Skip to main content

Full text of "Versuch einer Moralphilosophie"

See other formats













BVerfuch 
Moralphiloſophie 


von 





m. Earl Chriſtian Erhard Schmid. 





— — — 
A 8 BB > 7 
0 Mit Churfürfl. Saͤchſiſcher gnädigfter Freyheit. 
a, Feunne, 


‚im Verlag der Croͤkerſchen Handlung. 


1 | 1790. 1 
> — — 


* 






129098 . 
| ynfensimt..oE, TOROS. A 





Borrede, 


Mus Urſachen, die einieder fehr Leicht begreift, 

muß mie viel daran liegen, daß meine Schrift 
aus eben dem Gefichtspunfte auch von andern 
beurtheilt werde, aus welchem ich felbft fie nur 
anfehen darf, um den Entfchluß zu ihrer Hev- 
ausgabe nicht ganz verwerflich zu finden. ‘Das 
zu Fann nun Diefe Vorrede vielleicht dienen. 


Eswar, wie mirieder Billigdenfendezufraus - 
en wird, bey Abfaffung dieſer Schrift ganz uud 
gar nicht darauf abgeſehen, ein moraliſches Lehr⸗ 
gebäude aufzuführen, wozu die Meiſterhand ei- 
nes Rent den Grundgelegt, und zu deſſen Aus⸗ 
fuͤhrung fie einzelne Züge flüchtig und vorläufig 
entworfen hatte, Das Publifum — was dieß 
Wort anzeigen Fönne wenn yon Philofophie die 

| Hz Des 


t 


Vorrede. Er 


Rede ift, wird ohne Erläuterung verftanden — 
Das Publifum erwarter vielmehr dieſen Dienft 
von eben dem Manne, der die Idee davon in 
ihm erweft und das Bedürfniß deſſelben ihm fo 
fühlbar gemacht hat. An diefen Winfchen und 
Hoffnungen, die gerade nur fo allgemein und fo 
gros find, als das Vertrauen zu der guten Sa— 
ehe der Fririfchen Philofophie überhaupt, nehme 
nun ich genau fo vielen Antheil, als nöthig ift, 
um dem Zeitpunft ihrer Erfüllung als einem der 
glücklichften Abfehnitte meinestebens entgegen zu 
- fehen, um mich (wenn mir das Schickſal ver- 
gönnt, ihn zu erreichen) im Boraus der neuen 
großen Erweiterung meines Gedanfenfreißes, 


der neuen theilg aufgelöften theils auch nur zur 


Unterfuchung vorgelegten Aufgaben, als neuer 
Befriedigungen und Neigungen des Nachden— 
kens, innig zu freuen, wovon die bisherigen 
Geifteswerfe dieſes Weltweifen mir ſchon fo 
manchen] fügen Borgenuß gewährt haben. 


Meine Moralphiloſophie iſt eigentlich nur 
zum ein ſtweiligen Gebrauch fuͤr mich und fuͤr 


meine Zuhoͤrer geſchrieben, vie eines Ent 


wurfs bedurfren, wornach fih der Innhalt der 
mündlichen moralifchen Vorträge ordnen und im 
Zufammenhange leichter uͤberſchauen ließe; eines 
efwas ausführlichen Entwurfs, Damit die Nach— 
fchreibfeligfeit, eine Ausartung des Studierfleiſ⸗ 
ſes, die noch hänfig angetroffen wird, von Der 
Kürze des Lehrbuchs feinen Vorwand ger 

g? er 





Ne — ———— 


 KorrVede 


der Zweckmaͤßigkeit hernehmen koͤnne. Sollte 
ſie noch andere Leſer finden, denen es einiges 
Vergnuͤgen machte, ihre eignen Gedanken inei- 
ner andern Verbindung hier wieder anzutreffen: 
fo werde ich dieß als ein zufälliges Glück betrach- 
ten, - worauf ich eigentlich nicht rechnen durfte, 
und deſſen ich mich dann um fo inniger freue, 


Diefe Schrift ift das Nefultar meines bishe- 
rigen Nachdenfens, der unverftellte Ausdruck 
nieineriegigen Ueberzeugungen über. fittli- 
che Gegenftände, und es war mir im der That 
mehr darum zuthun, daß fie dieß würde, als 
daß fie irgend einem vorhandenen oder. auch nur 
angedeuteten Syſtem der Moralphilofophie gli- 
de. In keinem Salle wurde ich eine an mir felbft 
und an meinen Meberzeugungen begangene Un- 
freue, niedriger gefunden, und fie mir deshalb 
weniger verſtattet oder verziehen haben, als da, 
wo von moralifchen Dingen Die Rede ift, 


Freylich Fann ich auch den Wunfch nicht ber- 
gen, daß in meiner Schrift auch einige ſchwa— 
che Spuren von dem Geift derienigen Philofophie 
gefunden werden möchten, Die fih mir, ie ru— 
higer und leidenfchaftlofer ich fie betrachten lerne, 
immer mehr als die erhabenfte und menfchlichfte 
aller vorhandenen Philofophien über Natur und 
Sitten vorftelle, und der ich feit einigen Jahren 
auf die Richtung meines Geiftes, auf den Fort 
gang meiner Unterſuchungen und, was mir mehr 
3 als 


8 


Vorrede. 


als alles uͤbrige ſeyn muß, auf meine innere Ruhe 
und Zufriedenheit die wohlthaͤtigſten Einfluͤße ver⸗ 
danke. Aber aufder andern Seite wuͤrde eg mir 
dennoch leid thun, wenn andre oder auch ich felbft 
einft finden follten, ich waͤre Darinn mir felbft we= 
niger getreu gewefen, als einem Andern, ſey dieſer 
Andere auch der Philofoph unfers Zeitalters — 
ic) hätte an den Buchftaben und an die Formel 
einer vorhandenen Movalphilofophie zu viel An- 
bänglichfeit bewiefen, mehr als mit der Achtung 
für Wahrheit und fürmeine eigene Heberzeugung 
beftehen koͤnnte. Denn dieſe Ueberzeugung foll- 
te Doch immer den Ausfchlag geben, nicht weil 
es meine, fondern weil es die eigene Webers 
zeugung eines Menſchen iſt. 


Die einzelnen Theile der Moralphiloſophie 
ſcheinen mir ietzt, da ich auf das Ganze meines 
Entwurfs zuruͤckblicke, nicht mit verhaͤltnißmaͤſ⸗ 
ſiger Ausfuͤhrlichkeit oder Kuͤrze bearbeitet zu 
ſeyn. Geſetzt auch, Daß dieſe Disproportion 
mehr von zufaͤlligen Urſachen, als von bedach— 
tem Borfogund Plan abhängen follte: fo kann 
ich mich Doch wenigftens hinterher damit entſchul⸗ 
‚digen, Daß es, wie die Sache mit der Moral 
iese fteht, bey ihrem wiffenfchafftlichen Bortrage 
mehr Darum zu thun feyn muͤſſe, ihre erſten 
Grundlehren feftzufesen, den herrfchenden Grund⸗ 
irrthuͤmern (Die es mir zu ſeyn fehienen) entgegen- 
zuarbeiten, und von der Art der Anwendung ih- 
ver hoͤchſten Principien auf Das Leben einen all+ 

y ge⸗ 


Vorrede. 


gemeinen deutlichen Begriff zu geben, als das 
Syſtem aller Folgerungen in der moͤglichſten 
Ausfuͤhrlichkeit darzulegen, und daß der muͤndli— 
che Commentar ſich nicht bey ieder Stelle des 
Lehrbuchs gleiche lange zu verweilen brauche. Wer 
ohnehin den Entwurf der einzelnen Pflichten feh⸗ 
lerhaft findet, fehlerhafter als die uͤbrigen Ab— 
ſchnitte, der mwird- mich wegen der Kürze deffel- 
ben noch weniger anflagen, 


Wahrheit ift mir theuer; moralifche Wehr: 
heit am theuerften. Wo ich ihr unvorfüslich 
zu nahe getreten, wo ich geirrt oder wenigſtens 
einen Irrthum niedergefihrieben haben follte, da 
erfuche ich Männer, die diefen Berfuch ihres An- 
blicks würdig halten, unddie feinen Werth oder 
Unwerth beurcheilen koͤnnen, mich durch gründe 
liche Erinnerungen darauf aufmerffam zu ma- 
chen. Ich Auffere dieſen Wunſch Lediglich aus 
Liebe zu einer Sache, wo mir auch der kleinſte 
Irrthum Feine Gleichguͤltigkeit erlaubt, und neh⸗ 
me dabey keine Miene der Beſcheidenheit an, 
um die gute Geſinnung oder auch etwan die 
Schwaͤche und Eitelkeit meiner Beurtheiler fuͤr 
mich einzunehmen. Wäre ich hingegen (welches 
wohl auch der Fall feyn Fönnte) dem Buchflaben 
einer achfungswürdigen Philofophie untreu ger 
worden und von ihren Formeln abgewichen: fo 
mag dieß immer um Anderer willen bemerft were 
den; mir wird es indeffen erlaubt feyn, mid) 
der billigen Sreyheit zu bedienen, Die ich 9* 

en⸗ 


Vorrede. 


Menſchen nicht nur einraͤume, ſondern auch 
von ihm erwarte, nehmlich: um ſolcher Ver⸗ 
weiſungen willen auf ein Syſtem und auf For⸗ 
meln, die dem, der ſie verließ, vielleicht ſo we— 
nig unbekannt feyn dürften, tie feinem. Beur- 
theiler, in feiner Ueberzeugung und in ihrem Be⸗ 
kenntniß nichts zu aͤndern. Dieſe Art zu hand⸗ 
len iſt ſo wenig Eigendünfel, daß vielmehr fein 
Menfch von ihr, irgend einer Parthen zu gefal- 
fen, abweichen kann, ohne feine Selbftjtändig- 
keit zu verlaͤugnen. Dieß darf aber, wie ich glau⸗ 
be, auch derienige nicht einmahl thun, der üb- 
vigens allen Anfprüchen auf Das, was man ei- 
gentlich DOriginalitätnennt, nach richtiger an 
gung feiner Kraͤffte entfagen muß. 


Siena, den ı6ten März. 1790, 


Carl Ehriftian Erhard Schmid. 





Einlei⸗ 








Einleitung. 


—“ 
Gemeiner praktiſcher Menſchenverſtand, 
ſittlicher Naturalismus. 


N: gemeine Verſtand eineg jeden Menfchen enthaͤlk, 

und entdecke bey der erften Entwickelung in ſich 
felbft, gewiſſe dunfle oder flare Begriffe von Pflicht, 
Hecht und Unrecht, Tugend und Lafter, Gutem und Boͤ— 
ſen, die auf unferellerheile ſowohl als auf unfre Gefühfe 
und Handlungen vielfältig einfließen: Dieſe Begriffe, 
- und was wir uns in Beziehung auf Diefelbe vorftellen , 
nennen wir ſittlich (moraliſch). Diefe Begriffe koͤnnen 
ir auf Feine Weife wegvernünfteln. 


Wir find unfähig, ohne innigffe Selbſtmißbilligung 
ihnen unfre Höchfte Achtung innerlich zu verweigern, went 
auch die ftärfefie Neigung ihnen in der Ausübung entge⸗ 
gen ſtuͤnde. 


Moralphiloſophie —— 


2 | Einleitung, 


RR, 

Verſuch einer Philoſophie, Verirrungen, 

mögliche Ruͤkkehr. 

So mie allmählig die menfchliche Vernunft überhaupt 
durch Uebung ausgebildet wird, fo gehet die gemeine mora- 
liſche Erkenntniß durch Abftraftion und Entwickelung in 
Philoſophie der Sitten uͤber. Die erſten Verſuche 
des philoſophirenden Verſtandes, die reinen Begriffe aus 
ihrer empiriſchen Verbindung auszuheben, ſie fuͤr ſich 
zu betrachten, in ihre Beſtandtheile aufzulöfen, fie als— 


dann mit andern Begriffen und unter fich felbft zu vers. 


gleichen, auf höhere und bereits entwickelte Begriffe zus 
rüczuführen, und zu verfnüpfen, find natürlichermeife 
unvollfommen und mangelhaft. So wie die Begriffe 
on Klarheit gewinnen, fo verlieren fie anfangs öfferg 
an Reinheit und Vollſtaͤndigkeit ( Richtigkeit) ; zufällige 
und nochwendige Verknüpfungen werden leicht verwech— 
ſelt; es entftehen Wiverfprüche, Zweifel— Allein die 
urfprüngliche Grundlage zu dem reinen Ideal von Sitt— 
lichkeit bleibt immer unverfehrbar in unfrer Vernunft; 
ihr unentwickeltes Bewuftfeyn erregt manche Gefühle und 
erzeugt manche Urtheile und Handlungen, die befler find, 
als die deutlich entwickelten Räfonnements. Bey allen 
Verirrungen einer vernünftelnden Philofophie, bleibe 
eine Fünftige Nückfehr zu der verlaffenen moralifchen 
Richtigkeit und Einfalt der Begriffe noch immer möglich, 


und fie ift felbft durch die misleiteten Bemöhungen der, 


unfritifchen Scientififer über fittliche Gegenftande (mo—⸗ 
ralifche Dogmatifer) zweckmaͤßig vorbereitet worden. 
a ? 


* 


Einleitung, 3 


2, 
Wuͤrde der Moralvhilofophie, 


Das allgemeine und mefentliche Intereſſe, das die 
Vernunft an Moralitaͤt nimmt, macht es zu einem wich⸗ 
tigen Bedürfniß, für die Speculation fowohl als. auch 
ſelbſt für die Führung des Lebens, daß die Verfucheder Aufs 
klaͤrung, Abſtraktion, Zergliederung und logifchen Vers 
knuͤpfung der ſittlichen Begriffe und Urtheile unter ſich 
und ihrer Vereinigung mit andern Vernunfterfennts 


niffen und Erfahrungen ($.2:) immer erneuert und 
fortgefegt werden, um ein durchaus wahres, gemiffes 


und vollftändiges Syſtem moralifcher Erfenntniffe d. i. 
Moralphiloſophie zu Stande zu bringen. Sie, alg 
der edelſte und intereffantefte Iheil der ganzen Ppilofos 
phie, verdient vor allen übrigen nicht nur eine immer volle 
fommmere Bearbeitung für den mwiflenfchaftlichen Ges 
brauch und für die Anwendung auf Das gemeine menfche 
liche Reben, fondern auch eine zweckmaͤßige Verbreitung 
ihrer geläuterten Grundfäge, unter allen, an Fähigfeis 
ten und an übriger Eultur noch fo verfchiedenen Men— 
fchenflaffen: 


7 
Verbeſſerung durch den Eritifer Kant. 


Die neuefte und höchft merfwürdige Revolution der 
Philofophie fcheint befonders dieſem Theile derfelben 
mehr innere und äußere Confiffenz zu verfchaffen und die 
allgemeinere Anerfennung feiner unendlichen Würde und 
42 Vortref⸗ 


we Einleitung, 


Vortreflichkeit, ia fogar (was man auch fcheinbar Dagegen 
einwenden mag) ihre allgemeinere Verſtaͤndlichkeit und 
Anwendbarkeit zu befördern. Dieſer Gewinn für die 
Wiſſenſchaft kann und fol daher in Zukunft felbft ein 
Gewinn für die Menfchheit im gemeinen und alitägli- 
chen Leben werden, und zu ihrer innern Veredelung mike 
fürfen. 


* §. 5. 
Vorbegriffe zum Begriff einer Moral, 
a. Begenftand. 
Begehrungsvermögen; Wille, , 


3) Ale praftifhen Begriffe und Urtheile beziehen ſich 
a) überhaupt auf Handlungen, die nach Vorſtellungen 
erfolgen, und auf ein Vermögen der eignen Würf- 
ſamkeit nach VBorftellungen d. i. auf ein Begeh⸗ 
rungsvermögen oder einen Willen in weitefter 
Bedeutung 
b) insbefondere auf Handlungen, die durch Vorftel- 
lungen von Regeln beftimme werden, und auf ein 
Vermögen zu handeln, das von einem höhern Erz 
Fenntnißvermögen (Verſtand, Vernunft in weiterm 
Sinne) abhängt d.h. ein höheres, verffändiges, 
vernünftiges Begehrungsvermögen, (prafti- 
ſcher Berftand, praftifche Vernunft, Wille in weis 
terer Bedeutung). 
2) Alle moralifhen Begriffe und Urtheile haben Be 
ziehung auf Handlungen, die Durch Vorftellungen von 
Geſe⸗ 


w 
Einleitung, En. 
Geſetzen d. h. abſolut allgemeinen und notwendigen Ne 
geln bewuͤrkt werden, und die das Dafeyn eines vernünfs 
tigen Begehrungsvermögens, eines Willens oder einer | 
prafeifchen Vernunft in engrer Bedeutung vorauss 
fegen Cim Gegenfage des praktiſchen Verſtandes im 
engrer Bedeutung d. h. des Vermögens zu handeln, 
nach zufälligen und blog generellen, aber nicht univers 
ſellen Regeln ). ‚ 
h Tu 

Nach) Geferen der Vorftellung und nach vorgefiellten 

‚oder vorftelibaren Gefegen handeln, find ganz verſchie— 
dene Begriffe. | 

§. 6. 
b. Behandlungsart. a 
Zhelematologie; praftifche Philoſophie. 

Bilden wir uns allgemeine Begriffe von den Affeftionen 
und Handlungen des menfhlichen Begehrungsvermögeng 
und Willens, aus dem, was wir an ihnen beobachten, 
und brauchen wir diefe zu allgemeinen Urtheilen, fo hei— 
- Sen diefe phyfifche Geſetze oder Naturgefege des menſch⸗ 
lichen Begehrens und Wolleng, Ihr wiſſenſchaftlicher 
Innbegriff mache unter dem Nahmen der Thelemato⸗ 
logie einen Haupttheil der empirifchen Seelenlehre aus, 
und gehört zur theoretifchen Philofophie. Der Gegenftand 
aber, den die praktiſche Philoſophie eigentlich bearbeis 
tet, befteht in Ideen von möglichen Affeftionenund Hands 
lungen des Willens, beſtimmt zur Erzeugung praktiſcher 
Begeln d. h. allgemeiner. Urtheile über Dasienige, was 
N 43 feldft 


RR Einleitung, 


ſelbſt vermöge iener Ideen und ihnen gemäß (gewollt und 


gethan werden) gefchehen foll. 


Sollen bezeichnet die Nothwendigkeit einer Handlung 


zufolge eines (reinen oder empirifchen) Vernunftbegriffeg, 
einer Idee. 


Die weitere Entwickelung diefes Begriffs in der Folge: 


$. 7. 
Theile der praftifchen Philoſophie. 


Eine Idee, fofern fie Richtſchnur und Beftimmungs- 
grund einer freyen Willensthaͤtigkeit ift, heißt ein zweck. 
Die praktiſche Philoſophie ift demnach die Willen; 
ſchaft der menfchlichen Zwecke. Diefe find 
1) theils zufällig und beliebig. 

2) theils nothwendig und weſentlich. Dieſe betrachtet 
man ferner alg 


a) bedingt nothiwendig, oder fubaltern d. h. fie ſetzen 
einen höhern Zweck voraus, zu welchem fie fich als 
Mittel verhalten. 

b) als unbedingt nothwendig; höchfter Ze, End: 
zweck d. I. Die ganze Beſtimmung des Menfchen. 

Zur praftifchen Philofophie gehören Denmach, 

1) Rünfie; die fi) auf zufällige — der Menſchen 
beziehen. 
2) (Gemeine) Klugheitslehre, Poliit; die ſich mit 
bedingtnothwendigen menſchlichen Zwecken beſchaͤftiget; 
Anleitung zur menſchlichen Gluͤckſeligkeit durch naturn 
und Erfahrungsmaͤſſige Mittel. 

Welt⸗ 


EEE 





Einleitung, 7 

— 

Weltklugheitslehre, als ein Syſtem von Regeln 

zur zweckmaͤßfigen Behandlung und Lenkung anderer 

Menſchen und Staatsklugheitslehre find ein, Paar 

vorzüglich bearbeitete und merfwürdige Theile dieſer 

Wiſſenſchaft. Man kann fich ihrer weit mehrere gedenfen. 

3) Morel d.i. Philofophie über den Endzwef oder 
die Beſtimmung des Menfchen. 


| $ 8. 
Moraltheologie; moralifhe Klugheitslehre. 
Mit der eigentlichen Moral d. i. der Unterfuchung des 

höchften Zwecks der menschlichen Vernunft ſtehen in ges 
Bauer Verbindung 


1) Moraltheologie d.i. die Philofophie über die 
Möglichfeit einer abſolut nothwendigen fuftematifchen 
Pereinigung des höchften Zwecks mit den übrigen we— 
fentlihen Zwecken der Menfchheit, unter Vorausfegung 
der obieftiven Realitaͤt gewiſſer theoretifcher Vernunft— 
ideen. 


2) Moraliſche Klugheitslehre ($.7.) d.i. ein 
Inbegriff praftifcher Regeln, die auf eine zufällige, durch 
unfer eignes Thun und Laffen mögliche Vereinigung des 
höchften Zwecks mit. den übrigen bedingrnorhwendigen 
Zwecken der menfchlichen Natur abzielen. 

Moraliſche Klugheit ift das vernünftige (zweck⸗ 
mäßige) Verhalten in Anfehung des Erlaubten d. h. des⸗ 
ienigen, was die Pflicht einigermaßen unbeſtimmt gelaſſen 

A4 hat 


9 Einleitung. 


hat, welches man fo angenehm und mit der Gluͤckſelig— 
feit fo verträglich als möglich einrichten Fannz eine Vers 
einigung der gemeinen Klugheit mit der Sittlichfeit, ie 
Doch mit Unterordnung der erftern unter die letztere. 


9 
Theile der Moralphilofophie, 
Eine vollftandige Ausführung der moralifchen Wiſſen⸗ 
fchaften erfordert 
7) eine Ericifche Unterfuchung der Möglichkeit der Ers 
kenntniß ihrer erfien Begriffe und Grundſaͤtze — 


Eritif der praftfichen Vernunft. 
2) Eine reine Darftellung der. wefentlichen und allges 
meinguͤltigen fittlichen Begriffe. und Lehren. felbft — 
Metaphyſik der Sitten. 

a) Analytik der prafsifchen Vernunft, oder 
moraliſche Ontologie d. i. eine Zergliederung und 
ein Syſtem der reinen fittlichen Begriffe, 

b) Reine Erhifd. i. ein vollftändiges Spftem der reis 
nen praftifchen Gefege für alle vernünftige Weſen. 

c) Reine Aſcetik oder Methodenlehre d. i. ein Sy— 
ſtem der reinen und allgemeinen Tugendmittel. 

3) Eine Anwendung dieſer allgemeinen Lehre auf Die eis 
genthümliche Befchaffenheit und Lage des Menfchen — 
Praktiſche Anthropologie, empirische Moral. 

a) Für den Menfchen, als Menſchen betrachtee, nach 
feiner allgemeinen menfchlichen Natur und Rage. 
Allgemeine empiriſche oder menſchliche Moral. 

we) allgemein⸗ 


Einleitung. 9 


4) allgemeine empirifhe Ethik di. eine - 
allgemeine Gefesgebung für den Menfchen. 
RB) Allgemeine empirifhe Aſcetik d. i. die 
Wiſſenſchaft von den allgemeinen Tugendmits 
teln für ven Menfchen, oder Die allgemeine 
Theorie der fittlichen Erziehung des Menfchen, 
b) Für die Menfchen, nach ihren mannigfaltig ab= 
weichenden, zufälligen Befchaffenheiten und Der: 
haͤltniſſen. Specielle empirifche YiToral, 
«) fpecielle, oder fubieftive Ethik. 
8) fpecielle oder fubiefrive Aſcetik. 
Die Grundlehren der Moraltheologie (5. 8.) wer— 
den in der Critik der praktiſchen Vernunft mit einge— 
ſchaltet; die wichtigſten moraliſchen Klugheitsleh⸗ 
ren (9. 8.) laſſen ſich in der empiriſchen Moral einzeln 
bemerten 


A5 Critik 


10 Eritif der praftifchen Vernunft. 
Critik der praftifchen Vernunft, 


$. 10, 
Idee einer Moralphilofophie, 


Um eine Moralphilofophie ($. 2.3.) als aͤchte Wiffen- 
Schaft, zu gründen, und umderMoralitär felbft allgemeine 
und thaͤtige Achtung ihrer hoͤchſten Würde unter allen, gebil- 
deten und ungebildeten, Menfchenklaffen zw verfchaffen 
und zu erhalten, müffen wir unwandelbare und allgemein⸗ 
gültige Principien für fie auffuchen, Die nur erflärt und 
verffanden feyn wollen, um allgemeingeltend zu werden, 
und die gegen alle ffeptifche Angriffe beſtehen. 


gm 
Critik der proftifchen Vernunft, 


Praktiſche Grundfäge, die über alle zufällige Bes 
dingungen erhaben, als fehlechterdings nothwendig ers 
kennbar, und rein ſeyn follen, koͤnnen, fo wie iede ab» 
ſolut allgemeine und nothwendige Wahrheit, nirgends 
anders, als in dem Wefen der Vernunft felbft liegen, 
und fönnen nur durch eine Unterfuchung des Bernunfts 
vermögens, fofern e8 fich praftifch auflert, ($.5.) ficher ge- 
funden werden. Dieß ift der Gegenſtand der Eritif der 
praktiſchen Vernunft, einer Wiffenfchaft, die vor aller 
Metaphyfif der Sitten ($. 9.), fo wie dieſe vor aller 
empirifchen Sittenlehre vorausgehen und Diefelbe begrünz 
den muß. 

$. 12: 


Critik der praktiſchen Vernunft. 11 


Sa 
Sie ift Zeirbedärfniß. 

Ueber das mögliche Dafeyn und den Inhalt allgemein: 
gültiger praftifcher Vernunftgrundfäige, wichen von ies 
ber die Denfarten vielfältig ab; in unferm Zeitalter, wo 
das Streben nach Denffrenheit und Aufklärung zunimmt, 
wird diefe Derfchiedenheit merfbarer, und ihr im Gan- 
zen nachtheiliger Einfluß auf die Sitten und vielleicht 
auch auf die Gfückfeligfeit und den aͤußern Wohlftand der 
Menfchen, noch auffallender. Dieß verftärft aber auch 
auf der andern Seite das Gefühl von dem Bevürfniffe 
einer Unterfuhung der erſten Gründe aller Moralität, 
erweckt zu fchärfern DBerfuchen, ihm gründlich abzuhel- 
fen, macht die Aufmerffamfeir aller denfenden Köpfe 
Darauf rege, fie zu fennen und zu prüfen, und befördert 
Dadurch eine bevorftchende Revolution, die für die Mo- 
ral mehr wiffenfchaftliche Vollkommenheit, für die Git- 
ten mehr Reinigkeit, und alfo für die Menfchheit höhere 
Cultur und Veredelung hoffen laßt. 


$. I3. 
Denfarten über Moralitaͤt überhaupt, 


1. Moraliſche Skeptiker. 


Es giebt moraliſche Skeptiker d.h. Philoſophen, 
die Das Daſeyn, oder (welches einerley iſt) die ge— 
wiſſe Erkennbarkeit allgemeinguͤltiger und nothwendiger 
Grundſaͤtze fuͤr das Thun und Laſſen der Menſchen uͤber— 
haupt laͤugnen, und dadurch den Begriff von Sittlich⸗ 

keit 


f » 


12 Critik der praftifchen Vernunft, 


keit d.h. von einer Denf- und Handlungsmweife nach und 
aus folchen Grundfägen für ſchwankend oder gar für 
rhimaͤriſch erflären, 


R & 14 
2) MWoralifhe Empiriſten. 

Es giebt morslifhe Empiriften, deren Philofos 
phie Die allgemeingültige Regel für die Handlungen ver 
Rünftiger Wefen nicht aus dem Vernunftvermögen ſelbſt 
und feinen veinen Begriffen, fondern ays der zufälligen 
Kenntniß der Folgen von diefen Handlungen ableitet, 


* 


und eben dadurch ihrer Reinheit ſchadet und ihre erha- ' 


bene Würde verdunfele. Sie theilen fih in zwey Klaf- 
fen, nach den verfchiedenen Quelen, morans fie Diefe 
Kenntniß ſchoͤpfen. 


& 15, 
a) Moralifche Myſtiker. 


Der fittlihe Myſticismus oder Supernaturalig, 


mus fchöpft die firtlihen Grundfäge aus vermeynter 
überfinnlichee Erfahrung d. h. Dffenbahrung von den 
Folgen menfchlicher Handlungen; ‘er gründet fie ledi- 


glich auf eine, von reiner Vernunft und finnlicher Er- 


fahrung unabhängige Kenntniß des Intelligiblen, Got- 
tes und der zufünftigen Welt. Eine Denfart, die ge- 
meiniglich aus redlicher Gefinnung, aus dem dunfeln 
aber Tebhaften Bewuſtſeyn der Erhabenheir der menfch- 
fichen Beftimmung über bloßen Sinnengenuß, bey dem 
Mangel an aufgeflärten Begriffen über Moralitar, ih— 

ren 








Critik der praktiſchen Vernunft, 13 


ren Urſprung nimmf, die aber offenbar den Vernunft⸗ 
gebrauch einfchränft, die Entwicelung der edelften Anz 
lagen aufhält, und Die.reine, erhabene dee von Tugend 
allen Entftellungen der gröbern, iedoch verflecften Siun⸗ 
lichkeit und den Taͤuſchungen eigner oder fremder Ein— 
bildungen und. boshafter Berrügereyen Preis giebt, 
Der Niyflifer if 


(1) entweder Fantaſt; wenn er fich felbft unmittel⸗ 
barer übernatürlicher Erfahrungen, Eingebungen 
höherer Geifter, und hyperphyſiſcher Blicke in die 
Cintelligible) Geiſterwelt und in das überirdifche Lea 
ben fähig und theilhaftig zu ſeyn meynt. 

(2) oder Superſtit ös, abergläubifchz; wenn er der: 
gleichen Facta, die der Fantaſt aus felbft eigener 

- Erfahrung‘fennen mwill, als fremde Erfahrungen 

annimmt, und darauf. ohne eignen Gebrauch: der 
natürlichen Sinne und der Vernunft, feine prafs 
tifchen Grundfäge erbauet. 


2 


Der große Einfluß der religiöfen Begriffe von einer 
Gottheit und von der Unfterblichfeit des Edelſten unfers 
Wefens auf die Moralität, fofern,diefe aus der morali— 
fchen Vernunft felbft abgeleitet und durch theoretiſchen Ver: 
nunftgebrauch geläutert find, ia fogar die. Unentbehr- 
lichkeit dieſes Glaubens zu unbefchränfter und thätiger 
Genehmhaltung des Sittengeſetzes wird unten Darges 
than werden und hier gar nicht in Zweifel gezogen. Es 
wär m wohl ſehr unphiloſophiſch, dem Glauben ai 

göttlich 


\ 


14 Curitik der praftifchen Vernunft. 


göttlich authoriſirte religiöfe und moralifche Rehren fei- 
nen Merth abzufprechen, ven er als ein wichtiges und 
zum Theil unentbehrliches Hülfsmitrel zur Verbreifung 
geläuterter fittlicher Begriffe, wuͤrdiger Geſinnungen und 
für die ganze Erziehung des menjchlichen Gefchlechts bes 
hauptet. Man müßte endlich ſehr unmiffend oder uns 


danfbar ſeyn, um dem Evangelium in feiner wahren Ges 


ſtalt fein Berdienft um Menſchheit, Vernunft und Sitt- 
lichkeit abfprechen oder daffeibe verkleinern zu wollen. 
In welchem Sinne und zu welchem Zwecke, es eine 
fietliche Offenbarung, eine bibliſche und infonderheit eine 
chriftliye Moral gebe, und daß feine von benden, 
vernünftig angenommen und gebraucht auf firtliche 
Schwaͤrmerey (Myfticismus) geradezu führe, iſt für 
die Verſtaͤndigen leicht zu beurtheilen, und verdient von 


den Lehrern und Erziehern der Menfchheit vorzüglich bes 


herziget zu werden — 
6. 16. 
b) Moralifihe Senfualiften, 


Der fictliche Senſualismus oder Epikurismus er— 
klaͤrt die ſittlichen Geſetze für Erzeugniſſe der (empiri— 


ſchen) Vernunft, angewandt auf die Erkenntniß von ven 


finnlich wahrnehmbaren Folgen unfrer Handlungen für 
die Annehmlichfeit und Glückjeligkeit unfers Lebens — 
des irdiſchen, als des einzigen, wohin ſinnliche An— 
ſchauung und Kenntniß reicht. Dieſe Philoſophie be— 
foͤrdert zwar einigermaßen den Vernunftgebrauch in dem 
ſinnlichen Erfahrungskreiſe, ſchraͤnkt aber zugleich Deus 

ſelben 








Critik der praktiſchen Veernunft. 15 


felben und mit ihm felbft die Gefinnung auf dasSinnlich 
angenehme" und auf Genuß des Erdenlebens ein, und 
ferebt vergebens nach demBeſitz allgemeingültiger und uns 
bedingtnothwendiger Grundfäge, welche die Vernunft 
ſucht, und in deren Kenntniß und Befolgung fie fich alz 
lein ihrer höchften VBollfommendeit und Würde bewußt 
wird, 


' &.: 1% 
3) Moralifhe Rationaliſten. 


Der moralifhe Rationaliemus oder Purismus 
unterſcheidet ſich durch folgende Saͤtze: 
1) Es giebt allgemeinguͤltige Principien, für das 
Thun und Laſſen der Menſchen — gegen die aus⸗ 
drückliche Behauptung des allgemeinen ſi ttlichen 
Skepticismus, und gegen die richtige Folge von 
dem Empirismus. 

2) Dieſe liegen nicht außerhalb der Vernunft — ges 

gen den firtlichen Myſticismus, deſſen Behauptung 
den möglichen und wahren Gebrauch der Vernunft, 
den empirifchen fowohl als den. reinen, in Anfes 

hung fittlicher Gegenftände gänzlich aufhebr. 

3) Die empirifche oder lediglich auf Sinnlichkeit an⸗ 
gewandte Vernunft enthält dieſe Grundwahrbeis 
ten ebenfalls nicht — gegen den wahren, phyſiſchen 
Empiriften, Senfualiften oder Epifurer. - 

° 4) Sie find alſo in der reinen Vernunft urſpruͤug⸗ 
lich enthalten, und 


5) wer: 


* \ 


16 _ Eritik der praftifchen Vernunft, 


5) werden nur auf finnliche, gegebene Gegenſtaͤnde 
angewendet. 


In dieſem Syſtem wird das Daſeyn allgemeinguͤltiger 


praktiſcher Grundſaͤtze nicht nur angenommen, ſondern 
auch eine Quelle angegeben, woraus dergleichen Er— 
kenntniſſe herfließen können; dem Vernunftgebrauch 
wird fein moͤglichſter Umfang gegeben, ohne Ueberſchrei⸗ 
tung feiner natürlichen Gränze; beyden Hauptverirruns 
gen des firtlichen Charakters, nehmlich ver ſittlichen 
Schwärmeren, welche das Naturvermögen uͤberſteigen 
möchte, und der finnlichenDenfart, die fich eigenmächtig 
engere Graͤnzen ſteckt, wird auf das. beſtimmteſte vor— 
gebeugt, und alfo eine Gittlichfeit in der Idee aufge 
ftelle, die. der Innern Würde und der äuffern Lage des 
Menfchen im gleichen Verhaͤltniß angemeffen, die eben 
fo. erhaben als menſchlich if. 
5 3. 
Solgerung. 

Metaphyſik der Sitten ($. 9.) iff nach dem as 
tionalismus, ein Syſtem praftifcher VBernunftwahrheis 
ten, die aus der reinen Vernunft ihrem Wefen nad) ent⸗ 
fprungen Ctransfcendental), aber auf Gegenftande der 
finnlichen Erfahrung — alfo auch auf denMenfchen, auf 


feine Verhaͤltniſſe und Handlungen anwendbar Cimmas , 
rent) find. Critik der prafcifchen Vernunft unterſucht 


die Möglichfeie (Erfennbarkeit, Gültigkeit, Anwendbar- 
keit) diefer Wahrheiten aus Principien, oder aus dem 


Weſen der Vernunft | 
& 198 





* 


⸗ 


Critik der praktiſchen Vernunft. 17 


—A 
Probleme der praktiſchen Vernunfteritik. 
Die Critik der praktiſchen Vernunft muß Principien 
aufſuchen, woraus ſich die Möglichfeie ableiten laͤßt, 
1) zu wiffen, was wir chun follen; 
2) dieß thun zu wollen; 
3) und es zu können. 
$. 20, 
Bier Abfoluta, 

Diefe Principien müflen auf abfolufe Nothwendigkeit 
und Allgemeinheit fuͤhren, wenn die Moral gegen alle 
Entſtellung durch ſenſuellen oder myſtiſchen Empirismus 
und gegen iede Erſchuͤtterung durch ſittliche Zweikelſucht 
völlig geſichert ſeyn fol. Wir fuchen daher 


I) eine allgemeingültige, abfolut nothwendige prak⸗ 
tische Regel — ein fittliches Grundgefeg der Vers 
nunft. Die Regeln der finnlichen oder überfinnlis 
chen Gluͤckſeligkeit Fönnen ihres Urfprungs wegen 
nicht allgemein gültig feyn ; fondern fie müffen mans 
nigfaltig von einander abweichen und fich fo wie 
ihre Grundlage verändern: 

2) ein allgemeingültiges, abfolut nothwendiges 
Ziel — ein hoͤchſtes abfolures Gut für die Vers 
nunft. Das Ziel der Neigungen iſt unendlid) vers 
ſchieden und veränderlih, kann alfo nicht als Ges 
genſtand des allgemeinen und immerwährenden Stres 
bens feftgefest werden. 

Moralphiloſophie. B 3) eine 


J 


18 Critik der praktiſchen Vernunft. 


3) eine allgemeingültige, abſolut nothwendige 

Triebfeder, ienes Geſetz beobachten und ienem 
Ziel nachſtreben zu wollen — eine Triebfeder der 
Vernunft. Die Antriebe der Sinnlichkeit zu lega— 
len Handlungen ſind weder bey allen Subiek— 
ten dieſelben, noch in iedem Falle zu dieſer Abſicht 
wuͤrkſam, und alſo unſicher. Es muß etwas ge⸗ 
ben, wodurch ein nothwendiger Zuſammenhang der 
Sittlichkeit mit dem Willen uͤberhaupt beſtimmt 

wird. a 


4) eine allgemeingülcige, abfolut nothwendige Be⸗ 
dingung, wodurch der Wille, das Gittengefetz 
zu befolgen, dem höchften Gute nachzuffreben und 
von der vernünftigen Triebfeder beſtimmt zu wer⸗ 
den, fih gegen alle Hinderniſſe bedingt noth— 
wendiger, enfgegenftehender Antriebe behaupten, 
mit allen übrigen natürlichen Beffrebungen des Bes 

gehrungsvermoͤgens vereinigen, den an fich nicht 
vernünftigen Neigungen das Gleichgewicht halten 
und fich mit venfelben verbinden fann. Diefes 
obfolute Mittel, die Hinderniffe von dem gänzli- 
chen Erfolg der fittlihen Triebfedern mwegzuräu- 
men, muß ebenfalls die reine Vernunft darbieten, 
weil 28 Durch die empirifche Vernunft niemahls all 
gemein ausreichende Sicherheit befommen koͤnnte. 


* 21. 





Critik der praftifchen Zemunft 29- 


2er 
Erſtes Problem. 
A. Allgemeine Auflöfung; 

Die allgemeine Unterſuchung über die Möglichfeie ei⸗ 
nes allgemeingültigen praftifchen Gefeges befchaftige fich 
mir drey bejonderen Fragen in folgender. Ordnung : 

1) Wie find praktiſche Regeln sver Vorſchtiften 

uͤberhaupt moͤglich? 

2) Wie ſind praktiſche Grundſätze moͤglich? 

3) Wie ſind abſolute praktiſche — oder 

Geſetze moͤglich? 
g. 22. 
Praktiſche Regeln überhaupt, 

Wenn ein Mannigfaltiges gegebener Vorfteflungen 
Einheit und nothwendigen Zufammenhang durch einen 
Begriff erhalt: fo entſteht eine Regel. Diefe ift theo⸗ 
retiſch, wenn und fofern das Mannigfaltige in dent 
Stoff zur Erfenntniß eines Gegenftandes befteht ; praf; 
tiſch, wenn und in fofern Diefeg vereinte Mannigfaltis 
ge an fih felbft Stoff zum Begehren d. i. zum Würfs 
famfeyn des Subiektes nach) gegebenen BRENNER 
($. 5) if: 


$. 23: 
Praktiſcher Verſtand überhaupf; 

Die Beſtimmung der Einheit in dem Mannigfalt i⸗ 
gen des Vorſtellungsvermoͤgens überhaupt, d. i. eine Re— 
gel, fegt Derftand in weitläuftigem Sinne over his 

2 heres 


20 Critik der praftifchen Vernunft, 


heres Erfenntnißvermögen voraus. Wo diefeg in Ver: 
bindung mit Begehrungsvermögen in Einem Subiefte 
d. i. als praftifher Verſtand vorhanden iſt, da ift 
das Entftehen praftifcher Regeln begreiflich. 


$. 24. 
Praktiſche Kegeln und Verſtand in engerem 
— Sinne. 

Was durch die erſte Handlung dieſes Verſtandes oder 
durch die einfachſte Abſtraktion aus den gegebenen Mans 
nigfaltigen d. i. durch Verfiand in engerem Sinne 
entſteht, ifinur eine Regel in engerem Sinne. So 
laſſen fich fo wohl theoretiſche als auch praktiſche Re⸗ 
geln in engerem Sinne, iene durch den theoretifchen, Dies 
fe durch den praftifchen Verfiand in engerer Bedeufung 
begreifen: i 


6. 25. 
Praktiſche Grundfäge uͤberhaupt. 

Durch eine fortgeſetzte Funktion des Verſtandes 
überhaupt, eine höhere Einheit in demienigen zu beſtim— 
men , was ſchon durch die erfte Verftandeshandlung ver- 
bunden ift, d. i. durch Vernunft überhaupt entffehen 
höhere Regeln, vie mehrere in Eins verbinden d. i. 
Grundſätze in allgemeiner Bedeufung: Aus mehreren 
praftifchen Regeln , die in Einem allgemeinen Gage 
vereinigt find, werden praktiſche Grundſätze überhaupr. 


$. 26. 


Eritif der praftifchen Vernunft. | 21 


§. 26. 

Praktiſche Grundſaͤtze in engerer Bedeutung. 
Geſchieht dieſe Vereinigung lediglich durch Abſtrak- 
tion von demienigen, was in dem mannigfaltigen In— 
halte mehrerer Regeln verſchieden, und durch Aushebung 
desienigen, was darinnen identiſch iſt, fo iſt Das Pro— 
dukt dieſer Handlung ein Grundſatz in engerem Sin⸗ 
ne, und wird der empiriſchen Vernunft zugeſchrie— 
ben. Die praftifchen Regeln auf diefe Weife vereinigt, 
geben praktiſche Grundfäge in engerer Bedeutung. 


$. 27. 
Maxime; Geſetz. 

Ein praktiſcher Grundſatz ſubiektiv betrachtet d. h. 
als eine Regel, die fuͤr den Willen eines gewiſſen Subiekts 
gilt, heißt Maxime; obiektiv betrachtet d. i. als et- 
was, das allgemein gilt für den Willen iedes vernünf- 
tigen Wefens, heißt er Geſetz. Dieſelbe Regel, dem 
Inhalte nach, Fann ihrer Form und der Beziehung nach 
-auf einen einzelnen oder auf einen Willen überhaupt, 
theils als Marime, theils als Gefeg vorgeftelle werden. 


6.28 
Solgerung, 
Ein praftifcher Grundfag in engerer Bedeutung ($- 
25.), als ein folcher betrachtet, iſt nur fubieftiv als ei- 
ne Marime, nicht aber obieftiv als Gefeg , gültig. 


33 $. 29. 


22 Eritik der praftifchen Vernunft; 


6. 29. 

Marırie, Form des Begehrungsvermoͤgens. 

Wenn Materie überhaupt das DBeltimmbare, Sorm 
hingegen das Beftimmende oder die Beſtimmung ift : fa 
zeigt die Materie oder der Stoff des Begehrungs⸗ 
_ vermögens das begehrte oder zu begehrende Obiekt an; 
die Form deßelben befteht in dem Begehren oder Wol- 
len an ſich felbft, wenn man dabey von allem Dbieftiven, 
was begehrt wird, ganzlich abftrahirt. 

Es kann die Materie des Begehrungsvermögens (5. B 
bey Menfchen und Thieren, oder bey verfchiedenen Den, 
ſchen, oder auch bey demſelben Menjchen zu verfchiede- 
nen Zeiten) diefelbe feyn, und das Begehren felbft fich 
dennoch durch Die Form unterfcheiven. Umgekehrt koͤn⸗ 
nen Handlungen des Begehrungsvermoͤgens, wenn man 
auf ihre Form ſieht, ſich voͤllig gleichen, ſo verſchieden 
auch der Stoff derſelben immer ſeyn mag. 


6§. 30. 
Innerer, aͤuſſerer Stoff. 

Die Eintheilung des Stoffs, in den inneren und 
auſſeren, die von dem Vorftellungsvermögen überhaupt 
gilt, läßt füch auch auf die Materie des Begehrungs— 
Yermögens anwenden. 


$ 34 
Form, Stoff des Willens. 
In Bezug auf ein vernünftiges Begehren oder Wol- 
gen iſt nichts Form nes willene), als Die vernunf- 
fige 


I 
x 


——. 


Critik der praftifchen Vernunft, 23 


fige Wuͤrkſamkeit an fich felbft ; ang andere wird zur 
Materie gerechner. 


$. 32 
Materiale Grundfäge, 


Man — ſich erſtens praktiſche Grundſaͤtze den⸗ 
ken, deren Moͤglichkeit und praktiſche Guͤltigkeit nur auf 
der Vorausſetzung einer beſtimmten Materie des Begeh— 
rungsvermögens und einer gewiffen Befchaffenheit eines 
Obiekts in Beziehung auf den Zuftand des Subiekts be> 
ruht. Solche Grundfäge, welche einen beftimmten Stoff 
des Begehrens als ihren Beftimmungsgrund, und als 
Bedingung ihrer Gültigkeit vorausfegen, heißen 

1) bedingte Grundſätze, fofern fie von etwas alte 
derem als der Vernunft abhängen; 

2) materiale Brundfage, fofern diefe Bedingung 
in dem gegebenen Stoff liegt ; | 

3) empiriſche Grundſätze, fofern Ddiefer Stoff 
nur durch Erfahrung erfennbar ift, fie felöft 
alfo ebenfalls aus dieſer Quelle der Erkenntniß ge⸗ 
ſchoͤpft erden, 


n 


$. 33% 
Ihr Werth. 

Bedingte, materiale Grundſaͤtze koͤnnen deshalb, weil 
fe empiriſchen Urſprungs find ($. 31.), nur eine com- 
parative Allgemeingültigfeie und Nothwendigkeit haben, 
mit einer Einfchränkung, die größer over geringer iſt, ie 
nachdem diefe Grundfäre ſelbſt mehr oder weniger Durch 
B 4 eine 


* 


24 Eritif der praftifchen Vernunft, 


eine fortgefeste Abftraftion aus vielen oder wenigen Er» 
fahrung.n verallgemeinert worden find. 


$. 34. 

Nach folchen Grundfägen will ich etwas, weil ich 
etwas anderes will, und ich fill diefes Etwas nicht des⸗ 
halb, weil ich ein vernünftiges Weſen bin, fondern wegen 
der mir als vernünftigem Subiekt zugegebenen jinnlichen 
Natur, wegen meiner Empfänglichkeit für gemifle Ein: 
drücfe, wegen der Anlage, an gewiflen Dingen Vergnü- 
gen, an andern Mifvergnägen zu finden, und wegen 
eines befondern DVerhältniffes, mworinn etwas (ein Ding 
oder feine Beſchaffenheit) zu meiner Ginnlichfeit fieht. 
Diefes Verhältnig erfennt der DVerftand, und die eme 
pirifche Vernunft bauet auf dieſe — prakti⸗ 
ſche Grundſaͤtze. 


$. 35. 
Techniſche, pragmatifche Grundſaͤtze. 

Ich bilde mir einen praktiſchen (materialen) Grund— 
ſatz, zur Regel fuͤr meine Handlungen, weil ich Etwas 
(andres als dieſen Grundſatz) will. Dieſes Etwas will ich 

1) entweder als Menſch, zufolge meiner ſinnlichen 
Natur, die ich mit allen Menſchen gemein habe, um 
eines allen Menſchen durch ihre, Sinnlichkeit ge— 
gebenen Zweckes willen. Die Verbindung meiner 

Handlung als des Mittels zu Erreichung eines fol- 

‚chen Zwecks bezeichnet ein pragmatifcher Grund; 

ſatz, oder eine Regel der Klugheit. 

z 2) als 





Critik der praktifchen Vernunft. 23 


2) als diefer Menfch, zufolge einer befondern Rich- 
fung meiner finnlihen Natur, die ich nicht mit 
allen Menfchen gemein habe, um eines mir eigenen 
Zwecks willen, der den allgemeinen menfchlichen Zwe— 
den als Mittel untergeordnet if. Die Verbin: 
dung meiner Handlung, alg des Mittels mit ei- 
nem ſolchen Zweck, ver dadurch erreicht werden 
fol , drücke ein technifher Grundſatz, oder ei: 
ne Regel der Gefchiclichfeit aus. 


$. 36. 

Alle: techniſche ſowohl als pragmatifhe Grundfäge 
find material, bedingt, empirisch , folglich nicht abfo- 
lut allgemein und nothwendig. Sie find Produfte der 
empirischen Vernunft, und durch dieſes menfchliche Ver— 
mögen begreiflich. Sie find der Gegenftand praftifcher 
Künfte und der gemeinen Klugheitslehre ($.7.), nicht 
aber der Moral. 


$. 37. 
Formale Grundfäge, 

Man kann fich aber auch zweytens ($. 32.) ſolche 
praftifche Grundfäge gedenfen, die einen Stoff des Be- 
gehrens enthalten und. bezeichnen , ohne doch diefen, als 
Bedingung ihrer Gültigfeit oder als ihren Beftim- 
mungsgrund vorauszufegen. Sie feren im Gegentheil 
nichts, als das Vermögen voraus, worinn ihr Ent- 
fiehen überhaupt fich gründet. - Da diefes aber nur die 
Form der Erfenntniß und des Handelns geben Fann, und 

; 85 doch 


26 Eritif der praftifhen Vernunft, 


doch iedes Wollen ein Obiekt (Zweck) und ieder prafti- 
ſche Grundfag einen Stoff haben muß; fo ift ein for- 
meller prafeifher Grundfag nur alfo gedenfbar, daß 
feine Form felbft ein Dbieft des Willens fey, und feis 
nen Stoff hervorbringe d. i. es beffimme, daß Etwas 
durch den Willen gefhehe, und nach feiner Form behan⸗ 
delt werde, Dergleichen Brundfäge fonnen formale 


‚ beißen. 


* 


$. 38. 
Nah formalen Grundfägen will ich etwas, nicht 
teil ich etwas andres will, fondern lediglich deshalb, 


weil ich ein vernünftiges Wefen bin. Es wird eine 


Handlung mit meinem Willen verbunden, nicht als Mit- 
£el zu einem anderweitigen Zwecke, fondern wegen des 
nothwendigen Derhäftniffes, worinn eine Handlungs» 
foeife zu einer vernünftigen Natur, als einer ſolchen, 
ſteht. Es wird ein (innres oder aͤuſſeres) Obieft, ein 
gewiffer Cinnrer oder äufferer) Stoff behandelt , nich 
unmittelbar wegen der Beziehung, die dieſes Obiekt an 


ſich ſelbſt auf meine Empfänglichfeit hat (dieß kann nur 
entfernter Grund meiner Wahl ſeyn), ſondern zunaͤchſt 


nur deswegen, damit etwas —— vernuͤnftig * 
handelt werde. 

Nebengedanke. Dieſe Behandlung ſelbſt kann mei— 
ne Sinnlichkeit innerlich modificiren. So entſtehen mo⸗ 
raliſche Gefühle. Sie ſetzen moraliſche Grundſaͤtze 


und ihre Befolgung in gewiſſem Maaße voraus; dieſe 


Grundſaͤtze ſelbſt aber dürfen fein Gefühl, das vom Ob⸗ 
-  tefte 


\ 


Critik der praftifhen Vernunft. 27 


iekte unmittelbar herruͤhrt, als Bedingung vorausſetzen, 
wenn anders ienes Gefühl moraliſch ſeyn folk. 


$. 39. 
- Formale Grundfäge find allgemein. 

Sormale Grundfäge fegen nichts Yoraus, als die 
weſentliche Form des Willens d. i. eine praftifche Der: 
nunft an fich felbft. Kommt num diefe allen vernänfti» 
gen Wefen zu (wie ihr Begriff mic fich bringe), fo folge, 
Daß auch iene Grundfäge eine Gültigkeit haben, die fich 
eben fo allgemein erfireckt und eben fo nothwendig iff, 

‚als die Vernunft. 

. 


J $. 49. 
Und find Geſetze. 

Abſolut allgemeine und nothwendige praftifche Grund- 
fäge heißen praktiſche Geſetze. Sind nun praftifche 
formale Grundfäge möglich, fo finds auch praftifche Ge- 
feße; wo nicht, fo kann es nur Regeln der Kunft oder 
ber. Klugheit, aber Feine wahre Gittenlehre geben, 


$. 41. 
Reine praftifche Vernunft, 
Ein praftifches Geſetz, wenn es moͤglich iſt, iſt es 
nur durch die Vernunft in ihrem hoͤchſten, abſoluten Ge- 
brauche, wo fie ſich über alle Bedingungen der Erfah⸗ 
rung erhebt, die Schranken möglicher An fchauung übers 
ſchreitet, und Begriffe von der vollkommenſten ſyſtema⸗ 
sifchen Einheit bilder, für welche ſich Feine vollfonmen 
— anpaſ⸗ 


4 


28 CTritik der prafeifchen Vernunft. 


anpaflende Materie findet — d.h. durch die reine Ders 
nunfe. Reine praftifche Vernunft iſt daher die einzig 
mögliche Erfenntnißquelle ſittlicher Gefege und eines Sys 
ſtems derfelben , -der Moral. 


$. 42. 

Reſultat. 

Wenn wir uns nun in klaren Ausſpruͤchen des mo⸗ 
ralifchen Gemeinfinnes ollgemeingülfiger Principien für 
anfer freyes Ihun und Laſſen wenigſtens in der An- 
wendung undeuflich bewußt find ($. 1.), fo muß die 
Erfenntnißquelle derfelben liegen 
1) entweder außerhalb der Vernunft. Diefe Quelle 
fließt aber befanntlich nicht für alle. Das ınnere 
Licht, das weder Sinne noch Vernunft feyn fol, 
(angenommen, daß e8 irgend iemand erleuchtete) 

‚ Teuchtet doch befanntfich nicht allen Menfchen; es 
können demnach auch nicht alle in diefem Lichte, Das 
immer nur wenigen (mo e8 nicht überall Phantafie 
war), zu Iheil ward, wandeln. Was diefe weni 

gen vermittelft diefeg Lichtes fahen, läßt fich auch 

dem gemeinen Menfchen, der nur ein finnliches und 
ein vernünftiges Vermögen zur Erfenntniß befom- 
men hat, nicht mittheilen, noch ihm zur Leberzeu- 
gung bringen, meil es ihm an dem Vermögen da: 

zu gebricht. Die Uebernatur bietet alfo wenigftens 
feine allgemeingultigen praftifchen Grundfäge 

dar. | | 
2) oder im der empirifchen Vernunft. Diefe kann 
aber 


Critik der praftifhen Vernunft. 29 


aber nur bedingte, materiale, und alfo feine abſo⸗ 
lut allgemeine und nothwendige Regeln, zwar’ 
Kunftregeln und Klugheitsrarhichläge, aber Fein 
Sittengeſetz ung geben. 

3) oder in der reinen Vernunft: Darauf leitet der 
Begriff eines Gefeges hin: 


$. 43: 
B. Specielle Auflöfung des erften Pro: 
blems ($. 21.): 

Das bisherige Räfonnenient ($: 21 — 42.) kann als 
Richtſchnur dienen, wornach fi) Dieienigen Grundfäge 
beurtheilen laſſen, die man gewöhnlich für Moralprincis 
pien angiebt, oder ehemahls angab ; ob fie zur Grunds 
lage für eine allgemeingültige praftifche Gefeßgebung 
tauglich oder untauglich find: Die folgg. Paragraphen 
unterfuchen daher Die Frage: welches ift das praktis 
ſche Dernunftgefers? vor deren Beantwortung das 
Problem über die Erforderniffe und Bedingungen eines 
ſolchen Gefeges im Allgemeinen aufgelöfer feyn müßte: 

844 

Erziehung; 
Die auffallende Verfchiedenheit, die. man umter deit 
Menfchen in Abficht auf ihre moralifchen Urtheile und 
Handlungen antrift, hat Montagne (Verſuche. Buch: 
U. 12 Hauptftüh) und andere ffeptifche Denfer auf 
folgenden Gedanfen geleitet, den viele Nichtdenfer anzu 
nehmen und nachzufprechen bequem fanden: „Alle morali- 


ſche 


30 Critik der praftifchen Bernunft. 


ſche Urtheile beruhen auf keinem eigentlichen und unwandel⸗ 
—— Princip der Vernunft, noch auf irgend einer mes 
fentlihen Beſchaffenheit der menſchlichen Natur; fons 
dern lediglich auf zufälligen Einrichtungen menſchlicher 
Willkuͤhr, auf Gewoͤhnung an gemwille Begriffe und Sitz 

ten. Was der Gewöhnungund Lehre unferer Erzieher, 
was der Sitte unferes Landes gemäß iſt, das iſt fitklich gutz 
was ihr zuwiderlaͤuft, ift fieelich bofe. Aller Unterſchied 
zwifchen Tugend und Lafter ift von Menfchen willkuͤhr⸗ 
lich feftgefegt. Es giebt feine andere Regel fur den 
Menfchen,, als das zu hun, wozu er erzogen worden: = 


$. 45: 
Critik. 

1) Es iſt Thatſache, daß die ſittlichen Begriffe, Urs 
theile, Gefuͤhle und Handlungen unendlich von ein⸗ 
ander abweichen. Dieß lehrt im Großen die Ge— 
fhichte der Menfchheie in verfchiedenen Zeitältern 
und unfer verfchiedenen Himmelsftrichen ; im Klei⸗ 
nen die gemeinfte Beobachtung der nächften Bes 
kannten. Derfchieden und oft widerfprechend find 
nicht nur die Sitten und Gefege der Völker, fonts 
dern auch die Meynungen der Geſetzgeber und Mo⸗ 
raliſten uͤber Recht und Unrecht, Tugend und La⸗ 
ſter. — ER 

2) Der naͤchſte Grund dieſer Verſchiedenheit liegt 
offenbar in Verſchiedenheit der Erziehung und früs 
her Gewoͤhnung an gewiffe Meynungen und Sitten: 


3) Aber daraus folgt | 
a) we⸗ 


Critik der, praftifchen Vernunft, 31 


a) weder, daß es Fein mefentliches, nothivendiges 
und imveränderliches Gittengefe gebe; + 
b) noch daß es praftifch nothwendig fen, der Ges 
— woͤhnung und Erziehung, die man bekommen hat, 
ſchlechthin zn folgen. 
Nicht das letzte; man müßte denn das Müſſen mit 
dem Sollen verwechſeln. Es iſt Naturgeſetz, daß der 
Menſch, auch ſittlich betrachtet, von Erziehung abhaͤngt, 
aber deshalb iſt es nicht Sittengeſetz. Man kann Er⸗ 
ziehung nach ſittlichen Begriffen beurtheilen, nach die— 
fen ihren Werth oder Unwerth beſtimmen. Vertraͤte Erz 
ziehung ſelbſt die ganze Stelle der Regel, fo waͤre diefe 
Beurteilung unmöglich. Wir werden niche blindlings 
gemöhnet (drefjirt), wie die vernunftlofen Thiere; in dies 
fem alle gäbe es feinen Unrerfchied zwifchen gurer und 
ſchlechter Erziehung. | 
Naicht das erſte; denn wenn wir auch das Sitten⸗ 
geſetz als unveraͤnderlich annehmen, jo kann doch die Ers 
fcheinung und Aeufferung deflelben durch den Einfluß der 
Erziehung unendlich modificire werden, die fich wiede— 
rum nach) der Stufe der vorausgehenden Geiftesbildung 
der Völker, und nach dem Umfange der Einfichten ih— 
re Gefeggeber und Moraliften ſehr verfchieden zu dem 
Zwecke der Sittlichfeit verhalten müßte, 

Die Verſchiedenheit der firrlichen Urtheile, Gefühle 
and Handlungen fegt nicht nothwendig voraus eine 
Verſchiedenheit des erſten Grundgefeges ver Sitten felbft, 
fondern eine verfchiedene Ars und Stufe der Entwick 

lung 


32 Critik der praktiſchen Vernunft. 


lung des menſchlichen Bewußtſeyns von demſelben macht 
alles genugſam begreiflich. Erziehung erzeugt nicht das 
Geſetz; aber es entwickelt daßelbe. Sie beſtimmt den 
Grad der Deutlichkeit und Klarheit, worinn es vors 
geſtellt wird; erleichtert oder erſchwert, berichtigt oder 
verwirrt, erweitert oder befchranft die Anwendung. defs 
felben auf vorfommende Fälle, im Urtheilen ſowohl als 
Handeln. Gie bewürft dieſes vornehmlich dadurch, daß 
ſie die Handlungen von mehrern und verſchiedenen Seiten 
betrachten lehrt, und die praktiſche Urtheilskraft ſchaͤrft. 
Sie modificirt endlich durch Gewoͤhnung die Sinnlichkeit, 
entwickelt aus den Naturtrieben gewiſſe beſtimmtere Nei— 
gungen, welche die Tugend mehr oder weniger begünfti- 
gen, und bringt andere (finnliche) Triebfedern in Bes 
wegung, die der Wuͤrkfamkeit ſittlicher Antriebe in ver- 
fihiedenen Verhaͤltniſſen förderlich oder nachtheilig find. 


Märe Erziehung würklich nicht nur ein fubieftineg 
Hälfsmittel der Entwicklung, fondern Die einzige Grund» 
fage aller Moralität : fo gabe e8 gar feinen allgemeins 
gültigen Begriff derfelben,' und alle praftifche Vorfchrif- 
ten wären ganz und gar millführlich und zufällig, wie 
fie felbft, fo lange fie nicht dem Eittengefege unterges 
erdnet wird. Allein indem wir Erziehung moralifch bes 
urtheilen, fegen wir eine dee von Gittlichfeit noch über 
die Erziehung, und nehmen fie zu dem Maafftab an, wors 
nach wir ihren Werth felbft erft beftimmen, den wir uns 
alfo als unabhängig von ihr denfen. 


. 46: 





Critik der praftifchen Vernunft, 35 


$. 46; 
Bürgerlihe Verfaſſung. 
Mandeville the Fable of the Bees, on private vi: 
ces publik benefits, Lond. 1724. 2 Voll. 8. 

Erft feitdem die Menfchen in bürgerliche Gefellfchaften 
kraten, und ihre Kräfte zu gemeinfchaftlicher Beförderung 
ihrer gemeinfainen Endzwecke verbanden, erforderte es 
das ntereffe folcher GSocieräten, einige Handlungen 
Durch befondere Achtung auszuzeichnen, weil fie dem öf- 
fentlichen Wohl der Gefellfchaft mit Einſchraͤnkung des 
Privatwohls eines Einzelnen zuträglich waren; an ans 
dere dagegen ein Gefühl von Verachtung zu Enüpfen, 
weil fie mit dem gefellfchaftlichen Intereſſe fich hiche vers 
trugen. Hierauf allein beruht der ganze Unterfchied 
zwifchen Tugend und Lafter. Strebe nad) öffentlis 
cher Achtung durdy Beförderung defjen, was 
dem Zwece der Gefellfhaft entfpriche — iſt oberä 
fie Sittenregel ; Ehrerieb einzige Triebfeder; Zweck deg 
Staats einziger und lezter Zweck aller Moralitär. 

Daher lehrt auch die Gefchichte,, daß Die moraliſchen 
Begriffe mit der Geſellſchaft entſtanden, mit ihrer Um— 
änderung veraͤndert, mit ihrer Ausbildung cultivirt 
worden find, und noch immer mit den bürgerlichen Eine 
Fichtungen abgeändert, erweitert und verfeinert werden— 

3 $. 47: 
Eriti 
1) Es iff als Thatfache gegründet, daß die fierfichen 
Begrifie und Gefühle mir dem Entjiehen, dem 
Moralphiloſophie € Wachs⸗ 


34 Critik der prafeifchen Vernunft, 


Wachsthum und der innern DVeredlung der Geſell⸗ 
fchaft entftanden , fich fortbildeten und erweiterten. 
Alen ZA 

2) dieß Faktum beweift eben fo wenig, als ienes (8. 

44.), die Erziehung und ihren Einfluß betreffend, 

daß in der bürgerlichen Gefellfchaft der höchfte 

Grund aller Moralität, in dem Interet publique 

ihr einziger Zweck, und in dem Ehrtrieb ihre einzi» 

ge Triebfeder enthalten fey. - Denn 

a) es läßt fich dieſer Parallefismus durch die gleis 
che Stufe der Geiftesbildung erflären, worauf 
Menfchen fih befinden müffen, um ein gewiſ⸗ 
ſes Maaß von Moralitaͤt zu beſitzen, und um 
eine gewiſſe politiſche Einrichtung haben zu koͤn⸗ 
nen. £ 

b) Der Staat ſelbſt vermehrt die Ihätigfeit, mitz 
hin auch das Nachdenfen, und cultivirt alfo die 
Dernunft. Durch die Gefellfchaft. werden daher 
die fittlichen Begriffe weiter ausgedehnt und vers 
breitet, fie werden £lärer und ihre Anwendung 
wird auch äußerlich nothwendiger. 

2 Unfre fireliche Achtung iſt uneigennüßigz fie un⸗ 
terfcheider fih von dem Wohlgefallen, das wir 
on einer Handlung finden, um des. Einfluffes. . 
willen, den fie fowohl unmittelbar auf unfer 
Privatwohl, als zunächft auf das Wohl der Ge- 
fellfchaft, und hierdurch mittelbar auf das Unſri— 
ge hat. Wir achten alles, was Vernunft ver> 
raͤth, wenn wir * ebendaſſelbe deshalb haſſen 

ſollten, 


Critik der praftifchen Vernunft. 35 
follten, weil es vielleicht mie unfern finnlichen 
Adfichten ſtreitet. Die forgfältige Bemühung 
uneigennügig wenigſtens zu ſcheinen, bemeift, 


daß wir es feyn wollen, und als vernünftige 
Weſen würflich find. 


d) Wir untericheiden Güte und Nichtguͤte der Hands 
lungen auch bey ifolirtem vernünftigen Weſen 
(3. B.Maͤßigkeit und Unmäßigfeit). 


e) Eben fo bey Menfchen, die. Zwar gefellig ‚ aber 
doch nicht in Gefellfchaft, am wenigften in Gr 
nem Staate vereinigt leben. 


f) Wir koͤnnen uns eine Verpflichtung denken, 
welche die Menſchen beſtimmt, ſich zu einem Staa— 
te zu verbinden; dieſe Verbindlichkeit muß aber 
fruͤher gedacht werden als der Staat, und kann 
alſo nicht von ihm erſt abhaͤngen. 


8) Wir denken uns eine Pflicht, das interet 
publique uneigennuͤtzig zu befordern; hierzu muß 
ein höherer Grund der Verpflichtung als ein fol- 
cher vorhanden feyn, den der Staat felöft erſt 
hervorbringt, Dieſer fann aber nur unſern 
Eigennug mit dem Gemeinenwohl in Fünftliche 
Verbindung bringen, aber fein Motiv zu Auf 
opferungen geben, wenn Feines vorher in der 
Vernunft dazu bereit liegt. 


h) Selbſt der Staat und der Zweck deſſelben iſt ein 
Gegenſtand der Beurtheilung nach ſittlichen 
€ 2 Grund: 


36 CTritik der praftifchen Vernunft, 


Grundfägen. ever Staat müßte mie jedem 
andern gleichen moraliſchen Werth haben, und 
einem vernünffigen Betrachter gleiche Achtung 
für fich abnoͤthigen, wenn der Staat ſelbſt den 
einzigen Maafftab zu Beſtimmung aller Wiürdigs 
feit oder Unwürdigfeit der Handlungen und der 
tenfchen. abgabe. 


Die bürgerliche Verfaſſung kann alfo eben fo menig, 
als Erziehung, und zwar aug eben denfelben Gründen, 
für den höchften Grund der Moralität gelten, ob fie 
gleich eben fo mie iene zur RE ver ſittlichen 
Ideen mitwuͤrkt. 


§. 48. 
Wille der Gottheit. 

Nicht menſchliche Willkuͤhr ift eg, die einen Unter: 
schied zwifchen fierlich gufen und böfen Handlungen bes 
ſtimmt hat; diefer Unterfchied iſt weſentlich durch den 
Urheber der ganzen Natur und unferer eignen feſtgeſetzt. 
Der Wille unfres Oberherrn, von dem unfer Weſen und 
unfer Gluͤck abhängt, iſt unfer höchftes Gefeg, nicht nur 
Realgrund fondern auch Erfenntnifgrund unfrer Pflich- 
ten; Ihm zu gehorchen, der legte Grund aller Verbind- 
lichfeit und die höchfte Pflicht. Ohne ihn ließe fih zwar 
Klugheit der Thorheit, aber nicht Tugend dem after 
enfgegenfegen. 


Eritif der praktiſchen Vernunft, 37 


$. 49. 
Critik. 

Soll der Wille der Gottheit der hoͤchſte Beſtim— 
mungsgrund aller Moralitaͤt ſeyn, ſo wird erfordert, 
daß wir unabhaͤngig von ſittlichen Gruͤnden apodiktiſch 
erkennen 


3) ihre Kpiftenz; 
2) ihren Willen ; 


3) ginen fielichen Grund, warum wir. unfern 
Willen dem göttlihen unterwerfen follen, 


$. 50. 
Dafeyn. Gottes. 

Was nun erftens das Dafeyn Gottes betrift, fo 
leitet ung eine cricifche Unterfuchung unfres Vernunft⸗ 
vermögeng auf folgendes Nefultat : 

Die Vernunft führe ung zwar auf die Idee eines 
abſolutnothwendigen und allerrealften Weſens; fie findet 

- 28: ihrem fpeeulativen Intereſſe gemaͤß, dieſe Idee ihrem 
anderweitigen Gebrauche zum Grund zu legen; fie fin 
det überall feinen Grund, ihr die Wuͤrklichkeit eines Ob» 

iekts abzufprechen; allein. fie vermag es auch nicht, ihr 
Diefes Obiekt, das außerhalb des Sinnlicherkennbaren 
liegen müßte, als exiſtirend apodiftifch zu ſichern, oder 
auc nur (ohne willführlich oder gar widerfprechend zu 
verfahren) dem Begriffe davon anſchauliche Merkmahle 
unterzulegen, weil fie keine finnlichen Anſchauungen Date 
€3 auf 


* 


38°  Eriie’der praktifhen Vernunft, - 


auf anwenden darf, und Feine überfinnlichen, aus Man- 
gel an fpecififcher Kenntnig von denfelben darauf ans 
wenden kann. Die Gottheit ihrer Speculation bleibt 
alfo nur eine reine, erhabene, unbeftreitbare, aber Ans 
ſchauungsleere und bloß ſubiektivguͤltige Idee, ohne ob⸗ 
iektiverkennbares Obiekt. 


Was uns noͤthigt und eben dadurch auch berechtigt, 
dieſe Idee zu verſinnlichen (anthropomorphiſtiſch) und 
ihr Obiekt als exiſtent ſchlechterdings vorauszuſetzen, iſt 
ein Beduͤrfniß, das wir ohne vorausgehende Idee von 
Sittlichfeit nicht haͤten. Das Praͤdicat eines an ſich 
guten Willens liegt, aller weiteren Seſtimmung die— 
ſes Begriffes, fo wie der Vorſtellung von feinem Das 
ſeyn, zum Grunde; weder die eine noch das andere gift 
alfo von vorausgehenden ſittlichen Ueberzeugungen uns 
abhängig. 


$. 51. 
Wille Gottes. 
Anlangend zweytens die Erkenntniß von dem gött⸗ 
lichen Willen, fo 

3) lehrt die Er. d.r. V., daß wir durch bloße Spes 
culation nicht /einmahl das Dafeyn eines göttli⸗ 
chen Willens überhaupt, ohne fpecififche Beſtim⸗ 

mung deſſelben, apodiktiſch erfennen koͤnnen. 


2) Vorausgeſetzt, daß Gott etwas will, ſo muͤßte 
ich (dey Innhalt feines Willens) das, was er 
will, 


= 


— 


Critik der praftifchen Vernunft, 39 


will, erkennen, entweder durch Offenbahrung, oder 
durch Vernunft. 


6. 52. — 
Sittliche Offenbahrung. 
Offenbahrung wird hier betrachtet 
1) entweder als übernatürliche Erkenntnißquel⸗ 
le ſittlicher Geſetze, als ein übernatürliches Prins 
eip ſittlicher Vorſchriften, für welche die Vernunft 
fein eignes Dermögen befigt ; fie auch hinterher 
zu prüfen und zu erkennen. 


In diefem Sinne iſt fie ohne Einfchränfung zu verwer> 
fen, und die Anerfennung derfelben (aus Gefühl oder 
biftorifchem Glauben) , d.i. der fittlihe Myſticis⸗ 
mus (9 15.) iſt gleich vernunftwidrig, fittenverderbs 
lich und für die Menfihheit entehrend, er mag fich als 
Fanaticismus oder als Aberglaube äuffern. Man müße 
fe e8 denn vernünftig finden, der Vernunft im Lirtheis 
len und Handlen zu entſagen; den Sitten zutraͤglich, ſie 
der Leitung der Vernunft zu entziehen, und der Menſch— 
beit würdig, ihre moralifche Selbſtſtaͤndigkeit aufzus 
geben; | Y | 


2) oder als aufjerordentliches Erkenntnißmittel 
fitelicher Gefege, die von der Vernunft geprüft, 
und als vernünftig durch ihr eigenes Vermögen 
‚anerkannt werden koͤnnen und follen. 


Nach dieſer Vorffellungsare von Hffendahrung wird“ 


zwar weder dem Vernunftgebrauche überhaupt ‚noch bey 
4 ſittli⸗ 


40 Tritik der praftifhen Vernunft, 


ſittlichen Gegenftänden dadurd) Abbruch gethan; es wird 
aber zugleich eingeraͤumt, 


a) daß wir eine ſolche Offenbahrung ſelbſt pruͤfen 
dürfen und ſollen, ob ſie der Gotthelt würs 
dig und der Menſchheit angemeſſen ſey. 


Beydes kann nur nach ſittlichen Principien gefchehen, 
Stellte man ſich nun dieſe als urſprunglich abhan? 
gig von Offenbahrung ſelbſt vor, fo wäre dieß der of— 
fenbarfte Eirfel in unferm Schließen, und hübe die Vor— 
ausfegung wieder auf, ohne Die eine firtliche Dffenbahs 
rung durchaus unzulaflig feyn würde. Was Vernunft 
prüfen jol, muß doch zulegt aus ihr entiprungen feyn. 


b) Der Glaube an Hffenbahrung fest Glauben an 
die Wahrhaftigkeit des göttlichen Willens , dies 
fer ven Glauben an Sittlichkeit deflelben über- 
haupt, dieſer Glaube aber einen Begriff und 
Veberzeugung von fittlihen Grundſaͤtzen vor- 
aus, vie höheren und alteren Urfprungs feyn 
müffen, als alle Dffenbahrung.. 


c) Nicht die erfte Idee von Gittlichfeit, fondern 
nur einzelne Arten der Anwendung von ihr, 
d. i. einzelne VBorfchriften, laffen ſich alſo von 
Dffenbahrung herleiten. Gonft märe alle ver- 
nünftige Prüfung und fittliche Billigung ihrer 
Vorſchriften unmöglich). | 


A) »Diefe. göttliche Dffenbahrung kann doch nur 


auf gewiſſe, gortliche, allgemeine Gefege, nicht 
J „aber 


Critik der praftifchen Vernunft. Ar 


„aber für alle die taufend und taufend einzelne 
„Vorkfaͤlle auf den göttlichen Willen binmeifen. 
„Hier muß erft der Handelnde über die fittliche 
„Güte der vorliegenden Handlung den Ausſpruch 
„feiner Vernunft hören, um nad) diefem über 
„Gottes Verbot oder Gebot dabey zu urtheilen. 
„Noch immer pflege felbft der Chriſt nach Dies 
„ter Weife zu verfahren. » Musfchelle. 


Dieß fest andermeitige, urfprüngliche, fittliche Vers 
nunfrgefege voraus. 


* * 


€) „Es iſt einer unpartheiifchen Prüfung enfges 
genftehender . VBernunftgründe Oft nachtheilig, 
wenn der Unterfucher fehon ein durch andere Aus 
toritäf vorgeftecktes Ziel im Auge hat, auf 
welches er die Reihe feiner Schlüffe hinlenft. 
Garve ;. Payley. 


£) „Unſere moralifchen Einfichten koͤnnen und müf 
fen in vielen Punkten genauer feyn, als bey dem 
erfien Unterrichte ver Menfchen, auch wenn dies 
fer von Gort felbft herfam, erfordert wurde. 
Und es kann alfo nicht immer ſchicklich feyn, zu 
Beltatigung unferer iegigen Begriffe über die 
Pflichten, auf einen frühern Unterricht zurück 
zugehen.» sEbenderfelbe. 


€ 5 E $. 53. 


s 


42 Critik der prafeifchen Vernunft, 


$. 53- 
Durch Vernunft, 

Um durch bloße Vernunft ($. 51.), d. h. hier durch 
den hatürlichen Gebrauch meiner menfchlichen Erkenntniß⸗ 
vermögen zu Derienigen Kenntniß von dem Willen der 
Gottheit zu gelangen, Die meinen fittlichen Erkenntnifs 
fen zur Grundlage dienen fol, find nur folgende We— 
ge gedenkbar: 


1) der Weg der Erfahrung, a poferiori. Wenn 
ich auch alles, was in der Welt geſchieht, auf den 
göttlichen Willen, als auf feinen höchften Beftins 
mungsgrund beziehe, fo erfahre ich Doc nur Bes 
gebenheiten, und ihre Gefege, d. i. Naturge⸗ 
fee , Regeln, wornach ales in ‚der koͤrperlichen 
und geiſtigen Welt geſchieht. Ich lerne meine 
Triebe und Neigungen kennen, und wozu dieſe mich 
antreiben. Nach dieſen Geſetzen und der Natur— 
ordnung, die auf meine Gluͤckſeligkeit abzielt, iſt 
alles gleich geſetzmaßig, natürlich, der Ein- 
richtung der Welt, der Verbindung ihrer Kraͤfte, 
und folglich dem Willen der Gottheit durchaus ents 
fprechend. Es giebt cosmologifch feinen Unter: 
ſchied zwischen Tugend und Laſter. Bloſſe Erfah— 
rung kann mich nicht belehren, daß die Gottheit 
den Vernunftgeſetzen einen Vorzug vor den Geſetzen 
des ſinnlichen Begehrens eingeraͤumet wiſſen wolle. 

* * 
Spinoza Tract. Polit, Cap. I... 5. — — Eſt enim 
homo, 


Critik der praftifchen Vernunft. 43 


homo, ſiue fapiens, fiue ignarus fit, naturae pars, et 
id omne , ex quo vnusquifQue ad agendum determi- 
natur , ad naturae porentiam referri debet, nempe 
quatenus haec per naturam huius, aut ıllius hominis 
definiri poteft  Nihil namque homo, ſeu ratione, feu 
fola cupiditate duttus, agıt, nifi fecundum leges et 
regulas naturae, hoc efl, ex naturae iure, $. 8. — 
— Natura non legibus humanae rationis, quae non 
nifiı hominum verum vtile et conferuationem inten«» 
dunt , continetur ; fed infinitis aliis, quae totius na- 
turae, cuius homo particula eff, aeternum ordinem 
relpiciunt, ex cuius fola neceflitate omnia indiuidua 
certo modo determinantur ad exiftendum et operan- 
dum. Quicquid ergo nobis in natura ridiculum , ab- 
furdum aut malum videtur, id inde efl, quod res 
tantum ex parte nouimus, totiusque naturae ordi- 
nem et cohaerentiam maxima ex parte ignoramus, 
et quod omnia ex praefcripto noflrae rationis vt di* 
rigerentur volumus; cum tamen id, quod ratio ma- 
lum efle dictat, non malum fir reſpectu ordinis et le- 
gum vniuerfae naturae, ſed tantum folius nofrae na- 
turae legum refpedtu, 


2) Der Weg a priori. Hier muͤßte man entweder 
unmittelbar von der reinen Idee eines göttlichen 
Weſens ausgehen, die die Vernunft aus fich felbff, 

unabhaͤngig von der Betrachtung der mürflichen 
Welt, hervorbringt, oder aus gewiſſen Erfah: - 
rungsfägen (comparativ a priori) fchliegen. 


44 Critik der praktiſchen Vernunft. 


a) Die ſpeculative, rein a priorifhe Ver 
nunftidee von einem unbedingt realen und 
nothwendigen Wefen ift gar Feiner durch: bloße 
theorerifche Philofophie ermeislichen Beftimmung 
fähig, woraus fich ein görtlicher Wille überhaupt, 
gefchweige denn die Art: und Befchaffenheit oder 
das Obiekt deſſelben ‚ableiten ließe. 


Mehme ich auch comparativ a priori, oder nach der 
Analogie Wohlfeyn der lebendigen Wefen als goͤtt⸗ 
lichen Zweck in der Welt an, fo iſt doch aus dieſem 
Zwecke, der fich auf Ccosmifche, nichtſittliche) Güte und 
Weisheit des göttlichen Weſens gründet, das Verhaͤlt⸗ 
niß dieſes görslichen Willens zu dem unfrigen, und Die 
beftimmte Beziehung irgend einer unfrer Handlungen auf 
den oberften Weltplan und die Beforderung deffelben, 
Fein möglicher Gegenffand unferes Erfennens. Es bleibt 
immer die vorige Indifferenz. Denn, ohne höhere fitt- 
liche Grundfäge zu Hülfe zu nehmen, Fönnen wir nicht 
wiſſen, mwiefern unſre Einftimmung mit dem göttlichen 
Willen Dazu. erfordert werde, oder worinn unſer be- 
ſtimmter Beytrag zu Beförderung des Weltbeftens be⸗ 
fiehen folle, Und doc) iſt auch diefe Vorausſetzung durch 
bloß theoretifche Vernunftgrünve (phyſikotheologiſch) nicht 
vollkommen zu rechifertigen, fondern fie beruht vornehm⸗ 
lich auf ſittlichen Gründen, die, wenn das Räfonnement fich 
nicht im Kreife herumdrehen fol, unmöglich wiederum 
in dem erkannten görtlichen Willen logiſch gegruͤndet 
ſeyn koͤnnen. 


b) Die 


Eritik der praktiſchen Vernunft, 45 


b) Die praktiſche Vernunftidee von der Gott⸗ 
heit, als dem moraliſch beſten Weſen, enthaͤlt 
allerdings ſolche Merkmahle, deren Entwicklung 
auf moraliſche Vorſchriften leiter, 


Allein dieſe Idee iſt nur abgeleitet von dem Begriff 
„moralifche Güte, überhaupt; fie ftelle ein Subiekt 
vor, worinne der reine Vernunffwille von allen ſinnli— 
chen und antern Einfchränfungen abgefondert vorhanden 
if. Diefen Begriff von firtlicher Vollkommenheit mug 
ich alfo vorher in mir felbft. haben, um ihn analogifch 
auf das Urwefen überzutragen , und in, ihm zu perfonifis 
“ firen. Im Bel dieſes Begriffes, als eines Princips, 
warum und wornach ich den göttlichen Willen als gut 
gedenke, darf ich die Regel fuͤr meine Handlungen nur 
unmittelbar aus der Urquelle der praftifchen Vernunft 
fchöpfen, ohne durch einen mäßigen Umweg fie aus dem 
göstlihen Willen abzuleiten „ wo I: fie erſt ſelbſt 
hineingeleitet babe; 


* * 
* 


Daher laͤuterten und erweiterten ſich die Begriffe 
von Gott und ſeiner Handlungsweiſe, der Gerechtigkeit, 
in eben der Ordnung und in dem Maaße, wie die ſittli⸗ 
chen Begriffe gereinigter und vollſtaͤndiger wurden. 
Wird aber Tugend fihlechferdings von Religion abhaͤn⸗ 
gig gemacht, und der Vernunft an fich felbft das Recht 
auf Beftimmung der Moralität entzogen, fo verfperre 
man ihr allen Zugang ‚ die ſittlichen Begriffe zu verbefa 
—* y und man hat kein Mittel übrig, die Spuren ches 

malis 


46 Kritik der praktiſchen Vernunft. 


maliger Roheit der ſittlichen Denkart allmaͤhlig auszuloͤ⸗ 
ſchen. Hierdurch wird es aber auch eben fo unmöglich, 
im Ausbildung, religiöfer Begriffe mit, der übrigen 
Eultur der Menfchheic fortzufchreiten. Ja die Cultur 
des menfchlichen Geiftes überhaupt wird gehemmt, wenn 
dieſe fih an den intereffanteften und wichtigften Gegen 
ftänden durch freyes Urtheil zu üben, vermittelſt eis 
ner pofitiven Religion befchränft wird, . 
G 54 : 
Sie verpflichtet der goͤttliche Wille? 

tan fragt drittens (|: 49.): watum foll ich den 
Willen der Gottheit zum Urbild für den meinigen mas 
ihen ? warum Gott gehorchen? 

Weil Gott es till, oder weil ich es will? 


1) Weil Gott es will? Allein, daß Gott dieß 
will, dieß iſt unerweislich auf dem uͤbernatuͤrli—⸗ 
chen fo wie auf dem natürlichen Wege, aus Er— 
fahrung fo wie aus Speculation. Aus praftifcher 
Vernunft ifts zwar allerdings erweislich ; d. h. aber 
nur unter Vorausfegung der Gültigkeit gewiſſer 
fietlichen Grundfäge, die ich auf die Gottheit felbft 
beziehe, zuvor aber für ſich felbft ohne theologifche 
Ruͤckſicht erkannt habe. 


Und wie kann Gottes Wille ohne Mittelglied als der 
Meinige gedacht, ſein Geſetz fuͤr mich guͤltig werden? 
Die Antwort iſt identiſch, und erregt alſo nur von neuem 


dieſelbe Frage: warum ſoll ich ui was Gott wıll? 
Das 


Ceitik der praftifhen Vernunft. 47 


Dis Sollen muß doch in einigem Betracht mein eigs 
nes Wollen feyn , oder es iſt leer. 


2) Weil idy es will? Um den göftlichen Willen 
als erftes Princip zu berrachten, müßte ich mein 
Wollen, den -götslichen Willen zu befolgen, als 
ein unmitfelbares erftes Faktum betrachten fönnen, _ 
das fich aus Feiner höheren Beſtimmung meines 
Willens ableiten ließe. Ich koͤnnte dann nicht weis 
ter fragen: warum kill ich ? 
Allein ich kann fo fragen, weil ich Feine angebohrne 
Idee von dem göttlichen Willen befige, die mein Ber 
gehrungsvermoͤgen unmittelbar modificirte. (Cruſius 
Gerfuhr fehr conſequent, wenn er bey feinem cheologiz 
ſchen Moralprincip eine dergleichen angebohrne Idee von 
- Dependenz unfers Willens, und einen angebohrnen Trieb, 
ihr gemäß zu handeln annahm.) Ich bin mir fogar bes 
wußte, daß der notwendige Einfluß einer folchen dee; 
einen Zwang mit fih führe, der meine Tugend ihres 
‚ganzen inner Werths berauben würde; 

Wenn ich nun würklich fo frage, ind eben dadurch 
einräume, daß Gottes Wille Fein erftes Princip unſers 
moralifchen Wollens iſt, fo iſt die Antwort : 


a) aus natürlichen Gefühl der Billigkeit und Dank⸗ 
barfeit gegen das allgütige, höchfte Wefen (Crus 

ſius Anweifung vernünftig zu leben. $. 142.) 
Betrachtet man dieß Gefühl als Würfung einer natuͤr⸗ 
lichen Neigung der Liebe gegen Wohlthärer , fo iſt fein 
— Grund 


48 CTritik der praktiſchen Vernunft, 


Grund abzufehen, der ung beffimmfe, eben diefer Neigung 
gegen dieſes Obieft alle übrigen unterzuordnen, die doch uns 
Kor manchen Umftänden heftiger wuͤrken, als iene. Legt mar 
Diefer Neigung einen gröfferen innern Werth bey ‚fo ges 
fchiehe dieß Durch Vernunft, alfo nach einer firtlichen 

| 'Denfart , die felbft aller Religion erft zum Grunde liegt, 
und die nicht erft durch fie, als wefentliches Mittelglied 
der Kette moralifcher Gründe, mit Anerfennung aller ans 
deren nicht religiöfen Pflichten zufanimenhängt. 


b) Weil. die Gottheit das mächrigfte Werfen iſt, 
und mein ganzes Glück oder Unglück von ihrem 
Beyfalle oder Mißfallen abhängt. 


Wenn bloße Hofnung oder wohl gar Furcht die einzigen 
Sriebfedern der Religion und hierdurch aller Moralitaͤt 
find, ſo iſt es bloß zufällig, und unfre Vernunft ſieht 
feinen Grund davon ein, daß eine gewiſſe Art zu deits 
en und zu handlen Gott mißfaͤllt, eine andere feinen 
Beyfall erhält. Stat pro ratione voluntas. Indem wir 
diefen finnlichen Trieben nach Gluͤckſeligkeit, die nur 
durch Kenneniffe von dem göttlichen Willen modificire 
worden, alles unterwerfen, geftehen wir ein, daß wir 
auch wider unfre Vernunft handeln würden, wenn es 
Gottes, des Mächtigften, Wille fo mit ſich brächte. Dies 
fe gänzfiche Unterwerfung kann der Menfch, als vers 
nuͤnftiges Weſen, nicht umhin, felöft zu verachten und 
zu verabfchenen. Da es fodann Feine innere Regel 
gäbe für unfre Handlungen: fo fonnte Fanaticismus 
und Aberglauben Handlungen, wogegen ſich alles innere 
Menfchene 


Critik der prafrifchen Vernunft. 49 


Menſchengefuͤhl empört, als Beweiſe von Religion und Tu⸗ 
gend den Menfchen aufdringen „> und ſelbſt das. Gure 
(der Materie nach) würde den Charafter der ſittlichen 
Güte durch diefen finnlihen Mechanismus verlieren. Der 
Eigennüsigfte, der Unterwuͤrſigſte, Niederträchtigfie wär _ 
re nun der Froͤmmeſte und der Beſte. Eigennug ) wird 
in diefem Syſtem bey Gott und Menfchen an die Spis 
Be aller möglichen Thätigfeit gefegt. 
c) Weil die Gottheit das moraliſch vollfom; 
— menſte Weſen iſt. Dieſe Triebfever hängt von 
einer andern ab, wodurch dieſe erſt in Bewe⸗ 
gung geſetzt wird. Sittliche Guͤte muß vorher 
durch Vernunft gebilliget ſeyn. Die Geſinnung 
des Gehorſams, die wir-der Gottheit weihen, 
iſt unmittelbar der Vernunft und ihren eigenen 
Gefege gewidmer, die wir ung nur in der Gott⸗ 
heit gänzlich rein von allem finnlichen Zuſatze und 
Verderbniſſe denfen. Wir gehorchen ihr, wie 
wir iedem vernünftigen Wefen, wenn es in Diefer 
Beftimmung gebieter, deshalb Folge leiſten, weil 
wir felbft diefe geſetzgebende Kraft beſitzen. 


$: 55, 
» - Ahnlihe Wahrheiten, 

Anlaß zu der Taͤuſchung, daß alle, Moralitär von 
dem gottlichen Willen erft und einzig in unfrer Erfennts 
niß beſtimmt werde, geben hauptfächlich folgende Wahr— 
heiten, die mit den Irrthumern diefes Syſtems in 
einer fcheinbaren Verwandtſchaft ſtehen: 
Moralphiloſophie. D 1) Um: 


so Critik der prafeifchen Vernunft, 


1) Um uns reine Sittlichkeit zu denken, draw. 
chen wir Die idealiſche Vorftellung eines Weſens, 
welches felbft reine Vernunft iſt, und überall von 
feinen fremdartigen Einflüffen abhängt. In den 
Standpunkt eines folchen (göttlichen) Wefens muͤſ⸗ 
fen wir ung verfegen, um zu beurtheilen, tel 
che Art zu denfen und zu handeln iedesmahl der 
Idee von reiner Sittlichkeit entfpreche. 


2) Die reine gränzenlofe Achtung für das Sittlich— 
gute hat fein andres perfönliches Dbieft, als die 
Höchfte Intelligenz. An diefe Vorftellung heftee 
fich unfer ſittliches Gefühl, und mit ihr ſteigt oder 
ſinkt feine Würffamfeir. 


3) Unfre Vernunft, das Vermögen aller Sitten 
gefeze, betrachten wir als abgeleiter von ver 
göttlichen. Die Gottheit ift alfo Realgrund ſitt⸗ 
licher. Grundfäge , fofern das Vermögen viefer 
Principien von ihr das Dafeyn emp angen haf. 
Allein die Vernunft ift Doch nicht deshalb Gefege 
geberin, weil fie von Gott, fondern vielmehr da= 

durch, daß fie Vernunft if. 

4) Unfre ganze Lage, alle nahen oder entfernten Ver— 
hältniffe, worinn wir leben und unfere fittliche 
Wuͤrkſamkeit beweiſen, ia felbft die ganze finnliche 
Natur, wodurd wir wuͤrken, find von der, göffs 
lichen Borfehung eingerichter. Es hangt Daher zu: 

- nächft von dieſer unfrer moralifchen Sphäre, und ſo⸗ 
dann von Ihrem hichten Urheber ab, welche Hand⸗ 

lungen 


Critik der praftifchen Vernunft. 51 


lungen (materiell betrachtet) ſittlich gut ſind. Oh— 

ne fie fehlte es dem ſittlichen Willen an einem aͤuf⸗ 

fern Gegenfland, den er behandelte. Wäre nun diefer 

ie äuffere Folge der Handlung) auch der Grund 

von aller ſittlichen Guͤte und von ihrem Gegentheil, 

\ fo wäre Gott durch die Melt, worinn wir leben, 
der Geſetzgeber, felbft für unfre Vernunft. 


5) Um das Hindernis der unbefchränften Wuͤrkfam— 
feit der ſittlichen Vernunft, nehmlich den Wiver- 
fereit finnlicher Antriebe, befiegen zu fonnen, iſt 
die dee: der Goicheit unentbehrlich „wie bey dent 
vierten Problem fol gezeigte werdem 


$. 56. 
Gryndfag dir Vollkommenheit. 

„Perfce te, ift dag Gefeg, welches die Wolfifche 
Schule an die Spige aller fietlichen Grundfäge ftellt; 
Zur Würdigung diefes Grundfages muß 

1) der Begriff von Vollfommenheit entwickelt, 

2) der Innhalt der Regel erklärt, und 

3) der Grund ihrer Verbindlichkeit angegeben und 
unterſucht werden: 


57 
Bollfommenkeit; 

Verſteht man unter Vollfommenbeit in prakti⸗ 
ſchem Sinne zweckmaͤſſige Einheit des Mannigfaltigen; 
ſo iſt Vollkommenheit des Menſchen (oder eines 
vernuͤnftigen Weſens uͤberhaupt) die Zuſammenſtimmung 
D 2 ſeiner 


5 Critik der praktiſchen VORNE 


feiner mannigfaltigen Kräfte * ſeinem — Zwec. 
Sie erfordert demnach 


1) Realitaͤten oder Kräfte; zunaͤchſt innere (der Per- 
fon), dann aber auch äuffere (ihres Zuffandes ), 
fofern diefe die erffern erhalten, vermehren und uns 
terflügen. 


2) Mehrheit und Mannigfaltigfeit diefer Kräfte. 


3) Einen Zweck, oder mehrere, die ſich auf einen 
höchften als Mittel bezichen laſſen. 


4) Syſtematiſche Uebereinſtimmung der Art A des 
Grades und der Richtung fümtlicher Kräfte zu die- 
fem Einen Zweck. 


” 


58, 
Maaßſtab der Vollkommenheit. 

Je mehr Kraͤfte, ie wuͤrkſamer diefe an ſich ſelbſt 
find, ie einfacher und innetlich groͤſer der Zweck iſt, 
worauf ſie abzielen, ie beſtimmter und vollſtaͤndiger die 

Beziehung aller Kräfte auf diefen Einen Zweck iſt — 
deſto gröfer iſt die relative Vollkommenheit. Vollſtaͤn⸗ 
dige zweckmaͤßige Einheit würde praktiſche Vollko mmen⸗ 
heit in abſolutem Verſtande ſeyn. 

$. 59. 
Sinn des Grundſatzes. 

Mache dich fo vollommen, als möglid). 
heißt demnach ſo viel als; 

| 1) Er- 


Critik der praftifchen Vernunft, 53 


1) Erhalte deine Kräfte. 

2) Erwirb dir Kräfte. 

3) Der fEärfe deine Kräfte. 

4) Nichte fie im Gebrauche alle auf Einen Zweck. 

5) Nerhüte, fo viel wie möglich, Einfhränfung der 
Wurkſamkeit der einen Kraft Durch Die andere. 


$. 60. r 


Folgerung. 
Kraͤfte werden geſtaͤrkt durch den ——— N 
nisch geſtaͤrkt durch ſyſtematiſche Richtung. Alſo: 


ſetze alle Deine innern und aͤuſſern Kräfte in harmo- 
nifche Wuͤrkſamkeit. 


NE: 6. 61. 
Praftifche Bedeutung und Anwendbarfeit.erhält dies 
fer Grundfeg erft durch Beftimmung der, Einheit des 
Ziels oder des Zwecks, worauf alle verfüyiedene Kräfte 
bezogen und gerichtet werden follen. Unter diefem ver- 
ſteht man N. 

I) entweder die — der Kräfte, oder die Be⸗ 
dingungen eigner Wuͤrkſamkeit ſelbſt; 


2) oder innren Genuß der Kraͤfte, und ihres Ges 

brauche für fich, felbft ; 

3) oder Genuß der aͤuſſern Wuͤrkungen, die aus dem 
Gebrauch der Kraͤfte erſt entſpringen. 


‘ 


D 3 t $. 62. 


54 Critik der praftifchen Vernunft, 


$= 62. 

Sf die Summe der Kräfte oder das höchftmögliche 
Mask eigner harmonifcher Wuͤrkſamkeit das höchfte Ziel: 
fo iſt zwar 


1) diefer Grundſatz ein nothwendiger Gegenſtand der 
Billigung eines vernuͤnftigen Weſens. Allein 


2) der Grund ſeiner praktiſchen Guͤltigkeit iſt nicht 
unmittelbar evident, ſondern er ſetzt ein hoͤheres 
Princip voraus, das ihm das Gepraͤge der Mo— 
ralitaͤt giebt (welches unten angezeigt wird). 


3) Dieſer Grundſatz muß die praktiſch oberſte Kraft 
oder das hoͤchſte Geſetz beſtimmen, dem alle uͤbrige 
Kraͤfte unterwuͤrfig ſeyn muͤſſen, um harmoniſch 
und ſyſtematiſch wuͤrken zu koͤnnen. Auſſerdem 
kann ein blos zufaͤlliges Ordnen ſeiner Kraͤfte keine 
ſyſtemartige Einheit zu Stande bringen. 


4) Ausbildung der Kräfte überhaupt iſt Fein Begriff, 
der die Giftlichfeit oder Unſittlichkeit des Hans 
delns beftimmt unterfchiede. 


$. 63. 
innerer Genuß als beabfichtigter Erfolg von der 
Anwendung unfrer Kräfte iſt 
3) Naturzweck, und ihn zu ſuchen Naturgeſetz unfres 
Begehrungsvermögens, fofern daffelbe innerlichd. ix 
durch eigne Thaͤtigkeit, afficirt wird. 


2) Die 


Critik der praktiſchen Bernunf, 55 


2) Dieſes Naturgeſetz wuͤrkt aber in natürlicher Vers 
bindung mit einem andern, nicht minder natürlis 
diem Streben nach äufferem Genuß, d. i. nad) eis 
nem‘ Vergnügen, fo aus Befriedigung des allge 
meinen Triebs , von auffen afficire worden, feinen 
Urfprung nimmt, und wird durch diefen beygeord- 
neten Trieb vielfältig eingefchränft und in einzelnen 
Faͤllen wohl gänzlich unterdruͤckt. 

3) Das paffive Vergnügen ſteht als Genuß betrach⸗ 
tet dem edlern oder mit Selbſtthaͤtigkeit vereintem, 
Vergnuͤgen, keinesweges durchgaͤngig nach, und es 
wird demnach, um die Vorzuͤglichkeit des letztern 
einzuſehen, ein hoͤheres Princip erfordert, welches 
den Werth von beyden und die Graͤnze beſtimmt, 
innerhalb welcher beyde Triebe zweckmaͤßig wuͤrken. 


$. 64, | 
Den auffern Erfolg und den Genuß deffelben ſich 


als einziges Ziel feiner Thaͤtigkeit vorzufegen 
1) wird allgemein unwuͤrdig und verächtlich gefunden. 


2) Diefer Erfolg feldft liege mehrentheils auffer unfrem 
Würfungskreiße, und wer ihn als den einzigen 
Zweck feines Beftrebens kennt, der iſt unvermeid- 
lichen Zäufchungen und der Nochwendigfeit ausge 
fest, feine VBerhaltungsregeln unaufhörlich mit an= 
dern zu vertaufchen, woraus zulegt Verachtung als 
ler prafrifchen Regeln zu entftehen: pflegt. 

3) Es ift unmöglich), durch ſichre und allgemeingel- 

D 4 tende 


s6 Tritik der spraftifchen Vernunft, 


tende Gründe zw entfcheiden, welches Verfahren 
die im Ganzen wünfchensweriheften und angenehm— 
ften Solgen nach fich ziehen werde. 


$... 65. 


Der Grundfag der eignen Vollkommenheit laͤßt ſich 


nicht als oberſter, abſoluter Grundſatz des moraliſchen 
Verhaltens rechtfertigen, welche von den drey bisheri— 
gen Erklaͤrungen deſfelben ($. 61 — 64.) man auch an- 
nehmen mag. Man fommet- entweder auf ein Natur⸗ 
gefeg, das in feiner natürlichen Geflalt fein Sittenge- 
ſetz feyn kann, oder auf ein Gittengefez, Das Feine 
unmittelbare Evivenz hat. | 


$. 66. 
Die Wolfifche Schule hat" viele kuͤnſtliche Raͤſonne— 


ments zufammengemwebt, um die. firengen und laufen 


‚Forderungen des praftifihen gemeinen Verſtandes mit 


der Regel der Vollkommenheit, als oberftem GSittenprin- 


cip, in Verbindung zu bringen. Um 3: B. die Pflichten 
gegen andere Menſchen Daraus herzufeiten, berufe fich » 


1) Wolf ſelbſt ( Philof. pradt. vniuerfalis. Pars I. 
Cap. II. $. 220. fegg.) auf das allgemeine Be—⸗ 
duͤrfniß des Menſchen, in Gefellfchafe mit andern 
Menfchen zu leben und von ihnen unterflügt zu 
werden, und auf das Unvermögen , Sch ohne ge 
ſelſſchaftliche Huͤlfe und wechſelſeitige Vereinigung 
zur eignen Vollkommenheit auszubilden. 


So richtig aber dieſe Erfahrung Ab, fo 
2 a) er⸗ 


, 


Critik der praktiſchen Vernunft. 57 


a) erſtreckt fie ſich doch nur auf Menſchen, nicht 
auf alle vernünftige Weſen, die zum Wohl und 
zur Vollkommenheit andrer etwas beyfragen fon 
nen. Sie gründet alſo fein abſolutes Ver—⸗ 
nunffgefer. 1 


b) Aus vem Grundfag „perfice te, als einzigen 
Grundſatz, in Verbindung mirdiefem Erfahrungs- 
ſatz, folge in Abficht auf, Menſchenpflicht, daß 
fie der Selbſtpflicht ſchlechterdings (negativ und 
auch pofitio) untergeordnet fey, und fih nur fo 
weit erfirecfe, als fie ein Mittel zu dem Zwecke 
felöfteigner Vollkommenheit abgiebt; fo weit ich ' 
andrer bedarf, wenn und fo fern mein Bemü— 
hen für andre mir Dank und Vergeltung zu⸗ 
ſichert, oder ſoweit ich doch auſſerdem darauf 
rechnen darf, andere, wenn auch nicht eben die, 
denen ich wohlthat, werden durch meine Gut— 
thaͤtigkeit bewogen, auf aͤhnliche Art gegen mich 
zu verfahren; wenn und ſofern dieſer Vortheil 
als wenigſtens eben ſo wahrſcheinlich und eben 
ſo betraͤchtlich von mir vorgeſtellt wird, wie der— 
ienige, den ich aufopfere; dann und ſofern ſoll 
ich fuͤr andere leben. Allein die Forderungen 
der gemeinen praktiſchen Vernunft gehen un⸗ 
laͤugbar weiter, und erklaͤren die Geſinnung 
und Handlungsweiſe, welche ienem Grundſatze 
polig entſpricht, für eigennutzig und veraͤchtlich. 
Durch uneigennuͤtzige Gerechtigkeit um Wohl- 
. 5 thätige 


7 


58 Curitik der praktiſchen Vernunft, 


thaͤtigkeit wuͤrde ich mich moͤglichſt vervollkomm⸗ 
nern, wenn deshalb, weil ich ſie beobachte, und 
in eben dem Maafe alle andre fie auch gegen 
mich übten. Dies läuft aber wider die Erfah⸗ 
rung. Zu der allgemein anerkannten Verbind= 
lichkeit, ohne Eigennug und Einſchraͤnkung guͤ— 
fig gegen andere, wie gegen uns felbft, zu ſeyn, 
gehört nothwendig die nähere Beſtimmung des 
Principg eigner Vollkommenheit durch den hö- 
bern Grundfag , der ihn auf die Bedingung der 
allgemeinen Gefesmäfigfeit einſchraͤnkt. Dieſe 
übergeht aber Wolf, ob fie gleich zur Bündigfeit 
feines Raͤſonnements als filfchweigende Vor— 
ausfezung Hinzugedacht werden muß. 


2) Andere felbftvenfende Weltweife aus der Molfis 

ſchen Schule, und vorzüglih Hr. Eberhard. 
(Sittenlehre der Vernunft $. 14. 20. 46. 47. 67.) 
haben das mangelhafte Bereinigungsmittel der Men- 
fchenpflichten mit dein Prineip eigner Vollkommen⸗ 
heit, das Wolf angegeben hatte, durch den Zus 
ſatz wichtiger Bemerkungen zu ergaͤnzen geſucht. 
Sie berufen ſich 


a) auf den Erfahrungsſatz, der ſich aus ihrer Theo⸗ 
rie vom Vergnügen auch a priori begreifen. laf- 
fe, Daß auch die lebhafte Vorftellung von Voll 
Fommenbeit in Obiekte Vergnügen erzeus 
ge, und daß der höchſte Brad defjelben in 
den Handlungen der Wohlchätigkeit ge- 

noflen 





Eritif der praftifhen Vernunft, s9 


noffen werde, wo fich alle Quellen des Vergnuͤ— 
gens vereinigen. Allein theils fann die Erfahs 
rung ihrer Naiur nach feine fo allgemeine Wahrs 
heit erharten, und es laflen fich vielmehr gegen 
feitige Beobachtungen anführen, welche der aıı= 
geblichen Allgemeinheit dieſes Vorzugs Abbruch 
thun; theils hängt das Vergnügen feiner Stär- 
fe noch hauptſaͤchlich von fubiefriven Urfachen, 
als dem Temperament, der Gemwöhnung u. d. gl. 
ab, wodurch öfters das ungefellige Vergnügen 
dem gefelligen den Vorrang an Lebhaftigfeit 
abgewinnt. Die Verpflichtung wäre alfo nicht 
obieftiv und allgemein, fondern zufälligen und 

veraͤnderlichen Bedingungen unterworfen ; nicht 
zu gedenfen, daß fie doch Feine wahrhaft unei— 
gennuͤtzige Gefinnung hervorbringeh koͤnnte, ders 
gleichen wir durchaus zur moralifchen Wohlthäs 
tigfeit erfordern. 


b) Man verbindet Bollfommenheit in den Grün⸗ 
den, den Theilen und den Solgen der Hands 
lung in Einem Begriff, um ſie als moralifh gut 
zu bezeichnen. Allein dieſe Verbindung fremd- 
artiger Merfmahle erfcheint alg willführlich, wenn 
man die Güte der Handlung lediglich aus ihrem 
Berhältniß zu dem angegebenen Princip !„ver- 

vollkomnere dich felbft „ beurtheifer. 


ch Die Vollfommenheit des einzelnen Menfchen 
kann Durch feine Mitmenſchen bald unmittelbar 
bald 


6°  Eritif der praktiſchen Vernunft. 


bald mittelbar befoͤrdert werden. Allerdings 
kann ſie es; dieß leitet aber bloß auf die Klug⸗ 
heitsregel, daß ich andere dazu bewegen ſoll, die 
meinige zu beforderen. Und ſelbſt dieſe Regel 
hat nur Gemeingultigkeit für die mehrſten, nicht 
aber firenge Aligemeinheit für alle Sale. Denn 
wie kann man allgemein erweifen, daß feiner 
und verftefter Eigennug nicht in einzelnen Fal⸗ 
len zu dieſer Abfiche mehr ausrichte als reine 
Uneigeimügigfeit? ” 


d) Bey dem menfchlichen Geſchlechte hat die Voll: 
fommenheit des Ganzen einen Einfluß auf die 

-.+ . „Bolfommenhelt des Theiles. Alſo (deß folge 
unlaͤugbar daraus) ſoll ich das Ganze nicht 
ſchlechterdings hintanſetzen. Allein die Frage: 

mie weit ich hier gehen dürfe und ſolle? bedarf 
noch immer eines hoheren Entfheldungsgrundes. 


3) 4. ©. Baumgarten (Philof. prad, prima $- 
43.) flüge fic) auf die Marime ver Verbindlichkeit 
fib als Mittel vollfommner zu machen. 


