BVerfuch
Moralphiloſophie
von
m. Earl Chriſtian Erhard Schmid.
— — —
A 8 BB > 7
0 Mit Churfürfl. Saͤchſiſcher gnädigfter Freyheit.
a, Feunne,
‚im Verlag der Croͤkerſchen Handlung.
1 | 1790. 1
> — —
*
129098 .
| ynfensimt..oE, TOROS. A
Borrede,
Mus Urſachen, die einieder fehr Leicht begreift,
muß mie viel daran liegen, daß meine Schrift
aus eben dem Gefichtspunfte auch von andern
beurtheilt werde, aus welchem ich felbft fie nur
anfehen darf, um den Entfchluß zu ihrer Hev-
ausgabe nicht ganz verwerflich zu finden. ‘Das
zu Fann nun Diefe Vorrede vielleicht dienen.
Eswar, wie mirieder Billigdenfendezufraus -
en wird, bey Abfaffung dieſer Schrift ganz uud
gar nicht darauf abgeſehen, ein moraliſches Lehr⸗
gebäude aufzuführen, wozu die Meiſterhand ei-
nes Rent den Grundgelegt, und zu deſſen Aus⸗
fuͤhrung fie einzelne Züge flüchtig und vorläufig
entworfen hatte, Das Publifum — was dieß
Wort anzeigen Fönne wenn yon Philofophie die
| Hz Des
t
Vorrede. Er
Rede ift, wird ohne Erläuterung verftanden —
Das Publifum erwarter vielmehr dieſen Dienft
von eben dem Manne, der die Idee davon in
ihm erweft und das Bedürfniß deſſelben ihm fo
fühlbar gemacht hat. An diefen Winfchen und
Hoffnungen, die gerade nur fo allgemein und fo
gros find, als das Vertrauen zu der guten Sa—
ehe der Fririfchen Philofophie überhaupt, nehme
nun ich genau fo vielen Antheil, als nöthig ift,
um dem Zeitpunft ihrer Erfüllung als einem der
glücklichften Abfehnitte meinestebens entgegen zu
- fehen, um mich (wenn mir das Schickſal ver-
gönnt, ihn zu erreichen) im Boraus der neuen
großen Erweiterung meines Gedanfenfreißes,
der neuen theilg aufgelöften theils auch nur zur
Unterfuchung vorgelegten Aufgaben, als neuer
Befriedigungen und Neigungen des Nachden—
kens, innig zu freuen, wovon die bisherigen
Geifteswerfe dieſes Weltweifen mir ſchon fo
manchen] fügen Borgenuß gewährt haben.
Meine Moralphiloſophie iſt eigentlich nur
zum ein ſtweiligen Gebrauch fuͤr mich und fuͤr
meine Zuhoͤrer geſchrieben, vie eines Ent
wurfs bedurfren, wornach fih der Innhalt der
mündlichen moralifchen Vorträge ordnen und im
Zufammenhange leichter uͤberſchauen ließe; eines
efwas ausführlichen Entwurfs, Damit die Nach—
fchreibfeligfeit, eine Ausartung des Studierfleiſ⸗
ſes, die noch hänfig angetroffen wird, von Der
Kürze des Lehrbuchs feinen Vorwand ger
g? er
Ne — ————
KorrVede
der Zweckmaͤßigkeit hernehmen koͤnne. Sollte
ſie noch andere Leſer finden, denen es einiges
Vergnuͤgen machte, ihre eignen Gedanken inei-
ner andern Verbindung hier wieder anzutreffen:
fo werde ich dieß als ein zufälliges Glück betrach-
ten, - worauf ich eigentlich nicht rechnen durfte,
und deſſen ich mich dann um fo inniger freue,
Diefe Schrift ift das Nefultar meines bishe-
rigen Nachdenfens, der unverftellte Ausdruck
nieineriegigen Ueberzeugungen über. fittli-
che Gegenftände, und es war mir im der That
mehr darum zuthun, daß fie dieß würde, als
daß fie irgend einem vorhandenen oder. auch nur
angedeuteten Syſtem der Moralphilofophie gli-
de. In keinem Salle wurde ich eine an mir felbft
und an meinen Meberzeugungen begangene Un-
freue, niedriger gefunden, und fie mir deshalb
weniger verſtattet oder verziehen haben, als da,
wo von moralifchen Dingen Die Rede ift,
Freylich Fann ich auch den Wunfch nicht ber-
gen, daß in meiner Schrift auch einige ſchwa—
che Spuren von dem Geift derienigen Philofophie
gefunden werden möchten, Die fih mir, ie ru—
higer und leidenfchaftlofer ich fie betrachten lerne,
immer mehr als die erhabenfte und menfchlichfte
aller vorhandenen Philofophien über Natur und
Sitten vorftelle, und der ich feit einigen Jahren
auf die Richtung meines Geiftes, auf den Fort
gang meiner Unterſuchungen und, was mir mehr
3 als
8
Vorrede.
als alles uͤbrige ſeyn muß, auf meine innere Ruhe
und Zufriedenheit die wohlthaͤtigſten Einfluͤße ver⸗
danke. Aber aufder andern Seite wuͤrde eg mir
dennoch leid thun, wenn andre oder auch ich felbft
einft finden follten, ich waͤre Darinn mir felbft we=
niger getreu gewefen, als einem Andern, ſey dieſer
Andere auch der Philofoph unfers Zeitalters —
ic) hätte an den Buchftaben und an die Formel
einer vorhandenen Movalphilofophie zu viel An-
bänglichfeit bewiefen, mehr als mit der Achtung
für Wahrheit und fürmeine eigene Heberzeugung
beftehen koͤnnte. Denn dieſe Ueberzeugung foll-
te Doch immer den Ausfchlag geben, nicht weil
es meine, fondern weil es die eigene Webers
zeugung eines Menſchen iſt.
Die einzelnen Theile der Moralphiloſophie
ſcheinen mir ietzt, da ich auf das Ganze meines
Entwurfs zuruͤckblicke, nicht mit verhaͤltnißmaͤſ⸗
ſiger Ausfuͤhrlichkeit oder Kuͤrze bearbeitet zu
ſeyn. Geſetzt auch, Daß dieſe Disproportion
mehr von zufaͤlligen Urſachen, als von bedach—
tem Borfogund Plan abhängen follte: fo kann
ich mich Doch wenigftens hinterher damit entſchul⸗
‚digen, Daß es, wie die Sache mit der Moral
iese fteht, bey ihrem wiffenfchafftlichen Bortrage
mehr Darum zu thun feyn muͤſſe, ihre erſten
Grundlehren feftzufesen, den herrfchenden Grund⸗
irrthuͤmern (Die es mir zu ſeyn fehienen) entgegen-
zuarbeiten, und von der Art der Anwendung ih-
ver hoͤchſten Principien auf Das Leben einen all+
y ge⸗
Vorrede.
gemeinen deutlichen Begriff zu geben, als das
Syſtem aller Folgerungen in der moͤglichſten
Ausfuͤhrlichkeit darzulegen, und daß der muͤndli—
che Commentar ſich nicht bey ieder Stelle des
Lehrbuchs gleiche lange zu verweilen brauche. Wer
ohnehin den Entwurf der einzelnen Pflichten feh⸗
lerhaft findet, fehlerhafter als die uͤbrigen Ab—
ſchnitte, der mwird- mich wegen der Kürze deffel-
ben noch weniger anflagen,
Wahrheit ift mir theuer; moralifche Wehr:
heit am theuerften. Wo ich ihr unvorfüslich
zu nahe getreten, wo ich geirrt oder wenigſtens
einen Irrthum niedergefihrieben haben follte, da
erfuche ich Männer, die diefen Berfuch ihres An-
blicks würdig halten, unddie feinen Werth oder
Unwerth beurcheilen koͤnnen, mich durch gründe
liche Erinnerungen darauf aufmerffam zu ma-
chen. Ich Auffere dieſen Wunſch Lediglich aus
Liebe zu einer Sache, wo mir auch der kleinſte
Irrthum Feine Gleichguͤltigkeit erlaubt, und neh⸗
me dabey keine Miene der Beſcheidenheit an,
um die gute Geſinnung oder auch etwan die
Schwaͤche und Eitelkeit meiner Beurtheiler fuͤr
mich einzunehmen. Wäre ich hingegen (welches
wohl auch der Fall feyn Fönnte) dem Buchflaben
einer achfungswürdigen Philofophie untreu ger
worden und von ihren Formeln abgewichen: fo
mag dieß immer um Anderer willen bemerft were
den; mir wird es indeffen erlaubt feyn, mid)
der billigen Sreyheit zu bedienen, Die ich 9*
en⸗
Vorrede.
Menſchen nicht nur einraͤume, ſondern auch
von ihm erwarte, nehmlich: um ſolcher Ver⸗
weiſungen willen auf ein Syſtem und auf For⸗
meln, die dem, der ſie verließ, vielleicht ſo we—
nig unbekannt feyn dürften, tie feinem. Beur-
theiler, in feiner Ueberzeugung und in ihrem Be⸗
kenntniß nichts zu aͤndern. Dieſe Art zu hand⸗
len iſt ſo wenig Eigendünfel, daß vielmehr fein
Menfch von ihr, irgend einer Parthen zu gefal-
fen, abweichen kann, ohne feine Selbftjtändig-
keit zu verlaͤugnen. Dieß darf aber, wie ich glau⸗
be, auch derienige nicht einmahl thun, der üb-
vigens allen Anfprüchen auf Das, was man ei-
gentlich DOriginalitätnennt, nach richtiger an
gung feiner Kraͤffte entfagen muß.
Siena, den ı6ten März. 1790,
Carl Ehriftian Erhard Schmid.
Einlei⸗
Einleitung.
—“
Gemeiner praktiſcher Menſchenverſtand,
ſittlicher Naturalismus.
N: gemeine Verſtand eineg jeden Menfchen enthaͤlk,
und entdecke bey der erften Entwickelung in ſich
felbft, gewiſſe dunfle oder flare Begriffe von Pflicht,
Hecht und Unrecht, Tugend und Lafter, Gutem und Boͤ—
ſen, die auf unferellerheile ſowohl als auf unfre Gefühfe
und Handlungen vielfältig einfließen: Dieſe Begriffe,
- und was wir uns in Beziehung auf Diefelbe vorftellen ,
nennen wir ſittlich (moraliſch). Diefe Begriffe koͤnnen
ir auf Feine Weife wegvernünfteln.
Wir find unfähig, ohne innigffe Selbſtmißbilligung
ihnen unfre Höchfte Achtung innerlich zu verweigern, went
auch die ftärfefie Neigung ihnen in der Ausübung entge⸗
gen ſtuͤnde.
Moralphiloſophie ——
2 | Einleitung,
RR,
Verſuch einer Philoſophie, Verirrungen,
mögliche Ruͤkkehr.
So mie allmählig die menfchliche Vernunft überhaupt
durch Uebung ausgebildet wird, fo gehet die gemeine mora-
liſche Erkenntniß durch Abftraftion und Entwickelung in
Philoſophie der Sitten uͤber. Die erſten Verſuche
des philoſophirenden Verſtandes, die reinen Begriffe aus
ihrer empiriſchen Verbindung auszuheben, ſie fuͤr ſich
zu betrachten, in ihre Beſtandtheile aufzulöfen, fie als—
dann mit andern Begriffen und unter fich felbft zu vers.
gleichen, auf höhere und bereits entwickelte Begriffe zus
rüczuführen, und zu verfnüpfen, find natürlichermeife
unvollfommen und mangelhaft. So wie die Begriffe
on Klarheit gewinnen, fo verlieren fie anfangs öfferg
an Reinheit und Vollſtaͤndigkeit ( Richtigkeit) ; zufällige
und nochwendige Verknüpfungen werden leicht verwech—
ſelt; es entftehen Wiverfprüche, Zweifel— Allein die
urfprüngliche Grundlage zu dem reinen Ideal von Sitt—
lichkeit bleibt immer unverfehrbar in unfrer Vernunft;
ihr unentwickeltes Bewuftfeyn erregt manche Gefühle und
erzeugt manche Urtheile und Handlungen, die befler find,
als die deutlich entwickelten Räfonnements. Bey allen
Verirrungen einer vernünftelnden Philofophie, bleibe
eine Fünftige Nückfehr zu der verlaffenen moralifchen
Richtigkeit und Einfalt der Begriffe noch immer möglich,
und fie ift felbft durch die misleiteten Bemöhungen der,
unfritifchen Scientififer über fittliche Gegenftande (mo—⸗
ralifche Dogmatifer) zweckmaͤßig vorbereitet worden.
a ?
*
Einleitung, 3
2,
Wuͤrde der Moralvhilofophie,
Das allgemeine und mefentliche Intereſſe, das die
Vernunft an Moralitaͤt nimmt, macht es zu einem wich⸗
tigen Bedürfniß, für die Speculation fowohl als. auch
ſelbſt für die Führung des Lebens, daß die Verfucheder Aufs
klaͤrung, Abſtraktion, Zergliederung und logifchen Vers
knuͤpfung der ſittlichen Begriffe und Urtheile unter ſich
und ihrer Vereinigung mit andern Vernunfterfennts
niffen und Erfahrungen ($.2:) immer erneuert und
fortgefegt werden, um ein durchaus wahres, gemiffes
und vollftändiges Syſtem moralifcher Erfenntniffe d. i.
Moralphiloſophie zu Stande zu bringen. Sie, alg
der edelſte und intereffantefte Iheil der ganzen Ppilofos
phie, verdient vor allen übrigen nicht nur eine immer volle
fommmere Bearbeitung für den mwiflenfchaftlichen Ges
brauch und für die Anwendung auf Das gemeine menfche
liche Reben, fondern auch eine zweckmaͤßige Verbreitung
ihrer geläuterten Grundfäge, unter allen, an Fähigfeis
ten und an übriger Eultur noch fo verfchiedenen Men—
fchenflaffen:
7
Verbeſſerung durch den Eritifer Kant.
Die neuefte und höchft merfwürdige Revolution der
Philofophie fcheint befonders dieſem Theile derfelben
mehr innere und äußere Confiffenz zu verfchaffen und die
allgemeinere Anerfennung feiner unendlichen Würde und
42 Vortref⸗
we Einleitung,
Vortreflichkeit, ia fogar (was man auch fcheinbar Dagegen
einwenden mag) ihre allgemeinere Verſtaͤndlichkeit und
Anwendbarkeit zu befördern. Dieſer Gewinn für die
Wiſſenſchaft kann und fol daher in Zukunft felbft ein
Gewinn für die Menfchheit im gemeinen und alitägli-
chen Leben werden, und zu ihrer innern Veredelung mike
fürfen.
* §. 5.
Vorbegriffe zum Begriff einer Moral,
a. Begenftand.
Begehrungsvermögen; Wille, ,
3) Ale praftifhen Begriffe und Urtheile beziehen ſich
a) überhaupt auf Handlungen, die nach Vorſtellungen
erfolgen, und auf ein Vermögen der eignen Würf-
ſamkeit nach VBorftellungen d. i. auf ein Begeh⸗
rungsvermögen oder einen Willen in weitefter
Bedeutung
b) insbefondere auf Handlungen, die durch Vorftel-
lungen von Regeln beftimme werden, und auf ein
Vermögen zu handeln, das von einem höhern Erz
Fenntnißvermögen (Verſtand, Vernunft in weiterm
Sinne) abhängt d.h. ein höheres, verffändiges,
vernünftiges Begehrungsvermögen, (prafti-
ſcher Berftand, praftifche Vernunft, Wille in weis
terer Bedeutung).
2) Alle moralifhen Begriffe und Urtheile haben Be
ziehung auf Handlungen, die Durch Vorftellungen von
Geſe⸗
w
Einleitung, En.
Geſetzen d. h. abſolut allgemeinen und notwendigen Ne
geln bewuͤrkt werden, und die das Dafeyn eines vernünfs
tigen Begehrungsvermögens, eines Willens oder einer |
prafeifchen Vernunft in engrer Bedeutung vorauss
fegen Cim Gegenfage des praktiſchen Verſtandes im
engrer Bedeutung d. h. des Vermögens zu handeln,
nach zufälligen und blog generellen, aber nicht univers
ſellen Regeln ). ‚
h Tu
Nach) Geferen der Vorftellung und nach vorgefiellten
‚oder vorftelibaren Gefegen handeln, find ganz verſchie—
dene Begriffe. |
§. 6.
b. Behandlungsart. a
Zhelematologie; praftifche Philoſophie.
Bilden wir uns allgemeine Begriffe von den Affeftionen
und Handlungen des menfhlichen Begehrungsvermögeng
und Willens, aus dem, was wir an ihnen beobachten,
und brauchen wir diefe zu allgemeinen Urtheilen, fo hei—
- Sen diefe phyfifche Geſetze oder Naturgefege des menſch⸗
lichen Begehrens und Wolleng, Ihr wiſſenſchaftlicher
Innbegriff mache unter dem Nahmen der Thelemato⸗
logie einen Haupttheil der empirifchen Seelenlehre aus,
und gehört zur theoretifchen Philofophie. Der Gegenftand
aber, den die praktiſche Philoſophie eigentlich bearbeis
tet, befteht in Ideen von möglichen Affeftionenund Hands
lungen des Willens, beſtimmt zur Erzeugung praktiſcher
Begeln d. h. allgemeiner. Urtheile über Dasienige, was
N 43 feldft
RR Einleitung,
ſelbſt vermöge iener Ideen und ihnen gemäß (gewollt und
gethan werden) gefchehen foll.
Sollen bezeichnet die Nothwendigkeit einer Handlung
zufolge eines (reinen oder empirifchen) Vernunftbegriffeg,
einer Idee.
Die weitere Entwickelung diefes Begriffs in der Folge:
$. 7.
Theile der praftifchen Philoſophie.
Eine Idee, fofern fie Richtſchnur und Beftimmungs-
grund einer freyen Willensthaͤtigkeit ift, heißt ein zweck.
Die praktiſche Philoſophie ift demnach die Willen;
ſchaft der menfchlichen Zwecke. Diefe find
1) theils zufällig und beliebig.
2) theils nothwendig und weſentlich. Dieſe betrachtet
man ferner alg
a) bedingt nothiwendig, oder fubaltern d. h. fie ſetzen
einen höhern Zweck voraus, zu welchem fie fich als
Mittel verhalten.
b) als unbedingt nothwendig; höchfter Ze, End:
zweck d. I. Die ganze Beſtimmung des Menfchen.
Zur praftifchen Philofophie gehören Denmach,
1) Rünfie; die fi) auf zufällige — der Menſchen
beziehen.
2) (Gemeine) Klugheitslehre, Poliit; die ſich mit
bedingtnothwendigen menſchlichen Zwecken beſchaͤftiget;
Anleitung zur menſchlichen Gluͤckſeligkeit durch naturn
und Erfahrungsmaͤſſige Mittel.
Welt⸗
EEE
Einleitung, 7
—
Weltklugheitslehre, als ein Syſtem von Regeln
zur zweckmaͤßfigen Behandlung und Lenkung anderer
Menſchen und Staatsklugheitslehre find ein, Paar
vorzüglich bearbeitete und merfwürdige Theile dieſer
Wiſſenſchaft. Man kann fich ihrer weit mehrere gedenfen.
3) Morel d.i. Philofophie über den Endzwef oder
die Beſtimmung des Menfchen.
| $ 8.
Moraltheologie; moralifhe Klugheitslehre.
Mit der eigentlichen Moral d. i. der Unterfuchung des
höchften Zwecks der menschlichen Vernunft ſtehen in ges
Bauer Verbindung
1) Moraltheologie d.i. die Philofophie über die
Möglichfeit einer abſolut nothwendigen fuftematifchen
Pereinigung des höchften Zwecks mit den übrigen we—
fentlihen Zwecken der Menfchheit, unter Vorausfegung
der obieftiven Realitaͤt gewiſſer theoretifcher Vernunft—
ideen.
2) Moraliſche Klugheitslehre ($.7.) d.i. ein
Inbegriff praftifcher Regeln, die auf eine zufällige, durch
unfer eignes Thun und Laffen mögliche Vereinigung des
höchften Zwecks mit. den übrigen bedingrnorhwendigen
Zwecken der menfchlichen Natur abzielen.
Moraliſche Klugheit ift das vernünftige (zweck⸗
mäßige) Verhalten in Anfehung des Erlaubten d. h. des⸗
ienigen, was die Pflicht einigermaßen unbeſtimmt gelaſſen
A4 hat
9 Einleitung.
hat, welches man fo angenehm und mit der Gluͤckſelig—
feit fo verträglich als möglich einrichten Fannz eine Vers
einigung der gemeinen Klugheit mit der Sittlichfeit, ie
Doch mit Unterordnung der erftern unter die letztere.
9
Theile der Moralphilofophie,
Eine vollftandige Ausführung der moralifchen Wiſſen⸗
fchaften erfordert
7) eine Ericifche Unterfuchung der Möglichkeit der Ers
kenntniß ihrer erfien Begriffe und Grundſaͤtze —
Eritif der praftfichen Vernunft.
2) Eine reine Darftellung der. wefentlichen und allges
meinguͤltigen fittlichen Begriffe. und Lehren. felbft —
Metaphyſik der Sitten.
a) Analytik der prafsifchen Vernunft, oder
moraliſche Ontologie d. i. eine Zergliederung und
ein Syſtem der reinen fittlichen Begriffe,
b) Reine Erhifd. i. ein vollftändiges Spftem der reis
nen praftifchen Gefege für alle vernünftige Weſen.
c) Reine Aſcetik oder Methodenlehre d. i. ein Sy—
ſtem der reinen und allgemeinen Tugendmittel.
3) Eine Anwendung dieſer allgemeinen Lehre auf Die eis
genthümliche Befchaffenheit und Lage des Menfchen —
Praktiſche Anthropologie, empirische Moral.
a) Für den Menfchen, als Menſchen betrachtee, nach
feiner allgemeinen menfchlichen Natur und Rage.
Allgemeine empiriſche oder menſchliche Moral.
we) allgemein⸗
Einleitung. 9
4) allgemeine empirifhe Ethik di. eine -
allgemeine Gefesgebung für den Menfchen.
RB) Allgemeine empirifhe Aſcetik d. i. die
Wiſſenſchaft von den allgemeinen Tugendmits
teln für ven Menfchen, oder Die allgemeine
Theorie der fittlichen Erziehung des Menfchen,
b) Für die Menfchen, nach ihren mannigfaltig ab=
weichenden, zufälligen Befchaffenheiten und Der:
haͤltniſſen. Specielle empirifche YiToral,
«) fpecielle, oder fubieftive Ethik.
8) fpecielle oder fubiefrive Aſcetik.
Die Grundlehren der Moraltheologie (5. 8.) wer—
den in der Critik der praktiſchen Vernunft mit einge—
ſchaltet; die wichtigſten moraliſchen Klugheitsleh⸗
ren (9. 8.) laſſen ſich in der empiriſchen Moral einzeln
bemerten
A5 Critik
10 Eritif der praftifchen Vernunft.
Critik der praftifchen Vernunft,
$. 10,
Idee einer Moralphilofophie,
Um eine Moralphilofophie ($. 2.3.) als aͤchte Wiffen-
Schaft, zu gründen, und umderMoralitär felbft allgemeine
und thaͤtige Achtung ihrer hoͤchſten Würde unter allen, gebil-
deten und ungebildeten, Menfchenklaffen zw verfchaffen
und zu erhalten, müffen wir unwandelbare und allgemein⸗
gültige Principien für fie auffuchen, Die nur erflärt und
verffanden feyn wollen, um allgemeingeltend zu werden,
und die gegen alle ffeptifche Angriffe beſtehen.
gm
Critik der proftifchen Vernunft,
Praktiſche Grundfäge, die über alle zufällige Bes
dingungen erhaben, als fehlechterdings nothwendig ers
kennbar, und rein ſeyn follen, koͤnnen, fo wie iede ab»
ſolut allgemeine und nothwendige Wahrheit, nirgends
anders, als in dem Wefen der Vernunft felbft liegen,
und fönnen nur durch eine Unterfuchung des Bernunfts
vermögens, fofern e8 fich praftifch auflert, ($.5.) ficher ge-
funden werden. Dieß ift der Gegenſtand der Eritif der
praktiſchen Vernunft, einer Wiffenfchaft, die vor aller
Metaphyfif der Sitten ($. 9.), fo wie dieſe vor aller
empirifchen Sittenlehre vorausgehen und Diefelbe begrünz
den muß.
$. 12:
Critik der praktiſchen Vernunft. 11
Sa
Sie ift Zeirbedärfniß.
Ueber das mögliche Dafeyn und den Inhalt allgemein:
gültiger praftifcher Vernunftgrundfäige, wichen von ies
ber die Denfarten vielfältig ab; in unferm Zeitalter, wo
das Streben nach Denffrenheit und Aufklärung zunimmt,
wird diefe Derfchiedenheit merfbarer, und ihr im Gan-
zen nachtheiliger Einfluß auf die Sitten und vielleicht
auch auf die Gfückfeligfeit und den aͤußern Wohlftand der
Menfchen, noch auffallender. Dieß verftärft aber auch
auf der andern Seite das Gefühl von dem Bevürfniffe
einer Unterfuhung der erſten Gründe aller Moralität,
erweckt zu fchärfern DBerfuchen, ihm gründlich abzuhel-
fen, macht die Aufmerffamfeir aller denfenden Köpfe
Darauf rege, fie zu fennen und zu prüfen, und befördert
Dadurch eine bevorftchende Revolution, die für die Mo-
ral mehr wiffenfchaftliche Vollkommenheit, für die Git-
ten mehr Reinigkeit, und alfo für die Menfchheit höhere
Cultur und Veredelung hoffen laßt.
$. I3.
Denfarten über Moralitaͤt überhaupt,
1. Moraliſche Skeptiker.
Es giebt moraliſche Skeptiker d.h. Philoſophen,
die Das Daſeyn, oder (welches einerley iſt) die ge—
wiſſe Erkennbarkeit allgemeinguͤltiger und nothwendiger
Grundſaͤtze fuͤr das Thun und Laſſen der Menſchen uͤber—
haupt laͤugnen, und dadurch den Begriff von Sittlich⸗
keit
f »
12 Critik der praftifchen Vernunft,
keit d.h. von einer Denf- und Handlungsmweife nach und
aus folchen Grundfägen für ſchwankend oder gar für
rhimaͤriſch erflären,
R & 14
2) MWoralifhe Empiriſten.
Es giebt morslifhe Empiriften, deren Philofos
phie Die allgemeingültige Regel für die Handlungen ver
Rünftiger Wefen nicht aus dem Vernunftvermögen ſelbſt
und feinen veinen Begriffen, fondern ays der zufälligen
Kenntniß der Folgen von diefen Handlungen ableitet,
*
und eben dadurch ihrer Reinheit ſchadet und ihre erha- '
bene Würde verdunfele. Sie theilen fih in zwey Klaf-
fen, nach den verfchiedenen Quelen, morans fie Diefe
Kenntniß ſchoͤpfen.
& 15,
a) Moralifche Myſtiker.
Der fittlihe Myſticismus oder Supernaturalig,
mus fchöpft die firtlihen Grundfäge aus vermeynter
überfinnlichee Erfahrung d. h. Dffenbahrung von den
Folgen menfchlicher Handlungen; ‘er gründet fie ledi-
glich auf eine, von reiner Vernunft und finnlicher Er-
fahrung unabhängige Kenntniß des Intelligiblen, Got-
tes und der zufünftigen Welt. Eine Denfart, die ge-
meiniglich aus redlicher Gefinnung, aus dem dunfeln
aber Tebhaften Bewuſtſeyn der Erhabenheir der menfch-
fichen Beftimmung über bloßen Sinnengenuß, bey dem
Mangel an aufgeflärten Begriffen über Moralitar, ih—
ren
Critik der praktiſchen Vernunft, 13
ren Urſprung nimmf, die aber offenbar den Vernunft⸗
gebrauch einfchränft, die Entwicelung der edelften Anz
lagen aufhält, und Die.reine, erhabene dee von Tugend
allen Entftellungen der gröbern, iedoch verflecften Siun⸗
lichkeit und den Taͤuſchungen eigner oder fremder Ein—
bildungen und. boshafter Berrügereyen Preis giebt,
Der Niyflifer if
(1) entweder Fantaſt; wenn er fich felbft unmittel⸗
barer übernatürlicher Erfahrungen, Eingebungen
höherer Geifter, und hyperphyſiſcher Blicke in die
Cintelligible) Geiſterwelt und in das überirdifche Lea
ben fähig und theilhaftig zu ſeyn meynt.
(2) oder Superſtit ös, abergläubifchz; wenn er der:
gleichen Facta, die der Fantaſt aus felbft eigener
- Erfahrung‘fennen mwill, als fremde Erfahrungen
annimmt, und darauf. ohne eignen Gebrauch: der
natürlichen Sinne und der Vernunft, feine prafs
tifchen Grundfäge erbauet.
2
Der große Einfluß der religiöfen Begriffe von einer
Gottheit und von der Unfterblichfeit des Edelſten unfers
Wefens auf die Moralität, fofern,diefe aus der morali—
fchen Vernunft felbft abgeleitet und durch theoretiſchen Ver:
nunftgebrauch geläutert find, ia fogar die. Unentbehr-
lichkeit dieſes Glaubens zu unbefchränfter und thätiger
Genehmhaltung des Sittengeſetzes wird unten Darges
than werden und hier gar nicht in Zweifel gezogen. Es
wär m wohl ſehr unphiloſophiſch, dem Glauben ai
göttlich
\
14 Curitik der praftifchen Vernunft.
göttlich authoriſirte religiöfe und moralifche Rehren fei-
nen Merth abzufprechen, ven er als ein wichtiges und
zum Theil unentbehrliches Hülfsmitrel zur Verbreifung
geläuterter fittlicher Begriffe, wuͤrdiger Geſinnungen und
für die ganze Erziehung des menjchlichen Gefchlechts bes
hauptet. Man müßte endlich ſehr unmiffend oder uns
danfbar ſeyn, um dem Evangelium in feiner wahren Ges
ſtalt fein Berdienft um Menſchheit, Vernunft und Sitt-
lichkeit abfprechen oder daffeibe verkleinern zu wollen.
In welchem Sinne und zu welchem Zwecke, es eine
fietliche Offenbarung, eine bibliſche und infonderheit eine
chriftliye Moral gebe, und daß feine von benden,
vernünftig angenommen und gebraucht auf firtliche
Schwaͤrmerey (Myfticismus) geradezu führe, iſt für
die Verſtaͤndigen leicht zu beurtheilen, und verdient von
den Lehrern und Erziehern der Menfchheit vorzüglich bes
herziget zu werden —
6. 16.
b) Moralifihe Senfualiften,
Der fictliche Senſualismus oder Epikurismus er—
klaͤrt die ſittlichen Geſetze für Erzeugniſſe der (empiri—
ſchen) Vernunft, angewandt auf die Erkenntniß von ven
finnlich wahrnehmbaren Folgen unfrer Handlungen für
die Annehmlichfeit und Glückjeligkeit unfers Lebens —
des irdiſchen, als des einzigen, wohin ſinnliche An—
ſchauung und Kenntniß reicht. Dieſe Philoſophie be—
foͤrdert zwar einigermaßen den Vernunftgebrauch in dem
ſinnlichen Erfahrungskreiſe, ſchraͤnkt aber zugleich Deus
ſelben
Critik der praktiſchen Veernunft. 15
felben und mit ihm felbft die Gefinnung auf dasSinnlich
angenehme" und auf Genuß des Erdenlebens ein, und
ferebt vergebens nach demBeſitz allgemeingültiger und uns
bedingtnothwendiger Grundfäge, welche die Vernunft
ſucht, und in deren Kenntniß und Befolgung fie fich alz
lein ihrer höchften VBollfommendeit und Würde bewußt
wird,
' &.: 1%
3) Moralifhe Rationaliſten.
Der moralifhe Rationaliemus oder Purismus
unterſcheidet ſich durch folgende Saͤtze:
1) Es giebt allgemeinguͤltige Principien, für das
Thun und Laſſen der Menſchen — gegen die aus⸗
drückliche Behauptung des allgemeinen ſi ttlichen
Skepticismus, und gegen die richtige Folge von
dem Empirismus.
2) Dieſe liegen nicht außerhalb der Vernunft — ges
gen den firtlichen Myſticismus, deſſen Behauptung
den möglichen und wahren Gebrauch der Vernunft,
den empirifchen fowohl als den. reinen, in Anfes
hung fittlicher Gegenftände gänzlich aufhebr.
3) Die empirifche oder lediglich auf Sinnlichkeit an⸗
gewandte Vernunft enthält dieſe Grundwahrbeis
ten ebenfalls nicht — gegen den wahren, phyſiſchen
Empiriften, Senfualiften oder Epifurer. -
° 4) Sie find alſo in der reinen Vernunft urſpruͤug⸗
lich enthalten, und
5) wer:
* \
16 _ Eritik der praftifchen Vernunft,
5) werden nur auf finnliche, gegebene Gegenſtaͤnde
angewendet.
In dieſem Syſtem wird das Daſeyn allgemeinguͤltiger
praktiſcher Grundſaͤtze nicht nur angenommen, ſondern
auch eine Quelle angegeben, woraus dergleichen Er—
kenntniſſe herfließen können; dem Vernunftgebrauch
wird fein moͤglichſter Umfang gegeben, ohne Ueberſchrei⸗
tung feiner natürlichen Gränze; beyden Hauptverirruns
gen des firtlichen Charakters, nehmlich ver ſittlichen
Schwärmeren, welche das Naturvermögen uͤberſteigen
möchte, und der finnlichenDenfart, die fich eigenmächtig
engere Graͤnzen ſteckt, wird auf das. beſtimmteſte vor—
gebeugt, und alfo eine Gittlichfeit in der Idee aufge
ftelle, die. der Innern Würde und der äuffern Lage des
Menfchen im gleichen Verhaͤltniß angemeffen, die eben
fo. erhaben als menſchlich if.
5 3.
Solgerung.
Metaphyſik der Sitten ($. 9.) iff nach dem as
tionalismus, ein Syſtem praftifcher VBernunftwahrheis
ten, die aus der reinen Vernunft ihrem Wefen nad) ent⸗
fprungen Ctransfcendental), aber auf Gegenftande der
finnlichen Erfahrung — alfo auch auf denMenfchen, auf
feine Verhaͤltniſſe und Handlungen anwendbar Cimmas ,
rent) find. Critik der prafcifchen Vernunft unterſucht
die Möglichfeie (Erfennbarkeit, Gültigkeit, Anwendbar-
keit) diefer Wahrheiten aus Principien, oder aus dem
Weſen der Vernunft |
& 198
*
⸗
Critik der praktiſchen Vernunft. 17
—A
Probleme der praktiſchen Vernunfteritik.
Die Critik der praktiſchen Vernunft muß Principien
aufſuchen, woraus ſich die Möglichfeie ableiten laͤßt,
1) zu wiffen, was wir chun follen;
2) dieß thun zu wollen;
3) und es zu können.
$. 20,
Bier Abfoluta,
Diefe Principien müflen auf abfolufe Nothwendigkeit
und Allgemeinheit fuͤhren, wenn die Moral gegen alle
Entſtellung durch ſenſuellen oder myſtiſchen Empirismus
und gegen iede Erſchuͤtterung durch ſittliche Zweikelſucht
völlig geſichert ſeyn fol. Wir fuchen daher
I) eine allgemeingültige, abfolut nothwendige prak⸗
tische Regel — ein fittliches Grundgefeg der Vers
nunft. Die Regeln der finnlichen oder überfinnlis
chen Gluͤckſeligkeit Fönnen ihres Urfprungs wegen
nicht allgemein gültig feyn ; fondern fie müffen mans
nigfaltig von einander abweichen und fich fo wie
ihre Grundlage verändern:
2) ein allgemeingültiges, abfolut nothwendiges
Ziel — ein hoͤchſtes abfolures Gut für die Vers
nunft. Das Ziel der Neigungen iſt unendlid) vers
ſchieden und veränderlih, kann alfo nicht als Ges
genſtand des allgemeinen und immerwährenden Stres
bens feftgefest werden.
Moralphiloſophie. B 3) eine
J
18 Critik der praktiſchen Vernunft.
3) eine allgemeingültige, abſolut nothwendige
Triebfeder, ienes Geſetz beobachten und ienem
Ziel nachſtreben zu wollen — eine Triebfeder der
Vernunft. Die Antriebe der Sinnlichkeit zu lega—
len Handlungen ſind weder bey allen Subiek—
ten dieſelben, noch in iedem Falle zu dieſer Abſicht
wuͤrkſam, und alſo unſicher. Es muß etwas ge⸗
ben, wodurch ein nothwendiger Zuſammenhang der
Sittlichkeit mit dem Willen uͤberhaupt beſtimmt
wird. a
4) eine allgemeingülcige, abfolut nothwendige Be⸗
dingung, wodurch der Wille, das Gittengefetz
zu befolgen, dem höchften Gute nachzuffreben und
von der vernünftigen Triebfeder beſtimmt zu wer⸗
den, fih gegen alle Hinderniſſe bedingt noth—
wendiger, enfgegenftehender Antriebe behaupten,
mit allen übrigen natürlichen Beffrebungen des Bes
gehrungsvermoͤgens vereinigen, den an fich nicht
vernünftigen Neigungen das Gleichgewicht halten
und fich mit venfelben verbinden fann. Diefes
obfolute Mittel, die Hinderniffe von dem gänzli-
chen Erfolg der fittlihen Triebfedern mwegzuräu-
men, muß ebenfalls die reine Vernunft darbieten,
weil 28 Durch die empirifche Vernunft niemahls all
gemein ausreichende Sicherheit befommen koͤnnte.
* 21.
Critik der praftifchen Zemunft 29-
2er
Erſtes Problem.
A. Allgemeine Auflöfung;
Die allgemeine Unterſuchung über die Möglichfeie ei⸗
nes allgemeingültigen praftifchen Gefeges befchaftige fich
mir drey bejonderen Fragen in folgender. Ordnung :
1) Wie find praktiſche Regeln sver Vorſchtiften
uͤberhaupt moͤglich?
2) Wie ſind praktiſche Grundſätze moͤglich?
3) Wie ſind abſolute praktiſche — oder
Geſetze moͤglich?
g. 22.
Praktiſche Regeln überhaupt,
Wenn ein Mannigfaltiges gegebener Vorfteflungen
Einheit und nothwendigen Zufammenhang durch einen
Begriff erhalt: fo entſteht eine Regel. Diefe ift theo⸗
retiſch, wenn und fofern das Mannigfaltige in dent
Stoff zur Erfenntniß eines Gegenftandes befteht ; praf;
tiſch, wenn und in fofern Diefeg vereinte Mannigfaltis
ge an fih felbft Stoff zum Begehren d. i. zum Würfs
famfeyn des Subiektes nach) gegebenen BRENNER
($. 5) if:
$. 23:
Praktiſcher Verſtand überhaupf;
Die Beſtimmung der Einheit in dem Mannigfalt i⸗
gen des Vorſtellungsvermoͤgens überhaupt, d. i. eine Re—
gel, fegt Derftand in weitläuftigem Sinne over his
2 heres
20 Critik der praftifchen Vernunft,
heres Erfenntnißvermögen voraus. Wo diefeg in Ver:
bindung mit Begehrungsvermögen in Einem Subiefte
d. i. als praftifher Verſtand vorhanden iſt, da ift
das Entftehen praftifcher Regeln begreiflich.
$. 24.
Praktiſche Kegeln und Verſtand in engerem
— Sinne.
Was durch die erſte Handlung dieſes Verſtandes oder
durch die einfachſte Abſtraktion aus den gegebenen Mans
nigfaltigen d. i. durch Verfiand in engerem Sinne
entſteht, ifinur eine Regel in engerem Sinne. So
laſſen fich fo wohl theoretiſche als auch praktiſche Re⸗
geln in engerem Sinne, iene durch den theoretifchen, Dies
fe durch den praftifchen Verfiand in engerer Bedeufung
begreifen: i
6. 25.
Praktiſche Grundfäge uͤberhaupt.
Durch eine fortgeſetzte Funktion des Verſtandes
überhaupt, eine höhere Einheit in demienigen zu beſtim—
men , was ſchon durch die erfte Verftandeshandlung ver-
bunden ift, d. i. durch Vernunft überhaupt entffehen
höhere Regeln, vie mehrere in Eins verbinden d. i.
Grundſätze in allgemeiner Bedeufung: Aus mehreren
praftifchen Regeln , die in Einem allgemeinen Gage
vereinigt find, werden praktiſche Grundſätze überhaupr.
$. 26.
Eritif der praftifchen Vernunft. | 21
§. 26.
Praktiſche Grundſaͤtze in engerer Bedeutung.
Geſchieht dieſe Vereinigung lediglich durch Abſtrak-
tion von demienigen, was in dem mannigfaltigen In—
halte mehrerer Regeln verſchieden, und durch Aushebung
desienigen, was darinnen identiſch iſt, fo iſt Das Pro—
dukt dieſer Handlung ein Grundſatz in engerem Sin⸗
ne, und wird der empiriſchen Vernunft zugeſchrie—
ben. Die praftifchen Regeln auf diefe Weife vereinigt,
geben praktiſche Grundfäge in engerer Bedeutung.
$. 27.
Maxime; Geſetz.
Ein praktiſcher Grundſatz ſubiektiv betrachtet d. h.
als eine Regel, die fuͤr den Willen eines gewiſſen Subiekts
gilt, heißt Maxime; obiektiv betrachtet d. i. als et-
was, das allgemein gilt für den Willen iedes vernünf-
tigen Wefens, heißt er Geſetz. Dieſelbe Regel, dem
Inhalte nach, Fann ihrer Form und der Beziehung nach
-auf einen einzelnen oder auf einen Willen überhaupt,
theils als Marime, theils als Gefeg vorgeftelle werden.
6.28
Solgerung,
Ein praftifcher Grundfag in engerer Bedeutung ($-
25.), als ein folcher betrachtet, iſt nur fubieftiv als ei-
ne Marime, nicht aber obieftiv als Gefeg , gültig.
33 $. 29.
22 Eritik der praftifchen Vernunft;
6. 29.
Marırie, Form des Begehrungsvermoͤgens.
Wenn Materie überhaupt das DBeltimmbare, Sorm
hingegen das Beftimmende oder die Beſtimmung ift : fa
zeigt die Materie oder der Stoff des Begehrungs⸗
_ vermögens das begehrte oder zu begehrende Obiekt an;
die Form deßelben befteht in dem Begehren oder Wol-
len an ſich felbft, wenn man dabey von allem Dbieftiven,
was begehrt wird, ganzlich abftrahirt.
Es kann die Materie des Begehrungsvermögens (5. B
bey Menfchen und Thieren, oder bey verfchiedenen Den,
ſchen, oder auch bey demſelben Menjchen zu verfchiede-
nen Zeiten) diefelbe feyn, und das Begehren felbft fich
dennoch durch Die Form unterfcheiven. Umgekehrt koͤn⸗
nen Handlungen des Begehrungsvermoͤgens, wenn man
auf ihre Form ſieht, ſich voͤllig gleichen, ſo verſchieden
auch der Stoff derſelben immer ſeyn mag.
6§. 30.
Innerer, aͤuſſerer Stoff.
Die Eintheilung des Stoffs, in den inneren und
auſſeren, die von dem Vorftellungsvermögen überhaupt
gilt, läßt füch auch auf die Materie des Begehrungs—
Yermögens anwenden.
$ 34
Form, Stoff des Willens.
In Bezug auf ein vernünftiges Begehren oder Wol-
gen iſt nichts Form nes willene), als Die vernunf-
fige
I
x
——.
Critik der praftifchen Vernunft, 23
fige Wuͤrkſamkeit an fich felbft ; ang andere wird zur
Materie gerechner.
$. 32
Materiale Grundfäge,
Man — ſich erſtens praktiſche Grundſaͤtze den⸗
ken, deren Moͤglichkeit und praktiſche Guͤltigkeit nur auf
der Vorausſetzung einer beſtimmten Materie des Begeh—
rungsvermögens und einer gewiffen Befchaffenheit eines
Obiekts in Beziehung auf den Zuftand des Subiekts be>
ruht. Solche Grundfäge, welche einen beftimmten Stoff
des Begehrens als ihren Beftimmungsgrund, und als
Bedingung ihrer Gültigkeit vorausfegen, heißen
1) bedingte Grundſätze, fofern fie von etwas alte
derem als der Vernunft abhängen;
2) materiale Brundfage, fofern diefe Bedingung
in dem gegebenen Stoff liegt ; |
3) empiriſche Grundſätze, fofern Ddiefer Stoff
nur durch Erfahrung erfennbar ift, fie felöft
alfo ebenfalls aus dieſer Quelle der Erkenntniß ge⸗
ſchoͤpft erden,
n
$. 33%
Ihr Werth.
Bedingte, materiale Grundſaͤtze koͤnnen deshalb, weil
fe empiriſchen Urſprungs find ($. 31.), nur eine com-
parative Allgemeingültigfeie und Nothwendigkeit haben,
mit einer Einfchränkung, die größer over geringer iſt, ie
nachdem diefe Grundfäre ſelbſt mehr oder weniger Durch
B 4 eine
*
24 Eritif der praftifchen Vernunft,
eine fortgefeste Abftraftion aus vielen oder wenigen Er»
fahrung.n verallgemeinert worden find.
$. 34.
Nach folchen Grundfägen will ich etwas, weil ich
etwas anderes will, und ich fill diefes Etwas nicht des⸗
halb, weil ich ein vernünftiges Weſen bin, fondern wegen
der mir als vernünftigem Subiekt zugegebenen jinnlichen
Natur, wegen meiner Empfänglichkeit für gemifle Ein:
drücfe, wegen der Anlage, an gewiflen Dingen Vergnü-
gen, an andern Mifvergnägen zu finden, und wegen
eines befondern DVerhältniffes, mworinn etwas (ein Ding
oder feine Beſchaffenheit) zu meiner Ginnlichfeit fieht.
Diefes Verhältnig erfennt der DVerftand, und die eme
pirifche Vernunft bauet auf dieſe — prakti⸗
ſche Grundſaͤtze.
$. 35.
Techniſche, pragmatifche Grundſaͤtze.
Ich bilde mir einen praktiſchen (materialen) Grund—
ſatz, zur Regel fuͤr meine Handlungen, weil ich Etwas
(andres als dieſen Grundſatz) will. Dieſes Etwas will ich
1) entweder als Menſch, zufolge meiner ſinnlichen
Natur, die ich mit allen Menſchen gemein habe, um
eines allen Menſchen durch ihre, Sinnlichkeit ge—
gebenen Zweckes willen. Die Verbindung meiner
Handlung als des Mittels zu Erreichung eines fol-
‚chen Zwecks bezeichnet ein pragmatifcher Grund;
ſatz, oder eine Regel der Klugheit.
z 2) als
Critik der praktifchen Vernunft. 23
2) als diefer Menfch, zufolge einer befondern Rich-
fung meiner finnlihen Natur, die ich nicht mit
allen Menfchen gemein habe, um eines mir eigenen
Zwecks willen, der den allgemeinen menfchlichen Zwe—
den als Mittel untergeordnet if. Die Verbin:
dung meiner Handlung, alg des Mittels mit ei-
nem ſolchen Zweck, ver dadurch erreicht werden
fol , drücke ein technifher Grundſatz, oder ei:
ne Regel der Gefchiclichfeit aus.
$. 36.
Alle: techniſche ſowohl als pragmatifhe Grundfäge
find material, bedingt, empirisch , folglich nicht abfo-
lut allgemein und nothwendig. Sie find Produfte der
empirischen Vernunft, und durch dieſes menfchliche Ver—
mögen begreiflich. Sie find der Gegenftand praftifcher
Künfte und der gemeinen Klugheitslehre ($.7.), nicht
aber der Moral.
$. 37.
Formale Grundfäge,
Man kann fich aber auch zweytens ($. 32.) ſolche
praftifche Grundfäge gedenfen, die einen Stoff des Be-
gehrens enthalten und. bezeichnen , ohne doch diefen, als
Bedingung ihrer Gültigfeit oder als ihren Beftim-
mungsgrund vorauszufegen. Sie feren im Gegentheil
nichts, als das Vermögen voraus, worinn ihr Ent-
fiehen überhaupt fich gründet. - Da diefes aber nur die
Form der Erfenntniß und des Handelns geben Fann, und
; 85 doch
26 Eritif der praftifhen Vernunft,
doch iedes Wollen ein Obiekt (Zweck) und ieder prafti-
ſche Grundfag einen Stoff haben muß; fo ift ein for-
meller prafeifher Grundfag nur alfo gedenfbar, daß
feine Form felbft ein Dbieft des Willens fey, und feis
nen Stoff hervorbringe d. i. es beffimme, daß Etwas
durch den Willen gefhehe, und nach feiner Form behan⸗
delt werde, Dergleichen Brundfäge fonnen formale
‚ beißen.
*
$. 38.
Nah formalen Grundfägen will ich etwas, nicht
teil ich etwas andres will, fondern lediglich deshalb,
weil ich ein vernünftiges Wefen bin. Es wird eine
Handlung mit meinem Willen verbunden, nicht als Mit-
£el zu einem anderweitigen Zwecke, fondern wegen des
nothwendigen Derhäftniffes, worinn eine Handlungs»
foeife zu einer vernünftigen Natur, als einer ſolchen,
ſteht. Es wird ein (innres oder aͤuſſeres) Obieft, ein
gewiffer Cinnrer oder äufferer) Stoff behandelt , nich
unmittelbar wegen der Beziehung, die dieſes Obiekt an
ſich ſelbſt auf meine Empfänglichfeit hat (dieß kann nur
entfernter Grund meiner Wahl ſeyn), ſondern zunaͤchſt
nur deswegen, damit etwas —— vernuͤnftig *
handelt werde.
Nebengedanke. Dieſe Behandlung ſelbſt kann mei—
ne Sinnlichkeit innerlich modificiren. So entſtehen mo⸗
raliſche Gefühle. Sie ſetzen moraliſche Grundſaͤtze
und ihre Befolgung in gewiſſem Maaße voraus; dieſe
Grundſaͤtze ſelbſt aber dürfen fein Gefühl, das vom Ob⸗
- tefte
\
Critik der praftifhen Vernunft. 27
iekte unmittelbar herruͤhrt, als Bedingung vorausſetzen,
wenn anders ienes Gefühl moraliſch ſeyn folk.
$. 39.
- Formale Grundfäge find allgemein.
Sormale Grundfäge fegen nichts Yoraus, als die
weſentliche Form des Willens d. i. eine praftifche Der:
nunft an fich felbft. Kommt num diefe allen vernänfti»
gen Wefen zu (wie ihr Begriff mic fich bringe), fo folge,
Daß auch iene Grundfäge eine Gültigkeit haben, die fich
eben fo allgemein erfireckt und eben fo nothwendig iff,
‚als die Vernunft.
.
J $. 49.
Und find Geſetze.
Abſolut allgemeine und nothwendige praftifche Grund-
fäge heißen praktiſche Geſetze. Sind nun praftifche
formale Grundfäge möglich, fo finds auch praftifche Ge-
feße; wo nicht, fo kann es nur Regeln der Kunft oder
ber. Klugheit, aber Feine wahre Gittenlehre geben,
$. 41.
Reine praftifche Vernunft,
Ein praftifches Geſetz, wenn es moͤglich iſt, iſt es
nur durch die Vernunft in ihrem hoͤchſten, abſoluten Ge-
brauche, wo fie ſich über alle Bedingungen der Erfah⸗
rung erhebt, die Schranken möglicher An fchauung übers
ſchreitet, und Begriffe von der vollkommenſten ſyſtema⸗
sifchen Einheit bilder, für welche ſich Feine vollfonmen
— anpaſ⸗
4
28 CTritik der prafeifchen Vernunft.
anpaflende Materie findet — d.h. durch die reine Ders
nunfe. Reine praftifche Vernunft iſt daher die einzig
mögliche Erfenntnißquelle ſittlicher Gefege und eines Sys
ſtems derfelben , -der Moral.
$. 42.
Reſultat.
Wenn wir uns nun in klaren Ausſpruͤchen des mo⸗
ralifchen Gemeinfinnes ollgemeingülfiger Principien für
anfer freyes Ihun und Laſſen wenigſtens in der An-
wendung undeuflich bewußt find ($. 1.), fo muß die
Erfenntnißquelle derfelben liegen
1) entweder außerhalb der Vernunft. Diefe Quelle
fließt aber befanntlich nicht für alle. Das ınnere
Licht, das weder Sinne noch Vernunft feyn fol,
(angenommen, daß e8 irgend iemand erleuchtete)
‚ Teuchtet doch befanntfich nicht allen Menfchen; es
können demnach auch nicht alle in diefem Lichte, Das
immer nur wenigen (mo e8 nicht überall Phantafie
war), zu Iheil ward, wandeln. Was diefe weni
gen vermittelft diefeg Lichtes fahen, läßt fich auch
dem gemeinen Menfchen, der nur ein finnliches und
ein vernünftiges Vermögen zur Erfenntniß befom-
men hat, nicht mittheilen, noch ihm zur Leberzeu-
gung bringen, meil es ihm an dem Vermögen da:
zu gebricht. Die Uebernatur bietet alfo wenigftens
feine allgemeingultigen praftifchen Grundfäge
dar. | |
2) oder im der empirifchen Vernunft. Diefe kann
aber
Critik der praftifhen Vernunft. 29
aber nur bedingte, materiale, und alfo feine abſo⸗
lut allgemeine und nothwendige Regeln, zwar’
Kunftregeln und Klugheitsrarhichläge, aber Fein
Sittengeſetz ung geben.
3) oder in der reinen Vernunft: Darauf leitet der
Begriff eines Gefeges hin:
$. 43:
B. Specielle Auflöfung des erften Pro:
blems ($. 21.):
Das bisherige Räfonnenient ($: 21 — 42.) kann als
Richtſchnur dienen, wornach fi) Dieienigen Grundfäge
beurtheilen laſſen, die man gewöhnlich für Moralprincis
pien angiebt, oder ehemahls angab ; ob fie zur Grunds
lage für eine allgemeingültige praftifche Gefeßgebung
tauglich oder untauglich find: Die folgg. Paragraphen
unterfuchen daher Die Frage: welches ift das praktis
ſche Dernunftgefers? vor deren Beantwortung das
Problem über die Erforderniffe und Bedingungen eines
ſolchen Gefeges im Allgemeinen aufgelöfer feyn müßte:
844
Erziehung;
Die auffallende Verfchiedenheit, die. man umter deit
Menfchen in Abficht auf ihre moralifchen Urtheile und
Handlungen antrift, hat Montagne (Verſuche. Buch:
U. 12 Hauptftüh) und andere ffeptifche Denfer auf
folgenden Gedanfen geleitet, den viele Nichtdenfer anzu
nehmen und nachzufprechen bequem fanden: „Alle morali-
ſche
30 Critik der praftifchen Bernunft.
ſche Urtheile beruhen auf keinem eigentlichen und unwandel⸗
—— Princip der Vernunft, noch auf irgend einer mes
fentlihen Beſchaffenheit der menſchlichen Natur; fons
dern lediglich auf zufälligen Einrichtungen menſchlicher
Willkuͤhr, auf Gewoͤhnung an gemwille Begriffe und Sitz
ten. Was der Gewöhnungund Lehre unferer Erzieher,
was der Sitte unferes Landes gemäß iſt, das iſt fitklich gutz
was ihr zuwiderlaͤuft, ift fieelich bofe. Aller Unterſchied
zwifchen Tugend und Lafter ift von Menfchen willkuͤhr⸗
lich feftgefegt. Es giebt feine andere Regel fur den
Menfchen,, als das zu hun, wozu er erzogen worden: =
$. 45:
Critik.
1) Es iſt Thatſache, daß die ſittlichen Begriffe, Urs
theile, Gefuͤhle und Handlungen unendlich von ein⸗
ander abweichen. Dieß lehrt im Großen die Ge—
fhichte der Menfchheie in verfchiedenen Zeitältern
und unfer verfchiedenen Himmelsftrichen ; im Klei⸗
nen die gemeinfte Beobachtung der nächften Bes
kannten. Derfchieden und oft widerfprechend find
nicht nur die Sitten und Gefege der Völker, fonts
dern auch die Meynungen der Geſetzgeber und Mo⸗
raliſten uͤber Recht und Unrecht, Tugend und La⸗
ſter. — ER
2) Der naͤchſte Grund dieſer Verſchiedenheit liegt
offenbar in Verſchiedenheit der Erziehung und früs
her Gewoͤhnung an gewiffe Meynungen und Sitten:
3) Aber daraus folgt |
a) we⸗
Critik der, praftifchen Vernunft, 31
a) weder, daß es Fein mefentliches, nothivendiges
und imveränderliches Gittengefe gebe; +
b) noch daß es praftifch nothwendig fen, der Ges
— woͤhnung und Erziehung, die man bekommen hat,
ſchlechthin zn folgen.
Nicht das letzte; man müßte denn das Müſſen mit
dem Sollen verwechſeln. Es iſt Naturgeſetz, daß der
Menſch, auch ſittlich betrachtet, von Erziehung abhaͤngt,
aber deshalb iſt es nicht Sittengeſetz. Man kann Er⸗
ziehung nach ſittlichen Begriffen beurtheilen, nach die—
fen ihren Werth oder Unwerth beſtimmen. Vertraͤte Erz
ziehung ſelbſt die ganze Stelle der Regel, fo waͤre diefe
Beurteilung unmöglich. Wir werden niche blindlings
gemöhnet (drefjirt), wie die vernunftlofen Thiere; in dies
fem alle gäbe es feinen Unrerfchied zwifchen gurer und
ſchlechter Erziehung. |
Naicht das erſte; denn wenn wir auch das Sitten⸗
geſetz als unveraͤnderlich annehmen, jo kann doch die Ers
fcheinung und Aeufferung deflelben durch den Einfluß der
Erziehung unendlich modificire werden, die fich wiede—
rum nach) der Stufe der vorausgehenden Geiftesbildung
der Völker, und nach dem Umfange der Einfichten ih—
re Gefeggeber und Moraliften ſehr verfchieden zu dem
Zwecke der Sittlichfeit verhalten müßte,
Die Verſchiedenheit der firrlichen Urtheile, Gefühle
and Handlungen fegt nicht nothwendig voraus eine
Verſchiedenheit des erſten Grundgefeges ver Sitten felbft,
fondern eine verfchiedene Ars und Stufe der Entwick
lung
32 Critik der praktiſchen Vernunft.
lung des menſchlichen Bewußtſeyns von demſelben macht
alles genugſam begreiflich. Erziehung erzeugt nicht das
Geſetz; aber es entwickelt daßelbe. Sie beſtimmt den
Grad der Deutlichkeit und Klarheit, worinn es vors
geſtellt wird; erleichtert oder erſchwert, berichtigt oder
verwirrt, erweitert oder befchranft die Anwendung. defs
felben auf vorfommende Fälle, im Urtheilen ſowohl als
Handeln. Gie bewürft dieſes vornehmlich dadurch, daß
ſie die Handlungen von mehrern und verſchiedenen Seiten
betrachten lehrt, und die praktiſche Urtheilskraft ſchaͤrft.
Sie modificirt endlich durch Gewoͤhnung die Sinnlichkeit,
entwickelt aus den Naturtrieben gewiſſe beſtimmtere Nei—
gungen, welche die Tugend mehr oder weniger begünfti-
gen, und bringt andere (finnliche) Triebfedern in Bes
wegung, die der Wuͤrkfamkeit ſittlicher Antriebe in ver-
fihiedenen Verhaͤltniſſen förderlich oder nachtheilig find.
Märe Erziehung würklich nicht nur ein fubieftineg
Hälfsmittel der Entwicklung, fondern Die einzige Grund»
fage aller Moralität : fo gabe e8 gar feinen allgemeins
gültigen Begriff derfelben,' und alle praftifche Vorfchrif-
ten wären ganz und gar millführlich und zufällig, wie
fie felbft, fo lange fie nicht dem Eittengefege unterges
erdnet wird. Allein indem wir Erziehung moralifch bes
urtheilen, fegen wir eine dee von Gittlichfeit noch über
die Erziehung, und nehmen fie zu dem Maafftab an, wors
nach wir ihren Werth felbft erft beftimmen, den wir uns
alfo als unabhängig von ihr denfen.
. 46:
Critik der praftifchen Vernunft, 35
$. 46;
Bürgerlihe Verfaſſung.
Mandeville the Fable of the Bees, on private vi:
ces publik benefits, Lond. 1724. 2 Voll. 8.
Erft feitdem die Menfchen in bürgerliche Gefellfchaften
kraten, und ihre Kräfte zu gemeinfchaftlicher Beförderung
ihrer gemeinfainen Endzwecke verbanden, erforderte es
das ntereffe folcher GSocieräten, einige Handlungen
Durch befondere Achtung auszuzeichnen, weil fie dem öf-
fentlichen Wohl der Gefellfchaft mit Einſchraͤnkung des
Privatwohls eines Einzelnen zuträglich waren; an ans
dere dagegen ein Gefühl von Verachtung zu Enüpfen,
weil fie mit dem gefellfchaftlichen Intereſſe fich hiche vers
trugen. Hierauf allein beruht der ganze Unterfchied
zwifchen Tugend und Lafter. Strebe nad) öffentlis
cher Achtung durdy Beförderung defjen, was
dem Zwece der Gefellfhaft entfpriche — iſt oberä
fie Sittenregel ; Ehrerieb einzige Triebfeder; Zweck deg
Staats einziger und lezter Zweck aller Moralitär.
Daher lehrt auch die Gefchichte,, daß Die moraliſchen
Begriffe mit der Geſellſchaft entſtanden, mit ihrer Um—
änderung veraͤndert, mit ihrer Ausbildung cultivirt
worden find, und noch immer mit den bürgerlichen Eine
Fichtungen abgeändert, erweitert und verfeinert werden—
3 $. 47:
Eriti
1) Es iff als Thatfache gegründet, daß die fierfichen
Begrifie und Gefühle mir dem Entjiehen, dem
Moralphiloſophie € Wachs⸗
34 Critik der prafeifchen Vernunft,
Wachsthum und der innern DVeredlung der Geſell⸗
fchaft entftanden , fich fortbildeten und erweiterten.
Alen ZA
2) dieß Faktum beweift eben fo wenig, als ienes (8.
44.), die Erziehung und ihren Einfluß betreffend,
daß in der bürgerlichen Gefellfchaft der höchfte
Grund aller Moralität, in dem Interet publique
ihr einziger Zweck, und in dem Ehrtrieb ihre einzi»
ge Triebfeder enthalten fey. - Denn
a) es läßt fich dieſer Parallefismus durch die gleis
che Stufe der Geiftesbildung erflären, worauf
Menfchen fih befinden müffen, um ein gewiſ⸗
ſes Maaß von Moralitaͤt zu beſitzen, und um
eine gewiſſe politiſche Einrichtung haben zu koͤn⸗
nen. £
b) Der Staat ſelbſt vermehrt die Ihätigfeit, mitz
hin auch das Nachdenfen, und cultivirt alfo die
Dernunft. Durch die Gefellfchaft. werden daher
die fittlichen Begriffe weiter ausgedehnt und vers
breitet, fie werden £lärer und ihre Anwendung
wird auch äußerlich nothwendiger.
2 Unfre fireliche Achtung iſt uneigennüßigz fie un⸗
terfcheider fih von dem Wohlgefallen, das wir
on einer Handlung finden, um des. Einfluffes. .
willen, den fie fowohl unmittelbar auf unfer
Privatwohl, als zunächft auf das Wohl der Ge-
fellfchaft, und hierdurch mittelbar auf das Unſri—
ge hat. Wir achten alles, was Vernunft ver>
raͤth, wenn wir * ebendaſſelbe deshalb haſſen
ſollten,
Critik der praftifchen Vernunft. 35
follten, weil es vielleicht mie unfern finnlichen
Adfichten ſtreitet. Die forgfältige Bemühung
uneigennügig wenigſtens zu ſcheinen, bemeift,
daß wir es feyn wollen, und als vernünftige
Weſen würflich find.
d) Wir untericheiden Güte und Nichtguͤte der Hands
lungen auch bey ifolirtem vernünftigen Weſen
(3. B.Maͤßigkeit und Unmäßigfeit).
e) Eben fo bey Menfchen, die. Zwar gefellig ‚ aber
doch nicht in Gefellfchaft, am wenigften in Gr
nem Staate vereinigt leben.
f) Wir koͤnnen uns eine Verpflichtung denken,
welche die Menſchen beſtimmt, ſich zu einem Staa—
te zu verbinden; dieſe Verbindlichkeit muß aber
fruͤher gedacht werden als der Staat, und kann
alſo nicht von ihm erſt abhaͤngen.
8) Wir denken uns eine Pflicht, das interet
publique uneigennuͤtzig zu befordern; hierzu muß
ein höherer Grund der Verpflichtung als ein fol-
cher vorhanden feyn, den der Staat felöft erſt
hervorbringt, Dieſer fann aber nur unſern
Eigennug mit dem Gemeinenwohl in Fünftliche
Verbindung bringen, aber fein Motiv zu Auf
opferungen geben, wenn Feines vorher in der
Vernunft dazu bereit liegt.
h) Selbſt der Staat und der Zweck deſſelben iſt ein
Gegenſtand der Beurtheilung nach ſittlichen
€ 2 Grund:
36 CTritik der praftifchen Vernunft,
Grundfägen. ever Staat müßte mie jedem
andern gleichen moraliſchen Werth haben, und
einem vernünffigen Betrachter gleiche Achtung
für fich abnoͤthigen, wenn der Staat ſelbſt den
einzigen Maafftab zu Beſtimmung aller Wiürdigs
feit oder Unwürdigfeit der Handlungen und der
tenfchen. abgabe.
Die bürgerliche Verfaſſung kann alfo eben fo menig,
als Erziehung, und zwar aug eben denfelben Gründen,
für den höchften Grund der Moralität gelten, ob fie
gleich eben fo mie iene zur RE ver ſittlichen
Ideen mitwuͤrkt.
§. 48.
Wille der Gottheit.
Nicht menſchliche Willkuͤhr ift eg, die einen Unter:
schied zwifchen fierlich gufen und böfen Handlungen bes
ſtimmt hat; diefer Unterfchied iſt weſentlich durch den
Urheber der ganzen Natur und unferer eignen feſtgeſetzt.
Der Wille unfres Oberherrn, von dem unfer Weſen und
unfer Gluͤck abhängt, iſt unfer höchftes Gefeg, nicht nur
Realgrund fondern auch Erfenntnifgrund unfrer Pflich-
ten; Ihm zu gehorchen, der legte Grund aller Verbind-
lichfeit und die höchfte Pflicht. Ohne ihn ließe fih zwar
Klugheit der Thorheit, aber nicht Tugend dem after
enfgegenfegen.
Eritif der praktiſchen Vernunft, 37
$. 49.
Critik.
Soll der Wille der Gottheit der hoͤchſte Beſtim—
mungsgrund aller Moralitaͤt ſeyn, ſo wird erfordert,
daß wir unabhaͤngig von ſittlichen Gruͤnden apodiktiſch
erkennen
3) ihre Kpiftenz;
2) ihren Willen ;
3) ginen fielichen Grund, warum wir. unfern
Willen dem göttlihen unterwerfen follen,
$. 50.
Dafeyn. Gottes.
Was nun erftens das Dafeyn Gottes betrift, fo
leitet ung eine cricifche Unterfuchung unfres Vernunft⸗
vermögeng auf folgendes Nefultat :
Die Vernunft führe ung zwar auf die Idee eines
abſolutnothwendigen und allerrealften Weſens; fie findet
- 28: ihrem fpeeulativen Intereſſe gemaͤß, dieſe Idee ihrem
anderweitigen Gebrauche zum Grund zu legen; fie fin
det überall feinen Grund, ihr die Wuͤrklichkeit eines Ob»
iekts abzufprechen; allein. fie vermag es auch nicht, ihr
Diefes Obiekt, das außerhalb des Sinnlicherkennbaren
liegen müßte, als exiſtirend apodiftifch zu ſichern, oder
auc nur (ohne willführlich oder gar widerfprechend zu
verfahren) dem Begriffe davon anſchauliche Merkmahle
unterzulegen, weil fie keine finnlichen Anſchauungen Date
€3 auf
*
38° Eriie’der praktifhen Vernunft, -
auf anwenden darf, und Feine überfinnlichen, aus Man-
gel an fpecififcher Kenntnig von denfelben darauf ans
wenden kann. Die Gottheit ihrer Speculation bleibt
alfo nur eine reine, erhabene, unbeftreitbare, aber Ans
ſchauungsleere und bloß ſubiektivguͤltige Idee, ohne ob⸗
iektiverkennbares Obiekt.
Was uns noͤthigt und eben dadurch auch berechtigt,
dieſe Idee zu verſinnlichen (anthropomorphiſtiſch) und
ihr Obiekt als exiſtent ſchlechterdings vorauszuſetzen, iſt
ein Beduͤrfniß, das wir ohne vorausgehende Idee von
Sittlichfeit nicht haͤten. Das Praͤdicat eines an ſich
guten Willens liegt, aller weiteren Seſtimmung die—
ſes Begriffes, fo wie der Vorſtellung von feinem Das
ſeyn, zum Grunde; weder die eine noch das andere gift
alfo von vorausgehenden ſittlichen Ueberzeugungen uns
abhängig.
$. 51.
Wille Gottes.
Anlangend zweytens die Erkenntniß von dem gött⸗
lichen Willen, fo
3) lehrt die Er. d.r. V., daß wir durch bloße Spes
culation nicht /einmahl das Dafeyn eines göttli⸗
chen Willens überhaupt, ohne fpecififche Beſtim⸗
mung deſſelben, apodiktiſch erfennen koͤnnen.
2) Vorausgeſetzt, daß Gott etwas will, ſo muͤßte
ich (dey Innhalt feines Willens) das, was er
will,
=
—
Critik der praftifchen Vernunft, 39
will, erkennen, entweder durch Offenbahrung, oder
durch Vernunft.
6. 52. —
Sittliche Offenbahrung.
Offenbahrung wird hier betrachtet
1) entweder als übernatürliche Erkenntnißquel⸗
le ſittlicher Geſetze, als ein übernatürliches Prins
eip ſittlicher Vorſchriften, für welche die Vernunft
fein eignes Dermögen befigt ; fie auch hinterher
zu prüfen und zu erkennen.
In diefem Sinne iſt fie ohne Einfchränfung zu verwer>
fen, und die Anerfennung derfelben (aus Gefühl oder
biftorifchem Glauben) , d.i. der fittlihe Myſticis⸗
mus (9 15.) iſt gleich vernunftwidrig, fittenverderbs
lich und für die Menfihheit entehrend, er mag fich als
Fanaticismus oder als Aberglaube äuffern. Man müße
fe e8 denn vernünftig finden, der Vernunft im Lirtheis
len und Handlen zu entſagen; den Sitten zutraͤglich, ſie
der Leitung der Vernunft zu entziehen, und der Menſch—
beit würdig, ihre moralifche Selbſtſtaͤndigkeit aufzus
geben; | Y |
2) oder als aufjerordentliches Erkenntnißmittel
fitelicher Gefege, die von der Vernunft geprüft,
und als vernünftig durch ihr eigenes Vermögen
‚anerkannt werden koͤnnen und follen.
Nach dieſer Vorffellungsare von Hffendahrung wird“
zwar weder dem Vernunftgebrauche überhaupt ‚noch bey
4 ſittli⸗
40 Tritik der praftifhen Vernunft,
ſittlichen Gegenftänden dadurd) Abbruch gethan; es wird
aber zugleich eingeraͤumt,
a) daß wir eine ſolche Offenbahrung ſelbſt pruͤfen
dürfen und ſollen, ob ſie der Gotthelt würs
dig und der Menſchheit angemeſſen ſey.
Beydes kann nur nach ſittlichen Principien gefchehen,
Stellte man ſich nun dieſe als urſprunglich abhan?
gig von Offenbahrung ſelbſt vor, fo wäre dieß der of—
fenbarfte Eirfel in unferm Schließen, und hübe die Vor—
ausfegung wieder auf, ohne Die eine firtliche Dffenbahs
rung durchaus unzulaflig feyn würde. Was Vernunft
prüfen jol, muß doch zulegt aus ihr entiprungen feyn.
b) Der Glaube an Hffenbahrung fest Glauben an
die Wahrhaftigkeit des göttlichen Willens , dies
fer ven Glauben an Sittlichkeit deflelben über-
haupt, dieſer Glaube aber einen Begriff und
Veberzeugung von fittlihen Grundſaͤtzen vor-
aus, vie höheren und alteren Urfprungs feyn
müffen, als alle Dffenbahrung..
c) Nicht die erfte Idee von Gittlichfeit, fondern
nur einzelne Arten der Anwendung von ihr,
d. i. einzelne VBorfchriften, laffen ſich alſo von
Dffenbahrung herleiten. Gonft märe alle ver-
nünftige Prüfung und fittliche Billigung ihrer
Vorſchriften unmöglich). |
A) »Diefe. göttliche Dffenbahrung kann doch nur
auf gewiſſe, gortliche, allgemeine Gefege, nicht
J „aber
Critik der praftifchen Vernunft. Ar
„aber für alle die taufend und taufend einzelne
„Vorkfaͤlle auf den göttlichen Willen binmeifen.
„Hier muß erft der Handelnde über die fittliche
„Güte der vorliegenden Handlung den Ausſpruch
„feiner Vernunft hören, um nad) diefem über
„Gottes Verbot oder Gebot dabey zu urtheilen.
„Noch immer pflege felbft der Chriſt nach Dies
„ter Weife zu verfahren. » Musfchelle.
Dieß fest andermeitige, urfprüngliche, fittliche Vers
nunfrgefege voraus.
* *
€) „Es iſt einer unpartheiifchen Prüfung enfges
genftehender . VBernunftgründe Oft nachtheilig,
wenn der Unterfucher fehon ein durch andere Aus
toritäf vorgeftecktes Ziel im Auge hat, auf
welches er die Reihe feiner Schlüffe hinlenft.
Garve ;. Payley.
£) „Unſere moralifchen Einfichten koͤnnen und müf
fen in vielen Punkten genauer feyn, als bey dem
erfien Unterrichte ver Menfchen, auch wenn dies
fer von Gort felbft herfam, erfordert wurde.
Und es kann alfo nicht immer ſchicklich feyn, zu
Beltatigung unferer iegigen Begriffe über die
Pflichten, auf einen frühern Unterricht zurück
zugehen.» sEbenderfelbe.
€ 5 E $. 53.
s
42 Critik der prafeifchen Vernunft,
$. 53-
Durch Vernunft,
Um durch bloße Vernunft ($. 51.), d. h. hier durch
den hatürlichen Gebrauch meiner menfchlichen Erkenntniß⸗
vermögen zu Derienigen Kenntniß von dem Willen der
Gottheit zu gelangen, Die meinen fittlichen Erkenntnifs
fen zur Grundlage dienen fol, find nur folgende We—
ge gedenkbar:
1) der Weg der Erfahrung, a poferiori. Wenn
ich auch alles, was in der Welt geſchieht, auf den
göttlichen Willen, als auf feinen höchften Beftins
mungsgrund beziehe, fo erfahre ich Doc nur Bes
gebenheiten, und ihre Gefege, d. i. Naturge⸗
fee , Regeln, wornach ales in ‚der koͤrperlichen
und geiſtigen Welt geſchieht. Ich lerne meine
Triebe und Neigungen kennen, und wozu dieſe mich
antreiben. Nach dieſen Geſetzen und der Natur—
ordnung, die auf meine Gluͤckſeligkeit abzielt, iſt
alles gleich geſetzmaßig, natürlich, der Ein-
richtung der Welt, der Verbindung ihrer Kraͤfte,
und folglich dem Willen der Gottheit durchaus ents
fprechend. Es giebt cosmologifch feinen Unter:
ſchied zwischen Tugend und Laſter. Bloſſe Erfah—
rung kann mich nicht belehren, daß die Gottheit
den Vernunftgeſetzen einen Vorzug vor den Geſetzen
des ſinnlichen Begehrens eingeraͤumet wiſſen wolle.
* *
Spinoza Tract. Polit, Cap. I... 5. — — Eſt enim
homo,
Critik der praftifchen Vernunft. 43
homo, ſiue fapiens, fiue ignarus fit, naturae pars, et
id omne , ex quo vnusquifQue ad agendum determi-
natur , ad naturae porentiam referri debet, nempe
quatenus haec per naturam huius, aut ıllius hominis
definiri poteft Nihil namque homo, ſeu ratione, feu
fola cupiditate duttus, agıt, nifi fecundum leges et
regulas naturae, hoc efl, ex naturae iure, $. 8. —
— Natura non legibus humanae rationis, quae non
nifiı hominum verum vtile et conferuationem inten«»
dunt , continetur ; fed infinitis aliis, quae totius na-
turae, cuius homo particula eff, aeternum ordinem
relpiciunt, ex cuius fola neceflitate omnia indiuidua
certo modo determinantur ad exiftendum et operan-
dum. Quicquid ergo nobis in natura ridiculum , ab-
furdum aut malum videtur, id inde efl, quod res
tantum ex parte nouimus, totiusque naturae ordi-
nem et cohaerentiam maxima ex parte ignoramus,
et quod omnia ex praefcripto noflrae rationis vt di*
rigerentur volumus; cum tamen id, quod ratio ma-
lum efle dictat, non malum fir reſpectu ordinis et le-
gum vniuerfae naturae, ſed tantum folius nofrae na-
turae legum refpedtu,
2) Der Weg a priori. Hier muͤßte man entweder
unmittelbar von der reinen Idee eines göttlichen
Weſens ausgehen, die die Vernunft aus fich felbff,
unabhaͤngig von der Betrachtung der mürflichen
Welt, hervorbringt, oder aus gewiſſen Erfah: -
rungsfägen (comparativ a priori) fchliegen.
44 Critik der praktiſchen Vernunft.
a) Die ſpeculative, rein a priorifhe Ver
nunftidee von einem unbedingt realen und
nothwendigen Wefen ift gar Feiner durch: bloße
theorerifche Philofophie ermeislichen Beftimmung
fähig, woraus fich ein görtlicher Wille überhaupt,
gefchweige denn die Art: und Befchaffenheit oder
das Obiekt deſſelben ‚ableiten ließe.
Mehme ich auch comparativ a priori, oder nach der
Analogie Wohlfeyn der lebendigen Wefen als goͤtt⸗
lichen Zweck in der Welt an, fo iſt doch aus dieſem
Zwecke, der fich auf Ccosmifche, nichtſittliche) Güte und
Weisheit des göttlichen Weſens gründet, das Verhaͤlt⸗
niß dieſes görslichen Willens zu dem unfrigen, und Die
beftimmte Beziehung irgend einer unfrer Handlungen auf
den oberften Weltplan und die Beforderung deffelben,
Fein möglicher Gegenffand unferes Erfennens. Es bleibt
immer die vorige Indifferenz. Denn, ohne höhere fitt-
liche Grundfäge zu Hülfe zu nehmen, Fönnen wir nicht
wiſſen, mwiefern unſre Einftimmung mit dem göttlichen
Willen Dazu. erfordert werde, oder worinn unſer be-
ſtimmter Beytrag zu Beförderung des Weltbeftens be⸗
fiehen folle, Und doc) iſt auch diefe Vorausſetzung durch
bloß theoretifche Vernunftgrünve (phyſikotheologiſch) nicht
vollkommen zu rechifertigen, fondern fie beruht vornehm⸗
lich auf ſittlichen Gründen, die, wenn das Räfonnement fich
nicht im Kreife herumdrehen fol, unmöglich wiederum
in dem erkannten görtlichen Willen logiſch gegruͤndet
ſeyn koͤnnen.
b) Die
Eritik der praktiſchen Vernunft, 45
b) Die praktiſche Vernunftidee von der Gott⸗
heit, als dem moraliſch beſten Weſen, enthaͤlt
allerdings ſolche Merkmahle, deren Entwicklung
auf moraliſche Vorſchriften leiter,
Allein dieſe Idee iſt nur abgeleitet von dem Begriff
„moralifche Güte, überhaupt; fie ftelle ein Subiekt
vor, worinne der reine Vernunffwille von allen ſinnli—
chen und antern Einfchränfungen abgefondert vorhanden
if. Diefen Begriff von firtlicher Vollkommenheit mug
ich alfo vorher in mir felbft. haben, um ihn analogifch
auf das Urwefen überzutragen , und in, ihm zu perfonifis
“ firen. Im Bel dieſes Begriffes, als eines Princips,
warum und wornach ich den göttlichen Willen als gut
gedenke, darf ich die Regel fuͤr meine Handlungen nur
unmittelbar aus der Urquelle der praftifchen Vernunft
fchöpfen, ohne durch einen mäßigen Umweg fie aus dem
göstlihen Willen abzuleiten „ wo I: fie erſt ſelbſt
hineingeleitet babe;
* *
*
Daher laͤuterten und erweiterten ſich die Begriffe
von Gott und ſeiner Handlungsweiſe, der Gerechtigkeit,
in eben der Ordnung und in dem Maaße, wie die ſittli⸗
chen Begriffe gereinigter und vollſtaͤndiger wurden.
Wird aber Tugend fihlechferdings von Religion abhaͤn⸗
gig gemacht, und der Vernunft an fich felbft das Recht
auf Beftimmung der Moralität entzogen, fo verfperre
man ihr allen Zugang ‚ die ſittlichen Begriffe zu verbefa
—* y und man hat kein Mittel übrig, die Spuren ches
malis
46 Kritik der praktiſchen Vernunft.
maliger Roheit der ſittlichen Denkart allmaͤhlig auszuloͤ⸗
ſchen. Hierdurch wird es aber auch eben fo unmöglich,
im Ausbildung, religiöfer Begriffe mit, der übrigen
Eultur der Menfchheic fortzufchreiten. Ja die Cultur
des menfchlichen Geiftes überhaupt wird gehemmt, wenn
dieſe fih an den intereffanteften und wichtigften Gegen
ftänden durch freyes Urtheil zu üben, vermittelſt eis
ner pofitiven Religion befchränft wird, .
G 54 :
Sie verpflichtet der goͤttliche Wille?
tan fragt drittens (|: 49.): watum foll ich den
Willen der Gottheit zum Urbild für den meinigen mas
ihen ? warum Gott gehorchen?
Weil Gott es till, oder weil ich es will?
1) Weil Gott es will? Allein, daß Gott dieß
will, dieß iſt unerweislich auf dem uͤbernatuͤrli—⸗
chen fo wie auf dem natürlichen Wege, aus Er—
fahrung fo wie aus Speculation. Aus praftifcher
Vernunft ifts zwar allerdings erweislich ; d. h. aber
nur unter Vorausfegung der Gültigkeit gewiſſer
fietlichen Grundfäge, die ich auf die Gottheit felbft
beziehe, zuvor aber für ſich felbft ohne theologifche
Ruͤckſicht erkannt habe.
Und wie kann Gottes Wille ohne Mittelglied als der
Meinige gedacht, ſein Geſetz fuͤr mich guͤltig werden?
Die Antwort iſt identiſch, und erregt alſo nur von neuem
dieſelbe Frage: warum ſoll ich ui was Gott wıll?
Das
Ceitik der praftifhen Vernunft. 47
Dis Sollen muß doch in einigem Betracht mein eigs
nes Wollen feyn , oder es iſt leer.
2) Weil idy es will? Um den göftlichen Willen
als erftes Princip zu berrachten, müßte ich mein
Wollen, den -götslichen Willen zu befolgen, als
ein unmitfelbares erftes Faktum betrachten fönnen, _
das fich aus Feiner höheren Beſtimmung meines
Willens ableiten ließe. Ich koͤnnte dann nicht weis
ter fragen: warum kill ich ?
Allein ich kann fo fragen, weil ich Feine angebohrne
Idee von dem göttlichen Willen befige, die mein Ber
gehrungsvermoͤgen unmittelbar modificirte. (Cruſius
Gerfuhr fehr conſequent, wenn er bey feinem cheologiz
ſchen Moralprincip eine dergleichen angebohrne Idee von
- Dependenz unfers Willens, und einen angebohrnen Trieb,
ihr gemäß zu handeln annahm.) Ich bin mir fogar bes
wußte, daß der notwendige Einfluß einer folchen dee;
einen Zwang mit fih führe, der meine Tugend ihres
‚ganzen inner Werths berauben würde;
Wenn ich nun würklich fo frage, ind eben dadurch
einräume, daß Gottes Wille Fein erftes Princip unſers
moralifchen Wollens iſt, fo iſt die Antwort :
a) aus natürlichen Gefühl der Billigkeit und Dank⸗
barfeit gegen das allgütige, höchfte Wefen (Crus
ſius Anweifung vernünftig zu leben. $. 142.)
Betrachtet man dieß Gefühl als Würfung einer natuͤr⸗
lichen Neigung der Liebe gegen Wohlthärer , fo iſt fein
— Grund
48 CTritik der praktiſchen Vernunft,
Grund abzufehen, der ung beffimmfe, eben diefer Neigung
gegen dieſes Obieft alle übrigen unterzuordnen, die doch uns
Kor manchen Umftänden heftiger wuͤrken, als iene. Legt mar
Diefer Neigung einen gröfferen innern Werth bey ‚fo ges
fchiehe dieß Durch Vernunft, alfo nach einer firtlichen
| 'Denfart , die felbft aller Religion erft zum Grunde liegt,
und die nicht erft durch fie, als wefentliches Mittelglied
der Kette moralifcher Gründe, mit Anerfennung aller ans
deren nicht religiöfen Pflichten zufanimenhängt.
b) Weil. die Gottheit das mächrigfte Werfen iſt,
und mein ganzes Glück oder Unglück von ihrem
Beyfalle oder Mißfallen abhängt.
Wenn bloße Hofnung oder wohl gar Furcht die einzigen
Sriebfedern der Religion und hierdurch aller Moralitaͤt
find, ſo iſt es bloß zufällig, und unfre Vernunft ſieht
feinen Grund davon ein, daß eine gewiſſe Art zu deits
en und zu handlen Gott mißfaͤllt, eine andere feinen
Beyfall erhält. Stat pro ratione voluntas. Indem wir
diefen finnlichen Trieben nach Gluͤckſeligkeit, die nur
durch Kenneniffe von dem göttlichen Willen modificire
worden, alles unterwerfen, geftehen wir ein, daß wir
auch wider unfre Vernunft handeln würden, wenn es
Gottes, des Mächtigften, Wille fo mit ſich brächte. Dies
fe gänzfiche Unterwerfung kann der Menfch, als vers
nuͤnftiges Weſen, nicht umhin, felöft zu verachten und
zu verabfchenen. Da es fodann Feine innere Regel
gäbe für unfre Handlungen: fo fonnte Fanaticismus
und Aberglauben Handlungen, wogegen ſich alles innere
Menfchene
Critik der prafrifchen Vernunft. 49
Menſchengefuͤhl empört, als Beweiſe von Religion und Tu⸗
gend den Menfchen aufdringen „> und ſelbſt das. Gure
(der Materie nach) würde den Charafter der ſittlichen
Güte durch diefen finnlihen Mechanismus verlieren. Der
Eigennüsigfte, der Unterwuͤrſigſte, Niederträchtigfie wär _
re nun der Froͤmmeſte und der Beſte. Eigennug ) wird
in diefem Syſtem bey Gott und Menfchen an die Spis
Be aller möglichen Thätigfeit gefegt.
c) Weil die Gottheit das moraliſch vollfom;
— menſte Weſen iſt. Dieſe Triebfever hängt von
einer andern ab, wodurch dieſe erſt in Bewe⸗
gung geſetzt wird. Sittliche Guͤte muß vorher
durch Vernunft gebilliget ſeyn. Die Geſinnung
des Gehorſams, die wir-der Gottheit weihen,
iſt unmittelbar der Vernunft und ihren eigenen
Gefege gewidmer, die wir ung nur in der Gott⸗
heit gänzlich rein von allem finnlichen Zuſatze und
Verderbniſſe denfen. Wir gehorchen ihr, wie
wir iedem vernünftigen Wefen, wenn es in Diefer
Beftimmung gebieter, deshalb Folge leiſten, weil
wir felbft diefe geſetzgebende Kraft beſitzen.
$: 55,
» - Ahnlihe Wahrheiten,
Anlaß zu der Taͤuſchung, daß alle, Moralitär von
dem gottlichen Willen erft und einzig in unfrer Erfennts
niß beſtimmt werde, geben hauptfächlich folgende Wahr—
heiten, die mit den Irrthumern diefes Syſtems in
einer fcheinbaren Verwandtſchaft ſtehen:
Moralphiloſophie. D 1) Um:
so Critik der prafeifchen Vernunft,
1) Um uns reine Sittlichkeit zu denken, draw.
chen wir Die idealiſche Vorftellung eines Weſens,
welches felbft reine Vernunft iſt, und überall von
feinen fremdartigen Einflüffen abhängt. In den
Standpunkt eines folchen (göttlichen) Wefens muͤſ⸗
fen wir ung verfegen, um zu beurtheilen, tel
che Art zu denfen und zu handeln iedesmahl der
Idee von reiner Sittlichkeit entfpreche.
2) Die reine gränzenlofe Achtung für das Sittlich—
gute hat fein andres perfönliches Dbieft, als die
Höchfte Intelligenz. An diefe Vorftellung heftee
fich unfer ſittliches Gefühl, und mit ihr ſteigt oder
ſinkt feine Würffamfeir.
3) Unfre Vernunft, das Vermögen aller Sitten
gefeze, betrachten wir als abgeleiter von ver
göttlichen. Die Gottheit ift alfo Realgrund ſitt⸗
licher. Grundfäge , fofern das Vermögen viefer
Principien von ihr das Dafeyn emp angen haf.
Allein die Vernunft ift Doch nicht deshalb Gefege
geberin, weil fie von Gott, fondern vielmehr da=
durch, daß fie Vernunft if.
4) Unfre ganze Lage, alle nahen oder entfernten Ver—
hältniffe, worinn wir leben und unfere fittliche
Wuͤrkſamkeit beweiſen, ia felbft die ganze finnliche
Natur, wodurd wir wuͤrken, find von der, göffs
lichen Borfehung eingerichter. Es hangt Daher zu:
- nächft von dieſer unfrer moralifchen Sphäre, und ſo⸗
dann von Ihrem hichten Urheber ab, welche Hand⸗
lungen
Critik der praftifchen Vernunft. 51
lungen (materiell betrachtet) ſittlich gut ſind. Oh—
ne fie fehlte es dem ſittlichen Willen an einem aͤuf⸗
fern Gegenfland, den er behandelte. Wäre nun diefer
ie äuffere Folge der Handlung) auch der Grund
von aller ſittlichen Guͤte und von ihrem Gegentheil,
\ fo wäre Gott durch die Melt, worinn wir leben,
der Geſetzgeber, felbft für unfre Vernunft.
5) Um das Hindernis der unbefchränften Wuͤrkfam—
feit der ſittlichen Vernunft, nehmlich den Wiver-
fereit finnlicher Antriebe, befiegen zu fonnen, iſt
die dee: der Goicheit unentbehrlich „wie bey dent
vierten Problem fol gezeigte werdem
$. 56.
Gryndfag dir Vollkommenheit.
„Perfce te, ift dag Gefeg, welches die Wolfifche
Schule an die Spige aller fietlichen Grundfäge ftellt;
Zur Würdigung diefes Grundfages muß
1) der Begriff von Vollfommenheit entwickelt,
2) der Innhalt der Regel erklärt, und
3) der Grund ihrer Verbindlichkeit angegeben und
unterſucht werden:
57
Bollfommenkeit;
Verſteht man unter Vollfommenbeit in prakti⸗
ſchem Sinne zweckmaͤſſige Einheit des Mannigfaltigen;
ſo iſt Vollkommenheit des Menſchen (oder eines
vernuͤnftigen Weſens uͤberhaupt) die Zuſammenſtimmung
D 2 ſeiner
5 Critik der praktiſchen VORNE
feiner mannigfaltigen Kräfte * ſeinem — Zwec.
Sie erfordert demnach
1) Realitaͤten oder Kräfte; zunaͤchſt innere (der Per-
fon), dann aber auch äuffere (ihres Zuffandes ),
fofern diefe die erffern erhalten, vermehren und uns
terflügen.
2) Mehrheit und Mannigfaltigfeit diefer Kräfte.
3) Einen Zweck, oder mehrere, die ſich auf einen
höchften als Mittel bezichen laſſen.
4) Syſtematiſche Uebereinſtimmung der Art A des
Grades und der Richtung fümtlicher Kräfte zu die-
fem Einen Zweck.
”
58,
Maaßſtab der Vollkommenheit.
Je mehr Kraͤfte, ie wuͤrkſamer diefe an ſich ſelbſt
find, ie einfacher und innetlich groͤſer der Zweck iſt,
worauf ſie abzielen, ie beſtimmter und vollſtaͤndiger die
Beziehung aller Kräfte auf diefen Einen Zweck iſt —
deſto gröfer iſt die relative Vollkommenheit. Vollſtaͤn⸗
dige zweckmaͤßige Einheit würde praktiſche Vollko mmen⸗
heit in abſolutem Verſtande ſeyn.
