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Full text of "Versuch über den menschlichen Verstand"

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51 


Vo*    O 

•üo     O 


U' 


371 


Locke*  s 
V    er    f    u    c    h 

über  den 

menfchlichen  Verftand 


aus    dem    Englifchen    übei-fetzt 

mit  einigen  Anmerkungen  und  einer  Abhandlung  | 

i\ b  er 

den   Empirismus   in   der  Philofophie 

von 
D.  Willielm  Gottlieb  Tennemann. 

ErTter    Theil. 

I     e     11     a, 

im    Verlag   des  akademifchen  Lereinftituts. 
i  7  9  5. 


■uwjfMwwp"  qrwra  *ws«»Bjpen»ir.i. 


Vorrede 

des 
Ueberf  etzers* 


«ine  neue  Ueberfetzung  von  Locke' e 
Verfuch  über  den  inenfchlichen  Verftancl 
dürfte  leicht  als  eine  nach  dem  jetzigen  Zu« 
ftande  der  Philofophie  ganz  überllüfsige  Ar- 
beit angefehen  werden.  Wozu,  könnte  man 
Tragen,  ein  fo  weitläufiges  Werk  überfetzen, 
in  dem  nichts  gefagt  ift,  das  nicht  feit  dem 
weit  befler  und  gründlicher  abgehandelt  wor- 
*  Ä  den 


iv  Vorrede 

den;  das  neben  manchem  Guten  doch  auch 
viel  Unrichtiges  enthält?  Und  wenn  es  auch 
lauter  Wahrheiten  in  fich  fafste,  fo  find  es 
doch  nun  langft  bekannte  Sachen,  welche 
durch  de-n  Stil  und  den  Vortrag  des  engli- 
fchen  Philofophen  keinen  neuen  Reitz,  kei- 
ne neue  Empfehlung  erhalten.  Seine  Phila- 
fophie  und  Sprache  erhebt  fieli  nicht  über 
das  Mittelmäßige  •  er  gehet  in  keiner  Unterfu- 
chung  auf  die  letzten  Gründe  zurück,  er  er- 
fchöpft  keinen  Gegen ftand  ;  und  man  fucht 
daher  vergebens  Auffchlüfse  über  irgend  ei- 
ne intereflante  Speculation  oder  Idee,  Er 
trägt  nur  das  vor,  was  dem  gemeinen  Men- 
fchenverftand  ,  ohne  tiefe  Forfchungen,  Er- 
örterungen und  Demonftrationen  einleuch- 
tet, und  fchreibt  daher  auch  für  keine  Phi- 
lofophen im  ftrengen  Sinne  diefes  Worts, 
fondern  vielmehr  für  die  zahlreichere  Klaffe 
von  Menfchen  von  gefundern  Verftand.  Und 
auch  für  diefe  ift  fein  Buch  nicht  zweckmä- 

fsi* 


desUeberfetzers,  v 

fsig,  weil  es  zu  trocken  und  ohne  gefälli- 
ge Darftcllung  gefchrieben  ift.  Was  für  Nu- 
tzen foll  man  alfo  von  einem  Teichen  Werke 
erwarten.  Ift  nicht  eineUeberfetznng  davon 
etwas  Ueberflüfsi^es,  deflen  wir  in  diefen 
fchreibfeligen  Zeiten  fchon   fo  genug  haben  ? 

Diefe  und  andere  Einwendungen  hat  fich 
der  Ueberfetzer  felbft  Oft  vorgehalten ,  und 
er  war  daher  lange  unfchlüfGg,  ob  er  diefe 
Arbeit  übernehmen  oder  aufgeben  follte. 
Nach  reiflicher  Ueberlegung  aber  fand  er  auf 
der  andern  Seite  eben  fo  ftarke  Gründe,  wel- 
che für  diefe  Unternehmung  fprachen;  und 
er  liefs  fich  endlich  durch  die  letzten ,  wozu 
noch  die  eigne  Aufforderung  des  Verlegers 
kam,  beftimmen.  Davon  mufs  er  jetzt  dein 
Publicum  einige  Rechenfchaft  ablegen. 

So  fehr  auch  die  Lockjfche  Fhilofophie 
von  Seiten   der  Popularität  und    des  Mangels 

5  an 


vjt  Vorrede 

an  Gründlichkeit  vielleicht  Tadel  verdienet, 
fo  ift  ße  doch  an  Geh  und  durch  die  Folgen, 
die  weitaus  fehend  genug  find,  immer  eine 
merkwürdige  Erfcheinung  gewefen.  Locke 
hatte  denfelben  Zweck  als  Kint.  Er  wollte 
den  Inhalt  und  Umfang  des  menfchlitheu 
Verftandes  beftimmen,  und  durch  Feftfetzung 
feines  Gebiets  der  Philo fophie  nicht  nur  eine 
fichere  Grundlage  vorbereiten  ,  fondern  auch 
aus  ihr  die  Streitfucht  und  den  Geift  des  Zwei- 
fels verbannen.  Wenn  nun  gleich  die  Ausfäh- 
rung dem  Zweck  nicht  entfprach,  fo  ift  doch 
diefer  H.hon  an  fich  wichtig  genug,  dafs  er  euch 
]'etzt  noch  die  Aufmerkfamkeit  auf  diefePhi- 
lofophie  lenken  kann,  und  er  erhält  dadurch 
noch  mehr  Intcrefle,  dafs  in  der  neueften 
Epoche  der  Philosophie  die  Kritik  des  Ver- 
ftandesvermögens  das  Haupthema  worden  ift. 

Es   ift  wahr,     dafs   man  in    dem  ganzen 
Werke    nicht   viel     neue    oder   unbekannte 

Ideen 


des    Ueberfetzers.         vir 

Ideen  findet;  allein  eine  Vergleichung  mit 
der  kritifchen  Philöfophie  wird  doch  immer 
noch  merkwürdige  Stellen  genug  aufwei« 
fen ,  in  welchen  Locke  fich  den  Ideen  des 
Königsbergifchen  Philofophen  mehr  oder  we- 
niger näherte,  z.  B.  die  Unendlichkeit  der 
Vorfiellung  von  Zeit  und  Raum  wegen  der 
unendlich  möglichen  Synthefis;  andere,  wo 
er  Winke  auf  fruchtbare  Unterfuchungen 
hinwirft,  die  dem  künftigen  Nachdenken 
aufbewahret  blieben  ,  und  nun  durch  die  kri- 
tifche  Philöfophie  wirklich  ausgeführt  wor- 
den find,  z,  ß.  der  Wink  von  der  Unzertrcnn- 
lichkeit  der  Zeit  und  des  Raums  2  B.  i5Kap» 
§.  r2.  am  Ende.  Ueberhaupt  ift  es  interer- 
fant,  die  Lockifche  Philöfophie  mit  der  Kri- 
tifchen zu  vergleichen  ,  und  zu  bemerken, 
wie  die  erftere  von  der  letztern  abweicht 
und  wie  jene  meiftenlheils  nur  Sätze  undRe- 
fultate  aufstellt,  zu  welchen  erft  durch  die 
letztere  die  wahren  Gründe  entdeckt  wor- 
*  4  den 


vm  Vorrede 

den  find  ,  wie  man  z.  B.  in  den  Kapiteln 
von  Zeit,  Raum,  Subftanz  finden  wird. 
Das  ganze  dritte  Buch  ift  reich  an  fcharfün- 
nigen  B^merkuu^en  über  die  Sprache  in  phi« 
lofophifcher  Hinficht, 


Es  iß  wahr,  Loeke's  Verfuch  über  den 
jnenfchlichcn  Yerftand  ift  nicht  fovvohl  eine 
Speife  für  die  Starken  als  für  die  Schwachen. 
Die  Urfache  davon  liegt  darin,  dafs  er  eine 
Philofophie,  welche  für  Jedermann  faßlich 
und  rerftändlich  ift,  für  die  wahre  hielt,  und 
d^fs  er  fich  Gemeinnützigkeit  und  allgemeine 
Verftändlichkeit  zum  Ziel  fetzte,  und  dadurch 
die  W  iiTenfchaft  von  den  unnützen  Specula- 
tionen  zu  reinigen  fuchte.  Aber  eben  darum 
giebt  es  noch  immer  eine  grofse  Amahl  von 
Lefern ,  welche  auch  die  lc  ichtere  Phi- 
lofophie eines  Locke  intereffiren  kann. 
Denn  für  diefe  enthält  fie  noch  immer  Nah- 
run» 


des     Ueberfetzers. 


ix 


Hing  genug  für   den  Verftand,    und  vielfälti- 
gen Stoff  und  Anlafs    zum   Nachdenken. 

Doch  wir  wollen  hier  von  dem  Inhalte 
abftrahiren,  und  nur  bei  den  Folgen  ftehen 
bleiben,  welche  das  L  o  <■  k  f  c  h  e  Svftem  gehabt 
hat.  Es  ift  wohl  nicht  zu  leugnen,  dafs  die- 
fes  mehr  Anhänger  und  Vertheidiger  gefun- 
den hat,  als  jedes  andere,  felbft  als  das  Leib» 
riitzifche.  Eine  grofse  Anzahl  von  Philofo- 
phen  in  Deutfchland  fo  wie  in  andern  Lan- 
dern betrachtete  die  Philofophie  des  Lecke 
als  die  wohlthätigfte  Eifcheinung,  als  die  einzig 
wahre  Philofophie,  oder  doch  als  die  Grund- 
lage zu  derfelben;  fie  fchöpfterj  aus  derfelben 
ihre  Grundfätze,  welche  fie  weiter  entwikel- 
ten,  mit  neuen  Eleweifeii  unteriiuUten,  und  fo 
in  eiuer  andern  Geftalt  fchriftlich,  und  münd- 
lich lehrten.  Es  ift  hier  nicht  der  Ort  zu 
unterfuchen,  worauf  üchdiefe  grofse  Ausbrei- 
tung der  Lockifchen  Philofophie  gründet, 
*  5  genug 


x  Vorrede 

genug  es  ift  eine  ausgemachte  Thatfache,  dafs 
fle  auf  den  (rang  der  Pbilofophie  in  neuern 
Zeiten  einen  fehr  groTsen  Einflufs  hatte* 
Selbft  Hurne  gieng  bey  feinem  Skepticismus, 
wodurch  er  alle  dogmatifche  Syfteme  beitritt, 
von  Lock  s  Grui:d(itz  von  dem  empirifchen 
Urfprunge  aller  Vorfteilungen  aus.  Auch 
jetzt  noch  machen  die  Anhänger  des  empiri« 
fchen  Dogmatisinus  oder  der  Lockifchen 
Pbilofophie  bei  dem  Streite,  in  welchen  die 
kritifche  Philosophie  mit  der  dogmatifchen 
verwickelt  ift ,  keine  unbeträchtliche  Parthie 
aust 

Eine  Philofophie,  die  alfo  in  gewiiTen 
Rückfichten  noch  immer  ,  theils  Einflufs  auf 
die  Beurtheilung  philofophifcher  Schriften 
und  Verfuche  hat ,  theils  felbft  Object  der 
Beurtheilung  der  kritifchen  Philofophie  ift, 
verdient  auch  jetzt  noch  eine  nähere  Betrach- 
tung und  Kenntnifs,     Und  woher  kann  diefe 

.befler 


des     Ueberfetzers»  xi 

beiTer  gefchöpft  werden ,  als  aus  dem  Origi- 
ginale  oder  aus  einer  treuen  und  lesbaren 
Ueberfetzung  ? 

Das  Original  iß  aber  feiten,  fo  wie  es 
mit  mehreren  englifchen  Werken  ift,  und 
eine  vollkommene  Ueberfetzung  ift  davon 
noch  nicht  vorhanden.  Von  den  frarzöfi- 
fchen  kann  ich  nichts  Tagen,  weil  ich  fie 
nicht  mit  dem  Original  verglichen  habe;  de 
intereffiren  uns  Deutfche  aber  auch  weniger, 
als  die  Ueberfetzungen  in  unfre  Sprache. 
Die  einzige  bisher  erfchienene  deutfche 
Ueberfetzung  von  Poley*  Altenburg  1767» 
4.  ift  nicht  nur  fehr  weitfehweifig,  Jchlep- 
pend  und  daher  äufserft  unangenehm  zu  le- 
fen ,  fondern  hat  auch  nicht  einmal  durch- 
gängig das  Verdienft  der  Treue,  Es  wäre 
überflüfsig,  diefes  Urtheil  noch  mit  Belegen 
zu  unterfuchen;  der  blüfse  Aofchein  fchon 
kann,   Jeden   von    der   Richtigkeit   deflelben 

über- 


-Mi  Vorrede 

überzeugen.  Aber  kann  nicht  der  Auszug 
aus  I  ockes  Werk,  weichen  Tittel  Mann- 
heim  179?  8.  herausgegeben  hat,  die  Stelle 
einer  Ueberfetznng  vertreten,  und  hat  diefer 
nicht  wohl  gar  Vorzüge  vor  einer  Ueberfe- 
tzung,  da  er  mit  Ausladung  alles  Ueberflüf- 
(rgen  und  aller  Wiederholungen  ,  nur  den 
wefentlichen  Inhalt  darfteilt?'  Daran  zwei- 
feln wir  fe]ir.  Ohne  uns  in  eine  Kritik  die- 
fer Bearbeitung  und  ihres  Werths  einzulaf- 
fen,  bemerken  wir  nur  dicfs,  dafs  diefer 
Aufzug  —  denn  das  ift  es  wirklich,  was 
Hr.  Tittel  geleiltet  hat,  ob  er  gleich  ge- 
gen diefen  Titel  proteftiref  —  fo  fehr  ihm 
auf  der  einen  Seite  die  Kürze  zu  ftatten 
kommt ,  auf  der  andern  Seite  noch  weit 
trockener,  als  das  Original  geworden  ift« 
Eine  Menge  von  fremden  Worten  und  nicht 
glücklich  gebildeten  Kunftausdiücken ,  von 
denen  das  Original  nichts  weiTs,  muffen 
rtpthwendig     dazu     dienen ,      die     Lecture 

noch 


des  Ueberfetzers.  *xiri 
noch  ermüdender  und  unintereilanter  zu 
machen. 

Aus  dieTen  Gründen  hielt  ich  eine  Ueber- 
fetzung  diefes  philofwphifchen  Verfüchs  kei- 
nesweges  für  überflüfsig.  Ob  diefe  Gründe 
auch  dem  Publicum  entfcheidend  fcheineu 
werden  ,  weifs  ich  nicht. 

Jetzt  nur  noch  einige  Worte  von  der 
Ueberfetzung  felbft.  Ich  habe  mich  beftrebt, 
den  Silin  des  Originals  deutlich  und  richtig 
darzuftellen,  ohne  mich  fclavifch  an  die  Wor- 
te zu  binden.  Da  der  englifche  Philofoph  etwas 
weitfchweifig  fchreibt  und  üch  oft  wieder- 
holet, fo  fchien  es  mir  eine  unumgängliche 
Pilicht  des  Ueberfetzers  zu  feyn ,  den  Vor- 
trag, fo  viel  als  ohne  Verluft  für  den  wefent- 
lichen  Inhalt  und  ohne  Nachtheil  für  den 
Stil  der  Ueberfetzung  gefchehen  konnte,  zu- 
fammenzudrängen  und  das  Ueberilüfsige    zu 

be. 


Xiv  V  o  r  i  e  d  e 

befchneiden.  Dem  ungeachtet  ift  die  Ueber- 
fetzung  wegen  des  kleinen  Formats  fo  bo- 
genreich  geworden,  dafs  der  erfte  Band  nicht 
das  Zweite  Buch  ganz  fallen  konnte»  Das 
Ganze  wird  daher  drei  Bände  ausmachen» 
Die  Eintheilung  des  Originals  in  Bücher, 
Kapitel  und  Paragraphen  nebft  deren  Ueber- 
fchrift  ift  beibehalten  worden» 

Ich  habe  bei  der  Ueberretzung  die  zehnS 
te  Ausgabe  des  Originals  gebraucht.  An 
Effay  concerning  human  Underftanding.  In 
four  Books,  written  by  John  Locke 
Gentl.  The  tenth  Edition  with  lar?e  Additions. 
London  1701.  8.  Die  Zufätze  find  meiftens  po- 
lemischen Inhalts  und  daher  auch  nicht  mit 
üb  er  fetzt. 

Hier  und  da  find  einige  kleine  Anrner« 
kungen  hinzugekommen  ,  welche  vorzüglich 
den   Zweck   haben,    auf  Locke's    Getichis- 

punct 


des    Ueberfetzers,         xr 

punct   aufmerkfam  zu  machen ,    und  einige 
Stellen  zu  erläutern.     Die  Behauptungen  des 
Locke  zu   prüfen,    zu  beurtheilen,  rwit  der 
kritifchen  Philofophie    zu  vergleichen ,  oder 
auch  zu  widerlegen,  fchien  mir  nicht  zweck- 
mäßig zu  feyn ,  und  ich    würde  dadurch  das 
Buch,  das    vielleicht  fchon  zu  weitläufig   ift, 
nur    noch    mehr    vergrößert   haben.        Wer 
Luft  und  Beruf  zu  diefer  Art  von   Geiftesbe- 
fchäftigung  hat,    wird    es  auch  ohne  Anmer- 
kungen, und  mit  defto  mehr  Nutzen  und  Ver- 
gnügen  thun  ,    je  weniger  ihm  dabei  vorge- 
arbeitet   ift.       Und  für    andre  waren    folche 
Anmerkungen    doch    ohne  Zweck.       Anftatt 
derfelben    fchien    es   zweckmäfsiger  zu  feyn 
am    Ende    des  ganzen  Werks  noch   eine  Ab- 
handlung über  den    Empirismus   in    der 
Philofophie  beizufügen ,  welche  die  Ver- 
anlagung,   den   Geift    und  den   Einfluß  der 
Lockifchen  Philofophie  im   Allgemeinen 
darftellen  foU. 

Wenn 


xvl     Vorrede  des  lieber  fetzers. 

Wenn  diefe  Ueberfetzung  Beifall  findet, 
fo  werde  ich  nach  Beendigung  derfelben 
Leibnitzens  Verfuch  über  den  menfch- 
lichen  Verftand  auf  ähnliche  Art  bearbeiten. 


Vor- 


Vorrede 

des 

Vcrfaffers. 


••■ch  übergebe  hier  dem  Publicum  ein  Werk, 
welches  mich  in  einigen  leeren  und  traurigen 
Stunden  angenehm  befchäftiget  hau  Ifi  es 
fo  glücklich,  dafs  es  auch  dem  LeTer  pine 
angenehme  Befchäftigung  und  nur  halb  To 
viel  Vergnügen  bey  der  Lecture,  als  mir  bei 
der  Ausarbeitung  gewahret,  fo  wird  er  fo 
wenig   fein  Geld  als  ich  meine  Mühe  für  übel 


xvnt  Vorrede 

angewendet  halten.  Man  glaube  nicht ,  date 
ich  damit  mein  Buch  empfehlen  will,  oder 
dafs  ich  zu  fehr  dafür  eingenommen  bin, 
weil  mir  die  Ausarbeitung  defielben  Vergnü- 
gen machte.  Wer  die  Falken  auf  Sperlinge 
und  Lerchen  lofsläfst,  hat  eben  fo  viel  Ver- 
gnügen, als  wenn  er  auf  bedeutendere  ^  ö^el 
Jagd  macht.  Und  derjenige  hat  fehr  wenig 
Kenntnifs  von  dem  Gegei  ftande  diefer  Ab- 
handlungen, der  nicht  weiTs,  dafs  in  dem 
Verhältnifle  ,  alö  ad  Verfiand  das  erhabenfie 
Vermögen  der  Seele  iit,  die  Befchäfii^ung 
mit  demfelben  auch  ein  weit  gvöf  eres  und 
dauerhafteres  Vergnügen  gewähret,  denn  jede 
andre  Geiftesarbeit.  Das  Forfchen  des  Ver- 
ftandes  ift  eine  Art  von  Falknerei  und  Jagd 
wobei  das  Nachjagen  felbft  nicht  den  klein- 
sten Theii  des  Vergnügens  ausmacht.  Jeder 
Schritt,  den  der  Verftand  in  dein  Streben 
nach  Erkenntnifs  vorwärts  thut,  führt  eine 
Entdeckung  herbei ,    welche,    wenigftens  zu 

def 


des     Verfaffers.  xrw 

der  Zeit,    nicht  nur   neu   fonderh  auch    die 
voizüglichfte  ift. 

Der  Verßand  urtheilet,  wie  das  Auge  von 
den    Objecten   nur    allein    durch  leine   eigne 
*  Anficht;    alles  was  er   entdeckt,    mufs    ihm 
Vergnügen     gewähren,    was    ihm    entgeht, 
macht  ihm  keine  unangenehme  Enpfiutlung, 
weil  er  es  nicht  kennt.     Wer  zu  gTofs  denkt, 
Um  vou  Allmofen   und  den   Brocken    erborg- 
ter  Meinungen    in    Trägheit   zu  leben,  und 
wer  fein  eignes  Denkvermögen  in  Thätigkeit 
fetzt,    um  die  Wahiheit   2U  finden    und    za 
befolgen  ,  der  wird  nie  des  Vergnügens  ver- 
fehlen, er  finde,  was  er  wolle ;    jeder  Augen« 
bli<  k  feines  Nachforfchens  wird    feine  Bemü- 
hung mit  einigen  angenehmen  Gefühlen  be» 
Johnen  ,    und  wenn   er  fich  auch   keiner  gro- 
ssen Ausbeute  rühmen  kann,  fo    hat  er  doch 
nie  Üf fache,  <;ie  darauf    gewandte    Zeit  alg 
verfchwendet  zu  bedauern. 


xx  Vorrede 

So  iß  das  Vergnügen  derer,  welche  ihren 
eignen    Gedanken    freien    Spielraum    geben^ 
und  nur  das  Selbftgedachte   zu  Papier    brin* 
gen ,     und  der  Lefer  follte    fie  darum  nicht 
beneiden,  weil  fie  ihm  einen  ähnlichen  Ge- 
nuls  bereiten ,   wenn   er    bei  dem  Lefen  mit 
felbft  denken   will.     Auf  folche  felbft  gedach- 
te Urtheile   und  Gedanken  der  Lefer   berufe 
ich  mich;  find  fie  aber  von  andern  auf  Treu 
und  Glauben  angenommen*  fo  intereffiren  fie 
mich  wenig;    denn  fie  haben  nicht  die  Wahr- 
heit,    fondern     kleinere    Rückfichten     zum 
Zweck.       Es   verlohnt  fich  nicht  der  Mühe, 
lieh  um  das  zu    bekümmern ,   was  einer  fagt 
und  denkt,  der  nur  andern  nachbetet.     Wenn 
der  Lefer  nach   eigner  Einficht  urtheilet,  fo 
bin  ich  überzeugt,    dafs  fein    Unheil  lauter 
ift .  und  dann  falle  es  aus,  wie   es  wolle,    es 
kann  mich  weder  beleidigen   noch  kränken. 
Obgleich  das  Buch  nichts  enthält,  von  deflen 
Wahrheit  ich  nicht  völlig  überzeugt  bin ,  fo 

weifs 


des     Verfaff  er  s,  xxr 

weifs  ich  doch  zu  gut,  dafs  ich  eben  fo 
leicht  irren  kann,  als  der  Lefer ,  und  dafs  es 
mit  ihm  ftehen  und  fallen  inufs,  nicht  durch 
meine,  fondern  durch  feine  Meinung  von 
demfelben«  Wenn  ein  Lefer  wenig  neues 
oder  belehrendes  in  demfelben  findet,  fo 
darf  er  mir  diefes  nicht  zum  Tadel  anrech* 
nen.  Denn  es  war  nicht  für  diejenigen,  wel« 
che  den  Gegenftand  fchon  begriffen  haben, 
und  mit  ihrem  eignen  Verftandesvermügen 
vollkommen  vertraut  find,  fonJern  zu  meiner 
eignen  Belehrung  und  für  diejenigen  Freun- 
de beftimmt,  die  fich  überzeugt  halten ,  dafs 
He  diefen  Gegenftand  noch  nicht  befriedi- 
gend unterTucht  hatten.  Wenn  ich  nicht  be- 
fürchten dürfte,  dem  lefer  mit  der  Gefchich« 
te  diefes  Verfuchs  befchwerlich  zu  fallen  ,  fo 
würde  ich  ihm  erzählen  ,  wie  fünf  bis  fechs 
von  meinen  Freunden  bei  einer  Zusammen- 
kunft fich  über  einen  von  diefer  Unterfu- 
chung  ganz  entfernten  Gegenftand  unterre- 
*  *  5  |  ■•, 


xxir  Vorrede 

deten.  Sie  fahen  fich  bald  durch  die  Scbwie= 
rigkeiten ,  welche  fich  von  allen  Seiten  her- 
vorthaten,  fo  in  die  Enge  getrieben,  dals 
fie  nicht  weifer  konnten;  und  ob  fie  fich 
gleich  eine  Zeitlang  alle  Mühe  gaben,  die 
Zweifel  ,  in  welche  fie  fich  verwickelt  hat- 
ten, aufzulöten,  fo  kamen  fie  doch  keinen 
Schritt  weite*«  Diefes  brachte  mich  auf  den 
Gedanken,  dafs  wir  einen  ganz  verkehrten 
Weg  giengen,  und  dafs  vor  allen  Speculafio- 
nen  diefer  Art  eine  Unterfuchung  über  das 
Vermögen  des  Verbandes  und  über  die  Ob- 
jecte,  welche  in  feiner  Sphäre  liegen,  unum- 
gänglich nothwendig  fey.  Ich  theilte  das 
der  Gefellfchaft  mit,  und  Ce  ftimmte  fogleich 
bei,  es  wmrde  daher  befchloffen ,  dafs  diefe 
Unterfuchung  unfre  erfte  BefchäfMgnng  fern 
follte.  Einige  flüchtige  noch  nicht  verarbei- 
tete Gedanken,  über  diefen  vorher  noch 
nicht  in  Betrachtung  gezogenen  Gegenftand, 
welche  ich  für  unfre  nächfte  Zufaiamenkunft 

nie- 


eles     Verfaffers.  xxm 

niederfchrieb,  waren  der  erfte  Anfang  zu  die- 
fer.  Abhandlungen,  welche  durch   einen  Zu- 
fall veranlagt  und  auf  das  Bitten  der  Gefell- 
fchaft  fortgefetzt  wurden.     Ich  arbeitete  eini- 
ge unzufammenhängende  Theile  aus,  liefs  die 
Unterfuchung  eine  Zeitlang  liegen,  nahm  fie 
wieder  auf,  nachdem  es  meine  Gemüthsftim- 
mung  und  äufsere  Verhältniffe  erlaubten,  und 
brachte  endlich  in   einer  glücklichen  ]\7nfse, 
welche  die  Sorge   für  meine  Gefundhc-it  mir 
verfchafte,  das    Ganze    in    die  gegen waitige 

Ordnung, 
v 

Diefe  öftere  Unterbrechung  in  der  Aus- 
arbeitung kann  anfser  andern  zwei  entgegen 
gefetzte  Fehler  veranlagt  haben,  daf*  ich 
xiehmüch  zu  viel  ut.d  zu  wenig  gefegt  habe; 
Wenn  der  Lefer  zu  wenig  findet,  fo  werde 
ich  mich  freuen,  dafs  c}.\s  was  fch  gefchrie- 
feien  habe,  einen  Wunfeh  nach  Mehreren  bei 
ihm  erzeugt;  fcheint  ihm  das  Werk   aber  zu 

\  weit- 


xxiv  Vorrede 

weitläufig,  fo  mufs  er  dem  Gegenftande  die 
Schuld  davon  heimeilen.  Denn  da  ich  zuerlt 
die  Feder  anfetzte,  glaub'e  ich  alles,  was 
darüber  zu  Tagen  wäre,  in  einen  Bogen  zu- 
fammenzufaffen.  Allein  mit  jedem  Schritt 
vorwärts  öffnete  fich  eine  Ausficht  auf  ein 
gröTseres  Feld  ;  neue  Entdeckungen  führten 
mich  immer  weiter,  und  fo  wuchs  das  Buch 
unvermerkt  zu  der  Gröfse  an.  Es  ift  wahr, 
es  hätte  etwas  kürzer  abgefafst  werden  kön- 
nen, und  manche  Theile  könnten  wohl  et- 
was gedrängter  feyn,  weil  die  theil weife 
Ausführung  und  die  öftere  Unterbrechung 
natürlich  viele  Wiederholungen  veranlafste  • 
aber  ich  bin,  die  Wahrheit  zu  gefiehen ,  jezt 
theils  zu  träge,  theils  zu  befchäftiget ,  um  es 
abzukürzen» 

Ich  weifs  nur  zu   wohl,    difs  ich  nicht 

y 

lehr  für  meinen  fchriftfiellerif^hen  Ruhm  be- 
dacht bin ,  wenn  ich  diefes  Werk  mit  einem 

Feh- 


des     Verfaff  ers.  xxr 

Fehler  erscheinen  lafle,  welchen  die  Lefer 
von  Beurtheilungskraft,  die  immer  am  we- 
nigften  zu  befriedigen  find,  ahfehrecken  kann. 
Wer  aber  weifs,  dafs  die  Trägheit  allezeit 
einen  Vorwand  zur  Befchünigung  findet,  wird 
mir  verzeihen,  dafs  ieh  mich  von  ihr  über- 
wältigen liefs,  zumal  da  ich  eine  fehr  trif- 
tige Entfchuldiguug  für  mich  anzuführen  ha- 
be. Ich  will  daher  zu  meiner  Rechtferti- 
gung nicht  anführen  ,  dafs  ein  Begriff  nach 
feinen  verfchiedenen  Beziehungen  zur  Er- 
läuterung oder  zum  Beweife  yerfchiedener 
Theile  einer  und  derfelben  Abhandlung  ge- 
braucht werden  kann  oder  mufs;  ich  gelte- 
he  vielmehr  offenherzig,  dafs  ich  in  einer 
ganz  andern  Abficht  bei  manchen  Lehren 
lange  verweilt,  und  fie  auf  verfchieilene  Art 
vorgetragen  habe  Diefer  Verfuch  iß  nehm- 
lich  nicht  zur  Belehrung  fcharffinniger  und 
geübter  Deiker  beftimmt;  —  ich  bekenne 
mich  für  einen  Schüler  diefer  JYleiftcv  t!er 
*  *  5  menfeh- 


Ä'xvr  Vorrede 

menfchlichen  Erkenntnifs,  —  und  ich  raufs 
(ie.  daher  im  Voraus  warnen  ,  dafs  fie  hier 
nichts  anders  erwarten ,  als  was  aus  meinen 
eignen  grobem  Gedanken  ausgefponnen  und 
Menfchen  von  meiner  Fähigkeit  ange- 
raeffen  ift.  Diefen  wird  es  vielleicht  nicht 
unwillkommen  feyn,  dafs  ich  mir  einige  Mü- 
he gegeben  habe,  gewiffe  Wahrheiten,  wel- 
che durch  eingerillene  Vorurtheile  oder  ihre 
abfrrakt?n  Begriffe  Schwierigkeiten  haben, 
für  ihr  GedankcnJyitein  klar  und  fafslich  zu 
machen.  Einige  Objecto  muffen  von  allen 
Seiten  betrachtet  werden  j  und  neue  Begriffe» 
dergleichen  einige  in  diefern  Werke  vorkom- 
men, oder  doch  wenigftens  manchen  von 
den  gewöhnlichen  abweichend  fcheinen  möch- 
ten ,  finclcu  nic-ht  bei  Jedermann  Eingang, 
oder  laffen  doch  keinen  dauerhaften,  klaren 
Eindruck  zurück,  wenn  de  nur  von  einer 
Seite  dargefiellt  werden.  Es  giebt  wohl  we- 
rngs  Menfchen,  welche    nicht  bei  (kh    und 

andern 


des    Verfaffers.         xxvit 

andern  die  Beobachtung  gemacht  haben,  dafs 
eine  Sache,  welche  durch  eine  Art  des  Vor- 
trags dunkel  blieb,  durch  andere  Ausdrücke 
auf  einmal  klar  und  verftändlich  wurde, 
wenn  es  fich  gleich  nachher  entdeckte,  dafs 
der  Unterfchied  fo  unbeträchtlich  war,  dafs 
man  lieh  wundern  mufste,  warum  die  eine 
Art  der  Darfteilung  weniger  verftändlich  war, 
als  die  andre.  Einerlei  Sache  wirkt  nicht 
auf  jedes  Menfchen  Einbildungskraft  auf  ei- 
nerlei Art.  Bei  dein  menfehlichen  Vevfiande 
finden  eben  fo  viele  Unterfchiede  ftatt  als  bei 
dem  Gefchmackorgan.  Wer  glaubt,  dafs  ei- 
ne und  diefelbe  Wahrheit  in  einerlei  Gewän- 
de jedem  gefallen  kann  ,  der  mag  auch  hof- 
fen ,  dafs  Jederman  einerlei  Zubereitung  des 
Speifen  fchmackhaft  finden  werde.  Eine  gu- 
te nahrhafte  Speife  ift  doch  manchen  mit  die- 
fem  oder  jenem  Gewürm  zuwieier;  fie  mufs 
auf  eine  andere  Art  zugerichtet  werden, 
wenn  fie  andern,    die  fonft  einen  guten  Ma* 

gen 


xxviii  Vorrede 

gen  haben,  behagen  foll.     Die  Wahrheit  ver- 
hält fich  hier  eigentlich  fo.     Diejenigen,  wel- 
che mir   riethen,  diefen  Verfuch  bekannt  zu 
machen,    fanden    auch  zugleich    für  gut ,  ihn 
fo  dem  Publicum  zu   übergeben  ,   wie  er   ift» 
Und  da  ich    mich  einmal  dazu   habe  bereden 
lallen,  fo  wünfcht   ich  auch,    dafs  das  Buch 
von  jedem,    der  fich   die  Mühegiebt,    es  zu. 
lefen,  verftanden  werde.       Ich  habe  fo  we- 
nig Eitelkeit  für  die  Schriftftellerti,  dafs  die- 
fer   Verfuch    wahrfcheinlich  in    dem   Kreife 
einiger  Freunde  geblieben  wäre,  die  die  er- 
fte  Veranlaffung  dazu  gaben,  wenn  man  mir 
nicht  mit    der  Hofnung  geschmeichelt   hätte, 
dafs  er  für  andere   nützlich  feyn   könne,    fo 
wie  er  es  mir  gevvefen  ift.     Da    al(o   der  ein- 
zige   Zweck    des    Drucks    Gemeinnützigkeit 
war,    fo  hielt  ich   es    für    nothwendig,    alles 
was  ich  zu  Tagen  hatte,  für  alle  Klaffen  von 
Lefern  fo  leicht  und  verftändlich   zu  machen, 
als  nur  immer  müglieh  war«     Und   ich  wollte 

lie- 


des     Verfaffers»  xxix 

lieber  ,  dafs  fcharffmnige  und  fpeculative 
Köpfe  hie  und  da  über  ermüdende  Weitläa. 
figkeit  klagen,  als  daTs  ein  Lefer,  der  an  ab- 
ftractes  Denken  nicht  gewöhnt  oder  durch 
abweichende  Begriffe  eingenommen  ift,  mei- 
ne Meinung  nicht  fallt  ii»  oder  raifsverftehen 
füllte. 

Es  wird  mir  vielleicht  als  eine  grofse  Ei- 
telkeit und  als  Stolz  ausgelegt  werden,  dafs 
ich  unfer  aufgeklärtes  Zeitalter  belehren  will ; 
denn  auf  nichts  geringeres  fcheint  das  Ge- 
ftändnifs  hinauszulaufen,  dafs  ich  diefen  Ver- 
fuch,  in  der  Hofnung,  er  werde  für  andre 
nützlich  feyn,  bekannt  mache.  Allein  wenn 
ich  offenherzig  meine  Meinung  von  denjeni- 
gen fagen  foll,  welche  mit  verftellter  Befchei- 
denheit  alles,  was  fie  felbft  fchreiben ,  als  un* 
nütz  veniTtheilen,  fo  fcheint  es  mir  noch 
weit  mehr  Eitelkeit  und  Stolz,  zu  verrathen, 
wenn  man  ein  Buch  zu  einem  andern  Zweck 

her- 


xx»  Vorrede 

herausgiebt,  Gewifs ,  derjenige  fetzt  die 
fchuldige  Achtung  gegen  das  Publicum  febjr 
ans  den  Augen,  der  ein  Buch  drucken  läTstj 
und  folglich  erwartet,  dafs  es  wird  geleferi 
werden  ,  und  doch  nicht  die  Abficht  haben 
will,  dafs  die  Lefer  etwas  Nützliches  indem- 
felben  für  fich  und  andere  finden  follen. 
Wenn  auch  an  diefern  Buche  nichts  lobens- 
Würdiges  gefunden  wird .  fo  wird  man  doch 
die  Abficht  billigen  müffi  n  ,  und  die  Güte 
derfelben  follte  fcbon  den  geringen  Werth 
des  Gefchenks  eptfchuldigen,  Diefes  ift  es, 
was  mkh  hauptfächlich  gegen  die  Furcht  des 
Tadels  fiebert ,  dem  ich  noch  weit  weniger, 
als  beffere^Schriftfteller  entgehen  werde. 
Bei  der  fo  grofsen  Verfchiedenbeit  der 
Grund  Tatze,  der  Begriffe,  und  des  Gefchmacks 
der  Menfchen  ,  ift  es  fchwer,  ein  Buch  zu 
finden,  das  allen  gefiele  oder  mifsfiele.  Ich 
erkenne,  dafs  unfer  Zeitalter  wegen  gröfse- 
*er  Verbreitung  der  Kenmnifls  fchwerer    als 

fünft 


des     Verfaffers.  xxxi 

fonft   zu  befriedigen    id.       Bin   ich   nicht  fo 
jplü.  ktich  zu  g-fallen,   fo    hA\  dach   niemand 
Urfache    haben ,     auf    mich     böTe    zu    feyn  . 
denn  ich  erkläre  allen  meinen  Lerern,  ein  halb 
Dutzend  ausgenommen,    da;s   die  er   V'evfuclj 
anfänglich  nicht  für  fie   beftimmt  war,    und 
fie   d üifen    fich   keine  Unruhe  darüber   ma- 
chen, daTs  ße  in  die'er  Zahl  nicht  find.   Doch 
wenn  jemand  Urfache   zu  haben   glaubt  dar- 
über zu  zürnen  und   zu  fpolien,    fo  mag  er 
es  nngeßöhrt   tbun;    ich    werde    mit    etwas 
befferen  als   folchen    Unterhaltungen    meine 
Zeit    auszufüllen  willen.       Dns  Bewurstfeyu 
mit  Lauterkeit  Wahrheit  und  Gemeinnützig- 
keit beabfichtrget   zu  haben,    obgleich  durch 
ein  fehr  geringes    Mittel ,    wird   mich   allezeit 
fehadlos  halten.      Es  fehlt  der  gelehrten  Ile 
publik    zu    die'er  Zeit  nicht  an  gr0fsen   Mei- 
ftern,    deren    erhabene    Ideen   zur  fceförde'- 
rnng    der  WifTenfchaften    evtfge    Denkmäler 
der  Bewunderung  für  die  Nachkommen  He* 

ben 


xxxi*  V  o  r  r  e  d  e. 

ben  werden  ;"  aber  nicht  jeder  darf  hoffen  ein 
Boyle  oder  Sydenhara  zu  feyn.  In 
einem  Zeitalter,  welches  einen  Huygen, 
Newton  und  andere  Genies  diefer  Art  her- 
vorbrachte, ift  es  fchon  ehrenvoll  genug, 
als  ein  Handlanger  zur  Auhäumung  des  Bo- 
dens und  HinwegfchafFung  des  Schutts,  der 
auf  dem  Wege  der  Erkenntnifs  liegt,  gebraucht 
zu  werden.  Das  Gebiet  der  Erkenntnifs 
würde  unftreitig  weit  mehr  gewonnen  haben, 
wenn  die  Bemühungen  thätiger  und  ein- 
fichtsvoller  Männer  nicht  durch  den  fchulge- 
rechten  aber  zwecklofen  Gebrauch  von  bar- 
barifchcn ,  gezwungenen  und  unverftändli. 
chen  Kunftworten  in  den  Wiffenfchaften 
wären  gehemmt,  und  daraus  eine  Kunft  ge- 
macht worden,  dafs  die  Philofophie,  die  doch 
nichts  anders ,  als  die  wahre  Erkenntnifs  der 
Dinge  ift,  aus  dem  Kreis  gebildeter  Gefell- 
fchaften  und  geiftreicher  Unterhaltung  als 
untauglich  ausgefcblofcen  wurde»  Schwan- 
kende 


des  Verfa  ffers,  xxxrit 
fremde  und  finnlope  Ausdrücke  und  Mif%bräut 
che  der  Sprache  haben ,  fo  lange  für  Ge- 
fceEmniile  der  VViilenfchaft  gegolten;  Tauho 
und  unglüc!' ■  iich  angewendete  Worte  ohnö 
viel  Bedeutung  find  chon  fo  lange  im  Beiuz. 
|itand,für  die  tieffre  Ge.'ehrfamkeit  und  die  hoch- 
Iten  Speculario'nen  gehalten  zu  werden,  dafs 
es  äufserft  Ich  wer  ift,  fowohl  diejenigen, 
welche  Geh  derfelberi  bedienen  ,  als  diejeni- 
gen, welche  fie  hören  ,  zu  überzeugen,  dafs 
fie  ein  Deckmantel  der  Unwillenheit,  und  ein 
Hindernifs  wahrer  Erkpnmnifs  Find.  ich 
glaube,  man  thut  dem  menfthhehen  Verftand 
einen  Dierift,  wenn  man  den  geheiligt*- a 
Tempel  der  Euelkt-it  und  der  UnwiflVriheÄ 
beftürmt.  Da  die  Ueberzeugung ,  dafs  watf 
durch  d^n  Gfbrauch  von  VVcmen  gpiaulcht 
wird,  oder  andere  täurcht,  oder  dafs  die 
Kanfifpriche  einer  Secte  einen  Fehler  ent- 
halt, der   einer  L'nterfuchung   oder  BeiTerun^ 

fcedüjftig  ift,  fo  feiten  ift ,    fo  darf  ich  wohl 

"i  f  *  -17 

V  er- 


xxxiv  Vor  rede 

Verzeihung  hoffen,  wenn  ich  mich  im  drit- 
ten Buche  etwas  lange  bei  diefer  Sache  ver- 
weilte, und  fie  fo  überzeugend  darzullellen 
fuchte,  dafs  niemand  mehr  weder  in  dem 
Alter  des  Irrthums,  noch  in  der  herrfchendeo 
Mode  eine  Entfchuldigung  finden  foll,  wenn 
er  fich  die  Mühe  des  Nachdenkens  über  den 
Sinn  feiner  Worte  erfparen,  oder  andern  die- 
fe  Unterfuchung  verwehren  will» 

Ein  kurzer  Auszug  aus  diefem  Werke, 
welcher  1688  erfchien,  ift,  wie  ich  gehört 
Labe,  von  einigen  ohne  ihn  geiefen  zu  ha- 
ben, blos  deswegen  verurtheilt  worden, 
weil  die  angebomen  Ideen  in  demfelben  ge- 
leugnet werden.  Sie  fchlofsen  zu  voreilig» 
dafs  ohne  Vorausfetzung  diefer  die  Möglich- 
keit eines  Begriffs  und  Beweifes  für  das  Da. 
feyn  der  Geifter  beinahe  völlig  abgefchnitten 
fey.  Wenn  vielleicht  der  Anfang  diefes  Bu- 
ches eben  fo  anftöfsig   ift,  fo  wünfehe  ich 

nur 


des     VerfafTers.  xxw 

nur,  daTs  man  es  völlig  durcblefe;  man  wird 
fjch  dann,  wie  icti  bnffe.  überzeugen,  dafe 
die  Hiimegräuiming  faücher  Gründe  anftait 
fchädlicb  vieinehT  vorteilhaft  für  di&  VVahr- 
heit  ift,  Das  gröfsie  Unrecht,  das  man  der 
Wahrheit  anthun ,  und  die  grörste  Gefahr,  in 
welche  man  fie  fetzen  kanu,  i.1  die  Ver- 
inifchung  mit  dem  Faifchen  und  die  Gründung 
auf  Irrthümer« 

Der  Verleger  würde  es  mir  nicht  verzei- 
hen, wenn  ich  nichts  von  der  zweiten  Aus- 
gabe fagte.  Er  verfprath  durch  den  corre- 
cten  Druck  diefer  die  vielen  Druckfehler 
der  erftern  wieder  gut  zu  machen.  Auch 
mache  ich  auf  fein  Verlangen  bekannt ,  daTs 
ein  ga<  z  neues  Kapitel  über  die  Identität, 
und  noch  an  v  er'chiedenen  Orten  V  erbefferun- 
gen  und  Z,  ätze  hinzugekommen  find.  Dich 
ftuts  ich  den  Leier  benachrichtigen,  dafs  al- 
lfes  ud»  iiitiits  ganz  Puues.  lundein  giö.'sten- 

♦  *  *  2  iUüits 


xxxvi  V  onede 

theils  Bestätigung  oder  Erläuterung  des  fchon 
geboten  ift,  die  mir  nüthig  fchien,  um  Mifis- 
verltaudnifsen  mancher  Behauptungen  der 
erften  Ausgabe  vorzubeugen.  im  Wefentli- 
chen  ift  nichts  geändert  worden ,  aufser  etwa 
in  dem  2i  Kap,  des  2  Buchs. 

Was  ich  dafelbft  über  Freiheit  und  dea 
Willen    gefchrieben  habe,    fehlen  "mir  die 
forgfältigfte     Unterfuchung     zu     verdienen. 
Denn  diefe  Gegenftände  haben   alle   Denker 
zu  allen  Zeiten  fehr  befchäftiget,  und  ei  find 
daraus  viele    Streitfragen    und    Schwierigkei- 
ten hervorgewachfen,  welche  die  Moral  und 
die    Theologie,    deren    Erkenntnifs    für    die 
Menfchen  von  der   gröfsten   Wichtigkeit  ift 
nicht  wenig  verwirrt  haben.       Nach    einer 
aufmerkramrn    Beobachtung   der  Wirkungen 
des  menfehlichen  Gemüths,  und    nach  einer 
fchärfem  Unterluchung  der  Bewegungsgrün- 
de und  Zwecke,  wodurch  fie  beftimmt-  wer» 

dejQ 


des     Verfaffers. 


XXXVII 


den,  fehe  ich  mich  genöthiget  von  meinen 
vorigen  Gedanken  über  den  letzten  Beftim- 
mungsgrund  des  Willens  zu  willkührlichen 
Handlungen  etwas  abzugehen.  Diefes  Ge- 
ftänduifs  lege  ich  dem  Publicum  mit  eben 
foviel  Freimüthigkeit  und  Offenherzigkeit 
v&r,  als  ich  in  der  erften  Ausgabe  meine 
wahren  Ueberzeugungen  bekannt  machte* 
Denn  ich  halte  es  für  eine  gröfsere  Pflicht, 
feine  eigne  Meinung  zu  widerrufen  ,  wenn. 
he  mit  der  Wahrheit  ftreitet ,  als  die  eines 
andern  zu  beftreiten.  Ich  fache  allein  Wahr-, 
lieit,  und  fie  wird  mir  allezeit  willkommen 
ieyn,  woher  fie  auch  kommt. 

Bei  aller  dieTer  Bereitwilligkeit,  eine  Mei- 
nung aufzugeben,  oder  etwas  Gefchriebenes 
zurückzunehmen,  fo  bald  als  ich  von  der 
Unwahrheit  deflelben  deutlich  überxeugt  bin, 
rrsufs  ich  doch  geftehen ,  dafs  ich  nicht  fo 
glücklich  gewefen  bin,  in  den  Einwürfen 
*  *  *  3  wel- 


xxxvin  Vorrede 

welche  gegen  diefen  Verfuch  gedruckt  wor- 
den find,  einige  Aufklärung  oder  einigen 
Grund  zur  Aenderung  meiner  Behauptung  in 
den  ftrittigen  Puncten  zu  finden.  Es  fey,  dafs 
deT  Gegenftand  diefer  Unterfuchung  etwas 
mehr  Nachdenken  und  Aufmerkfamkeit  erfo- 
dert,  als  flüchtige  zum  wenigften  eingenom- 
mene Lefer  fich  gerne  auferlegen  laffen,  oder 
dafs  meine  Behandlungsart  und  Ausdrücke 
ihn  in  eine  Wolke  gehüllt,  und  für  den  Ver- 
band andrer  unzugänglicher  gemacht  haben  : 
fcnrz  ich  finde  mich  oft  mifs  verbanden,  und 
nicht  immer  fo  g'ücklich,  den  wahren  Sinn 
meiner  Behauptungen  getroffen  zu  fehen. 
Die  vielen  Beispiele  davon  berechtigen  mich 
und  den  Lefer  zu  dem  Scblulfe,  dafs  mein 
Euch  entweder  fo  deutlich  geTchrieben  ift, 
dafs  es  von  denen  verbanden  werden  kann, 
welche  es  mit  der  erforde- liehen  Aufmerk- 
famkeitund  Unbefangenheit  durcblefen,  oder 
dafs  ich  mich  fo   unverftändlich   ausgedrückt 

habe, 


des     Verf  affers,       xxxix 

habe,  dafs  es  umfonft  ift,  das  Buch  von 
diefer  Seite  verbeflem  zu  wollen.  Weichet 
von  diefen  beiden  Fällen  auch  der  wahre  ift> 
fo  bin  ich  doch  allein  dabei  intereffirt,  und 
es  iit  daher  nicht  nöthig,  dem  Lefer  mit  dem 
befchwerlich  zu  fallen  ,  was  zur  Beantwor- 
tung der  Einwürfe  gegen  verfchiedene  Stel- 
len könnte  gefagt  werden.  Denn  wer  fie 
für  fo  wichtig  hält,  dafs  er  glaubt,  ihre  Wahr- 
heit oder  Falfchheit  verdiene  eine  Unterfu- 
chung,  der  wird,  davon  bin  ich  überzeugt, 
fo  bald  er  mich  und  meine  Gegner  richtig 
verfteht,  einfehen  können,  dafs  alles,  was 
gegen  mich  gefagt  worden,  entweder  nicht 
genug  gegründet  ift,  oder  mit  meinen  Be- 
hauptungen nicht  Ihreitet» 

Wenn  einige ,  die  aus  zärtlicher  Sorgfalt, 
damit  ihre  guten  Gedanken  nicht  verloren 
gingen,  ihre  Uitheile  über  diefen  Verfuch 
bekannt  machten,    demfelben    die  Ehre  an- 

4  thun, 


XL  Vorrede 

thun  i  dafs  fie  denfelhen  rieht  für  einen  Ver- 
tuen wollen  gelten  laffen,  fo  überl-ifle  ich  es 
dem  Publicum,  ihre  critifcheo  \  erdienfte  zu 
Schätzen,  Ich  werde  die  Zeit  des  Lefers 
nicht  mit  einer  fo  vergeblichen  und  undank- 
baren Arbeit  verlch  wenden,  dafis  ich  das 
Vergnügen,  welches  fie  fich  und  andern 
dnreh  Tchnelle  Widerlegungen  meines  ßueüs 
machen,  ftöhrea  füllte» 


Als  die  Verleger  Anßalten'zur  vierten 
Ausgabe  machten,  fo  gaben  fie  mir  Nach- 
richt davon,  damit  ich  dem  Verfuche,  wenn 
ich  Mufse  hätte,  durch  zweckmäßige  Zufätze 
und  Veränderungen  mehr  Vollkommenheit 
geben  möchte.  Aufser  mehreren  Verhpfle" 
rungen  an  einzelnen  Stellen,  roufs  ich  den 
Leier  auf  eine  Veränderung  aufmerkfam  ma- 
chen ,  weil  f:e  Geh  über  das  ganze  Werk  ver- 
breitet, und  weil  fehrviel  darauf    ankommt, 

dafs 


des     Veit' affers»  xi4 

dafs  fie  richtig  verbanden  werde»       Ich  habe 
darüber  folgendes  zu  fageru 

Obgleich  die  Ausdrücke,    klare,    deut- 
liche   Vorftellungen  (ehr  bekannt  und 
gewöhnlich  -find,  fo   habeich  dach  Urfache 
zu  vermuthen,  dafs   fie   nicht   von  allen,   die 
fich  ihrer  bedienen,  verftanden  werden,  und 
vielleicht  giebt  lieh  nur  hie  und  da  einer  die 
ÄTühe,  fich  über  die  Bedeutung,   welche  fie 
für  ihn    und   andre    haben,    zu  verftändigen» 
Ich   wählte  daher  in  den  rueiften  Stellen  an 
Itatt  klar  und  deutlich  den  Ausdruck  b c- 
ftirntnt,  (determinate  ,     determined)     weil 
ich  glaubte,  er  würde  meine  Leier  mit  dem, 
Sinn   meiner   Behauptungen   befler  verftandi- 
gen können.     Ich  verliehe  aber  darunter  ein 
gewiffes    und    daher    beftiinmtes    Objkct 
der  Seele,  das  ift,  ein  Object    von    der 
Art,     als     es    von    der    Seele     ange- 
fchauet   oder   gedacht    wird.       Eine 
•  **4  Vor- 


xlii  Voried  e 

Vorftellung,  welche,  infofern  fie  zu  einer  Zeit 
ein  Object  der  Seele  und  alfo  beftimmt  ift, 
mit  einem  Wort  oder  Ausdruck  als  unveiän- 
deriichen  Zeichen  deflelben  Obiects  verknüpft 
wird,  kann,  wie  ich  glaube,  füglich  eine 
befummle  Vo r f teil u  ng  heifsen. 

Ich  will  diefes  etwas  umftändlicher  er- 
klären. Durch  das  Wort  beftimmt,  in  Be- 
ziehung auf  eine  ein  fache  Vorftellung 
verftehe  ich  die  einfache  Erfchcinung,  wei- 
che der  Seele  vorfchwebt,  oder  welche  fie 
in  lieh  wahrnimmt,  wenn  man  fagt,  dafs  fie 
diefe  Vorftellung  habe;  in  Beziehung  auf  ei- 
ne zufam  mengefetzte  Vorftellung 
aber  nenne  ich  diejenige  Vorftellung  be- 
ftimmt, welche  aus  einer  gewiflen  Anzahl 
einfacher  oder  weniger  zufammengefetzter 
Vorftellungen  beftehet,  welche  auf  die  Art 
verbunden  find,  als  dem  Bewufstfeyn  vor- 
fchwebt,  wenn  diefe    Vorftellung  der  Seele 

ge- 


des     Verfaf  ers,    '       xliiI 

gegenwärtig  ift,  oder  gegenwartig  feyn  Toll- 
te, wenn  ein  Meufch;fie  mit  einem  Wort 
bezeichnet.  Ich  Tage,  üe  follte,  weil  nicht 
Jeder  ja  vielleicht  keiner  fo  behutfam  mit  der 
Sprache  ift,  dafs  er  nicht  eher  ein  Wort  ge- 
braucht, bis  er  lieh  die  beftimrnte  deutliche 
Vorftellung,  die  er  mit  demfelben  bezeich- 
nen will,  vergegenwärtiget  hat.  Der  Man- 
gel ditfer  Aufmerkfainkeit  ift  die  Urfacha  vie- 
ler Dunkelheiten  und  Verwirrungen  in  den 
Gedanken  und  den  fchriftlicheu  Auffätzen» 

Ich  weife  wohl ,  dafs  keine  Sprache  fo 
viel  Worte  befitzt,  um  die  grofse  Martiich- 
faltigkeit  von  Vorftellungen  ,  welche  bei  dem 
Denken  vorkommen  ,  auszudrücken.  Allein 
demungeachtet  kann  doch  jeder,  der  üch  <  i. 
nes  Worts  bedient ,  die  bcftiuimte  Vor- 
ftellung im  Bewufsifeyn  haben,  zu  deien 
Zeichen  er  j<  nes  gebraucht,  und  beide  follte 
er   unveränderlich   mit    einander    verbinden. 

fe 


xliv  Vorrede 

fo  lange  er  von  einerlei  Gegenftande  fpricht» 
Wer  das  Dicht  thut  oder  nicht  thun  kann, 
der  macht  vergeblich  auf  kiare  und  deutliche 
Begriffe  Anfpruch ,  und  wo  diefe  fehlen, 
da  kann  man  nichts  anders  als  Dunkelheit 
und  Verwirrung  erwarten» 

Aus  diefein  Grunde  glaubte  ich,  def  Auj3 
druck:  beftimmte  Vorftellung  fejr 
weniger  dem  Mifsverftande  ausgefetzt  als 
de/:  klare,  deutliche  VorTtellung, 
Wenn  die  Menfchen  bei  allem  ihren  Denken, 
Unterfuchen  und  Disputieren  folche  beftimm- 
te Begriffe  hätten,  fo  würde  ein  grofser  Theil 
ihrer  Zweifel  und  Streitigkeiten  ein  Ende 
haben;  demi  ein  grofser  Theil  derfelben, 
welcher  die  Menfchen  verwirret,  hängt  von 
dem  fchwankenden  und  ungewißen  Gebrau- 
che  der  Worte,  oder  welches  einerlei  ift, 
von  den  unbeftimmten  Begriffen  ab,  weh  he 
durch  jene   ausgedrückt  werden  follcn.     Idi 

wähle 


des    V  e  t  E  a  f  f  e  r  3.  xlv 

Wähle  dah er  den  Ausdruck,  bertimmte 
Vorftellung,  um  damit  anzuzeigen  i) 
das  unmittelbare  Objecf  der  Seele,  •••  ei« 
ches  fie  wdhrnimrnt  und  im  Geficht  hat, 
Von  dem  Worte  als  feinem  Zeichen  im- 
teifchieden  ift;  2*)  dafs  eine  foiehe  be- 
stimmte VoT-rtelluns  mit  dTetem  rieftimm- 
ten  Worte,  und  diefes  mit  jener  ufi« 
Veränderlich  verbünden  werde.  Durch  Hül- 
fe diefer  beftimmten  Begriffe  würden  die  Ge- 
lehrten nicht  allein  deutlich  unterfcheiden, 
wie  wert  ihre  eignen  Unterfuchungen  und 
Erklärungen  reichten,  Ibndern  auch  größten* 
theils  Streitigkeiten  und  Zänkereien  .mit  an- 
dern vermeiden. 

Außerdem  wird  der  Ve: leger  für  nrjthfg 
halten,  d&ls  ich  den  Lefer  von  einem  Zufatz 
V&n  zwei  ganz  neuen  Kapiteln,  nehmlich 
von  der  Af!ociaU'»n  der  VorücJlun- 
gen  und  dem  £n  thu  iiaim  us  Luuachrich» 

tiso. 


xlvi  Vorrede  des  Verfaffers. 
tige.  Diefe  und  einige  andere  beträchtliche 
Zu  fätze  hat  er  verfprochen  auf  eben  diefelbe 
Weife  und  zu  denselben  Zweck ,  als  in  der 
zweiten  Ausgabe  gefchehen  ift,  eindrucken 
zu  lallen» 

In  der  fechfren  Aufgabe  ift  wenig  verän- 
dert und  augefetzt  werden,  Das  Neue  w.is 
in  dem  2iften  Kapitel  des  zweiten  Buchs 
vorkommt,  kaun  man,  wenn  man  es  für  be- 
deutend hält,  mit  geringer  Alüne  an  den 
Rand  der  erften  Ausgabe  beifchreiben. 


I  n  n  h  a  1 1 


XLVIX 


Inn  halt 

des 

crften     Theils. 


Erftes     Buch» 

Erftes  Kapitel.     Einleitung  S.   1 

Zweites  Kapitel,     Es  giebt   keine    fpe- 

cnldtiven   angebornen  Grnndfätze  —  jß 

Drittes  K<tpitel.    Es  giebt  keine  prakti. 

fchen  angebqracn  Giiiiidfät7.e  n0 

Viertes  Kapitel.     Noch  einige  ßptrnrii. 

tunken    über   die    angebornen,      fowohl 

fpeeulatireii  als  präkludiert  GrundLue  130 

Zweites     Buch. 

Erftes  Kapitel.     Von    den  Vorfiel  1  un- 

gen  überhaupt  S.     184 

Zweites    Kapitel.       Von     emUciien 

V  oriteiiuii^en  -  —     23o 

L>  nfc. 


xLVnr  I  d  n  h  a  1  t. 

Drittes  Kapitel.     Von  Vorfiellungen 

vermittelt  eines    Sinnes  —     2.36 

Viertes  Kapitel-     Von    der  Dichtheit  —     240 
Fünftes  Kapitel.   Von  einfachen  V01- 

ftellungen  durch  verfchiedehe  Sinne     —      2Ö2 

Sechftes  Kapitel.  Von  den  einfachen 

Vorftellungen  der  Reflexion  —    255 

Siebentes  Kapitel  Von  einfachen 
Vorftellungen  welche  fowohl  durch 
die  Sinnej  als  durch  die  Reflexion  ge- 
geben werden  -  .  ä5^ 

Achtes  Kapitel  JtSÜ>ch  einige  ße- 
tv;icht;inge*i  übel'  die  einfachen  Vor- 
fielhingen -  -  P.65 

NenntesKapitel.  Von  dem  Vorfiellen  —     2g6 

Zehentes  Kapitel      Von   dem   Behal- 

timgsveKmögen  -  5i4 

£ ilf  t  eV  Kapitel.  Von  dpm  Unter- 
teile rdnngs  vermöge**  und  andern  Thä- 
tigkeiten    der  ireole  —     53o 

Zwölftes    Kapitel.      Von   zrifamrnen 

gefetzten    Vorheilungen  -  —     55i 

Dreizehntes    Kapitel."  Vom  Raum 

und    deffen  einfachen  Beftimmungen     .     36 1 

V  i  e  1  z'e  h  n  t  e  t     Kapitel.        Von     d  er 

Dauer  -  —     39g 

Fünfzehntes    Kapitel.       Rdiun    und 

Darei  in    Verhältnis  zu    ein  anaer  —     Ä/fa 

Sechzehntes  Kapitel     Von  der  Zahl  —     ^65 

Siebzehntes  Kapitel.     Von  der  U11- 

endlichkeit  -  —     ^j3 

Achtzehntes  Kapitel.     Von  andern 

einlachen  iScftimimiugen  —     5 10 

Neunzehntes     Ka  p  i  t  e  1.        Von    den 

Moalfrcatiöjien  des  Denkens  —     £18 

Zw«tnzigltes  Kapitel        Modificatio- 

nen.  des  Vergnügens    und  Schmerzes.  —    525 


L  o  c  k  e*  s 


L  o  c  k  e'  s 

Verl ucll 

über  den 

menfchlichen  Verftand. 

Erftes    Buch. 

Elftes  Kapitel. 

Einlei  tung. 

§.      I. 

Eine  Unter  fuchung  über  den 
menfchlichen  Veiltand  ift  nütz- 
lich und  angenehm. 


JLßer  Menfch  behauptet  feinen  Rang  vor  al- 
len finnlichan  Wef^n  nur  allein  durch  den 
Verftand  ;  diefer  giebt  ihm  alle  feine  Vor- 
zvae  vor  ihnen  und  die  Herr rchaft  üher  Ge. 
Schon  um  diefes  Adels  willen  ift  der  Ver- 
ftand ein  Gegenftand,  der  die  Mühe  einer 
A  Unter 


2  E  v  f  t  e  s   B  n  c  h^. 

Unterjochung  verdienet.  Das  Denkvermö- 
gen hat  aber  darin  einige  Aehnlichkeit  mit 
dem  Auge ,  dafs  es  uns  in  den  Stand  fezt,  al- 
le andere  Gegenftände  zu  fehen  und  wahr- 
zunehmen, ohne  von  fich  felbft  beobachtet 
Zu  weiden;  und  es  erfordert  Anftrengung 
und  Kunft,  wenn  man  es  in  eine  gewifle 
Entfernung  bringen,  und  zum  Gegenftand 
feines  eignen  Denkens  machen  will»  Allein 
Was  auch  immer  für  Hindernifle  auf  dem  We- 
ge diefer  Unterfuchung  liegen,  und  von  weN 
eher  Art  dasjenige  feyn  mag ,  was  uns  vor 
uns  felbft  verbirgt,  fo  bin  ich  doch  überzeugt, 
daTs  jede  mögliche  Aufklärung  über  unfern 
Geift,  ddfs  jede  Bekanntfchaft  mit  unferrn 
Denkvermögen,  uns  nicht  allein  Vergnügen 
fondern  auch  grofse  Vortheile  bei  der  An- 
wendung unfers  Denkens  zur  Unterfuchung 
anderer  Dinge  gewähren  wird, 

§.     2. 

Abricht  des   Verfaffers. 

Eine  UnterTuchung  über  den  Urfprung, 
über  die  Gewifsheit  und  den  Umfang  der> 
rnertfehlichen  Erkenntnils,  über  die  Gründe 

und 


Elftes  Kapitel.  $ 

und  Grade  des  Glaubens,  der  Meinung  uad 
des  Beifalls  ift  der  Gegenftand  und  Zweck 
diefes  Werkes,  Die  phyfifche  Betrachtung 
der  rnenfchlichen  Seele  werde  ich  daher  hier 
ganz  auf  die  Seite  fetzen,  und  die  Fragen: 
woraus  das  Wefen  derfelben  befteht;  durch 
welche  Bewegungen  der  Lebensgeifter  oder 
durch  welche  Veränderungen  des  Körpers 
wir  zu  Empfindungen  durch  Hülfe  der  Orga- 
ne ,  oder  zu  Vorftellungen  des  Verftandes  ge- 
langen ;  ob  alle  oder  einige  von  diefen  Vor- 
ftellungen von  der  Materie  abhängen  oder 
nicht,  keiner  Unterfuchung  unterziehen. 
Denn  so  fehr  auch  diefe  Speculationen  dem 
ForfchungSgeifte  Nahrung  geben  können,  fo 
liegen  fie  doch  ganz  aufser  meinem  Wege 
und  Plane.  Es  ift  für  meinen  Zweck  hinrei- 
chend, wenn  ich  das  Denk -und  Unterfchei- 
dungsvermögen  des  Menfchen  unterfuche, 
in  fo  fern  pi  fiel»  auf  Objekte  beziehet,  we'che  in 
feinem  Wirkungskreife  hegen.  Das  Nachden 
ken  welches  ich  auf  diefen  Gegenftand  wen- 
de, wird  dann,  wie  ich  mir  fchtneichle, 
nicht  verfchwendet  feyn ,  wenn  ich  durch 
diefe  hiftorifche  [empirifche]  fafsliche  Me- 
thode, die  Art  und  Weife  wie  der  Verßand# 
A  2  zu 


i 


Elftes  Buch. 


zu  feinen  Begriffen  von  Objekten  gelangt,  er- 
klären,  den  Grad  der  Gewifsheit  unfrer  £r- 
kenntnifs  beftirr  men  oder  wenn  ich  die  Grün- 
de derjenigen  menfchlichen  Ueberzeugungen 
aufteilen  kann  ,  welche ,  wie  die  Erfahrung 
lehrt,  fo  veränderlich,  abweichend  ja  Wohl  gar 
widersprechend  find,  und  doch  hier  und  da 
mit  folcher  Dreuftigkeit  und  Zuverficht  be- 
hauptet werden,  dafs  wenn  man  die  Mei- 
nungen der  Menfchen  überblickt,  ihren  Wi- 
derftreit  beobachtet  und  zugleich  bedenkt, 
mit  welcher  blinden  Anhänglichkeit  und  Ehr- 
erbietung fie  diefelben  annehmen,  mit  wel- 
cher Entfchloflenheit  und  Hitze  fie  diefelben 
verfechten  ,  man  vielleicht  nicht  ohne  Grund 
auf  den  Gedanken  kommen  könnte,  die 
Wahrheit  fey  entweder  ein  Unding,  oder  es 
fehle  dem  menfchlichen  Gefchlechte  an  ü- 
ehern  Mitteln,  iie  mit  gewifler  Ueberzeugung 
zu  erkennen. 

§♦    5. 

Plan  des  Verfaffers. 

Es  ift  alTo  wohl   der  Mühe    werth,    die 
Srenzenzwifchendein  Meinen  und  Wis» 

fen 


Erftes   Kapitel.  5 

fen  ,  und  die  Grundfätze  zu  unterfuchen, 
nach  welchen  wir  in  Dingen ,  wo  keine  ge- 
vviile  Erkenntnifs  ftatt  findet,  unfern  Beifall 
und  unfere  Ueberzeugung  beßimrnen  follten. 
Hierbei  werde  ich  folgende  Methode  befol- 
gen. Erftlich  werde  ich  den  Urfprung 
derjenigen  Ideen  oder  B  egriff  e,  oder  wie 
man  fie  fonft  nennen  will,  welche  der  Menfch 
durch  Reflexion  über  fein  Bewufstfeyn  in  fei- 
nem Selbfl  findet,  und  den  Weg  unterfu- 
chen, auf  welchem  fie  dem  menfehiiehen 
Verftande  gegeben  werden.  Zweitens  werde 
ich  zu  zeigeu  fuchen,  welche  Erkenntnifs 
der  Verftand  durch  diefe  Begriffe  erlan- 
get, und  wie  fie  in  Anfehung  der  Gewifs- 
heit,  der  Evidenz  und  des  Urnfangs  befch äf- 
fen ift«  Drittens  werde  ich  aber  die  Natur 
und  die  Gründe  des  Glaubens  oder  der 
Meinung  Unterfuchungen  aufteilen.  Ich 
verftehe  aber  darunter  das  Fürwahrhalten 
eines  Satzes,  von  de|Ten  Wahrheit  man  keine 
gevvilTe  Erkenntuifs  hat.  Hier  werden  wir 
auch  Gelegenheit  finden,  über  die  Gründe  und 
Grade  des  F  ü  r  w  ah  r  h  a  1  ten  s  überhaupt 
nachzuforfchen. 


A3  $.4, 


4  Elftes  Bu  eh. 

§♦    4» 

Nutzen  diefer  Unter  Tu  chun  g  zur 
Erkenntnifs  der  Grenzen  u'nfe- 
rer  Erkenntnifs, 

Wenn  ich  durch  diefe  Unterfuchung  über 
dwe  Natur  des  Verbandes  die  Kräfte  deffelben 
entdecken ,  und  beftimmen  kann ,  wie  weit 
fie  reichen  ,  welchen  Gegenftänden  und  in 
welchem  Grade  fie  angemeifen  find ,  und  wo 
fie  uns  verlaflen8  fo  wird  das,  wie  ich  hoffe,  den 
Nutzen  haben ,  dem  thätigen  Geilte  des  Men* 
fchen  mehrere  Vorficht  anzuempfehlen,  da- 
mit er  fich  nicht  mit  Dingen  beschäftige,. 
welche  aufser  feinem  Gefichtskreife  liegen ; 
dafs  er  die  äufserften  Grenzen  feines  Willens 
nicht  überfpringe  ,  und  fich  bei  der  Unwif- 
fenheit  derjenigen  Dinge  beruhige,  welche, 
nach  vorhergegangener  Unterfuchung,  fem 
Vermögen  überfteigen.  Wir  würden  dann 
vielleicht  nicht,  um  uns  den  Schein  einer 
alles  umfaffenden  Erkenntnifs  zu  geben,  fo 
voreilig  fein  ,  über  Dinge,  für  welche  unfer 
Verftand  keine  Fähigkeit  hat.  von  welchen 
wir  keine  klaren  und  deutlichen  Begriffe  bil- 
den können,     oder    (welches  nur  zu   oft  der 

Fall 


Elftes  Kap  i  t  el.  7 

Fall  ift)  von  denen  wir  gar  keine  Vorfiellnrig; 
haben  t  Fragen  aufzuwerfen,  und  uns  und 
andere  in  Streitigkeiten  darüber  zu  verwi- 
ckeln, Last  es  fich  ausmachen ,  wie  weit 
der  Geficlitvkreis  des  Verftandes  reicht ,  ia 
wie  fern  er  das  Vermögen  hat,  Gewißheit  zu 
erreichen ,  und  in  welchen  Fällen  er  blos  ur- 
theilen  und  muthmafsen  kann,  fo  wird  uns 
das  zur  Lehre  dienen,  dafs  wir  uns  mit  dem 
begnügen  muffen,  was  unter  diefeu  Umilän» 
den  für  uns  möglich  ifl. 

§.     5. 

Unfer  Erkennt «ifs vermögen  ift 
unferin  Zuftande  und  unfern 
Angelegenheiten  angepafst. 

Denn  obgleich  das  Gebiet  des  Verftandes 
nur  einen  kleinen  Theil  von  dem  unermefs- 
liehen  Umfang«-  aller  Dinge  ausmacht,  fo  na- 
hen wir  doch  Urfache  genug,  dem  gütigen 
Urheber  unfres  Dafeins  für  das  Maafs  von 
Erkenntnifs  zu  danken,  welches  er  uns,  weit 
reichlicher  ab  allen  andern  Bewohnern  der 
Eide,  gegeben  hat.  Die  Menfchen  können 
gar  wohl  mit  dem  zufrieden  feyn,  was 
A  4  Gott 


fl  Elfte»    Euch. 

Gott  ihnen  für  dienlich  erachtete»  Denn  er 
gab  ihnen  alles,  (wie  der  Apoftel  Petrus  fagt) 
wa-  für  die  Bedürfniffe  des  Lebens  und  zur 
Erlangung  der  Tugend  nothwendig  ift.  *)  Die 
Sorge  für  die  Erhaltung  und  Annehmlichkeit 
diefes  Lebens,  und  die  Erkenntnifs  des  We- 
ges, der  uns  zu  einem  bellern  führen  foll, 
beftimmte  er  noch  für  das  Gebiet  unters  Den- 
kens und  Erfindens  So  betränkt  und  un- 
vollkommen auch  die  Einficht  der  Men- 
fchen  in  Vergleichung  mit  einer  vollkomme- 
nen und  allumfaffenden  Erkeantnifs  aller  Din- 
ge ift,  fo  fichert  fie  doch  ihre  wichtigften 
Angelegenheiten,  und  giebt  ihnen  fo  viel  Licht» 
als  nöthi.i  ift,  um  fie  auf  die  Erkenntnifs  ihre» 
Schöpfers  und  ihrer  Pflichten  zu  leiten.  Die 
Itlenfchen  werden  noch  immer  genug  Stoff 
finden,  um  mit  Abwechfelung ,  auf  eine  an- 
genehme und  befriedigende  Weife  ihren 
Kopf  und  ihre  Hände  zu  befcbäFtigen,  wenn 
fie  nicht  fo  unbeTcheiden  find,  über  ihre  eig- 
ne Einrichtung  zu  murren,  und  den  Segen, 
der  ihre  Hände  fü'let,  deswegen  von  fich 
ftofsen,   weil  diefe  nicht  alles  fallen  können. 

Wir 

*  Zw  eiter  Brief  Petri  i.  3. 


Elftes    Kapitel.  9 

Wir  werden  nicht  viel  Urfache  haben  t  über 
tlie  Befchränktheit  unferer  Seelenkräfre  zu 
klagen,  wenn  wir  C\e  nur  allein  auf  das  an- 
wenden, was  für  uns  nützlich  fern  kann; 
und  dazu  findße  auch  zweckmaTsig  eingerich- 
tet. Es  wäre  ein  unverzeihlicher  und  kindi- 
scher Eigenfinn,  wenn  wir  deswegen  die 
Vorzüge  unferer  Erkenntnifs  herabwürdigen, 
und  ihre  Vervollkommnung  zu  ihren  beftimm- 
ten  Zwecken  vernachlaffigen  wollten,  weil 
es  sjewiffe  Dinge  giebt,  welche  ftufser  dem 
Kreife  derfelben  liegen.  Darf  wohl  ein  ittn. 
ler  und  widerfpenftjger  Knecht,  der  bei  dein 
Scheine  eines  Lichtes  feine  Arbeit  nicht  ver- 
richten will,  fich  damit  entfchuldi jen.dafs  er  kei- 
nen hellen  Sonnenfchein  hatte.  Das  Licht,das  in. 
unferm  Innern  aufgedeckt  iß,  leuchtet  uns 
für  alle  unfere  Zwecke  hinlänglich,  und  alle 
Entdeckungen ,  welche  vermittels  defTelben 
möglich  find,  füllten  uns  zufrieden  Hellen. 
Unrern  Verftaud  werden  wir  dann  zweckrnä* 
fsig  anwenden,  wenn  wir  ihn  auf  die  Weife 
und  in  dem  Verhältnifie  mit  allan  Objekten 
befchäfiigen  ,  als  fie  uuferm  Vermögen  ange- 
meflen  find  ;  wenn  wir  unTere  Ueberzcnijung 
den  Erkenntnifsgriinden  anpafsen,  welche 
A  5  für 


io  Erftes    Buch. 

für  uns  möglich  find,  wenn  wir  nicht  aus 
Trotz  oder  Unbefcheide/iheit  Demonftration 
und  Gewißheit  fodern,  wo  nur  Wahrfchein- 
lichkeit  möglich  ift ,  aber  auch  zur  Befor- 
gung  aller  unTrer  Angelegenheiten  vollkommen 
zureicht.  Wollen  wir  alles  deswegen  bezwei- 
feln, weil  wir  nicht  alles  mit  Gewifsheit  er- 
kennen können,  fo  handeln  wir  eben  fö 
klug  als  jener,  der  feine  Füfse  nicht  gebrau- 
chen ,  fondern  lieber  flüle  fitzen  und  fterben 
wollte,  weil  es  ihm  an  Organen  zum  fliegen 
fehlte. 

$.     6. 

Die  Erkenntnifs  unfers  Vermö- 
gens ift  ein  Heilmittel  gegen 
den  Skepticismus  und  gegen 
die    Trägheit. 

Kennen  wir  imfere  Kräfte,  To  wiffen  wir 
anch  um  fo  bcffer,  was  mit  der  Hofnung  ei- 
nes guten  Erfolgs  unternommen  werden  kann. 
Eine  reifliche  Ueberficht  der  Kräfte  unfers  Ver- 
(tandes,  und  richtige  Berechnung  dellen ,  was 
wir  von  ihnen  erwarten  dürfen,  wird  uns  vor 
swei  Extremen  fichern ,  dafs  wir  weder  aus 

Ver. 


Erstes    Kapitel.  l| 

Verzweifelung  an  aller  Erkenntnifs,  unfer 
Leben  in  Unthätigkeit  yerfchlutnmern,  und 
«las  Denkvermögen  gar  nicht  befchäftigen« 
noch  auf  der  andern  Seile  alles  in  Zweifel 
ziehen,  und  alle  Erkenntnifs  in  Anfpruch 
nehmen,  wei'  gevviUe  Dinge  von  uns  nicht 
begriffen  werden  können.  Es  ift  für  den 
Seglet  von  grofsem  Nutzen,  dafs  er  die  Län- 
ge feiner  Schnur  weifs.  Wenn  er  gleich  nicht 
alle  Tiefen  des  Meeres  durch  fie  meffen 
kann,  fo  weifs  er  doch  foviel ,  dafs  fie  an 
folchen  Plätzen  bis  auf  den  Grund  reicht,  wo- 
hin er  fegein  mufs  ,  und  dafs  fie  ihn  vor  Un- 
tiefen und  Meerbänken  warnet,  die  ihn  zu 
Grunde  richten  würden.  Unfere  Beftim- 
mung  auf  diefer  Welt  ift ,  nicht  alle  Dinge, 
fondern  nur  diejenigen  zu  erkennen,  wel- 
che unfer  praktifches  Leben  betreffen.  Wenn 
wir  diejenigen  Regeln  erforfchen  können, 
nach  welchen  ein  vernünftiges  Wefen  in  den 
VerhältnifTen ,  in  welchen  lieh  der  Menfch 
während  diefes  Lebens  befindet,  feine  Mei- 
nungen und  feine  dadurch  beftim  täten  Hand- 
lungen regieren  kann  und  füll,  fo  darf  es  uns 
keine  Unruhe  machen,  dafs  viele  andere  Din- 
ge unferer  Erkenntnifs  entzogen   find. 


U  Elftes   Buch 


Veranla  ffung  zu  diefem  Verfuch«. 

Diefe  Betrachtungen  waren  die  erfte  Ver- 
anlaffung  zu  diefem  Verfuche  über 
den  m  enfch  liehen  Verftand.  Denn 
ich  glaubte,  das  erfte  das  man  thun  müfset 
um  den  Mang  nach  verfchiedenen  Unterfu- 
chungen,  in  welche  fich  der  Verftand  fo 
gerne  einläfst,  zu  befriedigen,  beftehe  darin, 
einen  Eorfchenden  Blick  auf  unfer  Verftandes- 
vermögeu  zu  weifen,  unfere  eignen  Kräfte 
zu  prüfen  ,  und  die  Dinge,  denen  fie  ange- 
ineflerj  und,  zu  unterfuchen.  Es  kam  nur 
vor,  als  wenn  man,  fo  lange  das  nicht  ge- 
than  ift,  die  Sache  am  unrechten  Ende  an- 
greife ,  und  als  wenn  das  Streben  nach  Be- 
friedigtirg  durch  einen  ruhigen  und  fiebern 
Befitz.  der  Wahrheiten,  die  uns  intereffiren, 
fo  lange  vergeblich  fey,  als  man  feine  Gedanken 
regellos  auf  dem  unermefslichcn  Ocean  der 
Dinge  herum fch wärmen  laffe ,  gerade  als 
wenn  der  Verftand  in  dem  natürlichen  und 
unbezweifelten  ßefitz  diefes  gränzenlofen  Rei- 
ches wäre  j  als  wenn  alles  in  demfelben  fei- 
ner Entfcheidung    Geh  unterwerfen    müfste, 

und 


E  xftes  Kapijel.  g 

und  nichts  feiner  Ein  ficht  entgehen  könnte. 
Wenn  die  Menfcheri  auf  diefe  Art  ihr  Nach- 
forfclaen  über  die  Grenzen  ihrer  Fähigkeit 
ausdehnen,  und  ihre  Gedanken  in  die  Tie- 
fen verfteigen  lalTen,  v.o  fie  keinen  fieberu 
Grund  finden  Können,  fo  ift  es  kein  Wun- 
der, wenn  He  Fragen  über  Fragen  erheben, 
und  die  Streitigkeiten  vermehren,  welche 
da  he  nie  zu  einer  klaren  Entscheidung  körn- 
nien,  nur  dazu  dienen,  ihren  Z-.veifeln  Nah- 
rung zu  geben,  und  fie  am  Ende  in  einem 
vollkommenen  Skepticisrnus  zu  befefiigen. 
Wäre  daher  die  Fälligkeit  unters"  Verftandei 
gründlich  unterfucht,  der  Umfang  unferer 
Erkenntnis  nur  einmal  entdekt ,  und  der  Ho- 
rizont gefunden,  welcher  die  Grenze  awi- 
fchen  der  bekannten  und  unbekannten  Welt 
de?  \rerftandes,  zwifchen  dem  ,  was  für  uns 
begreiflich  und  unbegreiflich  ift,  beftimmt, 
fo  würden  fich  die  IVlenfcnen  vielleicht  mit 
weniger  Unruhe  bei  der  erkannten  Dnwiflen- 
heit  der  einen  Weit  beruhigen,  und  in  der. 
andern  mit  mehr  Vortheil  und  Beruhi<um» 
ihr  Denkvermögen   hsfehäftigen. 


§.     8. 


*4  Erltes   Buch. 

Bedeutung   des  Worts  Idee. 

So  viel  hielt  ich  für  nöthig  über  die  Ver- 
anlagung zu   diefer  Unterfuchung  über  den 
menfc blichen  Verftand  zu  fagen.  Ehe 
ich  aber  zu   den   Betrachtungen  über  dielen 
Gegenftand  felbft  fortgehe  ,  mufs  ich  den  Le- 
fer  im  Voraus  wegen  des  häufigen  Gebrauch* 
des  Worts  Idee,     in  der  folgenden  Abhand- 
lung umVerzeihung  bitten,  Diefer  Ausdruck  be- 
zeichnet wie  ich  glaube,    am  pafsendfren  al- 
les, was  nur  immer  der    Gegenstand  des  Ver- 
bandes beim  Denken  ift.    Und  ich  habe  mich 
daher  deflelben  bedienet,  um  das,  was  man  un- 
ter Phantafie,  Notion,  Species  verfte- 
het  und  überhaupt  alles  das  auszudrücken,  wo- 
mit  fich  der  Verftand  bei    dem   Denken  be- 
fchäftigen  kann.   Der  öftere  Gebrauch  densel- 
ben   war  dalie*-  für   mich  unvermeidlich.    *) 

Dafs 


*')  Idee  bedeutet  alfo  nichts  anders  als  einen  Be- 
griff, fcnYohl  einen  empii  ifchen  als  einen  reinen. 
I eh  werde  raiiih  in  der  Ueberfetzung  lieber  des 

Aus» 


Elftes    Kapitel. 

Dafs  folche  Ideen  in  dem  Yrfciftande  des 
JMcnfcnen  angetroffen  werden,  wird  mir  hof- 
fentlich Jedermann  gerne  eingesehen.  Jeder 
Menfch  findet  fie  in  feinem  eignen  Bäwufst*- 
feyn,  und  die  Worte  und  Handlungen  ande- 
rer  Meufchen  werden  zur  Genüge  beweifen, 
dafs  fie  auch  in  ihrem  Vordellungsvermögen 
vorkommen* 

Wie  kommen  nun  diefe  Ideenin 
den  Verftand?  Diefes  wird  der  Gegen- 
stand unferer   erften  Unterfuchung  feyn. 

Ausdrucks  Begriff,  öfterer  aber  noch  des 
Vorfiellung,  bedienende  nachdem  esderZufam- 
menhang  fodert.  Denn  der  Gebrauch  jenes 
Wortes  war  von  Locke  noch  nicht  ge- 
ime  beltimmt ,  und  fchwankte  zuweilen  zwi- 
fchen  der  Gattung  und  einer   Art  von  Vorftek 

Ol 

lungen, 

Anmerk-  d    U. 


Zwei 


1 6  Elftes  Buc  faJ 

Zweites    Kapitel. 

Es  giebt  keine  angebornen  Grundfatze   In  dem 
Verftande, 

§.       I» 

Der  Weg,  auf  welchem  wir  zu  ei- 
ner Erkenüt  nifs  gelangen,  be- 
weifet fchon  hinlänglich,  dafs 
fie  nicht    angeboren  ift. 


•t^s  glebt  eine  Meinung,  von  welcher  eini- 
ge Menfchcn  lieh  feft  überzeugt  halter  .  c!afs 
in  dem  Verftande  gewiffe  angebe,  rne 
Grund  Tatze,  urfprüngliche  Begriffe  (koivxi 
svxoioLt)  angetroffen  werden ;  dafs  gewiffe 
Sei.  ift/iige  (Chatacters)  demfelben  einge- 
prägt find,  welche  tue  Seele  bei  ihrem  erftea 
DaTeyn  empfängt  ,  und  mit  lieh  in  die  Welt 
bringt.  L'neingenonimene  Lefer  könnten  von 
der  Falfchheit  ciiefer  Voraussetzung  fchon  auf 
eine  befriedigende  Weife  überzeuget  werden, 
wenn  ich  zeigen  wollte  —  und  diefes  wird)  wie 
ich  hoffe,  in  den  folgenden  Theüen  diefer 
Schrift  gefchehen, —  wie  die  Menfchen  ohne 

Hülfe 


Zweites    Kapitel.  I« 

Hülfe  der  angebnrnen   Eindrücke  durch    den 

blofsen   Gebrauch   ihrer    natürlichen   Kräfte, 

alle  Erkenrtnifle   erlangen,   und   ohne  folche 

urfpriiogliche  Begriffe    oder    Grund fatze    zur 

Gewifsheit  kommen  können.     Denn   es  wird 
i 

mir  wohl  Jeder  ohne  Widerrede  eingefteüen, 
dafs  es  nicht  fehr  vernünftig   feyn  würde,  an- 
geborne  \  orftellungen   von  Farben   bei  einem 
Wefen  anzunehmen ,    welchem  Gott   das  Ge- 
ficht und  das  Vermögen    gegeben    hat,    jene 
Vorftellungen  vermöge  der  Augen  von  äufsetrn 
Gegenftänden    zu   erlangen.     Es    würde  aber 
nicht  weniger  unvernünftig  feyn,   verlchiede- 
ne  Wahrheiten  von  den  Eindrücken    der  Na- 
tur und  den  angebornen  Schriftzügen  abzulei- 
ten, wenn    wir  in  uns   Kräfte   beobachteten, 
durch  welche  wir  eine  eben  fo   leichte    und 
gewiffe  Erkenntnifs    derfelben  erhalten    könn- 
ten, als  wenn   fie   urfprünglich  dem  Verftande 
eingedrückt  wären» 

Da  aber  kein  Menfch  da5  Recht  hat,  bei 
Unterfuchung  der  Wahrheit  feinen  eignen  Ge- 
danken Zu  folgen ,  wenn  fie  ihn  auch  nur 
ein  wenig  von  der  gemeinen  Sträfse  abfüh- 
ren t  ohne  fie  der  ßeurtheilung  zu  unterwer- 
B  fen 


»8  Eilte»    Buch' 

fen,  fo  werde  ich  hier  die  Gründe  tbir(lellen9 
welche  mich  nöthigen  an  der  Wahrheit  je- 
ner Meinung  zu  zweifeln«  Habe  ich  geirrt, 
fo  werden  ebendiefelben  meine  Entschuldi- 
gung feyn.  Ich  unterwerfe  ße  der  Prüfung 
derjenigen  Männer,  welche  eben  denfelben 
guten  Willen  haben  ,  als  ich ,  die  Wahrheit 
anzunehmen,  wo  he  diefelbe  nur  linden«  *j) 

*)    Die   Lehre    von'    den    angebornen  Begriffen, 
welche  in    der  Piatoni  fchcn    Philofophie 
begründet 3    durch  die  Cartefifche  wieder 
in    Umlauf   und  in    größeres  Anfehen    gefegt 
wurde,  die  entgegengefezte  Behauptung,    und 
die  darüber  entfiandenen    Streitigkeiten    fchei- 
nen  zwar   nach  dem   gegenwärtigen  Zußande 
der  Philofophiekein  befouderes  Intereffe  mehr 
au  verdienen.    Denn  das  Wahre ,   Welches  bei- 
de enthielten ,     ifi    nun  von    dem   Zufatz   des 
Tauchen  gefchieden  ;    jenc-s  ifi  in   die  Philofo- 
phie aufgenommen,  diefes  in  den    Schutt  be- 
worfen  worden.     Die   Behauptung   der  Thcfi* 
und  der  Antithelis  iit  jetzt   als   ein  chemifcher 

<  Pioeefs  anzufeilen ,  der,  nachdem  das  edle 
Metall  von  dem  nnedeln  einmal  ab^efrhieden 
ifi,  uns  nicht  mehr  interef/irt,  weil  er  nicht 
mehr  brauchbar  ifi-  Allein  wenn  man  nicht 
darauf  flehet,  was  die  Philofophie  jezt  ifi,  fan- 
den 


SJweftes    Kapitel,  xp 

§•      2. 

Das  allgemeine  Für  währhalten 
ift  der  wichtigfte  Beweis  der 
G  e  g  rl  e  r; 

Nichts    wird    gewöhnlich    für    lb    ausge^ 

rnacht  gehalten  ,  als  dafs  es  gewifle  fpecu- 

ß  2  la t i ve 

derri  Wie  und  ifdf  welchem  Wege  fie  daswur« 
de,  fo  ift  jener  Streit  von  fenr  grofsem  Intet- 
effe ,  infofern  er  die  Entdeckung  und  benimm. 
te  Unterfchcidung  der  reinen  und  empi« 
rifchen  VorftcHungen ,  des  Formellen 
und  Materiellen  in  unfefer  Erkenntnifs 
veranlafste  und  vorbereitete.  Eine  dunkle  Ahn- 
dung von  diefern  fo  wichtigen  Unterfchiede 
gab  der  Behauptung  von  artgebdi'hen  Begrif- 
fen und  der  Gegenbehauptung  ihr  Intereffe.. 
und  war  die  Ui lache,  ci.i(s  beide  fo  eitrige 
Venheidiger  fanden.  Aber  der  Streit  Würde 
doch  Weit  früher  entfchiedeii  worden  fevn, 
Wenn  fich  nicht  mit  dem  Wahren ,  was  die 
Thefis  und  Amithefis  entliielt,  etwas  falsches 
vereiniget  hätte,  welches  niir  durch  eine 
gründliche  CJnterfuchurig  des  Vorftellungsver- 
inogens  konnte  gefchieden  Werden.  Die  \~ev^ 
theidi^er  der  angcborn'en  Begriffe  behaupteten 
nicht  reine  fonderil  ai ;'  e  b  orne,  d.i.  fo! 
che  B-  griffe,  deren  Stoff  und  form  nicht  trWa  i« 

dem 


So 


Elftes     Eu  eh. 


lative  und  praktifche  Grundfätze 
giebt,  welche  von  allen  Meüfchen  allgemein 
ein^eltanden  werden  ,  und  folglich,  fchliefst 
man  weiter,  muffen  Ge  gewifle  unveränderli- 
che Eindrücke   feyn ,    welche  die  Menfchen- 

feelen 

dem  Vorltellungsvermögen  gegründet  Hey,  fon- 
dern die  immer  mit  oder  ohne  Bewufstfeyn 
vorgeftellt  weiden ,  deren  Yorftellung  angebo- 
ren üt.  Sie  dachten  lieh  die  Seele  als  eine 
wach  ferne  Tafel,  in  welche  wefenilich  fchon 
gewiffeZüge  eingegraben  feven.  die  Gegner  als 
leere  Tafel  die  erft  durch  die  Erfahrung  befchrie- 
ben  werde.  Den  myftifchen  Uifprung  der  an- 
gebornen  Begriffe ,  ihr  wirkliches  Vorgeftellt- 
werden  über  die  Grenzen  des  Bewufstfevns 
liinatis;  die  unzureichende  und  nnbeftinrmte 
Erklärung  von  den  Merkmalen  des  Angebor- 
nen  ,  der  Mangel  einer  beftimmten  Aufftellnng 
derfelben,  den  fchäd  liehen  Einflufs  derfelben 
auf  die  Varvollkommnuiig  der  Wiflenfchafr, 
diefe  und  andre  Blüfsen  deckte  Locke  an 
jener  Behauptung  auf,  und  verwarf  he  in 
diefer  Rückficht  mit  Recht.  In  der  Ueberfe- 
tzung  des  Leibnitzifchen  Yerfhches  über  den 
menfcliiicben  Verftand  werde  ich  die  Gründe 
und  Gegengründe  beider  Phüofophen  über 
diefen    Gegeuitand    znfammenUelien    und    ver- 

Bleichen. 

5  A.   d.    ü. 


Zweites     Kapitel.  %\ 

feelen  von  ihrem  erften  Dafeyn  an  empfan- 
gen, und  eben  fo  nothwendig  mit  auf  die 
Welt  bringen,  als  irgend  ein  ihnen  angehö- 
riges Vermögen. 


§.     3. 

Aus  dem  allgemeinen  Für  wahrhal- 
ten kann  nichts  Angebornes  be« 
wiefen    werden. 

Diefer  Beweis,  der  von  einem  allge- 
meinen Beifall  fchliefst,  hat  zum  Un- 
glück den  Fehler  an  fich  ,  dafs  er,  wenn  auch 
das  voraussetzte  Faktum,  dafs  es  Wahrhei- 
ten  giebt,  welche  von  allen  Menfchen  allge- 
mein anerkannt  werden ,  gegründet  wäre, 
doch  nicht  darthun  würde  ,  dafs  fie  augebo- 
ren find  ,  fo  bald  man  einen  andern  Weg  auf- 
zeigen kann,  wie  die  allgemeine  Beiftiminung 
in  dem,  was  allgemein  angenommen  wird, 
entftehen  kann.  Und  diefes  läfst  Ach,  wie 
ich  glaube,   wirklich  zeigen. 


B  3  $,4. 


$p  Elftes    Buch, 

§.    4- 

Der  Grund  f  atz  der  Identität  und 
des  Wider  fpruchs  werden  nicht 
allgemein   für   wahr  erkannt. 

Allein  noch  weit  fcblimmer  ift  es,  dafs 
diefer  Grund  von  einem  allgemeinen  Für- 
wahrhahen,  durch  den  man  angeborne. 
Grundfätze  beweifen  will,  wie  mir  fcheint, 
gerade  das  Gegentheil  beweift,  inCofern  es 
keine  Grundfätze  giebt,  welchen  die  Men- 
fchen  allgemein  beiftimmen.  Ich  fange  mit 
den  fpeculativen  an,  und  führe  zum  Beweis 
i&nefo  berühmten  Grund fäUe  der  Drmonftra- 
tion  an  :  Was  i  f  t,  das  ift,  und  es  i  ft  un- 
möglich, daTs  eben  daffelbe  Ding 
fey  und  nicht  fey,  welche  doch  wohl  vor 
allen  andern  gerechte  Anbrüche  auf  den  Ti- 
tel angeborne,  machen  können.  Sie  haben 
fich  ein  fo  Wohl  gegründetes  Anfehen  als  all- 
gemeingehende  Sätze  unter  den  Menfchen 
verfch;:fft,  dafs  der  blöke  Schein,  diefes  Fak- 
tum bezweifeln  zu  wollen,  ohne  Zweifel 
fchon  auffallen  mufs.  Gleichwohl  nehme  ich 
mir  die  Freiheit,  zu  behaupten,  dafs  fie,  weit 
entfernt  allgemeine   Beifümmung  zu  Buden, 

für 


Zweites    Kapitel.  s!S 

für  einen  großen  Theil  des  uienfchlichen  Ge« 
fchlechts  fogar  fo  gut  ali  unbekannt  und, 

§.      5. 

Diefe  Gr  un  dfä  tze  find  nicht  ut- 
fprün  glich  dem  Verftande  ein- 
geprägt, weil  fie  Kindern  und 
gemeinen  Leuten  nicht  bekannt 
find. 

Denn  für  das  Erfte  iß  es  klar,  dafs  alle 
Kinder  und  gemeine,  unwiffende 
Leute  nicht  den  geringfien  Begriff  oder 
Yorftellung  von  ihnen  haben.  Diefe  That- 
facbe  widerleget  fchon  hinlänglich  die  allge- 
meine Dciftimmung  ,  welche  von  allen  ange- 
bornen  Wahrheiten  unzertrennlich  feynmufs. 
Denn  es  fcheint  mir  faft  widerfprechend  zu 
fe)n,  wenn  man  fagt ,  es  giebt  Wahrheiten» 
welche  der  Seele  eingeprägt  find;  und,  fie  hat 
aber,  kein  Bewufstfeyu  und  keine  Erkenntnifs 
von  ihnen.  Wenn  das  Wort  einprägen  etwas 
bedeuten  foll,  fo  kann  es  nichts  anders  feyn, 
als  machen,  das  gewiffe  Wahrheiten  vorge- 
flellt  werden.  Für  mich  ift  es  zum  wenig- 
fteo  kaum  gedenkbar,  wie  etwas  dem  Gemü- 
B  4  the 


24  Er ft es    Buch. 

the  eingeprägt  fern  kann,  ohne  dafs  es  ein 
Bewnfstfeyn  davon  hat-  Wenn  alfo  Kinder 
und  gemeine  Leute  eine  Seele,  einen 
Verftand  mit  die  em  innern  Gepräge  lieben, 
fo  müflen  fie  nothwendig  (liefe  Wahrheiten 
wahTjitljruen ,  fie  kennen,  und  für  vvahr 
halten.  Da  die.'s  aber  der  Fall  nicht  ift ,  Tq 
ift  e*  einleuchtend,  dafs  es  keine  folchen Ein- 
drücke giebt,  Denn  wenn  es  keine  von  der 
IN'atur  dem  Verftande  eingepflanzte  Begriffe 
giebt ,  wie  können  fie  angeboren;  oder  ift 
jenes,  wie  können  fie  unbekannt  feyn  ?  Sagt 
man.  em  Begriff  iß  der  Seele  eingeprägt,  und 
behauptet  zu  gleicher  Zeit,  fie  wÜTe  nichts 
und  nehme  keine  Kenntnifs  davon  ,  fo  ift 
das  foviel  ,  als  den  Eindruck  zu  einem 
Unding  machen.  Von  keinem  Salze  kann 
nian  Tagen,  er  ift  in  der  Seele,  wenn 
fie  noch  kein  Bewufstfeyn  noch  keine  Vor- 
ftellung  von  ihm  hat.  Denn  wäre  das  bei 
einem  zulafsig,  fo  könnte  man  mit  eben  dem 
Grunde  von  allen  Sätzen ,  die  wahr  und  von 
der  Art  find,  dafs  fie  der  Verftand  vielleicht 
einmal  für  wahr  halten  kann,  Tagen,  fie  wä- 
ren eingepflanzt  und  in  der  Seele.  Soll  et- 
was in  der  Seele   feyn,   welches  fie  bis  jezt 

noch 


Zweites    Kapitel,  25 

noch  nicht  erkannt  hat,  fo  inufs  es  deswe- 
gen feyn,  weil  fie  das  Vermögen  hat,  es  zu 
erkennen.  Die-fes  gilt  aber  von  allen  er- 
kennbaren Wahrheiten,  Unter  diefer  Vor- 
ausfetzung  können  alle  Wahrheiten  der  See!« 
eingeprägt  feyn,  die  fie  nie  erkannte,  und 
nie  erkennen  wird.  Denn  ein  Menfch  kann 
langeleben,  und  doch  zulezt  unwiflend  in 
manchen  Wahrheiten  fierben ,  welche  fein 
Vei'ltand  zu  erkennen,  und  zwar  mit  Qewifs- 
heit  zu  erkennen  fähig  gewefen  wäre.  J!t 
alfo  die  Erkenntni  stahigkeit  der  natürliche 
Eindruck,  um  welchen  man  ftreitet,  fo  werden 
in  diefer  Rücklicht  alle  Wahrheiten,  deren 
ein  Menfch  nur  immer  empfänglich  iß,  an- 
geboren feyn,  und  der  grofse  Streitpunkt 
läuft  zulezt  nur  auf  eine  uneigentliche  Art  zu 
reden  hinaus,  welche  von  dem  nicht  ab" 
weicht,  was  die  Leugner  der  angehornen 
Grundfätze  behaupten ,  fo  fehr  lie  auch 
ISliene  macht ,  das  Gegentheil  zu  erhärten. 
Denn  noch  nie  hat  ein  Menfch  der  Seele 
das  Vermögen  Wahrheiten  zu  erkennen  ab- 
gefprochen.  Die  Fähigkeit,  fagt  man,  ift  au- 
geboren, die  Erke nntnifs  aber  erworben.  Wo- 
zu ioll  aber  dann  der  Streit  über  gewifle  an- 
Ü  5  geborne 


2ö  Elftes    Buch." 

geborneGrundfätze?  Ift  es  möglich,  dafs  dem 
Verftande  Wahrheiten  eingeprägt  find,  ohne 
dafs  er  fie  denkt,  fo  feheich  nicht,  welcher 
Unterfchied  zwifchen  den  Wahrheiten,  wei- 
che für  den  Verftand  erkennbar  find  ,  in  An- 
fehung  ihres  Urfprungs  ftatt  finden  foll.  Sie 
iniiiTen  alle  angeboren,  oder  alle  erworben 
feyn.  Es  ift  urnfonft,  fie  unterfcheiden  zu 
wollen.  Wer  alfo  von  angebornen  Begriffen 
in  dem  Verftande  fpricht,  kann  das,  infofern 
es  (ich  auf  eine  befondere  Art  von  Wahrhei- 
ten beziehen  foll,  nicht  von  denen  verftehen, 
welche  der  Verftand  nie  dachte,  und  von 
denen  et  gar  nichts  weifs.  Denn  wenn  die- 
fe  Worte  in  dem  Verftande  feyn  einen 
wirklichen  Inhalt  haben,  fo  bedeuten  fie  das 
Gedachtwerden*  In  dem  Verftande  feyn, 
und  nicht  gedacht,  in  der  Seele  feyn  und 
nicht  wahrgenommen  zu  werden,  heifst  alfo 
mit  andern  Worten  nichts  anders  als,  etwas 
iß  in  de;n  Verftande  und  ift  nicht  in  dem 
Verftande,  ift  in  der  Seele,  und  ift  nicht  in 
der  Seele.  Wenn  die  Sätze:  Was  ift.  das 
ift,  und,  es  ift  unmöglich,  dafs 
ein  und  daffelbePingfeyundnicht 
fey,  ^er  Seele  durch    die  "Natur  eingeprägt 

find, 


Zweites     Kapitel.  27 

und,  fo  können  lie  Kindern  nicht  unbekannt 
ft-vn  j  alle  Wefen,  die  eine  Seele  haben,  luül- 
/en  de  in  dem  Yerfbnde  haben,  ihre  Wahr- 
heit einfehen ,  und  fie  Für  wahr  halten« 

5-     6. 

s 

Beantwortung  des  E  i  n  w  u  r  f s ,  d  a  Ts 
die  RTenfchen  fie  erkennen,  Tq 
bald  fie  zum  Gebrauche  ihrer 
Vernunft  gelangen, 

Um  diefen  Folgerungen  auszuweichen, 
fagt  man  gewöhnlich:  lene  Saue  werden 
dann  von  den  Menfchen  erkannt,  und  für 
wahr  gehalten,  wenn  lie  den  Gebrauch 
ihrer  Vernunft  erlangen,  und  die- 
fes  beweist  hinlänglich,  da.fs  fie  angeboren 
find.     Hierauf  antworte  ich, 

$■      7- 

Zweideutige  Ausdrücke,  die  kaum  einen 
Sinn  haben  ,  galten  bei  denjeni^e  für  Grün- 
de, welche  für  eine  Meinung  eingenommen 
find,  und  daher  Geh  nicht  die  Mühe  ge- 
ben xu  nrüfeu,    was  fie  lagen«       Wenn  wir 

die- 


ftfl  Er  ft  es    Bach. 

diefer  Antwort  einen  erträglichen  Sinn,  der 
zu  unferer  Aufgabe  pafst,  leihen  wollen,  fo 
rnnfsfieeins  von  beiden  enthalten:  entweder, 
dafs  jene  vermeintlichen  angebornen  Schrift- 
züge ein  GegenOand  der  Erkenntnifs  und 
Wahrnehmung  werden,  fo  bald  die  Men- 
fchen  zum  Gebrauch  ihrer  Vernunft  gelangen  ; 
oder,  dafs  der  Gebrauch  und  die  Anwendung 
der  Vernunft  zur  Entdeckung  jener  Grund- 
fätze  mit  wirket,  und  ihnen  eine  gevvifle 'Er- 
^enntnifs  davon  gewähret» 

§.     8- 

Wenn  f i e  die  Vernunft  entdeck- 
te, fo  würde  das  nichts  für  das 
Angeborenfeyn   beweifen. 

Wenn  man  meinet,  die  Menfchen  könnten 
diefe  Grundfatze  durch  den  Gebrauch  ihrer 
Vernunft  entdecken,  und  dadurch  fey  die 
Behauptung,  dafs  fie  angeboren  find,  voll» 
kommen  bewiefen,  fo  beruhet  diefe  Folge- 
iung  auf  folgenden  Satze:  Alle  Wahrheiten, 
ivelche  uns  die  Vernunft  als  gewifs  entdecken, 
und  ihnen  unfere  unveränderliche  Beiftim- 
mung  verfchafien  kann«   und  von  der  Natur 

dem 


Zweites    Kapitel.  £9 

dem  VeTftande  eingepflanzt.  Denn  das  all- 
gemeine Fürwahrhalten,  welches  das  Krite- 
rium feyn  foll ,  bedeutet  nicht  mehr  als  die- 
fes,  dafs  wir  durch  den  Gebranch  der  Ver- 
nunft im  Stande  find,  zu  einer  gewiffen  £r- 
kenntnifs  uiul  Ueberzeugung  von  ihnen  zu 
gelangen.  Nach  diefet  Art  zu  fchliefsen, 
findet  zwilchen  den  mathematischen  Gründfä- 
tzen  und  den  aus  diefen  abgeleiteten  Lehr- 
fätzen,  kein  Unterfchied  ftatt.  Man  mufs 
eingcftehen  ,  dafs  die  lezten  nicht  weniger 
angeboren  find,  als  die  erflert ,  weil  beide 
Entdeckungen  durch  Hülfe  der  Vernunft,  und 
Wahrheiten  lind,  weiche  ein  vernünftiges 
Wefen  mit  Gewifsheit  erkennen  kann  ,  wenn 
es  feine  Denkkraft  zu  diefeua  Behuf  «weck* 
iuäisig  anwendet. 

$•    9- 

Es   ift  falfch,    daTs  fie  die  Vernunft 
entdecket. 

Wie  können  aber  Männer  den  Gebrauch 
der  Vernunft  zur  Entdeckung  derjenigen 
Grundfätze  für  unentbehrlich  halten,  welche 
nach  ihrer  Vurausfetzung  angeboren  fiud,  da 

die 


gc  Elftes  Eu  eh. 

die  Vernunft,  wenn  man  ihnen  glauben  darf» 
nichts  anders  ift,  als  das  Vermuten,  unbe- 
kannte Wahrheiten  aus  Grundfätzen  oder 
fchon  erkannten  Sätzen  abzuleiten?  Unmög- 
lich kann  das  für  angeboren  gehalten  wer- 
den, zu  de /Ten  Enti-lec'Min^  die  Vernunft  un- 
entbehrlich ift,  vvoferne  wir  nicht  alle  evi- 
dente Wahrheiten,  welche  uns  die  Vernunft 
lehret,  für  angeboren  erklären  wollen.  Auf 
diefe  Art  muffe  es  eben  fo  denkbar  feyn,  däfs 
der  Gebranch  der  \  ernunft  für  die  Augen 
unentbehrfich  fey ,  urn  fichthafe  Gcoenftände 
zu  fehen,  als  dafs  der  Verftand  der  Vernunft- 
thätigkeit  nicht  entbehren  könne,  v»'enfi  er 
das  bemerken  will,  was  ihm  urfprünglicfi 
eingegraben  iß;  und  was  nicht  in  ihm  feyn 
kann,  bevor  er  es  vörgefteHhhat  Die  Ver- 
nunft entdeckt  die  ängebornen  Wahrheiten, 
Reifst  s!ro  fotiel,  als,  rfer  Menfch  entdeckt 
durch  den  Gebrauch  der  Vernunft  4  r.'as  er 
zuvor  fenon  wufste.  Die  Menfchen  be fitzen 
diefe  ängebornen  und  eingeprägten  Wahrhfei- 
ten  von  ihrem  Dafeyn  an  und  vor  dem  Ge- 
brauch der  Vernunft,  und  rlorh  wifsenfie  von 
ihnen  nichts,  bis  fie  ihre  VerntiKfriu  gebrau- 
chen anfangen,      Diefs  ift  doch  in  de?  Ttist 

nichts 


Zweites  Ktopitel,  5i 

nichts  anders,  als  fie  erkennen  diefe  Wahr- 
heiten und  erkennen  fie  in  der  nehmlichen 
Zeit  aiGht. 

§.       tö. 

Vielleicht    wird    man   fagen  >    mathemati» 
fche   Demonftrationen   und  andere  nicht  än- 
geborne   Wahrheiten   Werden    nicht    fo»Ieieh 
als    inan  fie  höret,    für  wahr  gehalten,  und 
dadurch  unterfeheiden  fie  Geh  von  den  Grund- 
iatzen    und   andern  angebornen  Wahrheiten« 
Weiter  unten  werde  ich  Gelegenheit  haben, 
umftändlicher    von    dein    unmittelbaren  Für- 
wahrhalten  zu    handeln.      Ich   gefrehe   fefor 
gerne,  dafs  diefe  Grundfätze  und  die  tnathe- 
matifchen   Demonftrationen   darin  unterfchje- 
den  find,  dafs  diefe  Räfonnements  und  Grün- 
de erfodern,    um  S)e  zu  bewerfen  und  ihnen 
Beifall   zu    verfchaffen ,    jene     hingegen,    fa 
bald  man     fie     verliebet  ,    ohne     alles     Rä- 
fonuement  angenommen  und  für  wahr  gehal- 
ten werden.     Gleichwohl  uiufs  ich  mit  ihrer 
Erlaubnifs    bemerken,    dafs   eben    diefes  die* 
Schwache  diefer  Ausflucht,    welche   aie  Tba- 
tigkeit  der    Vernnnft  zur   Entdeckung    diefer 

%lla  e- 


32  Elftes  Buch. 

allgemeinen  Wahrheiten  erfodert,  an  den 
Tag  le^et,  infofern  man  einräumen  mufs» 
dafs  dabei  gar  keine  Schläue  der  Vernunft 
angewendet  werden.  Und  ich  will  nicht  hof- 
fen, dafs  diejenigen,  welche  diefe  Antwort 
geben  *  fich  der  Uebereilung  fchuldig  ma- 
chen,  und. behaupten  werden«  dafs  die  Er- 
jkennfnifs  des  Grundsatzes:  Es  ift  unmög- 
lich* dafs  das  nehmliche  Ding  fey 
und  nicht  fey,  eine  Deduction  aus  ünfrer 
Verntinft  fey.  Sie  würden  rsehmlich  da- 
durch die  Erkenntnifs  der  Gründfätze  von 
der  TfaMtigkeit  uhfers  Denkens  abhängig  ma- 
chen, und  die  Freigebigkeit  der  Natur,  in  wel- 
che fie  fich  verliebt  zu  haben  fcheinen,  zernich- 
ten. Demi  jedes  Räfonnement  ifteiri  Stiel; en 
und  Beachten  des  Gegen ftan des  und  kann  nicht 
ohne  angeftrengte  Thätigkeit  feyn.  Und  in 
welchem  erträglichen  Sinne  Kann  man  wohl 
vorausfetzen,  dafs  dasjenige  durch  die  Thätig- 
keit der  Vernunft  entdeckt  werden  müfie, 
was  die  Natur  eingeprägt  und  der  Vernunft 
zur  Grundlage  und  zum  Leitfaden  gegeben 
hat? 


).    H. 


ZvyeitesKapitel.  33 

§,        1  '• 

Wer  fich  die  Mühe  geben  will,    mit  eini- 
ger Aufmerkfanikeit  über  die  Wirkungen  des 
Verftandes  nachzudenken,    der  wird  finden, 
dafs  das   augenblickliche    Fürwahrhalten  ge- 
wifler    Wahrheiten  ,     weder  *  von    einer   urr 
fprünglichen  Ein  präg  ung  derfelben,  noch 
von   dem    Gebrauch    der    Vernunft, 
fondern  von  einem  Vermögen  des   Gemüthes 
abhänget,  welches,  wie  in  der  Folge  gezeigt 
werden   foll,   von   beidem  gänzlich  verfchie- 
den  ift.      Wenn  alfo  die  Behauptung,    dafs 
die     Menfchen     diefe     Grund  fätze 
erkennen      und     für     wahr     halten, 
■wenn    fie    zum    Gebrauche  der  Ver- 
nunft  gelangen,    fo  viel  faget   als:    die 
Thätigkeit  der  Vernunft  ift  uns  zu  diefer  Er? 
Jienntnifs    beförderlich,     fo    ift  fie   durchaus 
faKch ,  weil  die  Vernunft  gar  nichts  beiträgt, 
um  jenen    Wahrheiten  Ueberzeugung  zu  ver- 
fchaffen*     Geletzt  aber  auch,    fie  wäre  wahr, 
fo  würde  fie  doch  nicht  beweifen,    dafs  fif 
angeboren  find» 


g  §,  ?s. 