Darzu bin ich deshalb und alfo auch nur in fo weit vers 
bunden, weil und ſofern ich mich eben dadurch als Zweck 
vollfömmener mache. Dieß läßt ſich theils aus der Er- 
fahrung,theils aus DVernunfrgründen zeigen. Was aber 
die erjire betrift, fo gilt von ihr eben Daffelbe, mas 
oben (unter a) erinnert worden. Der Vernunfrgrund 
iſt ganz metaphyſiſch: »%Wenm ich Die VBollfommenheit, 
„andrer 


4 





* 


\ 
* 


4 


Critik der praktiſchen Vernunft. 61 


„andrer befördere, fo aͤuſſere ich meine Kraft; dieſe 
„Kraftaͤuſſerung ſteht allemal mit der Vollkommenheit, die 
„ich in andern durch eine freye Handlung hervorbringe, 
„im genaueſten Verhaͤltniß; weil die Vollkommenheit in 
der Wuͤrkung der Vollkommenheit in der Urſache 
„gleich ſeyn muß, ſofern die Wuͤrkung von der Urfache 


abhaͤngt. „Mich duͤnkt, ich kann meine Kräfte auch 


durch Zerſtoͤrung fremder Vollkommenheit aͤuſſern, meis 
nen Kopf an ſchlauen aber verderblichen Entwuͤrfen 
üben, und alsdenn iſt die Wuͤrkung freylich ſo vollkom— 
men vollſtaͤndig) im ihrer Ark, als e8 ihre" Urfache iſt. 


"Allein wenn ich mich hier gleich) Durch Uebung meiner 


Kräfte vollkommner gemacht habe, fo ift doch die prak⸗ 
tiſche Volfommenheit des andren, an dem ich meine 
Kräfte übte, d. i. die Summe und zweckmaͤſſige Rich⸗ 
tung ſeiner Kraͤfte, nicht in gleichem Verhaͤltniſſe erhoͤht 
worden. Wofern ich den Vernunftſchluß nicht misver⸗ 
ſtehe, ſo beruht er auf einem Doppelſinn des Ausdrucks 
Vollkommenheit », Die einmahl in den Vorderſaͤtzen 
theoretifch fir Vollftändigkeit oder Gröſe, das an 
dermahl in der Schlußfolge praftiih für zweckmäſſig⸗ 
keit genommen worden. 
4) Manche fchieben in der Erörterung den Begriff 
von ſittlicher Vollfommenheit hinein, die doch erſt 
erkläre werden fol. Ein offenbarer Zirkel: 


Ss 6. 


63 Critik der praftifhen Vernunft, 


% 67: 
Werth des Grundfagsg, 
Deflen ungeachtet ift dieſer Grundfag 
3) vernünftig, nur nicht als Sittengeſetz,  fonderit 
als ein Naturgefeg des Willens ; 
3) moralifch, wenn 


a) ihm dag perfce alios nicht unter- fondern bey» 
geordnet wird. Dieß fann aber nur fo gefches 
hen, daß man beyde aus einem höhern Ders 
nunftgefege abfeiter: 


b) wenn Vollfommenheit nicht wiederum dem Vers 
gnuͤgen oder der Gluͤckſeligkeit als Mittel unterges 
ordnet wird, Hierin behaupter die Philofophie 

der Stoa vor der Wolfifchen ihren Vorzug. 


$. 68: 
Grundfag des ſittlichen Gefuͤhles. 


Wir find von der Natur fo eingerichter, daß eine 


gewiffe Art der Gefinnung und des Handelns von eis 


nem angenehmen Gefühl der Billigung und der Achtung; 
andre von dem widrigen Gefühle der Misbilligung und 
Berachtung in unferm Bewußtſeyn begleitet werden. 
Diefe Einrichtung heißt der moralifhe Sinn oder 
das ſittliche Gefühl als Anlage betrachte, deren Bes 
flimmung es iſt, uns in unfern innern und auffern 
Handlungen zwecfmäffig zu regieren. Was dieſes billi— 
gende Bewußtſeyn uns giebr, ift ſittlich gut; was dieß 

Gefuhl 


* 





Critik der praftifchen Vernunft, 63 


Gefühl befeidige, firtlih böfe. Der hoͤchſte Grund; 
fas aller Moralitaͤt ift dahert 
Solge deinem firtliygen Gefühl; denke und 
bandle alfo und zu dem Zwede, daß du ans 
genehmer Empfindungen diefes Sinnes theils 
baftig werdeft, und feinen Qualen entgeheft, 


$. 6% | 
Kir unterfuchen dabey 


3) den Begriff von moralifher Empfindung un® 
Gefühle 5 


2) ob und wiefern eine Natureinrichtung dazu vor⸗ 
handen fey? 


3) Ob und in wiefern dieſe zur Grundlage praftifcher 


Kegeln und 
4) infonderheit eines abſoluten Sittengeſetzes dienen 
koͤnne? 
&: 7°, 


Man verftcht unter dem ſittlichen Gefühle 


1) die moralifche Vernunfterkenntniß, fofern fie nicht 
deutlich, fondern nur dunfel oder Elar auf unfer 
fittliches Urtheil einfliegt, und unfre Handlungen 
beſtimmt, oder die gemeine ſittliche Menſchen⸗ 
vernunft (S 1.); 


% 


2) ein 


— 


64 Critik der praktiſchen Vernunft. 


2) ein Gefühl der Luſt oder Unluſt, das nur allein 
mit dem Vernunftbegriffe von reiner Sittlichkeit 
und mit der Vorſtellung von gewiſſen Geſinnun⸗ 
gen und Handlungsweiſen, in Vergleichung mit ie⸗ 
ner reinen Idee, im Bewußtſeyn verbunden iſt. 


3) Gefuͤhle, die aus Befriedigung feinerer Neigungen 
z. B. der Sympathie, unabhängig von einer his 
hern Idee der Gittlichkeie, entipringen. 

$ Fu 
Dafeyn, 
Daß es überhaupt Empfindungen gebe, die unfer 
praftifches Urtheil öfters und zwar nicht ſelten zweck— 
maͤßig leiten, iſt Thatſache. 


Daß wir uͤber Sittlichkeit und Unſittlichkeit, Recht 
und Unrecht und ähnliche Gegenſtaͤnde öfters ohne deut⸗ 
liches Bewußtſeyn der Gruͤnde urtheilen, ia ſogar ohne 
auch nur im Stande zu ſeyn, uns ſelbſt von dieſen Gruͤn⸗ 
den hinterher beſtimmte Rechenſchaft abzulegen; und daß 
die Richtigkeit dieſes Urtheils fich öfters bey erfolgter 
genauer Unterfuchung bewahrt, ift ebenfalls SJaHRar: 


Daß es ferner ein reines Intereſſe an ächter Moras 
lität gebe, das von feinen anderweitigen Neigungen, 
weder unmittelbar und nothwendigerweiſe, noch auch 
mittelbarerweiſe und zufällig (durch Gewährung und Vers 
gejelfchaftung der Gemuthszuſtaͤnde) abhängt, darauf 
ſcheint die Beobachtung mehrerer Erſcheinungen des 


menſchlichen Genmihes zu fuhren, und es laßt ſich durch 
keine 





5 
Critik der prafeifchen Vernunft, - 65 


feine Erfahrung twiderlegen, die uns zwar auf andere 
Quellen von dergleichen Gefühlen aufmerffam machen, 
aber dadurch Feinesweges das Nichtvorhandenſeyn iener 
Quelle erweiſen kann. 


Daß es endlich mehr als eine Anlage unſeres ſinn⸗ 
lichen DBegehrungsvermögens gebe, woraus feinere Ges 
fühle und Neigungen entffehen, welche die größere Sinn» 
lichkeit zweckmaͤßig einſchraͤnken, und daher die Billi— 
gung der Vernunft im Ganzen erhalten und verdienen, 
dieß ſetzt Die empiriſche Pſychologie auſſer Zweifel. 


Se 
Feinere Neigungen, 
Es ift aber theils der Begriff, theils auch der Ur— 
fprung der Neigungen, die man feinere nennt, viel 
deufig und zweifelhaft. Man verſteht darunter 


I) Neigungen, die dem Menfchen eigenthuͤmlich find, 
und wodurch er fich von den übrigen Thieren un- 
terſcheidet, die fich auf Fein thierifches Beduͤrfniß 

gruͤnden, ſi ſich mehr auf Einheit als auf Mannig- 

r faltigfeit beziehen, und daher aus dem Vernunft— 
vermögen (in weiterm Sinne) und deſſen Einfluß 
auf die Sinnlichkeit zu 'erflären find, 5. DB. die 
Neigung zum Verhaͤltnißmaͤßigen, Schönen, Harz 
monifchen, Geordneten, Einfachen im Reiche der 
Natur und der Freyheit (Kunſt), zu Gei ſtesbe⸗ 
ſchaͤftigung u. d. gl. 


Moralphiloſophie. E 3) Nel⸗ 
\ 


2 
66 Critik der praftifchen Vernunft: 


2) Neigungen , die zwar aus gröberer Ginnlichfeit 
entfprungen, aber durch den Einfluß der Vernunft 
modificire worden find, z. DB. ieder gemäfigte, 
zweckmaͤßig geleitete Naturtrieb. 


3) Gefellige Neigungen , die eben um degmillen den 
groben, felbftifhen Eigennug befchränfen und die 
moralifhen Würfungen der Vernunft begunftigen, 
3: B. ſympathetiſche Neigungen. 


Das Dafeyn diefer Neigungen erkläre man theils durch 
die Behauptung angebohrner (5. B. gefelliger) Inftinfz- 
te, theils durch Einfluß der Einbildungsfraft und des 
feinern Eigennugeg, theils auch durch Einwürfung der 
Nernunft — worüber die Pfychologie mehrere Erläute- 
rung giebt. - Ber 


$. 73. 
Die Würffamfeit aller, bisher ($. 77. 72.) angezeig- 
ten Neigungen und Gefühle ift 


ı) theils abhängig von andern Neigungen, von ihrer 
natürlichen Richtung durch Temperament, und von 
ihrer zufälligen Beſtimmung durch Umſtaͤnde und 
Erziehung. Sie ift alfo 


2) der Richtung und dem Grade nach verfchieden bey 
verfchiednen Menfchen und zu verfchieonen Zeiten. \ 
3) folglich nicht abfolut, allgemein und nothwendig, 


4) noch auch vollfommen beſtimmt, und vein durch 
bloße Beobachtung des Gefühle von andern Ges 
fühlen, 


Critik der prafrifchen Vernunft. 67 


fühlen, die durch andere Triebe erzeugt werden, 
zu unterfcheiden ; endlich 

5) den Gefegen aller andern Zriebe und Gefühle 
gleichmäßig unterworfen. 


$. 74. 
- Zur fichern und legten Grundlage  praftifcher Res 
geln können diefe dunklen Urtheile und Gefühle Feines- 

weges dienen ‚weil 

2) die Vernunft es unmöglich billigen kann, lieber 
unentwicfelten und blos flar oder dunkel vor- 
geſtellten, ($. 70. Num. 1.) als folhen Regeln 
zu folgen, von deren Innhalt und Grund wir 
eim deutliches Bewußtſeyn haben. Die Ausſpruͤche 
der dunkelwuͤrkenden Vernunft find dem Mißver⸗ 
ſtande und der Entſtellung durch unſre Leidenſchaf— 
ten und Vorurtheile ſehr ausgeſetzt; es iſt Pflicht 
ſie zu entwickeln und ihre Anmerkung ſicherer zu 
machen, und nur dann dem undeutlichen Urtheile 
zu folgen, wenn wir entweder ſchnell entſcheiden 
und handeln muͤſſen, oder durch vorausgehende 
Uebung und praktiſche Aufklaͤrung gewoͤhnt ſind, 
auch ohne langſame Ueberlegung vernunftmaͤßig 
und beſtimmt zu verfahren. Das abſolute Geſetz, 
wornach das Urtheil, wenn es moraliſch ſeyn fol, 
erfolge, und wornach auch feine Gültigkeit ge— 
prüft werden muß, iſt immer ein Erzeugniß der 
obieftiven Vernunft, theils unmittelbare Folge 
derfelben,, theils die Bedingung, Die vor ihrer 
N Ent: 


68 Critik over praftifhen Bernunfe 


Ehtivicktung: vorausgeht, theils auch aa die * 
ge ihrer Entwicklung. 


2) Die eigentlichen Empfindungen —X man mo⸗ 


raliſch zu nennen reger fi find eben fo untauglich 
Dazu; denn 


a) das — ———— Datereſſe 8 70 
Num. 2.) iſt, als ein folches „nur durch fein 
Cauſſalverhaͤltniß als reine und unmittelbare 
Wuͤrkung zu feiner Urſache der Vorſtellung ei⸗ 
nes vernuͤnftigen Sittengeſetzes, erkennbar und 
von fremdartigen Gefuͤhlen unterſcheidbar. Als 
bloſſes Gefuͤhl angeſehen, hat es feinen, allge> 
mein entſcheidenden Vorzug der Staͤrke und Leb⸗ 
haftigkeit vor andern Gefühlen; noch auch der 
Dauer, wenn man von der Nothwendigkeit fei- 
nes Grundes abftrahire, und Kodiglich ver Bes 
obachtung nachgeht. Es muß alſo ein Bernunffe 

grund vorhanden feyn, dieß Gefühl vor den, 
übrigen auszubilden, und. ihm ein Uebergewicht 
zu verſchaffen, das ihm von Natur nicht eigen 
iſt. Wollte ich ihm uns feiner ſelbſtwillen fol- 
gen, als Vergnügen befrachter,. fo wuͤrde ich 
theils dieſes Vergnügen ſelbſt Dadurch, zerftören, 
weil das Bemußtiänn. des Sittlichguten, wor⸗ 
an es geknuͤpft iſt, das Bewußtſeyn der Ungis 
gennuͤtzigkeit in fich schließe; theils würde die 
Euftur diefer Anlage zugleich eine Quelle vieler 
moralifchen Leiden für mich eröfnen 5 theils wuͤr⸗ 

den 





Critik der praftifhen Vernunft. 69 


den andere Triebe ſich oͤfters lebhafter regen, de⸗ 
ren Befriedigung mir innigere Freuden verfpräs 


che, und vielleicht die Gewiſſensbiſſe ertraͤglich 
machte. Folge ich ihm aber deshalb, weil eg 


vernunftmaͤßig, aus, Vernuuft entſprungen, und 


meiner Würde gemaͤß iſt, ſo iſt nicht dieß Ge⸗ 


Di 


=} 


Dr zz: 


fuͤhl/ ſondern feine: Quelle „ Vernunft, das 
oberſte Sittenprincip. 


9 Die uͤbrigen ſittlich⸗analogen Empfindungen 
>.($. 70. Num. 3.), koͤnnen aus mehrern Urfas 

chen niche wohl Grunde zu einer oberſten prak⸗ 
tiſchen Gefengebung werden. Die überthieri⸗ 
ſchen Cäfthekifchen) Neigungen koͤnnen und dürs 


fen nicht uͤberall und unumſchraͤnkt über Die thie⸗ 
riſchen herrſchen, weil die Menfehheit feldft oh— 
ne das Thieriſche im Menſchen nicht beſtehen 
kann. Ihre Befriedigung verſchaft uns auch 
nicht überall den größten Genuß, und giebt ung 
in dem eignen Bewußtfeyn, ohne Bezug auf 


ein höheres Geſetz der Vernunft, feinen inhern 


Werth und Vorzug vor Dem gemeinen, : niedris 


gen Eigennug. - Die gilt auch von den geſel⸗ 


ligen und fnmpathetifchen Neigungen, deren 
blinde Befolgung ausſchweifen und felbft die Le— 


galitaͤt der Handlungen aufheben kann, und we⸗ 
nigſtens keinen inner, ſelbſterworbenen Werth 
giebt; deren vernuͤnftige Leitung aber zwar fo- 
wohl daͤuſſere als auch innere Gittlichkeit hervor- 
bringt, Aber ſchon durch ihren Begriff auf ein 


c 


E3 hoͤheres 


\ 


79 Critik der praftifchen Vernunft, 


höheres leitendes Princip zuruͤckweiſt. Beyde 
Arten von Neigungen werden von der Vernunft 
im Allgemeinen, aber nicht unumfchränft gebillis 
ger. Solche Neigungen endlich, Die vonder Ver; 
nunft modificirt, in Abficht auf ihr Verhaͤlt— 
niß der Größe beffimmt, und in der Wahl ihrer 
Obiekte geleitet worden find, veredlen zwar den 
Charafter und das. Betragen, aber nur vermöge 
des Einfluffes der DBernunftprincipien, den fie 
empfingen. Diefe Grundfage, auf denen aller 
Werth der Gefinnungen- und des Lebens zulege 
beruht, find aber felbft verfchiedner Steigeruns 
gen zu höherer big zur höchften Allgemeinheit und 
Zweckmaͤßigkeit fähig, und nur die Uebereinſtim⸗ 
mung mit einem abſolut oberften Princip kann 
ihnen das Gepräge achter Gittlichfeit aufdruͤcken. 


$. 735. 
Reſultat. 

Eine unbedingte, allgemeinguͤltige, durch ſich ſelbſt 
nothwendige und durchaus beſtimmte praktiſche Regel 
kann alſo nicht lediglich auf moraliſchen Empfindungen 
beruhen. Es kann Geſchmack, Verſtand, Sympathie ſich 
in einer — unſittlichen Handlung ausdruͤcken. Wir 
ehren zwar billig dieſe Natureinrichtungen, als zweck» 

aͤßig angelegte Werkzeuge in unferm menfchlichen Me- 
chanismus, melche theilg die äuffern-Zwerfe der Mora- 
lität (die Erfolge für die Sinnenwelt) vor ihrer Ent 
wickelung bemürfen, und nachher noch Diefelben fichern 
und 








Critik der praktiſchen Vernunft. 71 


und unterſtuͤtzen; theils zur Entwickelung der moraliſchen 
Vernunft naͤhern oder entferntern Anlaß geben, theils 
auch die Wuͤrkſamkeit ihrer Grundſaͤtze auf den finnlis 
chen Theil des Menfchen entweder erleichtern , oder (was 
das reine ſittliche Gefühl betrife) überall erft möglich 
machen ; wir erfennen daraus die Verbindlichfeit, ihnen 
- eine zwecfmäßige Kultur zu geben; allein fie koͤnnen auch 
fhon um desmwillen nicht Quelle der Erfenntnif des 
\ Sittlichguten für alle vernünftige Geifter feyn, weil wir 
fie nur als menſchliche Eigenfihaften, und auch dieß 
nur in unſrer gegenwärtigen Lebensperiode kennen. 


$. 76. — 
Grundſatz der eignen Gluͤckſeligkeit, der 
Selbſtliebe. 

Alte unſre Triebe verlangen Befriedigung, und die— 
fe getoährt dem Menfchen Vergnügen. . Diefes Vergnü- 
gen iſt es alfo, wornac wir immer und überall: fireben 
und ffreben müflen. Wenn die Vernunft diefe Triebe 
modificirt: fo erzeugt fie aus den mannigfaltigen Ge— 
fühlen des Vergnuͤgens den idealifchen Begriff von Glück⸗ 
ſeligkeit, d. i. von einer möglichft volfommenen Ver- 
einigung des Genuffes aller verfchiednen Arsen des, Ver- 
gnügens im ganzen Inbegriffe des Lebens eines vernuͤnf⸗ 
tigen Weſens. So entwicele fih durch Vernunft aus 
den einzelnen Trieben nach einzelnen Vergnuͤgungen der 
Trieb nady Glückfeligkeit, ver feinem Urfprunge 
nach ein vernünftiger Trieb iſt, fo wie die Negeln, wor⸗ 
nach feine Befriedigung gefchehen kann, vernünftige — 

ee: . alie 


72 Critik der praftifchen Vernunft. 


alſo — ſittlich gute Lebensregeln ſeyn muͤſſen. Alle an⸗ 
dere Grundſaͤtze, fuͤr ſo urſpruͤnglich man ſie ausgab, 
‚fügen ſich alſo auf den hoͤchſten Grundſatz: 
Strebe nach Glückſeligkeit, oder: 
Thue dasienige, was dir nach dem ganzen Umfange 
und in der ganzen Dauer deiner Exiſtenz am meiſten 
wohl thut. 
$. 77, 
Begriffe, 
Woplfeyn; Seligkeit; Glückſeligkeit. 

Wohlſeyn iſt der angenehme Zuſtand eines lebendi⸗ 
gen Weſens uͤberhaupt, und wird insbeſoudere vorge⸗ 
ſtellt 

1) als Seligkeit, ſofern das Wohlfeyn eines nei. 
Digen Wefens von der zufälligen Befriedigung ges 

wiſſer Triebe unabhängig, und daher, uneinges 
ſchraͤnkt gedacht wird. 

— als Blücdfeligkeie, d. i. als ein Wo hlſeyn eis 
nes lebendigen Wefens, das durch die zufällige Des 
friedigung feiner Neigungen beſtimmt, von ihr ab⸗ 
haͤngig, in iedem Zeitpunkte eingeſch raͤnkt, und da⸗ 

her auch innerlich eines Woechechun⸗ ins Unenplis 
— fähig iſt. 

nn §. 78: HER: 042 
"Zufriedenpeit ; Wohlfahrt; innere, ‚Äuffere. u 
Die Gluͤckſeligkeit (G. 77) oder: das endliche und 

zufällige Wohlfeyn eines vernünftig = fi milichen Weſens 

begr 

a tan is 1) Selbſt⸗ 








Critik ver praktiſchen Vernunft. 73 


1) Selbſtzufriedenheit, Dis; einen Zuſtand der 

Schmerzloſi gkeit und des Angenehmen Cnegatipe, 
poſitive Selbſtzufriedenheit), der von der eignen 
—* Dtigteit ſeiner vernünftigen Natur und von 
dem Bewußtſeyn derſelben beſtimmt wird ‚ und als 
ſolcher niche von Auſſendingen und aufſeren Bedurf⸗ 
niſſen abhaͤngt — ein Aalogoh: der Seligkeit. 
$. 77. 


2) Wohlfaber, d.i. einen Zuffand der Schmerzfofig- 

keit und des Vergnuͤgens, welcher" aus der. Nicht— 
„Verlegung: oder aus. der. Befriedigung feiner Trie- 
be und Neigungen vermittelſt gewiſſer Auffendinge 
und. ihrer Deränderungen entſpringt. Sie iſt 
ebenfalls theils negativ, theils poſitiv. 


34 


SE fe die Veränderung auffer uns die unmittelbare und 


naͤchſte Bedingung des Vergnuͤgens, ſo nennt man die 
Wuͤrkung davor äuſſere Wobifabrt ; bringt fie das 
Dergnügen nur mittelbar , als Bedingung gewiffer in- 
nerer Ihätigfeiten hervor , welche eigentlich feine nöd - 
ſte Urſache ausmachen , ‚fo iſt Dieß innere Wohlfahrt. 

| * J 
N 
WGluͤcksguͤter. 

Die Beſtandtheile der, Gluͤckſeligkeit Find daher 
— ſchmerzloſe und angenehme Zuſtaͤnde; ihr We⸗ 
ſen (Gorm), als Gluͤckſeligkeit, beſteht in der ſyſtema⸗ 
tiſchen Verbindung derſelben zur moͤglichſt dauerhaften, 
lebhaften, und ausgebreiteten Annehmlichkeit des Lebens. 

* E5 Die 


J 


74 Tritik der praktiſchen Vernunft. 
Die Bedingungen derſelben find: 


theils äuſſere, d. i. gewiſſe Dinge, ihre Verhaͤlt⸗ 
niſſe unter ſich und zu uns ſelbſt, d. i. Glücks⸗ 

guüter und der Beſitz derſelben; 

theils innere: Empfaͤnglichkeit fuͤr ihren Genuß, 
Thaͤtigkeit zu ihrem Erwerb, J Erhaltung und 
zu ihrem Gebrauch. 


6. 80. 
Maasſtab der Gluͤckſeligkeit. 

Glückſeligkeit bezeichnet zwar, als Obiekt einer 
Vernunftidee (in abſtrakto), ein vollſtaͤndiges Ganzes 
ſyſtematiſch befriedigter Triebe und angenehmer Empfin⸗ 
dungen; allein in der Wuͤrklichkeit (in conkreto) laͤßt 
ſie ſich nur als eine moͤglichſt fortſchreitende Annaͤherung 
des, iedesmahligen Zuſtandes zu dieſem Ideale denfeu 
und antreffen, die unzählige Gradunterſchiede zuläßr. 
Ihre Größe wird beffimme 


1) zunächſt durch die gröffere Anzahl, Stärfe und 
Dauerhaftigfeit angenehmer Empfindungen ieder 
Art, und durch die geringere Anzahl, mindere 
Staͤrke und fürzere Dauer ber unangenehmen Ges 
fühle, 

2) entfernter weife, durch die größere Menge, Staͤr⸗ 
fe und fortdauernde Würfung der Triebe, im 
Verhaͤltniß zu vorhandenen Gegenſtaͤnden ihrer Be⸗ 
friedigung ; durch die geringre Zahl, fchmwächre 
Wuͤrkſamkeit und fürgere Daner- der Neigungen, im 

Der: 


Critik der praftifhen Vernunft, 75 


Verhaͤltniß zu vorhandenen Gegenffänden ; die fie 
verlegen würden, und zu nicht vorhandenen, die 
fie befriedigen Fönnten. 


Die relative Befchaffenheit desienigen, woraus und 100» 
durch Glückfeligfeit beftehen und entftehen kann, vers 
flattet es nicht, ‚einen beſtimmtern Maasftab für die 
Beſtimmung ihrer Gröffe zu. erfinden und anzuwenden. 


28% 
Sinn des Grundfaßes. 


„Mache dic fo alucfelig, als möglich “ be 
Deuter Demnach ſo viel, als: 


. i - 
1) Ueberhaupt : vermeide den Schmerz und fuche Ver« 
gnügen ieder Art, 


2) Beftimme deine Neigungen nach den Gegenffänden, 
und diefe wiederum nach ienen, um im Ganzen 
die größte und dauerhaftefte Annehmlichkeit deines 
ganzen Lebens dadurch zu bewürfen. Res fubmiz« 

tere fibi; fe Jubmittere rebus. Horat, 


3) Insbeſondre: 


a) Verſtaͤrke deine Genuffähigfeit für iede Art des 
feinern oder gröbern Vergnügens; aber erhöhe 
nicht zugleich deine Empfindlichkeit für ven 
Schmerz. 

b) Erwirb und erhalte dir Gluͤcksguͤter oder aͤuſ⸗ 
fere Mittel der Wohlfahrt; doch laß dieß Be— 

| mühen 


76 Critik der praktiſchen Vernunft 


muͤhen fo wenig, als immer möglich, Dich im 
Gebrauche und Genuſſe ihrer ſelbſt ſtoͤren. 


c) Verſtaͤrke deine innere Kraft, wodurch du dir 

inuere Wohlfahrt verſchaffen oder aͤuſſere Glücks: 

guͤter erwerben, ſichern, vermehren kannſt; doch 

laß dieſe Uebung Dich moͤglichſt wenig — 
fe ſelbſt unterbrechen. 


9. 82: 
For tſetzungen 
Aus ver zuſammengeſetzten und relativen Beſchaf⸗ 
fenheit der Beſtandtheile und Bedingungen der Gluͤck⸗ 
ſeligkeit, als eines Ganzen fließen folgende Regeln: 


3) Vereinige in der Anwendung diefe drey Maris 
men ($. 81, 3.2. bc, ), unter ſich felbft, und 
vereinige die ‚befondern Regeln, Die aus ihnen int 
° Verhaͤlt aiß zu den verſchiedenen Theilobiekten dei⸗ 
OR Wohls fließen, unter einander — zur groͤßt⸗ 
moͤglichen Wuͤrkung fuͤr deine Selbſtʒufriedenheit 
und Wohlfahrt im Ganzen. 


32 Bey der Wahl der Mittel zu — Wohle, 
. nimm auf deine individuelle Gemuͤthsart ¶ Tempe⸗ 
rament), auf deine eigenthuͤmliche Sinnesart oder 
auf die angewoͤhnten Neigungen, und auf deine na⸗ 
tuͤrlichen oder bereits erworbenen Kraͤfte, endlich 
auch) auf deine aͤuſſere Lage und Verhaͤltniſſe beſtaͤn⸗ 
dige Ruͤckſicht, um * der allgemeinen Ne⸗ 
gel, 


Critik der praktiſchen Vernunft; 77 


‚gel, wie Menſchen gluͤckſelig werden koͤnnen, “ihre 
naͤhere Beſtimmung fuͤr dich zu geben. 
) Ben der Colliſton, worinn oftmahls die Erlangung 
eines intenſiv, protenſiv und extenſiv groͤßern Ge 
nuſſes ſteht entſcheide nicht partheilich nur nach 
4 Einem oder Zweyen Diefer drey Maaßſtaͤbe ſondern 
X ſvereinige * je om 


— re U 
Mie deutung deſſelben. 


Nimmt man einmahl eigene G lckſeligkeit überhaupt 
’ für dein ganzen oder doch den höchfien Zweck, und des 
Verhaͤleniß einer Handlung oder Geſtunung zu ihr, für 
den oberfien Cmoralifchen) Beſtimmungsgrund des Wer⸗ 
thes an, der ihnen zukommen kann: ſo iſt es in glei⸗ 
chem Grade „folgewivig, 


E> mit Antifihenes dier Nature infalt fuͤr das 
"ge und vollſtaͤndige zit vernänftiger Beſtrebungen 
des Menſchen zu halten. Einfache Beduͤrfniſſe ge⸗ 

ben zwar weniger Schmerz, aber auch minder Ver⸗ 
gnuͤgen und es ſteht weder immer noch gaͤnzlich 

in des Menfhen Gewalt ’ ob er in Dem einfachen 
Naturſtande bleiben, oder zu ihm —— 
wolle; oder 


2) die möglichfte Ausbildung aller Genußfä⸗ 
bigfeiten der Einfachheit der Beduͤrfniſſe uͤberall 
amd ohne Einſchraͤnkung vorziehen ; oder 


⸗ 


3) wir 


78 Tritik der praftifchen Vernunft. 


3) mit Epikur nur das unmittelbare Vergnügen, 
das eine Handlung begleitet, zum Merkmahl ihrer 
Sittlichkeit zu machen, und die entfernteren Fol 
gen nicht ebenfalls in Rechnung zu bringen, die 
fie für unfer ganzes Wohlfenn haben koͤnnte; oder 


4) die entferntern und öfters. ungewiffen Sol; 
gen einer Handlung überall und unbedingt über die 
Gefühle zu fegen , die mit dem Handlen felbit zus 
gleich entſtehen, oder ihm unverzüglich ımd zuvers 
lößig nachfolgen; oder 


5) mit Zeno das angenehme Selbſtbewußtſeyn fei- 
ner Würde und Unabhängigkeit ($. 70. 2.) für 
das einzignorhmwendige Erfordernig der Glücfelig- 
Feit auszugeben, da Doch Feine Kunft oder Weis— 
heit es vermag, Die übrigen Forderungen der Sinne 
lichkeit jelbftbeliebig zu vernichten; oder 


6) mit andern — den grobern finnlichen Freuden ; 
oder N 

7) wieder mit andern — den Befriedigungen der feir 
nern Triebe und der geiffigen Bevürfniffe ($. 70: 
3.) überall und unbedingt den Vorzug vor den 
übrigen einzuräumen; oder 

9) überall nur auf Dauer und Menge zu fehen, 
und gar nicht auf die Lebhaftigkeit und Stärfe der 
angenehmen Gefühle Rücfiche zu nehmen; oder + 


9) auffer der Extenfion ‚ Intenfion und Daner noch 


eine gewiſſe Wür digkeit, die fih auf den Urfprung 
oder 


Critik der praktiſchen Vernunft 79 


oder auf andere Verhaͤltniſſe des Vergnuͤgens bezieht, 
zum Entſcheidungsgrund der Wahl in Colliſions⸗ 
fällen zu machen ; oder gar 


10) Moralität des Vergnuͤgens (die Doch eben erft 

von der Gröffe deffelben in ieder Beziehung abhaͤn⸗ 
gen foll) als ein befonderes Dierfmahl des ſuchens⸗ 
würdigen Verguügens anzugeben. 


11) Ueberhaupt ift e8 inconſequent bey diefem Syſte⸗ 
mie das Vergnügen lediglich nach feinen obieftiven 
Gründen G. B. der Vollkommenheit) zu ſchaͤten, 
und die fubieftiven gänzlich auffer Acht zu loſſen. 
Dergl. $. 66. 2. a) Wenn Daher fcharffinnige 
- Meltweife (3. B. Hr. Eberhard, Gittenl. der 
Vernunft. $. 2.) eine Handlung gut nennt, info= 
‚fern fie die Glücfeligfeit des Menſchen befördert, 
2». h. ($. 3.) wiefern fie ihm ununterbrochenen Genuß 
wahres DVergnügens gewährt; wenn fie eingeſte— 
ben ($. 18.), daß die Empfindung (und was iſt 
Vergnügen ohne Empfindung?) von der fubiefti- 
ven Befchaffenheit des Empfindenden abhänge, und 
daß eben um deswillen die Tugend. ($. 19.) ſchwer 
und mühfam erfcheinen Eönne: wie Fönnen eben 
dieſe Moraliffen ihren Betveisgründen für den Werch 
der Tugend. firenge Lieberzeugungsfraft zutrauen, 
da fie nur von den obieftiven Bedingungen ihrer 
Sreuden entlehnt find, und das entfchiedene Ueber- 
gewicht ihrer Größe in der Empfindung nicht zus 
gleich darthun? Bey einem andern Princip binges 
gen 


80 Eritik der praktiſchen Vernunft. 


iu gen macht Diefer pſychologiſche — keine 
Schwuͤrigkeit. 


12) Die vollkommeni eit des Mmenſchen "oder 
die Abzweckung feiner Fähigkeiten und Kraͤfte “zur 
Gluͤckſeligkeit kann für Den angenommenen hoͤchſten 
Zweck ver Gluͤckſeligkeit nicht als völlig entfpres 
chend und gleichgültig zum Ziele aller feiner Be— 
firebungen hingeffelle werden, wenn man nicht 
Vollkommenheit feines zuſtandes damit ver⸗ 
bindet. 


13) Man darf, um nicht im Kreiſe ſich herumzudre⸗ 
hen, keine Gefühle mit in Rechnung bringen, 
die zwar unmittelbar aus dem moraliſchen Ur⸗ 
theile uber die Handlung, nicht aber aus ihr ſelbſt 
(obiektiv) entſpringen — weil vorausgeſetzt wird, 
daß das moraliſche Urtheil erſt von der Wuͤrkung 
des Vergnuͤgens beſtimmt werde. 


14) Ferner darf man ebenfalls, um den Fehler des 
Cirkels zu vermeiden, keine Folgen angeben, de⸗ 
ren Erwartung ſich lediglich auf eis ſittliches Ur⸗ 
theil der Wuͤrdigkeit gruͤndet keine Belohnungen, 
welche die Gottheit erteilen oder die eine 37 
Fünftige Welt herbey fuͤhren wird, von denen 
wir ohne vorhergehende moraliſche Einſich ᷣt feine 
Kenntniß beſitzen. Man muß ſich lediglich auf die 
natärlichen Erfolge in dieſem Erdenleben einfchraͤn⸗ 
ken, fo wie eigne Erfahrung ‚ oder Belehrung der 


Erfahrneren fie uns kenntlich macht. 
G 84 


Critik Der praftifchen Vernunft. 11 


8. 84. 
Folgerungen. 

Nach dieſem Syſtem iſt 

1) But zwar nicht alles dasienige, was uns iedes⸗ 
imahl unmittelbar am höchften vergnuͤgt, was unſre 
gegenwärtige Neigung am volfommenften befriedigt; 
aber Doch‘ dasienige, was, alles wohl überdacht, 
dem handelnden Weſen die größte Summe, ven 
höchften Grad und die längfte Dauer angenehmer 
natuͤrlicher Folgen für dieſes Erdenleben gewaͤhrt 
oder verheißt. 


2) Dieſes Gute iſt eben um dieſer verhergefehenen 
Zolgen willen Gut. 


3) Tugend, herrichende Liebe zum Guten, iff — 
herrfchende Liebe zum Vergnügen aller möglicher 
Art, Menge und Dauer ; Nachdenfen über das 
Derhältnig der Handlung zu feinem eignen Wohl; 
genaue Dergleihung und Berechnung ihrer 
Folgen; Fertigkeit, das Reſultat dieſer Berech— 
nung eifrig und bedachtſam zu realiſiren, oder al 

le feine Neigungen in der moͤglichſten Harmonie zu 
befriedigen. 


a Sittlidye Selbftzufriedenheit — iſt das Be 
wußtſeyn, daß man den Zweck des größten Der 
gnuͤgens fich vorgeſetzt, die Mittel dazu gefucht 
und gebraucht, und feine Abfiche erreiche habe; 


» Moralphiloſophie. 5 5) Der 


32 Turitik Der praftifchen Vernunft. 


5) Der ſutliche Werth der Tugend hänge von 
dem Werthe ihrer Folgen ab; dieſem untergeord- 
net, iſt iener weder fpecififch von ihm unterfchie- 
den, noch auch größer als er. $ 

6) Ohne Bewußtſeyn der Beziehung, Die eine (ma⸗ 
teriel betrachtet) £ugendhafte Handlung auf ihre 
nüglichen Folgen hat, fehle ihr das Weſen (die 
Sorm) der Tugend; mit der Gtärfe dieſes Be⸗ 
wußtſeyns ſteigt ihr Werth. 


$. 85: 
Weitere Folgerungen, 
7 Tugend hat feinen  inheren , eigenthuͤmlichen 
Werth; das Sittliche iſt nur Gut in Bezug auf 
das Phyſiſche. 


8) Vernunft iſt der Sinnlichkeit untergeordnet, um 
ihr die Mittel zu harmoniſcher ie; ihrer 
Triebe zu zeigen. 


9). Vernunft hat nur infofern einen Cäuffern) Werth, 
als fie das finnliche Intereſſe beſorgt, und kann 
in Abficht auf ihre Tauglichteit zu dieſem Zweck 

mit den Inſtinkt in Vergleichung geſtellt werden. 


10) Ein Wefensohne Sinnlichkeit, und Beduͤrfniß, 
mie wir uns die Gottheit vorſtellen, iſt Feiner mo⸗ 
raliſchen Vollkommenheit faͤhig. 


17) Der Zufall, ein Etwas, das’ gänzlich auſſer der 
—— des Handelnden heat kann einer —* Tu⸗ 
* gend 


* 


Critik der praftifchen Vernunfe 83 
gend ihren ganzen Werth rauben; ein Zufall kann 
dem Unthätigen und Sorgloſen, Schlauheit und 
Unverfchämtheit dem Boshaften eben das geben, 
tvas der Tugend ihren Werth ertheift. 


12) Was in iedem Falle die Pflicht erforsere, laͤßt 
fich wegen der Menge, Entfernung und Ungewiß— 
heit ver Folgen nicht ohne: weisläuftige Unterſu— 
Hung, und niemahls zuverlafig ausmachen, 


13) Die Verbindlichkeit zu einer Handlung hänge 

nicht nur von der Einfiche des Handelnden, ſon⸗ 

dern auch davon ab, ob er dieß oder ieneg zu 

einem glückjeligen Leben rechne und verlange, oder _ 

ob er darauf Verzicht thun wolle; iſt alſo weder 
allgemein noch unbedingt nothwendig. 


14) Sittlichkeit iſt mit Klugheit einerley — uͤber⸗ 
legtes Streben nach einer frohen Exiſtenz; man 
müßte ‚denn Sittlichkeit in. der. Geſchicklichkeit 
ſetzen, die innern Bedingungen und Mittel zur 
Gluͤckſeligkeit herbeyzuſchaffen und zu gebrauchen ; 
Alugbeic. hingegen die Geſchicklichkeit nennen, 
die Auffern Mittel des Wohlſeyns Glůuͤcksgůter) 
u erwerben und zu erhalten: 


35) Die allgemeine Befolgung diefes angeblithen Sit⸗ 
tengeſetzes muͤßte eine allgemeine Disharmonie in 
der moraliſchen Welt bewuͤrken, indem ſich iedes 
Ich als Mittelpunkt und Zweck von allen, alles 
N 52 andere 


—⸗ 


54 Critik der praftifchen Bernunfts 


andere aber bloß als Mittel für: fich felbft vorſtell⸗ 
te und fo behandelte” 


$. 86. 
Beurtheilung. 

Der Beweis von der oberften Gefergebung des 
Triebes nach Gluͤckſeligkeit fuͤhrt nur auf phyſiſche 
Nothwendigkeit, auf ein Muͤſſen, nicht aber auf mo⸗ 
raliſche, ein Sollen. Soll alles ſittlich gut ſeyn, was 
phyſiſch geſchieht und alſo geſchehen muß, ſo iſt alles 
Gut, und zwar gleich gut, mithin indifferent. Der 
Beweis widerſpricht alſo in feiner Folgerung demieni— 
gen, was er beweiſen ſoll. 


Ein ſo unbeſtimmter Begriff, wie der Begriff von 
menſchlicher Glückſeligkeit in conkreto (S$. 80.) 
iſt, kann durch Zergliederung feine fo beſtimmten prak⸗ 
tiſchen Folgerungen geben, als moraliſche Geſetze ſeyn 
muͤßten. 


Folgerungen, die aus der Natur eines empiriſchen 
Begriffes von der Selbſtliebe fließen, ſind eben deshalb 
materiale, empiriſche und weder ſo ſtreng allgemeine, 
noch durchaus und unbedingt nothwendige Regeln, als 
moraliſche Geſetze ſeyn muͤſſen. 

Es findet ſich in der gemeinen Menſchenvernunft ei⸗ 
ne Idee von vollkommner Denfungs- und Handlungswei⸗ 
fe, die an fich felbft einen innern Werth Ceine Würde) hat, 
der den Werrh alles deſſen übertrift, was auffer ihr durch 
fie bewuͤrkt werden kann; die über Geichieflichfeie und 

Klug- 


Critik der prafäfchen Vernunft. 85 


Klugheit unendlich erhaben ift, auch dem unendlichen 
Dleigungs- und Bedürfniglofen Wefen, ver Gottheit, 
als ihr erhabenftes Pradifar zufommt, uneigennüsig im 
eigentlichften Sinne, und die Bedingung einer allgemeie 
nen und norhwendigen Harmonie aller Handlungen in 
der vernünftigen Geiftermele iſt eine dee, Der Das 
ſelbſtſuͤchtige Streben des verfeinertffen Eigennutzes auf 
' Feine Weife entfpricht; wodurch Handlungen und Ger 
finnungen gebilligt werden, die dem höchften Grundfag 
ber eignen Gluͤckſeligkeit zumiderlaufen, andere gemiss 
billige und verdammt werden, die der Gelbjtliebe voll 
kommen gemäß erfcheinen, 


87. 
Reſultat. 

Der praktiſche Grundſatz der Gluͤckſeligkeit ($. 80.) 
iſt zwar ein vernuͤnftiger aber nicht der oberſte Grund⸗ 
ſatz, ſondern empiriſch und fein Geſetz für alle vernuͤnf⸗ 
tige Weſen; wird er als hoͤchſte Regel ohne Einſchraͤn— 
kung befolgt, ſo iſt er demienigen ſogar zuwider, was 
wir in confreto als recht- und pflichtmaͤßig erkennen. 

Dergl. & 64. 
§. 88. 
Künftlihe Nachhuͤlfe. z 

Um diefes Princip mit den confreten Ausfprüchen 
der praftifhen Menfchenvernunft zu vereinigen, haben 
die fcharffinnigeren DVertheidiger deſſelben verſchiedene 
Fünftliche Verbindungsmittel erfunden. 

53 Einige 


86 Critik Der praktiſchen Vernunft. 


Einige find dieſelben, die oben (& 66.) von den 
Mertheidigern des Grundfages der Bollfommenheit an- 
geführt und daſelbſt beurtheilt worden, Mehrentheils 
erbauen die Vertheidiger des Vollkommenheitsprincips 
ihr Syſtem auf dem Grundbegriffe der Glücjeligfeit und 
dem Grundtriebe der Selbſtliebe — eine einfeitige, ins 
eonfequenfe, und dabey in den fernern Folgen nicht 
minder fittenfchädliche Anwendung deſſelbenn. 


ar ya A| 
J — ins 68 
Andere berufen. ſich auf den moralifchen Theil deg 
Wohlſeyns, auf das rein moraliſche Gefühl, ‚Die 
jes iſt aber nur Folge von uneigennügiger Tugend, und 
von dem Urtheile, das wir nach dieſem Begriffe über 
die Handlung fällen „» nicht Folge der Handlung an ſich 
ſelbſt (materiäliter betrachtet); ſetzt alſo moraliſche 
Kenntniſſe voraus. Merklich und fühlbar iſt es une 
für den Rechtſchafſenen, dem Rechthandlen zum: Beduͤrf⸗ 
niß geworden iſt, es ſetzt alſo ſittliche Bildung voraus, 
die erſt vermittelſt des Grundſatzes bewuͤrkt werden ſoll. 
Es macht auch weder die ganze Gluͤckſeligkeit aus, noch 
bey allen Menſchen den wichtigſten Theil derfelben, 
Wergl. 6. 68. ff.) Man koͤnnte weder allgemein gebie— 
ten, es iedem andern Vergnuͤgen immer vorzuziehen, 
noch allgemeinguͤltig beſtimmen, wie viel ich für” ſittli— 
che Zufriedenheit, und wie viel ich dagegen fuͤr andere 
Gefühle, als Beſtandtheile meiner Wohlfahrt thun, wel⸗ 
ches von beyden ich in Colliſionsfaͤllen vernachlaͤßigen, 
welche Vermittelung und Vertrag ich zwiſchen beyden 
Ga Forde- 





Eritik der praktiſchen Vernunft, 87 


Forderungen der ſittlichen und unſi ttlichen Sinnlichkeit 
ſchließen ſolle. Einen Vertrag zu. treffen, wäre, conſe⸗ 
quent, wenn nur nicht ieder Mittelweg zwiſchen Recht⸗ 
ſchaffenheit und ihrem Eutgegengeſetzten , mir meine 
Wohlfahrt zum Theil und meine hreliche ——— den⸗ 
je sanlich e 


680. 
Andre führen die natürliche (ympatbetifhe Aen 
gung zum Beweis an, Daß mwenigfiens dag gefellichaftz 
liche Wohl auch bey uneingefhränfter Befolgung des 
Zriebes ver Selbftliebe befiehen koͤnne. Allein wenn auch 
dieſe Neigung von Natur allgemein und ſtark genug waͤ⸗ 
re, und nicht erfi im den meiften Zällen durch freye 
Unterffügung der Vernunft, die fie billigt, hinlaͤngliche 
Kraft erhiefte, wenn fie auch felbft Feiner Höheren Be— 
Tehrung und Zurechfweifung bedärfte, um das Materielz 
le in ven Tugenden der Gerechtigkeit und der Güte be= 
ſtimmt hervorzubringen: fo würden doch diefe Tugenden 
den innern, nothwendigen und unbedingten Werth niche 
haben fönnen, wenn fie lediglich" aus Diefer Quelle ge⸗ 
floſſen waͤren. Gelten erhebt fih das ſympathetiſche 
Gefühl, ohne Beſtimmung durch ein höheres Vernunft 
gebot, zum wärffamen Jutereſſe für dag Gemeinbeſte; 
und doch giebe auch ſelbſt diefe Idee feine beftimmten, 
ficheren Vorſchriften, sumahl für den eingefchränften 
Blick des Menfchen; ihre uneingefchränkte Befolgung 
aus Neigung ‚verfchaft Feine innere Würde, und öfters 
muß die vernünftige berechnende Selbſtliebe die (nach 
54 gemei⸗ 


38 Critik der praftifchen Vernunft, 


gemeiner Beurtheilung) pflichtmäßigfte Aufopferung für 
daſſelbe — Ihorheit nennen, wenn es zulege doch nur um 
Folgen für mein geniegendes Ich zu thun feyn foll. 


$. 91. 
Wenn alle Möglichkeit verfhwand, Handlungen, des 
ren Pflichtmäßigfeie man anerkannte, aug diefem Prins - 
cip natürlich herzuleiten : fo verwies man auf die Bott; 
beit, die durch andere (natürliche oder übernatürliche) 
Deranftaltungen in diefer oder Doch in einer Fünftigen 
Melt, der Qugend ihren angemeffenen Erfolg geben 

ſollte. Diefe Ausfluche ift aber 


1) ein Bekenntniß, daß die natürlichen Folgen einer 
Handlung für das Wohl deffen, der fie unternimmt, 
es nicht allein find, weswegen wir fie gut nennen; 
fonft würde fie feiner Belohnung fähig, feiner Ente 
ſchaͤdigung bedürftig erfannt werden. 


2) Sie macht einen Zirfel; indem fie Handlungen 
als belohnenswürdig (und ihr Gegentheil als un> 
‚würdig der Belohnung, oder gar als ſtrafwuͤrdig) 
vorſtellt, weil fie gut find, und wiederum für guet. 
erflärt, weil fie gute Folgen nach) fich ziehen , d. 5. 
belohnt werden. | 


3) Da wir gar feine natürliche noch auch übernatür- 
liche Erfenntniß von der Gottheit, von Ihren mo» 
ralifchen Eigenfchaften und Verhältniffen zu ung, 
von dem Fünftigen Leben und von den Zufammen- 
hange unfrer iegigen Handlungen mit dem Fünftis 

| gen 





Critik der praftifhen Vernunft. 86 


gen Zuftande ohne möralifche Vorausſetzungen 
haben, eine Tugend aber, die fich felbft belohnt, die 
Realität iener blos denkbaren Dinge anzunehmen, 
ganz und gar nicht erfordert: ſo liegt in der ‘Bes 
rufung auf ein. intelligibfes Princip und auf eine 
inteligible Art der Belohnung ein Widerſpruch 
mit dem Moralffteme der Seldftliebe. 


Hiermit fällt auch zugleich der teleologiſche Grund weg, 
den Schloffer (Leber Shaftsbury von der Tugend. 
Baſel. 1785.) für das Princip der Selbſtliebe anführr. 
„Daher fchließen wir alfo (ſagt er ©, 61.) daß entives 
„der der Plan des Ganzen in Anfehung unfrer fehlers 
„haft feyn müffe, over dag die Empfindungen, die ung 
zu gewiffen Handlungen unfrer Natur nach beftimmen, 
„dem Ganzen harmoniſch ſeyn muͤſſen; daß fie alfo, fo 
„wie fie eben Deswegen für ung gut find, weil wir blog 
„Durch das beftimme werden, was uns gut iſt, auch 
gut für das Univerfum feyn muͤſſen.“ Gchloffer fest 
dabei den Deismus voraus , und mußte eigentlich diefe 
Uebereinffimmung der Würfungen von der Gelbftliehe 
mit dem Zwecke des Ganzen unabhangig von dem Deig- 
‚mus für fich felbft beweifen. Die Unmöglichkeit, dag 
Ganze zu überfchauen, die dem Chaftsbury’fhen Sy⸗ 
fiem im Wege fteht, war ihm leicht darzuthun; Dadurch 
wäre nun das Princip der Gelbftliebe freylich erwieſen, 
wenn man nur zwiſchen dieſen beyden Moralſyſtemen 
Eines nothwendig zu waͤhlen haͤtte. 


85 $. 92. 


90 Kritik. der praftifchen Bernunft 


roh * . 92. 
7 Heßnliche ahı ee 

Der Entftehung und Fortvauer des Irrthums, wel—⸗ 
eher die Gluͤckſeligkeit des Handelnden zum hoͤchſten Iwe- 
ee, und Gelbflliebe zum oberſten Befiimmungsgrund 
aller Moralicät annahm, war wohl unftreitig feine Vers 
woandtſchaft mir folgenden Wahrheiten günftigr 


2) Jedes endliche lebendige Weſch ſtrebt nach Vers - 


gnügen, und fofern es vernünftig ff, nach, dem 
vollendeten Maaße deffelben, der Gluͤckſeligteit. 
Es iſt alſo allgemeines Geſetz — 


Naͤturgeſetz, nicht Sittengeſetz; ſonſt muͤßte es nicht 
nur ein allgemeines, ſondern auch das höchſte Beſtre— 
ben feyn; alles was ihm gemäß ei müßte fittlich 
gut feyn. 


2).Auch in moraliſch gebildeten Weſen iſt dieſer 

Wunſch vorhanden, und zwar um ſo mehr, ie 
mehr ihre Vernunft zur Erkenntniß der Beduͤrfniſ⸗ 
ſe cultivirt iſt. 


Aber es iſt deshalb nicht der hoͤchſte Wunſch, nicht der 
einzige. Die fortſchreitende Cultur der Vernunft zeigt 
zwar mehrere Beduͤrfniſſe, ſchwächt aber auch die 
dringende Gewalt iedes einzelnen, und erregt das Be— 
wußtſeyn von dem Vermoͤgen, ſich uͤber ſie alle hinweg⸗ 
zuſetzen. x 


3) Kein — fan diefen Wunſch und dieg 


Beſtre⸗ 


— 


Critik der praftifchen Vernunft, 91 


Beftreben aufheben; das Beduͤrfniß iſt in der Ne 
tur gegränder und bleibe. 


Aufheben fol eg den Wunfch fo wenig, als es das Be- 
dürfnig vernichten kann; aber einfchränfen, höhern Vers 
langen unterordnen , ihm die Gegenflände feiner Befries 
digung ſelbſt beftimmen d. h. machen, daß dasienige, 
wornac die Pflicht zu fEreben und was fie zu thun gebies 
tet, Quelle des Bergmügens und Beflandtheil der Gluͤck— 
feligfeit werde. Und dieß Fann ein Wefen, das nie 
ganz Sinnlichfeit ift, allerdings. 


4) Aber das Streben nach Gluͤckſeligkeit iſt doch eine 
Folge der Vernunft, weil fie das Ideal davon ges 
bildet hat, alſo vernünftig — aber deshalb nicht rein 

"und ganz vernänftig, fondern aus ſiunlichem Stof⸗ 

fe gebildet, durch Vernunft, über nicht in ihrem 
höchften und reinften Gebrauche, 


5) Sittlichteit iſt ſubiektiv bey einem endli- 
chen und finnlichen Wefen unmöglich, wenn keine 
angenehme Empfindung, Fein Beſtandtheil der Gluͤck⸗ 
feligfeit mic ihr und Feine widrige Empfindung mie 
ihrem Gegentheil verbunden iſt. Diefe Verbin 

dung,‘ wird Durch Das moraliſche Gefühl bes 
ſtimmt. 


Was aber bey einem endlichen und ſinnlichen Weſen um 
feiner Eingeſchränktheit willen nothwendig if, ges 
hört nicht zu dem Wefen der Moralitat; was mic ihr 
gerbunden iſt, iſt deshalb nicht fie ſelbſt. Ueberdieß iſt 

dag 


92 Critik der prafeifchen Vernunft, 


das Bewußtſeyn der Tugend auch nicht ibentifch mit 
der ganzen Glückfeligfeit. 

6) Ein vernünftiges Wefen hält, auch ohnedurch eig⸗ 
nes ntereffe beſtimmt zu werden, denienigen, Der der 
Gluͤckſeligkeit fähig und bevürftig iſt, fuͤr wür⸗ 
dig, ſie zu erlangen d. h. es erkennt es fuͤr eine 
zweckmaͤßige Einrichtung, daß Gluͤckſeligkeit nach 
ſittlichen Gruͤnden vertheilt werde. 

Aber es erkennt nicht die. wuͤrkliche Exiſtenz dieſer fitt- 
lichen Oekonomie in der Welt zugleich mit ihrer Zweck⸗ 
maͤſſigkeit; es gedenkt ſich Glückfeligfeit als (teleologiſch) 
gehörig zur Tugend, aber nicht als phyſiſche Folge, ges 
ſchweige denn als den Grund, warum fie Tugend wäre. 

7) Ein anhaltendes fugendhaftes Bemühen muß durch 

die Hoffnung unterffügt werden, daß die Glück 

feligfeit der fittlichen Wuͤrdigkeit gemäß wuͤrklich 

vertheilt fey oder werde. 
Allein Hoffnung fege eben Mangel der wärflichen Kennt⸗ 
niß voraus; fie gründet ſich auf vorgeftellte Zweckmaͤſſig⸗ 
feit und zum Theil eben Darauf, daß die Tugend felbft 
von Eigennug unabhängig iſt. Tugend, lediglidy auf 
dieſe Hoffnung gegründet, hat in unfern Augen feinen 
innern Werth, ihr Gegenftand mag auf Erden oder 
im Himmel erwartet werden, | 

8) Es iſt widerſinnig, das natürliche Verlangen nach 
Gluͤckſeligkeit verwerfen zu wollen. 

Eine mpftifche Mönchsmoral that eg vielleicht ; nicht eine 
Sittenlehre, die dieß Verlangen, nur nicht als oberfies Ge⸗ 
ſetz 








Critik der praftifhen Vernunft. 93 


ſetz anerkennt; die es fuͤr erlanbt, ia fuͤr Pflicht, nur 
nicht für hoͤchſte einzige Pflicht erklaͤrt, nach Annehm⸗ 
lichkeit des Lebens zu trachten. 


9) Die Erfahrung lehrt uns ia ſelbſt, wie die Tu— 
gend zu allen Theilen der Glückfeligfeit fo beförder> 
lich jey: 

Sie iſt es, zumahl mit Klugheit verbunden; toozu Die 
Zugend felbft uns verbinder. Was aber natürliche Folge 
der Tugend zumeilen, oder auch öfters iſt, das iſt es nicht 
immer ; es kann Aufopferungen geben, ohne ſichtbaren 
Erfag. Die natürliche Folge iff nicht immer ver 
- Grund, warum das Gut heißt, was diefe Folgen hat, 
wiewohl fie auch zumeilen der nächfte (materielle) Grund 
Der ſittlichen Entfchließung feyn kann 


10) Tugend fol doch wohl den Menfchen nicht un⸗ 
gluͤcklich machen ? — 

Sie wird es nicht; dieß lehrt Feine Erfahrung, weil 
fie uns nur iedesmahl von einzelnen Iheilen unfrer 
Eriftenz belehren fann, und die Vernunft laßt es nicht 
befürchten. Aber deswegen iſt fie nicht Tugend. Tu⸗ 
gend wuͤrde ſie ſeyn, wenn auch dieſe Hofnung nicht 
vorhanden waͤre. 


11) Die natürlichen Neigungen geben doch Anlaß 
zum Handeln, bieten Obiefte dar, beſtimmen uns 
fern Würfungsfreis; ohne fie wäre unter Mens 
fchen Feine Thaͤtigkeit. 


Antag 


94 Critik der praktiſchen Vernunfe 

Anlaß iſt nicht Zwang; Obiekte koͤnnen Stoff zum 
Handlen geben, ohne daß ſie gaͤnzlich beſtimmen; der 
Wuͤrkungskreis beſtimmt nicht) die Wuͤrkungsweiſe; 
Reiz zur Thaͤtigkeit iſt nicht nothwendig Beſtimmungs⸗ 
grund der Art, wie wir thaͤtig ſeyn koͤnnen und ſollen. 


12) Die Neigungen find doch fo zweckmäßig dinge 
richtet, daß fie uns zu unfrer Beſtimmung fuͤhren, 
und auf Die rechten Obiekte der, Thaͤtigkeit ‚leiten, 
Ihre meife Naturverbindung bringt ein zweckmaͤſ⸗ 
figes Gleichgewicht hervor, und verhuͤtet große 
Unordnung, z. B. feldftifhe und ſympathetiſche 
Neigungen. SSR 

Allein 
a) diefe Zweckmaͤßigkeit arten wir erſt Did 
Dernunft, und zwar vollſtaͤndig erft durch more» 
liſche Vernunft. 


5) fie erſtreckt fich nur aufs Ganze, nicht wie der, 

gänzlich thieriſche Inſtinkt aufs Einzelne. Sonſt 

wäre alles, was aus Neigung gefchicht, gut, 
und alles gleich gut. 


9) Es würde folgen, daß wir uns gäinglich dent 
Inftinfe Preiß geben," und nicht einmahl zur 
Klugheit die Vernunft cultiviren duͤrften. 


d) Vernunft und ihre moralifche Wuͤrkſamkeit iſt 
doch auch zweckmaͤßig, und darf als Prineip als 
lee Zweckmaͤßigkeit nicht um anderer zweckmãßi⸗ 
gen Anlagen willen vernachlaͤiget werden. 


e) Uebris 


/ 


Ceitik der praktiſchen Vernunft. 95 


e) Uebrigens iſt dieſe Einrichtung des Neigungs⸗ 
ſyſtems fuͤr Moralitaͤt ſehr erleichternd, und ver⸗ 
dient dankbar anerkannt und cultivirt zu werden. 


t 


Es wird alfo durch Verwerfung des Princips weder dem 
unfchuldigen Verlangen der Menfihlichkeit nach ‚einem 
glückjeligen Leben, noch der weiſen Oekonomie der Nas 
tur zu nahe getreten. 


$% 93e nice | 
Ueberſicht der Syſteme. e 
Alle Moralſyſteme, die ſich auf die bisher unter— 
fuchten Prineipien flügen, treffen in ver gemeinfchaffs 
lichen Eigenfchaft zuſammen, daß fie die freyen Handluns 
gen andern. erſten Geſetzen, als denen der Vernunft 
unterwerfen. Mau nennt dies Arteronomie, fremde Ge⸗ 
ſetzgebung, Beſtimmung von auffen in Bezug auf die Ver⸗ 
nunft, die daB eigentliche Perſoͤnliche das Seyn im Gegen⸗ 
ſatz des Haben) ausmacht; nicht in Bezug auf den gan⸗ 
zen Menſchen, der allerdings, im allen feinen Bes 
fimmungen als perfönlich- betrachtet ‚ immer feine eignen 
Geſetze befolgt, die doch aber nicht fein wrfprüngliches 
und weſentliches Eigenthum find, ſondern ſich von fei- 

ner Perfönlichkeit in dem Bewußtſeyn trenuen laſſen. 


$: 94 
Sie unterfcheiden ſich gleichwohl durch die Wer; 
ſchiedenheit des Verhaͤltniſſes, worinne Sinnlichkeit zur 
Vernunft, und einzelne Theile der Sinnlichkeit zu eins 


A ‚ander, 


96 Tritik der praftifchen Bernunfts 
ander, in Abfiche auf Oberherrſchaft des Willens vorge⸗ 
ſtellt werden: 
3) Sinnlichkeit herrſcht nur in ung durch gewiſſe zu⸗ 
faͤllige Modificationen, die ſie bekommen hat. 
a) durch willkuͤhrliche Anſtalten der Erziehung ($. 
44.45.) Sittliche Anarchie. 
b) der Societät ($: 46. 47.). Zufällige äuſſe⸗ 
re Regierung der Sitten. 
3) Sinnlichkeit herrſcht fuͤr ſich ſelbſt, und die Ver⸗ 
nunft iſt dem ſinnlichen Begehrungsvermoͤgen un⸗ 
tergeordnet. Sinnliche Souverainität. 


a) allen Neigungen überhaupt und unmittelbar. 


($. 76. bis 92). Sinnliche Demokratie. 


b) einigen Hauptneigungen unmittelbar, und den 
übrigen nur mittelbar. Ariftofratie der 
Sinnlichkeit: 
ee) der Neigung zur perfönlichen Vollkommen⸗ 

heit, oder fih zu Befriedigung der übrigens 
Neigungen gefchift zu machen. ($. 56-67.) 

£) den feinern Neigungen ($. 70. ff.) 
ey) der Neigung fich Das mächtigfte Wefen geneigt: 
zu machen ($. 48-55.) Gittlihe Theos 

kratie. 

3) Sinnlichkeit wird der Vernunft beygeordnet, und 
theilt ſich mis ihr in Die Oberherrſchaft. Dieß ges 
ſchieht, 


‘ 


Eritif der praftifhen Vernunft, 97 


ſchieht, wenn man einige Neigungen «von der 
Vernunft ableitet, und fie mit den finnlichen 
Trieben harmoniſch befriedigen will; von mehrern 
j Vertheidigern des ſittlichen Gefuͤhles, die es 
als Gefuͤhl und Neigung befolgt wiſſen wollen, 
und desiyegen den übrigen Neigungen die Mits 
herrſchaft nicht wohl abftreiten dürfen. . 
Sinnlich vernünftige Mitregentſchaft. 
nn keinem diefer Syſteme wird die Sinnlichkeit der 
Vernunft gaͤnzlich untergeordnet, welches Autonomie 
der Vernunfe, oder vernünftige Monarchie heißen 
und ſeyn wuͤrde. 
$. 98. 

Was nicht lediglich auf Vernuuftgruͤnden, fondern 
zugleich oder allein auf andern Beſtimmungen der nienfch- 
lichen Natur beruht, fie mögen zufaͤllig oder weſentlich, 
durch Vernunft modificirt oder nicht, und das erfire 
mehr oder weniger ſeyn, mie alle bisher unterfuchte 
Moralprineipien, das kann 

2) nicht das Merkmahl abjoluter Allgemeinheit und 
Nothwendigkeit für alle vernünftige Weſen über- 
haupt haben: Daher kann auch 


2) der gemeine, unverdorbene Menfchenverffand 
nicht alle Handlungen billigen, die diefen Grund- 
fäßen gemaͤß geſchehen, noch den Grad ſeiner Billi⸗ 
gung nach dem Grade der Harmonie mit dieſen 

Regeln abmeſſen. 

Moralphiloſophie. 3) Sein 


98 Critik der praktiſchen Vernimſt 


3) Eein Urtheil muß manches davon fogar misbil⸗ 

— ligen, und dem Uebrie gen ka ann er wenigſtens den 

hoͤchſten unbedingten Werth nicht zugeſtehen ‚die 
er dein Moralifchen in der Idee beylegt. 


4) Die Moraliſten werden zu Cirkelgaͤngen, Sin 
conſequenzen und. widerfprechenden Ausflüchten 
verleitet, indem fie dieſe Flaren aber undentlichen 
Ausfprüche des gemelnen praftifchen Menfchenfinnes 
mit ihren angenommenen Principien vereinigen 
wollen. So muß der DVercheidiger des Princips 
vom fittlichen Gefühle, von der Vollk ommenheit, 

vom goͤttlichen Willen anderweitige ſittliche Grund— 
fie vorausſetzen; andere muͤſſen beſondere Eins 
richtungen und Verhaͤltniſſe der Neigungen, als 
allgemein vorausfegen 5 kuͤnſtliche Bildungen und 
Richtungen derſelben fuͤr natuͤrlich aurgeben urd gl, 


5) Es fehle diefen Grundſaͤtzen an der Zauglichfeit; 
beſtimmte Anwendungen auf einzelne moraliſche 
Faͤlle davon zu machen. Sie gehen über den moͤg⸗ 
lichen Geſichtskreiß eines Menſchen, ja uͤher⸗ 
haupt eines endlichen“ Weſens hinaus. 


8. 96 dee 
Formale Grundſaͤtze . 

Die entgegengeſetzten Eigenſchaften muͤſſen ſich an 
den formalen praktiſchen Grundſaͤtzen ($. 37.). ans 
treffen laſſen, deren obieftive Norhwendigkeit und Allge⸗ 
megpeit d. i. Deren gran zu in Gefegen 

(39. 





x - 


Critik der praftifchen Dernunft, 99 
-(& 39. 40.) überhaupt aus ihrem Begriffe erwieſen, 
und deren einzig m oͤgliche Quelle in der veinen praktiſchen 
Vernunft ($. 43.) entdekt worden if Ihre Ueberein⸗ 
ſtimmung aber mit den Ausſpruͤchen der gemeinen prak—⸗ 
tiſchen Menſchenvernunft; ihre Zul anglichfeit ‚ um Dies 
fe letztern volftandig Daraus abzufeiten, und die Brauch⸗ 
barkeit verfelben in der Anwendung ‚ für alle Faͤlle des 
gemeinen. Lebens durchaus beftimmfe Vorfchriffen dass 
aus zu ertheilen ($. 95.), laͤßt ſich erji nach Der genauen - 
Entwickelung ihres Inhaltes beurtheilen 


$. 97. 
Deine Vernunftgeſetze. 

Nach Wegraͤumung aller materialen und empirtfchen 
Kegeln aug dem Gebiete der Gitteulehre, bleiben nur reis 
ne, Vernunftgeſetze übrig, bey deren Beftimmung por 
allen dem, was der Vernunft zur praftifchen Erkennt— 
niß durch die finnlichen- Neigungen und Gegenftände 
gegeben wird, gänzlich abftrahier, und nur der Begriff 
‚ einer praktiſchen Vernunft überhaupt und. für. fich 
ſelbſt, abgeſondert von allen zufaͤlligen Modifikationen, 
zum Grunde gelegt und in feine. Beſtandtheile aufge: 
loͤßt werden muß. i 
: $. 98 
Unbeſtimmte Sormel, 


Die allgemeinfte und unbeſt immteſte Formel des fr tt⸗ 

lichen Verhaltens iſt: 
Handle vernünftig d. i. leite deine Handlungen ſo⸗ 
wohl ihrem Inhalte, als dem Beweggrunde nach), von 
G2,;.‘ Grund- 


100 Critik der praktiſchen Bernunft, 


Grundfägen- der Vernunft ab; laß fie durch Der: 

nunftgeſetze beftinimen. Was ver Vernunft zuwie— 

der, oder was auch nur nicht durch fie beſtimmt 
iſt, da es doch ihrer Beſtimmung fähig war, iſt in fo- 
fern Sitelih: Böfe: Der Grad des wirklichen 

Vernunftgebrauchs im Verhältnig zu der Möglichs 

keit deffelben beſtimmt den Grad der Mora⸗ 

lität: 
$ 
Bernünftig handeln. 

Die Vernunft hat ihre eigne Art, wie fie Vorftel- 
lungen von Gegenftänden (Erfenntniße) hervorbringf. 
Dernlinftig handeln heißt Gegenſtaͤnde dieſer Erkennt— 
niß twürflich machen Crealifiren), oder doch fich dazu mög- 
Tichft beftreben. Das Vermögen darzu iſt praktiſche 
Dernunfe: 

& 1oo: 
Empirifch vernünftig. 

Einige Vorftellungen von Gegenfländen, die ſich die 
Vernunft bildet, find nur zum Theil ihr eignes Wert, 
zum Theil aber auch von andern Derinögen des 
Gemüths in der Vorfellung beſtimmt. Gie hat au 
Diefen Vorftellungen nur einen unvollfommenen Antheil, 
weil die Anwendung ihres Vermögens auf diefelbe eins 
geſchraͤnkt war, durch die Gefege des finnlichen Vors 
fiellungsvermögens. Diefe Vorftellungen find empirifch, 
ſinnlich⸗ vernünftig, nur zum Theil vernunftmäſſig. 


$. 101. 











Eritif der praftifchen Vernunft. ror 


6. 101. 
Hein vernünftig. . 

Wenn eine Vorſtellung durch nichts auſſer der Ver⸗ 
nunft Befindliches ihrer weſentlichen Beſchaffenheit (nicht 
ihrem Daſeyn) nach beſtimmt worden, ſondern ganze 
lich das Wert ihrer eignen uneingefchränften Wirffamfeit 
iſt, fo ift fie ganz vernunftmäßig, oder rein vers 
nünftig. | 


$. 102. 


Die Bedeutung der Regel „handle vernünftig, iſt 


‘ 2) eingefchränft :„ realifire Borftellungen, woran dei⸗ 
ne Bernunft einigen Antheil har. $. 100. 


2) voll: realifire Vorftellungen, welche ganz das 
Werk deiner Vernunft ſind. $. 101. Nur durch, 
die legte Formel wird der Sinn ienes Gebotes 

. ganz erſchoͤpft. 

Handle rein vernünftig. 


ag Bor 
Reine praftifche Vernunft, 


Das Vermögen, rein vernünftig zu handelt, d. h. 
Vorſtellungen der reinen Vernunft durch fie felbft zu rea⸗ 
liſiren, oder es doch ernftlich zumollen, iſt reine prak⸗ 
tiſche Vernunft. Reine Vernunft ift praktiſch, ſo— 
fern in dem Willen (der Cauſſalitaͤt nach Vorſtellun— 
gen) * Beſtimmung vorkommt, die von Etwas auſſer⸗ 


63 halb 


* 
* 


102 Critik Der praktiſchen Vernunft. 


halb der Vernunft Befindlichen abhaͤngt. Man kann 
dieſe Eigenſchaft entweder dem Willen als DVermö- 


gens überhaupt, oder einem einzelnen Afte deffelben bey» 
legen. 


* §. 104, 
J———— Handlungsweife der Vernunft. 
> Die eigentliche und reine Vorſtellungsart der Der» 
nunft, theoretifch betrachtet, ift die Grundlage ihrer eiges 
nen Handlungsweife, als praftifches Wermögen ; die 
letztere ift Daher ihrer Befchaffenheit Cobgleich nicht ih⸗ 
rem Dafenn) nach aus iener begreiflich, und ſoll ietzt dar» 
aus entwickelt werden, 


' 6. 105, 
Vorſtellungsart. | 
Die reine Vorſtellungsart der Vernunft hat folgen⸗ 
de Merkmahle: 
1) Sie iſt eine Vorſtellung a — unabhängig 
von Erfahrung; { 


2) eine Vorſtellung von und aus Principien 2. h. 
höchſten Erfenntnißgründen; des Einzelnen und 

Beſondern aus dem Allgemeinen ; daher 

3) Selbfichätig im firengfien Sinne. OR 

4) Enftemarifch im ſtrengſten Sinne. 

5) Abſolut nothwendig und An, für alle vers 
nuͤnftige Weſen. 

* 6) Eine 





Critik der praftifhen Vernunft, 103 


6) Eine Vorſtellung der unbedingten oder abſoluten 
Einheis Des unbedingten Mannigfaltigen 
a) unbedingte (Einheit, Wielheit) Allheit, Totali- 
taͤt in Ruůͤckſicht auf die Form der ſinnlichen 
Anſchauung. 
b) ’ ungedingte Realitaͤt; in of cht auf den — 
der ſinnlichen Anſchauung, die Empfindung. 
c) unbedingte Gemeinschaft, in Beziehung auf das 
Derbundene und auf die Art der Verbindung. 
d) Unbedingte Nothwendigkeit. 
} ; ” ü 
$. 106. 
ee Mealirät: Derfefben, 


Die reine Vorſtellungsart der Vernunft (ihre Ideen) 
haben blos in fofern objektive Brauchbarkeit oder 


Mi Reslirät,-als fie den moͤglichſten ſyſtematiſchen Zuſam⸗ 


menhang der Erfahrungserfenntniffe fordern und. eben 
dadurch befoͤrdern; aufferdent kommt ihnen nur ſubjek⸗ 
tive Realität zu d. i. nothwendige Uebereinſtimmung 
unter ſich ſelbſt und mit ihrer Quelle, der Vernunft. 


gi 


$. 107. i 
Bernünftige Handlungsweife, 
Die vernünftige Handlungsweife iſt alfo diejenige, 


welche der Vorftellungsart der Vernunft entſpricht und 





dieſelbe vealifirt oder zu realifiren, d. i. ein ihr ge- 
u Obiekt würflich zu machen ſtrebt. Die Ver⸗ 

nit handelt alſo, wenn ſie praktiſch wird 
Bun 3 1) nach 


\ 
f 


ı04 Tritik der prafrifchen Vernunft, 


2) nach Principien d. h. nach höchft allgemeinen, all 
umfaflenden Regeln (Gefezen), wornach und wos 
durch fie alles einzelne und befondere-beftimmt. 


*) Nach Vorſtellungen a priori d. h. nach Begriffen 
von Gegenfländen, die fie nicht aus Erfahrung 
kennt, nach Beſtimmungsgruͤnden und in Bezug 
auf —* die ſie nicht von einem ſinnlichen Be— 
gehrungsvermögen empfängt, fondern ſelbſt her⸗ 
vorbringt. 


5) Alf felbfirhätig And frey im firengfien Sinne, 
ungezwungen und ungebunden in Abfiche der Art, 
tote fie Handelt, Durch irgend etwas auffer ihr. 


4) Syft ematiſch d. h. mie ſich ſelbſt durchaus uͤberein⸗ 
ſtimmend, ſich ſelbſt gleich, conſequent (ſowohl pofiziw 
als negativ). 


5) Abſolut nothwendig d. b.,fo, daß fie nicht 
anders handeln, daß ihre Handlungsweiſe ſich 
nicht veraͤndern kann; abſolut allgemein, fuͤr 
ſich ſelbſt, fuͤr jedes andere vernuͤnftige We— 
ſen gültig, ſofern es vernuͤnftig iſt. Vernunft 
als Vernunft betrachtet, iſt ſich ſelbſt gleich. 


6) Sie handelt uneingeſchraͤnkt, frey von allen ein- 
ſchraͤnfenden Bedingungen 


a) der Form der finnlichen Anfchauung, des Raums 
und der Zeit — allumfaſſend, allgemein zwei; 
mäſſig, 





Critik Der praftifchen Vernunft. 


mäffig, zu den ausgebreiferften Zwecken , nach 
der dee der abfoluten Allheit. 


b) des Stoffs, oder der Empfindung — abfos 
lut zweckmäſſig, zu den innerlich vollkommen— 
fien Zwecken; nad) der Idee der innerlich unbes 
fchranften Realität. 

e) Der Verbindung des Stoffs unter 1 ſelbſt; 
nehmlich 


e) abſolut einfach und innerlich zuſammen⸗ 
ſtimmend, unveranderlic), nach der dee einer 
abſoluten Subſtanz. 

8) abſolut frey und felbffchätig, nach. der 
dee der unbedingten Cauffalität. 


9) abfolue harmoniſch oder zufanmenfim- 
mend mit der Handlungsmweife aller " We— 
fen. mit welchen fie gleichformig handlen kann, 
d. i aller vernünftigen Weſen. Dies ge 
ſchieht nad) der. Idee einer abfoluten Gemein 
ſchaft. | 
e) des Zuſammenhangs ihrer wuͤrklichen Hand⸗ 
lung mit ihrer Moͤglichkeit zu handlen uͤber⸗ 
haupt — abſolut nothwendig; nach der 
Joe einer unbedingten Nothwendigkeit. 


$. 108. 
Innerer Zufammenhang diefer Merkmahle. 
Alle diefe Merfmaple der Handlungsweiſe einer. rei- 
ven Vernunft fiehen in einer fo unzertrennlichen Ber 
65 bin⸗ 


206 Critik der peaftifchen Bernunfte 


bindung mit einander , als fich nach. der. Einheit ihres 
Gegenſtandes ea laͤßt. Sie laſſen ſich daher, 
ein jedes aus jedem andern herleiten, und fuͤhren blos 
denſelben Gegenſt and durch die verſchiednen Denkfor⸗ 
men des menfchlichen Ver daudes dur), um ihn von 
ſeinen verſchiedenen Seiten darzuſtellen. 


ae ARE og; | 
Ein Verfahren nach Deincipien (F. 107 Num. i) kann 
nur anf Grimden a priori (Rum. 2.) beruhen. Denn die 
Erfahrung lehrt unmittelbar durch DieSinneswärfung nur 
etwas Einzeines und giebt (auf das Begehrungsvermögen 
bezogen) nur einzelne Antriebe; durch Verſtand bearbei- 
ter, befondeve oder comparativ allgemeine. Negeln, die 
ſelbſt wieder unter Principien ſtehen muͤſſen, welche le» 

tern alſo nicht von Erfahrung abhängen fönnen. 


Die Vernunftprincipien, als Beſtimmungsgruͤnde 
des Willens betrachtet Die nicht durch Erfahrung, ſon— 
gern a priori gegeben werden, entfpringen info fern 
aus der Vernunft felbft, find wo felbfichätig und 


frey (Rum. 3.) d. h. feine Wirkungen fremder von 


der Vernunft verſchiedener uurſachen 


Aus Principien, als hoͤchſt allgemeinen und ober- 
fien Gründen entfpringen lauter Folgerungen, die durch 
ein und eben daſſelbe Princip, unter fich felbft ſyſtematiſch 
zuſammenhaͤngen; die Handlungsweiſe nach Principien 
iſt alſo (Num. 4.) ſyſtematiſch. 


— 








| 


/ 


was vernünftig iſt. Dieſer Zweck ſelbſt (innerlich be- 


Critik der praktiſchen Vernunft. 107 


Was einen einfachen Beſtimmungsgrund hat, ein 
Princip, dag bleibe ſich in ſo fern durchaus gleich; was 
frey iſt, kann nicht durch fremdartige Gruͤnde modificirt 
werden, und iſt in ſo fern unveraͤnderlich; daher die 
Nothwendigkeit (Num. 5.) der vernünftigen Hands 
fungsweife. 


Die abſolute Allgemeingültigkeit (Num. 5.) für.alle - 
vernünftige Wefen fließt als norhwendige Folge aus der 
Einheit vernünftiger Principien, die bey jeder Vers 
nunft diefelben ſeyn müffen. 


Was lediglich nach Principien beſtimmt wird, haͤngt 
nur von dieſen und von nichts anderm ab; es wird 
alſo in fofern durch nichts eingefchränft, Uneinge⸗ 
ſchränkt (Num. 6) find demnach die Hbjefte (werde) 
der vernünftigen Handlungsmweife, in ‚aller Ruͤckſicht. 
Die vier Hauptinomente des Denkens geben diefe meh— 
teren Nügffichten an, Die Zwecke, die wir uns nad) ein» - 
gefchränften Begriffen vorfezen , find eingefchranft auf 
eine gewiſſe Zahl der Objekte, für die wir uns interefe 
firen; man will etwas, das nur einen oder einige ein- 
zelne intereſſirt. Principien beſtimmen allgemein, alſo fuͤr 
alles, was ſich Zwecke vorſetzen kann, fuͤr jedes vernuͤnf⸗ 
tige Weſen, und für alle Faͤlle. Die Handlungsweiſe 
der Vernunft ift zweckmäſig für alle Fälle, (Nun. 


6. 4.) und für alle eines Zwecks faͤhige Weſen, -rich- 


tet fich alfo nach allgemeinen Gefegen, und umfaßt alles, 


trach⸗ 


108 Critik der praktiſchen Vernunft, | 


trachfet), muß ‚der höchfte , oberſte ſeyn; nichts von 
dem allen, was die dem Grade nach eingefchränfte finnliche 
Empfindung darbietet, innerlich unumfchränft weck⸗ 
mäſſig (Num. 6. b.). Die Vernunft verbindet (Num. 
6. c.) auf das vollkommenſte durch allgemeine und noth⸗ 
wendige Verbindungsgründe (Principien der Einheit) 
uns zwar fowohl Objektiv als fubjeftiv. Objektiv, 
wenn man auf den verbundenen Stoff fieht; theils in— 
nerlich, durch abfolute Einheit und Gelbftftändigfeie 
der Quelle ver Handlung, Vernunft (abfolute Einfachs 
heit der Handlungsweife Num. 6. c. 4.); woraus abfos 
lute Selbſtthätigkeit (Mum. 6. c. PR.) unmistelbar 
fliege — weil jeder fremde Einfluß die Einheit der 
Handlungsweife flören würde: theils äuſſerlich, das 
durch, daß daſſelbe Prinzip mehrmahl gefegt, und durch 
feine Einwürfung von auffenher unterbrochen, feine 
ſich ſelbſt wiederfireitenden Wirfungen hervorbringen 
kann — daher Die Harmonie (Num. 6.c. y.), Dieniche 
zufällig und eingefchränft, fondern wefentlich und une 
beſchraͤnkt ift. Die Sreyheit hebt alles, getheilte In— 
tereffe auf, das lediglih aus der Abhängigfeit von 
fremden Befiimmungsgründen (nicht vernünftigen Neis 
gungen) entipringe, und vereinigt daflelde in Einem 
gemeinfchaftlichen Zweck, der wegen der felbfirhäfigen 
Beſtimmung vdeflelben Feiner Colliſion fähig if. Cine 

freye 


”) Ales diefes gilt, wie ſich von ſelbſt verſteht, nur im 
fo fern, als die Vernunft als handelnd betrachtet wird, 
Br in conereto,. wo noch anders Einfluͤſſe ſtatt 
Inden. 





Critik der praftifhen Vernunft, 109 


frene Kandlungsmeife für fich felbft realifiren, und eben 
dieſe Freyheit anderer ebenfalls vernünftiger Weſen ein- 
ſchraͤnken wollen, kann nicht aus: Einer und derſelben 
Vernunft fliegen; fie müßte fich alsdenn felbft wider: 
fprechen. Die Selbftftändigfeit oder Uebereinftimmung 
der Vernunft mit fich ſelbſt führe alfo auf äuflere Harz 
monie. 


Subjektiv iſt diefe Verbindung nothwendig, fo 
mie ihr bemürfendes Princip norhmwendig if. Was 
aus Principien gefchieht, wird nur durch fie Cdiefe Prin— 
eipien) wuͤrklich, alfo durch die einzigen Gründe feiner 
Möglichkeit, und meil fie es find, mithin iſt es ab; 
folue (innerlich/ nothwendig — mürflich, weil es 
moͤglich iſt. Denn nichts Fremdes darf hinzukommen, 
Das feine Moͤglichkeit zur Wuͤrklichkeit beſtimmte. Num.6.d: 

$. 110, 

So und nicht anders handele die Vernunft, ihren 
Mefen nach, wenn und fo fern fie prafeifch if. Die 
Dernünftige Handlungs weiſe oder die Sittlichkeit (an 
ſich betrachtet) iſt demnach 

1) Subjektiv betrachtet, oder wenn man auf die 

Erkenntnißquelle der Regeln ſieht — entſprungen 
aus Principien a priori, unabhängig von allem 

Einfluß der Gegenftände (Autonomie, nicht He— 

.teronomie $. 94.), ſyſtematiſch, mit Bewuſtfeyn 

apodiftifcher Nothwendigkeit und Allgemeinguͤltig⸗ 
Feit verbunden (F. 107: Num. 1. bis 5.). 


2) &b: 


110 Critik der praktiſchen Vernunft. 


2) Eibjektiv. betrachtet d. h. wenn man auf den 
Zweck (das Weſen) der Handlung ſieht: Cäufferlich) 
allgemein zweckmaͤſſig; Cinnerlich) unumſchraͤnkt zweck⸗ 
maͤſſig; einfach zweckmaͤſſig; frey zweckmaͤſſig; "in 
Gemeinſchaft zweckmaͤſſig; abſolut nothwendiger 
weiſe zweckmaͤſſig. 

9 IT. 

Anders kann Die Vernunft, als Vernunft, nicht 
handeln; was anders geſchieht, kann in ſo fern, als 
es von dieſer vorgezeichneten Handlungsweiſe abweicht, 
nicht vernuͤnftig, mithin auch nicht ſittlich genennt 
werden. Fuͤr die Vernunft iſt dieſe Handlungsart 


Naturgeſetz 
$. 112; 


Gebot, 

Das moralifche Geſetz wird für uns erff dadurch 
verfiändlich und auſchaulich, daß wir es als. Gebot 
(Imperativ) fuͤr einen Willen aufſtellen, der zwar ver- 
nuͤnftig ſeyn, d. h. durch Vernunftgruͤnde beſtimmt wer⸗ 
den kann, aber auch andrer Begehrungen fähig iſt. 
Wir betrachten alſo die vernuͤnftige Handlungsweiſe, wie 
ſie bey einem zu gleicher Zeit ſinnlich beſtimmbaren Be⸗ 
gehrungs vermoͤgen ſich aͤuſſern kann, und ſetzen ſie der 
ſinnlichen oder blos verfiandigen Handlungsart entgegen. 

PR $. 113, - 
Sinnliche, thierifche Handlungsweiſe. 
Ein lebendiges Weſen mit einem blos ſinnlichen 


Begehrungsvermögen handele lediglich nach einzel⸗ 
nen, 








Critik ver praktiſchen Vernunft. 111 
nen oder aggregirten, d.h. regellos zuammengeſetzten 
Vorſtellungen, nicht nach Regeln oder Maximen, die 
es ſich ſelbſt vorſtellte, ſondern nach ſolchen die 
ihm unbewußt die Natur durch die Einrichtung ſeiner 
Triebe beſtimmt hat; durchaus empiriſch, vom aͤußern 
Eindrucke abhangig, gezwungen, unzuſammenhaͤngend, 
einzeln und nach ſeiner individuellen zufaͤlligen Empfiu⸗ 
dungsart; eingeſchraͤnkt auf ſich und zwar auf fein eins 
zelnes eben gefühltes Beduͤrfniß, auf Die einzelne nur 
ihm angenehme Empfindung , nach abmwechfelnden, ab» 
gezwungenen und von aller Ruͤckſicht auf andere abge- 
fonderten Antrieben, die durch die zufällige Lage gerade 
er dieſe Art zur Wuͤrklichteit beſtimmt find: 


So handelt das Thier; ſo “ der Menſch, ale 
air — 


* 


§. 114. 
WVerſtaͤndige Handlungsweiſe. 


Wenn das hoͤhere Erkenntnißvermoͤgen uͤberhaupt, 
als Verſtand in‘ engrer Bedeutung ($. 24.) das 
Begehrungsvermögen und feine Aeuſſerungen modifieire : 

ſo handelt ein lebendiges Weſen nach vorgeſtellten Re; 
geln, de i. nach allgemeinen Vorſtellungen von der Ark 
und Weiſe, feinen Zweck zu erreichen. - Dieſer Zweck 
wird aber von der Sinnlichkeit und ihren Trieben her: 
genommen, und. von dem Verſtande nur als Zweck, die 
Handlung aber als Mittel gedacht, ihn zu erlangen. 
Das Mannigfaltige, mas der Sinnlichkeit angenehm 
Ei Se if, 


112 Critik der praktiſchen Vernunft, 


if, und die miannigfaltigen Handlungen; Die zu die— 
fem Angenehmen verhelfen, werden, ienes als Zweck, 
Diefes als Mittel, allgemein, d. als Einheit gedacht. 
Subiektiv betrachter, entipringen dieſe Regeln, dem. 
Stoffe nach, aus der Sinnlichkeit oder den Neigungen ; 
der Form nach aus dem Verfiande, alfo a priori, der 
ſich aber nur fo weit thärig erweißt, als ihn die finnlis 
chen Eindrüde dazu noͤthigen, alfo nicht nach Princis 
pien , fondern abhängig von der Erfahrung veffen, was 
Angenehm iſt, und was zum Genuſſe deſſelben dient. 
Dieſe Regeln ſind alſo abgezogen von Naturgeſetzen 
unſrer Neigungen und ihrer Obiekte (heteronomiſch, 
nicht autonomiſch) 5 fie hängen nicht ſyſtematiſch unter, 
fih zuſammen, weil fie nicht aus Einem Princip ent 
forungen find, und find ihrer Güftigfeie nach eben fo 
zufälig, und nur partifulär oder gar individuell, als 
fie es in ihrem Entſtehen find. 


Gbiektiv betrachtet, find die Negeln des prakti⸗ 
ſchen Verſtandes 


1) der Cuantität nach, nur beſondere Regeln 
für einzelne verſtaͤndige Weſen oder gewiſſe Gat- 
tungen derfelben, Die gerade dieſe beſtimmten Trie- 
be und Neigungen zu ſolchen DObieften haben ; 

2) der Qualität nach, eingeſchränkt gültig, nur 
mit gewiſſen Einfchränfungen und a priori under 
ſtimmbaren Ausnahmen zweckmäßig, nie abſolut 
beiahend noch abſolut verneinend; 


3) der 





Critik der praktiſchen Vernunft. 113 


3) der Relation nad; 
a) zufällig zuſammengeſetzt, und nicht einfach, nicht 
nothwendig mic fich felbft übereinftimmend; 
b) von äuffern Beftimmungen abhängig und ab: 
aͤnderlich, den phyſiſchen Einflüffen unterworfen ; 


©) nicht nothwendigerweiſe harmonifch mit ven 
Hegel andrer verftändiger Wefen, fondern col- 
lidivend. Cungefellig ; grob eigennügig) 


4) der Modalität nach, an fih zufällig, nur be: 
Dingt nothwendig in Borausfegung gewiſſer pſycho— 
logiſcher und phyfiſcher Einrichtungen, nicht durch 
die Form, d. 1. durch die Moͤglichkeit wuͤrklich 

Das Gute, auf deſſen Hervorbringung ſie abzielen, 
iſt ein beſondres Gut für einzelne Weſen oder Gate 
tungen (z. B. Menſchen); ein innerlich eingeſchränk⸗ 
tes Gut, weil es von eingefchränkten finnlichen Ver— 
moͤgen abhaͤngt; ein blos relatives, als Accidenz zu 
betrachtendes und mit den übrigen Guͤtern deſſelben Sub. 
iekts nicht nothwendig vereinbares (nicht felbftfiändiges), 
äufferes und nicht durch bloße Selbſtthaͤtigkeit zu be: 
wuͤrkendes, ſondern von der Natur zu erwartendes, und 
disharmoniſches, nicht nothwendig mit den Guͤtern 
anderer vernünftigen Weſen zuſammen beſtehendes Bit. 


g: 115; 
Empiriſch vernuͤnftige Handlungsweife, 
Wenn die Vernunft auf das Begehrungsvermoͤgen 


eines lebendigen Weſens einen unvollkommenen, ſtinn⸗ 
mMoralphiloſophie. H lich 


,14 Critik der. praftifchen Vernunft. 


Tich befchränften Einfluß äußert, und zwar die Form 
feiner praftifchen Begriffe und Regeln vernunftmäßig 
beftimmt , fich aber dennoch an den von der Ginnlich- 
Feit gegebenen Stoff gänzlich bindet : fo handelt ein fol- 
ches Wefen nach Regeln, die Cobieftiv) nur verglei- 
chungsweife allgemeiner, beſtimmter, einfacher, freyer 
Coon neuen Erfahrungen unabhängiger), zufäligermeife 
auch harmonifcher Ceigennügig gefelliger)-, und unter all⸗ 
gemeinen Bedingungen nothwendig find, als ein blog 
verfiändiges Weſen. Denn ſie find (fubieftio) eben fo ' 
wohl, wie iene, ihrem Stoffe nac) Produfte der Sinn 
lichkeit, nur comparatio a priori, zuletzt aber doch von 
Erfahrung und ihren Obieften abhängig, zufällig, einge- 

ſchraͤnkt gültig , und nur in einiger Annäherung zu der 
ſyſtematiſchen Verbindung ; alfo noch immer heterono⸗— 
mifch und nicht autonomiſch. 


$. 116. 


Kein vernünftige Handlungsweife eines 
finnlichen Weſens. 


Wie die reine Vernunft für fich felbft Cin abftrafto, 
oder bey einem unendlichen Wefen) handle, iſt $. 107. 
bis 111. erflärt worden. Um uns (ſinnlichen Weſen) 
ihre Würfungsart in confreto vorffellbar und anfchaus 
lic) zu machen, müffen wir ihre Verbindung mir einem 
finnlichen Begehrungsvermögen erwägen und beffimmen, 
wie fie diefen finnlichen VBerhältniffen gemäß und dennoch 
als reine Vernunft, ihren eignen Naturgeſetzen getreu, 


ſich 


— 








Critik der praktiſchen Vernunft. 115 


ſich wuͤrkſam beweiſe. Auf dieſem Wege finden wir ei— 
ne verſtaͤndliche Formel ſittlicher Gebore. 


6, 117. 
Die Materie zu einzelnen Begehrungen und Wil 
lensaften muß einen endlichen vernünftigen Weſen finn- 
lich gegeben werden, weil es in einer mefentlichen Ab» 
hängigfeit von andern Dingen ſteht. Die Form aber 
der Regeln oder der Maximen hänge nicht nur, mie 
bey dem verftändigen Willen (F. 114.), von der eignen 
Ihätigfeit, und wie bey dem empirisch vernünftigen, 
von allgemeinen Regeln Ccomparativen Principien) ab, 
fondern fie wird auch lediglih von der felbfithätigen 
Kraft beſtimmt, ohne durch die Formen der finnlichen 
Anfhauung oder der Empfindung eingefchränft zu wer— 
den. Jede einzelne Marime wird alfo nad) den Chas _ 
rafteren eines praftifchen Vernunftgefeges geprüft, und > 
ie nachdem fie Damit übereinffimme oder nicht überein- 
fiimmt, angenommen und befolgt, oder verworfen, 


| §. 118. 
Sittlicher Imperativ; 'erfte Formel, 
Vermittelſt dieſer Beziehung des reinen Vernunft— 
willens auf ein ſinnlich verſtaͤndiges Begehrungsvermö- 
gen wird folgender Imperativ (Gebor) der Sittlichkeit 
hervorgebracht, der Die Anwendung der Dernunft- 
geſetze auf eine eingefchränfte (finnlich vernünftige) Na> 
tur vorfiellig macht: 


22 Handle 


116, Eritif der praktiſchen Vernunft, 


Handle fo, daß du wollen Eönneft, deine 
Maxime (die fubiekfeive Regel, die, deiner Hands 
lung zum Grunde liegt) folle ein allgemeines 

> 2 Befen ſowohl für dih, als für alle andre 
vernünftige Weſen werden; 


oder; 

Handle nach folhen Marimen, die als Princip in 
eine allgemeine Geſetzgebung paſſen; handle nach 
derienigen Marime, durch die du zugleich wollen 
koͤnneſt, daß fie ein allgemeines Gefes werde; hand⸗ 
fe nach derienigen Marime, die fich felbft zugfeich 
zum allgemeinen Geſetz machen kann; richte Dich im 
deinen Handlungen nach folchen Marimen , ‚Die, 
wenn fie durch) deine Befolgung Naturgefege wür? 


den, eine Nakureinrichtung hervorbrächten, die 


mie fich felbft beſtehen fönnte, und von der du mit 
Einffimmung deines Willens ein Iheil ſeyn koͤnn— 

teſt AB » 7 J 

$. 119. 
Zweyte Hauptformel, 

Die Allgemeinheit prafrifcher Regen, als Gefeke, 
erfordert die vollfommenfte Einheit, alfo Subordination 
und Goordination der Zwecke — abfolute, allgemeine 


und nothwendige Zwerfmößigfeie der Negeln. Ein 


freyeg, 


*) Eauter gleichbedentende Formeln, deren eine immer 
für den einen oder andern Leſer faßlicher ſeyn wird, 
als die andere, und die sben um deswillen zuſammen 
geſtellt worden find; 








Critik der. praktiſchen Vernunft, 117 


freyes , vernünftiges Wefen muß alle Handlungen, al- 
le einzelne und relative Zwecke und die Mittel zu Errei- 
hung derfelben beziehen auf einen nicht nur ‚allgemeinen 
fondern auch abfoluten, lezten, ſelbſtſtaͤndigen Zweck. 
Alles, was nun Zweck iſt, bezieht ſich zulest auf ein 
Wefen, welches fich Zwecke vorſetzt, und auf Dieienige- 
Kraft oder dasienige Vermögen, wodurch es fähig iſt, 
ſich Zwecke vorzuſetzen. 
Dieſes Weſen iſt ein vernünftiges Weſen; dieſes 
Vermoͤgen iſt Vernunft. 

Der letzte, abſolut allgemeine und nothwendige, 
ſelbſtſtaͤndige Zweck iſt demnach Das vernünftige Weſen; 
es iſt Selbſtzweck, Bedingung und Zweck der Zwecke. 


Die abſolute Einheit aller einzelnen und beſondern 
Zwecke eines Individuums iſt ſeine Perſonlichkeit, 
“und die Bedingung derſelben, die Vernunft. Es muß 
$ alſo alle feine zufälligen, perfönlichen Zwecke dem Narur- 
zwecke feiner Perfon unterordnen, und dieſe nicht als 
Mittel zu Erreichung der zufälligen Abfichten gebrau- 

chen , fondern umgefehrt. | BR 

Dieſe Perfönlichfeit, oder die WVorzüglichkeit der 
vernünftigen (zweckbeſtimmenden, perfönlichen) Natur 
vor allen andern zufaͤlligen Zwecken kommt jedem an— 
dern vernünftigen Wefen zu. Sofern ich alfo irgend 
ein Mefen als vernünftig betrachte, iſt es ebenfalls für 
mich Selbſtzweck, den ich weder verlegen noch vernach⸗ 

"lie und als. blofes Mittel behandlen darf, 
| 93 Se 


118 Critik der praftifchen Vernunft, 


So entwickelt fich Die zweyre Hauptformel der Sitt⸗ 
lichkeit: 


Handle ſo, daß du die vernünftige Natur 

(63. B. die Menſchheit) überhaupt, ſowohl in dei— 
ner Perſon, als in der Perſon iedes andern, ie? 
derzeit zugleicy als Zzweck, niemahls blos 
als Mittel berrachteft, 


oder: 

Behandle Feine Perfon bios als Sache, fondern als 
etwas, was von eben derfelben Handlung auch in 
fich felbft den Zweck muß enthalten können ; was 
eben dieſelbe Marine, wornach du handelft, im 
Allgemeinen auch für fich zweckmaͤßig (feinem Zwe— 
fe nicht hinderlich, fondern förderlich) finden kann, 
und vernünftigermeife muß; als einfchränfende Be- 
dingung der Gültigfeit aller willführlichen und re— 
lativen Zwecke und des Gebrauchs aller Mittel zu 
Erreichung eines Zwecks. 





Diefe Formel folgt aus der vorigen ($. 118.), und 
prüft eben fo, wie iene, die Handlungsweiſe der Vers 
nunft ($. 107. ff. 116.) aus, 


$, 120, * + 
Drirte Formel, 


Wenn die Marimen des Willens mie dem Begriffe 
der allgemeinen Gefesmäßigfeit übereinffimmen, und un- 
ter dieſer Vorſtellung gebilige werden fönnen, (nach 

Der 





Critik der praftifchen Vernunft, 119 


der erſten Formel) und wenn fie daher überhaupt als 
allgemeine Gefege dem wefentlichen Zwecke iedeg vernuͤnf⸗ 
tigen’ Wefeng entfprechen (nach der zweyten Formel): 
ſo wird iede moraliſche Regel eben darum als tauglich 
zu einem Naturgeſetze fuͤr das Syſtem der Zwecke (der 
Weſen ſowohl, als ihrer Abſichten) gedacht. Die drit⸗ 
te Formel: 
„Jede deiner Maxime ſchließe den Willen mit in ſich, 
"Daß fie allgemeines Geſetz für ein Syſtem vernuͤnf⸗ 
tiger Weſen und Zwecke werde; handle nach fol: 
chen Maximen, die du als eigner und all; 
gemeinen Geſetzgeber für ein Beich ver; 
nünftiger Weſen geben kannſt.“ 


Nach allgemeinen Geſetzen handlen ($. 118.); iedes vers 

nuͤnftige Wefen als Selbſtzweck behandfen ($. 119.); 

als allgemeiner Geſetzgeber handlen, und iede Vernunft 

‚als Geſetzgeberin behandlen, iſt in der That vollkom⸗ 

men daſſelbe. 
Kg $. 121. 

Der Innhalt diefer Formeln ſtimmt nicht nur unter 
ſich, mit dem Begriff der Vernunft, und mit den all- 
gemeinen Erforderniflen eines morglifchen Gefeges , fon= 
‚dern auch mit Den allgemeinen, reinen und unverfälfch- 
ten Begriffen und Urtheilen des gemeinen Verſtandes, 
(3. B. des Chriſtenthums) und den ächten firtlichen Ems 
pfindungen (3. B. der unbedingten Hochſchaͤtzung für Un⸗ 
eigennügigfeit, fiir ächte Geſellſchaftlichkeit, für reine 
Freundſchaft, Religion) überein. Diefer Grundfas von 

2. Sk Sitt⸗ 


+20 Critik der praktiſchen Vernunft. 


Sittlichkeit iſt demnach wahr, evident ‚allgemein, ver: 
ſtaͤndlich und feine Anwendung iſt durchaus den Einfich- 
ten endlicher und eingefchränfter Weſen angemeffen ; Die 
Tugend, die er hervorbringt, ift aͤcht und untadelhaft, 
erhaben, allgemeinnütsig u. f. w. 
$. 122, 
Parallelismus. 
Keime zu dieſem Sittenſyſtem liegen unentwickelt, 
und Theile deſſelben unperbunden in allen Moralgrund⸗ 
ſaͤtzen und Syſtemen aͤlterer und neuerer Zeiten. 3. B. 


4 





J 


das Princip eigner Glückſeligkeit drang doch auf 


Einheit in dem Mannigfaltigen, aber nur der eigenen 
ſinnlichen Begehrungen; der Grundſatz des Gemein⸗ 
beſten ſtrebte auch die ſinnlichen Beſtrebungen anderer 
vernuͤnftiger Weſen zu verbinden, Aber pur durch ein 
zufaͤlliges und unzureichendes Vereinigungsmittel, und 
ohne Prineip. Die Regel der Vollkommenheit ver- 
langte ebenfalls Einheit, aber nur eingefchranfe auf 


die Kräfte der handelnden Perfon, und in Beziehung auf ei⸗ 


nen individuellen Zweck. Das fittliye Gefühl führ 
te wenigſtens von den gröbern finnlichen Beſtimmungs— 


gründen der Moralität ab, und ſchraͤnkte fich auf das 


Bergnügen der Uneigennügigfeit ein. Dem Syſtem 


Son den göttlichen Willen lag die reine Idee von eis, 


nem Neich der Zwecke und von einer allgemeinen Gefek- 
gebung zum Grunde, wo ieder einzelne Wille aus Eis 
nem eberften Willen enefpringe, und Daher mit jedem 
andern Willen ſyſtematiſch zuſammentrift; nur Daß Dies 

> ſe 





Critik der pufeiphen — 121 


ſe Idee nicht ietel angewendet, — erſt ver⸗ 
mittelſt eines zufälligen ſinnlichen J Intereſſe mit dem Wil⸗ 
len verbunden, und durch Ableitung von auſſen ſeiner 
reinen Anwendung und innern Wuͤrde beraubs wurde. 
Die Stoiker kamen dem reinen Grundſatze ſehr nahe, 
nur daß ſie die Anwendbarkeit auf ſinnlich eingeſchraͤnk⸗ 
te Weſen zu beſtimmen vernachlaͤßigten und einen unvoll⸗ 
ſtaͤndigen Begriff vom Wohlſeyn vorausſetzten. Spi⸗ 
noza's moraliſche Ideen treffen im weſentlichen mie 
den Stoiſchen zuſammen, und ſind die erhabenſten, die 
in irgend einem philoſophiſchen Syſteme nur gefunden 
werden. Ihm iſt Tugend Handlung nach eigenen Ge⸗ 
ſetzen, oder Selbſtthaͤtigkeit, abſolute Freyheit (Spinoz. 
Eth. Pars. IV. Def. VIII. Propoſ- XVIII. Schol.) , keiner 
fremden Belohnung faͤhig oder beduͤrftig, ſondern ihr 
eigner Lohn; eine ſich ſelbſt gleiche, harmoniſche, freye, 
und Harmonie freyer Weſen bewuͤrkende Handlungsweiſe. 


6. 123, 
Einwürfe, 
Miß verſtaͤndniſſe koͤnnten dieſem Prineip folgende, 
leicht abzuwendende, Vorwuͤrfe zuziehen: 


1) Es werden nur Handlungen, aber Feine Ges 
ſinnungen dadurch beſtimmt; es iſt alſo morgs 
liſch unzureichend. 


Ein Princip beſtimmt zunaͤchſt immer nur Handlungen; 
wenn es aber eine gewiſſe Form der Handlung, eine 
Handlungeweiſe/ zum Beſtimmungsgrund der Handlung 
5 — mach, 


122 Tritik der praftifchen Vernunft, =” 


macht, wie dag gegenwärtige, fo beftimmt es zu— 
gleich Eine Geſinnung, d. h. Eine Modification des 
Willens, auf dieſe Eine Art wuͤrkſam zu ſeyn. Ver— 
ſteht man aber unter Geſinnung nicht die. Denkart, 
oder eine Willensbeſtimmung aus Grundſaͤtzen, ſondern 
fortdauernde Neigungen der Sinnlichkeit, fo kann 
dieſe kein Grundſatz beſtimmen oder gebieten, und noch 
weniger ſie hervorbringen, weil ſie ihrem Begriffe nach 
nicht von Grundſaͤtzen abhängen. Modifteirt kann 
aber durch eine Denkart iede Neigung und dadurch mo- 
raliſch veredelt werden, 


2) Kein Verſtand kann Richter über den andern ſeyn; 
dieß Princip fegt aber Kenntniß voraus von dem— 
ienigen, was andere vernünftige Weſen wollen, 

es iftalfo Feiner Anwendung fihig. 


Die Vernunft kann ſich felbft und ihre Handlungsiweife 
fennen, und Darnach iede andere Handlungsweife be: 
urtheilen , ob fie vernünftig oder unvernünftig fey. Ih— 
rer eignen Dandlungsmeife iſt fie fich bewußt, und träge 


fie zuverfichelich auf iedes vernünftige Wefen, als 


ein folches über, Für alle Vernunftweſen gilt auch 
nur das Gefeg, für andere fol und kann es nicht gel- 
ten. Auf ihre übrigen Neigungen habe ich in der An⸗ 
wendung Ruͤckſicht zu nehmen, aber doch nach der allge- 
meinen Gittenregel, Die das eigentlich Moralifche (Form 


‚der fittlichen Handlung), nicht aber das Materielle daran 


beſtimmt, wozu bey der Anwendung iedes Principg bes 
fondere Kenniniffe gehören, Diefe Anwendung gehrfo weit, 
als 





Critik der praftifchen Vernunft, 123 


als der Geſichtskreiß; Diefer beſtimmt den Würfunge- 
kreiß; uͤber dieſen hinaus zu gehn, dazu verbindet fei- 


ne Pflicht. 


3) Dieß Gefeg iſt nur für reine Intelligenzen; aber 
der Menſch hat hienieden noch Feine reine Ver— 
nunft, und fann nie als. bloffes reines Vernunft 
weſen betrachtet werden es iſt fein Gefes für ihn. 


Sreylich iſt ver Menſch Fein reines Vernunftweſen; we— 
der hienieden noch auch Fünftig wird er, oder irgend ein 
endliches Wefen von Sinnlichkeit gänzlich unabhängig 
werden. Aber er foll und kann Doch nach reinen Ver— 
nunftgefegen, als vernünftiges Wefen handlen, und 
fih von dem Zwange finnlicher Begierden losreiſſen. 
Die Sphäre feiner Tugend wird immer finnlich bleiben. 