$. 59.
Sinn des Grundſatzes.
Mache dich fo vollommen, als möglid).
heißt demnach ſo viel als;
| 1) Er-
Critik der praftifchen Vernunft, 53
1) Erhalte deine Kräfte.
2) Erwirb dir Kräfte.
3) Der fEärfe deine Kräfte.
4) Nichte fie im Gebrauche alle auf Einen Zweck.
5) Nerhüte, fo viel wie möglich, Einfhränfung der
Wurkſamkeit der einen Kraft Durch Die andere.
$. 60. r
Folgerung.
Kraͤfte werden geſtaͤrkt durch den ——— N
nisch geſtaͤrkt durch ſyſtematiſche Richtung. Alſo:
ſetze alle Deine innern und aͤuſſern Kräfte in harmo-
nifche Wuͤrkſamkeit.
NE: 6. 61.
Praftifche Bedeutung und Anwendbarfeit.erhält dies
fer Grundfeg erft durch Beftimmung der, Einheit des
Ziels oder des Zwecks, worauf alle verfüyiedene Kräfte
bezogen und gerichtet werden follen. Unter diefem ver-
ſteht man N.
I) entweder die — der Kräfte, oder die Be⸗
dingungen eigner Wuͤrkſamkeit ſelbſt;
2) oder innren Genuß der Kraͤfte, und ihres Ges
brauche für fich, felbft ;
3) oder Genuß der aͤuſſern Wuͤrkungen, die aus dem
Gebrauch der Kraͤfte erſt entſpringen.
‘
D 3 t $. 62.
54 Critik der praftifchen Vernunft,
$= 62.
Sf die Summe der Kräfte oder das höchftmögliche
Mask eigner harmonifcher Wuͤrkſamkeit das höchfte Ziel:
fo iſt zwar
1) diefer Grundſatz ein nothwendiger Gegenſtand der
Billigung eines vernuͤnftigen Weſens. Allein
2) der Grund ſeiner praktiſchen Guͤltigkeit iſt nicht
unmittelbar evident, ſondern er ſetzt ein hoͤheres
Princip voraus, das ihm das Gepraͤge der Mo—
ralitaͤt giebt (welches unten angezeigt wird).
3) Dieſer Grundſatz muß die praktiſch oberſte Kraft
oder das hoͤchſte Geſetz beſtimmen, dem alle uͤbrige
Kraͤfte unterwuͤrfig ſeyn muͤſſen, um harmoniſch
und ſyſtematiſch wuͤrken zu koͤnnen. Auſſerdem
kann ein blos zufaͤlliges Ordnen ſeiner Kraͤfte keine
ſyſtemartige Einheit zu Stande bringen.
4) Ausbildung der Kräfte überhaupt iſt Fein Begriff,
der die Giftlichfeit oder Unſittlichkeit des Hans
delns beftimmt unterfchiede.
$. 63.
innerer Genuß als beabfichtigter Erfolg von der
Anwendung unfrer Kräfte iſt
3) Naturzweck, und ihn zu ſuchen Naturgeſetz unfres
Begehrungsvermögens, fofern daffelbe innerlichd. ix
durch eigne Thaͤtigkeit, afficirt wird.
2) Die
Critik der praktiſchen Bernunf, 55
2) Dieſes Naturgeſetz wuͤrkt aber in natürlicher Vers
bindung mit einem andern, nicht minder natürlis
diem Streben nach äufferem Genuß, d. i. nad) eis
nem‘ Vergnügen, fo aus Befriedigung des allge
meinen Triebs , von auffen afficire worden, feinen
Urfprung nimmt, und wird durch diefen beygeord-
neten Trieb vielfältig eingefchränft und in einzelnen
Faͤllen wohl gänzlich unterdruͤckt.
3) Das paffive Vergnügen ſteht als Genuß betrach⸗
tet dem edlern oder mit Selbſtthaͤtigkeit vereintem,
Vergnuͤgen, keinesweges durchgaͤngig nach, und es
wird demnach, um die Vorzuͤglichkeit des letztern
einzuſehen, ein hoͤheres Princip erfordert, welches
den Werth von beyden und die Graͤnze beſtimmt,
innerhalb welcher beyde Triebe zweckmaͤßig wuͤrken.
$. 64, |
Den auffern Erfolg und den Genuß deffelben ſich
als einziges Ziel feiner Thaͤtigkeit vorzufegen
1) wird allgemein unwuͤrdig und verächtlich gefunden.
2) Diefer Erfolg feldft liege mehrentheils auffer unfrem
Würfungskreiße, und wer ihn als den einzigen
Zweck feines Beftrebens kennt, der iſt unvermeid-
lichen Zäufchungen und der Nochwendigfeit ausge
fest, feine VBerhaltungsregeln unaufhörlich mit an=
dern zu vertaufchen, woraus zulegt Verachtung als
ler prafrifchen Regeln zu entftehen: pflegt.
3) Es ift unmöglich), durch ſichre und allgemeingel-
D 4 tende
s6 Tritik der spraftifchen Vernunft,
tende Gründe zw entfcheiden, welches Verfahren
die im Ganzen wünfchensweriheften und angenehm—
ften Solgen nach fich ziehen werde.
$... 65.
Der Grundfag der eignen Vollkommenheit laͤßt ſich
nicht als oberſter, abſoluter Grundſatz des moraliſchen
Verhaltens rechtfertigen, welche von den drey bisheri—
gen Erklaͤrungen deſfelben ($. 61 — 64.) man auch an-
nehmen mag. Man fommet- entweder auf ein Natur⸗
gefeg, das in feiner natürlichen Geflalt fein Sittenge-
ſetz feyn kann, oder auf ein Gittengefez, Das Feine
unmittelbare Evivenz hat. |
$. 66.
Die Wolfifche Schule hat" viele kuͤnſtliche Raͤſonne—
ments zufammengemwebt, um die. firengen und laufen
‚Forderungen des praftifihen gemeinen Verſtandes mit
der Regel der Vollkommenheit, als oberftem GSittenprin-
cip, in Verbindung zu bringen. Um 3: B. die Pflichten
gegen andere Menſchen Daraus herzufeiten, berufe fich »
1) Wolf ſelbſt ( Philof. pradt. vniuerfalis. Pars I.
Cap. II. $. 220. fegg.) auf das allgemeine Be—⸗
duͤrfniß des Menſchen, in Gefellfchafe mit andern
Menfchen zu leben und von ihnen unterflügt zu
werden, und auf das Unvermögen , Sch ohne ge
ſelſſchaftliche Huͤlfe und wechſelſeitige Vereinigung
zur eignen Vollkommenheit auszubilden.
So richtig aber dieſe Erfahrung Ab, fo
2 a) er⸗
,
Critik der praktiſchen Vernunft. 57
a) erſtreckt fie ſich doch nur auf Menſchen, nicht
auf alle vernünftige Weſen, die zum Wohl und
zur Vollkommenheit andrer etwas beyfragen fon
nen. Sie gründet alſo fein abſolutes Ver—⸗
nunffgefer. 1
b) Aus vem Grundfag „perfice te, als einzigen
Grundſatz, in Verbindung mirdiefem Erfahrungs-
ſatz, folge in Abficht auf, Menſchenpflicht, daß
fie der Selbſtpflicht ſchlechterdings (negativ und
auch pofitio) untergeordnet fey, und fih nur fo
weit erfirecfe, als fie ein Mittel zu dem Zwecke
felöfteigner Vollkommenheit abgiebt; fo weit ich '
andrer bedarf, wenn und fo fern mein Bemü—
hen für andre mir Dank und Vergeltung zu⸗
ſichert, oder ſoweit ich doch auſſerdem darauf
rechnen darf, andere, wenn auch nicht eben die,
denen ich wohlthat, werden durch meine Gut—
thaͤtigkeit bewogen, auf aͤhnliche Art gegen mich
zu verfahren; wenn und ſofern dieſer Vortheil
als wenigſtens eben ſo wahrſcheinlich und eben
ſo betraͤchtlich von mir vorgeſtellt wird, wie der—
ienige, den ich aufopfere; dann und ſofern ſoll
ich fuͤr andere leben. Allein die Forderungen
der gemeinen praktiſchen Vernunft gehen un⸗
laͤugbar weiter, und erklaͤren die Geſinnung
und Handlungsweiſe, welche ienem Grundſatze
polig entſpricht, für eigennutzig und veraͤchtlich.
Durch uneigennuͤtzige Gerechtigkeit um Wohl-
. 5 thätige
7
58 Curitik der praktiſchen Vernunft,
thaͤtigkeit wuͤrde ich mich moͤglichſt vervollkomm⸗
nern, wenn deshalb, weil ich ſie beobachte, und
in eben dem Maafe alle andre fie auch gegen
mich übten. Dies läuft aber wider die Erfah⸗
rung. Zu der allgemein anerkannten Verbind=
lichkeit, ohne Eigennug und Einſchraͤnkung guͤ—
fig gegen andere, wie gegen uns felbft, zu ſeyn,
gehört nothwendig die nähere Beſtimmung des
Principg eigner Vollkommenheit durch den hö-
bern Grundfag , der ihn auf die Bedingung der
allgemeinen Gefesmäfigfeit einſchraͤnkt. Dieſe
übergeht aber Wolf, ob fie gleich zur Bündigfeit
feines Raͤſonnements als filfchweigende Vor—
ausfezung Hinzugedacht werden muß.
2) Andere felbftvenfende Weltweife aus der Molfis
ſchen Schule, und vorzüglih Hr. Eberhard.
(Sittenlehre der Vernunft $. 14. 20. 46. 47. 67.)
haben das mangelhafte Bereinigungsmittel der Men-
fchenpflichten mit dein Prineip eigner Vollkommen⸗
heit, das Wolf angegeben hatte, durch den Zus
ſatz wichtiger Bemerkungen zu ergaͤnzen geſucht.
Sie berufen ſich
a) auf den Erfahrungsſatz, der ſich aus ihrer Theo⸗
rie vom Vergnügen auch a priori begreifen. laf-
fe, Daß auch die lebhafte Vorftellung von Voll
Fommenbeit in Obiekte Vergnügen erzeus
ge, und daß der höchſte Brad defjelben in
den Handlungen der Wohlchätigkeit ge-
noflen
Eritif der praftifhen Vernunft, s9
noffen werde, wo fich alle Quellen des Vergnuͤ—
gens vereinigen. Allein theils fann die Erfahs
rung ihrer Naiur nach feine fo allgemeine Wahrs
heit erharten, und es laflen fich vielmehr gegen
feitige Beobachtungen anführen, welche der aıı=
geblichen Allgemeinheit dieſes Vorzugs Abbruch
thun; theils hängt das Vergnügen feiner Stär-
fe noch hauptſaͤchlich von fubiefriven Urfachen,
als dem Temperament, der Gemwöhnung u. d. gl.
ab, wodurch öfters das ungefellige Vergnügen
dem gefelligen den Vorrang an Lebhaftigfeit
abgewinnt. Die Verpflichtung wäre alfo nicht
obieftiv und allgemein, fondern zufälligen und
veraͤnderlichen Bedingungen unterworfen ; nicht
zu gedenfen, daß fie doch Feine wahrhaft unei—
gennuͤtzige Gefinnung hervorbringeh koͤnnte, ders
gleichen wir durchaus zur moralifchen Wohlthäs
tigfeit erfordern.
b) Man verbindet Bollfommenheit in den Grün⸗
den, den Theilen und den Solgen der Hands
lung in Einem Begriff, um ſie als moralifh gut
zu bezeichnen. Allein dieſe Verbindung fremd-
artiger Merfmahle erfcheint alg willführlich, wenn
man die Güte der Handlung lediglich aus ihrem
Berhältniß zu dem angegebenen Princip !„ver-
vollkomnere dich felbft „ beurtheifer.
ch Die Vollfommenheit des einzelnen Menfchen
kann Durch feine Mitmenſchen bald unmittelbar
bald
6° Eritif der praktiſchen Vernunft.
bald mittelbar befoͤrdert werden. Allerdings
kann ſie es; dieß leitet aber bloß auf die Klug⸗
heitsregel, daß ich andere dazu bewegen ſoll, die
meinige zu beforderen. Und ſelbſt dieſe Regel
hat nur Gemeingultigkeit für die mehrſten, nicht
aber firenge Aligemeinheit für alle Sale. Denn
wie kann man allgemein erweifen, daß feiner
und verftefter Eigennug nicht in einzelnen Fal⸗
len zu dieſer Abfiche mehr ausrichte als reine
Uneigeimügigfeit? ”
d) Bey dem menfchlichen Geſchlechte hat die Voll:
fommenheit des Ganzen einen Einfluß auf die
-.+ . „Bolfommenhelt des Theiles. Alſo (deß folge
unlaͤugbar daraus) ſoll ich das Ganze nicht
ſchlechterdings hintanſetzen. Allein die Frage:
mie weit ich hier gehen dürfe und ſolle? bedarf
noch immer eines hoheren Entfheldungsgrundes.
3) 4. ©. Baumgarten (Philof. prad, prima $-
43.) flüge fic) auf die Marime ver Verbindlichkeit
fib als Mittel vollfommner zu machen.
Darzu bin ich deshalb und alfo auch nur in fo weit vers
bunden, weil und ſofern ich mich eben dadurch als Zweck
vollfömmener mache. Dieß läßt ſich theils aus der Er-
fahrung,theils aus DVernunfrgründen zeigen. Was aber
die erjire betrift, fo gilt von ihr eben Daffelbe, mas
oben (unter a) erinnert worden. Der Vernunfrgrund
iſt ganz metaphyſiſch: »%Wenm ich Die VBollfommenheit,
„andrer
4
*
\
*
4
Critik der praktiſchen Vernunft. 61
„andrer befördere, fo aͤuſſere ich meine Kraft; dieſe
„Kraftaͤuſſerung ſteht allemal mit der Vollkommenheit, die
„ich in andern durch eine freye Handlung hervorbringe,
„im genaueſten Verhaͤltniß; weil die Vollkommenheit in
der Wuͤrkung der Vollkommenheit in der Urſache
„gleich ſeyn muß, ſofern die Wuͤrkung von der Urfache
abhaͤngt. „Mich duͤnkt, ich kann meine Kräfte auch
durch Zerſtoͤrung fremder Vollkommenheit aͤuſſern, meis
nen Kopf an ſchlauen aber verderblichen Entwuͤrfen
üben, und alsdenn iſt die Wuͤrkung freylich ſo vollkom—
men vollſtaͤndig) im ihrer Ark, als e8 ihre" Urfache iſt.
"Allein wenn ich mich hier gleich) Durch Uebung meiner
Kräfte vollkommner gemacht habe, fo ift doch die prak⸗
tiſche Volfommenheit des andren, an dem ich meine
Kräfte übte, d. i. die Summe und zweckmaͤſſige Rich⸗
tung ſeiner Kraͤfte, nicht in gleichem Verhaͤltniſſe erhoͤht
worden. Wofern ich den Vernunftſchluß nicht misver⸗
ſtehe, ſo beruht er auf einem Doppelſinn des Ausdrucks
Vollkommenheit », Die einmahl in den Vorderſaͤtzen
theoretifch fir Vollftändigkeit oder Gröſe, das an
dermahl in der Schlußfolge praftiih für zweckmäſſig⸗
keit genommen worden.
4) Manche fchieben in der Erörterung den Begriff
von ſittlicher Vollfommenheit hinein, die doch erſt
erkläre werden fol. Ein offenbarer Zirkel:
Ss 6.
63 Critik der praftifhen Vernunft,
% 67:
Werth des Grundfagsg,
Deflen ungeachtet ift dieſer Grundfag
3) vernünftig, nur nicht als Sittengeſetz, fonderit
als ein Naturgefeg des Willens ;
3) moralifch, wenn
a) ihm dag perfce alios nicht unter- fondern bey»
geordnet wird. Dieß fann aber nur fo gefches
hen, daß man beyde aus einem höhern Ders
nunftgefege abfeiter:
b) wenn Vollfommenheit nicht wiederum dem Vers
gnuͤgen oder der Gluͤckſeligkeit als Mittel unterges
ordnet wird, Hierin behaupter die Philofophie
der Stoa vor der Wolfifchen ihren Vorzug.
$. 68:
Grundfag des ſittlichen Gefuͤhles.
Wir find von der Natur fo eingerichter, daß eine
gewiffe Art der Gefinnung und des Handelns von eis
nem angenehmen Gefühl der Billigung und der Achtung;
andre von dem widrigen Gefühle der Misbilligung und
Berachtung in unferm Bewußtſeyn begleitet werden.
Diefe Einrichtung heißt der moralifhe Sinn oder
das ſittliche Gefühl als Anlage betrachte, deren Bes
flimmung es iſt, uns in unfern innern und auffern
Handlungen zwecfmäffig zu regieren. Was dieſes billi—
gende Bewußtſeyn uns giebr, ift ſittlich gut; was dieß
Gefuhl
*
Critik der praftifchen Vernunft, 63
Gefühl befeidige, firtlih böfe. Der hoͤchſte Grund;
fas aller Moralitaͤt ift dahert
Solge deinem firtliygen Gefühl; denke und
bandle alfo und zu dem Zwede, daß du ans
genehmer Empfindungen diefes Sinnes theils
baftig werdeft, und feinen Qualen entgeheft,
$. 6% |
Kir unterfuchen dabey
3) den Begriff von moralifher Empfindung un®
Gefühle 5
2) ob und wiefern eine Natureinrichtung dazu vor⸗
handen fey?
3) Ob und in wiefern dieſe zur Grundlage praftifcher
Kegeln und
4) infonderheit eines abſoluten Sittengeſetzes dienen
koͤnne?
&: 7°,
Man verftcht unter dem ſittlichen Gefühle
1) die moralifche Vernunfterkenntniß, fofern fie nicht
deutlich, fondern nur dunfel oder Elar auf unfer
fittliches Urtheil einfliegt, und unfre Handlungen
beſtimmt, oder die gemeine ſittliche Menſchen⸗
vernunft (S 1.);
%
2) ein
—
64 Critik der praktiſchen Vernunft.
2) ein Gefühl der Luſt oder Unluſt, das nur allein
mit dem Vernunftbegriffe von reiner Sittlichkeit
und mit der Vorſtellung von gewiſſen Geſinnun⸗
gen und Handlungsweiſen, in Vergleichung mit ie⸗
ner reinen Idee, im Bewußtſeyn verbunden iſt.
3) Gefuͤhle, die aus Befriedigung feinerer Neigungen
z. B. der Sympathie, unabhängig von einer his
hern Idee der Gittlichkeie, entipringen.
$ Fu
Dafeyn,
Daß es überhaupt Empfindungen gebe, die unfer
praftifches Urtheil öfters und zwar nicht ſelten zweck—
maͤßig leiten, iſt Thatſache.
Daß wir uͤber Sittlichkeit und Unſittlichkeit, Recht
und Unrecht und ähnliche Gegenſtaͤnde öfters ohne deut⸗
liches Bewußtſeyn der Gruͤnde urtheilen, ia ſogar ohne
auch nur im Stande zu ſeyn, uns ſelbſt von dieſen Gruͤn⸗
den hinterher beſtimmte Rechenſchaft abzulegen; und daß
die Richtigkeit dieſes Urtheils fich öfters bey erfolgter
genauer Unterfuchung bewahrt, ift ebenfalls SJaHRar:
Daß es ferner ein reines Intereſſe an ächter Moras
lität gebe, das von feinen anderweitigen Neigungen,
weder unmittelbar und nothwendigerweiſe, noch auch
mittelbarerweiſe und zufällig (durch Gewährung und Vers
gejelfchaftung der Gemuthszuſtaͤnde) abhängt, darauf
ſcheint die Beobachtung mehrerer Erſcheinungen des
menſchlichen Genmihes zu fuhren, und es laßt ſich durch
keine
5
Critik der prafeifchen Vernunft, - 65
feine Erfahrung twiderlegen, die uns zwar auf andere
Quellen von dergleichen Gefühlen aufmerffam machen,
aber dadurch Feinesweges das Nichtvorhandenſeyn iener
Quelle erweiſen kann.
Daß es endlich mehr als eine Anlage unſeres ſinn⸗
lichen DBegehrungsvermögens gebe, woraus feinere Ges
fühle und Neigungen entffehen, welche die größere Sinn»
lichkeit zweckmaͤßig einſchraͤnken, und daher die Billi—
gung der Vernunft im Ganzen erhalten und verdienen,
dieß ſetzt Die empiriſche Pſychologie auſſer Zweifel.
Se
Feinere Neigungen,
Es ift aber theils der Begriff, theils auch der Ur—
fprung der Neigungen, die man feinere nennt, viel
deufig und zweifelhaft. Man verſteht darunter
I) Neigungen, die dem Menfchen eigenthuͤmlich find,
und wodurch er fich von den übrigen Thieren un-
terſcheidet, die fich auf Fein thierifches Beduͤrfniß
gruͤnden, ſi ſich mehr auf Einheit als auf Mannig-
r faltigfeit beziehen, und daher aus dem Vernunft—
vermögen (in weiterm Sinne) und deſſen Einfluß
auf die Sinnlichkeit zu 'erflären find, 5. DB. die
Neigung zum Verhaͤltnißmaͤßigen, Schönen, Harz
monifchen, Geordneten, Einfachen im Reiche der
Natur und der Freyheit (Kunſt), zu Gei ſtesbe⸗
ſchaͤftigung u. d. gl.
Moralphiloſophie. E 3) Nel⸗
\
2
66 Critik der praftifchen Vernunft:
2) Neigungen , die zwar aus gröberer Ginnlichfeit
entfprungen, aber durch den Einfluß der Vernunft
modificire worden find, z. DB. ieder gemäfigte,
zweckmaͤßig geleitete Naturtrieb.
3) Gefellige Neigungen , die eben um degmillen den
groben, felbftifhen Eigennug befchränfen und die
moralifhen Würfungen der Vernunft begunftigen,
3: B. ſympathetiſche Neigungen.
Das Dafeyn diefer Neigungen erkläre man theils durch
die Behauptung angebohrner (5. B. gefelliger) Inftinfz-
te, theils durch Einfluß der Einbildungsfraft und des
feinern Eigennugeg, theils auch durch Einwürfung der
Nernunft — worüber die Pfychologie mehrere Erläute-
rung giebt. - Ber
$. 73.
Die Würffamfeit aller, bisher ($. 77. 72.) angezeig-
ten Neigungen und Gefühle ift
ı) theils abhängig von andern Neigungen, von ihrer
natürlichen Richtung durch Temperament, und von
ihrer zufälligen Beſtimmung durch Umſtaͤnde und
Erziehung. Sie ift alfo
2) der Richtung und dem Grade nach verfchieden bey
verfchiednen Menfchen und zu verfchieonen Zeiten. \
3) folglich nicht abfolut, allgemein und nothwendig,
4) noch auch vollfommen beſtimmt, und vein durch
bloße Beobachtung des Gefühle von andern Ges
fühlen,
Critik der prafrifchen Vernunft. 67
fühlen, die durch andere Triebe erzeugt werden,
zu unterfcheiden ; endlich
5) den Gefegen aller andern Zriebe und Gefühle
gleichmäßig unterworfen.
$. 74.
- Zur fichern und legten Grundlage praftifcher Res
geln können diefe dunklen Urtheile und Gefühle Feines-
weges dienen ‚weil
2) die Vernunft es unmöglich billigen kann, lieber
unentwicfelten und blos flar oder dunkel vor-
geſtellten, ($. 70. Num. 1.) als folhen Regeln
zu folgen, von deren Innhalt und Grund wir
eim deutliches Bewußtſeyn haben. Die Ausſpruͤche
der dunkelwuͤrkenden Vernunft find dem Mißver⸗
ſtande und der Entſtellung durch unſre Leidenſchaf—
ten und Vorurtheile ſehr ausgeſetzt; es iſt Pflicht
ſie zu entwickeln und ihre Anmerkung ſicherer zu
machen, und nur dann dem undeutlichen Urtheile
zu folgen, wenn wir entweder ſchnell entſcheiden
und handeln muͤſſen, oder durch vorausgehende
Uebung und praktiſche Aufklaͤrung gewoͤhnt ſind,
auch ohne langſame Ueberlegung vernunftmaͤßig
und beſtimmt zu verfahren. Das abſolute Geſetz,
wornach das Urtheil, wenn es moraliſch ſeyn fol,
erfolge, und wornach auch feine Gültigkeit ge—
prüft werden muß, iſt immer ein Erzeugniß der
obieftiven Vernunft, theils unmittelbare Folge
derfelben,, theils die Bedingung, Die vor ihrer
N Ent:
68 Critik over praftifhen Bernunfe
Ehtivicktung: vorausgeht, theils auch aa die *
ge ihrer Entwicklung.
2) Die eigentlichen Empfindungen —X man mo⸗
raliſch zu nennen reger fi find eben fo untauglich
Dazu; denn
a) das — ———— Datereſſe 8 70
Num. 2.) iſt, als ein folches „nur durch fein
Cauſſalverhaͤltniß als reine und unmittelbare
Wuͤrkung zu feiner Urſache der Vorſtellung ei⸗
nes vernuͤnftigen Sittengeſetzes, erkennbar und
von fremdartigen Gefuͤhlen unterſcheidbar. Als
bloſſes Gefuͤhl angeſehen, hat es feinen, allge>
mein entſcheidenden Vorzug der Staͤrke und Leb⸗
haftigkeit vor andern Gefühlen; noch auch der
Dauer, wenn man von der Nothwendigkeit fei-
nes Grundes abftrahire, und Kodiglich ver Bes
obachtung nachgeht. Es muß alſo ein Bernunffe
grund vorhanden feyn, dieß Gefühl vor den,
übrigen auszubilden, und. ihm ein Uebergewicht
zu verſchaffen, das ihm von Natur nicht eigen
iſt. Wollte ich ihm uns feiner ſelbſtwillen fol-
gen, als Vergnügen befrachter,. fo wuͤrde ich
theils dieſes Vergnügen ſelbſt Dadurch, zerftören,
weil das Bemußtiänn. des Sittlichguten, wor⸗
an es geknuͤpft iſt, das Bewußtſeyn der Ungis
gennuͤtzigkeit in fich schließe; theils würde die
Euftur diefer Anlage zugleich eine Quelle vieler
moralifchen Leiden für mich eröfnen 5 theils wuͤr⸗
den
Critik der praftifhen Vernunft. 69
den andere Triebe ſich oͤfters lebhafter regen, de⸗
ren Befriedigung mir innigere Freuden verfpräs
che, und vielleicht die Gewiſſensbiſſe ertraͤglich
machte. Folge ich ihm aber deshalb, weil eg
vernunftmaͤßig, aus, Vernuuft entſprungen, und
meiner Würde gemaͤß iſt, ſo iſt nicht dieß Ge⸗
Di
=}
Dr zz:
fuͤhl/ ſondern feine: Quelle „ Vernunft, das
oberſte Sittenprincip.
9 Die uͤbrigen ſittlich⸗analogen Empfindungen
>.($. 70. Num. 3.), koͤnnen aus mehrern Urfas
chen niche wohl Grunde zu einer oberſten prak⸗
tiſchen Gefengebung werden. Die überthieri⸗
ſchen Cäfthekifchen) Neigungen koͤnnen und dürs
fen nicht uͤberall und unumſchraͤnkt über Die thie⸗
riſchen herrſchen, weil die Menfehheit feldft oh—
ne das Thieriſche im Menſchen nicht beſtehen
kann. Ihre Befriedigung verſchaft uns auch
nicht überall den größten Genuß, und giebt ung
in dem eignen Bewußtfeyn, ohne Bezug auf
ein höheres Geſetz der Vernunft, feinen inhern
Werth und Vorzug vor Dem gemeinen, : niedris
gen Eigennug. - Die gilt auch von den geſel⸗
ligen und fnmpathetifchen Neigungen, deren
blinde Befolgung ausſchweifen und felbft die Le—
galitaͤt der Handlungen aufheben kann, und we⸗
nigſtens keinen inner, ſelbſterworbenen Werth
giebt; deren vernuͤnftige Leitung aber zwar fo-
wohl daͤuſſere als auch innere Gittlichkeit hervor-
bringt, Aber ſchon durch ihren Begriff auf ein
c
E3 hoͤheres
\
79 Critik der praftifchen Vernunft,
höheres leitendes Princip zuruͤckweiſt. Beyde
Arten von Neigungen werden von der Vernunft
im Allgemeinen, aber nicht unumfchränft gebillis
ger. Solche Neigungen endlich, Die vonder Ver;
nunft modificirt, in Abficht auf ihr Verhaͤlt—
niß der Größe beffimmt, und in der Wahl ihrer
Obiekte geleitet worden find, veredlen zwar den
Charafter und das. Betragen, aber nur vermöge
des Einfluffes der DBernunftprincipien, den fie
empfingen. Diefe Grundfage, auf denen aller
Werth der Gefinnungen- und des Lebens zulege
beruht, find aber felbft verfchiedner Steigeruns
gen zu höherer big zur höchften Allgemeinheit und
Zweckmaͤßigkeit fähig, und nur die Uebereinſtim⸗
mung mit einem abſolut oberften Princip kann
ihnen das Gepräge achter Gittlichfeit aufdruͤcken.
$. 735.
Reſultat.
Eine unbedingte, allgemeinguͤltige, durch ſich ſelbſt
nothwendige und durchaus beſtimmte praktiſche Regel
kann alſo nicht lediglich auf moraliſchen Empfindungen
beruhen. Es kann Geſchmack, Verſtand, Sympathie ſich
in einer — unſittlichen Handlung ausdruͤcken. Wir
ehren zwar billig dieſe Natureinrichtungen, als zweck»
aͤßig angelegte Werkzeuge in unferm menfchlichen Me-
chanismus, melche theilg die äuffern-Zwerfe der Mora-
lität (die Erfolge für die Sinnenwelt) vor ihrer Ent
wickelung bemürfen, und nachher noch Diefelben fichern
und
Critik der praktiſchen Vernunft. 71
und unterſtuͤtzen; theils zur Entwickelung der moraliſchen
Vernunft naͤhern oder entferntern Anlaß geben, theils
auch die Wuͤrkſamkeit ihrer Grundſaͤtze auf den finnlis
chen Theil des Menfchen entweder erleichtern , oder (was
das reine ſittliche Gefühl betrife) überall erft möglich
machen ; wir erfennen daraus die Verbindlichfeit, ihnen
- eine zwecfmäßige Kultur zu geben; allein fie koͤnnen auch
fhon um desmwillen nicht Quelle der Erfenntnif des
\ Sittlichguten für alle vernünftige Geifter feyn, weil wir
fie nur als menſchliche Eigenfihaften, und auch dieß
nur in unſrer gegenwärtigen Lebensperiode kennen.
$. 76. —
Grundſatz der eignen Gluͤckſeligkeit, der
Selbſtliebe.
Alte unſre Triebe verlangen Befriedigung, und die—
fe getoährt dem Menfchen Vergnügen. . Diefes Vergnü-
gen iſt es alfo, wornac wir immer und überall: fireben
und ffreben müflen. Wenn die Vernunft diefe Triebe
modificirt: fo erzeugt fie aus den mannigfaltigen Ge—
fühlen des Vergnuͤgens den idealifchen Begriff von Glück⸗
ſeligkeit, d. i. von einer möglichft volfommenen Ver-
einigung des Genuffes aller verfchiednen Arsen des, Ver-
gnügens im ganzen Inbegriffe des Lebens eines vernuͤnf⸗
tigen Weſens. So entwicele fih durch Vernunft aus
den einzelnen Trieben nach einzelnen Vergnuͤgungen der
Trieb nady Glückfeligkeit, ver feinem Urfprunge
nach ein vernünftiger Trieb iſt, fo wie die Negeln, wor⸗
nach feine Befriedigung gefchehen kann, vernünftige —
ee: . alie
72 Critik der praftifchen Vernunft.
alſo — ſittlich gute Lebensregeln ſeyn muͤſſen. Alle an⸗
dere Grundſaͤtze, fuͤr ſo urſpruͤnglich man ſie ausgab,
‚fügen ſich alſo auf den hoͤchſten Grundſatz:
Strebe nach Glückſeligkeit, oder:
Thue dasienige, was dir nach dem ganzen Umfange
und in der ganzen Dauer deiner Exiſtenz am meiſten
wohl thut.
$. 77,
Begriffe,
Woplfeyn; Seligkeit; Glückſeligkeit.
Wohlſeyn iſt der angenehme Zuſtand eines lebendi⸗
gen Weſens uͤberhaupt, und wird insbeſoudere vorge⸗
ſtellt
1) als Seligkeit, ſofern das Wohlfeyn eines nei.
Digen Wefens von der zufälligen Befriedigung ges
wiſſer Triebe unabhängig, und daher, uneinges
ſchraͤnkt gedacht wird.
— als Blücdfeligkeie, d. i. als ein Wo hlſeyn eis
nes lebendigen Wefens, das durch die zufällige Des
friedigung feiner Neigungen beſtimmt, von ihr ab⸗
haͤngig, in iedem Zeitpunkte eingeſch raͤnkt, und da⸗
her auch innerlich eines Woechechun⸗ ins Unenplis
— fähig iſt.
nn §. 78: HER: 042
"Zufriedenpeit ; Wohlfahrt; innere, ‚Äuffere. u
Die Gluͤckſeligkeit (G. 77) oder: das endliche und
zufällige Wohlfeyn eines vernünftig = fi milichen Weſens
begr
a tan is 1) Selbſt⸗
Critik ver praktiſchen Vernunft. 73
1) Selbſtzufriedenheit, Dis; einen Zuſtand der
Schmerzloſi gkeit und des Angenehmen Cnegatipe,
poſitive Selbſtzufriedenheit), der von der eignen
—* Dtigteit ſeiner vernünftigen Natur und von
dem Bewußtſeyn derſelben beſtimmt wird ‚ und als
ſolcher niche von Auſſendingen und aufſeren Bedurf⸗
niſſen abhaͤngt — ein Aalogoh: der Seligkeit.
$. 77.
2) Wohlfaber, d.i. einen Zuffand der Schmerzfofig-
keit und des Vergnuͤgens, welcher" aus der. Nicht—
„Verlegung: oder aus. der. Befriedigung feiner Trie-
be und Neigungen vermittelſt gewiſſer Auffendinge
und. ihrer Deränderungen entſpringt. Sie iſt
ebenfalls theils negativ, theils poſitiv.
34
SE fe die Veränderung auffer uns die unmittelbare und
naͤchſte Bedingung des Vergnuͤgens, ſo nennt man die
Wuͤrkung davor äuſſere Wobifabrt ; bringt fie das
Dergnügen nur mittelbar , als Bedingung gewiffer in-
nerer Ihätigfeiten hervor , welche eigentlich feine nöd -
ſte Urſache ausmachen , ‚fo iſt Dieß innere Wohlfahrt.
| * J
N
WGluͤcksguͤter.
Die Beſtandtheile der, Gluͤckſeligkeit Find daher
— ſchmerzloſe und angenehme Zuſtaͤnde; ihr We⸗
ſen (Gorm), als Gluͤckſeligkeit, beſteht in der ſyſtema⸗
tiſchen Verbindung derſelben zur moͤglichſt dauerhaften,
lebhaften, und ausgebreiteten Annehmlichkeit des Lebens.
* E5 Die
J
74 Tritik der praktiſchen Vernunft.
Die Bedingungen derſelben find:
theils äuſſere, d. i. gewiſſe Dinge, ihre Verhaͤlt⸗
niſſe unter ſich und zu uns ſelbſt, d. i. Glücks⸗
guüter und der Beſitz derſelben;
theils innere: Empfaͤnglichkeit fuͤr ihren Genuß,
Thaͤtigkeit zu ihrem Erwerb, J Erhaltung und
zu ihrem Gebrauch.
6. 80.
Maasſtab der Gluͤckſeligkeit.
Glückſeligkeit bezeichnet zwar, als Obiekt einer
Vernunftidee (in abſtrakto), ein vollſtaͤndiges Ganzes
ſyſtematiſch befriedigter Triebe und angenehmer Empfin⸗
dungen; allein in der Wuͤrklichkeit (in conkreto) laͤßt
ſie ſich nur als eine moͤglichſt fortſchreitende Annaͤherung
des, iedesmahligen Zuſtandes zu dieſem Ideale denfeu
und antreffen, die unzählige Gradunterſchiede zuläßr.
Ihre Größe wird beffimme
1) zunächſt durch die gröffere Anzahl, Stärfe und
Dauerhaftigfeit angenehmer Empfindungen ieder
Art, und durch die geringere Anzahl, mindere
Staͤrke und fürzere Dauer ber unangenehmen Ges
fühle,
2) entfernter weife, durch die größere Menge, Staͤr⸗
fe und fortdauernde Würfung der Triebe, im
Verhaͤltniß zu vorhandenen Gegenſtaͤnden ihrer Be⸗
friedigung ; durch die geringre Zahl, fchmwächre
Wuͤrkſamkeit und fürgere Daner- der Neigungen, im
Der:
Critik der praftifhen Vernunft, 75
Verhaͤltniß zu vorhandenen Gegenffänden ; die fie
verlegen würden, und zu nicht vorhandenen, die
fie befriedigen Fönnten.
Die relative Befchaffenheit desienigen, woraus und 100»
durch Glückfeligfeit beftehen und entftehen kann, vers
flattet es nicht, ‚einen beſtimmtern Maasftab für die
Beſtimmung ihrer Gröffe zu. erfinden und anzuwenden.
28%
Sinn des Grundfaßes.
„Mache dic fo alucfelig, als möglich “ be
Deuter Demnach ſo viel, als:
. i -
1) Ueberhaupt : vermeide den Schmerz und fuche Ver«
gnügen ieder Art,
2) Beftimme deine Neigungen nach den Gegenffänden,
und diefe wiederum nach ienen, um im Ganzen
die größte und dauerhaftefte Annehmlichkeit deines
ganzen Lebens dadurch zu bewürfen. Res fubmiz«
tere fibi; fe Jubmittere rebus. Horat,
3) Insbeſondre:
a) Verſtaͤrke deine Genuffähigfeit für iede Art des
feinern oder gröbern Vergnügens; aber erhöhe
nicht zugleich deine Empfindlichkeit für ven
Schmerz.
b) Erwirb und erhalte dir Gluͤcksguͤter oder aͤuſ⸗
fere Mittel der Wohlfahrt; doch laß dieß Be—
| mühen
76 Critik der praktiſchen Vernunft
muͤhen fo wenig, als immer möglich, Dich im
Gebrauche und Genuſſe ihrer ſelbſt ſtoͤren.
c) Verſtaͤrke deine innere Kraft, wodurch du dir
inuere Wohlfahrt verſchaffen oder aͤuſſere Glücks:
guͤter erwerben, ſichern, vermehren kannſt; doch
laß dieſe Uebung Dich moͤglichſt wenig —
fe ſelbſt unterbrechen.
9. 82:
For tſetzungen
Aus ver zuſammengeſetzten und relativen Beſchaf⸗
fenheit der Beſtandtheile und Bedingungen der Gluͤck⸗
ſeligkeit, als eines Ganzen fließen folgende Regeln:
3) Vereinige in der Anwendung diefe drey Maris
men ($. 81, 3.2. bc, ), unter ſich felbft, und
vereinige die ‚befondern Regeln, Die aus ihnen int
° Verhaͤlt aiß zu den verſchiedenen Theilobiekten dei⸗
OR Wohls fließen, unter einander — zur groͤßt⸗
moͤglichen Wuͤrkung fuͤr deine Selbſtʒufriedenheit
und Wohlfahrt im Ganzen.
32 Bey der Wahl der Mittel zu — Wohle,
. nimm auf deine individuelle Gemuͤthsart ¶ Tempe⸗
rament), auf deine eigenthuͤmliche Sinnesart oder
auf die angewoͤhnten Neigungen, und auf deine na⸗
tuͤrlichen oder bereits erworbenen Kraͤfte, endlich
auch) auf deine aͤuſſere Lage und Verhaͤltniſſe beſtaͤn⸗
dige Ruͤckſicht, um * der allgemeinen Ne⸗
gel,
Critik der praktiſchen Vernunft; 77
‚gel, wie Menſchen gluͤckſelig werden koͤnnen, “ihre
naͤhere Beſtimmung fuͤr dich zu geben.
) Ben der Colliſton, worinn oftmahls die Erlangung
eines intenſiv, protenſiv und extenſiv groͤßern Ge
nuſſes ſteht entſcheide nicht partheilich nur nach
4 Einem oder Zweyen Diefer drey Maaßſtaͤbe ſondern
X ſvereinige * je om
— re U
Mie deutung deſſelben.
Nimmt man einmahl eigene G lckſeligkeit überhaupt
’ für dein ganzen oder doch den höchfien Zweck, und des
Verhaͤleniß einer Handlung oder Geſtunung zu ihr, für
den oberfien Cmoralifchen) Beſtimmungsgrund des Wer⸗
thes an, der ihnen zukommen kann: ſo iſt es in glei⸗
chem Grade „folgewivig,
E> mit Antifihenes dier Nature infalt fuͤr das
"ge und vollſtaͤndige zit vernänftiger Beſtrebungen
des Menſchen zu halten. Einfache Beduͤrfniſſe ge⸗
ben zwar weniger Schmerz, aber auch minder Ver⸗
gnuͤgen und es ſteht weder immer noch gaͤnzlich
in des Menfhen Gewalt ’ ob er in Dem einfachen
Naturſtande bleiben, oder zu ihm ——
wolle; oder
2) die möglichfte Ausbildung aller Genußfä⸗
bigfeiten der Einfachheit der Beduͤrfniſſe uͤberall
amd ohne Einſchraͤnkung vorziehen ; oder
⸗
3) wir
78 Tritik der praftifchen Vernunft.
3) mit Epikur nur das unmittelbare Vergnügen,
das eine Handlung begleitet, zum Merkmahl ihrer
Sittlichkeit zu machen, und die entfernteren Fol
gen nicht ebenfalls in Rechnung zu bringen, die
fie für unfer ganzes Wohlfenn haben koͤnnte; oder
4) die entferntern und öfters. ungewiffen Sol;
gen einer Handlung überall und unbedingt über die
Gefühle zu fegen , die mit dem Handlen felbit zus
gleich entſtehen, oder ihm unverzüglich ımd zuvers
lößig nachfolgen; oder
5) mit Zeno das angenehme Selbſtbewußtſeyn fei-
ner Würde und Unabhängigkeit ($. 70. 2.) für
das einzignorhmwendige Erfordernig der Glücfelig-
Feit auszugeben, da Doch Feine Kunft oder Weis—
heit es vermag, Die übrigen Forderungen der Sinne
lichkeit jelbftbeliebig zu vernichten; oder
6) mit andern — den grobern finnlichen Freuden ;
oder N
7) wieder mit andern — den Befriedigungen der feir
nern Triebe und der geiffigen Bevürfniffe ($. 70:
3.) überall und unbedingt den Vorzug vor den
übrigen einzuräumen; oder
9) überall nur auf Dauer und Menge zu fehen,
und gar nicht auf die Lebhaftigkeit und Stärfe der
angenehmen Gefühle Rücfiche zu nehmen; oder +
9) auffer der Extenfion ‚ Intenfion und Daner noch
eine gewiſſe Wür digkeit, die fih auf den Urfprung
oder
Critik der praktiſchen Vernunft 79
oder auf andere Verhaͤltniſſe des Vergnuͤgens bezieht,
zum Entſcheidungsgrund der Wahl in Colliſions⸗
fällen zu machen ; oder gar
10) Moralität des Vergnuͤgens (die Doch eben erft
von der Gröffe deffelben in ieder Beziehung abhaͤn⸗
gen foll) als ein befonderes Dierfmahl des ſuchens⸗
würdigen Verguügens anzugeben.
11) Ueberhaupt ift e8 inconſequent bey diefem Syſte⸗
mie das Vergnügen lediglich nach feinen obieftiven
Gründen G. B. der Vollkommenheit) zu ſchaͤten,
und die fubieftiven gänzlich auffer Acht zu loſſen.
Dergl. $. 66. 2. a) Wenn Daher fcharffinnige
- Meltweife (3. B. Hr. Eberhard, Gittenl. der
Vernunft. $. 2.) eine Handlung gut nennt, info=
‚fern fie die Glücfeligfeit des Menſchen befördert,
2». h. ($. 3.) wiefern fie ihm ununterbrochenen Genuß
wahres DVergnügens gewährt; wenn fie eingeſte—
ben ($. 18.), daß die Empfindung (und was iſt
Vergnügen ohne Empfindung?) von der fubiefti-
ven Befchaffenheit des Empfindenden abhänge, und
daß eben um deswillen die Tugend. ($. 19.) ſchwer
und mühfam erfcheinen Eönne: wie Fönnen eben
dieſe Moraliffen ihren Betveisgründen für den Werch
der Tugend. firenge Lieberzeugungsfraft zutrauen,
da fie nur von den obieftiven Bedingungen ihrer
Sreuden entlehnt find, und das entfchiedene Ueber-
gewicht ihrer Größe in der Empfindung nicht zus
gleich darthun? Bey einem andern Princip binges
gen
80 Eritik der praktiſchen Vernunft.
iu gen macht Diefer pſychologiſche — keine
Schwuͤrigkeit.
12) Die vollkommeni eit des Mmenſchen "oder
die Abzweckung feiner Fähigkeiten und Kraͤfte “zur
Gluͤckſeligkeit kann für Den angenommenen hoͤchſten
Zweck ver Gluͤckſeligkeit nicht als völlig entfpres
chend und gleichgültig zum Ziele aller feiner Be—
firebungen hingeffelle werden, wenn man nicht
Vollkommenheit feines zuſtandes damit ver⸗
bindet.
13) Man darf, um nicht im Kreiſe ſich herumzudre⸗
hen, keine Gefühle mit in Rechnung bringen,
die zwar unmittelbar aus dem moraliſchen Ur⸗
theile uber die Handlung, nicht aber aus ihr ſelbſt
(obiektiv) entſpringen — weil vorausgeſetzt wird,
daß das moraliſche Urtheil erſt von der Wuͤrkung
des Vergnuͤgens beſtimmt werde.
14) Ferner darf man ebenfalls, um den Fehler des
Cirkels zu vermeiden, keine Folgen angeben, de⸗
ren Erwartung ſich lediglich auf eis ſittliches Ur⸗
theil der Wuͤrdigkeit gruͤndet keine Belohnungen,
welche die Gottheit erteilen oder die eine 37
Fünftige Welt herbey fuͤhren wird, von denen
wir ohne vorhergehende moraliſche Einſich ᷣt feine
Kenntniß beſitzen. Man muß ſich lediglich auf die
natärlichen Erfolge in dieſem Erdenleben einfchraͤn⸗
ken, fo wie eigne Erfahrung ‚ oder Belehrung der
Erfahrneren fie uns kenntlich macht.
G 84
Critik Der praftifchen Vernunft. 11
8. 84.
Folgerungen.
Nach dieſem Syſtem iſt
1) But zwar nicht alles dasienige, was uns iedes⸗
imahl unmittelbar am höchften vergnuͤgt, was unſre
gegenwärtige Neigung am volfommenften befriedigt;
aber Doch‘ dasienige, was, alles wohl überdacht,
dem handelnden Weſen die größte Summe, ven
höchften Grad und die längfte Dauer angenehmer
natuͤrlicher Folgen für dieſes Erdenleben gewaͤhrt
oder verheißt.
2) Dieſes Gute iſt eben um dieſer verhergefehenen
Zolgen willen Gut.
3) Tugend, herrichende Liebe zum Guten, iff —
herrfchende Liebe zum Vergnügen aller möglicher
Art, Menge und Dauer ; Nachdenfen über das
Derhältnig der Handlung zu feinem eignen Wohl;
genaue Dergleihung und Berechnung ihrer
Folgen; Fertigkeit, das Reſultat dieſer Berech—
nung eifrig und bedachtſam zu realiſiren, oder al
le feine Neigungen in der moͤglichſten Harmonie zu
befriedigen.
a Sittlidye Selbftzufriedenheit — iſt das Be
wußtſeyn, daß man den Zweck des größten Der
gnuͤgens fich vorgeſetzt, die Mittel dazu gefucht
und gebraucht, und feine Abfiche erreiche habe;
» Moralphiloſophie. 5 5) Der
32 Turitik Der praftifchen Vernunft.
5) Der ſutliche Werth der Tugend hänge von
dem Werthe ihrer Folgen ab; dieſem untergeord-
net, iſt iener weder fpecififch von ihm unterfchie-
den, noch auch größer als er. $
6) Ohne Bewußtſeyn der Beziehung, Die eine (ma⸗
teriel betrachtet) £ugendhafte Handlung auf ihre
nüglichen Folgen hat, fehle ihr das Weſen (die
Sorm) der Tugend; mit der Gtärfe dieſes Be⸗
wußtſeyns ſteigt ihr Werth.
$. 85:
Weitere Folgerungen,
7 Tugend hat feinen inheren , eigenthuͤmlichen
Werth; das Sittliche iſt nur Gut in Bezug auf
das Phyſiſche.
8) Vernunft iſt der Sinnlichkeit untergeordnet, um
ihr die Mittel zu harmoniſcher ie; ihrer
Triebe zu zeigen.
9). Vernunft hat nur infofern einen Cäuffern) Werth,
als fie das finnliche Intereſſe beſorgt, und kann
in Abficht auf ihre Tauglichteit zu dieſem Zweck
mit den Inſtinkt in Vergleichung geſtellt werden.
10) Ein Wefensohne Sinnlichkeit, und Beduͤrfniß,
mie wir uns die Gottheit vorſtellen, iſt Feiner mo⸗
raliſchen Vollkommenheit faͤhig.
17) Der Zufall, ein Etwas, das’ gänzlich auſſer der
—— des Handelnden heat kann einer —* Tu⸗
* gend
*
Critik der praftifchen Vernunfe 83
gend ihren ganzen Werth rauben; ein Zufall kann
dem Unthätigen und Sorgloſen, Schlauheit und
Unverfchämtheit dem Boshaften eben das geben,
tvas der Tugend ihren Werth ertheift.
12) Was in iedem Falle die Pflicht erforsere, laͤßt
fich wegen der Menge, Entfernung und Ungewiß—
heit ver Folgen nicht ohne: weisläuftige Unterſu—
Hung, und niemahls zuverlafig ausmachen,
13) Die Verbindlichkeit zu einer Handlung hänge
nicht nur von der Einfiche des Handelnden, ſon⸗
dern auch davon ab, ob er dieß oder ieneg zu
einem glückjeligen Leben rechne und verlange, oder _
ob er darauf Verzicht thun wolle; iſt alſo weder
allgemein noch unbedingt nothwendig.
14) Sittlichkeit iſt mit Klugheit einerley — uͤber⸗
legtes Streben nach einer frohen Exiſtenz; man
müßte ‚denn Sittlichkeit in. der. Geſchicklichkeit
ſetzen, die innern Bedingungen und Mittel zur
Gluͤckſeligkeit herbeyzuſchaffen und zu gebrauchen ;
Alugbeic. hingegen die Geſchicklichkeit nennen,
die Auffern Mittel des Wohlſeyns Glůuͤcksgůter)
u erwerben und zu erhalten:
35) Die allgemeine Befolgung diefes angeblithen Sit⸗
tengeſetzes muͤßte eine allgemeine Disharmonie in
der moraliſchen Welt bewuͤrken, indem ſich iedes
Ich als Mittelpunkt und Zweck von allen, alles
N 52 andere
—⸗
54 Critik der praftifchen Bernunfts
andere aber bloß als Mittel für: fich felbft vorſtell⸗
te und fo behandelte”
$. 86.
Beurtheilung.
Der Beweis von der oberften Gefergebung des
Triebes nach Gluͤckſeligkeit fuͤhrt nur auf phyſiſche
Nothwendigkeit, auf ein Muͤſſen, nicht aber auf mo⸗
raliſche, ein Sollen. Soll alles ſittlich gut ſeyn, was
phyſiſch geſchieht und alſo geſchehen muß, ſo iſt alles
Gut, und zwar gleich gut, mithin indifferent. Der
Beweis widerſpricht alſo in feiner Folgerung demieni—
gen, was er beweiſen ſoll.
Ein ſo unbeſtimmter Begriff, wie der Begriff von
menſchlicher Glückſeligkeit in conkreto (S$. 80.)
iſt, kann durch Zergliederung feine fo beſtimmten prak⸗
tiſchen Folgerungen geben, als moraliſche Geſetze ſeyn
muͤßten.
Folgerungen, die aus der Natur eines empiriſchen
Begriffes von der Selbſtliebe fließen, ſind eben deshalb
materiale, empiriſche und weder ſo ſtreng allgemeine,
noch durchaus und unbedingt nothwendige Regeln, als
moraliſche Geſetze ſeyn muͤſſen.
Es findet ſich in der gemeinen Menſchenvernunft ei⸗
ne Idee von vollkommner Denfungs- und Handlungswei⸗
fe, die an fich felbft einen innern Werth Ceine Würde) hat,
der den Werrh alles deſſen übertrift, was auffer ihr durch
fie bewuͤrkt werden kann; die über Geichieflichfeie und
Klug-
Critik der prafäfchen Vernunft. 85
Klugheit unendlich erhaben ift, auch dem unendlichen
Dleigungs- und Bedürfniglofen Wefen, ver Gottheit,
als ihr erhabenftes Pradifar zufommt, uneigennüsig im
eigentlichften Sinne, und die Bedingung einer allgemeie
nen und norhwendigen Harmonie aller Handlungen in
der vernünftigen Geiftermele iſt eine dee, Der Das
ſelbſtſuͤchtige Streben des verfeinertffen Eigennutzes auf
' Feine Weife entfpricht; wodurch Handlungen und Ger
finnungen gebilligt werden, die dem höchften Grundfag
ber eignen Gluͤckſeligkeit zumiderlaufen, andere gemiss
billige und verdammt werden, die der Gelbjtliebe voll
kommen gemäß erfcheinen,
87.
Reſultat.
Der praktiſche Grundſatz der Gluͤckſeligkeit ($. 80.)
iſt zwar ein vernuͤnftiger aber nicht der oberſte Grund⸗
ſatz, ſondern empiriſch und fein Geſetz für alle vernuͤnf⸗
tige Weſen; wird er als hoͤchſte Regel ohne Einſchraͤn—
kung befolgt, ſo iſt er demienigen ſogar zuwider, was
wir in confreto als recht- und pflichtmaͤßig erkennen.
Dergl. & 64.
§. 88.
Künftlihe Nachhuͤlfe. z
Um diefes Princip mit den confreten Ausfprüchen
der praftifhen Menfchenvernunft zu vereinigen, haben
die fcharffinnigeren DVertheidiger deſſelben verſchiedene
Fünftliche Verbindungsmittel erfunden.
53 Einige
86 Critik Der praktiſchen Vernunft.
Einige find dieſelben, die oben (& 66.) von den
Mertheidigern des Grundfages der Bollfommenheit an-
geführt und daſelbſt beurtheilt worden, Mehrentheils
erbauen die Vertheidiger des Vollkommenheitsprincips
ihr Syſtem auf dem Grundbegriffe der Glücjeligfeit und
dem Grundtriebe der Selbſtliebe — eine einfeitige, ins
eonfequenfe, und dabey in den fernern Folgen nicht
minder fittenfchädliche Anwendung deſſelbenn.
ar ya A|
J — ins 68
Andere berufen. ſich auf den moralifchen Theil deg
Wohlſeyns, auf das rein moraliſche Gefühl, ‚Die
jes iſt aber nur Folge von uneigennügiger Tugend, und
von dem Urtheile, das wir nach dieſem Begriffe über
die Handlung fällen „» nicht Folge der Handlung an ſich
ſelbſt (materiäliter betrachtet); ſetzt alſo moraliſche
Kenntniſſe voraus. Merklich und fühlbar iſt es une
für den Rechtſchafſenen, dem Rechthandlen zum: Beduͤrf⸗
niß geworden iſt, es ſetzt alſo ſittliche Bildung voraus,
die erſt vermittelſt des Grundſatzes bewuͤrkt werden ſoll.
Es macht auch weder die ganze Gluͤckſeligkeit aus, noch
bey allen Menſchen den wichtigſten Theil derfelben,
Wergl. 6. 68. ff.) Man koͤnnte weder allgemein gebie—
ten, es iedem andern Vergnuͤgen immer vorzuziehen,
noch allgemeinguͤltig beſtimmen, wie viel ich für” ſittli—
che Zufriedenheit, und wie viel ich dagegen fuͤr andere
Gefühle, als Beſtandtheile meiner Wohlfahrt thun, wel⸗
ches von beyden ich in Colliſionsfaͤllen vernachlaͤßigen,
welche Vermittelung und Vertrag ich zwiſchen beyden
Ga Forde-
Eritik der praktiſchen Vernunft, 87
Forderungen der ſittlichen und unſi ttlichen Sinnlichkeit
ſchließen ſolle. Einen Vertrag zu. treffen, wäre, conſe⸗
quent, wenn nur nicht ieder Mittelweg zwiſchen Recht⸗
ſchaffenheit und ihrem Eutgegengeſetzten , mir meine
Wohlfahrt zum Theil und meine hreliche ——— den⸗
je sanlich e
680.
Andre führen die natürliche (ympatbetifhe Aen
gung zum Beweis an, Daß mwenigfiens dag gefellichaftz
liche Wohl auch bey uneingefhränfter Befolgung des
Zriebes ver Selbftliebe befiehen koͤnne. Allein wenn auch
dieſe Neigung von Natur allgemein und ſtark genug waͤ⸗
re, und nicht erfi im den meiften Zällen durch freye
Unterffügung der Vernunft, die fie billigt, hinlaͤngliche
Kraft erhiefte, wenn fie auch felbft Feiner Höheren Be—
Tehrung und Zurechfweifung bedärfte, um das Materielz
le in ven Tugenden der Gerechtigkeit und der Güte be=
ſtimmt hervorzubringen: fo würden doch diefe Tugenden
den innern, nothwendigen und unbedingten Werth niche
haben fönnen, wenn fie lediglich" aus Diefer Quelle ge⸗
floſſen waͤren. Gelten erhebt fih das ſympathetiſche
Gefühl, ohne Beſtimmung durch ein höheres Vernunft
gebot, zum wärffamen Jutereſſe für dag Gemeinbeſte;
und doch giebe auch ſelbſt diefe Idee feine beftimmten,
ficheren Vorſchriften, sumahl für den eingefchränften
Blick des Menfchen; ihre uneingefchränkte Befolgung
aus Neigung ‚verfchaft Feine innere Würde, und öfters
muß die vernünftige berechnende Selbſtliebe die (nach
54 gemei⸗
38 Critik der praftifchen Vernunft,
gemeiner Beurtheilung) pflichtmäßigfte Aufopferung für
daſſelbe — Ihorheit nennen, wenn es zulege doch nur um
Folgen für mein geniegendes Ich zu thun feyn foll.
$. 91.
Wenn alle Möglichkeit verfhwand, Handlungen, des
ren Pflichtmäßigfeie man anerkannte, aug diefem Prins -
cip natürlich herzuleiten : fo verwies man auf die Bott;
beit, die durch andere (natürliche oder übernatürliche)
Deranftaltungen in diefer oder Doch in einer Fünftigen
Melt, der Qugend ihren angemeffenen Erfolg geben
ſollte. Diefe Ausfluche ift aber
1) ein Bekenntniß, daß die natürlichen Folgen einer
Handlung für das Wohl deffen, der fie unternimmt,
es nicht allein find, weswegen wir fie gut nennen;
fonft würde fie feiner Belohnung fähig, feiner Ente
ſchaͤdigung bedürftig erfannt werden.
2) Sie macht einen Zirfel; indem fie Handlungen
als belohnenswürdig (und ihr Gegentheil als un>
‚würdig der Belohnung, oder gar als ſtrafwuͤrdig)
vorſtellt, weil fie gut find, und wiederum für guet.
erflärt, weil fie gute Folgen nach) fich ziehen , d. 5.
belohnt werden. |
3) Da wir gar feine natürliche noch auch übernatür-
liche Erfenntniß von der Gottheit, von Ihren mo»
ralifchen Eigenfchaften und Verhältniffen zu ung,
von dem Fünftigen Leben und von den Zufammen-
hange unfrer iegigen Handlungen mit dem Fünftis
| gen
Critik der praftifhen Vernunft. 86
gen Zuftande ohne möralifche Vorausſetzungen
haben, eine Tugend aber, die fich felbft belohnt, die
Realität iener blos denkbaren Dinge anzunehmen,
ganz und gar nicht erfordert: ſo liegt in der ‘Bes
rufung auf ein. intelligibfes Princip und auf eine
inteligible Art der Belohnung ein Widerſpruch
mit dem Moralffteme der Seldftliebe.
Hiermit fällt auch zugleich der teleologiſche Grund weg,
den Schloffer (Leber Shaftsbury von der Tugend.
Baſel. 1785.) für das Princip der Selbſtliebe anführr.
„Daher fchließen wir alfo (ſagt er ©, 61.) daß entives
„der der Plan des Ganzen in Anfehung unfrer fehlers
„haft feyn müffe, over dag die Empfindungen, die ung
zu gewiffen Handlungen unfrer Natur nach beftimmen,
„dem Ganzen harmoniſch ſeyn muͤſſen; daß fie alfo, fo
„wie fie eben Deswegen für ung gut find, weil wir blog
„Durch das beftimme werden, was uns gut iſt, auch
gut für das Univerfum feyn muͤſſen.“ Gchloffer fest
dabei den Deismus voraus , und mußte eigentlich diefe
Uebereinffimmung der Würfungen von der Gelbftliehe
mit dem Zwecke des Ganzen unabhangig von dem Deig-
‚mus für fich felbft beweifen. Die Unmöglichkeit, dag
Ganze zu überfchauen, die dem Chaftsbury’fhen Sy⸗
fiem im Wege fteht, war ihm leicht darzuthun; Dadurch
wäre nun das Princip der Gelbftliebe freylich erwieſen,
wenn man nur zwiſchen dieſen beyden Moralſyſtemen
Eines nothwendig zu waͤhlen haͤtte.
85 $. 92.
90 Kritik. der praftifchen Bernunft
roh * . 92.
7 Heßnliche ahı ee
Der Entftehung und Fortvauer des Irrthums, wel—⸗
eher die Gluͤckſeligkeit des Handelnden zum hoͤchſten Iwe-
ee, und Gelbflliebe zum oberſten Befiimmungsgrund
aller Moralicät annahm, war wohl unftreitig feine Vers
woandtſchaft mir folgenden Wahrheiten günftigr
2) Jedes endliche lebendige Weſch ſtrebt nach Vers -
gnügen, und fofern es vernünftig ff, nach, dem
vollendeten Maaße deffelben, der Gluͤckſeligteit.
Es iſt alſo allgemeines Geſetz —
Naͤturgeſetz, nicht Sittengeſetz; ſonſt muͤßte es nicht
nur ein allgemeines, ſondern auch das höchſte Beſtre—
ben feyn; alles was ihm gemäß ei müßte fittlich
gut feyn.
2).Auch in moraliſch gebildeten Weſen iſt dieſer
Wunſch vorhanden, und zwar um ſo mehr, ie
mehr ihre Vernunft zur Erkenntniß der Beduͤrfniſ⸗
ſe cultivirt iſt.
Aber es iſt deshalb nicht der hoͤchſte Wunſch, nicht der
einzige. Die fortſchreitende Cultur der Vernunft zeigt
zwar mehrere Beduͤrfniſſe, ſchwächt aber auch die
dringende Gewalt iedes einzelnen, und erregt das Be—
wußtſeyn von dem Vermoͤgen, ſich uͤber ſie alle hinweg⸗
zuſetzen. x
3) Kein — fan diefen Wunſch und dieg
Beſtre⸗
—
Critik der praftifchen Vernunft, 91
Beftreben aufheben; das Beduͤrfniß iſt in der Ne
tur gegränder und bleibe.
Aufheben fol eg den Wunfch fo wenig, als es das Be-
dürfnig vernichten kann; aber einfchränfen, höhern Vers
langen unterordnen , ihm die Gegenflände feiner Befries
digung ſelbſt beftimmen d. h. machen, daß dasienige,
wornac die Pflicht zu fEreben und was fie zu thun gebies
tet, Quelle des Bergmügens und Beflandtheil der Gluͤck—
feligfeit werde. Und dieß Fann ein Wefen, das nie
ganz Sinnlichfeit ift, allerdings.
4) Aber das Streben nach Gluͤckſeligkeit iſt doch eine
Folge der Vernunft, weil fie das Ideal davon ges
bildet hat, alſo vernünftig — aber deshalb nicht rein
"und ganz vernänftig, fondern aus ſiunlichem Stof⸗
fe gebildet, durch Vernunft, über nicht in ihrem
höchften und reinften Gebrauche,
5) Sittlichteit iſt ſubiektiv bey einem endli-
chen und finnlichen Wefen unmöglich, wenn keine
angenehme Empfindung, Fein Beſtandtheil der Gluͤck⸗
feligfeit mic ihr und Feine widrige Empfindung mie
ihrem Gegentheil verbunden iſt. Diefe Verbin
dung,‘ wird Durch Das moraliſche Gefühl bes
ſtimmt.
Was aber bey einem endlichen und ſinnlichen Weſen um
feiner Eingeſchränktheit willen nothwendig if, ges
hört nicht zu dem Wefen der Moralitat; was mic ihr
gerbunden iſt, iſt deshalb nicht fie ſelbſt. Ueberdieß iſt
dag
92 Critik der prafeifchen Vernunft,
das Bewußtſeyn der Tugend auch nicht ibentifch mit
der ganzen Glückfeligfeit.
6) Ein vernünftiges Wefen hält, auch ohnedurch eig⸗
nes ntereffe beſtimmt zu werden, denienigen, Der der
Gluͤckſeligkeit fähig und bevürftig iſt, fuͤr wür⸗
dig, ſie zu erlangen d. h. es erkennt es fuͤr eine
zweckmaͤßige Einrichtung, daß Gluͤckſeligkeit nach
ſittlichen Gruͤnden vertheilt werde.
Aber es erkennt nicht die. wuͤrkliche Exiſtenz dieſer fitt-
lichen Oekonomie in der Welt zugleich mit ihrer Zweck⸗
maͤſſigkeit; es gedenkt ſich Glückfeligfeit als (teleologiſch)
gehörig zur Tugend, aber nicht als phyſiſche Folge, ges
ſchweige denn als den Grund, warum fie Tugend wäre.
7) Ein anhaltendes fugendhaftes Bemühen muß durch
die Hoffnung unterffügt werden, daß die Glück
feligfeit der fittlichen Wuͤrdigkeit gemäß wuͤrklich
vertheilt fey oder werde.
Allein Hoffnung fege eben Mangel der wärflichen Kennt⸗
niß voraus; fie gründet ſich auf vorgeftellte Zweckmaͤſſig⸗
feit und zum Theil eben Darauf, daß die Tugend felbft
von Eigennug unabhängig iſt. Tugend, lediglidy auf
dieſe Hoffnung gegründet, hat in unfern Augen feinen
innern Werth, ihr Gegenftand mag auf Erden oder
im Himmel erwartet werden, |
8) Es iſt widerſinnig, das natürliche Verlangen nach
Gluͤckſeligkeit verwerfen zu wollen.
Eine mpftifche Mönchsmoral that eg vielleicht ; nicht eine
Sittenlehre, die dieß Verlangen, nur nicht als oberfies Ge⸗
ſetz
Critik der praftifhen Vernunft. 93
ſetz anerkennt; die es fuͤr erlanbt, ia fuͤr Pflicht, nur
nicht für hoͤchſte einzige Pflicht erklaͤrt, nach Annehm⸗
lichkeit des Lebens zu trachten.
9) Die Erfahrung lehrt uns ia ſelbſt, wie die Tu—
gend zu allen Theilen der Glückfeligfeit fo beförder>
lich jey:
Sie iſt es, zumahl mit Klugheit verbunden; toozu Die
Zugend felbft uns verbinder. Was aber natürliche Folge
der Tugend zumeilen, oder auch öfters iſt, das iſt es nicht
immer ; es kann Aufopferungen geben, ohne ſichtbaren
Erfag. Die natürliche Folge iff nicht immer ver
- Grund, warum das Gut heißt, was diefe Folgen hat,
wiewohl fie auch zumeilen der nächfte (materielle) Grund
Der ſittlichen Entfchließung feyn kann
10) Tugend fol doch wohl den Menfchen nicht un⸗
gluͤcklich machen ? —
Sie wird es nicht; dieß lehrt Feine Erfahrung, weil
fie uns nur iedesmahl von einzelnen Iheilen unfrer
Eriftenz belehren fann, und die Vernunft laßt es nicht
befürchten. Aber deswegen iſt fie nicht Tugend. Tu⸗
gend wuͤrde ſie ſeyn, wenn auch dieſe Hofnung nicht
vorhanden waͤre.
11) Die natürlichen Neigungen geben doch Anlaß
zum Handeln, bieten Obiefte dar, beſtimmen uns
fern Würfungsfreis; ohne fie wäre unter Mens
fchen Feine Thaͤtigkeit.
Antag
94 Critik der praktiſchen Vernunfe
Anlaß iſt nicht Zwang; Obiekte koͤnnen Stoff zum
Handlen geben, ohne daß ſie gaͤnzlich beſtimmen; der
Wuͤrkungskreis beſtimmt nicht) die Wuͤrkungsweiſe;
Reiz zur Thaͤtigkeit iſt nicht nothwendig Beſtimmungs⸗
grund der Art, wie wir thaͤtig ſeyn koͤnnen und ſollen.
12) Die Neigungen find doch fo zweckmäßig dinge
richtet, daß fie uns zu unfrer Beſtimmung fuͤhren,
und auf Die rechten Obiekte der, Thaͤtigkeit ‚leiten,
Ihre meife Naturverbindung bringt ein zweckmaͤſ⸗
figes Gleichgewicht hervor, und verhuͤtet große
Unordnung, z. B. feldftifhe und ſympathetiſche
Neigungen. SSR
Allein
a) diefe Zweckmaͤßigkeit arten wir erſt Did
Dernunft, und zwar vollſtaͤndig erft durch more»
liſche Vernunft.
5) fie erſtreckt fich nur aufs Ganze, nicht wie der,
gänzlich thieriſche Inſtinkt aufs Einzelne. Sonſt
wäre alles, was aus Neigung gefchicht, gut,
und alles gleich gut.
9) Es würde folgen, daß wir uns gäinglich dent
Inftinfe Preiß geben," und nicht einmahl zur
Klugheit die Vernunft cultiviren duͤrften.
d) Vernunft und ihre moralifche Wuͤrkſamkeit iſt
doch auch zweckmaͤßig, und darf als Prineip als
lee Zweckmaͤßigkeit nicht um anderer zweckmãßi⸗
gen Anlagen willen vernachlaͤiget werden.
e) Uebris
/
Ceitik der praktiſchen Vernunft. 95
e) Uebrigens iſt dieſe Einrichtung des Neigungs⸗
ſyſtems fuͤr Moralitaͤt ſehr erleichternd, und ver⸗
dient dankbar anerkannt und cultivirt zu werden.
t
Es wird alfo durch Verwerfung des Princips weder dem
unfchuldigen Verlangen der Menfihlichkeit nach ‚einem
glückjeligen Leben, noch der weiſen Oekonomie der Nas
tur zu nahe getreten.
$% 93e nice |
Ueberſicht der Syſteme. e
Alle Moralſyſteme, die ſich auf die bisher unter—
fuchten Prineipien flügen, treffen in ver gemeinfchaffs
lichen Eigenfchaft zuſammen, daß fie die freyen Handluns
gen andern. erſten Geſetzen, als denen der Vernunft
unterwerfen. Mau nennt dies Arteronomie, fremde Ge⸗
ſetzgebung, Beſtimmung von auffen in Bezug auf die Ver⸗
nunft, die daB eigentliche Perſoͤnliche das Seyn im Gegen⸗
ſatz des Haben) ausmacht; nicht in Bezug auf den gan⸗
zen Menſchen, der allerdings, im allen feinen Bes
fimmungen als perfönlich- betrachtet ‚ immer feine eignen
Geſetze befolgt, die doch aber nicht fein wrfprüngliches
und weſentliches Eigenthum find, ſondern ſich von fei-
ner Perfönlichkeit in dem Bewußtſeyn trenuen laſſen.
$: 94
Sie unterfcheiden ſich gleichwohl durch die Wer;
ſchiedenheit des Verhaͤltniſſes, worinne Sinnlichkeit zur
Vernunft, und einzelne Theile der Sinnlichkeit zu eins
A ‚ander,
96 Tritik der praftifchen Bernunfts
ander, in Abfiche auf Oberherrſchaft des Willens vorge⸗
ſtellt werden:
3) Sinnlichkeit herrſcht nur in ung durch gewiſſe zu⸗
faͤllige Modificationen, die ſie bekommen hat.
a) durch willkuͤhrliche Anſtalten der Erziehung ($.
44.45.) Sittliche Anarchie.
b) der Societät ($: 46. 47.). Zufällige äuſſe⸗
re Regierung der Sitten.
3) Sinnlichkeit herrſcht fuͤr ſich ſelbſt, und die Ver⸗
nunft iſt dem ſinnlichen Begehrungsvermoͤgen un⸗
tergeordnet. Sinnliche Souverainität.
a) allen Neigungen überhaupt und unmittelbar.
($. 76. bis 92). Sinnliche Demokratie.
b) einigen Hauptneigungen unmittelbar, und den
übrigen nur mittelbar. Ariftofratie der
Sinnlichkeit:
ee) der Neigung zur perfönlichen Vollkommen⸗
heit, oder fih zu Befriedigung der übrigens
Neigungen gefchift zu machen. ($. 56-67.)
£) den feinern Neigungen ($. 70. ff.)
ey) der Neigung fich Das mächtigfte Wefen geneigt:
zu machen ($. 48-55.) Gittlihe Theos
kratie.
3) Sinnlichkeit wird der Vernunft beygeordnet, und
theilt ſich mis ihr in Die Oberherrſchaft. Dieß ges
ſchieht,
‘
Eritif der praftifhen Vernunft, 97
ſchieht, wenn man einige Neigungen «von der
Vernunft ableitet, und fie mit den finnlichen
Trieben harmoniſch befriedigen will; von mehrern
j Vertheidigern des ſittlichen Gefuͤhles, die es
als Gefuͤhl und Neigung befolgt wiſſen wollen,
und desiyegen den übrigen Neigungen die Mits
herrſchaft nicht wohl abftreiten dürfen. .
Sinnlich vernünftige Mitregentſchaft.
nn keinem diefer Syſteme wird die Sinnlichkeit der
Vernunft gaͤnzlich untergeordnet, welches Autonomie
der Vernunfe, oder vernünftige Monarchie heißen
und ſeyn wuͤrde.
$. 98.
Was nicht lediglich auf Vernuuftgruͤnden, fondern
zugleich oder allein auf andern Beſtimmungen der nienfch-
lichen Natur beruht, fie mögen zufaͤllig oder weſentlich,
durch Vernunft modificirt oder nicht, und das erfire
mehr oder weniger ſeyn, mie alle bisher unterfuchte
Moralprineipien, das kann
2) nicht das Merkmahl abjoluter Allgemeinheit und
Nothwendigkeit für alle vernünftige Weſen über-
haupt haben: Daher kann auch
2) der gemeine, unverdorbene Menfchenverffand
nicht alle Handlungen billigen, die diefen Grund-
fäßen gemaͤß geſchehen, noch den Grad ſeiner Billi⸗
gung nach dem Grade der Harmonie mit dieſen
Regeln abmeſſen.
Moralphiloſophie. 3) Sein
98 Critik der praktiſchen Vernimſt
3) Eein Urtheil muß manches davon fogar misbil⸗
— ligen, und dem Uebrie gen ka ann er wenigſtens den
hoͤchſten unbedingten Werth nicht zugeſtehen ‚die
er dein Moralifchen in der Idee beylegt.
4) Die Moraliſten werden zu Cirkelgaͤngen, Sin
conſequenzen und. widerfprechenden Ausflüchten
verleitet, indem fie dieſe Flaren aber undentlichen
Ausfprüche des gemelnen praftifchen Menfchenfinnes
mit ihren angenommenen Principien vereinigen
wollen. So muß der DVercheidiger des Princips
vom fittlichen Gefühle, von der Vollk ommenheit,
vom goͤttlichen Willen anderweitige ſittliche Grund—
fie vorausſetzen; andere muͤſſen beſondere Eins
richtungen und Verhaͤltniſſe der Neigungen, als
allgemein vorausfegen 5 kuͤnſtliche Bildungen und
Richtungen derſelben fuͤr natuͤrlich aurgeben urd gl,
5) Es fehle diefen Grundſaͤtzen an der Zauglichfeit;
beſtimmte Anwendungen auf einzelne moraliſche
Faͤlle davon zu machen. Sie gehen über den moͤg⸗
lichen Geſichtskreiß eines Menſchen, ja uͤher⸗
haupt eines endlichen“ Weſens hinaus.
8. 96 dee
Formale Grundſaͤtze .
Die entgegengeſetzten Eigenſchaften muͤſſen ſich an
den formalen praktiſchen Grundſaͤtzen ($. 37.). ans
treffen laſſen, deren obieftive Norhwendigkeit und Allge⸗
megpeit d. i. Deren gran zu in Gefegen
(39.
x -
Critik der praftifchen Dernunft, 99
-(& 39. 40.) überhaupt aus ihrem Begriffe erwieſen,
und deren einzig m oͤgliche Quelle in der veinen praktiſchen
Vernunft ($. 43.) entdekt worden if Ihre Ueberein⸗
ſtimmung aber mit den Ausſpruͤchen der gemeinen prak—⸗
tiſchen Menſchenvernunft; ihre Zul anglichfeit ‚ um Dies
fe letztern volftandig Daraus abzufeiten, und die Brauch⸗
barkeit verfelben in der Anwendung ‚ für alle Faͤlle des
gemeinen. Lebens durchaus beftimmfe Vorfchriffen dass
aus zu ertheilen ($. 95.), laͤßt ſich erji nach Der genauen -
Entwickelung ihres Inhaltes beurtheilen
$. 97.
Deine Vernunftgeſetze.
Nach Wegraͤumung aller materialen und empirtfchen
Kegeln aug dem Gebiete der Gitteulehre, bleiben nur reis
ne, Vernunftgeſetze übrig, bey deren Beftimmung por
allen dem, was der Vernunft zur praftifchen Erkennt—
niß durch die finnlichen- Neigungen und Gegenftände
gegeben wird, gänzlich abftrahier, und nur der Begriff
‚ einer praktiſchen Vernunft überhaupt und. für. fich
ſelbſt, abgeſondert von allen zufaͤlligen Modifikationen,
zum Grunde gelegt und in feine. Beſtandtheile aufge:
loͤßt werden muß. i
: $. 98
Unbeſtimmte Sormel,
Die allgemeinfte und unbeſt immteſte Formel des fr tt⸗
lichen Verhaltens iſt:
Handle vernünftig d. i. leite deine Handlungen ſo⸗
wohl ihrem Inhalte, als dem Beweggrunde nach), von
G2,;.‘ Grund-
100 Critik der praktiſchen Bernunft,
Grundfägen- der Vernunft ab; laß fie durch Der:
nunftgeſetze beftinimen. Was ver Vernunft zuwie—
der, oder was auch nur nicht durch fie beſtimmt
iſt, da es doch ihrer Beſtimmung fähig war, iſt in fo-
fern Sitelih: Böfe: Der Grad des wirklichen
Vernunftgebrauchs im Verhältnig zu der Möglichs
keit deffelben beſtimmt den Grad der Mora⸗
lität:
$
Bernünftig handeln.
Die Vernunft hat ihre eigne Art, wie fie Vorftel-
lungen von Gegenftänden (Erfenntniße) hervorbringf.
Dernlinftig handeln heißt Gegenſtaͤnde dieſer Erkennt—
niß twürflich machen Crealifiren), oder doch fich dazu mög-
Tichft beftreben. Das Vermögen darzu iſt praktiſche
Dernunfe:
& 1oo:
Empirifch vernünftig.
Einige Vorftellungen von Gegenfländen, die ſich die
Vernunft bildet, find nur zum Theil ihr eignes Wert,
zum Theil aber auch von andern Derinögen des
Gemüths in der Vorfellung beſtimmt. Gie hat au
Diefen Vorftellungen nur einen unvollfommenen Antheil,
weil die Anwendung ihres Vermögens auf diefelbe eins
geſchraͤnkt war, durch die Gefege des finnlichen Vors
fiellungsvermögens. Diefe Vorftellungen find empirifch,
ſinnlich⸗ vernünftig, nur zum Theil vernunftmäſſig.
$. 101.
Eritif der praftifchen Vernunft. ror
6. 101.
Hein vernünftig. .
Wenn eine Vorſtellung durch nichts auſſer der Ver⸗
nunft Befindliches ihrer weſentlichen Beſchaffenheit (nicht
ihrem Daſeyn) nach beſtimmt worden, ſondern ganze
lich das Wert ihrer eignen uneingefchränften Wirffamfeit
iſt, fo ift fie ganz vernunftmäßig, oder rein vers
nünftig. |
$. 102.
Die Bedeutung der Regel „handle vernünftig, iſt
‘ 2) eingefchränft :„ realifire Borftellungen, woran dei⸗
ne Bernunft einigen Antheil har. $. 100.
2) voll: realifire Vorftellungen, welche ganz das
Werk deiner Vernunft ſind. $. 101. Nur durch,
die legte Formel wird der Sinn ienes Gebotes
. ganz erſchoͤpft.
Handle rein vernünftig.
ag Bor
Reine praftifche Vernunft,
Das Vermögen, rein vernünftig zu handelt, d. h.
Vorſtellungen der reinen Vernunft durch fie felbft zu rea⸗
liſiren, oder es doch ernftlich zumollen, iſt reine prak⸗
tiſche Vernunft. Reine Vernunft ift praktiſch, ſo—
fern in dem Willen (der Cauſſalitaͤt nach Vorſtellun—
gen) * Beſtimmung vorkommt, die von Etwas auſſer⸗
63 halb
*
*
102 Critik Der praktiſchen Vernunft.
halb der Vernunft Befindlichen abhaͤngt. Man kann
dieſe Eigenſchaft entweder dem Willen als DVermö-
gens überhaupt, oder einem einzelnen Afte deffelben bey»
legen.
* §. 104,
J———— Handlungsweife der Vernunft.
> Die eigentliche und reine Vorſtellungsart der Der»
nunft, theoretifch betrachtet, ift die Grundlage ihrer eiges
nen Handlungsweife, als praftifches Wermögen ; die
letztere ift Daher ihrer Befchaffenheit Cobgleich nicht ih⸗
rem Dafenn) nach aus iener begreiflich, und ſoll ietzt dar»
aus entwickelt werden,
' 6. 105,
Vorſtellungsart. |
Die reine Vorſtellungsart der Vernunft hat folgen⸗
de Merkmahle:
1) Sie iſt eine Vorſtellung a — unabhängig
von Erfahrung; {
2) eine Vorſtellung von und aus Principien 2. h.
höchſten Erfenntnißgründen; des Einzelnen und
Beſondern aus dem Allgemeinen ; daher
3) Selbfichätig im firengfien Sinne. OR
4) Enftemarifch im ſtrengſten Sinne.
5) Abſolut nothwendig und An, für alle vers
nuͤnftige Weſen.
* 6) Eine
Critik der praftifhen Vernunft, 103
6) Eine Vorſtellung der unbedingten oder abſoluten
Einheis Des unbedingten Mannigfaltigen
a) unbedingte (Einheit, Wielheit) Allheit, Totali-
taͤt in Ruůͤckſicht auf die Form der ſinnlichen
Anſchauung.
b) ’ ungedingte Realitaͤt; in of cht auf den —
der ſinnlichen Anſchauung, die Empfindung.
c) unbedingte Gemeinschaft, in Beziehung auf das
Derbundene und auf die Art der Verbindung.
d) Unbedingte Nothwendigkeit.
} ; ” ü
$. 106.
ee Mealirät: Derfefben,
Die reine Vorſtellungsart der Vernunft (ihre Ideen)
haben blos in fofern objektive Brauchbarkeit oder
Mi Reslirät,-als fie den moͤglichſten ſyſtematiſchen Zuſam⸗
menhang der Erfahrungserfenntniffe fordern und. eben
dadurch befoͤrdern; aufferdent kommt ihnen nur ſubjek⸗
tive Realität zu d. i. nothwendige Uebereinſtimmung
unter ſich ſelbſt und mit ihrer Quelle, der Vernunft.
gi
$. 107. i
Bernünftige Handlungsweife,
Die vernünftige Handlungsweife iſt alfo diejenige,
welche der Vorftellungsart der Vernunft entſpricht und
dieſelbe vealifirt oder zu realifiren, d. i. ein ihr ge-
u Obiekt würflich zu machen ſtrebt. Die Ver⸗
nit handelt alſo, wenn ſie praktiſch wird
Bun 3 1) nach
\
f
ı04 Tritik der prafrifchen Vernunft,
2) nach Principien d. h. nach höchft allgemeinen, all
umfaflenden Regeln (Gefezen), wornach und wos
durch fie alles einzelne und befondere-beftimmt.
*) Nach Vorſtellungen a priori d. h. nach Begriffen
von Gegenfländen, die fie nicht aus Erfahrung
kennt, nach Beſtimmungsgruͤnden und in Bezug
auf —* die ſie nicht von einem ſinnlichen Be—
gehrungsvermögen empfängt, fondern ſelbſt her⸗
vorbringt.
5) Alf felbfirhätig And frey im firengfien Sinne,
ungezwungen und ungebunden in Abfiche der Art,
tote fie Handelt, Durch irgend etwas auffer ihr.
4) Syft ematiſch d. h. mie ſich ſelbſt durchaus uͤberein⸗
ſtimmend, ſich ſelbſt gleich, conſequent (ſowohl pofiziw
als negativ).
5) Abſolut nothwendig d. b.,fo, daß fie nicht
anders handeln, daß ihre Handlungsweiſe ſich
nicht veraͤndern kann; abſolut allgemein, fuͤr
ſich ſelbſt, fuͤr jedes andere vernuͤnftige We—
ſen gültig, ſofern es vernuͤnftig iſt. Vernunft
als Vernunft betrachtet, iſt ſich ſelbſt gleich.
6) Sie handelt uneingeſchraͤnkt, frey von allen ein-
ſchraͤnfenden Bedingungen
a) der Form der finnlichen Anfchauung, des Raums
und der Zeit — allumfaſſend, allgemein zwei;
mäſſig,
Critik Der praftifchen Vernunft.
mäffig, zu den ausgebreiferften Zwecken , nach
der dee der abfoluten Allheit.
b) des Stoffs, oder der Empfindung — abfos
lut zweckmäſſig, zu den innerlich vollkommen—
fien Zwecken; nad) der Idee der innerlich unbes
fchranften Realität.
e) Der Verbindung des Stoffs unter 1 ſelbſt;
nehmlich
e) abſolut einfach und innerlich zuſammen⸗
ſtimmend, unveranderlic), nach der dee einer
abſoluten Subſtanz.
8) abſolut frey und felbffchätig, nach. der
dee der unbedingten Cauffalität.
9) abfolue harmoniſch oder zufanmenfim-
mend mit der Handlungsmweife aller " We—
fen. mit welchen fie gleichformig handlen kann,
d. i aller vernünftigen Weſen. Dies ge
ſchieht nad) der. Idee einer abfoluten Gemein
ſchaft. |
e) des Zuſammenhangs ihrer wuͤrklichen Hand⸗
lung mit ihrer Moͤglichkeit zu handlen uͤber⸗
haupt — abſolut nothwendig; nach der
Joe einer unbedingten Nothwendigkeit.
$. 108.
Innerer Zufammenhang diefer Merkmahle.
Alle diefe Merfmaple der Handlungsweiſe einer. rei-
ven Vernunft fiehen in einer fo unzertrennlichen Ber
65 bin⸗
206 Critik der peaftifchen Bernunfte
bindung mit einander , als fich nach. der. Einheit ihres
Gegenſtandes ea laͤßt. Sie laſſen ſich daher,
ein jedes aus jedem andern herleiten, und fuͤhren blos
denſelben Gegenſt and durch die verſchiednen Denkfor⸗
men des menfchlichen Ver daudes dur), um ihn von
ſeinen verſchiedenen Seiten darzuſtellen.
ae ARE og; |
Ein Verfahren nach Deincipien (F. 107 Num. i) kann
nur anf Grimden a priori (Rum. 2.) beruhen. Denn die
Erfahrung lehrt unmittelbar durch DieSinneswärfung nur
etwas Einzeines und giebt (auf das Begehrungsvermögen
bezogen) nur einzelne Antriebe; durch Verſtand bearbei-
ter, befondeve oder comparativ allgemeine. Negeln, die
ſelbſt wieder unter Principien ſtehen muͤſſen, welche le»
tern alſo nicht von Erfahrung abhängen fönnen.
Die Vernunftprincipien, als Beſtimmungsgruͤnde
des Willens betrachtet Die nicht durch Erfahrung, ſon—
gern a priori gegeben werden, entfpringen info fern
aus der Vernunft felbft, find wo felbfichätig und
frey (Rum. 3.) d. h. feine Wirkungen fremder von
der Vernunft verſchiedener uurſachen
Aus Principien, als hoͤchſt allgemeinen und ober-
fien Gründen entfpringen lauter Folgerungen, die durch
ein und eben daſſelbe Princip, unter fich felbft ſyſtematiſch
zuſammenhaͤngen; die Handlungsweiſe nach Principien
iſt alſo (Num. 4.) ſyſtematiſch.
—
|
/
was vernünftig iſt. Dieſer Zweck ſelbſt (innerlich be-
Critik der praktiſchen Vernunft. 107
Was einen einfachen Beſtimmungsgrund hat, ein
Princip, dag bleibe ſich in ſo fern durchaus gleich; was
frey iſt, kann nicht durch fremdartige Gruͤnde modificirt
werden, und iſt in ſo fern unveraͤnderlich; daher die
Nothwendigkeit (Num. 5.) der vernünftigen Hands
fungsweife.
Die abſolute Allgemeingültigkeit (Num. 5.) für.alle -
vernünftige Wefen fließt als norhwendige Folge aus der
Einheit vernünftiger Principien, die bey jeder Vers
nunft diefelben ſeyn müffen.
Was lediglich nach Principien beſtimmt wird, haͤngt
nur von dieſen und von nichts anderm ab; es wird
alſo in fofern durch nichts eingefchränft, Uneinge⸗
ſchränkt (Num. 6) find demnach die Hbjefte (werde)
der vernünftigen Handlungsmweife, in ‚aller Ruͤckſicht.
Die vier Hauptinomente des Denkens geben diefe meh—
teren Nügffichten an, Die Zwecke, die wir uns nad) ein» -
gefchränften Begriffen vorfezen , find eingefchranft auf
eine gewiſſe Zahl der Objekte, für die wir uns interefe
firen; man will etwas, das nur einen oder einige ein-
zelne intereſſirt. Principien beſtimmen allgemein, alſo fuͤr
alles, was ſich Zwecke vorſetzen kann, fuͤr jedes vernuͤnf⸗
tige Weſen, und für alle Faͤlle. Die Handlungsweiſe
der Vernunft ift zweckmäſig für alle Fälle, (Nun.
6. 4.) und für alle eines Zwecks faͤhige Weſen, -rich-
tet fich alfo nach allgemeinen Gefegen, und umfaßt alles,
trach⸗
108 Critik der praktiſchen Vernunft, |
trachfet), muß ‚der höchfte , oberſte ſeyn; nichts von
dem allen, was die dem Grade nach eingefchränfte finnliche
Empfindung darbietet, innerlich unumfchränft weck⸗
mäſſig (Num. 6. b.). Die Vernunft verbindet (Num.
6. c.) auf das vollkommenſte durch allgemeine und noth⸗
wendige Verbindungsgründe (Principien der Einheit)
uns zwar fowohl Objektiv als fubjeftiv. Objektiv,
wenn man auf den verbundenen Stoff fieht; theils in—
nerlich, durch abfolute Einheit und Gelbftftändigfeie
der Quelle ver Handlung, Vernunft (abfolute Einfachs
heit der Handlungsweife Num. 6. c. 4.); woraus abfos
lute Selbſtthätigkeit (Mum. 6. c. PR.) unmistelbar
fliege — weil jeder fremde Einfluß die Einheit der
Handlungsweife flören würde: theils äuſſerlich, das
durch, daß daſſelbe Prinzip mehrmahl gefegt, und durch
feine Einwürfung von auffenher unterbrochen, feine
ſich ſelbſt wiederfireitenden Wirfungen hervorbringen
kann — daher Die Harmonie (Num. 6.c. y.), Dieniche
zufällig und eingefchränft, fondern wefentlich und une
beſchraͤnkt ift. Die Sreyheit hebt alles, getheilte In—
tereffe auf, das lediglih aus der Abhängigfeit von
fremden Befiimmungsgründen (nicht vernünftigen Neis
gungen) entipringe, und vereinigt daflelde in Einem
gemeinfchaftlichen Zweck, der wegen der felbfirhäfigen
Beſtimmung vdeflelben Feiner Colliſion fähig if. Cine
freye
”) Ales diefes gilt, wie ſich von ſelbſt verſteht, nur im
fo fern, als die Vernunft als handelnd betrachtet wird,
Br in conereto,. wo noch anders Einfluͤſſe ſtatt
Inden.