34  Elftes    Buch, 

Der  Anfang  des  Vernu  nft ge- 
brauch s  i  T t  nicht  die  Zeit,  da 
in  au  zur  Erkenntnifs  diefer 
Grund  Tatze  gelanget. 

Soll  aber  jene  Behauptung  fo  verftanden 
werden,  dafs  der  Anfang  des  Vernunftge- 
brauchs  die  Zeit  ift,  da  fich  der  Yerftand 
diefe  Grundfätze  zuerft  vorfrellet,  dafs  die 
Kinder,  fobald  fie  ihre  Vernunft  gebrauchen, 
fie  erkennen  und  ihnen  beftimmen  ,  fo  ift  üe 
auch  in  diefem  Sinne  nicht  weniger  falfch  und 
zwecklos.  Erftens,  fie  ift  falfch.  Denn  es 
ift  einleuchtend,  dafs  diefe  Grundfatze  nicht 
fo  früh  in  der  Seele  vorkommen  ,  als  die 
Vernunft  ihre  Thätigkeit  äufsert.  Der  An- 
fang des  Vernunftgebrauchs  wird  alfo  fälfch- 
lieh  für  die  Zeit  ihrer  erften  Entdeckung  ge- 
halten. Wie  viele  ßeweife  der  Thätigkeit 
der  Vernunft  mögen  wir  wohl  an  Kindern 
beobachten,  ehe  fie  von  dem  Grundfatz;  das 
nehmliche  Ding  kann  unmöglich 
feyn  und  nicht  feyn,  einige  Erkenntnis 
haben  ?     Ein  grofser  Theil  von  den  Wilden  * 

und 


Zweites  Kapitel.  33 

und  von  den  ungebildeten  Menfchen   verlebt 
viele    Jahre,     feibft   ihres     verft:ir>iib.:en  ,  .Al- 
ters   ohne  an   (liefen    oder  andere  all  ine 
Sätze    zu    denken.        Ich  gebe   zu,-  dafs  die 
Menfchen    die    Erkenntnifs     der    abfträktem 
Wahrheiten,    die-  man    für    angeboren    hält, 
nicht  eher  erlangen,    als  bis  ihre  Vernunft  zu 
wirken  anfängt,    aber   ich  fetze  hinzu,    üljcIi 
dann  rieht  allezeit.      Und    dieres  kommt  da- 
lier,   weil  auch   dann,    wenn    lieh  die  Ver- 
nunft thätig  bewiefen  hat,  die  abftrakten 
Ideen,    welche   die   allgemeinen,    fjlf«  hücb. 
für   angeboren  gehaltene,    Grund'iitze  in  lieh 
faßen,  nicht  vollkommen  ausgebildet  in  dem 
Yerfiande  angetroffen  werden,     Sie  find  viel- 
mehr Entdeckungen  und  Wahrheiten,  welche 
auf  eben  diefelbeArt  und  Weile  und  auf  dem- 
feiben  Wege  gemacht,  eingeleitet  und^in  den 
Verftand  gebracht  werden,  als  mehrere  ande- 
re Salze,  welche  noch  kein  Alenfch  fo  unfin- 
nig  war,  für  angeboren  auszugeben.     Diefes, 
hoffe   ich,    foll  in  dein  Verfolgt  diefes  Wer- 
kes  vollkommen  klar  gemacht    weiden.      Ich 
ge liehe  alfo  die  Nothwendigkeit  zu,    dafs  d:e 
Menfchen  den  Gebrauch  ihrer  Vernunft  haben 
muffen,  ehe  fie  die  Erkenntnifs   diefer  allge- 
C  2  mei- 


36  Elftes   Buch. 

meinen  Wahrheiten  erlangen,  aber  ich  leug- 
ne, dafs  fie  diefelben  zu  eben  derselben  Zeit 
entdecken, 

§.      i3. 

Sie  können  dadurch  von  andern 
erkennbaren  Wahrheiten  nicht 
nnterTchieden  werden. 

Zugleich   mufs  man   noch  bemerken ,  dafs 
die    Behauptung:     die    Menlchen     erkennen 
diefe   Grundfätze   und   halten    fie    für  wahr, 
wenn  fie  zum  Gebrauch    ihrer    Ver- 
nunft  kommen,  als Thatfache  nicht  mehr 
enthält  als  diefes:     fie  werden  vorher  nicht 
vorgefiellt  und  erkannt;    es  ift  aber  möglich 
dafs  man   ihrer  nachher   irgend  einmal  wäh- 
rend der  ganzen   Lebensdauer  mit  Ueberzeu« 
gung   bewufst  werde.      Allein    wenn  das  ge- 
fchehen   werde,    ift  ungewifs.     Diefes  findet 
aber  nicht  allein  bei  jenen  vermeintlich  ange- 
bornen ,    fondern  auch   bei    allen  andern    er- 
kennbaren Wahrheiten    ftatt.       Jene  können 
daher  durch  diefes  Merkmal  von  andern  nicht 
unterfchieden  und  ausgezeichnet  werden,  und 
es   läfst  fich  daraus    nicht,     dafs  fie  angebo- 
ren 


Zweites   Kapitel.  57 

ren  find,    fondern  vielmehr  das    Gegentheil 
beweifen. 


5.      14. 

Wenn  auch  der  Anfang  des  Ver- 
nunftgebrauchs die  Zeit  wäre, 
da  diefe  Grund  fatze  entdeckt 
würden,  f  o  würde  doch  da- 
durch nicht  be  wie  Ten  feyn,  dafs 
fie  angeboren  find, 

7  weiten?.  Gefetzt ,  es  wäre  wahr,  dafs 
die  Zeit,    da   man   fie   erkennt  und  fürwahr 
hält,  eben  diefelbe  ift,    in  der  die  Menfchen 
zum  Gebrauch  ihrer   Vernunft  gelangen  ,    f© 
würde  das  eben  fo  wenig  für  das  Angeboren» 
feyn    derfelben  beweifen.       Diefe  Art  zu  fol- 
gern  ift  eben  fo   fruchtlos,  als  die  Vorausfe- 
tzung  falfch  ift.     Denn  nach  welcher  Logik 
will  mandarthun,  dafs  ein  Begriff  der  Seele 
urfprünglich  bei  ihrer  erfien  Bildung  von  drr 
ANatur  eingeprägt  ift ,    weil  er  dann  zuerft  be- 
merkt  und  für  wahr  gehalten   wird  ,     wenn 
«'in  Vermögen  der  Seele,  welches  feine  eigen- 
tümliche WirkungS3rt   hat,    fich  zu  äufscvn 
beginnt  ?     Gefezt     wir    wollten    annehmen, 
C  5  der 


o3  ErClcs  Kapitel, 

der  erfle   Gebrauch  der  Sprache  fey  die  Zeir, 
da  man  diele  Grundfätze  anerkennet,  welche 
Vorausfeti'UDg    eben    fo     wahr   feyn    könnte, 
als  jene,  fo  müfste  das  ein  eben  fo  bündiger 
Beweis  dafür  feyn,   dafs   fie  angeboren  find, 
als  wenn  man  fagt,  fie  find  angeboren,  weil 
fich    die    A-enfchen    von    ihnen    überzeugen, 
wenn  he  zum  Gebrauche  ihrer  Vernunft  kom- 
men.      Ich  bin  alfo    mit    den    Vertheidigcin 
der  angebornen  Grundfätze  darin    einveTftan- 
den,  dafs  keine  Erkenutnifs  diefer   allgemein 
ren    und    durch    fich    felbft    einleuchtenden 
Grundfätze     vor    der    felbftthäligen  Anwen- 
dung der  Vernunft  ftatt  findet;    aber  ich  leug- 
ne,  dais  der  Anfang  diefes  Vernunftgebrauchs 
die  befiiminte  Zeit  ift ,    da  man  ihrer  bevviifst 
wird,    und  auch  diefes  zugegeben,   dafs  diefs 
für    das    Angeboren     feyn     derfeiben    etwas 
beweib      Der    wahre   Sinn,     den  man    mit 
einigein    Grunde    dem    Satze:     alle     Mer.- 
fchen    ft  im  inen    jenen     Grün  df  ätzen 
bei,     wenn     fie     den    Gebrauch    der 
Vernunft  erlangen,     geben  kannn,    «ft 
kein     anderer    als     diefer.  Die     Bildung 

der  allgemeinen,  abftrakten  Begrif. 
fe    und  d3S  \ 'erflehen  der  Werte ,  die  fie  be- 
zeich- 


Zweites    Kapitel.  j^ 

-Rennen  ,  ßehen  mit  dem  Vernunftvernjögen 
in    unzertrennlichen     Zufammenhsnge,     und 
wachten  mit  demfelhen  gleichfam   auf.      D{e 
Kinder  erlangen  gewöhnlich  keine  Kenntuifj 
von   dielen    allgemeinen  Begrifi'en,  und  ver- 
liehen ihre  Ausdrücke  nicht,    bis  fie  an  be- 
kanntem und   concretern  Vorftellungen   ihre 
Vernunft  eine  beträchtliche  Zeit  geübt  haben, 
und    durch    ihre   gewöhnlichen    Reden  und 
Handlangen  gegen   andere  für  fähig  erkläret 
werden,  an  einer  vernünftigen  Unterhaltung 
Theil  zu  nehmen.      Wenn  jene  Behauptung 
noch  in  einem  andern  Sinne  wahr  feyn  kann, 
fo  wünfehte  ich  davon  ,    oder   zum  wenigfter» 
darüber  eine  Erklärung,     wie  fie  in   diefem 
oder  in  irgend  einem  andern  Sinne   bevveife, 
dafs  jene  Grundfätze  angeboren  find. 

§.     i5. 

Wie   der   Verftand  zur  Erkenn  tnifs 
der  Wahrheiten  gelanget. 

Die    Sinne  führen  dem    Verftande  zuerfl: 

particuläre  BegrifFe  zu,  und   füUep  die  Leere 

rielTelben   aus.       So  wie    der   \  erfand    nach 

und  nach  mit    einigen   bekannter  wird  ,    io 

C  4  -wer. 


40  Elftes  Buch, 

werden  Ge  in  dem  GedäYhtnifs  geordnet  und 
mit  Worten  bezeichnet,  Nun  gehet  der  Ver- 
ftand  weiter,  bildet  von  ihnen  Abftraktionen, 
und  lernt  nach  und  nach  den  Gebrauch  all- 
gemeiner Sprachzeichen.  Auf  diefe  Weife 
wird  die  Seele  mit  Begriffen  und  mit  der 
Sprüche  bereichert,  welches  die  Materialien 
find,  an  welchen  fich  ihre  Denkkraft  übt. 
Der  Gebrauch  der  Vernunft  wird  täglich  in 
dem  Verhältniffe  fichtbarer,  als  die  Mate- 
rialien, welche  fie  befchäftigen,  auwachfen. 
Allein  obgleich  die  Bildung  allgemeiner  Be- 
griffe, der  Gebrauch  allgemeiner  Sprachzei- 
chen und  die  Wirksamkeit  der  Vernunft  mit 
einander  aufwachfen,  fo  fehe  ich  doch  nicht, 
wie  man  auf  diefe  Art  beweifen  kann,  dafs 
jene  Begriffe  angeboren  find,  Es  ift  wahr, 
man  findet  die  Erkenninifs  gewiffer  Wahr- 
heiten fehr  frühzeitig  in  der  Seele  j  aber  die 
Art  und  Weife,  wie  fie  dazu  gelangt,  zeigt, 
daf^  Ge  nicht  angeboren  find*  Denn  die  Be- 
obachtung wird  uns  lehren  ,  dafs  diefe  Er- 
kenntnifs  keine  ängeborne,  fondern  erwor. 
bene  Vorftellungen  zum  Gegenstände  hat,  das 
heifst,  folche  Vorftellungen,  welche  von 
äufsernGegenftänden  gegeben  find,  mit  denen 

die 


Zweites    Kapitel.  41 

die  Kinder  am  früheften  zu  thun  haben,  und 
die  am  öfterften  Eindrücke  auf  ihre  Sinne 
machen.  An  diefen,  auf  folche  Ait  erlangten 
Vorstellungen  entdeckt  der  Verftand,  wahr« 
fcheinlich  fo  bald  als  er  von  dem  Gedächtnis 
Gebrauch  macht,  und  im  Stande  ift,  deutli- 
che Vorftellungen  zu  empfanden  Bnr  aufzu- 
bewahren, dafs  einige  zufammenftiinmen» 
andere  entgegengefezt  find.  JDeui  fey  aber 
wie  ihm  wolle ,  fo  ift  doch  foviel  gewifs,  dafs 
der  Verftand  lange  zuvor ,  ehe  er  lieh  der 
Worte  bedient ,  oder  wie  man  es  gewöhn- 
lich nennt,  zum  Gebrauche  der  Vernunft  ge- 
langet, diefe  Thätigkeit  äufsert»  Denn  ein 
Kind  erkennet  gewifs „  ehe  es  fprechen  kann> 
den  Unterfchied  zwifchen  den  Vorftellungen 
Süfs  und  Bitter,  das  ift,  dafs  das  Bittere 
nicht  füfs  ift,  fo  wie  es  fpäterhin ,  wenn 
es  der  Sprache  fähig  ift,  erkennt,  dafs  YVer- 
muth  und  Zuckeikörner  nicht  einerlei  Dinge 
find» 

$#      l6. 

Ein  Kind  weifs  nicht,  dafs  die  Summe  von 

drei  und  vier  gleich  ift,  der  Zahl  heben,  bifs 

C  5  et 


42  Elftes    Back 

es  fieben  zählen  kann,  und  das  Wort  mit  dem 
Begriffe  der  Gleichheit  gefafst  hat.  Wenn 
man  ihm  aber  alsdann  diefe  Worte  erkläret, 
fo  film  m  et  es  gleich  bei,  oder  beffer ,  es  er- 
kennt die  Wahrheit  dieks  Satzes.  Diefes 
augenblickliche  Fürwahrhalien  aber  erfolgt 
nicht  deswegen,  weil  es  eine  angeborne 
Wahrheit  ift ,  und  es  fohlte  nicht  deswegen 
bis  dahin  ,  weil  das  Kind  feine  Vernunft 
noch  nicht  gebrauchen  konnte,  fon- 
dein  diefe  Wahrheit  wird  ihm  einleuchtend, 
fo  bald  als  es  in  feinen  Verftand  die  klaren 
und  deutlichen  Vorftellungen  aufgenommen 
hat,  welche  diefe  Worte  bezeichnen.  Es 
erkennet  dann  die  Wahrheit  diefes  Satzes 
aus  den  nehmtichen  Griind«i  und  auf  die 
nehmliche  Weife,  ais  es  vorher  erkannte, 
dafs  eine  Ruthe  und  eine  Kirfch?  nicht  einer- 
lei Dinge  find,  und  als  es  in  der  Zukunft  er- 
kennen Kami ,  aafs  ein  und  das  nehmliche 
Din*  unmöglich  feyn  und  nicht  feyn  kann. 
Was  das  leite  betrifft  ^  fo  foll  es  weiter  un- 
ten noch  ausführlicher,  bewiefen  werden. 
Je  fpäter  alfo  ein  Menfch  die  allgemeinen 
Begviffe  erlangt,  welche  jene  Grunduiue  in 
Geh  fallen;    je  fpäter    er  die  Bedeutung  der 

Wo*-, 


Zweites  Kapitel.  43 

Worte,  welche  fie  bezeichnen,  erkennet,  oder 
tue    ihnen    anhängenden    Begriffe  in   feinem 
Ich  verbindet ,  defto  fpäter  wird  er  auch  von 
diefen  Grundfätzen  überzeugt  werden.    Denn 
da  die  Sprachzeichen  und  die  Begriffe,  Wel- 
che  bei  den  Grundfätzen  vorkommen,  ehen 
fo  wenig  angeboren  find,  als  die  Vorfiel!  ungen 
von  einer  Katze  oder   Wiefei,  fo  mofs  er  fo 
lange  warten  ,    bis  die  Zeit  und  die  ßeobach-    . 
iung    ihn    rhit    denfelben     bekannt     macht. 
lft     das-    geschehen,      fo    ift     er   fähig   die 
"Wahrheit  diefer  Grundfätze  zu  erkennen,    fo 
bald  er  versnlafst  wird,    die  Begriffe   in  dc<a 
Yerflande  zu  verbinden    und   nachzudenken, 
<pb  fie  auf  die  Weife,    als  fie   in  den  Sü.'zen 
v ausgedruckt  find,    mit   einander  übe;einüi:n. 
weg  oder  nicht.    Daher  erkennet  ein  erwach- 
iVienfch  ,      dafs  die  Summe  von  >#  und 
39  der  Zahl  37  gleich  ift,  mit  eben  derfeiben 
Evidenz,    als   dafs  I  und  2  gleich  5  itt,     Ein 
Kind  erkennt  das  aber  nicht  fobald  als  jener, 
nicht  darum,  weil  es  ihm  a»  dem  Gebrauch 
der  Vernunft  fehlet,  fondern  weil  die  Begrif- 
fe,   welche  die  Worte  achtzehn,    neunzehn, 
lieben  und  dreyfsig  bezeichnen,  nicht  fo  bah;» 


/j4  £  l  f  t  e  s    B  u  oh. 

in  den  Verftand  kommen,  als  die  von  Eins, 
Zwei  und  Drei, 


$•      17. 

Bas  unmittelbare  Für  wahrhalten 
beweifet  nichts  für  das  Ange- 
boreufeyn  der  Begriffe. 

Da  diefe  Ausflucht  mit  einem  allgemeinen 
Fürwahrhalten  fehlfchlägt,  wie  es  auch  nicht 
anders  feyn  kann,  und  kein  Unterfcheidungs- 
rcerkmal  zwifchen  den  angeblich  angebornen, 
und  den  andern  Wahrheiten,  die  fpäter  erwor- 
ben und  erkannt  werden,  an  die  Hand  giebr, 
fo   bat    man    fich   Mühe    gegeben,    den  fo^e- 
nannten    GrundTätzen    auf    eine  andere  Art 
eine  allgemeine  Beiftimmung  zu  fichern.  Man 
behauptet  nehmlich,    dafs   man   ihnen    allge 
mein  beiftimme,   fo   bald  fie  nur  vorgetragen, 
und  die  Ausdrücke,  die  fie  bezeichnen,    ver- 
ftandea  werden.    Man    beobachtet,   dafs  alle 
Menfchen,  feibft  Kinder,   fo  bald  fie  die  Aus- 
drücke hören  und  verftehen,    diefe  Sätze  für 
wahr  halten,  und  denkt  nun,   riief««  fey  fchon 
Beweifes    genug,     daf»    fie    angeboren    find. 
Und  da  fie  alle  Menfchen  unter  der  angege- 
benen 


Zweites    Kapitel-  45 

benen  Bedingung  durchgängig  für  unbezwei- 
felte  Wahrheiten  anerkennen  ,  fo  möchte 
Bian  gerne  daraus  folgern,  dafs  diejenigen 
Sätze,  welche  der  Verfhnd  obne  alle  Be- 
lehrung bei  detri  erften  Vortrage  unmittelbar 
aüffafst,  mit  Ueberzeugung  begleitet  und 
dann  nie  wieder  bezweifelt,  unftreitig 'ur- 
fprünglich  in  das  Verftandesvermögen  gelegt 
und. 

$.      18, 

Wenn  diefes  Fürwahrhalten  ein 
Merkmal  derangehornen  Sätze 
wäre,  fo  müfste  auch  der,  dafs 
Eins  und  Zwei  gleich  Drei 
ift,  und  unzählig  ander«  ange- 
boren fey  n. 

Um  diefs  zu  beantworten ,  frage  ich ,  ob 
das  augenblickliche  Fürwahrhalten  eines  Sa- 
tzes, fobald  man  feine  Ausdrücke  hört  und 
verfteht,  ein  zuverläfsiges  Merkmal  der  an- 
gebornen  Grundfätze  ift?  Ift  es  nicht,  fo 
ift  es  umfonft,  hch  darauf  als  einen  Beweis 
zu  berufen.  Behauptet  man  es  aber,  fo  raufs 
man  alle  diejenigen  für  angeboren  erkennen, 

denen 


46  Erftes  Buch. 

denen  man  ,  fo  wie  fie  gehört  werden,  nll^e- 
niein  heifiimmt;  und  dann  würde  iri3n  Hell 
in  ehien  grofsen  Ueberßufs  von  angebornen 
Grundfätzen  verfezt  fehen.  Denn  wenn  mau 
unter  jener  Voraussetzung  däefe  Grundfätze 
für  angeboren  ausgeben  will,  fo  mujps  man 
aus  eben  demfelben  Grunde  verfchiedene  Sa- 
tte von  Zahleriverhältrilfjteri  dalür  erkennen» 
Und.  fo  werden  denn  die  Sätze  I  -\-Z  ~  3; 
2-7-2  ZZ 4  und  mehrere  dergleichen,  die  je- 
dermann, fo  wie  er  De  höret,  und  ihre  Aus- 
drücke verliehet,  für  wahr  hält,  eine  Stelle 
unter  diefen  angebornen  Grundfätzen  erhalten 
muffen,  Diefer  Vorzug  findet  i;ch  nicht  allein 
bei     vielen,     Sätzen  ,      welche      Zahienver- 

hältniile      ausdrücken,     fonriern     auch     die 

1 
Philolbphie    dtr    INatur   und  andere    Witten- 

fchaften  bieten  folche  dar,  welche  auf  ei- 
^  nen  unmittelbaren  Beifäll  ficher  rechnen 
dürfen,  fo  bald  fie  verbanden  werden.  Dafs 
zwei  Körper  nicht  in  dem  nehm- 
liehen  Räume  f e y  n  k  p  nnen,  ift  eine 
Wahrheit,  welche  grwifs  jeder  Menfch  eben 
fobald  anerkennt ,  als  folgende  :  Es  ift  un- 
möglich,   dafs   ein   und  das  nehmii- 


cae 


Z  vr  e  it  e  s     X  .1  p  i  t  e  I.  47 

che  Ding  [^7  und  nicht  Ter;  Weis 
ilt  nicht  Schwarz;  Ein  Viereck-  i  f  t 
kein  C  i  r  k  e  1 ;  Die  gelbe  Farbe  i  ft 
nicht  die  Slöfsigkeit*  Diefe  und  un- 
zählige andere  Siüze  di^fer  Art ,  deren  An- 
zahl iura  wenigsten  eben  !"o  grof«  ift,  als  wir 
deutliche  Begriffe  haben,  nöthigem  | 
Mentchen,  fo  bald  he  gehöret  werften,  und 
die  Worte  verftändlich  find,  die  UeberZeü? 
gung  ab.  Wenn  die  Veriheidiger  der  ange- 
bornen  VbrftfeUungen  ihrer  eignen  Maxime 
treu  bleiben,  und  das  augenblickliche  i'ur- 
wahrhalten  zum  Merkmale  des  Augebornen 
machen ,  fo  muffen  fie  nicht  nur  eben  fo  vie- 
le angeborne  Satze  anerkennen,  als  die  Men- 
ichen  deutliche  Vorftellungen  haben,  fondern 
auch  fo  viel,  als  fie  Urtheile  bilden  können, 
in  welchen  entgegengefezte  VorfteJIungen 
von  einander  getrennt  werden.  Denn  jeder 
Satz,  in  welchem  ein  entgegengefezter  Be- 
griff von  dem  andern  verneinet  wird,  findet 
eben  fo  gewifs  Beifh'mmung,  fo  bald  er  ge- 
hört und  verfinnden  wird,  als  der  allgemei- 
ne Satz:  Ein  und  das  nehmlicheDing 
kann    unmöglich    feyn     und    nicht 

fevn, 


48  Elfte»     Buch. 

feyn,  oder  derjenige,  welcher  die  Grund- 
lage von  jenem  ausmacht  und  noch  verftänd. 
ljcher  ift :  Was  einerlei  ift,  i  f  t  n  i  c  h  t 
verfcbieden«  Nach  diefer  Vorausfetzung 
erhalten  lie  fchon  ganze  Legionen  von  ange- 
bornen  Sätzen  der  einen  Art,  ohne  noch  die 
der  andern  in  Rechnung  zu  bringen.  Da 
aber  kein  Urtheil  angeboren  feyn  kann,  wenn 
es  nicht  die  Vorstellungen  find,  welche  den 
Innalt  de5 Unheils  ausmachen,  fo  müTste  man 
annehmen,  dafs  alle  Vorftellungen  von  Far- 
ben ,  Tönen ,  Figuren  u,  f.  w,  angeboren 
find.  Allein  kann  wohl  etwas  gedacht  wer- 
den, welches  der  Vernunft  und  Erfahrung 
mehr  widerfpricht?  Eine  allgemeine  und  un- 
mittelbare Ueberzeugung«  welche  auf  das 
Hören  und  Verftehen  der  Worte  erfolget,  ift, 
ich  geftehe  es  t  ein  Merkmai  der  innern  Evi- 
denz (Seif —  eviden.ee);  aberdiefe  hängt  nicht 
von  angebornen  Eindrücken,  Jon  (fern  wie 
wir  weiter  unten  zeigen  werden,  von  etwas 
andern  ab,  und  kommt  verfchiedenen  Sätzen 
zu ,  die  für  angeboren  zu  hajten  ,  noch  kein 
Menfch  fo  finnlos  war. 

§,  19. 


Zweites    Kapitel.  43 

'S-      19; 

Die  weniger  allgemeinen  Ur» 
i  ii  e  i  1  e  werden  vor  den  allge- 
meinen   erka  n  n  t. 

Man  Ki£e  ja  rieht,  dafs  diefe  particuHrert 
ön  fich  einleuchtenden  Sülze,  welche  auceri- 
»eittimrhung  erb  ilten,  z,  B.  i  f  2  ~  3  ; 
Grün  ift  -nicht  Roth,  als  Folgerungen 
ä\rs  den  allgemeinen  Sätzen  ,  die  angeboren 
feyn  Jollen,  angenommen  werden.  Denn  Je* 
der  der  nicht  die  Mühe  febenet.  über  da* 
nachzudenken,  was  in  dem  Verftande  vorge- 
het, wird  Eüverläfsig  finden,  dafs  diefe  \ve* 
tiiger  äflgeineiiien  Säue  von  denjenigen  mit 
vbhigev  UebeVzeügung  erkannt  werden  ,  wel- 
che von  jenen  allgemeinen  ganz  und  gar 
nichts  wilTeri.  Da  jene  alfo  früher  in  der 
Seele  find,  als  diele  fo  genannten  erfreu 
Gruudfatze,  fo  können  fie  das  augenblickliche 
Fiirwahrhalteri ',  mit  welchem  fie  aufgenom- 
men werden,  nicht  diefen  zu  verdanken 
habem 


1>  $,  £ö> 


5®  Erf  t  es  Bu  ch, 

§-       20. 

Der  Einwurf,  dafs  diefe  Sätze 
nicht  allgemein  noch  von  g  r  o- 
fsem  Nutzen  find,  wird  beant- 
wortet. 

Wenn    man  vielleicht  fast:  diefe   Sätze: 
2f2ZZ4   Rothift  nicht  Blau  find  kei- 
ne allgemeinen  Grundfätze   und  von   keinem 
grofsen  Nutzen,  fo  antworte  ichj  diefes   hat 
keinen  Einflufs  auf  den  Beweis  von  dem  au- 
genblicklichen   Fürwahrhalten,      Denn  wenn 
diefes  das    fichere  Merkmal   des  Angebornen 
ift ,  To   mufs  jeder  Satz,    der   eine  allgemeine 
Beiftimmung     erhält,     fobald    er    verfeinden 
wird,  eben  fo  gut  zu  den  angebornen  Sätzen 
gezählet  werden  ,  als   der  Grundfatz  des 
Wider  fpruchs,  weil  bei   beiden  einerlei 
Grund  Itatt  findet.  Aus  dem  Unterfchiede,  dafs 
diefer  Satz  allgemeiner  ift,  als  jene,  folgt,  dafs 
diefer  noch  weniger  angeboren  feyn  kann  als 
jene.  Denn  die  allgemeinen  und  abftrakten  B  e- 
gr  if  fe  liegen  dem  erften  Bewufst werden  nicht 
fo  nahe,  als  die  particulären  evidenten  Sätze. 
Der  mehr  gebildete  Verftand  erhält  von  die- 
len weit  früher  eine  überzeugende  Erkenn  t- 

nifs 


Zweites    Kapitel. 

nifs ,  als  von  jenen.  Was  endlich  die  Brauch- 
barkeit diefer  fo  gepriefenen  Grundfätze  be- 
trift ,  fo  wird  vielleicht  eine  umftändlichere 
Unterfuchung  an  feinem  Orte  zeigen ,  dafs 
fie  nicht  fo  grofs  ift ,  als  man  allgemein  lieh 
einbildet. 


§♦      21. 

Dafs  diefe  Grundfätze  zuweilen 
nicht  eher  bekannt  find  als 
nach  vorgängigem  Unterricht, 
ift  ein  Beweis,  dafs  fie  nicht 
angeboren  find. 

Doch  wir  haben  diefe  Unterfuchung.  über 
das  Für  wahrhalten,  welches  gewif- 
f e  n  Sätzen  gegeben  wird,  fo  bald 
man  fie  höret  und  verftehet,  noch 
nicht  geendiget.  Wir  muffen  zuvörderli  be- 
merken ,  dafs  diefes  keineswegs  ein  Merk- 
mal des  Anoeborenfeyns,  Tondern  vielmehr 
ein  Beweis  für  das  Gegentheil  ift ,  infofern 
es  vorausfezt,  dafs  verfchiedene  Menfchen» 
welche  fchon  andere  Erkenntniffe  belitzen, 
von  diefen  Grundlätzen  nichts,  willen,  bis 
D  2  He 


52  Elftes    Buch, 

fie  ihnen  vorgelegt  werden,  und  dafs  He  rr.it 
diefen  Wahrheiten  unbekannt  feyn  lönnen, 
bis  fie  diefelben  von  andern  hören.  Denn  find 

'  fie  angeboren,  fo  dürfen  fie  nicht  rrft  be- 
kannt gemacht  werden,  um  Beiftimmung  zu 
erhalten.  Wenn  fie  durch  einen  natürlichen 
und  urfprünglichen  Eindruck  in  der  Seele 
find,  muffen  fie  nicht  vor  sllen  andern  Wahr- 
heiten erkannt  werden?    Oder  Tollte  derjeni- 

-  ge,  der  diefe  Sätze  einem  andern  vorträgt, 
fie  dem  Verfiande  klärer  einprägen,  als  die 
Natur  felbft,  Y\  äre  diefs,  fo  würde  daraus 
folgen,  dafs  fie  nach  einer  vorrangigen  B«!eh- 
rrung  beffer  erkannt  werden,  als  zuvor*  folg- 
lich müfsten  diefe  Grundfätze  durch  fremde  Be- 
lehrung, mehr  Evidenz  gewinnen  können  als 
ihnen  die  Natur  durch  ihreEinprägung  gp peben 
hat.  DicTes  ftiramt  nicht  gut  mit  dpr  Meinung 
von  angebornen  Grundfätzen  überein,  und 
läfst  dieTen  wenig  Anfehen  übrig,  oder  macht 
fie  vielmehr  zum  Fundamente  aller  unTrer 
übrigen  Erkenntniffe ,  wofür  man  fie  doch 
ausgiebt,  ganz  untauglich.  So  viel  ift  un- 
ftreitig,  dafs  die  Menfchen  viele  von  diefen 
evidenten  Sätzen  erft  durch  Bekanntmachung 
von  Aufsen  kennen  lernen»     Wenn  das  aber 


Zweites    Kapitei.  ..  zi 

gefchiehet ,  fo    mufs  nothwendig  Jeder,   der 
in  dem  Falle  ift,  über  fich.die  Bemerkung  ma. 
dien,  dafs  er  jezt  einen  Satz  fich  deutlich  vor- 
zufallen anfange,  von  dem  er  vorher  nichts 
wuTste,    Von  nun  an  bezweifelt  er  die  Wahl- 
heil deüelben   nicht  mehr,  nicht  weil   er  an- 
geboren   ift,     fondern   weil 'die  Betrachtung 
der  Natur  der  Dinge  ,    welche  in  dem  Satze 
ausgedrückt  ift,  ihm  nicht  verftatten   würde, 
anders   zu  denken.     Auf  welche  Art  und  zu 
welcher  Zeit  er  veranlagt  worden   ift,     dar- 
über   nachzudenken,     das    th'ut    hier    nichts 
zur  Sache.     Wenn  alles  ,  was    man  für  wahr 
hält,   fo  bald  man   es  höret  und  die  Worte 
verftehet,    für    einen    angebornen    Grundfatz 
gehen  foll,  fo  mufs  jede  gründliche  Beobach- 
tung, welche  von   einzelnen  Fällen  zu  einer 
allgemeinen  Regel  erhoben  worden   ift,   an- 
geboren feyn.     Und  doch  ift  es  eine  ausge- 
machte Wahrheit,  dafs  nicht  alle  Menfchen, 
fondern  nur  fcharflinnige  Köpfe   folche  Beob- 
achtungen   machen,  und    fie     auf   allgemeine 
Sätze  zurückführen  ,  welche  nicht  angeboren, 
fondern  aus   fchon    vorhandenen  Kenntniffen 
und    aus   der  Reflexion  über   einzelne   fülle 
abgezogen    find,       DxeTen    Sätzen ,     welche 
D  3  von 


54  Elftes    Buch. 

von  Beobachtern  entdeckt  find,  können  die- 
jenigen, welche  kein  Talent  zum  Beobach* 
ten  haben,  dennoch  nicht  ihren  Beif.il  verta- 
gen, wenn   fie  ihnen   vorgetragen  werden. 

§.       22. 

Die  dunkle  Erkenntnifs  derfel- 
ben,  ehe  fie  vorgetragen  wor- 
den find,  kann  nichts  anders 
bedeuten,  als  dafs  der  Ver 
ftand  fähig  i  f  t  ,fie  zu  erkennen* 

Wenn  man  fagt,  der  Verftand  hat  keine 
deutliche  fondern  nur  eine  dunkle  Erkennt- 
nifs von  diefen  Grundfätzen  ,  ehe  fie  zum  er- 
ftenmal  gehört  werden, —  und  fo  müfsen  die- 
jenigen fagen ,  welche  behaupten  ,  dafa  fie  in 
dem  Verftande  find,  ehe  fie  erkannt  werden,  — 
fo  weifs  man  kaum ,  was  man  (ich  unter  ei- 
nem unentwickelten,  dem  Verftande  eingepräg- 
ten Grundfatz  denken  füll,  aufser,  dafs  der 
Verftand  das  Vermögen  hat,  diefe  Sätze  zu 
verftehen,  und  mit  fefter  Ueberzeugung  an- 
zunehmen. Dann  muffen  aber  alle  inathema- 
tifchö  Demonftrationen  eben  fo  gut  als  die 
erften   Grundfätze  für  ursprüngliche  Eindrü. 

cke 


Zweites     Kapitel.  55 

cke  des  Verbandes  gehalten  werden.  Allein 
ich  fürchte  fehr,  dafs  diejenigen,  welche  es 
nicht  für  fo  leicht  halten  ,  einem  erwiefeneri 
Satze  beizuftimmen ,  als  ihn  zu  demonhriren, 
diefes  einräumen  werden.  Und  wenige  Ma- 
thematiker werden  fich  überzeugen  können, 
dafs  die  Figuren,  die  fie  ziehen,  nur  Kopien 
von  den  angebornen  Zeichnungen  lind  ,  wel- 
che die  Natur  dem  Verftande  eingegraben 
hat. 

§.      23. 

Der  Beweis  von  dem  augenblick- 
lichen Fürwahrhalten,  grün- 
det fich  auf  die  fa  1  f  che  Vo  ra  us- 
fetzung,  dafs  keine  Belehrung 
vorausgehet. 

Der  vorhergehende  Beweis  hat,  wie  ich 
fürchte,  noch  eine  andere  fohwache  Seite. 
Er  foll  darthun,  dafs  diejenigen  Sätze,  wel- 
chen die  Menfchen  beiftimmen ,  "fobald  fie 
diefelben  hören ,  deswegen  als  angeboren 
muffen  gedacht  werden ,  weil  ihr  Beifall 
nicht  die  Folge  einer  Belehrung,  nicht 
die  Wirkung  eines  Beweifes  ift,  fondern  durch 
D  4  die 


56  Elftes    Er 

die  blofse  Erklärung  und  das  Verftehen  des 
Ausdrücke  hervorgebracht  wird.  Und  hier 
fcheint  mir  ein  Trugfchiiirs  mit  im  Spiele  zu 
feyn.  Man  fezt  voraus,  dafs  die  Menfchen 
dabei  nicht  belehrt  werden,  und  dafs  fie 
nichts  Neues  lernen,  und  doch  gefchiehet  cl;+s 
■wirklich,  und  fie  lernen  etwas,  was  fie  vor- 
her nicht  wufsten»  Denn  erulich  iffc  es  ein- 
leuchtend ,  dafs  fie  die  Ausdrücke  und  ihre 
Bedeutung  gelernt  haben  ,  da  keines  von  bei- 
den ihnen  angeboren  ifi\  Doch  das  find  hier, 
noch  nicht  die  einzigen  erworbenen  Kennt- 
»iiTe*.  Die  Vorftellungen  feibft ,  welche  in 
dem  Satze  enthalten  find,  find  eben  fo  we- 
nig angeboren,  als  die  Sprachzeichen,  wo- 
durch fie  ausgedrückt  werden;  fie  find,  viel- 
mehr fpäterhin  erworben.  Da  nun  in  den, 
§ätzen ,  welche  bei  dem  erften  Anhören  au- 
genblicklich für  wahr  erkannt  werden  ,  we- 
der die  Vorftellungen  noch  die  Worte,  wel- 
che fie  bezeichnen,  angeboren  find,  fo  möch- 
te ich  gerne  willen,  was  in  denfeiben  fonfi 
noch  angeboren  feyn  foll.  Denn  es  würde  mich 
freuen,  wenn  mir  Jemand  einen  Satz  nennen 
könnte,  in  welchem  die  Vorftellungen  oder 
4i,e  Worte  .  angeboren    find,       Wir    werden 

sä  ch 


Zweites  Kapitel,  57 

nach  und  nach  mit  Vorftellungen  und  deren 
Sprachzeichen  bekannt  ,  und  lernen  ihre  be- 
Itimmte  Verknüpfung  einfehen.  federn  Sa- 
tze, der  nur  foicbe  Ausdrücke  enthält,  deren 
Bedeutung  wir  verftehen,  und  diejenige  Ein- ' 
ftimmung  oder  Entgegenfeuung  der  Begriffe 
auffaget ,  die  wir  begreifen  können  ,  Itim- 
men  wir  unmittelbar  bei,  fo  wie  er  uns 
vorgetragen  wird.  Nicht  fo  ift  es  bei  Sätzen, 
'  die  zwar  an  (ich  eben  fo  gewifs  und  evident 
find ,  aber  folche  Vorftellungen  enthalten, 
welche  wir  nicht  fo  bald  oder  nicht  f'o  leicht 
verftehen  lernten.  Ein  Kind  ftiimnt  gewifs 
dem  Satze,  ein  Apfel  ift  nicht  Feuer, 
gleich  bei  ,  wenn  es  durch  eine  lange  Be- 
kanntschaft deutliche  Vorftellungen  von  die- 
fen  verfchiedenen  Objekten  und  die  Bedeu- 
tung der  Worte  Feuer,  Apfel  in  feinen 
Verltand  aufgenommen  hat.  Aber  vielleicht 
verfliefFen  noch  viele  Jahre,  ehe  es  den  Satz: 
Es  ift  unmöglich,  dafs  ebendaffel- 
be  Ding  fey  und  nicht  fey,  für  wahr 
erkennet.  Denn  obgleich  diefe  Worte  viel- 
leicht eben  fo  leicht  als  andere  zu  lernen 
find,  fo  fafst  es  doch  nicht  fo  bald  ihre  Be- 
deutung, weil  üe  weiteis  umfafseader  imd 
&  %  ab« 


5S  Elftes  Euch, 

ahftrakter  ift,    als  derjenigen  Worte,    welche 
finnliche    Dinge    bezeichnen,    mit   denen    es 
viel  zu  thun  hat,  und  es  braucht  daher  mehr 
Zeit,    um  diefe  Bedeutung    in    klare  Begriffe  > 
umzubilden.       Ehe  das    gefchehen  ift ,  wird 
alle  Bemühung  vergeblich  feyn,  einem  Kinde 
die  Ueberzeugung  von  einem    Satze,  der  fol- 
che   abftrakte  Worte    enthalt,    beizubringen. 
Sobald   es   aber   der  Vorftellungen    und   ihrer 
Ausdrücke  bewufst   ift,    fo    tritt  es  ohne  An- 
ftand  jedem  der  vorhin  genannten  Satze,  und 
zwar  aus  einerlei  Grunde  bei,  weil  es  nehm- 
lieh   findet,    dafs  die   Vorftellungen,    welche 
in-1  feinem  Verftande  einftimmig  oder  entge- 
gengefetzt  find,    in   dem  Satze  von   einander 
bejahet  oder  verneinet  werden.     Wenn  man 
ihm  aber  Sätze  mit  folchen  Worten  vorleget, 
deren     bezeichnete    Vorftellungen     es     noch 
nicht   gefaTst    bat,    fo  kann    es  ihnen  weder 
Beiftimmung  geben  noch  verfagen,  wenn  auch 
ihre  Wahrheit  oder  Falfchheit  an  fich  noch 
fo  evident   ift;    es  bleibt    in   Anfehung    ihrer 
unwiflend.       Denn   die  Worte  find  nur  leere 
Töne,    wenn   fie  nicht   unfere  Vorftellungen 
bezeichnen  ,    und  wir  können   ihnen    nur  in 
fofern  beiftiuunen,    als  fie  unfern  vorhande- 

neu 


Zweites    Kapitel.  5j 

nen  Vorftellnngen  entfprechen.  Doch  di« 
Unterteilung  der  verfchiedenen  Kanäle  und 
Wege,  auf  welchen  dem  Verlande  Kennt- 
nide  zugeführt  u  erden,  und  der  Gründevon 
den  verfchiedenen  Graden  des  Fürwahrhal- 
tens ill  der  Ge^erdtand  der  folgenden  Abhand- 
lung. Es  war  für  meinen  Zweck  hinreichend, 
fie  als  einen  Grund  aus  welchem  ich  die  ?.n- 
gehomen  Grundfätze  bezweifle,  liier  nur  be- 
rührt zu  haben« 


§.      24« 

Iene  Grundfätze  find  nicht  ange- 
boren, weil  fie  nicht  allgemei- 
ne Beiftiminung  finden. 

Wir  wollen  jezt  die  Prüfung  des  Bewei- 
fes  aus  dem  allgemeinen  Fürwahrhalten  be- 
fchliefsen.  Ich  geftehe  den  Vertheidigem 
der  angebornen  Grundfätze  ein,  dafs  fie  all- 
gemein für  wahr  gehalten  werden 
muffen,  wenn  fie  angeboren  find.  Denn 
eine  angeborne  Wahrheit  ohne  allgemeine 
Beiftimmung  ift  für  mich  eben  fo  undenkbar, 
als  dafs  Jemand  eine  Wahrheit  erkenne,  und 

zu 


Co  Elftes    B u eh. 

zu  gleicher  Zeit  fich  ihrer  nicht  bevvufst  [ay. 
können    fie    aber    nach    ihrem    eigenen 
©eftändnirs  nicht  angeboren  feyn.      Denn  lie 
werden   weder  von  denjenigen   für  wahr  ge- 
halten,   welche  die  Ausdrücke   picht    verlie- 
hen ,     noch     von     denjenigen,     welche     die 
■orte  verliehen-,  aber  von  den  Sätzen  nichts 
,     und    an    fie    nicht    gedacht    haben. 
Ja  .i-icni  Fall  befindet  fich ,    wie  ich  glaube, 
i   i.ner     die     eine    Hälfte    des     Menfchenge- 
ieclits.       Gefezt   aber  ,     diefe  Zahl   wäre 
nicht,  fo  grots ,  fo  ift   doch  fchon   die  Behau- 
ptung eines    allgemeinen  Fürwahrhal- 
te n  s    entkräftet,    und    wenn   auch  nur    die 
Kinder  von  diefen  Sätzen    nichts  willen,    lo 
ift  auch    dadurch   fchon    bewiefen,    dafs    fic 
xiicht  angeboren  lind. 

§.      25. 

Diefe    Grundfatze   find    >,  i  c  h  t   die 
zuerft   erkannten   Wahrheiten. 

Damit  man  mich  aber  nicht  bÄfchuIdige, 
als  folgerte  ich  von  dem  Denken  der  Kinder, 
das  wir  nicht  kennen,  und  von  dem,  was  in  ih- 
leiii  Verftande  vorgehet,  ehe  He  es  dur.;h  die 

Spra- 


Zweites     Kapitel.  61 

Sprache  ausdrücken  können  ,  fo  behaupte  ich 
zunächft    nur   loviel,    dafs   jene    allg  j 

Satze  (£.  4.)  nicht  diejenigen  Wahrheiten 
find ,  welche  der  Verftauri  der  Kinder  zucrft 
inne  hat,  und  dafs  He  auch  andern  erworbe* 
Ben  und  von  Aufsen  gegebenen  Beg: 
nicht  vorausgehen,  welches  doch  feyn  röüfste, 
wenn  fie  angeboren  wiiren.  Es  giebt  linftrei- 
tig  eine  Zeit,  da  die  Kinder  anfanget]  tu 
denken;  ob  wir  fie  beftimmen  können  oder 
nicht,  darauf  kommt  hier  nichts  an;  ihre 
Worte  und  Handlungen  überzeugen  uns  da« 
von.  Darf  man  nun  wohl  vernünftig  r  ivei* 
fe  vorausfetzen j  dafs  fie  zu  ,  ,    da   fie 

des  Denkens,  de«  Erkennens  um  rhal* 

fähig  und«  von  den  Begriffen  r#hts 
wifien ,  welche  ihnen  die  Natur  eilige-1 
prä^t  hat,  v.ot  ",  dftfj  es  wirklich  fol- 

che  giebt?  Larst  es  fich  mil  einigein  fchein« 
baren  Grunde  denken«  dafs  fte  die  Eindrü- 
cke von  den  Aufsendingen  wahrnehmen*,  und 
doch  zur  nehmlichen  Zeit  die  Charaktere 
nicht  erkennen,  welche  die  Natur  felbft  dem 
Verßande  einzuprägen,  forgfältig  be 
vvar?     Können   fie    die  erworbenen  Begriffe 

auf« 


6z  Elftes    Buch- 

aufnehmen,  und  für  wahr  halten,  und  doch 
von  denen  nichts  willen,  welche  nach  der  Vor- 
ausfetzung  mit  den  Principen  ihres  YA'efens 
innigft  verweht,  in  unvereinbaren  Charakte- 
ren eingedrückt,  und  zur  Grundlage  und 
Richtfchnur  aller  erworbenen  Erkenntnifs 
und  alles  künftigen  Benkens  befihr.mt  find? 
Diefes  würde  fo  viel  feyn.alsdie  Natur  arbeite 
zwecklos,  oder  fchreihe  doch  zum  wenigften 
fehr  unleferlich,  indem  ihre  Züge  nicht  ein- 
mal von  denjenigen  Augen  geleTen  werden 
könnten,  welehe  doch  andere  Gegenftande 
fehr  gut  erkennen.  Es  ift  eine  fehr  grund- 
lofe  Vorausfetzung,  wenn  man  diejenigen 
Sätze,  welche  nicht  zuerft  erkannt  werden, 
und  ohne  welche  eine  gewifle  Erkenntnifs 
anderer  Dinge  möglich  ift,  für  die  deutlichften 
Wahrheiten  und  für  die  Gründe  aller  unferer 
Erkenntnifs  hält.  Das  Kind  weifs  gewifs. 
dafs  die  Amme,  die  es  fanget,  nicht  die 
Katze,  mit  welcher  es  fpielet,  noch  der 
Mohr  ift,  vor  welchem  es  erfchrickt;  dafs 
Wurmfamen  und  Senfkörner,  die  es 
von  ßch  ftofst,  nicht  Aepfel  oder  Zucker 
Ond,   nach  denen   es   fchreyt.     Davon  ift  es 

ganz 


Zweites     Kapitel.  « -  "• 

panz  eewifs  mit  Ausfchliefsung  alles  Zweifels 
überzeugt.  Allein  kann  man  wohl  behaupten, 
dafs  es  vermöge  des  Grundfatzes  des 
Wid  er  fpru  chs  von  diefen  und  andern 
Wahrheiten  eine  fo  unerfcbütterliche  Ueber- 
zeugung  hat;  oder,  dafs  es  in  einem  Alter, 
in  dem  es  zuverläfsig  viele  andere  Wahrhei- 
ten erkennet,  irgend  einen  Begriff  oder  eine 
Vorftellung  von  diefem  Satze  habe  ?  Wer  et- 
wa meinte,  dafs  die  Kiuder  diefe  abftrakten 
Speculationen  an  ihre  Saugglafer  oder  Klap- 
pern anknüpfen  ,  von  dem  könnte  man  viel- 
leicht mit  Recht  urtheilen,  dafs  er  mit  mehr 
Leiden fcbaft  für  feine  Meinung  eingenommen, 
ift,  aber  dagegen  weniger  Aufrichtigkeit  und 
Wahrheitsliebe,  als  ein  Kind  von  diefem  Al- 
ter, befizt. 


§.      26. 
Und  deswegen  nicht  angeboren. 

Es  giebt  alfo  zwar  verfchiedene  all- 
gemeine Satze,  welche,  fobald  fie  auf- 
geteilt find,  bei  erwachfenen  Menfchen, 
die  allgemeiner  abftrakter  Vorfiellungen  und 

ihröf 


64  E  r  f  e  s    B  u  c  Ii,    . 

ihrer  Bezeichnung  fähig  &nd,  eine  allgemei- 
ne und  augenblickliche  Beiftitniüiing  finden; 
allein,  da  lie  in  der  zarten  Kindheit} 
in  der  man  gleichwohl  andere  Dinge  er* 
fccnnet,  nicht  angetroffen  werden,  fo  kön* 
nen  fie  auf  kein  allgemeines  Fürwahrhai» 
ten  aller  denkenden  Wefen  ,  und  in  in  fo  fern 
auch  nicht  auf  den  Titel  von  angebornen  Sä- 
tzen Anfpruch  machen.  Denn  eine  angebome 
Wahrheit,  wenn  es  folche  giebt ,  kann  unmög- 
lich, zum  wenigften  denjenigen  nicht  unbe- 
kannt feyn,  welche  andere  Dinge  erkannt  ha- 
ben» Und  wenn  es  angeburne  Wahrhei- 
ten giebt,  fo  mühen  es  angeborne  Gedanken 
feyn',  da  für  den  Verftand  nichts  Wahrheit 
ift,  als  was  er  felbft  gedacht  hat.  Es  ift  al- 
fo  hieraus  einleuchtend,  dafs,  wenn  es  an- 
oeborne  Wahrheiten  in  dem  Ver- 
ftande  giebt,  fie  nothwendig  die 
erften  feyn  muffen»  welche  ge* 
dacht  werden;  die  erften,  welche  in 
dem  Bewüfstfeya  vorkommen» 


ä?l 


Zweites    Kapitel.  65 

Sie  find  nicht  angeboren,  weil 
fie,  wenn  fieäuch  zum  Vor« 
fchein  kommen,  am  dunkelften 
find,  c\  a  das  Angeborne  am 
deutlichsten  gedacht  werden 
m  ü  f  s  t  e« 

Dafs  die  allgemeinen  Grundfatfce,  von 
denen  wir  gehandelt  haben,  den  Kindern, 
den  gemeinen  Leuten  und  einem  gro- 
fsen  Theile  des  Menfchengefchlechts  nicht 
feekanrit  find ,  ift  fchon  hinlänglich  gezeigt 
Worden,  und  daraus  folgt  unwiderfprechlich, 
dafs  fie  nicht  allgemein  für  wahr  gehalten 
•Werden,  noch  allgemeine  Eindrücke  find.  Es 
liest  aber  darin  noch  ein  anderer  Grund  ge- 
gen die  angebornen  Gruudfätze.  Denn  wären 
diefe  Charaktere  von  der  Natur  herrührende 
urfprüngliche  Eindrücke,  fo  müfsten  fie  am 
teinften  und  klärften  ,  bei  denjenigen  Fer fö- 
nen zum  Vorfchein  kommen,  in  welchen  wir 
nicht  die  gering  fte  Spur  von  ihnen  antreffen 
Dafs  fie  denjenigen  iYlenfchen  zulezt  bekannt 
werden,  in  weichen   fie  fich  auf  mehr  Stär- 


i,6  Elftes  Buch. 

ke  und  Lebhaftigkeit  äufsern  müfsten ,  wenn 
f;e  angeboren  wären,  das  iß,  wie  mir  dünkt, 
eine  ftarke  Vermuthung,  dafs  üe  es  nicht 
find.  Denn  da  Kinder,  Wilde,  u  n- 
wiffendeund  ungelehrte  Menfchen 
am  allerwenigften  von  Gewohnheiten  und  an- 
genommenen Meinungen  verdorben  werden; 
da  Gelehrfamkeit  und  Erziehung  ihre  ur. 
fprünglichen  Gedanken  nicht  in  neue  Formen 
ummodelt,  und  durch  Aufiragung  fremder 
erkünftelter  Lehren  die  reinen  Charaktere,  Wel- 
che die  Natur  eingefchrieben  hat,  verwifcht? 
fo  follte  man  vernünftigerweife  denken  t  die 
ingebomen  Begriffe  müfsten  in  dem  Verflan* 
de  diefer  Menfchen  in  ihrer  Klarheit  für  je* 
dermanns  Auge ,  wie  die  Gedanken  der  Kin* 
der,  offen  da  liegen»  Man  follte  mit  Grund 
erwarten,  diefe  Grundfatze  müfsten  den  Na- 
turmenfehen  vollkommen  bekannt  feyn«  dg 
fie  nach  der  Vorausfetzung  unmittelbar  in  die 
Seele  eingeprägt ,  und  von  der  Organifation 
de»  Körpers,  dem  einzigen  eingeftandenen 
Untetfchiede  zwifchen  jenen  und  andern 
Menfchen ,  nicht  abhängig  feyn  können. 
Man  follte  denken ,  dafs  nach  den  Grundfä* 
tzen  der  Vertheidiger  der  angebornen  Begrif- 
fe 


Zweite»    Kapitel.  67 

fe,  (liefe  natürlichen  '  ichtftrahlen,  wenn  fie 
wirklich  wären  bei  denen  Menfchen,  die  kei- 
ne Zurückhaltung  keine  Vorftellungskunft  be- 
fitzen  in  ihrem  vollen  Glanz  hervorleuchten, 
und  uns  ehen  fo  wenig  zweifelhaft  über  ihr 
Dafeyn  laden  müßten,  als  wir  es  in  Anfe« 
hnng  ihrer  Neigung  zum  Vergnügen  und  ih- 
res Abfcheues  vor  Schinerz  find.  Allein  was 
für  allgemeine  Sätze  können  bei  Kindern, 
Wilden,  unwiffenden  und  ung  elehr« 
ten  Menfchen  gefunden  werden?  Was 
für  Grundfütze  der  Erkenntnifs?  Ihre  Begrif- 
fe find  Von  kleiner  Anzahl  und  geringen.  Um» 
fange,  und  von  den  Gegenftanden  entlehnt, 
die  fie  am  meiden  beschäftigen  und  auf  ihre 
Sinne  am  öfterften  und  ftärkften  Eindrücke 
gemacht  haben.  Ein  Kind  kennt  feine  Amme 
und  Wiege  und  nach  und  nach  auch  das  Spiel- 
zeug eines  erwachfnern  Alters,  und  ein  jun- 
ger Wilder  hat  vielleicht  nach  dem  Herkom- 
men feines  Stammes  feinen  Kopf  mit  det  Lie* 
be  und  der  Jagd  angefüllt.  Wer  aber  bei  ei- 
nem ununterrichteten  Kinde  oder  einem  wil- 
den Bewohner  der  Wälder  abftrakte  Sätze  und 
jene  berühmten  Grundfätze  der  Wiflenfchaf- 
ten  erwartet ,  der  wird  fich ,  furcht  ich ,  in 
E  2  fei. 


68  Elfte  3     Buch. 

feiner  Rechnung  fehr  getäufcht  finden.  In 
den  Hütten  der  Indianer  wird  feiten  an  fol- 
che  allgemeine  Sätze  gedacht.  Noch  weni- 
ger kommen  Spuren  von  ihnen  in  dem  Den- 
ken der  Kinder  und  der  Naturmenfchen  vor. 
Sie  gehören  zur  Sprache  und  Befchäftigung; 
der  Schulen  und  Academien  unier  aufgeklär- 
ten Nationen,  wo  diefe  Art  von  Unterhaltung 
gewöhnlich,  Gelehrfamkeit  und  Streitigkeiten 
gemein  find;  fie  find  zweckmäfsig und  brauch, 
bar  zu  künftlichen  Beweifen  und  zur  Ueber- 
zeugung  anderer,  aber  zur  Entdeckung  der 
Wahrheit  und  Erweiterung  der  Erkenntnifs 
tragen  fie  wenig  bei»  Weiter  unten  (Buch  4* 
Kap»  7»)  werde  ich  Gelegenheit  haben,  noch 
umftändlicher  von  ihrem  geringen  Nutzen  iti 
«äiefer  Rückficht  zu  handeln* 

Wiederholung, 

Wie  abgefchmakt  diefs  den  Meifteru  iß 
der  Kunft  zu  demonftriren  vorkommen  mag, 
weifs  ich  nicht.  Wahrfcheinlich  wird  es  abet 
keinem  Menfchen,  wenn  er  es  zum  erften» 
male  hört,  behagen.    Ich  mufs  daher,  bitten, 

mich 


Zweites    Kapitel.  69 

mich  nicht  voreilig  zu  verurtheilen,  fondern 
fo  lange  mit  dem  Richterfpruche  zurückzuhal- 
ten, bis  man  mich  in  dem  Verfolg  diefer  Un- 
terfuchung  völlig  ausgehört  hat»  Beflern  Ur- 
theilen  werde  ich  mich  gerne  unterwerfen. 
Und  da  ich  redlich  der  Wahrheit  nachfor- 
fche,  fo  werde  ich  nicht  empfindlich  werden, 
wenn  ich  mich  überführet  fehe,  dafs  ich  für 
meine  eignen  Vorftellungsarten  etwas  zu 
fehr  eingenommen  war.  Diefs,  ich  will  es  ger- 
ne geftehen,  kann  uns  allen  begegnen,  wenn 
eignes  und  anhaltendes  Denken  unfere  Köpfe 
erwärme:  hat. 

Was  nun  die  ganze  Sache  betriff,  Fo  fehe 
ich  nicht  den  geringften  Grund,  der  einen 
nöthigen  könnte,  die  zwei  berühmten  fpecu- 
lativen  Grundfätze  für  angeboren  zu  halten. 
Denn  nicht  alle  MenCchen  find  von  ihnen 
durchgängig  überzeugt  j  die  allgemeine  Bei- 
ftimmung,  welche  fie  erhalten,  ift  vollkom. 
men  einerlei  mit  derjenigen,  welche  verfchie- 
denen  andern  Sätzen  gegeben  wird;  und  end- 
lich entliehet  diefe  Ueberzeugung  auch  auf 
eine  andere  Art,  und  rührt  nicht  von  einer 
natürlichen  Einprägung  her,  wie  ich  in  ei 
E  3  »er 


7ö  Elftes    Buch. 

ner  der  folgenden  Abhandlungen  zu  erwei- 
fen  hoffe.  Wenn  nun  diefe  erften 
Grundfätze  der  Erkenntnifs  und 
Wiffenfchaft  nicht  angeboren 
find,  fo  können  andere  fpeculati- 
ve  Sätze  wohl  mit  noch  wenigem 
Rechte  dafür  angefehen  werden. 


Drittes  Kapitel. 

Es  giebt  keine  angebovnen  pvaktifchen  Grundfätze. 


§•       I* 


Keine  '  tn  oralifchen  GrundTätze 
find  fo  klar,  und  gelten  fo  all- 
gemein, als  die  oben  genann- 
ten  fp  eculativen» 

Wenn  jene  fpeculativen  Grundfätze,  von 
denen  wir  im  vorigen  Kapitel  handelten,  kei- 
ne wirkliche   allgemeine  Ueberzeugung    bei 

dem  meafchlichen  Gefchlechte  finden,   wie 

dort 


Drittes   Kapitel.  J 


dort  ift  bewiefeu  worden ,    fo  ift  es  einleuch- 
tend ,  dafs  d  i  e    praktifchen    Grund  Ta- 
tze   noch   weniger  auf  allgemeine  An- 
nahme   rechnen    dürfen.       Und    mao 
wird  kaum  einBeiTpiel  von  einer  moraüfchen 
Regel  aufweifen    können,    welche    auf  eine 
fo  allgemeine ,     und  augenblickliche  Beifilm« 
mung  Anfpruch  machte,     als  der  Satz  der 
Einftimmung,     oder    eine    fo    evidente 
Wahrheit  wäre,    als  der  Satz  des  Wider- 
fpruchs.       Hieraus    folgt     klar,     dafs    fie 
noch    weit    weniger    Foderungen     auf    den 
Titel  von    angebornen   Sätzen   machen  kön- 
nen,   und   dafs  die  Behauptung,    nach    wel- 
cher  fie  urfprüngliche  Eindrücke  auf  denVer- 
ftand  find,    noch  weit  ftärkern  Zweifeln  aus- 
gefezt  ift,    als  wir  bei  den  fpeculativen   fan- 
den.      Hierdurch   wird  aber  ihre   Wahrheit 
felbft     keinesvveges     in      Zweifel      gezogen. 
Sie  find  eben  fo  wahr,  aber  nicht  fo  evident 
als  die  fpeculativen   Grundfätze,       Die    Evi- 
denz der  leztern  liegt  in  ihnen   felft.       Aber 
die  moraüfchen  Grundfätze  erfodern  Schlüfse, 
Räfonnement   und    einen     geübten  Verftand, 
um     die     Gewifsbeit      ihrer     Wahrheit     zu 
entdecken,        Sie     liegen     nicht   jedes    Ein- 

E  4  ficht 


ffe  Elftes  'Buch. 

ficht   fo   offen   dar,    als  natürliche  dem    Ver- 
ßande  ehgeprägte  Charaktere,   welche,  wenn 
de  wirklich  vorhanden  wären,  durch  fich  felbft 
kenntlich,  durch  ihr  eignes  Licht  gewifs.und 
allen  MenCchen  bekannt  feyn  müfsten.     Hier- 
durch verliert   aber    ihre   Wahrheit  und   Ge* 
wifsheit    eben      fo      wenig,     als     der    Satz, 
die  drey  Winkel  eines  Triangels  find  zweien 
rechten  gleich,  etwas   dadurch  verliert,    dafs 
er  nicht  fo  evident  iß,    und    keine  fo  unmit- 
telbare  Ueberzeugung    gewähren  kann,    wie 
der  Satz j  das    Ganze    ift    g  r  ö  f  s.  e  r    als 
ein   Theil.    Es  ift  genug,  dals  diefe  morali- 
fchen   Regeln  einer  Demonstration   empfäng- 
lich find  ,  und  es  ift  unfre  eigne  Schuld,  wenn 
wir  es    nicht  zu    einer    gewifien  Erkenntnifs 
derfelben   bringen»       Da  aber  fo  viele  Men- 
fchen  fie  gar    nicht  kennen,     andere  mit  fo 
viel    Trägheit    f4ch    von  ihnen    überzeugen 
Saffen,  fo   ift  das  ein    fieberer   Beweis,   dafs 
ße  weder  angeboren  find,  noch  fich  felbft  ohne 
alles  Suchen  dem  ßewufstfeyn  auldringen. 


§,  2< 


Drittes    Kapitel.  ?3 

§.      2. 

Treue  und  Gerechtigkeit  werden 
nicht  von  allen  Menfchen  als 
Grund  fätie    anerkannt* 


Was  die  Frage  betrift,  ob  es  folche  mq- 
ralifche  Principe  gebe,  in  welchen  alle  Men- 
fchen übereinftiimnen ,  fo  berufe  ich  mich 
auf  Jeden,  der  nur  einige  Bekanntfchaft  mit 
der  Gefchichte  der  Menfchheit  gemachti  und 
über  die  Grenzen  feines  eignen  Keerdes  hin. 
aus  gefehen  hat»  Wo  ift  die  moralifche Wahr- 
heit, welche  allgemein  ohne  Zweifel  und  Ein- 
wendungen angenommen  ift.  So  mufs  es  aber 
feyn,  wenn  fie  angeboren  ift.  Die  Gerech- 
tigkeit und  Treue  in  Erfüllung  der  Ver- 
träge fcheint  für  die  ir.eiften  Menfchen  eine 
fliehe  allgemein^eltende  Wahrheit  zu  feyn. 
Diefes  find  Maximen,  die,  wie  man  glaubt, 
fich  fogar  auf  die  Holen  der  Diebe  und  die 
Verbindungen  der  gröfsten  Böfewichter  er- 
ftrecken.  Und  felblt  diejenigen  ,  welche  die 
Menschlichkeit  am  meiften  verläugnen,  halten 
Wort  und  beobachten  die  Regeln  der  Gerech- 
E  S  Hz 


74  Elftes  Buch. 

tigkeit  gegen  einander.  Ich  gebe  zu ,  dafs 
felbft:  die  Geächteten  fo  gegen  einander  han- 
deln. Aber  He  achten  jene  Maximen  nicht  als 
angeborne  Gefetze  der  Natur,  fondern  beob- 
achten fie  als  Regeln  der  Schicklichkeit  inner- 
halb ihrer  Gsfelifchaft,  Es  läfst  fich  nicht 
denken,  dafs  derjenige  die  Gerechtigkeit  aU 
einen  praktifchen  Grundfatz  ausübe,  der  ge- 
gen andere  Straffenräuber,  die  feine  Genof- 
fen find ,  fich  artig  beträgt ,  und  zur  nehmli« 
eben  Zeit  jeden  ehrlichen  Mann,  der  ihm  be- 
gegnet, plündert  oder  tödtet.  Gerechtigkeit 
und  Wahrhaftigkeit  find  die  allgemeinen  Ban- 
de der  Gefellfchaft,  und  daher  muffen  felbft 
Räuber  und  Verbannte  welche  mit  al- 
len Menfchen  gebrochen  haben,  unterein- 
ander die  Regeln  der  Treue  und  Billig, 
keit  beobachten ,  fonfl  könnten  fie  nicht 
in  Gefellfchaft  zufammen  leben«  Wer  wird 
aber  wohl  fagen,  dafs  diejenigen,  welche 
von  Raub  und  Betrug  leben,  angeborne  Grund- 
fätze  der  Wahrhaftigkeit  und  Gerechtigkeit 
haben,  und  fie  als  gültig  anerkennen? 


§•  3- 


«■Drittes  Kapitel.  75 

§.     3. 

Der  Einwurf  wird  beantwortet; 
die  Menfchen  leugnen  zwar 
diefe  Grundfätze  durch  ihre 
Handlungen,  nehmen  (ie  aber. 
durch   ihre   Urtheile   an. 

Vielleicht  wird  man  dagegen  einwenden: 
der  ftille  Beifall    ihres  Verftandes 
billige    dasjenige,     de  in    fie    durch 
ihre    Handlungen     wider  fp  rechen. 
Hierauf  antworte  ich.     Erftlich  ,    die   Hand- 
lungen der  Menfchen  habe  ich  immer  für  die 
zuverläfsigften   Ausleger    ihrer  Gedanken  ge- 
halten.    Da  es  nun  gewifs  ift,  dafs  die  Hand- 
lungen    der    mciften     und    die    Öffentlichen 
Gewerbe     mancher    Menfchen    diefe    Grund- 
fätze   bezweifelt    oder    geleugnet   haben  ,    fo 
kann  man,  wenn  man  auch  nur  auf  erwach- 
fene  Menfchen  Rücklicht  nimmt  ,  unmöglich 
eine  allgemeine  Einhelligkeit  annehmen,  ohne 
welche  jene  fchlechterdings  nicht  für  angebo- 
ren können  erklärt  werden.      Zweitens,     Es 
ift    fonderbar     und    ungereimt  ,     angeborne 
prak.ifche  Principe  anzunehmen  ,  welche  am 
Ende    nichts    anders    als    fpeculativifch  find. 

Prak- 


7<5  Elfte»  Bück 

Praktifche  Principe,  die  von  der  Natur  ab- 
geleitet find,  müfien  auf  das  Handeln  abzwe- 
cken,  und  Einförmigkeit  in  der  Handlungs- 
weife, nicht  blähe  theoretifche  Anerkennung 
der  Wahrheit  hervorbringen ,  fonft  werden 
fie  ohne  Grund  von  den  fpeculativen  unter« 
fcbieden.  Ich  leugne  nicht,  dafs  die  Natut 
in  den  Meufchen  ein  Verlangen  nach  Glück- 
seligkeit und  einen  Abfcheu  gegen  Elend  ge- 
legt hat.  Diefes  find  in  der  That  angebome 
praktifche  Principe,  welche,  wie  fchon  in 
dem  Begriff  eines  praktifchen  Grundfatzes 
liegt  ,  unaufhörlich  und  immer  einförmig 
wirken,  und  auf  alle  unfere  Handlungen 
Einflufs  haben;  He  werden  allgemein  und 
unveränderlich  bei  allen  Perfonen  von  allen 
Altera  beobachtet;  fie  find  aber  auch  nur  Nei- 
gungen des  Begehrens  zum  Guten,  keine  Ein- 
drücke der  Wahrheit  auf  den  Verftand»  Ich 
leugne  nicht,  dafs  auch  verfchiedene  natürli- 
che Neigungen  in  der  Seele  der  Menfchen 
gegründet  find ;  dafs  ihnen  von  dem  erften 
Anfang  des  Empfindens  und  Denkens  an,  ei- 
nige Dinge  angenehm,  andere  widerlich  find, 
und  dafs  fie  gegen  einige  Neigung,  gegen  an- 
dere  Abneigung    empfinden.       Allein    diefes 

bewei- 


D  r  1 1  t  e  S  K  a  p  i  t  i  1.  77 

beweifet  iiichts  für  angebovne  CharalueTe  in 
dem  Verftande,  welche  als  Grundfätze  der 
Erkenhtnifs  zugleich  Beftimmungsgründe  des 
Handelns  leyn  follen.  Hierdurch  ift  nicht 
nur  nichts  für  das  Dafein  folcher  urfprüngü- 
eher  Eindrücke  in  dem  Verftande  entfehis- 
den ,  fondern  es  ift  vielmehr  ein  Beweis  da- 
gegen. Denn  wenn  wirklich  bePtimmte  Cha- 
raktere vorhanden  wären ,  welche  die  Natur 
als  Grundfätze  der  Erkenntnis  dem  Vevftandö 
eingeprägt  hat,  fo  müfsten  wir  ihrer  fortdau- 
ernden Wirkfamkeit  und  ihres  beständigen  Eid- 
flufses  auf  unfer  Erkennen  bewufst  feyn,  wie 
diefs  der  Fall  mit  den  natürlichen  Eindrücken 
auf  den  Willen  und  auf  das  Begehrungsver- 
öiögen  ift,  welche  unaufhörlich  die  Triebfe- 
dern und  Bewegungsgründe  aller  unferer 
Handlungen  find.  Denn  unfer  Gefühl  fagt  uns, 
«lafs  fie  Uns  immer  xu  denfelben   beftimmen, 

§♦    4- 

Die  raoralifchen  Regein  bedür- 
fen eines  Beweifes;  alfo  find 
fie    nicht   angeboren. 

Ein  anderer  Grund,  der  mich    beftimmt,. 
»n  den  an^ebornen  praktifchen  Grundfätzen 

zu 


78  Erfte*    ßticli. 

tu  zweifeln,  beftehet  darin,  dafs,  wie  mich 
duukt,  keine   tnoralifche  Regel    auf- 
geftellt  werden  kann,  von  welcher 
nicht    Jeder    einen    Grund    zu    f  o* 
dem  berechtiget  ift-     Diefes  wäre  aber 
fehr  lacherlich  und    abgefchmakt,    wenn   fiß 
angeboren ,  oder  welches  eben   foviel  ift,  an- 
fich  evident  wären.      Denn    jeder  angebome 
Grund  fatz  mufs  durch  fich  felbft  evident  feyn, 
fo  dafs   es    weder  eines   Beweifes,    um  fich 
feiner  Wahrheit    zu  verfichern,    noch    eines 
Grundes  bedarf,  um  ihm  Beiftimmung  zu  ver- 
fchaffen.     Wenn  einer  foderte,  man  folle  ihm 
einen    Grund    angeben,    warum     es     un- 
möglich    ift,     dafs    einerlei     Ding 
fev  und  nicht    fey,    fo  würde    man    von 
ihm    denken ,     er    habe     keinen    Menfchen- 
verftand.     Denn  diefer   Sau  führt    Teine  eig- 
ne Klarheit  und  Evidenz  bei    lieh,    und  be- 
darf   keines     andern     Beweifes;      wer     die 
Ausdrucke  verftehet,  der  ftimmt  ihm  um  fein 
felbft  willen    bei,     und    kann     durch  nichts 
anders  beftimmt  werden,   ihm  beizuftimmen. 
Wenn  aber  jene   unerfchütterliche  Regel  der 
IVToralität,   der  Grund    aller  bürgerlichen  Tu- 
gend, jeder  fo  11  fo  handeln,   wieer> 

\v  ü  n- 


Drittes    Kapit-eL  79 

wün  fchen  k  a  nn  ,  dafs  andere  gegen 
ihn  handeln,  einem  Menfchen  vorgelegt 
wird,  der  iie  noch  nie  gehört  hat,  aber  doch 
fehon  die  Fähigkeit  befizt,  ihren  Sinn  zu 
fallen,  könnte  diefer  nicht  ohne  fich  einer 
Ungereimtheit  fchuldig  zu  machen,  nach  ei- 
nem Grunde  fragen ,  warum  man  fo  handeln 
Coli,  und  wäre  es  nicht  Pflicht  für  den  der  (lief© 
Regel  aufftellte  diefem  die  Wahrheit  undVer- 
nunftmäfsigkeit  derfelben  zu  beweifen?  Die- 
f es  zeigt  doch  augenfcheinlich,  dafs  fie  nicht 
angeboren  ift;  wäre  fie  es,  fo  könnte  fie  we* 
der  eines  Beweifes  bedürftig  noch  empfäng- 
lich feyn,  fondern  fie  müfste  —  zum  wenig" 
ften  fo  bald  fie  angehört  und  verftanden  ift  — 
als  eine  gewiffe  Wahrheit,  die  kein  Menfch 
nur  im  geringften  bezweifeln  kann,  angenom- 
men und  gebilliget  werden»  Die  Wahrheit 
aller  diefer  moralifchen  Regeln  hängt  alfo  of- 
fenbar von  andern  hohem  Wahrheiten  ab, 
und  raufs  aus  diefen  abgeleitet  werden.  Die- 
fes  kann  aber  nicht  flatt  findeß,  wenn  fie  an« 
geboren,  oder  welches  einerlei  ift,  durch 
fich  felbft  evident  fiad, 


&  S- 


* 

8o  '    "Elftes  Buch. 

§.     5, 

Erläuterung      durch     ein     Beifpiel 

von  Erfüllung  der  Verträge» 

Dafs  die  Menfchen  ihre  Verträge  halten 
foHen ,  ift  gewifs  eine  wichtige  und  unwider- 
fprechüche  Regel  der  Moral,  Wenn  man 
iaun  einen  Chriften  einen  Anhänger 
des  Hoblies  und  einen  der  heidni- 
fchen  Philo  fophen  fragen  follte,  war- 
um foll  man  Verträge  halten,  f 0 
würde  jeder  von  ihnen  eine  andere  Antwort 
geben.  Jener,  deflen  Blick  immer  auf  die 
Gliickfeligkeit  eines  künftigen  Lebens  ge* 
lichtet  ift  ,  wird  fagen  :  Gott  fodert  es  von 
uns,  er,  der  über  das  ewige  Leben  und  deri 
ewigen  Tod  zu  gebieihen  hat;  der  zweite: 
das  Publikum  will  es,  und  der  Leviathan 
itraft  uns,  wenn  wir  es  nicht  thun ;  det 
dritte  endlich:  die  entgegengefetzte  Hand- 
lun°sweire  ift  unfittlich,  unter  der  Würde 
des  Menfchen ,  und  ftreitet  mit  der  Tugend, 
der  höchften  Vollkommenheit  der  menfchli» 
chen  Natur* 

§.  6. 


Drittes    Kapitel.  8l 

§.     6. 

Die  Tugend  wird  nicht  deswe- 
gen allgemein  g  e  billiget,  weil 
fie  angeboren,  fondern  weil 
Ue  nützlich    ift. 

Hieraus  entTpringt  natürlich  die  grofse 
Verfchiedenheit  der  Meinungen,  welche  un- 
ter den  Menfthen  in  Anfehung  der  inorali- 
fchen  Regeln  gefunden  werden,  und  die 
fich  auf  die  Verfchiedenen  Arten  von  Glück- 
feligkeit  gründen,  welche  fie  im  Geficht  ha- 
ben, und  als  Zweck  betrachten.  Diefes  wür- 
de aber  nicht  feyn  ,  wenn  die  praktifchen 
Grund  fatze  angeboren,  und  unmittelbar  durch 
die  Hand  Gottes  in  unfer  Gemütb  geTchrie- 
ben  wären»  Das  Dafeyu  Gottes  ift,  ich  ge- 
ftehe  es,  von  fo  vielen  Seiten  unleugbar,  und 
der  Gehorfam  ,  den  wir  ihm  fchuldig  find» 
dem  Licht  der  Vernunft  fo  angemeffen,  dafs 
ein  großer  Theil  des  Menfchengefchlechts 
das  Gefetz  der  Natur  anerkennet.  Und  doch 
kann  man  fichor  nicht  leugnen,  dafs  vielleicht 
viele  moralifche  Regeln  von  Menfchen  allge- 
mein gebilliget  werden ,  ohne  dafs  fie  den 
F  wah- 


gj  Erftes    Buch. 

wahren  Grund    der  Moralität  erkennen  und 
annehmen.     Diefer  Grund  kann  nur  der  Wil- 
le und  das  Gefetz  eines  Gottes  feyn,    der  die 
Menfchcn   in    dem    Verborgenen   liehet,    Be- 
lohnungen und   Befhafungen  in  feiner  Hand 
bat,    und    mächtig  genug  ift,    den  frechf.cu. 
Uebertreter     zur     Kechenfchaft    zu    ziehen. 
Denn  Gott   hat  die  Tugend  und    die  all- 
gemeine   Glüc  kfeligkeit     durch    ein 
unzertrennliches    Band  verknüpft,     und  die 
Ausübung  der   Tugend  ift   daher  zur  Erhal- 
tung der  Gefellfchaft  unentbehrlich  notwen- 
dig, und  auf  Achtbare  Weife  wohlthätig  für 
alle  diejenigen,  mit  denen    ein  tugendhafter 
Menfch  in  Verhältniflen  flehet.     Und    dnher 
darf  man   fich  nicht    wundern,  wenn    einer 
diefe  Regeln  nicht  nur  anerkennt,     fondern 
auch  andern  empfiehlt  und  anpreift,  von  de- 
ren Beobachtung  er  ficherlich  für  fich  fclbft 
Vortheile  einerndten  mufs.     Er  kann  eben  fo 
gut  aus  Intereffe,  als  Ueberzeugung  dasjenige 
mit    lauter   Stimme   für    heilig  erklären ,    mit 
deffen  Umfturz  und  Entheiligung   feine  eigne 
Sicherheit    und  Wohlfahrt    zernichtet    wäre. 
Obgleich     diefes   der    fittlichen  und    ewigen. 
Verbindlichkeit,  welche  diefe  Kegeln   nnwi- 

der- 


Drittes  Kapitel,  83 

deifprechlich  bei  fich  führen,  nicht  den  ge- 
ringßea  Abbruch  thut,  fo  folgt  doch  fbviel 
daraus,  dafs  difc  äufsere  Huldigung,  welche 
ihnen  die  Menfchej»  mit  ihren  VVorten  bezeu- 
gen,  noch  kein  Beweis  für  angeborneGiund- 
fiüze  ift;  ja  man  kann  nicht  einmal  daraus 
fchliefsen,  dafs  fie  ihnen  innerlich  in  ihrem 
Herzen  als  unverletzlichen  Regeln  ihres  eig- 
nen Handelns  beiftimmen.  Denn  wir  finden, 
dafs  Eigennutz  und  Konvenienz  des  Lebens 
viele  Menfchen  zu  einem  äußerlichen  ßekennt- 
nifs  und  zur  Billigung  diefer  Regeln  befti mint, 
deren  Handlungen  doch  offenbar  be weifen, 
dafs  fie  an  den  Gefetzgeber,  der  diefe  Res  ein 
vorfchrieb,  und  an  die  Hölle,  die  er  zur  Stra- 
fe ihrer  Uebertretung  beltiramte,  fehr  wenig 
denken. 

§.     7. 

Die  Handlungen  der  Menfchen 
überzeugen  uns,  dafs  das  Ge- 
letz der  Tugend  nicht  ihre  in- 
nere  Maxime   ift. 

Denn    wenn    wir  nicht    aus    Höflichkeit 

3*n  Aeufserungen  der  Menfchen  zu  viel  Auf- 

F  2  richtig- 


84  Elftes    Euch. 

rich'igkeit  beilegen,   fondem  ihre  Handlun- 
gen ;.ir    die»beften    Ausieger  ihrer  Gedanken 
halten,   fo   werden  wir   keine  fo  innige  Ver- 
el  rnng  diefrr  Regeln,   keine  fo  volle  Ueber- 
ung  von  ihrer  GewiJsheit   und  Verbind- 
lichkeit bei  ihnen  finden.     Das  grofse  Gefetz 
der  Moral:    man  foll  fo    handeln,  wie 
man     wünfeht,     dafs     andere    gegen 
uns    handeln,    wird   mehr  empfohlen,  als 
ausgeübt.      Allein  die  Verletzung  diefer  Regel 
ift  eben  fo  fehr  Lafter  ,  als  es  Wahnfinn  und 
W'ideifpruch  mit  dem  Interefle  ift,  um  defl'tn 
willen  fie  von  Menfchen  übertreten  wird,  wenn 
man  andere  bereden  will,  fie  fei  keine  morali- 
fcheriQch  verbindliche  Regel.  Vielleicht  beruft 
man  (ich  auf  das  GewifTen  ,    welches   uns    für 
folche  Verleihungen    beftrafet,    und    fo   wäre 
auch   dann   noch    die    innere   Verbindlichkeit 
und  der  Grund  des  Gefetzes  geliehen, 

§.     8. 

Pas     Gewiffen    ift     kein    Beweis, 
cijfs    es     irgend    eine     angebor- 
moralifche    Regel  giebt. 

ine    Antwort   hierauf    ift   diefe.        Ich 
fehu  nicht  ein-,   warum  nicht  viele  Menfchew 

auf* 


Drittes     Kapitel.  85 

auf  demfelben  Wege,  worauf  fieziK  Erkennt* 
nifs  andrer  Dinge  gelangen  ,  auch  dahin  kom- 
men rollten  ,  verfchiedene  moralifche  Regeln 
i.'ir  wahr  zu    erkennen,   und   von    ihrer  V<  r- 
bindlichkeit  überzeugt  zu  werden,  ohne  dafs 
&c  in  ihr  Herz  gefchrieben  find.   Andere  kön- 
nen durch  ihre   Erziehung,    durch  den   Um- 
gang und  durch  die  Sitten  ihres  Landes  eben 
diefelbe  Ueberzeugung  erlangen.   Diefe  Ueber- 
Zeugung  [ey  nun  entftanden  wie  fie  wolle,  fo 
wird  lie  doch  immer   dazu  dienen,    das   G  e- 
w  i  f  f  e  n     in     Bewegung      zu     fetzet', 
welches  nichts  anders  ifr,  als  unler  eignes  Ur- 
theil   oder    Meinung    von    der    moralifchen. 
Richtigkeit  oder  Verkehrtheit   unferer  Hand- 
lungen.    Und  wenn  das  Gewiffen  ein  Beweis 
für  angeborne  Grundfätze  wäre,     fo  müfste 
es  entgegengefetzte  angeborne  Grundfätze  ge- 
ben ,  da  einige  Menfchen  mit  eben  derfelben 
Richtung   des    Gewilfens   demjenigen   nach- 
flreben,  was  andere  verabfeheuen. 


F  5  §9. 


86  Elftes  Buch. 

§»     9* 

Beifpiele  von  empörenden  Hand* 
lungen,  welche  ohne  G  e  w  i  f- 
fensbiffe    begangen    werden. 

Allein  ich  kann  nicht  einfehen,  wie  die 
Menfchen  mit  folcher  D  r  eu  f  t  igk  e  i  t  und 
Ruhe  des  Gemiiths  diefe  moralifchen  Ra- 
gein übertreten  könnten,  wenn  lie  angeboren 
und  ihrem  Geifte  eingeprägt  wären.  Welche 
Achtung,  welches  Gefühl  gegen  die  moraii> 
fchen  Grundsätze,  oder  welche  Regung  des 
Gewiffens  über  begangene  Gewalttätigkeiten 
kann  man  wohl  in  einer  Armee  beobachten, 
welche  eine  Stadt  verheeret.  Plündern  n» 
gen,  Schändungen,  Mordthate» 
find  nur  ein  Spiel  für  Menfchen,  welche 
von  der  Strafe  und  Verantwortung  befreiet 
find.  War  nicht  unter  ganzen  Nationen  und 
fehr  eultivirten  Völkern  das  Ausfetzen  der 
Kinder,  dafs  man  fie  auf  dem  Felde  vom 
Mangel  oder  wilden  Thieren  umkommen, 
liefs,  eine  Gewohnheit,  welche  eben  fo  we- 
nig für  ftrafbar  oder  ejne  Gewiflensfache  ge- 
halten wurde,  als  die  Erzeugung  der  Kinder? 
Pflegt  man  nicht  jez,t  noch  in  manchen  Län- 
dern 


Drittes    Kapitel.  5? 

dem  die  Kinder  in  ein  Grab  mit  ihren  Müt- 
tern zu  legen,  wenn   diefe  in   der  Geburtsar- 
beit  fterben  ,    oder  fie  in    die  andre  Welt  zu 
fcbicken,  wenn  ein  vermeintlicher  Aftrolog  er- 
klärte,   dafs    fie' unter    einem    unglücklichen 
Geftirn    geboren  feyen?    Und  giebt    es    nicht 
Oerter,   wo  die  Eltern  in  einem  gewiflen  Al- 
ter ohne  alle  Gewiüensunruhe  getödtet  oder 
ausgefezt  werden?  In  einem  Theil  von  Afien 
werden  die  Kranken,  wenn  ihr  Zufall, für  un- 
heilbar gehalten  wird,  fortgefchaft,  und  ehe 
fie  noch  gefiorben  find,  auf  die  Erde  gelegt; 
hier  läfst  man   fie,  Wind    und  Wetter  ausge- 
lebt,   ohne  Beiltand  und  Mitleiden   fterben« 
(Gruber  bei  Thevenot  4  Th,  S,  13.)     Unter 
den  M  in  greli  an  ern  ,    einem  Volke,    das 
fich    zum  Chriftenthum  bekennt,     ift  es    ge- 
wöhnlich, ihre  Kinder  lebendig,  ohne  alle  Era- 
phndung  des  Gewiflens.zu  verbrennen.  (Lam, 
bert  bei  Thevenot  S.  38O     An  manchen  Or- 
ten eflen  die  Eltern  ihre  eignen  Kinder.  (Vof- 
fius     de    Nili     Origine    cap>     18,    19.).     Die 
Kariben   pflegten  ihre    Kinder    zu   kaftri- 
sen,  um  fie  zu  mäften  und  zu  efleiw  *)    Gar. 

F  4  cüaflb 

*}Petri   Maityris    de    01 be    «ouo   Decades 
VIII.  Compluti  i53o. 


88  Elfte»  Buch. 

cilaffo    de   la  Vega  erzählt   uns  in   feiner  Ge- 
fchichte  der  Jncas   von  einem  Volk  ein  Peru, 
welches  die  Kinder  von  ihren  weiblichen  Ge- 
fangenen  zu     matten    und    zu    eilen    pflegte; 
diefe  Weiber  wurden  deswegen  als  Beifchläfe- 
rinnen  unterhalten,  und    wenn  fie  nicht  me'hr 
gebahren,      ebenfalls    getöilet    und    gpgeffen. 
Die  Tugenden  ,  durch    welche  die  Touo  u- 
pinam  bos  das  Paradies  zu  verdienen  glaub- 
ten,   waren  Rache,  und  viele    Feinde  zu  ver- 
zehren.     Sie   hatten   nicht    einmal  ein  Wort 
für  den    Begriff  Gottes ,    nicht    die   geringste 
Ueberzeugung  von  irgend  einer  Gottheit,  kei- 
ne   Religion ,    keinen    Gottesdienft.   *)      Die 
Heiligen,  welche  bei  den   Türken    kanoniürt 
werden,  führen  ein  Leben,  welches  man  oh- 
ne Verletzung   der  Befcheidenheit   nicht  ein- 
mal befchreiben  kann.      Ich   theile   hier  eine 
Stelle  darüber  aus.  der  Reife  des  Baum  gar- 
ten,  in    den    eigenen  Worten    des   Reifebe- 
fchreibers    mit,    weil  das  Buch  etwas  feiten 
|ft,      „Nicht  weit  davon    (bei    Balbes    in 

„Aegypten) 

*)  De  Lery  Hiftoire   «Tun   Voyage   fait   en  1» 
tevte  du  Brefil.  Geneve  i5S°. 


Drittes    Kapitel,  89 

«Aegvpten  Tahcn  wir  einen  Saracenifchen  Hei= 
„Iigen  zwifchen  den  Sandhaufen  nackend, 
„wie  er  aus  Mutterleibe  gekommen  war,  fl- 
itzen. Die  Ma  hom  eta  ner  haben,  wie 
„wir  erfuhren,  die  Gewohnheit,  dafs  fie 
„wahnfinnige  und  unvernünftige  Menfchen 
„wie  auch  folche,  welche  eine  freiwillige 
„Bufse  und  Arrr.uth  wählen,  nachdem  fie 
„hinge  Zeit  ein  fchändliches,  Leben  geführt 
„haben,  für  Heilige  halten,  und  verehren.  Die- 
„fe  Klaffe  von  Menfchen  hat  die  fchrankenlo- 
„fe  Freiheit,  in  jedes  Haus  nach  Belieben  zu 
„gehen,  zu  eilen  und  zu  trinken,  ja  auch 
„Unzucht  zu  treiben.  Und  wenn  aus  diefen 
„Umarmungen  ein  Kind  auf  die  Welt  kommt, 
„fo  wird  es  gleichfalls  für  heilig  gehalten. 
„Man  erzeigt  diefen  Menfchen.  fo  lange  Xle 
„leben,  die  gröfste  Ehre,  und  errichtet  ihnen 
„nach  dein  Tode  prächtige  Tempel  und  Denk- 
„mäler  ;  ja  man  hält  es  für  das  gröfste  Glück, 
„fie  anzurühren  und  begraben  zu  dürfen» 
„Diefes  und  das  folgende  erfuhren  wir  von 
„unferm  Mucrel  durch  einen  Dolmetfcher. 
„Der  Heilige,  den  wir  an  jenem  Orte  fahen, 
^ftehe  in  grofsen  Anfehen  bei  dem  Volke,  und 
F  5  „wer 


cjo  Ei'ftes    Rhc li«^ 

jivverde  als  ein  heiliger,  göttlicher  Mann   von 
v.unbefcholtnem  Charakter  angefehen,  weil  ex 
v niemals  Unzucht  mit  Weibern    und    Knabfri, 
^fordern   nur  mit  Efelinnen  und  Maulefelin- 
*,nen  getrieben  habe.  *)  u     Mehrere  ahnliche 
Nachrichten   von    diefen    köftlichen   Heiligen 
bei  den  Türken  kann  man  in   dem    Brief  des 
„  Plefcrja  del  la  Valle  vom  25   Januar"  1616 
finden.     Wo  find   denn    alfo    die  angebornen 
Grundfatze   der  Gerechtigkeit,     Frömmigkeit, 
Billigkeit,   Keu'chheit  ?  Oder,  wo    ift  c\ie   all- 
gemeine Einftimmung,  die   uns  von  dem  Da- 
feyn    diefer    angehornen    Regeln  überzeugen 
könnte?     Ermordungen    in   Duellen   werden 
an  denjenigen  Orten  ,  wo  fie  die  Mode  zu  e.~ 
nein  Ehrenpunkt  gemacht  hat,  ohne  alle  Re- 
gung das  GewÜlens  begangen;  ja    an  einigen 
Orten    ift  die  Unfchuld    in    diefem   Falle- die 
gröTste   Schande»        Und  wenn  wir  vor.  uns 
hinbliken  ,    um -die    Menfchen  ,   wie  fie    find, 
kennenzulernen,  fo   werden  wir  die  Beob- 
achtung machen,  dafs  fie  an  dem    einem  Orte 
über  eine  begangene  oder  unterlaflane  Hand- 
lung 
*J  Martini    a    Baumgarten.    Va  egnnatio 
-in  Aegyptum,   Arabiam,  Palaefüium  et  Syr'i- 
am,  Norirnbeig.ie  1694, 


Drittes    Kapitel.  gi 

lung  Gewiflensunruhe  empfinden  ,  welche  fie 
an  einem  andern  für  verdienftlich  halten. 


§♦     io. 

Die    RTenfchen     haben    entgegen,- 
gefezte    praktifc  he  Grund  fätze. 

Wer  die  Gefchichte  der  Menfchheit  auf- 
merkfam  (tudieret,  einen  Blick  auf  die  ver- 
fcbiedenen  Menfchenftäinme  wirft,  und  ihre 
Handlungen  unpartheiifch  beobachtet,  der 
wird  fich  vielleicht  vollkommen  überzeugen, 
dafs  man  kaum  ein  Moralpiincip  nennen  oder 
eine  Regel  der  Moral  denken  kann ,  welche 
nicht  durch  die  allgemeine  Praxis  ganzer  Ge- 
feüfchaften ,  die  ganz  entgegengefezte  prakti- 
sche Meinungen  und  Lebensregeln  befolgen, 
verachtet  und  verworfen  würden.  Wir  »eh- 
men  hier  diejenigen  Regeln  aus,  ohne  wei- 
che die  Gefellfchaft  gar  nicht  beliehen  kann, 
welche  aber  doch  auch  in  dem  gegenfeitigen 
Verhalten  mehrerer  Gefellfchaften  nur  zu  of* 
versachläfsiget  werdqn, 

$.  II. 


9-2  Elftes    Buch. 

§•       U« 

Ganze     Nationen     verwerfen     ver- 
fchiedene  moralifche  Regeln, 

Man  wird  mir  hier  vielleicht  mit  dem 
Einwurf  begegnen,  dafs  man  nicht  fchliefsen 
Ijünne,  eine  Regel  fey  nicht  er- 
kannt, weil  f  i  e  v  e  r  1  e  z  t  wird.  Ich 
erkenne  die  Gültigkeit  diefes  Einwurfes  ,  da 
wo  die  Menfchen  ein  Gefetz  zwar  übertreten, 
aber  doch  nicht  ableugnen;  wo  die  Furcht 
vor  Schande,  vor  dem  öffentlichen  Urlheil 
und  vor  Strafen  doch  noch  eine  Spur  von 
Scheu  und  Achtung  gegen  das  Gefetz  ver- 
räth.  Allein  es  läfst  fich  nicht  denken,  dafs 
eine  ganze  Nation  das  verwerfe  und 
öffentlich  für  ungültig  erkläre, 
was  jeder  Einzelne  mit  unwiderleglicher  Ge- 
wifsheit  für  ein  Gefetz  anerkennet;  und  das 
müfste  erfolgen,  wenn  es  dem  Gemüthe  ei- 
nes Jeden  von  Natur  eingeprägt  wäre.  Es 
ift  möglich,  dafs  Menfchen  zuweilen  mo- 
ralifche Regeln  anerkennen,  welche 
fie  in  ihrem  innern  Bewufstfeyn  nicht  für 
vyahr  halten,   blos  um  fich  in  Anfehen  und 

Ach 


Drittes    Kapitel.  g5 

Achtung;  bei  denjenigen  zu  erhalten,  welche 
von  ihrer  Verbindlichkeit  überzeugt  find. 
Aber  dafs  eine  ganze  Gefelirchaft  öffentlich 
und  absichtlich  eine  Regel  ableugnen  und 
verwerfen  follte,  welche  alle  einzelne  Glie- 
der in  ihrem  eignen  Bewufstfeyn  mit  uner- 
fchütterlicher  Gewifsheit  als  ein  Gefetz  anzu- 
erkennen gezwungen  find,  und  von  welchen 
fie  willen  muffen,  dafs  es  von  allen  Menfchen, 
mit  denen  fie  in  Verbindung  ftehen,  für  eben 
das  angefehen  wird ,  das  laTst  fich  nicht  den- 
ken Daher  müfste  jeder  unter  ihnen  von  al- 
len übrigen  alle  die  Verachtung  und  den  Ab- 
fcheu  erwarten,  welchen  derjenige  verdienet 
der  für  einen  Menfchen  will  gehalten  feyn 
der  die  Menfchheit  ausgezogen  hat;  und  je- 
der Menfch ,  der  die  natürlichen  und  be- 
kannten Regeln  des  Rechts  und  Unrechts  mit 
Füfsen  träte,  könnte  nichts  anders  erwarten 
denn  für  einen  erklärten  Feind  der  Ruhe 
und  Glückfeligkeit  der  Gefelirchaft  gehalten 
zu  werden.  Jeden  praktifchpn  Grundfatz, 
der  angeboren  ift,  mufs  ohne  Unterfchied  Jo 
dermann  für  gut  und  gerecht  anerkennen. 
Es  ift  daher  fall  fo  gut  als  ein  Widerfpriich, 
wenn  man    meint,   ganze  Nationen  könnten 

durch 


94  E  r  f  t  e  8    B  u  c  h. 

durch  ihre  Reden  und  Handinngen  einftiur 
nii^  und  allgemein  dasjenige  verneinen,  was 
jeder  Einzelne  unter  ihnen  mit  unwiderfiehü- 
cher  Evidenz  als  wahr  ,  gerecht  und  gut  er- 
kennte. DifTes  wird  fchon  hinreichend  feyn, 
«m  uns  zu  überzeugen,  dafs  keine  praktifche 
Regel,  welche  allgemein  mit  öffentlicher  Bil- 
ligung oder  ZulafTung  übertreten  wird ,  für 
angeboren  gehalten  werden  darf.  Aber  ich 
mufs  noch  etwas  zur  Beantwortung  diefes 
•Einwurfe  hinzufetzen» 

§.       12. 

Die  Uebertretuiig  einer  Regel,  Tagen  die 
Gegner,  ift  noch  kein  Beweis,  dafs  fie  un- 
bekannt ift.  Ich  gebe  das  zu:  aber  eine 
allgemein  erlaubte  Verletzung 
derfelben,  es  fey  wo  es  wolle,  be- 
kaupte  ich*  ift  ein  Beweis,  dafs  fie 
nicht  angeboren  ift.  Wir  wollen  zun» 
Beifpiel  eine  von  den  Regeln  nehmen,'  wel- 
che durch  die  natürlichfte  Folge  aus  der  Ver- 
nunft abgeleitet  werden,  und  mit  der  na- 
türlichen Neigung  des  grofsten  Theils  der  ?»len- 
fchen  übereinftimmen  ;  Regeln,  welche  zu  leug- 
nen 


Drittes  Kapitel.  c'j 

nen  daher  auch  wenig  Menfchen  nnver: 
fchiinit,  oder  zu  bezweifeln,  unbel'onnfn  ge- 
nug waren.  Wenn  eine  von  diefen  Regeln 
für  angeboren  Coli  gehalten  werde«  ,  fo  hat 
gewiTs  keine  mehr  Anfprüche  darauf,  alsdie- 
ici  Ihr  E  1 1  e.rn ,  liebet  und  erhaltet 
eure  Kinder,  Was  vergehet  man  nun, 
wenn  man  behauptet,  dafs  diefes  eine  ange- 
borne  Regel  ift?  Entweder,  es  ift  ein  ange- 
bornes  Princip,  welches  in  allen  Fällen  die 
Menfchen  zum  Handeln  regeltnäfsig  beltimmt; 
oder,  es  ift  eine  Wahrheit,  welche  alle Men- 
fchen  erkennen  und  für  wahr  halten,  weil 
fie  ihrem  Verftande  eingeprägt  ift.  Allein 
fie  ift  weder  in  dem  einem  noch  dem  andern 
Sinne  angeboren,  Erftlich,  dafs  es  kein 
Princip  ift,  welches  auf  die  Handlungen  aller 
Menfchen  einen  beftiuunenden  Einflufs  hat,  be- 
weifen  die  vorhin  angeführten  Beifpiele.  Auch 
dürfen  wir  die  Beifpiele  von  Eltern,  welche 
ihre  Kinder  vernachläffigen  ,  mifsbrauchenr 
ja  wohl  gar  zernichten,  gar  nicht  fo  weit, 
als  in  Mingrelien  und  Peru  fuchen ,  oder 
diefe  Handlungen  als  Folgen  einer  mehr  als 
tbierifchen  Unemphndlichkeit  wilder  und 
barbaiifcher  Nationen  betrachten,   wenn  wir 

nicht 


cß  Elftes    Buch. 

nicht  vergeffen  wollen,  dafs  es  unier  tieft 
Griechen  und  Römern  eine  gewöhnliche  i.ini 
bürgerlich  erlaubte  Sitte  war,  ihre  unfchuldi- 
pen  Kinder  ohne  alle  Regung  des  Mitleids 
oder  des  Gewiilens  auszufetzen.  Es  ift  aber 
zweitens  eben  fo  wenig  eine  angeborne, 
allen  Menfchen  bekannte  Wahrheit.  Denn, 
ihr  Eltern  erhaltet  eure  Kinder, 
ift  nicht  nur  keine  angeborne,  fondern  auch 
überhaupt  gar  keine  Wahrheit;  es  ift  ein 
Gebot  und  kein  Satz,  und  alfo  keiner  Wahr* 
heit  oder  Falfchheit  empfänglich.  Soll  es  das 
werden,  fo  mufs  es  erft  auf  einen  Satz  zurück 
geführet  werden,  z.  B.  auf  diefen  :  Es  ift 
Pflicht  für  die  Eltern,  ihre  Kin- 
der zu  erhalten.  Allein  was  Pflicht  ift, 
kann  nicht  ohne  ein  Gefetz,  und  diefes  nicht 
ohne  einen  Gefetzgeber ,  öder  ohne  Beloh- 
nung und  Beftrafuug  verftanden  werden. 
Weder  diefer  noch  irgend  ein  anderer  prak- 
tifcher  Grundfatz  kann  folglich  angeboren, 
d.i.  demVerftande  als  eine  Pflicht  eingeprägt 
fevn,  wenn  wir  nicht  annehmen,  dafs  die 
Ideen,  Gott,  Gefetz,  Verbindlichkeit,  Strafe, 
künftiges  Leben  angeboren  find.  Denn  es 
ift  an  fich  einleuchtend ,    dafs  keine  Strafe  in 

die- 


drittes   Ktpite).  $7 

diefem  Leben  auf  die  Verletzung  diefer  Regel 
folgt ,  und  dafs  fie  folglich  nicht  die  Kraft 
eines  Gefetzes  in  denjenigen  I  ändern  befizt, 
wo  die  allgemein  gebilligte  Sitte  mit  derfel- 
ben  ftreitet.  Aber  diefe  Ideen,  welche  alle 
angeboren  feyn  müflen ,  wenn  fo  etwas  als 
Pflicht  angeboren  fejn  foll,  find  fo  wenig  an- 
geboren ,  dafs  man  nicht  einmal  .ein  klares 
und  deutliches  Bewufstfejn  von  ihnen  in  je- 
dem gebildeten  und  denkenden  Menfchen, 
gefchweige  denn  in  jedem  Menfchen  von  fei- 
ner Geburt  an  ,  finden  kann.  Jn  dem  folgen- 
den Kapitel  foll  es,  wie  ich  hoffe,  jedem 
nachdenkenden  Menfchen  einleuchtend  wer- 
den, dafs  eine  derfelben ,  von  welcher  man 
es  noch  mit  dem  fcheinbarften  Grunde  ver-  ' 
muthen  follte,  ich  meine  die  Idee  einet 
Gottheit,  nicht  angeboren  iß. 

§.     i3. 

Wir  körinen  aus  dem,  was  wh*  getagt 
haben,  wie  ich  glaube,  den  fichern  Schlufs 
.liehen,  dafs  jede  praktifche  Regel, 
welche  irgend  wo  allgemein  und 
toit  öffentlicher  Znfaffung  verlebt 
G  wird, 


ö§  Eilte»  Buch. 

wird,    nicht     als    angeboren   kann 
angenommen     werden.        Denn  es    ift 
für  Menfchen    nicht   möglich  ,      eine    Regel 
ohne  Furcht  und   Schaani   mit  Venneilenheit 
und  frohen  Minhe    zu    übertreten,    von  der 
£e,  wenn  fie  angeboren  wäre,  willen  müfsten, 
dafs  iie  Gott  gegeben,  und  ihre  Uebertretung 
gewifs    in     einem    folchen    Grade     beltrafeu 
wird,  dafs  es  dem  ibünder  davor  grauen  itnufs. 
Ohne  diefe   Erkenntnis,    kann  kein  JYlenfch 
ßcher  willen,  dafs  etwas  feine  Pflicht  iit,  Uij- 
wiflenheit  oder   Zweifei  an  dem  Gefetz  ;  (Uq 
Hofnung  der  Kenntnifs  oder  Gewalt  des  Ge- 
fetzgebers zu  entgehen,    kann  lo  viel  bewir- 
ken,    dafs  man  fich  von  einer  gegenwärtiger* 
Begierde  hinreifsen  läfst»       Aber  man  fetze 
den  Fall  j  dafs  einer  den  Fehler  erkennt,  und 
die  Ruthe  daneben;     dafs   er  lieh  nebft  def 
TUebertretung    auch   das  Feuer  vorftelle,    das 
bereit  iß,    ihn   zu  ftrafen;    dafs  er  die  Rei- 
zung  eine3   Vergnügens    empfinde,    und  zu- 
gleich   den    Arm    der  Allmacht ,   aufgehoben 
und  Zur  Rache   bereit  erblicke  denn   f© 

mufs    es  feyn,    wenn    eine  Pflicht  dem  Ver- 
stände eingeprägt  ift  —  und  dann    möcht  ich 
willen,  ob  es  für  Menfchen  möglich  iß,   un- 
ter 


Drittes  Kapitel.  99 

ter  einer  folchen  AusGcht,  bei  einer  folchen 
gewiffen  Erkenntnifs  muthwil  ig  und  ohne 
Gewiflenszweifel  gegen  ein  Gefetz  zu  han- 
dein, welches  fie  in  fich  mit  unvertilgbaren, 
Zügen  tragen,  welches  ihnen,  während  he  es 
verletzen,  gleichfam  vor  die  Augen  treten 
inufs.  Welcher  Menfch  kann  wohl«  während 
er  in  fich  der  eingegrabenen  Gefetze  eines 
allmächtigen  Gefetzgebers  bevvulst  ift,  doch 
mit  frölichem  Muthe  feine  heiligften  Gebote 
verachten  und  unter  die  Füfse  treten?  Und 
endlich  follte  es  möglich  feyn ,  dafs,  wenn 
ein  Menfch  dem  innern  Gefetze  und  dem 
oberfteri  Gefetzgeber  fo  offenbar  den  Krieg 
ankündiget,  alle  Zufchauer  und  2eugen ,  ja 
die  Auffeher  und  Regenten  des  Volks,  die 
eben  die  volle  Ueberzeugung  von  dem  Ge- 
fetz und  dem  Gefetzgeber  haben,  fo  ftillfchwei« 
gend  es  gefchehen  iiefsen,  ohne  ihr  Mifs- 
fallen  oder  den  geringften  Tadel  zu  äufern» 
Es  find  in  der  That  Principe  des  Handelns  in 
dem  menfchlichen  Begehrungsvermogen  ver- 
webt, aber  fie  find  fo  wenig  angeborne  mo- 
rälifche  Prim  ipe  ,  dafs  fie  vielmehr,  wenn 
Ihnen  freier  Spielraum  gelafien  würde,  den 
Menfchen  verleiten  würden,  alle  Moralität 
G  2  ümzu- 


ioo  E  ffte*  ß  neb, 

umzuftofsen.  Es  ift  vielmehr  die  Reßimmimg 
der  moralifchen  Gefetze,  diefe  fchrankenlofen 
Begierden  einzufchränken  und  im  Zaum  zu  hal- 
ten;  Dieres  können  fie  aber  nur  durch  Stra- 
fen und  Belohnungen,  welche  das  Vergnü- 
gen überwiegen ,  das  fich  einer  aus  der 
Üebertreiung  des  Gefeizes  verfprechen  kann, 
Soll  alfo  in  dem  Gemüthe  des  Menfchen  et- 
was als  ein  Gefetz  eingeprägt  fern ,  fo 
mufs  er  eine  gewifle  unvermeidliche  Ei- 
feenntnifs  haben,  dafs  gewille  unvermeidli- 
che Strafen  auf  die  Verletzung  des  Gefetze* 
folgen  werden,  Dsnn  könnten  die  Men* 
fchen  in  Anfehung  d-Jfen,  was  angeboren 
ift,  in  einem  Zuitand  des  NichtwiiTens  und 
Zweifels  fevn ,  fo  wäre  es  ganz  zwecklos  ,  fo 
fehr  auf  angeborne  Grundlage  zu  dringen  ; 
Wahrheit  und  Gewißheit  wären  durch  fie 
ganz  und  gar  nicht  gefiebert.  Und  dann  würde» 
die  Menfchen  mit  oder  ohne  angeborne  Grund- 
fätze  in  eben  deraielben  Zuftand  der  Unge- 
wißheit und  der  fch wankenden  Ueberzeugung 
fich  befinden.  Eine  gewille  unvermeidlich« 
Erkeuiitnifs-  einer  unvermeidlichen  Strafe, 
die  gio's  genug  ift,  dafs  he  die  Lebertrerung 
Zu  keinem   Gegenftandi  des   Willens  macher. 

kann. 


Drittes  Kaj>  izel.  t«j 

kann  ,  muTs  ein  angebornes  Gefetz  begleiten, 
woferne   man  nicht    aufser  diefem  noch  ein 
angebornes  Evangelium  voraus   fetzen  kann. 
Man  verßehe  mich  hier  aber  ja  nicht  unrecht, 
als  wenn  ich  nur  pofitive  Gefetze  behauptete, 
weil  ich  die  angebornen  leugne.    Es  ift  ein  grof- 
fer  Unterfcbied    zwifchen  einem  angebornen, 
und  einemGefetz  der  Natur ;  zwifchen  dem,  was 
als  ein  Original  unferm  Verftande  eingedrückt 
ift,    und  zwifchen   dem,    was  wir  nicht  wif- 
fen,   aber  durch   den  Gebrauch  und  zweck»- 
rcäfsige  Anwendung  unfrer  natürlichen  Kräfte 
erkennen  können.      Nach   meiner  Meinung 
entfernen  fich  diejenigen    gleich     weit    von 
der  Wahrheit,  welche  aus  einem  Extrem  in  . 
das  andere  fallen ,    und    entweder  ein  ange- 
bornes Gefetz  behaupten  ,  oder  die  Wirklich- 
keit eines  durch  das   bloße  l  icht  der  Natur, 
d.  i.  ohne  Hülfe  einer  pofitiven  Offenbarung» 
erkennbaren  Gefetzes  leugnen. 


Gf  $.  »4* 


SOJ  Elftes  Buch. 

§♦      14« 

Diejenigen,  welche  angebome 
praktifche  Grundfätze  behau- 
pten, fagen  nicht,  worin  fie  be- 
fteheno 

Die  Uneinigkeit  der  MenFchen  in  Anfe- 
bung  ihrer  praktifchen  Grundfätze  ift  fo  klar, 
dafs  ich  wohl  kein  Wort  mehr  zu  Tagen  brau- 
che, um  die  Unmöglichkeit  darzutbun,  irgend, 
eine  angeborne  moralifche  E.egel  nach  die- 
fem  Merkmal  einer  allgemeinen  Beiüimmung 
aufzufinden.  Und  wenn  man  flehet,  wie 
lehr  diejenigen,  welche  in  einem  fo  zuver- 
iichilichen  Tone  davon  fprechen  .  doch  mit 
einer  beftimmten  Erklärung,  welches  diefe 
angebomen  Grundfätze  find,  zurückhalten., 
fo  mufs  das  fchon  bei  Jedem  den  Argwohn 
erwecken  ,  dafs  ihre  Vorausfeszung  von  an- 
gebornen  Grundfätzen  nur  eine  beliebig  ange- 
nommene Meinung  ift.  Eine  Erklärung  die* 
fer  Art  füllte  man  doch  mit  Recht  von  denen 
erwarten,  die  fo  fteif  an  diefer  Meinung han* 
gen.  Und  es  erweckt  grofses  Mifstrauen 
entweder  gegen   ihre  Kenntnifs    oder  gegen 

ihren 


Drittes   Kapite!,  xc»3 

ihren  guten  Willen  ,  wenn   fie  erklären  ,   daß 
Gott   die   Gründe    der    Erkenntnifs   und    die 
Grundregeln   dos  Lebens   dem   Menfchen   in 
das  "Gemüth   gefchrieben   hat,    und   doch    fo 
wenig  die  Belehrung  ihres  Nachften  und  die 
Ruhe  der  Menfchheit  befördern,  und  beider 
grofsen  Uneinigkeit,  welche  unter  dem  Men- 
fchengefchlecht    herrfcht ,     diele  angebornen 
Grund fätze  beftimmt  anzeigen  wollen.      Aber 
ficherlich  würde   diefe  Belehrung,   wenn   es 
welche,  gäbe  ganz  entbehrlich  feyn.     Fänden 
die  Menfchen  angeborne,  ihrem  Verftand  ein- 
geprägte Sätze,    fo  würden  fie  diefelben  von 
andern  Wahrheiten,    welche  fie  fpäter  lernen 
und  von  jenen  ableiten,  leicht  unterfcheiden. 
Es  müfste  eine  leichte  Arbeit  feyn,   ihren  In- 
halt  und   ihre  Anzahl  zu  beftimuien,       Ihre 
Anzahl    könnte   eben    fo    wenig    zweifelhaft 
Teyn ,  als  die  unferer   Finger,    und  jedes  Sy«- 
ftem  würde  fie  uns  denn  wohl  gefchwind  der 
Reihe   nach  suffteilen.      Da  aber  noch  Nie- 
mand, fo  viel  ich  weifs,  ein  Vcrzeichnifs  von 
ihnen  gegeben  bat,    fo   darf  man  es   andern 
um  fo  weniger  verargen,  wenn  fio  die  ange- 
bornen  Grundfätze  bezweifeln,    da  diejeni- 
gen,   welche  den  Glauben  an  der  Wirkliche 
G  4  keit 


W4  Elfte?   Buch. 

keit  derfelben  fodern,  noch    nicht  gefagt  ha« 
ben,   welches   diefelhen   find.       Wenn  Mari- 
ner  von  verfchiedenen  Sekten  ups  eine  Lifte 
von  ihnen  geben  follten,  fo   ift  leicht  voraus- 
zufehen ,    dafs    fie    nur  diejenigen    aufftellen 
würden,     welche    mit   ihren    verfchiedenen 
Hypotheken  vertraglich    und    tauglich  wären, 
die  Lehren  ihrer  befondern  Schulen  oder  Kir- 
chen zu  unterftützen  —  ein   ficherer  Beweisi 
dafs  es  keine   angebornen  Wahrheiten  giebt. 
Ja  ein  großer  Theil   der  Menfchen  findet  fo 
wenig   folche  angeborne  nioralifche   Principe 
in    ihrem    Seibit,     dafs    iie   vielmehr    durch 
Leugnung  der    Freiheit    des  Menfchen,    wo- 
durch fie  ihn  zu  einer  bloßen  Mafchine  ma- 
chen,   nicht   allein  die   angebornen ,    fondern 
alle    moralifthe   Regeln  überhaupt  aufheben, 
und  allen,    welche  nicht  begreifen    können, 
wie  ein  Wefen  ,    das  nicht   frei  handelt,  ei- 
nes Gefetzes  empfänglich  fey  ,     die  Möglich- 
keit des  Glaubens  an  moralifche  Gefetze  durch- 
aus rauben.      Unter  ihrer  Vorausfetzung  mufs 
jeder  nothwendig  alle  Grund  ätze  der  Tugend 
verwerfen,  der  Sittlichkeit  und  Mechanismus 
nicht  zufarnmen  denken  kann*       Und  beide 

Be- 


Drittes     Kapitel.  IoC 

Begriffe  find  auch  nicht  leicht  zu  vereinbaren, 
fondern  widefftreitend» 


§.     i5. 

