in einem
gpwilfrn Grade ihre V'orfteJJungen zufammen*
fetzen und erweitern, fo glaube ich es ert-
fcheldend verneinen zu können. Das Ab-
ftrakiionsvermügen fehlet den Thicren durch«
Y 5 aus.
542 Zweit£s Buch.
aus. Die Fähigkeit allgemeiner Begriffe ift
das vollkorii.i.' nfte Unterid eidnngsmerkmal
Zwilchen Menfch und Thieren , und eine
Vollkommenheit, weiche die Kräfte der lez-
tern nicht erreichen können. Denn wir be-
obachten an ihnen nicht die geringfte Spur
von allgenri inen Zeichen zum Ausdruck allge-
meiner yprftellfingen , und daraus läfst fich
mit G»und ichiiefsen, dafs He kein AbTonde-
rrihgs- kein Bildungsvenuögen allgemeine*
Jte^riffe beliuen.
§. II.
Auch kann es nicht an dem Mangel an
Sprachorganen liegen, dafs fie weder allge-
meine Worte kennen noch gebrauchen. Denn
die Erfahrung lehrt, dafs einige folche Töne
nachbilden und einige Worte fehr deutlich
ausfprechen können, aber ohne diele Anwen-
dung zu machen. Auf der andern Seite find
diejenigen Rlenfthen, welche wegen eines
Fehlers in den Organen der Sprache beraubt
find, noch immer vermögend, ihre allgemei-
nen Begriffe durch andre Zeichen, welche
die Stelle der V\ orte vertreten, auszudrücken.
Die-
E i 1 f t e s Kapital, 3^5
Di efes Vermögen fehlet denThicrcn offenbar.
-Ans diefem Grunde darf man wohl anneh-
men, dafs die Thiere in diefem Punkte von
den Mcnfchen verfchieden find, und dafs zu-
lezt in diefem Unterfcheidungsmerkmal der
grofse Abftand, der beide Gattungen trennt,
gegründet lft. Denn vorausgefetzt, dafs fie
überhaupt Yorftellungen haben, und nicht
biofse Mafchinen find, — wie einige gern
behaupten möchten — fo können wir ihnen
einen gewilTen Grad von Vernunft nicht ab-
fprcchen. Es ift zum' werigften für mich
eben fo gewifs , dafs einige Thiere in gewif-
fen"Tällen fchliefsen, als dafs He Sinnorgane
haben. Aber freilich äufsern fie diefes \ er-
mögen nur an 'concreten Yoifielliirgen , fo
wie fie diefelben von den Sinnen empfangen-.
Auch die vol'lvomrnenfien Thiere find in diefe
engen Grenzen cingefchränKt , und bf fitzen ,
wie ich glaube, kein \ ermögFii , ihre Vor-
itellungen durch Abfiraktionen zu erweitern,
§. 12.
Dummheit und Wahnfinn.
Inwiefern bei einfiiltigen Menfchen Man-
gel oder Schwache eines oder aller vorhinge-
y ^
5/f4 Zweites Buch.
dachten Vermögen anzutreffen fey , kann die
Beobachtung ihrer mancherlei Vormunden
unftreirig entdecken. Wo die Empfänglich-
keit fchwach ift, oder die erhaltenen Voritel-
lungen nicht gut aufbewahret, mit Mühe
wieder erneuert und zufammengpfetzt werden,
da fehlt es an Materialien zum Denken. Wer
nicht unterfcheideu , vergleichen und abstra-
hieren kaun, der befitzt wenig Fähigkeit zum
Verftehen und Gebrauch einer Sprache; er
denkt und urtheilt nur wenig und fehr un-
vollkommen über gegenwärtige und finnliche
Gegenftände. Das Nichtdafeyn oder die feh-
lerhafte BefVhaffenheit eiues der obigpn Ver-
mögen hat dfo unftreitig beträchtliche Män-
gel in der Einficht und Erkcnntnifs eines
Menfchen zur Folget
§. i5»
Kurz die Fehler einfältiger Menfchen
fcheinen aus dem Mangel an l cbhaftigkeit,
Tbätigkeit und Reubarkpit der Geisteskräfte
zu entfpringen, wodurch fie des Vemunhge-
b'rauchs beraubt find, die Wahn finnigen
hingegen liegen vielleicht an dem entgegen-
gefetz-
Eilftes Kapitel. 3/j5
gefetzten Extrem krank. Sie haben , wie mir
dünkt, das Vermögen zu fchliefsen keines-
weges verloren, fondern nur gewiffe Vorftel-
lungen fehlerhaft verbunden , und halten fie
aus Tänfchung für Wahrheiten. Sie irren,
wie Menfehen , die aus falfchen Grundfätzen
richtig folgern. Denn durch übermäßige
Lebhaftigkeit ihrer Phantafie geblendet, fehen
fie gewiife Einbildungen für Wirklichkeiten
an, und leiten daraus ganz richtige Folgerun-
gen her. So wird man finden , dafs ein Ver-
rückter , der fich für einen König heilt, ganz
richtig eine angemefTene Bedienung , Ehrer-
bietung und Gehoriam fodert. Andere, die
lieh einbilden , Ge wären aus Glas se'-'ildet,
beobachten alle Behutfamkeit , welche nöthi^
jft , um einen fo zerbrechlichen Körper zu er-
halten. Wenn daher durch einen plötzlichen
und zu heftigen Eindruck, öder durch zu
lange Fixirung der Phantafie aoFeirie Art von
Vorftellungen , gewifle unZufämtnenhangeride
Voiftellungen fo feite verknüpft worden, dafi
fie nicht wieder getrennt Werden können , fu
kann ein Menfch, der fonft in allen Dingen
einen guten Vetftand und richtige Beurthei-
hing zeigt, in einem Punkte ein fo grofser
* 5 Narr
5:\6 Zweites Buch,
JSarr werden, als irgend ein Bewohner des
Bedlam. Doch es giebt in dem Wahnfinu,
wie in der Dummheit Grade , und daher fin»
det man das regelioie Verknüpfen der Vor-
ftellungen bei einem mehr, jjci dem andern
weniger. JVlit einem Worte , der Unterlchied
zwifchen Einfältigen und Wahnfinnigen
fcheint darin zu liefen, dafs die letztern -die
Vorfteilungen fehlerhaft verbinden , und fo
falfche Satze bilden , ob fie gleich hernach
richtig daraus folgern; die erftern hingegen
wenig oder gar nicht urtheilen und fchhelsen,
S. H-
Gang der Unter fuchung.
Diefes find', wo ich nicht irre, die erften
Vermögen und Wirkungsarten der Seele,
welche bei dem Denken vorkommen. Sie
beziehen Geh zwar auf alle Vorstellungen
überhaupt; aber die Beifpiele , welche bisher
gegeben worden, find vorzüglich von einfa-
chen Vorftellungen gewählt, und ich liefs die
Erklärung diefer Seelen Kräfte fogleich auf die
Betrachtung der einfachen Vorftellungen fol-
gen,
Eilftes Kapitel. 547
gen, ehe ich noch zurUnterfuchung derzufaui-
mengefetiten fortging; beides aus folgenden
Gründen, Erfteus. Einige von dielen
Seelenkräfien befchäftigen fich zuerft uud,
vorzüglich mit den einfachen Vorstellungen,
Ich glaubte alfo, wir würden, wenn wir den
gewöhnlichen Gang der Natur verfolgten,
ihre erüen Keime , ihre Ausbildung und Ver-
vollkommnung aufipüien und entdecken.
Zweytens, Wenn man beobachtet, wie die
Seelenkräfte bei den einfachen Vorftellungea
verfahren, welche gewöhnlich bei den mei-r
-iien Menfchen, klarer, befUmmter und deut-
licher als die zufammengeietzteu find , fo
kann man deho beiler beobachten, wie das
Geinüth die zufammengefetzten \ orftellungen,
bei denen man weit leichter irren kann, ab-
ftrahiert, mit Worten bezeichnet, vergleichet,
und fofort die übrigen Verzügen an ihneu
befchäfiiget. Drittens. Diu TUati^keiten
desGemüths in Anfehung der durch diebinne
erlangten Voritellnngen machen eine andre
Reihe von Vorftellungen aus, welche aus der
zweiten Quelle unfrer Erkenntnifs , der Re-
flexion entfyringen. Es war daher kein fchick-
hcherer Elatz zur Betrachtung derfelben , als
gleich
3/j8 Zweites Buch.
gleich nach den einfachen Vorftellungen der
Sinne. Von der Zufauunenfetzung, Verg ei-
chung, Abftraction u« f. w. der Vorftellungen
werde ich an andern Orten weitläufiger
handeln»
§♦ i5.
Das ift alfo die kurze aber doch, wie ich
glaube, wahre Darftehung von dem erlten
Urlprunge der tnenfchlichen Er
kenntnifs. Jch habe gezeigt, woher der
Seele die erften Objecte gegeben werden ;
wie fie weiterhin immer mehr Vorftellungen
aufnimmt und fammlet, aus welchen die
fammtiiche für fie mögliche Erkenntnifs be-
ftehet. Was die Wahrheit diefer Darftellung
betrifft, fo mufs ich mich auf die Erfahrung
und Beobachtung berufen. Denn der befte
Weg, die Wahrheit zu finden , ift, die Dinge
unterfuchen , wie fie wirklich find, aber
nicht vorausfetzen, fie feyen das, wofür wir
fie nach eignen oder fremden Vorfiel lungert
halten.
§. iö.
Eilftes Kapitel. ty'j
§♦ tjfu
Es ift das, wie ich aufrichtig verGehern
tann, der einzige für mich denkba-
re Weg, auf welchem der Verftand z. u
Vorftellungen von Objecten ge-
langen kann. Sind Andere im ßeGtz von
angebornen Begriffen oder eingegi.ffenen
Grundfäuen, fo haben fie das Recht, fich
derfelben zu erfreuen, und wenn fie davon
überzeugt find, fo kann man ihnen diefen
Vorzug, vor ihren Nebenmenfchen nicht
ftreitig machen- Ich kann nur von dem re.
den, was ich in meinem Selbft finde, und
was denen Vorftellungen enifpricht, welche
wie fich aus einer Unterfuchung des ganzen
menfehlichen Lebens nach allen Altern, Län-
dern und Erziehungsanen ergeben dürfte, auf
dem von mir gelegten Grunde gegründet und
mit diefer Methode vollkommen einftiuunig
find.
§♦ ff.
Ich maafse mir nicht an ^u belehren; ich
will hier nur unterfuchen, und ich mufs da-
her
55o Zweites Eucii.
her bf kennen, dafs die innere und äußere Sin-
neneindrücke für inich die einzigen Kanäle,
■weiche dem Verfiande Kenritnifie zuführen,
die ein/igen Fenfter find, durch welche Licht
in das dunkle Zimmer der Seele gebracht wird.
Denn der Vefßaüd ift, wie mir dünkt, nicht
unähnlich einem ganz finfterm Zimmer, mit
einer einzigen kleinen Oefnung, um die finn-
lichen Bilder oder Vorftellungen von Auilen-
diugen einzulallen. Dauerten diefe Abbildun«
gen länger, und reiheten fich nach einer ge-
willen Ordnung an einander, dafs fie bei Ge-
legenheit wieder aufgefunden werden könn-
ten, fo würde die Aehnlichkeit mit dem
menfchlichen Verf'r.nde in Beziehung auf die
Objekte und Vorftellungen des Gefichts noch
treffender feyn.
Diefes find meirfe Gedanken über die
Mittel, wodurch der Verftand einfache Vor-
ftellungen nebft ihren Beftim murigen erlangt
und aufbewahret, und über einige andre da-
mit in Verbindung flehende Wirkungen der
Seele. Ich gehe jr-zt weiter , und unterziehe
einige von dielen Vorftellungen mit ihren
Beitimmungen ausführlicher«
Z w ö 1 f>
Zwölftes Kapitel, 55i
Zwölftes Kapitel,
Von zufummen gefetzten Voi Heilungen,
§. I.
Die einfachen Vo r ftellu ngen Hnd
die ßefta n d theile der zufam-
mengefetzten«
W,
ir haben bisher die Vorfiellungen betrach-
tet, bei deren Empfang das Geuiüth blos lei-
dend ift , nehmlich die einfachen, welche
uns die Sinne und die Reflexion geben. Die
Seele kann eben fo wenig diefe felbftthätig
hervorbringen als andere bilden, die nicht
die einfachen zu Beftandtheilen haben. So
•wie aber das Gemüth dabei fich ganz leidend
verhält, fo übt es auch an denfelben verfchie-
dene Thätigkeiten aus, wodurch au< den ein.
fachen Vorstellungen , als den Materialien
und Gründen aller übrigen neue gebildet wer-
den. Vorzüglich find es drei Handlungen
wodurch der meufchlkhe üeift leine Macnt
über
ääa Zweites Buch.
über die einfachen Vorftellungen ausübt, l)
Die Verbindung mehrerer einfachen \ orliel-
lungen zu einer ; daraus entftehen alle zu-
fammengefetzten. 2) Die Zufammenftellung
zweier Vorftellungen fowohl einfacher als zu-
fammengefetzter , fo dafs beide ohne in eine
Vereiniget zu werden, zugleich einen Ueber-
blick gewähren. Auf diefem Wege erhält
man alle Vorftellungen von Verhältnif-
f e n 2) Die Trennung einer Vorstellung von
allen übrigen , welche mit ihr an exiltieren-
den Dingen vergefellfchaftet find, oder
die Abftraktion, wodurch fämmtliche
allgemeine Begriffe erzeuget werden»
Es erhellet daraus , wie das Vermögen und
die Wirkungsart des Menfchen in der mate.
licllen und geiftigen Welt beinahe von einer-
lei Art ift. In beiden kann er die Materialien
weder fchaffen noch zernichten ; fein ganzes
Vermögen beftehet nur darin, fie zu vereini-
gen , oder neben einander zu fiellen, oder
\-ö!lig zu trennen. Ich fange hieT mit der
erften Thätigkeit an, und betrachte die zu-
fanTtnengererzfen Vorftellungen. Auf die
übrigen werde ich au feinem Orte fortgehen,
So wie einfache Vorftellungen an realen Ob.
jeden -
Zwölftes Kapitel. 5J5
jecten auf verschiedene Art mit einander ver»
einiget gefunden werden, fo hat auch die
Seele das Vermögen, mehrere auf di< fe Ait
verbundene Vorftellungen als eine zu be-
trachten, und zwar nicht allein infofern fie
in äufsern Objecten verbunden find , ionderri
auch inrofern fie felbft diefelben verbunden
hat. Vorftellungen, welche aus der Verbin-
dung verfchiedener einfachen entftanden find,
nenne ich zu fäm menge fetzte (complex)
2. B.Schönheit, Dankbaikeit, ein
Menfch, eine Armee, das Ü n i v er fu m.
Die Seele kann diefe, ob fie gleich aus ver-
fchiedenen einfachen befteheri, doch jede an
lieh als ein voliftändiges durch ein belondrtä
Wort bezeichnetes übjeet betrachten*
§. 2.
ihre Bildung ift ein Akt der Frei*
heir.
In Anfehung des Vermögens , die Vorftel-
lungen zu erneuern und zu verbinden, befizt
die Seele eine grofse Freiheit, die Objrcte
ihres Denkens, über das , was die Sinne und
die Reflexion geben, auf unendliche Weife zu
Z Veir
35/f Zweites Buch,
verändern, und zu vervielfältigen. Bei dem allen
ift fie aber doch nur auf die einfachenVorftellun«
gen eingefchränkt , welche aus jenen beiden
Quellen entfpringen, und zulezt die einzigen
Materialien bei allen ihren Verbindungen ausma-
chen. Denn die einfachen Vorftellungen rühren
von den Dingen felbft her, und von ihnen kann
die Seele nicht mehrere und keine andere ha-
ben, als ihr gegeben werden. Sie kann kei-
ne andere Vorftellungen von den finnlichen
Eigenfchaften haben, als fie von Auken durch
die Sinne erhält, noch von den Thätigkei-
ten einer denkenden Subftanz, als he in ih-
rem Selbft findet. Wenn fie aber einmal die-
fe einfachen Vorftellungen erhaben hat, £o
ift fie nicht mehr durchaus an das, was Geh
von Aufsen und Innen ihr darbietet, gebun-
den; fie kann nun felbfhhatig die Vorftel-
lungen verbinden, und zufammengefetzte
bilden , welche ihr fo verbunden nie gegeben
worden.
§• 9-
wölf t es
K a*p i 1 6 f ,
3«3
§•
3.
\
Die zu fammen^e fetzten Begrif-
fe find tbeils B ef t i in in un gen
theils Subltanzen, theils V e r-
hältniff ef
Obgleich die zufammengefetzten Vorfiel«
lungen, welche dem menfchlicheu Verftande
Stoff und Beschäftigung geben, auf inannich-
faltige Weife verbunden und abermals verbun-
den werden, und fo unendlich fie auch dtt
Zahl Und Mannichfal igkeit nach find, fo laf-
fen fie Geh doch alle auf folgende Klaffen,
Accidenzen (Beftim mutigen), Sub-
ftanzen und Verhältnilfe zurück*
führen,
§• 4<
B e ft im m un gen,
Beftimmungen Accidenzen (rno*
des) nenne ich die zufaramengefeuteu Be-
griffe, welche, wie auch die Art ihrer Ver-
bindung ift, doch nichts für Geh felbft befte-
hendes enthalten , fondern nur als etwas Ab*
Z 2 k*a-
556 Zweites Buch.
hängiges, als Beftimmungen von Subftanzen
betrachtet werden; z.B. die Begriffe, Tri-
angel. Dankbarkeit, Mord. Wenn ich mich
des Wortes möd e in einer von dem gewöhn«
liehen Sprachgebrauche etwas abweichenden
Bedeutung bediene, fo mufs ich um Verzei-
hung bitten. In Unterfuchunge*h, welche
von gewöhnlich angenommenen Begriffen ab-
weichen, kann man nicht umhin, entweder
neue Worte zu bilden, oder den alten eine
neue Bedeutung zu geben; Das letzte ift in
unferm Fall vielleicht das Erträglichere.
§♦ 5*
Reine und gemifchte Beft im-
mun gen.
Es giebt zwei Arten cliefer Beftimmungent
welche eine befondere Betrachtung verdie-
nen. Einige find nur Veränderungen oder
verlcbiedene Verbindungen einer und derfel-
ben einfachen Vorftellung, ohne Einmifchung
einer andern, z. B. ein Dutzend, ein Schock,
welche nichts anders als Begriffe von eben fo
vielen mit einander verbundenen Einheiten
find.
Zwölftes Kapitel. 35?
find. Ich nenne diefe reine Beftimraun-
gen (Otnple modes) weil ihre Zufainmenfe-
tzuug auf eine einzige einfache Vorftellung
eingefchränkt ift. Zweitens. Andere ent-
halten eine Verbindung von verfchiedenarti-
gen einfachen Verkeilungen, in eine Vorftel-
lung zufammengefafst. Die Schönheit z»
B. ift eine beftimmte Zufammenfetzung von
Farben und Geftalten, die mit Vergnügen an-
gefchaut wird; der Dieb ftahl, die heimli-
che Veränderung des Befitzßandes eines Din-
ges, ohne Einwillung des Eigenthüiners.
Heide enthalten offenbar eine Verbindung ver-
fchiedener nicht einartiger Vorftellungen. Ich
nenne Ce gemifchte B eft i mraungen
(mixed modes)t
§♦ 6.
Einzelne und collective Sub-
ftanzen.
Die Begriffe von Subftanzen find
folche Verbindungen einfacher Vorftellungen,
welche gebraucht werden, um befondere für
fiefa beftehende Dinge vorzuftellen. In die-
fer Verbindung ift der vorausgefetzte oderun-
Z 5 deut-
558 Zweites Buch.
deutliche Begriff der Subftanz, (o wie er
ift. allezeit der erfte und vornehmfte. Man
feue z. B. zu dem Begriff der Subftanz die
einfache Vorftelhmg von einer dunkel weifs-
lichten Farbe mit einem gewiffen Grad von
Schwere, Härte, Ziehbaikeit und Schmelz-
baikeit, und man bekommt den Begriff von
Blei Die Verbindung der Vorftellungen von
ejner gewiffen Geftdlt, von Bewegungsfähig-
keit, Denk- und Schliefcvermögen mit dem
Begriff der Subftanz macht den gemeinen Be-
griff vom Menfchen aus. Die Begriffe von
Subftanzpn find wieder von gedoppelter Art,
Begriffe von einzelnen für fich befte-
henden Subftanzen, als Mensch, Scbaaf,
und Begriffe von Aggregaten einzelner
S bfranzen z. B. eine Armee, eine Heerde von
Schaafen. Jpder diefer colleciiven Begriffe,
welche aus der Vereinigung mehrerer ein-
zelrer Subftanzen in einen Begriff entftehen,
ifi: Co gut ein einzelner BegTiff, als der von
einem Menfchen oder einer Einheit,
*• 7.
Zwölftes Kapitel. 5%
$• 7.
Verheil tniff e.
Die dritte und letzte Art der zufammenge*
fetzten Begriffe fafst die Vr erh ältnif fe in
Cch , welche in der Betrachtung und Verglei«
cfcung einer Vorftellung mit einer andern be-
ftehen. In diefer Ordnung werden wir die-
fe Arten einzeln abhandeln.
Auch die tieffinnigften Begriffe
entfp ringen aus den zweiOuel-
len aller Erkenntnifs.
Wenn wir dem Fortgange des Verftandes
nachfpüren , und mit Aufmerkramkeit beo-
bachten , wie er die einfachen von den Sin.
nen und der Reflexion abgeleiteten Vorftel-
lungen wiedeiholet, zufammenfetzt und ver-
einiget, fo wird uns das weiter führen, als
wir vielleicht anfänglich glaubten. Denn
wir werden, wo ich nicht irre, durch eine
behuifam angeftellte NacbfoTfchung über den
Urfprung unfrer Begriffe finden, dafs fogar
Z /> die
5<?o Zweites Buch.
dietieffinnigften Begriffe, fo weit auch
ihre Ableitung von den Sinnen und den
Thä'igkeiten des Gemüths entfernt zu feyn
fcheint, doch keine andern als von dem Ver-
ftande gebildete Begriffe find , indem er die
Vorftellungen , welche er von finnlichen Ob-
jeeten oder feinen darauf beziehenden Thä-
tigkeiten empfing, wiederholt und verbindet.
Diefes gilt auch fogar von den weituinfaffen-
den a b f tr a k ten Begriffen. Sie eniTpringen
von finnlichen Eindrücken oder von der Re-
flexion. Die Seele kann fie erhalten , und
erhält Ge wirklich, durch den natürlichen
Gebrauch ihrer Kräfte, und durch ihre An-
wendung auf die Vorftellungen , welche ihr
von den Gegenftänden der Sinne oder ihren
eignen darauf gerichteten Thätigkeiten gege-
ben werden. Ich werde diefes an unfern
Vorftellungen, von Raum, Zeit, Unend-
lichkeit und einigen andern, weiche, wie
es fcheint, von diefen Quellen am weiteften
abliegen , zu zeigen fuchen.
Drei-
Dreizehntes Kapitel. 55»
Dreizehntes Kapitel,
Von reinen Beftimmungen , und zwar znerft von
den reinen Beiüiiimungen des Raums.
§. I.
Reine Beftimmungen,
■*n dem vorhergehenden Theil habe ich oft
der einfachen Vorftellungen gedacht, welche
in chsr That die Materialien aller unfrer Er-
kenntnis find; doch handelte ich dafelbft
von ihnen mehr in Beziehung auf die Art,
wie He in die Seele kommen . ohne fie von
zurammengefetzten zu unterfcheiden. Es wird,
daher nichts fchaden, lie hier noch einmal
in diefen Gefichtspunkt zu ftellen, und die
verschiedenen Modificationen einer
und derfelben Vorftellung zu be-
trachten, welche der Verftand theils an wiik-
lich exiftierenden Dingen findet, theils ohne
das und ohne einen Stoff von Aufien zu er-
hallen, in lieh felbft bildet,
Z 5 Dief^
552 Zweites Buch.
Diefe Modificationen einer ein-
fachen Vorftellung oder wie ich fie
oben nannte, reine Bef t i m m u n g en find
eben fo durchaus verfchiedene und beftimmte
Vorftellungen, als die von ganz entgegengefetz-
ten und widerftreitenden Objecten, Die
Begriffe von Zwei und Eins find fo verfchie*
den, als die Voiftellungeu von der blauen
Farbe und der Hitze, oder als diefe von den
Zahlen, obgleich der erfte von der Zwei nur
durch die wiederholte Verbindung des Be-
griffe der Einheit entliehet. Aus folehen Wie-
derholungen, in eine Vorftellung zufammen»
gefafst, beliehen z. B. die einfachen Beftim-
mungen , von einem Dutzend, einer Million,
einer Gröfse»
§. 2.
Die VorTtellung vorn Raum,
Ich mache hier den Anfang mit der ein-
fachen Vorftellung des Raumes»
Dafs wir diefe fowohl durch das Geficht als
durch das Gefühl bekommen, ift fchon oben
3 B» 4 K.) gezeigt worden. Da das, wie
mir
Dreizehntes Kapit-1. 365
mir fcheint, fo evident ift, fo würde ein Be-
weis, dafs das Geficht zwifchen Körpern von
verfchiodener Farbe oder zwifchen den Thei-
len eines Körpers einen Abftand wahrnimmt,
eben fo überfliifsig feyn , als dafs man die
Farben felbft anfchauet. Eben fo einleuch-
tend ift es, dafs man den Abftand im dun-
keln durch das Gefühl wahrnehmen kann. .
§. 5.
. Ranm und Ausdehnung.
Der Raum blos der Länge nach zwirchen
zwei Körpern betrachtet, ohne Rückficht auf
das was etwa zwifchen beiden befindlich ift,
heifst die E n t fer n u n g (Diftance): Nach
der Lange, Breite und Dicke betrachtet, kann
er der Umfang (Kapacität) heifsen.
Der Ausdruck A usdehnung wird gewöhn-
lich von dem Raum in jeder Rückücht ge.
braucht,
§. 4.
364 Zweites Euch.
§ 4-
TJnerme fslichk eit.
Jede Entfernung ift eine andre Modifica-
tjon des Raums, und jede Vorftellung einet
befondem Entfernung oder eines verfchiede-
nen Bauines ift eine reine Beftimmung diefer
Vorftellung. Aus Gewohnheit und zur Er-
leichterung desMeflens nehmen die Menfchen
gewifte beftimmte Längen zum Maafsftabe
an z. B. Zoll, Fufs, Elle, Klafter, Meile, Erd-
mefler u, f. w. alles blos verfchiedene Vorftel-
lungen des Raums. Man kann diefe, wenn
fie einmal geläufig geworden, in der Vorftel-
lung fo oft als man will wiederholen und an
einander fetzen, ohne die Vorftellung von
einem Körper oder von fonft etwas mit ein-
zumifchen. Und (o lallen fich an den Kör-
pern unfrer Welt oder an etwas aufser der
Kqrperwelt die Vorstellungen von einfachen
oder Quadrat ■ und Ktibik- Schuhen, Ellen und
Klaftern bilden. Durch immer erneuerte An-
einanderfetzung diefer Längen kinn die Vor-
ftellung vom Raum foweit als man will, er-
weitert wf rden. Das Vermögen eine Länge
zij wiederholen, zu verdoppeln, eine an die an-
dere
Dreizehntes Kapitel. 565
dere zu fetzen, und das fo vielmal als man
will, ohne an eine Grenze zu kommen, über
welche hinaus man die Vorftellung nicht mehr
erweitern könnte, giebtuns.den Begriff von
4er U n e r in e fs 1 i c h k e i i.
§; 5.
Die Figuri
Eine andere Modification eben derfelben
Vorftellung ift das VerbältnifSj in welchem die
Theile der Grenzen einer Ausdehnung oder
eines begrenzten Raumes zu einander Rehen.
Dieies entdeckt das Gefühl an Körpern , die
es umfallen kann, und das Auge an Körpern
und Farben deren Grenzen in dt-h behpunkr.
fallen. Man beobachtet, wie lieh die äufser-
iten Flächen endigen * ob iri geraden oder
krummen Linien, und ob diefe in merkliche
oder unmerkliche Winkel zufammenftofsen.
Die allfeitige Betrachtung des VerhältnilTes
der Linien und Winkel an den Grenzen eines
Körpers oder Raums giebt der Seele die Vor-
ßellung von der Figur. In diefem Begriff
liegt eine unendliche Mannichfaltigkeit. Denn
aufser der ungeheuren Zahl von Figuren, wie
ÜB
566 Zweites Bück.
fie an zufammenhängenden Mafien der Mate-
rie in der Körperwelt exiftieren , befuzt die
Seele noch in fich felbft einen grofsen uner-
fcböpflichen Schatz davon, indem He die Y'or-
ftellung vom Räume auf mannichfaltige Wei-
fe verändern, immer neue Verbindungen ma«
eben, diefe Vorftellungen beliebig wiederho-
len und verbinden, und dadurch die Figuren
ins Liiendliche verdoppeln kann,
§. 6.