Critik der praftifhen Vernunft, 109
frene Kandlungsmeife für fich felbft realifiren, und eben
dieſe Freyheit anderer ebenfalls vernünftiger Weſen ein-
ſchraͤnken wollen, kann nicht aus: Einer und derſelben
Vernunft fliegen; fie müßte fich alsdenn felbft wider:
fprechen. Die Selbftftändigfeit oder Uebereinftimmung
der Vernunft mit fich ſelbſt führe alfo auf äuflere Harz
monie.
Subjektiv iſt diefe Verbindung nothwendig, fo
mie ihr bemürfendes Princip norhmwendig if. Was
aus Principien gefchieht, wird nur durch fie Cdiefe Prin—
eipien) wuͤrklich, alfo durch die einzigen Gründe feiner
Möglichkeit, und meil fie es find, mithin iſt es ab;
folue (innerlich/ nothwendig — mürflich, weil es
moͤglich iſt. Denn nichts Fremdes darf hinzukommen,
Das feine Moͤglichkeit zur Wuͤrklichkeit beſtimmte. Num.6.d:
$. 110,
So und nicht anders handele die Vernunft, ihren
Mefen nach, wenn und fo fern fie prafeifch if. Die
Dernünftige Handlungs weiſe oder die Sittlichkeit (an
ſich betrachtet) iſt demnach
1) Subjektiv betrachtet, oder wenn man auf die
Erkenntnißquelle der Regeln ſieht — entſprungen
aus Principien a priori, unabhängig von allem
Einfluß der Gegenftände (Autonomie, nicht He—
.teronomie $. 94.), ſyſtematiſch, mit Bewuſtfeyn
apodiftifcher Nothwendigkeit und Allgemeinguͤltig⸗
Feit verbunden (F. 107: Num. 1. bis 5.).
2) &b:
110 Critik der praktiſchen Vernunft.
2) Eibjektiv. betrachtet d. h. wenn man auf den
Zweck (das Weſen) der Handlung ſieht: Cäufferlich)
allgemein zweckmaͤſſig; Cinnerlich) unumſchraͤnkt zweck⸗
maͤſſig; einfach zweckmaͤſſig; frey zweckmaͤſſig; "in
Gemeinſchaft zweckmaͤſſig; abſolut nothwendiger
weiſe zweckmaͤſſig.
9 IT.
Anders kann Die Vernunft, als Vernunft, nicht
handeln; was anders geſchieht, kann in ſo fern, als
es von dieſer vorgezeichneten Handlungsweiſe abweicht,
nicht vernuͤnftig, mithin auch nicht ſittlich genennt
werden. Fuͤr die Vernunft iſt dieſe Handlungsart
Naturgeſetz
$. 112;
Gebot,
Das moralifche Geſetz wird für uns erff dadurch
verfiändlich und auſchaulich, daß wir es als. Gebot
(Imperativ) fuͤr einen Willen aufſtellen, der zwar ver-
nuͤnftig ſeyn, d. h. durch Vernunftgruͤnde beſtimmt wer⸗
den kann, aber auch andrer Begehrungen fähig iſt.
Wir betrachten alſo die vernuͤnftige Handlungsweiſe, wie
ſie bey einem zu gleicher Zeit ſinnlich beſtimmbaren Be⸗
gehrungs vermoͤgen ſich aͤuſſern kann, und ſetzen ſie der
ſinnlichen oder blos verfiandigen Handlungsart entgegen.
PR $. 113, -
Sinnliche, thierifche Handlungsweiſe.
Ein lebendiges Weſen mit einem blos ſinnlichen
Begehrungsvermögen handele lediglich nach einzel⸗
nen,
Critik ver praktiſchen Vernunft. 111
nen oder aggregirten, d.h. regellos zuammengeſetzten
Vorſtellungen, nicht nach Regeln oder Maximen, die
es ſich ſelbſt vorſtellte, ſondern nach ſolchen die
ihm unbewußt die Natur durch die Einrichtung ſeiner
Triebe beſtimmt hat; durchaus empiriſch, vom aͤußern
Eindrucke abhangig, gezwungen, unzuſammenhaͤngend,
einzeln und nach ſeiner individuellen zufaͤlligen Empfiu⸗
dungsart; eingeſchraͤnkt auf ſich und zwar auf fein eins
zelnes eben gefühltes Beduͤrfniß, auf Die einzelne nur
ihm angenehme Empfindung , nach abmwechfelnden, ab»
gezwungenen und von aller Ruͤckſicht auf andere abge-
fonderten Antrieben, die durch die zufällige Lage gerade
er dieſe Art zur Wuͤrklichteit beſtimmt find:
So handelt das Thier; ſo “ der Menſch, ale
air —
*
§. 114.
WVerſtaͤndige Handlungsweiſe.
Wenn das hoͤhere Erkenntnißvermoͤgen uͤberhaupt,
als Verſtand in‘ engrer Bedeutung ($. 24.) das
Begehrungsvermögen und feine Aeuſſerungen modifieire :
ſo handelt ein lebendiges Weſen nach vorgeſtellten Re;
geln, de i. nach allgemeinen Vorſtellungen von der Ark
und Weiſe, feinen Zweck zu erreichen. - Dieſer Zweck
wird aber von der Sinnlichkeit und ihren Trieben her:
genommen, und. von dem Verſtande nur als Zweck, die
Handlung aber als Mittel gedacht, ihn zu erlangen.
Das Mannigfaltige, mas der Sinnlichkeit angenehm
Ei Se if,
112 Critik der praktiſchen Vernunft,
if, und die miannigfaltigen Handlungen; Die zu die—
fem Angenehmen verhelfen, werden, ienes als Zweck,
Diefes als Mittel, allgemein, d. als Einheit gedacht.
Subiektiv betrachter, entipringen dieſe Regeln, dem.
Stoffe nach, aus der Sinnlichkeit oder den Neigungen ;
der Form nach aus dem Verfiande, alfo a priori, der
ſich aber nur fo weit thärig erweißt, als ihn die finnlis
chen Eindrüde dazu noͤthigen, alfo nicht nach Princis
pien , fondern abhängig von der Erfahrung veffen, was
Angenehm iſt, und was zum Genuſſe deſſelben dient.
Dieſe Regeln ſind alſo abgezogen von Naturgeſetzen
unſrer Neigungen und ihrer Obiekte (heteronomiſch,
nicht autonomiſch) 5 fie hängen nicht ſyſtematiſch unter,
fih zuſammen, weil fie nicht aus Einem Princip ent
forungen find, und find ihrer Güftigfeie nach eben fo
zufälig, und nur partifulär oder gar individuell, als
fie es in ihrem Entſtehen find.
Gbiektiv betrachtet, find die Negeln des prakti⸗
ſchen Verſtandes
1) der Cuantität nach, nur beſondere Regeln
für einzelne verſtaͤndige Weſen oder gewiſſe Gat-
tungen derfelben, Die gerade dieſe beſtimmten Trie-
be und Neigungen zu ſolchen DObieften haben ;
2) der Qualität nach, eingeſchränkt gültig, nur
mit gewiſſen Einfchränfungen und a priori under
ſtimmbaren Ausnahmen zweckmäßig, nie abſolut
beiahend noch abſolut verneinend;
3) der
Critik der praktiſchen Vernunft. 113
3) der Relation nad;
a) zufällig zuſammengeſetzt, und nicht einfach, nicht
nothwendig mic fich felbft übereinftimmend;
b) von äuffern Beftimmungen abhängig und ab:
aͤnderlich, den phyſiſchen Einflüffen unterworfen ;
©) nicht nothwendigerweiſe harmonifch mit ven
Hegel andrer verftändiger Wefen, fondern col-
lidivend. Cungefellig ; grob eigennügig)
4) der Modalität nach, an fih zufällig, nur be:
Dingt nothwendig in Borausfegung gewiſſer pſycho—
logiſcher und phyfiſcher Einrichtungen, nicht durch
die Form, d. 1. durch die Moͤglichkeit wuͤrklich
Das Gute, auf deſſen Hervorbringung ſie abzielen,
iſt ein beſondres Gut für einzelne Weſen oder Gate
tungen (z. B. Menſchen); ein innerlich eingeſchränk⸗
tes Gut, weil es von eingefchränkten finnlichen Ver—
moͤgen abhaͤngt; ein blos relatives, als Accidenz zu
betrachtendes und mit den übrigen Guͤtern deſſelben Sub.
iekts nicht nothwendig vereinbares (nicht felbftfiändiges),
äufferes und nicht durch bloße Selbſtthaͤtigkeit zu be:
wuͤrkendes, ſondern von der Natur zu erwartendes, und
disharmoniſches, nicht nothwendig mit den Guͤtern
anderer vernünftigen Weſen zuſammen beſtehendes Bit.
g: 115;
Empiriſch vernuͤnftige Handlungsweife,
Wenn die Vernunft auf das Begehrungsvermoͤgen
eines lebendigen Weſens einen unvollkommenen, ſtinn⸗
mMoralphiloſophie. H lich
,14 Critik der. praftifchen Vernunft.
Tich befchränften Einfluß äußert, und zwar die Form
feiner praftifchen Begriffe und Regeln vernunftmäßig
beftimmt , fich aber dennoch an den von der Ginnlich-
Feit gegebenen Stoff gänzlich bindet : fo handelt ein fol-
ches Wefen nach Regeln, die Cobieftiv) nur verglei-
chungsweife allgemeiner, beſtimmter, einfacher, freyer
Coon neuen Erfahrungen unabhängiger), zufäligermeife
auch harmonifcher Ceigennügig gefelliger)-, und unter all⸗
gemeinen Bedingungen nothwendig find, als ein blog
verfiändiges Weſen. Denn ſie find (fubieftio) eben fo '
wohl, wie iene, ihrem Stoffe nac) Produfte der Sinn
lichkeit, nur comparatio a priori, zuletzt aber doch von
Erfahrung und ihren Obieften abhängig, zufällig, einge-
ſchraͤnkt gültig , und nur in einiger Annäherung zu der
ſyſtematiſchen Verbindung ; alfo noch immer heterono⸗—
mifch und nicht autonomiſch.
$. 116.
Kein vernünftige Handlungsweife eines
finnlichen Weſens.
Wie die reine Vernunft für fich felbft Cin abftrafto,
oder bey einem unendlichen Wefen) handle, iſt $. 107.
bis 111. erflärt worden. Um uns (ſinnlichen Weſen)
ihre Würfungsart in confreto vorffellbar und anfchaus
lic) zu machen, müffen wir ihre Verbindung mir einem
finnlichen Begehrungsvermögen erwägen und beffimmen,
wie fie diefen finnlichen VBerhältniffen gemäß und dennoch
als reine Vernunft, ihren eignen Naturgeſetzen getreu,
ſich
—
Critik der praktiſchen Vernunft. 115
ſich wuͤrkſam beweiſe. Auf dieſem Wege finden wir ei—
ne verſtaͤndliche Formel ſittlicher Gebore.
6, 117.
Die Materie zu einzelnen Begehrungen und Wil
lensaften muß einen endlichen vernünftigen Weſen finn-
lich gegeben werden, weil es in einer mefentlichen Ab»
hängigfeit von andern Dingen ſteht. Die Form aber
der Regeln oder der Maximen hänge nicht nur, mie
bey dem verftändigen Willen (F. 114.), von der eignen
Ihätigfeit, und wie bey dem empirisch vernünftigen,
von allgemeinen Regeln Ccomparativen Principien) ab,
fondern fie wird auch lediglih von der felbfithätigen
Kraft beſtimmt, ohne durch die Formen der finnlichen
Anfhauung oder der Empfindung eingefchränft zu wer—
den. Jede einzelne Marime wird alfo nad) den Chas _
rafteren eines praftifchen Vernunftgefeges geprüft, und >
ie nachdem fie Damit übereinffimme oder nicht überein-
fiimmt, angenommen und befolgt, oder verworfen,
| §. 118.
Sittlicher Imperativ; 'erfte Formel,
Vermittelſt dieſer Beziehung des reinen Vernunft—
willens auf ein ſinnlich verſtaͤndiges Begehrungsvermö-
gen wird folgender Imperativ (Gebor) der Sittlichkeit
hervorgebracht, der Die Anwendung der Dernunft-
geſetze auf eine eingefchränfte (finnlich vernünftige) Na>
tur vorfiellig macht:
22 Handle
116, Eritif der praktiſchen Vernunft,
Handle fo, daß du wollen Eönneft, deine
Maxime (die fubiekfeive Regel, die, deiner Hands
lung zum Grunde liegt) folle ein allgemeines
> 2 Befen ſowohl für dih, als für alle andre
vernünftige Weſen werden;
oder;
Handle nach folhen Marimen, die als Princip in
eine allgemeine Geſetzgebung paſſen; handle nach
derienigen Marime, durch die du zugleich wollen
koͤnneſt, daß fie ein allgemeines Gefes werde; hand⸗
fe nach derienigen Marime, die fich felbft zugfeich
zum allgemeinen Geſetz machen kann; richte Dich im
deinen Handlungen nach folchen Marimen , ‚Die,
wenn fie durch) deine Befolgung Naturgefege wür?
den, eine Nakureinrichtung hervorbrächten, die
mie fich felbft beſtehen fönnte, und von der du mit
Einffimmung deines Willens ein Iheil ſeyn koͤnn—
teſt AB » 7 J
$. 119.
Zweyte Hauptformel,
Die Allgemeinheit prafrifcher Regen, als Gefeke,
erfordert die vollfommenfte Einheit, alfo Subordination
und Goordination der Zwecke — abfolute, allgemeine
und nothwendige Zwerfmößigfeie der Negeln. Ein
freyeg,
*) Eauter gleichbedentende Formeln, deren eine immer
für den einen oder andern Leſer faßlicher ſeyn wird,
als die andere, und die sben um deswillen zuſammen
geſtellt worden find;
Critik der. praktiſchen Vernunft, 117
freyes , vernünftiges Wefen muß alle Handlungen, al-
le einzelne und relative Zwecke und die Mittel zu Errei-
hung derfelben beziehen auf einen nicht nur ‚allgemeinen
fondern auch abfoluten, lezten, ſelbſtſtaͤndigen Zweck.
Alles, was nun Zweck iſt, bezieht ſich zulest auf ein
Wefen, welches fich Zwecke vorſetzt, und auf Dieienige-
Kraft oder dasienige Vermögen, wodurch es fähig iſt,
ſich Zwecke vorzuſetzen.
Dieſes Weſen iſt ein vernünftiges Weſen; dieſes
Vermoͤgen iſt Vernunft.
Der letzte, abſolut allgemeine und nothwendige,
ſelbſtſtaͤndige Zweck iſt demnach Das vernünftige Weſen;
es iſt Selbſtzweck, Bedingung und Zweck der Zwecke.
Die abſolute Einheit aller einzelnen und beſondern
Zwecke eines Individuums iſt ſeine Perſonlichkeit,
“und die Bedingung derſelben, die Vernunft. Es muß
$ alſo alle feine zufälligen, perfönlichen Zwecke dem Narur-
zwecke feiner Perfon unterordnen, und dieſe nicht als
Mittel zu Erreichung der zufälligen Abfichten gebrau-
chen , fondern umgefehrt. | BR
Dieſe Perfönlichfeit, oder die WVorzüglichkeit der
vernünftigen (zweckbeſtimmenden, perfönlichen) Natur
vor allen andern zufaͤlligen Zwecken kommt jedem an—
dern vernünftigen Wefen zu. Sofern ich alfo irgend
ein Mefen als vernünftig betrachte, iſt es ebenfalls für
mich Selbſtzweck, den ich weder verlegen noch vernach⸗
"lie und als. blofes Mittel behandlen darf,
| 93 Se
118 Critik der praftifchen Vernunft,
So entwickelt fich Die zweyre Hauptformel der Sitt⸗
lichkeit:
Handle ſo, daß du die vernünftige Natur
(63. B. die Menſchheit) überhaupt, ſowohl in dei—
ner Perſon, als in der Perſon iedes andern, ie?
derzeit zugleicy als Zzweck, niemahls blos
als Mittel berrachteft,
oder:
Behandle Feine Perfon bios als Sache, fondern als
etwas, was von eben derfelben Handlung auch in
fich felbft den Zweck muß enthalten können ; was
eben dieſelbe Marine, wornach du handelft, im
Allgemeinen auch für fich zweckmaͤßig (feinem Zwe—
fe nicht hinderlich, fondern förderlich) finden kann,
und vernünftigermeife muß; als einfchränfende Be-
dingung der Gültigfeit aller willführlichen und re—
lativen Zwecke und des Gebrauchs aller Mittel zu
Erreichung eines Zwecks.
Diefe Formel folgt aus der vorigen ($. 118.), und
prüft eben fo, wie iene, die Handlungsweiſe der Vers
nunft ($. 107. ff. 116.) aus,
$, 120, * +
Drirte Formel,
Wenn die Marimen des Willens mie dem Begriffe
der allgemeinen Gefesmäßigfeit übereinffimmen, und un-
ter dieſer Vorſtellung gebilige werden fönnen, (nach
Der
Critik der praftifchen Vernunft, 119
der erſten Formel) und wenn fie daher überhaupt als
allgemeine Gefege dem wefentlichen Zwecke iedeg vernuͤnf⸗
tigen’ Wefeng entfprechen (nach der zweyten Formel):
ſo wird iede moraliſche Regel eben darum als tauglich
zu einem Naturgeſetze fuͤr das Syſtem der Zwecke (der
Weſen ſowohl, als ihrer Abſichten) gedacht. Die drit⸗
te Formel:
„Jede deiner Maxime ſchließe den Willen mit in ſich,
"Daß fie allgemeines Geſetz für ein Syſtem vernuͤnf⸗
tiger Weſen und Zwecke werde; handle nach fol:
chen Maximen, die du als eigner und all;
gemeinen Geſetzgeber für ein Beich ver;
nünftiger Weſen geben kannſt.“
Nach allgemeinen Geſetzen handlen ($. 118.); iedes vers
nuͤnftige Wefen als Selbſtzweck behandfen ($. 119.);
als allgemeiner Geſetzgeber handlen, und iede Vernunft
‚als Geſetzgeberin behandlen, iſt in der That vollkom⸗
men daſſelbe.
Kg $. 121.
Der Innhalt diefer Formeln ſtimmt nicht nur unter
ſich, mit dem Begriff der Vernunft, und mit den all-
gemeinen Erforderniflen eines morglifchen Gefeges , fon=
‚dern auch mit Den allgemeinen, reinen und unverfälfch-
ten Begriffen und Urtheilen des gemeinen Verſtandes,
(3. B. des Chriſtenthums) und den ächten firtlichen Ems
pfindungen (3. B. der unbedingten Hochſchaͤtzung für Un⸗
eigennügigfeit, fiir ächte Geſellſchaftlichkeit, für reine
Freundſchaft, Religion) überein. Diefer Grundfas von
2. Sk Sitt⸗
+20 Critik der praktiſchen Vernunft.
Sittlichkeit iſt demnach wahr, evident ‚allgemein, ver:
ſtaͤndlich und feine Anwendung iſt durchaus den Einfich-
ten endlicher und eingefchränfter Weſen angemeffen ; Die
Tugend, die er hervorbringt, ift aͤcht und untadelhaft,
erhaben, allgemeinnütsig u. f. w.
$. 122,
Parallelismus.
Keime zu dieſem Sittenſyſtem liegen unentwickelt,
und Theile deſſelben unperbunden in allen Moralgrund⸗
ſaͤtzen und Syſtemen aͤlterer und neuerer Zeiten. 3. B.
4
J
das Princip eigner Glückſeligkeit drang doch auf
Einheit in dem Mannigfaltigen, aber nur der eigenen
ſinnlichen Begehrungen; der Grundſatz des Gemein⸗
beſten ſtrebte auch die ſinnlichen Beſtrebungen anderer
vernuͤnftiger Weſen zu verbinden, Aber pur durch ein
zufaͤlliges und unzureichendes Vereinigungsmittel, und
ohne Prineip. Die Regel der Vollkommenheit ver-
langte ebenfalls Einheit, aber nur eingefchranfe auf
die Kräfte der handelnden Perfon, und in Beziehung auf ei⸗
nen individuellen Zweck. Das fittliye Gefühl führ
te wenigſtens von den gröbern finnlichen Beſtimmungs—
gründen der Moralität ab, und ſchraͤnkte fich auf das
Bergnügen der Uneigennügigfeit ein. Dem Syſtem
Son den göttlichen Willen lag die reine Idee von eis,
nem Neich der Zwecke und von einer allgemeinen Gefek-
gebung zum Grunde, wo ieder einzelne Wille aus Eis
nem eberften Willen enefpringe, und Daher mit jedem
andern Willen ſyſtematiſch zuſammentrift; nur Daß Dies
> ſe
Critik der pufeiphen — 121
ſe Idee nicht ietel angewendet, — erſt ver⸗
mittelſt eines zufälligen ſinnlichen J Intereſſe mit dem Wil⸗
len verbunden, und durch Ableitung von auſſen ſeiner
reinen Anwendung und innern Wuͤrde beraubs wurde.
Die Stoiker kamen dem reinen Grundſatze ſehr nahe,
nur daß ſie die Anwendbarkeit auf ſinnlich eingeſchraͤnk⸗
te Weſen zu beſtimmen vernachlaͤßigten und einen unvoll⸗
ſtaͤndigen Begriff vom Wohlſeyn vorausſetzten. Spi⸗
noza's moraliſche Ideen treffen im weſentlichen mie
den Stoiſchen zuſammen, und ſind die erhabenſten, die
in irgend einem philoſophiſchen Syſteme nur gefunden
werden. Ihm iſt Tugend Handlung nach eigenen Ge⸗
ſetzen, oder Selbſtthaͤtigkeit, abſolute Freyheit (Spinoz.
Eth. Pars. IV. Def. VIII. Propoſ- XVIII. Schol.) , keiner
fremden Belohnung faͤhig oder beduͤrftig, ſondern ihr
eigner Lohn; eine ſich ſelbſt gleiche, harmoniſche, freye,
und Harmonie freyer Weſen bewuͤrkende Handlungsweiſe.
6. 123,
Einwürfe,
Miß verſtaͤndniſſe koͤnnten dieſem Prineip folgende,
leicht abzuwendende, Vorwuͤrfe zuziehen:
1) Es werden nur Handlungen, aber Feine Ges
ſinnungen dadurch beſtimmt; es iſt alſo morgs
liſch unzureichend.
Ein Princip beſtimmt zunaͤchſt immer nur Handlungen;
wenn es aber eine gewiſſe Form der Handlung, eine
Handlungeweiſe/ zum Beſtimmungsgrund der Handlung
5 — mach,
122 Tritik der praftifchen Vernunft, =”
macht, wie dag gegenwärtige, fo beftimmt es zu—
gleich Eine Geſinnung, d. h. Eine Modification des
Willens, auf dieſe Eine Art wuͤrkſam zu ſeyn. Ver—
ſteht man aber unter Geſinnung nicht die. Denkart,
oder eine Willensbeſtimmung aus Grundſaͤtzen, ſondern
fortdauernde Neigungen der Sinnlichkeit, fo kann
dieſe kein Grundſatz beſtimmen oder gebieten, und noch
weniger ſie hervorbringen, weil ſie ihrem Begriffe nach
nicht von Grundſaͤtzen abhängen. Modifteirt kann
aber durch eine Denkart iede Neigung und dadurch mo-
raliſch veredelt werden,
2) Kein Verſtand kann Richter über den andern ſeyn;
dieß Princip fegt aber Kenntniß voraus von dem—
ienigen, was andere vernünftige Weſen wollen,
es iftalfo Feiner Anwendung fihig.
Die Vernunft kann ſich felbft und ihre Handlungsiweife
fennen, und Darnach iede andere Handlungsweife be:
urtheilen , ob fie vernünftig oder unvernünftig fey. Ih—
rer eignen Dandlungsmeife iſt fie fich bewußt, und träge
fie zuverfichelich auf iedes vernünftige Wefen, als
ein folches über, Für alle Vernunftweſen gilt auch
nur das Gefeg, für andere fol und kann es nicht gel-
ten. Auf ihre übrigen Neigungen habe ich in der An⸗
wendung Ruͤckſicht zu nehmen, aber doch nach der allge-
meinen Gittenregel, Die das eigentlich Moralifche (Form
‚der fittlichen Handlung), nicht aber das Materielle daran
beſtimmt, wozu bey der Anwendung iedes Principg bes
fondere Kenniniffe gehören, Diefe Anwendung gehrfo weit,
als
Critik der praftifchen Vernunft, 123
als der Geſichtskreiß; Diefer beſtimmt den Würfunge-
kreiß; uͤber dieſen hinaus zu gehn, dazu verbindet fei-
ne Pflicht.
3) Dieß Gefeg iſt nur für reine Intelligenzen; aber
der Menſch hat hienieden noch Feine reine Ver—
nunft, und fann nie als. bloffes reines Vernunft
weſen betrachtet werden es iſt fein Gefes für ihn.
Sreylich iſt ver Menſch Fein reines Vernunftweſen; we—
der hienieden noch auch Fünftig wird er, oder irgend ein
endliches Wefen von Sinnlichkeit gänzlich unabhängig
werden. Aber er foll und kann Doch nach reinen Ver—
nunftgefegen, als vernünftiges Wefen handlen, und
fih von dem Zwange finnlicher Begierden losreiſſen.
Die Sphäre feiner Tugend wird immer finnlich bleiben.
4 Ich fann fragen, warum foll ih nach allgemein:
gültigen Gefegen handlen?
Sch kann auch fragen, warum foll ich moraliſch hand⸗
len, und über die Antwort „weil es vernünftig iſt “
giebts Feine höhere für ein vernünftiges. Weſen, das auch
alsdann nicht weiter fragen kann, noch wird, ohne fei-
ne Vernunft zu verläugnen. Diefe Antwort fonn man
auch auf iene Frage ertheilen, und die obige Entwick—
lung des Begriffes von Vernunft dient zur Nechtferti-
gung derfelben. Auf Vollkommenheit und Glücfelig-
keit, als natürliche Würfung ver Handlung, kann ich
nie bey der fitlichen Frage zuruͤckkommen, und es blie—
be hier noch die Frage übrig, warum fol ich nach der
N groͤß⸗
124 Critif der praktiſchen Vernunft, -
größten Vollkommenheit und Glückfeligfeit ſtreben? darf
ich mir nicht mit einer niedern Stufe genügen laſſen,
wenn ich will? h
5) ch müßte nach dieſem Princip iede meiner Ma—
imen allen vernünftigen Wefen zur Prüfung vors
g 3
legen, um fie gültig zu finden. , Dieß kann ich
nicht, das Princip Fann mich alfo im der Anwen-⸗
dung taͤuſchen.
Vernunft ift als Vernunft fich felbft gleih. Die Ur.
theilsfraft fordert aber zur fichern Anwendung ausge
breitete und genaue Kenntniß der Gegenffande, worauf
ich es anwende. Diefe nicht zu erwerben, oder den
Grundſatz nicht darauf zu beziehen, iſt wider die Pflicht;
ober der Mangel diefer Einfichten hat, an fich nichts
Moralifches, Das dem Innern Werthe der Handlung
etwas benähme. Die Trüglichfeit des Urtheils trift als
fo nicht das Princip veffelben / und welche andere Re⸗
gel, welche Erfahrung, pofitive Vorſchrift felbft der Of⸗
‚fenbahrung, oder welches Beifpiel kann in der Anwen-
dung allen Zäufchungen und allem Mißbrauche vor—
beugen ?
6) Die Bibel enthält, Jeſus lehrt diefes Princip
nicht — j ;
Sie enthält und er lehrt überall Fein Prineip der Mos
vol, aber die Vorfchriften felbft dieſes größten aller pos
pulären Gittenlehrer find - (nach mieiner igigen Ueberzeu⸗
gung) diefem Princip gemäß, und müffen ihrer Guͤltigkeit
nach
*
/
Critik der praftifchen Vernunft, 125
nach daraus abgeleitet und beurtheilt, und für.die An-
wendung darnach näher beſtimmt werden.
Leichter vermeidfihe Mißdeutungen und gänzlich un-
bedeutende Einwuͤrfe werden Kürze halber hier über-
gangen.
$ 124
Erkenntnißart des Sittengefekes,
Ben der Frage nach der Art und Weife, wie das
moraliſche Princip erfannt wird, muß man Das Gefer
von dem Smperatio- unterfcheiden. }
Der Imperativ oder das Gebot, d. i. der prak—
tiſchen Grundſatz, ſofern er auf einen Willen bezogen
wird (wie der menfchliche),, der zwar von Vernunft ab—
hänge, aber auch finnlicher Einflüffe und Beftimmunz
gen fähig ift, Die mie dem Vernünftigen nicht von Na=
fur und nothivendigerweife übereinffimmen — iſt ein 5»
ſtraktum aus den einzelnen moraliſchen Urtheilen, die
durch denſelben beſtimmt werden, welches uͤbrig bleibt,
wenn wir alles Beſondre und Zufaͤllige davon abſon—
dern *). Auf dieſem Wege wird er gefunden.
Durch fortgeſetzte Abſtraktion, wenn wir nehmlich
nur auf das Beſtimmende und nicht auf dasienige ſehn,
was die Beſtimmung empfaͤngt, heben wir in unſerm
a Bes
H Diefer Imperativ beißt moralifch, eatego—
riſch, apodiktiſch — im Gegenfaß der bedingten Chyz
pothetifchen) oder gar nur problematifchen Gebote.
Berl. 9.35. Die pragmatiſchen Grundfage find ber
dingt; dis techniſchen problematiſch.
J
126 Critik der praktiſchen Vernunft.
Bewußtſeyn die einfachere Vorſtellung des reinen Ver;
nünftgefezzes, d, i. der Regel für die ihr einzig mög»
liche und nothwendige Würfungsart (Eauflalität) aus
der zufanmmengefegten Vorfiellung des ſittlichen Gebotes
heraus.
6. 125.
Iſt das Geſetz einmahl auf dem ($. 124.) vorge
zeichneten Wege gefunden : fo entdeckt ſich, daß dieſes
Gejeg analytiſch aus den Weſen der Vernunft, info-
fern diefelbe praftifch gedacht wird, herfließt, nach der
obigen Ableitung in $. 97. u. ff. Das Praktiſchſeyn
der reinen Vernunft aber, melches den Gittengefege
als Bedingung zum Grunde liegt, fegt ein Vermögen
abfoluter Freyheit voraus. Davon unten.
Das nothwerdige Verhaͤltniß des vernünftigen Wol-
Jens zu dem finnlichen DBegehrungsvermögen oder dag
Sollen, welches der Imperativ (im Gegenfage des
reinen Geſetzes) ausdrückt, wird durch iene Verknuͤ—
pfung (Syntheſis) dieſer an ſich ungleichartigen und
ganz und gar nicht identifchen Dinge erfannt. Der cas
fegerifche Imperativ ift alfo feiner Natur nach ſynthe⸗
tiſch. Weil aber dieſe Verfnüpfung als abſolut allge
mein und nothwendig (ohne praftifche Zulaffung einer‘
Ausnahne) erkannt wird, fo iſts fein fynthetifcher Ers
fahrungsfag, fondern ein ſynthetiſcher Sat a priori,
der durch Die weſentliche Einrichtung dieſes praktiſchen
Erkenntnißvermoͤgens beſtimmt wird, oder ein unmittel⸗
bares reines Faktum, das zwar in dem empiriſchen De-
wußt⸗
%
‘
’
Critik der praftifchen Vernunft. 127
wußtſeyn "zugleich mie vorkommt, aber durch feinen all-
gemeinen Charafter auf feine reine. Quelle zuruͤckweiſt.
Dies iſt daffelbe Faftum, wodurch ung das Dafenn
einer reinen. praftifchen Vernunft ($. 103.) fund wird.
Es noͤthigt uns demnach dieſes Bewußtſeyn, ein freyes
Vermoͤgen anzunehmen; ein Verhaͤltniß einer Wuͤrkung,
die in der Sinnenwelt zu einer gewiſſen Zeit entſteht,
zu einer Urſache, die auſſerhalb der Sinnenwelt liegt, und
alſo nicht in einer beſtimmten Zeit thaͤtig zu ſeyn anfaͤngt.
6. 126. ah f
Metaphyſiſche Moͤglichkeit.
Wir haben zwar Begriffe von demienigen, wodurch
ein ſittliches Geſetz und ein dergleichen Imperativ be—
greiflich werden, nehmlich Vernunft und Sinnlichkeit,
und dadurch werden iene Grundſaͤtze logiſch begreiflich.
Wie und wodurch aber iene Grundvermoͤgen des Ge—
muͤthes und ihr Verhaͤltniß zu einander ſelbſt moͤglich
werden, iſt unerklaͤrbar. Denn was wir erkennen, ge—
ſchieht nur durch eben dieſe Vermoͤgen, die uns nicht
uͤber ſich ſelbſt, auf ihren metaphyſiſchen Grund hinaus—
fuͤhren. Dieſer letzte Grund an ſich ſelbſt, iſt hier, wie
bey Grundkraͤften und Grundvermoͤgen überall, ein blof-
“fer Cintelligibler) Gegenſtand des unbeſtimmten, Ans
fchauungsleeren , reinen Denkens, nicht aber des Er-
kennens. Es muß einer da feyn ; aber welcher es ſey?
iſt feiner Beftimmung fähig. Wir erfennen diefe Ver⸗
mögen nur durch ihre Wuͤrkungen (moraliſche Geſetze,
— 3 AB, Gebo⸗
/
J
128 Critik der praftifchen Vernunft.
Gebote, Urtheile, Gefühle), nicht in ihre eignen
äberfinnlichen Gründe,
6.127
Zweytes Problem
Abfolnses Gut,
Das Zweyte ($. 20), was wir zu Gründung eis
her reinen Sittenlehre ‚bedürfen, iſt ein allgemein?
gültiges, abſolut nochwendiges Ziel oder Obiekt des
Willens, oder etwas Unbedinge Gutes.
a 128.
Nor der Unterfuchung, welches das abfolute Gut
fey, muß der Begriff von dem Guten überhaupt und.
Yon dem unbedingten Gute insbefondere nach feinen
weſentlichen Merkmahlen entwickelt werden.
§. 129.
Gut in weicläuftigem Sinne,
Alles, was ich begehren, was ein Obiekt Meines
Begehrungsvermögens feyn Font , heiße infofern ein
Gut im weitlänftigfien Sinne, es fey eine Sa—
che, Begebenheit, Idee oder Handlung. Was wir be-
gehren, finden wir infofern unfrer Natur gemäß. Was
wir verabfcheuen, iſt ihr zuwider, und heiße Uebel
oder böfe:
d. 130,
Critik der praftifchen Vernunft, 129
— $. 130.
Das Wohl; das Gurte in engerm Sinne.
Das Gute in meitläuftigem Sinne denfen wir ung
entweder als etwas, Das nur den Zuffend eines le—
bendigen. Weſens beſtimmt, Oder alg etwas, das der
Perſon eines vernünftigen Wefens an ſich felber ange-
hört, und in einer Handlungsweife oder Handlung,
als dem einzigen, wodurch -fih eine Perfon zu erfen-
nen giebt, beſtehet. Jenes heißt das Wohl; dieſes
das Gute in engerm Sinne:
Das Gegentheil von dem Wohl ift Uebel; von
dem Guten Böſes in beffimmter Bedeutung:
r $ igr:
Das Angenehme, Nüsliche,
Zu dem Wohl ($. 130.) gehöre
3) dag unmittelbar Angenehme, mas der Eintt-
lichfeit und ihren Trieben unmittelbar entfpriche,
Vergnügen und der Innbegriff deſſelben, Glückfe-
ligfeit: Gegenüber ſteht das unmittelbar Unange-
nehme, Mißvergnuͤgen, Ungluͤckſeligkeit—
2) Das Nützliche im Obiekte, d. i: alles dasienige,
was das unmittelbar Angenehme verfchaft oder be-
wahrt, oder das ünmittelbat Unangenehme abhält
‚oder mwegfchaft: Das Gegentheil davon iſt das
Schoaͤdliche.
Zu dem Nuͤtzlichen gehoͤren
Moralphiloſophie. J 2) Na
Pr,
130 Critik der praftifchen Vernunft,
a) Naturgaben des Geiffes oder Talente.
b) Vortheilhafte Eigenfchaften des Temperaments.
€) Durch Bildung erworbene oder erhaltene: Eigen-
Sr fhaften des Geiftes und des Gemürhes, die den.
Abfichten des ſinnlichen Lebens günftig find, 5. B.
Klugheit, Geiftesgegenwart.
$. 132.
Dbieft des finnlichen Begehrens,
Das Wohl ift mit allen feinen Beſtandtheilen nur
ein Gegenſtand des finnlihen Begehrungsver⸗
mögens; und zwar gehe das finnliche Begehrungsver-
mögen für fidy allein auf das unmittelbar Angenehme;
ein durch Verſtand modificirtes auf das Nusliche.
G. 133.
Das Nüsliche iff mittelbarer Gegenftand des Begeh-
rens, wegen des Angenehmen, und alfo nur in fo fern
als es dazu verhilft %). Das Angenehme ift unmittel⸗
barer Gegenſtand des Begehreus, aber nur infofern wir
gewiffe Triebe der Sinnlichkeit haben und fie als Nei—
gungen und Beduͤrfniſſe fühlen.
$. 134.
.
) Wie der Verſtand im theoretifhen Sinne fih in
Begriffen mittelbar, durch Merkmahle, auf die anger
fchauten ‚Gegenftände besieht: fo iſt auch die Beziehung
des verfiandigen Begehrens va eigentliche Obiekt
nur mittelbar, nehmlich durch Grunde, Die das Ansız
nehme erſt hervorbringen follen,
|
i
Critik der praftifchen Vernunft. 131
§. 134.
Relativer Werth, Preiß.
Der Werth alles deſſen, was zum Wohle gehoͤrt,
iſt nur relativ ; denw er gruͤndet und beziehe ſich auf
das zufällige Dafeyn gewiffer Beflimmungen der Em-
pfänglichfeit eines Subiefts, welches Luft oder Unluſt
empfindet ,„ mit Denen es uͤbereinſtimmt.
- "Ein relativer Werth heißt auch ein Preiß.. Was
einen Preiß hat, deſſen Stelle kann etwas Anderes (ein
Aequivalent) vertreten. Eine Sache hat einen Wiarkt-
’ preiß, wenn fie allgemeine menſchliche Bedürfniffe bes
friediget; einen Affeftionspreiß, wenn fie nur einem
befondern, individuellen Geſchmack entſpricht.
$..135.
Gut in engerm Sinne,
Gut in engerm Sinne heißt etwas Perfönliches
an einem lebendigen MWefen, was fih durch Handlun⸗
gen offenbart; oder auch eine Handlung ſelbſt, ſofern
wir ihr einen gewiſſen Werth beylegen.
§. 136.
Relativ Gut.
Der Wille und eine Gefinnung oder Handlung de
felben ift relativ Gut (Irgend wozu Gut), d.h.
iſt Mittel und Urfache des Wohls, des Angenehmen und
Müslichen , oder er iſt felbft nuͤtzlich. Diefe Güte dis
Willens kommt ihm alfo nicht um feiner felbft willen zu,
J2 ſondern
132 . Eritif der praftifchen Vernunft,
fondern wegen feines Erfolgs ; ihr Werth iſt abhängig
von dem Werth des Wohls „ fo dadurch bewürft wird,
diefem untergeordnet, durch Ihn bedingt (niemahlg abs
folut) , und niemahls- größer als eben diefer.
Das Relativ Gute kann an fich ſelbſt unangenehm,
und das Angenehme kann Relativ Boͤſe feyn.
$. 137.
Diefe relative Güte der Handlungen hängt von der
empirifchen Würfungsart der praftifchen Vernunft, d. i.
von der Vernunft in Verbindung mie der Sinnlichkeit
ab, und ift das Obiekt eines finnlid afficirten
Willens. Sie beſteht in der Klugheit und Geſchicklichkeit.
| $. 138.
Das Relativ Gute ift bedingt und eingeſchraͤnkt
in Abficht auf feine auffere und innere Gröfe, auf feine
Beziehung und auf fein Dafeyn. D.h.
ı) Es ift nicht in allen Fällen und für alle vernünf:
tige Wefen Gut, weil die Bedingung nicht immer
und aligemein ſtatt finder, die feinen Werth bes
ſtimmt.
2) Es iſt kein innerlich vollkommnes, hoͤchſtes Gut;
denn es beſteht in der angenehmen Empfindung,
die niemahls eine abfolute innere Größe, fondern
in indefinitum verfchiedene Grade har.
3) Es iſt Cin Abſicht auf Relation)
a) fein
*
I
Eritif der praftifchen Vernunft, 133°
a) fein wefentliches Gut der Perfon, daher nicht
beharrlich ;
b) nicht von eigner freyer Ihatigfeit, fondern von
dem Einfluffe äuffrer Umſtaͤnde abhängig.
c) Wegen feines Urfprungs aus, etwas anderm,
als der Vernunft , worinn die vernünftigen We—
fen fich gleich und wodurch fie harmoniſch find,
kann es in der Verbindung mit andern Weſen
etwas Böfes ſeyn, d. hi Uebel hervorbringen,
weil es nicht nothwendig mit Ihren Einrichtuns
gen harmonirt.
4) Es ift Fein abſolut nothwendiges Gut für ein ies
des vernünftiges Wefen, weil feine Wuͤrklichkeit
nicht durch die Möglichkeit oder den Bogriff eines
vernünftigen Wefens gedacht wird. Es findet
z. D. ganz und gar nicht ſtatt bey der Gottheit,
und befteht bey iedem endlichen vernünftigen Weſen
in etwas anderen.
Das Relativ Gute lernen wir durch Erfahrung Fennen.
Alle empirifche praftifche Grundfäge fegen Kenntniß von
„dergleichen velativen Gütern voraus.
$. 139.
Sqlechthin Gut; Obiekt eines reinen
Willens.
Der Wille, oder eine Geſinnung (innerlich —
te Handlungsweiſe) und Sanpfang deſſelben ift abſolut
J 3 Gut,
134 Tritik der praftifchen Vernunft,
But, innerlich, für fih gut, wenn fie dem vernünftis
gen Weſen an fich betrachtet, fofern es vernünftig iſt,
angemeflen oder Obiekte eines reinen Willens- find.
x %
Die Stoifer nannten das abfolute und hoͤchſte Gut,
ausſchließungsweiſe ein Gut; das relative Sur befaßten
ſie unter dem Nahmen meonyueva., Ariſtipp und Epi-
fur erkannten Fein abſolutes Gut; die Afademifer und
Deripatetifer unterfchieden das relative und das abfolus
te Gut nicht genugfam. |
$. 140.
Das Obiekt oder der Zweck deg reinen, durch bloß
fe Vernunft beffimmten, Willens ($.139.), muß durch
Diefen Willen — d. h. durch praftifh wuͤrkſame Ver—⸗
nunft felbft vollftändig Beftimme und gegeben ſeyn, weil
er fonft durch ieden empirischen Zufag den Charafter der
Nothwendigkeit für alle vernünftige Wefen verlieren wür«
de. Es kann demnach diefer abfolure Zweck in nichts
andern beftehen, als in der freyen Würffamfeit eis
nes vernunftigen Willens, oder in der Sittlichkeit
ſelbſt. Diefe muß um deswillen ein nothmwendiger Ge⸗
genftend des vernünftigen Begehrens feyn, weil ohne
fie fein Wollen als. vernünftig gedenfbar iſt.
$. 14r. -j
Diefer Zwerf der freyen Würkſamkeit der Ver
nunft fehliege in fich den Zweck des Dafeyne der vers _
nünftigen Weſen, Die nach ihrer vernünftigen Natur
wir
Critik der praktiſchen Vernunft. 135
wuͤrkſam ſeyn ſollen. Das vernuͤnftige, freye Weſen iſt
alſo durch das Sittengeſetz als ſelbſtſtaͤndiger Zweck be—
ſtimmt.
$. 142. -
Wenn das Relativ Gute praftifche Regeln hervor.
bringe ($. 138.): fo ſetzt im Gegentheil das Abſolut
Gute ein reines Gefeg, als feinen Beftimmungsgrund
voraus. Sittlichkeit ift das fehlechthin Gute, kraft des
Sittengeſetzes, welches die vernünftige Natur enthält
und das ihre Handlungstweife bezeichnet,
$. 143.
Diefe abfolute Güte der vernünftigen Handlungs»
art, und ihrer perfönlichen Bedingung, eines vernünf-
tigen Wefens, zeigt ſich als nothwendigerweiſe unbe—
dinge:
1) in Anfehung der ertenfiven Größe. Es iftin als
len Fällen und für iedes vernünftige Weſen ohne
Ausnahme gut; der fich, felbft gleichbleibenden und
weſentlich unveränderlichen vernünftigen Natur im⸗
mer und überall gemäß; ein Gut für dag ganze
Reich vernünftiger Weſen, in allen Klaſſen und
Individuen;
2) in Anſehung der intenſiven Größe. Das inner⸗
lich höchfte und unbefchränfte, mit feinem andern
(ſinnlichen) Gute meßbar und vergleichbar, Durch)
- Feine Schranfen der Möglichkeit der Empfindung
‚auf einen gewiſſen Grad beftimmf, innerlich uns
endlich; |
J4 3) in
136 Critik der praftifchen Vernunft,
3) in Abficht auf Relation:
ein felbftftändiges ,; unverlesbares, weſentliches;
ein durch freye Thaͤtigkeit fich aufferndes, und
über alles Entſtehen oder Vergehen. dur) äufs
ſere Einflüffe erhabenes;
! ein harmonifches, fich felbft nie auch in der größ-
ten Ausbreitung einfhränfendes Gut;
4) in Betracht feiner Modalitaͤt: durch feine Moͤg—
lichteit wuͤrklich, das einzig mögliche und dar-
um mürfliche, mithin abfolut norhwendige Gut
für ein vernünftiges Weſen. ;
$. 144.
Würde
Ein in aller Rücficht unbedingter , allgemeiner‘, uns
vergleichbarer, wefentlicher, freyer, harmonifcher und
abſolut nothwendiger Werth heiße Würde. Vernünf-
tige Würffamfeit oder der gute Wille, die Gittlichfeit
und ihr perfönliches Subiekt, das vernünftige Wefen
hat demnach eine Würde. Das abfolute Gut iſt unend⸗
lich, weil die reine Vernunft nicht befchranfe iſt durch
Kaum und Zeit. Die reine Vernunft ift fein Empfin-
Dungsvermögen ; ihr abfolutes Gut ift alfo fein Gegen—
ftand der Empfindung , fondern des Denfens und Der
-Handlung 5 Vernunft entfteht und vergeht nicht ;. Ihr
eigenchumliches Gut wird alfo nicht erft hervorgebracht,
fondern nur in der Sinnenwelt offenbart.
Das
Eririf der praftifchen Vernunft, 137°
Das abfolut Gute, als Handlung dargeftellt, kann
in feinen Folgen für die bloße Sinnlichkeit unangenehm
und fchädlich und ein relatives Uebel (aber nicht waney
malum) jenn, — >
8 145.
Dettte8 Drsb Te
Abſolute Triebfeder.
Mir ſuchen drittens ($. 20. Num. 3.) eine abfo-
Iute Triebfeder, das (im erften Problem gefuchte) mo—
ralifche Gefeg zu erfüllen, und der Gittlichfeit als dem
(im zweyten Problem beffimmten) höchfien Gute nachzu—
ſtreben.
$. 146.
Begriff—
Eine Triebfeder (elater animi) iſt uͤberhaupt das-
ienige, was das Begehrungsvermoͤgen ſubiektiv be—
ſtimmt, was eine Handlung ſubiektiv moͤglich oder noth—
wendig macht ; oder dieienige Vorfteliung, durch deren
Vermittelung eine praftifche Negel Einfluß auf das Be;
gehrungsvermögen eines vernünftigen Wefens empfängt,
um daffelbe zu einer Handlung zu beftimmen. Der ob-
iektive Grund einer Handlung heißt der Bewegungs⸗
grumd.
'$. 147.
Zriebfedern und Beweggründe , obieftive und fub-
ea DBeltimmungsgründe des Begehrens kann man
S5 nur
1338 Critik ver praftifchen Vernunft,
nur bey eingefchränften, finnlich beſtimmbaren vernünf-
‚tigen Wefen, unterfcheiden, Die von Gefegen der Ders
nunft nicht allein, fondern auch, von Gefegen eines finn-
lichen, Begehrungsvermögens abhängen, welche nicht
nothwendig übereinftimmen.
* §. 1 48.
Sittliche Triebfeder.
Eine Triebfeder heiße ſittlich im allgemeinſten
Sinne, wenn ſie dem moraliſchen Geſetze Einfluß auf
die Handlungen verſchaft; überhaupt vernünftig,
wenn ſie nur den Einfluß vernuͤnftiger praktiſcher Grund⸗
ſaͤtze G. B. der Geſchicklichkeit, der Klugheit, nicht eben
der Sittlichkeit) auf die Handlungen befoͤrdert.
§. 149.
Abſolute, relative, ſittliche Triebfeder.
Eine ſittliche Triebfeder (5. 148.) iſt abſolut
und rein (ſittlich in ſtrengerer Bed.), wenn fie die Sitt-
lichkeit als Sittlichkeit unmittelbar, nur durch fich felbft,
und alfo nothmwendigermeife in Handlungen eines endli-
chen, vernünftigen Wefens überleirer; fie ift bedingt,
empiriſch und zufällig, mwenn fie in etwas beſteht,
was nicht unmittelbar und nothwendigerweiſe von dem
Sittengeſetze ſelbſt abhängt, und nicht in allen Fällen
firtliche (legale) Handlungen hervorbringe. Der Testern
fehlt es an praftifcher Allgemeinguͤltigkeit für alle Hand»
fungen ‚aller vernünftiger Weſen.
6.150,
———
Critik der praktiſchen Vernunft, 139
gear
Die allgemeine fubieftive Bedingung des Begehreng,
nach Gefegen der Sinnlichkeit, iſt ein Gefühl. Alle
Zriebfedern find demnach) Gefühle von Luft und Unlufl,
oder von dem, was Daraus zufammengefege If.
8.85L,
Soll die Handlung ihrem Innhalte nach dem fittlis
hen Vernunftgeſetze entfprechen (legal feyn), fo muß
Ddieß Gefühl dazu antreiben und von dem Vernunftwi—
drigen abhalten, mit iener — Luft, mit diefer Unluſt ver:
binden. Goll dieg immer und nothwendigerweiſe gefches
hen, und die Handlung auch innere Moralität (Alleinige
und oberfte Würffamkeie der Vernunft) haben: fo muß
ienes Gefühl in einem nothwendigen Cauſſalverhaͤltniſſe
zu der Vorſtellung des ſittlichen Geſetzes ſtehen, alſo
nicht nur demſelben gemaͤß ſeyn, (wie in vielen Faͤllen
das Gefühl des Ehrtriebs, des Triebs nach Eigenthum,
Vergnuͤgen, Liebe), fondern auch * daſſelbe geſetz⸗
maͤßig beſtimmt werden.
G. 152,
Die Vorftellüng des finnlichen Effefts einer Hand⸗
lung kann die Triebfeder feyn, wodurch diefelbe hervor⸗
gebracht wird ; aber nur eine zufällige, feine reinmora⸗
liſche. Denn theils hänge der Erfolg nicht blos von
der Handlung Des Willens und von demienigen ‚ab,
was eigentlich moralifch darinn ift, weil die Gefege des
Sinnlich⸗ angenehmen weder durchgängig noch nothwen⸗
* mg
140 Critik der praftifchen Vernunft,
dig mit den Geſetzen des vernünftig Guten harmoniren;
tbeils ift der Erfolg nicht von der, Würffamfeit des
firelichen Vernunftgeſetzes abzuleiten. Die ausfchliefen«
de und unmittelbare Befolgung diefes finnlichen Antrie—
bes würde allen innern Werth der gefenmäßigen Hands
lungen aufheben.
$. 153.
Nur ein Gefühl, melches die DVorftellung von der
Handlung felbft, fofern fie ſittlich iſt (ihrer Form nach),
und von dem Vernunftgeſetze abhängt, bervorbringt,
kann eine nothwendige und rein moralifche Triebfeder ab-
geben ; nicht aber die Neigung zu Demienigen, was Die
Handlung auffer ſich bewürfen fol.
$. 154.
Der Sitz dieſes Gefuͤhles iſt, wie bey ieder andern
Empfindung, die innere Sinnlichkeit; ohne ſinnliches
Begehrungsvermoͤgen wuͤrde alſo kein ſittliches Gefuͤhl
entſtehen koͤnnen. Aber die hervorbringende Urſache deſ⸗
ſelben iſt doch kein Gegenſtand der Sinne, ſondern die
freye Cauſſalitaͤt der Vernunft, oder die Vorſtellung
des Geſetzes. Das Gefuͤhl nun, welches das moraliſche
Geſetz in dem innern Sinne eines endlichen, ſinnlich af⸗
fieirten vernünftigen Weſens, wenn daffelbe ſittlich gut
handlen foll, erzeugt; ift vermöge feines Beftimmungs-
grundes der moralifchen Vernunft, vermöge feines Sub⸗
iefts aber dem finnlichen Begehrungsvermögen gemäß,
und es beſtimmt das letztere, fo heterogen es an fih von
dem
Critik der praftifchen Vernunft, - 141
dem: Erfferen feyn mag, zu einer infofern harmonirenden
Würfungsart.
6. 155.
Intereſſe.
Ein Gefühl des Wohlgefallens, das von der Würfs
ſamkeit ver Vernunft abhängt, nennt man Intereſſe.
Iſt es die Wuͤrkſamkeit der empirifchen Vernunft, di.
eine VBernunftthätigfeit, diedurch Neigungen und finnlis
che Antriebe urfpränglich erregte wird, und auf ihre Be—
friedigung geht, fo heißt Das Interefje pathologifch.
Iſt es aber eine reine, der Sinnlichkeit nicht unterges
ordnete, urfprüngliche Ihätigfeit der Vernunft, die ein
unmittelbares Vergnügen erweckt, fo wird das In⸗
terefje rein, oder praktiſch genennt. Wenn ung
eine Handlung um ihrer Solgen willen intereſſirt, fo iſt
das Intereſſe pathologiſch; wenn ung die Handlung an
fih durch ihren Degriff, als aus Vernunft entfprun=
gen, intereffirt: fo ift dieß ein praktiſches Intereſſe.
$. 156.
Intereſſant; intereſſirt.
Eine Handlung aus pathologiſchem Intereſſe iſt in⸗
tereſſirt, ſie iſt gaͤnzlich vom Intereſſe abhaͤngig, als
von ihrer Bedingung. Eine Handlung aus praktiſchem
Intereſſe iſt intereſſant, fie intereſſirt. In ienem
Falle iſt das Intereſſe der Grund der Handlung; in
dieſem etwas, was mit der Handlung verbunden iſt;
ihr Grund iſt aber die Vernunft
$: 157:
\
142 Critik der praftifchen Vernunft.
>
157
Das Gefuͤhl, welches die Triebfeder der Sittlichkeit
ausmacht, iſt das reine, praktiſche Intereſſe. Die mo—
raliſche Handlung muß dem handelnden Subiekte an ſich
ſelbſt intereſſant ſeyn.
$. 158.
Sittliches Gefuͤhl.
Dieſes praktiſche Intereſſe, das wir an der Mora⸗
litaͤt nehmen, oder das Gefühl, weiches ſich unmittel—
ber an die moraliſche Wuͤrkſamkeit der Vernunft an
fchließt, nenzen wir, feines Urfprungs und feiner Bez
flimmung wegen, das moralische Gefühl; wodurch
auch zumeilen die Fähigkeit des Gemüthes verſtanden
wird, ein folches reines Intereſſe an Moralitaͤt zu nehe
men. Es knuͤpft das Band zioifchen der reinen Ver—
nunft und der Sinnlichkeit des Begehrens Durch die ers
ftere, und unterſcheidet fich Durch feine unmittelbare und
nofhmwendige Abhangigfeit von der Vernunft, von ie
dem andern Gefühle, Das nur zufälliger Weife oder oͤf⸗
ters moraliſch rethtmaͤßige Handlungen begünftigt.
$. 159. —
Es läßt ſich zwar 1) der Innhalt dieſes Gefuͤhls
pſychologiſch beſtimmen; 2) fein Daſeyn beweiſen; 3) ſei⸗
ne Beſtimmung angeben; und 4) ſein Grund im allge-
‚meinen denken, aber nicht erfennen und dadurch feinem
Urfprunge nach begreifen, aber gleichwohl 5) dieſe Uns
begreifs
⸗
%
’ ſianlichen Begehrens ein; dieſe Einſchraͤnkung, welche
Critik der praktiſchen Vernunft. 143
begreifllichteit ſelbſt aus der Natur des Gegenſtandes
und des Erkenntnißvermoͤgens einſehen.
⸗
§. 160,
Innhalt des ſittlichen Gefuͤhls
Wir ſind uns zuerſt als ſinnlich afficirte, endliche
und beduͤrftige Weſen ſinnlicher Antriebe bewußt, die
von den Neigungen herruͤhren und in der Selbſtliebe
begriffen ſind.
Zugleich find wir uns als —— Wefen einer
rein vernünftigen Ihätigfeit bewußt, deren‘ Beftim-
mungsgrund nichts Ginnliches, weder ein Gegenffand
‚der Hoffnung noch der Furcht, fondern lediglich dag
Eittengefeg iſt.
Die Wuͤrkſamkeit der ſinnlichen Triebe bringt eine
Luft zu den Handlungen hervor, die ihnen gemäß find;
eben fo erzeugt die Würffamfeit der Vernunft ein Ge
‚fühl des Wohlgefallens oder der Luft an dem Vernunft:
oder Gefenmaßigen der Handlung ; ienes Gefuͤhl haͤngt
von dem Obiekte, dieſes aber von der Form der Hand⸗
lung oder Handlungsweiſe ab.
Dieſe zwey verſchiedenartige Antriebe ſtimmen nicht
von ſelbſt und nothwendig miteinander uͤberein.
6. -161.
Die vernünftige Beſtimmung des Begehrungsver-
mögens fihränft das Beſtreben der Selbſtliebe oder des
das
’
#.
144 Critik der praktiſchen Vernunft,
das ſtunliche Gefühl und die finnliche Wuͤrkſamkeit dadurch
leidet, erweft ein unannehmliches Gefühl, eine Art
von Unluſt.
Die vernünftige Ihätigkeit an fich felbſt ; als eigne
Thaͤtigkeit, erweft ein Gefühl -dver Luſt.
Diefe Luft, fofern fie den Werth der finnlichen Luft
herabjest und dieſelbe einfhränft, heißt Achtung.
Der Gegenffand der Achtung ift das Sittengeſetz |
und wir feldft, als Subiekte deffelben , als vernünftige
Weſen — infofern wir uns als finnliche Wefen ſelbſt
einfchränfen.
Als vernünftige Wefen achten wir uns; als finn-
liche fühlen wir ung gedemüthige oder eingefchränft.
Das Bewußtſeyn der Freyheit, als des Vermögens
ung moralifch über die finnlichen Antriebe zu erheben,
giebt ein Bewußtſeyn der Unabhängigkeit von demienis
gen, was uns unzufrieden macht, von den Neigungen
— ein Gefühl von Selbſtzufriedenheit, welches in
eben dem Verhältniffe fleigt, ais wir uns der Sreys
heit durch Tugend in unfern Handlungen bewußt werden.
Sofern wir unfere vernünftige IThärigfeit einge»
ſchraͤnkt finden ‚ oder eine Einfchränfung derfelben be» X
fürchten durch die Mache finnlicher Antriebe, fuhlen wir
uns unzufrieden , disharmoniſch mit uns felbft, wir
verachten uns.
Alle diefe Gefühle Haben dns Eigene, daß fie zwar
Sinn⸗
Ceitik der praktiſchen Vernunft. 145
Sinnlichkeit, d. i. Empfänglichfeie für ſinnliche Gefuͤh⸗
le vorausſetzen, aber nicht durch Obiekte der Handlun—
gen, ſondern durch ihr wuͤrkendes Princip, die Vernunft,
beſtimmt und hervorgebracht werden,
48: 262;
Die eigentliche moralifche Ttiebfeder iff alfo das Eit-
fengefeg oder Die Vernunft felbft, deren eigne, durch Fein
Gefühl erregte und von feiner vorhergehenden Empfin⸗
dung, als ihrem Beffimmuugsgrunde abhängige, Thaͤtig⸗
keit diefe ist ($. 161.) befchriebenen finnfichen Smpfin-
dungen hervorbringe, und dadurch die finnlichen Triebe
felbft in eine dem Sittengeſetze felbft entfprechende Wiürf-
famfeit verfeget. Das Gefuͤhl iſt Folge der freyen Thä-
tigkeit des Bernunftvermögens ; Urfache der enrfprechen-
den Würfung der finnlichen Kräfte —
N $. 163:
Daſeyn veffelben,
In Aniehung unfrer felbft erfennen wir dag Dafenn
diefer Gefühle als Thatſache a pofteriori; in Anſehung
aller endlichen Vernunftwefen überhaupt erfennen wir es
als ein nochtvendiges fubieftives Erfordernig zur Moͤg—
lichkeit einer moralifchen Handlungsart,a priori. Würk-
famfeit der, moralifchen Vernunft. verbunden in einem
und demfelben Subiefte mit Würkfamfeit finnlicher (von
Vernunft nicht beflimmter) Antriebe läßt fih nicht ohne
dieſe Gefühle, als ihr Nefultat gedenfen ; die Stnnlich-
Feit mag, übrigens mit der menfhlichen eine fpecifiiche
Moralphiloſophie. Aehn⸗
4
-
-
146 Critik der praftifchen Vernunft,
Aehnlichkeit haben, oder nicht. Ob es aber auffer den
Menſchen andere endliche moralifche Wefen gebe, in des
nen alsdann moralifche Gefühle vorhanden feyn müßten,
if eine weder praftifch beantwortliche noch auch moralifch
intereffante Frage. _
...& 164.
Seine, Beftimmung.
Die Beftimmung diefer Gefühle fann
1) nicht feyn, ein obieftiveg Sittengefeg zu gründen ;
2) noch die fittliche Güte oder Nichtgüte der Hand⸗
lung lediglich nach demfelben zu beurtheilen. Die
Untauglichfeit Ddeflelben zu dieſen Abfichten fliege
ſchon aus der erflärten Natur und dem Urfpruns
ge veffelben, und iſt noch aus andern Gründen
oben ($. 68. ff.) dargethan worden.
3) Sondern, als nächte Cjubieftive) Würfung des
Gefeges auf den Willen, die Sinnlichkeit den Ver—
nunftgrundfägen gemas zu beffimmen, und dadurch
die Darftellung verfelben in Handlungen, welche.
in der Sinnenwelt erfcheinen, möglich zu machen.
$. 165.
Zu diefer Abficht iſt dieſe Natureinrichtung, und
zwar ſie nur allein vollkommen tauglich. Denn 1) das
Gefühl hängt mit einer moraliſchen Urſache nach unmit—
telbaren Verhaͤltniſſen zuſammen, 2) es iſt alſo der Mo—
ralitaͤt nothwendig und überall angemeſſen — eine ab⸗
ſo lu⸗
Eritif der praftifchen Vernunft. 147
ſolute Triebfeder , und 3) iedes andere, Durch eine
andere naͤchſte Urſache Cund nicht durchs Gittengefeg)
bewuͤrkte Gefühl, kann Feine ächt moralifche Triebfe—
der abgeben, weil es nicht nothwendigerweiſe und allge:
mein zum Gittlichguten anfreibe — eine einzige ab-
folute Triebfeder: 4) Wenn auch eine andere Trieb-
feder, vermöge einer zufälligen Einrichtung Taufer ler
asle Handlungen Hervorbrächte,, fo mürde fie doc) die
moraliſche Geſinnung nicht hervorbringen, fondern
verderben. 5) Das obiektive abſolute Gut fuͤr die rei-
ne Vernunft wird vermittelſt dieſer Gefühle auch ſubiek⸗
tiv als ein Gut vorgeſtellt, für das ſinnlich affieirte ver—
nünftige Weſen, und zwar als ein oberfies Gurt, weil
es in unferm Urcheil den Werth von iedem andern Ge-
| nuß der Sinne herabfegt, ihmund dem Gebrauch der Mit,
tel zu demfelben gewiſſe Grängen beſtimmt, und weil in
Ermangelung deffelben ein Gefuhl von perfönlicher Un—
würdigfeit die Annehmlichfeit des Zuftandes, die aus ie-
nen andern Quellen des Vergnuͤgens herfließe, merklich
einſchraͤnkt.
$. 166;
Grund
Dasienige ; worinn diefes Gefühl überhaupt ge—
gruͤndet if, kann nichts anderes, als ein nothwendi⸗
ges Verhältnig ſeyn, worinn die Vernunft zu einem finn-
lichen Wefen ſteht, als das Beftimmende zu dem Be—
ſtimmbaren. Dieß denfen wir uns fehon im Begriffe
davon: Die Beftimmung des Ginnlichen dur das
823 licht:
\
148 Critik der praftifchen Vernunft)
Nichtſinnliche, eines Gefühls durch hr reine Vernunft⸗
idee, iſt aber fein erfennbares Cauſſalverhaͤltniß, mo
“ eine der Zeit noch vorhergehende Urfache eine Würfung
hervorbringt, die in der Zeit nachfolgt, fondern ein Er-
foig aus Sreyheit. Die Erkenntniß dieſes Grundes
würde eine beftimmte Erkenntniß von diefem Verhaͤlt⸗
niffe, mithin von der abfolut innern Beſchaffenheit des⸗
ienigem vorausſetzen, was unfrem Bewustfenn von dies
fen beyden Grundvermögen als Ding an ſich ih ent⸗
ſpricht. Das Gefuͤhl ſelbſt iſt erkennbar; ſein Grund
nur denkbar; fein Entſtehen iſt daher eben fo unbegreifs
ih, als es iede freye Ihätigfeit überhaupf if. Die—
fe Unbegreiflichkeit ſelbſt iſt aber aus dem Geſagten ſehr
wohl begreiflich.
8. 167.
Viertes Broblem,*
Abfolute Vereinigung der reinen und der em.
piriſchen praktiſchen Vernunft.
—
Beduͤrfniß. —*
Indem das Sittengeſetz ein Gefühl erzeugt, fo er
hält es einen nothwendigen Einfluß auf einen fi nnlich
afficirten vernünftigen Willen, und\bringt den Vorſatz
der Ausuͤbung deffelben hervor. Sollte aber der Wille
ungetheilt auf das Sittlich Gute gerichtet und der mo⸗
raliſche Vorſatz ohne alle Einfchränfung und Hinderniß
wuͤrkſam ſeyn: fo müßte ienes (ſittliche) Gefühl ſich im
aus⸗
Critik der praktiſchen Vernunft. 149
EN ausſchließenden Beſitze von unfrer Sinnlichkeit befinden.
Alsdenn wäre die abjolute Triebfeder (des dritten Pros
blems) nicht nur an fich felbft allgemein und nothwen-
dig wuͤrkſam, um dem Gefege Einfluß zu verfchaffen,
fondern auch vollkommen zulänglich, um diefem Einflufs
fe unumfchränfte, Volftändigfeit zu geben.
6. 168.
Sortfegung,
- Wäre das Sittengeſetz ungehindert wuͤrkſam: fo
würde zugleich auch das Gefuͤhl der Selbſtzufriedenheit
unendlich ſeyn, d. h. es wäre mic Selbſtgenugſamkeit
verbunden, Seligkeit. Das oberſte, obieftive Gut wäs
re zugleich das einzige und vollſtaͤndige ſubiektive Gut.
$. 169.
So * die praktiſche Vernunft mit einem Empfin⸗
dungsvermoͤgen fuͤr Luſt und Unluſt in Einem Subiekte
verbunden iſt, bilder fie ſich ein deal von vollkomme⸗
ner Gittlichfeit und Geligfeit, und beffimmt fie) dafs
ſelbe zum Ziel ihrer, Beftrebungen. Diefelbe Vernunft, -
die in ihrem reinen Gebrauche das-moralifhe Verhalten
beſtimmt, führe in ihrer empirifchen Anwendung auf das
Streben nach dem höchften Wohlſeyn. Sie verbindet
iene beyden Beſtrebungen in Eins, indem fie Sittlich—
keit in nothwendiger Verbindung wit dem Wohlſeyn ſich
denkt.
DE RR SE $. 170.
r5o Critik der prafrifchen Vernunft,
$. 170,
Vollſtaͤndiges Gur,
Allen Beftrebungen der Vernunft, im ihrer reinen
und eihpirifchen Anwendung, vereinigt, entfpricht dieſes
Neal von einem vollftändigen Gute eines Vvernünf-
tigen Weſen.
$. 17T,
Das vollftändige Gut für ein vernünftiges We-
jen begreift demnach in fich : '
3) eine Sittlichkeit, die von allen Einfchränfungen
frey und durch feinen widrigen Einfluß fremdarti—
ger Begehrungen geftört iſt;
2) ein Wohlfeyn , das entweder unmittelbarer oder _
miftelbarer, aber auf ieden Fall nothwendiger Wei—
fe von ver Sittlichkeit abhängt.
Denn Sittlichkeit ift einmahl das oberfte But ($.
139.), das die Bedingung ausmacht, worunter Die
Dernunft irgend etwas anderes für Guf erfennen kann;
gleichwohl ift es nur für die reine Vernunft vollftän;
dig, und kann für das vernünftige Wefen überhaupt,
auch für ein folches , das finnlicher Luft und Unluſt faͤ—
big iſt, nicht die Stelle aller andern. Güter vertreten,
ift alfo für die endlichen vernünftigen Weſen unvolls
ftändig, und unzureichend, alle ihre vernünftigen (finns
lich modifieirten) Wünfche auszufüllen. Es muß alfo
das Wohlfeyn noch hinzu Eommen, doch nicht fürfich,
fondern dem höchſten Gute untergeordnet, und mit
ihm
Eritif der praftifchen Vernunft, - ı5ı
ihm zn einem vollftändigen Gute verbunden, das al»
Ien möglichen Befirebungen eines vernünftigen Weſens
entfpriche.
€. 172.
Praftifcher Widerſtreit der Vernunft,
Fehlt es dieſer Idee ($. 170.) ganzlich an Realitätr
ftehe Sitrlichfeie und Wohlfeyn in Feiner wefentlichen
Derbindung, läßt fich das Bellreben nach dem einen
nicht mit Hoffnung des andern vereinigen, fo entſteht
unvermeidlich bey iedem endlichen vernünftigen Wefen
ein getheilres, und fich miderffreitendes ntereffe,
nehmlich :.
1) ein abfolutes, reines Intereſſe an der Moralitaͤt,
das die reine Vernunft fuͤr ſich hervorbringt.
2) Ein bedingtes Intereſſe der empiriſchen Vernunft
an Gluͤckſeligkeit, welches die Vernunft vermoͤge ih—
ter bedingtnothwendigen und unabaͤnderlichen Vers
bindung mit einem finnlichen Begehrungsvermögen
nimmt,
Diefe zwey verfchiedenen praftifchen Ideale erregen eben
fo verfchiedene Beftrebungen nach einem zwiefachen Ziele ;
das reine Intereſſe wird durch das unvereinte empiri—
fche feiner alleinigen Würffamfeit beraubt, und dag end—
liche vernünftige Wefen hat felbft durch Vernunft feinen
genugfamen Antrieb, Moralität zum einzigen und im;
merwährenden Dbiefte feiner vernünftigen Ihätig-
keit zu machen.
; 84 $. 173.
ı52 Critik der praktiſchen Vernunft, "
— $. 173.
Ohne ſich ſelbſt untreu zu werden, kann dag endli⸗
che vernuͤnftige Weſen weder nach Sittlichkeit, noch
nach-Wohlſeyn allein ſtreben, ſondern fie iſt durch ihre
Natur gedrungen, beyde praktiſche Ideale, das reine
und Das empiriſche, zu realifiren.
$. 174.
Ohne Vereinigung diefer Ideale ($. 173.) in -einem
Einzigen müßte das vernünftige Weſen unaufhörlich zwi:
fchen Defolgung feiner reinen Gefege und feiner empi⸗
rifchvernänftigen Maximen (die auf Glüdfeligfeit gehen) ,
bin und her ſchwanken, und e8 Fönnte nie mic. fich ſelbſt
durchaus einſtimmig handlen.
$. 175.
Das Wefen der Vernunft, als eines Princips der
vollkommenſten Einheit, iſt mit einem alfo getheilten
Intereſſe nicht verträglich. Es iſt alfo in dem Wefen
der DVergunft felbjt die Nothwendigkeit gegründer, eis
ne Vereinigung bender Ideale, und der Darauf abzielen-
den vernünftigen Vorſchriften und Handlungen zu
ſuchen
$. 176.
Wollte die Vernunft, um dieſe nothwendige Verei⸗
nigung ($. 175.) zu ſtiften, erſtens die ſittlichen Vor—
ſchriften dem Verlangen nach Gluͤckſeligkeit gemaͤß ein-
richten, ſo wuͤrde ſie nur von neuem mit ſich ſelbſt in
Widerſtreit Er und die beyden heterogenen Be,
ſtand⸗
—
2 Ye
Critlk der prakti ſchen Vernunft. 153
ſtandtheile deg Ideals, Die auf dieſe Art vereinigt wer⸗
den folten, mieten fich wechfelfeitig ſelbſt zerſtoͤren.
Das vernünftige Weſen handelte alsdann den seinen
Vernunftgeſetzen zuwider — alfo nicht ſittlich; es muͤß⸗
te ſich darum ſelbſt verachten, und waͤre alſo auch im
Bewußtſeyn feiner ſelbſt nicht glücklich. Denn das
Streben nach Glüdfeligkeie iſt nicht einerley mit der
Sittlichteit.
$. 177.
Wollte die Vernunft zweytens dieſe geſuchte Ver⸗
knuͤpfung darinn finden, daß das Bewußtſeyn der Tu⸗
gend ſelbſt zufrieden macht, und alſo gewiſſermaaßen be⸗
gluͤckt: ſe wuͤrde dieſe Vereinigungsart dem Begriffe von
Gluͤckſeligkeit eines endlichen Weſens, ſo wie die vorige
($. 176.) dem Begriffe von Sittlichkeit, mwiderfprechen.
Das bloße Bewußtſeyn der Moralitaͤt, wie dieſe iedes—
mahl in einem endlichen Weſen in einem gewiſſen Gra—
de der Einſchraͤnkung vorhanden ſeyn kann, vermag daf-
ſelbe (z. B. den Menſchen), nur unvollkommen zu be—
gluͤcken, weil es theils mit Bewußtſeyn unvermeidlicher
zaͤngel, alſo mit Unzufriedenheit mie ſich ſelbſt verbun-
“den iſt, theils auch durch die unangenehme Empfindung
anderer, finnlicher, im Genuffe eingefehränfter Triebe
und Neigungen verdunfelt wird. Das Bewußtfeyn der
Zugend, d. i. der Moralitaͤt eines endlichen Wefeng
iſt nicht einerley mie der Gluͤckſeligkeit überhaupr.
*
85 $, 178;
154 Critik der praftifchen Vernunft.
$: 178.
Die übrigen Beftandrheile der Glückfeligfeit 4
nicht in gleichem Verhaͤltniſſe mit der Sittlichkeit und
mit dem angenehmen Bewußtſeyn derſelben in einen
vernünftigen Weſen, Wenigſtens überzeugt ung Die
Erfahrung dieſes Lebens nicht von dem Daſeyn einer
folgen Proportion, Nach demienigen, was fie uns
lehrt, bleibt es möglidy *) zu glauben, daß Gluͤckſe⸗
ligkeit im Ganzen zu der ſubiektiven Gittlichfeit eines
endlichen Weſens im Mißverhältniffe ftehe. Diefer Glaus
be kann nicht anders, als das firtliche Beſtreben eineg
Weſens ſchwaͤchen, das gegen Gluͤckſeligkeit durchaus
nicht gleichguͤltig ſeyn kann.
$. 179,
Erlaubte Klugheit, d. i. ein der Sittlichkeit unter-
georonetes DBeftreben nach Glückfeligkeit — kann zwar
durch ihre Verbindung mie. der Tugend iene Dispro-
portion einigermaoßen und zumeilen vermindern , aber
weder immer noch vollffändig dieſelbe aufheben.
6. 180,
Die Erfahrung lehrt ung zwar manche Kinridys
tung unjrer ſinnlichen Natur fennen, Die in fehr
vielen
9* Geradezu und dogmatiſch zu behaupten, ‚daß nach al
ter: Erfahrung De Moralitat und die Glückfeliakeit in
dieſem Keben nicht gehotig proportionirt vorhanden war
ren, balte ich fuͤr willkuͤhrlich; denn mer will die ſub⸗
iektive Moralitaͤt und die fubiektive Gluͤckſeligkeit auch
nur eines einzigen Nenſchen „ihrer — nach gehdrig
und mit Gewißheit ſchaͤtzen?
Critik der praftifchen Vernunft, 155
vielen Fällen die Moralität begünftigt, indem fie mif
der Ausübung derjelben zu gleicher Zeit das Vergnügen
der Befriedigung irgend einer finnlichen Neigung G- B.
der Sympathie, Des Wohlgefallens an Ordnung, an
Harmonie) verbindet. Allein diefe Harmonie kann doch
durch Erfahrung nur als zufällig, und nicht als allge
mein und nothwendig, oder gar als vollftändig und
durchgängig erfannt werden. |
§. 181,
Innerhalb des Innbegriffs möglicher Erfahrung
finden fich alſo feine Gründe, woraus fich eine folche
nothwendige Proportion zwifchen Sittlichfeit und Gluͤck⸗
feligfeit eines endlichen vernünftigen Weſens begreifen
laſſe, als erfordert wird, um die Principien der reinen
und der empirifchen praftifchen Vernunft mit ſich felbft
vollfommen einflimmig zu machen. |
$. 182.
Es find alfo entweder überall Feine folche Gründe
vorhanden, oder fie müflen auſſerhalb dem Inbegrif—⸗
fe und dem Gefichtsfreiß möglicher Erfahrung liegen.
$.. 183.
Eben daffelbe Bewußtfeyn, das uns die Derbind»
lichkeit auflege, das moralifche Gefe zu befolgen, nö-
thiget uns (ſubiektiv), dieſe Verbindlichkeit, als dem
oberſten, unbedingt nothwendigen, ſubiektiven Zweck
mit unſrem geſammten uͤbrigen, bedingtnothwendigen
Zwecken als vereinbar zu denken, d. h. es bringe noth—
wen⸗
156 Critik der praktiſchen Vernunft.
wendiger Weiſe den Willen in uns hervor, Gruͤnde
der Moͤglichkeit einer ſolchen Vereinigung, die wir uns
irgend ohne Widerſpruch denken, wenn gleich nicht als
wuͤrklich vorhanden darthun Fönnen, als exiſtirend an;
zunehmen, und dieſer Vorausſetzung gemaͤß unſer Vers
halten einzurichten, d. h. fie praktiſch zu glauben.
$. 184.
Diefer Wille (volitio), iſt Fein zufälliger Wunſch,
fein Produkt einer blos finnlichen und an fich $ufälligen
Neigung, fondern eine unmittelbare und nothwendige
Folge des moralifchen Gefeges;, fofern das Bewußtſeyn
von demfelben mit dem Bewußtſeyn von Gefegen eines
finnlichen Begehrungsvermögeng in eben demfelben Subs
iefte vorhanden und verbunden if,
$. 185,
Ein Sag, den die Vernunft als wahr annehmen
muß, um die Forderungen des (undedinge nothwendi⸗
gen) moraliſchen Geſetzes als vereinbar mit den (bes
Dinge nothwendigen) Negeln eben derfelben Vernunft i im
empirifchen Gebrauche, und erſt dadurch als erfülbar
zu denken — iſt praftifch nothwendig, und kann megen
diefes DVerhältniffes ein Poſtulat der praktifihen
Vernunft genennet werden. Es hat mehr Nothwen⸗
digkeit als eine blos theoretiſche Hypotheſe. Denn
LT
der Zweck, welcher eine theoretiſche Hypotheſe empfiehle — —
die Erfahrungserfenntniß fpffemarifcher zu machen und
au erweitern, iſt ſeiner Wichtigkeit ungeachtet, nicht
ſchlech⸗
Critik der praftifchen Vernunft, 157
ſchlechterdings nothwendig, wie es der Zweck iſt, moraliſch
gut zu handlen, der dem praktiſchen Poſtulat zur Grund⸗
lage dient.
—
—
§. 186.
Als praktiſches Poſtulat (. 185.) nehmen wir au,
daß in demienigen, was wir durch ſinnliche Erfahrung
nicht erkennen ($. 180.), ſondern nur durch Vernunft
ung denken koͤnnen ($. 181.), d. h. in dem Intelli⸗
giblen die wahren und hinreichenden Vereinigungsgruͤn⸗
de der reinen und der empirifchen, Gebote der. praftifchen
Dernunft, und der ungehinderten Befolgung der erſte—
ren enthalten find.
6. 187,
Intelligible Welt,
> Die Vernunft nöthiget uns zu den einzelnen Erfcheis
nungen und zu der Sinnenwelt, als dem ganzen Inn—
begriffe derſelben uns Etwas an ſich felbft als
Grundlage zu venfen, welches erſcheint, d. h. wel—
ches die infofern nicht vorftellbare, Teste Bedingung von
dem Stoffe aller finhlichen Gegenfiände ausmacht. Die-
fe: Dinge nennen wir incelligible Dinge ($. 186), und,
ihren Innbegriff, den wir ung vorftellen, oder den voll
fländigen denfbaren Grund der ganzen Sinnenwelt, nen=
nen wir die intelligibie Welt. Theoretisch, d.h. durch)
anfchauende Begriffe fünnen wir dieſe zwar nicht erfen-
nen; es iſt ung aber dennoch vergönnt, fie nach der
Analogie des Vorſtellbaren (Anſchaulichen, Denfbaren)
zu
158 Critik ver praktiſchen Vernunft,
zu praktiſchen Endzwecken in unfrer Vernunft zu be
ſtimmen. Der moralische Zweck kann durch dasienige,
wæas er fordert, die Stelle der finnlichen Anſchauung,
die ung’abgeht , gemiflermaaßen vertreten.
8. 188;
Moralifche Welr,
Wir denfen uns, dem nothroendigen Bedürfniffe
der reinen praftijchen Vernunft gemäß, die Welt als
moralifdy, d. h. als eine Welt, durch welche und in
welcher die Endzwecke der Vernunft vollſtaͤndig erreiche
twerden koͤnnen, und worinn das der Forderung des
Sittengeſetzes entfprechende Gut enthalten ſey, nehmlich
1) reine Gittlichfeit ;
5) vollfonnmenes, dieſer Gittlichfeit angemeffenes
Wohlſeyn;
3) vollkommene Einheit, Harmonie dieſer beyden End⸗
zwecke eines vernuͤnftigen Weſens.
§. 189.
Dieſes hoͤchſte und vollftändige Gut iſt, wenn es
exiſtirt, ſo wie die moraliſche Welt uͤberhaupt, fuͤr das
eingeſchraͤnkte und ſinnliche Vernunftweſen in keinem
Theile feiner ſinnlichen Exiſtenz vollſtaͤndig erkennbar,
ſondern ſeiner Totalitaͤt nach demſelben verborgen.
§. 190.
Critik der praftifchen Vernunft, 159
6. 190.
Unendliches Fortſchreiten.
Wenn eine ſolche moraliſche Welteinrichtung und in
derſelben das hoͤchſte und vollſtaͤnbige Gut, worauf die
Beſtrebungen der Vernunft gerichtet ſind, fuͤr mich vor—
handen ſeyn ſoll: ſo muß ich folgendes annehmen:
1) Meine ſubiektive Moralitaät kann und wird ins
Unendliche zunehmen, wenn ich will, d. h. es giebt
in der Welt kein ſubiektives, innres oder aͤuſſres,
phyſiſches Hinderniß, das für meine ernſtliche mo:
ralifche Bemuͤhung unuͤberwindlich wäre, und mir
den guten Willen jchlechterdings rauben, oder die
zunehmende Wuͤrkſamkeit deſſelben ſchlechterdings
einſchraͤnken koͤnnte.
„Wenn ich will“ — Ohne dieſen Zuſatz wuͤrde die
moraliſche Triebfeder gelaͤhmt und die aͤchte ſittliche
Selbſtthaͤtigkeit unterdruͤckt, wie dieß in dem ——
niſtiſchen Optimismus geſchieht.
2) Wie meine Moralitaͤt wuͤrkſam wird, ſo ſteigt in
gleichem Verhaͤltniß (natuͤrlicher Weiſe) auch meine
perſoͤnliche Selbſtzufriedenheit ins Unendliche fort.
3) Eben dieſes Steigen meiner Zufriedenheit, eine
Wuͤrkung meines Fortſchreitens im Sittlichguten,
aͤuſſert die Gegenwürkung auf meine moralifche
Geſinnung, die Hinderniſſe derſelben zu vermin—
dern, und ihr ſelbſt neue Staͤrke und Sefägkeit
zu verfchaffen;
4) Durch
160 Critik ver peaftifchen Vernunft,
4) Durch allesdieg wird eine Einfchränfung der Sitt⸗
lich£eit und des Wohlfeyns nach der andern weg»
geräumt , eine Annäherung zu dem Ideal der Hei-
ligfeit und Geligfeif bewirkt und das Mißverhaͤlt—
- ni. zwifchen den Wohldefinden und dem Wohl
verhalten ſchon auf dieſe Arc in Anfehung meiner
verringert und der zweckmaͤſſigen Proportion näher
gebracht.
Dieß laͤßt Ach durch das Beyſpiel eines Menſchen erlau 7.
tern, der fich lange Zeit in der Tugend übe, und eben
darum immer weniger Schwürigfeit und mehr innerliche
Belohnung des Bewußtſeyns darinn finder.
’ 6. 191.
5) Indem ich dieß alles ($. 190.) nicht nur in Ans
fehung meiner, fondern auch in Anfehung aller an⸗
dern: endlichen vernünftigen Weſen annehme: ſtelle
ich mir eine Gefellfhaft verhünftiger Geifter vor,
Die alle insgeſammt in fubieftiver Moralitaͤt und in
perfönlicher Selbftzufriedenheit harmonifche Zore
fihritte machen, und worian iedes Glied, diefen Foͤrt⸗
fchritten gemäs, das Seinige beyrrägt, Sittlichkeit,
Wohlfeyn und die zweckmaͤßige Proportion zwifchen
beyden zu befördern.
Aug der Erfahrung von den Folgen, die dus den ver-
einigten Bemühungen einer Geſellſchaft gutdenfender
Menſchen für irgend einen. guten und moralifchen Zweck
entſtehen, laͤßt ſich dieſe idealiſche Vorſtelung erlaͤutern.
— 6. 192.
J
s
2 —
Critik der praktiſchen Vernunft. 161
$. 192.
Unſterblichkeit.
Soll in einer moraliſchen Welt (8. 188.) das endli-
che vernünftige Wefen ins Unendliche hin Forftſchritte
machen Fönnen in der Tugend und in der Zufriedenheit
mie fich ſelbſt ($. 190. 191.): fo muß ich ferner an
nehmen : NAD m
6) Ich felbft und iedes endliche vernäuftige ‚Mefen'
hat eine ing Unendliche fortgehende Lebensdauer,
worinn ein unendliches Fortfchreiten möglich iſt —
UnfterblichFeit.
Diefe Unfterblichfeie Tage fich zwar nicht theoretifch er»
weiſen; es iſt aber auch fein Beweiß für das Gegentheil
davon aus theoretifchen Gründen möglich; vielmehr
ſtimmt diefe Cpraftifch nochmendige) Verſtellungsart mie
der Analogie der erfennbaren Natur ſehr wohl zuſammen.
$. 193.
Beſte Welt, )
Die Vollkommenheit einer moralifchen Wele ($. 189.),
ſchließt aber nicht blos die unendliche Fortdauer und da—
durch mögliche Fortbildung und innere Befeligung der
vernünftigen Weſen in fich, fondern fie erfordere auch zu
gleicher Zeie eine harmoniſche Einrichtung der übrigen
Dinge und ihrer Verbindungen und Geſetze zu Beförde-
rung des vernünftigen Endzwecks. Wir mäflen alfo
annehmen
| Moralphiloſophie. ß 7) eine,
162 Critik der praftifchen Vernunft,
7) eine ſolche Einrichtung der Welt und ein folches
Verhältnif der Naturgefege zu dem Gittengefeke,
vermöge deren der ganze Einflug der Naturfrafte
auf das Wohl der vernünftigen Wefen ihrer Gitt-
lichfeie im Ganzen mwürflich entſpricht — wenn
gleich dag finnlich befchranfte Wefen (mie 5. B. der
Menſch) dieſe vollfonimene Uebereinftimmung in
feinem Zeittheile feiner Exiſtenz anfchauend erfen-
nen kann.
$. 194.
Diefe Harmonie ($. 193.) muß zwar in der Sin-
nenweit vorhanden feyn ; weil Empfindung des Wohl
ſeyns nur in diefer finnlichen Einrichtung ftatt finder.
Sie ift aber deshalb nicht aus den Gefegen der finnlichen
Natur erfennbar , fondern in hohern, blos vernünftig
denfbaren , nothmwendigen Gefegen und in unbekannten
Gründen aller Erfcheinungsregeln gegründet.
$. 195:
Optimismus,
Die befte Welt oder der Optimismus iff ein Ideal
entweder blos der empirifchen, oder blos der reinen,
oder der reinen und empirifchen Bernunfe in Verbindung.
a) Ein Jdeal blos der empirifhen Vernunft:
Die grogte Summe von Wohlſeyn, durch phy-
fiihe Gefege bewürft, worunter Die morslifchen
nur mit begriffen find, als Mittel das Wohl
ſeyn zu befordern. Dieß ıft Die Welt nach dem
Leib⸗
Eritif der praftifchen Vernunft, 163
Leibnitziſchen Optimismus, welcher der Morali⸗
taͤt in hohem Grade ſchaͤdlich iſt; denn er legt
der Moralitaͤt nicht an ſich und um ihrer felbſt
willen, ſondern nur in Bezug auf Gluͤckſelig—
keit einen Cäuffern) Werth bey, und-läßt mich
alles von der Natur, nichts von meiner Frey⸗
heit erwarten:
b) Ein Fdeal der reinen Dernunft: vollkom⸗
imene und ungehinderte Moralitaͤt — ohne über-
einftimmendes Wohlſeyn.
Diefes Ideal widerjpricht der Natur endlicher und dat-
um jederzeit auch ädfferlich bevürftiger Wefen , und laßt
ſich nicht einmahl durch Annäherung realifiren.
c) Ein deal der reinen und der empirifchen
Vernunft. Es verbindet die beyden vorigen
Begriffe in Einem Ideal — von einer Harmo»
nie der Natur mit der firtlichen Welt, einer Be-
ſtimmung des Wohlſeyns zu moralifchen Zwecken.
In diefem Syſtem mache das reine Fdeal (Rum. b) die
Grundlage aus, womit das blos empirifche (Num. a)
Auf eine folche Art verbunden wird, daß es dem Erſtern
negativ und pofitio untergeordnet if. D. h. Moralis
tät ift der oberfte, hoͤchſte Zweck, der allen vorgeht;
Wohlſeyn wird uur fo weit befördert, als es iener ober:
fien Bedingung nicht widerſpricht, und dem bberſten
Zwecke beförderlich ift:
Dieſes Ideal Om. c) hat die moralische Wuͤrde
22 dee
164 Critik der prafeifchen Vernunft,
des Neinen (Num. b), und verbindet Damit Die Anges
meffenheit des Empirifchen (Rum. a) zu unfrer finnlichen
Natur. Es entfprichk Diefer ganzen vernünftigen Nas .
tur, und iſt eben Darum emer annaͤhernden Nealifirung
durch Vernunft gar wohl fähig. |
$. 196.
Verhaͤltniß der beften Welt zu unfrer
Anſchauung.
Weil ich endlich bin, fo offenbarer ſich dieſe vollkom⸗
‚ mene Harmonie, mir (und iedem endlichen. Weſen) nies
mahls in ihrer Vollſtaͤndigkeit, fondern ftufenmeife im
iedem Folgenden Zeitpunfte meiner finnlichen Exiſtenz.