Prüfungder  von  Lord  Herbert  an- 
gegebenen angebornen  Grund- 
fät  ze. 

Alsichdiefes  fchon  gefchrieben  hatte,  erfuhr 
ich,  dafs  Lord  Herbert  in  feinem  Buche  von 
der  Wahrheit,    diefe  angebornen  Grund- 
fatze  wirklich  befiimmt  habe.      Ich  {.ag  es  fo- 
gleich  zu  Rathe,  weil  ich  hoffte,    bei  einem 
fo    einfichtsvolleri    Manne   etwas    zu  finden, 
das    mich  überzeugte,    und    meiner  Unter  Di- 
chung  ein   Ende   machte.       In   dem  Kapitel 
vom    natürlichen     Inftinkt     (Ausgabe 
von    l6g6.   S.  76.)   fand  ich    folgende   fecbs. 
Merkmale  vqo  den  allgemeinen  oder 
angebornen       Wahrheiten     (notitiae 
communis)    l)  die  Priorität,   2)  Unab- 
hängigkeit,    3)    Allgemeinheit,     4) 
Gewifsheit,      5)     Notwendigkeit, 
das  ift,  wie   er  fich  erkläret,    lie  müflen   für 
die    menfchliche  G&fellfchaft    tauglich  feyn ; 
G  5  6) 


*©fi  Erftts    Buph. 

6)  die  Art  der  Beiftimmungd,  i.  das 
augenblickliche  Farvvahrhalten.  *)  Am  Ende 
feiner  kleinen  Abhandlung  von  der  Reli- 
gion des  Laien  fagt  er  von  diefen  an- 
gebnrnen  GiunclTätzenj  «die  allgernein- 
geltenden  Wahrheiten  find  nicht 
etwa  in  die  Grenzen  irgend  einer 
Religion  eingefchränckt,  denn  fie 
find  vom  Himmel  herab  in  die  See- 
le Felbft  gefchrieben,  und  von 
keinen  gefchriebenen  oder  nicht 
gefchriebenen  Ueberlieferungen 
abhängig."  Und  ,  u  n  f  er  e  a  llge  m  ein- 
geltenden Wahrheiten  find  als  un- 
be  zwei  feite    Ausfprüche    Gottes  ia 

dem 

*}  Prioiitas,  Tndependentia ,  Unirerfalitas,  Cor- 
titudo,  Ncceflitas,  i.  e.  faciunt  ad  hominis 
convevfatinnem.  (Wi*  wiflen  nipht,  was 
Poley  lind  Tutel  fich  dabei  gedacht  haben 
müflen ,  da  elfterer  überfezt :  fie  tragen  znr  Er. 
Haltung  des  Menfchen  etwas  bei.  S.  46 ,  und 
lezterer  S.  45  ,  feines  Auszugs  Notwendigkeit 
in  Abficht  der  Menfchenevhaltung  darunter 
vc! Ttehet.  Sollte  in  ihrem  Exemplar  conferuatio- 
nesn  gelundeu  haben?;  modus  conf'ormatjp« 
uis   i.  e.  aflenfus  null*  interpojita  mora. 

A.  d,  U. 


Drittes  Kapitel.  j.07 

«lern  inncm  Gerichts  ho  f  nieder  ge- 
fchrieben  *).  Nachdem  er  die  Merk- 
male  von  den  angcbomen  Grund  ('atzen  an- 
gegeben, und  behauptet  hat,  dafs  fie  durch 
die  Hand  Gottes  den  Meu'chenfeeien  einge- 
prägt find,  fo  Hellt  er  fie  wirklich  auf.  E$ 
find  folgende:  I)  das  Dafeyn  eines 
oberften  Wefens;  2)  diefesWefen 
muffe  verehret  weiden;  3)  Tugend 
und  Frömmigkeit  fey  die  hefte 
Art,  Gott  zu  v  e  r  e  h  r  e  n  ;  4)  M  a  ri  rn  • ;  f- 
fe  fich  von  feinen  Sünden  bekeh- 
ren; 5)  Nach  die  fein  Leben  finde 
eine  Belohnung  ftatt.  Ob  ich  gleich 
eeftehe  ,  dafs  alle  diele  Wahrheiten  klar  und 
von  der  Befchaffenheit  find,  dafs  ein  vernünf- 
ti°es  Wefen  kaum  aufteilen  kann,  ihnen,  wenn 
fie   richtig    erkläret    werden,    beizuftimmen, 

fo 

9-)  Ac!eoque  ut  non  unius  caiuquis  reli^iouiscon- 
finio  aretentur,  qnae  ubique  vigent  veriiatep. 
Sunt  enlzrJ  in  ipfa  mente  coelitus  defcriptaQ 
nullisque  trachtiombus,  fiue  feriptis  liue  non, 
feviptis,  obnoxiae  —  Veriraies  nofti.ie  C.ithoH- 
cac ,  quae  tanquam  indobia  Dei  effata  in  foi'Q 
üUciioii  deTcripta. 


ic8  Elftes    Buch. 

fo  elanbe  ich  doch,  dafs  Herbert  keines* 
wege«.  bewjefep  hat,  dafs  fie  angebome, 
in  dem  innern  Gerichtshof  nieder- 
gefr.  hTiebene   Eindrücke   find.   Man 

erlaube  mir  folgende  Bemerkungen. 

Erftlich.  Wenn  es  vermin ftig  ift  an» 
zunehmen  ,  dafs  einige  allgemeine  Wahrhei- 
ten durch  den  Finder  Gottes  in  unfere  Seele 
geschrieben  find,  fo  find  jene  fünf  Sätze  we« 
der  alle  diele  Wahrheiten,  noch  find  fie  es  mit 
nuhierf  n;  Rechte  ajs  andere.  Dcnnesgiebt  an- 
dere Sätze,  welche  nach  feinen  eignen  Ao'aximen 
eben  fo  gerechte  Anfprüche  auf  einem  folchen 
Utfprung  haben,  and  eben  fo  gut  für  ange- 
bome Grundfätze  gelten  können,  als  alle 
oder  wenigstens  einige  von  den  fünf  angege- 
benen,  z.B.  der  Satz:  Handle  fo,  wie 
du  willft,  dafs  andere  gegen  dich 
handeln.  Ein  aufmerkfames  Nachdenken 
wird  vielleicht  noch  mehrere  dergleichen 
finden. 


§   *7- 


Dtitrss   Kapitel.  109 

Zweitens.  Seine  aufgeßellten  Merk- 
male finden  fich  nicht  alle  in  jedem  der  fünf 
Sätze  Das  erfte,  zweite  und  dritte  ftitnmt 
mit  keinem  vollkommen  überein;  das  erfte^ 
zweite,  dritte,  vierte  und  feclifte  pafst  nicht 
gut  auf  den  dritten,  vierten  und  funhenSatz, 
Denn,  ohne  das  zu  rechnen,  dafs  ,  wie  uns 
die  Gefchichte  überzeuget,  viele  Menfehen, 
ja  ganze  Nationen  einige  oder  alle  diefe  Sätze 
bezweifeln  oder  leugnen,  fo  kanu  ich  nicht 
einfehen,  wie  der  dritte:  Tugend  tmd 
Frömmigkeitin  Vereinigung  ift  die 
befte  Verehrung  Gottes,  ein  ange- 
borncr  Grundfatz  feyn  kann ,  da  das  Woxt 
oder  der  Ausdruk:  Tugend  fo  wenig  ver- 
ftändlich,  fo  vielen  fchwankenden  Erklärun- 
gen unterworfen ,  und  das  bezeichnete  Ob- 
jekt noch  fo  fehr  beftritten ,  und  fo  fchwer 
zu  erkennen  ift.  Jener  Satz  iß  daher  eine 
fehr  unfichere  Regel  der  menfchlichen  Hand- 
lungen und  wenig  brauchbar  zur  Einrichtung 
unTers  Lebens;  er  kann  daher  keine  Stelle  un- 
ter den  angebornen  praksiiehea  Grundsätzen 
erhalten» 

§.  18* 


U©  Ex  f  tes   B  uch. 

$*     18, 

Wir  wollen  jezt  diefen  Satz:  die  Tu- 
gend ift  die  befte  Verehrung  Got- 
tes d.  h  ,  fie  ift  ihm  am  wohlgefälligfien, 
feinem  Inhake  nach  etwas  näher  unterfuchen; 
denn  in  dem  Sinne  nicht  in  dem  Worte  mufs 
der  Grundfatz  oder  die  allgemeine  Wahrheit 
enthalten  leyn.  Wenn  unter  Tugend,  wie 
gemeiniglich  gefchiehet,  folche  Handlungen 
verftanclen  werden,  welche  nach  den  ab- 
weichenden Meinungen  verfchiedener  1  ander 
für  lobenswürdig  gehalten  werden,  fo  ift  der 
Satz  nicht  nur  nicht  gewifs;,  fondern  nicht 
einmal  wahr.  Bedeutet  aber  die  Tugend 
folche  Handlungen  ,  welche  dem  Willen  Got- 
tes ,  oder  dem  von  Gott  vorgefchriebenea 
Gefetz  —  der  einzig  wahren  Richtfchnur  der 
Tugend,  wenn  diefe  nichts  anders  bedeuten 
foll,  als  was  von  Natur  recht  und  gut  i?t  — 
angemelfen  find,  fo  ift  jener  Satz  fehr  wahr 
Tünd  gewifs,  aber  von  lehr  geringem  Nutzen 
für  das  menfehliche  Leben»  Denn  er  fagt 
dann  nicht  mehr  aus,  al?,  dafs  es  Gott 
wohlgefällt,  wenn  man  thut,  was 
er    befohlen    hat;       Bhiss    könnte   ein 

Meafch 


ÖritteS     Kapitel.  nt 

jVlenfch  als  gewiTs  erkennen,  ohne  zu  wif- 
fen ,  was  Gott  gebietet,  und  hätte  dann  eben 
fo  wenig  eine  Hegel  oder  Riclitfchnur  füf  fei- 
ne Handlungen  als  vorher*  Einen  Satz,  der 
nichts  mehr  lagt,  als  dafs  Gott  Gefallen  dar- 
an hat,  wenn  man  thut,  was  er  gebietet, 
werden  wohl  nur  wenige  Menfchen  für  ein 
angebornes,  in  das  Herz  aller  JVlenfchen  ge- 
fchriebenes  möralifches  Princip  gelten  lallen» 
Weil  er,  fowahr  und  gewifser  auch  anfiehift, 
doch  fo  wenig  Belehrung  giebt*  Sollte  man 
es  aber  dennoch  thun,  fo  könnte  man  mit 
eben  dem  Rechte  hundert  andre  Salze  für  an- 
geborne  Grund fätze  erklären,  welche  eben 
fo  ftarke  Anfpröche  darauf  haben,  ob  fie 
gleich  noch  kein  Menfch  in  die  Rangord- 
nung der  angebomen  Principe  fezte# 

§.      19' 

Der  vieTte  Satz:  die  Menfch  en  müT- 
fen  ihre  Sünden  bereuen,  ift  nicht 
belehrender  ,  fo  lange  nicht  die  Handlungen 
beftimmt  find,  welche  unter  den  Sünden  ver- 
fianden  werden.  Das  YVort  Sünde  bedeutet 
gewöhnlieh  überhaupt  jede  Handlung,  wei- 
cht; 


ii2  Erftei    Bncb. 

che  dem  Thäfer  eine  Strafe  zuziehen  kann. 
Kann  min  wohl  ein  Sau,  der  faget,  wir  follea 
Reue  über  das  empfinden,  und  es  nicht  mehr 
thun,  was  uns  in  Schaden  bringen  kann,  oh- 
ne die  Handlungen  zu  befiimmen,  bei  wei- 
chen das  ftatt  findet,  kann  der  ein  grofsesmo- 
falifches  Princip  fejn?  Der  Satz  ift  an  lieh 
in  der  That  wahr,  und  kann  da  Eingang 
finden,  wo  man  die  Erkenntnifs,  welchs 
Handlungen  in  jeder  Art  Sünden  find,  vor* 
ausfeilen  darf.  Aber  weder  diefer  noch  der 
vorige  können  für  angeborne  Grundfätze, 
und  wären  fie  auch  das,  für  nützliche  Wahr- 
heiten gehalten  werden ,  woferne  nicht  auch 
die  befondetn  Kegeln  und  Unterfcheidungs- 
snerknale  aller  lugenden  und  Lader  in  das 
roenf«  bliche  Herz  gefchrieben  ,  und  angebof- 
»e  Gruudrätze  find,  welches  aber  wohl  noch 
fehr  zu  bezweifeln  ift.  Daher  dürfte  es 
Raum  denkbar  feyn,  etafs  Gott  dem  menfeh- 
lichen  Geir.üthe  Grundfätze  in  den  Worten 
von  fo  ungewißer  Bedeutung,  als  die  Worte 
Tugend  und  Sünde  find ,  welche  bei  ver» 
fchiedenen  Menfchen  verfchiedene  Objekts 
bezeichnen,  oder  auch  überhaupt  in  Wor- 
ten eingeprägt  habe,    weiche  in  den  meißen 

dt  ■  " - 


Drittes     Kapitel.  n5 

Grundfätzen  diefrr  Art  von  allgemeiner  Be- 
deutung und  nicht  ehe  verftändlich  lind.,  bis 
man  die  befondern  unter  ihnen  enthaltenen 
Objekte  erkannt  hat.  Im  Praktifchen  muffen 
die  Maafsrpgeln  nrenfures)  aus  der  Erkennt- 
nifs  der  Handlungen  felbft  abgeleitet,  und 
die  Regeln  des  Handelns,  ohne  an  Wor- 
te gebunden  zu  feyn,  der  Kenntmfs  ihrer 
Sprachzeichen  noch  vorausgehen.  Prakti- 
fche  Regeln  mufs  jeder  Menfch  verftehen, 
"was  er  auch  immer  für  eine  Sprache  gelernt 
hat,  und  hätte  er  auch  gar  keine  gelernt,  und 
verftünde  wie  die  Taubftummen  kein  Wort» 
Wenn  man  dargethan  hat,  dafs  Menfchen  oh- 
ne Kenntnifs  der  Worte,  ohne  Unterricht 
durch  die  Gefetze  und  Sitten  ihres  Landes, 
erkennen,  dafs  es  zur  Verehrung  Gottes  ge- 
hört, keinen  Menfchen  zu  tödten,  nur  ein 
Weib  zu  haben  ;  die  Leibesfrucht  nicht  ab- 
zutreiben ;  die  Kinder  nicht  auszufetzen; 
keinem  Menfchen  das  Seinige  zu  entziehen, 
auch  in  dem  Fall,  dafs  fie  es  felbft  bedürfen, 
im  Gegentheil  feinem  Mangel  lieber  zu  Hül- 
fe kommen;  und  dafs  wenn  fie  das  Gegen- 
theil gethan  haben,  Reue,  Mißbilligung' und 
er  Vorfatz,  es  nicht  mehr  zu  thun,  ihrePilicht 
H  iß; 


n/f  Elftes    Buch. 

ift;  wenn  fnge  ich,  es  erwiefen  iß,  dafs  al- 
le   Menfchen  alle   diefe  und   taufend   andere 
Regeln  erkennen  und  billigen,  welche  unter 
den  oben   erwähnten  Gattungsbegriffen  Tu- 
gend   und    Sünde     enthalten    find,    dann 
wird  man    mit  mehr  Grund  diefe  und   ähnli- 
che   Satze    für    allgemeine   Wahrheiten    und 
praktifche  Grundfätze  erklären  können.  Doch 
alles  diefes  zugegeben  ?  fo  wird  doch  die  alJ„ 
gemeine  UebereiüTtimmung   (wenn  fie  nehm- 
lieh  bei  praktifchen  Grundfätzen   ßatt  fände) 
bei  Wahrheiten  ,  deren  Erkenntnifs  auf   eine 
andere    Weife  möglich  ift,'  kaum  den   Schlufs 
berechtigen ,  dafs  fie  angeboren  find.       Und 
diefs  ift  alles,  was  ich  behaupte» 

§.      20. 

Angeborne  Grundfätze  können 
verfälfeht  werden.  Die  f  er  Ein- 
wurf  wird  beantwortet» 

Es  wird  wenig  Einflufs  auf  die  Sache  ha- 
ben, wenn  wir  hier  einer  Einrede  der  Geg- 
ner gedenken,  welche  fich  zwar  fehr  leicht 
darbietet,  aber  nicht  fehr  erheblich  ift«     Sie 

fagen 


Drittes    Kapitel.  Ii5 

fügen  neinlich  :  tl  i  e  a  11  g  e  b  o  r  n  6  n  G  r  u  n'dr 
(ätze  der  Moraliiiit  können  durch 
Erziehung,  Gewohnheiten  und 
tiie  herrfchenden  Meinungen  der- 
jenigen, in  deren  Gefeil  fchaft  mau 
lebt,  verdunkelt  und  zuleztgauz 
und  gar  aus  d  e  rn  G  e  in  ü  t  h  vertilgt 
werden.  Ifc  diefe  ihre  Behauptung  wahr, 
fo  zernichtet  lie  den  Schltifs  von  der  allgemei- 
nen Einltimmung,  durch  welchen  die, Meinung 
von  angebornen  Grundfätzen  follte  bewiefen 
werden  Sie  müfsten  es  denn  für  vernünf- 
tig halten,  ihre  und  ihrer  Parthei  Privatmei- 
o 

nungen  als  allgemein  eingebundene  Wahrhei- 
ten geltend  zu  machen.  Freilich  gefchiehet 
das  nicht  feiten  ,  wenn  Menfchen  ,  die  heb, 
allein  im  Befiu  der  gefunden  Vernunft  wäh. 
nen,  die  Stimmen  und  Meinungen  der  übri- 
gen Menfchen  als  Nullen  auf  die  Seite  wer- 
fen. Ihr  Schlufs  hütet  denn  f o  :  Die  Grund« 
fatze,  welche  alj»e  Menfchen  fürwahr  erken- 
nen, find  angeboren:  Grundfatze,  welche  Men> 
fchen  von  gefunder  Vernunft  annehmen, 
find  für  alle  Menfchen  gültig;  wir  und  aile, 
die  unbrer  Meinung  find,  find  Menfchen  von 
gefunder  Vernunft;  da  wir  nun  einfthnmig 
H  2  find, 


n6  Elftes    Buch. 

find,    fo  find    unfere   Grundfätze  angeboren. 
Warlich  eine  feine  An  zu  fchliefsen  ,  und  ein 
rafcher  Schritt   zur  Untiüglichkeit !  Auf  eine 
andere  Weife  läfst  fich   auch  die  Wirklichkeit 
folcher    Grundfätze,    nicht    wohl    begreifen» 
welche  alle  Menfchen  einftimmig  anerkennen, 
und   doch  ohne  Ausnahme  durch    böfe  Ge- 
wohnheiten   und    fchlechte    Erzie- 
hung    aus      dem      Gemüthe     vieler 
Menfchen      vertilgt      werden     kön- 
nen;    welches    foviel    ift,    als,     alle  Men- 
fchen nehmen  fie  an,  aber  viele  leugnen  fie, 
oder  widerfprechen    ihnen.      Die    Vorausfe- 
tzung  folcher   erften  Grundfätze  ift  auch  in 
der  That  faft  zwecklos,      Es  ift   für   die  Ver- 
befferung  unTres  Zuftandes    gleichgültig,    ob 
es  welche  giebt  oder  nicht,    w7enn  fie  durch 
eine  menfchliche  Macht  z,  B,  durch  den  Wil- 
len unfrer    Lehrer  ,   oder  durch   die  Meinun- 
gen  unfrer   Zeitgenoffen  verändert  oder  zer- 
nichtet werden   können*       Ungeachtet  aller 
Prahlerei    mit    diefen  urfprünglichen  Grund- 
wahrheiten und  mit  dem   angebornen  Lichte, 
wird  Dunkelheit  und   Ungewifsheit  eben  fo 
wohl    unfer    Loos    fej*n ,     als   wenn    fie   gar 
nicht  wirklich  wären.     Denn  ohne  alle  Re. 

gel 


Drittes     Kapitel.  11^ 

gel  feyn,  oder  zwar  eine  haben,  die  fichaber, 
es  fej  fo  wenig  als  es  wolle,  verdrehen  läfst,  oder 
verlegen  feyn  ,  unter  mannichfaitigen  wider- 
ftreitenden  Regeln  die  wahre  zu  treffen,  läuft  al- 
les auf  Eins  hinaus.  Doch  ich  wünfche  nur.  dafs 
(Ich  die  Vertheidiger  der  angcbornen  Grund- 
fätze  darüber  erklären,  ob  fie  durch  Erzie- 
hung und  Gewohnheit  verdunkelt  und  ver- 
tilgt werden  können,  oder  nicht.  Ift  das 
lezte ,  fo  müden  fie  unter  allen  Menfchen 
unveränderlich  und  in  jedem  einzelnen  klar 
feyn.  Können  fie  aber  durch  erworbene 
Vorstellungen  verändert  werden,  fo  muffen 
wir  fie  nahe  an  der  Quelle,  das  ift,  bei  Kin. 
dem  und  ungelehrten  Leuten ,  auf  welche 
fremde  Meinungen  am  wenigften  Eindruck 
gemacht  haben  ,  am  klärften  und  deutlichsten, 
finden.  Welche  von  beiden  Partheien  fie 
auch  ergreifen,  fo  werden  fie  fich  doch  ge- 
wifs  überzeugen,  dafs  fie  mit  offenbaren 
Thaifachen  und  mit  der  täglichen  Erfahrung 
unvereinbar  ift. 


Ha  *♦ »' 


Il8  E  rft  es'    B  uch. 

§.       21. 

Es  g  i  e  b  t  widerftreitendc  Gpund- 
fä  t z  e  in  der  Welt. 

Ich  »eftehe  gerne,  dafs  es  eine  gro  fse 
Anzahl  von  Meinungen  giebt,  welche 
Menfchen  ans  vei Tcbiedenen  Ländern,  von 
verfchiedener  Erziehung  und  von  entgegenge- 
fetziem  Temperament  als  u  r  fp  rü  n  gli  &h  e 
und  un  bezweifelte  Grund  Tatze  a  r~ 
genoramen  haben,  von  denen  viele,fowobl 
we^en  ihrer  Abgefchmaktheit,  ah  auch,  weil  he 
felbit  mit  einander  ftreiten,  unmöglich 
Vf  a  h  r  fevn  können.  Und  doch  ftehen  alle  diefe 
Satze,  fo  weif  fie  fich  auch  v^in  der  Vernunft 
entfernen,  hier  und  da  in  einem  folchen  ehr- 
würdigen Anfeilen,  dafs  felbft  Manner,  die 
in  andern  Dingen  richtig  denken,  lieber  ihr 
Leben  und  was  ihnen  fonft  noch  am  theuer- 
ften  ift,  aufopfern,  als  fich  und  andern  ei- 
nen Zweifel  oder  Argwohn  über  die  Wahr- 
heit derfelben  erlauben. 


§♦  22, 


Drittes     Kapitel,  iiq 

§.       22. 


Wie  die  Menfchen  gewöhnlich 
zu  ihren  p  r  a  k  t  i  f  ch  e  u  G  rund  Ta- 
tzen gela  ng  en. 

So  auffallend  cliefes  Faktum  auch  fcheint, 
fo  wird  e>  doch  durch  die  tägliche  Frfahrung 
beftätiget;   und  vielleicht  wird  fich  das  Wun- 
derbare delfelben  verlieren,    wenn  man  die 
Mittel    u  n  d    V%  e  g  e ,    auf    welchen  es  zur  - 
Wirklichkeit  kommt,  oder  die  Art  Und  Weife  un- 
terziehet, wie  es  möglich  wird,  dafs  Lehrmei- 
n  ungen,  die  aus  keiner  belfern  Quelle,  als  dem 
Aberglauben   einer  Amme    und  dem  Anfehen 
eines  alten  Weibes  entsprungen  find  ,  endlich 
durch  die  Lange  der    Zeit  und  die  Beiftim- 
rnung  der   Nachbarn    bis    zu    dem    Range 
von  Grund  Tatzen  in  der  Moral  und  Re- 
ligion  emporfteigen   können»      Denn  diejeni- 
gen,   welche    alle  Sorgfalt   anwenden,    den 
Kindern  (wie  fie  es  nennen)  gute  Grund  fetze 
beizubringen  —    und  es  giebt  wenige  Men- 
fchen,   die   nicht  eine  ganze  Reihe  von  Toi- 
chen  Sätzen   für    lieh    haben    und   für  wahr 
halten—  ilöfsen  dem  noch  unachtfamen  und 
H  4  unein« 


120  Erftes    Buch. 

uneingenommenen  Verftande,     der  wie  unbe. 
fchriebenes  PapieT  alle  Schiiftziige  aufnimmt» 
diejenigen    Lehren  «in,    welche    fie  nach  ih- 
rem  Wunfche   behalten  und  bekennen  Collen» 
Diefe  Sätze   werden   ihnen,  fo   bald  fie  etwas 
fallen  können,  gelehrt,  und  fo  wie  fie  heran 
wachten ,    mehr  befediget,    entweder    durch 
das  öffentliche  Bekenntnifs  und  die  ftillfchwei- 
gende  Einftitninung   aller  derer,    mit    denen 
fie  umgehen,  oder  zum  wenigften  durch  die- 
jenigen,   von    deren    Weisheit,    Renntnillen 
und  Frömmigkeit  fie  eine   hohe  Meinung  ha- 
ben,   und   welche  keine   andere   Erwähnung 
von  diefen  Sätzen  thun  lauen,    als  ob  fie  der 
Grund  und  die  Stütze  aller  Religion  und  Sitt- 
lichkeit wären.      Durch  alle   diefe  Mittel  er- 
langen endlich  diefe  Lehren  das  Anfehen  von 
unbezweifelten ,  einleuchtenden  und  angebor- 
uen  Wahrheiten« 

§.     15. 

Hierzu  rechne  man  noch  diefes.  Wenn 
fo  gebildete  Menfchen ,  nachdem  he  erwach» 
fen  find,  über  ihr  Ich  nachdenken,  fo  finden 
fie  nichts,  das  einen  höhern  Urfprung  hätte, 

ali 


Drittes    Kapitel.  121 

als  (liefe  Meinungen ,  welche  ihnen  einge- 
flöfitf  wurden,  ehe  ihr  Gedächtnifs  anhngi 
über  ihre  Handlungen  gleichlatn  Buch  zu  hal- 
ten, oder  das  Datum  zu  bemerken,  wenn 
ihnen  etwas  Neues  vorkam.  Hieraus  ziehen 
He  ohne  alles  Bedenken  den  Schlufs,  daTs 
diejenigen  Sätze,  von  deren  E  r- 
kenntnifs  in  ihnen  kein  Anfang 
aufzufinden  ift,  nicht  etwa  von 
andern  angenommen,  fondern  un- 
verkennbare Eindrücke  Gottes 
und  der  Natur  auf  ihr  Gemüt  h 
find.  Jezt  halten  fie  auf  diefe  Sätze  ,  und 
unterwerfen  fich  ihnen,  wie  Eltern,  mit  Ehr- 
furcht. Nicht  als  wenn  diefe  natürlich  wäre, 
—  denn  fie  fehlt  auch  bei  Kindern,  die  nicht 
fo  erzogen  und  gebildet  find  —  fondern  weil 
fie  allezeit  fo  erzogen  worden  find  ,  und  fich 
nicht  erinnern  können  ,  wenn  diefe  Ehrfurcht 
angefangen  habe,  fo  halten  üe  diefelbe  für, 
ein  Werk  der  Natur, 

§.    24» 

Wenn    wir  die    rnenfchliche    Natur  und 

die  Befcliaffenheit  der  menfchlichen  Gelchät- 

H  5  t« 


122  Elftes  Buch. 

te  betrachten,     fo    wird  das   Obige  als   eine 
fehr  wahrfcheir.liche,    ja   faft  unvermeidliche 
Folge    erfcheiaen.       Denn   es  erheilet  daraus, 
wie    die    JVI  en.fchen    ohne    viel  Zeit 
auf    die    täglichen    B  e  r u f s  g e  f  c  h  ä i  f  t  e 
zu  verwenden,    nicht    leben,    noch 
Beruhigung    in     ihrem      Selb  fr    fin- 
den   können,    wenn  f  i  e  nicht  einen 
Grund  oder  ein  P  r  i  n  c  i  p    haben,  u  rn 
ihre     Gedanken     darauf    ruhen    zu 
laffen..       Nicht    leicht     findet    man     einen 
Menfchen,  wenn  er  auch  noch  fo  feicht  und 
wankend   in   feinen   Ueberzeugungen  ilt,  der 
nicht  Einige  verehrte  Sätze  hat  9;  die.  bei  ihm 
die  Steile  der  Grund fätze  vertreten».     An  die- 
fe  knüpft  er   fein   Räfonnement ;  nach  ihnen 
beuriht-ilt .er;  Wahrheit  und  Falfchheit,    Recht 
und  Unrecht.      Und  da  es  theils  an  Zeit  und 
Gefchicklichkeit,     theils    an    Neigung    fehlt, 
diefe  Sätze   einer  Prüfung    zu  unterwerfen; 
Ja- einigen  die  Prüfung   wohl  gar  als  pflicht- 
widrig vorgeftellt  wird:    fo   giebt  es   wenige 
IVlenfchen,    die   nicht  durch  ihre  Unwillen  - 
heit ,    Trägheit,    Erziehung  oder  Mangel  an 
Ueberlegung  der  Gefahr  ausgefezt  find,  ihre 

Grund- 


Drittes     Kapitel.  l2J 

Grundfatze     auf    Treu  'und    Glauben    anzu- 
nehmen. 

§.      25. 

DieTs  ift  offenbar  der  Fall  mit  allen  Kin- 
dern und  jungen  Leuten.  Und  da  die  Ge- 
wohnheit ,  die  eine  gröfsere  Gewalt  befizt, 
als  die  Natur,  feiten  des  Erfolges  ihrer  Wir* 
kung  verfehlet,  dafs  diefe  Menlchen  als  gött- 
lich verehren,  was  fie  ihnen  zur  Beherr- 
fchung  ihres  Gemüths  und  zur  Unterjochung 
ihres  Verftandes  .eingeäzt  hat,  fo  ift  es  kein 
Wunder,  wenn  erwachfeue  Menfchen,  theils 
durch  die  noth wendigen  Befchäftigungen  des 
Lebens  zerftreuet,  theils  durch  die  Jagd  auf 
das  Vergnügen  erHizt,  fichs  nicht  zur  ernft- 
lichen  Angelegenheit  machen ,  ihre  eignen 
Meinungen  zu  prüfen,  zumal  wenn  einer  ihrer 
Grundfatze  ift,  dafs  Grundfatze  nicht  unter- 
fucht  werden  dürfen.  Und  hätten  iie  auch 
Mufse,  Fähigkeit  und  den  Willen  dazu,  wer 
unter  ihnen  dürfte  wohl  den  Mmh  befitzen, 
die  Gründe  aller  feiner  vorigen  Gedanken 
und  Handlungen  zu  erfchüttern,  und  fich  das 
beschämende  Geftäudnifs  abzunüthigen  ,   dafs 

er 


iP4  Elftes    Euch. 

er  fo  lange  Zeit  ganz  in  Irrthum  und 
Wahn  verfunken  war?  Wer  hat  wohl  Herz 
genug,  den  Vorwürfen  zu  trotzen,  welche 
denjenigen  von  alles  Seiten  drohen,  die  es 
wagten,  den  angenommenen  Meinungen  ihres 
Landes,  oder  ihrer  Parthie  zu  widerfprechen? 
Wo  iit  der  Manu  zu  finden,  der  mit  gelafle- 
nem  Mut  he  erwarten  kann,  den  Namen  eines 
Grillenfängers,  eines  Zweiflers  oder  Atheiften 
za  tragen,  welchem  keiner  entgehen  kann, 
der  in  die  allgemein  angenommenen  Meinun- 
gen den  geringften  Zweifei  fezt?  Er  wird 
fleh  im  Gegentheil  um  fo  mehr  fcheuen, 
diefe  Grundfätze  zu  untersuchen,  wenn  et 
die  gewöhnliche  Ueberzeugung  eingefogen 
hat,  dafs  üe  zur  Regel  und  zum  Probierfteine 
aller  andern  Meinungen  von  Gott  dem  Ver- 
ftande  eingepflanzt  find.  Und  wenn  er  fin- 
det, dafs  lie  die  älteften  unter  allen  feiwen 
Gedanken  find,  und  von  andern  mitdergröfs- 
ten  Ehrfurcht  angeftaunet  werden ,  was  kann 
ihn  noch  hindern,  ße  für  heilige  Wahrhei- 
ten zu  halten? 


§.  2% 


Drittes'    Kapitel.  \z5 

§♦      26» 

Es  läTst  fich  hieraus  ohne  Schwierigkeit 
begreifen,  wie  es  zugehet,  dafs  Menfchen 
die  Götzenbilder  verehren,  die  fie  in  ihrem 
Gehirn  aufrichteten,  und  lieh  in  Vorftel- 
ftelluugsarten  un  Werblich  verlieben  ,  mit  de* 
nen  fie  fchon  lange  vertraut  worden  find; 
Irrthümer  und  Ungereimtheiten 
mit  dem  Charakter  der  Göttlich. 
keit  ftempeln;  Bigotte  Anbeter  von  Och- 
sen und  Meerkatzen  werden,  und  für  die 
Vertheidigung  ihrer  Meinungen  mit  den  Waf- 
fen fechten  und  ihr  Leben  aufopfern.  Sie 
halten,  wie  der  Dichter  fagt,  nur  die 
für  gültige  Götter,  die  fie  felbft 
verehren  *).  Die  Denkkraft,  dis  faft  im- 
mer ,  obgleich  nicht  allezeit  mit  weifei  Be- 
hutfamkeit,  gefchäfilg  ift,  willen  die  meiften 
Menfchen  aus  Mangel  an  einem  fichern  Grund 
und  leitenden  Princip  nicht  zweckmäßig,  an- 

zu- 


*}  Juvanal  XV.  'Satyre  v.  Zj.     Qimm   folos  elf 
dat  habendos    elTo  Deos,   quos  ipfe  colit, 


126  Erf  t  es    B  u  eh. 

zuwenden.      Und  da  die   gröfste  Anzahl  der 
Menfchen  aus  Trägheit  oder Zerftreuung  nicht 
in    die    Principe  der  Erkenntnifs   eindringet, 
und   die   Wahrheit   bis   an  ihre  ursprüngliche 
Quelle   verfolget,    und  ein  anderer  Theil  aus 
Mangel  an  Zeit,    wahren    Hülfsmitteln   und 
andern     Urfachen    das    nicht,  einmal   vermag, 
fo  ift  es  natürlich,  ja  faft  unvermeidlich,  dafs 
fie  fich  mit  geborgten  Grundfalzen   behelfen, 
welche  für  keines Beweifes  bedürftig  gehalten 
werden,  weil  ihnen  der   Wahn   das  Anfehen 
von   erften  Grundfätzen    geliehen    hat,     aus 
welchen    die    Wahrheit    aller  andern    Dinge 
bewiefen   werden    muffe.      Wer    einige    von 
diefen  Sätzen    aufnimmt,    und   mit   der  Ach- 
tung heget,  die  man  gewöhnlich  Grundfätzen 
bezeiget;    wer  es  nicht  waget,    fie  zu  unter- 
fuchen,  fondern  lieh  gewöhnet,  an  Ge  zu  glau- 
ben,    weil    fje  geglaubt  werden   follen ;    der 
kann  von  feiner  Erziehung    und    der    Mode 
feines  Landes  Ungereimtheiten  für  angeborne 
Grundfatze  annehmen,    und  durch  die  lange 
Anficht  der  nehmüchen  Gegenwände  die  Seh- 
kraft feines  Verftandes  fo  fchwächen,   dafs  er 
Mifsgeburten     feines     Gehirns    für    Bildniffe 
der  Gottheit  und  Werke  ihrer  Hand  hält. 

§.  27. 


Drittes  Kapitel,  127 

§•       27. 

Grundfätze     muffen    unterfucht 
werden. 

Wie  viele  Menfchen  nun  auf  diefer  Bahn 
zu  Grundfätzen  gelangen,  die  ihnen  für  an- 
geboren gelten  ,  läfst  lieh  leicht  an  der  Man- 
nichfaltigkeit  entgegengefezter  Grundfätze  be- 
merken,  welche  alle  Gattungen  und  Stände 
der  Menfchen  dtirchzuhtzen  und  zn  verfech- 
ten fuch^n.  Wer  leugnet,  dafs  diefes  der 
Weg  fey,  aufweiche»)  tue  meiden  Menfchen 
zur  Ueberzeugung  von  der  Wahrheit  und 
Evidenz  ihrer  Grundfjtze  gelangen,  der  wird 
{ich  vielleicht  in  grolser  Verlegenheit  finden, 
auf  eine  andere  Weife  die  E'ntftehung  entge- 
gengefezter Meinungen  zu  erklären,  welche 
fo  feft  geglaubt,  fo  kek  behauptet  werden, 
ja  welche  unier  gewifsen  Uinftänden  grofse 
Haufen  mit  ihrem  Ulute  zu  verfiegeln  bereit 
find.  Und  in  iler  That,  wenn  die  angebornea 
Grundfätze  das  Vorrecht  haben  füllten,  dafs  de 
ohne  Unterfuchung  auf  ihr  eignes  Anfehen  an- 
genommen werden  müTsten,  fo  fehö  ich  nicht 
«in,  was    nicht  alles  geglaubt  werden  könnte, 

•der 


128  Elftes    BucU« 

oder  wie  man  «1  ie  Grundfätze  eines  jeden  Mcn- 
fchen  prüfen  foll.  Wenn  fie  geprüft  und  un- 
terfircht  werden  können  und  follen,  fo  möcht 
jeh  willen  ,  wie  es  möglich  ift ,  die  angebor- 
nen  Grundfätze  zu  prüfen.  Es  ift  zum  we- 
nigsten vernünftig,  Kennzeichen  und  Merk- 
male zu  fodern,  wodurch  die  ächten  ange- 
jjornen  Grundfätze  von  denen  ,  die  es  nicht 
find,  können  unterfchiedeu  werden,  damit 
man  in  einem  fo  wichtigen  Punkte,  bei  einer 
fo  grof-.en  Menge  von  Sätzen,  die  darauf  An- 
fpruch  machen ,  vor  Fehlgriffen  gefiebert 
fey.  Wenn  das  gefebehen  ift,  fo  werde  ich 
folche  nützliche  und  willkommene  Sätze  fehr 
gerne  annehmen  ;  bis  dahin  aber  erlaube 
man  mir  einen  befcheidenen  Zweifel.  Denn 
die  allgemein«  Einftimmung,  das  einzige  bis- 
her angeführte  Merkmal ,  dürfte  wohl  zu 
ich  wach  befunden  werden,  um  meine  Wahl 
zu  leiten,  und  mich  von  irgend  einem  ange- 
bornen  Satz  zu  überzeugen.  Nach  alle  dein, 
was  wir  gefagt  haben,  ift  es  aufs  er  allem 
Zweifel,  dafs  es  keine,  von  allen  Menfchen 
einftimmig  angenommene  ,  und  folglich  auch 
keine  angeborne  praktifche Grundfätze  giebt. 


Viertes 


V  i  e  r  t  e  s   K  a  p  i  t  e  1.  1Ä9 

Viertes     Kapitel. 

Noch    einige  Betrachtungen  über  die  angebornen, 

fuvvohl  thcoi -etil  eben  als  praktifchen. 

Grurnl  Tatze. 


§.        I. 


Grundfätze  find  nicht  angebt), 
ren,  wenn  nicht  die  Begriffe, 
die  ihren  Inhalt  ausmachen, 
angeboren   find» 

•Hatten  diejenigen,    welche  uns  gerne  von 

der  Wirklichkeit  angeborner Grundfätze  über- 
zeugen möchten,  fie  nicht  überhaupt  und  zu- 
lammen, fondern  einzelnen,  und  nach  den 
Theilvorftellungeii ,  welche  ihren  Inhalt  aus- 
machen, betrachtet,  fo  würden  lie  vielleicht 
mit  ihrer  Behauptung  etwas  zurückhaltender 
gewefen  feyn.  Denn  wenn  die,  Begriffe,  aus 
vvelchen  diefe  Wahrheiten  beliehen,  nicht 
angeboren  find,  fo  können  es  unmöglich  die 
Sätze  Mbit  fern ,  fo  ift  ihre  Erkenntnifs  uns 
unmöglich  angeboren»  Sind  die  Begriffe 
I  nicht 


1^0  Erf  tos*  JB  uch. 

nicht  angeboren,  fo  ift  eine  Zeit  vorhanden, 
da  der  Verftand  diefer  Grundfütze  entbehrte; 
iftdiefs,  fo  find  fie  nicht  angeboren,  fondern 
raüflen  aus  einem  andern  UiTprung  abgeleitet 
werden.  Denn  wo  es  an  gewiffen  BegrifFen 
fehlet,  da  ift  auch  keine  Erkenntnifs ,  keine 
Beiftimmung,  kein  Urtheil  und  kein  Satz  in 
Beziehung  auf  fie  möglich. 


Begriffe,  vorzüglich  folche,  die 
zu  Grundfätzen  gehören,  wer- 
den nicht   Kindern  angeboren. 

Wenn  wir  neugeborne  Kinder  aufmerk- 
fam  betrachten,  fo  werden  wir  wenig  Urfa- 
che  finden,  zu  denken,  dafs  fie  viele  Begrif- 
fe mit  auf  die  Welt  bringen.  Denn  die 
fchwachen  Vorftellungen  von  Hunger,  Dürft, 
Wärme  und  Schmerz  ,  die  fie  vielleicht  im 
Mutterleibe  empfunden  haben ,  ausgenom- 
men, findet  man  in  ihnen  nicht  die  geringfte 
Spur  von  fchon  völlig  gebildeten  BegrifFen, 
noch  weniger  von  folchen ,  welche  den 
Ausdrücken     in     den     allgemeinen 

für 


Viertes    Kapitel.  i5l 

für  an geboren  gehaltenen  Sätzen 
e  11 1  fpr  eche  n.  Man  kann  beobachten, 
v.'ie  nachher  ftufenweis  Begriffe  in  ihren 
Verftand  koirmiexi;  aber  das  find  keine  an- 
dere und  nicht  mehrere,  als  welche  die  Er- 
fahrung und  Beobachtung  der  Dinge,  die  in 
ihrem  Kreife  liefen,  ihnen  zuführen.  Die- 
fes  mufs  uns  fchon  hinlänglich  überzeugen, 
dafs  es  keine  urfprüngliche,  dem  Verftand© 
eingeprägte  Vorftellungeu  giebr, 

•     §.     5. 

Es  ift  unmöglich,  dafs  das 
nehmliche  Ding  fey  und  nicht  fey, 
mufs  unftrehig  ein  angeborner  Grundfatz 
feyn ,  wenn  es  überhaupt  folche  giebt.  Allein 
ift  es  wohl  denkbar,  oder  wird  wohl  jemand 
behaupten  ,  dafs  Unmöglichkeit  und 
Identität  angeborne  Begriffe  find.  Fin- 
den lieh  diefe  bei  allen  Menfchen,  oder  brin- 
gen üe  diefelben  mit  auf  die  Welt?  Oder 
kommen  fte  bei  Kindern  am  früheften,  und 
vor  andern  erworbenen  zum  Vorfchein?  Al- 
les nothwendiüc  Folgen  ,  wenn  he  angebo- 
ren find.  Hat  ein  Kind  eher  einen  Beari/f 
von  Möglichkeit  und  Identität,  als 
I  2  die 


l5&  Ei  ftes   Buch. 

die  Vorftellung  von  Weifs  und  Schwarz, 
Süfs   und  Bitter?  Wenn  es  fchliefst,  daTs» 
Werinuth  auf  die  Bruft  feiner  Mutter  gerieben 
nicht  fo  fchmeckt,  als  die  Nahrung,  die  es  fonlt- 
daher  erhielt,  ift   es  eine  Folgerung  aus  dem 
Grundfatz  des  Widerfpruchs?  Oder  ift  es  eine 
Wirkung    von     der    wirklichen    Erkenntnifs 
deflelben,     dafs    es  feine  Mutter  von  einer 
fremden  Perfon  unterscheidet ;    dafs  es   dicfe 
fliehet,  und  fich   an  jene  anfchmiegt?   Kann 
der  Verftand  und    feine  Ueberzeugung  durch 
Begriffe  beftimmt  werden,  die  noch  nicht  vor- 
handen find?  Oder  kann  er  Folgerungen  aus- 
Grundfatzen   ziehen,    die  er   noch   nicht  er- 
kannt,   noch     verftanden    hat?    Die    Worte 
Unmöglichkeit     und     Identität     be- 
zeichnen   zwei  Begriffe,    die    fo    wenig   uns 
angeboren  ,  oder  mit  uns  entftanden  find,  dafs 
fie    vielmehr    nur  durch  einen    hohen   Grad 
von    Nachdenken    und   Aufmerkfamkeit  rich- 
tig gebildet  werden  können.      Sie  find  fo  we- 
nig  mit   der    Geburt  auf  die  Welt  gebracht 
und  fo  weit  von  der  Denkart  der  Kinder  ent- 
fernt,   dafs  ich  mit  Grundi  behaupten   kann, 
man  wird   fie    in  vielen    erwachsenen  Men- 
fchen  nicht  deutlich  entwickelt  finden. 


Viertes     Kapitel.  i55 

*       4- 

Identität,    kein  angeborner  B  e- 

griff. 

Wenn  die   Identität,    um  bei   diefem  Be- 
griff flehen  zu  bleiben,    ein  ängeborrier  Ein- 
druck,  und  folglich   uns  fo    klar  und   geläufig 
ift,    dafs   wir  von  der   Wiege  an    ein    deutli-- 
ches  ßewufstfevn  von  demfelben   haben,     'o 
wünfche    ich  von   einem    fiebenjäbrigen  oder 
fiebiigjährigen  Menfchen  folgende  Fragen  be- 
antwortet zu  fehen.     Ob  ein  MenfcH  als  ein 
aus  Seele  urul  Leib  beftehendes  Wefcn  ,  noch 
der  nehmlicbe  Menfch  ift,  wenn  fein  Körper 
verändert  ift?  Ob  Euphorbus  undPytha- 
goras,    die    einerlei   Seele  hatten,    einerlei 
Menfch    waren,    ob    gleich    der   lezte  einige 
Menfchenalter   fpäter  als  der  erfte  lebte?  Ja 
ob  auch  nicht  der  Hahn,  der   an  der  nehmli- 
chen  Seele  Antheil  hatte,  einerlei  Wefen  mit 
ihnen  beiden   war?  Es  wird    daraus  offenbar 
werden,    dafs    unfer    Begriff    von    Iden- 
tität   nicht  fo    beftimmt  und   klar  ift,    dafs 
er  verdiente   für  angeboren   gehalten   zu  wer- 
den.     Denn  wenn  diefe  angebornen  Begriffe 
I  J  nicht 


i34  Er  ftes  Eu  cli. 

nicht  klar  und  deutlich  find,  fo  daTs  fie  all- 
gemein gedacht  und  von  felbft  für  wahr  ge- 
halten werden,  fo  können  fie  keine  Geaen- 
ftände  allgemeiner  und  »»bezweifelter  Wahr- 
heiten feyn .  fondern  fie  werden  unvermeid- 
lich eine  unaufhörliche  TJ.ogewifsheit  veran- 
lafsen.  Denn  ich  glaube  nicht,  dafs  Jeder- 
mann einen  Begriff  von  Identität  habe, 
der  mit  dem  des  Pythagoras  und  tau- 
fend feiner  Schüler  überein ftitmut.  Welcher 
ift  dann  aber  der  wahre  und.angeborne  ?  Oder 
giebt  es  zwei  verfchiedene  Begriffe  von 
Identität,  die  beide  angeboren  find? 

:§♦    5; 

Man  denke  ja  nicht,  dafs  die  obigen  Fra- 
gen in  Rückficht  auf  die  Identität  eines  Men- 
fchen  blofse  leere  Speculationen  find«  WTäre 
das  auch  der  Fall ,  fo  folgte  fchon  daraus, 
dafs  in  dem  menfchlichen  Verftande  kein  an- 
geborner  Begriff  von  Identität  an- 
zutreffen ift.  Wenn  man  mit  einiger  Aufmerk, 
famkeit  über  die  Auferftehung  nachdenkt,  und 
überleget,  dafs  die  göttliche  Gerechtigkeit  an 
dem  leiten  Gerichtstage   eben  diefelben  "Per- 

fonen 


Viertes    Kapitel.  i35 

Jonen  richten  ,  und  ihnen  Giüc!<feligkeit  oder 
Elend  in  jenem  Leben  austheilen  wird,  wel- 
che in  diefem  gut  oder  böTe  gehandelt  haben, 
fo  wird  man  finden,  dafs  es  nicht  leicht  zu 
entfeheiden  ift,  was  den  Menfchen  zu  dem- 
felben  Menfchen  macht ,  oder  worin  die 
Identität  beftehet  Und  dann  wird  man  mit  der 
Behauptung,  dafs  alle  Menfchen,  felbft  Kin- 
der, von  Natur  einen  klaren  Begriff  davon 
haben,  etwas  zurückhaltender  feyn. 

§.     6. 

Die  Begriffe  von  einem  Ganzen 
und  den  Theilen  find  nicht  an- 
geboren, 

Wir  wollen  jezjt  den  Grundfatz  der  Ma- 
thematik,  das  Ganze  ift  gröfser  als 
ein  Theil,  unterfuchen,  der,  wie  ich  den- 
ke, auch  unter  die  angebornen  Grund  Tatze 
gezählet  wird,  und  gewifs  eben  fo  gerechte 
Anfprücbe  darauf  hat,  als  jeder  andre  Satz» 
Und  doch  kann  fich  das  kein  Menfch  den- 
ken, wenn  er  erwäget,  dafs  die  Begriffe  ei- 
nes Ganzen  und  derTheile,  welche  die 
Materie  deffelben  ausmachen,  vollkommen 
I  4  relativ 


l36  Elftes    Buch. 

relativ,  die  pofitiven  Begriffe  aber ,  welchen 
jene  eigentlich  und  unmittelbar  angehören, 
und  deren  VerhälUiijTe  jene  aufhucken ,  die 
Ausdehnung  und  die  Zahl  find  Gefezt  alfo 
die  Begriffe  von  Ganzen  ur:d  den  Theilen, 
Und  angeboren  ,  fo  inüJlen  es  such  die  von 
der  Ausdehnung  und  der  Zahl  feyen,  denn 
es  ift  unmöglich,  ein  Verhältnis  zu  denken, 
ohne  einen  begriff  von  demjenigen  zu  haben, 
auf  welches  fic-h  das  Verhältnifs  beziehet,  und 
worin  es  gegründet  ift.  Ob  nun  die  Begriffe 
von  der  Ausdehnung  und  der  Zahl  wirklich 
dein  Verftande  urfprünglich  eingeschrieben 
find,  das  will  ich  den  Vertheidigern  der  an. 
gebomen  Begriffe  zur  Unterfuchung  überlaffen» 

§.      7. 

Der     Begriff    von      Gottesvereh- 
rung ift  nicht    angeboren* 

Dafs  Gott  verehret  werden  foll, 
ift  ohne  Zweifel  eine  der  gröfsten  Wahrhei- 
ten, deren  der  menfehliche  Verftand  em- 
pfänglich ift,  und  fie  verdienet  die  erfte  Stel- 
le untei  den  praktifchen  Grundfätien,    Dcm- 

un- 


Vi  fites    Kapitel.  i37 

ungeachtet  kann  iie  keinesweges  für  ange- 
boren gehalten  werden,  woferne  die  Begrif- 
fe, Gott  und  Verehrung  nicht  auch  an- 
geboren find.  Jeder  Menfeh  wird  aber,  wie 
ich  hoffe,  ohne  Schwierigkeit  einräumen, 
daf.-.  der  B  e  griff,  welcher  durch  das  Wort 
Verehrung  bezeichnet  wird,  nicht  in  dem 
Verftande  der  Kinder,  nicht  in  der  Seele  als 
ein  Schriftzug  urfprünglich  eingegraben  ,ift, 
wenn  er  überlegt,  wie  wenig  erwachfene 
Menfchen  einen  klaren  und  deutlichen  Be- 
griff davon  haben.  Und  es  läfst  lieh  wohl 
nichts  ungereimteres  fagen ,  als  die  Kinder 
hätten  diefen  angebornen  praktifchen  Grund- 
fatz:  Gott  foll  verehret  werden, 
die  doch  nicht  wiiTen ,  worin  diefe  Vereh- 
rung, zu  der  fie  verpflichtet  find,  beftehet,  — 
Doch  wir  gehen  weiter. 

§.     8, 

Der    Begriff  von  Gott  i  ft  nicht 
angeboren. 

Wenn    irgend   ein    Begriff    die    Vermu- 

thung  für   lieh  hat,   dafs    er  angeboren    fey, 

fo  ift  es  aus  vielen  Urfachen  der  Begriff  von 

I  5  Gott, 


i53  Elftes    Euch. 

Gott.  Denn  angeborne  praktifche  Grnndfä- 
tze  1  ffen  fich  kaum  ohne  den  angebomenBe- 
griß  einer  Gottheit  denken»  Ohne  den  Re- 
griß eines  Gefetzgebers  iß  der  Begriff  eines 
Geferzes  und  der  Verbindlichkeit  deflelben 
nicht  denkbar.  —  Aufser  den  Goftesläug- 
nern  ,  die  unter  den  Alien  vorkommen,  und 
deren  Andenken  die  Denkmäler  der  Gefchich- 
te  gebrarHrnarket  haben  ,  find  zu  unfern  Zei- 
ten durch  die  Seereifen  ganze  Nationen 
an  der  Küfte von  Soldania,  in  Brafilien, 
in  Boranday  und  auf  den  Karaibifchen  In- 
feln  entdeckt  worden,  unter  welchen  man 
keine  Spur  von  diefem  Begriff  und  einer  Re- 
ligion fiir.d.  *)  Nicolaus  del  Tee  ho 
fagt  in  feinen  Briefen  aus  l'araquaria  von 
der  Bekehrung  der  Caaiguen;  „diefe  Ka- 
ution hat,  wie  ich  entdeckt  habe,  kein  Wort 
„für  der.  ßegriß  Gott  und  Menfchenfee- 
„le,  keine  Religionsgebräuche,  keine  Gö- 
tzenbilder.1* **),     Djefes  lind  ßeifpiele  von 

Natio- 

*)  Rlioe  beiTherenot  S.  2,  de  Lery  K.  x6.  Mar» 
tininerej  Terry,  Ovineton  :  Voyage  to  Suratt 
in  the  Year    16S9.  London   1696. 

*")  Nicolai  del  Teciio  Relatio  triplex  de  reb:;s 
Tadici»  Caaiguoium.     Reperi  eam  geniem  nul- 

hun 


Viertes     Kapitel.  i3q 

Nationen  in  weichen  die  rohe  Natur  ohne 
Hülfe  der  Gelehrfamkeit,  d«9  Unterrichts,  oh- 
ne Kultur  der  Künfte  und  Wiffenfchaften  fich 
felbft  überlaiTeii  ifh  Es  siebt  aber  auch  an- 
dere  Nationen,  welche  obgleich  in  dem  Ge- 
nüfs  eines  hohen  Grades  von  Kultur,  doch  kei- 
nen Begriff  keine  Erkenntnifs  von  Gott  haben, 
weil  ihr  Verband  auf  dielen  Gegenstand  nicht 
gehörig  gerichtet  worden.  Es  wird  ineinen 
Lefern  vielleicht  eben  fo  auffallend  feyn,  als 
es  mir  war,  dafs  die  Siamenfer  unter  diefe 
Nationen  gehören*  Allein  he  dürfen  nur  dar- 
über den  Bericht  des  franzöiifchen  Gefandten, 
in  Sir>oi ,  La  Loubere  zu  Rathe  ziehen, 
der  auch. von  den  Chinefen  keinen  befl'em 
Begriff  giebt.  *)  Und  will  man  diefem  kei- 
nen Glauben  heimeilen ,  fo  küanen  uns  doch 
die  Miffionarien  von  China  ,  felbft  die  Jefui- 
ten,  die  fonft  fo,  grofse  Lobredner  der  Chine- 

fen 


Iura  nomen  habere,  quod  Deum  et  hominis 
animam  fignificet,  nuila  facra  habet,  null?. 
Idola. 

')  La  Loubere  Relation    du  Rovaumc  de  Slam 
Aralteidam  1691.  T.  1.  c.  o,  aoj    22. 


\  - 


j.jo  Elftes     Buch. 

fen  find,  durch    die  allgemeine  Einftimmung 
ihrer    Auffegen  überzeugen,    dafs    die    Seute 
der   Gelehrten  ,    die   ficü  zur   alten    Religion 
diefes  Landes    benennen,     und   die    höchfte 
Ge\" .'alt   in  Hürden   haben,     ohne   Ausnahme 
Atht  iften  find.  *)      Wenn  wir  Lebensbefchrei- 
bungen  und  Reden    von    Perfoneu   aus  nicht 
fo  feinen  \  ölktrn  mit  Aufmerkiamkeit  durch- 
fucbten,     fo    würden    wir   vielleicht    nur    zu 
lehr  zu   befürchten  Urfache  finden,    dafs  vie- 
le Verleben  in    eultivirteren    Ländern  keine 
fcharf  und  rein   geprägten   Begriffe    von  der 
Gottheit  in  ihrem  Gemüthe  haben,    und  dafs 
die  Klagen  von   der   Kanzel   herab  über   den 
Atheismus    nicht    uflgegründet    find.        Iezt 
en  twar  nur  einige  nichtswürdige  IVTen- 
fchen   öffer.tlicb,  nnt    frecher    Stirn    das    Da- 
fevn  Gottes,    wir    würden    es    aber   vielleicht 
roch  von    mehreren   hö^en ,    wenn  nicht  die 
Furcht    vor     dem   Schwerdte     der  Obrigkeit 
und    dem    Strafurtheil  der   Nebenmenfchen 

den 


**)  La  Loubeie,  Tom.  T.  c.  20,  23.  Navarette 
Collection  of  Voyages.  Hütoria  eultus  SLnen- 
fium. 


Viertes     Kapitel.  ,„ 

den  Mund  verfchlüfVe.  Wäre  die  Furcht 
vor  S;rale  und  Schande  vernichtet,  wie 
viele  würden  nicht  fo  gut  mit  dem  Mumie  ih- 
ren Atheismus  bekennen,  als  ihr  Lebern 
fchün  üott  verleugnet? 

§•     9- 

Doch  auch  zugegeben,  d?fs  alle  Men- 
fchen  in  allen  I  ändern  einen  Begriff  von 
Gott  haben  (wovon  nns  die  Gteibhicfite  das 
Gegentheil  fagef;,  fo  würde  doch  daraus 
noch  gar  nicht  folgen,  dafs  er  an  ge  b  o  r  en 
fey.  Denn  wenn  auch  keine  Nation  gefun- 
den würde  ,  die  nicht  ein  Wort  zur  Bezeich- 
nung diefes  Begriffes,  und  einige  dunkele 
Vorftellungen  von  Gott  hätte,  fo  würde  die- 
fes doch  eben  fo  wenig  beweifen,  dafs  he  ar> 
geborne  Eindrücke  des  Yerftandes  find,  als 
man  aus  dein  allgemeinen  Gebrauche  der 
Worte,  Feuer,  Sonne,  Hitze,  Ichlief- en 
kann,  dafs  die  Begriffe  von  diefen  Objekten 
angeboren  find.  Im  Gegentheil  ift  aber  der 
Mangel  eines  Wortes  in  der  .Sprache  oder  ei- 
nes Begriffes  von  Gott  in  dem  Verlande, 
eben  lo  wenig  ein  Beweis  gegen  das  Dal'eyu 

Gut- 


ivj2  Elftes     Luch, 

Gottes ,  als  man  daraus  d,is  rvichtdaTeyn  ei- 
nes Magneten  rn  der  Welt  beweifen  knnn, 
dafs  diefes  Wort  und  diefer  Betriff  einem 
grofsen  Theiie  der  Menfchen  unbekannt  ift. 
Eben  fo  unrichtig  würde  es  feyn  ,  wenn  man 
fchliefsen  wollte,  es  gebe  keine  verfchiede- 
nen  und  beftimmten  Arten  von  Engeln  oder 
vernünftigen  über  uns  erhabenen  Wefen,  weil 
wir  keine  Begriffe  davon  haben.  Da  die 
IVIenfchen  ihren  Wortvorrath  aus  der  gewöhn- 
lichen Landesfprache  nehmen,  fo  muffen  fi eh. 
ihnen  Vorftelhingen  von  den  Dingen  aufdrin- 
gen ,  welche  in  dem  Umgänge  mit  andern 
Menfchen  oft  genennet  und  erwähnt  werden» 
Und  wenn  nun  mit  einem  Worte  eine  Neben- 
vorfreilung  von  Vortreflichkeit,  Gröfse  oder 
fonft  etwas  Atifserordentlicheii  verknüpft  ift; 
wenn  es  Furcht  oder  ein  anderes  Interefle 
in  Begleitung  hat,  wenn  die  Furcht  vor  ei- 
ner unumfehränkten  und  unwiderstehlichen 
Macht  es  dem  Verfiande  aufdringt,  fo  mufs 
fich  auch  der  anhängende  Begriff  defto  tiefer 
einfenken,  und  weiter  ausbreiten,  zumal 
wenn  er  dem  natürlichen  Lichte  der  Vernunft 
angemeflen  ift,  und  aus  jedem  Theiie  unfe- 
rer  Erkenntnifs  ungezwungen  abgeleitet  wer. 

den 


iViei'tes    Kapitel.  14.3 

den  kann»  Von  der  Art  ift  der  Begriff  von 
Gott.  Denn  die  fichtbaren  Spuren  der  aufscr. 
ordentlichen  Weisheit  und  Macht  offenbaren 
lieh  fo  klar  in  den  Werken  der  Schöpfung, 
dafs  kein  vernünftiges  Wefen,  wenn  es  fie 
aufmerkfain  betrachtet,  Gott  verkennen  kann» 
Und  der  Einfiufs,  welchen  die  Erkenntnifs 
eines  folchen  Wefens  auf  das  Gemüth  aller, 
die  es  nur  einmal  nennen  hören,  b3b?n  mufs, 
ift  fo  grofs  und  fuhrt  eine  folche  Fülle 
von  allgemein  mittheilbaren  Gedanken  bei 
fich,  dafs  ich  mich  mehr  wundern  würde, 
■wenn  man  eine  ganze  Nation  fände,  die  fo 
lehr  an  die  Thierheit  gränzte,  dafs  fie  gar 
keine  Vorftellung  von  Gott  hätte,  als  wenn 
ihr  die  Begriffe  von  Zahlen  oder  vom  Feuer 
fehlten» 

§•      Io, 

Wenn  das  Wort  Gott  einmal  in  irgend  ei- 
nem Theile  der  Welt  ausgefprochen  wurde 
um  ein  erhabenes,  mächtiges  weifes  und  un- 
fehlbares Wefen  auszudrücken,  fo  müfste 
die  Angemeffenheit  diefes  Begriffs  für  die 
Giundfäue    der    allgemeinen    Msüfchenver- 

nunft, 


144  Elftes  Buch. 

nunft,   ur:d  das  Intereffe ,  welches  die  Men- 
fchrn  off  auf  denfelben  zurückführte,    not- 
wendig diefe  Entdeckung  immer  weiter  aus- 
breiten, und   auf  ganze  Generationen   herab 
Fortpflanzen.     Aber  doch  kann    man  von  der 
allzeit  einen  Annahme  diefe  s  Worts 
und        einigen        unvollkommenen 
Ich  wank  enden,  dadurch  veranlafs- 
ten    Begriffen,  die  fich  bei  der  weniger 
denkenden     Klaffe     von     Menfchen    finden, 
nicht    fchliefsen,     dafs  diefer  Be- 
griff angeboren  ift.       Nur   diefes  folgt 
daraus.     Diejenigen»    von   denen   diefe  Ent- 
deckung herrührte ,    hatten  einen   zweckmä- 
fsigen   Gebrauch   von    ihren    Vernunfrkraften 
gemacht,  reiflich  über  die  Urfachen  der  Din- 
ge nachgedacht,  und  fie  bis  an  ihren  Urfprung 
Verfolgt,  und   diefer  wichtige  Begriff  konnte 
nun  nicht    wieder  verloren  gehen ,   nachdem 
weniger     denkende    Menfchen    ihn     einmal 
von  jenen  Denkern  angenommen  hatten, 

§♦      II. 

Das   ift  alles,    was  man   folgern    könnte, 
wenn  der  Begriff  von  Gott  unter  allen  Stäm- 
men 


Viertes    Kapitel.  i^5 

men  der  Men'chrn  allgemein  angetroffen, 
und  von  allen  erwachfenen  Menfchen  in  allen 
Landern  anerkannt  würde.  Denn  weiter 
kann  fich  die  Allgemeinheit  der  Erkenntnifs 
Go  tes  nicht  erftrecken.  Ift  das  nun  zurei- 
chend, um  zu  beweifenvdafs  der  Begriff 
von  Gott  angeboren  ift,  fo  läfst  (ich 
auf  eben  die  Weife  darthun  ,  dafs  die  Vor- 
ftellnng  vom  Feuer  angeboren  ift.  Denn 
man   kann   wohl   zuverläTsig  behaupten,  dafs 

kein  Menfcb   in  der  Welt ,    der  einen   Betriff 

o 

von  Gott  hat.  nicht  auch  eine  vorftellung 
vom  Feuer  befizt.  Wenn  eine  Kolonie 
von  kleinen  Kindern  auf.  einer  Infel  angelegt 
würde,  wo  kein  Feuer  wäre,  fo  würde  ih- 
nen ohne  Zweifel  das  Wort  und  der  Begriff 
von  diefem  Gegenftande  fehlen,  wenn  er  auch 
in  der  ganzen  übrigen  Welt  allgemein  bekannt 
wäre.  Eben  fo  würde  auch  vielleicht  fo 
lange  weder  das  Wort  noch  der  Begriff  von 
Gott  nur  geahndet  werden,  bis  Einer  unter 
ihnen  fein  Denken  auf  die  Erforfchung  der 
Einrichtung  und  der  Urfachen  der  Dinge 
gerichtet  hätte.  Dadurch  müfste  er  natür- 
lich auf  den  Gedanken  Gott  geführet  wer- 
den, und  hätte  er  diefen  einmal  andern  mit- 
K  geiheilet, 


1^6.  Elftes    Buch, 

getheilet,  fo  würde  ihn  ihre  eigne  Vernunft 
und  eine  natürliche  Neigung  ihres  Gemüths 
nachher  unter  ihnen  fo  verbreiten ,  dafs  er 
nicht  wieder  vertilgt  werden  könnte. 

§♦      12. 

Der  Einwurf,  Gott  muffe  diefen 
Begriff  urfprünglich  einge- 
prägt haben,  weil  es  feiner  Gü- 
te angemeffen  war,  dafs  er  ein 
Eigenthum  aller  Menfchen  fey, 
wird  beantwortet. 

Hier  wird  ein  Einwurf  gemacht,  auf  den 
man  ein  grofses Gewicht  leget.  Es  fey,  fagt 
man,  der  göttlichen  Güte  angemef- 
fen, den  Begriff  von  Gott  dem 
menfchlicben  Gemüthe  einzuprä- 
gen, um  die  Menfchen  in  diefer  wichtigen 
Angelegenheit  nicht  der  Unwiffenheit  und 
dem  Zweifel  preis  zu  geben,  und  um  fich 
felbft  dadurch  die  Anbetung  und  Verehrung 
zu  verGehern,  welche  Gott  von  einem  ver- 
nünftigen Wefen  als  der  Menfch  ift,  fodern 
kann,   Folglich  muffe  eres  auch  gethan  haben. 

Wenn 


Viertes    Kapitel.  I/.7 

Wenn  diefes  Räfonnement  einige  Ueber- 
zeugungskraft  befiz.t,  fo  beweifet  es  mehr, 
als  diejenigen  erwarten,  welche  fich  deffel- 
ben  in  diefem  Fall  bedienen.  Denn  wenn 
wir  fchliefsen  dürfen,  dafs  Gott  alles  das  für 
die  Menfchen  gethan  bat,  was  ihnen  ihrem 
Urtheile  nach  gut  ift ,  weil  es  der  Güte  Got- 
tes angemelfen  ift,  fo  zu  handeln,  fo  folgt 
daraus  nicht  allein,  dafs  er  dem  menfchlichen 
Verftande  die  Vorftellung  von  ihm  felbft  mit- 
getheilt,  fondern  auch,  dafs  er  mit  kenntli- 
chen Zügen  ,  alles  dasjenige  kl.ir  eingeprägt 
hat,  was  Ge  von  ihm  erkennen 'und  glauben, 
was  fie  aus  Gehorfam  gegen  feinen  Willen 
thun  lohen  ;  ja  er  müTste  ihnen  einen  Wil- 
len und  eine  Gelinnung  gegeben  haben,  wel- 
che damit  übeinftimmte.  Ohne  Zweifel  wird 
diefes  jeder  Menfch  für  heiler  halten,  als 
dafs  die  Menfchen,  wie  der  Apoftel  Paulus  *) 
in  Beziehung  auf  Gott  fagt,  im  Fünftem  nach 
der  Erkenntnifs  tappen,  als  dafs  ihr  Wille 
mit  dem  Verftande,  und  ihre  Begierden  mit 
ihrer  Pflicht  im  Streite  liegen.  Die  Käth  o- 
K  3  *  1  ifchen 

*)  Apoltel^ef«.  Lichts  XVII. 


148  Elftes    Buch. 

lifchcn  Theologen  Tagen:  es  iit  für  den 
Menlchen   am    heften  und  Goites  Güte    ange- 
meffen,  dafs  auf  Erden  ein  unfehlbarer  Rich- 
ter aller  Streitigkeiten  ift,  folglich  ift  er  wirk- 
lich.     Mit  dein   nehmlichen  Rechte  kann  ich 
lagen:   es   ift  für  die  Menfchen  beiler,  wenn 
jeder  einzelne  felbft  unfehlbar  ift.     Ob  durch 
uiefen  Schliifs  allgemeingültig    erwiefen    fey, 
dafs  jeder  Menfch  unfehlbar  ift,  will  ich  ih- 
nen zur  EntfcheicUing   überlaiien.      Der  un- 
endlich weife   Gott  hat   es  fo  gemacht,     und 
daher  ift  es    das     Hefte:      diefs    ift     meinem 
Bedünken     nach       fehr    richtig    gefehloflen. 
Der    Schlufs    hingegen:     ich     halte 
das    für    das    befte,     und    daher   hat 
es     Gott    fo     gemacht,    fcheint     mir 
vermeffen,    und  zu  viel    V7  ertrauen 
auf  unfere  Weisheit  zu  fetzen.    Und 
in    unfren  Falle    ift  es  ein  eiteles  Unterneh- 
men ,  aus  folchen  Gründen  beweifen  zu  wol- 
len ,     Gott     habe  etwas  gethan,    da   die    ge. 
wiffe  Erfahrung  lehret,    dafs  er  es  nicht  ge. 
thau  hat-     Gottes  Güti^keit  hat  fich  auch  oh- 
ne  diele    ursprünglichen   Eindrücke     der  Er* 
kenntnifs,    ohne  (liefe  dem  Verßande  einge- 
prägte   Begriffe    fichtbar    genug    an   den 

Men. 


Viertes    Kapitel.  1/J9 

Menfchen  geäufserf,  als  dafs  es  diefer  Bewcife 
bedürfte.        Denn    er    gab    ihnen    diejenigen 
Kriifte  ,  durch  welche  fie  vollkommen  in  den 
Stand    gefezt  find,   alles   zu   entdecken,    was 
zu  ihrer  ßeftimmung  gehört?  Und  ich  getraue 
mir  den  Beweis  zu  führen,  dafs  fich  ein  Menfch 
durch    die   zweckmässige    Anwendung   feiner 
natürlichen  Fähigkeiten  die  Erkennuiifs  Got- 
tes und  andrer  Dinge,  die  ihn  intfreHiren,  oh- 
ne angebome  Grundsätze  erwerl)en  kann.  Da 
Gott  dem  Menfchen  dasjenige  Erkenntnifsver- 
mögen  gegeben  hat,  in  d eilen  ßelitz  er  wirklich 
ift,    fo   war  feine  Güte    durch   den  Umftand» 
dafs    viele    Menfchen  gar   keine,    oder  fehr 
unvollkommene  Begriffe  von  Gott    und   den 
moralifchen  Prineinien   befilzen ,  eben  fo  we- 
nig beftimmt,  die  angebornen  Begriffe  davon, 
in  ihren  Verftand  tu  pflanzen,  als  ihnen  Brü- 
cken   und  Haider  zu  bauen,  wozu   er  ihnen 
Vernunft    Hände     und   Materialien    gegeben 
hatte,   weil  einige  fonft  fehr  verftändige  VöL" 
ker    mit    diefen    Bcdüifniflen     entweder    gar 
nicht  oder  fehr  unvollkommen  verforgt  find. 
Beide  Thatfachen  hängen  von    einer  Urlache 
ab.     Zufrieden    mit  den  Meinungen,    .Moden 
und    allem    was  ihr    Vaterland   bedzt,    la 

K  3  diele 


i5o  Elftes    Buch. 

diefe  Menlcheii   alles  beim   Alten,    erweitern 
ihren  Gefichtskreis  nicht,  und  wenden   ihren 
Verftand,  ihre  Fähigkeiten  dnd   Kräfte  nicht 
mit  Eifer  dazu  an.     Wäre   ich  oder  ein  ande- 
rer in  der  Bey  Soldan  ia  gehören,    unfers 
Gedanken  und  Begriffe  würden  (ich  vielleicht 
nicht  über  die  Thierheit  der  dafigen  Bewoh- 
ner,     der  Hottentotten     erheben;     und 
wenn     der   König  von    Virginien      Apo- 
chancana    in  England  wäre  erzogen  wor- 
den ,    fo  hätte  er  vielleicht    ein  eben  fo   ge- 
lehrter Theolog  und  guter  Mathematiker  wer- 
den können ,  als  irgend   einer  in  England  ift. 
Der   Unterfchied    zwifchen  ihm     und  einem 
cultivirteren    Engländer    beßehet  blos  darin* 
dafs  die  Thätigkeit  feiner  Kräfte  in  dem  ge- 
wöhnlichen Wirkungskreife,     innerhalb    den 
Moden    und  Begriffen   feines  Landes    einge- 
fchränkt  blieb,  und   auf  keine  andern  neuen 
Entdeckungen    geleitet    wurde.       Wenn   er 
keinen  andern  Begriff  von  Gott  hatte,  fo  lag 
es  blos    daran,    dafs    er   die  Gedankenreihe, 
welche   ihn    darauf    würde    geleitet   haben, 
r-iclu  verfolgte«. 


§•  13* 


Vietttes    Kapitel,  l5i 

Die     Begriffe     der     Menfchen    von 
Gott   find  fehr  v^rfchieden. 

Es  ift  wahr,    wenn    Geh  wirklich  ein  Be- 
grifffände, der  dem  menfehlichen  Verftande 
eingeprägt    wäre,     fo   müfste  ■  es   der  Begriff 
von  dem   Schöpfer  feyn ,    womit  er  fein  eig- 
nes Gebilde    gleichem   geftcmpelt  hätte,  um 
den     Menfchen    an    feine    Abhängigkeit  und 
Pflicht   zu   erinnern.     Dann  müfsten  aber  an 
diefern  Begriff  die  erften   Spuren  der  menfch- 
lichen  Erkenutnifs    erfcheinen.       Allein  wie 
fpät  läTst  fich   diefer  Begriff  in  Kindern  auf- 
fpüren?     Und  wenn  wir  ihn  da  finden,    ift  er 
jaicht  mehr  der  Nachhall  der  Meinungen  und 
Begriffe  des  Lehrers,    als  eine  Vorftellung  des 
wahren  GoHes?     Wer  den  Gang  des  Verstan- 
des  in  Kindern  beobachtet,  wie  lie  zu  ihren 
Kenntniflen  gelangen,     der   wird    bemerken, 
dafs  diejenigen   Gegenftände   die  erften  Ein- 
drücke auf  ihr  Gemüth  machen,    mit  welchen 
Fe  Geh  am   erften   und  'meiften   befchäftigen, 
aber  von  Vorftellungen  anderer  Gegenftände 
keine   Spur  finden,       Man    beobachtet  fehr 
K  4  bald, 


i5s  Elftes    Bück, 

bald,  wie  fich  ihr  Denken  erweitert,  und 
zwar  nur  in  dorn  Verhältnifs,  als  fie  mit  einer 
gröfsern  Mannichfaltigkeit  von  finnlichen  Ob- 
jekten bekannt  werden ,  die  Yorftellungen 
davon  in  dem  Gedachtnifs  aufbewahren,  und 
die  Fähigkeit  erlangen ,  Begriffe  zu  entwi- 
ckeln ,  zufainmenzufetzen  ,  und  auf  verfchie- 
dene  Art  zu  verbinden.  Wie  lieh  auf  (liefern 
Wege  der  Begriff  von  Gott  in  dem  menfeh- 
üchen  Verftande  bildet,  werde  ich  weitet 
unten  zeigen, 

§•      I4. 

LaTst  es  fich  denken,  dafs  die  Begriffe, 
Welche  die  Menfchen  von  Gott  haben,  Cha- 
raktere und  Merkmale  von  ihm  find,  durch 
feinen  Finger  in  ihren  Verftand  gegraben  ,  da 
wir  fehen,  dafs  fich  die  Menfchen  in  einem 
Lande,  unter  einerlei  Worte,  fo  verfehle- 
dene.  ja  e  nt  gegen  g  e  fe  z  t  e  und  u  n- 
ve-reinbarliche  Vorftellungen  von 
ihm  machen?  Ihre  Einhelligkeit  in  dem 
Worte  oder  Laute  kann  kaum  etwas  für  das 
Angeborenfeyn  des  Begriffs  beweifen, 

§♦  IS- 


Viertes     Kapitel,  i55 

§.     i5. 

Konnten    diejenigen    einen  wahren    oder 
ertr.i.luhen  Betriff  von  Gott  haben,    welche 
hundert    Götter    erkannten    und    verehrten? 
Jede  Gottheit,  die  Ge  über  den  Einen   anbe- 
teten,   war   ein  untrügliches  Zeugr.ifs,     dafs 
üe  den  Einen  nicht  kannten  ,  und  ein  Beweis, 
dafs  fie  keinen  wahren  Betriff  von    Gott  hat- 
ten ,   indem  ans  ihm  die  Einheit ,    Unendlich, 
keif  und  Ewigkeit  ausgefchloflen  war      Rech- 
nen   wir    noch   dazu  die  groben  Begriffe  von 
Körperlichkeit,   die  Hch  in  de>i    Abbildungen 
und   Darftellunsen   ihrer  Gottheiten  offenbar- 
ten ,    die  Streitigkeiten   und    andere    niedrig 
Eiüenfchaften ,     die  lie   ihnen   beilegten,      f0 
haben  wir  wenig  Grund,    anzunehmen,    d.ife 
die  heidnifche    Welt,    d    i,  der  gröfste  Theil 
der    Menfchheit,    folche    Begriffe   von  Gott 
f;ch    dachte,     als    er  ihnen   hätte   mittheilen 
muffen,  wenn  er  die  Abficht  gehabt  hiittr,  fal- 
fche  Vorftellungen  von  ihm  zu  verhüten.   Und 
wenn  die  allgemeine  Einftimmung  ,    anF  wel- 
che man  fo  viel  bauet,    einen  ifrlprüiiglichen 
K  5  Em- 


i54  Elfte«    Buch. 

Eindruck  beweifet,  fo  wäre  es  doch  nur  fo 
viel :  Gott  prägte  in  den  Verftand  aller  Men- 
fchen  ,  die  einerlei  Sprache  reden,  nicht  etwa 
©inen  Begriff,  fondern  nur  ein  Wort,  um  ihn 
zu  bezeichnen.  Denn  obgleich  die  Indivi- 
duen eines  Volkes  in  dem  Worte  einftimmig 
und,  fo  weichen  doch  ihre  Vorfiellungen 
von  dem  Gegenfiande  fehr  weit  von  einander 
ab.  Man  wendet  zwar  ein  ,  die  mannichfal- 
iigen  Gottheiten,  welche  die  Heiden  verehr- 
ten, wären  nur  figürliche  Ausdrücke  von  den 
Eigenfchaften  diefes  unbegreiflichen  Wefens 
oder  von  den  verfchiedenen  Aeufierungen  der 
Vorfehung  gewefen.  Allein  kein  Menfch 
wird  behaupten  wollen,  dafs  das  gemeine 
Volk  fich  diefelben  fo  gedacht  habe,  ob  ich 
gleich  hier  nicht  unterfuchen  md*  ,  was  üe 
urfprünglich  waren.  Die  Reifebefchreibung 
des  Bifcbofs  von  Beryte  Kapit.  13.  (ohne 
andere  Zeugniffe  z,u  rechnen )  wird  jeden 
Lefer  überzeugen,  dafs  die  Vielgötterei  ein 
Glaubensartikel  der  Theologie  der  Siamer 
ift;  nach  den  feharfCnr.igen  Bemerkungen 
des  Abbe  de  Choify  in  feinem  Tagebuch 
eiaer  Reife  nach  Slam,    hingegen  leugnet  fie 

eigen  t- 


Viertes     Kapitel.  i55 

eigentlich    das   Dafeyn    einer  Gottheit  über- 
haupt *)♦ 

§.      IS. 

Man  Tagt  ferner:  die  weifen  Männer 
unter  allen  Kationen  gelangten  zu  richti- 
gen Vor  ftell  unge  n  von  der  Einheit 
und  Unendlichkeit  Gottes.  Ich  läug- 
ne  diefe  Thatfache  nicht.  Aber  dann  fchlipfst 
man  die  Allgsmeinheit  der  Einftiminung  in 
allen  andern  Punkten  als  dem  Worte  aus. 
Denn  die  Anzahl  der  Weifen  war  klein,  viel- 
leicht unter  taufenden  kaum  einer.  Die  All- 
gemeinheit wird  alfo  fehr  eingeschränkt. 
Zweitens  fcheint  mir  diefes  Faktum  offenbar 
zu  beweifen,  dafs  die  beften  und  richtigiten 
Begriffe  der  Menfchen  von  Gott  nicht  ange- 
boren,  fondern  durch  Denken,  Nachforschen 
und  den  richtigen. Gebrauch  der  Seelenkr^fte 
erworben  find.     Denn  die  weifen  und   nach- 

denke«- 

*}  Relation  dn  Voyage    de  Mv.  1  Eveqae  de  Be, 
ryte  Paris  16C6.  ö.     Journal  011  Snue  du  \ 

de  Siam  par  M*.   AbL-'    de   Choify    Paris 


i56  Elftes  B  uch. 

denkenden    Menfchen    in    der    ganzen    VVelt 
erlangten  durch   zweckmäßigen   und  forgfäl- 
tigen   Gebrauch  ihrer  Vernunft  auf  dem   We- 
ge  des  Nachdenkens    richtige    Vorftellungen 
nicht    allein    von     diefem    fondern  auch  von 
andern    Gegenständen ,     während     der    träge 
und  cedankenlofe  Theil  der  Menfchen  ,  der 
bei  weitem  die  Mehrheit  ausmacht,    ihre  Be- 
griffe  von  dem   Zufall   der  gemeinen  Ueber- 
lieferung    und  der   Vorftellungsart  des  Volks, 
ohne    vieles    Kopfbrechen  annahm.       Sollte 
aber  der  Begriff  von  Gott  aus  demGrun- 
de  für  angeboren  zu  halten  feyn ,  weil  er  fich 
bei   allen   weifen   Männern  findet ,  fo  müfste 
man  eben  fo  auch  von  der  Tugend  urtheilen, 
denn  diefe  hatten  auch  alle  Weife. 

§.     16* 

In  diefem  Falle  befand  fich  offenbar  das 
ganze  Heidenthum»  Aber  auch  unter  den 
Juden,  C  h  r  i  1 1  e  n  und  Mahoraeta- 
nem»  die  nur  einen  Gott  bekennen,  konn- 
te diefe  Lehre  und  das  eifrige  Beftreben  ,  mit 
dem  man  unter  diefen  Kationen  richtige  Vor- 
ftellungen   von    einem    Gott    zu    verbreiten 

fucht, 


Viertes    Kapitel.  167 

flicht ,  nicht  Toviel  bewirken,  dafs  alle  Men- 
Ichen  einerlei  und  richtige  VoTftellungen  von 
ihm  haben.  Wie  viele  ^enfchen  würde 
man  nicht  auch  unter  uns  finden,  wenn  man 
nachfoT fehle,  die  fich  Gott  unter  der  Geftalt 
eines  Mannes,  der  im  Himmel  fizt ,  vortei- 
len, und  noch  andere  ungereimte,  unwürdige 
Begriffe  von  ihm  haben?  Es  gab  unter  den 
Chrillen  nicht  weniger  als  m  ter  den  Türken 
ganze  Sekten,  welche  in  allem  Lrnft  behaupte- 
ten und  dafür  ftritten,  dafs  Gott  eijj  1  ornei- 
liehes  Wefcn  und  von  Men'chepgeftait  'ey. 
Liiler  uns  bekennen  hch  zwar  wenige  zu 
dem  Anlhropomorphibinus  (doch  L,:be  ich 
einige  gekannt,  die  kein  Hehl  davon  ma- 
chen); allein  wenn  man  das  zum  Gegenftand 
feines  INachforfchens  machte,  fo  würde  man, 
glaube  ich,  unter  den  unwiffenden  und 
I'thlecht  unterrichteten  Chriften  viele  Anhän- 
ger diefer  Meinung  finden.  Man  rede  nur 
mit  Landleuten  von  jedem  Alter,  mit  jungen 
Leuten  aus  jedem  Stande  ,  und  man  wird  lieh 
bald  übeizeuf-en,  dafs,  ob  fie  gleich  den  INa- 
iiua  üottes  lehr  häutig  in  dem  Munde  tüh- 
dennoch  die  Yorftellüngen,  welche 
J.e   mit  diefejn  Worte  verbinden,    fo  abge- 

fcinuakt, 


i5ö  Elftes    Euch. 

fchmakt,  medrig  und  erbärmlich  find ,  dafs 
kein  Menfch  tie  für  die  Frucht  des  Unter- 
richts eines  vernünftigen  Mannes  ,  noch  we- 
niger für  ein  Gepräge  der  Finger  Gottes  hal- 
fen kann»  Ich  fehe  auch  nicht  ein,  warum 
dadurch  die  Gütigkeit  Gottes  mehr  herabge- 
fezt  werden  foll,  dafs  er  unferm  Geifte  keine 
Begriffe  von  ihm  mittheilte,  als  dafs  er  un- 
fern Körper  ohne  Kleider  auf  die  Welt  kom- 
men, oder  uns  keine  Kunft  und  Gefchicklich- 
Ikeit  angeboren  werden  liefs,  Denn  da  uns 
das  Vermögen  diefe  Kunftfertigkeiten  zu  er- 
werben, gefchenkt  ift,  fo  müflen  wir  es  dem 
Mangel  unlerer  Thätigkeit  und  unfers  Nach- 
denkens, nicht  dem  Mangel  feiner  Güte  zu- 
rechnen, wenn  wir  fie  nicht  haben,  Das 
Dafevn  Gattes  ift  eine  fo  ausgemachte  Wahr- 
heit, als  dafs  die  entgegengefezten  Winckel 
2wcier  geraden  durehfchmitenen  Linien  gleich 
Tiiid»  Noch  kein  vernünftiges  Wefen  konnte 
diefen  Sätzen  feine  Beiftimmtrag  verfagen, 
wenn  es  fieh  die  Mühe  gab ,  ihre  Wahrheit 
ju  prüfen,  und  ehrlich  dabei  zu  Werke  gieng. 
Aber  gleichwohl  ift  es  keinem  Zweifei  unter- 
worfen, dafs  viele  Menfchen  weder  von  dem 
einem  noch  dem  andern  Satze  etwas  willen, 

weil 


Viertes    Kapitel,  159 

weil  fie  ihre  Denkkraft  nicht  auf  diefe  Gegen- 
ftände  gerichtet  haben.  Wenn  man  fich  da- 
durch für  berechtiget  hält ,  das  (in  dem  wei. 
teften  Umfang  genommen)  eine  allgemeine 
Ucbereinftimrnung  zu  nennen  ,  fo  habe  ich 
nichts  dagegen;  allein  man  kann  daraus  eben 
fo  wenig  beweilen,  dafs  der  Begriff  von 
Gott,  als  dafs  der  Begriff  von  jenen  Win» 
kein  angeboren  ift, 

§■     »7» 

Wenn  der  Begriff  von  Gott  nicht 
angeboren  ift,  To  läfst  Tich  das 
noch  weniger  von  einem  an» 
dem  Begriffe  vorausfetzen» 

Die  Erkenntnifs  Gottes  ifl;  alTo  zwar  eine 
fehr  natürliche  Entdeckung  der  rnenfchlichen 
Vernunft,  aber  der  Begriff  felbft  ift  nicht 
angeboren»  Wenn  diefes,  wie  ich  mit 
Schmeichle,  durch  das  Vorhergehende  erwie- 
fen  ift,  fo  dürfte  wohl  kaum  ein  anderer 
Begriff  gefunden  werden  ,  der  auf  den  Titel 
von  angebornen  Anfpruch  machen  könnte» 
Denn  hätte  Gott  dem  rnenfchlichen  Verfiamls 

eine 


160  Ei :  f  tes    Bach. 

eine  Vorftelhuig.  ein  Merkmal  von  irgend 
einem  Objekte  eingeprägt,  fo  nmfste  inan 
wohl  vernünfiigerweife  erwarten ,  tlafs  es 
ein  klarer  und  einförmiger  Begriff  von  ihm 
felbft  gewefen  wäre,  infofein  unfer  fchwa- 
cher  Verftand  ein  fo  unbegreifliches  und  un- 
endliches Wefen  hätte  fallen  können.  Da 
aber  rliefer  Begriff,  an  dem  uns  doch  fo  viel 
gelegpn  ift,  in  dem  Verftande  von  feiner  er- 
ften  Periode  an,  nicht  vorkommt,  fo  ift  das 
eine  Harke  Vermuthung  gegen  alle 
übrigen  angebornen  Begriffe,  So 
weit  mein  Nachdenken  gehet,  h?.be  ich  kei- 
nen andern  Begriff  gefunden  ,  d?r  mit  mehr 
Recht  angeboren  feyn  könne.  Doch  werde 
ich  mich  freuen,  wenn  ich.  von  andern  eines 
Belfern  belehrt  werde. 

§.      18. 

Der    Begriff    Subftanz    ift    nicht 
angeboren. 

Ich  muTs  geftehen,    es  giebt   noch  einen 
andern  Begriff,  deffen  BeGtz  von    allgemeinen 
Nutzen  für  die  Menfchen  feyn  würde;  ein  Be- 
griff, 


Viertes    Kapitel.  l5l 

griff,  von  dem  man  allgemein  fo  fpricht ,  als 
wenn  man  wirklich  im  ßelitz  deffelben  wäre» 
Es  ift  der  Begriff  von  Subftanz,  den 
wir  weder  durch  die  Empfindung  noch 
durch  die  Reflexion  haben  oder  haben 
können.  Wenn  die  Natur  darauf  gedacht 
wäre,  uns  mit  Begriffen  zu  verforgen,  fo 
müTsien  es ,  follte  man  denken  ,  folche  feyn, 
die  wir  uns  durch  unfere  eignen  Kräfte  nicht 
verfcbaffen  können.  Davon  erfahren  wir 
hier  aber  das  Gegentheil,  Weil  diefer  Be- 
griff nicht  auf  denfelben  Wegen,  wie  die 
übrigen  unfern  Verftande  zugeführet  wird,  f0 
haben  wir  auch  überhaupt  kein  klares  B  e- 
wufstfeyn  von  ihm;  wir  bezeichnen  da- 
her durch  das  Wort  S  ubftanz  nur  ein  ge- 
wifles  unbeftimmtes  Setzen  irgend  eines,  wir 
wiiTen  nicht  welches,  Begriffes  (das  heifsr, 
die  Annahme  eines  Dinges,  von  dem  wir 
keine  befondere,  deutliche  und  pofitive  Vor- 
ftellung  haben,)  und  halten  diefen  unbe- 
fiimmten  Begriff  für  das  Subftrat  oder 
Grund  derjenigen  Begriffe,  welche  wir  er- 
kennen. 


§•  19» 


l6t  Elftes    Buch, 

Angeborne  Sätze  find  unmög- 
lich, weil  kein  Begriff  ange- 
boren if  t. 

Es  ift  alfo ,  was  man  auch  immer  von  den 
angeborneii ,    fowohl    fpeculati  ven,     als 
,pr  aktif  chen,  Grundfätzen  Tagen  mag, 
doch    in  Anfehung  der  Denkbarkeit  einerlei, 
ob  man  fageu    Ein  Mann  hat  ioo  Thaler  in. 
feiner  Tafche,  aber  keinen  Pfennig,   keinen 
Grofchen  ,  keinen  Thaler,  keine  andere  Mün- 
ze,   welche  jene   Summe  ausmachen  könnte 
oder  ob  man  fagt:  gewifl'e  Sätze    find   ange- 
boren,  deren  Begriffe    auf  keine   Weife  für 
angeboren    gehalten  werden    können.       Die 
allgemeine  Annahme   oder  Eeifdinmüng,  die 
fie  erhalten,  bevveift  ganz  und  gar  nicht,  dafs 
die  in  ihnen  ausgedrükten   Begriffe  angebo- 
ren find;  denn  in  vielen  Fällen  wird  das  Für- 
wahrhalten  durch  die  Worte,  welche  die  Ein- 
ftitnmüug  oder  Entgegenfetzung  der  Begriffe 
ausdrücken,     nothvvendig    beftiromt  ,     ohne 
Rückficht  auf  den  Urfprung   der    leztern  zu 
nehmen.      Wer  nur   einen    richtigen  Begriff 
Ton  Gott   und    Gottesverehriing   hat, 

wird 


Viertes    Kapitel,  l(5j 

Wird  dem  Satze  :  Gott  Toll  verehret  werden, 
beiftimmen  ,  wenn  er  in  einer  ihm  verständ- 
lichen Sprache  ausgedrückt  wird.  Jeder  ver- 
nünftige Mann,  der  heute  dielen  Satz  noch 
nicht  dachte,  kann  morgen  geneigt  feyf), 
feine  Wahrheit  anzuerkennen.  Demungeach- 
tet  darf  man  wohl  annehmen,  dafs  Millionen 
Menfchen  bis  jezt  weder  den  einen  noch  den 
andern  Begriff  kannten.  Denn  wenn  wir 
auch  einräumen,  dafs  die  Wilden  und  die 
meilten  Landleute  fie  befitzen,  welche  Vor- 
ausfetzung  aber  der  Umgang  mit  diefen  Men- 
fchen eben  nicht  fehr  begünftigct,  fn  kann 
n.an  es  doch  wohl  von  wenigen  Kindern 
behaupten.  Es  mufs  alfo  t'ir.e  beftimmte  Zeit 
geben,  wo  fie  diefer  Begriffe  zuerft  bewufst 
werden,  und  dann  werden  fie  auch  anfangen, 
jenein  Satz  beizuftimmen  ,  ohne  ihn  hernach 
weiter  in  Zweifel  zu  ziehen.  Allein  diefer 
unmittelbare  Beifall  beweifet  eben  fo  wenig, 
dafs  diele  Begriffe  angeboren  find ,  als  dafs 
ein  Blindgebomer,  dem  morgen  der  Staar 
geftochen  werden  foll,  angeborne  Begriffe 
von  der  Sonne,  dem  Lichte,  dem  Safran  und 
der  gelben  Farbe  habe  ,  weder,  fobald  fein 
Geficht  hergtftellt  ift,  den  Satz,  die  Sonne 
L  s  ift 


»C4  Rrftea  Bei  bi 

ift  ein  leuchtender  Körper,  oder  der  Safran 
ift  gelb,  gini  gewifs  für  wahr  halten  \vu.!. 
Und  daraus  fol^t ,  dafs  da»  unmittelbare  I  ur- 
wahrbalfpii  nicht  beweifen  kann,  dafs  die 
Begriffe,    noch   weit   weniner  abei  ,     difl 

die  daram  irAXarmneogeletiicn  Urtheile 

boren    lind.      Ilt  Jemand   wirklich   im    ! 

von    ingeboraea    Begriffen  %    fo    wttrde   ti 

mir  ftln  angenehm  feyn  ,  wenn  er  muh  mit 
ihnen  und  ihrer  bcftimuitcn  An.-ahl  bekannt 
nachte. 

$.      20. 

Es  giebt  keine    a  n  g  e  b  0  r  n  e  n  Regrif- 
fe  in    dem    U  ed  a  c  ht  m  fs. 

Man  erlaube  mir,  noch  folgende  Rctraeh- 
tung  hiu/u/ufeuen.  Wenn  es  gewifl'e  ange- 
In'TtM-  Hegnlre  in  det  Seele  giehl  .  wrlrhc  dtl 
Verband  nicht  wirklich  denket,  fo  muhen 
\)c  in  dem  Ged  uhtnifs  aufbewahret  feyn,  und 
daraus  durch  die  Erinnerung  zum  Bewufst- 
feyn  gebracht  werden,  das  ilt,  wenn  man 
fich  ihre»  erinnert,  mufs  man  willen,  rjafl  ß« 
rchon  vorher  Von  der  Seele  vorgcliellt  wann 

Ki 


Viertes     Kapitel.  165 

Fs  mü-fste  denn  die  Erinnerung  oline  Erinne- 
rung möglich  feyn.   Denn  lieh  erinnern, heifst, 
lieh    etwas    mit    dem   Gedachtnifs    oder   mit 
dem  Bewirfst  fern   vorteilen,    dafs   es  vorher 
fchon  erkannt  oder  vorgestellt  war.  Da  diefes 
Bewufsfevn  das   Unterfcheidungsmerkmal   ift, 
welches  das   Erinnern  von  jeder  andern  Art 
des  Vorftellens  unterfcheidet ,  fo  ift  ohne  daf- 
felbe  jede  Vorftellung,  die  zum  Bewufstfeyn  ge- 
langt, eine  neue  noch  nicht  vorgeftellte  Vorstel- 
lung.   Keine  Vorftellung  ift  ia  der  Seele  ,  die 
fie  lieh  nicht    einmal    vorgeftellt   hat.      Jede 
Vorftellung    in    dem    Gemüthe    ift    entweder 
eine   wirkliche  Vorftellung,  oder  eine  wirkli- 
che gewefen ,    und  fo  in   der  Seele  vorhan- 
den,  dafs  fie  durch  das   Gedachtnifs  wieder 
zur    wirklichen     Vorftellung    werden    kann. 
Wenn  eine    Vorftellung   wirklich    ohne   Ge- 
dachtnifs vorgeftellt  wird,  fo  ift  fie  völlig  neu 
und  war  bis  dahin  demVerftande  unbekannt. 
Bringt  das   Gedachtnifs  eine  Vorftellung  zum 
wirklichen  Bewufstfeyn ,    fo  ift  damit  ein  Be- 
wufstfeyn verbunden,    dafs  fie  fchon  vorher 
in  dem  Bewufstfeyn   war,     und    nicht  mehr 
fremde  für  das  Gemiith  ift.      Was  die  Wahr- 
heit diefer  Sätze  betriff ,    fo  berufe  ich  mich 
L  3  tuf 


i(J(S  Erftes    Euch. 

auf    eines    jeden   eigne  Beobachtung,      Und 
nun  nenne  man  mir  einen  Begriff  von  denen, 
die  angeboren  feyn  Collen  ,  welchen  man,  ehe 
er  durch   Empfindung  veranlafst  wurde,    er- 
neuern und  als  einen  ehemals  gedachten  Be- 
griff   ins     Gedächtnifs     zurückrufen    konnte, 
ohne    welches    BewuCstfeyn    des    ehemaligen 
Vbrftellens   doch   keine  Erinnerung    möglich 
ift.     Und  jeder  Begriff,  der  in  die  Seele  ohne 
diefes  Bewufstfeyn   kommt,    ift    kein  Erinne- 
Tungsbegriff;    er  kommt  auch  nicht  aus  dem 
Gedächtnifs ,    und    man    kann  von  ihm  nicht 
*agen ,   dafs  er  in  der  Seele  vor  diefem   Vor- 
«ellen  war.     Denn  was  weder  in  dem  wirk- 
lichen Bewufstfeyn  noch  in   dem  Gedächtnifs 
ift,    das   ift  gar  nicht  in  der  Seele,    und  fo 
gut ,  als  wenn  es  noch  gar  nicht  in  derfelben 
gewefen  wäre.      Man  denke  fich  folgenden 
Fall.     Ein  Kind  ,  welches  den  Gebrauch  f&L 
»er  Augen  fo  lange  hatte,  dafs  es  die  Farben 
kannte  und   unterfchied ,    bekam  darauf  den 
Staar,  lebte  vierzig  oder  fünfzig  Jahre  in  völ- 
liger Blindheit,  und  verlor  in  diefer  Zeit  alle 
Vorftellungen  von  den  Farben ,    die  es  fonß 
kannte,    aus    dem  Gedächtnifs.       In  diefem 
Fall  befand  lieh  ein  Blinder,     den  ich  einft 

fpracb. 


Viertes   Kapitel.  tGy 

fprach.      Er  verlor  fein  Geficht  in  der  Kind' 
heit  durch  die  Blattern,  und   hatte  jezt  ebea 
fo   wenig  eine  Vorftellung    von   den   Farben 
als  ein  Blindgeborner.      Ich  fr3ge  jezt,    kann 
man    wohl   lagen,     dafs   diefer    Mann    mehr 
Vorftellungcn  von  den  Farben  in  feiner  Seele 
hatte,  als  ein  Blindgebompr  ?  ich  denke,  kein 
Menfch  wird  das  eine  oder  andere  behaupten« 
Sein  Staar  wird  kurirt;  jezt  erhält  er  die  Vor- 
ftellungen  von  Farben   (deren    er   fich  nicht 
mehr   erinnert)    von   Neuem,  indem  fie  ihm 
durch  fein   hergsftelltes    Geficht  wieder  zuge- 
führet  werden,    und  zwar  ohne  Bewufstfeyn 
einer    vorigen  Bekanntfchaft.    Diefe  Vorfiel* 
lungen   kann  er   nun  erneuern   und   auch   in 
fich  hervorrufen ,    wenn  er  im  Dunkeln   iü  * 
von    ihnen    fagt    man,    fie  find  in  der  Seele, 
infofern  fie  in   dem   Gedächtnifs    aufbewahret 
find,  und  als  fchon  bekannte  in  das  Bewufst- 
feyn  wieder  zurückgerufen  werden    können* 
Hiervon    mache    ich     folgende    Anwendung. 
Ein   Begriff ,    d  eilen   man   fich  nicht  wirklich 
bewuft  ift,    kann   nicht  anders  in   der  Seele 
feyn ,    als    wenn  er  in   dem  Gedächtnifs   iftj 
ift  er  nicht  in   dem  Gedächtnifs,    fo    ift    er 
auch  nicht  in  der  Seele;  und  wenn  er  in  d^m 
L  4  Ge- 


if>8  Eif*e  s    Buch. 

'•edächtnifs  ift ,  fo  kann  er  nicht  zum  wirkli- 
chen Bewufstfeyn  ohne  die  Vorftelluog  ge- 
»angen  ,  dafs  er  aus  dem  Gedachtnifs  komjnt, 
das  heifst,  dafs  man,  ihn  fonft  fchon  hatte, 
nlid  fch  jezt  feiner  erinnert.  Giebt  es  nun 
borne  Begriffe,  fo  muffen  fie  in  dem  Ge- 
dächtniTse  fern,  oder  fie  find  gar  nicht  in  der 
;  ift  jenes,  fo  können  fie  ohne  einen 
äöfVeni  Eindruck  erneuert  werden;  und 
fjin  fie  zum  Bewufstfejn  gebracht  werden, 
fe  lind  fieErinneiungsbegriffe,  d.  h.  es  hängt 
ihnen  die  Vorfrellung  an,  dafs  fie  nicht  ganz 
neu  find.  Diefes  ift  das  unveränderliche  Un- 
terftheidungsmerkmal  zwifchen  dem,  was  in 
dem  Gedäcb'nifs  und  der  Seele  ift,  oder  nicht 
ift.  Wenn  etwas  vorgeftellt  wird ,  das  nicht 
in  dem  Gedächtuifs  ift,  fo  erfcheint  es  als 
völlig  neu  und  noch  nicht  vorgeftellt ,  wenn 
es  aber  in  dem  Gedachtnifs  und  der  Seele  ift, 
und  das  Gedachtnifs  bietet  es  wieder  dar,  fo 
wird  es  nicht  als  etwas  Neues  vorgeftellt; 
das  Gemüth  findet  es  in  fich  felbft,  und  er- 
kennet ,  dafs  es  ihm  fchon  vorher  angehörte» 
Durch  diefe  Probe  kann  es  entfehieden  wer- 
den, ob  es  angeborne  Begriffe  in  der  Seele 
giebt,  welche  vor  aller  Empfindung  und  Re- 
flexion 


Viertes     Kapitel.  169 

flexion  vorausgelien.  Ich  wünfche  recht  fehr, 
den  Menfchen  zu  fehen,  der  lieh,  nachdem 
er  zum  Gebrauch  der  Vernunft  gelaugt  ift, 
oder  zu  einer  andern  Zeit  eines  folchen  Be- 
griffs erinnerte  ,  und  dem  er  nach  feiner  Ge- 
burt nicht  als  neu  vorkam.  Wollte  Jemand 
fagen.es  giebt  Begriffe  in  der  Seele,  die  nicht 
in  dem  Gedächtnifs  find,  fo  mag  er  fich  erklä- 
ren, und  feinen  Gedanken  verfiändlich  machen« 

§.      21. 

Die  Grundfätze  find  nicht  ange- 
boren, weil  weder  ihr  Nutzen 
noch  ihre  Evidenz  von  grofsem 
Belang  ift.„ 

Ich  habe  aufser  dem,  was  ich  fchon  ge- 
fagt  habe,  noch  einen  andern  Grund,  um 
diefe  und  andere  angebornen  Grundfätze  zu 
bezweifeln,  *  Bei  meiner  innigften  Ueberzeu- 
gung,  dafs  der  unendlich  weife  Gott  alle  Din- 
ge auf  das  weifefte  einrichtete,  kann  ich  mir 
nicht  einen  befriedigenden  Grund  denken, 
warum  man  annehmen  follte ,  er  habe  in  den 
menfehlichen  Verftand  gewiffe  allgemeine 
Grundfätze  gepflanzt;  Grundfätze,  von  wel- 
chen die  vermeintlich  angebornen  fpecula- 
L  5  tiven 


xyb  Elftes    Buch, 

tiven  von  keinem  grofsen  Nutzen; 
und   die  praktifchen    nicht    durch 
fich  felbft  evident  find;  beide  aber 
von  gewiffen    andern    Wahrheiten, 
die   nach   dem    allgemeinen    Einge- 
Ttändnifs     nicht     angeboren      find, 
nicht   unterfchieden     werden   kön- 
nen.    Drnn  zu  welchem  Zweck  follten  durch 
den  Finger  Gottes  Charaktere  in  den  Verftand 
eingegraben  feyn ,  die  nicht  klärer   find  ,   als 
fpätcr  hinzugekommene,  und  vor  diefen  nichts 
Auszeichnendes  haben?    Ift  Jemand  überzeu- 
get,   dafs  es  folche  angeborne  Begriffe  und 
und  Sätze  giebt,    welche  durch  ihre  Klarheit 
und  Nützlichkeit  von  allen  fpäter  erworbenen 
zu  unterfcheiden  find,    fo  kann  es  ihm  nicht 
fchwer    fallen  ,    beftimmt  anzugeben  ,    welche 
das  find,    und   dann   wird  jeder  IVIenfch  im 
Stande  feyn  ,  die  Wahrheit  der  Auflage  zu  be- 
urtheilen.      Denn  giebt    es  folche  angeborne 
Begriffe  und  Eindrücke,  die  fich  von  alien  an- 
dern Vorftellungen  und  Kenntniffen  völlig  un- 
terfcheiden, fo  mufs  das  jeder  IVIenfch  in  fich 
felbft  wahr  finden.    Von  der  Evidenz  der  ver- 
meinten angebornen  Grundfätze  habe  ich  oben 
fchon  gehandelt;  weiter  unten  werde  ich  Ge- 
legenheit haben,  von  ihrem  Nutzen  zu  fprechen« 

§.  22. 


J 


Viertes    Kapitel,  171 

§>      22. 

Der  Unter  fchied  der  Entdeckun- 
gen der  Menfchen  hängt  von 
der  verfchie denen  Richtung 
ihrer  Kräfte  ab, 

Das  Refultat  ift  diefes.     Einige  Begriffe 
bieten    fich  bald  von  felbft  jedem  menfchli- 
chen  Verftande   dar;  einige  Wahiheiten  ent- 
fprirgen   unmittelbar    ans    gevviften   Begrif- 
fen, fo  bald   fie   der  Verftand  zu  einem  Ur- 
theil    verbindet;    andere  Wahrheiten    fetzen 
eine  ganze  Reihe  eine  gewiffe  Anordnung, 
Verjdeicnung    und    mühfame     Ableitung    der 
Begriffe  voraus  ,  ehe  he  entdeokt  werden  und 
Beifall  finden.       Einige   Begriffe    der   erften 
Art,  find  wegen  ihrer  allgemeinen  und  leich- 
ten Annahme  falfchlich  für  angeboren  gehal- 
ten worden.       Allein  die  Wahrheit  d?von  if| 
diefs«     Die  Begriffe  find  uns  eben  fo  weni°- 
angeboren,    als   die  Künfte  und  Wiüenfchaf- 
ten ,  obgleich  einige  von  ihnen  fich  leichter 
und  von  felbft  demVorftellungsvermögen  dar- 
bieten,   und  daher  allgemeiner  angenommen, 
"werden  ,    doch  aber  in  dem  Verhältnifs,   al$ 
die  Organe  unfers  Leibes  und  die  Kräfte  der 

Seele 


!•]%  '  Erftes  Buch, 

Seelein  Wirksamkeit  gefezt  werden.     Denn 
Gott   f  r  h  e  n  k  t  e  d  e  in  M  e  n  f  c  h  e  n  K  r  ä  £- 
te     und     Mittel      zur     Entdeckung, 
Aufnahme    uud  Aufbewahrung    der 
Wahrheiten,    infoferne    er    von  je- 
nen  Gebrauch    macht.     Die  grofse  Ver- 
schiedenheit  in  den    Begriffen  der  Menfchen 
entspringt  von  der  verichiedenen  Art  der  An- 
wendung,    die  he   von   ihren  geiftigen  Ver- 
mögen inachen.       Der  gröfie  Theil  der  Men- 
fchen  nimmt  alles  aiaf '!  reu   und  Glauben  an, 
und  mifsbraucht   das  Vermügeu,    der   Wahr- 
heit   beizuftimmen  ,     indem    He    ihren   Geift 
durch    frpmde  Machtfprüche    und  Herrfchaft 
in  Feffeln   legen   lallen,  und  das  in  denjeni- 
gen Lehren,  wo  es  ihre  Pflicht  ift,    fie  Sorg- 
fältig zu  prüfen,  und  nicht  blindlings  mit  ei- 
nem   Köhlerglauben    anzunehmen.       Andere 
wenden  ihre  Denkkraft  nur  auf  einige  weni- 
ge Gegenftände  an,    machen    Sich  mit  ihnen 
innJgfi:  bekannt ,    erlangen  einen  hohen  Grad 
vdn  Wiffenfchaft  darin;  in  allen  andern  Din- 
gen hingegen  find  fie  unwiflend,  weil  fie  ih- 
re  Gedanken    in   ErforSchung    andrer  Dinge 
nie  freien  Spielraum  liefsen.     Der  Satz :    die 
drey  Winkel   in  einem  Dreieck  find  zweien 

rech- 


Viertes    Kapitel.  1^5 

rechten  gleich,  i(l  eine  fo  eewiffe  Wahrheit, 
als  irgend  eine  andere,  und  hat  vielleicht  mehr 
Evidenz,  als  viele  Satze,  die  als  Grtmdfätze 
gelten  Gleichwohl  giebt  es  Millionen  Men- 
fchen,  die  bei  vielen  andern  Kenntniilen  von 
diefer  Wahrheit  gar  nichts  willen  ,  weil  Och 
ihre  Denkkraft  niemals  mit  ihr  befcbäftiget 
hat.  Es  ift  möglich,  dal's  einer  der  diefen 
Satz  mit  apodiktifcher  Gewifsheit  erkannt  hat, 
doch  von  der  Wahrheit  anderer  wathemati- 
fchen  Sätze,  welche  diefem  an  Klarheit  und 
Evidenz  nicht<»nachgeben ,  fo  viel  als  nichts 
verftehet,  weil  er  bei  Unterfuchung  diefer 
znathematifchcn  Wahrheiten  feinem  Denken 
zu  bald  Grenzen  fezte  ,  und  nicht  weit  ge- 
nug vordrang.  Eben  lo  kann  es  mit  den  Be. 
griffen  gehen,  die  fich  auf  das  Dafeyn  Gottes 
beziehen,  Es  giebt  gewifs  keiue  Wahrheit, 
von  welcher  fich  ein  Menfch  fo  klar  überzeu- 
gen kann,  als  die  Exiftenz  Gottes;  allein 
wenn  Jemand  feine  ganze  Befriedigung  in 
den  Dingen  diefer  Welt  fuchet,  infofern  f:e  fei- 
nen Vergnügungen  und  Leidenfchaften  fchmei- 
cheln,  ohne  ihren  Urfachen,  Endzwecken 
und  künftlichen  Einrichtungen  nachzufor> 
fchen^  und  darauf  fein  Decken   Ölit  Intereflo 

und 


174  Elften     Buch, 

und  Aufmevkfainkeit  zurichten*  fo  wird  viel- 
leicht ein  grofser  Theil  feines  Lebens  ve.r" 
ftreichen ,  e!e  er  den  Begriff  eines  folchen 
Wefens  ahndet.  Es  ift  möglich,  dafs  maa 
vom  Hörenfagen  diefen  Begriff  in  das  Gemüth 
fafst  und  ihn  für  wahr  erkennet.  Allein  ohne 
eigne  Unterfuchung  hat  man  eine  eben  fo  un- 
vollkommene Erkenntnifs  ,  als  derjenige ,  der 
gehört  hatte,  dafs  die  drei  Winkel  in  einem 
Triangel  zweien  Rechten  gleich  find ,  und 
das  auf  Treu  und  Glauben,  ohne  Prüfung 
der  Demonftration  annimmt,  Diefer  kann 
dem  Satze  als  einer  wahrfuheirdichen  Mei- 
nung beiflimtnen,  aber  von  der  Wahrheit  def- 
felben  bat  er  keine  Erkenntnifs;  doch  kann 
er  auch  diefe  erlangen ,  wenn  er  feine  Denk- 
kraft lorgfdltiger  anwendet,  Doch  ich  be- 
merke diefs  nur  im  Vorbeigehen,  um  zu  zei- 
gen ,  wie  fehr  unfre  Erkenntnifs 
von  dem  richtigen  Gebrauch  der 
Kräfte,  die  uns  die  Natur  gegeben 
hat,  und  wie  wenig  fie  von  folchen  ange- 
bornen  Grundfätzen  abhängt,  die  man  in  al- 
len Menfchen  als  leitende  Principe  der  Er- 
kenntnifs ohne  Grund  vorausfezt,  Grundfätze 
die  alle  AZenfchen  erkennen  müfsten  ,    wenn 

he 


Viertes    Kapitel.  176 

fie  wirklich  vorhanden,  und  nicht  zwecklos  feyn 
füllen.  Da  fie  aber  nicht  von  allen  Menfchen 
erkennet  werden,  auch  fich  nicht  von  andern 
erworbenen  Wahrheiten  unterfcheiden  lallen, 
fo  darf  man  wohl  fchliefsen,  dafs  fie  nicht 
exiftiren. 