4 Ich fann fragen, warum foll ih nach allgemein: 
gültigen Gefegen handlen? 


Sch kann auch fragen, warum foll ich moraliſch hand⸗ 
len, und über die Antwort „weil es vernünftig iſt “ 
giebts Feine höhere für ein vernünftiges. Weſen, das auch 
alsdann nicht weiter fragen kann, noch wird, ohne fei- 
ne Vernunft zu verläugnen. Diefe Antwort fonn man 
auch auf iene Frage ertheilen, und die obige Entwick— 
lung des Begriffes von Vernunft dient zur Nechtferti- 
gung derfelben. Auf Vollkommenheit und Glücfelig- 
keit, als natürliche Würfung ver Handlung, kann ich 
nie bey der fitlichen Frage zuruͤckkommen, und es blie— 
be hier noch die Frage übrig, warum fol ich nach der 
N groͤß⸗ 


124 Critif der praktiſchen Vernunft, - 


größten Vollkommenheit und Glückfeligfeit ſtreben? darf 
ich mir nicht mit einer niedern Stufe genügen laſſen, 


wenn ich will? h 


5) ch müßte nach dieſem Princip iede meiner Ma— 


imen allen vernünftigen Wefen zur Prüfung vors 
g 3 


legen, um fie gültig zu finden. , Dieß kann ich 


nicht, das Princip Fann mich alfo im der Anwen-⸗ 


dung taͤuſchen. 


Vernunft ift als Vernunft fich felbft gleih. Die Ur. 
theilsfraft fordert aber zur fichern Anwendung ausge 
breitete und genaue Kenntniß der Gegenffande, worauf 
ich es anwende. Diefe nicht zu erwerben, oder den 


Grundſatz nicht darauf zu beziehen, iſt wider die Pflicht; 


ober der Mangel diefer Einfichten hat, an fich nichts 
Moralifches, Das dem Innern Werthe der Handlung 
etwas benähme. Die Trüglichfeit des Urtheils trift als 
fo nicht das Princip veffelben / und welche andere Re⸗ 
gel, welche Erfahrung, pofitive Vorſchrift felbft der Of⸗ 


‚fenbahrung, oder welches Beifpiel kann in der Anwen- 


dung allen Zäufchungen und allem Mißbrauche vor— 
beugen ? 
6) Die Bibel enthält, Jeſus lehrt diefes Princip 
nicht — j ; 
Sie enthält und er lehrt überall Fein Prineip der Mos 
vol, aber die Vorfchriften felbft dieſes größten aller pos 
pulären Gittenlehrer find - (nach mieiner igigen Ueberzeu⸗ 
gung) diefem Princip gemäß, und müffen ihrer Guͤltigkeit 
nach 


* 














/ 


Critik der praftifchen Vernunft, 125 


nach daraus abgeleitet und beurtheilt, und für.die An- 
wendung darnach näher beſtimmt werden. 


Leichter vermeidfihe Mißdeutungen und gänzlich un- 
bedeutende Einwuͤrfe werden Kürze halber hier über- 
gangen. 

$ 124 
Erkenntnißart des Sittengefekes, 
Ben der Frage nach der Art und Weife, wie das 
moraliſche Princip erfannt wird, muß man Das Gefer 
von dem Smperatio- unterfcheiden. } 


Der Imperativ oder das Gebot, d. i. der prak— 
tiſchen Grundſatz, ſofern er auf einen Willen bezogen 
wird (wie der menfchliche),, der zwar von Vernunft ab— 
hänge, aber auch finnlicher Einflüffe und Beftimmunz 
gen fähig ift, Die mie dem Vernünftigen nicht von Na= 
fur und nothivendigerweife übereinffimmen — iſt ein 5» 
ſtraktum aus den einzelnen moraliſchen Urtheilen, die 
durch denſelben beſtimmt werden, welches uͤbrig bleibt, 
wenn wir alles Beſondre und Zufaͤllige davon abſon— 
dern *). Auf dieſem Wege wird er gefunden. 


Durch fortgeſetzte Abſtraktion, wenn wir nehmlich 
nur auf das Beſtimmende und nicht auf dasienige ſehn, 
was die Beſtimmung empfaͤngt, heben wir in unſerm 
a Bes 


H Diefer Imperativ beißt moralifch, eatego— 
riſch, apodiktiſch — im Gegenfaß der bedingten Chyz 
pothetifchen) oder gar nur problematifchen Gebote. 
Berl. 9.35. Die pragmatiſchen Grundfage find ber 

dingt; dis techniſchen problematiſch. 


J 


126 Critik der praktiſchen Vernunft. 


Bewußtſeyn die einfachere Vorſtellung des reinen Ver; 
nünftgefezzes, d, i. der Regel für die ihr einzig mög» 
liche und nothwendige Würfungsart (Eauflalität) aus 


der zufanmmengefegten Vorfiellung des ſittlichen Gebotes 


heraus. 


6. 125. 
Iſt das Geſetz einmahl auf dem ($. 124.) vorge 
zeichneten Wege gefunden : fo entdeckt ſich, daß dieſes 
Gejeg analytiſch aus den Weſen der Vernunft, info- 


fern diefelbe praftifch gedacht wird, herfließt, nach der 


obigen Ableitung in $. 97. u. ff. Das Praktiſchſeyn 


der reinen Vernunft aber, melches den Gittengefege 
als Bedingung zum Grunde liegt, fegt ein Vermögen 
abfoluter Freyheit voraus. Davon unten. 


Das nothwerdige Verhaͤltniß des vernünftigen Wol- 
Jens zu dem finnlichen DBegehrungsvermögen oder dag 


Sollen, welches der Imperativ (im Gegenfage des 


reinen Geſetzes) ausdrückt, wird durch iene Verknuͤ— 


pfung (Syntheſis) dieſer an ſich ungleichartigen und 
ganz und gar nicht identifchen Dinge erfannt. Der cas 


fegerifche Imperativ ift alfo feiner Natur nach ſynthe⸗ 
tiſch. Weil aber dieſe Verfnüpfung als abſolut allge 


mein und nothwendig (ohne praftifche Zulaffung einer‘ 


Ausnahne) erkannt wird, fo iſts fein fynthetifcher Ers 
fahrungsfag, fondern ein ſynthetiſcher Sat a priori, 
der durch Die weſentliche Einrichtung dieſes praktiſchen 
Erkenntnißvermoͤgens beſtimmt wird, oder ein unmittel⸗ 
bares reines Faktum, das zwar in dem empiriſchen De- 

wußt⸗ 


% 





‘ 
’ 


Critik der praftifchen Vernunft. 127 


wußtſeyn "zugleich mie vorkommt, aber durch feinen all- 
gemeinen Charafter auf feine reine. Quelle zuruͤckweiſt. 


Dies iſt daffelbe Faftum, wodurch ung das Dafenn 
einer reinen. praftifchen Vernunft ($. 103.) fund wird. 
Es noͤthigt uns demnach dieſes Bewußtſeyn, ein freyes 
Vermoͤgen anzunehmen; ein Verhaͤltniß einer Wuͤrkung, 
die in der Sinnenwelt zu einer gewiſſen Zeit entſteht, 
zu einer Urſache, die auſſerhalb der Sinnenwelt liegt, und 


alſo nicht in einer beſtimmten Zeit thaͤtig zu ſeyn anfaͤngt. 


6. 126. ah f 
Metaphyſiſche Moͤglichkeit. 


Wir haben zwar Begriffe von demienigen, wodurch 


ein ſittliches Geſetz und ein dergleichen Imperativ be— 
greiflich werden, nehmlich Vernunft und Sinnlichkeit, 
und dadurch werden iene Grundſaͤtze logiſch begreiflich. 


Wie und wodurch aber iene Grundvermoͤgen des Ge— 


muͤthes und ihr Verhaͤltniß zu einander ſelbſt moͤglich 
werden, iſt unerklaͤrbar. Denn was wir erkennen, ge— 
ſchieht nur durch eben dieſe Vermoͤgen, die uns nicht 


uͤber ſich ſelbſt, auf ihren metaphyſiſchen Grund hinaus— 
fuͤhren. Dieſer letzte Grund an ſich ſelbſt, iſt hier, wie 


bey Grundkraͤften und Grundvermoͤgen überall, ein blof- 


“fer Cintelligibler) Gegenſtand des unbeſtimmten, Ans 


fchauungsleeren , reinen Denkens, nicht aber des Er- 
kennens. Es muß einer da feyn ; aber welcher es ſey? 
iſt feiner Beftimmung fähig. Wir erfennen diefe Ver⸗ 
mögen nur durch ihre Wuͤrkungen (moraliſche Geſetze, 
— 3 AB, Gebo⸗ 


/ 


J 


128 Critik der praftifchen Vernunft. 


Gebote, Urtheile, Gefühle), nicht in ihre eignen 
äberfinnlichen Gründe, 


6.127 
Zweytes Problem 
Abfolnses Gut, 

Das Zweyte ($. 20), was wir zu Gründung eis 
her reinen Sittenlehre ‚bedürfen, iſt ein allgemein? 
gültiges, abſolut nochwendiges Ziel oder Obiekt des 
Willens, oder etwas Unbedinge Gutes. 


a 128. 

Nor der Unterfuchung, welches das abfolute Gut 

fey, muß der Begriff von dem Guten überhaupt und. 

Yon dem unbedingten Gute insbefondere nach feinen 
weſentlichen Merkmahlen entwickelt werden. 


§. 129. 
Gut in weicläuftigem Sinne, 

Alles, was ich begehren, was ein Obiekt Meines 
Begehrungsvermögens feyn Font , heiße infofern ein 
Gut im weitlänftigfien Sinne, es fey eine Sa— 
che, Begebenheit, Idee oder Handlung. Was wir be- 
gehren, finden wir infofern unfrer Natur gemäß. Was 
wir verabfcheuen, iſt ihr zuwider, und heiße Uebel 
oder böfe: 


d. 130, 





Critik der praftifchen Vernunft, 129 


— $. 130. 

Das Wohl; das Gurte in engerm Sinne. 

Das Gute in meitläuftigem Sinne denfen wir ung 
entweder als etwas, Das nur den Zuffend eines le— 
bendigen. Weſens beſtimmt, Oder alg etwas, das der 
Perſon eines vernünftigen Wefens an ſich felber ange- 
hört, und in einer Handlungsweife oder Handlung, 
als dem einzigen, wodurch -fih eine Perfon zu erfen- 
nen giebt, beſtehet. Jenes heißt das Wohl; dieſes 
das Gute in engerm Sinne: 


Das Gegentheil von dem Wohl ift Uebel; von 
dem Guten Böſes in beffimmter Bedeutung: 


r $ igr: 
Das Angenehme, Nüsliche, 
Zu dem Wohl ($. 130.) gehöre 


3) dag unmittelbar Angenehme, mas der Eintt- 
lichfeit und ihren Trieben unmittelbar entfpriche, 
Vergnügen und der Innbegriff deſſelben, Glückfe- 
ligfeit: Gegenüber ſteht das unmittelbar Unange- 
nehme, Mißvergnuͤgen, Ungluͤckſeligkeit— 

2) Das Nützliche im Obiekte, d. i: alles dasienige, 
was das unmittelbar Angenehme verfchaft oder be- 
wahrt, oder das ünmittelbat Unangenehme abhält 
‚oder mwegfchaft: Das Gegentheil davon iſt das 

Schoaͤdliche. 
Zu dem Nuͤtzlichen gehoͤren 
Moralphiloſophie. J 2) Na 


Pr, 


130 Critik der praftifchen Vernunft, 
a) Naturgaben des Geiffes oder Talente. 
b) Vortheilhafte Eigenfchaften des Temperaments. 


€) Durch Bildung erworbene oder erhaltene: Eigen- 

Sr fhaften des Geiftes und des Gemürhes, die den. 

Abfichten des ſinnlichen Lebens günftig find, 5. B. 
Klugheit, Geiftesgegenwart. 


$. 132. 
Dbieft des finnlichen Begehrens, 

Das Wohl ift mit allen feinen Beſtandtheilen nur 
ein Gegenſtand des finnlihen Begehrungsver⸗ 
mögens; und zwar gehe das finnliche Begehrungsver- 
mögen für fidy allein auf das unmittelbar Angenehme; 
ein durch Verſtand modificirtes auf das Nusliche. 


G. 133. 

Das Nüsliche iff mittelbarer Gegenftand des Begeh- 
rens, wegen des Angenehmen, und alfo nur in fo fern 
als es dazu verhilft %). Das Angenehme ift unmittel⸗ 
barer Gegenſtand des Begehreus, aber nur infofern wir 
gewiffe Triebe der Sinnlichkeit haben und fie als Nei— 
gungen und Beduͤrfniſſe fühlen. 


$. 134. 


. 


) Wie der Verſtand im theoretifhen Sinne fih in 
Begriffen mittelbar, durch Merkmahle, auf die anger 
fchauten ‚Gegenftände besieht: fo iſt auch die Beziehung 
des verfiandigen Begehrens va eigentliche Obiekt 
nur mittelbar, nehmlich durch Grunde, Die das Ansız 
nehme erſt hervorbringen follen, 








| 
i 


Critik der praftifchen Vernunft. 131 


§. 134. 
Relativer Werth, Preiß. 

Der Werth alles deſſen, was zum Wohle gehoͤrt, 
iſt nur relativ ; denw er gruͤndet und beziehe ſich auf 
das zufällige Dafeyn gewiffer Beflimmungen der Em- 
pfänglichfeit eines Subiefts, welches Luft oder Unluſt 
empfindet ,„ mit Denen es uͤbereinſtimmt. 


- "Ein relativer Werth heißt auch ein Preiß.. Was 
einen Preiß hat, deſſen Stelle kann etwas Anderes (ein 
Aequivalent) vertreten. Eine Sache hat einen Wiarkt- 
’ preiß, wenn fie allgemeine menſchliche Bedürfniffe bes 
friediget; einen Affeftionspreiß, wenn fie nur einem 
befondern, individuellen Geſchmack entſpricht. 


$..135. 
Gut in engerm Sinne, 

Gut in engerm Sinne heißt etwas Perfönliches 
an einem lebendigen MWefen, was fih durch Handlun⸗ 
gen offenbart; oder auch eine Handlung ſelbſt, ſofern 
wir ihr einen gewiſſen Werth beylegen. 


§. 136. 
Relativ Gut. 

Der Wille und eine Gefinnung oder Handlung de 
felben ift relativ Gut (Irgend wozu Gut), d.h. 
iſt Mittel und Urfache des Wohls, des Angenehmen und 
Müslichen , oder er iſt felbft nuͤtzlich. Diefe Güte dis 
Willens kommt ihm alfo nicht um feiner felbft willen zu, 

J2 ſondern 


132 . Eritif der praftifchen Vernunft, 


fondern wegen feines Erfolgs ; ihr Werth iſt abhängig 
von dem Werth des Wohls „ fo dadurch bewürft wird, 
diefem untergeordnet, durch Ihn bedingt (niemahlg abs 
folut) , und niemahls- größer als eben diefer. 


Das Relativ Gute kann an fich ſelbſt unangenehm, 
und das Angenehme kann Relativ Boͤſe feyn. 


$. 137. 

Diefe relative Güte der Handlungen hängt von der 
empirifchen Würfungsart der praftifchen Vernunft, d. i. 
von der Vernunft in Verbindung mie der Sinnlichkeit 
ab, und ift das Obiekt eines finnlid afficirten 
Willens. Sie beſteht in der Klugheit und Geſchicklichkeit. 


| $. 138. 

Das Relativ Gute ift bedingt und eingeſchraͤnkt 

in Abficht auf feine auffere und innere Gröfe, auf feine 
Beziehung und auf fein Dafeyn. D.h. 


ı) Es ift nicht in allen Fällen und für alle vernünf: 
tige Wefen Gut, weil die Bedingung nicht immer 
und aligemein ſtatt finder, die feinen Werth bes 
ſtimmt. 

2) Es iſt kein innerlich vollkommnes, hoͤchſtes Gut; 
denn es beſteht in der angenehmen Empfindung, 

die niemahls eine abfolute innere Größe, fondern 
in indefinitum verfchiedene Grade har. 


3) Es iſt Cin Abſicht auf Relation) 
a) fein 


* 





I 
Eritif der praftifchen Vernunft, 133° 


a) fein wefentliches Gut der Perfon, daher nicht 
beharrlich ; 


b) nicht von eigner freyer Ihatigfeit, fondern von 
dem Einfluffe äuffrer Umſtaͤnde abhängig. 


c) Wegen feines Urfprungs aus, etwas anderm, 
als der Vernunft , worinn die vernünftigen We— 
fen fich gleich und wodurch fie harmoniſch find, 
kann es in der Verbindung mit andern Weſen 
etwas Böfes ſeyn, d. hi Uebel hervorbringen, 
weil es nicht nothwendig mit Ihren Einrichtuns 
gen harmonirt. 


4) Es ift Fein abſolut nothwendiges Gut für ein ies 
des vernünftiges Wefen, weil feine Wuͤrklichkeit 
nicht durch die Möglichkeit oder den Bogriff eines 
vernünftigen Wefens gedacht wird. Es findet 
z. D. ganz und gar nicht ſtatt bey der Gottheit, 
und befteht bey iedem endlichen vernünftigen Weſen 
in etwas anderen. 

Das Relativ Gute lernen wir durch Erfahrung Fennen. 
Alle empirifche praftifche Grundfäge fegen Kenntniß von 

„dergleichen velativen Gütern voraus. 





$. 139. 

Sqlechthin Gut; Obiekt eines reinen 
Willens. 

Der Wille, oder eine Geſinnung (innerlich — 


te Handlungsweiſe) und Sanpfang deſſelben ift abſolut 
J 3 Gut, 


134 Tritik der praftifchen Vernunft, 


But, innerlich, für fih gut, wenn fie dem vernünftis 
gen Weſen an fich betrachtet, fofern es vernünftig iſt, 
angemeflen oder Obiekte eines reinen Willens- find. 


x % 


Die Stoifer nannten das abfolute und hoͤchſte Gut, 
ausſchließungsweiſe ein Gut; das relative Sur befaßten 
ſie unter dem Nahmen meonyueva., Ariſtipp und Epi- 
fur erkannten Fein abſolutes Gut; die Afademifer und 
Deripatetifer unterfchieden das relative und das abfolus 
te Gut nicht genugfam. | 


$. 140. 

Das Obiekt oder der Zweck deg reinen, durch bloß 
fe Vernunft beffimmten, Willens ($.139.), muß durch 
Diefen Willen — d. h. durch praftifh wuͤrkſame Ver—⸗ 
nunft felbft vollftändig Beftimme und gegeben ſeyn, weil 
er fonft durch ieden empirischen Zufag den Charafter der 
Nothwendigkeit für alle vernünftige Wefen verlieren wür« 
de. Es kann demnach diefer abfolure Zweck in nichts 
andern beftehen, als in der freyen Würffamfeit eis 
nes vernunftigen Willens, oder in der Sittlichkeit 
ſelbſt. Diefe muß um deswillen ein nothmwendiger Ge⸗ 
genftend des vernünftigen Begehrens feyn, weil ohne 
fie fein Wollen als. vernünftig gedenfbar iſt. 


$. 14r. -j 

Diefer Zwerf der freyen Würkſamkeit der Ver 
nunft fehliege in fich den Zweck des Dafeyne der vers _ 
nünftigen Weſen, Die nach ihrer vernünftigen Natur 
wir 


Critik der praktiſchen Vernunft. 135 


wuͤrkſam ſeyn ſollen. Das vernuͤnftige, freye Weſen iſt 
alſo durch das Sittengeſetz als ſelbſtſtaͤndiger Zweck be— 
ſtimmt. 


$. 142. - 

Wenn das Relativ Gute praftifche Regeln hervor. 
bringe ($. 138.): fo ſetzt im Gegentheil das Abſolut 
Gute ein reines Gefeg, als feinen Beftimmungsgrund 
voraus. Sittlichkeit ift das fehlechthin Gute, kraft des 
Sittengeſetzes, welches die vernünftige Natur enthält 
und das ihre Handlungstweife bezeichnet, 


$. 143. 

Diefe abfolute Güte der vernünftigen Handlungs» 
art, und ihrer perfönlichen Bedingung, eines vernünf- 
tigen Wefens, zeigt ſich als nothwendigerweiſe unbe— 
dinge: 

1) in Anfehung der ertenfiven Größe. Es iftin als 
len Fällen und für iedes vernünftige Weſen ohne 
Ausnahme gut; der fich, felbft gleichbleibenden und 
weſentlich unveränderlichen vernünftigen Natur im⸗ 
mer und überall gemäß; ein Gut für dag ganze 
Reich vernünftiger Weſen, in allen Klaſſen und 
Individuen; 

2) in Anſehung der intenſiven Größe. Das inner⸗ 
lich höchfte und unbefchränfte, mit feinem andern 
(ſinnlichen) Gute meßbar und vergleichbar, Durch) 

- Feine Schranfen der Möglichkeit der Empfindung 
‚auf einen gewiſſen Grad beftimmf, innerlich uns 
endlich; | 

J4 3) in 


136 Critik der praftifchen Vernunft, 
3) in Abficht auf Relation: 
ein felbftftändiges ,; unverlesbares, weſentliches; 


ein durch freye Thaͤtigkeit fich aufferndes, und 
über alles Entſtehen oder Vergehen. dur) äufs 
ſere Einflüffe erhabenes; 


! ein harmonifches, fich felbft nie auch in der größ- 
ten Ausbreitung einfhränfendes Gut; 


4) in Betracht feiner Modalitaͤt: durch feine Moͤg— 

lichteit wuͤrklich, das einzig mögliche und dar- 
um mürfliche, mithin abfolut norhwendige Gut 
für ein vernünftiges Weſen. ; 


$. 144. 
Würde 
Ein in aller Rücficht unbedingter , allgemeiner‘, uns 
vergleichbarer, wefentlicher, freyer, harmonifcher und 
abſolut nothwendiger Werth heiße Würde. Vernünf- 
tige Würffamfeit oder der gute Wille, die Gittlichfeit 
und ihr perfönliches Subiekt, das vernünftige Wefen 


hat demnach eine Würde. Das abfolute Gut iſt unend⸗ 


lich, weil die reine Vernunft nicht befchranfe iſt durch 
Kaum und Zeit. Die reine Vernunft ift fein Empfin- 
Dungsvermögen ; ihr abfolutes Gut ift alfo fein Gegen— 
ftand der Empfindung , fondern des Denfens und Der 
-Handlung 5 Vernunft entfteht und vergeht nicht ;. Ihr 
eigenchumliches Gut wird alfo nicht erft hervorgebracht, 
fondern nur in der Sinnenwelt offenbart. 

Das 











Eririf der praftifchen Vernunft, 137° 


Das abfolut Gute, als Handlung dargeftellt, kann 
in feinen Folgen für die bloße Sinnlichkeit unangenehm 
und fchädlich und ein relatives Uebel (aber nicht waney 
malum) jenn, — > 


8 145. 
Dettte8 Drsb Te 
Abſolute Triebfeder. 

Mir ſuchen drittens ($. 20. Num. 3.) eine abfo- 
Iute Triebfeder, das (im erften Problem gefuchte) mo— 
ralifche Gefeg zu erfüllen, und der Gittlichfeit als dem 


(im zweyten Problem beffimmten) höchfien Gute nachzu— 
ſtreben. 


$. 146. 
Begriff— 

Eine Triebfeder (elater animi) iſt uͤberhaupt das- 
ienige, was das Begehrungsvermoͤgen ſubiektiv be— 
ſtimmt, was eine Handlung ſubiektiv moͤglich oder noth— 
wendig macht ; oder dieienige Vorfteliung, durch deren 
Vermittelung eine praftifche Negel Einfluß auf das Be; 
gehrungsvermögen eines vernünftigen Wefens empfängt, 


um daffelbe zu einer Handlung zu beftimmen. Der ob- 


iektive Grund einer Handlung heißt der Bewegungs⸗ 
grumd. 


'$. 147. 
Zriebfedern und Beweggründe , obieftive und fub- 
ea DBeltimmungsgründe des Begehrens kann man 
S5 nur 


1338 Critik ver praftifchen Vernunft, 


nur bey eingefchränften, finnlich beſtimmbaren vernünf- 
‚tigen Wefen, unterfcheiden, Die von Gefegen der Ders 
nunft nicht allein, fondern auch, von Gefegen eines finn- 
lichen, Begehrungsvermögens abhängen, welche nicht 
nothwendig übereinftimmen. 


* §. 1 48. 
Sittliche Triebfeder. 


Eine Triebfeder heiße ſittlich im allgemeinſten 
Sinne, wenn ſie dem moraliſchen Geſetze Einfluß auf 
die Handlungen verſchaft; überhaupt vernünftig, 
wenn ſie nur den Einfluß vernuͤnftiger praktiſcher Grund⸗ 
ſaͤtze G. B. der Geſchicklichkeit, der Klugheit, nicht eben 
der Sittlichkeit) auf die Handlungen befoͤrdert. 


§. 149. 

Abſolute, relative, ſittliche Triebfeder. 

Eine ſittliche Triebfeder (5. 148.) iſt abſolut 
und rein (ſittlich in ſtrengerer Bed.), wenn fie die Sitt- 
lichkeit als Sittlichkeit unmittelbar, nur durch fich felbft, 
und alfo nothmwendigermeife in Handlungen eines endli- 
chen, vernünftigen Wefens überleirer; fie ift bedingt, 
empiriſch und zufällig, mwenn fie in etwas beſteht, 
was nicht unmittelbar und nothwendigerweiſe von dem 
Sittengeſetze ſelbſt abhängt, und nicht in allen Fällen 
firtliche (legale) Handlungen hervorbringe. Der Testern 
fehlt es an praftifcher Allgemeinguͤltigkeit für alle Hand» 
fungen ‚aller vernünftiger Weſen. 


6.150, 











——— 





Critik der praktiſchen Vernunft, 139 


gear 
Die allgemeine fubieftive Bedingung des Begehreng, 
nach Gefegen der Sinnlichkeit, iſt ein Gefühl. Alle 
Zriebfedern find demnach) Gefühle von Luft und Unlufl, 
oder von dem, was Daraus zufammengefege If. 


8.85L, 

Soll die Handlung ihrem Innhalte nach dem fittlis 
hen Vernunftgeſetze entfprechen (legal feyn), fo muß 
Ddieß Gefühl dazu antreiben und von dem Vernunftwi— 
drigen abhalten, mit iener — Luft, mit diefer Unluſt ver: 
binden. Goll dieg immer und nothwendigerweiſe gefches 
hen, und die Handlung auch innere Moralität (Alleinige 
und oberfte Würffamkeie der Vernunft) haben: fo muß 
ienes Gefühl in einem nothwendigen Cauſſalverhaͤltniſſe 
zu der Vorſtellung des ſittlichen Geſetzes ſtehen, alſo 
nicht nur demſelben gemaͤß ſeyn, (wie in vielen Faͤllen 
das Gefühl des Ehrtriebs, des Triebs nach Eigenthum, 
Vergnuͤgen, Liebe), fondern auch * daſſelbe geſetz⸗ 
maͤßig beſtimmt werden. 


G. 152, 

Die Vorftellüng des finnlichen Effefts einer Hand⸗ 
lung kann die Triebfeder feyn, wodurch diefelbe hervor⸗ 
gebracht wird ; aber nur eine zufällige, feine reinmora⸗ 
liſche. Denn theils hänge der Erfolg nicht blos von 
der Handlung Des Willens und von demienigen ‚ab, 
was eigentlich moralifch darinn ift, weil die Gefege des 
Sinnlich⸗ angenehmen weder durchgängig noch nothwen⸗ 
* mg 


140 Critik der praftifchen Vernunft, 


dig mit den Geſetzen des vernünftig Guten harmoniren; 
tbeils ift der Erfolg nicht von der, Würffamfeit des 
firelichen Vernunftgeſetzes abzuleiten. Die ausfchliefen« 

de und unmittelbare Befolgung diefes finnlichen Antrie— 
bes würde allen innern Werth der gefenmäßigen Hands 
lungen aufheben. 


$. 153. 

Nur ein Gefühl, melches die DVorftellung von der 
Handlung felbft, fofern fie ſittlich iſt (ihrer Form nach), 
und von dem Vernunftgeſetze abhängt, bervorbringt, 
kann eine nothwendige und rein moralifche Triebfeder ab- 
geben ; nicht aber die Neigung zu Demienigen, was Die 
Handlung auffer ſich bewürfen fol. 





$. 154. 

Der Sitz dieſes Gefuͤhles iſt, wie bey ieder andern 
Empfindung, die innere Sinnlichkeit; ohne ſinnliches 
Begehrungsvermoͤgen wuͤrde alſo kein ſittliches Gefuͤhl 
entſtehen koͤnnen. Aber die hervorbringende Urſache deſ⸗ 
ſelben iſt doch kein Gegenſtand der Sinne, ſondern die 
freye Cauſſalitaͤt der Vernunft, oder die Vorſtellung 
des Geſetzes. Das Gefuͤhl nun, welches das moraliſche 
Geſetz in dem innern Sinne eines endlichen, ſinnlich af⸗ 
fieirten vernünftigen Weſens, wenn daffelbe ſittlich gut 
handlen foll, erzeugt; ift vermöge feines Beftimmungs- 
grundes der moralifchen Vernunft, vermöge feines Sub⸗ 
iefts aber dem finnlichen Begehrungsvermögen gemäß, 
und es beſtimmt das letztere, fo heterogen es an fih von 

dem 





Critik der praftifchen Vernunft, - 141 


dem: Erfferen feyn mag, zu einer infofern harmonirenden 
Würfungsart. 


6. 155. 
Intereſſe. 

Ein Gefühl des Wohlgefallens, das von der Würfs 
ſamkeit ver Vernunft abhängt, nennt man Intereſſe. 
Iſt es die Wuͤrkſamkeit der empirifchen Vernunft, di. 
eine VBernunftthätigfeit, diedurch Neigungen und finnlis 
che Antriebe urfpränglich erregte wird, und auf ihre Be— 
friedigung geht, fo heißt Das Interefje pathologifch. 
Iſt es aber eine reine, der Sinnlichkeit nicht unterges 
ordnete, urfprüngliche Ihätigfeit der Vernunft, die ein 
unmittelbares Vergnügen erweckt, fo wird das In⸗ 
terefje rein, oder praktiſch genennt. Wenn ung 
eine Handlung um ihrer Solgen willen intereſſirt, fo iſt 
das Intereſſe pathologiſch; wenn ung die Handlung an 
fih durch ihren Degriff, als aus Vernunft entfprun= 
gen, intereffirt: fo ift dieß ein praktiſches Intereſſe. 


$. 156. 
Intereſſant; intereſſirt. 

Eine Handlung aus pathologiſchem Intereſſe iſt in⸗ 
tereſſirt, ſie iſt gaͤnzlich vom Intereſſe abhaͤngig, als 
von ihrer Bedingung. Eine Handlung aus praktiſchem 
Intereſſe iſt intereſſant, fie intereſſirt. In ienem 
Falle iſt das Intereſſe der Grund der Handlung; in 
dieſem etwas, was mit der Handlung verbunden iſt; 
ihr Grund iſt aber die Vernunft 


$: 157: 


\ 


142 Critik der praftifchen Vernunft. 


> 


157 

Das Gefuͤhl, welches die Triebfeder der Sittlichkeit 
ausmacht, iſt das reine, praktiſche Intereſſe. Die mo— 
raliſche Handlung muß dem handelnden Subiekte an ſich 
ſelbſt intereſſant ſeyn. 


$. 158. 
Sittliches Gefuͤhl. 


Dieſes praktiſche Intereſſe, das wir an der Mora⸗ 
litaͤt nehmen, oder das Gefühl, weiches ſich unmittel— 
ber an die moraliſche Wuͤrkſamkeit der Vernunft an 
fchließt, nenzen wir, feines Urfprungs und feiner Bez 
flimmung wegen, das moralische Gefühl; wodurch 
auch zumeilen die Fähigkeit des Gemüthes verſtanden 
wird, ein folches reines Intereſſe an Moralitaͤt zu nehe 
men. Es knuͤpft das Band zioifchen der reinen Ver— 
nunft und der Sinnlichkeit des Begehrens Durch die ers 
ftere, und unterſcheidet fich Durch feine unmittelbare und 


nofhmwendige Abhangigfeit von der Vernunft, von ie 


dem andern Gefühle, Das nur zufälliger Weife oder oͤf⸗ 
ters moraliſch rethtmaͤßige Handlungen begünftigt. 


$. 159. — 

Es läßt ſich zwar 1) der Innhalt dieſes Gefuͤhls 
pſychologiſch beſtimmen; 2) fein Daſeyn beweiſen; 3) ſei⸗ 
ne Beſtimmung angeben; und 4) ſein Grund im allge- 
‚meinen denken, aber nicht erfennen und dadurch feinem 
Urfprunge nach begreifen, aber gleichwohl 5) dieſe Uns 
begreifs 


⸗ 





% 


’ ſianlichen Begehrens ein; dieſe Einſchraͤnkung, welche 


Critik der praktiſchen Vernunft. 143 


begreifllichteit ſelbſt aus der Natur des Gegenſtandes 
und des Erkenntnißvermoͤgens einſehen. 


⸗ 
§. 160, 
Innhalt des ſittlichen Gefuͤhls 
Wir ſind uns zuerſt als ſinnlich afficirte, endliche 


und beduͤrftige Weſen ſinnlicher Antriebe bewußt, die 


von den Neigungen herruͤhren und in der Selbſtliebe 
begriffen ſind. 


Zugleich find wir uns als —— Wefen einer 
rein vernünftigen Ihätigfeit bewußt, deren‘ Beftim- 
mungsgrund nichts Ginnliches, weder ein Gegenffand 


‚der Hoffnung noch der Furcht, fondern lediglich dag 


Eittengefeg iſt. 


Die Wuͤrkſamkeit der ſinnlichen Triebe bringt eine 
Luft zu den Handlungen hervor, die ihnen gemäß find; 


eben fo erzeugt die Würffamfeit der Vernunft ein Ge 
‚fühl des Wohlgefallens oder der Luft an dem Vernunft: 


oder Gefenmaßigen der Handlung ; ienes Gefuͤhl haͤngt 
von dem Obiekte, dieſes aber von der Form der Hand⸗ 
lung oder Handlungsweiſe ab. 


Dieſe zwey verſchiedenartige Antriebe ſtimmen nicht 
von ſelbſt und nothwendig miteinander uͤberein. 


6. -161. 


Die vernünftige Beſtimmung des Begehrungsver- 
mögens fihränft das Beſtreben der Selbſtliebe oder des 


das 


’ 


#. 


144 Critik der praktiſchen Vernunft, 


das ſtunliche Gefühl und die finnliche Wuͤrkſamkeit dadurch 
leidet, erweft ein unannehmliches Gefühl, eine Art 
von Unluſt. 

Die vernünftige Ihätigkeit an fich felbſt ; als eigne 
Thaͤtigkeit, erweft ein Gefühl -dver Luſt. 


Diefe Luft, fofern fie den Werth der finnlichen Luft 
herabjest und dieſelbe einfhränft, heißt Achtung. 


Der Gegenffand der Achtung ift das Sittengeſetz | 
und wir feldft, als Subiekte deffelben , als vernünftige 
Weſen — infofern wir uns als finnliche Wefen ſelbſt 
einfchränfen. 

Als vernünftige Wefen achten wir uns; als finn- 
liche fühlen wir ung gedemüthige oder eingefchränft. 


Das Bewußtſeyn der Freyheit, als des Vermögens 
ung moralifch über die finnlichen Antriebe zu erheben, 
giebt ein Bewußtſeyn der Unabhängigkeit von demienis 
gen, was uns unzufrieden macht, von den Neigungen 
— ein Gefühl von Selbſtzufriedenheit, welches in 
eben dem Verhältniffe fleigt, ais wir uns der Sreys 


heit durch Tugend in unfern Handlungen bewußt werden. 


Sofern wir unfere vernünftige IThärigfeit einge» 
ſchraͤnkt finden ‚ oder eine Einfchränfung derfelben be» X 
fürchten durch die Mache finnlicher Antriebe, fuhlen wir 
uns unzufrieden , disharmoniſch mit uns felbft, wir 
verachten uns. 

Alle diefe Gefühle Haben dns Eigene, daß fie zwar 

Sinn⸗ 


Ceitik der praktiſchen Vernunft. 145 


Sinnlichkeit, d. i. Empfänglichfeie für ſinnliche Gefuͤh⸗ 
le vorausſetzen, aber nicht durch Obiekte der Handlun— 
gen, ſondern durch ihr wuͤrkendes Princip, die Vernunft, 
beſtimmt und hervorgebracht werden, 


48: 262; 

Die eigentliche moralifche Ttiebfeder iff alfo das Eit- 
fengefeg oder Die Vernunft felbft, deren eigne, durch Fein 
Gefühl erregte und von feiner vorhergehenden Empfin⸗ 
dung, als ihrem Beffimmuugsgrunde abhängige, Thaͤtig⸗ 
keit diefe ist ($. 161.) befchriebenen finnfichen Smpfin- 
dungen hervorbringe, und dadurch die finnlichen Triebe 
felbft in eine dem Sittengeſetze felbft entfprechende Wiürf- 
famfeit verfeget. Das Gefuͤhl iſt Folge der freyen Thä- 
tigkeit des Bernunftvermögens ; Urfache der enrfprechen- 
den Würfung der finnlichen Kräfte — 


N $. 163: 
Daſeyn veffelben, 

In Aniehung unfrer felbft erfennen wir dag Dafenn 
diefer Gefühle als Thatſache a pofteriori; in Anſehung 
aller endlichen Vernunftwefen überhaupt erfennen wir es 
als ein nochtvendiges fubieftives Erfordernig zur Moͤg— 
lichkeit einer moralifchen Handlungsart,a priori. Würk- 
famfeit der, moralifchen Vernunft. verbunden in einem 
und demfelben Subiefte mit Würkfamfeit finnlicher (von 
Vernunft nicht beflimmter) Antriebe läßt fih nicht ohne 
dieſe Gefühle, als ihr Nefultat gedenfen ; die Stnnlich- 
Feit mag, übrigens mit der menfhlichen eine fpecifiiche 

Moralphiloſophie. Aehn⸗ 


4 


- 
- 


146 Critik der praftifchen Vernunft, 


Aehnlichkeit haben, oder nicht. Ob es aber auffer den 
Menſchen andere endliche moralifche Wefen gebe, in des 
nen alsdann moralifche Gefühle vorhanden feyn müßten, 
if eine weder praftifch beantwortliche noch auch moralifch 
intereffante Frage. _ 


...& 164. 
Seine, Beftimmung. 
Die Beftimmung diefer Gefühle fann 
1) nicht feyn, ein obieftiveg Sittengefeg zu gründen ; 


2) noch die fittliche Güte oder Nichtgüte der Hand⸗ 
lung lediglich nach demfelben zu beurtheilen. Die 
Untauglichfeit Ddeflelben zu dieſen Abfichten fliege 

ſchon aus der erflärten Natur und dem Urfpruns 
ge veffelben, und iſt noch aus andern Gründen 
oben ($. 68. ff.) dargethan worden. 


3) Sondern, als nächte Cjubieftive) Würfung des 
Gefeges auf den Willen, die Sinnlichkeit den Ver— 
nunftgrundfägen gemas zu beffimmen, und dadurch 
die Darftellung verfelben in Handlungen, welche. 
in der Sinnenwelt erfcheinen, möglich zu machen. 


$. 165. 

Zu diefer Abficht iſt dieſe Natureinrichtung, und 
zwar ſie nur allein vollkommen tauglich. Denn 1) das 
Gefühl hängt mit einer moraliſchen Urſache nach unmit— 
telbaren Verhaͤltniſſen zuſammen, 2) es iſt alſo der Mo— 
ralitaͤt nothwendig und überall angemeſſen — eine ab⸗ 

ſo lu⸗ 





Eritif der praftifchen Vernunft. 147 


ſolute Triebfeder , und 3) iedes andere, Durch eine 
andere naͤchſte Urſache Cund nicht durchs Gittengefeg) 
bewuͤrkte Gefühl, kann Feine ächt moralifche Triebfe— 
der abgeben, weil es nicht nothwendigerweiſe und allge: 
mein zum Gittlichguten anfreibe — eine einzige ab- 
folute Triebfeder: 4) Wenn auch eine andere Trieb- 


feder, vermöge einer zufälligen Einrichtung Taufer ler 
asle Handlungen Hervorbrächte,, fo mürde fie doc) die 


moraliſche Geſinnung nicht hervorbringen, fondern 
verderben. 5) Das obiektive abſolute Gut fuͤr die rei- 
ne Vernunft wird vermittelſt dieſer Gefühle auch ſubiek⸗ 
tiv als ein Gut vorgeſtellt, für das ſinnlich affieirte ver— 
nünftige Weſen, und zwar als ein oberfies Gurt, weil 
es in unferm Urcheil den Werth von iedem andern Ge- 
| nuß der Sinne herabfegt, ihmund dem Gebrauch der Mit, 
tel zu demfelben gewiſſe Grängen beſtimmt, und weil in 
Ermangelung deffelben ein Gefuhl von perfönlicher Un— 
würdigfeit die Annehmlichfeit des Zuftandes, die aus ie- 
nen andern Quellen des Vergnuͤgens herfließe, merklich 
einſchraͤnkt. 
$. 166; 
Grund 
Dasienige ; worinn diefes Gefühl überhaupt ge— 
gruͤndet if, kann nichts anderes, als ein nothwendi⸗ 
ges Verhältnig ſeyn, worinn die Vernunft zu einem finn- 
lichen Wefen ſteht, als das Beftimmende zu dem Be— 
ſtimmbaren. Dieß denfen wir uns fehon im Begriffe 
davon: Die Beftimmung des Ginnlichen dur das 
823 licht: 


\ 


148 Critik der praftifchen Vernunft) 


Nichtſinnliche, eines Gefühls durch hr reine Vernunft⸗ 
idee, iſt aber fein erfennbares Cauſſalverhaͤltniß, mo 
“ eine der Zeit noch vorhergehende Urfache eine Würfung 
hervorbringt, die in der Zeit nachfolgt, fondern ein Er- 
foig aus Sreyheit. Die Erkenntniß dieſes Grundes 
würde eine beftimmte Erkenntniß von diefem Verhaͤlt⸗ 
niffe, mithin von der abfolut innern Beſchaffenheit des⸗ 
ienigem vorausſetzen, was unfrem Bewustfenn von dies 
fen beyden Grundvermögen als Ding an ſich ih ent⸗ 
ſpricht. Das Gefuͤhl ſelbſt iſt erkennbar; ſein Grund 
nur denkbar; fein Entſtehen iſt daher eben fo unbegreifs 
ih, als es iede freye Ihätigfeit überhaupf if. Die— 
fe Unbegreiflichkeit ſelbſt iſt aber aus dem Geſagten ſehr 
wohl begreiflich. 


8. 167. 
Viertes Broblem,* 


Abfolute Vereinigung der reinen und der em. 
piriſchen praktiſchen Vernunft. 
— 
Beduͤrfniß. —* 
Indem das Sittengeſetz ein Gefühl erzeugt, fo er 
hält es einen nothwendigen Einfluß auf einen fi nnlich 
afficirten vernünftigen Willen, und\bringt den Vorſatz 
der Ausuͤbung deffelben hervor. Sollte aber der Wille 
ungetheilt auf das Sittlich Gute gerichtet und der mo⸗ 
raliſche Vorſatz ohne alle Einfchränfung und Hinderniß 
wuͤrkſam ſeyn: fo müßte ienes (ſittliche) Gefühl ſich im 
aus⸗ 





Critik der praktiſchen Vernunft. 149 


EN ausſchließenden Beſitze von unfrer Sinnlichkeit befinden. 
Alsdenn wäre die abjolute Triebfeder (des dritten Pros 
blems) nicht nur an fich felbft allgemein und nothwen- 
dig wuͤrkſam, um dem Gefege Einfluß zu verfchaffen, 
fondern auch vollkommen zulänglich, um diefem Einflufs 

fe unumfchränfte, Volftändigfeit zu geben. 


6. 168. 
Sortfegung, 

- Wäre das Sittengeſetz ungehindert wuͤrkſam: fo 
würde zugleich auch das Gefuͤhl der Selbſtzufriedenheit 
unendlich ſeyn, d. h. es wäre mic Selbſtgenugſamkeit 

verbunden, Seligkeit. Das oberſte, obieftive Gut wäs 
re zugleich das einzige und vollſtaͤndige ſubiektive Gut. 


$. 169. 

So * die praktiſche Vernunft mit einem Empfin⸗ 
dungsvermoͤgen fuͤr Luſt und Unluſt in Einem Subiekte 
verbunden iſt, bilder fie ſich ein deal von vollkomme⸗ 
ner Gittlichfeit und Geligfeit, und beffimmt fie) dafs 
ſelbe zum Ziel ihrer, Beftrebungen. Diefelbe Vernunft, - 
die in ihrem reinen Gebrauche das-moralifhe Verhalten 
beſtimmt, führe in ihrer empirifchen Anwendung auf das 
Streben nach dem höchften Wohlſeyn. Sie verbindet 

iene beyden Beſtrebungen in Eins, indem fie Sittlich— 
keit in nothwendiger Verbindung wit dem Wohlſeyn ſich 
denkt. 


DE RR SE $. 170. 


r5o Critik der prafrifchen Vernunft, 


$. 170, 
Vollſtaͤndiges Gur, 

Allen Beftrebungen der Vernunft, im ihrer reinen 
und eihpirifchen Anwendung, vereinigt, entfpricht dieſes 
Neal von einem vollftändigen Gute eines Vvernünf- 
tigen Weſen. 

$. 17T, 

Das vollftändige Gut für ein vernünftiges We- 

jen begreift demnach in fich : ' 


3) eine Sittlichkeit, die von allen Einfchränfungen 
frey und durch feinen widrigen Einfluß fremdarti— 
ger Begehrungen geftört iſt; 


2) ein Wohlfeyn , das entweder unmittelbarer oder _ 


miftelbarer, aber auf ieden Fall nothwendiger Wei— 
fe von ver Sittlichkeit abhängt. 


Denn Sittlichkeit ift einmahl das oberfte But ($. 
139.), das die Bedingung ausmacht, worunter Die 
Dernunft irgend etwas anderes für Guf erfennen kann; 
gleichwohl ift es nur für die reine Vernunft vollftän; 
dig, und kann für das vernünftige Wefen überhaupt, 
auch für ein folches , das finnlicher Luft und Unluſt faͤ— 


big iſt, nicht die Stelle aller andern. Güter vertreten, 


ift alfo für die endlichen vernünftigen Weſen unvolls 


ftändig, und unzureichend, alle ihre vernünftigen (finns 


lich modifieirten) Wünfche auszufüllen. Es muß alfo 
das Wohlfeyn noch hinzu Eommen, doch nicht fürfich, 
fondern dem höchſten Gute untergeordnet, und mit 


ihm 


Eritif der praftifchen Vernunft, - ı5ı 


ihm zn einem vollftändigen Gute verbunden, das al» 
Ien möglichen Befirebungen eines vernünftigen Weſens 
entfpriche. 


€. 172. 

Praftifcher Widerſtreit der Vernunft, 

Fehlt es dieſer Idee ($. 170.) ganzlich an Realitätr 
ftehe Sitrlichfeie und Wohlfeyn in Feiner wefentlichen 
Derbindung, läßt fich das Bellreben nach dem einen 
nicht mit Hoffnung des andern vereinigen, fo entſteht 
unvermeidlich bey iedem endlichen vernünftigen Wefen 
ein getheilres, und fich miderffreitendes ntereffe, 
nehmlich :. 


1) ein abfolutes, reines Intereſſe an der Moralitaͤt, 
das die reine Vernunft fuͤr ſich hervorbringt. 


2) Ein bedingtes Intereſſe der empiriſchen Vernunft 
an Gluͤckſeligkeit, welches die Vernunft vermoͤge ih— 
ter bedingtnothwendigen und unabaͤnderlichen Vers 
bindung mit einem finnlichen Begehrungsvermögen 
nimmt, 


Diefe zwey verfchiedenen praftifchen Ideale erregen eben 
fo verfchiedene Beftrebungen nach einem zwiefachen Ziele ; 
das reine Intereſſe wird durch das unvereinte empiri— 
fche feiner alleinigen Würffamfeit beraubt, und dag end— 
liche vernünftige Wefen hat felbft durch Vernunft feinen 
genugfamen Antrieb, Moralität zum einzigen und im; 
 merwährenden Dbiefte feiner vernünftigen Ihätig- 
keit zu machen. 
; 84 $. 173. 


ı52 Critik der praktiſchen Vernunft, " 


— $. 173. 
Ohne ſich ſelbſt untreu zu werden, kann dag endli⸗ 
che vernuͤnftige Weſen weder nach Sittlichkeit, noch 
nach-Wohlſeyn allein ſtreben, ſondern fie iſt durch ihre 
Natur gedrungen, beyde praktiſche Ideale, das reine 
und Das empiriſche, zu realifiren. 


$. 174. 
Ohne Vereinigung diefer Ideale ($. 173.) in -einem 
Einzigen müßte das vernünftige Weſen unaufhörlich zwi: 


fchen Defolgung feiner reinen Gefege und feiner empi⸗ 
rifchvernänftigen Maximen (die auf Glüdfeligfeit gehen) , 


bin und her ſchwanken, und e8 Fönnte nie mic. fich ſelbſt 
durchaus einſtimmig handlen. 


$. 175. 

Das Wefen der Vernunft, als eines Princips der 
vollkommenſten Einheit, iſt mit einem alfo getheilten 
Intereſſe nicht verträglich. Es iſt alfo in dem Wefen 
der DVergunft felbjt die Nothwendigkeit gegründer, eis 
ne Vereinigung bender Ideale, und der Darauf abzielen- 
den vernünftigen Vorſchriften und Handlungen zu 
ſuchen 


$. 176. 


Wollte die Vernunft, um dieſe nothwendige Verei⸗ 


nigung ($. 175.) zu ſtiften, erſtens die ſittlichen Vor— 
ſchriften dem Verlangen nach Gluͤckſeligkeit gemaͤß ein- 
richten, ſo wuͤrde ſie nur von neuem mit ſich ſelbſt in 

Widerſtreit Er und die beyden heterogenen Be, 
ſtand⸗ 


— 
2 Ye 





Critlk der prakti ſchen Vernunft. 153 


ſtandtheile deg Ideals, Die auf dieſe Art vereinigt wer⸗ 
den folten, mieten fich wechfelfeitig ſelbſt zerſtoͤren. 
Das vernünftige Weſen handelte alsdann den seinen 
Vernunftgeſetzen zuwider — alfo nicht ſittlich; es muͤß⸗ 
te ſich darum ſelbſt verachten, und waͤre alſo auch im 
Bewußtſeyn feiner ſelbſt nicht glücklich. Denn das 
Streben nach Glüdfeligkeie iſt nicht einerley mit der 
Sittlichteit. 


$. 177. 

Wollte die Vernunft zweytens dieſe geſuchte Ver⸗ 
knuͤpfung darinn finden, daß das Bewußtſeyn der Tu⸗ 
gend ſelbſt zufrieden macht, und alſo gewiſſermaaßen be⸗ 
gluͤckt: ſe wuͤrde dieſe Vereinigungsart dem Begriffe von 
Gluͤckſeligkeit eines endlichen Weſens, ſo wie die vorige 
($. 176.) dem Begriffe von Sittlichkeit, mwiderfprechen. 
Das bloße Bewußtſeyn der Moralitaͤt, wie dieſe iedes— 
mahl in einem endlichen Weſen in einem gewiſſen Gra— 

de der Einſchraͤnkung vorhanden ſeyn kann, vermag daf- 
ſelbe (z. B. den Menſchen), nur unvollkommen zu be— 
gluͤcken, weil es theils mit Bewußtſeyn unvermeidlicher 
zaͤngel, alſo mit Unzufriedenheit mie ſich ſelbſt verbun- 
“den iſt, theils auch durch die unangenehme Empfindung 
anderer, finnlicher, im Genuffe eingefehränfter Triebe 
und Neigungen verdunfelt wird. Das Bewußtfeyn der 
Zugend, d. i. der Moralitaͤt eines endlichen Wefeng 

iſt nicht einerley mie der Gluͤckſeligkeit überhaupr. 


* 


85 $, 178; 


154 Critik der praftifchen Vernunft. 


$: 178. 

Die übrigen Beftandrheile der Glückfeligfeit 4 
nicht in gleichem Verhaͤltniſſe mit der Sittlichkeit und 
mit dem angenehmen Bewußtſeyn derſelben in einen 
vernünftigen Weſen, Wenigſtens überzeugt ung Die 
Erfahrung dieſes Lebens nicht von dem Daſeyn einer 
folgen Proportion, Nach demienigen, was fie uns 
lehrt, bleibt es möglidy *) zu glauben, daß Gluͤckſe⸗ 
ligkeit im Ganzen zu der ſubiektiven Gittlichfeit eines 
endlichen Weſens im Mißverhältniffe ftehe. Diefer Glaus 
be kann nicht anders, als das firtliche Beſtreben eineg 
Weſens ſchwaͤchen, das gegen Gluͤckſeligkeit durchaus 
nicht gleichguͤltig ſeyn kann. 


$. 179, 

Erlaubte Klugheit, d. i. ein der Sittlichkeit unter- 
georonetes DBeftreben nach Glückfeligkeit — kann zwar 
durch ihre Verbindung mie. der Tugend iene Dispro- 
portion einigermaoßen und zumeilen vermindern , aber 
weder immer noch vollffändig dieſelbe aufheben. 


6. 180, 
Die Erfahrung lehrt ung zwar manche Kinridys 
tung unjrer ſinnlichen Natur fennen, Die in fehr 
vielen 


9* Geradezu und dogmatiſch zu behaupten, ‚daß nach al 
ter: Erfahrung De Moralitat und die Glückfeliakeit in 
dieſem Keben nicht gehotig proportionirt vorhanden war 
ren, balte ich fuͤr willkuͤhrlich; denn mer will die ſub⸗ 
iektive Moralitaͤt und die fubiektive Gluͤckſeligkeit auch 
nur eines einzigen Nenſchen „ihrer — nach gehdrig 
und mit Gewißheit ſchaͤtzen? 





Critik der praftifchen Vernunft, 155 


vielen Fällen die Moralität begünftigt, indem fie mif 
der Ausübung derjelben zu gleicher Zeit das Vergnügen 
der Befriedigung irgend einer finnlichen Neigung G- B. 
der Sympathie, Des Wohlgefallens an Ordnung, an 
Harmonie) verbindet. Allein diefe Harmonie kann doch 
durch Erfahrung nur als zufällig, und nicht als allge 
mein und nothwendig, oder gar als vollftändig und 
durchgängig erfannt werden. | 


§. 181, 

Innerhalb des Innbegriffs möglicher Erfahrung 
finden fich alſo feine Gründe, woraus fich eine folche 
nothwendige Proportion zwifchen Sittlichfeit und Gluͤck⸗ 
feligfeit eines endlichen vernünftigen Weſens begreifen 
laſſe, als erfordert wird, um die Principien der reinen 
und der empirifchen praftifchen Vernunft mit ſich felbft 
vollfommen einflimmig zu machen. | 


$. 182. 
Es find alfo entweder überall Feine folche Gründe 
vorhanden, oder fie müflen auſſerhalb dem Inbegrif—⸗ 
fe und dem Gefichtsfreiß möglicher Erfahrung liegen. 


$.. 183. 

Eben daffelbe Bewußtfeyn, das uns die Derbind» 
lichkeit auflege, das moralifche Gefe zu befolgen, nö- 

thiget uns (ſubiektiv), dieſe Verbindlichkeit, als dem 
oberſten, unbedingt nothwendigen, ſubiektiven Zweck 
mit unſrem geſammten uͤbrigen, bedingtnothwendigen 
Zwecken als vereinbar zu denken, d. h. es bringe noth— 
wen⸗ 


156 Critik der praktiſchen Vernunft. 


wendiger Weiſe den Willen in uns hervor, Gruͤnde 
der Moͤglichkeit einer ſolchen Vereinigung, die wir uns 
irgend ohne Widerſpruch denken, wenn gleich nicht als 
wuͤrklich vorhanden darthun Fönnen, als exiſtirend an; 
zunehmen, und dieſer Vorausſetzung gemaͤß unſer Vers 
halten einzurichten, d. h. fie praktiſch zu glauben. 


$. 184. 

Diefer Wille (volitio), iſt Fein zufälliger Wunſch, 
fein Produkt einer blos finnlichen und an fich $ufälligen 
Neigung, fondern eine unmittelbare und nothwendige 
Folge des moralifchen Gefeges;, fofern das Bewußtſeyn 
von demfelben mit dem Bewußtſeyn von Gefegen eines 
finnlichen Begehrungsvermögeng in eben demfelben Subs 
iefte vorhanden und verbunden if, 


$. 185, 
Ein Sag, den die Vernunft als wahr annehmen 
muß, um die Forderungen des (undedinge nothwendi⸗ 
gen) moraliſchen Geſetzes als vereinbar mit den (bes 
Dinge nothwendigen) Negeln eben derfelben Vernunft i im 
empirifchen Gebrauche, und erſt dadurch als erfülbar 
zu denken — iſt praftifch nothwendig, und kann megen 


diefes DVerhältniffes ein Poſtulat der praktifihen 


Vernunft genennet werden. Es hat mehr Nothwen⸗ 
digkeit als eine blos theoretiſche Hypotheſe. Denn 


LT 


der Zweck, welcher eine theoretiſche Hypotheſe empfiehle — — 


die Erfahrungserfenntniß fpffemarifcher zu machen und 
au erweitern, iſt ſeiner Wichtigkeit ungeachtet, nicht 
ſchlech⸗ 





Critik der praftifchen Vernunft, 157 


ſchlechterdings nothwendig, wie es der Zweck iſt, moraliſch 
gut zu handlen, der dem praktiſchen Poſtulat zur Grund⸗ 
lage dient. 


— 


— 


§. 186. 

Als praktiſches Poſtulat (. 185.) nehmen wir au, 
daß in demienigen, was wir durch ſinnliche Erfahrung 
nicht erkennen ($. 180.), ſondern nur durch Vernunft 
ung denken koͤnnen ($. 181.), d. h. in dem Intelli⸗ 
giblen die wahren und hinreichenden Vereinigungsgruͤn⸗ 
de der reinen und der empirifchen, Gebote der. praftifchen 
Dernunft, und der ungehinderten Befolgung der erſte— 
ren enthalten find. 


6. 187, 
Intelligible Welt, 


> Die Vernunft nöthiget uns zu den einzelnen Erfcheis 
nungen und zu der Sinnenwelt, als dem ganzen Inn— 
begriffe derſelben uns Etwas an ſich felbft als 
Grundlage zu venfen, welches erſcheint, d. h. wel— 
ches die infofern nicht vorftellbare, Teste Bedingung von 
dem Stoffe aller finhlichen Gegenfiände ausmacht. Die- 
fe: Dinge nennen wir incelligible Dinge ($. 186), und, 
ihren Innbegriff, den wir ung vorftellen, oder den voll 
fländigen denfbaren Grund der ganzen Sinnenwelt, nen= 
nen wir die intelligibie Welt. Theoretisch, d.h. durch) 
anfchauende Begriffe fünnen wir dieſe zwar nicht erfen- 
nen; es iſt ung aber dennoch vergönnt, fie nach der 
Analogie des Vorſtellbaren (Anſchaulichen, Denfbaren) 
zu 


158 Critik ver praktiſchen Vernunft, 


zu praktiſchen Endzwecken in unfrer Vernunft zu be 
ſtimmen. Der moralische Zweck kann durch dasienige, 
wæas er fordert, die Stelle der finnlichen Anſchauung, 
die ung’abgeht , gemiflermaaßen vertreten. 


8. 188; 
Moralifche Welr, 

Wir denfen uns, dem nothroendigen Bedürfniffe 
der reinen praftijchen Vernunft gemäß, die Welt als 
moralifdy, d. h. als eine Welt, durch welche und in 
welcher die Endzwecke der Vernunft vollſtaͤndig erreiche 
twerden koͤnnen, und worinn das der Forderung des 
Sittengeſetzes entfprechende Gut enthalten ſey, nehmlich 


1) reine Gittlichfeit ; 


5) vollfonnmenes, dieſer Gittlichfeit angemeffenes 
Wohlſeyn; 


3) vollkommene Einheit, Harmonie dieſer beyden End⸗ 


zwecke eines vernuͤnftigen Weſens. 


§. 189. 

Dieſes hoͤchſte und vollftändige Gut iſt, wenn es 
exiſtirt, ſo wie die moraliſche Welt uͤberhaupt, fuͤr das 
eingeſchraͤnkte und ſinnliche Vernunftweſen in keinem 
Theile feiner ſinnlichen Exiſtenz vollſtaͤndig erkennbar, 
ſondern ſeiner Totalitaͤt nach demſelben verborgen. 


§. 190. 














Critik der praftifchen Vernunft, 159 


6. 190. 
Unendliches Fortſchreiten. 

Wenn eine ſolche moraliſche Welteinrichtung und in 
derſelben das hoͤchſte und vollſtaͤnbige Gut, worauf die 
Beſtrebungen der Vernunft gerichtet ſind, fuͤr mich vor— 
handen ſeyn ſoll: ſo muß ich folgendes annehmen: 


1) Meine ſubiektive Moralitaät kann und wird ins 
Unendliche zunehmen, wenn ich will, d. h. es giebt 
in der Welt kein ſubiektives, innres oder aͤuſſres, 
phyſiſches Hinderniß, das für meine ernſtliche mo: 
ralifche Bemuͤhung unuͤberwindlich wäre, und mir 
den guten Willen jchlechterdings rauben, oder die 
zunehmende Wuͤrkſamkeit deſſelben ſchlechterdings 
einſchraͤnken koͤnnte. 


„Wenn ich will“ — Ohne dieſen Zuſatz wuͤrde die 
moraliſche Triebfeder gelaͤhmt und die aͤchte ſittliche 
Selbſtthaͤtigkeit unterdruͤckt, wie dieß in dem —— 
niſtiſchen Optimismus geſchieht. 


2) Wie meine Moralitaͤt wuͤrkſam wird, ſo ſteigt in 
gleichem Verhaͤltniß (natuͤrlicher Weiſe) auch meine 
perſoͤnliche Selbſtzufriedenheit ins Unendliche fort. 


3) Eben dieſes Steigen meiner Zufriedenheit, eine 
Wuͤrkung meines Fortſchreitens im Sittlichguten, 
aͤuſſert die Gegenwürkung auf meine moralifche 
Geſinnung, die Hinderniſſe derſelben zu vermin— 
dern, und ihr ſelbſt neue Staͤrke und Sefägkeit 


zu verfchaffen; 
4) Durch 


160 Critik ver peaftifchen Vernunft, 


4) Durch allesdieg wird eine Einfchränfung der Sitt⸗ 


lich£eit und des Wohlfeyns nach der andern weg» 
geräumt , eine Annäherung zu dem Ideal der Hei- 
ligfeit und Geligfeif bewirkt und das Mißverhaͤlt— 
- ni. zwifchen den Wohldefinden und dem Wohl 
verhalten ſchon auf dieſe Arc in Anfehung meiner 
verringert und der zweckmaͤſſigen Proportion näher 
gebracht. 


Dieß laͤßt Ach durch das Beyſpiel eines Menſchen erlau 7. 


tern, der fich lange Zeit in der Tugend übe, und eben 
darum immer weniger Schwürigfeit und mehr innerliche 
Belohnung des Bewußtſeyns darinn finder. 


’ 6. 191. 
5) Indem ich dieß alles ($. 190.) nicht nur in Ans 
fehung meiner, fondern auch in Anfehung aller an⸗ 
dern: endlichen vernünftigen Weſen annehme: ſtelle 


ich mir eine Gefellfhaft verhünftiger Geifter vor, 


Die alle insgeſammt in fubieftiver Moralitaͤt und in 


perfönlicher Selbftzufriedenheit harmonifche Zore 


fihritte machen, und worian iedes Glied, diefen Foͤrt⸗ 
fchritten gemäs, das Seinige beyrrägt, Sittlichkeit, 
Wohlfeyn und die zweckmaͤßige Proportion zwifchen 
beyden zu befördern. 
Aug der Erfahrung von den Folgen, die dus den ver- 
einigten Bemühungen einer Geſellſchaft gutdenfender 
Menſchen für irgend einen. guten und moralifchen Zweck 
entſtehen, laͤßt ſich dieſe idealiſche Vorſtelung erlaͤutern. 


— 6. 192. 
J 


s 








2 — 


Critik der praktiſchen Vernunft. 161 


$. 192. 
Unſterblichkeit. 

Soll in einer moraliſchen Welt (8. 188.) das endli- 
che vernünftige Wefen ins Unendliche hin Forftſchritte 
machen Fönnen in der Tugend und in der Zufriedenheit 
mie fich ſelbſt ($. 190. 191.): fo muß ich ferner an 
nehmen : NAD m 


6) Ich felbft und iedes endliche vernäuftige ‚Mefen' 
hat eine ing Unendliche fortgehende Lebensdauer, 
worinn ein unendliches Fortfchreiten möglich iſt — 
UnfterblichFeit. 


Diefe Unfterblichfeie Tage fich zwar nicht theoretifch er» 
weiſen; es iſt aber auch fein Beweiß für das Gegentheil 
davon aus theoretifchen Gründen möglich; vielmehr 
ſtimmt diefe Cpraftifch nochmendige) Verſtellungsart mie 
der Analogie der erfennbaren Natur ſehr wohl zuſammen. 


$. 193. 
Beſte Welt, ) 

Die Vollkommenheit einer moralifchen Wele ($. 189.), 
ſchließt aber nicht blos die unendliche Fortdauer und da— 
durch mögliche Fortbildung und innere Befeligung der 
vernünftigen Weſen in fich, fondern fie erfordere auch zu 
gleicher Zeie eine harmoniſche Einrichtung der übrigen 
Dinge und ihrer Verbindungen und Geſetze zu Beförde- 
rung des vernünftigen Endzwecks. Wir mäflen alfo 
annehmen 


| Moralphiloſophie. ß 7) eine, 


162 Critik der praftifchen Vernunft, 


7) eine ſolche Einrichtung der Welt und ein folches 
Verhältnif der Naturgefege zu dem Gittengefeke, 
vermöge deren der ganze Einflug der Naturfrafte 
auf das Wohl der vernünftigen Wefen ihrer Gitt- 
lichfeie im Ganzen mwürflich entſpricht — wenn 
gleich dag finnlich befchranfte Wefen (mie 5. B. der 
Menſch) dieſe vollfonimene Uebereinftimmung in 
feinem Zeittheile feiner Exiſtenz anfchauend erfen- 
nen kann. 

$. 194. 

Diefe Harmonie ($. 193.) muß zwar in der Sin- 
nenweit vorhanden feyn ; weil Empfindung des Wohl 
ſeyns nur in diefer finnlichen Einrichtung ftatt finder. 
Sie ift aber deshalb nicht aus den Gefegen der finnlichen 
Natur erfennbar , fondern in hohern, blos vernünftig 
denfbaren , nothmwendigen Gefegen und in unbekannten 
Gründen aller Erfcheinungsregeln gegründet. 


$. 195: 
Optimismus, 
Die befte Welt oder der Optimismus iff ein Ideal 
entweder blos der empirifchen, oder blos der reinen, 
oder der reinen und empirifchen Bernunfe in Verbindung. 


a) Ein Jdeal blos der empirifhen Vernunft: 
Die grogte Summe von Wohlſeyn, durch phy- 
fiihe Gefege bewürft, worunter Die morslifchen 
nur mit begriffen find, als Mittel das Wohl 
ſeyn zu befordern. Dieß ıft Die Welt nach dem 

Leib⸗ 





Eritif der praftifchen Vernunft, 163 
Leibnitziſchen Optimismus, welcher der Morali⸗ 
taͤt in hohem Grade ſchaͤdlich iſt; denn er legt 
der Moralitaͤt nicht an ſich und um ihrer felbſt 
willen, ſondern nur in Bezug auf Gluͤckſelig— 

keit einen Cäuffern) Werth bey, und-läßt mich 
alles von der Natur, nichts von meiner Frey⸗ 

heit erwarten: 

b) Ein Fdeal der reinen Dernunft: vollkom⸗ 
imene und ungehinderte Moralitaͤt — ohne über- 
einftimmendes Wohlſeyn. 

Diefes Ideal widerjpricht der Natur endlicher und dat- 
um jederzeit auch ädfferlich bevürftiger Wefen , und laßt 
ſich nicht einmahl durch Annäherung realifiren. 

c) Ein deal der reinen und der empirifchen 
Vernunft. Es verbindet die beyden vorigen 
Begriffe in Einem Ideal — von einer Harmo» 
nie der Natur mit der firtlichen Welt, einer Be- 
ſtimmung des Wohlſeyns zu moralifchen Zwecken. 

In diefem Syſtem mache das reine Fdeal (Rum. b) die 
Grundlage aus, womit das blos empirifche (Num. a) 
Auf eine folche Art verbunden wird, daß es dem Erſtern 
negativ und pofitio untergeordnet if. D. h. Moralis 
tät ift der oberfte, hoͤchſte Zweck, der allen vorgeht; 
Wohlſeyn wird uur fo weit befördert, als es iener ober: 
fien Bedingung nicht widerſpricht, und dem bberſten 

Zwecke beförderlich ift: 
Dieſes Ideal Om. c) hat die moralische Wuͤrde 
22 dee 


164 Critik der prafeifchen Vernunft, 


des Neinen (Num. b), und verbindet Damit Die Anges 
meffenheit des Empirifchen (Rum. a) zu unfrer finnlichen 
Natur. Es entfprichk Diefer ganzen vernünftigen Nas . 
tur, und iſt eben Darum emer annaͤhernden Nealifirung 
durch Vernunft gar wohl fähig. | 


$. 196. 
Verhaͤltniß der beften Welt zu unfrer 
Anſchauung. 

Weil ich endlich bin, fo offenbarer ſich dieſe vollkom⸗ 
‚ mene Harmonie, mir (und iedem endlichen. Weſen) nies 
mahls in ihrer Vollſtaͤndigkeit, fondern ftufenmeife im 
iedem Folgenden Zeitpunfte meiner finnlichen Exiſtenz. 
Das hoͤchſte Gut exiſtirt nochwendigermeife als etwas 
Unendliches und Ewiges. Das Endliche und Fortſchrei— 
tende in demſelben liegt nur in ber Endlichkeit und in 
dem zeitmaͤßigen Fortſchreiten der Anſchauung meines 
innern und aͤuſſern Sinnes. In feinem Zeittheile iſt 
es ganz vorhanden, ſondern nur in der Ewigkeit. Das 
Ganze beſitzt ein endliches Weſen nur in der Hoffnung 
und in der Vernunftidee von Unendlichkeit. 


$. 197. 
Kealität dieſer Ideen. 

Die Idee von einer ſolchen Welt, und von einer 
ſolchen Art meines Daſeyns in derſelben ($. 189 — 
196.), läßt ſich, was ihre Wahrheit und Guͤltigkeit 
betrift, nach Gründen, theilg der theoretifchen , cheils 


der praktiſchen Vernunft unterſuchen. Auf dieſe Art 
kommen 





Critik der prafeifchen Vernunft. 165 


kommen zwar verſchiedene, aber doch nicht widerſprechen⸗ 
de Reſaltate zum Vorſchein. 


6198. 
Theoretiſche Guͤltigkeit. 
Erſtlich, theoretiſch betrachtet, macht es die 

Natur unſers ſinnlich eingeſchraͤnkten Vorſtellungsver— 
moͤgens uns unmöglich, das Daſeyn einer ſolchen 
Welteinrichtung und einer ſolchen Art und Dauer unſrer 
perſoͤnlichen Exiſtenz durch Erfahrung — die nur auf 
das Endliche gehe — oder auch durch ſpekulative Ders 
nunftgründe, die uns nur mit unfern eignen Ideen bes 
kannt macht, Denen Die wirklichen Gegenftände nicht 
ſchlechterdings entfprechen müffen — zu erweifen. 


.$ 199. 

Zweytens praftifd) betrachtet, bin ich mich des 
moralifchen Gefeges, und der unbedingten Nothwendig— 
keit, ihm als vernünftiges Wefen Folge zu leiſten, bes 
wußt; Moralitäe erkenne ich daher als das oberſte Sur 
und als meinen hoͤchſten Zweck. Ich bin mir zugleich 
des Bedürfniffes der Glücfeligfeit und des bedingt noth- 
wendigen Beſtrebens nach feiner Befriedigung bewußt. 
Die Vorfhriften meiner empirifchen Vernunft, mie ich 
glückfelig werden fol, freffen an fich felbft nicht noth— 
wendigerweiſe mit den fitelichen Forderungen zufammen. 
Die Moralitär iſt alſo, natürlich betrachtet, nicht mein . 
vollftändiges Gut. ch achte mich verbunden, das mo- 


raliſche Geſetz allem übrigen vorzuziehen, und dem Ziele, 
ae das 


166 Critik der praftifchen Vernunft, 


das es mir vorhalt,, ſtandhaft und iedem Hinderniffe 
Trotz bietend nachzufireben. Um die der finnlichen An- 
triebe ungeachtet, thun und die fittliche Zriebfever un— 
umſchraͤnkt wuͤrkſam machen zu konnen, muß ich mir 
den rein vernünftigen) und den empiriſch vernünftigen 
Zweck als vereinbar , und zwar nur fo vereinbar geden⸗ 
fen, daß das unbedingte und uneigennügige Streben 
nach dem rein vernünftigen, oberften Gute mich zugleich 
des. empirifch vernünftigen Gutes nicht beraube, und 
alfo des vollftändigen Gutes (das beyde begreift) theil- 
haftig mache. Dieß ift aber nur möglich, unter der 
Dorausfegung, daß ich ins Unendliche fort mit iedem 
vernünftigen Wefen fortdauere, und daß eine moralijche 
Welteinrichtung eriflire. 


Ih will und glaube daher, durch das moraliz 
ſche Gefeg und durch die praktiſche Einrichtung meiner 
übrigen Natur dazu gedrungen, daß ich, als ein un: 
fterblihes Wefen fortdauere, und daß eine fit; 
lidye Welt würklich vorhanden fey. 


$. 200. ! 


Diefes Wollen ift freylich Fein. obieftiver Grund 
des mürflichen Vorhandenſeyns, noch auch ein theo= 
retifcher Erfenntnifgrund davon oder ein Beweiß, ſon⸗ 
dern lediglich ein fubieftiver aber doch zureichender Grund, 
diefe Vorftellungsart von der intelligiblen Welt, wovon 
mir doch eine fpefulative dee haben, als die einzige 
praftifch faugliche, d. h. der einffimmigen Handlungs; 
weiſe unfrer Vernunft angemeffene Art, fich Die Welt 

ein⸗ 





Eritif der praftifhen Vernunft. 167 


einrichtung beſtimmt zu gedenfen — gelten zu laſſen, 
und (da einmahl auf beſtimmte Weife gehandelt werden 


$. 201. 

Diefer Grund würde frenlich zum Glauben nicht 
zureichen, wenn entweder fein unbedingtes Gebot fur 
Moralitat, oder Fein bedingte nothiwendiges Streben 
nach Glücfeligfeit vorhanden, oder eine andere VBerbins 
dungsart diefer beyden collidirenden Beftrebungen moͤg⸗ 
lih,, oder wenn endlich der Begriff einer intelligiblen, 
von der Sinnenwelt unterfchievenen Welt gänzlid) ers 
Dichter, und die erfennbare Welt ein Innbegriff von + 
Dingen an fich felbft wäre, 


| $. 202. 

Allein diefer Begriff ift nicht nur zuläßig , fondern 
auch durch die Spefulation norhwendig, nur unbeftimme, 
und um deswillen einer praftifchen Beftimmung fähig. 
Diefe Beftimmung iff ferner der Spefulation eben fo 
wenig entgegen, als demienigen, was die Erfahrung 
lehrt. Denn betrachten wir mit VBorausfegung von der 
Realität diefer Idee die Welt, fo wie unfer finnlichee 
Derftand fie erfennen kann, fo finden wir theils man; 
nigfaltige Beftätigungen verfelben in einzelnen Einrichz 
tungen und Gefegen der Natur *), z. B. die Harmonie 

24 | der 
”) Han darf diefe Beſtaͤtigungen der a priori porausge: 


festen fittlichen Zweckmaͤßigkeit eben ſo wenig in ein⸗ 
zelnen Ericheinungen und Vorfaͤllen, die der entlib- 
14 


68 Eritif der praftifchen Vernunft, 


der natürlichen Neigungen mit dem ſittlichen Geſetze theils 
mannigfaltigen Stoff zum Zweifel, welcher aber durch 
unſre Unwiſſenheit und Eingeſchraͤnktheit (da wir wes 
der den Grad der Moralitaͤt noch die Groͤße der Gluͤck— 
ſeligkeit in einzelnen Faͤllen beſtimmt und genau zu er⸗ 
kennen vermoͤgend ſind) vollkommen begreiflich, und 
durch Betrachtung derſelben unwuͤrkſam wird. Unſre 
Naturforſchung empfaͤngt nun eine teleologiſche Rich— 
tung. 


6. 203. 
Gottheit, 

Die dee einer moralifchen Welteinrichtung, vie 
fih meinem fittlichen Intereſſe aufdringt, bedarf einer 
anderen dee, wodurch iene eine der theoretifcen Ver⸗ 
nunft angemeſſene Haltung bekommt. Dieß iſt die 
Idee von einem moraliſchen Urheber des Univerſums, 
einer Gottheit. Wenn ich mein praktiſches Vernunftge⸗ 
fchäfte vollenden, wenn ich mir die moralifche Einheit 
in der Welt vernunftmäßig denfen will, fo muß ich mir 
die (intelligible und zwar moralifche) Welt als das Werf 
einer Gottheit gedenfen. ch glaube Daher 


8) an. das Dafeyn eines Weſens, Eines oberſten 

Princips, woraus die Gefeze der Natur und der 
Sitten entſprungen find. 

$. 204. 


keit zutraͤglich ſcheinen, aufſuchen, als der Phyſikotheo⸗ 
log daſſelbe im Abſicht auf, phnfifche Zweckmaͤßigkeit 


thun darf. Es kommt in beyden Faͤllen anf Einrich⸗ 


tungen nach Tratusgelgken nur an, 





Critik der praktiſchen Vernunft. 169 


$. 204. 
Prektiſche Gerundbeſtimmungen des Begriffs 
von der Gottheit, 

1. Dernunfe und Wille. Moralifche Wuͤrkſam⸗ 
feit, die wir der Gofrheit, in Abficht auf die Welt, 
zufchreiben muͤſſen, läge fih nur Durch praftifche 
Vernunft begreifen. Wir legen fie ihr alfo ben, 
als die erſte Grundbeſtimmung unfers Begriffs von 
einen Wefen, von welchem eine moralifche Welke 
einrichtung ihr Dafeyn empfangen har. 

2. Erkenntniß der Welt. 


3. Mach. Ohne dieſe Beſtimmungen waͤre der (mo⸗ 
raliſche) Einfluß der Gottheit auf die Welteinrich« 
tungen und Begebenheiten nicht denkbar. 


$. 205. 
Unendlichkeit. 

Ein Weſen, deſſen Cauſſalitaͤt der moraliſchen For: 
derung vollſtaͤndig entſprechen, und welches der zureis 
chende Grund einer intelligiblen und zwar moralifchen 
Welt feyn fol, darf mit feinen Einfchränfungen gedacht 
werden. Wir fondern alfo aus demſelben Grunde, wars 
um wir es überhaupt uns gedachten, und warum wir 
ihm praktiſche Dernunft, Erkenntniß der Welc und 
Macht ($. 204.) beylegten, alle mögliche Schranfen von 
den Merfmahlen diefes Begriffes ab. Die Gottheit befizs 
demnach 

1. höchſte Vernunft, d. i. Weisheit; | 
e5 a) theo⸗ 


‚170 Critik der praftifchen Vernunft. 


a) cheorerifche höchfte Vernunft und Weisheit, 
d. i. Erfenntniß des höchften Gutes. 


b) praktiſche höchfte Vernunft und Weisheit, 
d. i. Angemeflenheit des Willens zum hochften 
Guten ; 


2. höchſten Verftand, d. i. Allwiſſenheit. 
3. Allmacht. 


$. 206. 
Nähere Beſtimmung. 
Der Begriff 

3) der höchften fheoretifchen Vernunft ſchließt in fich 
— Unabhängigfei der Vorftellung des 
höchſten Butes von Sinnlichkeit, als_ einer 
Quelle eingefchränkter Vorſtellungen von unvolk 
fommenen Gütern ; 


2) der höchften praftifchen Vernunft oder der Weis- 
heit iſt einerley mit dem Begriffe des beiten Wil; 
lens oder der Heiligkeit, und fchliege in ſich Uns 
abhaͤngigkeit von allem Einfluffe ver Sinnlichkeit 
als einer Quelle von Begehrungen — abfolute 
innere Freyheit, Selbſtgenügſamkeit; 


3) des vollkommenſten Verſtandes muß abgeſondert | 


gedacht werden von allen Einfhränfungen des Vers 
frandesgebrauches durch die Verbindung mit Sinn— 
lichfeit. Der höchfte Verftand darf feinen-Stoff 
nicht anders woher befommen, er muß jelbft anz 


‘ 


hauen, 


* 





Critik der praftifchen Vernunft, 171 


ſchauen, als ein Vermögen intellektualer Anz 
ſchauung. Seine Erfennmiß iſt nothwendig a 
priori , d.h. fie beſtimmt feldft das Daſeyn alles 
deſſen, was exiſtirt. 

4) Der Begriff der vollkommenſten Macht ſetzt Un⸗ 
abhaͤngigkeit von allen aͤuſſern Beſtimmungen und 
Hinderniſſen der Wuͤrkſamkeit, oder abſolute 
äuſſere Freyheit voraus. 

Theils Folge, theils Bedingung aller dieſer Eigen— 
ſchaften iſt 

5) unendliche Selbſtzufriedenheit oder Seligkeit 





§. 207. 
Metaphyſiſche Eigenſchaften. 

Der Begriff eines Weſens, dem die bisher erflär- 
ten zur Begründung einer moralifhen Welt unmittel- 
bar erforderlichen Eingenfchaften zufommen, muß durch 
folgende metaphyſiſche Praͤdikate, als die vernünftig 
denkbaren Bedingungen ſeiner Moͤglichkeit beſtimmt wer⸗ 
den. Sie laufen nach Ordnung der Categorien fort. 


1. Pofitiv und Rein. — 


a. Abſolute Vollſtaͤndigkeit des Innbegriffs We⸗ 
ſen aller Weſen) 


b. Abſoluter Realitäten (Realſtes Weſen) in 
einem 


c. Abſolutem Subiekte (Ein Einfaches Weſen) 
mit 


172 Critik der praftifchen Vernunft. 


mit abjoluter GSelbftthätigfeie (Sreyes Wefen) 
und Sarmonie, welches 


d. Schlechterdings nothwendiger Weife (als Ur; 
weſen) eriftirt. | 

2) Negativ, in Bezug auf die finnlichen Einfchrätte 

kungen endlicher Mefen. N 

Abweſenheit aller einfchränfenden Bedingungen ‚ die bey 
finnlichen Gegenftänven fich befinden, nehmlich 

2. ber ertenfiven Gröffe. Unzulänglichfeit ieder 

Zahl um das Verhältnig diefer Größe zu Raum 

und Zeittheilen zu beſtimmen; Unermeßlichkeit. 


&) Nichtſeyn aller raͤumlichen Einſchränkungen; 
Allgegenwart; 


PR) aller Zeitſchranken; Ewigkeit. 


b. Der innern Groͤße. Untauglichkeit ieder end⸗ 
lichen Kraft zum Maasſtabe für die Goͤttliche; 
Abmefenheit aller denkbaren Grade; Zulaͤnglich⸗ 
keit der Kraft zu iedem möglichen Effekte. Un⸗ 
endlichkeit. 


c. Der Relation. Unabhaͤngigkeit des Daſeyns der 
Subſtanz mit allen ihren Beſtimmungen, Nicht- 
feyn aller Zufälligfeiten in der Gottheit; abſo⸗ 
Inte Selbfiftändigkeit, Unveränderlichkeit. 

Abhängigkeit aller görtlichen Ihätigfeiren von der 


göstlichen Beoit, mir Ausfchliegung iedes andern 
Beſtim⸗ 


— 


Critik der praktiſchen Vernunft. 173 


Beſtimmungsgrundes; abſolute Selbſtthätig—⸗ 
keit. 





Nichtſeyn aller innern Einſchraͤnkung der goͤttlichen 
Thaͤtigkeiten durch ſich ſelbſt, alles Widerſtreits; 
abſolute Harmonie. 


d. Der Modalitaͤt. Unabhängigkeit des Dafeyns 
von allen andern, auffer ihr ſelbſt; abſolute 
sep Wenbigtelt, afeitas, 


§. 208. 
Gute, Gerechtigkeit, 


In dem Begriffe der Weieheit ($. 204. f.), oder 
der Beförderung des. höchften und vollftändigen Gutes 
in der Welt, unterfcheidee man Güte und Gerech 
tigfeit. 


Güte wird der Gortheif beygelegt, infofern alles 
Wohlſeyn in der Welt von ihr abhängt; Gerechtig⸗ 
keit, inſofern die goͤttliche Veranſtaltung des Wohlſeyns 
der vernünftigen Weſen dem hoͤhern Zwecke der Befor— 
derung ihres oberſten Gutes, d. i. der Sittlichleit un— 
tergeordnet, und dieſe zur Bedingung des Wohlſeyns 
gemacht worden iſt. Gerechtigkeit iſt demnach ein mehr 
beſtimmter Begriff, als Guͤte, und die letztere kaun mit 
ihr in keine Colliſion kommen. 





174 Critik der praftifchen Vernunft, 


$. 209. 
Wahrhaftigkeit, Gnade, Barmherzigkeit, 
Geduld u ſ. w, 

Auffer der Guͤte und der Gerechtigkeit giebt es Fels 
he moralifche Eigenfchaften , die von den genannten ver: 
fihieden und dennoch der Gottheit nicht unwuͤrdig Wäs 
ren Was man von andern Prädifaten anfuͤhrt, iſt 
enttveder mit ienen einerley, oder nicht moralifch, wo 
nicht gar unmoralifh. Go ift z. B. Wahrbaftigfeit, 
fo weit es ein moralifcher Begriff iſt, in der Heilige 
keit ſchon enthalten, abet feiner beftimmten prafeifchen 
Erklärung, als Präadifat der Gottheit fähig, und feine 
einzelne Thatſache darf daraus beſtimmt oder darnach bes 
urtheile werden *): 


Gnade bedeute: 1) Güte eines Großen und Mäd: 
tigen, dem man durch feinen phyfifchen Zwang beykom⸗ 
men fann, und von dem man wegen der Erhabenheit 
feines Standes feine eigentliche Güte, feine Aterfens 
nung der gemeinen Menfchenpflicht gegen gemeine 
Menſchen erwartet. In diefem Sinne ift der Ausdruck 
ein verftefter Vorwurf, nehmlich eine Anerfennung der 
bürgerlichen Hoheit mit Herabfegung feiner menſch⸗ 

lichen 
*) Daß die Theologen gerade diefe einzelne menfchliche 

Tugend „Wahrhaftigkeit“ befonderd angeführt 

und der Gottheit bengelegt haben, da fie andere menjch- 

liche Arten, firtlich zu bandlen , 3. B. Maͤßigkeit eben 
ſo fehicklich. oder unſchicklich hatten anführen Fünnen, 
iſt lediglich um der Dffenbahrung willen geſchehen, zu 


welcher Abſicht man diefen Begriff noͤthig zu haben 
meynte. 








Critik der praktiſchen Vernunft, 175 


lichen Würde, Die eben in Erfüllung der Pflichten bes 
fieht ; eine Aeuſſerung, die demienigen Theil der Grof- 
fen, der die Menfchenmwürde noch anerfennet, zuwider 
und für ihn beleidigend if. Auf Gott angewandt, die 
größte Kafterung. 2) Güte auf Koſten der Gerechtig-- 
feit, Erlaffung verdienter, Strafe. Beförderung des 
Wohlſeyns ohne und wider den Zweck der Gittlichkeir: 
Abermahls Gottes: Laͤſterung. 3) Nachſicht gegen pers 
fönliche Beleidigungen, aus Gefühl der Größe. Paßt 
nicht auf Gott, weil er überall feiner Beleidigung fä- 
big ift: 4) Unterlaffner Gebrauch von feinem Rechte zu 
Gunften andrer. Gottes Rechte collidiren mit dem Rech: 
te und Vortheil feines vernünftigen Weſens. Nimmt 
man Gnade 5) für eine Güte, der fein Recht auf 
Seiten des Andern entfpricht : fo ift alles Gnade, und 
fie it von Güre überhaupt nicht zu unterſcheiden. 

Barmheraigkeit für Güte; Aus Antrieben der 
Sympathie — iſt Schröäche und kann unmoraliſch feyn 5 
feine Wohlthätigfeit gegen Bedürftige, ift einerley mit 
der Gute: Denn alle endliche Weſen haben Beduͤrfniſ⸗ 
ſe, denen die Gottheit abhilft. 

Geduld für die Geſinnung, nicht alle Beleidigun⸗ 
‚gen zu rächen; Langmuth für die Geſinnung, nicht 
gleich zu firafen, fondern Beffeung abzuwarten — find 
ebenfalls Begrifje, die auf unmürdigen Vorausfegungen 
von Beleidigungsfähigkeit, oder von ſchwacher Güte, 
die von den allgemeines Regeln der Weisheit abgeht, 
beruhen, und weil fie die Sjvee von der Gottheit zer— 

ſtoͤren 


a a — 


176 Critik der praftifchen Vernunft, 


frören und ihrer moralifchen Würfung offenbar großen 
Abbruch tun, allmählig Cfelbft bey dem Volke) in Ver- 
gefferheit gebracht und zu den übrigen mythologiſchen 
Vorſtellungen des Findifchen Menfchenwerftandes von 
Verſoͤhnung u. d. gl. verwieſen werden follten. 


2 U 
Berhältniffe Gottes zur Welt. 

1. Als erftes und ewiges Princip alles Dafeyns heißt 
Gott, Schöpfer und Erhalter. 

2. As Realgrund aller Moralitaͤt durch die Vernunft 
— Geſetzgeber. 

3. As Princip aller Nafureinrichtungen und Bege⸗ 
benheiten, die auf das gemeine Wohl abzielen ; 
Begent. 

4. Als oberfier Beffimmungsgrund aller Proportion 
der Glückfeligfeit zu der Sittlichkeit vernünftiger 
Wefen, wird er ihr Richter genennt. 


Gar, 

Durch fpefulative Gründe erfennen wir nicht ein 
mahl die Möglichkeit, gefchweige denn das Dafeyn eis 
nes folchen Weſens, jedoch eben fo wenig die Unmöglichkeit 
deffelben. Die Natur unfres Vorftellungs - und Er> 
kenntnißvermoͤgens mache uns aber die inmöglichkeit voll⸗ 
kommen begreiflich, iene Moͤglichkeit oder Unmöglichkeit. 
zu beurfheilen, 


. ‘. 2I2, 











» 


x * — 


Critik der praktiſchen Vernunft. 177 


§. 212. 

Die reine Vernunft enthaͤlt die Idee von einem 
Weſen, deſſen Begriff die oben -($. 207.) erklaͤrten 
metapbufifchen Eigenfchaften der Gortheit, als feine 
Merfmahle enthaͤlt; fie finder es auch ihren Grundfägen 
und Zwecken ſchon in theorerifcher Abficht am gemäffe- 
ſten, dieſen Begrif durch die Pradifate „Vernunft und 
Willen‘ näher zu beffimmen, und mit ihrer Erkenntniß 
von der Welt auf diefe Art zu vereinigen. Allein wenn 
fie gleich nichts ihren Geſetzen Gemafferes Vernunft⸗ 
maͤſſigeres) uͤber die Gruͤnde der Sinnenwelt und ihres 
Zuſammenhanges beſtimmen kann, als eben dieſen Be— 
griff von einer Gottheit, als Intelligenz: ſo kann ſie 
doch Feine abſolute Unmoͤglichkeit des Gegentheils ein: 
ſehen (ſie muͤßte denn ihre Unwiſſenheit zur Erkennt— 
nißquelle machen), und es iſt auch fein Noͤthigungs— 
grund für fieda, über diefe Frage beffimme zu entfcheis 
den. Michin bleibe dieſelbe unentjchieden. 


$. 212. 

Was durch bloße Spekulation nur als vernünftige 
theoretifche Hypotheſe, um die zmerfmäfige Einrichtung 
der Sinnenwelt zu erflären, und als eine den zufälligen 
Zwecken der Naturforſchung günftige Vorausſetzung er— 
Fannt wird, das erfcheint hier als eine praktiſch noth⸗ 
wendige 5ypotheſe. Es ift nehmlich (wie obeners 
wieſen worden $. 188.) praftifch nothwendig, eine mo— 
ralifche Welt anzunchmen. Die Epiften; derjelben Fon: 
nen wir ung aber nur dann gedenfen, wenn wir ein 

Moralphiloſophie. M hoͤchſt 


* 
—ñ— 


178 Critik der praftifchen Vernunft, 


höchft vernünftiges Wefen als Beflimmungsgrund ih- 
rer Geſetze vorausjegen d.h. eine Gottheit glauben. 
Das moralifche Geſetz macht es uns alfa in unferm Be 
wußtſeyn nofpwendig, hierüber zu entfcheiden, und die 
theoretifch vernünftigfie Behauptung über dag Princip 
der Welteinheit, der Unzulänglichkeit ihrer Beweißgruͤn⸗ 
de ungeachtet, als wahr gelten zu laflen und ihre Grün- 
de als zureichend anzunchmen. Für uns als mora; 
liſche Wefen exiſtirt alfo eine Gottheit, meil es 
uns unendlich intereffirt , dag oberſte Bernunftgefeg, wel 
ches wir durch reine Vernunft über alles ehren und achten 
muͤſſen, auch von ganzem Herzen lieben und mit Einftim= 
mung der empirifch angewandten Vernunft, alſo mit 
ungetheiltem Beftreben ausüben zufönnen. Lieben Fön; 
nen wir dieſes Gefeg nur alsdann, wenn wir die mög- 
lichſte Cohnehin fhuldige) Beobachtung deflelben als eis 
nen Grund anfehen, der uns zu der Hoffnung eineg 
genau angemeflenen Wohlſeyns berechtigt. Diefe Hoff 
nung ift aber grundloß, wenn Feine moralifche Welt 
einrichtung eriftirt, als deren NRealgrund wir ung nur 
die Gortheit vorfiellen Fönnen. ; 


$. 214. 

Diefer Glaube ffügt fich alfo auf Feine millführliche 
Erdichtung eines ſpekulativ gleichgültigen oder grundlo- 
fen Begriffes; er iſt Fein blinder Glaube, ſondern er 
nimmt das Beduͤrfniß nun zum Entfiheidungsgrunde 
nach theorerifchen Gründen an, die an ſich zur fichern 
Entfcheidung nicht zureichten. 
6 215. 





—— 


ss Tre u 


} 





Critik der prafeifchen Vernunft, 179 


G 215. 

Kein Bedürfnis, felbft das oberffe und moralifche 
Vernunftbeduͤrfniß nicht, kann die Stelle eines Beweis 
fes vertreten. Es giebt alfo feinen moralifchen Beweiß 
fuͤrs Daſeyn Gottes, obgleich einen moraliſchen Grund, 
für das Dafeyn Gottes nad umvollftändigen 

Beweißgründen zu moraliihen GEndzwecken zu 
entjcheiden. 

Lediglich von diefem Mißverſtande hange eine Men- 
ge von Einmwürfen gegen die Kantfche Moraltheologie, 
und vornehmlich der Harte Vorwurf ab, als enthalte fie 
einen Verfuch, den blinden Glauben wieder einzuführen. 
| . 216 | 

Anthropomorphismus, 

Unfer Begriff von der Gottheit giebt uns nur ihre Bes 
ziehungen auf die Welt uzd die Bedingungen an, uns 
ter welchen unfer Verftand fich diefelbe als möglich vors 
ftellen kann. Er enthält alfo einen Anthropomor⸗ 
phismus. Diefer iſt aber 

1) der Reinheit des Begriffs nicht nachtheilig, denn 

es ſoll dadurch nicht das Weſen Gottes an ſich 
ſelbſt oder die inneren Bedingungen feiner Moͤglich— 
keit beffimmt werden. Dieß wäre widerfprechend. 

2) nicht vernunftwidrig; denn die Praͤdikate ſind le⸗ 

ie von der Vernunft ſelbſt hergenommen. 

3) der praftifchen Intereſſe fo wenig Ginger, daß 


es vielmehr nur Dadurch befördert wird. Es in- 
M 2 tereſ⸗ 


180 Critik der praftifchen Vernunft, 


— 


tereſſirt uns, als moraliſche Weſen, nicht was 
Gott an ſich iſt (wovon wir auch nichts wiſſen, noch 
erfahren koͤnnen), ſondern was er fuͤr die Welt 
und fuͤr uns iſt. Dazu ſind die rein metaphyſi— 
ſchen Merkmahle zwar nothwendig, aber nicht zu— 
reichend. 


& 217— 
Religion. 

Die abſolute ſubiektive Bedingung alſo, die wir in 
dieſem vierten Probleme (von $. 167. an) ſuchten, uns 
ser welcher der Vorſatz das moralifihe Gefeg auszuüben, 
ffandhaft feyn, und die ächt moralifche Triebfeder mit 
ieder andern Triebfever (vernünftigen Beweggrunde) 
vereint und dadurch von bedingte nothwendigen Hinder- 
nißen frey werden kann, iſt Religion d. h. die Vors 
ſtellung aller Pflichten, als Gebote der Gottheit, Die in | 
alle Emigfeit Hin ihre Beobachtung mit denienigen Sol» 
gen verbindet, die die Vernunft als ihnen angemeflen 
verbindet, und die zufälligen finnlichen Zwecke der ver- 
nünftigen Wefen in eben dem Verhaͤltniße begünftigt, 
als diefe den oberflen Zweck an ihrem Theil unverleglich 
halten. 


u 1 
Moralifche Gefinnung kann und foll durch Reli: 
gion nicht erſt hervorgebracht werden, fie wird viel- 
mehr daben vorausgeſetzt, als der entfcheidende Grund 
für ven Glauben an ihre Gegenftände — Gottheit und 
Unſterb⸗ 


’ 





Critik der praktiſchen Vernunft, 187 
Unfterblichkeit. Da die Exiſtenz derſelben (obiektiv) 
problematifch bleibe, und nur fubieftiv ein Gegenftand 
des Glaubens und der Hoffnung iſt, fo iſt diefe Vor⸗ 
fiellungsart nur dazu dienlich, Hinderniffe der fittlichen 
Gefinnung und ihrer Wirffamfeit wegzuräumen, ohne 
daß die Reinheit der Gefinnung, die von ihrer Frey⸗ 
heit abhängt, dabey verlohre. 


Ware im Gegentheil das Dafeyn Gottes und unf 
re ewige Fortdauer apodiftifch gewiß, aus blostheore- 
tiſchen Gränden, ſo waͤre die Vorftellung davon feldft eine 
ſolche Triebfeder , legal d. i. den göttlichen Geboten ge- 
mäs zu handlen, welche die ächtmoraliſche verdrän« 
gen und alle innere Würde vernichten würde, ). 

M3 $. 219, 


*) Man darf alfo Feine Pflichten oder auch Rechte auf 
die Vorausfegung des Dafenns Gottes oder unfrer, Unz 
ſterblichkeit gründen, welche aufferdem ungultig waren, 
fondern iede Erdenpflicht und iedes Menfchenrecht mug 
den irrdiſchen Verhaͤltniſſen angemeſſen ſeyn. Das 
Raͤſonnement, wodurch einige Moraliſten (z. B. Hr. 
Eberhard Gittenlehre der Vernunft $. 
49.) dıe Todesſtrafen zu vechtfertigen juchen, iſt in 
dieſer Ruckficht befonders merfmurdig.. Er jagt: „Da 
„der zur Zodesftrafe Verurtheilte durch Die Vollzie— 
„bung derfelben aufbört, ein Glied der birgerlicyen 
„Gefellfehaft zu fenn: fo kann er in derfelben nicht 
„mehr, als Zweck vollfommmer werden, wenn er fich 

> „der Todesftrafe unterwirft. Er wurde alfo nicht ver⸗ 
„bunden fenn, fie zu leiden, wenn er nicht in einem 

uſtande nach dem, Zode dadurch vollkommner wurde.“ 
Diefe aufferfte Zuflucht, wohin die Werrheidiger der 

Zudesfirafen fich zuruͤckziehen muͤſſen, wenn fie nicht et⸗ 

wan uberall die Menfchen und ihre Zwecke dem Staate 

Cohne feihe Glieder betrachtet, einem Undinge — ) 

und feinem Zwecke unferordnen wollen, wird dadurch 

abgefchnitten, daß die IntauglichFeit aller Beſtim— 

mungsgrunde der Pflicht aus dem Intelligiblen jr 

N 


E 


382 Tritik der praftifchen Vernunft, 


$. 219. 

Aus reiner Achtung für das Sittengeſetz glaube ji 
an Gottheit und Unfterblichfeit ; damit ich „dem , was 
dieß freye Gefes meiner eignen Vernunft categoriſch ge⸗ 
bietet ‚ ungehindert in der Ausuͤbung nachkommen, und 
iede andere Triebfeder, die mir Wohlfeyn zum Ziel ſetzt, 
mif derienigen zu einem Zwecke vereinigen koͤnne, die ich 
ohne Verläugnung meiner Vernunft und Würde niemahls 
einer andern nachfegen und fruchtloß laſſen kann. 


ARE. RE 


6. 120, 


Freyheit. 

Die vier praktiſchen Abſoluta ($.24), welche 
aller Moral zum Grund liegen, ſind durch die bisherigen 
Unterſuchungen gefunden worden. Hiermit iſt zwar für 
innere Feſtigkeit der Sittenlehre hinlaͤnglich geſorgt; al— 

lein 


ſen, und Religion der Moral untergeordnet wird. 
Nach der entgegengeſetzten Denkart, da Moral auf Re⸗ 
ligionsuͤberzeugungen, vornehmlich auf poſitive fich gruͤn⸗ 
den ſolte, war es gar nicht fo unvernunftig und inconz 
ſequent, es für Necht und Pflicht zu halten, dag man 
einen Dienfchenraub , Freyheitsraub, Xebensraub u. d. 
sl. Legienge, wenn nur dadurh Der Ueberzeu— 
gung des NHandelnden gemäß (deren Richtig⸗ 
keit oder Unrichtigkeit den ſittlichen Werth ihrer Ber 
folgung an ſich nicht beſtimmt) die ewige Selig— 
keit des zeitlich gequaͤlten, Der getddteren Menſchen 
Eönnte befördert werden. Es iſt alſo durchaus, Feine 
muͤßige Spekulation, die auf Welt und Menſchen kei— 
nen Einfluß hatte, wenn man fragt: ob Moral von 
Kelision überhaupt, und infonderheit von einer poſiti⸗ 
ven Religion abhange, oder ob das Verhältniß gerade 
umgekehrt fen ? 





Critik der praftifchen Vernunft, 183 


lein fie fiheiner wiederum dadurch) ſchwankend zu werden, 
daß die fpeeulative Bernunft feinen als real ermiefenen Bes 
griff von einem abfoluten Dermögen zu bandlen 
(Freyheit) enthält, worauf der Moralift bauen koͤnnte. 
Bielmehr enthaͤlt fie gewiſſe Principien, die geradezuauf 
das Nichtſeyn eines folhen DBermögens zu führen und 
hiemit dem ganzen Gebäude der Gittlidjfeit ven Um— 
ſturz anzudrohen fiheinen, 


6, 22T, 
Zuſammenhang der vier praftifchen Abſoluten 
mit Einem fpeculariven. 


Sollen wir ein abfolutes Geſetz befolgen: fo 
darf uns nichts von auffen zwingen oder nöthigen koͤn⸗ 
ne, anders su handeln 5 mir dürfen feinem fremden, 
bedingt nothwendigen Gefeze der Natur fchlechthin uns 
terworfen feyn. Soll ein-reines, durch bloße Vernunft 
beftimmtes Gut unfer Ziel ſeyn, fo darf ung nichts nö» 
thigen koͤnnen, ein andres Ziel uns vorzuſtecken. Soll 
ein moralifches Gefühl Triebfeder unferer Handlun— 
gen feyn, fo darf die Vernunft nicht von Antrieben 
der Sinnlichkeit beftimmt werden, fondern die Vernunft 
muß vielmehr die Sinnlichkeit nach ihren Principien mo= 
dificiren koͤnnen. Goll endlich eine moralifhe Welt 
eriftiven, mworinn das Wohlfeyn nach Wuͤrdigkeit ver 
theileift, fo muß das vernünftige Wefen durch feine 
Arc zu handlen eine innere, verfönliche Würde behaupten 
Fönnen, welches ebenfalls ohne Freyheit unmöglich wä- 

Mm4 - re, 


284 Critik der praftifchen Vernunft, | 


re, teil fodann diefe Arc zu handlen nicht das freie 
Eigenthum des Wefens fondern nur ein glüclicher Er- 
folg von dem Einfluße der Naturgeſetze wäre, denen 
man bloß äuffern Werth der Brauchbarfeit,, aber feine 
innere Vorzüglichfeit beylegen dürfte. 

Ale vier praktiſche Abſoluta weifen alfo auf ein thes 
pretifches Abſolutum, nehmlich auf ein abfolutes Ver—⸗ 
mögen zu handlen, ein Vermögen unbedingter Gelbfttha- 
tigkeit oder Freyheit zurück, 

6. 222. 

So die Philofophie, welche von praftifchen Grunds 
fägen aus und zu theoretifchen Vorausſetzungen übergeht. 
Die Spekulation hingegen führet, wenn fie von ihren 
eignen Grundfagen ausgeht und für. fich felbft das Ra- 
fonnement fortſetzt, zulest auf folhe Behauptungen, 
welche alle moralifche Gefege , allen Unterſchied zwiſchen 
ſittlichen und natuͤrlichen Geſetzen und allen innern fitt- 
lichen Werth zu vernichten ſcheinen. Dies macht noch 
eine fritifche Unterfuchung ihres Innhalts, der Gründe 
und der Gränzen ihrer Gültigkeit in praftifcher Abficht, 
und eine Auseinanderfegung der Art und Weife noth— 
wendig, wie die Principien der Vernunft in ihrer ges 
doppelten Anwendung, der theoretifchen und der prak⸗ 
tiſchen, zufammenftimmen. 
$. 223. 

Syſtem und Folgen des Dererminismus, 

Ale Handlungen meines Willens find nichts anders, 
als Begebenheiten in der Natur, und alfo den Natur- 

ge⸗ 











’ 


Critik der praftifchen Vernunft. 185 


gefeken unterworfen, wornach iede Begebenheit in einer 


beſtimmten Zeitreihe ihren geſammten Zeitverhaͤltnißen 
gemaͤß nothwendig und unausbleiblich erfolgt. Es iſt 
alfo ſchlechterdings unmoͤglich, daß ich etwas anderes 
wolle, oder thue, als dasienige, was der Innbegriff 
aller Zeitumſtaͤnde mit ſich bringt. 


— 


Um dieſem Grundſatze in feiner ganzen Allgemein⸗ 


heit treu zu bleiben, darf der confequente Deterz 
minift die fogleich anzugebenden Folgerungen aus feia 
nem Syſteme nicht abläugnen. *) 


„Wenn es ein moralifches Gefeg giebt, fo kann es 
nichts anderes ſeyn, alg Eines von den Naturgefegen, 


wornach alle Erfolge in der Welt beftimmt merden. 
Da deren mehrere find, fo kann dieſes Eine nur einige 


Erfolge beftimmen. Die Gültigkeit eines Narurgefeges 
iſt auf die Fälle feiner Wirkſamkeit eingefchränfe. Mit 
bin iſt auch das fogenannte Sittengeſetz nur fo weit 
gültig, als es befolgt wird, als“ es mit feinem andern 
phyſiſchen Cpfpchologifchen) Gefege des Begehrungsver— 
mögens in Collifion fommt. Verbindlichkeit Cdas 
M5 Sol⸗ 

*) Da Fein mir bekannter Determinift diefe Folge— 
zungen in fein Syſtem ausdrucklich und vollftandig aufs 
genommen , und da vielmehr ein ieder es verfucht haf, 
feine Grundfage mit der Moralitat fo gut toie immer 


möglich zu vereinigen: fo wird mich niemand in Vers 
dacht haben, als wollte ich hier mit irgend einem Des 


terminiften fireiten, und wohl gar feine Moralität 


angreifen. Ich erfläre und beftreite den Determis 

nismus, ein Sufiem von Behauptungen und Solges 

rungen, wie ich mir diefelben als zuſammen gehdrig 

denfe, und bin vomaller perfbnlichen Beziehung ganze 
lich entfernt, 


186 Critik der praftifchen Vernunft, 


Sollen) ift eine Art phnfifcher Nothwendigkeit der Würs 
fung gewiſſer Naturfräfte, die durch den Einfluß ans 
derer Naturfräfte unter gewiffen Zeitumftänden aufgehos 
ben wird, alfo nur da und zu der Zeit vorhanden if, 
wo und wenn Die Würfung zu Stande fommt. Pflidye 
ift Die Nothivendigfeit, gewiſſe Nafurgefege des. Begehr 
rungsvermögens zu befolgen. Verlegung der Pflidye 
iſt nur eine Defolgung anderer, eben fo gültiger Na— 
furgefege, Die aber nicht moralifch genannt werden, 
welche die Befolgung der moralifchen unmöglich machte. 
Das Pflichtmäſſige und das Pflichtwidrige iſt eine 
gleich nothwendige und unhintertreibliche Folge aus dent 
Verhaͤltniße, worinne unter den gefegten Umſtanden alle 
Naturfräfte zu der meinigen ffanden. Die Vernunft 
fann die Lebertretung eines moralifchen Gefeges nicht 
tadeln, ohne parcheiifch ein gleichartiges Gefeg dem an- 
dern, welches an feiner Stelle befolgt worden, vorzuzies 
hen; ihre Beobachtung nicht loben, ohne Ein Gefeg 
Einem andern von gleicher Nothwendigkeit vorzuziehen. 
Alle moralifche Begriffe und Säge find phyſiſch zu vers 
ſtehn, oder chimaͤriſch; alle Ausdrücfe in der Sprache, 
die fie bezeichnen, (als Sollen, hätte follen, es 
war Pflicht u. d. gl. ), verlieren ihre eigentliche Be⸗ 
deutung, im welcher fie von dem Phyſiſchen gänzlich un: 
ferfchieden werden.“ 


6. 224. 