Das hoͤchſte Gut exiſtirt nochwendigermeife als etwas
Unendliches und Ewiges. Das Endliche und Fortſchrei—
tende in demſelben liegt nur in ber Endlichkeit und in
dem zeitmaͤßigen Fortſchreiten der Anſchauung meines
innern und aͤuſſern Sinnes. In feinem Zeittheile iſt
es ganz vorhanden, ſondern nur in der Ewigkeit. Das
Ganze beſitzt ein endliches Weſen nur in der Hoffnung
und in der Vernunftidee von Unendlichkeit.
$. 197.
Kealität dieſer Ideen.
Die Idee von einer ſolchen Welt, und von einer
ſolchen Art meines Daſeyns in derſelben ($. 189 —
196.), läßt ſich, was ihre Wahrheit und Guͤltigkeit
betrift, nach Gründen, theilg der theoretifchen , cheils
der praktiſchen Vernunft unterſuchen. Auf dieſe Art
kommen
Critik der prafeifchen Vernunft. 165
kommen zwar verſchiedene, aber doch nicht widerſprechen⸗
de Reſaltate zum Vorſchein.
6198.
Theoretiſche Guͤltigkeit.
Erſtlich, theoretiſch betrachtet, macht es die
Natur unſers ſinnlich eingeſchraͤnkten Vorſtellungsver—
moͤgens uns unmöglich, das Daſeyn einer ſolchen
Welteinrichtung und einer ſolchen Art und Dauer unſrer
perſoͤnlichen Exiſtenz durch Erfahrung — die nur auf
das Endliche gehe — oder auch durch ſpekulative Ders
nunftgründe, die uns nur mit unfern eignen Ideen bes
kannt macht, Denen Die wirklichen Gegenftände nicht
ſchlechterdings entfprechen müffen — zu erweifen.
.$ 199.
Zweytens praftifd) betrachtet, bin ich mich des
moralifchen Gefeges, und der unbedingten Nothwendig—
keit, ihm als vernünftiges Wefen Folge zu leiſten, bes
wußt; Moralitäe erkenne ich daher als das oberſte Sur
und als meinen hoͤchſten Zweck. Ich bin mir zugleich
des Bedürfniffes der Glücfeligfeit und des bedingt noth-
wendigen Beſtrebens nach feiner Befriedigung bewußt.
Die Vorfhriften meiner empirifchen Vernunft, mie ich
glückfelig werden fol, freffen an fich felbft nicht noth—
wendigerweiſe mit den fitelichen Forderungen zufammen.
Die Moralitär iſt alſo, natürlich betrachtet, nicht mein .
vollftändiges Gut. ch achte mich verbunden, das mo-
raliſche Geſetz allem übrigen vorzuziehen, und dem Ziele,
ae das
166 Critik der praftifchen Vernunft,
das es mir vorhalt,, ſtandhaft und iedem Hinderniffe
Trotz bietend nachzufireben. Um die der finnlichen An-
triebe ungeachtet, thun und die fittliche Zriebfever un—
umſchraͤnkt wuͤrkſam machen zu konnen, muß ich mir
den rein vernünftigen) und den empiriſch vernünftigen
Zweck als vereinbar , und zwar nur fo vereinbar geden⸗
fen, daß das unbedingte und uneigennügige Streben
nach dem rein vernünftigen, oberften Gute mich zugleich
des. empirifch vernünftigen Gutes nicht beraube, und
alfo des vollftändigen Gutes (das beyde begreift) theil-
haftig mache. Dieß ift aber nur möglich, unter der
Dorausfegung, daß ich ins Unendliche fort mit iedem
vernünftigen Wefen fortdauere, und daß eine moralijche
Welteinrichtung eriflire.
Ih will und glaube daher, durch das moraliz
ſche Gefeg und durch die praktiſche Einrichtung meiner
übrigen Natur dazu gedrungen, daß ich, als ein un:
fterblihes Wefen fortdauere, und daß eine fit;
lidye Welt würklich vorhanden fey.
$. 200. !
Diefes Wollen ift freylich Fein. obieftiver Grund
des mürflichen Vorhandenſeyns, noch auch ein theo=
retifcher Erfenntnifgrund davon oder ein Beweiß, ſon⸗
dern lediglich ein fubieftiver aber doch zureichender Grund,
diefe Vorftellungsart von der intelligiblen Welt, wovon
mir doch eine fpefulative dee haben, als die einzige
praftifch faugliche, d. h. der einffimmigen Handlungs;
weiſe unfrer Vernunft angemeffene Art, fich Die Welt
ein⸗
Eritif der praftifhen Vernunft. 167
einrichtung beſtimmt zu gedenfen — gelten zu laſſen,
und (da einmahl auf beſtimmte Weife gehandelt werden
$. 201.
Diefer Grund würde frenlich zum Glauben nicht
zureichen, wenn entweder fein unbedingtes Gebot fur
Moralitat, oder Fein bedingte nothiwendiges Streben
nach Glücfeligfeit vorhanden, oder eine andere VBerbins
dungsart diefer beyden collidirenden Beftrebungen moͤg⸗
lih,, oder wenn endlich der Begriff einer intelligiblen,
von der Sinnenwelt unterfchievenen Welt gänzlid) ers
Dichter, und die erfennbare Welt ein Innbegriff von +
Dingen an fich felbft wäre,
| $. 202.
Allein diefer Begriff ift nicht nur zuläßig , fondern
auch durch die Spefulation norhwendig, nur unbeftimme,
und um deswillen einer praftifchen Beftimmung fähig.
Diefe Beftimmung iff ferner der Spefulation eben fo
wenig entgegen, als demienigen, was die Erfahrung
lehrt. Denn betrachten wir mit VBorausfegung von der
Realität diefer Idee die Welt, fo wie unfer finnlichee
Derftand fie erfennen kann, fo finden wir theils man;
nigfaltige Beftätigungen verfelben in einzelnen Einrichz
tungen und Gefegen der Natur *), z. B. die Harmonie
24 | der
”) Han darf diefe Beſtaͤtigungen der a priori porausge:
festen fittlichen Zweckmaͤßigkeit eben ſo wenig in ein⸗
zelnen Ericheinungen und Vorfaͤllen, die der entlib-
14
68 Eritif der praftifchen Vernunft,
der natürlichen Neigungen mit dem ſittlichen Geſetze theils
mannigfaltigen Stoff zum Zweifel, welcher aber durch
unſre Unwiſſenheit und Eingeſchraͤnktheit (da wir wes
der den Grad der Moralitaͤt noch die Groͤße der Gluͤck—
ſeligkeit in einzelnen Faͤllen beſtimmt und genau zu er⸗
kennen vermoͤgend ſind) vollkommen begreiflich, und
durch Betrachtung derſelben unwuͤrkſam wird. Unſre
Naturforſchung empfaͤngt nun eine teleologiſche Rich—
tung.
6. 203.
Gottheit,
Die dee einer moralifchen Welteinrichtung, vie
fih meinem fittlichen Intereſſe aufdringt, bedarf einer
anderen dee, wodurch iene eine der theoretifcen Ver⸗
nunft angemeſſene Haltung bekommt. Dieß iſt die
Idee von einem moraliſchen Urheber des Univerſums,
einer Gottheit. Wenn ich mein praktiſches Vernunftge⸗
fchäfte vollenden, wenn ich mir die moralifche Einheit
in der Welt vernunftmäßig denfen will, fo muß ich mir
die (intelligible und zwar moralifche) Welt als das Werf
einer Gottheit gedenfen. ch glaube Daher
8) an. das Dafeyn eines Weſens, Eines oberſten
Princips, woraus die Gefeze der Natur und der
Sitten entſprungen find.
$. 204.
keit zutraͤglich ſcheinen, aufſuchen, als der Phyſikotheo⸗
log daſſelbe im Abſicht auf, phnfifche Zweckmaͤßigkeit
thun darf. Es kommt in beyden Faͤllen anf Einrich⸗
tungen nach Tratusgelgken nur an,
Critik der praktiſchen Vernunft. 169
$. 204.
Prektiſche Gerundbeſtimmungen des Begriffs
von der Gottheit,
1. Dernunfe und Wille. Moralifche Wuͤrkſam⸗
feit, die wir der Gofrheit, in Abficht auf die Welt,
zufchreiben muͤſſen, läge fih nur Durch praftifche
Vernunft begreifen. Wir legen fie ihr alfo ben,
als die erſte Grundbeſtimmung unfers Begriffs von
einen Wefen, von welchem eine moralifche Welke
einrichtung ihr Dafeyn empfangen har.
2. Erkenntniß der Welt.
3. Mach. Ohne dieſe Beſtimmungen waͤre der (mo⸗
raliſche) Einfluß der Gottheit auf die Welteinrich«
tungen und Begebenheiten nicht denkbar.
$. 205.
Unendlichkeit.
Ein Weſen, deſſen Cauſſalitaͤt der moraliſchen For:
derung vollſtaͤndig entſprechen, und welches der zureis
chende Grund einer intelligiblen und zwar moralifchen
Welt feyn fol, darf mit feinen Einfchränfungen gedacht
werden. Wir fondern alfo aus demſelben Grunde, wars
um wir es überhaupt uns gedachten, und warum wir
ihm praktiſche Dernunft, Erkenntniß der Welc und
Macht ($. 204.) beylegten, alle mögliche Schranfen von
den Merfmahlen diefes Begriffes ab. Die Gottheit befizs
demnach
1. höchſte Vernunft, d. i. Weisheit; |
e5 a) theo⸗
‚170 Critik der praftifchen Vernunft.
a) cheorerifche höchfte Vernunft und Weisheit,
d. i. Erfenntniß des höchften Gutes.
b) praktiſche höchfte Vernunft und Weisheit,
d. i. Angemeflenheit des Willens zum hochften
Guten ;
2. höchſten Verftand, d. i. Allwiſſenheit.
3. Allmacht.
$. 206.
Nähere Beſtimmung.
Der Begriff
3) der höchften fheoretifchen Vernunft ſchließt in fich
— Unabhängigfei der Vorftellung des
höchſten Butes von Sinnlichkeit, als_ einer
Quelle eingefchränkter Vorſtellungen von unvolk
fommenen Gütern ;
2) der höchften praftifchen Vernunft oder der Weis-
heit iſt einerley mit dem Begriffe des beiten Wil;
lens oder der Heiligkeit, und fchliege in ſich Uns
abhaͤngigkeit von allem Einfluffe ver Sinnlichkeit
als einer Quelle von Begehrungen — abfolute
innere Freyheit, Selbſtgenügſamkeit;
3) des vollkommenſten Verſtandes muß abgeſondert |
gedacht werden von allen Einfhränfungen des Vers
frandesgebrauches durch die Verbindung mit Sinn—
lichfeit. Der höchfte Verftand darf feinen-Stoff
nicht anders woher befommen, er muß jelbft anz
‘
hauen,
*
Critik der praftifchen Vernunft, 171
ſchauen, als ein Vermögen intellektualer Anz
ſchauung. Seine Erfennmiß iſt nothwendig a
priori , d.h. fie beſtimmt feldft das Daſeyn alles
deſſen, was exiſtirt.
4) Der Begriff der vollkommenſten Macht ſetzt Un⸗
abhaͤngigkeit von allen aͤuſſern Beſtimmungen und
Hinderniſſen der Wuͤrkſamkeit, oder abſolute
äuſſere Freyheit voraus.
Theils Folge, theils Bedingung aller dieſer Eigen—
ſchaften iſt
5) unendliche Selbſtzufriedenheit oder Seligkeit
§. 207.
Metaphyſiſche Eigenſchaften.
Der Begriff eines Weſens, dem die bisher erflär-
ten zur Begründung einer moralifhen Welt unmittel-
bar erforderlichen Eingenfchaften zufommen, muß durch
folgende metaphyſiſche Praͤdikate, als die vernünftig
denkbaren Bedingungen ſeiner Moͤglichkeit beſtimmt wer⸗
den. Sie laufen nach Ordnung der Categorien fort.
1. Pofitiv und Rein. —
a. Abſolute Vollſtaͤndigkeit des Innbegriffs We⸗
ſen aller Weſen)
b. Abſoluter Realitäten (Realſtes Weſen) in
einem
c. Abſolutem Subiekte (Ein Einfaches Weſen)
mit
172 Critik der praftifchen Vernunft.
mit abjoluter GSelbftthätigfeie (Sreyes Wefen)
und Sarmonie, welches
d. Schlechterdings nothwendiger Weife (als Ur;
weſen) eriftirt. |
2) Negativ, in Bezug auf die finnlichen Einfchrätte
kungen endlicher Mefen. N
Abweſenheit aller einfchränfenden Bedingungen ‚ die bey
finnlichen Gegenftänven fich befinden, nehmlich
2. ber ertenfiven Gröffe. Unzulänglichfeit ieder
Zahl um das Verhältnig diefer Größe zu Raum
und Zeittheilen zu beſtimmen; Unermeßlichkeit.
&) Nichtſeyn aller raͤumlichen Einſchränkungen;
Allgegenwart;
PR) aller Zeitſchranken; Ewigkeit.
b. Der innern Groͤße. Untauglichkeit ieder end⸗
lichen Kraft zum Maasſtabe für die Goͤttliche;
Abmefenheit aller denkbaren Grade; Zulaͤnglich⸗
keit der Kraft zu iedem möglichen Effekte. Un⸗
endlichkeit.
c. Der Relation. Unabhaͤngigkeit des Daſeyns der
Subſtanz mit allen ihren Beſtimmungen, Nicht-
feyn aller Zufälligfeiten in der Gottheit; abſo⸗
Inte Selbfiftändigkeit, Unveränderlichkeit.
Abhängigkeit aller görtlichen Ihätigfeiren von der
göstlichen Beoit, mir Ausfchliegung iedes andern
Beſtim⸗
—
Critik der praktiſchen Vernunft. 173
Beſtimmungsgrundes; abſolute Selbſtthätig—⸗
keit.
Nichtſeyn aller innern Einſchraͤnkung der goͤttlichen
Thaͤtigkeiten durch ſich ſelbſt, alles Widerſtreits;
abſolute Harmonie.
d. Der Modalitaͤt. Unabhängigkeit des Dafeyns
von allen andern, auffer ihr ſelbſt; abſolute
sep Wenbigtelt, afeitas,
§. 208.
Gute, Gerechtigkeit,
In dem Begriffe der Weieheit ($. 204. f.), oder
der Beförderung des. höchften und vollftändigen Gutes
in der Welt, unterfcheidee man Güte und Gerech
tigfeit.
Güte wird der Gortheif beygelegt, infofern alles
Wohlſeyn in der Welt von ihr abhängt; Gerechtig⸗
keit, inſofern die goͤttliche Veranſtaltung des Wohlſeyns
der vernünftigen Weſen dem hoͤhern Zwecke der Befor—
derung ihres oberſten Gutes, d. i. der Sittlichleit un—
tergeordnet, und dieſe zur Bedingung des Wohlſeyns
gemacht worden iſt. Gerechtigkeit iſt demnach ein mehr
beſtimmter Begriff, als Guͤte, und die letztere kaun mit
ihr in keine Colliſion kommen.
174 Critik der praftifchen Vernunft,
$. 209.
Wahrhaftigkeit, Gnade, Barmherzigkeit,
Geduld u ſ. w,
Auffer der Guͤte und der Gerechtigkeit giebt es Fels
he moralifche Eigenfchaften , die von den genannten ver:
fihieden und dennoch der Gottheit nicht unwuͤrdig Wäs
ren Was man von andern Prädifaten anfuͤhrt, iſt
enttveder mit ienen einerley, oder nicht moralifch, wo
nicht gar unmoralifh. Go ift z. B. Wahrbaftigfeit,
fo weit es ein moralifcher Begriff iſt, in der Heilige
keit ſchon enthalten, abet feiner beftimmten prafeifchen
Erklärung, als Präadifat der Gottheit fähig, und feine
einzelne Thatſache darf daraus beſtimmt oder darnach bes
urtheile werden *):
Gnade bedeute: 1) Güte eines Großen und Mäd:
tigen, dem man durch feinen phyfifchen Zwang beykom⸗
men fann, und von dem man wegen der Erhabenheit
feines Standes feine eigentliche Güte, feine Aterfens
nung der gemeinen Menfchenpflicht gegen gemeine
Menſchen erwartet. In diefem Sinne ift der Ausdruck
ein verftefter Vorwurf, nehmlich eine Anerfennung der
bürgerlichen Hoheit mit Herabfegung feiner menſch⸗
lichen
*) Daß die Theologen gerade diefe einzelne menfchliche
Tugend „Wahrhaftigkeit“ befonderd angeführt
und der Gottheit bengelegt haben, da fie andere menjch-
liche Arten, firtlich zu bandlen , 3. B. Maͤßigkeit eben
ſo fehicklich. oder unſchicklich hatten anführen Fünnen,
iſt lediglich um der Dffenbahrung willen geſchehen, zu
welcher Abſicht man diefen Begriff noͤthig zu haben
meynte.
Critik der praktiſchen Vernunft, 175
lichen Würde, Die eben in Erfüllung der Pflichten bes
fieht ; eine Aeuſſerung, die demienigen Theil der Grof-
fen, der die Menfchenmwürde noch anerfennet, zuwider
und für ihn beleidigend if. Auf Gott angewandt, die
größte Kafterung. 2) Güte auf Koſten der Gerechtig--
feit, Erlaffung verdienter, Strafe. Beförderung des
Wohlſeyns ohne und wider den Zweck der Gittlichkeir:
Abermahls Gottes: Laͤſterung. 3) Nachſicht gegen pers
fönliche Beleidigungen, aus Gefühl der Größe. Paßt
nicht auf Gott, weil er überall feiner Beleidigung fä-
big ift: 4) Unterlaffner Gebrauch von feinem Rechte zu
Gunften andrer. Gottes Rechte collidiren mit dem Rech:
te und Vortheil feines vernünftigen Weſens. Nimmt
man Gnade 5) für eine Güte, der fein Recht auf
Seiten des Andern entfpricht : fo ift alles Gnade, und
fie it von Güre überhaupt nicht zu unterſcheiden.
Barmheraigkeit für Güte; Aus Antrieben der
Sympathie — iſt Schröäche und kann unmoraliſch feyn 5
feine Wohlthätigfeit gegen Bedürftige, ift einerley mit
der Gute: Denn alle endliche Weſen haben Beduͤrfniſ⸗
ſe, denen die Gottheit abhilft.
Geduld für die Geſinnung, nicht alle Beleidigun⸗
‚gen zu rächen; Langmuth für die Geſinnung, nicht
gleich zu firafen, fondern Beffeung abzuwarten — find
ebenfalls Begrifje, die auf unmürdigen Vorausfegungen
von Beleidigungsfähigkeit, oder von ſchwacher Güte,
die von den allgemeines Regeln der Weisheit abgeht,
beruhen, und weil fie die Sjvee von der Gottheit zer—
ſtoͤren
a a —
176 Critik der praftifchen Vernunft,
frören und ihrer moralifchen Würfung offenbar großen
Abbruch tun, allmählig Cfelbft bey dem Volke) in Ver-
gefferheit gebracht und zu den übrigen mythologiſchen
Vorſtellungen des Findifchen Menfchenwerftandes von
Verſoͤhnung u. d. gl. verwieſen werden follten.
2 U
Berhältniffe Gottes zur Welt.
1. Als erftes und ewiges Princip alles Dafeyns heißt
Gott, Schöpfer und Erhalter.
2. As Realgrund aller Moralitaͤt durch die Vernunft
— Geſetzgeber.
3. As Princip aller Nafureinrichtungen und Bege⸗
benheiten, die auf das gemeine Wohl abzielen ;
Begent.
4. Als oberfier Beffimmungsgrund aller Proportion
der Glückfeligfeit zu der Sittlichkeit vernünftiger
Wefen, wird er ihr Richter genennt.
Gar,
Durch fpefulative Gründe erfennen wir nicht ein
mahl die Möglichkeit, gefchweige denn das Dafeyn eis
nes folchen Weſens, jedoch eben fo wenig die Unmöglichkeit
deffelben. Die Natur unfres Vorftellungs - und Er>
kenntnißvermoͤgens mache uns aber die inmöglichkeit voll⸗
kommen begreiflich, iene Moͤglichkeit oder Unmöglichkeit.
zu beurfheilen,
. ‘. 2I2,
»
x * —
Critik der praktiſchen Vernunft. 177
§. 212.
Die reine Vernunft enthaͤlt die Idee von einem
Weſen, deſſen Begriff die oben -($. 207.) erklaͤrten
metapbufifchen Eigenfchaften der Gortheit, als feine
Merfmahle enthaͤlt; fie finder es auch ihren Grundfägen
und Zwecken ſchon in theorerifcher Abficht am gemäffe-
ſten, dieſen Begrif durch die Pradifate „Vernunft und
Willen‘ näher zu beffimmen, und mit ihrer Erkenntniß
von der Welt auf diefe Art zu vereinigen. Allein wenn
fie gleich nichts ihren Geſetzen Gemafferes Vernunft⸗
maͤſſigeres) uͤber die Gruͤnde der Sinnenwelt und ihres
Zuſammenhanges beſtimmen kann, als eben dieſen Be—
griff von einer Gottheit, als Intelligenz: ſo kann ſie
doch Feine abſolute Unmoͤglichkeit des Gegentheils ein:
ſehen (ſie muͤßte denn ihre Unwiſſenheit zur Erkennt—
nißquelle machen), und es iſt auch fein Noͤthigungs—
grund für fieda, über diefe Frage beffimme zu entfcheis
den. Michin bleibe dieſelbe unentjchieden.
$. 212.
Was durch bloße Spekulation nur als vernünftige
theoretifche Hypotheſe, um die zmerfmäfige Einrichtung
der Sinnenwelt zu erflären, und als eine den zufälligen
Zwecken der Naturforſchung günftige Vorausſetzung er—
Fannt wird, das erfcheint hier als eine praktiſch noth⸗
wendige 5ypotheſe. Es ift nehmlich (wie obeners
wieſen worden $. 188.) praftifch nothwendig, eine mo—
ralifche Welt anzunchmen. Die Epiften; derjelben Fon:
nen wir ung aber nur dann gedenfen, wenn wir ein
Moralphiloſophie. M hoͤchſt
*
—ñ—
178 Critik der praftifchen Vernunft,
höchft vernünftiges Wefen als Beflimmungsgrund ih-
rer Geſetze vorausjegen d.h. eine Gottheit glauben.
Das moralifche Geſetz macht es uns alfa in unferm Be
wußtſeyn nofpwendig, hierüber zu entfcheiden, und die
theoretifch vernünftigfie Behauptung über dag Princip
der Welteinheit, der Unzulänglichkeit ihrer Beweißgruͤn⸗
de ungeachtet, als wahr gelten zu laflen und ihre Grün-
de als zureichend anzunchmen. Für uns als mora;
liſche Wefen exiſtirt alfo eine Gottheit, meil es
uns unendlich intereffirt , dag oberſte Bernunftgefeg, wel
ches wir durch reine Vernunft über alles ehren und achten
muͤſſen, auch von ganzem Herzen lieben und mit Einftim=
mung der empirifch angewandten Vernunft, alſo mit
ungetheiltem Beftreben ausüben zufönnen. Lieben Fön;
nen wir dieſes Gefeg nur alsdann, wenn wir die mög-
lichſte Cohnehin fhuldige) Beobachtung deflelben als eis
nen Grund anfehen, der uns zu der Hoffnung eineg
genau angemeflenen Wohlſeyns berechtigt. Diefe Hoff
nung ift aber grundloß, wenn Feine moralifche Welt
einrichtung eriftirt, als deren NRealgrund wir ung nur
die Gortheit vorfiellen Fönnen. ;
$. 214.
Diefer Glaube ffügt fich alfo auf Feine millführliche
Erdichtung eines ſpekulativ gleichgültigen oder grundlo-
fen Begriffes; er iſt Fein blinder Glaube, ſondern er
nimmt das Beduͤrfniß nun zum Entfiheidungsgrunde
nach theorerifchen Gründen an, die an ſich zur fichern
Entfcheidung nicht zureichten.
6 215.
——
ss Tre u
}
Critik der prafeifchen Vernunft, 179
G 215.
Kein Bedürfnis, felbft das oberffe und moralifche
Vernunftbeduͤrfniß nicht, kann die Stelle eines Beweis
fes vertreten. Es giebt alfo feinen moralifchen Beweiß
fuͤrs Daſeyn Gottes, obgleich einen moraliſchen Grund,
für das Dafeyn Gottes nad umvollftändigen
Beweißgründen zu moraliihen GEndzwecken zu
entjcheiden.
Lediglich von diefem Mißverſtande hange eine Men-
ge von Einmwürfen gegen die Kantfche Moraltheologie,
und vornehmlich der Harte Vorwurf ab, als enthalte fie
einen Verfuch, den blinden Glauben wieder einzuführen.
| . 216 |
Anthropomorphismus,
Unfer Begriff von der Gottheit giebt uns nur ihre Bes
ziehungen auf die Welt uzd die Bedingungen an, uns
ter welchen unfer Verftand fich diefelbe als möglich vors
ftellen kann. Er enthält alfo einen Anthropomor⸗
phismus. Diefer iſt aber
1) der Reinheit des Begriffs nicht nachtheilig, denn
es ſoll dadurch nicht das Weſen Gottes an ſich
ſelbſt oder die inneren Bedingungen feiner Moͤglich—
keit beffimmt werden. Dieß wäre widerfprechend.
2) nicht vernunftwidrig; denn die Praͤdikate ſind le⸗
ie von der Vernunft ſelbſt hergenommen.
3) der praftifchen Intereſſe fo wenig Ginger, daß
es vielmehr nur Dadurch befördert wird. Es in-
M 2 tereſ⸗
180 Critik der praftifchen Vernunft,
—
tereſſirt uns, als moraliſche Weſen, nicht was
Gott an ſich iſt (wovon wir auch nichts wiſſen, noch
erfahren koͤnnen), ſondern was er fuͤr die Welt
und fuͤr uns iſt. Dazu ſind die rein metaphyſi—
ſchen Merkmahle zwar nothwendig, aber nicht zu—
reichend.
& 217—
Religion.
Die abſolute ſubiektive Bedingung alſo, die wir in
dieſem vierten Probleme (von $. 167. an) ſuchten, uns
ser welcher der Vorſatz das moralifihe Gefeg auszuüben,
ffandhaft feyn, und die ächt moralifche Triebfeder mit
ieder andern Triebfever (vernünftigen Beweggrunde)
vereint und dadurch von bedingte nothwendigen Hinder-
nißen frey werden kann, iſt Religion d. h. die Vors
ſtellung aller Pflichten, als Gebote der Gottheit, Die in |
alle Emigfeit Hin ihre Beobachtung mit denienigen Sol»
gen verbindet, die die Vernunft als ihnen angemeflen
verbindet, und die zufälligen finnlichen Zwecke der ver-
nünftigen Wefen in eben dem Verhaͤltniße begünftigt,
als diefe den oberflen Zweck an ihrem Theil unverleglich
halten.
u 1
Moralifche Gefinnung kann und foll durch Reli:
gion nicht erſt hervorgebracht werden, fie wird viel-
mehr daben vorausgeſetzt, als der entfcheidende Grund
für ven Glauben an ihre Gegenftände — Gottheit und
Unſterb⸗
’
Critik der praktiſchen Vernunft, 187
Unfterblichkeit. Da die Exiſtenz derſelben (obiektiv)
problematifch bleibe, und nur fubieftiv ein Gegenftand
des Glaubens und der Hoffnung iſt, fo iſt diefe Vor⸗
fiellungsart nur dazu dienlich, Hinderniffe der fittlichen
Gefinnung und ihrer Wirffamfeit wegzuräumen, ohne
daß die Reinheit der Gefinnung, die von ihrer Frey⸗
heit abhängt, dabey verlohre.
Ware im Gegentheil das Dafeyn Gottes und unf
re ewige Fortdauer apodiftifch gewiß, aus blostheore-
tiſchen Gränden, ſo waͤre die Vorftellung davon feldft eine
ſolche Triebfeder , legal d. i. den göttlichen Geboten ge-
mäs zu handlen, welche die ächtmoraliſche verdrän«
gen und alle innere Würde vernichten würde, ).
M3 $. 219,
*) Man darf alfo Feine Pflichten oder auch Rechte auf
die Vorausfegung des Dafenns Gottes oder unfrer, Unz
ſterblichkeit gründen, welche aufferdem ungultig waren,
fondern iede Erdenpflicht und iedes Menfchenrecht mug
den irrdiſchen Verhaͤltniſſen angemeſſen ſeyn. Das
Raͤſonnement, wodurch einige Moraliſten (z. B. Hr.
Eberhard Gittenlehre der Vernunft $.
49.) dıe Todesſtrafen zu vechtfertigen juchen, iſt in
dieſer Ruckficht befonders merfmurdig.. Er jagt: „Da
„der zur Zodesftrafe Verurtheilte durch Die Vollzie—
„bung derfelben aufbört, ein Glied der birgerlicyen
„Gefellfehaft zu fenn: fo kann er in derfelben nicht
„mehr, als Zweck vollfommmer werden, wenn er fich
> „der Todesftrafe unterwirft. Er wurde alfo nicht ver⸗
„bunden fenn, fie zu leiden, wenn er nicht in einem
uſtande nach dem, Zode dadurch vollkommner wurde.“
Diefe aufferfte Zuflucht, wohin die Werrheidiger der
Zudesfirafen fich zuruͤckziehen muͤſſen, wenn fie nicht et⸗
wan uberall die Menfchen und ihre Zwecke dem Staate
Cohne feihe Glieder betrachtet, einem Undinge — )
und feinem Zwecke unferordnen wollen, wird dadurch
abgefchnitten, daß die IntauglichFeit aller Beſtim—
mungsgrunde der Pflicht aus dem Intelligiblen jr
N
E
382 Tritik der praftifchen Vernunft,
$. 219.
Aus reiner Achtung für das Sittengeſetz glaube ji
an Gottheit und Unfterblichfeit ; damit ich „dem , was
dieß freye Gefes meiner eignen Vernunft categoriſch ge⸗
bietet ‚ ungehindert in der Ausuͤbung nachkommen, und
iede andere Triebfeder, die mir Wohlfeyn zum Ziel ſetzt,
mif derienigen zu einem Zwecke vereinigen koͤnne, die ich
ohne Verläugnung meiner Vernunft und Würde niemahls
einer andern nachfegen und fruchtloß laſſen kann.
ARE. RE
6. 120,
Freyheit.
Die vier praktiſchen Abſoluta ($.24), welche
aller Moral zum Grund liegen, ſind durch die bisherigen
Unterſuchungen gefunden worden. Hiermit iſt zwar für
innere Feſtigkeit der Sittenlehre hinlaͤnglich geſorgt; al—
lein
ſen, und Religion der Moral untergeordnet wird.
Nach der entgegengeſetzten Denkart, da Moral auf Re⸗
ligionsuͤberzeugungen, vornehmlich auf poſitive fich gruͤn⸗
den ſolte, war es gar nicht fo unvernunftig und inconz
ſequent, es für Necht und Pflicht zu halten, dag man
einen Dienfchenraub , Freyheitsraub, Xebensraub u. d.
sl. Legienge, wenn nur dadurh Der Ueberzeu—
gung des NHandelnden gemäß (deren Richtig⸗
keit oder Unrichtigkeit den ſittlichen Werth ihrer Ber
folgung an ſich nicht beſtimmt) die ewige Selig—
keit des zeitlich gequaͤlten, Der getddteren Menſchen
Eönnte befördert werden. Es iſt alſo durchaus, Feine
muͤßige Spekulation, die auf Welt und Menſchen kei—
nen Einfluß hatte, wenn man fragt: ob Moral von
Kelision überhaupt, und infonderheit von einer poſiti⸗
ven Religion abhange, oder ob das Verhältniß gerade
umgekehrt fen ?
Critik der praftifchen Vernunft, 183
lein fie fiheiner wiederum dadurch) ſchwankend zu werden,
daß die fpeeulative Bernunft feinen als real ermiefenen Bes
griff von einem abfoluten Dermögen zu bandlen
(Freyheit) enthält, worauf der Moralift bauen koͤnnte.
Bielmehr enthaͤlt fie gewiſſe Principien, die geradezuauf
das Nichtſeyn eines folhen DBermögens zu führen und
hiemit dem ganzen Gebäude der Gittlidjfeit ven Um—
ſturz anzudrohen fiheinen,
6, 22T,
Zuſammenhang der vier praftifchen Abſoluten
mit Einem fpeculariven.
Sollen wir ein abfolutes Geſetz befolgen: fo
darf uns nichts von auffen zwingen oder nöthigen koͤn⸗
ne, anders su handeln 5 mir dürfen feinem fremden,
bedingt nothwendigen Gefeze der Natur fchlechthin uns
terworfen feyn. Soll ein-reines, durch bloße Vernunft
beftimmtes Gut unfer Ziel ſeyn, fo darf ung nichts nö»
thigen koͤnnen, ein andres Ziel uns vorzuſtecken. Soll
ein moralifches Gefühl Triebfeder unferer Handlun—
gen feyn, fo darf die Vernunft nicht von Antrieben
der Sinnlichkeit beftimmt werden, fondern die Vernunft
muß vielmehr die Sinnlichkeit nach ihren Principien mo=
dificiren koͤnnen. Goll endlich eine moralifhe Welt
eriftiven, mworinn das Wohlfeyn nach Wuͤrdigkeit ver
theileift, fo muß das vernünftige Wefen durch feine
Arc zu handlen eine innere, verfönliche Würde behaupten
Fönnen, welches ebenfalls ohne Freyheit unmöglich wä-
Mm4 - re,
284 Critik der praftifchen Vernunft, |
re, teil fodann diefe Arc zu handlen nicht das freie
Eigenthum des Wefens fondern nur ein glüclicher Er-
folg von dem Einfluße der Naturgeſetze wäre, denen
man bloß äuffern Werth der Brauchbarfeit,, aber feine
innere Vorzüglichfeit beylegen dürfte.
Ale vier praktiſche Abſoluta weifen alfo auf ein thes
pretifches Abſolutum, nehmlich auf ein abfolutes Ver—⸗
mögen zu handlen, ein Vermögen unbedingter Gelbfttha-
tigkeit oder Freyheit zurück,
6. 222.
So die Philofophie, welche von praftifchen Grunds
fägen aus und zu theoretifchen Vorausſetzungen übergeht.
Die Spekulation hingegen führet, wenn fie von ihren
eignen Grundfagen ausgeht und für. fich felbft das Ra-
fonnement fortſetzt, zulest auf folhe Behauptungen,
welche alle moralifche Gefege , allen Unterſchied zwiſchen
ſittlichen und natuͤrlichen Geſetzen und allen innern fitt-
lichen Werth zu vernichten ſcheinen. Dies macht noch
eine fritifche Unterfuchung ihres Innhalts, der Gründe
und der Gränzen ihrer Gültigkeit in praftifcher Abficht,
und eine Auseinanderfegung der Art und Weife noth—
wendig, wie die Principien der Vernunft in ihrer ges
doppelten Anwendung, der theoretifchen und der prak⸗
tiſchen, zufammenftimmen.
$. 223.
Syſtem und Folgen des Dererminismus,
Ale Handlungen meines Willens find nichts anders,
als Begebenheiten in der Natur, und alfo den Natur-
ge⸗
’
Critik der praftifchen Vernunft. 185
gefeken unterworfen, wornach iede Begebenheit in einer
beſtimmten Zeitreihe ihren geſammten Zeitverhaͤltnißen
gemaͤß nothwendig und unausbleiblich erfolgt. Es iſt
alfo ſchlechterdings unmoͤglich, daß ich etwas anderes
wolle, oder thue, als dasienige, was der Innbegriff
aller Zeitumſtaͤnde mit ſich bringt.
—
Um dieſem Grundſatze in feiner ganzen Allgemein⸗
heit treu zu bleiben, darf der confequente Deterz
minift die fogleich anzugebenden Folgerungen aus feia
nem Syſteme nicht abläugnen. *)
„Wenn es ein moralifches Gefeg giebt, fo kann es
nichts anderes ſeyn, alg Eines von den Naturgefegen,
wornach alle Erfolge in der Welt beftimmt merden.
Da deren mehrere find, fo kann dieſes Eine nur einige
Erfolge beftimmen. Die Gültigkeit eines Narurgefeges
iſt auf die Fälle feiner Wirkſamkeit eingefchränfe. Mit
bin iſt auch das fogenannte Sittengeſetz nur fo weit
gültig, als es befolgt wird, als“ es mit feinem andern
phyſiſchen Cpfpchologifchen) Gefege des Begehrungsver—
mögens in Collifion fommt. Verbindlichkeit Cdas
M5 Sol⸗
*) Da Fein mir bekannter Determinift diefe Folge—
zungen in fein Syſtem ausdrucklich und vollftandig aufs
genommen , und da vielmehr ein ieder es verfucht haf,
feine Grundfage mit der Moralitat fo gut toie immer
möglich zu vereinigen: fo wird mich niemand in Vers
dacht haben, als wollte ich hier mit irgend einem Des
terminiften fireiten, und wohl gar feine Moralität
angreifen. Ich erfläre und beftreite den Determis
nismus, ein Sufiem von Behauptungen und Solges
rungen, wie ich mir diefelben als zuſammen gehdrig
denfe, und bin vomaller perfbnlichen Beziehung ganze
lich entfernt,
186 Critik der praftifchen Vernunft,
Sollen) ift eine Art phnfifcher Nothwendigkeit der Würs
fung gewiſſer Naturfräfte, die durch den Einfluß ans
derer Naturfräfte unter gewiffen Zeitumftänden aufgehos
ben wird, alfo nur da und zu der Zeit vorhanden if,
wo und wenn Die Würfung zu Stande fommt. Pflidye
ift Die Nothivendigfeit, gewiſſe Nafurgefege des. Begehr
rungsvermögens zu befolgen. Verlegung der Pflidye
iſt nur eine Defolgung anderer, eben fo gültiger Na—
furgefege, Die aber nicht moralifch genannt werden,
welche die Befolgung der moralifchen unmöglich machte.
Das Pflichtmäſſige und das Pflichtwidrige iſt eine
gleich nothwendige und unhintertreibliche Folge aus dent
Verhaͤltniße, worinne unter den gefegten Umſtanden alle
Naturfräfte zu der meinigen ffanden. Die Vernunft
fann die Lebertretung eines moralifchen Gefeges nicht
tadeln, ohne parcheiifch ein gleichartiges Gefeg dem an-
dern, welches an feiner Stelle befolgt worden, vorzuzies
hen; ihre Beobachtung nicht loben, ohne Ein Gefeg
Einem andern von gleicher Nothwendigkeit vorzuziehen.
Alle moralifche Begriffe und Säge find phyſiſch zu vers
ſtehn, oder chimaͤriſch; alle Ausdrücfe in der Sprache,
die fie bezeichnen, (als Sollen, hätte follen, es
war Pflicht u. d. gl. ), verlieren ihre eigentliche Be⸗
deutung, im welcher fie von dem Phyſiſchen gänzlich un:
ferfchieden werden.“
6. 224.
Eritif der praffifchen Vernunft, 187
§. 224.
Determinismus, Indeterminismus.
Wird die Frage über Sreyheit und Nothwendigkeit -
des Willens alfo beftimme :
Giebt es Gefege, wornach die Zandlungen
des Willens jedesmal auf beſtimmte Weiſe
erfolgen, oder giebres Feine?
fo entſcheidet die Vernunft, ihrer Natur gemäß, allge:
mein für Gefege und verwirft alle Geſetzloſigkeit. Der
terminismus, wenn man Darunter eine Philofophie
verfieht, die ieden Zufall in der Natur laͤugnet, und
iede Erklärung einer, Begebenheit aus dem Zufall ſchlecht⸗
hin verwirft, iſt die einzige wahre und vernuͤnftige
Philoſophie, da im Gegentheil der Indeterminismus
oder die Behauptung von geſetzloſen Erfolgen in der
Natur allen theoretiſchen und praktiſchen Vernunftge—
brauch gaͤnzlich aufhebt und unmöglich macht.
$. 225.
Willkuͤhr, materieller Mechanismus.
Betrift Die Frage nicht das Daſeyn (die Form) fon-
dern nur die Materie des Gefeges, wornach die Hand—
lungen des Willens erfolgen, in fo fern:
ob die nächſten Gründe unferer Handlungen
Dorftellungen oder nur Förperliche Bewe⸗
gungen find?
fo entfcheider das unmittelbare pſychologiſche Bewußt⸗
ſeyn
188 Critik der praktiſchen Vernunft.
ſeyn für die Gruͤnde in dem Subiekte, und gegen die—
ienigen, welche auſſer demſelben liegen, in Anſehung als
ler der Handlüngen, die wir dem Willen zufihreiben.
Wir befigen Willführ Carbitrium) oder comparative
Freyheit von dem zwingenden Einfluße materieller Dinz
ge, im Gegenfag des materiellen Mechanismus.
Die Willkühr hat Grade, wie dag Leben überhaupt.
Je mehr etwas als blöße Materie wuͤrkt, ie weniger
Willkuͤhr koͤmmt ihm zu.
6. 226.
Zhierifche, freye finnliche Wilfführ, oder
praftifche Freyheit.
Beſtimmt man iene Frage naͤher in Abſicht auf die
Beſchaffenheit der innern Gründe ($. 225.), wovon die
Handlungen abhaͤngen;
ob iediglich die unmittelbaren Eindrücke der
Vorſtellung eines Obiekts auf das ſinnliche
Begehrungsvermoögen (Inſtinkt), oder ob
auch vernünftige Ueberlegungen und Be⸗
wegurſachen Kinfluß auf die menſchlichen
Handlungen haben?
To entfcheidet innere Erfahrung für das letztere. Wir
befigen feine blos thierifhe Willkühr (arbitrium bru«
tum), fondern freye, finnliche Willführ (arbitrium
fenfitivum liberum), praktiſche Freyheit, Unabhän-
gigkeit von dem allgemeinzwingenden Einfluße thieriſcher
Gefühle.
Die
Critik Der praktiſchen Vernunft. 189
Die freye Willführ hat, der Erfahrung gemäß, ih-
se Stufen. Der Einfluß der Vernunft auf unfere Ent»
fchlüße und Handlungen, kann zunehmen, die Abhäng-
gigfeit von dem unmittelbar thierifchen Antriebe abneh—
men, und das finnlich vernünftige Wefen (der Menfch) -
kann geſchickter und klüger >. praktiſch vernuͤnfti⸗
ger werden.
$. 227.
Moralifche Freyheit.
Schraͤnkt man die Frage noch genauer ein auf eine
gewiſſe Beſchaffenheit der Vernunftgründe, welche den
Willen beſtimmen:
ob nehmlich lediglich und allein Gründe der em’
; pirifhen Vernunft d. i. der Vernunft, ſofern
fie von finnlichen Erfahrungen im Schliefen aus-
geht, und zu finnlich beftimmten Zwecken Mittel
und Entwürfe hergiebt, unfern Willen beftim:
nen, oder ob auch reine Dernunftideen ein
Wollen bervorbeingen, oder Doch daſſelbe mo⸗
dificiren Tönen ?
ſo lehrt zwar 1) unfer empirifches Bewußtſeyn, Daß wir
größtentheils nur einen empirischen Einfluß der Vernunft
auf die Wahl der Mittel erfahren, die ung zu Errei-
hung unfrer finnlich erzeugten Abfichten dienlich fcheinen.
Wir finden 2) daß zu ieder Handlung unfers Willens
uns ein gewiffer Stoff zur Behandlung durch die Sinn
lichkeit gegeben. foerden und, wir dadurch erft zur Thaͤ⸗
tig⸗
190 Critik der praftifchen Vernunft. |
tigfeit überhaupt angereist werden müffen. Aber 3) das
Bewußtſeyn des moralifchen Gefeges, als einer Irieb-
feder unfers Willens , überzeugt ung dennoch, daß Die
Vernunft für fich felbft auch fähig fey, nach ihren eiges
nen reinen, nicht finnlichen Ideen den Willen zu beftims
men, daß der Zweck einer vernuͤnftigen Handlungsiweis
fe nur für fich felbft, ohne meitere Abficht auf finnliche
Vortheile, uns infereffire, und das eigentliche Wols
len, feiner Form (Weſen) nach durch etwas beſtimmt
werde, was von allem finnlichen Eindrucke und Obiek—
te verfchieven if.
Wir haben alfo nicht nur überhaupt praftifhe (6.
226), fondern auch infonvderheit moralifche Freyheit
d. i. Beftimmbarfeit des Begehrens durch die reine Ver-
nunft, und eine gemwiffe Unabhängigfeit des Wollens
felbft von dem Zwecke empirifcher VBernunftgründe.
Auch diefe moralische Freyheit hat ihre Grade; mir
koͤnnen weifer und fittlich beffer d. h. freyer werden.
(v 228.
Ueberall Nothwendigkeit. |
Wir mögen aus Antrieben des finnlichen Begeh—
rungsvermögens ($. 225: willkührlich) oder aus Bes
weggrunden der finnlich angewandten Vernunft (prak⸗
tiſchfrey, aus vernünftig gedachten und verbundenen
finnlichen Antrieden 6. 226.), oder endlich aus reinen
Bernunftideen (moraliſchfrey $. 227.) handlen, fo
geht doch in allen dieſen Faͤllen iedesmahl vor dem Zus
ffande
Eritif der praftifchen Vernunft, 191
ftande ver Handlung, die wis wahrnehmen, ein
anderer Zuffand unfres Gemüthes und der veranlaffen-
den Auffendinge, wozu es in Verhältnißen ſteht, ver
Zeit nach voraus, auf welchen iener regelmäfig und
gleichförmig erfolgt, fo daß unter vollfommen denſel⸗
ben innern und äuffern Umfianden das Nichthandlen
fowohl, als iede andere von Derienigen, welche ge-
ſchieht, verfchiedene Handlung, für bedingt unmöglich
erkannt wird.
$. 229. |
Diefe Behauptung einer allgemeinen Naturnothwen—
digkeit einer ieden Handlung zu ieder beſtimmten Zeit
uach den unwandelbaren Naturgeſetzen, kann zwar
1) nicht durch Erfahrung erwieſen werden; weil die⸗
fe uns überhaupt nichts ohne Ausnahme allgemeis,
nes und nothwendiges lehren Fann.
2). Aber fie hat auch nicht blos die-allgemeine Analo⸗
gie der Erfahrung für fih, tie einige Determi⸗
niften ihren Gegnern allzu wilfährig einräumen. .
3) Sondern fie ſtuͤtzt fich auf ein nothwendiges Ver-
ſtandesgeſetz (der Cauflalität), welches felbft aller
Erfahrung als Bedingung 9— Möglichkeit zum
Grunde liegt:
4) Siebegänftigt das Intereſſe der Naturforſchenden
Vernunft. Ohne Vorausſetzung eines ſolchen ge—
DROHT Zuſammenhangs aller Zuftände und
Hand
ı92 Critik der praftifchen Vernunft,
Handlungen’des Gemuͤthes fönnten wir den (pſy⸗
chologiſchen) Gefegen nicht einmahl nachfpuren,
F $. 230,
Folgerung.
Aus dieſer Vorſtellungsart fließt unwiderſprechlich
die Folge, daß die wahrnehmbaren Gruͤnde ieder Hand⸗
lung eines ſinnlich vernuͤnftigen Weſens (des Menſchen)
zu der Zeit, da es handelt, gänzlich auſſer ſeiner
Gewalt ſtehen; daß folglich alle feine Handlungen
ietzt und immerdar nach einer unhintertreiblichen
Nothwendigkeit aus der Confurrenz der Weltfrafte er—
folgen, wo fih der Beytrag feiner eigenen Kraft wie -
das Unendlichkleinezu dem Unendlichgroßey der Summe
aller übrigen würfenden Kraͤffte verhalte.
6. 231.
Ausflucht,
Um diefer Folgerung auszuweichen, wollten einige
Determiniſten dieſe Nothwendigkeit nur auf das Ver
gangene einfchränfen, und in Anfehung der Zufunff
behaupten, daß die Gründe unfrer kuͤnftigen Handluns
gen allerdings in unferer Gewalt fünden. Das Wahr
- re, wag diefe feheinbar wichfige Unterſcheidung Ba
fligt, befteht darinne, Daß =
3) der zu einer vergangnen Zeif nothwendig beſtim⸗
mende Grund zu einer gewiſſen Handlung nicht immer
als Beſtimmungsgrund zu einer dergleichen Hand—⸗
lung
fi
’
Critik der praktiſchen Vernunft. 193
lung fortdauert, ſondern die nothwendig beſtim⸗
menden Gründe immer wechſeln.
2) Ich erkenne nur von dem Vergangnen, was
nothwendig war; von dem Zufünftigen weiß ich nur,
daB erwag überhaupt, aber nicht. beftimme
was bedingt nothwendig ſeyn werde.
3) Auch meine ietzige Handlung gehoͤrt ſo wie alle
vergangne Handlungen zu den Beftimmungsgrün,
den deflen, was ich in Zukunft wollen und thun
werde.
Demohngeachtet bleibt e8 gewiß daß 1) zu ieder auch
Fünftigen Handlung eine bedingre Norhmendigfeit iedes⸗
mahl vorhanden fen, und daf 2) die Beſtimmungsgruͤn⸗
de meiner Handlung niemahls in meiner Gewalt liegen.
Denn theils beſtehn ſie in etwas, was ganz und gar
nicht zu meinen Handlungen gehoͤrt, in aͤuſſerlichen Um—
ſtaͤnden, Gluͤcksfaͤllen, Ungluͤcksfaͤllen, Bekanntſchaften,
Verbindungen u. d. gl.; theils find es zwar eigene
Handlungen. Allein iede momentane Handlung (vers
gangne, gegenwärtige oder zufünftige— dieß Macht Feis
nen Unterfchied ) ift in dem unmittelbar vorberge;
benden Augenblicke gegtündet. Die Beſtimmungs-
gründe meiner Handlung find alfo jederzeit etwas Der:
gangenes, das ich mir nicht zuſchreiben, nicht ändern
kann, nicht in meiner Gewalt habe. Da nun endlich
die Beſtimmungsgruͤnde aller vergangnen Handlungen
zuletzt auffer meiner Handlung liegen und fo die ganze
Moralphiloſophie. en. mn ee
u)
194 Critik der praktiſchen Vernunft,
Keihe meiner Handlungen von Etwas nicht felbftber
würktem abhängt, fo habe eigentlich nicht Ich, fons
derm es hat die ganze Natur, Das Univerſum eine Hand»
Yung hervorgebracht, und dies gilt von ieder auch zukuͤnf⸗
tigen Handlung, die doch auch einft vergangen feyn,
und in Anfehung der Geſetze, mornach fie gefchieht,
jest eben fo wie dann beurcheilee werden muß, teil
die Zeit hierinn Feinen Unterfchied macht. *)
6.4232.
Die Zolgen des Determinismus find Diefelben,
wie bey dem Fatalismus. Diefe beyden Syſteme ſind
im Weſentlichen nicht unterſchieden. Sie haben den
Hauptgedanken unter ſich gemein, daß die noͤthigen⸗
den und beſtimmenden Gruͤnde der Handlungen gaͤnzlich
auſſer der Gewalt des Handelnden ſtehen.
6.7233.
Abſolute Freyheit.
Die Frage: hat ein vernünftiges Weſen, hat
der Menſch, abſolute Freyheit d. i. ein Vermoͤ⸗
gen aus reiner Selbfibefiimmung C alſo ohne be;
flimme
Ich frage den Determiniften: wenn foH die Beſtim⸗
mung meiner Mollens und Handlens in meiner Gewalt
fiehen? ent, ehe ich handle? Aber meine ietzig
Handlung ift im vorigen Moment gesrunder, von wel-
chem daher auch ihr Einflug_auf Eunftige Handlungen
abhängt. Jenes Moment iſt anffer meiner Gewalt;
jeine: dolge wicht minder. Oder fünftig in dem Mo-
ment tener Handlung? Aber dann iſt das Moment
-auch fehon voruber, worinn der Determinirende Grund
einer Handlung liegen muß. Niſo niemahls.
Critik der praktiſchen Vernunft. 195‘
ſtimmt zu werden) zu handeln; ein Vermoͤgen,
eine Handlung anzufangen? —
laͤßt ſich nach den bisherigen Betrachtungen nicht anders,
als verneinen. Es iſt keine Handlung die in der Zeit
geſchieht, möglich, welche abſolut anfienge und dem han⸗
delnden Weſen an ſich ſelbſt, unabhaͤngig von andern Din⸗
gen und von ſeinen eigenen vorhergehenden Zuſtaͤnden
zugehoͤrte. Eine folche Handlung wuͤrde fich in Diefer
Eigenſchaft weder wahrnehmen, noch mit dem Verſtan⸗
de erkennen laßen.
Don abſoluter Freyheit an ſich ſelbſt Tagen Sch, chen
weil ſie abſolut iſt, keine Grade gedenken, ob ſie gleich
Cwie unten gezeigt wird) Erſcheinungen hervorbringt,
worinn ſich Gradunterſchiede denken und wahrnehmen
laſſen. * ao
©. 234.
Unter dom Einfluße der Zeitumſtaͤnde Fann das ver,
nünftige ſinnliche Weſen nicht zu ieder Zeit das (un-
bedingte) moralifche Gefetz befolgen. Die Nothwendig—
keit feiner Befolgung koͤnnte demnach nur auf. Dieienigen
Säle gehen ; wo es geſchieht. Es wäre Unſinn, fie auf
Dieienigen Fälle und Zeiten auszudehnen, to das Ge
gentheil nothwendig iſt. Der, Iwang der Sinnlichfeir
wechfelt nach Zeitumfländen mit dem Zwange der Ver⸗
nunft ab.
*
196 Critik der praftifchen Vernunft,
$. 235. i
Iſt nun dieß die einzige Art, ſich die Cauſſalitaͤt
der Handlungen vorzuftellen: fo folgt, daß der Begriff
von. einem unbedingten Sollen (moraliſcher Noth—
wendigfeit) ein ungültiger, durchaus unanwendbarer
Begriffe, und alle Urtheile, die ſich darauf beziehen,
(z. B. des Seltſttadels uͤber das Geſchehene) leer und
chimaͤriſch, Die eigentlich ſittlichen Gefühle aber (z. B.
der Schaam vor mir ſelbſt, der Reue) fchtwärmerifch und
phantaftifch find. |
| $. 236.
Gleichwohl find diefe Begriffe und Urtheile für fich
felbft bejiändig und evident, Feine zufälligen Erzeug-
nife der Erziehung oder Gemöhnung und mie dag mo—
ralifche Gefer felbft, unmittelbar in unferm Bewußtfeyn
von der Vernunft, als nothwendige Thatſache gegeben,
fo daß mir gänzlich unvermögend find, fie irgend einer
" Spefulation aufzuopfern ‚oder umgihretwillen abzuaͤn⸗
dern.
§. 237.
Der offenbare Widerſtreit, worein hier die fpefulas
tive Vernunft mit der praftifchen geräch, fordert zu
Verſuchen einer moͤglichen Vereinigung auf, die ſich nur
von einer genauen Beſtimmung und Einſchraͤnkung des
Innhalts und der Guͤltigkeit von den Grundſaͤtzen der
Vernunft in ihrem gedoppelten Gebrauche erwarten
laͤßt.
§. 238.
N RE VD.
‚Eritif der praftifhen Vernunft. 197
$. 238.
Mögliche Bereinigung.
Wennnach dem Naturgefege eine Handlung noth⸗
' wendig und Durch Zeitumftande auf gewiſſe Weiſe be—
ſtimmt ift — nach Ausſage der fpefulativen „Der;
nunft; wenn gleichwohl auch das Gegentheil von eben
diefer Handlung moraliſch nothwendig und folglich auch
moͤglich aller Zeitverhaͤltniſſe ungeachtet ſeyn ſoll — nach
Ausſage der praktiſchen Vernunft: fo kann dieſer
ſcheinbare Widerſpruch nur dann gehoben werden, wenn
ſich zeigen laͤßt:
1) das Praͤdikat der Unabhaͤngigkeit von Zeitumſtaͤn⸗
den habe ein anderes logiſches Subiekt, als das
Praͤdikat der nothwendigen Abhaͤngigkeit der Hand⸗
lung von denſelben. Nun beziehe ich aber in bey—
den Urtheilen das Praͤdikat auf mich ſelbſt, als
auf das Subiekt. Es muͤßte alſo dieſes Ich (oder
meine Handlung) eine andere Bedeutung haben,
wenn ich feine Handlungen in der Zeit einer noth—
wendigen Beftimmung durch Zeitumffändeunterwers ⸗
fe, als es hat, wenn ich mir diefe als davon uns
abhängig vorftelle,
2) man fönne in ieder Handlung etwas unterfcheis
den, Das von Zeitverhältnigen, und etwas an—
deres, welches nicht Davon abhängt,
-
r
N 3 $« 239.
ı98 Critik der praftifchen Vernunft,
S5. 239.
Erſte Unterfeheidung.
Ich, als Gegenftand der Erfahrung.
Wenn ich meine Handlungen als Würfungen in
der Zeit und durch Urfachen im der Zeit beſtimmt mir
vorſtelle, fo betrachte ich mich fo, wie ich mir ſelbſt in
meinem innern Sinne vorftelle, wo alle einzelne Erfcheis
nungen von mir in Zeitverhaͤltniſſen regelmäßig auf eins
ander Folgen. Das Subiekt in dem Urtheile, welches
meine Handlungen von Zeitverhälfnifen abhängig erklärt,
Din Ich als ein Gegenftand der innern Erfahrung.
Auf dieſes ſinnliche Subieft muß das Verſtandesgeſetz
der nothwendigen Zeitfolge bezogen werden. Die Hand—
lung dieſes Ich erfolgt daher iedesmahl dem bekannten
wahrnehmbaren (empiriſchen) Charakter (ver Gemuͤths⸗
und Sinnesart) deſſelben und den aͤuſſeren Umſtaͤnden
gemaͤs.
6. 240.
So, als Ding an ſich.
ah bin berechtiget, und fogar genoͤthiget, die Er
fcheinung Cfinnliche Vorftellung) von mir felbft auf ein
unbefanntes Ich zu beziehen, das ihr (der Totalerfchei>
nung von mir) amd allen ihren Theilerſcheinungen C eins
zelne Handlungen und Zuftande), ia felbit der Zeitund
dem Raume, worinn ich mir alles Ginnliche vorſtelle,
zum Grunde liegt, wovon ich aber nur eim anfchauungs>
loſes, algemeines Bewußtſeyn habe. Beziehe ich meine
wahr⸗
Eritif der praktiſchen Vernunft. 199
wahrgenommenen oder wahrnehmbaren Handlungen, als
Praͤdikate, auf dieſes Ich, als ihr Subiekt, ſo find“
und bleiben fie zwar Wuͤrkungen in der zeit, aber der
Grund davon liege doch nicht in der, der Zeit ach vor-
hergehenden ‚ Erfiheinung, fondern in Etwas, worinn
Fein Zeitunterfchied mehr ſtatt findet. Denn das Seyn
in einer gewiffen Zeit iſt ein Prädifar, das zwar allen
Erſcheinungen (ſinnlich vorſtellbaren und vorgeftellten
Dingen), nicht aber allen denkbaren Dingen uͤberhaupt und.
an fich felbft, ohne auf funnliche Vorſtellungsart Ruͤck⸗
ſicht zu nehmen, zukommt ). "Eine Handlung diefes
Sch am ſich ſelbſt Fänge alſo nicht" am; fie bezieht ſich
aber gleichwohl auf eine erfcheinende Wirkung , "welche
anfängt d. i. zu einer gewiffen Zeit, "nach beſtimmten
. vorausgehenden Umftänden wahrgenommen wird. Die
ganze Reihe. diefer erfcheinenden Handlungen Hänge
zwar unter fi) als (finnlich erfennbare) Urfache und
, Würfung zufommen Allein auf ienes ch bezogen, iſt
Diefes der Beflimmungsgrund der ganzen Reihe und "
Dadurch auch iedes einzelnen Öliedes in derfelben. Ich be=
ſtimme alles — bin der. Grund der ganzen Reihe unter
ſich ſelbſt nothwendig in der Zeit verbundener erſcheinen⸗
der Handlungen; ich ſelbſt aber werde nicht zu Hervor—
bringung des Einen Gliedes diefer Reihe (die ich im Ganz
zen begründe) Durch ein vorhergehendes Glied beſtimmt,
N ebenfalls indie durch mich beſtimmte Reihe gehört.
14, Das
*) Bewiefen wird ‚diefe Behauptung in der Critik
Der reinen Vernunft; bier wird fie. nur anges *
— wandt.
200 Critik der praftifchen Vernunft,
Das Subiekt eines Urtheils, welches meine Hand⸗
Tungen von dem Einfluße der vorhergehenden Zeitums
ftände unabhängig erklärt, Fann nur Ich feyn, als das
denfbare, überfinnliche Subftrat meines finnfich wahr-
nehmbaren Charafters, und der diefem letzten gemäs
an einander gereiheten Handlungen.
f SH.
Aus diefer nothwendigen Unterfcheidung ergiebt fich
1) daß es überhaupt nicht widerfprechend iſt, fich
ein Vermögen der Würffamfeit zu denken, deffen
Effeft anfängt, ohne daß feine Würffamfeit (Cauf-
falität) anfange; veffen Effekt in eine beſtimmte
Zeitreihe fällt, ohne daß das Beſtimmende darin
liege — fich eine Handlung zu denfen, die von dem
Naturgefege (der Bellimmung durch Dasienige, was
der Zeit nach vorhergeht) unabhängig iſt, obgleich
ihre erfcheinende. Würfung nach diefem Geſetze er;
folgt.
Sch darf nur das Subiekt diefer Handlung (das han—
delnde Sch) mir alsdann nicht als Erfiheinung geben-
fen.
2) daß ich meinem oder irgend einem Willen, ein
folches Vermögen ohne Widerfpruch beylegen Fönne,
fofern ich ihm (dieſen Willen). als Prädikat eines
Dings an fich in Beziehung auf feinen Effeft in
der Erfcheinung mir vorftele.
$. 242.
Critik der praktiſchen Vernunft 201
mag, © 03 f
Abfolute Freyheit ($. 233.) iſt alfo nicht wider-
forechend, und kann fogar etwas Würkliches ſeyn,
wenn man fie als ein metaphyſiſches (nicht unmittel⸗
bar in der Erfahrung gegebenes) und transſcendenta⸗
les (durch die Beziehung deffen, was nicht Erfcheinung
iſt, aufdie Erfcheinung denkbares) Dermögen vorſtellt.
| $. 243.
Diefen blos problematifchen d. h. nicht unmöglichen
Gedanken ($. 242.) affertorifch zu denfen, oder welches
einerfen ift, Freyheit nicht blos als ein nicht unmögliches,
fondern auch als ein wuͤrkliches Vermögen meines Wil-
lens und des Willens aller moralifchen Wefen anzuneh:
men, findet ſich
3) zwar fein Grund in der Erfahrung; denn
2) bey mir felbft, als Erfcheinung betrachtet, und
meinen Handlungen, ebenfalls als Erfcheinungen
angefehen, fängt iede Würfung und iede Wuͤrk—
famfeit einer Urſache an, und es hängt alles nach
dem nothtwendigen Naturgefege an einander. s
228.229. -
b) von Dingen an fich ſelbſt und ihrer Miürfunge:
art haben twir feine anfchauende Vorftellung, mit—
hin auch feine Erfahrung. Wir können ihnen
die Cauffalverbindung nach ähnlichen Geſetzen,
wie wir in der Sinnenwelt allgemein beobachtet
finden, meder zufchreiben noch abjprechen.
N 5 2) Aber
4
202 Critik der praftifchen Vernunft,
2) Aber dag eben fo nothwendige, als unbegreifliche
Bewußtſeyn von dem moralifchen Geſetze noͤthiget
uns dazu. , Denn da dieſes Geſetz Handlungen
Ceine gewiſſe Art, Form zu handlen) fchlechehin ges
Bieter, mithin: als allgemein und nothwendig vor—
fielle, ohne Einfchränfung Durch. Umſtaͤnde der
Zeit und des Ortes (ie nachdem diefe ung zur Mo
ralität oder zum Gegentheil Determinirfen, mo—
raliſch oder unmoralifch zu handlen): fo iſt die Be—
folgung deſſelben nur dann moͤglich, wenn ich un⸗
ter der Idee von abſoluter Freyheit ($. 242.)
handle, oder wenn ich mich und das vernünftige
Weſen überhaupt in feinen Handlungen als (ges
wiſſermaaßen) unabhängig von der Beffimmung
durch Zeitumftande mir vorfielle. Es ift alfo zwar
eine dem Innhalte nach theorerifche, aberdem Er-
fenntnifgrunde nach praftifch nothwendige Bor
ausjegung, Daß ich ein freyes. Willensvermögen
beſitze.
$. 244.
Es ift mir alfo moralifchnorhtendig d. i. nothwen⸗
dig, weil ich das moralifhe Geſetz als ein Gefes mei»
nes Willens anfehe, mich als ein abfolut freyes We—
fen vorzuftellen,; da die Sache blos theoretifch angefehen,
zwar nicht unmöglich, aber Doch auf Feine Art erweis—
lich if,
Critik der prafeifchen Vernunft. 203
245.
Das moralische Geſetz berrachteich num alg ein weſent⸗
liches Gefeg meines überfinafichen Ich ($. 240.) oder
meines. Geiftesz fo, wie eines ieden vernünftigen We⸗
ſens. Dem Subiekte dieſes Geſetzes kommt abſolute
Freyheit zu, ſofern es durch dieſen uͤberſinnlichen Cha⸗
rakter, der von nichts in der Zeit befindlichen abhaͤngt,
die ſi anlich wahrnehmbaren Gefinnungen und Handluns
'gen in der Zeit beſtimmt, oder fich ſelbſt, als Erfchei-
nung betrachtet, Naturgefege vorfchreibt , wornach die
wahrnehmbaren Handlungen in der Zeit erfolgen.
$. 246.
Grade der morslifchen Sreyheit ($. 227.)
find gröffere Erfcheinungen der abfoluten Freyheit,
Die an fich Feine Grade hatz weil die Lorftellung eines
Gradunterfchieves nur unter der Bedingung der Zeit
möglich iſt, die auf Dinge an fich nicht darf Über gecra⸗
gen werden.
$. 247.
Zweyte Unterfcheidung.
Materie und Form der Handlungen,
In den wahrnehmbaren Sandlungen des Ich,
welches erfcheint, kann ich ($. 238. Num. 2) unters
en
1) die Materie, welche atmen. wohin theils
die Gegenftände des äuffern Sinnes, theils auch)
Die Des Innern Sinnes, oder meine Vorftellungen
und
204 Critik Der praftifchen Vernunft.
und die davon alhängenden finnlichen Gefühle und
Begierden gehören; alles Dasienige, was wir (gern
oder ungern) haben.
2) die Form, oder die Art und Weiſe wie ich
dieſen innern und aͤuſſern Stoff behandle; was in
der Handlung zu meinem Seyn gehört.
Der äuſſere Stoff. der Handlung gehört nur in
fo fern zu meinem wahrnehmbaren Sch (der Eriheinung),
ols er mir innern Stoff giebt,
Der innre Stoff gehört zu mir, als Erfcheinung,
und richter fich nach (pfychologifchen) Naturgeſetzen des
wabhrnebmbaren Ich, melches beydes in fich begreift,
was ich bin und was ich habe.
Nur die Form kann mir felbft, als einem intelli-
giblen Wefen angehören.
$. 248.
In Ermanglung aller Anfchauung überfinnlicher
Gegenftände kann die erfte Materie meiner Handlnn-
gen ) nur etwas Ginnliches feyn, welches nur nach
Gefegen der finnlichen Natur, alfo in beftimmten Zeit:
verhältniffen gegeben wird, Dieß iſt alfo unabhängig
von meiner Gelbftchätigfeit vorhanden. Aller innere
Stoff ift aus dem äuffern entwicele, und bezieht ſich
auf denfelben. Welchen Stoff überhaupt alfo meine
Handlungen haben, auf was für Gegenftände, Vor—
ftelluns
*) Chen fo der Handlungen eines ieden endlichen ver:
gunftigen Wefeng.
Critik der praftifhen Vernunft, 205
ftellungen ‚\ Gefühle , DBegierden fie fich beziehen, das
- hängt nicht von mir, ſondern von den Zeitumftänden
ab. ;
$. 249.
‚Die Gegenftände, meine Borffellungen , Gefühle
und Neigungen geben mir nur etwas zu behandlen, fie
beftimmen die Sphäre, worinn ich moraliſch handlen
kann. Die Sorm aber, oder die Art und Weife, oder
die Kegel, wornach ich diefen Stoff behandle, wird mir,
nicht durch die Gegenftände. gegeben und vorgefchrieben,
fondern von mir ſelbſt beftimmt. Dieſe Handlungsweiſe
iſt das eigentlich Moraliſche der Handlung, was mir
ſelbſt zugehoͤrt und nicht von Zeitumſtaͤnden als ihre
Wuͤrkung abhängt, welche weiter nichts beſtimmen koͤn—
nen, als die Materie xqcht ſittlich behandelt wird
DR nicht.
$. 250,
Die Form, der moraliſchen Handlungen iſt Ar
ein Werf der ſelbſtthaͤtigen und von Sinnlichkeit unab⸗
haͤngigen Vernunft, Der erſte Stoff liegt auſſer une.
Doch wenn die Vernunft moraliſche Gefuͤhle erzeugt,
bringt ſie ſelbſt einen Stoff der Handlungen hervor, der
ihr nicht anderswoher durch Zeitumſtaͤnde gegeben, ſon⸗
dern die ſinnliche Erſcheinung ihrer eignen Form oder
Handlungsweife, und derfelben nothwendig gemäs er
& 25T,
>
206 Eritif der praktiſchen Vernunft
$. 25T, i HN
Moralifiche, Unmoratifche: AR ei
Wenn und fofern Handlungen das Geprägever vor) -
nünftigen Selbſtthaͤtigkeit an fi) tragen, oder ſofern
ein gegebener Stoff der Vernunfiform gemäß beſtimmt
und behandelt worden? in fo fern find. fie moraliſche
Handlungen; unmoraliſch hingegen, in fo fern Feine
Spur von einer Würfung ver ſelbſtthaͤtigen Vernunft
darinn erfcheinet. "Bende Arten von Handlungen koͤn⸗
nen wir feinen Zwange der Zeitumſtaͤnde zujchreiben,
von welchem Die Vernunft: in feinen Falle abhängt, for
dern einer Aeuſſerung -oder unterlaflenen® Aeuſſerung des
felbfihätigen Vermögens der Vernunft.
In
$. 252. ,
Zurechnung.
Die Vernunft iſt das Geſetzgebende Vermoͤgen des
Menſchen und eines ieden vernuͤnftigen Weſens. Da—
her beſtimmt fie auch das Urtheil über die Handlungen
dieſem Gefege gemäs. Daß ſie die Handlungen des Menſchen
(des ſinnlich afpeirten Wefens überhaupt) ſich zurech⸗
net, ihrer Thaͤtigkeit oder Unthaͤtigkeit, obgleich die
unmoraliſchen nicht von ihrer Wuͤrkſamkeit ſondern von
der Thaͤtigkeit anderer (nicht vernuͤnftigen) Kraͤffte *
ruͤhren, kommt daher, weil
1) das Bewußtſeyn der Perſoͤnlichkeit von der Ver
nunftabhänge, und in dieß Bewußtſeyn nach einem
unbegreiflichen Naturgeſetz allesanfgenommenmwird,
was
RE EEE
—
Critik der praktiſchen Vernunft. 207
was die Perſon that, wenn es auch nicht durch Ver⸗
nunft, ſondern durch andere Kraͤffte und nad) an-
dern Geſetzen gefchahe.
2) weil die Vernunft fichdes Vermögens bewußt war,
anſtatt der erzivungenen Thaͤtigkeit iener niedern,
ſinnlichen Kraͤffte, ſich ſelbſtthaͤtig zu äuffern. * Sie
rechnet ſich alſo nicht zu dasienige, was durch an—
dere nichtvernuͤnftige Kraͤffte gewuͤrckt worden iſt;
denn dieß iſt für ihre eigne Wuͤrkſamkeit nur Stoff;
ſondern nur die unterlaſſene oder angewandte Gelbft-
thaͤtigkeit, ienen Stoff zu behandlen, die hoͤhern
oder geringern Grade ihrer eigenen Vollkommenheit.
Die Hinderniffe diefer Selbſtthaͤtigkeit, um derent⸗
willen fie ſchwaͤcher war, Fennt fie nicht, kann fie
* alſo auch nicht in Anſchlag bringen.
Hierauf gruͤnden ſich die Bram von Zurechnung,
von Verdienſt und Schuld.
5. 252.
Bey dieſen Begriffen und bey den zurechnenden
Urtheilen ſetzen wir voraus, daß aller zZeitumſtände
ungeachtet, dem vernuͤnftigen Weſen, welches fehlte,
moͤglich war ein hoͤherer Grad ſelbſtthaͤtiger Wuͤrkſamkeit
der Vernunft. Denn das, was die Wuͤrkſamkeit der
Vernunft einſchraͤnkte, konnte Nichts in der Zeit Be—
findliches, nichts Erkennbares ſeyn.
$. 254.
208 Critik der praftifchen Vernunft,
hun 8 2A,
‚ UnbegreiflichEeiten,
Die Allgemeinguͤltigkeit des Sittengeſetzes für alle
Handlungen vertünftiger Weſen zu ieder Zeit, iſt ihrer
Möglichfeit nach dadurch gererter, daß wir die Vernunft
als ein von allen Erfcheinungen in der Zeit unabhangi-
ges Dermögen zu handeln haben Fennen lernen. Dieß/
reicht in prafeifcher Alfihe hin, wenn gleich zwey an—
dere Tragen fih uns hier auforingen, für die e8 in uns
ferm Erfenntnißvermögen Feine entſcheidenden Antwor⸗
ten giebt. Nehmlich
1) wie iſt Vernunft und ihre Selbſtthaͤtigkeit mög-
lich? mie bringe fie FRE und —
tze derſelben hervor?
2) Warum offenbart ſich nicht in, allen wahrnehm:
baren Handlungen gleiche Bernunftthätigfeit, glei
che Moralität? warum äuffert ſich bald mehr das
beffimmende, bald mehr das beftimmbare Vermoͤ⸗
gen Des Willens?
Vernunft, ihren Einfluß auf, finnliche Sefcheinungdk
und die verfchiedenen Grade derfelben Fennen wir als
Fakta; die Gründe der Möglichkeit davon liegen indem
blog Denkbaren und in feinem Verhältniffe zum Epfenn-
baren.
g 255.
/
Critik der praftifchen Vernunft, 209
$. 255.
Dennoch überall Nothwendigkeit.
Wenn wir Feinen (vernunftlofen) Zufall ein,
säumen wollen, fo bleibt nichts übrig als “roch,
wendigkeit; denn es giebt ſchlechterdings keinen
Mittelweg *) zwiſchen beyden. Es muß demnach
- etwas als vorhanden gedacht werden, was zugleich mie
dem Dafeyn der Vernunft ihre Würffamfeitauf Erfcheie
nungen, und den beftimmten iedesmahligen Grad der-
felben beſtimmt. Dieß iſt freylich Feine Erfcheinung,
denn eine Erfcheinung kann fein Ding am fich ſelbſt be—
flimmen. Wenn aber gleich die Sinnlichkeit, fo wie
fie ſelbſt ſinnlich vorgeftele und erfannt wird, die Ver:
nunft an fich nicht beftimmen und einfchränfen kann: fo
folgt daraus feinesweges, Daß dasienige, was der
Sinnlichkeit und allen ihren Erſcheinungen an ſich
zum Grunde liege, unvermoͤgend ſey, die Würkun—
gen der Dernunft in der Erſcheinung einzuſchraͤn—⸗
fen. Und, wenn wir der Grundloſigkeit d. i. der theoretie
fchen Vernunftloſigkeit bey Erklaͤrung der Immoralitaͤt ent⸗
gehen wollen, fo muͤſſen wir dieſen problematiſchen Ge
danken aſſertoriſch denken. Die Vernunft iſt alſo frey in
Abſicht auf alles, was in der Zeit geſchieht; aber einges
jchränfe durch dasienige, was Die Begebenheiten im der
ö Zeit
*) Diefe Behauptung der Determiniften, 3. B. des
-Hn. Hofe. Ulrich in Del. Eleutherrolpgre
(Sena 1788.) $. 9 ff. ift noch. son Feinem Vernunfti—
gen angegriffen oder bezweifelt; gejchweige Denn wider—
legt worden.
Moralphiloſophie. O
310 Eritif der praftifchen Vernunft.
Zeit beffimme. Sie iſt frey, und hat feinen Einfluß |
empfangen in Abficht auf alles, was fie wuͤrklich thut,
fo. wie auf alle ihre Urtheile, der Form nach; aber ab:
hängig. und eingefchränft in Abfiche auf das, was
fie nicht thut. Sie fonnte, für diefen Fall nicht
würken. Gie iff frey d. i.' felbftchärig in Anfehung
der vernünftigen Form ihrer Handlungen ; gebunden an
den Stoff, der ihr gegeben, an die Sphäre, die ihr
angewieſen iſt.
§. 256.
Transſcendente Freyheit.
Es iſt alſo nicht nur Fein vernünftiger Grund vor:
handen, fondern es läuft fogar wider alle Gefege un-
ferg vernünftigen Denfens transfiendente Freyheit
d. i. Unabhängigfeit des intelligiblen Würfens von in-
teligiblen Gründen, ein uneingefchränftes Vermögen der
Vernunft, aufalle wahrnehmbare Handlungen eines endli—
chen vernünftigen Weſens einen beftimmenden Einfluß zu
haben und fie dadurch moralisch zu machen — anzuneh-
men. Ohne diefe Gründe zu kennen, oder den Grad
ihrer Wuͤrkung und die Größe der die Vernunft ein-
fchränfenden Bedingungen befiimmen zu koͤnnen, müßen
wir doch, um dem Zufall auszuweichen, das Vorhan⸗
denſeyn von vergleichen Gründen wegen der Befchaffen-
heit der entſprechenden Erſcheinungen vorausſetzen. Nur
das unendliche, allgewalsige Weſen, Die Gottheit iſt in
aller Ruͤckſicht fchlechrervings frey und unabhangig.
6.257.
J
Critik der praktiſchen Vernunft. 211
$..257.
Sntelligibler Fatalismus.
Der intelligible Naturfatalismus d. i. Behaup-
£ung der Naturnothwendigfeit aller Handlungen eines
vernünftigen. Weſens nach Gefegen der Cauffalitär der
Dinge an fih felbft, kann feinen Beſtimmungsgrund
dieſer Handlungen oder ein Princip der Unthätigkeit ab»
‚geben, weil nur dasienige auf unfre Handlungen be-
ſtimmenden Einfluß haben kann, was wir kennen, die
Graͤnzen aber, welche die vernuͤnftige Wuͤrkſamkeit ein—
ſchraͤnken, fuͤr uns ſchlechterdings unbeſtimmbar ſind.
Zur Moralität iſts genug zu wiſſen, oder zu glauben,
daß alles, was wir fennen, daß alle Zeitumftände uns
nicht zwingen fünnen, unvernünftig zu handlen, mit:
- Hin auch niche von der Verbindlichfeie losſagen, das
moraliſche Gefeg überallzur Regel und Richtfehnur unfrer -
Handlungen zu machen, ob es gleich, theoretifch be=
trachtet, nicht überall die würflich befiimmende Regel für
die Handlungen feyn kann. Die Ausnahmen hängen nicht
von unferm Willen ab, meilfie in etwas gegründet find,
was über die Granzen unfrer möglichen Erkenntniß hin-
ausliege. -
$. 258:
Reſultate über abſolute Freyheit.
Mach den bisherigen Unterſuchungen und den Exroͤr⸗
ferungen der reinen Vernunfgeritik ift der Beariff von
Beier Freyheit ($: 229:)
92 T) ver!
212 Critik der praktiſchen Vernunft.
3) vernünftig denkbar. Man verbindet nur die
Begriffe von Cauffalität und vom Unbedingten als
Merkmahle Eines Degriffes von unbedingter
Cauffalirät. Diefe Vereinigung enthält nichts
Innerlich Unmögliches, Widerfprechendes. $. 24T.
*) Unanwendbar auf Erfahrungsgegenſtände,
ſie dadurch zu erkennen. dan kann weder ein wahr⸗
nehmbares Weſen noch eine ſinnlich erkennbare
Handlung in conkreto angeben, worauf dieſer Be—
griff paßte. $. 239.
3) Aber anwendbar auf blos denkbare Gegen,
fände. Denn man kann bey Gegenfländen des
Denkens von den Bedingungen abftrahiren, Die
zur Erfenntniß oder Erfahrung von denſelben ge-
hören, und fie bleiben dennoch Gegenftande. Was
ſich nicht (ſinnlich anſchaueu und den Verjtandesbe-
griffen gemäß. verbinden d. heiße) erkennen läßt,
kann dennoch an fih eriffiren. Es kann freye Wes
fon geben, wenn auch ihre Freyheit ſich nicht in
der Erfahrung zeigt. $. 242.
4) Was als frey gedacht wird, iſt in fo fern über;
ſinnlich.
5) Dieſes Ueberſinnliche kann aber durch dieſen Be—
griff nicht theoretiſch erkennt d. h. es kann für
den Begriff der Freyheit Feine entſprechende An—
fchauung gefunden werden; denn unfre Anſchauung
iſt nur finnlich.
6) Noch
U
Critik der prafrifchen Vernunft. 213
6) Noch weniger laͤßt ſich Freykeit erklären oder
eine freye Handlung ‚ als ſolche, begreifen. Wir
erflären und begreifen eine aefchehene Handlung
durch die Bedingung, wovon fie abhängt. Was
feine Bedingung hat, das Unbedingte iſt daher
unerklärbar und unbegreiflich.
7 Man kann und darf keine gegebene, in der Er⸗
fahrung vorkommende Handlung daraus erklaͤren.
Denn bey Erklaͤrung ſinnlich wahrnehmbarer Be⸗
gebenheiten muß man zu andern zuruͤckgehn, die
ebenfalls in die ſinnliche Wahrnehmung fallen; die
Freyheit iſt aber uͤberſinnlich. Die Erklaͤrung
waͤre auſſerdem theils willkuͤhrlich; denn warum
ſollte man die finnlich vorauggehenden Urſachen uͤber⸗
gehen ? cheils dem Zweck der Naturforfchung nach»
F ! theilig, denn man! überhäübe fich dadurch nur der
Muͤhe, den Urfachen in ver Erfahrung nachzufors
fchen, und nähme geradezu aus Bequemlichkeit etz
was an, woben feine weitere Unterfuchung möglich
— J
8) Auf mogliche Handlungen darf man den Begriff
beziehen; weil er ſelbſt moͤglich iſt.
9) Auf moraliſche Handlungen (die wir uns aber
immer nur als möglich, niemahls geradezu als würf-
lich vorſtellen dürfen) mußman dieſen Begriff beziehen;
denn die unbedingte und allgemeine Nothwendigkeit
ſeiner Befolgung iſt nur durch ein unbedingtes Ver⸗
23 mö-
214 Critik der. praftifchen Vernunft,
mögen zu wollen denkbar. Ohne Freyheit voraus-
zufegen, verlöhre dieſes Gefek fine Gültigkeit,
$. 243. 244, / a
10) Auf moralifche Handlungen, fofern fie mora⸗
liſch find, alfo nur ihrer vernünftigen Form nach.
Denn die Gegenftände der freyen, moralifchen Bes
handlung werden uns nad) finnlicyen norhivendigen
Nlaturgefegen gegeben. $. 246.
11) Die Nothwendigkeit fie praftifch anzu-
nehmen d. h. unter der Idee von Freyheit zu
bandlen, ift unmittelbar enthaltenin dem Bewußt⸗
ſeyn der Nothwendigkeit (Verbindlichkeit), das
moraliſche Geſetz allgemein und unter allen Zeitum—
ffänden zu befolgen. $. 240.
12) Das Subiekt Diefer Freyheit iſt nur dag ver
nünffige Xefen, und der Menſch nur, in fo;
fern er vernünftig ift.
a) Ein rein vernünftiges unendliches Wefen —
die Gottheit — tft in aller Ruͤckſicht unabhän-
gig, nicht blos in Anfehung deſſen, was es thut,
ſondern auch in Abficht auf Das, was eg nicht
thut. Es unterläßt nichts deshalb , weil es an
dem Wollen oder VBollbringen äufferlich gehindere
würde, j
b) Ein finnlich vernünftiges, endliches Weſen
(wie der Menfch) handelt nicht blog aus ver—
aönfrigen Gründen, die von Zeirumftänden nicht
| ab⸗
Eritif der praktiſchen Vernunft, 215
abhängen, fondern auch aus andern Anteieben,
die davon abhängig find. Es muß alfo möglich
ſeyn daß es durch fremde Geſetze beſtimmt wer⸗
de, und wenn es nicht vernuͤnftig handelt, ſo
muß etwas da geweſen ſeyn, was die Vernunft
hinderte, etwas, das der Sinnlichkeit und ih—
ren Erſcheinungen in der Zeit zum Grunde liegt.
13) Die Gottheit beſitzt transſcendente Freyheit;
fie iſt allbeſtimmend und abſolut unbeſtimmbar.
14) Die eingeſchraͤnkte Vernunft, die Menſchheit,
iſt beſtimmend und beſtimmbar.
15) Die Handlungen des Unendlichen, fo wie der-end-
lichen Wefen find nothwendig und geſetzmaͤſſig be⸗
ſtimmt; iene lediglich durch ihr eignes; dieſe zum
Theil auch durch fremde Geſetze. Es giebt keinen
Zufall.
16) Die pſhchologiſche Naturforſchung wird durch
Annahme der Freyheit nicht gehindert; denn fie bes
ſteht mit der Nothwendigkeit; das reine Geſetz
aͤuſſert ſich in Erſcheinungen, die nach einer ſinn—⸗
lichen Naturordnung geſetzmaͤſſig verbunden ſind,
welche Ordnung man durch — entde⸗
ken kann.
$. 259.
Reſultate über den Determinismus.
Verſteht man unter Determinismus
1. Blinden Satalismus d. i. eine Nothiwendig-
keit allen Begebenheiten ohne alle vollftandig be=
X 24 ſtim⸗
216° Critik der praftifchen Vernunft,
“
mende Gründe in und aufferhalb der Narurfräfte
— fo iftdiefer Gedanfe widerfprechend und er hebt
allen theoretiſchen fowohl, als praftifchen Vernunft
gebrauch auf.
2. Myſtiſchen Sataliemus: Nothwendigkeit aller
oder einiger Begebenheiten in der Welt, vie nicht
durch volltändig beftimmende in der Welt befind«
liche Gründe, fondern durch ein von der Welt
verfchiedenes Wefen und feinen Einfluß hervor»
gebracht wird — fo iſt diefe Behauptung, man
mag dabey in der Gottheit Wiliführ oder Zwecke,
und die letztern als innere oder äuflere Zwecke als
Deftimmungsgründe ihres übernatürlichen Einfluf-
fes annehmen, ebenfalls allem DVernunftgedrauche
ſchaͤdlich, und für die TEEN: der Eitten vers
derblich,
3. Verſteht man Darunter die allgemeine Geſetzmaͤſſig—
keit und Nothwendigkeit der Würfungsart der Gotts
heit ſowohl als der endlichen Naturkraͤfte, der Fürs
perlichen wie der geiftigen, iedoch ohne Abhäanz
gigfeit diefer Gefege von Vernunft und ohne noth-
wendige Uebereinftimmung mit derfelben — Athei⸗
ſtiſchen Fatalismus — fo läßt dieſer zwar Ver—
nunftgebrauch übrig , fchranft ihn aber doch blos
auf die Erfenntniß ein, und hebt die Moralität
auf, Der Gedanfe von einer Geſetzmaͤſſigkeit, oh⸗
ne gefepgebendes Vermögen (Vernunft), von Ges
Bm Die die Vernunft erfennen und doch mit fich
ſelbſt
ee nn
>
Eritif der praktiſchen Vernunft. 217
ſelbſt nicht uͤbereinſtimmend finden ſoll, iſt aber
auch ſchon an ſich ſelbſt widerſprechend.
4. Eine allgemeine Beſtimmbarkeit und Abhängige
keit aller mit einem Willen begabten Wefen — des
Unendlichen und der Endlichen — und mwürklid)
‚erapfangene Beflimmungen, als die einzigen und
entjcheidenden Gründe aller Volitionen, Entichlüfs
ſe und Handlungen, if
1) unerweislich; weil Selbftbeffimmung wenigftens
problematifch möglich ift.
2) in. Anfehung der Gottheit — mwiderfprechend.
Sie muß wenigftens abfolurfelbfichätig und frey
feyn.
3) in Anfehung der endlichen Weſen; hebt fie alle
Selbſtthaͤtigkeit, mithin auch die Möglichkeit
auf, daß ein endliches Weſen Das andere (aftiv)
für fich felbft beſtimmen fönne, und man müßte
alſo alles würfliche Beftimmtwerden, mithin alle
Handlungen zuletzt von einem übernatürlichen
Einfluß der Gortheit ableiten, welches auf die
vernunftwidrige Vorſtellungsart (Num. 2) zu
rücführen würde Sie hebt ferner alle Mo⸗
ralität auf, teil dieſe auf Gelbftthätigfeit der
Vernunft beruft,
5) Nothwendigkeit aller menfchlichen Handlung zufol-
ge der DBerwegungsgefege der Materie (materiel;
Mora Fatalismus), oder zufolge des thieriſchen
ER Ins
4 Ä \
2:8 Critik der praktiſchen Vernunft.
Inſtinkts Cebierifhyer Satalismus) find eben fo
Erfahrungsmidrig, als fie den Sitten Nachtheil
bringen.
6. Nothwendigkeit und Gefenmäffigfeit allen freyen
Handlungen in der Zeit — eine Vorftellung, von
welcher alle pfychologifche Nachforfchung ihrer
Möglichkeit nach abhängt, und Die in der anges
wandten Moral von den wohlchätigften praftifchen
Solgen ift. Sie ſchließt nicht nothwendig in. fich,
den Gedanfen, daß die legten beffimmenden Gruͤn⸗
de felbft Erfcheinungen in der Zeit wären, von Des
nen e8 entfcheidend abhienge, ob wir firtlich oder
unſittlich handelten.
7. Eine allgemeine Nothwendigkeit nach Vernunftge—
ſetzen, allgemeine Geſetzmaͤſſigkeit überhaupt — iſt
ein nothwendiger Gedanke der Vernunft, mit dem
alles Intereſſe und alle Moͤglichkeit des Vernunft—
gebrauchs ſteht und falle.
8. Nothwendigkeit aller — ſittlichen oder unſittlichen
— Handlungen, zu folge irgend welcher denkbarer,
wenn gleich nicht immer erkennbarer, in oder auſ⸗
ſerhalb der Sinnenwelt, in oder auſſer den finns
lich vernünftigen Wefen liegender Gründe, mithin
auch Die unausweicliche Nothwendigkeit zumeilen
unſittlich zu handlen — — wenn es unfietliche
Handlungen giebt, wenn die Vernunft feinen Zus
tel dulders fo kann fein vernuͤnftiges Weſen dieſe
Noth⸗
EEE VEN u ee
Critik der praktiſchen Vernunft. 219
Nothwendigkeit geradezu verwerfen oder auch nur
vernünftig bezweiflen. Wenn Sittlichkeit mit dieſem
Gedanken nicht fo, tie oben (6. 254 ff.) gezeigt
worden, verträglich wäre: fo muͤßte das vernuͤnftige
Weſen entweder Sittlichkeit für Chimäre erklären,
oder um der Sittlichkeit willen, alfo aus Dernunftz
gründen (denn ſittlich follen wir durch Vernunft
feyn — ) der Vernunft , ihren Grundfägen und
ihrem Gebrauhe gänzlidy entjagen. Cine uns
vernünftige Vernunft!
* *
Wollte man einwenden „dem Vernunftgeſetze der
„Nothwendigkeit koͤnne man feine Guͤltigkeit in Abſicht
„auf blos denkbare Dinge einraͤumen; dieſe koͤnnten
„darnach nicht beurtheilt werden, hier koͤnne auch Zu—
„fall ſtatt finden, ſo iſt keine Frage natuͤrlicher und
rechtmaͤſſiger, als die nach dem Grunde, weswegen
wir bey dem vernünftigen Wefen an ſich eine Ausnahme
von feinem eigenen, nit vonder Sinnlichkeit em;
pfanguen Gefege machen follen? um der Gittlichfeie
willen? alfo um ihres Gefeges willen follen wir Noth—
wendigfeit d. i. Geſetzmaͤſſigkeit ihrer eigenen Cauffalitäe
laͤugnen? Wäre Dies confequent? Und was waͤre nun
endlich durch diefe Entfernung der Vernunft von ſich
felöft für Die praftiihe Vernunft gewonnen ?