Denn die Seele hat das Vermögen eine
gerade Linie mit einer andern in derfelben
Richtung zu verbinden; fie verdoppelt die
gerade Linie: oder beide mit einer beliebigen
INeigung an einander zu fetzen; fie bildet
jede beliebige Art von Winkel. Sie kann jede
Linie abkürzen , dureb Wegnahme der Hälf-
te, des vierten Theiles u. f. w. Da diefe
Theilung keine Grenze hat, fo kann de je-
dem Winkel jede beliebige Gröse geben»
So können die Schenkel eines Winkels von
unendlich manuichfaltiger Länge feyn ; iujf
liefen laffen fich wieder andere Linien von
verfchiedener Länge und uater verfchiederen
Wi*-
Dreizehntes Kapitel, 3^7
Winkeln verbinden, bis der Raum völlig ein-
gefchloflen ift. Hieraus erhellet alfo, dafs
die Seele die Figuren fowohl ihrem Umrifs
als ihrem Umfange (Kapacitat) nach ins
unendliche vervielfältigen kann. Und alle
diefe find eben l'o viele reine Modifikationen
des Raums. Was mit geraden Linieu gefche-
hen kann, ift auch mit krummen und beiden
zufamraengenommenen , und was mit Linien
gefchehen kann, das ift auch mit Flachen
möglich. Diefes giebt uns noch mehr Stoff
zum Nachdenken, welche unendliche Man-
nichfaltigkeit von Figuren die Seele wilikühr«
lich bilden , und dadurch die reinen Beftim-
loungen des Raums vervielfältigen kann*
§. 7-
Vom Ort*
Ein andrer Begriff, der unter diefe Gat-
tung gehört, ift der vom Orte. So wie wir
uns im blofsen Räume das Verhältnifs der
Entfernung zwifchen zwei Körpern oderPunc-
ten denken, fo betrachten wir, wenn von
dem Begriff des Ortes die Rede ift, das Ver-
hältnis
368 Zweites Buch.
hältnifs der Entfernuno; zwifchen einem Din-
ge und zwei oder mehreren Punkten , die
man fich unbeweglich und als immer gleich
weit von einander abftehend denkt. Wenn
wir einen Körper in denselben Verhältnifs mit
zwei oder mehreren Punkten beobachten, mit
welchen wir ihn geftern verglichen , und die
tmterdefsen den Abftand von einander nicht
verändert haben , fo lagt man , er ift noch an
demfelbeii Orte; ift aber feine Entfernung
von einem diefeir Punkte anders , fo fagt
man, er hat feinen Ort verändert. Doch ift
nach der gerneinen Sprache und den gewöhn-
lichen P»egriffen nicht durchaus erfoderlich,
dafs der Abltand zwifchen beftimmten Punk-
ten fcharf beobachtet werde: es ift genug,
wenn es mit gröfserii Theilen finnischer Ge-
genftände gefthiehet, mit welchen man lieh
aus gewiflen Gründen einen Körper im Ver-
hältnifs des Abftandes denkt*
§. 8.
So fagt man, eine Partie Schachfteine Tej
iioch an demfelben Orte, wenn lie noch auf
demfelberi Viereck des Schdchbretes fteiien,
wo
Dreizehntes Kapitel. Z6g
wo fie gelaffen worden , wenn auch das
Schachbret felbft unterdeflen in ein andres
Zimmer gebracht wird. Denn wir fehen bei
Beftimmung diefes Orts nur auf die T heile
des Bretes, welche ihre Lage gegen einander
nicht verändert haben. Das Schachbret ift
nach der gemeinen Vorftellungsart In demfel-
ben Orte, wenn es nur an derlelben Stelle
der Kajüte noch ift.-wenn gleich unterdeflen
das Schilt fortfegelt ; und fo auch das Schiff,
wenn es nur in derlelben Entfernung von ge-
wiflen Puucten des feften Landes bleibt,
füllte- auch unterdefTen vielleicht die Erde
lieh umgedrehet , und die Schachfteine, das
Schachbret und das Schiff ihren Ort in Be-
ziehung auf entferntere Körper, bei denen ei-
nerlei Ortverhältnifs fortdauerte, verändert
haben Man beftimmt hier den Ort d^rSchach-
fteine.des Schachbrets und desSchiffes nach der
Entfernung von gewillen Theilen des Schach-
bretes, der Kajüte, des feiten Landes, und man
kann in dieler Beziehung von jenen Dingen
fagen, dafs de ihren Ort behielten, wenn gleich
ihre Entfernung von andern Dingen, die wir
jezt nicht in Betrachtnng ziehen, und alfo
auch ihr Ort in dieler Hmlicht hch abge-
A a ändert
3jo Zweites BucL-,
ändert hat. Und fo muffen wir Such deü-
ien, fdbald wir veranlaßt werden, fie in
Beziehung mit entferntem Körpern zu fetzen*
Diefe Beftimmung der Entfernung, oder
fler Ort ift nur für das gemeine Leben , um,
wo es nöthig ift, die beüimrnte Lage eines
Dinges zu bezeichnen. Daher betrachtet und
beftimmt man diefen Ort nur in Beziehung
auf die nächften Dinge, welche zu diefem
Zweck am tauglichften find, ohne auf ändro
Xu fehen, welche zu einer andern Abficht
<ien Ort des nehmlichen Dinges beffer be-
itimmen könmen. Es würde der Abficht,
Warum man auf dem Schachtbret den Ort der
Steine bezeichnet, mehr hinderlich als betör»
derüch feyn , wenn man ihn nicht nach den
viereckigten Feldern, fondern nach etwas an-
dern beftimmen wollte. Gefetzt aber, diö
Schachfteiue würden in einem Sack aufgefteilr,
fo mülste man die Lage des fchwarzen Kö-
nigs nach den Theilen des Zimmers, und
nicht nach den \ ierecken des Erets beftim-
men» Denn hier findet eine andre Abhcht
als
Dreizehntes Kapitel. gj-j-
als bei dem Spiele ftdtt , und <'aher rr.ufs
auch die Bezeithnungsart des Orts geändert
werden. Wenn iuan gefragt würde, wo find
die V'erfe, welche die Gefchichte des I\ifu$
und Eurialus enthalten, fo würde die Ant-
wort: an dem und dem T heile der Erde oder
in der Boule/anifcheu Bibliothek, fehr un-
paffend feyn , und den Ort fehr fchJetht an-
geben; lichti-er wird er bezeichnet, wenn
man fagt, Rr find in den Weiken des Vir^üj
ungefähr in der Mitte des q. Buchs der Ae-
neide, welche Stelle fie beftändig eingenom-
men haben, fo lange als Virgils Werke ge-
druckt worden find. Diefe Antwort ift ricfo.
ti- , hatte auch das Buch taufendmal feinen
Ort verändert. Denn die ßeftinirnur,£ des
Orts (oll hier nur dazu dienen, dafs man wif-
fe, in weichern f heile des Buches diefe Ge-
fchichte ift, und fie dalelbft, wenn es nöthh»
ift , auflüchen könne.
Dafs unfer Begriff vom Orte nichts an-
ders ift, als die I age eines Dinges in Bezie-
hung auf ein andres, ift, wie ich glaube, klar,
Aa ß und
372 Zweites Buch.
und man wird ihm defto eher beiftimmen,
vvenu man bedenkt, dafs keine Vorftellung
von dem Orte des Univerfums aber wohl
aller Theile deflelben möglich ift. Denn
über da^ U.averfum hinaus ift nichts als der ein-
förmige Raum oder die Ausdehnung zu finden,
worin kein Mannichfaltiges , keine Merkmale
zu unterfcheiden find, und es fehlt uns da-
• Her die Voifttllung von fixirten beftimmten
einzelnen Körpern, mit denen wir die Ent-
fernung des Univerfums in Verhä!iiiirs fetzen
könnten. Die Redensart, die Wejt ift ir-
gendwo , oog'eich vom Orte entlehnt, bedeu-
tet doch nicht die Lage, fomlein nur die
Exiftenz der Welt. Wer den Ort des Uni-
• verfums finden und deutlich und beftimmt
fich vorftellen kann, der mufs uns auch fagen
können, ob es fich in dem nicht unterfcheid-
baren Leeren des unendlichen Raums be-
wege oder ruhe. Nach einer weniger be-
ftimmten Bedeutung des Worts, da es jeden
Kaum bedeutet, den ein Körper einnimmt,
ift freilich auch das Univerfum an einem Orte.
Wir erhalten aKo die Begrifle von Raum und
Ort, wovon der leztere nichts anders ift, als
der erfte unter einem befchräuktern Gefichts-
punkte,
Dreizehntes Kapitel, 5?3
punkte, auf einerlei Weife , nehmlich durch
das Geficht und das Gefühl. Denn Leide
Sinne geben der Seele die Vorftellungen von
der Ausdehnung und der Entfernung,
S. ii.
Ausdehnung uAd Körper find
nicht einerlei.
Einige Philofophen möchten uns gerne
bereden , dafs Körper und Ausdehnung iden-
tifch.find. Allein fie verändern entweder die
Bedeutung der Worte, oder verwecbfeln
zwei verfchiedene Begriffe mit einander. Das
erfte möchte ich nicht gerne von denen
argwohnen, welche fremde S) fteme fo ftren-
gc verurtheilen , weil fie auf der unbefh'inm-
ten Bedeutung oder täufchenden Dunkelheit
zweifelhafter oder nichts bedeutender Kuuft-
worte beruhen *), Wenn fie alfo die Aus-
A a 3 drücke
*3 Tch vermullie zu Anfinge diefes § eine Liicke
in dem Original. Denn es Fehlt derGegenfatz
zu „who eitlier change tlie fiünification of
VYoids." In dem £xempUr des Poley war
ent-
5^4 Zweites Buch.
drücke Körper und Ausdehnung in
der gewöhnlichen Bedeutung nehmen, und
unter einein Körper Etwas dichtes und aus*
gedehntes, delfen Theile auf mannichfaltige'
Weife trennbar und beweglich find, unter
der Ausdehnung aber btos den Kaum verfie-
len , der zwifchen den Grenzen diefer dich-»
ten zulainmenhängenden Fhrile inne lieget,
Und von diefen erfüllt wird, fo verwechfeln
fie
entweder diefe Lücke niclit , oder der Uebeu-
fetzer füjlte fie eigenmächtig ans, wie ich
auch für nöihig hielt. Er überfetzt nehmlich:
s, Allein fie verändern entweder, die Bedeutung
der Wörter, oder fie vermengen zvveene
Begriffe mit einander, die ganz verschieden
find." Doch kann man auch vielleicht ein
Anaco'uthoii der Rede annehmen. — Die Phi-
lofophen, welche Locke hier bestreitet, find kei-
ne andern, als die Cartefianer. In den Princi-
piis Philof. P. 11. §.4. fagt Cartes: quod
agentes , pereipiemus , natnram materiae fiye
corporis in nniverfum fpeetati, non confiftere
in eo, quod fit res dura, vel ponderofa , vtl
colorata, vel alio aliqno modo fenfua afficiens;
fed tantum in eo , quod fit res extenfa in Ion»
gum latum et profundus,
Dreizehn tcs Kapitel. 575
i\e zwei ganz verfchiedeiie Begriffe. Denu
ich berufe mich auf jedes IVk'iifcheri Verftand,
ob nicht die Vorftellung vom Räume eben
fo verfchieden von der Dichtheit als von der
Scharlacbfarbe ift. Es ift wahr, weder die
Dichtheit noch die Scharlacbfarbe kann ohne
Ausdehnung exiftieren, aber daraus folgt nicht,
dafs die Vorffellungen davon nicht verfchie-
den find. Viele Begriffe fetzen andere als Bedin-
gungen ihrer "Wirklichkeit oder VqrftVIlbar-
keit voraus, und doch find fie verfchiedne Be-
griffe. Die Bewegung ift nicht möglich
noch. yOTittilbar ohne Raum, und doch ift die
Bewegung nicht der Raum noch der Raum
die Bewegung; der Raum kann ohne Bewe-
gung feyn; beides find verTchiedene Begriffe.
Und f o , dünkt mich, ift es auch mit dein
Raum und der Dichtheit, Diefe ift aber fo
unzertrennlich vom Begriff eines Körpers,
dafs durch lie nur die Erfüllung des Raums,
die Berülming, der Auftofs und die Mit-
theilung der Bewegung möglich ift, Wenn
man fchliefsen darf , ein Geift ift vom Kör-
per verfchieden, weil das Denken nicht die
Vorstellung der Ausdehnung einfchliefst , fo
muls auch derfelbe Schlufs zum Beweife, dafs
A 4 da*
576 Zweites Buch.
der Raum kein Körper ift, gültig fein,
weil jener nicht den Begriff von der Dicht-
heit, in fichfafst. Raum und Dichtheit find fo
verfchiedene Begriffe als Denken und Aus-
dehnung; fie können in dem Verftande völlig
von einander getrennt werden.
§. 12, i3, 14.
Es ift alfo einleuchtend, {Iah Körper und
Ausdehnung verfchiedene Begriffe find. Denn
er f 1 1 ich nicht die Ausdehnung, aber wohl
der Körper fchliefst Dichtheit und Widerftand
ge"en die Bewegung ein. Zweitens. Die
Theile des blofsen Raums find unzertrenn-
lich, fo daTs ihr ftetiger Zufammenhang we-
der wirklich noch in Gedanken aufgehoben
werden kann. Man verfuche es nur, ob man
auch nur in Gedanken einen Theil von dem
andern angrenzenden wegnehmen kann. Die
wirkliche Theilung und Trennung beftehet
meiner Meinung nach darin, dafs man einen
Theil von dem andern entfernt, und dadurch
zwr-i Obetfiächen macht, wo vorher ein zu-
farnmenhängendes Ganzes war; und die Thei-
lung in Gedanken beftehet darin, dafs man
dieses
Dreizehntes Kapitel. 37 7
dieles in der Vorftellung vornimmt, und fich
rorftellt. Die Theilung ift aber nur da mög-
lich, wo fich das Gemitth etwas trennbares
vorftellt; wo ein Ding durch die Trennung
neue befondere Oberflächen erhält, die es
vorher nicht hatte, aber haben konnte. Allein
weiler die erfte noch die zweite Art von
Trennung ift mit dein blofsen Räume ver-
einbar. — Es ift wahr , man kann von ei-
nem Räume nur einen gewiflen Theil, etwa
foviel, als ein FuTs ausmacht, betrachten.
Diefes ift aber keine Theilung in Gedanken,
foncrern nur eine theilweife Betrachtung.
Denn man kann weder in Gedanken theiien,
ohne zwei getrennte Oberflächen zu denken,
noch wirklich theiien, ohne zwei getrennte
Oberflächen zu machen. Eine theihveife Be-
trachtung ift aber noch keine Theilung. M;in
kann fich das Licht der Sonne ohne ihre
HitzG', und die Beweglichkeit eines Körpers
ohne feine Ausdehnung denken, ohne an
ihre Trennung zu'denken. Jenes ift die par-
tiale Vorftellung, die lieh nur auf ein Ding
beziehet; diefes die Vorstellung von zweien
als getrennt exiftierenden Dingen. — Drit-
tens. Die 1 heile des blofsen Raumes find
A a 5 un-
C'o Zweites B a c L
unbeweglich — einp Folge ihrer Uniettrenn*
iichkeit. Die Bewegung ift die Veränderung
der Entfernung zwifchen ^wei Dingen. Un-
zertrennliche Theile können (ich alfo nicht
bewegen, fie muffen unaufhöilich gegen ein-
ander ruhen.
So ift alfo clor beftimmte, Begriff des Rau-
mes klar und hinlänglich vom Körper unter-
fchieden; denn feine Theile find unzertrenn-
lich, unbeweglich und wklerffcehen der Be-
wegung eines Körpers nicht.
Die D efin itio n von der Ausdeh-
nung erklärt nicht, was der
Raum ift.
Was ift aber der Raum von dem
hier die Rede ift? Diefe Frage will ich
dann beantworten, wenn man mir erklaret,
was die Ausdehnung ift. Denn die gewöhn-
liche Erklärung , Ausdehnung ift fo-
vicl, als Theile aufs er einander
haben, fagt nicht mehr als: Ausdehnung
ift Aus de an u n gt Bin ich wohl beßex
über
Dreizehntes 'Kapitel. 379
über die Natur dcrfelben belehrt , wenn
man Tagt: die Ausdehnung ift foviel als Thei-
le haben die ausgedehnt find, und die aufser
den ausgedehnten Theilen find, d, Fi. die
Ausdehnung beftehet aus ausge-
dehnten Theilen? Gerade, als wenn
man einem auf die Frage, was eine Fiber
fey, zur Antwort gäbe, fie fey ein aus ver-
fchiedenen Fibern z!i(ammengefetztes Ding*
"Wird er nun wobl beflt'r verliehen, was eine
Fiber ift, als vorher? Oder wird er nicht
rjiif Hecht denken, dafs man auftatt einer ernfi-
haften Belehrung feiner nur Ipoiten wolle?
Die Eint h eilung der Dinge in
Körper und Geifter be weifet
nichts für die Identität des
Raums und des Körpers.
Dif jenigen , welche die Identität des
Raums und des Körpers behaupten, ßel-
len folgendes Dilemma auf. Der Raum if$
entweder etwas oder nichts, In dc-i-i letzten
Fall ift nichts zwifchen swei Korperu , und
fie
3jJo Zweites Buch.
fie muffen fich rothwendig berühren. In
dem erften Fall, fragen fie ob er ein Körper
oder ein Geift ift? Ich antworte ihnen mit
einer andern Frage : Wer hat ihnen ge^°t,
dafs nur dichte (ausgedehnte) Wefen nicht
denken können , oder dafs nur denkende We-
Jen nicht ausgedehnt find? Denn das ift der
ganze Inhalt ihrer Begriffe, welche fie mit
den Ausdrücken, Körper und Geift ver-
binden»
Die Subftanzialität, welche wir
nicht kennen, ift kein Be-
weis gegen einen körperlee-
ren Raum,
Auf die gewöhnliche Frage: ob diefer
körperleere Raum eine Subftanz
oder ein Accidenz ift? antworteich ohne
mich zu bedenken : ich weifs es nicht. Und
ich werde mich dieTer UnwiflVnheit fo lange
nicht zu fchämen haben, als diefe Frager mir
nicht einen klaren , beftiunuten Begriff von
der Subftanz aufweifen.
§. 18,
Dreizehntes Kapitel, 58 1
§. 18.
Ich biete alle meine Kräfte auf, um mich
von den Tiiufchuiigen loszumachen , in die
man lieh fo leicht verwickeln kann, wenn
man Worte für Dinge nimmt. Es hilft unfrer
Unwiffcnheit nichts, durch das Geräufch von
Tönen ohne klare und beftimmte Bedeutung
mit Erkenntnifs zu prahlen , wo keine ift.
Willkührlich gebildete Worte ändern nicht
die NatiiT der Dinge, und werden uns nur
infofern verftändlich, als he beltimmte Begrif-
fe bezeichnen. Wenn doch diejenigen , wel-
che fo viel Gewicht auf den zweifylbigen
Ton Subftanz legen, überlegten, ob er auf
den unbegreiflichen unendlichen Gott auf ei-
nen endlichen Geilt,, und auf einen Körper
angewendet, in dem neliiilichen Sinne ge-
braucht werde, oder ob man eiue.lei Begriff
damit verbinde, wenn jedes dieler fo ver-
fchiedenen W'efen Subltauz genennt wird l
IMüfsten denn nicht Gott, Geilt und Körper,
wenn lie in Anfehung des gemein fchaft liehen
Begriffs der Subftanz einitiunnig wären« duich
blotse iModiucationen der Subltanz vei.chie-
den fevn, Jo wie ein Kaum und ein Kieiel-
itein,
332 Zweites Buch.
fiein, welche in einerlei Sinne Korper findi
und in Anfehung der allgemeinen Natur ei-
nes Körpers übereinftiminen, nur durch Mo-
dificadonen der gemein fchaltiichen Materie
vtrchietlen find? Gewifs eine fehr harte
Lehre, Aber vielleicht fdgen fie, das Wort
werde in Beziehung auf Gott, Geift, Körper
in drei verfchiedenen Bedeutungen gebraucht,
und es bedeute einen andern Begriff, wenn
von Gott gefagt wird, er fey eine Subftanz,
als wenn man diefes der Seele oder dem hö «
per bedegt. Dann würden fie aber wohl thun»
wenn fie die drei verschiedenen Begriffe
kenntlich machten, oder fie zum wenigften
durch drei Worte bezeichneten, um bei ei-
nem fo wichtigen Begriff der Verwirrung und
dem Irrthum vorzubeugen, welche nothwen-
di-* aus dem unbeftimmten Gebrauch eines fo
zweideutigen Worts fol-en muffen. Allein
Weit entfernt, dafs diefes Wort drei ver.
fchiedene Bedeutungen hätte, fd hat es im
gewöhnlichen Gebrauch kaum einen deutlich
beftimmten Sinn, Und wenn de drei vef-
fchiedene Begriffe von Subrranz unt.eTfchei-
den , warum füllte ein anderer vielleicht
nicht auch den vierten noch hinzu finden?
Dreizehntes Kapitel. 383
S» i&
15 ie Begriffe Sutrtah'z und Acci-
denz f i n iT von wenigem Nutzen
in der P hi lofophie«
Diejenigen , welche tuerft auf den Be-
griff, Accidenz, kamen, um etwas Reales an-
zuzeigen 4 das rioth wendig etwas anders vor-
ausfetze, in dem es fubflßirie , muhten qotbr
wendig den Begriff Subftanz erfinden, um
jenes gleichfam zu tragen. Hatte jener a*me
Indianifche Philo?"-- auch die
Erde müfste eil ... die*
fes Wort gedacht, fo hätte er (ich die Mühe
erfparen können, einen Kiephamen zum Tra-
ger der Erde, und eine Schildkröte zum Trä-
ger des Elephanten ausfindig zu machen; das
"Wort Subftanz hatte beides geleiftet. Hätte
der Indianifche Philoloph getagt , die Sub«
ftanz. die er nicht kannte, tr^e (ylP Erde,
fo müTste das für eine eben fo befriedigende
Erklärung gelten, als die der Europäifchen
Philofophen: die Subftanz, von der fie eben
fo wenig einen Begriff haben , fey das Sub-
ftrat der Accidenzen. Wir haben alfo kfin^n
fleut*
384 Zweites Buch.
deutlichen Begriff, von dem , was die Sub-
ftanz ift, fondern nur einen verworrenen,
Von dem was lie wirketi
§i SO.
Wir wollen mehr fragen, was die Gelehr-
ten in diefem Falle thun mögen. Aber ein
verßändi»er Amerikaner, der die Natur der
Dinge zu erforfchen, und unfre Bauart ken-
nen zu lernen wünfehte, würde kaum mit
der Erklärung zufrieden feynj ein Pfeiler fey
fo eiwas das von einem Fufsgeftelle getragen
-werde, vv.d das . Fufseeftell fey etwas, das
den Pfeiler trage. Für Spötterei würde er
fo etwas, rieht für Belehrung halten. Würde
woh! einer, der nichts von der Belchaffenheit
der Bücher und ihrem Inhalt weifsj fehr
beiehrt werden, wenn man ihm fagte : alle
gelehrte Bücher befiehen aus Papier und Buch-
ftaben; die Buchfhben find Dinge, welche
an dem Papier haften, und das Papier ift ein
Ding, welches die Buchftaben in Cch hält.
Gewifs eine fonderbare Art, klare Begriffe
von Papier und Buchftaben mitzutheilen»
Wenn man an die Stelle der lateiniieheu Wor-
te
Dreizehntes Kapitel. 385
te I n h * ere n tia und Subftahtia andere
ihnen entlprechende ans den neuem Sprachen
fetzte, fo würde es deutlicher werden , wie
grofs die Klarheit ift, welche in der Lehre
von der Subftanz und dem Accidenz herrfcht,
und wie brauchbar beide Begriffe zu* Eni"
ichcidung philoFophifcher Fragen find.
i\ au
Es g i e b t ar. fser den Grenzen der
Körper weit einen leeren Raurri.
Doch wir kehren zu dem Begriff vom
Räume zurück. Wenn er. Gott gefiele einen
Menfchen an die lezte Grenze der Körperwelt
zu Hellen — vorausgefetzt nehmlich, dafs
die Körper nicht unendlich find, welches
aber wohl Kie'mand behaupten dürfte, — fo
fradt es fich, kanh diefer feine Hand von dem
Körper ausfirecken ? Kann er es, fo :nufs er
feinen Arm in einen Raum bringen, wo vor-
her kein Körper wsr , und zwifchen feinen
ausgeftreckten Fingern wird noch immer kör-
perleerer Raum feyn. Kann er es nicht, fo
inufs es ein äufserer Widerftand verhindern.
Denn wir fetzen voraus , dafs er lebendig ift
B b mV*
3g6 Zweites Buch.
und die K;?,ft hefitzfe, alle Glieder feines Kor-
peis zu bewe^err, eine Voran sfetzung, die
au (Ich nicht unmöglich ift, wenn es Gott fo
haben wollte; zum wenig&en wäre es für
Gott nicht unmöglich, ihn fo zu bewegen.
Und nun frage ich : Ift das, was fich der Aus-
ftreckung feiner Hand widerfetzt, e-iueSubftanz
oder ein Accidcnz, Etwas oder Nichts? W-er
die fe Frage entfeheiden kann, wird auch im
Stande feyn, die andere au fzuiöfen, was da*
Unkörperlicbe, Undichte ift, was lieh zwi-
fchen zwei Körpern in einiger Entfernung
befindet, oder befinden kann, Indefien ift
doch der Schlufs, dafs wo nichts ift, das VVi-
ilerftand leiftet — man vergefse nicht, dafs
wir an den äufserften Grenzen der Körper-
weit find — ein In Bewegung gefetzter Kör-
per lieh fort bewegen kann , xiun wenigfien .
eben fo richtig, ais der, dafs zwei Körper,
zwiiclun denen nichts ift, fich noth wendig
beruh» 6« rutÜTea. Denn der biofse Raum
zwifchen zwei Körpern kann fchon dieNoth-
weridigkejt der gegenseitigen Berührung auf-
hebe«», abev nicht die Uewegung hindern. ,
Riefe Pfeil© fophea mi'iifen in Wahrheit entwe.
der ein^v.i::...,ii , was üe aber unfeine thun,
dafs
Dreizehntes Kapitel. 58^
dafs die Körperwelt unendlich ift, oder he*
hanpten , dafs der Raum kein Körper ift*
Denn Heil Denker will ich feben , der in fei-
nen Gedanken dein Räume oder der Dauer
Gienzen fetzen kann, oder dadurch hei bei-
den an ein Ende tu kommen hofft, Wenn
daher fein Be^rjit von der Bwigkeit unend-
lich ift, fo riiufs es auch fein Begriff von di-t
Unerinefslichkeit fcvn". Der eine wie äer andre
ift entweder cn dlich oder unendlich»
§- 22.
Die Möglichkeit d e t Z e t k i c h«
tu 11 g i f t ein Beweis f ü t den 1 e e.
reu U a u ui.
Diejenigen, welche die Unmöglichkeit
des Leeren Raums behaupten* müileti ferner
nicht nur die Körper uuendlich machen, fon«
dem auch Gott die Macht abfprechen, einen
Theil der Materie zu zernichten* Niemand
wird wohl leugnen, dafs Gott alle Bewegung
drr Materie aufbeben , alle Körper des'Uni-
verfums in einen völligen Ruhe und Still-
itand verfetzen , und darin, (a lange er will,
ß b 2 er-
33$ Zweites Buch.
erhalten kann. Wer nun eingeftehet, dafs
Gott während einer folchen allgemeinen Ruhe
entweder diefes Buch oder den Körper des
Lefers zernichten kann, der mufs notwen-
dig die Möglichkeit eines leeren Raums ein«
geftehen. Denn offenbar bleibt der von dem
zernichteten Körper eingenommene Raum
noch übrig, und wird von keinem Körper er-
füllt, und die umgebenden Körper bilden»
bei der allgemeinen Ruhe eine unüberwindli-
che Mauer gegen das Eindringen jedes an-
dern Körpers in diefen Raum, Die Noth*
\vendigkeit der Bewegung eines Theils der
Materie in einen Raum, der von einem andern
Theile geräumt worden, ift in der That nur
eine Folgerung von der Hypothefe des erfüll-
ten Raums, und fie bedarf daher eines gründ-
lichem Beweifes, als eine vos?ausgefetzte That-
lache iß, die kein Verfuch durch Erfahrung
erweifen kann. Dafs aber keine nothwendi-
ge Verknüpfung zwifchen Raum und Dicht-
heit ftatt findet, davon können uns unfre
klaren und deutlichen Begrifie vollkommen
überzeugen , indem das eine ohne das andre
denkbar ift» Diejenigen, welche gegen oder
für das Leere fliehen, geftehen , fchon da-
durch
Dreizehntes Kapitel. 5$a
durch ein, dafs fie deutliche Begriffe von dem
leeren und erfüllten Räume, alfö auch von ei-
ner Ausdehnung ohne Dichtheit haben, nur
dafs lie der letzten die Wirklichkeit abfpre-
chen. Ohne das würden Ge um nichts flrei-
ten. Wer die Bedeutung der Worte fo fehr
ändert, dafs er die Ausdehnung zum Körper
macht, und das Wefen des letztem in der blo-
fsen Ausdehnung F ohne Dichtheit beftehen
läfst , kann freilich nur Ungereimtheiten über
den leeren Raum fchwatzen. Denn die Aus-
dehnung kann ohne Ausdehnung nicht feyn.
Der leere Raum , man mag feine Exiftenz
behaupten oder leugnen , ift nichts anders,
als ein Raum ohne Körper, deffen reale Mög-
lichkeit niemand leugnen kann, ohne der
Materie Unendlichkeit zu geben , oder Gott
die Macht ab z ufprechen, einen Theil der
Materie zu zernichten.
§♦ 23.
Die Bewegung ift ein Beweis für
den leeren Raum»
Doch wir dürfen nicht einmal um einen
leeren Raum zu finden, über die Grenzen
B b 5 der
5qo Zweites Buch.
der Körperwelt hinaussehen, oder uns auf
die Alimacht Gottes berufen; die Bewegung
der Körper in unfrer Nahe uud vor unfern
Aijyen fcheint mir Fchon laut riafür zu fpre«
cheu. Denn man rasche den Verfuch , ob es
möglich ift einen dichten Körpchr von jeder
beliebigen Gröfse fo zu theilen, dafs die dich,
ten Theile innerhalb den Grenzen der Oher-
fische fich auf und nieder in jeder Richtung
frei bewegen können, wenn nicht ein leerer
Raum innerhalb, derfelben , fo grofs als der
kleinfte der zerlegten Theile, übrig gelaflen ift.