Die    Menfchen    muffen    für    fich 
felbfi.  denken  und  erkennen. 

Ich  kann  nicht  beftimmen,  welche  Urtheils 
ein  Mann,  der  die  angebornen  Grundfatzs 
bezweifelt,  von  Menfchen  erfahren  werde, 
die  feinen  Zweifel  wohl  gar  für  einen  Ver» 
fuch  ,  die  alten  Fundamente  der  Erkenntnifs 
und  der  Gewifsheit  umzuftürzen  halten,  möch- 
teu.  •  Aber  ich  fchmeichle  mir  doch,  dafs 
der  Weg,  den  ich  verfolgt  habe,  der  Wahr- 
heit angemeflen  ift,  und  jene  Fundamente  fi- 
cherer  legt.  Und  davon  bin  ich  gewifs  über- 
zeugt, dafs  es  meine  Abficht  in  der  folgen- 
den Abhandlung  nicht  war,  irgend  eine  Au- 
ctorhät  zu  verlafTen,  oder  zum  Führer  zu 
nehmen,      Die  Wahrheit  war  mein  emsige* 


176  Ei  ftes   Buch. 

Ziel,  und  wohin  mich  diefe  zu  leiten  fchien, 
dahin  folgten  meine  Gedanken  unpartheii  ch 
nach,  ohne  darauf  zu  achten,  ob  die  Fufs- 
tapTen  irgend  eines  andern  auch  auf  denfel- 
ben  Weg  führen  oder  nicht.  Nicht  als  wenn 
e«  "  ir  an  der  gehörigen  Achtung  gegen  die 
Meinungen  andrer  Menfchen  fehlte,  fondern 
weil  vor  allen  Dingen  der  Wahrheit  die 
gröfste  Achtung  gebühret.  Und  ich 
hoffe,  man  wird  es  mir  nicht  als  Anmaafsung 
auslegen,  wenn  ich  fage  ,  dafs  wir  in  den 
Entdeckungen  der  theoretifchen  Erkenntnifs 
vielleicht  gröfsere  Fortfehritte  machen  wür- 
den, wenn  wir  fie  an  ihrer  Quelle,  in 
der  Betrachtung  der  Dinge  felbft 
auffuchten,  und  dazu  lieber  unfer  eignes 
Denken  als  fremde  Gedanken  auwendeten. 
Denn  mit  fremden  Augen  fehen,  oder  mit 
dem  Verstände  anderer  erkennen  wollen,  ift 
wohl  eins  fö  vernünftig  aU  das  andere.  Wir 
befitzen  nur  fo  viele  reale  und  wahre  Er- 
kenntnifs, als  wir  fe'.bft  denken,  und  die 
Wahrheit  mit  ihren  Gründen  felbft  einfehen. 
Die  Ebbe  und  Fluth  fremder  Meinungen  in 
unterm  Kopfp  bringt  uns  keinen  Schritt  in 
der  Erkenntnifs  weiter,  wenn  fie  auch  wahr 

lind. 


Viertes    Kapitel.  177 

find.  Was  bei  andern  WilTenfchaft  war  ,  das 
ift  bei  uns  nur  ein  Meinen ,  wenn  wir  unter 
fürwahrhalten  nur  durch  verehrte  Namen 
beftimmen  laffen,  und  nicht,  nach  dem  Bei- 
fpiel  grofser  Denker,  unfre  eigne  Vernunft 
anwenden,  um  die  Wahrheiten  zu  be- 
greifen, welche  diefen  ihren  Ri  hm  erwar- 
ben. Ariftoteles  war  gewifsein  denken- 
der Kopf;  aber  noch  nie  hat  ihn  ein  Menfch 
für  das  gehalten ,  weil  er  fremde  Meinun- 
gen blindlings  annahm  und  dreufte  als 
feine  Ueberzeugungen  verbieiteie;  und  wenn 
er  nicht  dadurch  ein  Philoloph  wurde,  weil 
er  die  Grundfatze  eines  andern  ohne  eigne 
Unterfuchung  annahm,  fo  wird  es  wohl 
fcbwerlich  ein  anderer,  auf  diefera  Wege  wer- 
den. In  den  Witten  fchaften  befizt  jeder 
nur  foviel,  als  er  wirklich  denket  und  be- 
greift; was  er  nur  glaubt  und  auf  das  Art- 
fehen  eines  andern  annimmt,  das  ift  nur  Ab- 
gang und  Auskehricht,  welches,  fo  viele 
Haufen  man  auch  davon  fammelt,  doch  das 
Kapital  des  Sammlers  nicht  beträchtlich  ver* 
mehret.  Solch  ein  erborgter  Schatz  ift  nicht 
beffer,  als  bezaubertes  Geld,  welches  in  der 
Hand  des  Gebers  Gold  ift,  aber  in  Blätter 
JM  nnd 


178  Elftes    Buch. 

und  Sfaub  verwandelt  wird,  fo  bald  man  es 
ausgiebr. 

Woher    die    Meinung    von    a  n  g  e. 
bornen    Grundfätzen    entftand. 

So  wie  die  M  en  fchen    einige  allge- 
meine Sätze  fanden,  die,  fo  bald  man 
fie  verftand,    nicht  mehr  bezweifelt    werden 
konnten,  fo  begreife  ich  wohl,    dafs  fie  nur 
noch  einen    kleinen  Schritt  zu  thiin    hatten, 
um  auf  den  Schlufs  :  fie  f  i  n  d  angeboren, 
zu   verfallen.       Diefe    einmal  angenommene 
Hypothefe    befreiete  die  Trägen  auf   einmal 
von  einer  mühfamen  Unterfuchung  über  das 
was  nun  als  Angeboren  galt,  und  machte  der 
Nachforfchung   der  Zweifler  ein  Ende.      Und 
diejenigen,    welche   liir    VVifTer   und    Lehrer 
ansefehen  feyrt  wölben,  fanden   nicht   wenig 
ihre  Rechnung   dabei,   es  zum   Grundfatz 
aller     Grundfätze      zu     machen,      dafs 
Grundfätze  nicht  dürfen  «nterfucht  werden. 
Denn   nachdem    fie     mit     ihrer     Behauptung, 
dafs  es  angebCrne  Grundfätze  gebe,  Eingang 

ge- 


x      Viertes    Kapitel.  i*g 

gefunden  hatten,   fo  fahen  fich  ihre  Anhänger 
in  die  Notwendigkeit  verfezt,  einige  Lehren 
als  fulche  anzunehmen,  welches  eben  fo  viel 
war  ,  als  diele  Menfchen  von   dem  Gebrauch 
ihrer   eignen    Vernunft    und  Beunheilung  zu 
entbinden,     und  fie  der  blinden    Macht  des 
Glaubens  und  der  Auktorität,    ohne  alle  wei- 
tere UnteTfuchung   der  Wahrheiten  zu  unter- 
werfen.      Unter    dem    Scepter.des    blinden 
Glaubens  konnten  fie  freilich  von  einer  gewif- 
fen    Klaffe    von   Menfchen,    weiche    die  Ge« 
fchicklichkeit  und    den    Beruf  hatte,    andere 
d'irch  ihre  Grundfätze   zu  rr^ieren  ,   gemäch- 
licher   bpherrrcht  und  zu   ihrem   Vortheil  gp_ 
brujcht  wprden.       Ein  Menfch  erhält  in  der 
That  keine   kleine  Gewalt    über  den   andern, 
wenn   er   in  dem  Anfehen  ftehet,     der  Dikta- 
tor dpi  Gryndfätze  und  der  Lehrer  unbezwei- 
felrer  Wahrheiten  zu  feyn;  und  wenn  er  ma- 
chen   kann  ,    dafs  andere   als    einen   angebor- 
neu  Grundfatz   ver  chlucken  ,     was   für    leine 
fubj-ktiven  Zwecke   diei.lich   ift.      Hätte   man 
dagegen  die  Art    und  Wehe  unterfuchet,   wie 
die    Menfchen     zur    Erkenntnifs    allgemeiner 
"Wahrheiten  gelangen  ,    fo   würde  man  gefun- 
den  haben,    dafs  ffe  au<    der  redlichen   und 
M  2  ernft- 


»So  Etiles    Buch. 

ernftlichen  Unierfuchung  des  We^ns  der 
Dinge  entfpringen,  und  durch  die  gewiflen- 
hafte  Anwendung  derjenigen  Kräfte  entdeckt 
werden ,  welche  uns  die  Natur  zur  Annahme 
wnd  Beurtheilung  derfelben  gab  *> 

§•  25 

*)  Die  Entfiehungsart  der  Meinung  von  ange- 
bornen  Begriffen  ift  von  Locke  eben 
nicht  fehr  befriedigend  erkläret  worden.  Ei- 
gentlich hat  er  fie  aber  gar-  nicht  erkläret,  fon- 
dern  nur  angedeutet.  Was  er  darüber  fagt, 
betrifft  mehr  die  TJrfachen,  welche  diefer 
Voifie»lungs'art  fo  vielen  Eingang  verfchaften, 
welche  er  mit  Recht,  ztun  wenigften  zum  Theil 
in  der  Trägheit  des  rnenfchlichen  Geifies,  fich 
die  Unterfuchnng  über  die  lezten  Gründe  al- 
les Willens  möglichit  leicht  und  bequem  zu 
machen  ,  und  in  dem  natürlichen  Hange  ande- 
re zu  beherifchen ,  zu  finden  glaubte.  £)er 
Grund,  welcher  der  Behauptung  von  a  n  ge- 
bor ncn  Begriffen  fein  Dafeyn  gab,  liegt 
eigentlich  in  der  Bemerkung ,  dafs  es  Begriffe 
giebt ,  welche  aus  keinem  empirilchen  Ur- 
iprunge  erklärt  werden  können  ,  und  denen 
ein  Objekt  in  der  Erfahrung  entweder  gar 
aiicht  oder  nicht  vollkommen  entfpricht.  So 
kam  Plato  auf  feine  Ideen,  welche,  ob- 
gleich nicht    den    Worteil,     doch    der   Sache 

nalh 


Viertes    Kapital.  iö* 

Befchltifs   des    erften  Buche?» 

Die  folgende  Abhandlung  hat 
<1en  Zwek,  zu  zeigen,  wie  der  Ver« 
Ttand  da^ei  verfahret.  Ehe  ich  zu 
derfelben  fortgehe,  mufs  ich  noch  eine  Be- 
merkung machen.  Wenn  ich  mir  den  Weg 
zu  den,  wie  ich  glaube,  einzig  wahren  Grün- 
den bahnen  wollte,  auf  welchen  ein  Gebäu- 
de von  den  Begriffen ,  die  wir  aus  unfrer 
eignen  Erkenntnifs  haben  können,  gegrün- 
det werden. kann,  fo  war  ich  bis  hieher  ge- 
nothiger,  Rechenfchaft  von  den  Gründen  ab- 
zulegen! aus  welchen  ich  die  angehörten 
Grundfätze  bezweifelte.  Und  da  einige  Be- 
M  3  weife 

n>:ch ,  an^eborno  Pe^riffe  waren.  Aus  dieTem 
Grund  hielt  Cartes  die  Idee  von  Gott  für 
angeboren.  Fiincioia  Ph  ilo  Tophi  ae  P.  L 
§.  XV,  XVIII.  Was  aber  vorzüglich  dicfe 
Vorftellungsart  veranlaTstc,  war  der  Umfiand, 
daTs  man  noch  nickt  im  Stande  war,  die  Be» 
griffe,  die  man  nicht  empiiiTcli  erklären  konn- 
te ,  aus  den  Formen  und  GeTetzen  des  Veirno» 
gens  des  Gernütbs  abzuleiten, 

A.  d.  U. 


%$2  Elftes    Buc  h. 

Weife  gegen  die  angebomen  Grundfätze  aus 
gewöhnlich  angenommenen  Meinungen  ent- 
fpringen  ,  fo  mufste  ich  manches  als  einpe- 
ftanden  vorausfetzen;  ein  Verfahren,  das 
nicht  leicht  zu  vermeiden  ift ,  wenn  man  die 
Falfchheit  oder  Unwahrfcheinlichkeit  einer 
Behauptung  zeigen  will.  Es  gehet  in  gelehr. 
ten  Streitigkeiten  wie  bei  Belagerung  einer 
Stadt;  wenn  nur  der  Boden  worauf  die  Bat- 
terien errichtet  werden  ,  feft  und  zu  dem  ge- 
genwärtigen Zwecke  tauglich  ift,  fo  fragt 
man  nicht  darnnch,  wem  er  ab^eborgt  ift, 
oder  wem  er  angehört.  Aber  in  dem  folgen- 
den Theile  dieles  Werkes,  deffen  Zweck  ift, 
ein  einförmiges  mit  fich  felbft  zufammenhän- 
gendcs  Gebäude  aufzuführen,  fo  weit  meine 
eigne  Erfahrung  und  Beobachtung  mir  dazu 
behülflich  ift,  hoffe  ich  dafielbe  auf  einem 
foichen  Grund  zu  erbauen,  dafs  ich  nicht 
nöthig  h^be  ,  es  mit  Bogen  und  Pfeilern  zu 
unterftiitzen  ,  welche  nur  auf  einem  ei  borg- 
ten oder  erbettelten  Boden  ruhen.  Und 
wenn  mein  Gebäude  auch  in  die  Luft  ge- 
bauet wäre  ,  fo  will  ich  mich  doch  zum  \ve- 
rügten  beftreben  ,  d^fs  alles  aus  einem  Stück 
gearbeitet  und  zufauunenhängend  ift.       Hier 

inufs 


Viertes    Kapitel.  a8«5 

mufs  ich  die  Lefer  noch  warnen  ,  dafs  fie  kei- 
ne    firengen     apodiktifchen    Deinonftraiinnen 
erwarten  ;  fie  mulsten  denn  mir  ein  Privilegium 
einräumen,    deiTen    fich    andere    nicht    feiten 
anmaafsen,    nieine  Grundfätze   für  allgemein 
zugeftandene    Satze    zu    halten,    in  welchem 
Fall  ich  auch  wohl  demonftriren  könnte.    Al- 
les was  ich  von  denjenigen  Grundfätzen  noch 
zu    Tagen    habe,  die     der  Unttrfuchung    zur 
Grundlage  dienen,    ift,    dafs  ich   mich,   was 
ihre  Wahrheit   betrift,  auf   jedes    Menfchen 
unbefargene    Erfahrung   und    Beobach- 
tung berufe.     Und  mehr  kann  auch  von   ei- 
nem    Manne    nicht     gefodert    werden,      der 
nicht  mehr  verfpricht,  als  feine  eignen  Wahr- 
fcheinlichkeiten   über    einen     noch    etwas  in 
Dunkelheiten  verhüllren'Gegenftand    freiuü- 
thig   und  offen    darzulegen,     and     er    da  bißt 
keinen  andern  Zweck  hat ,    als  die  Wahrheit 
unuartheiifch  zu  unierfucben. 


M  4  Zwei. 


«84 


Zweites  Buch, 
Erftes    Kapitel. 

Voji  den  Vprftellungen  überhaupt  und  ihrem 
Urfprunge. 


§•       I. 


Vorftellung  ift  der  Gegenftand  des 
Denkens. 

Jede*  Menrch  ift  lieh  bewufst,  dafs  er  den. 
ket,  und  dafs  dasjenige,  womit  fich  die  See- 
le bei  dem  Denken  befchä füget,  die  in  demfel- 
ben  vorhandenen  Vor  ft  eilungen  find.  Hier- 
durch ift  es  aufser  allem  Zweifel  gefeit,  dafs 
in  der  Seele  des  Menfchen  verfchiedene  Vor- 
fiellangen gefunden  werden.  Solche  Vorftellun- 
aen  Gnd  es  z.  B*  welche  durch  die  Worte :  d  a  s 
Weifse.  die  Härte,  die  Süfsigkeit, 
das    Denken,    die    Bewegung,     der 

Meafch, 


Z  vre  i  tcs  Buch.     Elftes  Kapi  te  I,     185 

Mcufch,  der  Elephant,  die  Armee» 
die  Trunkenheit  u.  ft  w«  ausgedwükt 
werden.  Hier  entliehet  nun  zuerft  die  Fra- 
ge :  Wie  kommt  der  Menfch  zu  diefen  Vor- 
ftellungen?  Ich  weiTs  wohl,  es  ift  eine  an^e- 
nommene  Meinung  ,  dafs  die  Menfchen  an- 
geborne  Begriffe  haben,  und  dafs  gewifle 
Charaktere  feit  dem  Anfang  ihres  Dafeyns  in 
ihren  Verftand  gefchrieben  find,  und  fie  dt 
fchon  in  dem  vorigen  weitläufig  untersucht 
worden.  Allein  was  darüber  in  dem  erften 
Buche  gefagt  i(t,  wird,  wie  ich  denke,  noch 
mehr  Beifall  finden,  wenn  ich  £e/-ei£t  habe, 
woher  der  Verftand  alle  uiue  Begriffe  erhält, 
und  auf  Welchen  Wegen  und  durch  welche 
Abftufungen  fie  in  den  Verftand  Einsang  fin- 
den. In  diefen  Punkten  werde  ich  mich  auf 
die  Erfahrung  und  Beobachtung  jedes  einzel- 
nen Merffchen  berufen,  *) 

M  5  §♦  2. 

»)  Wenn  man  unter  angebomen  Begriffen  ,  Vor- 
rtellungen  verliehet ,  welche  von  dem  vovftel- 
lenden  Subject  von  dem  eilten  Anfan»  feines 
Dafeyiis  mit  klaren  Bcwnfs'ffeyn  vorgeficllt  wer- 
den ,  fo  ift  es  eine  Thatfache  das  Bewu'fstfeyn 

und 


*86  Zweites    Buch. 

§.      2. 

Alle  VorTtellungen  entfpringen 
aus  d  erEmpfindung  (Senfation) 
oder   fie  f  lex  io  n. 

Gefezt    wir   nahmen    an,    die  Seele  Tey, 
wie   man  fagt,    ein  weifses   unbefchriebenes 

Papier, 

und  die  Wahrheit  der  Behauptung  müfste  a 
pofteriori  bewiefen  weiden.  Sie  üt  daher 
fclion  widerlegt,  wenn  man ,  wie  Locke  ge- 
thanhat,  zeigt,  dafs  fie  zu  gewilTen  Zeiten  nicht 
im  Bewnfstfeyn  gefunden  werden,  und  dafs 
alles  Denken  einen  empirifchen  Urfpruns,  in 
der  Zeit  hat.  Diefer  Widerlpiuch  mit  der 
Erfahruns;  nöthiete  die  Veitheidiger  der  ange- 
hi  inen  Begriffe,  das  Bewnfstfeyn  von  den 
Bedingungen  des  Vorftellens  auszufchliefseti. 
Sie  fchloffen  fo  :  die  Seele  iß  eine  vorfallende 
Subftanz.  Die  Vorftellungskraft  macht  ihr 
Wefen  aus,  lie  mnfs  daher  zu  jeder  Zeit  vor- 
stellen ;  da  man  fich  nun  licht  immer  bewnfst 
ift,  dafs  man  Vorftclluneen  habe,  fo  mufs  die 
Seele  auch  ohne  Ik-wufstfevn-voi  hellen  und 
de;  ken  können  Diefe  Behauptuno;  widerleget 
Locke  in  diefem  Kapitel,  weil  he  unge- 
reimt, mit  der  Erfühl  uns;  ftreitet,  und  weil 
fie     aus   blufsen    Begriffen    auf  eine   objektive 

Rea- 


Elftes    Kapitel,  187 

Papier,  ohne  alle  Vorftellungen,  wie  wird 
fiedann  mit  denfelben  verfehen  ?  Woher  be- 
kommt 

Realität  fcliliefst.  Indem  Locke  keine  ans;«* 
bomen  Begriffe  in  dem  angegebenen  Sinn  an- 
nahm ,  fo  mvlfste  er  lie  freilich  als  Vorltellun- 
gen  betrachten,  deren  Bewufstfeyn  einmal  ia 
der  Zeit  angefangen  hat.  Einpiiifche  und  rei- 
jie  Vorftellungen  haben  diefes  mit  einander 
gemein  Da  aber  die  Untcrfcheidung  beider 
die  deutliche  Unterfcheidung  der  Form  und 
des  Stoffs  der  Vorftellungen  yorausfezt ,  und 
der  menfehliche  Geilt  diefe  Entdeckung  noch 
nicht  gemacht  hatte,  fo  wurden  die  eniphi. 
fchen  Vorfiellungen  den  angebornen  eYUgegen* 
gefezt  Zu  diefer  Verwech  feiung  trug  poch 
ein  Umftand  bei.  Die  grüfste  Anzahl  unfrei 
Vorftellungen  lind  aus  einem  von  Außen  ge- 
gebenen-Stoffe  erzeugt ,  und  die  reinen  wer* 
de«  nur  durch  die  Erfahrung  an  empirifchen 
entwickelt.  Die  lezten  konnten  daher  leicht 
überleben ,  und  mit  den  etilem  vurwcchfelt 
•werden.  Hierauf  gründete  fich  Locke's 
Verfucb,  die  Stammbegriffe  des  menh. laichen 
Verftandes,  die  uifprünglicuen  Voriicüungen 
auffcufuchen  und  zu  klaßificiren,  und  die  Art 
mm  Weife  zu  befiimmen,  wie  durch  man. 
nichfaltio-e  Verbindungen  deiTelben  unfex 
ganzer   lleichlhurn    au    Voftellungen  entliehe» 

könne, 


l83  Zweites    Euch. 

kornrat  fie    den   unermefslichen  Vorrath,  mit 
welchem  fie  durch  die  gefchäftige   und  gren- 

zenlofe 


könne,  ein  Vertuen  s  der  deßo  verdienftlicher 
jit ,  weil  er  der  Mite  diefer  Art  ift. 

Es  wird  liier  nicht  unzweckmäßig  feyn,  noch 
einige  Bemerkungen  über  Locke's  Begriffe 
von  Vbrftellangsvermögen  und  den  Gebrauch 
einiger  Worte  beyzufügen.  Das  ganze  Vor- 
ftellungsvermögen  begreift  nach  diefen  Philo- 
fophen  zweierlei  in  lieh,  das  Empfangen 
der  Vorftellungen  und  das  Verarbei- 
ten derfelben.  Alle  urfprünglicben,  ein- 
fachen Vorftellungen  werden  dem  Gemüthe 
gegeben  ,  und  es  thut  an  ihnen  weiter  nichts« 
als  dafs  es  fie  aufnimmt,  empfängt.  So 
bald  es  eine  V'orftelluug  empfängt,  hat  lie  auch 
ein  Bewnfstfayn  davon.  Diefe  beiden  Veiin- 
derun^en  drückt  Locke  oft  durch  ein  Wort, 
r.chmlich  Perception  tir d  pereeive  aus. 
Dabei  verhält  lieh  das  Gemöth  ganz  leidend. 
tt  V,.  g  Ch.  Nachdem  das  Gemütk  diefe  eiu- 
fachen  Vorftellungen  erhalten  hat,  fo  äufsert 
fieb  erft  die  lelbftthätige  Voiitellungs.kraft 
durch  das  B  e  h  a  1 1  e  n  ,  Vergleichen,  U  n- 
t  e  r  f  c  h  o  i  d  e  n ,  Trennen  und  Verbin- 
den derfelben.  Das  Denken  begreift  im  wei- 
tem Sinn  fowohl  jenes  blos  leidende  Empfan- 
gen, 


Elftes    Kapitel.  189 

zeniofe  Einbildungskraft  in  faft  unendlicher 
Mamnchfaltigkeit  ausgemalt  wird.  "Woher 
hat  fie  alle  Materialien  des  Denkens  und  der 
Erkenntnifs  ?  Ich  antworte  hierauf  mit  einem 
Worte,  aus  der  Erfahrung.  Alle  Erkennt- 
nifs gründet  fich  auf  die  Erfahrung  und 
entfpringt  zulczt  aus  ihr.  Unfre  Beobach- 
tung, welche  theils  die  äufsern 
wahrnehmbaren  Gegen  ftände, 

theils  die  innern,  von  uns  durch 
Reflexion  wahrgenommenen  Wir- 
kungen unfers  Geiftes  zum  Gegen- 
ftande  hat,  verforgt  unfern  Ver- 
stand mit  aliemStoffe  zumDenken» 

Die- 

gen3  als  auch  die  felbfithätige  Verarbeitung 
der  Vorßellun^en ;  im  entern  Sinne  wird 
diefeä  Wort  nur  zur  Bezeichnung  der  Funktio. 
neu  des  felbittüä Ligen  Vorfteller.s  gebraucht. 
II.  B.  9  Ch.  i\Ian  flehet  daraus,  wie  weit 
Locke  noch  von  dem  vollftändigen  Belnif- 
des  Vorftellungsvermügens  und  der  deutlichen 
Unteifcheidting  der  Arten  deflelben  einlernt 
war  ,  und  d<<fs  er  der  Seele  die  Vor&ellungea 
ganz  gegeben  werden  Lfst ,  ohne  das  zu  un. 
terfcheidun ,  was  ii.  empfängt,  und  was  iie 
ausfioh  feibft  dazu  giebt  oder  dazu 
thu|.  A.   d.  U. 


*90  Zweites    Buch, 

Biefes  Und  die  zwei  Quellen  der  Erkenntnis, 
woraus  alle  Begriffe,  entringen ,  die 
wir  wirklic  h  haben,  oder  natürlicher  Weife 
haben  können. 

§.     5. 

Die  Objekte  der  Empfindung 
find  die  eine  Quelle  der  Vor- 
f  teil  u  n  gen, 

Erftens-  Die  Sinne,  welche  fich  mit 
befondern  finnischen  Objekten  befchäftigen, 
führen  der  Seele  inannichfahige  deutliche 
Vorftellungen  von  Dingen  zu,  welche  der 
verschiedenen  Art  und  Weife  entfprechen  ,  auf 
weicheriiefe  Objekte  die  Sinne  afficiren.  Lid 
fo  erlangen  wir  unfre  Vorftellungen  von 
«I  e  in  Gel  be  n,  W  eilen,  von  der  Hitze 
und  Kälte,  von  der  Weichheit  und 
der  Härte,  von  der  S  ü  Fs  i  g  k  e  i  t  und  B  i  t- 
terkeit,  und  überhaupt  von  den  fogenann- 
ten  ilnrltchen  Befchaifenheiten,  Wenn  ich 
laoe  die  Sinne  führen  der  Seele  diefe.Vor_ 
f'teilLingen  zu.  fo  will  ich  damit  nur  fo  viel 
fagen  :  fie  führen  von  den  äufsern  Ob- 
jekten dasjenige  in  die  Seele,  was  hier  diefe 

Vor- 


Erftes    Kapitel.  I$i 

Vorftellungen  hervorbringt.  Diete  grofse 
Quelle  unTrer  rneiften  Begriffe  ,  welche  ganz 
von  den  Sinnen  abhängen,  und  von  diefen 
in  den  Verftand  geleitet  werden,  nenne  ich 
die  Empfindung  (Senfation), 

§.      4. 

Die  Thätigkeiten  unfers  Ge- 
müths  find  die  zweite  Quelle 
der  Begriffe» 
Zweitens,  Die  andere  Quelle,  aus 
welcber  die  Erfahrung  den  Verftand  mit  Be- 
griffen bereichert,  ift  das  Bewufstfeyn 
(perception)  der  Thätigkeiten  des  G  e- 
rnüths  in  uns  felbft,  infoferu  he  an  den  vor- 
handenen Verkeilungen  ausgeübt  werden, 
Wenn  die  Seele  diefe  Thätigkeiten  «beachtet 
und  über  fie  redektirt,  fo  erhält  der  Verftand 
eine  andere  Reihe  von  Vorftellungen,  welche 
nicht  von  den  AulTendingen  entfpringen  kön- 
nen. Solche  Thätigkeiten  des  Gemiiths  find 
unter  andern,  das  Wahrnehmen,  Den- 
ken, Zweifeln,  Glauben,  Schlie- 
fsen,  Erkennen,  Wollen.  Wenn  wir 
derfalben   bevvulst    werden,    und  iie  in  uns 

beobach- 


1J)2  Zweites     Buch, 

beobachten ,  fo   erhält  der  Verftand  von  ih- 
nen eben   fo  deutliche  Begriffe  als  von  Kör« 
pern,   die  die  Sinne   afficiren,     Diefe  Quelle 
von  Begriffen  hat  jeder  Menfch  in  fich  felbft 
vollßändig.     Sie  ift  zwar  kein  Sinn  ,    weil  Oe 
mit    äufsern    Objekten  nichts    zu    tbun    hat, 
aber  doch  etwas  Aehnliches ,    und  könnte  mit 
gutem    Grunde    der  innere    Sinn    genennt 
•werden*       Ich  nenne  diefe  Quelle    die    Re- 
flexion i    fo  wie  die    erftere ,     die  Empfin- 
dung (Senfstiort)  ,  da    die  Begriffe,    welche 
aus  jener  emfpringen,  nur    folche  find,    wel- 
che die  Seele  durch    die  Richtung    des  Den- 
kens auf  ihre  eignen   Operationen  in  ihrem 
Seibft  erhalt.      In  der  Folge  verftehe  ich   alfo 
unter  Reflexion    allezeit   die   ErKenntnifs  der 
See  e    von   ihren  eignen  Wirkungen  und  ih- 
rer beftimirsten   Art  ,     wodurch    der  Verftand 
Begriffe    von    eben    denselben    Gegenständen 
erhält.        Die    äufsern    materiellen    Din^e    als 
Objekte    der    Empfindung,     Un  d    die 
Wirkungen  der   Seele    in    uns  als    Objekte 
der    Reflexion    fmd    nun    meines    Erach- 
tens   die  einzigen  Grundstoffe  ,    aus  welchen 
alle    unfere     Begriffe    entfpringen.    Das 
Wert  Wi  rkunge n   (Operations.)  wird  hier 

in 


Elftes    Kapitel.  ig5 

in  dem  weitern  Sinn  genommen,  und  begreift 
nicht  nur  die  Tbütigkeiten  der  Seele,  welche 
fich  auf  ihre  Vorftellungen  beziehen  ,  fondem 
auch  gewifle  leidende  Zuitande,  welche  aus 
ihnen  zuweilen,  wie  z.  B.  das  Gefühl  der  Luft 
oder  Unluft  aus  einem  Gedanken,  entfpringen. 

§♦     5. 

Alle    unfre    Begriffe   ftammen    aus 
einer  ditfer  Quellen  ab. 

Man  findet,  wie  es  mir  fcheint,  in  dem 
Verftande  nicht  die  geringfte  Spur  von  einer 
VorfteNung,  die  nicht  aus  einer  Von  die- 
len beiden  Quellen  entftanden  ift.  A  eu  fser  e 
Ge^enftände  gewähren  der  Seele 
Vor  f  t  el  1  u  ng  en  von  finnlichen  B  e- 
f  cha  f  fen  h  ei  t  en  ,  und  diefe  find  die  .ver- 
fchiedenen  Vorftellungen,  welche  jene  Objekte 
in  uns  erzeugen.  Die  Seele  giebt  dem 
Verftande  Vorftellungen  von  ih- 
ren eignen  Wirkungen, 

Wenn    wir    eine  vollftändige    UeberCcht 
von    diefen  Begriffen,    ihien  Befchaffenhei- 

N  ten 


»94  Zweites  Buch. 

ten,  Verbindungen  und  Verhältniflen  gege- 
ben haben ,  fo  wird  es  (Ich  finden ,  dafs  fie 
den  ganzen  Stamm  aller  unferer  Begriffe  aus- 
machen ,  und  dafs  nichts  in  der  Seele  ift, 
was  nicht  auf  einem  von  diefen  beiden  We- 
gen in  fie  kam.  Man  unterfuche  feine  eignen 
Gedanken,  man  durchforfche  feinen  Ver- 
ßand,  und  Tage  dann,  ob  noch  andere  Stamm- 
begriffe  als  von  den  Objekten  der  Sinne,  oder 
von  den  Wirkungen  der  Seele,  als  Gegenftände 
der  Reflexion  betrachtet,  in  feinem Selbft 
gefunden  werden.  Und  wenn  auch  Jemand 
die  Summe  feiner  Erkenntnifs  noch  fo  hoch 
anfchlägt,  fo  wird  er  doch  nach  einer  ftrengen 
Mufterung  keine  Vorfteilung  entdecken,  die 
nicht  auf  einem  von  beid'en  We- 
gen in  die  Seele  gekommen  ift. 
Aber  freilich  kann  der  Verftand,  wie  wir  nach- 
her fehen  werden,  diefe  Vorftellungen  auf  eine 
unendlich  mannichfaltige  Weife  zufammen- 
fetzen. 

§•     6. 

Diefes   läfst   fich    b  ei  Kindern  be- 
ob  a  chten. 

Wer  den  Zuftand  eines  Kindes  bei  feinem 
«rften   Eintritt  ia    die  Weh  aufmerkfam  be- 

trach 


Erftes    Kapitel.  jpy 

trachtet,  der  wird  keine  Urfache  finden,  in 
!ben  einen  grofsen  Vorrath  von  Vorftel- 
lungen,  als  Stoii  ffiner  künftigen  Erkenntuifs 
anzunehmen.  Es  wird  mit  deufdben  nur 
nach  und  nach  verforget*  Und  obgleich  die 
auffallenden  und  bekannten  Eigeufchafien 
der  Dinpe  in  Vorstellungen  gelalst  werden, 
ehe  das  Gedächtnifs  über  die  Zeit  und  Ord- 
nung  dei  eiben  gleichfam  Regiiter  zu  halten 
anfängt,  fo  gehet  es  doch  oft  fo  largfara, 
ehe  einige  ungewöhnliche  Eigen  Jena  ften  fich 
darbieten .  dals  nur  wenige  Mer.fchen  f:ch 
auf  die  Zeit  befmnen  können,  da  ihre  Et- 
kanntfchaft  n:it  dielen  anfing.  Und  wenn  es 
lieh  der  Mübe  lohnte,  fo  könnte  man  ein 
Kind  ohne  Zweifel  fo  aufziehen,  dafs  es  eine 
fehr  kleine  Anzahl  felbft  von  den  gewöhnli- 
chen Begriffen  erhielte  Da  aber  alle  die 
auf  die  Welt  kommen,  von  Körpern  umgeben} 
find,  von  welchen  lie  beftändig  und  auf  nannich- 
falüge  Weife  afheiret  werden,  fo  wird  mit  oder 
ohne  felbftthätige  Veranftaltung,  eine  grofse 
Älannichfaltigkeit  von  Vorftellungen  der 
Seele  der  Kinder  zugeführet.  Das  Licht  und 
die  Farben  ftellen  f;ch  .:11er  Orten  dar, 
■wo  das  Auge  offen  ift;  die  Töne   und  eil  i- 

K    2  2.9 


ig6  Zweites   Bu-ch. 

ge  fühlbare  Eigen  fc  haften,  reifzen 
ohne  Umeilafs  den  ihnen  entsprechenden 
Sinn,  und  öfnen  fich  gleichfam  mit  Gewalt 
einen  Eingang  in  die  Seele.  Wenn  aber 
ein  Kind  in  einein  Plane  eingefchloffen  wür- 
de, wo  es  bis  an  fein  männliches  Alter  nichts 
anders  als  vveiffe  und  fchwarze  Gegenfiäude 
fähe,  fo  wird  wohl  Jedermann  ohne  Schwie- 
rigkeit eingefiehen,  dafs  es  eben  fo  wenig 
eine  Vorftellung  von  der  fcharlachrothen  oder 
grünen  Farbe  haben,  als  ein  Menfch  fich  vor- 
teilen kann,  wie  Aufternoder  Ananas  fchmek- 
ken,  der  fie  von  feiner  Kindheit  an  noch  nie 
gekoftet  hat. 

§-      7- 

Die  Menfchen  erhalten  auf  Ter- 
fchiedene  Weife  Vorftellungen 
aus  d  ie  fe  n  Q  u  eil  e  n,in  fo  fern  die. 
Objekte  verfchieden  find,  mit 
denen. fie  in  Verbindung  ftehen. 

Die  Menfchen  erhalten  mehr  oder  weni- 
ger einfache  Vorftellungen  von  Aufsen,  je  nach- 
dem die  Objekte,  mit  denen  fie  fich  befchäf- 

tigen, 


Elftes    Kapitel.  jqj 

tigen  ,    eine  gröfsere  oder  kleinere  Mannich- 
faltigkeit  darbieten;    und  von  den   Wirkun- 
gen der  Seele  in  ihneD  ,  je  nachdem  üe  mehr 
oder    weniger    über  fie    reflektiren.       Denn 
wer  die  Wirkungen  feiner    Seele  betrachtet, 
wird  zwar   immer  eine  klare  Vorftellung  von 
ihnen   haben  j   allein  ohne  die  Richtung  fei- 
nes Denkens  auf  diefen  Gegenftand  und  ohne 
aufmerkfame  Beachtung  deffelben  wird  es  ihm 
eben   fo  an  klaren  und    deutlichen   Begrif- 
fen  v_o  n    allen    Wirkungen    derselben, 
und    von    alle    dem,      was    in   feinem  Selbft 
wahrnehmbar  ift,  fehlen,  als  derjenige  nicht 
alle    Theilvorftellungen    von    einem    Land- 
fchaftsgemälde    oder    den   Theilen  und  dem 
Mechanismus  einer  Uhr  hat,  der  feine  Augen 
nicht    darauf   richtet,    und  nicht  alle  Theile 
mit  Aufmerkfamkeit  beobachtet.     Das  Gemäl- 
de und   die  Uhr  kann  fo   geftellt   feyn,  dafs 
lie  ihm  alle  Tage  in  die  Augen  fallen;  und 
doch  wird  fein  Begriff  von  allen   ihren  Thei- 
len fo  lange  undeutlich  feyn  ,    bis  er  felbft- 
t hat  ig     feine     Aufmerkfamkeit     auf 
die  vollüändige  Betrachtung  derfclben  richtet. 


N  3  §.8. 


ig%  Zweites    Bucli. 

§.     8. 

Die  Vor  Prellungen  der  Reflexion 
find  f  p  il  l  e  r  n  U 1  f  p  r  u  ngs,  weil  !  i  e 
Aufmerkfarakeit  vorausfetzen. 

Und  hier  fehen  wir  die    Urf3f.be,    warum 
Kinder  fo  fpät  eine  Vorftellung  von  (\en  Wir- 
kungen ihrer  Seele  erlangen,  und  warum  einige 
Menfchen  ihr  ganzes  Leben  hindurch  keinen 
vollkommen  klaren    und  vollftändigen  Betriff 
Von  den  meiften  Thatigkeiten  ihres  Gemüths 
haben»     Unaufhörlich  gehen   zwar  Verände- 
rungen in   ihrem   Innern  vor;     aber  weil  He 
gleich  flüchtigen  Erfcheinungen  keinen  tiefen 
Eindruck   machen,    fo  laffen  fie  keine  klaren 
deutlichen    und   dauerhaften  Vorftellungen    in 
der  Seele  zurück, bis  der  Verftand  auf  fich  felbft 
gerichtet,    überfeine   Thärigkeiten    re- 
flektirt,   und  fie  zum  Gegenftand  feiner  eig- 
nen   Betrachtung  macht.     Die  Kinder  befin. 
den  fich  in  ihren   erften   Jahren   in   einer  für 
fie  ganz  neuen  Welt,      Alle  Objekte   ziehen 
das   Gemüth  durch  unaufhörlichen   Reiz  der 
Sinne  von  fich  felbft  ab  ;  das  Gemüth  ift  fchon 
an  fich  geneigt,  nur  das  Neue  zu  bemerken,  und 
es  ftrebt  von  Natur  nach  dem  Vergnügen,  wel- 
ches 


E  t  [  c  e  s     Kapitel.  195 

ches  aus  der  Mannigfaltigkeit  immer  vvech- 
felnder  Gegenftände  entfteht,  Die  erften 
Jahre  werden  alfo  gewöhnlich  in  der  zer- 
ftreuenden  Befchauung  der  AulTendinge  zuge- 
bracht. Die  Menfchen  befchäftigen  fich  jezt 
nur  damit,  mit  dem,  was  aufser  ihnen  ift, 
bekannt  zu  werden,  und  indem  fie  in  der  be- 
ständigen Aufmerkfamkeit  auf  aufsere  Empfin- 
dungen aufwachfen ,  fo  werfen  fie  feiten  ei- 
nen beobachtenden  Blick  auf  das,  was  in  ih- 
rem Selbft  vorgehet ,  bis  fie  zu  reifern  Jah- 
ren kommen.  Einige  aber  reflektiren  darüber 
auch  ihre  gan?.e  Lebenszeit  nicht» 


§•      9* 

Die    Seele    hat   V  o  rftellungen  ,     fo» 
bald  fie  etwas  wahrnimmt« 

Wenn  man  fragt,  zu  welcher  Zeit  ein 
Menfch  die  erften  Vorflellungen  hat ,  fo  fragt 
man,  wenn  er  anfängt  zu  empfinden,  und  fich. 
bewirfst  zu  werden  (perceive).  Denn  Vorltel- 
lungen  haben ,  und  fich  etwas  bewufst  feyn, 
ift  einerlei.  Ich  weifs  wohl,  es  giebt  eine 
Meinung,  dafs  die  Seele  immer  denkt,  und 
N  4  ein 


ioo  Zweites    Euch. 

ein  wirkliches  Bewnfstfeyn  von  Vorftellunjen 
in  fich  hat,  fo  lange  als  fie  exiftiret;  dafs 
das  wirkliche  Denken  fo  unzertrennlich  von 
der  Seele  ift,  als  die  Ausdehnung  vom  hör- 
per.  Ift  diefes  wahr,  fo  heifst  die  Frage: 
wenn  fängt  der  Menfch  an,  Vorftelhm- 
gen  zu  haben,  eben  fo  viel,  als:  wenn 
fängt  fich  das  Dafevn  der  Seele  an  ? 
Denn  nach  diefer  Vorftellnngort  mufs  die 
Seele  rait  ihren  Vorftellungen,  wie  der  Kör- 
per, und  die  Ausdehnung  zu  jeder  Zeit  unzer- 
trennlich vorhanden  feyn» 

§.  IO. 
Die  Seele  denkt  nicht  immer,  denn 
es  ift  nicht  erwiefen. 
Ob  man  annehmen  muffe,  dafs  die  Seele 
vor  der  erften  Bildung  und  Organifation  des 
Leibes i  vor  dem  Anfang  des  thierifchen  Le- 
bens, oder  zugleich,  oder  einige  Zeit  nachher 
exiftire,  das  mögen  diejenigen  ausmachen, 
welche  reiflicher  über  diefe  Sache  nachge- 
dacht haben.  Ich  mufs  gefcehen ,  meine 
Seele  gehört  in  die  Klaffe  der  blödfinnigen, 
"welche  rieht  wahrnehmen  wollen,  dafs  fie 
immer  denken,  und  eben  fo  wenig  die  Noth- 

wen- 


Elftes     Kapitel.  2oi 

wendigkeit     einfeben    können,     warum    die 
Seele  immer  d  e  n  ken,  als  warum  der  Kör- 
per immer  in    Bewegung   feyn   rnülle       Denn 
das  V  orfteilen    ift,     wie  ich  mir  die    Sa- 
che   denke,    für    die    bee\e    eben  das,    was 
für     den    Köiper    die    Bewegung    ift,    nicht 
ihr    Wefen ,      fon  lern     eine    ihrer     Wirkun- 
gen.    Man  ftelle  lieh  das  Denken  noch  fo  fehr 
als    die  eigentümliche    Handlung   der   Seele 
vor,    fo  ift  es  doch  nicht   noth wendig  anzu- 
nehmen,  dals  fie  immer  denke,  immer  thätig 
fey.      Die'.s   ift  vielleicht   ein    Vorzug  des  un- 
endlichen Urhebers  und  Erhalters  der  Din»e 
der   nie    fehl  um  inert    noch    fchläfr 
aber  es  kommt  keinem  endlichen  Wefen,  zum 
wenigften  nicht  der   menfehlichen    Seele  »u. 
Wir  wiffen  durch  die  Erfahrung  mit  Gevvifs- 
heit,    dafs  wir  zuweilen  denken,  und  ziehen 
daraus  die   untrügliche    Folgerung ,     dafs    in 
uns    Etwas    ift,    welches   das    Vermögen    zu 
denken  hat.      Üb  aber  diefe  Subftanz  beftän- 
dig  denkt  oder  nicht,   können  wir  nur  in  fo- 
fern  wiffen,  als  uns  die  Erfahrung  Kenntnifs 
davon  giebt.      Denn    wenn     man    fagt,    das 
wirkliche    Denken    gehöret    zum    Wefen  der 
Seele  und  ift  von  ihr  unzertrennlich,  fo  be- 
N  S  vveift 


$03  Zweites'  Buch. 

weift  man  nicht  aus  Gründen,  welches  doch 
gefchehen  müfste,  wenn  jenes  kein  an  fich 
evidenter  Satz  ift,  fondern  fezt,  fchon  als  be- 
wiefen  voraus ,  was  bewiefen  werden  follte» 
Und  was  die  innere  Evidenz  des  Satzes : 
die  Seele  denkt  zu  jeder  Zeit,  be- 
triff, dafs  ihm  jedermann  beiftimmen  müfse, 
der  ihn  hört,  fo  berufe  ich  mich  auf  das  Ur- 
theil  jedes  Menfchen.  Es  ift  zweifelhaft,  ob 
ich  die  ganze  vergangene  Nacht  gedacht  habe, 
oder  nicht.  Hier  ift  alfo  die  Rede  von  einer 
ftreitigen  Thatfache;  und  man  fetzt  fie  fchon 
als  erwiefen  voraus,  wenn  man  zu  ihrem 
Beweis  eine  Hypothefe  auffteüt,  welche  die 
Streitfache  felbft  enthält.  Auf  diefe  Art  läfst 
fich  alles  erweifen.  Man  darf  nur  vorausfe- 
zen,  dafs  alle  Uhren,  während  der  Perpendi- 
kel fich  bewegt,  denken:  und  dann  ift  es  eine 
erwieTene  und  unbezweifelte  Wahrheit,  dafs 
meine  Uhr  die  ganze  vergangene  Nacht 
dachte.  Allein  man  follte,  um  fich  nicht  zu 
täufchen  ,  feine  Hypothefen  auf  Thatfachen 
ftützen,  und  fie  durch  die  Erfahrung  bewei- 
fen ,  aber  nicht  umgekehrt ,  der  Hypothefe 
•wegen,  das  ift,  weil  man  vorausfezt,  es  fey 
fo,  Thatfachen  annehmen»    Diefe  Art  zu  be- 

weifen 


Er  fies   Kapitel.  203 

weifen   gehet  aiu:  (liefen  Schlufs  hinaus:     Es 
ift  noth wendig,  dafs  ich  die  ganze  vergange- 
ne INacht  dachte,  weil  ein  andrer  vorausfezt, 
dafs  ich  immer  denke,  ob  ich  gleich  in  mei 
nein  ßewufstfeyn  nichts  davon  wahrnehme. 

Die  Menfchen  künnen  nicht  nur  aus  Vor- 
liebe   zu   ihren  Meinungen   das  vorausfetzen, 
wovon    noch  die   Frage  ift ,   fondern  auch  zu 
diefein    P.ehuF    Tharfachen    verdrehen!     Wie 
hätte   fpnft   ein   Gewitter    den  Satz  für  meine 
Folgerung    aasgeben   können;     Ein    Diu» 
exi  ft  i r  t     nicht,      weil      wir     feines 
Dafeyns       in       dem      Schlafe     nicht 
bewufst    find.      Ich   behaupte  nicht,  dafs 
ein  Menfch  im  Schlafe  keine  Seele  hat;  weil 
er  fieh  da   derfelben  nicht  bewufst  ift,    fon- 
dern nur,   dafs   man  nicht   denken   kann,    es 
fey  im  wachenden  oder  fchlafenden  Zuftande, 
ohne  ein  ßewufstfeyn  davon  zu  haben.     Das 
Bewufstfeyn  ift   nicht   für   die  Exiftenz  eines 
Dinges  aber  wohl  für  unfere  Gedanken  not- 
wendig;   und  diefe  Noth  wendigkeit  wird   fo 
lange  beftehen ,    als  wir  nicht  .ohne  Bewufst« 
Teyn  denken  können, 

§.  II» 


20/f  Zweites    Buch. 

§•       II» 

Die  Seele    ift   fich  nicht   allezeit 
des  Denkens  bewufst» 

Ich  räume  ein,  dafs  die   Seele  in  einem 
wachenden  Menfchen  immer  denkt,  denn  dar- 
in befteht  eben  das  Wachen.        Ob   aber  ein 
Schlaf  ohne  Traum,    nicht    ein  Zuftand    des 
ganzen  Menfchen,  der  Seele  fovvohl ,  als   des 
Körpers  fey,   ift  eine  Frage,    die  wohi  ver- 
diente, von  einem  Wachenden  unterfucht  zu 
werden.       Denn   es  ift  kaum  denkbar,    dafs 
ein  Wefen  denke,    ohne    fich  deiTen  bewufst 
zu  feyn !  Wenn  die  Seele  eines  fchla- 
fenden   Menfchen    denkt,    aber    ohne 
Bewufstfeyn,  fo  frage  ich  :  bat/ie  während  dem 
Denken  ein   Gefühl  von  Luft  und  Unluft,  ift 
fie    der  Glückfe'igkeit    oder  des   Elends    em- 
pfänglich?    Allein    ich     denke    ein     folcher 
MenTch   ift  deflen   fo  wenig  empfänglich,  als 
das  Bette  oder  die  Erde,     worauf  er    liegt, 
Dennglückrelig  oder  elend  feyn,  ohne  davon 
ein   Bewufstfeyn   zu  haben ,    fchefnt  ar.ir  wi 
derfprechend    und  .unmöglich.      Oder   wenn 
es     möglich     ift,      dafs  die     Seele,      wäh- 
rend 


Elftes    Kapitel.  2o5 

rend  deflen  der  Körper  fchlaft,  für  fich  den- 
ket, für  lieh  ihren  eignen  Genurs,  Kummer, 
Vergnügen  und  Schmerz  hat,  wovon  der 
Meufch  nichts  vveifs,  woran  er  keinen  An- 
theil  nimmt,  fo  ift  gewifs  der  fchlafende 
Sokrates  und  der  wachende  Sokra- 
tes nichteine  und  diefelbe  Perfon  ,  fondem 
der  wachende  Sokrates,  der  aus  Leib  und 
Seele  beftehet ,  und  die  Seele  des  Sokrates, 
wenn  er  fchlaft,  find  zwei  Perfonen.  Denn 
der  wachende  Sokrates  hat  keine  Kenntnis 
von  dem,  was  feine  Seele  in  dem  Schla  e 
denket,  und  ift  fo  gleichgültig  gegen  das  ganz 
ifolirte  angenehme  oder  unangenehme  Gefühl 
derselben  in  dieTem  ihm  unbekannten  Zuftan- 
de,  als  gegen  das  Glück  oder  Unglückeines 
unbekannten  Menfchen  in  Indien.  Denn 
worinn  follte  man  noch  die  Identität  der  Per- 
fon fetzen,  wenn  man  alles  Bewufstfeyn  un- 
frer  Handlungen  und  Empfindungen,  vorzüg- 
lich des  V"ergriügens  und  des  Sehmerzens, 
und  des  damit  verknüpften  Intereffes  aufhebt? 


>.    12, 


206  Zweites    B  u  c  h. 

§.       12. 

Wenn  ein  fchlafender  Menfch 
denkt,  ohne  (ich  defffn  be- 
w  u  f s  t  z  u  f  e  y  n  ,  f  o  fi  n  d  d  e  r  S  c  h  1  a- 
fende  und  der  Wachende  zwei 
Per  fon  en» 

Die  Seele,  Tagt  man,  denkt  auch  im  tiefen 
Schlafe.  Während  fie  denkt  und 
fich  etwas  vorftellt,  ift  fie  gewifs 
unter  andern  auch  der  Empfindungen  von 
Luft  und  Ursluft  empfänglich,  und  fie  mufs 
nothw  endig  ihrer  eignen  Vorftel- 
lungen  bewufst  feyn.  Das  alles  aber 
hat  fte  für  fich  allein,  und  es  liegt  am  Tage, 
dafs  der  Schlafende  nichts  von  dem  allen 
weife.  Wir  wollen  alfo  fetzen,  die  Seele  des 
Caftor  habe  ftch,  während  dafs  diefer 
fchläft,  aus  dem  Leibe  entfernt,  -  eineHypo- 
thefe  ,  welche  den  Männern,  mit  denen  wir 
es  hier  zu  thun  haben,  nicht  unmöglich  vor- 
kommen darf.  Sie  die  fonft  fo  freigebig  al- 
len andern Thieren  ein  Leben  ohne  eine  den- 
kende Seele  beilegen,  dürfen  es  für  keine 
Unmöglichkeit,  für  keinen Widerfpruch  hal- 
ten, 


Elftes     Kapitel.  207 

•ten,  daß  der  Körper  ohne  Seele  leben,  und 
die  Seele  ohne  den  Körper  exiftiren,  denken, 
Empfindungen  von  ihrem  angenehmen  und 
unangenehmen  Zuftande  haben  foll  *).  Lafst 
i'ns  alfo,  wie  ich  gefagt  habe  ,  annehmen,  die 
Seele  des  Caftor  trenne  fich,  während 
diefer  fchläft,  von  feinem  Leibe,  um  für 
fich  allein  zu  denken;  lafst  uns  ferner  anneh- 
nehmen  ,  fie  wähle  fich  den  Körper  eines 
andern  Menfchen  z.  B.  des  P  o  1 1  u  x,  der  auch 
ohne  Seele  fchläft,  zur  Scene  ihres  Denkens. 
Denn  wenn  die  Seele  des  Caftor,  während 
diefer  fchläft,  denken  kann,  ohne  dafs  diefer 
ein  ßewursifeyn  davon  hat,  fo  ift  es  einerlei, 
was  fie  fich  für  einen  Ort  zum  denken  wäh- 
let. Wir  haben  dann  nach  diefer  Vorausfe- 
tzung  die  Leiber  von  zwei  Menfchen,  die 
nur  eine  Seele  gemein  haben,  und  die  wech- 

.  feii- 

*)  Diefes  beziehet  fich  auf  die  Behauptung  des 
Caites  und  'einiger  feiner  Anhänger,  dati 
die  Thiere  keine  Seele  haben,  ob  he  <deic!i 
durch  bloben  Mechanismus  des  Körpers 
Handlungen  hervorbringen,  welche  Ähnlich- 
keit mit  den  vernünftigen  Handhuigen  der 
Menfchen  zu  haben   f ehernen« 

A.  d.   ü. 


20$  Zweites    Buch. 

felsweife  wachen  und  fchlafen  (ollen*  und 
dieSeele  des  Wachenden  denkt  unaufhörlich, 
wovon  aher  der  Schlafende  ganz  und  gar 
kein  Efewufstfeyn,  Keine  Empfindung  hat. 
Jezt  frage  ich,  ob  nicht  Ca  fror  und  Po  11  ux, 
die  beide  eine  gemeinfcija't  iche  Seele  haben, 
welche  in  dem  einem  denkt  i.nd  empfindet, 
dcflen  Geh  der  andere  nicht  bewuist  ift,  und 
•was  ihn  nicht  intereffiret,  eben  fo  gut  zwei 
verfchiedene  Perfonen  find,  als  Caftor 
und  Herkules,  oderSokrates  und  P la- 
to waren?  und  ob  nicht  der  eine  fehr  glück- 
feiig.,  der  andere  fehr  elend  feyn  kann? 
Aus  e  ben  demfelben  Grunde  machen  he  die 
Seele  und  den  Menfchen  zu  zwei  Perfonen, 
wenn  he  annehmen,  die  Seele  könne  für  fich 
altein  denken,  ohne  dafs  der  Menfch  ein  P>e- 
wufstfeyn  davon  hat.  Denn  ich  denke  nicht, 
dafs  Jemand  die  Identität  der  Perfon  in  der 
Vereinigung  der  Seele  mit  eben  denfelbennu- 
merifchen  Partikeln  der  Materie  fetzen  wird. 
Beruhete  die.; Identität  auf  diefer  Bedingung, 
fo  konnte  ein  Menfch  ,  bei  der  beftändigen 
Veränderlichkeit  der  Theile  unfers  Leibes 
nicht  zwei  Page  oder  auch  nur  zwei  Augen- 
blicke hinter  einander  einerlei  Perfon   feyn. 


Elftes    Kapitel;  *ojj 

§.      i5. 

Diejenigen,  welche  ohne  Trau- 
me fchlafen,  können  nicht 
überzeugt  wer  den,  dafs  fie  in 
dem  Schlafe  denken. 

Und  fb  erfchüttert,  wie  mich  dünkt,  jedes 
Kopffenken  im  Schlummer  die  Behauptung, 
dafs  die  Seele  immer  denke.  Zum  wenigften 
können  diejenigen,  welche  ohne  Träu- 
me fchlafen,  nicht  überzeuget  werden» 
dafs  ihre  Denkkraft  zuweilen  vier  Stunden 
nach  einander  belchäftiget  fey,  ohne  dafs  fie 
etwas  davon  wüten.  Und  wenn  man  fie 
auch  über  diefe  Thätigkeit  überrafcht,  und 
aus  diefer  Träumerei  aufweckt,  fo  können 
fie  doch  nicht  das  geringfte  davon  fagen, 

§♦      14. 

Es  ift  eine  leere  Ausflucht,' 
wenn  man  fagt,  die  Menlchen 
träumen,  ohne  lieh  deffen  ent« 
Finnen  zu  können. 

Vielleicht  wird  man  fagen :   Die    Seele 
denktauch   in    dem   tiefften  Schla- 


2fts  Zweites  Buch. 

fe,  aber  das  Gedachtnifs  erhält  kei- 
ne Spur  davon.  Allein  es  ift  kaum  ge- 
denkbar, dafs  die  Seele  eines  fchlafenden 
Menfchen  den  einen  Augenblick  mit  Denken 
befchäftiget ,  und  den  darauf  folgenden  des 
Erwachens  alles  aus  dem  Gedachtnifs  ver- 
schwunden fey.  Die  Ueberzeu^ung  davon 
erfodert  andere  Beweife  ,  als  die  blofse  Be 
hauptung.  Denn  wer  wird  wohl  ein  blofses 
Meinen  für  einen  Beweis  gelten  lallen,  dafs 
der  grölste  Theil  der  Menfchen  ihr  ganzes 
Leben  hindurch  täglich  einige  Stunden  über 
etwas  denket,  und  doch,  wenn  man  fie  felbft 
Während  diefer  Handlung  fraget,  fich  nicht 
eines  einzigen  Gedanken  erinnere?  Der 
gröfsfe  Theil  des  Schlafes  fliefset ,  wie  ich 
glaube,  bei  den  meiiten  Menfchen  ohne 
Träume  hin.  Ich  kannte  einft  einen  jungen 
Gelehrten  von  keinem  unglücklichen  Gedacht- 
nifs, der,  wie  er  mir  erzählte,  nie  in  feinem 
Leben  träumte?  als  in  dem  Fieber,  von  dem 
er  eben  jezt  genefen  war,  und  das  war  un- 
gefähr in  dem  fünf  oder  fechs  und  zwanzig- 
sten Jahre  feines  Alters.  Es  laffen  fich  wohl 
iroch  mehrere  folche  Beifpiele  finden,  und  die 
Erfahrung   wird    jeden    mit  genug    Perforier! 

be- 


Elftes    Kapitel,  2i* 

bekannt  machen  *    welche  die  meifteri  Nächte 
nicht  träumen. 


§♦     i5. 

Nach  diefer  Hypothefe  müTsten 
die  Gedanken  eines  fchlafen- 
den  Menfchen  die  vernünftig- 
ften  feyn. 

Oft  denken,  und  keinen  Augen« 
blick  etwas  davon  im  GcdächtniTs 
behalten,  ift  eine  fehr  unnütze 
Art  zu  denken.  Die  Seele  hat,  bei  ei- 
nem folchen  Denken,  wenig  oder  keinen 
Vorzug  vor  einem  Spiegel,  welcher  unauf- 
hörlich eine  grofse  Mannichfaltigkeit  von 
Bildern  und  Vorftellungen  empfängt ,  abef 
lteine  derfelben  fefthält;  fie  verlieren  fich 
aus  dem  Geiicht  und  verfchwinden  ohne  ei- 
ne Spur  zurückzulalTen.  Die  Seele  befindet 
fich  bei  folchen  Gedanken  nicht  beifer,  als 
derSpiegel  bei  diefen  Abbildungen.  „Bei  dem 
Denken  iu  dem  wachenden  Zuftande,  wird 
man  vielleicht  fagen.  Werden  gewille  Orga« 
ne  des  Körpers  in  Bewegung  gefezt  und  be- 
O  2  febäfti" 


2}2  Zweites    Euch. 

fchaftiget;  das  Gedachtnifs   bewahret  die  Ge- 
danken auf,  vermöge  der  Eindrücke  und  Spu- 
len, welche  das  Denken  in    dem  Gehirn  zu- 
rückläfst.       Allein    bei  dem  Denken,    deflen 
fich  ein  Menfch  in  dem  Schlafe  nicht  bewufst 
ift,  denkt  die  Seele  für  fich  allein,  fie  macht 
keinen  Gebrauch  von  den  Organen  des  Kör- 
pers, fie  hinieriäfst  keine  Spuren  in  demfel° 
ten;  und  daher  findet  kein   Gedachtnifs  die- 
fer  Gedanken  ftatt"   —     Ich  will   hier  nicht 
wieder    der  Ungereimtheit  einer  gedoppelten 
Perfönlichkeit  gedenken,    welche  aus    riiefet 
Vorausfetzung  folgt,  fondern   nur   diefes   ant- 
worten.    Kann  die  Seele  irgend  einige  Vor- 
ftellungen  obne  Hüife  des  Körpers  erlangen 
und  betrachten ,    fo  mufs  fie  diefelben  auch, 
nach  einem  vernünftigen  Schluffe  ohne  Hül- 
fe des   Körpers  erhalten  können.     Die  Seele 
oder  ein  vom  Körper  getrennter  Geift  würde 
foult   wenig  Vortheile  von  dem  Denken  ge- 
winnen.    Wenn  fie  nicht  im  Stande  ift,  ihre 
eignen  Gedanken  zu  behalten ,    zu  ihrem  Ge- 
brauch aufzubewahren ,    und  bei  Gelegenheit 
wieder  ins  Gedachtnifs  zu   rufen  ;    wenn   fie 
über  das  Vergangene  nicht  nachdenken,  und 
VQit.  ihren  altem  Esfahrucgen,  Schi üfferi  und 


'  Elftes   Kapitel.  ?i3 

Betrachtungen  keinen  Gebrauch  machen  kann, 
2u  welchem  Zweck   denkt  fie  denn?  Diejeni- 
gen ,    welche  die  Seele  für  ein    folches  den- 
kendes Wefen   erklären ,  machen  fie  wirklich 
zu   keinem  edlern  Wefen ,    als  ihre  Gegner, 
die  von  ihnen  verdammt  werden,  weil  fie  die 
Seele  für  die  feinfte  Materie    halten,  Züge  auf 
Staub  gezeichnet ,   welche    der    eifte   Hauchr 
des  Windes  verwifcht,   Eindrücke  auf  einen 
Haufen  Atomen,  oder   auf  die  Lebensgeißer 
find  eben  fo  nützlich,  und  veredeln   das  Sub- 
jekt eben    fo  fehr,   als  die  Gedanken    einer 
Seele,    welche    während  dem  Denken  fchoa 
wieder  zernichtet  werden,  die  wenn  fie  einmal 
dem   Gefichte  entkommen,     für  immer   ver- 
schwunden   find,     und  •  in   dem   Gedächtnifs 
nicht  die  geringste  Spur  zurücklafien.       Die 
Natur  bildet  das  Vortrefliche  nie  zu   einem 
niedrigen  oder  zu  gar  keinem  Zweck.       Und 
es  läfst  fich  kaum  denken,  wie  der  unendlich 
weife  Schöpfer  ein  fo    bewunderungswürdi- 
ges   Vermögen,   als    das    Denkvermögen    ilt, 
welches  felbft  der  Hoheit  feines  unbegreifli- 
chen  Wefens  am  nächften   kommt,  zu  einem 
folchen    vergeblichen    und    fruchtlofeu    Ge- 
brauch gebildet ,  clafs  es    zum  wenigüen  den 
O  3  riey- 


%U\  Zweites    Buch. 

vierten  Theil  feines  Dafeyns  beftändig  ohne 
Bewufstfeyn,  zu  keinem  Nutzen  für  fich 
feibft  oder  ein  anderes  Wefen  der  Schöpfung 
denken  follte.  Man  denke  nach,  und  man 
wird  kaum  eine  Bewegung  der  vorftellungs- 
lofen  Materie  in  dem  Univerfum  finden,  wel 
che  von  fo  wenig  Nutzen  und  fo  verfchwen- 
det  ift. 

§.     \6. 

Wir  haben  zwar  zuweilen  im  Schlafe  Vor- 
ßellungen  mit  Bewufstfeyn  und  behalten  fie 
im  Gedächtnifs,  Allein  wie  ausfchweifend, 
unzufammenhängend  und  wie  wenig  der 
Vollkommenheit  und  den  Gefetzen  eines  ver- 
nünftigen Wefens  angemeffen  fie  find,  brau- 
che  ich  denen  nicht  zu  fagen,  welche  wiffen, 
was  Träume  find.  Nur  die  Frage  wünfchte 
ich  beantworter  zu  fehen ,  ob  die  Seele  we- 
niger vernünftig  handelt ,  wenn  fie  für  fich 
und  als  wäre  fie  vom  Körper  getrennt,  oder 
wenn  fie  in  Verbindung  mit  dem  Körper 
denkt?  ift  das  lezte,  fo  muffen  fie  annehmen, 
das  die  Seele  die  Vollkommenheit,  vernünf- 
tig  zudenken,    dem  Körper  verdanket;   ift 

das 


Elftes    Kapitel.  2iS 

das  erfte ,    fo  mufs  man   lieh  wundern ,  dafs 

iinfre  Träume  gröfstentheils  fo  thüricht  und 

unvernünftig    find,    und  djfc  die  Seele  von 

ihren     vernünftigem     Selbftgefprächen  un(J 
Betrachtungen  nichts  behält. 

§•     17- 

NachdieferHypothefemüfste  die 
SeeleVorftellungen  haben,  wel. 
che  weder  aus  der  Empfindung 
noch  aus  der  Reflexion  ent- 
ftanden  find;  denn  von  beiden 
kommt  da  keine   Spur  vor. 

Wenn  man  fo  zuverfichjlich  behauptet, 
die  Seele  denke  zu  jeder  Zeit,  fo  mücht  ich 
gerne  wiffen,  von  welcher  Art  die  Vorftellun- 
gen  in  der  Seele  eines  Kimles  find,  vor  oder 
gerade  während  der  Vereinigung  derfelben 
mit  dem  Körper,  da  fie  noch  keine  durch  die 
Sinne  erhalten  hat.  Die  Träume  find 
meiner  Einficht  nach  nicht«  als  eine 
Reihe  Vorft  eil  ungen  aus  dem  wa- 
chenden Zuftaiule.  nur  dafs  fie  auf  eine 
fehfaiue  Art  zufammeu  goreihet  find.  Sollte 
O  4  nicht 


3si6  Zweites    Buch. 

nicht  die  Seele   von   ihren   eignen,  nicht  von 
den  Sinnen    und   der    Reflexion    abge- 
leiteten   Vorftellungen    —    und    folche 
müTste  fie  haben,    wenn    fie  denkt,   ehe  fie 
Eindrüke  von   dem  Körper  erhält  —    einige 
in  dem  Gedächtnifs  aufbewahren  ?    Sollte  fie 
nicht  aus  ihrem  ifolirten  Denken,  welches  fo  ge- 
heim ift,dafs  der  Menfch  felbft  nichts  davon  er- 
fähret,   den    Augenblick,    da    fie    aus    ihrer 
Träumerei  erwacht ,  einige  Vorftellungen  feft 
halten,    und  den   Menfchen    mit  neuen  Ent- 
deckungen erfreuen?   Das  wäre  eine  ATt  von 
Wunder,     Wer  mufs  es  nicht   für  ungereimt 
halten,  dafs  die  Seele,  die  in  ihrem  ifolirten 
Zuftande  des  Schlafs   fich  viele  Stunden   mit 
Vorftellungen  befchäftiget,  doch  nicht  ein  ein- 
zigesmal  bei  denjenigen  verweilet,  weiche  fie 
nicht  durch  die   Sinne   oder   durch  die  R  e- 
flexion  erhiplt  oder  dafs  fie  in  dem  Gedächt- 
nis nur  die  Spur  von  folchen  erhält,  welche 
durch  den  Körper  veranlagt,  dem  Geilte  weni- 
ger natürlich  feyn   niüllenV   Es  ift   fonderbar, 
dafs  die  Seele  nicht  ein  einzigesmal  in  dem  Le- 
ben eines  Menfchen  einen  von  ihren  reinen  an- 
gebornen  Begriffen    die    lie  befafs,    ehe    fie 
poch  etwas   vom  Körper  entlehnte,   zurück- 
ruft, 


£rftcs    Kr,  piteL  21? 

juft,  und  dem  Bewuf'treyn  eines  wachenden 
Menfchcn  nie  andre  Vorftellungen  darfteÜt, 
als  welche  nach  dem  Fafse  riechen,  und  ihre 
Entftehung  ofFenbar  aus  der  Vereinigung  der 
Seele  mit  dem  Körper  herleiten.  Wenn  dia 
Seele  immer  denkt  und  fchon  Begriffe  hat, 
ehe  fie  mit  dem  Körper  vereiniget  war,  oder 
von  diefem  Vorftcllungen  bekam,  fo  müfste 
fie ,  folhe  man  denken ,  in  dem  Schlafe  ihre 
eingebornen  Begriffe  erneuern  ,  und  in  dem 
Zuftande,  da  fie  alle  Gemeinfchaft  mit  dem 
Körper  aufgehoben  hat,  und  für  fich  denkt, 
zum  wenigften  elriigernale  fich  nur  mit  fo!» 
chen  natürlichem  und  geiitigern  Vorftellun- 
gen  beschäftigen,  welche  fie  in  fich  feJbfthat, 
und  nicht  vom  Körper  oder  von  ihrer  Bear- 
beitung der  erworbenen  abgeleitet  fird*  Da 
aber  kein  Menfch  fich  diefer  Vorstellungen 
je  erinnert,  fo  müilen  wir  aus  diefer  Hvpo- 
thefe  fchliefsen,  dafs  die  Seele  entweder 
ein  eignes  Erinnerungsvermögen  hat,  das 
dem  Menfchen  fehlet,  oder  da  s  das  Gedacht» 
nifs  fich  nur  auf  die  Vorltelhmpen  beziehet, 
welche  vom  Körper  oder  von  den  darauf 
gerichteter!  Thätigkeiten  der  Seele  ernfprin- 
gen. 

0.  5  §.  I|t 


2i8  Zweites    Buch.* 

§.     i8t 

Wie  kann  man  erkennen,  dafs 
die  Seele  immer  denkt?  Denn 
die  Ter  Satz  mufs  bewiefen  wer- 
den, wenn  er  nicht  durch  fich 
felbft    evident   ift. 

Ich  möchte  wiffen  ,  wie  diejenigen ,  wel- 
ehe  fo  dreufie  behaupten,  dafs  die  Seele, 
oder  welches  eins  ift,  dafs  der  Menfch  im- 
mer denkt,  zu  diefer  Kenntnifs  gekommen  find, 
ja  wie  fie  felbft  wiffen  können, 
dafs  fie  immer  denken,  da  fie  fich 
deffen  nicht  immer  bevvufst  wer» 
cl  en.  Ich  befürchte,  man  hat  hier  eine  Ueber- 
»eugung  ohne  Gründe;  und  eine  Erkennt-* 
nifs  ohne  Wahrnehmung  ift  doch  wohl  mir* 
ein  undeutlicher  zum  Behuf  einer  Hypothefe 
angenommener  BegrifF,  aber  keine  von  den 
klaren  Wahrheiten  ,  deren  Ueberzeugung  uns 
entweder  durch  innere  Evidenz  oder  durch  die 
unwiderfprechliche  Erfahrung  abgenöthiget 
wird.  Denn  alles,  was  fiehöchfiens  zur  \  erthei- 
digung  des  Satzes  fagen  I'önnen  ,  ift,  es  fey 
möglich,  dafs  die  Seele  immer  denke,  ohne  dafs 

fich 


Elftes     Kapitel.  219 

fleh  das  Bewufstfeyn  davon  allezeit  im  Ge- 
dächtnifs  erhalte.  Allein  es  ift  eben  fo  mög- 
lich,  dafs  die  Seele  nicht  allezeit  denkt,  und 
noch  wahrfebeiulicher ,  dafs  fie  zuweilen 
nicht  denkt,  als  dafs  fie  fich  oft  lange  Zeit 
nach  einander  mit  Vorfiellungen  befchäftigen, 
und  in  dem  nächften  Augenblick  nichts  davon 
willen  füll. 


§.      19, 

Es      ift     fehr     u  n  w  ahr  f  ch  ei  n  li  ch» 

d  a  f  0  f  i  c  h  ein  Menl'ch  mit  Vor- 
ftellungen  befchäftige,  und 
den  nächften  Augenblick  kein 
Bewufstfeyn    davon    habe. 

Wenn  die  Seele  denken  und  der  Menfcli 
es  fich  bevvufst  werden  fo II ,  fo  macht  man,  wie 
ich  fchon  gefagt  habe,  aus  Einem  »VJenfchen 
zwei  Perfonen.  Und  nach  einer  aufmerkfa- 
men  Erwägung  der  Worte,  deren  fich  die 
Freunde  diefer  Behauptung  bedienen,  follte 
man  faft  glauben,  dafs  das  wirklich  ihre 
Meinung  fey.  Denn  (ie  fagen ,  foviel  ich 
mich  erinnern  kann ,    nie ,    ein  M  e  n  f  c  h  , 

Ion- 


2,2.0  Zweites    Buch. 

fondern    die    Seele    denkt  immer.       Kann 
aber  die    Seele  denken,   ohne  dafs   auch  der 
Menfch  denkt?  Oder  kann   ein  Menfch  den- 
ken ,  ohne   fich  deiFen-  bewufst  zu  feyn?    So 
etwas  würde  man  bei  andern  Leuten  für  ein 
rinverfiändlichei  Gewafch  halten.      Wenn  fi« 
fagen;  der    Menfch     denkt  allezeit ,    aber  er 
hat  nicht  immer   ein  Bewnrsffeyn  davon,    fo 
können  He  mit  eben  dem  Rechte  Tagen:    der 
rnenfchliche  Körper  iü  ausgedehnt,    aber  er 
hat  keine  Theile.       Denn   ein  ausgedehnter 
Körper  ohne  Theile  ift  fo  denkbar,  als   das 
Denken    ohne  Bewufstfeyn.     Sie  kön- 
nen, wenn    es  ihre  Hypothefe  erfodert,    mit 
'eben  fo  viel  Grund  Tagen  j  der  Menfch  ift  ina- 
jner  hungrig,  aber  er  hat  nicht  immer  ein  Ge- 
fühl davon.     Und  doch  beftehet  der  Hunges 
eben  in  diefem  Gefühl,  To  wie  das  Denken 
in  dem  Bewüfsrfeyn  ,   dafs   man  denkt»     Viel- 
leicht werden  he   Tagen ;    ein   Menfch  ift  {ich 
Feines   Denkens  immer   bewufst.     Allein  wo- 
her willen  fiedas?  Das  Bewufstfeyn  ift  Wahr- 
nehmung  deffen,    was    in  eines  jeden   Men- 
fchen  eignem  Gemüthe  vorgeht.        Kann  ei'a 
anderer  Menfch  wohl  wahrnehmen,    dafs  ich 
mir  eines  Dinges  bewufst  bin,  wenn  ichfelbft 

es 


jErftes    Kapitel.  £-2± 

es  nicht  wahrnehme?  Die  Erkenntnifs  eines 
JVlenfchen  kann  nie  über  die  Grenzen  feiner 
Erfahrung  Geh  erftrecken.  Man  wecke  einen 
aus  einem  tiefen  Schlaf  auf,  und  frage-  ihn, 
was  er  denleiben  Augenblick  dachte;  wenn 
er  fich  keines  Gedankens  bewufst  ifi,  fo  mufs 
es  ein  trefiieher  Seher  der  Gedanken  feyn, 
der  ihm  betheuern  kann ,  er  habe  wirklich 
gedacht.  Könnte  er  ihn  nicht  init  noch  mehr 
Grund  überzeugen,  er  habe  gar  nicht  ge* 
fchlafeu?  Diefs  Überfielt  alle  Philoluphie. 
Nichts  Geringeres  als  eine  Offenbarung  kann 
einem  ändern  Gedanken  meines  Ichs  entde- 
cken, die  ich  felbfi  nicht  da  finde.  Was  für 
durchdringende  Augen  inüfsten  nicht  diejeni- 
gen haben,  Welche  untrüglich  leheri  wollen, 
dafs  ich  denke,  wenn  gleich  mein  Bewufst. 
feyn  nichts  davon  weifs,  und  meine  eigene1 
Erklärung  dem  widerspricht,  und  doch  be- 
merken können,  dafs  die  Hunde  und  Ele- 
phanten  nicht  denken,  obgleich  diefe  Thiere 
alle  mögliche  Beweife  davon  geben,  ausge- 
nommen ,  dafs  De  es  durch  die  Sprache  nicht 
2u  erkennen  geben  können.  *)     Diefs  dürfte 

viel« 

*)  Man  fehe-  die  Anmerkung  za  d,  §.  12, 


£22  '     Zweites     Euch, 

vielleicht  noch  über  die  geheime  WiflenfchaFf. 
der  Rofenkreuzer  gehen»  Denn  es 
fcheint  doch  warlich  leichter  Geh  unüchtbar 
in  machen,  als  eines  andern  Gedanken  zu  of- 
fenbaren, von  denen  dieferfelbft  nichts  weifs* 
Doch  man  darf  nur  die  Seele  als  eine  unauf- 
hörliche denkende  Subftanz  definiren,  fo  Gnd 
alle  Schwierigkeiten  gehoben.  Wenn  eine 
folche  Erklärung  noch  etwas  gelten  foll,  fo 
fehe  ich  doch  nicht,  wozu  fie  nutzen  foll, 
auITer  etwa  dazu,  viele  Menfchen  auf 
den  Gedanken  zu  bringen ,  dafs  lie  gar  keine 
Seele  haben,  wenn  fie  bemerken,  Welch  einen 
gvofsen  Theil  des  Lebens  fie  ohne  Denken  zu- 
bringen« Keine  Definition,  keine  Hypothefe 
irgend  einer  Sekte  ift,  meiner  Einficht  nach, 
im  Stande,  eine  allgemeine  Erfahrungswahr- 
heit umzuftofsen  ,  Und  vielleicht  rühren  alle 
unnütze  Streitigkeiten  und  fo  viel  vergebli- 
cher Lerm  in  der  Welt  nur  davon  her,  dafs 
jwan  den  Schein  haben  will,  mehr  zu  Witten, 
als  man  wahrnehmen  kann» 


§.   2C, 


Erftea    Kapital  ti.b 

$.      20, 

Es  giebt  keine  andern  Vor ft ei- 
lungen, als  welche  aus  der  Em- 
pfindung und  der  Reflexion 
entfpringen.  Diefs  wird  durch 
Beobachtungen  an  Kindern 
klar. 

Ich  fehe  alfo  keinen  Grund,  anzunehmen, 
tlafs  die  Seele  Tchon  denke,  ehe  fie 
nochdurchdieSiuneVorftellungen, 
als  Materialien  zum  Denken  erhält. 
In  dem  VerhältniTs.  als  (ich  diefe  vermehren, 
und  in  dem  Gedächtnifs  aufbewahret  werden, 
wird  auch  die  Denkkraft  durch  die  Uebung 
in  allen  ihren  verfchiedenen  Aeufferungen 
ausgebildet.  Eben  diefs  gefchiehet  auch 
nachher,  wenn  das  Gemüth  diefe  BrgrifFe 
zufammen  fezt  und  über  feine  Thätigkeiten 
»eflectirt.  Hierdurch  vermehrt  fich  nicht 
nur  der  Vorrath  an  Begriffen,  fondern  auch 
die  Erinnerungskraft,  die  Einbildungskraft,  die 
Vernunft  und  andere  Kräfte  erlangen  eine 
gröfsero  Fertigkeit, 


§.    2l< 


*24  Zweites    Buch; 

§i       12. 

'''.■ 

Wenn  man  fich  durch  Beobachtungen  und 

die  Erfahrung  belehren  lallen,  und  nicht 
feine  Hypothefen  zu  Gefetzen  der  Natur  ma- 
chen will,  fo  wird  man  an  neugeborneri  Kin- 
dern wenig  Spuren  einer  Fertigkeit  der  Seele 
im  Denken,  noch  weit  weniger  aber  imS'chiie* 
Isen  entdecken»  Sollte  die  Seele  fo  viel  den- 
ken, und  dabei  keine  Schlüfse  machen? 
Das  läTst  fich  kaum  denken.  Die  Kinder,  die 
erft  auf  die  Welt  gekommen  find,  bringen 
den  größten  Theil  der  Zeit  mit  Schlafen  zu, 
und  erwachen  feiten  daraus ,  wenn  fie  nicht 
der  Hunger  andießruft  der  Mutter  treibt,  oder 
die  unbehaglich  fie  Empfindung,  der  Schmerz, 
oder  eine  andere  heftige  Erschütterung  dei 
Körpers  die  Aufmerkfamkeit  der  Seele  darauf 
lichtet«  Wenn  man  üiefe  Fakta  bedenkt,  fo 
■wird  man  Fich  vielleicht  zu  dem  Schluffe  be- 
rechtiget glauben,  dafs  der  Zuftand  des  Fö. 
tus  im  Mutterleibe  nicht  lehr  voii  dem  Pflan- 
aenleben  verschieden  iß,  fondern  dafs  er  den 
groTsteh  Theil  der  Zeit'  ohne  Vorßellungeii 
und  Gedanken  verlebet,  und  faß  ohne  alle 
Tfalltigkeit  an  einem  Orte  verfchikft »    wo  ei 

feine 


EiTtea    Kapitel.  32$ 

feine  Nahrung  nicht  Tuchen  mufs;  wo  es  von 
einer  allenthalben  gleich  fanften  und  faß  gleich 
temperirten  Flüf-igkeit  umgeben  ift;  wo  auf 
die  Augen  kein  Lichtftrahl  fällt,  und  die 
verfchloilenen  Ohren  Keinen  Schall  auf- 
nehmen;  wo  es,  um  die  Sinne  zu  afFiciren» 
gar  keine  oder  nur  eine  geringe  Mannichfal, 
tigkeit  und  Abwechslung  der  Gegenftände 
giebu 

§.      22. 

Man  beobachte  die  Veränderungen,  tvel* 
che  mit  einem  Kinde  von  feiner  Geburt  an 
vorgehen,  und  man  wird  finden,  dafs  die 
Seele  immer  mehr  aus  ihrem  Schlummer  er- 
wacht, je  mehr  Vorftellungen  ihr  die  Sinne 
zuführen,  und  in  dem  Verhältnifse  mehr 
denkt,  als  fie  mehreren  Stoff  dazu  erhält, 
Mach,  einiger  Zeit  Fängt  das  Kind  an ,  diejeni- 
gen Objekte  zu  erkennen,  welche  durch  nä- 
here Verbindung  mit  ihm  dauerhaftere  Ein- 
drücke zurückgelaffen  haben.  So  lernt  es 
nach  und  nach  Perfonen,  mit  denen  es  täg- 
lich umgehet,  kennen,  und  von  fremden  un- 
terfcheiden ,  -—  ein  Beweis ,  dafe  es  anfängt, 
P  die 


ß26  Zweites    Buch, 

die  Vorftellungen ,  die  es  durch  die  Sinne 
erhält,  feft  zu  halten  und  zu  vergleichen. 
Auf  diele  Weife  läfst  fich  die  ftufenweife  Aus- 
bildung des  Gemüths  beobachten,  wie  es 
nach  jenen  Vorübungen  zur  thätigen  Aeufse- 
rung  anderer  Vermögen»  die  Begriffe  zu  ent- 
wickeln, zu  verbinden,  zu  abftra- 
hiren,  zu  urt heilen,  und  über  alle 
diefe  Handlungen  zu  reflektiren  fori- 
fchreitet.  Ich  werde  weiter  unten  Gelegen- 
heit finden,  von  dielen  Vermögen  weitläufiger 
zu,  handelni 

§♦       23, 

t)ie  richtige  Antwort  auf  die  Frage  ♦  wenn 
ein  Menfch  anfängt,  Vorftellun- 
gen zu  haben,  ift  alfo  meiner  Einficht 
nach,  diefe:  wenn  er  den  erften  Sin- 
neneindruck  erhält.  Denn  da  keine 
Vorftellungen  in  der  Seele  zu  finden  find, 
ehe  fie  welche  durch  die  Sinne  erhält,  f« 
find  fie,  wie  ich  mir  die  Sache  vorftelle,  mit 
den  Eindrücken  der  Sinne  gleichzeitig.  Ich 
verftehe  aber  unter  einem  Eindruck  (Senfa- 
tion)   eine   Bewegung  oder  Veränderung   in 

irgend 


Erfteä    Kapitel.  <iV> 

irgend  einem  Theile  des  Körpers,  infofem 
fie  eine  Vorstellung  in  dem  Verftande  hervor- 
bringt. An  dielen  ,  welche  äufsere  Gegen- 
stände auf  die  Sinne  machen ,  fcheint  die 
Seele  zuerft  ihre  Thätigkeiten  z,  B.  das 
Wahrnehmen,  Erinnern,  Beach- 
ten, S  c  h  1  i  e  f  s  e  n  u.  f.  wt  in  Wirkfamkeit 
zu  fetzen. 


§.      24. 

Ürfprung    aller   unfrer  Erkennit- 
nif  s; 

Nach  einiger  Zeit  fängt  die  Seele  an  übes 
jhre  eignen  AVirkungen  zu  reflectiren ,  wel- 
che die  durch  die  Sinne  erlangten  V  orftellun» 
gen  zum  Gegenßande  haben  ,  und  verfchafft 
fich  dadurch  eine  neue  Reihe  von  BegrifFen, 
welche  ich  Begriffe  der  Reflexion 
nenne.  Sowohl  die  Eindrücke,  Welche  äufsere 
Gegenftände  auf  unfere  Sinne  hervorgebracht 
haben,  als  auch  die  felbftthätigen  innern  Wir- 
kungen ,  die  von  innern  der  Seele  zugehöri- 
gen Kräften  entfpringen  ,  und  durch  ihre 
Reflexion  Gegenftände  ihrer  Betrachtung  wer« 
P  2  den, 


22Ö  Zweites   Buch, 

den,  find,  wie  fchon   gefagt,    die  Quelle 
aller  unfrei   Erkenntnis.      Das   erfte 
Vermögen  des  menfchlichen  Verbandes  befte- 
het  alfo  in  der  Fähigkeit  der  Seele,    die  Ein- 
drücke  aufzunehmen ,     welche    theils    durch 
dij  Sinne   von  äufsern  Gegenfiänden,  theils 
bei  der  Reflexion  von  ihren  eignen  Thä- 
tigkeiten  auf  fie  gemacht  werden.     Und  diefs 
ift    der    erfte   Schritt    zur  Entdeckung   eines 
Dinges,  und  die  Grundlage,    aufweiche  das 
ganze  Gebäude  von  Begriffen ,   die  die  Men- 
fchen    auf   dem   natürlichen    Wege  erlangen 
können,  errichtet  werden  muFs.      Alle  erha* 
jbenen  Gedanken,  welche  (Ich  über  die  VVol* 
ken  ,  ja  bis  zu  dem  hohen  Himmel    fchwin« 
gen  ,    finden  hier    ihren    Urfprung   und   den 
Grund,  der  ße  trägt.       Wenn   auch  die  Seele 
den  gröfsten  Umfang  von  Kenntniilen  durch- 
läuft ,   und  fich  in   die  entlegendften  Specula- 
tionen  zu  erheben  fcheint,  fo  gehet  ße  doch 
nicht  einen  Punkt    über   die  Begriffe  hinaus, 
welche  die  Sinne  oder  die  Ref  lexio  n  für 
ihre  Betrachtun»   dargeftellt  haben. 


§•    2?, 


Erftes    KapiteJ.  SJj 

§•      25. 

Der  Verftand  verhält  fich  bei 
dem  Empfangen  der  einfachen 
Vorftellungen  gr  ö  f  ste  ntheils 
leidend. 

Hierbei  verhält  fich  der  Verftand  blos 
leidend,    und  es   fteht  nicht  in  feiner  Ge- 
walt,  ob  er  diefe  Elemente  und  eigentlichen 
Materialien  der  Erkenntnifs  haben  will,  oder 
nicht.     Denn  die  meiften  Objekte  unfrer  Sin- 
us    dringen    der  Seele   die    einzelnen    Vor- 
ftellungen    auf,    ße     mag   fie    wollen   oder 
nicht;    und   fie  kann  nicht  thatig  feyn,  ohne 
zum   wenigften  einige    dunkle   Vorftellungen 
von  ihren  Thätigkeiten  zurückzulaufen.  Wenn 
ein  Menfch   denkt,    fo  mufs  er  nothvvendig 
einige  Kenntnifs  von  diefer  feiner  Handlung 
nehmen.     Diefe  ein  fa c  ben  Vorftellun- 
gen nicht  aufzunehmen,  wenn  fie  der  Seele 
gegeben   werden,    oder  zu  verändern,  wenn 
fie  eingedrückt  find,    oder   wieder  zu  vertil- 
gen,   und    felbftmächtig    neue  hervorzubrin- 
gen, ftehet  eben  fo  wenig  in  der  Gewalt   des 
Verftandes,    als   der   Spiegel  die  Bilder,  von 
Jen  vor  ihm  flehenden    Objekten  zurückwei- 
P  3  fen, 


230  Zweites    Buch. 

Ten,  ändern  oder  zernichten  kann.  Die  See- 
le mufs  die  Eindrücke  aufnehmen ,  fo  wie 
die  uns  umgebenden  Körper  die  Sinnenorga- 
ne auf  verschiedene  Art  affineren,  und  fie  kann 

das   Bewufstfeyn    der  daran    geknüpften   Be° 

griffe  auf  keine  Weife  entfernen. 


Zweites     Kapitel. 

oa    einfachen    Vorf  tellungeti. 


Einfache    Wahrnehmungen. 

Z<ur  befsren  Einficht  in  die  Natur,  die  Art 
vnd  den  Umfang  unfrer  Erkenntnifs  dient 
vorzüglich  die  Bemerkung,  dafs  unfere  Vor- 
stellungen theils  einfach  tbeils  zufam- 
mengefezt  find. 

Die 


Zweites    Kapitc!.  23» 

Die  BeTchafFenheiten    (Qualitäten),   wel- 
che unfre   Sinne  afficiren ,    find  zwar  in  den 
Dingen    felbff,     fo    vereiniget    und   verwebt, 
dafs    keine  Trennung  und  Abfonderung    bei 
ihnen    flatt  findet;    allein  die  Vorftellungen, 
welche  fie  in  der  Seele  hervorbringen,  gehen 
doch  offenbar  einzeln  und  nicht  verbunden 
durch  die  Sinne.      Denn  obgleich  das  Geficht 
und  das  Gefühl  oft  zu  gleicher  Zeit  von  einem. 
Objekte  verfchiedene  Vorftellungen  aufnimmt, 
2.   B.   man  flehet   auf  einmal  die  Farbe  und 
die  Bewegung  eines  Körpers ;    die  Hand  füh- 
let  an  einem  Stück  Wachs  das  Sanfte  und  die 
Wärme:  fo  find  doch  die  einfachen   Vorftel- 
lungen,   welche    auf  diefe   Weife  in    einem 
Objekte   vereiniget    find,    eben  fo  durchaus 
verfeinerten,    als  diejenigen,     welche  durch 
verfchiedene    Sinne    in   die  Seele  gelangen. 
Die   Kälte  und  die  Härte,    welche  man  an 
einem  Stück  Eis   fühlet,     find   eben  fo  ver- 
fchiedene Voniellungen  in  der  Seele,    als  der 
Geruch  und  die  weifse  Farbe  der  Lilie,  oder 
als  die  Siifsigkeit  des  Zuckers  und  der  GerucU 
der  Rofe.     Das  klare  und  deutliche  Bewufst» 
feyn  diefer   einfachen  VorfteUungec 
ift  die  hüchfie  Klarheit  und  Evidenz  für  den 
P  4  Men< 


SZz  Zweites    Buch. 

Menfchen,  denn  fie  find  an  fich  Dicht  zufam» 
tnengefezt,  in  keine  verfchiedenartige  Vor- 
ftellungen auflösbar,  und  enthahen  nichts  als 
eine  einförmige  Wahrnehmung 
(appearance)  oder  Vorftellung  der  Seele. 


§♦     2. 

Die   Seele   kann    fie  wede  r  hervor- 
bringen noch  zernichten. 

Diefe  einfachen  Vorftellungen,  die  Mate- 
rialien aller  unfrer  Erkenntnifs  werden  der 
Seele  nur  allein  auf  den  beiden  oben  erwähn- 
ten Wegen  nehmlich  durch  die  Sinne  und 
die  Reflexion  zugeführet.  Der  Verftand 
kann  den  erlangten  Vorrath  von  einfachen 
Vorftellungen  erneuern,  vergleichen  und  auf 
eine  unendliche  mannichfaltige  Weife  ver- 
binden, und  nach  Willkuhr  neue  zufammen- 
gefezte  Vorftellungen  daraus  bilden.  Aber 
eine  neue  einfache  Vorftellung,  die 
die  Seele  nicht  auf  die  vorhin  beftimmte  Art 
erhielt,  durch  Scharffmn  oder  Veränderung 
der  Gedanken  zu  finden  oder  zu  bilden,  das 
überfteigt    die    Macht   des  erhabeuften    und 

weit- 


Zweites   Kapitel.  233 

weittimfahendften  Verftandes  eben  fo  fehr, 
als  eine  von  den  fchon  vorhandenen  zu  ?.ef' 
nichten.  Der  Wirkungskreis  des  Menfchen 
in  der  kleinen  Welt  feines  eignen  Denkens 
und  feine  Herrfchaft  in  der  grofsen  Hchtba- 
Ten  Welt  ift  beinahe  in  einerlei  Grenzen  ein- 
gefehloflen.  In  der  lezten  reichen  feine 
Kräfte,  wenn  Fe  auch  noch  fo  fehr  durch 
Kunft  und  Einficbt  unterftützt  werden ,  doch 
nicht  weiter,  als  die  fchon  vorräthigen  Mate- 
rialien znfammenzufetzen  und  zu  trennen, 
aber  fie  find  zu  ohnmiiehti? ,  das  kleinfte 
Theilchen  Materie  zu  fchaffen ,  oder  einen 
wirklichen  Atom  zu  zer  Rohren,  Diefes  Un- 
vermögen findet  der  Menfch  auch  in  feinem 
Selbft,  wenn  er  eine  einfache  Vorstellung 
durch  feinen  Verftand  bilden  will ,  die  er 
nicht  durch  die  Sinne  von  liufsern  Objekten 
oder  durch  die  Reflexion  von  den  Thätigkei- 
ten  feines  Gemüths  empfieng.  Man  mache 
nur  einen  Verfuch  ,  ob  man  durch  die  Phan- 
tafie  eine  Vorftellung  von  einem  Gefchmack 
oder  einem  Geruch  erzeugen  knnn,  wovon 
fein  Gaumen  und  Nafe  nirb.  ■  fenvpfufiden  bat; 
und  wenn  (bs  möglich  ift ;  fc  will  ich  auch 
glauben,  dasein  Plinder  richtige  urt'd  .':. 

P  S  che 


234  Zweites    Buciii. 

che  Verkeilungen   von  den  Farben  und  ein 
Tauber  von  den  Tonen  hat, 

§.     5. 

Aus  diefem  Grunde  kann  man  an  Körper» 
nichts  weiter  als  Töne,  Gefchmackseiridrücke, 
Gerüche,    fichtbare  und   fühlbare  Befchaffen!- 
heiten  vorftellen,  ob  es  gleich  nicht  undenk- 
bar ift,    dafs   Gott  Gefchöpfe  mit  andern  Or- 
ganen und  mehreren  Mitteln,  Kenntniffe  von 
der  Rörperwelt  zu  erlangen,  als  den  fünf  Sin- 
ne« des  Menfchen,  bilden  konnte,  und  wenn 
auch  die  Körper  noch  weit  mehreren  Stoff  zu 
Vorftellungen  in  ihrer   Einrichtung  enthalten 
feilte«  Hätten  die  Menfchen  nur  vier  Sinne,  (b 
Würden  alle  Gegenstände  des  fünften  fo  weit 
aufser  der  Sphäre  unfrer  Kenntnifs,    Vorfiel' 
lang  und  Einbildungskraft  liegen,  als  es  jezt 
die  Objekte   des    fechften,     Siebenten 
oder     achten     Sinnes     nur   immer  feyn 
kqnnen.      Es  würde    immer  eine  grofse  Ver- 
jneffenheit  feyn ,  die  Möglichkeit  folcher  We» 
fen  mit  mehreren    Sinnen    in    einem    andern 
The  !e    des    unermeßlichen    Univerfums    zu 
leugnen»     Wenn  lieh  der  Mcnfch  nicht  aus 

Stolz 


i5weite3    Kapitel.  23$ 

Stolz  für  das  vollkommenfte    Gefchöpf  hält, 
fondern  die    Unermefslichkeit  diefes  Weltge- 
büudes  ,  die  grofse  Mannichfaltigkeit  in  dem 
kleinen     unbeträchtlichen     Theile    deffelben, 
worin  er  fein    Wefen   treibt,    Teiüich  überle- 
get, fo  wird  er  es  nicht  für  unmöglich  halten, 
dafs  es   in   andern    jTheilen    andere  von  uns 
verfchiedene  denkende  Wefen  geben    könne, 
von  deren  Erkenntnifsvermögen    er  fo  wenig 
eine  Vorftellung  oder    nur  Ahndung  hat,  als 
ein  iq  einem  Schranke  eingefch'ofTener  Wurm, 
von    den    Sinnen    und    dem  Verftaade    eines 
Menfchen.       Eine     folehe    Mannichraitiokeft 
und   Vortieilichkeit    entfprichi    der    Weisheit 
und  Allmacht  des  Schöpfers.  —     Ich  bin  hier 
der   gewöhnlichen    Meinung  gefolgt ,    welche- 
den   Menfchen  nur  fünf  Sinne  beilegt,     ob 
man  gleich    mit  gutem   Grunde  mehrere  zäh- 
len kann.      Untcrdeffen  begünüi-et   doch  die 
eine  Vorausfetzung  fo  gut  als  die  andere  anei- 
ne  Behauptung, 


Drittes 


23$  Zweites    Buch. 

Drittes     Kapitel, 

Von  Vorfiellungen   vermittelt!  eines  Sinne?, 


§■    1- 

-Eintheilung  der  einfachen  Vorftel- 
.lungen. 

Zj\\x  heuern  Kenntnik  der  Vorfiellungen,  wel- 
che wir  durch  die  Sinnlichkeit  erlangen, 
wird  es  nicht  unzweckmäßig  feyn,  wenn  wir 
die  verfchiedenen  Wege  betrachten,  auf 
welchen  fie  fich  der  Seele  darfteilen ,  und 
vorftellig  werden. 

Erftens,  Einige  von  dielen  Vorfiellun- 
gen kommen  nur  vermittelft  eines 
Sinnes  in  die  Seele. 

Zweitens.  Andere  werden  der  Seele 
durch  das  Medium  von  mehreren 
Sinnen  zugeführet. 

Drit- 


Drittes    Kapitel.  237 

Drittens.  Andere  erhält  üe  blos  durch 
die  Reflexion, 

Viertens  Einige  Vofflellungen  bieten 
fich  der  Seele  auf  jedem  Wege  der 
Sinnlichkeit  und  der  Reflexion 
feibft    dar. 

Wir  werden  fie  nach   diefen  verfchiede« 
nen  Gefichtspunkten  befonders  betrachten, 

Erftens.  Es  giebt  Vorftellun- 
gen,  welche  nur  durch  ein  Sinn» 
orsan.  das  zu  ihrer  Aufnahme  be- 
fonders  eingerichtet  ift,  Eingang 
in  die  Seele  finden,  z.  B,  das  licht 
und  die  Farben ,  alsWeifs,  Roth,  Gelb,  Blau 
reit  ihren  verfehiedenen  Abftufungen ,  Sch3t- 
tirungen  und  Vermifchungen,  als  Grün 
Scharlach,  Purpur,  Meergrün  u.  f.  w.  durch 
die  Augen  ,  alle  Arten  von  Tönen  und  Schäl- 
len durch  das  Ohr;  die  verfehiedenen  Ge. 
Tuche  und  Gefchmacksempfindungen  durch 
die  Nafe  und  den  Gaumen.  Wenn  diefe  Or- 
gane oder  Nerven ,  welche  diefe  Vorftellun* 
£en  von  Aufsen  in  das  Gehirn,  das  fo  zu  ta> 


2}Q  Zweites    Buch, 

gen  das  Audienzzimmer  der  Seele  iß,  einfüh- 
ren,  f'o  zerrüttet  find,  dafs  fie  . ihren  Dienfl: 
nicht  verrichten  können ,  fo  finden  diefe  Vor- 
ftellungeu  keine  andere  verborgene  Thüt 
oder  keinen  andern  .Kanal,  auf  dem  fie  könn- 
ten eingeladen  und  ins  Bewufstfeyn  gebracht 
werden« 

Die  merkwürdigßen  Vorftellungen  ^  wel- 
che dem  Gefühl  angehören,  find  Hitze j  Käl- 
te und  Dichtheit;  die  übrigen,  deren  Inhalt 
theils  die  wahrnehmbare  Verbindungsart  der 
Theile  ,  z»  B.  das  Glatte  und  Kauhe,  theils 
dergröfsere  oder  kleinere  Zufarnmenhang  der 
Theiie,  z.  B.  Hart,  Weich,  Zähe,  Spröde 
faft  nur  allein  ausmacht ,    find  bekannt  genug. 

§.  i* 

Alle  einfachen  Vorftelluhge'ß  jedes  Sinnes 
einzeln  aufzuftellen  ilt  nicht  nöthig ,  aber 
auch  nicht  möglich,  weil  es  weit  mehre« 
ie  giebt,  als  wir  mit  Worten  be- 
zeichnen können.  Für  die  grofse  Mari- 
cichfaUigkeit  von  Gerüchen ,  welche  faft 
eben  fo  zahlreich,  wo  nicht  noeh  zahlreicher; 

als 


D~i.it  tes   Kapitel.  23q 

als  die  Arten  der  Körper  find,  fehlt  es  uns  faß 
gänzlich     an    Wolter,      Durch     die    Worte 
wohlriechend ,    ftinkend,    mit    denen  wir 
uns  begnüngen  mülTen ,    kürtnen  wir  die  Ge- 
rüche nur  in   zwei   Klaffen,    angenehme   und 
unangeneh;ne  bringen.     Aber  der  Geruch  der 
Kofe  und,  des  Veilchens  Gnd  2\rar  beide  an- 
genehm,   aber  doch   dabei  ganz  verfchiedene 
Vorftellungen.  In    Anfehung   der   verschiede- 
nen   Gefchmackseindrucke,     die    wir    durch 
den  Gaumen  erhalten,  ift  unfre  Sprache  nicht 
leicher.      SüTs,    Bitter,    Sauer,    Herbe,   Sal- 
zig find  faft  die  einzigen   Worte,  womit   wir 
die  zahilofe  IVIannichfaltigkeit  von  Modifica- 
tionen  des  Gaumens  benennen  können,  wel- 
che nicht  allein  bei  jadeiu  Gefchöpf,  fondern 
auch    bei  jedem    einzelnen    Theile  derfeiben 
Pflanze ,     Frucht  und    Thierart    rerfchiedea 
find.     Eben  das  läfst  Geh   auch  von  den  Far- 
ben und  Tönen  fagen.  Ich  werde  mich  daher 
in  der  folgenden  Abhandlung  von  den  ein- 
fachen Vorftellungen  nur  auf  diejeni- 
gen einfehränken  t    welche    au  meinem    Plan 
Wefentlich    gehören,    oder   an    fich    wenige! 
deutlich  Gnd ,   ob  fie  gleich  als  Beftandtheile 
der  zufamnaengefezten  Begriffefehr 


24o  Zweites   Buch." 

oft  vorkommen.  Uuter  die  lezten  gehört  der 
Begriff  der  Dichtheit;  ich  werde  daher 
von  ihm  in  dem  nächften  Kapitel  handeln« 


Viertes    Kapitel, 

Vou    der  Dichtheit    ('Solidity)* 


Wir     erlangen     diefeh    Begriff 
durch  das  Gefühl. 

W  ir  erlangen  den  Begriff  der  Dicht- 
heit durch  unfer  Gefühl.  Er  entfpringt  von 
dem  Widerftande,  welchen  ein  Körper  dem 
Eindringen  eines  andern  in  den  nehu.lichen 
Raum  folange  enrgegengefezt,  bis  er  denfel- 
ben  veTläfsti  Kein  Begriff  wird  uns  durch 
die  Sinne  fo  ufiabläfsig  zugeführt,  als  diefer* 
Bei  jeder  Bewegung,  bei  jedem  StilHtand,  in 
jeder  Lage  fühlen  v;ir  etwas  unter  uns,  das 
uns  trägt,  und  das  tiefere  Einfinken  verhin- 
dert.    Die  Körper ,  die  wir  täglich  in  Hän- 

dert 


V'ertes     Kupitel,  iftf 

den  haben,  führen  uns  atirdie  Währnehrriunf^ 
di ('s  He}  ?o  lange  He  von  unfern  Händen  ge- 
dvückt  werden,  dtnch  eine  unwuUrftehik  he 
Kraft  die  völlige  Annüherun.:  derselben  Ver« 
hindern.  D;^jeni"e,  w..?  i!:s  A:i:\;  h«n:i  zweie* 
E?r,     die  Geh  •  he&ege'ri 

verbindert,  nerinp  ich  die  O  i  c  h  t  h  e  i'i  :Cri 
iVill  hier  nicht  darüber  ftreiten  ,  üb  di'  fe  Er> 
Klärung  des  Worts  dicht  feiner  klffpt angli- 
chen Bedeutung  näher  kommt,  ah  die  inatue-. 
ihafifehö.  Genug;  der  gbxX'öhnliche  ßecrnff 
von  der  Dichrxreit  verfr3gt  fich  mit  <iie  em 
Gebrauch  de*  Wortes  wenn  er  ihn  at 

rßi     [fertige?*        Wollte     man    übrigen?    diefe 
Dichtheit  lieber  V  n  d  ur  c  h  d  r  i  n  «  li  ( .-  » k<  1 1 
nennen,  fo  habe  ich    niebis    dagegen         Nur 
fcheint  nur  tia,  Wort  D  i  c  h  1 1*  e  i  t   paffenden 
zun:  Andruck  diefes  Begriffs,  foutfhl  um:  der 
gewöhnliche  Sprachgebrauch    mit    diefer  Be* 
deunmg    iihereinftimmt ,    als  auch   weil    er  ei- 
nen pofitiven    Inhalt    hat.        Die  U  n  H  n  r  ch* 
dringlichkeit  ift  mehr  negativ  und   viel- 
leicht   mehr  eine    Folge    d^r  Dichtheit,   ^ls 
he   felbft.      Diefer  Begriff  fcheint  unter  allen, 
mitdem  K&pet  an:   innig  [tön   vtikriüpft    und 
ihm  wefentlich  zu  feyn.     Die  Dichtheit  wifd 
Q  daher 


f 42  Zweites  Buch. 

daher  nur   an  der  Materie  gefunden ,    und  ift 
nur  an    ihr  vorftellbar.       Und  ob  "wir  gleich 
diefe  Eigenfcbaft  nur  an  gröfsern  Mafien  der 
Materie  wahrnehmen  ,  die    in   uns  eine  Vor- 
ftellung  erwecken   können ,  fo  erweitert  doch 
die  Seele  den  Umfang  des  Begriffes ,   den  fie 
nur  von  gröfsern  Körpermafsen  erhalten  hat» 
fo  weit,  dafs  He  ihn  wie  die  Figur,   als  eine 
Eigenfchaft  des  kleinften  Theils   der  Materie, 
Welche  exiftiren   kann,    und  als   unzertrenn- 
lich von  dem  Wefen  eines  Körpers  ,  in  jedem 
Räume    und  ,von  jeder  Beschaffenheit,   be- 
trachtet» 

§♦      2." 

Das   Dichte   erfüllt   den   Raum, 

Diefer  Begriff  ift  ein  Merkmal  des  Kör. 
pers.  Wir  denken  uns  daher  das  Dichte  als 
den  Raum  erfüllend.  Der  Begriff  von  der 
Erfüllung  des  Raumes  enthält  eigentlich  die- 
fes.  Wo  wir  uns  einen  Raum  vorftellen, 
den  eine  dichte  Subftanz  einnimmt,  fo  den- 
ken wir  ihn  fo  erfüllt ,  dafs  jede  andre  dich- 
te Subßanz  daraus  ausgefchloflen  ift,  und 
2wei  Körper,  die  /ich  in  gerader  Richtung 

auf 


Viertes    Kapitel.  2/ß 

auf  einander  zu  bewegen,  fich  nicht  berüh- 
ren können ,  woferne  nicht  jene  Subftanz, 
welche  zwifchen  beiden  ift,  in  einer  Linie» 
die  mit  jener  Richtung  nicht  parallel  ift,  aus 
der  Mitte  heraustritt.  Alle  Körper,  mit  de- 
nen wir  gewöhnlich  zu  thun  haben ,  geben 
uns  dielen  Betriff  in  reichlicher  IVlaaLe« 

§.     3. 

Die  Dichtheit  ift  von  dem  Räume 
verf  c  hied  en, 

Der  Widerftand  ,  durch  welchen  ein  Kör. 
per  aus  dem  Räume,  den  er  einnimmt,  ande- 
re zurückhält,  ift  fo  grofs,  dafs  keine  noch 
fo  grofse  Gewalt  ihn  überwinden  kann.  Wenn 
alle  Körper  der  Welt  einen  Tropfen  WalTer 
von  allen  Seiten  drücken ,  fo  find  fie  doch 
nicht  im  Stande,  den  Widerstand  diefes  fonft 
fo  kleinen  gefchmeidigen  Körpers  gegen  ihre 
Berührung  aufzuheben ,  bis  er  ihnen  aus  dem 
Wege  gehet.  Hierdurch  u  n  ter  fch  eid  et 
fich  unfer  Begriff  der  D  ic  htheit  von  dem 
desblofsen  Raumes,  de-?  keines  Wider- 
Randes  und  keiner  Bewegung  icihig  ift,  und 
von  dem  gewöhnlichen  Begtiff  der  Härte. 
Q  2  Denn 


244  Zweites    Euch, 

Denn  man  kann  fich  zwei  Körper  in  einer 
ge  willen  Entfernung  vorftellen  ,  welche  fich 
einander  fo  lange  nähern,  bis  jhre  Oberflächen 
zu  lammen  treffen  ,  ohne  dafs  fie  einen  andern 
dichten  Körper  berühren,  und  aus  feiner  Stelle 
treiben.  Ohne  jezt  auf  die  Zernichtung  eines 
einzelnen  Körpers  zurückzugehen  ,  frage  ich 
nur,  ob  man  fich  nicht  ein^n  einzelnen  Kör- 
per fo  in  Bewegung  denken  kann,  dafs  kein 
andrer  unmittelbar  an  deflen  Stelle  fortrückt. 
Die  Möglichkeit  eines  folenen  Begriffes  liegt, 
wie  ich  glaube,  am  Tage.  Denn  der  Begriff 
der  Bewegung  eines  Körpers  fchliefst  fo  we- 
nig den  Begriff  der  Bewegung  eines  andern 
ein,  als  der  Begriff  der  viereckigten  Geftalt 
eines  Körpers  die  Vbrftellung  eines  andern 
Viereckes.  Ich  frage  nicht ,  ob  die  Körper 
fo  exiftieren  können,  dafs  die  Wirklichkeit 
der  Bewegung  des  einen  nicht  von%  der  Be- 
wegung des  andern  abhängt,  —  denn  eine 
beftimmte  Antwort  darauf  würde  die  Streit- 
frage wegen  des  leeren  Raums  febon  ent- 
weder bejahend  oder  verneinend  entfeheiden, 
•—  fondern  meine  Frage  gehet  nur  dahin  :  ob 
mau  fich  einen  Körper  in  Bewegung  denken- 
könne,  während    dafs  andre    ruhen?     Und 

das 


Viertes     Kapitel,  8^5 

das  wird  niemand  verneinen.        Diefes   vor- 
ausgefezt,    fo  giebt  uns   die  veriafsne  Stelle 
des  Körpers    einen  Begriff  von  dem  blofsen. 
Baume  ohne  Dichtheit,    welchen  ein  andre» 
Körper  einnehmen   kinn ,    ohne    Widerftand 
zu   finden ,     oder    einen    andern    aus    feiner 
Stelle    fortzudrängen.        Wenn    der    Plumo- 
ftock    in     einer    Wafferpumpe    gezogen    ift 
fo  bleibt  der  Raum,  den  er  erfüllte,  der  nehrn- 
liche,  es  mag   ein   anderer   Körper    an  jenes 
Steile  treten  oder  nicht.     Dafs  die  Bewegung 
eines  Körpers,  nicht   auch  die  Bewegung  ei- 
nes neben  ihm   irn  Räume  befindlichen  nach, 
fich  ziehen  muffe,  ift  kein  Widerspruch;    die 
Notwendigkeit  einer  folchen  Bewegung  be« 
ruhet  nur  auf  der  Vorausfetzungs  dafs  es  kei- 
nen  leeren  Raum  in  der  Welt  giebt;    nicht 
auE  den  deutlichen  Begriffen    von  Raum  und 
dem  Dichten,  welche    fo    verfchieden   find, 
als. Widerftand   und  Stofs    und  ihr  comradik,«' 
tjoriTches.  Gegentheil.       Dafs  die    lVlenfchen 
Vorftellungen  von  einem  nicht   erfüllten  Räu- 
me haben,    beweifen  ihre  Streitigkeiten  über 
den  leeren    Raum   augenfeheinlich,    wie   ich 
an  einem  andern  Orte  zeigen  werde» 

Q  3  §.  4* 


$4*  Zweite«    Bück; 

§.    4- 

Va  ter  fchei  düng  des  Begriffs  von 
der  Dichtheit  und   der  Härte. 