6, 269,
A
320 Critik der praftifchen Vernunft,
$. 260.
Sorrfeßung.
Ein ‚Determinismus‘ endlich, welcher das ch
(dag endliche vernünftige Wefen,, den Menfchen) im ie‘
dem DBetrachte, alfo nicht blos als Erfcheinung, ſon—
dern auch ale Ding an fidy feibft (welches er gewöhn-
lich nicht üunterfcheidet) in Anfehung aller feiner Sand;
lungen, der vernünftigen und der fhierifchen, und in
Anfehung alles deffen, was eine Handlung ausmacht,
fowohl der Sorm (Handlungsmeife) als der Materie
oder den behandelten innern und aͤuſſern Dbieften nach,
ohne alle Einfchränfung dem nothwendigen Cinfluße
der Erſcheinungen inder Zeit unterwirft, und fie
ausſchließend daraus ableitet, ift
1) unerweislich, und folge nach einer richtigen
Schlußart
a) weder aus der Erfahrung; welche überall
Feine Nothwendigkeit lehrt und von Dingen an
ſich nichts offenbarer,
b) Noch aus der Analogie der erfahrung Ä
weil die Analogie der Erfahrung nur fo weit
reicht und nicht weiter ausgedehnt werden, darf,
als die Moͤglichkeit der Erfahrung überhaupt
reicht. Don dem Ginnlihen, was ein Gegens
ftand möglicher Erfahrung iſt, gilt fein auch nur
wahrfcheinficher Schluß auf das Ueberfinnliche,
wovon feine Erfahrungserfenneniß entftehen kann.
c) Noch
SE Si nl mn man ul un
Critik der praktiſchen Vernunft, 221
c) Noch aus dem logiſchen Sage des Brundes;
denn Sreyheit,das Vermögen der von Zeitumſtaͤn⸗
den unabhängigen Selbſtthaͤtigkeit ift ſelbſt ein
Grund ; Freyheit iſt feine Grundlofigfeit. *)
d) Noch aus dem finnlich-verftändigen Befer der
Caufjalität; „alles was gefchieht, hat feine Ur;
„ſache, die in der vorhergehenden Zeit liegt...
Denn dieß Gefeg hat nur Sinn in Beziehung
auf Gegenſtaͤnde in der Zeit, unter fich, auf
finnliche Erfcheinungen im Verhältniffe zu einan-
der. Diefe Negel bleibt. Aber die denkbaren
Handlungen des Dinges an ſich in Bezug auf
die wahrnehmbaren Handlungen des Phänomenon,
ihre Erfcheinungen, hängen nicht wie Dor und
Nach durch Zeitverhältniffe zufammen. Es ift
das Verhaͤltniß von etwas, das nicht in der
Zeit iſt, zu demienigen ,. was in einer Zeitord-
nung angefchaut wird.
e) Noch aus dem fpefulativen Vernunfcinter;
eſſe. Diefes fann, bey Behaupfung der Sreys
heit, in Auffuchung der finnlichen Urfachen, des
zeitmäffigen Zufammenhangs ver verfchiedenen
Handlungen und Zuftände des Gemuͤthes hin:
laͤnglich, aufferhaib der Sinnenwelt aber Fann
e8, in Ermangelung alleg zu verbindenden
Stoffes, auch nac) einem entgegengefegten Sy-
ſtem auf Feine Weiſe befriedigt werden.
2 Eine
*) Wiewohl unergruͤndlich; ein unerreichbarer , unber
.greiflicher Grund.
222 Critik der prafeifhen Vernunft,
2) Eine folche finnlidy dererminiffifche Behauptung
ift auch widerfinnig. Sie ſtellt die Dinge an fich
als abhängig von den Geſetzen der Erfcheinungen,
den Grund abhängig von feinem Gegründeren vor.
3) Inconfequent. Wenn ein folder Determinift
(wie gewoͤhnlich) fich auf die Vorausfegung der Un—
möglichkeit ſtuͤtzt, daß einem unveränderlichen Din»
ge an fi, eine Neihe von Veränderungen in
der Erfcheinung enifpreche, Daß dasienige, was
für ſich ſelbſt niche in der Zeit eriftire, eine Folge
von Erſcheinungen in der Zeit begrunde, und
demohngeachtet (wofern er nicht Arheift oder Pan-
theift feyn will) das Verhaͤltniß Gottes, als des
Unveränvderlichen und Zeitlofen, zu der Welt den
Veraͤnderlichen in Zeitverhältuiffen geftellten fich auf
ebendiefelbe Weiſe vorftelle: fo erklärt er in dem
Einen Falle für würflih, was er in dem Andern ’
für widerfprechend ausgiebt. ' .
4) Sie thut dem fpefulstiven Dernunftintereffe |
Abbrucd, Indem man die Reihe von Würfuns
Fungen und Urfachen rückwärts aus dem GSinnlis |
chen indas Leberfinnliche hinfͤhrt, und jenes im- r
mer unmittelbar aus dieſen, dieſes aber wiederum
aus ienen erklärt, wird.die ganze Naturforfchung
verwirrt. Hingegen bey dem Syſtem der Freyheit
geht Diefelbe ordentlich und regelmäfig fort, Urſa⸗
che und Würfungen in der Zeit hängen nach ihrem
Gefege zufommen. Die entfprechendem Gründe in
der
Critik der praftifchen Vernunft, 223
der blog denkbaren Welt werden in vdiefer Neihe
nicht mit eingefchaltet, ſondern fie werden fürfich ge-
dacht, fo mie diefe erkannt werden. ‘Die wechfeljei»
tigen Erklärungen des Iutelligiblen aus dem Sinn—
lichen und des legten wiederum aus dem Denfba-
ven führen uns auf lauter qualitates occultas —
die eigentlichen Antipoden ächter Phyſik.
5) Sie ift praktiſch ſchädlich, nehmlich obiektiv
betrachtet, wenn dieſe Vorſtellungsart im Gemuͤ⸗
the herrſchend wird, und auf die Geſinnungen
einwuͤrkt ). Die Vernunft wird hier ganzlich der
finnlichen Natur untergeordnet, oder wenigſtens
beygeoronet. So mie ich mir Dies innig und mit
Ueberzeugung vorftelle, muß die moraliſche Frey⸗
beit ($. 227.) in meinem Bewußtſeyn abnehmen,
und das fugendhafte Beltreben ermatten „Ich
kann befier werden, ; diefer Gedanfe bleibt aber
nur problematisch. ch fann es, wenn ich muß,
Sch will und muß es wohl abwarten, bis die Zeik-
umftande es begünffigen, Daß ich befler werde.
Wenn die Vernunft nicht ſelbſtthaͤtig wuͤrken kann;
ſo iſt ſinnliches Wohl, das einzige mögliche Ziel
meines Beſtrebens. Innere Wuͤrde oder Unwuͤr—
dig⸗
*) Zu guten Gluͤck handlen wenige Menſchen ihrem Erttent
eonſeguent, und am wenigſten vermag ein Syſtem, dag
in ſich felbft nicht ubereinftimmt, ſolche Begriffe, Ge:
fühle und Maximen ganslich zu vernichten oder fie
Eraftlos zu machen, die in dem Innerſten der Natur
felbft tief_gesrumder, amd in die Gitten, Gewohnbei:
ten, in fogar in die gemeine Lebensſprache genau und
unzertiennlich verwebt find.
224 Critik der prafcifchen Vernunft,
—
digkeit habe ich nicht; denn was ich bin und werde,
bin und werd' ich durch Umſtaͤnde, durch die
Zeit. Verbinde ich Damit den empiriſchen Optimis⸗
mus ($. 1957): fo muß ich hoffen, daß die Gott—
heit die Thorheiten, die ich mit meinem unmittel-
baren Derluft an Glücfeligfeit, aber zum Beften
des Ganzen, als ein Dpfer, das fie dem Univerſum
bringt , begehe, mir vergüten, mich dafür belohnen,
und zu defto gröfern Forſſchriſten auf dem Wege
zu meiner perfönlichen Beblfare leiten werde.
Sittliche Indifferenz
6. 261. |
Verhaͤltniß der metaphyſiſchen zur
moraliſchen Freyheit.
doraliſche Freyheit (F. 227.) iſt die Erſcheinung
der metaphyſiſchen ($: 242. 246.) Das trasſcendentale
Sch, die Vernunft an fich ſelbſt, kann nicht beſſer wer⸗
den durch Mittel, die in der Zeit wirken; aber die Ers
fcheinung deſſelben Fann reiner, ungemifchter werden von
dem’ Einflufe anderer ſinnlicher Krafte Die metaphy-
fiihen Bedingungen von der Thaͤtigkeit oder Unthaͤtig⸗
keit der Vernunft an ſich feldft laffen fih von ung nicht
beſtimmen. Die theoretiſchen Kegeln der empirifchen
Pſychologie, welche das DBegehrungsvermögen betreffen,
bezeichnen Die Zeitumftände, als Temperament, Erzie-
hung, Schickſale u. d. gl. unter welchen die Wauͤrkſamkeit
der Vernunft und ihre Einſchraͤnkungen erkannt wer⸗
Den;
——————
p
J
—
*
Critik der praktiſchen Vernunft. 225
den; aber nicht ihre eigentlichen realen Beſtimmungs⸗
gründe. Auf Diefe gründen. fich ferner gewiffe prakti⸗
ſche Regeln, melde lehren, wie wir die moralifche
Freyheit beyuns und ander erhöhen fonnen d. h. wiewir
das empirische Sch unfrer Idee von dem überfinnlichen,
feinvernünftigen Sch gemäß machen, wie wir die Geſetze
und Aeufferungen des finnlichen Begehrungsvermögeng
den Gefegen des vernünftigen Willens zweckmaͤſſig ans
paffen koͤnnen. Diefes Ich ſelbſt, oder fein Gefeg if
ewig, unveränderfich und zu feiner Verbefferung fähig:
4 Woralphiloſophie. P 3 wey⸗
-
226 Metaphyſik der Sitten, ar
8weyter Hauptheil.
Metaphyſik der Sitten.
6. 262.
Begriff,
En Syſtem reiner (praktiſcher) Vernunfterkenntniße,
welche die Beſtimmungsgruͤnde unſrer freyen Handlungen
betreffen — deren erſte Prinzipien die Critik der praktiſchen
Vernunft, ihrer Möglichkeit nach unterſucht — heißt
Metaphyſik derSitten. Als ein vollfommmes Sy⸗
ftem müßte fie alle reine praftifche Wahrheiten vollftäns
dig enthalten, fie aus ihren eriten Principien vollffän-
Dig ableiten, in ihre erfien Beſtandtheile auflöfen und
ſyſtematiſch verfnüpfen.
Ihr Gegenftand ift Die bloffe praffifche Vernunft, ih⸗
rem reinen Begriffe nach, mit Abſonderung alles deſſen,
was bey einzelnen endlichen vernünftigen Weſen z. B.
den Menſchen zu den reinen Merkmahlen der Vernunft
hinzukommt.
$. 263.
Ihre Theile.
Ihre Iheile wären
1) moraliſche Ontologie oder vollſtaͤndige Ans
lytik, (Deduftion und Zergliederung) aller reinen
moraliſchen Begriffe, * J
“n —
=
2 ne er — u
Metaphyſi k der Sitten. ar
2) reine Ethik oder vollſtaͤndige reine Gefeigebung
für alle vernünftige Weſen.
3) reine Aſcecik oder Methodenlehre d. 1. —
ſtaͤndige Theorie der a priori erfennbaren Tugend»
mittel für iedes endliche vernänftige Wefen.
Analytif der praftifchen, und infonderheit der
moraliſchen Vernunft over praftifche
Ontologie.
| $. 264
Gang der Unterfuchung.
Bey allen moralifchen Urrheilen has man befonderg
zu unterſuchen
1) die Regel oder das Geſetz fuͤr die Handlung nebſt
dem Obiekte, oder dem Zwecke, welcher durch die⸗
ſelbe beſtimmt wird;
2) die Handlung, die in Verhaͤltniß zu dem Geſetze
ſteht, und unter daſſelbe ſubſumirt wird;
3) dieſes Verhaͤltniß für ſich ſelbſt, oder das mora—
ſche Endurtheil, (Schlußſatz), welches aus der
Verbindung des Geſetzes (im Oberſatz) mit einer
Handlung (die im Unterſatz gedacht wird) entſpringt.
Dieſe Form alles ſyſtematiſchen Denkens beſtimmt
den Gang und die Folge der Unterſuchung aller
moraliſchen Grundbegriffe im Allgemeinen, ſo wie
die ſpecielle Betrachtung nach der Ordnung der Ca⸗
hr P 2 | tego⸗
228 Metaphyſik der Sitten.
tegorien oder der Grundbegriffe alles Dentens fort⸗
laͤuft.
$. 265.
Begriff vom Geſetze.
Eine praktiſche Regel ($. 22.) iſt
1. In Abſicht auf Qualität:
a. Individuell; eine praktiſche Regel, die einer
für ſich macht; Willensmeynung, Maxime ($.
27.).
b. Partifulär, oder nur generell; wenn fie nur
comparative Allgemeinheit hat; eine Dorfäprift.
c. Univerfell ; wenn fie abſolut allgemein iftz ein
praftiiches Geſetz.
2. In Abſicht auf Qualität:
a. Bejahend; ein Gebot.
b. Derneinend ; ein Verbot.
c. Einſchränkend; eine vollftändig beftimmende
amd beftimmte Regel; Colliſionsregel.
3. Der Relation nacht
a. Categoriſch; eine Regel, die fich nf: dag We⸗
fen der Vernunft oder der Perfonlichkeit gruͤn⸗
det. Weſentliche Regel, Geſetz der Wurde.
b. Sypothetifdy; eine Regel, die ſich auf den
Zuſtand, auf bleibende aber zufällige, auſſerwe—
ſent⸗
Metaphyſik der Sitten. 229
ſentliche Eigenſchaften und Beſtimmungen eines
vernuͤnftigen Weſens z. B. des Menſchen gruͤn⸗
det; Regel des Wohls.
c, Disiumftiv; eine Regel, die von den veräns
derlihen und zufammengefesten Berhältnißen
eines vernünftigen Wefens zunächft abhängt, und
die hypothetiſchen Negeln mit den categoris
€ ſchen Verbinder; Negel ver Vereinigung des
Wohls und der Würde; Geſetz der Gemein;
Schaft.
‘4. Der Modalität nad:
a. Zufällig bedingt; Kegel der Geſchicklichkeit.
b. Nothwendig bedingt; Kingheitsregel.
c. Abſolut, unbedinge nothwendig; Sitfens
geſetz.
§. 266.
Moraliſches Geſetz.
Ein moralifches Geſetz iſt 1) univerfell 2) vollſtaͤn—
dig beſtimmt und beſtimmend 3) categoriſch und dadurch,
daß es Wuͤrde hervorbringt, der Beſtimmungsgrund
aller hypothetiſchen und disiunktiven Gebote, des Zu—
ſtandes und der Verhaͤltniſſe. 4) abſolut nothwendig.
$. 267.
Formales, materiales Geſetz.
1. Ein Geſetz, das nichts enthaͤlt, als dasienige,
was unmittelbar aus der praktiſchen Vernunft fließt,
| P3 und
r
230° Metaphyſik der Sitten.
und nur die DVernunftmäffigfeit der Handlung über:
haupt ausdrückt — ift ein formales, reines,
weſentliches Geſetz 3 5 B. handle gerecht,
2. Ein Geſetz, das ‚auffer ver praftifchen Vernunft»
inäffigfeit zugleich die Anwendung auf einen beſtimm⸗
ten Fall oder Gegenſtand (Materie bezeichnet, iſt
ein materiales, angewandtes, auſſerweſentliches,
zufaͤlliges Vernunftgeſetz, z. B. gieb ein De—
poſitum zuruͤck.
Die Begriffe von Form und Materie des Begehrungs⸗
vermoͤgens, des Willens, der Handlungen und Geſetze,
welche dieſer Abrheilung zum Grunde liegen, ß nd oben
6, 29 bis 40 erflärt worden,
W * %
Unter Materialen Vernunftgeſetzen wird hier
etwas anderes verffanden, als was oben ($. 32.) unter
materialen Grundfägen verffanden worden. Diefe let;
tern enthielten nicht nur empirifche Merfmahle, ſondern
ihr Grund oder ihre Guͤltigkeit wurde zugleich als ab-
hängig von Erfahrungen und von Gegenftänden derſelben
gedacht, jene, von denen hier die Rede ift, find blos
dem Innhalte nach dieſen aͤhnlich, uͤbrigens wird ihre
Gültigkeit gänzlich auf die formalen Vernunftbegriffe und
Geſetze erbauet , und eben diefe Bernunftform, womit nur
der empiriiche Gegenftand und Fall der Anwendung vers»
bunden worden, giebt ihnen das Recht, .in die Anzahl
moraliſcher Gefese, jedoch nur vom zweyten Range,
auf⸗
Metaphyſik der Sitten. 231
aufgenommen zu werden. Unter dieſen Einſchraͤnkun—
gen iſt es nicht widerſprechend, wenn materiale Grund⸗
ſaͤtze dort als untauglich verworfen, und hier wieder einge⸗
fuͤhrt werden. Dort verwies man ſie aus der Moral,
ſofern ſie als für ſich ſelbſt beſtändig die Moralitaͤt
beſtimmen wollten; hier nimmt man ſie wieder an, wenn
fie feine eigne Geſetzlichkeit ſich um ihrer empiriſchen Folgen
und Obiekte willen anmaaßen, ſondern ſich gaͤnzlich dem
formalen Geſetze unterworfen, und nur Die Anwendung
deffelben auf Handlungen, die in ner Erfahrung vor—
Fommen, bezeichnen wollen.
—
$. 268.
Ein materiäles Gefeg enthält, | wenn es moralifch
feyn foll, auch das formale Gefes, welches ihm eigentz
lich feine moralifche Gültigfeie, Geſetzmaͤſſigkeit giebr.
Eofern die Materie nothwendig mit der Form zuſam⸗
menhängt d. b. wenn dem Gegenflande oder Falle, wel-
cher alsdenn durchaus beſtimmt feyn muß, die Form
des Geſetzes überall anpaßt, das materiale Gefeg alfo
überall dem formalen gemäß ift: fo ift daffelbe ebenfalls
notkwendig und allgemein gültig, wegen feiner unver.
änderlichen Beziehung auf das wefentliche formale Geſetz.
© iſts 5. B. bey den meiften angewandten VBorfchriften -
der Gerechtigkeit der Fall. Wenn Dagegen die Materie
oder der Fall, worauf ein materiales Gefer ſich be-
zieht, nicht durchaus beſtimmt, und daher beſtimmbar
d. i. mehrerer und verfchiedner näherer Beftimmungen fä-
big if: fo paßt dieſem unvollſtaͤndig beſtimmten Sale
P 4 die
⸗
J
—
232 Metaphufif der Sittent
die Form des Gefeges nicht überall an, und das mas
teriale Gefeg iſt nicht nochwendig und algemeingültig.
Dieß ift z. DB. der Fall bey mehrern angewandten Vor
| ſhritten der Güter |
$, 269, | N
* Colliſion der Geſetze.
Formale Geſetze ($, 267.) koͤnnen ſich nie widerſtrei⸗
ten, fo wenig als die Vernunft ſelbſt, woraus fie le,
Diglich ihren Urfprung nehmen, Materiale Geſetze im
Gegentheil Fönnen fich widerfreiten, weil Säle möge
lich find von zufammengefegter Natur, mo die vereinigte
Defolgung mehrerer empirifcher Gefege, welche fich auf -
verſchiedene Theile des Falles oder Obiektes beziehen, ſich
wechſelſeitig einſchraͤnkt z. B. Das Geſetz der eignen Si⸗
cherheit und der Schonung eines Fremden. So iſt
die Colliſion der Geſetze zu verſtehen.
Mit der Colliſion der Geſetze (alfo auch der Pflich⸗
ten) iſt nicht zu verwechſeln der Widerftreit der Nei⸗
gungen, der bloſen Geſchiklichkeits-und Klugheitsregeln
gegen die Forderungen des reinen Vernunftgeſetzes.
Neigungen koͤnnen allerdings fo wie alles dasienige,
was von ihnen lediglich abhängt, auch den formalen Ge: _
fegen in ihrer richtigen Anwendung widerſtreiten.
§. 270,
Leges obligantes, obligandi.
Die materialen Geſetze d. 1, dieienigen, welche eine
beſtimmte Art, beſtimmte Gegenſtaͤnde ſittlich zu behand⸗
‚kn
%
Metaphyſik der Sitten. 233
len, ausdruͤcken (F. 267.), find nach Verſchiedenheit dies
ſer Gegenſtaͤnde, ihrer Erkenntniß und ihres Verhaͤlt⸗
nißes zur Sittlichkeit an ſich ſelbſt ($. 268.)
1) ſtrengverpflichtend, weſentlich, vollkommen de*
terminirt, Cleges abligantes) — mern der Ges
genftand, an welchem ein Gefeg erfült werden, 'und-
Dasienige, was an Diefem Gegenſtande oder in eis
nem gegebenen alle aefchehen ſoll, ſich durchaus:
beſtimmen und ſich fein Verhaͤltniß zur reinen Sitts
lichkeit vollftandig und durchaus beſtimmt angeben
löst; deren Nichrbeobachtung oder Verletzung alles
zeit Sünde iſt.
2) nur im. Allgemeinen verpflichtend , auffertve-
ſentlich, unvolifommen, undererminirt (obligandi)
— wenn die Natur des Gegenffaudes eine fo ges
naue Beſtimmung nicht zulaͤßt, ſondern durchaus
etwas Unbeſtimmtes ubrig bleibt.
Dieſer Unterſchied bezieht ſich nur auf die Moͤglichkeit
oder Unmöglichkeit einer durchaus beſtimmten Erkennt⸗
niß deffen, was in irgend einem gegebenen Falle morg-
liſch zu thun oder zu laſſen ift, gile alfo nur für einges
fhranfte vernünftige Wefen. Obiektiv muß ieder Hand-
lungsfall der genaueſten moraliſchen Beſtimmung faͤhig
—
$. 271.
Ein vollkommenes Geſetz ($. 270.) enthält einen
eelchendene Grund zu einer Handlung, d. in einen
P 7 folchen,
234 Metaphyſik der Sitten, -
folchen , welcher die Handlung ganz und nothwendig be=
fimmt. Ein unvollfommnes enthält nur überbaupe
einen Grund dazu, und laͤßt fowohl die Zälle ver, -
Anwendung überhanpf, als auch das Wieviel? im iedem
gegebenen Falle einigermaaßen unbeftimmr.
Mit den (für iedes endliche Wefen) obieftiv um;
vollkommnen Gefegen ($. 270.) find Dieienigen nicht
zu verwechfeln, denen nur fubieftiv und zufälliger Wei⸗
ſe bey dem oder ienen vernünftigen Weſen die genauere
Beſtimmung fehlt, deren ſie an ſich ſelbſt bey mehrerer
Lultur der moraliſchen Wiſſenſchaft faͤhig waͤren. *
6. 272.
Hoͤheres, niederes Gefeg,
Ein Geſetz, welches in einem andern Gefeke gegrüns
bet iſt, iſt von demfelben abgeleitet, und in Verglei⸗
chung mit demſelben niederer; ienes iſt vergleichungs⸗
weiſe höher und urſprünglich. Sie find einander
fubordigirt.
Ein Gefes if dem andern coordinirt, fofern feines
von beyden von dem andern abgeleiter, fondern beyde
entiveder als Theile in einem ganzen gemeinſchaftlichen
Geſetze, oder als Folgerungen von einem und demſelben
Grundgeſetze zu betrachten find.
Die coordinirten Geſetze ſind ſich gleich, wenn die
Nothwendigkeit ind Nähe ihres Zuſammenhangs mit ih⸗
sen urſpruͤnglichen Geſetze nicht verſchieden iſt; z— B. das
—
x
Metaphyſik der Sitten 235
Geſetz der Gerechtigkeit gegen andere und'gegenmich ſelbſt;
‚ ungleich, wenn dag eine Gefeg entweder nicht fo noth-
wendig oder nicht fo nahe, fondern durch mehrere Zwi⸗
fihenglieder, mit dem gemeinfchaftlichen Grunde des ans
dern zufammenhängr.
Gefese find zugleidy coordinire und ſubordinirt,
wenn ihr entfernter Grund beyden gemeinfchaftlich zus
kommt, der naͤhere Grund des einen aber als Theil oder
Folgerung von dem naͤchſten Grunde des andern anzu
ſehen iſt.
——
Ein hoͤheres Geſetz iſt vielumfaſſender, als ein nie—
deres; Das niedere iſt alſo yon geringerm Umfange.
§. 274.
Die ‚materialen Geſetze empfangen ihre Guͤltigkeit,
Eeſetzlichkeit) von den formalen. Dieſe find alſo höher
als iene, und iene dieſen überall ſubordinirt.
v4
$. 275.
Das moraliſche Grundgefes iſt das abſolut hoͤchſte,
und allumfaſſend. Seine Theile, oder die Formeln,
worinn es auf eine denkbare Art von Gegenſtaͤnden (3.
B. auf das handelnde Weſen oder auf eine, von dieſen
verſchiedne Perſon) bezogen wird, find ſich Ale
und nur coordinirt.
$. 276.
Die materialen Geſetze, - worin den formalen ein
Erfahrungsgegenftand, ein Bi in der Sinnenwelt zur
An
236 Metaphyſik der Sitten.
Anwendung angewieſen wird, find höher, ie allgemei⸗
ner fie find; niedriger, ie mehr fie ins Defondere und
Einzefne gehen; coordirfire und gleich, wenn fiegleich
allgemein find, und mit dem formalen Grunde mie gleis
cher Nothwendigkeit und durch eine ‘gleiche. Anzahl Zwi⸗
— ſchenglieder zuſammenhaͤngen z. B. das Geſetz der Men⸗
ſchenerhaltung iſt dem Geſetze ver Selbſterhaltung gleich;
das Geſetz der Sparſamkeit dem Geſetze der Induſtrie
ebenfalls; das Geſetz der Wiedererſtattung iſt dem Ge⸗
fee der Gerechtigkeit gegen andere Menſchen uͤberhaupt
untergeordnet.
$. 277.
| Zweck und Mittel, ;
Der obieftive Grund einer Willensbeſtimmung oder
"das, was man will, ein praftifcher Gegenſtand, iſt der
Zweck; dasienige wodurch der Zweck möglich oder was
durch den Zweck beftimme wird, das Mlictei.
Ein Zweck, fofern er den Gemuͤthe vorgeffelle wird,
heißt ein Antrieb —, eine den Willen beflimmende
Vorſtellung. ut
&; 278;
Obiektiver, fubieftiver Zweck,
Ein ſubiektiver Zweck ift dasienige, deſſen Exi—
4
ſtenz fur ung einen Werth hat, den nicht die Vernunft
allein zureichend beſtimmt; obiektiver Zweck iſt alles,
deſſen Erxiſtenz an ſich ſelbſt für iedes vernuͤnftige We⸗
ſen einen Werth hat, deſſen Werth lediglich durch Ver⸗
nunft beſtimmt und geſchaͤtzt wird, —
$. 27P.
el A nn u
kung auf das Subieft (das Gemuͤth) anflert.
Metaphyſik der Sitten. 237
ih 23 279% 2
Materialer, formaler Zweck.
Mas durch eine Handlung bewürft werden fol, heiße
ein materialer Zweck; was ein vernünftiges Weſen
durch feine Handlung zwar nicht hervorbringen Fann,
was es aber gleichwohl nie blos als Mittel behandlen
darf (der Vernunft gemäß, kann), heißt ein formaler
Zweck. Jener hängt von der Materie des Willens,
dieſer von feiner vernänfrigen Form ab. \
Der formale Zweck ift abſolut, der materiale nur
relativ.
$. 280.
Jeder ſubiektive Zweck (9. 278.) iſt material und res
lativ; ieder obieftive Zweck iſt formal und abſolut.
$. 281
Triebfeder, Beweggrund.
Die Antriebe (6. 278.) ſind entweder nur Triebfe—
dern oder auch Beweggruͤnde. Die Vorſtellung eines
ſubiektiven Zwecks, als ſubiektiver Grund des Begeh—
rens betrachtet, iſt eine Triebfeder in engerer Bedeutung;
die Vorſtellung des obieftiven Zweckes, als fubiefriver
Srund des Wollens heißt ein Beweggrund.
Wenn man- unter Triebfeder überhaupt (wie oben 3
$. 145 bis. 166) ieden Antrieb, ieden fubieftiven Grund
des Begehrens verſteht ‚So kann auch ein Beweggrund
als Triebfeder vorgeſtellt werden, ſobald er eine Wuͤr—
238 Metaphyfif der Sitten,
—
6. 282.
An einem ſubiektiven Zweck ($. 278.) unterſcheidet
man etwas Aeuſſeres, auffer dem Begehrungsvermögen
Befindlihes, z.B. Gold; etwas Inneres, im Gemü-
the’ befindliches, 3. B. die Begierde zu haben, und ein
Verhaͤltniß zwifchen beyden, 5. DB. der Gewinn. Das
erfte heißt der Gegenftand, das zweyte die Abficht, das
oritte Genuß. Letzteres beſtimmt das Weſen eines ſub⸗
iefriven Zwecks.
Zafel Ba Zwecke.
Nach den reinen Merkmahlen alles Denkens, laͤßt
ſich der Begriff von einem Zweck (Gut) auf folgende Art
naͤher beſtimmen.
Quantität. Individueller Zweck, das — ———
Genereller Zweck, das Relativ Gute.
Univerſeller Zweck, das Abſolut Gute.
Qualität. Poſitiver Zweck, etwas Gutes.
Negativer Zweck, d. i. Nichtſeyn des
Boͤſen. BEE
Eimitivter oder beffimmter Zweck, Gu⸗
tes ohne Böfes, rein Gutes.
Relstion. Abfoluter, höchfter , felbfiftändiger Zweck;
MWefentlih Gutes, was eine Würs
de hat, eine Perſon.
Bedingter, abhängiger, untergeordneter
Zweck, Nebenzweck; Wohl des Zu⸗
ſtandes einer Perſon.
Dis⸗
—*9*
Metaphyſik der Sitten, ‚239
Disiunftiver, in Gemeinfchaft gedachz
ter, vollffändiger Zweck, Verbindung
der oberfien und der bedingten Zwe—
fe, Syſtem ver Zwecke — Wohl
und Würde vereint.
Modalität. Moͤglicher Zweck, Zweck der Geſchick⸗
lichkeit.
Würklicher Zweck, der Klugheit.
Abſ. Nothwendiger Zweck, der Sittlichkeit.
-$. 284.
Ein moralifcher Zweck, der Zweck, den ein vernünfs
tiges Wefen bey Befolgung des Sittengeſetzes vor Au⸗
gen hat, iſt 1) univerſell 2) vollftändig beſtimmt, rein
3) felbfiftandig und dadurch vollſtaͤndig 4) unbedingt
nothwendig.
$. 285.
Mittel.
Ben einem Mittel ($. 277.) unterſcheidet man et⸗
was Beffiminbares , die Materie, und etwas Beſtim⸗
mendes oder die Form. Die Iegtere beſtehet in der this
tigen Behandlung (5. B. Anbau) des Stoffs G.D. ei-
nes Feldſtuͤckes, oder des Verſtandes) zu Erreichung
des Zwecks.
g. 286,
*
+
240 Metaphyſik der Sitten.
6: 286.
Mittlerer Zweck ˖
Ein Mittel iſt entweder ein bloßes Mittel, oder
ein mittlerer Zweck; das letztere, wenn es in anderm
Betrachte auch als Zweck anzuſehen iſt.
8. 287.
Subordination, Koordination der Zwecke.
Die Zwecke Fönnen einander
‚I) coordinitt ſeyn, wenn der eine ohne Bezug auf
die andern geſucht wird
2) pofitiv ſubordinirt, als mittlere und fer⸗
nere Zwecke; wenn der eine fih zu dem ander
als Mittel verhält, und nur um desmwillen gefuche
wird.
3) coordinirt und — fubordiniee zugleich
als Sauptzwed und Nebenzweck. Man bes
fördert den letztern nicht um des erftern willen, aber
Doch nie mit Hindanfesung deffelben, fondern nur
in ſofern, als der andere dadurch nicht gar
wird, und fid) damit verträgt,
$. 28%.
Hoͤchſter Zweck.
Der höchſte Zweck d. i.derienige, IDEE am für.
ften begehrt wird iſt daher
1) vergleichungeweife der höchſte, wenn wir
ihn vorziehn a
1) iedem
Metaphyſik der Sitten. 241
H iedem andern. coordinirten Zwecke, einzeln bes
trachtet.
2) allen uͤbrigen beygeordneten Zwecken zuſammen.
2) ſchlechterdings der höchſte, wenn ihm alle uͤb⸗
rigen ſubordinirt ſi ſind, nicht nur
1) negativ, als Nebenzwecke dem ern, ;
fondern auch
2) pofitiv, fo daß ihm alle übrigen nur ale Mit⸗
tel Dienen. | “*
$. 289. ER
Vollkommenheit der Mittel, |
Ein Mittel if
1. der Quantität nad s
ein einzelnes, was nur einen einzelnen Zweck bes
fördert, oder nur einem, nur ietzt dient.
ein, befönderes; was mehreren Zwecden, mehrer
Perfonen, unter mehrern Umſtaͤnden entſpricht;
ein allgemeines, was uͤberall, allen Zwecken aller
Perſonen, unter allen Limftänden befoͤrderlich, nie
zweckloß oder zweckwidrig iſt.
2. der Qualität nach;
den Zweck unmittelbar befoͤrdernd, poſitiv
die Hinderniſſe wegraͤumend, negativ
beydes, vollſtaͤndig beſtimmt.
3. der Relation nach:
weſentlich, einfach, für fih weckmaſſig
ſich entwickelnd, in ſeinen Folgen zweckmaͤfſig.
Moralphiloſophie⸗ m beydes,
Ba '- Metaphyſik der Sitten,
beydes, in der Verbindung zweckmaͤſſig; paſſend in
en Syſtem von Mitteln und Zwecken.
4. der Modalität nach:
ein mögliches Mittel, dag man haben, gebrau>
chen, und wodurch man den Zweck befördern kann.
einwürfliches Mittel, das man hat, und das dent
Zwecke entjpricht.
R ein nothwendiges Mittel, das ficher iſt, dem Bes
fie, dem Gebrauch, und dem Effeft nach.
$. 290. |
Subordination, Coordination der Mittel,
Mehrere Mittel werden verbunden
3) zu Beförderung Eines nächften Zwecks als beyge⸗
ordnete Mittel; die entweder in gleichem Maaße
oder in verſchiedenen Verhaͤltnißencals Haupt—⸗
mittel und Nebenmittel) zu ihrem Zwecke wuͤrken.
2) zu Beförderung Eines letzten Zwecks, ſo daß ies
des ſich zugleich als Mittel und als Zweck in der
Reihe der Glieder verhält — ſubordinirte Mittel.
$. 291. |
Collidirende Zwede, Mittel,
Zwecke colliviren mit Zwecken entweder unmittelbar,
indem einer den andern aufhebt und einſchraͤnkt, oder
mittelbar durch vie Mittel, die dem einen Zwecke güns
ftig, und Dem andern dagegen hinberlich find.
Mittel
Metaphyſik der Sitten, 943
Mittel reisen mie Mitteln, die für fich ſelbſt iedes
einzeln einerley Zweck befördern ‚. in der Verbindung aber
ihre Würfung wechſelſeitig einfchränfen, fo daß ihre
würfliche vereinre Würfung, nicht gleiche der Summe.
der Würfungen, Die iedes einzelne her vorzubr ingen im
Stande war.
$ 202;
Ein Geſetz, das uns zu einem gewiſſen Zweck vers
pflichtet, gebietet auch den Gebrauch der Mittel, ohne
welche derſelbe nicht erreicht werden kann; verſtattet
alle die Mittel, die nur daſſelbe befoͤrdern, den Fall
ausgenommen, daß dieſes Mittel einem hoͤhern, wichti⸗
gern Zwerfe hinderlich ware.
$. 293:
Tafel der . Handlungen,
Eine Handlung (ein Thun oder Laffen) iſt in Be⸗
ziehung auf die praktiſchen Regeln und Zwecke, mit de⸗
nen fie uͤbereinſtimmt oder ſtreite,,
1. der Quantität nach:
angenehm, oder unangenehm
nuͤtzlich oder ſchaͤdlich
‚gut oder boͤſe, Ar
ie nachdem fie einer einzelnen, befondern, oder allges
meinen Regel entfpriche oder —“
2. der) Qualitat nach
regel⸗ oder geſetzmaͤffig; nicht eeſetmaſig po⸗
ſitiv)
Na nicht
244 Metaphyſik dee Sitten '
nicht — gefegmwidrig; geſetzwidrig.
beydes, vollfiändig übereinftinmend — vollſtaͤndig
widerſtreitend.
3. der Relation nach: |
würdig oder unmürdig 4
heilſam oder nachtheilig
beydes, der Wuͤrde und dem Wohle gncen |
— oder zuwider
E der Moralität nach:
regelmaͤſſig oder regelwidrig (zulaͤſſig oder unzulaͤſſi y j
Vorſchriftmaͤſſig GxInrov) oder et \
(erlaubt, unerlaubt)
Geſetzmaͤſſig, Gefeswidrig (Pflichtmäffig, auroe-
Top“, oder Pflihtwidrig).
9. 294.
Die -moralifche Handlung iff, I) gut d. i. überein
feimmend mit einem allgemeinen Geſetz 2) gefegmäffig in
Der einen und niche gefegiwidrig im einer andern Ruͤck—
ſicht, übereinffimmend mit einem volftändig beffimmten
Gefese 3) der Würde und dem Wohle gleich angemeflen,
in einem Syſteme vernünftiger Wefen, Die dieſe Geſetze
befolgen und 4) pflichtmaͤſſi 3, einer nothwendigen —
gel gemaͤß.
5 295:
Legalitaͤt, Moralitär.
Die Uebereinſtimmung einer Handlung mit dem Gi;
tengeſetze (oder au), mit einem praktiſchen Geſetze über-
haupt
Metaphyſtk der Sitten. 245
haupt) heißt Kegalität; wird dieſe Uebereinſtimmung
durch das Sittengeſetz ſelbſt, alſo nothwendigerweiſe be⸗
ſtimmt, fo kommt der Handlung Moralität, ſittlicher
Werth zu. Bey der bloßen Legalitaͤt kann der Beftims
mungsgrund diefer Uebereinffimmung etwas anderes,
on ſich zufälliges feyn.
$. 296.
Verbindlichkeit überhaupt,
Das Verhältnig eines Gefeges zu einem Willen, wel
cher nicht phnfifh am dieß Gefez gebunden iff, wodurch
eine Handlung als praftifch nothwendig vorgeftellt wird,
Die nicht phyſiſch nothwendig aus demfelben erfolgt; heiße
DerbindlichFeit in weiterm Sinne. Es mird hier
ein Wille durch Vernunftgründe beſtimmt, welcher fub-
ieftiv etwas anderes wollen“ kann; ein nothwendiges
Wollen, in möglichen — mit der natuͤrli⸗
chen Neigung.
x
x $ 297.
Berbindfichfeit n in engerm. Sinne, moralifche,
In engerm Sinne nennt man nur eine Beſtim—⸗
mung eines finnlichen Begehrungsvermögeng durch reine
Vernunftgruͤnde, oder die Nothwendigkeit einer Hands
lung zu Solge eines moraliſchen Geſezes — Derbind;
lichkeit fchlechkhin‘, oder eine moraliſche, oder insbes
fondere eine Verpflichtung.
TR | | 23 €. 298.
246 Metaphyſik Feder Sitten.
$, 298.
Verpflichtung, aftive, paſſive.
Was dieſes Verhaͤltniß felbfichatig beſtimmt, heißt
verbindend oder verpflidptend; was daben fich leident⸗
lich (pafſiv) verhält, und Beſtimmungen empfängt, das
iſt oder wird verpflichtet. Das Gefeg und dag gefeh«
gebende Vermögen verpflichtet ; das finnliche Begehrungs-
yermögen empfänge eine Verpflichtung. |
$. 299.
Zu einer Verpflichtung gehört alfo nicht nothwendig
‚ein Oberherr, aus deffen Willen fie entſpraͤnge, fon=
dern nur ein übergeordnetes undein untergeordnetes Ver⸗
mögen deflelben Subiekts, wovon das eine verpflichtet,
Das andere verpflichtee wird. _ Gründe zu einer beftimm-
ten Derpflichtung kann der. Wille eines. andern, alfo
auch eines Oberherrn geben; allein ‚der letzte und ent—
fcheidende Grund, ſich ienen äuffern Gründen, die an
fich unzureichend wären, gemaͤs zu beftimmen d. i. einen
Oberen zu gehorchen, muß Doch iederzeit in der Bernunft
Des Verpflichteten ſelbſt a priori vorhanden ſeyn. Dieß
gilt ſelbſt von den göttlichen Geboten,
$. 300,
Subiekt der Berbindlichkeit,
Verbindlichkeit finder, was erſtens Die Perfonen ber
trift, Die ihrer fähig find, nur ‚State
1) bey vernünftigen, freyen Wefen , teil diefe allein
der Moralitaͤt d. i. der Selbfibeftimmung nach reis
nen
Metaphyſik der Siem . 247
nen Dernunftgründen fähig find; nicht bey blos
thieriſch beftimmbaren Wefen. Reine Vernunft ift
Die Bedingung der, aftiven Verpflichtung.
2) Aber auch nicht bey durchaus reinen EM si
fen Coßne finnliches Begehrungsvermögen), fondern
nur bey eingefchränften, ſinnlichen Weſen, bey des
nen auffer den rein vernünftigen Beftimmungsgrüns
den auch noch eine andere Beſtimmung zum hand»
len, theils durch unmittelbare finnliche Gefuͤhle,
theils Durch Bewegungsgruͤnde der empiriſchen
Vernunft (der Klugheit) moͤglich iſt, deren Begeh⸗
rungsvermoͤgen alſo durch das moraliſche Geſetz ei⸗
nigermaaßen eingeſchraͤnkt und andern Antrieben
entgegen zu handlen beſtimmt d.i. genoͤthiget wird.
$. 307.
Dbiefe Der Verbindlichkeit.
Was zweytens die Handlungen betrift, wozu ie⸗
mand verpflichtet werden kann, ſo ſind alle dieienigen
davon ausgenommen, die keiner Moraficät fähig. find,
alſo
3) die ſchlechterdings unmöglichen, deren Ber
ariff fich Telbft und dem Wefen des Handelnden
widerfpricht ;
2) die bedingt unmöglichen d. i. Dieienigen, zu des
von Würklichfeit Die norhwendigen äuffere:: Bedin⸗
gungen fehlen; Die in der gegebenen Innern und
24 aͤuſſern
248° Metayhyſik der Sitten
aͤuſſern Lage unmöglich find; wozu es an ber erfor⸗
derlichen Materie fehlt. i
3) die moraliſch unmöglichen d. i. dieienigen, die
einer andern hoͤhern Verpflichtung: widerſtreiten.
$. 302, _
Verpflichtungsgruͤnde.
Wovon eine Verpflichtung abhaͤngt, das iſt ihr
Grund. Man unterſcheidet aber
N den weſentlichen, formalen Grund aller Ver⸗
bindlichkeit d. i. das reine Vernunftgeſetz z. B. das
reine Geſetz der Gerechtigkeit;
2) den zufaͤlligen, materialen Grund d. i. dasienis
ge in Dem Dbiefte, in dem Zwecke einen Handlung,
was unter das Geſetz fubfumirt wird; dasienige
in und an der Handlung, weswegen das Vernunfts
gefeß darauf angewandt wird 5. DB. eine Schuld,
die ich übernommen, ein Verfprechen, das ich ge
than habe; der Einfluß einer Handlung auf meine
Gefundheit, Ehren. ſ. f. ;
Der formale Grund iſt allgemein für iedes vernünftige
Weſen und für alle Fälle vorhanden und gültig; der ma⸗
feriale Grund zu einer Handlung hängt von zufälligen -
Umftanden, Verhältnißen und Lagen ab, Die zu einer
beftimmten Art, moraliſch zu handlen, Stoff und Ver⸗
anlaſſung geben.
§. 303.
Metaphyſik der Sitten, 249
$. 303.
Pflicht, Recht.
Was einer Verbindlichkeit wuͤrklich entſpricht, was
durch ein Geſetz prattiſch nothwendig iſt, was dem Ge-
ſetze zufolge geſchehen ſoll, das iſt Pflicht. Was ohne
Widerſpruch eines Geſetzes ſeyn oder geſchehen (oder
unterlaſſen werden) kann, was keiner Pflicht widerſpricht,
was ich der Pflicht unbeſchadet thun oder unterlaſſen
Darf, was prattiſch möglich iſt, das iſt Recht.
§. 304.
Aller Wuͤrklichkeit liegt die Moͤglichkeit zum Grun⸗
er jeder Pflicht entſpricht alſo ein Recht des Verpflich⸗
eten.
305.
Pflichtmaͤſſig, aus Pflicht handlen.
Eine Handlung, die ihrem Innhalte nach dem
Geſetze gemaͤs iſt, heißt pflichtmäſſig; was um der
Verbindlichteit willen, alſo vermoͤge eines geſetzlichen
Beweggrundes geſchieht, iſt eine Gandlung Aus
Pflicht, Erfüllung einer Pflicht. - Diefe hat Moralis
tät, iene nur Legalitaͤt. $. 295.
€. 306.
Handlungen aus Pflicht (F. 305.) unterſcheiden fi F
Mvon pflichtwidrigen Bi ‚ durch ihre Les
galitaͤt
25 2) von
4
250 Metaphyſik der Sitten.
2) von pflichtmäſſigen, die ohne Moralitaͤt ge—
fchehen (oder unterbleiben), aus Furcht oder Hofs
nung, und zwar
a) aus unmiftelbarer Neigung zu dem materialen
Zweck oder Gegenſtande der Handlung.
b) aus mittelbarer Neigung, deren naͤchſtes Ob⸗
ieft nicht der Gegenftand der Handlung ſelbſt,
aber mit. diefen verbunden ift — von Natur,
erer durch willkuͤhrliche Beranßaltung eines
Oberherrk.
$. 307.
Die Nothwendigkeit einer Handlung beruht nehmlich
1) blos und unmittelbar auf Neigung, auf einem ſinn⸗
lichen Antriebe
2) oder auf einem empiriſch vernänftigen Beweggrunde
(Motiv), auf einem erkannten fntereffe — Verz
bindlichkeit im weitern Sinne. $. 296.
{ } 4
3) oder auf einem reinvernuͤnftigen Beweggrunde, oder
Verpflichtungsgrunde — moauge⸗ Verbind⸗
lichkeit.
** *
Die franzoͤſiſche Sprache bedient ſich, um dieſe Vers
häftniffe einer Handlung auszudruͤcken, deſſelben Zei-
sheus „obliger,, aber mir verfihiedne regimes , de und%.
oa fteht, kommt es auf eine genaue, nothwendige
Derbindt lichteſt an, wovon man ſich nicht losſprechen
kann,
Metaphyſik der Sitten, 251
kann, weil eine Pflicht, ein Contrakt u. d. gl. fie be—
ſtimmt. Hingegen fagt man: je ſuis oblige de fortir
etc. um anzuzeigen, daß man ſtarke Beweggruͤnde, die
nicht eben moraliſch noͤthigend ſeyn dürfen, zu etwas
babe,
$. 308.
Zafel der Pflichten,
Die Verbindlichkeiten und Pflichten (in weiterem
Sinne €, 292.) d. i. Beftimmungen der Nothwendigkeit
einer Handlung (oder Unterlaffung) Durch eine Kegel,
find eben fo verfchieden, alg die Regeln ſelbſt — nach
der obigen Tafel .$, 261.
Eine Verbindlichkeie iſt
I; der Quantität nach:
"a, individuell, menn fie auf eine blos fubieftive
Marine (Willensmeynung) eines Einzelnen, auf
einem‘ individuell beſtimmten Intereſſe beruht.
Verbindlichkeit det Kunſt. So iſt der Dich:
ter verbunden, zu erfinden, zu mablen u. |. w.
als Dichter. |
b. fpeciell; aus einer comparativ nie, obs
ieffiven, bedingte nothiwendigen. Regel, aus eis
nem ‚nernünftigen Beweggrunde für eine Klaffe
‚ vernünftiger Wefen 4 B. Menfchen, als Men-
ſchen betr achten Verbindlichkeit der Kluge
beit,
a
© uni⸗
252 Metaphyſik der Sitten.
c. univerſell; aus einer abſolut nothwendigen
Regel, einem Sittengeſetz, einem vernuͤnftigen
Beweggrunde, oder Verpflichtungsgrunde. Stren⸗
ge, ſittliche Verbindlichkeit.
2. der Oualität nach.
a. pofitive, aus einem Gebot
b. negative, aus einem Verbot
c. limitirte, aus einem genau, poſitiv und nega-
tiv beffimmten Imperative.
3. Der Relstion nach:
- a, abſolute, innere, weſentliche; aus einer Re—
gel die fich unmittelbar auf das reine Wefen dee
Dernunft gründer.
b. hypothetiſche, aus einer bedingten Regel, die
auf einem zufälligen (bedingtnothwendigen) Zweck
beruht. Wenn du gefund bleiben willſt, over
weil du. glückjelig werden willſt: ſo —
ce. disiunktive; aus einer getheilten Regel, dieß
oder ienes zu thun. Sie bezieht fihaufeine Ge
meinſchaft, Gefellfchaft.
4. Der Modalität nach:
a. problematifche, durch eine mögliche Vorfchrife.
b. affertorifche, durch eine wuͤrkliche obgleich
zufällige,
€, apodiktiſche, durch eine nothwendige Negel.
$. 309
Metaphyſik ver Sitten, 253
'$. 309.
Die Snörglipfe oder firenge Verbindlichfeit ($. 293.)
ift 1) eine univerfelle. 2) vollſtaͤndig beſtimmte 3) ads
folyte, weſentliche und 4) apodiktifche,
6. 310.
Sormale', niateriale Werbindlichkeit,
Die Beftimmung des Begehrungsvermögens durch
ein formales Geſetz heißt formale; durch ein materia>
les — maceriale DerbindlicyFere. Die letztere ſetzt
das Dafeyn der Umſtaͤnde voraus, worauf ein materls
ales Gefeg die reine Vernunftvorſchrift anwendet.
$. 311.
Colliſion der Pflichren,
Materiale Verbindlichkeiten und. Pflichten Fönhen
fich wivderfireiten d. h. es Fünnen die Verhaͤltniſſe bey
einer Handlung fo zufammengefest und verwicelt feyn,
das fich Die materialen Gefege, welche Bezug darauf has
ben, nicht alle, wenigſtens nicht in ihrem ganzen Um:
fange erfüllen laffen. Das formale einer Verbindfich-
keit aber ift einfach), fich überall felbft gleich und. feines
Üiberftreits mit ſich ch ſelbſt fähig.
$. 312.
Allgemeine Entſcheidung.
Eine oder einige von zwey oder mehreren mater ialen Re⸗
geln, welche in einem vorliegende aFalle unter ſich ſtreiten und
keine vereinte Befolgung verſtatten, muß oder muͤſſen der
an Form
25% Metaphyſik der Sitten,
Form oder dem Weſen der Pflicht, nicht allgemein und
nothwendig entfprechen, muͤſſen alfo unbeſtimmt feyn,
ynd Finnen für diefen Fall nicht entfcheiden. Nachdem
man iede ſolche materiale Pflicht, durch einen Colife
onsfall veranlagt, genauer beftimme und ihnen die Form
"der allgemeinen Geſetzmaͤſſi igkeit dadurch ertheilt hat, ſo
muß ſich allezeit finden, daß ſie ſich in der Anwendung
nicht widerſtreiten; denn ſonſt muͤßte in der Vernunft
ſelbſt etwas Vwerſprechemre enthalten ſeyn, BE
NORMEN iſt.
$. 313,
Die materiale Verbindlichkeit aus einem determi⸗
nirten Gefege ($. 270.) iſt vollkommen; aus einen
undeterminirten — unvollfommen. Im erſten Falk
le bin ich im Allgemeinen zu etwas verpflichter, im ans
dern ganz genau und beftimmt. Dort läßt das Geſetz
einiges meiner eigenen Wahl über, hier ift alles durch
Pflicht beſtimmt. Die vollkommne Pflicht (z. B. der
Bezahlung einer Schuld) kann nur auf eine genau be
ſtimmte Art erfüllt werden; die unvollkommne auf ‚mehr
als eine Art, wo ich wählen kann 3. B. wem ich helfen
will unter mehreren Dürftigen: Sie bezieht fi auf ein
Gebot, das in der genauern Beſtimmung disiunftio
if. Jene iſt Höchft gewiß für ieden gegebenen Fall;
Diefe laͤßt etwas zweiielhait. Das Unbeſtimmte diefer
Verbindlichkeiten betrift das Subiekt, das Obiekt, den
Grad, die Zeit, die Art und Weiſe und andere dergl.
Umſtaͤnde der Handlungs
Was
Metaphyſtk der Sitten, 255%
Mas an fih unvollfommene Pflihe iſt z. B. einem
Leidenden benzuftehen, das kann Durch nähere Beſtim-—
mung, 3. B. Durch einen Vertrag, in concreto eine voll
kommne Verbindlichkeit erhalten.
$. 314.
Eine materiale Verbindlichkeit heißt in Bezie⸗
hung auf.die formale unmittelbar, wenn fie ohne Zwi⸗
ſchenglied aus der formalen, oder aus dem Vernunftge⸗
feße folge, mo eine Handlung unmittelbar unter dag
zeine Gittengefeg fubfumirt wird 5. B. mein Leben zu
erhalten; mittelbar oder abgeleitet,’ wenn fie eine an⸗
dere materiale Verbindlichfeie als ihre Bedingung vorz
ausſetzt, wovon fie abhängt z. B. Nahrungsmittel zu ges
nießen, zu erwerben. Jede Verpflichtung zu gewiſſen
Mitten, oder mittlern Zwecken iſt mittelbar.
Die Verpflichtung ifvergleibungsweife näher,
wenn fie durch eine Eleinere Anzahl von Zwiſchengliedern
mit der formalen zufaommenhängt:
Die unmittelbare Berbindlichkeit ift Höher, als die
mittelbare. Höhere und niedere % Verbindlichkeit iſt ver⸗
ſchieden, wie die Geſetze, wodurch ſie hervorgebracht
wird. Vergl. $. 272.
$ 3215.
Eine materiale Verbindlichkeit zu einer adlung
iſt ferner einfach, wenn nur Ein naͤchſter moraliſcher
Beweggrund zu einer Handlung vorhanden iſt; zuſam⸗
— mengeſetzt oder vielfach, wen deren mehrere da find.
Wenn
%
256 Metaphyſik der Sitten,
Wenn die zuſammengeſetzte Verbindlichkeit mittelbar iſt,
ſo giebt es mehrere coordinirte Reihen, von materialen
Gründen, die bis zum oberſten formalen Verpflichtungs-
grunde hinaufführen, welcher immer nur ein einziger iſt,
nehmlich diereine Vernunftmäffigkeit. Auffer diefem ein-
zigen moralifch, verpflichtenden Grunde fann es noch
mehrere vernünftige Gründe von anderer Art, nehmlich
Klugheitsgründe ‚ geben, die mich ebenfalls zu denfelben
Handlungen, aber nur in weitläuftigem Sinne ($ = )
verbinden.
Die Möglichfeie einer zuſammengeſetzten Berbind«
lichkeit gründer fich auf die confrere DBefchaffenheit ver
Handlung, und auf die mehrern Verhaͤltniſſe, die in
einem gegebenen Handlungsfalle zu unterfcheiven find.
§. 316,
Wie die Geſetze, fo find auch die Pflichten und Ver-
Bindlichkeiten einander coordinirt, ſubordinirt oder beydes.
———ã—7
Die Größe der formalen Verbindlichkeit iſt ſich über;
all gleich; die der materialen richter fich
I) nach der Nähe ihres Zuſammenhangs mit der for»
“ malen, nad) $. 314 — Extenſive Brö). Ei—
. ne höhere Verbindlichteit umfaßt Bee einzelne
Sale. |
2) nach der Gewißheit und Nothwendigkeit dieſes Zus
—— — Intenfive Groöſe. So iſt die Ver⸗
bind⸗
Metaphyſik der, Sitem . 257)
Bindlichfeit zu dem Gebrauche eines unentbehrlichen
Mittels zu einempflichimäfligen Zweck, gröfer, als
zu der Anwendung eines zwar dienlichen Mittels,
deflen Stelle aber doch ein anderes Mittel verfree -
ten fann.
3) nach der Mehrheit deg — Eine
Verbindlichkeit die auf mehrern Wegen mit der hoͤch⸗
ſten und oberſten in Verbindung ſteht, iſt zuſam—
mengeſetzt, und groͤſer als dieienige, wofür nur
eine oder doch wenigere — — ſich
finden laſſen. $. 315.
6. 318.
Öbiekrive, ſubiektive Verbindlichkeit.
Man kann die Verbindlichkeit betrachten
1) als etwas Obiekeives. Sie beſteht dann in dem
Verhaͤltniß eines moraliſchen Geſetzes zu einer
Handlung‘, als zu ihrem praktiſchen Beſtimmungs⸗
grunde, und iſt allgemein, fich felbft überall gleich,
weil es hier weder auf Erfenntnig noch auf Befol⸗
gung derſelben ankoͤmmt. —
2) als etwas Subiektiwes. Subiektive Verbinds
lichkeit iſt die Vorſtellung Erkenntniß) von dem
Verhaͤltniße eines Vernunftgeſetzes zu einer Hand⸗
lung. Dieſe ſubiektive Verbindlichkeit iſt niche
uͤberall vorhanden, wo die obiektive ſtatt findet;
ſie iſt ſich nicht überall gleich , weder der Art noch
dem Grade nad, Sie erſttelt ſich nicht weiter,
als bey iedem vernuͤnftigen Individuum die Er⸗
Moralphiloſophie. R kennt⸗
\
N t
058 Metaphyſik der Sitten,
kenntniß des moraliſchen Geſetzes, feiner Gegens
fände, und die Faͤhigkeit feiner Urtheilskraft reicht,
das allgemeine Gefes auf feine MR sgpir Obiekte |
und Fälle anzuwenden.
5. 0;
Wuͤrkſame, unwuͤrkſame Berbindlichfeit.
Wenn die Vorſtellung des moraliſchen Geſetzes den
Willen wuͤrklich beſtimmt, fo iſt die ſubiektive Der;
bindlichkeit würkſam; auſſerdeu unwürkſam.
$. 326
Dieſe Wuͤrkſamkeit hat ihre Grade. Sie bewuͤrkt
bald nur Billigung und Beyfall, bald einen Wunſch,
bald den Entſchluß und Vorſatz, bald die That. Dieß
ſind die vier Hauptſtufen.
— $: 32T.
Rechte.
Auf eben dieſelbe Weiſe, wie der Begriff an Pflicht,
laͤßt ſich auch der Begriff von einem Rechte beſtimmen.
Ein Recht iſt (ſeiner Quantitaͤt nach) individuell,
wenn einer fuͤr ſeine Perſon (ſubiektiv) etwas fuͤr recht
haͤlt, in Bezug auf ſeinen Zweck, und auf ſeine ſelbſt
beliebige Regel; ſpeciell, (ein Recht der Menſchlichkeit)
wenn es den Geſetzen entſpricht, die auf den fpeciellen
Zweck einer ganzen Gattung von. Wefen fi) gründen;
univerſell, (ein Recht der Vernunft oder der Menſch⸗
heit) wenn es den allgemeinen Geſetzen und Zwecken ver⸗
nuͤnftiger Weſen entſpricht.
‚Ein
Metaphyſik der Sitten, 259
Ein Recht ift (der Qualität nad) poſitiv, wenn
fein Verbot; negativ wenn Fein Gebot, limitirt,
wenn weder das eine noch das andere ihm — —
Ein Recht iſt (der Relation nach) weſentlich,
Cein inneres und nothwendiges) wenn feine weſentliche
Merbindlichfeit ihm roiederftreirer; bedingte, ein inne,
reg, zufälliges, wenn es den bedingten Regeln und Zwe⸗
den zum Grunde liegt; disiunktiv, wenn e8 weder
dem, einen noch dem andern zuwiderlaͤuft:
Ein Recht iſt endlich (der Modalicät nach) mög⸗
lich, wenn. es Die Moͤglichkeit eines möglichen 5
wurklich, wenn. es die Mloglichkeit. eines. würklichen z
nothwendig, wenn es die Moglichkeit eines anberingt
Sehnyendisen Geſetzes begruͤndet.
$. 323; 8
Moralifhes Recht.
Moraliſch kann nur ein Recht heiffen, das (feiner
Form nach) univerfal, durchgängig beſtimmt, mefentlich
und unbedinge nothwendig if: Ein ſolches Recht muß
aljo a priori , aus. dem Begriffe der Geſetzmaͤſſigkeit fich
erkennen laffen, als ein ſolches, das feinem Gefege wi-
derſtreiten fonn, weil es bey iedem Gefere als abfolut
nothwendige Bedingung feiner Moͤglichkeit und Guͤltig—
keit vorausgeſetzt werden muß. Nun iſt kein prattiſches
Geſetz möglich ohne freye zweckmaͤfſtge Thaͤtigkeit. Hie—
rinn beſteht alſo das allgemeine weſentliche“ di ſ. w
Recht eines vernuͤnftigen Weſens, feiner Materie nad:
| iR $: 333:
260 Metaphyſik der Sitten,
$. 323.
Ohne diefes moralifche Recht würde es überall Fein |
Mecht geben koͤnnen; eg if die Bedingung der Mög»
lichkeit und Gültigfeit aller anderer Rechte. Zunachft
kommen die würflichen, aber zufälligen Rechte, und zus
lege die möglichen; vie einen fegen immer die andern
vorhergehenden als ihre Bedingung voraus.
$. 324.
Relativ kann etwas Recht feyn, was in Bezug
auf einige Pflichten diefen nicht widerfprechend iſt, ob
es gleich in anderer Nückfiche Unrecht bleibe. So ift
äufjerlidy recht alles Dasienige, was von meiner Get-
te feiner Pfliche widerſpricht, Die fich auf audere ver>
nünftige Weſen unmittelbar bezieht, fofern die Handlung
in meinem Urtheile lediglich auf die Verhäftniffe zu die—
fem Dbiefte bezogen wird. Was aber abfolue recht
ſeyn foll, Das darf überall Feiner ‘Pflicht wiverfprechen.
$. 325. ;
FSormales, materiales Recht,
Ein Recht ift formal, wenn es den Weſen, der
Form der Sittlichkeit, als Bedingung ver Möglichkeit
zum Grunde liege; material, wenn esals Berinzung -
materialer Pflichten vorausgefest- wird. Jenes ift das
Recht auf freye Würffamfeit der Vernunft überhaupt,
ohne die ich überhaupt Feiner Sittlichkeit fähig bin; dies
fes das Recht auf gewiſſe Dbiefte, over auf einen Wür-
fungsfreiß meiner Ihätigfeit (das Meinige), oder auf
| ge>
Meraphnfif der Sitten. 261
gewiſſe * Gegenſtaͤnde beſtimmte Arten meine ſittli⸗
che Freyheit zu aͤuſſern.
Das formale Recht iſt weſentlich ($. 321), das ma⸗
teriale zufällig und veraͤnderlich. Hieraus laffen fich
z. B. die Vertragsrechre erflären, die nur das materig-
Ve Recht modifieiren.
6. 326.
Im Allgemeinen bin ich zu allem ohne Ausnah-
me (material) berechtigt, wasein Dbieft meiner Pfliche-
leiftung ſeyn kann; genau beftimmit aber nur zu dem⸗
ienigen , was in meiner beffimmten Lage pflichtmäffig ge—
ſchehen oder behandelt werden Fann.
$. 327.
Vollkommnes, unvollfommnes Recht.
Auch die (materialen) Rechte ſind vollkommen
oder unvollkommen; ienes, wenn die Materie oder
der Gegenſtand derſelben ſich nach dem Begriff des for-
malen Rechtes vollſtaͤndig beſtimmen laͤßt; dieſes, wenn
etwas Unbeſtimmtes uͤbrig bleibt. |
Wenn die Pfliche vollfommen ($. 313.) iſt, fo iſt
es auch Das Recht desienigen, dem diefe Pflicht obliegt;
der unvollfommenen Pflicht entfpricht auch nur ein un⸗
vollfommnes Recht. - Die Gränzen eines Rechts laffen
eben fo weit fi) beffimmen, als die Grenzen der Pflicht.
Was an fih unvollkommnes Recht iſt, kann doch) in
concreto ein vollfommmes werden.
R3 §. 328.
262 Metaphyſik der Sitten,
$: 328. f
Die materialen Rechte find Höher und niedriger,
coordinirt und ſubordiniet, größre uud Fleinere,
obiektiv und fubiektiv, würkſam und unwürkſam,
fie fönnen auch unter fich.colliviren — tie die Gefege,
Zwecke und Verbindlichfeiten, worauf ſie ſich beziehen,
Die Begriffe davon laſſen ſich leicht ihren Correlaten
gemãs erklaͤren.
$. 329, 7
Heiligkeit,
Abſolut norhwendige und vollkommene Moralitaͤt
eines (unendlichen) vernünftigen Weſens, wird im der
Idee von Heiligkeit gedacht. Sie ſchließt alfo in fich
1. vollfommme Legalität, Geſetzmaͤſſigkeit, alſo
a. vollftändige Uebereipſtimmuns aller Hand;
Iungen, ’
b. nach allen ihren Beftandtheilen, ihrer Des
fchaffenheit und Gröfe nach;
c. mit dem ganzen Innbegriff aller Seſetze.
2. vollkommne Mor alitaͤt d. i. vollfommne und noth⸗
wendige Abhängigkeit aller Handlungen — nach)
allen ihren Iheilen und Beweggründen (Lauter⸗
keit — ihrer Beſchaffenheit und Gröfe nah —
von * ganzen Geſetze.
Sen einem heiligen Weſen iſt alſo Moralität in allen
Handlungen „na allen ihren Innern Bedingungen, in
allen
Metaphyſik der Sitten, 26 3
allen ihreu Beziehungen auf Dbiefte abfolut vollſtaͤndig
und zwar nothivendiger weiße, alſo beffändig und unun:
terbrochen wuͤrkſam.
Heiligkeit iſt alſo ein unendliches Praͤdikat eines un⸗
endlichen, von allen Einſchraͤnkungen durchaus freyen
reinen Vernunftweſens, bey welchem kein anderer, als
ein moraliſcher, Beſtimmungsgrund der Handlungen
vorhanden feyn kann, deſſen Moralitaͤt alſo mit keinen
Hinderniſſen zu kaͤmpfen kung — ein deal der reinen
Vernunft.
$. 330.
| Zugend,
In uneigentlicher Bedeutung nennt man Tugend
1) iede Vollkommenheit eines Weſens;
2) eines lebendigen Weſens;
eines vernünftigen efens ;
- 4) iede Befchaffenheit und Eigenfchaft des Gemuͤthes,
die ein vernünftiges Weſen zu legalen Handlungen
beftimmt, fo fern fie es thut; fie beruhe übrigens
auf Naturanlagen, oder ſey durch Einfluß äuflerer
Umftände hervorgebracht, oder Durch eigne Tha-
tigfeie erworben z. B. Much, Entſchloſſenheit,
Selbſtbeherrſchung Hark oder verſtaͤndiges
Wohlwollen.
In dieſer letzten Bedeutung RN es mehr als eine zu
gend von verfchiedenem Werthe.
> R4 $. 331
264 Metaphyfif ver Sitten,
6. 331,
Eigentliche Tugend, ng
eigentliche ‚Tugend überhaupt iff reine Sitt⸗
Sichfeit, nur durch Sinnlichkeit modificire ; Moralirät
eines endlichen, durch Sinnlichkeit afficirten Vernunft-⸗
weſens. Sie ift ihrer Natur nach unvollfommen, we—
gen der-Einfchränfungen der rein moralifchen Würffam-
keit, durch den Einfluß finnlicher Antriebe und empirischer
Vernunftgruͤnde. Als Sittlichkeit betrachter, iſt fie eine
Anerkennung der Pflicht, eine pflichtmäfiige Gefinnung
oder ein Beſtimmtwerden des Begehrungsvermögens
durch das Vernunftgebot; eine Subordination der
Sinnlichkeit unter die Vernunft, wobey iene nach vers
nunftigen Principien in ihrem Begehren und Handlen
beſtimmt wird; Achtung fürs Vernunftgeſetz.
Als Sittlichfeit eingefchränfter Wefen — enthält fie
1) eine unvollflommene Legalität. D. b. nicht
alle Handlungen ftimmen nach allen ihren Beftandz
theilen, ihrer Befchaffenheit und Gröfe nach, mit
dem Gefege in dem ganzen Umfange feiner Fordes
rungen iedezeit überein,
2) eine mangelhafte Norelicät oder Unlauter:
keit. D. h. nicht alle Handlungen hängen nach
allen ihren Theilen, Antrieben und Beweggruͤnden,
ausſchlieſſend und nothwendiger Weiſe von den
Vernunftgeſege ab.
9.332.
Metaphyſik der Sitten, 265
$. 332.
Tugend im engern Sinne.
Im engern Sinne nennt man Tugend das lie
bergemwicht der moraliſchen Geſinnung eines endlichen We—
fens (der Tugend überhaupt $. 337.) über ieden ſinn⸗
lichen Antrieb im»Ganzen, womit die fubieftive Gewißs
heit der Hoffnung eines immerwährenden Fortfchreiteng
im Eittlichguren verbunden iſt; geübte, geftärfte Tuz
gend. Diefe iſt felbft ein Sveal, von deſſen Realität in
concreto es fein abfolut fihereg Kennzeichen giebr.
$. 333-
Sormale Tugend,
Das Wefen der Tugend iſt einfach, oder die forma»
le Tugend ift wefentlich Eine, nehmlich unmittelbare
Achtung für das Gefeg, Anerfennung der Pflicht. Be—
folgung des Geſes um eines andern Zweckes willen ver-
diene ganz und gar den Nahmen ver Tugend nicht,
Die wahre formale Tugend muß fich wefentlich auf das
ganze Gefes, (welches nur Eins iſt) und auf iede vor-
Fommende Pflicht beziehen, oder fie iſt unächt und feine
Zugend. Die Achtung muß unbegränzt und abſolut
feyn, oder fie iſt ebenfalis feine Tugend. Aber die
Würkung diefer Achtung, wie fie im Kampfe mif
finnlichen Trieben die moralifchen Hinderniße befiegt, ift
begränzt und gradmweife verſchieden. Sie iff ferner bey
demfelben endlichen Weſen (Menfchen) nicht in Anfehung
aller Gegenflände der Moralitaͤt fich ſelbſt gleich, fon-
R5 dern
z
366 Metaphyſik der Sitte.
dern weichet * Groͤſe nach ab, indem die Verſchie⸗
denheit des Naturells, der angewoͤhnten Sinnesart, der
aͤuſſern Umſtaͤnde, ver Uebung, bald dieſe bald iene Aeuſſe—
zung der Moralikaͤt mehr oder weniger beguͤnſtigt oder
erfchtoert, ee
$. 334. *
Gröffe der Tugend,
Scheinbar gröfer if die Tugend, wenn die ge>
ringere Anzahl und die Schwäche der Auffern und in-
nern Sinderniße (Temperament und Einfluß äufferer, zu⸗
faͤlliger Umſtaͤnde) den fichtbar werdenden Erfolg von der
moraliſchen Würkfamfeit der Vernunft vergrößern;
wenn Das, mas eigentlich nicht moralifch iſt, den auffes
ren Erfolg der firtlichen Denkungsart uͤberhaupt oder in
Anfehung einzelner Fälle (materialer Tugenden) begün>
fliget. Würklich gröfer, obgleich nur in der Er;
ſcheinung iſt die Tugend, wenn ihre Grofe an fich
ſelbſt d. i, der Grad der moralifchen Wuͤrkſamkeit ges
ſchaͤzt wird. Um diefen richrig zu beffimmen, müßte man
die Schiwierigfeiten und Hinderniße, die überwunden
werden mußten, und die Umſtaͤnde, welche den Gieg er-
feichterten, gegen einander aufheber, und alsdenn die
moralifhe Stärfe der Vernunft der beffimmten Gröfe
der Schwierigfeiten gleich ſchaͤtzen, die durch fie allein
befiegt werden mußten, meil feine andere Beyhuͤlfe es
thun fonnte. Im concreto fann Fein endliches Wefen
Diefe Schaͤtzung mit Gewißheit und — 9* Ge⸗
nauigkeit vornehmen,
$. 335.
-
. -
Metaphyſik Dee Sitten. 267
$: 335.
Die Eröfe der Tugend oder der Moralitaät an
ſich felbft, mie fie einem vernünffigen Weſen als in⸗
telligiblen Dinge zukommt, iſt ganz und gar kein durch
Anſchauung auh nur im Allgemeinen zu. realifirender
Gedanke. Man müßte die moralifche Kraft an fih und
ihre wefentlichen aufferfinnlichen Schranfen duch unmit-
telbare überfinnliche Borfiellung kennen; welches unmg⸗
J
336.
Materiale Tugenden.
Der Stoff oder der Gegendſtand der weſentlich Eins
fachen formalen Tugend ($. 333.) iſt fo vielfach und
mannigfaltig, als die materialen Gefese find, in deren
moraliſchen Befolgung Die materialem Tugenden be-
fiehen. Sie fönnen in verfchledenen Graden und Vers
haͤltniſſen zu Einem tugenöhaften Charafter gemifcht
feyn, der einenrandern im Ganzen, und in Abſicht auf
formale: Zugend gleich ft. Nur muß der Grund diefer
Verſchiedenheit in den nicht moraliſchen Umftänden liegen.
Aufferdem, wenn die legale Denfart an fich betrachtet
ſich nicht über alle Pflichten verbreiret. kann fie ganz und
gar nicht moralifche Gefinnung oder Tugend heiffen,
$. 337.
Ihre Gröfe,
Eine wateriale Tugend (z. B. der Grosmuth, Vers
föhnlichfeit) Heißt gröfler als die andere
. 3) wenn
268 Metaphyſik der Sitten
1) wenn ihr Gefes von einen meitren Umfang ift, als
das Gejeg der andern — obieftive Größe.
' 2) wenn ihre Ausübung mit gröffern Hinderniffen
verbunden iſt, die dabey überwunden werden muß-
ten. Subiektive Bröße.
Es fey eine Tugend in der einen oder. der andern el
ſicht fpeeiffh ‚groß, fo bringt fie (wenn fie wahrhaft
moraliſch, und fein Werk natürlicher Urfachen ift) in
gleichem Berhältniffe mehrere tugendhafte Handlungen
hervor; im erſten Sal, weil das Geſetz auf mehrere
Säle fi ausdehnt, mo es angemandf wird; im an⸗
dern, weil die Ueberwindung gröfferer Hinderniffe die
Fähigkeit in fich ſchließt, auch geringere zu befiegen.
Die Größe der Hindernige darf nicht einfeitig und
abſolut, fondern muß nad) allen Beziehungen gefhägt
werden. Diele Fleinere werden einem größern gleich ge—
hast; was für den einen (nicht feiner moralifchen
Stärke, ſondern um. äufferer nicht moralifcher Urfachen
millen) ein Fleines Hinderniß if, kann für den andern
ein fehr großes fennz ohne daß darum der Eine minder
tugendhaft ſeyn Darf, als der andere, "
$. 338.
Buͤrgerliche, Chriſtliche Tugend.
Da alle Moralitaͤt zuletzt von dem Vernunftgeſetze
abhaͤngt: ſo kann auch keine Geſinnung Tugend, und
fein Menſch oder eine menſchliche Handlung tugendhaft
ſeyn,
*
Metaphyſik der Sitten. 269
ſeyn, als in ſofern er ſeine Maximen und Handlungen
auf das Vernunftgeſetz beziehet. Die ſogenannte na—
türliche oder philoſophiſche Tugend, Die bisher er=
Härte worden, iff elfo die einzige wahre Tugend, aufs
fer welcher eg nur Scheintugenden oder Huůͤlfstugenden
geben kann d.i. Gefinnungen, welche eine gewiſſe Lega—
litaͤt zufälfigerweife bemwürfen. Was man bürgerliche
Tugend hennt, nehmlich die Fertigkeit, die pofitiver '
Gefege zu beobachten , iſt enfweder ganz und gar niche
Qugend, wofern man nehmlich durch Feine andern
als poſitive Gründe, durch bürgerliche Verhältniße und.
ihre Folgen für die eigene Wohlfahrt, mithin durch ſinn⸗
liche Furcht oder Hoffnung , Die fie erregen, zu der Er—
füllung diefer Borfchriften beſtimmt wird; oder es iffein
Zheil, eine Aeufferung der natürlichen Tugend, fofern
die Vernunft gebietet, fich auch feinen äufferlichen Vers
häftniffen gemäs zu befragen, und dieß Vernunftgebot
der höchfte Beſtimmungsgrund Motiv) davon iſt. Eben
dieß gilt auch mit einer leicht veränderten Anwendung,
von der Chriſtlichen Tugend. Was ein Chrift ledi⸗
glich auf Autorität eines Gebores oder Beyſpieles hin,
lediglich aus Furcht vor Grafen ‚oder aus Hoffnung
son Belohnungen, oder auch aus perfünlicher (myſti⸗
ſcher) Liebe zu der Gottheit over zu. Jefus, ohne eig⸗
ne vernünftige Zinfiht und Gewiffenebilligung
thuf, das hat in fofern, als es aus diefer Quelle her-
fliege, feinen Acht ſittlichen Gehalt, fondern «8 iſt
Scheintugend. So viel fehle alfo daran, daß man be.
haupten fonne, die natürliche oder philofophifche Tu>
gend
270 Metaphyſik dev Sitten.
gend ſey nur ein glänzendes Laſter, Haͤtte eine poſitive
Moral mehrerer Pflichten. und Tugenden von groͤſſerm
Umfange, als die natürliche: fo müßten. Diefe aufferhalb
den Gränzen des Vernuͤnftigen liegen, alſo myſtiſch,
ſchwaͤrmeriſch, vernunftlos Cunvernünftig) ſeyn. Haͤt—
te fie mehrere Motive: fo müßten dieſe ebenfalls nicht
vernuͤnftig, mithin entweder myſtiſch und ſchwaͤrmeriſch,
der ſinnlich ſeyn. In beyden Faͤllen würde die Mo—
raliſche Geſinnung unlauter. Sehr uͤbel hat man al⸗
fo gethan, wenun man auf dieſe Art die Sittenlehre
Jeſu zu erheben gedachte. — Man vergleiche, was
oben uͤber ſittliche Offenbahrung geſagt worden, und
was unten bey den Religionspflichten vorkommen wird.
$: 339:
Sünde
Jede einzelne, nicht phyſiſch erzwungene, Abweichung
Son dem Sittengejeg iſt Sünde ). Um. die Merk
mahle diefes Begriffs vollſtaͤndig aufzufinden „wird ſein
Grundbegriff mit den weſentlichen Denkformen vergli⸗
chen. ah
Nach der werfchiedenen Befchaffenheit der verlegten
Kegeln, wird der Begriff und Nahme ihrer —
folgendergeſtalt abgeaͤndert: e
‚aanbe |
*) Die Nebenbeariffer weiche die Ahtamnung und die
gemeine oder Die theologiſche Anwendung dieſes Aus-
drucks erwecken, mußen ſorgfaͤltig dayon abgefundert
werden.
’ —
Metaphyſi Eder Sitten, 271
Handlung wider eine Regel.
T. Quantitét. 11:
Wider individuelle — Sehler z. B. wider die
Kunft in einem Gemählde.
Wider comparativ allgemeine — Thorheit.
Wider abſolut allgemeine — Sunde in eigentl. BD
2. Qualität.
Wider beiahende Regeln — Unterlaſſungsfehler⸗
verneinende Regeln — Begehungsfehler.
limitirende Regeln — Ueberſchreitung des
Maaßes.
3. Relation.
Wider categoriſche Regeln — oder wider ſeine
Perfon — Stunde ſchlechthin; Unmwürvdigfeitz
Derläugnung oder Vernachläfligung feiner per>-
fonlichen Würde, Wiverfpruch mir ſich ſelbſt,
der Perfon als Subflänz.
Wider hypothetiſche Imperativen, oder wider fein
Wohl — Thorheit; Lineinigfeit und Wider⸗
‚spruch mitfeinen eigenen Intereſſe des Zuſtandes,
Inconſequenz.
Wider disiunktive Gebote, oder wider Die Verbin
dung mit andern Weſen; Ungeſelligkeit, Die»
harmonie der Handlung mit den auſſern Ders
haltnißen,
4. Mo⸗
* i
1}
272 Metaphyſit der Sitten.
4. Modalität.
Wider problematifche oder Runfteegen — Linge:
ſchicklichkeit.
Wider aſſertoriſche — das Llnerlaubee..
Wider apodiktiſche — Ungerechtigkeit.
Hieraus ergiebt ſich, was fuͤr Mertmahle der Suͤnde in
eigentlicher Bedeutung, im Unterſchied von Fehlern,
Thorheiten u. ſ. w. mie Ruͤckſicht auf die Form der ver-
legten regeln zufommen, und zugleich welche weſentli—
he Unterjchiede bey der Sünde ſtatt finden.
$. 340.
Wefentliche Merfmahle der Sünde find.
1) Illegalitaͤt oder Geſetzwidrigkeit.
2) Immoralität ‚oder Mangel an Achtung für das
Geſetz.
4
$. 341.
Subiekt und Obiekt der Suͤnde iſt eben daſſelbe,
wie Subieft und Gegenſtand einer Verbindlichkeit, ($.
300. 301.) welche dadurch verlegt wird — ienes ein
vernünftiges, ſinnlich affıcirtes Wefen; diefes, alles
dasienige, was fchlechterdings, phyſiſch und moraliſch
moͤglich, und doch nicht wurklich if.
\
§. 342
Bloſſe Bern ohne alle Immoralitaͤt iſt ganz und
gar nicht Sünde. Was nicht Folge von einem Mangel
am Achtung für das Geſetz iſt, dag ift ger nicht Günde,
wenn
⸗
Metaphyſik der Sitten, 273
wenn es auch illegal ſeyn ſollte. Was eine Folge von
moraliſcher Erfüllung einer Pflicht, in Verbindung
mit einer bedinge nothwendigen und von Freyheit un-
abhängigen Eingefchränftheit ift, das kann zwar illegal (eis
ne geferwidrige Handlung), aber nicht Sünde feyn; es -
iſt vielmehr ſubiektiv indifferene z. B. wenn ich aug
’ pflichemäffiger Aufmerffamfeit auf einen hoͤchſtwichtigen
Zweck eine minderbedentende / obgleich pflichemäf ige Sa⸗
che vergeße.
Eine illegale Handlung aus Unwiſſenheit oder aus
Mangel an Aufmerkſamkeit iſt, wenn beyde eine noth—
wendige Folge der Pflichterfuͤllung und der unvermeidlis
then Eingefchränftheit find, feine Suͤnde; denn es fehle
die Immoralitaͤt der Gefinnung:
*
$. 343:
Dagegen Faun auch eine an fich gefegmälfige Hand⸗
Yung immoraliſch feyn, wenn fie aus gefeswidrigen Mo-
tiven ausgeuͤbt wird; Denn fie iſt Doch mit fubieftiver
Illegalitaͤt verbunden: "Die Unlauterkeit der Gefinnung
- aber, die bey einer Handlung zum Grund liege, oder
der Zufag nichtmoralifcher (obgleich nicht unſittlicher
oder geſetzwidriger) Beweggründe zudem ächtmoralifchen
Motive, macht diefe Handlung nicht zur Suͤnde, fon-
dern vermindert nur ihren fittlichen Werth; denn es iſt
foeder Ylegalicät noch Mangel an Pflichtanerfennung das
mie verbunden,
Moralphiloſophie. S 6244
974 Metaphyſik der Sitten,
$. 344.
Bosheitsfünden,
Es kann eine Handlung (oder die Unterlaflung ders
felben) auf eine gedoppelte Art, Mangelan Achtung für
das moralifche Gefeg, als ihre Urfache, verrathen, und
Deshalb ($. 341.) Sünde feyn.
1) Unmittelbar, wenn ich mir bey Abfaffung des
Endfchlußes der Handlung, des” Gefezes und der
Beziehung derfelben auf einander (ihrer Gefegmäf-
figfeit oder‘ Gefegwidrigfeit) bewußt bin, und mic)
dennoch durch andere, finnliche Antriebe beſtimmen
Ioffe, das Gefer nicht zu befolgen — Bosheits⸗
fünden, peccara prohaererica, Sünden wider beffer
Wiſſen und Gewiffen.
$. 345.
Nachlaͤſſigkeitsſuͤnden.
2) Mittelbarerweiſe; wenn ich ohne Kenntniß, oder
ohne gegenwaͤrtiges Bewußtfeyn des Gefekes oder
nach einer unrichfigen Kenntniß und mangelhaften
oder gänzlich fehlenden Beurtheilung des vorliegen»
den Falles gefeswidrig handle — weil ich ehedem,
aus Mangel an gehöriger Achtung fürs Ge⸗
fe, nicht Fleiß genug angewendet habe, um die
Forderungen der Pflicht (der firtlichen Gefege), ih
re Obiefte, fo meit fie in meiner Sphäre liegen,
und ihr Verhaͤltniß zu einander richtig, beſtimmt,
gewiß und Iebhafr zu denfen, und dieſe Gedanfen
in
7
j
—
J
8
⁊*
in wuͤrkſamer Geläufigfeie zu erhalten. Nach⸗
läßigkeissjunden, peccara culpo/a. ah
R i $. 346.
Unmwiffenheit, Unbefonnenheit, Unachtſamkeit.
Die Nachlaͤſſigkeit sfuͤnden geſchehen
a) aus Unwiſſenheit oder unrichtiger und ul:
volftändiger Kenntnig *) des materialen Bes
fetzes, welches auf den gegenwärtigen Tall
fich bezieht, wofern die vollkommnere Kenntnig
des Gefeges bey vorheriger Erfüllung meiner Pflich⸗
ten möglich geweſen wäre, wenn alfo die Unwif-
fenheit in einer Verachtung oder eingefchranften
Achtung für Moralitaͤt und nicht in erwas andern
gegründet war,
’
Eine Unmiffenheit oder eine mangelhafte und unrichtige
Kenntniß heiße. unvermeidlich , wenn fie lediglich von
andern, als moralischen Urfachen herruͤhrt. Ein Zehler
aus unvermeidlicher Unwiſſenheit ıft feine Sünde, weil
ihm die Immoralitaͤt fehle.
b) Sünden aus Unbefonnenbeit; wenn ich darum
fehle, weil die Vorſtellung des erkannten Geſetzes
in feiner beftimmten Anwendung nur. iegf, da ich
i eben ihm gemäs handlen folte, nicht zum deutli—
- den und lebhaften Cwürffamen) Bewußtſeyn
pP
kommt, und mich alfo auch im Handlen nicht leiter, |
S 2 wo⸗
”") Welches immer, wider auf Unwiſſenheit hinauslaͤuft
1 und darinn gegruͤndet if,
276 Metaphyſik der Sitten,
wovon die Urfache in einen ehemaligen Mangel an
Achtung für das Geſetz liegt, Die mich beſtimmt ha-
ben follte, mehr Aufmerkſamkeit auf dieſe Vorſtel⸗
fung zu verbenden, und ihr Erwachen im Bewußt⸗
\ -feyn durd) Uebung zu vermehren.
Wenn die Nichferfinnerung an das Gefes Feine Folge von
Mangel an Achtung fuͤr daſſelbe, ſondern lediglich von mei⸗
ner Eingeſchraͤnktheit und von unverſchuldeten Umſtaͤn⸗
de iſt, ich alſo Feine Pflicht dabey verletzt habe, fo iſt
eine dergleichen unbefonnene Handlung ein ‚Fehler, aber
feine Sünde, meil feine immoraliſche Geſinnung ihr
zum Grunde liegt.
c) Sünden aus Unachtſamkeit auf die PETER
und ihre Gegenftände, oder auf die Verhaͤltniſſe,
worinn ich war, aus unvollſtandigem, undeutlichen
und unrichtigen Bewußtſeyn von dem Stoff des
Handlens, oder von meiner Sphaͤre — wenn ei⸗
we groͤſſere Achtung für meine Pflicht mich zu meh⸗
rerer Aufmerkſamkeit wuͤrde beſtimmt haben. Denn
wenn der Mangel an moraliſcher Geſinnung nicht
Schuld war an dieſem Zuſtande, wenn er lediglich
von andern nicht moraliſchen Urſachen abhienge, ſo
war der Fehier aus Unachtſamkeit keine Suͤnde.
9) Suͤnden der Uebereilung im Urtheile, wenn
ich bey richtiger Kenntniß und gegenwaͤrtiger Vor⸗
ſtellung des Geſetzes ſowohl, als der Handlung, nur
im Urtheile unrichtig ſubſumirte, weil die Vorſtellun⸗
gen nicht Beate und geprdnef genug waren, um
BR 0 richtig
“
& i Rt
f: Y J
Metaphyſik der Sitten. 277
richtig behandelt zu werden, weil ich die Funktion
der Urtheilskraft uͤbereilte und vor der vroͤthigen
Vergleichung ausfuͤhrte, aus Mangel an Achtung
für meine Pflicht. Denn wenn ich bey aller Ach-
tung für Moralitaͤt dennoch den Endfchluß in fo Fur=
zer Zeit. hätte faffen und ausführen mögen; wenn
ich bey aller pflichtmäffigen Anftrengung dem Urs
theile feine größere VBollfommenheit hätte geben koͤn⸗
nen, wegen nichtmoralifcher innerer und äufferer
Hinderniße: fo ift meine Uebereilung ein fchuldlos
fer Sehler, Verſehen und feine Suͤnde.
$. 347.
Diefe Unterfcheidung zwifchen Bosheitsfünden und
Nachläffigkeiesfunden iſt nicht nur in der menfchlichen,
fondern überhaupt in der eingefchränften vernünftigen
Natur gegründet, und ihr angemeffen.
Berficht man aber 1) unter Bosheitsſünden ſol⸗
che illegale Handlungen, die in der Abſicht begangen wur⸗
den, um das anerkannte moralifche Geſetz zu uͤbertre⸗
sen, fo iff der Begriff von vergleichen. Sünden mider-
fprechend. Er hebt den Begriff eines vernünftigen We;
fens auf, das ſich nicht feiner Vernunft und ihres Ges
fenes, als feines eignen, bewußt feyn kann, mit dem
Vorſatz, es als fein Geſetz zu übertreten. Wenn es
fehle und vernunftwiorig handele, fo fehle es nur alg
ſinnliches Wefen , indem es ein anderes Gefe befolgt,
um diefes zu befolgen, nicht um ein ‚anderes zu vers
legen. Die Geſetze der Vernunft aber und der Ginn-
SS. lich⸗
⸗
L
*
278 Metaphyſik der Sitten,
lichkeit find ſich niche unmittelbar widerfprechens,
fondern nur zufällia widerftreitend. Es wird alfo
niemand anders, als durch ein anderes Intereſſe -be-
ſtimmt, das ſittliche Intereſſe oder feine Pflicht zu ver»
nachläßigen.
Verſteht man 2) unter Nachläſſigkeitsſünden
ſolche geſetzwidrige Handlungen, wo nur der gehoͤrige
Fleiß oder die Anſtrengung der Kraͤfte verſaͤumt worden,
wegen gewiſſer Hinderniße, welche die Sinnlichkeit —
ietzt waͤhrend des Handelns, oder ehedem — dem Ver,
ſtande oder dem Willen legte: ſo laſſen ſich alle Suͤnden
ohne Unterſchied unter dieſen Begriff bringen.
$. 348,
Rormale, materiale Sünden,
Sormal ‚, (wenn man auf das Wefentliche fiehe)
giebt es nur Eine Sünde d. i. eine Handlung, mel-
che der Achtung nicht” hinlänglich entfpricht, die ein
endliches Vernunftweſen dem Sittengefege fchuldig uff.
Material oder wenn man auf dag Oblekt ſuͤndlicher Hands
lungen Ruͤckſicht nimmt, giebt es jo verſchiedene, als
materiafe Gefere und Pflishten vorhanden find, welche
dadurch verletzt werden z. B. einfache, zuſammengeſetzte
u. ſ. w.
$. 349.
Groͤſe der Sünden, Ä
I. Der Sorm nad) und an ſich felbft find ſich alle Sün-
den einander gleich, meil iedes verlente moralifche
Ge⸗
® *8
ir Metaphyſik der Sitten, 279
Geſetz fo heilig und al anverlehlich wie das
andere iſt.