Wenn diefef Theil fo grols oder rnillionen-
mal kleiner als ein Senfkcun ift, fo mufsauch
der leere Raum innerhalb den Grenzen der
Oberfläche des get heilten Körpers zur freien
Bewegung der Theile eben fo grofs feyn.
Denn gilt cliefes bei einem Theile, fo inufs
es auch bei dein andern und fo ins Unendli-
che fort gehen. Der leere Raum fey fo klein
als er will , die Hypothefe von dein erfüllten
Räume wird doch entkräftet. Man fetze ei-
nen leeren Raum, der dem kleinften Theile
d] r exiftierenden Materie gleich ift, fo ift es
«och immer ein Raum ohne Körper und der
Unterfchied zwifchen einem Körper und dem
Raum
Dreizehntes Kapitel. 5g,t
Ranm wird dadurch fo grofs, als wäre iwi-
fchen beiden die gröfste Kluft beieftrget.
Diefe Folgerang behält ihre Gültigkeit» wenn
wir auch ein anderes Verhältnifs zvvifehen
dem zur Bewegung erforderlichen Räume
und den kleinften 'j'heilen der zerlegten Ma-
terie annehmen»
§. 24.
Die. Begriffe von Kaum und Kor-
per find v er fchieden.
Doch wir befchäftigen uns hier nur mit
der Frage; ob der Begriff des Rau-
mes oder der Ausdehnung mit dem
des Körpers identifch ift? Es ift da.
her nicht nothwendig, die reale Exiftenz des
leeren Raums , fondern nur die Wirklichkeit
des Begriffs davon zu erweifen. Und die-
fer ift eine offenbare Thatfache , da Eini-
ge über die Exiftenz oder Nichtcxiftenz
des leeren Raumes forfchen und ftreiten. Denn
wie könnte man ohne Begriff von einem
körperleereu Räume, diefem feine Exiftenz
ftreiiig machen? Auch könnte man nicht die
B b 4. durch.
892 Zweites Buch.
durchgängige Erfüllung des Raumes in der
Welt bezweifeln, wenn der Begriff des Kör-
pers nicht noch etwas mehr als den Begriff
des blofsen Raumes enthielte. Denn da Kör-
per und Raum dann nur verfchiedene Ausdrü-
ckefür einen und denfelben Begriff wären, fo
wäre fchon die Frage, ob es einen Raum oh-
ne Körper gebe, fo ungereimt als diefe, ob
es einen Raum ohne Raum , oder einen Kör-
per ohne Körper gebe,
§. 25.
Die Ausdehnung ift zwar vom
Körper unzertrennlich aber
deswegen nicht einerlei mit
d e m f e f b en.
Es ift wahr, die Ausdehnung ift mit allen
fichtbaren und den meiften fühlbaren Eigen-
fchaften fo enge verbunden , dafs man nur
wenige äuföere Objecte fühlen aber keins
derfelben fehen kann, ohne zugleich Eindrü-
cke von der Ausdehnung mit aufzunehmen.
DieTer Umftand war, wie ich verrauthe, die
Veranlailung , dafs einige das Wefea des gan-
zen
Dreizehntes Kapitel. 3g"5
zrn Körpers in der Ausdehnung feuien.
Auch darf man fich darüber eben nicht fo
fahr wundern , da die beiden gefchaiti^ften
Siune, die Augen und das Gefühl, das
Genaüth fo fehr mit Vorfte Hunden, die
ßch auf die Ausdehnung beziehen , erfül-
len und einnehmen, dafs einige Menfchen
fogar keinem Dinge , wenn es nicht ausge-
dehnt war, ein Dafeyn beilegten Doch ich
will jetzt nicht gegen diefe ilreiten, welche
die befchränkten und groben Vorftellungen
ihrer PhantaQe zum Maafsftab der Möglichkeit
aller Dinge machen. Ich habe es jezt nur mit
denen zu thun , welche das Wefen de? Kör-
pers in der Ausdehnung fetzen, weil fie, wie
he fagcn , lieh keine Hunliche Beschaffenheit
des Körpers ohne Ausdehnung voi Hellen kön-
nen. Hatten fie doch nur fo aufmerkfam über
die Vorftellungen des Gelchjnacks und Ger
xuehs als über die des Gelichis und G< k
nachgedacht, oder auch nur das Gcfüiil von
Hunger und Dürft und andern unangeueh-
men Empfindungen unterfucht, fie würden
gefunden haben, dafs fie die \'orftelIunor der
Ausdehnung gar nicht einfchlieTsen, Die
Ausdehnung ift nur eine Beftimmung des Kör-
B b 5 per«
%3 ZwtiiM FacbL
pars, fb ^ie «Jie fifjri'gen: durch die Sinne
malUOT&ibiaiibase» Elgeafekafte», und die Sinne
ißjsaä wöM ta-sina rekasff genug , um ia das rei*
me Wefeo d«r Ifege einiudringea.
f. 2&
Weam dlie Yerßelluagen > welclie beftäi?-
dig mit anders verknüpft find , deswegen für
das Weife» «ieijeäigea- Pinge lnüfstea gehal-
ten wer<dea# aüt derea Begriffne unzertrenn-
lich vetbvmden Snd„ f» ift die Einheit
un&relslg tbs Wefea aller Dinge* Denn je-
des öbjeel der Sinnlichkeit und der Refle-
xion fährt diefea BegrifF bei Heb» Doch die
Schwäche diefes Scblufles ift bereits hinläng-
lich aufgedeckt worden.
§. 37.
Die Begriffe, de* Raums und" der
Dichtheit find ver f chieden.
Was endlich aach die Marlene* über die
WirUiclifccrit des leeren Raumes denken mö-
gen, fo ift doch für mich fo viel klar, dafs
wir einen deutlichen Begriff von deai Räume
haben*
Dreizehntes Kapitel. 5q-
habpp ♦ und ihn fo fcharf von der Dichtheit^
diefe von der Belegung und niefe von dem
R.-.t nie unterfebeiden können . als es nur
bei andern Vorftelluneen möglich ift. Der
Raum i!i eben fo vorf+ellbar ohne Dich'hrit,
als der Körper oder der Raum ohne Bewe-
gung, wenn es auch noch fo ausgemacht ift,
dafs weder Körper noch Bewegung ohne
Raum exißiren kann. Ob der Raum nur ein
Verkahnils fey , das aus der Exiftenz anderer
entfernten Wefen entfpringt, oder ob die
Worte Salpracfs; der Himmel und der Him-
mel der Himmel kann dich nicht falsen, oder
die V\ orte Paulus: in ihm leben, weben und
find wir, buc-hitjiblich zu verliehen feyen,
das mögen andere entfeheiden. Genug unfer
Begi iff vom Räume ift, wie ich gezeigt ha-
be, von dem des Körpers verfchieden. Man
betrachte den Raum an der Materie, als das
Auseinander.^ yn der dichten, zurammeijh;in-
genden 'Meile, oder als zwifchen <un Gren-
zen eines Körpers nach allen feinen Durch-
mcllungen liegend , oder endlich Zwilchen
zwei Körpern oder Dingen liegend, ohne
Rücklicht darauf zu nehmen, ob zw liehen
beiden Materie ift oder nicht; man nenne
ihn
396 Zweites Ruch.
ihn in der erften Beziehung die Ausdehnung,
in der zweiten die Länge, Breite und Dicke,
und in der dritten die Entfernung: es ift doch
immer cliefelbe einartige und einfache Vor-
frellung des Raums , wie er auch genennet
oder betrachtet wird». Diefe Vorftellung ent-
fpringt von denÖbjecten, mit welchen unfre
Sinne befchäftiget find. Die beftimmten Vor-
ftellungen von ihnen können wir in unferm
Selbft erneuern, wiederholen und zu einan-
der fetzen, fo oft es uns gefällt, auch den
Raum oder den Abftand zwifchen ihnen in
der blofsen Vorftellung entweder als mit etwas
Dichten erfüllt, oder von allem Dichten ent-
lediget betrachten , fo dafs im erften Falle
ein andrer Körper, ohne das Dichte aus fei-
ner Stell» zu treiben, nicht eindringen, im
zweiten aber ein Körper von derfelben Gröfse
als der Raum iß, denselben erfüllen kann,
ohne ihn vorher körperleer zu machen. Um
aber alle Verwirrung in diefer Sache zu ver-
meiden, dürfte man wohl wünfehen , dafs
das Wort Ausdehnung nur von der Ma-
terie oder der Entfernung der Grenzen eines
Körpers, Ausfpannung (Expanfion) hin.
gegen nur von dem Raum überhaupt, er fsy
mit
Drcirehntes Kapitel, 397
mit Materie erfüllt oder nicht, gebraucht
würde, fo dafs man fagte, der Rar. m ift
ausgefpannt, der Körper ift ausge-
dehnt. Doch das ift nur ein Vorschlag zur.
Beförderung der Deutlichkeit in der Sprache;
jeder behält darin feine Freiheit]
ft 23»
DTe Menfchen find in Anfehung
der klaren einfachen Vorftel-
1 u n g e n wenig uneinig.
Die fcharfe Bfeftlmrinuri* der Bedeutung
der Worte würde in diefem fo wie in andern
Fällen bald allen Streitigkeiten ein Ende mä-
chen. Denn wenn die Menfchen ihre einfa-
chen Vorftellungen unterfuchten, fo würden
fjfi wohl bald finden, d;ifs iie allgemein ein-
ftimmigfind, ob fie gleich in ihren Unterre-
dungen einander durch die verfthiedenen
Worte verwirrt machen. Diejenigen Män-
ner, Welche im Stande lind, ihre eignen Be-
griffe aufmerkfam zu beachten und. zu unter-
fcheiden , können fchwerlich lehr in ihrem
Denken abweichen, fo lehr lie auch einander
duidi-
3f)8 Zweites Buch.
dinch blois.o Worte »n Verlegenheit fetzen
mögen, wenn fie in Her Sprache ihrer Scr.u-
le oder Sekte reden. Wenn man aber weqjg
denkt, feine eignen Begriffe nicht forgiäihg
und gewiüenhaft prüfet, lie nicht von den
gewöhnlichen Ausdrücken lostrennet, fon.
dem mit Worten verwechsle, dn kann des
Zankens, Streitens und des unVerftändlicheji
Gewäfches kein, Eni e ft) n , befonders unter
Mä -nern» die ihre Gelehrfamkeit aus Bü-
chern haben, einer Sekte und ihrer Sprache
'klavifch anhängen, und nur andern nachbe-
ten. Sollten aber zwei Denker wirklich we-
fentlich. verfchiedene Begriffe haben j To fehe
ich nicht, wie fie mit einander disputiren und
{breiten wollen. Man würde ßch aber fehr
irren, wenn man glaubte, jedes flüchtige Phan-
tahenbild gehörte unter die Reihe von Vor-
Heilungen s von denen hier die Rede ift. Es
ift keine leichte Arbeit für den Verftand , alle
verworrene Begriffe und Vorurtheile abzule-
gen, die er aus Gewohnheit, Uuachtfamkeit
und dem gemeinen Leben eingelbgen hat;
es körtet eine anhaltende Anftrengungt
ü:n feine Begriffe zu unterfuchen , und he
in die klaren, beftimmten, einfachen Voröel-
lunsen
Dreizehntes !Ka^patt«L
lnnnrpn anf/ulöfen, ans jfl-eiaea» Sü« -iMfornmea •
/t lind, um; \\n\e.i «liefen düsjKWsusi*-«» »a
untoifcheiden, weldie in nvtk-waiü.i«*rr Veeg--
knupftrng oder fte-ziehn»'.» fiel»«». £*g> HfiBB««
aber ein Menfc'h <"! i e Ts mit «$(••« «ife« rbc
fpri'iGg'icher. Begriffen von «3ceffl Di.a^a c:.;'.t
thnt, -fo lange baut er a.uf irda«rüid3üeBsSeB ujsd-
gewiffe Grund f.: rze , und wird üiiiu «jtttt ta Vtr -
legenbeu gefetzt und geflawJfidiaK Ssdea *\
Vierzflintc
Von der Dauer ftiitl 'flrr .s HWIeise-
*. I.
Die Dauer ift die Hi««ir*e««Ie äks-
d e b n u n «.
■L'S pi"<
giebt eine andere Art ro»« ASsftuad
Länge, deren VorfteHuatg wir ssic&t von dem
hshtxw
*) Locke fliehte Sz-n empia ifcLm CrfjMrwm» «Jen
\ Britellosig vca dem Rauac jakf^ «i. k. da
4°o Zweites Buch.
beharrlichen Theilen des Raumes , fbndern
von den flielleuden, immer wech feinden
Theilen einer fucceffiven Reihe isrhalten: V\ ir
nennen fie Dauer, Ihre einfachen ßeftim-
numgen find dieverfehiedenen Grofsen — Län-
gen derfelben, infofern fie von uns vorge»
ftelli. werden, als Stunden, Tage, Jahre
u. f. w, Zeit und E \v i g k e i t.
welche Data , ourch weiche Vorftellungen fie
veranlafst oder erzeugt weide. Ei ,&ieng alfo
von feinern Germilh heraus, und fuclite den
Grund diefer Vorftellun» nicht in feinem Selb/t,
Sondern in der Außenwelt,, an dem Abfiande
der Tlieile eines Körpers von einander, oder
eines Körpers von dein andern. Er bemerkte
«licht, dafs Ahftan d. , Theiie, Entfernung u.
f, w fcliuu Raum voraus fetzen , mir im Raurn
vorf'ellb.ir und , und konnte es auf feinem
Wiege nicht wohl bemerken. Zwar kam er
dein reinen Begriff vom Räume etwas näher, in
'dem ev den Kaum, von dem Raumeii'ül.
1 en de u unterfchied ; aber immer betrachtete
er doch den erfüllten und leeren Raum als
ein aufser uns befindliches reales Dirig, weil
ev die Vorßelhing davon als eiiien von aufsein
Objekten abftraluuten Begrifi betrachteten.
Vierzeh ntes Kapitel. -qoi
§. 2.
Die Voiftellung der Dauer ent-
fpringt aus der Reflexion ü b e £
die Folge unfier Varftellun-
Die Antwort eines grofsen Mannes *) auf
die Frage, was die Zeit fey : wenn ich
nicht gefragt werde, fo weifsich
es, welche fo viel bedeutete als: jemehr ich
darüber nachdeiike, deftu weniger verliehe
ich davon, könnte leicht den Gedanken ver_
anlafsen, dafs die Zeit, welche alles andre
offenbar macht, felbft etwas unerforfchliches
fey. Und man glaubt in der Thal nicht oh-
ne Urfache, dafs in der Natur der Dauer, Zeif
und Ewigkeit etwas fchwer zu ergründendes
liege. So wenig begreiflich aber auch diefe
Vorftellungen fcheinen , lo zweifle ich doch
nicht, dafs wir ihren UrTprung, durch unfer
Nachforfchcii , in einer, von den be»den
Quellen aller unfrei Erkenntnifs, in der Sinit-
hch-
) Attgufiinu/.
Cc
402 Zweites Buch,
lichkeit oder der Reflexion, entdecken ton-
nen. Es wird fich zeigen , dafc wir daraus
von diefc-n Obiecten eben Co klare und deut-
liche Begriffe erlangen , als von andern nicht
weniger dunkeln Gegen [landen , und dafs
felbft der Begriff von der Ewigkeit aus der
gemeinfchaftlichen Quelle aller unfrei Vorfiel-
hingen entfpringt,
5. 5.
Zur richtigen Einficht in die Begriffe rort
Zeit und Ewigkeit muffen wir den Begriff von
der Dauer und feine Entftehungsart aufmerk-
fam unteifuchen. Dafs in dein wachenden
Zuftande eineReihe von Vorftellungen unauf-
hörlich auf die andre folgt, ift eine Thatfache
die jedem Beobachter der innern Veränderun-
gen feines Gemülhs einleuchten mufs, Die
Reflexion über den Wechfel der einander ab-
jöfenden Vorfrellungen giebt uns den Begriff
von der Folge, Succellion. Der Ab-
ftand zwifchen den Gliedern diefer Folge,
oder zwifchen dem Bewufsfeyn zweier Vor-
ftellungen der Seele, ift das was wir Dauer
Kgrjncn, Denn während wir denken > oder
Vor-
Vierzehntes Kapitel» 4*3
Vorftellungen nach einander in die Seele auf-
nehmen, find wir unfres Dateyns bewirfst;
und dahet nennen wir die fort gefetzte Exi-
ftenz unfrer Selbü oder eines andern mit un-
term Henken coexifh'erenden Dinges, infofera
fie durch die Folge unfrer Vorftellurgen ge»
tneüeu Wirtin, die Dauer chefer Dinge«.
i 4>
DaTs wir unfern Begriff von der Folget
und der Dauer aus diefer Quelle, nehmlich
der Reflexion^ über die Zeitfolge unfrer Vor-
ftellungen erhalten , fcheint fich mir dadurch
zu beftätigen, weil wir nur infofern eine Vor-
flellung von der Dauer haben , als wir di©
Folge der in unferrn Gemüthe wechfelnden
Vorftellungen betrachten. Mit diefem Wech-
fei hört auch jene Vorftellung auf — eine Erfah-
rung, die jeder an fich im tiefen Schlafe, ma-
chen kann. Er fchlafe eine Stunde, einen
Tag, einen Monat, oder ein Jahr; er hat voa
dieTer Zeit, während er fchläfr oder nicht
denkt , keine Vorftellung , Ge ift für ihn ver_
loren; der Augenblick, wo fein BewufstTeyn
aufhört, und der, wo es wieder anfangt,
Cc 2 fche^i-
404 Zweites Euch.
fcheinen ihm durch keinen Abftand auseinan*
der gerückt zu teyn. Das würde ohne Zwei-
fel auch der Fall in dein wachenden Zuftande
feyn , wenn es möglich wäre, ohne Wechfel
und Folge anderer Vorfteilungen nur eine in
dem Bewufstfeyn feit zu halten. So läfst ein
MenfGh, der feine Gedanken auf einen Ge-
genftand heftet , und über diefer Betrachtung
den Wechfel anderer Vorfiellungen wenig
beachtet, unvermerkt einen' grofsen Theil
diefer Dauer aus der Rechnung aus,
und glaubt die Zeit fey kürzer gewe-
fen, als fie wirklich war. Im Schlafe flie-
fsen aber gewöhnlich entfernte Zeittheiie in
einander , weil dann kein Wechfel von Vor-
fteilungen in dem Gemüthe vorgehet. Denn
wenn man träumt, und eine Reihe von Vor-
fteilungen, eine nach der andern ins Bewufst-
feyn kommt, fo hat man auch in dem Trau-
me ein Bewufstfeyn von der Zeit und ihrer
Län^e. Alles diefes überzeugt mich, dafs
der Begriff von der Dauer von der Beobach-
tung des Wechfels unfrer Vorfteilungen abge-
leitet ift. Wenn man nicht wahrnähme, wie
eine VorftHlung auf die andre folgt, fo wür-
de kein Wen Ich eine Vorßelhmg von der
Dauer
Vierzehntes Kapitel, i\oS
Dauer haben, was auch fonft für Veränderun-
gen in der Welt vorgehen möchten.
§. 5.
Der BegViff von der Dauer ift
auch während des Schlafs auf
die Dinge anwendbar,
Die Menfchen haben alfo in der That den
Begriff von der Dauer durch die Reflexion
über die Folge und Zahl ihrer Vorfiellungen
erhalten. Er kann aber gleichwohl auch auf
Dinge angewendet werden, die während fie
nicht denken, exiftieren, fo wie der Begriff
von Ausdehnung der Körper, obgleich aus den
Eindrücken des Gefichts oder Gefühls ent-
fprungen , auch auf die entfernten Räume an-
gewendet wird, wo kein Körper fichtbar oder
fühlbar ift. Zwar kann man die Lunge der
Zeit nicht wahrnehmen, welche in dem Schla-
fe oder Kichtbewufstfeyn verfliegt. Allein
nachdem man einmal den Wechfel des Tages
und der Nacht und die Länge diefer Perioden
beobachtet hat, welche in der Erfchcinung
Tegclmäfsig und einerlei ift, fo läfst fich un -•.
C c 5 der
406 Zweites Buch,
der Voraussetzung, cUfs clieler Wechfel währ
rend des Schlafes und des Nichtbewufstfeyn$
eben fo regelmässig als zu andern Zeiten er-
folgie, auf'i die Omer des Schlafes vor-
ftellen und ungefähr beftimmeu. Wenn
aber Adam ur.d blva. da lie noch aHeine wa-
ren , anftatt der gewöhnlichen Zeit £.'l Stirn"
clen in einem fort gefchiafen hatten , (o wäre
diefe Zeit unwiderbringlich für lie verloren
und aus ihrer Zeitrechnung ausgewichen ge-
vveien.
$. 6.
Der Begriff von der Folge ent-
fpringt nicht von der Bewe-
gung,
Vielleicht glaubt Mancher, diefer Begriff
muffe nicht aus der Reflexion über den Wech-
fel unfrer Vorftellun^en, fondern vielmehr
aus der Wahrnehmung der Bewegung durch
die Sinne entftehen. Allein er wird meiner
Meinung beitreten, wenn er überlegt, dafs
die äiifsere Bewegung diefen ßegvifi auf kei-
ne andre Weile erzeugen kann, als in dem
fie eine Itete Reihe von unterftheidbjren Vor-
ftellun-
Vierzehn t e s Kapitel, 407
Heilungen in unferm Gemüthe hervorbringt.
Ja man kann felbft einen bewegenden Kör-
per anfchauen, ohne die Bewegung zu bemer-
ken, wenn nicht dadurch eine ftete Reihe
von auf einander folgenden Vorftellungen
verur facht wird. So kann ein Menfch auf
der See, an einem heitern windftillen Tage,
dem feften Lande aufser Geficht, die Sonne,
die See, das Schiff flundenlang betrachten,
ohne die geringfte Bewegung wahrzunehmen ;
und doch ift es gewifs , dafs während diefer
Zeit einige oder alle diefe Gegenftände einen
groTsen Kaum zurückgelegt haben. So wie er
aber bemerkt, dafs der Abftand diefer Kör-
per von einem andern fich verändert hat, und
dadurch eine neue Vorfteliung in ihm erzeugt
wird, fo hat er auch die Bewegung wahrge-
nommen. Man fetze aber einen Menfchen
an einen Ort, wo alle Körper um ihn herum
in Ruhe find: er wird, wenn er nur eine
Stunde denkt, durch den Weckfcl feiner Vor-
ftellungen und Gedanken, eine Folge in fiqh
finden , wo er keine Bewegung beobachten
konnte.
C c 4, §. 7.
4p5 Zweites Buch.
§• 7-
Diefs iß wohl die Urfache, warum
wir langfame obgleich anhaltende Bewegun-
gen nicht wahrnehmen. Denn indem ein
Körper von einem wahrnehmbaren Punkte
zum andern fortrückt, wird die Entfernung
fo lan^fam abgeändert, dafs dadurch keine
neue Vorftellung als nach Verflufs einer ziem-
lichen Zeit erweckt wird; es entflehet alfo
keine ftetige Reihe von neuen Vorftellungen,
die unmittelbar auf einander folgen. Man
hat alfo keine Vorftellung von der Bewegung;
denn diefe als eine ftetige Folge kann nicht
wahrgenommen werden, wenn nicht eine fte-
tige Fol^e von \ orftelluijgen in uns verur-
facht wird»
§. 8.
Im Gegentheil wird auch keine Bewe-
gung an denjenigen Körpern wahrgenommen,
welche Geh fo gefih wind bewegen, dafs fie die
Sinne die verschiedenen Entfemungspunkte
in der Bewegung nicht wahrnehmen laden,
und deswegen keine fucceflive Reihe von Vor-
fteüun-
Vierzehntes Kapitel. 4°9
ftellungen in dem Gemiithe verurhchen.
Wenn ein Körper fich in einem Kreile in
kleineren Zeittheilen beweget, als unfere
Vorftellungen aufeinander zu folgen pilrgen,
fo wird die Bewegung nicht wahrgenommen,
es fcheint vielmehr ein ganzer vellftändiger
Kreis von gewiiTer Materie öder Farbe , nicht
aber ein Theil eines bewegten Kreifes, lieh den
Augen dariuftellen.
Die Fol^e unfrer YorftrI hingen
hat einen gewiffen Grad von
G e f c h vv i n d i g k e i t.
Sollte nicht daraus wahrfohcinlich wer-
den, dafs unfre Yorftelmngcn in dem wa-
chenden Zuftande in einem gewUTen AbPtande
auf einander folgen, faß fo wie die Bikler in
dem innern Kau me einer Laterne von der
tiitz. • des Lichts herumgedrehet werden, Iiire
fuccefrive Eritheinung kann zwar zuweilen
fchneller oder laugfamer feyn, aber fie h.it
do$h in einem wachenden Menfchen pine
nicht lehr veränderliche Norm. Die Folge der
Ccö Vor-
»jl» Zweites Bucli.
Vorftellungen fcheint an gewiffe Grenzen
der Gefehwindigkeit und Langfamkeit gebun-
den zu feyn , welche fie weder auf diefer
noch jener Seite überschreiten kann»
§• 10,
Diefe fonderbar fcheinende Mutbma-
fsung gründet fich auf die Bemerkung, dafs
wir die Folge der Eindrücke, wodurch die
£iinne afficiret werden, nur in einem gewiflen
Grade wahrnehmen können. Wenn fie zu
fchneil auf einander folgen, fo haben- wir
Zveitjen Sinn dafür , fo gewifs es auch ift, dafs
eine' wirkliche Folge ftatt fand. Wenn eine
Kanonenkugel beide Wände eines Zimmers
durchbohret, und unterweges einem Men-
fchen ein Glied oder Theil feines Leibes ab-
reifst, fo ift es fo klar, als eine Demonftration,
dafs alles diefes nicht auf einmal, fondern
nach und nach gefcheheu mufste. Gleich-
wohl hat gewißi noch kein Menfch, der fich
in diefem Falle befand, weder bei der Wun-
de und dem Schmerze noch in dem Schall,
wennq die Kugel an beide Wände anprallte,
dno Folge wakrgenommexi. Eine Dauer die-
fer
"Vier zehntes Kapitel. 411
fer Art, in der keine Folge bemerkbar ifr,
ift das , was wir einen Augenblick nennen
können. Der Augenblick erfüllt nur die Zeit
einer einzigen Vorstellung in dem Gemüthe,
ohne dafs eine andre darauf folgt. Und da-
her iil in demfelbea keine Folge rorftdlbar,
5, 11,
Diefes ereignet fich auch d*nn, wenn die
llewegung zu langram iu% dafs fie den Sinnen
J'eine ftetige Reihe von neuen V'orftellungen
in der befrimmten Zsit dirbietet, in weichet
das Gemüth neue Vorftelhuigen aufnehmen
kann. Es wird unfren \ orltellungen Zeit
gelaflen, unterdeffen ins Bew-.ijtfejn zukom-
men, und die Reihe dt-r Vorlteliungen , wel-
che der bewegte Körper durch die Sinne ver-
anlafst, zu unterbrechen, und die Wahr*
nehmung der Bewegung geht verlornen. Ein
füleher Körper fcheint ftille zu liehen, weil
er ungeachtet feiner wirklichen Bewegung,
doch das Raumverhältnus zu andern Körpern
nicht fo fchnell auf eine merkliche Weife
verändert, als die Vorfleliungen u^iers Gq-
n;üth>
Hiz Zweites Buch.
müths in Reihen auf einander folgen. An
den Zeigern der Uhren, dem Schatten der
Sonnenuhren und bei andern langfamen Be-
wegungen kann man fich davon überzeugen.
N-cii einiger Zwi^henzeit läfst fich an
dein veränderten Abitande bemerken, .dafs
fich diere Dinge bewegt haben , aber die Be-
wegung felbft wird nicht wahrgenommen.
§. 12,
Die Fe beftimmte Folge unfrer
Vorftelluugen ift der Maafs-
ftab für jede andre Folge.
Die einförmige und regelmäßi-
ge Folge dfr V o r f t el I u n ge n in dem
wachenden Zuftand fcheint alfo gleichfam
der Maafsftab und die Regel für
jede andere Folge zu feyn. Wo
daher eine Bewegung oder Folge entweder
zu fchnell oder zu langfam erfolgt, daTs fie
dem Gang urfrer Vorftelluugen entweder zu-
vorläuft, • oder mit dentelben und ihrer be-
fiiminten Zeitfolge nicht gleichen Schritt halt,
da ift die Vorftellung von einer gleichförmig
fort-
Viei' zehntes Kapitel. 41a
fortfchreitenden Folge verTchwunden , und
wir bemerken fie nur in gewiilen Zwischen-
räumen der Ruhe. Ein Beispiel von jenem
Fall ift, wenn zwei Töne oder fchmerz hafte
Empfindungen fo gefchwind auf einander fol-
gen, dafs fie nur die Zeit einer einzigen
Vorftellung einnehmen; und von diefern.
wenn eine oder mehrere Vorftellungen mit
gewöhnlicher Gefchwindigkeit ins Btwufst-
feyn kommen, und die Reihe derer unterbre-
chen, welche dem Geficht von den befiimm-
ten Entfernungsweiten eines bewegenden Kör-
pers u, f, w. gegeben werden.
§. i5.
Das Gemüth kann nicht lange
Zeit auf eine unveränderliche
Vorftellung haften.