Hierdurch  unterfcheidet  fich  auch  die 
Dichtheit  von  der  Härte,  Iene  befte- 
het  in  der  Erfüllung  des  Raums  und  der  Aus- 
fchliefsung  anderer  Körper  aus  denselben; 
diefe  aber  in  einem  feilen  Zufamraen hange 
der  materiellen  Beftandtheile  in  wahrnehm- 
baren Matten  fo,  dafs  das  Ganze  nicht  leicht 
feine  Geftalt  ändert»  Eigentlich  legen  wir 
den  Körpern  nur  in  Beziehung  auf  die  Ein- 
richtung unfers  eignen  Körpers  Härte  und 
Weiche  bei,  indem  wir  denjenigen  hart  nen- 
nen, der  uns  eher  Schmerz  verurfacht,  als 
dafs  er  durch  den  Druck  eines  Theiles  un- 
fers Körpers  feine  Geftalt  veränderte  ;  im  Ge- 
gentheil  aber  ift  er  weich,  wenn  er  die  Lage 
feiner  Theile  nach  einem  leichten  und  un- 
fchraerzhaften  Druck  abändert. 

Allein  diefe  Schwierigkeit,  die  Lage  der 
wahrnehmbaren  Theile ,  oder  die  Geftalt  des 
Ganzen  zu  ändern,  giebt  dem  härteften  Kör- 
per nicht  mehr  Dichtheit ,  als  dem  weichften« 

Der 


Vioi'te»   Kapitel,  *47 

Der  Diamant  ift  im  geringften  nicht   dichter 
als  das  Wafler.       Denn  obgleich  zwei  Ober, 
flachen   von    zwei  Marmorftücken    einander 
eher  berühren  muffen,    wenn  nur  Luft  oder 
WaJTer,  als  wenn  ein  Diamant  zwifchen  ihnen 
befindlich  ift;  fo  liegt  doch  die  Urfache   da- 
von nicht  darin,    dafs  die  ßeftandtheile  des 
Diamants   dichter   find,   oder   mehreren  Wi- 
derftand  leiften ,  als  die  des  WaiTers,  fondern 
dafs   die   lezten   fich    leichter  von  einander 
trennen     lafsen ,       durch     eine     Bewegung 
nach  der  Seite  ausweichen ,  und  der  Beruh* 
rung  der  zwei  Marmorplatten  Platz  machen. 
Könnte  man   das  lezte  verhindern,  fo  würde 
Luft  und  Wafler  eben  fo  gut  als  der  Diamant 
die  Berührung  der  Platten  in  Ewigkeit  ver- 
hindern ,  und  ihr  Widerfiand  wäre  nicht  we- 
niger als  der  Widerftand  des  Diamants  für  je- 
de Kraft  unüberwindlich.     Der  weichfte  Kör- 
per fo  wie  der  härteße  wird  dem  Zufammen- 
treffen    zweier   anderer  Körper  unüberwind- 
lich widerftehen,  fo  lange  er  in  ihrer  Mitte 
bleibt,    und    nicht   aus    dem  Wege  geräumt 
■wird.     Man  fülle  einen  weichen  nacbgeben- 
den  Körper  wohl  mit  Waffer  oder  Luft   an, 
und  man  wird  fogleich  den  Widerftand  def- 
Q  4  fclben 


2/f8  Zweites  Brich.. 

felben   beobachten;    und   ein   mit  Luft  ange- 
füllter Ballon   kann- jeden    übvriena&a  ,     dajft 
nicht  allein    harte  Körper  die  Berührung   der 
Hände    \  erhindern   können«        Tvoch  ein  Be- 
weis    für    die    Dichtheit     eines     lo  weichen 
Körper*  ,     als    das     Wniler    lft,     ilt    dt*r   Ver- 
fuch,    den   man,     wie   ich    gehört    habe,    in 
Florenz   mit    einer  hohlen  Kugel    von  G<,  d 
antreibe.    Man  füllte  nehmlicb  diefe  mit  Waß 
fer    an,     verfchlofs    die    Oefnung   fuiafahig, 
und  brachte  fie  unter  eine  Prelle;  als  fie  nun 
durch  die  größte  Gewalt  der  Schrauben  zu- 
faunner-gedrüf kt  wurde,     fo   öfnete   (ich    das 
Waüer  einen  Weg   durch  die  Zwilchenräume 
dieses  dichten  Metalls;  und  da  es  in  fich  kei- 
nen   Raum    zur    nähern    Vereinigung    feiner 
Theile  fand,  fo    drängte   es   Reh   zur   äufsern 
Oberfläche  heraus,  wo  es  in   Tropfen,    als 
Thau  herabfiel,  ehe  die  Kugel  flachen  gezwun- 
gen werden  konnten,  dein  heftigen  Druck  der 
Mafchine  nachzugeben. 


$.  *. 


Viertes     Kapite}.  zfä 

§.    5k 

Auf  die  Dichtheit  gründet  ("ich 
der  Anftofs,  der  W  i  d  e  r  f  t  .-i  n  d, 
und  die  Bewegung  durch  den 
Sjo  1s, 

l).7rth  diefen  Betriff  der  Dichtheit  ifl  die 
Ausdehnung    eines   Körpers    von   der 
A  usd eh»  un s    des    Raumes    unterfchie- 
den.     Jene  ift  nichts  anders   als,   der  Zufanu 
ing    oder    Uetigt-    Verbindung    dichter, 
trennbarer    und    beweglicher    Theüe;     diefe 
das  iNehsneinandcrfevn  nicht  dichter   unzer- 
trennlicher'i  heile.     Auf    die    Dichtheit 
der  Körper  gründet    lieh  auch     ihr 
gegenfei  tig  er   Anftofs,   YVi  a  er  i'ta  nd 
und  die  Bewegung  durch  den  S t o f s, 
Es  giebt  viele  Deuker  —  und  zu  dielen   be- 
kenne   ich    auch  mich  —   welche    von   dem 
blofsen  Räume    und  der  Dichtheit  klare  und 
deutliche  Begriffe  zu   belitzen  glauben;    und 
diefe     find    überzeugt,     dafs   fie   lieh    einen 
Baum  denken  können,    ohne  dafs  in  demsel- 
ben etwas  Widerftand  leittet,  oder  von  einem 
Körper  bewegt  wird.       Darin  beitehet  eben 
Q  5  ^er 


ä5o  Zweites    Buch. 

der  Begriff  des  blofsen   Raums,    der 
für  fie  eben  fo  klar  ift,   als  die  Ausdehnung 
der  Körper;   denn  die  Vorftellung  von    dem 
Abftande  zwifchen  den  entgegengefezten  Sei- 
ten einer  hohlen  Fläche    ift    eben    fo  klar» 
man  mag  fich    dichte    Theile    in    demfelben 
vorteilen  oder  nicht.      Auf  der  andern  Seite 
find  fie  auch   überzeugt ,    dafs   fie  einen  von 
der  Vorftellung  des  blofsen  Raum»  verfchied- 
jien  Begriff  von  einem  Etwas  haben ,  das  den 
Kaum  erfüllet,  durch  den  Srofs  andrer  Kör- 
per fortgeftofsen  werden ,  oder  diefer  Bewe- 
gung widerfiehen  kann.     Wenn  andere  diefe 
beiden   verfchiedenen   Begriffe    nicht    unter- 
Fcheiden ,    fondern    mit   einander   verwech- 
feln  und    für  identifch  anfehen,   fo  begreife 
ich  nicht,    wie  Menfchen,   welche   einerlei 
Begriff  mit  verfchiedenen  Worten  oder  ver« 
fchiedene  Begriffe  mit  einerlei  Wort  bezeich- 
nen ,  fich  verftandigen  können»     Eben  fo  gut 
mag  ein  Menfch   mit  gefundem  Gehör   und 
Geficht,  der  klare  Vorftellungen  von   der  Far- 
be    des     Scharlachs     und    dem    Tone    der 
Trompete    hat ,  über  die  Scharlachfarbe  mit 
einem  Blinden  fprechen,  der,  wie  ich   an  ei- 
nem andern  Orte  erwähne >  fich  die  Schar- 
lachfarbe 


Vierte»    Kapitel.  25» 

laehfarbe    als    etwas  dem    Trompetenfchalle 
ähnliches  voi Hellte. 


Was  die  Dichtheit  ift. 

Wenn  ich  gefragt  werde  :  was  die  Dicht- 
heit ift,  fo  ver  weife  ich  den  Frager  an  feine 
Sinne;  er  nehme  einen  Flintenftein  oder  einen 
Ballon  zwifchen  feine  Hände,  fuche  diefe  zu 
vereinigen,  und  dann  wird  er  willen,  was  fie 
ift.  Wenn  ihn  das  noch  nicht  befriediger, 
fo  verfpreche  ich  ihm]  eine  Erklärung  über 
das  was  die  Dichtheit  ift,  und  worin  fie  be- 
ftehet ,  zu  geben ,  wenn  er  mich  vorher  be- 
lehret, was  das  Denken  ift,  und  worin  es 
beftehet ,  oder  eine  vielleicht  noch  leichtere 
Frage,  was  die  Ausdehnung  und  Bewegun» 
ift,  beantwortet.  Unfre  einfachen  Vorftel- 
lungen  find  das,  was  uns  die  Erfahrung  lehret. 
Der  Verfuch ,  fie  noch  über  das  durch  Worte 
klärer  zu  machen,  gelingt  nicht  befler,  als 
die  Bemühung,  die  Dunkelheit  eines  Blinden 
du*ch  die  Sprache  aufzuhellen,  und  ihm 
durch  Worte  die  Vorßellungen  von  Licht  uad 

Far- 


i5s  Zweites    Buch/ 

Farbe  einzuflößen.       Der  Grund  davon  wird 
au  einem  andern  Orfe  entwickelt  werden. 


^Fünftes  Kapitel. 

"Von  einfachen  Vorstellungen   durch.  Verfehle« 
dene  Sinnej 


Die  Vorfrellungen,  welche  wir  durch  mehr 
als  einen  Sinnerlangen,  find  die  Vorftellungen 
vom  Räume  oder  von  der  Ausdehnung, 
von  der  G  e  f  t  a  1 1,  Ru he  und  ß e  w  egung, 
Penn  diele  Gegenftände  machen  fowohl  auf 
die  Augen  als  auf  das  Gefühl  Eindrücke,  und 
die  Vorstellungen  von  Ausdehnung,  Gettalt 
Bewegung  und  Ruhe  der  Körper  können 
durch  beide  Sinne  in  die  Seele  geleitet  wer- 
den, ich  zähle  fie  hier  aber  biosauf,  weil 
ich  an  einem  andern  Orte  Gelegenheit  finden 
werde,  weitläufiger  von  ihnen  zu  handeln» 


Sechs- 


Sechstes    Kapitel*  255 

Sechstes  Kapitel. 

Von    einfachen  VorJullungeii  der  E.eflexion, 


Die  Fe  Vorftellungen  entfp  ringen 
aus  der  Thätigkeit,  welche  das 
Gemüthan    ihren    andern    Vor- 

^    ftellungen'  äussern 


W  enn  das  Gemüth,  nachdem  es  die  Vor- 
fteilnngen ,  weiche  wir  in  den  vorhrrgehen- 
den  Kapiteln  erwähnt  haben,  von  Auflen  em- 
pfangen hat,  feinen  Blick  auf  fein  Inneres 
richtet,  und  die  auf  diefe  Vorftelbnjjen  ee_ 
richtete  Thätigkeit  beobachtet,  fg  erhält  es 
daher  andere  YorftcHungen ,  -welche  eben  fo 
gut,  ah  die  von  Auflendingen  ein  Ge^enfUnd 
der  Betrachtung  werden  können, 

§♦'     2. 

Der  Begriff  von    dem    Vorf teilen 

und    dem  Wollen,    den    wir     aus 
der  Reflexion  erhalten. 

Das  Vorf  teilen    (perception)  oder  das 
D  enken  ,  und  das  VV  o  llen    find  uu 


s£>4  Zweites    Buch, 

weit  umfarsendflten  und  vornehmflen  Hand- 
lungen des  Gemüths.  Sie  kommen  fo  oft  vor, 
und  bieten  (ich  dem  Nachdenken  bei  fo  vie- 
len Gelegenheiten  dar,  dafs  fie  jedermann  in 
fich  wahrnehmen  kann.  Das  Vermögen  zu 
denken  wird  der  Verftand,  und  das 
Vermögen  zu  wollen  der  Wille,  beide  Ver- 
mögen oder  Fähigkeiten  aber  Seelenkräf- 
te (Faculties)  genennt.  Von  einfachen  Vor- 
ftellungen  der  Reflexion  diefer  Art,  als  Er- 
innern, Unter  fcheiden,  Schlie- 
fsen,  Urtheilen,  Erkennen,  Glau- 
ben, u.  f.  w»  werde  ich  weiter  unten  Ge- 
legenheit ßnden  zu  handeln. 


Siebentes  Kapitel« 

Von    einfachen  Vorftellungen  ,  welche  fowohl 

durch  die  Sinne  als  die  Reflexion  gegeben 

werden. 


Eis    giebt    andere     einfache    Vorftel- 
lungen, welche  auf  alle  mögliche  Arten 


durch 


Siebentes    Kapitel.  s55 

durch  die  Sinne  und  die  Reflexion  der  Seele 
zugeführt  werden,  nehmlich  Vergnügen 
oder  Luft  und  das  Gegentheil  S  c h m  e r z, 
oder  Unluft,  Kraft,  Exiftenz,  Ein» 
heit« 

S.      2. 
Vom  Vergnügen  und  Schmerz. 

Luft  und  UnluTt  find  Vorftellungen, 
welche  fich  faft  mit  allen  Vorftellungen  der 
Sinnlichkeit  und  Reflexion  verbinden.  Beinahe 
jede  Einwirkung  der  Auflendinge  auf  die  Sin- 
ne, jeder  aus  dem  Innerften  des  Gemüths  ent- 
fprungener  Gedanke  kann  in  uns  Vergnü- 
gen oder  Schmerz  hervorbringen.  Unter 
Vergnügen  und  Schmerz  verliehe  ich 
alles,  was  uns  wohl  thut,  und  zur  Laft  fällt, 
es  mag  von  Vorftellungen  des  Gemüths  oder 
von  den  Veränderungen  des  Körpers  entrin- 
gen. Befriedigung,  Luft,  Vergnügen,  Glück- 
feligkeit,  und  im  Gegentheil,  Unbehaglich- 
keit,  Unruhe,  Schmerz,  Quaal,  Angft,  Elend 
u.  f.  w.  drücken  nur  verfchiedene  Grade  ei- 
ner  und  derfelben  Art  von  Vorftellung  aus, 
und  gehören  alle  zu  dem  Umfang  der  Vorftel- 
lungen 


256  Zweites    Buch. 

lungen  ,  Ver £n  üsen,  Schmpr?,  Luft, 
Unluft.  Ach  Werde  mich  in  den  ineiften 
Fällen  der  legten  Ausdrücke  bedienen,  um 
alle  einzelnen  Vorftellungen  diei'er  Art  zu 
bezeichnen« 

§.     5, 

Öer  unendlich  weife  Urheber  imfers  Da« 
feyns-gab  un?  eine  will küh*-ji che  Macht  über 
verschiedene  Theile  unfers  Körpers,  um  fie 
nach  Gntbefinden  zu  bewegen  oder  ruhen  zu 
lafien  ,  und  dadurch  auch  uns  felbft  und  an- 
dere Körper  neben  uns  in  Bewegung  zu 
feixen,  worin  alle  Thätigfcfeit  des  Körpers  be- 
fiel1 t ;  ergab  ferner  unferm  Greifte  das  \  er- 
nten, in  vielen  Fällen  die  Vpjrftellungen 
zu  wählen  ,  über  welche  er  nachdenken  wilh; 
die  UrierlVchung  diefes  oder  jenes  Gegen-, 
ftandes  mit  Be.'bnnenheh  und  A.ufnietkfamkeit 
2u  verfolgen,  und  uns  zu  denjenigen  trifti- 
gen und  körperlichen  Thätigkfiten  zu  beftim- 
rnen  ,  deren  wir  fähig  ßjid  ;  es  gefiel  endlich 
auch  feiner  Weisheit  eine  Vorftellung 
von- Luft  mit  verschiedenen  Gedanken  und 
Empfindungen  zu  verknüpfen.       Ohne  diefe 

Ver 


Siebentes    Kapitel,  257 

Verbindung  fehlte  es  uns  an  einem  Beitim.- 
rnungsgrunde  einen  Gedanken  dem  aridem, 
eine  Handlung  der  andern,  Unacutiau^vtit 
der  Aufmerkfamkeit ,  Thäugkeu  der  Lnmä- 
tigkeit  vorzuziehen.  L!nJ  dinn  würden  wir 
weder  unfern  Rüiper  bewegen,  noch  unfern 
Geift  beCchäftiger; ,  fondem  unfre  \  orltti,un- 
gen  und  Gedanken  ohne  Zweek  und  Plan 
herum  fchwärmen,  und  unbemerkten  ;>chatten 
gleich,  nach  dem  blinden  Zutall  erfchemen 
laflen  ,  ohne  darauf  zu  achten.  Der  Menfch 
obgleich  mit  dem  Verftandes-  und  VYiüens- 
vermügen  auvgerüftet ,  würde  doch  in  einem 
folchen  Zufiand  faul  und  unthätig  feyn,  und 
feine  Zeit  in  einem  trügen  Schlummer  ver- 
träumen. Der  weife  Schöpfer  fand  es  daher 
für  gut,  an  gewifle  Objekte  und  ihre  Voiftel- 
lungen,  wie  auch  an  gewitfe  Gedanken  unfers 
Geiftes  ein  begleitendes  Vergnügen  zu  knü- 
pfen, und  zwar  fo  reichlich  und  in  fo  ver- 
fchiedenen  Graden,  damit  die  Fähigkeiten,  die 
er  uns  gefchenkt  hat,  nicht  ganz  ungenützt 
und  ungebraucht  blieben. 


$.  4> 


258  Zweites     Buch, 

§•       4- 

Der  Schmerz  hat    mit"  dem  Vergnügen  ei- 
nerlei Wirkung  und  Zweck,  nehmlich  uns  zur 
Thätiukeit  anzukörnen.  Denn  wir  find  eben 
fo   geneigt,    unfre    Kräfte    anzuwenden,    um 
den  Schmerz     zu     entfernen,    als    Vergnügen 
zu  erftreben.      Nur  diefs  verdient  noch  dabei 
unfere  Aufmerkramkeit,     dafs   oft    durch 
eben    diefelben  Objekte    und  Vorftellun- 
gen  Schmerz    veruifacht    wird,  wel- 
che  auch  Vergnügen  erzeugen.  Die» 
£e  innige    \  erbindung    beider   Gefühle,    wel- 
che   Urfache    ift,     dafs     wir    oft      bei    den 
Vorftellungen   Schmerz  empfinden,    wo    wir 
Vergnügen     erwarteten ,      giebt     uns     neue 
Veranlagung,   die   Weisheit   und  Güte    unfers 
Schöpfers     zu    bewundern,     der    zur    Erhal- 
tung   unfrer    Exiftenz     mit    dem    Verhälinifs 
gewifler    Dinge    zu    unfern   Körper  Schmerz 
veiknüpfte  ,     damit    wir    dadurch    vor    dem 
Uebel  gewarnt,  das  fie  anrichten  könnten,  uns 
von  ihnen  entfernten. SeinZweck  war  aber  nicht 
unfre  Erhaltung  fchlechtweg  ,   fondern  die  Er- 
haltung jedes  Theils  und  jedes  Organs   in  fei- 
ner Vollkommenheit;    deswegen  verwebte  er 
ia  vielen  Fallen  mit    denjenigen  Vorftellun- 

gen 


Siebentes    Kapite1.  o.Sg 

gen  ein  unangenehmes  Gefühl ,  welche  uns 
fonft  Vergnügen  machen.  So  wird  uns  die 
Wärme,  welche  in  einem  beftimmten  Grade 
fehr  angenehm  ift,  höchft  peinlich,  wenn  fie 
zu  einem  höhefn  fteigt,  und  felbft  das  ange- 
nehmfte  finnliche  Objekt,  das  Licht  verurfacht 
eine  ziemlich  fchmerzhafte  Empfindung,  wenn 
feine  intenfive  und  extenfive  Gröfse  das  rich- 
tige Verhältnirs  zum  Auge  überschreitet.  Diefs 
iß  eine  weife  Und  wohlthätige  Einrichtung 
der  Natur,  damit  wir,  wenn  ein  Objekt  die 
Sinnorgane,  deren  Bau  äufserft  fein  und  zart 
feyn  mu^ste,  durch  feine  zu  ftarke  Einwir- 
kung in  Unordnung  bringen  könnte,  durch 
den  Schmerz  gewarnt ,  uns  von  ihm  entfer- 
nen ,  ehe  noch  das  Organ  ganz  zerrüitet  und. 
'ZU  feinem  künftigen  Gebrauche  unbrauchbar 
gemacht  wird.  Die  Betrachtung  der  Gegen- 
ftande,  welche  Schmerz  hervorbringen,  kann 
uns  überzeugen,  dafs  das  wirklich  fein  Zweck 
und  Nutzen  ift.  Denn  fo  unerträglich  für 
das  Auge  der  hochfte  Grad  des  Lichts  ift  4  fo 
Wenig  ift  es  der  hüchfte  Grad  der  Finfternifs, 
weil  er  das  künftliche  Organ  durch  keine  un- 
ordentliche Bewegung  ftöhret,  fondern  in  fei- 
nem Zuftand  lafst»  Hingegen  ift  ein  Ueber- 
R  2  raaafs 


üöu  Zweites    Euch. 

maafs  von  Wärme  und  Kalte  gleich  peinlich» 
Denn  fowohl  das  eine  als  das  andere  zerftblv 
ret  die  Temperatur,  welche  zur  Erhaltung 
des  Lebens  und  zur  Ausübung  verfchiedener 
Functionen  des  Körpers  nothwendig  ift,  und 
in  einem  gemäfsigteu  Grad  der  Wärme,  oder 
wenn  man  lieber  will,  in  einer  beftimmten 
Grenzen  unterworfenen  Bewegung  der  fein.- 
öen  Tätlichen  unfers  Körpers  belle  hl. 


AufseT  dielem  läfst  fich  noch  ein  andre? 
Grund  entdecken,  warum  Gott  fo  ver- 
fchiedene  Grade  von  Schmer» 
und  Vergnügen  mit  allen  Dingen, 
die  »uns  umgeben  und  afficiren, 
verwebte,  und  bei  alle  dem,  was  die  Sin- 
ne und  den  Yeiftand  befchäftiget,  beide  Ge- 
fühle mit  einander  verkettete.  Wir  foliter* 
nehüdich  bei  allem  Genufs,  den  uns  die  Ge- 
fchöpie  gewähren  können,  Vn Vollkommen- 
heit, NichtbeTriedigung  und  Mangel  der  voll« 
kommnen  Glückfeligkt-it  finden,  und  dadurch 
veranlagt  werden,  das  alles  in  dem  GenuTs 
deüea  zafushea,    bei    dem   Fülle    der 

Freud© 


Siebentes    Kapitel,  261 

Freude   und    ewig   dauernde   Selig- 
Leit  zu  feiner   rechten  Hand  ift. 


§.     6. 

1 

Was  wir  hier  gefagt  haben  ,   wird  zwar 
die  Begriffe  von  Schmerz  und  Vergnü" 
gen  nicht  deutlicher  machen,  als  Ge  uns  die 
Erfahrung  giebt ,  durch  welche  wir  fie  allein 
empfangen  können,     Allein  die  Unterfuchung 
der  Urfachen ,  warum   Schmerz   und  Vergnü- 
gen mit  fo  vit'en  Vorftellungen  verwebt  find, 
war  doch  vielleicht  nicht  imzweckmäfsig  für 
den  Hauptgegenftand  diefer  Unterfuchungen, 
weil  Hein  uns  die  pflichtmäfsigen  Empfindun- 
gen gegen  die  Weisheit  und  Gute  dc-shöchflen 
Regierers  der  Welt  erweckt,  defienErkenntnifs 
und  Verehrung  der   Hauptzweck  aller  unfrer 
Gedanken    und    die   angemeflenfte   Beschäfti- 
gung unfers  Geifies  ift» 

§■  7. 

Exiftenz  und  Einheit» 

Exiftenzund  Einheit  find  zwei  an» 

Are  Begriffe,  welche  durch  jedes  Objekt  von 

R  5  .  Aufsen 


ggg  Zweites  Buch. 

Außen  und  durch  jeden  Betriff  von.  Innen 
dem  Versande  dargerei«  ht  werden.  Alle  Vor- 
ftellungen  betrachten  wir  als  etwas,  das  in 
Uns,  und  alle  Objekte,  als  etwas  aufser  uns» 
d.  h.  fie  exiftiereu.  oder  haben  Wirklich-  „ 
k  e  1 1.  Und  alles ,  was  wir  als  ein  Ding  den- 
ken können ,  es  Tey  ein  reales  Objekt 
oder  eine  Vorftellung,  giebt  dem  Verftandf 
den  Begriff  von  der  Einheit. 

.$,     8. 

Kraft» 

Ein    audrer  einfacher   Begriff,    den    wir 
durch  die  Sinne    und  die  Reflexion    er- 
halten, ift  der  Begriff  von  Kra  ft.     Denn  wir 
beobachten  in  uns  felbft,  dafs  wir  verfchiede* 
ne  ruhende  Theile  unfers  Körpers  willkür- 
lich   in    Bewegung   fetzen    können,    und   die 
Wirkungen,  welche  ein  Körper  in  dem    an* 
dem  hervorzubringen    vermag,    fiellen    fich 
alle  Augenblicke  unfern  Sinnen    dar.    Durch 
beides  wird  uns  der   Begriff  der    Kraft   gG* 
geben. 


§9. 


Siebentes  Kapitel.  263 

§.       9. 

Begriff  der  Folge  in  der  Zeit. 

Aufser  diefen  ift  noch  der  Begriff  der  Fol- 
ge, der  obgleich  auch  durch  die  Sinne,  den- 
noch auf  eine  ftetigere  Weife  durch  das ,  was 
in  unferm  Gemüth  vorgehet,  dem  Verftande 
gegeben  wird.  Denn  wenn  wir  in  iinfer  In- 
neres blicken,  und  über  das,  was  hier  be- 
obachtet werden  kann  ,  reflektiren  ,  fo  wer- 
den wir  finden,  dafs  unfre  Vorftellungen ,  in 
dein  Zuftande  des  Wachens  und  des  Vorfiel - 
Jens  eine  Reihe  ausmachen,  iu  der  unauf- 
hörlich die  eine  vorübergehet,  und  die  andre 
an  jener  Statt  zum  Vorfchein  kommt, 

§.      10. 

Die  ein  fachen  Vo  r  ftellungen  find 
die  Materialien  aller  unfrer 
Erkenn  tnifs. 

Diefes  find,  wo  nicht  alle,  doch  die  merk- 
würdigen   einfachen    Vorftellungen    des 
Verbandes  ,  aus  welchen  alle  unfre    Erkennt- 
nifs  beftehet.     Die  Seele  eThält  fie  einzig  auf 
R  4  dem 


264  Zweites   Buch. 

dem  vorhin  erwähnten  Wese  durch  die  Sin- 
ne und  die  Reflexion.  Man  denke  nicht, 
dafs  diefes  zu  enoe  Grenzen  für  den  weitum- 
fafTenden  menfchlichen  Verftand  find,  um 
fjch  in  denfelben  auszubreiten;  für  den  Ver- 
ftand, der  fich  über  die  Sterne  erhebt,  fich 
nicht  in  dein  Raum  diefer  Welt  befchränken 
läfst,  fondern  feine  Gedanken  über  die  Gren- 
zen der  ausgedehnten  Materie  fchwingt,  und 
in  die  Regionen  des  unbegreiflichen  leeren 
R  au  mes  ausfch weift.  Ich  gebe  alles  diefes 
zu,  aber  man  nenne  mir  eine  einfache 
Vorftellung,  die  nicht  auf  einem  von  je- 
nen zwei  Wegen  von  der  Seele  aufgenom- 
men, oder  eine  zuf  a  m  m  e  n  ge  f  e  z  t  e,  die 
nicht  aus  den  einfachen  gebildet 
ift.  Wenn  man  bedenkt  wie  viele  Worte 
aus  einer  Zahl  von  24  Buchftaben  durch  man- 
nichfnltige  Zurainmenfetzungen  entftehen  kön- 
nen, fo  wird  man  es  weniger  befremdend  fin- 
den, dafs  diefe  wenigen  Vorftellungen  den 
fcharffinnigften  und  utnfafsendften  Verftand 
hinlänglich  befchäftigen,  und  den  zureichen- 
den Stoff  zu  den  mannichfaltigen  Erkenntnif- 
feu,  Pfaantafien  und  Meinungen  aller  Men- 
fchen  hergeben  follen.     Noch  weniger  wird 

es 


Siebentes     Kapitel.  265 

es  auffallen  ,  wenn  man  über  die  mannichfal. 
tigen  Verbindungen  eines  einzigen  der  oben 
angeführten  Begriffe,  nehmüch  der  Zahl,  wel- 
che unerschöpflich  und  in  dem  eigentlichen 
•Sinne  unendlich  find,  nachdenkt,  und  betrach- 
tet,  welch  ein  grofses  unerinefsliches  Feld 
nur  allein  die  Ausdehnung  den  Mathemati- 
kern darftellt. 


Achtes    Kapitel. 

Noch  einige  Betrachtungen   über  die  einfachen 

Voiftcliunpen. 


§.       I. 


Politive   Vorftellungen    aus  priva. 
tiven    Ur  fachen. 

-*-  olgende  Bemerkung  mufs  in  Anfehung  der 
einfachen  Vorftellungen  durch  die  Sinne  nicht 
überlehen  werden.  Alles  was  in  der  Natur 
fo  eingerichtet  ift,  dafs  es  durch  Afficirung 
der  Sinne  einen  Eindruck  in  der  Seele  her. 
R  5  vor 


:.6f>  Zweites.  Buch. 

vorbringen  kann  ,  das  erzeugt  dadurch  auch 
in  dem  Verftande  eine  einfache  Vorfiel- 
lung;  und  diefe  wird,  wenn  He  in  eiuen 
deutlichen  Betriff  gefaxt  ift,  in  dem  Verftan- 
de wie  jede  andere  Vorftellung  als  ein  rea- 
ler pofitiver  Begriff  betrachtet,  was 
fie  auch  immer  für  eine  Urfache  hat,  und 
follte  he  auch  vielleicht  nur  in  einer  Berau- 
bung des  Objekts  gegründet  feyen. 

§.      2. 

So  find  die  Vorftellungen  von  Hitze  und 
Kälte,  Licht  und  Finfternifs,  Weifs  und 
Schwarz,  Bewegung  und  Ruhe  ohne  Unter- 
fchied  gleich  klare  und  pofitive  Vor* 
ftel Jungen  in  der  Seele,  wenn  gleich  die 
Ui fachen  von  eir.igen  derfelben  etwas  bloTs 
privativem  in  den  Objekten  ift ,  von  wel- 
chen fie  die  Sinne  empfiengen.  Der  Verftand 
betrachtet  alle  diefe  nach  feiner  AnGcht  als 
deutliche  pofitive  Begriffe,  ohne  auf  die  her- 
vorbringenden Urfachen  Pxückficht  zu  nehmen. 
Denn  die^e  Unterfuchung  betrifft  nicht  den 
Begriff,  infofern  er  in  dem  Verftande  ift,  fon- 
dern die   Natur  der  Dinge ,    die  aiffser  uns 

find, 


Achtes     Kapitel.  267 

find ,  welches  wohl  unterfchieden  werden 
mufs.  Denn  ein  andres  ift  es,  das  Weifse 
oder  Schwarze  fich  vorteilen  und  erken- 
nen, und  etwas  ganz  andres,  die  Unterfuchung 
von  welcher  Art  und  beffimmten  Lage  die 
Theile  auf  der  Oberfläche  feyn  müflen,  wenn 
ein  Objekt  weifs  oder  fchwarz  erfcheinen 
füll, 

Ein  Maler  oder  Färber,  der  vielleicht  nie 
Über  die  Urfachen  der  Farben  nachdachte,  be- 
fitzt eben  fo  klare,  deutliche  und  vollkomtnne 
Vorftellungen  von  der  weifsen,  fchwarzen 
Farbe  u.  f.  w«  als  der  Philofoph,  und  fie  über- 
treffen darin  vielleicht  noch  die  des  lezten, 
obgleich  diefer  ihr  Wefeu  zu  ergründen  fuchti 
und  zu  erkennen  glaubt,  in  wiefern  jede  der- 
selben in  Etwas  pofitiven  oder  privativen  ge- 
gründet fey.  Die  Vorftellung  von  der  fchwar- 
zen Farbe  ift  aber  in  feinem  Verftande  eben 
fo  poütiv  als  die  von  der  weisen,  wenn  auch 
die  Urfache  von  der  erften  in  den  äufsernOb» 
jecten  eine  blofse  Beraubung  ift» 

§♦4* 


2.GQ  Zweites    Bück, 

s-    4» 

Wäre  es   hier   meine   Abficht  die  natürli- 
chen   Urfachen     und    Entrtehung<>gründe    der 
Vor^eHungen   zu  untersuchen,    fo   würde  ich 
das    Factuun,    dafs  eine    privative    Urfa. 
che,  zum  wenigen  in   einigen  Fällen,  ei- 
ne    pofitive     Vorftellung     hervor- 
bringen kann,  aus  folgendem  Grunde  er- 
klären.    Jeder    Eindruck    auf  die  Sinne  wird 
hlofs    durch   verfchiedene   Grade  oder  Arten 
der  Bewegung  in  den  I  ebensgeiftern  gewirkt, 
indem  ße  von  äußern  Objekten  auf  eine  ver- 
fchiedene Art  afficirt  und  in  Bewegung  gefezt 
werden.  Daher  inufs   die  Verminderung  einer 
vorbeigehenden  Bewegung  eben  fo  gut  einen 
neuen  Eindruck  hervorbringen,  als  die  Ver- 
änderung  oder  Steigerung    derfelben.      Und 
auf  diefe    Art    kommt  eine  neue  Vo  rft  ei- 
lung in    die   Seele,    welche  nur  allein  von 
einer  verfchiedenen    Bewegung  der  Lebens, 
gtifter  in  dem  Organ  abhängt. 

§.      5. 

Doch  ich  mag  hier  nicht  entfcheiden,    ob 
diefe  Erklärung  gegründet  ift,  fondern  berufe 

wich 


Achtes   Kapitel.  £69 

mich  nur  auf  eines  Jeden  ei^ne  Erfahrung,  ob 
nicht  der  Schatten  eines  Merifchen,  der  dcnh 
nur  in  der  Abwefenheit  des  Lichtes  befte'iet, 
und  defto  deutlicher  ift,  je  mehr  Licht  fehlet» 
wenn  itan  ihn  anfehauer,  eine  eben  fo  klare 
und  pofitive  Vorfrellnng  in  der  Seele  erzeu- 
get,   als  der  Menfch  felbft,    würde  er  auch 

vom  Kopf  bis  auf  die  t'ü  se  von    der  Sonne 

♦ 

befchienen  ?  Auch  das  Gemälde  von  ei- 
nem Schatten  ift  Etvv^s  pofitives.  Wirklich 
haben  wir  auch  negative  Worte,  welche 
nicht  geradezu  pofitive  Vorfteüungen  fondern 
ihre  Abwefenheit  bezeichnen,  z,  B.  u  n- 
fchmackhaft,  Stille,  Nichts  u.  f.  w. 
Sie  enthalten  die  pofitiven  VorfteHungen;,  G  e- 
fchmak,  Töne,  S  e  y  n  nebft  der  Auieige 
ihrer  Abwefenheit, 


§.     6. 

Auf  diefe  Art  kann  man  wirklich  Tagen, 
dafs  man  die  Finfternifs  Gebet  Man  fetze 
ein  ganz  finftres  Loch,  von  welchem  nicht 
ein  einziger  Lichtftrahl  zurückgeworfen  wird, 
fo  liehet  man  doch   gevviis  die  Geftalt  deJTel- 

ben 


Hrjo  Zweites   Buch. 

ben,  und  es  kann  daher  auch  abgemalet  wer* 
deti.  Ob- die  Tinte,  mit  welcher  ich  Ich  rei- 
be, eine  andere  Vorstellung  hervorbringe , 
das  ift  noch  eine  Frage,  Die  privativen  Uf 
fachen ,  welche  ich  hie»  von  den  poßtiven 
Vorftellungen  angegeben  habe,  ftiinmen  mit 
der  gewöhnlichen  Vorftellungsart  überein» 
AHein  es  iafst  fich  in  Wahrheit  fchvver  ent* 
fcheiden,  ob  wirklich  eine  Vorfiellung  aus 
einem  privativen  Grunde  entliehe,  fo  lange 
noch  nicht  ausgemacht  ift,  ob  die  Ruhe 
oder  die  Bewegung  mehr  eine  ßea 
r  a  u  b  u  n  g  i  f  tä 

§<      7* 

Voxftellutogen  in  der  Seele*  Eigen* 
fchaften  in  den   Körpern, 

Um  die  Natur  unfrer  Vorftellungen  defto 
heiler  zu  entdecken  und  vernünftiger  über 
Jfie  zu  denken ,  wird  vorzüglich  die  Unter- 
fcheidung  dienen  ,  in  wiefern  die  Vorftellun- 
gen Vorftellungen  der  Seele,  und  infofern  fie 
Modifikationen  der  Materie  in  den  Körpern 
find,  welche  die  Vorftellungen  in  uns  verur- 
facheu«    Sie  wird  den  gewöhnlichen  irrihurrt 

ver- 


Achtes     Kapitel.  £71 

verhüten,  die  Vorfiel! mren  für  Bilder  zu 
halten  ,  welchen  im  Objekte  etwas  Reales  ent 
fpräche  ,  da  docb  die  meiüen  linnlichen  Vot- 
ftellungen  eben  fo  wenig  einem  aufser  uns 
exiftierenden  Dmge  ähnlich  find,  als  die 
Worte  den  bezeichneten  Vorstellungen  ,  ob- 
gleich diefe  durch  jene  hervorgerufen  werden» 


§.     8. 

Was  dasGemüth  in  fich  felblt  wahrnimmt, 
oder  was  das  unmittelbare  Objekt  des  ße. 
wufstfeyns  des  Denkens  und  Vorfteliens  ifl, 
das  nenne  ich  Vorftellung  (Ided),  die 
Kraft  aber,  eine  Vorftellung  in  uns  hervor- 
zubringen ,  Eigen  fchaft  (Quality)  des 
Objekts  ,  welches  die  Kraft  befizt.  So  be- 
fiztder  Schneeball  die  Kraft,  die  Vorftelhn- 
gen  vom  weifs,  kalt,  rund  in  uns  zu 
erzeugen,  die  Kräfte,  diefe  Vorftellungen  in 
uns  hervorzubringen  ,  nenne  ich,  infufern 
fie  in  dem  Schneeball  find,  Eigen  fc  haf- 
ten, Vorftellungen  aber,  infofern  fie 
Empfindungen  oder  Wahrnehmungen  in  dem 
vorteilenden  Subjekte  werden.  Wenn  ich 
(lauer  zuweilen  von  Vorftellungen    rede,  als 

^ären 


27~  SJ  W  e  i  1 4  s     E  ti'c  h, 

wären  fie  in  den  Objecten  felbft,  fo  will  ich 
darunter  die  Eigenfchaften  der  Objekte,  durch 
welche  fie  erzeugt  werden,  verftandea  wiflen. 


§♦     9» 

Ur  f  pr  üngliche  Eigenfchaften 
(  Gr  und  eigen  fc  haften,  prirnary 
Qualit  ies.) 

Zu  diefen  Eigenfchaften  der  Körper  gehü- 
Ten  e  r  ft  lieh  folche,  welche  vom  Kör- 
per in  jedem  Zuftande  unzertrennlich 
find,  welche  an  ihnen  bei  allen  Verände- 
rungen, bei  allem  Wechfel  und  bei  jedem  noch 
fo  gewaltfamen  Einflufs  beftandig  haften;  wel. 
che  die  Sinne  in  jedem  anfchaulichen 
Tiieil  der  Materie  jederzeit  wahrnehmen; 
welche  fieh  der  Verft-and  als  unzertrennlich 
von  jedem  auch  dem  kleinften  ,  nicht  in  die 
Sinne  fallendem  Theiie  der  Materie  denket» 
Man  theiie  z.  B,  ein  Waizenkorn  in  zwei 
Theiie,  noch  immer  behält  jeder  derfelben 
Dichtheit,  Ausdehnung,  Geftalt, 
u  n  d  B  e  w  e  g  1  i  e  h  k  e  i  t.  Und  wenn  man  die 
Theilung  nochfo  lange  fortfezt,  bis  die  Theil- 

chen 


Achtes     Kapitel,  27$ 

ohen  nicht  mehr  bemerkbar  find,  fo  bleiben 
doch  alle  diefe  Eigenfchaften  und  müden  un- 
verändert bleiben.  Denn  die  Theilung,  d.  h, 
die  Zerlegung  eines  Körpers  in  feine  unmerkli- 
chen Beftandtheile,  was  auch  Mühlen  und  Mör- 
ferftairpfen  im  Grofsen  bewirken,  kann  dem 
Körper  jene  Eigenfchaften  ganz  und  gar  nicht 
nehmen,  fondern  nur  ein  Stück  Materie  in 
mehrere  getrennte  Mafien  zerlegen-  Diefe  ma- 
chen nach  der  Theüung  eine  befiimmte  Zahl 
aus ,  und  werden  als  eben  fo  viele  Körper 
betrachtet.  Diefe  Eigenfchaften  der  Körper 
nenne  ich  die  urfprünglichen,  oder 
Gr  u  n  d  eige  n  fcha  f  ten,  (original,  prima- 
ry  Qualities)  welche,  wie  man  leicht  denken 
kann,  die  einfachen  Vorftellungen 
der  Dichtheit,  der  Ausdehnung,  der  Figur, 
der  Bewegung,  der  Ruhe  und  der  Zahl  in  uns 
hervorbringen. 


§>      IO, 

Es  giebt  zweitens    andere  Eigenfchaften, 
denen  in  den  Objekten  eigentlich    nichts    an- 
dres zum  Grunde  liegt,  als  gewifie  Kräfte,  durch 
Hülfe  der  Grundeigenfchaften ,  oder  derGrö- 
S  fse 


/ 

2^4  Zweites    B  u  c  h. 

fse.  Figur,  Stuctur  und  Beweguugderkleinften 
Beftandtheile,    mannichfaltige    finnliche  Vor» 
Heilungen  z.  ß.    Farben,  Tone,    Ge'chmacks- 
empfiudungen  zu  erzeugen.     Diefe  nenne  ich, 
abgeleitete     (fecondary)    -E  ig  enfc  haf- 
ten.   Man  könnte  aufserdiefen  noch  eine  drit- 
te Art  von  Eigenfcbaftei    annehmen;    nehm« 
lieh  folche ,  welche  auch  nur  als  blofse  Kräf- 
te zu  betrachten,  aber  doch  eben  fo  gut  reale 
Eigenfchaften   in    den   äufsern  Objecten   find, 
als   diejenigen,     welche    ich   aus   Gefälligkeit 
gegen  den  gemeinen  Sprachgebranch  Eigen» 
fchaften,   aber  zum  Unterfchied  von    den 
erftern     abgeleitete    nennte.     Denn    die 
Kraft    des   Feuers    durch     feine  "  Grundeigen- 
fchaften   eine  neue   Farbe    oder  eine    andere 
Konüftenz   an     dem    Ton    und   Wachs    her- 
vorzubringen ,  ift  eben  fogut  eine  Eigenfchaft 
des  Feuers  als  die  Kraft,    in    mir  eine  neue 
Vorftellung    von   Wärme  oder    dem   Brennen 
zu  erzeugen,  von  denen  ich  durch  die  nehm- 
lichen  Grundeigen  fchaften   vorher  noch  kei- 
ne Empfindung  hatte  *), 

«.   «, 

*_)  Deutlicher  wird  der  Inhalt  diefes  §  durch  die 
"Vergleichung  mit  dem  §,  23, 


Achtes    KapiteL  yj5 

§.       II. 

Wie  die  ur  fpr  ü  n  gl  ic  h  en  Eigpn- 
fchafcten  Vorfteliungen  von 
fich  erzeugen. 

> 

Nächft   dieTem  mnfs   die  F™ge  nnterCucht 

werden  ,  wie  die  Körper  Vorfteliungen 
in  uns  erzeugen?  Diefs  gefchiehet  offen- 
bar durch  den  Stofs,  (Bewegung)  die  ein- 
zige für  uns  denkbare  Weife,  wie  Körper 
auf  einander   wirken, 

§.      12. 

Da  die  äufsem  Objekte  nicht  mit  der  See- 
le vereiniget  lind,  wenn  fie  in  ihr  Vorftellun' 
grn  hervorbringen  ,  und  gleichwohl  die 
Grnndeigenfchafte.".  eines  jeden  anfehaulichen 
Körpers  von  der  Seele  erkannt  werden,  fo 
qrhellet  daraus  die  Noth  wendigkeit  einer  ge* 
wiffen  Bewegung,  w»elche  von  ihnen  durch 
einige  Theile  des  Körpers  vermittelt  der  Ner- 
ven oder  der  Lebensgeifter  bis  in  das  Gehirn 
oder  den  Sitz  des  Bewuf&tfe)  ns  fortgepflianzt 
wird,  um  dafelbft  die  beftimmten 
\  orfte Illingen  von  ihnen  hervorzu- 
S  3  hr  in- 


27S  Zweites    Buch. 

bringen.  Und  weil  wir  die  Ausdehnung, 
Geftalt,  Zahl  und  Bewegung  der  Körper  von 
merklicher  GrÖfse  fchon  in  einiger  Entfernung 
durch  das  Geficht  wahrnehmen  können,  fo 
muffen  nothwendig  gewiffe  einzeln  nicht 
wahrnehmbare  Körper  von  ihnen  in  die  Au- 
gen l'ominen  ,  von  da  eine  gevville  Bewegung 
bis  zu  dem  Gehirn  fortführen,  welche  dann 
jene   Vorftellungen  erzeuget» 

§♦     i3. 

Wie  die  abgeleiteten  Ei  gen  Fe  haf- 
ten Vorftellungen  von  fich  er- 
zeugen» 

Eben  fo  Iarst  fleh  auch  die  Art  und  Wei- 
fe denken,  wie  die  Vorftellungen 
Von  den  abgeleiteten  Eigen  fc  ha  f« 
ten  en  t  ft  e  h  en,  nehmlich  durch  die  Wir- 
kung gewiffer  nicht  wahrnehmbar 
xer  Theilchen  auf  unfre  Sinne.  Denn 
es  ift  offenbar,  dafs  es  eine  gmfse  Menge 
von  fo  kleinen  Körpern  giebt,  dafs  wir  durch 
keinen  Sinn  ihre  Gröfse,  Geftalt  und  Bewe- 
gung entdecken  können ;  von  welcher  Art 
nnftreitig  die  Theile  der  Luft  und  des  Waf- 
fers 


Achtes    Kapitel.  277 

fers  find :  aber  vielleicht  giebt  es  noch  viel 
kleinere,  die  fich  gegen  diele,  wie  VVafler- 
und  Lufttheilchen  gegen  Erbfen  und  Hagel- 
fteine  verhalten.  Wir  dürfen  hier  aifo  an- 
nehmen ,  dafs  die  verfchieclenen  Modificatio- 
nen  in  der  Bewegung,  Geftalt,  Gröfse  und 
Zahl  diefer  Theilchen  unfcre  Sinnorgane  affi" 
ciren,  und  dadurch  die  mannichfaltigen  Vor- 
ftellungen  von  den  Farben  und  Gerüchen  der 
Körper  hervorbringen.  So  kann  z,  B,  das 
Veilchen  durch  den  Stofs  folcher  nicht  an- 
fchaulicher  materiellen  Theile  von  verfchie- 
dener  Geftalt  und  Gröfse  und  durch  eine  dem 
Grad  und  der  Art  nach  mannichfaltige  modi- 
hcirte  Bewegung  die  Vorftellung  von  der 
blauen  Farbe  und  dem  Wohlgeruche  diefer 
Blume  erzeugen.  Es  läfst  Geh  zum  wenig- 
ften  eben  fo  ohne  WiderTpruch  denken,  dafs 
Gott  an  folche  Bewegungen  Vorftellungen 
knüpfte,  welche  mit  denfelbeu  keine  Ähn- 
lichkeit haben,  als  dafs  er  das  Gefühl  von 
Schmerz  mit  der  Bewegung  eines  Stücks 
Stahl,  der  die  fleifchigten  Theile  eines  thieri- 
fchen  Köipers  zerfchneidet ,  verknüpfte,  zwi- 
fehen  welchen  auch  nicht  die  geringftc  Aehn- 
lichkeit  ltatt  findet, 

S  5  %.  14« 


278  Z  vr  e  i  t  e  s   Buch. 

§         »4* 

Was  ich  von  den  Farben  und  Gerü- 
chen gefagt  h^be,  läfst  fich  auch  auf  die 
Gelen  macksempfindungen,  Töne 
und  andere  ähnliche  empfindbare  ße- 
fchaffenheiien  anwenden.  So  fehr  man  ih- 
nen auch  aus  Irrrhum  Realiiät  beileget,  fo 
find  fie  doch  in  den  Objekten  nichts  anders 
als  gewiffp  Kräfte,  finnliche  Vorfiel] 'ingen 
in  uns  zu  erzeugen,  und  fie  find  von  den  ur* 
fprünglichen  Ei^enfchaften  abhängig. 

§.     IS- 

Die  V  or  ft  el  1  un  ge  n    der  urfprüng 
liehen      Eige  n  f  c  h  a  ft  e  n      haben 
Aehnlichkeit      mit     den     Kör. 
pern,    aber    nicht  die    abgelei- 
teten. 

Hieraus  ergiebt  fich  von  felbft  die  Bemer- 
kung, dafs  die  Vo  r  ftell  un  gen  der  u  r- 
fprünglichen  E  igen  f  c  ha  f  t  en  Kopi- 
en der  Körper  find,  und  dafs  das  Ori- 
ginal von  ihnen  wirklich  in  diefen  exiftieret. 
Die    Vorstellungen    hingegen,     welche 

durc;a 


Achtes    Kapitel.  £79 

durch  die  abgeleiteten  Eigen  Tc  haf- 
ten hervorgebracht  werden,  haben  gar  kei" 
ne  Aehnlichkeit  mit  den  Körpern. 
Diefe  enthalten  nichts,  was  jenen  entwicht, 
fondern  nur  gewifle  Kräfte,  Vorftellungen  her- 
vorzubringen ,  nach  welchen  wir  die  Körper 
benennen.  Was  wir  uns  als  Süfs,  Blau  oder 
Wann  vorfallen  ,  ift  in  den  Körpern,  denen 
wir  diefe  Prädicate  beilegen  ,  nur  eine  be- 
i'tiinmte  Gröfse,  Geftalt  und  Bewegung  ihrer 
nicht  bemerkbaren  Beftandtheile. 

§.      16. 

Man  legt  der  Flamme  das  Merkmal,  heifs 
und  helle ;  dem  Schnee,  weifs  und  kalt ;  dem 
Manna  weifs  und  füTs  bei,  und  das,  wegen  der 
Vorftellungen ,  welche  fie  uns  mittheilen,. 
Man  glaubt  gewöhnlich,  dafs  diefe  Eigen- 
fchaften  in  den  Körpern  eben  das,  was  die 
Vorftellungen  davon  in  uns,  find,  und  dafs 
xwifchen  beiden  eine  fo  vollkounnne  Aehn- 
Uchkeit  ftatt  findet ,  als  zwifchen  einem  Ob- 
jekte und  feinem  Bilde  in  dem,  Spiegel.  Da6 
Ge^entheil  würden  die  meifleu  Menfchen  für 
Unfmn  halten.  Allein  die  Bemerkung,  dafs 
S  4  eben 


2cV>  Zweites    Buch. 

eben  dafselbe  Feuer  in  einer  gewiiTen  Entfer- 
nuip;  die  Empfindung  der  Wärme,  bei  einer 
großem  Nähe  aber  ein  davon  ganz  verfehle* 
denes  fclniif-izhaftes  Gefühl  hervorbringt, 
follte  doch  Jeden  zum  Nachdenken  reitzen, 
aus  welchem  Grunde  er  die  Wärme  als  in 
dem  Feuer,  und  das  unangenehme  Gefühl  als 
rieht  in  dem  Feuer  exiftierend  fich  den- 
ke ,  da  doch  beide  Vorftellungen  dureh  das 
Feuer  auf  einerlei,'  Art  in  dem  Gemüthe  er- 
zeugt werden.  Warum  iffc  die  weifse  Farbe 
und  die  Kälte,  und  nicht  auch  die  unange- 
nehme Empfindung  in  dem  Schnee?  da  er 
doch  beide  Vorftellungen  und  zwar  nicht  an« 
ders  als  durch  die  Gröfse,  GeftaU,  Zahl  und 
Bewegung  feiner  dichten  Theile  hervorbringt. 

§.      17- 

Die  beftimmte  Gröfse,  Zahl,  Ge- 
ftalt,  und  Bewegung  der  Theile 
des  Feuers,  Scbneesu.  f.  w.  i  f  t  wirk- 
lich in  diefen  Objekten  vorhan- 
den, die  Sinne  mögen  fie  wahrnehmen  oder 
nicht,  und  wegen  diefer  objeetiven  Realität 
in  den  Körpern  können  He  reale  Eigen- 
f  chaften  genannt  werden.      Aber  Licht, 

Hitze, 


Achtes    Kapitel.  251 

Hitze,  Kalte,  weifse  Farbe  haben, 
eben  fo  wen  ig  e  in  reales  Dafeyn  in 
denfelben,  als  Krankheit  oder  Seh  in  e  r* 
in  dem  Manna.  Wenn  man  von  ihnen  das 
Vorgeftelltwerden  trennet,  wenn  die  Augen 
nicht  das  Licht  oder  die  Farben  fehen,  die 
Ohren  nicht  die  Töne  hören,  der  Gaumen 
nicht  fchmecket,  und  die  Nafe  nicht  riecht» 
fo  verfchwinden  alle  diefe  befondern  Vorfiiel- 
lungcn,  alle  Farben,  Gerüche,  Gefchmacksem- 
pfmdungen  und  Töne,  und  es  bleibt  nichts 
übrig,  als  das,  was  fie  verurfachte,  d.  i. 
die  Gröfse,  Gehalt,  und  Bewegung  derTheile* 


§.      18. 

Ein  Stück  Manna  von  merklicher  Gröfse 
kann  in  uns  die  Vorftellung  von  einer  runden 
oder  viereckigten  Figur,  und  wenn  es  von 
einem  Orte  zum  andern  fortgerückt  wird,  die 
Vorftellung  von  der  Bewegung  verurfachen. 
Die  lezte  Vorftellung  ftellt  die  Bewegung  dar, 
wie  fie  wirklich  an  diefem  bewegten  Körper  ge- 
funden wird.  Ein  Cirkel  und  ein  Viereck  in 
der  Vorftellung  und  in  der  Natur,  in  der  See- 
le und  in  dem  Manna  find  ein  und  eben  daf- 
S  5  felbe 


2.Ü2  Zweites    Buch. 

Teibe  Ding»  Die  Figur  und  die  Bewe- 
gung und  etwas  Reales  an  dem  Marina, 
wir  mögen  fie  wahrnehmen  oder  nicht.  Diefs 
wird  von  allen  ohne  Weigerung  eingeltau- 
den,  Aufserdem  belitt  das  Manna  vermöge 
der  Gröfse,  Geftalt,  Zufammenfetzung  und 
Bewegung  feiner  Theile  die  Kraft,  Empfin- 
dungen von  Unbehaglichkeit,  ja  zuwei- 
len von  einem  fchneid  enden  Schmerz  oder 
Grimmen  in  ufA fetin  Körper  zu  erregen.  D  i  e- 
f  e  Empfindungen  von  Unbehag- 
lichkeit. und  Schinerz  find  nicht 
i  n  il  e  m  M  a  n  n  a  ,  foudern  nur  Folgen  fei- 
ner Wirkungen  auf  uns,  und  exittieren  nir- 
gends, wenn  wir  fie  nicht  empfinden.  Auch 
diefes  wird  ohne  Widerrede  angenommen. 
Gleichwohl  halt  es  fo  fchwer,  die  Meiifchen 
zu  überzeugen,  dafs  die  weifse  Farbe  und 
die  Süfsigkeit  nichts  Reales  in 
dem  Manna  find.  Und  doch  find  die 
weifse  Farbe  und  die  Süfsigkeit,  fo  wie  die 
Unbehaglichkeit  und  der  Schmerz,  nur  Erfolge 
von  den  Veränderungen,  welche  die  Beftand- 
theile  des  Manna  durch  ihre  Bewegung,  La- 
ge und  Geftalt  —  die  einzige  Art,  wie  Kör- 
per auf  einander  wirken  können   *- 1   dort  in 

dem 


Achtes    Kapitel.  283 

dem   Auge  und    dem    Gaumen,   hier   in  dem 
Magen     und    den    Gedärmen    hervorbringen. 
Als   wenn   nicht  das  Marina  eben  fo    gut  auf 
die  Augen  und  den  Gaumen    als  auf  den  Ma- 
gen und  die  Gedärme   Wirken,    und  dadurch 
Vorstellungen    hervorbringen    könnte,     deren 
Inhalt,    wie    man    auch  in  dem   legten   Fall 
eingefieht ,    nicht  in  dem    Manna    felnft   ent 
halten  iß.     Da  alle  diefe  Vorftcllun»en  Ertoi- 
ge  der  durch  die   Lage,    Geftalt,    Zahl  und 
Bewegung   der  Theile  bcfiimuiten    W'irkfam- 
keit   defselbon  auf   verfcniedene    Theile    des 
menschlichen    iuirpers   lind  ,     warum    folhen 
denn  die  Vorftellungen  mehr  Reahtät  in  dem 
Manna  befitzen  ,    welche  lieh  auf  die  Verän- 
derung  des  Auges   und   des  Gaumens,  als  die 
(ich  auf  den  veränderten   Zuftand  des  Magens 
und     der   Gedärme   beziehen  ?     Oder   warum 
folbe  der  Unbehagliohkeit  und  dem  Schmerze 
keine  Wirklichkeit  aufser  in  der  Empfindung, 
der   weitsen    Farbe    aber   und    der  Süfsigkeit 
aufser    der    Vorliellung    noch    ein    objektives 
Seyn  in  dem  Manna  beigeh  p  werden,  da  fo- 
wohl  jene  als  diele   \\  irkungen  eben  deflel 
ben     Körpers    auf    verfchiedene    Theile   des 
menfchlichen  Leibes  find,    und  beide  auf  ei. 

nerlei 


23-£  Zweites    Buch. 

nerlei  unbegreifliche  Weife  entftehen?     Das 
müßte  doch  aus  Gründen  erklärt  werden. 


§•     *9- 

Man  betrachte  die  rothen  und  weiffen Far- 
ben des  Porphyrs ;  man  entferne  alle  Licht- 
ftrahlen  von  denifelben,  fogleich  verfchwin- 
dtn  alle  Farben,  und  er  verurfacht  keine  \  or- 
fieHung  mehr  davon.  Man  gebe  ihm  das 
Licht  zurück  ,  dann  bringt  er  die  nehmliche 
Erlcheinung  wieder  hervor,  lft  es  denkbar, 
dafs  durch  die  Abwefcndheit  und  Gegenwart 
des  Lichts  reale  Veränderungen  in  dem  Por- 
phyr vorgehen ,  oder  dafs  er  vom  Licht  he- 
ichienen  die  rothe  und  weifse  Farbe  wirk- 
lich in  fich  enthalte,  da  fie  ihm  offenbar  in 
der  Dunkelheit  fehlen?  Ein  gewiUes  Ver- 
hältnifs,  eine  gawiße  Bildung  der  Theile,  wo* 
durch  die  zurückprallenden  LichtRrahlen 
bald  dieVorftellung  der  rothen,  bald  der  wei. 
fsen  Farbe  erzeugen ,  befizt  es  wirklich  bei 
Tag  und  Nacht;  aber  diefe  Farben  felbft 
exiftieren  zu  keiner  Zeit  in  ihm. 


§•    20. 


Achtes    Kapitel«  285 

§.       20. 

Wenn  man  einen  Mandelkern  in  dem  Mür- 
fer  zerftöfst,  fü  verwandelt  fich  die  reine 
weifse  Farbe  in  eine  (ch mutzige  und  der  fiifse 
Gefchmack  in  einen  ölichten.  Kann  aber 
das  Stofsen  der  Mörferkeule  eine  andere  reale 
Veränderung  in  einem  Körper  bewirken,  als 
dafs  die  Art  der  Zufammenletzung  der  Theile 
geändert  wird? 

§.       21, 

Diete  Erklärung  und  Unterfcheidung  der 
Vorftellungen  fezt  uns  in  den  Stand,  ein  Pha. 
nomen  zu  erklären,  wie  nemlich  dalTelbe 
Waffer  zu  einer  Zeit  an  der  einen  Hand  die 
Vorftellung  der  Kälte  und  an  der  andern  die 
der  Wärme  hervorbringen  kann.  Denn  wä- 
re der  Stoff  diefer  Vorftellungen  etwas  Reales 
in  dem  Waffer,  fo  könnte  es  unmöglich  zu 
einer  Zeit  kalt  und  warm  feyn.  Si  eilen  wir 
uns  aber  unter  der  Wärme,  inTofern  fie 
in  unfrer  Hand  ift,  nichts  anders  als 
eine  gewiffe  Art,  einen  gewiffen 
Grad  in  der  Bewegung  der   kleinen 

Theil- 


28  j  Zweites     1!  u  c  It. 

Tb  eilchen  unfrer  Nerven  oder  Le- 
bensgeifter  vor,  fo  begreifen  wir  die 
Möglichkeit,  wie  daflelbe  YVafler  zu  einer 
Zeit  an  einer  Hand  die  Empfindung  der  Kälte 
und  an  der  andern  die  enfgegengefezteder  Wär- 
me erzeugen  kann.  Dicfes  findet  in  Anfe- 
hung  der  Geftalt  nie  ftatt.  Kein  Körper  er- 
zeugt in  der  einen  Hand  die  VorfteJIung  des 
Vierecks  und  in  der  andern  die  einer  Kugel» 
Wenn  aber  die  Empfindung  der  Hitze  und 
i  Kälte  nichts  anders  ift,  als  die  vermehrte  oder 
verringerte  Bewegung  in  den  kleinen  Thftilen 
unfers  Körpers,  welche  von  den  Beftandthei- 
len  eines  andern  Körpers  gewirkt  wird ,  fo 
ift  es  denkbar,  clafs  (liefe  Bewegung  in  der 
einen  Hand  großer  aU  in  der  andern  ift. 
Wenn  die  Bewegung  der  kleinften  Beftand- 
thrile  eines  Körpers,  der  auf  beide  Hände 
wirkt,  gröfser,  als  die  Bewegung  der  orga- 
nifchcn  Theile  der  einen  Hand  und  klei- 
ner, als  die  der  andern  ift,  fo  wird  he  die  Bewe- 
gung in  jener  vermehren  ,  und  in  diefer  ver- 
mindern, und  dadurch  die  entgegengefezten 
Empfindungen  von  Hitze  und  Kälte  be- 
wirken. 

§»  22. 


Achtes     Kapitel. 
§.       22. 

Ich  habe  mich  in  den  Vorhergehenden 
viellt-icht  etwas  weiter  in  phvfikalifche  Un- 
terfuchungen  ringelaflen  als  meine  Abliebt 
war.  Allein  da  es  nothwendi*  war,  utn  die 
Natur  einer  finnlichen  Vorftellung  etwas  auf- 
zuklären, und  den  Unter  fchied  zwi. 
fchen  den  körperlichen  Eigen, 
fc  haften  und  den  dadurch  erzeug- 
ten  Vor  ("teil  ungen  deutlich  zumachen, 
ohne  welches  man  nicht  verftändlicb  über  die 
letzten  philofophieren  kann;  fo  wijd  man 
mir,  wie  ich  mir  fchrneichle,  die  kle?ne  Aus- 
schweifung in  das  Gebiet  der  natürlichen 
fhilofophie  verzeihen.  Es  ift  in  diefer  Unter- 
jochung von  wefentlicheui  Einflufs,  die  u  r- 
fprünglichen  und  realen  Eigen- 
fchaften  der  Körper,  die  von  ihnen  unzer- 
trennlich find,  als  die  Dichtheit,  Ausdeh. 
nung  ,  Oeftalt,  Zahl,  Bewegung  und  Ruhe, 
und  von  uns  allezeit  wahrgenommen  wer- 
den, wenn  die  Körper,  an  denen  fie  haften 
die  gehörige  Gröf<e  haben,  dafs  fie  der  An. 
fchauung  empfänglich  find,  von  don  abge- 
leiteten und  uneigentlich  fogeoa nuten  Ei, 

gen- 


288  Achtes    Kapitel. 

genTc  haften  zu  unterfcheiden,  welche 
nichts  anders  find ,  als  die  in  den  mannich- 
faltigen  Verhältniflen  der  urfprünglichen  Ei* 
genfchaften  gegründeten  Kräfte,  wenn  fie  fo 
wirken,  dafs  fie  nicht  deutlich  unterfchieden 
werden  können.  Hieraus  lafst  fich  beftim- 
n;en  ,  welche  Vorftellungen  mit  dem  in  Kör- 
pern ,  die  wir  nach  ihnen  benennen,  befind- 
lichen Realen  entfprechen  oder  nicht  ent- 
fprechen, 

§.      23. 

Es  giebt  drei   Arten   von  Eigen* 
fchaften  in  den  Körpern. 

"Die  Eigen  fc  haften  in  den  Körpern 
find  alfo  nach  reiflicher  Betrachtung,  von 
drei  Arten, 

1)  Die  Gröfse,  Gehalt,  Zahl. 
Lage,  Bewegung  oder  Ruhe  ihrer 
dichten  Theile.  Diefe  find  wirklich  in  ihnen» 
wir  mögen  fie  wahrnehmen  oder  nicht.  Und 
wenn  ein  Körper  feiner  GröTse  nach  anfchau- 
lich  ift,  fo  erhalten  wir  durch  fie  eine  Vor- 
fiel- 


Achtes    Kapitel.  289 

ftellung  von  dieTem  Dinge,  wie  es 
an  fich  ift.  Bei  Werken  der  Kunft  ift  diefs 
einleuchtend.  Ich  nenne  fie  urfprüngii- 
Che   (primary)  Ei  gen  fc  h  af  ten. 

3)  Die  Kraft  eines  K  ivp^rs  vermöge  fei. 
iier  nicht  finnlich  wahrnehmbaren  urfprüng- 
lichen  Eigenfchaften  auf  eine  befummle  Wei- 
fe aiif  einen  unlrer  Sinne  zu  wirken,  und 
dadurch  veiTchicdene  Vo  r  1 1  ellu  ngeu  von 
Farben,  Tonen,  Geruch  und  Gefchmack  in 
uns  hervorzubringen.  Man  nennt 
diefe  gewöhnlich  finn  liehe  Eigen- 
fcha  f  t  en» 

5)  Die  Kraft  eines  Körpers  vermöge  der 
befonciern  Befchallünheit  f  e  i  n  e  r  u  r  p  r  ü H  g_ 
liclien  Eigenfc  haften  in  der  Gröfse 
G  e  f  t  a  1 1 ,  Z  11  fa  in  in  e  n  f  e  t  z  u  n  g  und  Be- 
wegung eines  ardern  Körpers  folche 
Veränderungen  hervorzubringen ,  dafs 
diefer  nun  unfre  Sinne  andeis  afliciert  als 
vorher.  So  hat  die  Sonne  die  Kraft,  das 
Wachs  zu  bleichen,  und  das  Feuer  das  Blei 
zu  fchmelzeu.  Gewöhnlich  nennnt  man  die- 
fe  Eigenfchaften  Kräfte. 

T  Di« 


a<j)o  Zweites  Buch. 

Die  erften  können  ,  wie  ich  fchon  gefaxt 
habe,  mit  Recht  reale,  ur  fpr  üiig  1  i  c  h  e 
und  erfte  Eigenfchaften  heilen,  weil  Ge 
in  den  Dingen  felbft  find ,  man  nehme  fie 
wahr  oder  nicht,  und  wed  die  abgeleiteten 
von  ihren  mannichfaltigen  Modifikationen  ab- 
hängen. —  Die  zweiten  und  dritten-  find 
biofs  Kräfte,  auf  verfchiedene  Weife  auf 
andre  Dinge  zu  wirken,  welche  aus  den 
mannich'altigen    Modifikationen    der     erften 

entfpringen  *). 

f 

§.  24. 

*)  Locke  nennte  oben  §.  8.  alles  was  in  den  Kör- 
pern Grund  einer  Voiftellung  des  Gemüthä 
ift,  Ei^enfchdft.  Eigenfchaften  und  Kräfte 
weiden  da  als  Synonymen  gebraucht.  Man 
fiehet  daher  nicht  recht  deutlich  ein  ,  warum 
er  hier  und  an  andern  Orten  fo  fehrauf  Unter- 
fcheidung  der  Eigenfchaften  und  Kiäfte  drin- 
get. Der  TJnterlcliied  beruhet  darauf.  Die 
Vorftellungen  ,  welche  durch  die  Eigenfchaften 
begründet  werden ,  find  entweder  von  der 
Art ,  dafs  üe  den  Eigenfchaften  felbft  entfpve- 
chen,  oder  fie  entfprechen  ihnen  nicht  lu  deru 
erften  Fall  werden  die  Eigenfchaften  felbft,  im 
andern  nicht  die  Eigen  fchahen ,  fondern  nur 
ihre  Wirkungen  auf  andere  Korper  vorgeftellt. 

Dort 


-Achtes    Kapitel,  agi 

§•       24. 

Die  erften  E  ig  enfch  a  f ten  find 
objectiv  wahre  Kopien,  die 
zweiten  werden  dafür  gehal- 
ten, find  es  aber  nicht,  die 
dritten  find  es  nicht,  und  wer- 
den auch  nicht   dafür   gehalten. 

Ob  gleich  die  zwei  letztern  Arten  von 
Eigenfchaften  nichts  anders  als  Kiäfte  in  Ver- 
hältnifs  zu  verfchiedenen  andern  Körpern,  und 
von  den  Modificarionen  der  urfprünglichen  Ei- 
genfchaften abhängig  und,  fo  weicht  doch 'das 
gewöhnliche  Urtheil  über  die  zweite  Art  davon 
ab.  Die  Kräfte  durch  Aflicirungder 
Sinne  Vorftellungen  in  uns,  zu  er- 
zeugen, werden  nein  lieh  für  reale 
Eigen  fc  haften  in  den  Dingen,  die 
uns  afiicieren;  die  Eigenfchaften  der 
T  2  drit. 


Dort  kann  die  Voiftellung  felbit  dem  Ob- 
jeete  als  Eigen fchaft  beigelegt  werden,  abei" 
hier  geht  e»  nicht  an. 


ar)2  Zweites    Buch. 

dritten  Art  hinsehen  für  blofse 
Kräfte  gehalten.  Die  Vorftellungen  von 
der  Hitze  oder  dein  Lichte,  welche  wir  durch 
das  Gelicht  oder  das  Gefühl  von  der  Soune 
erhalten,  wären,  rneint  man,  reale  Eigen- 
schaften in  der  Soune  und  etwas  mehr  als 
blofse  Kräfte.  Wenn  man  die  Sonne  in  Be- 
ziehung auf  das  dureti  He  gefchmolzene  oder 
gebleichte  Wachs  betrachtet,  fo  hält  man  die 
weifse  Farbe  und  Flüffigkoit,  welche  in  dem 
Wachfe  entftanden  find,  nicht  für  Etgenfchaf- 
ten  der  Sonne,  fondern  für  Wirkungen  ihrer 
Kräfte.  Allein  wenn  man  reiflicher  nach- 
denkt, fo  find  die  Eigenfchaften  des  Lichts 
und  der  Wärme —  eigentlich  nur  Vorftellungen 
in  mir  ,  wenn  ich  von  der  Sonne  beleuchtet 
und  erwärmt  werde  —  auf  keine  andre  Wei- 
r>  in  der  Sonne,  als  die  Veränderungen,  wel- 
che mit  dem  Wachfe  bei  dem  Bleichen  und 
Schmelzen  vorgehen.  Sie  find  alle  beide 
nicht  mehr  und  weniger  Kräfte  der  Sonne, 
welche  von  ihren  urfprünglichen  Eigenfchaf- 
ten abhängen;  und  wodurch  fie  die  Gröfse, 
Geft-dt ,  Zufainmenfetzung  und  Bewegung  der 
feinften  Theile  meiner  Augen  und  Hände 
und  des  Wachfes  fo   verändern  kann,    dafs 

da* 


Achtes     Kapitel.  2g3 

dadurch  in  jenem  Fall  die  Vorfrellung  von 
Licht  und  Warme,  in  dorn  andern  von  der 
weifsen  Farbe  und  dem  Fl  iiffig  werden  erzeugt 
wird. 


25- 


Die  UrTaclie,  warum  die  einen  ge- 
wöhnlich für  reale  Ei  gen  fc  hatte  n. 
die  andern  für  blofse  Kräfte  gehal- 
ten werden,  fcheint  mir  darin  zu  Liegen* 
Untre  Vorftellun/jen  von  beftimmten  Farben, 
:i  u  f.  w,  enthalten  nichts  von  Gröfse, 
Geftait  oder  Bewegung;  die  Sinne  bemerken 
keine  Spur  von  Mitwirkung  der  urfprüngü- 
chen  Eigeni'chafteu  zur  Erzeugung  dieferVor.- 
Heilungen  ,  und  es  Iäfst  fich  keine  fichtbare 
Beziehung  oder  Verbindung  Zwilchen  beiden 
entdecken.  Daher  ift  man  geneigt  diefe  Vpr- 
ftellungen  nicht  für  Wirkungen  der  urfprüng- 
lichen  Eigenfchafien ,  fondern  für  Bilder  von 
etwas  Realem  in  den  Objecten  felbft  exiftiren: 
dfin  zu  halten.  Dazu  kommt  noch,  dafs  dio 
Vernunft  nicht  zeigen  kann,  wie  Körper 
durch  ihre  Gröfse,  Geftait  und  Bewegung  die 
Yoiftcllung  von   der  blauen,    gelben  Farbe,  u, 

T  *  f.  w. 


394  Zweites    Buch. 

f.  w,    in    der    Seele    hervorbiingen    können. 
Aber   in    dem  zweiten    Fall,  da     Körper  auf 
einander  wirken,    und  einer  des  andern  Ei- 
genfchaften    verändert,    fehen  wir  ganz  klar» 
dafs  die  hervorgebrachte  Eigenfchaft  meiftens 
keine  Aehnlichkeit  mit  irgend  Etwas    in   dem 
Hervorbringenden    hat,     und    betrachten    fie 
daher  blos  als  Wirkung  einer  Kräh,        Wenn 
die  Sonne   in  uns    die  \  orftellung   von  Licht 
und  Wärme  erzeugt ,  fo   verfallen  wir  leicht 
auf   den    Gedanken,      das    Vorgeftellte    habe 
Aehnlichkeit  mit  einer  folchen  Eigenfchaft  in 
der  Sonn©;  nicht  fo  aber,  wenn  wir  die  Far- 
be des  Wach Tes   oder  eines   fchönen  Gefichts 
durch  die  Sonne   verändert  fehen  ,    weil   wir 
keine    folche    Verfchiedenheit  der   Farben    in 
der  Sonne  felbft  wahrnehmen.     Denn  da  un- 
fre   Sinne  die  Aehnlichkpit   oder   Uliähnlich- 
keit der  finnlichen  EUenTchaften  in  zwei  ver- 
fchiedenen  äufsern  Objecten  beobachten  kön- 
nen ,  fo    machen  wir  fehr   bald  den   Schluls, 
dafs   die   Erzeugung    einer    hnnlichen  Eigen- 
fchaft  in   einem   Objecte    die  Wirkung   einer 
blolsen   Kraft    und   keine   Mittheilung   einer 
realen    in    der    ürf^che    befindlichen    Eigen- 
fchaft ift,  wenn   diefe   dafelbft  nicht  .gefun- 
den 


Achtes   Kapitel.  2q5 

den  wird,  Wenn  aber  unfre  Sinne  keine 
Unähnlichkeit  zwifcfien  der  Vorfiellung  in 
uns  und  der  Eigenfchaft  in  dem  Objecte,  wel- 
che jene  verurfachte  ,  entdecken  können,  fo 
entfrehet  leicht  die  Täufchung,  als  wären 
unfre  Vorftellungen  Bilder  von  Etwas  in  dem 
Objecte  befindlichen,  nicht  aber  Wirkungen  von 
gewiflen  Kräften ,  die  in  den  Modificationen 
der  urfprünglichen  Eigenfchaften  gegründet 
find,  mit  welchen  diele  von  ümen  bewirkten 
Vorftellungen  keine  Aehnlichkeit  haben. 

§.      26. 

Die     abgeleiteten    Eigenfchaften 
find     von    doppelter   Art, 

Alle  Eigenfchaften,  welche  wir  aufscr  den 
angeführten  urfprünglichen  Eigenfchaften,  an 
Körpern  wahrnehmen,  und  wodurch  wir  fie 
voneinander  unterscheiden ,  find  nichts  an* 
ders  als  verfchiedene  Keifte,  welche  vonden 
urfprünglichen  Eigenfchaften  abhängen.  Durch 
diefe  Kräfte  können  die  Körper  entweder 
unmittelbar  unfern  Körper  aflicieieu,  und  da- 
durch mannichfaliige  \  orftellungen  in  uns 
vcranlaüen,  oder  auf  andre  Körper  wirken, 
T  4,  und 


2g6  Zweites    Euch. 

und  ihre  urrpTünilichen  EigenfchaftPn  fo  ver- 
ändern, dafs  fie  nun  neue  und  andere  Dar- 
ftellungen  erzeugen.  Die  erften  von  diefen 
abgeleiteten  Eig  e  n  fc  h  aft  en  können 
füglich  unmittelbar  wahrnehmbare, 
die  zweiten  aber,  mittelbar  wahrnehm- 
bare genannt  werden» 


Neuntes  Kapitel. 

Jfon  dem  Vorltellen  ,  perceptioi!.^ 

§.       I. 

Die  erTte  einfache  Vorftellung 
durch  die  Reflexion  ift  die 
vom  Voiftellen. 

Das  Vor ft eilen  ift  das  er fte  Vermögen 
der  Seele,  welches  fich  in  Beziehung  auf 
Vorftelbiugen  äußert,  und  der  BegrifF  davon 
der  eilte  und  einfachste,  welchen  wir  durch 

die 


[Neuntes  Kapital,  uqj 

die  Reflexion  erhalten.  Di^fes  Vermögen 
wird  von  einigen  das  Denken  überhaupt  ge- 
xiennt.  Allein  nach  dem  Sprachgebrauch  ver- 
liehet tri3n  unter  dem  Denken  diejenige  Wir- 
kung der  Seele,  da  Ce  in  Beziehung  auf  ihra 
Vorflellungen  thütig  ift,  und  mit  einem  ge- 
willen  Grad  von  freier  Aufmerkfamkeit  einen 
Gegenftand  betrachtet»  Bei  dem  blofsen  Vor- 
teilen hingegen  ift  uars  Gemiüh  gröfstentheiis 
blos  leidend,  und  was  es  wahrnimmt,  das 
mufs  es  wahrnehmen, 

§♦       2. 

Das  Vorftellen  beftehet  bloy 
darin,  dafs  die  Seele  die  £in- 
drükke  empfängt. 

Was  das  Vorftellen  ift,  wird  Jeder 
beffer  durch  die  Reflexion  über  das,  was  bei 
ihm  vorgeht,  wenn  er  lieht,  hört  fühlet  u. 
f.  w.  oder  denkt,  als  durch  meine  Erklärung 
eikenuen.  VV  er  diefe  Reflexion  anftellt,  dein 
kann  es  nicht  an  diefem  Begriffe  fehlen,  und 
•wer  nicht  reilectirt,  dem  können  alle  Worte 
in  der  Welt  keinen  davon  geben, 

T  5  «.3, 


£98  Zweites     Buch. 

Aber  fo  viel  ift  ausgemacht,  dafs  kein  Vor- 
fielen ftatt  findet,  wenn  nicht  die  Verände- 
rungen in  dem  Körper  die  Seele  rühren,  oder 
die  Eindrücke  auf  die  äuf%ern  Theile  de  fiel« 
ben  im  Innern  wahrgenommen  werden. 
Das  *  Feuer  kann  wohl  unfern  Körper 
brennen,  aber  mit  keinem  andern  Erfolg, 
als  ein  Papier,  wenn  nicht  die  Veränderung 
bis  zum  Gehirn  fortgepflanzt  wird,  und  da- 
felbft  die  Empfindung  der  Hitze  oder  des 
Schmerzens  in  der  Seele  erzeuget.  Darin 
beftehet  das   wirkliche   Vorf teilen. 


§.    4* 

Wie  oft  kann  nicht  ein  Menfch  die  Beob- 
achtung an  fich  felbft  machen,  dafs  während 
feine  Seele  nur  allein  mit  der  Betrachtung  ei- 
nes Gegenftandes  und  forgfäitiger  Erwägung 
gewiffer  Vorfteüungen  befchäftiget  ift,  fie 
nicht  auf  die  Eindrücke  tönender  Körper 
auf  das  Gehörorgan  achtet,  obgleich  eben 
diefelbe  Veränderung  vorhanden  ift,  die  fonft 
die  Vorftellurig  eines  Tons  verurfachte?  Der 

Ein- 


Neuntes    Kapitel.  299 

Eindruck  auf  das  Orgi»n  kann  ftark  genug 
feyn,  aber  da  er  nicht  bis  zum  Bewufstfeyn 
der  Seele  dringt,  fo  erfolgt  kein  Vorffellen. 
Die  Bewegung,  welche  die  Vorftellung  ei- 
nes Tones  hervorzubringen  pflegt,  ift  in  derd 
Ohre  hervorgebracht,  aber  man  höret  doch 
keinen  Ton.  Es  erfolgt  in  diefem  Falle  kei- 
ne Vorftellung,  nicht  wegen  eines  Gehre 
chens  des  Organs,  nicht  weil  es  weniger 
afficieret  wird,  als  'onft  beim  Höien  gefchie- 
het.  fondern  weil  das,  was  fje  foult  hervor- 
zubringen pflegt,  zwar  in  das  gehörige  Or 
gan  geleitel,  aber  von  dem  vorft eilenden  Sub- 
jeet  nicht  wahrgenommen,  uud  daher  die 
Vorftellung  in  demfelben  nicht  eingedrückt 
worden  ift.  Wo  a  1  f  o  eine  Empfindung. 
eine  Wahrnehmung  ift,  da  wird 
wirklich  eine  Vorftellung  hervor- 
gebracht, und  demVerftande  dar- 
ceftellt. 

§.    5. 

Kinder    haben     zwar    Vorftellun- 

gen  im    Mutterleibe   aber  keine 

angeborneu. 

Die  Kinder  erhalten  daher,  wie  ich 

nicht  zweifele,  wenn  Gel)  ihre  Sinne  mit  den 


3oo  Zweites    Buch. 

Objecien  befchäftigen,  welche  fie  in  dem  Lei- 
be der  Mutter  affilieren,  vor  ihrer  Geburt 
f  mige  wenige  Vorfteliungen  ,  als  unvermeid- 
liche Wirkungen  theils  der  fie  umgebenden 
Körper,  theils  ihres  Bedürfniffes  und  ihrer 
Unbehaglichkeit.  Unter  diefe  gehören  viel- 
leicht, —  wenn  man  da  Vermuihungen  gel- 
ten lafTen  will,  wo  keine  firenge  Unter  fli- 
eh, im  g  möglich  ift  —  die  Vorfteliungen  von 
Hunger  und  Warme ,  und  diefe  find  wahr- 
scheinlich die  erften,.  welche  die  Kinder  er- 
langen ,  und  nachher  wohl  nicht  leicht  wie- 
der verli&ren> 


Wenn  es  aber  gleich  eine  vernünftige  Hy- 
pothrfe  ift,  riafs  die  Kinder,  ehe  fie  auf  die 
Welt  kommen  ,  Vorfteliungen  erhalten  ,  fo  ift 
doch  zwifchen  diefen  einfachen  Vorfteliungen 
und  jenen  angebornen  Grund  Tatzen, 
welche  einige  behaupten,  und  wir  oben  ver- 
worfen haben ,  ein  fehr  grofser  Abfand. 
Denn  diefe  find  nur  Wirkungen  gewifler  Ein- 
drücke auf  die  Sinne;  fie  entfpringen  aus  den 
Veränderungen,  welche  der  Körper  des  Kin- 
des 


Neuntes     Kapitel.  bot 

des  im  Mutterleibe  erleidet,  und  hängen  alfo 
von  Etwas  aufser  der  Seele  ab  ;  auch  find  fie 
In  Anfehong  der  Entfiehungsart  von  andern 
finnlichen  Vorftellungen  nur  der  Zeit  nach 
verfchieden.  Die  fo  genannten  angebornen 
Grundfätze  hingegen  lind  von  ganz  andrer 
Natur,  indem  fie  nicht  durch  zufällige  Verän- 
derungen in,  oder  Einwirkungen  auf  den  Kör. 
per  in  die  Seele  kommen ,  fondern  als  ur- 
fprünoliche  Charaktere  der  Seele  von  dem  el- 
ften Augenblick  ihres  Dafeyns  an  eingeprägt 
und» 

§.     7* 

Welche  Vo  rftellungen  zuerft  in 
die  Seele  kommen,  läfst  fich 
nicht    beftimmen. 

Man  darf  mit  gutem  Grunde  annehmen, 
dafs  die  Seele  der  Kinder  im  Alutterleibe  ver- 
fchiedene  Vorftellungen  erhält,  welche  zu 
den  Bedürfnillen  ihres  Lebens  und  Au^enc. 
halts  dafelbft  nothwendig  find.  Nach  ihrer 
Geburt  werden  ihnen  die  \  orftellungen  von 
denjenigen  finnlichen  Eigenfchaften  am  Irii- 
heften  gegeben ,  welche  fich  ihnen   am  erften 

dar- 


3ol  Zweites    Buch. 

dai  bieten.  Unter  diefen  nimmt  das  Licht 
auch  wegen  feines  Einfluiles  nicht  die  letzte 
Stelle  ein.  Wie  fehr  (Ich  die  Seele  beftrebt» 
Vorftellungen,  die  nicht  mit  unangenehmen 
Gefühlen  gepaaret  und,  zu  erhalten,  Iäfst  fich 
fcbon  einigermaßen  aus  der  Beobachtung 
fcliliefsen,  dafs  neugeborne  Kinder  in  jeder 
Lage  ihre  Augen  dahin  richten ,  woher  das 
licht  kommt.  Da  aber  die  erften  bekannte. 
ften  Vorftellungen  eben  fo  verlchieden  find, 
als  die  Umftände,  unter  welchen  die  Kinder 
in  die  Welt  treten,  fo  ift  auch  die  Ordnung, 
in  welcher  fie  in  die  Seele  gelangen,  fehr  ver- 
fchieden  und  unbeftimmbar.  Doch  liegt  auch 
an  diefer  Eikenntuifs  nicht  fehr  viel, 

§.     8. 

Sinnliche  Vorftellungen  werden 
oft  durch  die  Urtheilskraft 
veränd  ert. 

Hier  findet  noch  eine  Bemerkung  ftatt. 
Die  Vorfiel]  unge  n,  welche  aus 
finnlichen  Eindrücken  entftehen, 
werden  oft  bei  erwachlenen  Men. 
fchen    unvermerkt   durcn  Üriheile 

ab- 


Neuntes    Kapitei.  *5w3 

abgeändert.  Man  (teile  eine  einfarbige 
Kugel  z  B.  von  Golil  ,  Alabafter  oder  Agat 
vor  die  Augen,  fo  erhalt  maxi  unläugbar 
durch  den  Eindruck  nur  eine  Vorftellung  von 
einer  Cirkelfläche  mit  verfchiedenen  Graden 
des  Lichts  und  Schattens.  Da  wir  aber  durch 
öftere  Vorftellung  fchon  gewohnt  fiud  uns  vor" 
zuftellen,  wie  ein  rund  erhabener  Körper  uns 
zu  erfcheinen,  und  welche  Veränderungen 
in  der  Brechung  der  Licbtftrahlen  durch  die 
verfchiedenen  Geftalten  der  Körper  zu  ent- 
liehen pllegen  ,  fo  verwandelt  die  Urtheils- 
kraft  in\  diefein  Falle  aus  Gewohnheit  die 
Erfcheinung  in  ihre  Unache.  Sie  fchliefst 
nehmlich  aus  der  Verfchiedenheit  der  Farbe 
und  des  Schattens,  auf  die  Figur,  macht  jene 
zu  einem  Merkmal  diefer  und  bildet  die 
Vorftellung  von  einer  rund  erhabenem  Figur 
und  einer  einartigen  Farbe  hinzu,  da  doch 
die  Vorftellung,  welche  wir  hier  erbalten, 
wie  aus  der  Malerei  erhellet,  nur  eine  Flache 
mit  verfchiedenen  Farben  ift.  Hieher  gehö- 
ret ein  Problem,  welches  der  fcharflinnige 
und  eifrige  Beförderer  aller  WilTenfchaften, 
IVIolineux  mir  neulich  in  einem  Briefe  mit- 
theilte»      Hier    ift   die    Stelle   feines    Briefs. 

Wir 


oo4  Zweites     Buch. 

„WJr  wollen  uns  einen  erwach  fenen  Bllnd- 
„geborneu  denken,  welcher  gelernt  hatte, 
„einen  Würfel  und  eine  Kugel  aus  einerlei 
„Metall  und  faft  von  einerlei  Grörse  zu  un- 
„terfcheiden,  fo  daTs  er,  wenn  er  beide  ange- 
fühlt hatte,  fogleich  Tagen  konnte,  welches 
„die  Kugel  und.  welches  der  Würfel  tey*  Ge- 
setzt der  Mann  wird  fehend,  und  man  legt 
„den  Würfel  und  die  Kugel  auf  einen  Tifchs 
„vor  ihm  *  fo  fragt  es  lieh  nun,  kann  er  bei- 
„de  durch  das  Geh  cht  unterscheiden  ,  ehe  er 
„fie  noch  betaftet?  —  Der  fcharfünnige  und 
einiichtsvolle  Urheber  diefes  Problems  be- 
antwortet diefe  Frdge  mir  nein.  —  „Denn, 
fagt  er,  ner  hat  zwar  die  Erfahrung  gemacht, 
„wie  die  Kugel  und  der  Würfel  fein  Gefühl 
„afficieren,  aber  er  weiß  noch  nicht  aus  Er- 
fahrung, dals  ein  Object.  das  fein  Gefühl  auf 
„eine  gewiffe  Art  afficiert,  auch  auf  feine  Äu~ 
„gen  fo  oder  fo  wirken  müfle ,  oder  ob 
„ein  vortpriPgerdeT  Winkel  des  Würfeln,  der 
„feine  Hand  ungleich  drückt,  auch  feinen 
„Augen  fo  vorkommen  werde.  —  Ich  iin- 
terfchiesbe  die  Antwort  ciiefes  Denkers,  auf 
deifen  Freundfchaft  ich  ftoiz  bin.  Her  Bun- 
ds wird,  wie  ich  glaube,  benn  erlien  Anblick 

nicht 


Neuntes    Kapitel,  5o£ 

nicht  im  Staude  feyn,  mit  Gewißheit  zu  Ta- 
gen, welches  die  Kugel  oder  der  Würfel  fpy, 
aber  durch  das  Gefühl  und  die  Veri'chie  len- 
heit  der  Figuren  kann  er  fie  mit  untrüglicher 
Gewifsheit  unterlctjeiden.  Ich  theile  dieles 
meinen  Lefern  in  der  Ab'icht  mit,  um  in  ih- 
nen die  Bemerkung  zu  veranlagen  ,  wie  viel 
man  der  Erfahrung  und  den  daraus  gefcuöpf- 
ten  Begriffen  und  ErkenntniOen  auch  da  zu 
verdanken  hat,  wo  man  von  der  Seite  kei- 
nen Nutzen  und  keine  Hülfe  erwartete:  aber, 
noch  mehr  Wegen  einte*  Bemerkung  defiviben 
fcharflinnigen  Schriftftellers.  ,..Er  habe,  fährt 
er  fort)  ,.anf  \  eranl  dlui.g  meine«  Rnrhs  diefe 
„Frage  mehreren  Männern  von  Verltand  vor- 
«gtJ'eg!  .  aber  kaum  einen  gefunden,  der  f0. 
„g'eicii  die,  wie  er  glaube,  einzig  wahre  Ant- 
„wort  gegeben  habe,  bis  ße  durch  feine 
^Gründe  wären  überzeugt  worden/1 

Diefes    Factum   findet  ßch  aber  wohl  ge> 
wöhnlicherweife  nur  bei    den   VorhVIlungen 
welche   wir  durch   den    Sinn  des  Gerichts  er- 
halten.    Denn   diefer  Sinn  der  reicbhalti^fte 
U  unter 


gc£  Zweites    Buch. 

unter  allen,    führt   der  Seele  nicht  allein    die 
Vorftellungen  von  Licht  und  Farben,   die  ihin 
eigentümlich   angehören,  fondern  auch  noch 
eine   ganz    andre   Art   von  Vorftellungen  zu, 
nehmlich  die  von  Raum,  Geftalt,  und  Bewe- 
gung,    deren     mannichfaltjjige    Modificationen 
felbft    die   Erfcheinung    der  Farben  und  des 
Licht-»  ändern.     Die  erften   nach    den    lezten 
und  diefe  nach  jenen    zu  beurtheilen,    wird, 
bei  uns  znlezt  zur  Gewohnheit,       Diefes   ge- 
fchiehet  in  manchen    Fällen  bei  Dingen,  von 
denen  wir  viele  Ei  fahrungen  haben,  fo  re°el- 
mäfsig  und  fchnell,    dafswirdas,    was    eine 
\'orftellurg  des  Verftandes  ift ,  für  eine  Wahr- 
nehmung der   Sinne  halten,  und    dann  dient 
die  lezte    nur    dazu,    die   crfte  zum  ßewufst- 
feyn  zu  bringen,  ohne  felbft  die Aufmerkfara- 
keit  auf  (ich  zu  ziehen  :   fo  wie  ein  Mann  der 
aufmerkfam -und  mit  Nachdenken  etwas  lieft 
oder  höret,   wenig  auf  die  Sprachzeichen  und 
Laute,  aber  deftomehr  auf  die  Begriffe  achtet, 
die  dadurch  veranlaget  werden  follen. 


§.   10* 


Neuntes    Kapitel.  807 

§.        IÖ. 

Dafs  dieres  fafl  ohne  Bewufstfeyn  gefchie- 
hpt,  darf  uns  nicht  Wunder  nehmen,   wenn 
wir  bedenken,  wie  fch  n  eil  die  Ha  n  d  l  u  n- 
gen     der    Seele     vollzogen    werden» 
Denn    fo     wie   fie     als     ein    aufsenäumii<  hes 
nicht  ausgedehntes    ^efen   gedacht   wird,  fo 
fcheinen  auch  ihre  Handlungen  an  keine  Zeit 
gebunden  zu  feyn.  fodafs  viele  derfelben  fich  in 
einen  Augenblick  zulammen  drängen,  ich  fage 
dieles  nur  in  v  ergleichun^  mit  den  Wirkungen 
des  Körpers.       Diefe  Tnat  fache  kann  Jeder 
an  Temen  Gedanken   wahrnehmen,    wenn  er 
über  lie  refleclirt.     Wie  fcbnell ,    als  wäre   es 
in  einem   Augenblick,     überfcliaut  die   Seele 
nicht  mit  einem   Bück  ,  alle  Gliedert   einer  De. 
jnonftration ,   welche  in  ß<  tracht  der  Zeit,  die 
eserfodert,    lie    in    Worte  zu  fallen,  und  ei- 
nem andern    Schritt   vor   Schritt  darzultellen, 
gar  wohl  eine   lange  Reine  genannt   werden 
kann.    Das  Auffallende  jenes  Fäciums  verliert 
fich  auch  zweitens  durch  die  Bemerkung, 
dafs  die  Fettigkeit  eivvas   zu    thun  .  die  durch 
Gewohnheit  entftand  ,  oft  zur  Folge  hat,  dafs 
U  2  man 


3o8  Zweites    Bncli, 

man  es  ohne  Befonnenheit  thut.  Vorzüglich 
ift  das  der  Fall  bei  Fertigkeiten,  zu  welchen 
in  der  frühen  Jugend  der  Grund  gelegt  wur- 
de; man  thut  zulezt  Handlungen,  wel- 
che fich  oft  unfrer  Bemerkung 
ganz  entziehen.  Wie  oft  des  Tages  fchlie- 
fsen  wir  uufere  Augenlieder,  ohne  wahrzu- 
nehmen, daTs  wir  uns  ganz  im  Dunkeln  be« 
finden?  Wer  lieh  ein  gewifles  Beiwort  ange- 
wöhnt hat,  fpiicht  faft  bei  jedem  Satze  Lau- 
te aus ,  die  er  weder  hüret  noch  beobachtet, 
ob  He  gleich  von  andern  bemerkt  werden. 
Es  darf  uns  daher  nicht  befremden,  wenn 
unfer  Gemüth  oft  eine  Vorfte'llung  {der  Sinn- 
lichkeit in  eine  Vorftellung  des  Verßandes 
verwandelt,  und  ohne  Befonnenheit  die  eine 
blos  zur  Erweckung  der  andern  braucht. 

§.      II. 

Das  V  o  r  T  t  e  1 1  uns«  vermögen  ife 
das  U  n  t  e  r  f  c  h  e  i  d  u  11  g  s  in  e  r  k  tu  a  1 
zwifchen  den  Thieren  und  den 
leblofen  Dingen. 


Die   Vorfiellungsfähigkeit  fcheint  mir  das 

eben 
dem 


Unter  fcheidun^srneriimalzwifehen 


N  e  u  n  t  e  8    Kapitel.  Sog 

dem    Trfierreiche     und    den   andern 
Katurwefen      auszumachen,       Einige 
Pflanzen  find  zwar  eines  gewtffen  Grades  von 
Bewegung     fähig,     fie    ändern    auf  die  ver- 
fchiedene  Berührung  von  andern  Körpern  ih- 
re Geftalt    und    Bewegung     fehr   rafch,    und 
werden  daher,  weil  ihre  Bewegung   mit  der, 
weichein  Thieren  auf  die  Empfindung  folget, 
einige   Aehnlichkeit    hat,  empfindende  Pflan. 
zen  genannt.       Doch   ift  alles  das  meines  Er- 
achtens    blofser    Mechanismus,     fo    wie    das 
Hüpfen  des  Wildhafers,  wenn  er    durchnäfst 
und  das  Rürzerwerden  eines   Seils,  wenn  es 
mit  Waffer   begoßen    wird.      Allein  diele  Ver- 
änderungen  erfolgen  ohne   Empfindung,  oh- 
ne Vorl'tellung  in  diefen  Ob/ecten. 


$. 


Das  VaTfleUungsvermögerj  finlet  fich,  wie 
ich  glaube,  bei  allen  Thieren  von  jeder  Art 
iu  einem  gewiffen  Qiade,  wenn  e>  { 
möglich  ift,  du  s  einige  fb  wenige  von  der 
Natur  zur  Aufnahme  der  Eindrücke  einge- 
richtete Organej  eine  fo  fch wache  Empfäng- 
lichkeit und  ein  fo  dunkles  ßewuCstfeyn  für 
U  3  fie 


3io  Zweites    Buch, 

jie  haben,  dafs  de  andern  Thierarten  in  An- 
fehung  der  Lebhaftigkeit  und  der  Mannich- 
faltigkeit  von  \  orftellungen  weit  nachftehen. 
Aber  diefer  geringere  Gtad  ift  für  diele  Thie- 
re  zureichend ,  und  itirem  Zuftande  angemef- 
fen ,  fo  dafs  fich  die  Weisheit  und  Güte  des 
Schöpfers  in  allen  Theilen  des  erltaunungs- 
würdigen  Weltbaues  und  in  allen  Abftufun- 
gen  und  Rangordnungen  der  Gefcuöpfe  offen- 
baret. 

§.     i3. 

Wir  können,  wie  ich  glaube,  aus  dem 
Bai)  einer  Aufter  oder  Meerfcbnecke  ganz  rieh, 
tig  fehljefsen,  d.^s  fie  nicht  fo  viele  und  leb- 
hafte Sinne  als  ein  IVIenfch  oder  andre  Thie- 
re  haben,  und  hätten  fie  auch  diefelben,  fie 
wären  in  ihrem  Zuftand  und  bei  dein  Unver- 
mögen, fich  von  einem  Orte  zum  andern  zu 
bewegen,  nicht  beffer  daran.  Was  könnte 
das  Geticht  oder  Gehör  einem  GeCchöpfe  nü- 
tzen  .  welches  fich  weder  den  Objecten  nä- 
hern noch  von  ihnen  entfernen  kann  ,  an  de- 
ren  es  fchon  in  der  Ferne  Gutes  oder  Hofes 
wahrnimmt?  Und  wäre  eine  lebhafte  Empfin- 

düng 


Neuntes    Kapitel,  Sil 

düng  nicht  ein  Uebelftand  für  ein  Thier,  das, 
•wo  es  der  Zufail  hingeworfen  hat,  fülle  lie- 
gen, und  da  dem  Einflufs  des  warmen  und 
kalten  ,  reinen  und  faulen  Wallers,  wie  es 
trifft,  ausgefetzt    feyn  mufs? 

§♦     i4« 

Aber  eine  geringe  und  fchwache  Empfin- 
dung fcheint  mir  doch  auch  hei  diefen  ange- 
nommen werden  zu  muffen,  wodurch  fie 
fich  von  ganz  empfiudungslofen  Wefen  unter- 
fchfiden.  Für  die  Möglichkeit  diefer  Vor- 
aussetzung fprechen  klare  Thatfachen,  die  wir 
felbft  bei  den  Meufchen  finden,  Man  denke 
fich  einen  Greis,  in  dem  das  Alter  das  Ge- 
dächtnis feiner  frühern  Kenntniffe  vertilgt, 
alle  altern  Vorftellungen  verwircht,  fein  Ge- 
ficht, Gehör  und  Geruch  ganz  und  fein  Ge- 
fühl gröfstentheils  zeiftühret ,  und  dadurch 
fdft  alle  Eingänge  für  neue  Vorftellungen  ver- 
ftopft  hat.  Und  wenn  auch  einige  Ca- 
iiäle  noch  halb  geöfnet  lind  ,  fo  nimmt  er 
doch  die  Eindrücke  kaum  wahr,  und  fafst  fie 
faf*t  gar  nicht  in  das  Gedä>htnifs  auf.  Wie 
weit  lieh  ein  folcher  Menfch  in  Anfehung  fei. 
L1  4  ner 


5n  Zweites    Buch. 

«er  ErkenntnifTe  und  \  erftardeskräfte.  aller  fo 
fehr  ^eiühinten  angebornen  Grundfätze  unge- 
achtet, über  den  Zuftaud  einer  Außer  oder 
IVleerfchnerke  erhebe,  will  ich  der  Betrach- 
tung meiner  '  efer  überladen«  Hätte  bei  ei- 
nem Menfchen  die  er  Zuftand  fechiig  Jahre 
gedauert,  welches  eben  fo  mög  ich  ift,  als 
dafs  er  drei  Tage  dauert,  fo  würde  es  ein 
Wunder"  fejn,  wenn  zwifchen  ihm  und  einem 
Thier  der  niedrigen  Art  noch  ein  Unter- 
fcl'i^d  in  Anfehung  dergeiftigen  Vollkommen- 
heit ftatt  fände. 

§♦      i5. 

Das  Vorftellungsvermogen  ift 
der  einzige  Kanal  aller  Er- 
kenn  tn  if  s. 

Das  Vorfrellen  ift  der  erfte 
Schritt  und  die  erfte  Bedingung 
zur  Erkenntnifs,  indem  durch  fie 
alle  Materialien  derfelben  in  die 
Seele  eingeführet  werden.  Jewe- 
iliger Sinre  ein  Menrch  oder  ein  andres  Ge- 
fchöpf  hat;  je    fchwächer  und  weniger   die 

Ein- 


Neuntes     Kapitel,  3x3 

Eindrücke  auf  dierelben  ,  und  je  weniger  leb- 
haft  die  Seelenkräfte  find  ,  welche  lieh  mit 
derselben  befehäftigen  ,  defto  grüfser  iit  der 
Abftand  zwilchen  ihrer  Erkenntnifs  und  der- 
jenigen, welche  bei  andern  Menfcheu  gefun- 
den wird.  Der  mannigfaltige  Unterfchied 
in  den  Graben  derleiben,  der  unter  den  Men- 
fchen wahrgenommen  wird»  läfst  iich  aber 
bei  v^rfchiedenen  Thieranen  ,  noch  we- 
iliger bei  einzelnen  Individuen  derfelben  ge- 
nau beftimmen.  Ich  wollte  hier  nur  bemer- 
ken ,  dafs  das  Vorlieben  ,  die  erfte  Wirkung 
unfrer  geiftigen  Kräfte  ,  und  der  Kanal  ift , 
durch  weichen  alle  Erkenntnifs  in  die  Seele 
geleitet  wird.  Und  für  mich  ili  es  fehr  wahr- 
feheiniieh  ,  dals  der  niedrig Ite  Grad  dell'ei- 
ben  die  Grenzlinie  zwifchen  dem  Tfuerreich 
und  den  übrigen  Gefchöpfen  von  niedrigem 
Range  ausmacht.  Doch  diefs  ift  nur  eine 
beiläufige  Vermuthung,  die,  wie  fie  auch  von 
den  Gelehrten  entfehieden  werde  ,  auf  unfern 
Gegenftand  keine  ßezieaung  hat, 


US  Zehn- 


3i4  Zweites   Buch. 

Zehntes     Kapitel. 

Von  dem  Eehaltungsvermögen  (Retention,), 


§.  i. 

Von  der   Betrachtung. 

^^as  zweite  Vermögen  der  Seele,  wodurch 
fie  (ich  der  Erkenntnifs  noch  mehr  nähert,  ift 
das  Behalten  oder  die  Aufbewahrung  der 
einfachen,  dnrch  die  Sinne  und  Reflexion  er- 
zeugten Vorftellungen.  Diefes  gefchiehet  auf 
eine  doppelte  Art.  Erftlich  können  die  Vor- 
ftellungen,  welche  der  Seele  gegeben  wor- 
den ,  einige  Zeitlang  wirklich  im  Bewufst- 
feyn  erhalten  weiden.  Diefes  nennt  man 
Betrachtung   (.contemplation). 

Von   dem  Gedächtnifs. 

Die  zweite  Art  be flehet  in  dem  Vermögen, 
die  Vorftellungtii ,  welche  nach  dem  Eindru- 
cke 


Zehntes     Kapitel.  5i5 

cke  verfchwunden ,   oder  gleichfam   ans   dem 
Gefichte  auf  die  Seite  gelegt  worden  ,  wieder 
in  erneuern.     Das  gefchiehet  z.   B.  wenn 
wir  uns  die   Hiue,  das  Licht,    die  SüTsigkeit 
eder    die   Farbe     eines    nicht   gegenwärtigen 
Objects  vorftellen.      Diefes  Verniögea   ilt  das 
Gedächt  nifs,    gleichtun  die  Vorrathskarn- 
mer   unfrer  Vorftellungen.     Denn  da  der  be- 
schränkte Verftand    des  Menfchen  nicht  viele 
VorhVllungen   auf  einmal  im  Bewufstfeyn   ha* 
ben    und  betrachten  kann,  fo   muffte   er  eine 
Niederlage   zur  Aufbewahrung  derjenigen  ha 
ben,    welche  er  ein    andermal   wieder    brau- 
chen könnte.      Unfere  Vorstellungen  find  aber 
nichts    anders    als    Arten     des    Bewufstfeyns, 
und  fie  hören  mit  dem  Bewufstfeyn  auf,  etwras 
zu   feyn.        Daher   bedeutet   das    Niederle- 
gen in  dem  Behältnifs    des  Gedächt- 
nifses    nichts   anders,  als  das  Vermögen  der 
Seele,  in  vielen  Fällen  ihre  ehemals  gehabten 
Vorftellungen  mit  dem  ihnen  anhängenden  Be. 
wufstfeyn,  dafs  fie  diefelben  ehemals  hatte,  zu 
erneuern.     In    diefem   Sinne    lägt   man   auch, 
die  Vorftellungen  find  in  dem  Gedachtnifs,  da 
fie  doch  in  Wahrheit  nirgends  find;   man  ver- 
liehet   darunter  nur  ein  Vermögen  der  Seele, 

fie 


3x6  Z  W  e  i  t  e  s     Euch. 

fie  wieder  zu  erwecken,  und  gleichTatn  von 
neuen  bald  mit  mehrerer,  bald  mit  geringerer 
Schwierigkeit,  bald  mit  lebhaften,  bald  mit 
fchvvächern  Farben  zu  malen.  Und  fo  kann 
mau  unter  der  Bedingung  dieTc;  Vermögens 
fagen,  dafs  wir  alle  Vorftellungen  im  Verftan- 
de  haben,  welche  wir  zwar  nicht  wirklich 
betrachten,  aber  doch  wieder  ins  Eewufst- 
feyn  bringen  und  darfiellen  können,  fo  dafs 
fie  ohne  Hülfe  der  finulichen  Ei°enfchaften, 
welche  fie  zuerft  einprägten,  Gegenftände 
ynfers  Vorßellgns  werden. 

§.    3. 

Au tmerkfamkeit,  Wiederholung, 
Vergnügen  und  Schinerz  fixi- 
ren  die  Vorftellungen. 

Die  •Aufmerkramkeit  und  die  Wiederho- 
lung trafen  das  meifte  zt:r  feltem  Aufbewah- 
rung der  Vbrftellimgjeii  bei.  Diejenigen  aber, 
welche  gleich  beim  erften  Vorftellen  von 
fclbft  den  tiefften  und  dauerhafteften  Ein- 
dru«.k  machen,  find  die  mit  Vergnügen 
und    S  chiii  er  z    vergefüif  chatteten    Vorftel- 

luB- 


Zehntes    Kapitel.  3j7 

lungen.  Da  die  Sinne  die  wichtige  Beffint- 
inung  haben,  uns  auf  das,  was  unfenn  Kör- 
per febädlich  oder  vorteilhaft  Ift,  aufmerk- 
fam  zu  machen  ,  fo  bat  es  die  Natur  weislich 
veranftahet,  ddfs  mit  dem  Empfangen  gewif- 
fer  Vorftelhingcn  Schinerz  verbunden  ift,  der, 
indem  er  in  Kindern  die  .Stelle  der  Uenerle- 
gung  un  1  der  Vernunft  vertritt,  und  in  £r- 
wachfenen  gefchwiuder  als  die  Ueherleguhg 
wirket,  füAohl  (liefe  als  jene,  fo  eilig;  als 
es  zu  ihrer  Erhaltung  oötlnwi  u  ig  i»  beiH  uit, 
die  Urfachen  des  Unangenehmen  G«  ülds 
zu    vt    t.    le  Auf    diese    Art    febäff^  der 

Schmerz  .ii  n  bedaciiiüifs  Bekuuaiukeit  lux 
die  Zukunh  ein. 

$.    4* 

Die    Vor  ftellu  n  gen     vprfchwinden 
aus    dem  Gedächtntfs. 