Eritif der praffifchen Vernunft, 187 


§. 224. 
Determinismus, Indeterminismus. 
Wird die Frage über Sreyheit und Nothwendigkeit - 
des Willens alfo beftimme : 


Giebt es Gefege, wornach die Zandlungen 
des Willens jedesmal auf beſtimmte Weiſe 
erfolgen, oder giebres Feine? 


fo entſcheidet die Vernunft, ihrer Natur gemäß, allge: 
mein für Gefege und verwirft alle Geſetzloſigkeit. Der 
terminismus, wenn man Darunter eine Philofophie 
verfieht, die ieden Zufall in der Natur laͤugnet, und 
iede Erklärung einer, Begebenheit aus dem Zufall ſchlecht⸗ 
hin verwirft, iſt die einzige wahre und vernuͤnftige 
Philoſophie, da im Gegentheil der Indeterminismus 
oder die Behauptung von geſetzloſen Erfolgen in der 
Natur allen theoretiſchen und praktiſchen Vernunftge— 
brauch gaͤnzlich aufhebt und unmöglich macht. 


$. 225. 
Willkuͤhr, materieller Mechanismus. 
Betrift Die Frage nicht das Daſeyn (die Form) fon- 
dern nur die Materie des Gefeges, wornach die Hand— 
lungen des Willens erfolgen, in fo fern: 


ob die nächſten Gründe unferer Handlungen 
Dorftellungen oder nur Förperliche Bewe⸗ 
gungen find? 

fo entfcheider das unmittelbare pſychologiſche Bewußt⸗ 
ſeyn 


188 Critik der praktiſchen Vernunft. 


ſeyn für die Gruͤnde in dem Subiekte, und gegen die— 
ienigen, welche auſſer demſelben liegen, in Anſehung als 
ler der Handlüngen, die wir dem Willen zufihreiben. 
Wir befigen Willführ Carbitrium) oder comparative 
Freyheit von dem zwingenden Einfluße materieller Dinz 
ge, im Gegenfag des materiellen Mechanismus. 


Die Willkühr hat Grade, wie dag Leben überhaupt. 
Je mehr etwas als blöße Materie wuͤrkt, ie weniger 
Willkuͤhr koͤmmt ihm zu. 

6. 226. 

Zhierifche, freye finnliche Wilfführ, oder 

praftifche Freyheit. 

Beſtimmt man iene Frage naͤher in Abſicht auf die 


Beſchaffenheit der innern Gründe ($. 225.), wovon die 
Handlungen abhaͤngen; 


ob iediglich die unmittelbaren Eindrücke der 
Vorſtellung eines Obiekts auf das ſinnliche 
Begehrungsvermoögen (Inſtinkt), oder ob 
auch vernünftige Ueberlegungen und Be⸗ 
wegurſachen Kinfluß auf die menſchlichen 
Handlungen haben? 


To entfcheidet innere Erfahrung für das letztere. Wir 
befigen feine blos thierifhe Willkühr (arbitrium bru« 
tum), fondern freye, finnliche Willführ (arbitrium 
fenfitivum liberum), praktiſche Freyheit, Unabhän- 
gigkeit von dem allgemeinzwingenden Einfluße thieriſcher 


Gefühle. 
Die 


Critik Der praktiſchen Vernunft. 189 


Die freye Willführ hat, der Erfahrung gemäß, ih- 
se Stufen. Der Einfluß der Vernunft auf unfere Ent» 
fchlüße und Handlungen, kann zunehmen, die Abhäng- 
gigfeit von dem unmittelbar thierifchen Antriebe abneh— 
men, und das finnlich vernünftige Wefen (der Menfch) - 
kann geſchickter und klüger >. praktiſch vernuͤnfti⸗ 
ger werden. 


$. 227. 
Moralifche Freyheit. 
Schraͤnkt man die Frage noch genauer ein auf eine 
gewiſſe Beſchaffenheit der Vernunftgründe, welche den 
Willen beſtimmen: 


ob nehmlich lediglich und allein Gründe der em’ 

; pirifhen Vernunft d. i. der Vernunft, ſofern 
fie von finnlichen Erfahrungen im Schliefen aus- 
geht, und zu finnlich beftimmten Zwecken Mittel 
und Entwürfe hergiebt, unfern Willen beftim: 
nen, oder ob auch reine Dernunftideen ein 
Wollen bervorbeingen, oder Doch daſſelbe mo⸗ 
dificiren Tönen ? 


ſo lehrt zwar 1) unfer empirifches Bewußtſeyn, Daß wir 
größtentheils nur einen empirischen Einfluß der Vernunft 
auf die Wahl der Mittel erfahren, die ung zu Errei- 
hung unfrer finnlich erzeugten Abfichten dienlich fcheinen. 
Wir finden 2) daß zu ieder Handlung unfers Willens 
uns ein gewiffer Stoff zur Behandlung durch die Sinn 
lichkeit gegeben. foerden und, wir dadurch erft zur Thaͤ⸗ 

tig⸗ 


190 Critik der praftifchen Vernunft. | 


tigfeit überhaupt angereist werden müffen. Aber 3) das 
Bewußtſeyn des moralifchen Gefeges, als einer Irieb- 
feder unfers Willens , überzeugt ung dennoch, daß Die 
Vernunft für fich felbft auch fähig fey, nach ihren eiges 
nen reinen, nicht finnlichen Ideen den Willen zu beftims 
men, daß der Zweck einer vernuͤnftigen Handlungsiweis 
fe nur für fich felbft, ohne meitere Abficht auf finnliche 
Vortheile, uns infereffire, und das eigentliche Wols 
len, feiner Form (Weſen) nach durch etwas beſtimmt 
werde, was von allem finnlichen Eindrucke und Obiek— 
te verfchieven if. 


Wir haben alfo nicht nur überhaupt praftifhe (6. 
226), fondern auch infonvderheit moralifche Freyheit 
d. i. Beftimmbarfeit des Begehrens durch die reine Ver- 
nunft, und eine gemwiffe Unabhängigfeit des Wollens 
felbft von dem Zwecke empirifcher VBernunftgründe. 


Auch diefe moralische Freyheit hat ihre Grade; mir 
koͤnnen weifer und fittlich beffer d. h. freyer werden. 
(v 228. 

Ueberall Nothwendigkeit. | 

Wir mögen aus Antrieben des finnlichen Begeh— 
rungsvermögens ($. 225: willkührlich) oder aus Bes 
weggrunden der finnlich angewandten Vernunft (prak⸗ 
tiſchfrey, aus vernünftig gedachten und verbundenen 
finnlichen Antrieden 6. 226.), oder endlich aus reinen 
Bernunftideen (moraliſchfrey $. 227.) handlen, fo 
geht doch in allen dieſen Faͤllen iedesmahl vor dem Zus 
ffande 








Eritif der praftifchen Vernunft, 191 


ftande ver Handlung, die wis wahrnehmen, ein 
anderer Zuffand unfres Gemüthes und der veranlaffen- 
den Auffendinge, wozu es in Verhältnißen ſteht, ver 
Zeit nach voraus, auf welchen iener regelmäfig und 
gleichförmig erfolgt, fo daß unter vollfommen denſel⸗ 
ben innern und äuffern Umfianden das Nichthandlen 
fowohl, als iede andere von Derienigen, welche ge- 
ſchieht, verfchiedene Handlung, für bedingt unmöglich 
erkannt wird. 


$. 229. | 

Diefe Behauptung einer allgemeinen Naturnothwen— 
digkeit einer ieden Handlung zu ieder beſtimmten Zeit 
uach den unwandelbaren Naturgeſetzen, kann zwar 


1) nicht durch Erfahrung erwieſen werden; weil die⸗ 
fe uns überhaupt nichts ohne Ausnahme allgemeis, 
nes und nothwendiges lehren Fann. 


2). Aber fie hat auch nicht blos die-allgemeine Analo⸗ 
gie der Erfahrung für fih, tie einige Determi⸗ 
niften ihren Gegnern allzu wilfährig einräumen. . 


3) Sondern fie ſtuͤtzt fich auf ein nothwendiges Ver- 
ſtandesgeſetz (der Cauflalität), welches felbft aller 
Erfahrung als Bedingung 9— Möglichkeit zum 
Grunde liegt: 


4) Siebegänftigt das Intereſſe der Naturforſchenden 
Vernunft. Ohne Vorausſetzung eines ſolchen ge— 
DROHT Zuſammenhangs aller Zuftände und 

Hand 


ı92 Critik der praftifchen Vernunft, 


Handlungen’des Gemuͤthes fönnten wir den (pſy⸗ 
chologiſchen) Gefegen nicht einmahl nachfpuren, 


F $. 230, 
Folgerung. 

Aus dieſer Vorſtellungsart fließt unwiderſprechlich 
die Folge, daß die wahrnehmbaren Gruͤnde ieder Hand⸗ 
lung eines ſinnlich vernuͤnftigen Weſens (des Menſchen) 
zu der Zeit, da es handelt, gänzlich auſſer ſeiner 
Gewalt ſtehen; daß folglich alle feine Handlungen 
ietzt und immerdar nach einer unhintertreiblichen 
Nothwendigkeit aus der Confurrenz der Weltfrafte er— 


folgen, wo fih der Beytrag feiner eigenen Kraft wie - 


das Unendlichkleinezu dem Unendlichgroßey der Summe 
aller übrigen würfenden Kraͤffte verhalte. 


6. 231. 
Ausflucht, 


Um diefer Folgerung auszuweichen, wollten einige 
Determiniſten dieſe Nothwendigkeit nur auf das Ver 
gangene einfchränfen, und in Anfehung der Zufunff 
behaupten, daß die Gründe unfrer kuͤnftigen Handluns 
gen allerdings in unferer Gewalt fünden. Das Wahr 
- re, wag diefe feheinbar wichfige Unterſcheidung Ba 
fligt, befteht darinne, Daß = 


3) der zu einer vergangnen Zeif nothwendig beſtim⸗ 
mende Grund zu einer gewiſſen Handlung nicht immer 
als Beſtimmungsgrund zu einer dergleichen Hand—⸗ 

lung 


fi 
’ 








Critik der praktiſchen Vernunft. 193 


lung fortdauert, ſondern die nothwendig beſtim⸗ 
menden Gründe immer wechſeln. 


2) Ich erkenne nur von dem Vergangnen, was 
nothwendig war; von dem Zufünftigen weiß ich nur, 
daB erwag überhaupt, aber nicht. beftimme 
was bedingt nothwendig ſeyn werde. 

3) Auch meine ietzige Handlung gehoͤrt ſo wie alle 
vergangne Handlungen zu den Beftimmungsgrün, 
den deflen, was ich in Zukunft wollen und thun 
werde. 


Demohngeachtet bleibt e8 gewiß daß 1) zu ieder auch 
Fünftigen Handlung eine bedingre Norhmendigfeit iedes⸗ 
mahl vorhanden fen, und daf 2) die Beſtimmungsgruͤn⸗ 
de meiner Handlung niemahls in meiner Gewalt liegen. 
Denn theils beſtehn ſie in etwas, was ganz und gar 
nicht zu meinen Handlungen gehoͤrt, in aͤuſſerlichen Um— 
ſtaͤnden, Gluͤcksfaͤllen, Ungluͤcksfaͤllen, Bekanntſchaften, 
Verbindungen u. d. gl.; theils find es zwar eigene 
Handlungen. Allein iede momentane Handlung (vers 
gangne, gegenwärtige oder zufünftige— dieß Macht Feis 
nen Unterfchied ) ift in dem unmittelbar vorberge; 
benden Augenblicke gegtündet. Die Beſtimmungs- 
gründe meiner Handlung find alfo jederzeit etwas Der: 
gangenes, das ich mir nicht zuſchreiben, nicht ändern 
kann, nicht in meiner Gewalt habe. Da nun endlich 
die Beſtimmungsgruͤnde aller vergangnen Handlungen 
zuletzt auffer meiner Handlung liegen und fo die ganze 

Moralphiloſophie. en. mn ee 


u) 


194 Critik der praktiſchen Vernunft, 


Keihe meiner Handlungen von Etwas nicht felbftber 
würktem abhängt, fo habe eigentlich nicht Ich, fons 
derm es hat die ganze Natur, Das Univerſum eine Hand» 
Yung hervorgebracht, und dies gilt von ieder auch zukuͤnf⸗ 
tigen Handlung, die doch auch einft vergangen feyn, 
und in Anfehung der Geſetze, mornach fie gefchieht, 
jest eben fo wie dann beurcheilee werden muß, teil 
die Zeit hierinn Feinen Unterfchied macht. *) 


6.4232. 

Die Zolgen des Determinismus find Diefelben, 
wie bey dem Fatalismus. Diefe beyden Syſteme ſind 
im Weſentlichen nicht unterſchieden. Sie haben den 
Hauptgedanken unter ſich gemein, daß die noͤthigen⸗ 


den und beſtimmenden Gruͤnde der Handlungen gaͤnzlich 


auſſer der Gewalt des Handelnden ſtehen. 


6.7233. 
Abſolute Freyheit. 

Die Frage: hat ein vernünftiges Weſen, hat 
der Menſch, abſolute Freyheit d. i. ein Vermoͤ⸗ 
gen aus reiner Selbfibefiimmung C alſo ohne be; 

flimme 
Ich frage den Determiniften: wenn foH die Beſtim⸗ 


mung meiner Mollens und Handlens in meiner Gewalt 
fiehen? ent, ehe ich handle? Aber meine ietzig 


Handlung ift im vorigen Moment gesrunder, von wel- 


chem daher auch ihr Einflug_auf Eunftige Handlungen 

abhängt. Jenes Moment iſt anffer meiner Gewalt; 
jeine: dolge wicht minder. Oder fünftig in dem Mo- 
ment tener Handlung? Aber dann iſt das Moment 
-auch fehon voruber, worinn der Determinirende Grund 
einer Handlung liegen muß. Niſo niemahls. 





Critik der praktiſchen Vernunft. 195‘ 


ſtimmt zu werden) zu handeln; ein Vermoͤgen, 
eine Handlung anzufangen? — 


laͤßt ſich nach den bisherigen Betrachtungen nicht anders, 
als verneinen. Es iſt keine Handlung die in der Zeit 
geſchieht, möglich, welche abſolut anfienge und dem han⸗ 
delnden Weſen an ſich ſelbſt, unabhaͤngig von andern Din⸗ 
gen und von ſeinen eigenen vorhergehenden Zuſtaͤnden 
zugehoͤrte. Eine folche Handlung wuͤrde fich in Diefer 
Eigenſchaft weder wahrnehmen, noch mit dem Verſtan⸗ 
de erkennen laßen. 


Don abſoluter Freyheit an ſich ſelbſt Tagen Sch, chen 
weil ſie abſolut iſt, keine Grade gedenken, ob ſie gleich 
Cwie unten gezeigt wird) Erſcheinungen hervorbringt, 
worinn ſich Gradunterſchiede denken und wahrnehmen 
laſſen. * ao 


©. 234. 

Unter dom Einfluße der Zeitumſtaͤnde Fann das ver, 
nünftige ſinnliche Weſen nicht zu ieder Zeit das (un- 
bedingte) moralifche Gefetz befolgen. Die Nothwendig— 
keit feiner Befolgung koͤnnte demnach nur auf. Dieienigen 
Säle gehen ; wo es geſchieht. Es wäre Unſinn, fie auf 
Dieienigen Fälle und Zeiten auszudehnen, to das Ge 
gentheil nothwendig iſt. Der, Iwang der Sinnlichfeir 
wechfelt nach Zeitumfländen mit dem Zwange der Ver⸗ 
nunft ab. 


* 


196 Critik der praftifchen Vernunft, 


$. 235. i 

Iſt nun dieß die einzige Art, ſich die Cauſſalitaͤt 
der Handlungen vorzuftellen: fo folgt, daß der Begriff 
von. einem unbedingten Sollen (moraliſcher Noth— 
wendigfeit) ein ungültiger, durchaus unanwendbarer 
Begriffe, und alle Urtheile, die ſich darauf beziehen, 
(z. B. des Seltſttadels uͤber das Geſchehene) leer und 
chimaͤriſch, Die eigentlich ſittlichen Gefühle aber (z. B. 
der Schaam vor mir ſelbſt, der Reue) fchtwärmerifch und 
phantaftifch find. | 


| $. 236. 

Gleichwohl find diefe Begriffe und Urtheile für fich 
felbft bejiändig und evident, Feine zufälligen Erzeug- 
nife der Erziehung oder Gemöhnung und mie dag mo— 
ralifche Gefer felbft, unmittelbar in unferm Bewußtfeyn 
von der Vernunft, als nothwendige Thatſache gegeben, 
fo daß mir gänzlich unvermögend find, fie irgend einer 
" Spefulation aufzuopfern ‚oder umgihretwillen abzuaͤn⸗ 
dern. 


§. 237. 

Der offenbare Widerſtreit, worein hier die fpefulas 
tive Vernunft mit der praftifchen geräch, fordert zu 
Verſuchen einer moͤglichen Vereinigung auf, die ſich nur 
von einer genauen Beſtimmung und Einſchraͤnkung des 
Innhalts und der Guͤltigkeit von den Grundſaͤtzen der 
Vernunft in ihrem gedoppelten Gebrauche erwarten 
laͤßt. 


§. 238. 


N RE VD. 


‚Eritif der praftifhen Vernunft. 197 
$. 238. 
Mögliche Bereinigung. 
Wennnach dem Naturgefege eine Handlung noth⸗ 


' wendig und Durch Zeitumftande auf gewiſſe Weiſe be— 
ſtimmt ift — nach Ausſage der fpefulativen „Der; 
nunft; wenn gleichwohl auch das Gegentheil von eben 
diefer Handlung moraliſch nothwendig und folglich auch 
moͤglich aller Zeitverhaͤltniſſe ungeachtet ſeyn ſoll — nach 
Ausſage der praktiſchen Vernunft: fo kann dieſer 
ſcheinbare Widerſpruch nur dann gehoben werden, wenn 
ſich zeigen laͤßt: 


1) das Praͤdikat der Unabhaͤngigkeit von Zeitumſtaͤn⸗ 


den habe ein anderes logiſches Subiekt, als das 
Praͤdikat der nothwendigen Abhaͤngigkeit der Hand⸗ 
lung von denſelben. Nun beziehe ich aber in bey— 
den Urtheilen das Praͤdikat auf mich ſelbſt, als 
auf das Subiekt. Es muͤßte alſo dieſes Ich (oder 
meine Handlung) eine andere Bedeutung haben, 
wenn ich feine Handlungen in der Zeit einer noth— 
wendigen Beftimmung durch Zeitumffändeunterwers ⸗ 
fe, als es hat, wenn ich mir diefe als davon uns 
abhängig vorftelle, 


2) man fönne in ieder Handlung etwas unterfcheis 


den, Das von Zeitverhältnigen, und etwas an— 
deres, welches nicht Davon abhängt, 


- 


r 


N 3 $« 239. 


ı98 Critik der praftifchen Vernunft, 


S5. 239. 
Erſte Unterfeheidung. 
Ich, als Gegenftand der Erfahrung. 


Wenn ich meine Handlungen als Würfungen in 
der Zeit und durch Urfachen im der Zeit beſtimmt mir 
vorſtelle, fo betrachte ich mich fo, wie ich mir ſelbſt in 
meinem innern Sinne vorftelle, wo alle einzelne Erfcheis 
nungen von mir in Zeitverhaͤltniſſen regelmäßig auf eins 
ander Folgen. Das Subiekt in dem Urtheile, welches 
meine Handlungen von Zeitverhälfnifen abhängig erklärt, 
Din Ich als ein Gegenftand der innern Erfahrung. 
Auf dieſes ſinnliche Subieft muß das Verſtandesgeſetz 
der nothwendigen Zeitfolge bezogen werden. Die Hand— 
lung dieſes Ich erfolgt daher iedesmahl dem bekannten 
wahrnehmbaren (empiriſchen) Charakter (ver Gemuͤths⸗ 
und Sinnesart) deſſelben und den aͤuſſeren Umſtaͤnden 
gemaͤs. 


6. 240. 
So, als Ding an ſich. 


ah bin berechtiget, und fogar genoͤthiget, die Er 
fcheinung Cfinnliche Vorftellung) von mir felbft auf ein 
unbefanntes Ich zu beziehen, das ihr (der Totalerfchei> 
nung von mir) amd allen ihren Theilerſcheinungen C eins 
zelne Handlungen und Zuftande), ia felbit der Zeitund 


dem Raume, worinn ich mir alles Ginnliche vorſtelle, 


zum Grunde liegt, wovon ich aber nur eim anfchauungs> 


loſes, algemeines Bewußtſeyn habe. Beziehe ich meine 


wahr⸗ 








Eritif der praktiſchen Vernunft. 199 


wahrgenommenen oder wahrnehmbaren Handlungen, als 
Praͤdikate, auf dieſes Ich, als ihr Subiekt, ſo find“ 
und bleiben fie zwar Wuͤrkungen in der zeit, aber der 
Grund davon liege doch nicht in der, der Zeit ach vor- 
hergehenden ‚ Erfiheinung, fondern in Etwas, worinn 
Fein Zeitunterfchied mehr ſtatt findet. Denn das Seyn 
in einer gewiffen Zeit iſt ein Prädifar, das zwar allen 
Erſcheinungen (ſinnlich vorſtellbaren und vorgeftellten 
Dingen), nicht aber allen denkbaren Dingen uͤberhaupt und. 
an fich felbft, ohne auf funnliche Vorſtellungsart Ruͤck⸗ 
ſicht zu nehmen, zukommt ). "Eine Handlung diefes 
Sch am ſich ſelbſt Fänge alſo nicht" am; fie bezieht ſich 
aber gleichwohl auf eine erfcheinende Wirkung , "welche 
anfängt d. i. zu einer gewiffen Zeit, "nach beſtimmten 
. vorausgehenden Umftänden wahrgenommen wird. Die 
ganze Reihe. diefer erfcheinenden Handlungen Hänge 
zwar unter fi) als (finnlich erfennbare) Urfache und 


, Würfung zufommen Allein auf ienes ch bezogen, iſt 


Diefes der Beflimmungsgrund der ganzen Reihe und " 
Dadurch auch iedes einzelnen Öliedes in derfelben. Ich be= 
ſtimme alles — bin der. Grund der ganzen Reihe unter 
ſich ſelbſt nothwendig in der Zeit verbundener erſcheinen⸗ 
der Handlungen; ich ſelbſt aber werde nicht zu Hervor— 
bringung des Einen Gliedes diefer Reihe (die ich im Ganz 
zen begründe) Durch ein vorhergehendes Glied beſtimmt, 
N ebenfalls indie durch mich beſtimmte Reihe gehört. 
14, Das 
*) Bewiefen wird ‚diefe Behauptung in der Critik 


Der reinen Vernunft; bier wird fie. nur anges * 
— wandt. 


200 Critik der praftifchen Vernunft, 

Das Subiekt eines Urtheils, welches meine Hand⸗ 
Tungen von dem Einfluße der vorhergehenden Zeitums 
ftände unabhängig erklärt, Fann nur Ich feyn, als das 
denfbare, überfinnliche Subftrat meines finnfich wahr- 
nehmbaren Charafters, und der diefem letzten gemäs 
an einander gereiheten Handlungen. 


f SH. 
Aus diefer nothwendigen Unterfcheidung ergiebt fich 


1) daß es überhaupt nicht widerfprechend iſt, fich 
ein Vermögen der Würffamfeit zu denken, deffen 
Effeft anfängt, ohne daß feine Würffamfeit (Cauf- 
falität) anfange; veffen Effekt in eine beſtimmte 
Zeitreihe fällt, ohne daß das Beſtimmende darin 
liege — fich eine Handlung zu denfen, die von dem 
Naturgefege (der Bellimmung durch Dasienige, was 
der Zeit nach vorhergeht) unabhängig iſt, obgleich 
ihre erfcheinende. Würfung nach diefem Geſetze er; 
folgt. 


Sch darf nur das Subiekt diefer Handlung (das han— 
delnde Sch) mir alsdann nicht als Erfiheinung geben- 
fen. 

2) daß ich meinem oder irgend einem Willen, ein 
folches Vermögen ohne Widerfpruch beylegen Fönne, 
fofern ich ihm (dieſen Willen). als Prädikat eines 
Dings an fich in Beziehung auf feinen Effeft in 
der Erfcheinung mir vorftele. 


$. 242. 


Critik der praktiſchen Vernunft 201 


mag, © 03 f 
Abfolute Freyheit ($. 233.) iſt alfo nicht wider- 
forechend, und kann fogar etwas Würkliches ſeyn, 
wenn man fie als ein metaphyſiſches (nicht unmittel⸗ 
bar in der Erfahrung gegebenes) und transſcendenta⸗ 
les (durch die Beziehung deffen, was nicht Erfcheinung 
iſt, aufdie Erfcheinung denkbares) Dermögen vorſtellt. 


| $. 243. 

Diefen blos problematifchen d. h. nicht unmöglichen 
Gedanken ($. 242.) affertorifch zu denfen, oder welches 
einerfen ift, Freyheit nicht blos als ein nicht unmögliches, 
fondern auch als ein wuͤrkliches Vermögen meines Wil- 
lens und des Willens aller moralifchen Wefen anzuneh: 
men, findet ſich 


3) zwar fein Grund in der Erfahrung; denn 


2) bey mir felbft, als Erfcheinung betrachtet, und 
meinen Handlungen, ebenfalls als Erfcheinungen 
angefehen, fängt iede Würfung und iede Wuͤrk— 
famfeit einer Urſache an, und es hängt alles nach 
dem nothtwendigen Naturgefege an einander. s 
228.229. - 


b) von Dingen an fich ſelbſt und ihrer Miürfunge: 
art haben twir feine anfchauende Vorftellung, mit— 
hin auch feine Erfahrung. Wir können ihnen 
die Cauffalverbindung nach ähnlichen Geſetzen, 
wie wir in der Sinnenwelt allgemein beobachtet 
finden, meder zufchreiben noch abjprechen. 
N 5 2) Aber 


4 


202 Critik der praftifchen Vernunft, 


2) Aber dag eben fo nothwendige, als unbegreifliche 
Bewußtſeyn von dem moralifchen Geſetze noͤthiget 
uns dazu. , Denn da dieſes Geſetz Handlungen 

Ceine gewiſſe Art, Form zu handlen) fchlechehin ges 
Bieter, mithin: als allgemein und nothwendig vor— 
fielle, ohne Einfchränfung Durch. Umſtaͤnde der 
Zeit und des Ortes (ie nachdem diefe ung zur Mo 
ralität oder zum Gegentheil Determinirfen, mo— 
raliſch oder unmoralifch zu handlen): fo iſt die Be— 
folgung deſſelben nur dann moͤglich, wenn ich un⸗ 
ter der Idee von abſoluter Freyheit ($. 242.) 
handle, oder wenn ich mich und das vernünftige 
Weſen überhaupt in feinen Handlungen als (ges 
wiſſermaaßen) unabhängig von der Beffimmung 
durch Zeitumftande mir vorfielle. Es ift alfo zwar 
eine dem Innhalte nach theorerifche, aberdem Er- 
fenntnifgrunde nach praftifch nothwendige Bor 
ausjegung, Daß ich ein freyes. Willensvermögen 
beſitze. 
$. 244. 

Es ift mir alfo moralifchnorhtendig d. i. nothwen⸗ 
dig, weil ich das moralifhe Geſetz als ein Gefes mei» 
nes Willens anfehe, mich als ein abfolut freyes We— 
fen vorzuftellen,; da die Sache blos theoretifch angefehen, 
zwar nicht unmöglich, aber Doch auf Feine Art erweis— 

lich if, 





Critik der prafeifchen Vernunft. 203 


245. 

Das moralische Geſetz berrachteich num alg ein weſent⸗ 
liches Gefeg meines überfinafichen Ich ($. 240.) oder 
meines. Geiftesz fo, wie eines ieden vernünftigen We⸗ 
ſens. Dem Subiekte dieſes Geſetzes kommt abſolute 
Freyheit zu, ſofern es durch dieſen uͤberſinnlichen Cha⸗ 
rakter, der von nichts in der Zeit befindlichen abhaͤngt, 
die ſi anlich wahrnehmbaren Gefinnungen und Handluns 
'gen in der Zeit beſtimmt, oder fich ſelbſt, als Erfchei- 
nung betrachtet, Naturgefege vorfchreibt , wornach die 
wahrnehmbaren Handlungen in der Zeit erfolgen. 


$. 246. 

Grade der morslifchen Sreyheit ($. 227.) 
find gröffere Erfcheinungen der abfoluten Freyheit, 
Die an fich Feine Grade hatz weil die Lorftellung eines 
Gradunterfchieves nur unter der Bedingung der Zeit 
möglich iſt, die auf Dinge an fich nicht darf Über gecra⸗ 
gen werden. 

$. 247. 
Zweyte Unterfcheidung. 
Materie und Form der Handlungen, 


In den wahrnehmbaren Sandlungen des Ich, 
welches erfcheint, kann ich ($. 238. Num. 2) unters 
en 


1) die Materie, welche atmen. wohin theils 
die Gegenftände des äuffern Sinnes, theils auch) 
Die Des Innern Sinnes, oder meine Vorftellungen 

und 


204 Critik Der praftifchen Vernunft. 


und die davon alhängenden finnlichen Gefühle und 
Begierden gehören; alles Dasienige, was wir (gern 
oder ungern) haben. 


2) die Form, oder die Art und Weiſe wie ich 
dieſen innern und aͤuſſern Stoff behandle; was in 
der Handlung zu meinem Seyn gehört. 


Der äuſſere Stoff. der Handlung gehört nur in 
fo fern zu meinem wahrnehmbaren Sch (der Eriheinung), 
ols er mir innern Stoff giebt, 


Der innre Stoff gehört zu mir, als Erfcheinung, 
und richter fich nach (pfychologifchen) Naturgeſetzen des 
wabhrnebmbaren Ich, melches beydes in fich begreift, 
was ich bin und was ich habe. 


Nur die Form kann mir felbft, als einem intelli- 
giblen Wefen angehören. 


$. 248. 

In Ermanglung aller Anfchauung überfinnlicher 
Gegenftände kann die erfte Materie meiner Handlnn- 
gen ) nur etwas Ginnliches feyn, welches nur nach 
Gefegen der finnlichen Natur, alfo in beftimmten Zeit: 
verhältniffen gegeben wird, Dieß iſt alfo unabhängig 
von meiner Gelbftchätigfeit vorhanden. Aller innere 
Stoff ift aus dem äuffern entwicele, und bezieht ſich 
auf denfelben. Welchen Stoff überhaupt alfo meine 
Handlungen haben, auf was für Gegenftände, Vor— 

ftelluns 


*) Chen fo der Handlungen eines ieden endlichen ver: 
gunftigen Wefeng. 


Critik der praftifhen Vernunft, 205 


ftellungen ‚\ Gefühle , DBegierden fie fich beziehen, das 
- hängt nicht von mir, ſondern von den Zeitumftänden 
ab. ; 


$. 249. 

‚Die Gegenftände, meine Borffellungen , Gefühle 
und Neigungen geben mir nur etwas zu behandlen, fie 
beftimmen die Sphäre, worinn ich moraliſch handlen 
kann. Die Sorm aber, oder die Art und Weife, oder 
die Kegel, wornach ich diefen Stoff behandle, wird mir, 
nicht durch die Gegenftände. gegeben und vorgefchrieben, 
fondern von mir ſelbſt beftimmt. Dieſe Handlungsweiſe 
iſt das eigentlich Moraliſche der Handlung, was mir 
ſelbſt zugehoͤrt und nicht von Zeitumſtaͤnden als ihre 
Wuͤrkung abhängt, welche weiter nichts beſtimmen koͤn— 
nen, als die Materie xqcht ſittlich behandelt wird 
DR nicht. 


$. 250, 

Die Form, der moraliſchen Handlungen iſt Ar 
ein Werf der ſelbſtthaͤtigen und von Sinnlichkeit unab⸗ 
haͤngigen Vernunft, Der erſte Stoff liegt auſſer une. 
Doch wenn die Vernunft moraliſche Gefuͤhle erzeugt, 
bringt ſie ſelbſt einen Stoff der Handlungen hervor, der 
ihr nicht anderswoher durch Zeitumſtaͤnde gegeben, ſon⸗ 
dern die ſinnliche Erſcheinung ihrer eignen Form oder 
Handlungsweife, und derfelben nothwendig gemäs er 


& 25T, 


> 


206 Eritif der praktiſchen Vernunft 


$. 25T, i HN 


Moralifiche, Unmoratifche: AR ei 


Wenn und fofern Handlungen das Geprägever vor) - 


nünftigen Selbſtthaͤtigkeit an fi) tragen, oder ſofern 
ein gegebener Stoff der Vernunfiform gemäß beſtimmt 
und behandelt worden? in fo fern find. fie moraliſche 
Handlungen; unmoraliſch hingegen, in fo fern Feine 
Spur von einer Würfung ver ſelbſtthaͤtigen Vernunft 
darinn erfcheinet. "Bende Arten von Handlungen koͤn⸗ 
nen wir feinen Zwange der Zeitumſtaͤnde zujchreiben, 
von welchem Die Vernunft: in feinen Falle abhängt, for 
dern einer Aeuſſerung -oder unterlaflenen® Aeuſſerung des 


felbfihätigen Vermögens der Vernunft. 


In 


$. 252. , 
Zurechnung. 
Die Vernunft iſt das Geſetzgebende Vermoͤgen des 
Menſchen und eines ieden vernuͤnftigen Weſens. Da— 
her beſtimmt fie auch das Urtheil über die Handlungen 
dieſem Gefege gemäs. Daß ſie die Handlungen des Menſchen 
(des ſinnlich afpeirten Wefens überhaupt) ſich zurech⸗ 
net, ihrer Thaͤtigkeit oder Unthaͤtigkeit, obgleich die 
unmoraliſchen nicht von ihrer Wuͤrkſamkeit ſondern von 
der Thaͤtigkeit anderer (nicht vernuͤnftigen) Kraͤffte * 
ruͤhren, kommt daher, weil 


1) das Bewußtſeyn der Perſoͤnlichkeit von der Ver 
nunftabhänge, und in dieß Bewußtſeyn nach einem 
unbegreiflichen Naturgeſetz allesanfgenommenmwird, 


was 


RE EEE 





— 


Critik der praktiſchen Vernunft. 207 


was die Perſon that, wenn es auch nicht durch Ver⸗ 
nunft, ſondern durch andere Kraͤffte und nad) an- 
dern Geſetzen gefchahe. 


2) weil die Vernunft fichdes Vermögens bewußt war, 
anſtatt der erzivungenen Thaͤtigkeit iener niedern, 
ſinnlichen Kraͤffte, ſich ſelbſtthaͤtig zu äuffern. * Sie 
rechnet ſich alſo nicht zu dasienige, was durch an— 
dere nichtvernuͤnftige Kraͤffte gewuͤrckt worden iſt; 
denn dieß iſt für ihre eigne Wuͤrkſamkeit nur Stoff; 
ſondern nur die unterlaſſene oder angewandte Gelbft- 
thaͤtigkeit, ienen Stoff zu behandlen, die hoͤhern 
oder geringern Grade ihrer eigenen Vollkommenheit. 
Die Hinderniffe diefer Selbſtthaͤtigkeit, um derent⸗ 
willen fie ſchwaͤcher war, Fennt fie nicht, kann fie 
* alſo auch nicht in Anſchlag bringen. 


Hierauf gruͤnden ſich die Bram von Zurechnung, 
von Verdienſt und Schuld. 


5. 252. 

Bey dieſen Begriffen und bey den zurechnenden 
Urtheilen ſetzen wir voraus, daß aller zZeitumſtände 
ungeachtet, dem vernuͤnftigen Weſen, welches fehlte, 
moͤglich war ein hoͤherer Grad ſelbſtthaͤtiger Wuͤrkſamkeit 
der Vernunft. Denn das, was die Wuͤrkſamkeit der 
Vernunft einſchraͤnkte, konnte Nichts in der Zeit Be— 
findliches, nichts Erkennbares ſeyn. 


$. 254. 


208 Critik der praftifchen Vernunft, 


hun 8 2A, 

‚ UnbegreiflichEeiten, 
Die Allgemeinguͤltigkeit des Sittengeſetzes für alle 
Handlungen vertünftiger Weſen zu ieder Zeit, iſt ihrer 
Möglichfeit nach dadurch gererter, daß wir die Vernunft 
als ein von allen Erfcheinungen in der Zeit unabhangi- 
ges Dermögen zu handeln haben Fennen lernen. Dieß/ 
reicht in prafeifcher Alfihe hin, wenn gleich zwey an— 
dere Tragen fih uns hier auforingen, für die e8 in uns 
ferm Erfenntnißvermögen Feine entſcheidenden Antwor⸗ 
ten giebt. Nehmlich 


1) wie iſt Vernunft und ihre Selbſtthaͤtigkeit mög- 
lich? mie bringe fie FRE und — 
tze derſelben hervor? 


2) Warum offenbart ſich nicht in, allen wahrnehm: 
baren Handlungen gleiche Bernunftthätigfeit, glei 
che Moralität? warum äuffert ſich bald mehr das 
beffimmende, bald mehr das beftimmbare Vermoͤ⸗ 
gen Des Willens? 

Vernunft, ihren Einfluß auf, finnliche Sefcheinungdk 
und die verfchiedenen Grade derfelben Fennen wir als 
Fakta; die Gründe der Möglichkeit davon liegen indem 
blog Denkbaren und in feinem Verhältniffe zum Epfenn- 
baren. 


g 255. 


/ 





Critik der praftifchen Vernunft, 209 


$. 255. 
Dennoch überall Nothwendigkeit. 

Wenn wir Feinen (vernunftlofen) Zufall ein, 
säumen wollen, fo bleibt nichts übrig als “roch, 
wendigkeit; denn es giebt ſchlechterdings keinen 
Mittelweg *) zwiſchen beyden. Es muß demnach 


- etwas als vorhanden gedacht werden, was zugleich mie 


dem Dafeyn der Vernunft ihre Würffamfeitauf Erfcheie 
nungen, und den beftimmten iedesmahligen Grad der- 
felben beſtimmt. Dieß iſt freylich Feine Erfcheinung, 
denn eine Erfcheinung kann fein Ding am fich ſelbſt be— 
flimmen. Wenn aber gleich die Sinnlichkeit, fo wie 
fie ſelbſt ſinnlich vorgeftele und erfannt wird, die Ver: 
nunft an fich nicht beftimmen und einfchränfen kann: fo 
folgt daraus feinesweges, Daß dasienige, was der 
Sinnlichkeit und allen ihren Erſcheinungen an ſich 
zum Grunde liege, unvermoͤgend ſey, die Würkun— 
gen der Dernunft in der Erſcheinung einzuſchraͤn—⸗ 
fen. Und, wenn wir der Grundloſigkeit d. i. der theoretie 
fchen Vernunftloſigkeit bey Erklaͤrung der Immoralitaͤt ent⸗ 
gehen wollen, fo muͤſſen wir dieſen problematiſchen Ge 
danken aſſertoriſch denken. Die Vernunft iſt alſo frey in 
Abſicht auf alles, was in der Zeit geſchieht; aber einges 
jchränfe durch dasienige, was Die Begebenheiten im der 

ö Zeit 


*) Diefe Behauptung der Determiniften, 3. B. des 
-Hn. Hofe. Ulrich in Del. Eleutherrolpgre 
(Sena 1788.) $. 9 ff. ift noch. son Feinem Vernunfti— 
gen angegriffen oder bezweifelt; gejchweige Denn wider— 
legt worden. 


Moralphiloſophie. O 


310 Eritif der praftifchen Vernunft. 


Zeit beffimme. Sie iſt frey, und hat feinen Einfluß | 
empfangen in Abficht auf alles, was fie wuͤrklich thut, 
fo. wie auf alle ihre Urtheile, der Form nach; aber ab: 
hängig. und eingefchränft in Abfiche auf das, was 
fie nicht thut. Sie fonnte, für diefen Fall nicht 
würken. Gie iff frey d. i.' felbftchärig in Anfehung 
der vernünftigen Form ihrer Handlungen ; gebunden an 
den Stoff, der ihr gegeben, an die Sphäre, die ihr 
angewieſen iſt. 
§. 256. 
Transſcendente Freyheit. 


Es iſt alſo nicht nur Fein vernünftiger Grund vor: 
handen, fondern es läuft fogar wider alle Gefege un- 
ferg vernünftigen Denfens transfiendente Freyheit 
d. i. Unabhängigfeit des intelligiblen Würfens von in- 
teligiblen Gründen, ein uneingefchränftes Vermögen der 
Vernunft, aufalle wahrnehmbare Handlungen eines endli— 
chen vernünftigen Weſens einen beftimmenden Einfluß zu 
haben und fie dadurch moralisch zu machen — anzuneh- 
men. Ohne diefe Gründe zu kennen, oder den Grad 
ihrer Wuͤrkung und die Größe der die Vernunft ein- 
fchränfenden Bedingungen befiimmen zu koͤnnen, müßen 
wir doch, um dem Zufall auszuweichen, das Vorhan⸗ 
denſeyn von vergleichen Gründen wegen der Befchaffen- 
heit der entſprechenden Erſcheinungen vorausſetzen. Nur 
das unendliche, allgewalsige Weſen, Die Gottheit iſt in 
aller Ruͤckſicht fchlechrervings frey und unabhangig. 


6.257. 


J 





Critik der praktiſchen Vernunft. 211 


$..257. 
Sntelligibler Fatalismus. 

Der intelligible Naturfatalismus d. i. Behaup- 
£ung der Naturnothwendigfeit aller Handlungen eines 
vernünftigen. Weſens nach Gefegen der Cauffalitär der 
Dinge an fih felbft, kann feinen Beſtimmungsgrund 
dieſer Handlungen oder ein Princip der Unthätigkeit ab» 


‚geben, weil nur dasienige auf unfre Handlungen be- 


ſtimmenden Einfluß haben kann, was wir kennen, die 
Graͤnzen aber, welche die vernuͤnftige Wuͤrkſamkeit ein— 
ſchraͤnken, fuͤr uns ſchlechterdings unbeſtimmbar ſind. 
Zur Moralität iſts genug zu wiſſen, oder zu glauben, 
daß alles, was wir fennen, daß alle Zeitumftände uns 
nicht zwingen fünnen, unvernünftig zu handlen, mit: 


- Hin auch niche von der Verbindlichfeie losſagen, das 
moraliſche Gefeg überallzur Regel und Richtfehnur unfrer - 
Handlungen zu machen, ob es gleich, theoretifch be= 


trachtet, nicht überall die würflich befiimmende Regel für 
die Handlungen feyn kann. Die Ausnahmen hängen nicht 
von unferm Willen ab, meilfie in etwas gegründet find, 
was über die Granzen unfrer möglichen Erkenntniß hin- 
ausliege. - 


$. 258: 
Reſultate über abſolute Freyheit. 


Mach den bisherigen Unterſuchungen und den Exroͤr⸗ 
ferungen der reinen Vernunfgeritik ift der Beariff von 
Beier Freyheit ($: 229:) 


92 T) ver! 


212 Critik der praktiſchen Vernunft. 


3) vernünftig denkbar. Man verbindet nur die 
Begriffe von Cauffalität und vom Unbedingten als 
Merkmahle Eines Degriffes von unbedingter 
Cauffalirät. Diefe Vereinigung enthält nichts 

Innerlich Unmögliches, Widerfprechendes. $. 24T. 


*) Unanwendbar auf Erfahrungsgegenſtände, 
ſie dadurch zu erkennen. dan kann weder ein wahr⸗ 


nehmbares Weſen noch eine ſinnlich erkennbare 


Handlung in conkreto angeben, worauf dieſer Be— 
griff paßte. $. 239. 

3) Aber anwendbar auf blos denkbare Gegen, 
fände. Denn man kann bey Gegenfländen des 
Denkens von den Bedingungen abftrahiren, Die 
zur Erfenntniß oder Erfahrung von denſelben ge- 
hören, und fie bleiben dennoch Gegenftande. Was 

ſich nicht (ſinnlich anſchaueu und den Verjtandesbe- 
griffen gemäß. verbinden d. heiße) erkennen läßt, 
kann dennoch an fih eriffiren. Es kann freye Wes 
fon geben, wenn auch ihre Freyheit ſich nicht in 
der Erfahrung zeigt. $. 242. 

4) Was als frey gedacht wird, iſt in fo fern über; 
ſinnlich. 

5) Dieſes Ueberſinnliche kann aber durch dieſen Be— 
griff nicht theoretiſch erkennt d. h. es kann für 
den Begriff der Freyheit Feine entſprechende An— 
fchauung gefunden werden; denn unfre Anſchauung 
iſt nur finnlich. 

6) Noch 


U 


Critik der prafrifchen Vernunft. 213 


6) Noch weniger laͤßt ſich Freykeit erklären oder 

eine freye Handlung ‚ als ſolche, begreifen. Wir 
erflären und begreifen eine aefchehene Handlung 
durch die Bedingung, wovon fie abhängt. Was 
feine Bedingung hat, das Unbedingte iſt daher 
unerklärbar und unbegreiflich. 


7 Man kann und darf keine gegebene, in der Er⸗ 
fahrung vorkommende Handlung daraus erklaͤren. 
Denn bey Erklaͤrung ſinnlich wahrnehmbarer Be⸗ 
gebenheiten muß man zu andern zuruͤckgehn, die 
ebenfalls in die ſinnliche Wahrnehmung fallen; die 
Freyheit iſt aber uͤberſinnlich. Die Erklaͤrung 
waͤre auſſerdem theils willkuͤhrlich; denn warum 
ſollte man die finnlich vorauggehenden Urſachen uͤber⸗ 
gehen ? cheils dem Zweck der Naturforfchung nach» 

F ! theilig, denn man! überhäübe fich dadurch nur der 

Muͤhe, den Urfachen in ver Erfahrung nachzufors 

fchen, und nähme geradezu aus Bequemlichkeit etz 

was an, woben feine weitere Unterfuchung möglich 


— J 
8) Auf mogliche Handlungen darf man den Begriff 
beziehen; weil er ſelbſt moͤglich iſt. 


9) Auf moraliſche Handlungen (die wir uns aber 
immer nur als möglich, niemahls geradezu als würf- 
lich vorſtellen dürfen) mußman dieſen Begriff beziehen; 
denn die unbedingte und allgemeine Nothwendigkeit 

ſeiner Befolgung iſt nur durch ein unbedingtes Ver⸗ 
23 mö- 


214 Critik der. praftifchen Vernunft, 


mögen zu wollen denkbar. Ohne Freyheit voraus- 
zufegen, verlöhre dieſes Gefek fine Gültigkeit, 
$. 243. 244, / a 


10) Auf moralifche Handlungen, fofern fie mora⸗ 


liſch find, alfo nur ihrer vernünftigen Form nach. 
Denn die Gegenftände der freyen, moralifchen Bes 
handlung werden uns nad) finnlicyen norhivendigen 


Nlaturgefegen gegeben. $. 246. 


11) Die Nothwendigkeit fie praftifch anzu- 


nehmen d. h. unter der Idee von Freyheit zu 
bandlen, ift unmittelbar enthaltenin dem Bewußt⸗ 
ſeyn der Nothwendigkeit (Verbindlichkeit), das 
moraliſche Geſetz allgemein und unter allen Zeitum— 
ffänden zu befolgen. $. 240. 


12) Das Subiekt Diefer Freyheit iſt nur dag ver 


nünffige Xefen, und der Menſch nur, in fo; 
fern er vernünftig ift. 


a) Ein rein vernünftiges unendliches Wefen — 
die Gottheit — tft in aller Ruͤckſicht unabhän- 
gig, nicht blos in Anfehung deſſen, was es thut, 
ſondern auch in Abficht auf Das, was eg nicht 
thut. Es unterläßt nichts deshalb , weil es an 
dem Wollen oder VBollbringen äufferlich gehindere 
würde, j 

b) Ein finnlich vernünftiges, endliches Weſen 
(wie der Menfch) handelt nicht blog aus ver— 
aönfrigen Gründen, die von Zeirumftänden nicht 

| ab⸗ 


Eritif der praktiſchen Vernunft, 215 


abhängen, fondern auch aus andern Anteieben, 
die davon abhängig find. Es muß alfo möglich 
ſeyn daß es durch fremde Geſetze beſtimmt wer⸗ 
de, und wenn es nicht vernuͤnftig handelt, ſo 
muß etwas da geweſen ſeyn, was die Vernunft 
hinderte, etwas, das der Sinnlichkeit und ih— 
ren Erſcheinungen in der Zeit zum Grunde liegt. 

13) Die Gottheit beſitzt transſcendente Freyheit; 
fie iſt allbeſtimmend und abſolut unbeſtimmbar. 

14) Die eingeſchraͤnkte Vernunft, die Menſchheit, 

iſt beſtimmend und beſtimmbar. 

15) Die Handlungen des Unendlichen, fo wie der-end- 
lichen Wefen find nothwendig und geſetzmaͤſſig be⸗ 
ſtimmt; iene lediglich durch ihr eignes; dieſe zum 
Theil auch durch fremde Geſetze. Es giebt keinen 
Zufall. 

16) Die pſhchologiſche Naturforſchung wird durch 
Annahme der Freyheit nicht gehindert; denn fie bes 
ſteht mit der Nothwendigkeit; das reine Geſetz 
aͤuſſert ſich in Erſcheinungen, die nach einer ſinn—⸗ 
lichen Naturordnung geſetzmaͤſſig verbunden ſind, 
welche Ordnung man durch — entde⸗ 
ken kann. 

$. 259. 
Reſultate über den Determinismus. 


Verſteht man unter Determinismus 

1. Blinden Satalismus d. i. eine Nothiwendig- 
keit allen Begebenheiten ohne alle vollftandig be= 

X 24 ſtim⸗ 


216° Critik der praftifchen Vernunft, 


“ 


mende Gründe in und aufferhalb der Narurfräfte 
— fo iftdiefer Gedanfe widerfprechend und er hebt 
allen theoretiſchen fowohl, als praftifchen Vernunft 
gebrauch auf. 


2. Myſtiſchen Sataliemus: Nothwendigkeit aller 


oder einiger Begebenheiten in der Welt, vie nicht 
durch volltändig beftimmende in der Welt befind« 
liche Gründe, fondern durch ein von der Welt 
verfchiedenes Wefen und feinen Einfluß hervor» 
gebracht wird — fo iſt diefe Behauptung, man 
mag dabey in der Gottheit Wiliführ oder Zwecke, 
und die letztern als innere oder äuflere Zwecke als 
Deftimmungsgründe ihres übernatürlichen Einfluf- 
fes annehmen, ebenfalls allem DVernunftgedrauche 
ſchaͤdlich, und für die TEEN: der Eitten vers 
derblich, 


3. Verſteht man Darunter die allgemeine Geſetzmaͤſſig— 


keit und Nothwendigkeit der Würfungsart der Gotts 
heit ſowohl als der endlichen Naturkraͤfte, der Fürs 
perlichen wie der geiftigen, iedoch ohne Abhäanz 
gigfeit diefer Gefege von Vernunft und ohne noth- 
wendige Uebereinftimmung mit derfelben — Athei⸗ 
ſtiſchen Fatalismus — fo läßt dieſer zwar Ver— 


nunftgebrauch übrig , fchranft ihn aber doch blos 


auf die Erfenntniß ein, und hebt die Moralität 


auf, Der Gedanfe von einer Geſetzmaͤſſigkeit, oh⸗ 


ne gefepgebendes Vermögen (Vernunft), von Ges 
Bm Die die Vernunft erfennen und doch mit fich 


ſelbſt 


ee nn 


> 


Eritif der praktiſchen Vernunft. 217 


ſelbſt nicht uͤbereinſtimmend finden ſoll, iſt aber 
auch ſchon an ſich ſelbſt widerſprechend. 


4. Eine allgemeine Beſtimmbarkeit und Abhängige 
keit aller mit einem Willen begabten Wefen — des 
Unendlichen und der Endlichen — und mwürklid) 
‚erapfangene Beflimmungen, als die einzigen und 
entjcheidenden Gründe aller Volitionen, Entichlüfs 
ſe und Handlungen, if 


1) unerweislich; weil Selbftbeffimmung wenigftens 


problematifch möglich ift. 


2) in. Anfehung der Gottheit — mwiderfprechend. 


Sie muß wenigftens abfolurfelbfichätig und frey 
feyn. 


3) in Anfehung der endlichen Weſen; hebt fie alle 


Selbſtthaͤtigkeit, mithin auch die Möglichkeit 
auf, daß ein endliches Weſen Das andere (aftiv) 
für fich felbft beſtimmen fönne, und man müßte 
alſo alles würfliche Beftimmtwerden, mithin alle 
Handlungen zuletzt von einem übernatürlichen 
Einfluß der Gortheit ableiten, welches auf die 
vernunftwidrige Vorſtellungsart (Num. 2) zu 
rücführen würde Sie hebt ferner alle Mo⸗ 
ralität auf, teil dieſe auf Gelbftthätigfeit der 
Vernunft beruft, 


5) Nothwendigkeit aller menfchlichen Handlung zufol- 


ge der DBerwegungsgefege der Materie (materiel; 
Mora Fatalismus), oder zufolge des thieriſchen 


ER Ins 


4 Ä \ 


2:8 Critik der praktiſchen Vernunft. 


Inſtinkts Cebierifhyer Satalismus) find eben fo 
Erfahrungsmidrig, als fie den Sitten Nachtheil 
bringen. 


6. Nothwendigkeit und Gefenmäffigfeit allen freyen 
Handlungen in der Zeit — eine Vorftellung, von 
welcher alle pfychologifche Nachforfchung ihrer 
Möglichkeit nach abhängt, und Die in der anges 
wandten Moral von den wohlchätigften praftifchen 
Solgen ift. Sie ſchließt nicht nothwendig in. fich, 
den Gedanfen, daß die legten beffimmenden Gruͤn⸗ 
de felbft Erfcheinungen in der Zeit wären, von Des 
nen e8 entfcheidend abhienge, ob wir firtlich oder 
unſittlich handelten. 


7. Eine allgemeine Nothwendigkeit nach Vernunftge— 
ſetzen, allgemeine Geſetzmaͤſſigkeit überhaupt — iſt 
ein nothwendiger Gedanke der Vernunft, mit dem 
alles Intereſſe und alle Moͤglichkeit des Vernunft— 
gebrauchs ſteht und falle. 


8. Nothwendigkeit aller — ſittlichen oder unſittlichen 
— Handlungen, zu folge irgend welcher denkbarer, 
wenn gleich nicht immer erkennbarer, in oder auſ⸗ 
ſerhalb der Sinnenwelt, in oder auſſer den finns 
lich vernünftigen Wefen liegender Gründe, mithin 
auch Die unausweicliche Nothwendigkeit zumeilen 
unſittlich zu handlen — — wenn es unfietliche 
Handlungen giebt, wenn die Vernunft feinen Zus 
tel dulders fo kann fein vernuͤnftiges Weſen dieſe 

Noth⸗ 


EEE VEN u ee 


Critik der praktiſchen Vernunft. 219 


Nothwendigkeit geradezu verwerfen oder auch nur 
vernünftig bezweiflen. Wenn Sittlichkeit mit dieſem 
Gedanken nicht fo, tie oben (6. 254 ff.) gezeigt 


worden, verträglich wäre: fo muͤßte das vernuͤnftige 


Weſen entweder Sittlichkeit für Chimäre erklären, 
oder um der Sittlichkeit willen, alfo aus Dernunftz 
gründen (denn ſittlich follen wir durch Vernunft 
feyn — ) der Vernunft , ihren Grundfägen und 
ihrem Gebrauhe gänzlidy entjagen. Cine uns 
vernünftige Vernunft! 


* * 


Wollte man einwenden „dem Vernunftgeſetze der 
„Nothwendigkeit koͤnne man feine Guͤltigkeit in Abſicht 
„auf blos denkbare Dinge einraͤumen; dieſe koͤnnten 
„darnach nicht beurtheilt werden, hier koͤnne auch Zu— 


„fall ſtatt finden, ſo iſt keine Frage natuͤrlicher und 


rechtmaͤſſiger, als die nach dem Grunde, weswegen 
wir bey dem vernünftigen Wefen an ſich eine Ausnahme 
von feinem eigenen, nit vonder Sinnlichkeit em; 
pfanguen Gefege machen follen? um der Gittlichfeie 
willen? alfo um ihres Gefeges willen follen wir Noth— 
wendigfeit d. i. Geſetzmaͤſſigkeit ihrer eigenen Cauffalitäe 
laͤugnen? Wäre Dies confequent? Und was waͤre nun 
endlich durch diefe Entfernung der Vernunft von ſich 
felöft für Die praftiihe Vernunft gewonnen ? 


6, 269, 


A 


320 Critik der praftifchen Vernunft, 


$. 260. 
Sorrfeßung. 

Ein ‚Determinismus‘ endlich, welcher das ch 
(dag endliche vernünftige Wefen,, den Menfchen) im ie‘ 
dem DBetrachte, alfo nicht blos als Erfcheinung, ſon— 
dern auch ale Ding an fidy feibft (welches er gewöhn- 
lich nicht üunterfcheidet) in Anfehung aller feiner Sand; 
lungen, der vernünftigen und der fhierifchen, und in 
Anfehung alles deffen, was eine Handlung ausmacht, 
fowohl der Sorm (Handlungsmeife) als der Materie 
oder den behandelten innern und aͤuſſern Dbieften nach, 
ohne alle Einfchränfung dem nothwendigen Cinfluße 
der Erſcheinungen inder Zeit unterwirft, und fie 
ausſchließend daraus ableitet, ift 


1) unerweislich, und folge nach einer richtigen 
Schlußart 


a) weder aus der Erfahrung; welche überall 
Feine Nothwendigkeit lehrt und von Dingen an 
ſich nichts offenbarer, 


b) Noch aus der Analogie der erfahrung Ä 


weil die Analogie der Erfahrung nur fo weit 


reicht und nicht weiter ausgedehnt werden, darf, 
als die Moͤglichkeit der Erfahrung überhaupt 
reicht. Don dem Ginnlihen, was ein Gegens 
ftand möglicher Erfahrung iſt, gilt fein auch nur 
wahrfcheinficher Schluß auf das Ueberfinnliche, 
wovon feine Erfahrungserfenneniß entftehen kann. 


c) Noch 


SE Si nl mn man ul un 


Critik der praktiſchen Vernunft, 221 


c) Noch aus dem logiſchen Sage des Brundes; 
denn Sreyheit,das Vermögen der von Zeitumſtaͤn⸗ 
den unabhängigen Selbſtthaͤtigkeit ift ſelbſt ein 

Grund ; Freyheit iſt feine Grundlofigfeit. *) 

d) Noch aus dem finnlich-verftändigen Befer der 
Caufjalität; „alles was gefchieht, hat feine Ur; 
„ſache, die in der vorhergehenden Zeit liegt... 
Denn dieß Gefeg hat nur Sinn in Beziehung 
auf Gegenſtaͤnde in der Zeit, unter fich, auf 
finnliche Erfcheinungen im Verhältniffe zu einan- 
der. Diefe Negel bleibt. Aber die denkbaren 
Handlungen des Dinges an ſich in Bezug auf 
die wahrnehmbaren Handlungen des Phänomenon, 
ihre Erfcheinungen, hängen nicht wie Dor und 
Nach durch Zeitverhältniffe zufammen. Es ift 
das Verhaͤltniß von etwas, das nicht in der 
Zeit iſt, zu demienigen ,. was in einer Zeitord- 
nung angefchaut wird. 

e) Noch aus dem fpefulativen Vernunfcinter; 
eſſe. Diefes fann, bey Behaupfung der Sreys 
heit, in Auffuchung der finnlichen Urfachen, des 
zeitmäffigen Zufammenhangs ver verfchiedenen 
Handlungen und Zuftände des Gemuͤthes hin: 
laͤnglich, aufferhaib der Sinnenwelt aber Fann 
e8, in Ermangelung alleg zu verbindenden 
Stoffes, auch nac) einem entgegengefegten Sy- 
ſtem auf Feine Weiſe befriedigt werden. 

2 Eine 


*) Wiewohl unergruͤndlich; ein unerreichbarer , unber 
.greiflicher Grund. 


222 Critik der prafeifhen Vernunft, 


2) Eine folche finnlidy dererminiffifche Behauptung 
ift auch widerfinnig. Sie ſtellt die Dinge an fich 
als abhängig von den Geſetzen der Erfcheinungen, 
den Grund abhängig von feinem Gegründeren vor. 


3) Inconfequent. Wenn ein folder Determinift 
(wie gewoͤhnlich) fich auf die Vorausfegung der Un— 
möglichkeit ſtuͤtzt, daß einem unveränderlichen Din» 
ge an fi, eine Neihe von Veränderungen in 
der Erfcheinung enifpreche, Daß dasienige, was 
für ſich ſelbſt niche in der Zeit eriftire, eine Folge 
von Erſcheinungen in der Zeit begrunde, und 
demohngeachtet (wofern er nicht Arheift oder Pan- 
theift feyn will) das Verhaͤltniß Gottes, als des 
Unveränvderlichen und Zeitlofen, zu der Welt den 
Veraͤnderlichen in Zeitverhältuiffen geftellten fich auf 
ebendiefelbe Weiſe vorftelle: fo erklärt er in dem 





Einen Falle für würflih, was er in dem Andern ’ 
für widerfprechend ausgiebt. ' . 
4) Sie thut dem fpefulstiven Dernunftintereffe | 
Abbrucd, Indem man die Reihe von Würfuns 
Fungen und Urfachen rückwärts aus dem GSinnlis | 
chen indas Leberfinnliche hinfͤhrt, und jenes im- r 


mer unmittelbar aus dieſen, dieſes aber wiederum 
aus ienen erklärt, wird.die ganze Naturforfchung 
verwirrt. Hingegen bey dem Syſtem der Freyheit 
geht Diefelbe ordentlich und regelmäfig fort, Urſa⸗ 
che und Würfungen in der Zeit hängen nach ihrem 
Gefege zufommen. Die entfprechendem Gründe in 

der 


Critik der praftifchen Vernunft, 223 


der blog denkbaren Welt werden in vdiefer Neihe 
nicht mit eingefchaltet, ſondern fie werden fürfich ge- 
dacht, fo mie diefe erkannt werden. ‘Die wechfeljei» 
tigen Erklärungen des Iutelligiblen aus dem Sinn— 
lichen und des legten wiederum aus dem Denfba- 
ven führen uns auf lauter qualitates occultas — 
die eigentlichen Antipoden ächter Phyſik. 


5) Sie ift praktiſch ſchädlich, nehmlich obiektiv 
betrachtet, wenn dieſe Vorſtellungsart im Gemuͤ⸗ 
the herrſchend wird, und auf die Geſinnungen 
einwuͤrkt ). Die Vernunft wird hier ganzlich der 
finnlichen Natur untergeordnet, oder wenigſtens 
beygeoronet. So mie ich mir Dies innig und mit 
Ueberzeugung vorftelle, muß die moraliſche Frey⸗ 
beit ($. 227.) in meinem Bewußtſeyn abnehmen, 
und das fugendhafte Beltreben ermatten „Ich 
kann befier werden, ; diefer Gedanfe bleibt aber 
nur problematisch. ch fann es, wenn ich muß, 
Sch will und muß es wohl abwarten, bis die Zeik- 
umftande es begünffigen, Daß ich befler werde. 
Wenn die Vernunft nicht ſelbſtthaͤtig wuͤrken kann; 
ſo iſt ſinnliches Wohl, das einzige mögliche Ziel 
meines Beſtrebens. Innere Wuͤrde oder Unwuͤr— 

dig⸗ 

*) Zu guten Gluͤck handlen wenige Menſchen ihrem Erttent 
eonſeguent, und am wenigſten vermag ein Syſtem, dag 

in ſich felbft nicht ubereinftimmt, ſolche Begriffe, Ge: 
fühle und Maximen ganslich zu vernichten oder fie 
Eraftlos zu machen, die in dem Innerſten der Natur 
felbft tief_gesrumder, amd in die Gitten, Gewohnbei: 


ten, in fogar in die gemeine Lebensſprache genau und 
unzertiennlich verwebt find. 


224 Critik der prafcifchen Vernunft, 


— 


digkeit habe ich nicht; denn was ich bin und werde, 


bin und werd' ich durch Umſtaͤnde, durch die 
Zeit. Verbinde ich Damit den empiriſchen Optimis⸗ 
mus ($. 1957): fo muß ich hoffen, daß die Gott— 
heit die Thorheiten, die ich mit meinem unmittel- 
baren Derluft an Glücfeligfeit, aber zum Beften 
des Ganzen, als ein Dpfer, das fie dem Univerſum 
bringt , begehe, mir vergüten, mich dafür belohnen, 
und zu defto gröfern Forſſchriſten auf dem Wege 
zu meiner perfönlichen Beblfare leiten werde. 
Sittliche Indifferenz 


6. 261. | 
Verhaͤltniß der metaphyſiſchen zur 
moraliſchen Freyheit. 
doraliſche Freyheit (F. 227.) iſt die Erſcheinung 
der metaphyſiſchen ($: 242. 246.) Das trasſcendentale 


Sch, die Vernunft an fich ſelbſt, kann nicht beſſer wer⸗ 


den durch Mittel, die in der Zeit wirken; aber die Ers 
fcheinung deſſelben Fann reiner, ungemifchter werden von 
dem’ Einflufe anderer ſinnlicher Krafte Die metaphy- 
fiihen Bedingungen von der Thaͤtigkeit oder Unthaͤtig⸗ 
keit der Vernunft an ſich feldft laffen fih von ung nicht 
beſtimmen. Die theoretiſchen Kegeln der empirifchen 
Pſychologie, welche das DBegehrungsvermögen betreffen, 
bezeichnen Die Zeitumftände, als Temperament, Erzie- 
hung, Schickſale u. d. gl. unter welchen die Wauͤrkſamkeit 
der Vernunft und ihre Einſchraͤnkungen erkannt wer⸗ 


Den; 


—————— 


p 
J 





— 
* 


Critik der praktiſchen Vernunft. 225 


den; aber nicht ihre eigentlichen realen Beſtimmungs⸗ 
gründe. Auf Diefe gründen. fich ferner gewiffe prakti⸗ 
ſche Regeln, melde lehren, wie wir die moralifche 
Freyheit beyuns und ander erhöhen fonnen d. h. wiewir 
das empirische Sch unfrer Idee von dem überfinnlichen, 
feinvernünftigen Sch gemäß machen, wie wir die Geſetze 
und Aeufferungen des finnlichen Begehrungsvermögeng 
den Gefegen des vernünftigen Willens zweckmaͤſſig ans 
paffen koͤnnen. Diefes Ich ſelbſt, oder fein Gefeg if 
ewig, unveränderfich und zu feiner Verbefferung fähig: 


4 Woralphiloſophie. P 3 wey⸗ 


- 


226 Metaphyſik der Sitten, ar 





8weyter Hauptheil. 
Metaphyſik der Sitten. 





6. 262. 
Begriff, 


En Syſtem reiner (praktiſcher) Vernunfterkenntniße, 
welche die Beſtimmungsgruͤnde unſrer freyen Handlungen 
betreffen — deren erſte Prinzipien die Critik der praktiſchen 
Vernunft, ihrer Möglichkeit nach unterſucht — heißt 
Metaphyſik derSitten. Als ein vollfommmes Sy⸗ 
ftem müßte fie alle reine praftifche Wahrheiten vollftäns 
dig enthalten, fie aus ihren eriten Principien vollffän- 


Dig ableiten, in ihre erfien Beſtandtheile auflöfen und 


ſyſtematiſch verfnüpfen. 

Ihr Gegenftand ift Die bloffe praffifche Vernunft, ih⸗ 
rem reinen Begriffe nach, mit Abſonderung alles deſſen, 
was bey einzelnen endlichen vernünftigen Weſen z. B. 


den Menſchen zu den reinen Merkmahlen der Vernunft 


hinzukommt. 
$. 263. 
Ihre Theile. 


Ihre Iheile wären 


1) moraliſche Ontologie oder vollſtaͤndige Ans 
lytik, (Deduftion und Zergliederung) aller reinen 


moraliſchen Begriffe, * J 
“n — 





= 
2 ne er — u 


Metaphyſi k der Sitten. ar 


2) reine Ethik oder vollſtaͤndige reine Gefeigebung 
für alle vernünftige Weſen. 


3) reine Aſcecik oder Methodenlehre d. 1. — 
ſtaͤndige Theorie der a priori erfennbaren Tugend» 
mittel für iedes endliche vernänftige Wefen. 


Analytif der praftifchen, und infonderheit der 
moraliſchen Vernunft over praftifche 
Ontologie. 


| $. 264 
Gang der Unterfuchung. 


Bey allen moralifchen Urrheilen has man befonderg 
zu unterſuchen 


1) die Regel oder das Geſetz fuͤr die Handlung nebſt 
dem Obiekte, oder dem Zwecke, welcher durch die⸗ 
ſelbe beſtimmt wird; 


2) die Handlung, die in Verhaͤltniß zu dem Geſetze 
ſteht, und unter daſſelbe ſubſumirt wird; 


3) dieſes Verhaͤltniß für ſich ſelbſt, oder das mora— 
ſche Endurtheil, (Schlußſatz), welches aus der 
Verbindung des Geſetzes (im Oberſatz) mit einer 
Handlung (die im Unterſatz gedacht wird) entſpringt. 

Dieſe Form alles ſyſtematiſchen Denkens beſtimmt 
den Gang und die Folge der Unterſuchung aller 
moraliſchen Grundbegriffe im Allgemeinen, ſo wie 

die ſpecielle Betrachtung nach der Ordnung der Ca⸗ 

hr P 2 | tego⸗ 


228 Metaphyſik der Sitten. 
tegorien oder der Grundbegriffe alles Dentens fort⸗ 
laͤuft. 
$. 265. 
Begriff vom Geſetze. 

Eine praktiſche Regel ($. 22.) iſt 

1. In Abſicht auf Qualität: 

a. Individuell; eine praktiſche Regel, die einer 
für ſich macht; Willensmeynung, Maxime ($. 
27.). 

b. Partifulär, oder nur generell; wenn fie nur 
comparative Allgemeinheit hat; eine Dorfäprift. 

c. Univerfell ; wenn fie abſolut allgemein iftz ein 
praftiiches Geſetz. 

2. In Abſicht auf Qualität: 
a. Bejahend; ein Gebot. 
b. Derneinend ; ein Verbot. 
c. Einſchränkend; eine vollftändig beftimmende 

amd beftimmte Regel; Colliſionsregel. 

3. Der Relation nacht 


a. Categoriſch; eine Regel, die fich nf: dag We⸗ 
fen der Vernunft oder der Perfonlichkeit gruͤn⸗ 
det. Weſentliche Regel, Geſetz der Wurde. 
b. Sypothetifdy; eine Regel, die ſich auf den 


Zuſtand, auf bleibende aber zufällige, auſſerwe— 
ſent⸗ 





Metaphyſik der Sitten. 229 
ſentliche Eigenſchaften und Beſtimmungen eines 
vernuͤnftigen Weſens z. B. des Menſchen gruͤn⸗ 
det; Regel des Wohls. 

c, Disiumftiv; eine Regel, die von den veräns 
derlihen und zufammengefesten Berhältnißen 
eines vernünftigen Wefens zunächft abhängt, und 
die hypothetiſchen Negeln mit den categoris 

€ ſchen Verbinder; Negel ver Vereinigung des 
Wohls und der Würde; Geſetz der Gemein; 
Schaft. 

‘4. Der Modalität nad: 

a. Zufällig bedingt; Kegel der Geſchicklichkeit. 

b. Nothwendig bedingt; Kingheitsregel. 

c. Abſolut, unbedinge nothwendig; Sitfens 


geſetz. 
§. 266. 


Moraliſches Geſetz. 


Ein moralifches Geſetz iſt 1) univerfell 2) vollſtaͤn— 


dig beſtimmt und beſtimmend 3) categoriſch und dadurch, 
daß es Wuͤrde hervorbringt, der Beſtimmungsgrund 
aller hypothetiſchen und disiunktiven Gebote, des Zu— 

ſtandes und der Verhaͤltniſſe. 4) abſolut nothwendig. 

$. 267. 
Formales, materiales Geſetz. 

1. Ein Geſetz, das nichts enthaͤlt, als dasienige, 
was unmittelbar aus der praktiſchen Vernunft fließt, 
| P3 und 


r 


230° Metaphyſik der Sitten. 


und nur die DVernunftmäffigfeit der Handlung über: 
haupt ausdrückt — ift ein formales, reines, 
weſentliches Geſetz 3 5 B. handle gerecht, 


2. Ein Geſetz, das ‚auffer ver praftifchen Vernunft» 
inäffigfeit zugleich die Anwendung auf einen beſtimm⸗ 
ten Fall oder Gegenſtand (Materie bezeichnet, iſt 
ein materiales, angewandtes, auſſerweſentliches, 
zufaͤlliges Vernunftgeſetz, z. B. gieb ein De— 
poſitum zuruͤck. 


Die Begriffe von Form und Materie des Begehrungs⸗ 
vermoͤgens, des Willens, der Handlungen und Geſetze, 
welche dieſer Abrheilung zum Grunde liegen, ß nd oben 
6, 29 bis 40 erflärt worden, 


W * % 


Unter Materialen Vernunftgeſetzen wird hier 
etwas anderes verffanden, als was oben ($. 32.) unter 
materialen Grundfägen verffanden worden. Diefe let; 
tern enthielten nicht nur empirifche Merfmahle, ſondern 
ihr Grund oder ihre Guͤltigkeit wurde zugleich als ab- 
hängig von Erfahrungen und von Gegenftänden derſelben 

gedacht, jene, von denen hier die Rede ift, find blos 
dem Innhalte nach dieſen aͤhnlich, uͤbrigens wird ihre 
Gültigkeit gänzlich auf die formalen Vernunftbegriffe und 
Geſetze erbauet , und eben diefe Bernunftform, womit nur 
der empiriiche Gegenftand und Fall der Anwendung vers» 
bunden worden, giebt ihnen das Recht, .in die Anzahl 
moraliſcher Gefese, jedoch nur vom zweyten Range, 
auf⸗ 


Metaphyſik der Sitten. 231 


aufgenommen zu werden. Unter dieſen Einſchraͤnkun— 
gen iſt es nicht widerſprechend, wenn materiale Grund⸗ 
ſaͤtze dort als untauglich verworfen, und hier wieder einge⸗ 
fuͤhrt werden. Dort verwies man ſie aus der Moral, 
ſofern ſie als für ſich ſelbſt beſtändig die Moralitaͤt 
beſtimmen wollten; hier nimmt man ſie wieder an, wenn 


fie feine eigne Geſetzlichkeit ſich um ihrer empiriſchen Folgen 


und Obiekte willen anmaaßen, ſondern ſich gaͤnzlich dem 


formalen Geſetze unterworfen, und nur Die Anwendung 


deffelben auf Handlungen, die in ner Erfahrung vor— 
Fommen, bezeichnen wollen. 


— 


$. 268. 

Ein materiäles Gefeg enthält, | wenn es moralifch 
feyn foll, auch das formale Gefes, welches ihm eigentz 
lich feine moralifche Gültigfeie, Geſetzmaͤſſigkeit giebr. 
Eofern die Materie nothwendig mit der Form zuſam⸗ 
menhängt d. b. wenn dem Gegenflande oder Falle, wel- 
cher alsdenn durchaus beſtimmt feyn muß, die Form 
des Geſetzes überall anpaßt, das materiale Gefeg alfo 
überall dem formalen gemäß ift: fo ift daffelbe ebenfalls 
notkwendig und allgemein gültig, wegen feiner unver. 
änderlichen Beziehung auf das wefentliche formale Geſetz. 


© iſts 5. B. bey den meiften angewandten VBorfchriften - 


der Gerechtigkeit der Fall. Wenn Dagegen die Materie 
oder der Fall, worauf ein materiales Gefer ſich be- 
zieht, nicht durchaus beſtimmt, und daher beſtimmbar 
d. i. mehrerer und verfchiedner näherer Beftimmungen fä- 
big if: fo paßt dieſem unvollſtaͤndig beſtimmten Sale 

P 4 die 


⸗ 


J 


— 


232 Metaphufif der Sittent 


die Form des Gefeges nicht überall an, und das mas 
teriale Gefeg iſt nicht nochwendig und algemeingültig. 
Dieß ift z. DB. der Fall bey mehrern angewandten Vor 
| ſhritten der Güter | 


$, 269, | N 
* Colliſion der Geſetze. 

Formale Geſetze ($, 267.) koͤnnen ſich nie widerſtrei⸗ 
ten, fo wenig als die Vernunft ſelbſt, woraus fie le, 
Diglich ihren Urfprung nehmen, Materiale Geſetze im 
Gegentheil Fönnen fich widerfreiten, weil Säle möge 
lich find von zufammengefegter Natur, mo die vereinigte 
Defolgung mehrerer empirifcher Gefege, welche fich auf - 
verſchiedene Theile des Falles oder Obiektes beziehen, ſich 
wechſelſeitig einſchraͤnkt z. B. Das Geſetz der eignen Si⸗ 
cherheit und der Schonung eines Fremden. So iſt 
die Colliſion der Geſetze zu verſtehen. 


Mit der Colliſion der Geſetze (alfo auch der Pflich⸗ 
ten) iſt nicht zu verwechſeln der Widerftreit der Nei⸗ 
gungen, der bloſen Geſchiklichkeits-und Klugheitsregeln 
gegen die Forderungen des reinen Vernunftgeſetzes. 
Neigungen koͤnnen allerdings fo wie alles dasienige, 
was von ihnen lediglich abhängt, auch den formalen Ge: _ 
fegen in ihrer richtigen Anwendung widerſtreiten. 


§. 270, 
Leges obligantes, obligandi. 
Die materialen Geſetze d. 1, dieienigen, welche eine 
beſtimmte Art, beſtimmte Gegenſtaͤnde ſittlich zu behand⸗ 
‚kn 





% 


Metaphyſik der Sitten. 233 


len, ausdruͤcken (F. 267.), find nach Verſchiedenheit dies 


ſer Gegenſtaͤnde, ihrer Erkenntniß und ihres Verhaͤlt⸗ 
nißes zur Sittlichkeit an ſich ſelbſt ($. 268.) 


1) ſtrengverpflichtend, weſentlich, vollkommen de* 
terminirt, Cleges abligantes) — mern der Ges 
genftand, an welchem ein Gefeg erfült werden, 'und- 
Dasienige, was an Diefem Gegenſtande oder in eis 
nem gegebenen alle aefchehen ſoll, ſich durchaus: 
beſtimmen und ſich fein Verhaͤltniß zur reinen Sitts 
lichkeit vollftandig und durchaus beſtimmt angeben 
löst; deren Nichrbeobachtung oder Verletzung alles 
zeit Sünde iſt. 


2) nur im. Allgemeinen verpflichtend , auffertve- 
ſentlich, unvolifommen, undererminirt (obligandi) 

— wenn die Natur des Gegenffaudes eine fo ges 
naue Beſtimmung nicht zulaͤßt, ſondern durchaus 
etwas Unbeſtimmtes ubrig bleibt. 


Dieſer Unterſchied bezieht ſich nur auf die Moͤglichkeit 
oder Unmöglichkeit einer durchaus beſtimmten Erkennt⸗ 
niß deffen, was in irgend einem gegebenen Falle morg- 
liſch zu thun oder zu laſſen ift, gile alfo nur für einges 
fhranfte vernünftige Wefen. Obiektiv muß ieder Hand- 
lungsfall der genaueſten moraliſchen Beſtimmung faͤhig 


— 


$. 271. 
Ein vollkommenes Geſetz ($. 270.) enthält einen 


eelchendene Grund zu einer Handlung, d. in einen 


P 7 folchen, 


234 Metaphyſik der Sitten, - 


folchen , welcher die Handlung ganz und nothwendig be= 
fimmt. Ein unvollfommnes enthält nur überbaupe 


einen Grund dazu, und laͤßt fowohl die Zälle ver, - 


Anwendung überhanpf, als auch das Wieviel? im iedem 
gegebenen Falle einigermaaßen unbeftimmr. 


Mit den (für iedes endliche Wefen) obieftiv um; 
vollkommnen Gefegen ($. 270.) find Dieienigen nicht 


zu verwechfeln, denen nur fubieftiv und zufälliger Wei⸗ 


ſe bey dem oder ienen vernünftigen Weſen die genauere 
Beſtimmung fehlt, deren ſie an ſich ſelbſt bey mehrerer 
Lultur der moraliſchen Wiſſenſchaft faͤhig waͤren. * 


6. 272. 
Hoͤheres, niederes Gefeg, 

Ein Geſetz, welches in einem andern Gefeke gegrüns 
bet iſt, iſt von demfelben abgeleitet, und in Verglei⸗ 
chung mit demſelben niederer; ienes iſt vergleichungs⸗ 
weiſe höher und urſprünglich. Sie find einander 
fubordigirt. 


Ein Gefes if dem andern coordinirt, fofern feines 
von beyden von dem andern abgeleiter, fondern beyde 
entiveder als Theile in einem ganzen gemeinſchaftlichen 
Geſetze, oder als Folgerungen von einem und demſelben 

Grundgeſetze zu betrachten find. 


Die coordinirten Geſetze ſind ſich gleich, wenn die 
Nothwendigkeit ind Nähe ihres Zuſammenhangs mit ih⸗ 
sen urſpruͤnglichen Geſetze nicht verſchieden iſt; z— B. das 


— 


x 


Metaphyſik der Sitten 235 


Geſetz der Gerechtigkeit gegen andere und'gegenmich ſelbſt; 
‚ ungleich, wenn dag eine Gefeg entweder nicht fo noth- 
wendig oder nicht fo nahe, fondern durch mehrere Zwi⸗ 
fihenglieder, mit dem gemeinfchaftlichen Grunde des ans 


dern zufammenhängr. 


Gefese find zugleidy coordinire und ſubordinirt, 


wenn ihr entfernter Grund beyden gemeinfchaftlich zus 
kommt, der naͤhere Grund des einen aber als Theil oder 
Folgerung von dem naͤchſten Grunde des andern anzu 
ſehen iſt. 
—— 
Ein hoͤheres Geſetz iſt vielumfaſſender, als ein nie— 
deres; Das niedere iſt alſo yon geringerm Umfange. 


§. 274. 
Die ‚materialen Geſetze empfangen ihre Guͤltigkeit, 
Eeſetzlichkeit) von den formalen. Dieſe find alſo höher 
als iene, und iene dieſen überall ſubordinirt. 


v4 


$. 275. 


Das moraliſche Grundgefes iſt das abſolut hoͤchſte, 


und allumfaſſend. Seine Theile, oder die Formeln, 
worinn es auf eine denkbare Art von Gegenſtaͤnden (3. 
B. auf das handelnde Weſen oder auf eine, von dieſen 
verſchiedne Perſon) bezogen wird, find ſich Ale 
und nur coordinirt. 


$. 276. 
Die materialen Geſetze, - worin den formalen ein 
Erfahrungsgegenftand, ein Bi in der Sinnenwelt zur 
An 


236 Metaphyſik der Sitten. 


Anwendung angewieſen wird, find höher, ie allgemei⸗ 
ner fie find; niedriger, ie mehr fie ins Defondere und 
Einzefne gehen; coordirfire und gleich, wenn fiegleich 


allgemein find, und mit dem formalen Grunde mie gleis 


cher Nothwendigkeit und durch eine ‘gleiche. Anzahl Zwi⸗ 
— ſchenglieder zuſammenhaͤngen z. B. das Geſetz der Men⸗ 
ſchenerhaltung iſt dem Geſetze ver Selbſterhaltung gleich; 
das Geſetz der Sparſamkeit dem Geſetze der Induſtrie 
ebenfalls; das Geſetz der Wiedererſtattung iſt dem Ge⸗ 
fee der Gerechtigkeit gegen andere Menſchen uͤberhaupt 
untergeordnet. 
$. 277. 
| Zweck und Mittel, ; 
Der obieftive Grund einer Willensbeſtimmung oder 
"das, was man will, ein praftifcher Gegenſtand, iſt der 
Zweck; dasienige wodurch der Zweck möglich oder was 
durch den Zweck beftimme wird, das Mlictei. 
Ein Zweck, fofern er den Gemuͤthe vorgeffelle wird, 
heißt ein Antrieb —, eine den Willen beflimmende 


Vorſtellung. ut 
&; 278; 


Obiektiver, fubieftiver Zweck, 
Ein ſubiektiver Zweck ift dasienige, deſſen Exi— 


4 


ſtenz fur ung einen Werth hat, den nicht die Vernunft 


allein zureichend beſtimmt; obiektiver Zweck iſt alles, 
deſſen Erxiſtenz an ſich ſelbſt für iedes vernuͤnftige We⸗ 
ſen einen Werth hat, deſſen Werth lediglich durch Ver⸗ 
nunft beſtimmt und geſchaͤtzt wird, — 
$. 27P. 


el A nn u 


kung auf das Subieft (das Gemuͤth) anflert. 


Metaphyſik der Sitten. 237 


ih 23 279% 2 
Materialer, formaler Zweck. 

Mas durch eine Handlung bewürft werden fol, heiße 
ein materialer Zweck; was ein vernünftiges Weſen 
durch feine Handlung zwar nicht hervorbringen Fann, 
was es aber gleichwohl nie blos als Mittel behandlen 
darf (der Vernunft gemäß, kann), heißt ein formaler 


Zweck. Jener hängt von der Materie des Willens, 
dieſer von feiner vernänfrigen Form ab. \ 


Der formale Zweck ift abſolut, der materiale nur 
relativ. 
$. 280. 
Jeder ſubiektive Zweck (9. 278.) iſt material und res 


lativ; ieder obieftive Zweck iſt formal und abſolut. 


$. 281 
Triebfeder, Beweggrund. 


Die Antriebe (6. 278.) ſind entweder nur Triebfe— 
dern oder auch Beweggruͤnde. Die Vorſtellung eines 
ſubiektiven Zwecks, als ſubiektiver Grund des Begeh— 
rens betrachtet, iſt eine Triebfeder in engerer Bedeutung; 
die Vorſtellung des obieftiven Zweckes, als fubiefriver 
Srund des Wollens heißt ein Beweggrund. 


Wenn man- unter Triebfeder überhaupt (wie oben 3 
$. 145 bis. 166) ieden Antrieb, ieden fubieftiven Grund 
des Begehrens verſteht ‚So kann auch ein Beweggrund 
als Triebfeder vorgeſtellt werden, ſobald er eine Wuͤr— 


238 Metaphyfif der Sitten, 


— 
6. 282. 

An einem ſubiektiven Zweck ($. 278.) unterſcheidet 
man etwas Aeuſſeres, auffer dem Begehrungsvermögen 
Befindlihes, z.B. Gold; etwas Inneres, im Gemü- 
the’ befindliches, 3. B. die Begierde zu haben, und ein 
Verhaͤltniß zwifchen beyden, 5. DB. der Gewinn. Das 
erfte heißt der Gegenftand, das zweyte die Abficht, das 
oritte Genuß. Letzteres beſtimmt das Weſen eines ſub⸗ 
iefriven Zwecks. 


Zafel Ba Zwecke. 

Nach den reinen Merkmahlen alles Denkens, laͤßt 
ſich der Begriff von einem Zweck (Gut) auf folgende Art 
naͤher beſtimmen. 

Quantität. Individueller Zweck, das — ——— 
Genereller Zweck, das Relativ Gute. 
Univerſeller Zweck, das Abſolut Gute. 
Qualität. Poſitiver Zweck, etwas Gutes. 
Negativer Zweck, d. i. Nichtſeyn des 
Boͤſen. BEE 
Eimitivter oder beffimmter Zweck, Gu⸗ 
tes ohne Böfes, rein Gutes. 


Relstion. Abfoluter, höchfter , felbfiftändiger Zweck; 
MWefentlih Gutes, was eine Würs 
de hat, eine Perſon. 

Bedingter, abhängiger, untergeordneter 
Zweck, Nebenzweck; Wohl des Zu⸗ 
ſtandes einer Perſon. 

Dis⸗ 
—*9* 





Metaphyſik der Sitten, ‚239 


Disiunftiver, in Gemeinfchaft gedachz 
ter, vollffändiger Zweck, Verbindung 
der oberfien und der bedingten Zwe— 
fe, Syſtem ver Zwecke — Wohl 
und Würde vereint. 


Modalität. Moͤglicher Zweck, Zweck der Geſchick⸗ 
lichkeit. 


Würklicher Zweck, der Klugheit. 
Abſ. Nothwendiger Zweck, der Sittlichkeit. 


-$. 284. 

Ein moralifcher Zweck, der Zweck, den ein vernünfs 
tiges Wefen bey Befolgung des Sittengeſetzes vor Au⸗ 
gen hat, iſt 1) univerſell 2) vollftändig beſtimmt, rein 
3) felbfiftandig und dadurch vollſtaͤndig 4) unbedingt 
nothwendig. 


$. 285. 
Mittel. 

Ben einem Mittel ($. 277.) unterſcheidet man et⸗ 
was Beffiminbares , die Materie, und etwas Beſtim⸗ 
mendes oder die Form. Die Iegtere beſtehet in der this 
tigen Behandlung (5. B. Anbau) des Stoffs G.D. ei- 
nes Feldſtuͤckes, oder des Verſtandes) zu Erreichung 
des Zwecks. 


g. 286, 


* 
+ 


240 Metaphyſik der Sitten. 
6: 286. 
Mittlerer Zweck ˖ 
Ein Mittel iſt entweder ein bloßes Mittel, oder 


ein mittlerer Zweck; das letztere, wenn es in anderm 


Betrachte auch als Zweck anzuſehen iſt. 


8. 287. 
Subordination, Koordination der Zwecke. 
Die Zwecke Fönnen einander 
‚I) coordinitt ſeyn, wenn der eine ohne Bezug auf 
die andern geſucht wird 


2) pofitiv ſubordinirt, als mittlere und fer⸗ 
nere Zwecke; wenn der eine fih zu dem ander 
als Mittel verhält, und nur um desmwillen gefuche 

wird. 

3) coordinirt und — fubordiniee zugleich 
als Sauptzwed und Nebenzweck. Man bes 
fördert den letztern nicht um des erftern willen, aber 
Doch nie mit Hindanfesung deffelben, fondern nur 
in ſofern, als der andere dadurch nicht gar 
wird, und fid) damit verträgt, 


$. 28%. 
Hoͤchſter Zweck. 
Der höchſte Zweck d. i.derienige, IDEE am für. 
ften begehrt wird iſt daher 


1) vergleichungeweife der höchſte, wenn wir 


ihn vorziehn a 
1) iedem 





Metaphyſik der Sitten. 241 


H iedem andern. coordinirten Zwecke, einzeln bes 
trachtet. 

2) allen uͤbrigen beygeordneten Zwecken zuſammen. 

2) ſchlechterdings der höchſte, wenn ihm alle uͤb⸗ 

rigen ſubordinirt ſi ſind, nicht nur 

1) negativ, als Nebenzwecke dem ern, ; 
fondern auch 

2) pofitiv, fo daß ihm alle übrigen nur ale Mit⸗ 


tel Dienen. | “* 
$. 289. ER 


Vollkommenheit der Mittel, | 
Ein Mittel if 
1. der Quantität nad s 
ein einzelnes, was nur einen einzelnen Zweck bes 
fördert, oder nur einem, nur ietzt dient. 
ein, befönderes; was mehreren Zwecden, mehrer 
Perfonen, unter mehrern Umſtaͤnden entſpricht; 
ein allgemeines, was uͤberall, allen Zwecken aller 
Perſonen, unter allen Limftänden befoͤrderlich, nie 
zweckloß oder zweckwidrig iſt. 
2. der Qualität nach; 
den Zweck unmittelbar befoͤrdernd, poſitiv 
die Hinderniſſe wegraͤumend, negativ 
beydes, vollſtaͤndig beſtimmt. 
3. der Relation nach: 
weſentlich, einfach, für fih weckmaſſig 
ſich entwickelnd, in ſeinen Folgen zweckmaͤfſig. 
Moralphiloſophie⸗ m beydes, 


Ba  '- Metaphyſik der Sitten, 


beydes, in der Verbindung zweckmaͤſſig; paſſend in 
en Syſtem von Mitteln und Zwecken. 


4. der Modalität nach: 


ein mögliches Mittel, dag man haben, gebrau> 
chen, und wodurch man den Zweck befördern kann. 


einwürfliches Mittel, das man hat, und das dent 
Zwecke entjpricht. 


R ein nothwendiges Mittel, das ficher iſt, dem Bes 
fie, dem Gebrauch, und dem Effeft nach. 


$. 290. | 
Subordination, Coordination der Mittel, 
Mehrere Mittel werden verbunden 
3) zu Beförderung Eines nächften Zwecks als beyge⸗ 
ordnete Mittel; die entweder in gleichem Maaße 
oder in verſchiedenen Verhaͤltnißencals Haupt—⸗ 
mittel und Nebenmittel) zu ihrem Zwecke wuͤrken. 


2) zu Beförderung Eines letzten Zwecks, ſo daß ies 
des ſich zugleich als Mittel und als Zweck in der 
Reihe der Glieder verhält — ſubordinirte Mittel. 


$. 291. | 

Collidirende Zwede, Mittel, 

Zwecke colliviren mit Zwecken entweder unmittelbar, 
indem einer den andern aufhebt und einſchraͤnkt, oder 
mittelbar durch vie Mittel, die dem einen Zwecke güns 
ftig, und Dem andern dagegen hinberlich find. 


Mittel 





Metaphyſik der Sitten, 943 

Mittel reisen mie Mitteln, die für fich ſelbſt iedes 
einzeln einerley Zweck befördern ‚. in der Verbindung aber 
ihre Würfung wechſelſeitig einfchränfen, fo daß ihre 
würfliche vereinre Würfung, nicht gleiche der Summe. 
der Würfungen, Die iedes einzelne her vorzubr ingen im 
Stande war. 

$ 202; 

Ein Geſetz, das uns zu einem gewiſſen Zweck vers 
pflichtet, gebietet auch den Gebrauch der Mittel, ohne 
welche derſelbe nicht erreicht werden kann; verſtattet 
alle die Mittel, die nur daſſelbe befoͤrdern, den Fall 
ausgenommen, daß dieſes Mittel einem hoͤhern, wichti⸗ 
gern Zwerfe hinderlich ware. 

$. 293: 
Tafel der . Handlungen, 

Eine Handlung (ein Thun oder Laffen) iſt in Be⸗ 
ziehung auf die praktiſchen Regeln und Zwecke, mit de⸗ 
nen fie uͤbereinſtimmt oder ſtreite,, 

1. der Quantität nach: 
angenehm, oder unangenehm 
nuͤtzlich oder ſchaͤdlich 
‚gut oder boͤſe, Ar 
ie nachdem fie einer einzelnen, befondern, oder allges 
meinen Regel entfpriche oder —“ 


2. der) Qualitat nach 
regel⸗ oder geſetzmaͤffig; nicht eeſetmaſig po⸗ 
ſitiv) 


Na nicht 


244 Metaphyſik dee Sitten ' 


nicht — gefegmwidrig; geſetzwidrig. 
beydes, vollfiändig übereinftinmend — vollſtaͤndig 
widerſtreitend. 


3. der Relation nach: | 
würdig oder unmürdig 4 
heilſam oder nachtheilig 
beydes, der Wuͤrde und dem Wohle gncen | 
— oder zuwider 

E der Moralität nach: 
regelmaͤſſig oder regelwidrig (zulaͤſſig oder unzulaͤſſi y j 
Vorſchriftmaͤſſig GxInrov) oder et \ 

(erlaubt, unerlaubt) 
Geſetzmaͤſſig, Gefeswidrig (Pflichtmäffig, auroe- 
Top“, oder Pflihtwidrig). 


9. 294. 

Die -moralifche Handlung iff, I) gut d. i. überein 
feimmend mit einem allgemeinen Geſetz 2) gefegmäffig in 
Der einen und niche gefegiwidrig im einer andern Ruͤck— 
ſicht, übereinffimmend mit einem volftändig beffimmten 
Gefese 3) der Würde und dem Wohle gleich angemeflen, 
in einem Syſteme vernünftiger Wefen, Die dieſe Geſetze 
befolgen und 4) pflichtmaͤſſi 3, einer nothwendigen — 
gel gemaͤß. 

5 295: 
Legalitaͤt, Moralitär. 

Die Uebereinſtimmung einer Handlung mit dem Gi; 
tengeſetze (oder au), mit einem praktiſchen Geſetze über- 

haupt 





Metaphyſtk der Sitten. 245 


haupt) heißt Kegalität; wird dieſe Uebereinſtimmung 
durch das Sittengeſetz ſelbſt, alſo nothwendigerweiſe be⸗ 
ſtimmt, fo kommt der Handlung Moralität, ſittlicher 
Werth zu. Bey der bloßen Legalitaͤt kann der Beftims 
mungsgrund diefer Uebereinffimmung etwas anderes, 
on ſich zufälliges feyn. 
$. 296. 

Verbindlichkeit überhaupt, 

Das Verhältnig eines Gefeges zu einem Willen, wel 
cher nicht phnfifh am dieß Gefez gebunden iff, wodurch 
eine Handlung als praftifch nothwendig vorgeftellt wird, 
Die nicht phyſiſch nothwendig aus demfelben erfolgt; heiße 
DerbindlichFeit in weiterm Sinne. Es mird hier 
ein Wille durch Vernunftgründe beſtimmt, welcher fub- 
ieftiv etwas anderes wollen“ kann; ein nothwendiges 
Wollen, in möglichen — mit der natuͤrli⸗ 
chen Neigung. 


x 


x $ 297. 
Berbindfichfeit n in engerm. Sinne, moralifche, 

In engerm Sinne nennt man nur eine Beſtim—⸗ 
mung eines finnlichen Begehrungsvermögeng durch reine 
Vernunftgruͤnde, oder die Nothwendigkeit einer Hands 
lung zu Solge eines moraliſchen Geſezes — Derbind; 
lichkeit fchlechkhin‘, oder eine moraliſche, oder insbes 
fondere eine Verpflichtung. 


TR | | 23 €. 298. 


246 Metaphyſik Feder Sitten. 


$, 298. 
Verpflichtung, aftive, paſſive. 
Was dieſes Verhaͤltniß felbfichatig beſtimmt, heißt 
verbindend oder verpflidptend; was daben fich leident⸗ 
lich (pafſiv) verhält, und Beſtimmungen empfängt, das 
iſt oder wird verpflichtet. Das Gefeg und dag gefeh« 
gebende Vermögen verpflichtet ; das finnliche Begehrungs- 
yermögen empfänge eine Verpflichtung. | 


$. 299. 

Zu einer Verpflichtung gehört alfo nicht nothwendig 
‚ein Oberherr, aus deffen Willen fie entſpraͤnge, fon= 
dern nur ein übergeordnetes undein untergeordnetes Ver⸗ 
mögen deflelben Subiekts, wovon das eine verpflichtet, 
Das andere verpflichtee wird. _ Gründe zu einer beftimm- 
ten Derpflichtung kann der. Wille eines. andern, alfo 
auch eines Oberherrn geben; allein ‚der letzte und ent— 
fcheidende Grund, ſich ienen äuffern Gründen, die an 
fich unzureichend wären, gemaͤs zu beftimmen d. i. einen 
Oberen zu gehorchen, muß Doch iederzeit in der Bernunft 
Des Verpflichteten ſelbſt a priori vorhanden ſeyn. Dieß 

gilt ſelbſt von den göttlichen Geboten, 


$. 300, 
Subiekt der Berbindlichkeit, 
Verbindlichkeit finder, was erſtens Die Perfonen ber 
trift, Die ihrer fähig find, nur ‚State 
1) bey vernünftigen, freyen Wefen , teil diefe allein 
der Moralitaͤt d. i. der Selbfibeftimmung nach reis 
nen 


Metaphyſik der Siem . 247 


nen Dernunftgründen fähig find; nicht bey blos 
thieriſch beftimmbaren Wefen. Reine Vernunft ift 
Die Bedingung der, aftiven Verpflichtung. 


2) Aber auch nicht bey durchaus reinen EM si 
fen Coßne finnliches Begehrungsvermögen), fondern 
nur bey eingefchränften, ſinnlichen Weſen, bey des 
nen auffer den rein vernünftigen Beftimmungsgrüns 
den auch noch eine andere Beſtimmung zum hand» 
len, theils durch unmittelbare finnliche Gefuͤhle, 

theils Durch Bewegungsgruͤnde der empiriſchen 
Vernunft (der Klugheit) moͤglich iſt, deren Begeh⸗ 
rungsvermoͤgen alſo durch das moraliſche Geſetz ei⸗ 
nigermaaßen eingeſchraͤnkt und andern Antrieben 
entgegen zu handlen beſtimmt d.i. genoͤthiget wird. 


$. 307. 
Dbiefe Der Verbindlichkeit. 


Was zweytens die Handlungen betrift, wozu ie⸗ 
mand verpflichtet werden kann, ſo ſind alle dieienigen 
davon ausgenommen, die keiner Moraficät fähig. find, 
alſo 


3) die ſchlechterdings unmöglichen, deren Ber 
ariff fich Telbft und dem Wefen des Handelnden 
widerfpricht ; 


2) die bedingt unmöglichen d. i. Dieienigen, zu des 
von Würklichfeit Die norhwendigen äuffere:: Bedin⸗ 
gungen fehlen; Die in der gegebenen Innern und 

24 aͤuſſern 


248° Metayhyſik der Sitten 


aͤuſſern Lage unmöglich find; wozu es an ber erfor⸗ 
derlichen Materie fehlt. i 


3) die moraliſch unmöglichen d. i. dieienigen, die 
einer andern hoͤhern Verpflichtung: widerſtreiten. 


$. 302, _ 
Verpflichtungsgruͤnde. 
Wovon eine Verpflichtung abhaͤngt, das iſt ihr 
Grund. Man unterſcheidet aber 


N den weſentlichen, formalen Grund aller Ver⸗ 
bindlichkeit d. i. das reine Vernunftgeſetz z. B. das 
reine Geſetz der Gerechtigkeit; 


2) den zufaͤlligen, materialen Grund d. i. dasienis 
ge in Dem Dbiefte, in dem Zwecke einen Handlung, 
was unter das Geſetz fubfumirt wird; dasienige 
in und an der Handlung, weswegen das Vernunfts 
gefeß darauf angewandt wird 5. DB. eine Schuld, 

die ich übernommen, ein Verfprechen, das ich ge 
than habe; der Einfluß einer Handlung auf meine 
Gefundheit, Ehren. ſ. f. ; 


Der formale Grund iſt allgemein für iedes vernünftige 
Weſen und für alle Fälle vorhanden und gültig; der ma⸗ 
feriale Grund zu einer Handlung hängt von zufälligen - 
Umftanden, Verhältnißen und Lagen ab, Die zu einer 
beftimmten Art, moraliſch zu handlen, Stoff und Ver⸗ 
anlaſſung geben. 


§. 303. 





Metaphyſik der Sitten, 249 


$. 303. 
Pflicht, Recht. 

Was einer Verbindlichkeit wuͤrklich entſpricht, was 
durch ein Geſetz prattiſch nothwendig iſt, was dem Ge- 
ſetze zufolge geſchehen ſoll, das iſt Pflicht. Was ohne 
Widerſpruch eines Geſetzes ſeyn oder geſchehen (oder 
unterlaſſen werden) kann, was keiner Pflicht widerſpricht, 
was ich der Pflicht unbeſchadet thun oder unterlaſſen 
Darf, was prattiſch möglich iſt, das iſt Recht. 


§. 304. 
Aller Wuͤrklichkeit liegt die Moͤglichkeit zum Grun⸗ 

er jeder Pflicht entſpricht alſo ein Recht des Verpflich⸗ 
eten. 

305. 

Pflichtmaͤſſig, aus Pflicht handlen. 

Eine Handlung, die ihrem Innhalte nach dem 
Geſetze gemaͤs iſt, heißt pflichtmäſſig; was um der 
Verbindlichteit willen, alſo vermoͤge eines geſetzlichen 
Beweggrundes geſchieht, iſt eine Gandlung Aus 
Pflicht, Erfüllung einer Pflicht. - Diefe hat Moralis 
tät, iene nur Legalitaͤt. $. 295. 


€. 306. 
Handlungen aus Pflicht (F. 305.) unterſcheiden fi F 


Mvon pflichtwidrigen Bi ‚ durch ihre Les 
galitaͤt 


25 2) von 


4 


250 Metaphyſik der Sitten. 


2) von pflichtmäſſigen, die ohne Moralitaͤt ge— 
fchehen (oder unterbleiben), aus Furcht oder Hofs 
nung, und zwar 


a) aus unmiftelbarer Neigung zu dem materialen 
Zweck oder Gegenſtande der Handlung. 


b) aus mittelbarer Neigung, deren naͤchſtes Ob⸗ 
ieft nicht der Gegenftand der Handlung ſelbſt, 
aber mit. diefen verbunden ift — von Natur, 


erer durch willkuͤhrliche Beranßaltung eines 


Oberherrk. 
$. 307. 

Die Nothwendigkeit einer Handlung beruht nehmlich 

1) blos und unmittelbar auf Neigung, auf einem ſinn⸗ 
lichen Antriebe 

2) oder auf einem empiriſch vernänftigen Beweggrunde 
(Motiv), auf einem erkannten fntereffe — Verz 
bindlichkeit im weitern Sinne. $. 296. 


{ } 4 
3) oder auf einem reinvernuͤnftigen Beweggrunde, oder 


Verpflichtungsgrunde — moauge⸗ Verbind⸗ 
lichkeit. 


** * 


Die franzoͤſiſche Sprache bedient ſich, um dieſe Vers 
häftniffe einer Handlung auszudruͤcken, deſſelben Zei- 
sheus „obliger,, aber mir verfihiedne regimes , de und%. 
oa fteht, kommt es auf eine genaue, nothwendige 
Derbindt lichteſt an, wovon man ſich nicht losſprechen 

kann, 


Metaphyſik der Sitten, 251 


kann, weil eine Pflicht, ein Contrakt u. d. gl. fie be— 
ſtimmt. Hingegen fagt man: je ſuis oblige de fortir 
etc. um anzuzeigen, daß man ſtarke Beweggruͤnde, die 
nicht eben moraliſch noͤthigend ſeyn dürfen, zu etwas 
babe, 
$. 308. 
Zafel der Pflichten, 

Die Verbindlichkeiten und Pflichten (in weiterem 
Sinne €, 292.) d. i. Beftimmungen der Nothwendigkeit 
einer Handlung (oder Unterlaffung) Durch eine Kegel, 
find eben fo verfchieden, alg die Regeln ſelbſt — nach 
der obigen Tafel .$, 261. 

Eine Verbindlichkeie iſt 

I; der Quantität nach: 

"a, individuell, menn fie auf eine blos fubieftive 
Marine (Willensmeynung) eines Einzelnen, auf 
einem‘ individuell beſtimmten Intereſſe beruht. 
Verbindlichkeit det Kunſt. So iſt der Dich: 

ter verbunden, zu erfinden, zu mablen u. |. w. 
als Dichter. | 


b. fpeciell; aus einer comparativ nie, obs 
ieffiven, bedingte nothiwendigen. Regel, aus eis 
nem ‚nernünftigen Beweggrunde für eine Klaffe 
‚ vernünftiger Wefen 4 B. Menfchen, als Men- 
ſchen betr achten Verbindlichkeit der Kluge 
beit, 

a 


© uni⸗ 


252 Metaphyſik der Sitten. 


c. univerſell; aus einer abſolut nothwendigen 
Regel, einem Sittengeſetz, einem vernuͤnftigen 
Beweggrunde, oder Verpflichtungsgrunde. Stren⸗ 
ge, ſittliche Verbindlichkeit. 


2. der Oualität nach. 


a. pofitive, aus einem Gebot 

b. negative, aus einem Verbot 

c. limitirte, aus einem genau, poſitiv und nega- 
tiv beffimmten Imperative. 


3. Der Relstion nach: 

- a, abſolute, innere, weſentliche; aus einer Re— 
gel die fich unmittelbar auf das reine Wefen dee 
Dernunft gründer. 

b. hypothetiſche, aus einer bedingten Regel, die 
auf einem zufälligen (bedingtnothwendigen) Zweck 
beruht. Wenn du gefund bleiben willſt, over 
weil du. glückjelig werden willſt: ſo — 

ce. disiunktive; aus einer getheilten Regel, dieß 
oder ienes zu thun. Sie bezieht fihaufeine Ge 
meinſchaft, Gefellfchaft. 


4. Der Modalität nach: 
a. problematifche, durch eine mögliche Vorfchrife. 
b. affertorifche, durch eine wuͤrkliche obgleich 
zufällige, 
€, apodiktiſche, durch eine nothwendige Negel. 


$. 309 





Metaphyſik ver Sitten, 253 


'$. 309. 
Die Snörglipfe oder firenge Verbindlichfeit ($. 293.) 
ift 1) eine univerfelle. 2) vollſtaͤndig beſtimmte 3) ads 
folyte, weſentliche und 4) apodiktifche, 


6. 310. 
Sormale', niateriale Werbindlichkeit, 

Die Beftimmung des Begehrungsvermögens durch 
ein formales Geſetz heißt formale; durch ein materia> 
les — maceriale DerbindlicyFere. Die letztere ſetzt 
das Dafeyn der Umſtaͤnde voraus, worauf ein materls 
ales Gefeg die reine Vernunftvorſchrift anwendet. 


$. 311. 
Colliſion der Pflichren, 

Materiale Verbindlichkeiten und. Pflichten Fönhen 
fich wivderfireiten d. h. es Fünnen die Verhaͤltniſſe bey 
einer Handlung fo zufammengefest und verwicelt feyn, 
das fich Die materialen Gefege, welche Bezug darauf has 
ben, nicht alle, wenigſtens nicht in ihrem ganzen Um: 
fange erfüllen laffen. Das formale einer Verbindfich- 
keit aber ift einfach), fich überall felbft gleich und. feines 
Üiberftreits mit ſich ch ſelbſt fähig. 


$. 312. 
Allgemeine Entſcheidung. 

Eine oder einige von zwey oder mehreren mater ialen Re⸗ 
geln, welche in einem vorliegende aFalle unter ſich ſtreiten und 
keine vereinte Befolgung verſtatten, muß oder muͤſſen der 
an Form 


25% Metaphyſik der Sitten, 


Form oder dem Weſen der Pflicht, nicht allgemein und 
nothwendig entfprechen, muͤſſen alfo unbeſtimmt feyn, 
ynd Finnen für diefen Fall nicht entfcheiden. Nachdem 
man iede ſolche materiale Pflicht, durch einen Colife 
onsfall veranlagt, genauer beftimme und ihnen die Form 
"der allgemeinen Geſetzmaͤſſi igkeit dadurch ertheilt hat, ſo 
muß ſich allezeit finden, daß ſie ſich in der Anwendung 
nicht widerſtreiten; denn ſonſt muͤßte in der Vernunft 
ſelbſt etwas Vwerſprechemre enthalten ſeyn, BE 
NORMEN iſt. 
$. 313, 

Die materiale Verbindlichkeit aus einem determi⸗ 
nirten Gefege ($. 270.) iſt vollkommen; aus einen 
undeterminirten — unvollfommen. Im erſten Falk 
le bin ich im Allgemeinen zu etwas verpflichter, im ans 
dern ganz genau und beftimmt. Dort läßt das Geſetz 
einiges meiner eigenen Wahl über, hier ift alles durch 
Pflicht beſtimmt. Die vollkommne Pflicht (z. B. der 
Bezahlung einer Schuld) kann nur auf eine genau be 
ſtimmte Art erfüllt werden; die unvollkommne auf ‚mehr 
als eine Art, wo ich wählen kann 3. B. wem ich helfen 


will unter mehreren Dürftigen: Sie bezieht fi auf ein 


Gebot, das in der genauern Beſtimmung disiunftio 
if. Jene iſt Höchft gewiß für ieden gegebenen Fall; 
Diefe laͤßt etwas zweiielhait. Das Unbeſtimmte diefer 
Verbindlichkeiten betrift das Subiekt, das Obiekt, den 
Grad, die Zeit, die Art und Weiſe und andere dergl. 
Umſtaͤnde der Handlungs 


Was 


Metaphyſtk der Sitten, 255% 


Mas an fih unvollfommene Pflihe iſt z. B. einem 
Leidenden benzuftehen, das kann Durch nähere Beſtim-— 
mung, 3. B. Durch einen Vertrag, in concreto eine voll 
kommne Verbindlichkeit erhalten. 