Allein, könnte man Tagen, wenn wirklich
unfre Vorftellungen, fo lange wir einige ha-
ben, unaufhörlich wechfeln , und auf einan-
der folgen, fo ift es unmöglich, einige Zeit-
lang über ein Object nachzudenken, Meinj
man damit foviel, als man könne eine und
d i e-
4t4 Zweites Buch,
diefelbö Vorftellung ganz ifolitt
und ohne alle Abwechfelung, eini-
ge Zeitlang in dem Bewufstfeyn erhalten,
fo ift es. wie ich glaube, als Thatfache unmög-
lich. Da ich nicht weifs, wie die Vorftel.
lungen der Seele gebildet werden , aus wel-
chem Stoff üe beftehen , woher fie ihr Licht
erhalten, und wie he Och dem Bewufstfeyn
dsrftellen, fo kann ich dafür freilich keinen
andern Grund als die Erfahrung anführen.
Man verfuche es alfo, ob man eine einzelne Vor.
ftellung ifolirt einige Zeit hindurch unverän-
dert in den Gemüthe gegenwärtig erhalten
kann,
$. 14.
Marh nehme t. B. eine Figur, einen" ge?
willen Grad von Licht oder Farbe , oder was
man fonft wilf, und man wird nur zu bald
die Schwierigkeit empfinden, alle andern
Vorlleilungen entfernt zu halten. Verfchie.
■dene Betrachtungen über den vcrgefteiiten
Gegenftand (wovon eine jede eine neue Vor-
fietluBg ifi) oder Vorftellungen andrer Art
wer-
Vierzehntes Kapitel. ifö
Werden immer mit einander wechfelh , fo
fehr man es auch vermeiden will.
§• i?
Alles was der Mm/ch, in diefetn Fall ver-
mag, ift, die Vorfteliungen, die vor feinem
Bewufstfeyn vorbeigehi-n , zu beachte; 5 eine
gewifse Reihe von Yrirftellungen zu beftirn-
men, und diejenigen herbeizurufen1 , welche
zu feinem Nutzen oder Vergnügen abzwecken.
Aber die beständige Aufeinanderfolge neuer
Vorfteliungen zu hemmen, das fleht wob[
nicht in feiner Macht; doch kann er will-
kührlich beftimmen, welche davon er auf-
aierklam beachten wilk
Wie auch Vorfteliungen entffe-
hen, fo fchlieffen f i e doch kei-
ne Empfindung von Bewegung
ein.
Ob diefe rcannichfaltigen Vorfteliungen
der Seele durch gewifle Bewegungen entfle-
hen , will ich dahin geftelit feyn lalfen. So
vie
/jx6 Zweites Buch,
viel ift aber gewifs, dafs fie bei ihrer Erfchel-
nung keine Bewegung einfchliersen. Hätte
daher der Menfch den Begriff von der Bewe-
gung nicht anders her, er würde gar keinen
haben. Diel es ift fchon zu meinem Zweck
hinreichend, und zeigt offenbar, dafs die
Beobachtung u n frer Vorfteüungen
und ihrer A u fei n a nd erfolge der Seele
ausfcbliersüch den Begriff von Folge
und Dauer giebt. Es ift al'b nicht die
Bewegung* fondern die beftändige Folge der
Vorfteüungen - unfers Genui'.hs in dein wachen-
den Zulrande» welche uns den Begriff der
Dauer zuführet« Die Bewegung trä^t,
wie ich ichon oben gezeigt habe, nur info-
fern dazu bei , als fie eine ftetige Folge von
Vorfteüungen in unfern) Gemüthe veranlagt.
Die Vorftellungen von Folge und Dauer wer*
den aber fo klar durch' eine Reihe von fuccef-
fiven Vorftellungen, die den Begriff von Be-
wegung nicht voriusieizen , als durch eine
Ileihe andrer durch die ununterbrocbne
wahrnehmbare Veränderung des Abftandes
zweier Körper, alfo" durch Bewegung verur-
fächten Vorftellungen dem Gemüthe gegeben.
Die Vorftellüng von der Dauer könnte daher
auch
Vierzehntes Kapitel. 4x7
auch ohne alle Vorftellung von der Bewe-
gung feyn, » "
$• 17»
Die Zeit ifi eine durch ein be-
ftimmtes JVlaaf» bezeichnete
Dauer.
Nach Erlangung des Begriffs der Dauer
hat der Verfhnd zunächft darauf zu denken,
ein gewifles Maafsfür diefe allgemeine Dauer
feftzufetzen, ura ihre Länge und die beftimra-
te Ordnung , worin die Dinge exiftieren, zu
beurtheilen. Denn ohne das würde ein gro«
fser Theil unfrer Kenntnifle verwirrt und
ein beträchtlicher Theil der Gefchichte un-
brauchbar werden, Diefe Betrachtung der
Dauer, infofern fie durch gewiife Perioden
beftimmt, und durch gewiife Maafse oder
merkwürdige Begebenheiten bezeichnet wird,
ift das, was, wo ich nicht irre, am fchick-
lichften Ze it genennt wird.
D d §. 18,
4l£ Zweites Buch.
§. l8»
Ein gutes Zeitmaafs mufs ihre
ganze Länge in zwei gleiche
Zeiträume eint heilen.
Zur Ausmeflung der Ausdehnung ift nichts
weiter erfoderlich , als eine ilegel oder ein
IVlaafsftab, dellen wir uns gewöhnlich bedie-
nen , wenn wir die Gröfse der Ausdehnung
eines Diuges wiiTen wollen. Bei der Dauer
gehet diei's aber deswegen nicht an , weil
man nicht zwei Theile einer Zeitfolge neben
einander fetzen kann, um einen mit dein an-
dern zu rneflen. Für die Dauer kann es kein
andres Maafs als die Dauer, und für die Aus-
dehnung kein andres als die Ausdehnung ge-
ben. Daher haben wir für jene, welche in
einer beftändig wech feinden Folge befiehef
kein fo f eftfte hendes , unveränderliches Maafs
als für den flaum beftiminte 1 ängen, als Zol-
le, Fufse, Ellen, die an beharrlichen Thei-
len der Materie bezeichnet find. Nur Eins
konnte daher einen tauglichen Zeitmefler ab-
geben, was nehiniich die ganze Länge feiner
Dauer durch regeimähug wiederholte Reihen
von
Vier teil ntes Kapitel. 419
Von Erfcheinungen in fcheiubar gleiche Thei-
le abgefoudert hat. Alle Theile der Dauer»
die nicht durch diefe Perioden untcrfchieden
und gemeffen, oder als foiche. betrachtet wer-
den , gehören eigentlich nicht unter dea
Zeilbegriff, wie auch fchon aus den Aus-
drücken vor aller Zeit, wenn Lein©
Zeit mehr feyn wird, eihellet.
§. '9-
Der Umlauf der Sonne und des
Monds ift das f chic kl ie hf tö
Zei t m a ä fs.
jDie tägliche und jährliche Umwälzung;
der Sonne, welche von Anfang der Welt einför-
tnig, regelmäfsig, für alle Menfchen ein Ge-
genwand der Wahrnehmung, und wie man
vorausfetzte, immer von gleicher Länge war,
wurde mit Recht zum Maafse der Dauer an*
gewendet. Die durch die Bewegung der Son-
ne beftimmte Unterfcheidung der Tage und
Jahre hat aber den Irrthum veranlafst, als
wäre die Dauer der Maafsftab für die Be-
weguug, und diefe wieder für die Daner,
D d a Die
420 Zweites Buc h.
Die Menfchon waren bei Beftiminung der
Zeitlänge gewohnt, an Minuten. Stunden, Ta-
ge, Monate, Jahre zu denken, und bei jeder
Erwähnung der Zeit und Dauer pflegten fie
diefe fich au vergegenwärtigen» Da aile die-
fe cQeile durch die Bewegung der Him-
...ciskörper btftiromt waren, fo war das Ver«
anlafsung, Zeit und Bewegung miteinander
zu verwechfeln, oder wenigstens eine noth-
Vendi^e Verknüpfung zwischen beiden zu
denken» Allein eine gleichförmige periodi-
sche Erfcheinung, oder ein regelmäfsig, allge-
mein bemerkbarer Wechfel der \ orftellungen
in einem fcheinbar gleichen Abftande würde
die Zeiträume eben fo gut unterfchieden ha-
ben, als jene Bewegungen. Gefetzt die Son-
ne, welche einige für Feuer hielten, würde
in derfelben Zeit, in der fie jezt jeden
Tag in den Mittagszirkel tritt, angefteckt,
und dann nach 12 Stunden wieder ausge-
löscht, und fie nehme in der Zeit einer jähr-
lichen Umwälzung merklich an Hitze und
Glanz zu und ab, würde nicht diefe regel-
roaf ige Erfcheinung für alle diejenigen , wel-
che He beobachteten, eben fo gut mit und oh-
ne Bewegung ein fchickliches Zeitmaafs feyn ?
Ge«
Vierzehnte» Kapitel. 42t
Gewifs fie würde es auch ohne Bewegung
feyn , wenn fie nur regelmäfsig in gleichen
Perioden erfolgte, und von allen wahrge-
nommen werden könnte«
§♦ V-
Aber nicht durch die Bewegung
fondern durch die periodifch«
Erfcheinung.
Die Menfchen könnten eben fowohlnach
dem Gefrieren des WalTers , oder der Blüte-
zeit der Pflanzen, wenn fie in allen Erdthei-
len in einerlei Perioden wiederkehrten, als
nach den Bewegungen der Sonne ihre Jahre
rechnen. Das thun auch wirklich einige
Völker in America, welche ihr Jahr nach
der Ankunft und Abreife gewifler Vögel in
beftimmten Jahreszeiten berechnen. So
könnten auch die Anfälle des kalten Fie-
bers 1 die Empfindungen des Hungers und
Durftes gewifle Geruchs • und Gefchmacksera»
pfinHungen, die Ablaufszeit einer fucctTfi-
vpn Reihe meffpn, und die ZwifchertTaiime
der Zeit unterfcheiden , wenn fie in beftimra-
D d 3 ten
^Sft Zweites Buch,
ten gleichen Perioden zurükkehrten und ein
Gegenftand der Wahrnehmung für alle wären.
Auch fehen wir, daTs BUudgeborne die Zeit
fehr gut nach Jahren berechnen, ob fie gleich
den Abiauf derfdben nicht nach Bewegun-
gen der Himmelskörper, die fie nicht fehen,
beftimraen können* Und follte ein Blinder,
der feine Jahresrechnung nach der Hitze des
Sommers, oder der Kälte des Winters, oder
dem Geruch einer Blume im Frühling, oder
nach dem Genufs einer Herbftfrucht befumm-
le, nicht ein befferes Zeitmaafs haben, als die
Römer vor Verbeflerung ihres Kalenders durch
Julius Cäfar, oder viele andere Völker, deren
Jahre ungeachtet ihres Vorgebens, dafs fie
nach der Bewegung der Sonne berechnet wä-
ren, fehr unregehnäfsig find? Es verurfacht
keine kleine Schwierigkeit in der Chronolo-
gie , dafs man die befummle Länge des Jah-
res bei verrchiedenen Nationen nicht genau
beftimmen kann, weil fie alle von einander,
und man kann wohl allgemein fagen ,
von der Bewegung der Sonne abweichen.
Und wenn,, wiß ein fcharffinniger Schrift-
fleüer vor kurzem annahm , die Sonne von
der Schöpfung bi§ auf die Sündfluth fich
be-
Vierzehntes Kapitel, ^jg
v
beftandig in dem Aequafdr bewegte, Licht
und Hitze über alle bewohnbare Theile
der Erde in gleichem Grade verbreite-
te; wenn alle Tage von gleicher Lange wa-
ren, weil lieh die Sonne nicht wie jetzt
jahrlich den Wemleciikeln näherte, und von
ihnen wieder entfernte, fo fcheint es eben
nicht fehr wahrscheinlich, dafs die Menfchen
vor der Sund flu th vom Anfange der Welt an,
ungeachtet der Bewegung der Sonne, nach
Jahren gerechnet und die Zeit nach Perioden
gemeflen haben , welche kein in die Augen
fallendes Unterfcheidungsmerkmal hatten»
§* 2r.
Ob zwei Theile der Dauer einan-
der gleich find, kann man nicht
gewifs erkennen.
Allein wie könnte man wohl ohne eine
reguläre Bewegung z, B. der Sonne odei ei-
nes andern Körpers , erkennen , dafs folche
Perioden gleich find? Gerade fo wie man
D d 4 <*ie
424 Zweites Buch.
die Gleichheit jeder andern zurückkehrenden
Reihe von Erfcheinungen oder die Gleich-
heit der Tage erkennt, oder vielmehr fürs
erfte nur erkannt zu haben glaubte, nehm-
lieh durch die Reihe von Vorftellungen, wel-
che in der Zwifchenzeit in dem Gemüthe ab-
lief. Da man nach diefer Beftjmmung eine
Ungleichheit in den natürlichen Tagen , aber
nicht fo in den künftlichen wahrnahm , fo
glaubte man , die letztern wären von gleicher
Länge, und das hielt man für zureichend,
um fie zum Zeitmaafs zu gebrauchen. Ob-
gleich feitdem eine fchärfere Unterfuchung
Ungleichheiten in dem täglichen Umlauf der
Sonne entdeckt hat, und man nicht weifs,
ob es mit dem Jahreslauf nicht auch fo feyn
könnte, fo find doch die künftlichen Tage
wegen ihrer angenommenen und fcheinbaren
Gleichheit eben fo brauchbar zur Meffung
der Zeit, als wenn ihre Gleichheit aufs fchärf-
fte erweislich wäre. Nur find fie zur genauen
AbmefTung der Theile der Dauer nicht taug-
lich. Daher inufs man forgfältig zwifchert
der Dauer felbft, und dem gewöhnlichen Maafs-
ftabe zur Beurtheilung ihrer Lange unterfchei-
den. Die Dauer felbft ift als eine ftetig glei-
che
Vierzehntes Kapitel. 42^
V
che, einförmig ablaufende R.ei he zu betrachten.
Aber es lüfet (ich nicht beftimmen, ob irgend
ein zu ihrer Meffung gebräuchliches Maafs
auch fo befch?ffen fey. Es ift ungewifs, ob
die abgemarkten Theile oder Perioden in
Vergleichung miteinander von gleicher Dauer
find; denn keine Demonftration kann dar-
thun , dafs zwei fucceflive Längen der Dauer,
wie fie auch geineüen werden , einander
gleich find. Man hat, wie fchon gefügt wor-
den, in dem Lauf der Sonne, der fo lange
Zeit und fo zuverläfsig als ein genaues Zeit-
maafs in der Well gebraucht worden, Un-
gleichheiten entdeckt. Zwar hat man fpäteT-
hin die Pendel , als eine ftetigere und regel-
mäfsigere Bewegung als die der Sonne (oder
richtiger der Erde), dazu gebraucht; allein
man würde gewifs fehr in Verlegenheit feyn,
wenn man durch eine Demonftration bewei-
fen follte, dafs die zwei auf einander folgen-
den Bewegungen der Pendel einander gleich
find. Denn wir willen nicht, ob die Urfache
diefer Bewegung, die uns unbekannt ift, im-
mer gleichförmig wirkt, dahingegen es ge-
wifs ift, dafs das Medium, in welchem fich
die Pendel bewegt , nicht immer von einer-
D d 5 lei
426 ^Zweites Buch.
li 1 ße'chaffenheit it't. Jede Veränderung in
beiden kann die Gleichheit der auf einander
folgenden Schwingungen abändern, find da-
durch die Geuhsheit und Richtigkeit des
lYIaafses aufheben. Ebenda-» kann aber auch
bei aniJern Reihen von Erfcheinungen ge-
schehen. Der Begriff der Dauer felbft bleibt
aber immer klar, wenn auch die Richtigkeit
des Maafses für diefeibe nicht fcharf bewie-
fen werden Kann. Da man alfo zwei Theile
der Zeitfolge nicht nebeneinander halten
kann , fo ift es unmöglich, ihre Gleichheit
mit Gewifsheit zu erkennen» Wir können
alfo bei Meflung der Zeit nichts anders thun,
als ein folches Maafs anzunehmen, welches
durch eine fietige fuccefiive Reihe ven Er-
fcheinungen in fcheinbar gleichen Perioden
belHmnit wird, und für diefe fcheinbare
Gleiuiheit ift kein andrer Maafsllab möglich,
als der durch die Zeitreihe unfrer Vorftellun-
gen in dem Gedächmifs aufgeftellt ift, wo-
durch wir uns nebft einigen andern wahr-
fcheinlichen Gründen von derfelben überzeu-
gen kennen»
$. 22.
Vierzehn t es Kapitel. \VI
§. 22.
Die Zeit ift nicht das Maafs der
Bewegung,
Da die Menfchen wie es am Tage liegt,
die Zeit durch die Bewegung der grofsen und
fichtbaren Weltkörper meilen , fo ift es mir
fehr auffallend, dafs man doch die Zeit
als das Maafs der Bewegung erkläret,
Ein kleiner Grad von Nachdenken mufs jedeii
überzeugen , dafs zur Meflung'derfeJben der
Baum fo nothwendig ift, als die Zeit, und wer
noch etwas tiefer eindringt, wird finden,
dafs man nicht richtig darüber urtheilen
kann, ohne die Gröfse des bewegten Kör-
pers mit in Rechnung zu bringen. Die Be-
wegung trägt auch in Wahrheit zur Meffung
der Dauer at;f keine andre Weile bei, als dafs
f:e eine btfiändig wiederholte Reihe von ge-
wifien finnJichen Vorftellungcn in gleich fchei-
»enden Perioden hervorbringt. Wäre die
Bewegung der Sonne fo ungleich als die eines
von verändcr'ichen Winden getriebenen Schif-
fes , bald fehr langfam , bald unverhähmfs
mäfsig 'gei'dmind; oder wenn auch immer
gleich
428 Zweites Buch.
gleich gefchwind, doch nicht kreisförmig,
und brächte fie nicht immer diefelben Er-
scheinungen hervor , fo würde fie eben fo
wenig als die fcheinbar ungleiche Bewegung
eines Kometen zum Zeituiaafse brauchbar
feyn.
§• 23.
Minuten, Stunden, Jahre find
kein $0 th wen diges Maafs der
Dauer.
Minuten, Stunden, Tage und Jahre find
alfo nicht notwendiger, die Dauer oder die
Zeit, als die an einer Materie bezeichneten
Zolle, Fufse, Ellen und Meilen, die Ausdeh-
nung zu meffen. Durch den beßändigen Ge-
brauch derfelben, in fo fern fie als durch den
Umlauf der Sonne beftimmte Perioden oder
Theile derfelben betrachtet werden , haben
fich zwar in unferm Erdtheile einmal gewiffe
Vorftellungen von folchen Längen der Dauer
in unferm Gernüthe feftgefetzt, und wir wen-
den fie auf alle Tbeile der Zeit an, deren
Länge wir beftimrnen wollen; aber dennoch
kann
Vierzehntes Kapitel, 429
kann es andere Gegenden geben , wo diefe
Zeiunaafse eben fo wenig im Gebrauche find,
als es unfere Zolle, Schuhe und Meilen in
Japan Gnd. Unterdefsen mufs doch etwas
ihnen analoges feyn. Denn ohne gewiile re-
gehnätsig und periodifch wiederkehrende Er-
fcheinungen könnten wir keine Länge ei-
ner Dauer ineilen, oder für andre bezeich-
nen, wenn auch in der Welt, wie jezt, alles
in Bewegung wäre, aber ohne regelmäfsige
Vertheilung in fcheinbar gleiche Zwifchenräu-
me. Alle verfchiedenen Zeitmaafse aber,
welche nur irgendwo gebräuchlich find, än-
dern den Begriff der Dauer, die das zu mef-
fende itt, eben fo wenig, als die verfchiedenen
Maafse von Schuhen und Ellen den Begriff
der Ausdehnung.
Unfer Zeitmaafs i Tt auf die Dauer
vor der Zeit anwendbar.
Der Verftand kann diefes Zeitmaafs von
dem jährlichen Umlaufe der Sonne auch auf
die Dauer auwenden, in weicher diefes Maafs
felbft
43o Zweites Euch.
felblt nicht emittierte, und mit welchem Qe iii
Riickficht ihres realen Dafeyns nichts zu thtm
batte^ Wenn man Tagt: Abraham war in
dem 2712 Jahr der Julianüchen Zeitrechnung
geboren, Co ift das eben fo denkbar, als
wenn man diefe Jahre von Anfing der Welt
an rechnete, obgleich fo weit znrürk kein
Sonnenumlauf noch eine andere Bewegung
vorhanden war» Gefetzt auch, wir fetzten
den Anfang der Julianifchen Zeitrechnung
einige hundert Jahre früher, als Tage, Nach*
^te und Jahre mit dem he befUu.uienden Son-
nenlauf exifiierten, fo rechnen und beiiimmen
wir doch die Dauer eben fo richtig, als wenn
die Sonne damals, wie iczt, mit ihrem regel-
mäßigen Umlaufe wirklich gewefen wäre»
Die Vorstellung einer der jährlichen Umlaufs«
zeit der Sonne gleichen Dauer läfst fich in
Gedanken eben fo leicht auf die Dauer an-
wenden, in der keine Sonne noch keine Be-
wegung war, als die Vorftellung von einem
Fufs oder Elle, ein von Körpern unfrer Erde
entlehntes Längenmaafs.auf Entfernungen auf.
feihalb den Grenzen der Körperwell:, y,o
keine Körpc-r find»
§; 25,
Vierzehntes Kapitel, 45i
Gefetzt, der entferntere Körper des Uni/
verfums von diefcr Stelle wäre 5639 Meilen
oder Millionen Meilen entfernt (denn da das
Univerfum endlich ift, fo mufs feine Entfer-
nung auch beftimmbar fevu ) ; Gefettt es wä-
ren von dem erften D.tfeyn eines Körpers
beim Anfange der Welt bis auf unfre Zeit 50^g
Iahre verlloflen, fo können wir in Gedanken
da^ Maafs einer Jahrslänge at:f die Dauer vor
der Schöpfung oder über dtn Anfang der
Dauer der Körper und der Bewegung ; und
das Maafs einer Meile auf den Raum auf-er
der Körperu elt anwenden, und in jenem Fall
eine Dauer, wo keine Bewegung, um\ in
dicTem einen Raum nullen , \vj kein Kör-
per ift. f
§♦ 26.
Hier mufs ich einem möglichen Einwurfe
begegnen. Ich hätte, könnte man nehmlhh
Tagen, bei Erklärung der Zeit vorausge fetzt,
was nicht vorausgeletzt weiden dürfe, dafs
die Welt weder ewig noch unendlich u-y.
Allein
A32 i Zweites Buch.
Allein es war hier zu meinem Zweck nicht nö-
thig, die Endlichkeit der Welt fowohl der
Dauer als der Ausdehnung nach durch Gründe
tu bewerfen. Und da ße zum wenigften eben
fo denkbar ift, als das Gegentheil, fo hatte
ich unftreitig eben fo viel Recht, die Endlich-
keit, als ein Andrer hat, das Gegentheil an-
zunehmen. Wenn Jemand darüber nachden-
ken will; fo kann er ohne allen Zweifel fich
fehr leicht den Anfang der Bewegung, aber
nicht aller Dauer, vorftellen, und an eine Stel-
le kommen, über welche hinaus keine Bewe-
gung mehr vorftellbar ift; eben fo vermag
er in Gedanken der Körpcrwelt und ihrer
Ausdehnung, aber nicht dem körperleeren
Räume Grenzen zu fetzen. Die äufserften Gren-
zen des Raums und der Dauer kann kein Ge-
danke erreichen , fo wie die letzten Grenzen
der Zahlen alle Faflungskraft des Verftandes
überfteigen. Beides hat einerlei Grund , den
Wir an einem andern Orte kennen lernen
Wollen,
§• 27*
Vijii tlintes Kapitel. 4^3
Ewigkeit,
Auf demfelben Woge und aus derfelbenQuel«
le aus der wir den Begriff der Zeit erhielten,
entfteht auch der Begriff der Ewigkeit. Wenn
wir über die Reihen unfier Vorftellungen refle*
ctiren, welche entweder lieh felbft in dem wa-
chenden Zuftande dem Bevvufstfejn darftei-
len, oder durch äufsere, die Sinne nach
einander afficierende Objekte verurfacht wer-
den, wenn wir dadurch die Begriffe von Succef-
fion und Dauer, fo wie durch den Umlauf der
Sonne Vorftellungen von gewiflen Längen
der Dauer erhalten , fo können wir diefe
Längen in Gedanken eine an die andre fetzen
fo oft als wir wollen , und fie auf die vergan-
gene oder künftige Dauer anwenden , und
das zwar in6 Unendliche fort, ohne an ge-
wilfe Grenzen oder Schranken zu kommen.
Auf diefe Art lärst Geh die Länge des jährli-
chen Umlaufs der Sonne auf die Dauer an-
wenden , welche vor der Sonne oder über-
haupt vor dem Anfange der Bewegung ange-
nommen wird. Dabei findet fich fo wenig
£ e Schwie-
/pjj Zweites Buch.
Schwierigkeit oder Widerfpruch, als bei An-
wendung der Zeillänge, in welcher fich der
Schatten auf der Sonnenuhr von einer Stunde
zur andern beweget, auf die Dauer einer Be-
gebenheit in der letzten Nacht, z. B auf das
Brennen eines Lichtes. Diefe Erfcheinung iß
zwar von aller wirklichen Bewegung des heu-
tigen-Tages völlig getrennt, und es i(t fo un-
möglich, dafs die ßundenlange Dauer diefer
Flamme von voriger Nacht mit einer Bewe-
gung, die heute erfolgt oder erfolgen wird, als
dafs ein Theil der Dauer vor dem Anfange
der Welt mit der gegenwärtigen Bewegung
der Sonne, coexiftire. Allein dieTes hindert
uns gar nicht, die Dauer des Lichtes in ver-
gangener Nacht, fo gut als die Dauer eines
jezt exiftierenden Dinges, durch die Länge,
welche die Bewegung des Schattens auf der
Sonnenuhr von einem Stundenzeichen bis
zum andern befchreibt , beßimmt zu meffen.
Man darf Och nur vorteilen , dieSonne fc^ei-
ne hei Nacht und bewege fich in demfelben
Verhältni s als bei Tage; unter diefer Vor-
ausfetzung würde der Schatten auf derSon«
nenuhr, während die Flamme des Lichts
fort-
Vierzehntes Kapitel. 455
fortdauert, von einer Stundenlinie zur an-
dern fortgerückt feyn»
§• 29.
Eine Stunde, ein Tag, ein Jahr ift nur
eine Vorftellung von der Länge gewiffer re-
gelmäßiger periodischer Bewegungen, von
welchen keine auf einmal ganz exiftiert, au-
fser nur in der Vorftellung, welche aus dem
Sinneneindruck und der Reflexion entftand,
und in dem Gedächtnifs niedergelegt wurde»
Dalier kann ich mit einerley Leichtigkeit und,
aus einerlei Grund in Gedanken diefe Zeit-
längen auf eine Dauer, die vor allem Anfan»
jeder Art Bewegung vorhergehet, oder auf
ein Ding anwenden, welches nur eine Mi-
nute oder einen Tag eher als die Bewegung
der Sonne , die in diefem Augenblick wirk-
lich ift, exiftierte. Alle vergangene Dinge
find eins wie das andre in gleicher und voll-
kommner Ruhe, und in diefer Hinficht ift es
ganz einerlei, ob fie vor dem Anfange der
Welt oder erll geftern exulierten. Das Mef-
Ten einer Dauer durch die Bewegung hängt
daher gar nicht davon ab, dafs das Ding, def-
E e 2 fen
^36 Zweites Buch.
fen Dauer beftimmt werden foll, mit diefe*
Bewegung oder andern Zeitperioden wirk-
lich coexiftire, Tondern dafs ich in meinem
BewufstTeyn ejne klare Vorßellr.ng von der
Länge einer bekannten peviodifcben Bewe-
gung oder andrer Zwischenräume der Dauer
h. , und üa auf die Dauer eines Dinges
anwende.
§. 3o.
Daher fehen wir, dafs einige Menfchen
die Dauer der Welt von ihrem Anfange an
bis zu dem Jahr i6ß9 n. Ch. G. auf 5659 Jah-
re oder Umlaufszeilen der Sonne , andere
aber weit höher berechneten. Die Aegyptier
zählten zu Alexanders Zeit 20000 Jahre von
Regierung der Sonne an, und heut zu Tage
rechnen die Chine er noch das Alter der "Welt
auf 0.269,000 und noch mehrere Jahre. Die-
fe längere Dauer der Erde kann ich mir fo
gut vorftellen, als die Aegyptier und Chine-
fer, fojite auch ihre Berechnung, wie ich
glaube, nicht richtig Feyn , und ich weifs fo
gewifs, dafs fie greiser i!t als 'die gewöhnli-
che, denn dafs Methufah langer lebte, als
Enoch,
Vierzehntes K a p'i t e I, 487
Enoch, Wenn auch die gewöhnliche Berech-
nung des Welfalters wahr ift, und das kann
fie fo gut als eine andre feyn , fo hindert
mich doch das nicht, andere zu verliehen,
wenn fie die Welt 1000 Jahr älter machen.
Denn ob man das Alter der Welt auf 5oooo
oder 565g Jahre fetzt, ift in Anfehung der
Verftellbarkeit völlig einerlei.
§. 3i.