2. Subiektiv find die Sünden an Groͤſe verſchie—
den. Je weniger Achtung für Moralität eine ille—
gale Handlung verräth, deſto gröfer ift die Sünde.
Je mehrere obieftive und fubieftive Auf forderungen zur
Thaͤtigkeit der moralifchen Vernunft und zum vernünf-
tigen Gebrauche der übrigen Kraͤffte, und ie weniger
Hinderungen derfelben vorhanden waren; ie mehr -moras «
liſche Thaͤtigkeit alfo möglich und erforderlich und ie we⸗
niger deren wärklich vorhanden war: deſto geringer if
die Achtung für Pflicht; deffo gröfer die Sünde.
Je innerlich gröffer die Pflicht iſt d. i auf ie —9
und höhere Geſetze fie ſich gruͤndet; ie nähere und gemif-
fere Beziehungen die Handlung auf, das höchffe Geſetz
hat, deſto gröffer ift die Sünde. Denn eine deſto gröfs
fere Anwendung der Vernunft oder der Srenheie wurde _
in dieſem Falle erfordert, und gleichwohl nicht geleifter.
Je leichter die Pflicht zu erfuͤllen war, deſto groͤſſer
iſt die Suͤnde, wodurch ſie verletzt ward; denn ein deſto
geringerer Grad von Selbſtthaͤtigkeit waͤre hinreichend
geweſen, um ihr Gnuͤge zu thun, und dieſer war nicht
einmahl vorhanden.
I
“Se leichter eine’ Sünde zu vermeiden mar ,. deffo
gröffer if fie. Denn um fo geringer muß die vorhandes
ne Würffamfeit der Vernunft feyn, bie nicht einmahl
N: ar Suͤnde verhinderte,
S 4 Bey
280 Metaphyſik der Sitten.
Bey Handlungen, welche (material betrachtet) grö-
fer d. h. deren Folgen gröffer, ausgebreiteter und
merklich. foredauernder find, beweißt die. Wichtans |
wendung der vernünftigen Thaͤtigkeit, der Ueberle-
gung und der Selbſtbeherrſchung des Willens, einen
groͤſſeren Mangel an Achtung für das Sittengefeg, Blos
in diefer Hinſicht, alfo nur in mie weit Diefe Folgen
morasifch erkennbar waren für das handelnde Weſen,
kommt auch die Größe der Folgen bey Beſtimmung der
Größe einer Günde mie in Anſchlag. Aufferdem nicht,
$, 350,
"Eine Handlung kann in einer Nückficht, in Bezie—
hung auf einige Gegenflände, Verhältniffe und Solgen,
toralitat, in einer andern feine haben; in Bezug auf
einige 'materiale Geſetze legal, auf andere illegal, auf ei⸗
nige moraliſch, auf andere immoraliſch ſeyn.
Eine Handlung, oder ein vernünftiges Weſen, wels
ches fie ausübt, ift unſchuldig, d. i. weder moralifch,
noch immoralifh, wenn und fofern Feine innere oder
äuffere Möglichkeit (z. B. Gelegenheit, Einficht, Erinz
nerung) auf gewiſſe Art moralifch zu handlen überhaupt,
oder für den einen beftimmten all vorhanden tar,
ä $. 351, »
Siündfähigfeir, Sändhaftigfeil,
Der allgemeine fubieftive Grund von der Moöglich-
Feit zu fündigen überhaupt, heißt Sundfähigkeit,
moralifche Schwäche; der ſubiektive zureichende Grund
/ wuͤrk⸗
[2
7
[N
.
|
A
\
|
>
R y
J
EN
Metaphyſik der Sitten, 281
wuͤrklicher Suͤnden uͤberhaupt heißt Sündhaftigkeit,
moraliſches Verderben.
Die Endlichteit eines vernuͤnftigen Weſens, die we⸗
ſentliche Eingeſchraͤnktheit ſeiner verkiinfeigen Natur
durch die finnliche, macht die Suͤndfaͤhigkeit deſſelben
aus.
In dem wuͤrklichen Daſeyn ſolcher ſinnlichen Begier⸗
den, und Verabſcheuungen, welche die vernünftige Thaͤ—
tigkeit nach morelifchen Geſetzen einfchränfen, beftehtdie
Süundhaftigkeit. Das Verhaͤltniß der ſinnlichen Trie⸗
be zur Vernunft, dieſelbe einzuſchraͤnken, macht ung
fuͤndfaͤhtg, das Verhältnis der Neigungen (aufges
regter Triebe) macht uns ſuͤndhaft.
$, 352.
Die Gründe der Möglichkeit zu fündigen z. B. hef⸗
tige Triebe, natürlicher Hang zu gewiffen Handlungen,
die nicht immer morslifch recht find — hängen nicht von
der Freyheit eines vernünftigen Weſens, oder von dem
unterlaffenen Gebrauch ihres felbfirhätigen Vergnuͤgens
ab ‚, fondernfie find da, ohne daß das vernünftige Wefen
fie hätte hervorbringen oder auch nur ihr Dafeyn vers
hindern koͤnnen. Ihre Würfungen find an fih und in
Beziehung auf das Dernunftgefes zwar geſetzlos (nicht
durch das Gefeg beſtimmt), aber meder geſetzwidrig,
noch immoraliſch. Suͤndfaͤhigkeit kann AR sugerechnee
‚merden,
Ra: ® Der
282 Metaphyſik der Sitten,
Der Grumd des würffichen Sündigens befteht, auf-
fer den Gründen ver Möglichkeit, oder den finnlichen
Antriebenz in der möglichen und dennoch unterlaffenen
vernünftigen Gelbfirhätigfeit, den Erfolg iener Grün
de zu verhindern. Die Gründe der Möglichfeie zu ille⸗
galen Handlungen werden nur hierdurch Gründe einer
wuͤrklichen Sünde. Gündhaftigfeie iſt der Zurechnung
fähig. Wenn alfo inaller Ruͤckſicht Feine moral. Selbft:
thätigfeit der Vernunft möglich, oder wenn der entge—
gengefegte Grund einer gefeglofen Handlung fchlechter-
Dings ſelbſt durch Die höchft mögliche Anwendung der vers
nünftigen Krafft unüberwindlich war, fo wardie Hands
lung illegal, aber nicht unmoraliſch, Feine Suͤnde.
$. 353.
Safter, Laſterhaftigkeit.
Der fubieftive Grund von der Würflichkeit einer
Suͤnde, fofern er Durch unterlaffene Selbſtthaͤtigkeit der
Vernunft ein Uebergewicht über den fubiefriven Grund
der moralifchen Handlungsweiſe in Fällen einer gewiſſen
Art oder in Bezug auf gewiſſe Gegenſtaͤnde erlangt hat,
heißt ein Laſter. Das Laſter gruͤndet ſich alſo in einer
fortgeſetzten Pflichtverkennung und Verachtung in Abs
ſicht auf gewiſſe Handlungsfaͤlle, in einer anhaltenden
Nachſicht gegen die Wuͤrkſamkeit gewiſſer ſinnlichen Trie⸗
be, ſie der Vernunft unterzuordnen; es offenbart ſich
Durch ein regelmaͤſſiges Suͤndigen in Faͤllen gewiſſer Art.
Wenn ſich dieſes Uebergewicht auf alle Arten von
Fillen erſtreckt: fo legt man dem Subiekte Laſterhaf⸗
tig⸗
}
N
ze
Metaphyſik der Sitten, 283
tigkeit bey. Ihr Grund iff eine allgemeine Vernach—
fäffigung des moralifchen Bernunitgebrauchs in Anfes
hung aller⸗ finnlichen Reize; die Folge einer zur Gewohn⸗
heit werdenden allgemeinen Illegalitaͤt und Immoralitaͤt.
| $. 354.
Formales, materiales Laſter.
Das Laſter und die Laſterhaftigkeit, iſt eine nicht
nur illegale, ſondern auch immoraliſche Denkungs- und
Sinnesart. Weil es wefentlih nur Ein (formales) Ge-
fen, und nur Eine (formale) Tugend giebt, fo giebr’s
auch nur Ein wefentlicdhes : Lafter — herrfchender
Mangel an. Achtung für das Gefeg, der feiner Natur
nach aligemein iſt. Nach Verſchiedenheit der natürlichen
Difpofitionen und angewöhnten Neigungen offenbart. es
fich aber auf verfchiedne, mehr einzelne oder mehr. allge:
meine Art, und erjcheint bald als dieſes oder ienes (ma—
terial verfchiedene) Laſter, bald als eine allgemeine Las
fterhaftigfeit.
9. 355,
Größe des Lafters,
Subieftiv, als Sertigfeie, ift ein Kafter um fo
größer, für ie mehr Fälle einer gewiſſen Art es
den zureichenden Grund in fich enthält, zu fündigen ;
ie ein geringrer Grad von äuffern finnlichen Anreiz
erforderlich iſt, um die legale Handlungsart zu ver=
hindern, und die moralifchen Vorfiellungen uns
würffem zu machen.
*
Ob⸗
284 Metaphyſik ver Sitten.
Gbiektiv iſt ein Laſter um fo größer, ie groͤßer
die Suͤnde iſt (material betrachtet), wozu es den
Grund in ſich enthaͤlt; ie ſtaͤrker die moraliſchen
Gruͤnde find," denen die Ginnlichfeit das Gegenge-
wicht hält. Denn um fo geringer iſt die Miürf-
ſamkeit, welche in dieſem Galle die Vernunft aͤuſ⸗
ſert. Die Groͤße der Suͤnde iſt aber nicht ſchlecht⸗
hin nach ihrem Gegenſtande oder ihren Folgen,
ſondern nach den obigen Grundſaͤtzen ($. 348) zu
beſtimmen. h
Extenſiv if die Laſterhaftigkeit um fo größer, auf
ie mehrere Arten von Fällen fih der zureichende
Grund zu fündigen erſtreckt. „N
Moraliſch iſt das Zafter, fo wie die Fafterbaftig-
keit, um jo größer, ie mehr Antheil die Selbft-
thaͤtigkeit oder die Unterlaffung der möglichen und
pflichtmaͤſſtgen Selbſtthaͤtigkeit an dem Dafeyn dex
ſubiektiven Hinderniße der Moralität har,
Bon Imputation, Vergeltung
und Gewiffen,
; $. 356.
Moralifhes Verdienſt, Schuld,
Nach dem Urtheife der reinen Vernunft gründet fich
auf die moralifche Gefinnung und Handlungsweife einer
Perſon ihr höchfter Werth; nach eben diefem Urtheil be⸗
ruht der Unwerth einer Perſon auf den unſittlichen Ge⸗
AN
.
|
E
-
Metaphoſ t der Sitten, Be 1}
finnungen ‚die, fe Da ihre Hanplungen verraͤth. Je⸗
ner Werth heißt moraliſches Verdienſt; dieſer Un—
werth — moraliſche Schuld.
Dieſen Werth oder Unwerth gruͤndet die Vernunft
nicht auf vorausgeſehene ſinnlich ang genehme Folgen der
Sittlichkeit, oder ſinnlich widrige Wuͤrkungen der Unſitt⸗
lichkeit; ſondern fie legt ihn der ſittlichen oder unſittli⸗
chen Denkungsart unmittelbar und unbedingt be.
$. 357...
Bernünftige Billigung, Misbifi-
gung überhaupt,
Nicht iede Misbiligung der Vernunft beſtimmt Sch: ildz
nicht iede Billigung Verdienſt. Auf eine eingeſchraͤnkte
Weiſe billigt ſie iede, auch nur empiriſche und unvoll—
kommne Anwendung ihres Vermögens, iede zweckmaͤſ⸗
fige Art zu handlen d. i. ieden Beweiß von Geſchicklich—
keit (Kunſt) und von Klugheit; eben fo tadelt fie iede
-Handlungsweife, die eine Vernachläßigung, einen vers
meidfichen Mangel ihres Gebrauchs verröth oder doch
zu verrathen ſcheint.
$. 358.
Abſolute Billigung.
Uneingeſchraͤnkt, allgemein und unbedingt billigt fie
nur Dasienige, was mit dem vollfommeniten , reine
Gebrauche und mit dem höchften (praktiſchen) 2 Zweck ih⸗
res Vermoͤgens uͤbereinſtimmt — Moralitaͤt; misbilligt
ad tadelt fie nur dasienige, was ihrem hoͤchſten Zwe⸗
‘ Acke
286 | Metaphyſik der Sitten,
cke und ihrem reinen, vollfommenften Gebrauche und
Geſetze widerſtreitet — Unſittlichkeit.
$. 359.
Verdienſt, Schuld in uneigentlicher Bedeutung.
In uneigentlicher Bedeutung, legt man auch
einem Kuͤnſtler, Gelehrten, einem geſchickten und flus
gen Menfchen, überhaupt einem ieden, der irgend wo—
rinn Verftand und Vernunft bewiefen und etwas zwecks
mäffiges zu Stande gebracht oder auch nur verfucht hat,
Verdienſt; iedent zwecklofen oder zweckwidrigen Beneh⸗
men dagegen Schuld bey. Die Vernunft billigt oder
misbilligt uͤberall alles, wobey ſie ſelbſt wuͤrkſam oder
unwuͤrkſam war.
$. 360.
Die Vernunft, die allen Werth beſtimmt, kann kei⸗
ner Sache und keiner Handlung einen Werth beylegen,
als in Bezug auf ſich ſelbſt und auf ihre eignen Geſetze.
Der unmittelbare, hoͤchſte und abſolute Werth’ kommt
ihr allein und ihren reinen Handlungen zu; alles andere
bat nur in ſofern Werth, als es mit ihren Zwecken über- N
einffimme. hr eigner Werch ift unendlich; der Werth
eines vernünftigen Weſens richtet fih nach dem Grad
von Wuͤrkſamkeit feiner Vernunft, welcher erfcheint.
Nur folhe Handlungen, die von ihrer eignen. reinen
Thaͤtigkeit abhängen , haben unbedingten Werth; ſofern
ſie nicht ihre eigne —— darinn zeigt, hoben fie
Unwerth. ⸗
,
FE
IR
I
J
—4
Metaphyſik der Sitten. 287
$. 361.
Obiekt dieſer Werthbeſtimmung.
Was ſchlechterdings, oder bedingt nothwendiger⸗
Weiſe von keiner reinen Thaͤtigkeit der Vernunft abhaͤn⸗
gen kann, das beurtheilt ein vernuͤnftiges Weſen, ſo
fern es dieſe Unmoglichkeit einſieht, nicht nach
dem reinen Vernunftgeſetze; es iſt fein Gegenſtand ders
felben. Der einzige Gegenftand der Werthbeſtimmung
eines vernünftigen Weſens ift alles dasienige, was ei—
ner Beftimmung durch reine Vernunft in aller Ruͤckſicht
fähig if, oder war, und fie entweder empfängt und em⸗
pfangen hat, oder nicht.
636
Unendliches Verdienſt.
Der Werth der Moralitaͤt iſt an ſich unendlich;
en fo der Werth eines. vernünftigen Weſens, Das Dies,
ſelbe uneingefchränfr befist und aͤuſſert. Dieß iſt nur
bey dem unendlichen Wefen, der Gottheit, möglich. Ihr
allein kommt daher eiy unendliches DVerdienft zu, und
feine Schuld. _
S. 363.
Endlihes Verd dienſt.
Ein endliches Vernunftweſen kann den unendlichen
Werth ſeiner Vernunft in keinem Zeittheile vollſtaͤndig
offenbaren, ſondern es miſchen ſich in die Aeuſſerungen
feiner rein vernünftigen Thaͤtigkeit auch andere Erfchei,
Bangen ein, die von der Wuͤrkſamkeit feines nichtvers
\ nünfs
*
J
. \ > | ) , 2 |
288 Metaphyſik der Sitten.
nuͤnftigen (ſinnlichen) Begehrungsvermögens abhängen,
und feine moraliſche Würde einſchraͤnken. Sein Pers
dienſt kann nur endlich feyn; es hat Gränzen und Stu-
fen, wie die Wuͤrkſamkeit feiner Vernunft. Seine Hand-
lungsweiſe und Geſinnung iſt nicht a allgemein⸗
geſetzmaͤſſig, wie Die Goͤttliche.
6
Unendliche Schuld,
Nur alsdann, wenn es moͤglich wäre, daß ein reis
nes Vernunftvermoͤgen überall und gaͤnzlich unwuͤrkſam
bliebe, ohnerachtet kein bedingt nothwendiges Hinderniß
ſeine Selbſtthaͤtigkeit einſchraͤnkte — nur. alsdann wäre
eine unendliche Schuld eines endlichen Weſens moͤg⸗
lich. Allein dieſe Vorausſetzung iſt widerſprechend,
weil in dem angenommenen Falle gar kein Grund vor⸗
handen wäre, dieſem Weſen ein reines Vernunftvermoͤ⸗
gen henzulegen; dann waͤre es aber gar Fein Gubieft,
weder der Schuld noch des Verdienftes. Keinem endlis
chen Wefen kommt alfo eine unendliche Schuld zu, po
wenig als —2— Verdienſt.
$..365. |
Innerer Werth oder Unwerth iſt unuͤbertragbar. Es
iſt widerſprechend zu denken, daß Verdienſt oder Schuld
von einem Vernunftweſen auf ein anderes ganz oder zum
Theil uͤbergetragen werde. Kein Weſen kann fuͤr das
andere vernünftig oder unvernuͤnftig ſeyn. —*
IE 366.
Metaphyſik der Sitten. 289
$. 366.
Grade des Verdienſtes und der Schuld.
Die nach Graden beſtimmbare Groͤße des ſittlichen
Verdienſtes iſt einerley mit. der Größe der wuͤrklich be-
wief.nen Selbftehärigfeit der Vernunft im Verhaͤltniß
zu ihrer Möglichkeit. Die Größe der moralifchen Schuld
richtet fich nach dem Verhältniß, worinn die wuͤrklich
beiwiefene Unthätigfeit derfelben zu der moralifch noth—
mendigen und natürlich möglichen Ihätigfeit der Ver—
— ſtehet.
Je mehr moraliſche Selbſtthaͤtigkeit eine erfüllte
Pflicht erforderte, um erfüllt zu werden; ie mehr innere
und aͤuſſere Hinderniffe überwunden werden mußten,
um fie zu erfennen und auszuüben, ie weniger Beguͤn⸗
figung die pflichemäffige Handlung oder Unterlaffung
von auffen, von den Neigungen, der zufälligen Gewoͤh⸗
nung und von den aͤuſſern Umſtaͤnden empfieng; deſto
mehr moraliſcher Werth, deſto höheres Verdienſt.
Je groͤſſer die verletzte Pflicht; ie groͤßer die Ver—
letzung derſelben (oder die Sünde obiekliv betrachtet);
ie weniger Selbſtthaͤtigkeit erforderlich war, ſie zu er—
kennen und auszuuͤben; ie weniger aͤuſſerer Reiz und An-
laß, ie mehr und gröffere Begünftigungen für die gegen-
uͤberſtehende Pflicht im Temperament, der Gewöhnung
und den äuffern Verhaͤltnißen vorhanden waren —
deſto mehr moralifcher Unwerth, deſto größere Schuld.
Moralphiloſophie.
290 Metaphyſik der Sitten,
$. 367.
1. Die Größe der guten oder böfen Folgen, die aug
einer Handlung entfpringen, erhöht an ſich felbft
weder Das ‚Verdienft noch die Schuld der Hand-
lung, wovon fie abhängen ; fondern nur in fo fern,
als diefer Umſtand auf die obieftive Gröfe der
Pflicht und ihrer Uebertretung oder auf die fubief-
tive Leichtigkeit oder Schwürigfeit ihrer Ausübung,
und Diefe wieder (nach dem vorigen $.) auf die
Moralitaͤt der Handlung einfliet.
Eine Handlung kann gar feine merflichen Folgen, und
nichts deſto weniger ein hohes firtliches Derdienft oder
große Schuld haben 3. B. eine innere Handlung, die
fich auf Gott bezieht, oder- ein fruchtlofer ebgleich red»
Hicher und weiſe angelegter Entwurf zu ‚einem wehlthätis
gen Unternehmen.
Eine andere Handlung kann große, ausgebreitete,
Dauerhafte — wohlthaͤtige oder verderbliche — Folgen
Haben, und Demohngeachtee gar Fein oder ein geringes
Verdienſt, gar feine oder nur eine geringe Schuld haben.
2. Selbſt der unmittelbare Erfolg oder Nichterfolg
einer moralifchen Beftrebung, um eine äuffere Hand»
lung hervorzubringen, gibt an und für ſich weder ei>
nen Werth noch Unwerth; dieſe hängen lediglich
von dem Grade der vernünftigen Gelbftthätigfeit
ab, welche bewiefen wird. Größere Einfchranfun-
gen von auſſen d, i. von allem demienigen, mas
nicht.
—
Metaphyſik der Sitten. 291
nicht Vernunft iſt, von Temperament, Sinnlich⸗
keit, unverſchuldeter Verwoͤhnung an eine ſchaͤdli⸗
che Sinnesart, maͤchtigen Reizen der Auſſendinge
u. d. gl. vermindern zwar den Erfolg, aber nicht
den innern Werth des ſittlichen Strebens. Der
groͤſſere Erfolg, ſofern er von geringern aͤuſſern
Hinderniſſen oder fogar von zufälligen Begünfli-
gungen abhängt, giebt der Handlung feinen hö-
bern morslifchen Gehalt und Werth.
$. 368.
Wir unterfcheiden daher an einer (3. B. menfchlichen)
Handlung dreyerley:
1) Die äufferlih erfcheinenden Würkungen;
Diefe werden dem vernünftigen Wefen zugerechnek,
in fo fern fie von innerlichen Gemürhszufländen
abhängen.
2) Die innerlihen Erſcheinungen, als Empfins
dungen ; Anfchauungen ; Vorftellungen der Einbils
dungsfraft, das Erinnern und Vergefen ; Unmifs
ſenheit, Irrthuͤmer des Verſtandes; Gefühle der
Luft und Unluſt; DBegierden und Derabfcheuungen
in verfchiedenen Richtungen und Graden. Diefe
innern Erfcheinungen oder das Nichtdaſeyn derſel⸗
ben hängt nun ab \
theils von Urfachen, Die gänzlich auffer unfrer Ges
malt liegen, und fich durch feine felbfthätige Bemühung
„der Vernunft anders beffimmen laſſen. Sie find Gfie-
ER der
292 Metaphyſik der Sitten,
der einer Kette von Cauffalderhältnißen, wovon fein
einziges beftimmendes Glied der möglichen Beftimmung
Durch freyen DBernunftgebrauch unterworfen iſt;
laffung derfelben, in fo fern fie gleichwohl möglich mar,
wodurch z. DB. einige Vorftellungen befebt, einige Vor⸗
ftellungsreihen verfolgt, andere eben Dadurch verdunfele,
das Entſtehen gemwifler Gefühle, Begierden und Derab-
feheuungen verhindert, andere Dagegen erzeugt, und auf
diefe Art gewiffe auffere Handlungen ————
den fönnten.
dern natuͤrlich und nach ſinnlichen Naturgeſetzen mecha⸗
dere hat Moralitaͤt.
3) Die moͤgliche, und entweder ausethee oder un⸗
terlaſſene Selbſtthaͤtigkeit der Vernunft, alle inne⸗
re oder aͤuſſere Erſcheinungen moraliſch zu ordnen
| und zu beffimmen. Hiervon hängt unmittelbar und
zunächft die Verdienftlichfeie oder Verſchuldung ab.
| Das bloße Nichtfeyn der Schul, iſt Unſchuld z. B
wenn Selbitrhätigfeit wicht würflich aber auch nicht moͤg⸗
lich war den einer Handlung.
$. 369. |
Moralifche Zurechnung.
Die Handlung, wodurch die Vernunft den Innern
Werth oder Unwerth einer Handlung und Ihres Urhes
berg
theils von frener Selbſtthaͤtigkeit oder von Ueber⸗
Das erfte iff weder moralifh noch immoralifch, fonz |
niſch beftimme und nothmwendig; es lag aufferder Sphä= |
re der möglichen Würffamfeie der Vernunft. Das anz |
\
— ER EEE ES
Metaphyſik ver Sitten. 293
bers beſtimmt, die Entſcheidung uͤber Schuld, Unſchuld
und Verdienſt einer Handlung oder eines handelnden
Vernunftweſens heißt moraliſche Zurechnung, Im—
putation.
$. 370.
Daß die Vernunft alles und zwar nach ihrem eig
nen hoͤchſten Geſetze richtet und wuͤrdigt ‚iM ein, Natur⸗
geſetz der Vernunft, das wir als Faktum kennen, obs
ne die Moͤglichkeit durch Gründe erklaͤren zu koͤnnen.
WEHEN
Zurechnendeg Urtheil.
Ein surechnendes Urtheil enthält zweyerley:
1) daß eine Handlung der Beftimmung durch moras
lifche Vernunft fähig fey, oder geweſen fen.
2) daß und wie weit fie durch moralifche Vernunft
twürflich beſtimmt worden, oder nicht.
Jenes heißt Zurechnung der That überhaupt, und
betrift die Zurechnungsfähigfeif (imputariuitas); dieſes
Surechnung zu Schuld oder Derdienft.
. 372.
Zugerechnet wird einem vernuͤnftigen Weſen alles
dasienige, was
1) durch Vernunft beſtimmt werden konnte ) und
ſollte. Das Sollen wird aus dem moralifchen
Vernunftgefege, das Können nach Naturgefegen
beurtheilet.
FU 2) Was
* Nach der Vorausſetzung.
294 Metaphyſik der Sitten.
2) was wuͤrklich durch Vernunft beſtimmt worden,
oder nicht worden. Dieſe Kenntniß wird aus der
Erfahrung geſchoͤpft.
Wir denken uns (unſrer discurſiven Denkungsart gemaͤs)
zu iedem zurechnenden Urtheile (als dem Unterſatz) zwey
Vorderſaͤtze, wovon der Eine aus einem allgemeinen
Sittengeſetz und Naturgeſetze (Oberſatz) zuſammengeſetzt,
der andere aber ein einzelner Sag (Unterſatz) iſt, wel
eher die Handlung unter dag Gefer fabfumirt.
$. 373.
Sowohl die Zurechnungsfähtafeir, als das wuͤrkli—
che Derdienft und vie wirkliche Schuld hat Grave.
Denn die Vernunft Fonnte in dem einen Zallemehr als
in dem andern wuͤrken; fie war bey gleicher Möglich,
keit (welche vorausgefege wird) mehr oder weniger wuͤrk⸗
fam. |
$. 374.
Reinvernuͤnftige, empirifche Zurechnung.
Anders iſt die Zurechnung beſchaffen, wenn ein rein
vernuͤnftiges und unendliches Weſen ſie ausuͤbt; anders,
wenn ſie von einem eingeſchraͤnkten, ſinnlichen Vernunft⸗
weſen vorgenommen wird. Jene geſchieht nach reinen
vernünftigen, dieſe nach empiriſchen Begtiffen und Ma—⸗
ximen.
$. 375.
1. In dem Urtheile der unendlich reinen Ver
nunft oder der Gottheit hat
8) iede
Metaphyſik der Sitten. F
a) iede Handlung eines vernünftigen Weſens ins
nern Werth, fofern fie durch) reine Vernunft«
gründe beftimme iſt.
b) Diefer Werth iſt vollfommen gleich der Gröffe
der vernünftigen Thaͤtigkeit.
e) Diefe Gröfle wird von der vollfommenfien In⸗
telligenz nicht gefchäßt nach der Gröffe der äuf-
fern Handlungen, Die durch Hinderniſſe einge
fchränft oder erweitert ſeyn kann, fondern durch
ſich ſelbſt.
ch Noch weniger nach der Groͤſſe des aͤuſſern Ers
folgs, den eine Handlung durch die Umſtaͤnde
unterffüge, hervorbringt, durch fie verhindert,
nicht hervorbringe, wenn aud die Handlung
ſelbſt in beyden Fällen diefelbe war.
e) Eine geringere Würffamfeit der Vernunft hat
weniger Verdienſt; der gaͤnzliche Mangel verfels
ben gar feines.
H) Da die Gottheit auch die aufferhalb der Sin
nenwelt vorhandenen, ung unbekannten Gründe
und Sinderniße Fenft, melche die vernünftige
Wuͤrkſamkeit einfchränfen: fo rechnet fie die
Volgen derfelben der Vernunft wicht zu.
8) Wenn nun alle Immoralitaͤt eines endlichen
Weſens fich zulegt auf Diefe (fransfcendenien)
aufferhalb ver Erfahrung liegenden einfchränfens
4 den
206 Metaphyſik der Sitten. J
J
den Bedingungen von der Selbſtthaͤtigkeit der
Vernunft gründet, welche die Gottheit kennt,
und deren Folgen ſie dem vernünftigen Weſen,
das ſie nicht ſelbſt hervorgebracht hat, auf keine
Weiſe zurechnet: fo giebt es im dem Urtheil
. des Unendlichen überall Feine Schuld,
fondern nur böberes und niederes Derdienft.
Der Begriff von Schuld beruht feiner Reali—
tät nach) auf dem Gedanfen von Möglichkeit ei
ner Bernunftwürfung ohne Würflichkeit derſel⸗
ben; dieſer Gedanke gruͤndet ſich auf die Un⸗
wiſſenheit eines endlichen Weſens in Abſicht auf
die auſſerſinnlichen Einſchraͤnkungen, welche iene
Möglichkeit aufheben. Die Gottheit ſieht aber
feine Möglichfeit da, wo feine Würkfichfeit if;
mithin fällt hier der Grund von der Zurechnung
zur Schuld ganz und gar weg. Gie würde eis
nen Mangel der Alwiffenheit oder dr Gerech⸗
tigkeit Gottes verrathen.
b) Der beſtimmte Werth einer Perſon wird von
der Gottheit nicht geſchaͤtzt ‚nach dem Grade von
reiner Vernunftthaͤtigkeit, der ſich in einer ein-
zelnen Handlung äuffert, fondern im Banzen
feiner lebendigen Exiſtenz.
3) Nur der Unendliche weiß alfo unfern Werth mit
vollkommner Gerechtigkeit zu ſchaͤtzen.
636.
Metaphyſik der Sitten, 207
$. 376.
2. Das Urtheil einer ſinnlich eingefhränften (z.
B. der menfchlichen) Vernunft über den Werth
der Handlungen und Perfonen in concreto (dag
Gemiffen)
a. hat zwar eben daſſelbe Ideal der Beurtheilung
vor Augen, das dem göttlichen Gericht zum
Grumde liegt,
b. ohne iedoch die einzelnen Fälle gehörig darunter
fubfumiren zu koͤnnen.
c, Wir rechnen ung felbft zum Derdienft an ie
de Handlung, woben wir uns moralifher Grün-
> de bewußt waren, ohne: beftimmen zu fönnen,
wie viel Antheil andere, finnliche Antriebe und
empiriſche Beweggründe an der Würfung gehabt
haben. .
d. Wir erhöhen in unfrer Vorftellung das Ver⸗
dienft, wenn ſtarke finnliche Antriebe überwunz
den werden mußten, ohne die oft verborgenen
ebenfalls finnlichen Gegenreize in genauen An—
fchlag zu bringen, welche der Vernunft den Sieg
erleichterten , wo nicht gar allein denfelben her«
‚ vorbradhten.
e. Wir rechnen: illegale Handlungen (oder die Um;
terlaffung der gefegmäffigen) zur Schuld an,
wenn wir den Gebrauch der nicht angewandten
Vernunftthaͤtigkeit/ für möglich hielten ; wir hal-
3. ten
298
Metaphyſik der Sitten.
ten ihn für möglich, wenn wir in den Zeitums
ſtaͤnden Feine Gründe der Unmöglichfeit entdek—
ten Gergl. 5. B. Wahnſinn ſeyn würde); wir
fliegen von der Möglichfeire des Vernunftge⸗
brauchs in gewiffen Fallen (die wir aus der
Wuͤrklichkeit kennen) auf Möglichkeit deffelben
in andern Fällen, die mie ienen einige Achnlich-
keit haben; mir fchließen von der Möglichkeit
eines geringern Vernunftgebrauchs, der 5. B.
nöthig war, um Flug und gefchift zu vers
fahren, auf Möglichfeit eines höheren Ver—
nunfegebrauchs, Der zum moralifchen Handlen
erforderf wird; mir Fennen Feine unfinnlichen
Hinderniße der vernänftigen Würffamfeit ‚ und
bringen fie auch nicht in Anfchlag. — Jede 3 Zu:
rechnung zur Schuld ift alfo ungerecht, wenn
fie nicht auf Zeicbedingungen eingeſchrankt
wird.
. Wir urtheilen aber den Werth einer RD
ievesmahl nur nach einem Iheil ihrer Handluns
gen, die in der Erfcheinung vorfommen. Den
Werth oder Unwerth einer Perfon fönnen und
follen wir eigentlich gar nicht beftimmen wollen.
Unſer Urtheil über Die Perfon muß, um niche
ungerecht zu werden, ſich nur auf Zeitumftän-
de, und auf die vergcrenan Erſcheinung ein⸗
ſchraͤnken.
g. Noch
Metaphyſik der Sitten, 299
8. Noch weit mehr entfernen wir uns von der
Wahrheit und Gerechtigfeit, wenn wir ein Ur;
theil uber Derdienft und Schuld eines any
dern Magen, deffen Natur, Beweggründe,
Schwaͤche u. ſ. w. uns immer groͤßtentheils unbe:
kannt iſt.
h. Ueber den obiektiven Werth der Handlungd.
i..ihre Geiesmäffigfeit oder Geſetzwidrigkeit koͤn⸗
pen wir richtig urtheilen nach dem reinen Sit—
tengeſetz; dieſe Beurtheilung muß auch in prafs
tiſcher Abſicht vollkommen ſeyn fönnen. Zurden
ſubiektiven Werth haben wir zwar einen allge—
meinen Maasſtab (nehmlich, das Verhaͤltniß
ber wuͤrklichen Vernunftthaͤtigkeit zu der moͤgli⸗
chen), aber einen ſolchen, den wir mit Sicher⸗
heit anzuwenden gaͤnzlich unvermoͤgend ſind.
$. 377:
Das göttliche Bericht (forum diu) ſtimmt zwar
überein mit dem Urtheile der reinen Vernunft ( forum
rationis purae 6. 375), wovon der Begriff deſſelben
abgezogen iſt, aber nicht mit dem innern Gerichte des
Gewiſſens. Denn ben ienem wird nur auf dag Nicht-
maas gefehn, welches in beyden Gerichten (der reinen
Dernunft und der Gottheit) vollfommen daffelbe if.
Im Gericht des Gemwiffens gefchieht aber eine Anwens
dung deffelben, ohne vollftändige Kenntniß des Gegen, |
ſtandes, der Handlungen und Perſonen, welche beur-
— theilet werden, welche. eben um deswillen unvollfommen,
— un⸗
Tr Wr re er Ru ie et
‘
300 - Metaphyſil der Sitten.
ungerecht und von der goͤttlichen unendlich verſchieden
iſt. In dem äuſſerlichen Gerichte (forum exter-
num) kann blos Legalitat oder ihr Gegentheil an einer
Handlung beurtheilt werden, aber durchaus nicht ihr in⸗
nerer Werth oder Unwerth.
$. 378.
Poſitives, negatives Verdienſt und Schuld⸗
In der empiriſchen Beurtheilung der Handlungen
($. 376), wo man nicht den fubieftiven Gehalt, fondern
nur ihre obieftive Befchaffenheit erfennen, und darnach
Calfo einfeitig) ihren Werth beftimmen Fann, legt man
im Allgemeinen einen geöffern moraliſchen Werth bey
I) denienigen Handlungen, welche ſich unmittelbar
auf eine von dem handelnden Wefen verfchiedene
Perfon (z. B. auf den Nebenmenfchen) beziehen,
weil man vorausfegt, dag zu dieſen Pflichtleiſtun⸗
gen weniger finnliche und eigennügige Antriebe
mitwärfen. Gemeinnüßige, mit Aufopferung ver-
bundene Handlungen der Gerechtigkeit oder der
Güte heißen ‚vorzugsmeife verdienftlihd. Der
Einfluß feinerer Neigungen und Motive wird übers
fehen.
2) Ddenienigen Handlungen, wodurch ein moralifcher
Zweck pofitiv befördert wird ‚ im Gegenfag von ſol⸗
chen, wodurch man blos unterläßt, dem firtlichen
Zwecke Hinderniffe in den Weg zu legen, oder wo⸗
durch man felbfigelegee Hinderniße wegraͤumt. Hand»
lun⸗
x
x ’ j
Metaphyſik der Sitten. 301
lungen der Guͤte neunt man vorzugsweiſe verdienſt⸗
lich, im Gegenſatz von Erweiſungen der Gerech—
tigkeit. Man nennt die wuͤrkliche Beförderung
eines moraliſch gebotenen Zwecks, wenn ſie aus
Pflicht geſchieht, z. B. wenn ich aus Pflicht meine
‚ Kräffte cultivire, andern wohlthue — poſitives
Verdienſt; die Nichthinderung eines moraliſchen
Zweckes, oder die Wegraͤumung ſelbſtgelegter Hin—
derniſſe z. B. wenn ich der Verſuchung zur Unehr⸗
lichkeit pflichtmaͤſſig widerſtehe, negatives Det
dienft, und halt das letztere für geringer. Der
Grund davon liegt in der (nur im Allgemeinen,
aber nicht allgemein gültigen) Vorausſetzung, daß
eine gröffere Anffrengung der Kröffte, mithin eine
gröffere Achtung für das Gefeg, folglich ein höhes
rer Grad von Würffamfeis der Vernunft zu ienen
Pflichtleiſtungen erfordert werde, als zu dieſen;
daß es zu den letztern mehr ſinnliche Antriebe gebe,
die den Werth vermindern u. d. gl.
3) Umgekehrt, aber aus denſelben Gruͤnden und mit
derſelben (einſeitigen) Guͤltigkeit halten wir die po⸗
ſitive Schuld d. i. dieienige, die durch thaͤtige
KHinderung eines moralifch nothwendigen Zwecks }
B. dur Gelbfizerfiörung, Betrug, zugezogen
wird, fuͤr groͤſer, als die negative, die aus der
vernachlaͤßigten Befoͤrderung eines pflichtmaͤſſigen
Zweckes z. B. aus verſaͤumter Wohlthaͤtigkeit,
Vernachlaigung feiner eignen Faͤhigkeiten eutſpringt.
Wir
302 Metaphyſik der Sitten,
Wir ſetzen überdieß im erſten Falle einen groͤßern
angel von Pflichtanerfennung voraus, weil die
Pflicht gewifler, befiinimter nf. w. iſt.
4
4) Eine gefeswidrige Handlung, Deren Obiekt wir
felbfi find, hat in unferm empirifchen Urtheile
gröffere Schuld, als eine Sünde, die ein frent-
des unmittelbare Obiekt hatz wir fegen nehmlich
voraus, daß iene, die Gelbftpflichten, zugleich durch
die eigennügigen, finnlichen Triebe beguͤnſtigt wer⸗
den, alfo eine geringere Anſtrengung der Kräffte
erfodern; wozu es nur eines niedern Grades von Ach-
‚tung für Moralitaͤt bedurft hätte, die bey ſolchen
Derfündigungen foger vermißt wird.
$. 379.
Achtung, Verachtung,
Mit der Vorftellung von Verdienſt iſt in einem end⸗
lichen Vernunftweſen ſinnlich verbunden ein Gefuͤhl von
Achtung. Das unmittelbare und reine Obiekt dieſer
Achtung iſt die Vernunft und ihr hoͤchſtes Geſetz, wie
im dritten Problem der Grit. d. pr. V. ($. 145 - 166).
gezeigt worden. Von da verbreitef es, fich über. Dieie-
nigen Handlungen, worinn der Einfluß der Vernunft
erfcheint, und wird dem Grade nad) erhöht oder ver-
mindert, „ie nachdem die vernünftige Thaͤtigkeit in den
Gefinnungen eines finnlich vernünftigen Weſens we
oder weniger offenbar wird.
$.380.
Metaphyſik der Siem 303
$. 380.
An die Vorſtellung von Schuld, "oder (nach gelaͤuter⸗
Begriffen) von vermindertem Verdienſte knuͤpft fich ein
Gefühl von Verachtung d. i. von einen niedern Grad
Der Achtung für die immorclifhe Handlung und für
ihren Urheber, in fo fern wir nehmlichden finnlich wahr-
nehmbaren Ausdruc der felbfichätigen Vernunfe — ver
legten Bedingung aller Hochichägung — daran vermif,
fen.
$. 381.
Auf diefe Art achten oder verachten wir mehr oder
Weniger ung felbft und andere, wenn wirung nach em⸗
pirifcher Kenntniß beurtheifen. Im Urtheil der reinen
Vernunft hingegen ift unfer Verdienſt, mithin auch uns
fere Achtung unveraͤnderlich, weil wir hier die Würfung
zufälliger Hinderniffe einer moralifchen Sinnesart (eis
ner finnlich erfcheinenden fitelichen Denkart) abrechnen,
und nicht nach Bruchftücen, fondern nach dem Ganz
zen unfern moralifchen Werth beftimmen. Weil wir
aber iedesmahl andere Theile und einzelne Seiten unferg
Charakters anfchauen, fo kann unfre Achtung niemahls
Dem Urtheil der reinen DBernunft über unfern wahren
und ganzen Werth entfprechen, und wir find der Beurs
theilung unſrer felbft in concreto nach reinen Vernunft
grundfägen unfähig.
$. 382- |
304 Metaphyſik ver Sitten,
$. 382.
Verehrung
Sir ein endliches Weſen koͤnnen wir nur endliche Ach
tung hegen. Die E Gottheit ift als uneingeſchraͤnkte Vera
nunft das ausfchliegende Obiekt unbegraͤnzter Achtung
d. i. Verehrung.
$. 383.
Vergeltung,
Es if ein Saftum der praftifchen Vernunft, daß
fie das moraliſche Wefen vermöge feiner Moralitaͤt und
im Verhaͤltniß zu ihr der Gluͤckſeligkeit wuͤrdig haͤlt,
und daß ſie eine Vereinigung des oberſten ſchlechterdings
nothwendigen Gutes mit dem bedingtnothwendigen Gus
te oder Zwecke eines endlichen und finnlichen Vernunft⸗
weſens fordert. Diefe reine Thatſache iſt im vierten
Problem der Crit. d. pr. Vern. ($. 167 Bis 220.) ers
Örtert worden. Die Erwartung, daß dieſe Forderung
der Vernunft in der Welt wuͤrklich erfuͤllet werde, if
religiös.
$ 384.
Eine Folge davon find die Begriffe von Vergeltung,
Belohnung und Strafe, und die Anwendung verjelben
auf einzelne Handlungen oder Perfonen oder die zurech⸗
nung zur Belohnung und Strafe.
$. 385.
Der angemeffene Antheil, deſſen die unpartheiifche
Vernunft ein endliches Weſen um feiner Moralitaͤt wil⸗
len,
Metaphyſik der Sitten. 305
len, würdig hält, iſt moraliſche Belohnung. Das
phyſiſche Uebel oder der Mangel an Glückſeligkeit, den
die praktiſche Vernunft der Immoraalitaͤt eines vernuͤnf⸗
tigen Weſens angemeſſen findet, kann morxaliſche oder
eigentliche Strafe heißen. Beydes zufammen iſt ange⸗
| heellene weralile Vergeltung. |
| 6. 386.
7 Wuͤrdigkeit der Belohnung entfpricht an fi Ar und in
feinen Graden den Verdienfte ; Strafwuͤrdigkeit ſteht in
gleichem Verhaͤltniß zu der Schuld. Die Zurechnung
zur Belohnung oder zur «Strafe fett alſo die zurechnen⸗
den Urtheile der That, und zum Verdienſte oder zur
Schuld als feine Bedingungen voraus.
§. 387.
Wie über Verdienft und Schuld (6. 374⸗ ee. ſo
urtheilt nothwendigerweiſe auch über Straf - und Be
lohnungsmwürdigfeit anders die reine, unendliche Vers
nunft für fich felbfe oder die Gottheit, anders die em:
pirifch angewandte Vernunft 5. B. die menfchliche. Dem
letzten Urtheil liege zwar Diefelbe Regel zum Grunde,
aber die Anwendung auf einzelne Fälle in concreto
meicht unendlich von der göttlichen ab, und ift niemahlg
der Wahrheit vollfommen angemellen. Die endliche Zu⸗
rechnung gruͤndet fich auf Schein ‚ die unendliche auf
Wahrheit; iene bezieht fi) auf einzelne Handlungen,
diefe auf das Ganze des Charafters; iene imputirt auch
Strafe, diefe nur gröfere oder ‚geringere Belohnung.
Moralphiloſophie. u $. 388.
306 Meraphufik der Sitten,
$. 388.
Nur die Gottheit kann gerecht richten über Verdien
und Schuld; nur ſie kann Satopnung und Strafe ge:
er verchelen, *
S. 389.
Strafe kann nach Dem reinen Begriffe nichts als
eingefchränfte Belohnung feyn. Es giebt feine abfolu=
te Immoralitaͤt, feine gänzfiche Verdienftloſigkeit, folg⸗
lich auch Feine eigentliche Strafe.
$. 390.
Es giebt für endliche Weſen nur endliche Shan
gen und Strafen (im oben erflärten Sinne), die eben
fo wenig, als Verdienft und Schuld, fich von einer
Perſon auf eine andere moralifch übertragen, oder übers
haupt abändern, erlaffen, vorenthalten, erhöhen laſſen,
man müßte denn alle Begriffe von zweckmaͤſſiger, fitt«
licher Welteinrichtung und von göttlicher Gerechtigkeit
($. 208.) aufheben und verläugnen. _
Jede religioͤſe Meynung, melche die Vorſtellung
von Gerechtigkeit Gottes verfälfche over auch nur ver⸗
dunfelt, iſt dem Hauptzwecke, mithin dem praftifchen Gruns
de aller Religion zumider und fittenverderblich.
SER SR .
Nach der für endliche Wefen einzig möglichen Bes
urtheilung der Straf- und Belohnungswärdigfeit, die
fich einfeitig auf die Vorſtellung der obiefriven Legalitaͤt
grün:
Metaphyſik der, Sitten. 307
gruͤndet, iſt poſitives Verdienſt ($: 378.) einer poſi⸗
tiven Belohnung d. i. eines proportionirten Zuwach⸗
ſes an Gluͤckſeligkeit, eines mit Gewinn verbundenen
Erſatzes der freywilligen Einbuſſe — negatives Ders
dienſt dagegen nur einer negativen Belohnung d. i.
einer Nichtabnahme nreiner Gluͤckſeligkeit werth 3. B. dag
meine Ehrfichfeit mir im Ganzen nicht ſchade, mich nicht
- fremden Betruge ausſetze. Für pofitive Schuld beſtimmen
wir eine dergleichen Strafe, d. i. einen wuͤrklichen Verluſt
an Gluͤckſeligkeit, die ich ſchon beſthe; für die negative
eine verneinende Strafe z. B. Ge —9 Eigennutz, der
mich lieblos handlen ließ, feiner Abſicht verfehle.
§. 392. |
Verwandte Begriffe,
- Nicht iede Verbindung eines Beſtandtheiles oder ei
ner Bedingung der Glückfeligfeit mie. gewiſſen freyen
Handlungen ift Belohnung ; nicht iedes phnfifche Uebel,
im Zufammenhang mit Illegalitaͤt des Handlens kann
eigentlich Strafe heißen.
* Be
Ein phyſiſches But kann mic legelen oder auch
moraliſchen Handlungen und mit Hatınlolung derſelben
zuſammenhaͤngen
3) zufälligerweife, nach keiner Regel weder der
theoretiſchen noch der praktiſchen Vernunft. In
ſofern heiße es Glück.
U2 8) noth⸗
{
a 308
|
|
Meraphyfif der Sitten.
2) notbwendigerweife d. i. nach einer vernuͤnfti⸗
gen Regel |
a) der theoretiſchen Vernunft d. i. nach einen
empiriſchen, bedingtnothwendigen Naturgeſetz.
Sofern man blos auf den phyſiſchen Zuſammen,
bang zwifchen Urfache (5. B. Maͤſſigkeit) und!
Würfung 5. B. einem längern, gefündern, [hmerz=|
lofern Leben) fieht ‚ denkt man ſich keine Beloh⸗
nung. Es wird erſt natürliche Belohnung
durch die hinzukommende neue Beziehung auf
praktiſche Vernunftbegriffe. Dieſe cheoretiſch
nothwendige Verbindung einer Handlung mit ans
genehmen Folgen verſchafft ihr eine natürliche,
relative Güte. F. 136.
b) ver praftifchen Vernunft dv. io nah Be
Zwerfen
&) empiriſchen Zwecken der pr. Vernunft. Die
fe find
entweder einzelne; fir.) den Belohnenden felbft
nüßliche, Handlungen zu veranlaßen. — Kohn;
ein phyfifches Gut, das nach) Proportion des
geſtifteten Guten abgemeſſen wird;
oder zweckmaͤſſtge Handlungsweiſen uͤberhaupt
zu befördern — Aufmunterungen, Prä⸗-
mien, auf qemeinnügige (wenn auch nicht
immer aͤchtmoraliſche) Handlungen. Sie
richten ſich a der prafumirten Nuͤtzlichkeit
J
|
Metaphyſik der Sitten. 309
des Charakters, nicht der einzelnen Handlung,
wie der Lohn.
ß) rein vernünftigen, TER Sweden.
Angenehme Folgen einer nicht. blos legalen,
fondern auch moralifchen Denfungsart ; und
einer Handling, die daraus: herfließe, die in
der Abficht damit. verbunden worden,’ um die
reine Vernunffivee von Wirdigfeit, von
hoͤchſter und volftändiger Iwecfmäffigkeit zu re»
aliſiren. — Eigentlihe Belohnungen. Um
dem Totalzwecke der Vernunft, der harmoni-
ſchen Verbindung der Glüceligfeit mit der
Sitrlichfeit zu entfprechen, muͤſſen fie dem
Grade der Moralitaͤt durchaus angemeffen feyn.
$.. .394-
Belohnen kann alſo nur die Gottheit; lohnen,
aufmuntern, koͤnnen endliche Vernunftweſen z. B.
Obrigkeiten, Erzieher; die Verbindung natürlicher
Folgen iſt ein Werk der Natur.
$. 395.
Beſtrafen.
Auf aͤhnliche Art muß auch der Begriff der Strafen
G. 389.) von aͤhnlich sie DE genau
unterfchieden werden.
Auch phyſiſche Uebel oder Einfchränfungen des
phufifchen Guten oder des Wohls fönnen mic illegalen
eder auch immoralifchen Aandlungen verbunden feyn
N uU3 3) zu⸗
310 Metaphyſik der Sitten
v3) gufälligerweife, ohne Regel — Unglück
8) nothwendigerweife, nach einer Regel
a) der theoretiſchen Vernunft, als natuͤrliche
uͤble Folgen gewiſſer Handlungen ‚ die eben um
deswillen relativ böſe waͤren. Dieſe Fönnten
wenigſtens aus dieſen Geſichtspunkte ange⸗
ſehen, nicht Strafen heißen. Denn Strafen
machen nicht die Suͤnde, wie hier der Fall, wär
is re, fondern umgekehrt. Selbſtſchaden.
b) der praktifchen Vernunft; Uebel, die nach
werfen, Ideen mit einer Dandlung verbunden
wären. — Strafen in weitläuftiger 254
deutung. A
&) nach zufälligen empirifehen Zwecken, und
comparativ allgemeinen Negeln. Der Zweck
iſt
entweder ſchaͤdliche Handlungen für einen eins
zelnen Fall zu verhuͤten , und ihre perfönlis
chen fchädfichen Folgen abzuwenden. —
Swangsübel, Gegenwehr eines Deleidigten,
unzweckmaͤſſig angewandt — Rache,
oder, den Fehlenden um feiner. felbft willen von
gewiſſen fchädfichen Gewohnheiten abzubeingen
— Süchtigungen.
Oder andere von gemeinfchädlichen Handlungen -
abzuhalten = Marnerempel.
8) ne x
*
Metaphyſik der Sitten. 311
£) nad) rein, vernuͤnftigen, moraliſchen Zwe-
Ken — die Idee von, Würdigfeit und Pros
porfion zu realifiren. „Kigentliche Stra⸗
fen. Dieſe müßen der, höchften und vollſtaͤn⸗
digen, Zweckmäſſigkeit durchaus entiprechen,
mithin, den. moralifchen Werth (der Schuld $.
— 365. ).eines Charakters völig —2
ſen ſeyn.
$. 396.
wMie dent Zweck der Strafe. kann der Zweck eines
Swangsübels, einer Süchtigung und eines Warns
exempels verbunden feyn; es iſt dieß aber. an fich
nicht nothwendig. Die natürliche Folge fann zugleich
als Strafe von dem Urheber der Natur veranftalter ſeyn,
“ für eine Handlungsweiſe, die an ka jelbft ſchon unſitt⸗
lich iſt
$. 397.
Zwan gsübel kann ieder Beleidigte, und in feinem
Nahmen eine Geſellſchaft anwenden; züchtigen iſt Sa⸗
che des Erziehers; Warnexempel kann eine Obrigkeit
kraft eines geſellſchaftlichen Vertrags geben. Beſtra⸗
fen d. i. den niedern Grad der Glückſeligkeit nach Ver⸗
haͤltniß der mindern Wuͤrdigkeit des Charakters beſtim⸗
men — kann nur der Unendliche.
$. 398.
Phyſiſche Uebel mit gewiſſen Handlungen verbinden,
Die ſich weder als Zwangsmittel, um Beleidigungen ab,
V4 zuhal⸗
313° Metaphyſik ver Sirtem
zuhalten, noch als Züchtigungen, Beflerung zu veran⸗
laſſen, noch auch endlich als Benfpiele jur Warnung
anderer, rechtfertigen laſſen, fondern als’ eigentliche
Strafen, ohne oder wider iene Zwecke, zugefügt mer
den, — iſt eme offenbare Ungerechtigkeit und ein
Eingriff in das göttliche Gericht‘; e8 mag nun von Ob»
rigfeiten oder von Privatperſonen geſchehen.
$. 399-
Belohnung und Strafe ‚ find nicht moraliſche Be⸗
weggruͤnde der Handlungen, nicht Beflimmungsgrinde
der Verbindlichkeit, ſondern die Pflicht muß für ſich aus
dem Vernunfrgefege erfannt werden, und nur alsdann
laͤßt ſich Schuld, Verdienſt, Wuͤrdigkeit der Belohnung
und der Beſtrafung gedenken. Ein Gefetz dem die
Folgen der Handlung erſt die verpflichtende Kraft gaͤ⸗
ben, waͤre blos relativ gut. Ein abſolutes Geſetz iſt
unabhangig von dieſen Folgen; die Folgen find viel;
mehr. abhängig von ihm, meil die Vernunft fie dem Ge
fee. gemäs beffimmt. _ Eine Tugend, "Deren Grund die
Hofinung der Belohnung ware, würde eigennützig,
und-eine folhe, die fih auf Furcht vor Defirafung,
gründete, würde fogar ſklaviſch und erzwungen, d. i,
fein Gegenftand unferer Hochfchägung ſeyn, die nur auf
Vernunft und ihre freyen, uneigennügigen Würfungen
gerichtet feyn kann.
$. 400,
— k der Sin 313
Ä 6.1400. '
J | Genen.
3 Die Anwendungen, die ein ſinnlich vernänfeiges
Weſen von dem moraliſchen Gefege auf fich felbft, auf
feine Handlungen und Gefinnungen in concrero macht,
werden nebſt ihren ſubiektiven Wuͤrkungen dem Gewiſ⸗
ſen zugeſchrieben.
Man betrachtet das Gewiſſen
3) als Vermögen. Hier beruht es auf dem Das
fenn der moralifchen Vernunft, dem empiriſchen
Selbſtbewußtſeyn „der moraliſchen Urtheilskraft,
und dem ſittlichen Gefuͤhle, und muß bey allen end⸗
lichen Vernunftweſen vorhanden ſeyn.
2) als Fertigkeit· Diefe beruht auf Uebung/ wo⸗
durch man die Vorſtellung ſeiner Pflichten, ſeiner
innern und aͤuſſern Handlungen und ihres Verhaͤlt⸗
niſſes zu einander ſich geläufig mache, und dadurch
die entſprechenden Gefühle oͤfters erregt.
3) als Verrichtung. Dieſe haͤngt von dem momen⸗
tanen Gemuͤthszuſtande ab.
| §. 401.
Mit dem Gewiſſen iſt nicht zu. verwechſeln
I) das Bewußtſeyn von unſern Handlungen, über
haupt.
2) das Urtheil uͤber ihre Vollkommenheit oder Un⸗
vollkommenheit uͤberhaupt, uͤber ihr Verhaͤlt niß zu
unſern zufälligen Zwecken und fubiefeiven Negeln.
"45 . 3) die
”
314 | Metaphyſik der Sitte,
3) die Empfindung, Die aus dem Bewußtſeyn dieſer
(nicht moralifchen) Volkommenheit oder Unvoll—
kommenheit Mile Handlung entſteht.
#) oder auch) dasienige Gefühl, mas die Vorausfiche
der niche moralifchen Folgen einer Handlung er⸗
weckt. 5. B. Ahndung Des Beleidigten, der etc
ſchaft m.d. gl. u
Ade dieſe Vorftellungen, Urtheile und Gefuͤhle ER
Deswegen nicht eigentlich zum Getsiffen, weil fie nicht
feld moralifcher Arc find, ob fie ſich gleich öfters mie
moralifchen Gedanken und Empfindungen verbinden.
$. 402.
Das Subieftive bey der Anwendung des Gefehes
auf die Handlungen , betrife theils das moralifche Ur—⸗
theil, theils das fitliche Gefühl, theils das Gefühl
der religiofen Hoffnung oder Furcht, welche mit ienem
Urtheile verbunden ſind.
$. 403.
Was erſtens das moraliſche Urtheil berrift, def
fen obieftive Befchaffenheit und Gründe oben ($. 355.
bis 378.) erflärt worden, fo ift daſſelbe
3) dunkel, Elar, oder deutliy, nach den ver-
fehiedenen Graden der Klarheit des iedesmahligen
Bewußtſeyns von dem moralifchen Gefege, der
Handlung oder der Gefinnung und dem Charafter
und der Vergleihung, die zwifchen dem Begriff
von beyden angeftellt worden. |
"2) mehr
I
Maetaphyſik der Sitten, 315
2). mehr oder minder lebhaft, ie nachdem Die zum
"Grunde liegenden Vorſtellungen mehrere oder ges
ringere Lebhaftigfeit im Verhältniß zu den uͤb⸗
rigen Vorſtellungen haben.
Bey unmerklicher Lebhaftigkeit der Vorſtellung von den
zurechnen den Urtheilen ſchlaft, bey merklicher Stärke
derſelben wacht das Gewiſſen.
3) dem Geſetze und der Handlung durchaus angemeſ⸗
fen — genau und beſtimmt, oder Das Gegen—
cheil; auf Wergleichung aller Handlungen und aller
ihrer Beſtimmungen mie dem ganzen Giftengefege
in allen feinen Iheilen und Beſtimm ungen gegruͤn⸗
det d. i. ausgebreitet, oder das Gegentheil.
Weites, leichtſinniges, moet, genaues, peinli;
Mes Gewiſſen.
jr Nach Verhaͤltniß der Richtigkeit der Etenntniß
vom Geſetze, und der Erkenntniß deſſen, was zu
der möglichen oder würflichen Handlung gehört, if
auch das Urtheil richtig oder unrichtig und das
Gewiſſen roh oder aufgeklärt; ie nachdem Die
" Gröfe der (materialen) Geſetze ſowohl els der Hand»
Tung gefchägt wird, verbältnißmäffig oder. uns
verhältnißmäſſig.
Dem irrigen Urtheile liegt zum Grunde ein Jerthum
in Abſicht auf das Geſetz, oder auf die Handlung und
Geſinnung, beyde ihrer Beſchaffenheit oder ihrer Groͤſe
nach; oder eine fehlerhafte Verbindung und Folgerung
aus richtigen Vorderſaͤtzen. Wenn das Gewiſſen oͤfters
aus
316 Metaphyſik der Sitten
aus Irrthum fih Schuld beymißt, fo iſt es ſchwach;
wenn es fich öfters ſchuldlos zu ſeyn waͤhnt — leicht;
finnig; wenn es fih gern mic eingebildetem — 2*
taͤuſcht, ſchmeichelnd. |
5) Von der Beſtimmtheit der moralifchen Kenntniſſe
haͤngt es ab, "ob das Urtheil und das Gewiſſen
gewiß, wabhrjcheinlich, oder zweifelhaft und
problematifch (Gewiffensffrupel) ausfällt.
6) In Abſi cht auf die Zeit, wenn das Urtheil gefaͤlt
wird, iſt das Gewiſſen ein vorhergehendes
oder nachfolgendes.
7) In Anſehung des Innhalts iſt
a) das vorhergehende — belohnend, oder an ⸗
treibend, und das letztere gebietend, ver⸗
bietend, oder einſchränkend.
b) das nachfolgende Gewiffen iſt
a) überhaupt gut oder böſe.
O) ins befondere in Anfehung der Zurechnung
zu Verdienft und Schuld
entfchuldigend, wenn es dem Handelnden den
Zuſammenhang einer gefchehenen illegalen
Dandlung mit nicht moralifchen Beſtimmungs⸗
gründen, mit aͤuſſern reizenden Veranlaſſun—⸗
gen, Umftänden, Zemperamentshang u. ». gl.
ins Bewußtſeyn bringe, um die moralifche
Schuld,
i
Metaphyſik der Sitten, 317
Schuld, wo 2 —* doch zu
vermindern.
Beſchönigend ; wenn es ſogar das Verdienſtli⸗
che der Handlung aus legalen und ſittlichen
Beſtimmungsgruͤnden zu beweiſen ſucht.
Rechtfertigend, wenn es’ die Legalitaͤt einer
vorerſt illegal ſcheinenden Handlung ſich dar⸗
zuthun bemühe iſt.
Der entgegengeſetzte Fall iſt, wenn das Gewiſſen ſich
ſelbſt beſchuldigt oder wenigſtens das Verdienſt
herabſetzt, in dem es entweder etwas Illegales
.....00d Immoraliſches „oder wenigſtens den Zuſatz
nicht moraliſcher, natürlicher Antriebe zu den reis
nen Beflimmungsgründen enfdefl.
$. 404. ,
. Zweytens, ($. 402. das Gefüplder Selbſtacheung
oder Selbſtverachtung entſpricht ganzlich dem Urrheile
über Verdienſt und Schuld, Würdigfeit und Unwuͤrdigkeit
nach allen ($.493.)Jangegebenen Unterfchieven. Zugleich
hängt es aber auch von der Stärke oder Schwäche des
Gefühlvermögens überhaupt, der Empfänglichfeie für
feinere Gefühle, und zwar von der erhebenden oder nie—
derfchlagenden Art insbefondere ab. Die Empfäng-
lichfeie für ftarfe oder ſchwache moralifche Gefühle
beſtimmt ein (vergleichungsweife) empfindlides over
unempfindliddes Gewifjen ; für feinere Gefühle, die
fih auf fubtilere Beurtheilungen und Unrerfcheidungen
gründen
%
318 Metaphyſik der Sitten
gruͤnden — ein zartes oder im gegenuͤberſtehenden Fal⸗
Te grobfühlendes Gewiſſen. Die überwiegende Em⸗
pfaͤnglichkeit für, unangenehme firtliche Gefühle mache
das Gewiſſen ängftlic oder peinlich.
Sieht man auf den einzeln Zuſtand ſo iſt es um
zubig, beym Bewußtſeyn der Schuld (Gewiffensbiffe)
subig, wenn es fi ſchuldlos denkt; froh, wenn es ſich
im Beſitz des Verdienſtes glaubt.
§. 405.
Ohne Nahtheil der Moralirät darf dieß Getüht, das
ſich unmittelbar auf die Zurechnung zur Schuld oder
zum DVerdienjte grühder, nicht aufgehoben; aber doch
durch andere neu eintretende Gefühle i in feier u been
geichtwächt werden.
$. Be
Endlich (F. 402.) drittens, die Gefühle der
Furcht oder der Zoffnung, die fich zufolge eines
religiöfen Glaubens mit den Gefühlen eigner Wuͤrdig⸗
keit oder Unwuͤrdigkeit verbinden; dieſe richten ſich der
Are und der Staͤrke nach, nach der formalen und ma—
terialen Befchaffenheit der moralifchen ſowohl als der res
ligiöfen Kenntniffe, nach der Selbſtkenntniß, nach Dem
herrfchenden oder iedesmahligen Hange zu gewiſſen Ge⸗
fuͤhlarten.
$. 407.
Dieſe Gefuͤhle duͤrfen nur auf das Bewußtſeyn von
eignem Verdienſt oder von eigner Schuld ſich gründen;
nur
|
j - '
B * N
Metaphyſtk der Sitte, 319
nur mit Veränderung diefes Urtheiles — wie der ſitt⸗
liche Charafter nach und nach anders” erfcheint — duͤr⸗
fen dieſe Hoffnungen „oder Beforgniffe ſich abändern,
ſchwaͤcher, flärker werden, weil das) richtende Urtheil
des Unendlichen fi ch. auf Das ganze Verhalten, auf die
vollfkändige Erfcheinung von dem ganzen Charakter eineg
endlichen DBernunftwefens bezieht und gründet.
Nach aufgeklärten Begriffen über Moralität und
Gottheit ift gar feine Furch. vor göttlichen, geſchweige
denn vor unendlichen Strafen, fondern nur eine gröfe
fere oder geringere, befcheidene, feſte Hoffnung auf ei
ne im Ganyen gemwiffe, ‚der Art und Grofe nach unbe⸗
ſtimmte, goͤttliche Belohnung des ſelbſt erworbenen Ver⸗
dienſtes möglich...
Jede Meynung, FA die Self görtlicher
Belohnungen auf etwas andres, als auf das Bewußt⸗
feyn eignen Verdienftes und auf den Gevanfen von
götrlicher Gerechtigkeit gegründer, oder wodurch die
Furcht vor göttlichen Strafen aufgehoben oder vermins
dere (d. i. nach reinen Begriffen, die Hoffnung erhöht
und ihre Einfchranfung weggeraumf) wird, ohne verän-
dertes Bewußtſeyn des ſelbſteigenen Werthes, iſt eine
den Sitten ſchaͤdliche Meynung. Sofern die Furcht auf
Vorurtheilen beruhte, iſt es minder ſchaͤdlich, fie durch
Vorurtheile zu ſchwaͤchen oder gar zu vernichten.
Rei⸗
220 \ Metaphyſik Der Sitten,
Keine Erhif
oder
— des Einigen oberſten @ürteigere
Bes in feine a priori erfennbaren
befonderen Gefege,
€. 408.
Zwey Gefeke,
Das oberfte formale Sittengefeg ($. 118. bis 120.)
enthält zwey befondere, ebenfals formale Vernunftge⸗
fee, ein negatives und ein pofitiveg. UN NEL, DR
$. 409.
Erftes negatives Geſetz.
Handle nach keiner Maxime, die als allgemeines Na⸗
turgeſetz ſich ſelbſt widerſpricht de h. ihren eignen
Zweck pn
oder:
Handle niemahls ſo, daß du durch deine Banane
irgend ein vernünftiges Wefen blos als Mittel
behandelſt, wider ſeine zwecke.
oder:
Handle keinem zweck an ſich ſelbſt muwider
$.,410.
Zweytes pofitives Geſetz.
Handle nach ſolchen Maximen, die als allgemeine
Geſetze deinem eignen Willen nicht e⸗
chen, ſondern gemäs find.
oder:
Metaphyſik ver Sitten. 331
oder:
Handle ſtets fo, daß du das (iedes) vernünftige Wes
als zweck an ſich ſelbſt betrachteſt, und feine
Zwecke beförderft. |
oder:
Handle, dem Zwecke an fidy ſelbſt gemäg,
6. 411.
Vier reine Gefege,
Es giebt zwey a priori denfbare moralifche Obiekte,
worauf ſowohl das negative ($ 409.), als das pofitis
ve ($. 410.) Sittengeſetz bezogen werden koͤnnen, nehm⸗
lich 1) das handelnde Vernunftweſen felbft 2) ein von
diefem verfchiedenes Vernunftweſen. Durch diefe Dops
pelte Beziehung entfiehen nun vier befondere Befeze,
nehmlich < ein. formales Gefez 1) der negativen Selbſt⸗
pfliht; 2) der negativen Gefellfchaftspfliht; 3) dee
‚ pofitiven Selbſtpflicht, und 4) der pofitiven Geſell⸗
ſchaftspflicht.
6. 412.
Negative, ſchuldige Selbſtpflicht.
Befolge keine Maxime, die als allgemeines Ge⸗
ſetz deiner Natur — ſich ſelbſt widerſprechen d. 1.
Die deinen eignen Zweck aufheben würde.
oder:
Behandle dich ſelbſt, als vernuͤnftige Natur, (oder
die vernünftige Natur in deiner eignen Perfon,)
Moralphiloſophie. nicht
322 Metaphyſik der Sitten” _
nicht als bloffes Mittel, wider deine Zwecke (wel⸗
ches gefchehen wurde, wenn du deine obiektiven
und nothwendigen Zwecke, die Bedingungen der
übrigen, um der fubieftiven und zufaͤlligen willen
zerſtoͤrteſt),
‚Oder?
Handle dir felbft, als Zweck an fich felbft, nicht zuwi⸗
der, indem du Deine Natur, deine Kraffte und ih»
se mürffame Verbindang im Ganzen oder zum
Theil um zufäliger Abfichten willen seeftöreft, oder
ohne Widerftand zerſtoͤren laͤſſeſt.
Vermoͤge dieſes Gebotes darf ich 5. B nicht mie das
Leben, oder die Vernunft, oder ein Glied rauben, um
Dein Schmerz zu entgehen ; nicht in Befriedigung finnli-
cher Triebe zum Nachteil meiner Gefundheit ausfchwei-
fen, um der Geſchlechtsluſt oder einer andern Gin-
nenluft zu genießen; den Gebrauch von Arzueyen in
Krankheiten nicht unterlaffen, um dem mwidrigen Ges
ſchmack oder der einfchränfenden Lebensordnung zu ent»
gehen ; Die Gegenwehr gegen feindliche Angriffe auf mein
Leben oder auf meine Freyheit nicht unterlaffen,, aus
Feigheit oder Trägheit u. fe m. — — Mein Leben für
fremdes Leben zu laſſen, ſtreitet an ſich nicht wider die,
fe Pflicht, weil ich eben Dadurch vielleicht mehr Achtung.
für ein vernünftiges Weſen bemeifen Fann.
Metaphyſik der Sitten, 323
6. 413.
' Negative, ſchuldige Geſellſchaftspflicht.
Befolge keine ſolche Maxime, die, als allgemeines
Geſetz aller vernünftigen Weſen (alſo nicht blos deine
Natur) gedacht, fich felbft widerfprechen, und, in dieſer
Allgemeinheit befolgt, ihren eignen Zweck —— und
unmoͤglich machen wuͤrde
oder:?
Behandle kein vernünftig Weſen, auch auſſer dir,
iemahls als bloſſes Mittel, wider ſeine Zwecke
(um etwa deine eignen Zwecke dadurch zu befoͤr⸗
dern)
oder:
Handle der vernuͤnftigen Natur uͤberhaupt, als dem
Zweck an ſich ſelbſt nicht zumider , indem du fie
ſelbſt blos als Sache, als Mittel und Werkzeug
- Deiner Privstabfichten brauchteft und aufopfer⸗
—————
Dder :-
Dermeide folhe Marimen und Handlungen, bey de
nen du Dich unmöglich als Glied einer Geſellſchaft
vernünftiger Weſen betrachten koͤnnteſt, worinn
dieſe Maximen allgemeine Guͤltigkeit als Geſetze
hatten — bey denen feine vernünftige Geſellſchaft
möglich wäre — deren allgemeine Befolgung, das Da»
ſeyn und die Fortdauer einer Geſellſchaft vernuͤnfti⸗
ger Weſen unmoͤglich —— und fie zerſtoͤren wiirde,
\ j Dies
324 Metaphyſik der Sitten,
Diefem Gebote, zu Folge darf ich 3.8. anderen Feine
Teibliche oder gar Geiftesfflaverey anmuthen, fie nicht
belügen, betrügen, um der Befriedigung eianer Lüfte
willen, fie zu Begehrung von Ihorheiten verführen; nicht
aus Partheilichfeit für meinen Freund einem dritten fcha-
ven; die mic vechtmäfliger Abſicht auf Entgelt verwil⸗
ligten Dienftedes anyern nicht unentgeltlich mir anmaa» _
fen, nicht Bücher nachdrucken, Nachdrüde Faufen oder
am der Aufklärung willen privilegiren; meinen Beruf
nicht vernachläßigen u. f. m. Mein Leben kann ich
aber unter gewiſſen Umſtaͤnde auf Koften eines antern
erhalten, wenn ich, alles abgewogen, die Würde der
vernünftigen Natur als Selbſtzweck auf diefe Arc am
meiften ehre und am menigften verlege. |
x $. 414.
Pofitive Selbftpflicht.
Befolge nur folhe Maximen, deren Allgemeinheit
als Geferze deiner Natur nicht nur innerlich mög-
Lich Cniche widerfprechend), fondern auch deiner Natur
und deinem Willen gemäs ift — deren Gegentheil
du unmöglich zum allgemeinen Geſetz für, Deine eigne
Natur machen Fannft,
oder:
Behandle dich ſelbſt, als Selbſtzweck, indem du den
vollftändigen Zweck deiner Natur und, aller dei»
ner Kröffte thätig beförderft,
oder:
Vervollkommne dich felbft und deine Kraͤffte. a
z tes
Metaphyſik der Sitten. 325
Diefes Gebor erlaubt mir 5. B. nicht, meine Kräfe
fe, vielleicht aus Bequemlichfeitsliebe, unausgebilvee
zu laflen, meinem Talent die mögliche Cultur zu vers
fagen, mic, auf einen engern Uebungsfreig meiner Für
higkeiten einzufchränfen u. d. gl.
Aber um einer gröffern Fähigkeit willen, eine ans
dere verhältnismäffig weniger zu bearbeiten, bleibt mo⸗
ralifch zuläffig, in fofern ich eben daducch mich als Selbſt⸗
zweck noch wuͤrkſamer ehre.
$. 415.
Poſitive Gefellfchaftspflicht,
Befolge nur folche Marimen, deren Allgemeingül⸗
tigfeit als Yraturgefes aller Vernunftwefen dir
wollen kann — deren Gegentheil du unmoͤglich alsalls
gemeingültig für das ganze Geifterreich erfannt und bes
folgt wollen koͤnnteſt,
oder:
Behandle auch iedes Vernunftweſen auſſer dir, als
Selbſtzweck, indem du feine Zwecke gefegmäfftg bez
förderff, und fie in die —— deiner Selbſtliebe
mit einſchließeſt,
oder:
Befoͤrdere die Vollkommenheit der Geſellſchaft vernuͤnf⸗
tiger Weſen.
Nach dieſem Gebote waͤre es z. B. unedel, wenn
icch mir nicht Faͤhigkeit zu groͤſſern Dienſten für die Ge—
*3 ſell⸗
326 Maetaphyſik der Sitten,
fellfchaft erwerben oder Gelegenheit dazu fuchen wollte,
wenn ich aus Liebe zur Unabhängigkeit und DBequemlich-
keit ein beſchwehrliches aber meinen Kräffter angemefles
‚nes und gemeinnügiges Amt ausfchlagen over unwillig
miederlegen wollte — geſetzt auch, daß ich meinem naͤchſten
Berufe volle Gnüge thäre, wenn ic) nie mpeigpannhis
wohlthaͤte u. f. w.
Erlaubt wäre e8 gleichwohl, dieß zu thun, wenn
ich mich fchlechrerdings fonft aufopferte , oder zu meinen
nächften Pflichten mir Zeit und Kraffte dadurch raubte,
und in ähnlichen Fällen.
$. 416.
Zwey Cardinaltugenden, :
Den zwey allgemeinften Forderungen des Gitfenge-
feres ($. 409. 410.) entfprechen eben fo viele “reine
Cardinaltugenden d. i. allgemeine, rein a priori be⸗
fiimmbare, ſittlich richtige — und —
weiſen nehmlich :
3) Geerchtigkeit d. i. die Misbilligung und Nicht:
befolgung aller derienigem Marimen , die fich als
allgemeine Gefege ſelbſt widerfprechen und aufheben;
die Vermeidung alles veflen, mas derWürde eines
Dernunftwefens, als Zweck an fich ſelbſt, gerade
zutoiderläuft ; die Vermeidung des Zweckwidrigen.
2) Güte d. i. Billigung und Befolgung ſolcher Mas
ximen, deren Allgemeingiltigfeit mit dem ganzen
Willen übereinftimme; thatige Behandlung eines
Wer⸗
Metaphyſik der Sitten, 327
Vernunftweſens, als eines felbftfländigen Zwecks;
eine allgemein zweckmaͤſſige Denfart und Hands
lungsmeife. -
$. 417.
Die Tugend der Gerechtigfeit ifE negativ in Be⸗
zug auf den Zweck ‚ telcher dadurch nur nicht gehindert
wird; Die Handlungen aber, die fie hervorbringe, find
zivar auch großentheils negativd. h. Unterlaffungen deffen,
was mich oder andere zerffören würde, aber zum Theil
auch pofitiv 5. DB. bey der Wiedererftattung des Geftohl-
nen, oder der Wiedergabe eines Depofitum, der ma Sg
* meines Verſprechens.
$. 418.
Eben ſo iſt die Tugend der Guͤte poſitiv, wenn
man auf den Zweck ſieht, den ſie befoͤrdert. Ihre
Ausübung beſteht aber theils aus poſitiven Hands
lungen z. B. geleiſteten Dienſten, mitgetheilten Ga—
ben, theils aus Unterlaſſungen, wenn man z.B.
fein firenges Recht gegen einen andern nicht verfolgt,
um diefen nicht unglücklich zu machen, wenn man feine
Schuld fordert.
$. 419.
‚Gerechtigkeit, Güte gegen ſich, —
Jede dieſer Tugenden 6. 416.) hat nach den zwey
unmittelbaren Anwendungen der beyden oberſten Geſetze
auf die zwey Arten, möglicher Obiekte, eben io viele
Zweige. Man unterfcheider s
’ 4 1) Ge⸗
\
323 Metaphyſik der Sitten,
1) Gerechtigkeit gegen fich felbft d. 1. negative An-
erfennung feiner eignen Würde, als eines Zwecks
on fich ſelbſt; Nichthinderung feines perfönlichen,
nothwendigen Zwecks; Nichtzerfiorung- feiner Na>
sur ; thätige Anerfennung des Vorzugs, den man
fich ſelbſt, als obiettivem Zweck vor allen eignen zus
fälligen, ſubiektivem Zwecken beylegen fol, iene
nicht für Diefe. aufzuopfern,
3) Gerechtigkeit gegen andere d, i. negative Aus
erfennung der Würde iedes andern Dernunftwefens,
als eines Zwecks an fichfelbft , wodurch ich fie nicht
ausdrücklich verletze; Nichthinderung Des Zwecks
der Gefellfchaft ; thätige Anerfennung der Gleich,
beit anderer Vernunftweſen mit mir, als ſelbſtſtaͤn⸗
digen Zwecke und des Vorzugs ihrer Perfonen, ih—
rer mwefentlichen Zwecke vor meinen zufälligen, ſub⸗
ieftiven Abfichten, iene Dielen nicht aufzuopfern,
3) Büte gegen fidh felbft d, i. pofitive Anerfermung
feiner eigenen perfonlichen Würde Durch ausdruͤck—
liche Beförderung feines wefentlichen Zweckes, durch
Vervollkommnung feiner vernünftigen Natur, durch
Aufopferung feiner. zufälligen, fubieftiven Zwecke
für Diefelbe,
4) Güte gegen andere d. i, pofifipe Anerfennung
der Perfönlichfeit eines ieden vernünftigen Weſens;
der Gleichheit mis mir felbft, des Vorzugs derfels
ben vor feinen eignen fubieftiven Abfichten, dieſe
für Die Vollko mmenheit der Geſellſchaft En
1.9429
N
\
E Metaphoſit der Sitten. 329
=
$. 420.
Alle übrigen Tugenden fegen Erfahrungsbegriffe ent»
"weder von befondern Dbieften, oder von befondern Hin—
derniſſen der reinen Pflicht voraus, und koͤnnen daher
“nicht a priori beſtimmt, fondern nur in einer empirisch
' angewandten Moral erklärt merden 5. BD. a
Keuſchheit, Feindesliebe—
$. 421.
Vier after,
Die entgegenfiehenden DVerfündigungen und Laffer
find unter folgenden Begriffen enthalten:
1. Ungerechtigkeit; wenn ich ein vernünftiges Wes
fen bios als Mittel behandle, wider feinen Zweck,
wenn. ich den obieftiven Zweck um eines fubieftis
ven willen ausprücklich verlege
2. gegen mich felbft
b. gegen andere
ı
2. Kicblofigfeit oder Mangel an Güte; wenn ich
die vernünftige Natur als Zweck zu behandlen, uns
terlaffe, Die obieftiven Zwecke derfelben um der ſub⸗
ieftiven willen vernachläßige,
a. gegen mich felbft-
ib, gegen andere.
$. 422.
Der negativen Tugend ſteht ein pofitives Laſter;
dem negativen Laſter eine pofitive Tugend gegenüber,
a den oben erflärten Begriffen, $, 417: fı
& 5 $: 423,
=
330 Metaphyſik ver Sitten,
6.423.
Gerechtigkeit genen andere entfpringe eben: fo uns
mittelbar aus derfelben Quelle, woraus Gerechtigkeit,
‚gegen mich. felbft ihren Urfprung nimmt, nehmlich ans
der Vorftellung von Der- unverlegbaren Würde eines vers
* nünftigen Wefens. Die eine iſt alfo, wasdas Forma»
le oder die Gefinnung betrift, ungertrennlich mit der
andern verbunden, und kann Die andere nicht einfchräns
fen, ohne fich felbft zu vernichten. Blos nach der reis .
nen Vernunft beurtheilt, iſt die negative Gelbftpfliche
($. 412.) und Die negative Gefellfchaftspfliht ($. 413)
fich vollfommen gleih. ‘Denn bie reine Vernunft er»
kennt zwifchen dem vernünftigen Weſen in meiner Per⸗
ſon und in der Perſon eines andern und dritten (wis
ſchen Ich, Du und Er oder Sie) feinen Unterfchied a.
$. 424.
Güte gegen andere und gegen. mich ſelbſt ſtehn in
demfelben Verhaͤltniſſe unter fih, wie die Gerecheigfeie
gegen diefe beyden Dbiefte. Es ift fein. rein vernünf⸗
tiger Grund vorhanden, die poſitive Selbſtpflicht CS.
414.) uͤber die poſitive Geſellſchaftspflicht ($. 415.) zus
ſetzen. N;
) ‘ $. 425.
Die Gefinnung, einen Zweck zu befördern, fchließe
nochwendigermeife die Gefinnung in ſich, ihn. nicht zu
verlegen, Güte im moralifihen Sinne ift mit Ungerechtig-
keit gegen irgend ein moralifches Wefen unvereinbar.
BE der mich moraliſch beſtimmt, gerecht zu
fenn,
' Metaphyſik der Sitten, 331
ſeyn, bringt auch die Geſinnung der Güte hervor, —
einer gröjlern Mürffemfeis deſſelben.
af S. 426.
Moraliſche Guͤte ſetzt demnach uͤberhaupt genommen
einen hoͤhern Grad der Wuͤrkſamkeit moraliſcher Grund—
ſaͤtze voraus, als moraliſche Gerechtigkeit; Ungerechtig⸗
keit einen geringern Grad von Kraft der moraliſchen Ver—
nunft, als Mangel an Güte,
$ 427.
Ungerechtigkeit gegen mich ſelbſt zielt auf Zerſtoͤrung
meiner Perſon; gegen andere auf Zerflörung der Geſell⸗
ſchaft. Lieblofigfeit gegen mich, hindert mein eignes
‚Sortfihreiten; gegen andere das wachfende Wohl der
liget vernuͤnftiger Weſen.
$."428.
Wenn gleich die rein formalen Imperative (6. 4117
415) fich gleich, Feiner. Kolifion und feiner Enefcheis
dung darüber fähig find; fo find doch die marerialen
Gebote, Die, Daraus entſtehen, von verfchiedener Natur,
pon verfihiedener moralifcher Groͤſe und zuweilen in mög-
lichem Widerſtreite.
$. 429.
‚Die Forderung der Serechtigfeit iſt i in allen ihren An⸗
ee und materialen Folgefägen vollfommen be-
ſtimmt (lex obligans), unbegränzt durch phyſ. Hinderniffe
und auf alle Fälle durchaus anwendbar. Die Forde⸗
Kung der Guͤte Dagegen iſt Bug BR beſtimmt,
durch
1
332 Metaphyſik der Sitten.
durch die Einſchraͤnkung der Kraft phyſiſch begraͤnzt, und
die Faͤlle laſſen ſich nicht ſo genau feſtſetzen, wenn und
wie in iedem derſelben der Guͤte Gnuͤge geſchehen ſoll.
9. 430.
Colliſion der Gerechtigkeit und Guͤte gegen
mich und andere.
Die Gerechtigkeit geht demnach immer der Guͤte vor
d. h. eben dieſelbe Geſinnung, die einer moraliſch guͤti⸗
gen Handlung zum Grund liegt, erlaubt es nicht, das
Materiale der Güte auszuüben, wo die Form der Ges
rechtigfeit Dadurch verlegt würde, Die Vernunft vers
bietet demnach j
3) meine Erhaltung für fremden Vortheil, mein Wes
fen zur Berbefferung eines fremden Zuftandes aufzu»
opfern. Dieß märe Ungerechtigkeit gegen mich
ſelbſt.
2) einem andern zu ſchaden, ihn ganz oder zum Theil
zu zerſtoͤren, um meines Vortheils willen, oder
auch zum Vortheil eines dritten, wenn es auch
viele wären. Dieß wäre Ungerechtigleit gegen ans
dere, beydes unter dem Schein der Guͤte.
Eie erlaubt — mic) für andere, oder für einen ans
dern aufzuopfern, Denn nad) der reinen Vernunft find
wir, ich und der andere, fich gleich, ch bin andern
eben fo viel ſchuldig, als mir ſelbſt. CEmpirifche Ver⸗
nunftgruͤnde Fönnen das Urtheil abändern) PAR;
Sie
m J
Metaphyſik der Sitten. 333
Sie gebietet dagegen im Allgemeinen
1) fremden Vortheil fuͤr die Erhaltung meiner Per⸗
ſon aufzuopfern. Dieß fordert die Gerechtigkeit
gegen mich ſelbſt ‚ die dem Vortheil anderer vors
geht.
2) meinen Vortheil für die Erhaltung eineg andern
aufzuopfern. Dieß fordert Die Gerechtigfeit gegen
andere
$. 431.
Güte mit Güte, Recht mit Recht in Colliſion.
Man darf zwar nicht ungerechf gegen einen einzigen
fepn, um einem oder auch vielen andern zu mügen; ($.
430.)5 aber wenn '
1) Die Erhaltung des Ganzen mifder Erhaltung eineg
Theils, eines kleinen mitder Erhaltung eines gröffes
ren Theiles in Colliſion kommt, fo gehe erfterevor.
2) zur Erhaltung meiner Perfon iſt eg gerecht, eis
nen Theil derjelben aufzuopfern.
b) zu Erhaltung aller meiner Zwecke, einen. oder
einige derfelben zu zerſtoͤren.
c) zu Erhaltung einer fremden Perfon einen Theil
von mir felbft, oder von meinen Zwecken aufzu--
„geben,
'd) Zu Erhaltung mehrerer Perſonen, oder einer
ganzen Gefellihaft, meine Perfon; zu Eis
che-
334 Metaphyſik der Sitten.
cherung ihrer Zwecke meine eignen perſoͤnlichen
Zwecke zum Theil aufzuopfern. Wenn
2) die Vervollkommung oder der Vortheil eines Gan⸗
zen, mit der Vervollkommung oder dem Vortheil
eines Theiles in Widerſtreit kommt: ſo geht das
Ganze vor. Folglich iſt es Pflicht der Güte
2) Vervollkommung meiner ganzen Perfon, einer
einzelnen zu erlangenden Vollkommenheit; meiz
nen ganzen Zuffand, einem Theile meines Wohls
vorzuzichen:
b) Eben fo auch in Anfehung einer einzelnen frem⸗
den, Derfon, ihrer ganzen Vollkommenheit und
einem Theil derfelben.
c) Fremde ganze Vollfommenheit fol ich befördern
mit Dernachläffigung eines Theils der meinigen.
d) Die Vollkommenheit und der Vortheil mehrerer,
\ einer ganzen Gefellfchaft, mie. vernachläßigter
Befoͤrderung der Bollfommenheit und Vortheils
meiner eignen einzelnen Perfon.
©) Gemeinnügigfeit geht der Beförderung meines
eignen Nugens, oder des Vortheils eines einzels
nen, oder auch einiger wenigen iederzeit vor.
Das Gemeine Befte ift nicht die Grundlage zu den
Pflichten der Gerechtigfeit, gegen melde es ganz und
gar nicht in Anfchlag kommt, fondern nur die einſchraͤn⸗
fende Yedingung der ausdruͤcklichen und frepmilligen
R (di.
8 Maetaphyſik der Sitten,‘ 335
»(d. 5 durch feinen Vertrag fchuldigen) Beförderung
meines eignen ſowohl, als fremden Vortheils. Sonſt
waͤre es wohl gemeinnützig — Reiche zu beſtehlen
Annd die Armen damit zu beſchenken, andere zu gemeins
nüßigen Handlungen zu zwingen, movon.fie nicht übers
zeugt fi Ind, “und wozu fie fich nicht verbindlich gemachs
haben.
Ein allgemein gefetsgebender Wille wuͤrde dieß alles
aljo beſtimmt haben.
$. 432.
Letzte Entſcheidung.
Wo dieſe Eutſcheidungsgruͤnde nicht auslangen,
wenn z. B. meine Erhaltung und die Erhaltung eines
andern Einzelnen in Colliſion kommen, wo die reine
Vernunft keinen Unterſchied anerkennt, da iſt es mora⸗
liſch recht, ſubiektive und empiriſche Entſcheidungsgruͤn⸗
de der Vernunft gelten zu laßen, die ſich auf Begriffe
von der Größe der Zwecke und der Mirtel a ae
laßen. Fi
$. 433.
Regeln für die Iwede,
"Subordinire die Zwecke, nach ihrem Naturverhaͤlt⸗
niffe. Behandle die mittleren Zwecke als Mittel
ed h. mache fie nicht zum Selbſtzweck. Bezieheie-
de Handlung auf den oberfien Zweck. Morali—⸗
We kinfal, 9 9
Co⸗
336 Metaphyſik der Sitten.
Coordinire die Zwecke d.h. verbinde alle möglichen
Zwefe in deiner Handlung zu einem Totalzweck.
Allfeitige Handlungsart. \
Subordinire die coordinirten Zwecke nach ihrer
Wichtigkett d. h. nach ihrem Verhältniße zu dem
oberfien und Hauptzwecke. Ziehe den Nebenzweck
nie dem Hauptzwecke vor. Verhältnißmäſſige
Handlungsart.
6. 434
. Der univerſale Zweck ($. 283.) geht dem blos ge-
nerellen, diefer den individitellen vor. Vernunft —
Menfchheie — dieſer Menſch —
1
2. Der negative dem pofitiven; ver legfere wird»
durch den erfiern (Güte durch Gerechtigkeit) limi⸗
tirt und vollfommen beſtimmt.
3. Der mefentliche Zweck d. i. die Vollkommenheit
der Perfon geht dem zufälligen Zwecke d. i. der
Vollkommenheit des Zuffandes vor, der letztere muß
dem erftern (Glückfeligkeit der Vernunftmaͤßigkeit)
negativ fubordinire werden. Der höchite iſt der
vollftändige Totalzweck — Sittlichfeit und Wohl
ſeyn aller Vernunftweſen in Harmonie, welche eben
durch) iene Vereinigung: befördert wird.
4. Der abfolut nothwendige Zweck ift dem blog bes
dinge nothiwendigen, wuͤrklichen; dieſer aber den
blos problematiſch möglichen vorzuziehen. °
6. 435.
le - 5 —
4
*
Metaphyſik der Sitten, 337
435.