Ueber  die  verschiedenen  Grade  der  Dauer 
mit  welcher  die  Vofftellungen  dem  Gedacht« 
niffl  eingeprägt  werden ,  1  Ihn  Geh  folgende 
Bemerkungen  machen.  Einige  werden  in 
dem  \  erftanda  nur  durch  ein  Übject  hervor- 

g* 


5i8  Zweites    Buch. 

gebracht,  welche?  dieSinne  nur  ein  einziges- 
iual  afficieret;  andere  Objecte  ftellen  Och 
den  Sinnen  öfterer  dar,  werden  aber  nicht 
lehr  bemerkt,  weil  die  Seele  entweder  un« 
achifain  ift,  wie  bei  Kindern,  oder  wie  bei 
Erwachfenen,  anderswo  befchäftiget  und 
auf  einen  andern  Gegenftand  gerichtet  ift, 
einher  das  Gepräge  nicht  feit  j;enug  eingedrückt 
wird.  Bei  einigen  Vorflellungen ,  welche 
forofältig  und  zu  vviderholtenmalen  auf- 
getaut werden  i  ift  doch  das  Gedachtnifs 
fchwach  i  ent^eier  we-en  ßcfchaffenheit 
des  Körpers  oder  wegen  eines  andern  Feh- 
lers. In  allen  dieieu  Fällen  werden  die  Vor» 
ßellungeti  matier  und  verfchwinden  öfterer 
ganz,  und  gar  aus  dein  VerLtan  ie,  ohne  eine 
Spm  oder  einen  Zug  zurück  tu  lallen,  wie 
die  über  ein  Kornfeld  liiegenden  Schatten^ 
und  dann  i(t  die  Seele  lo  von  ihnen .  entledi- 
get, a!s  wenn  he  nie  in  derleiben  geweleni 
wären, 

§.    5, 

Auf    diefe    Weife    gehen    viele  von    den 
Vorftellungen ,   weiche   in  der  Seele  der  Kin- 
der 


Zehntes     Kapitel.  319 

der  zur  Zeit,  als  ihre  Sinnlichkeit  Och  zu 
äufserii  anfing,  —  vielleicht  auch  noch  frü- 
her und  vor  ihrer  Geburt ,  zumal  gewille  an- 
genehme oder  unangenehme  Gefühle  —  er- 
zeugt worden 'find,  wenn  lie  nicht  in  den 
folgenden  Perioden  des  Lebens  wieJerfiolet 
werden,  bis  auf  die  geringste  Spur  verloren. 
Diefe  Beobachtung  läfst  fich  bei  folchen  Per- 
fönen  machen ,  welche  in  ihrer  frühen  Ju- 
gend durch  einen  Unglücksfall  ihr^s  Gefichts 
beraubt  wurden.  Hier  pllegtn  die  Vorftel- 
lungen  von  Farben,  weiche  nur  leicht  auf 
gefaist  und  nicht  öfterer  erneuert  werden, 
bald  verdunkelt  zu  werden,  fo  dafs  nach  eini- 
gen Jahien  eben  i'o  wenig  als  bei  ßiind-ebor- 
neu  eine  Vorltellun^  oder  ei^e  Spur  ddvon 
in  ihrem  Gedächtnifs  geiunden  wird*  Lei 
einigen  Alenlchen  ift  zwar  das  G^la  httiifs 
oft  zum  Lritaunen  feite,  aoer  deiinocii  icheint 
eine  allgemeine  Abnanu  e  bei  aller!  unleru 
\orftellungen  l'<_iu:t  den  am  ututen  eingeklag- 
ten und  in  üeui  gluQklicülH  n  Gedatütin  s  lidit 
zu  finden.  Wenn  11  e  daher  meut  duitü  wie- 
derholte Anwendung  der  öinne  und  der  Ke« 
flexion  auf  denfeiben  Gegenltand,-  erneuert 
werden,  fo  gehet  nach  und  nach  das  «Jtpra^e 

aus 


5:ö  Zweites    Buch, 

aus ,  bis  zulezt  nichts  mehr  davon  fichtbar 
ift.  So  fteiben  die  Vorftellungen  gleich  Kin- 
dern unfrer  Jugend  oft  vor  uns  hin  ;  unfre 
Seele  mahnt  uns  an  die  Grabmäler,  denen 
wir  uns  nähern  ,  an  denen  zwar  das  Erz  und 
Marmor  bleibt,  aber  die  Infchriften  durch 
die  Zeit  vertilgt  werden,  und  die  Bildnerei 
hinlchwindet.  So  ift  auch  die  Malerei  in 
üftfrer  beele  mit  vergänglichen  Farben  aufge- 
tragen, welche  verfchwinden  ,  wenn  fie 
nicht  zuweilen  aufgefrifcht  werden.  Ich  will 
hier  tiichi  unterfuchen,  in  wiefern  die  Be- 
fchaffetiheit  uufrer  Körper  und  die  Struktur 
der  Lebeneoeifter  dabei  mit  im  Spiele  ift,  und 
ob  nicht  3uf  der  Tempera  -■?  des  Gehirns  die 
Verffchiedenheit  des  Gedächtnifses  beruhet, 
dafs  e.  bei  einigen  Menfchen  die  eingepräg- 
ten Züge  der  VorhVüünsen  als  Marmor,  in 
andern  als  ein  Qu-ideritein ,  in  andern  nicht 
viel  behVr  als  Sand  erhält  Aber  wahrschein- 
lich ift  &s  doch  immer,  dafs  die  Beschaffen, 
heit  des  Körpers  Einflufs  auf  das  Gedächtnis 
hat  weil  »vir  oft  bemerken,  dafs  eine  Krank- 
heit alle  Vörfielluhgfen  gleiehfam  abftreifet, 
und  die  Fieberhitze  alle  Bilier,  denen  wir 
«ine  ewige  Dauer  verfprachen ,   als  wären  fie 

in 


Zehntes    Kapitel.  3ar 

in  Marmor  gegraben ,   in  wenig  Tagen  in  ein 
Chaos  von  Staub  verwandelt; 

§.     6. 

Behändig  wiederholte  Vor  Tei- 
lungen verlieren  fieh  nicht 
leicht. 

Was  aber  die  Vorftellungen  felbft  betrifft) 
fo  ift  leicht  zu  bemerken  ,  dafs  diejenigen 
(ich  am  fefteften  dem  Gedächtnifs  einprägen, 
und  am  längften  in  ihrer  Klarheit  erhalten» 
welche  durch  das  öftere  Vorkommen  der  Ge- 
genwände und  der  Handlungen,  aus  welchen 
fie  entftehen  ,  am  häufigiten  erneuert  werden« 
*L\i  dielen  gehören  diejenigen ,  welche  auf 
mehr  als  einem  Wege  in  die  Seele  kommen. 
Die  Vorftellungen  von  den  urfprünglichen 
Eigen  (chatten  der  Körper  als  Dichtheit» 
Ausdehnung,  Geltalt,  Bewegung 
und  Ruhe;  Vorftellungen  von  folchen  Eigen- 
fchaften,  welche  fall  immer  auf  unfern  Körper 
wirken,  als  Hitze  und  Kälte;  Vorftellunsen 
VonEigenfchafien  die  allen  Din  en  von  jeder 
Art  gemein  find,  als  Exiftenz,  Dauer, 
Zahl  —Vorftellungen,  welche  faß  jedes  Object, 
das  unfre  Sinne  afficiert,  jeder  Gedanke,  der 
X  unfern 


3^,2  Zweites    Buch. 

unfernGeiftbe[cbäftiget,mit  Och  führet,  —  diefe 
und  ähnliche  gehen  feiten  ganz,  verloren,  fo 
lange  das  Gemüth  nur  noch  überhaupt  einige 
Vorfteliungen  feft  halt. 

§.      7. 

Die  Seele   ift  oft   thätig   bei   Er  in« 
nerung  der  Vorfteliungen. 

Bei  der  zweiten  Vorftellung,  wie  ich  es 
nennen  möchte,  oder  der  Zurückrufung  der 
Gedächtnifsvorßellungen  in  das  Bewufstfeyn 
ift  die  Seele  öfters  etwas  mehr  als 
leidend,  indem  die  Wiedeibelebung  die- 
fer  fchlummernden  Bilder  zuweilen  von  dem 
Willen  abhängt.  DdS  Gemüth  wirkt  oft 
jfelbftthätig  dahin,  um  dunkle  Vorfteliungen 
aufzugehen,  und  richtet  gleich/am  das  Auge 
der  Seele  darauf.  Doch  zuweilen  drängen 
fich  die  Vorfteliungen  von  felbft  empor  und 
Jßellen  fich  freiwillig  dem  Verftande  dar ;  oft 
Xtürzen  fie  bei  ftürmiiehen  I-eidenfchaften  aus 
•ihren  dunkeln  Zellen  ans  Licht  hervor  j  eini- 
ge  werden  durch  unfre  Affecten  ins  Bewufst- 
feyn  gebracht,  welche  aufserdem  in  ewiger 
Vergeüenheit  gefchlumrnert  hätten.  —       In 

Aa- 


Zehntes    Kapitel.  325 

AnTehuHj»  der  Gedächtnirsvorfldlungen  und 
ihrer  Erneuerung  ift  Doch  zu  bemerken,  dafs 
fle  nicht  nur  keine;  neuen  Vorfrellun^en  find, 
welches  das  Wort  Erneuern  fchon  mitfich 
bringt,  fondern  daTs  auch  das  Gernüth  ihre» 
nicht  anders  als  ehemaliger.  Eindrucke  wie« 
der  bevvufst  wird,  und  ihre  alte  Bekannt- 
fchaft  mit  ihnen  nur  wieder  erneuert,  Ael- 
tere  Vorftellungen  find  alfo  zwar  nicht  immer 
gegenwärtig,  aber  bei  der  Erinnerung  ftellt 
fich  die  Seele  allezeit  vor,  dafs  fie  einft  fchon 
gegeben  d.  i.  gegenwärtig  waren,  und  vor* 
geitellt  worden  find, 

§.     8. 

Zwei  Un Vollkommenheiten  des 
Gedächtniffes,  Vergeffenheit 
und  Langfa  tu  k  e  i  t. 

Nächft  der  VorftelIungsf;ihigkeit  ift  das  Ge. 
dächtnifs  für  ein  vorftellendes  Wefen  am  un- 
efitbehrlicbften,  und  Von  fo  großem  Einflufs, 
dafs  alle  unfre  übrigen  Vermuten  ohne  diefes 
gröTstentheils  unnütz  find.  Wenn  uns  das 
GeiUchtnifs  nicht  zu  Hülfe  käme,  fo  würden 
X  3       .  wir 


324  Zweites    Buch, 

wir   in  unferm   Denken,    Schliefsen   und  Er- 
kennen   nur    auf    das   Gegenwärtige   einge- 
fchränkt  feyn.        Es  find  aber  bei  demfelben 
zwei  Mängel  denkbar.     Erftlich   wenn  es  die 
Vorftellungen   völlig   verlieret,     und   infotern 
Unwiflenheit  erzeuget.     Denn  wir  willen  nur 
das,  wovon  wir   eine  Vorstellung   haben ;    ift 
diefe  verfchwunden  ,    fo  find  wir  in  eine  völ- 
lige Umviilenheit  verfetzt         Die  zweite  Un« 
Vollkommenheit  ift  Langfamkeit,    (Trägheit) 
wenn  es  die  vorräthigen  Vorftellungen  nicht 
fchnell  genug    hervor   langt,   und  den  Geift 
nicht  gehörig  unterftiitzt.     Ein   höherer  Grad 
diefes    Fehlers    heifst    Dummheit*        Ein 
JMeulcii,  der  wegen  diefes  Fehler.,  ciie  Vorftel- 
lungen, die  in  dem  Gedächtniis  wirklich  auf- 
bewahret lind  ,  nicht  in  Bereitschaft  hat,  wenn 
es  nöthig  ift,  ift  nicht    belTer  daran,  als  wenn 
er  üe  gar  nicht  hätte,    weil   er  keinen    Ge- 
brauch   von    ihnen    machen    kann ,     und  der 
Dumme  ift  nicht  glücklicher  bei  feinen  Kennt- 
niüen,  als   der  ganz  unwilTendej  denn   wäh- 
rend   er   in    dem    Gedächtnifs    Vorftellungen 
fucht,  die  zu  feinen  Zwecken  pailen  ,  ift  die 
Gelegenheit}    fie   zu    gebrauchen  fchon   ver- 
fchwunden.     Das  Gedächtniis  ift    alfo  dazu 

be- 


Zehntes    Kapitel.  325 

beftimmt,  der  Seele  die  fchlummernden  Vor- 
ftellungen  in  dein  Maafse  herbeizufchaffen» 
als  f:e  diefelben  nöthig  hat.  Ein  glückliches 
Gedächtnifs,  dafs  man  diefe  Vorftellungen 
bei  alieii  Gelegenheiten  in  Bereitlchaft  hat, 
macht  das  aus ,  was  man  Erfindungs« 
kraft,  Einbildungskraft  und  fchn ei- 
len Witz    nennt, 

Diefes  Und  die  Mängel  des  Gedächtnifse«, 
infofern  wir  einen  Menfcnen  mit  dem  andern 
vergleichen.  Es  läfstfich  aber  noch  eine  an- 
dre Unvollkommenheit  denken,  wenn  wir 
den  Menfchen  überhaupt  mit  einem  höhern 
verftändigen  Wefen  in  Vergleichung  fetzen» 
Denn  diefes  kann  inkAnfehung  des  Gedächt- 
niffes  foweit  den  Menfchen  übertreffen,  dafs 
ihm  die  ganze  Reihe  aller  feiner  vorigen 
Handlungen  beftändig  gegenwärtig  ift,  und 
nicht  ein  einziger  Gedanke  aus  dem  ßewufst- 
feyri  entfchlüpft.  Die  AllwifTenheit  Gottes, 
der  alle  vergangene,  gegenwärtige  und  künf- 
tige Dinge  weifs,  und  dem  alle  Gpdaiiken 
des  mer.fchlichen  Herzens  zu  allen  Zeiten  of. 
X  5  fenbar 


325  Zweites    Buch. 

fenbar  find,    kann  uns   von    der  Möglichkeit 
eines  folchenGedächtniffes  überzeugen.  Denn 
follte  Gott  nicht  einige  feiner  Vollkommenhei- 
ten in  dem  Grade  als  es  ihm  gefallt,  und  def- 
fen  ein  endliches  Wefen   fähig  ift,  den  erha« 
benen  Geiftern,  die  zunächft  an  feinem  Thro- 
ne ftehen ,    mittheilen   können?    Man    erzäh- 
let vom  Pascal,    diefem  von  Seiten  des  Gei- 
ftes  außerordentlichen  Manne,  dafs  er,  fo  lan- 
ge    Kränklichkeit      fein     Gedächtnifs     nicht 
fchwächte,    von    alle    dem,   was  er    in    den 
Jahren  des  Verftandes  gethan ,  gelefen  und  ge- 
dacht hatte,  nie  das  geringfte  vergafs,  —  ein 
Vorzug,  von  dem  die  meiften  Menfchen  nichts 
willen,    und  den    diejenigen    für  unglaublich 
halten  werden,   welche  andere  nach    dem  ge- 
wöhnlichen Maafsftabe,  nach  fich  meffen.  Diefe 
Betrachtung  kann  aber    dazu   dienen,  unfern 
Verftand    die  Vorftellung   größerer  Vollkom- 
menheiten des    Gedacht  nilTtjs    in    erhabenem 
Geiftern   zu  erleichtern.      Denn   das  Gedächt- 
nifs des  Pascal    hatte  doch  noch  immer  die 
Einfchränkung    an    fich,     welche    von    dein 
menfchlichen  Geifte  hienieden  unzertrennlich 
ift ;  es  umfafste  eine  grof>e  Mannichfaltigkeit 
von  Vorltellungen ,  aber  nicht  auf  einmal,  fon- 
dern 


Zehntes     Kapitel,  327 

dem  nach  und  nach.  Engel  von  gewiffen  Ran- 
ge haben  hingegen  wahrfcheinlich  einen  grü- 
fsern  Gesichtskreis ,  und  Cnd  mit  dem  Ver- 
mögen ausgestattet  worden,  alle  ihre  vorigen 
KenntnifTe  auf  einmal  und  neben  einander  zu 
behalten,  und  beftändig  wie  in  einem  Gemäl- 
de fich  vorzuhalten.  Für  einen  Denker  unter 
den  Sterblichen  würde  das,  wie  fich  leicht  den- 
ken liifst,  kein  kleiner  Vortheil  bei  feiner  Er- 
kenntnifs  feyn ,  wenn  ihm  alle  feine  altern 
Gedanken  und.  Schlüfle  immer  gegenwärtig; 
wären.  Diefs  ift  alfo  wohl  einer  von  denGe- 
fichispunkten,  in  welchem  die  Erkenntnifs  der 
blo-fs  geiftigen  Wefen  die  unfrige  weit  hinter 
fich  läfst. 

§.      Io» 

Die   Thicre     beTitzen     ein     6  e- 

däcb,  tnifs. 

Das  Vermögen ,  die  von  der  Seele  aufge- 
faßten Vorftcllungen  zu  behalten  und  aufzu- 
bewahren findet  fich  auch,  wie  es  fcheint,  bei 
verfchieuenen  Thieren  und  in  eben  dem  Gra- 
de als  bei  Mehfchen.  Denn,  um  nnr  ein 
X  4  Bei- 


3ü8  Zweites    Kapitel. 

Beifpiel  anzuführen  ,  die  Vögel  lernen  Melo- 
dieen,  und  bemühen  fich ,  wie  ruan  ganz 
deutlich  bemerken  kann  ,  die  Töne  richtig  zu 
treffen.  Diefs  fcheint  mir  aufser  allen  Zwei- 
fel zu  fetzen,  dafs  fie  Vorftellungen  haben, 
fie  im  Gedächtnifs  behalten,  und  als  Mufter 
gebrauchen.  Unmöglich  könnten  fie  fich  be- 
ftreben,  ihre  Stimme  mit  den  Noten  einftim- 
rnig  zu  machen,  wie  fie  doch  offenbar  thun» 
Wenn  fie  keine  Vorftellungen  von  den  Tö- 
nen hätten*  Ich  leugne  nicht,  dafs  ein  Ton* 
während  er  wirklich  gefpielet  wird,  niecha» 
xiifch  gewifle  Bewegungen  in  den  Lebensgei- 
iiem  des  Gehirns  bei  den  Vögeln  hervorbrin- 
gen kann.  Diefe  Bewegungen  mögen  fich, 
wohl  bis  zu  den  Mufkela  ihrer  Flügel  fortpflan- 
zen ,  und  fo  können  die  Vö^el  durch  ein  ge- 
wiffes  Geräufch  mechanifch  fortgetrieben  wer- 
den ,  weil  das  vielleicht  zu  ihrer  Erhaltung 
abzwecken  mag»  Allein  da  die  Nachahmung 
aoichts  zur  Erhaltung  des  Vogels  beiträgt,  fo 
kann  diefs  rieht  als  Grund  angenommen  wer- 
den, warum  eine  vorgefpielte  Melodie  — 
noch  weit  weniger  aber  wenn  man  damit  auf- 
gehöret  hat  —  eine  folche  Bewegung  in  fei- 
nen Sthmuorganen  hervorbringe,  dafs  er  die 
>  Töne 


Zehntes    Kapitel.  029 

Töne  einer  fremden  Melorlie  nachbildet« 
Aber  was  noch  mehr  ift  ,  man  kann  mit  kei- 
nem fcheinbaren  Grunde  vorausfetz,en ,  noch 
weniger  aber  beweifen  ,  dafs  die  Vögel  ohne 
Vorftellung  und  Gedächtnis  ihre  Töne  nach 
und  nach  einer  geftern  gefpielten  Melodie  an- 
nähern können.  Ifl  keine  Vorftellung  davor* 
in  ihrem  Gedächtnifs,  fo  ift  fie  für  fie  gar 
nicht  vorhanden ;  fo  haben  fie  kein  AJufter 
zur  Nachahmung,  dem  hefich  durch  wiederhol- 
te Verfuche  nähern  könnten.  Denn  es.  läfsr. 
fich  kein  Grund  denken,  warum  der  Ton  ei- 
ner Yogelflöte  Spuren  in  ihrem  Gehirne  zu» 
rütk-lalle,  die  nicht  das  erltemal  fondern 
durch  ihre  wiederholten  Verfuche  ähnliche 
Töne  hervorbrächten  :  oder  warum  ihre  ei», 
ren  Töne  nicht  Spuren  zurücklaflen  feilten, 
die  fie  eben  fo  gut  als  die  der  Vogelilöte  nach" 
ahmen  konnten. 


X  5  Eilf- 


353  Z  w  e  i  t  e  s     Buch. 

Eilftes    Kapitel. 

Von  dem  UnteiToheidungsvermöejen  und  andern 
Thäti»ke,iten  der  Seele. 


Ohne   Unter fc he idurtg  'i ft  keine 
F.  r  k  e  n  n  t  n  i  f  s, 

r 

ir  entdecken  noch  ein  andres  Vermögen 
in  der  Seele,  nehmlich  das  Vermögen  die 
vorhandenen  Vo  r  f  teil  u  n  g  e  n  zu  tren. 
nen  und  zu  unt  er  fch  eiden.  Es  ift  nicht 
genug,  eine  undeutliche  Vorftellung  von  ei- 
nein Dinge  überhaupt  zu  haben.  Ungeach. 
tet  aller  Wirkfamkeit  der  Körper  um  uns, 
wenn  de  uns  afficieren  unbeachtet  der  Thä- 
ti<ikeit  des  Gemiiths  im  Vorftellen  würde  es 
doch  nur  einer  fehr  geringen  Erkenntnifs  em- 
pfanglich fern,  wenn  es  nicht  deutliche  Vor- 
sehungen von  verfchiedenen  Objecten  und 
ihren  Eigenfchaften  hatte.  Auf  das  Unter- 
fcheidungsvermögen  gründet  heb  die  Evi- 
denz   und    Gewifsheit    vieler   Urtheile, 

ieiDft 


Eilftes     Ji.ipitel.  53 1 

felbfl  der  allgemeinen ,  die  bisher  für  ange- 
borne  gegolten  haben.  Denn  man  überfiehet 
gewöhnlich  die  wahre  Urfache,  warum  diefe 
Sätze  allgemeine  Beiftimmung  finden ,  und 
fchreibt  fie  daher  nur  allein  den  angebornen 
einartigen  Eindrücken  zu  ,  da  fie  doch  eigent- 
lich in  dem  Vermögen  der  Seele  gegründet  ift» 
Vorftellungen  deutlich  zu  unterlcheiden  ,  und 
zu  beftiramen,  ob  fie  einerlei  oder  verfchie- ' 
den  find.  Doch  davon  an  einem  andern  Ort 
ein  Mehrere*,, 

§.       2. 

Unter  fchied     zwifchen     dem    Witz 
und    dem   Unheils  ver mögen. 

In  wiefern  der  Mangel  einer  fcharfen  Unm 
terlcheidung  deT  Vorftellungen  in  der  Stumpf- 
heit oder  andern  Fehlern  der  Sinnorgane,  oder 
in  dem  Mangel  des  Scharffinns,  der  Uebung 
und  Aufmerkfamkeit  des  Verftandes,  oder 
endlich  im  Leichtfinu  und  Uebereilung,  die 
gewiffo.i  Temperamenten  natürlich  find,  ge- 
gründet fey  ,  will  ich  hier  nicht  unterfucheru 
Es  ift  °enug,  wenn  ich  bemerke,  clafs  es  ei- 
ne von    den  Wirkungen    der  Seele   ift,    die 

mau 


332 .  Zweites    Buch. 

man  reflectiren  und  beobachten  kann,       Si« 
ift  von  io  giofsem  Einllufs  auf  uufre  Erkennt- 
nifs,  tia!s    in  dem  ^eihältnifr,    als  diefes  Ver- 
mögen zu  ftumpf  ift,  oder  nicht   recht  ange- 
wendet wird  ,   um  ein  Ding  von  dem  andern 
zu  unterfeheiden ,  in   dem    \  prtiäftniTs    unfre 
Begriffe  undeutlich,  unfre  Urtheiie  und  Schlüf* 
fe  verwirrt  und  fauch  find.     Wenn  der  Witz 
darin  beftehet,  dafs  man   die  Gedächtuifsvor- 
ßellungen  immer  in  Bereitichaft  hat,  fo  macht 
die  Deutlichkeit  der  Begriffe  und  die  Fähig- 
keit ein  Ding  von  dem  andern  bis  auf  die  ge- 
ringflc  Verfchiedenheit  fcharf  zu  unterfehei- 
den ,     das    treffende  Urtheil  und    die  klaren 
Schlüffe,  worin  ein  Menlch  dem  andern  über- 
legen ili ,    gröfstenthejls   aus.       Hieraus  läfst 
fich  vielleicht    die  gemeine   Beobachtung   er- 
klären,    dafs    Menfchen    von    grofsem  Witz 
und   fchnellen   Gedächtnifs  nicht    allezeit  die 
hellefte  Beurtheilungskraft  und  die  gründlicli- 
fte  Einficht  befitzen.       Denn  der  Witz  be- 
ftehet   gröfstentheils    nur  in   einer   fchnellen 
und    mannichfaltigen    Zufammenftellung    der 
Vorftellungen,  die  in  gewiffem  Grade  ähnlich 
oder  zufa  mm  er:  paffend    Gnd,    um   daraus  rei- 
tzende  Gemälde    und   angenehme  Bilder   für 

die 


Eilftes   Kapitel.  355 

die  Phantafie  zu  erzeugen.  Die  Beurthei- 
]ungs  kr  alt  iß:  hingegen  das  entgegengefetzte 
Verfahren,  die  Vorstellungen  forgfähig  von 
einander  zu  trennen,  in  denen  die  kleinfte 
Verfchiedenheit  gefunden  wird  ,  um  "nicht 
durch  die  Aehulichkeit  oder  Verwand fchaft 
getäufcht,  ein  Ding  mit  dem  andern  zu  ver. 
wechfeln.  Diefes  Verfahren  ift  den  Meta- 
phern und  Anlpielungen  grade  entgegenge- 
fetzt, Worin  gröfstentheils  das  Unterhaltende 
undBeluftigende  des  Witzes  liegt.  Der  Witz 
rühret  die  Phantafie  fehr  lebhaft,  und  des- 
wegen gefällt  er  fo  allgemein;  feine  Schön- 
heit leuchtet  beim  erften  Anblick  in  die  Augen 
und  er  erfodert  kein  angestrengtes  Denken, 
um  zu  erforfchen,  wie  viel  Wahrheit  oder 
Vernunft  in  dem  witzigen  Einfall  liege.  Die 
Seele  beluffiget  fich  an  dem  Reitz  der  Schil- 
derungen und  den  muntern  Farben  der  Phan- 
lafie,  ohne  alle  weitere  Anfoderung.  Die 
Aeufserungen  des  Witzes  nach  den  (trengen 
Regeln  der  Wahrheit  und  der  Vernunft  zu 
prüfen,  wäre  eine  Art  von  Beleidigung  »e. 
gen  fie;  aber  daraus  erhellet  auch  fo  viel, 
dafs  fie  jenen  Regeln  nicht  völlig  emfprechen, 

§♦  3, 


334  Zweites    B  u  c  h , 

Klarheit  der  Vor  Heilungen  das 
einzige  Mittel  gegen  die  Ver- 
worrenheit   derfelben. 

Um  die  Vorßellungen  genau  zu  unterfchei- 
den  ,  kommt  es  hauptfächlich  darauf  an,  dafs 
He  klar  und  beftimmt  find;  dann  kann 
nicht  leicht  eine  Verwirrung  oder  ein  Irr- 
thum  veranlafst  werden ,  wenn  auch  gleich 
die  Sinne  —  wie  es  wirklich  manchmal  der 
Fall  ift,  —  unter  verfchiedenen  Verhältniffen 
von  einerlei  Objett  verfchiedene  Vorftellun- 
gen  erzeugen,  und  daher  zu  ii.en  fcheinen» 
Denn  obgleich  einem  Fieberkranken  der  Zu- 
cker bitler  fch/necken  kmn  ,  dtr  für  ihn  fonft 
füfs  fchmeckend  war,  fo  rnufs  doch  fein  Ver- 
band die  Voifteliung  der  Bitterkeit  und  der 
Süfsigkeit  eben  fo  klar  und  deutlich  unter- 
fcheiden,  als  wenn  er  nur  allein  Galle  geko- 
ftet  hätte.  Beide  Vorftellungen  können  des- 
wegen, weil  ein  Körper  zu  verichiedenen 
Zeiten  beide  durch  den  Gefchmack  verur- 
facht,  eben  fo  wenig  verwechlelt  werden» 
als  die  Vorftellungen  von  Weifs  und  Süfse,  oder 
Weifs  und  Rund,  weil  dieie  durch  das  nehm- 

liche 


Eilftes    Kapitel.  o.V> 

liehe  Stück  Zucker  zu  einer  Zeit  in  der  Seele 
erzeuget  werden.  Die  Vorftellurfgen  von  der 
himmelblauen  und  der  Orangefarbe  und  eben  fo 
klar,  wenn  fie  beide  durch  die  nephritifche 
Tinctur  (infufion  of  lignum  nephriticurn)  als 
wenn  fie  durch  zwei  verfchiedene  Körper 
hervorgebracht  werden. 

§•    4. 

Vergleichung    der    Vo  rftell  iingen. 

Eine  andere  Thätigkeit  des  Gemüths  in 
AnTehung  der  Vorßellungen,  ift  ihre  V  e  r- 
gleichung  in  Arife'iung  des  Urnfangs  und 
Grades,  in  Anfehung  der  Zeit-  und  llaumver- 
hältniffe  und  anderer  Umftände.  Hieraus 
entspringt  eine  zahlreiche  Verwandfchaft  von 
Vorftellungen,  welche  wir  unter  dem  Worte 
Verhälmifs  zufammen  fallen.  Von  wel- 
chem Umfang  diefer  Begriff  iß ,  wird  weiter 
unten  gezeigt  werden, 


§.  5. 


335  Zweites   Buc )u 

§.     6. 

Auch  die  Thiere  vergleichen 
Vor  ft  eilung  en  aber  auf  keine 
fo  vollkommne   Art. 

In  wiefern  die  Thiere  an  diefem  Vermö- 
gen Antheil  haben,  läfst  fich  nicht  leicht  be- 
ftimmen;  aber  meines  Erachtens  belitzen  fie 
es  in  keinem  grofsen  Grade.  Denn  he  haben 
zwar  manche  klare  V  orfteil  ungen,  aber  es 
fcheint  ein  Vorzug  des  menfchlichen  Verban- 
des zu  feyn,  dafs  er,  wenn  er  gewifle  Vorftel- 
lungen  vollkommen  unterfehieden ,  und  ais- 
ganz entgfgengefeut  und  der  Zahl  nach  ver» 
fchieden  erkannt  hat,  übei legen  und  nach- 
denken kann,  in  welchtii  Beziehungen  eine 
Vergleichimg  unter  ihnen  mÖg  ich  ift.  Und 
daher  vergleichen  die  Thiere,  wie  kh  glau- 
be, ihre  Vorfielhingen  nur  in  Rücklicht  auf 
einige  finnliche  Verhaltniile,  die  die  Objecte 
felbft  angehen.  Das  Vermögen  allgemeine 
Begriffe  zu  vergleichen,  welches  zum  abftra- 
cten  Denken  von  INutzen  ift,  dürfte  ihnen 
wahrfcheinlich  fehlen» 


Eilftes    Kapitel.  $5j 

Von    dem  Verbindungsvermögen» 

Nächft  jenem  beobachten  wir  in  der  Seele 
noch  ein  Verbi  n  dungs  ver  m  ügen  ,  wo- 
durch fie  verfchiedene  von  den  Sinnen  und 
der  Reflexion  erhaltene  einfache  Vorstellun- 
gen verbindet ,  und  zufainmengefetzte  daraus 
bildet.  Zu  diefer  Verbindung  kann  man  auch 
die  Erweiterung  der  Vorftellungen  rech- 
nen. Obgleich  hier  die  Verbindung  nicht  fo> 
fichtbar  ift,  als  in  zufammeugefetzten  Begrif- 
fen, fo  werden  docli  wirklich  \  orfttdlungeu, 
obgleich  nur  einartige  zufammengefetzt«  So 
erzeugen  wir  den  Begriff  von  einem  Dutzend, 
durch  Zufammenfetzung  mehrerer  Einheiten 
und  die  Vorftellung  von  einer  feldwegs  Län- 
ge durch  Verbindung  mehrerer  Ruthen. 

§♦     7- 

DieThieTe  be  fitzen  das  Verbi  n- 
d  ungs  ve  rmögen  in  einem  fehr 
geringen  Grade« 

Auch  darin    fcheint  mir  der  Menfch  gro- 

fte  Vorzüge  vor  dem  Thiere  zu  haben«  Denn 

Y  ob 


35s  Zweites    B  u  c  lu 

ob  fie  gleich  verrchiedene  Verbindungen  auf- 
laden  und    behalten  —  fo  beftehet  die  Vor- 
ftellung    des  Hundes    von  feinem  HeTrn    aus 
den   einfachen   Vorfteilungcn   von   feiner  Ge- 
ftalt,  Stimme  und  feinem  Geruch  ,    wenn  die- 
fes    nicht   vielmehr   eben    fo   viele    einzelne 
Merkmale  find,  an  denen  er  ihn  erkennt —  fo 
glaube   ich  doch  nicht,    dafs   er  felbft  diefel- 
ben  verbindet,    und   daraus   zufammengefetz- 
te  Vorftellwrgen  bildet.      Und   felbft  wo   wir 
diefe  bei  ihnen  vorausfetzfn ,  ift   es  vielleicht 
nur  eine  einfache  Vorftellung,  die  fie  bei  der 
Erkenntnis  verfchiedeuer  Dinge  leitet,    wel- 
che  fie  vielleicht  weniger,    als    wir   glauben, 
durch    das   Geficht   unterfcheiden,        IVlan  hat 
mir  verfichert,   dafs  eine  Hündin  junge  Füch- 
fe  fo  gut  als  ihre  eignen   Jungen   fange,  mit 
ihnen  Ipiele  und  zärtlich  thue,  wenn  man  fie 
nur    einmal  dahin   gebracht   hat,    die  jungen 
Füchfe  an   ihren   Brüften   fo   lange   faugen   zu 
lalTen,  bis  die  Milch   durch  ihren  Körper  cir- 
Culiret.     Die  Thiere,  welche  viele  Junge,  auf 
einmal  gebühren  ,     fcheinen     keine  Kenntnifs 
von   ihrer  Zahl   zu    haben«        Die    Mutter  ift 
zwar  feh'r  bekümmert,    wenn  man  eines  der- 
felben  wegnimmt,  fo  lange  fie  diefelben  vor 

den* 


Eilftes    Kapitel.  55g 

-den  Augen  hat,  oder  hüiet;  aber  wenn  uian 
einige  in  ihrer  Abwefenheit  und  ohne  Ge- 
räuTch  wegnimmt,  fo  fcheint  iie  diele  Ihen 
nicht  zu  vermilTen,  odeT  zu  bemerken,  clafs 
die  Zahl  ihrer  Junten  verringert  worden* 

§.      ö. 

Bereich n  ungen  der  Vor  ft  ellun- 
gen  durch  die  Sprache. 

Die  Kinder  lernen  nach  und  nach  den  Ge* 
brauch  der  Zeichen  ,  wenn  firh  ihre  Vorftel- 
lungen  durch  wiederholte  Eindrücke  rn  dem 
Gedüchtnifs  fixirt  haben,  und  nach  erhngtpr 
Fähigkeit  die  Sprachorgane  zu  Hervorbrin« 
gung  articulirter  Töne  lelbltthaiig  anzuwen- 
den, fangen  fie  an,  fich  der  Worte  zu  be- 
dienen, um  andern  ihre  Vorftellungen  rnitzu- 
theilen.  Sie  borgen  «liefe  Spr^chzeichen 
theds  von  andern,  tbeüs  bilden  fie  fie  fe!hu\ 
So  bemerkt  man,  dafs  fie  beim  Anfange  ihres 
Sprachgebrauchs  den  Gegenftänden  oft  neue 
ond  ungewöhnliche  Benennungen  geben. 


Y  *  $.  fr 


3/i(j  Zweites    B  u  c  li. 

f.     9. 

Abftract  ion. 

Die  Woite  werden  als  äufsere  Zeichen 
unTier  innern  Vorltellungen  gebraucht.  Da 
diefe  von  einzelnen  Dingen  aufgenommen 
find,  fo  tnütste  es  eine  unendliche  Zahl  von 
Sprachzeichen  geben,  wenn  jede  einzelne 
VorlteJlung  ,  die  wir  empfangen  ,  eine  hefon- 
dere  Benennung  haben  follte.  Da  hilft  fich 
aber  die  Seele  damit,  dafs  fie  die  befondern 
Vorftellungen  zu  allgemeinen  erhebt,  und 
zwar  auf  folgende  Art,  Sie  betrachtet  Ge  als 
innere,  von  allen  andern  existierenden  Din- 
gen, von  allen  zufälligen  Befchaffenheiien 
der  realen  Exiftenz  als  Zeit  und  Raum  und 
allen  andern  begleitenden  Vorfiellungen  ab- 
geänderte Veränderungen  der  Seele.  Diefeff 
heifst  Ab  Strahieren,  Die  Vorftellurgen 
einzelner  Objecte  werden  dadurch  allgemeine 
Begriffe  der  ganzen  Gattung,  und  ihre  Sprach- 
zeichen bekommen  eine  allgemeine  Anwend- 
barkeit für  alles,  was  mit  diefen  abftrakten 
Begriffen  einftimmig  ift.  Der  Verftjnd  be- 
wahret diefe  beftimmten,  blos  geiftigen  Vor- 
ßellungen  mit  den  anhängenden  Sprachzei- 
chen auf,  ohne  darauf  zu  achten,  wie,  we- 
he« 


Eilftes    Kapitel.  ZAl 

her  und    mit    welchen    begleitenden   Vorfiel« 
Junten  fie  in  die  Seele  komme,  und  betrach- 
tet  lie  als  Regeln  ,    für  die  Klaffificirung  und 
Benennung  der  exiftierenden  Dinge,  infofern 
fie  mit   ihnen    als    Muttern    übereinftimmen. 
Wenn   ich  heute  die  nehmliche  Farbe  an  dem 
Kalk  oder  dem  Schnee  beobachte,     die    ich 
gertern  an  der  Milch  fand ,    fo   betrachtet  der 
Verftand    diefe    Vorftellung    befonders ,     und 
macht  fie  zur  Stellvertreterin  der  ganzen  Art; 
und   der   Ausdruck,     weifs,     womit   fie    be- 
zeichnet wird,    bedeutet  nun  diefe   Befchaf- 
feuheit,  wo    fie  nt:r  gefunden  oder  vorgeftellt 
wird.      Auf  diefe    Weife   werden   allgemeine 
Begriffe  und  Spracheeichen  gebildet, 

5.       10. 

Die  Thiere  abftrahiren  nicht. 

Sollte  es  vielleicht  zweifelhaft  feyn,  ob 
die  Thiere  auch  auf  diefe  Art  und  in  einem 
gpwilfrn  Grade  ihre  V'orfteJJungen  zufammen* 
fetzen  und  erweitern,  fo  glaube  ich  es  ert- 
fcheldend  verneinen  zu  können.  Das  Ab- 
ftrakiionsvermügen  fehlet  den  Thicren  durch« 
Y  5  aus. 


542  Zweit£s  Buch. 

aus.  Die  Fähigkeit  allgemeiner  Begriffe  ift 
das  vollkorii.i.' nfte  Unterid  eidnngsmerkmal 
Zwilchen  Menfch  und  Thieren  ,  und  eine 
Vollkommenheit,  weiche  die  Kräfte  der  lez- 
tern  nicht  erreichen  können.  Denn  wir  be- 
obachten an  ihnen  nicht  die  geringfte  Spur 
von  allgenri  inen  Zeichen  zum  Ausdruck  allge- 
meiner yprftellfingen  ,  und  daraus  läfst  fich 
mit  G»und  ichiiefsen,  dafs  He  kein  AbTonde- 
rrihgs-  kein  Bildungsvenuögen  allgemeine* 
Jte^riffe  beliuen. 

§.      II. 

Auch  kann  es  nicht  an  dem  Mangel  an 
Sprachorganen  liegen,  dafs  fie  weder  allge- 
meine Worte  kennen  noch  gebrauchen.  Denn 
die  Erfahrung  lehrt,  dafs  einige  folche  Töne 
nachbilden  und  einige  Worte  fehr  deutlich 
ausfprechen  können,  aber  ohne  diele  Anwen- 
dung zu  machen.  Auf  der  andern  Seite  find 
diejenigen  Rlenfthen,  welche  wegen  eines 
Fehlers  in  den  Organen  der  Sprache  beraubt 
find,  noch  immer  vermögend,  ihre  allgemei- 
nen Begriffe  durch  andre  Zeichen,  welche 
die  Stelle    der  V\  orte  vertreten,  auszudrücken. 

Die- 


E  i  1  f  t  e  s    Kapital,  3^5 

Di  efes  Vermögen  fehlet  denThicrcn  offenbar. 
-Ans     diefem    Grunde  darf  man  wohl  anneh- 
men,   dafs  die  Thiere  in  diefem  Punkte  von 
den  Mcnfchen  verfchieden  find,  und  dafs  zu- 
lezt  in    diefem     Unterfcheidungsmerkmal   der 
grofse    Abftand,   der  beide    Gattungen   trennt, 
gegründet  lft.      Denn  vorausgefetzt,    dafs  fie 
überhaupt    Yorftellungen    haben,     und  nicht 
biofse   Mafchinen  find,     —  wie    einige    gern 
behaupten  möchten  —  fo  können  wir  ihnen 
einen    gewilTen  Grad    von  Vernunft  nicht  ab- 
fprcchen.      Es  ift   zum'   werigften    für    mich 
eben  fo  gewifs ,  dafs  einige  Thiere  in  gewif- 
fen"Tällen  fchliefsen,    als  dafs  He  Sinnorgane 
haben.     Aber  freilich   äufsern   fie  diefes  \  er- 
mögen    nur  an   'concreten     Yoifielliirgen  ,     fo 
wie  fie  diefelben  von  den  Sinnen    empfangen-. 
Auch  die  vol'lvomrnenfien  Thiere  find  in  diefe 
engen  Grenzen   cingefchränKt ,    und   bf  fitzen , 
wie    ich    glaube,    kein    \  ermögFii ,    ihre  Vor- 
itellungen  durch  Abfiraktionen  zu  erweitern, 

§.      12. 

Dummheit    und    Wahnfinn. 

Inwiefern  bei  einfiiltigen  Menfchen  Man- 
gel oder  Schwache  eines  oder  aller  vorhinge- 

y  ^ 


5/f4  Zweites    Buch. 

dachten  Vermögen   anzutreffen  fey ,    kann  die 
Beobachtung     ihrer  mancherlei    Vormunden 
unftreirig  entdecken.       Wo  die  Empfänglich- 
keit fchwach  ift,  oder  die  erhaltenen   Voritel- 
lungen     nicht  gut    aufbewahret,     mit   Mühe 
wieder  erneuert  und  zufammengpfetzt  werden, 
da  fehlt    es  an  Materialien  zum  Denken.    Wer 
nicht  unterfcheideu  ,  vergleichen   und   abstra- 
hieren kaun,  der  befitzt  wenig  Fähigkeit  zum 
Verftehen  und   Gebrauch  einer    Sprache;     er 
denkt  und  urtheilt  nur  wenig   und    fehr  un- 
vollkommen  über  gegenwärtige  und  finnliche 
Gegenftände.      Das  Nichtdafeyn  oder  die  feh- 
lerhafte BefVhaffenheit  eiues  der  obigpn   Ver- 
mögen hat  dfo  unftreitig    beträchtliche    Män- 
gel   in    der    Einficht    und    Erkcnntnifs    eines 
Menfchen  zur  Folget 

§.     i5» 

Kurz  die  Fehler  einfältiger  Menfchen 
fcheinen  aus  dem  Mangel  an  l  cbhaftigkeit, 
Tbätigkeit  und  Reubarkpit  der  Geisteskräfte 
zu  entfpringen,  wodurch  fie  des  Vemunhge- 
b'rauchs  beraubt  find,  die  Wahn  finnigen 
hingegen   liegen   vielleicht  an  dem  entgegen- 

gefetz- 


Eilftes    Kapitel.  3/j5 

gefetzten  Extrem  krank.  Sie  haben  ,  wie  mir 
dünkt,  das  Vermögen  zu  fchliefsen  keines- 
weges  verloren,  fondern  nur  gewiffe  Vorftel- 
lungen  fehlerhaft  verbunden  ,  und  halten  fie 
aus  Tänfchung  für  Wahrheiten.  Sie  irren, 
wie  Menfehen  ,  die  aus  falfchen  Grundfätzen 
richtig  folgern.  Denn  durch  übermäßige 
Lebhaftigkeit  ihrer Phantafie  geblendet,  fehen 
fie  gewiife  Einbildungen  für  Wirklichkeiten 
an,  und  leiten  daraus  ganz  richtige  Folgerun- 
gen her.  So  wird  man  finden  ,  dafs  ein  Ver- 
rückter ,  der  fich  für  einen  König  heilt,  ganz 
richtig  eine  angemefTene  Bedienung  ,  Ehrer- 
bietung und  Gehoriam  fodert.  Andere,  die 
lieh  einbilden  ,  Ge  wären  aus  Glas  se'-'ildet, 
beobachten  alle  Behutfamkeit ,  welche  nöthi^ 
jft ,  um  einen  fo  zerbrechlichen  Körper  zu  er- 
halten. Wenn  daher  durch  einen  plötzlichen 
und  zu  heftigen  Eindruck,  öder  durch  zu 
lange  Fixirung  der  Phantafie  aoFeirie  Art  von 
Vorftellungen  ,  gewifle  unZufämtnenhangeride 
Voiftellungen  fo  feite  verknüpft  worden,  dafi 
fie  nicht  wieder  getrennt  Werden  können  ,  fu 
kann  ein  Menfch,  der  fonft  in  allen  Dingen 
einen  guten  Vetftand  und  richtige  Beurthei- 
hing  zeigt,  in  einem  Punkte  ein  fo  grofser 
*   5  Narr 


5:\6  Zweites    Buch, 

JSarr  werden,  als  irgend  ein  Bewohner  des 
Bedlam.  Doch  es  giebt  in  dem  Wahnfinu, 
wie  in  der  Dummheit  Grade  ,  und  daher  fin» 
det  man  das  regelioie  Verknüpfen  der  Vor- 
ftellungen  bei  einem  mehr,  jjci  dem  andern 
weniger.  JVlit  einem  Worte ,  der  Unterlchied 
zwifchen  Einfältigen  und  Wahnfinnigen 
fcheint  darin  zu  liefen,  dafs  die  letztern  -die 
Vorfteilungen  fehlerhaft  verbinden  ,  und  fo 
falfche  Satze  bilden  ,  ob  fie  gleich  hernach 
richtig  daraus  folgern;  die  erftern  hingegen 
wenig  oder  gar  nicht  urtheilen  und  fchhelsen, 

S.     H- 

Gang  der  Unter fuchung. 

Diefes  find',  wo  ich  nicht  irre,  die  erften 
Vermögen  und  Wirkungsarten  der  Seele, 
welche  bei  dem  Denken  vorkommen.  Sie 
beziehen  Geh  zwar  auf  alle  Vorstellungen 
überhaupt;  aber  die  Beifpiele  ,  welche  bisher 
gegeben  worden,  find  vorzüglich  von  einfa- 
chen Vorftellungen  gewählt,  und  ich  liefs  die 
Erklärung  diefer  Seelen  Kräfte  fogleich  auf  die 
Betrachtung  der  einfachen  Vorftellungen  fol- 
gen, 


Eilftes  Kapitel.  547 

gen,  ehe  ich  noch  zurUnterfuchung  derzufaui- 
mengefetiten  fortging;  beides  aus  folgenden 
Gründen,  Erfteus.  Einige  von  dielen 
Seelenkräfien  befchäftigen  fich  zuerft  uud, 
vorzüglich  mit  den  einfachen  Vorstellungen, 
Ich  glaubte  alfo,  wir  würden,  wenn  wir  den 
gewöhnlichen  Gang  der  Natur  verfolgten, 
ihre  erüen  Keime  ,  ihre  Ausbildung  und  Ver- 
vollkommnung aufipüien  und  entdecken. 
Zweytens,  Wenn  man  beobachtet,  wie  die 
Seelenkräfte  bei  den  einfachen  Vorftellungea 
verfahren,  welche  gewöhnlich  bei  den  mei-r 
-iien  Menfchen,  klarer,  befUmmter  und  deut- 
licher als  die  zufammengeietzteu  find ,  fo 
kann  man  deho  beiler  beobachten,  wie  das 
Geinüth  die  zufammengefetzten  \  orftellungen, 
bei  denen  man  weit  leichter  irren  kann,  ab- 
ftrahiert,  mit  Worten  bezeichnet,  vergleichet, 
und  fofort  die  übrigen  Verzügen  an  ihneu 
befchäfiiget.  Drittens.  Diu  TUati^keiten 
desGemüths  in  Anfehung  der  durch  diebinne 
erlangten  Voritellnngen  machen  eine  andre 
Reihe  von  Vorftellungen  aus,  welche  aus  der 
zweiten  Quelle  unfrer  Erkenntnifs ,  der  Re- 
flexion entfyringen.  Es  war  daher  kein  fchick- 
hcherer  Elatz   zur  Betrachtung  derfelben ,  als 

gleich 


3/j8  Zweites    Buch. 

gleich  nach  den  einfachen  Vorftellungen  der 
Sinne.  Von  der  Zufauunenfetzung,  Verg  ei- 
chung,  Abftraction  u«  f.  w.  der  Vorftellungen 
werde  ich  an  andern  Orten  weitläufiger 
handeln» 

§♦      i5. 

Das  ift  alfo  die  kurze  aber  doch,  wie  ich 
glaube,  wahre  Darftehung  von  dem  erlten 
Urlprunge  der  tnenfchlichen  Er 
kenntnifs.  Jch  habe  gezeigt,  woher  der 
Seele  die  erften  Objecte  gegeben  werden ; 
wie  fie  weiterhin  immer  mehr  Vorftellungen 
aufnimmt  und  fammlet,  aus  welchen  die 
fammtiiche  für  fie  mögliche  Erkenntnifs  be- 
ftehet.  Was  die  Wahrheit  diefer  Darftellung 
betrifft,  fo  mufs  ich  mich  auf  die  Erfahrung 
und  Beobachtung  berufen.  Denn  der  befte 
Weg,  die  Wahrheit  zu  finden  ,  ift,  die  Dinge 
unterfuchen ,  wie  fie  wirklich  find,  aber 
nicht  vorausfetzen,  fie  feyen  das,  wofür  wir 
fie  nach  eignen  oder  fremden  Vorfiel  lungert 
halten. 


§.  iö. 


Eilftes    Kapitel.  ty'j 

§♦     tjfu 

Es  ift  das,  wie  ich  aufrichtig  verGehern 
tann,  der  einzige  für  mich  denkba- 
re Weg,  auf  welchem  der  Verftand  z.  u 
Vorftellungen  von  Objecten  ge- 
langen kann.  Sind  Andere  im  ßeGtz  von 
angebornen  Begriffen  oder  eingegi.ffenen 
Grundfäuen,  fo  haben  fie  das  Recht,  fich 
derfelben  zu  erfreuen,  und  wenn  fie  davon 
überzeugt  find,  fo  kann  man  ihnen  diefen 
Vorzug,  vor  ihren  Nebenmenfchen  nicht 
ftreitig  machen-  Ich  kann  nur  von  dem  re. 
den,  was  ich  in  meinem  Selbft  finde,  und 
was  denen  Vorftellungen  enifpricht,  welche 
wie  fich  aus  einer  Unterfuchung  des  ganzen 
menfehlichen  Lebens  nach  allen  Altern,  Län- 
dern und  Erziehungsanen  ergeben  dürfte,  auf 
dem  von  mir  gelegten  Grunde  gegründet  und 
mit  diefer  Methode  vollkommen  einftiuunig 
find. 

§♦     ff. 

Ich  maafse  mir  nicht  an  ^u  belehren;  ich 
will  hier  nur  unterfuchen,   und  ich  mufs  da- 
her 


55o  Zweites     Eucii. 

her  bf  kennen,  dafs  die  innere  und  äußere  Sin- 
neneindrücke für  inich  die  einzigen  Kanäle, 
■weiche  dem  Verfiande  Kenritnifie  zuführen, 
die  ein/igen  Fenfter  find,  durch  welche  Licht 
in  das  dunkle  Zimmer  der  Seele  gebracht  wird. 
Denn  der  Vefßaüd  ift,  wie  mir  dünkt,  nicht 
unähnlich  einem  ganz  finfterm  Zimmer,  mit 
einer  einzigen  kleinen  Oefnung,  um  die  finn- 
lichen Bilder  oder  Vorftellungen  von  Auilen- 
diugen  einzulallen.  Dauerten  diefe  Abbildun« 
gen  länger,  und  reiheten  fich  nach  einer  ge- 
willen  Ordnung  an  einander,  dafs  fie  bei  Ge- 
legenheit wieder  aufgefunden  werden  könn- 
ten, fo  würde  die  Aehnlichkeit  mit  dem 
menfchlichen  Verf'r.nde  in  Beziehung  auf  die 
Objekte  und  Vorftellungen  des  Gefichts  noch 
treffender  feyn. 

Diefes  find  meirfe  Gedanken  über  die 
Mittel,  wodurch  der  Verftand  einfache  Vor- 
ftellungen nebft  ihren  Beftim murigen  erlangt 
und  aufbewahret,  und  über  einige  andre  da- 
mit in  Verbindung  flehende  Wirkungen  der 
Seele.  Ich  gehe  jr-zt  weiter ,  und  unterziehe 
einige  von  dielen  Vorftellungen  mit  ihren 
Beitimmungen  ausführlicher« 

Z  w  ö  1 f> 


Zwölftes    Kapitel,  55i 

Zwölftes    Kapitel, 

Von  zufummen gefetzten  Voi  Heilungen, 


§.       I. 


Die  einfachen  Vo  r  ftellu  ngen  Hnd 
die  ßefta  n  d  theile  der  zufam- 
mengefetzten« 


W, 


ir  haben  bisher  die  Vorfiellungen  betrach- 
tet, bei  deren  Empfang  das  Geuiüth  blos  lei- 
dend  ift ,  nehmlich  die  einfachen,  welche 
uns  die  Sinne  und  die  Reflexion  geben.  Die 
Seele  kann  eben  fo  wenig  diefe  felbftthätig 
hervorbringen  als  andere  bilden,  die  nicht 
die  einfachen  zu  Beftandtheilen  haben.  So 
•wie  aber  das  Gemüth  dabei  fich  ganz  leidend 
verhält,  fo  übt  es  auch  an  denfelben  verfchie- 
dene  Thätigkeiten  aus,  wodurch  au<  den  ein. 
fachen  Vorstellungen ,  als  den  Materialien 
und  Gründen  aller  übrigen  neue  gebildet  wer- 
den. Vorzüglich  find  es  drei  Handlungen 
wodurch  der  meufchlkhe  üeift  leine  Macnt 

über 


ääa  Zweites     Buch. 

über  die  einfachen  Vorftellungen  ausübt,  l) 
Die  Verbindung  mehrerer  einfachen  \  orliel- 
lungen  zu  einer  ;  daraus  entftehen  alle  zu- 
fammengefetzten.  2)  Die  Zufammenftellung 
zweier  Vorftellungen  fowohl  einfacher  als  zu- 
fammengefetzter  ,  fo  dafs  beide  ohne  in  eine 
Vereiniget  zu  werden,  zugleich  einen  Ueber- 
blick  gewähren.  Auf  diefem  Wege  erhält 
man  alle  Vorftellungen  von  Verhältnif- 
f  e  n  2)  Die  Trennung  einer  Vorstellung  von 
allen  übrigen ,  welche  mit  ihr  an  exiltieren- 
den  Dingen  vergefellfchaftet  find,  oder 
die  Abftraktion,  wodurch  fämmtliche 
allgemeine  Begriffe  erzeuget  werden» 
Es  erhellet  daraus ,  wie  das  Vermögen  und 
die  Wirkungsart  des  Menfchen  in  der  mate. 
licllen  und  geiftigen  Welt  beinahe  von  einer- 
lei Art  ift.  In  beiden  kann  er  die  Materialien 
weder  fchaffen  noch  zernichten  ;  fein  ganzes 
Vermögen  beftehet  nur  darin,  fie  zu  vereini- 
gen ,  oder  neben  einander  zu  fiellen,  oder 
\-ö!lig  zu  trennen.  Ich  fange  hieT  mit  der 
erften  Thätigkeit  an,  und  betrachte  die  zu- 
fanTtnengererzfen  Vorftellungen.  Auf  die 
übrigen  werde  ich  au  feinem  Orte  fortgehen, 
So  wie  einfache  Vorftellungen  an  realen  Ob. 

jeden    - 


Zwölftes    Kapitel.  5J5 

jecten  auf  verschiedene  Art  mit  einander  ver» 
einiget  gefunden  werden,  fo  hat  auch  die 
Seele  das  Vermögen,  mehrere  auf  di<  fe  Ait 
verbundene  Vorftellungen  als  eine  zu  be- 
trachten, und  zwar  nicht  allein  infofern  fie 
in  äufsern  Objecten  verbunden  find  ,  ionderri 
auch  inrofern  fie  felbft  diefelben  verbunden 
hat.  Vorftellungen,  welche  aus  der  Verbin- 
dung verfchiedener  einfachen  entftanden  find, 
nenne  ich  zu  fäm  menge  fetzte  (complex) 
2.  B.Schönheit,  Dankbaikeit,  ein 
Menfch,  eine  Armee,  das  Ü  n  i  v  er  fu  m. 
Die  Seele  kann  diefe,  ob  fie  gleich  aus  ver- 
fchiedenen  einfachen  befteheri,  doch  jede  an 
lieh  als  ein  voliftändiges  durch  ein  belondrtä 
Wort  bezeichnetes  übjeet  betrachten* 

§.      2. 

ihre  Bildung   ift  ein   Akt   der  Frei* 
heir. 

In  Anfehung  des  Vermögens ,  die  Vorftel- 
lungen zu  erneuern  und  zu  verbinden,  befizt 
die  Seele  eine  grofse  Freiheit,  die  Objrcte 
ihres  Denkens,  über  das ,  was  die  Sinne  und 
die  Reflexion  geben,  auf  unendliche  Weife  zu 
Z  Veir 


35/f  Zweites    Buch, 

verändern, und  zu  vervielfältigen.  Bei  dem  allen 
ift  fie  aber  doch  nur  auf  die  einfachenVorftellun« 
gen  eingefchränkt ,   welche  aus  jenen  beiden 
Quellen  entfpringen,   und  zulezt  die  einzigen 
Materialien  bei  allen  ihren  Verbindungen  ausma- 
chen. Denn  die  einfachen  Vorftellungen  rühren 
von  den  Dingen  felbft  her,  und  von  ihnen  kann 
die  Seele  nicht  mehrere  und  keine  andere  ha- 
ben, als  ihr  gegeben  werden.     Sie  kann  kei- 
ne andere    Vorftellungen  von  den  finnlichen 
Eigenfchaften  haben,  als  fie  von  Auken durch 
die  Sinne  erhält,    noch  von    den  Thätigkei- 
ten   einer  denkenden   Subftanz,  als   he  in  ih- 
rem Selbft  findet.     Wenn  fie  aber  einmal  die- 
fe  einfachen   Vorftellungen   erhaben  hat,    £o 
ift  fie  nicht  mehr  durchaus  an  das,    was   Geh 
von  Aufsen   und  Innen  ihr   darbietet,  gebun- 
den;   fie   kann    nun    felbfhhatig   die  Vorftel- 
lungen   verbinden,     und     zufammengefetzte 
bilden  ,  welche  ihr  fo  verbunden  nie  gegeben 
worden. 


§•  9- 


wölf  t  es 

K  a*p  i  1 6  f , 

3«3 

§• 

3. 

\ 

Die  zu  fammen^e  fetzten  Begrif- 
fe find  tbeils  B  ef  t  i  in  in  un  gen 
theils  Subltanzen,  theils  V  e  r- 
hältniff  ef 

Obgleich  die  zufammengefetzten  Vorfiel« 
lungen,  welche  dem  menfchlicheu  Verftande 
Stoff  und  Beschäftigung  geben,  auf  inannich- 
faltige  Weife  verbunden  und  abermals  verbun- 
den werden,  und  fo  unendlich  fie  auch  dtt 
Zahl  Und  Mannichfal  igkeit  nach  find,  fo  laf- 
fen  fie  Geh  doch  alle  auf  folgende  Klaffen, 
Accidenzen  (Beftim  mutigen),  Sub- 
ftanzen  und  Verhältnilfe  zurück* 
führen, 

§•   4< 

B  e  ft  im  m  un  gen, 

Beftimmungen  Accidenzen  (rno* 
des)  nenne  ich  die  zufaramengefeuteu  Be- 
griffe, welche,  wie  auch  die  Art  ihrer  Ver- 
bindung ift,  doch  nichts  für  Geh  felbft  befte- 
hendes  enthalten  ,  fondern  nur  als  etwas  Ab* 
Z  2  k*a- 


556  Zweites   Buch. 

hängiges,  als  Beftimmungen  von  Subftanzen 
betrachtet  werden;  z.B.  die  Begriffe,  Tri- 
angel. Dankbarkeit,  Mord.  Wenn  ich  mich 
des  Wortes  möd  e  in  einer  von  dem  gewöhn« 
liehen  Sprachgebrauche  etwas  abweichenden 
Bedeutung  bediene,  fo  mufs  ich  um  Verzei- 
hung bitten.  In  Unterfuchunge*h,  welche 
von  gewöhnlich  angenommenen  Begriffen  ab- 
weichen, kann  man  nicht  umhin,  entweder 
neue  Worte  zu  bilden,  oder  den  alten  eine 
neue  Bedeutung  zu  geben;  Das  letzte  ift  in 
unferm  Fall  vielleicht  das  Erträglichere. 

§♦     5* 

Reine    und    gemifchte    Beft im- 
mun gen. 

Es  giebt  zwei  Arten  cliefer  Beftimmungent 
welche  eine  befondere  Betrachtung  verdie- 
nen. Einige  find  nur  Veränderungen  oder 
verlcbiedene  Verbindungen  einer  und  derfel- 
ben  einfachen  Vorftellung,  ohne  Einmifchung 
einer  andern,  z.  B.  ein  Dutzend,  ein  Schock, 
welche  nichts  anders  als  Begriffe  von  eben  fo 
vielen  mit    einander   verbundenen  Einheiten 

find. 


Zwölftes  Kapitel.  35? 

find.  Ich  nenne  diefe  reine  Beftimraun- 
gen  (Otnple  modes)  weil  ihre  Zufainmenfe- 
tzuug  auf  eine  einzige  einfache  Vorftellung 
eingefchränkt  ift.  Zweitens.  Andere  ent- 
halten eine  Verbindung  von  verfchiedenarti- 
gen  einfachen  Verkeilungen,  in  eine  Vorftel- 
lung  zufammengefafst.  Die  Schönheit  z» 
B.  ift  eine  beftimmte  Zufammenfetzung  von 
Farben  und  Geftalten,  die  mit  Vergnügen  an- 
gefchaut  wird;  der  Dieb  ftahl,  die  heimli- 
che Veränderung  des  Befitzßandes  eines  Din- 
ges, ohne  Einwillung  des  Eigenthüiners. 
Heide  enthalten  offenbar  eine  Verbindung  ver- 
fchiedener  nicht  einartiger  Vorftellungen.  Ich 
nenne  Ce  gemifchte  B  eft  i  mraungen 
(mixed  modes)t 

§♦     6. 

Einzelne    und     collective    Sub- 
ftanzen. 

Die  Begriffe  von  Subftanzen  find 
folche  Verbindungen  einfacher  Vorftellungen, 
welche  gebraucht  werden,  um  befondere  für 
fiefa  beftehende  Dinge  vorzuftellen.  In  die- 
fer  Verbindung  ift  der  vorausgefetzte  oderun- 
Z  5  deut- 


558  Zweites   Buch. 

deutliche  Begriff  der    Subftanz,  (o  wie  er 
ift.  allezeit   der  erfte    und  vornehmfte.      Man 
feue  z.    B.   zu  dem  Begriff  der   Subftanz  die 
einfache  Vorftelhmg   von  einer  dunkel  weifs- 
lichten   Farbe   mit  einem   gewiffen  Grad  von 
Schwere,   Härte,    Ziehbaikeit    und  Schmelz- 
baikeit,  und  man  bekommt  den   Begriff  von 
Blei       Die   Verbindung  der  Vorftellungen  von 
ejner  gewiffen  Geftdlt,   von  Bewegungsfähig- 
keit,  Denk-  und  Schliefcvermögen    mit    dem 
Begriff  der  Subftanz   macht  den  gemeinen  Be- 
griff vom  Menfchen  aus.       Die   Begriffe  von 
Subftanzpn  find  wieder  von  gedoppelter  Art, 
Begriffe  von  einzelnen  für  fich  befte- 
henden  Subftanzen,    als  Mensch,  Scbaaf, 
und  Begriffe  von  Aggregaten  einzelner 
S  bfranzen  z.  B.  eine  Armee,  eine  Heerde  von 
Schaafen.     Jpder  diefer    colleciiven  Begriffe, 
welche    aus    der  Vereinigung    mehrerer    ein- 
zelrer   Subftanzen  in  einen   Begriff  entftehen, 
ifi:  Co  gut  ein  einzelner  BegTiff,    als  der  von 
einem  Menfchen  oder  einer  Einheit, 


*•  7. 


Zwölftes    Kapitel.  5% 

$•       7. 

Verheil  tniff  e. 

Die  dritte  und  letzte  Art  der  zufammenge* 
fetzten  Begriffe  fafst  die  Vr  erh  ältnif  fe  in 
Cch ,  welche  in  der  Betrachtung  und  Verglei« 
cfcung  einer  Vorftellung  mit  einer  andern  be- 
ftehen.  In  diefer  Ordnung  werden  wir  die- 
fe  Arten  einzeln  abhandeln. 


Auch  die  tieffinnigften  Begriffe 
entfp ringen  aus  den  zweiOuel- 
len  aller  Erkenntnifs. 

Wenn  wir  dem  Fortgange  des  Verftandes 
nachfpüren ,  und  mit  Aufmerkramkeit  beo- 
bachten ,  wie  er  die  einfachen  von  den  Sin. 
nen  und  der  Reflexion  abgeleiteten  Vorftel- 
lungen  wiedeiholet,  zufammenfetzt  und  ver- 
einiget, fo  wird  uns  das  weiter  führen,  als 
wir  vielleicht  anfänglich  glaubten.  Denn 
wir  werden,  wo  ich  nicht  irre,  durch  eine 
behuifam  angeftellte  NacbfoTfchung  über  den 
Urfprung  unfrer   Begriffe    finden,    dafs  fogar 

Z  />  die 


5<?o  Zweites    Buch. 

dietieffinnigften  Begriffe,  fo  weit  auch 
ihre  Ableitung  von  den  Sinnen  und  den 
Thä'igkeiten  des  Gemüths  entfernt  zu  feyn 
fcheint,  doch  keine  andern  als  von  dem  Ver- 
ftande  gebildete  Begriffe  find  ,  indem  er  die 
Vorftellungen  ,  welche  er  von  finnlichen  Ob- 
jeeten  oder  feinen  darauf  beziehenden  Thä- 
tigkeiten  empfing,  wiederholt  und  verbindet. 
Diefes  gilt  auch  fogar  von  den  weituinfaffen- 
den  a  b  f  tr  a  k  ten  Begriffen.  Sie  eniTpringen 
von  finnlichen  Eindrücken  oder  von  der  Re- 
flexion. Die  Seele  kann  fie  erhalten  ,  und 
erhält  Ge  wirklich,  durch  den  natürlichen 
Gebrauch  ihrer  Kräfte,  und  durch  ihre  An- 
wendung auf  die  Vorftellungen  ,  welche  ihr 
von  den  Gegenftänden  der  Sinne  oder  ihren 
eignen  darauf  gerichteten  Thätigkeiten  gege- 
ben werden.  Ich  werde  diefes  an  unfern 
Vorftellungen,  von  Raum,  Zeit,  Unend- 
lichkeit und  einigen  andern,  weiche,  wie 
es  fcheint,  von  diefen  Quellen  am  weiteften 
abliegen ,  zu  zeigen  fuchen. 


Drei- 


Dreizehntes    Kapitel.  55» 

Dreizehntes     Kapitel, 

Von   reinen  Beftimmungen ,  und  zwar    znerft  von 
den  reinen  Beiüiiimungen  des  Raums. 


§.       I. 
Reine  Beftimmungen, 

■*n  dem  vorhergehenden  Theil  habe  ich  oft 
der  einfachen  Vorftellungen  gedacht,  welche 
in  chsr  That  die  Materialien  aller  unfrer  Er- 
kenntnis find;  doch  handelte  ich  dafelbft 
von  ihnen  mehr  in  Beziehung  auf  die  Art, 
wie  He  in  die  Seele  kommen  .  ohne  fie  von 
zurammengefetzten  zu  unterfcheiden.  Es  wird, 
daher  nichts  fchaden,  lie  hier  noch  einmal 
in  diefen  Gefichtspunkt  zu  ftellen,  und  die 
verschiedenen  Modificationen  einer 
und  derfelben  Vorftellung  zu  be- 
trachten, welche  der  Verftand  theils  an  wiik- 
lich  exiftierenden  Dingen  findet,  theils  ohne 
das  und  ohne  einen  Stoff  von  Aufien  zu  er- 
hallen,  in  lieh  felbft  bildet, 

Z  5  Dief^ 


552  Zweites   Buch. 

Diefe  Modificationen  einer  ein- 
fachen Vorftellung  oder  wie  ich  fie 
oben  nannte,  reine  Bef  t  i  m  m  u  n  g  en  find 
eben  fo  durchaus  verfchiedene  und  beftimmte 
Vorftellungen,  als  die  von  ganz  entgegengefetz- 
ten und  widerftreitenden  Objecten,  Die 
Begriffe  von  Zwei  und  Eins  find  fo  verfchie* 
den,  als  die  Voiftellungeu  von  der  blauen 
Farbe  und  der  Hitze,  oder  als  diefe  von  den 
Zahlen,  obgleich  der  erfte  von  der  Zwei  nur 
durch  die  wiederholte  Verbindung  des  Be- 
griffe der  Einheit  entliehet.  Aus  folehen  Wie- 
derholungen, in  eine  Vorftellung  zufammen» 
gefafst,  beliehen  z.  B.  die  einfachen  Beftim- 
mungen ,  von  einem  Dutzend,  einer  Million, 
einer  Gröfse» 


§.     2. 
Die  VorTtellung  vorn  Raum, 

Ich  mache  hier  den  Anfang  mit  der  ein- 
fachen Vorftellung  des  Raumes» 
Dafs  wir  diefe  fowohl  durch  das  Geficht  als 
durch  das  Gefühl  bekommen,  ift  fchon  oben 
3   B»  4  K.)    gezeigt    worden.    Da  das,    wie 

mir 


Dreizehntes     Kapit-1.  365 

mir  fcheint,  fo  evident  ift,  fo  würde  ein  Be- 
weis, dafs  das  Geficht  zwifchen  Körpern  von 
verfchiodener  Farbe  oder  zwifchen  den  Thei- 
len  eines  Körpers  einen  Abftand  wahrnimmt, 
eben  fo  überfliifsig  feyn ,  als  dafs  man  die 
Farben  felbft  anfchauet.  Eben  fo  einleuch- 
tend ift  es,  dafs  man  den  Abftand  im  dun- 
keln durch  das  Gefühl  wahrnehmen  kann.  . 


§.     5. 

.     Ranm    und  Ausdehnung. 

Der  Raum  blos  der  Länge  nach  zwirchen 
zwei  Körpern  betrachtet,  ohne  Rückficht  auf 
das  was  etwa  zwifchen  beiden  befindlich  ift, 
heifst  die  E  n  t  fer  n  u  n  g  (Diftance):  Nach 
der  Lange,  Breite  und  Dicke  betrachtet,  kann 
er  der  Umfang  (Kapacität)  heifsen. 
Der  Ausdruck  A  usdehnung  wird  gewöhn- 
lich von  dem  Raum  in  jeder  Rückücht  ge. 
braucht, 


§.  4. 


364  Zweites    Euch. 

§      4- 

TJnerme  fslichk  eit. 

Jede  Entfernung  ift  eine  andre  Modifica- 
tjon  des  Raums,  und  jede  Vorftellung  einet 
befondem  Entfernung  oder  eines  verfchiede- 
nen  Bauines  ift  eine  reine  Beftimmung  diefer 
Vorftellung.  Aus  Gewohnheit  und  zur  Er- 
leichterung desMeflens  nehmen  die  Menfchen 
gewifte  beftimmte  Längen  zum  Maafsftabe 
an  z.  B.  Zoll,  Fufs,  Elle,  Klafter,  Meile,  Erd- 
mefler  u,  f.  w.  alles  blos  verfchiedene  Vorftel- 
lungen  des  Raums.  Man  kann  diefe,  wenn 
fie  einmal  geläufig  geworden,  in  der  Vorftel- 
lung fo  oft  als  man  will  wiederholen  und  an 
einander  fetzen,  ohne  die  Vorftellung  von 
einem  Körper  oder  von  fonft  etwas  mit  ein- 
zumifchen.  Und  (o  lallen  fich  an  den  Kör- 
pern unfrer  Welt  oder  an  etwas  aufser  der 
Kqrperwelt  die  Vorstellungen  von  einfachen 
oder  Quadrat  ■  und  Ktibik-  Schuhen,  Ellen  und 
Klaftern  bilden.  Durch  immer  erneuerte  An- 
einanderfetzung  diefer  Längen  kinn  die  Vor- 
ftellung vom  Raum  foweit  als  man  will,  er- 
weitert wf  rden.  Das  Vermögen  eine  Länge 
zij  wiederholen,  zu  verdoppeln,  eine  an  die  an- 
dere 


Dreizehntes    Kapitel.  565 

dere  zu  fetzen,  und  das  fo  vielmal  als  man 
will,  ohne  an  eine  Grenze  zu  kommen,  über 
welche  hinaus  man  die  Vorftellung  nicht  mehr 
erweitern  könnte,    giebtuns.den  Begriff  von 

4er  U  n  e  r  in  e  fs  1  i  c  h  k  e  i  i. 


§;   5. 

Die  Figuri 

Eine  andere  Modification  eben  derfelben 
Vorftellung  ift  das  VerbältnifSj  in  welchem  die 
Theile  der  Grenzen  einer  Ausdehnung  oder 
eines  begrenzten  Raumes  zu  einander  Rehen. 
Dieies  entdeckt  das  Gefühl  an  Körpern  ,  die 
es  umfallen  kann,  und  das  Auge  an  Körpern 
und  Farben  deren  Grenzen  in  dt-h  behpunkr. 
fallen.  Man  beobachtet,  wie  lieh  die  äufser- 
iten  Flächen  endigen  *  ob  iri  geraden  oder 
krummen  Linien,  und  ob  diefe  in  merkliche 
oder  unmerkliche  Winkel  zufammenftofsen. 
Die  allfeitige  Betrachtung  des  VerhältnilTes 
der  Linien  und  Winkel  an  den  Grenzen  eines 
Körpers  oder  Raums  giebt  der  Seele  die  Vor- 
ßellung  von  der  Figur.  In  diefem  Begriff 
liegt  eine  unendliche  Mannichfaltigkeit.  Denn 
aufser  der  ungeheuren  Zahl  von  Figuren,  wie 

ÜB 


566  Zweites    Bück. 

fie  an  zufammenhängenden  Mafien  der  Mate- 
rie in  der  Körperwelt  exiftieren  ,  befuzt  die 
Seele  noch  in  fich  felbft  einen  grofsen  uner- 
fcböpflichen  Schatz  davon,  indem  He  die  Y'or- 
ftellung  vom  Räume  auf  mannichfaltige  Wei- 
fe  verändern,  immer  neue  Verbindungen  ma« 
eben,  diefe  Vorftellungen  beliebig  wiederho- 
len und  verbinden,  und  dadurch  die  Figuren 
ins  Liiendliche  verdoppeln  kann, 

§.     6. 

Denn  die  Seele  hat  das  Vermögen  eine 
gerade  Linie  mit  einer  andern  in  derfelben 
Richtung  zu  verbinden;  fie  verdoppelt  die 
gerade  Linie:  oder  beide  mit  einer  beliebigen 
INeigung  an  einander  zu  fetzen;  fie  bildet 
jede  beliebige  Art  von  Winkel.  Sie  kann  jede 
Linie  abkürzen ,  dureb  Wegnahme  der  Hälf- 
te, des  vierten  Theiles  u.  f.  w.  Da  diefe 
Theilung  keine  Grenze  hat,  fo  kann  de  je- 
dem Winkel  jede  beliebige  Gröse  geben» 
So  können  die  Schenkel  eines  Winkels  von 
unendlich  manuichfaltiger  Länge  feyn ;  iujf 
liefen  laffen  fich  wieder  andere  Linien  von 
verfchiedener  Länge  und   uater  verfchiederen 

Wi*- 


Dreizehntes     Kapitel,  3^7 

Winkeln  verbinden,  bis  der  Raum  völlig  ein- 
gefchloflen  ift.  Hieraus  erhellet  alfo,  dafs 
die  Seele  die  Figuren  fowohl  ihrem  Umrifs 
als  ihrem  Umfange  (Kapacitat)  nach  ins 
unendliche  vervielfältigen  kann.  Und  alle 
diefe  find  eben  l'o  viele  reine  Modifikationen 
des  Raums.  Was  mit  geraden  Linieu  gefche- 
hen  kann,  ift  auch  mit  krummen  und  beiden 
zufamraengenommenen ,  und  was  mit  Linien 
gefchehen  kann,  das  ift  auch  mit  Flachen 
möglich.  Diefes  giebt  uns  noch  mehr  Stoff 
zum  Nachdenken,  welche  unendliche  Man- 
nichfaltigkeit  von  Figuren  die  Seele  wilikühr« 
lich  bilden ,  und  dadurch  die  reinen  Beftim- 
loungen  des  Raums  vervielfältigen  kann* 

§.     7- 

Vom  Ort* 

Ein  andrer  Begriff,  der  unter  diefe  Gat- 
tung gehört,  ift  der  vom  Orte.  So  wie  wir 
uns  im  blofsen  Räume  das  Verhältnifs  der 
Entfernung  zwifchen  zwei  Körpern  oderPunc- 
ten  denken,  fo  betrachten  wir,  wenn  von 
dem  Begriff  des  Ortes  die  Rede  ift,  das  Ver- 
hältnis 


368  Zweites    Buch. 

hältnifs  der  Entfernuno;  zwifchen  einem  Din- 
ge und  zwei  oder  mehreren  Punkten ,  die 
man  fich  unbeweglich  und  als  immer  gleich 
weit  von  einander  abftehend  denkt.  Wenn 
wir  einen  Körper  in  denselben  Verhältnifs  mit 
zwei  oder  mehreren  Punkten  beobachten,  mit 
welchen  wir  ihn  geftern  verglichen  ,  und  die 
tmterdefsen  den  Abftand  von  einander  nicht 
verändert  haben ,  fo  lagt  man ,  er  ift  noch  an 
demfelbeii  Orte;  ift  aber  feine  Entfernung 
von  einem  diefeir  Punkte  anders  ,  fo  fagt 
man,  er  hat  feinen  Ort  verändert.  Doch  ift 
nach  der  gerneinen  Sprache  und  den  gewöhn- 
lichen P»egriffen  nicht  durchaus  erfoderlich, 
dafs  der  Abltand  zwifchen  beftimmten  Punk- 
ten fcharf  beobachtet  werde:  es  ift  genug, 
wenn  es  mit  gröfserii  Theilen  finnischer  Ge- 
genftände  gefthiehet,  mit  welchen  man  lieh 
aus  gewiflen  Gründen  einen  Körper  im  Ver- 
hältnifs des  Abftandes  denkt* 

§.     8. 

So  fagt  man,  eine  Partie  Schachfteine  Tej 
iioch  an  demfelben  Orte,  wenn  lie  noch  auf 
demfelberi  Viereck    des   Schdchbretes   fteiien, 

wo 


Dreizehntes    Kapitel.  Z6g 

wo  fie  gelaffen  worden ,  wenn  auch  das 
Schachbret  felbft  unterdeflen  in  ein  andres 
Zimmer  gebracht  wird.  Denn  wir  fehen  bei 
Beftimmung  diefes  Orts  nur  auf  die  T heile 
des  Bretes,  welche  ihre  Lage  gegen  einander 
nicht  verändert  haben.  Das  Schachbret  ift 
nach  der  gemeinen  Vorftellungsart  In  demfel- 
ben  Orte,  wenn  es  nur  an  derlelben  Stelle 
der  Kajüte  noch  ift.-wenn  gleich  unterdeflen 
das  Schilt  fortfegelt ;  und  fo  auch  das  Schiff, 
wenn  es  nur  in  derlelben  Entfernung  von  ge- 
wiflen  Puucten  des  feften  Landes  bleibt, 
füllte-  auch  unterdefTen  vielleicht  die  Erde 
lieh  umgedrehet ,  und  die  Schachfteine,  das 
Schachbret  und  das  Schiff  ihren  Ort  in  Be- 
ziehung auf  entferntere  Körper,  bei  denen  ei- 
nerlei Ortverhältnifs  fortdauerte,  verändert 
haben  Man  beftimmt  hier  den  Ort  d^rSchach- 
fteine.des  Schachbrets  und  desSchiffes  nach  der 
Entfernung  von  gewillen  Theilen  des  Schach- 
bretes,  der  Kajüte,  des  feiten  Landes,  und  man 
kann  in  dieler  Beziehung  von  jenen  Dingen 
fagen,  dafs  de  ihren  Ort  behielten,  wenn  gleich 
ihre  Entfernung  von  andern  Dingen,  die  wir 
jezt  nicht  in  Betrachtnng  ziehen,  und  alfo 
auch  ihr  Ort  in  dieler  Hmlicht  hch  abge- 
A  a  ändert 


3jo  Zweites    BucL-, 

ändert  hat.  Und  fo  muffen  wir  Such  deü- 
ien,  fdbald  wir  veranlaßt  werden,  fie  in 
Beziehung  mit  entferntem  Körpern  zu  fetzen* 

Diefe  Beftimmung  der  Entfernung,  oder 
fler  Ort  ift  nur  für  das  gemeine  Leben  ,  um, 
wo  es  nöthig  ift,  die  beüimrnte  Lage  eines 
Dinges  zu  bezeichnen.  Daher  betrachtet  und 
beftimmt  man  diefen  Ort  nur  in  Beziehung 
auf  die  nächften  Dinge,  welche  zu  diefem 
Zweck  am  tauglichften  find,  ohne  auf  ändro 
Xu  fehen,  welche  zu  einer  andern  Abficht 
<ien  Ort  des  nehmlichen  Dinges  beffer  be- 
itimmen  könmen.  Es  würde  der  Abficht, 
Warum  man  auf  dem  Schachtbret  den  Ort  der 
Steine  bezeichnet,  mehr  hinderlich  als  betör» 
derüch  feyn ,  wenn  man  ihn  nicht  nach  den 
viereckigten  Feldern,  fondern  nach  etwas  an- 
dern beftimmen  wollte.  Gefetzt  aber,  diö 
Schachfteiue  würden  in  einem  Sack  aufgefteilr, 
fo  mülste  man  die  Lage  des  fchwarzen  Kö- 
nigs nach  den  Theilen  des  Zimmers,  und 
nicht  nach  den  \  ierecken  des  Erets  beftim- 
men»     Denn  hier  findet  eine  andre  Abhcht 

als 


Dreizehntes    Kapitel.  gj-j- 

als  bei  dem  Spiele  ftdtt ,  und  <'aher  rr.ufs 
auch  die  Bezeithnungsart  des  Orts  geändert 
werden.  Wenn  iuan  gefragt  würde,  wo  find 
die  V'erfe,  welche  die  Gefchichte  des  I\ifu$ 
und  Eurialus  enthalten,  fo  würde  die  Ant- 
wort: an  dem  und  dem  T heile  der  Erde  oder 
in  der  Boule/anifcheu  Bibliothek,  fehr  un- 
paffend  feyn ,  und  den  Ort  fehr  fchJetht  an- 
geben; lichti-er  wird  er  bezeichnet,  wenn 
man  fagt,  Rr  find  in  den  Weiken  des  Vir^üj 
ungefähr  in  der  Mitte  des  q.  Buchs  der  Ae- 
neide,  welche  Stelle  fie  beftändig  eingenom- 
men haben,  fo  lange  als  Virgils  Werke  ge- 
druckt worden  find.  Diefe  Antwort  ift  ricfo. 
ti-  ,  hatte  auch  das  Buch  taufendmal  feinen 
Ort  verändert.  Denn  die  ßeftinirnur,£  des 
Orts  (oll  hier  nur  dazu  dienen,  dafs  man  wif- 
fe,  in  weichern  f  heile  des  Buches  diefe  Ge- 
fchichte ift,  und  fie  dalelbft,  wenn  es  nöthh» 
ift ,  auflüchen  könne. 


Dafs  unfer    Begriff  vom    Orte  nichts  an- 
ders   ift,    als  die  I  age  eines  Dinges  in  Bezie- 
hung auf  ein  andres,  ift,  wie  ich  glaube,  klar, 
Aa  ß  und 


372  Zweites     Buch. 

und  man  wird  ihm  defto  eher  beiftimmen, 
vvenu  man  bedenkt,  dafs  keine  Vorftellung 
von  dem  Orte  des  Univerfums  aber  wohl 
aller  Theile  deflelben  möglich  ift.  Denn 
über  da^  U.averfum  hinaus  ift  nichts  als  der  ein- 
förmige Raum  oder  die  Ausdehnung  zu  finden, 
worin  kein  Mannichfaltiges ,  keine  Merkmale 
zu   unterfcheiden   find,    und  es   fehlt  uns  da- 

•  Her  die  Voifttllung  von  fixirten  beftimmten 
einzelnen  Körpern,  mit  denen  wir  die  Ent- 
fernung des  Univerfums  in  Verhä!iiiirs  fetzen 
könnten.  Die  Redensart,  die  Wejt  ift  ir- 
gendwo ,  oog'eich  vom  Orte  entlehnt,  bedeu- 
tet doch  nicht  die  Lage,  fomlein  nur  die 
Exiftenz   der   Welt.       Wer    den  Ort  des  Uni- 

•  verfums  finden  und  deutlich  und  beftimmt 
fich  vorftellen  kann,  der  mufs  uns  auch  fagen 
können,  ob  es  fich  in  dem  nicht  unterfcheid- 
baren  Leeren  des  unendlichen  Raums  be- 
wege oder  ruhe.  Nach  einer  weniger  be- 
ftimmten Bedeutung  des  Worts,  da  es  jeden 
Kaum  bedeutet,  den  ein  Körper  einnimmt, 
ift  freilich  auch  das  Univerfum  an  einem  Orte. 
Wir  erhalten  aKo  die  Begrifle  von  Raum  und 
Ort,  wovon  der  leztere  nichts  anders  ift,  als 
der  erfte  unter  einem  befchräuktern   Gefichts- 

punkte, 


Dreizehntes     Kapitel,  5?3 

punkte,  auf  einerlei  Weife  ,  nehmlich  durch 
das  Geficht  und  das  Gefühl.  Denn  Leide 
Sinne  geben  der  Seele  die  Vorftellungen  von 
der  Ausdehnung  und  der  Entfernung, 

S.     ii. 

Ausdehnung     uAd     Körper   find 
nicht     einerlei. 

Einige  Philofophen  möchten  uns  gerne 
bereden  ,  dafs  Körper  und  Ausdehnung  iden- 
tifch.find.  Allein  fie  verändern  entweder  die 
Bedeutung  der  Worte,  oder  verwecbfeln 
zwei  verfchiedene  Begriffe  mit  einander.  Das 
erfte  möchte  ich  nicht  gerne  von  denen 
argwohnen,  welche  fremde  S)  fteme  fo  ftren- 
gc  verurtheilen ,  weil  fie  auf  der  unbefh'inm- 
ten  Bedeutung  oder  täufchenden  Dunkelheit 
zweifelhafter  oder  nichts  bedeutender  Kuuft- 
worte  beruhen  *),  Wenn  fie  alfo  die  Aus- 
A  a  3  drücke 

*3  Tch  vermullie  zu  Anfinge  diefes  §  eine  Liicke 
in  dem  Original.  Denn  es  Fehlt  derGegenfatz 
zu  „who  eitlier  change  tlie  fiünification  of 
VYoids."     In  dem  £xempUr   des  Poley  war 

ent- 


5^4  Zweites    Buch. 

drücke  Körper  und  Ausdehnung  in 
der  gewöhnlichen  Bedeutung  nehmen,  und 
unter  einein  Körper  Etwas  dichtes  und  aus* 
gedehntes,  delfen  Theile  auf  mannichfaltige' 
Weife  trennbar  und  beweglich  find,  unter 
der  Ausdehnung  aber  btos  den  Kaum  verfie- 
len ,  der  zwifchen  den  Grenzen  diefer  dich-» 
ten  zulainmenhängenden  Fhrile  inne  lieget, 
Und   von  diefen  erfüllt  wird,  fo  verwechfeln 

fie 


entweder  diefe  Lücke  niclit  ,  oder  der  Uebeu- 
fetzer  füjlte  fie  eigenmächtig  ans,  wie  ich 
auch  für  nöihig  hielt.  Er  überfetzt  nehmlich: 
s, Allein  fie  verändern  entweder,  die  Bedeutung 

der  Wörter,  oder  fie  vermengen  zvveene 

Begriffe  mit  einander,  die  ganz  verschieden 
find."  Doch  kann  man  auch  vielleicht  ein 
Anaco'uthoii  der  Rede  annehmen.  —  Die  Phi- 
lofophen,  welche  Locke  hier  bestreitet,  find  kei- 
ne andern,  als  die  Cartefianer.  In  den  Princi- 
piis  Philof.  P.  11.  §.4.  fagt  Cartes:  quod 
agentes ,  pereipiemus ,  natnram  materiae  fiye 
corporis  in  nniverfum  fpeetati,  non  confiftere 
in  eo,  quod  fit  res  dura,  vel  ponderofa ,  vtl 
colorata,  vel  alio  aliqno  modo  fenfua  afficiens; 
fed  tantum  in  eo  ,  quod  fit  res  extenfa  in  Ion» 
gum  latum  et  profundus, 


Dreizehn  tcs     Kapitel.  575 

i\e  zwei  ganz  verfchiedeiie  Begriffe.  Denu 
ich  berufe  mich  auf  jedes  IVk'iifcheri  Verftand, 
ob  nicht  die  Vorftellung  vom  Räume  eben 
fo  verfchieden  von  der  Dichtheit  als  von  der 
Scharlacbfarbe  ift.  Es  ift  wahr,  weder  die 
Dichtheit  noch  die  Scharlacbfarbe  kann  ohne 
Ausdehnung  exiftieren,  aber  daraus  folgt  nicht, 
dafs  die  Vorffellungen  davon  nicht  verfchie- 
den find.  Viele  Begriffe  fetzen  andere  als  Bedin- 
gungen ihrer  "Wirklichkeit  oder  VqrftVIlbar- 
keit  voraus,  und  doch  find  fie  verfchiedne  Be- 
griffe.  Die  Bewegung  ift  nicht  möglich 
noch.  yOTittilbar  ohne  Raum,  und  doch  ift  die 
Bewegung  nicht  der  Raum  noch  der  Raum 
die  Bewegung;  der  Raum  kann  ohne  Bewe- 
gung feyn;  beides  find  verTchiedene  Begriffe. 
Und  f o ,  dünkt  mich,  ift  es  auch  mit  dein 
Raum  und  der  Dichtheit,  Diefe  ift  aber  fo 
unzertrennlich  vom  Begriff  eines  Körpers, 
dafs  durch  lie  nur  die  Erfüllung  des  Raums, 
die  Berülming,  der  Auftofs  und  die  Mit- 
theilung der  Bewegung  möglich  ift,  Wenn 
man  fchliefsen  darf ,  ein  Geift  ift  vom  Kör- 
per verfchieden,  weil  das  Denken  nicht  die 
Vorstellung  der  Ausdehnung  einfchliefst ,  fo 
muls  auch  derfelbe  Schlufs  zum  Beweife,  dafs 
A  4  da* 


576  Zweites    Buch. 

der  Raum  kein  Körper  ift,  gültig  fein, 
weil  jener  nicht  den  Begriff  von  der  Dicht- 
heit, in  fichfafst.  Raum  und  Dichtheit  find  fo 
verfchiedene  Begriffe  als  Denken  und  Aus- 
dehnung; fie  können  in  dem  Verftande  völlig 
von  einander  getrennt  werden. 

§.     12,    i3,    14. 

Es  ift  alfo  einleuchtend,  {Iah  Körper  und 
Ausdehnung  verfchiedene  Begriffe  find.  Denn 
er  f 1 1  ich  nicht  die  Ausdehnung,  aber  wohl 
der  Körper  fchliefst  Dichtheit  und  Widerftand 
ge"en  die  Bewegung  ein.  Zweitens.  Die 
Theile  des  blofsen  Raums  find  unzertrenn- 
lich,  fo  daTs  ihr  ftetiger  Zufammenhang  we- 
der wirklich  noch  in  Gedanken  aufgehoben 
werden  kann.  Man  verfuche  es  nur,  ob  man 
auch  nur  in  Gedanken  einen  Theil  von  dem 
andern  angrenzenden  wegnehmen  kann.  Die 
wirkliche  Theilung  und  Trennung  beftehet 
meiner  Meinung  nach  darin,  dafs  man  einen 
Theil  von  dem  andern  entfernt,  und  dadurch 
zwr-i  Obetfiächen  macht,  wo  vorher  ein  zu- 
farnmenhängendes  Ganzes  war;  und  die  Thei- 
lung in  Gedanken  beftehet  darin,   dafs  man 

dieses 


Dreizehntes    Kapitel.  37  7 

dieles  in  der  Vorftellung  vornimmt,  und  fich 
rorftellt.  Die  Theilung  ift  aber  nur  da  mög- 
lich, wo  fich  das  Gemitth  etwas  trennbares 
vorftellt;  wo  ein  Ding  durch  die  Trennung 
neue  befondere  Oberflächen  erhält,  die  es 
vorher  nicht  hatte,  aber  haben  konnte.  Allein 
weiler  die  erfte  noch  die  zweite  Art  von 
Trennung  ift  mit  dein  blofsen  Räume  ver- 
einbar. —  Es  ift  wahr  ,  man  kann  von  ei- 
nem Räume  nur  einen  gewiflen  Theil,  etwa 
foviel,  als  ein  FuTs  ausmacht,  betrachten. 
Diefes  ift  aber  keine  Theilung  in  Gedanken, 
foncrern  nur  eine  theilweife  Betrachtung. 
Denn  man  kann  weder  in  Gedanken  theiien, 
ohne  zwei  getrennte  Oberflächen  zu  denken, 
noch  wirklich  theiien,  ohne  zwei  getrennte 
Oberflächen  zu  machen.  Eine  theihveife  Be- 
trachtung ift  aber  noch  keine  Theilung.  M;in 
kann  fich  das  Licht  der  Sonne  ohne  ihre 
HitzG',  und  die  Beweglichkeit  eines  Körpers 
ohne  feine  Ausdehnung  denken,  ohne  an 
ihre  Trennung  zu'denken.  Jenes  ift  die  par- 
tiale  Vorftellung,  die  lieh  nur  auf  ein  Ding 
beziehet;  diefes  die  Vorstellung  von  zweien 
als  getrennt  exiftierenden  Dingen.  —  Drit- 
tens. Die  1  heile  des  blofsen  Raumes  find 
A  a  5  un- 


C'o  Zweites     B  a  c  L 

unbeweglich  —  einp  Folge  ihrer  Uniettrenn* 
iichkeit.  Die  Bewegung  ift  die  Veränderung 
der  Entfernung  zwifchen  ^wei  Dingen.  Un- 
zertrennliche Theile  können  (ich  alfo  nicht 
bewegen,  fie  muffen  unaufhöilich  gegen  ein- 
ander ruhen. 

So  ift  alfo  clor  beftimmte,  Begriff  des  Rau- 
mes klar  und  hinlänglich  vom  Körper  unter- 
fchieden;  denn  feine  Theile  find  unzertrenn- 
lich, unbeweglich  und  wklerffcehen  der  Be- 
wegung eines  Körpers  nicht. 

Die  D  efin  itio  n  von  der  Ausdeh- 
nung erklärt  nicht,  was  der 
Raum  ift. 

Was  ift  aber  der  Raum  von  dem 
hier  die  Rede  ift?  Diefe  Frage  will  ich 
dann  beantworten,  wenn  man  mir  erklaret, 
was  die  Ausdehnung  ift.  Denn  die  gewöhn- 
liche Erklärung ,  Ausdehnung  ift  fo- 
vicl,  als  Theile  aufs  er  einander 
haben,  fagt  nicht  mehr  als:  Ausdehnung 
ift  Aus  de  an  u  n  gt       Bin  ich  wohl  beßex 

über 


Dreizehntes  'Kapitel.  379 

über  die  Natur  dcrfelben  belehrt ,  wenn 
man  Tagt:  die  Ausdehnung  ift  foviel  als  Thei- 
le  haben  die  ausgedehnt  find,  und  die  aufser 
den  ausgedehnten  Theilen  find,  d,  Fi.  die 
Ausdehnung  beftehet  aus  ausge- 
dehnten Theilen?  Gerade,  als  wenn 
man  einem  auf  die  Frage,  was  eine  Fiber 
fey,  zur  Antwort  gäbe,  fie  fey  ein  aus  ver- 
fchiedenen  Fibern  z!i(ammengefetztes  Ding* 
"Wird  er  nun  wobl  beflt'r  verliehen,  was  eine 
Fiber  ift,  als  vorher?  Oder  wird  er  nicht 
rjiif  Hecht  denken,  dafs  man  auftatt  einer  ernfi- 
haften  Belehrung  feiner  nur  Ipoiten  wolle? 


Die  Eint  h  eilung  der  Dinge  in 
Körper  und  Geifter  be  weifet 
nichts  für  die  Identität  des 
Raums  und  des   Körpers. 

Dif  jenigen ,  welche  die  Identität  des 
Raums  und  des  Körpers  behaupten,  ßel- 
len  folgendes  Dilemma  auf.  Der  Raum  if$ 
entweder  etwas  oder  nichts,  In  dc-i-i  letzten 
Fall  ift  nichts  zwifchen  swei  Korperu ,  und 

fie 


3jJo  Zweites    Buch. 

fie  muffen  fich  rothwendig  berühren.  In 
dem  erften  Fall,  fragen  fie  ob  er  ein  Körper 
oder  ein  Geift  ift?  Ich  antworte  ihnen  mit 
einer  andern  Frage  :  Wer  hat  ihnen  ge^°t, 
dafs  nur  dichte  (ausgedehnte)  Wefen  nicht 
denken  können  ,  oder  dafs  nur  denkende  We- 
Jen  nicht  ausgedehnt  find?  Denn  das  ift  der 
ganze  Inhalt  ihrer  Begriffe,  welche  fie  mit 
den  Ausdrücken,  Körper  und  Geift  ver- 
binden» 

Die  Subftanzialität,  welche  wir 
nicht  kennen,  ift  kein  Be- 
weis gegen  einen  körperlee- 
ren Raum, 

Auf  die  gewöhnliche  Frage:  ob  diefer 
körperleere  Raum  eine  Subftanz 
oder  ein  Accidenz  ift?  antworteich  ohne 
mich  zu  bedenken  :  ich  weifs  es  nicht.  Und 
ich  werde  mich  dieTer  UnwiflVnheit  fo  lange 
nicht  zu  fchämen  haben,  als  diefe  Frager  mir 
nicht  einen  klaren  ,  beftiunuten  Begriff  von 
der  Subftanz  aufweifen. 

§.   18, 


Dreizehntes    Kapitel,  58 1 

§.        18. 

Ich  biete  alle  meine  Kräfte  auf,  um  mich 
von  den  Tiiufchuiigen  loszumachen ,  in  die 
man  lieh  fo  leicht  verwickeln  kann,  wenn 
man  Worte  für  Dinge  nimmt.  Es  hilft  unfrer 
Unwiffcnheit  nichts,  durch  das  Geräufch  von 
Tönen  ohne  klare  und  beftimmte  Bedeutung 
mit  Erkenntnifs  zu  prahlen  ,  wo  keine  ift. 
Willkührlich  gebildete  Worte  ändern  nicht 
die  NatiiT  der  Dinge,  und  werden  uns  nur 
infofern  verftändlich,  als  he  beltimmte  Begrif- 
fe bezeichnen.  Wenn  doch  diejenigen  ,  wel- 
che fo  viel  Gewicht  auf  den  zweifylbigen 
Ton  Subftanz  legen,  überlegten,  ob  er  auf 
den  unbegreiflichen  unendlichen  Gott  auf  ei- 
nen endlichen  Geilt,,  und  auf  einen  Körper 
angewendet,  in  dem  neliiilichen  Sinne  ge- 
braucht werde,  oder  ob  man  eiue.lei  Begriff 
damit  verbinde,  wenn  jedes  dieler  fo  ver- 
fchiedenen  W'efen  Subltauz  genennt  wird  l 
IMüfsten  denn  nicht  Gott,  Geilt  und  Körper, 
wenn  lie  in  Anfehung  des  gemein fchaft liehen 
Begriffs  der  Subftanz  einitiunnig  wären«  duich 
blotse  iModiucationen  der  Subltanz  vei.chie- 
den  fevn,  Jo   wie    ein  Kaum    und  ein  Kieiel- 

itein, 


332  Zweites  Buch. 

fiein,  welche  in  einerlei  Sinne  Korper  findi 
und  in  Anfehung  der  allgemeinen  Natur  ei- 
nes Körpers  übereinftiminen,  nur  durch  Mo- 
dificadonen  der  gemein  fchaltiichen  Materie 
vtrchietlen  find?  Gewifs  eine  fehr  harte 
Lehre,  Aber  vielleicht  fdgen  fie,  das  Wort 
werde  in  Beziehung  auf  Gott,  Geift,  Körper 
in  drei  verfchiedenen  Bedeutungen  gebraucht, 
und  es  bedeute  einen  andern  Begriff,  wenn 
von  Gott  gefagt  wird,  er  fey  eine  Subftanz, 
als  wenn  man  diefes  der  Seele  oder  dem  hö  « 
per  bedegt.  Dann  würden  fie  aber  wohl  thun» 
wenn  fie  die  drei  verschiedenen  Begriffe 
kenntlich  machten,  oder  fie  zum  wenigften 
durch  drei  Worte  bezeichneten,  um  bei  ei- 
nem fo  wichtigen  Begriff  der  Verwirrung  und 
dem  Irrthum  vorzubeugen,  welche  nothwen- 
di-*  aus  dem  unbeftimmten  Gebrauch  eines  fo 
zweideutigen  Worts  fol-en  muffen.  Allein 
Weit  entfernt,  dafs  diefes  Wort  drei  ver. 
fchiedene  Bedeutungen  hätte,  fd  hat  es  im 
gewöhnlichen  Gebrauch  kaum  einen  deutlich 
beftimmten  Sinn,  Und  wenn  de  drei  vef- 
fchiedene  Begriffe  von  Subrranz  unt.eTfchei- 
den ,  warum  füllte  ein  anderer  vielleicht 
nicht  auch  den  vierten  noch  hinzu  finden? 


Dreizehntes    Kapitel.  383 

S»     i& 

15 ie  Begriffe  Sutrtah'z  und  Acci- 
denz  f i n iT  von  wenigem  Nutzen 
in    der  P  hi  lofophie« 

Diejenigen  ,  welche  tuerft  auf  den  Be- 
griff,  Accidenz,  kamen,  um  etwas  Reales  an- 
zuzeigen 4  das  rioth wendig  etwas  anders  vor- 
ausfetze, in  dem  es  fubflßirie  ,  muhten  qotbr 
wendig  den  Begriff  Subftanz  erfinden,  um 
jenes  gleichfam  zu  tragen.  Hatte  jener  a*me 
Indianifche  Philo?"--  auch  die 

Erde  müfste  eil         ...  die* 

fes  Wort  gedacht,  fo  hätte  er  (ich  die  Mühe 
erfparen  können,  einen  Kiephamen  zum  Tra- 
ger der  Erde,  und  eine  Schildkröte  zum  Trä- 
ger des  Elephanten  ausfindig  zu  machen;  das 
"Wort  Subftanz  hatte  beides  geleiftet.  Hätte 
der  Indianifche  Philoloph  getagt ,  die  Sub« 
ftanz.  die  er  nicht  kannte,  tr^e  (ylP  Erde, 
fo  müTste  das  für  eine  eben  fo  befriedigende 
Erklärung  gelten,  als  die  der  Europäifchen 
Philofophen:  die  Subftanz,  von  der  fie  eben 
fo  wenig  einen  Begriff  haben ,  fey  das  Sub- 
ftrat  der  Accidenzen.     Wir  haben  alfo  kfin^n 

fleut* 


384  Zweites    Buch. 

deutlichen  Begriff,  von  dem ,  was  die  Sub- 
ftanz  ift,  fondern  nur  einen  verworrenen, 
Von  dem  was  lie  wirketi 


§i      SO. 

Wir  wollen  mehr  fragen,  was  die  Gelehr- 
ten in  diefem  Falle  thun  mögen.  Aber  ein 
verßändi»er  Amerikaner,  der  die  Natur  der 
Dinge  zu  erforfchen,  und  unfre  Bauart  ken- 
nen zu  lernen  wünfehte,  würde  kaum  mit 
der  Erklärung  zufrieden  feynj  ein  Pfeiler  fey 
fo  eiwas  das  von  einem  Fufsgeftelle  getragen 
-werde,  vv.d  das .  Fufseeftell  fey  etwas,  das 
den  Pfeiler  trage.  Für  Spötterei  würde  er 
fo  etwas,  rieht  für  Belehrung  halten.  Würde 
woh!  einer,  der  nichts  von  der  Belchaffenheit 
der  Bücher  und  ihrem  Inhalt  weifsj  fehr 
beiehrt  werden,  wenn  man  ihm  fagte :  alle 
gelehrte  Bücher  befiehen  aus  Papier  und  Buch- 
ftaben;  die  Buchfhben  find  Dinge,  welche 
an  dem  Papier  haften,  und  das  Papier  ift  ein 
Ding,  welches  die  Buchftaben  in  Cch  hält. 
Gewifs  eine  fonderbare  Art,  klare  Begriffe 
von  Papier  und  Buchftaben  mitzutheilen» 
Wenn  man  an  die  Stelle  der  lateiniieheu  Wor- 
te 


Dreizehntes    Kapitel.  385 

te  I  n  h  *  ere  n  tia  und  Subftahtia  andere 
ihnen  entlprechende  ans  den  neuem  Sprachen 
fetzte,  fo  würde  es  deutlicher  werden ,  wie 
grofs  die  Klarheit  ift,  welche  in  der  Lehre 
von  der  Subftanz  und  dem  Accidenz  herrfcht, 
und  wie  brauchbar  beide  Begriffe  zu*  Eni" 
ichcidung  philoFophifcher  Fragen  find. 

i\    au 

Es  g  i  e  b  t  ar.  fser   den  Grenzen   der 
Körper  weit  einen  leeren  Raurri. 

Doch  wir  kehren  zu  dem  Begriff  vom 
Räume  zurück.  Wenn  er.  Gott  gefiele  einen 
Menfchen  an  die  lezte  Grenze  der  Körperwelt 
zu  Hellen  —  vorausgefetzt  nehmlich,  dafs 
die  Körper  nicht  unendlich  find,  welches 
aber  wohl  Kie'mand  behaupten  dürfte,  —  fo 
fradt  es  fich,  kanh  diefer  feine  Hand  von  dem 
Körper  ausfirecken  ?  Kann  er  es,  fo  :nufs  er 
feinen  Arm  in  einen  Raum  bringen,  wo  vor- 
her kein  Körper  wsr ,  und  zwifchen  feinen 
ausgeftreckten  Fingern  wird  noch  immer  kör- 
perleerer Raum  feyn.  Kann  er  es  nicht,  fo 
inufs  es  ein  äufserer  Widerftand  verhindern. 
Denn  wir  fetzen  voraus ,  dafs  er  lebendig  ift 
B  b  mV* 


3g6  Zweites    Buch. 

und  die  K;?,ft  hefitzfe,  alle  Glieder  feines  Kor- 
peis zu  bewe^err,    eine    Voran sfetzung,     die 
au  (Ich  nicht  unmöglich  ift,    wenn  es  Gott  fo 
haben  wollte;     zum    wenig&en  wäre    es    für 
Gott  nicht   unmöglich,    ihn  fo  zu  bewegen. 
Und  nun  frage  ich :  Ift  das,  was  fich  der  Aus- 
ftreckung  feiner  Hand  widerfetzt,  e-iueSubftanz 
oder  ein  Accidcnz,  Etwas  oder  Nichts?  W-er 
die fe  Frage  entfeheiden  kann,  wird  auch  im 
Stande  feyn,  die  andere  au fzuiöfen,  was  da* 
Unkörperlicbe,  Undichte  ift,     was  lieh   zwi- 
fchen    zwei    Körpern  in    einiger    Entfernung 
befindet,    oder  befinden    kann,      Indefien  ift 
doch  der  Schlufs,  dafs  wo  nichts  ift,  das  VVi- 
ilerftand   leiftet  — man   vergefse  nicht,   dafs 
wir  an  den  äufserften  Grenzen  der  Körper- 
weit  find  —  ein  In  Bewegung  gefetzter  Kör- 
per lieh  fort  bewegen  kann  ,    xiun   wenigfien  . 
eben  fo  richtig,    ais   der,    dafs    zwei  Körper, 
zwiiclun    denen  nichts  ift,    fich  noth wendig 
beruh»  6«  rutÜTea.       Denn    der  biofse    Raum 
zwifchen  zwei  Körpern  kann  fchon  dieNoth- 
weridigkejt  der  gegenseitigen  Berührung  auf- 
hebe«»,   abev    nicht    die   Uewegung    hindern.     , 
Riefe  Pfeil© fophea  mi'iifen  in  Wahrheit  entwe. 
der  ein^v.i::...,ii ,   was  üe  aber  unfeine  thun, 

dafs 


Dreizehntes    Kapitel.  58^ 

dafs  die  Körperwelt  unendlich  ift,  oder  he* 
hanpten  ,  dafs  der  Raum  kein  Körper  ift* 
Denn  Heil  Denker  will  ich  feben  ,  der  in  fei- 
nen Gedanken  dein  Räume  oder  der  Dauer 
Gienzen  fetzen  kann,  oder  dadurch  hei  bei- 
den an  ein  Ende  tu  kommen  hofft,  Wenn 
daher  fein  Be^rjit  von  der  Bwigkeit  unend- 
lich ift,  fo  riiufs  es  auch  fein  Begriff  von  di-t 
Unerinefslichkeit  fcvn".  Der  eine  wie  äer andre 
ift  entweder  cn dlich  oder  unendlich» 

§-      22. 

Die     Möglichkeit     d  e  t     Z  e  t  k  i  c  h« 
tu  11  g  i  f  t  ein  Beweis  f  ü t  den  1  e  e. 

reu   U  a  u  ui. 

Diejenigen,  welche  die  Unmöglichkeit 
des  Leeren  Raums  behaupten*  müileti  ferner 
nicht  nur  die  Körper  uuendlich  machen,  fon« 
dem  auch  Gott  die  Macht  abfprechen,  einen 
Theil  der  Materie  zu  zernichten*  Niemand 
wird  wohl  leugnen,  dafs  Gott  alle  Bewegung 
drr  Materie  aufbeben  ,  alle  Körper  des'Uni- 
verfums  in  einen  völligen  Ruhe  und  Still- 
itand  verfetzen  ,  und  darin,  (a  lange  er  will, 
ß  b  2  er- 


33$  Zweites    Buch. 

erhalten  kann.       Wer  nun  eingeftehet,  dafs 
Gott  während  einer  folchen  allgemeinen  Ruhe 
entweder  diefes  Buch  oder  den  Körper    des 
Lefers    zernichten  kann,    der  mufs  notwen- 
dig die  Möglichkeit    eines  leeren  Raums  ein« 
geftehen.     Denn  offenbar  bleibt  der  von  dem 
zernichteten    Körper     eingenommene    Raum 
noch  übrig,  und  wird  von  keinem  Körper  er- 
füllt,   und  die    umgebenden    Körper    bilden» 
bei  der  allgemeinen  Ruhe  eine  unüberwindli- 
che  Mauer  gegen    das  Eindringen  jedes  an- 
dern Körpers  in    diefen  Raum,       Die  Noth* 
\vendigkeit  der  Bewegung   eines  Theils  der 
Materie  in  einen  Raum,  der  von  einem  andern 
Theile  geräumt  worden,  ift  in  der  That  nur 
eine  Folgerung  von  der  Hypothefe  des  erfüll- 
ten Raums,  und  fie  bedarf  daher  eines  gründ- 
lichem Beweifes,  als  eine  vos?ausgefetzte  That- 
lache  iß,    die  kein  Verfuch  durch  Erfahrung 
erweifen  kann.     Dafs  aber  keine  nothwendi- 
ge  Verknüpfung  zwifchen  Raum  und  Dicht- 
heit  ftatt  findet,    davon   können  uns    unfre 
klaren  und    deutlichen  Begrifie  vollkommen 
überzeugen ,  indem  das  eine  ohne  das  andre 
denkbar  ift»     Diejenigen,  welche  gegen  oder 
für  das  Leere  fliehen,   geftehen , fchon  da- 
durch 


Dreizehntes    Kapitel.  5$a 

durch  ein,  dafs  fie  deutliche  Begriffe  von  dem 
leeren  und  erfüllten  Räume,  alfö  auch  von  ei- 
ner Ausdehnung  ohne  Dichtheit  haben,  nur 
dafs  lie  der  letzten  die  Wirklichkeit  abfpre- 
chen.  Ohne  das  würden  Ge  um  nichts  flrei- 
ten.  Wer  die  Bedeutung  der  Worte  fo  fehr 
ändert,  dafs  er  die  Ausdehnung  zum  Körper 
macht,  und  das  Wefen  des  letztem  in  der  blo- 
fsen  Ausdehnung  F  ohne  Dichtheit  beftehen 
läfst ,  kann  freilich  nur  Ungereimtheiten  über 
den  leeren  Raum  fchwatzen.  Denn  die  Aus- 
dehnung kann  ohne  Ausdehnung  nicht  feyn. 
Der  leere  Raum ,  man  mag  feine  Exiftenz 
behaupten  oder  leugnen ,  ift  nichts  anders, 
als  ein  Raum  ohne  Körper,  deffen  reale  Mög- 
lichkeit niemand  leugnen  kann,  ohne  der 
Materie  Unendlichkeit  zu  geben ,  oder  Gott 
die  Macht  ab z ufprechen,  einen  Theil  der 
Materie  zu  zernichten. 

§♦      23. 

Die  Bewegung   ift    ein    Beweis   für 
den  leeren  Raum» 

Doch  wir  dürfen  nicht  einmal  um  einen 

leeren  Raum  zu  finden,    über  die  Grenzen 

B  b  5  der 


5qo  Zweites     Buch. 

der  Körperwelt  hinaussehen,  oder  uns  auf 
die  Alimacht  Gottes  berufen;  die  Bewegung 
der  Körper  in  unfrer  Nahe  uud  vor  unfern 
Aijyen  fcheint  mir  Fchon  laut  riafür  zu  fpre« 
cheu.  Denn  man  rasche  den  Verfuch ,  ob  es 
möglich  ift  einen  dichten  Körpchr  von  jeder 
beliebigen  Gröfse  fo  zu  theilen,  dafs  die  dich, 
ten  Theile  innerhalb  den  Grenzen  der  Oher- 
fische  fich  auf  und  nieder  in  jeder  Richtung 
frei  bewegen  können,  wenn  nicht  ein  leerer 
Raum  innerhalb,  derfelben ,  fo  grofs  als  der 
kleinfte  der  zerlegten  Theile,  übrig gelaflen  ift. 
Wenn  diefef  Theil  fo  grols  oder  rnillionen- 
mal  kleiner  als  ein  Senfkcun  ift,  fo  mufsauch 
der  leere  Raum  innerhalb  den  Grenzen  der 
Oberfläche  des  get heilten  Körpers  zur  freien 
Bewegung  der  Theile  eben  fo  grofs  feyn. 
Denn  gilt  cliefes  bei  einem  Theile,  fo  inufs 
es  auch  bei  dein  andern  und  fo  ins  Unendli- 
che fort  gehen.  Der  leere  Raum  fey  fo  klein 
als  er  will ,  die  Hypothefe  von  dein  erfüllten 
Räume  wird  doch  entkräftet.  Man  fetze  ei- 
nen leeren  Raum,  der  dem  kleinften  Theile 
d]  r  exiftierenden  Materie  gleich  ift,  fo  ift  es 
«och  immer  ein  Raum  ohne  Körper  und  der 
Unterfchied  zwifchen  einem  Körper  und  dem 

Raum 


Dreizehntes    Kapitel.  5g,t 

Ranm  wird  dadurch  fo  grofs,  als  wäre  iwi- 
fchen  beiden  die  gröfste  Kluft  beieftrget. 
Diefe  Folgerang  behält  ihre  Gültigkeit»  wenn 
wir  auch  ein  anderes  Verhältnifs  zvvifehen 
dem  zur  Bewegung  erforderlichen  Räume 
und  den  kleinften  'j'heilen  der  zerlegten  Ma- 
terie annehmen» 


§.      24. 