So können wir, um die Anwendung da-
von auf Mofis Schöpfungsgefcuichte zu ma-
chen , uns vorftelien , dafs das Licht drei Ta-
ge vor der Sonn« und ihrer Bew.egurtg exi*
liierte, und zwar durch die blofse Vorftel-
hing, die Dauer des Lichts vor ErfchafFung
der Sonne fey fo grofs, als die Zeit, welche die
Sonne, wenn fie fchon exiftierei hätte, würde
gebraucht haben, um ihren drehten Umlauf
zu endigen. Eben fo Ufst es lieh denken,
dafs das Chaos oder die Engel eine Minute,
eine Stunde, einen Tag, ein Jahr oder 1000
lahre vor dem Lichte oder eiuer ftetigen Be-
wegung erfchafreu worden. Denn wenn eine
»linutenlange Dauer vor dem Dafeyn der B«,
E e 5 we-
4^3 Zweites Bück.
vvegung oder eines Körpers denkbar iß, fo
kann ich eine Minute zur andern bis auf 60
und eben fo auch Stunden und Jahre (oder
welches gleich viel ift , folche Sonnenumläu-
fe oder einige Theile derfelben , oder ande-
re ZeitgröTsen) immer zu einander hinzufe-
tzen. Wenn wir damit ins Unendliche fort-
fahren, und eine Dauer vorausfetzen, welche
jede mögliche Zurammenfetzung folcher be-
fthninten Perioden überfieiget , fo kommt
man, wie ich glaube, auf den Begriff der
Ewigkeit, von deren Unendlichkeit wir
keinen andern Begriff haben , als von der
Unendlichkeit der Zahl , zu welcher fich im-
mer eine neue hinzufetzen läfst, ohne an ein
Ende zu kommen.
§. 32*
Es ift alfo, wie ich glaube, einleuchtend,
dafs wir aus den zwei Quellen aller Erkennt-
jiifs, der Reflexion und der Empfindung die
Vorftellungen der Dauer und ihrer Zeitmaa-
fse erhalten. Denn erftlich, wenn wir
beobachten, was in unferm GemtUhe vorge-
bet, wie die Vorftellungen eine unaufhörli-
che
Vierzehntes Kapitel, v 459
che fuccenive Reihe ausmachen, in der eini-
ge verfchwindeo , und andere zum Vorfchein
kommen, fo erlangen ' wir den Begriff von
der Folge. Zweitens, die Beobachtung
des Abftandes zwifchen den Gliedern der Fol*
ge giebt uns den Begriff von der Dauer,
Drittens, wenn wir durch die Sinne ge*
wiffe Erfcheinuugen beobachten , welche in
beftimmten regelmäfsigen und gleichfcheinen-
den Perioden erfolgen , fo erlangen wir die
Vorftellungen von gewifien Längen oder
Zeitmaafsen z. B. Minuten , Tagen, Jah-
ren, - Viertens, da es möglich ift, diefe
Zeitmaafse oder beftimmten Längen der Dauer
in Gedanken fo oft als man will zu wieder-
holen , fo gelangt man zur Vorftellung einer
Dauer, in der kein Ding wirklich exiftieret,
z. B. Vorftellung von Morgen, vom rachften
Jahre, oder den fieben künftigen Jahren.
Fünftens. Da man eine Vorftellung von
einer Länge der Zeit in Gedanken, fo oft
als man will, wiederholen, und eine zur an-
dern hinztifetzcn kann, ohne je der Gren-
ze diefer Zufammenfetzung näher zu kom-
men, als den Grenzen der Zahlenverbindung,
fo erhält man den Begriff der Ewigkeit,
E e 4. 2, B,
44° Zweites Buch.
z. ß« die ewige künftige Fortdauer der See-
le, die Ewigkeit des unendlichen Wefens, wel-
ches zu jeder Zeit' nothwendig exiftieret,
Sechftens. Die Betrachtung eines Theils
der unendlichen Dauer, infofern fie durch pe-
riodifch wiederkehrende Erfcheinungen be-
grenzt ift, giebt uns den Begriff von der
Zeit überhaupt *).
FunF-
*) Wenn Locke glaubte den Grund der Vor-
ftellung von der Zeit gefunden zu haben, fo
irrte er fich ; er fand nur die empirifche Ent-
ftehungsart diefer Vorftellung ; das worauf fie
beruhet, blieb ihm verborgen. Er fuchte den
Urfprung derfelben an gewiffen Begebenhei-
ten, die in der Zeit auf einander folgen, und
gewiffen Objecten auf, die in der Zeit behar-
ren , nehmlich den Vorfiellungen in uns, und
den Dingen aufser uns. Er gehet -von der
innern Wahrnehmung aus, dafs alle Vorfiel-
lung^en unaufhörlich wechfeln. Eine Reihe
folcher wechfclnden Vorfiellungen, gleichlam
eine Linie , die wir in der Vorftellung zie-
hen.
Fünfzehntes Kapitel. 44»
Fünfzehntes Kapitel.
Von der Dauer und der Ausdehnung in Beziehun9
auf einander betrachtet.
$. I.
Beide Find einer Vermehrung und
Verminderung fähig*
vyb wir gleich bei der Betrachtung des
Baums und der Dauer in den vorhergehen-
den Kapiteln fehr lange fchon verweilt haben,
üö wird doch vielleicht eine Vergleichung
E e 5 bei-
• hen, ift das, was er Dauer nennt. Wird
lie als eine Linie vorgeftellt , welche auf bei.
den Seiten ins Unendliche verlängert werden
kann, oder ohne Grenzen ift, fo ift es die
Ewi gkeit. DieZei t ift einTheil der Dauer,
infofern lie durch gewifieperiodifcli wiederkeh-
rende Erfcheinungen gemelfeu und begrenzt
ilt. Da er diefe Begriffe von Dingen, die in
der Zeit find, abftrahirte, fo mnfste er noth-
wendig die Zeit mit allen ihren Beitüoimun-
gen lui etwas Wiikliches halten.
442 Zweites Buch.
beider .mit einander nicht unzweckmäßig feyn,
weil beide Begriffe fo allgemein wichtig find,
und ihre Natur manches eigentümliche und
dunkle entluilt. Vielleicht können auch die
Begriffe an Klarheit und Deutlichkeit gewin-
nen , wenn fie neben einander geftellt und
verslichen werden. Den Raum oder den Ab-
ftand, feinem reinen abftrakten Begriffe nach,
nenne ich, um Verwirrung zu vermeiden, Ex*
panfion, und unterfcheide ihn dadurch von
der Ausdehnung, unier welcher einige nur
den Abftand dichter Theile der Alaterie von
einander verftehen. Die Ausdehnung fchliefst
alfo den Begriff vom Körper ein, oder führet
doch auf ihn hin; der Begriff vom blofsen
Baume aber enthalt nichts davon. Auch zie-
he ich das Wort Expanfion dem Räume
darum vor, weil das letztere oft fowohl auf den
Abftand vergänglicher, fuccefliver nicht neben
einander exiftierender , als auf den Abftand
beharrlicher Theile_ angewendet wird. Von
beiden, dem Raum und der Dauer, hatderVer-
ftand die gewöhnliche Vorftellung von fteti«
gen Langen , die einer gröfsem oder kleinern
(^uanti.ät empfänglich find. Denn die Vor-
ftellung von dem Unterschiede der Länge ei-
ner
Fünfzehntes Kapitel. 445
ner Stunde und eines Tages ift fo klar, als
von dem Unterfchiede der Länge eines Zolls
und eines Fufses,
§. 2,
Der leere Raum ift nicht durch die
Materie befchränkt.
Die Vorftellung von einer Länge des
Raums, z. B. eine Spanne, ein Schritt u. f,
w. kann der Verftand , wie fchon gefagt wor-
den, wiederholen, eine an die andre letzen,
und fo die Vorftellung von der Länge erwei-
tern. Er kann fich alfo eine Länge von zwei
Spannen oder Schritten vorfieilen , und iie
immer vergrofsern, bis fie der Entfernung des
einen Erdtheils von dem andern, ja der Erde
von der Sonne und dem entfernteften Sterne
gleich kommt. Wenn man von einem ge-
w illen Tunkt ausgehet, fo kann man durch
diefe fortfchreitende Vergröfserung immer
weiter kommen, und alle Längen überfchrei-
ten , ohne in oder aufser der Körperwelt ei-
ne Grenze zu finden. Der Verftand kommt
zwar fehr bald in Gedanken an die Grenze
des erfüllten Raumes und der Körperwelt;
ift
444 Zweites Buch.
ift er aber einirnl dahin gelangt, fo findet er
dann auch weiter nichts, das feinen Fortgang
in den grenzenlofen leeren Raum , deflen
Ende man weder finden noch vorftellen
kann, hinderte. Man Tage ja nicht, aufscr-
halb der Grenzen der Körperwelt fey gar
nichts, man würde fonftGott in die Grenze»
der Materie einfchliefsen. Salomo der wei-
fe König, fcheint andrer Meinung gewefen
zu ieyn, wenn er la£t: der Himmel, und
der Himmel der Himmel kann dich nicht faf-
Ten. Und mich dünkt, es ift eine AnmaaTsung
des Verftandes. wenn man wähnt, man kön-
ne feine Gedanken noch weiter ausdehnen,
als, wo Gott exiftieret, und lieh einen Raum
denken, wo Gott nicht ift»
§. 3/
Die Dauer ift nicht durch die Be-
wegung eingefchränkt.
Eben fo verhält es Geh mit der Dauer,
Der Verftand kann die Vorftellung von jeder
Länge der Dauer verdoppeln, vervielfältigen,
und üe nicht nur über feine Exiftenz , fon-
dera
Fünfzehntes Kapitel. i^tfe
dem auch über die aller körperlichen Wefen
und über jedes Zeitmaafs erweitern , welches
durch die Bewegung der Himmelskörper be*
ftimmt ift. Ob wir aber gleich uns die
Dauer als grenzenlos vorftellen, wie fie es
denn auch wirklich ift, fo wird doch Jeder
leicht eingeftehen, dafs wir fie nicht üker
alles Dafeyn hinaus ausdehnen können. Gott
erfüllt die Ewigkeit , darin ftimmt jeder
Menfch ein, und es läfst lieh kaum ein
Grund denken, warum er nicht eben fo den
unermefslichen Raum erfüllen füllte. Sein
unendliches Wefen ift in beiden Rückfichten
gleich fchrankenlos. Und man dürfte wohl
der Materie zuviel bej legen, wenn man be-
haupten wollte, wo kein Körper ift, da fey
gar nichts,
§. 4-
Warum die Menfchen geneigter
find, eine unendliche Dauer,
als einen unendlichen Raum
anzunehmen.
Hieraus laTst fich die Urfache einfehfii,
warum Jeder ohne das geringfte Bedenken
von
446 Zweites Euch.
von der Ewigkeit als einer bekannten Sachs
fpricht und der Dauer Unendlichkeit beile-
get, dahingegen fich viele Bedenklich keiten
und Zweifel gegen die Annahme eines un-
endlichen Raumes machen. Der Grund -
fcheint mir nehmlich darin zu liegen, dafs
die Dauer und die Ausdehnung als Beftim-
rnungen andrer Wefen betrachtet werden»
Bei Gott flehen wir uns, und zwar unver-
meidlich eine ewige Dauer vor. Die Aus-
dehnung hingegen legen wir nicht diefem
Wefen, fondern nur der endlichen Materie
bei. Infofern alfo die Ausdehnung nur als
eine Befiimmung der Materie gedacht wird,
glaubt man eher berechtiget zu feyn , an ei-
uer Ausdehnung ohne Materie zu zweifeln.
Wenn daher die Menfchen die Regionen des
Raums durchlaufen , fo pflegen fie gewöhn-
lich an den Grenzen der Körperwelt Halt zu
machen , als wenn da der Raum auch zu En-
de wäre , und nicht weiter reichte ; und
wenn auch ihre Betrachtungen fie etwas wei-
ter führen, fo nennen fie doch das, was au-
fser den Grenzen des Univerfuins ift , einen
eingebildeten Raum ; als wäre er deswegen
nichts, weil ksin Körper in demfelben exi-
ftiert.
Fünfzehntes Kapitel. fyyj
ftiert. Hingegen halten fie die Dauer vor
dem DaTeyn der Körper und der Bewegungen,
wodurch jene gemeflen wird, keines weges für
eine blofs eingebildete Zeit, weil fie diefelbe
nie ohne eine reale Exiftenz denken. Wenn
die Worte unfern Verftand auf den Urfpruno-
der Begriffe leiten können, (und das können
fie in einem hohen Grade, wie ich glaube)
fo dürfte man wohl aus dem Worte d u r a t i o
fchliefsen , dafs man fich eine gewille Ana-
logie zwifchen der Fortdauer der Exiftenz
und einer Art von Wider (fand gegen zerftöh-
rende Kräfte und einer fortdauerndem Dicht-
heit (.welche mit der Härte leicht verwech-
felt werden kann, und in Rückficht auf die
kleinften zerlegbaren Theile der Materie we-
nig davon verfchieden ift) dachte, und dafs
dieTes zur Bildung zweier fo ähnlichen Worte
als durare und durtis find, Veraniaffung gab.
Aus einer Stelle des II o raz hebet man, dafs
das Wort durare fowohl in der Bedeutung
von Härte als von Exiftenz gebraucht
wird *), Doch wir lallen das dahin geftellt.
Soviel
') Epodon XVI. v. 65. Acre dehinc ferro du.
rauit faecula. _
4'|8 Zweites BucL;
Soviel ift ab^r gewifs, wer feine Gedanken
verfolget, wird finden, dafs fie fich zuwei-
len über die Körperwelt hinaus in den un-
endlichen leeren Raum verlaufen. Der Be-
griff des letzten ift von dem eines Körpers
und jedes andern Dinges durchaus unter-
fchieden und getrennt. Diefs kann den Lieb-
habern folcher Unterfuchungen Stoff zu wei-
term Nachdenken geben.
§. 5.
Die Zeit verhält fich lur Dauer,
wie der Ort zum Rautne»
Die Zeit verhält fich überhaupt zur
Dauer wie der Ort zum Raum e. Sie
find gewifie Theile des grenzenlofen Oceans
der Ewigkeit und Unermefsiichkeit, infofern
fie von den übrigen gleichfain durch Grenz-
fteine abgeraarket find und dazu gebraucht
weiden, um disZeit - und Ortverhältnifle ei-
nes endlichen realen Wefens in Rückficht auf
ein andres zu beftimmeu. Nach richtigen
Begriffen find l\e nichts als Vorftellungen ei-
nes beftiranuen Abftandes von gewiffen be-
kannten
Fünfzehnte» Kapitel. 443
kannten feften Punkten an hnu liehen unter-
fc.u ivlbaren Objecten, von dem-n man vor-
ausfetit, dal's he ihren Abttand von einander
nicht verändern. Von diefen feiten Puncten
zählen und mefft n wir gewifle Theile der
unendlichen Gröfee deT Dauer und des Raums
und diere und denn das , was wir Zeit und
Ort nennen. Denn da die Dauer und der
Kaum an fich gleichförmig und grenzenlos
find, fo würde ohne folche beltimmte 'er-
kennbare Puncte alle Ordnung und Lage der
Dinge verfchwinden , und alles in einer Ver«
wirrfirig liegen, au» der heb. niemand heraus*
finden könnte.
§. &
Zeit und Ort werden für denje-
nigen Theil der Dauer und des
Raumes g-e nomnien, welcher
durch dieExiftenz und Bewe-
gung der Körpers beftimmt iff,
Infofern man unter Zeit und Ort
bcRiimnte , untrrfcheidbare Theile der un*
endlichen Dauer und des unendlichen Rau-
mes verftehet, welche wirklich oder hy-
F f puthe«
<j5o Zweites Buch.
pothetifcb von andern Theilen durch beftimm-
te Puncte und Grenzen abgefordert werden
i
haben beide eine gedoppelte Bedeutung,
Erftens. Die Zeit überhaupt bedeutet
eine beftimmte Gröfse der unendlichen Dauer,
welche durch die Exiftenz und Bewegung
der grofsen Weltkörper , infofern fie für uns
erkennbar find, gemefTen oder mit ihnen co-
exiftierend iit. In diefer Bedeutung fangt
die Zeit an und hört wieder mit unfern!
Wehbau auf. Dahei die Redensarten : vor
aller Zeit; wenn keine Zeit mehr fevn wird.
Eben fo bedeutet der Ort zuweilen den
Theil des unendlichen Raums, welcher von
der Körperwelt erfüllet, und dadurch von
dem übrigen Baume unterschieden wird. Ei-
gentlicher ift das nicht fowohl der Ort als
der erfüllte Raum, Innerhalb den Grenzen
diefer Zeit und des Ortes wird die individu-
elle befondre Zeitdauer, Ausdehnung und
Ort der Körper begrenzt , und durch be-
ftimmte Grofsen gern eilen.
§♦ 7*
Fünfzehntes Kapitel. tfii
§■ 7-
Zuweilen werden fie für die je«
gen T heile der Dauer und des
Raumes genommen, welche
durch gewifse von der Ausdeh-
nung und Bewegung der Kör-
per entlehnte JYIaafse Leftimrat
werden.
Zweitens. Das Wort Zeit wird zu-
weilen in einem weitern Sinne genommen,
und auf diejenigen Theile der unendlichen
Dauer angewendet, welche durch die reale
Exiftenz und durch die periodischen Bewe-
gungen der zum ZeitmeiTen beftimmten Kör-
per nicht wirklich abgesondert und abgemef-
l'en liiul , fondern nur in der V orftellung ge-
wiflen Langen der gemeüenen Zeit gleich, und
dadurch begrenzt und beftnnmt gedacht wer«
den, Wenn wir annähmen , die Schö-
pfung der Engel fiele in den Anfang der
lulianilchen Periode, lo könnte man im et-
gentlicben Sinne und ganz verbindlich fagen,
die Schöpfung der Engel fey 76 1. Jnhr früher
§ekheheu, als die Schöpfung der Welt, und
F f 2 man
4$2 Zweites B u c iw
mau würde dadurch foviel von der unbe-
grenzten Dauer abzeichnen, als der Zeit ent-
fpucht, in welcher die Sonne 764 mal
ihren jährlichen Umlauf endiget. Eben fo
fpricht man vom Orte, Abßande und GtöTse
in dem grofsen leeren Räume aufser der Kör-
perwelt. l\lan ftellt fich dann foviel von dem
Räume vor , als einem Korper gleich ift, oder
einen Körper von beftimmter Grüfse z. B. von
einem Ktibikfufs fallen kann, oder denkt fjch
einen gewilTen Punkt in einer bellimmten
Entfernung von einem 'fheiie des Univenumj,
s. s.
Seit und Raum gehören für alle
W e f e u.
Wo und Wenn, find Fragen, die fich
auf alle endliche existierende Dinge beziehen.
Bey Beftimmurig derfelben , gehen wir alle-
zeit von gewilTen bekannten TL eilen derlinn-
lichen Welt und von gewiilen durch die Be-
wegung der Körper befttinmten Zeiträumea
aus. Ohne iblche feite Puncte und Perioden
würde lieh für unfern endlichen Yerftand
- die
Fünfzehntes Kapitel.' ^55
die Ordnjung der Dinge in dem grenzenlo-.
fen unveränderlichen Oce3n der Dauer und.
des Raumes verlieren, welches alle emiliche
Wefen umfafst und in feinem ganzen Umfan-
ge nur der Gottheit zukommt. Daher darf
man (ich nicht wundem, dafs wir fie nicht
begreifen, und fo oft in Verlegenheit kom-
men , wenn wir Ge entweder in Abftracto an
lieh , oder gewifTermaTsen als Attribute des
r^eillichcu Wefens betrachten. Allem
in Beziehung auf einzelne endliche Wefen ift.
die Ausdehnung eines Körpers ein fogTofse*
'1 heil des unendlichen Raumes, ah der Um-
fing diefes Körpers einnimmt; und der Ort,
cfäs Verhältnifs eines Körpers in gewifi'en Ent-
fernungspuneten von andern Körpern. So
wie die beftiinmte Dauer eines Dinges die
Vorßellung von demjenigen Theile der un-
endlichen Dauer ift, welcher während der
Exifienz deffelbcn verfließt, fo ift die Zeit,
in der ein Ding exiftieret, die Vorftellung
von iler Grösse der Dauer, welche zvyifchen
bekannten unveränderlichen Zeiträumen unt.1
der Exifienz deffelben Dinges vcrlliefst. Je-
beftimmt den Abfiand von den Grenzen
des Umfangcs oder tue Lange der Exiftenz
F f 3 ddle!-
/j54 Zweites Buch.
deflelben Dinges; diefes die Entfernung Fei-
nes Orts oder Dafeyns von gewiflen andern
Planeten des Raums oder der Dauer. In je-
ner RÜLkficht fa^t man, es nehme einen
Raum von einem Quadrat Schuh ein , und
es habe zwei Jahre gedauert; irr diefer, es fey
in der Mitte des Linconls Ira fields, in dem
J, 1671 von Chr. G u. f, w. Alle diefe
Entfernungen werden durch gewiiTe feftge-
fetzte Längen des Raums und der Zeit ge- *
aieflen.
§> 9*
Alle Theile der Ausdehnung
find ausgedehnt und alle Thei-
le der Zeit hefte hen wieder
aus Zeitt heilen.
Raum und Dauer ftimmen auch noch in
diefem Punct fehr mit einander überein, dafs
iie fich nicht ohne alle Zufauimenfetzung
deutlich vorfiellen lalTen, ob fie gleich mit
Recht unter die einfachen Vorstellungen ge-
zählt werden. Denn das Wefcn beider be-
gehet darin , dafs fie aus Theilen zufainmen-
gefetzt find. Da aber diefe Theile alle ein.
artig
Fünfzehntes Kapitel. ^55
artig find, und keire andre Vorftellung einge-
mifcht ift, fo behaupten fie dennoch ihre
Stelle uner den einfachen Begriffen *) Könn-
te der Verftand, wie bey der Zahl, auf fo ei-
nen kleinen Theil der Ausdehnung oder
Dauer kommen , der alle Theilbarkeit aus-
fchliefst, fo würde er im ftrengen Sinne eine
untlieilbare Einheit oder Vorftellung feyn,
durch deren Zufammenfetzung die vielum-
faffVndften Vorstellungen der Ausdehnung
und Dauer gebildet würden. Allein die Vor-
ftellung eines Raumes ohne Theile ift nicht
möglich, und daher bedient fich der \ er-
F f 4 ftand
*3 Hier wurde dem englifchen Philofoplicn der
Einwurf gemacht; wie die Vorftellung dc>
Raums eine einfache Vorftellung feyn könne,
da lieh kein Raum ohne Theile neben einan-
der vorftellen laffe. Er antwortet darauf t
Sie Einfachheit, welche er reiftehe , febüe-
fse nicht r.othwendig alle Ziifammeiifefzung,
foiubnn nur die Verbindung verfcliicdenarii-
ger Vorftellungen aus ; und die Vorftellung
des Piaums fev daher noch immer einfach, in-
folcrn jeder Raum zwar aus Th eilen aber aus
Xheilen toii einer Art, d. i, aus Räumen befiehl
/j56 Zweites B u c h.
ftand anftatt derfelben der gewöhnlichen Maa-
fse, welche in jedem Laude durch öftern
Gebrauch dem Gedächtnis eingeprägt find,
al- einfacher Vorstellungen, und bildet aus die-
len Belandtheilen n;>ch Gelegenheit die viel-
umfaflendeften Vorftellungen. Auf der an-
dern Seite wird das gewöhnlich kleinfte
Maafs des Raumes und der Dauer als eine
Einheit in der Zahl betrachtet , wenn fieder
Verftand durch Divifion auf kleinere Brüche
zurückzuführen fucbt. Doch wenn eine be»
fiimmte Vorftellung des Raumes oder der
Dauer durch da-. Zufammenfetzen oder Thei«
len zu grofs oder zu klein wird , fo wird dio
. freftimmte Gröfse in beiden Fällen dunkel
und verwirrt, und die Zahl der wiederhol-
ten Verbindungen und Trennungen bleibt al-
lein klar und deutlich. Um fich davon auf
eine leichte Art zu überzeugen, fo durchlau.
fe man mit fein'en Gedanken die unermeßli-
che Ausdehnung des Raums oder die unend-
liche Theilbarkeit der Materie. Jeder Theil
der Zpit ift wieder eine Zeit; jeder Theil der
Airdehnung ift wieder ausgedehnt; beide
find einer Vermehrung nnd Verminderung ins
Unendliche fähig, Aber vielleicht ift es uns
am
Fünfzehntes Kapitel. 4^7
am angemeffenftrn, den khinflen Theil der
Driuer und des Raums, d°n i ir noch klar
und deutlich vorfallen können, als die ein-
fachen VorfrellungafT dierer Art zu betrach-
ten , aus welchen unfre zufammengefetzten
Beftünmungen des Raums nnchder Dauer be-
liehen, und in welche c"efe wieder aufge-
löft werden können. Ein folcher kleiner
Theil der Dauer könnte ein Augenblick
genennt werden f welcher die Zeit ift, wel-
che eine Vorstellung in den gewöhnlich wech-
felnden Reihen erfüllet. Ich weils nicht, ob
ich für den kltinften Tbeil der Materie oder
des Raumes, der noch unterfchieden werden
kann, in Ermangelung eines beftiinmtea
Worts, die Benennung , ein finnlichev
Pnnct vorfchbgen darf. Ein folcher Punet
ift gewöhnlich ungefähr eine Minute grofs,
und erfcheint dem fchürfften Auge feiten
kleiner, als dreyfsig Securulcn eines Cirkels,
wovon, das Auge der MitteJpuiict ift.
F f 5 §• 10.
/j5S Zweites Buch.
§♦ IO.
Die Theile des Raums und der
Dauer find unzertrennlich.
Der Raum und die Dauer haben noch
dlefes mit einander gemein, dafs, obgleich
beide als aus Theilen beliebend gedacht wer-
den, die Theile doch, felbft in Gedanken,
unzertrennlich find. Aber die Theile der
Körper und der Bewegung, oder befler der
Folge unfrer Vorftellungen im Gemülbe, von
welchen wir das Maafs des Raums und der
Dauer hernehmen , können unteibrochen
und getrennt werden, wie das bey dem ei-
nem durch die Ruhe, bei dem andern durch
den Schlaf, welcher auch eine Art von Ru»
he ii't, gefchiehet,
§• II
Die Dauer wird als eine Linie, der
Raum als ein Dichtes betrachtet.
Jedoch findet Geh zwiTchen beiden auch
der offenbare Unterft.hied , daTs die Länge
des Raums nach allen Richtungen vorgeftellt
wer-
Fünfzehntes Kapitel. 469
werden kann, und alfo eins Fläche mit Brei-
te und Dicke ausmacht ; die Dauer hingegen
glpichfam nur die l änge einer geraden ins
unendliche ausgedehnten Linie, und keiner
Mannichfaltigkeit verfchiedener Richtungen
oder Figuren empfänglich ift. Die Dauer ift
nur ein gemeinschaftliches Maals jeder Exi-
ftenz, an welchem alle Dinge, fo lange fie
exiftieren, gleichen Antheil nehmen. Denn
diefer Augenblick ift allen Dingen gemein,
die jert ein Dafeyn haben , und befafst jeden
Theil ihrer Exiftenz auf gleiche Art, gerade
als wären fie alle nur ein einzelnes Wefen ;
und man kann in Wahrheit lagen , dafs alle
existierende Wefen in demfelben Augenblick
exiftiereu. Ob die Enge! oder Geifter darin
in Anfehung öes Raumes einige Aehnlich-
keit haben, das überfielet meinen Verftand.
Und vielleict fallt es nur uns , deren Ver-
ftandes - und Begreiftmgs*rer mögen der Er-
haltung und den Endzwecken unfers Dafeyns,
aberzieht der Realit.it und der Sphäre aller
andern Dinge angepaßt I I , r,> fchwer, die
Exiftenz eines realen Wefens ohne alle Aus-
dehnung, fo wie ohne alle Datier zu denkm.
Und ddher wifien wir nicht, was die Geifter
mit
4$o Zweites Buch,
mit dem Haume zu thun haben, oder wie he
an dmifelben Aniheil nehmen. Alles was
wir darin' willen , ift, dafs jeder einzelne
Körper leinen eignen Theil vom Kanrne nach
Verhältnis des Umfangs feiger dich» en lliei-
Ijb einnimmt, nnd fo lange er denfelben er-
füllt, alle andre Körper daraus ausschliefet.
f* 12,
Ind°r Dauer find nicht zwei
T h e i 1 e zugleich, in dem Räume
alle zugleich.
Die Daner und ein Theil derfelben die
Zeit ift die Vorftellun.g von dem
wech fein den Abftande, von wel-
chem nicht zwei T heile zugleich
exifiierer), f o n d e i n einer auf den
andern folgt; der Raum ift die Vor»
fteljung von dem beharrliehen Ab-
ftande, deffen Theile alle zu»
gleich find, ohne einer Folge em-
pfänglich zu fern. Wir können daher
keine Dauer ohne Folge denken, noch uns
Yörflellefl, dafs ein Bivg zugleich jezt und
mor-zen
Fünfzehntes Kapitel. 461
jungen exiftiere, oder jezt ir ehr als einen
Augenblick der Zeit einnehme. Deinungeach-
tet können wir die ewige Dauer de* Alb) Meh-
ligen, als ganz verfchieden von der Daaer
des Menfchen od< r eines andern endlichen
V^efens denken. Denn ilic E*kenntnifs und
JWacbt des Menfcher. umfafst nicht alles Ver-
gangene und Künftige; f i' eGedanken gehen
nur bis auf Gehern zurück, und er weife
nicht, was der morgende Tag an das Licht
^ringen wird. VA as einmal vergangen ift,
kann er nicht wieder zurückrufe.'!, nicht dää
Künftige zu dem G geuyvärtigen machen. Wa$
ich von dem Menfcben (a(.e, gilt vom allen
endlicl en Wefen , welche, fo (ehr le auch
die Menfchen an Kenntnifs und M.aejit über-
treffen mögen, doch in VeTgleiehung mit
Gott felbft nichts mehr ah < as geringfte Ge»
fchöpf find. Das Fndlitle, wie grofs es
auch fey , ftehet doch in keinem Verhältnifs
mit dem Unendlichen. Da Gottes Ewigkeit
mit unendlicher Macht und Erkenntnifs ver-
knüpft ift, lo fiehet er alles Vergangene und
Künftige, und da:, alles ift von feiner Er-
kenntnis und Anfchaunng nicht weiter ent-
fernt, als das Gegenwärtige; zu jeder Zeit
kann
462 Zweites Buch,
kann er was er will , ins DaTeyn rufen« Denn
von feinem Willen hängt die Exiftenz aller
Dinge ab; fie exütieren, fobald er denkt,
dafs fie exiftieren follen. — Endlich niüfsen
wir noch bemerken , dafs der Raum und die
Dauer einander wecb felsweife umfallen und
einfchliefsen.' Jeder Theil des Raums ift in
jedem Theil der Dauer, und jeder Theil der
Dauer in jedem Theil des Raums. Eine fol-
che Verknüpfung zweier fo verfehiedener Be-
griffe wird nicht leicht wieder bei der grofsen
IVIaunichfaltigkeit unfrer Vorftellungen gefun-
den werden , und fie kann daher Stoff zu
liefern Unterfuchungen geben.