Unter den zufälligen Zwecken mird die Wahl *
ihrer intenſtven, extenſiven und protenſiven Groͤße ver-
nuͤnftig beſtimmt. Das ausgebreitete, inneruch⸗
große, mit vielen andern Guͤtern verbundene, ih⸗
nen am wenigſten hinderliche und Dauerbaftefte Gut
erhält, fofern die Vernunft ihre Würffamfeit dabey ber
weiſt, vor Guͤtern von niederm Werthe immer den Vor⸗
zug. Moralitaͤt d. i. Uebereinſtimmung mit der Ges
rechtigkeit und Güre legt ieder ſolchen Wahl zum
runde,
8.436,
Wahl der Mittel,
Unter den Mirteln zu Beförderung diefer pflichtmaͤf⸗
figen Zwecke, waͤhlt der Vernuͤnftige dasienige, welches
- 2) vergleichungsweiſe die meiſten und wichtigſten Zwe⸗
cke (fruchtbar)
2) am vollkommenſten d. i. ohne etwas Zweckloſes
und Zweckwidriges (fparfam, paffend)
3) am würdigften, fleigend, den Vexhaͤltniſſen ange⸗
weſſen, und
4) auf die ſicherſte und bleibendfte Weiſe befördert,
$. 437.
Eine iede (materiale) Handlung hat einen mannigfal⸗
tigen Innhalt, und kann in verſchiedenen Verxhaͤltnißen
betrachtet werben. Sie laßt ſich daher unter perſchiede—
Moralphiloſophie, J ne
/
338 Meraphnfif der Sitten.
ve moralifche Gebote fubfumiren und kann nach, verfchledes
nen Beziehungen theilg zu dieſer, theils zu iener Pflicht
gerechnet werden. So fann manche Handlung, men
man die Data unvollffändig nimmt, blos auf Rechnung
der Güte gefet werden, die, wenn man alle Umſtaͤnde
in Betrachtung zieht, fich als Forderung der ſtrengen
Gerechtigkeit erweiſen laͤßt.
Reine Ascetik
oder
Merthodenlehre der reinen praktiſchen SR |
$. 438.
Keine Ascerif.
Die reine Ascetik ($. 263. Num. 3.) over dieAn,
leitung zur Tugend oder zur moralifchen Ausübung des
Eittengefeges , enthält bieienigen — und Grund⸗
ſaͤtze
1) uͤber die ſubiektiven Bedingungen der Tugend;
2) über die fubieftiven Hinderniſſe derfelben;
3) über die allgemeinen Mittel, Diefe Hinderniße weg>
zuräumen,
die als allgemein und nothwendigerweiſe gültig für al»
le endliche vernünftige Weſen erfannt werden. |
$. 439.
Subieftive Tugend.
Subieftive Tugend befteht in der Uebereinffims
mung der Wuͤrt ſamteit aller Kräfte eines endlichen ver-
nuͤnf ·
ur
‚NW
Metaphyſik der Sitten. 339
nuͤnftigen Weſens zu einer dem fittlichen Princip gemaͤſ⸗
fen Handlungsweife, oder in dem Beyſammenſeyn der⸗
ienigen Beftimmungen, durch welche die Xeufferung der
Moralitaͤt ihm moglich if
a an Mal 0
Diefe Möglichfeit ift hier nicht als eine innere und
ehrt zu denfen, die in der Freyheit hinlängfich ges
gründet ift, und welche auf gar feine Meife hervorge-
bracht werden kann, fondern als eine äuffere und bedinge
fe; nicht als eine logiſche, fondern als eine reale,
SG: 4441. Paar $
Die) Form der Moralitaͤt ift bey jedem vernünftigen
Wefen vorhanden, nehmlich Das reinvernünftige Git-
tengefeß ; die ſubiektive Tugend beruht demnach auf der
a Beſchaffenheit des innern Stoffs ($. 247.) der Hand⸗
lungen — der Vorffellungen, Gefühle und Begierden
— umd auf dem Verhaͤltniß deffelben‘ zu iener Form,
modurc Die Bearbeitung deffelben erleichterewird, oder
auf der moralifchen Freyheit. $. 227.
$. 442.
Diefer innere Stoff iſt uns zwar durch die Natur
unfrer Sinnlichkeit (Naturell, Temperament, Ge
müchsart) urfprünglich gegeben, und durch den Ein-
Fuß äufferer Urſachen, als der Gegenſtaͤnde, der Erz
® ziehung, des. Benfpiels ohne unfer. Zuthun zu einer. ges
willen Sinnesart näher beſtimmt und gebilder worden.
Allen er iſt auch Durch Selbſtthaͤtigkeit veränderlich,
| N u. In
340 Metaphyſik der Sitten.
In dieſen letztern Modifikationen des moraliſchen Stoffs
beſteht — Tugend.
$. 443.
Subiektive Bedingungen der Tugend,
Ihre fubiefeiven Bedingungen find demnach
3) Entwicklung der Vernunft bis zum (deuflichen
- und beftimmten) Bewußtfeyn des abfoluten Gefe-
Bes und Zweckes. Denn ohne diefe Vorfiellungz
fehle.es dem endlichen Vernunftweſen (dem Mens
fchen) an dem erften Worderfag (Dberfag) in dem
Schluße, der einer ieden moralifchen Entjchlieffung
zum Grunde liege, an Richtfchnur und Ziel.
2. Entwicelung des DVerffandes zu einer richtigen,
beftimmten und ausgebreiteten Kenntniß (des auf-
fern Stoffs d. i.) der Verhältniße, in welchen es
moraliſch handlen kann und fol. Diefe Erfennt-
niße geben iedesmahl den zweyten Vorderſatz (Unters -
os) in dem gedachten Schluße.
3) Entwicelung der moralifchen Urtheilgfraft, die
beyden Arten moralifcher Kenntniße unter ſich zu
einen richtigen Schluße zu verbinden, und um
Des Verhaͤltniß Der Zwecke unter fih und zu den
‚Mitteln recht zu beſtimmen.
4) Kenntniß der Mittel, dieſe Vorftellungen (Num.
1,3) zu immerwaͤhrender Anwendung gegenwareig
zu erhalten.
5) Fertigkeit im Gebrauche dieſer Mittel.
6) Cul⸗
Metaphyſik der Sitten, 34£
6) Eultur des firelichen Gefühles, um alle andere
Zriebfedern des Begehrens dem moraliſchen Motia
ve zu untermerfen,
$: 444
- Subieftive Hinderniße der Tugend.
Die fubiefriven Hinderniße der Tugend find theils inne;
ve und unmittelbare, nehmlich Kanne =”
1) Mängel der moralifchen Einfiht, der Kenutniß
Yon dem Stoffe der Handlungen, und der einig
Urtheilskraft.
2) Maͤngel und Einſchraͤnkungen des ſittlichen Ge⸗
fuͤhls, im Verhaͤltniß zu andern Gefuͤhlen.
theils aͤuſſere, und mittelbare d. i. aͤuſſere Lagen und
Verhaͤltniße, worinn iene innern Mängel menigz
ſtens zum Theil ſich gruͤnden.
(Auf die intelligiblen Hinderniße, auf urſpruͤngliche
Schranken der Vernunft und ihrer Wuͤrkſamkeit, laͤßt
ſich in der Ascetik keine Ruͤckſicht nehmen, weil wir nur
eine allgemeine Idee, aber Feine Kenntniß davon befisen),
$. 445:
Zugendmittel,
. Die. Mittel, Tugend bey einem endlichen Vernunft»
weſen zu befördern, müßen alfo, von der Art ſeyn, daß
ſie R
93 | 1) die
342 Metaphyſik der Sitten,
3) die moralifihe Erfenntniß berichtigen und erwei—
tern; dem ſittlichen Gefichtgfreiß : * Umfang
und Helle geben.
2) das moralifche Gefühl fäutern und erhöhen.
3) Die äuffern Urfachen , welche iene Erkenntniß, fo
wie dieß Gefühl einfchränfen, ——— oder ver⸗
mindern.
$. 446.
Da dieſe Tugendmittel durchaus angemeffen ſeyn
muͤßen der iedesmahligen Stufe der Ausbildung und dem
äuffern gegebenen Würfungsfreiße eineg jeden Vernunft-
weſens, da ihr näherer Grund in den natuͤrlichen Wür-
fungsgefegen des ganzen Vorftellungs- Erfenntniß = und
Begehrungsvermögens nach ihrer genauften Beftimmung
enthalten ſeyn muß, hiervon aber Feine allgemeine Ers
kenntniß a priori möglich ifb, fo Fönnen die beftimmten
Tugendmittel für den Menfchen nur auf empirifch = pfy-
chologiſche und vornehmlich thelematologiſche Grundre-
geln gebaut, und in der praftifchen Anthropologie (den
dritten Haupttheile neancher Unterfuchungen) prattiſch
gelehrt werden. S
9447.
Grade, !
Die fubieftive Tugend hat nothwendigerweiſe gewiſſe
Grade; diefe werden beſtimmt
1) nach ihrer Reinheit und Lauterkeit
2) nach ihrer Stärfe j
/
3) nach
Metaphyſik der Sitten. ‚343
3) mach ihrer Ausbreitung über eine engere oder wei⸗
tere Spähre
4) nach ihrer Dauer.
$. 448.
Der tugendbafte Charakter erfcheint und zeichnet
fich überhaupt vor ieder andern Denfungs und Ginnegs
weiſe fubieftiv aus,
T)durd Große und Hoheit; im u eingefchränfs
ter Gefinnungen.
2) durch. Stärfe und Krafft — — Hinderniſ⸗
ſe zu beſiegen.
3) durch Selbſtſtaͤndigkeit Freyheit und —
4) durch Feſtigkeit.
Dieſe vier Beſtimmungen geben dag Ziel des moralis
ſchen Beftrebens ar.
94 Drits
344 Angewandte Morals‘
Dritter Haupttheil.
Praktiſche Anthropologie
oder
Angewandte Moral
* |
§. 449.
Angewandte Moral,
Die. Angewandte Moral trägt dieienigen mora⸗
liſchen Wahrheiten fnffematifch vor, welche die Anwen⸗
Dung der allgemeinen und reinen Grundfäge auf die _
Natur und Lage des Menfchen möglich machen.
v
Sie beruht, fofern fie moralifch ift, auf reinen Vers
nunftprincipien; fofern fie Anwendungen davon auf ei»
nen durch Erfahrung gegebenen Gegenitand (den Men—
ſchen) machen fol, auf empirifchen Kenntniffen von dem⸗
felben, und ift alfo eine gernifchte, — reine, theils
empiriſche Wiſſenſchaft
$. 450.
| Ihre Theile,
Sie enthält
1) eine_angewandte Ethik oder eine Theorie der
menſchlichen Pflichten, Tugenden, Sünden und
gofter,
Bam.
Angewandte Moral, 345 -
5) angewandte Aſcetik oder eine Theorie der ſitt⸗
lichen Erziefung des Menfchen zu Erfüllung ders
felden, oder der menfchlichen Tugendmittel.
$. 451.
Allgemeine, ſpecielle, praktiſche Anthropologie,
Die Lehren der angewandten Moral beziehen ſich
entweder auf die allgemeine Natur und Verhaͤltniſſe
des Menſchen Oder auf die zufälligen Beſchaffenheiten
—
und Verhaͤltniſſe der Menſchen. Der vollſtaͤndige Plan
(der ſich aber hier nicht gänzlich ausführen laͤßt — )
waͤre
1. Allgemeine praktiſche Anthropologie,
a. Ethif. b. Aſcetik.
2. Specielle praltiſche Anthropologie,
a. Specielle angewandte Erhif.
b. Specielle angewandte Afcetif,
Allgemeine praftifche Anthropologie,
Erſter Abſchnitt.
Allgemeine einpirifche Erhif oder Sittenlehre
für den Menſchen.
§. 452.
Anordnung.
Die Abhandlung der Pflichten wird in der empiri⸗
ſchen Ethik fuͤr die Anwendung am zweckmaͤſſigſten ge⸗
ordnet nach den Obiekten, in Anſehung derer ſie in
95 con·
1X
346 Angewandte Moral.
conereto ausgeuͤbt werden, und weil hier Pflichten der 1
Gerechtigkeit und der Güte ($. 416.) unmittelbar an
einander gränzen „ fo werden Die Regeln, welche fih
Darauf gründen, mit einander verbunden, doch fodag
ihr mwefentlicher Unkeale® noch immer bemerkbar |
bleibe.
$. 453.
Berhätini der empirifchen Val äh
zu den reinen.
Da Eine Handlung fih nicht nur anf mehrere Pflich⸗
ten, ſondern auch auf mehrere Obiekte bezieht, und
daher die Anwendung von mehr als Einer materialen
Regel fordet, die ſich wechſelſeitig einander einfchränfen .
fo iftes unmöglich, daß irgend eine empirifche Vorfchrife
alfe dieienigen Beſtimmungen ausführlich angebe und
enthalte, welche erforderlich wären, wenn fie für ſich
ſelbſt dem reinen Gefege gänzlich entfprechen follte. Gie
bezeichnen nur im Allgemeinen mögliche Arten, iene
Gefege in empirifche Ausübung zu bringen. "Die für
iedesmahl würfliche Pflicht muß nach den Gefegen der
reinen Erhif beſtimmt werden. ER.
$. 454.
Eintheilungsgründe -
Der erfte Eintheilungsgrund der angemandfen Ge
bote wird: von den perfönlichen Hbieften d. i. den ver-
nünftigen Wefen hergenommen; die weitere Abtheilung
gruͤndet ſich anf die Verfchiedenheit der nicht perſönli⸗
chen
Angewandte ‚Moral, 447
chen: Gegenftände,, welche wiederum theils innere,
| theils auffere Dbiefre oder Werkzeuge der Perfonen felbft
‚find. © END
$. 455. ur
“u Perfönliche Obiekte.
Die perfönlichen Obiekte (6. 454.) find
—N Nich ſelbſt, Die handelnde Perſon.
) andere vernünftige Wefen, mit denen ich in (rea⸗
ler oder idealer) Verbindung ſtehe, als
a) mein. Nebenmenſch
‚ b) die Gottheit.
Dieſen allen muß ich, Gerechtigkeit und Güte wiederfah⸗
ren laſſen, fo weit fie derjelben empfänglich find. Wir
„bandlen demnach 1) von den Selbſtpflichten. 2) von
den Pfüchten gegen andere Menfchen. 3) gegen die
„Gottheit. 4) von der Verbindung dieſer Pflichten un»
ter ſich ſelbſt.
| * * T FR §. 456.
Nichtperſoͤnliche Obiekte.
Die nichtperſonlichen Gegenſtände find
a 1) innere d. i. Praͤdikate der Perfonen
a. wefentliche Eigenfchaften und Keäffte ;. B.
Verſtand.
b. — modi der erſtern. z. B.
Klugheit, einzelne Thaͤtigkeiten.
2, Auf
_ beobachten ). Vorerſt würde
’
348 Angewandte Moral;
2) äuffere d. i. Dinge, die im Verhaͤltniße zu den -'
innern ſtehen; Werkzeuge, Mittel, Dbiefte der
Zhätigfeit z. B. Vermögen, Ehre, Sreunandaf,
Macht u. d. gl.
a. wejentliche + zufällige,
$ 457.
In einer ausführlichen Abhandlung der menfchlichen
Pflichten wäre es zwecfmäflig, folgende Stuͤcke uͤberall zu
I) die Pflicht ſelbſt rein dargeſtellt; dann
2) durch reine Bernunffgründe bemiefen.
3) würden die vornehmſten Dbiefte und Deranlaf
fungen ihrer Anwendung angedeutet.
4) ihr Umfang und ihre Gränzen möglichft beſtimmt.
5) die daraus entfiehenden Tugenden erklärt.
6) ihr Unterfhied von den Scheintugenden angege;
ben.
7) die verfchiedenen Grade der Reinheit im Allgeneis
nen beftimmt.
8) die Schwürigfeiten, Hinderniffe und Unannehm⸗
lichkeiten, fo wie
9) die entgegenftehenden Reize und Vortheile, als
zufällige Antriebe auseinander geſetzt.
30) der Begriff von den gegenüberftehenden Verſuͤn⸗ |
digungen und Laſtern entwickelt.
J 11) ih⸗
In dieſem Lehrbuch kann dieſe Aus fuͤhrlichkeit nicht
Natt finden: es koͤnnen vielmehr nur Winke und Bey⸗
feisie gegeben werden. Dis djeſen Entwurf erlaͤutern.
— —
Angeln andte Moral, 349
11) ihre Veranlaſſungen, Reize, Vortheile, Ent⸗
ſchuldigungen und Beſchoͤnigungen ohne wohlge⸗
mehnte Unredlichkeit dargeſtellt.
2) ihre Verlarvungen in die Geſtalt des Erlaubten
und Pflichtmaͤſſigen aufgedekt.
33) die nachtheiligen Folgen des Laſters als zufällige
und beyhelfende Gegenmitrel — und end⸗
lich werden
14) Regeln der moraliſchen Klugheit in Erfuͤllung
der Pflichten, mit den ſittlichen Borfipeiften ſelbſt
verbunden⸗
Selbſtpflichten.
er 6
| Begriffe,
Selbſtpflicht ift iede Handlung, deren Beweg—
grund Die Vorfiellung von meiner Perfon, als Zweck
an ſich ſelbſt ift, in. fo fern er es ift, x
#
1.0459.
Beweißgrund.
Der Beweißgrund dieſer Pflicht liegt in der al»
gemeinen Formel des moraliſchen Geſetzes, angewandt
auf mich felbft, als ein vernünftiges Weſen; nach der
nähern Beſtimmung in $. 412, u. 414.
$. 460.
—
350 Angewandte Moral.
ne $. 460. Erg
Tugend der Selbſtſchaͤtzung.
Die Gefinnung / welche diefer Pflicht entſpricht, ift
Selbſtſchätzung d. i. Achtung für fich ſelbſt, alssein
vernünftiges Weſen und Selbſtzweck, für die Menfhe
heit in feiner eignen Perfon. Eine Tugend, die aller '
Selbſtpflicht zum Grunde liegt.
$. 461. | \
Eigenliebe, Eigendünfel,
Das Princip diefer Tugend beſtimmt ihren Unter
ſchied von gewiſſen andern Gefinnungen, welche öfters
ihrem Innhalte nach (material) ähnliche, Handlungen herz
vorbringen, nehmlich |
1) von der Eigenliebe oder dem Solipſismus, oder
dem über alles gehenden Wohlwollen gegen fich felbft ,
2) und vondem Eigendünkel (unedlen Stoß), d. i.
dem umbegränzten Wohlgefallen an fich felbft —
die fich beyde auf efwag anderes, als auf feine
vernuͤnftige Natur beziehen und gründen, und dar
ber auch weder über alle vernünftige Naturen in
gleichen DBerhältniffe ausbreiten, noch aud) iene
richtige Unterordnung und Proportion zwifchen der
. Sorge für die Würde und für die Erhaltung und
Bervollfommmung der Perfon und für ihren zu⸗
fand") beobachten. van
Der
*) Mein Zuftand iſt alles, mas ich nicht bin, ſondern
mar ich babe oder genishe, Modifikationen von anfien,
Shirjale. 9—
| Angewandte Moral, 351
Der edle Stolz auf feine Menſchenwürde kann
feiner Natur nach fh nicht auf fich felbft —
an
Der Eigendünfel ehrt nur fihz andere hoͤchſtens nur
um ſeinetwillen. Ein Menſch, der ſich moraliſch ſelbſt
ſchaͤtzt, ehrt ſeine Vernunft, nicht weil ſie ſein, ſondern
weil ſie Vernunft iſt; er ehrt ſich um der Vernunft file
len, andre Menfchen aus Demfelben Grunde.
6. 462,
Grad der Reinheit.
Je weniger Einfluß irgend etwas anderes, auſſer
der Vorſtellung, daß ich Zweck an ſich ſelbſt bin, auf
Die mich ſelbſt angehenden Handlungen hat; ie mehr ſich
alle diefe Handlungen auf meine ganze und hoͤchſte Bes
ſtimmung beziehen; ie richtiger ich Die Perfon ihrer Wuͤr⸗
de, den Zuftand der Perfon, und die Mittel dieſes Zu⸗
ſtandes (des Wohls) dieſem ſelbſt unterordne; ie weis
ger ich mir deswegen wohl will, weil ich ſelbſt es bin;
ie mehr ſich im Gegentheil meine Selbſtſchaͤtzung auf
Vernunft gruͤndet und in ihren Wuͤrkungen darauf ab»
zweckt; — deſto aͤchter und reiner iſt Diefelbe, .
$. 463.
- Negative, pofieine Selbſtſchaͤtzung,
Die Selbfifhäzung iſt
1) negativ. Gerechtigkeit gegen mich ſelbſt —
Daß ich mich nicht ſelbſt verachte und herabwuͤrdige,
daß ich meiner eignen Menfchenwärde nicht aus⸗
drücklich zuwider handle, $. 419. Rum. 1.
2) po⸗
I
352 - Angewandte Moral,
2) poſitiv; Güte gegem mich ſelbſt — Daß ich meis
ner Würde gemäs handle, . fie Durch Handlungen
(mir und andern) offenbare. $. 419, Num. 3.
S 464,
Gerechtigkeit gegen mich felbft,
Die negative Selbſtſchatzung ($. 463. Nun. 1.)
begreift in fih
3) Erhaltung der perſönlichen Würde — daß
ich weder durch Urtheile noch durch äuffere Hand-
Iungen ein vernünftiges Weſen (eine Perfon), wie
ich felbft bin, zum bloßen Mittel herabmürdige, dag
zu Befriedigung irgend eines finnlichen Verlangeng,
zur Bewürfung eines blos finnlichen Guts oder zur
Abmwendung eines blos finnlichen Uebels beſtimmt
waͤre; wider feine wefentlichen, (durch Vernunft
. beftimmten) Zwecke. $. 472. |
2) Selbfierbaltung, feiner Perfon d. i. Erhaltung
der Summe. von Kräften und ihrer Wuͤrkſamteit,
die zu dem Subiekt meiner Perfönlichfeif ‚gehören.
| 3) Selbfifyonung d. i. Unterlaſſung alles desie⸗
nigen, was meinen perfönlichen Zuſtand D. i. mein
Wohl um Ganzen verminderf.
Die Selbſtvertheidigung ». i. der thaͤtige Wider⸗
7 Fand gegen alles, was meine perfönliche Vollkommenheit
einſchraͤnkt und mein Wohl zerfiört, iſt eine Folge der
” Pflicht, ſich ſelbſt zu erhalten und feiner ſelbſt zu fcho-
Ben,
5. 465.
Angewandte Moral. 353
| $. 465.
Guͤte gegen mic) felbft.
"Die pofitive Selbfifhägung (6. 463. Nun. 2.)
umfaßt
3) Erhöhung meiner perfönlihen Würde d. i.
pofitive Anerfennung der Würde eines ieden Ders
nunftwefens, dergleichen ich felbft bin, Durch frene
Beförderung feiner Zwecke.
2) Selbfivervolllonmnung meiner Perfon d. i.
Beobachtung deſſen, was meine perſoͤnliche Krafft
verſtaͤrket und ihre Wuͤrkſamkeit vermehrt; freye
Befoͤrderung meiner weſentlichen Naturzwecke.
3) Selbſtbeglückung d. i. thaͤtige Bemuͤhung, mei⸗
nen perfonlichen Zuſtand zu verbeſſern, mein Wohl
zu vermehren. \
$. 466.
ei! * Selbſtliebe.
Die Pflichten der Selbſtſchonung ($. 464. Num.
3.) und der Selbſtbeglückung ($. 465. Rum. 3.) koͤn⸗
en zufammen genommen Pflichten der Selbftliebe
heißen, weil fie fih ver Materie nach, obgleich nicht als
Pflichten ihrer Form nach, auf die menfchlichen Neigun-
gen, beren Junbegriff Selbftliebe heißt, gründen. *)
Re $. 467.
”) Wenn man es den Menfhen zur Pflicht macht, freme
de Gluͤckſeligkeit zu beſorsen, weil fie ein fubiektiver
: Zweek
Moralphiloſophie. 3 a
+
354 Angewandte Moral,
$. 467.
Verhaͤltniß zu den Neigungen,
Die mehreften diefer Pflichten ftimmen in den mei-
ſten Zällen mit den eignen Neigungen zuſammen weil
fie die Glückſeligkeit deſſen befördern, der fie beobachtet.
Gleichwohl leidet auch durch diefe Pflichten die Selbſt—
liebe öfters einen empfindlichen Abbruch; die vernünftig
bearbeitete, Fluge Gelbftliebe fogar, ſofern die Würde
' | und
Zweck der vernünftigen Wefen ift,, ſo iſt es dem vollkom⸗
nen gemas , die Erhaltung und Vermehrung feines
eignen Wohlfenns ebenfalls als Pflicht vorzuftellen.
Die Berbindlichfeit dazu kann freylich nicht
unmittelbar und mefentlich auf meiner Selbfilsebe ber
ruhen. Meine Gluͤckſeligkeit kann alſo auch weder
Das einzine, noch dag höchfte, aber Doch ein unterge—
ordnetes Ziel meiner fittlichen Handlungen fenn. Die
Regeln zu Erlangung der Gluckfeligkeit, find
feine Sittengefere, furfih betrachtet; aber die
Hegel, die mir die Befolgung der beften, mir bekann-
1e, Anmeifungen zur Gluckfeligkeie unter gewiſſen Eins
fchranfungen gebietet , iſt allerdings ein Girtengefer.
Es ift frenlich ein ſchaͤdlicher Irrthum, den Kant un-
ftreitig recht hatte, aus allen Kräften zu beftreiten,
wenn man die Pflicht ihrem Wefen nad) vonden
Neigungen abbangig macht 5 aber nicht minder. Irrthum
und für die Moralitat Cſubiektiv) nicht weniger fchäd-
lich iſt es, wie michdunft, es sum mefentlichen Merk⸗
mahl einer Pficht zu machen, daß fie mit den Gegen
fanden und Zwecken der Neigung nirgende, auch in
ihrem Materiale, zufammentreffe. Das heift, der
finnlichen Natur alles Necht, und der Tugend alle Gunſt
bey den Menſchen entziehen. Durch die unten anzuge—
benden nähern Beftimmungen dieſer Pflicht, werden
die Bedenklichkeiten der Erengen Moralifien wegge—
xaͤumt werden. — Diefift meine Ueberzeugung, und
fchon dadurch iſt dieſe Erklärung vor mir und vor parthey-
lofen Richtern gerechtfertigt , wenn fie auch nicht, wie
ich doch menne, mit dem Geifte der Kantiſchen Phi—
Ioferhie uͤbereinſimmte, deren Buchftaben fie mi-
derfpricht M. vergl. Kants Grumdl, z. e. Mer, der
Sitten ©; 47. Crit. d. pr. Vern. S. 167.
' Angewandte Moral, 355
und. die Erhaltung der Perſon mit Erhaltung und Er-
höhung. ihres angenehmen Zuſtandes collidirt; Die rohe,
thörichte Selbſtliebe noch öfter, weil das im Ganzen (res
fativ) Gute öfters mit dem Gegenſtande einer gegenmär«
tigen Begierde oder eines wirkffamen Affefts, einer
Neigung oder Leidenſchaft in Collifion kommt. Die
Gränzen der Selbfiliebe find weiter, als die Gränzen,
welche Die Vernunft dem Beſtreben, fuͤr ſich ſelbſt zu ſor⸗
gen, anteifet, Die Unterordnung Der Zwecke nach Ge
*
ſetzen der reinen Vernunft weicht öfters von derienigen
ab, welche den natuͤrlichen Trieben oder den angewoͤhn⸗
ten Neigungen angemeſſen wäre, und Die von der blos
empirifihen Vernunft relativ gut befunden würde,
Sich ſelbſt ſchaͤtzen — erhebr überdas Urtheil der Welt,
und fich Die Achtung für fich ſelbſt erhalten, ift ein Troſt
bey iedem Uebel des finnlichen Lebens, Des Menfchen
eignes Wohl beruher großentheils auf ſeinem Willen,
und das Bewußtſeyn, es fich ſelbſt durch Vernunft er»
worben zu haben, erhoͤht den Genuß,
| .468.
WVrcerletzungen der Selbſtpflicht.
Die Selbſtpflicht wird verletzt durch alles das;
ienige, was der ſchuldigen Selbſiſchaͤtzung widerſtreitet,
alſo |
3) die negative, durch Ungerechtigkeit gegen
mich ſelbſt⸗ i
FE 83 a. durch
*
356 Angewandte Moral,
a) durch Verläugnung meiner Menſchenwürde;
Selbſterniedrigung, pofitive, moralifche Nieder-
traͤchtigkeit — im Urtheilen — in Behandlung
meiner Selbft und anderer Menfchen.
b) GSelbfizerftörung meiner Perfon, aller oder
eines Theils meiner Kräffte.
e«) aftive.
PR) paffive d.i. durch unterlaſſene Selbſtver⸗
theidigung.
c) Selbſtbetrübung, Zerſtoͤrung feines eignen
Wohlſeyns — aftive — paſſive.
2) Die pofisive Selbfipflihe, durch Wfangel an
Selbſtgüte.
a) Unterlaſſene möglichſte Darlegung mei⸗
ner Menſchenwürde, in zweckmaͤſſiger Be⸗
handlung meiner ſelbſt und anderer,
b) Dernadpläffigte Bildung, Bearbeitung, Er»
höhung feiner eignen perfönlichen Kräffte ; uns
terloffenes , eingefchränftes Beſtreben fich zu
vervollfommnen.
c) Seldftverfäumung oder Vernachläſſigung ſei⸗
nes eignen Wohle. an
3) Beyde, durch Mangel, der Proportion, der ver⸗
nuͤnftigen Bey⸗ und Unterordnung.
a) Erhaltung oder Erhöhung der Perſon mit Ver⸗
ie Der Würde.
b) Ber:
\
— — —
Angewandte Moral 37
b) Berhütung des Uebels , Vermehrung des Wohls,
mit Zerfförung oder vernachläßigter Bildung der
Perfon — Unmoralifiye Selbftliebe.
€) Unrichtige Schägung der verfchiedenen Theile
. und Mittel der perfonlichen Vollfommenheit ſo—
wohl, als des Wohls d. i. Thorheit, unklu⸗
ge Selbſtliebe. \
$. 469. F
Quellen dieſer Verfündigungen.
Die Selbſtpflicht wird verletzt
1) aus Mangel an entwickelten Selbftbewuft:
feyn der Vernunft, woraus dag IERORREERN feis
ner Dienfchenwürde entftehr. a
2) aus Egoismus oder dem ausfchließenden, her
vorftechenden Bewußtſeyn von fich ſelbſt, als ei:
nem finnlichen Weſen.
3) aus der Gewalt aller, oder
aus der leidenfcheftlihen Stärfe einiger YIei;
gungen.
a) felöftifcher.
2) fomparhetifcher und gefeliger z. B. Selbſtver⸗
geffenheie aus finnlicher Menfchenliebe, aus
Ehrbegierde.
4) aus Mangel an geäbter Beurtheilungskraft,
den Werth der Guter, der Mittel und Theile der
Vollkommenheit und des Wohlſeyns bey uns und
FE Bade an:
358 Angewandte Moral,
ander zu fchäsen; an Geläufigfeit, Leben und
Wuͤrkſamkeit diefer richtigen Begriffe und Urtheile,
um fie in der Ausübung gegen andere gewohnte
Borftellungsarsen durchzufegen.
5) aus gemeinen Vorurtheilen und unentwicelteit
oder verwirrten Begriffen von fchuldiger Demuch,
von Geibjiverläugnung, von Verwerflichkeit der
Seldſtliebe u. f. w.
$ 470
Entfehuldigungen, Befchönigungen.
Man entſchuldigt diefe Bergehungen öfters,
1) mit ihrer Unfhädlicykeie oder gar Nutzbar⸗
keit. Allein theils iſt weder die Unſchaͤdlichkeit
noch die Nutzbarkeit einer Handlung fuͤr uns ſelbſt,
oder fuͤr die Geſellſchaft, der eigentlich Charakter
der Unfündlichfeit, ſondern daß die Würde des
Vernunftweſens nicht verlegt oder verläugner wird;
theils ift aber auch in ver That feine Verlegung
der Gelbfipflihe ohne Verlegung der Menfchens
pfliche gedenfbar. Denn a) die Gefinnung eins
Menfchen, ver fich felbft als vernünftiges Wefen
nicht ſchaͤtzt, wie fichs gebuͤhret, iſt mit derienigen,
die auch andere Menfchen nicht achtet und ihre Rechte
nicht heilig Hält, formal und weſentlich einerley.
b) Ich bin auch Mittel für andere, und in fofern
ein nicht-perfönficher Gegenftand der Menfchen-
pflichten. Eine Handlung, wodurch ichymich felbft
verletze, fchadet zugleich (materialiter) der menſch⸗
lichen
Angewandte Moral, 359
lichen Geſellſchaft; Vernachlaͤßigung meiner eignen
Cultur iſt Verabfäumung der Pflicht, mich zu eis
nem fauglichern und nusbarern Gliede der Gefell-
ſchafft auszubilden. n
2) Defters nehmen fie fogar_die Geftalt der Uneigen-
nügigfeit, der Demuth, der Befcheidenheit, der
aufopfernden Grosmuth, oder wenigſtens der Gut=
müthigfeit an.
" 3) Hefters verbergen fich diefe Fehler hinter Grund-
fäge einer faulen Philofophie von Wergeblichfeie
felbft eigener Bemühungen, "gut und glüffich zu
werden, don Schickſal, Gluͤck —
4) oder eines affeftirten und grundlofen Vertrauens
auf die goͤttliche Vorfehung, und der Hoffnung
der Unfterblichkeit. |
$. 417.
va Solgen.
Reue, Selbſtſcham und bittere Unzufriedenheit fol-
gen ieder That, Die meine Würde verläugnet, meine
Perſon zwecklos zerfföre, mein eignes Wohl muthwillig
untergräbt, überhaupt iede Verlegung, meiner Gelbft-
pflihe, fobald wir uns ihrer bewußt werden, und fie
mit den Forderungen der reinen, ia auch nur der em-
piriſchen Vernunft vergleichen. Und dieß vergleichende
Bewußtſeyn entſteht hier vorzüglich leicht, oft und ſtark.
Oft verliert man felbft dasienige, was man mit Hi⸗
tze einer blinden Leidenſchaft, mit Aufopferung feiner
34 Würde
360 Angewandte Moral.
Wuͤrde und feiner Kraͤffte ſuchte. Alles verlaͤßt mich,
wenn ich mich ſelbſt verlaſſe. Wer fich ſelbſt nicht ſchaͤtzt,
verwuͤrkt und verliert die Achtung der Menſchen.
Specielle Ausfuͤhrung der Selbſtpflichten.
$. 472.
Erfte Selbftpflicht. f
Erhaltung der Würde,
$. 464. Num. 1. Jede Ungerechtigfeit gegen einen
Menfchen im Urtheilen und KHandlen vermeide! Jede
Entehrung der Vernunft, der Menfchheit. Gie ift
Selbfiverachtung. Die Erhaltung meiner eignen Würs
we fchließt (materialiter) iede Pflicht der Gerechtigkeit
gegen Menfchen in fih. Verachtung und? Mißbrauch
der Menſchheit iſt Verachtung und Mißbrauch meiner
_ Sernünftigen Natur.
Jede Pflicht ift in diefem Betracht auch Selbſtpflicht,
weil fie aus Diefem Motiv fich ableiten läßt. — Die
weitere Ausführung giebt die ganze Sittenlehre.
Ga
Zweyte Selbſtpflicht.
Selbſterhaltung.
$. 464. Num. 2. Erhalte deine Perſon d.t. dei⸗
ne Kräffte, die Bedingungen deiner — Wuͤrk ⸗
ſamkeit.
$. 474.
Angewandte. Morde | 361
u 6474
Nähere, Beſtimmung.
Vernunft ift die oberfte Kraft der menfchlichen
und alfo auch meinee Natur, deren: Dafeyn (wovon
die Perfönlichfeit abhängt) die übrigen Kräffte zu eis
nem Geaenftand der achtungsvolen Erhaltung wuͤrdigt.
Sie kann innerlich und äufferlich thätig feyn. Ihre
Wuͤrkſamkeit hängt aber von ihrer Verbindung mit ans
dern beygeordneren Rräfften ab, deren Beitimmung
es iſt, der vernünftigen Krafft untergeordnet zu feyn,
und ihre Würfungen zu befördern, theils als Werk;
zeug, theils als Gegenſtand, ‚woran. fie ihre Thätig«
keit beweiſet. Das Gebot „erhalte dich felbft,, ent»
hält aljo in feiner weitern Entwickelung die beſtimmtere
Vorſchrifft:
Grhalte die — innere und aͤuſſere — Würkſam⸗
keit der Vernunft, oder; erhalte deine —
smenbeit.
- Diefe legte Formel, — einestmichfigen Theil der.
Selbſtpflicht bezeichnet, wurde oben ($. 56. ff.), als
oberſtes Gefeg verworfen. Hier, mo fie als unterge-
ordnetes Geſetz vorgeſtellt wird, iſt fie gültig in. der—
ienigen Bedeutung, die $. 61. Num. 1. u. $. 62. im
Allgemeinen angegeben worden und wird auf folgende
Art hier näher beſtimmt.
Dolltommenheic ift ein Mannigfaltiges der Kräff-
a in zweckmaͤſſi iger Beziehung auf Eines. Dieß Eine
— wird
362 Angewandte Moral,
toird beffimmet 1) allgemein, auf vie Perſon. Aeuf-
fere Vollkommenheit bezieht fich auf die innere. Da
aber die Perſon felbft wieder ein Mannigfaltiges der
Kräffte in ſich begreift, fo muß diefes wieder zweckmaͤſ⸗ |
fig auf Eines bezogen, die Kräffte müßen einer einzi⸗
gen. praftifch untergeordnet werden. Dieß Eine iſt 2)
näher beftimmt: die Zweckbeſtimmende und Gefenges
bende Kraffe, die Vernunft und ihre Wuͤrkſamkeit; die
Perfönlichfeie im Verhaͤltniß zu den gefammten Kräften
der Perſon.
$. 475.
Bedingungen zu der Wuͤrkſamkeit
der Vernunft.
Zur Wuͤrkſamkeit der Vernunft gehoͤren, als Be⸗
dingungen derſelben:
1) innere Kräffte.
2) natürliche Werfzeuge derſelben
3) aͤuſſere Obiekte, oder ein Würfungsfreiß.
4) ein zweckmaͤſſiges Verhaͤltniß diefer Dinge zu der
Vernunft.
"476. |
Es AR fich hieraus folgende materiale Vorſchrif⸗
ten, welche ſich auf die Pflicht, feine vernünftige MWürks
famfeie zu erhalten, gründen, und die allgemeine Pflicht
der Selbſterhaltung (9. 473.) erſchoͤpfen.
1. Erhalte deine innern Kräfte, von denen deine
innere und aͤuſſere vernünftige Wuͤrkſamkeit aͤb⸗
hängt
Angewandte” Moral, 1963
hänge — ſofern es ohne Verlegung dor Wurde
: (8472) der Vernunft gefchehen Fank. |
2. Erhalte dieienige Verbindung derfelben, dagieni-
‚ge Derbältniß, worinn fie dem Zwecke der Wuͤrk⸗
ſamteit der Vernunft entſprechen.
—* Erhalte die natürlichen Werkzeuge dieer Kraͤff⸗
fe) ihrem Zweck gemäß.
4. Erhalte den Würfungskreiß ‚die Obiekte deiner
vernünftigen Würffamteit,
EV TE
Die oberffe Bedingung aller Bernunftäufferung iſt
das Leben) und zwar, ſoweit unſte Einſicht ) reicht,
Be) leibliche Leben. Alſo:
Erhalte dein Leben.
Die moraliſche Erhaltung feines Lebens gründet
ic) auf Anerkennung des Werthes, den die Vernunft
an ſich ſelbſt, und das Leben * die oberfte, erkenn⸗
Rin dii THE bare
7 Infre Einfiht. Die Hoffnung reicht: uR..
Auf Unfterblichkeit- Diefe Hoffnung hust fich aber nicht
auf Einfiht, auf, Erfahrung oder Demonikrakion , jonz
dern auf moralifchee Bedürfnif. Mirbin darf auf die
fe Hoffnung Feine PBficht gebaut werden, weil diefe
uur auf das Gewife , auf Einſicht gegruͤndet ſeyn Darf.
ey einer andern Art, moraliſch zu phlloſophiren,
kann man nur Klugheitsregeln nicht aber ein Eitten:
geilen dem Selhbfimorde entgegenfiellen. Etwas Aehn—
liches ift oben in Anſehung der Dodtesſtrafen beinerft
Ber Man vergleiche zur Erlauserung. §. 218,
m.
>
364
bare
Angewandte Moral,
Bedingung ihrer Wuͤrkſamkeit (wenigſtens in der
Erſcheinung) hat. Dieſer moraliſche Beweggrund be⸗
ſtimmt zugleich
1) den Unterſchied dieſer Tugend von der natuͤrli⸗
chen Werthſchaͤtzung des Lebens und der Liebe zu
demſelben, als zu der Bedingung alles ſinnlichen
Genußes; von der natürlichen Kun dor dem
Todte, als dem Zerftörer des angenehmen Lebens»
genußes, oder als einem — wuͤrklich oder eingebil»
Det — unangenehmen umd ſchmerzhaften Zuſtande,
welche beyde lediglich von der Selbſtliebe abſtam⸗
men, und zwar an und fuͤr ſich erlaubt ſind, aber
keinen eignen ſittlichen Werth haben.
2) die Ausdehnung dieſer Pflicht ch auf dieieni⸗
gen Fälle, wo (wenigftens nach unfrer Vorſtellung)
der finnliche Genuß aufhört.
3) ihre moraliſche Einſchränkung und Ausnah⸗
men. Wenn die Handlung, wodurch ich mich ſelbſt
erhalte, verbunden iſt mit Beweiſen einer ver⸗
laͤugneten Achtung für Vernunft; wenn ih nur
durch unterlaffene Selbfierhaltung die größte Hoch⸗
achtung fuͤr Vernunft und vernuͤnftige Weſen be⸗
weiſen kann, ſo waͤre die Erhaltung des Lebens,
eine Verlaugnung der Menſchenwuͤrde, meiner
Buͤrde; Niederträchtigkeit. Diefer Fall tritt
ein a) wenn ich, um mich zu erhalten, einen an⸗
dern widerrechtlich (nicht als Gegenwehr) zerſtoͤren,
Ar — ihm
Angewandte ‚Moral, 365
ihm die rechtmaͤßigen und unentbehrlichen Mittel
ſeiner Lebenserhaltung entziehen muͤßte. Denn ich
und der andere find ſich vernuͤnftig betrachtet
gleich ($. 430.25 daß der andere die Mittel der
Erhaltung rechtmäffigermeife har, nicht erſt fich ver⸗
ſchaffen muß, dieß entſcheidet für ihn, weil ſonſt
gar Fein Entſcheidungsgrund vorhanden waͤre.
b) wenn ich meiner Erhaftung mehrerer Mens
"schen eben unmittelbar oder mittelbar aufo⸗
pfern müßte. Hier entſcheidet die Mehrheit‘, weil
- ich durch Zerfiörung mehrerer Vernunftweſen zur
Erhaltung eines ‚Einzigen (denn Daß Ich diefer
Einzige bin, mache feinen Unterſchied in der Vers
nunft er Verachtung der Vernunft beweife und
alfo der firtliche Grund der Selbſterhaltung weg—
faͤllt, c) wenn ich die Vertheidigung elle]
am mich zw erhalten, unterlaffen müßte, zu wel⸗
cher ich doch z. B. durch Vertraͤge, durch empfan⸗
gene oder ehrlich verſprochene gleichwichtige Gegen⸗
dienſte vollkommen verpflichtet war.
Wenn ich aber durch Aufopferung meines Lebens die
Menſchenwuͤrde poſitiv anerkenne; ſo iſt die Selbſt⸗
erhaltung zwar nicht niedertraͤchtig, aber doch une⸗
Hieher gehoͤren die Faͤlle: a) wenn ich mehrerer
Naſcin Leben dadurch retten koͤnnte, zu deren Nete -
tung oder Vertheidigung ich nicht vollfommen ver
pflichret bin z. B. Fremde, Feinde. b) wenn ich auch
nur Kings Dienfchen Leben mis größer Wahr:
ſchein⸗
366 Angewandte Moral i
ſcheinlichkeit retten Fan, ‚als Dieienige iſt, mit der
ich. meinen Untergang bey der, „Unternehmung voraus-
febe. ..c) wenn ich auch meinen Untergang fir. eben fo
wahrfcheinlich. als Die. Rettung, des andern halte,
dieſer Eine, aber — nach meiner . unpartheufchen
ruhigen Einfi che — ein vollfommmerer, brauchbarerer,
wichtigerer Menfh für ‚die Gefellfhafe iſt, „als ich
es bin. „Da dieſe Ueberzeugung niemahls obiektiv zu⸗
reichend gegründet, und über allen möglichen Zweifel
erhaben iſt: ſo ift auch Die PRRON FORD PeIG ihr zu folgen,
nur unvollfommen,
4) giebt er auch den Maasſtab an die Hand, um
den Grad der Reinheit dieſer Tugend zu be⸗
ſtimmen ·
§. 478.
Naͤhere Beſtimmungen, Folgen.
Nur die Erhaltung der innern Würde feiner Pers
fon geht der Erhaltung des Lebens vor *), Alle Guͤ—
ter des Lebens hingegen, alle Mittel e8 zu erhalten, als
k Bedingungen feiner Annehmlichfeie ſtehen ihr nach
Der Streit, worein zuweilen dieſe Pflicht an fi 6
Cihrem Zwecke nach), und in ihren hypothetiſchen Fol⸗
gen de i. in Aufehung Des Gebrauchs der Mittel, wel⸗
che dazu gehoͤren, mit den Neigungen und Leidenſchaften
für dieſe Guter, oder mit der Abneigung vor ihrem Ver⸗
luſte geraͤth, erſchwehrt ſie, ſo natürlich fie in den
ABERER:
*) Mars, 9, 43,
Angewandte: Moral; 367
meiſten Fällen an ſich, und ſo angenehm fogar nach der
Einrichtung der Natur ‚ein großer Iheil der Handluns
gen iſt, Die ſie als Mittel, fordert. 3; De, Genuß der
Nahrungsmittel, des Vergnuͤgens.
Ja es kann ſogar die natuͤrliche Liebe zum Leben
und die Furcht vor dem Todte, wenn ſie leidenſchaft—
lich wuͤrkt, ihrem eignen Naturzwecke entgegen wuͤrken;
wenn ich mich z. B. wegen einiger Gefahr, die damit
verbunden iſt, vor dem Gebrauche eines vernuͤnftigen
Erhaltungsmittels ſcheue, welches ich im Allgemeinen
ſelbſt dafür, anerfenne 5. B. der Podeneinimpfung für
die, welche, von ihrer Heilſamteit uͤberzeugt ſind.
S. 479»
Verletzungen.
verletzt wird dieſe Pflicht durch
Ri abfichtlichen Selbfimord, durch Handlungen,
die das Leben zerfiören, und eben um deswillen
ausgeübt werden,
2) wiſſentliche Ausübung folcher Handlungen , die dag
Leben zerftören, ohne, aber doc) nicht wider diea
fe Abfiche.
“ 3) wider diefe Abſicht, doc) fo, daß dieſe Abfıcht
ki. nicht wuͤrkſam genug iſt ung davon abzuhalten,
wegen anderer ſubiektiven Zwecke.
Hierher gehören hauptfächfich folgende Fälle:
) wiſſentliche Vernachlaſſt igung des Gebrouchs
der Mittel, die zur Erhaltung des Lebens
Dies
368
Angewandte Moral;
dienten, aus andern Zwecken, als unterlaffener!Ge-
brauch der erforderlichen Nahrungsmittel,
Arzneymittel; unterlaſſene pflichtmaͤßige Selbſt⸗
vertheidigung gegen Angriffe auf Das Leben.
Unordentliche Kebensweile 5. B. unmaͤßige
Arbeiten, ausfchweifende Gefchlechrsluft, Gaum⸗
luſt, Lüfternheic, Trinkluſt, Schlafluft, Weich-
lichkeit; Spielfuche, Eitelkeit (wie bey Due
lanten), Hefftigfeie der Affekten, Hubejoninens
beit und Verwegenheit. »
b) Handlungen, welche die Neigung zum Le:
bensuͤberdruß und den Entſchluß zum Selbfimord
leichte hervorbringen. ?
Aeuſſere. Ungerechtigfeiten, unbefonnenes Schul
denmachen, Verbrechen, worauf befchimpfende
und fchwere Strafen gefegt find; Verſchwen⸗
dung, Trunk; Ausſchweifungen verſchiedener
Art, welche Hypochondrie und Melanie er⸗
zeugen.
Innere, angewoͤhnte Empfindungs und Sinness
arten, als Geiz, Neid, geile und noch.mehr
fhmwäarmerifch empfindfome Wolluft, Ehrfucht,
Eitelkeit — Schwaͤrmeriſche Neligionsgefühle
— Uebergenuß, und Daher enffpringender Les
berdruß des Lebens. Heftige, widernatürliche
Affekten und Leidenſchafften überhaupt ; ſchwer
zu befriedigende, zu hoch gefpannte, zu eigen⸗
ſinnig beſtimmte Neigungen,
6, 480.
Angewandte Moral, ‚369
$. 48% er
Beranlagungen,
Deranlaßungen und Reize zu diefer Verſuͤndi⸗
gung geben, theils die allgemeinen Urfachen zu Verlegung
gen der. Selbftpflicht ($. 469:), cheils die befondern Hin⸗
dernige und Collifionen diefer Pflicht. Nehmlich
1) Mangel an gebührender Schätzung feiner
feibfi, als eines vernünftigen Wefens.
.
*
2) ungebübrlihe und Verhältnißloſe, -Teidens
ſchafftliche Schätzung einiger oder aller zufäls
liger Güter; Anhänglichfeit an eingefchränfte
heftige Wünfche und Ideen; z. DB. der auffern Eh⸗
re, des Wohllebens, Reichthums, der groͤbern
oder feinern Wolluſt ‚ der Geſundheit, als eines
Gegenftandes des Gefühle und der finnlichen Mei
gung — wodurch. der Zweck des Lebens vergleichnngs⸗ er
weife herabgefegt, verachtet und vernachläßige wird.
3) Vorurtheile — über ven Werth des Erdenlebens,
des Menfchengefchlechts, des Zeitalters — ſchwaͤr⸗
merifche Begriffe von Lebensgenuß, von Vollkom⸗
menheit feiner felbfE, der Welt, der Menfchen —
die Vorftellung, daß eine Handlung Que fey, die
etwas Gutes am fih har, die einige gute Ans
lagen und Neigungen der Seele verraͤth, als
Freyheitsliebe, Ehrgefuͤhl, Wahrheitsliebe (Das
her die unberufuen Maͤrtyrer für Republiken, Res
Tigionsmepnungen, Syſteme — Formeln — );
WMoralphiloſophie. An das
370 Angewandte Moral.
dag DVorurtheil von Rechtmäßigkeit der Gelbftenf;
leibung, wenn man glaubt, das länget fortgefeg-
te Leben fey unerträglich , unnüg oder minder nügfich
für die Welt, es ſey unrühmlich, Fein Menfch leide
Durch unfern Todt, die Unfrigen zögen Vortheile
davon ; endlich das Vorurtheil von einer apodif-
tifchen Gemwißheit und einer eingebildeten Kenntniß
© yon der Befchaffenheit eines zufünftigen, und
zwar allgemein und ohne Vergleich beffern Lebens,
als das irdifche.
$. 481.
Entſchuldigungen, Befchönigungen — Folgen,
Der Selbfimord nimmt alle Die verfchiedenen Ber
fialten an, und eignet ſich alle die Entſchuldigungen
zu, die nach $. 470. die verlegte Gelbftpflicht über;
haupt annimmt und für fih anführe. Die Größe des
Entfchlußes , der Much, das Ehrgefühl, dag dabey
wuͤrkſam ift, leiht ihm öfters die Geſtalt einer grofs
fen, edeln Handlung. Defters erfcheint er, aus einem
einfeitigen Geſichtspunkt angefehen, als eine Ihat der
- Gerechtigkeit und der Güte gegen ſich, oder gegen die
Welt. Allein — auffer der Unfietlichfeie — verräth
er mehrentheils zugleich einen Mangel an Klugheit,
und verfehlt feines eignen Zweckes. Es ift mehrentheilg,
wielleicht immer Taͤuſchung, daß man nicht mehr ver«
gnuͤgt leben , feine Leidenſchaft nicht befriedigen oder än=
dern koͤnne; Vergnügen und Glüdfeligfeit des Lebens
ift nie am Ein Mittel gebunden. Der Umtauſch eines
Lebens,
Angewandte Moral. 2
Lebens, das man kenut, gegen ein anderes, das man
niche kennt, wovon man hidrweiß, obes ift und 05
e8 unfern Zuftand im Ganzen verbeffere, iſt Unbeſon—
nen. Mancher verachtet Keben und Geſundheit, raubt
fih die Mittel feiner Erhaltung und Fünfrigen Freude,
durch vermeyntlich zufammengedrängten Lebensgenuß,
durch Ausfchweifung und Verſchwendung; verdirbt fich
das ohnehin kurze Leben durch Kraͤnklichkeit, und hat
zufegt nicht einmahl Much genug, um es durch —
Streich gewaltſam zu endigen.
$. 482.
Gefundheit des Leibes.
Eine zweyte Folge der Selbſterhaltung iſt:
Erhalte deinen Corper in derienigen Verfaſ⸗
fung, worinn er die Würkſamkeit der Ver⸗
nunfe nicht hindere, fondern unterſtützt
und befördert. Sorge für die Geſundheit, als
eine Bedingung der vernünftigen Würkfamfeir.
Die Princip beſtimmt
1) den Unterſchied dieſer Pfliht, vonder Sorge
für die Geſundheit, aus Liebe zum Reben, oder
zum finnlich angenehmen Peben , die einen weit ges
ringern firtlichen Werth hat, durch den Zweck, um
deſſentwillen für den Eörper Sorge gefragen wird,
2) die ‚Ausdehnung diefer Sorgfalt auf alles das⸗
ienige, was mit der.innern und aͤuſſern Wuͤrkſam⸗
ur der Vernunft, und der ihr untergeordneten
Aa 2 Kraͤffe
372 Angewandte Moral.
Kraͤffte in Verbindung ſteht. a) Ganzheit des Coͤr⸗
pers und aller Glieder. b) Innere Güte und
Brauchbarkeit der Werkzeuge — der willführlichen
Bewegung — der Werkzeuge der aͤuſſern und des
innern Sinnes.
5) die Gränzen im Gebrauch der Mittel, melde
niemahls weder die Würde der Vernunft verlegen,
noch ihrer Würffamfeir im Ganzen Abbruch hun,
oder das thierifche Leben auf Koften des geiftigen,
Das theoretifche auf Koſten des praftifchen und
moraliſchen Lebens befördern müßen. (Roͤm. 13,
14). —
Anmerk. Die Gegen ſtaͤnde, Verletzungen,
Huͤlfsmittel u. ſ. w. ($. 457.) konnen Kurze halber
bey dieſer und den uͤbrigen ſpeeiellen Pflichten bi er nicht
beſonders angefuͤhrt werden.
6. 483.
Nothwendigkeiten Des Lebens.
Die Selbſterhaltung gebietet ferner:
Erwirb, erhalte, vertheidige Die Nothwen⸗
digkeiten des Lebens.
Nothwendigkeiten des Lebens ſind alle dieie⸗
nigen aͤuſſerlichen Dinge, die zunaͤchſt zur Erhaltung
unſers Lebens und unſrer Geſundheit, mithin mittelba⸗
rerweiſe auch zur Erhaltung der freyen Wuͤrkſamkeit der
Vernunft, iedesmahl unentbehrlich ſind z. B. Eſſen
und Zrintken, Kleider, Wohnung, —J— freye
Lufft,
Angewandte Moral. 373
“ Lufft, Verbindung mit andern Menſchen, guter Nah—
me, ſelbſt Ergöglichfeiten - — letztere nicht um des un⸗
mittelbaren Genuſſes willen, ſondern weil, diefer Ge⸗
nuß ein Mittel der Erhaltung des Erſatzes der ver⸗
lohrengehenden koͤrperlichen Theile und Kraͤffte, mittel⸗
barerweiſe auch der geiſtigen, und endlich auch der ver⸗
nuͤnftigen Kraft if.
§. 484:
— ‚ Umfang und Gränzen dieſer Pflicht,
find wie bey der vorigen. Im gefellfchafftlichen Leben
übt man diefe Pflicht vornehmlich durch Arbeitſamkeit,
Sparſamkbkeit und durch Beobachtung der bürgerlichen
Verhältniße, worinn wir die Nothwendigkeiten des
Lebens ohne Verlegung der Menfchenpflicht Calfo
auch der hödhften Selbſtpflicht $ $: 472) finden und fis
chern koͤnnen.
$. 485.
Difeiplin des Gebrauchs der Seelenfaͤhigkeiten.
Der Gebrauch der Seelenfähigfeiten kann fo. befchafe
fen feyn, Daß die Würffamfeir der Vernunft dadurch
eingeſchraͤnket wird; dann ſtreitet er mit dem, morali⸗
ſchen Zwecke der Selbſterhaltung, wenn gleich einzelne
untergeordnete Kraͤffte dadurch erhalten oder gar erhoͤht
würden: Die höhere Pflicht gebietet:
7
Brauche und übe Keine Kraffe und Säbig;
Feit der Seele auf eine ſolche Are, und in folchen
—— daß dadurch Die Vollkommenheit
Aaz— der
374 Angewandte Moral,
der geiffigen Kräfte überhaupt, und vornehmlich die
Würkſamkeit der Der: nunfti im Ganzen eingeſchränkt
werde,
$. 486.
Anwendungen,
Aus diefem Grundfag fließen folgende befondere
Kegeln für den moralifchen Gebraud) der Geelenfräfte:
1. Für den Gebrauch der Erkenntnißvermögen.
Befchäfftige die Sinne nicht mit ſolchen Gegenftän-
den, auf folche Art, und in dem Grade, Daß die
höhern Kräfte darunter leiden.
Guftivire die Einbildungskrafft, und ihre Zwei—
ge, das Gedächtniß und die Dichtfraft, nicht
zum Nachrheil der höhern Kräfte des Verſtandes
und der Vernunft.
Befchäfftige und übe den Verftand (das Vermoͤgen
der Beobachtung, Erfahrung ꝛc.) nicht zum Nach—
theil der Vernunft.
Setze um des theoretiſchen Vernunftgebrauchs wil⸗
len den praktiſchen nicht zuruͤck.
Beſchaͤfſtige und übe dein serkenutnißoermögen
überhaupt nicht zum Nachtheil der Willengkräfte z.
B. nähre feinen Teidenfchaftlichen Hang zum Spe⸗
kuliren.
$. 487.
Sür die Begehrungskräfte.
Beſchaͤftige dein Gefühlvermögen nicht mit thieri-
schen Gefühlen, zum Nachtheil der aͤſthetiſchen, noch
mie
Angewandre Moral, 375
mit diefen zum Nachtheil der moralifchen. Ge-
fühle. 3—
Staͤrke und übe deine einzelnen ſinnlichen Nei⸗
gungen nicht zum Nachrheil der praftifchen, und
"vornehmlich der moralifchen Vernunft; alfo nicht
einſeitig und Verhaͤltnißwidrig.
Befriedige und naͤhre deine Selbſtliebe überhaupt,
weder im Ganzen, noch in einzelnen Theilen zu Hin⸗
derung des Einflußes, den die Vernunft auf dei—
ne Handlungen haben kann und ſoll; oder: fege
der Selbftbeherrfchung feine Hinderniße.
Eultivire die praktiſche Vernunft im niederen
Gebrauche nicht zum Nachrheil ihrer höhern und
ausgebreiteten Würffamfeit d. h. cultivire die Be;
ſchicklichkeit nicht zum Nachtheil ver Klugheit,
noch dieſe mit Vernachlaͤßigung der Sittlichkeit. —
Der ſittliche, hoͤchſte Vernunftgebrauch iſt keiner Ue—
bertreibung fähig, weil er der oberſte Zweck, und ihm
alles praktiſch untergeordnet iſt. Nur Mangel an Klug⸗
heit und Geſchicklichkeit im Gebrauche der Mittel iſt
bier möglich, und zu vermeiden z. B. Verletzung des
Gefeges der Staͤtigkeit in der Beſſerung, überfpannte
- Enthaltfamfeit zum Nachtheildes moralifchen Stoffs und
— Fehler.
$. 488.
3. Sür alle ‚Kräffte überhaupt.
Verhüte die Abnahme deiner geiſtigen Kräaffte,
und vornehmlich der vernünftiger, |
Aa 4 Sie
376 Angewandte Moral.
Sie merden geſchwaͤcht
3) durch anhaltende ſtarke Anſtrengung —
Daraus folgt die Pflicht der Ruhe d. i ber
nachlaßenden leichtern Ihätigfeit,
2) durch anhaltende Antrengung derfelben Art, Ab;
wechfelung, Zerfireuung, Ergöglichkeiren —
werden Dadurch ein Obiekt ver Plicht der Selbſt⸗
erhaltung.
Die Mittel dazu muͤßen ihrem naͤchſten und entfern⸗
ten Zwecke gemaͤß ſeyn; ſie duͤrfen alſo der Wuͤrde
und Erhaltung der ganzen Perſon und der Vernunfts
shäfigfeit, vornehmlich der praftifchen und moraliſchen
feinen Eintrag thun,
\ 6.489, 5; ı *
Erhaltung der aͤuſſern Vollkommenheit.
Aeuſſere Gegenſtaͤnde dienen theils als Obiekte
theils als Werkzeuge der Würkſamkeit der Vernunft.
In fo fern und fo lange fie Diefer Abficht entfprechen,
und ihre Erhaltung mit der perfünlichen Würde beſteht,
gehört ihre Erhalturn zur Pflicht, ſich ſelbſt zu erhal⸗
ten.
erhalte dir dieienigen Gegenftände und die⸗
ienigen äuſſern Derhältmiße, die als Gb;
iefte, Werkzeuge oder Mittel die innere und
aͤuſſere Wurkſamkeit der Vernunft unterſtü⸗
tzen
— ——
Angewandee Moral, 377
Eie * nd theils urſpruͤngliche, theils hinzugekomme⸗
ne, und im letzten Fall rechtmaͤſſig empfangene
oder ſelbſtthaͤtig erworbene Guͤter.
Die vornehmſten ſind
1) Aeuſſere Srevbeit d, i. die Macht und der äufs
ſerlich ungehinderte Gebrauch des Rechtes, nach
eigner vernuͤnftiger Einſicht und Ueberlegung zu
handlen. Alſo:
erhalte, vertheidige deine äuſſere Freyheit, laß
dich nicht um ſinnlicher Abſichten willen oder aus Feig⸗
heit zum Stlaben anderer machen.
% 2
Silch in- eine. bürgerliche oder andere Gefellfchaft zu
begeben ‚ und Dertragsmäffig feine äuffere Freyheit in
Anwendung feiner Kräfte einzufchranfen — wird durch
dieß Verbot nicht unbedingt unterfagt. Nur dürfen die
toefentlichen Bedingungen der freyen vernünftigen Thaͤ⸗
tigfeie (unveräufferliche Rechte) weder ganz, noch zum
Theil irgend einer ſinnlich noch fo vortheilhaften Verbin⸗
dung aufgeopfert ; .es muß vielmehr im Banzen eine
gröffere Sicherheit des ungehinderten Gebrauchs meiner
Kraͤffte durch den gefellfchaftlichen Vertrag erhalten wers
den. Auſſerdem ift eg beziehungsmweife ungerecht oder -
lieblos gegen mich felbft gehandelt, wenn ich einen fols
chen Vertrag ſchließe. Bey geheimen Verbindangen,
deren Geiſt (Zweck und Mittel) nicht deurlich und ganz
Yaz vor
378 Angewandte Moral.
vor Augen liegt, wenn man fie eingeht, dürfte dieß
wohl manchmal der Fall feyn. —
2) Dermöaen.
3) Ehre, Achtung und Zutrauen anderer zu meiner
Krafft und zu meinem guten Willen.
4) Verbindungen durch ausdrüffiche oder ſtillſchwei⸗
gende Verträge z. B. Ehe, Freundfchafften.
Die Gränzen und DVerhältniffe diefer Pflichten zu andern
und unter fich felbft, werden beſtimmt nach ihrem hoͤch⸗
ften Zwecke, und find nach den Regeln, die VBollfommen-
heit der Mittel und Werkzeuge überhaupt zu beurtheilen.
$. 490.
Dritte Selbſtpflicht.
Selbſtſchonung.
$ 464. Num. 3. Unterlaſſe dasienige, was
deinen perſoͤnlichen Zuſtand im Ganzen verſchlim⸗
mert oder erhalte d. i. zerſtoͤre nicht dein eignes
Wohl; erhalte, beſchuͤtze, vertheidige die Annehmlich⸗
keit deines Lebens im Ganzen.
Beweiß.
Vergnuͤgen und die groͤßtmoͤglichſte Summe deſſelben
im ganzen Leben, iſt ein ſubiektiver Zweck aller Mens
fchen, folglich auch mein Zweck. Da ich nun Zweck an
fich felbft bim, fo treibt mich nicht blos meine Neigung
(die SEIEN dazu an, fonderm felbft dieſe rein vers
nünftige
Angewandte Moral: 379
nuͤnftige Vorftellung von. meinem perfönlichen Werthe
beftimme mich, meine fubieftiven Zwecke d. i. die An-
nehmlichfeit meines Zuffandes im Ganzen zu erhalten.
$. 491.
Nähere Beftimmungen.
Diefes rein vernünftige Princip beftimme zugleich
3) den Unterfchied diefer Pflicht, von dem Stres
ben nad) Vergnügen, Ieviglich aus Neigung , twel-
ches immer egoiftifch und feiner Natur nach us
begraͤnzt iſt.
*
2) die Ausdehnung deſſelben, auch auf dieienigen
Gemuͤthszuſtaͤnde, wo mich zufaͤllige Neigung (Lau⸗
ne) zu Zerſtoͤrung eines Theils von meiner eignen
Gluͤckſeligkeit antreibt, oder wo eine kranke Ge
muͤthsſtimmung mich gegen den wahren Genuß des
Lebens gleichguͤltig macht.
3) ihre ſittliche Gränze. Die Pflicht hoͤrt auf, ſo—
bald die höhere Pflicht, eine Perſon — mich
oder einen andern Menſchen zu vervollkommnen
die Aufopferung meines Vergnuͤgens oder meiner
Gluͤckſeligkeit fordert.
4) den Grad der Reeinheit. Ye mehr ich aus
Bewußtſeyn meiner perfönlichen Würde, ie weni-
ger ich aus bloffer Neigung Vergnügen fuche; ie ges
nauer ich den moraliſchen Umfang und die Grän-
. zen diefer Prlicht beobachte ; ie mehr ich durch ver- -
nünftige Grundfäse und ie weniger ich durch zu—
fällige
380 Angewandte Moral,
fällige Stimmungen des Gemürhes, mich in der
Wahl meiner Vergnügungen und der Mittel zu
denſelben leiten — deſto reiner wird die Pfiche
erfüllt.
Die fpeciellen materialen Regeln der Selbſtſchonung
werden bey der Pflicht der Selbſtbeglückung beque⸗
mer ausgeführf werden, two auch das Uebrige, was hier
noch zu befrachten kin feing * Stelle finden
wird. —
S . 492. R
Vierte Selbſtpflicht.
' Erhöhung meiner perfönlichen Würde,
* 6.465. Num. 1. Pofitive Achtung für Vernunft
und vernünftige Wefen überhaupt ; thärige Anerfennung
der Würde der Menfchheie in der Perfon eines ieden
Menfchen in Urtheilen und Handlungen, freye Beförderung
ihrer vernünftigen Zwecke, ift pofitive Anerfennung oder
Erhöhung meiner eignen Menfchenwürde. eve Ermeis
fung der Pflicht der Güte gegen andere Menfchen , if
in dieſem Betrachte auch Güte gegen mich ſelbſt, weil:
die Gefinnung ſich iederzeit auch auf mich zugleich bezieht.
Alles, was die Pflicht der Guͤte begreift, gehoͤrt zu dem
Materiale dieſer poſitiven Selbſtpflicht. Durch Un⸗
thaͤtigkeit fuͤr die Menſchheit und ihre Zwecke, beweiße |
ich zugleich einen Mangel an thätiger Anerkennung der =
Würde meiner eignen vernünftigen Natur.
AR, | $.493.
Angewandte Moral, 481
$ 493: \
Sünfte Selbftpfliht, —
Selbſtvervollkommnung.
&. 465. Num, 2. Meine Vernunfe ift Cfofern ſie
erſcheint) einer immer gröflern Ausbildung fähig; ihre
unfergeordneten Kräfte und ihre Werkzeuge Fönnen
werbeffert, ihr Würfungskreiß kann erweitert erden.
Ales dieß bin ich mir ſelbſt, alg einem vernuͤnfti⸗
gen Wefen, durch alle Mittel zu bewuͤrken fchuldig, die
nur irgend mit der größten Achtung für die Vernunft -
felbft beſtehen koͤnnen. In dieſem Sinne iſt e8 ein mo-
raliſches Gebot: |
Befördere, vermehre, deine ihnere und äuſ⸗
fere Dollfommenbeit 9) d. 5. vermehre die
Wuͤrkſamkeit der Vernunft, oder:
Gebrauche und übe iede deiner Kräffte auf eine
ſolche Art, und in einem ſolchen Verhältniffe, daß
dadurch die Würkſamkeit der Vernunft im
Ganzen erweitert und erhöhet werde.
$. 494.
Grund, Umfang, Gränze,
2. Der Grund Diefer Pflicht iſt poſitive Achtung für
die Würde der Vernunft in meiner Perfon d. ir
Güte gegen mich ſelbſt.
2. Ihr
I Berg. $. 474 und S, 55, $-
382 Angewandte Moral,
2. Ihr Umfang erſtrekt ſich demnach auf alles, was
mit meiner vernuͤnftigen Wuͤrkſamkeit in Verbin—
dung ſteht. Nach Verhaͤltniß der Nähe oder Ent—
fernung und der Grade des Einflußes, auch der
Gewißheit und Norhwendigfeit veffelben müßen die
verfchiedenen einzelnen ‚Pflichten Diefer Art einan”
ver bey » und untergeordnet werden.
3. Die moraliſche Bränze diefer Pflicht wird über,
haupt beftimmt , durch den Zufammenhang mıt ihrem
Princip. Aus diefem kann Feine Handlung fließen,
a) wodurch ich ein wefentliches Werkzeug und Mit⸗
tel meiner Vernunft einem zufälligen aufopfere —
Einfhränfung durch Gerechtigkeit und durch böhen
re Güte gegen mich felbft.
b) wodurch ich die Achtung für Vernunft in der
Perfon eines andern Menfchen pofitiv oder negas
tiv verläugne — Einfchränfung durch Gerechtigkeit
oder durch gröffere Güte gegen andere.
495.
Erhöhte Verbindlichkeit,
Da diefelben Handlungen, wodurch die Würffamfeie
der Vernunft, oder die Vollfommenheit vermehrt
wird, auch fchon zur Erhaltung derfelben großentheilg
erforderlich find, und da fich die Gränzen desienigen
nicht eigentlich angeben faffen, mas zur bloßen Erhals
fung und was nur zur Vervollkommnung gefchehen müfz
fe: fo befommen Die letztern Pflichten Dadurch ein gröf-
fer
k
— Angewandte Moral. 383
ſeres Gewicht, daß ihre Verletzung oͤfters mit einer
wahren Ungerechtigkeit (nicht blos Mangel an Guͤte)
gegen mich ſelbſt verbunden iſt. Go gehört z. B. ein
gewiffer Grad von Uebung ſchon dazu, daß die Kräffte
erhalten werden ; eben dieſelbe Uebung erhöht fie zugleich.
$. 496.
Cultur der Seelenkräfte,
Die unmittelbare Folge der Hauptpflicht ($. 493) iſt:
Eultivire alle deine Seelenfräfte, in der ge;
hörigen Subordination unter den zweck
der höchſten vernünftigen Würkſamkeit.
Hieraus fliegen folgende befondere Kegeln für den
moralifchen Gebrauch der Seelenfräfte.
‚T. Sür den Gebraud) der Erfennenißfräfte.
Uebe dich und fuche dir eine Fertigkeit zu erwerben in
‚allen Arten von Handlungen des Erfenntnisverms-
gens z. B. der Aufmerkſamkeit, der Beobachtung.
Cultivire Sinnlichkeit, Gedächtniß, Einbil⸗
dungkraft als Bedingungen des Stoffs für deis
ne vernünftige Würffamfeir.
Eultivire den Derftand, als eine vorbereitende Bez
arbeitung ienes Stoffs für die Vernunftthätigfeit.
Uebe und bilde die Vernunft ſelbſt theoretifch aus.
> Wähle die Gegenftände für die Anfchauung deiner
Sinne, für die Befchäfftigung deiner Einbildungs⸗
kraft, für die Berrachtung Deines Verſtandes und
| für
384 Angewandte Moral,
für die Bearbeitung durh Vernunft — dem hoͤ—⸗
hern Zwecke diefer Geelchfräffte gemäs; ſo daß
deine Vollkommenheit im Ganzen, deiner Anlage
und deinen Verhaͤltnißen gemaͤs moͤglichſt *
werde.
Ordne den Gebrauch der niedern, blos Stoff auf⸗
nehmenden Erkenntnißkraͤfte, dem Gebrauche der
böbern, die den Stoff bearbeiten, zweckmaͤſſig
unter; erweitere nicht nur deinen Gefichtsfreiß,
fondern helle ihn möglichft auf.
Ordne den Gebrauch der Erkenntnißkräfte über:
haupt, der zwecfmäffigen Anwendung deiner Wils
Vensfräfte zw cfmäflig un er d. i.erwirb dir vorzuͤg⸗
Ich praftifche, hauptfächlich möralifche Kenntniße,
wodurch du geſchikt, Elug und gut (nicht bios
gelehrt) werden Fannft.
.$. 497:
Fortſetzung.
2. Sür die Begehrungskräfte.
Verſtaͤrke und veredle dein Gefühlvermögen d. £
gewöhne dich an folche Gefühle, die zugleich cul⸗
tiviren und den Zweck der Moralität beförderen;
verfeiner® felbft die thierifchen Empfindungen.
Bildung des Gefihmads,
Uebe die Neigungen d. h. vermehre oder vereinfa⸗
che, Schwäche oder verftärfe fie, ie nachdem Vers
mehrung oder Verminderung, Staͤrke oder Schwä-
che
’
Angewandte Moral, ; 385
chederfelben Die Würkfamfeit der Vernunft befördert,
fie ermeitere und verfkärft.
Je mehrere, ie flärfere Neigungen; in ie zweckmaͤſſige⸗
rer Proportion fie vorhanden; und ie vollfommener fie
den Zwecken der Vernunft poſitiv *) untergeoröner find
— deſto groͤſſer ift die Dollfommenheit der Leis
gungen, Sie befteht alfo (poſttiv) in der möglichften
“Ausbreitung, Stärfe, Proportion und vernünftigen %
Gubordination der Neigungen unter die Vernunft. Die
befondern Borfchriften find demnach
a) Vermehre die Neigungen-und verftärfe fie, bilde
die Kräffte und Triebe deines finnlichen Begeh—
rungsvermögens möglichft aus, um den Wür⸗
Tungsfreiß der Vernunft zu erweitern, (als
fo nicht : um dein finnliches Vergnügen zu verviels
fältigen, welches theils unflug und unficher, theils
an fidy ohne moralifchen Werth ware).
Diefer Zweck beſtimmt zugleich die Gränze Diefer mate⸗
rialen Pflicht, welche bey iedem Menſchen nach ſeiner
Selbſtkenntniß und nach der ihm eignen Vernunftſtaͤr⸗
„ Te, deren er fich bewußt iſt, verfchieden feyn muß.
b) Erhalte ein. gewiſſes Gleichgewicht und eine Pros
portion unter den Neigungen, um iede einzelne
Meigung leichter beherrfchen zu Fönnen.
ce) Verſtaͤrke die ſchwachen, um die ftärfern durch fie
befiegen , und blinden Leidenschaften Einhalt thun
zu fönnen.
HDie negati — — — — gehoͤrt mehr zur Selbſt⸗
erhaltung. $. 4
‚Woralppiofoppie, Sb Cul⸗
Vaylı
386 . Angewandte Moral,
Cultivire den Einfluß der Vernunft aufden Willen.
a) veredle ihn, durch die Steigerung von Gefchicks
lichfeit zur Klugheit, und von diefer zur Weis⸗
heit oder Sittlichkeit.
b) erweitere ihn, durch Verbreitung über immer
mehrere. Gegenftände und Neigungen.
c) verfiärfe ihn d. i. vermehre deine moralifche (und
überhaupt praftifche) Freyheit und Gelbftbeherr:
fhung, oder: ermirb dir immer mehr morali;
ſche Selbfiverläugnung, d. h. Krafft, durch
moraliſche Vernunftgruͤnde den Antrieb ſinnlicher
Eindruͤcke und empiriſcher Beweggruͤnde unwuͤrk⸗
ſam auf die Handlungen zu machen, und der mo⸗
raliſchen Triebfeder (dem ſittlichen Gefuͤhl) das Les
bergewicht uͤber iede andere zu verſchaffen.
Dieſe moraliſche Selbſtverläugnung begreift in ſich
a) eine Fertigkeit, die Neigung zum Vergnuͤgen zu
beherrſchen;
theils die Begierde auf einen gewiſſen Grad
des Genuſſes einzuſchraͤnken — Maſſigbeit·
theils einer Art des Genuſſes zu gewiſſen Zeis
ten gänzlich zu entfagen — Enthaltſamkeit.
ß) eine Serttgfeit, die Abneigung von dem } Una
- genehmenmoralifch zu Tenfen; f
‚sheils Die gegenwärtige Empfindung deſſelben
moraliſch zu ertragen — Geduld
Rtheils
Angewandte Moral. 387
theils die Furcht Dafür zu ‚Defiegen — Tapfer:
Feit.
Je mehrere und ie Rörfere natiriche Neigungen und Ab⸗
nergungen da ſind; ie vollſtaͤndiger Certenfio, intenſiv
"und protenſiw) und durch ie reinere Mittel ſie beherrſcht
werden; deſto groͤſſer iſt die moraliſche Mäſſigkeit,
Enthalt ſamkeit, .Tapfırk eit und Geduld, die als
moraliſche 7 ugenden aus Einer Quelle entfprungen
und verein find; als naturliche Eigenfchaften meiſt
nur getrennt und einzeln in verfchiedenen Menfchen fich
zeigen; ale Produfte der empiriſchen Dernunfe
oder als. Theile der Klugheit nur alsdann ſittlichen Werth
haben, wenn Diefe Klugheit ſelbſt ſittlichen Zwecken (ne=
gativ und poſitiv) untergeordnet iſt. Man darf und
foll ſie durch natur liche Mittel unterſtuͤtzen, Maximen der
Erfahrungsklugheit dabey zu Huͤlfe nehmen, um die
Moralirät von ihren Hindernifen zu befreyen. Selbſt
dieſes Beſtreben andere als eigentlich moraliſche Trieb⸗
federn zu moraliſchen Zwecken in Bewegung zu ſetzen,
hat moraliſchen Werth.
Strebe immer thätiger, und zwar mit immer mehr
Dlan, Zweckmaͤſſigleit und Standhaftigkeit thaͤtig
zu werden.
Durch die Verſchiedenheit der Naturänfagen zu ges.
wiffen 38 higfeiten des Erfenntnifvermögens und Nei-
gungen des Willens, - und Durch die Mannigfaltigfeie
der aͤuſſern Verhaͤltniſſe, werden alle dieſe Negeln für
ER, pres einzelnen Meuſchen näher wodificirt. Dieß gilt
5 Sb z vor
ir a |
998 .. Angewandte Moral.
von allen übrigen, wo es auch nicht befonders erinnere
wird. '
$. 498.
Coͤrper.
Das unentbehrliche Werkzeug aller vernuͤnftigen
Wuͤrkſamkeit, nehmlich der Coͤrper, iſt im Ganzen und
in feinen einzelnen Theilen einer Ausbildung und Ver-
vollkommnung fähig, wodurch er brauchbarer und
tauglicher wird, theils die innere Würffamfeit der Ver-
nunft zu befördern, im Erkennen und Wollen, theils
ihre äuſſere Thätigkeit zu unterflügen, oder or Wils
len zu realifiren. Alſo:
Stärfe deinen Cörper, verbeffere und übe die
Werfzeuge der innern und äuffern Thaͤtigkeit,
der innern und äuffern Sinne und der willkührli⸗
hen Bewegung; erwirb dir Förperlidde Ge;
ſchiklichkeit, ſoweit Natur, ie. und Be
Pflichten es verflatten..
Anm. Die mehreſten befondern Regeln, die daraus fliefs
fen , bangen ſchon mit der Pflicht der Erhaltung
des Edrpers zuſammen, und erhalten dadurch einenoch
groͤßere Verbindlichkeit.
§. 499.
Aeuſſere Vollkommenheit.
Die innere Vollfommenheit des Geiſtes ($. 496. 497.)
amd feines enger verbundenen Werkzeuges des Corpers ($.
498.)
Ingewandre Moral, ‘389
498); die innere harmonifche Würffamfeit ihrer Kräfte,
und das Vermögen ‚das, was ihnen gemäß ift, auffer dem
handelnden Wefen. zu realifiren — woran theils unmit-
telbar, theilg wegen des zurucfgegebenen Einfluffes auf
die innere Vollkommenheit moralifch gelegen iſt —
dieß alles hänge zum Theil ab von gewiffen äuffern Ob»
ieften und von ihren DVerhältnißen zu uns, deren Inn—
begriff die .äufere Vollfommenbeic heißen fan.
Daher das Gebot :
| Vermehre deine Auffere Vollkommenheit, d. i.
die äufferen Bedingungen, wovon die Größe deiner Thätig-
£eit überhaupt und vornehmlich deiner — Wuͤrk⸗
ſamkeit abhaͤngt.
6.500.
Theile.
Zu der äuffern Vollkommenheit gehoͤren
I) unmittelbare Stärkungsmittel des innern Le;
bens oder der innern Würffanfeit der Vernunft
und der ihr untergeordneten Kräfte — nebft ven
Mitteln zu diefen Mitteln. 6.501.
2) unmittelbare Beförderungsmittel der äuffern
Würkſamkeit, nebft den Mitteln zu diefen Mir-
teln.
3) ein Würfungsfreiß.
853 :
300 Angewandte Moral,
6. 501.
Innere Wuͤrkſamkeit.
Die Mittel der erſten Art ($. 500. Num. 1.) verſtaͤr⸗
*
ken
3) uͤberhaupt und zunaͤchſt das thieriſche Leben, das
Syſtem der untergeordneten Kräfte 5. B. gefunde,
nährende Speifen und Getränfe, finnliche Vergnü-
gungen.
2) insbefondere das geiftige Leben, als Mittel viele
und neue Vorffelungen zu empfangen, die Phan-
tafie zu beleben, die Sinne zu fchärfen 5. B. Ers
söglichkeiten, Lektüre, Neife, Gefellfchaft, Un⸗
terricht — und Mittel dazu.
3) zunaͤchſt die vernünftige Wuͤrkſamkeit, und be⸗
ſonders die moraliſche z. B. Huͤlfsmittel zu mehre⸗
ver Aufklaͤrung, zur Hebung im richtigen und zwecks
mäffigen Denken, zur Gewoͤhnung an eine fluge
und ſittliche Empfindungs -und Handlungsare — ¶
moralifcher Unterricht, gefen , Umgang mit mora⸗
liſch gebildeten Menſchen.
4) Einige ſind blos Mittel zu dieſen Verſtaͤrkungs⸗
mitteln des thieriſchen, geiſtigen und vernuͤnftigen
Lebens, als gewiſſe Dinge und Verhaͤltniſſe z. B.
Ehre, Aemter, Vermoͤgen, freundſchaftliche Ver⸗
bindungen, geſellſchaftliche, bürgerliche Verhaͤltniſſe.
Was nur periodiſch belebt und die Wuͤrkſamkeit ver⸗
mehrt, in der Folge aber sine größere Schwaͤche zuruͤck⸗
laͤßt
Angewandte Moral, 9
life; B. beraufchende Getraͤnke, aufgeregte Leiden⸗
ſchaften) iſt blos ein reitzendes aber eigentlich kein
narkendes Mittel für die Kraͤffte; >; fein, Gebraud iſt
“daher nur in fehr feltenen Fällen zuläßig.
Die Stärfung des thieriſchen Lebens iſt der Ver:
mehrung des geiftigen, und diefeder Erhöhung unferer
vernünftigen Würffamfeit untergeoröner — nega⸗
tiv, zufolge der Pflicht der. Seldfterhaltung; poſitiv,
ſo daß das thierifche und geiftige Leben nur als Be
dingungen von der vernünftigen Würkfamfeit vermehrt
werden dürfen, wenn die Handlungen, wodurch es ge—
fchieht , der Würde eines Vernunftweſens entſprechen,
und den Rang von Pflichten der Selbſterhoͤhung behaup⸗
‚ten ſollen.
Kein Mittel der Selbſtvervollkommnung, keine
Handlung die auf Erlangung und Anwendung deſſelben
abzielt, darf der Würde der Vernunft in meiner und
ieder fremden Perfon , der Gerechtigkeit oder der gröf-
fern Erweifung der Güte mwiderfireiten. Der 5wed
kann das Mittel nicht heiligen; denn
wenn der Zweck, als ein moraliſcher, in der hoͤchſtvernuͤnf⸗
tigen Handlungsweiſe ſelbſt, und nicht in dem aͤuſſeren
Guten beſteht, fo iſts widerſprechend um der vernuͤnfti⸗
gen Denkart willen vernunftwidrig zu handlen. Die
entgegengeſetzte Maxime iſt eine richtige, aber ſittenver⸗
derbliche Folge des Grundſatzes der eignen oder frem⸗
den Gluͤckſeligkeit, wenn derſelbe als oberſtes Princip
ler ——— wird.
Bb4 — Ur
392° Angewandte Moral,
$. 502,
Aeuſſere Wuͤrkſamkeit.
Die Mittel der zweyten Art ($. 500. Num. 2.) ur
i. dieienigen, welche die äuſſere Würkſamkeit d. i.
das Vermögen verſtaͤrken, feinen vernünftigen und fitt-
lichen Begriffen und Grundfigen gemäß auf. andere.
Menfchen und auf menfchlihe Verhaͤltniße zu würfen,
find — iedes auffere Obiekt, worauf man würfen kann;
iedes Auffere Werkzeug, das zu Nealifirung vernünftis
ger Zwecke dient; iedes Verhältnig, worinn die Auf-
fendinge zu uns ftehen, fofern es Die Aeufferung unfes
rer Kräffte beguͤnſtigt. Hieher gehoͤren;
1) die ſchon erwähnten (F. 501.) innern, untergeord⸗
neten Kraͤffte der Seele und des Leibes, und die
Mittel ihrer Verſtaͤrkung. Von ihnen haͤngt nicht
wur die innere Wuͤrkſamkeit, ſondern auch Die aͤu⸗
fere ab.
2) erworbene äuffere Hilfskräfte, als Eigenthum
(von Sachen), Verbindungen (mit Perfonen) —
natürliche und felbftgewählte,, als Liebe, Freunds
fchaft, Ehe, Staat.
Die materialen Pflichten dieſer Art laufen mit den vo⸗
rigen ($. 501.) meiſtentheils zuſammen, und erhalten
dadurch groͤſſere Verbindlichkeit z. B. Wirchfchaftliche
keit, Erwerbfleiß, Geſelligkeit, Geſellſchaftlichkeit —
als nähere oder entferntere Bedingungen, wovon die
ſelbſteigene Vollkommenheit abhaͤngt.
—— Die
.
\
Angewandte Moral, 393
Die auffere Würffomfeit vermehrt das Intereſſe für
die innere; ein neuer Zufammenhang, der dieſen Pflich—
ten größere Krafft und Verbindlichfeit giebr.
Die Einſchraͤnkungen, die Coordination und Sub⸗
ordinagion ſind Diefelben, mie bey der vorigen Pflicht.
€ 503.
Wuͤrkungskreiß.
Drittens ($. 500. Num. 3), der Würkungs⸗
kreiß. Hier iſt die Regel: MER
Verſchaffe dir einen Auffern Würfungefreiß,
deine vernünftige Ihätigfeit darinn zu beweifen,
der deinen natürlichen und erworbenen Kräfften
angemeſſen ift.
2) der Art nady, paffend.
2) der Größe nach; nicht zu weit, noch zu
eng; ſich erweiternd.
Wer ſeinen Wuͤrkungskreiß noch nicht ausfuͤllt, ſtrebe nach
feinem neuem, welcher die Wuͤrkſamkeit in ienem einſchraͤnkt
Man verhuͤte Ueberhäufung, Zerfireuung , als Hinders
niſſe der vernünftigen Thaͤtigkeit. Unaͤchte Triebfedern
der Thaͤtigkeit Fönnen zu einer unzeitigen Vergrößrung
feiner Sphäre bewegen.
Gebrauche jedes würdige Mitteldeinen Wür⸗
kungskreiß zu erweitern, oder zu veredlen z. B.
Strebe nach aͤuſſerer Ehre, laß deine Faͤhigkeiten, deine
Geſinnungen ſichtbar und fund werden, beobachte die Ge-
| Bb5 ſetze
394 Angewandte Moral,
fege de8 äuffern Wohlftandes, auch die blos conventio—⸗
fionellen, wenn es ohne gröfferen Pflichten‘ z.B. der
Sparſamkeit, Sittfamfeit, ni —— e HOME
zu thun, geſche hen kann.
Es iſt mehr daran gelegen, ſeinen Rn
Kreiß zweckmaͤſſig auszufüllen, als ihn zu erweitern. Es
beweiſt und erfordere mehr Tieffinn und reine Gefinnung,
in einer engen Sphäre.innerlich gros zu handlen ; öfter
iſt es mehr Eitelkeit oder Unſtaͤtigkeit des Charakters,
als wahrer, aͤchter Trieb zu innerer Größe, die den
Menfchen antreibe, in das Weite hinaus nirfen zu
—
— 504.
Allgemeine Regeln.
Da nicht der Beſitz, ſondern der vernünftige Ges
brauch der äuffern vernünftigen Kräfte und äufferen
Güter, nicht das Dafeyn , fondern die weife Benutzung
feiner Verhältniffe ven Menfchen vervolllommnet: ſo er⸗
haͤlt die Pflicht ſich aͤuſſerlich vollkommen zu machen (6.
499 :503 folgende naen Beſtimmung:
1) Brauche das, was du haſt; benutze die aͤuſ⸗
ſere Lage, worinn du biſt, um vernuͤnftig darinne
zu wuͤrken, um deine Kraͤffte, vorzüglich die Vers
nunft darinn zu üben, und deine innere Vollkom⸗
menheit zu erhoͤhen.
2) Suche dasienige zu entfernen, dieienigen äuſſern “
Herhältniſſe abzuändern, die deine Vervoll⸗
komm⸗
—
Angewandte Moral, —
Fommmungd.i, die Ausbreitung und Stärfe deiner
‚vernünftigen Wuͤrlſamteit einſchranken und bin⸗
dern.
5) Strebe nah der Art und nach dem Maaſ
ſeaͤuſſerer Güter, nach denienigen Verhaͤltnißen, die
fut dich, nach deinen geſammten natürlichen und
erworbenen Kräften und nach deinen übrigen (phh⸗
ſiſch oder ſittlich) unabaͤnderlichen Verhaͤltnißen —
Mittel’ abgeben, deine vernünftige Buͤrt ſamteit
zu befördern.
"Der Trieb feine Lage zu ändern ift öfters Folge von
Mangel an Selbſtkenntniß, von Trägheit, Eitelkeit,
Mißkenntniß feiner Verpäftniffe, oder von andern’ Ars
u * des gröbern oder feinern Eigennußes,
| $. 505.
Sechſte Selbftpflicht,
Selbſtbegluͤckung.
6. 465. Num. 3. Suche dein Wohlſeyn d. d. i. die
Annehmlichteit deines Lebens im Ganzen zu vermeh⸗
ren.
Wohlſeyn iſt mein ſubiektiver Zweck; die poſitive
Achtung fuͤr mich ſelbſt, als ein vernuͤnftiges Weſen und
elbſtſtaͤndigen Zweck, bringt es mit fich, dieſen zu be⸗
—
a
fördern, Dieß iſt alſo auch unmittelbare Selbſtpflicht,
wie es URBEHEIRE iſt, die Gluͤckſeligkeit anderer zu
Fehlen:
Folge⸗
396 Angewandte Moral,
Folgerungen.
1. Die Sorge, mein Wohlſeyn zu vermehren iſt al-
fo nicht nur zuläßig, fondern auch pflicht mäſ⸗
fig. Sie ift moraliihe Tugend, fo fern fie
aus Pfliht.d. h. aus Anerkennung meiner Würde,
als eines vernünftigen Wefens, geübt wird.