$. 314. 

Eine materiale Verbindlichkeit heißt in Bezie⸗ 
hung auf.die formale unmittelbar, wenn fie ohne Zwi⸗ 
ſchenglied aus der formalen, oder aus dem Vernunftge⸗ 
feße folge, mo eine Handlung unmittelbar unter dag 
zeine Gittengefeg fubfumirt wird 5. B. mein Leben zu 
erhalten; mittelbar oder abgeleitet,’ wenn fie eine an⸗ 

dere materiale Verbindlichfeie als ihre Bedingung vorz 
ausſetzt, wovon fie abhängt z. B. Nahrungsmittel zu ges 
nießen, zu erwerben. Jede Verpflichtung zu gewiſſen 
Mitten, oder mittlern Zwecken iſt mittelbar. 


Die Verpflichtung ifvergleibungsweife näher, 
wenn fie durch eine Eleinere Anzahl von Zwiſchengliedern 
mit der formalen zufaommenhängt: 


Die unmittelbare Berbindlichkeit ift Höher, als die 
mittelbare. Höhere und niedere % Verbindlichkeit iſt ver⸗ 
ſchieden, wie die Geſetze, wodurch ſie hervorgebracht 
wird. Vergl. $. 272. 


$ 3215. 

Eine materiale Verbindlichkeit zu einer adlung 
iſt ferner einfach, wenn nur Ein naͤchſter moraliſcher 
Beweggrund zu einer Handlung vorhanden iſt; zuſam⸗ 

— mengeſetzt oder vielfach, wen deren mehrere da find. 
Wenn 


% 


256 Metaphyſik der Sitten, 


Wenn die zuſammengeſetzte Verbindlichkeit mittelbar iſt, 
ſo giebt es mehrere coordinirte Reihen, von materialen 
Gründen, die bis zum oberſten formalen Verpflichtungs- 
grunde hinaufführen, welcher immer nur ein einziger iſt, 
nehmlich diereine Vernunftmäffigkeit. Auffer diefem ein- 
zigen moralifch, verpflichtenden Grunde fann es noch 
mehrere vernünftige Gründe von anderer Art, nehmlich 
Klugheitsgründe ‚ geben, die mich ebenfalls zu denfelben 
Handlungen, aber nur in weitläuftigem Sinne ($ = ) 
verbinden. 


Die Möglichfeie einer zuſammengeſetzten Berbind« 
lichkeit gründer fich auf die confrere DBefchaffenheit ver 
Handlung, und auf die mehrern Verhaͤltniſſe, die in 
einem gegebenen Handlungsfalle zu unterfcheiven find. 


§. 316, 
Wie die Geſetze, fo find auch die Pflichten und Ver- 
Bindlichkeiten einander coordinirt, ſubordinirt oder beydes. 


———ã—7 
Die Größe der formalen Verbindlichkeit iſt ſich über; 
all gleich; die der materialen richter fich 

I) nach der Nähe ihres Zuſammenhangs mit der for» 
“ malen, nad) $. 314 — Extenſive Brö). Ei— 
. ne höhere Verbindlichteit umfaßt Bee einzelne 

Sale. | 
2) nach der Gewißheit und Nothwendigkeit dieſes Zus 


—— — Intenfive Groöſe. So iſt die Ver⸗ 
bind⸗ 


Metaphyſik der, Sitem . 257) 


Bindlichfeit zu dem Gebrauche eines unentbehrlichen 
Mittels zu einempflichimäfligen Zweck, gröfer, als 
zu der Anwendung eines zwar dienlichen Mittels, 


deflen Stelle aber doch ein anderes Mittel verfree - 


ten fann. 
3) nach der Mehrheit deg — Eine 
Verbindlichkeit die auf mehrern Wegen mit der hoͤch⸗ 
ſten und oberſten in Verbindung ſteht, iſt zuſam— 
mengeſetzt, und groͤſer als dieienige, wofür nur 
eine oder doch wenigere — — ſich 
finden laſſen. $. 315. 
6. 318. 
Öbiekrive, ſubiektive Verbindlichkeit. 


Man kann die Verbindlichkeit betrachten 


1) als etwas Obiekeives. Sie beſteht dann in dem 


Verhaͤltniß eines moraliſchen Geſetzes zu einer 
Handlung‘, als zu ihrem praktiſchen Beſtimmungs⸗ 
grunde, und iſt allgemein, fich felbft überall gleich, 
weil es hier weder auf Erfenntnig noch auf Befol⸗ 
gung derſelben ankoͤmmt. — 


2) als etwas Subiektiwes. Subiektive Verbinds 


lichkeit iſt die Vorſtellung Erkenntniß) von dem 


Verhaͤltniße eines Vernunftgeſetzes zu einer Hand⸗ 


lung. Dieſe ſubiektive Verbindlichkeit iſt niche 
uͤberall vorhanden, wo die obiektive ſtatt findet; 
ſie iſt ſich nicht überall gleich , weder der Art noch 
dem Grade nad, Sie erſttelt ſich nicht weiter, 
als bey iedem vernuͤnftigen Individuum die Er⸗ 


Moralphiloſophie. R kennt⸗ 


\ 


N t 


058 Metaphyſik der Sitten, 


kenntniß des moraliſchen Geſetzes, feiner Gegens 
fände, und die Faͤhigkeit feiner Urtheilskraft reicht, 


das allgemeine Gefes auf feine MR sgpir Obiekte | 


und Fälle anzuwenden. 


5. 0; 
Wuͤrkſame, unwuͤrkſame Berbindlichfeit. 
Wenn die Vorſtellung des moraliſchen Geſetzes den 
Willen wuͤrklich beſtimmt, fo iſt die ſubiektive Der; 
bindlichkeit würkſam; auſſerdeu unwürkſam. 


$. 326 
Dieſe Wuͤrkſamkeit hat ihre Grade. Sie bewuͤrkt 
bald nur Billigung und Beyfall, bald einen Wunſch, 
bald den Entſchluß und Vorſatz, bald die That. Dieß 
ſind die vier Hauptſtufen. 


— $: 32T. 

Rechte. 
Auf eben dieſelbe Weiſe, wie der Begriff an Pflicht, 
laͤßt ſich auch der Begriff von einem Rechte beſtimmen. 
Ein Recht iſt (ſeiner Quantitaͤt nach) individuell, 
wenn einer fuͤr ſeine Perſon (ſubiektiv) etwas fuͤr recht 
haͤlt, in Bezug auf ſeinen Zweck, und auf ſeine ſelbſt 
beliebige Regel; ſpeciell, (ein Recht der Menſchlichkeit) 
wenn es den Geſetzen entſpricht, die auf den fpeciellen 
Zweck einer ganzen Gattung von. Wefen fi) gründen; 

univerſell, (ein Recht der Vernunft oder der Menſch⸗ 

heit) wenn es den allgemeinen Geſetzen und Zwecken ver⸗ 


nuͤnftiger Weſen entſpricht. 





‚Ein 





Metaphyſik der Sitten, 259 


Ein Recht ift (der Qualität nad) poſitiv, wenn 
fein Verbot; negativ wenn Fein Gebot, limitirt, 
wenn weder das eine noch das andere ihm — — 


Ein Recht iſt (der Relation nach) weſentlich, 
Cein inneres und nothwendiges) wenn feine weſentliche 
Merbindlichfeit ihm roiederftreirer; bedingte, ein inne, 
reg, zufälliges, wenn es den bedingten Regeln und Zwe⸗ 
den zum Grunde liegt; disiunktiv, wenn e8 weder 
dem, einen noch dem andern zuwiderlaͤuft: 


Ein Recht iſt endlich (der Modalicät nach) mög⸗ 
lich, wenn. es Die Moͤglichkeit eines möglichen 5 
wurklich, wenn. es die Mloglichkeit. eines. würklichen z 
nothwendig, wenn es die Moglichkeit eines anberingt 
Sehnyendisen Geſetzes begruͤndet. 


$. 323; 8 
Moralifhes Recht. 

Moraliſch kann nur ein Recht heiffen, das (feiner 
Form nach) univerfal, durchgängig beſtimmt, mefentlich 
und unbedinge nothwendig if: Ein ſolches Recht muß 
aljo a priori , aus. dem Begriffe der Geſetzmaͤſſigkeit fich 
erkennen laffen, als ein ſolches, das feinem Gefege wi- 
derſtreiten fonn, weil es bey iedem Gefere als abfolut 
nothwendige Bedingung feiner Moͤglichkeit und Guͤltig— 
keit vorausgeſetzt werden muß. Nun iſt kein prattiſches 
Geſetz möglich ohne freye zweckmaͤfſtge Thaͤtigkeit. Hie— 
rinn beſteht alſo das allgemeine weſentliche“ di ſ. w 
Recht eines vernuͤnftigen Weſens, feiner Materie nad: 


| iR $: 333: 


260 Metaphyſik der Sitten, 


$. 323. 


Ohne diefes moralifche Recht würde es überall Fein | 


Mecht geben koͤnnen; eg if die Bedingung der Mög» 
lichkeit und Gültigfeit aller anderer Rechte. Zunachft 
kommen die würflichen, aber zufälligen Rechte, und zus 
lege die möglichen; vie einen fegen immer die andern 
vorhergehenden als ihre Bedingung voraus. 


$. 324. 

Relativ kann etwas Recht feyn, was in Bezug 
auf einige Pflichten diefen nicht widerfprechend iſt, ob 
es gleich in anderer Nückfiche Unrecht bleibe. So ift 
äufjerlidy recht alles Dasienige, was von meiner Get- 
te feiner Pfliche widerſpricht, Die fich auf audere ver> 
nünftige Weſen unmittelbar bezieht, fofern die Handlung 
in meinem Urtheile lediglich auf die Verhäftniffe zu die— 
fem Dbiefte bezogen wird. Was aber abfolue recht 
ſeyn foll, Das darf überall Feiner ‘Pflicht wiverfprechen. 


$. 325. ; 
FSormales, materiales Recht, 
Ein Recht ift formal, wenn es den Weſen, der 
Form der Sittlichkeit, als Bedingung ver Möglichkeit 


zum Grunde liege; material, wenn esals Berinzung - 


materialer Pflichten vorausgefest- wird. Jenes ift das 
Recht auf freye Würffamfeit der Vernunft überhaupt, 
ohne die ich überhaupt Feiner Sittlichkeit fähig bin; dies 
fes das Recht auf gewiſſe Dbiefte, over auf einen Wür- 
fungsfreiß meiner Ihätigfeit (das Meinige), oder auf 

| ge> 


Meraphnfif der Sitten. 261 


gewiſſe * Gegenſtaͤnde beſtimmte Arten meine ſittli⸗ 
che Freyheit zu aͤuſſern. 

Das formale Recht iſt weſentlich ($. 321), das ma⸗ 
teriale zufällig und veraͤnderlich. Hieraus laffen fich 
z. B. die Vertragsrechre erflären, die nur das materig- 
Ve Recht modifieiren. 

6. 326. 

Im Allgemeinen bin ich zu allem ohne Ausnah- 
me (material) berechtigt, wasein Dbieft meiner Pfliche- 
leiftung ſeyn kann; genau beftimmit aber nur zu dem⸗ 
ienigen , was in meiner beffimmten Lage pflichtmäffig ge— 
ſchehen oder behandelt werden Fann. 


$. 327. 

Vollkommnes, unvollfommnes Recht. 

Auch die (materialen) Rechte ſind vollkommen 
oder unvollkommen; ienes, wenn die Materie oder 
der Gegenſtand derſelben ſich nach dem Begriff des for- 
malen Rechtes vollſtaͤndig beſtimmen laͤßt; dieſes, wenn 
etwas Unbeſtimmtes uͤbrig bleibt. | 

Wenn die Pfliche vollfommen ($. 313.) iſt, fo iſt 
es auch Das Recht desienigen, dem diefe Pflicht obliegt; 
der unvollfommenen Pflicht entfpricht auch nur ein un⸗ 
vollfommnes Recht. - Die Gränzen eines Rechts laffen 
eben fo weit fi) beffimmen, als die Grenzen der Pflicht. 
Was an fih unvollkommnes Recht iſt, kann doch) in 
concreto ein vollfommmes werden. 


R3 §. 328. 


262 Metaphyſik der Sitten, 


$: 328. f 
Die materialen Rechte find Höher und niedriger, 
coordinirt und ſubordiniet, größre uud Fleinere, 
obiektiv und fubiektiv, würkſam und unwürkſam, 
fie fönnen auch unter fich.colliviren — tie die Gefege, 
Zwecke und Verbindlichfeiten, worauf ſie ſich beziehen, 
Die Begriffe davon laſſen ſich leicht ihren Correlaten 
gemãs erklaͤren. 
$. 329, 7 
Heiligkeit, 
Abſolut norhwendige und vollkommene Moralitaͤt 
eines (unendlichen) vernünftigen Weſens, wird im der 
Idee von Heiligkeit gedacht. Sie ſchließt alfo in fich 


1. vollfommme Legalität, Geſetzmaͤſſigkeit, alſo 


a. vollftändige Uebereipſtimmuns aller Hand; 
Iungen, ’ 


b. nach allen ihren Beftandtheilen, ihrer Des 
fchaffenheit und Gröfe nach; 
c. mit dem ganzen Innbegriff aller Seſetze. 

2. vollkommne Mor alitaͤt d. i. vollfommne und noth⸗ 
wendige Abhängigkeit aller Handlungen — nach) 
allen ihren Iheilen und Beweggründen (Lauter⸗ 
keit — ihrer Beſchaffenheit und Gröfe nah — 
von * ganzen Geſetze. 


Sen einem heiligen Weſen iſt alſo Moralität in allen 


Handlungen „na allen ihren Innern Bedingungen, in 
allen 





Metaphyſik der Sitten, 26 3 


allen ihreu Beziehungen auf Dbiefte abfolut vollſtaͤndig 
und zwar nothivendiger weiße, alſo beffändig und unun: 
terbrochen wuͤrkſam. 


Heiligkeit iſt alſo ein unendliches Praͤdikat eines un⸗ 
endlichen, von allen Einſchraͤnkungen durchaus freyen 
reinen Vernunftweſens, bey welchem kein anderer, als 
ein moraliſcher, Beſtimmungsgrund der Handlungen 
vorhanden feyn kann, deſſen Moralitaͤt alſo mit keinen 
Hinderniſſen zu kaͤmpfen kung — ein deal der reinen 
Vernunft. 





$. 330. 
| Zugend, 
In uneigentlicher Bedeutung nennt man Tugend 
1) iede Vollkommenheit eines Weſens; 
2) eines lebendigen Weſens; 
eines vernünftigen efens ; 


- 4) iede Befchaffenheit und Eigenfchaft des Gemuͤthes, 
die ein vernünftiges Weſen zu legalen Handlungen 
beftimmt, fo fern fie es thut; fie beruhe übrigens 
auf Naturanlagen, oder ſey durch Einfluß äuflerer 
Umftände hervorgebracht, oder Durch eigne Tha- 
tigfeie erworben z. B. Much, Entſchloſſenheit, 
Selbſtbeherrſchung Hark oder verſtaͤndiges 
Wohlwollen. 


In dieſer letzten Bedeutung RN es mehr als eine zu 


gend von verfchiedenem Werthe. 
> R4 $. 331 


264 Metaphyfif ver Sitten, 


6. 331, 
Eigentliche Tugend, ng 
eigentliche ‚Tugend überhaupt iff reine Sitt⸗ 
Sichfeit, nur durch Sinnlichkeit modificire ; Moralirät 


eines endlichen, durch Sinnlichkeit afficirten Vernunft-⸗ 


weſens. Sie ift ihrer Natur nach unvollfommen, we— 
gen der-Einfchränfungen der rein moralifchen Würffam- 
keit, durch den Einfluß finnlicher Antriebe und empirischer 
Vernunftgruͤnde. Als Sittlichkeit betrachter, iſt fie eine 
Anerkennung der Pflicht, eine pflichtmäfiige Gefinnung 


oder ein Beſtimmtwerden des Begehrungsvermögens 


durch das Vernunftgebot; eine Subordination der 
Sinnlichkeit unter die Vernunft, wobey iene nach vers 
nunftigen Principien in ihrem Begehren und Handlen 
beſtimmt wird; Achtung fürs Vernunftgeſetz. 


Als Sittlichfeit eingefchränfter Wefen — enthält fie 

1) eine unvollflommene Legalität. D. b. nicht 
alle Handlungen ftimmen nach allen ihren Beftandz 
theilen, ihrer Befchaffenheit und Gröfe nach, mit 
dem Gefege in dem ganzen Umfange feiner Fordes 
rungen iedezeit überein, 


2) eine mangelhafte Norelicät oder Unlauter: 
keit. D. h. nicht alle Handlungen hängen nach 


allen ihren Theilen, Antrieben und Beweggruͤnden, 


ausſchlieſſend und nothwendiger Weiſe von den 
Vernunftgeſege ab. 


9.332. 





Metaphyſik der Sitten, 265 


$. 332. 
Tugend im engern Sinne. 


Im engern Sinne nennt man Tugend das lie 
bergemwicht der moraliſchen Geſinnung eines endlichen We— 
fens (der Tugend überhaupt $. 337.) über ieden ſinn⸗ 
lichen Antrieb im»Ganzen, womit die fubieftive Gewißs 
heit der Hoffnung eines immerwährenden Fortfchreiteng 
im Eittlichguren verbunden iſt; geübte, geftärfte Tuz 
gend. Diefe iſt felbft ein Sveal, von deſſen Realität in 

concreto es fein abfolut fihereg Kennzeichen giebr. 


$. 333- 
Sormale Tugend, 


Das Wefen der Tugend iſt einfach, oder die forma» 
le Tugend ift wefentlich Eine, nehmlich unmittelbare 
Achtung für das Gefeg, Anerfennung der Pflicht. Be— 
folgung des Geſes um eines andern Zweckes willen ver- 
diene ganz und gar den Nahmen ver Tugend nicht, 
Die wahre formale Tugend muß fich wefentlich auf das 
ganze Gefes, (welches nur Eins iſt) und auf iede vor- 
Fommende Pflicht beziehen, oder fie iſt unächt und feine 
Zugend. Die Achtung muß unbegränzt und abſolut 
feyn, oder fie iſt ebenfalis feine Tugend. Aber die 
Würkung diefer Achtung, wie fie im Kampfe mif 
finnlichen Trieben die moralifchen Hinderniße befiegt, ift 
begränzt und gradmweife verſchieden. Sie iff ferner bey 
demfelben endlichen Weſen (Menfchen) nicht in Anfehung 
aller Gegenflände der Moralitaͤt fich ſelbſt gleich, fon- 
R5 dern 


z 


366 Metaphyſik der Sitte. 


dern weichet * Groͤſe nach ab, indem die Verſchie⸗ 
denheit des Naturells, der angewoͤhnten Sinnesart, der 
aͤuſſern Umſtaͤnde, ver Uebung, bald dieſe bald iene Aeuſſe— 
zung der Moralikaͤt mehr oder weniger beguͤnſtigt oder 
erfchtoert, ee 


$. 334. * 
Gröffe der Tugend, 

Scheinbar gröfer if die Tugend, wenn die ge> 
ringere Anzahl und die Schwäche der Auffern und in- 
nern Sinderniße (Temperament und Einfluß äufferer, zu⸗ 
faͤlliger Umſtaͤnde) den fichtbar werdenden Erfolg von der 
moraliſchen Würkfamfeit der Vernunft vergrößern; 
wenn Das, mas eigentlich nicht moralifch iſt, den auffes 
ren Erfolg der firtlichen Denkungsart uͤberhaupt oder in 

Anfehung einzelner Fälle (materialer Tugenden) begün> 
fliget. Würklich gröfer, obgleich nur in der Er; 
ſcheinung iſt die Tugend, wenn ihre Grofe an fich 
ſelbſt d. i, der Grad der moralifchen Wuͤrkſamkeit ges 
ſchaͤzt wird. Um diefen richrig zu beffimmen, müßte man 
die Schiwierigfeiten und Hinderniße, die überwunden 
werden mußten, und die Umſtaͤnde, welche den Gieg er- 
feichterten, gegen einander aufheber, und alsdenn die 
moralifhe Stärfe der Vernunft der beffimmten Gröfe 
der Schwierigfeiten gleich ſchaͤtzen, die durch fie allein 
befiegt werden mußten, meil feine andere Beyhuͤlfe es 
thun fonnte. Im concreto fann Fein endliches Wefen 
Diefe Schaͤtzung mit Gewißheit und — 9* Ge⸗ 
nauigkeit vornehmen, 

$. 335. 


- 


. - 


Metaphyſik Dee Sitten. 267 


$: 335. 

Die Eröfe der Tugend oder der Moralitaät an 
ſich felbft, mie fie einem vernünffigen Weſen als in⸗ 
telligiblen Dinge zukommt, iſt ganz und gar kein durch 
Anſchauung auh nur im Allgemeinen zu. realifirender 
Gedanke. Man müßte die moralifche Kraft an fih und 
ihre wefentlichen aufferfinnlichen Schranfen duch unmit- 
telbare überfinnliche Borfiellung kennen; welches unmg⸗ 


J 


336. 
Materiale Tugenden. 

Der Stoff oder der Gegendſtand der weſentlich Eins 
fachen formalen Tugend ($. 333.) iſt fo vielfach und 
mannigfaltig, als die materialen Gefese find, in deren 
moraliſchen Befolgung Die materialem Tugenden be- 
fiehen. Sie fönnen in verfchledenen Graden und Vers 
haͤltniſſen zu Einem tugenöhaften Charafter gemifcht 
feyn, der einenrandern im Ganzen, und in Abſicht auf 
formale: Zugend gleich ft. Nur muß der Grund diefer 
Verſchiedenheit in den nicht moraliſchen Umftänden liegen. 
Aufferdem, wenn die legale Denfart an fich betrachtet 
ſich nicht über alle Pflichten verbreiret. kann fie ganz und 
gar nicht moralifche Gefinnung oder Tugend heiffen, 


$. 337. 
Ihre Gröfe, 


Eine wateriale Tugend (z. B. der Grosmuth, Vers 
föhnlichfeit) Heißt gröfler als die andere 


. 3) wenn 


268 Metaphyſik der Sitten 
1) wenn ihr Gefes von einen meitren Umfang ift, als 
das Gejeg der andern — obieftive Größe. 
' 2) wenn ihre Ausübung mit gröffern Hinderniffen 
verbunden iſt, die dabey überwunden werden muß- 
ten. Subiektive Bröße. 


Es fey eine Tugend in der einen oder. der andern el 


ſicht fpeeiffh ‚groß, fo bringt fie (wenn fie wahrhaft 
moraliſch, und fein Werk natürlicher Urfachen ift) in 
gleichem Berhältniffe mehrere tugendhafte Handlungen 
hervor; im erſten Sal, weil das Geſetz auf mehrere 
Säle fi ausdehnt, mo es angemandf wird; im an⸗ 
dern, weil die Ueberwindung gröfferer Hinderniffe die 
Fähigkeit in fich ſchließt, auch geringere zu befiegen. 


Die Größe der Hindernige darf nicht einfeitig und 
abſolut, fondern muß nad) allen Beziehungen gefhägt 
werden. Diele Fleinere werden einem größern gleich ge— 
hast; was für den einen (nicht feiner moralifchen 
Stärke, ſondern um. äufferer nicht moralifcher Urfachen 
millen) ein Fleines Hinderniß if, kann für den andern 
ein fehr großes fennz ohne daß darum der Eine minder 
tugendhaft ſeyn Darf, als der andere, " 


$. 338. 
Buͤrgerliche, Chriſtliche Tugend. 

Da alle Moralitaͤt zuletzt von dem Vernunftgeſetze 
abhaͤngt: ſo kann auch keine Geſinnung Tugend, und 
fein Menſch oder eine menſchliche Handlung tugendhaft 

ſeyn, 


* 


Metaphyſik der Sitten. 269 


ſeyn, als in ſofern er ſeine Maximen und Handlungen 
auf das Vernunftgeſetz beziehet. Die ſogenannte na— 
türliche oder philoſophiſche Tugend, Die bisher er= 
Härte worden, iff elfo die einzige wahre Tugend, aufs 
fer welcher eg nur Scheintugenden oder Huůͤlfstugenden 
geben kann d.i. Gefinnungen, welche eine gewiſſe Lega— 
litaͤt zufälfigerweife bemwürfen. Was man bürgerliche 
Tugend hennt, nehmlich die Fertigkeit, die pofitiver ' 
Gefege zu beobachten , iſt enfweder ganz und gar niche 
Qugend, wofern man nehmlich durch Feine andern 
als poſitive Gründe, durch bürgerliche Verhältniße und. 
ihre Folgen für die eigene Wohlfahrt, mithin durch ſinn⸗ 
liche Furcht oder Hoffnung , Die fie erregen, zu der Er— 
füllung diefer Borfchriften beſtimmt wird; oder es iffein 
Zheil, eine Aeufferung der natürlichen Tugend, fofern 
die Vernunft gebietet, fich auch feinen äufferlichen Vers 
häftniffen gemäs zu befragen, und dieß Vernunftgebot 
der höchfte Beſtimmungsgrund Motiv) davon iſt. Eben 
dieß gilt auch mit einer leicht veränderten Anwendung, 
von der Chriſtlichen Tugend. Was ein Chrift ledi⸗ 
glich auf Autorität eines Gebores oder Beyſpieles hin, 
lediglich aus Furcht vor Grafen ‚oder aus Hoffnung 
son Belohnungen, oder auch aus perfünlicher (myſti⸗ 
ſcher) Liebe zu der Gottheit over zu. Jefus, ohne eig⸗ 
ne vernünftige Zinfiht und Gewiffenebilligung 
thuf, das hat in fofern, als es aus diefer Quelle her- 
fliege, feinen Acht ſittlichen Gehalt, fondern «8 iſt 
Scheintugend. So viel fehle alfo daran, daß man be. 
haupten fonne, die natürliche oder philofophifche Tu> 
gend 





270 Metaphyſik dev Sitten. 


gend ſey nur ein glänzendes Laſter, Haͤtte eine poſitive 
Moral mehrerer Pflichten. und Tugenden von groͤſſerm 
Umfange, als die natürliche: fo müßten. Diefe aufferhalb 
den Gränzen des Vernuͤnftigen liegen, alſo myſtiſch, 
ſchwaͤrmeriſch, vernunftlos Cunvernünftig) ſeyn. Haͤt— 
te fie mehrere Motive: fo müßten dieſe ebenfalls nicht 
vernuͤnftig, mithin entweder myſtiſch und ſchwaͤrmeriſch, 
der ſinnlich ſeyn. In beyden Faͤllen würde die Mo— 
raliſche Geſinnung unlauter. Sehr uͤbel hat man al⸗ 
fo gethan, wenun man auf dieſe Art die Sittenlehre 
Jeſu zu erheben gedachte. — Man vergleiche, was 
oben uͤber ſittliche Offenbahrung geſagt worden, und 
was unten bey den Religionspflichten vorkommen wird. 


$: 339: 
Sünde 

Jede einzelne, nicht phyſiſch erzwungene, Abweichung 
Son dem Sittengejeg iſt Sünde ). Um. die Merk 
mahle diefes Begriffs vollſtaͤndig aufzufinden „wird ſein 
Grundbegriff mit den weſentlichen Denkformen vergli⸗ 
chen. ah 
Nach der werfchiedenen Befchaffenheit der verlegten 
Kegeln, wird der Begriff und Nahme ihrer — 
folgendergeſtalt abgeaͤndert: e 


‚aanbe | 


*) Die Nebenbeariffer weiche die Ahtamnung und die 
gemeine oder Die theologiſche Anwendung dieſes Aus- 

drucks erwecken, mußen ſorgfaͤltig dayon abgefundert 
werden. 








’ — 


Metaphyſi Eder Sitten, 271 


Handlung wider eine Regel. 


T. Quantitét. 11: 
Wider individuelle — Sehler z. B. wider die 
Kunft in einem Gemählde. 


Wider comparativ allgemeine — Thorheit. 
Wider abſolut allgemeine — Sunde in eigentl. BD 


2. Qualität. 
Wider beiahende Regeln — Unterlaſſungsfehler⸗ 
verneinende Regeln — Begehungsfehler. 
limitirende Regeln — Ueberſchreitung des 
Maaßes. 


3. Relation. 
Wider categoriſche Regeln — oder wider ſeine 

Perfon — Stunde ſchlechthin; Unmwürvdigfeitz 
Derläugnung oder Vernachläfligung feiner per>- 
fonlichen Würde, Wiverfpruch mir ſich ſelbſt, 

der Perfon als Subflänz. 

Wider hypothetiſche Imperativen, oder wider fein 
Wohl — Thorheit; Lineinigfeit und Wider⸗ 
‚spruch mitfeinen eigenen Intereſſe des Zuſtandes, 
Inconſequenz. 

Wider disiunktive Gebote, oder wider Die Verbin 
dung mit andern Weſen; Ungeſelligkeit, Die» 
harmonie der Handlung mit den auſſern Ders 
haltnißen, 


4. Mo⸗ 


* i 
1} 


272 Metaphyſit der Sitten. 


4. Modalität. 

Wider problematifche oder Runfteegen — Linge: 

ſchicklichkeit. 

Wider aſſertoriſche — das Llnerlaubee.. 

Wider apodiktiſche — Ungerechtigkeit. 
Hieraus ergiebt ſich, was fuͤr Mertmahle der Suͤnde in 
eigentlicher Bedeutung, im Unterſchied von Fehlern, 
Thorheiten u. ſ. w. mie Ruͤckſicht auf die Form der ver- 
legten regeln zufommen, und zugleich welche weſentli— 
he Unterjchiede bey der Sünde ſtatt finden. 


$. 340. 
Wefentliche Merfmahle der Sünde find. 
1) Illegalitaͤt oder Geſetzwidrigkeit. 
2) Immoralität ‚oder Mangel an Achtung für das 
Geſetz. 


4 


$. 341. 
Subiekt und Obiekt der Suͤnde iſt eben daſſelbe, 


wie Subieft und Gegenſtand einer Verbindlichkeit, ($. 


300. 301.) welche dadurch verlegt wird — ienes ein 
vernünftiges, ſinnlich affıcirtes Wefen; diefes, alles 
dasienige, was fchlechterdings, phyſiſch und moraliſch 
moͤglich, und doch nicht wurklich if. 


\ 


§. 342 
Bloſſe Bern ohne alle Immoralitaͤt iſt ganz und 
gar nicht Sünde. Was nicht Folge von einem Mangel 


am Achtung für das Geſetz iſt, dag ift ger nicht Günde, 
wenn 











⸗ 


Metaphyſik der Sitten, 273 


wenn es auch illegal ſeyn ſollte. Was eine Folge von 


moraliſcher Erfüllung einer Pflicht, in Verbindung 


mit einer bedinge nothwendigen und von Freyheit un- 
abhängigen Eingefchränftheit ift, das kann zwar illegal (eis 
ne geferwidrige Handlung), aber nicht Sünde feyn; es - 
iſt vielmehr ſubiektiv indifferene z. B. wenn ich aug 


’ pflichemäffiger Aufmerffamfeit auf einen hoͤchſtwichtigen 


Zweck eine minderbedentende / obgleich pflichemäf ige Sa⸗ 


che vergeße. 


Eine illegale Handlung aus Unwiſſenheit oder aus 
Mangel an Aufmerkſamkeit iſt, wenn beyde eine noth— 
wendige Folge der Pflichterfuͤllung und der unvermeidlis 
then Eingefchränftheit find, feine Suͤnde; denn es fehle 
die Immoralitaͤt der Gefinnung: 

* 
$. 343: 

Dagegen Faun auch eine an fich gefegmälfige Hand⸗ 
Yung immoraliſch feyn, wenn fie aus gefeswidrigen Mo- 
tiven ausgeuͤbt wird; Denn fie iſt Doch mit fubieftiver 
Illegalitaͤt verbunden: "Die Unlauterkeit der Gefinnung 


- aber, die bey einer Handlung zum Grund liege, oder 


der Zufag nichtmoralifcher (obgleich nicht unſittlicher 
oder geſetzwidriger) Beweggründe zudem ächtmoralifchen 
Motive, macht diefe Handlung nicht zur Suͤnde, fon- 
dern vermindert nur ihren fittlichen Werth; denn es iſt 
foeder Ylegalicät noch Mangel an Pflichtanerfennung das 
mie verbunden, 


Moralphiloſophie. S 6244 


974 Metaphyſik der Sitten, 


$. 344. 
Bosheitsfünden, 

Es kann eine Handlung (oder die Unterlaflung ders 
felben) auf eine gedoppelte Art, Mangelan Achtung für 
das moralifche Gefeg, als ihre Urfache, verrathen, und 
Deshalb ($. 341.) Sünde feyn. 


1) Unmittelbar, wenn ich mir bey Abfaffung des 
Endfchlußes der Handlung, des” Gefezes und der 
Beziehung derfelben auf einander (ihrer Gefegmäf- 
figfeit oder‘ Gefegwidrigfeit) bewußt bin, und mic) 
dennoch durch andere, finnliche Antriebe beſtimmen 
Ioffe, das Gefer nicht zu befolgen — Bosheits⸗ 
fünden, peccara prohaererica, Sünden wider beffer 
Wiſſen und Gewiffen. 


$. 345. 
Nachlaͤſſigkeitsſuͤnden. 

2) Mittelbarerweiſe; wenn ich ohne Kenntniß, oder 
ohne gegenwaͤrtiges Bewußtfeyn des Gefekes oder 
nach einer unrichfigen Kenntniß und mangelhaften 
oder gänzlich fehlenden Beurtheilung des vorliegen» 
den Falles gefeswidrig handle — weil ich ehedem, 
aus Mangel an gehöriger Achtung fürs Ge⸗ 
fe, nicht Fleiß genug angewendet habe, um die 
Forderungen der Pflicht (der firtlichen Gefege), ih 
re Obiefte, fo meit fie in meiner Sphäre liegen, 
und ihr Verhaͤltniß zu einander richtig, beſtimmt, 
gewiß und Iebhafr zu denfen, und dieſe Gedanfen 

in 


7 





j 


— 
J 
8 
⁊* 


in wuͤrkſamer Geläufigfeie zu erhalten. Nach⸗ 
läßigkeissjunden, peccara culpo/a. ah 


R i $. 346. 


Unmwiffenheit, Unbefonnenheit, Unachtſamkeit. 

Die Nachlaͤſſigkeit sfuͤnden geſchehen 

a) aus Unwiſſenheit oder unrichtiger und ul: 
volftändiger Kenntnig *) des materialen Bes 
fetzes, welches auf den gegenwärtigen Tall 
fich bezieht, wofern die vollkommnere Kenntnig 
des Gefeges bey vorheriger Erfüllung meiner Pflich⸗ 
ten möglich geweſen wäre, wenn alfo die Unwif- 
fenheit in einer Verachtung oder eingefchranften 
Achtung für Moralitaͤt und nicht in erwas andern 
gegründet war, 


’ 


Eine Unmiffenheit oder eine mangelhafte und unrichtige 
Kenntniß heiße. unvermeidlich , wenn fie lediglich von 
andern, als moralischen Urfachen herruͤhrt. Ein Zehler 
aus unvermeidlicher Unwiſſenheit ıft feine Sünde, weil 
ihm die Immoralitaͤt fehle. 


b) Sünden aus Unbefonnenbeit; wenn ich darum 
fehle, weil die Vorſtellung des erkannten Geſetzes 
in feiner beftimmten Anwendung nur. iegf, da ich 

i eben ihm gemäs handlen folte, nicht zum deutli— 
- den und lebhaften Cwürffamen) Bewußtſeyn 


pP 


kommt, und mich alfo auch im Handlen nicht leiter, | 


S 2 wo⸗ 


”") Welches immer, wider auf Unwiſſenheit hinauslaͤuft 
1 und darinn gegruͤndet if, 


276 Metaphyſik der Sitten, 


wovon die Urfache in einen ehemaligen Mangel an 
Achtung für das Geſetz liegt, Die mich beſtimmt ha- 
ben follte, mehr Aufmerkſamkeit auf dieſe Vorſtel⸗ 
fung zu verbenden, und ihr Erwachen im Bewußt⸗ 


\ -feyn durd) Uebung zu vermehren. 


Wenn die Nichferfinnerung an das Gefes Feine Folge von 
Mangel an Achtung fuͤr daſſelbe, ſondern lediglich von mei⸗ 
ner Eingeſchraͤnktheit und von unverſchuldeten Umſtaͤn⸗ 
de iſt, ich alſo Feine Pflicht dabey verletzt habe, fo iſt 
eine dergleichen unbefonnene Handlung ein ‚Fehler, aber 


feine Sünde, meil feine immoraliſche Geſinnung ihr 


zum Grunde liegt. 


c) Sünden aus Unachtſamkeit auf die PETER 
und ihre Gegenftände, oder auf die Verhaͤltniſſe, 
worinn ich war, aus unvollſtandigem, undeutlichen 
und unrichtigen Bewußtſeyn von dem Stoff des 
Handlens, oder von meiner Sphaͤre — wenn ei⸗ 


we groͤſſere Achtung für meine Pflicht mich zu meh⸗ 


rerer Aufmerkſamkeit wuͤrde beſtimmt haben. Denn 
wenn der Mangel an moraliſcher Geſinnung nicht 
Schuld war an dieſem Zuſtande, wenn er lediglich 
von andern nicht moraliſchen Urſachen abhienge, ſo 
war der Fehier aus Unachtſamkeit keine Suͤnde. 
9) Suͤnden der Uebereilung im Urtheile, wenn 
ich bey richtiger Kenntniß und gegenwaͤrtiger Vor⸗ 
ſtellung des Geſetzes ſowohl, als der Handlung, nur 
im Urtheile unrichtig ſubſumirte, weil die Vorſtellun⸗ 
gen nicht Beate und geprdnef genug waren, um 
BR 0 richtig 


“ 





& i Rt 


f: Y J 
Metaphyſik der Sitten. 277 


richtig behandelt zu werden, weil ich die Funktion 
der Urtheilskraft uͤbereilte und vor der vroͤthigen 
Vergleichung ausfuͤhrte, aus Mangel an Achtung 
für meine Pflicht. Denn wenn ich bey aller Ach- 
tung für Moralitaͤt dennoch den Endfchluß in fo Fur= 
zer Zeit. hätte faffen und ausführen mögen; wenn 
ich bey aller pflichtmäffigen Anftrengung dem Urs 

theile feine größere VBollfommenheit hätte geben koͤn⸗ 
nen, wegen nichtmoralifcher innerer und äufferer 
Hinderniße: fo ift meine Uebereilung ein fchuldlos 
fer Sehler, Verſehen und feine Suͤnde. 

$. 347. 

Diefe Unterfcheidung zwifchen Bosheitsfünden und 
Nachläffigkeiesfunden iſt nicht nur in der menfchlichen, 
fondern überhaupt in der eingefchränften vernünftigen 
Natur gegründet, und ihr angemeffen. 


Berficht man aber 1) unter Bosheitsſünden ſol⸗ 
che illegale Handlungen, die in der Abſicht begangen wur⸗ 

den, um das anerkannte moralifche Geſetz zu uͤbertre⸗ 
sen, fo iff der Begriff von vergleichen. Sünden mider- 
fprechend. Er hebt den Begriff eines vernünftigen We; 
fens auf, das ſich nicht feiner Vernunft und ihres Ges 
fenes, als feines eignen, bewußt feyn kann, mit dem 
Vorſatz, es als fein Geſetz zu übertreten. Wenn es 
fehle und vernunftwiorig handele, fo fehle es nur alg 
ſinnliches Wefen , indem es ein anderes Gefe befolgt, 
um diefes zu befolgen, nicht um ein ‚anderes zu vers 
legen. Die Geſetze der Vernunft aber und der Ginn- 
SS. lich⸗ 


⸗ 


L 


* 


278 Metaphyſik der Sitten, 


lichkeit find ſich niche unmittelbar widerfprechens, 
fondern nur zufällia widerftreitend. Es wird alfo 
niemand anders, als durch ein anderes Intereſſe -be- 
ſtimmt, das ſittliche Intereſſe oder feine Pflicht zu ver» 
nachläßigen. 


Verſteht man 2) unter Nachläſſigkeitsſünden 
ſolche geſetzwidrige Handlungen, wo nur der gehoͤrige 
Fleiß oder die Anſtrengung der Kraͤfte verſaͤumt worden, 
wegen gewiſſer Hinderniße, welche die Sinnlichkeit — 
ietzt waͤhrend des Handelns, oder ehedem — dem Ver, 
ſtande oder dem Willen legte: ſo laſſen ſich alle Suͤnden 
ohne Unterſchied unter dieſen Begriff bringen. 


$. 348, 
Rormale, materiale Sünden, 

Sormal ‚, (wenn man auf das Wefentliche fiehe) 
giebt es nur Eine Sünde d. i. eine Handlung, mel- 
che der Achtung nicht” hinlänglich entfpricht, die ein 
endliches Vernunftweſen dem Sittengefege fchuldig uff. 
Material oder wenn man auf dag Oblekt ſuͤndlicher Hands 
lungen Ruͤckſicht nimmt, giebt es jo verſchiedene, als 
materiafe Gefere und Pflishten vorhanden find, welche 
dadurch verletzt werden z. B. einfache, zuſammengeſetzte 
u. ſ. w. 

$. 349. 
Groͤſe der Sünden, Ä 
I. Der Sorm nad) und an ſich felbft find ſich alle Sün- 


den einander gleich, meil iedes verlente moralifche 
Ge⸗ 





® *8 
ir Metaphyſik der Sitten, 279 


Geſetz fo heilig und al anverlehlich wie das 


andere iſt. 


2. Subiektiv find die Sünden an Groͤſe verſchie— 
den. Je weniger Achtung für Moralität eine ille— 
gale Handlung verräth, deſto gröfer ift die Sünde. 


Je mehrere obieftive und fubieftive Auf forderungen zur 

Thaͤtigkeit der moralifchen Vernunft und zum vernünf- 
tigen Gebrauche der übrigen Kraͤffte, und ie weniger 
Hinderungen derfelben vorhanden waren; ie mehr -moras « 
liſche Thaͤtigkeit alfo möglich und erforderlich und ie we⸗ 
niger deren wärklich vorhanden war: deſto geringer if 
die Achtung für Pflicht; deffo gröfer die Sünde. 


Je innerlich gröffer die Pflicht iſt d. i auf ie —9 
und höhere Geſetze fie ſich gruͤndet; ie nähere und gemif- 
fere Beziehungen die Handlung auf, das höchffe Geſetz 
hat, deſto gröffer ift die Sünde. Denn eine deſto gröfs 
fere Anwendung der Vernunft oder der Srenheie wurde _ 
in dieſem Falle erfordert, und gleichwohl nicht geleifter. 





Je leichter die Pflicht zu erfuͤllen war, deſto groͤſſer 
iſt die Suͤnde, wodurch ſie verletzt ward; denn ein deſto 
geringerer Grad von Selbſtthaͤtigkeit waͤre hinreichend 

geweſen, um ihr Gnuͤge zu thun, und dieſer war nicht 
einmahl vorhanden. 


I 


“Se leichter eine’ Sünde zu vermeiden mar ,. deffo 
gröffer if fie. Denn um fo geringer muß die vorhandes 
ne Würffamfeit der Vernunft feyn, bie nicht einmahl 


N: ar Suͤnde verhinderte, 
S 4 Bey 


280 Metaphyſik der Sitten. 


Bey Handlungen, welche (material betrachtet) grö- 
fer d. h. deren Folgen gröffer, ausgebreiteter und 


merklich. foredauernder find, beweißt die. Wichtans | 


wendung der vernünftigen Thaͤtigkeit, der Ueberle- 
gung und der Selbſtbeherrſchung des Willens, einen 
groͤſſeren Mangel an Achtung für das Sittengefeg, Blos 
in diefer Hinſicht, alfo nur in mie weit Diefe Folgen 
morasifch erkennbar waren für das handelnde Weſen, 
kommt auch die Größe der Folgen bey Beſtimmung der 
Größe einer Günde mie in Anſchlag. Aufferdem nicht, 


$, 350, 
"Eine Handlung kann in einer Nückficht, in Bezie— 
hung auf einige Gegenflände, Verhältniffe und Solgen, 
toralitat, in einer andern feine haben; in Bezug auf 
einige 'materiale Geſetze legal, auf andere illegal, auf ei⸗ 
nige moraliſch, auf andere immoraliſch ſeyn. 


Eine Handlung, oder ein vernünftiges Weſen, wels 

ches fie ausübt, ift unſchuldig, d. i. weder moralifch, 

noch immoralifh, wenn und fofern Feine innere oder 

äuffere Möglichkeit (z. B. Gelegenheit, Einficht, Erinz 

nerung) auf gewiſſe Art moralifch zu handlen überhaupt, 
oder für den einen beftimmten all vorhanden tar, 


ä $. 351, » 
Siündfähigfeir, Sändhaftigfeil, 
Der allgemeine fubieftive Grund von der Moöglich- 
Feit zu fündigen überhaupt, heißt Sundfähigkeit, 
moralifche Schwäche; der ſubiektive zureichende Grund 
/ wuͤrk⸗ 





[2 
7 


[N 
. 


| 
A 

\ 
| 









> 
R y 
J 


EN 


Metaphyſik der Sitten, 281 


wuͤrklicher Suͤnden uͤberhaupt heißt Sündhaftigkeit, 
moraliſches Verderben. 


Die Endlichteit eines vernuͤnftigen Weſens, die we⸗ 
ſentliche Eingeſchraͤnktheit ſeiner verkiinfeigen Natur 
durch die finnliche, macht die Suͤndfaͤhigkeit deſſelben 
aus. 


In dem wuͤrklichen Daſeyn ſolcher ſinnlichen Begier⸗ 
den, und Verabſcheuungen, welche die vernünftige Thaͤ— 
tigkeit nach morelifchen Geſetzen einfchränfen, beftehtdie 
Süundhaftigkeit. Das Verhaͤltniß der ſinnlichen Trie⸗ 
be zur Vernunft, dieſelbe einzuſchraͤnken, macht ung 
fuͤndfaͤhtg, das Verhältnis der Neigungen (aufges 


regter Triebe) macht uns ſuͤndhaft. 


$, 352. 
Die Gründe der Möglichkeit zu fündigen z. B. hef⸗ 


tige Triebe, natürlicher Hang zu gewiffen Handlungen, 


die nicht immer morslifch recht find — hängen nicht von 
der Freyheit eines vernünftigen Weſens, oder von dem 
unterlaffenen Gebrauch ihres felbfirhätigen Vergnuͤgens 
ab ‚, fondernfie find da, ohne daß das vernünftige Wefen 
fie hätte hervorbringen oder auch nur ihr Dafeyn vers 
hindern koͤnnen. Ihre Würfungen find an fih und in 
Beziehung auf das Dernunftgefes zwar geſetzlos (nicht 
durch das Gefeg beſtimmt), aber meder geſetzwidrig, 
noch immoraliſch. Suͤndfaͤhigkeit kann AR sugerechnee 
‚merden, 


Ra: ® Der 


282 Metaphyſik der Sitten, 


Der Grumd des würffichen Sündigens befteht, auf- 
fer den Gründen ver Möglichkeit, oder den finnlichen 
Antriebenz in der möglichen und dennoch unterlaffenen 
vernünftigen Gelbfirhätigfeit, den Erfolg iener Grün 


de zu verhindern. Die Gründe der Möglichfeie zu ille⸗ 


galen Handlungen werden nur hierdurch Gründe einer 
wuͤrklichen Sünde. Gündhaftigfeie iſt der Zurechnung 


fähig. Wenn alfo inaller Ruͤckſicht Feine moral. Selbft: 


thätigfeit der Vernunft möglich, oder wenn der entge— 
gengefegte Grund einer gefeglofen Handlung fchlechter- 
Dings ſelbſt durch Die höchft mögliche Anwendung der vers 
nünftigen Krafft unüberwindlich war, fo wardie Hands 
lung illegal, aber nicht unmoraliſch, Feine Suͤnde. 
$. 353. 
Safter, Laſterhaftigkeit. 

Der fubieftive Grund von der Würflichkeit einer 
Suͤnde, fofern er Durch unterlaffene Selbſtthaͤtigkeit der 
Vernunft ein Uebergewicht über den fubiefriven Grund 
der moralifchen Handlungsweiſe in Fällen einer gewiſſen 
Art oder in Bezug auf gewiſſe Gegenſtaͤnde erlangt hat, 


heißt ein Laſter. Das Laſter gruͤndet ſich alſo in einer 


fortgeſetzten Pflichtverkennung und Verachtung in Abs 


ſicht auf gewiſſe Handlungsfaͤlle, in einer anhaltenden 
Nachſicht gegen die Wuͤrkſamkeit gewiſſer ſinnlichen Trie⸗ 
be, ſie der Vernunft unterzuordnen; es offenbart ſich 
Durch ein regelmaͤſſiges Suͤndigen in Faͤllen gewiſſer Art. 
Wenn ſich dieſes Uebergewicht auf alle Arten von 


Fillen erſtreckt: fo legt man dem Subiekte Laſterhaf⸗ 


tig⸗ 





} 


N 


ze 


Metaphyſik der Sitten, 283 
tigkeit bey. Ihr Grund iff eine allgemeine Vernach— 
fäffigung des moralifchen Bernunitgebrauchs in Anfes 


hung aller⸗ finnlichen Reize; die Folge einer zur Gewohn⸗ 
heit werdenden allgemeinen Illegalitaͤt und Immoralitaͤt. 


| $. 354. 


Formales, materiales Laſter. 
Das Laſter und die Laſterhaftigkeit, iſt eine nicht 
nur illegale, ſondern auch immoraliſche Denkungs- und 


Sinnesart. Weil es wefentlih nur Ein (formales) Ge- 


fen, und nur Eine (formale) Tugend giebt, fo giebr’s 
auch nur Ein wefentlicdhes : Lafter — herrfchender 
Mangel an. Achtung für das Gefeg, der feiner Natur 
nach aligemein iſt. Nach Verſchiedenheit der natürlichen 
Difpofitionen und angewöhnten Neigungen offenbart. es 
fich aber auf verfchiedne, mehr einzelne oder mehr. allge: 
meine Art, und erjcheint bald als dieſes oder ienes (ma— 
terial verfchiedene) Laſter, bald als eine allgemeine Las 
fterhaftigfeit. 


9. 355, 
Größe des Lafters, 


Subieftiv, als Sertigfeie, ift ein Kafter um fo 
größer, für ie mehr Fälle einer gewiſſen Art es 
den zureichenden Grund in fich enthält, zu fündigen ; 
ie ein geringrer Grad von äuffern finnlichen Anreiz 
erforderlich iſt, um die legale Handlungsart zu ver= 
hindern, und die moralifchen Vorfiellungen uns 
würffem zu machen. 


* 


Ob⸗ 


284 Metaphyſik ver Sitten. 


Gbiektiv iſt ein Laſter um fo größer, ie groͤßer 

die Suͤnde iſt (material betrachtet), wozu es den 
Grund in ſich enthaͤlt; ie ſtaͤrker die moraliſchen 
Gruͤnde find," denen die Ginnlichfeit das Gegenge- 
wicht hält. Denn um fo geringer iſt die Miürf- 
ſamkeit, welche in dieſem Galle die Vernunft aͤuſ⸗ 
ſert. Die Groͤße der Suͤnde iſt aber nicht ſchlecht⸗ 
hin nach ihrem Gegenſtande oder ihren Folgen, 
ſondern nach den obigen Grundſaͤtzen ($. 348) zu 
beſtimmen. h 


Extenſiv if die Laſterhaftigkeit um fo größer, auf 
ie mehrere Arten von Fällen fih der zureichende 
Grund zu fündigen erſtreckt. „N 

Moraliſch iſt das Zafter, fo wie die Fafterbaftig- 
keit, um jo größer, ie mehr Antheil die Selbft- 
thaͤtigkeit oder die Unterlaffung der möglichen und 
pflichtmaͤſſtgen Selbſtthaͤtigkeit an dem Dafeyn dex 
ſubiektiven Hinderniße der Moralität har, 


Bon Imputation, Vergeltung 
und Gewiffen, 
; $. 356. 
Moralifhes Verdienſt, Schuld, 

Nach dem Urtheife der reinen Vernunft gründet fich 
auf die moralifche Gefinnung und Handlungsweife einer 
Perſon ihr höchfter Werth; nach eben diefem Urtheil be⸗ 
ruht der Unwerth einer Perſon auf den unſittlichen Ge⸗ 


AN 


. 





| 


E 
- 





Metaphoſ t der Sitten, Be 1} 


finnungen ‚die, fe Da ihre Hanplungen verraͤth. Je⸗ 
ner Werth heißt moraliſches Verdienſt; dieſer Un— 


werth — moraliſche Schuld. 


Dieſen Werth oder Unwerth gruͤndet die Vernunft 
nicht auf vorausgeſehene ſinnlich ang genehme Folgen der 
Sittlichkeit, oder ſinnlich widrige Wuͤrkungen der Unſitt⸗ 
lichkeit; ſondern fie legt ihn der ſittlichen oder unſittli⸗ 
chen Denkungsart unmittelbar und unbedingt be. 


$. 357... 
Bernünftige Billigung, Misbifi- 
gung überhaupt, 
Nicht iede Misbiligung der Vernunft beſtimmt Sch: ildz 
nicht iede Billigung Verdienſt. Auf eine eingeſchraͤnkte 


Weiſe billigt ſie iede, auch nur empiriſche und unvoll— 


kommne Anwendung ihres Vermögens, iede zweckmaͤſ⸗ 
fige Art zu handlen d. i. ieden Beweiß von Geſchicklich— 
keit (Kunſt) und von Klugheit; eben fo tadelt fie iede 
-Handlungsweife, die eine Vernachläßigung, einen vers 
meidfichen Mangel ihres Gebrauchs verröth oder doch 
zu verrathen ſcheint. 


$. 358. 

Abſolute Billigung. 
Uneingeſchraͤnkt, allgemein und unbedingt billigt fie 
nur Dasienige, was mit dem vollfommeniten , reine 
Gebrauche und mit dem höchften (praktiſchen) 2 Zweck ih⸗ 
res Vermoͤgens uͤbereinſtimmt — Moralitaͤt; misbilligt 
ad tadelt fie nur dasienige, was ihrem hoͤchſten Zwe⸗ 

‘ Acke 


286 | Metaphyſik der Sitten, 


cke und ihrem reinen, vollfommenften Gebrauche und 
Geſetze widerſtreitet — Unſittlichkeit. 


$. 359. 
Verdienſt, Schuld in uneigentlicher Bedeutung. 
In uneigentlicher Bedeutung, legt man auch 
einem Kuͤnſtler, Gelehrten, einem geſchickten und flus 
gen Menfchen, überhaupt einem ieden, der irgend wo— 
rinn Verftand und Vernunft bewiefen und etwas zwecks 
mäffiges zu Stande gebracht oder auch nur verfucht hat, 
Verdienſt; iedent zwecklofen oder zweckwidrigen Beneh⸗ 
men dagegen Schuld bey. Die Vernunft billigt oder 
misbilligt uͤberall alles, wobey ſie ſelbſt wuͤrkſam oder 
unwuͤrkſam war. 


$. 360. 

Die Vernunft, die allen Werth beſtimmt, kann kei⸗ 
ner Sache und keiner Handlung einen Werth beylegen, 
als in Bezug auf ſich ſelbſt und auf ihre eignen Geſetze. 
Der unmittelbare, hoͤchſte und abſolute Werth’ kommt 
ihr allein und ihren reinen Handlungen zu; alles andere 
bat nur in ſofern Werth, als es mit ihren Zwecken über- N 
einffimme. hr eigner Werch ift unendlich; der Werth 
eines vernünftigen Weſens richtet fih nach dem Grad 
von Wuͤrkſamkeit feiner Vernunft, welcher erfcheint. 
Nur folhe Handlungen, die von ihrer eignen. reinen 
Thaͤtigkeit abhängen , haben unbedingten Werth; ſofern 
ſie nicht ihre eigne —— darinn zeigt, hoben fie 
Unwerth. ⸗ 











, 


FE 


IR 
I 


J 


—4 


Metaphyſik der Sitten. 287 


$. 361. 
Obiekt dieſer Werthbeſtimmung. 
Was ſchlechterdings, oder bedingt nothwendiger⸗ 


Weiſe von keiner reinen Thaͤtigkeit der Vernunft abhaͤn⸗ 


gen kann, das beurtheilt ein vernuͤnftiges Weſen, ſo 
fern es dieſe Unmoglichkeit einſieht, nicht nach 
dem reinen Vernunftgeſetze; es iſt fein Gegenſtand ders 


felben. Der einzige Gegenftand der Werthbeſtimmung 


eines vernünftigen Weſens ift alles dasienige, was ei— 
ner Beftimmung durch reine Vernunft in aller Ruͤckſicht 
fähig if, oder war, und fie entweder empfängt und em⸗ 
pfangen hat, oder nicht. 
636 
Unendliches Verdienſt. 


Der Werth der Moralitaͤt iſt an ſich unendlich; 


en fo der Werth eines. vernünftigen Weſens, Das Dies, 
ſelbe uneingefchränfr befist und aͤuſſert. Dieß iſt nur 


bey dem unendlichen Wefen, der Gottheit, möglich. Ihr 
allein kommt daher eiy unendliches DVerdienft zu, und 
feine Schuld. _ 
S. 363. 
Endlihes Verd dienſt. 
Ein endliches Vernunftweſen kann den unendlichen 
Werth ſeiner Vernunft in keinem Zeittheile vollſtaͤndig 


offenbaren, ſondern es miſchen ſich in die Aeuſſerungen 
feiner rein vernünftigen Thaͤtigkeit auch andere Erfchei, 
Bangen ein, die von der Wuͤrkſamkeit feines nichtvers 


\ nünfs 


* 


J 


. \ > | ) , 2 | 
288 Metaphyſik der Sitten. 


nuͤnftigen (ſinnlichen) Begehrungsvermögens abhängen, 
und feine moraliſche Würde einſchraͤnken. Sein Pers 
dienſt kann nur endlich feyn; es hat Gränzen und Stu- 
fen, wie die Wuͤrkſamkeit feiner Vernunft. Seine Hand- 
lungsweiſe und Geſinnung iſt nicht a allgemein⸗ 
geſetzmaͤſſig, wie Die Goͤttliche. 


6 
Unendliche Schuld, 


Nur alsdann, wenn es moͤglich wäre, daß ein reis 
nes Vernunftvermoͤgen überall und gaͤnzlich unwuͤrkſam 
bliebe, ohnerachtet kein bedingt nothwendiges Hinderniß 
ſeine Selbſtthaͤtigkeit einſchraͤnkte — nur. alsdann wäre 
eine unendliche Schuld eines endlichen Weſens moͤg⸗ 
lich. Allein dieſe Vorausſetzung iſt widerſprechend, 
weil in dem angenommenen Falle gar kein Grund vor⸗ 
handen wäre, dieſem Weſen ein reines Vernunftvermoͤ⸗ 
gen henzulegen; dann waͤre es aber gar Fein Gubieft, 
weder der Schuld noch des Verdienftes. Keinem endlis 
chen Wefen kommt alfo eine unendliche Schuld zu, po 
wenig als —2— Verdienſt. 


$..365. | 

Innerer Werth oder Unwerth iſt unuͤbertragbar. Es 

iſt widerſprechend zu denken, daß Verdienſt oder Schuld 

von einem Vernunftweſen auf ein anderes ganz oder zum 

Theil uͤbergetragen werde. Kein Weſen kann fuͤr das 
andere vernünftig oder unvernuͤnftig ſeyn. —* 


IE 366. 


Metaphyſik der Sitten. 289 
$. 366. 


Grade des Verdienſtes und der Schuld. 


Die nach Graden beſtimmbare Groͤße des ſittlichen 
Verdienſtes iſt einerley mit. der Größe der wuͤrklich be- 
wief.nen Selbftehärigfeit der Vernunft im Verhaͤltniß 
zu ihrer Möglichkeit. Die Größe der moralifchen Schuld 
richtet fich nach dem Verhältniß, worinn die wuͤrklich 
beiwiefene Unthätigfeit derfelben zu der moralifch noth— 
mendigen und natürlich möglichen Ihätigfeit der Ver— 
— ſtehet. 


Je mehr moraliſche Selbſtthaͤtigkeit eine erfüllte 
Pflicht erforderte, um erfüllt zu werden; ie mehr innere 
und aͤuſſere Hinderniffe überwunden werden mußten, 
um fie zu erfennen und auszuüben, ie weniger Beguͤn⸗ 
figung die pflichemäffige Handlung oder Unterlaffung 
von auffen, von den Neigungen, der zufälligen Gewoͤh⸗ 
nung und von den aͤuſſern Umſtaͤnden empfieng; deſto 
mehr moraliſcher Werth, deſto höheres Verdienſt. 


Je groͤſſer die verletzte Pflicht; ie groͤßer die Ver— 
letzung derſelben (oder die Sünde obiekliv betrachtet); 
ie weniger Selbſtthaͤtigkeit erforderlich war, ſie zu er— 
kennen und auszuuͤben; ie weniger aͤuſſerer Reiz und An- 
laß, ie mehr und gröffere Begünftigungen für die gegen- 
uͤberſtehende Pflicht im Temperament, der Gewöhnung 
und den äuffern Verhaͤltnißen vorhanden waren — 
deſto mehr moralifcher Unwerth, deſto größere Schuld. 


Moralphiloſophie. 


290 Metaphyſik der Sitten, 


$. 367. 

1. Die Größe der guten oder böfen Folgen, die aug 
einer Handlung entfpringen, erhöht an ſich felbft 
weder Das ‚Verdienft noch die Schuld der Hand- 
lung, wovon fie abhängen ; fondern nur in fo fern, 
als diefer Umſtand auf die obieftive Gröfe der 
Pflicht und ihrer Uebertretung oder auf die fubief- 
tive Leichtigkeit oder Schwürigfeit ihrer Ausübung, 
und Diefe wieder (nach dem vorigen $.) auf die 
Moralitaͤt der Handlung einfliet. 


Eine Handlung kann gar feine merflichen Folgen, und 
nichts deſto weniger ein hohes firtliches Derdienft oder 
große Schuld haben 3. B. eine innere Handlung, die 
fich auf Gott bezieht, oder- ein fruchtlofer ebgleich red» 
Hicher und weiſe angelegter Entwurf zu ‚einem wehlthätis 
gen Unternehmen. 


Eine andere Handlung kann große, ausgebreitete, 
Dauerhafte — wohlthaͤtige oder verderbliche — Folgen 
Haben, und Demohngeachtee gar Fein oder ein geringes 
Verdienſt, gar feine oder nur eine geringe Schuld haben. 


2. Selbſt der unmittelbare Erfolg oder Nichterfolg 
einer moralifchen Beftrebung, um eine äuffere Hand» 
lung hervorzubringen, gibt an und für ſich weder ei> 
nen Werth noch Unwerth; dieſe hängen lediglich 
von dem Grade der vernünftigen Gelbftthätigfeit 
ab, welche bewiefen wird. Größere Einfchranfun- 
gen von auſſen d, i. von allem demienigen, mas 


nicht. 


— 





Metaphyſik der Sitten. 291 


nicht Vernunft iſt, von Temperament, Sinnlich⸗ 
keit, unverſchuldeter Verwoͤhnung an eine ſchaͤdli⸗ 
che Sinnesart, maͤchtigen Reizen der Auſſendinge 
u. d. gl. vermindern zwar den Erfolg, aber nicht 
den innern Werth des ſittlichen Strebens. Der 
groͤſſere Erfolg, ſofern er von geringern aͤuſſern 
Hinderniſſen oder fogar von zufälligen Begünfli- 
gungen abhängt, giebt der Handlung feinen hö- 
bern morslifchen Gehalt und Werth. 


$. 368. 
Wir unterfcheiden daher an einer (3. B. menfchlichen) 
Handlung dreyerley: 


1) Die äufferlih erfcheinenden Würkungen; 

Diefe werden dem vernünftigen Wefen zugerechnek, 

in fo fern fie von innerlichen Gemürhszufländen 
abhängen. 


2) Die innerlihen Erſcheinungen, als Empfins 
dungen ; Anfchauungen ; Vorftellungen der Einbils 
dungsfraft, das Erinnern und Vergefen ; Unmifs 
ſenheit, Irrthuͤmer des Verſtandes; Gefühle der 
Luft und Unluſt; DBegierden und Derabfcheuungen 
in verfchiedenen Richtungen und Graden. Diefe 

innern Erfcheinungen oder das Nichtdaſeyn derſel⸗ 
ben hängt nun ab \ 


theils von Urfachen, Die gänzlich auffer unfrer Ges 
malt liegen, und fich durch feine felbfthätige Bemühung 
„der Vernunft anders beffimmen laſſen. Sie find Gfie- 
ER der 


292 Metaphyſik der Sitten, 


der einer Kette von Cauffalderhältnißen, wovon fein 
einziges beftimmendes Glied der möglichen Beftimmung 
Durch freyen DBernunftgebrauch unterworfen iſt; 


laffung derfelben, in fo fern fie gleichwohl möglich mar, 


wodurch z. DB. einige Vorftellungen befebt, einige Vor⸗ 


ftellungsreihen verfolgt, andere eben Dadurch verdunfele, 
das Entſtehen gemwifler Gefühle, Begierden und Derab- 
feheuungen verhindert, andere Dagegen erzeugt, und auf 
diefe Art gewiffe auffere Handlungen ———— 
den fönnten. 


dern natuͤrlich und nach ſinnlichen Naturgeſetzen mecha⸗ 


dere hat Moralitaͤt. 

3) Die moͤgliche, und entweder ausethee oder un⸗ 

terlaſſene Selbſtthaͤtigkeit der Vernunft, alle inne⸗ 

re oder aͤuſſere Erſcheinungen moraliſch zu ordnen 

| und zu beffimmen. Hiervon hängt unmittelbar und 

zunächft die Verdienftlichfeie oder Verſchuldung ab. 

| Das bloße Nichtfeyn der Schul, iſt Unſchuld z. B 

wenn Selbitrhätigfeit wicht würflich aber auch nicht moͤg⸗ 
lich war den einer Handlung. 

$. 369. | 

Moralifche Zurechnung. 

Die Handlung, wodurch die Vernunft den Innern 

Werth oder Unwerth einer Handlung und Ihres Urhes 

berg 


theils von frener Selbſtthaͤtigkeit oder von Ueber⸗ 


Das erfte iff weder moralifh noch immoralifch, fonz | 


niſch beftimme und nothmwendig; es lag aufferder Sphä= | 
re der möglichen Würffamfeie der Vernunft. Das anz | 





\ 


— ER EEE ES 


Metaphyſik ver Sitten. 293 


bers beſtimmt, die Entſcheidung uͤber Schuld, Unſchuld 
und Verdienſt einer Handlung oder eines handelnden 
Vernunftweſens heißt moraliſche Zurechnung, Im— 


putation. 
$. 370. 


Daß die Vernunft alles und zwar nach ihrem eig 
nen hoͤchſten Geſetze richtet und wuͤrdigt ‚iM ein, Natur⸗ 
geſetz der Vernunft, das wir als Faktum kennen, obs 
ne die Moͤglichkeit durch Gründe erklaͤren zu koͤnnen. 


WEHEN 
Zurechnendeg Urtheil. 
Ein surechnendes Urtheil enthält zweyerley: 
1) daß eine Handlung der Beftimmung durch moras 
lifche Vernunft fähig fey, oder geweſen fen. 
2) daß und wie weit fie durch moralifche Vernunft 
twürflich beſtimmt worden, oder nicht. 


Jenes heißt Zurechnung der That überhaupt, und 
betrift die Zurechnungsfähigfeif (imputariuitas); dieſes 
Surechnung zu Schuld oder Derdienft. 
. 372. 
Zugerechnet wird einem vernuͤnftigen Weſen alles 
dasienige, was 
1) durch Vernunft beſtimmt werden konnte ) und 
ſollte. Das Sollen wird aus dem moralifchen 
Vernunftgefege, das Können nach Naturgefegen 


beurtheilet. 
FU 2) Was 


* Nach der Vorausſetzung. 


294 Metaphyſik der Sitten. 


2) was wuͤrklich durch Vernunft beſtimmt worden, 
oder nicht worden. Dieſe Kenntniß wird aus der 
Erfahrung geſchoͤpft. 


Wir denken uns (unſrer discurſiven Denkungsart gemaͤs) 
zu iedem zurechnenden Urtheile (als dem Unterſatz) zwey 
Vorderſaͤtze, wovon der Eine aus einem allgemeinen 
Sittengeſetz und Naturgeſetze (Oberſatz) zuſammengeſetzt, 
der andere aber ein einzelner Sag (Unterſatz) iſt, wel 
eher die Handlung unter dag Gefer fabfumirt. 


$. 373. 

Sowohl die Zurechnungsfähtafeir, als das wuͤrkli— 
che Derdienft und vie wirkliche Schuld hat Grave. 
Denn die Vernunft Fonnte in dem einen Zallemehr als 
in dem andern wuͤrken; fie war bey gleicher Möglich, 
keit (welche vorausgefege wird) mehr oder weniger wuͤrk⸗ 
fam. | 


$. 374. 

Reinvernuͤnftige, empirifche Zurechnung. 

Anders iſt die Zurechnung beſchaffen, wenn ein rein 
vernuͤnftiges und unendliches Weſen ſie ausuͤbt; anders, 
wenn ſie von einem eingeſchraͤnkten, ſinnlichen Vernunft⸗ 
weſen vorgenommen wird. Jene geſchieht nach reinen 
vernünftigen, dieſe nach empiriſchen Begtiffen und Ma—⸗ 
ximen. 


$. 375. 
1. In dem Urtheile der unendlich reinen Ver 


nunft oder der Gottheit hat 
8) iede 








Metaphyſik der Sitten. F 


a) iede Handlung eines vernünftigen Weſens ins 
nern Werth, fofern fie durch) reine Vernunft« 
gründe beftimme iſt. 


b) Diefer Werth iſt vollfommen gleich der Gröffe 
der vernünftigen Thaͤtigkeit. 


e) Diefe Gröfle wird von der vollfommenfien In⸗ 
telligenz nicht gefchäßt nach der Gröffe der äuf- 
fern Handlungen, Die durch Hinderniſſe einge 
fchränft oder erweitert ſeyn kann, fondern durch 


ſich ſelbſt. 


ch Noch weniger nach der Groͤſſe des aͤuſſern Ers 
folgs, den eine Handlung durch die Umſtaͤnde 
unterffüge, hervorbringt, durch fie verhindert, 
nicht hervorbringe, wenn aud die Handlung 
ſelbſt in beyden Fällen diefelbe war. 


e) Eine geringere Würffamfeit der Vernunft hat 
weniger Verdienſt; der gaͤnzliche Mangel verfels 
ben gar feines. 


H) Da die Gottheit auch die aufferhalb der Sin 
nenwelt vorhandenen, ung unbekannten Gründe 
und Sinderniße Fenft, melche die vernünftige 
Wuͤrkſamkeit einfchränfen: fo rechnet fie die 

Volgen derfelben der Vernunft wicht zu. 


8) Wenn nun alle Immoralitaͤt eines endlichen 
Weſens fich zulegt auf Diefe (fransfcendenien) 
aufferhalb ver Erfahrung liegenden einfchränfens 

4 den 


206 Metaphyſik der Sitten. J 


J 


den Bedingungen von der Selbſtthaͤtigkeit der 
Vernunft gründet, welche die Gottheit kennt, 
und deren Folgen ſie dem vernünftigen Weſen, 
das ſie nicht ſelbſt hervorgebracht hat, auf keine 
Weiſe zurechnet: fo giebt es im dem Urtheil 
. des Unendlichen überall Feine Schuld, 
fondern nur böberes und niederes Derdienft. 
Der Begriff von Schuld beruht feiner Reali— 
tät nach) auf dem Gedanfen von Möglichkeit ei 
ner Bernunftwürfung ohne Würflichkeit derſel⸗ 
ben; dieſer Gedanke gruͤndet ſich auf die Un⸗ 
wiſſenheit eines endlichen Weſens in Abſicht auf 
die auſſerſinnlichen Einſchraͤnkungen, welche iene 
Möglichkeit aufheben. Die Gottheit ſieht aber 
feine Möglichfeit da, wo feine Würkfichfeit if; 
mithin fällt hier der Grund von der Zurechnung 
zur Schuld ganz und gar weg. Gie würde eis 
nen Mangel der Alwiffenheit oder dr Gerech⸗ 
tigkeit Gottes verrathen. 


b) Der beſtimmte Werth einer Perſon wird von 
der Gottheit nicht geſchaͤtzt ‚nach dem Grade von 
reiner Vernunftthaͤtigkeit, der ſich in einer ein- 
zelnen Handlung äuffert, fondern im Banzen 
feiner lebendigen Exiſtenz. 


3) Nur der Unendliche weiß alfo unfern Werth mit 
vollkommner Gerechtigkeit zu ſchaͤtzen. 





636. 


Metaphyſik der Sitten, 207 


$. 376. 
2. Das Urtheil einer ſinnlich eingefhränften (z. 
B. der menfchlichen) Vernunft über den Werth 
der Handlungen und Perfonen in concreto (dag 
Gemiffen) 


a. hat zwar eben daſſelbe Ideal der Beurtheilung 
vor Augen, das dem göttlichen Gericht zum 
Grumde liegt, 


b. ohne iedoch die einzelnen Fälle gehörig darunter 
fubfumiren zu koͤnnen. 


c, Wir rechnen ung felbft zum Derdienft an ie 
de Handlung, woben wir uns moralifher Grün- 

> de bewußt waren, ohne: beftimmen zu fönnen, 
wie viel Antheil andere, finnliche Antriebe und 
empiriſche Beweggründe an der Würfung gehabt 
haben. . 


d. Wir erhöhen in unfrer Vorftellung das Ver⸗ 
dienft, wenn ſtarke finnliche Antriebe überwunz 
den werden mußten, ohne die oft verborgenen 
ebenfalls finnlichen Gegenreize in genauen An— 
fchlag zu bringen, welche der Vernunft den Sieg 
erleichterten , wo nicht gar allein denfelben her« 

‚ vorbradhten. 

e. Wir rechnen: illegale Handlungen (oder die Um; 
terlaffung der  gefegmäffigen) zur Schuld an, 
wenn wir den Gebrauch der nicht angewandten 
Vernunftthaͤtigkeit/ für möglich hielten ; wir hal- 

3. ten 


298 


Metaphyſik der Sitten. 


ten ihn für möglich, wenn wir in den Zeitums 
ſtaͤnden Feine Gründe der Unmöglichfeit entdek— 
ten Gergl. 5. B. Wahnſinn ſeyn würde); wir 
fliegen von der Möglichfeire des Vernunftge⸗ 
brauchs in gewiffen Fallen (die wir aus der 
Wuͤrklichkeit kennen) auf Möglichkeit deffelben 
in andern Fällen, die mie ienen einige Achnlich- 
keit haben; mir fchließen von der Möglichkeit 
eines geringern Vernunftgebrauchs, der 5. B. 
nöthig war, um Flug und gefchift zu vers 
fahren, auf Möglichfeit eines höheren Ver— 


nunfegebrauchs, Der zum moralifchen Handlen 


erforderf wird; mir Fennen Feine unfinnlichen 
Hinderniße der vernänftigen Würffamfeit ‚ und 
bringen fie auch nicht in Anfchlag. — Jede 3 Zu: 
rechnung zur Schuld ift alfo ungerecht, wenn 
fie nicht auf Zeicbedingungen eingeſchrankt 
wird. 


. Wir urtheilen aber den Werth einer RD 


ievesmahl nur nach einem Iheil ihrer Handluns 


gen, die in der Erfcheinung vorfommen. Den 


Werth oder Unwerth einer Perfon fönnen und 
follen wir eigentlich gar nicht beftimmen wollen. 
Unſer Urtheil über Die Perfon muß, um niche 
ungerecht zu werden, ſich nur auf Zeitumftän- 
de, und auf die vergcrenan Erſcheinung ein⸗ 
ſchraͤnken. 


g. Noch 


Metaphyſik der Sitten, 299 


8. Noch weit mehr entfernen wir uns von der 
Wahrheit und Gerechtigfeit, wenn wir ein Ur; 
theil uber Derdienft und Schuld eines any 
dern Magen, deffen Natur, Beweggründe, 
Schwaͤche u. ſ. w. uns immer groͤßtentheils unbe: 
kannt iſt. 


h. Ueber den obiektiven Werth der Handlungd. 

i..ihre Geiesmäffigfeit oder Geſetzwidrigkeit koͤn⸗ 
pen wir richtig urtheilen nach dem reinen Sit— 
tengeſetz; dieſe Beurtheilung muß auch in prafs 
tiſcher Abſicht vollkommen ſeyn fönnen. Zurden 
ſubiektiven Werth haben wir zwar einen allge— 
meinen Maasſtab (nehmlich, das Verhaͤltniß 
ber wuͤrklichen Vernunftthaͤtigkeit zu der moͤgli⸗ 
chen), aber einen ſolchen, den wir mit Sicher⸗ 
heit anzuwenden gaͤnzlich unvermoͤgend ſind. 


$. 377: 

Das göttliche Bericht (forum diu) ſtimmt zwar 
überein mit dem Urtheile der reinen Vernunft ( forum 
rationis purae 6. 375), wovon der Begriff deſſelben 
abgezogen iſt, aber nicht mit dem innern Gerichte des 
Gewiſſens. Denn ben ienem wird nur auf dag Nicht- 
maas gefehn, welches in beyden Gerichten (der reinen 
Dernunft und der Gottheit) vollfommen daffelbe if. 
Im Gericht des Gemwiffens gefchieht aber eine Anwens 
dung deffelben, ohne vollftändige Kenntniß des Gegen, | 

ſtandes, der Handlungen und Perſonen, welche beur- 
— theilet werden, welche. eben um deswillen unvollfommen, 
— un⸗ 








Tr Wr re er Ru ie et 
‘ 


300 - Metaphyſil der Sitten. 


ungerecht und von der goͤttlichen unendlich verſchieden 
iſt. In dem äuſſerlichen Gerichte (forum exter- 
num) kann blos Legalitat oder ihr Gegentheil an einer 
Handlung beurtheilt werden, aber durchaus nicht ihr in⸗ 
nerer Werth oder Unwerth. 


$. 378. 
Poſitives, negatives Verdienſt und Schuld⸗ 
In der empiriſchen Beurtheilung der Handlungen 
($. 376), wo man nicht den fubieftiven Gehalt, fondern 
nur ihre obieftive Befchaffenheit erfennen, und darnach 
Calfo einfeitig) ihren Werth beftimmen Fann, legt man 


im Allgemeinen einen geöffern moraliſchen Werth bey 


I) denienigen Handlungen, welche ſich unmittelbar 
auf eine von dem handelnden Wefen verfchiedene 
Perfon (z. B. auf den Nebenmenfchen) beziehen, 
weil man vorausfegt, dag zu dieſen Pflichtleiſtun⸗ 
gen weniger finnliche und eigennügige Antriebe 
mitwärfen. Gemeinnüßige, mit Aufopferung ver- 
bundene Handlungen der Gerechtigkeit oder der 
Güte heißen ‚vorzugsmeife verdienftlihd. Der 
Einfluß feinerer Neigungen und Motive wird übers 
fehen. 


2) Ddenienigen Handlungen, wodurch ein moralifcher 
Zweck pofitiv befördert wird ‚ im Gegenfag von ſol⸗ 
chen, wodurch man blos unterläßt, dem firtlichen 
Zwecke Hinderniffe in den Weg zu legen, oder wo⸗ 
durch man felbfigelegee Hinderniße wegraͤumt. Hand» 
lun⸗ 


x 





x ’ j 
Metaphyſik der Sitten. 301 


lungen der Guͤte neunt man vorzugsweiſe verdienſt⸗ 
lich, im Gegenſatz von Erweiſungen der Gerech— 
tigkeit. Man nennt die wuͤrkliche Beförderung 
eines moraliſch gebotenen Zwecks, wenn ſie aus 
Pflicht geſchieht, z. B. wenn ich aus Pflicht meine 
‚ Kräffte cultivire, andern wohlthue — poſitives 
Verdienſt; die Nichthinderung eines moraliſchen 
Zweckes, oder die Wegraͤumung ſelbſtgelegter Hin— 
derniſſe z. B. wenn ich der Verſuchung zur Unehr⸗ 
lichkeit pflichtmaͤſſig widerſtehe, negatives Det 
dienft, und halt das letztere für geringer. Der 
Grund davon liegt in der (nur im Allgemeinen, 
aber nicht allgemein gültigen) Vorausſetzung, daß 
eine gröffere Anffrengung der Kröffte, mithin eine 
gröffere Achtung für das Gefeg, folglich ein höhes 
rer Grad von Würffamfeis der Vernunft zu ienen 
Pflichtleiſtungen erfordert werde, als zu dieſen; 
daß es zu den letztern mehr ſinnliche Antriebe gebe, 
die den Werth vermindern u. d. gl. 


3) Umgekehrt, aber aus denſelben Gruͤnden und mit 
derſelben (einſeitigen) Guͤltigkeit halten wir die po⸗ 
ſitive Schuld d. i. dieienige, die durch thaͤtige 
KHinderung eines moralifch nothwendigen Zwecks } 
B. dur Gelbfizerfiörung, Betrug, zugezogen 
wird, fuͤr groͤſer, als die negative, die aus der 
vernachlaͤßigten Befoͤrderung eines pflichtmaͤſſigen 
Zweckes z. B. aus verſaͤumter Wohlthaͤtigkeit, 
Vernachlaigung feiner eignen Faͤhigkeiten eutſpringt. 
Wir 


302 Metaphyſik der Sitten, 


Wir ſetzen überdieß im erſten Falle einen groͤßern 
angel von Pflichtanerfennung voraus, weil die 
Pflicht gewifler, befiinimter nf. w. iſt. 
4 


4) Eine gefeswidrige Handlung, Deren Obiekt wir 
felbfi find, hat in unferm empirifchen Urtheile 
gröffere Schuld, als eine Sünde, die ein frent- 
des unmittelbare Obiekt hatz wir fegen nehmlich 
voraus, daß iene, die Gelbftpflichten, zugleich durch 
die eigennügigen, finnlichen Triebe beguͤnſtigt wer⸗ 
den, alfo eine geringere Anſtrengung der Kräffte 
erfodern; wozu es nur eines niedern Grades von Ach- 
‚tung für Moralitaͤt bedurft hätte, die bey ſolchen 
Derfündigungen foger vermißt wird. 


$. 379. 
Achtung, Verachtung, 

Mit der Vorftellung von Verdienſt iſt in einem end⸗ 
lichen Vernunftweſen ſinnlich verbunden ein Gefuͤhl von 
Achtung. Das unmittelbare und reine Obiekt dieſer 
Achtung iſt die Vernunft und ihr hoͤchſtes Geſetz, wie 
im dritten Problem der Grit. d. pr. V. ($. 145 - 166). 
gezeigt worden. Von da verbreitef es, fich über. Dieie- 
nigen Handlungen, worinn der Einfluß der Vernunft 
erfcheint, und wird dem Grade nad) erhöht oder ver- 
mindert, „ie nachdem die vernünftige Thaͤtigkeit in den 
Gefinnungen eines finnlich vernünftigen Weſens we 
oder weniger offenbar wird. 


$.380. 





Metaphyſik der Siem 303 


$. 380. 

An die Vorſtellung von Schuld, "oder (nach gelaͤuter⸗ 
Begriffen) von vermindertem Verdienſte knuͤpft fich ein 
Gefühl von Verachtung d. i. von einen niedern Grad 
Der Achtung für die immorclifhe Handlung und für 
ihren Urheber, in fo fern wir nehmlichden finnlich wahr- 
nehmbaren Ausdruc der felbfichätigen Vernunfe — ver 
legten Bedingung aller Hochichägung — daran vermif, 
fen. 


$. 381. 

Auf diefe Art achten oder verachten wir mehr oder 
Weniger ung felbft und andere, wenn wirung nach em⸗ 
pirifcher Kenntniß beurtheifen. Im Urtheil der reinen 
Vernunft hingegen ift unfer Verdienſt, mithin auch uns 
fere Achtung unveraͤnderlich, weil wir hier die Würfung 
zufälliger Hinderniffe einer moralifchen Sinnesart (eis 
ner finnlich erfcheinenden fitelichen Denkart) abrechnen, 
und nicht nach Bruchftücen, fondern nach dem Ganz 
zen unfern moralifchen Werth beftimmen. Weil wir 
aber iedesmahl andere Theile und einzelne Seiten unferg 
Charakters anfchauen, fo kann unfre Achtung niemahls 
Dem Urtheil der reinen DBernunft über unfern wahren 
und ganzen Werth entfprechen, und wir find der Beurs 
theilung unſrer felbft in concreto nach reinen Vernunft 
grundfägen unfähig. 


$. 382- | 


304 Metaphyſik ver Sitten, 
$. 382. 
Verehrung 


Sir ein endliches Weſen koͤnnen wir nur endliche Ach 
tung hegen. Die E Gottheit ift als uneingeſchraͤnkte Vera 


nunft das ausfchliegende Obiekt unbegraͤnzter Achtung 


d. i. Verehrung. 


$. 383. 
Vergeltung, 

Es if ein Saftum der praftifchen Vernunft, daß 
fie das moraliſche Wefen vermöge feiner Moralitaͤt und 
im Verhaͤltniß zu ihr der Gluͤckſeligkeit wuͤrdig haͤlt, 
und daß ſie eine Vereinigung des oberſten ſchlechterdings 
nothwendigen Gutes mit dem bedingtnothwendigen Gus 
te oder Zwecke eines endlichen und finnlichen Vernunft⸗ 
weſens fordert. Diefe reine Thatſache iſt im vierten 
Problem der Crit. d. pr. Vern. ($. 167 Bis 220.) ers 
Örtert worden. Die Erwartung, daß dieſe Forderung 
der Vernunft in der Welt wuͤrklich erfuͤllet werde, if 
religiös. 

$ 384. 

Eine Folge davon find die Begriffe von Vergeltung, 
Belohnung und Strafe, und die Anwendung verjelben 
auf einzelne Handlungen oder Perfonen oder die zurech⸗ 
nung zur Belohnung und Strafe. 


$. 385. 
Der angemeffene Antheil, deſſen die unpartheiifche 
Vernunft ein endliches Weſen um feiner Moralitaͤt wil⸗ 
len, 


Metaphyſik der Sitten. 305 


len, würdig hält, iſt moraliſche Belohnung. Das 
phyſiſche Uebel oder der Mangel an Glückſeligkeit, den 
die praktiſche Vernunft der Immoraalitaͤt eines vernuͤnf⸗ 
tigen Weſens angemeſſen findet, kann morxaliſche oder 
eigentliche Strafe heißen. Beydes zufammen iſt ange⸗ 
| heellene weralile Vergeltung. | 


| 6. 386. 

7 Wuͤrdigkeit der Belohnung entfpricht an fi Ar und in 
feinen Graden den Verdienfte ; Strafwuͤrdigkeit ſteht in 
gleichem Verhaͤltniß zu der Schuld. Die Zurechnung 
zur Belohnung oder zur «Strafe fett alſo die zurechnen⸗ 
den Urtheile der That, und zum Verdienſte oder zur 
Schuld als feine Bedingungen voraus. 


§. 387. 

Wie über Verdienft und Schuld (6. 374⸗ ee. ſo 
urtheilt nothwendigerweiſe auch über Straf - und Be 
lohnungsmwürdigfeit anders die reine, unendliche Vers 
nunft für fich felbfe oder die Gottheit, anders die em: 
pirifch angewandte Vernunft 5. B. die menfchliche. Dem 
letzten Urtheil liege zwar Diefelbe Regel zum Grunde, 
aber die Anwendung auf einzelne Fälle in concreto 
meicht unendlich von der göttlichen ab, und ift niemahlg 
der Wahrheit vollfommen angemellen. Die endliche Zu⸗ 
rechnung gruͤndet fich auf Schein ‚ die unendliche auf 
Wahrheit; iene bezieht fi) auf einzelne Handlungen, 
diefe auf das Ganze des Charafters; iene imputirt auch 
Strafe, diefe nur gröfere oder ‚geringere Belohnung. 


Moralphiloſophie. u $. 388. 


306 Meraphufik der Sitten, 


$. 388. 
Nur die Gottheit kann gerecht richten über Verdien 
und Schuld; nur ſie kann Satopnung und Strafe ge: 
er verchelen, * 





S. 389. 

Strafe kann nach Dem reinen Begriffe nichts als 
eingefchränfte Belohnung feyn. Es giebt feine abfolu= 
te Immoralitaͤt, feine gänzfiche Verdienftloſigkeit, folg⸗ 
lich auch Feine eigentliche Strafe. 


$. 390. 

Es giebt für endliche Weſen nur endliche Shan 
gen und Strafen (im oben erflärten Sinne), die eben 
fo wenig, als Verdienft und Schuld, fich von einer 
Perſon auf eine andere moralifch übertragen, oder übers 
haupt abändern, erlaffen, vorenthalten, erhöhen laſſen, 
man müßte denn alle Begriffe von zweckmaͤſſiger, fitt« 
licher Welteinrichtung und von göttlicher Gerechtigkeit 
($. 208.) aufheben und verläugnen. _ 


Jede religioͤſe Meynung, melche die Vorſtellung 
von Gerechtigkeit Gottes verfälfche over auch nur ver⸗ 
dunfelt, iſt dem Hauptzwecke, mithin dem praftifchen Gruns 
de aller Religion zumider und fittenverderblich. 


SER SR . 

Nach der für endliche Wefen einzig möglichen Bes 
urtheilung der Straf- und Belohnungswärdigfeit, die 
fich einfeitig auf die Vorſtellung der obiefriven Legalitaͤt 

grün: 


Metaphyſik der, Sitten. 307 


gruͤndet, iſt poſitives Verdienſt ($: 378.) einer poſi⸗ 
tiven Belohnung d. i. eines proportionirten Zuwach⸗ 
ſes an Gluͤckſeligkeit, eines mit Gewinn verbundenen 
Erſatzes der freywilligen Einbuſſe — negatives Ders 
dienſt dagegen nur einer negativen Belohnung d. i. 
einer Nichtabnahme nreiner Gluͤckſeligkeit werth 3. B. dag 
meine Ehrfichfeit mir im Ganzen nicht ſchade, mich nicht 
- fremden Betruge ausſetze. Für pofitive Schuld beſtimmen 
wir eine dergleichen Strafe, d. i. einen wuͤrklichen Verluſt 
an Gluͤckſeligkeit, die ich ſchon beſthe; für die negative 
eine verneinende Strafe z. B. Ge —9 Eigennutz, der 
mich lieblos handlen ließ, feiner Abſicht verfehle. 


§. 392. | 
Verwandte Begriffe, 

- Nicht iede Verbindung eines Beſtandtheiles oder ei 
ner Bedingung der Glückfeligfeit mie. gewiſſen freyen 
Handlungen ift Belohnung ; nicht iedes phnfifche Uebel, 
im Zufammenhang mit Illegalitaͤt des Handlens kann 
eigentlich Strafe heißen. 


* Be 
Ein phyſiſches But kann mic legelen oder auch 


moraliſchen Handlungen und mit Hatınlolung derſelben 
zuſammenhaͤngen 
3) zufälligerweife, nach keiner Regel weder der 
theoretiſchen noch der praktiſchen Vernunft. In 
ſofern heiße es Glück. 
U2 8) noth⸗ 


{ 





a 308 


| 
| 


Meraphyfif der Sitten. 


2) notbwendigerweife d. i. nach einer vernuͤnfti⸗ 


gen Regel | 
a) der theoretiſchen Vernunft d. i. nach einen 


empiriſchen, bedingtnothwendigen Naturgeſetz. 
Sofern man blos auf den phyſiſchen Zuſammen, 
bang zwifchen Urfache (5. B. Maͤſſigkeit) und! 
Würfung 5. B. einem längern, gefündern, [hmerz=| 
lofern Leben) fieht ‚ denkt man ſich keine Beloh⸗ 
nung. Es wird erſt natürliche Belohnung 
durch die hinzukommende neue Beziehung auf 
praktiſche Vernunftbegriffe. Dieſe cheoretiſch 


nothwendige Verbindung einer Handlung mit ans 


genehmen Folgen verſchafft ihr eine natürliche, 
relative Güte. F. 136. 


b) ver praftifchen Vernunft dv. io nah Be 


Zwerfen 


&) empiriſchen Zwecken der pr. Vernunft. Die 
fe find 


entweder einzelne; fir.) den Belohnenden felbft 
nüßliche, Handlungen zu veranlaßen. — Kohn; 
ein phyfifches Gut, das nach) Proportion des 

geſtifteten Guten abgemeſſen wird; 
oder zweckmaͤſſtge Handlungsweiſen uͤberhaupt 
zu befördern — Aufmunterungen, Prä⸗- 
mien, auf qemeinnügige (wenn auch nicht 
immer aͤchtmoraliſche) Handlungen. Sie 
richten ſich a der prafumirten Nuͤtzlichkeit 
J 


| 


Metaphyſik der Sitten. 309 


des Charakters, nicht der einzelnen Handlung, 
wie der Lohn. 


ß) rein vernünftigen, TER Sweden. 
Angenehme Folgen einer nicht. blos legalen, 
fondern auch moralifchen Denfungsart ; und 
einer Handling, die daraus: herfließe, die in 
der Abficht damit. verbunden worden,’ um die 
reine Vernunffivee von Wirdigfeit, von 

hoͤchſter und volftändiger Iwecfmäffigkeit zu re» 
aliſiren. — Eigentlihe Belohnungen. Um 
dem Totalzwecke der Vernunft, der harmoni- 
ſchen Verbindung der Glüceligfeit mit der 
Sitrlichfeit zu entfprechen, muͤſſen fie dem 
Grade der Moralitaͤt durchaus angemeffen feyn. 


$.. .394- 

Belohnen kann alſo nur die Gottheit; lohnen, 
aufmuntern, koͤnnen endliche Vernunftweſen z. B. 
Obrigkeiten, Erzieher; die Verbindung natürlicher 
Folgen iſt ein Werk der Natur. 


$. 395. 
Beſtrafen. 
Auf aͤhnliche Art muß auch der Begriff der Strafen 
G. 389.) von aͤhnlich sie DE genau 
unterfchieden werden. 


Auch phyſiſche Uebel oder Einfchränfungen des 
phufifchen Guten oder des Wohls fönnen mic illegalen 


eder auch immoralifchen Aandlungen verbunden feyn 
N uU3 3) zu⸗ 


310 Metaphyſik der Sitten 


v3) gufälligerweife, ohne Regel — Unglück 
8) nothwendigerweife, nach einer Regel 
a) der theoretiſchen Vernunft, als natuͤrliche 
uͤble Folgen gewiſſer Handlungen ‚ die eben um 
deswillen relativ böſe waͤren. Dieſe Fönnten 
wenigſtens aus dieſen Geſichtspunkte ange⸗ 
ſehen, nicht Strafen heißen. Denn Strafen 
machen nicht die Suͤnde, wie hier der Fall, wär 
is re, fondern umgekehrt. Selbſtſchaden. 


b) der praktifchen Vernunft; Uebel, die nach 
werfen, Ideen mit einer Dandlung verbunden 
wären. — Strafen in weitläuftiger 254 
deutung. A 


&) nach zufälligen empirifehen Zwecken, und 
comparativ allgemeinen Negeln. Der Zweck 
iſt 

entweder ſchaͤdliche Handlungen für einen eins 
zelnen Fall zu verhuͤten , und ihre perfönlis 
chen fchädfichen Folgen abzuwenden. — 
Swangsübel, Gegenwehr eines Deleidigten, 
unzweckmaͤſſig angewandt — Rache, 

oder, den Fehlenden um feiner. felbft willen von 
gewiſſen fchädfichen Gewohnheiten abzubeingen 
— Süchtigungen. 

Oder andere von gemeinfchädlichen Handlungen - 
abzuhalten = Marnerempel. 





8) ne x 


* 


Metaphyſik der Sitten. 311 


£) nad) rein, vernuͤnftigen, moraliſchen Zwe- 
Ken — die Idee von, Würdigfeit und Pros 
porfion zu realifiren. „Kigentliche Stra⸗ 
fen. Dieſe müßen der, höchften und vollſtaͤn⸗ 
digen, Zweckmäſſigkeit durchaus entiprechen, 
mithin, den. moralifchen Werth (der Schuld $. 
— 365. ).eines Charakters völig —2 
ſen ſeyn. 


$. 396. 
wMie dent Zweck der Strafe. kann der Zweck eines 
Swangsübels, einer Süchtigung und eines Warns 
exempels verbunden feyn; es iſt dieß aber. an fich 
nicht nothwendig. Die natürliche Folge fann zugleich 
als Strafe von dem Urheber der Natur veranftalter ſeyn, 
“ für eine Handlungsweiſe, die an ka jelbft ſchon unſitt⸗ 


lich iſt 


$. 397. 

Zwan gsübel kann ieder Beleidigte, und in feinem 
Nahmen eine Geſellſchaft anwenden; züchtigen iſt Sa⸗ 
che des Erziehers; Warnexempel kann eine Obrigkeit 
kraft eines geſellſchaftlichen Vertrags geben. Beſtra⸗ 
fen d. i. den niedern Grad der Glückſeligkeit nach Ver⸗ 
haͤltniß der mindern Wuͤrdigkeit des Charakters beſtim⸗ 
men — kann nur der Unendliche. 


$. 398. 
Phyſiſche Uebel mit gewiſſen Handlungen verbinden, 
Die ſich weder als Zwangsmittel, um Beleidigungen ab, 
V4 zuhal⸗ 


313° Metaphyſik ver Sirtem 


zuhalten, noch als Züchtigungen, Beflerung zu veran⸗ 
laſſen, noch auch endlich als Benfpiele jur Warnung 
anderer, rechtfertigen laſſen, fondern als’ eigentliche 
Strafen, ohne oder wider iene Zwecke, zugefügt mer 
den, — iſt eme offenbare Ungerechtigkeit und ein 
Eingriff in das göttliche Gericht‘; e8 mag nun von Ob» 
rigfeiten oder von Privatperſonen geſchehen. 


$. 399- 

Belohnung und Strafe ‚ find nicht moraliſche Be⸗ 
weggruͤnde der Handlungen, nicht Beflimmungsgrinde 
der Verbindlichkeit, ſondern die Pflicht muß für ſich aus 
dem Vernunfrgefege erfannt werden, und nur alsdann 
laͤßt ſich Schuld, Verdienſt, Wuͤrdigkeit der Belohnung 
und der Beſtrafung gedenken. Ein Gefetz dem die 
Folgen der Handlung erſt die verpflichtende Kraft gaͤ⸗ 
ben, waͤre blos relativ gut. Ein abſolutes Geſetz iſt 
unabhangig von dieſen Folgen; die Folgen find viel; 
mehr. abhängig von ihm, meil die Vernunft fie dem Ge 
fee. gemäs beffimmt. _ Eine Tugend, "Deren Grund die 
Hofinung der Belohnung ware, würde eigennützig, 
und-eine folhe, die fih auf Furcht vor Defirafung, 
gründete, würde fogar ſklaviſch und erzwungen, d. i, 
fein Gegenftand unferer Hochfchägung ſeyn, die nur auf 
Vernunft und ihre freyen, uneigennügigen Würfungen 
gerichtet feyn kann. 


$. 400, 





— k der Sin 313 


Ä 6.1400. ' 

J | Genen. 

3 Die Anwendungen, die ein ſinnlich vernänfeiges 

Weſen von dem moraliſchen Gefege auf fich felbft, auf 
feine Handlungen und Gefinnungen in concrero macht, 


werden nebſt ihren ſubiektiven Wuͤrkungen dem Gewiſ⸗ 
ſen zugeſchrieben. 


Man betrachtet das Gewiſſen 


3) als Vermögen. Hier beruht es auf dem Das 
fenn der moralifchen Vernunft, dem empiriſchen 
Selbſtbewußtſeyn „der moraliſchen Urtheilskraft, 
und dem ſittlichen Gefuͤhle, und muß bey allen end⸗ 
lichen Vernunftweſen vorhanden ſeyn. 
2) als Fertigkeit· Diefe beruht auf Uebung/ wo⸗ 
durch man die Vorſtellung ſeiner Pflichten, ſeiner 
innern und aͤuſſern Handlungen und ihres Verhaͤlt⸗ 
niſſes zu einander ſich geläufig mache, und dadurch 
die entſprechenden Gefühle oͤfters erregt. 
3) als Verrichtung. Dieſe haͤngt von dem momen⸗ 
tanen Gemuͤthszuſtande ab. 
| §. 401. 
Mit dem Gewiſſen iſt nicht zu. verwechſeln 
I) das Bewußtſeyn von unſern Handlungen, über 
haupt. 


2) das Urtheil uͤber ihre Vollkommenheit oder Un⸗ 
vollkommenheit uͤberhaupt, uͤber ihr Verhaͤlt niß zu 
unſern zufälligen Zwecken und fubiefeiven Negeln. 

"45 . 3) die 


” 


314 | Metaphyſik der Sitte, 


3) die Empfindung, Die aus dem Bewußtſeyn dieſer 
(nicht moralifchen) Volkommenheit oder Unvoll— 
kommenheit Mile Handlung entſteht. 


#) oder auch) dasienige Gefühl, mas die Vorausfiche 
der niche moralifchen Folgen einer Handlung er⸗ 
weckt. 5. B. Ahndung Des Beleidigten, der etc 

ſchaft m.d. gl. u 


Ade dieſe Vorftellungen, Urtheile und Gefuͤhle ER 
Deswegen nicht eigentlich zum Getsiffen, weil fie nicht 
feld moralifcher Arc find, ob fie ſich gleich öfters mie 
moralifchen Gedanken und Empfindungen verbinden. 


$. 402. 

Das Subieftive bey der Anwendung des Gefehes 
auf die Handlungen , betrife theils das moralifche Ur—⸗ 
theil, theils das fitliche Gefühl, theils das Gefühl 
der religiofen Hoffnung oder Furcht, welche mit ienem 
Urtheile verbunden ſind. 


$. 403. 

Was erſtens das moraliſche Urtheil berrift, def 
fen obieftive Befchaffenheit und Gründe oben ($. 355. 

bis 378.) erflärt worden, fo ift daſſelbe 

3) dunkel, Elar, oder deutliy, nach den ver- 
fehiedenen Graden der Klarheit des iedesmahligen 
Bewußtſeyns von dem moralifchen Gefege, der 
Handlung oder der Gefinnung und dem Charafter 

und der Vergleihung, die zwifchen dem Begriff 
von beyden angeftellt worden. | 
"2) mehr 





I 
Maetaphyſik der Sitten, 315 


2). mehr oder minder lebhaft, ie nachdem Die zum 

"Grunde liegenden Vorſtellungen mehrere oder ges 

ringere Lebhaftigfeit im Verhältniß zu den uͤb⸗ 
rigen Vorſtellungen haben. 


Bey unmerklicher Lebhaftigkeit der Vorſtellung von den 
zurechnen den Urtheilen ſchlaft, bey merklicher Stärke 
derſelben wacht das Gewiſſen. 

3) dem Geſetze und der Handlung durchaus angemeſ⸗ 
fen — genau und beſtimmt, oder Das Gegen— 
cheil; auf Wergleichung aller Handlungen und aller 

ihrer Beſtimmungen mie dem ganzen Giftengefege 
in allen feinen Iheilen und Beſtimm ungen gegruͤn⸗ 
det d. i. ausgebreitet, oder das Gegentheil. 
Weites, leichtſinniges, moet, genaues, peinli; 
Mes Gewiſſen. 
jr Nach Verhaͤltniß der Richtigkeit der Etenntniß 
vom Geſetze, und der Erkenntniß deſſen, was zu 
der möglichen oder würflichen Handlung gehört, if 
auch das Urtheil richtig oder unrichtig und das 
Gewiſſen roh oder aufgeklärt; ie nachdem Die 

" Gröfe der (materialen) Geſetze ſowohl els der Hand» 

Tung gefchägt wird, verbältnißmäffig oder. uns 

verhältnißmäſſig. 
Dem irrigen Urtheile liegt zum Grunde ein Jerthum 
in Abſicht auf das Geſetz, oder auf die Handlung und 
Geſinnung, beyde ihrer Beſchaffenheit oder ihrer Groͤſe 
nach; oder eine fehlerhafte Verbindung und Folgerung 
aus richtigen Vorderſaͤtzen. Wenn das Gewiſſen oͤfters 
aus 


316 Metaphyſik der Sitten 


aus Irrthum fih Schuld beymißt, fo iſt es ſchwach; 
wenn es fich öfters ſchuldlos zu ſeyn waͤhnt — leicht; 
finnig; wenn es fih gern mic eingebildetem — 2* 
taͤuſcht, ſchmeichelnd. | 


5) Von der Beſtimmtheit der moralifchen Kenntniſſe 
haͤngt es ab, "ob das Urtheil und das Gewiſſen 
gewiß, wabhrjcheinlich, oder zweifelhaft und 
problematifch (Gewiffensffrupel) ausfällt. 


6) In Abſi cht auf die Zeit, wenn das Urtheil gefaͤlt 
wird, iſt das Gewiſſen ein vorhergehendes 
oder nachfolgendes. 


7) In Anſehung des Innhalts iſt 


a) das vorhergehende — belohnend, oder an ⸗ 
treibend, und das letztere gebietend, ver⸗ 
bietend, oder einſchränkend. 


b) das nachfolgende Gewiffen iſt 
a) überhaupt gut oder böſe. 


O) ins befondere in Anfehung der Zurechnung 
zu Verdienft und Schuld 


entfchuldigend, wenn es dem Handelnden den 
Zuſammenhang einer gefchehenen illegalen 
Dandlung mit nicht moralifchen Beſtimmungs⸗ 
gründen, mit aͤuſſern reizenden Veranlaſſun—⸗ 
gen, Umftänden, Zemperamentshang u. ». gl. 
ins Bewußtſeyn bringe, um die moralifche 
Schuld, 





i 
Metaphyſik der Sitten, 317 


Schuld, wo 2 —* doch zu 
vermindern. 


Beſchönigend ; wenn es ſogar das Verdienſtli⸗ 
che der Handlung aus legalen und ſittlichen 
Beſtimmungsgruͤnden zu beweiſen ſucht. 


Rechtfertigend, wenn es’ die Legalitaͤt einer 
vorerſt illegal ſcheinenden Handlung ſich dar⸗ 
zuthun bemühe iſt. 


Der entgegengeſetzte Fall iſt, wenn das Gewiſſen ſich 
ſelbſt beſchuldigt oder wenigſtens das Verdienſt 
herabſetzt, in dem es entweder etwas Illegales 

.....00d Immoraliſches „oder wenigſtens den Zuſatz 
nicht moraliſcher, natürlicher Antriebe zu den reis 
nen Beflimmungsgründen enfdefl. 


$. 404. , 

. Zweytens, ($. 402. das Gefüplder Selbſtacheung 
oder Selbſtverachtung entſpricht ganzlich dem Urrheile 
über Verdienſt und Schuld, Würdigfeit und Unwuͤrdigkeit 
nach allen ($.493.)Jangegebenen Unterfchieven. Zugleich 
hängt es aber auch von der Stärke oder Schwäche des 
Gefühlvermögens überhaupt, der Empfänglichfeie für 
feinere Gefühle, und zwar von der erhebenden oder nie— 
derfchlagenden Art insbefondere ab. Die Empfäng- 
lichfeie für ftarfe oder ſchwache moralifche Gefühle 
beſtimmt ein (vergleichungsweife) empfindlides over 
unempfindliddes Gewifjen ; für feinere Gefühle, die 
fih auf fubtilere Beurtheilungen und Unrerfcheidungen 

gründen 


% 


318 Metaphyſik der Sitten 


gruͤnden — ein zartes oder im gegenuͤberſtehenden Fal⸗ 
Te grobfühlendes Gewiſſen. Die überwiegende Em⸗ 
pfaͤnglichkeit für, unangenehme firtliche Gefühle mache 
das Gewiſſen ängftlic oder peinlich. 


Sieht man auf den einzeln Zuſtand ſo iſt es um 
zubig, beym Bewußtſeyn der Schuld (Gewiffensbiffe) 
subig, wenn es fi ſchuldlos denkt; froh, wenn es ſich 
im Beſitz des Verdienſtes glaubt. 


§. 405. 

Ohne Nahtheil der Moralirät darf dieß Getüht, das 
ſich unmittelbar auf die Zurechnung zur Schuld oder 
zum DVerdienjte grühder, nicht aufgehoben; aber doch 
durch andere neu eintretende Gefühle i in feier u been 
geichtwächt werden. 


$. Be 
Endlich (F. 402.) drittens, die Gefühle der 
Furcht oder der Zoffnung, die fich zufolge eines 
religiöfen Glaubens mit den Gefühlen eigner Wuͤrdig⸗ 
keit oder Unwuͤrdigkeit verbinden; dieſe richten ſich der 
Are und der Staͤrke nach, nach der formalen und ma— 


terialen Befchaffenheit der moralifchen ſowohl als der res 


ligiöfen Kenntniffe, nach der Selbſtkenntniß, nach Dem 
herrfchenden oder iedesmahligen Hange zu gewiſſen Ge⸗ 
fuͤhlarten. 


$. 407. 


Dieſe Gefuͤhle duͤrfen nur auf das Bewußtſeyn von 


eignem Verdienſt oder von eigner Schuld ſich gründen; 
nur 











| 


j - ' 
B * N 


Metaphyſtk der Sitte, 319 
nur mit Veränderung diefes Urtheiles — wie der ſitt⸗ 
liche Charafter nach und nach anders” erfcheint — duͤr⸗ 
fen dieſe Hoffnungen „oder Beforgniffe ſich abändern, 
ſchwaͤcher, flärker werden, weil das) richtende Urtheil 
des Unendlichen fi ch. auf Das ganze Verhalten, auf die 
vollfkändige Erfcheinung von dem ganzen Charakter eineg 
endlichen DBernunftwefens bezieht und gründet. 