Sech«
Secliszehntes Kapitel. 4&3
Sechszehntes Kapitel»
Von d e v Zahl»
Die Zahl ift der ein fach fte und
allgemeinfte Begriff.
IT
*^nter allen fo mannichfalligen Vorftellungen
wird keine dem Gemülhe durch fo viele Ge-
gerilij.nle zugeführt, und keine ift fo einfach,
als der Begriff der Einheit. Er enthalt nicht
die geringfte Spur von JVlannichfaliig-
keit oder Zufammenletzung, Jedes Ubjecr,
das uufre Sinne be'chafüget , jede Vorftel-
lung, jeder Gedanke dei Seele führt ihn mit
fleh Darier ift er mit allen unfern Gedanken
innigft verwebt, und in Rücklicht (einer Be-
ziehung auf alle Dir,ge der allgemeinfte Be-
griff Denn er wird auf Men chen , Engel,
Handlungen, Gedanken, kuri auf alles was
exiftiert, oder auch nur denkbar ift, ange»
wendet. ,
464 Zweites Buch,
f. 2.
A i 1 e B e f t i m munden der Zahl entfte«
hen durch die Zufammen fetzung.
Durch Wiederholung diefes Begriffs und
Zufawmenfetzung mehrerer derfelben gelangen
wir zu den zufammengefetzten Begriffen der
Beliiinmungen der Zahl. Z. B. durch die
Verbindung von Eins und Eins entftehet der
Begriff von Zwei, durch die Verbindung
von zwölf Einheiten, der Begriff von einem
Dutzend ; eben fo die Begriffe von einem
Schock, einer Million uad jeder andern
Zahi,
Jede Zahlgröfse ift von der andern
ve rfchied en.
Die einfachen Befti in niungen der
Zahl find unter allen die deutlich»
ften Begriffe. Die kieinfie Veränderung
einer Zahl , welche in der Einheit beßehet,
unterfcheidet jede Verbindung fo klar von der
ihr am nächften kommenden , als von der
entfern-
Sechszehntes Kapitel. ^65*
entferotcflen. Zwei ift von Eins fo verfchie-
den, als von Zweihundert, und Zwei vor*
Drei als die GröTse der Erde von der GiöTse
einer Mübe4 Bti andern einfachen Beftim-
mungen ift es uns nicht fo leicht, vielleicht
nicht einmal möglich, zwei annähernde Vor-
stellungen zu unterscheiden • wenn fie gleich
wefentlich ver Schieden Gnd. Denn wer ge-
traut fich wohl den Unterfchied «cwifcben dem
Weifsen diefes Papiers und dem nächfifoleen-
den Grade zu beftimmen; oder wer kann
fich den kleinftcn Gradunterschied in der Aus-
dehnung klar vorftellen ?
§
Daher findet fich in den arith>
metifchen De m o n f t rationeu
die g reifste Präcifion.
Die Klarheit und die Unterscheidung jeder
Zahlbeftimmung von allen andern, auch den
nächfien ift, wie ich glaube, die Urfache,
dals die Demonftrationen in Zahlen , wo
nicht evidenter und genauer, als die von Raum.
verhältnilTen, doch von allgemeinerm Ge-
G g brauch
466 Zweites Buch.
brauch und beftiminter in ihrer Anwendung
find* Denn die Zahlenbegriffe find beftimm-
ter und deutlicher als die Yorflellungen von
der Ausdehnung. Hier läfst Geh nicht jede
Gleichheit und Differenz fo leicht bemerken
und meffen, weil der Verftand den kleinften
Theil des Raumes, über welchen er nicht
hinaus gehen darf, wie bei den Zahlen die
Einheit ift, nie in der Vorftellung erreichen
kann. Es ift daher nicht möglich , die Quaa«
titäl oder das Verhältnifs des kleinften Rau-
mes fo zu beftimmen, wie bei den Zahlen,
wo 9! f:ch fo beftimmt von go als 9000 un-
terfcheiden läfst, obgleich yi die nächfie Dif.
ferenz von 90 ift. Bei dem Räume ift es hin-
gegeben nicht fo leicht eineGröfse von etwas
mehr als einem Fufse von einem Fufse eu
unterscheiden; von zwei Linien, die gleich
lang fcheinen, kaiin die eine beträchtlich län-
ger feyn. Mau kann nicht einmal den Win-
kel angeben, der an Giüise dem rechten am
»ächlten Kommt»
§.5,
Sechszehntes Kapitel, . ifiy
§. 5.
Bei den Zahlen find gewiffe Be-
nennungen noth wendig.
Durch die Wiederholung des Begriff«; einex
Einheit, und durch die Verbindung nellelben
mit dem entern, kann man allo den collecti-
ven Begriff von Zvvey erzeugen. Wer die
Zufammenfeuung der coüectiven Zablb' griffe
immer weiter fortfetzeh, und fie durch Worte
bezeichnen kann , der kann zählen, d. h, er
hat eine VoruVIlung von vtrlchiedenen colle-
ctiven Begriffen der Einheiten, infofern et
eine Reihe von Aufdrücken für die folge« den
Zahlen in feiner Gtwalt hat, und das Ge-
dächtnifs diefe Zahlenreihen n.it ihren ßenen-
nungeil behalten karin. Denn da«. Zal leri
beltrhet in nichts arcierm . als dafs man eine
Einheit zu eineT ändern hin zu fetzt, und je»
dem Ganzen als in einen begriff zufainniei^e-
fa^t, eine beftirntnte Benennung eieht um
es von jedem a- dern in der Reihe vorhfTee-
henden oder folgenden Inbegriff der Einheiten
zu unterscheiden. Wei aliu Eins zu l . <2
und fo fert hinzufetzen , jede DeueZablgröf: e
G g 2 benen-
^6Q Zweite^ Buch.
benennen, und fie durch Abziehen der Ein-
heiten wieder verringern kann, der hat alle
Z thlenbegriiTe , die in dem Umfang feiner
Sprache liegen , oder fü« welche er Ausdrücke
hat, aber vielleicht auch nicht mehrere, in
feiner Gewalt. Denn da die verfchiedenen
einfachen Btftimmungen der Zahlen eben fo
viel« Veibindungen der Einheiten find, wel.
che in fich nichts Mannichfaltiges und Unter-
fcheidbares aufser dein Gradunterfchied von
Mehr und Weniger enthalten, fo fcheinen
für jede \ eibindung befondere Au-drücke
oder Sprachzeichen notwendiger zu ft , n,
als bei jeder andern Art von Vorfteihmgeji.
Ohne dieles find die Zahlen beim Rechnen
nicht wohl anwendbar , vorzüglich wo eine
Zahlengröiae. eine grofse Vielheit von Einhei-
ten in lieh be^ieitt, und grorse Summen oh-
ne Ausdrücke für jede bwftiinmte Zufarnmen-
fetzung vxerden fchwerlich etwas anders als .
ein chaotiuher Haufen fern.
6,
Diefs wnr wohl die Urfache, warum eini-
ge Amerikaner, die ich gefp rochen habe,
ob
S e c h s 7. ehntes K a p i t c 1. 4%
ob fle gleich fonft klug genug waren , bis 2o
aber nicht bis moo zählen konnten, und von
der letzten Zahl gar keinen deutlichen Begriff
hatten. Denn bei der Armutl) ihrer Sprache,
welche nur den wenigen Kedürfnifsen einer
höchft einfachen Lehensart angepafst war,
und bei ihrer Unkunde mit dem Handel- und
der Mathematik, fehlie es ihnen an einem
Ausdruck für die Zahl 1000. Wenn daher
die Rede von grüfsern Zahlen war, Co ] Heg-
ten fie auf ihr Haupthaar zu zeigen, t<rn da-
mit eine grosse unzählbare Vielheit anzudeu-
ten. Ihr Unvermögen, weiter zu zählen,
Tührte alfo, wie ich glaube, nur aHein von
dem Mangelan Worten her. Die Touou-
pinambos hatten keine Worte für die Zah-
len über Fünfe; zur Bezeichnung grösserer
Zahlen bedienten fie fiel) ihrer und anderer
Anwefenden Finger *). Ohne Zweifel wur-
den wir auch viel gröfsere Summen deutlich
zählen können, wenn wir nur gewifle paffen-
de Benennungen ausfindig machen konnten,
G g 5 und
*) T. de T cry Hifiohe d'un Vnynge fait en Ia
terre du Brefil c, ~o.
4?° Zweites B u c l;,
und z, B. anftatt millionenmal Millionen, mil-
lionenmal Millionen Millionen u. f, \v. eine
Billion, Trillion u. f. w. Tagten. -
§♦ 7-
Warum die Kinder nicht frühzeiti-
ger zählen.
/
So zählen die Kinder nicht fehr früh und
in keiner ftcten Reihe fort, als bis fip einen
ziemlichen Vorrath von andern Vprftellungea
gerammlet haben, weil es ihnen entweder
an Worten für die verfchiedenen Zahltnogref-
fionen fehlet j oder weil f\e noch nicht die
Fähigkeit haben, einzelne zerftreuete Vorftel-
lungen in einen zurammengefetzten Begriff
zu fallen, die Begriffe auf eine beftinunte Art
zu ordnen, und fo in dem Gedächtnifs auf-
zubewahren , welches bei dem Rechnen rioth-
wendig ift. Man kann oft die Beobachtung
machen, dafs einige Kinder von vielen Din-
gen klare Vorftellungen haben , ziemlich gut
fprechen und denken, ehe he bis 2o zählen
können» Auch fiud manche erwachfene Men
fchen ihr ganzes Leben hindurch nicht ver-
mögend
S echsz eli n t es Kapitel. 471
mögend zu rechnen , oder eine grofee Reihe
von Zahlen auszufprechen, weil ihr Gedächt-
nis zu fchwach ift , fo verfchiedene Zahlen-
gruppen mit ihren Ausdrücken in ihrer be-
ftimmten Ordnung, und die lange Reihe von
Zaiiiprogreffionen mit ihren Verhältniflen zu
behalten. Denn um 2o zu zählen , inufs man
willen dafs 19 vorhergehet , und die Benen-
nungen von beiden nebft ihrer beftimmten
Ordnung kennen ; wo eins von beiden fehlt,
entftehet eine Lücke, die Kielte zerreiTst, und
der Fortgang im Zählen wird gehemmt. Zum
richtigen Rechnen wird alfo erfodert 1) dis-
genaue Untencheidung zweier Zahlbegriffe,
die fith blos durch die Summe oder Billerenz-
von Eins unterfcheiden j 2) D.^s Aufbehalten
der Ausdrücke oder Zeichen für die %-erfcbie-
deuen Zul<munen(etzungen von Eins bis auf
die beftiinmte Zahl und zwar nicht verwirrt,
oder auf beliebige Weife , fondern in der be-
ftimmteri Ordnung als die Zahlen aufeinander
folgen. Ein Verfehen in der einen oder an-
dern Art verwirrt das ganze Gefchäft des
Zablens ; es fehlt dann an deutlichen dazu
erroderiiehen ße^rillen , und es bleibt nuv
G g 4 eine
472 r Zweites Buch.
eine verworrene Vorltellung einer Vielheit
übrig.
§. 8.
Durch die Zahl wird alles Mefs-
bare gemeffen.
Noch verdient hier bemerkt zu werden,
daTs fich der menfchlithe Geift der Zahl zur
Meffung alles delTen bedienet, was von
uns gemeffen werden kann, wohin
vorzüglich der Raum und die Zeit gebore!,
Selbft der Begriff der Unendlichkeit auf Raum
und Zeit angewendet , ftheint nichts anders
als die Ziifammenletzung gewiffer vorgestell-
ter Theile 'der Zeit und des Raums, die nie
begrenzt ift , und der alfo keine Zabl ent-
fpricht? Und es ift einleuchtend, dafs die
Zabl der einzige Begriff ift, der uns eine fol-
che unerfrböpflichc Mannichfaltigkeit darbie-
tet, Man falle ei e noch fo grofre Zahl in
eine Summe ztifsmmen , fo bleibt doch die
Möglichkeit, neue ZjblgrÖfsen hinzuzufetzen
vor wie nach; es bleibt noch immer fo viel
hinzuzufVuen übrig, ?ls wenn noch nichts
davon genominen wäre. Die Zahlen find
alfo
Sechszchn Les Kapitel. 475
alfo ein unerfchöpfiicher Schatz. Diefe dem
Verftande fo einleuchtende, endlole Ver-
mehrung oder wenn man lieheT will, Ver-
inehrharkeit der Zahlen giebt uns, mei-
ner Meinung nach, den klärften und deut-
iichften Begriff von der Unendlichkeit. Doch
davon ein mehreres in dein folgenden Iva.
pitel.
Siebzehntes Kapitel.
Von der Unendlichkeit.
§. 1.
Die Unendlichkeit wird in der
urTprünglichen Bedeutung des
Worts dem Raum, der Dauer
und der Zahl beigelegt.
** enn man willen will, von welcher Art
der Betriff der Unendlichkeit ift, fo verfahrt
man am fcWeckraäfsigften , wenn man unirr-
Gg 5 ' l'ucht,
4" 't Zweites Euch.
fucht, welchen Gegenftänden die Unendlich-
keit unmittelbar beigelegt wird, und wie der
Verüand dielen Betriff bildet,
s
Endlich und Unendlich fcbeiut der
Verftand als Beithnuiungeit der Grüfse zu be-
trachten , und in der erlten urfprünglicheii
Bedeutung nur denen Dingen beizulegen»
welche Theile haben; und durch Hinzjufü-
gung oder Abziehang des kleinften Theiles
einer Vermehcung oder Verminderung em-
pfänglich find. Von dieser Art find die \'or-
liellurgen vom Raum, Zeit und Zahl, Es
iß wahr, wir muffen uns Gott, von dem und
durch welchen alle Dinge find , als unbegreif-
lich und unendlich denken. Allein wenn wir
nach un lerer ich wachen und befchränkten
Einficht diefen Begriff auf das höchfte VVefea
anwenden , fo gefchieht es doch vorzüglich
in Rück ficht auf feine Dauer und Ailgegen-
vvart, aber un eigentlicher, wie mir fcheint,
in Beziehung auf leine Macht, Weisheit, Gü-
te und andre Eigenfehaften, welche im ei-
geVüiciien Sinne, unerfchöpfiieh und unbe-
rreiriieh find. Werden diefe auch unendlich
genannt ä fo beziehen '.vir doch den Begriff
eigent"
Siebzehntes Kapitel, 475
eigentlich mehr auf die Vielheit und den Um-
fang der Handlungen, durch welche, und der
Gegenftände, an welchen lieh diefe Eigen-
fchaften äufseru, welche nie fo grofs oder
fo vielfältig gedacht werden können, dafs
fie nicht den grüfsien Gedanken und \\ie
grö ste Ziihl überfteigen , und weit hinter
lieh küTen follten. Ich maafse mir nicht an,
$.u beftiinrnen , wie djefie Eigenfcliafren in
Gutt find, der unendlich weit über unfern
eingefchränkten Begriff erhaben ift, und he
vereinen unftreitig alle mögliche Vollkom-
menheiten in fich. Ich rede hier nur von
untrer Art, üe in ihrer Unendlichkeit uns
\ pr^uftelleiu
§. 2,
Der Begriff der Endlichkeit ift
leicht iu finden,
Da alfo Endlichkeit und Unendlichkeit
von dem l erftande als Befiimmungcn des
R.-iums und der Dauer betrachtet werden, fo
rnüflen wir nun zimächfi unterf lachen , wie
er zu diefen Begtiffen gelanget. In Anfehung
des Begriffs der Endlichkeit hat das keine
Seh wie
47<5 Zweites Euch.
Schwierigkeit. DieTheile der Anlehnung,-"
die unfre Sinne gewötialicb affineren, füh-
ren der Seele 7uoleich diefen Betriff zu»
Alle periodifche lleihcn von Begebenheiten»
wodurch die Zeit und die Dauer gemeflen
wird, find bcgränzte Läufen. Die Schwie-
rigkeit trifft nur- die Entftehungsart der gren.
zenlofen^ Vorftelhmgen der Ewigkeit und Un-
ermefslichkeit, Weil alle Objecte, die uns be-
fchäftigen, in keinem Verhältnifs, auch nicht
der Annäherung, zu jenen ftehen,
§. 3.
Wie wir den Begriff der Unend-
lichkeit erlangen.
Jeder der eine Vorftellung von einer be-
Simulien Länge des Raums, z. B. ein Fufs
hat, findet, dafs er diefe länge verdoppeln,
und die Vorftellung von einer zweifchuhigten
Länge bilden, und zu diefer wieder einen
Schuh und fo fort hinzuretzen kann, ohne
damit an ein Ende zu kommen. Jede andre
Länge z. B. eine Meile, ein ErddurchmeHer,
lärst fich auf eb' n die Art unaufhörlich verdop-
peln. Wenn man eine Lange noch fo viel-
mal
Siebzehntes Kapitel. 477
mal verdoppelt , oder multiplicirer, und die
Vorttellung davon fo fehr als man will erwei-
tert hat, fo findet lieh doch kein Grund, da-
mit aufzuhören, und die möglichen Addilio.
nen find fo wenig, als beim Anfange er-
fchopfr. Die Möglichkeit, den Be«nlf des
Raumes durch neue Zufet/.ungen zu erwei-
tern, bleibt immer die nehmliche. Ddher
entltehtdie Yoritellung von dem unendlichen
Räume.
§. 4.
Die Vorftellung von dem Räume
ift grenzenlos.
Eine ganz andre Unterfuchung ift es , ob
der Raum, den lieh tue Seele als unendlich
vorftellet, auch an fich wirklich un-
endlich ift. Denn von unfern Vorftel-
lungen kann man nicht allezeit fehliefsen,
dafs ihre Objecte auch wirklich fo befchaffen
find. Da wir aber ei.imal auf die'e Fra°ege-
ftof>en find, fo darf ich wohl behaupten, dafs
wir uns den Baum wirklich an fich als un-
endlich denken können. Der Begriff vom
Räume führt uns fcho« von felbfl darauf.
Denn
478 Zv7eit53 Euch.
Denn man denke fich den Raum als von Kör-
pern angefüllt , oder an fich ohne alle dichte
Materie, deffen nothwendi^e Exiftenz oben
bewiefen worden (2 B. «5 K, §. n. ff.) Co
ift es in beiden Fallen, fo weit man auch
fortgefchritten ift, gleich unmöglich, an ge-
wille Schranken zu kommen, oder fie nur zu
denken, über welche hinaus man fich keinen
Raum mehr vorftellen könnte» Gefetzt ein
Körper oder eine diamantne Mauer machte
diefe Schranken aus, fo würde diefes kei-
nes weges das weitere Vordringen des Ver-
itandes in dem Räume aufhalten, fondern
es vielmehr erleichtern , und ihm noch mehr
Spielraum geben. Denn fo weit diefer Kör-
per reichte, wiire die Ausdehnung des Rau-
n;es aurser allem Zweifel gefetzt, und was
könnte dem Verftand, wenn er fich an tue
äufserfte Grenze jenes Körpers verfetzte, wei-
ter aufhalten, oder ihn überzeugen, dafs
er an die Grenze des Raums gekommen fey,
da er diefe nicht wahrnimmt, ja aus Grün-
den erkennet, dafs fich ein Körper auch au-
hex diefer Grenze bewegen kann? Wenn
fich ein Körper bewegen foll, fo roufs es in
der Körperwelt einen leeren Raum geben,
er
Siebzehntes Kapitel, ')»
sr fey fo klein, als eT will; in und durch
denfelben ift die Bewegung möglich; ja kein
Tbeil der Malerie kann lieh anders als in
folchen leefeil Räumen bewegen. Die Mög-
lichkeit der Bewegung eines Körpers in dem
leeren Raum dt aber eben in klar und ein-
leuchtend innerhalb als aufletbalb d.°r Kör-
perwelt, und der Begriff \on dem leeren blo-
fsen Räume ift in diefem und jenem Fall in
nichts als in der Grofse unterfchieden. Nichts
kann alfo einen Körper hindern, fich in den
leeren Raum aufser den Grenzen der Körper-
welt foifztibewegen. An welche Stelle des
leeren Raumes in oder aufser der Körper-
welt man Geh alfo in Gedanken auch cerfetzt,
fo ift doch nirgends eine Grenze in dem ein-
artigen Begriffe des Raumes zu finden. Aus
der Na:'ir und der Vorßellung jedes TheHs
des Raum-, folgert alfo derYerfiand nothwen-
djg , dafs er wirklich unendlich ift.
! &
a8o Zweites Buch.
§. 5.
Auf eben die Art entftehet der
Begriff von der Unendlichkeit
i der Dauer.
So wie wir durch die Möglichkeit, jede
Yorftellnng eines Raumes fo oft als man will,
zu verdoppeln, zu dein Begriff der Uner-
niefslichkeit gelangen , fo eihalten wir auch
den Begriff der Ewigkeit, durch die
Möglichkeit, jede \ orltellung einer Zeitlänge
durch alle endlofe Zufam inen fetzung der Zah-
len zu verdoppeln- Denn die Verbindung
jeder Vorftellung einer Zeitgröfse oder Zahl-
gröfse zu einer andern hat keine Grenzen.
Was die Zahlen betrifft, fo ift es zum we-
ni^ften jedem einleuchtend. Ob wir aber
gleich einen Begriff von der Ewigkeit habcjn,
fo ift es doch eine ganz andre Frage: ob es
wirklich ein reales VVefen gieht,
deffen Exiftenz ewig ift? Da ich
aber fchon an einem andern Orte davon ge-
handelt habe, fo bemerke ich nur diefs,
dafs man ron der Betrachtung eines exiitie-
renden Wefens noth wendig auf etwas Ewi-
ges geführt wird. Ich gehe jezt zu andern
Unter-
Siebzehntes Kapitel. 481
Unterteilungen über den Begriff der Unend«
lichkeit fort*
t
Warum andere Vorfteliungen
der Unendlichkeit nicht em-
pfänglich find»
Wenn es an dem ifl; , daTs der Begriff def
Unendlichkeit aus der Möglichkeit unfre
Vorstellungen unaufhörlich zu vergrofsern
enifprin^t, fo entfteht die Frage: warum
die Unendlichkeit nicht wie auf
die Zeit und den Raum,fo auch auf
an d er e Vor ftellu ngen angewendet
wird? Die Vorsehungen z. B. der Süfsig*-
keit, derweiTsen Farbe, können fo leicht und
fo oft wiederholet werden, als die einer Elle*
eines Tages; und doch fpricht niemand voa
der Unendlichkeit der SüTsigkeit oder der
weifsen Farbe. — Allein nur diejenigen,
Vorftellungen gewähren uns den Begriff der
Unendlichkeit , welche als aus Theilen befte-
hend betrachtet werden, und einer Ver-
mehrung durch das Zu fetzen gleicher oder
II h klei-
<j82 Zweites Buch.
kleinerer Theile empfänglich Gnd; weil mit
der endlofcn Wiederholung derfelben eine
endlofe Erweiterung unzertrennlich verknüpft
ift. Bei andern Vorftellungen ift das nicht «
fo. Ich kann den weitumfanendfttn Begriff
vom Raum und Ztsit iinüier noch durch Hin-
zufetzung eines kleinen Tiieiis, ni> üt fo aber
die voilkcmmenfte Yorlidlung von uemhöch-
ften VVeifs durch Hinzufü^ung einer Vorftel-
lung von einem gleichen oder geringern Gra-
de diefer Farbe, vergröfsern oder erweitern.
Die Vorftellung eines höhern Grades ift aber
unter jener Bedingung nicht einmal möglich.
Daher heifsen auch die verfchiedenen Vor- *
ftelhxngen des Weifsen Grade. Wenn ich
die weifse Farbe des Schnees geftern und
heute anl'chaute, und beide Vorftellungen mit
einander verbinden will, fo fchmelzen beide
in eine zufainmen , ohne die Vorftellung der
Farbe zu erhöhen. Die Zufammenfetzung
eines kleinern und gröfsern Grades einer Far-
be giebt auch in der Verbindung keinen grö-
fsern iondern vielmehr einen kleinern Grad,
Die Vorftellungen, welche nicht aus Thei-
len beliehen, können alfo nicht in jedem
beliebigen Verhältnifs vergröfsert, und über
üen
Siebzehntes Kapitel. 483
den Grad, in welchem wir fie von der Sinn-
lichkeit erhielten , erweitert werden. Hin-
gegen Raum, Zeit und Zahl find durch Wie-
derholung ihrer Verbindung einer Vergröße-
rung empfänglich; He lallen in der VorfieJ-
lun» unaufhörlich eine Stelle für noch meh-
D
rere Zuteilungen übrig; und weil diefes bei
andern Vorftellungen nicht ftatt findet, fo
führen fie unfern Geift allein auf den Begriff
der Unendlichkeit.
$• 7-
Unterfchied zwifchen der Un-
endlichkeit des Raums und
dem unendlichen Räume.
Unfer Begriff von der Unendlichkeit ent-
liehet zwar aus der Betrachtung der Quanti-
tät und ihrer endlofen Vermehrung durch
wiederholte Zufetzung beliebiger Theilgrö-
fsen. Allein es müfste gewifs grofse Verwir-
rung in unfern Gedanken hervorbringen,
wenn wir die Unendlichkeit mit irgend ei-
ner vorftellbaren Grofse verbinden , und ei«j
Tte unendliche Grofse z. B, einen unendli-
chen Raum, eine unendliche Zeit denken
H h 2 woll-
484 Zweites Buch.
wollten. Denn der Begriff der Unendlich-
keit ift meines Eedünkens nur eine der
endlofen Ver gr öfser un g fähige
Idee, aber die Vorftellung jeder Gröfse ift,
infofern fie vorgeftellt wird , begrenzt , und
kann nicht gröfserfeyn, als fie wirklich ift.
Die Unendlichkeit mit einer Quantität ver-
binden, ift foviel , als einen unveränderlichen
Maafsftab an einewachfende Gröfse anpafsen.
Es ift daher wohl keine unnütze Speculatior,
wenn man erinnert, die Vorftellung von
der Unendlichkeit des Raums, von
der Vorftellung des unendlichen
Raums forgfältig zu unterfcheiden. Die er-
fte Vorftellucg ift nichts als die problematifch
gedachte grenzenlofe Progreffion des Verftan-
des über jede willkührlich rorgeftellte Grö-
fse des Raums, Aber den unendlichen Raum
fich wirklich vorftellen , hei fst foviel, als an-
nehmen , der Verftand habe alle diefe durch
wiederholte Verbindung erzeugte Vorftellun-
gen von Räumen , die keine endlofe Pro-
greffion je ganz darfteilen kann, fchon durch-
gegangen und in ein Bewufstfeyn zufammen-
gedrangt, welches ein offenbarer Wider«
fpruch ift.
Si ebzclintes Kapitel.' ißi
§. 8.
Wir haben keine Vorftellung vo»'
dem unendlichen Räume«
Vielleicht wird das klärer, wenn wir die
Unendlichkeit der Zahlen betrachten. Diefe
beftehet darin , dafs man zu einer Zahl im-
mer noch mehr hinzufetzen kann, ohne da-
mit an ein Ende zu kommen , und leuchtet
jedem ein, der darüber nachdenkt. r So klar
3ber die Unendlichkeit der Zahlen ift, eben
fo einleuchtend ift auch die Ungereimtheit
des wirklichen Vorfteliens einer unendlichen
Zahl, Jedepofitive Vorftellung eines Raums,
einer Zeit, einer Zahl von- welcher Gröfse
man will, ift immer endlich; wenn man lieh
dabei einen unerfchüpflichen grenzenlofen
Reft vorftellet, in welchem dein Verftande
ein endlofea Fortfehreiten und Erweitern der
Vorftellungen möglich ift, ohne die Idee je
völlig zu erreichen , fo hat man die Vorftel-
lung der Unendlichkeit, So klar nun auch
diefes an (ich ift , wenn man dabei nur au£
die Verneinung der Grenze liehet, fp entlie-
het doch eine fehr dunkle und verwirrte Vor-
H h 5 ftellung
486 Zweites Buch.
ftellung, wenn man fich den unendlichen
Raum oder die unendliche Zeit vorftelien
will, weil fie aus zwei 'fehr verfchiedeneni
vielleicht gar nicht zu vereinbaren denBeftand«
theilen beftehef. Denn man bilde eine Vor-
stellung von einem Raurae oder einer Zeit,
von welcher Gröfse man will, fo fetzt fich
doch der Verftand offenbar einen Ruhepunkt
und eine Grenze, welches dem Begriff der
Unendlichkeit, d» i, der Möglichkeit eines
endlofen Fortfehritts, widerfpricht. Und
daher mag es wohl kommen, dafs man fich
fo leicht verwirrt, wenn man über den un-
endlichen Raum oder die urendliche Zeit rä-
fonnirt. Man erblickt nicht die Unverein-
barkeit beider Beftandtheile in einer Ideej
und wenn man daher aus dem einem Folge-
rungen ableitet , fo verwickelt der andere in
unauflösbare Schwierigkeiten, gerade fo als
wenn man aus einem Begriff von einer nicht
fortfehreitenden (d. i, mit andern Worten ei-
ner ruhenden) Bewegung fchliefsen wollte.