Die.  Begriffe    von    Kaum    und   Kor- 
per   find    v  er  fchieden. 

Doch  wir  befchäftigen  uns  hier  nur  mit 
der  Frage;  ob  der  Begriff  des  Rau- 
mes oder  der  Ausdehnung  mit  dem 
des  Körpers  identifch  ift?  Es  ift  da. 
her  nicht  nothwendig,  die  reale  Exiftenz  des 
leeren  Raums ,  fondern  nur  die  Wirklichkeit 
des  Begriffs  davon  zu  erweifen.  Und  die- 
fer  ift  eine  offenbare  Thatfache ,  da  Eini- 
ge über  die  Exiftenz  oder  Nichtcxiftenz 
des  leeren  Raumes  forfchen  und  ftreiten.  Denn 
wie  könnte  man  ohne  Begriff  von  einem 
körperleereu  Räume,  diefem  feine  Exiftenz 
ftreiiig  machen?  Auch  könnte  man  nicht  die 
B  b  4.  durch. 


892  Zweites    Buch. 

durchgängige  Erfüllung  des  Raumes  in  der 
Welt  bezweifeln,  wenn  der  Begriff  des  Kör- 
pers nicht  noch  etwas  mehr  als  den  Begriff 
des  blofsen  Raumes  enthielte.  Denn  da  Kör- 
per und  Raum  dann  nur  verfchiedene  Ausdrü- 
ckefür einen  und  denfelben  Begriff  wären,  fo 
wäre  fchon  die  Frage,  ob  es  einen  Raum  oh- 
ne Körper  gebe,  fo  ungereimt  als  diefe,  ob 
es  einen  Raum  ohne  Raum  ,  oder  einen  Kör- 
per ohne  Körper  gebe, 

§.      25. 

Die  Ausdehnung  ift  zwar  vom 
Körper  unzertrennlich  aber 
deswegen  nicht  einerlei  mit 
d  e  m  f  e  f  b  en. 

Es  ift  wahr,  die  Ausdehnung  ift  mit  allen 
fichtbaren  und  den  meiften  fühlbaren  Eigen- 
fchaften  fo  enge  verbunden ,  dafs  man  nur 
wenige  äuföere  Objecte  fühlen  aber  keins 
derfelben  fehen  kann,  ohne  zugleich  Eindrü- 
cke von  der  Ausdehnung  mit  aufzunehmen. 
DieTer  Umftand  war,  wie  ich  verrauthe,  die 
Veranlailung ,  dafs  einige  das  Wefea  des  gan- 
zen 


Dreizehntes    Kapitel.  3g"5 

zrn     Körpers     in    der     Ausdehnung    feuien. 
Auch   darf   man  fich    darüber   eben   nicht   fo 
fahr  wundern  ,    da    die  beiden  gefchaiti^ften 
Siune,    die    Augen     und    das    Gefühl,      das 
Genaüth     fo     fehr     mit    Vorfte  Hunden,     die 
ßch   auf  die    Ausdehnung    beziehen  ,     erfül- 
len   und  einnehmen,   dafs   einige   Menfchen 
fogar  keinem  Dinge  ,    wenn   es  nicht  ausge- 
dehnt war,  ein  Dafeyn  beilegten       Doch  ich 
will  jetzt  nicht   gegen  diefe   ilreiten,  welche 
die  befchränkten    und  groben    Vorftellungen 
ihrer  PhantaQe  zum  Maafsftab  der  Möglichkeit 
aller  Dinge  machen.     Ich  habe  es  jezt  nur  mit 
denen  zu  thun  ,  welche  das  Wefen   de?  Kör- 
pers in  der  Ausdehnung  fetzen,  weil  fie,   wie 
he  fagcn  ,   lieh   keine  Hunliche  Beschaffenheit 
des  Körpers  ohne  Ausdehnung  voi  Hellen  kön- 
nen.     Hatten  fie  doch  nur  fo  aufmerkfam  über 
die  Vorftellungen  des    Gelchjnacks    und    Ger 
xuehs  als   über  die  des  Gelichis    und  G<        k 
nachgedacht,  oder  auch  nur  das  Gcfüiil   von 
Hunger    und    Dürft    und   andern  unangeueh- 
men    Empfindungen    unterfucht,    fie  würden 
gefunden  haben,  dafs  fie    die  \'orftelIunor  der 
Ausdehnung    gar    nicht    einfchlieTsen,       Die 
Ausdehnung  ift  nur  eine  Beftimmung  des  Kör- 
B  b  5  per« 


%3  ZwtiiM    FacbL 

pars,  fb  ^ie  «Jie  fifjri'gen:  durch  die  Sinne 
malUOT&ibiaiibase»  Elgeafekafte»,  und  die  Sinne 
ißjsaä  wöM  ta-sina  rekasff  genug  ,  um  ia  das  rei* 
me  Wefeo  d«r  Ifege  einiudringea. 

f.      2& 

Weam  dlie  Yerßelluagen  >  welclie  beftäi?- 
dig  mit  anders  verknüpft  find  ,  deswegen  für 
das  Weife»  «ieijeäigea-  Pinge  lnüfstea  gehal- 
ten  wer<dea#  aüt  derea  Begriffne  unzertrenn- 
lich vetbvmden  Snd„  f»  ift  die  Einheit 
un&relslg  tbs  Wefea  aller  Dinge*  Denn  je- 
des öbjeel  der  Sinnlichkeit  und  der  Refle- 
xion fährt  diefea  BegrifF  bei  Heb»  Doch  die 
Schwäche  diefes  Scblufles  ift  bereits  hinläng- 
lich aufgedeckt  worden. 

§.      37. 

Die   Begriffe,   de*    Raums     und"  der 
Dichtheit   find   ver f chieden. 

Was  endlich  aach  die  Marlene*  über  die 
WirUiclifccrit  des  leeren  Raumes  denken  mö- 
gen, fo  ift  doch  für  mich  fo  viel  klar,  dafs 
wir  einen  deutlichen  Begriff  von  deai  Räume 

haben* 


Dreizehntes     Kapitel.  5q- 

habpp  ♦  und  ihn  fo  fcharf  von  der  Dichtheit^ 
diefe  von  der  Belegung  und  niefe  von  dem 
R.-.t  nie  unterfebeiden  können  .  als  es  nur 
bei  andern  Vorftelluneen  möglich  ift.  Der 
Raum  i!i  eben  fo  vorf+ellbar  ohne  Dich'hrit, 
als  der  Körper  oder  der  Raum  ohne  Bewe- 
gung, wenn  es  auch  noch  fo  ausgemacht  ift, 
dafs  weder  Körper  noch  Bewegung  ohne 
Raum  exißiren  kann.  Ob  der  Raum  nur  ein 
Verkahnils  fey ,  das  aus  der  Exiftenz  anderer 
entfernten  Wefen  entfpringt,  oder  ob  die 
Worte  Salpracfs;  der  Himmel  und  der  Him- 
mel der  Himmel  kann  dich  nicht  falsen,  oder 
die  V\  orte  Paulus:  in  ihm  leben,  weben  und 
find  wir,  buc-hitjiblich  zu  verliehen  feyen, 
das  mögen  andere  entfeheiden.  Genug  unfer 
Begi  iff  vom  Räume  ift,  wie  ich  gezeigt  ha- 
be, von  dem  des  Körpers  verfchieden.  Man 
betrachte  den  Raum  an  der  Materie,  als  das 
Auseinander.^  yn  der  dichten,  zurammeijh;in- 
genden  'Meile,  oder  als  zwifchen  <un  Gren- 
zen eines  Körpers  nach  allen  feinen  Durch- 
mcllungen  liegend  ,  oder  endlich  Zwilchen 
zwei  Körpern  oder  Dingen  liegend,  ohne 
Rücklicht  darauf  zu  nehmen,  ob  zw  liehen 
beiden    Materie   ift    oder    nicht;    man   nenne 

ihn 


396  Zweites   Ruch. 

ihn  in  der  erften  Beziehung  die  Ausdehnung, 
in  der  zweiten  die  Länge,  Breite  und  Dicke, 
und  in  der  dritten  die  Entfernung:  es  ift  doch 
immer  cliefelbe  einartige  und  einfache  Vor- 
frellung  des  Raums ,  wie  er  auch  genennet 
oder  betrachtet  wird».  Diefe  Vorftellung  ent- 
fpringt  von  denÖbjecten,  mit  welchen  unfre 
Sinne  befchäftiget  find.  Die  beftimmten  Vor- 
ftellungen  von  ihnen  können  wir  in  unferm 
Selbft  erneuern,  wiederholen  und  zu  einan- 
der fetzen,  fo  oft  es  uns  gefällt,  auch  den 
Raum  oder  den  Abftand  zwifchen  ihnen  in 
der  blofsen  Vorftellung  entweder  als  mit  etwas 
Dichten  erfüllt,  oder  von  allem  Dichten  ent- 
lediget betrachten ,  fo  dafs  im  erften  Falle 
ein  andrer  Körper,  ohne  das  Dichte  aus  fei- 
ner Stell»  zu  treiben,  nicht  eindringen,  im 
zweiten  aber  ein  Körper  von  derfelben  Gröfse 
als  der  Raum  iß,  denselben  erfüllen  kann, 
ohne  ihn  vorher  körperleer  zu  machen.  Um 
aber  alle  Verwirrung  in  diefer  Sache  zu  ver- 
meiden, dürfte  man  wohl  wünfehen ,  dafs 
das  Wort  Ausdehnung  nur  von  der  Ma- 
terie oder  der  Entfernung  der  Grenzen  eines 
Körpers,  Ausfpannung  (Expanfion)  hin. 
gegen  nur  von  dem  Raum  überhaupt,   er  fsy 

mit 


Drcirehntes    Kapitel,  397 

mit  Materie  erfüllt  oder  nicht,  gebraucht 
würde,  fo  dafs  man  fagte,  der  Rar.  m  ift 
ausgefpannt,  der  Körper  ift  ausge- 
dehnt. Doch  das  ift  nur  ein  Vorschlag  zur. 
Beförderung  der  Deutlichkeit  in  der  Sprache; 
jeder  behält  darin  feine  Freiheit] 

ft      23» 

DTe  Menfchen  find  in  Anfehung 
der  klaren  einfachen  Vorftel- 
1  u  n  g  e  n    wenig    uneinig. 

Die  fcharfe  Bfeftlmrinuri*  der  Bedeutung 
der  Worte  würde  in  diefem  fo  wie  in  andern 
Fällen  bald  allen  Streitigkeiten  ein  Ende  mä- 
chen. Denn  wenn  die  Menfchen  ihre  einfa- 
chen Vorftellungen  unterfuchten,  fo  würden 
fjfi  wohl  bald  finden,  d;ifs  iie  allgemein  ein- 
ftimmigfind,  ob  fie  gleich  in  ihren  Unterre- 
dungen einander  durch  die  verfthiedenen 
Worte  verwirrt  machen.  Diejenigen  Män- 
ner, Welche  im  Stande  lind,  ihre  eignen  Be- 
griffe aufmerkfam  zu  beachten  und.  zu  unter- 
fcheiden ,  können  fchwerlich  lehr  in  ihrem 
Denken  abweichen,  fo  lehr  lie  auch  einander 

duidi- 


3f)8  Zweites   Buch. 

dinch  blois.o  Worte  »n  Verlegenheit  fetzen 
mögen,  wenn  fie  in  Her  Sprache  ihrer  Scr.u- 
le  oder  Sekte  reden.  Wenn  man  aber  weqjg 
denkt,  feine  eignen  Begriffe  nicht  forgiäihg 
und  gewiüenhaft  prüfet,  lie  nicht  von  den 
gewöhnlichen  Ausdrücken  lostrennet,  fon. 
dem  mit  Worten  verwechsle,  dn  kann  des 
Zankens,  Streitens  und  des  unVerftändlicheji 
Gewäfches  kein,  Eni  e  ft)  n  ,  befonders  unter 
Mä  -nern»  die  ihre  Gelehrfamkeit  aus  Bü- 
chern haben,  einer  Sekte  und  ihrer  Sprache 
'klavifch  anhängen,  und  nur  andern  nachbe- 
ten. Sollten  aber  zwei  Denker  wirklich  we- 
fentlich.  verfchiedene  Begriffe  haben  j  To  fehe 
ich  nicht,  wie  fie  mit  einander  disputiren  und 
{breiten  wollen.  Man  würde  ßch  aber  fehr 
irren,  wenn  man  glaubte,  jedes  flüchtige  Phan- 
tahenbild  gehörte  unter  die  Reihe  von  Vor- 
Heilungen  s  von  denen  hier  die  Rede  ift.  Es 
ift  keine  leichte  Arbeit  für  den  Verftand  ,  alle 
verworrene  Begriffe  und  Vorurtheile  abzule- 
gen,  die  er  aus  Gewohnheit,  Uuachtfamkeit 
und  dem  gemeinen  Leben  eingelbgen  hat; 
es  körtet  eine  anhaltende  Anftrengungt 
ü:n  feine  Begriffe  zu  unterfuchen ,  und  he 
in  die  klaren,  beftimmten,  einfachen  Voröel- 

lunsen 


Dreizehntes    !Ka^patt«L 

lnnnrpn  anf/ulöfen,  ans  jfl-eiaea»  Sü«  -iMfornmea • 
/t  lind,  um;  \\n\e.i  «liefen  düsjKWsusi*-«»  »a 
untoifcheiden,  weldie  in  nvtk-waiü.i«*rr  Veeg-- 
knupftrng  oder  fte-ziehn»'.»  fiel»«».  £*g>  HfiBB«« 
aber  ein  Menfc'h  <"! i e Ts  mit  «$(••«  «ife«  rbc 
fpri'iGg'icher.  Begriffen  von  «3ceffl  Di.a^a  c:.;'.t 
thnt,  -fo  lange  baut  er  a.uf  irda«rüid3üeBsSeB  ujsd- 
gewiffe  Grund  f.:  rze ,  und  wird  üiiiu  «jtttt  ta  Vtr  - 
legenbeu  gefetzt  und  geflawJfidiaK  Ssdea  *\ 


Vierzflintc 

Von  der  Dauer  ftiitl  'flrr  .s  HWIeise- 


*.  I. 


Die    Dauer    ift   die    Hi««ir*e««Ie    äks- 
d  e  b  n  u  n  «. 


■L'S    pi"< 


giebt   eine  andere   Art  ro»«  ASsftuad 
Länge,    deren  VorfteHuatg  wir  ssic&t  von  dem 

hshtxw 

*)  Locke   fliehte  Sz-n   empia  ifcLm  CrfjMrwm»  «Jen 
\  Britellosig  vca  dem  Rauac  jakf^  «i.  k.  da 


4°o  Zweites    Buch. 

beharrlichen  Theilen  des  Raumes ,  fbndern 
von  den  flielleuden,  immer  wech feinden 
Theilen  einer  fucceffiven  Reihe  isrhalten:  V\ ir 
nennen  fie  Dauer,  Ihre  einfachen  ßeftim- 
numgen  find  dieverfehiedenen  Grofsen —  Län- 
gen derfelben,  infofern  fie  von  uns  vorge» 
ftelli.  werden,  als  Stunden,  Tage,  Jahre 
u.  f.  w,  Zeit  und  E  \v  i  g  k  e  i  t. 


welche  Data  ,  ourch  weiche  Vorftellungen  fie 
veranlafst  oder  erzeugt  weide.  Ei  ,&ieng  alfo 
von  feinern  Germilh  heraus,  und  fuclite  den 
Grund  diefer  Vorftellun»  nicht  in  feinem  Selb/t, 
Sondern  in  der  Außenwelt,,  an  dem  Abfiande 
der  Tlieile  eines  Körpers  von  einander,  oder 
eines  Körpers  von  dein  andern.  Er  bemerkte 
«licht,  dafs  Ahftan  d. ,  Theiie,  Entfernung  u. 
f,  w  fcliuu  Raum  voraus  fetzen ,  mir  im  Raurn 
vorf'ellb.ir  und ,  und  konnte  es  auf  feinem 
Wiege  nicht  wohl  bemerken.  Zwar  kam  er 
dein  reinen  Begriff  vom  Räume  etwas  näher,  in 
'dem  ev  den  Kaum,  von  dem  Raumeii'ül. 
1  en de u  unterfchied  ;  aber  immer  betrachtete 
er  doch  den  erfüllten  und  leeren  Raum  als 
ein  aufser  uns  befindliches  reales  Dirig,  weil 
ev  die  Vorßelhing  davon  als  eiiien  von  aufsein 
Objekten  abftraluuten  Begrifi  betrachteten. 


Vierzeh  ntes  Kapitel.  -qoi 

§.        2. 

Die  Voiftellung  der  Dauer  ent- 
fpringt  aus  der  Reflexion  ü  b  e  £ 
die     Folge     unfier     Varftellun- 

Die  Antwort  eines  grofsen  Mannes  *)  auf 
die  Frage,  was  die  Zeit  fey  :  wenn  ich 
nicht  gefragt  werde,  fo  weifsich 
es,  welche  fo  viel  bedeutete  als:  jemehr  ich 
darüber  nachdeiike,  deftu  weniger  verliehe 
ich  davon,  könnte  leicht  den  Gedanken  ver_ 
anlafsen,  dafs  die  Zeit,  welche  alles  andre 
offenbar  macht,  felbft  etwas  unerforfchliches 
fey.  Und  man  glaubt  in  der  Thal  nicht  oh- 
ne Urfache,  dafs  in  der  Natur  der  Dauer,  Zeif 
und  Ewigkeit  etwas  fchwer  zu  ergründendes 
liege.  So  wenig  begreiflich  aber  auch  diefe 
Vorftellungen  fcheinen ,  lo  zweifle  ich  doch 
nicht,  dafs  wir  ihren  UrTprung,  durch  unfer 
Nachforfchcii  ,  in  einer,  von  den  be»den 
Quellen  aller  unfrei  Erkenntnifs,  in  der  Sinit- 

hch- 

)  Attgufiinu/. 

Cc 


402  Zweites    Buch, 

lichkeit  oder  der  Reflexion,  entdecken  ton- 
nen. Es  wird  fich  zeigen  ,  dafc  wir  daraus 
von  diefc-n  Obiecten  eben  Co  klare  und  deut- 
liche Begriffe  erlangen ,  als  von  andern  nicht 
weniger  dunkeln  Gegen  [landen  ,  und  dafs 
felbft  der  Begriff  von  der  Ewigkeit  aus  der 
gemeinfchaftlichen  Quelle  aller  unfrei  Vorfiel- 
hingen  entfpringt, 

5.    5. 

Zur  richtigen  Einficht  in  die  Begriffe  rort 
Zeit  und  Ewigkeit  muffen  wir  den  Begriff  von 
der  Dauer  und  feine  Entftehungsart  aufmerk- 
fam  unteifuchen.  Dafs  in  dein  wachenden 
Zuftande  eineReihe  von  Vorftellungen  unauf- 
hörlich auf  die  andre  folgt,  ift  eine  Thatfache 
die  jedem  Beobachter  der  innern  Veränderun- 
gen feines  Gemülhs  einleuchten  mufs,  Die 
Reflexion  über  den  Wechfel  der  einander  ab- 
jöfenden  Vorfrellungen  giebt  uns  den  Begriff 
von  der  Folge,  Succellion.  Der  Ab- 
ftand  zwifchen  den  Gliedern  diefer  Folge, 
oder  zwifchen  dem  Bewufsfeyn  zweier  Vor- 
ftellungen der  Seele,  ift  das  was  wir  Dauer 
Kgrjncn,     Denn  während  wir  denken  >  oder 

Vor- 


Vierzehntes    Kapitel»  4*3 

Vorftellungen  nach  einander  in  die  Seele  auf- 
nehmen, find  wir  unfres  Dateyns  bewirfst; 
und  dahet  nennen  wir  die  fort  gefetzte  Exi- 
ftenz  unfrer  Selbü  oder  eines  andern  mit  un- 
term Henken  coexifh'erenden  Dinges,  infofera 
fie  durch  die  Folge  unfrer  Vorftellurgen  ge» 
tneüeu  Wirtin,  die  Dauer  chefer  Dinge«. 

i  4> 

DaTs  wir  unfern  Begriff  von  der  Folget 
und  der  Dauer  aus  diefer  Quelle,  nehmlich 
der  Reflexion^  über  die  Zeitfolge  unfrer  Vor- 
ftellungen erhalten ,  fcheint  fich  mir  dadurch 
zu  beftätigen,  weil  wir  nur  infofern  eine  Vor- 
flellung  von  der  Dauer  haben  ,  als  wir  di© 
Folge  der  in  unferrn  Gemüthe  wechfelnden 
Vorftellungen  betrachten.  Mit  diefem  Wech- 
fei  hört  auch  jene  Vorftellung  auf  —  eine  Erfah- 
rung, die  jeder  an  fich  im  tiefen  Schlafe,  ma- 
chen kann.  Er  fchlafe  eine  Stunde,  einen 
Tag,  einen  Monat,  oder  ein  Jahr;  er  hat  voa 
dieTer  Zeit,  während  er  fchläfr  oder  nicht 
denkt ,  keine  Vorftellung  ,  Ge  ift  für  ihn  ver_ 
loren;  der  Augenblick,  wo  fein  BewufstTeyn 
aufhört,  und  der,  wo  es  wieder  anfangt, 
Cc  2  fche^i- 


404  Zweites    Euch. 

fcheinen  ihm  durch  keinen  Abftand  auseinan* 
der  gerückt  zu  teyn.  Das  würde  ohne  Zwei- 
fel auch  der  Fall  in  dein  wachenden  Zuftande 
feyn  ,  wenn  es  möglich  wäre,  ohne  Wechfel 
und  Folge  anderer  Vorfteilungen  nur  eine  in 
dem  Bewufstfeyn  feit  zu  halten.  So  läfst  ein 
MenfGh,  der  feine  Gedanken  auf  einen  Ge- 
genftand  heftet ,  und  über  diefer  Betrachtung 
den  Wechfel  anderer  Vorfiellungen  wenig 
beachtet,  unvermerkt  einen'  grofsen  Theil 
diefer  Dauer  aus  der  Rechnung  aus, 
und  glaubt  die  Zeit  fey  kürzer  gewe- 
fen,  als  fie  wirklich  war.  Im  Schlafe  flie- 
fsen  aber  gewöhnlich  entfernte  Zeittheiie  in 
einander  ,  weil  dann  kein  Wechfel  von  Vor- 
fteilungen in  dem  Gemüthe  vorgehet.  Denn 
wenn  man  träumt,  und  eine  Reihe  von  Vor- 
fteilungen, eine  nach  der  andern  ins  Bewufst- 
feyn kommt,  fo  hat  man  auch  in  dem  Trau- 
me ein  Bewufstfeyn  von  der  Zeit  und  ihrer 
Län^e.  Alles  diefes  überzeugt  mich,  dafs 
der  Begriff  von  der  Dauer  von  der  Beobach- 
tung des  Wechfels  unfrer  Vorfteilungen  abge- 
leitet ift.  Wenn  man  nicht  wahrnähme,  wie 
eine  VorftHlung  auf  die  andre  folgt,  fo  wür- 
de  kein   Wen  Ich    eine   Vorßelhmg  von     der 

Dauer 


Vierzehntes     Kapitel,  i\oS 

Dauer  haben,  was  auch  fonft  für  Veränderun- 
gen in  der  Welt  vorgehen  möchten. 

§.     5. 

Der  BegViff  von  der  Dauer  ift 
auch  während  des  Schlafs  auf 
die  Dinge  anwendbar, 

Die  Menfchen  haben  alfo  in  der  That  den 
Begriff  von  der  Dauer  durch  die  Reflexion 
über  die  Folge  und  Zahl  ihrer  Vorfiellungen 
erhalten.  Er  kann  aber  gleichwohl  auch  auf 
Dinge  angewendet  werden,  die  während  fie 
nicht  denken,  exiftieren,  fo  wie  der  Begriff 
von  Ausdehnung  der  Körper,  obgleich  aus  den 
Eindrücken  des  Gefichts  oder  Gefühls  ent- 
fprungen ,  auch  auf  die  entfernten  Räume  an- 
gewendet wird,  wo  kein  Körper  fichtbar  oder 
fühlbar  ift.  Zwar  kann  man  die  Lunge  der 
Zeit  nicht  wahrnehmen,  welche  in  dem  Schla- 
fe oder  Kichtbewufstfeyn  verfliegt.  Allein 
nachdem  man  einmal  den  Wechfel  des  Tages 
und  der  Nacht  und  die  Länge  diefer  Perioden 
beobachtet  hat,  welche  in  der  Erfchcinung 
Tegclmäfsig  und  einerlei  ift,  fo  läfst  fich  un  -•. 
C  c  5  der 


406  Zweites    Buch, 

der  Voraussetzung,  cUfs  clieler  Wechfel  währ 
rend  des  Schlafes  und  des  Nichtbewufstfeyn$ 
eben  fo  regelmässig  als  zu  andern  Zeiten  er- 
folgie,  auf'i  die  Omer  des  Schlafes  vor- 
ftellen  und  ungefähr  beftimmeu.  Wenn 
aber  Adam  ur.d  blva.  da  lie  noch  aHeine  wa- 
ren ,  anftatt  der  gewöhnlichen  Zeit  £.'l  Stirn" 
clen  in  einem  fort  gefchiafen  hatten  ,  (o  wäre 
diefe  Zeit  unwiderbringlich  für  lie  verloren 
und  aus  ihrer  Zeitrechnung  ausgewichen  ge- 
vveien. 

$.     6. 

Der  Begriff  von  der  Folge  ent- 
fpringt  nicht  von  der  Bewe- 
gung, 

Vielleicht  glaubt  Mancher,  diefer  Begriff 
muffe  nicht  aus  der  Reflexion  über  den  Wech- 
fel  unfrer  Vorftellun^en,  fondern  vielmehr 
aus  der  Wahrnehmung  der  Bewegung  durch 
die  Sinne  entftehen.  Allein  er  wird  meiner 
Meinung  beitreten,  wenn  er  überlegt,  dafs 
die  äiifsere  Bewegung  diefen  ßegvifi  auf  kei- 
ne andre  Weile  erzeugen  kann,  als  in  dem 
fie  eine  Itete  Reihe  von  unterftheidbjren  Vor- 

ftellun- 


Vierzehn  t  e  s    Kapitel,  407 

Heilungen  in   unferm   Gemüthe  hervorbringt. 
Ja   man   kann   felbft  einen    bewegenden  Kör- 
per anfchauen,  ohne  die  Bewegung  zu  bemer- 
ken,   wenn  nicht  dadurch  eine  ftete   Reihe 
von    auf   einander    folgenden    Vorftellungen 
verur facht  wird.       So  kann  ein   Menfch  auf 
der  See,  an  einem  heitern    windftillen  Tage, 
dem   feften    Lande  aufser  Geficht,  die  Sonne, 
die  See,    das  Schiff  flundenlang    betrachten, 
ohne  die  geringfte  Bewegung  wahrzunehmen  ; 
und  doch  ift   es  gewifs  ,    dafs   während  diefer 
Zeit  einige  oder  alle  diefe  Gegenftände  einen 
groTsen  Kaum  zurückgelegt  haben.     So  wie  er 
aber  bemerkt,  dafs   der   Abftand   diefer  Kör- 
per von  einem   andern  fich  verändert  hat,  und 
dadurch  eine  neue  Vorfteliung  in  ihm  erzeugt 
wird,  fo  hat  er  auch  die  Bewegung  wahrge- 
nommen.      Man  fetze  aber  einen  Menfchen 
an  einen  Ort,  wo  alle  Körper  um  ihn  herum 
in   Ruhe   find:    er  wird,  wenn    er  nur  eine 
Stunde  denkt,  durch  den  Weckfcl  feiner  Vor- 
ftellungen  und  Gedanken,    eine  Folge  in  fiqh 
finden  ,   wo  er  keine  Bewegung  beobachten 
konnte. 


C  c  4,  §.  7. 


4p5  Zweites    Buch. 

§•     7- 

Diefs    iß    wohl     die     Urfache,      warum 
wir  langfame  obgleich   anhaltende   Bewegun- 
gen nicht  wahrnehmen.        Denn     indem     ein 
Körper    von  einem    wahrnehmbaren  Punkte 
zum   andern   fortrückt,    wird   die   Entfernung 
fo    lan^fam    abgeändert,    dafs   dadurch    keine 
neue  Vorftellung  als  nach  Verflufs  einer  ziem- 
lichen Zeit   erweckt  wird;    es   entflehet  alfo 
keine  ftetige  Reihe  von  neuen  Vorftellungen, 
die   unmittelbar    auf  einander  folgen.       Man 
hat  alfo  keine  Vorftellung  von  der  Bewegung; 
denn  diefe  als  eine  ftetige  Folge  kann  nicht 
wahrgenommen  werden,  wenn  nicht  eine  fte- 
tige Fol^e   von  \  orftelluijgen    in  uns   verur- 
facht  wird» 

§.     8. 

Im  Gegentheil  wird  auch  keine  Bewe- 
gung an  denjenigen  Körpern  wahrgenommen, 
welche  Geh  fo  gefih wind  bewegen, dafs  fie  die 
Sinne  die  verschiedenen  Entfemungspunkte 
in  der  Bewegung  nicht  wahrnehmen  laden, 
und  deswegen  keine  fucceflive  Reihe  von  Vor- 

fteüun- 


Vierzehntes    Kapitel.  4°9 

ftellungen  in  dem  Gemiithe  verurhchen. 
Wenn  ein  Körper  fich  in  einem  Kreile  in 
kleineren  Zeittheilen  beweget,  als  unfere 
Vorftellungen  aufeinander  zu  folgen  pilrgen, 
fo  wird  die  Bewegung  nicht  wahrgenommen, 
es  fcheint  vielmehr  ein  ganzer  vellftändiger 
Kreis  von  gewiiTer  Materie  öder  Farbe  ,  nicht 
aber  ein  Theil  eines  bewegten  Kreifes,  lieh  den 
Augen  dariuftellen. 

Die  Fol^e  unfrer  YorftrI  hingen 
hat  einen  gewiffen  Grad  von 
G  e  f  c  h  vv  i  n  d  i  g  k  e  i  t. 

Sollte  nicht  daraus  wahrfohcinlich  wer- 
den, dafs  unfre  Yorftelmngcn  in  dem  wa- 
chenden Zuftande  in  einem  gewUTen  AbPtande 
auf  einander  folgen,  faß  fo  wie  die  Bikler  in 
dem  innern  Kau me  einer  Laterne  von  der 
tiitz.  •  des  Lichts  herumgedrehet  werden,  Iiire 
fuccefrive  Eritheinung  kann  zwar  zuweilen 
fchneller  oder  laugfamer  feyn,  aber  fie  h.it 
do$h  in  einem  wachenden  Menfchen  pine 
nicht  lehr  veränderliche  Norm.  Die  Folge  der 
Ccö  Vor- 


»jl»  Zweites     Bucli. 

Vorftellungen  fcheint  an  gewiffe  Grenzen 
der  Gefehwindigkeit  und  Langfamkeit  gebun- 
den zu  feyn ,  welche  fie  weder  auf  diefer 
noch  jener  Seite  überschreiten  kann» 

§•      10, 

Diefe    fonderbar     fcheinende     Mutbma- 
fsung  gründet  fich    auf    die  Bemerkung,    dafs 
wir   die   Folge  der   Eindrücke,    wodurch  die 
£iinne  afficiret   werden,  nur  in  einem  gewiflen 
Grade  wahrnehmen   können.      Wenn  fie    zu 
fchneil   auf    einander  folgen,     fo   haben-  wir 
Zveitjen  Sinn  dafür  ,  fo  gewifs  es  auch  ift,  dafs 
eine'  wirkliche  Folge  ftatt  fand.       Wenn   eine 
Kanonenkugel    beide  Wände    eines    Zimmers 
durchbohret,     und   unterweges    einem    Men- 
fchen  ein  Glied  oder  Theil    feines  Leibes  ab- 
reifst, fo  ift  es  fo  klar,  als  eine  Demonftration, 
dafs  alles   diefes    nicht  auf    einmal,    fondern 
nach    und   nach   gefcheheu  mufste.       Gleich- 
wohl hat  gewißi  noch  kein  Menfch,  der  fich 
in  diefem  Falle  befand,    weder  bei  der  Wun- 
de  und  dem    Schmerze  noch  in    dem  Schall, 
wennq  die  Kugel   an  beide  Wände  anprallte, 
dno  Folge  wakrgenommexi.     Eine  Dauer  die- 

fer 


"Vier  zehntes     Kapitel.  411 

fer  Art,  in  der  keine  Folge  bemerkbar  ifr, 
ift  das  ,  was  wir  einen  Augenblick  nennen 
können.  Der  Augenblick  erfüllt  nur  die  Zeit 
einer  einzigen  Vorstellung  in  dem  Gemüthe, 
ohne  dafs  eine  andre  darauf  folgt.  Und  da- 
her iil  in  demfelbea  keine  Folge  rorftdlbar, 


5,     11, 

Diefes  ereignet  fich  auch  d*nn,  wenn  die 
llewegung  zu  langram  iu%  dafs  fie  den  Sinnen 
J'eine  ftetige  Reihe  von  neuen  V'orftellungen 
in  der  befrimmten  Zsit  dirbietet,  in  weichet 
das  Gemüth  neue  Vorftelhuigen  aufnehmen 
kann.  Es  wird  unfren  \  orltellungen  Zeit 
gelaflen,  unterdeffen  ins  Bew-.ijtfejn  zukom- 
men, und  die  Reihe  dt-r  Vorlteliungen ,  wel- 
che der  bewegte  Körper  durch  die  Sinne  ver- 
anlafst,  zu  unterbrechen,  und  die  Wahr* 
nehmung  der  Bewegung  geht  verlornen.  Ein 
füleher  Körper  fcheint  ftille  zu  liehen,  weil 
er  ungeachtet  feiner  wirklichen  Bewegung, 
doch  das  Raumverhältnus  zu  andern  Körpern 
nicht  fo  fchnell  auf  eine  merkliche  Weife 
verändert,    als   die  Vorfleliungen   u^iers  Gq- 

n;üth> 


Hiz  Zweites    Buch. 

müths  in  Reihen  auf  einander  folgen.  An 
den  Zeigern  der  Uhren,  dem  Schatten  der 
Sonnenuhren  und  bei  andern  langfamen  Be- 
wegungen kann  man  fich  davon  überzeugen. 
N-cii  einiger  Zwi^henzeit  läfst  fich  an 
dein  veränderten  Abitande  bemerken,  .dafs 
fich  diere  Dinge  bewegt  haben  ,  aber  die  Be- 
wegung felbft  wird  nicht  wahrgenommen. 

§.      12, 

Die  Fe  beftimmte  Folge  unfrer 
Vorftelluugen  ift  der  Maafs- 
ftab    für  jede   andre  Folge. 

Die  einförmige  und  regelmäßi- 
ge Folge  dfr  V  o  r  f  t  el  I  u  n  ge  n  in  dem 
wachenden  Zuftand  fcheint  alfo  gleichfam 
der  Maafsftab  und  die  Regel  für 
jede  andere  Folge  zu  feyn.  Wo 
daher  eine  Bewegung  oder  Folge  entweder 
zu  fchnell  oder  zu  langfam  erfolgt,  daTs  fie 
dem  Gang  urfrer  Vorftelluugen  entweder  zu- 
vorläuft, •  oder  mit  dentelben  und  ihrer  be- 
fiiminten  Zeitfolge  nicht  gleichen  Schritt  halt, 
da  ift  die  Vorftellung  von  einer  gleichförmig 

fort- 


Viei' zehntes     Kapitel.  41a 

fortfchreitenden  Folge  verTchwunden ,  und 
wir  bemerken  fie  nur  in  gewiilen  Zwischen- 
räumen der  Ruhe.  Ein  Beispiel  von  jenem 
Fall  ift,  wenn  zwei  Töne  oder  fchmerz  hafte 
Empfindungen  fo  gefchwind  auf  einander  fol- 
gen, dafs  fie  nur  die  Zeit  einer  einzigen 
Vorftellung  einnehmen;  und  von  diefern. 
wenn  eine  oder  mehrere  Vorftellungen  mit 
gewöhnlicher  Gefchwindigkeit  ins  Btwufst- 
feyn  kommen,  und  die  Reihe  derer  unterbre- 
chen, welche  dem  Geficht  von  den  befiimm- 
ten  Entfernungsweiten  eines  bewegenden  Kör- 
pers u,  f,   w.  gegeben  werden. 


§.     i5. 

Das  Gemüth  kann  nicht  lange 
Zeit  auf  eine  unveränderliche 
Vorftellung  haften. 

Allein,  könnte  man  Tagen,  wenn  wirklich 
unfre  Vorftellungen,  fo  lange  wir  einige  ha- 
ben, unaufhörlich  wechfeln  ,  und  auf  einan- 
der folgen,  fo  ift  es  unmöglich,  einige  Zeit- 
lang über  ein  Object  nachzudenken,  Meinj 
man  damit  foviel,  als  man  könne  eine   und 

d  i  e- 


4t4  Zweites  Buch, 

diefelbö  Vorftellung  ganz  ifolitt 
und  ohne  alle  Abwechfelung,  eini- 
ge Zeitlang  in  dem  Bewufstfeyn  erhalten, 
fo  ift  es.  wie  ich  glaube,  als  Thatfache  unmög- 
lich. Da  ich  nicht  weifs,  wie  die  Vorftel. 
lungen  der  Seele  gebildet  werden ,  aus  wel- 
chem Stoff  üe  beftehen  ,  woher  fie  ihr  Licht 
erhalten,  und  wie  he  Och  dem  Bewufstfeyn 
dsrftellen,  fo  kann  ich  dafür  freilich  keinen 
andern  Grund  als  die  Erfahrung  anführen. 
Man  verfuche  es  alfo,  ob  man  eine  einzelne  Vor. 
ftellung  ifolirt  einige  Zeit  hindurch  unverän- 
dert in  den  Gemüthe  gegenwärtig  erhalten 
kann, 


$.      14. 

Marh  nehme  t.  B.  eine  Figur,  einen"  ge? 
willen  Grad  von  Licht  oder  Farbe  ,  oder  was 
man  fonft  wilf,  und  man  wird  nur  zu  bald 
die  Schwierigkeit  empfinden,  alle  andern 
Vorlleilungen  entfernt  zu  halten.  Verfchie. 
■dene  Betrachtungen  über  den  vcrgefteiiten 
Gegenftand  (wovon  eine  jede  eine  neue  Vor- 
fietluBg   ifi)    oder    Vorftellungen    andrer   Art 

wer- 


Vierzehntes    Kapitel.  ifö 

Werden    immer    mit   einander  wechfelh ,     fo 
fehr  man  es  auch  vermeiden  will. 

§•     i? 

Alles  was  der  Mm/ch,  in  diefetn  Fall  ver- 
mag, ift,  die  Vorfteliungen,  die  vor  feinem 
Bewufstfeyn  vorbeigehi-n ,  zu  beachte;  5  eine 
gewifse  Reihe  von  Yrirftellungen  zu  beftirn- 
men,  und  diejenigen  herbeizurufen1 ,  welche 
zu  feinem  Nutzen  oder  Vergnügen  abzwecken. 
Aber  die  beständige  Aufeinanderfolge  neuer 
Vorfteliungen  zu  hemmen,  das  fleht  wob[ 
nicht  in  feiner  Macht;  doch  kann  er  will- 
kührlich  beftimmen,  welche  davon  er  auf- 
aierklam  beachten  wilk 

Wie  auch  Vorfteliungen  entffe- 
hen,  fo  fchlieffen  f  i  e  doch  kei- 
ne Empfindung  von  Bewegung 
ein. 

Ob  diefe  rcannichfaltigen  Vorfteliungen 
der  Seele  durch  gewifle  Bewegungen  entfle- 
hen ,  will   ich  dahin  geftelit  feyn  lalfen.     So 

vie 


/jx6  Zweites    Buch, 

viel  ift  aber  gewifs,  dafs  fie  bei  ihrer  Erfchel- 
nung  keine  Bewegung  einfchliersen.  Hätte 
daher  der  Menfch  den  Begriff  von  der  Bewe- 
gung nicht  anders  her,  er  würde  gar  keinen 
haben.  Diel  es  ift  fchon  zu  meinem  Zweck 
hinreichend,  und  zeigt  offenbar,  dafs  die 
Beobachtung  u  n  frer  Vorfteüungen 
und  ihrer  A  u  fei  n  a  nd  erfolge  der  Seele 
ausfcbliersüch  den  Begriff  von  Folge 
und  Dauer  giebt.  Es  ift  al'b  nicht  die 
Bewegung*  fondern  die  beftändige  Folge  der 
Vorfteüungen  -  unfers  Genui'.hs  in  dein  wachen- 
den Zulrande»  welche  uns  den  Begriff  der 
Dauer  zuführet«  Die  Bewegung  trä^t, 
wie  ich  ichon  oben  gezeigt  habe,  nur  info- 
fern  dazu  bei ,  als  fie  eine  ftetige  Folge  von 
Vorfteüungen  in  unfern)  Gemüthe  veranlagt. 
Die  Vorftellungen  von  Folge  und  Dauer  wer* 
den  aber  fo  klar  durch'  eine  Reihe  von  fuccef- 
fiven  Vorftellungen,  die  den  Begriff  von  Be- 
wegung nicht  voriusieizen  ,  als  durch  eine 
Ileihe  andrer  durch  die  ununterbrocbne 
wahrnehmbare  Veränderung  des  Abftandes 
zweier  Körper,  alfo"  durch  Bewegung  verur- 
fächten  Vorftellungen  dem  Gemüthe  gegeben. 
Die  Vorftellüng  von  der  Dauer  könnte  daher 

auch 


Vierzehntes    Kapitel.  4x7 

auch  ohne   alle   Vorftellung  von    der  Bewe- 
gung feyn,       »   " 


$•      17» 

Die  Zeit  ifi  eine  durch  ein  be- 
ftimmtes  JVlaaf»  bezeichnete 
Dauer. 

Nach  Erlangung  des  Begriffs  der  Dauer 
hat  der  Verfhnd  zunächft  darauf  zu  denken, 
ein  gewifles  Maafsfür  diefe  allgemeine  Dauer 
feftzufetzen,  ura  ihre  Länge  und  die  beftimra- 
te  Ordnung ,  worin  die  Dinge  exiftieren,  zu 
beurtheilen.  Denn  ohne  das  würde  ein  gro« 
fser  Theil  unfrer  Kenntnifle  verwirrt  und 
ein  beträchtlicher  Theil  der  Gefchichte  un- 
brauchbar werden,  Diefe  Betrachtung  der 
Dauer,  infofern  fie  durch  gewiife  Perioden 
beftimmt,  und  durch  gewiife  Maafse  oder 
merkwürdige  Begebenheiten  bezeichnet  wird, 
ift  das,  was,  wo  ich  nicht  irre,  am  fchick- 
lichften  Ze  it  genennt  wird. 


D  d  §.  18, 


4l£  Zweites    Buch. 

§.       l8» 

Ein  gutes  Zeitmaafs  mufs  ihre 
ganze  Länge  in  zwei  gleiche 
Zeiträume  eint  heilen. 

Zur  Ausmeflung  der  Ausdehnung ift  nichts 
weiter  erfoderlich  ,  als  eine  ilegel  oder  ein 
IVlaafsftab,  dellen  wir  uns  gewöhnlich  bedie- 
nen ,  wenn  wir  die  Gröfse  der  Ausdehnung 
eines  Diuges  wiiTen  wollen.  Bei  der  Dauer 
gehet  diei's  aber  deswegen  nicht  an ,  weil 
man  nicht  zwei  Theile  einer  Zeitfolge  neben 
einander  fetzen  kann,  um  einen  mit  dein  an- 
dern zu  rneflen.  Für  die  Dauer  kann  es  kein 
andres  Maafs  als  die  Dauer,  und  für  die  Aus- 
dehnung  kein  andres  als  die  Ausdehnung  ge- 
ben. Daher  haben  wir  für  jene,  welche  in 
einer  beftändig  wech feinden  Folge  befiehef 
kein  fo  f eftfte hendes ,  unveränderliches  Maafs 
als  für  den  flaum  beftiminte  1  ängen,  als  Zol- 
le, Fufse,  Ellen,  die  an  beharrlichen  Thei- 
len  der  Materie  bezeichnet  find.  Nur  Eins 
konnte  daher  einen  tauglichen  Zeitmefler  ab- 
geben,  was  nehiniich  die  ganze  Länge  feiner 
Dauer  durch  regeimähug  wiederholte  Reihen 

von 


Vier  teil  ntes    Kapitel.  419 

Von  Erfcheinungen  in  fcheiubar  gleiche  Thei- 
le  abgefoudert  hat.  Alle  Theile  der  Dauer» 
die  nicht  durch  diefe  Perioden  untcrfchieden 
und  gemeffen,  oder  als  foiche.  betrachtet  wer- 
den ,  gehören  eigentlich  nicht  unter  dea 
Zeilbegriff,  wie  auch  fchon  aus  den  Aus- 
drücken vor  aller  Zeit,  wenn  Lein© 
Zeit    mehr  feyn  wird,  eihellet. 


§.      '9- 

Der  Umlauf  der  Sonne  und  des 
Monds  ift  das  f  chic  kl  ie  hf  tö 
Zei  t  m  a  ä  fs. 

jDie  tägliche  und  jährliche  Umwälzung; 
der  Sonne,  welche  von  Anfang  der  Welt  einför- 
tnig,  regelmäfsig,  für  alle  Menfchen  ein  Ge- 
genwand der  Wahrnehmung,  und  wie  man 
vorausfetzte,  immer  von  gleicher  Länge  war, 
wurde  mit  Recht  zum  Maafse  der  Dauer  an* 
gewendet.  Die  durch  die  Bewegung  der  Son- 
ne beftimmte  Unterfcheidung  der  Tage  und 
Jahre  hat  aber  den  Irrthum  veranlafst,  als 
wäre  die  Dauer  der  Maafsftab  für  die  Be- 
weguug,  und  diefe  wieder  für  die  Daner, 
D  d  a  Die 


420  Zweites    Buc h. 

Die  Menfchon  waren  bei  Beftiminung  der 
Zeitlänge  gewohnt,  an  Minuten.  Stunden,  Ta- 
ge, Monate,  Jahre  zu  denken,  und  bei  jeder 
Erwähnung  der  Zeit  und  Dauer  pflegten  fie 
diefe  fich  au  vergegenwärtigen»  Da  aile  die- 
fe  cQeile  durch  die  Bewegung   der  Him- 

...ciskörper  btftiromt  waren,  fo  war  das  Ver« 
anlafsung,  Zeit    und  Bewegung  miteinander 
zu  verwechfeln,  oder  wenigstens    eine  noth- 
Vendi^e    Verknüpfung  zwischen   beiden    zu 
denken»     Allein  eine  gleichförmige    periodi- 
sche Erfcheinung,  oder  ein  regelmäfsig,  allge- 
mein bemerkbarer  Wechfel  der  \  orftellungen 
in  einem  fcheinbar  gleichen  Abftande   würde 
die  Zeiträume  eben  fo  gut  unterfchieden   ha- 
ben, als  jene  Bewegungen.      Gefetzt  die  Son- 
ne, welche  einige  für    Feuer  hielten,  würde 
in    derfelben   Zeit,     in    der    fie    jezt    jeden 
Tag  in    den    Mittagszirkel   tritt,    angefteckt, 
und   dann    nach     12   Stunden    wieder  ausge- 
löscht, und  fie  nehme  in  der  Zeit  einer  jähr- 
lichen   Umwälzung    merklich    an  Hitze  und 
Glanz  zu  und  ab,    würde   nicht  diefe  regel- 
roaf  ige  Erfcheinung  für  alle  diejenigen  ,  wel- 
che He  beobachteten,  eben  fo  gut  mit  und  oh- 
ne Bewegung  ein  fchickliches  Zeitmaafs  feyn  ? 

Ge« 


Vierzehnte»    Kapitel.  42t 

Gewifs  fie  würde  es  auch  ohne  Bewegung 
feyn  ,  wenn  fie  nur  regelmäfsig  in  gleichen 
Perioden  erfolgte,  und  von  allen  wahrge- 
nommen werden  könnte« 


§♦     V- 

Aber  nicht  durch  die  Bewegung 
fondern  durch  die  periodifch« 
Erfcheinung. 

Die  Menfchen  könnten  eben  fowohlnach 
dem  Gefrieren  des  WalTers ,  oder  der  Blüte- 
zeit der  Pflanzen,  wenn  fie  in  allen  Erdthei- 
len  in  einerlei  Perioden  wiederkehrten,  als 
nach  den  Bewegungen  der  Sonne  ihre  Jahre 
rechnen.  Das  thun  auch  wirklich  einige 
Völker  in  America,  welche  ihr  Jahr  nach 
der  Ankunft  und  Abreife  gewifler  Vögel  in 
beftimmten  Jahreszeiten  berechnen.  So 
könnten  auch  die  Anfälle  des  kalten  Fie- 
bers 1  die  Empfindungen  des  Hungers  und 
Durftes  gewifle  Geruchs  •  und  Gefchmacksera» 
pfinHungen,  die  Ablaufszeit  einer  fucctTfi- 
vpn  Reihe  meffpn,  und  die  ZwifchertTaiime 
der  Zeit  unterfcheiden ,  wenn  fie  in  beftimra- 
D  d  3  ten 


^Sft  Zweites    Buch, 

ten  gleichen  Perioden  zurükkehrten  und  ein 
Gegenftand  der  Wahrnehmung  für  alle  wären. 
Auch  fehen  wir,  daTs  BUudgeborne  die  Zeit 
fehr  gut  nach  Jahren  berechnen,  ob  fie  gleich 
den  Abiauf  derfdben  nicht  nach  Bewegun- 
gen der  Himmelskörper,  die  fie  nicht  fehen, 
beftimraen  können*  Und  follte  ein  Blinder, 
der  feine  Jahresrechnung  nach  der  Hitze  des 
Sommers,  oder  der  Kälte  des  Winters,  oder 
dem  Geruch  einer  Blume  im  Frühling,  oder 
nach  dem  Genufs  einer  Herbftfrucht  befumm- 
le, nicht  ein  befferes  Zeitmaafs  haben,  als  die 
Römer  vor  Verbeflerung  ihres  Kalenders  durch 
Julius  Cäfar,  oder  viele  andere  Völker,  deren 
Jahre  ungeachtet  ihres  Vorgebens,  dafs  fie 
nach  der  Bewegung  der  Sonne  berechnet  wä- 
ren, fehr  unregehnäfsig  find?  Es  verurfacht 
keine  kleine  Schwierigkeit  in  der  Chronolo- 
gie ,  dafs  man  die  befummle  Länge  des  Jah- 
res bei  verrchiedenen  Nationen  nicht  genau 
beftimmen  kann,  weil  fie  alle  von  einander, 
und  man  kann  wohl  allgemein  fagen , 
von  der  Bewegung  der  Sonne  abweichen. 
Und  wenn,,  wiß  ein  fcharffinniger  Schrift- 
fleüer  vor  kurzem  annahm  ,  die  Sonne  von 
der   Schöpfung     bi§   auf  die    Sündfluth  fich 

be- 


Vierzehntes    Kapitel,  ^jg 

v 

beftandig  in   dem    Aequafdr    bewegte,    Licht 
und    Hitze     über     alle     bewohnbare    Theile 
der     Erde     in    gleichem     Grade     verbreite- 
te; wenn  alle   Tage    von   gleicher  Lange  wa- 
ren,   weil    lieh    die    Sonne    nicht   wie    jetzt 
jahrlich  den  Wemleciikeln  näherte,  und  von 
ihnen  wieder    entfernte,    fo  fcheint  es  eben 
nicht  fehr  wahrscheinlich,  dafs  die  Menfchen 
vor  der  Sund  flu  th  vom  Anfange  der  Welt  an, 
ungeachtet    der  Bewegung  der  Sonne,     nach 
Jahren  gerechnet  und  die  Zeit  nach  Perioden 
gemeflen  haben  ,    welche  kein  in  die    Augen 
fallendes    Unterfcheidungsmerkmal  hatten» 


§*    2r. 

Ob  zwei  Theile  der  Dauer  einan- 
der gleich  find,  kann  man  nicht 
gewifs    erkennen. 

Allein   wie  könnte  man    wohl  ohne  eine 
reguläre  Bewegung  z,  B.   der  Sonne  odei  ei- 
nes  andern   Körpers  ,   erkennen ,    dafs  folche 
Perioden  gleich   find?    Gerade  fo   wie  man 
D  d  4  <*ie 


424  Zweites    Buch. 

die  Gleichheit  jeder  andern  zurückkehrenden 
Reihe  von  Erfcheinungen     oder  die    Gleich- 
heit der  Tage  erkennt,    oder  vielmehr    fürs 
erfte  nur  erkannt  zu  haben  glaubte,    nehm- 
lieh  durch  die  Reihe  von  Vorftellungen,  wel- 
che in  der  Zwifchenzeit  in  dem  Gemüthe  ab- 
lief.     Da   man   nach  diefer  Beftjmmung  eine 
Ungleichheit  in  den  natürlichen  Tagen ,  aber 
nicht   fo   in   den   künftlichen  wahrnahm  ,    fo 
glaubte  man ,  die  letztern  wären  von  gleicher 
Länge,     und    das    hielt  man  für  zureichend, 
um  fie  zum  Zeitmaafs   zu    gebrauchen.     Ob- 
gleich feitdem    eine    fchärfere   Unterfuchung 
Ungleichheiten  in  dem  täglichen   Umlauf  der 
Sonne  entdeckt  hat,    und   man  nicht    weifs, 
ob   es  mit  dem  Jahreslauf  nicht  auch  fo  feyn 
könnte,    fo    find  doch  die  künftlichen  Tage 
wegen  ihrer  angenommenen  und  fcheinbaren 
Gleichheit    eben    fo    brauchbar   zur  Meffung 
der  Zeit,  als  wenn  ihre  Gleichheit  aufs  fchärf- 
fte  erweislich  wäre.    Nur  find  fie  zur  genauen 
AbmefTung  der  Theile  der  Dauer  nicht  taug- 
lich.     Daher   inufs    man    forgfältig  zwifchert 
der  Dauer  felbft,  und  dem  gewöhnlichen  Maafs- 
ftabe  zur  Beurtheilung  ihrer  Lange  unterfchei- 
den.     Die  Dauer  felbft  ift  als  eine  ftetig  glei- 
che 


Vierzehntes    Kapitel.  42^ 

V 

che,  einförmig  ablaufende R.ei he  zu  betrachten. 
Aber  es  lüfet  (ich  nicht  beftimmen,  ob  irgend 
ein    zu    ihrer  Meffung   gebräuchliches  Maafs 
auch  fo  befch?ffen  fey.      Es  ift  ungewifs,  ob 
die    abgemarkten    Theile    oder    Perioden    in 
Vergleichung  miteinander  von  gleicher  Dauer 
find;    denn    keine  Demonftration  kann   dar- 
thun  ,  dafs  zwei  fucceflive  Längen  der  Dauer, 
wie    fie    auch    geineüen     werden  ,     einander 
gleich  find.      Man  hat,  wie  fchon  gefügt  wor- 
den,   in  dem  Lauf  der  Sonne,    der  fo  lange 
Zeit  und    fo   zuverläfsig  als  ein  genaues  Zeit- 
maafs  in   der  Well  gebraucht  worden,     Un- 
gleichheiten entdeckt.     Zwar  hat  man  fpäteT- 
hin  die  Pendel ,    als  eine  ftetigere  und  regel- 
mäfsigere  Bewegung  als  die   der  Sonne  (oder 
richtiger  der   Erde),  dazu  gebraucht;  allein 
man  würde  gewifs  fehr  in  Verlegenheit  feyn, 
wenn  man  durch  eine  Demonftration  bewei- 
fen  follte,  dafs  die  zwei  auf  einander  folgen- 
den Bewegungen  der  Pendel  einander  gleich 
find.     Denn  wir  willen  nicht,  ob  die  Urfache 
diefer  Bewegung,  die  uns  unbekannt  ift,  im- 
mer gleichförmig  wirkt,    dahingegen  es  ge- 
wifs ift,    dafs  das  Medium,    in  welchem  fich 
die  Pendel  bewegt ,  nicht  immer  von  einer- 
D  d  5  lei 


426  ^Zweites   Buch. 

li  1   ße'chaffenheit  it't.      Jede    Veränderung  in 
beiden  kann  die  Gleichheit  der    auf  einander 
folgenden  Schwingungen  abändern,    find  da- 
durch   die    Geuhsheit    und    Richtigkeit    des 
lYIaafses  aufheben.     Ebenda-»  kann  aber  auch 
bei    aniJern    Reihen    von    Erfcheinungen    ge- 
schehen.    Der  Begriff  der  Dauer  felbft  bleibt 
aber  immer  klar,    wenn  auch  die  Richtigkeit 
des  Maafses   für  diefeibe   nicht  fcharf  bewie- 
fen  werden  Kann.     Da    man  alfo  zwei  Theile 
der     Zeitfolge     nicht    nebeneinander    halten 
kann  ,    fo  ift  es  unmöglich,    ihre  Gleichheit 
mit  Gewifsheit  zu  erkennen»       Wir   können 
alfo   bei  Meflung  der  Zeit  nichts  anders  thun, 
als  ein  folches  Maafs   anzunehmen,    welches 
durch  eine  fietige   fuccefiive  Reihe   ven  Er- 
fcheinungen in    fcheinbar  gleichen  Perioden 
belHmnit    wird,     und    für    diefe    fcheinbare 
Gleiuiheit  ift  kein  andrer  Maafsllab  möglich, 
als  der  durch  die  Zeitreihe  unfrer  Vorftellun- 
gen  in  dem  Gedächmifs   aufgeftellt  ift,    wo- 
durch  wir   uns  nebft    einigen  andern    wahr- 
fcheinlichen  Gründen  von  derfelben  überzeu- 
gen kennen» 

$.  22. 


Vierzehn  t es    Kapitel.  \VI 

§.       22. 

Die  Zeit  ift  nicht  das  Maafs  der 

Bewegung, 

Da  die  Menfchen  wie  es  am  Tage  liegt, 
die  Zeit  durch  die  Bewegung  der  grofsen  und 
fichtbaren  Weltkörper  meilen  ,  fo  ift  es  mir 
fehr  auffallend,  dafs  man  doch  die  Zeit 
als  das  Maafs  der  Bewegung  erkläret, 
Ein  kleiner  Grad  von  Nachdenken  mufs  jedeii 
überzeugen  ,  dafs  zur  Meflung'derfeJben  der 
Baum  fo  nothwendig  ift,  als  die  Zeit,  und  wer 
noch  etwas  tiefer  eindringt,  wird  finden, 
dafs  man  nicht  richtig  darüber  urtheilen 
kann,  ohne  die  Gröfse  des  bewegten  Kör- 
pers mit  in  Rechnung  zu  bringen.  Die  Be- 
wegung trägt  auch  in  Wahrheit  zur  Meffung 
der  Dauer  at;f  keine  andre  Weile  bei,  als  dafs 
f:e  eine  btfiändig  wiederholte  Reihe  von  ge- 
wifien  finnJichen  Vorftellungcn  in  gleich  fchei- 
»enden  Perioden  hervorbringt.  Wäre  die 
Bewegung  der  Sonne  fo  ungleich  als  die  eines 
von  verändcr'ichen  Winden  getriebenen  Schif- 
fes ,  bald  fehr  langfam ,  bald  unverhähmfs 
mäfsig  'gei'dmind;    oder    wenn  auch  immer 

gleich 


428  Zweites     Buch. 

gleich  gefchwind,  doch  nicht  kreisförmig, 
und  brächte  fie  nicht  immer  diefelben  Er- 
scheinungen hervor ,  fo  würde  fie  eben  fo 
wenig  als  die  fcheinbar  ungleiche  Bewegung 
eines  Kometen  zum  Zeituiaafse  brauchbar 
feyn. 

§•      23. 

Minuten,  Stunden,  Jahre  find 
kein  $0  th  wen  diges  Maafs  der 
Dauer. 

Minuten,  Stunden,  Tage  und  Jahre  find 
alfo  nicht  notwendiger,  die  Dauer  oder  die 
Zeit,  als  die  an  einer  Materie  bezeichneten 
Zolle,  Fufse,  Ellen  und  Meilen,  die  Ausdeh- 
nung zu  meffen.  Durch  den  beßändigen  Ge- 
brauch derfelben,  in  fo  fern  fie  als  durch  den 
Umlauf  der  Sonne  beftimmte  Perioden  oder 
Theile  derfelben  betrachtet  werden ,  haben 
fich  zwar  in  unferm  Erdtheile  einmal  gewiffe 
Vorftellungen  von  folchen  Längen  der  Dauer 
in  unferm  Gernüthe  feftgefetzt,  und  wir  wen- 
den fie  auf  alle  Tbeile  der  Zeit  an,  deren 
Länge  wir  beftimrnen  wollen;    aber  dennoch 

kann 


Vierzehntes    Kapitel,  429 

kann  es  andere  Gegenden  geben ,  wo  diefe 
Zeiunaafse  eben  fo  wenig  im  Gebrauche  find, 
als  es  unfere  Zolle,  Schuhe  und  Meilen  in 
Japan  Gnd.  Unterdefsen  mufs  doch  etwas 
ihnen  analoges  feyn.  Denn  ohne  gewiile  re- 
gehnätsig  und  periodifch  wiederkehrende  Er- 
fcheinungen  könnten  wir  keine  Länge  ei- 
ner Dauer  ineilen,  oder  für  andre  bezeich- 
nen, wenn  auch  in  der  Welt,  wie  jezt,  alles 
in  Bewegung  wäre,  aber  ohne  regelmäfsige 
Vertheilung  in  fcheinbar  gleiche  Zwifchenräu- 
me.  Alle  verfchiedenen  Zeitmaafse  aber, 
welche  nur  irgendwo  gebräuchlich  find,  än- 
dern den  Begriff  der  Dauer,  die  das  zu  mef- 
fende  itt,  eben  fo  wenig,  als  die  verfchiedenen 
Maafse  von  Schuhen  und  Ellen  den  Begriff 
der  Ausdehnung. 

Unfer   Zeitmaafs    i Tt  auf  die  Dauer 
vor   der  Zeit  anwendbar. 

Der  Verftand  kann  diefes  Zeitmaafs  von 
dem  jährlichen  Umlaufe  der  Sonne  auch  auf 
die  Dauer  auwenden,  in  weicher  diefes  Maafs 

felbft 


43o  Zweites    Euch. 

felblt  nicht  emittierte,  und  mit  welchem  Qe  iii 
Riickficht  ihres  realen  Dafeyns  nichts  zu  thtm 
batte^  Wenn  man  Tagt:  Abraham  war  in 
dem  2712  Jahr  der  Julianüchen  Zeitrechnung 
geboren,  Co  ift  das  eben  fo  denkbar,  als 
wenn  man  diefe  Jahre  von  Anfing  der  Welt 
an  rechnete,  obgleich  fo  weit  znrürk  kein 
Sonnenumlauf  noch  eine  andere  Bewegung 
vorhanden  war»  Gefetzt  auch,  wir  fetzten 
den  Anfang  der  Julianifchen  Zeitrechnung 
einige  hundert  Jahre  früher,  als  Tage,  Nach* 
^te  und  Jahre  mit  dem  he  befUu.uienden  Son- 
nenlauf exifiierten,  fo  rechnen  und  beiiimmen 
wir  doch  die  Dauer  eben  fo  richtig,  als  wenn 
die  Sonne  damals,  wie  iczt,  mit  ihrem  regel- 
mäßigen Umlaufe  wirklich  gewefen  wäre» 
Die  Vorstellung  einer  der  jährlichen  Umlaufs« 
zeit  der  Sonne  gleichen  Dauer  läfst  fich  in 
Gedanken  eben  fo  leicht  auf  die  Dauer  an- 
wenden, in  der  keine  Sonne  noch  keine  Be- 
wegung war,  als  die  Vorftellung  von  einem 
Fufs  oder  Elle,  ein  von  Körpern  unfrer  Erde 
entlehntes  Längenmaafs.auf  Entfernungen  auf. 
feihalb  den  Grenzen  der  Körperwell:,  y,o 
keine  Körpc-r  find» 

§;  25, 


Vierzehntes    Kapitel,  45i 

Gefetzt,  der  entferntere  Körper  des  Uni/ 
verfums  von  diefcr  Stelle  wäre  5639  Meilen 
oder  Millionen  Meilen  entfernt  (denn  da  das 
Univerfum  endlich  ift,  fo  mufs  feine  Entfer- 
nung auch  beftimmbar  fevu ) ;  Gefettt  es  wä- 
ren von  dem  erften  D.tfeyn  eines  Körpers 
beim  Anfange  der  Welt  bis  auf  unfre  Zeit  50^g 
Iahre  verlloflen,  fo  können  wir  in  Gedanken 
da^  Maafs  einer  Jahrslänge  at:f  die  Dauer  vor 
der  Schöpfung  oder  über  dtn  Anfang  der 
Dauer  der  Körper  und  der  Bewegung ;  und 
das  Maafs  einer  Meile  auf  den  Raum  auf-er 
der  Körperu  elt  anwenden,  und  in  jenem  Fall 
eine  Dauer,  wo  keine  Bewegung,  um\  in 
dicTem  einen  Raum  nullen ,  \vj  kein  Kör- 
per ift.  f 

§♦      26. 

Hier  mufs  ich  einem  möglichen  Einwurfe 
begegnen.  Ich  hätte,  könnte  man  nehmlhh 
Tagen,  bei  Erklärung  der  Zeit  vorausge fetzt, 
was  nicht  vorausgeletzt  weiden  dürfe,  dafs 
die   Welt   weder  ewig  noch  unendlich   u-y. 

Allein 


A32         i  Zweites    Buch. 

Allein  es  war  hier  zu  meinem  Zweck  nicht  nö- 
thig,  die  Endlichkeit  der  Welt  fowohl  der 
Dauer  als  der  Ausdehnung  nach  durch  Gründe 
tu  bewerfen.  Und  da  ße  zum  wenigften  eben 
fo  denkbar  ift,  als  das  Gegentheil,  fo  hatte 
ich  unftreitig  eben  fo  viel  Recht,  die  Endlich- 
keit, als  ein  Andrer  hat,  das  Gegentheil  an- 
zunehmen. Wenn  Jemand  darüber  nachden- 
ken will;  fo  kann  er  ohne  allen  Zweifel  fich 
fehr  leicht  den  Anfang  der  Bewegung,  aber 
nicht  aller  Dauer,  vorftellen,  und  an  eine  Stel- 
le kommen,  über  welche  hinaus  keine  Bewe- 
gung mehr  vorftellbar  ift;  eben  fo  vermag 
er  in  Gedanken  der  Körpcrwelt  und  ihrer 
Ausdehnung,  aber  nicht  dem  körperleeren 
Räume  Grenzen  zu  fetzen.  Die  äufserften  Gren- 
zen des  Raums  und  der  Dauer  kann  kein  Ge- 
danke erreichen  ,  fo  wie  die  letzten  Grenzen 
der  Zahlen  alle  Faflungskraft  des  Verftandes 
überfteigen.  Beides  hat  einerlei  Grund  ,  den 
Wir  an  einem  andern  Orte  kennen  lernen 
Wollen, 


§•  27* 


Vijii  tlintes     Kapitel.  4^3 

Ewigkeit, 

Auf  demfelben  Woge  und  aus  derfelbenQuel« 
le  aus  der  wir  den  Begriff  der  Zeit  erhielten, 
entfteht  auch  der  Begriff  der  Ewigkeit.  Wenn 
wir  über  die  Reihen  unfier  Vorftellungen  refle* 
ctiren,  welche  entweder  lieh  felbft  in  dem  wa- 
chenden Zuftande  dem  Bevvufstfejn  darftei- 
len, oder  durch  äufsere,  die  Sinne  nach 
einander  afficierende  Objekte  verurfacht  wer- 
den, wenn  wir  dadurch  die  Begriffe  von  Succef- 
fion  und  Dauer,  fo  wie  durch  den  Umlauf  der 
Sonne  Vorftellungen  von  gewiflen  Längen 
der  Dauer  erhalten ,  fo  können  wir  diefe 
Längen  in  Gedanken  eine  an  die  andre  fetzen 
fo  oft  als  wir  wollen ,  und  fie  auf  die  vergan- 
gene oder  künftige  Dauer  anwenden ,  und 
das  zwar  in6  Unendliche  fort,  ohne  an  ge- 
wilfe  Grenzen  oder  Schranken  zu  kommen. 
Auf  diefe  Art  lärst  Geh  die  Länge  des  jährli- 
chen Umlaufs  der  Sonne  auf  die  Dauer  an- 
wenden ,  welche  vor  der  Sonne  oder  über- 
haupt vor  dem  Anfange  der  Bewegung  ange- 
nommen wird.  Dabei  findet  fich  fo  wenig 
£  e  Schwie- 


/pjj  Zweites    Buch. 

Schwierigkeit  oder  Widerfpruch,  als  bei  An- 
wendung der  Zeillänge,  in  welcher  fich  der 
Schatten  auf  der  Sonnenuhr  von  einer  Stunde 
zur  andern  beweget,  auf  die  Dauer  einer  Be- 
gebenheit in  der  letzten  Nacht,  z.  B  auf  das 
Brennen  eines  Lichtes.  Diefe  Erfcheinung  iß 
zwar  von  aller  wirklichen  Bewegung  des  heu- 
tigen-Tages  völlig  getrennt,  und  es  i(t  fo  un- 
möglich, dafs  die  ßundenlange  Dauer  diefer 
Flamme  von  voriger  Nacht  mit  einer  Bewe- 
gung, die  heute  erfolgt  oder  erfolgen  wird,  als 
dafs  ein  Theil  der  Dauer  vor  dem  Anfange 
der  Welt  mit  der  gegenwärtigen  Bewegung 
der  Sonne,  coexiftire.  Allein  dieTes  hindert 
uns  gar  nicht,  die  Dauer  des  Lichtes  in  ver- 
gangener Nacht,  fo  gut  als  die  Dauer  eines 
jezt  exiftierenden  Dinges,  durch  die  Länge, 
welche  die  Bewegung  des  Schattens  auf  der 
Sonnenuhr  von  einem  Stundenzeichen  bis 
zum  andern  befchreibt ,  beßimmt  zu  meffen. 
Man  darf  Och  nur  vorteilen  ,  dieSonne  fc^ei- 
ne  hei  Nacht  und  bewege  fich  in  demfelben 
Verhältni  s  als  bei  Tage;  unter  diefer  Vor- 
ausfetzung  würde  der  Schatten  auf  derSon« 
nenuhr,    während    die  Flamme  des  Lichts 

fort- 


Vierzehntes     Kapitel.  455 

fortdauert,    von    einer  Stundenlinie  zur  an- 
dern  fortgerückt  feyn» 


§•      29. 

Eine  Stunde,  ein  Tag,  ein  Jahr  ift  nur 
eine  Vorftellung  von  der  Länge  gewiffer  re- 
gelmäßiger periodischer  Bewegungen,  von 
welchen  keine  auf  einmal  ganz  exiftiert,  au- 
fser  nur  in  der  Vorftellung,  welche  aus  dem 
Sinneneindruck  und  der  Reflexion  entftand, 
und  in  dem  Gedächtnifs  niedergelegt  wurde» 
Dalier  kann  ich  mit  einerley  Leichtigkeit  und, 
aus  einerlei  Grund  in  Gedanken  diefe  Zeit- 
längen auf  eine  Dauer,  die  vor  allem  Anfan» 
jeder  Art  Bewegung  vorhergehet,  oder  auf 
ein  Ding  anwenden,  welches  nur  eine  Mi- 
nute oder  einen  Tag  eher  als  die  Bewegung 
der  Sonne ,  die  in  diefem  Augenblick  wirk- 
lich ift,  exiftierte.  Alle  vergangene  Dinge 
find  eins  wie  das  andre  in  gleicher  und  voll- 
kommner  Ruhe,  und  in  diefer  Hinficht  ift  es 
ganz  einerlei,  ob  fie  vor  dem  Anfange  der 
Welt  oder  erll  geftern  exulierten.  Das  Mef- 
Ten  einer  Dauer  durch  die  Bewegung  hängt 
daher  gar  nicht  davon  ab,  dafs  das  Ding,  def- 
E  e  2  fen 


^36  Zweites    Buch. 

fen  Dauer  beftimmt  werden  foll,  mit  diefe* 
Bewegung  oder  andern  Zeitperioden  wirk- 
lich coexiftire,  Tondern  dafs  ich  in  meinem 
BewufstTeyn  ejne  klare  Vorßellr.ng  von  der 
Länge  einer  bekannten  peviodifcben  Bewe- 
gung oder  andrer  Zwischenräume  der  Dauer 
h.  ,  und  üa  auf  die  Dauer  eines  Dinges 
anwende. 

§.     3o. 

Daher  fehen  wir,  dafs  einige  Menfchen 
die  Dauer  der  Welt  von  ihrem  Anfange  an 
bis  zu  dem  Jahr  i6ß9  n.  Ch.  G.  auf  5659  Jah- 
re oder  Umlaufszeilen  der  Sonne ,  andere 
aber  weit  höher  berechneten.  Die  Aegyptier 
zählten  zu  Alexanders  Zeit  20000  Jahre  von 
Regierung  der  Sonne  an,  und  heut  zu  Tage 
rechnen  die  Chine  er  noch  das  Alter  der  "Welt 
auf  0.269,000  und  noch  mehrere  Jahre.  Die- 
fe  längere  Dauer  der  Erde  kann  ich  mir  fo 
gut  vorftellen,  als  die  Aegyptier  und  Chine- 
fer,  fojite  auch  ihre  Berechnung,  wie  ich 
glaube,  nicht  richtig  Feyn  ,  und  ich  weifs  fo 
gewifs,  dafs  fie  greiser  i!t  als  'die  gewöhnli- 
che, denn  dafs  Methufah   langer  lebte,    als 

Enoch, 


Vierzehntes     K  a  p'i  t  e  I,  487 

Enoch,  Wenn  auch  die  gewöhnliche  Berech- 
nung des  Welfalters  wahr  ift,  und  das  kann 
fie  fo  gut  als  eine  andre  feyn ,  fo  hindert 
mich  doch  das  nicht,  andere  zu  verliehen, 
wenn  fie  die  Welt  1000  Jahr  älter  machen. 
Denn  ob  man  das  Alter  der  Welt  auf  5oooo 
oder  565g  Jahre  fetzt,  ift  in  Anfehung  der 
Verftellbarkeit  völlig  einerlei. 

§.     3i. 

So  können  wir,  um  die  Anwendung  da- 
von auf  Mofis  Schöpfungsgefcuichte  zu  ma- 
chen ,  uns  vorftelien ,  dafs  das  Licht  drei  Ta- 
ge vor  der  Sonn«  und  ihrer  Bew.egurtg  exi* 
liierte,  und  zwar  durch  die  blofse  Vorftel- 
hing,  die  Dauer  des  Lichts  vor  ErfchafFung 
der  Sonne  fey  fo  grofs,  als  die  Zeit,  welche  die 
Sonne,  wenn  fie  fchon  exiftierei  hätte,  würde 
gebraucht  haben,  um  ihren  drehten  Umlauf 
zu  endigen.  Eben  fo  Ufst  es  lieh  denken, 
dafs  das  Chaos  oder  die  Engel  eine  Minute, 
eine  Stunde,  einen  Tag,  ein  Jahr  oder  1000 
lahre  vor  dem  Lichte  oder  eiuer  ftetigen  Be- 
wegung erfchafreu  worden.  Denn  wenn  eine 
»linutenlange  Dauer  vor  dem  Dafeyn  der  B«, 
E  e  5  we- 


4^3  Zweites    Bück. 

vvegung  oder  eines  Körpers  denkbar  iß,  fo 
kann  ich  eine  Minute  zur  andern  bis  auf  60 
und  eben  fo  auch  Stunden  und  Jahre  (oder 
welches  gleich  viel  ift ,  folche  Sonnenumläu- 
fe oder  einige  Theile  derfelben ,  oder  ande- 
re ZeitgröTsen)  immer  zu  einander  hinzufe- 
tzen. Wenn  wir  damit  ins  Unendliche  fort- 
fahren, und  eine  Dauer  vorausfetzen,  welche 
jede  mögliche  Zurammenfetzung  folcher  be- 
fthninten  Perioden  überfieiget ,  fo  kommt 
man,  wie  ich  glaube,  auf  den  Begriff  der 
Ewigkeit,  von  deren  Unendlichkeit  wir 
keinen  andern  Begriff  haben ,  als  von  der 
Unendlichkeit  der  Zahl ,  zu  welcher  fich  im- 
mer eine  neue  hinzufetzen  läfst,  ohne  an  ein 
Ende  zu  kommen. 

§.      32* 

Es  ift  alfo,  wie  ich  glaube,  einleuchtend, 
dafs  wir  aus  den  zwei  Quellen  aller  Erkennt- 
jiifs,  der  Reflexion  und  der  Empfindung  die 
Vorftellungen  der  Dauer  und  ihrer  Zeitmaa- 
fse  erhalten.  Denn  erftlich,  wenn  wir 
beobachten,  was  in  unferm  GemtUhe  vorge- 
bet, wie  die  Vorftellungen  eine  unaufhörli- 
che 


Vierzehntes    Kapitel,  v    459 

che  fuccenive  Reihe  ausmachen,  in  der  eini- 
ge verfchwindeo  ,   und  andere  zum  Vorfchein 
kommen,    fo    erlangen  ' wir  den  Begriff  von 
der  Folge.      Zweitens,  die  Beobachtung 
des  Abftandes  zwifchen  den  Gliedern  der  Fol* 
ge  giebt    uns  den  Begriff  von  der  Dauer, 
Drittens,  wenn  wir   durch  die  Sinne   ge* 
wiffe  Erfcheinuugen  beobachten  ,  welche  in 
beftimmten  regelmäfsigen  und  gleichfcheinen- 
den  Perioden   erfolgen ,    fo  erlangen  wir  die 
Vorftellungen    von  gewifien  Längen    oder 
Zeitmaafsen  z.  B.  Minuten ,  Tagen,  Jah- 
ren,  -    Viertens,    da    es  möglich  ift,  diefe 
Zeitmaafse  oder  beftimmten  Längen  der  Dauer 
in  Gedanken  fo  oft  als  man  will  zu  wieder- 
holen ,  fo  gelangt  man   zur  Vorftellung  einer 
Dauer,    in  der  kein  Ding  wirklich  exiftieret, 
z.  B.    Vorftellung  von  Morgen,  vom  rachften 
Jahre,      oder  den    fieben  künftigen    Jahren. 
Fünftens.       Da  man  eine  Vorftellung  von 
einer  Länge   der  Zeit    in  Gedanken,   fo  oft 
als    man  will,  wiederholen,    und  eine  zur  an- 
dern hinztifetzcn  kann,    ohne  je   der  Gren- 
ze  diefer    Zufammenfetzung   näher  zu  kom- 
men, als  den  Grenzen  der  Zahlenverbindung, 
fo  erhält    man  den  Begriff  der  Ewigkeit, 
E  e   4.  2,  B, 


44°  Zweites  Buch. 

z.  ß«  die  ewige  künftige  Fortdauer  der  See- 
le, die  Ewigkeit  des  unendlichen  Wefens,  wel- 
ches zu  jeder  Zeit'  nothwendig  exiftieret, 
Sechftens.  Die  Betrachtung  eines  Theils 
der  unendlichen  Dauer,  infofern  fie  durch  pe- 
riodifch  wiederkehrende  Erfcheinungen  be- 
grenzt ift,  giebt  uns  den  Begriff  von  der 
Zeit  überhaupt  *). 


FunF- 


*)  Wenn  Locke  glaubte  den  Grund  der  Vor- 
ftellung von  der  Zeit  gefunden  zu  haben,  fo 
irrte  er  fich ;  er  fand  nur  die  empirifche  Ent- 
ftehungsart  diefer  Vorftellung  ;  das  worauf  fie 
beruhet,  blieb  ihm  verborgen.  Er  fuchte  den 
Urfprung  derfelben  an  gewiffen  Begebenhei- 
ten, die  in  der  Zeit  auf  einander  folgen,  und 
gewiffen  Objecten  auf,  die  in  der  Zeit  behar- 
ren ,  nehmlich  den  Vorfiellungen  in  uns,  und 
den  Dingen  aufser  uns.  Er  gehet  -von  der 
innern  Wahrnehmung  aus,  dafs  alle  Vorfiel- 
lung^en  unaufhörlich  wechfeln.  Eine  Reihe 
folcher  wechfclnden  Vorfiellungen,  gleichlam 
eine  Linie ,  die  wir  in  der  Vorftellung  zie- 
hen. 


Fünfzehntes    Kapitel.  44» 

Fünfzehntes     Kapitel. 

Von  der  Dauer  und   der  Ausdehnung  in  Beziehun9 
auf  einander  betrachtet. 


$.        I. 


Beide  Find  einer   Vermehrung  und 
Verminderung    fähig* 

vyb  wir  gleich  bei  der  Betrachtung  des 
Baums  und  der  Dauer  in  den  vorhergehen- 
den Kapiteln  fehr  lange  fchon  verweilt  haben, 
üö  wird  doch  vielleicht  eine  Vergleichung 
E  e  5  bei- 

•  hen,  ift  das,  was  er  Dauer  nennt.  Wird 
lie  als  eine  Linie  vorgeftellt ,  welche  auf  bei. 
den  Seiten  ins  Unendliche  verlängert  werden 
kann,  oder  ohne  Grenzen  ift,  fo  ift  es  die 
Ewi  gkeit.  DieZei  t  ift  einTheil  der  Dauer, 
infofern  lie  durch  gewifieperiodifcli  wiederkeh- 
rende Erfcheinungen  gemelfeu  und  begrenzt 
ilt.  Da  er  diefe  Begriffe  von  Dingen,  die  in 
der  Zeit  find,  abftrahirte,  fo  mnfste  er  noth- 
wendig  die  Zeit  mit  allen  ihren  Beitüoimun- 
gen  lui  etwas  Wiikliches  halten. 


442  Zweites    Buch. 

beider  .mit  einander  nicht  unzweckmäßig  feyn, 
weil  beide  Begriffe  fo  allgemein  wichtig  find, 
und  ihre  Natur  manches  eigentümliche  und 
dunkle   entluilt.     Vielleicht  können  auch  die 
Begriffe  an  Klarheit  und  Deutlichkeit  gewin- 
nen ,    wenn   fie  neben   einander  geftellt  und 
verslichen  werden.   Den  Raum  oder  den  Ab- 
ftand, feinem  reinen  abftrakten  Begriffe  nach, 
nenne  ich,  um  Verwirrung  zu  vermeiden,  Ex* 
panfion,  und    unterfcheide  ihn   dadurch  von 
der  Ausdehnung,   unier     welcher  einige  nur 
den  Abftand  dichter  Theile  der  Alaterie   von 
einander  verftehen.  Die  Ausdehnung  fchliefst 
alfo  den  Begriff  vom  Körper  ein,  oder  führet 
doch   auf  ihn  hin;    der   Begriff  vom  blofsen 
Baume  aber  enthalt  nichts  davon.     Auch  zie- 
he ich    das  Wort  Expanfion  dem  Räume 
darum  vor,  weil  das  letztere  oft  fowohl  auf  den 
Abftand  vergänglicher,  fuccefliver  nicht  neben 
einander  exiftierender ,    als  auf  den  Abftand 
beharrlicher  Theile_  angewendet  wird.     Von 
beiden,  dem  Raum  und  der  Dauer,  hatderVer- 
ftand  die  gewöhnliche  Vorftellung  von    fteti« 
gen  Langen  ,  die  einer  gröfsem  oder  kleinern 
(^uanti.ät  empfänglich  find.       Denn  die  Vor- 
ftellung von  dem  Unterschiede  der  Länge  ei- 
ner 


Fünfzehntes    Kapitel.  445 

ner  Stunde  und  eines  Tages  ift  fo  klar,  als 
von  dem  Unterfchiede  der  Länge  eines  Zolls 
und  eines  Fufses, 

§.      2, 

Der  leere  Raum  ift  nicht  durch  die 
Materie  befchränkt. 

Die  Vorftellung   von     einer    Länge    des 
Raums,  z.  B.  eine  Spanne,    ein  Schritt  u.   f, 
w.  kann  der  Verftand  ,   wie  fchon  gefagt  wor- 
den, wiederholen,  eine  an  die  andre  letzen, 
und  fo  die  Vorftellung  von   der  Länge  erwei- 
tern.    Er  kann  fich  alfo  eine  Länge  von  zwei 
Spannen    oder   Schritten    vorfieilen ,    und  iie 
immer  vergrofsern,  bis  fie  der  Entfernung  des 
einen  Erdtheils  von  dem  andern,  ja  der  Erde 
von  der  Sonne   und  dem  entfernteften  Sterne 
gleich  kommt.       Wenn  man  von   einem  ge- 
w  illen  Tunkt  ausgehet,    fo  kann   man  durch 
diefe     fortfchreitende    Vergröfserung    immer 
weiter  kommen,  und  alle  Längen  überfchrei- 
ten ,  ohne  in  oder  aufser  der  Körperwelt  ei- 
ne Grenze   zu  finden.     Der  Verftand  kommt 
zwar  fehr  bald  in  Gedanken  an    die  Grenze 
des   erfüllten   Raumes  und   der  Körperwelt; 

ift 


444  Zweites  Buch. 

ift  er  aber  einirnl  dahin  gelangt,  fo  findet  er 
dann  auch  weiter  nichts,  das  feinen  Fortgang 
in  den  grenzenlofen  leeren  Raum ,  deflen 
Ende  man  weder  finden  noch  vorftellen 
kann,  hinderte.  Man  Tage  ja  nicht,  aufscr- 
halb  der  Grenzen  der  Körperwelt  fey  gar 
nichts,  man  würde  fonftGott  in  die  Grenze» 
der  Materie  einfchliefsen.  Salomo  der  wei- 
fe König,  fcheint  andrer  Meinung  gewefen 
zu  ieyn,  wenn  er  la£t:  der  Himmel,  und 
der  Himmel  der  Himmel  kann  dich  nicht  faf- 
Ten.  Und  mich  dünkt,  es  ift  eine  AnmaaTsung 
des  Verftandes.  wenn  man  wähnt,  man  kön- 
ne feine  Gedanken  noch  weiter  ausdehnen, 
als,  wo  Gott  exiftieret,  und  lieh  einen  Raum 
denken,  wo  Gott  nicht  ift» 

§.     3/ 

Die  Dauer   ift   nicht    durch   die   Be- 
wegung   eingefchränkt. 

Eben  fo  verhält  es  Geh  mit  der  Dauer, 
Der  Verftand  kann  die  Vorftellung  von  jeder 
Länge  der  Dauer  verdoppeln,  vervielfältigen, 
und  üe  nicht  nur  über  feine  Exiftenz ,    fon- 

dera 


Fünfzehntes    Kapitel.  i^tfe 

dem  auch  über  die  aller  körperlichen  Wefen 
und  über  jedes  Zeitmaafs  erweitern ,  welches 
durch  die  Bewegung  der  Himmelskörper  be* 
ftimmt  ift.  Ob  wir  aber  gleich  uns  die 
Dauer  als  grenzenlos  vorftellen,  wie  fie  es 
denn  auch  wirklich  ift,  fo  wird  doch  Jeder 
leicht  eingeftehen,  dafs  wir  fie  nicht  üker 
alles  Dafeyn  hinaus  ausdehnen  können.  Gott 
erfüllt  die  Ewigkeit ,  darin  ftimmt  jeder 
Menfch  ein,  und  es  läfst  lieh  kaum  ein 
Grund  denken,  warum  er  nicht  eben  fo  den 
unermefslichen  Raum  erfüllen  füllte.  Sein 
unendliches  Wefen  ift  in  beiden  Rückfichten 
gleich  fchrankenlos.  Und  man  dürfte  wohl 
der  Materie  zuviel  bej legen,  wenn  man  be- 
haupten wollte,  wo  kein  Körper  ift,  da  fey 
gar  nichts, 

§.    4- 

Warum  die  Menfchen  geneigter 
find,  eine  unendliche  Dauer, 
als  einen  unendlichen  Raum 
anzunehmen. 

Hieraus  laTst   fich    die   Urfache  einfehfii, 
warum  Jeder   ohne  das    geringfte  Bedenken 

von 


446  Zweites    Euch. 

von  der  Ewigkeit  als  einer  bekannten  Sachs 
fpricht  und  der  Dauer  Unendlichkeit  beile- 
get, dahingegen  fich  viele  Bedenklich keiten 
und  Zweifel  gegen  die  Annahme  eines  un- 
endlichen Raumes  machen.  Der  Grund  - 
fcheint  mir  nehmlich  darin  zu  liegen,  dafs 
die  Dauer  und  die  Ausdehnung  als  Beftim- 
rnungen  andrer  Wefen  betrachtet  werden» 
Bei  Gott  flehen  wir  uns,  und  zwar  unver- 
meidlich eine  ewige  Dauer  vor.  Die  Aus- 
dehnung hingegen  legen  wir  nicht  diefem 
Wefen,  fondern  nur  der  endlichen  Materie 
bei.  Infofern  alfo  die  Ausdehnung  nur  als 
eine  Befiimmung  der  Materie  gedacht  wird, 
glaubt  man  eher  berechtiget  zu  feyn ,  an  ei- 
uer  Ausdehnung  ohne  Materie  zu  zweifeln. 
Wenn  daher  die  Menfchen  die  Regionen  des 
Raums  durchlaufen  ,  fo  pflegen  fie  gewöhn- 
lich an  den  Grenzen  der  Körperwelt  Halt  zu 
machen ,  als  wenn  da  der  Raum  auch  zu  En- 
de wäre ,  und  nicht  weiter  reichte ;  und 
wenn  auch  ihre  Betrachtungen  fie  etwas  wei- 
ter führen,  fo  nennen  fie  doch  das,  was  au- 
fser  den  Grenzen  des  Univerfuins  ift ,  einen 
eingebildeten  Raum  ;  als  wäre  er  deswegen 
nichts,  weil  ksin   Körper   in  demfelben  exi- 

ftiert. 


Fünfzehntes    Kapitel.  fyyj 

ftiert.  Hingegen  halten  fie  die  Dauer  vor 
dem  DaTeyn  der  Körper  und  der  Bewegungen, 
wodurch  jene  gemeflen  wird,  keines weges  für 
eine  blofs  eingebildete  Zeit,  weil  fie  diefelbe 
nie  ohne  eine  reale  Exiftenz  denken.  Wenn 
die  Worte  unfern  Verftand  auf  den  Urfpruno- 
der  Begriffe  leiten  können,  (und  das  können 
fie  in  einem  hohen  Grade,  wie  ich  glaube) 
fo  dürfte  man  wohl  aus  dem  Worte  d  u  r  a  t  i  o 
fchliefsen ,  dafs  man  fich  eine  gewille  Ana- 
logie zwifchen  der  Fortdauer  der  Exiftenz 
und  einer  Art  von  Wider  (fand  gegen  zerftöh- 
rende  Kräfte  und  einer  fortdauerndem  Dicht- 
heit (.welche  mit  der  Härte  leicht  verwech- 
felt  werden  kann,  und  in  Rückficht  auf  die 
kleinften  zerlegbaren  Theile  der  Materie  we- 
nig davon  verfchieden  ift)  dachte,  und  dafs 
dieTes  zur  Bildung  zweier  fo  ähnlichen  Worte 
als  durare  und  durtis  find,  Veraniaffung  gab. 
Aus  einer  Stelle  des  II o  raz  hebet  man,  dafs 
das  Wort  durare  fowohl  in  der  Bedeutung 
von  Härte  als  von  Exiftenz  gebraucht 
wird  *),      Doch  wir  lallen  das  dahin  geftellt. 

Soviel 


')  Epodon  XVI.   v.    65.    Acre  dehinc  ferro  du. 
rauit   faecula.  _ 


4'|8  Zweites    BucL; 

Soviel  ift  ab^r  gewifs,  wer  feine  Gedanken 
verfolget,  wird  finden,  dafs  fie  fich  zuwei- 
len über  die  Körperwelt  hinaus  in  den  un- 
endlichen leeren  Raum  verlaufen.  Der  Be- 
griff des  letzten  ift  von  dem  eines  Körpers 
und  jedes  andern  Dinges  durchaus  unter- 
fchieden  und  getrennt.  Diefs  kann  den  Lieb- 
habern folcher  Unterfuchungen  Stoff  zu  wei- 
term  Nachdenken  geben. 


§.      5. 

Die    Zeit   verhält  fich   lur    Dauer, 
wie  der  Ort  zum  Rautne» 

Die  Zeit  verhält  fich  überhaupt  zur 
Dauer  wie  der  Ort  zum  Raum  e.  Sie 
find  gewifie  Theile  des  grenzenlofen  Oceans 
der  Ewigkeit  und  Unermefsiichkeit,  infofern 
fie  von  den  übrigen  gleichfain  durch  Grenz- 
fteine  abgeraarket  find  und  dazu  gebraucht 
weiden,  um  disZeit  -  und  Ortverhältnifle  ei- 
nes endlichen  realen  Wefens  in  Rückficht  auf 
ein  andres  zu  beftimmeu.  Nach  richtigen 
Begriffen  find  l\e  nichts  als  Vorftellungen  ei- 
nes beftiranuen  Abftandes  von  gewiffen  be- 
kannten 


Fünfzehnte»    Kapitel.  443 

kannten  feften  Punkten  an  hnu  liehen  unter- 
fc.u  ivlbaren  Objecten,  von  dem-n  man  vor- 
ausfetit,  dal's  he  ihren  Abttand  von  einander 
nicht  verändern.  Von  diefen  feiten  Puncten 
zählen  und  mefft  n  wir  gewifle  Theile  der 
unendlichen  Gröfee  deT  Dauer  und  des  Raums 
und  diere  und  denn  das  ,  was  wir  Zeit  und 
Ort  nennen.  Denn  da  die  Dauer  und  der 
Kaum  an  fich  gleichförmig  und  grenzenlos 
find,  fo  würde  ohne  folche  beltimmte  'er- 
kennbare Puncte  alle  Ordnung  und  Lage  der 
Dinge  verfchwinden  ,  und  alles  in  einer  Ver« 
wirrfirig  liegen,  au»  der  heb.  niemand  heraus* 
finden  könnte. 

§.    & 

Zeit  und  Ort  werden  für  denje- 
nigen Theil  der  Dauer  und  des 
Raumes  g-e  nomnien,  welcher 
durch  dieExiftenz  und  Bewe- 
gung der  Körpers  beftimmt  iff, 

Infofern     man     unter     Zeit     und     Ort 
bcRiimnte ,     untrrfcheidbare    Theile  der    un* 
endlichen   Dauer  und  des    unendlichen  Rau- 
mes  verftehet,     welche    wirklich    oder    hy- 
F  f  puthe« 


<j5o  Zweites    Buch. 

pothetifcb  von  andern  Theilen  durch  beftimm- 

te  Puncte   und  Grenzen  abgefordert  werden 

i 

haben  beide  eine  gedoppelte  Bedeutung, 

Erftens.  Die  Zeit  überhaupt  bedeutet 
eine  beftimmte  Gröfse  der  unendlichen  Dauer, 
welche  durch  die  Exiftenz  und  Bewegung 
der  grofsen  Weltkörper ,  infofern  fie  für  uns 
erkennbar  find,  gemefTen  oder  mit  ihnen  co- 
exiftierend  iit.  In  diefer  Bedeutung  fangt 
die  Zeit  an  und  hört  wieder  mit  unfern! 
Wehbau  auf.  Dahei  die  Redensarten  :  vor 
aller  Zeit;  wenn  keine  Zeit  mehr  fevn  wird. 
Eben  fo  bedeutet  der  Ort  zuweilen  den 
Theil  des  unendlichen  Raums,  welcher  von 
der  Körperwelt  erfüllet,  und  dadurch  von 
dem  übrigen  Baume  unterschieden  wird.  Ei- 
gentlicher  ift  das  nicht  fowohl  der  Ort  als 
der  erfüllte  Raum,  Innerhalb  den  Grenzen 
diefer  Zeit  und  des  Ortes  wird  die  individu- 
elle befondre  Zeitdauer,  Ausdehnung  und 
Ort  der  Körper  begrenzt ,  und  durch  be- 
ftimmte Grofsen  gern  eilen. 


§♦  7* 


Fünfzehntes    Kapitel.  tfii 

§■     7- 

Zuweilen  werden  fie  für  die  je« 
gen  T heile  der  Dauer  und  des 
Raumes  genommen,  welche 
durch  gewifse  von  der  Ausdeh- 
nung und  Bewegung  der  Kör- 
per entlehnte  JYIaafse  Leftimrat 
werden. 

Zweitens.       Das  Wort  Zeit  wird  zu- 
weilen   in  einem  weitern   Sinne  genommen, 
und    auf  diejenigen  Theile  der  unendlichen 
Dauer  angewendet,    welche  durch  die  reale 
Exiftenz    und  durch  die   periodischen  Bewe- 
gungen der  zum   ZeitmeiTen  beftimmten  Kör- 
per nicht  wirklich  abgesondert  und  abgemef- 
l'en  liiul ,  fondern  nur  in   der  V  orftellung   ge- 
wiflen  Langen  der  gemeüenen  Zeit  gleich,  und 
dadurch  begrenzt  und  beftnnmt  gedacht  wer« 
den,       Wenn     wir    annähmen  ,     die    Schö- 
pfung der    Engel     fiele    in    den  Anfang  der 
lulianilchen  Periode,  lo  könnte   man   im  et- 
gentlicben  Sinne  und  ganz  verbindlich  fagen, 
die  Schöpfung  der  Engel  fey  76 1.  Jnhr  früher 
§ekheheu,  als  die  Schöpfung  der  Welt,   und 
F  f  2  man 


4$2  Zweites     B  u  c  iw 

mau  würde  dadurch  foviel  von  der  unbe- 
grenzten Dauer  abzeichnen,  als  der  Zeit  ent- 
fpucht,  in  welcher  die  Sonne  764  mal 
ihren  jährlichen  Umlauf  endiget.  Eben  fo 
fpricht  man  vom  Orte,  Abßande  und  GtöTse 
in  dem  grofsen  leeren  Räume  aufser  der  Kör- 
perwelt. l\lan  ftellt  fich  dann  foviel  von  dem 
Räume  vor  ,  als  einem  Korper  gleich  ift,  oder 
einen  Körper  von  beftimmter  Grüfse  z.  B.  von 
einem  Ktibikfufs  fallen  kann,  oder  denkt  fjch 
einen  gewilTen  Punkt  in  einer  bellimmten 
Entfernung  von  einem 'fheiie  des  Univenumj, 


s.   s. 

Seit    und    Raum    gehören     für    alle 
W  e  f  e  u. 

Wo  und  Wenn,  find  Fragen,  die  fich 
auf  alle  endliche  existierende  Dinge  beziehen. 
Bey  Beftimmurig  derfelben  ,  gehen  wir  alle- 
zeit von  gewilTen  bekannten  TL  eilen  derlinn- 
lichen  Welt  und  von  gewiilen  durch  die  Be- 
wegung der  Körper  befttinmten  Zeiträumea 
aus.  Ohne  iblche  feite  Puncte  und  Perioden 
würde    lieh    für  unfern  endlichen    Yerftand 

-    die 


Fünfzehntes     Kapitel.'  ^55 

die  Ordnjung  der  Dinge  in  dem  grenzenlo-. 
fen  unveränderlichen  Oce3n  der  Dauer  und. 
des  Raumes  verlieren,  welches  alle  emiliche 
Wefen  umfafst  und  in  feinem  ganzen  Umfan- 
ge nur  der  Gottheit  zukommt.  Daher  darf 
man  (ich  nicht  wundem,  dafs  wir  fie  nicht 
begreifen,  und  fo  oft  in  Verlegenheit  kom- 
men ,  wenn  wir  Ge  entweder  in  Abftracto  an 
lieh ,    oder    gewifTermaTsen    als    Attribute  des 

r^eillichcu  Wefens  betrachten.  Allem 
in  Beziehung  auf  einzelne  endliche  Wefen  ift. 
die  Ausdehnung  eines  Körpers  ein  fogTofse* 
'1  heil  des  unendlichen  Raumes,  ah  der  Um- 
fing diefes  Körpers  einnimmt;  und  der  Ort, 
cfäs  Verhältnifs  eines  Körpers  in  gewifi'en  Ent- 
fernungspuneten  von  andern  Körpern.  So 
wie  die  beftiinmte  Dauer  eines  Dinges  die 
Vorßellung  von  demjenigen  Theile  der  un- 
endlichen Dauer  ift,  welcher  während  der 
Exifienz  deffelbcn  verfließt,  fo  ift  die  Zeit, 
in  der  ein  Ding  exiftieret,  die  Vorftellung 
von  iler  Grösse  der  Dauer,  welche  zvyifchen 
bekannten  unveränderlichen  Zeiträumen  unt.1 
der  Exifienz  deffelben  Dinges  vcrlliefst.     Je- 

beftimmt  den  Abfiand   von  den  Grenzen 

des  Umfangcs  oder  tue  Lange   der  Exiftenz 

F  f  3  ddle!- 


/j54  Zweites     Buch. 

deflelben  Dinges;  diefes  die  Entfernung  Fei- 
nes Orts  oder  Dafeyns  von  gewiflen  andern 
Planeten  des  Raums  oder  der  Dauer.  In  je- 
ner RÜLkficht  fa^t  man,  es  nehme  einen 
Raum  von  einem  Quadrat  Schuh  ein  ,  und 
es  habe  zwei  Jahre  gedauert;  irr  diefer,  es  fey 
in  der  Mitte  des  Linconls  Ira  fields,  in  dem 
J,  1671  von  Chr.  G  u.  f,  w.  Alle  diefe 
Entfernungen  werden  durch  gewiiTe  feftge- 
fetzte  Längen  des  Raums  und  der  Zeit  ge-  * 
aieflen. 

§>      9* 

Alle  Theile  der  Ausdehnung 
find  ausgedehnt  und  alle  Thei- 
le der  Zeit  hefte hen  wieder 
aus  Zeitt  heilen. 

Raum  und  Dauer  ftimmen  auch  noch  in 
diefem  Punct  fehr  mit  einander  überein,  dafs 
iie  fich  nicht  ohne  alle  Zufauimenfetzung 
deutlich  vorfiellen  lalTen,  ob  fie  gleich  mit 
Recht  unter  die  einfachen  Vorstellungen  ge- 
zählt werden.  Denn  das  Wefcn  beider  be- 
gehet darin  ,  dafs  fie  aus  Theilen  zufainmen- 
gefetzt  find.     Da  aber   diefe  Theile  alle  ein. 

artig 


Fünfzehntes     Kapitel.  ^55 

artig  find,  und  keire  andre  Vorftellung  einge- 
mifcht  ift,  fo  behaupten  fie  dennoch  ihre 
Stelle  uner  den  einfachen  Begriffen  *)  Könn- 
te der  Verftand,  wie  bey  der  Zahl,  auf  fo  ei- 
nen kleinen  Theil  der  Ausdehnung  oder 
Dauer  kommen ,  der  alle  Theilbarkeit  aus- 
fchliefst,  fo  würde  er  im  ftrengen  Sinne  eine 
untlieilbare  Einheit  oder  Vorftellung  feyn, 
durch  deren  Zufammenfetzung  die  vielum- 
faffVndften  Vorstellungen  der  Ausdehnung 
und  Dauer  gebildet  würden.  Allein  die  Vor- 
ftellung eines  Raumes  ohne  Theile  ift  nicht 
möglich,  und  daher  bedient  fich  der  \  er- 
F  f  4  ftand 


*3  Hier  wurde  dem  englifchen  Philofoplicn  der 
Einwurf  gemacht;  wie  die  Vorftellung  dc> 
Raums  eine  einfache  Vorftellung  feyn  könne, 
da  lieh  kein  Raum  ohne  Theile  neben  einan- 
der vorftellen  laffe.  Er  antwortet  darauf t 
Sie  Einfachheit,  welche  er  reiftehe  ,  febüe- 
fse  nicht  r.othwendig  alle  Ziifammeiifefzung, 
foiubnn  nur  die  Verbindung  verfcliicdenarii- 
ger  Vorftellungen  aus  ;  und  die  Vorftellung 
des  Piaums  fev  daher  noch  immer  einfach,  in- 
folcrn  jeder  Raum  zwar  aus  Th  eilen  aber  aus 
Xheilen  toii  einer  Art,  d.  i,  aus  Räumen  befiehl 


/j56  Zweites    B  u  c  h. 

ftand  anftatt  derfelben  der  gewöhnlichen  Maa- 
fse,     welche    in    jedem    Laude  durch  öftern 
Gebrauch     dem    Gedächtnis   eingeprägt  find, 
al-  einfacher  Vorstellungen,  und  bildet  aus  die- 
len Belandtheilen  n;>ch  Gelegenheit  die  viel- 
umfaflendeften    Vorftellungen.       Auf   der  an- 
dern    Seite    wird     das    gewöhnlich    kleinfte 
Maafs   des    Raumes    und   der    Dauer  als   eine 
Einheit  in  der  Zahl  betrachtet ,    wenn  fieder 
Verftand  durch  Divifion  auf  kleinere  Brüche 
zurückzuführen  fucbt.     Doch  wenn  eine  be» 
fiimmte    Vorftellung    des    Raumes    oder   der 
Dauer  durch  da-.  Zufammenfetzen  oder  Thei« 
len  zu  grofs  oder  zu  klein  wird ,   fo  wird  dio 
.  freftimmte    Gröfse    in    beiden    Fällen  dunkel 
und  verwirrt,    und  die  Zahl  der  wiederhol- 
ten Verbindungen  und  Trennungen  bleibt  al- 
lein klar  und  deutlich.       Um    fich  davon  auf 
eine  leichte  Art  zu  überzeugen,   fo   durchlau. 
fe  man    mit    fein'en  Gedanken  die  unermeßli- 
che Ausdehnung  des  Raums    oder   die   unend- 
liche Theilbarkeit  der  Materie.     Jeder  Theil 
der  Zpit  ift  wieder  eine  Zeit;    jeder  Theil  der 
Airdehnung    ift    wieder   ausgedehnt;     beide 
find  einer  Vermehrung  nnd  Verminderung  ins 
Unendliche  fähig,     Aber  vielleicht  ift  es  uns 

am 


Fünfzehntes    Kapitel.  4^7 

am  angemeffenftrn,  den  khinflen  Theil  der 
Driuer  und  des  Raums,  d°n  i  ir  noch  klar 
und  deutlich  vorfallen  können,  als  die  ein- 
fachen VorfrellungafT  dierer  Art  zu  betrach- 
ten ,  aus  welchen  unfre  zufammengefetzten 
Beftünmungen  des  Raums  nnchder  Dauer  be- 
liehen, und  in  welche  c"efe  wieder  aufge- 
löft  werden  können.  Ein  folcher  kleiner 
Theil  der  Dauer  könnte  ein  Augenblick 
genennt  werden  f  welcher  die  Zeit  ift,  wel- 
che eine  Vorstellung  in  den  gewöhnlich  wech- 
felnden  Reihen  erfüllet.  Ich  weils  nicht,  ob 
ich  für  den  kltinften  Tbeil  der  Materie  oder 
des  Raumes,  der  noch  unterfchieden  werden 
kann,  in  Ermangelung  eines  beftiinmtea 
Worts,  die  Benennung ,  ein  finnlichev 
Pnnct  vorfchbgen  darf.  Ein  folcher  Punet 
ift  gewöhnlich  ungefähr  eine  Minute  grofs, 
und  erfcheint  dem  fchürfften  Auge  feiten 
kleiner,  als  dreyfsig  Securulcn  eines  Cirkels, 
wovon,  das  Auge  der  MitteJpuiict  ift. 


F  f  5  §•  10. 


/j5S  Zweites     Buch. 

§♦         IO. 

Die    Theile    des    Raums    und    der 
Dauer    find    unzertrennlich. 

Der  Raum  und  die  Dauer  haben  noch 
dlefes  mit  einander  gemein,  dafs,  obgleich 
beide  als  aus  Theilen  beliebend  gedacht  wer- 
den, die  Theile  doch,  felbft  in  Gedanken, 
unzertrennlich  find.  Aber  die  Theile  der 
Körper  und  der  Bewegung,  oder  befler  der 
Folge  unfrer  Vorftellungen  im  Gemülbe,  von 
welchen  wir  das  Maafs  des  Raums  und  der 
Dauer  hernehmen  ,  können  unteibrochen 
und  getrennt  werden,  wie  das  bey  dem  ei- 
nem durch  die  Ruhe,  bei  dem  andern  durch 
den  Schlaf,  welcher  auch  eine  Art  von  Ru» 
he  ii't,  gefchiehet, 

§•      II 

Die  Dauer  wird  als  eine  Linie,  der 
Raum  als  ein  Dichtes  betrachtet. 

Jedoch  findet  Geh  zwiTchen  beiden  auch 
der  offenbare  Unterft.hied ,  daTs  die  Länge 
des  Raums  nach  allen  Richtungen  vorgeftellt 

wer- 


Fünfzehntes     Kapitel.  469 

werden  kann,  und  alfo  eins  Fläche   mit  Brei- 
te und  Dicke  ausmacht  ;    die  Dauer  hingegen 
glpichfam  nur    die    l  änge  einer  geraden  ins 
unendliche  ausgedehnten   Linie,    und  keiner 
Mannichfaltigkeit   verfchiedener    Richtungen 
oder  Figuren  empfänglich  ift.     Die  Dauer  ift 
nur  ein   gemeinschaftliches  Maals  jeder  Exi- 
ftenz,  an  welchem  alle  Dinge,    fo   lange   fie 
exiftieren,  gleichen   Antheil  nehmen.       Denn 
diefer   Augenblick   ift    allen    Dingen  gemein, 
die  jert  ein   Dafeyn  haben  ,    und  befafst  jeden 
Theil  ihrer  Exiftenz   auf  gleiche  Art,  gerade 
als  wären   fie   alle   nur    ein  einzelnes  Wefen  ; 
und  man    kann  in  Wahrheit    lagen  ,    dafs  alle 
existierende  Wefen  in  demfelben    Augenblick 
exiftiereu.     Ob  die  Enge!    oder  Geifter  darin 
in   Anfehung   öes    Raumes    einige    Aehnlich- 
keit  haben,    das  überfielet    meinen   Verftand. 
Und  vielleict  fallt  es  nur    uns ,     deren   Ver- 
ftandes  -  und  Begreiftmgs*rer mögen   der  Er- 
haltung und  den  Endzwecken  unfers  Dafeyns, 
aberzieht  der    Realit.it  und   der  Sphäre  aller 
andern   Dinge    angepaßt   I  I  ,    r,>    fchwer,   die 
Exiftenz  eines    realen    Wefens  ohne  alle  Aus- 
dehnung,  fo  wie  ohne  alle  Datier  zu  denkm. 
Und  ddher  wifien  wir  nicht,  was  die  Geifter 

mit 


4$o  Zweites     Buch, 

mit  dem  Haume  zu  thun  haben,  oder  wie  he 
an  dmifelben  Aniheil  nehmen.  Alles  was 
wir  darin'  willen  ,  ift,  dafs  jeder  einzelne 
Körper  leinen  eignen  Theil  vom  Kanrne  nach 
Verhältnis  des  Umfangs  feiger  dich» en  lliei- 
Ijb  einnimmt,  nnd  fo  lange  er  denfelben  er- 
füllt, alle  andre  Körper  daraus  ausschliefet. 

f*       12, 

Ind°r  Dauer  find  nicht  zwei 
T  h  e  i  1  e  zugleich,  in  dem  Räume 
alle  zugleich. 

Die  Daner  und  ein  Theil  derfelben  die 
Zeit  ift  die  Vorftellun.g  von  dem 
wech  fein  den  Abftande,  von  wel- 
chem nicht  zwei  T  heile  zugleich 
exifiierer),  f  o  n  d  e  i  n  einer  auf  den 
andern  folgt;  der  Raum  ift  die  Vor» 
fteljung  von  dem  beharrliehen  Ab- 
ftande, deffen  Theile  alle  zu» 
gleich  find,  ohne  einer  Folge  em- 
pfänglich zu  fern.  Wir  können  daher 
keine  Dauer  ohne  Folge  denken,  noch  uns 
Yörflellefl,    dafs   ein  Bivg  zugleich    jezt  und 

mor-zen 


Fünfzehntes    Kapitel.  461 

jungen  exiftiere,  oder  jezt  ir  ehr  als  einen 
Augenblick  der  Zeit  einnehme.  Deinungeach- 
tet  können  wir  die  ewige  Dauer  de*  Alb)  Meh- 
ligen, als  ganz  verfchieden  von  der  Daaer 
des  Menfchen  od<  r  eines  andern  endlichen 
V^efens  denken.  Denn  ilic  E*kenntnifs  und 
JWacbt  des  Menfcher.  umfafst  nicht  alles  Ver- 
gangene und  Künftige;  f  i' eGedanken  gehen 
nur  bis  auf  Gehern  zurück,  und  er  weife 
nicht,  was  der  morgende  Tag  an  das  Licht 
^ringen  wird.  VA  as  einmal  vergangen  ift, 
kann  er  nicht  wieder  zurückrufe.'!,  nicht  dää 
Künftige  zu  dem  G  geuyvärtigen  machen.  Wa$ 
ich  von  dem  Menfcben  (a(.e,  gilt  vom  allen 
endlicl  en  Wefen ,  welche,  fo  (ehr  le  auch 
die  Menfchen  an  Kenntnifs  und  M.aejit  über- 
treffen mögen,  doch  in  VeTgleiehung  mit 
Gott  felbft  nichts  mehr  ah  <  as  geringfte  Ge» 
fchöpf  find.  Das  Fndlitle,  wie  grofs  es 
auch  fey  ,  ftehet  doch  in  keinem  Verhältnifs 
mit  dem  Unendlichen.  Da  Gottes  Ewigkeit 
mit  unendlicher  Macht  und  Erkenntnifs  ver- 
knüpft ift,  lo  fiehet  er  alles  Vergangene  und 
Künftige,  und  da:,  alles  ift  von  feiner  Er- 
kenntnis und  Anfchaunng  nicht  weiter  ent- 
fernt,   als  das  Gegenwärtige;    zu  jeder  Zeit 

kann 


462  Zweites   Buch, 

kann  er  was  er  will ,  ins  DaTeyn  rufen«  Denn 
von  feinem  Willen  hängt  die  Exiftenz  aller 
Dinge  ab;  fie  exütieren,  fobald  er  denkt, 
dafs  fie  exiftieren  follen.  —  Endlich  niüfsen 
wir  noch  bemerken  ,  dafs  der  Raum  und  die 
Dauer  einander  wecb felsweife  umfallen  und 
einfchliefsen.'  Jeder  Theil  des  Raums  ift  in 
jedem  Theil  der  Dauer,  und  jeder  Theil  der 
Dauer  in  jedem  Theil  des  Raums.  Eine  fol- 
che  Verknüpfung  zweier  fo  verfehiedener  Be- 
griffe wird  nicht  leicht  wieder  bei  der  grofsen 
IVIaunichfaltigkeit  unfrer  Vorftellungen  gefun- 
den werden ,  und  fie  kann  daher  Stoff  zu 
liefern  Unterfuchungen  geben. 