Nach aufgeklärten Begriffen über Moralität und 
Gottheit ift gar feine Furch. vor göttlichen, geſchweige 
denn vor unendlichen Strafen, fondern nur eine gröfe 
fere oder geringere, befcheidene, feſte Hoffnung auf ei 
ne im Ganyen gemwiffe, ‚der Art und Grofe nach unbe⸗ 
ſtimmte, goͤttliche Belohnung des ſelbſt erworbenen Ver⸗ 
dienſtes möglich... 

Jede Meynung, FA die Self görtlicher 
Belohnungen auf etwas andres, als auf das Bewußt⸗ 
feyn eignen Verdienftes und auf den Gevanfen von 
götrlicher Gerechtigkeit gegründer, oder wodurch die 
Furcht vor göttlichen Strafen aufgehoben oder vermins 
dere (d. i. nach reinen Begriffen, die Hoffnung erhöht 
und ihre Einfchranfung weggeraumf) wird, ohne verän- 
dertes Bewußtſeyn des ſelbſteigenen Werthes, iſt eine 


den Sitten ſchaͤdliche Meynung. Sofern die Furcht auf 


Vorurtheilen beruhte, iſt es minder ſchaͤdlich, fie durch 
Vorurtheile zu ſchwaͤchen oder gar zu vernichten. 


Rei⸗ 


220 \ Metaphyſik Der Sitten, 
Keine Erhif 


oder 


— des Einigen oberſten @ürteigere 
Bes in feine a priori erfennbaren 
befonderen Gefege, 


€. 408. 
Zwey Gefeke, 
Das oberfte formale Sittengefeg ($. 118. bis 120.) 
enthält zwey befondere, ebenfals formale Vernunftge⸗ 
fee, ein negatives und ein pofitiveg. UN NEL, DR 


$. 409. 
Erftes negatives Geſetz. 

Handle nach keiner Maxime, die als allgemeines Na⸗ 
turgeſetz ſich ſelbſt widerſpricht de h. ihren eignen 
Zweck pn 

oder: 

Handle niemahls ſo, daß du durch deine Banane 
irgend ein vernünftiges Wefen blos als Mittel 
behandelſt, wider ſeine zwecke. 


oder: 
Handle keinem zweck an ſich ſelbſt muwider 


$.,410. 
Zweytes pofitives Geſetz. 
Handle nach ſolchen Maximen, die als allgemeine 
Geſetze deinem eignen Willen nicht e⸗ 


chen, ſondern gemäs find. 
oder: 





Metaphyſik ver Sitten. 331 


oder: 
Handle ſtets fo, daß du das (iedes) vernünftige Wes 
als zweck an ſich ſelbſt betrachteſt, und feine 
Zwecke beförderft. | 


oder: 
Handle, dem Zwecke an fidy ſelbſt gemäg, 
6. 411. 
Vier reine Gefege, 


Es giebt zwey a priori denfbare moralifche Obiekte, 
worauf ſowohl das negative ($ 409.), als das pofitis 


ve ($. 410.) Sittengeſetz bezogen werden koͤnnen, nehm⸗ 
lich 1) das handelnde Vernunftweſen felbft 2) ein von 


diefem verfchiedenes Vernunftweſen. Durch diefe Dops 
pelte Beziehung entfiehen nun vier befondere Befeze, 
nehmlich < ein. formales Gefez 1) der negativen Selbſt⸗ 


pfliht; 2) der negativen Gefellfchaftspfliht; 3) dee 
‚ pofitiven Selbſtpflicht, und 4) der pofitiven Geſell⸗ 


ſchaftspflicht. 


6. 412. 
Negative, ſchuldige Selbſtpflicht. 
Befolge keine Maxime, die als allgemeines Ge⸗ 


ſetz deiner Natur — ſich ſelbſt widerſprechen d. 1. 


Die deinen eignen Zweck aufheben würde. 


oder: 
Behandle dich ſelbſt, als vernuͤnftige Natur, (oder 
die vernünftige Natur in deiner eignen Perfon,) 
Moralphiloſophie. nicht 


322 Metaphyſik der Sitten” _ 


nicht als bloffes Mittel, wider deine Zwecke (wel⸗ 
ches gefchehen wurde, wenn du deine obiektiven 
und nothwendigen Zwecke, die Bedingungen der 
übrigen, um der fubieftiven und zufaͤlligen willen 
zerſtoͤrteſt), 


‚Oder? 

Handle dir felbft, als Zweck an fich felbft, nicht zuwi⸗ 
der, indem du Deine Natur, deine Kraffte und ih» 
se mürffame Verbindang im Ganzen oder zum 
Theil um zufäliger Abfichten willen seeftöreft, oder 
ohne Widerftand zerſtoͤren laͤſſeſt. 


Vermoͤge dieſes Gebotes darf ich 5. B nicht mie das 
Leben, oder die Vernunft, oder ein Glied rauben, um 
Dein Schmerz zu entgehen ; nicht in Befriedigung finnli- 
cher Triebe zum Nachteil meiner Gefundheit ausfchwei- 
fen, um der Geſchlechtsluſt oder einer andern Gin- 
nenluft zu genießen; den Gebrauch von Arzueyen in 
Krankheiten nicht unterlaffen, um dem mwidrigen Ges 
ſchmack oder der einfchränfenden Lebensordnung zu ent» 
gehen ; Die Gegenwehr gegen feindliche Angriffe auf mein 
Leben oder auf meine Freyheit nicht unterlaffen,, aus 
Feigheit oder Trägheit u. fe m. — — Mein Leben für 
fremdes Leben zu laſſen, ſtreitet an ſich nicht wider die, 
fe Pflicht, weil ich eben Dadurch vielleicht mehr Achtung. 
für ein vernünftiges Weſen bemeifen Fann. 





Metaphyſik der Sitten, 323 


6. 413. 
' Negative, ſchuldige Geſellſchaftspflicht. 
Befolge keine ſolche Maxime, die, als allgemeines 
Geſetz aller vernünftigen Weſen (alſo nicht blos deine 
Natur) gedacht, fich felbft widerfprechen, und, in dieſer 
Allgemeinheit befolgt, ihren eignen Zweck —— und 
unmoͤglich machen wuͤrde 


oder:? 

Behandle kein vernünftig Weſen, auch auſſer dir, 
iemahls als bloſſes Mittel, wider ſeine Zwecke 
(um etwa deine eignen Zwecke dadurch zu befoͤr⸗ 
dern) 


oder: 


Handle der vernuͤnftigen Natur uͤberhaupt, als dem 
Zweck an ſich ſelbſt nicht zumider , indem du fie 
ſelbſt blos als Sache, als Mittel und Werkzeug 

- Deiner Privstabfichten brauchteft und aufopfer⸗ 
————— 


Dder :- 


Dermeide folhe Marimen und Handlungen, bey de 
nen du Dich unmöglich als Glied einer Geſellſchaft 
vernünftiger Weſen betrachten koͤnnteſt, worinn 
dieſe Maximen allgemeine Guͤltigkeit als Geſetze 
hatten — bey denen feine vernünftige Geſellſchaft 
möglich wäre — deren allgemeine Befolgung, das Da» 
ſeyn und die Fortdauer einer Geſellſchaft vernuͤnfti⸗ 
ger Weſen unmoͤglich —— und fie zerſtoͤren wiirde, 

\ j Dies 


324 Metaphyſik der Sitten, 


Diefem Gebote, zu Folge darf ich 3.8. anderen Feine 
Teibliche oder gar Geiftesfflaverey anmuthen, fie nicht 
belügen, betrügen, um der Befriedigung eianer Lüfte 
willen, fie zu Begehrung von Ihorheiten verführen; nicht 
aus Partheilichfeit für meinen Freund einem dritten fcha- 
ven; die mic vechtmäfliger Abſicht auf Entgelt verwil⸗ 
ligten Dienftedes anyern nicht unentgeltlich mir anmaa» _ 
fen, nicht Bücher nachdrucken, Nachdrüde Faufen oder 
am der Aufklärung willen privilegiren; meinen Beruf 


nicht vernachläßigen u. f. m. Mein Leben kann ich 


aber unter gewiſſen Umſtaͤnde auf Koften eines antern 
erhalten, wenn ich, alles abgewogen, die Würde der 
vernünftigen Natur als Selbſtzweck auf diefe Arc am 
meiften ehre und am menigften verlege. | 


x $. 414. 
Pofitive Selbftpflicht. 

Befolge nur folhe Maximen, deren Allgemeinheit 
als Geferze deiner Natur nicht nur innerlich mög- 
Lich Cniche widerfprechend), fondern auch deiner Natur 
und deinem Willen gemäs ift — deren Gegentheil 
du unmöglich zum allgemeinen Geſetz für, Deine eigne 


Natur machen Fannft, 
oder: 


Behandle dich ſelbſt, als Selbſtzweck, indem du den 
vollftändigen Zweck deiner Natur und, aller dei» 
ner Kröffte thätig beförderft, 

oder: 


Vervollkommne dich felbft und deine Kraͤffte. a 
z tes 


Metaphyſik der Sitten. 325 


Diefes Gebor erlaubt mir 5. B. nicht, meine Kräfe 
fe, vielleicht aus Bequemlichfeitsliebe, unausgebilvee 
zu laflen, meinem Talent die mögliche Cultur zu vers 
fagen, mic, auf einen engern Uebungsfreig meiner Für 

higkeiten einzufchränfen u. d. gl. 

Aber um einer gröffern Fähigkeit willen, eine ans 
dere verhältnismäffig weniger zu bearbeiten, bleibt mo⸗ 
ralifch zuläffig, in fofern ich eben daducch mich als Selbſt⸗ 
zweck noch wuͤrkſamer ehre. 

$. 415. 
Poſitive Gefellfchaftspflicht, 

Befolge nur folche Marimen, deren Allgemeingül⸗ 
tigfeit als Yraturgefes aller Vernunftwefen dir 
wollen kann — deren Gegentheil du unmoͤglich alsalls 
gemeingültig für das ganze Geifterreich erfannt und bes 
folgt wollen koͤnnteſt, 

oder: 

Behandle auch iedes Vernunftweſen auſſer dir, als 
Selbſtzweck, indem du feine Zwecke gefegmäfftg bez 
förderff, und fie in die —— deiner Selbſtliebe 
mit einſchließeſt, 

oder: 
Befoͤrdere die Vollkommenheit der Geſellſchaft vernuͤnf⸗ 
tiger Weſen. 

Nach dieſem Gebote waͤre es z. B. unedel, wenn 

icch mir nicht Faͤhigkeit zu groͤſſern Dienſten für die Ge— 

*3 ſell⸗ 


326 Maetaphyſik der Sitten, 


fellfchaft erwerben oder Gelegenheit dazu fuchen wollte, 
wenn ich aus Liebe zur Unabhängigkeit und DBequemlich- 
keit ein beſchwehrliches aber meinen Kräffter angemefles 
‚nes und gemeinnügiges Amt ausfchlagen over unwillig 
miederlegen wollte — geſetzt auch, daß ich meinem naͤchſten 

Berufe volle Gnüge thäre, wenn ic) nie mpeigpannhis 
wohlthaͤte u. f. w. 


Erlaubt wäre e8 gleichwohl, dieß zu thun, wenn 
ich mich fchlechrerdings fonft aufopferte , oder zu meinen 
nächften Pflichten mir Zeit und Kraffte dadurch raubte, 
und in ähnlichen Fällen. 

$. 416. 
Zwey Cardinaltugenden, : 

Den zwey allgemeinften Forderungen des Gitfenge- 
feres ($. 409. 410.) entfprechen eben fo viele “reine 
Cardinaltugenden d. i. allgemeine, rein a priori be⸗ 
fiimmbare, ſittlich richtige — und — 
weiſen nehmlich : 


3) Geerchtigkeit d. i. die Misbilligung und Nicht: 
befolgung aller derienigem Marimen , die fich als 
allgemeine Gefege ſelbſt widerfprechen und aufheben; 
die Vermeidung alles veflen, mas derWürde eines 
Dernunftwefens, als Zweck an fich ſelbſt, gerade 
zutoiderläuft ; die Vermeidung des Zweckwidrigen. 


2) Güte d. i. Billigung und Befolgung ſolcher Mas 
ximen, deren Allgemeingiltigfeit mit dem ganzen 
Willen übereinftimme; thatige Behandlung eines 

Wer⸗ 





Metaphyſik der Sitten, 327 


Vernunftweſens, als eines felbftfländigen Zwecks; 
eine allgemein zweckmaͤſſige Denfart und Hands 
lungsmeife. - 


$. 417. 
Die Tugend der Gerechtigfeit ifE negativ in Be⸗ 

zug auf den Zweck ‚ telcher dadurch nur nicht gehindert 
wird; Die Handlungen aber, die fie hervorbringe, find 
zivar auch großentheils negativd. h. Unterlaffungen deffen, 
was mich oder andere zerffören würde, aber zum Theil 
auch pofitiv 5. DB. bey der Wiedererftattung des Geftohl- 
nen, oder der Wiedergabe eines Depofitum, der ma Sg 
* meines Verſprechens. 


$. 418. 

Eben ſo iſt die Tugend der Guͤte poſitiv, wenn 
man auf den Zweck ſieht, den ſie befoͤrdert. Ihre 
Ausübung beſteht aber theils aus poſitiven Hands 
lungen z. B. geleiſteten Dienſten, mitgetheilten Ga— 
ben, theils aus Unterlaſſungen, wenn man z.B. 
fein firenges Recht gegen einen andern nicht verfolgt, 
um diefen nicht unglücklich zu machen, wenn man feine 
Schuld fordert. 


$. 419. 
‚Gerechtigkeit, Güte gegen ſich, — 
Jede dieſer Tugenden 6. 416.) hat nach den zwey 
unmittelbaren Anwendungen der beyden oberſten Geſetze 
auf die zwey Arten, möglicher Obiekte, eben io viele 
Zweige. Man unterfcheider s 
’ 4 1) Ge⸗ 


\ 


323 Metaphyſik der Sitten, 


1) Gerechtigkeit gegen fich felbft d. 1. negative An- 
erfennung feiner eignen Würde, als eines Zwecks 
on fich ſelbſt; Nichthinderung feines perfönlichen, 
nothwendigen Zwecks; Nichtzerfiorung- feiner Na> 
sur ; thätige Anerfennung des Vorzugs, den man 
fich ſelbſt, als obiettivem Zweck vor allen eignen zus 
fälligen, ſubiektivem Zwecken beylegen fol, iene 
nicht für Diefe. aufzuopfern, 


3) Gerechtigkeit gegen andere d, i. negative Aus 
erfennung der Würde iedes andern Dernunftwefens, 
als eines Zwecks an fichfelbft , wodurch ich fie nicht 

ausdrücklich verletze; Nichthinderung Des Zwecks 
der Gefellfchaft ; thätige Anerfennung der Gleich, 
beit anderer Vernunftweſen mit mir, als ſelbſtſtaͤn⸗ 
digen Zwecke und des Vorzugs ihrer Perfonen, ih— 
rer mwefentlichen Zwecke vor meinen zufälligen, ſub⸗ 
ieftiven Abfichten, iene Dielen nicht aufzuopfern, 


3) Büte gegen fidh felbft d, i. pofitive Anerfermung 
feiner eigenen perfonlichen Würde Durch ausdruͤck— 
liche Beförderung feines wefentlichen Zweckes, durch 
Vervollkommnung feiner vernünftigen Natur, durch 
Aufopferung feiner. zufälligen, fubieftiven Zwecke 
für Diefelbe, 

4) Güte gegen andere d. i, pofifipe Anerfennung 
der Perfönlichfeit eines ieden vernünftigen Weſens; 
der Gleichheit mis mir felbft, des Vorzugs derfels 
ben vor feinen eignen fubieftiven Abfichten, dieſe 
für Die Vollko mmenheit der Geſellſchaft En 

1.9429 





N 
\ 


E Metaphoſit der Sitten. 329 


= 


$. 420. 

Alle übrigen Tugenden fegen Erfahrungsbegriffe ent» 
"weder von befondern Dbieften, oder von befondern Hin— 
derniſſen der reinen Pflicht voraus, und koͤnnen daher 
“nicht a priori beſtimmt, fondern nur in einer empirisch 
' angewandten Moral erklärt merden 5. BD. a 
Keuſchheit, Feindesliebe— 


$. 421. 
Vier after, 


Die entgegenfiehenden DVerfündigungen und Laffer 
find unter folgenden Begriffen enthalten: 


1. Ungerechtigkeit; wenn ich ein vernünftiges Wes 


fen bios als Mittel behandle, wider feinen Zweck, 
wenn. ich den obieftiven Zweck um eines fubieftis 
ven willen ausprücklich verlege 


2. gegen mich felbft 
b. gegen andere 


ı 


2. Kicblofigfeit oder Mangel an Güte; wenn ich 
die vernünftige Natur als Zweck zu behandlen, uns 
terlaffe, Die obieftiven Zwecke derfelben um der ſub⸗ 
ieftiven willen vernachläßige, 

a. gegen mich felbft- 
ib, gegen andere. 
$. 422. 
Der negativen Tugend ſteht ein pofitives Laſter; 
dem negativen Laſter eine pofitive Tugend gegenüber, 
a den oben erflärten Begriffen, $, 417: fı 


& 5 $: 423, 


= 


330 Metaphyſik ver Sitten, 


6.423. 

Gerechtigkeit genen andere entfpringe eben: fo uns 
mittelbar aus derfelben Quelle, woraus Gerechtigkeit, 
‚gegen mich. felbft ihren Urfprung nimmt, nehmlich ans 
der Vorftellung von Der- unverlegbaren Würde eines vers 
* nünftigen Wefens. Die eine iſt alfo, wasdas Forma» 
le oder die Gefinnung betrift, ungertrennlich mit der 
andern verbunden, und kann Die andere nicht einfchräns 
fen, ohne fich felbft zu vernichten. Blos nach der reis . 
nen Vernunft beurtheilt, iſt die negative Gelbftpfliche 
($. 412.) und Die negative Gefellfchaftspfliht ($. 413) 
fich vollfommen gleih. ‘Denn bie reine Vernunft er» 
kennt zwifchen dem vernünftigen Weſen in meiner Per⸗ 
ſon und in der Perſon eines andern und dritten (wis 
ſchen Ich, Du und Er oder Sie) feinen Unterfchied a. 


$. 424. 

Güte gegen andere und gegen. mich ſelbſt ſtehn in 
demfelben Verhaͤltniſſe unter fih, wie die Gerecheigfeie 
gegen diefe beyden Dbiefte. Es ift fein. rein vernünf⸗ 
tiger Grund vorhanden, die poſitive Selbſtpflicht CS. 
414.) uͤber die poſitive Geſellſchaftspflicht ($. 415.) zus 
ſetzen. N; 

) ‘ $. 425. 

Die Gefinnung, einen Zweck zu befördern, fchließe 
nochwendigermeife die Gefinnung in ſich, ihn. nicht zu 
verlegen, Güte im moralifihen Sinne ift mit Ungerechtig- 
keit gegen irgend ein moralifches Wefen unvereinbar. 


BE der mich moraliſch beſtimmt, gerecht zu 
fenn, 





' Metaphyſik der Sitten, 331 


ſeyn, bringt auch die Geſinnung der Güte hervor, — 
einer gröjlern Mürffemfeis deſſelben. 


af S. 426. 

Moraliſche Guͤte ſetzt demnach uͤberhaupt genommen 
einen hoͤhern Grad der Wuͤrkſamkeit moraliſcher Grund— 
ſaͤtze voraus, als moraliſche Gerechtigkeit; Ungerechtig⸗ 
keit einen geringern Grad von Kraft der moraliſchen Ver— 
nunft, als Mangel an Güte, 


$ 427. 

Ungerechtigkeit gegen mich ſelbſt zielt auf Zerſtoͤrung 
meiner Perſon; gegen andere auf Zerflörung der Geſell⸗ 
ſchaft. Lieblofigfeit gegen mich, hindert mein eignes 
‚Sortfihreiten; gegen andere das wachfende Wohl der 
liget vernuͤnftiger Weſen. 


$."428. 

Wenn gleich die rein formalen Imperative (6. 4117 
415) fich gleich, Feiner. Kolifion und feiner Enefcheis 
dung darüber fähig find; fo find doch die marerialen 
Gebote, Die, Daraus entſtehen, von verfchiedener Natur, 
pon verfihiedener moralifcher Groͤſe und zuweilen in mög- 
lichem Widerſtreite. 

$. 429. 

‚Die Forderung der Serechtigfeit iſt i in allen ihren An⸗ 
ee und materialen Folgefägen vollfommen be- 
ſtimmt (lex obligans), unbegränzt durch phyſ. Hinderniffe 
und auf alle Fälle durchaus anwendbar. Die Forde⸗ 

Kung der Guͤte Dagegen iſt Bug BR beſtimmt, 
durch 


1 


332 Metaphyſik der Sitten. 


durch die Einſchraͤnkung der Kraft phyſiſch begraͤnzt, und 
die Faͤlle laſſen ſich nicht ſo genau feſtſetzen, wenn und 
wie in iedem derſelben der Guͤte Gnuͤge geſchehen ſoll. 


9. 430. 
Colliſion der Gerechtigkeit und Guͤte gegen 
mich und andere. 

Die Gerechtigkeit geht demnach immer der Guͤte vor 
d. h. eben dieſelbe Geſinnung, die einer moraliſch guͤti⸗ 
gen Handlung zum Grund liegt, erlaubt es nicht, das 
Materiale der Güte auszuüben, wo die Form der Ges 
rechtigfeit Dadurch verlegt würde, Die Vernunft vers 
bietet demnach j 


3) meine Erhaltung für fremden Vortheil, mein Wes 
fen zur Berbefferung eines fremden Zuftandes aufzu» 
opfern. Dieß märe Ungerechtigkeit gegen mich 
ſelbſt. 


2) einem andern zu ſchaden, ihn ganz oder zum Theil 
zu zerſtoͤren, um meines Vortheils willen, oder 
auch zum Vortheil eines dritten, wenn es auch 
viele wären. Dieß wäre Ungerechtigleit gegen ans 
dere, beydes unter dem Schein der Guͤte. 


Eie erlaubt — mic) für andere, oder für einen ans 
dern aufzuopfern, Denn nad) der reinen Vernunft find 
wir, ich und der andere, fich gleich, ch bin andern 
eben fo viel ſchuldig, als mir ſelbſt. CEmpirifche Ver⸗ 
nunftgruͤnde Fönnen das Urtheil abändern) PAR; 


Sie 


m J 
Metaphyſik der Sitten. 333 


Sie gebietet dagegen im Allgemeinen 


1) fremden Vortheil fuͤr die Erhaltung meiner Per⸗ 
ſon aufzuopfern. Dieß fordert die Gerechtigkeit 
gegen mich ſelbſt ‚ die dem Vortheil anderer vors 
geht. 


2) meinen Vortheil für die Erhaltung eineg andern 
aufzuopfern. Dieß fordert Die Gerechtigfeit gegen 
andere 


$. 431. 
Güte mit Güte, Recht mit Recht in Colliſion. 
Man darf zwar nicht ungerechf gegen einen einzigen 
fepn, um einem oder auch vielen andern zu mügen; ($. 
430.)5 aber wenn ' 
1) Die Erhaltung des Ganzen mifder Erhaltung eineg 


Theils, eines kleinen mitder Erhaltung eines gröffes 
ren Theiles in Colliſion kommt, fo gehe erfterevor. 


2) zur Erhaltung meiner Perfon iſt eg gerecht, eis 
nen Theil derjelben aufzuopfern. 


b) zu Erhaltung aller meiner Zwecke, einen. oder 
einige derfelben zu zerſtoͤren. 


c) zu Erhaltung einer fremden Perfon einen Theil 
von mir felbft, oder von meinen Zwecken aufzu-- 
„geben, 


'd) Zu Erhaltung mehrerer Perſonen, oder einer 
ganzen Gefellihaft, meine Perfon; zu Eis 
che- 


334 Metaphyſik der Sitten. 


cherung ihrer Zwecke meine eignen perſoͤnlichen 
Zwecke zum Theil aufzuopfern. Wenn 


2) die Vervollkommung oder der Vortheil eines Gan⸗ 

zen, mit der Vervollkommung oder dem Vortheil 

eines Theiles in Widerſtreit kommt: ſo geht das 
Ganze vor. Folglich iſt es Pflicht der Güte 


2) Vervollkommung meiner ganzen Perfon, einer 
einzelnen zu erlangenden Vollkommenheit; meiz 
nen ganzen Zuffand, einem Theile meines Wohls 
vorzuzichen: 


b) Eben fo auch in Anfehung einer einzelnen frem⸗ 
den, Derfon, ihrer ganzen Vollkommenheit und 
einem Theil derfelben. 


c) Fremde ganze Vollfommenheit fol ich befördern 
mit Dernachläffigung eines Theils der meinigen. 


d) Die Vollkommenheit und der Vortheil mehrerer, 

\ einer ganzen Gefellfchaft, mie. vernachläßigter 

Befoͤrderung der Bollfommenheit und Vortheils 
meiner eignen einzelnen Perfon. 


©) Gemeinnügigfeit geht der Beförderung meines 
eignen Nugens, oder des Vortheils eines einzels 
nen, oder auch einiger wenigen iederzeit vor. 


Das Gemeine Befte ift nicht die Grundlage zu den 
Pflichten der Gerechtigfeit, gegen melde es ganz und 
gar nicht in Anfchlag kommt, fondern nur die einſchraͤn⸗ 
fende Yedingung der ausdruͤcklichen und frepmilligen 

R (di. 





8 Maetaphyſik der Sitten,‘ 335 
»(d. 5 durch feinen Vertrag fchuldigen) Beförderung 
meines eignen ſowohl, als fremden Vortheils. Sonſt 
waͤre es wohl gemeinnützig — Reiche zu beſtehlen 

Annd die Armen damit zu beſchenken, andere zu gemeins 

nüßigen Handlungen zu zwingen, movon.fie nicht übers 

zeugt fi Ind, “und wozu fie fich nicht verbindlich gemachs 
haben. 


Ein allgemein gefetsgebender Wille wuͤrde dieß alles 
aljo beſtimmt haben. 


$. 432. 
Letzte Entſcheidung. 

Wo dieſe Eutſcheidungsgruͤnde nicht auslangen, 
wenn z. B. meine Erhaltung und die Erhaltung eines 
andern Einzelnen in Colliſion kommen, wo die reine 
Vernunft keinen Unterſchied anerkennt, da iſt es mora⸗ 
liſch recht, ſubiektive und empiriſche Entſcheidungsgruͤn⸗ 

de der Vernunft gelten zu laßen, die ſich auf Begriffe 
von der Größe der Zwecke und der Mirtel a ae 
laßen. Fi 


$. 433. 
Regeln für die Iwede, 
"Subordinire die Zwecke, nach ihrem Naturverhaͤlt⸗ 
niffe. Behandle die mittleren Zwecke als Mittel 
ed h. mache fie nicht zum Selbſtzweck. Bezieheie- 
de Handlung auf den oberfien Zweck. Morali—⸗ 
We kinfal, 9 9 


Co⸗ 


336 Metaphyſik der Sitten. 


Coordinire die Zwecke d.h. verbinde alle möglichen 
Zwefe in deiner Handlung zu einem Totalzweck. 
Allfeitige Handlungsart. \ 


Subordinire die coordinirten Zwecke nach ihrer 
Wichtigkett d. h. nach ihrem Verhältniße zu dem 
oberfien und Hauptzwecke. Ziehe den Nebenzweck 


nie dem Hauptzwecke vor. Verhältnißmäſſige 
Handlungsart. 


6. 434 
. Der univerſale Zweck ($. 283.) geht dem blos ge- 
nerellen, diefer den individitellen vor. Vernunft — 
Menfchheie — dieſer Menſch — 


1 


2. Der negative dem pofitiven; ver legfere wird» 
durch den erfiern (Güte durch Gerechtigkeit) limi⸗ 
tirt und vollfommen beſtimmt. 


3. Der mefentliche Zweck d. i. die Vollkommenheit 
der Perfon geht dem zufälligen Zwecke d. i. der 
Vollkommenheit des Zuffandes vor, der letztere muß 
dem erftern (Glückfeligkeit der Vernunftmaͤßigkeit) 
negativ fubordinire werden. Der höchite iſt der 
vollftändige Totalzweck — Sittlichfeit und Wohl 
ſeyn aller Vernunftweſen in Harmonie, welche eben 
durch) iene Vereinigung: befördert wird. 


4. Der abfolut nothwendige Zweck ift dem blog bes 
dinge nothiwendigen, wuͤrklichen; dieſer aber den 
blos problematiſch möglichen vorzuziehen. ° 


6. 435. 





le - 5 — 


4 
* 


Metaphyſik der Sitten, 337 


435. 

Unter den zufälligen Zwecken mird die Wahl * 
ihrer intenſtven, extenſiven und protenſiven Groͤße ver- 
nuͤnftig beſtimmt. Das ausgebreitete, inneruch⸗ 
große, mit vielen andern Guͤtern verbundene, ih⸗ 


nen am wenigſten hinderliche und Dauerbaftefte Gut 


erhält, fofern die Vernunft ihre Würffamfeit dabey ber 
weiſt, vor Guͤtern von niederm Werthe immer den Vor⸗ 
zug. Moralitaͤt d. i. Uebereinſtimmung mit der Ges 
rechtigkeit und Güre legt ieder ſolchen Wahl zum 
runde, 


8.436, 
Wahl der Mittel, 

Unter den Mirteln zu Beförderung diefer pflichtmaͤf⸗ 
figen Zwecke, waͤhlt der Vernuͤnftige dasienige, welches 
- 2) vergleichungsweiſe die meiſten und wichtigſten Zwe⸗ 

cke (fruchtbar) 
2) am vollkommenſten d. i. ohne etwas Zweckloſes 
und Zweckwidriges (fparfam, paffend) 


3) am würdigften, fleigend, den Vexhaͤltniſſen ange⸗ 
weſſen, und 


4) auf die ſicherſte und bleibendfte Weiſe befördert, 


$. 437. 

Eine iede (materiale) Handlung hat einen mannigfal⸗ 
tigen Innhalt, und kann in verſchiedenen Verxhaͤltnißen 
betrachtet werben. Sie laßt ſich daher unter perſchiede— 

Moralphiloſophie, J ne 


/ 


338 Meraphnfif der Sitten. 


ve moralifche Gebote fubfumiren und kann nach, verfchledes 

nen Beziehungen theilg zu dieſer, theils zu iener Pflicht 
gerechnet werden. So fann manche Handlung, men 
man die Data unvollffändig nimmt, blos auf Rechnung 
der Güte gefet werden, die, wenn man alle Umſtaͤnde 
in Betrachtung zieht, fich als Forderung der ſtrengen 
Gerechtigkeit erweiſen laͤßt. 


Reine Ascetik 
oder 
Merthodenlehre der reinen praktiſchen SR | 


$. 438. 
Keine Ascerif. 

Die reine Ascetik ($. 263. Num. 3.) over dieAn, 
leitung zur Tugend oder zur moralifchen Ausübung des 
Eittengefeges , enthält bieienigen — und Grund⸗ 
ſaͤtze 
1) uͤber die ſubiektiven Bedingungen der Tugend; 

2) über die fubieftiven Hinderniſſe derfelben; 
3) über die allgemeinen Mittel, Diefe Hinderniße weg> 
zuräumen, 
die als allgemein und nothwendigerweiſe gültig für al» 
le endliche vernünftige Weſen erfannt werden. | 


$. 439. 
Subieftive Tugend. 
Subieftive Tugend befteht in der Uebereinffims 


mung der Wuͤrt ſamteit aller Kräfte eines endlichen ver- 
nuͤnf · 





ur 


‚NW 


Metaphyſik der Sitten. 339 


nuͤnftigen Weſens zu einer dem fittlichen Princip gemaͤſ⸗ 


fen Handlungsweife, oder in dem Beyſammenſeyn der⸗ 

ienigen Beftimmungen, durch welche die Xeufferung der 
Moralitaͤt ihm moglich if 

a an Mal 0 

Diefe Möglichfeit ift hier nicht als eine innere und 


ehrt zu denfen, die in der Freyheit hinlängfich ges 


gründet ift, und welche auf gar feine Meife hervorge- 
bracht werden kann, fondern als eine äuffere und bedinge 
fe; nicht als eine logiſche, fondern als eine reale, 


SG: 4441. Paar $ 

Die) Form der Moralitaͤt ift bey jedem vernünftigen 
Wefen vorhanden, nehmlich Das reinvernünftige Git- 
tengefeß ; die ſubiektive Tugend beruht demnach auf der 


a Beſchaffenheit des innern Stoffs ($. 247.) der Hand⸗ 


lungen — der Vorffellungen, Gefühle und Begierden 
— umd auf dem Verhaͤltniß deffelben‘ zu iener Form, 
modurc Die Bearbeitung deffelben erleichterewird, oder 
auf der moralifchen Freyheit. $. 227. 


$. 442. 

Diefer innere Stoff iſt uns zwar durch die Natur 
unfrer Sinnlichkeit (Naturell, Temperament, Ge 
müchsart) urfprünglich gegeben, und durch den Ein- 
Fuß äufferer Urſachen, als der Gegenſtaͤnde, der Erz 


® ziehung, des. Benfpiels ohne unfer. Zuthun zu einer. ges 


willen Sinnesart näher beſtimmt und gebilder worden. 
Allen er iſt auch Durch Selbſtthaͤtigkeit veränderlich, 
| N u. In 


340 Metaphyſik der Sitten. 


In dieſen letztern Modifikationen des moraliſchen Stoffs 
beſteht — Tugend. 


$. 443. 
Subiektive Bedingungen der Tugend, 
Ihre fubiefeiven Bedingungen find demnach 

3) Entwicklung der Vernunft bis zum (deuflichen 
- und beftimmten) Bewußtfeyn des abfoluten Gefe- 
Bes und Zweckes. Denn ohne diefe Vorfiellungz 
fehle.es dem endlichen Vernunftweſen (dem Mens 
fchen) an dem erften Worderfag (Dberfag) in dem 
Schluße, der einer ieden moralifchen Entjchlieffung 

zum Grunde liege, an Richtfchnur und Ziel. 


2. Entwicelung des DVerffandes zu einer richtigen, 
beftimmten und ausgebreiteten Kenntniß (des auf- 
fern Stoffs d. i.) der Verhältniße, in welchen es 

moraliſch handlen kann und fol. Diefe Erfennt- 
niße geben iedesmahl den zweyten Vorderſatz (Unters - 
os) in dem gedachten Schluße. 

3) Entwicelung der moralifchen Urtheilgfraft, die 
beyden Arten moralifcher Kenntniße unter ſich zu 
einen richtigen Schluße zu verbinden, und um 
Des Verhaͤltniß Der Zwecke unter fih und zu den 
‚Mitteln recht zu beſtimmen. 






4) Kenntniß der Mittel, dieſe Vorftellungen (Num. 
1,3) zu immerwaͤhrender Anwendung gegenwareig 
zu erhalten. 


5) Fertigkeit im Gebrauche dieſer Mittel. 
6) Cul⸗ 


Metaphyſik der Sitten, 34£ 


6) Eultur des firelichen Gefühles, um alle andere 
Zriebfedern des Begehrens dem moraliſchen Motia 
ve zu untermerfen, 


$: 444 
- Subieftive Hinderniße der Tugend. 
Die fubiefriven Hinderniße der Tugend find theils inne; 
ve und unmittelbare, nehmlich Kanne =” 


1) Mängel der moralifchen Einfiht, der Kenutniß 
Yon dem Stoffe der Handlungen, und der einig 
Urtheilskraft. 


2) Maͤngel und Einſchraͤnkungen des ſittlichen Ge⸗ 
fuͤhls, im Verhaͤltniß zu andern Gefuͤhlen. 
theils aͤuſſere, und mittelbare d. i. aͤuſſere Lagen und 
Verhaͤltniße, worinn iene innern Mängel menigz 
ſtens zum Theil ſich gruͤnden. 
(Auf die intelligiblen Hinderniße, auf urſpruͤngliche 
Schranken der Vernunft und ihrer Wuͤrkſamkeit, laͤßt 
ſich in der Ascetik keine Ruͤckſicht nehmen, weil wir nur 
eine allgemeine Idee, aber Feine Kenntniß davon befisen), 


$. 445: 
Zugendmittel, 


. Die. Mittel, Tugend bey einem endlichen Vernunft» 
weſen zu befördern, müßen alfo, von der Art ſeyn, daß 
ſie R 


93 | 1) die 


342 Metaphyſik der Sitten, 


3) die moralifihe Erfenntniß berichtigen und erwei— 


tern; dem ſittlichen Gefichtgfreiß : * Umfang 
und Helle geben. 


2) das moralifche Gefühl fäutern und erhöhen. 


3) Die äuffern Urfachen , welche iene Erkenntniß, fo 
wie dieß Gefühl einfchränfen, ——— oder ver⸗ 
mindern. 

$. 446. 


Da dieſe Tugendmittel durchaus angemeffen ſeyn 
muͤßen der iedesmahligen Stufe der Ausbildung und dem 
äuffern gegebenen Würfungsfreiße eineg jeden Vernunft- 
weſens, da ihr näherer Grund in den natuͤrlichen Wür- 
fungsgefegen des ganzen Vorftellungs- Erfenntniß = und 
Begehrungsvermögens nach ihrer genauften Beftimmung 
enthalten ſeyn muß, hiervon aber Feine allgemeine Ers 
kenntniß a priori möglich ifb, fo Fönnen die beftimmten 
Tugendmittel für den Menfchen nur auf empirifch = pfy- 
chologiſche und vornehmlich thelematologiſche Grundre- 
geln gebaut, und in der praftifchen Anthropologie (den 
dritten Haupttheile neancher Unterfuchungen) prattiſch 
gelehrt werden. S 


9447. 
Grade, ! 
Die fubieftive Tugend hat nothwendigerweiſe gewiſſe 
Grade; diefe werden beſtimmt 
1) nach ihrer Reinheit und Lauterkeit 
2) nach ihrer Stärfe j 


/ 


3) nach 





Metaphyſik der Sitten. ‚343 


3) mach ihrer Ausbreitung über eine engere oder wei⸗ 
tere Spähre 
4) nach ihrer Dauer. 
$. 448. 

Der tugendbafte Charakter erfcheint und zeichnet 
fich überhaupt vor ieder andern Denfungs und Ginnegs 
weiſe fubieftiv aus, 

T)durd Große und Hoheit; im u eingefchränfs 
ter Gefinnungen. 

2) durch. Stärfe und Krafft — — Hinderniſ⸗ 
ſe zu beſiegen. 

3) durch Selbſtſtaͤndigkeit Freyheit und — 


4) durch Feſtigkeit. 


Dieſe vier Beſtimmungen geben dag Ziel des moralis 
ſchen Beftrebens ar. 


94 Drits 


344 Angewandte Morals‘ 





Dritter Haupttheil. 
Praktiſche Anthropologie 
oder 
Angewandte Moral 


* | 
§. 449. 
Angewandte Moral, 
Die. Angewandte Moral trägt dieienigen mora⸗ 
liſchen Wahrheiten fnffematifch vor, welche die Anwen⸗ 
Dung der allgemeinen und reinen Grundfäge auf die _ 
Natur und Lage des Menfchen möglich machen. 


v 


Sie beruht, fofern fie moralifch ift, auf reinen Vers 
nunftprincipien; fofern fie Anwendungen davon auf ei» 
nen durch Erfahrung gegebenen Gegenitand (den Men— 
ſchen) machen fol, auf empirifchen Kenntniffen von dem⸗ 
felben, und ift alfo eine gernifchte, — reine, theils 
empiriſche Wiſſenſchaft 

$. 450. 
| Ihre Theile, 
Sie enthält 
1) eine_angewandte Ethik oder eine Theorie der 


menſchlichen Pflichten, Tugenden, Sünden und 
gofter, 


Bam. 





Angewandte Moral, 345 - 
5) angewandte Aſcetik oder eine Theorie der ſitt⸗ 


lichen Erziefung des Menfchen zu Erfüllung ders 
felden, oder der menfchlichen Tugendmittel. 


$. 451. 
Allgemeine, ſpecielle, praktiſche Anthropologie, 


Die Lehren der angewandten Moral beziehen ſich 


entweder auf die allgemeine Natur und Verhaͤltniſſe 


des Menſchen Oder auf die zufälligen Beſchaffenheiten 


— 


und Verhaͤltniſſe der Menſchen. Der vollſtaͤndige Plan 


(der ſich aber hier nicht gänzlich ausführen laͤßt — ) 


waͤre 
1. Allgemeine praktiſche Anthropologie, 
a. Ethif. b. Aſcetik. 
2. Specielle praltiſche Anthropologie, 
a. Specielle angewandte Erhif. 
b. Specielle angewandte Afcetif, 


Allgemeine praftifche Anthropologie, 
Erſter Abſchnitt. 
Allgemeine einpirifche Erhif oder Sittenlehre 
für den Menſchen. 


§. 452. 
Anordnung. 

Die Abhandlung der Pflichten wird in der empiri⸗ 
ſchen Ethik fuͤr die Anwendung am zweckmaͤſſigſten ge⸗ 
ordnet nach den Obiekten, in Anſehung derer ſie in 

95 con· 


1X 


346 Angewandte Moral. 


conereto ausgeuͤbt werden, und weil hier Pflichten der 1 
Gerechtigkeit und der Güte ($. 416.) unmittelbar an 
einander gränzen „ fo werden Die Regeln, welche fih 
Darauf gründen, mit einander verbunden, doch fodag 
ihr mwefentlicher Unkeale® noch immer bemerkbar | 
bleibe. 


$. 453. 
Berhätini der empirifchen Val äh 
zu den reinen. 


Da Eine Handlung fih nicht nur anf mehrere Pflich⸗ 
ten, ſondern auch auf mehrere Obiekte bezieht, und 
daher die Anwendung von mehr als Einer materialen 
Regel fordet, die ſich wechſelſeitig einander einfchränfen . 
fo iftes unmöglich, daß irgend eine empirifche Vorfchrife 
alfe dieienigen Beſtimmungen ausführlich angebe und 
enthalte, welche erforderlich wären, wenn fie für ſich 
ſelbſt dem reinen Gefege gänzlich entfprechen follte. Gie 
bezeichnen nur im Allgemeinen mögliche Arten, iene 
Gefege in empirifche Ausübung zu bringen. "Die für 
iedesmahl würfliche Pflicht muß nach den Gefegen der 
reinen Erhif beſtimmt werden. ER. 


$. 454. 
Eintheilungsgründe  - 

Der erfte Eintheilungsgrund der angemandfen Ge 
bote wird: von den perfönlichen Hbieften d. i. den ver- 
nünftigen Wefen hergenommen; die weitere Abtheilung 
gruͤndet ſich anf die Verfchiedenheit der nicht perſönli⸗ 

chen 





Angewandte ‚Moral, 447 


chen: Gegenftände,, welche wiederum theils innere, 


| theils auffere Dbiefre oder Werkzeuge der Perfonen felbft 


‚find. © END 
$. 455. ur 
“u Perfönliche Obiekte. 
Die perfönlichen Obiekte (6. 454.) find 
—N Nich ſelbſt, Die handelnde Perſon. 


) andere vernünftige Wefen, mit denen ich in (rea⸗ 


ler oder idealer) Verbindung ſtehe, als 
a) mein. Nebenmenſch 
‚ b) die Gottheit. 
Dieſen allen muß ich, Gerechtigkeit und Güte wiederfah⸗ 
ren laſſen, fo weit fie derjelben empfänglich find. Wir 


„bandlen demnach 1) von den Selbſtpflichten. 2) von 


den Pfüchten gegen andere Menfchen. 3) gegen die 


„Gottheit. 4) von der Verbindung dieſer Pflichten un» 


ter ſich ſelbſt. 


| * * T FR §. 456. 


Nichtperſoͤnliche Obiekte. 


Die nichtperſonlichen Gegenſtände find 
a 1) innere d. i. Praͤdikate der Perfonen 


a. wefentliche Eigenfchaften und Keäffte ;. B. 
Verſtand. 


b. — modi der erſtern. z. B. 
Klugheit, einzelne Thaͤtigkeiten. 


2, Auf 


_ beobachten ). Vorerſt würde 


’ 


348 Angewandte Moral; 


2) äuffere d. i. Dinge, die im Verhaͤltniße zu den -' 


innern ſtehen; Werkzeuge, Mittel, Dbiefte der 
Zhätigfeit z. B. Vermögen, Ehre, Sreunandaf, 
Macht u. d. gl. 


a. wejentliche + zufällige, 


$ 457. 
In einer ausführlichen Abhandlung der menfchlichen 
Pflichten wäre es zwecfmäflig, folgende Stuͤcke uͤberall zu 


I) die Pflicht ſelbſt rein dargeſtellt; dann 

2) durch reine Bernunffgründe bemiefen. 

3) würden die vornehmſten Dbiefte und Deranlaf 
fungen ihrer Anwendung angedeutet. 

4) ihr Umfang und ihre Gränzen möglichft beſtimmt. 

5) die daraus entfiehenden Tugenden erklärt. 

6) ihr Unterfhied von den Scheintugenden angege; 
ben. 

7) die verfchiedenen Grade der Reinheit im Allgeneis 
nen beftimmt. 

8) die Schwürigfeiten, Hinderniffe und Unannehm⸗ 
lichkeiten, fo wie 

9) die entgegenftehenden Reize und Vortheile, als 
zufällige Antriebe auseinander geſetzt. 

30) der Begriff von den gegenüberftehenden Verſuͤn⸗ | 


digungen und Laſtern entwickelt. 

J 11) ih⸗ 

In dieſem Lehrbuch kann dieſe Aus fuͤhrlichkeit nicht 
Natt finden: es koͤnnen vielmehr nur Winke und Bey⸗ 
feisie gegeben werden. Dis djeſen Entwurf erlaͤutern. 





— — 





Angeln andte Moral, 349 


11) ihre Veranlaſſungen, Reize, Vortheile, Ent⸗ 
ſchuldigungen und Beſchoͤnigungen ohne wohlge⸗ 
mehnte Unredlichkeit dargeſtellt. 

2) ihre Verlarvungen in die Geſtalt des Erlaubten 
und Pflichtmaͤſſigen aufgedekt. 

33) die nachtheiligen Folgen des Laſters als zufällige 

und beyhelfende Gegenmitrel — und end⸗ 
lich werden 


14) Regeln der moraliſchen Klugheit in Erfuͤllung 
der Pflichten, mit den ſittlichen Borfipeiften ſelbſt 
verbunden⸗ 


Selbſtpflichten. 
er 6 
| Begriffe, 
Selbſtpflicht ift iede Handlung, deren Beweg— 
grund Die Vorfiellung von meiner Perfon, als Zweck 
an ſich ſelbſt ift, in. fo fern er es ift, x 


# 


1.0459. 
Beweißgrund. 
Der Beweißgrund dieſer Pflicht liegt in der al» 
gemeinen Formel des moraliſchen Geſetzes, angewandt 
auf mich felbft, als ein vernünftiges Weſen; nach der 
nähern Beſtimmung in $. 412, u. 414. 


$. 460. 


— 


350 Angewandte Moral. 


ne $. 460. Erg 
Tugend der Selbſtſchaͤtzung. 

Die Gefinnung / welche diefer Pflicht entſpricht, ift 
Selbſtſchätzung d. i. Achtung für fich ſelbſt, alssein 
vernünftiges Weſen und Selbſtzweck, für die Menfhe 
heit in feiner eignen Perfon. Eine Tugend, die aller ' 
Selbſtpflicht zum Grunde liegt. 

$. 461. | \ 
Eigenliebe, Eigendünfel, 

Das Princip diefer Tugend beſtimmt ihren Unter 
ſchied von gewiſſen andern Gefinnungen, welche öfters 
ihrem Innhalte nach (material) ähnliche, Handlungen herz 
vorbringen, nehmlich | 

1) von der Eigenliebe oder dem Solipſismus, oder 

dem über alles gehenden Wohlwollen gegen fich felbft , 
2) und vondem Eigendünkel (unedlen Stoß), d. i. 
dem umbegränzten Wohlgefallen an fich felbft — 
die fich beyde auf efwag anderes, als auf feine 
vernuͤnftige Natur beziehen und gründen, und dar 
ber auch weder über alle vernünftige Naturen in 
gleichen DBerhältniffe ausbreiten, noch aud) iene 
richtige Unterordnung und Proportion zwifchen der 
. Sorge für die Würde und für die Erhaltung und 
Bervollfommmung der Perfon und für ihren zu⸗ 
fand") beobachten. van 
Der 
*) Mein Zuftand iſt alles, mas ich nicht bin, ſondern 


mar ich babe oder genishe, Modifikationen von anfien, 
Shirjale. 9— 





| Angewandte Moral, 351 


Der edle Stolz auf feine Menſchenwürde kann 
feiner Natur nach fh nicht auf fich felbft — 
an 

Der Eigendünfel ehrt nur fihz andere hoͤchſtens nur 
um ſeinetwillen. Ein Menſch, der ſich moraliſch ſelbſt 
ſchaͤtzt, ehrt ſeine Vernunft, nicht weil ſie ſein, ſondern 
weil ſie Vernunft iſt; er ehrt ſich um der Vernunft file 
len, andre Menfchen aus Demfelben Grunde. 
6. 462, 
Grad der Reinheit. 

Je weniger Einfluß irgend etwas anderes, auſſer 

der Vorſtellung, daß ich Zweck an ſich ſelbſt bin, auf 
Die mich ſelbſt angehenden Handlungen hat; ie mehr ſich 
alle diefe Handlungen auf meine ganze und hoͤchſte Bes 
ſtimmung beziehen; ie richtiger ich Die Perfon ihrer Wuͤr⸗ 
de, den Zuftand der Perfon, und die Mittel dieſes Zu⸗ 


ſtandes (des Wohls) dieſem ſelbſt unterordne; ie weis 


ger ich mir deswegen wohl will, weil ich ſelbſt es bin; 
ie mehr ſich im Gegentheil meine Selbſtſchaͤtzung auf 
Vernunft gruͤndet und in ihren Wuͤrkungen darauf ab» 
zweckt; — deſto aͤchter und reiner iſt Diefelbe, . 
$. 463. 
- Negative, pofieine Selbſtſchaͤtzung, 
Die Selbfifhäzung iſt 
1) negativ. Gerechtigkeit gegen mich ſelbſt — 
Daß ich mich nicht ſelbſt verachte und herabwuͤrdige, 
daß ich meiner eignen Menfchenwärde nicht aus⸗ 


drücklich zuwider handle, $. 419. Rum. 1. 
2) po⸗ 


I 


352 - Angewandte Moral, 


2) poſitiv; Güte gegem mich ſelbſt — Daß ich meis 


ner Würde gemäs handle, . fie Durch Handlungen 
(mir und andern) offenbare. $. 419, Num. 3. 


S 464, 
Gerechtigkeit gegen mich felbft, 
Die negative Selbſtſchatzung ($. 463. Nun. 1.) 
begreift in fih 


3) Erhaltung der perſönlichen Würde — daß 
ich weder durch Urtheile noch durch äuffere Hand- 
Iungen ein vernünftiges Weſen (eine Perfon), wie 
ich felbft bin, zum bloßen Mittel herabmürdige, dag 
zu Befriedigung irgend eines finnlichen Verlangeng, 
zur Bewürfung eines blos finnlichen Guts oder zur 
Abmwendung eines blos finnlichen Uebels beſtimmt 
waͤre; wider feine wefentlichen, (durch Vernunft 
. beftimmten) Zwecke. $. 472. | 

2) Selbfierbaltung, feiner Perfon d. i. Erhaltung 
der Summe. von Kräften und ihrer Wuͤrkſamteit, 
die zu dem Subiekt meiner Perfönlichfeif ‚gehören. 


| 3) Selbfifyonung d. i. Unterlaſſung alles desie⸗ 


nigen, was meinen perfönlichen Zuſtand D. i. mein 

Wohl um Ganzen verminderf. 
Die Selbſtvertheidigung ». i. der thaͤtige Wider⸗ 
7 Fand gegen alles, was meine perfönliche Vollkommenheit 
einſchraͤnkt und mein Wohl zerfiört, iſt eine Folge der 
” Pflicht, ſich ſelbſt zu erhalten und feiner ſelbſt zu fcho- 


Ben, 
5. 465. 





Angewandte Moral. 353 


| $. 465. 
Guͤte gegen mic) felbft. 
"Die pofitive Selbfifhägung (6. 463. Nun. 2.) 
umfaßt 

3) Erhöhung meiner perfönlihen Würde d. i. 
pofitive Anerfennung der Würde eines ieden Ders 
nunftwefens, dergleichen ich felbft bin, Durch frene 

Beförderung feiner Zwecke. 


2) Selbfivervolllonmnung meiner Perfon d. i. 
Beobachtung deſſen, was meine perſoͤnliche Krafft 
verſtaͤrket und ihre Wuͤrkſamkeit vermehrt; freye 
Befoͤrderung meiner weſentlichen Naturzwecke. 


3) Selbſtbeglückung d. i. thaͤtige Bemuͤhung, mei⸗ 
nen perfonlichen Zuſtand zu verbeſſern, mein Wohl 
zu vermehren. \ 


$. 466. 
ei! * Selbſtliebe. 

Die Pflichten der Selbſtſchonung ($. 464. Num. 
3.) und der Selbſtbeglückung ($. 465. Rum. 3.) koͤn⸗ 
en zufammen genommen Pflichten der Selbftliebe 
heißen, weil fie fih ver Materie nach, obgleich nicht als 
Pflichten ihrer Form nach, auf die menfchlichen Neigun- 
gen, beren Junbegriff Selbftliebe heißt, gründen. *) 

Re $. 467. 


”) Wenn man es den Menfhen zur Pflicht macht, freme 
de Gluͤckſeligkeit zu beſorsen, weil fie ein fubiektiver 


: Zweek 
Moralphiloſophie. 3 a 


+ 


354 Angewandte Moral, 


$. 467. 
Verhaͤltniß zu den Neigungen, 

Die mehreften diefer Pflichten ftimmen in den mei- 
ſten Zällen mit den eignen Neigungen zuſammen weil 
fie die Glückſeligkeit deſſen befördern, der fie beobachtet. 
Gleichwohl leidet auch durch diefe Pflichten die Selbſt— 
liebe öfters einen empfindlichen Abbruch; die vernünftig 
bearbeitete, Fluge Gelbftliebe fogar, ſofern die Würde 

' | und 


Zweck der vernünftigen Wefen ift,, ſo iſt es dem vollkom⸗ 
nen gemas , die Erhaltung und Vermehrung feines 
eignen Wohlfenns ebenfalls als Pflicht vorzuftellen. 
Die Berbindlichfeit dazu kann freylich nicht 
unmittelbar und mefentlich auf meiner Selbfilsebe ber 
ruhen. Meine Gluͤckſeligkeit kann alſo auch weder 
Das einzine, noch dag höchfte, aber Doch ein unterge— 
ordnetes Ziel meiner fittlichen Handlungen fenn. Die 
Regeln zu Erlangung der Gluckfeligkeit, find 
feine Sittengefere, furfih betrachtet; aber die 
Hegel, die mir die Befolgung der beften, mir bekann- 
1e, Anmeifungen zur Gluckfeligkeie unter gewiſſen Eins 
fchranfungen gebietet , iſt allerdings ein Girtengefer. 
Es ift frenlich ein ſchaͤdlicher Irrthum, den Kant un- 
ftreitig recht hatte, aus allen Kräften zu beftreiten, 
wenn man die Pflicht ihrem Wefen nad) vonden 
Neigungen abbangig macht 5 aber nicht minder. Irrthum 
und für die Moralitat Cſubiektiv) nicht weniger fchäd- 
lich iſt es, wie michdunft, es sum mefentlichen Merk⸗ 
mahl einer Pficht zu machen, daß fie mit den Gegen 
fanden und Zwecken der Neigung nirgende, auch in 
ihrem Materiale, zufammentreffe. Das heift, der 
finnlichen Natur alles Necht, und der Tugend alle Gunſt 
bey den Menſchen entziehen. Durch die unten anzuge— 
benden nähern Beftimmungen dieſer Pflicht, werden 
die Bedenklichkeiten der Erengen Moralifien wegge— 
xaͤumt werden. — Diefift meine Ueberzeugung, und 
fchon dadurch iſt dieſe Erklärung vor mir und vor parthey- 
lofen Richtern gerechtfertigt , wenn fie auch nicht, wie 
ich doch menne, mit dem Geifte der Kantiſchen Phi— 
Ioferhie uͤbereinſimmte, deren Buchftaben fie mi- 
derfpricht M. vergl. Kants Grumdl, z. e. Mer, der 
Sitten ©; 47. Crit. d. pr. Vern. S. 167. 





' Angewandte Moral, 355 


und. die Erhaltung der Perſon mit Erhaltung und Er- 

höhung. ihres angenehmen Zuſtandes collidirt; Die rohe, 
thörichte Selbſtliebe noch öfter, weil das im Ganzen (res 
fativ) Gute öfters mit dem Gegenſtande einer gegenmär« 
tigen Begierde oder eines wirkffamen Affefts, einer 
Neigung oder Leidenſchaft in Collifion kommt. Die 
Gränzen der Selbfiliebe find weiter, als die Gränzen, 
welche Die Vernunft dem Beſtreben, fuͤr ſich ſelbſt zu ſor⸗ 


gen, anteifet, Die Unterordnung Der Zwecke nach Ge 


* 


ſetzen der reinen Vernunft weicht öfters von derienigen 
ab, welche den natuͤrlichen Trieben oder den angewoͤhn⸗ 
ten Neigungen angemeſſen wäre, und Die von der blos 
empirifihen Vernunft relativ gut befunden würde, 


Sich ſelbſt ſchaͤtzen — erhebr überdas Urtheil der Welt, 
und fich Die Achtung für fich ſelbſt erhalten, ift ein Troſt 
bey iedem Uebel des finnlichen Lebens, Des Menfchen 
eignes Wohl beruher großentheils auf ſeinem Willen, 


und das Bewußtſeyn, es fich ſelbſt durch Vernunft er» 


worben zu haben, erhoͤht den Genuß, 
| .468. 
WVrcerletzungen der Selbſtpflicht. 
Die Selbſtpflicht wird verletzt durch alles das; 


ienige, was der ſchuldigen Selbſiſchaͤtzung widerſtreitet, 
alſo | 


3) die negative, durch Ungerechtigkeit gegen 
mich ſelbſt⸗ i 


FE 83 a. durch 


* 


356 Angewandte Moral, 


a) durch Verläugnung meiner Menſchenwürde; 
Selbſterniedrigung, pofitive, moralifche Nieder- 
traͤchtigkeit — im Urtheilen — in Behandlung 
meiner Selbft und anderer Menfchen. 

b) GSelbfizerftörung meiner Perfon, aller oder 
eines Theils meiner Kräffte. 

e«) aftive. 


PR) paffive d.i. durch unterlaſſene Selbſtver⸗ 
theidigung. 


c) Selbſtbetrübung, Zerſtoͤrung feines eignen 


Wohlſeyns — aftive — paſſive. 


2) Die pofisive Selbfipflihe, durch Wfangel an 
Selbſtgüte. 
a) Unterlaſſene möglichſte Darlegung mei⸗ 
ner Menſchenwürde, in zweckmaͤſſiger Be⸗ 
handlung meiner ſelbſt und anderer, 


b) Dernadpläffigte Bildung, Bearbeitung, Er» 
höhung feiner eignen perfönlichen Kräffte ; uns 


terloffenes , eingefchränftes Beſtreben fich zu 


vervollfommnen. 


c) Seldftverfäumung oder Vernachläſſigung ſei⸗ 
nes eignen Wohle. an 
3) Beyde, durch Mangel, der Proportion, der ver⸗ 
nuͤnftigen Bey⸗ und Unterordnung. 
a) Erhaltung oder Erhöhung der Perſon mit Ver⸗ 
ie Der Würde. 
b) Ber: 


\ 











— — — 


Angewandte Moral 37 


b) Berhütung des Uebels , Vermehrung des Wohls, 
mit Zerfförung oder vernachläßigter Bildung der 
Perfon — Unmoralifiye Selbftliebe. 


€) Unrichtige Schägung der verfchiedenen Theile 
. und Mittel der perfonlichen Vollfommenheit ſo— 
wohl, als des Wohls d. i. Thorheit, unklu⸗ 

ge Selbſtliebe. \ 

$. 469. F 

Quellen dieſer Verfündigungen. 
Die Selbſtpflicht wird verletzt 
1) aus Mangel an entwickelten Selbftbewuft: 
feyn der Vernunft, woraus dag IERORREERN feis 
ner Dienfchenwürde entftehr. a 


2) aus Egoismus oder dem ausfchließenden, her 
vorftechenden Bewußtſeyn von fich ſelbſt, als ei: 
nem finnlichen Weſen. 


3) aus der Gewalt aller, oder 
aus der leidenfcheftlihen Stärfe einiger YIei; 
gungen. 


a) felöftifcher. 

2) fomparhetifcher und gefeliger z. B. Selbſtver⸗ 
geffenheie aus finnlicher Menfchenliebe, aus 
Ehrbegierde. 


4) aus Mangel an geäbter Beurtheilungskraft, 
den Werth der Guter, der Mittel und Theile der 
Vollkommenheit und des Wohlſeyns bey uns und 


FE Bade an: 


358 Angewandte Moral, 


ander zu fchäsen; an Geläufigfeit, Leben und 
Wuͤrkſamkeit diefer richtigen Begriffe und Urtheile, 
um fie in der Ausübung gegen andere gewohnte 
Borftellungsarsen durchzufegen. 

5) aus gemeinen Vorurtheilen und unentwicelteit 
oder verwirrten Begriffen von fchuldiger Demuch, 
von Geibjiverläugnung, von Verwerflichkeit der 
Seldſtliebe u. f. w. 

$ 470 
Entfehuldigungen, Befchönigungen. 
Man entſchuldigt diefe Bergehungen öfters, 

1) mit ihrer Unfhädlicykeie oder gar Nutzbar⸗ 
keit. Allein theils iſt weder die Unſchaͤdlichkeit 
noch die Nutzbarkeit einer Handlung fuͤr uns ſelbſt, 
oder fuͤr die Geſellſchaft, der eigentlich Charakter 
der Unfündlichfeit, ſondern daß die Würde des 
Vernunftweſens nicht verlegt oder verläugner wird; 
theils ift aber auch in ver That feine Verlegung 
der Gelbfipflihe ohne Verlegung der Menfchens 





pfliche gedenfbar. Denn a) die Gefinnung eins 


Menfchen, ver fich felbft als vernünftiges Wefen 
nicht ſchaͤtzt, wie fichs gebuͤhret, iſt mit derienigen, 
die auch andere Menfchen nicht achtet und ihre Rechte 
nicht heilig Hält, formal und weſentlich einerley. 
b) Ich bin auch Mittel für andere, und in fofern 
ein nicht-perfönficher Gegenftand der Menfchen- 
pflichten. Eine Handlung, wodurch ichymich felbft 
verletze, fchadet zugleich (materialiter) der menſch⸗ 

lichen 





Angewandte Moral, 359 


lichen Geſellſchaft; Vernachlaͤßigung meiner eignen 
Cultur iſt Verabfäumung der Pflicht, mich zu eis 
nem fauglichern und nusbarern Gliede der Gefell- 
ſchafft auszubilden. n 


2) Defters nehmen fie fogar_die Geftalt der Uneigen- 
nügigfeit, der Demuth, der Befcheidenheit, der 
aufopfernden Grosmuth, oder wenigſtens der Gut= 
müthigfeit an. 


" 3) Hefters verbergen fich diefe Fehler hinter Grund- 
fäge einer faulen Philofophie von Wergeblichfeie 
felbft eigener Bemühungen, "gut und glüffich zu 
werden, don Schickſal, Gluͤck — 


4) oder eines affeftirten und grundlofen Vertrauens 
auf die goͤttliche Vorfehung, und der Hoffnung 
der Unfterblichkeit. | 

$. 417. 
va Solgen. 

Reue, Selbſtſcham und bittere Unzufriedenheit fol- 
gen ieder That, Die meine Würde verläugnet, meine 
Perſon zwecklos zerfföre, mein eignes Wohl muthwillig 
untergräbt, überhaupt iede Verlegung, meiner Gelbft- 
pflihe, fobald wir uns ihrer bewußt werden, und fie 
mit den Forderungen der reinen, ia auch nur der em- 
piriſchen Vernunft vergleichen. Und dieß vergleichende 
Bewußtſeyn entſteht hier vorzüglich leicht, oft und ſtark. 

Oft verliert man felbft dasienige, was man mit Hi⸗ 
tze einer blinden Leidenſchaft, mit Aufopferung feiner 

34 Würde 


360 Angewandte Moral. 


Wuͤrde und feiner Kraͤffte ſuchte. Alles verlaͤßt mich, 
wenn ich mich ſelbſt verlaſſe. Wer fich ſelbſt nicht ſchaͤtzt, 
verwuͤrkt und verliert die Achtung der Menſchen. 


Specielle Ausfuͤhrung der Selbſtpflichten. 


$. 472. 
Erfte Selbftpflicht. f 
Erhaltung der Würde, 

$. 464. Num. 1. Jede Ungerechtigfeit gegen einen 
Menfchen im Urtheilen und KHandlen vermeide! Jede 
Entehrung der Vernunft, der Menfchheit. Gie ift 
Selbfiverachtung. Die Erhaltung meiner eignen Würs 
we fchließt (materialiter) iede Pflicht der Gerechtigkeit 
gegen Menfchen in fih. Verachtung und? Mißbrauch 
der Menſchheit iſt Verachtung und Mißbrauch meiner 

_ Sernünftigen Natur. 


Jede Pflicht ift in diefem Betracht auch Selbſtpflicht, 
weil fie aus Diefem Motiv fich ableiten läßt. — Die 
weitere Ausführung giebt die ganze Sittenlehre. 

Ga 
Zweyte Selbſtpflicht. 
Selbſterhaltung. 


$. 464. Num. 2. Erhalte deine Perſon d.t. dei⸗ 
ne Kräffte, die Bedingungen deiner — Wuͤrk ⸗ 


ſamkeit. 


$. 474. 





Angewandte. Morde | 361 


u 6474 
Nähere, Beſtimmung. 

Vernunft ift die oberfte Kraft der menfchlichen 
und alfo auch meinee Natur, deren: Dafeyn (wovon 
die Perfönlichfeit abhängt) die übrigen Kräffte zu eis 
nem Geaenftand der achtungsvolen Erhaltung wuͤrdigt. 
Sie kann innerlich und äufferlich thätig feyn. Ihre 
Wuͤrkſamkeit hängt aber von ihrer Verbindung mit ans 
dern beygeordneren Rräfften ab, deren Beitimmung 
es iſt, der vernünftigen Krafft untergeordnet zu feyn, 
und ihre Würfungen zu befördern, theils als Werk; 
zeug, theils als Gegenſtand, ‚woran. fie ihre Thätig« 
keit beweiſet. Das Gebot „erhalte dich felbft,, ent» 
hält aljo in feiner weitern Entwickelung die beſtimmtere 
Vorſchrifft: 


Grhalte die — innere und aͤuſſere — Würkſam⸗ 


keit der Vernunft, oder; erhalte deine — 


smenbeit. 


- Diefe legte Formel, — einestmichfigen Theil der. 
Selbſtpflicht bezeichnet, wurde oben ($. 56. ff.), als 


oberſtes Gefeg verworfen. Hier, mo fie als unterge- 
ordnetes Geſetz vorgeſtellt wird, iſt fie gültig in. der— 


ienigen Bedeutung, die $. 61. Num. 1. u. $. 62. im 
Allgemeinen angegeben worden und wird auf folgende 
Art hier näher beſtimmt. 


Dolltommenheic ift ein Mannigfaltiges der Kräff- 


a in zweckmaͤſſi iger Beziehung auf Eines. Dieß Eine 


— wird 


362 Angewandte Moral, 


toird beffimmet 1) allgemein, auf vie Perſon. Aeuf- 


fere Vollkommenheit bezieht fich auf die innere. Da 


aber die Perſon felbft wieder ein Mannigfaltiges der 


Kräffte in ſich begreift, fo muß diefes wieder zweckmaͤſ⸗ | 


fig auf Eines bezogen, die Kräffte müßen einer einzi⸗ 
gen. praftifch untergeordnet werden. Dieß Eine iſt 2) 
näher beftimmt: die Zweckbeſtimmende und Gefenges 
bende Kraffe, die Vernunft und ihre Wuͤrkſamkeit; die 
Perfönlichfeie im Verhaͤltniß zu den gefammten Kräften 
der Perſon. 
$. 475. 
Bedingungen zu der Wuͤrkſamkeit 
der Vernunft. 

Zur Wuͤrkſamkeit der Vernunft gehoͤren, als Be⸗ 

dingungen derſelben: 


1) innere Kräffte. 
2) natürliche Werfzeuge derſelben 
3) aͤuſſere Obiekte, oder ein Würfungsfreiß. 
4) ein zweckmaͤſſiges Verhaͤltniß diefer Dinge zu der 
Vernunft. 
"476. | 
Es AR fich hieraus folgende materiale Vorſchrif⸗ 
ten, welche ſich auf die Pflicht, feine vernünftige MWürks 
famfeie zu erhalten, gründen, und die allgemeine Pflicht 
der Selbſterhaltung (9. 473.) erſchoͤpfen. 


1. Erhalte deine innern Kräfte, von denen deine 
innere und aͤuſſere vernünftige Wuͤrkſamkeit aͤb⸗ 
hängt 





Angewandte” Moral, 1963 
hänge — ſofern es ohne Verlegung dor Wurde 

: (8472) der Vernunft gefchehen Fank. | 
2. Erhalte dieienige Verbindung derfelben, dagieni- 


‚ge Derbältniß, worinn fie dem Zwecke der Wuͤrk⸗ 
ſamteit der Vernunft entſprechen. 


—* Erhalte die natürlichen Werkzeuge dieer Kraͤff⸗ 
fe) ihrem Zweck gemäß. 


4. Erhalte den Würfungskreiß ‚die Obiekte deiner 
vernünftigen Würffamteit, 


EV TE 


Die oberffe Bedingung aller Bernunftäufferung iſt 
das Leben) und zwar, ſoweit unſte Einſicht ) reicht, 


Be) leibliche Leben. Alſo: 


Erhalte dein Leben. 
Die moraliſche Erhaltung feines Lebens gründet 
ic) auf Anerkennung des Werthes, den die Vernunft 


an ſich ſelbſt, und das Leben * die oberfte, erkenn⸗ 


Rin dii THE bare 


7 Infre Einfiht. Die Hoffnung reicht: uR.. 

Auf Unfterblichkeit- Diefe Hoffnung hust fich aber nicht 
auf Einfiht, auf, Erfahrung oder Demonikrakion , jonz 
dern auf moralifchee Bedürfnif. Mirbin darf auf die 
fe Hoffnung Feine PBficht gebaut werden, weil diefe 
uur auf das Gewife , auf Einſicht gegruͤndet ſeyn Darf. 

ey einer andern Art, moraliſch zu phlloſophiren, 
kann man nur Klugheitsregeln nicht aber ein Eitten: 
geilen dem Selhbfimorde entgegenfiellen. Etwas Aehn— 
liches ift oben in Anſehung der Dodtesſtrafen beinerft 


Ber Man vergleiche zur Erlauserung. §. 218, 
m. 


> 


364 


bare 


Angewandte Moral, 
Bedingung ihrer Wuͤrkſamkeit (wenigſtens in der 


Erſcheinung) hat. Dieſer moraliſche Beweggrund be⸗ 
ſtimmt zugleich 


1) den Unterſchied dieſer Tugend von der natuͤrli⸗ 


chen Werthſchaͤtzung des Lebens und der Liebe zu 
demſelben, als zu der Bedingung alles ſinnlichen 
Genußes; von der natürlichen Kun dor dem 
Todte, als dem Zerftörer des angenehmen Lebens» 
genußes, oder als einem — wuͤrklich oder eingebil» 
Det — unangenehmen umd ſchmerzhaften Zuſtande, 
welche beyde lediglich von der Selbſtliebe abſtam⸗ 
men, und zwar an und fuͤr ſich erlaubt ſind, aber 
keinen eignen ſittlichen Werth haben. 


2) die Ausdehnung dieſer Pflicht ch auf dieieni⸗ 


gen Fälle, wo (wenigftens nach unfrer Vorſtellung) 
der finnliche Genuß aufhört. 


3) ihre moraliſche Einſchränkung und Ausnah⸗ 


men. Wenn die Handlung, wodurch ich mich ſelbſt 
erhalte, verbunden iſt mit Beweiſen einer ver⸗ 
laͤugneten Achtung für Vernunft; wenn ih nur 
durch unterlaffene Selbfierhaltung die größte Hoch⸗ 
achtung fuͤr Vernunft und vernuͤnftige Weſen be⸗ 
weiſen kann, ſo waͤre die Erhaltung des Lebens, 
eine Verlaugnung der Menſchenwuͤrde, meiner 


Buͤrde; Niederträchtigkeit. Diefer Fall tritt 


ein a) wenn ich, um mich zu erhalten, einen an⸗ 
dern widerrechtlich (nicht als Gegenwehr) zerſtoͤren, 
Ar — ihm 





Angewandte ‚Moral, 365 


ihm die rechtmaͤßigen und unentbehrlichen Mittel 


ſeiner Lebenserhaltung entziehen muͤßte. Denn ich 


und der andere find ſich vernuͤnftig betrachtet 
gleich ($. 430.25 daß der andere die Mittel der 
Erhaltung rechtmäffigermeife har, nicht erſt fich ver⸗ 
ſchaffen muß, dieß entſcheidet für ihn, weil ſonſt 
gar Fein Entſcheidungsgrund vorhanden waͤre. 
b) wenn ich meiner Erhaftung mehrerer Mens 
"schen eben unmittelbar oder mittelbar aufo⸗ 
pfern müßte. Hier entſcheidet die Mehrheit‘, weil 
- ich durch Zerfiörung mehrerer Vernunftweſen zur 
Erhaltung eines ‚Einzigen (denn Daß Ich diefer 
Einzige bin, mache feinen Unterſchied in der Vers 
nunft er Verachtung der Vernunft beweife und 
alfo der firtliche Grund der Selbſterhaltung weg— 


faͤllt, c) wenn ich die Vertheidigung elle] 


am mich zw erhalten, unterlaffen müßte, zu wel⸗ 
cher ich doch z. B. durch Vertraͤge, durch empfan⸗ 
gene oder ehrlich verſprochene gleichwichtige Gegen⸗ 
dienſte vollkommen verpflichtet war. 


Wenn ich aber durch Aufopferung meines Lebens die 
Menſchenwuͤrde poſitiv anerkenne; ſo iſt die Selbſt⸗ 
erhaltung zwar nicht niedertraͤchtig, aber doch une⸗ 


Hieher gehoͤren die Faͤlle: a) wenn ich mehrerer 


Naſcin Leben dadurch retten koͤnnte, zu deren Nete - 
tung oder Vertheidigung ich nicht vollfommen ver 
pflichret bin z. B. Fremde, Feinde. b) wenn ich auch 
nur Kings Dienfchen Leben mis größer Wahr: 


ſchein⸗ 


366 Angewandte Moral i 


ſcheinlichkeit retten Fan, ‚als Dieienige iſt, mit der 
ich. meinen Untergang bey der, „Unternehmung voraus- 
febe. ..c) wenn ich auch meinen Untergang fir. eben fo 
wahrfcheinlich. als Die. Rettung, des andern halte, 
dieſer Eine, aber — nach meiner . unpartheufchen 
ruhigen Einfi che — ein vollfommmerer, brauchbarerer, 
wichtigerer Menfh für ‚die Gefellfhafe iſt, „als ich 
es bin. „Da dieſe Ueberzeugung niemahls obiektiv zu⸗ 
reichend gegründet, und über allen möglichen Zweifel 
erhaben iſt: ſo ift auch Die PRRON FORD PeIG ihr zu folgen, 
nur unvollfommen, 


4) giebt er auch den Maasſtab an die Hand, um 
den Grad der Reinheit dieſer Tugend zu be⸗ 
ſtimmen · 


§. 478. 
Naͤhere Beſtimmungen, Folgen. 

Nur die Erhaltung der innern Würde feiner Pers 
fon geht der Erhaltung des Lebens vor *), Alle Guͤ— 
ter des Lebens hingegen, alle Mittel e8 zu erhalten, als 
k Bedingungen feiner Annehmlichfeie ſtehen ihr nach 


Der Streit, worein zuweilen dieſe Pflicht an fi 6 


Cihrem Zwecke nach), und in ihren hypothetiſchen Fol⸗ 
gen de i. in Aufehung Des Gebrauchs der Mittel, wel⸗ 
che dazu gehoͤren, mit den Neigungen und Leidenſchaften 
für dieſe Guter, oder mit der Abneigung vor ihrem Ver⸗ 
luſte geraͤth, erſchwehrt ſie, ſo natürlich fie in den 

ABERER: 


*) Mars, 9, 43, 








Angewandte: Moral; 367 


meiſten Fällen an ſich, und ſo angenehm fogar nach der 
Einrichtung der Natur ‚ein großer Iheil der Handluns 
gen iſt, Die ſie als Mittel, fordert. 3; De, Genuß der 
Nahrungsmittel, des Vergnuͤgens. 


Ja es kann ſogar die natuͤrliche Liebe zum Leben 
und die Furcht vor dem Todte, wenn ſie leidenſchaft— 
lich wuͤrkt, ihrem eignen Naturzwecke entgegen wuͤrken; 
wenn ich mich z. B. wegen einiger Gefahr, die damit 
verbunden iſt, vor dem Gebrauche eines vernuͤnftigen 
Erhaltungsmittels ſcheue, welches ich im Allgemeinen 
ſelbſt dafür, anerfenne 5. B. der Podeneinimpfung für 
die, welche, von ihrer Heilſamteit uͤberzeugt ſind. 


S. 479» 
Verletzungen. 


verletzt wird dieſe Pflicht durch 

Ri abfichtlichen Selbfimord, durch Handlungen, 
die das Leben zerfiören, und eben um deswillen 
ausgeübt werden, 

2) wiſſentliche Ausübung folcher Handlungen , die dag 
Leben zerftören, ohne, aber doc) nicht wider diea 
fe Abfiche. 

“ 3) wider diefe Abſicht, doc) fo, daß dieſe Abfıcht 

ki. nicht wuͤrkſam genug iſt ung davon abzuhalten, 
wegen anderer ſubiektiven Zwecke. 

Hierher gehören hauptfächfich folgende Fälle: 

) wiſſentliche Vernachlaſſt igung des Gebrouchs 


der Mittel, die zur Erhaltung des Lebens 
Dies 


368 


Angewandte Moral; 


dienten, aus andern Zwecken, als unterlaffener!Ge- 
brauch der erforderlichen Nahrungsmittel, 
Arzneymittel; unterlaſſene pflichtmaͤßige Selbſt⸗ 
vertheidigung gegen Angriffe auf Das Leben. 
Unordentliche Kebensweile 5. B. unmaͤßige 


Arbeiten, ausfchweifende Gefchlechrsluft, Gaum⸗ 
luſt, Lüfternheic, Trinkluſt, Schlafluft, Weich- 


lichkeit; Spielfuche, Eitelkeit (wie bey Due 


lanten), Hefftigfeie der Affekten, Hubejoninens 
beit und Verwegenheit. » 


b) Handlungen, welche die Neigung zum Le: 


bensuͤberdruß und den Entſchluß zum Selbfimord 


leichte hervorbringen. ? 

Aeuſſere. Ungerechtigfeiten, unbefonnenes Schul 
denmachen, Verbrechen, worauf befchimpfende 
und fchwere Strafen gefegt find; Verſchwen⸗ 
dung, Trunk; Ausſchweifungen verſchiedener 


Art, welche Hypochondrie und Melanie er⸗ 


zeugen. 


Innere, angewoͤhnte Empfindungs und Sinness 


arten, als Geiz, Neid, geile und noch.mehr 
fhmwäarmerifch empfindfome Wolluft, Ehrfucht, 
Eitelkeit — Schwaͤrmeriſche Neligionsgefühle 
— Uebergenuß, und Daher enffpringender Les 
berdruß des Lebens. Heftige, widernatürliche 
Affekten und Leidenſchafften überhaupt ; ſchwer 
zu befriedigende, zu hoch gefpannte, zu eigen⸗ 
ſinnig beſtimmte Neigungen, 
6, 480. 











Angewandte Moral, ‚369 


$. 48% er 
Beranlagungen, 

Deranlaßungen und Reize zu diefer Verſuͤndi⸗ 
gung geben, theils die allgemeinen Urfachen zu Verlegung 
gen der. Selbftpflicht ($. 469:), cheils die befondern Hin⸗ 
dernige und Collifionen diefer Pflicht. Nehmlich 

1) Mangel an gebührender Schätzung feiner 
feibfi, als eines vernünftigen Wefens. 


. 
* 


2) ungebübrlihe und Verhältnißloſe, -Teidens 
ſchafftliche Schätzung einiger oder aller zufäls 
liger Güter; Anhänglichfeit an eingefchränfte 
heftige Wünfche und Ideen; z. DB. der auffern Eh⸗ 
re, des Wohllebens, Reichthums, der groͤbern 

oder feinern Wolluſt ‚ der Geſundheit, als eines 
Gegenftandes des Gefühle und der finnlichen Mei 


gung — wodurch. der Zweck des Lebens vergleichnngs⸗ er 


weife herabgefegt, verachtet und vernachläßige wird. 


3) Vorurtheile — über ven Werth des Erdenlebens, 
des Menfchengefchlechts, des Zeitalters — ſchwaͤr⸗ 
merifche Begriffe von Lebensgenuß, von Vollkom⸗ 
menheit feiner felbfE, der Welt, der Menfchen — 
die Vorftellung, daß eine Handlung Que fey, die 
etwas Gutes am fih har, die einige gute Ans 
lagen und Neigungen der Seele verraͤth, als 
Freyheitsliebe, Ehrgefuͤhl, Wahrheitsliebe (Das 
her die unberufuen Maͤrtyrer für Republiken, Res 
Tigionsmepnungen, Syſteme — Formeln — ); 
WMoralphiloſophie. An das 


370 Angewandte Moral. 


dag DVorurtheil von Rechtmäßigkeit der Gelbftenf; 
leibung, wenn man glaubt, das länget fortgefeg- 
te Leben fey unerträglich , unnüg oder minder nügfich 
für die Welt, es ſey unrühmlich, Fein Menfch leide 
Durch unfern Todt, die Unfrigen zögen Vortheile 
davon ; endlich das Vorurtheil von einer apodif- 
tifchen Gemwißheit und einer eingebildeten Kenntniß 

© yon der Befchaffenheit eines zufünftigen, und 
zwar allgemein und ohne Vergleich beffern Lebens, 
als das irdifche. 


$. 481. 

Entſchuldigungen, Befchönigungen — Folgen, 

Der Selbfimord nimmt alle Die verfchiedenen Ber 
fialten an, und eignet ſich alle die Entſchuldigungen 
zu, die nach $. 470. die verlegte Gelbftpflicht über; 
haupt annimmt und für fih anführe. Die Größe des 
Entfchlußes , der Much, das Ehrgefühl, dag dabey 
wuͤrkſam ift, leiht ihm öfters die Geſtalt einer grofs 
fen, edeln Handlung. Defters erfcheint er, aus einem 
einfeitigen Geſichtspunkt angefehen, als eine Ihat der 
- Gerechtigkeit und der Güte gegen ſich, oder gegen die 
Welt. Allein — auffer der Unfietlichfeie — verräth 
er mehrentheils zugleich einen Mangel an Klugheit, 
und verfehlt feines eignen Zweckes. Es ift mehrentheilg, 
wielleicht immer Taͤuſchung, daß man nicht mehr ver« 
gnuͤgt leben , feine Leidenſchaft nicht befriedigen oder än= 
dern koͤnne; Vergnügen und Glüdfeligfeit des Lebens 


ift nie am Ein Mittel gebunden. Der Umtauſch eines 
Lebens, 





Angewandte Moral. 2 


Lebens, das man kenut, gegen ein anderes, das man 
niche kennt, wovon man hidrweiß, obes ift und 05 
e8 unfern Zuftand im Ganzen verbeffere, iſt Unbeſon— 
nen. Mancher verachtet Keben und Geſundheit, raubt 
fih die Mittel feiner Erhaltung und Fünfrigen Freude, 
durch vermeyntlich zufammengedrängten Lebensgenuß, 
durch Ausfchweifung und Verſchwendung; verdirbt fich 
das ohnehin kurze Leben durch Kraͤnklichkeit, und hat 
zufegt nicht einmahl Much genug, um es durch — 
Streich gewaltſam zu endigen. 


$. 482. 
Gefundheit des Leibes. 
Eine zweyte Folge der Selbſterhaltung iſt: 

Erhalte deinen Corper in derienigen Verfaſ⸗ 
fung, worinn er die Würkſamkeit der Ver⸗ 
nunfe nicht hindere, fondern unterſtützt 
und befördert. Sorge für die Geſundheit, als 
eine Bedingung der vernünftigen Würkfamfeir. 

Die Princip beſtimmt 

1) den Unterſchied dieſer Pfliht, vonder Sorge 
für die Geſundheit, aus Liebe zum Reben, oder 
zum finnlich angenehmen Peben , die einen weit ges 
ringern firtlichen Werth hat, durch den Zweck, um 
deſſentwillen für den Eörper Sorge gefragen wird, 


2) die ‚Ausdehnung diefer Sorgfalt auf alles das⸗ 
ienige, was mit der.innern und aͤuſſern Wuͤrkſam⸗ 
ur der Vernunft, und der ihr untergeordneten 

Aa 2 Kraͤffe 


372 Angewandte Moral. 


Kraͤffte in Verbindung ſteht. a) Ganzheit des Coͤr⸗ 
pers und aller Glieder. b) Innere Güte und 
Brauchbarkeit der Werkzeuge — der willführlichen 
Bewegung — der Werkzeuge der aͤuſſern und des 
innern Sinnes. 


5) die Gränzen im Gebrauch der Mittel, melde 
niemahls weder die Würde der Vernunft verlegen, 
noch ihrer Würffamfeir im Ganzen Abbruch hun, 

oder das thierifche Leben auf Koften des geiftigen, 
Das theoretifche auf Koſten des praftifchen und 
moraliſchen Lebens befördern müßen. (Roͤm. 13, 


14). — 


Anmerk. Die Gegen ſtaͤnde, Verletzungen, 
Huͤlfsmittel u. ſ. w. ($. 457.) konnen Kurze halber 
bey dieſer und den uͤbrigen ſpeeiellen Pflichten bi er nicht 
beſonders angefuͤhrt werden. 


6. 483. 
Nothwendigkeiten Des Lebens. 
Die Selbſterhaltung gebietet ferner: 
Erwirb, erhalte, vertheidige Die Nothwen⸗ 
digkeiten des Lebens. 


Nothwendigkeiten des Lebens ſind alle dieie⸗ 
nigen aͤuſſerlichen Dinge, die zunaͤchſt zur Erhaltung 
unſers Lebens und unſrer Geſundheit, mithin mittelba⸗ 
rerweiſe auch zur Erhaltung der freyen Wuͤrkſamkeit der 
Vernunft, iedesmahl unentbehrlich ſind z. B. Eſſen 


und Zrintken, Kleider, Wohnung, —J— freye 
Lufft, 








Angewandte Moral. 373 


“ Lufft, Verbindung mit andern Menſchen, guter Nah— 
me, ſelbſt Ergöglichfeiten - — letztere nicht um des un⸗ 
mittelbaren Genuſſes willen, ſondern weil, diefer Ge⸗ 
nuß ein Mittel der Erhaltung des Erſatzes der ver⸗ 
lohrengehenden koͤrperlichen Theile und Kraͤffte, mittel⸗ 
barerweiſe auch der geiſtigen, und endlich auch der ver⸗ 
nuͤnftigen Kraft if. 


§. 484: 

— ‚ Umfang und Gränzen dieſer Pflicht, 
find wie bey der vorigen. Im gefellfchafftlichen Leben 
übt man diefe Pflicht vornehmlich durch Arbeitſamkeit, 
Sparſamkbkeit und durch Beobachtung der bürgerlichen 
Verhältniße, worinn wir die Nothwendigkeiten des 
Lebens ohne Verlegung der Menfchenpflicht Calfo 
auch der hödhften Selbſtpflicht $ $: 472) finden und fis 
chern koͤnnen. 


$. 485. 

Difeiplin des Gebrauchs der Seelenfaͤhigkeiten. 
Der Gebrauch der Seelenfähigfeiten kann fo. befchafe 
fen feyn, Daß die Würffamfeir der Vernunft dadurch 
eingeſchraͤnket wird; dann ſtreitet er mit dem, morali⸗ 
ſchen Zwecke der Selbſterhaltung, wenn gleich einzelne 
untergeordnete Kraͤffte dadurch erhalten oder gar erhoͤht 
würden: Die höhere Pflicht gebietet: 


7 


Brauche und übe Keine Kraffe und Säbig; 
Feit der Seele auf eine ſolche Are, und in folchen 
—— daß dadurch Die Vollkommenheit 

Aaz— der 


374 Angewandte Moral, 


der geiffigen Kräfte überhaupt, und vornehmlich die 
Würkſamkeit der Der: nunfti im Ganzen eingeſchränkt 
werde, 
$. 486. 
Anwendungen, 


Aus diefem Grundfag fließen folgende befondere 
Kegeln für den moralifchen Gebraud) der Geelenfräfte: 


1. Für den Gebrauch der Erkenntnißvermögen. 

Befchäfftige die Sinne nicht mit ſolchen Gegenftän- 
den, auf folche Art, und in dem Grade, Daß die 
höhern Kräfte darunter leiden. 

Guftivire die Einbildungskrafft, und ihre Zwei— 
ge, das Gedächtniß und die Dichtfraft, nicht 
zum Nachrheil der höhern Kräfte des Verſtandes 
und der Vernunft. 

Befchäfftige und übe den Verftand (das Vermoͤgen 
der Beobachtung, Erfahrung ꝛc.) nicht zum Nach— 
theil der Vernunft. 

Setze um des theoretiſchen Vernunftgebrauchs wil⸗ 
len den praktiſchen nicht zuruͤck. 

Beſchaͤfſtige und übe dein serkenutnißoermögen 
überhaupt nicht zum Nachtheil der Willengkräfte z. 
B. nähre feinen Teidenfchaftlichen Hang zum Spe⸗ 
kuliren. 

$. 487. 
Sür die Begehrungskräfte. 


Beſchaͤftige dein Gefühlvermögen nicht mit thieri- 


schen Gefühlen, zum Nachtheil der aͤſthetiſchen, noch 


mie 





Angewandre Moral, 375 


mit diefen zum Nachtheil der moralifchen. Ge- 
fühle. 3— 

Staͤrke und übe deine einzelnen ſinnlichen Nei⸗ 
gungen nicht zum Nachrheil der praftifchen, und 
"vornehmlich der moralifchen Vernunft; alfo nicht 
einſeitig und Verhaͤltnißwidrig. 

Befriedige und naͤhre deine Selbſtliebe überhaupt, 
weder im Ganzen, noch in einzelnen Theilen zu Hin⸗ 
derung des Einflußes, den die Vernunft auf dei— 
ne Handlungen haben kann und ſoll; oder: fege 
der Selbftbeherrfchung feine Hinderniße. 


Eultivire die praktiſche Vernunft im niederen 
Gebrauche nicht zum Nachrheil ihrer höhern und 
ausgebreiteten Würffamfeit d. h. cultivire die Be; 
ſchicklichkeit nicht zum Nachtheil ver Klugheit, 
noch dieſe mit Vernachlaͤßigung der Sittlichkeit. — 


Der ſittliche, hoͤchſte Vernunftgebrauch iſt keiner Ue— 
bertreibung fähig, weil er der oberſte Zweck, und ihm 
alles praktiſch untergeordnet iſt. Nur Mangel an Klug⸗ 
heit und Geſchicklichkeit im Gebrauche der Mittel iſt 
bier möglich, und zu vermeiden z. B. Verletzung des 
Gefeges der Staͤtigkeit in der Beſſerung, überfpannte 
- Enthaltfamfeit zum Nachtheildes moralifchen Stoffs und 


— Fehler. 
$. 488. 


3. Sür alle ‚Kräffte überhaupt. 
Verhüte die Abnahme deiner geiſtigen Kräaffte, 


und vornehmlich der vernünftiger, | 
Aa 4 Sie 


376 Angewandte Moral. 


Sie merden geſchwaͤcht 
3) durch anhaltende ſtarke Anſtrengung — 


Daraus folgt die Pflicht der Ruhe d. i ber 
nachlaßenden leichtern Ihätigfeit, 


2) durch anhaltende Antrengung derfelben Art, Ab; 
wechfelung, Zerfireuung, Ergöglichkeiren — 
werden Dadurch ein Obiekt ver Plicht der Selbſt⸗ 
erhaltung. 


Die Mittel dazu muͤßen ihrem naͤchſten und entfern⸗ 
ten Zwecke gemaͤß ſeyn; ſie duͤrfen alſo der Wuͤrde 
und Erhaltung der ganzen Perſon und der Vernunfts 
shäfigfeit, vornehmlich der praftifchen und moraliſchen 
feinen Eintrag thun, 


\ 6.489, 5; ı * 

Erhaltung der aͤuſſern Vollkommenheit. 

Aeuſſere Gegenſtaͤnde dienen theils als Obiekte 
theils als Werkzeuge der Würkſamkeit der Vernunft. 
In fo fern und fo lange fie Diefer Abficht entfprechen, 
und ihre Erhaltung mit der perfünlichen Würde beſteht, 
gehört ihre Erhalturn zur Pflicht, ſich ſelbſt zu erhal⸗ 
ten. 

erhalte dir dieienigen Gegenftände und die⸗ 

ienigen äuſſern Derhältmiße, die als Gb; 

iefte, Werkzeuge oder Mittel die innere und 

aͤuſſere Wurkſamkeit der Vernunft unterſtü⸗ 

tzen 





— —— 


Angewandee Moral, 377 


Eie * nd theils urſpruͤngliche, theils hinzugekomme⸗ 
ne, und im letzten Fall rechtmaͤſſig empfangene 
oder ſelbſtthaͤtig erworbene Guͤter. 


Die vornehmſten ſind 
1) Aeuſſere Srevbeit d, i. die Macht und der äufs 
ſerlich ungehinderte Gebrauch des Rechtes, nach 
eigner vernuͤnftiger Einſicht und Ueberlegung zu 

handlen. Alſo: 


erhalte, vertheidige deine äuſſere Freyheit, laß 
dich nicht um ſinnlicher Abſichten willen oder aus Feig⸗ 
heit zum Stlaben anderer machen. 


% 2 


Silch in- eine. bürgerliche oder andere Gefellfchaft zu 
begeben ‚ und Dertragsmäffig feine äuffere Freyheit in 
Anwendung feiner Kräfte einzufchranfen — wird durch 
dieß Verbot nicht unbedingt unterfagt. Nur dürfen die 
toefentlichen Bedingungen der freyen vernünftigen Thaͤ⸗ 
tigfeie (unveräufferliche Rechte) weder ganz, noch zum 
Theil irgend einer ſinnlich noch fo vortheilhaften Verbin⸗ 
dung aufgeopfert ; .es muß vielmehr im Banzen eine 
gröffere Sicherheit des ungehinderten Gebrauchs meiner 
Kraͤffte durch den gefellfchaftlichen Vertrag erhalten wers 


den. Auſſerdem ift eg beziehungsmweife ungerecht oder - 


lieblos gegen mich felbft gehandelt, wenn ich einen fols 
chen Vertrag ſchließe. Bey geheimen Verbindangen, 


deren Geiſt (Zweck und Mittel) nicht deurlich und ganz 


Yaz vor 


378 Angewandte Moral. 


vor Augen liegt, wenn man fie eingeht, dürfte dieß 
wohl manchmal der Fall feyn. — 









2) Dermöaen. 


3) Ehre, Achtung und Zutrauen anderer zu meiner 
Krafft und zu meinem guten Willen. 


4) Verbindungen durch ausdrüffiche oder ſtillſchwei⸗ 
gende Verträge z. B. Ehe, Freundfchafften. 


Die Gränzen und DVerhältniffe diefer Pflichten zu andern 
und unter fich felbft, werden beſtimmt nach ihrem hoͤch⸗ 
ften Zwecke, und find nach den Regeln, die VBollfommen- 
heit der Mittel und Werkzeuge überhaupt zu beurtheilen. 


$. 490. 
Dritte Selbſtpflicht. 
Selbſtſchonung. 


$ 464. Num. 3. Unterlaſſe dasienige, was 
deinen perſoͤnlichen Zuſtand im Ganzen verſchlim⸗ 
mert oder erhalte d. i. zerſtoͤre nicht dein eignes 
Wohl; erhalte, beſchuͤtze, vertheidige die Annehmlich⸗ 
keit deines Lebens im Ganzen. 


Beweiß. 

Vergnuͤgen und die groͤßtmoͤglichſte Summe deſſelben 

im ganzen Leben, iſt ein ſubiektiver Zweck aller Mens 
fchen, folglich auch mein Zweck. Da ich nun Zweck an 
fich felbft bim, fo treibt mich nicht blos meine Neigung 


(die SEIEN dazu an, fonderm felbft dieſe rein vers 
nünftige 


Angewandte Moral: 379 


nuͤnftige Vorftellung von. meinem perfönlichen Werthe 
beftimme mich, meine fubieftiven Zwecke d. i. die An- 
nehmlichfeit meines Zuffandes im Ganzen zu erhalten. 


$. 491. 
Nähere Beftimmungen. 
Diefes rein vernünftige Princip beftimme zugleich 
3) den Unterfchied diefer Pflicht, von dem Stres 
ben nad) Vergnügen, Ieviglich aus Neigung , twel- 
ches immer egoiftifch und feiner Natur nach us 
begraͤnzt iſt. 


* 


2) die Ausdehnung deſſelben, auch auf dieienigen 
Gemuͤthszuſtaͤnde, wo mich zufaͤllige Neigung (Lau⸗ 
ne) zu Zerſtoͤrung eines Theils von meiner eignen 
Gluͤckſeligkeit antreibt, oder wo eine kranke Ge 
muͤthsſtimmung mich gegen den wahren Genuß des 
Lebens gleichguͤltig macht. 

3) ihre ſittliche Gränze. Die Pflicht hoͤrt auf, ſo— 

bald die höhere Pflicht, eine Perſon — mich 
oder einen andern Menſchen zu vervollkommnen 
die Aufopferung meines Vergnuͤgens oder meiner 
Gluͤckſeligkeit fordert. 


4) den Grad der Reeinheit. Ye mehr ich aus 
Bewußtſeyn meiner perfönlichen Würde, ie weni- 
ger ich aus bloffer Neigung Vergnügen fuche; ie ges 
nauer ich den moraliſchen Umfang und die Grän- 
. zen diefer Prlicht beobachte ; ie mehr ich durch ver- - 
nünftige Grundfäse und ie weniger ich durch zu— 
fällige 


380 Angewandte Moral, 


fällige Stimmungen des Gemürhes, mich in der 
Wahl meiner Vergnügungen und der Mittel zu 
denſelben leiten — deſto reiner wird die Pfiche 
erfüllt. 


Die fpeciellen materialen Regeln der Selbſtſchonung 
werden bey der Pflicht der Selbſtbeglückung beque⸗ 
mer ausgeführf werden, two auch das Uebrige, was hier 
noch zu befrachten kin feing * Stelle finden 
wird. — 


S . 492. R 
Vierte Selbſtpflicht. 

' Erhöhung meiner perfönlichen Würde, 
* 6.465. Num. 1. Pofitive Achtung für Vernunft 
und vernünftige Wefen überhaupt ; thärige Anerfennung 
der Würde der Menfchheie in der Perfon eines ieden 
Menfchen in Urtheilen und Handlungen, freye Beförderung 
ihrer vernünftigen Zwecke, ift pofitive Anerfennung oder 
Erhöhung meiner eignen Menfchenwürde. eve Ermeis 
fung der Pflicht der Güte gegen andere Menfchen , if 
in dieſem Betrachte auch Güte gegen mich ſelbſt, weil: 
die Gefinnung ſich iederzeit auch auf mich zugleich bezieht. 
Alles, was die Pflicht der Guͤte begreift, gehoͤrt zu dem 
Materiale dieſer poſitiven Selbſtpflicht. Durch Un⸗ 
thaͤtigkeit fuͤr die Menſchheit und ihre Zwecke, beweiße | 
ich zugleich einen Mangel an thätiger Anerkennung der = 
Würde meiner eignen vernünftigen Natur. 


AR, | $.493. 





Angewandte Moral, 481 
$ 493: \ 

Sünfte Selbftpfliht, — 

Selbſtvervollkommnung. 

&. 465. Num, 2. Meine Vernunfe ift Cfofern ſie 

erſcheint) einer immer gröflern Ausbildung fähig; ihre 

unfergeordneten Kräfte und ihre Werkzeuge Fönnen 

werbeffert, ihr Würfungskreiß kann erweitert erden. 


Ales dieß bin ich mir ſelbſt, alg einem vernuͤnfti⸗ 
gen Wefen, durch alle Mittel zu bewuͤrken fchuldig, die 
nur irgend mit der größten Achtung für die Vernunft - 
felbft beſtehen koͤnnen. In dieſem Sinne iſt e8 ein mo- 
raliſches Gebot: | 
Befördere, vermehre, deine ihnere und äuſ⸗ 


fere Dollfommenbeit 9) d. 5. vermehre die 
Wuͤrkſamkeit der Vernunft, oder: 


Gebrauche und übe iede deiner Kräffte auf eine 
ſolche Art, und in einem ſolchen Verhältniffe, daß 
dadurch die Würkſamkeit der Vernunft im 
Ganzen erweitert und erhöhet werde. 

$. 494. 
Grund, Umfang, Gränze, 


2. Der Grund Diefer Pflicht iſt poſitive Achtung für 
die Würde der Vernunft in meiner Perfon d. ir 
Güte gegen mich ſelbſt. 


2. Ihr 
I Berg. $. 474 und S, 55, $- 


382 Angewandte Moral, 


2. Ihr Umfang erſtrekt ſich demnach auf alles, was 
mit meiner vernuͤnftigen Wuͤrkſamkeit in Verbin— 
dung ſteht. Nach Verhaͤltniß der Nähe oder Ent— 
fernung und der Grade des Einflußes, auch der 
Gewißheit und Norhwendigfeit veffelben müßen die 
verfchiedenen einzelnen ‚Pflichten Diefer Art einan” 
ver bey » und untergeordnet werden. 


3. Die moraliſche Bränze diefer Pflicht wird über, 
haupt beftimmt , durch den Zufammenhang mıt ihrem 
Princip. Aus diefem kann Feine Handlung fließen, 
a) wodurch ich ein wefentliches Werkzeug und Mit⸗ 
tel meiner Vernunft einem zufälligen aufopfere — 
Einfhränfung durch Gerechtigkeit und durch böhen 
re Güte gegen mich felbft. 


b) wodurch ich die Achtung für Vernunft in der 
Perfon eines andern Menfchen pofitiv oder negas 
tiv verläugne — Einfchränfung durch Gerechtigkeit 
oder durch gröffere Güte gegen andere. 


495. 
Erhöhte Verbindlichkeit, 

Da diefelben Handlungen, wodurch die Würffamfeie 
der Vernunft, oder die Vollfommenheit vermehrt 
wird, auch fchon zur Erhaltung derfelben großentheilg 
erforderlich find, und da fich die Gränzen desienigen 
nicht eigentlich angeben faffen, mas zur bloßen Erhals 
fung und was nur zur Vervollkommnung gefchehen müfz 
fe: fo befommen Die letztern Pflichten Dadurch ein gröf- 

fer 


k 


— Angewandte Moral. 383 


ſeres Gewicht, daß ihre Verletzung oͤfters mit einer 
wahren Ungerechtigkeit (nicht blos Mangel an Guͤte) 
gegen mich ſelbſt verbunden iſt. Go gehört z. B. ein 
gewiffer Grad von Uebung ſchon dazu, daß die Kräffte 
erhalten werden ; eben dieſelbe Uebung erhöht fie zugleich. 


$. 496. 
Cultur der Seelenkräfte, 
Die unmittelbare Folge der Hauptpflicht ($. 493) iſt: 
Eultivire alle deine Seelenfräfte, in der ge; 
hörigen Subordination unter den zweck 
der höchſten vernünftigen Würkſamkeit. 


Hieraus fliegen folgende befondere Kegeln für den 
moralifchen Gebrauch der Seelenfräfte. 


‚T. Sür den Gebraud) der Erfennenißfräfte. 
Uebe dich und fuche dir eine Fertigkeit zu erwerben in 
‚allen Arten von Handlungen des Erfenntnisverms- 
gens z. B. der Aufmerkſamkeit, der Beobachtung. 


Cultivire Sinnlichkeit, Gedächtniß, Einbil⸗ 
dungkraft als Bedingungen des Stoffs für deis 
ne vernünftige Würffamfeir. 


Eultivire den Derftand, als eine vorbereitende Bez 
arbeitung ienes Stoffs für die Vernunftthätigfeit. 
Uebe und bilde die Vernunft ſelbſt theoretifch aus. 

> Wähle die Gegenftände für die Anfchauung deiner 
Sinne, für die Befchäfftigung deiner Einbildungs⸗ 
kraft, für die Berrachtung Deines Verſtandes und 
| für 


384 Angewandte Moral, 


für die Bearbeitung durh Vernunft — dem hoͤ—⸗ 
hern Zwecke diefer Geelchfräffte gemäs; ſo daß 
deine Vollkommenheit im Ganzen, deiner Anlage 
und deinen Verhaͤltnißen gemaͤs moͤglichſt * 
werde. 

Ordne den Gebrauch der niedern, blos Stoff auf⸗ 
nehmenden Erkenntnißkraͤfte, dem Gebrauche der 
böbern, die den Stoff bearbeiten, zweckmaͤſſig 

unter; erweitere nicht nur deinen Gefichtsfreiß, 
fondern helle ihn möglichft auf. 

Ordne den Gebrauch der Erkenntnißkräfte über: 
haupt, der zwecfmäffigen Anwendung deiner Wils 
Vensfräfte zw cfmäflig un er d. i.erwirb dir vorzuͤg⸗ 
Ich praftifche, hauptfächlich möralifche Kenntniße, 
wodurch du geſchikt, Elug und gut (nicht bios 
gelehrt) werden Fannft. 


.$. 497: 
Fortſetzung. 
2. Sür die Begehrungskräfte. 

Verſtaͤrke und veredle dein Gefühlvermögen d. £ 
gewöhne dich an folche Gefühle, die zugleich cul⸗ 
tiviren und den Zweck der Moralität beförderen; 
verfeiner® felbft die thierifchen Empfindungen. 


Bildung des Gefihmads, 

Uebe die Neigungen d. h. vermehre oder vereinfa⸗ 
che, Schwäche oder verftärfe fie, ie nachdem Vers 
mehrung oder Verminderung, Staͤrke oder Schwä- 


che 


’ 





Angewandte Moral, ; 385 


chederfelben Die Würkfamfeit der Vernunft befördert, 
fie ermeitere und verfkärft. 
Je mehrere, ie flärfere Neigungen; in ie zweckmaͤſſige⸗ 
rer Proportion fie vorhanden; und ie vollfommener fie 
den Zwecken der Vernunft poſitiv *) untergeoröner find 
— deſto groͤſſer ift die Dollfommenheit der Leis 
gungen, Sie befteht alfo (poſttiv) in der möglichften 


“Ausbreitung, Stärfe, Proportion und vernünftigen % 


Gubordination der Neigungen unter die Vernunft. Die 
befondern Borfchriften find demnach 
a) Vermehre die Neigungen-und verftärfe fie, bilde 
die Kräffte und Triebe deines finnlichen Begeh— 
rungsvermögens möglichft aus, um den Wür⸗ 
Tungsfreiß der Vernunft zu erweitern, (als 
fo nicht : um dein finnliches Vergnügen zu verviels 
fältigen, welches theils unflug und unficher, theils 
an fidy ohne moralifchen Werth ware). 


Diefer Zweck beſtimmt zugleich die Gränze Diefer mate⸗ 


rialen Pflicht, welche bey iedem Menſchen nach ſeiner 

Selbſtkenntniß und nach der ihm eignen Vernunftſtaͤr⸗ 

„ Te, deren er fich bewußt iſt, verfchieden feyn muß. 

b) Erhalte ein. gewiſſes Gleichgewicht und eine Pros 
portion unter den Neigungen, um iede einzelne 
Meigung leichter beherrfchen zu Fönnen. 

ce) Verſtaͤrke die ſchwachen, um die ftärfern durch fie 
befiegen , und blinden Leidenschaften Einhalt thun 
zu fönnen. 


HDie negati — — — — gehoͤrt mehr zur Selbſt⸗ 
erhaltung. $. 4 


‚Woralppiofoppie, Sb Cul⸗ 


Vaylı 


386 . Angewandte Moral, 


Cultivire den Einfluß der Vernunft aufden Willen. 
a) veredle ihn, durch die Steigerung von Gefchicks 
lichfeit zur Klugheit, und von diefer zur Weis⸗ 

heit oder Sittlichkeit. 


b) erweitere ihn, durch Verbreitung über immer 
mehrere. Gegenftände und Neigungen. 


c) verfiärfe ihn d. i. vermehre deine moralifche (und 
überhaupt praftifche) Freyheit und Gelbftbeherr: 
fhung, oder: ermirb dir immer mehr morali; 
ſche Selbfiverläugnung, d. h. Krafft, durch 
moraliſche Vernunftgruͤnde den Antrieb ſinnlicher 
Eindruͤcke und empiriſcher Beweggruͤnde unwuͤrk⸗ 
ſam auf die Handlungen zu machen, und der mo⸗ 
raliſchen Triebfeder (dem ſittlichen Gefuͤhl) das Les 
bergewicht uͤber iede andere zu verſchaffen. 


Dieſe moraliſche Selbſtverläugnung begreift in ſich 
a) eine Fertigkeit, die Neigung zum Vergnuͤgen zu 
beherrſchen; 


theils die Begierde auf einen gewiſſen Grad 
des Genuſſes einzuſchraͤnken — Maſſigbeit· 


theils einer Art des Genuſſes zu gewiſſen Zeis 
ten gänzlich zu entfagen — Enthaltſamkeit. 

ß) eine Serttgfeit, die Abneigung von dem } Una 

- genehmenmoralifch zu Tenfen; f 


‚sheils Die gegenwärtige Empfindung deſſelben 


moraliſch zu ertragen — Geduld 
Rtheils 


Angewandte Moral. 387 


theils die Furcht Dafür zu ‚Defiegen — Tapfer: 
Feit. 