Nichts anders fcheint mir die Vorftellung ei-
nes unendlichen Raurm, oder einer unendli.
chen Z*ahl, das heifst eine Vorftellung von
einem Räume, der wirklich vorgeftellt und
atfo
Siebzehntes Kapitel. 4Ö7
alfo begrenzt gedacht wird, und doch zu-
gleich fo befchaffen ift, dafs ihn der Ver-
ftand durch keine fortgefetzte endlofe Erwei-
terung und Progreflion in eine Vorftellung
fallen kann. Denn fo grofs auch ein Raum
ift, den ich mir jetzt vorftelle , fo ift er
doch nicht gröfser, als ich ihn wirklich vor-
ftelle, wenn ich ihn gleich den folgenden
Augenblick und fo fort ins Unendliche ver-
doppeln kann. Nur das ift unendlich, was
keine Grenzen hat, und diefe Grenzenlosig-
keit denkt man fich in dem Betriff der Un-
endlichkeir,
'S* 9*
Die Zahl giebt uns den klärften
Begriff von der Unendlickeit.
Unter allen andern Begriffen giebt uns
die Zahl, wie wir fchon gefagt haben, die
klär Tte und beftimmtefte Idee von
derUnendlichkf it, deren wir empfang.
lieh find. Denn auch bei Raum und Zeit
bedient man fich der Zahlen, um fich dem
Begriff der Unendlichkeit zu nähern. Eine
Million Meilen , Jahre find foviel befummle
H h 4 Theil-
f|8ö Zweites Buch,'
Theilvorftellungeri des Raums und der Zeit,
und die Zahl verhindert es allein, dafs fie
nicht in der chaotifchen Vielheit verfchwin*
den, in welche lieh felbfi: der Verftand ver-
liert. Wenn man fo vielmal als man will,
Millionen von beftitnrnten Langendes Raums
und der Zeit zufäinm^ng6ffet£t hat, fo erhält
man die kläifte Vorftellung von der Unend-
lichkeit durch dem nicht zu unterfcheiden?
den und nicht aufzufallenden Reft von end-
los hinzuzufetzenden Zahlen, bei welchen
kein Stillftand und keine Grenze fichtbar ift,
§» lo.
Verfchiedene Vorstellungen des
xnenfehlichen Verftandes, von
der Unendlichkeit der Zahl,
der Zeit und des Raums.
Vielleicht wird eine andre Betrachtung
noch meht Licht über den Begriff der Unend-
lichkeit verbreiten , und zugleich darthun,
dafs die Unendlichkeit nichts andres
ift, als die Unendlichkeit der Zahlen
auf ge wif fe deutlic h vorgeftellte
Theile angewendet. Raum und Zeit
können als unendlich gedacht werden , aber
nicht
r Siebzehntes Kapitel. 489
nicht fo fchlechthin die Zahl. Diefes kommt
daher, weil wir bei der Zahl gleichfam an
dem einem Enäe find. Denn da in den Zah-
len nichts kleiner ift, als die Einheit , fo fte-
hen wir bei derfelben Rille , und befinden
uns an einer Grenze» Der Zufetzung oder
Vermehrung der Zahlen hingegen können
wir keine Grenze fetzen. Die Zahl ift daher
gleichfam eine Linie , wovon das eine Ende
bei uns begrenzt , das andere aber über je-
den möglichen Kreis der Vorftellüngen aus-
gedehnt ift. Mit dem Raum und der Dauer
verhält es lieh hingegen anders. Denn die
Dauer wird fo betrachtet , als wenn diefe
Linie), welche eine Zahlengröfse vorftellt,
auf beiden Seiten in eine nicht vorftelibare,
unbegrenzte und unendliche Weite ausge-
dehnt wäre. Einleuchtend wird diefs durch,
die Unterfuchung des Begriffs der Ewigkeit,
welche doch wohl nichts anders ift, als die
Anwendung der Unendlichkeit der Zahl auf
die Zeit fowohl rückwärts als vorwärts, oder
wie man fagt, a parte ante und a parte
polt» In jenem Fall fangen wir von
uns oder der gegenwärtigen Zeit an, durch-
laufen eine Reihe Jahre, Jahrhunderte oder
H h 5 an-
~,go Zweites Buch.
anderer Längen der vergangenen Zeit, mit
der AusPicht auf eine mögliche Fortfetzung
diefer Zufarnrnenfetzung durch alle Unend.
lichkeit der Zahlen hindurch. In diefem
Fall gehen wir ebenfals von uns aus, rech-
nen mit muhiplicirten Perioden der künfti-
gen Zeit, und dehnen diefe Zahlreihe ins
Unendliche aus. Beide unendliche Zeilrei-
hen machen die unendliche Dauer oder die
Ewigkeit aus, weiche uns vopwärts und rück*
wärts unendlich erfcheint, weil wir auf bei-
den Seiten der Möglichkeit, immernoch mehr
hinzuzufetzen , inne werden»
§. II.
Eben fo ift es mit dem Räume. Wir fe-
tzen uns gleichTatn in den Mittelpunkt def-
felben , und verfolgen von allen Seiten jene
grenzeniofen Zahlenreihen» Wir meflen
eine Elle, eine Meile, einen Erddurchmeffer,
und vergrößern .diefe Grüfsen fo oft wir
wollen, durch alle Unendlichkeit der Zah*
Jen. Da wir aber weder hier noch bei den
Zahlen einen Grund finden, mit diefen Zu-
fainmen-
Si-ebszehnte« Kapitel. 49 l
Jammenfetzungen aufzuhören, fo erlangen wir
dadurch den Begriff von der Une r ine fs-
1 i c h k e i t«
$. 12.
Unendliche Theilbarkeit.'
Unfre Gedanken können bei einem Stück
Materie nie auf eine letzte Theilung kom-
men. Hier bietet Geh uns alfo wieder eine
Unendlichkeit dar, welche ebenfalls eine
Unendlichkeit der Zahlen doch auf eine et-
was andere Art in fich fchliefst. Bei derUn«
endlichkeit des Raums und der Zeit bedient
man Geh der Addition, hier aber der Thei-
lung einer Einheit in ihre Brüche, In diefer
Divifion kann der Verftand ins Unendliche
fortfehreiten , wie in der Addition, und die
Divifion ifb auch in Wahrheit nichts anders, als
eine fortgefetzte Addition von neuen Zahlen.
Aber man kann weder durch jene Addition
einen pofitiven Begriff von einem unendlich
grofsen, noch durch diefe Divifion einen pofi-
tiven Begriff von einem uneudlich kleinen
Raum erlangen. Unfer Begriff von der Un-
endlich«
4g2 Zweites Buch,
endlichkeit ift gleichfam eine durch unendli-
che Progreffion wachfende Idee , die uns
nie Stand hält»
Es giebt keine pofitive Vorftel«
1 u n g des "l^n endlichen.
Es dürfte wohl fchwerlich ein fo gedan-
kenlofer Menfch gefunden werden, der be-
haupten wollte, er habe eine pofitive Vor-
sehung von einer unendlichen Zahl , weil
diefe Unendlichkeit gerade in der Möglichkeit
beftehet, zu jeder Zahl fo oft man will jede
beliebige Gröfse hinzuzufetzen. Gleichwohl
giebt es einige, welche fich einbilden, fie
hätten pofitive Vorftellungen von einem un-
endlichen Räume und einer unendlichen Zeit»
obgleich die Unendlichkeit hier wie dort in
einer grenzenlofen Vergröfserung beftehet.
Um fie von der Nichtigkeit diefer pofitiven
Vorftellungen und von ihrer Täufchung zu
überzeugen, darf man fie nur fragen, ob fie
%u derfelben etwas hinzufetzen können, oder
nicht
Siebzehntes Kapitel. /}g3
nicht? Eine pofltive Vorftellung vom Raum
und der Dauer ift nicht anders möglich, als
durch die Zufammenfetzung einer beftiinm-
ten Zahl von Längen des Raums und der
Zeit, wodurch der Raum und die Dauer aus-
gemeHen und ihre GröTse beftimmt wird. Da
aber die Vorftelluug eines unendlichen Rau«
mes, und einer unendlichen Dauer aus un-
endlichen Theilen beftehen mute , fo kann
keine andere Unendlichkeit als die der Zahl,
oder die grenzenlofe Möglichkeit imme neuer
Zufetzungen, aber keine wirklich pofuive
Vorftellung einer unendlichen Zahl, dabei ftatt
finden. Denn keine Zufammenfetzung end.
liehet Dinge, dergleichen alle unfre pofiti-
ven Vorftellungen von Längen find , kann
auf eine andere Art die Vorftellung der Un-
endlichkeit erzeugen, als die Zahl. Diefe ift,
zwar nur eine Verbindung endlicher Einhei-
ten, aber fie veranlafst doch infofern den Be-
griff von der Unendlichkeit , als es möglich
ift, jede ZahlgröTse d"rch immer neue Zufe-
tzung eben derfelben Einheiten ohne Ende
zu vermehren.
§♦ *4»
494 Zweites Buch,
§. '4-
Dafs die Verkeilung des Unendlichen po-
fijiv fey, fucht man , wie mir dünkt, durch
einen fonderbaren Schlul's zu beweifen.
]Vl;in fchliefst" nehmlich fo: die Verneinung
einer Grenze mufs etwas Poßtives feyn, weil
die Grenze etwas Verneinendes ift. Allein
wenn man bedenkt , dafs die Grenze eines
Körpers das Aeufserfte oder die Oberfläche
deflelben ift, fo wird man nicht fehr geneigt
feyn, die Behauptung zu unterfthreiben, dafs
die Grenze etwas Verneinendes fey; die
Wahrnehmung , dafs das Ende der Feder
weifs oder fchwarz ift, zeigt vielmehr, dafs
es etwas mehr als eine Verneinung ift. Die
Grenze der Dauer ift nicht die blofse Ver-
neinung der Exiftenz, fondern eigentlicher
der letzte Augenblick derfelben. Und wenn
man auch diefs behaupten wollte, fo könnte
man doch nicht leugnen, dafs der Anfang der
Dauer der erfte Augenblick der Exiftenz eines
Dinges, alfo keine Verneinung ift. Und fo folgt
aus ihrem eignen Schlufse, dafs die regreffi-
ve Idee der Ewigkeit, oder einer Dauer oh-
ne Anfang , eine blofs negative Idee ift.
§. i5.
Siebzehntes Kapitel. 49**
§. 15»
Was in unferm Begriff der Un-
endlichkeit pofitiv und nega-
tiv ift.
Der Begriff der Unendlichkeit enthält, ich
geftehe es, bei jeder Anwendung auf ein
Ding, etwas pofitives. Um uns einen unend-
lichen Raum oder eine unendliche Zeit vof-
zuftellen, bilden wir erft eine viel umfallen de
Vorftellung von etwa einer Million Meilen
oder Jahrhunderten , und mnliipliciren viel-
leicht noch einigemal diefe Giöfse, Was wir
auf diefe Art in eine Vorftellung fallen, ift
das Pofitive, ein Aggregat von- einer grofsen
Zahl poGtiver Vorftellungen von Räumen und
Zeilen. Aber von dem, was aüfser diefer '
GrÖfse noch übrig ift, hat man eben fo we-
nig eine polilive Vorftellung, als der Schiffer
von der Meerestiefe, wenn er einen grofsen
Theil des Senkbleies hinabgelaffen hat, ohne
den Boden zu erreichen. Er weifs, wie vie-
le Klaftern die gemeflene Tiefe beträgt, aber
nicht, wie viel Klaftern er noch bis zum
Meeresgrund zu meflen hat. Könnte er im-
mer eine neue Schnur anknüpfen, und wür-
de
496 . Zweites Buch,
de das Senkblei unaufhörlich fir.ken, fo wür-
de er fich beinahe in einerlei Lage mit dem
menfchlichen Verftande befinden , wenn die«
fef nach einen vollendeten und pofitiven Be-
griff des Unendlichen ftrebt. Gefetzt die
Klafter fev 10 oder 10000 Klafter lang, fo ent-
deckt fie nicht mehr und nicht weniger was
darüber ift; fie giebt nur eine dunkle und
comparative Vorftellung, dafs das noch nicht
die ganze Länge ift, und dafs man immer
weiter fortfchreiten kann. Der Verftand hat
nur infoferne eine pofitive Vorftellung von
dem Räume, als er denfelben in eine Vorftel-
lung zufamraenfafst; gehet er weiter und
fucht fie unendlich zumachen, fo bleibt fie
doch immer unvollendet, fo fehr er üe auch
erweitert und ausdehnt. Nur fo weit, ift ein
deutliches Bild, eine pofitive Vorftellung von
der Gröfse des Raums möglich, als die Ein-
bildungskraft davon umfafst; aber das Unend-
liche ift immer noch gröfser. Der Begriff
von einer beftimmten Gröfse ift klar und po-
fitiv; von dem Gröfsern ift auch ein klarer,
aber nur ein Vergleichungsbegriff; von deni
fo vieluial gröfsern, als man nicht begreifen
kann, ift er offenbar nicht poütiv, fondern ne-
gativ.
Siebzehntes Kapitel. 497
gativ. Denn wo der Abfland der entfernte-
ften Punkte einer Ausdehnung nicht gemef-
fen und in eine Vorftellung gePaCst wird, da
ift keine klare pofitive Vorftellung von der
Grüfse derlelben. Nach einer folchen Vorftel.
lujtg des Unendlichen firebt man, aber fie ift
nicht möglich, und keiner wird fich derfel-
ben rühmen. Das Vorgeben , Jemand hab«
eine klare Vorftellung von einer Gröfse, ohna
zu willen, wie grofs fie ift, ift wohl fo wenig
vernünftig, als daTs Jemand eine klare Vor-
ftellung von der Zahl der Sandkörner an dem
Meeresufer habe, der nicht weifs, wieviel,
fondern nur, dafs es ihrer mehr als zwanzig
find. Nicht beffer ift die Vorftellung desjeni-
gen von dem unendlichen Raum oder der
unendlichen Dauer, der Taget, fie find grof-
fer als eine Raum - oder Zeitläuse vou einer
Million Meilen oder Jahren, Und doch ift:
das der ganze Inhalt unfers Begriffs von dem
Unendlichen, Was in demfelben aufser der
pofitiven Vorftellung liegt, dasift dunkel, ver-
worren, unbeftiinmt, wie es in negativen
Begriffen zu feyn pflegt; man kann nicht alles
iaffen, was in demfelben liegt, es ift für ein
endliches befchränktes Vermögen zu viel,
I i Der-
4gS - Zweites Buch,
Derjenige Begriff mufs nothwendig noch fehr
weit von dem vollständigen pofitiven Begriffe
entfernt feyn, in welchem der gröfste Theil
deffen , was man zufammenfaffen wollte, feh-
let, und nur durch das unbeftiimnte Merkmal,
es fey gröfser als jede beftimmte Gröfse, an-
gedeutet wird. Wenn man einen Theil ei-
ner Gröfse geraeffen hat , und noch nicht da-
mit ans Ende gekommen ift, fo geftehet man,
dafs fie noch gröfser ift. Die Verneinung der
Grenze einer Quantität ift alfo eben fo viel,
als fie ift gröfser; und eine gänzliche Vernei-
nung der Grenze heifst nichts anders, als mit
allen wirklichen und möglichen progreffiven
Vorftellungen undBeftimmungen diefer Quan-
tität immer die Vorfiellung verbinden, dafs
fie noch gröfser ift, Ob eine folche Idee ein
pofitiver Begriff fey, mögen andre en$-
fcheiden.
§. 16.
Wir haben keinen pofitiven Be-
griff von der unendlichen Dauer*
Wenn einige behaupten , fie hätten einen
uofiliven Begriff von der Ewigkeit, fo
frage
/ '
Siebzehntes Kapital, 490,
frage ich, ob ihr ReprifT von der Datier eine
Succeffion in fich fchliefst oder nicht? Iß
das Iettte, fo füllten (ie den Uriterfchied die«
fes Begriffes anheben, wenn er auf ein un«
endlichem oder endliches VVefen angewendet
wird» Denn es möchten wohl einige f wor-
unter ich auch mich zähle, in diefem Punkte
die Schwäche ihres Y?erftande5 bekennen, und
eingeftehen , dafs fie zufolge ihres Begriffs
von der Dauer fich nothwendig vorftellen
müden, dafs alleä, was nur eine Exiftenz
hat, heute eine längere Dauer hat, als es
geftern hatte» Sollten fie, um der Succeffion
in der ewigen Exiftenz auszuweichen , zu
dem punctum ftans -der Schule ihre Zu«
flucht nehmen, fo werden fie ihre Sache we-
nig beflem , und uns keinen klärern und po-
fitivern Begriff von der unendlichen Dauer
ausmitteln. Denn für mich ift zum wenig-
ften nichts unbegreiflicher als eine Dauer ohne
Fol_:e. Aufserdem kann dieles punctum Itans
gar nichts mit der Dauer zu thun haben, weil
es , wenn es anders nur etwas bedeutet, kei-
ne weder endliche noch unendliche Grüfse
ift» Wenn es daher für unfern fch wachen
Verftand unmöglich ift, das Nacheinanderfeyn
1 i 2 von
5o» Zweites Buch.
von der Dauer zu tn nnen , fo kann auch nn-
fer Begriff von der Ewigkeit nichts anders
feyn , als die unendliche Folge der Augen-
blicke der Dauer, in Jenen ein i'it'g exiitirt.
Ob nun Jemand eine pofhive Idee von einer
unendlichen Zibl hat oder haben kann, mag
er fo lange überlegen, bis feine unendliche
Zahl fo grofs ift, dafs er keine Zahlgröfse
mehr hinzusetzen kann. So lange er he aber
noch vermehren kann , wird er wohl felbft
feine Vorftellung für zu befchränkt halten,
als dafs er fie mit dem poütiven Unendlichen
meffen follte.
§• 17»
Jedes vernünftige Wefen , welches über
fein und andrer Dinge Dafeyn nachdenkt,
wird, wie ich glaube, unvermeidlich auf den
Begriff eines ewigen weifen Wefens , das
keinen Anfang hat , geführet. Diefen Be-
griff einer ewigen Dauer habe ich ficherlich
auch. Allein diefe Verneinung des Anfanges,
welche etwas pofitives iß, kann mir frhwer-
lich eine pofitive Vorftellung von der Unend-
lichkeit
Siebzehntes Kapitel. 5o«
liehkeit geben. Das Beftreben, meine Gedan-
ken fo weit zu erweitern, um fie zu umfaflen.
ift um foult, die Vorltellung davon überfteigt
»ein Vermögen.
§. JÖ.
Es giebt keine pofitive Vorftel-
lung ron einem unendlich
kleinen Raum*
Wer fich einbildet, eine pofitire Vorfiel-
Jung von dem unendlichen Räume zu haben,
wird nach einigen Nachdenken finden, dafs
er weder den gröfsten noch den klein*
ften Raum fich vorftellen kann. Das
letzte fcheint noch am leichteften zu feyn,
und noch mehr, als das erfte, in dem Kreife
untrer FaiTungskraft zu liegen. Und doch
haben wir hier nur einen Vergleichungcbe.
griff von einer Kleinheit, die immer kleiner
ift; als jede Kleinheit, die wir uns pofitiv
vorftellen. Alle i.nfre Vorftellungen von ei-
ner Quantität, es fey einer grofsen oder klei-
nen , haben allezeit ihre Grenzen ; aber die
Vergloichungsbegriffe , wodurch wir unauf-
li 5 hör-
5o2 Zweites Buch.
hörljch zu einer Grofse hinzufetzen, oder
von ihr wegnehmen könren, find grenzen^
los. Denn das, was bei Vergleich ungen grö-
sser odez kleiner ift, ift nicht mit in der po*
fitiven Vorfteliung begriffen , und daHer dun*
jkel, und man ftellt fich dabei nichts als die
Möglichkeit vor, das eine uuai.fi örlich zu
vergrößern und das andre zu verkleinern»
Ein MörTer kann ein Stück Materie fo bald
zur Untheübarkeit bringen, als der fchärffte
Gedanke eines Mathematikers, und ein Feld-
melier nia.4 mit leiner Mefskette einen un-
endlichen Raum fo fchnell aushelfen, als ihn
ein Philosoph mit dem fchnellften Fluge fei»
»es Geifccs durchlaufen oder durch ein poü<
tivcs Denken umfallen kann. Wer eine klare
und pofiiive V7or Heilung eines Würfels von
einem Zoll im Durchmeffer hat, kann fich,
eine eben fo klare Vorftellung von einem
Würfel von 1/2, i/f, j/B Zoliim Durchmefle,
bilden, und fo fortfahren, bis er fich etwas
lehr kleines vorftellt. Allein das reicht noch
sucht an die unbegreifliche Kleinheit, wel-
che die Theäiung hervorbringen kann. Die
Kleinheit , die noch zu theilen übrig bleibt,
ift von feinem Gedanken noch immer fo weit
ent.
Siebzehntes Kapitel. 5o3
entfernt, als da er zu theilen anneng. Und
daher bekommt man nie eine klare pofitiva
Vorftellung von dem Kleinen, welches der
unendlichen Theübarkeit angemeflen ift.
s
§» 19.
Wer auf die Unendlichkeit hinblickt, bil-
det zuerft eine viel umfallende Vorftellung
von demjenigen, worauf er die Unendlich-
keit anwendet, 2. B* Raum, Dauer, und
ftrengt feinen Verftand aufi äufserfte an, die-
fe Vorftellung durch die Vermehrung auf»
höchfte zu fteigern. Immer bleibt aber ein
grofser Reit übrig, den er in keine Vorfiel*
lung fallen kann, und er kommt dem pofiti-
ven Begriff des Unendlichen nie um einen
Schritt näher. Es gehet ihm wie jenem Land-
mann, der über einen Flufs gehen und war-
ten wollte, bis der Strom abgelaufen wäre *).
1*4 §• 20,
*} Horatius Epiilol. II. 2, v. 42 , 43.
Rufticus exfpectat dum tvanfeat amnis , at illa
Labitur et labetnv in onuie volubilis aeumn.
5o4 Zweite» Buch.
§. 20.
Einige meinen, fie hätten eine
pofitive Vor ft eilung von der
Ewigkeit, aber nicht von dem
unendlichen Räume,
Ich habe «inige Denker kennen lernen,
welche einen fo grofsen Unterrdiied zwi*
fchen der unendlichen Dauer und dem unend«
liehen Räume annahmen , dafs fie glaubten,
fie hätten eine pofitive Vc-rftellung von der
Ewigkeit, hingegen fogar eine Vorftellung
des unendlichen Raums für unmöglich hiel-
ten. Diefer Irithum mag wohl aus folgen-
dem Grunde entstanden feyn. Nach gründ-
licher Betrachtung der Urfachen und Wir-
kungen erkannten fie die Notwendigkeit,
ein ewiges -Wefen anzunehmen, und feine
reale Exifienz fo zu denken, dafs fie ihre
Vorftellung von der Ewigkeit erfchöpfte.
Auf der andern Seite hingegen fchien es in«
nen nicht nur nicht nothwendig, fondern
auch ungereimt , einen unendlichen Körper
anzunehmen. Da nun eine Vorftellung von
einer unendlichen Materie nicht möglich ift,
Cm
Siebzehntes Kapitel. 5o5
fo fchloffen fie, könne man auch keine Vor-
stellung von einem unendlichen Räume ha-
ben. Diefer Schlufs dürfte aber nicht fehr
richtig feyn. Denn die Exiftenz der Materie
ift eben fo wenig nothwendig zur Exiftenz
des Raums, als die Exiftenz der Sonne oder
der Bewegung zur Exiftenz der Dauer, ob-
gleich diefe durch die Bewegung pflegt ge-
melTen zu weiden. Man kann fich ohne
Zweifeleinen Raum von 10,000 Quadratmei-
len und eine Zeit von 10000 Jahren vorftel-
len , wenn gleich kein Körper fo grofs und
fo alt ift. Die Möglichkeit der Vorftellung
des leeren Raumes fcheint mir fo klar, als
die Vorftellung von der Weite eines Scheffels
ohne Getraide , oder von der Holung einer
Rufs ohne Kern. Der Begriff von der Un-
endlichkeit des Raumes und die Exiftenz ei-
nes unendlich ausgedehnten Körpers ftehen
in keiner nothwendigern Verknüpfung, als
der Begriff von der unendlichen Dauer und.
die Ewigkeit der Welt. Und warum follte
man die reale Ex:ftenz der Materie als ein©
Bedingung der Vorftellung vom unendlichen
Baume betrachten, da man fich eines eben
fo klaren Begriffs von der Unendlichkeit der
I i 5 künfti-
5 dS Zweites Buc h."
künftigen als der vergangenen Zeit bewirfst
ift , ohne deswegen in die künftige Zeit die
Exiftenz eines Dinges noihwendig zu fetzen.
Es ift auch eben fo unmöglich, die Vorfiel-
lung rnn der künftigen Dauer mit der von
der gegenwärtigen oder vergangenen Exi-
ftenz zu verbinden , als die Vorßellungen
von Geflern, Heute und Morgen zu identi-
fchen Vorftellungen zu machen, oder die
vergangenen und künftigen Jahrhunderte als
gleichzeitig neben einander zu (teilen. Wenn
aber jene Denker meinen , fie hätten eine
klarere Vorftellung von der unendlichen
Dauer als von dem unendlichen Räume,
weil es eine ausgemachte Wahrheit ift, dafs
Gott von Ewigkeit exiftiert, keine reale Ma-
terie aber den unendlichen Raum erfüllet, fo
giebt es andere Philofophen , welche dafür
halten, dafs der unendliche Raum eben fo'
von Gottes Allgegenwart erfüllt werde, als
die unendliche Dauer von feinem ewigen
Dafeyn. Dann müfste man doch wohl den
letztern einen eben fo klaren Begriff vo.n dem
unendlichen Räume, als den erfiern von der
unendlichen Dauer einräumen» Indeflen
werden wohl weder die elften noch die letz-
ten
Siebzehntes Kapitel. 5o""
ten von der Unendlichkeit des Raums oder
der Dauer einen pofitiven Begriff haben.
Denn da jeder pofitire Begriff einer Gröfse
durch Multiplication vermehrt werden kann,
fo müfste es auch bei diefen Vorftellungen
fiatt linden; und fo könnte man zwei unend-
liche Gröfsen zufammen addiren, oder die
eine unendlich gröfser als die andre ma-
chen , — Ungereimtheiten , die keine Wi-
derlegung verdienen.
§• 21.
Die vermeintlichen pofitiven
Vorftellungen des Unendli-
chen verurfachen Irthümer.
Wenn einige nach allen diefen Gründen
doch noch glauben, das Unendliche pofitiv
vorftellen und fallen zu können, fo mufs man
ihnen freilich den GenuTs diefes Vorzugs un-
geftÖTt laflen. Möchten fie nur ihre Vorfiel*
hing andern mittheilen, die fich nicht deffel-
ben Vorzugs rühmen können ; fie würden
fich durch diefe Belehrung feil verbindlich
machen. Denn ich glaubte bis jezt immer,
dafs
5o8 Zweites Buch.
dafs die großen unauliöslichen Schwierigkei-
ten, in welche (ich alle unfere Räfonnemens
über die Unendlichkeit des Raums, der Zeit
und der Theilbarkeit unaufhörlich verwickel-
ten, untrügliche Merkmale von der Unvollkonr
menheit unfrer Begriffe , und der Unange.
meflenheit diefes Gegenftandes für die Faf-
fungskraft unfres befchrankten Vermögens
-wären. Denn wenn die Menfchen über den
unendlichen Raum oder die unendliche Dauer
ftreiten und disputiren , als hätten fie fo voll-
ständige und pofitive Begriffe davon , als von
den fie bezeichnenden Ausdrücken oder von
endlichen Gröfsen, fo darf man fich nicht
wundern , dafs die Unbegreiflichkeit diefer
Gegenftände fie in Schwierigkeiten undWi-
derfpriiche verwickelt, und dafs ihr Verfiand
einem Gegenftände unterlieget , der zu grofis
ift, als dafs er überfchaut und behandelt wer-
den könnte»
$♦ 2,2 1
Ich habe mich fehr" lange bei der Be-
trachtung des Raums, der Dauer, der Zahl,
und
Siebzehntes Kapitel. Sog
und der Unendlichkeit, die aus der Refle-
xion über jene entfpringt, verweilet» Allein
die Befchaffenheit diefer GegenfUinde machte
das nothwendig. Denn es giebt wenig ein-
fache Vorftellungen, deren Beftimmungen den
menfehlichem Geift fo fehr befchiiftigten als
diefe. Ich will nicht behaupten, dals ich fic
voHftändig erfchöpft habe. Es war für mei-
nen Zweck hinreichend , zu zeigen, wie das
Gemüth diefe Vorftellungen , fo wie fie find,
von der Empfindung und Reflexion erhält,
vund wie felbft der Begriff der Unendlichkeit,
fo wenig Beziehung er auch auf ein finnli-
ches Object oder eine Thätigkeit der Seele
zu haben fcheint, doch mit andern Vorftel-
lungen einerlei Urfprung hat. Einige Mathe-
matiker von tiefem Speculationsgeift mögen
vielleicht die Begriffe von dem Unendlichen
auf eine andre Art ableiten; allein dem un-
geachtet konnten fie, wie andre Menfchen,
den erften Begriff davon auf die oben be-
schriebene Weife erhalten haben.
Acht
5lo Zweites Buch.
Achtzehntes Kapitel.