Sech« 


Secliszehntes     Kapitel.  4&3 

Sechszehntes   Kapitel» 

Von    d  e  v     Zahl» 


Die  Zahl  ift  der  ein  fach  fte  und 
allgemeinfte   Begriff. 

IT 

*^nter  allen  fo  mannichfalligen  Vorftellungen 
wird  keine  dem  Gemülhe  durch  fo  viele  Ge- 
gerilij.nle  zugeführt,  und  keine  ift  fo  einfach, 
als  der  Begriff  der  Einheit.  Er  enthalt  nicht 
die  geringfte  Spur  von  JVlannichfaliig- 
keit  oder  Zufammenletzung,  Jedes  Ubjecr, 
das  uufre  Sinne  be'chafüget ,  jede  Vorftel- 
lung,  jeder  Gedanke  dei  Seele  führt  ihn  mit 
fleh  Darier  ift  er  mit  allen  unfern  Gedanken 
innigft  verwebt,  und  in  Rücklicht  (einer  Be- 
ziehung auf  alle  Dir,ge  der  allgemeinfte  Be- 
griff Denn  er  wird  auf  Men  chen  ,  Engel, 
Handlungen,  Gedanken,  kuri  auf  alles  was 
exiftiert,  oder  auch  nur  denkbar  ift,  ange» 
wendet.  , 


464  Zweites    Buch, 

f.       2. 

A  i  1  e  B  e  f  t  i  m  munden  der  Zahl  entfte« 
hen  durch  die  Zufammen  fetzung. 

Durch  Wiederholung  diefes  Begriffs  und 
Zufawmenfetzung  mehrerer  derfelben  gelangen 
wir  zu  den  zufammengefetzten  Begriffen  der 
Beliiinmungen  der  Zahl.  Z.  B.  durch  die 
Verbindung  von  Eins  und  Eins  entftehet  der 
Begriff  von  Zwei,  durch  die  Verbindung 
von  zwölf  Einheiten,  der  Begriff  von  einem 
Dutzend  ;  eben  fo  die  Begriffe  von  einem 
Schock,  einer  Million  uad  jeder  andern 
Zahi, 


Jede  Zahlgröfse  ift  von  der  andern 
ve  rfchied  en. 

Die  einfachen  Befti in niungen  der 
Zahl  find  unter  allen  die  deutlich» 
ften  Begriffe.  Die  kieinfie  Veränderung 
einer  Zahl ,  welche  in  der  Einheit  beßehet, 
unterfcheidet  jede  Verbindung  fo  klar  von  der 
ihr   am   nächften  kommenden  ,    als    von  der 

entfern- 


Sechszehntes    Kapitel.  ^65* 

entferotcflen.  Zwei  ift  von  Eins  fo  verfchie- 
den,  als  von  Zweihundert,  und  Zwei  vor* 
Drei  als  die  GröTse  der  Erde  von  der  GiöTse 
einer  Mübe4  Bti  andern  einfachen  Beftim- 
mungen  ift  es  uns  nicht  fo  leicht,  vielleicht 
nicht  einmal  möglich,  zwei  annähernde  Vor- 
stellungen zu  unterscheiden  •  wenn  fie  gleich 
wefentlich  ver  Schieden  Gnd.  Denn  wer  ge- 
traut fich  wohl  den  Unterfchied  «cwifcben  dem 
Weifsen  diefes  Papiers  und  dem  nächfifoleen- 
den  Grade  zu  beftimmen;  oder  wer  kann 
fich  den  kleinftcn  Gradunterschied  in  der  Aus- 
dehnung klar  vorftellen  ? 


§ 


Daher  findet  fich  in  den  arith> 
metifchen  De  m  o  n  f  t  rationeu 
die    g  reifste   Präcifion. 

Die  Klarheit  und  die  Unterscheidung  jeder 
Zahlbeftimmung  von  allen  andern,  auch  den 
nächfien  ift,  wie  ich  glaube,  die  Urfache, 
dals  die  Demonftrationen  in  Zahlen  ,  wo 
nicht  evidenter  und  genauer,  als  die  von  Raum. 
verhältnilTen,  doch  von  allgemeinerm  Ge- 
G  g  brauch 


466  Zweites    Buch. 

brauch  und  beftiminter  in  ihrer  Anwendung 
find*  Denn  die  Zahlenbegriffe  find  beftimm- 
ter  und  deutlicher  als  die  Yorflellungen  von 
der  Ausdehnung.  Hier  läfst  Geh  nicht  jede 
Gleichheit  und  Differenz  fo  leicht  bemerken 
und  meffen,  weil  der  Verftand  den  kleinften 
Theil  des  Raumes,  über  welchen  er  nicht 
hinaus  gehen  darf,  wie  bei  den  Zahlen  die 
Einheit  ift,  nie  in  der  Vorftellung  erreichen 
kann.  Es  ift  daher  nicht  möglich  ,  die  Quaa« 
titäl  oder  das  Verhältnifs  des  kleinften  Rau- 
mes fo  zu  beftimmen,  wie  bei  den  Zahlen, 
wo  9!  f:ch  fo  beftimmt  von  go  als  9000  un- 
terfcheiden  läfst,  obgleich  yi  die  nächfie  Dif. 
ferenz  von  90  ift.  Bei  dem  Räume  ift  es  hin- 
gegeben nicht  fo  leicht  eineGröfse  von  etwas 
mehr  als  einem  Fufse  von  einem  Fufse  eu 
unterscheiden;  von  zwei  Linien,  die  gleich 
lang  fcheinen,  kaiin  die  eine  beträchtlich  län- 
ger feyn.  Mau  kann  nicht  einmal  den  Win- 
kel angeben,  der  an  Giüise  dem  rechten  am 
»ächlten  Kommt» 


§.5, 


Sechszehntes    Kapitel,  .  ifiy 

§.     5. 

Bei   den    Zahlen    find  gewiffe  Be- 
nennungen  noth  wendig. 

Durch  die  Wiederholung  des  Begriff«;  einex 
Einheit,  und  durch  die  Verbindung  nellelben 
mit  dem  entern,   kann  man  allo  den  collecti- 
ven   Begriff  von    Zvvey   erzeugen.      Wer  die 
Zufammenfeuung  der  coüectiven  Zablb'  griffe 
immer  weiter  fortfetzeh,   und  fie  durch  Worte 
bezeichnen  kann ,  der  kann  zählen,    d.  h,    er 
hat  eine   VoruVIlung  von   vtrlchiedenen  colle- 
ctiven   Begriffen  der   Einheiten,    infofern  et 
eine  Reihe  von  Aufdrücken  für  die  folge«  den 
Zahlen    in   feiner  Gtwalt  hat,    und   das  Ge- 
dächtnifs  diefe  Zahlenreihen  n.it  ihren  ßenen- 
nungeil   behalten    karin.        Denn   da«.    Zal  leri 
beltrhet  in   nichts   arcierm  .  als  dafs  man  eine 
Einheit  zu  eineT  ändern  hin  zu  fetzt,   und    je» 
dem  Ganzen  als  in  einen  begriff  zufainniei^e- 
fa^t,   eine  beftirntnte     Benennung  eieht     um 
es    von  jedem  a-  dern  in  der  Reihe  vorhfTee- 
henden  oder  folgenden  Inbegriff  der  Einheiten 
zu   unterscheiden.       Wei    aliu   Eins   zu    l  .   <2 
und  fo  fert  hinzufetzen  ,  jede  DeueZablgröf:  e 
G  g  2  benen- 


^6Q  Zweite^    Buch. 

benennen,    und   fie  durch    Abziehen  der  Ein- 
heiten  wieder  verringern  kann,    der  hat  alle 
Z  thlenbegriiTe ,    die  in    dem    Umfang    feiner 
Sprache  liegen ,   oder  fü«  welche  er  Ausdrücke 
hat,    aber  vielleicht  auch    nicht    mehrere,  in 
feiner  Gewalt.      Denn   da  die  verfchiedenen 
einfachen    Btftimmungen   der   Zahlen  eben  fo 
viel«  Veibindungen  der  Einheiten  find,  wel. 
che  in  fich  nichts  Mannichfaltiges  und  Unter- 
fcheidbares    aufser   dein  Gradunterfchied  von 
Mehr  und   Weniger   enthalten,     fo    fcheinen 
für    jede    \  eibindung     befondere    Au-drücke 
oder    Sprachzeichen    notwendiger   zu   ft  ,  n, 
als  bei   jeder   andern  Art  von   Vorfteihmgeji. 
Ohne   dieles    find   die  Zahlen  beim   Rechnen 
nicht   wohl    anwendbar ,    vorzüglich  wo  eine 
Zahlengröiae.  eine  grofse  Vielheit  von  Einhei- 
ten in  lieh  be^ieitt,   und  grorse   Summen  oh- 
ne Ausdrücke  für  jede  bwftiinmte  Zufarnmen- 
fetzung  vxerden    fchwerlich   etwas  anders  als  . 
ein  chaotiuher  Haufen  fern. 


6, 


Diefs  wnr  wohl  die  Urfache,  warum  eini- 
ge Amerikaner,  die  ich  gefp rochen  habe, 

ob 


S  e  c  h  s  7.  ehntes    K  a  p  i  t  c  1.  4% 

ob  fle  gleich  fonft  klug  genug  waren  ,    bis  2o 
aber  nicht  bis  moo  zählen  konnten,  und  von 
der  letzten  Zahl  gar  keinen  deutlichen  Begriff 
hatten.      Denn  bei  der  Armutl)  ihrer  Sprache, 
welche  nur    den  wenigen  Kedürfnifsen   einer 
höchft  einfachen     Lehensart    angepafst    war, 
und  bei  ihrer  Unkunde  mit  dem   Handel-  und 
der  Mathematik,    fehlie  es   ihnen    an   einem 
Ausdruck   für   die  Zahl    1000.       Wenn   daher 
die  Rede  von  grüfsern  Zahlen  war,    Co   ]  Heg- 
ten  fie  auf  ihr  Haupthaar  zu  zeigen,   t<rn  da- 
mit eine  grosse    unzählbare  Vielheit  anzudeu- 
ten.      Ihr    Unvermögen,     weiter    zu    zählen, 
Tührte  alfo,  wie  ich  glaube,    nur  aHein   von 
dem  Mangelan  Worten  her.     Die  Touou- 
pinambos  hatten  keine  Worte  für  die  Zah- 
len   über    Fünfe;    zur  Bezeichnung  grösserer 
Zahlen    bedienten   fie  fiel)  ihrer  und    anderer 
Anwefenden  Finger  *).     Ohne  Zweifel   wur- 
den   wir   auch  viel  gröfsere  Summen  deutlich 
zählen  können,   wenn  wir  nur  gewifle  paffen- 
de  Benennungen   ausfindig    machen  konnten, 
G  g  5  und 

*)   T.    de  T  cry   Hifiohe   d'un    Vnynge   fait   en  Ia 
terre  du  Brefil  c,  ~o. 


4?°  Zweites    B  u  c  l;, 

und  z,  B.  anftatt  millionenmal  Millionen,  mil- 
lionenmal Millionen  Millionen  u.  f,  \v.  eine 
Billion,  Trillion  u.  f.  w.    Tagten.     - 

§♦     7- 

Warum  die  Kinder  nicht  frühzeiti- 
ger   zählen. 

/ 

So  zählen  die  Kinder  nicht  fehr  früh  und 
in  keiner  ftcten  Reihe  fort,  als  bis  fip  einen 
ziemlichen  Vorrath  von  andern  Vprftellungea 
gerammlet  haben,  weil  es  ihnen  entweder 
an  Worten  für  die  verfchiedenen  Zahltnogref- 
fionen  fehlet  j  oder  weil  f\e  noch  nicht  die 
Fähigkeit  haben,  einzelne  zerftreuete  Vorftel- 
lungen  in  einen  zurammengefetzten  Begriff 
zu  fallen,  die  Begriffe  auf  eine  beftinunte  Art 
zu  ordnen,  und  fo  in  dem  Gedächtnifs  auf- 
zubewahren ,  welches  bei  dem  Rechnen  rioth- 
wendig  ift.  Man  kann  oft  die  Beobachtung 
machen,  dafs  einige  Kinder  von  vielen  Din- 
gen klare  Vorftellungen  haben ,  ziemlich  gut 
fprechen  und  denken,  ehe  he  bis  2o  zählen 
können»  Auch  fiud  manche  erwachfene  Men 
fchen  ihr  ganzes  Leben  hindurch  nicht  ver- 
mögend 


S  echsz  eli  n  t  es    Kapitel.  471 

mögend  zu  rechnen  ,    oder  eine  grofee  Reihe 
von  Zahlen  auszufprechen,  weil  ihr  Gedächt- 
nis zu  fchwach  ift ,  fo  verfchiedene   Zahlen- 
gruppen   mit    ihren   Ausdrücken  in   ihrer    be- 
ftimmten  Ordnung,  und  die  lange  Reihe  von 
Zaiiiprogreffionen  mit  ihren    Verhältniflen  zu 
behalten.     Denn  um  2o  zu  zählen  ,  inufs  man 
willen  dafs  19  vorhergehet ,    und   die  Benen- 
nungen von    beiden    nebft   ihrer   beftimmten 
Ordnung  kennen  ;    wo  eins  von  beiden  fehlt, 
entftehet  eine  Lücke,  die  Kielte  zerreiTst,  und 
der  Fortgang  im  Zählen  wird  gehemmt.   Zum 
richtigen    Rechnen   wird  alfo  erfodert  1)  dis- 
genaue    Untencheidung    zweier   Zahlbegriffe, 
die  fith  blos  durch  die  Summe  oder  Billerenz- 
von  Eins  unterfcheiden  j  2)  D.^s  Aufbehalten 
der  Ausdrücke  oder  Zeichen  für  die  %-erfcbie- 
deuen   Zul<munen(etzungen   von  Eins  bis  auf 
die  beftiinmte  Zahl  und   zwar  nicht  verwirrt, 
oder  auf  beliebige  Weife ,  fondern  in  der  be- 
ftimmteri  Ordnung  als  die  Zahlen  aufeinander 
folgen.     Ein  Verfehen  in  der  einen  oder  an- 
dern  Art  verwirrt    das    ganze    Gefchäft    des 
Zablens ;    es  fehlt  dann   an    deutlichen   dazu 
erroderiiehen    ße^rillen ,     und  es   bleibt  nuv 
G  g  4  eine 


472       r  Zweites    Buch. 

eine   verworrene    Vorltellung    einer   Vielheit 
übrig. 

§.     8. 

Durch  die  Zahl  wird  alles  Mefs- 
bare   gemeffen. 

Noch  verdient  hier  bemerkt  zu  werden, 
daTs  fich  der  menfchlithe  Geift  der  Zahl  zur 
Meffung  alles  delTen  bedienet,  was  von 
uns  gemeffen  werden  kann,  wohin 
vorzüglich  der  Raum  und  die  Zeit  gebore!, 
Selbft  der  Begriff  der  Unendlichkeit  auf  Raum 
und  Zeit  angewendet ,  ftheint  nichts  anders 
als  die  Ziifammenletzung  gewiffer  vorgestell- 
ter Theile  'der  Zeit  und  des  Raums,  die  nie 
begrenzt  ift ,  und  der  alfo  keine  Zabl  ent- 
fpricht?  Und  es  ift  einleuchtend,  dafs  die 
Zabl  der  einzige  Begriff  ift,  der  uns  eine  fol- 
che  unerfrböpflichc  Mannichfaltigkeit  darbie- 
tet, Man  falle  ei  e  noch  fo  grofre  Zahl  in 
eine  Summe  ztifsmmen  ,  fo  bleibt  doch  die 
Möglichkeit,  neue  ZjblgrÖfsen  hinzuzufetzen 
vor  wie  nach;  es  bleibt  noch  immer  fo  viel 
hinzuzufVuen  übrig,  ?ls  wenn  noch  nichts 
davon   genominen  wäre.       Die  Zahlen    find 

alfo 


Sechszchn  Les     Kapitel.  475 

alfo  ein  unerfchöpfiicher  Schatz.  Diefe  dem 
Verftande  fo  einleuchtende,  endlole  Ver- 
mehrung oder  wenn  man  lieheT  will,  Ver- 
inehrharkeit  der  Zahlen  giebt  uns,  mei- 
ner Meinung  nach,  den  klärften  und  deut- 
iichften  Begriff  von  der  Unendlichkeit.  Doch 
davon  ein  mehreres  in  dein  folgenden  Iva. 
pitel. 


Siebzehntes     Kapitel. 

Von     der     Unendlichkeit. 


§.     1. 

Die  Unendlichkeit  wird  in  der 
urTprünglichen  Bedeutung  des 
Worts  dem  Raum,  der  Dauer 
und   der  Zahl  beigelegt. 

**  enn    man  willen    will,    von  welcher   Art 

der  Betriff  der  Unendlichkeit  ift,    fo  verfahrt 

man  am  fcWeckraäfsigften ,    wenn  man  unirr- 

Gg  5  '         l'ucht, 


4" 't  Zweites    Euch. 

fucht,  welchen  Gegenftänden  die  Unendlich- 
keit unmittelbar  beigelegt  wird,  und  wie  der 
Verüand  dielen  Betriff  bildet, 

s 

Endlich  und  Unendlich  fcbeiut  der 
Verftand  als  Beithnuiungeit  der  Grüfse  zu  be- 
trachten ,     und    in   der  erlten   urfprünglicheii 
Bedeutung    nur    denen    Dingen     beizulegen» 
welche  Theile   haben;    und    durch   Hinzjufü- 
gung   oder  Abziehang  des    kleinften  Theiles 
einer  Vermehcung    oder    Verminderung    em- 
pfänglich find.     Von  dieser  Art  find  die  \'or- 
liellurgen   vom   Raum,    Zeit  und  Zahl,      Es 
iß  wahr,  wir  muffen  uns  Gott,  von  dem  und 
durch  welchen  alle  Dinge  find  ,  als  unbegreif- 
lich und  unendlich  denken.     Allein  wenn  wir 
nach   un lerer    ich  wachen     und    befchränkten 
Einficht  diefen  Begriff  auf  das  höchfte  VVefea 
anwenden ,    fo  gefchieht  es  doch  vorzüglich 
in   Rück  ficht  auf  feine  Dauer  und   Ailgegen- 
vvart,  aber  un  eigentlicher,  wie   mir   fcheint, 
in  Beziehung  auf  leine  Macht,  Weisheit,  Gü- 
te und  andre  Eigenfehaften,    welche  im    ei- 
geVüiciien   Sinne,    unerfchöpfiieh  und  unbe- 
rreiriieh  find.     Werden  diefe  auch  unendlich 
genannt  ä   fo   beziehen  '.vir  doch  den  Begriff 

eigent" 


Siebzehntes    Kapitel,  475 

eigentlich  mehr  auf  die  Vielheit  und  den  Um- 
fang  der  Handlungen,  durch  welche,  und  der 
Gegenftände,  an  welchen  lieh  diefe  Eigen- 
fchaften  äufseru,  welche  nie  fo  grofs  oder 
fo  vielfältig  gedacht  werden  können,  dafs 
fie  nicht  den  grüfsien  Gedanken  und  \\ie 
grö  ste  Ziihl  überfteigen ,  und  weit  hinter 
lieh  küTen  follten.  Ich  maafse  mir  nicht  an, 
$.u  beftiinrnen ,  wie  djefie  Eigenfcliafren  in 
Gutt  find,  der  unendlich  weit  über  unfern 
eingefchränkten  Begriff  erhaben  ift,  und  he 
vereinen  unftreitig  alle  mögliche  Vollkom- 
menheiten in  fich.  Ich  rede  hier  nur  von 
untrer  Art,  üe  in  ihrer  Unendlichkeit  uns 
\  pr^uftelleiu 

§.     2, 

Der    Begriff    der    Endlichkeit     ift 
leicht    iu  finden, 

Da  alfo  Endlichkeit  und  Unendlichkeit 
von  dem  l  erftande  als  Befiimmungcn  des 
R.-iums  und  der  Dauer  betrachtet  werden,  fo 
rnüflen  wir  nun  zimächfi  unterf lachen ,  wie 
er  zu  diefen  Begtiffen  gelanget.  In  Anfehung 
des    Begriffs    der  Endlichkeit   hat  das   keine 

Seh  wie 


47<5  Zweites  Euch. 

Schwierigkeit.  DieTheile  der  Anlehnung,-" 
die  unfre  Sinne  gewötialicb  affineren,  füh- 
ren der  Seele  7uoleich  diefen  Betriff  zu» 
Alle  periodifche  lleihcn  von  Begebenheiten» 
wodurch  die  Zeit  und  die  Dauer  gemeflen 
wird,  find  bcgränzte  Läufen.  Die  Schwie- 
rigkeit trifft  nur- die  Entftehungsart  der  gren. 
zenlofen^  Vorftelhmgen  der  Ewigkeit  und  Un- 
ermefslichkeit,  Weil  alle  Objecte,  die  uns  be- 
fchäftigen,  in  keinem  Verhältnifs,  auch  nicht 
der  Annäherung,  zu  jenen  ftehen, 

§.     3. 

Wie    wir    den    Begriff   der    Unend- 
lichkeit  erlangen. 

Jeder  der  eine  Vorftellung  von  einer  be- 
Simulien  Länge  des  Raums,  z.  B.  ein  Fufs 
hat,  findet,  dafs  er  diefe  länge  verdoppeln, 
und  die  Vorftellung  von  einer  zweifchuhigten 
Länge  bilden,  und  zu  diefer  wieder  einen 
Schuh  und  fo  fort  hinzuretzen  kann,  ohne 
damit  an  ein  Ende  zu  kommen.  Jede  andre 
Länge  z.  B.  eine  Meile,  ein  ErddurchmeHer, 
lärst  fich  auf  eb'  n  die  Art  unaufhörlich  verdop- 
peln. Wenn  man  eine  Lange  noch  fo  viel- 
mal 


Siebzehntes     Kapitel.  477 

mal  verdoppelt ,  oder  multiplicirer,  und  die 
Vorttellung  davon  fo  fehr  als  man  will  erwei- 
tert hat,  fo  findet  lieh  doch  kein  Grund,  da- 
mit aufzuhören,  und  die  möglichen  Addilio. 
nen  find  fo  wenig,  als  beim  Anfange  er- 
fchopfr.  Die  Möglichkeit,  den  Be«nlf  des 
Raumes  durch  neue  Zufet/.ungen  zu  erwei- 
tern, bleibt  immer  die  nehmliche.  Ddher 
entltehtdie  Yoritellung  von  dem  unendlichen 
Räume. 

§.      4. 

Die    Vorftellung    von    dem    Räume 
ift    grenzenlos. 

Eine  ganz  andre  Unterfuchung  ift  es  ,  ob 
der  Raum,  den  lieh  tue  Seele  als  unendlich 
vorftellet,  auch  an  fich  wirklich  un- 
endlich ift.  Denn  von  unfern  Vorftel- 
lungen  kann  man  nicht  allezeit  fehliefsen, 
dafs  ihre  Objecte  auch  wirklich  fo  befchaffen 
find.  Da  wir  aber  ei.imal  auf  die'e  Fra°ege- 
ftof>en  find,  fo  darf  ich  wohl  behaupten,  dafs 
wir  uns  den  Baum  wirklich  an  fich  als  un- 
endlich denken  können.  Der  Begriff  vom 
Räume    führt   uns     fcho«    von  felbfl   darauf. 

Denn 


478  Zv7eit53    Euch. 

Denn  man  denke  fich  den  Raum  als  von  Kör- 
pern angefüllt ,  oder  an  fich  ohne  alle  dichte 
Materie,  deffen  nothwendi^e  Exiftenz  oben 
bewiefen  worden  (2  B.  «5  K,  §.  n.  ff.)  Co 
ift  es  in  beiden  Fallen,  fo  weit  man  auch 
fortgefchritten  ift,  gleich  unmöglich,  an  ge- 
wille  Schranken  zu  kommen,  oder  fie  nur  zu 
denken,  über  welche  hinaus  man  fich  keinen 
Raum  mehr  vorftellen  könnte»  Gefetzt  ein 
Körper  oder  eine  diamantne  Mauer  machte 
diefe  Schranken  aus,  fo  würde  diefes  kei- 
nes weges  das  weitere  Vordringen  des  Ver- 
itandes  in  dem  Räume  aufhalten,  fondern 
es  vielmehr  erleichtern ,  und  ihm  noch  mehr 
Spielraum  geben.  Denn  fo  weit  diefer  Kör- 
per reichte,  wiire  die  Ausdehnung  des  Rau- 
n;es  aurser  allem  Zweifel  gefetzt,  und  was 
könnte  dem  Verftand,  wenn  er  fich  an  tue 
äufserfte  Grenze  jenes  Körpers  verfetzte,  wei- 
ter aufhalten,  oder  ihn  überzeugen,  dafs 
er  an  die  Grenze  des  Raums  gekommen  fey, 
da  er  diefe  nicht  wahrnimmt,  ja  aus  Grün- 
den erkennet,  dafs  fich  ein  Körper  auch  au- 
hex  diefer  Grenze  bewegen  kann?  Wenn 
fich  ein  Körper  bewegen  foll,  fo  roufs  es  in 
der  Körperwelt  einen    leeren  Raum  geben, 

er 


Siebzehntes     Kapitel,  ')» 

sr  fey  fo  klein,  als  eT  will;  in  und  durch 
denfelben  ift  die  Bewegung  möglich;  ja  kein 
Tbeil  der  Malerie  kann  lieh  anders  als  in 
folchen  leefeil  Räumen  bewegen.  Die  Mög- 
lichkeit der  Bewegung  eines  Körpers  in  dem 
leeren  Raum  dt  aber  eben  in  klar  und  ein- 
leuchtend innerhalb  als  aufletbalb  d.°r  Kör- 
perwelt,  und  der  Begriff  \on  dem  leeren  blo- 
fsen  Räume  ift  in  diefem  und  jenem  Fall  in 
nichts  als  in  der  Grofse  unterfchieden.  Nichts 
kann  alfo  einen  Körper  hindern,  fich  in  den 
leeren  Raum  aufser  den  Grenzen  der  Körper- 
welt foifztibewegen.  An  welche  Stelle  des 
leeren  Raumes  in  oder  aufser  der  Körper- 
welt man  Geh  alfo  in  Gedanken  auch  cerfetzt, 
fo  ift  doch  nirgends  eine  Grenze  in  dem  ein- 
artigen Begriffe  des  Raumes  zu  finden.  Aus 
der  Na:'ir  und  der  Vorßellung  jedes  TheHs 
des  Raum-,  folgert  alfo  derYerfiand  nothwen- 
djg  ,  dafs  er  wirklich   unendlich  ift. 


!  & 


a8o  Zweites  Buch. 

§.     5. 

Auf  eben    die    Art    entftehet    der 
Begriff  von    der  Unendlichkeit 
i    der  Dauer. 

So  wie  wir  durch  die  Möglichkeit,  jede 
Yorftellnng  eines  Raumes  fo  oft  als  man  will, 
zu  verdoppeln,  zu  dein  Begriff  der  Uner- 
niefslichkeit  gelangen ,  fo  eihalten  wir  auch 
den  Begriff  der  Ewigkeit,  durch  die 
Möglichkeit,  jede  \  orltellung  einer  Zeitlänge 
durch  alle  endlofe  Zufam  inen  fetzung  der  Zah- 
len zu  verdoppeln-  Denn  die  Verbindung 
jeder  Vorftellung  einer  Zeitgröfse  oder  Zahl- 
gröfse  zu  einer  andern  hat  keine  Grenzen. 
Was  die  Zahlen  betrifft,  fo  ift  es  zum  we- 
ni^ften  jedem  einleuchtend.  Ob  wir  aber 
gleich  einen  Begriff  von  der  Ewigkeit  habcjn, 
fo  ift  es  doch  eine  ganz  andre  Frage:  ob  es 
wirklich  ein  reales  VVefen  gieht, 
deffen  Exiftenz  ewig  ift?  Da  ich 
aber  fchon  an  einem  andern  Orte  davon  ge- 
handelt habe,  fo  bemerke  ich  nur  diefs, 
dafs  man  ron  der  Betrachtung  eines  exiitie- 
renden  Wefens  noth wendig  auf  etwas  Ewi- 
ges geführt  wird.     Ich  gehe  jezt   zu  andern 

Unter- 


Siebzehntes     Kapitel.  481 

Unterteilungen  über  den  Begriff  der  Unend« 
lichkeit  fort* 


t 

Warum  andere  Vorfteliungen 
der  Unendlichkeit  nicht  em- 
pfänglich   find» 

Wenn  es  an  dem  ifl; ,  daTs  der  Begriff  def 
Unendlichkeit  aus  der  Möglichkeit  unfre 
Vorstellungen  unaufhörlich  zu  vergrofsern 
enifprin^t,  fo  entfteht  die  Frage:  warum 
die  Unendlichkeit  nicht  wie  auf 
die  Zeit  und  den  Raum,fo  auch  auf 
an  d  er  e  Vor  ftellu  ngen  angewendet 
wird?  Die  Vorsehungen  z.  B.  der  Süfsig*- 
keit,  derweiTsen  Farbe,  können  fo  leicht  und 
fo  oft  wiederholet  werden,  als  die  einer  Elle* 
eines  Tages;  und  doch  fpricht  niemand  voa 
der  Unendlichkeit  der  SüTsigkeit  oder  der 
weifsen  Farbe.  —  Allein  nur  diejenigen, 
Vorftellungen  gewähren  uns  den  Begriff  der 
Unendlichkeit ,  welche  als  aus  Theilen  befte- 
hend  betrachtet  werden,  und  einer  Ver- 
mehrung durch  das  Zu  fetzen  gleicher  oder 
II  h  klei- 


<j82  Zweites    Buch. 

kleinerer  Theile  empfänglich  Gnd;   weil  mit 
der   endlofcn   Wiederholung    derfelben    eine 
endlofe  Erweiterung  unzertrennlich  verknüpft 
ift.       Bei  andern   Vorftellungen   ift  das  nicht   « 
fo.     Ich    kann  den   weitumfanendfttn    Begriff 
vom  Raum  und  Ztsit  iinüier  noch  durch  Hin- 
zufetzung  eines   kleinen  Tiieiis,  ni>  üt  fo  aber 
die  voilkcmmenfte Yorlidlung  von  uemhöch- 
ften  VVeifs  durch   Hinzufü^ung  einer  Vorftel- 
lung  von  einem  gleichen  oder  geringern  Gra- 
de diefer  Farbe,  vergröfsern  oder  erweitern. 
Die  Vorftellung  eines  höhern  Grades  ift  aber 
unter  jener  Bedingung  nicht  einmal  möglich. 
Daher  heifsen  auch  die   verfchiedenen  Vor-  * 
ftelhxngen    des    Weifsen    Grade.      Wenn  ich 
die  weifse  Farbe    des   Schnees    geftern  und 
heute  anl'chaute,  und  beide  Vorftellungen  mit 
einander  verbinden  will,  fo  fchmelzen  beide 
in  eine  zufainmen ,   ohne  die  Vorftellung  der 
Farbe   zu  erhöhen.       Die  Zufammenfetzung 
eines  kleinern  und  gröfsern  Grades  einer  Far- 
be giebt  auch  in  der  Verbindung  keinen  grö- 
fsern iondern  vielmehr   einen  kleinern  Grad, 
Die  Vorftellungen,     welche  nicht  aus  Thei- 
len    beliehen,    können  alfo    nicht   in   jedem 
beliebigen  Verhältnifs  vergröfsert,    und  über 

üen 


Siebzehntes     Kapitel.  483 

den  Grad,  in  welchem  wir  fie  von  der  Sinn- 
lichkeit erhielten  ,  erweitert  werden.  Hin- 
gegen Raum,  Zeit  und  Zahl  find  durch  Wie- 
derholung ihrer  Verbindung  einer  Vergröße- 
rung empfänglich;  He  lallen  in  der  VorfieJ- 
lun»   unaufhörlich  eine  Stelle  für  noch  meh- 

D 

rere  Zuteilungen  übrig;  und  weil  diefes  bei 
andern  Vorftellungen  nicht  ftatt  findet,  fo 
führen  fie  unfern  Geift  allein  auf  den  Begriff 
der  Unendlichkeit. 

$•     7- 

Unterfchied  zwifchen  der  Un- 
endlichkeit des  Raums  und 
dem    unendlichen  Räume. 

Unfer  Begriff  von  der  Unendlichkeit  ent- 
liehet zwar  aus  der  Betrachtung  der  Quanti- 
tät und  ihrer  endlofen  Vermehrung  durch 
wiederholte  Zufetzung  beliebiger  Theilgrö- 
fsen.  Allein  es  müfste  gewifs  grofse  Verwir- 
rung in  unfern  Gedanken  hervorbringen, 
wenn  wir  die  Unendlichkeit  mit  irgend  ei- 
ner vorftellbaren  Grofse  verbinden  ,  und  ei«j 
Tte  unendliche  Grofse  z.  B,  einen  unendli- 
chen Raum,  eine  unendliche  Zeit  denken 
H  h  2  woll- 


484  Zweites    Buch. 

wollten.  Denn  der  Begriff  der  Unendlich- 
keit ift  meines  Eedünkens  nur  eine  der 
endlofen      Ver  gr  öfser  un  g      fähige 
Idee,  aber  die  Vorftellung  jeder  Gröfse  ift, 
infofern  fie  vorgeftellt  wird ,  begrenzt ,    und 
kann  nicht  gröfserfeyn,    als  fie  wirklich  ift. 
Die  Unendlichkeit  mit  einer  Quantität    ver- 
binden, ift  foviel ,  als  einen  unveränderlichen 
Maafsftab  an  einewachfende  Gröfse  anpafsen. 
Es  ift  daher  wohl  keine  unnütze  Speculatior, 
wenn  man  erinnert,  die  Vorftellung  von 
der   Unendlichkeit  des   Raums,  von 
der   Vorftellung    des     unendlichen 
Raums  forgfältig  zu  unterfcheiden.       Die  er- 
fte  Vorftellucg  ift  nichts  als  die  problematifch 
gedachte  grenzenlofe  Progreffion  des  Verftan- 
des  über  jede  willkührlich  rorgeftellte  Grö- 
fse des  Raums,     Aber  den  unendlichen  Raum 
fich  wirklich  vorftellen ,   hei fst  foviel,   als  an- 
nehmen ,    der  Verftand  habe  alle  diefe  durch 
wiederholte  Verbindung  erzeugte  Vorftellun- 
gen  von   Räumen ,    die  keine    endlofe  Pro- 
greffion  je  ganz  darfteilen  kann,  fchon  durch- 
gegangen und  in   ein  Bewufstfeyn  zufammen- 
gedrangt,     welches     ein    offenbarer    Wider« 
fpruch  ift. 


Si  ebzclintes     Kapitel.'  ißi 

§.     8. 

Wir    haben   keine    Vorftellung  vo»' 
dem    unendlichen  Räume« 

Vielleicht  wird  das  klärer,  wenn  wir  die 
Unendlichkeit  der  Zahlen  betrachten.     Diefe 
beftehet  darin  ,  dafs  man  zu  einer  Zahl  im- 
mer noch   mehr  hinzufetzen  kann,  ohne  da- 
mit an  ein  Ende  zu  kommen  ,    und  leuchtet 
jedem  ein,  der  darüber  nachdenkt. r    So  klar 
3ber  die  Unendlichkeit  der  Zahlen  ift,    eben 
fo  einleuchtend  ift  auch    die    Ungereimtheit 
des  wirklichen  Vorfteliens  einer  unendlichen 
Zahl,     Jedepofitive  Vorftellung  eines  Raums, 
einer  Zeit,   einer    Zahl    von-   welcher  Gröfse 
man  will,  ift  immer  endlich;  wenn   man  lieh 
dabei    einen    unerfchüpflichen    grenzenlofen 
Reft   vorftellet,    in  welchem    dein  Verftande 
ein  endlofea  Fortfehreiten  und  Erweitern  der 
Vorftellungen  möglich  ift,   ohne  die   Idee  je 
völlig  zu  erreichen ,  fo  hat  man  die  Vorftel- 
lung der  Unendlichkeit,      So  klar  nun  auch 
diefes  an  (ich    ift  ,  wenn  man  dabei  nur  au£ 
die  Verneinung  der  Grenze  liehet,  fp  entlie- 
het doch  eine  fehr  dunkle  und  verwirrte  Vor- 
H  h  5  ftellung 


486  Zweites    Buch. 

ftellung,  wenn  man  fich  den  unendlichen 
Raum  oder  die  unendliche  Zeit  vorftelien 
will,  weil  fie  aus  zwei  'fehr  verfchiedeneni 
vielleicht  gar  nicht  zu  vereinbaren  denBeftand« 
theilen  beftehef.  Denn  man  bilde  eine  Vor- 
stellung von  einem  Raurae  oder  einer  Zeit, 
von  welcher  Gröfse  man  will,  fo  fetzt  fich 
doch  der  Verftand  offenbar  einen  Ruhepunkt 
und  eine  Grenze,  welches  dem  Begriff  der 
Unendlichkeit,  d»  i,  der  Möglichkeit  eines 
endlofen  Fortfehritts,  widerfpricht.  Und 
daher  mag  es  wohl  kommen,  dafs  man  fich 
fo  leicht  verwirrt,  wenn  man  über  den  un- 
endlichen Raum  oder  die  urendliche  Zeit  rä- 
fonnirt.  Man  erblickt  nicht  die  Unverein- 
barkeit beider  Beftandtheile  in  einer  Ideej 
und  wenn  man  daher  aus  dem  einem  Folge- 
rungen ableitet ,  fo  verwickelt  der  andere  in 
unauflösbare  Schwierigkeiten,  gerade  fo  als 
wenn  man  aus  einem  Begriff  von  einer  nicht 
fortfehreitenden  (d.  i,  mit  andern  Worten  ei- 
ner ruhenden)  Bewegung  fchliefsen  wollte. 
Nichts  anders  fcheint  mir  die  Vorftellung  ei- 
nes unendlichen  Raurm,  oder  einer  unendli. 
chen  Z*ahl,  das  heifst  eine  Vorftellung  von 
einem  Räume,  der  wirklich   vorgeftellt    und 

atfo 


Siebzehntes    Kapitel.  4Ö7 

alfo  begrenzt  gedacht  wird,  und  doch  zu- 
gleich fo  befchaffen  ift,  dafs  ihn  der  Ver- 
ftand  durch  keine  fortgefetzte  endlofe  Erwei- 
terung und  Progreflion  in  eine  Vorftellung 
fallen  kann.  Denn  fo  grofs  auch  ein  Raum 
ift,  den  ich  mir  jetzt  vorftelle  ,  fo  ift  er 
doch  nicht  gröfser,  als  ich  ihn  wirklich  vor- 
ftelle,  wenn  ich  ihn  gleich  den  folgenden 
Augenblick  und  fo  fort  ins  Unendliche  ver- 
doppeln kann.  Nur  das  ift  unendlich,  was 
keine  Grenzen  hat,  und  diefe  Grenzenlosig- 
keit denkt  man  fich  in  dem  Betriff  der  Un- 
endlichkeir, 

'S*     9* 

Die   Zahl   giebt     uns    den    klärften 
Begriff  von  der   Unendlickeit. 

Unter  allen  andern  Begriffen  giebt  uns 
die  Zahl,  wie  wir  fchon  gefagt  haben,  die 
klär  Tte  und  beftimmtefte  Idee  von 
derUnendlichkf  it,  deren  wir  empfang. 
lieh  find.  Denn  auch  bei  Raum  und  Zeit 
bedient  man  fich  der  Zahlen,  um  fich  dem 
Begriff  der  Unendlichkeit  zu  nähern.  Eine 
Million  Meilen ,  Jahre  find  foviel  befummle 
H  h  4  Theil- 


f|8ö  Zweites    Buch,' 

Theilvorftellungeri  des  Raums  und  der  Zeit, 
und  die  Zahl  verhindert  es  allein,  dafs  fie 
nicht  in  der  chaotifchen  Vielheit  verfchwin* 
den,  in  welche  lieh  felbfi:  der  Verftand  ver- 
liert. Wenn  man  fo  vielmal  als  man  will, 
Millionen  von  beftitnrnten  Langendes  Raums 
und  der  Zeit  zufäinm^ng6ffet£t  hat,  fo  erhält 
man  die  kläifte  Vorftellung  von  der  Unend- 
lichkeit durch  dem  nicht  zu  unterfcheiden? 
den  und  nicht  aufzufallenden  Reft  von  end- 
los hinzuzufetzenden  Zahlen,  bei  welchen 
kein  Stillftand  und  keine  Grenze  fichtbar  ift, 

§»      lo. 

Verfchiedene  Vorstellungen  des 
xnenfehlichen  Verftandes,  von 
der  Unendlichkeit  der  Zahl, 
der  Zeit  und  des  Raums. 

Vielleicht  wird  eine  andre  Betrachtung 
noch  meht  Licht  über  den  Begriff  der  Unend- 
lichkeit verbreiten  ,  und  zugleich  darthun, 
dafs  die  Unendlichkeit  nichts  andres 
ift,  als  die  Unendlichkeit  der  Zahlen 
auf  ge  wif  fe  deutlic  h  vorgeftellte 
Theile  angewendet.  Raum  und  Zeit 
können  als  unendlich  gedacht  werden ,  aber 

nicht 


r  Siebzehntes    Kapitel.  489 

nicht  fo  fchlechthin  die  Zahl.  Diefes  kommt 
daher,  weil  wir  bei  der  Zahl  gleichfam  an 
dem  einem  Enäe  find.  Denn  da  in  den  Zah- 
len nichts  kleiner  ift,  als  die  Einheit ,  fo  fte- 
hen  wir  bei  derfelben  Rille ,  und  befinden 
uns  an  einer  Grenze»  Der  Zufetzung  oder 
Vermehrung  der  Zahlen  hingegen  können 
wir  keine  Grenze  fetzen.  Die  Zahl  ift  daher 
gleichfam  eine  Linie ,  wovon  das  eine  Ende 
bei  uns  begrenzt ,  das  andere  aber  über  je- 
den möglichen  Kreis  der  Vorftellüngen  aus- 
gedehnt ift.  Mit  dem  Raum  und  der  Dauer 
verhält  es  lieh  hingegen  anders.  Denn  die 
Dauer  wird  fo  betrachtet ,  als  wenn  diefe 
Linie),  welche  eine  Zahlengröfse  vorftellt, 
auf  beiden  Seiten  in  eine  nicht  vorftelibare, 
unbegrenzte  und  unendliche  Weite  ausge- 
dehnt wäre.  Einleuchtend  wird  diefs  durch, 
die  Unterfuchung  des  Begriffs  der  Ewigkeit, 
welche  doch  wohl  nichts  anders  ift,  als  die 
Anwendung  der  Unendlichkeit  der  Zahl  auf 
die  Zeit  fowohl  rückwärts  als  vorwärts,  oder 
wie  man  fagt,  a  parte  ante  und  a  parte 
polt»  In  jenem  Fall  fangen  wir  von 
uns  oder  der  gegenwärtigen  Zeit  an,  durch- 
laufen eine  Reihe  Jahre,  Jahrhunderte  oder 
H  h  5  an- 


~,go  Zweites    Buch. 

anderer  Längen  der  vergangenen  Zeit,  mit 
der  AusPicht  auf  eine  mögliche  Fortfetzung 
diefer  Zufarnrnenfetzung  durch  alle  Unend. 
lichkeit  der  Zahlen  hindurch.  In  diefem 
Fall  gehen  wir  ebenfals  von  uns  aus,  rech- 
nen mit  muhiplicirten  Perioden  der  künfti- 
gen Zeit,  und  dehnen  diefe  Zahlreihe  ins 
Unendliche  aus.  Beide  unendliche  Zeilrei- 
hen machen  die  unendliche  Dauer  oder  die 
Ewigkeit  aus,  weiche  uns  vopwärts  und  rück* 
wärts  unendlich  erfcheint,  weil  wir  auf  bei- 
den Seiten  der  Möglichkeit,  immernoch  mehr 
hinzuzufetzen  ,    inne  werden» 


§.      II. 

Eben  fo  ift  es  mit  dem  Räume.  Wir  fe- 
tzen uns  gleichTatn  in  den  Mittelpunkt  def- 
felben ,  und  verfolgen  von  allen  Seiten  jene 
grenzeniofen  Zahlenreihen»  Wir  meflen 
eine  Elle,  eine  Meile,  einen  Erddurchmeffer, 
und  vergrößern  .diefe  Grüfsen  fo  oft  wir 
wollen,  durch  alle  Unendlichkeit  der  Zah* 
Jen.  Da  wir  aber  weder  hier  noch  bei  den 
Zahlen  einen  Grund  finden,  mit  diefen   Zu- 

fainmen- 


Si-ebszehnte«     Kapitel.  49 l 

Jammenfetzungen  aufzuhören,  fo  erlangen  wir 
dadurch  den  Begriff  von  der  Une  r  ine  fs- 
1  i  c  h  k  e  i  t« 


$.       12. 
Unendliche    Theilbarkeit.' 

Unfre  Gedanken  können  bei  einem  Stück 
Materie   nie  auf   eine  letzte  Theilung  kom- 
men.      Hier   bietet  Geh  uns  alfo  wieder  eine 
Unendlichkeit    dar,    welche    ebenfalls    eine 
Unendlichkeit   der  Zahlen   doch    auf  eine  et- 
was andere  Art  in  fich  fchliefst.     Bei  derUn« 
endlichkeit  des  Raums  und  der  Zeit  bedient 
man  Geh  der   Addition,    hier  aber    der  Thei- 
lung einer  Einheit  in  ihre  Brüche,     In  diefer 
Divifion    kann   der  Verftand    ins  Unendliche 
fortfehreiten ,    wie  in  der  Addition,   und    die 
Divifion  ifb  auch  in  Wahrheit  nichts  anders,  als 
eine  fortgefetzte  Addition  von  neuen  Zahlen. 
Aber   man   kann  weder  durch  jene  Addition 
einen   pofitiven  Begriff  von  einem  unendlich 
grofsen,  noch  durch  diefe  Divifion  einen  pofi- 
tiven Begriff  von  einem  uneudlich    kleinen 
Raum  erlangen.     Unfer  Begriff  von  der  Un- 
endlich« 


4g2  Zweites    Buch, 

endlichkeit  ift  gleichfam  eine  durch  unendli- 
che Progreffion  wachfende  Idee ,  die  uns 
nie  Stand  hält» 


Es    giebt     keine    pofitive    Vorftel« 
1  u  n  g  des  "l^n  endlichen. 

Es  dürfte  wohl  fchwerlich  ein  fo  gedan- 
kenlofer  Menfch  gefunden  werden,  der  be- 
haupten wollte,  er  habe  eine  pofitive  Vor- 
sehung von  einer  unendlichen  Zahl ,  weil 
diefe  Unendlichkeit  gerade  in  der  Möglichkeit 
beftehet,  zu  jeder  Zahl  fo  oft  man  will  jede 
beliebige  Gröfse  hinzuzufetzen.  Gleichwohl 
giebt  es  einige,  welche  fich  einbilden,  fie 
hätten  pofitive  Vorftellungen  von  einem  un- 
endlichen Räume  und  einer  unendlichen  Zeit» 
obgleich  die  Unendlichkeit  hier  wie  dort  in 
einer  grenzenlofen  Vergröfserung  beftehet. 
Um  fie  von  der  Nichtigkeit  diefer  pofitiven 
Vorftellungen  und  von  ihrer  Täufchung  zu 
überzeugen,  darf  man  fie  nur  fragen,  ob  fie 
%u  derfelben  etwas  hinzufetzen  können,  oder 

nicht 


Siebzehntes     Kapitel.  /}g3 

nicht?  Eine  pofltive  Vorftellung  vom  Raum 
und  der  Dauer  ift  nicht  anders  möglich,  als 
durch  die  Zufammenfetzung  einer  beftiinm- 
ten  Zahl  von  Längen  des  Raums  und  der 
Zeit,  wodurch  der  Raum  und  die  Dauer  aus- 
gemeHen  und  ihre  GröTse  beftimmt  wird.  Da 
aber  die  Vorftelluug  eines  unendlichen  Rau« 
mes,  und  einer  unendlichen  Dauer  aus  un- 
endlichen Theilen  beftehen  mute  ,  fo  kann 
keine  andere  Unendlichkeit  als  die  der  Zahl, 
oder  die  grenzenlofe  Möglichkeit  imme neuer 
Zufetzungen,  aber  keine  wirklich  pofuive 
Vorftellung  einer  unendlichen  Zahl,  dabei  ftatt 
finden.  Denn  keine  Zufammenfetzung  end. 
liehet  Dinge,  dergleichen  alle  unfre  pofiti- 
ven  Vorftellungen  von  Längen  find  ,  kann 
auf  eine  andere  Art  die  Vorftellung  der  Un- 
endlichkeit erzeugen,  als  die  Zahl.  Diefe  ift, 
zwar  nur  eine  Verbindung  endlicher  Einhei- 
ten, aber  fie  veranlafst  doch  infofern  den  Be- 
griff von  der  Unendlichkeit ,  als  es  möglich 
ift,  jede  ZahlgröTse  d"rch  immer  neue  Zufe- 
tzung  eben  derfelben  Einheiten  ohne  Ende 
zu  vermehren. 


§♦  *4» 


494  Zweites    Buch, 

§.    '4- 

Dafs  die  Verkeilung  des  Unendlichen  po- 
fijiv  fey,  fucht  man  ,  wie  mir  dünkt,  durch 
einen  fonderbaren  Schlul's  zu  beweifen. 
]Vl;in  fchliefst"  nehmlich  fo:  die  Verneinung 
einer  Grenze  mufs  etwas  Poßtives  feyn,  weil 
die  Grenze  etwas  Verneinendes  ift.  Allein 
wenn  man  bedenkt ,  dafs  die  Grenze  eines 
Körpers  das  Aeufserfte  oder  die  Oberfläche 
deflelben  ift,  fo  wird  man  nicht  fehr  geneigt 
feyn,  die  Behauptung  zu  unterfthreiben,  dafs 
die  Grenze  etwas  Verneinendes  fey;  die 
Wahrnehmung ,  dafs  das  Ende  der  Feder 
weifs  oder  fchwarz  ift,  zeigt  vielmehr,  dafs 
es  etwas  mehr  als  eine  Verneinung  ift.  Die 
Grenze  der  Dauer  ift  nicht  die  blofse  Ver- 
neinung der  Exiftenz,  fondern  eigentlicher 
der  letzte  Augenblick  derfelben.  Und  wenn 
man  auch  diefs  behaupten  wollte,  fo  könnte 
man  doch  nicht  leugnen,  dafs  der  Anfang  der 
Dauer  der  erfte  Augenblick  der  Exiftenz  eines 
Dinges,  alfo  keine  Verneinung  ift.  Und  fo  folgt 
aus  ihrem  eignen  Schlufse,  dafs  die  regreffi- 
ve  Idee  der  Ewigkeit,  oder  einer  Dauer  oh- 
ne Anfang ,  eine   blofs  negative  Idee  ift. 

§.  i5. 


Siebzehntes    Kapitel.  49** 

§.     15» 

Was  in  unferm  Begriff  der  Un- 
endlichkeit pofitiv  und  nega- 
tiv ift. 

Der  Begriff  der  Unendlichkeit  enthält,  ich 
geftehe  es,  bei  jeder  Anwendung  auf  ein 
Ding,  etwas  pofitives.  Um  uns  einen  unend- 
lichen Raum  oder  eine  unendliche  Zeit  vof- 
zuftellen,  bilden  wir  erft  eine  viel  umfallen  de 
Vorftellung  von  etwa  einer  Million  Meilen 
oder  Jahrhunderten  ,  und  mnliipliciren  viel- 
leicht noch  einigemal  diefe  Giöfse,  Was  wir 
auf  diefe  Art  in  eine  Vorftellung  fallen,  ift 
das  Pofitive,  ein  Aggregat  von- einer  grofsen 
Zahl  poGtiver  Vorftellungen  von  Räumen  und 
Zeilen.  Aber  von  dem,  was  aüfser  diefer  ' 
GrÖfse  noch  übrig  ift,  hat  man  eben  fo  we- 
nig eine  polilive  Vorftellung,  als  der  Schiffer 
von  der  Meerestiefe,  wenn  er  einen  grofsen 
Theil  des  Senkbleies  hinabgelaffen  hat,  ohne 
den  Boden  zu  erreichen.  Er  weifs,  wie  vie- 
le Klaftern  die  gemeflene  Tiefe  beträgt,  aber 
nicht,  wie  viel  Klaftern  er  noch  bis  zum 
Meeresgrund  zu  meflen  hat.  Könnte  er  im- 
mer eine  neue  Schnur  anknüpfen,  und  wür- 
de 


496       .  Zweites    Buch, 

de  das  Senkblei  unaufhörlich  fir.ken,  fo  wür- 
de er  fich  beinahe  in  einerlei  Lage  mit  dem 
menfchlichen  Verftande  befinden  ,  wenn  die« 
fef  nach  einen  vollendeten  und  pofitiven  Be- 
griff des  Unendlichen  ftrebt.  Gefetzt  die 
Klafter  fev  10  oder  10000  Klafter  lang,  fo  ent- 
deckt fie  nicht  mehr  und  nicht  weniger  was 
darüber  ift;  fie  giebt  nur  eine  dunkle  und 
comparative  Vorftellung,  dafs  das  noch  nicht 
die  ganze  Länge  ift,  und  dafs  man  immer 
weiter  fortfchreiten  kann.  Der  Verftand  hat 
nur  infoferne  eine  pofitive  Vorftellung  von 
dem  Räume,  als  er  denfelben  in  eine  Vorftel- 
lung zufamraenfafst;  gehet  er  weiter  und 
fucht  fie  unendlich  zumachen,  fo  bleibt  fie 
doch  immer  unvollendet,  fo  fehr  er  üe  auch 
erweitert  und  ausdehnt.  Nur  fo  weit,  ift  ein 
deutliches  Bild,  eine  pofitive  Vorftellung  von 
der  Gröfse  des  Raums  möglich,  als  die  Ein- 
bildungskraft davon  umfafst;  aber  das  Unend- 
liche ift  immer  noch  gröfser.  Der  Begriff 
von  einer  beftimmten  Gröfse  ift  klar  und  po- 
fitiv;  von  dem  Gröfsern  ift  auch  ein  klarer, 
aber  nur  ein  Vergleichungsbegriff;  von  deni 
fo  vieluial  gröfsern,  als  man  nicht  begreifen 
kann,  ift  er  offenbar  nicht  poütiv,  fondern  ne- 
gativ. 


Siebzehntes    Kapitel.  497 

gativ.  Denn  wo  der  Abfland  der  entfernte- 
ften  Punkte  einer  Ausdehnung  nicht  gemef- 
fen  und  in  eine  Vorftellung  gePaCst  wird,  da 
ift  keine  klare  pofitive  Vorftellung  von  der 
Grüfse  derlelben.  Nach  einer  folchen  Vorftel. 
lujtg  des  Unendlichen  firebt  man,  aber  fie  ift 
nicht  möglich,  und  keiner  wird  fich  derfel- 
ben  rühmen.  Das  Vorgeben  ,  Jemand  hab« 
eine  klare  Vorftellung  von  einer  Gröfse,  ohna 
zu  willen,  wie  grofs  fie  ift,  ift  wohl  fo  wenig 
vernünftig,  als  daTs  Jemand  eine  klare  Vor- 
ftellung von  der  Zahl  der  Sandkörner  an  dem 
Meeresufer  habe,  der  nicht  weifs,  wieviel, 
fondern  nur,  dafs  es  ihrer  mehr  als  zwanzig 
find.  Nicht  beffer  ift  die  Vorftellung  desjeni- 
gen von  dem  unendlichen  Raum  oder  der 
unendlichen  Dauer,  der  Taget,  fie  find  grof- 
fer  als  eine  Raum  -  oder  Zeitläuse  vou  einer 
Million  Meilen  oder  Jahren,  Und  doch  ift: 
das  der  ganze  Inhalt  unfers  Begriffs  von  dem 
Unendlichen,  Was  in  demfelben  aufser  der 
pofitiven  Vorftellung  liegt,  dasift  dunkel,  ver- 
worren, unbeftiinmt,  wie  es  in  negativen 
Begriffen  zu  feyn  pflegt;  man  kann  nicht  alles 
iaffen,  was  in  demfelben  liegt,  es  ift  für  ein 
endliches  befchränktes  Vermögen  zu  viel, 
I  i  Der- 


4gS  -       Zweites    Buch, 

Derjenige  Begriff  mufs  nothwendig  noch  fehr 
weit  von  dem  vollständigen  pofitiven  Begriffe 
entfernt  feyn,    in  welchem  der  gröfste  Theil 
deffen ,  was  man  zufammenfaffen  wollte,  feh- 
let, und  nur  durch  das  unbeftiimnte  Merkmal, 
es  fey  gröfser  als  jede  beftimmte   Gröfse,  an- 
gedeutet wird.      Wenn  man  einen  Theil  ei- 
ner Gröfse  geraeffen  hat ,  und  noch  nicht  da- 
mit ans  Ende  gekommen  ift,  fo  geftehet  man, 
dafs  fie  noch  gröfser  ift.     Die  Verneinung  der 
Grenze   einer  Quantität  ift  alfo  eben  fo  viel, 
als  fie  ift  gröfser;  und  eine  gänzliche  Vernei- 
nung der  Grenze  heifst  nichts  anders,  als  mit 
allen  wirklichen  und  möglichen  progreffiven 
Vorftellungen  undBeftimmungen  diefer  Quan- 
tität immer  die  Vorfiellung  verbinden,    dafs 
fie  noch  gröfser  ift,     Ob  eine  folche  Idee  ein 
pofitiver    Begriff    fey,     mögen    andre    en$- 
fcheiden. 

§.    16. 

Wir    haben    keinen     pofitiven    Be- 
griff von  der  unendlichen  Dauer* 

Wenn  einige  behaupten  ,    fie  hätten  einen 
uofiliven  Begriff   von  der   Ewigkeit,     fo 

frage 


/  ' 


Siebzehntes     Kapital,  490, 

frage  ich,  ob  ihr  ReprifT  von  der  Datier  eine 
Succeffion  in  fich  fchliefst  oder  nicht?  Iß 
das  Iettte,  fo  füllten  (ie  den  Uriterfchied  die« 
fes  Begriffes  anheben,  wenn  er  auf  ein  un« 
endlichem  oder  endliches  VVefen  angewendet 
wird»  Denn  es  möchten  wohl  einige  f  wor- 
unter ich  auch  mich  zähle,  in  diefem  Punkte 
die  Schwäche  ihres  Y?erftande5  bekennen,  und 
eingeftehen ,  dafs  fie  zufolge  ihres  Begriffs 
von  der  Dauer  fich  nothwendig  vorftellen 
müden,  dafs  alleä,  was  nur  eine  Exiftenz 
hat,  heute  eine  längere  Dauer  hat,  als  es 
geftern  hatte»  Sollten  fie,  um  der  Succeffion 
in  der  ewigen  Exiftenz  auszuweichen ,  zu 
dem  punctum  ftans -der  Schule  ihre  Zu« 
flucht  nehmen,  fo  werden  fie  ihre  Sache  we- 
nig beflem  ,  und  uns  keinen  klärern  und  po- 
fitivern  Begriff  von  der  unendlichen  Dauer 
ausmitteln.  Denn  für  mich  ift  zum  wenig- 
ften  nichts  unbegreiflicher  als  eine  Dauer  ohne 
Fol_:e.  Aufserdem  kann  dieles  punctum  Itans 
gar  nichts  mit  der  Dauer  zu  thun  haben,  weil 
es  ,  wenn  es  anders  nur  etwas  bedeutet,  kei- 
ne weder  endliche  noch  unendliche  Grüfse 
ift»  Wenn  es  daher  für  unfern  fch wachen 
Verftand  unmöglich  ift,  das  Nacheinanderfeyn 
1 i  2  von 


5o»  Zweites  Buch. 

von  der  Dauer  zu  tn  nnen  ,  fo  kann  auch  nn- 
fer  Begriff  von  der  Ewigkeit  nichts  anders 
feyn  ,  als  die  unendliche  Folge  der  Augen- 
blicke der  Dauer,  in  Jenen  ein  i'it'g  exiitirt. 
Ob  nun  Jemand  eine  pofhive  Idee  von  einer 
unendlichen  Zibl  hat  oder  haben  kann,  mag 
er  fo  lange  überlegen,  bis  feine  unendliche 
Zahl  fo  grofs  ift,  dafs  er  keine  Zahlgröfse 
mehr  hinzusetzen  kann.  So  lange  er  he  aber 
noch  vermehren  kann ,  wird  er  wohl  felbft 
feine  Vorftellung  für  zu  befchränkt  halten, 
als  dafs  er  fie  mit  dem  poütiven  Unendlichen 
meffen  follte. 


§•      17» 

Jedes  vernünftige  Wefen  ,  welches  über 
fein  und  andrer  Dinge  Dafeyn  nachdenkt, 
wird,  wie  ich  glaube,  unvermeidlich  auf  den 
Begriff  eines  ewigen  weifen  Wefens ,  das 
keinen  Anfang  hat ,  geführet.  Diefen  Be- 
griff einer  ewigen  Dauer  habe  ich  ficherlich 
auch.  Allein  diefe  Verneinung  des  Anfanges, 
welche  etwas  pofitives  iß,  kann  mir  frhwer- 
lich  eine  pofitive  Vorftellung  von  der  Unend- 
lichkeit 


Siebzehntes     Kapitel.  5o« 

liehkeit  geben.  Das  Beftreben,  meine  Gedan- 
ken fo  weit  zu  erweitern,  um  fie  zu  umfaflen. 
ift  um  foult,  die  Vorltellung  davon  überfteigt 
»ein  Vermögen. 


§.      JÖ. 

Es  giebt  keine  pofitive  Vorftel- 
lung  ron  einem  unendlich 
kleinen    Raum* 

Wer  fich  einbildet,  eine  pofitire  Vorfiel- 
Jung  von  dem  unendlichen  Räume  zu  haben, 
wird  nach  einigen  Nachdenken  finden,  dafs 
er  weder  den  gröfsten  noch  den  klein* 
ften  Raum  fich  vorftellen  kann.  Das 
letzte  fcheint  noch  am  leichteften  zu  feyn, 
und  noch  mehr,  als  das  erfte,  in  dem  Kreife 
untrer  FaiTungskraft  zu  liegen.  Und  doch 
haben  wir  hier  nur  einen  Vergleichungcbe. 
griff  von  einer  Kleinheit,  die  immer  kleiner 
ift;  als  jede  Kleinheit,  die  wir  uns  pofitiv 
vorftellen.  Alle  i.nfre  Vorftellungen  von  ei- 
ner Quantität,  es  fey  einer  grofsen  oder  klei- 
nen ,  haben  allezeit  ihre  Grenzen ;  aber  die 
Vergloichungsbegriffe ,  wodurch  wir  unauf- 
li  5  hör- 


5o2  Zweites  Buch. 

hörljch  zu  einer  Grofse  hinzufetzen,  oder 
von  ihr  wegnehmen  könren,  find  grenzen^ 
los.  Denn  das,  was  bei  Vergleich ungen  grö- 
sser odez  kleiner  ift,  ift  nicht  mit  in  der  po* 
fitiven  Vorfteliung  begriffen  ,  und  daHer  dun* 
jkel,  und  man  ftellt  fich  dabei  nichts  als  die 
Möglichkeit  vor,  das  eine  uuai.fi  örlich  zu 
vergrößern  und  das  andre  zu  verkleinern» 
Ein  MörTer  kann  ein  Stück  Materie  fo  bald 
zur  Untheübarkeit  bringen,  als  der  fchärffte 
Gedanke  eines  Mathematikers,  und  ein  Feld- 
melier  nia.4  mit  leiner  Mefskette  einen  un- 
endlichen Raum  fo  fchnell  aushelfen,  als  ihn 
ein  Philosoph  mit  dem  fchnellften  Fluge  fei» 
»es  Geifccs  durchlaufen  oder  durch  ein  poü< 
tivcs  Denken  umfallen  kann.  Wer  eine  klare 
und  pofiiive  V7or Heilung  eines  Würfels  von 
einem  Zoll  im  Durchmeffer  hat,  kann  fich, 
eine  eben  fo  klare  Vorftellung  von  einem 
Würfel  von  1/2,  i/f,  j/B  Zoliim  Durchmefle, 
bilden,  und  fo  fortfahren,  bis  er  fich  etwas 
lehr  kleines  vorftellt.  Allein  das  reicht  noch 
sucht  an  die  unbegreifliche  Kleinheit,  wel- 
che die  Theäiung  hervorbringen  kann.  Die 
Kleinheit ,  die  noch  zu  theilen  übrig  bleibt, 
ift  von  feinem  Gedanken  noch  immer  fo  weit 

ent. 


Siebzehntes    Kapitel.  5o3 

entfernt,  als  da  er  zu  theilen  anneng.  Und 
daher  bekommt  man  nie  eine  klare  pofitiva 
Vorftellung  von  dem  Kleinen,  welches  der 
unendlichen  Theübarkeit  angemeflen  ift. 

s 
§»     19. 

Wer  auf  die  Unendlichkeit  hinblickt,  bil- 
det zuerft  eine  viel  umfallende  Vorftellung 
von  demjenigen,  worauf  er  die  Unendlich- 
keit anwendet,  2.  B*  Raum,  Dauer,  und 
ftrengt  feinen  Verftand  aufi  äufserfte  an,  die- 
fe  Vorftellung  durch  die  Vermehrung  auf» 
höchfte  zu  fteigern.  Immer  bleibt  aber  ein 
grofser  Reit  übrig,  den  er  in  keine  Vorfiel* 
lung  fallen  kann,  und  er  kommt  dem  pofiti- 
ven  Begriff  des  Unendlichen  nie  um  einen 
Schritt  näher.  Es  gehet  ihm  wie  jenem  Land- 
mann,  der  über  einen  Flufs  gehen  und  war- 
ten wollte,  bis  der  Strom  abgelaufen  wäre  *). 

1*4  §•  20, 

*}  Horatius  Epiilol.  II.  2,  v.  42 ,  43. 

Rufticus  exfpectat  dum  tvanfeat  amnis ,  at  illa 
Labitur  et  labetnv  in  onuie  volubilis  aeumn. 


5o4  Zweite»    Buch. 

§.      20. 

Einige  meinen,  fie  hätten  eine 
pofitive  Vor  ft  eilung  von  der 
Ewigkeit,  aber  nicht  von  dem 
unendlichen  Räume, 

Ich  habe  «inige  Denker  kennen  lernen, 
welche  einen  fo  grofsen  Unterrdiied  zwi* 
fchen  der  unendlichen  Dauer  und  dem  unend« 
liehen  Räume  annahmen ,  dafs  fie  glaubten, 
fie  hätten  eine  pofitive  Vc-rftellung  von  der 
Ewigkeit,  hingegen  fogar  eine  Vorftellung 
des  unendlichen  Raums  für  unmöglich  hiel- 
ten. Diefer  Irithum  mag  wohl  aus  folgen- 
dem Grunde  entstanden  feyn.  Nach  gründ- 
licher Betrachtung  der  Urfachen  und  Wir- 
kungen erkannten  fie  die  Notwendigkeit, 
ein  ewiges  -Wefen  anzunehmen,  und  feine 
reale  Exifienz  fo  zu  denken,  dafs  fie  ihre 
Vorftellung  von  der  Ewigkeit  erfchöpfte. 
Auf  der  andern  Seite  hingegen  fchien  es  in« 
nen  nicht  nur  nicht  nothwendig,  fondern 
auch  ungereimt ,  einen  unendlichen  Körper 
anzunehmen.  Da  nun  eine  Vorftellung  von 
einer  unendlichen  Materie  nicht  möglich  ift, 

Cm 


Siebzehntes     Kapitel.  5o5 

fo  fchloffen  fie,  könne  man  auch  keine  Vor- 
stellung von  einem  unendlichen  Räume  ha- 
ben. Diefer  Schlufs  dürfte  aber  nicht  fehr 
richtig  feyn.  Denn  die  Exiftenz  der  Materie 
ift  eben  fo  wenig  nothwendig  zur  Exiftenz 
des  Raums,  als  die  Exiftenz  der  Sonne  oder 
der  Bewegung  zur  Exiftenz  der  Dauer,  ob- 
gleich diefe  durch  die  Bewegung  pflegt  ge- 
melTen  zu  weiden.  Man  kann  fich  ohne 
Zweifeleinen  Raum  von  10,000  Quadratmei- 
len und  eine  Zeit  von  10000  Jahren  vorftel- 
len  ,  wenn  gleich  kein  Körper  fo  grofs  und 
fo  alt  ift.  Die  Möglichkeit  der  Vorftellung 
des  leeren  Raumes  fcheint  mir  fo  klar,  als 
die  Vorftellung  von  der  Weite  eines  Scheffels 
ohne  Getraide  ,  oder  von  der  Holung  einer 
Rufs  ohne  Kern.  Der  Begriff  von  der  Un- 
endlichkeit des  Raumes  und  die  Exiftenz  ei- 
nes unendlich  ausgedehnten  Körpers  ftehen 
in  keiner  nothwendigern  Verknüpfung,  als 
der  Begriff  von  der  unendlichen  Dauer  und. 
die  Ewigkeit  der  Welt.  Und  warum  follte 
man  die  reale  Ex:ftenz  der  Materie  als  ein© 
Bedingung  der  Vorftellung  vom  unendlichen 
Baume  betrachten,  da  man  fich  eines  eben 
fo  klaren  Begriffs  von  der  Unendlichkeit  der 
I  i  5  künfti- 


5  dS  Zweites  Buc h." 

künftigen  als  der  vergangenen  Zeit  bewirfst 
ift ,  ohne  deswegen  in  die  künftige  Zeit  die 
Exiftenz  eines  Dinges  noihwendig  zu  fetzen. 
Es  ift  auch  eben  fo  unmöglich,  die  Vorfiel- 
lung  rnn  der  künftigen  Dauer  mit  der  von 
der  gegenwärtigen  oder  vergangenen  Exi- 
ftenz zu  verbinden  ,  als  die  Vorßellungen 
von  Geflern,  Heute  und  Morgen  zu  identi- 
fchen  Vorftellungen  zu  machen,  oder  die 
vergangenen  und  künftigen  Jahrhunderte  als 
gleichzeitig  neben  einander  zu  (teilen.  Wenn 
aber  jene  Denker  meinen  ,  fie  hätten  eine 
klarere  Vorftellung  von  der  unendlichen 
Dauer  als  von  dem  unendlichen  Räume, 
weil  es  eine  ausgemachte  Wahrheit  ift,  dafs 
Gott  von  Ewigkeit  exiftiert,  keine  reale  Ma- 
terie aber  den  unendlichen  Raum  erfüllet,  fo 
giebt  es  andere  Philofophen ,  welche  dafür 
halten,  dafs  der  unendliche  Raum  eben  fo' 
von  Gottes  Allgegenwart  erfüllt  werde,  als 
die  unendliche  Dauer  von  feinem  ewigen 
Dafeyn.  Dann  müfste  man  doch  wohl  den 
letztern  einen  eben  fo  klaren  Begriff  vo.n  dem 
unendlichen  Räume,  als  den  erfiern  von  der 
unendlichen  Dauer  einräumen»  Indeflen 
werden  wohl  weder  die  elften  noch  die  letz- 
ten 


Siebzehntes    Kapitel.  5o"" 

ten  von  der  Unendlichkeit  des  Raums  oder 
der  Dauer  einen  pofitiven  Begriff  haben. 
Denn  da  jeder  pofitire  Begriff  einer  Gröfse 
durch  Multiplication  vermehrt  werden  kann, 
fo  müfste  es  auch  bei  diefen  Vorftellungen 
fiatt  linden;  und  fo  könnte  man  zwei  unend- 
liche Gröfsen  zufammen  addiren,  oder  die 
eine  unendlich  gröfser  als  die  andre  ma- 
chen ,  —  Ungereimtheiten ,  die  keine  Wi- 
derlegung verdienen. 


§•       21. 

Die  vermeintlichen  pofitiven 
Vorftellungen  des  Unendli- 
chen   verurfachen    Irthümer. 

Wenn  einige  nach  allen  diefen  Gründen 
doch  noch  glauben,  das  Unendliche  pofitiv 
vorftellen  und  fallen  zu  können,  fo  mufs  man 
ihnen  freilich  den  GenuTs  diefes  Vorzugs  un- 
geftÖTt  laflen.  Möchten  fie  nur  ihre  Vorfiel* 
hing  andern  mittheilen,  die  fich  nicht  deffel- 
ben  Vorzugs  rühmen  können ;  fie  würden 
fich  durch  diefe  Belehrung  feil  verbindlich 
machen.     Denn  ich  glaubte  bis  jezt  immer, 

dafs 


5o8  Zweites     Buch. 

dafs  die  großen  unauliöslichen  Schwierigkei- 
ten, in  welche  (ich  alle  unfere  Räfonnemens 
über  die  Unendlichkeit  des  Raums,  der  Zeit 
und  der  Theilbarkeit  unaufhörlich  verwickel- 
ten, untrügliche  Merkmale  von  der  Unvollkonr 
menheit  unfrer  Begriffe ,  und  der  Unange. 
meflenheit  diefes  Gegenftandes  für  die  Faf- 
fungskraft  unfres  befchrankten  Vermögens 
-wären.  Denn  wenn  die  Menfchen  über  den 
unendlichen  Raum  oder  die  unendliche  Dauer 
ftreiten  und  disputiren  ,  als  hätten  fie  fo  voll- 
ständige und  pofitive  Begriffe  davon ,  als  von 
den  fie  bezeichnenden  Ausdrücken  oder  von 
endlichen  Gröfsen,  fo  darf  man  fich  nicht 
wundern ,  dafs  die  Unbegreiflichkeit  diefer 
Gegenftände  fie  in  Schwierigkeiten  undWi- 
derfpriiche  verwickelt,  und  dafs  ihr  Verfiand 
einem  Gegenftände  unterlieget ,  der  zu  grofis 
ift,  als  dafs  er  überfchaut  und  behandelt  wer- 
den könnte» 


$♦      2,2 1 

Ich    habe    mich    fehr"  lange  bei    der  Be- 
trachtung des  Raums,   der  Dauer,   der  Zahl, 

und 


Siebzehntes    Kapitel.  Sog 

und  der  Unendlichkeit,  die  aus  der  Refle- 
xion über  jene  entfpringt,  verweilet»  Allein 
die  Befchaffenheit  diefer  GegenfUinde  machte 
das  nothwendig.  Denn  es  giebt  wenig  ein- 
fache Vorftellungen,  deren  Beftimmungen  den 
menfehlichem  Geift  fo  fehr  befchiiftigten  als 
diefe.  Ich  will  nicht  behaupten,  dals  ich  fic 
voHftändig  erfchöpft  habe.  Es  war  für  mei- 
nen Zweck  hinreichend  ,  zu  zeigen,  wie  das 
Gemüth  diefe  Vorftellungen  ,  fo  wie  fie  find, 
von  der  Empfindung  und  Reflexion  erhält, 
vund  wie  felbft  der  Begriff  der  Unendlichkeit, 
fo  wenig  Beziehung  er  auch  auf  ein  finnli- 
ches Object  oder  eine  Thätigkeit  der  Seele 
zu  haben  fcheint,  doch  mit  andern  Vorftel- 
lungen einerlei  Urfprung  hat.  Einige  Mathe- 
matiker von  tiefem  Speculationsgeift  mögen 
vielleicht  die  Begriffe  von  dem  Unendlichen 
auf  eine  andre  Art  ableiten;  allein  dem  un- 
geachtet konnten  fie,  wie  andre  Menfchen, 
den  erften  Begriff  davon  auf  die  oben  be- 
schriebene Weife  erhalten  haben. 


Acht 


5lo  Zweites    Buch. 

Achtzehntes    Kapitel. 

Von  andern  einfachen  Beftimniungen, 


Beftimniungen  der  Bewegung, 


I 


n  den  Vorhergehenden  Kapiteln  habe  ich 
gezeigt,  wie  der  Verftand  von  den  einfachen 
durch  die  Sinnlichkeit  erzeugten  Y'orftellun^ 
gen  ausgeht,  und  fleh  fogar  bis  zur  Unend- 
lichkeit ausbreitet.  So  weit  auch  der  Be- 
giiff  der  Unendlichkeit  von  allen  fißnlichen 
VorftelJungen  entfernt  fcheint,  fo  beftehet 
doch  fein  Inhalt  nur  aus  einfachen,  durch 
die  Sinne  gegebenen  und  nachher  durch  da* 
Veriia  mies  vermögen  zufammengefetzten  Vor- 
fielluägen.  Zu  Beifpieien  von  einfachen  Mo- 
dincationen  einfacher  Vorltellnngen  der  Sinn- 
lichkeit und  zur  Darflellung  der  Art  und 
Weife,  wie  der  Verftand  zu  diefen  gelangt» 
könnte  es  nun  fchon  an  dem  Gegebenen  ge* 

xius 


'Achtzehnte«    Kapitel.  5l. 

11  ug  Heyn.  Wir  wollen  aber  doch  noch  eini« 
ge  der  Ordnung  wegen,  doch  ganz  kurz  an- 
führen ,  und  'dann  zu  den  zufamuiengefeu- 
tern  Begriffen  übergehen» 


§.      2» 

GlitTchen,  rollen,  wälzen,  gehen,  krie- 
chen, laufen,  tanzen,  fpringen  hüpfen  und 
f.  w.  find  eben  fo  viele  verfchiedene  Modifi- 
cationen  der  Bewegung,  welche  fich  jeder 
fogleich  klar  vorftellt,  als  er  die  Worte  hört 
und  v erfleht.  Die  Beftiramungen  der  Bewe- 
gung entfprechen  den  Beftimmungen  der 
Ausdehnung.  Gefchwindigkeit  und 
Langfamkeit  find  zwei  verfchiedene  Vor- 
stellungen der  Bewegung,  infüfern  fie  zu- 
gleich durch  die  Länge  der  Zeit  und  des 
Raums  gemeffen  wird;  alfo  zurammengefetz- 
te  Begriffe,  indem  fie  aufser  der  Bewegung 
auch  Raum  und  Zeit  enthalten. 


§♦  5. 


£  12  Zweites    Buch. 

§.     5. 

Älödificationen    der   Töne. 

Bei  den  Tönen  finden  wir  eben  diefe 
Rlannichfahigkeit,  Jedes  articulirte  Wort 
ift  eine  andre  Modification  des  Tons. 
Daraus  erhellet,  welche  faft  unzahlbare  Men- 
ge verfchiedener  Vorftellungen  die  Seele  von 
dem  Gehörfinne  durch  diefe  Modifikationen 
erhält.  Wenn  Töne  (das  Gefchrei  derTbie- 
re  und  Vögel  ausgenommen)  von  verfchiede- 
ner Höhe,  Tiefe  und  Länge  nebeneinan- 
der geftellt  werden,  fo  entftehet  die  zufam- 
mengefetzte  Vorftellung  einer  Melodie,  Ein 
Mu  fiter  kann  fich  diefelbe  vorftellen  ,  ohne 
einen  Ton  zu  hören  oder  hervorzubringen 
indem  er  blos  über  die  Töne  reHectirt,  die 
er  ohne  äufsern  Laut  in.  leiner  Einbildungs- 
kraft zufammenfetzt. 

5-    4- 

INI  odificationen    der    Farben, 

Die  Moditicationen  der  Farben  find  eben- 
falls fear  mannichfaltig.     Einige  davon   wer- 
den 


Achtzehntes    Kapitel/  5i3 

den  als  verfcbifdene  Grade  oder  Sthartirun- 
gen  einer  und  derfelben  Farbe  betrachtet. 
Selten  wird  aber  entweder  zum  Ver^nü^en 
oder  zum  Nutzen,  eine  Partie  Faibeai  zu- 
fatnmeneefetzt ,  ohne  eine  gewiffe  Figur  mit 
einzumifchen  ,  und  daran  1  heil  nehmen  zu 
lauen ,  wie  in  Gemälden,  in  der  Weberei» 
Stückerei  u,  f.  w.  Diefe  gehören  daher  zu 
den  gemifchten  ßeßiinmurgen ,  welche  aus 
verfchiedenartigen  Vorftellungen  als  Faiben 
und  Figuren  zufammengefetzt  find  z.  B.  die 
Schönheit,  der  Regenbogen. 


§.     5. 

Modificationen  des  Gefchmacks» 

Jeder  zufammengefetzte  Gefchmack  und 
Geruch  ift  ebenfalls  eine  aus  den  einfachen 
Vorftellungen  diefer  Sinne  zufammengefetzte 
Modilication :  Da  aber  die  Sprache  für  die 
meiften  derfelben  keine  Worte  hat  ,  fo  läfst 
fich  nicht  viel  über  fie  bemerken  und  fchrei- 
ben,  fondern  fie  muffen  ohne  Aufzählung 
der  Erfahrung  des  Lefers  überlaflen  werden. 

K  k  $.  G. 


5*4  Zweites    Buch. 

§.     6. 

Ueberhaupt  gilt  hier  die  Bemerkung,  dafs 
die  einfachen  Be  f  t  i  mm  u  n  g  en  ,  wel- 
che nur  als  verfchiedene  Grade  derfel- 
ben  einfachen  Vorftellung  betrach- 
tet werden,  obgleich  einige  derfelben  fehr 
verfchiedene  Vorftellungen  find,  doch  ge- 
wöhnlich, wenn  der  Unterfchied  fehr  klein 
ift,  kein  befonderes  Wort  in  der  Sprache  ha- 
ben, und  nicht  als  verfchiedene  Vorftellun- 
gen unterfchieden  werden.  Ob  man  diefe 
Modifikationen  überfehen  und  mit  keinen 
Worten  bezeichnet  hat,  weil  es  entweder  an 
fcharfen  Unterfcheidungsmerkmslen  fehlte, 
oder  weil ,  wenn  das  gefchehen  wäre,  ihre 
Kenntnifs  von  keinem  allgemeinen  und  be- 
trächtlichen Nutzen  gewefen  wäre,  mögen 
andere  unterfuchen.  Es  ift  für  meinen  Zweck 
hinreichend,  wenn  ich  zeige,  ciafs  die  Seele 
alle  diete  einfachen  Vorßellungeii  einzig; 
durch  die  Empfindung  und   I  ton  erhält, 

dafs  he  diefelb&n  auf  mannicbfaj'.ige  Art  wie- 
derholen ,  verbinden  und  daraus  neue  zu- 
fararnengeretzte  Vorftellungen  bilden  kann, 
Wfcün  gieich   jene   einfachen    Vorftellungen 

nicht 


Achtzehntes    Kapitel«  5i£ 

nicht  weiter  beftimmt  und  zu  neuen  Vorftel- 
lungrn  zufaunnengefetzt  worden  find,  um 
fie  mit  Worten  zu  bezeichnen,  uoJ  in  ge- 
wiiTe  KLilTen  zu  ordnen  ,  fo  ift  doch  das  mit 
andern  z,  B.  Einheit,  D^uer,  Bewegung 
Denken ,  Vermögen  geschehen. 


§.     7- 

Warum  einige  Mo  dif  ica  tio  neri 
mit  Worten  bezeichnet  find, 
andere  nicht. 

Die  Urfache  davon  fcheint  die^e  gewefen 
zu  feyn.  Die  wichtigfte  Angelegenheit  der 
Menfchen  betrifFt  ihre  gegenfei'ige  Verbin- 
dnng.  Dazu  war  die  Kenntnifs  der  Men- 
fchen und  ihrer  Handlungen  und  die  gegen» 
feitige  Mitiheilung  unumgänglich  norhwen« 
dig.  Daher  unterfchieden  fie  die  Vorftel- 
lungen  von  den  Handlungen  fchaTf  nach  al 
len  Unterfcheiduigsmerkmalpn  ,  und  drück- 
ten drefe  zufammengcfetzten  Begriffe  durclj 
Worte  aus,  um  diejenigen  Ohjpcte,  mit  wcl* 
chen  fie  täglich  umgehen,  von  denen  fie  im- 
Kks  met 


5i6  Zweites     Buch. 

• 
iner   Kenntnifle    mittheilen    und    empfangen 

muffen,  defto    leichier  unterrcheiden  ,    defto 
licherer  aufbewahren  ui:d   ohne  Umfchweife 
und    Umfchreihungen     davon    fprechen     zu 
köm  en»     Kurz  die  Menfchen  Iafsen  fich  bei 
Bildung  mancher  zufammengefetzten  Begriffe 
und     Bezeichnung     derfelben      gröfstentheils 
durch  den  Zweck  der  Sprache  überhaupt  lei- 
ten, welche    der   kürzefte  und    ficheifte  Weg 
ift,  einander  Vorftellungenmitzutheilen,  Die- 
fes  zeigt    fich  offenbar  bei    den  Kunftworten 
für   gewifle    zufammengefefzte   Begriffe    von 
befonders    eingerichteten  Handlungen,    wel- 
che zu    der    Abficht   erfunden   worden ,    um 
defto   beftim tnter  und  kürzer  über  ditfe   Ge- 
genftände  Anordnungen  zu  machen,  und  da- 
von  fprechen    zu  können»       Solche  Begriffe 
werden  nicht  von    allen  Menfchen  gebildet, 
noch  ihre  Ausdrücke  durchgängig  verftanden, 
weil  nicht    alle  mit   folchen  Operationen   zu 
thun  haben.       Solche  Worte   find  z.  B,  tiltri- 
len  »    Gohobation»       Die    zufammengefetzten 
Bügriffe ,   welche  dadurch    ausgedrückt  wer_ 
dens  findet  man  nur  bei  weuigen  Menfchen, 
deren  befondre  Beschäftigung     fie    beftändig 
in  ihr   Bevvufstfeyn    bringt,   und  die    Worte 

wer« 


Achtzehntes    Kapitel.  5iy 

werden  gewöhnlich  nur  von  Chemikern  ver- 
banden, welche  fie  crft  gebildet  haben,  und 
einander  wieder  mittheilen.  So  ift  eine 
grofse  Mannichfaltigkeit  von  einfachen  Ver- 
keilungen des  Geruchs  und  Gefchmacks  und 
ihrer  Modificationen  durch  die  Sprache  nicht 
bezeichnet  und  in  Klaffen  geordnet  worden, 
weil  man  fie  entweder  nicht  allgemein  genug 
beobachtete  ,  oder  weil  ihre  Kenntnifs  für 
die  menfehlichen  Angelegenheiten  und  Ge- 
werbe von  keinem  grofsen  Nutzen  ift.  Ein 
Mehreres  wird  darüber  in  der  Abhandlung 
von  den  Sprachzeichen  gefagt  werden. 


K  k  3  Neun 


5i8  Zweites    Buch, 

Neunzehntes    Kapitel, 

Von  den  Modificationen   des  Denkens. 


§.       I. 


Empfindung,     Erinnerung,     Bc 
t  r  a  c  h  t  u  n  g  u.  f.  w. 


enn  die  Seele  einen  Blick  auf  ihr  innres 
richtet,  und  ihre  eignen  Handlungen  be- 
trachtet, fo  ftelit  (ich  ihr  zuerft  das  Denken 
dar.  In  dem  leiben  Jaflen  ßch  eine  grofse 
Mannichfaltigkeit  von  Modificationen  unter- 
fcbeiden,  woraus  verfchiedeue  Begriffe  ent- 
liehen. So  ift  die  Vorsehung  ,  welche  mit 
dem  Eindrucke  eiues  äufoern  Objects  verknüpft 
ift,  eine  Modificatinn  des  Denkens ,  welche 
lieh  von  allen  andern  unterfcheidet,  Sie 
giebt^dera  \  erftande  den  Begiiff  einer  Em- 
pfindung (fenfation/,  welche  gleich fam 
die  Einführung  einer  Vorftellung  in  den  Ver- 
band veruiitteift  der  Sinne  ift.  Wenn  eben 
diefflbe  Vorftellung  ohne  Einwirkung  ihres 
Objects  wieder  in    das    Bewufstfeyn  kommt, 

f© 


Neunzehntes     Kapitel.  Jicj 

fo  ift  es  die  Er  in  n  er  ung.     Sucht  das  Ge- 
müth diefelbe  wieder  hervor,     und   ruft   fie 
mit  Mühe   und  Anftrcngung  ins  Bewufstfeyn 
zurück,  fo   ift  es  das  Entfinnen,       Be- 
trachtung   heifst    die    Art   des   Denkens, 
wenn  das  Gemüth  bei  einer  Vorftellung  lan- 
ge  mit   Aufmerkfamkeit  verweilet.       Wenn 
die  Vorftellungen  in  dem  Gemütbe  ohne  Re- 
flexion  oder    Beachtung  des    Verftandes  a.b- 
und  zufirümen,    fo   heifst  das  Trau  m  er  e  i» 
Werden  die  Vorfiellungen,  welche  fah  felbft 
darbieten;  beachtet,  und  gleich fam  in  das  Ge- 
dächtnifs   eingetragen,    fo  ift  das   die    Aut- 
ln  erkfamkei  t.        Wenn  der  Verßand  mit 
Jntcrrfle   und   eigner  Wahl    feinen  Bück  auf 
eine  Vorftellung  heftet,  he  von  allen  Seiten 
betrachtet,  und  fich   durch  keinen  Reitz  an- 
drer Vorftellungen  lofsreifsen  läfst,  fo  nennt 
man   dasForfchen    und    Studium.     Der 
traumlofe  Schlaf  iß  der  Znftand,   da  alle  die* 
fe  Thätigkehen  ruhen.      Das  Träumen  ift 
der  Zuftand  des  Getnüths ,  da  die  äufsern  Sin- 
ne verfchloifen  find,  und  nicht  mit  der  fonft 
^ewübnlichen    Lebhaftigkeit   Eindrücke   auf- 
nehmen.  Das  Gemüth  hat  Vorftellungen,  aber 
üe  werden  durch  keinen    äufsern  Gegenft^nd 
Kk  4 


620  Zweites    Buch. 

oder  fonftige  bekannte  Veranlagung"  geweckt, 
und  flehen  nicht  unter  der  Wahl  und  der 
Leitung  des  Verftandes.  Die  Entzückung 
ift  vielleicht  ein  Träumen  bei  offenen  Augen» 
Doch  überlaffe  ich  das  andern  zur  Unter- 
fuchudg« 


§. 


Diefes  find  nur  einige  wenige  BeiTpiele 
von  den  mannichfaltigen  Modifikationen  des 
Denkens,  die  man  in  Geh  beobachten ,  und 
eben  fo  deutlich  vorftellen  kann,  als  aufsere 
Gegenwände  z.  B,  einen  Kreis,  ein  Viereck. 
Es  ift  hier  nicht  meine  Abficht,  diefe  ganze 
Reihe  von  Voift:  Illingen  der  Reflexion  voll- 
ftändig  darzuftellen  ,  und  ausführlich  zu  be- 
handeln :  diefes  würde  ein  ganzes  Buch  er- 
fodern.  Ich  begnüge  mich  an  wenigen  Bei* 
fpiclen  gezeigt  zu  haben ,  von  welcher  Art 
diele  Vorfiel! ungen  find,  und  wie  fie  die 
Seele  erhält,  um  fo  mehr,  da  ich  weiter  un- 
ten Gelegenheit  finden  werde,  von  i\en 
nieikwürdigften  Thüti^keiten  des  Gemiiths 
und  den  Befthnmungen  des  Denkens,  als  dem 

Urthei- 


Neunzehntes    Kapitel,  52i 

Urtheilen  ,    Schliefsen  ,    Erkennen  und  Wol- 
len ausführlicher  zu  handeln. 


§• 


Von  den  verfchiedenen  Graden  der 
A  uf  mer  kfa  m  kei  t   beim  Denken. 

Was  wir  vorher  von  der  Aufmcrkfanv 
kfit,  der  Träumerei,  dem  Traume  u.  f.  vv. 
fagten,  führt  uns  hier  auf  eine  Betrachtung 
des  verfchiedenen  Zuftandes  des  Gemüths 
beim  Denken  —  eine  kleine  Abfchweifung, 
die  man  uns  defto  eher  verzeihen  wird ,  da 
fie  Ins  von  unferm  Gegenltand  nicht  weit  ab- 
führet. In  dem  wachenden  Zu  Rande  find 
immer  einige  Vorfteilungen  von  einerlei  oder 
verfchiedener  Art  der  Seele  gegenwärtig, 
diefs  lehrt  die  Erfahrung,  Der  Verftand  be* 
fchäftiget  fich  mit  ihnen  in  verfchiedenen 
Graden  der  Aufmerksamkeit,  Zuweilen  rich- 
tet er  die  Aufmrrkramkeit  mit  dem  größten 
IniereiTe  auf  die  Betrachtung  gewiffer  Gegen- 
ftände,  unterfucht  diefe  Vorßellungen  von 
allen  Seiten  ,  bemerkt  alle  Yerhältnifle  und 
Umftände  ,  fafst  jedes  Merkmal  fo  fcharf  und 
Kk  5  anse- 


.0-2  Zweites    Buc  h. 

angelegentlich  auf,  dafs  alle  andere  Gedan- 
ken ausgefchloffen,  und  die  gewöhnlichen 
Eindrücke  auf  die  Sinne  nicht  bemerkt  wer-* 
den,  die  bei  einer  andern  Stimmung  des  Ge- 
müths  fehr  lebhafte  Vorftcllungen  würden 
veranlagt  haböa«  Zu  eiuer  andern  Zeit  wird 
die  Reihe  von  VorfteSIungen,  welche  auf  ein- 
ander folgen,  blos  beobachtet,  ohne  Lei- 
tung und  weiteres  Nachdenken  des  Verftan- 
Ces,  Endlich  ^ehen  fie  zuweilen  ,  wie  mat- 
te Schattenbilder,  die  keinen  Eindruck  ma- 
chen, faß  ganz  unbeachtet  vorbei. 


5' 


Es  wird  daraus  wahr  fchein  lieh, 
d  a  f  s  das  Denken  eine  Hand- 
lung, nicht  das  Wefen  der  See- 
le itt. 

Diefen  Unterfchied  zwifchen  Anßren- 
gung  und  Erschlaffung  der  Denkkraft,  nebft 
eiuer  grofsen  Mannichfaltigkeit  von  Graden 
zwifchen  dem  ernftlichen  Nachdenken,  und 
dem  Nichtiiadidenken  hat  wohl  jeder  Menfch 

in 


Neunzehntes    Kapitel.  5;3 

in  (ich  erfahren.  Kur  noch  einen  Schritt 
weiter,  und  wir  finden  die  Seele  fcblafend, 
gleich  fam  zurückgezogen  von  den  Sinnen 
und  dem  Wirkungskreife  der  Veränderungen 
in  den  Sinnorganen,  die  foult;  lebhafte  \  or- 
ftellungen  erzeugten.  £s  iß  nicht  nöthig  zum 
Belege  Beifpiele  von  Menfchen  anzuführen, 
welche  eine  ganze  ftünnifche  Nacht  hindurch 
fchlafen,  ohne  den  Donner  zu  hören,  die 
Blitze  zu  fehen,  oder  die  Erfchütterungcn 
des  HauTes  zu  empfinden,  welche  den  wa- 
chenden merklich  genug  find.  Unge.ichtet 
diefer  Abgezogenheit  von  den  Sinnen  behalt 
doch  die  Seele  noch  eine  fehr  regellofe  und 
unznfammenhängende  Art  2u  denken,  die 
man  das  Träumen  nennt.  Endlich  ziehet 
auch  hjer  ein  gefunder  Schlaf  diefen  letzten 
Vorhang  zu,  und  läfst  alle  Erfcheinungeu 
verfchwinden,  Diefe  Erfahrungen  hat  wohl 
-jeder  an  fich  felbft  gemacht,  und  die  Beob- 
achtung über  fich  felbft  leitet  ohne  Schwierig- 
keit auf  diefe  Bemerkungen.  Was  ich  dar- 
aus folgere,  iß  diefes.  Da  die  Seele  ihre 
Denkkraft  bald  anfpanner.  bald  wiederum 
herabftimmen  kann,  dafs  ihre  Gedanken  matt, 
dunkel  oder  wohl  gar  wenig  mehr,  als  nichts 

find, 


5^4  Zweites    Buch« 

lind,  da  fie  in  ihrer  Abgezogenheit  in  dem 
tiefen  Schlafe  endlich  alle  ihre  Vorftellungen 
gleichfam  aus  dem  Gefjcht  verliert  j  und  alles 
diefes  eine  unleugbare  Erfahrung  und  That- 
fache  ift ,  fo  frage  ich,  ob  es  nicht  wahr- 
fcheinlich  fey ,  dafs  das  Denken  eine 
Thä  t  igkei  t  a  ber  nicht  das  Wefen 
der  Seele  ift?  Denn  die  Wirkungen  eines 
handelnden  Wefens  find  eines  höhern  und 
mindern  Grades  empfänglich  •  aber  bey  dem 
Wefen  eines  Dinges  lälst  fich  kein  folcher 
Gradunterfchied  denken.  Doch  diefes  be- 
merke ich  nur  im  Vorbeigehen» 


Zwan. 


Zwanzigftes     Kapitel,  5a5 

o  j.  v 

Zwanzigftes     Kapitel, 

Modiilcationen  des  Vergnügens  und  Schnierzens 


Vergnügen  und  Schmerz    find    ein- 
fache  V  o  rf  t  eilungen, 

^♦nter  den  einfachen  Vorftellungen ,  welche 
wir  fowohi  ans  der  Empfindung  als  der  Re- 
flection  erhalten ,  liehen  Vergnügen  und 
Seh  m  e  rz  oben  an.  Ein  Eindruck  in  dem 
Körper  ift  entweder  eine  blofse  Veränderung 
oder  mit  Vergnügen  und  Schmerz  verknüpft. 
Eben  fo  ift  jede  Vorftellung  der  Seele  entwe. 
der  eine  blofse  oder  eine  mit  Vergnü- 
gen und  Schmerz,  Luft  und  Unlufc 
verg  efe  11  fc  haftete  Vorftellung. 

Diefe  können  fo  wenig,  wie  andre  einfache 
Vorftellungen  befchrieben,  oder  ihre  Aus- 
drücke erkläret  werden;  der  einzige  Weg 
fie  zu  erkennen,  ift  die  Erfahrung.  Denn  wenn 
man  fie  auch  als  ein  gegenwärtiges  Gut  oder 

Lebe! 


5:6  Zweites    Buch; 

Uebel  erkläret,  To  läfst  fich  doch  das  auf  kei- 
ne ai:dre  Art  erkennen ,  als  wenn  man  refle- 
ctin,  was  man  empfindet,  wenn  uns  das 
Gute  undBöTe  nach  Verfchiedenheit  der  Rich- 
tung und  Befrachtung  auf  mannichfaltige  Art 
äfficieret* 


f.      2, 

Was  das  Gute    und  Büfe  ift. 

Die  Dinge  find  nur  gut  oder  boTe  in  Be* 
Ziehung  auf  Vergnügen  oder  Schmerz.  Gut 
nennen  wir  dasjenige,  was  in  uns  Vergnü- 
gen erwecken,  vermehren  und 
Schmerz  vermindern;  oder  was  den 
Befitz  eines  andern  Gutes  ver- 
schaffen und  fichern,  und  ein 
Uebel  entfernen  kann.  Böl'es  hin- 
gegen ift  was  Schmerz  verur  Fachen 
oder  vermehren  und  das  Vergnü- 
gen vermindern,  was  uns  ein  an- 
dres Uebel  zuwege  bringen,  oder 
eines  Guten  berauben  kann.  Man 
ffiuTs  hier  Vergnügen  und  Schmerz  fowohl- 
4es    Körpers    als    des  Geiftes  vergehen,    fo 

wie 


Zwanzigftes    Kapitel,  527 

wie  fie  gewöhnlich  unteTfchieden  werden. 
Im  Grunde  find  fie  aber  beide  nur  verfchie- 
dene  Befthninnngen  des  Gemüths,  welche 
bald  durch  den  Zuftaud  des  Körpers,  bald 
durch  gewifle  Vorftellungen  der  Seele  vevur- 
facht  werden, 


§♦    5.'. 

Die  Lei  denfe  haften  werden  durch 
das  Gute  und  ßöfe  in  ße'.veguUg 
gefetzt* 

Vergnügen  und  Schmerz,  und  was  fie 
hervorbringt,  Gutes  und  Eüfes  find  die  An- 
geln in  welchen  Geh  unfre  Leidenfchaften 
drehen»  Wenn  wir  in  uns  beobachten  ,  wie 
diefe  in  verfchiedener  Richtung  auf  uns  wir- 
ken ,  welche  Modificafionen  und  Stimmun- 
gen des  Gemüths  und  fo  zu  Tagen  innere  Em- 
pfindungen fie  hervorbringen,  fo  können 
wir  daraus  die  Begriffe  von  unfern  Leiden- 
fchaften ziehen. 


$•  V 


528  Zweit «3    Buch. 

§.      4. 
Liebe. 

I>!ß  Reflexion  auf  die  Empfindung  der 
Luft,  weiche  ein  gegenwärtiger  oder  abwe- 
fenrier  Gegenftand  erzeugen  kann  ,  giebt  den 
Begriff  von  der  Liebe.  Wenn  ein  Menfcb, 
Tagt ,  er  liebe  die  Weintrauben ,  es  fey  im 
Herbft,  wenn  er  fie  ifst ,  oder  zu  einer  an- 
dern Jahrszeit ,  da  fie  noch  nicht  find  ,  fo  iffe 
es  fo  viel,  als  das  Eflen  derfelben  ifi:  für 
ihn  angenehm.  Gehet  aber  eine  Verände- 
rung, in  feiner  Gefundheit  oder  körperlichen 
Befchaffenheit  vor  ,  weiche  diefe  angeneh- 
me Empfindung  zerftöhret,  To  kann  man 
nicht  mehr  fagen ,  er  liebe  diefe  Frucht« 


§.     5. 
Hafs, 

Hafs  ift  im  Gegentheil  die  VorßelfuHg 
der  Utiluft,  welche  ein  gegenwärtiger  oder 
abwefentier  Gpgcnftand  hervorbringen  kann» 
Wenn  lieh  nickt  meine  Abficht  auf  die  bJofse 

Dar 


Zwanzigstes     Kapitel.  5ig  ~ 

Darftellung  der  begriffe  von  Leidenfchaftenr 
als  Modifikationen  der  Luft  und  Unluft  ein- 
fchränkte ,  fo  würde  ich  noch  bemerken,  dafs 
fich  Liebe  und  I Jafs  gegen  Ieblofe  Dinge 
gemeiniglich  auf  die  Luft  und  Unluft  grün- 
det, welche" durch  ihren  oft  mit  Zerftöhrung 
verknüpften  Gebrauch  für  die  Sinne  und  ihr 
Verhähnifs  zu  diefen  entftehet.  Liebe  und 
Hafs  gegen  empfindende  Wefen  ift  oft  nur 
die  Luft  und  L'uluft,  welche  in  uns  aus  der 
Vo.rftellung  ihres  Lebens  und  Wohlfeyns  ent- 
flehet. So  liebt  ein  Vater  feine  Kinder,  ein 
Freund  den  andern,  weil  ihr  Leben  und 
Wohlfeyn  ein  beftändig,eT  .  Gegenstand  des 
Vergnügens  ift.  Doch  es  ift  hier  genug,  be- 
merkt  zu  haben  ,  dafs  unfre  Empfindungen 
der  Liebe  und  des  Haffes  nur  Beftimmungen 
des  Geraüths  in  Beziehung  auf  Luft  und  Un- 
luft überhaupt  find,  ohne  alle  Rückficht  auf 
den  Entftehung'igrund  derfelben, 

'§.     6, 
Verlangen» 

Das  Verlangen  ift  die  Unluft,    die   ein 

Menfch   aus  der    Abvvefenheit  eines   Dingts 
L  1  ein- 


S3o  Zweites    Buch. 

empfindet,     deflen    GenuTs     mit   Vergnüge» 
verknüpft  ift.     Das    Verlangen  ift  um  fo  grö- 
fser  oder  kleiner   als  es  die  Unluft  ift.      Viel- 
leicht ift  hier  die  Nebenbemerkung  nicht  oh- 
ne  Nutzen,    dafs   Unluft    und   Schmerz   wo 
nicht     die    einzige    doch    die    vorzüglichfte 
Triebfeder  der   menfehlichen  Thätigkeit  ift» 
Denn  was    für  ein  Gut  man  fich  auch  vor- 
teilt, wenn   die  Abwefenheit  deftelben  kein 
Mifsvergnügen  ,  oder  Unluft  bei  fich  führet, 
wenn   man   ohne   dafTelbe  vergnügt  und  zu- 
frieden ift»  fo  entftehet  kein  Verlangen,  kein 
Beftreben    darnach ,  fondern  nur  ein  blofses 
Wollen  (Velleity),    der  niedrigfte  Grad  des 
Verlangens  ,    oder  eigentlich  das  ,    was  dem 
Nichtverlangen  am  nächften  kommt.     In  die- 
fem  Falle  ift  die  Unluft  über  die  Abwefenheit 
eines  Dinges   fo  klein,     dafs   fie  nur   einige 
fchwache  Wünfche  nach   demselben  hervor- 
bringt,  ohne  thatige   und    ernftliche  Anwen 
düng  der   Mittel     zur   Erlangung    deflelben. 
Das  Verlangen  wird  auch  durch  die  Meinung 
von    der   Unmöglichkeit   oder    Unerreichbar- 
keit des  Guten  erftickt  oder  gefch wacht,    in^ 
forern    die   Uniuft    durch    diefe    Befrachtung 
gehoben  güsi  gemindert  wird.       Diefs  kann 

Stoff 


Zwanzigftes     Kapitel.  65 1 

Stoff  zu  weitem  Unterfuchungeu  geben,  die 
aber  nicht  hieher  gehören,. 


$•      7- 
Freude. 

Freude  ift     das  Vergnügen    der    Saele, 
aus  Betrachtung  des  gegenwärtigen  oder  doch 
des  zuverlässigen  nahen  Befitzes    eines  Gutes. 
Man  ift  aber    dann   im   Befitz    eines   Gutes, 
wenn  man  es  fo    in  feiner  Gewalt  hat,    dafs 
man  es  zu  jeder  Zeit  geniefsen   kann.       So 
freuet   fich  ein   Ausgehungerter»    wenn    ihm 
Lebensmittel  gebracht  werden,   noch   ehe  er 
fie  genieffet.      Ein  Vater,  dem  das   Wohlfeyn 
feiner  Kinder  Vergnügen  macht,  ift  fo  lange 
im  Befitz  diefes  Gutes,    als   feine   Kinder  in 
diefem    Zuftande    fich     befinden;     denn     er 
braucht  nur  daran  zu  denken,    uni  es  zu  em- 
pfinden« 

'§'.     8  — 13. 

Traurigkeit,     Hofnung,     Furcht, 
Verzweiflung,  Zorn,  Neid. 

Traurigkeit  ift   die  Unlufl:  der   Seele. 
welche   aus   der  Voiftellung  eines  verlornen 
LI  2  G 


55a  Zweites     Buch. 

Gutes, das  man  länger  hätte  genießen  können, 
oder  aus  der  Empfindung  eines  gegenwärti- 
gen Uebels  entfpringt.  Die  Hofnung  ift 
das  Vergnügen  aus  der  Vorftellung  des  künf- 
tigen Genaues  eines  Dinges,  welches  Ver- 
gnügen erwecket,  Furcht  ift  Unluft  aus 
der  Vorfiellung  eines  künftigen  Uebels,  das 
einen  wahrfcheinlich  überfallen  wird.  Ver- 
z  weifelu  n  g  ift  die  Vorftellung  von  der 
Unerreichbarkeit  eines  Guts  ,  welche  auf  das 
menfchlicbe  Gernüth  nicht  auf  einerlei  Weife 
wirkt,  fondern  bald  Unlufi  und  Schmerz, 
bald  Ruhe  und  Gleichgültigkeit  hervorbringt. 
Zorn  iß  Unluft  oder  Beunruhigung  des  Ge- 
müths  über  eine  empfangene  Beleidigung  mit 
dem  VorTatz  fich  fogleich  zu  rächen.  Neid 
ift  die  Unbebaglichkeit  des  Gemülhs,  welche 
aus  der  Vorftellung  entfpringt,  dafs  e^in  an- 
derer ein  Gut,  das  Object  unfers  Begehrens, 
erreicht  hat,  welches  er  unfrer  Meinung 
nach  nicht  vor  uns  hätte  erlangen  follen» 


$.  i4. 


Zwanzig  ft  es    Kapitel.  533 

§♦        14. 

Welche  Leidenfchaften  bei  al- 
len Menfchen  gefunden  wer- 
den. 

Zorn  und  Neid  werden  nicht  fchlechthin 
durch  Vergnügen  und  Schmerz  erzeugt,  f0n_ 
dem  es  find  mit  denfelben  noch  gewiffe  ver- 
mifchte  Rückfichten  auf  uns  und  andre  ver- 
webt, nehmlich  die  Schätzung  des  Verdien- 
ftes  und  der  Vorfatz  der  Rache,  Daher  fin. 
det  man  fie  nicht,  bei  allen  Menfchen,  weil 
nicht  alle  dL-fe  Rückfichten  haben.  Alle 
übrigen  Leidenfchaften,  welche  fich  blos  auf 
Vergnügen  oder  Schmerz  beziehen,  können 
wohl  bei  allen  Menfchen  gefunden  werden» 
Denn  wir  lieben,  verlangen,  freuen  uns  und 
hoffen  zuletzt  doch  nur  in  Rückficht  auf  das 
Vergnügen,  wir  hoffen,  fürchten  und  betrü- 
ben uns  nur  in  Beziehung  auf  Schmerz. 
Kurz  alle  Gegenftande  erregen  nur  infofern© 
Leidenfchaften  .  in  wiefernc  fie  als  Urfachen 
der  Luft  und  Unluft  erfeheinen,  oder  als  mit 
Vergnügen  und  Schmerz  auf  gewiffe  Weife 
verknüpft  gedacht  werden.  Der  Hafs  er- 
ftreckt  fich  gewöhnlich  auf  das  Object,  wel- 
L  1  5  ches 


r>54  Zweites    Buch. 

ches  uns  webe  gethan  hat,  zum  wenigften, 
wenn  es  ein  empfindendes  und  mit  Freiheit 
Handelndes  Wefen  ift;  denn  die  Furcht,  die 
es  zurücklägt,  äft  ein  unaufhörlicher  Schmerz. 
Hingegen  liebt  man  nicht  fo  fortdauernd  das- 
jenige, was  uns  Gutes  gethan  hat,  weil  d^s 
Vergnügen  nicht  fo  ftark  als  der  Schmerz  auf 
uns  wirket,  und  weil  man  nicht  geneigt  ift, 
zu  hoffen ,  es  werde  ein  andermal  wieder  fo 
gegen  uns  handeln.  Doch  diefs  ift  nur  eine 
Nebenbeinerkung. 

§.      15»  16. 
Was   Vergnügen    und    Schmerz   ift. 

In  diefem  ganzen  Abfchnitt  mufs  unter 
Vergnügen  und  Schmerz,  Luft  und  Unluft 
nicht  allein  körperliches  Vergnügen  und  kör. 
perlicher  Schmerz,  fondern  auch  jede  Luft 
und  Unluft  verftauden  werden,  welche  aus 
einer  angenehmen  oder  unangenehmen  Em- 
pfindung oder  Reflexion  entfpringt.  In  Be- 
ziehung auf  die  Leidenfchaften  wird  auch 
die  Entfernung  und  Verringerung  eines 
Schmer?,es  als  ein  Vergnügen  und  die  Ent- 
fernung oder  Verminderung  eines  Vergnügens 
als  ein  Schmerz  betrachtet, 

§•  17. 


ZvranzigTtes    Kapitel.  &3» 

§•      17* 

Schaam» 

t 

Die  meißen  Leidenfchaften  wirken  auch 
auf  den  Körper,  und  bringen  in  demfelbea 
mancherlei  Veränderungen  hervor,  Diefe 
Foleen  machen  aber  kein  notwendiges 
Merkmal  des  Begriffes  von  jeder  Leiden- 
ichaft  aus,  weil  fie  nicht  allezeit  wahrnehm- 
bar find.  So  wird  die  Schaam  d.  i.  eine 
Unlufl,  welche  aus  dem  Gedanken  entflehet, 
dafs  «nan  etwas  gethan  hat,  welches  unan- 
Händig  ifl,  oder  die  Achtung  anderer  gegen 
uns  verringern  kann,  nicht  allezeit  von  ei- 
nem Erröthen  begleitet. 

Die  atigeführten  Beifpiele  zei- 
gen uns,  wie  die  Vorftellun- 
gen  von  Leiden  fc  haften  aus 
der  Empfindung  und  der  R  e* 
flexion  entfp ringen, 
i 

Was  ich  in  diefem  Ab(chnitt  gefagt  habe, 
darf  ja  nicht  für  eine  Abhandlung'  von  den 
Leidenfchaften  angefehen  werden.     Es  giebt 

noch 


535  Zweites    Euch.' 2o  Kap. 

noch  mehrere,  als  ich  angeführt  hahe,  und 
jede  derfelben  erfodert  noch  eine  weit  aus- 
führlichere und  fchärfere  Umerfuchung.  Die 
angeführten  find  hier  nur  als  eben  fo  viele 
Beifpiele  von  den  Modifikationen  der  Luft 
und  Uuluft,  welche  aus  der  verfchiedenen 
Betrachtang  des"  Guten  und  Büfen  entfprin- 
gen,  aufgeftellt  worden.  Ich  hätte  zu  die- 
fen  vielleicht  noch  andre  einfachere  Modifi- 
cationen  wählen  können,  z.  B.  die  Empfin- 
dung des  Hungers  und  Durftes ;  das  Vergnü- 
gen des  Eflens  und  Trinkens ;  den  Schmerz 
reizbarer  Augen  ;  das  Vergnügen  der  Mufikj 
das  Mifsveignügen  über  eine  verfängliche 
nicht  belehrende  Zänkerei  und  das  Vergnü- 
gen aus  der  vernünftigen  Unterhaltung  mit 
einem  Freund,  oder  aas  dem  wohlgeordne- 
ten Gebrauch  3er  Verüandeskräfte  in  Erfor« 
fchung  der  Wahrheit.  Allein  ich  wählte  die- 
fe  fJeifpieJe  lieber  von  Leiden  fchaften,  weil 
fie  uns  mehr  interefliren,  um  zu  zeigen,  wie 
ufifre  Vorftelluiigen  von  ihnen  aus  der  Em- 
pfindung   und  der  Ruflexion  abgeleitet  find»