Je mehrere und ie Rörfere natiriche Neigungen und Ab⸗ 
nergungen da ſind; ie vollſtaͤndiger Certenfio, intenſiv 
"und protenſiw) und durch ie reinere Mittel ſie beherrſcht 
werden; deſto groͤſſer iſt die moraliſche Mäſſigkeit, 
Enthalt ſamkeit, .Tapfırk eit und Geduld, die als 
moraliſche 7 ugenden aus Einer Quelle entfprungen 
und verein find; als naturliche Eigenfchaften meiſt 
nur getrennt und einzeln in verfchiedenen Menfchen fich 
zeigen; ale Produfte der empiriſchen Dernunfe 
oder als. Theile der Klugheit nur alsdann ſittlichen Werth 
haben, wenn Diefe Klugheit ſelbſt ſittlichen Zwecken (ne= 
gativ und poſitiv) untergeordnet iſt. Man darf und 
foll ſie durch natur liche Mittel unterſtuͤtzen, Maximen der 
Erfahrungsklugheit dabey zu Huͤlfe nehmen, um die 
Moralirät von ihren Hindernifen zu befreyen. Selbſt 
dieſes Beſtreben andere als eigentlich moraliſche Trieb⸗ 
federn zu moraliſchen Zwecken in Bewegung zu ſetzen, 
hat moraliſchen Werth. 


Strebe immer thätiger, und zwar mit immer mehr 
Dlan, Zweckmaͤſſigleit und Standhaftigkeit thaͤtig 
zu werden. 

Durch die Verſchiedenheit der Naturänfagen zu ges. 
wiffen 38 higfeiten des Erfenntnifvermögens und Nei- 
gungen des Willens, - und Durch die Mannigfaltigfeie 
der aͤuſſern Verhaͤltniſſe, werden alle dieſe Negeln für 

ER, pres einzelnen Meuſchen näher wodificirt. Dieß gilt 


5 Sb z vor 
ir a | 


998 .. Angewandte Moral. 


von allen übrigen, wo es auch nicht befonders erinnere 
wird. ' 


$. 498. 

Coͤrper. 
Das unentbehrliche Werkzeug aller vernuͤnftigen 
Wuͤrkſamkeit, nehmlich der Coͤrper, iſt im Ganzen und 


in feinen einzelnen Theilen einer Ausbildung und Ver- 


vollkommnung fähig, wodurch er brauchbarer und 
tauglicher wird, theils die innere Würffamfeit der Ver- 
nunft zu befördern, im Erkennen und Wollen, theils 
ihre äuſſere Thätigkeit zu unterflügen, oder or Wils 
len zu realifiren. Alſo: 


Stärfe deinen Cörper, verbeffere und übe die 
Werfzeuge der innern und äuffern Thaͤtigkeit, 
der innern und äuffern Sinne und der willkührli⸗ 
hen Bewegung; erwirb dir Förperlidde Ge; 
ſchiklichkeit, ſoweit Natur, ie. und Be 
Pflichten es verflatten.. 


Anm. Die mehreſten befondern Regeln, die daraus fliefs 
fen , bangen ſchon mit der Pflicht der Erhaltung 
des Edrpers zuſammen, und erhalten dadurch einenoch 
groͤßere Verbindlichkeit. 


§. 499. 
Aeuſſere Vollkommenheit. 


Die innere Vollfommenheit des Geiſtes ($. 496. 497.) 
amd feines enger verbundenen Werkzeuges des Corpers ($. 


498.) 





Ingewandre Moral, ‘389 


498); die innere harmonifche Würffamfeit ihrer Kräfte, 
und das Vermögen ‚das, was ihnen gemäß ift, auffer dem 
handelnden Wefen. zu realifiren — woran theils unmit- 
telbar, theilg wegen des zurucfgegebenen Einfluffes auf 
die innere Vollkommenheit moralifch gelegen iſt — 
dieß alles hänge zum Theil ab von gewiffen äuffern Ob» 
ieften und von ihren DVerhältnißen zu uns, deren Inn— 
begriff die .äufere Vollfommenbeic heißen fan. 
Daher das Gebot : 


| Vermehre deine Auffere Vollkommenheit, d. i. 
die äufferen Bedingungen, wovon die Größe deiner Thätig- 
£eit überhaupt und vornehmlich deiner — Wuͤrk⸗ 
ſamkeit abhaͤngt. 


6.500. 
Theile. 
Zu der äuffern Vollkommenheit gehoͤren 
I) unmittelbare Stärkungsmittel des innern Le; 
bens oder der innern Würffanfeit der Vernunft 
und der ihr untergeordneten Kräfte — nebft ven 
Mitteln zu diefen Mitteln. 6.501. 


2) unmittelbare Beförderungsmittel der äuffern 
Würkſamkeit, nebft den Mitteln zu diefen Mir- 
teln. 


3) ein Würfungsfreiß. 


853 : 


300 Angewandte Moral, 


6. 501. 
Innere Wuͤrkſamkeit. 
Die Mittel der erſten Art ($. 500. Num. 1.) verſtaͤr⸗ 
* 


ken 
3) uͤberhaupt und zunaͤchſt das thieriſche Leben, das 
Syſtem der untergeordneten Kräfte 5. B. gefunde, 


nährende Speifen und Getränfe, finnliche Vergnü- 


gungen. 


2) insbefondere das geiftige Leben, als Mittel viele 
und neue Vorffelungen zu empfangen, die Phan- 
tafie zu beleben, die Sinne zu fchärfen 5. B. Ers 
söglichkeiten, Lektüre, Neife, Gefellfchaft, Un⸗ 
terricht — und Mittel dazu. 


3) zunaͤchſt die vernünftige Wuͤrkſamkeit, und be⸗ 


ſonders die moraliſche z. B. Huͤlfsmittel zu mehre⸗ 
ver Aufklaͤrung, zur Hebung im richtigen und zwecks 
mäffigen Denken, zur Gewoͤhnung an eine fluge 








und ſittliche Empfindungs -und Handlungsare — ¶ 


moralifcher Unterricht, gefen , Umgang mit mora⸗ 
liſch gebildeten Menſchen. 


4) Einige ſind blos Mittel zu dieſen Verſtaͤrkungs⸗ 


mitteln des thieriſchen, geiſtigen und vernuͤnftigen 
Lebens, als gewiſſe Dinge und Verhaͤltniſſe z. B. 
Ehre, Aemter, Vermoͤgen, freundſchaftliche Ver⸗ 


bindungen, geſellſchaftliche, bürgerliche Verhaͤltniſſe. 


Was nur periodiſch belebt und die Wuͤrkſamkeit ver⸗ 
mehrt, in der Folge aber sine größere Schwaͤche zuruͤck⸗ 
laͤßt 


Angewandte Moral, 9 


life; B. beraufchende Getraͤnke, aufgeregte Leiden⸗ 
ſchaften) iſt blos ein reitzendes aber eigentlich kein 
narkendes Mittel für die Kraͤffte; >; fein, Gebraud iſt 
“daher nur in fehr feltenen Fällen zuläßig. 


Die Stärfung des thieriſchen Lebens iſt der Ver: 
mehrung des geiftigen, und diefeder Erhöhung unferer 
vernünftigen Würffamfeit untergeoröner — nega⸗ 
tiv, zufolge der Pflicht der. Seldfterhaltung; poſitiv, 

ſo daß das thierifche und geiftige Leben nur als Be 
dingungen von der vernünftigen Würkfamfeit vermehrt 
werden dürfen, wenn die Handlungen, wodurch es ge— 
fchieht , der Würde eines Vernunftweſens entſprechen, 
und den Rang von Pflichten der Selbſterhoͤhung behaup⸗ 

‚ten ſollen. 


Kein Mittel der Selbſtvervollkommnung, keine 
Handlung die auf Erlangung und Anwendung deſſelben 
abzielt, darf der Würde der Vernunft in meiner und 
ieder fremden Perfon , der Gerechtigkeit oder der gröf- 
fern Erweifung der Güte mwiderfireiten. Der 5wed 
kann das Mittel nicht heiligen; denn 
wenn der Zweck, als ein moraliſcher, in der hoͤchſtvernuͤnf⸗ 
tigen Handlungsweiſe ſelbſt, und nicht in dem aͤuſſeren 
Guten beſteht, fo iſts widerſprechend um der vernuͤnfti⸗ 
gen Denkart willen vernunftwidrig zu handlen. Die 
entgegengeſetzte Maxime iſt eine richtige, aber ſittenver⸗ 
derbliche Folge des Grundſatzes der eignen oder frem⸗ 
den Gluͤckſeligkeit, wenn derſelbe als oberſtes Princip 


ler ——— wird. 
Bb4 — Ur 


392° Angewandte Moral, 


$. 502, 
Aeuſſere Wuͤrkſamkeit. 


Die Mittel der zweyten Art ($. 500. Num. 2.) ur 
i. dieienigen, welche die äuſſere Würkſamkeit d. i. 


das Vermögen verſtaͤrken, feinen vernünftigen und fitt- 


lichen Begriffen und Grundfigen gemäß auf. andere. 


Menfchen und auf menfchlihe Verhaͤltniße zu würfen, 
find — iedes auffere Obiekt, worauf man würfen kann; 


iedes Auffere Werkzeug, das zu Nealifirung vernünftis 


ger Zwecke dient; iedes Verhältnig, worinn die Auf- 
fendinge zu uns ftehen, fofern es Die Aeufferung unfes 
rer Kräffte beguͤnſtigt. Hieher gehoͤren; 





1) die ſchon erwähnten (F. 501.) innern, untergeord⸗ 
neten Kraͤffte der Seele und des Leibes, und die 


Mittel ihrer Verſtaͤrkung. Von ihnen haͤngt nicht 


wur die innere Wuͤrkſamkeit, ſondern auch Die aͤu⸗ 


fere ab. 


2) erworbene äuffere Hilfskräfte, als Eigenthum 


(von Sachen), Verbindungen (mit Perfonen) — 


natürliche und felbftgewählte,, als Liebe, Freunds 


fchaft, Ehe, Staat. 


Die materialen Pflichten dieſer Art laufen mit den vo⸗ 
rigen ($. 501.) meiſtentheils zuſammen, und erhalten 


dadurch groͤſſere Verbindlichkeit z. B. Wirchfchaftliche 


keit, Erwerbfleiß, Geſelligkeit, Geſellſchaftlichkeit — 


als nähere oder entferntere Bedingungen, wovon die 


ſelbſteigene Vollkommenheit abhaͤngt. 
—— Die 


. 


\ 


Angewandte Moral, 393 


Die auffere Würffomfeit vermehrt das Intereſſe für 
die innere; ein neuer Zufammenhang, der dieſen Pflich— 
ten größere Krafft und Verbindlichfeit giebr. 


Die Einſchraͤnkungen, die Coordination und Sub⸗ 
ordinagion ſind Diefelben, mie bey der vorigen Pflicht. 


€ 503. 
Wuͤrkungskreiß. 
Drittens ($. 500. Num. 3), der Würkungs⸗ 
kreiß. Hier iſt die Regel: MER 
Verſchaffe dir einen Auffern Würfungefreiß, 
deine vernünftige Ihätigfeit darinn zu beweifen, 
der deinen natürlichen und erworbenen Kräfften 
angemeſſen ift. 


2) der Art nady, paffend. 


2) der Größe nach; nicht zu weit, noch zu 
eng; ſich erweiternd. 


Wer ſeinen Wuͤrkungskreiß noch nicht ausfuͤllt, ſtrebe nach 
feinem neuem, welcher die Wuͤrkſamkeit in ienem einſchraͤnkt 
Man verhuͤte Ueberhäufung, Zerfireuung , als Hinders 
niſſe der vernünftigen Thaͤtigkeit. Unaͤchte Triebfedern 
der Thaͤtigkeit Fönnen zu einer unzeitigen Vergrößrung 
feiner Sphäre bewegen. 


Gebrauche jedes würdige Mitteldeinen Wür⸗ 
kungskreiß zu erweitern, oder zu veredlen z. B. 
Strebe nach aͤuſſerer Ehre, laß deine Faͤhigkeiten, deine 
Geſinnungen ſichtbar und fund werden, beobachte die Ge- 

| Bb5 ſetze 


394 Angewandte Moral, 


fege de8 äuffern Wohlftandes, auch die blos conventio—⸗ 
fionellen, wenn es ohne gröfferen Pflichten‘ z.B. der 
Sparſamkeit, Sittfamfeit, ni —— e HOME 

zu thun, geſche hen kann. 


Es iſt mehr daran gelegen, ſeinen Rn 
Kreiß zweckmaͤſſig auszufüllen, als ihn zu erweitern. Es 
beweiſt und erfordere mehr Tieffinn und reine Gefinnung, 
in einer engen Sphäre.innerlich gros zu handlen ; öfter 


iſt es mehr Eitelkeit oder Unſtaͤtigkeit des Charakters, 


als wahrer, aͤchter Trieb zu innerer Größe, die den 
Menfchen antreibe, in das Weite hinaus nirfen zu 
— 

— 504. 

Allgemeine Regeln. 

Da nicht der Beſitz, ſondern der vernünftige Ges 

brauch der äuffern vernünftigen Kräfte und äufferen 
Güter, nicht das Dafeyn , fondern die weife Benutzung 


feiner Verhältniffe ven Menfchen vervolllommnet: ſo er⸗ 
haͤlt die Pflicht ſich aͤuſſerlich vollkommen zu machen (6. 
499 :503 folgende naen Beſtimmung: 


1) Brauche das, was du haſt; benutze die aͤuſ⸗ 
ſere Lage, worinn du biſt, um vernuͤnftig darinne 
zu wuͤrken, um deine Kraͤffte, vorzüglich die Vers 
nunft darinn zu üben, und deine innere Vollkom⸗ 
menheit zu erhoͤhen. 


2) Suche dasienige zu entfernen, dieienigen äuſſern “ 


Herhältniſſe abzuändern, die deine Vervoll⸗ 
komm⸗ 


— 





Angewandte Moral, — 


Fommmungd.i, die Ausbreitung und Stärfe deiner 
‚vernünftigen Wuͤrlſamteit einſchranken und bin⸗ 
dern. 


5) Strebe nah der Art und nach dem Maaſ 

ſeaͤuſſerer Güter, nach denienigen Verhaͤltnißen, die 
fut dich, nach deinen geſammten natürlichen und 
erworbenen Kräften und nach deinen übrigen (phh⸗ 
ſiſch oder ſittlich) unabaͤnderlichen Verhaͤltnißen — 
Mittel’ abgeben, deine vernünftige Buͤrt ſamteit 
zu befördern. 


"Der Trieb feine Lage zu ändern ift öfters Folge von 


Mangel an Selbſtkenntniß, von Trägheit, Eitelkeit, 
Mißkenntniß feiner Verpäftniffe, oder von andern’ Ars 


u * des gröbern oder feinern Eigennußes, 


| $. 505. 
Sechſte Selbftpflicht, 
Selbſtbegluͤckung. 


6. 465. Num. 3. Suche dein Wohlſeyn d. d. i. die 
Annehmlichteit deines Lebens im Ganzen zu vermeh⸗ 


ren. 
Wohlſeyn iſt mein ſubiektiver Zweck; die poſitive 


Achtung fuͤr mich ſelbſt, als ein vernuͤnftiges Weſen und 


elbſtſtaͤndigen Zweck, bringt es mit fich, dieſen zu be⸗ 


— 
a 


fördern, Dieß iſt alſo auch unmittelbare Selbſtpflicht, 


wie es URBEHEIRE iſt, die Gluͤckſeligkeit anderer zu 
Fehlen: 


Folge⸗ 


396 Angewandte Moral, 


Folgerungen. 

1. Die Sorge, mein Wohlſeyn zu vermehren iſt al- 
fo nicht nur zuläßig, fondern auch pflicht mäſ⸗ 
fig. Sie ift moraliihe Tugend, fo fern fie 
aus Pfliht.d. h. aus Anerkennung meiner Würde, 
als eines vernünftigen Wefens, geübt wird. 


2. Sie iſt nicht moraliſch, wenn mich, die Neigung, 
die natürliche Gelbftliebe unmittelbar dazu beftimmt, 
und feine Neflerion über meine vernünftige Per- 
fönlichfeit, als den moralifchen Grund hinzukommt. 


3. Sie ift unmoraliſch, wenn fie mit der hoͤchſten 
Achtung fuͤr die Vernunft ſtreitet. Dieß iſt der 
Zul, wenn 


a) ih die Würde, die Erhaltung und Vervoll- 
kommnung meiner Perfon dem Hange zum Ver⸗ 
gnuͤgen und der Furcht vor Mißvergnügen und 


‚Schmerz aufopfere; ven Zuftand — der Perſon 


und der Perfönlichfeie vorziehe, 


b) wenn ich die Achtung für andere vernünftige 
Wefen bey Seite fee; wenn ich die Erhalsung 
and Vervollkommnung ihrer Perfon, die Er» 
haltung ihres Wohls, und die phufifch und mo> 
raliſch mögliche Beförderung ihrer gröffern Glücks 
feligfeie nicht zur einfchränfenden Bedingung als 
ler Mittel zu meinem eignen Wohlfeyn mache, 


$ 506. 


Angewandte Moral; 397 


| 6. 506. 
Pe Derfchievdene Quellen. 
Die Handlungen, welche das Materiale der Pfliche 
der Selbſtbegluͤckung, fo mie auch der Coben $. 490. f. 
nur allgemein erklärten) Gelbfifhonung ausmachen, 
koͤnnen aus verfchiedenen Quellen entfpringen, einzeln 
und in Verbindung. 
3) aus natürlicher Selbſtliebe, ohne moralifchen Ders 
nunffgebrauch. Hier haben fie zwar phnfifchen und 
tosmologifchen Werth, aber feinen firtlichen. 


a) mit möglidyer Anwendung der Verhunfe — 
unfittlid). 


«) ohne alle, auch nur empirifche vernünftige 
Reflerion — unklug, thoͤricht und unſitt⸗ 
lich. 

PB) mit Anwendung der empirifchen , aber nicht 


der reinen, praftifchen — — umnſitt⸗ 
lich allein 


b) ohne Moͤglichkeit des Vernunftgebrauchs z. B. 


bey kleinen Kindern — nicht ſittlich, ie 
klug. 


2) aus Pflicht. 

a) ohne daß das Vergnügen ſelbſt der Zweck, oder 
doch der Hauptzweck vondiefen Handlungen wäre ; 
weil es Pflicht der Selbſterhaltung und Ver⸗ 
vollfommmung iſt, nach gewiſſen innern nnd aufs. 

fern 


398 Angewandte Moral. 


ſern Gegenſtaͤnden zu ſtreben, mit welchen die 
Natur das Vergnuͤgen als eine inne vers 
bunden hat. 


b) mit dem Zwecke des Vergnügens, 


0) als. eines Mittels zu Erfüllung der Pflicht, 
zu Belebung der Forperlichen und geiffigen 
Kräfte. Hier ift das Vergnügen ieder aus 
dern Pflicht pofitiv U als Mit⸗ 
tel dem Zweck. 


8) um feiner felbft willen, als eineg unmit tel⸗ 
baren Stoffs der Selbſtpflicht. Hier wird 
der Zweck und die Pflicht, für feine Gluͤckſe⸗ 
ligkeit zu ſorgen, den übrigen Zwecken und 
Pflichten nur negativ ſubordinirt dh. in fo 
fern geboten, als es ohne Verlegung und 
Einfhränfung (nicht : als es zur Beförderung) 
anderer "höheren Zwecke und Pflichten geſche— 

ben fans. Go wird die Sache hier angefes 

ben. 03 


$: 507. - 

Die Vorſchrifft, fein eignes Wohl zu erhalten und 
zu vermehren, iſt allgemein und nothwendig gebietend 
für alle endfiche, vernünftige Weſen, die ver Gluͤckſe⸗ 
ligkeit beduͤrftig find, undalfoein abfolutes, moralifcheg 
Geſetz. Die Vorfchriiten aber, die uns lehren, wie ein 
seder Menſch Diefem Gefege gemas fein Wohl ficher er- 
halten und zweckmaͤſſig befordern fol, gründen fich auf 

Er; 





Angewandte Moral, 399 


Erfahrungen von der. menfchlichen Natur und Verhaͤlt⸗ 


niſſen überhaupt, und von der Natur und den Verhäaͤlt⸗ 
nißen eines ieden Einzelnen insbefondere ; fie Haben da- 
‚ber feine abfolufe Nochwendigfeit und Allgemeinheit. Al⸗ 
lein dieß iſt feine Eigenthuͤmlichteit dieſer Art von Re⸗ 
geln, ſondern aller materialen Regeln überhaupt, und 
iſt kein gültiger Grund, fie. von der Gittenlehre gaͤnz⸗ 
lich auszuſchließen. 

§. 508. 

Verſtaͤrkte Verbind Tichfeit, | 
Die Pflichten , deren Erfüllung zugleich meine Gluͤck⸗ 
ſeligkeit fichere oder vergrößert, bekommen Dadurch eiz 
nen neuen und zwar fittlichen Beweggrund (d. 1. Vers - 
pfliheungsgrund) , daß ich in Beobachtung derfelben zus 
gleich die Pflicht der Selbfifhonung und Selbſtbegluͤ⸗ 
Kung ausübe, Es if Selbſtpflicht, wir den Selbſtge⸗ 


maß meiner moraliſchen Gefinnungen und Hand⸗ 


lungen zu verfhaffen und zu erhalten, fo weit es ges 
ſchehen kann, ohne Die Moralitaͤt ſelbſt dadurch einzu⸗ 
ſchraͤnken. Dahin gehoͤren; 


1) Das moraliſche Gefuͤhl der Selbſtzufriedenheit, 
das aus der Vorſtellung meiner vernünftigen Wuͤr— 
, de entfieht, und dadurch befebe wird, daß ich die⸗ 
ſer Würde gemäß handle. i 


Kenntniß ſeiner ſelbſt, als eines ——— Weſens, 
die ſich auf unpartheiiſche Pruͤfung ſeiner Handlungen 
und Geſinnungen gruͤndet, beſtimmt dieſem Vergnuͤgen 
fine moraliſche Gränze, 

2) das 


Es 


400 Angewandte Moral, 


2) das angenehme Gefühl meiner ra äffte und ih⸗ 
rer harmoniſchen Thaͤtigkeit. 


3) Das angenehme Gefühl, das mit ver Vorſtel— 
lung deffen verbunden iſt, was ich Durch meine 
moralifhen Handlungen Gutes bewürkt habe, 
für mich ſelbſt — unmittelbar — mittelbar, durch 
Spmpathie und durch wechfelfeitigen Einfluß des 
Menſchenwohls auf mein eignes. 


Das Recht und die Pflicht dieſes Selbfigenußes geht fo 
sveit, als derfelbe mich an der Erfüllung anderer Pflich: 
ten und an dem fernern FR meiner Gittlichfeie 
nicht hindert. 


.$. 509. 
Neue Pflicht. 
Menn aber auch dasienige, was zu meinem Mohlfenn 
beyträgt, nicht ſchon aus andern Gründen Pfliche iſt: 
fo ifts doch an fich felbit Forderung der Vernunft: 


7) mein eignes Wohl nur der höhern Pflicht aufzu⸗ 
opfern. Sonſt bin ich ungerecht gegen mich 
ſelbſt. — 

2) ieden möglichen Beytrag zu meinem Wohl anzu—⸗ 
nehmen, und felbft zu.befordern, der Feiner höhe,“ 
ren Pflicht widerſtreitet, wo alfo 


3) weder in Den Mitteln zum Befis und Genus 
etwas Unwuͤrdiges liegt, noch auch 


b) der Genuß ſelbſt ſtreitet | 
“) mit 





* 


Angewandte Moral. 401 


&) mit meiner höhern Beſtimmung als ver⸗ 
nünftiges Weſen; mit der vernünftigen Thür 
tigkeit. 


.Bß mit meinem wobiſeyn i im Ganzen 
Sonſt bin ich ungütig gegen mich ſelt. 


§. 510. 
Beſtandtheile der Gluͤckſeligkeit. 
Unſer vollſtaͤndiges Wohl enthält folgende Beſtand⸗ 
theile: 
„D moralifche Selbftzufriedenheif. 


2) Zufriedenheit mit feinem Zuffande, oder Wohlz 

fahrt, hierzu wird erfordert 

a) daß ich durch zunehmende, fortfchreitende Bes 
friedigung meiner Neigungen würflih Dergnüz 
gen genieße, 

b) durch feine verlegten Neigungen, oder abneh⸗ 
mende Befriedigung derfelben merflich leide, 

c) für die Zufunft neue Befriedigungen, Genüfs 
fe und Güter hoffe, und 

d) fein Uebel, Fein Sinfen des Genuffes im Gate 


zen fürchte. 
§. 511. 


Becedingungen der Gluͤckſeligkeit. 

Dieſes Wohlſeyn beruht auf kolgenden Gruͤnden: 
1) fubieftive Moralität. ——— 
Morxalpyhiloſophie. ee => 


402 Angewandte Moral, 


2) IE ge für den bare — 
Sheit * * 


3) — Guͤter 9 Verhaͤltniße, Suiegiter. 
4) Renntniß derfolßen und ihres beſten Gebrauchs. 


5) Sicdyerheit ihres möglichen Gebrauchs” für alle 
Zufunft. j 


X Sigerpeit vor den Lebe. 


2 E 512. 
Ohnerachtet es eben fo unmoraliſch, als fruchos, 
und für das Wohlſeyn ſelbſt gerftörend ſeyn wuͤrde, ein 
ſolches menſchliches Wohffeyn ($. STo.F) in feiner Voll⸗ 
ſtaͤndigkeit zu verlangen, weil’ die Bedingungen veflel= 
ben zum Theil uͤberhaupt fuͤr den Menſchen hypothetiſch 
unmoͤglich ſind, zum Theil aber auch auſſer unſerer Ge— 
walt liegen: ſo iſt es doch nicht unmöglich, ſich ob» 
ne Nachtheil für die Tugend dieſem Ideale zu nähern, 
und es iſt Pflicht, darnach zu ſtreben; FL: muß aber - 
Diefer Zweck allen übrigen Sweden negativ thöbroinire 

werden." as x . 

TE N 

Moraliſche Klugheitslehren, ihr Begrif. 
Die ſpecielle Anweiſung zur Gluͤckſeligkeit iſt der 
Gegenſtand einer beſondern, empiriſch praktiſchen Ver⸗ 
nunftwiſſenſchaft, der allgemeinen Klugheitslehre, 


u 


die aber von moraliſchen Zwecken abſtrahirt. Die Mo⸗— 
ral — muß eine Anleitung geben, das Beftreben nach eig⸗ 


; Racer 


r 


Angewandte Moral, 403, 


ner Gluͤckſeligkeit den-höhern Beſtrebungen unferzuord» 
nen, und mit. denfelben zy vereinigen. - Es muͤſſen Vor⸗ 
ſchriften ertheilt "werden, worinn, Die Klugheitsfehren 
durch Moralitaͤt modificirt und näher beſtimmt fi ind, um 


einen moraliſchklugen Menſchen zu bilden, , Die 





Gründe dieſer Regeln, liegen alſo theils in, der Moral, 
theilg in der, Klugheitslehre; ſie ſelbſt erhalten von die⸗ 
Ausführung, 
$. 5 14. 
Die Lehren felbft, 

‚7. Erhalte dir vor-allen Dingemdie Zufriedenheit 
mie dir ſelbſt, durch eim Leben, dag deiner wuͤr⸗ 
dig iſt, und durch den Gedanken, da dein pers 
ſoͤnlicher Werth unverletzbaͤr, ‚ind deine moraliſche 
Freyheit eines —— * unendliche räbig- 
iſt. 

Maͤßige deine Neue über unmorafifhe — dei⸗ 
ne Selbſtſchaam über unlautere Geſinnungen, fo_ weit 
es ohne Nachtheil für den Zweck diefer Gefühle gefches 
hen kann, durch die Betrachtung deiner unverlegbaren 
Würde, deines immer möglichen Zortfchreitens in der 
Tugend, der unverfchulderen aber befiegbaren ii ai 
niße des Guten. 


2. Erhalte dir die Zufriedenheit mit deinem Zu; 
ftande, und Scidfale im Ganzen, durch den 
Glauben an eine moralifche Weltregierung und an 
deine ewige Fortdauer. Genieße zwar die Gegen 

+2 wart, 


Peer 


— 


404 


Angewandte Mortal, 


warf, aber halte dich ans Ganze, und betrachte 
ieden Mangel, iedes Uebel des Augenblics und 
Zheiles in Bezug auf das unermeßliche Ganze deis 
ner Eriftenz. Belebe diefe Ueberzeugungen, und 
mache fie dir finnlich und geläufig durch religiöfes 
Nachdenfen, durch DBerrachtung der Natur, ver 
Begebenheiten, der Gefchichte — durch Geber — 
svenn dieß ein Mittel für dich iſt, ienen Glauben 


inniger und lebendiger in dir zu machen. 


3. Erfülle deine Pflichten gewiffenhaft, gegen dich, 


gegen Gott und Menfchen, und fey dabey auf: 
merffam auf die materialen guten Solgen, 


welche, öfters daraus entfpringen. Freue dich ihrer! 


3 4. Aufmerkſam fey auf alles Bute, Angenehme 


und Schöne — in der, Welt-überhaupt — befonz 
Ders in deiner Lage — auf alle Gegenftände des 
gegenwärtigen erlaubten Genufles, angenehmer Er- 
innerung und gegründeter Hoffnungen.  Geniefe 





Dieß alles mit Sorgfalt. Ueberſieh auch niche 


das Kleine, das Altägliches 


$. 515. 


3. Mache dir geläufig richtige Vorftellungen von 


menſchlichen Glücfeligfeiren und von dem ge; 
wöbhnliden Gange der Dinge, um feine zus 
fälligen Theile und Mittel derfelben als nothwen⸗ 
dig, feine vergänglichen als bleibend zu betrachten, 
um den Verluft eines Gutes, oder das Verſchwin⸗ 

« — den 


Angewandte Moral. 405 


den einer beftimmten Hoffnung beffer erfragen zu 
koͤnnen. 


6. Gewoͤhne dich vorzüglich an dieienigen Vergnuͤ⸗ 
gungen, welche mehr als andere in deiner Gewalt 
find, die ſich weniger abnützen, die das Gefuͤhlver⸗ 
mögen zu noch mehrern Genuße ſtaͤrken, die dich 
zugleih cultiviren, und dir die Ausübung der 

Tugend in vielen Fällen erleichtern: z. DB. an 
theilnehmende Vergnügen, an den Gebrauch deiner 
Kräffte, an Ordnung und Harmonie, an Vergnü- 
gungen der feinern Sinne, der Gefellfchaft, der 
Wohlthaͤtigkeit, der Freundſchafft, der Liebe — 
folher Hoffnungen, wo du felbft zu Erreichung 

des Zwecks Fleine Pläne entwerfen, und zu ihrer 
Ausführung gefchäftig feyn Fannff. 





7. Faſſe mehrere zufällige, lebhafte Zwecke, 
mworunter du dein Deftreben und Wünfchen (Diss 
iunftiv) vertheileft, um von einer Befchäfftigung, 
wenn fie dich nicht befriedigt, leicht und freudig 
zur andern übergeben, um die Dereitelung einer 
Hoffnung leichter ertragen zu fönnen. Wird ein 
Ziel dir verrüctz eile, dir ein anderes zufter 
‚den, und verfolge nun diefes mit Lebhaftigfeit, 
um. des zerfförten Planes zu vergeflen; wenn Eis 
ne Hoffnung getaͤuſcht iſt; bemühe dich ſchnell zu 
einer andern. überzugehen ; wenn dir ein Gut ges 
raubt iſt ergreife ſchnell ein anderes, und fo ver» 

Cc3 hindere, 


406 Angewandte Moral, 


hindere, daß du dich nicht uͤber die feinen Zu⸗ 
faͤlle des Lebens kraͤnkeſt. 


8. Erlaubten Genuß der grobſinnlichen, 
thieriſchen Sreuden verſage dir nicht; beobachte 

nur ſorgfaͤltig die Schranken der Natur und des 
Beduͤrfniſſes; ſey mäßig und enthaltſam, um die— 
fer und anderer Freuden, vornehmlich aber um deiner 
eignen Würde. willen ;_ vermehre deine Bedürfniffe 
nicht über deine Kräfte, über dein Vermögen, 
noch zum Nachtheil der freyen Herrſchaft über dich 
ſelbſt. 


$. 516, 

9. Um weniger zu leiden, * 

a) ſichre vorher, ehe du leideſt, vor allen Din⸗ 
gen die Zufriedenheit mit dir ſelbſt durch ſtren— 
ge Rechtſchaffenheit; maͤſſi ige deine Wuͤnſche und 

Hoffnungen zufälliger Guter; im Ganzen hoffe 
Das Belle, aber unbeftimme ; im Einzelnen und 
beftimme hoffe wenig, nicht mit Zuverſicht, 
nicht zu lebendig; übe dich In der Selbſtver— 
laͤugnung; mache dir den Gedanfen an mögli- 
chen Verluſt des Guten, was dich ieko noch er- 

"freut, geläufig; zweifle ben beſtimmten Erwar⸗ 
tungen, und mache Dich mit der Borftellung, 

daß dein Hoffen getaͤuſcht werden koͤnne, ver⸗ 
traut; durchdenke und durchfühle im Voraus die 

Troſtgruͤnde, die dich im Unglüf aufrichten 


follen. 
b) Iſt 





Angewandte Moral, 407 


—5 Iſt das Uebel da: formäßige die Empfindung 
deſſelben durch möglichft feſte, ruhige, deutliche 
' Betrachtung: feiner Natur, feiner wahren Gröf- 
‚fe, feiner Urſachen und. Hülfsmittel;  täufche 
Dich felbft nicht mit leeren Einbildungen und 
Hoffmingenz;  verfleinere "aber vergrößre es 
auch nicht in deiner Phantafie, fondern beſtrebe 
Dich bald, es zum Gegenftand eines affeftlofen 
Nachdenfens zu machen; verbinde iedes Reiden 
mit irinerer und äufferer Vaͤtigkeit, und zwin⸗ 
ge dich, dem blos yaffiven, empfindenden Zu⸗ 
ſtande dich zu entreiſſen; ziehe mit deinen Ges 
danfen und Handlungen Das Gute heraus, was _ 
darinn liegt; vergiß nicht aus denienigen Quels 
len der Freude zu ſchöpfen, die dir noch offen. 
an ſtehen; haͤnge der. unthäfigen | und gedanfenfofen 
Empfindung oder den ſchwermůcthigen Traͤume⸗ 
reyen der Phantaſie nicht nach, wenn ſie dir 
auch noch fo viel melankoliſchen Genuß gewähs 
ren, denn fie rauben dir Krafft und Ihätigfeit ; 
zerſtreue dich, entfchlage dich iedes Gedanfens 
IT san iedeg- Uebel, wenn er nicht zugleich auf mög- 
— liche Mittel geht, es wegzuraͤumen oder zu ver 
"mindern; halte dich — wenn Alles’ mislingt — 
on Das Bewußtſeyn „deiner Würde, belebe es 
durch Handlungen der Tugend, wozu du noch 
irgend Krafft und Anlaß haft; belebe die alltroͤ⸗ 
” "fnde Usberzeugung vom Dafeyn eines Gortes 
1 shi und die erfreuende, ffärfende Hoffnung ver Un: 
wg Cr4 ſterb⸗ 


— 


408 Angewandte Moral, 


fterblichfeit, doch ohne dich durch diefe Vetrach⸗ 
tungen von der gegenwaͤrtigen Welt abziehen 
und an dem Gebrauche der nahe liegenden, ſchuld⸗ 
loſen Mittel für deine Leiden hindern zu laßen. 


Menſchenpflichten. 


6. 517. 
Begriff. 

Menſchenpflicht iſt iede Handlung, deren Beweg⸗ 
grund die Vorſtellung von einem andern Menſchen auſſer 
mir, als einer Perſon und als Zweck an ſich ſelbſt iſt 
— inſofern er es iſt. 


$. 518. 
DBeweisgrund. 
Die Derbindlichfeie der Menſchenpflichten 
überhaupt wird durch denfelben Beweisgrund erkannt, 


woraus oben ($. 459.) die Selbſtpflicht hergeleitet 
wurde. 


- 


Der Menſch iE ein vernünftiges Weſen; 5 ‚diefeg ik 
Gubieft der Zwecke, alfo Zwed an fich ſelbſt; mithin 
ein Gegenftand, ven ich als ſelbſtſtaͤndigen Zweck — 
poſitiv und negativ — achten muß, wie mich felbff. 


$. 519. 
3 Menfchenfchäsung. | 
Die allgemeine Tugend oder die Denkart eines Men⸗ 
ſchen, der dieſe Pflicht anerkennt heißt Menſchenſchä⸗ 
ZUNG, 








1° 





Angewandte Mora ‚409 


‚ung, Achtung für die Würde der Menſchheit in der 
Perſon eines ieden Menſchen. 


Ihre Wuͤrkungen ſind 
1) blos negativ, wenn man alles dasienige unter» 
läßt und dasienige ausübt, deffen Unterlaffung eine 
Verachtung der Menfchheit anzeigen wuͤrde. 


2) Pofitiv, mern man fein Thun und Laſſen ſe 
einrichtet, daß man dadurch ſeine Anerkennung der 
Menſchenwuͤrde ausdruͤklich offenbaret. 


$. 520. 
—— J——— 
. Negativ erkenne ich die Wuͤrde eines Menſchen, 
als eines vernünftigen Weſens an, wenn ich Feine 


Maxrxime befolge, 


a a) deren allgemeine Befolgung deswegen ein noth⸗ 


mwendiger Gegenftand der Misbilligung eines ies 
den Menfchen, als eines. vernünftigen Wefeng, 
feyn würde, weil fie in dieſer Allgemeinheic ſich 
felbft widerfpräche. 
b) Wodurch die Würde eines Menfihen pofitiv vers 


laͤugnet, und vaffelbe blog als Mittel wider 
feine Zwecke gebraucht würde. 


ur ©) Deren allgemeine. Befolgung alle geſellſchaftli⸗ 


de Derbindung der Menfchen zu einer zuſam⸗ 
mengeſetzten Natur gänzlich aufheben müßte. 


Cc5 | 3 Dr 


Yıo Angewandte "Moral, 


94) Deren allgemeine Berofgung ſelbſt zu bewuͤrken, 
die» Pflicht der Gerechtigkeit gegen mid) 
jelbft, als Mitglied der Geſellſchaft betrachtet, 
im Aalen ‚Grade — würde, 


IM Ei — D——— £. ar)! san ou ’ 
Poſit ive Menfhenfhäsung. e 

6 2. Pofitive Achtung für die Nehfchenioihrde beibeife 

ch durch —— ſolcher Meximen, 


a) deren allgemeine und thätige Anerkennung ein 
nothwendiger Gegenſtand der Billigung 
für den Willen eines ieden Menſchen, als 

ne Mitglied einer vernuͤnftigen Geſellſchaft betrach⸗ 
tet ſeyn müßte, Deren allgemeine Nichtauerken⸗ 
nung im Gegentheile ohnmoͤglich der Gegenſtand 
des Willens aller und ieder Menſchen durch Ver⸗ 

nunt ſehn koͤnnte· hai, 


- b) Wodurch die Würde eines Menfehen: Hof tiv an» 
erkannt wird, indem ich ihn nicht blos als 
Mittel, ohne Rückſicht auf Beforderung 


andeinen ‚gignen Siwecke behandle. J 


* KISEN ‚Deten: allgemeine Befolgung die gefellfchaftliche 
Berbindung der Menfcheninniger und vollkomm⸗ 
„mer. mache, und ihre AI N befoͤr⸗ 

dert. + aA 

Anke * 


d) Deren allgemeine — wenn es moͤglich 
wäre, zu bewuͤrken = die vollkommenſte Er⸗ 
2(b 222 weiſung 





Angewandte Moral. Yu 


weiſung der Güteigegen mich feldft (F. 465.) 

feyn wide — 
ap STH a ur — 

—— Guͤte gegen andere. 377% 
Durth negat ive Anerkennung der Menſchenwuͤrde im 
iedem Menſchen, beweiſe ich den Menſchen Gerechtig⸗ 
keit; Durch poſitive Verletzung derſelben, werde ich uns 
gerecht. Durch poſitive Anerfennung der Renſchen⸗ 
wuͤrde in iedem M enſchen beweiſe ich Sute; Bey einer 
negativen Verletzung derſelben Handle ich liebios im 
; en, 1 — 


pen and ttalts (2 
$. .323., ns nn ge 
Gerechtigkeit ange Brite. 

Die negative Menſchenſchaͤtzung (. 520) oder Ger 
rechtigkeit gegen ‚andere (S. 522.) ſchließt in ſich 
1) Erhaltung der Menſchenwürde, die mit der 
v kr meiner "eignen (8.1464, Num. 1.8 

472.) einerley'ift ‚und diefelben' —R&& Pflich⸗ 
Bi ** in ſich begreift. * JENE 7) 


—* — Menſchene chaltung oder ei ihrer 
. Mpefentlichen Menſchheitsrechte/ p "Der ihret Sräffe 


und der Würffamfeit berfelben. IRA 
rg } 


"D- Wenoenfbonung . er Nichtverlegung der 
Gufaͤlligen) ‚Rechte Der, Menfchlichkeit, oder ihres 
Wohles, und der Gater, wovon es abhängt. 


82 


BR $. 524. 


412 Angewandte Moral. 


$: 524. — 
Güte gegen andere, 
Die pofitive Menfchenfhägung oder Güte gegen 
andere ($. 521.) f.) begreift: . 
1) Erhohung der Menſchenwürde, modurd die 
marerialen Pflichten der Selbfigüte mit den Menſchen⸗ 
pflichten vereinigt werden. $. 465.Num. 1.$. 493. 


2) Dervolllommnung der Menſchen, Vermeh⸗ 
zung ihrer Kraͤffte und ihrer zweckmaͤſſigen, freyen 
Würffamfeit, oder Beförderung ihrer Rechtes: 


3) Menſchenbeglückung d. i. freye thätige Bemuͤ⸗ 
bung für Menſchenwohl. 
$. 525. 
Natuͤrliche, Eluge Menfchenliebe, 

Das Princip der Menfchenpflichten ($.518.) bes 
ſtimmt den ‚Unterfchied der. moralifhen Menfchenfchäs 
gung ($. 519), ;und der Handlungen, welche dieſer 
Gefinnung :gemäs find, von, andern Gefinnungen und 
Marimen, die fonft in den äuffern Würfungen öfters mit 
ienen zufammentreffen, nehmlic 2 

3. von der inſtinktartigen Menſchenliebe, als 
unmittelbare finnliche Neigung, vermittelft der 
Sympathie und des unmittelbar finnlichen Eins 
drucks — die fich gar wohl mit der Eigenliebe und 
Dem Eigendünfel ($. 467.) verfrägt, und mit ih⸗ 
nen gleichen morafifchen Werth oder vielmehr 


Vichtwerth hat. 
2) Von 





Angewandte Moral, 413 


2) vonder verftändigen, obgleich nicht blos äuſ⸗ 
ferlid) ſcheinbaren, Menſchenliebe, diefich auf 
Keflerion des Verſtandes gruͤndet, da man dent 
Menschen, als. ein Mittel feiner Wohlfahrt inner» 
lich liebt, aus mittelbarer — z· B. aus na⸗ 
tuͤrlicher Dankbarkeit. 

3) von der äſthetiſchen Menſchenliebe die ſich 
auf Liebe zur Ordnung, zur Harmonie und ver⸗ 
nuͤnftig modificirte, aber dennoch nicht moraliſche 
mittelbare Neigungen gruͤndet. 

4). von der politiſchen, klugen Menſchenliebe 
d. i. von der aͤuſſern Schonung und Beförderung 

der Menſchenrechte ————— und Guͤ⸗ 

te), um 


a) natuͤrlichen oder buͤrgerlichen, rechtmaͤßigen oder 
unrechtmaͤßigen Zwangsuͤbeln auszuweichen. 

b) Gunſt und Wohlthaten von andern zu erhal⸗ 
ten, oder doch erhalten zu Fünnen (ihnen das 
Vermögen, die Krafft dazu nicht zu rauben). 


©) um der Achtung und Liebe willen, die man bey 
andern für Gefinnungen der Menfchenfchägung 
und Menfchenliebe vorausſetzt. Diefe Marime 
der Großmuth bahnt den Uebergang zu derieni⸗ 
gen, aus eigner unmittelbarer Achtung fuͤr 
Pflicht und Menſchheit recht und wohl zu thun. 


ch um Achtung für die Menſchenrechte uͤberhaupt, 
eine Gefinnung, Die meinen Privatzwecken guͤn⸗ 


ſtig 


414 Angewandie Moral 


ſtig iſt in der Gefellichaft zu erhalten, und zu 

befoͤrdern, nur ‚um ‚meinetwillen. J last 
Sofern dieſe — und Maximen Logins 
der natürlichen Selbftliebe entipringen ‚haben fie Fei- 
nen moralischen, innern, obgleich einen cosmologiſchen 
und äuffern Werth, und fie Fönnen eben fo wohl pflichts 
widrige! Handlungen hervorbringen, als ſolche, die der 
Pflicht gemaͤs find’; Handlungen , die ‚wider die,ächte 
Gelbftpflicht laufen, oder ee mit der —** Men⸗ 
eye Br 


Een. fie aber aus ächter mornlifcher Selbfifhä- 
tzung entſprungen, ; sder auf diefelbe gepflanzt: fo ha⸗ 
ben fie allerdings fietlichen Werth; fie find aber auch 
alsdann nothwendigerweiſe mit allgemeinen Gefi nnungen 
der Menſchenſchaͤtzung, und mit andern aus ihnen unmit⸗ 
telbar entſprungenen Maximen verbunden, weil dieſe 
auf denſelben ſittlichen Gruͤnden mit der Selbſtſchaͤtzung 
beruhen ‚and von. Ihr ungerttenplich, iſt. 9: 461. 


€. 536. 
nn Gr der Reinheit 


J unmittelbarer und reiner eine Handlung, oder 
ein ganzes Verhalten, das fich auf andere Menfchen be⸗ 
zieht, aus der Vorſtellung herfließt, daß fie vernuͤnfti⸗ 
ge Weſen und ſelbſtſtaͤndige Zwecke ſund; ie weniger Ein⸗ 
fluß andere natürliche Empfindungen und Neigungen dar: 
auf haben; ie mehr es fich über alle Menfchen als, ver- 
Ef Weſen verbreirer und anf Die ganze Beſtim⸗ 

mung 





ermordi. Aral #8 


sehr 


Zwecke dem höchften, die — dem — une 
terordnet; ie genauer, es endlich, die Proportion zwi⸗ 
ſchen den verſchiedenen Menſchenpfuchten unter fi ich ſelbſt 
in Abſicht auf ihre verfchiedenen merke" und perfönlis 
chen Gegenftände, und wechſelſeitig zwiſchen den Men⸗ 
ſchenpfüchten und Selb ſtpflichten beobachtet deſto aͤch⸗ 
ter und reiner iſt meine enfehenfeäsung. —** 


U gu & 
— 


Vexhaltnß den Näguigen, * — 


nz 


durch den grofen Bufammenhang,, 1 „worin A unfer eigneg, 
Wohl mit dem Wohle der übrigen Menſchen ſteht, hat 
die Raun uns ‚Die, ‚Erfüllung der ——— fuͤr 
viele Faͤlle erleichtert. Denn —R 
1) wenn wir den M tenfchen wohlthun, —7 en fie . 
geneigter, unfer eigneg zu befoͤrdern; Eh Ungerech⸗ 
ligteit und Liebloſigkelt wuͤrkt zu unſerm Be 


auf die Geſiunung der Menfchene! u 2 


2) Wir fegen andere in den Stand, uns —— 

wenn wir ſie als Mittel unſers Wohls erhalten 
‚und. ihre Boltemenbs ( fo. wie ihre — 
* vermehren. 


3) Unfre Bemühung, 5 thun, die dadurch vers 
mehrte eigne Xhätigfeit, übt und erhöht unfre Kraͤff⸗ 
te, mache ung volfommener und glüflicher. 


* 


4) Die 


416 Angewandte Moral, 


"9 Die Anſchauung fremder Vollfommenheit, und 


unfrer eignen Würffamfeit als der Urfache, die fie. 


hervorgebracht, vergnuͤgt und beglüft uns. 


..5) Unfere eignen Rechte und Zwecke werden fi cherer, 


wenn wir Durch Das eigene Benfpiel unferes ges 
rechten und liebreichen Verhaltens die Gefinnungen 
der Menfchenachtung und Liebe erhalten , ausbreis 
ten und beleben. 


Deffenungeachtet Fönnen ſowohl die ſelbſtiſchen, als 
die geſelligen Neigungen, ſie moͤgen nun inſtinktartig 
oder mit Reflexion und Anwendung unſeres Verſtandes 
wuͤrken, die Pflicht der Menſchenſchaͤtzung öfters er⸗ 
fhweren, und vornehmlich die rechte Bey- und Unter« 
ordnung ber verfcjiedenen (materialen) Menfchenpflich- 
gen verhindern. 


$. 528. 
Berfündigungen an Menfchen, 
Man verfuͤndigt fi fih an andern Menfchen 


3) durch Ungerechtigkeit 


a) durch Verläugnung oder Enfweihung der 
Menſchenwürde, unwuͤrdige Beurtheilung und 

, Behandlung der Menfchheit, auch in feiner 
eignen Derfon. 


b) durch Verlegung der weſentlichen menſchlichen 
Kröffte und Rechte, oder durch Seleidigung 
der Menſchheit. 

e) Durch 





Angewandte Moral. 417 


©) durch Störung der Gluͤckſeligkeit, oder. durch 
Beleidigung der Menſchlichkeit, Unmenfche 
lichkeit —  aftive ‚oder paſſive d. 1. zulaßende, 
wo der andere ein Recht auf meine Kraͤffte und 
auf ihren Gebrauch zu feinen Endzwecken erlangt 
haste z. D. durch einen Vertrag — Unehrlich⸗ 
keit, Untreue, Undankbarkeit. 


— durch Liebloſi gkeit, Mangel an Guͤte 


a) Vernachläßigte Erhöhung der Menſchen⸗ 
würde, auch in mir felbft. 


53 Pernachläßigte Bildung der Menſchtet, bi 
Erhöhung ihrer Kraͤffte. 


) vVernahläßigung menſchlichen wohle. 
3. B Unbilligkeit Ungeſelligkeit, Unbarmherzigkeit, 
Ungeſellſchaftlichkeit „Mangel an Patriotismus, ar 
Weltbůrgergeiſt. Ser 


3) — fehlerhafte Proportion, Es: und Sub» 
ordination 


2) der Selbſt/und Menſchenpflichten z. B. ſchwa⸗ 
che Nachgiebigkeit von feinem Rechte, unmo«- 
raliſche Aufopferungen (denn die Pflichten gegen 
Gaott koͤnnen nicht si wie unfen gezeige 
“ wird. ) 
—* der Pflichten gegen — perſoͤnliche Ob⸗ 
air iekte der Menſchenpflichten z. B. parsheiifche 
— ——— 
WMoralphiloſophie. DD» €) Der 


48 Angewandte Moral, 


c) ver Pflichten , die fich auf verſchiedene nicht per⸗ 
fönliche Obiekte ver Menfchenpflichten beziehen 
3 DB. auf die Bollfommenheit oder auf das Wohl 
des Menfchen, und auf verfchiedene Beſtand⸗ 
theile und Bedingungen von beyden 5. B. uns 

zeitige Nachfiche gegen Sehler. 
Diefer Mangel an Proportion wird durch Ableitung eis 
ner jeden Pflicht aus dent ächten Princip, welches zu- 
gleich die Graͤnzen und Verhältniffe derſelben beſtimmt, 
an ſicherſten vermieden; denn gewoͤhnlich iſt er mehr die 
Folge einer unaͤchten Geſinnung eig unrichtiger und 

mangelhafter Einſichten. 
$. 529. 

Duelle 

Die Quellen Diefer Verfündigungeh ($. 528) fiegen . 


I) im Egoismus (8.469. 2.) oder dem ausſchließen⸗ 
den Bewußtſeyn von ſich felbft, als einem ſinnli⸗ 
chen Wefen, und in ven Quellen diefer Gefinnung, 
nehmlich in dem Mangel an vernünftiger Selbſt⸗ 
ſchaͤtzung, die mit Menfchenfchagung überhaupt vers 
bunden if. Der Egoift mache fih zum einzigen 
oder zum letzten, oder zum vornehmſten Zweck 
aller Handlungen, dem er. alles andere negativ und 
poſitiv fubordinirt. 


2) in der Menge und Stärfe der Neigungen, 
vorzüglich der felbftifchen, aber auch felbft der fym« 
pathetiſchen und gefelligen ; Stärfe der Hinderniffe. 

i | ta 





Angewandte Moral, 419 


” in dem Mangel an Sertigfeic in der Vorfiel- 
fung von andern Menfchen und ihren Derhaältnif- 
fen, woraus beſonders unvorſaͤtzliche DHRMBUN- 
gen oder Lieblofigfeiten entſpringen 

4) in. Vorurtheilen von einer höchſten oder gar 
einzigen Selbfipflicht ; daß ieder nur fuͤr ſich ſor— 

gen muͤße; ieder ſich ſelbſt der Naͤchſte, Menfchen- 
pflicht nur ein Mittel der Selbſtpflicht und ihr 
uͤberall untergeordnet ſey; daß man im Ganzen 
dadurch verliere u. d. gl. 

$. 530. 
Entſchuldigungen. 

Man ſchuͤtzt bey Verletzung der Menſchenpflichten 

überhaupt meiſtens die Selbſtpflicht, auch wohl die Re— 
ligionspflicht vor; bey Ungerechtigkeiten die Pflicht der 
Liebe; bey Liebloſi igkeiten die Gerechtigkeit gegen ſich und 
andere; die Unwuͤrdigteit den Undank, die Unem⸗ 
pfaͤnglichkeit der Menſchen für das Gute; fein eignes 
Unvermögen ; äuffere Hinderniffe, auch wohl das Vers 
trauen auf Die goͤttliche Vorſehung, die ſich ia wohl der 
Menfchen annehmen , Ungerechtigfeiten vergüten, und 
„Den Mangel an Denfchenliebe erfegen werde und folle. 
r Man begnügt ſich dabey mit einer würfungslofen Empfins 
dung. der Liebe und des Mitleids ; mit thatloſer Theil⸗ 
nehmung des Ausdrucks; mit muͤheloſen Gefaͤlligkeiten 
und Dienſten. Man beruft ſich endlich darauf, daß ia 
andere ihre Menfchenpfliche gegen uns eben fo wenig, 
euer noch weniger erfüllen, 

DER, &, 531: 


420 Angewandte Moral, 


6. 53I. y 
Sinnliche Folgen, 
Ungerechtigfeit und Lieblofigfeif gegen Menfchen, 

fest uns in unfren eignen Augen herab, beraubf ung 
nicht nur der Zufriedenheit mit uns felbft, ſondern auch 
der ſchaͤtzbarſten Freuden des Wohlthuns und der Geſel⸗ 
ligkeit. Innerlich erzeugt dieſe Geſinnung quälende Ge⸗ 
kuͤhle und Leidenſchaften des Haſſes, des Neides, der 
Rachſucht und der nur ſchrankenlos wuͤrkenden egoiſtiſchen 
Triebe, deren oͤftere Verletzung nur weit heftiger 
ſchmerzt. Aeuſſerlich wird der Ungerechte und Liebloſe 
zu einem freudenloſen, hülflofen, einſamen Leben ver— 
Damme, und der wohlthaͤtigen Folgen des menſchlichen 
Zutrauens, der Achtung und Liebe im gleichen Verhaͤlt⸗ 
niſſe beraubt, wie er ſich ſelbſt zum hoͤchſten und einzi⸗ 
gen Ziele aller ſeiner Veſtrebungen macht. 


Speciellere Ausfuͤhrung der Meuſchenpfucheen. 


6532 | 
Erfte Menſchenpflicht. 
Erhaltung der Menſchenwuͤrde. 

$. 523. Num. 1. Erhalte die Würde der 
Menſchheit. Jede Ungerechtigkeit gegen mich ſelbſt, iſt 
Beleidigung der Menſcheuwuͤrde, und infofern Verle⸗ 
gung auch, der Menfchenpflichez ih erniedrige Die Menfch- 
heit in meiner eignen Perfon. Die weitere Ausführung i 
giebt die ganze Sittenlehre. Beſondere Vorſchriften: 


Hege, 





Angewandte Moral, 421 


Hege, äuffere, befördere, weder gegen das menfch« 
liche Gefchlecht im Ganzen, noch gegen irgendeinen eins 
zelnen Menfchen, auch gegen dich ſelbſt nicht, abfolure 
Verachtung oder abfolutes Mißtrauen. m Urtheile 
über‘ Menfchen , auch über folche Handfungen derfelben, 
die du fuͤr unvernuͤnftig und unſittlich haͤlſt, ſetze doch nie 
die Achtung fuͤr die Menſchheit bey Seite. Verbreite 
keine Grundſaͤtze, erdichte keine Fakta, worunter dieſe 
Achtung, oder das gute Vertrauen zur Menſchheit 
uͤberhaupt leiden koͤnnte. 


Erniedrige die Menschheit nicht, durch Verlaͤugnung 
deiner eignen Würde, durch Linfittlichfeir. 
tenfchheit, und ihr Edelſtes, Vernunft — Recht 
— Pflihe — Religion, und wos irgend damit zufam- 
menhängt, fen nie der Gegenftand leichtfinnigeit Spot- 
tes oder unbehutſamen Bezweiflens oder Beſtreitens. 


Je naͤher, ie weſentlicher eine Sache oder ein Ge⸗ 
danke mit dieſen Heiligthuͤmern der Menſchheit an ſich 
vder doch ſubiektiv in der Vorſtellungsart der Menſchen 
verbunden iſt, deſto ſorgſamer muß — wer Menſchen 
fhäse — iede Verlegung derſelben meiden. Ruhige, 
weiſe Unterſuchung; auch ſogar Spott, wo er nur das 
Spottes wuͤrdige trifft (welches die Umſtaͤnde lehren), 
wird dadurch keines weges von — und Schrif⸗ 


ten auggerhloßen. 
Erniedrige, entweihe keinen Naturtrieb, der zur 


wege des Menſchengeſchlechts beſtimmt iſt, zum 
Dd3 bloſ⸗ 


422 ‚Angewandte Morak 


bloſſen Werkzeug. finnlicher Luft, wider feinen ‚eigentli- 
hen Zweck. ©. unten von der Keuſchheit $.589 ff- 


$. 533. 

Zweyte und dritte Menfchenpflicht. 
Menſchenerhaltung, Menſchenſchonung. 
5. 522. Num. 2. 3. Ehre die Menſchen, durch 
Erhaltung und Schonung ihrer Kräffte und 
Rechte; beleidige keinen, indem du ſeine Kräffte 
und das Arche ihres eignen freyen Gebraüchs 
ftöreft. 
Diefe Kräffte find 

3) Vermögen zu handlen 


a) innere, wefentliche 


“) die oberfte Krafft, die — 


A) die untergeordneten Seelenfräfte 3. * Ein⸗ 
bildungskraft. 


b) aͤuſſere, auſſerweſentliche N und Dbiefs 
fe der innern Thaͤtigkeit; Werkzeuge ihre Ide⸗ 
en zu realiſiren. 

2) Bermögen zu genießen. f 

a) innere Bedingungen des Wohlfeyns. 

«) des vernuͤnftigen. 
2) des blos ſinnlichen. 


b) äuffere Bedingungen, Gegenſtaͤnde und Mittel 


des Genuſſes, Guͤter. J 
Die 





Angewandte, Moral, 423 


Die Rechte halten im Allgeıneinen mit den. Kräfften 
und Vermögen gleichen Schritt , weil fie auf dem frenen 
Gebrauch und Erwerb derfelben — auf Würkfamkeie 
und auf Genuß — gehen. 


Diefe Tafel läßt vorläufig Die verfchiedenen materi— 
alen Pflichten überfchauen, Die dag allgemeine Gebot der 
Menfchenerhaltung und Menfcherfchonung in fich faßt. 
Der Begriff vom Nechte fordert noch eine eigne mora⸗ 
liſche Unterfuhung ). 


565664. 
Menſchliches Recht. 

In der Metaph. der Sitten (5§. 322.) iſt aus dem 
Begriffe des Rechtes erwieſen worden, daß iedes ver- 
nuͤnftige Weſen im Allgemeinen (6. 326.) zu freyer 
Wuͤrkſamkeit feiner Kraͤffte und zu Beförderung feiner 
eignen Zwecke verpflichtet und alfo auch berechtiger iſt. 
Dieß gilt alſo auch von den Menſchen. 


§. 535. 
Oberſtes allgemeinſtes Recht des Menſchen. 


Ich und ieder Menſch hat im Allgemeinen das 
Recht, feine Kräffte nach eignen Sweden zu ge 
brauchen, weil ein Gefeß, dag diefes im Allgemei- 
nen meerſagten ſich ſelbſt d. i. dem Begriffe und Zwecke 

Dv4 eines 


—9— Die Unterſuchung der Rechte in die beſondern und 

einzelnen Faͤlle ihrer Anwendung einzuleiten, iſt das 
Geſchaͤfft des ngtuͤrlichen Nebtslenrers. Die 
moralischen. Grunde des Rechts uberkaupt und die Pflich⸗ 
ten; welche Fich darauf beyiehen, find ein Gegenftanv, 
‚den dee Gitrenlehrer nicht übergeben Darf. 


424 Angewandte Moral. 


eines Geſehes widerfpräche. Dem ein Gefetz ift Kegel 


freyer Handlungen. - Es fege alfo freye Thaͤtigkeit als 


Bedingung voraus d. h.eine Einrichtung des Verhal- 


tens, um felbfigemählte Zwecke zu befördern. 


> Seh einem willkuͤhrlichen Geſetze (Heteronemie) deſ⸗ 
ſen Geſetzlichkeit von einem Obern abhaͤngt, muß doch 
ein Zweck vorausgeſetzt werden, um deſſentwillen ich es 
befolgen will. Bey einem innerlich nothwendigen Ge⸗ 
ſetze (Autonomie) bringt es ſchon der Begriff unmittel⸗ 
bar mit ſich, daß es aus meinem freien Willen entſprin⸗ 
ge (©. Crit. d. pr. Vern.). Es kann alſo weder nach 
innern, noch nach aͤuſſeren Geſetzen im Allgemeinen un⸗ 


recht ſeyn, ſeine Kraͤffte nach eignen Zwecken zu ge⸗ 


brauchen. 


$. 536. 
Naͤchſte Beſtimmung. 
Seine naͤchſte und allgemeinſte Beſtimmung bekommt 
dieſes Recht durch die Bereinigung nit demfelben Rechte 
aller andern Menfchen. Gebunden an einerlen Geſetz, 


an die Vernunft, beſitzen alle auch daſſelbe Recht (Nas 


zurfiche Gleichheit menfchlicher Nechte, eine Folge von 
ver aleichen Verbindlichkeit), das ebenfalls auf ver Ver⸗ 


nunft und auf der’ damit verbundenen Würde einer - 


Merfon beruht. Ich darf alfo mein’ Rechte (das Recht 


des Einzelnen) zwar über alle vernunftlofe Wefen aus⸗ 


dehnen, und fiezu Werfjeugen, Mitteln und Gegen- 
ſtaͤnden meiner freyen Thaͤtigkeit zu meinen perfönlichen 
ame; 





Angewandte Möral, 495 


Zwecken wheingefchränfe *) gebrauchen ; nicht aber eben 
fo über die Menfchen und die Vernunftweſen überhaupt. 
Ich habe alfo überhaupt ein beſtimmtes Recht, 
-- alles dasienige zu thun oder zu laſſen, was meinem frey⸗ 
en Willen und meinem Zwecke gemäß iſt, "Doch nur. in 
fo fern, als es die freye Würkfamfeit anderer Men⸗ 
ſchen zur Beförderung ihrer Zwecke nicht einſchraͤnkt. Ich 
habe aber kein beſtimmtes Recht, der freyen Thaͤtigkeit 
anderer Menſchen Hinderniffe in den Weg zu * 


$. 537. 
Beränfferliche, unveräufferliche Küchler w 


Die freye Mürkfamkeit, wozu ich und jeder andere 
Menſch das Recht haben, bezieht fih auf Zwecke, die 
entweder weſentlich und noihwendig oder mir zu⸗ 

fallig fi ſind. 


— weſentlichen Zwmede zu erhalten ip zu be- 
fördern „if wicht des Menfchen eignem Belieben über- 
laßen, fondern er iſt fitelich Dazu verbunden: ; Es ge 
u dahin 


) derienige Hauptzweck, der aus der vernünfti⸗ 
gen Natur des Menfchen fliege, die ren 
der Zzweck der ei 

| 2) der 


2) Hier Fann nur fein eigner Zweck felbft die Schran⸗ 
ken beliebig beſtimmen; denn dieſe Dinge haben als 
Sachen) nur einen. relativen Werth und Feine nude 
Bude So find ve Pflich ten, die fi 
Die Thiere besichen, nur: Dichten in Beau 
auf Zwecke verniuntiner Weſen, meines ſelbſt anderer 
Reuſchen und der ©; Aithei. 


426 Angewandte Moral; 


2) der nothwendige Nebenzweck, der in der ſinn⸗ 
lichen Natur des Menſchen, in ſeinem menſchli⸗ 
chen Begehrungsvermoͤgen gegruͤndet iſt, die Gluͤck⸗ 
ſeligkeit, der zweck der Menſchlichkeit. 


Zufällige Zzwecke find einzelne Beſtandtheile J 
Bedingungen der Gluͤckſeligkeit, Gegenſtaͤnde der 
Befriedigung einzelner zufaͤllig erzeugter Begierden 
‚und Neigungen. Zu Deren Erhaltung und Be 
förderung ‚fanın es Feine ſtrenge ſittliche Verbind⸗ 
lichkeit geben. 


Zu dieſen Zwecken giebt es nothwendige und zufälli⸗ 
ge Mittel; ſolche, ohne deren Gebrauch der Zweck ſchlech⸗ 


terdings nicht erreicht wird, und ſolche, deren Stelle ein a 


anderes Mittel verfreten kann. 
Zu dem Gebrauche der nothwendigen Mittel, die 
einen nothwendigen Zweck befoͤrdern, bin ich ſtreng der» 


pflithtet, und mein Recht dazu iſt unveräuſſerlich d· 


h. es ſteht nicht in meinem Belieben, ob ich von dieſem 
Rechte Gebrauch machen, ob ich dieſe freye ——— 
aͤuſſern will, oder nicht. 

Was nur ein zufaͤlliges Mittel zu einem zufäligen 
oder auch nothwendigen Zwedfe, oder zwar ein nothwen⸗ 
diges Mittel, aber nur zu einem zufälligen und beliebi- 
gen Zwecke (5. B. einembeflimmten finnlichen Vergnuͤ⸗ 
gen) iſt; Dazu habe ich und hat ieder Menfch ein veräuf 
ſerliches Recht, deſſen Gebrauche gänzlich zu entfagen, 
im Allgemeinen feiner ſtrengen — wider⸗ 
ſtreitet. 

$. 538. 





Angewandte Moral, 427 


| 9.538 
Unveräufferlich find alfo die Nechte der Menfchheie 
und Bir Menfchlichkeit z veraufferlich alle übrigen. 


$. 539. 
Grund der Zwangspflichten und ige 


In dem allgemeinen Rechte ($. .) des Menfchen 
zu eigner freyen Ihätigkeie iſt nothwendigerweiſe ſchon 
begriffen das Recht, die Zinderniſſe dieſer freyen 
Thaͤtigkeit wegzuräumen. Wenn nur Ein Menſch 
(A) dem Andern (B) Hinderniſſe in den Weg legt, ſei⸗ 
ne Kröffte nad) eignen Gefezen und zu eignen Zwecken 
zu gebrauchen: fo hat der letztere (B) im Allgemeinen 
das Recht ($. 535.), diefe Hinderniffe zu ensfernen. 
Ein beffimmtes Recht ($. 536.) hat er aber nur als⸗ 
dann, wenn diefe Hinderniffe nicht ſelbſt als Mittel zu 
betrachten «waren, wodurch iener (A) die Hinderniffe 
vereitlen wollte, die der andere (B) feiner perfönlichen 
Sreyheit entgegengefegt hatte. Denn das. beftimmte 
Recht giltnur für dieienigen Fälle, wo Die Freyheit des 
Einen niche mit der Freyheit des Andern flreitet. 

Der Störer meiner Freyheit und des Gebrauchs meis 
ner Rechte macht, daß ich von meinem Rechte gerade 
einen folchen Gebrauch machen muß, welcher den frey- 
en (aber fremde Freyheit flörenden) Gebrauch feiner 
Kröffte einfchränfe. " 

‚Die nothwendige Bedingung, - unter welcher ich 
mein Recht nur „gebrauchen fann d. i. die Vertheidi— 
gung muß felbft im Allgemeinen Recht feyn. 
Ka | $. 540 


J 


28 Angewandte Moral, 


$. 540. — 
8 
Phyſt ſhe Einſchraͤnkungen (wozu auch die aan ) 


giſchen gehören) der freyen Ihärigfeit anderer Menfchen | 
heiffen Zivanı. Im Allgemeinen habe ich Das Recht, 


den andern zu zwingen, wenn ich nur durch Zwang 


mich von den Hinderniflen befreyen kann, die ein anderer 
meiner freyen Thaͤtigkeit in den ‚Weg legt. Beftimme | 


fomme es mir nurdann (äufferlich) zu, wenn der an⸗ 
dere nicht mehr durch meinen Angeiff auf. feine Frey: 
heit — war, mir ſelbſt Zwang — 


$. 541. 
Pflicht zu zwingen. 

Gerechtigkeit gegen mich ſelbſt macht es mir zur ſtren⸗ 
gen Pflicht, den andern mit Zwang zu belegen, wenn 
dieſer mich in dem Gebrauche meiner unveraͤuſſerlichen 
Rechte (ß. )ſtoͤret zB. Durch Gewiſſenszwang, 
Einſchraͤnkung der Denkfreyheit, Angriffe auf mein Les 
ben, Beraubung der Nothwendigkeiten des Lebens. Eben 
Diefe macht es mir nur im Allgemeineh, alfo nur zur 
unvollkommenen Pflicht ($. 313.), der Störung 
meiner veraͤuſſerlichen Rechte Zwang entgegen zu ſtellen. 
Hier haͤngt die Verbindlichkeit von der Entſcheidung ab, 
die die Collifiongregeln geben. * 

Das unveraͤuſſerliche Recht iſt alſo vollkowmen⸗ 
das veraͤuſſerliche unvollkommen. 27 


\ 


& 











Angewandte Moral, 429 


Es iſt im Allgemeinen erlaubt, von dem Ges 
‚brauche eines veräufferlichen Rechtes nachzugeben; aber 
nähere Beſtimmungen der PH koͤnnen auch dieſe Er⸗ 
kandeif einschränfene 


‚Wenn die ungeahndere und N Kraͤnkung 
meines auch nur veraͤuſſerlichen Rechtes, nach den Uns 
‘ fönden, die Verlegung eines unveräufferlichen Rechtes 
nach fich ziehen, wo das Nachgeben als Schwäche gemis— 
Braucht würde ; da ift der Zwang ebenfalls Pflicht, die 
mir —* —— —* 


6. 542: 

* Kechr zu zwingen. 

Erlaubt eche můßig⸗ iſt der Zwang, den ih an⸗ 
wenn und fo fern er Pflicht iſt, auſſerdem nie. 
Ich darf nur dann zwingen, „wenn ich folk fe die 
Pflicht vollfommen. und uneingefchränfe, ſo auh das 
Recht zu zwingen; iſt fie Dagegen unbeſtimmt und eins 
geſchraͤnkt: fo iſts wu: das aiangsreit, 


⸗ 


ae 543. 
Der Swang ift erlaube, wenner ——— 
moraliſch möglich iſt. Diefer richtige Sag iſt gleich⸗ 
wohl unrichtiger Anwendungen fähig. Z. B. Man kann 
niemanden zwingen, einen Menſchen zu lieben. Es 
geſchieht aber eine Verwechſelung der Begriffe von pa⸗ 
thologiſcher Liebe, die in Gefühlen beſteht, und von 
der praktiſchen, die aus Grundfägen der Pflicht ent⸗ 
fpeing, wenn Dr, Eberhard (Sittenlehre der Ver⸗ 
nunft 


430 Angewandte Moral, 


nunft. $. 90. Anm.)den fonft unlaͤugbaren Satz: „Lie; 
besdienfte Fönmen nicht erzwungen werden, da- 
ber beweift, weil Liebe auf einem Urrheil des Verftan- 
des beruft, deſſen Erpreſſung phyſiſch unmöglich iſt. 
Dem die GSeſinnung der Gerechtigkeit oder. das - 
Nichtdaſeyn eines Hangs zu beleidigen, iſt eben fo ‚wenig 
als Liebe ein. phyſiſch möglicher. Gegenftand des Zwan⸗ 
ges und dennoch laſſen ſich die äufferen Erweiſungen 
der Gerechtigkeit erzwingen. Eben dieß laͤßt ſich auch 
gegen den Eberhardiſchen Beweis erinnern, daß die Er⸗ 
preſſung der Pflichten gegen ſich ſelbſt widerſinnig waͤre, 
weil ſie vorausſetzen wuͤrde, ich koͤnnte iemanden zwin⸗ 
gen ſich ſelbſt zu lieben. Auf den Beweis des Satzes: 
„Pflichten gegen Gott find Feine Zwangspflichten, (Sit⸗ 
tenlehre $. 88. ff.) laͤßt ſich daſſelbe anwenden. 


§. 544. 

Der Zwang darf nie ohne Abſicht, ſondern dieſer 
und dem auf meine Freyheit geſchehenen Angriffe ge— 
maͤs ſeyn — ſowohl in Abſicht auf das Daſeyn, als 
auf die Beſchaffenheit und Größe deſſelben. 

Zwang ohne Abſicht, iſt Beleidigung ‚ Unrecht, 
Zwang, der feiner Befchaffenheit nach Der Abſicht 
nicht entſpricht, iſt Unrecht z. B— Zerſtoͤrung ſolcher 
Kraͤffte, Einſchraͤnkung ſolcher Handlungen, Die mir 
nicht gewiß oder Doch: hoͤchſt wahrſcheinlich ſchaden. 
Dieß iſt wohl immer der Fall bey Todesſtrafen. 
Zwang, “der groͤſſer iſt, als der 8weck es erfordert, 
iſt Unrecht. Auch dieß ſpricht wider Die Todesſtrafen, 
wo⸗ 





J 


Angewandte Moral, 431 


wofern man nicht apodiktiſch erweiſen kann ), daß 
der geſellſchaftliche Zweck ohne fie ſchahterziuse zerſtoͤrt 
und aufgehoben wuͤrde. 
Zwang, der nichts seen, ber * nicht — 
kann, iſt Unrecht. — 

Zwang, der ein groͤſſeres Uebel fifeet, * «als, dasienige, 


wogegen er angeroendet wird — iſt unrecht. 


Der Zauptz weck des Zwanges iſt, das Unrecht 
zu — zu endigen und Erſat zů Seiügten ; 5 ein 


Es darf aber niemand blos um Kg: noch 


um deswillen mie härtern Zwang belegt (oder, wie 


‚ vl 


man ſich eigentlich” auszudrücken pflegt, harter be⸗ 
ſtraft) Berden 
——— 
ah“ Fi Subiekrive, Beurtheilung. | 
g: "Die Beurtheilung des Rechts und der Verbindlich⸗ 


keit, iemanden zu zwingen, und der Groͤſſe diefes 3wan- 


ge8 ‚gehört lediglich für Das. innere Gericht, oder für 
die Ueberzeugung eines ieden Einzelnen, welcher den 
Zwang ausübt, und es ift an ſich nicht. nothwendig, 
daß man HR Andern vonder Rechtmaͤſſigkeit und Vers 

haͤlt⸗ 


‚Auf bloße Vermuthungen, auf zufaͤllige Meynungen 
J Ike man doch keines Menſchen Leben — aufopfern 


432 Angewandte Moral, 


haͤltnismaͤſſigkeit feines Verfahrens überzeugen koͤnue. 
Ich kann und darf aber (Vertragsmaͤſſig) dieſe Beur⸗ 
theilung einem Dritten uͤberlaſſen und dieß geſchieht, 
im Ganzen ſehr zweckmaͤſſi ig, in der buͤrgerlichen Geſell⸗ 
ſchafft. Nur in dieſer allein, und ſonſt nirgends, hat 
der Begriff von einem Sericht garen 
cxcernum) Reallttat —* a 
NE, 548. % 

| Wenn die Pflicht (der zuech weſentlich und noth⸗ 
wendig ift, mworinn ich geftört werde ſo iſt der Zwang. 
der Gegenwehr fh! fechtetdinge notwendig. Wenn dieſe 
Pflicht nur hypothetiſch oder disiunktiv ifis fo iſts auch 
Das Recht zu zwingen. Gomeit die Pflicht PAIN. " 
weit geht das Recht zu zwingen 


S. 547. 

Die. Pflcht der Gerechtigkeit, in Vens en Die eds. 

te anderer Menfchen ($. 533.) fordert demnach, fie, zu 
ſchonen d. h. den freyen Gebrauch ihrer Kraͤffte nicht 
einzuſchraͤnken, auſſer i in ſo fern dieſe Einſchraͤnkung zur 
Behauptung meiner eignen Rechte erforderlich iſt. Die 
Pflicht der Guͤte fuͤgt hinzu, daß dieſe meine Rechte, 
wichtiger ſeyn müßen, als die des andern.” Diefe Wich⸗ 
figfeie iſt nun (zwar ſubiektiv, aber) obiettiv darum 
nicht groͤſſer/ weil es meine Rechte find, U ſondern fie. 
muß aus iht er eignen Natur beurtheilt · werden. Das 
Gegentheil davon iſt unſittlicher Egoismus, vs wu Ins 


Merten) 13 HRRS AG) 
#7 


Yarı 
0.07 


Pr er 
waschen 
TRRURZANI IS 


IITIE TER R 
5468. 





Angewandte Moral, 433. 


8.348. 
Ueberſicht der Rechte. Mg 
Die menſchlichen Rechte find ° 
1! ihrem Bunde nach 


a. im der menſchlichen Natur überhaupt ges 
gruͤndet, (nochwendige und. ‚allgemeine 
RBechte der Menſchen) nehmlich 


Rechte der Menſchheit (. 537.), die ſich auf 
weſentliche Kraͤffte und Zwecke der vernünf⸗ 
tigen Natur des Menſchen gruͤnden; was 

nothwendig iſt, um die hoͤchſte Beſtimmung des 
Menſchen zu erreichen; das Recht auf freye 
vernünftige Thaͤtigkeit. 
Rechte der Menſchlichkeit, die ſich auf weſent⸗ 
ae liche, bedingt norhwendige Einrichtungen der 
©. finnlien Natur des Menfchen gründen ; 
sh was zur Gluͤckſeligkeit des Menfchen, zu feie 
ni ‚ ner) finnlichen Beſtimmung norhwendig iſt; 
das Recht feine en felbft und frey 
zu befördern. 


ES Rechte haben alle Menschen; die Pflicht, fie zu 
schonen und niche zu verlegen, ift Algenein. 


— .b ‚in befondern, innern und äuffern, Beſtim⸗ 
mungen und Derhäliffen (Kräften und 


Zwecken,) der Menfchen, Zufällige Rechte der 
Menſchen. 


Moralphiloſophie. LE e ed) Na⸗ 


434 Angewandte Moral 


a) Natürliche zufällige Rechte, die auf bes 
fondern ‚urfprünglichen oder erlangten Kräff- 
ten und Vermögen einzelner Menfchen berus 
ben, aber feine freye Handlung einer Per- 
fon als ihre Bedingung vorausfeßen; "das 
Recht feine: beſondern Kräffte zu gebrauchen, 
feine befondern Neigungen zu befriedigen. Ur; 
ſprüngliches Eigenthumsrecht. 


0) Erworbene Rechte, die auf eigner frey⸗ 
er Thaͤtigkeit beruhen. 


Natürliches erworbenes Eigenthums⸗ 
recht — inneres, auf die Kräffte, ſo— 
fern fie durch eignen Fleiß cultivirt, ver— 
ftärft und vermehre worden find — Auf 

feres, "auf dasienige an andern Dingen, 
was durch Cultur, durch Anwendung uns 
ferer Kräfte entſtanden iſt, auf ihre durch 
Fleiß hervorgebrachte brauchbare Befchafs 

fenheit und Einrichtung. (Es iſt ein to⸗ 
tales, wenn der ganze Werth des Din⸗ 
ges gänzlich von unfrer Thaͤtigkeit abhaͤngt; 
‚ein partiales, ment das Ding auch an 
ſich, ohne unſer Zuthun oder von fremden 
Fleiße einen Wert h bat). 


Diefes Eigenthum Cim weitläuftigen ind) beſteht 
theils in Dbiefren, theils in Mitteln und Fetzensen 
der zhätigfeif, | 


I 


mer | 
| 


Angewandte Mose 4435 


Vertragsrechte — Kräfte oder Anwendungen ders 
- ſelben, die man durch freywillige Uebertragung von 
Rn einem. andern befommen hat Ri zu Beförderung feis 
ner eignen Zwecke. z. V. durch ein rn oder 
a Verſprechen. 


Geſellige Rechte — Rechte, die Durch einen wech- 
felfeitigen. Vertrag. Umtauſch der Kräfte) ent⸗ 
ſtanden (iemandes Rechte geworden) find, auf deu 
Gebrauch der Kräffte eines andern zu feinen Zwe⸗ 
cken unter ‚Der Bedingung, feine eigne Kräffte 

. für gewifle andere Zwecke des auDeen auf gewifle 
Art zu verwenden. 


Seſellſchaftliche Rechte, die durh Vereinigung 
der Reäffte mehrerer Menfchen zu Bewürfung eines 
gemeinfchaftlichen Zwecks entffanden find. 


Bürgerliche Rechte, die aus der Vereinigung meh- 
rerer Menfchen zudem gemeinfchaftlichen , fortwäh— 
renden Zwecke der geſellſchaftlichen Sicherheit, Rus 
he und Genuͤgſamkeit des Lebens entſtehen z. B, 
das Eigenthumsrecht auf das Ererbte, es ſey mit 
oder ohne Vermaͤchtniß 


en 3 | 
"2. Was Das Verhaältniß der Rechte zu ibrem 
SGeunde betrift, ſo ſind ſe 

a. Urſpruüngliche, die ühlkieriibär den letzten 
sin. —35 ie 335. 


Pr 94 


€ Mh: Sig. 





436 Angewandte Moral, 


b. Abgeleitete, die von andern Rechten, als von 
ihren Bedingungen, abhaͤngen. 


Die Ordnung, in welcher die bisher angegebenen Rech— 
te einander begruͤnden, iſt folgende: 1) Rechte der 
Menſchheit 2) Rechte der Menſchlichkeit, deren Guͤltig— 
feit davon abhängt, daß das finnliche Begehrungsver- 
mögen mit der Vernunft Ein Subieft ausmacht. 3) Zu- 
fällige natürliche Rechte. 4) Zufällige erworbene Rechte 
— urfprüngliches Eigenthumsreht, Vertragsrecht, 
Geſellſchaftsrecht, Recht des Bürgers 5. DB. des Regen⸗ 
ten. Der Gebrauch des folgenden Rechts ſetzt immer 
ihon das vorige voraus, und iſt nur eine nähere Mo— 
dification und Anwendung. deffelben. » So beruht z. B. 
Das Bürgerrecht auf den Bedingungen einer Gefellfchaft, 
dieſes auf dem Recht der Verträgen. ſ. f. 


3. In Anfehung der Perfonen 
a. Rechte ver Einzelnen. 
b. Rechte einer Gefellfchafft. 


6. 550. 
Rechte der Menfchheit. N 
Das Gebot der Menfbenerhaltung und Men⸗ 
ſchenſchonung ($- 533.) führt zunaͤchſt auf das Gefeg: | 
($. 548. Num. 1. a.) Erhalte die — der 
Menſchheit iedem Menſchen. 
Jeder Menſch hat, als vernůnftiges Waſen, ein 


unveraͤuſſerliches Recht, die weſentlichen Zwecke der Ver⸗ 
nunft 


/ 


Angewandfe Moral. 437 


nunft durch feine Kräffte zu verfolgen d. i. vernünftig 
wuͤrkſam zu ſeyn ($. 473.) Alfo 
1) fein Leben zu erhalten. Toͤdte feinen Menfchen, 
auffer in fo fern die Vertheidigung Deines eignen 
Lebens, oder eines Dritten, gegen den unrechts 
mäffigen: (illegalen, wenn auch nicht immoralifchen) 
Angriffdes andern nur durch Toͤdtung diefes andern 
gefc;chen fann. 


2) feinen Cörper ganz und gefund d. i. tauglich zur 
innern und äufleren Wurffamfeit der Vernunft zu 
erhalten. $.482. 


Sey keinem Menfchen daran hinderlich 3. B. durch auf- 
gezwungene Berauſchung. 

3) die Nothwendigkeiten des Lebens ($. 433.) 
fih zuzueignen und zu ſichern. Raube fie feinem 
Menſchen, wenn du auch ſelbſt daran Mangel lit 
teft"). Hindere feinen Menfchen in dem Erwerb, 
der Erhaltung und DVertheidigung vderfelben. 


4) feine Seelenfräffce frey zu gebrauchen und aus« 
zubilden ($. 485. 496. f.) 


Sehy feinem Menfchen daran hinderlich; verhüte alles, 
was Freyheit felbft zu denfen, und nach Ueberzeugung 
Ee 3 zu 


Den Ueberfluß, oder mas, den andern nur zur Be— 
quemlichkeir, zum Vergnuͤgen dient, darf ich mir mit 
Gewolt zueignen, wenn es zur Erhaltung meines Le— 
bens erfordert wurde. Mein Leben geht fremdem Ber: 
gnugen ſchlechterdings vor. 


438 Angewandte Moral, 


zu handlen einfchtänft; was eine zweckwidrige Bearbei- 
tung, Uebung und Richtung der Erkenntniß, Gefühls‘- und 
Begehrungsvermoͤgen veranlaſſen und Das mögliche Fort⸗ 
ſchreiten in vernünftiger Würffamfeit verhindern koͤnnte. 
Stürze und erhalte feinen Menſchen wiſſentlich in Uns 
wiſſenheit, in Irthum, in Fühllofigfeit und Gefchmacks 
loſigkeit, in Ungeſchiklichkeit, Thorheit und Unſittlich⸗ 
keit. 


5) ſeinen Cörper su ftärken und brauchbarer zu 
machen. $. 498. 


Entziche niemanden die Mittel dazu, noch die Freyheit, 
fie zu gebrauchen, aufler in fo fern deine Erhaltung da= 
mit in Collifion kommt. 


6) fih die äuſſern Mittel zu diefen Abfichren zu ver» 
chaffen und zu erhalten. ($. 489.499: ff.), ie⸗ 
Doch ohne. dadurch andere zu beeinträchtigen — 

nehmlich theils Werkzeuge der Thärigfeit, als Ver— 
dtärfungemittel der innern Kraft, was zur Bil 
dung des Geiftes und Coͤrpers beytraͤgt z.B. Ver: 
bindungen, Umgang mit andern Menfchen — Verz 
ſtärkungsmittel der äufferen Wuͤrkſamkeit z.B, 
durch Verträge, Errichtung von Gefellfchaften ır. 
d. gl; theils Obiekte der Thaͤtigkeit — ſich einen 
Wuͤrkungskreiß zu verſchaffen, ihn zu erweitern, 
doch ohne widerrechtliche Einſchraͤnkung anderer. 


Hindere, erſchwere nicht die Verfolgung dieſer Abſichten, 
die Erlangung —* den Gebrauch dieſer Mittel und 
Werk⸗ 


/ 





t 
Angewandte Moral. 4439 


Werkzeuge der Vervollkommnung, ſofern der andere nur 
deine Nechte nicht dabey Franft. 


Raube feinem Menfehen feine äuffere Freyheit. (F. 
489.) | 
. 551. 
echte der Menfchlichfeit, 
Num. 1. a. $ 548. Erhalte die allgemeinen 
Rechte der Menſchlichkeit jedem Menſchen. 


Jeder Menſch hat ein unveraͤuſſerliches Recht (9. 490. 
fe 505. ff. 537.) den andern weſentlichen Zweck feiner 
Natur, fofern fie finnlich iſt, menfchliche Gluͤckſeligkeit 
zu fuchen, zu erhalten, zu vermehren, zu vertheidigen 
— doch fo, daß er andere darinn nicht flöre. 


» + Hindere feinen Menfchen in dem, freyen Gebrauche 
Diefes Nechtes. Alfo 


3) Raube niemanden die Zufriedenheit mit ſich 
ſelbſt, indem du ihn moraliſch verſchlimmerſt. 


2) Stoͤre niemanden in der freyen Befriedigung 
ſeiner Neigungen, wenn er nicht deine oder 
fremde Rechte dabey ſtoͤrt. Verletze feines Mens 
ſchen Neigung poſitiv, wenn nicht deine hoͤhere 
Selbſtpflicht, oder die Pflicht gegen die Menſch— 

| heit des andern ($. 551.) es nothwendig machen. 
3) Schwäche Feines Menfchen Empfänglichkeit für 
. erlaubten Genuß 5. B. durch Zerſtoͤrung ſeiner Or⸗ 
gane, Schwaͤchung des Coͤrpers, Trübung der 
Ee 4 Ge⸗ 


440 . Angewandfe Moral 


Gemuͤthsart, durch eine. niderdrückende oder weichi 
che Erziehung und Behandlung. 


4) Entz iehe feinem-Menfchen die äuſſern Glücks: 
gutes , ohne die er nicht glücklich feyn Fann. - 


5) Stürze niemanden in Jerthum, erhalte feinen 
gefliffentlich in Umwifjenbeit, zum Nachtheil feis 
ner fubieftiven. Zwede. 


6) Entziehe niemanden die ihm —* Kraffte und 
Hülfsmittel, zu groͤſſerer Gluͤckſeligkeit zu gelan⸗ 
gen. 


7) Beleidige niemand durch dein perſoͤnliches Betra⸗ 
gen z. B. durch Grobheit, Geſchmackloſigkeit. 


8) Stoͤre feinen Menſchen in den religioͤſen Ueber- 
zeugungen, auf welcher die Zufriedenheit mit 
feinem ganzen Zuftande und feine Beruhigung 
im ‚Yeiden beruht. | | 


6. 552. 
Negative Menſchlichkeit. 

Dieſe Pflichten der Menſchheit und Menſchlichkeit 
(8. 551.'552.) darf ich nicht uͤbertreten, wenn auch der 
andere darein willigen follte. Denn moralifch fann und 
darf er dazu nicht einftimmen; er fol z. B. ſich nicht in 
freymillige Sklaverey begeben, foll feinem Menfchen ein 
unbedingtes Necht über fein Leben einrgumen, fol dem 
Staate feine Todesſtrafen verſtatten. 


Die 





Angewandte WMoral. 441 


Die Geſinnung, welche dieſe Maximen befolgt, 
koͤnnte den Nahmen der negativen Humanität und 
Menſchlichkeit fuͤhren. | 
| 653. ai 
> Zufällige Rechte der Menfchen. 

$. 548. Num. 1. b. Verletze nicht die beſon⸗ 
dern Rechte der einzelnen Menſchen, weder uf 
urfprüngliden, noch die erworbenen. 


Nicht die Urſpruͤnglichen. 
Hindere keinen Menſchen in dem Sebrauche feiner 
Gefondern natürlichen Kräffte und vabigkeiten ‚die 
feine Menfchheit‘ auszeichnen. 


Störe feinen Menfchen weder im Genuſſe degienigen: 
Dergnügens, wofür er eine eigene Empfanglichkeit 
hat, noch in dem Erwerb von Gulfsmitteln des 
Wohlſeyns, wozu ihm. die Natur befondere Anlagen 
gegeben hat: — ſofern er nur weder dich, noch andere 
Dadurch in dem Gebrauche ihrer Kraffte einſchraͤnkt. 


Raube niemanden die Auffern Mittel zu feiner 
Bildung und zu feinem Vergnügen , die dag nee 
ihm gab. 


Beweiß. 

Jene Kraͤffte (Talente) ſind zwar zur Dirtſanteit 
der Vernunft, alſo zur Erreichung der hochſten Beſtim⸗ 
mung des Menfchen nicht weſentlich nothweudig., aber 
doch förderlich. Diefe Triebe und ihre Befriedigung 

Ee5 find 


2Andgewandte Moral, 
find zwar zur menſchlichen Gluͤkſeligkeit uͤberhauyt nicht 
unentbehtlich aber doch zuträglich. Ein ieder Menſch 
hat doch im Allgemeinendie Verpflichtung, iene Fähige 
feiten zu cultiviren, dieſe Anlagen zu benugen, und von 
den Beguͤnſtigungen des Schickſals Gebrauchzu machen. 
Andere Pflichten verſtatten ihm zwar, Ausnahmen davon 
zu machen; aber dieſe muß ich ſeinem eignen Gewiſſen 
überlaffen und Darf fie ihm nicht vorſchreiben. 

Einſchraͤnkung. 
Kein Menſch kann ein beſonderes Recht haben, das 
die Rechte der M enſchheit und Menſchlichteit 6. 551.f.) 
in ſeiner eignen, oder in der Perſon eines andern ver⸗ 


legte; \ 


— er ei 
Noch die Erworbenen. 


8. 549.Num. A. bi G. Das Recht. Jeder hat 
das Recht, ſeine (innern und aͤuſſern) Kraͤffte frey zu 
gebrauchen und ſie zu erhalten; mithin auch das Recht, 
ſich durch eigne Thaͤtigkeit neue Kraͤffte zu erwerben, die 
vorhandenen zu vermehren und zu erhoͤhen; die fo erwor— 
benen zu erhelten, zu befchügen und zu ventheidigen. 
Dies Recht gründet ſich aufdie Selbftpflicht der eignen 
Vervollkommnung. ($- 493) 


Diefes Recht hat Feine andere Graͤnze, als die, dag 
der andere ſich nur Feine Eingriffe. i in fremdes Recht da« 
bey erlaube. 


5. 





| 
Angewandte Moral, 443 


— 


Zu er — erworbenen Eigentbum 
air 


44 innere, gebildete Aapkgreiten des Geiſtes. 


—* 2) erworbene‘ Kräfte und Geſchiklichkeiten des Leibes 


3), aͤuſſere Dinge und vortheilhafte Verhaͤltniſſe, wel⸗ 
qhe zur Bildung der geiſtigen und leiblichen Kraͤffte, 
ner zur Beförderung meiner. Zwecke Waoͤrt ſam⸗ 
eit und Genuß) dienlich ſind 3. B. Vermogen, 

Freunde, Ehre. Das innere Eigenthum ge 
hört feinen Befiger ganz; das Auffere, foweires 
von Eultur, von Bearbeitung deffelben durch feine 

Kraffte abhaͤngt. a 

Die Pflicht. je 

Ent ziehe niemanden den Gebrauch feines 14; 

tuürlich erworbenen Kigenthumsrechtes, auſſer 

ſofern er deine Thaͤtigkeit ſtoͤrt, in deine Sphäre ein⸗ 
dringt. Laß ieden die Fruͤchte ſeiner Arbeit (feiner fürs 
perlichen und feiner Geifteswerfe) ”) genießen und gebrau⸗ 
chen. Maaße dir die Fruͤchte fremden Fleiſſes nicht ei⸗ 


genmaͤchtig zu deinem Gebrauch und Genuß an; zerſtoͤ— 


re, ‚vermindere fie nicht. Aufferdem — gebrauchft du 
den andern nur als Mittel, wider feinen Zweck. 
9. 555. 
Ehrlichkeit. 
 Ihätige Anerkennung fremden Eigenthums heigt Ehr⸗ 
lichkeit. Zur Unehrlichkeit gehoͤrt a)der Diebſtahl, 
wenn 


2 


”) Das Eige 
— von R. 2. Becker. Frankf. 1739, 


en ST on Feiſtes werken 


444 Angewandte Moral 


wenn man das Eigenthum des andern, ohne feine Ein⸗ 


willigung fich heimlich zumwender. 3. B. wenn einer den | 
andern um. feine. rechtmäffig; erworbene. Ehre, Bermö- 
gen, Sreundfchafften, ‚um die Früchte feiner GB. lite⸗ 
raͤriſchen) Bemuͤhungen bringt b) der Raub, wenn man 


feiner rechtmaͤſſigen Vertheidigung Gewalt entgegenfetzt. 
c) Betrug, wenn man Die äufferliche Einwilligung des 
andern nur dadurch erhalten hat, dag man ungegrüns 
dete Vorſtellungen in ihm hervorbrachte. 


§. 556. 
Vertragsrechte. 
Hat ein ieder Menſch überhaupt das Recht, feine 
Kraͤffte nach eignen Einſichten und zu eignen Zwecken zu 
gebrauchen, ohne ſein eignes, unveraͤuſſerliches oder auch 
irgend ein Recht eines andern Bu —— hat auch 
ieder das Recht: 


einen Theil von dem Gebrauche feiner nafürlichen und | 


veraͤuſſerlichen auſſerweſentlichen, zur Menſchheit und 


Menſchlichkeit nicht ſchlechterdings gehörigen), ſowohl 
urſpruͤnglichen (F. 554.), als erworbenen (F. 555.) Rech⸗ 


te einem andern zu verſtatten, und ieder andere hat das 


Recht, dasienige, was ihm iener von ſeinen veraͤuſſer⸗ 
lichen Rechten freywillig abtreten will, anzunehmen — 


eine Folge von der Pflicht der Ye 
und Gelbftbeglücfung. 


Eine folche freywillige und mechfelfeitige Ueber | 


kunft, Rechte abzutreten und anzunehmen d. i. ein Der; 
rag 














Angewandte Moral. 465 | 


trag im moralifchen Sinne — fchränfe den Wuͤrk ungs⸗ 
kreiß der Freyheit des. Einen oder fein Eigenthum in fo 
fern ein ‚ als fie das Eigenthum oder Die Sphäre der 
freyen Würffamfeit des andern erweitert. 


Bon den verfchiedenen möglichen Arten und Bedin⸗ 
dungen eines ſolchen Vertrags wird im Naiurtechte ge⸗ 
BR l 8 
EEE HERIL, zu 
Nur durch ein⸗ frenmoillige Entihfiegung des andern 
hört, dasienige, mas ihm auf dieſe Art verſtattet wor⸗ 
den, auf „ fein zu ſeyn d. h. etwas zu fen, was er 
zu feinen Abfichten gebrauch en darf oder zut Wurtungs⸗ 
ſphaͤre ſeiner Freyheit zu gehören. 


aa elle e SEP 2 | 
—— Al 

Auf das. Recht der Versräge gründet ſich dag Recht 

der Derfprebhungen. Es find Verträge, die ſich auf 


435 7 


Y 


die Zufunft bezieht, "Go: weit die Einſicht in die Zus 
‚Zunft geht, fo weit überhaupt Verträge rechtmäflig find, 


fo weit Darf ich dem andern einen Theil von meinen vers 
äufferlichen Rechten abtreten. Dieſer hat nun auch das - 
echt, die ihm von’ einem andern für die Zukunft abge; 
ftetehen veraͤuſſer lichen Rechte anzunehmen d. h. Erwar⸗ 
ungen darauf zu gründen. Diefe Erwartungen gehoͤ⸗ 
ven, in fofern fie auf den freyen Gebrauch ſeiner ge 
fammten übrigen Rechte Einfluß haben koͤnnen, zu feis 
nem ERIDOsbEHEN Eigenthumsrechte (F. 555.), welches 
4 durch 


446 Angewandte Moral, 


dirch Aufhebung des Verſorechens oder Be : 
Erfüllung —** verlegt wuͤrde. * 


ah S. 550. 4 

SIE r Pflchten. 

Daher fordert die. Gerechtigkeit gegen die Menfchen, 

daß 

1) kein Menſch die Freyheit des andern einſchraͤnke, 

das, was. er durch einen Vertrag beſitzt (F. 356.) 

nach eigenen Zwecken zu gebrauchen, es zu erhal⸗ 

ten und zu vertheidigen; daß man alfo weder 
fein unbedingt abgetretenes Recht ohne freye Ein: 
willigung des andern nicht ohne Ungerechtigkeit zu 
rücfnehmen koͤnne, noch daß ein dritter fich die— 
fes anmaßen dürfe. Der letztere würde unehr⸗ 
lich ($. 356.) handeln. 

Rn. Daß man DVerfprechungen: ($. 559.) haften d. 5. 
die Erwartungen des andern erfüllen * die 
man as bey ihm: erregt hat —* 

Se ak Big “a 
1 Treu ! ———— 
Die Haltung der Vertraͤge und die ‚Erfüllung der. 

Berfprechungen ($. 560.) macht Die, ‚Treue eines Mens 

fchen aus. Sie iſt eine Folge und naͤhere Modification 

won ‚der Ehrlichkeit, ($. 556), die durch Anwendung 
verfelben auf Vertraͤge entſteht. 
Ro Kr URS EINTRETEN 


9. s51. 


[4 
1 





N 





Scherʒ nicht verſtehen moͤchte. 


Angewandte Moral. 447 


6. 561 
Folgerungen. 
Unveraͤuſſerliche Rechte (F. 537.3 koͤnnen durch kei⸗ 


nen Vertrag abgetreten werden. 


Ueber dag, was nicht mein iſt, kann ich Niemanden 
Durch "einen Vertrag ein Recht geben‘, "in ſofern es nicht 
mein if. Go muß ich 3. B. im Naturftande auch) dem 
Raͤuber mein Verfprechen halten ; im Staate darf ich ibm 
aber Fein Stillſchweigen von, feinem Angriffe oder Raube 
ꝝerſprechen No. ‚dag Verſprochene halten, , weil ich 
fonſt ein gefelfchaftliches Recht verlegen würde 


Sobald etwas, das ich verfprochenchake, —⸗ 
ferlich. wird, ſo darf ich das Verfprechen nicht Halten; 
ich bin aber dem andern zur baldigſten Anzeige. und zum 
möglichen Erſatz verbunden, 


En. 


Ich ſoll nichts verſprechen, was 6 halten 
Yan oder will; auch wicht im Scherz, wenn jener den, 


Rt dırrt 


Sch fol das Verfprochene halten „ went: es mir * 


beſchwerlich wuͤrde ſobald der andere auch unter pER® 


Unftänden darauf gerechnet haben kann. i 


Null und nichtig iſt ein Vertrag oder ein  Verfpten 


—— mit Unrecht erzwungen, von einem der Con⸗ 
trahenten durch Vosheit und Argliſt erſchlichen, oder 


ohne möglichen Bernunftgebrauch eingegangen . worden 
iſt; es müßte denn ben nachherigem Vernunftgebrauch 
—1T eine 


J 


"448 Angewandte Moral. 


eine ſtilſſchweigende oder ausdrückliche Genehmigung er⸗ 
folgt feyn. 


" Ein Verſprechen, auf deſſen Erfüllung der andere 
auf keine Weiſe rechnen konnte G DB im Scherz, oder 

mit. offenbarer Webereilung) dennoch zu erfüllen, iſt nicht 
9 icht der Treue Gerechtigkeit), ſondern alenſals der 
Guͤte. 


66562. 
Grade der Untreue. 

Alles dieß gilt nicht nur von ausdräcfichen , fonts 
dern auch von präfumirten Verſprechungen, d. i. 
Don allen Handinngen und Aeuflerungen, von welchen 
ich vorausfegen Fann und fol,: daß dadurch. bey einem 
andern gewifle Erwartungen vege gemacht werden. 


Die Unſi ttfichfeit der Untreue ift deſto gröffer 5 

3) je wichtiger der : Gegenftand des Vertrags. oder 
Verſprechens für den andern; 

2) je nöthiger die Eicherheit eines Vertrags für de. 
Erhalsung der menfchlichen Geſellſchaft war; 


3) je abfichtlicher und freyer 1 den Vertrag eingieng 
und Das Berfprechen that; | 

— *9 je 'gemiffer die Erwarkungen foaren, die ich dadurch 
bey dem andern erwecken wollte, oder wovon ſich 
doch vorausſehen ließ, daß ich ſi ſie — erwe · 

ar würde, 


*#’ 


8.563. 








$. 563. 

Auch die freywillige Aufhebung des Vertrags oder 
Derfprechens ($. 558.) kann in. manchen Fällen prafus 
mirt werden. Dieſe Präfumtion ſetzt aber eine genaue 
Kenntniß der Sache, worauf es anfomme und der andern 


Perſon, die dabey intereffire ift, voraus. 
Ä $. 564. 
PWechjelfeitige Verträge oder Verfprechungen. 
Bedingte Verfprechungen und Verträge gelten fo 


weit als die Bedingung ftatt findet, fie mag nun aus 


drücklich angegeben oder von beyden Theilen präfumirt 
werden. Man darf fein abgefretenes Necht weiter aus 
dehnen, als es — verſtanden wiſſen will, der es 
abtritt. 


Iſt die Bedingung eine freye —— des andern 
Theiles d. h. werden Rechte vertauſcht, es ſey für jetzt 
oder fuͤr die Zukunft, ſo nennt man dieß einen wech⸗ 
ſelſeitigen Vertrag oder Verſprechen. Die Pflich⸗ 
ten, welche ſich darauf beziehn, ſind dieſelben, wie bey 


Verträgen und Verſprechungen überhaupt, nur daß in 


diefem Falle auch die wiſſentliche Uebertresung von der 
einen Geite die Gültigkeit des Verfprechens von der ans 
Bern ER aufbebt. 


a $. 565. 


Die Pflicht der Treue in Abficht auf Verträge und 


Berfprechungen erftrecft fich fo wohl auf dieienigen, wo⸗ 
. durch Das nazürfiche äuffere Eigeuthum, als auf Dieienis 
Moralphiloſophie. 5f gen, 


Angewandte Moral, 449 


% 


450 Angewandte Mora Kl 


gen, wodurch das innere Eigenthumd. I. die freye Anwen⸗ 
dung feiner. Kräfte verändert wird. Man foll-alfo 


3) dem andern dasienige geben oder) laffen, was und 
ſofern man es ihm abgetreten oder verfprochen har- 


2) dem andern Dieienigen Dienfte erweifen, zu deren 
Leiſtung man fih ihm anheiſchig gemacht hat. 
9. 566. 
Unbilligkeit. 

Eine Untreue, die ſich auf ſtillſchweigende und un— 
beſtimmte Vertraͤge oder Verſprechungen bezieht, iſt eine 
poſitive Unbilligkeit oder Undankbarkeit. Auch 
hierdurch werden Erwartungen getaͤuſcht, die man bey 
dem andern durch Annehmung eines Dienſtes oder eines 
Geſchenks von ihm, wiewohl nur auf ungewiſſe und 
und unbeſtimmte Weiſe erregt hatte. 


Ein treuer Menſch kann daher 
1) auffer dem aͤuſſerſten Nothfalle, unmöglich Ger 
ſchenke oder Dienſte annehmen, von denen er nach 
ver Denfungsart des andern vorausfesen muß, Daß 
ihre Annahme bey ienem die Erwartung von gewiſ⸗ 
fen Gegendienften rege machen werde, Die er nicht 
leiften darf ,. kann over will. Hl 


2) Er fuchedie Erwartungen des andern möglichft zw 
erfüllen, wenn fie auch erſt in der Folge bey Ver⸗ 
änderung feiner Umftände näher beſtimmt würden, 
fo weit als es ferne übrigen Pflichten nur verflate 

fen. 


Angewandte Moral, 451 


ten. Angenommene Wohlthaten fönnen es daher 
auch zur Pfliche der Gerechrigfeit machen, Ver⸗ 
‚träge zu halten, die man auflerdem ohne Ungerech- 
tigkeit verlegen dürfte. 
In gewiffen Fällen iſt Dankbarkeit eine Pflicht der Liebe 
gegen Einzelne oder gegen die menfchliche Geſellſchaft. 


$. 367. 
Negative Gefelligfeit. 

Mer die Pflicht der Treue in Abficht auf wechſelſei⸗ 
tige Verträge oder Verfprechungen (F. 565.) halt, ver 
iſt gefellig in negativem Verſtande. Dieſes gefelliz 
ge Verhältniß oder eine Geſellſchaft in weitläuftiger 
Bedeutung ift vorhanden, fo bald die Menfchen ihre 
innern und» äuffern Kräfte zu Beförderung ihrer perjünz. 
lichen Zwecke wechfelfeitig anwenden. 

f $. 568. 
| Geſellſchaft. 

Die Menſchen leben geſellſchaftlich oder in einer Ge⸗ 
ſellſchaft in engerer Bedeutung, wenn fie abſicht⸗ 
lich ihre Kraͤfte und wechſelſeitigen Dienſte zu Einem 
gemeinſchaftlichen Zwecke vereinigen, dieſer Zweck mag 
uͤbrigens voruͤbergehend oder fortwaͤhrend, einfach oder 
zuſammengeſetzt ſeyn. 

S. 569. 
Geſellſchaftliche Treue. 

Durch die Vereinigung der Menſchen zu einer Ge⸗ 
ſellſchaft werden von allen, bey allen Mitgliedern gewiſſe 

| Sf 2 Er 


452 Angewandte Moral. 


Erwartungen rege gemacht, die ſich auf den gemeinfas 
men Zweck der Gefellichaft beziehn. Einer ieden. gefells 
fchaftlichen Verbindung liegen gewiſſe wechfelfeitige Ber: 
fprechungen und Verträge zum Grunde, deren fittliche 
Zuläffigfeit und Verbindlichkeit nach den allgemeinen 
Regeln ($. 562.) erkannt und begtaͤnzt wird. 


Die Pflicht eines frauen Gliedes einer Gefellfchaft 
iſt: alles zu unterlaffen und zu hun, was nad dem 
ausdrüclichen oder ſtillſchweigenden Vertrage die übri- 
gen Mitglieder von ihm erwarten koͤnnen, daß er eszu 
dem Zweck der Geſellſchaft unterlaffen oder thun werde. 


Wer die Vortheile der Gefellfchaft wiffentlich genießt, 
ver erkläre fich eben dadurch flillichweigend für ein Mit; 
glied derfelben. Ver ohne freymwillige Wahl diefe Bor: 
theile genoffen hat, ver ift in fofern nur zur Ermeifung 
der gefelligen Pflichten ($. 567.) der Billigkeit Birlanpe 
verbunden. 

$. 570. 

Bedingung einer moralifchen Geſellſchaft. 


Ein geſellſchaftlicher Vertrag darf alſo weder die 
Rechte der Menſchheit und Menſchlichkeit irgend eines. - 
Menfhen, noch die zufälligen beſondern Rechte einzelner 
Menfchen,, die auffer diefer Geſellſchaft leben, noch auch 
Die Rechte irgend einer andern Gefelifchaft aufheben oder 
einſchraͤnken. Nur die zufälligen - Rechte der einzelnen 

tenfchen, die in dieſer Gefellfchaft leben, dürfen ein= 

geſchraͤnkt werden, in fofern es freywillig um des ges 

meinſamen Zwecks willen geſchieht. 
8. 571. 