Von andern einfachen Beftimniungen,
Beftimniungen der Bewegung,
I
n den Vorhergehenden Kapiteln habe ich
gezeigt, wie der Verftand von den einfachen
durch die Sinnlichkeit erzeugten Y'orftellun^
gen ausgeht, und fleh fogar bis zur Unend-
lichkeit ausbreitet. So weit auch der Be-
giiff der Unendlichkeit von allen fißnlichen
VorftelJungen entfernt fcheint, fo beftehet
doch fein Inhalt nur aus einfachen, durch
die Sinne gegebenen und nachher durch da*
Veriia mies vermögen zufammengefetzten Vor-
fielluägen. Zu Beifpieien von einfachen Mo-
dincationen einfacher Vorltellnngen der Sinn-
lichkeit und zur Darflellung der Art und
Weife, wie der Verftand zu diefen gelangt»
könnte es nun fchon an dem Gegebenen ge*
xius
'Achtzehnte« Kapitel. 5l.
11 ug Heyn. Wir wollen aber doch noch eini«
ge der Ordnung wegen, doch ganz kurz an-
führen , und 'dann zu den zufamuiengefeu-
tern Begriffen übergehen»
§. 2»
GlitTchen, rollen, wälzen, gehen, krie-
chen, laufen, tanzen, fpringen hüpfen und
f. w. find eben fo viele verfchiedene Modifi-
cationen der Bewegung, welche fich jeder
fogleich klar vorftellt, als er die Worte hört
und v erfleht. Die Beftiramungen der Bewe-
gung entfprechen den Beftimmungen der
Ausdehnung. Gefchwindigkeit und
Langfamkeit find zwei verfchiedene Vor-
stellungen der Bewegung, infüfern fie zu-
gleich durch die Länge der Zeit und des
Raums gemeffen wird; alfo zurammengefetz-
te Begriffe, indem fie aufser der Bewegung
auch Raum und Zeit enthalten.
§♦ 5.
£ 12 Zweites Buch.
§. 5.
Älödificationen der Töne.
Bei den Tönen finden wir eben diefe
Rlannichfahigkeit, Jedes articulirte Wort
ift eine andre Modification des Tons.
Daraus erhellet, welche faft unzahlbare Men-
ge verfchiedener Vorftellungen die Seele von
dem Gehörfinne durch diefe Modifikationen
erhält. Wenn Töne (das Gefchrei derTbie-
re und Vögel ausgenommen) von verfchiede-
ner Höhe, Tiefe und Länge nebeneinan-
der geftellt werden, fo entftehet die zufam-
mengefetzte Vorftellung einer Melodie, Ein
Mu fiter kann fich diefelbe vorftellen , ohne
einen Ton zu hören oder hervorzubringen
indem er blos über die Töne reHectirt, die
er ohne äufsern Laut in. leiner Einbildungs-
kraft zufammenfetzt.
5- 4-
INI odificationen der Farben,
Die Moditicationen der Farben find eben-
falls fear mannichfaltig. Einige davon wer-
den
Achtzehntes Kapitel/ 5i3
den als verfcbifdene Grade oder Sthartirun-
gen einer und derfelben Farbe betrachtet.
Selten wird aber entweder zum Ver^nü^en
oder zum Nutzen, eine Partie Faibeai zu-
fatnmeneefetzt , ohne eine gewiffe Figur mit
einzumifchen , und daran 1 heil nehmen zu
lauen , wie in Gemälden, in der Weberei»
Stückerei u, f. w. Diefe gehören daher zu
den gemifchten ßeßiinmurgen , welche aus
verfchiedenartigen Vorftellungen als Faiben
und Figuren zufammengefetzt find z. B. die
Schönheit, der Regenbogen.
§. 5.
Modificationen des Gefchmacks»
Jeder zufammengefetzte Gefchmack und
Geruch ift ebenfalls eine aus den einfachen
Vorftellungen diefer Sinne zufammengefetzte
Modilication : Da aber die Sprache für die
meiften derfelben keine Worte hat , fo läfst
fich nicht viel über fie bemerken und fchrei-
ben, fondern fie muffen ohne Aufzählung
der Erfahrung des Lefers überlaflen werden.
K k $. G.
5*4 Zweites Buch.
§. 6.
Ueberhaupt gilt hier die Bemerkung, dafs
die einfachen Be f t i mm u n g en , wel-
che nur als verfchiedene Grade derfel-
ben einfachen Vorftellung betrach-
tet werden, obgleich einige derfelben fehr
verfchiedene Vorftellungen find, doch ge-
wöhnlich, wenn der Unterfchied fehr klein
ift, kein befonderes Wort in der Sprache ha-
ben, und nicht als verfchiedene Vorftellun-
gen unterfchieden werden. Ob man diefe
Modifikationen überfehen und mit keinen
Worten bezeichnet hat, weil es entweder an
fcharfen Unterfcheidungsmerkmslen fehlte,
oder weil , wenn das gefchehen wäre, ihre
Kenntnifs von keinem allgemeinen und be-
trächtlichen Nutzen gewefen wäre, mögen
andere unterfuchen. Es ift für meinen Zweck
hinreichend, wenn ich zeige, ciafs die Seele
alle diete einfachen Vorßellungeii einzig;
durch die Empfindung und I ton erhält,
dafs he diefelb&n auf mannicbfaj'.ige Art wie-
derholen , verbinden und daraus neue zu-
fararnengeretzte Vorftellungen bilden kann,
Wfcün gieich jene einfachen Vorftellungen
nicht
Achtzehntes Kapitel« 5i£
nicht weiter beftimmt und zu neuen Vorftel-
lungrn zufaunnengefetzt worden find, um
fie mit Worten zu bezeichnen, uoJ in ge-
wiiTe KLilTen zu ordnen , fo ift doch das mit
andern z, B. Einheit, D^uer, Bewegung
Denken , Vermögen geschehen.
§. 7-
Warum einige Mo dif ica tio neri
mit Worten bezeichnet find,
andere nicht.
Die Urfache davon fcheint die^e gewefen
zu feyn. Die wichtigfte Angelegenheit der
Menfchen betrifFt ihre gegenfei'ige Verbin-
dnng. Dazu war die Kenntnifs der Men-
fchen und ihrer Handlungen und die gegen»
feitige Mitiheilung unumgänglich norhwen«
dig. Daher unterfchieden fie die Vorftel-
lungen von den Handlungen fchaTf nach al
len Unterfcheiduigsmerkmalpn , und drück-
ten drefe zufammengcfetzten Begriffe durclj
Worte aus, um diejenigen Ohjpcte, mit wcl*
chen fie täglich umgehen, von denen fie im-
Kks met
5i6 Zweites Buch.
•
iner Kenntnifle mittheilen und empfangen
muffen, defto leichier unterrcheiden , defto
licherer aufbewahren ui:d ohne Umfchweife
und Umfchreihungen davon fprechen zu
köm en» Kurz die Menfchen Iafsen fich bei
Bildung mancher zufammengefetzten Begriffe
und Bezeichnung derfelben gröfstentheils
durch den Zweck der Sprache überhaupt lei-
ten, welche der kürzefte und ficheifte Weg
ift, einander Vorftellungenmitzutheilen, Die-
fes zeigt fich offenbar bei den Kunftworten
für gewifle zufammengefefzte Begriffe von
befonders eingerichteten Handlungen, wel-
che zu der Abficht erfunden worden , um
defto beftim tnter und kürzer über ditfe Ge-
genftände Anordnungen zu machen, und da-
von fprechen zu können» Solche Begriffe
werden nicht von allen Menfchen gebildet,
noch ihre Ausdrücke durchgängig verftanden,
weil nicht alle mit folchen Operationen zu
thun haben. Solche Worte find z. B, tiltri-
len » Gohobation» Die zufammengefetzten
Bügriffe , welche dadurch ausgedrückt wer_
dens findet man nur bei weuigen Menfchen,
deren befondre Beschäftigung fie beftändig
in ihr Bevvufstfeyn bringt, und die Worte
wer«
Achtzehntes Kapitel. 5iy
werden gewöhnlich nur von Chemikern ver-
banden, welche fie crft gebildet haben, und
einander wieder mittheilen. So ift eine
grofse Mannichfaltigkeit von einfachen Ver-
keilungen des Geruchs und Gefchmacks und
ihrer Modificationen durch die Sprache nicht
bezeichnet und in Klaffen geordnet worden,
weil man fie entweder nicht allgemein genug
beobachtete , oder weil ihre Kenntnifs für
die menfehlichen Angelegenheiten und Ge-
werbe von keinem grofsen Nutzen ift. Ein
Mehreres wird darüber in der Abhandlung
von den Sprachzeichen gefagt werden.
K k 3 Neun
5i8 Zweites Buch,
Neunzehntes Kapitel,
Von den Modificationen des Denkens.
§. I.
Empfindung, Erinnerung, Bc
t r a c h t u n g u. f. w.
enn die Seele einen Blick auf ihr innres
richtet, und ihre eignen Handlungen be-
trachtet, fo ftelit (ich ihr zuerft das Denken
dar. In dem leiben Jaflen ßch eine grofse
Mannichfaltigkeit von Modificationen unter-
fcbeiden, woraus verfchiedeue Begriffe ent-
liehen. So ift die Vorsehung , welche mit
dem Eindrucke eiues äufoern Objects verknüpft
ift, eine Modificatinn des Denkens , welche
lieh von allen andern unterfcheidet, Sie
giebt^dera \ erftande den Begiiff einer Em-
pfindung (fenfation/, welche gleich fam
die Einführung einer Vorftellung in den Ver-
band veruiitteift der Sinne ift. Wenn eben
diefflbe Vorftellung ohne Einwirkung ihres
Objects wieder in das Bewufstfeyn kommt,
f©
Neunzehntes Kapitel. Jicj
fo ift es die Er in n er ung. Sucht das Ge-
müth diefelbe wieder hervor, und ruft fie
mit Mühe und Anftrcngung ins Bewufstfeyn
zurück, fo ift es das Entfinnen, Be-
trachtung heifst die Art des Denkens,
wenn das Gemüth bei einer Vorftellung lan-
ge mit Aufmerkfamkeit verweilet. Wenn
die Vorftellungen in dem Gemütbe ohne Re-
flexion oder Beachtung des Verftandes a.b-
und zufirümen, fo heifst das Trau m er e i»
Werden die Vorfiellungen, welche fah felbft
darbieten; beachtet, und gleich fam in das Ge-
dächtnifs eingetragen, fo ift das die Aut-
ln erkfamkei t. Wenn der Verßand mit
Jntcrrfle und eigner Wahl feinen Bück auf
eine Vorftellung heftet, he von allen Seiten
betrachtet, und fich durch keinen Reitz an-
drer Vorftellungen lofsreifsen läfst, fo nennt
man dasForfchen und Studium. Der
traumlofe Schlaf iß der Znftand, da alle die*
fe Thätigkehen ruhen. Das Träumen ift
der Zuftand des Getnüths , da die äufsern Sin-
ne verfchloifen find, und nicht mit der fonft
^ewübnlichen Lebhaftigkeit Eindrücke auf-
nehmen. Das Gemüth hat Vorftellungen, aber
üe werden durch keinen äufsern Gegenft^nd
Kk 4
620 Zweites Buch.
oder fonftige bekannte Veranlagung" geweckt,
und flehen nicht unter der Wahl und der
Leitung des Verftandes. Die Entzückung
ift vielleicht ein Träumen bei offenen Augen»
Doch überlaffe ich das andern zur Unter-
fuchudg«
§.
Diefes find nur einige wenige BeiTpiele
von den mannichfaltigen Modifikationen des
Denkens, die man in Geh beobachten , und
eben fo deutlich vorftellen kann, als aufsere
Gegenwände z. B, einen Kreis, ein Viereck.
Es ift hier nicht meine Abficht, diefe ganze
Reihe von Voift: Illingen der Reflexion voll-
ftändig darzuftellen , und ausführlich zu be-
handeln : diefes würde ein ganzes Buch er-
fodern. Ich begnüge mich an wenigen Bei*
fpiclen gezeigt zu haben , von welcher Art
diele Vorfiel! ungen find, und wie fie die
Seele erhält, um fo mehr, da ich weiter un-
ten Gelegenheit finden werde, von i\en
nieikwürdigften Thüti^keiten des Gemiiths
und den Befthnmungen des Denkens, als dem
Urthei-
Neunzehntes Kapitel, 52i
Urtheilen , Schliefsen , Erkennen und Wol-
len ausführlicher zu handeln.
§•
Von den verfchiedenen Graden der
A uf mer kfa m kei t beim Denken.
Was wir vorher von der Aufmcrkfanv
kfit, der Träumerei, dem Traume u. f. vv.
fagten, führt uns hier auf eine Betrachtung
des verfchiedenen Zuftandes des Gemüths
beim Denken — eine kleine Abfchweifung,
die man uns defto eher verzeihen wird , da
fie Ins von unferm Gegenltand nicht weit ab-
führet. In dem wachenden Zu Rande find
immer einige Vorfteilungen von einerlei oder
verfchiedener Art der Seele gegenwärtig,
diefs lehrt die Erfahrung, Der Verftand be*
fchäftiget fich mit ihnen in verfchiedenen
Graden der Aufmerksamkeit, Zuweilen rich-
tet er die Aufmrrkramkeit mit dem größten
IniereiTe auf die Betrachtung gewiffer Gegen-
ftände, unterfucht diefe Vorßellungen von
allen Seiten , bemerkt alle Yerhältnifle und
Umftände , fafst jedes Merkmal fo fcharf und
Kk 5 anse-
.0-2 Zweites Buc h.
angelegentlich auf, dafs alle andere Gedan-
ken ausgefchloffen, und die gewöhnlichen
Eindrücke auf die Sinne nicht bemerkt wer-*
den, die bei einer andern Stimmung des Ge-
müths fehr lebhafte Vorftcllungen würden
veranlagt haböa« Zu eiuer andern Zeit wird
die Reihe von VorfteSIungen, welche auf ein-
ander folgen, blos beobachtet, ohne Lei-
tung und weiteres Nachdenken des Verftan-
Ces, Endlich ^ehen fie zuweilen , wie mat-
te Schattenbilder, die keinen Eindruck ma-
chen, faß ganz unbeachtet vorbei.
5'
Es wird daraus wahr fchein lieh,
d a f s das Denken eine Hand-
lung, nicht das Wefen der See-
le itt.
Diefen Unterfchied zwifchen Anßren-
gung und Erschlaffung der Denkkraft, nebft
eiuer grofsen Mannichfaltigkeit von Graden
zwifchen dem ernftlichen Nachdenken, und
dem Nichtiiadidenken hat wohl jeder Menfch
in
Neunzehntes Kapitel. 5;3
in (ich erfahren. Kur noch einen Schritt
weiter, und wir finden die Seele fcblafend,
gleich fam zurückgezogen von den Sinnen
und dem Wirkungskreife der Veränderungen
in den Sinnorganen, die foult; lebhafte \ or-
ftellungen erzeugten. £s iß nicht nöthig zum
Belege Beifpiele von Menfchen anzuführen,
welche eine ganze ftünnifche Nacht hindurch
fchlafen, ohne den Donner zu hören, die
Blitze zu fehen, oder die Erfchütterungcn
des HauTes zu empfinden, welche den wa-
chenden merklich genug find. Unge.ichtet
diefer Abgezogenheit von den Sinnen behalt
doch die Seele noch eine fehr regellofe und
unznfammenhängende Art 2u denken, die
man das Träumen nennt. Endlich ziehet
auch hjer ein gefunder Schlaf diefen letzten
Vorhang zu, und läfst alle Erfcheinungeu
verfchwinden, Diefe Erfahrungen hat wohl
-jeder an fich felbft gemacht, und die Beob-
achtung über fich felbft leitet ohne Schwierig-
keit auf diefe Bemerkungen. Was ich dar-
aus folgere, iß diefes. Da die Seele ihre
Denkkraft bald anfpanner. bald wiederum
herabftimmen kann, dafs ihre Gedanken matt,
dunkel oder wohl gar wenig mehr, als nichts
find,
5^4 Zweites Buch«
lind, da fie in ihrer Abgezogenheit in dem
tiefen Schlafe endlich alle ihre Vorftellungen
gleichfam aus dem Gefjcht verliert j und alles
diefes eine unleugbare Erfahrung und That-
fache ift , fo frage ich, ob es nicht wahr-
fcheinlich fey , dafs das Denken eine
Thä t igkei t a ber nicht das Wefen
der Seele ift? Denn die Wirkungen eines
handelnden Wefens find eines höhern und
mindern Grades empfänglich • aber bey dem
Wefen eines Dinges lälst fich kein folcher
Gradunterfchied denken. Doch diefes be-
merke ich nur im Vorbeigehen»
Zwan.
Zwanzigftes Kapitel, 5a5
o j. v
Zwanzigftes Kapitel,
Modiilcationen des Vergnügens und Schnierzens
Vergnügen und Schmerz find ein-
fache V o rf t eilungen,
^♦nter den einfachen Vorftellungen , welche
wir fowohi ans der Empfindung als der Re-
flection erhalten , liehen Vergnügen und
Seh m e rz oben an. Ein Eindruck in dem
Körper ift entweder eine blofse Veränderung
oder mit Vergnügen und Schmerz verknüpft.
Eben fo ift jede Vorftellung der Seele entwe.
der eine blofse oder eine mit Vergnü-
gen und Schmerz, Luft und Unlufc
verg efe 11 fc haftete Vorftellung.
Diefe können fo wenig, wie andre einfache
Vorftellungen befchrieben, oder ihre Aus-
drücke erkläret werden; der einzige Weg
fie zu erkennen, ift die Erfahrung. Denn wenn
man fie auch als ein gegenwärtiges Gut oder
Lebe!
5:6 Zweites Buch;
Uebel erkläret, To läfst fich doch das auf kei-
ne ai:dre Art erkennen , als wenn man refle-
ctin, was man empfindet, wenn uns das
Gute undBöTe nach Verfchiedenheit der Rich-
tung und Befrachtung auf mannichfaltige Art
äfficieret*
f. 2,
Was das Gute und Büfe ift.
Die Dinge find nur gut oder boTe in Be*
Ziehung auf Vergnügen oder Schmerz. Gut
nennen wir dasjenige, was in uns Vergnü-
gen erwecken, vermehren und
Schmerz vermindern; oder was den
Befitz eines andern Gutes ver-
schaffen und fichern, und ein
Uebel entfernen kann. Böl'es hin-
gegen ift was Schmerz verur Fachen
oder vermehren und das Vergnü-
gen vermindern, was uns ein an-
dres Uebel zuwege bringen, oder
eines Guten berauben kann. Man
ffiuTs hier Vergnügen und Schmerz fowohl-
4es Körpers als des Geiftes vergehen, fo
wie
Zwanzigftes Kapitel, 527
wie fie gewöhnlich unteTfchieden werden.
Im Grunde find fie aber beide nur verfchie-
dene Befthninnngen des Gemüths, welche
bald durch den Zuftaud des Körpers, bald
durch gewifle Vorftellungen der Seele vevur-
facht werden,
§♦ 5.'.
Die Lei denfe haften werden durch
das Gute und ßöfe in ße'.veguUg
gefetzt*
Vergnügen und Schmerz, und was fie
hervorbringt, Gutes und Eüfes find die An-
geln in welchen Geh unfre Leidenfchaften
drehen» Wenn wir in uns beobachten , wie
diefe in verfchiedener Richtung auf uns wir-
ken , welche Modificafionen und Stimmun-
gen des Gemüths und fo zu Tagen innere Em-
pfindungen fie hervorbringen, fo können
wir daraus die Begriffe von unfern Leiden-
fchaften ziehen.
$• V
528 Zweit «3 Buch.
§. 4.
Liebe.
I>!ß Reflexion auf die Empfindung der
Luft, weiche ein gegenwärtiger oder abwe-
fenrier Gegenftand erzeugen kann , giebt den
Begriff von der Liebe. Wenn ein Menfcb,
Tagt , er liebe die Weintrauben , es fey im
Herbft, wenn er fie ifst , oder zu einer an-
dern Jahrszeit , da fie noch nicht find , fo iffe
es fo viel, als das Eflen derfelben ifi: für
ihn angenehm. Gehet aber eine Verände-
rung, in feiner Gefundheit oder körperlichen
Befchaffenheit vor , weiche diefe angeneh-
me Empfindung zerftöhret, To kann man
nicht mehr fagen , er liebe diefe Frucht«
§. 5.
Hafs,
Hafs ift im Gegentheil die VorßelfuHg
der Utiluft, welche ein gegenwärtiger oder
abwefentier Gpgcnftand hervorbringen kann»
Wenn lieh nickt meine Abficht auf die bJofse
Dar
Zwanzigstes Kapitel. 5ig ~
Darftellung der begriffe von Leidenfchaftenr
als Modifikationen der Luft und Unluft ein-
fchränkte , fo würde ich noch bemerken, dafs
fich Liebe und I Jafs gegen Ieblofe Dinge
gemeiniglich auf die Luft und Unluft grün-
det, welche" durch ihren oft mit Zerftöhrung
verknüpften Gebrauch für die Sinne und ihr
Verhähnifs zu diefen entftehet. Liebe und
Hafs gegen empfindende Wefen ift oft nur
die Luft und L'uluft, welche in uns aus der
Vo.rftellung ihres Lebens und Wohlfeyns ent-
flehet. So liebt ein Vater feine Kinder, ein
Freund den andern, weil ihr Leben und
Wohlfeyn ein beftändig,eT . Gegenstand des
Vergnügens ift. Doch es ift hier genug, be-
merkt zu haben , dafs unfre Empfindungen
der Liebe und des Haffes nur Beftimmungen
des Geraüths in Beziehung auf Luft und Un-
luft überhaupt find, ohne alle Rückficht auf
den Entftehung'igrund derfelben,
'§. 6,
Verlangen»
Das Verlangen ift die Unluft, die ein
Menfch aus der Abvvefenheit eines Dingts
L 1 ein-
S3o Zweites Buch.
empfindet, deflen GenuTs mit Vergnüge»
verknüpft ift. Das Verlangen ift um fo grö-
fser oder kleiner als es die Unluft ift. Viel-
leicht ift hier die Nebenbemerkung nicht oh-
ne Nutzen, dafs Unluft und Schmerz wo
nicht die einzige doch die vorzüglichfte
Triebfeder der menfehlichen Thätigkeit ift»
Denn was für ein Gut man fich auch vor-
teilt, wenn die Abwefenheit deftelben kein
Mifsvergnügen , oder Unluft bei fich führet,
wenn man ohne dafTelbe vergnügt und zu-
frieden ift» fo entftehet kein Verlangen, kein
Beftreben darnach , fondern nur ein blofses
Wollen (Velleity), der niedrigfte Grad des
Verlangens , oder eigentlich das , was dem
Nichtverlangen am nächften kommt. In die-
fem Falle ift die Unluft über die Abwefenheit
eines Dinges fo klein, dafs fie nur einige
fchwache Wünfche nach demselben hervor-
bringt, ohne thatige und ernftliche Anwen
düng der Mittel zur Erlangung deflelben.
Das Verlangen wird auch durch die Meinung
von der Unmöglichkeit oder Unerreichbar-
keit des Guten erftickt oder gefch wacht, in^
forern die Uniuft durch diefe Befrachtung
gehoben güsi gemindert wird. Diefs kann
Stoff
Zwanzigftes Kapitel. 65 1
Stoff zu weitem Unterfuchungeu geben, die
aber nicht hieher gehören,.
$• 7-
Freude.
Freude ift das Vergnügen der Saele,
aus Betrachtung des gegenwärtigen oder doch
des zuverlässigen nahen Befitzes eines Gutes.
Man ift aber dann im Befitz eines Gutes,
wenn man es fo in feiner Gewalt hat, dafs
man es zu jeder Zeit geniefsen kann. So
freuet fich ein Ausgehungerter» wenn ihm
Lebensmittel gebracht werden, noch ehe er
fie genieffet. Ein Vater, dem das Wohlfeyn
feiner Kinder Vergnügen macht, ift fo lange
im Befitz diefes Gutes, als feine Kinder in
diefem Zuftande fich befinden; denn er
braucht nur daran zu denken, uni es zu em-
pfinden«
'§'. 8 — 13.
Traurigkeit, Hofnung, Furcht,
Verzweiflung, Zorn, Neid.
Traurigkeit ift die Unlufl: der Seele.
welche aus der Voiftellung eines verlornen
LI 2 G
55a Zweites Buch.
Gutes, das man länger hätte genießen können,
oder aus der Empfindung eines gegenwärti-
gen Uebels entfpringt. Die Hofnung ift
das Vergnügen aus der Vorftellung des künf-
tigen Genaues eines Dinges, welches Ver-
gnügen erwecket, Furcht ift Unluft aus
der Vorfiellung eines künftigen Uebels, das
einen wahrfcheinlich überfallen wird. Ver-
z weifelu n g ift die Vorftellung von der
Unerreichbarkeit eines Guts , welche auf das
menfchlicbe Gernüth nicht auf einerlei Weife
wirkt, fondern bald Unlufi und Schmerz,
bald Ruhe und Gleichgültigkeit hervorbringt.
Zorn iß Unluft oder Beunruhigung des Ge-
müths über eine empfangene Beleidigung mit
dem VorTatz fich fogleich zu rächen. Neid
ift die Unbebaglichkeit des Gemülhs, welche
aus der Vorftellung entfpringt, dafs e^in an-
derer ein Gut, das Object unfers Begehrens,
erreicht hat, welches er unfrer Meinung
nach nicht vor uns hätte erlangen follen»
$. i4.
Zwanzig ft es Kapitel. 533
§♦ 14.
Welche Leidenfchaften bei al-
len Menfchen gefunden wer-
den.
Zorn und Neid werden nicht fchlechthin
durch Vergnügen und Schmerz erzeugt, f0n_
dem es find mit denfelben noch gewiffe ver-
mifchte Rückfichten auf uns und andre ver-
webt, nehmlich die Schätzung des Verdien-
ftes und der Vorfatz der Rache, Daher fin.
det man fie nicht, bei allen Menfchen, weil
nicht alle dL-fe Rückfichten haben. Alle
übrigen Leidenfchaften, welche fich blos auf
Vergnügen oder Schmerz beziehen, können
wohl bei allen Menfchen gefunden werden»
Denn wir lieben, verlangen, freuen uns und
hoffen zuletzt doch nur in Rückficht auf das
Vergnügen, wir hoffen, fürchten und betrü-
ben uns nur in Beziehung auf Schmerz.
Kurz alle Gegenftande erregen nur infofern©
Leidenfchaften . in wiefernc fie als Urfachen
der Luft und Unluft erfeheinen, oder als mit
Vergnügen und Schmerz auf gewiffe Weife
verknüpft gedacht werden. Der Hafs er-
ftreckt fich gewöhnlich auf das Object, wel-
L 1 5 ches
r>54 Zweites Buch.
ches uns webe gethan hat, zum wenigften,
wenn es ein empfindendes und mit Freiheit
Handelndes Wefen ift; denn die Furcht, die
es zurücklägt, äft ein unaufhörlicher Schmerz.
Hingegen liebt man nicht fo fortdauernd das-
jenige, was uns Gutes gethan hat, weil d^s
Vergnügen nicht fo ftark als der Schmerz auf
uns wirket, und weil man nicht geneigt ift,
zu hoffen , es werde ein andermal wieder fo
gegen uns handeln. Doch diefs ift nur eine
Nebenbeinerkung.
§. 15» 16.
Was Vergnügen und Schmerz ift.
In diefem ganzen Abfchnitt mufs unter
Vergnügen und Schmerz, Luft und Unluft
nicht allein körperliches Vergnügen und kör.
perlicher Schmerz, fondern auch jede Luft
und Unluft verftauden werden, welche aus
einer angenehmen oder unangenehmen Em-
pfindung oder Reflexion entfpringt. In Be-
ziehung auf die Leidenfchaften wird auch
die Entfernung und Verringerung eines
Schmer?,es als ein Vergnügen und die Ent-
fernung oder Verminderung eines Vergnügens
als ein Schmerz betrachtet,
§• 17.
ZvranzigTtes Kapitel. &3»
§• 17*
Schaam»
t
Die meißen Leidenfchaften wirken auch
auf den Körper, und bringen in demfelbea
mancherlei Veränderungen hervor, Diefe
Foleen machen aber kein notwendiges
Merkmal des Begriffes von jeder Leiden-
ichaft aus, weil fie nicht allezeit wahrnehm-
bar find. So wird die Schaam d. i. eine
Unlufl, welche aus dem Gedanken entflehet,
dafs «nan etwas gethan hat, welches unan-
Händig ifl, oder die Achtung anderer gegen
uns verringern kann, nicht allezeit von ei-
nem Erröthen begleitet.
Die atigeführten Beifpiele zei-
gen uns, wie die Vorftellun-
gen von Leiden fc haften aus
der Empfindung und der R e*
flexion entfp ringen,
i
Was ich in diefem Ab(chnitt gefagt habe,
darf ja nicht für eine Abhandlung' von den
Leidenfchaften angefehen werden. Es giebt
noch
535 Zweites Euch.' 2o Kap.
noch mehrere, als ich angeführt hahe, und
jede derfelben erfodert noch eine weit aus-
führlichere und fchärfere Umerfuchung. Die
angeführten find hier nur als eben fo viele
Beifpiele von den Modifikationen der Luft
und Uuluft, welche aus der verfchiedenen
Betrachtang des" Guten und Büfen entfprin-
gen, aufgeftellt worden. Ich hätte zu die-
fen vielleicht noch andre einfachere Modifi-
cationen wählen können, z. B. die Empfin-
dung des Hungers und Durftes ; das Vergnü-
gen des Eflens und Trinkens ; den Schmerz
reizbarer Augen ; das Vergnügen der Mufikj
das Mifsveignügen über eine verfängliche
nicht belehrende Zänkerei und das Vergnü-
gen aus der vernünftigen Unterhaltung mit
einem Freund, oder aas dem wohlgeordne-
ten Gebrauch 3er Verüandeskräfte in Erfor«
fchung der Wahrheit. Allein ich wählte die-
fe fJeifpieJe lieber von Leiden fchaften, weil
fie uns mehr interefliren, um zu zeigen, wie
ufifre Vorftelluiigen von ihnen aus der Em-
pfindung und der Ruflexion abgeleitet find»