Angewandte "Moral, 453 


B 
Buͤrgerliche Geſellſchaft, Staat. 

Eine Geſellſchaft iſt bürgerlich, ein Staat, fo- 
fern der mwechfelfeitige Vertrag die Abficht hat, die aufs 
fere Freyheit der Verbundenen unter fich gegen innere 
und auffere Angriffe durch vereinigte Gewalt zu ſchuͤtzen. 


. 572. 
Zweck des Staats. 

Aeuſſere Freyheit uͤberhaupt iſt derienige Zuſtand, 
wo man ungehindert thun kann, was man will, wo 
man ſeine eigne Kraͤffte nach ſeinem eignen — ge⸗ 
brauchen kann. 

Dieſe im Ganzen zu ſichern und zu vermehren, iſt 
Zweck des Staats. Alle Einrichtungen deſſelben (ſofern 
er moralisch ift), müßen dahin abzielen ; die Hinders 
niffe diefer allgemeinen Freyheit wegzuraͤumen; alfo zu 
verhindern 

1) daß die perfönliche Freyheit eines ieden nicht ges 
ffört werde durch Menfchen, die nicht zur Gefele 
fihaft gehören. Alle Mitglieder vereinigen ihre 
Macht, um die ganze Gefellfchafe und iedeg Mit- 
glied gegen äuſſere Angriffe zu fchügen. 

Die Bann. dieſer ne mache die äuſſe⸗ 
se Sicherheit aus. * 


2) daß die Glieder der Geſellſchaft ſelbſt einander im 
Gebrauche ihrer perfönkichen echte und Kräffte 
.St3 kei 


454 Angewandte Moral, 


niche ffören. Alle Mitglieder vereinigen ihre Macht, 
um nach gemeinfchaftlichen Gefegen, ieden Angriff 
eines Gliedes der Geſellſchaft auf ein anderes ab⸗ 
zumehren. 


In dem Gebrauch der äuffern Freyheit eines jeden Mit— 
glieds der Gefelfchaft, der durch die Sicherung der all» 
gemeinen Freyheit iedes Mitgliedes vermittelft allgemeis 
ner Gefege modificirt iſt, oder in der ſyſtematiſchen Ver⸗ 
einigung des möglichen Gebrauchs aller perfönlichen Nech- 
te und Kräffte- iedes einzelnen Bürgers mit der Frey» 
heit aller übrigen vermittelſt gemeinfchafftlicher und durch 
vereinte Macht unterflügter und erequirter Geſetze — 
befteht das Wefen der bürgerlidyen Sreybeit. 


Aeuffere Sicherheit und bürgerliche Freyheit find die 
weſentlichen Zwecke des Staats. Andere Zwecke 
koͤnnen noch zufällig Damit verbunden, müßen aber ienem 
Hauptzwecke untergeordner werden. 


$. 573- 
Moralifche Gültigfeit eines Staats, 


Wenn gleich die Negirungen durch Eeinen Vertrag, 
fondern großentheilsdurch Gewaltthaͤtigkeiten fchlauer und 
ſtarker Menfchen entffanden find,und wenn fie auch ietzt noch 
zumeilen durch eben diefe Urfachen von Geiten der Negen- 
ten, fo wie anderer Seits durch Schwäche, durch das Vor⸗ 
urtheil von mittelbarem oder unmittelbarem göttlichen Ur⸗ 
ſprung, durch Gewohnheit und durch Uneinigfeit, Traͤgheit 
oder Gedanfenlofigfeit der Beherrfchten fid) vornehmlich er 

halten 





Angewandte Moral, 455 


halten: fo beruht doch die eigentliche Bürgerpflicht auf 
einem ausdrüffichen oder: ffillfchweigenden Vertrag der 
Bürger , fich gemeinfchaftlichen Gefegen zu unterwerfen, 
und die Laften fo wie die Vortheile dieſer a a} 
mit einander zu theilen. 


Jeder thut auf einen Iheil feiner natürlichen Frey⸗ 
heit Verzicht, um der Freyheit der übrigen Mitglieder 
willen, mit der Bedingung, dag die Einfchränfung von 
der perfönlichen Freyheit der uͤbrigen Mifglieder zur Si— 
cherung feiner eignen Freyheit diene. 


Gewalt und Lift, Gewohnheit und Alterthun macht 
feinen Staat moralifch gültig, feine Regierung unvers 
letzlich, und bringen feine Pflichr der Beherrſchten ge⸗ 
gen Menſchen hervor, deren Herrſchaft nur auf ſolchen 
Gruͤnden beruht. 


$. 574. 

Die bürgerliche Verfaſſung und der Vertrag, wor: 
auf fie beruht, ift ungültig und ohne Verbindlichkeit, 
wenn und fofern ”) er mit den Rechten der Menſchheit 
und Menfdlichkeit, der Verbundenen oder Nichrverbuns 
Denen ffreitet, oder Die Rechte der Menfchen auflerhalb 
dem Staate angreift. Die befondern zufälligen Rechte 
einzelner Bürger koͤnnen durch den gefelfchaftlichen Ver⸗ 

Ff4 trag 


*) Dartielle moraliſche Mängel eines geſellſchaftlichen 
Dertrags bringen auch nur Ungultigfeit eines Theils 
von den Dertrage hervor, Die Verbindlichkeit des 
Ganzen d, ;. der ubrigen Bedingungen wird dadurch 
‚nicht ſoglenh aufgehoben. 


456 Angewandte Moral. 


trag wechſelſeitig eingefchränfe werden, nach der allge- 
meinen Regel des $. 570. 


\ 


$. 575. 
Wer ift Bürger?  _ 

Wer die Bortheile einer Staatsverfaffung annimmt, 
der erklärt ſich ſchon dadurch für einen Bürger, und 
unferwirfe fich der Buͤrgerpflicht. Wollte er ſich der leg- 
tern entziehen: fo müßte er ienen Vortheilen entfagen, 
und fich entweder in eine anderg bürgerliche Verfaffung 
begeben, mie Uebernehmung neuer Bürgerpflichten, oder 
den Naturfiand fuchen. Allein für die genoffenen Vor— 
theile, die er dem Staate zu verdanfen und nicht hin- 
länglich vergolten hat, wäre er dennoch der Gefellfchaft eis 
nen angemeffenen Erſatz fchuldig, meil fie in dieſen Er- 
wartungen ihm tene Vortheile zuflieffen ließ, und einen 
Theil ihrer Kräffte für ihm verwandte. 


$. 576. 
Regent, Tyrann, Defpor, 

Die ganze Geſellſchaft macht den Staat aus. Die 
Rechte und das Wohl aller verbundenen Glieder, ſind 
das Recht und das Wohl des Staates. In keinem 
wuͤrklichen Staate auf der Erde findet ſich die Macht des 
Staates unter alle Theile und Mitglieder deſſelben gleich 
vertheilt; einer oder einige ſind Regenten; andere wer— 
den von dieſen regiert und ſind Unterthanen. Der 
Urſprung dieſer Einrichtung iſt verſchieden von ihrer 
Rechtmaͤſſigkeit. Sie gruͤndet ſich zwar hiſtoriſch auf 

Staͤrke 








. Angewandte Moral 457 


Staͤrke und Liſt der erſtern, auf Schwäche und Thorheit 
der letztern; moraliſch aber, lediglich auf der erfannz 
ten Zweckmaͤſſigkeit eines ſolchen Verhaͤltniſſes und auf 
einer freyen Einwilligung aller Verbundenen in dieſelbe. 
Die wurklichen Begenten find alſo 


» moraliſch ungültig, ſofern ſie die Unterthanen 
als ihr Eigenthum (als Sachen, nicht als Perfos 
nen; als Mitiel, nichtals Zwecke) betrachten und 
behandlen. Gie heißen dann 
a) Tyrannen, in fo fern fie die Herrſchaft uͤber 

‚freye M enſchen ſich ſelbſt anmaaßen, ohne aus« 
druͤkliche oder ſtillſchweigende Suwiligung der 
Geſellſchaft. 


Deſpoten, in ſo fern ſie nach Geſetzen herrſchen, 
die lediglich aus ihrem eignen Willen, nicht aber 
aus dem Willen der Geſellſchaft entſprungen 
ſind, und nicht als aus dieſem entſprungen 
vorgeſtellt werden koͤnnen. 


2) moraliſchgültig, in fo fern fie weder als Ty— 
rannen noch Defpoten zu betrachten find, ſondern 
ſich ſelbſt betrachten und handlen 


a) als Bürger d. h. als Glieder EN die, 
was fie über ihr natürliches und ermorbeneg 
Eigenthum an Rechten befigen, lediglich den uͤb— 
rigen Gliedern der Geſellſchaft zu verdanken ha⸗ 
ben, 


Sf 8 | ob) ai 


458 Angewandte Moral, 


b) als Repräfentanten des Dolfe v. h. als be⸗ 
vollmaͤchtigte Vollzieher von dem Willen deſſelben 
und als ſolche Verwalter der Rechte, Die auen 
uͤbrigen Mitgliedern zukommen. 


Bey der Beurtheilung , ob eine Regierung moralifch 
gültig oder ungüftig iſt, kommt eg nicht an auf ihren 
biftorischen Urfprung, noch auf die Art, wie ein regie- 
rendes Hauf zu diefem Vorzüge gelangt ift, fondern auf 
die Geſellſchaft (das Volk), die entweder in die Regie— 
rung willigt, oder nicht willige, und auf den Gebrauch 
oder Mißbrauch, den die Negenten von ihrer Gewalt 
machen, in fofern ") diefer die Einwilligung des Volfs 
nder Das Gegentheil davon als Folge mach fich zieht. 


Ein Regent, der Gefete giebt und fie auf einefol- 
che Art erequirt, mworein dag Volk willigt (der kein De- 
ſpot ift), ift eben Darum auch Fein Iyrann. 


Das Recht des Negenten iſt mit dem Nechte des 
Staats nicht zu verwechfeln. 


$. 587. ı 
Pflichten, die fi) auf den Staat — 


Bey den Pflichten, die den Staat angehen, unterſchei⸗ 
det man 


3) die Pflichten der Bürger gegen die Gefellfchaft der 


Mitbürger. 
2) der 
*) Die Einwilligung bleibt immer weſentliche Bedin- 
sung des Negentenrechts. Sonſt wuͤrde ein Regent fein 
Au zwingen dürfen , wider eisnes Wollen, wert und wie 
der Beherrſcher es meynte und wollte, gluͤcklich zu werden, 


a 


Angewandte Moral 459 


2) der Regenten gegen die Unter thanen. 
3) der Unterthanen gegen die Regierung, 
4) der Staaten gegen Staaten. —— 


$. 578. 
Treue gegen den Staat. 


Bey einem fo zuſammengeſetzten Vertrage, als der— 


ienige iſt, worauf die bürgerliche Geſellſchaft beruht, def 


fen vellftändigen Innhalt zu fennen, und auf alle vor 
fommende Fälle anzuwenden, die Einficht vieler Mitz 
glieder offenbar weit überfteige, wuͤrde die GSicherheif 
feiner erſten Grundbedingungen leiden, und die’ Treue 
des Bürgers gegen den Staat verlegt werden, wenn ie— 
de (wenigſtens fcheinbar) eigenmächtige Einfchranfung 
einzelner Rechte des einzelnen Bürgers dieſen beftimmte, 
dem Regenten den Gehorfam aufzufagen, und Gewalt 
gegen ihn zu gebrauchen. Die Untreue eines emzelnen 
Gliedes — wenn es auch der Regent wäre — Fan 
noch) fein Recht geben, den ganzen Vertrag mit allen 
übrigen zu brechen. Sich als Einzelner den auch uns 
gerechten Verfügungen des Regenten zu unterwerfen, iſt 
alsdann , wenn nur fein Recht der Menfchheie und 
Menſchlichkeit verlegt wird, -und wenn der Widerftand 
den mwefentlichen Zweck des Staafes zerſtoͤren und ihn 
nicht auf andere Art wieder herjichen würde — Pflicht 
der Treue, zwar nicht unmitfelbar gegen die Perfon des 
Regenten, aber Doch gegen den Staat, dem am der un- 


gehinderten Aufrechthaltung und Ausübung der Regen; 


tenrechte gelegen iſt. | 
| $. 575: 


460 Angewandte Moral, 


* 


$.. 579. 
Zufaͤllige Beweggründe dazın 
Zu der Verpflichtung der Treue, die man der Geſell⸗ 
ſchafft fchuldig ift, Fommen noch zwey Beweggründe 
der Seldftpfliche hinzu, fie zu verſtaͤrken; nehmlich ſei— 
ne eignen perförlichen Zwecke zu fichern, wozu das Da- 
feyn und das; Anfehen einer Regierung erfordert wird, 
und fich der. überwiegenden Gewalt der Gefellichaft, die 
ihr Zwangsrecht ausüben würde, nicht Preiß zu geben. 
589%. { 

Da aber ale Menfchen, die ihre Vernunft ge- 
brauchen fönnen, von Natur frey und nur der. Herr 
fihaft ihrer eigenen Vernunft unterworfen. find: fo 
kann und darf die ganze Geſellſchaft mitihrer Regierungs⸗ 
form, den Gefegen und den Perſonen, welche fie ad- 
miniftriren, eine Veränderung vornehmen, die ihren 
eignen beiten Einfichten gemaͤs iſt. Ja fie ift dazu) vers 
bunden (aus Pflicht der Bervollfommnung), wenn es ohne 
größere Gefahr größerer Uebel gefchehen fann. Ein Volk 
begeht alfo feine Untreue gegen den Staat, (welcher 
aus dem Volk felbft nicht aber aus beſtimmten Formen 
feiner Verbindung oder gar ans dem Willen des Mes 
genten beſteht), wenn es um ſolche Aenderungen feine 
Regenten bittet, darauf dringt, und im Weigerungs⸗ 
falle ſie dazu noͤthigt. Doch muß es dabey die Rechte 
der Menſchheit und Menſchlichkeit uͤberall, und die per— 
ſoͤnlichen Eigenthumsrechte des oder der Regenten in ſo 
fern ſchonen, als es ihm möglich iſt, ohne Angriffe dar⸗ 
auf 


* 








/ 24 * 


Angewandte: Moral, 461 


auf feine eigne Freyheit gegen —— zu ſchuͤtzen 
und zu erhalten. 


$. 581 
Strenge Regentenpflicht, 

Ein Tyrann und Defpor ($. 576.) in moraliſchen 
Sinne ift überhaupt ieder Negent, der firh ein Eigen: 
"thumsreche über Menfchen anmaaßt, fie und das Ihrige 
blos als Mittel zu Beförderung feiner Privatzwecke zu 
"gebrauchen, und der fih dadurd an der menfchlichen 
Würde vergeht... Insbeſondere ieder Regent (Megts 
rung), ; f 


3) der mwiffentliche Gefege giebt, Die nicht aus den 
Willen des Volks entipringen Fönnen. 


2) der nicht Die Nechte der Menfchheit und Menſchlich⸗ 
keit auch an dem geringſten ſeiner Unterthanen re— 
ſpektirt, ſondern dieſelben verletzt z. B. durch Ver- 
ſuche, die allgemeine Denkfreyheit, Gewiſſensfrey⸗ 

heit, Religionsfreyheit einzuſchraͤnken. 


ger 3) der die Gefellihafiz feinen Privatzwecken (perſoͤnli⸗ 
chen Neigungen und Leidenfchaften z. B. der Eros 
berungsfacht ), 
4) oder einzelne Theile- der Gefellfchafe andern Thei- 
len derſelben aufopfere, ohne mögliche Einwilli⸗ 
"gung des Ganzen. . 
5) der wiffentfich die natürliche Freyheit (8. 573.) eis 
nes Einzelnen oder aller Unterthanen enger“ bes 
ſchraͤukt, 


462 Angewandte Moral, 


ſchraͤnkt, als es die bürgerliche Freyheit —* 573-) 
überhaupt erfordert. 


6) der gröffere Zwangsmittel anwendet, als zu dem 
Zweck der innern Sicherheit gehoͤren. 

7) der dem Volke alle Mittel zu rauben oder liſtiger⸗ 
weiſe zu entziehen ſucht, die feine bürgerliche Frey⸗ 
heit gegen fünftige Angriffe eines Regenten ſchuͤ— 
gen. 

Ein Regent, der alles dieg nicht thut, der iſt zwar nicht 
ungerecht und treulos gegen den Staat; aber Darum 
noch fein Vater und Wohltharer feines Volkes, 


$. 582. 
Pflicht der Unterthanen. 

Unterthan iſt an ſich ieder den Geſetzen des Staats 
oder ver Geſellſchaft worinn er lebt. Wenn und ſo— 
fern nun das Recht, dergleichen Geſetze zu geben und 
wuͤrkſam zu machen, gewiſſen Perſonen (Negenten) aufs 
getragen oder auch nur ſtillſchweigend verwilligt worden ifte 
dann und infofern ift der Bürger Unterthan des oder der 
Negenten. Die fchuldige Pflicht der Unterthanen gruͤn⸗ 
det ſich alſo auf den Vertrag mit der Geſellſchaft, und 
der Geſellſchaft mit ihren regierenden Mitgliedern; fie 
geht fo weit, als diefer Vertrag reicht, und als dieſer 
moraliſche Gültigkeit hat. — 


$. 583. 
Ein Bürger fündigt gegen den Staat, er iſt ums 
treu gegen die Geſellſchaft, fo fern er ſich den erkann⸗ 
ten 


/ 
/ 


/ 


Angewandte Moral, 463 


ten Bedingungen nicht unterwirft, woran die Theilnah⸗ 
me an den Vortheilen des Staats gebunden iſt. Dieß 
geſchieht | 


1) durch Ungehorſam gegen Die bürgerlichen Geſetze, 
wo fie der nothwendigen Pflicht nicht widerſtreiten. 


2) durch gänzlichen Mangel an äufferer Unterwers 
fung unter die richterlichen Ausfprüche des Staats. 


3) durch Wivderfeglichkeie ‚gegen ſolche Zwangsmit⸗ 
tel des Staats, wodurch die Rechte der Menſch— 
| beit. und Menfchlichfeit nicht gekraͤnkt werden. 


4) durch gewaltſame oder heimliche Entziehung feis 
ner vertragsmäffigen Dienfte und anderer Bey: 
träge zu den Bedurfniſſen des Staats. 


5) durch Unternehitungen wider die äuffere Sicher; - 
heit des Staats überhaupt, Durch a 


6) durch geheime Anfchläge und Berbitpungen, wel⸗ 
che den erlaubten Zweck der bürgerlichen Geſell⸗ 
ſchafft verhindern. 


7 durch Verletzung der perſoͤnlichen Wuͤrde des 
Regenten, als Regenten; durch Urtheile, welche 
zur Verachtung, zum Ungehorſam und zur Wider⸗ 
ſetzlichteit verleiten, zum Nachtheil des Staa; 

zes. Denn auſſerdem darf man den Regenten, wie 
ieden andern Menſchen, beurtheilen, wenn die King; 
heit es nur verſtattet. Gaͤnzliche Unterdruͤckung 
ſeines freyen Urtheils uͤber Regenten, wuͤrde den 

| De⸗ 


464 Angewandte Moral, 


Deſpotismus beguͤnſtigen, und pflegt eben daher auch 
nur von ſchwachen Regenten gefordert zu werden. 


Ein Bürger, der alles dieß unterläßt, iff no fein Das 
triot, er iſt nur negativ treu und gerecht gegen den 
‚Staat; er erwirbt fich noch Fein Verdienft ums Vaters 
land. * 


6. 584. 

Staaten gegen Staaten. 

Eine Geſellſchaft, ein Staat und ſein Regent hat 
auch natuͤrliche Pflichten gegen die ganze menſchliche Ge— 
ſellſchaft, gegen fremde Volker und Staaten. Keine Un— 
gerechtigkeit, kein Eingriff in fremde Rechte einzelner 
Perſonen oder Verbindungen, kein Privilegium, das 
uͤber Ungerechtigkeiten ertheilt wird, hoͤrt dadurch auf 
— Entehrung der Menſchheit zu ſeyn, daß fie dem In— 
tereſſe des Staats oder feines Regenten guͤnſtig find. 
Ein Regent handelt ungerecht gegen das menſchliche Ge⸗ 
ſchlecht, wenn er die Macht des Staates zum Ungerech- 
ten Zwang anderer Voͤlker oder einzelner Menfchen an; 
sendet, gelegt auch daß die Gefellfchafe darein willigte 
3. B. bey ungerechten DOffenfiofriegen; treulos, wenn 
er die ausdrücklicheg oder ſtillſchweigenden Vertraͤge 
bricht, wodurch die natürlichen Rechte der Völker und 
ihre wechfelfeitigen Verbindlichkeiten naͤher beſtimmt wers 
den. ‚Das Intereſſe des Staats, macht keine Ungerech⸗ 
tigkeit gerecht; denn dag Intereſſe ver Menſchheit iſt und 
bleibt überall das hoͤchſte. lan 


* 








Angewandte Moral, 465 


8: 
Erfag, Wipererffattung, 

Jede begangene Ungerechtigkeit, Unredlichkeie, Treu⸗ 
pofigfeit fordert, fobald fie anerfanne wird, Erfag, fo 
weit diefer nur irgend (phyſiſch und moraliſch) möglich 
iſt. Dieſen Erſatz iſt man einzelnen Menſchen, ganzen 
Geſellſchafften und dem Staate — im ſtrengſten Verſtande 
ſchuldig. Nur gegen Sophiſtereyen eines ſchwachen und 
zweydeutigen Herzens koſtet es Mühe, diefe Forderung 
zu rechtfertigen, Die dem Unbefangenen Fein Bedenfen 
erregt, 


$. 586. 
Verbindung mit der firengen Seldftpflicht, 
Die Erfüllung der fchuldigen Menfchenpfliche, ſchließt 
die Handlungen mit in fich, wodurch ich mich feldft und 
meine Kräfte zu erhalten ſuche. Denn ich bin ſchuldig, 
mich und die Kräffte zu erhalten, wodurch ich ein Mir 
tel und Werkzeug fremder Erhaltung bin und werde. 


$. 587. 
Vierte Menſchenpflicht. 
Erhöhung der Menfchenwiürde, 


$. 524. Num. 1. Erhöhe die Würde der 
Menſchheit. 


Jede Geſinnung, iede That, wodurch ich die Wuͤr⸗ 
„de der Vernunft und Menſchheit poſitiv anerkenne; al— 
les, was ich für meine eigne (eines Menſchen, eines 
Moralphuloſophie. Gg ver⸗ 


466 Angewandte Moral: 


vernünftigen Weſens) Bildung thue und aufopfere, iff 
Darlegung der Menfchenwörde, iſt ihre Verherrlichung. 


Jede Vernachläßigung meiner ſelbſt, iede Verlegung der 


pofitiven Selbftpfliche, iſt Bernachläßiguig der Menfch- 
heit. 


Befondere Vorfchriften, 


Hege und äuffere gegen das. ganze menfchlihe Ges 


fchlecht und gegen ieden einzelnen Menfchen fo viel Ad)» 
tung und Vertrauen, als möglich if. 


Befördere die Anerkenntniß der Menſchenwuͤrde durch 
Darlegung deines eignen moraliſchen Werthes in fittlis 
chen Handlungen. 


Menſchheit, Vernunft , Cirticheit und Religion 
mache ehrwurdig allen Menfchen. 


Hindere, foviel an dir liege, daß menfchliche Cha: 
raftere und Handlungen nicht fund werden, welche die 
Menfchheit entehren koͤnnten; mache fund, was der 
Menschheit zur Ehre gereicht. m 


Ehre die Ordnung der Natur, wodurd 
Menſchen ihr lebendiges Dafeyn erhalten, indem 
du die darauf äbzielenden Kraͤffte und Naturtriebe nicht 
nur nicht wider ihren Zweck, fondern auch der Würde der 
Menfchheit vollfommen gemäs anmwendeft und behandelft. 


Die Pflichten, melche auf den Gefchlechrstrieb Bes 
zug haben, laffen fich zwar aus verfchiedenen Verpfliche 


tungsgründen ableiten und darnach elafüfieiren; Der rein⸗ 


fte 








Angewandte Moral, 467 


ffe und eigenthümlichffe Darunter iſt aber wohl derienige, 
der auf Erbaltung ($. 532.) und Erhöhung der 
Menſchenwürde beruht, weswegen auch hier Die gan⸗ 
ze Abhandlung darüber vorfommt, und die andern Ver 
pflichtungsgruͤnde damit verbunden werden. 


Pflichten, die fich auf den Sefehlechtstrieh 
beziehen, 


$. 588. 

Ueberhlaupt. 

Es iſt niedrig, die Ordnung der Natur zu zerſtoͤren, 
wodurch Menſchen ihr lebendiges Daſeyn erhalten; Erz 
niedrigung der Menſchheit, diefe Kräffte zum blofs 
fen Mittel eigner Sinnenluft zu machen, und ihre höhes 
re Würfung zu vereiten; Vernachläßigung der 
Menſchheit, diefe Zwecke auch nur nicht abfichelich zu 
befördern, bey dem Beſitz und Gebrauch der Kröffte, 
die dazu dienen. Es iſt lieblos zu verhindern, dag 
Menſchen zum Leben Fommen, und doch die Vergnüguns 
gen zu genießen, womit die Nafur die Erzeugung ders 
ſelben weislich verbunden hat. Es ift ungerecht, ande 
re Perfonen als Werkzeuge dabey zu gebrauchen, wider 
ihre Zwecke; lieblos, diefe Verbindung für fie nicht fo 
vortheilhaft und beglüdfend zu machen, als eg ung mög» 
lich gewefen wäre, Dieß find die allgemeinen Geſichts⸗ 
punkte. I: 


— * 


G92 8: 589. 


468 Angewandte Moral, 


$. 589.! 
Solgerungen, 
Es iſt alfo Verachtung der Menfchheit, wenn man 

1) die Zeugungsfeaft in fich felbft, oder inandern 
zerſtoͤrt und ſchwaͤcht a) durch unmittelbare Zerſtoͤ⸗ 
rung der Organe b) durch unnatürlichen Gebrauch 
derfelben, z. B. Onanie, Päderaftie, Beſtialitaͤt. 
ec) Durch unmaͤßigen, ausſchweifenden, Ana 
natürlichen Gebrauch. 


2) den Sortpflanzungstrieb zweckmaͤßig äuffern 
tönnte, ihn aber aus niedrigen Abfichten unter; 
drückt z. B. aus Liebe zu einer üppigen Lebens— 
art. 


3)-ihn abfichtlich fo befriedigt, Haß nur das Vers 
gnügen der Wolluſt genogen, die Fortpflanzung 
des Gefchlechts aber verhindert werde. 


Es iſt imallgemeinen erlaube, ihn auch bey einem relati⸗ 
ven Uebermaaß der Kraͤffte, um ſeiner ſelbſtwillen zu 
befriedigen, ohne feinen Zweck; wenn dieſer Zweck ſchlech⸗ 
terdings nicht oder nur mit Verletzung moraliſch hoͤhe⸗ 
rer Zwecke befoͤrdert werden koͤnnte; aber nur wider 
den Zweck ſoll es nicht geſchehen, die Kraͤffte ſollen nicht 
fuͤr den Zweck verlohren gehen. 


4) die Würkungen von der geaͤuſſerten Zeugungs⸗ 
fraft wieder zerftöre, wegen zufälliger Unannehns 
lichkeiten, um ſich 5. B. der beſchwehrlichen Erzie- 
hung zu entledigen. 

” 5) die 





5) diefen Trieb anders, als unter folchen Umſtaͤnden 
und Verhältnißen befriedigt, dieder Erhaltung des 
menfchlichen Gefchlechts, feiner Bildung und feis 
nem Wohl am angemeflenften find. 


6) wenn man diefen Trieb ben ſich und andern zweck⸗ 
widrig reist, 
§. 590. 
Keuſchheit. 

Die Geſinnung eines Menſchen, der die Ordnung 
der Natur in Erhaltung des menſchlichen Geſchlechts ehrt 
und feiner Lage gemaͤs befolgt, heißt KReuſchheit. 
GSelbftpfliche und Menfchenpflicht legen ung auch in ans 
dern Rückfichten dieſelben Verbindlichfeiten auf, die aus 
der Achtung für die Menfchheit in der Perfon der 

- Nachwelt und für dieienige Narureinrichtung entſpringt, 
wodurch die Erhaltung des menfchlichen Geſchlechts gefi> 
chert wird. Diefer Beweggrund iſt aber der reinfte, der 
am mwenigften den Verdacht erwecken kann, lediglich aus 
natürlicher Selbſtliebe herzufommen, der auf die genau⸗ 
eften Beſtimmungen des ganzen Umfangs diefer Pflichten 
führe, und dem Mißbrauch oder fophiftifchen Verdrehuns 
gen — ausgeſetzt iſt, als andere. 


9 591. 
Ehe, eheliher Vertrag. 

Jede Bereinigung von Perfonen beyderlen Gefchlechts 
zu gemeinfchaftlicher Befriedigung des Gefchlechtstriebes 
fest einen Vertrag voraus, der den allgemeinen Grund» 

693 fügen 


“ 


Angewandte Moral, 469 


470 Angewandte Moral, 


fären über geſellſchaftliche Verträge (8. 568. ff) gemäg 
gefchloßen und beobachtet werden muß. Es darf dem- 
nach weder Gewalt noch Rift dabey angewandt, es darf 

feines Dritten Recht dabey gefränft, esdarf Fein Recht 
der Menſchheit und Menfchlichkeit dabey verlest, es foll 
iede Untreue vermieden werden. 


Eine folhe Gefellichaft , fofern fie den allgemeinen 
Bedingungen der Rechtmäßigkeit eines Vertrags, und 
der Befriedigung des Gefchlechtstriebes angemeflen iſt, 
heißt im weirläuftigen moralifchen Sinne eine Ehe. Mit 
den weſentlichen Zwecken, echten und Verbindlichfei- 
ten der ehelichen Gefellfchafe Fonnen noch andere Zwes | 
de verbunden werden, morauf fich ebenfalls gewiſſe 
Rechte und Verbindlichkeiten gründen (4. B. ſtandesge⸗ 
maͤſſe Erhaltung,) die aber nicht dag Weſen der Ehe aus- 
machen helfen. Es kann aber auch andere Gefelifchaf- 
ten zwifchen Perfonen beyder Gefchlechter geben, denen 
Das Wefen der Ehe fehlt, ob fie gleich mach der buͤrger⸗ 
lichen Einrichtung ähnliche, auſſerweſentliche Rechte und 
Verbindlichkeiten haben. 


In Anſehung der auſſerweſentlichen Bedingungen 
der Ehe kommt es auf den ausdruͤcklichen oder ſtillſchwei⸗ 
genden Vertrag an; der letztere bezieht ſich auffhirger- 
liche Rechte, Sitten und Gewohnheiten, deren Inn⸗ 
halt, ohne ausdrüclich wiederholt zu werden, als bekannt 
und genehmigt voransgefeßt wird. 





d. 592. 


\ Angewandre Moral, 471 


$. 592. 
Hurerey, Ehebruch, Unzucht. 

Die Anwendung der Zeugungsfräffre auffer dem Ehe: 
ffande im moralifhen Sinne ($. 593.) iſt Hurerey; 
wider den ehelichen Vertrag — Ehebruch. Die Yeufs 
ferung oder Neigung des Gefchlechtstriebes wider und 
ohne den Naturzweck deſſelben, ift überhaupt Unzucht, 
tvelche jederzeit einen Mangel an. fchuldiger Achtung für 
die Menfchheit beweiſt, und darum allein fhon Sünde 
feyn würde, geſetzt auch, daß fie in einzelnen Fallen Feine 
phyſiſch oder bürgerlich nachtheiligen Folgen nach fich 30» 
ge. Das legtere ift aber doch in unfern Staaten der 
gemöhnliche Fall. 


§. 593. 
Allgemein verwerflidy iſt nach diefen Grundfägen 
1) iede unnafürliche, und 


2) iede ausfchweifende, Die eigne Natur serflörende 
Befriedigung des Geſchlechtstriebes. 


3) iede zwar natürliche und die Schranfen der Nas 
tur beobachtende,, aber durch Zzwang, oder durch 
Ciſt und Betrug von dem Einen Theil erhaltene 
Defriedigung ; folglich auch 

4) ieder Vertrag diefer Art, wobey der eine pa; 
ciscirende Theil im Ganzen verliert; oder 

5) wodurch ein Dritter (4. B.ein Ehegatte) in feiz 
nem Rechte gewwaltfam oder heimlich gefränft wird. 

694 6) wo⸗ 


472 Angewandte Moral, 


6) wodurch das Entftehen mehrerer Menfchen abficht: 
lich oder doch miffentlich verhindert, oder 


7) die Pflihe der Ernährung, der Erziehung und 
Bildung der Hülfsbedürftigen Kinder bey Geite 
gefet oder zu fehr erſchwehrt wird. 


$. 594. 

Ungerechtigkeit und Lieblofigfeit gegen fich ſelbſt, ge> 
gen den andern paciscirenden Theil oder gegen die Nach- 
Fommenfchaft ift kaum vermeidlich 

3) bey unbeflimmten, temporären Verträgen 
diefer Art auf einen einzelnen oder aufeinige wenige 
Faͤlle. 


2) bey dem Umgange mehrerer Mannsperſonen mit 
mehrern Weibern, verus vaga. 


3) bey dem Concubinat d. i. einer ehelichen Verbin⸗ 
dung, die nicht auf Lebenslang gefchloßen wird. 


4) bey der Polyandrie. 
5) beyder Polygamie oder Vielweiberey. 


$. 595. 
Bürgerlihe Ehe 

De diefe Verbindungen ($. 597.) im Allgemeinen 
(in genere, wenn gleich nicht univer ſum) der Beftim- 
mung des Geſchlechtstriebes und denübrigen Zwecken der 
Menſchheit Abbruch hun, fo werden fie in gefitteten 
Staaten gaͤnzlich unterfagt, und es iſt daher Pflicht 

des Bürgers in Anſehung der Che | 
i 2) dieſe 





Angewandte Moral, 473 


2) diefe Derbindungen überall und auch dann zu 
vermeiden, wenn er ſie auffer dem Staate, wo⸗ 
win erlebt, für feine Perfon in dem einzelnen Falle 

ohne Unſittlichkeit eingehen Fönnte ' 


2) dieienigen Nebenbeftimmungen zu beobachten, die 
der Staat, deffen Bürger er iſt, mit einer bürgar- 
lich rechtmäßigen Ehe verbunden hat, und. die öf- 
ters nur um gewiſſer zufälligen Solgen willen feſt⸗ 

geſetzt worden find. 


Dahin gehöre z. B. bey uns dag Verbot, nahe Vers 
wandfe zu heirathen; ingl. die Formalitäten, die als. 
Kennzeichen eines bürgerlich gültigen Ehevertrags anges 

fehen werden. \ 


Sich z. B. eine Mätreffe zu halten, ſtreitet in den 
mehreften Zällen gegen die Pflicht eines guten Bürgers; 
wenn auch andere moralifche Verhältniffe es erlauben. 


$. 596. 

Die Achtung für die. Menfchheit an fich felbft und - 
die Beobachtung diefer iegt erflärten Pflichten Forderf 
auch eine folche Richtung feiner Phantafie, eine folche 
Gemüthsftimmung, eine folche Behandlung des Coͤrpers, 
und ein folches Betragen, als dem wichtigen Zwecke der 
Zeugungsfräfte, der ernfihaftenBezeichung des Geſchlechts⸗ 
triebes, und der leichtern und allgemeinen Beobachfung 
feiner natürlichen und bürgerlichen Schranfen, und dem 
Charakter eines Menfchen gemäs iſt, der die Menfchheit 
nicht durch Sklavenherrſchaft der thieriſchen Triebe über Die 

| Gg5 Ver⸗ 


474 - Angewandre Moral. 


Vernunft entehrenwill. Schambaftigfeit RZüchtig⸗ 
keit, Sittſamkeit des Betragens, pe es Rei⸗ 
nigkeit der Einbildungskraft. 


$. 597. 
Fuͤnfte und fechfte Renſchenpflicht. | 

Bervollfommnung und Beglücfung Der 

Menfchen. | 

€. 524. Num. 2. Vervollkommne die Menſchen 
d. h. befördere fo viel du Fannft Lie Zwecke der Menfche 
beit und dem Gebrauch der Rechte, die fich darauf grüns 
den, ($. 551.) m ohne durch Verträge es fchuldig zu 
fepn. 

Num. 3. Beglücke die Menſchen d.h. befördere 
auch die Zwecke und den Gebrauch der Rechte der Menfch- 
lichkeit ($. 552.) — ohne Verbindlichkeit durch Ders 
träge, 


Die Menfchen, denen du dieß fchuldig bift, find 
deine Zeifgenoffen und Die Nachwelt. Die Verdienſte 
um die Nachwelt Hat man um desmillen mehr: erhoben, 
weil bey ihnen dag eigne Jutereſſe ver Selbftliebe nicht 
fo offenbar würkſam erfcheint, und Dagegen Die Unei— 
gennuͤtzigkeit ſichtbarer wird, wodurch Handlungen der 
Güre erft ihren firtlichen Werth befommen. 


$. 598. 

Befördere die Volltommenpeit der Men⸗ 
ſchen. Dh 

1) Suche 








1 
d: 
e 
J 
J 
9 


Angewandte Moral. ATS 


I) Süche ihr Leben zu erhalten, zu verlängern; fey 


ihnen beförderlich, Die Nothwendigkeiten deskebens 


ſich zu verfchaffen und zu erhalten; vertheidige, bes 
ſchuͤtze menſchliches Leben. 


2). Sen ihnen beförderlich zur — und Cultur 
ihres Coͤrpers, und 


3) zum freyen Gebrauch und zur Bildung — 
lenkraͤfte. Befoͤrdere Freyheit zu denken, und 
nach eigner Ueberzeugung zu ſprechen, zu ſchreiben, 
zu handlen; Aufklärung; Geſchmack, Geſchicklich⸗ 
keit, Klugheit und Rechtſchaffenheit oder Weisheit. 


4) Sen andern behuͤlflich zu aͤuſſern Mitteln, wo— 
durch fie Diefe Zwecke der Menfchheit befördern koͤn⸗ 
nen. a) Zu Werkzeugen ihrer Thaͤtigkeit 3. B. Freun⸗ 
den b) zu Verftärfungsmitteln ihrer innern Krafe 
z. B. durch Aufmunterung, Lob. c) zu Verſtaͤr⸗ 
fung des Auffern Erfolgs ihrer Thaͤtigkeit, und d) 
zu einem angemeflenen Würfungsfreiß. 


§. 599. 


Beglücke die Menſchen. D. 5. 


7) Mache fie beſſer und mic fich felbft zufriedener. 

2) Defriedige ihre unfhuldigen Neigungen, ſoweit 
es deiner und ihrer eignen Vollkommenheit nicht 
fchader, 


3) Erhöhe ihre Empfaͤnglichteit für Genuß, 
4) Vermehre ihre aͤuſſern Gluͤcksguͤter. 
5) Ver⸗ 


476 Angewandte Moral. 


5) Vermehre die Kenntniſſe, Kraͤffte und Huͤlſsmit— 
tel, die ihnen zu groͤſſerer Gluͤckſeligkeit befoͤrder⸗ 
lich ſind. 


6) Verſtaͤrke, verbreite, belebe die Ueberzeugungen, 
welche die Menſchen mit ihrem ganzen Zuſtande zu⸗ 
frieden machen, und auch im Leiden fie beruhigen. 

$. 600. 
Nähere Beſtimmungen, Graͤnzen. 

Soll die Beförderung dieſer Zwecke (F. 597 bis 599.) 

moraliſch aͤcht ſeyn: ſo muß ſie 

1) ſich gründen auf die Vorſtellung des Menſchen 
als Zweck an ſich ſelbſt. Ich ſoll andere nicht blos 
um meinetwillen, als Mittel zu meinen Zwecken, 
vollkommner und gluͤcklicher machen, wie wohl ſie 
es eben dadurch werden. Die Selbſtpflicht führe 
öfters auf diefelben materialen Folgen, und macht 
dadurch die Erfüllung der Menfchenpflichten Teiche 
zer; fie verftärft auch ihre Verbindlichkeit. Un⸗ 
eigennützigkeit bleibt aber dennoch ihr wefentlis 
ches Merkmahl. 


2) Sie muß fih daher verbreiten auch auf dieie⸗ 
nigen Sälle, two unfre fubieftiven Zwecke dadurch 
entweder garnicht, oder doch weniger alg durch an⸗ 
dere Handlungen befördert werden. 


3) Sie muß sondern Pflichren gehörig fub und 
coordiniet werden. 


Ich 





Angewandte Moral, 477 


Ich darf nicht meine Vollkommenheit dem Wohl anderer 
oder meine gröffere Vollfommenheit und Gtlückfeligfeie 
der geringern Dolltommenheit und —— anderer 
aufopfern. 

4) Gie müßen ſich einander ſelbſt gehörig bey⸗ und 
untergeorönet werden. 


Ich darf die Menfchen nicht glücklicher machen, mit 
Aufopferung oder auch nur mit DVernachläßis 
gung ihrer Vollkommenheit. 


Ich darf das Recht Feines Menfchen Fränfen, um 
dadurch andern gröffere Volfommenheit oder 
Gluͤckſeligkeit zu verfchaffen. 


Die verfchiedenen Theile und Bedingungen der Voll; 
kommenheit foll ich nach ihrem Verhältnis zu dem 
Ganzen und dem Weſen Derfelden befördern. 





Die wichtigern Beſtandtheile und Beförderungsmitz 
tel fremder Gluͤckſeligkeit geben den IRRE N 
tigen vor. 


Die freywillige Beförderung des Wohls, das fih 
über viele verbreitet, bat im Collifionsfalle der 
Dorzug vor der Beförderung des Privarwohls 
eines Cinzigen oder nur weniger Menfchen. 


$. 601. 
Humanitaͤt, pofitive Menfchlichfeit. 
Die moraliſche Gefinnung eines Menſchen, der die 


Menfchheit überall zu vervellfommnen firebt , wollen teir 
vor⸗ 


478 Angewandte Moral, 


vorzugsweiſe (pofitive) Humanität; dieienige, die 
ſich in dem Beſtreben aͤuſſert, Menſchenwohl uͤberall 
zweckmaͤſſig zu befoͤrdern, Menſchlichkeit im poſitiven 
Verſtande ts. 553.) nennen. Der Eifer für menſchli⸗ 
ches Wohl ſteht dem Eifer für die Bildung der Menſch⸗ 
heit moralifch nah. Zumeilen trägt aber die Befürdes 
rung der Glückfeligfeit felbft zur Veredlung der Menfch- 
heit als Mittel etwas bey, indem fie z. DB. mehr Zu⸗ 
trauen gegen Dieienigen erwekt, Die andere moralifch beffern 
wollen, oder dem Geifte mehr Much und Krafftgefühl 
giebt, fich thatig zu beweiſen und dadurch zu veredlen. 
. 602. 
Oflicia innoxiae vtilitatis. 

Die gemeinfte Sumanität und Menſchlichkeit 
bemeift fich durch eine folche Einrichtung derienigen Hand- 
lungen, die ich ummeiner felbft willen (als Selbftpflicht) 
ausübe, wodurch zugleich Die Menfchheie und Menſch— 
fich£eit aufler mir gewinnt. Wenn ich z.B. meine Kraͤffte 
durch nügliche Berufsgefchäffte), oder mein Vermögen 
(durch Ausleihen) gegen nahen oder entfernten Erfag 
für andere verwende, oder in Geſellſchafft meinen Stoff 
zu angenehmer Unterhaltung gegen fremden Stoff diefer 
Art austaufche: fo opfere ich nichtg von meiner Voll 
kommenheit und Glückfeligfeit auf. 

$. 603. 
Wohlthaͤtigkeit. 

Wenn aber auch Fein ſolcher von der Gelbffpflicht 
abgeleiteter Beweggrund vorhanden wäre, oder wenn 

diefer 








Angewandte Moral, 479 


diefer wenigſtens feinen zureichenden entfcheidenden Ans 
trieb zu einer Handlung gabe: fo habe ich Doch) um an⸗ 
derer Menfchen felbft willen, die Pflicht, ihre Vollkom⸗ 
menheit und ihr Wohlfeyn zu befördern. Diefe Gefin- 
nung, bie ſich gaͤnzlich auf den Werth anderer Merfd,en 
“gründet , und Diefe Art zu handlen, wozu ich lediglich, 
wenigſtens ſchon allein zureichend, durch die Vorſtellung 
des abſoluten Menſchenwerths in der Perſon anderer be⸗ 
ſtimmt werde, verdient eigentlich den Nahmen der wohl 
thätigkeit. 


$. 604. 
Dienftfertigkeie, Mildthaͤtigkeit, Billigkeit. 
Die Wohlthaͤtigkeit erhaͤlt verſchiedne Benennungen. 

1. nach Verſchiedenheit der Gegenſtände, in Anſe— 
hung deren ich meine Selbſtliebe fuͤr andere ein— 
ſchraͤnke. Ich widme dem andern, uneigennuͤtzig, 
und ohne mich durch Vertraͤge verbunden zu haben, 


a) meine Dienſte, oder einen Theil von der 
Wuͤrkſamkeit meiner innern Kraͤfte — Dienft: 
fertigkeit. 

b) mein Vermögen, oder einen Theil meiner 
aͤuſſern Kraͤffte, der Mittel zu den Zwecken der 

Maenſchheit und Menſchlichkeit — Mildthätig⸗ 
keit. 

©) Ich ſchraͤnke den Gebrauch meines Rechts, 
meiner aͤuſſern Freyheit ein, zum Beſten eines 


andern — poſitive Billigkeit. 
§. 605. 


430 Angewandte Moral. 


Ir $. 605. * 

Barmherzigkeit, Geſelligkeit, Gemeinnuͤtzigkeit, 
Friedfertigkeit. | 
2. nah Derfhiedenheit der (materialen) Gründe, 
die mich bewegen, meine Kräfte, mein Vermögen, 
meine. Rechte den. Zwecken anderer Menfchen zu 
widmen, und meine eignen Zwecke ienen nachjus 

fegen. Es gefchieht dieß pflichtmäßig alsdann, 


a) wenn das Beduͤrfniß des andern, dem ich abs 
helfen fann , dringender ift, als das meinige 
— moraliſche Barmherzigkeit. 


b) wenn mein Dienft, oder mein Aufwand an 
Vermoͤgen dem andern mehr nügt, als er mich 
Foftet; wenn dadurch feine Imecfe mehr, oder 
wenn wichtigere Zwecke fuͤr ihn befördet werden, 

als ich eben dadurch fuͤr mich zu bewuͤrken im 
Stande waͤre — poſitive Geſelligkeit. 


c) wenn das Gute (die Vollkommenheit oder Gluͤck⸗ 
feligfeit), Das (die) ich flifte, fich über viele ver; 
breitet, das aufferdem nur ein einziger, ich als 
lein, genöffe — Bemeinnüsigfeit. 

Wenn diefe Viele zu einer Gefellfchaft mit mir gehören 
— Gefellfhaftsgeift, wohin der Samiliengeift, der 
Sreundfchaftegeift, und der Patriotismus mir!gehö= 
ren. Der Geiſt ver Aufopferung feines Privatvorsheils 
für das menfchliche Gefchlecht überhaupt, auch für die 
Nachwelt, Heißt Welsbürgergeift,. Cosmopolitismus. 

N A) wen 


Angewandte Mord 481 


d) wenn ich die gerechten Zwangsmittel gegen Bes 
leidigungen anderer um deswillen nicht anmwende, 
weil dadurch gröfferes Uebel für den andern, oder 
für die Geſellſchaft hervorgebracht werden wuͤr⸗ 
de, als dasienige iſt, dem ich durch den Ges 
brauch des Zwanges entgehen fönnte— poſitive 
Stiedfertigfeic. 


{ §. 606. 
— der Wohlthaͤtigkeit. 


Auſſer den Einſchränkungen, welche die Ausuͤ⸗ 
bung der Pflicht der Wohlthaͤtigkeit in ihrem ganzen 
Umfange durch die Pflichten der Gerechtigkeit ge, 
gen mich ſelbſt und gegen andere leidet ($. 603.), ſetzt 
ihr ach noch die phyſiſche Einſchränkung eines ie; 

den Menſchen gewifle nothwendige, obgleich unbeſtimm⸗ 

boare Graͤnzen. Jeder Menſch iſt nehmlich eingeſchraͤnkt 

auf ein gewiſſes Maaß innerer Kraft, Faͤhigkeit und 
Einſicht, aͤuſſerer Kraͤffte und Vermoͤgen und auf einen 
gewiſſen Waurkungskreiß, den aͤuſſere Hinderniße mar 
willkuͤhrlich erweitern laßen. 


Es iſt daher Pflicht 
I) dieſe Graͤnzen nicht ſelbſt zu verengen, oder ihre 
moraliſch und phyſiſch moͤgliche Erweiterung zu ver⸗ 
mnachlaßigen; ſich ſelbſt innerlich ind aͤuſſerlich voll⸗ 
kommner zu machen, und feine Sphäre zu erweitern, 
um auch für fremde Vollkommenheit und Glückfe- 
ligfeit thatiger und mit miehreren Erfolge thätig 
zu feyn.. ! 
Woraippilofoppie, 5 3) ſel⸗ 


482 Angewandte Moral. 


2) feinen vom innen und auffen beſtimmten — Wür- 
fungsfreiß kennen zu lernen, und 
3) ihn verhaͤltnißmaͤſſig zu erfüllen, 


$. 607. 

Die Einſchraͤnkung meiner Kräffte und meiner Sphäre 
($. 606.) erlaubt es nicht, allen Menfchen, in gleichem 
Maafe und auf gleiche Art wohlzuthun. Ich fol das 
| her meine Wohlthätigfeit fo vollfommen einzurichten fu- 
hen, als eg diefe Einfchränfung verflatter. Sch habe 
Daher 

1) bey dee Wahl der perfönlihen Obiekte meis 

ner Wohlthätigfeit darauf zu fehen, 


a) welche überhaupt die Bedürftigften find 3. B. 
Kinder, alte Leute, Kranfe, Verlaſſene. Die 
Bedürftigffen find nicht immer die, welche am 
lauteſten Elagen, noch auch die, welche ihr? Bes 
duͤrfniß am meiften fühlen. 

b) welcher Menfchen Bevürfnig am wenigften 
obne mid) wird abgebolfen werden, von deren 
Beduͤrfniß ich die genaueſte Kenntniß habe, mit 
wen ich in- genauer Verbindung flehe. 

c) welchen Menfchen ich amleichteften und würk⸗ 

ſamſten helfen kann, wegen meiner Kräffte, 
Meigungen, Fähigkeiten, Hoffnungen, wodurch 
ich mir au wenigften Kraft raube, noch in Zu⸗ 
kunft tmwohlchätig zu feyn. Daher find Eltern 


mehr verbunden für ihre Kinder zu thun, als 
ans 





Angewandee Moral, 483 


andere; Verwandte für Verwandte; Freunde 
für Freunde; Mitbürger für einander. 


d) welche die meifte innere und aͤuſſere Empfäng: 
lichkeit für meine Wohlthat haben z. B. meine 
Wohlthaͤter. 


e) durch welche ſich meine Wohlthat am weiteſten 
verbreitet z. B. Familien — verdiente Perfos 
nen, ſie moͤgen es im moraliſchen oder gemeinen 
Sinne des Worts ſeyn (welches fein Menſch ber 
urtheilen kann), oder geweſen ſeyn; ſolche die 
durch Wohlthaten beduͤrftig worden ſind. 

2) Meine Wahl unter den nicht perſönlichen Ob⸗ 
iekten, ſoll beſtimmt werden theils durch die Art 
der Krafft und Faͤhigkeit, die ich zu Befoͤrderung 
dieſer oder iener Vollkommenheit, dieſes oder ienes 

Theiles der Gluͤkſeligkeit — von Natur oder durch 

Uebung — vorzüglich befise.. 

theils durch die äuffere Rage und Berhältniffe, die 
mic) in den Stand fegen, gerade hierdurch ver 

Menfchheit aufzuhelfen, diefes menfchliche Elend zu 

vermindern, diefen Theil menfchliher Wohlfahrt 

und Freude zw befördern. Anvers beweift ſich 

mwohlthätig der Negent, anders der Gelehrte, an 

ders der Arzt, der Lehrer u. f. mw. ieder in feiner 

eignen Sphäre. 
* §. 608. 

Die wahre Wohlthaͤtigkeit mindert nicht nur das 

Sen Uebel (Unvollkommenheit und Ungluͤckſelig⸗ 

Sh2 keit,) 


484 Angewandte Moral, 


feie), fondern fie verhütet es auch. Sie vermehrt 
und verbreitet, fo viel fie Fann, Vollkommenheit und 
Glüdfeligfeit. Sie ehrt die Menfchheit und Menfch- 
Jichfeit auch in dem verborbenften und lafterhafteften 
Menfchen, auch in dem perfönlichen Feinde. Jeden 
Menſchen ſtrebt fie fo volllommen und gluͤckſelig zu ma- 
then, als es ihr möglich ift, als es das Wohl anderer 
Menfchen und die Selbftpflicht erlaubt. 


Sie folgt nicht blindlings dem Zug der natürlichen 


Sympathie oder dem Triebe des guten Herzens. Ver⸗ 


nunft hält fie zurück, aus Menfchenliebe ungerecht ge- 
gen fich felbft, oder gegen andere, oder partheilfh in 


ver Wahl der Dbiefte, oder in der Proportion der Wohl⸗ 


thaten zu ſeyn; oder mehr für auſſerweſentliche Güter, 
als für die wefentlichen zu ſorgen; oder Die Mittel zur 
Bervolfommnung und Begluͤckung ver Menfchen blind; 
Yings und thöricht zu wählen. Sie fucht aber dennoch 
auch pathologifche Liebe (der Empfindung) in fich zu ers 
Halten und zu verflärfen, um mit gröfferer Leichtigkeit 
vem Gebote der Pflicht zu gehorchen, 


Religion, 
oder 
Pflichten gegen Gott, 
6. 609. 
Allgemeine Begriffe, 
Die uneigennüsige Bewunderung der göttlichen 
Größe,oder das uneigennuͤtzige Wohlgefallen an feiner Voll⸗ 
| ü ; fom- 


Angewandte Moral 485 - 


kommenheit iſt zwar ein aͤſthetiſches Gefühl, welches fich auf 
Gott , als feinen Gegenftand bezieht, an fich aber nicht mo⸗ 
raliſch⸗ und weder Religion noch Pflicht gegen Gost iſt. 


ı Mas lediglich aus dem Verhaͤltniß der ſinnlichen 
Neigung zu einem högern Wefen fließt, was aus finn« 
licher Hoffnung oder Furcht vor ihm gefchieht , das iſt 
inlfo fern nicheeigentlich Religion, noch Erfüllung einer 
Pflicht gegen die. Gottheit; es Hat überall feinen ſittli— 
hen Werth. 


Altes dasienige, was aus der moralifchen Gefin ⸗ 
nung in Bezug auf die Idee von der Gottheit (und die 
damit verbundene Idee von Unfterblichkeit) entfpringe, 
ift Religion. Was ich zwar in diefem Bezug, zunaͤchſt 
aber aus Achtung fuͤr meine eigne oder fuͤr andere Per⸗ 
fonen thue: das iſt allerdings Religion und hat ſittli— 
chen Werth, iedoch nicht als Pflicht gegen Gott, fon» 
dern als. Selbfipflicht oder Menfchenpflicht 5. B. wenn 
ich andere in ihren religiöfen Ueberzeugungen und Hands 
lungen nicht ftöre, weil ſich fie alg Iheil oder Mittel ih— 
. rer Vollfommenheit und Glückfeligfeit betrachte, wenn 
ich mich durch den‘ Gedanfen an Gott und Vergeltung 
zum Guten ffärfe. 


Jede innere oder äuffere Handlung, deren Beweg⸗ 
grund Die Vorftellung ift „Gott iff als ein vernünftiges- 
„Weſen höchfter Selbſtzweck, ift in fofern eine Pflicht 
gegen. Gott. 


5 3 $. 610% 


486 Angewandte Moral, ' 


6. 610, — 
Realitaͤt dieſes Begriffes. 

Nach dieſem Begriffe kann und muß es Pflichten ge⸗ 
gen Gott eben fo gut geben, als es Pflichten gegen fich 
und gegen andere Menfchen giebt. Denn es fommt 
hier nicht darauf an, daß in dem Hbiefte einer Pflicht 
etwas hervorgebracht oder verändert , daß feine Voll— 
kommenheit oder Glückfeligfeie erhalten und vermehrt 
werde. Der Werth der Pflichten hängt auch nicht von 
dem Daſeyn oder Nichtfenn oder von der Größe der äuf- 
fern Folgen ab, fondern er beruht auf der Moralitaͤt 
der innern Gefinnung, auf der Vernunftmäßigfeit. Aus 
dieſem Geſichts punkte angefehen, zeigt fich die Meynung 
als Vorurtheil, daß die Pflichten gegen Gott die gering» 
ſten, wenigſtens minder bedeutend als die übrigen waͤ⸗ 
ren. Daß die äuffern (materialen) Handlungen der 
Gottesverehrung mit dem Materiale der übrigen Pflich— 
ten — gegen fih und Menfchen — übereintreffen , ift 
fein Grund, fie diefen unterzuordnen. Denn das nad)» 
fie Princip ift Doch verfchieden. 

$. 611. 
Grund der Verbindlichkeit, 


Die Pflicht gegen Gott muß, wie iede andere Pflicht, 
ſich auf Achtung für Vernunft gründen, und ſich durch 
Achtung für Vernunft beweifen. Die religiöfe Tugend 
d. i. die Achtung für die Gottheit, ift Achtung fürdas 
vollfommenfte Subieft der reinften Moralitat, oder der 
höchften Vernunft. Da die Idee yon der Gottheit dieß 

ent: 


‚Angewandte Moral, 487 


enthält, fo muß fie nothwendig der Gegenſtand eben derz 
felben Achtung ſeyn, die wir für Vernunft und für vers 
nünftige Weſen überhaupt hegen. Moraliſche Geftn- 
nung und die Befanntfchaft mit der Idee von Gott führe 
nothwendigerweiſe Religion herbey. 

$. 612. 

Erfenntnig Gottes. 

Einen Gott zu erkennen, oder fein Daſeyn zu glaus 
ben, iſt lediglich ein Gegenftand des Erfenntnißvermös 
gens, und Feine Pflicht. Gleichwohl ifE das Bewußt⸗ 
ſeyn der Pflicht überhaupt das Dbieft, wovon das Er- 
kenntnißvermoͤgen einen entfcheidenden Grund für Dies 
fe Ueberzeugung hernimmt. Daher entffand wohl der 
Schein, als ob es Pflicht wäre, Gott zu erfennen. 
Der Glaube an die Gottheit iſt in der moralifhen Ges 
finnung obieftiv gegründet. 


$. 613. 
Verehrung der Gottheit. 

Da nichts Ddieftives vorhanden iſt, was die Ach- 
fung für die Gottheit einfchranfen Eönnte, fo muß fie 
unendlich d.i. Derebrung (S. 332.) feyn. Die Vers 
ehrung, diewir der Gottheit widmen, ift eigentlich dem 
ſittlichen Vernunftgefege geweiht ($. 358. 360. 362. 
379.) welches wir uns in ihr, als der vollfommenften 
Intelligenz, hypoſtaſirt gedenken. Gottesverehrung 
iſt unendliche Achtung fuͤr die unendliche Wuͤrde des ſitt⸗ 
lich Vollkommenſten. 


554 $.614. 


488 Angewandte Moral, 


$. 614. 4 
Negative, pofitive Gottesverehrung. 
Ach verebre Gotf 


I) negativ; wenn ich alles dasienige Nessie 
Verachtung der Gottheit vorausfege. 


2) pofitiv; durch eine folche Einrichtung meines 
Zhuns und Laffens, die der Vorfiellung von der 


unendlichen Würde Gottes vollk ommen entſpricht. 


85 . 615. 
Entehrung Gottes, 
Gott wird entehrt 
1) poſitiv, durch ieden Verſuch, ihn * 
wider ſeine Zwecke zu gebrauchen, ihn zum Werk⸗ 
zeug der Unſittlichkeit zu machen z. B. durch Heu— 
cheley. 
3) negativ, dadurch, dag man feine ſittlichen Zwecke 
nicht durchaus genehmigt und an feinen Theil zu 
befördern. ſtrebt. | 


$. 616. 

Muftif, Gortesdienft, 
Aechte Gottesverehrung ($. 613. f.) unterſcheidet 
ſich durch dieſes Princip 
1) von der myſtiſchen Liebe Gottes, oder der re⸗ 
ligioͤſen Schwaͤrmerey d. i. von einer unmittelba⸗ 
gen, blinden, ſinnlichen Neigung‘ zu einem finnlich 
gedach⸗ 


Angewandte Moral, 489 


gedachten uͤberſinnlichen Weſen. Was nicht auf 
Vernunft, ſondern auf finnlicher Neigung beruht, 
das hat feinen ſittlichen Werth, und kann ſich auch 
nicht nothwendigerweiſe durch Vernunft und Sitt⸗ 
lichkeit, durch Achtung fuͤr vernuͤnftige und mora⸗ 
liſche Weſen beweißen. Myſtik gruͤndet ſich auf 
vermeynte ſinnliche Anſchauung deſſen, was doch 
Ueberſinnlich iſt, und da dieſe unmöglich iſt, fo 
muß bey dem Myſtiker nothwendigerweiſe ein ſinn⸗ 
liches Phantom der Einbildungskraft die Stelle 
der Gottheit vertreten, Das gewiſſe ihm angemeſ⸗ 
fene Gefühle erregt, die aber nicht moralifcher, 
fondern thieriſcher oder aͤſthetiſcher Natur find. 
Bey der Vorausfegung, daß unmittelbare Einwür-> 
fungen der Gortheit (auffer denen durch) die Natur 
und nach Naturgeſetzen) möglich waren, und bey 


"einiger Empfänglichfeie der Phanrafie , ihre Wuͤrk⸗ 
lichkeit fich einzubilden, wird aller ſowohl reineals 


eimpirifcher Wernunfrgebrauch im Abfiche auf das 


Tun und Laffen aufgehoben, und für vergeblich 


erkläre, und. ven Einflüßgen der Leivenfchaften auf - 
die Phantafie wird die ganze Einrichtung deg Les 


\ bens Preiß gegeben. 


2) von den eigentlichen Bottesdienft d. i. dem von 


Moralitaͤt unabhängigen Befireben ſich dem maͤch⸗ 
tigſten uͤbermenſchlichen Weſen gefällig zu machen, 
durch Befriedigung feiner ſubiektiven Neigungen. 


5 $. 637. 


499 "Angewandte Moral, 


§. 617. 
Theurgie, Dämonolarrie, 
Der Gortesdienft wird geleifter d. h. man beffrebe 
fih, die vermeynten fubieftiven Neigungen der Gottheit 
zu befriedigen 


1) aus natürlicher Kiebe und Dankbarkeit für Wohl 
thaten, wodurch man von- einem höhern Weſen 

‚ ohne moralifhe Gründe und mit SPartheilichfeie 
vor andern Menfchen und Völkern ausgezeichnet 
worden zu feyn glaubt. Go dient z. B. ein Vol 
feinem Schutzgott. Wenn feine Partheiligfeit bey 
Gott vorausgefezt, und diefer Dienft aus mora⸗ 
liſchen Gründen auf moralifcye Are erwiefen wird: 
fo har derfelbe fubiefeiw firclichen Werth, wenn 
gleih eine irrige Vorftellung dabey zum Grunde 
liegen folte. Auflerdem ift er Sünde, wenn auch 
„Der theoretiſche Irrthum unvermeidlich wäre. Ein 
moralifcher Menfch würde „eine folche vermeynte 
Gottheit nicht verehren koͤnnen, und ihr feinen 
folchen Dienft erweifen, wenn er auch das Daſeyn 
derfelben glaubte. 


2) aus einer verffändigen Neigung zu einem übers 
menfchlichen, höhern Weſen, das man fi) als 
wohlwollend (ohne Moralitaͤt) vorftellt, als ein 
Mittel zu Befriedigung feiner-finnlihen Neigun> 
gen, Theurgie, finnlich eigennügige Religion. 


3) aus 


f 


Angewandte Moral, 491 


3) aus einem verftändigen Beſtreben, ſich die Gnade 
eines übelgefinnten, aber mächtigen Wefens zu ers 
werben. Dämonolatrie. 


Die fubiefeiven Neigungen, die man der Gottheit bey 
legt und zu befriedigen ſucht, find 


a) entweder etwas, das dem Materiale der Tugend 
und Pflicht mehr oder weniger zuwiderlaͤuft, was 
ig einzelnen Faͤllen die Erfüllung der Pflicht aus⸗ 

ſchließt z. B. Menſchenopfer 

b) Oder was zwar von der Tugend verſchieden iſt, 

aber doch uͤberhauptgenommen neben ihr beſtehen 
kann z. B. Opfer von Fruͤchten und Thieren. 


ec) oder etwas zufaͤlliger Weiſe mit der Tugend (ma- 
terialiter.) übereinftimmendeg 


&). Moralität allein, oder 


8) fie, in Verbindung mit nicht moralifchen Din» 
gen 5. Bi Opfern, Verſoͤhnungen. 


$. 618. 

Auch die unverfchuldere Natur des Irrglaubens ar 
die Möglichkeit und Würffamfeit eineg eigentlichen Got» 
tesdienftes hebt die Sünde nicht auf, einem ſolchen Irr⸗ 
thum gemäs eigennüßig und pflichtwidrig zu handlen. 
Denn die Moralität und Immoralitaͤt haͤngt nicht von 
theologifchen UWeberzeugungen, fondern von, der reinen 
oder eigennügigen Denfungsart.ab. Dämonologie kann 
nur bey böfen Menfchen Die es auch ohne diefen dogma⸗ 

tiſchen 


492 Angewandte Morgk, 


tifchen Irrthum ſeyn und es dann nur auf andere Art zB. 
Durch niedrige Menſchenfurcht und Menſchengefaͤlligkeit 
beweiſen würden) Demonolatrie; der Glaube an eigen⸗ 
nuͤtzige, uͤbrigens wohlwollende Götter nur, bey eigen⸗ 
nuͤtzigen Geſinnungen Thurgie hervorbringen. Natuͤr⸗ 
liche Pflichten, deren Anerkenntniß von Religionsmey⸗ 
nungen unabhängig iff, aus finnlicher Hoffnung zu 
verlesen, bleibt Unrecht, geſetzt auch daß die Hoffnung 
oder Furcht ſelbſt gegrümdet wäre. Aber auch ſelbſt 
die Ausübung der Tugend (ihrem Stoffe nach), oder die 
Beobachtung des Vernunftgefeges um Borteswillen, 
iſt weder ächte Religion, noch wahre Tugend überhaupf 
($. 54. Num. 2b. ) 5 es iſt ihr Buchftabe ohne den Geiff. 
Man entzieht der Moralitaͤt die Achtung, die ihr unmittel⸗ 
bar und zuerſt gebuͤhrt; ; man ehrt das Geſetz nicht als eig⸗ 
nes, vernuͤnftiges, an ſich gutes Geſetz, ſondern als 
Geſetz des mächtigſten Weſens, als etwas relativ 
Gutes zw ſinnlichen Zwecken Umgefehre ſollen wir Gott, 
das maͤchtigſte Weſen ehren, theils weil Sittlichkeit, 
das unbedingte Gut, ihm eigen, weil er ſie ſelbſt iſt, 
theils weil Verehrung Gottes unſre an ſich gute mo⸗ 
raliſche Geſinnung verſtaͤrkt und wuͤrkſamer macht. 


Es darf alſo, um der Reinheit der Tugend willen, 
keine Pflicht auf die Ueberzeugung vom Daſeyn Gottes 
und auf die Hoffnung einer ewigen Vergeltung gegruͤn⸗ 
det werden. Ein moraliſches Weſen würde die Idee 
von der Gottheit in ſeiner Vernunft zum Gegenſtand 


feiner hoͤchſten Verehrung machen, wenn es ſich auch von 
| der 





Angewandte Moral, 493 


der obieftiven Realitaͤt dieſes Gedankeng'd.i. davon, 
daß eine Gottheit — nicht — ar koͤnnte 


— 6 

Ge der Reinheit. | 
Se unmittelbarer und reiner ſich die Gottesvereh— 
rung auf Die Vorſtellung gründet, daß die Gottheit eiln 
vernuͤnftiges und ſittlich vollkommenes Weſen iſt; ie we⸗— 
niger ſinnliche Triebfedern und Vorſtellungen von der 
Macht oder auch nur der (nicht moralifchen) Güte Gotz 
tes dazu mifwürfen ; iemehr die Erkenntniß Gottes und 
ihre praftifche Wuͤrkung dem Ideal von ſittlicher Voll⸗ 
kommenheit entſpricht; ie weiter aller Eigennutz und alle 
Vorſtellung von ſubiektiven Zwecken der Gottheit davon 
entfernt bleiben; ie mehr ſie ſich durch Erfuͤllung der 
Selbſt⸗ und Menſchenpflichten beweiſt — deſto SER und 

moraliſchwuͤrdiser iſt ſie. 


9. 620. 
Verhaͤltniß der Religion zur Sinnlichkeit. 


Saottesverehrung ($ 616.) iſt dem menſchlichen Gei⸗ 
ſte (der Menſchheit) offenbar angemeſſener, als Myſtik 
und Gottesdienſt ($- 619.), Aber dem finnlichen Men 
fchen (der Menfchlichkeie) wird es fchwer, ſich zu dieſem 
rein moralifchen Ideale zu erheben, und dieſe reine ſitt⸗ 
liche Denkart auszuüben, da er im Gegentheil bei) ienen 
vermeynten Surrogaten aͤchter Religion ſeine Sinnlich⸗ 
keit ungehindert zu befriedigen, und ſich von den ſinn⸗ 
lich laͤſtigen Zorderungen der Vernunft init einen Schein 
RN dee 


494 Angewandte Moral, 


der Vernunftmaͤßigkeit loszumachen ‚weiß. Doch wird 
auch hierdurch der ſinnlichen Natur oft Gewalt angethan 
(z. B. durch Buͤſſungen), die um ſo druͤckender iſt, ie 
weniger fie von dem edlern Theile der Menſchen für noth⸗ 
wendig erfannt wird. 


Specielle Ausführung der Pflichten gegen Gott, 
$. 621. 
heile 
Die Pflichten gegen Gott find: 

1) Erhaltung und Erhöhung d. 1. fubieftive Vereh— 
rung feiner perjonlichen Wurde — unmittelbare 
Religioſität. 

2) Erhaltung und Befoͤrderung d. i. Verehrung ſei⸗ 
ner Zwecke — mittelbare Religioſität. 

§. 622. 
Unmittelbare Religionspflicht. Verehrung 
der goͤttlichen Wuͤrde. 
$. 621. Num. 1. Die Pflicht der unmittelbaren 
Verehrung der Gottheit gebietet überhaupt: Bott ins 
nerlidy zu verehren, und diefer innern Vereh⸗ 
sung gemäs ſich äuſſerlich zu betragen. 

Insbeſondere: 

1) negativ. : Vermeide alles dasienige, was r 
nen Mangel an Derehrung der Bortheit 
ausdrückt. om 

Denfe, 


Angewandte Moral, 495 


Denfe, nenne die Gottheit und alles, was auf fie in 
unmittelbarer Beziehung ſteht, nie anders, als mit Ernſt 
und mie Ehrfurcht. Verlaͤugne dieſe Geſinnung nie. 
Verbreite keinen Gedanken, der dieſe Aston bey ans, 
dern fchwächen Fönnte, 

Was andre Menfchen als göttlich und eilig anſehen; 
weſſen Verehrung bey ihnen mit der Gottesverehrung 
und dadurch mittelbarerweiſe mit der Achtung für Ver— 
nunft und Moralitat zuſammenhaͤngt, das entweihe nicht, 
weil es bey ihnen die Religion und Tugend, wenigſtens 
die Legalitaͤt ſchwaͤcht. Selbſt Aberglauben und Schwaͤr⸗ 
merey bekaͤmpfe mit Behutſamkeit. Auch die aͤuſſeren 
Zeichen der Gottesverehrung, deren ſich die Menſchen 
bedienen, mit welchen du umgehſt, mache nicht laͤcherlich, 
beraube fie nicht ihres Eindruckes, ohne etwas Würfe 
fameres dafür zu geben, oder geben zu Fönnen. Oef— 
ters kann fchon die perfönliche Vernachlaͤßigung religide 
fer Formalitäten für Verachtung Gottes gelten. 

° Das Motiv zu diefer Pflicht, welches von der Ach⸗ 
gung für Sittlichkeit, Vernunft und Gottheit her⸗ 
genommen iſt, zeichnet die moralifche Erfüllung —* 


ben aus 
a) von aufferer Ehrfurcht für Gott, aus ſtlaviſcher 


Furcht vor göttlichen Strafen, oder aus eigen⸗ 
nuͤtziger Hofnung goͤttlicher Belohnungen (Lohne 
ſucht) 

b) von ſcheinbarer und affektirter Religioſi tät ledi⸗ 
glich aus Menſchenfurcht oder — 
fälligkeit, aus Eigennutz. 

Eben 


496 Angewandte Morak 


Eben dieſe Art zn handlen ift auch der Selbſipficht, 


der Menſchenpflicht/ der Klagheit gemaͤs. 

Die hoͤchſte Vernunft leichtſinnig zu behandlen, ver⸗ 
raͤth eine unmoraliſche Denkungsart. 

Ehre die Vernunft, auch in deiner Perſon und in 
der Perſon eines ieden Menſchen — denn was ver; 
nunftig ift, gottlich 


§. 623. 


2) poſitiv: Erhalte und veredle in dir ſelbſt 


und in andern iede religiöſe Geſinnung oder: 
verherrliche Gore. Alſo: 
Befeſtige und läutere deine Begriffe und Leberzeugun: 
gen won Gott. Belebe fie, und das Gefühl für ihn. 
Veredle dieß Gefühl durch Abfonderung alles deſſen, 
was der Goftheit unmwürdig iſt. 
Verbreite und. befördere Achtung für Vernunft und 


Menſchheit. 


Befoͤrdere wahre und lebendige Erkenntniß, Betrach⸗ 
tung und Gefühl für Gott auch bey andern Menjchen, 

Auch diefe Handlungen laſſen fich aus der. Geldft- 
pflicht, der Menfchenpflicht, und mus Regeln der Klugs 
heit ableiten. Sie find-aber auch Price | in unmittelba 
rer rn auf Sort. 


$. 624. 
Graͤnzen. 


Die Graͤnzen dieſer Pflicht 6. — 623.) der 


Sottes betrachtung und des deligioſen Befühls (zu⸗ 
ſam⸗ 


J 


Angewandte Moral, 497 


fammengenommen der Andacht) werden beſtimmt durch 
Das DVerhältniß der Handlungen, wodurch fie erfülg 
wird, zu dem legten Princip und Zweck aller Pflicht. 
Wo die innere und äuffere Ihatigkeit der Vernunft im 
Ganzen ‚dadurch eingefchranfe würde, da hören diefe 
Handlungen auf pflichtmaͤßig zu feyn. Alsdann würde 
die thätige Verehrung der göstlichen Zwecke Dadurch ver⸗ 
hindert. 
$. 625. a 
Unterfchiede, 


Dieß Princip und diefe Gränzen beffimmen den Un— 

terfchied. der Achten Religiofität oder Andachr. 

3) vondem vermeynten Bortesdienft ($. 616.), 
durch Entfernung aller eigennügigen Zwecke, um 
derentwillen der Diener Gottes diefe Handlungen 
vornimmt. Der wahre Andächtige wird nur durch 
die firtliche Vortreflichkeit und Würdigfeit deg Ges 
genftandes dazu beſtimmt, und durch den Einfluß, 
den diefe Handlungen auf moralifche Bildung feis 

nes Geiſtes und Herzens haben. 

2) von Abergläubigkeit überhaupt, dadurch daß 
fie fih nur auf die Gottheit als Princip der Site; 
lichfeit bezieht. Der Abergläubige verehre oder 
fürchter vielmehr die Macht, als die Weisheit und 
Güte der Gottheit. 

3) von Bigotterie d. i, der pofitiven Unterordnung _ 
aller Pflichten unter die Pflicht der unmittelbaren 
Neligiofität. Der wahre Andächtige ordnet die 

Moralppilofoppie. 5.1 An- 


498 Angewandte Moral. 


Andacht allen feinen übrigen, mehr thätigen als 
Fontemplativen Tugenden, unter, weil er. thätige 
Verehrung der göttlichen Zwecke für das höchfte Ziel 
aller Religion erkennt. Dieſe wirdaber nur durch 
die moͤglichſte Ausbreitung der — und 
Gluͤckſeligkeit bewieſen. 
$. 626. 
Andächteley, Froͤmmeley. 
Die Bigotterie (F. 625. Num. 3.) zeige fich 

3) als Andächteley, durch Uebertreibung der Ans 
dacht zum Nachtheil der thätigen Verehrung der 
göttlichen Zwecke, ver äuffern ſittlichen Wuͤrkſam— 

keit. 

2) als Frömmeley, durch zweckloſen und zweckwidri⸗ 
gen Gebrauch der aͤuſſern Huͤlfsmittel der Andacht, 
wenn dieſe 

entweder gar Feine Andacht, oder eine falſche An» 
dacht, oder Andacht zum Nachtheil der übrigen 
Pflichten hervorbringen. - 

Das zweckloſe und zweckwidrige liegt bald inder Beſchaf⸗ 
fenheit, bald in den Uebermaaß des Gebrauchs ver Ans 
dachtsmittel. 
627. | 
Mirtelbare Religionspflicht. 
Verehrung der göttlichen Zwecke, 

$ Gar Num 2. Erhalte und befördere die gött⸗ 
lien Zwecke. 

Der Zweck der Gottheit ift ver obieltive Zweck 


der vernuͤnftigen Weſen überhaupt, oder Das Weltbe⸗ 
— ſte 


Angewandte Moral, 499 


fled.i. Sittlichkeit und Glückfeligkeit der vernünftigen 
Weſen in vollfommenfter Harmonie. Andere perfönliche 
Zwede eigner Vollkommenheit oder Glückfeligfeit hat 
Gott nicht, weil er Gott d. i. der Allgenugfame iſt. 

Den obieftiven Zweck der Gottheit zubefördern, find 
wir als feine Gefchöpfe phyſiſch genöthigt, wir müß 
fen es hun. Ihn zu hindern, die ſittliche Weltregies 
rung zu flören, iſt uns. phyfifh unmöglich, wir Fönz 
nen es nicht. Aber ver Wille es zu hun, die Ein» 
ſtimmung unfers Willens in den göttlichen; daß wir 
Gottes Zwecke genehmigen und aus freyem Triebe zu bez 
fördern ſuchen, das iſt unfrer Freyheit uͤberlaßen, und 
hierin koͤnnen wir unfre Moralität bemeifen, oder fie 
verläugnen. 


6 628. 
Negative Beflimmung. 

Der göttliche Zweck ift von dem wefentlichen Zweck 
eines vernünftigen Wefensnicht verfchieden. Geſetzt aber, 
daß fich iemayd, einen ſolchen blog ſubiektiven Zweck eines 
übermenfchlichen Wefens als wuͤrklich Dächte: fo würde 
er doch moralifch verpflichter feyn, ihm nicht zum Nach» 
theil des obieftiven Zwecks feiner Vernunft, etwa aus 
eigennügigen finnlichen Abfichten zu befördern, - 


Das negative Gefeg der Verehrung göttlicher Zwe⸗ 

cke ift demnach: diene Gore nicht (in der oben $. 616. 
620. und 627 erflarten, dem herrichenden Sprachge⸗ 
brauch gemäflen Bedeutung) d. h. befördere die göftli- 
chen Zwecke nur in fofern, als du fie für obieftive 
a Zwecke 


* 


500 Angewandte Moral, 


Zwecke eines moralifchen Wefens erfenneft; thue nichts 
in Bezug auf einen Begriff von Gott, der andere Zwe⸗ 
de vorausfegt , dieſe zu verläugnen; handle nie wider 
die erfennbare Gelbft - und Menfchenpfliche, wenn du 
auc) dadurch die Gnade eines fo mächtigen, übermenfch> 
lichen Weſens erwerben, oder feine Ungnade abwenden, 
#8 verföhnen zu koͤnnen Cirrigerweife) glaubreft, 
6. 629. 
Poſitive Beftimmung, 

Pofitiv: Genehmige, erhalte, befördere in 
deinem freyen Willen die göttlichen Zwede, als 
die obieftiven Zwecke der Vernunft. Dieß ge 
fchiehe | 

I) durch religiöfe Verehrung feines Geſetzes. 

2) durch religiöfe Beurtheilung der Welt. 

3) durch religiöfe Behandlung aller Gefchöpfe und 
Einrichtungen Gottes in der Welt. 


$. 630, 

Meligiöfe Verehrung des göttlichen Geſetzes. 
3. Ehre und halte heilig fein Befeg, ale das 
Geſetz der Vernunft. Derehre Gott als den 
Realgrund aller Sirtlichfeit, als moraliſches Ober⸗ 

haupt der fitrlichen Wefen. | 

Moralität ehren und heilig halten, und Gottes - 
Willen und Gefeg gehorchen ift ungertrennlich. verbun⸗ 
den in der Vorftelluug deſſen, der Gott als das ſittlich 
vollfommenfte Wefen kennt. Wer im Gegentheil ſich 
von der Gottheit nicht diefen Begriff bilder, wer fich 
rs 


Angewandte Moral“ 501 


irgend ein Gebot derſelben als willführlich und vernunft⸗ 
los vorftellt, ver ift moralifch verbunden, ein folches 
— wenn gleich feiner irrigen Meynung nach, göftliches 
— Gebot zu Übertreten. Denn die DVerbindlichfeie 
Gott zu gehorchen, ift der höchften Pflicht, feiner Ver⸗ 
nunft gehorfam zu ſeyn, untergeordnet. 

2. Liebe fein Geferz d. i. firebe darnach, fein Ge⸗ 
feg eine Pflicht) gern zu erfüllen, weil eg niche 
nur dag Gefeg deines Geiſtes, fondern auch das 
Geſetz des Urhebers deiner und der allgemeinen 
Glücfeligkeie durch Beobachtung deflelben ift. Vers 
ehre Gott als den Vereinigungsgrund des Reichs 
der Sitten und der Natur, als Urheber der moras 
lifhen Welt ($. 210. Num. 4.), als Schöpfer, 
Regenten und Richter der Welt. 

$. 631. 
Meligiöfe Beurrheilung der Welke, 

$. 629. Sum. 2. Beurtheile und billige die 
‚Welt, als das Werk des moraliſch Beſten >. 1. 
des weifeften und gütigſten Weſens. 

Die moralifhe Gefinnung bringt es mie fih, die 
Moralitaͤt als höchften Zweck zu verehren, und ihr den 
Zweck ver Glücfeligfeie unterzuordnen. 

Die religiöfe Ueberzeugung befteht in dem Glauben, 
daß in der würklichen Welt dieſe beyden Zwecke. und zwar 
in diefer Unterordnung wuͤrkſam befördert und erreiche 
erden. 

Aus iener Gefinnung und diefer Ueberzeugung zus 


fommengenommen , entfpringt ale unzertrennliche Folge 
Ji3 3) Zu⸗ 


562 Angewandte Moral, ' 


1) Zufriedenheit mit der Welt im Ganzen, 
als einem Syſtem von zweckmaͤſſig verbundenen 
Kräften, worinn der Zweck der Vernunft im Gan⸗ 
zen am: vollfommenffen erreicht werde; Zufrieden» 

heit mit. der ganzen Einrichtung, daß das Wohls 
befinden an die Bedingung des Wohlverhalteng ge⸗ 

“bunden iff. vr 

2) Zufriedenheit mit feinem eignen perfönlichen 
Zuftande, Billigung feines Schidfals im Ganzen. 
a) Dankbarfeit, Billigung des Angenehmen in 

ſeinem Zuftahde, in fo fernman es fich als übers 
einſtimmend denkt mis dem hoͤchſten Gute. « 

b) Genügſamkeit, Betrachtung desienigen in unf- 
rer Rage, was der Erfüllung unſrer Wünfche 
noch mangelt, als übereinftimmend mit dem 
hoͤchſten Gute; Billigung deffen, dag niche alle 
unſre Wünfche befriedigt werden. 

I Seduld; Betrachtung und Billigung  deflen, 
was uns finslich wehe thut, unfrer Leiden, als 
übereinffimmend mit dem höchften Gute. 

d) Vertrauen, billigende Vorftellung feines zu⸗ 
fünftigen Schickſals, als übereinffimmend mit 
dem hörhften Gute; Unterwerfung aller unfrer 
Wünfhe und Hofnungen unter Die Drduung eis 
ner moralifchen Welt ; die Hoffnung fo glücklich 
in der Welt zu werden, als. es unfre moralifche 

> MWürdigfeit zulaͤßht. - 

Je moralifcher ‚ein Menfch denkt, ie, weiter dehnen ſich 

dieſe Empfindungen und Geſinnungen auch auf andere 
aus; 


Angetvandte Moral, 503 


aus; ie mehr fallen alle eingeſchraͤnkte und eigennägige 


Aeuflerungen 5. B. der Danfbarfeit weg. Gott danken, 
daß wir es befler haben als andere, iſt nicht moralifch, 
wenn der Mangel des Guten bey andern der Grund 
unſres Danfes ift. 
a 
Neligiöfe Behandlung görtlicher Geſchoͤpfe 
und Einrichtungen. 

$. 629. Num. 3. Behandle die Welt den gött⸗ 
lichen, zwecken gemäß d. h. hoͤchſt zweckmaͤſſig 

1) die gefhaffenen Weſen 

a) Ale leblofe Wefen behandle als Mittel für die 

Rebendigen, mit pofitiver Unterordnung. 

b) Alle lebendige, vernunftlofe Weſen, als 
Mittel für die Bernünftigen mie negariver Un— 
terordnung d.h. fo, Daß Die vernünftigen We- 
fen, die Erhaltung und Zunahme ihrer Vollkoin- 
menheit und Glückjeligfeit nicht durd) die Ver. 


nunftlofen eingefchranft, ihnen nicht nachgefege 


erden. 
Auſſer dieſem Verhaͤltniße ift ihr Wohl Zweck der Ner- 
nunft und der Gottheit, die dem Uebel nie unmitzel- 
bar den Vorzug vor dem Wohle geben fann. 
c) Ale vernünftige Wefen behandle als Selbſt⸗ 
zweck. 
d) In den vernünftigen Weſen behandle ihre mo⸗ 
raliſchvernunftige Wurkſamkeit als hoͤch⸗ 


ſten Zweck, der dem blos phyſiſchen Wohle vors 


geht. 
Dieß 


” 


504 Angewandte Moral, 


” 


Dieß iſt die Rangordnung der Vernunft und der Sort; 
Beit. 

2) die SBinrichtungen und Schicffale. 

Befoͤrdere überall das Wohlverhalten und das Wohl: 
befinden in moͤglichſter Harmonie — überallmo- 
ralifche Zufriedenheit. 

Beſtrebe dich dein Gluͤck moralifch zu geniegen, um 
dich deſſen würdig und dafielbe Dauerhaft zu 
machen. Thätiger Danf. 

Sude die Befriedigung deiner Wünfche nur auf. 
moralifchen Wege. Thätige Genügſamkeit. 

Wende deine Leiden zu deiner fietlichen Veredlung 
an. Moralifhe Geduld. 

Hoffe und fuche nur das, was dir moralifch guf 
ift; befördere deine Glückfeligfeit vornehmlich 
dadurch, daß du deine Pflichten erfuͤlleſt. Thä⸗ 
tiges Vertrauen. 

$. 633. 
Keil Gott Feine zufälligen, fubieftiven Zwecke hatt fo 

3, muß iede Handlung, die der Pflicht gegen Gott 
gemaͤs iſt, zugleich als Selbftpflicht und Menſchen⸗ 
pflicht Fönnen betrachtet werden. Es find aber 
doch verfchiedene Motive. 

2) kann feine wahre Religionspflicht mie andern 
Pflichten, gegen fich und andere Menfchen, in Colli⸗ 
fion kommen. 

3) werden alle materiale Religionspflichten durch die 

Motive zu Erfüllung ver-übrigen — * un⸗ 


terſtuͤtzt. 
Ber 





) 
i 
S 


J Angewandte Moral. 505 


Verbindung aller Pflichten unter ſich ſelbſt. 
4 §. 634: 

Nach dem Entwurf des $.455. Num. 4. muß auf 
die Unterfuchung ‚der Selbftpflichten ($: 458: fe), der 
Pflichsen gegen andere Menfchen, ($: 517: ff), und ge⸗ 
gen die Gottheit CS. 609. ff.) noch eine Betrachtung 
folgen über die Verbindung aller dieſer Pflichten und 
Tugenden unter fich felbit: 


— $. 635. 

1. Cie fliegen dem Weſen nach alle aus Einen 
Princip. Achtung für fich, fin die Menfchen, für 
die Gottheit find nur verfchiedene Richtungen und 
Aeufferungen der einen Grundrugend — Achtung 
für die Vernunft. Sie haͤngen daher weſentlich 
unter fich zuſammen. 

2. Aus dem richtigen Grundfag für die Eine Claffe 
von Pflichten lagen fih die Pflichten ieder anz 
dern Klafjeableiten. Erhaltung und Erhöhung 
der Würde der Vernunft iſt der Vereinigungspunft 
alter Pflichten, und das Band; das fie alle vers 
fnüpfe. 

3. Aud) ibrein Innhalte nach findet ein nothwen⸗ 

diger Zufommenhang ftatt. 3. B. Ohne mich zu erhals 
ten, Fann ich weder andereerhalten,, noch vollfomms 
ner, noch glücklicher machen — und umgekehrt. Oh— 
ne Religion fehle es mir felbft an der hoͤchſten Ent» 
wickelung des Geiftes und Ausbildung des Herzens, 
Moralphiloſophie. Re ohne 


506 Angewandte Mora ea 


ohne welche wiederum die vollkommenſte Erfuͤllung 
der Pflicht gegen andere Menſchen unmoͤglich iſt. 


4. Die einzelnen materialen Pflichten koͤnnen ſich 
in einzelnen Faͤllen ausſchließen; dann fordern Die al, 
gemeinen Colliſtonsregeln ($. 428: ff.)ihre Anwen⸗ 
Dung, wodurch wntfchieden wird, welche materiafe 
Handlung unter den gegebenen Umftänden der fors 
malen Pflicht entfpreche. + 


3. Scheintugenden Formen fi) einander mechfelfeis 
tigen Abbruch hun 3. B. myſtiſche Gottesliebe der 
Menfchenliebe; Gottesdienft dem Streben nad) eig 
ner Vollkommenheit oder auch dem Dienfteifer für 
Menfchen. Aber die wahre, einzige Tugend kann 
eben darum, weil fie einfach iſt, fich ſelbſt nicht 
einfchränfen. 





All⸗ 





/ 


Angewandte Moral, 507 


Allgemeine prakliſche Anthropologie. 
Zweyter Abſchnitt. 
Altgemeine empiriſche Ascetik oder Theorie der 
ſittlichen Erziehung des Menſchen. 
636 
Begriff, 

Die allgemeine empirische Afcerif ($: 450. Num. 
2.) eder die allgemeine Theorie der Erziehung des Men» 
fchen zur Tugend, unterfucht - 

1) den Begriff und die fubieftiven Bedingungen det 
menſchlichen Tugend. 
2) ihre ſubiektiven Hinderniße. 
3) die Mittel dieſe Hindernife wegzuraͤumen. 
| 8.637. 
Menfchliche Tugend. 
Menſchliche Tugend ift die Uebereinffimmung der 
inhern Kräffte und Beſtimmungen des Mienfchen, zus 
Wuͤrkſamkeit des ſittlichen Vernunftgeſetzes. 
| 6. 638. 
Groͤße der menſchlichen Tugend. 

Je groͤſſer dieſe Wuͤrkſamkeit; ie groͤſſer die Tu— 
gend eines Menſchen. Je reiner, ie ſtaͤrker, anhalten⸗ 
der und ausgebreiteter die ſittliche Vernunft eines Men⸗ 
ſchen wuͤrkt; deſto mehr Tugend beſitzt er. ($- 447.) 


R 


Kia $. 638. 


508 Angewandte Moral. 


$. 639. 
Nähere Erklärung. 

Reinheit der - Tugend ift Lauterfeit der Beweg— 
gründe; reine Würffamfeit der oberften Principien; Zus 
länglichfeit derfelben zu Hervorbringung eines pflichtmaͤſ⸗ 
figen Entſchluſſes und einer tugendhaften Handlung. 


Das Mitwürfen anderer Vorftellungen, die fich auf 
die eignen Triebe und Neigungen beziehen, ſchraͤnkt die 
Reinheit der Tugend nicht ein, wenn nur ohne dieſe mit— 
würfenden Antriebe vie fittliche Triebfeder allein genom⸗ 
men auch hinreichend geweſen wäre, die Würfung zu 
beftimmen. | 


Stärfe der Tugend ift der Grad der Würffam- 
keit fietlicher Gründe, in Befiegung gleichzeitiger, fubs 
ieftiver Hinderniße von finnlichen Antrieben und empis 
riſchen Bemweggründen. 


Dauerhaftigkeit ift ihre Größe, fofern fie nach 
der fortdauernden und öftern Wieverhohlung entgegenger 
fester Antriebe geſchaͤtzt wird. 


Ausdehnung oder Ausbreitung, iſt die Größe 
der vernünftigen Würffamfeit, fofern fie nach ihrer zu= 
fammengefegren Beziehung auf viele und mannigfaltige 
gegebene Gegenftände, Verhaͤltniſſe und Handlungen ges 
ſchant wird. 


§. 649, 


Angewandre Moral, sog 


$. 640. 
Zweck der firtlichen Erziehung. 

Die fiteliche Erziehung hat nun 1) pofitid: kei⸗ 
nen andern Zweck, als den: eine reine, ſtarke, dauer— 
hafte und ausgebreitete Tugend (6. 639641.) in den 
Menfchen — und dieſe ing Unendliche zu 


erhoͤhen. 
2) negativ: Ihr Zweck iſt Demnach) nicht 

a) Sittlichkeit oder den guten Willen hervorzu- 
bringen. Diefe muß vielmehr überall als Grund- 
Bedingung vorausgefegt werden. 

b) bloße Legalität, ohne moralifche Gefinnung 
zu befördern. 

c) die Sinnlichkeit auszurotten, oder auch nur 
im Ganzen einzufchränfen Dieß würde theils 
unmöglich theils ziwecfwidrig feyn. 

d) Unſchuld zu erhalten. 

e) Butherzigfeit und Empfindſamkeit zu nähe 
ren. 


> Enthuſiasmus für einzelne, legale Sronlanr 
gen zu erregen. 


8) einzelne gute Vorfäge zu erzeugen 


Mittel, die blos einen oder auch mehrere von dieſen 
Zwecken befoͤrdern, koͤnnen nicht fuͤr eigentliche Tugend⸗ 
mittel gelten. | ; 


Kfz { $ 641. 


510 Angewandte Moral. 


§. 641. — 
Maͤhere Beſtimmung. 


Die naͤhere Modification dieſes Zwecks wird beſtimmt 


durch 


I) die Beschaffenheit ver Menſchen ‚ die man zur 
Zugend bilden will 


a) die natürliche — forfdauernde 3. B. Tempera⸗ 


ment, Gefchleht — zufällige z. B. Fahr, Stim⸗ 
mung. 


b) die durch Bildung entſtandene 
2) durch die Lage, worinn ſich Tugend beweiſen ſoll. 
Sie erfordert ein fortgeſetztes, tiefes Studium der menſch⸗ 
Ichen Natur überhaupt, und ihrer verfchiedenen Modi- 
ficationen und Formen, und die Schwierigkeit diefen 


Zweck zu erreichen, iſt der Wichtigkeit Villa ange: 
meſſen. 


§. en 

Die fubieftive Bedingung der Tugend überhaupt ift 
— Beherrſchung feiner ſelbſt durch ſittliche Prim; 
cipien. Die vier Zweige der fubieftiven menschlichen 
Tugend find: ſittliche Maäßigkeit, Enthaltfamkeit, 
Tapferkeit und Geduld..$. 497. 

$. 643, 
Diefe fegen voraus 
3) das Bewußtſeyn rein fi teficher ia 


2) Ge⸗ 





Angewandte Moral 511 
2) Gefhärfte Urcheilskraft, fie anzumenden. 


3) Krafft, das iedesmahlige Urtheil der fittlichen Bes 
urtheilungsfraft zu befolgen. 


‘ 


| $. 644. 

Man kann dreyerlen Beföederungemgithf der Tu⸗ 
gend unterſcheiden 1) entfernte und allgemeine Voruͤ⸗ 
bungen 2) unmittelbare Zugendmittel, 3) a oder 

Hülfsrugenden. 

} | 

$. 645. 

1. Was nur irgend dazu dient, um das Vermoͤgen, 
allgemeine Begriffe und Grundfäge zu denken, fie 
auf einzelne Faͤlle im Urrheile anzuwenden, und 
darnach zu empfinden und zu handlen — zu cul» 
tiviren und zu verftärfen; Das dient wenigſtens 
als entfernte Vorübung oder Vorbereitung zur 
Tugend. Denn wenn gleich Tugend nicht blos da⸗ 

rinn befteht, ſo werden doch diefe Fertigkeiten da— 
bey vorausgefegt, wenn fie entfliehen und zuneh⸗ 
men fol. 


$. 646. 

Was die fittlichen Grundfäge aufflärt, ihre Fols 
gerungen entwickelt, was angemeflene Gefühle er- 
weft; mas. die Kenntniß von dem fittlichen Wuͤr⸗ 
Fungsfreife eines Menfchen befördert ; mag dieſem 
Würfungsfreis der iedesmahl vorhandenen Kraft 
eines Menſchen, moraliſch zu handlen, anpaßt: 

Kf4 das 


» 


512 Angewandte Moral. 


das ift ein unmittelbares, näheres Tugend: 
mittel, 


$. 647. i 

3. Jede Modification und Richtung einer natürlichen 

Neigung, welche das Materiale der Tugend beförs 

. dert (zu legalen Handlungen antreibt), fie mag na» 

gürlich oder angewoͤhnt ſeyn, erleichtert in fofern 

y die Tugend , als fie einige ihrer auflerlichen Hin—⸗ 

derniffe wegräumt; fie kann aber feinen moralis 

fchen Werth geben, auffer in fo fern der Menſch 

aus reiner Achtung für die Sittlichkeit ſelbſt dieſe 

ihr guͤnſtigen natuͤrlichen Anlagen ausbildet, und 

dieſe Angewoͤhnungen unterhält, befördert, mora⸗ 

liſch beherrſcht und den Grundſaͤtzen der Sittlich— 

keit unterwirft. Man kann ſie adoptirte oder 
Hülfstugenden nennen, | 


$. 648. 
Hülfstugenden, 


Die Hülfstugenden (F. 649.) find 
entweder gegründet in der Befchaffenheit des Tem⸗ 
peraments ; Gutartigfeit des Naturells , Tempe 
samentstugend; 3. d: Sympathie mir dem 
Wohl lebendiger Wefen, felbft ver vernunfelofen 
Ihiere, Sinn für Harmenie, für Volkommens 
beit, 


oder in der Richtung der Phantafie und Gewoͤh⸗ 
nung z.B. Bildung des Geſchmacks, des Sinnes 
für 


* 


— 


Angewandte Moral, 513 


für dag Schöne, Harmonie; angewoͤhntes, liebrei⸗ 
ches Betragen, Wohlanftandigkeit, Höflichkeit, Ehr⸗ 
trieb. Gutartigkeit der Sinnesare 


oder in empirifchen Grundfägen der Vernunft — 
Verftandesiugend 52. Marimen der Klugheif. 

Selbſt manche zur Religion gerechnete Tugenden 
find Ddiefer Art 3. B. Liebe Gottes, wegen der 
perfönlichen Wohlthaten, die man von ihm em⸗ 
pfangen hat; Furcht vor göftlichen Strafen. 


| §. 649, 
Hinderniffe der menfchlichen Tugend. 
Die Hinderniffe der menfchlichen Tugend find 
3) innere: Unvollfommenheit des Bewußtſeyns von 
- dem moralifchen Princip — unbeftimmte — fal- 
ſche — undeutlihe Grundfige — Zmeifel an all- 
gemeinen moralifchen Wahrheiten, 


Unrichtige oder fehlende Subfumtion der einzelnen Sand. 
lungen unter die Grundfäge 


Schwaͤche der moraliſchen Empfindungen in Verhaͤltniß 
zu andern Gefuͤhlen. 


Staͤrke und Menge der Neigungen, im Verhaͤltniß zu 
der moraliſchen. 


2) äuſſere, welche die innern hervorbringen oder 
veranlaßen. 


Res Ales 


514 Angewandte Moral, 


Alles, was die finnlichen. Benürfniffe vermehrt; was 
die finnlichen angenehmen Gefühle verflärft; die firtlis 
chen ſchwaͤcht oder erffift,; was ſittliche Vorurtheile vers 
anlaßt oder unterhält (3. B. unſittliche Religionsnieys 
nungen, Ehrenpunfte, Gitten und Gebräuche); was 
zu unrichtiger Beurrheilung und Schasung des Guten 
und Dofen Anlaß giebt; was die Bekanntſchaft mirden 
Annehmlichkeiten des Laſters ausbreitet — kann ein 
änfleres Hinderniß der Tugend abgeben. 


$. 650. 
Die immoralifche Geſinnung beftehe 

I) entweder darinn, daß die Borftellung und Bils 
figung eines moralifchen Zwecks nicht würffam ges 
nug ift, aus Mangel an gehöriger Kenntniß oder 
Erwägung der Mittel und ihres Verhältniffes zu 
dem Zwecke z. B. wenn man blos zur Beluſtigung 
medifirt , ohne fchaden zu wollen — Eitelkeit. 


2) oder darinn, daß man den Zweck ſelbſt nicht 
billige, und ihn daher nicht befördern, fondern 
verlegen will 3. B. wenn einer medifirk, um zu 
ſchaden. Bosheit. 


Eitelkeit und Bosheit ſind eigentlich nur dem Grade nach 
unterſchieden; beyde ſind Beweiſe von einem mehr oder 
minder auffallenden Mangel an moraliſcher Bildung. 


§. 651. 





6 
Angewandte Moral, 515 


9. 651. 
Moraliſche Methodenlehre. 

Auſſer demienigen, was die empiriſche Pfychologie 
uͤber Wuͤrkſamkeit der Grundſaͤtze, uͤber Beherrſchung 
der Neigungen und Leidenſchaften, über das Eutſtehen 
son Gefinnungen und Bildung der Charaktere lehrt, 
beruht die allgemeine Ascetik auf folgenden Grundfägen: 


3) Erweiterung und Aufflärung des fittlichen Bes 
ſichtskreiſes. Suche das ſittliche Urtheil zu 
berichtigen, durch Belebung feines ächten Prins 
eips, vermittelft der häufigen Anwendung auf ein⸗ 
Zelne Faͤlle. $. 648; | 


3) Eben dadurch wird auch) das fittlihe Gefühl 
verffärft und zweckmaͤßig gelaͤutert. $. 648. 


. 3) Man fuche durch Gewöhnung eine Sertigfeit 

hervorzubringen, alles moralifdy zu beurthei⸗ 
len, und dies Urtheil mit einem angemeffenen mo⸗ 
raliſchen Gefühle zu begleiten. $. 648. 


4) Man muß überhaupt den Geift cultivirem. Je—⸗ 
de Cultur des Geiftes iſt Vorbereitung und Beför- 
perungsmittel feiner ſittlichen Ausbildung $. 647. 


5) Man muß fuchen, das Syftem der Neigun⸗ 
gen fo einzurichten und zu erhalten, Daß es im 
Durchfchnitte. mie den Forderungen des morali- 
ſchen Gefeges übereinffimme. Schonung um Bif 
dung der Zulfstugenden. $. 649. 65% 


Die 


® 
516 Angewandte Moral. 


Die Reinigkeit der Tugend wird nicht verletzt, wenn 
man ſinnliche Triebfedern z. B. Menſchenliebe aus Nei— 
gung, aus Reflexion uͤber die Guͤte der Menſchen 
ſelbſtthätig belebt und in Bewegung ſetzt, um feine 
Pflicht, die man um ihrer felbfi willen ehrt, lies 
ben und mit gröfferer Leichtigkeit uͤben zu koͤnnen. Nur 
muß man: diefe Triebfedern der Vernunft unteroronen, — 
und nach ſittlichen Grundſaͤtzen modificiren. So wuͤrkt 
3B. der Ehrtrieb, wenn man ihn durch die Vorſtel⸗ 
lungsart modificire, wie andere Menfchen unfre Hand» 
jungen beurtheilen follten. 


6) Man richte fo viel alg möglich, feine Page fo ein, 
daß die Neigungen mit (dem Materiale) der Pflicht, 
die fie fodert, uͤbereinſtimmen. Sreye Beſtim⸗ 
mung feines ſictlichen Wurfungsfreifes von 
innen und auffen nach der Krafft. 3. B. Wahl 
einer Lebensart, eines Berufs, zu deſſen pflicht⸗ 
mäßigen Erfüllung man natürliche Neigung hat 


- 9) Man erweitere diefe Sphäre, fo wie die 
moralifche Krafft ſich verſtaͤrkt. 


8) Man erwerbe fich dieienigen Renntniffe, diezur | 
richtigen Beftimmung des moralifchen: Urtheils es 
fordert werden; Kenntniffe von dem Subiekt und 
den Gegenſtaͤnden ſeiner Pflicht. 


2) Selbſtkenntniß, feiner aittlichen Natur, feis 


ner Sinnlichfeit,, feiner angenommenen Vorur⸗ 
theile 





Angewandte Moral, 517 


theile und Gemohnheiten, : feiner ‚äuffern Lage 
und Verhaͤltniſſe. 


b) Wienichenfenneniß ; der Menfchen überhaupt 
und befonders derienigen, mit "weichen man naͤ⸗ 
her verbunden iff. 


c) Sottes kenntniß. 


| H Naturkenntniße 


e) Kenntniß der Dinge und Einrichtungen 
in der Welt — der natuͤrlichen ſo wohl als 
kuͤnſtlichen — mit denen man in Verbindung 
ſteht, ihres Werthes oder Unwerths. 


9) Diefe Kenntniffe müßen geläufig werden d. 5. 
öfters und zur rechten Zeit ins Bewußtſeyn treten. 
Dazu dient 


a) öftere Beſchaͤftigung mit Vetrachtung ſeiner 
Pflichten und ihrer Obiekte 


B) oͤftere Selbſtpruͤfung 


c) Aufmerkſamkeit auf alle Dinge, mit morali⸗ 
fcher Reflerion. 
Oeftere Schaͤtzung und Beurtheilung der Dins 
ge aus moralifhen Gefichtspunften. 


d) Uebung im der Bedachtſamkeit und Enid loſ⸗ 
ſenheit. 
10) Be⸗ 


518 Angewandte Moral, 


10) Belebe die 'religiöfe Ueberzeugung vom 

Daſeyn Gottes und vonder Unfterblichfeir. Schẽ⸗ 
pfe Dir. Kenntniß Davon aus allen Quellen. Gtre- 
be, die Begriffe davon rein aufzufalfen, und fie 
mie Anwendung auf dich und deine Pflicht zu den: 
fen. Sey behutſam mit Dem Gebrauche dieſes groͤß⸗ 
ten aller moralifchen Heil: und Gtärfungsmittel ; 
fpare feinen "unmittelbaren. Oebraud) für die 
wichtigſten und Dringendfien Falle auf. - Diefe 
Vorſtellungen find mehr beſtimmt, die ganze Rich: 
fung des Charafters zu modificiren, als iede eins 
zelne ſittliche — —— oder zu 
unferffügen. 


11) Uebe dich in moralifcher Klugheit ($. 8 
179.), um dir die Tugend leichter, am angeneh⸗ 
men und nuͤtzlichen Folgen ergiebiger zu machen, und 
ihre Unannehmlichkeiten und Nachrheile für deine 
Gluͤckſeligkeit möglichft zu vermindern. 


Specielle praktifhe Anthropologie, 


$. 652. 
Begriff N 
Die ſpecielle praktiſche Anchropolögie (8: 451. 
um. 2.) if die Anleitung zue menfchlichen Tugend, 
mir befonderer Ruͤckſicht auf die DVerfchiedenheiten, die 
unter den Menfchen ſtatt finden, und auf ihte Mora⸗ 
litaͤt Einfluß haben. 
$. 653: 





Angewandte Moral, 519 


& 653. 
* Theile 


Ihr erfter Theil Cfperielle angewandte Ethik 
451. Rum. 2. a) bandelt von den Pflichten der Menz 
fchen, mie Ruͤckſicht auf ihre N ag ee 
und Verhaͤltniſſe. 


654. 

Ihr anderer * (pecielle — Ye, 
cetik $. 451. Num. 2. b.) beftimmt die Tugendmirtel 
und die Art ihres Gebrauchs naher, nach der Verſchie⸗ 
denheit der Menfchen, 


$. 655. 
Entwurf 


Bon diefen zwey aͤuſſerſt wichtigen, und größten: 
theils noch unbearbeiteten moralifcher Wiffenfchafften 
($. 655. 656. erlaubt die Einrichtung und Beſtim— 
mung dieſes Lehrbuches, mur einen Entwurf der abs 
zuhandelnden Marerie zu liefern. Man hat in beyden 
Theilen der fpeciellen Moral Rückficht zu nehmen 


-I, auf die verfihiedenen innern Befchaffenheiten — 
die natürlichen 3. B. Temperament, Geſchlecht 
— die erworbenen, die Ginnesart, Gewoͤhnung 
oder Verwohnung. 


2. auf Die verfchiedenen äuffern Verhaͤltniſſe, die 
natuͤrlichen ſowohl, als die gefeligen und geſell— 
ſchaft⸗ 


520 Angewandte Moral, 


Schaftlichen 3. B- Herefhafften, Dienftboten , EL - 
tern, Kinder u. f. m. 


Die Gründe aller fpecielfen moralifchen Regeln, der 
Ethik ſowohl als der Ascetik, ‚liegen theils in den 
Lehren der allgemeinen, angewandten Moral, und 
entfernter Weife der Metaphyſik der Eitten, theils 
in den theoretifchen und hifiorifchen Kenntniffen von 
ver Verſchikdenheit menfchlicher Gemürhsarten, Sins 
nösarten, Denfatten und aͤuſſerer Lagen und DVerhälts 
niſſe. *