2. Sie iſt nicht moraliſch, wenn mich, die Neigung,
die natürliche Gelbftliebe unmittelbar dazu beftimmt,
und feine Neflerion über meine vernünftige Per-
fönlichfeit, als den moralifchen Grund hinzukommt.
3. Sie ift unmoraliſch, wenn fie mit der hoͤchſten
Achtung fuͤr die Vernunft ſtreitet. Dieß iſt der
Zul, wenn
a) ih die Würde, die Erhaltung und Vervoll-
kommnung meiner Perfon dem Hange zum Ver⸗
gnuͤgen und der Furcht vor Mißvergnügen und
‚Schmerz aufopfere; ven Zuftand — der Perſon
und der Perfönlichfeie vorziehe,
b) wenn ich die Achtung für andere vernünftige
Wefen bey Seite fee; wenn ich die Erhalsung
and Vervollkommnung ihrer Perfon, die Er»
haltung ihres Wohls, und die phufifch und mo>
raliſch mögliche Beförderung ihrer gröffern Glücks
feligfeie nicht zur einfchränfenden Bedingung als
ler Mittel zu meinem eignen Wohlfeyn mache,
$ 506.
Angewandte Moral; 397
| 6. 506.
Pe Derfchievdene Quellen.
Die Handlungen, welche das Materiale der Pfliche
der Selbſtbegluͤckung, fo mie auch der Coben $. 490. f.
nur allgemein erklärten) Gelbfifhonung ausmachen,
koͤnnen aus verfchiedenen Quellen entfpringen, einzeln
und in Verbindung.
3) aus natürlicher Selbſtliebe, ohne moralifchen Ders
nunffgebrauch. Hier haben fie zwar phnfifchen und
tosmologifchen Werth, aber feinen firtlichen.
a) mit möglidyer Anwendung der Verhunfe —
unfittlid).
«) ohne alle, auch nur empirifche vernünftige
Reflerion — unklug, thoͤricht und unſitt⸗
lich.
PB) mit Anwendung der empirifchen , aber nicht
der reinen, praftifchen — — umnſitt⸗
lich allein
b) ohne Moͤglichkeit des Vernunftgebrauchs z. B.
bey kleinen Kindern — nicht ſittlich, ie
klug.
2) aus Pflicht.
a) ohne daß das Vergnügen ſelbſt der Zweck, oder
doch der Hauptzweck vondiefen Handlungen wäre ;
weil es Pflicht der Selbſterhaltung und Ver⸗
vollfommmung iſt, nach gewiſſen innern nnd aufs.
fern
398 Angewandte Moral.
ſern Gegenſtaͤnden zu ſtreben, mit welchen die
Natur das Vergnuͤgen als eine inne vers
bunden hat.
b) mit dem Zwecke des Vergnügens,
0) als. eines Mittels zu Erfüllung der Pflicht,
zu Belebung der Forperlichen und geiffigen
Kräfte. Hier ift das Vergnügen ieder aus
dern Pflicht pofitiv U als Mit⸗
tel dem Zweck.
8) um feiner felbft willen, als eineg unmit tel⸗
baren Stoffs der Selbſtpflicht. Hier wird
der Zweck und die Pflicht, für feine Gluͤckſe⸗
ligkeit zu ſorgen, den übrigen Zwecken und
Pflichten nur negativ ſubordinirt dh. in fo
fern geboten, als es ohne Verlegung und
Einfhränfung (nicht : als es zur Beförderung)
anderer "höheren Zwecke und Pflichten geſche—
ben fans. Go wird die Sache hier angefes
ben. 03
$: 507. -
Die Vorſchrifft, fein eignes Wohl zu erhalten und
zu vermehren, iſt allgemein und nothwendig gebietend
für alle endfiche, vernünftige Weſen, die ver Gluͤckſe⸗
ligkeit beduͤrftig find, undalfoein abfolutes, moralifcheg
Geſetz. Die Vorfchriiten aber, die uns lehren, wie ein
seder Menſch Diefem Gefege gemas fein Wohl ficher er-
halten und zweckmaͤſſig befordern fol, gründen fich auf
Er;
Angewandte Moral, 399
Erfahrungen von der. menfchlichen Natur und Verhaͤlt⸗
niſſen überhaupt, und von der Natur und den Verhäaͤlt⸗
nißen eines ieden Einzelnen insbefondere ; fie Haben da-
‚ber feine abfolufe Nochwendigfeit und Allgemeinheit. Al⸗
lein dieß iſt feine Eigenthuͤmlichteit dieſer Art von Re⸗
geln, ſondern aller materialen Regeln überhaupt, und
iſt kein gültiger Grund, fie. von der Gittenlehre gaͤnz⸗
lich auszuſchließen.
§. 508.
Verſtaͤrkte Verbind Tichfeit, |
Die Pflichten , deren Erfüllung zugleich meine Gluͤck⸗
ſeligkeit fichere oder vergrößert, bekommen Dadurch eiz
nen neuen und zwar fittlichen Beweggrund (d. 1. Vers -
pfliheungsgrund) , daß ich in Beobachtung derfelben zus
gleich die Pflicht der Selbfifhonung und Selbſtbegluͤ⸗
Kung ausübe, Es if Selbſtpflicht, wir den Selbſtge⸗
maß meiner moraliſchen Gefinnungen und Hand⸗
lungen zu verfhaffen und zu erhalten, fo weit es ges
ſchehen kann, ohne Die Moralitaͤt ſelbſt dadurch einzu⸗
ſchraͤnken. Dahin gehoͤren;
1) Das moraliſche Gefuͤhl der Selbſtzufriedenheit,
das aus der Vorſtellung meiner vernünftigen Wuͤr—
, de entfieht, und dadurch befebe wird, daß ich die⸗
ſer Würde gemäß handle. i
Kenntniß ſeiner ſelbſt, als eines ——— Weſens,
die ſich auf unpartheiiſche Pruͤfung ſeiner Handlungen
und Geſinnungen gruͤndet, beſtimmt dieſem Vergnuͤgen
fine moraliſche Gränze,
2) das
Es
400 Angewandte Moral,
2) das angenehme Gefühl meiner ra äffte und ih⸗
rer harmoniſchen Thaͤtigkeit.
3) Das angenehme Gefühl, das mit ver Vorſtel—
lung deffen verbunden iſt, was ich Durch meine
moralifhen Handlungen Gutes bewürkt habe,
für mich ſelbſt — unmittelbar — mittelbar, durch
Spmpathie und durch wechfelfeitigen Einfluß des
Menſchenwohls auf mein eignes.
Das Recht und die Pflicht dieſes Selbfigenußes geht fo
sveit, als derfelbe mich an der Erfüllung anderer Pflich:
ten und an dem fernern FR meiner Gittlichfeie
nicht hindert.
.$. 509.
Neue Pflicht.
Menn aber auch dasienige, was zu meinem Mohlfenn
beyträgt, nicht ſchon aus andern Gründen Pfliche iſt:
fo ifts doch an fich felbit Forderung der Vernunft:
7) mein eignes Wohl nur der höhern Pflicht aufzu⸗
opfern. Sonſt bin ich ungerecht gegen mich
ſelbſt. —
2) ieden möglichen Beytrag zu meinem Wohl anzu—⸗
nehmen, und felbft zu.befordern, der Feiner höhe,“
ren Pflicht widerſtreitet, wo alfo
3) weder in Den Mitteln zum Befis und Genus
etwas Unwuͤrdiges liegt, noch auch
b) der Genuß ſelbſt ſtreitet |
“) mit
*
Angewandte Moral. 401
&) mit meiner höhern Beſtimmung als ver⸗
nünftiges Weſen; mit der vernünftigen Thür
tigkeit.
.Bß mit meinem wobiſeyn i im Ganzen
Sonſt bin ich ungütig gegen mich ſelt.
§. 510.
Beſtandtheile der Gluͤckſeligkeit.
Unſer vollſtaͤndiges Wohl enthält folgende Beſtand⸗
theile:
„D moralifche Selbftzufriedenheif.
2) Zufriedenheit mit feinem Zuffande, oder Wohlz
fahrt, hierzu wird erfordert
a) daß ich durch zunehmende, fortfchreitende Bes
friedigung meiner Neigungen würflih Dergnüz
gen genieße,
b) durch feine verlegten Neigungen, oder abneh⸗
mende Befriedigung derfelben merflich leide,
c) für die Zufunft neue Befriedigungen, Genüfs
fe und Güter hoffe, und
d) fein Uebel, Fein Sinfen des Genuffes im Gate
zen fürchte.
§. 511.
Becedingungen der Gluͤckſeligkeit.
Dieſes Wohlſeyn beruht auf kolgenden Gruͤnden:
1) fubieftive Moralität. ———
Morxalpyhiloſophie. ee =>
402 Angewandte Moral,
2) IE ge für den bare —
Sheit * *
3) — Guͤter 9 Verhaͤltniße, Suiegiter.
4) Renntniß derfolßen und ihres beſten Gebrauchs.
5) Sicdyerheit ihres möglichen Gebrauchs” für alle
Zufunft. j
X Sigerpeit vor den Lebe.
2 E 512.
Ohnerachtet es eben fo unmoraliſch, als fruchos,
und für das Wohlſeyn ſelbſt gerftörend ſeyn wuͤrde, ein
ſolches menſchliches Wohffeyn ($. STo.F) in feiner Voll⸗
ſtaͤndigkeit zu verlangen, weil’ die Bedingungen veflel=
ben zum Theil uͤberhaupt fuͤr den Menſchen hypothetiſch
unmoͤglich ſind, zum Theil aber auch auſſer unſerer Ge—
walt liegen: ſo iſt es doch nicht unmöglich, ſich ob»
ne Nachtheil für die Tugend dieſem Ideale zu nähern,
und es iſt Pflicht, darnach zu ſtreben; FL: muß aber -
Diefer Zweck allen übrigen Sweden negativ thöbroinire
werden." as x .
TE N
Moraliſche Klugheitslehren, ihr Begrif.
Die ſpecielle Anweiſung zur Gluͤckſeligkeit iſt der
Gegenſtand einer beſondern, empiriſch praktiſchen Ver⸗
nunftwiſſenſchaft, der allgemeinen Klugheitslehre,
u
die aber von moraliſchen Zwecken abſtrahirt. Die Mo⸗—
ral — muß eine Anleitung geben, das Beftreben nach eig⸗
; Racer
r
Angewandte Moral, 403,
ner Gluͤckſeligkeit den-höhern Beſtrebungen unferzuord»
nen, und mit. denfelben zy vereinigen. - Es muͤſſen Vor⸗
ſchriften ertheilt "werden, worinn, Die Klugheitsfehren
durch Moralitaͤt modificirt und näher beſtimmt fi ind, um
einen moraliſchklugen Menſchen zu bilden, , Die
Gründe dieſer Regeln, liegen alſo theils in, der Moral,
theilg in der, Klugheitslehre; ſie ſelbſt erhalten von die⸗
Ausführung,
$. 5 14.
Die Lehren felbft,
‚7. Erhalte dir vor-allen Dingemdie Zufriedenheit
mie dir ſelbſt, durch eim Leben, dag deiner wuͤr⸗
dig iſt, und durch den Gedanken, da dein pers
ſoͤnlicher Werth unverletzbaͤr, ‚ind deine moraliſche
Freyheit eines —— * unendliche räbig-
iſt.
Maͤßige deine Neue über unmorafifhe — dei⸗
ne Selbſtſchaam über unlautere Geſinnungen, fo_ weit
es ohne Nachtheil für den Zweck diefer Gefühle gefches
hen kann, durch die Betrachtung deiner unverlegbaren
Würde, deines immer möglichen Zortfchreitens in der
Tugend, der unverfchulderen aber befiegbaren ii ai
niße des Guten.
2. Erhalte dir die Zufriedenheit mit deinem Zu;
ftande, und Scidfale im Ganzen, durch den
Glauben an eine moralifche Weltregierung und an
deine ewige Fortdauer. Genieße zwar die Gegen
+2 wart,
Peer
—
404
Angewandte Mortal,
warf, aber halte dich ans Ganze, und betrachte
ieden Mangel, iedes Uebel des Augenblics und
Zheiles in Bezug auf das unermeßliche Ganze deis
ner Eriftenz. Belebe diefe Ueberzeugungen, und
mache fie dir finnlich und geläufig durch religiöfes
Nachdenfen, durch DBerrachtung der Natur, ver
Begebenheiten, der Gefchichte — durch Geber —
svenn dieß ein Mittel für dich iſt, ienen Glauben
inniger und lebendiger in dir zu machen.
3. Erfülle deine Pflichten gewiffenhaft, gegen dich,
gegen Gott und Menfchen, und fey dabey auf:
merffam auf die materialen guten Solgen,
welche, öfters daraus entfpringen. Freue dich ihrer!
3 4. Aufmerkſam fey auf alles Bute, Angenehme
und Schöne — in der, Welt-überhaupt — befonz
Ders in deiner Lage — auf alle Gegenftände des
gegenwärtigen erlaubten Genufles, angenehmer Er-
innerung und gegründeter Hoffnungen. Geniefe
Dieß alles mit Sorgfalt. Ueberſieh auch niche
das Kleine, das Altägliches
$. 515.
3. Mache dir geläufig richtige Vorftellungen von
menſchlichen Glücfeligfeiren und von dem ge;
wöbhnliden Gange der Dinge, um feine zus
fälligen Theile und Mittel derfelben als nothwen⸗
dig, feine vergänglichen als bleibend zu betrachten,
um den Verluft eines Gutes, oder das Verſchwin⸗
« — den
Angewandte Moral. 405
den einer beftimmten Hoffnung beffer erfragen zu
koͤnnen.
6. Gewoͤhne dich vorzüglich an dieienigen Vergnuͤ⸗
gungen, welche mehr als andere in deiner Gewalt
find, die ſich weniger abnützen, die das Gefuͤhlver⸗
mögen zu noch mehrern Genuße ſtaͤrken, die dich
zugleih cultiviren, und dir die Ausübung der
Tugend in vielen Fällen erleichtern: z. DB. an
theilnehmende Vergnügen, an den Gebrauch deiner
Kräffte, an Ordnung und Harmonie, an Vergnü-
gungen der feinern Sinne, der Gefellfchaft, der
Wohlthaͤtigkeit, der Freundſchafft, der Liebe —
folher Hoffnungen, wo du felbft zu Erreichung
des Zwecks Fleine Pläne entwerfen, und zu ihrer
Ausführung gefchäftig feyn Fannff.
7. Faſſe mehrere zufällige, lebhafte Zwecke,
mworunter du dein Deftreben und Wünfchen (Diss
iunftiv) vertheileft, um von einer Befchäfftigung,
wenn fie dich nicht befriedigt, leicht und freudig
zur andern übergeben, um die Dereitelung einer
Hoffnung leichter ertragen zu fönnen. Wird ein
Ziel dir verrüctz eile, dir ein anderes zufter
‚den, und verfolge nun diefes mit Lebhaftigfeit,
um. des zerfförten Planes zu vergeflen; wenn Eis
ne Hoffnung getaͤuſcht iſt; bemühe dich ſchnell zu
einer andern. überzugehen ; wenn dir ein Gut ges
raubt iſt ergreife ſchnell ein anderes, und fo ver»
Cc3 hindere,
406 Angewandte Moral,
hindere, daß du dich nicht uͤber die feinen Zu⸗
faͤlle des Lebens kraͤnkeſt.
8. Erlaubten Genuß der grobſinnlichen,
thieriſchen Sreuden verſage dir nicht; beobachte
nur ſorgfaͤltig die Schranken der Natur und des
Beduͤrfniſſes; ſey mäßig und enthaltſam, um die—
fer und anderer Freuden, vornehmlich aber um deiner
eignen Würde. willen ;_ vermehre deine Bedürfniffe
nicht über deine Kräfte, über dein Vermögen,
noch zum Nachtheil der freyen Herrſchaft über dich
ſelbſt.
$. 516,
9. Um weniger zu leiden, *
a) ſichre vorher, ehe du leideſt, vor allen Din⸗
gen die Zufriedenheit mit dir ſelbſt durch ſtren—
ge Rechtſchaffenheit; maͤſſi ige deine Wuͤnſche und
Hoffnungen zufälliger Guter; im Ganzen hoffe
Das Belle, aber unbeftimme ; im Einzelnen und
beftimme hoffe wenig, nicht mit Zuverſicht,
nicht zu lebendig; übe dich In der Selbſtver—
laͤugnung; mache dir den Gedanfen an mögli-
chen Verluſt des Guten, was dich ieko noch er-
"freut, geläufig; zweifle ben beſtimmten Erwar⸗
tungen, und mache Dich mit der Borftellung,
daß dein Hoffen getaͤuſcht werden koͤnne, ver⸗
traut; durchdenke und durchfühle im Voraus die
Troſtgruͤnde, die dich im Unglüf aufrichten
follen.
b) Iſt
Angewandte Moral, 407
—5 Iſt das Uebel da: formäßige die Empfindung
deſſelben durch möglichft feſte, ruhige, deutliche
' Betrachtung: feiner Natur, feiner wahren Gröf-
‚fe, feiner Urſachen und. Hülfsmittel; täufche
Dich felbft nicht mit leeren Einbildungen und
Hoffmingenz; verfleinere "aber vergrößre es
auch nicht in deiner Phantafie, fondern beſtrebe
Dich bald, es zum Gegenftand eines affeftlofen
Nachdenfens zu machen; verbinde iedes Reiden
mit irinerer und äufferer Vaͤtigkeit, und zwin⸗
ge dich, dem blos yaffiven, empfindenden Zu⸗
ſtande dich zu entreiſſen; ziehe mit deinen Ges
danfen und Handlungen Das Gute heraus, was _
darinn liegt; vergiß nicht aus denienigen Quels
len der Freude zu ſchöpfen, die dir noch offen.
an ſtehen; haͤnge der. unthäfigen | und gedanfenfofen
Empfindung oder den ſchwermůcthigen Traͤume⸗
reyen der Phantaſie nicht nach, wenn ſie dir
auch noch fo viel melankoliſchen Genuß gewähs
ren, denn fie rauben dir Krafft und Ihätigfeit ;
zerſtreue dich, entfchlage dich iedes Gedanfens
IT san iedeg- Uebel, wenn er nicht zugleich auf mög-
— liche Mittel geht, es wegzuraͤumen oder zu ver
"mindern; halte dich — wenn Alles’ mislingt —
on Das Bewußtſeyn „deiner Würde, belebe es
durch Handlungen der Tugend, wozu du noch
irgend Krafft und Anlaß haft; belebe die alltroͤ⸗
” "fnde Usberzeugung vom Dafeyn eines Gortes
1 shi und die erfreuende, ffärfende Hoffnung ver Un:
wg Cr4 ſterb⸗
—
408 Angewandte Moral,
fterblichfeit, doch ohne dich durch diefe Vetrach⸗
tungen von der gegenwaͤrtigen Welt abziehen
und an dem Gebrauche der nahe liegenden, ſchuld⸗
loſen Mittel für deine Leiden hindern zu laßen.
Menſchenpflichten.
6. 517.
Begriff.
Menſchenpflicht iſt iede Handlung, deren Beweg⸗
grund die Vorſtellung von einem andern Menſchen auſſer
mir, als einer Perſon und als Zweck an ſich ſelbſt iſt
— inſofern er es iſt.
$. 518.
DBeweisgrund.
Die Derbindlichfeie der Menſchenpflichten
überhaupt wird durch denfelben Beweisgrund erkannt,
woraus oben ($. 459.) die Selbſtpflicht hergeleitet
wurde.
-
Der Menſch iE ein vernünftiges Weſen; 5 ‚diefeg ik
Gubieft der Zwecke, alfo Zwed an fich ſelbſt; mithin
ein Gegenftand, ven ich als ſelbſtſtaͤndigen Zweck —
poſitiv und negativ — achten muß, wie mich felbff.
$. 519.
3 Menfchenfchäsung. |
Die allgemeine Tugend oder die Denkart eines Men⸗
ſchen, der dieſe Pflicht anerkennt heißt Menſchenſchä⸗
ZUNG,
1°
Angewandte Mora ‚409
‚ung, Achtung für die Würde der Menſchheit in der
Perſon eines ieden Menſchen.
Ihre Wuͤrkungen ſind
1) blos negativ, wenn man alles dasienige unter»
läßt und dasienige ausübt, deffen Unterlaffung eine
Verachtung der Menfchheit anzeigen wuͤrde.
2) Pofitiv, mern man fein Thun und Laſſen ſe
einrichtet, daß man dadurch ſeine Anerkennung der
Menſchenwuͤrde ausdruͤklich offenbaret.
$. 520.
—— J———
. Negativ erkenne ich die Wuͤrde eines Menſchen,
als eines vernünftigen Weſens an, wenn ich Feine
Maxrxime befolge,
a a) deren allgemeine Befolgung deswegen ein noth⸗
mwendiger Gegenftand der Misbilligung eines ies
den Menfchen, als eines. vernünftigen Wefeng,
feyn würde, weil fie in dieſer Allgemeinheic ſich
felbft widerfpräche.
b) Wodurch die Würde eines Menfihen pofitiv vers
laͤugnet, und vaffelbe blog als Mittel wider
feine Zwecke gebraucht würde.
ur ©) Deren allgemeine. Befolgung alle geſellſchaftli⸗
de Derbindung der Menfchen zu einer zuſam⸗
mengeſetzten Natur gänzlich aufheben müßte.
Cc5 | 3 Dr
Yıo Angewandte "Moral,
94) Deren allgemeine Berofgung ſelbſt zu bewuͤrken,
die» Pflicht der Gerechtigkeit gegen mid)
jelbft, als Mitglied der Geſellſchaft betrachtet,
im Aalen ‚Grade — würde,
IM Ei — D——— £. ar)! san ou ’
Poſit ive Menfhenfhäsung. e
6 2. Pofitive Achtung für die Nehfchenioihrde beibeife
ch durch —— ſolcher Meximen,
a) deren allgemeine und thätige Anerkennung ein
nothwendiger Gegenſtand der Billigung
für den Willen eines ieden Menſchen, als
ne Mitglied einer vernuͤnftigen Geſellſchaft betrach⸗
tet ſeyn müßte, Deren allgemeine Nichtauerken⸗
nung im Gegentheile ohnmoͤglich der Gegenſtand
des Willens aller und ieder Menſchen durch Ver⸗
nunt ſehn koͤnnte· hai,
- b) Wodurch die Würde eines Menfehen: Hof tiv an»
erkannt wird, indem ich ihn nicht blos als
Mittel, ohne Rückſicht auf Beforderung
andeinen ‚gignen Siwecke behandle. J
* KISEN ‚Deten: allgemeine Befolgung die gefellfchaftliche
Berbindung der Menfcheninniger und vollkomm⸗
„mer. mache, und ihre AI N befoͤr⸗
dert. + aA
Anke *
d) Deren allgemeine — wenn es moͤglich
wäre, zu bewuͤrken = die vollkommenſte Er⸗
2(b 222 weiſung
Angewandte Moral. Yu
weiſung der Güteigegen mich feldft (F. 465.)
feyn wide —
ap STH a ur —
—— Guͤte gegen andere. 377%
Durth negat ive Anerkennung der Menſchenwuͤrde im
iedem Menſchen, beweiſe ich den Menſchen Gerechtig⸗
keit; Durch poſitive Verletzung derſelben, werde ich uns
gerecht. Durch poſitive Anerfennung der Renſchen⸗
wuͤrde in iedem M enſchen beweiſe ich Sute; Bey einer
negativen Verletzung derſelben Handle ich liebios im
; en, 1 —
pen and ttalts (2
$. .323., ns nn ge
Gerechtigkeit ange Brite.
Die negative Menſchenſchaͤtzung (. 520) oder Ger
rechtigkeit gegen ‚andere (S. 522.) ſchließt in ſich
1) Erhaltung der Menſchenwürde, die mit der
v kr meiner "eignen (8.1464, Num. 1.8
472.) einerley'ift ‚und diefelben' —R&& Pflich⸗
Bi ** in ſich begreift. * JENE 7)
—* — Menſchene chaltung oder ei ihrer
. Mpefentlichen Menſchheitsrechte/ p "Der ihret Sräffe
und der Würffamfeit berfelben. IRA
rg }
"D- Wenoenfbonung . er Nichtverlegung der
Gufaͤlligen) ‚Rechte Der, Menfchlichkeit, oder ihres
Wohles, und der Gater, wovon es abhängt.
82
BR $. 524.
412 Angewandte Moral.
$: 524. —
Güte gegen andere,
Die pofitive Menfchenfhägung oder Güte gegen
andere ($. 521.) f.) begreift: .
1) Erhohung der Menſchenwürde, modurd die
marerialen Pflichten der Selbfigüte mit den Menſchen⸗
pflichten vereinigt werden. $. 465.Num. 1.$. 493.
2) Dervolllommnung der Menſchen, Vermeh⸗
zung ihrer Kraͤffte und ihrer zweckmaͤſſigen, freyen
Würffamfeit, oder Beförderung ihrer Rechtes:
3) Menſchenbeglückung d. i. freye thätige Bemuͤ⸗
bung für Menſchenwohl.
$. 525.
Natuͤrliche, Eluge Menfchenliebe,
Das Princip der Menfchenpflichten ($.518.) bes
ſtimmt den ‚Unterfchied der. moralifhen Menfchenfchäs
gung ($. 519), ;und der Handlungen, welche dieſer
Gefinnung :gemäs find, von, andern Gefinnungen und
Marimen, die fonft in den äuffern Würfungen öfters mit
ienen zufammentreffen, nehmlic 2
3. von der inſtinktartigen Menſchenliebe, als
unmittelbare finnliche Neigung, vermittelft der
Sympathie und des unmittelbar finnlichen Eins
drucks — die fich gar wohl mit der Eigenliebe und
Dem Eigendünfel ($. 467.) verfrägt, und mit ih⸗
nen gleichen morafifchen Werth oder vielmehr
Vichtwerth hat.
2) Von
Angewandte Moral, 413
2) vonder verftändigen, obgleich nicht blos äuſ⸗
ferlid) ſcheinbaren, Menſchenliebe, diefich auf
Keflerion des Verſtandes gruͤndet, da man dent
Menschen, als. ein Mittel feiner Wohlfahrt inner»
lich liebt, aus mittelbarer — z· B. aus na⸗
tuͤrlicher Dankbarkeit.
3) von der äſthetiſchen Menſchenliebe die ſich
auf Liebe zur Ordnung, zur Harmonie und ver⸗
nuͤnftig modificirte, aber dennoch nicht moraliſche
mittelbare Neigungen gruͤndet.
4). von der politiſchen, klugen Menſchenliebe
d. i. von der aͤuſſern Schonung und Beförderung
der Menſchenrechte ————— und Guͤ⸗
te), um
a) natuͤrlichen oder buͤrgerlichen, rechtmaͤßigen oder
unrechtmaͤßigen Zwangsuͤbeln auszuweichen.
b) Gunſt und Wohlthaten von andern zu erhal⸗
ten, oder doch erhalten zu Fünnen (ihnen das
Vermögen, die Krafft dazu nicht zu rauben).
©) um der Achtung und Liebe willen, die man bey
andern für Gefinnungen der Menfchenfchägung
und Menfchenliebe vorausſetzt. Diefe Marime
der Großmuth bahnt den Uebergang zu derieni⸗
gen, aus eigner unmittelbarer Achtung fuͤr
Pflicht und Menſchheit recht und wohl zu thun.
ch um Achtung für die Menſchenrechte uͤberhaupt,
eine Gefinnung, Die meinen Privatzwecken guͤn⸗
ſtig
414 Angewandie Moral
ſtig iſt in der Gefellichaft zu erhalten, und zu
befoͤrdern, nur ‚um ‚meinetwillen. J last
Sofern dieſe — und Maximen Logins
der natürlichen Selbftliebe entipringen ‚haben fie Fei-
nen moralischen, innern, obgleich einen cosmologiſchen
und äuffern Werth, und fie Fönnen eben fo wohl pflichts
widrige! Handlungen hervorbringen, als ſolche, die der
Pflicht gemaͤs find’; Handlungen , die ‚wider die,ächte
Gelbftpflicht laufen, oder ee mit der —** Men⸗
eye Br
Een. fie aber aus ächter mornlifcher Selbfifhä-
tzung entſprungen, ; sder auf diefelbe gepflanzt: fo ha⸗
ben fie allerdings fietlichen Werth; fie find aber auch
alsdann nothwendigerweiſe mit allgemeinen Gefi nnungen
der Menſchenſchaͤtzung, und mit andern aus ihnen unmit⸗
telbar entſprungenen Maximen verbunden, weil dieſe
auf denſelben ſittlichen Gruͤnden mit der Selbſtſchaͤtzung
beruhen ‚and von. Ihr ungerttenplich, iſt. 9: 461.
€. 536.
nn Gr der Reinheit
J unmittelbarer und reiner eine Handlung, oder
ein ganzes Verhalten, das fich auf andere Menfchen be⸗
zieht, aus der Vorſtellung herfließt, daß fie vernuͤnfti⸗
ge Weſen und ſelbſtſtaͤndige Zwecke ſund; ie weniger Ein⸗
fluß andere natürliche Empfindungen und Neigungen dar:
auf haben; ie mehr es fich über alle Menfchen als, ver-
Ef Weſen verbreirer und anf Die ganze Beſtim⸗
mung
ermordi. Aral #8
sehr
Zwecke dem höchften, die — dem — une
terordnet; ie genauer, es endlich, die Proportion zwi⸗
ſchen den verſchiedenen Menſchenpfuchten unter fi ich ſelbſt
in Abſicht auf ihre verfchiedenen merke" und perfönlis
chen Gegenftände, und wechſelſeitig zwiſchen den Men⸗
ſchenpfüchten und Selb ſtpflichten beobachtet deſto aͤch⸗
ter und reiner iſt meine enfehenfeäsung. —**
U gu &
—
Vexhaltnß den Näguigen, * —
nz
durch den grofen Bufammenhang,, 1 „worin A unfer eigneg,
Wohl mit dem Wohle der übrigen Menſchen ſteht, hat
die Raun uns ‚Die, ‚Erfüllung der ——— fuͤr
viele Faͤlle erleichtert. Denn —R
1) wenn wir den M tenfchen wohlthun, —7 en fie .
geneigter, unfer eigneg zu befoͤrdern; Eh Ungerech⸗
ligteit und Liebloſigkelt wuͤrkt zu unſerm Be
auf die Geſiunung der Menfchene! u 2
2) Wir fegen andere in den Stand, uns ——
wenn wir ſie als Mittel unſers Wohls erhalten
‚und. ihre Boltemenbs ( fo. wie ihre —
* vermehren.
3) Unfre Bemühung, 5 thun, die dadurch vers
mehrte eigne Xhätigfeit, übt und erhöht unfre Kraͤff⸗
te, mache ung volfommener und glüflicher.
*
4) Die
416 Angewandte Moral,
"9 Die Anſchauung fremder Vollfommenheit, und
unfrer eignen Würffamfeit als der Urfache, die fie.
hervorgebracht, vergnuͤgt und beglüft uns.
..5) Unfere eignen Rechte und Zwecke werden fi cherer,
wenn wir Durch Das eigene Benfpiel unferes ges
rechten und liebreichen Verhaltens die Gefinnungen
der Menfchenachtung und Liebe erhalten , ausbreis
ten und beleben.
Deffenungeachtet Fönnen ſowohl die ſelbſtiſchen, als
die geſelligen Neigungen, ſie moͤgen nun inſtinktartig
oder mit Reflexion und Anwendung unſeres Verſtandes
wuͤrken, die Pflicht der Menſchenſchaͤtzung öfters er⸗
fhweren, und vornehmlich die rechte Bey- und Unter«
ordnung ber verfcjiedenen (materialen) Menfchenpflich-
gen verhindern.
$. 528.
Berfündigungen an Menfchen,
Man verfuͤndigt fi fih an andern Menfchen
3) durch Ungerechtigkeit
a) durch Verläugnung oder Enfweihung der
Menſchenwürde, unwuͤrdige Beurtheilung und
, Behandlung der Menfchheit, auch in feiner
eignen Derfon.
b) durch Verlegung der weſentlichen menſchlichen
Kröffte und Rechte, oder durch Seleidigung
der Menſchheit.
e) Durch
Angewandte Moral. 417
©) durch Störung der Gluͤckſeligkeit, oder. durch
Beleidigung der Menſchlichkeit, Unmenfche
lichkeit — aftive ‚oder paſſive d. 1. zulaßende,
wo der andere ein Recht auf meine Kraͤffte und
auf ihren Gebrauch zu feinen Endzwecken erlangt
haste z. D. durch einen Vertrag — Unehrlich⸗
keit, Untreue, Undankbarkeit.
— durch Liebloſi gkeit, Mangel an Guͤte
a) Vernachläßigte Erhöhung der Menſchen⸗
würde, auch in mir felbft.
53 Pernachläßigte Bildung der Menſchtet, bi
Erhöhung ihrer Kraͤffte.
) vVernahläßigung menſchlichen wohle.
3. B Unbilligkeit Ungeſelligkeit, Unbarmherzigkeit,
Ungeſellſchaftlichkeit „Mangel an Patriotismus, ar
Weltbůrgergeiſt. Ser
3) — fehlerhafte Proportion, Es: und Sub»
ordination
2) der Selbſt/und Menſchenpflichten z. B. ſchwa⸗
che Nachgiebigkeit von feinem Rechte, unmo«-
raliſche Aufopferungen (denn die Pflichten gegen
Gaott koͤnnen nicht si wie unfen gezeige
“ wird. )
—* der Pflichten gegen — perſoͤnliche Ob⸗
air iekte der Menſchenpflichten z. B. parsheiifche
— ———
WMoralphiloſophie. DD» €) Der
48 Angewandte Moral,
c) ver Pflichten , die fich auf verſchiedene nicht per⸗
fönliche Obiekte ver Menfchenpflichten beziehen
3 DB. auf die Bollfommenheit oder auf das Wohl
des Menfchen, und auf verfchiedene Beſtand⸗
theile und Bedingungen von beyden 5. B. uns
zeitige Nachfiche gegen Sehler.
Diefer Mangel an Proportion wird durch Ableitung eis
ner jeden Pflicht aus dent ächten Princip, welches zu-
gleich die Graͤnzen und Verhältniffe derſelben beſtimmt,
an ſicherſten vermieden; denn gewoͤhnlich iſt er mehr die
Folge einer unaͤchten Geſinnung eig unrichtiger und
mangelhafter Einſichten.
$. 529.
Duelle
Die Quellen Diefer Verfündigungeh ($. 528) fiegen .
I) im Egoismus (8.469. 2.) oder dem ausſchließen⸗
den Bewußtſeyn von ſich felbft, als einem ſinnli⸗
chen Wefen, und in ven Quellen diefer Gefinnung,
nehmlich in dem Mangel an vernünftiger Selbſt⸗
ſchaͤtzung, die mit Menfchenfchagung überhaupt vers
bunden if. Der Egoift mache fih zum einzigen
oder zum letzten, oder zum vornehmſten Zweck
aller Handlungen, dem er. alles andere negativ und
poſitiv fubordinirt.
2) in der Menge und Stärfe der Neigungen,
vorzüglich der felbftifchen, aber auch felbft der fym«
pathetiſchen und gefelligen ; Stärfe der Hinderniffe.
i | ta
Angewandte Moral, 419
” in dem Mangel an Sertigfeic in der Vorfiel-
fung von andern Menfchen und ihren Derhaältnif-
fen, woraus beſonders unvorſaͤtzliche DHRMBUN-
gen oder Lieblofigfeiten entſpringen
4) in. Vorurtheilen von einer höchſten oder gar
einzigen Selbfipflicht ; daß ieder nur fuͤr ſich ſor—
gen muͤße; ieder ſich ſelbſt der Naͤchſte, Menfchen-
pflicht nur ein Mittel der Selbſtpflicht und ihr
uͤberall untergeordnet ſey; daß man im Ganzen
dadurch verliere u. d. gl.
$. 530.
Entſchuldigungen.
Man ſchuͤtzt bey Verletzung der Menſchenpflichten
überhaupt meiſtens die Selbſtpflicht, auch wohl die Re—
ligionspflicht vor; bey Ungerechtigkeiten die Pflicht der
Liebe; bey Liebloſi igkeiten die Gerechtigkeit gegen ſich und
andere; die Unwuͤrdigteit den Undank, die Unem⸗
pfaͤnglichkeit der Menſchen für das Gute; fein eignes
Unvermögen ; äuffere Hinderniffe, auch wohl das Vers
trauen auf Die goͤttliche Vorſehung, die ſich ia wohl der
Menfchen annehmen , Ungerechtigfeiten vergüten, und
„Den Mangel an Denfchenliebe erfegen werde und folle.
r Man begnügt ſich dabey mit einer würfungslofen Empfins
dung. der Liebe und des Mitleids ; mit thatloſer Theil⸗
nehmung des Ausdrucks; mit muͤheloſen Gefaͤlligkeiten
und Dienſten. Man beruft ſich endlich darauf, daß ia
andere ihre Menfchenpfliche gegen uns eben fo wenig,
euer noch weniger erfüllen,
DER, &, 531:
420 Angewandte Moral,
6. 53I. y
Sinnliche Folgen,
Ungerechtigfeit und Lieblofigfeif gegen Menfchen,
fest uns in unfren eignen Augen herab, beraubf ung
nicht nur der Zufriedenheit mit uns felbft, ſondern auch
der ſchaͤtzbarſten Freuden des Wohlthuns und der Geſel⸗
ligkeit. Innerlich erzeugt dieſe Geſinnung quälende Ge⸗
kuͤhle und Leidenſchaften des Haſſes, des Neides, der
Rachſucht und der nur ſchrankenlos wuͤrkenden egoiſtiſchen
Triebe, deren oͤftere Verletzung nur weit heftiger
ſchmerzt. Aeuſſerlich wird der Ungerechte und Liebloſe
zu einem freudenloſen, hülflofen, einſamen Leben ver—
Damme, und der wohlthaͤtigen Folgen des menſchlichen
Zutrauens, der Achtung und Liebe im gleichen Verhaͤlt⸗
niſſe beraubt, wie er ſich ſelbſt zum hoͤchſten und einzi⸗
gen Ziele aller ſeiner Veſtrebungen macht.
Speciellere Ausfuͤhrung der Meuſchenpfucheen.
6532 |
Erfte Menſchenpflicht.
Erhaltung der Menſchenwuͤrde.
$. 523. Num. 1. Erhalte die Würde der
Menſchheit. Jede Ungerechtigkeit gegen mich ſelbſt, iſt
Beleidigung der Menſcheuwuͤrde, und infofern Verle⸗
gung auch, der Menfchenpflichez ih erniedrige Die Menfch-
heit in meiner eignen Perfon. Die weitere Ausführung i
giebt die ganze Sittenlehre. Beſondere Vorſchriften:
Hege,
Angewandte Moral, 421
Hege, äuffere, befördere, weder gegen das menfch«
liche Gefchlecht im Ganzen, noch gegen irgendeinen eins
zelnen Menfchen, auch gegen dich ſelbſt nicht, abfolure
Verachtung oder abfolutes Mißtrauen. m Urtheile
über‘ Menfchen , auch über folche Handfungen derfelben,
die du fuͤr unvernuͤnftig und unſittlich haͤlſt, ſetze doch nie
die Achtung fuͤr die Menſchheit bey Seite. Verbreite
keine Grundſaͤtze, erdichte keine Fakta, worunter dieſe
Achtung, oder das gute Vertrauen zur Menſchheit
uͤberhaupt leiden koͤnnte.
Erniedrige die Menschheit nicht, durch Verlaͤugnung
deiner eignen Würde, durch Linfittlichfeir.
tenfchheit, und ihr Edelſtes, Vernunft — Recht
— Pflihe — Religion, und wos irgend damit zufam-
menhängt, fen nie der Gegenftand leichtfinnigeit Spot-
tes oder unbehutſamen Bezweiflens oder Beſtreitens.
Je naͤher, ie weſentlicher eine Sache oder ein Ge⸗
danke mit dieſen Heiligthuͤmern der Menſchheit an ſich
vder doch ſubiektiv in der Vorſtellungsart der Menſchen
verbunden iſt, deſto ſorgſamer muß — wer Menſchen
fhäse — iede Verlegung derſelben meiden. Ruhige,
weiſe Unterſuchung; auch ſogar Spott, wo er nur das
Spottes wuͤrdige trifft (welches die Umſtaͤnde lehren),
wird dadurch keines weges von — und Schrif⸗
ten auggerhloßen.
Erniedrige, entweihe keinen Naturtrieb, der zur
wege des Menſchengeſchlechts beſtimmt iſt, zum
Dd3 bloſ⸗
422 ‚Angewandte Morak
bloſſen Werkzeug. finnlicher Luft, wider feinen ‚eigentli-
hen Zweck. ©. unten von der Keuſchheit $.589 ff-
$. 533.
Zweyte und dritte Menfchenpflicht.
Menſchenerhaltung, Menſchenſchonung.
5. 522. Num. 2. 3. Ehre die Menſchen, durch
Erhaltung und Schonung ihrer Kräffte und
Rechte; beleidige keinen, indem du ſeine Kräffte
und das Arche ihres eignen freyen Gebraüchs
ftöreft.
Diefe Kräffte find
3) Vermögen zu handlen
a) innere, wefentliche
“) die oberfte Krafft, die —
A) die untergeordneten Seelenfräfte 3. * Ein⸗
bildungskraft.
b) aͤuſſere, auſſerweſentliche N und Dbiefs
fe der innern Thaͤtigkeit; Werkzeuge ihre Ide⸗
en zu realiſiren.
2) Bermögen zu genießen. f
a) innere Bedingungen des Wohlfeyns.
«) des vernuͤnftigen.
2) des blos ſinnlichen.
b) äuffere Bedingungen, Gegenſtaͤnde und Mittel
des Genuſſes, Guͤter. J
Die
Angewandte, Moral, 423
Die Rechte halten im Allgeıneinen mit den. Kräfften
und Vermögen gleichen Schritt , weil fie auf dem frenen
Gebrauch und Erwerb derfelben — auf Würkfamkeie
und auf Genuß — gehen.
Diefe Tafel läßt vorläufig Die verfchiedenen materi—
alen Pflichten überfchauen, Die dag allgemeine Gebot der
Menfchenerhaltung und Menfcherfchonung in fich faßt.
Der Begriff vom Nechte fordert noch eine eigne mora⸗
liſche Unterfuhung ).
565664.
Menſchliches Recht.
In der Metaph. der Sitten (5§. 322.) iſt aus dem
Begriffe des Rechtes erwieſen worden, daß iedes ver-
nuͤnftige Weſen im Allgemeinen (6. 326.) zu freyer
Wuͤrkſamkeit feiner Kraͤffte und zu Beförderung feiner
eignen Zwecke verpflichtet und alfo auch berechtiger iſt.
Dieß gilt alſo auch von den Menſchen.
§. 535.
Oberſtes allgemeinſtes Recht des Menſchen.
Ich und ieder Menſch hat im Allgemeinen das
Recht, feine Kräffte nach eignen Sweden zu ge
brauchen, weil ein Gefeß, dag diefes im Allgemei-
nen meerſagten ſich ſelbſt d. i. dem Begriffe und Zwecke
Dv4 eines
—9— Die Unterſuchung der Rechte in die beſondern und
einzelnen Faͤlle ihrer Anwendung einzuleiten, iſt das
Geſchaͤfft des ngtuͤrlichen Nebtslenrers. Die
moralischen. Grunde des Rechts uberkaupt und die Pflich⸗
ten; welche Fich darauf beyiehen, find ein Gegenftanv,
‚den dee Gitrenlehrer nicht übergeben Darf.
424 Angewandte Moral.
eines Geſehes widerfpräche. Dem ein Gefetz ift Kegel
freyer Handlungen. - Es fege alfo freye Thaͤtigkeit als
Bedingung voraus d. h.eine Einrichtung des Verhal-
tens, um felbfigemählte Zwecke zu befördern.
> Seh einem willkuͤhrlichen Geſetze (Heteronemie) deſ⸗
ſen Geſetzlichkeit von einem Obern abhaͤngt, muß doch
ein Zweck vorausgeſetzt werden, um deſſentwillen ich es
befolgen will. Bey einem innerlich nothwendigen Ge⸗
ſetze (Autonomie) bringt es ſchon der Begriff unmittel⸗
bar mit ſich, daß es aus meinem freien Willen entſprin⸗
ge (©. Crit. d. pr. Vern.). Es kann alſo weder nach
innern, noch nach aͤuſſeren Geſetzen im Allgemeinen un⸗
recht ſeyn, ſeine Kraͤffte nach eignen Zwecken zu ge⸗
brauchen.
$. 536.
Naͤchſte Beſtimmung.
Seine naͤchſte und allgemeinſte Beſtimmung bekommt
dieſes Recht durch die Bereinigung nit demfelben Rechte
aller andern Menfchen. Gebunden an einerlen Geſetz,
an die Vernunft, beſitzen alle auch daſſelbe Recht (Nas
zurfiche Gleichheit menfchlicher Nechte, eine Folge von
ver aleichen Verbindlichkeit), das ebenfalls auf ver Ver⸗
nunft und auf der’ damit verbundenen Würde einer -
Merfon beruht. Ich darf alfo mein’ Rechte (das Recht
des Einzelnen) zwar über alle vernunftlofe Wefen aus⸗
dehnen, und fiezu Werfjeugen, Mitteln und Gegen-
ſtaͤnden meiner freyen Thaͤtigkeit zu meinen perfönlichen
ame;
Angewandte Möral, 495
Zwecken wheingefchränfe *) gebrauchen ; nicht aber eben
fo über die Menfchen und die Vernunftweſen überhaupt.
Ich habe alfo überhaupt ein beſtimmtes Recht,
-- alles dasienige zu thun oder zu laſſen, was meinem frey⸗
en Willen und meinem Zwecke gemäß iſt, "Doch nur. in
fo fern, als es die freye Würkfamfeit anderer Men⸗
ſchen zur Beförderung ihrer Zwecke nicht einſchraͤnkt. Ich
habe aber kein beſtimmtes Recht, der freyen Thaͤtigkeit
anderer Menſchen Hinderniffe in den Weg zu *
$. 537.
Beränfferliche, unveräufferliche Küchler w
Die freye Mürkfamkeit, wozu ich und jeder andere
Menſch das Recht haben, bezieht fih auf Zwecke, die
entweder weſentlich und noihwendig oder mir zu⸗
fallig fi ſind.
— weſentlichen Zwmede zu erhalten ip zu be-
fördern „if wicht des Menfchen eignem Belieben über-
laßen, fondern er iſt fitelich Dazu verbunden: ; Es ge
u dahin
) derienige Hauptzweck, der aus der vernünfti⸗
gen Natur des Menfchen fliege, die ren
der Zzweck der ei
| 2) der
2) Hier Fann nur fein eigner Zweck felbft die Schran⸗
ken beliebig beſtimmen; denn dieſe Dinge haben als
Sachen) nur einen. relativen Werth und Feine nude
Bude So find ve Pflich ten, die fi
Die Thiere besichen, nur: Dichten in Beau
auf Zwecke verniuntiner Weſen, meines ſelbſt anderer
Reuſchen und der ©; Aithei.
426 Angewandte Moral;
2) der nothwendige Nebenzweck, der in der ſinn⸗
lichen Natur des Menſchen, in ſeinem menſchli⸗
chen Begehrungsvermoͤgen gegruͤndet iſt, die Gluͤck⸗
ſeligkeit, der zweck der Menſchlichkeit.
Zufällige Zzwecke find einzelne Beſtandtheile J
Bedingungen der Gluͤckſeligkeit, Gegenſtaͤnde der
Befriedigung einzelner zufaͤllig erzeugter Begierden
‚und Neigungen. Zu Deren Erhaltung und Be
förderung ‚fanın es Feine ſtrenge ſittliche Verbind⸗
lichkeit geben.
Zu dieſen Zwecken giebt es nothwendige und zufälli⸗
ge Mittel; ſolche, ohne deren Gebrauch der Zweck ſchlech⸗
terdings nicht erreicht wird, und ſolche, deren Stelle ein a
anderes Mittel verfreten kann.
Zu dem Gebrauche der nothwendigen Mittel, die
einen nothwendigen Zweck befoͤrdern, bin ich ſtreng der»
pflithtet, und mein Recht dazu iſt unveräuſſerlich d·
h. es ſteht nicht in meinem Belieben, ob ich von dieſem
Rechte Gebrauch machen, ob ich dieſe freye ———
aͤuſſern will, oder nicht.
Was nur ein zufaͤlliges Mittel zu einem zufäligen
oder auch nothwendigen Zwedfe, oder zwar ein nothwen⸗
diges Mittel, aber nur zu einem zufälligen und beliebi-
gen Zwecke (5. B. einembeflimmten finnlichen Vergnuͤ⸗
gen) iſt; Dazu habe ich und hat ieder Menfch ein veräuf
ſerliches Recht, deſſen Gebrauche gänzlich zu entfagen,
im Allgemeinen feiner ſtrengen — wider⸗
ſtreitet.
$. 538.
Angewandte Moral, 427
| 9.538
Unveräufferlich find alfo die Nechte der Menfchheie
und Bir Menfchlichkeit z veraufferlich alle übrigen.
$. 539.
Grund der Zwangspflichten und ige
In dem allgemeinen Rechte ($. .) des Menfchen
zu eigner freyen Ihätigkeie iſt nothwendigerweiſe ſchon
begriffen das Recht, die Zinderniſſe dieſer freyen
Thaͤtigkeit wegzuräumen. Wenn nur Ein Menſch
(A) dem Andern (B) Hinderniſſe in den Weg legt, ſei⸗
ne Kröffte nad) eignen Gefezen und zu eignen Zwecken
zu gebrauchen: fo hat der letztere (B) im Allgemeinen
das Recht ($. 535.), diefe Hinderniffe zu ensfernen.
Ein beffimmtes Recht ($. 536.) hat er aber nur als⸗
dann, wenn diefe Hinderniffe nicht ſelbſt als Mittel zu
betrachten «waren, wodurch iener (A) die Hinderniffe
vereitlen wollte, die der andere (B) feiner perfönlichen
Sreyheit entgegengefegt hatte. Denn das. beftimmte
Recht giltnur für dieienigen Fälle, wo Die Freyheit des
Einen niche mit der Freyheit des Andern flreitet.
Der Störer meiner Freyheit und des Gebrauchs meis
ner Rechte macht, daß ich von meinem Rechte gerade
einen folchen Gebrauch machen muß, welcher den frey-
en (aber fremde Freyheit flörenden) Gebrauch feiner
Kröffte einfchränfe. "
‚Die nothwendige Bedingung, - unter welcher ich
mein Recht nur „gebrauchen fann d. i. die Vertheidi—
gung muß felbft im Allgemeinen Recht feyn.
Ka | $. 540
J
28 Angewandte Moral,
$. 540. —
8
Phyſt ſhe Einſchraͤnkungen (wozu auch die aan )
giſchen gehören) der freyen Ihärigfeit anderer Menfchen |
heiffen Zivanı. Im Allgemeinen habe ich Das Recht,
den andern zu zwingen, wenn ich nur durch Zwang
mich von den Hinderniflen befreyen kann, die ein anderer
meiner freyen Thaͤtigkeit in den ‚Weg legt. Beftimme |
fomme es mir nurdann (äufferlich) zu, wenn der an⸗
dere nicht mehr durch meinen Angeiff auf. feine Frey:
heit — war, mir ſelbſt Zwang —
$. 541.
Pflicht zu zwingen.
Gerechtigkeit gegen mich ſelbſt macht es mir zur ſtren⸗
gen Pflicht, den andern mit Zwang zu belegen, wenn
dieſer mich in dem Gebrauche meiner unveraͤuſſerlichen
Rechte (ß. )ſtoͤret zB. Durch Gewiſſenszwang,
Einſchraͤnkung der Denkfreyheit, Angriffe auf mein Les
ben, Beraubung der Nothwendigkeiten des Lebens. Eben
Diefe macht es mir nur im Allgemeineh, alfo nur zur
unvollkommenen Pflicht ($. 313.), der Störung
meiner veraͤuſſerlichen Rechte Zwang entgegen zu ſtellen.
Hier haͤngt die Verbindlichkeit von der Entſcheidung ab,
die die Collifiongregeln geben. *
Das unveraͤuſſerliche Recht iſt alſo vollkowmen⸗
das veraͤuſſerliche unvollkommen. 27
\
&
Angewandte Moral, 429
Es iſt im Allgemeinen erlaubt, von dem Ges
‚brauche eines veräufferlichen Rechtes nachzugeben; aber
nähere Beſtimmungen der PH koͤnnen auch dieſe Er⸗
kandeif einschränfene
‚Wenn die ungeahndere und N Kraͤnkung
meines auch nur veraͤuſſerlichen Rechtes, nach den Uns
‘ fönden, die Verlegung eines unveräufferlichen Rechtes
nach fich ziehen, wo das Nachgeben als Schwäche gemis—
Braucht würde ; da ift der Zwang ebenfalls Pflicht, die
mir —* —— —*
6. 542:
* Kechr zu zwingen.
Erlaubt eche můßig⸗ iſt der Zwang, den ih an⸗
wenn und fo fern er Pflicht iſt, auſſerdem nie.
Ich darf nur dann zwingen, „wenn ich folk fe die
Pflicht vollfommen. und uneingefchränfe, ſo auh das
Recht zu zwingen; iſt fie Dagegen unbeſtimmt und eins
geſchraͤnkt: fo iſts wu: das aiangsreit,
⸗
ae 543.
Der Swang ift erlaube, wenner ———
moraliſch möglich iſt. Diefer richtige Sag iſt gleich⸗
wohl unrichtiger Anwendungen fähig. Z. B. Man kann
niemanden zwingen, einen Menſchen zu lieben. Es
geſchieht aber eine Verwechſelung der Begriffe von pa⸗
thologiſcher Liebe, die in Gefühlen beſteht, und von
der praktiſchen, die aus Grundfägen der Pflicht ent⸗
fpeing, wenn Dr, Eberhard (Sittenlehre der Ver⸗
nunft
430 Angewandte Moral,
nunft. $. 90. Anm.)den fonft unlaͤugbaren Satz: „Lie;
besdienfte Fönmen nicht erzwungen werden, da-
ber beweift, weil Liebe auf einem Urrheil des Verftan-
des beruft, deſſen Erpreſſung phyſiſch unmöglich iſt.
Dem die GSeſinnung der Gerechtigkeit oder. das -
Nichtdaſeyn eines Hangs zu beleidigen, iſt eben fo ‚wenig
als Liebe ein. phyſiſch möglicher. Gegenftand des Zwan⸗
ges und dennoch laſſen ſich die äufferen Erweiſungen
der Gerechtigkeit erzwingen. Eben dieß laͤßt ſich auch
gegen den Eberhardiſchen Beweis erinnern, daß die Er⸗
preſſung der Pflichten gegen ſich ſelbſt widerſinnig waͤre,
weil ſie vorausſetzen wuͤrde, ich koͤnnte iemanden zwin⸗
gen ſich ſelbſt zu lieben. Auf den Beweis des Satzes:
„Pflichten gegen Gott find Feine Zwangspflichten, (Sit⸗
tenlehre $. 88. ff.) laͤßt ſich daſſelbe anwenden.
§. 544.
Der Zwang darf nie ohne Abſicht, ſondern dieſer
und dem auf meine Freyheit geſchehenen Angriffe ge—
maͤs ſeyn — ſowohl in Abſicht auf das Daſeyn, als
auf die Beſchaffenheit und Größe deſſelben.
Zwang ohne Abſicht, iſt Beleidigung ‚ Unrecht,
Zwang, der feiner Befchaffenheit nach Der Abſicht
nicht entſpricht, iſt Unrecht z. B— Zerſtoͤrung ſolcher
Kraͤffte, Einſchraͤnkung ſolcher Handlungen, Die mir
nicht gewiß oder Doch: hoͤchſt wahrſcheinlich ſchaden.
Dieß iſt wohl immer der Fall bey Todesſtrafen.
Zwang, “der groͤſſer iſt, als der 8weck es erfordert,
iſt Unrecht. Auch dieß ſpricht wider Die Todesſtrafen,
wo⸗
J
Angewandte Moral, 431
wofern man nicht apodiktiſch erweiſen kann ), daß
der geſellſchaftliche Zweck ohne fie ſchahterziuse zerſtoͤrt
und aufgehoben wuͤrde.
Zwang, der nichts seen, ber * nicht —
kann, iſt Unrecht. —
Zwang, der ein groͤſſeres Uebel fifeet, * «als, dasienige,
wogegen er angeroendet wird — iſt unrecht.
Der Zauptz weck des Zwanges iſt, das Unrecht
zu — zu endigen und Erſat zů Seiügten ; 5 ein
Es darf aber niemand blos um Kg: noch
um deswillen mie härtern Zwang belegt (oder, wie
‚ vl
man ſich eigentlich” auszudrücken pflegt, harter be⸗
ſtraft) Berden
———
ah“ Fi Subiekrive, Beurtheilung. |
g: "Die Beurtheilung des Rechts und der Verbindlich⸗
keit, iemanden zu zwingen, und der Groͤſſe diefes 3wan-
ge8 ‚gehört lediglich für Das. innere Gericht, oder für
die Ueberzeugung eines ieden Einzelnen, welcher den
Zwang ausübt, und es ift an ſich nicht. nothwendig,
daß man HR Andern vonder Rechtmaͤſſigkeit und Vers
haͤlt⸗
‚Auf bloße Vermuthungen, auf zufaͤllige Meynungen
J Ike man doch keines Menſchen Leben — aufopfern
432 Angewandte Moral,
haͤltnismaͤſſigkeit feines Verfahrens überzeugen koͤnue.
Ich kann und darf aber (Vertragsmaͤſſig) dieſe Beur⸗
theilung einem Dritten uͤberlaſſen und dieß geſchieht,
im Ganzen ſehr zweckmaͤſſi ig, in der buͤrgerlichen Geſell⸗
ſchafft. Nur in dieſer allein, und ſonſt nirgends, hat
der Begriff von einem Sericht garen
cxcernum) Reallttat —* a
NE, 548. %
| Wenn die Pflicht (der zuech weſentlich und noth⸗
wendig ift, mworinn ich geftört werde ſo iſt der Zwang.
der Gegenwehr fh! fechtetdinge notwendig. Wenn dieſe
Pflicht nur hypothetiſch oder disiunktiv ifis fo iſts auch
Das Recht zu zwingen. Gomeit die Pflicht PAIN. "
weit geht das Recht zu zwingen
S. 547.
Die. Pflcht der Gerechtigkeit, in Vens en Die eds.
te anderer Menfchen ($. 533.) fordert demnach, fie, zu
ſchonen d. h. den freyen Gebrauch ihrer Kraͤffte nicht
einzuſchraͤnken, auſſer i in ſo fern dieſe Einſchraͤnkung zur
Behauptung meiner eignen Rechte erforderlich iſt. Die
Pflicht der Guͤte fuͤgt hinzu, daß dieſe meine Rechte,
wichtiger ſeyn müßen, als die des andern.” Diefe Wich⸗
figfeie iſt nun (zwar ſubiektiv, aber) obiettiv darum
nicht groͤſſer/ weil es meine Rechte find, U ſondern fie.
muß aus iht er eignen Natur beurtheilt · werden. Das
Gegentheil davon iſt unſittlicher Egoismus, vs wu Ins
Merten) 13 HRRS AG)
#7
Yarı
0.07
Pr er
waschen
TRRURZANI IS
IITIE TER R
5468.
Angewandte Moral, 433.
8.348.
Ueberſicht der Rechte. Mg
Die menſchlichen Rechte find °
1! ihrem Bunde nach
a. im der menſchlichen Natur überhaupt ges
gruͤndet, (nochwendige und. ‚allgemeine
RBechte der Menſchen) nehmlich
Rechte der Menſchheit (. 537.), die ſich auf
weſentliche Kraͤffte und Zwecke der vernünf⸗
tigen Natur des Menſchen gruͤnden; was
nothwendig iſt, um die hoͤchſte Beſtimmung des
Menſchen zu erreichen; das Recht auf freye
vernünftige Thaͤtigkeit.
Rechte der Menſchlichkeit, die ſich auf weſent⸗
ae liche, bedingt norhwendige Einrichtungen der
©. finnlien Natur des Menfchen gründen ;
sh was zur Gluͤckſeligkeit des Menfchen, zu feie
ni ‚ ner) finnlichen Beſtimmung norhwendig iſt;
das Recht feine en felbft und frey
zu befördern.
ES Rechte haben alle Menschen; die Pflicht, fie zu
schonen und niche zu verlegen, ift Algenein.
— .b ‚in befondern, innern und äuffern, Beſtim⸗
mungen und Derhäliffen (Kräften und
Zwecken,) der Menfchen, Zufällige Rechte der
Menſchen.
Moralphiloſophie. LE e ed) Na⸗
434 Angewandte Moral
a) Natürliche zufällige Rechte, die auf bes
fondern ‚urfprünglichen oder erlangten Kräff-
ten und Vermögen einzelner Menfchen berus
ben, aber feine freye Handlung einer Per-
fon als ihre Bedingung vorausfeßen; "das
Recht feine: beſondern Kräffte zu gebrauchen,
feine befondern Neigungen zu befriedigen. Ur;
ſprüngliches Eigenthumsrecht.
0) Erworbene Rechte, die auf eigner frey⸗
er Thaͤtigkeit beruhen.
Natürliches erworbenes Eigenthums⸗
recht — inneres, auf die Kräffte, ſo—
fern fie durch eignen Fleiß cultivirt, ver—
ftärft und vermehre worden find — Auf
feres, "auf dasienige an andern Dingen,
was durch Cultur, durch Anwendung uns
ferer Kräfte entſtanden iſt, auf ihre durch
Fleiß hervorgebrachte brauchbare Befchafs
fenheit und Einrichtung. (Es iſt ein to⸗
tales, wenn der ganze Werth des Din⸗
ges gänzlich von unfrer Thaͤtigkeit abhaͤngt;
‚ein partiales, ment das Ding auch an
ſich, ohne unſer Zuthun oder von fremden
Fleiße einen Wert h bat).
Diefes Eigenthum Cim weitläuftigen ind) beſteht
theils in Dbiefren, theils in Mitteln und Fetzensen
der zhätigfeif, |
I
mer |
|
Angewandte Mose 4435
Vertragsrechte — Kräfte oder Anwendungen ders
- ſelben, die man durch freywillige Uebertragung von
Rn einem. andern befommen hat Ri zu Beförderung feis
ner eignen Zwecke. z. V. durch ein rn oder
a Verſprechen.
Geſellige Rechte — Rechte, die Durch einen wech-
felfeitigen. Vertrag. Umtauſch der Kräfte) ent⸗
ſtanden (iemandes Rechte geworden) find, auf deu
Gebrauch der Kräffte eines andern zu feinen Zwe⸗
cken unter ‚Der Bedingung, feine eigne Kräffte
. für gewifle andere Zwecke des auDeen auf gewifle
Art zu verwenden.
Seſellſchaftliche Rechte, die durh Vereinigung
der Reäffte mehrerer Menfchen zu Bewürfung eines
gemeinfchaftlichen Zwecks entffanden find.
Bürgerliche Rechte, die aus der Vereinigung meh-
rerer Menfchen zudem gemeinfchaftlichen , fortwäh—
renden Zwecke der geſellſchaftlichen Sicherheit, Rus
he und Genuͤgſamkeit des Lebens entſtehen z. B,
das Eigenthumsrecht auf das Ererbte, es ſey mit
oder ohne Vermaͤchtniß
en 3 |
"2. Was Das Verhaältniß der Rechte zu ibrem
SGeunde betrift, ſo ſind ſe
a. Urſpruüngliche, die ühlkieriibär den letzten
sin. —35 ie 335.
Pr 94
€ Mh: Sig.
436 Angewandte Moral,
b. Abgeleitete, die von andern Rechten, als von
ihren Bedingungen, abhaͤngen.
Die Ordnung, in welcher die bisher angegebenen Rech—
te einander begruͤnden, iſt folgende: 1) Rechte der
Menſchheit 2) Rechte der Menſchlichkeit, deren Guͤltig—
feit davon abhängt, daß das finnliche Begehrungsver-
mögen mit der Vernunft Ein Subieft ausmacht. 3) Zu-
fällige natürliche Rechte. 4) Zufällige erworbene Rechte
— urfprüngliches Eigenthumsreht, Vertragsrecht,
Geſellſchaftsrecht, Recht des Bürgers 5. DB. des Regen⸗
ten. Der Gebrauch des folgenden Rechts ſetzt immer
ihon das vorige voraus, und iſt nur eine nähere Mo—
dification und Anwendung. deffelben. » So beruht z. B.
Das Bürgerrecht auf den Bedingungen einer Gefellfchaft,
dieſes auf dem Recht der Verträgen. ſ. f.
3. In Anfehung der Perfonen
a. Rechte ver Einzelnen.
b. Rechte einer Gefellfchafft.
6. 550.
Rechte der Menfchheit. N
Das Gebot der Menfbenerhaltung und Men⸗
ſchenſchonung ($- 533.) führt zunaͤchſt auf das Gefeg: |
($. 548. Num. 1. a.) Erhalte die — der
Menſchheit iedem Menſchen.
Jeder Menſch hat, als vernůnftiges Waſen, ein
unveraͤuſſerliches Recht, die weſentlichen Zwecke der Ver⸗
nunft
/
Angewandfe Moral. 437
nunft durch feine Kräffte zu verfolgen d. i. vernünftig
wuͤrkſam zu ſeyn ($. 473.) Alfo
1) fein Leben zu erhalten. Toͤdte feinen Menfchen,
auffer in fo fern die Vertheidigung Deines eignen
Lebens, oder eines Dritten, gegen den unrechts
mäffigen: (illegalen, wenn auch nicht immoralifchen)
Angriffdes andern nur durch Toͤdtung diefes andern
gefc;chen fann.
2) feinen Cörper ganz und gefund d. i. tauglich zur
innern und äufleren Wurffamfeit der Vernunft zu
erhalten. $.482.
Sey keinem Menfchen daran hinderlich 3. B. durch auf-
gezwungene Berauſchung.
3) die Nothwendigkeiten des Lebens ($. 433.)
fih zuzueignen und zu ſichern. Raube fie feinem
Menſchen, wenn du auch ſelbſt daran Mangel lit
teft"). Hindere feinen Menfchen in dem Erwerb,
der Erhaltung und DVertheidigung vderfelben.
4) feine Seelenfräffce frey zu gebrauchen und aus«
zubilden ($. 485. 496. f.)
Sehy feinem Menfchen daran hinderlich; verhüte alles,
was Freyheit felbft zu denfen, und nach Ueberzeugung
Ee 3 zu
Den Ueberfluß, oder mas, den andern nur zur Be—
quemlichkeir, zum Vergnuͤgen dient, darf ich mir mit
Gewolt zueignen, wenn es zur Erhaltung meines Le—
bens erfordert wurde. Mein Leben geht fremdem Ber:
gnugen ſchlechterdings vor.
438 Angewandte Moral,
zu handlen einfchtänft; was eine zweckwidrige Bearbei-
tung, Uebung und Richtung der Erkenntniß, Gefühls‘- und
Begehrungsvermoͤgen veranlaſſen und Das mögliche Fort⸗
ſchreiten in vernünftiger Würffamfeit verhindern koͤnnte.
Stürze und erhalte feinen Menſchen wiſſentlich in Uns
wiſſenheit, in Irthum, in Fühllofigfeit und Gefchmacks
loſigkeit, in Ungeſchiklichkeit, Thorheit und Unſittlich⸗
keit.
5) ſeinen Cörper su ftärken und brauchbarer zu
machen. $. 498.
Entziche niemanden die Mittel dazu, noch die Freyheit,
fie zu gebrauchen, aufler in fo fern deine Erhaltung da=
mit in Collifion kommt.
6) fih die äuſſern Mittel zu diefen Abfichren zu ver»
chaffen und zu erhalten. ($. 489.499: ff.), ie⸗
Doch ohne. dadurch andere zu beeinträchtigen —
nehmlich theils Werkzeuge der Thärigfeit, als Ver—
dtärfungemittel der innern Kraft, was zur Bil
dung des Geiftes und Coͤrpers beytraͤgt z.B. Ver:
bindungen, Umgang mit andern Menfchen — Verz
ſtärkungsmittel der äufferen Wuͤrkſamkeit z.B,
durch Verträge, Errichtung von Gefellfchaften ır.
d. gl; theils Obiekte der Thaͤtigkeit — ſich einen
Wuͤrkungskreiß zu verſchaffen, ihn zu erweitern,
doch ohne widerrechtliche Einſchraͤnkung anderer.
Hindere, erſchwere nicht die Verfolgung dieſer Abſichten,
die Erlangung —* den Gebrauch dieſer Mittel und
Werk⸗
/
t
Angewandte Moral. 4439
Werkzeuge der Vervollkommnung, ſofern der andere nur
deine Nechte nicht dabey Franft.
Raube feinem Menfehen feine äuffere Freyheit. (F.
489.) |
. 551.
echte der Menfchlichfeit,
Num. 1. a. $ 548. Erhalte die allgemeinen
Rechte der Menſchlichkeit jedem Menſchen.
Jeder Menſch hat ein unveraͤuſſerliches Recht (9. 490.
fe 505. ff. 537.) den andern weſentlichen Zweck feiner
Natur, fofern fie finnlich iſt, menfchliche Gluͤckſeligkeit
zu fuchen, zu erhalten, zu vermehren, zu vertheidigen
— doch fo, daß er andere darinn nicht flöre.
» + Hindere feinen Menfchen in dem, freyen Gebrauche
Diefes Nechtes. Alfo
3) Raube niemanden die Zufriedenheit mit ſich
ſelbſt, indem du ihn moraliſch verſchlimmerſt.
2) Stoͤre niemanden in der freyen Befriedigung
ſeiner Neigungen, wenn er nicht deine oder
fremde Rechte dabey ſtoͤrt. Verletze feines Mens
ſchen Neigung poſitiv, wenn nicht deine hoͤhere
Selbſtpflicht, oder die Pflicht gegen die Menſch—
| heit des andern ($. 551.) es nothwendig machen.
3) Schwäche Feines Menfchen Empfänglichkeit für
. erlaubten Genuß 5. B. durch Zerſtoͤrung ſeiner Or⸗
gane, Schwaͤchung des Coͤrpers, Trübung der
Ee 4 Ge⸗
440 . Angewandfe Moral
Gemuͤthsart, durch eine. niderdrückende oder weichi
che Erziehung und Behandlung.
4) Entz iehe feinem-Menfchen die äuſſern Glücks:
gutes , ohne die er nicht glücklich feyn Fann. -
5) Stürze niemanden in Jerthum, erhalte feinen
gefliffentlich in Umwifjenbeit, zum Nachtheil feis
ner fubieftiven. Zwede.
6) Entziehe niemanden die ihm —* Kraffte und
Hülfsmittel, zu groͤſſerer Gluͤckſeligkeit zu gelan⸗
gen.
7) Beleidige niemand durch dein perſoͤnliches Betra⸗
gen z. B. durch Grobheit, Geſchmackloſigkeit.
8) Stoͤre feinen Menſchen in den religioͤſen Ueber-
zeugungen, auf welcher die Zufriedenheit mit
feinem ganzen Zuftande und feine Beruhigung
im ‚Yeiden beruht. | |
6. 552.
Negative Menſchlichkeit.
Dieſe Pflichten der Menſchheit und Menſchlichkeit
(8. 551.'552.) darf ich nicht uͤbertreten, wenn auch der
andere darein willigen follte. Denn moralifch fann und
darf er dazu nicht einftimmen; er fol z. B. ſich nicht in
freymillige Sklaverey begeben, foll feinem Menfchen ein
unbedingtes Necht über fein Leben einrgumen, fol dem
Staate feine Todesſtrafen verſtatten.
Die
Angewandte WMoral. 441
Die Geſinnung, welche dieſe Maximen befolgt,
koͤnnte den Nahmen der negativen Humanität und
Menſchlichkeit fuͤhren. |
| 653. ai
> Zufällige Rechte der Menfchen.
$. 548. Num. 1. b. Verletze nicht die beſon⸗
dern Rechte der einzelnen Menſchen, weder uf
urfprüngliden, noch die erworbenen.
Nicht die Urſpruͤnglichen.
Hindere keinen Menſchen in dem Sebrauche feiner
Gefondern natürlichen Kräffte und vabigkeiten ‚die
feine Menfchheit‘ auszeichnen.
Störe feinen Menfchen weder im Genuſſe degienigen:
Dergnügens, wofür er eine eigene Empfanglichkeit
hat, noch in dem Erwerb von Gulfsmitteln des
Wohlſeyns, wozu ihm. die Natur befondere Anlagen
gegeben hat: — ſofern er nur weder dich, noch andere
Dadurch in dem Gebrauche ihrer Kraffte einſchraͤnkt.
Raube niemanden die Auffern Mittel zu feiner
Bildung und zu feinem Vergnügen , die dag nee
ihm gab.
Beweiß.
Jene Kraͤffte (Talente) ſind zwar zur Dirtſanteit
der Vernunft, alſo zur Erreichung der hochſten Beſtim⸗
mung des Menfchen nicht weſentlich nothweudig., aber
doch förderlich. Diefe Triebe und ihre Befriedigung
Ee5 find
2Andgewandte Moral,
find zwar zur menſchlichen Gluͤkſeligkeit uͤberhauyt nicht
unentbehtlich aber doch zuträglich. Ein ieder Menſch
hat doch im Allgemeinendie Verpflichtung, iene Fähige
feiten zu cultiviren, dieſe Anlagen zu benugen, und von
den Beguͤnſtigungen des Schickſals Gebrauchzu machen.
Andere Pflichten verſtatten ihm zwar, Ausnahmen davon
zu machen; aber dieſe muß ich ſeinem eignen Gewiſſen
überlaffen und Darf fie ihm nicht vorſchreiben.
Einſchraͤnkung.
Kein Menſch kann ein beſonderes Recht haben, das
die Rechte der M enſchheit und Menſchlichteit 6. 551.f.)
in ſeiner eignen, oder in der Perſon eines andern ver⸗
legte; \
— er ei
Noch die Erworbenen.
8. 549.Num. A. bi G. Das Recht. Jeder hat
das Recht, ſeine (innern und aͤuſſern) Kraͤffte frey zu
gebrauchen und ſie zu erhalten; mithin auch das Recht,
ſich durch eigne Thaͤtigkeit neue Kraͤffte zu erwerben, die
vorhandenen zu vermehren und zu erhoͤhen; die fo erwor—
benen zu erhelten, zu befchügen und zu ventheidigen.
Dies Recht gründet ſich aufdie Selbftpflicht der eignen
Vervollkommnung. ($- 493)
Diefes Recht hat Feine andere Graͤnze, als die, dag
der andere ſich nur Feine Eingriffe. i in fremdes Recht da«
bey erlaube.
5.
|
Angewandte Moral, 443
—
Zu er — erworbenen Eigentbum
air
44 innere, gebildete Aapkgreiten des Geiſtes.
—* 2) erworbene‘ Kräfte und Geſchiklichkeiten des Leibes
3), aͤuſſere Dinge und vortheilhafte Verhaͤltniſſe, wel⸗
qhe zur Bildung der geiſtigen und leiblichen Kraͤffte,
ner zur Beförderung meiner. Zwecke Waoͤrt ſam⸗
eit und Genuß) dienlich ſind 3. B. Vermogen,
Freunde, Ehre. Das innere Eigenthum ge
hört feinen Befiger ganz; das Auffere, foweires
von Eultur, von Bearbeitung deffelben durch feine
Kraffte abhaͤngt. a
Die Pflicht. je
Ent ziehe niemanden den Gebrauch feines 14;
tuürlich erworbenen Kigenthumsrechtes, auſſer
ſofern er deine Thaͤtigkeit ſtoͤrt, in deine Sphäre ein⸗
dringt. Laß ieden die Fruͤchte ſeiner Arbeit (feiner fürs
perlichen und feiner Geifteswerfe) ”) genießen und gebrau⸗
chen. Maaße dir die Fruͤchte fremden Fleiſſes nicht ei⸗
genmaͤchtig zu deinem Gebrauch und Genuß an; zerſtoͤ—
re, ‚vermindere fie nicht. Aufferdem — gebrauchft du
den andern nur als Mittel, wider feinen Zweck.
9. 555.
Ehrlichkeit.
Ihätige Anerkennung fremden Eigenthums heigt Ehr⸗
lichkeit. Zur Unehrlichkeit gehoͤrt a)der Diebſtahl,
wenn
2
”) Das Eige
— von R. 2. Becker. Frankf. 1739,
en ST on Feiſtes werken
444 Angewandte Moral
wenn man das Eigenthum des andern, ohne feine Ein⸗
willigung fich heimlich zumwender. 3. B. wenn einer den |
andern um. feine. rechtmäffig; erworbene. Ehre, Bermö-
gen, Sreundfchafften, ‚um die Früchte feiner GB. lite⸗
raͤriſchen) Bemuͤhungen bringt b) der Raub, wenn man
feiner rechtmaͤſſigen Vertheidigung Gewalt entgegenfetzt.
c) Betrug, wenn man Die äufferliche Einwilligung des
andern nur dadurch erhalten hat, dag man ungegrüns
dete Vorſtellungen in ihm hervorbrachte.
§. 556.
Vertragsrechte.
Hat ein ieder Menſch überhaupt das Recht, feine
Kraͤffte nach eignen Einſichten und zu eignen Zwecken zu
gebrauchen, ohne ſein eignes, unveraͤuſſerliches oder auch
irgend ein Recht eines andern Bu —— hat auch
ieder das Recht:
einen Theil von dem Gebrauche feiner nafürlichen und |
veraͤuſſerlichen auſſerweſentlichen, zur Menſchheit und
Menſchlichkeit nicht ſchlechterdings gehörigen), ſowohl
urſpruͤnglichen (F. 554.), als erworbenen (F. 555.) Rech⸗
te einem andern zu verſtatten, und ieder andere hat das
Recht, dasienige, was ihm iener von ſeinen veraͤuſſer⸗
lichen Rechten freywillig abtreten will, anzunehmen —
eine Folge von der Pflicht der Ye
und Gelbftbeglücfung.
Eine folche freywillige und mechfelfeitige Ueber |
kunft, Rechte abzutreten und anzunehmen d. i. ein Der;
rag
Angewandte Moral. 465 |
trag im moralifchen Sinne — fchränfe den Wuͤrk ungs⸗
kreiß der Freyheit des. Einen oder fein Eigenthum in fo
fern ein ‚ als fie das Eigenthum oder Die Sphäre der
freyen Würffamfeit des andern erweitert.
Bon den verfchiedenen möglichen Arten und Bedin⸗
dungen eines ſolchen Vertrags wird im Naiurtechte ge⸗
BR l 8
EEE HERIL, zu
Nur durch ein⸗ frenmoillige Entihfiegung des andern
hört, dasienige, mas ihm auf dieſe Art verſtattet wor⸗
den, auf „ fein zu ſeyn d. h. etwas zu fen, was er
zu feinen Abfichten gebrauch en darf oder zut Wurtungs⸗
ſphaͤre ſeiner Freyheit zu gehören.
aa elle e SEP 2 |
—— Al
Auf das. Recht der Versräge gründet ſich dag Recht
der Derfprebhungen. Es find Verträge, die ſich auf
435 7
Y
die Zufunft bezieht, "Go: weit die Einſicht in die Zus
‚Zunft geht, fo weit überhaupt Verträge rechtmäflig find,
fo weit Darf ich dem andern einen Theil von meinen vers
äufferlichen Rechten abtreten. Dieſer hat nun auch das -
echt, die ihm von’ einem andern für die Zukunft abge;
ftetehen veraͤuſſer lichen Rechte anzunehmen d. h. Erwar⸗
ungen darauf zu gründen. Diefe Erwartungen gehoͤ⸗
ven, in fofern fie auf den freyen Gebrauch ſeiner ge
fammten übrigen Rechte Einfluß haben koͤnnen, zu feis
nem ERIDOsbEHEN Eigenthumsrechte (F. 555.), welches
4 durch
446 Angewandte Moral,
dirch Aufhebung des Verſorechens oder Be :
Erfüllung —** verlegt wuͤrde. *
ah S. 550. 4
SIE r Pflchten.
Daher fordert die. Gerechtigkeit gegen die Menfchen,
daß
1) kein Menſch die Freyheit des andern einſchraͤnke,
das, was. er durch einen Vertrag beſitzt (F. 356.)
nach eigenen Zwecken zu gebrauchen, es zu erhal⸗
ten und zu vertheidigen; daß man alfo weder
fein unbedingt abgetretenes Recht ohne freye Ein:
willigung des andern nicht ohne Ungerechtigkeit zu
rücfnehmen koͤnne, noch daß ein dritter fich die—
fes anmaßen dürfe. Der letztere würde unehr⸗
lich ($. 356.) handeln.
Rn. Daß man DVerfprechungen: ($. 559.) haften d. 5.
die Erwartungen des andern erfüllen * die
man as bey ihm: erregt hat —*
Se ak Big “a
1 Treu ! ————
Die Haltung der Vertraͤge und die ‚Erfüllung der.
Berfprechungen ($. 560.) macht Die, ‚Treue eines Mens
fchen aus. Sie iſt eine Folge und naͤhere Modification
won ‚der Ehrlichkeit, ($. 556), die durch Anwendung
verfelben auf Vertraͤge entſteht.
Ro Kr URS EINTRETEN
9. s51.
[4
1
N
Scherʒ nicht verſtehen moͤchte.
Angewandte Moral. 447
6. 561
Folgerungen.
Unveraͤuſſerliche Rechte (F. 537.3 koͤnnen durch kei⸗
nen Vertrag abgetreten werden.
Ueber dag, was nicht mein iſt, kann ich Niemanden
Durch "einen Vertrag ein Recht geben‘, "in ſofern es nicht
mein if. Go muß ich 3. B. im Naturftande auch) dem
Raͤuber mein Verfprechen halten ; im Staate darf ich ibm
aber Fein Stillſchweigen von, feinem Angriffe oder Raube
ꝝerſprechen No. ‚dag Verſprochene halten, , weil ich
fonſt ein gefelfchaftliches Recht verlegen würde
Sobald etwas, das ich verfprochenchake, —⸗
ferlich. wird, ſo darf ich das Verfprechen nicht Halten;
ich bin aber dem andern zur baldigſten Anzeige. und zum
möglichen Erſatz verbunden,
En.
Ich ſoll nichts verſprechen, was 6 halten
Yan oder will; auch wicht im Scherz, wenn jener den,
Rt dırrt
Sch fol das Verfprochene halten „ went: es mir *
beſchwerlich wuͤrde ſobald der andere auch unter pER®
Unftänden darauf gerechnet haben kann. i
Null und nichtig iſt ein Vertrag oder ein Verfpten
—— mit Unrecht erzwungen, von einem der Con⸗
trahenten durch Vosheit und Argliſt erſchlichen, oder
ohne möglichen Bernunftgebrauch eingegangen . worden
iſt; es müßte denn ben nachherigem Vernunftgebrauch
—1T eine
J
"448 Angewandte Moral.
eine ſtilſſchweigende oder ausdrückliche Genehmigung er⸗
folgt feyn.
" Ein Verſprechen, auf deſſen Erfüllung der andere
auf keine Weiſe rechnen konnte G DB im Scherz, oder
mit. offenbarer Webereilung) dennoch zu erfüllen, iſt nicht
9 icht der Treue Gerechtigkeit), ſondern alenſals der
Guͤte.
66562.
Grade der Untreue.
Alles dieß gilt nicht nur von ausdräcfichen , fonts
dern auch von präfumirten Verſprechungen, d. i.
Don allen Handinngen und Aeuflerungen, von welchen
ich vorausfegen Fann und fol,: daß dadurch. bey einem
andern gewifle Erwartungen vege gemacht werden.
Die Unſi ttfichfeit der Untreue ift deſto gröffer 5
3) je wichtiger der : Gegenftand des Vertrags. oder
Verſprechens für den andern;
2) je nöthiger die Eicherheit eines Vertrags für de.
Erhalsung der menfchlichen Geſellſchaft war;
3) je abfichtlicher und freyer 1 den Vertrag eingieng
und Das Berfprechen that; |
— *9 je 'gemiffer die Erwarkungen foaren, die ich dadurch
bey dem andern erwecken wollte, oder wovon ſich
doch vorausſehen ließ, daß ich ſi ſie — erwe ·
ar würde,
*#’
8.563.
$. 563.
Auch die freywillige Aufhebung des Vertrags oder
Derfprechens ($. 558.) kann in. manchen Fällen prafus
mirt werden. Dieſe Präfumtion ſetzt aber eine genaue
Kenntniß der Sache, worauf es anfomme und der andern
Perſon, die dabey intereffire ift, voraus.
Ä $. 564.
PWechjelfeitige Verträge oder Verfprechungen.
Bedingte Verfprechungen und Verträge gelten fo
weit als die Bedingung ftatt findet, fie mag nun aus
drücklich angegeben oder von beyden Theilen präfumirt
werden. Man darf fein abgefretenes Necht weiter aus
dehnen, als es — verſtanden wiſſen will, der es
abtritt.
Iſt die Bedingung eine freye —— des andern
Theiles d. h. werden Rechte vertauſcht, es ſey für jetzt
oder fuͤr die Zukunft, ſo nennt man dieß einen wech⸗
ſelſeitigen Vertrag oder Verſprechen. Die Pflich⸗
ten, welche ſich darauf beziehn, ſind dieſelben, wie bey
Verträgen und Verſprechungen überhaupt, nur daß in
diefem Falle auch die wiſſentliche Uebertresung von der
einen Geite die Gültigkeit des Verfprechens von der ans
Bern ER aufbebt.
a $. 565.
Die Pflicht der Treue in Abficht auf Verträge und
Berfprechungen erftrecft fich fo wohl auf dieienigen, wo⸗
. durch Das nazürfiche äuffere Eigeuthum, als auf Dieienis
Moralphiloſophie. 5f gen,
Angewandte Moral, 449
%
450 Angewandte Mora Kl
gen, wodurch das innere Eigenthumd. I. die freye Anwen⸗
dung feiner. Kräfte verändert wird. Man foll-alfo
3) dem andern dasienige geben oder) laffen, was und
ſofern man es ihm abgetreten oder verfprochen har-
2) dem andern Dieienigen Dienfte erweifen, zu deren
Leiſtung man fih ihm anheiſchig gemacht hat.
9. 566.
Unbilligkeit.
Eine Untreue, die ſich auf ſtillſchweigende und un—
beſtimmte Vertraͤge oder Verſprechungen bezieht, iſt eine
poſitive Unbilligkeit oder Undankbarkeit. Auch
hierdurch werden Erwartungen getaͤuſcht, die man bey
dem andern durch Annehmung eines Dienſtes oder eines
Geſchenks von ihm, wiewohl nur auf ungewiſſe und
und unbeſtimmte Weiſe erregt hatte.
Ein treuer Menſch kann daher
1) auffer dem aͤuſſerſten Nothfalle, unmöglich Ger
ſchenke oder Dienſte annehmen, von denen er nach
ver Denfungsart des andern vorausfesen muß, Daß
ihre Annahme bey ienem die Erwartung von gewiſ⸗
fen Gegendienften rege machen werde, Die er nicht
leiften darf ,. kann over will. Hl
2) Er fuchedie Erwartungen des andern möglichft zw
erfüllen, wenn fie auch erſt in der Folge bey Ver⸗
änderung feiner Umftände näher beſtimmt würden,
fo weit als es ferne übrigen Pflichten nur verflate
fen.
Angewandte Moral, 451
ten. Angenommene Wohlthaten fönnen es daher
auch zur Pfliche der Gerechrigfeit machen, Ver⸗
‚träge zu halten, die man auflerdem ohne Ungerech-
tigkeit verlegen dürfte.
In gewiffen Fällen iſt Dankbarkeit eine Pflicht der Liebe
gegen Einzelne oder gegen die menfchliche Geſellſchaft.
$. 367.
Negative Gefelligfeit.
Mer die Pflicht der Treue in Abficht auf wechſelſei⸗
tige Verträge oder Verfprechungen (F. 565.) halt, ver
iſt gefellig in negativem Verſtande. Dieſes gefelliz
ge Verhältniß oder eine Geſellſchaft in weitläuftiger
Bedeutung ift vorhanden, fo bald die Menfchen ihre
innern und» äuffern Kräfte zu Beförderung ihrer perjünz.
lichen Zwecke wechfelfeitig anwenden.
f $. 568.
| Geſellſchaft.
Die Menſchen leben geſellſchaftlich oder in einer Ge⸗
ſellſchaft in engerer Bedeutung, wenn fie abſicht⸗
lich ihre Kraͤfte und wechſelſeitigen Dienſte zu Einem
gemeinſchaftlichen Zwecke vereinigen, dieſer Zweck mag
uͤbrigens voruͤbergehend oder fortwaͤhrend, einfach oder
zuſammengeſetzt ſeyn.
S. 569.
Geſellſchaftliche Treue.
Durch die Vereinigung der Menſchen zu einer Ge⸗
ſellſchaft werden von allen, bey allen Mitgliedern gewiſſe
| Sf 2 Er
452 Angewandte Moral.
Erwartungen rege gemacht, die ſich auf den gemeinfas
men Zweck der Gefellichaft beziehn. Einer ieden. gefells
fchaftlichen Verbindung liegen gewiſſe wechfelfeitige Ber:
fprechungen und Verträge zum Grunde, deren fittliche
Zuläffigfeit und Verbindlichkeit nach den allgemeinen
Regeln ($. 562.) erkannt und begtaͤnzt wird.
Die Pflicht eines frauen Gliedes einer Gefellfchaft
iſt: alles zu unterlaffen und zu hun, was nad dem
ausdrüclichen oder ſtillſchweigenden Vertrage die übri-
gen Mitglieder von ihm erwarten koͤnnen, daß er eszu
dem Zweck der Geſellſchaft unterlaffen oder thun werde.
Wer die Vortheile der Gefellfchaft wiffentlich genießt,
ver erkläre fich eben dadurch flillichweigend für ein Mit;
glied derfelben. Ver ohne freymwillige Wahl diefe Bor:
theile genoffen hat, ver ift in fofern nur zur Ermeifung
der gefelligen Pflichten ($. 567.) der Billigkeit Birlanpe
verbunden.
$. 570.
Bedingung einer moralifchen Geſellſchaft.
Ein geſellſchaftlicher Vertrag darf alſo weder die
Rechte der Menſchheit und Menſchlichkeit irgend eines. -
Menfhen, noch die zufälligen beſondern Rechte einzelner
Menfchen,, die auffer diefer Geſellſchaft leben, noch auch
Die Rechte irgend einer andern Gefelifchaft aufheben oder
einſchraͤnken. Nur die zufälligen - Rechte der einzelnen
tenfchen, die in dieſer Gefellfchaft leben, dürfen ein=
geſchraͤnkt werden, in fofern es freywillig um des ges
meinſamen Zwecks willen geſchieht.
8. 571.
Angewandte "Moral, 453
B
Buͤrgerliche Geſellſchaft, Staat.
Eine Geſellſchaft iſt bürgerlich, ein Staat, fo-
fern der mwechfelfeitige Vertrag die Abficht hat, die aufs
fere Freyheit der Verbundenen unter fich gegen innere
und auffere Angriffe durch vereinigte Gewalt zu ſchuͤtzen.
. 572.
Zweck des Staats.
Aeuſſere Freyheit uͤberhaupt iſt derienige Zuſtand,
wo man ungehindert thun kann, was man will, wo
man ſeine eigne Kraͤffte nach ſeinem eignen — ge⸗
brauchen kann.
Dieſe im Ganzen zu ſichern und zu vermehren, iſt
Zweck des Staats. Alle Einrichtungen deſſelben (ſofern
er moralisch ift), müßen dahin abzielen ; die Hinders
niffe diefer allgemeinen Freyheit wegzuraͤumen; alfo zu
verhindern
1) daß die perfönliche Freyheit eines ieden nicht ges
ffört werde durch Menfchen, die nicht zur Gefele
fihaft gehören. Alle Mitglieder vereinigen ihre
Macht, um die ganze Gefellfchafe und iedeg Mit-
glied gegen äuſſere Angriffe zu fchügen.
Die Bann. dieſer ne mache die äuſſe⸗
se Sicherheit aus. *
2) daß die Glieder der Geſellſchaft ſelbſt einander im
Gebrauche ihrer perfönkichen echte und Kräffte
.St3 kei
454 Angewandte Moral,
niche ffören. Alle Mitglieder vereinigen ihre Macht,
um nach gemeinfchaftlichen Gefegen, ieden Angriff
eines Gliedes der Geſellſchaft auf ein anderes ab⸗
zumehren.
In dem Gebrauch der äuffern Freyheit eines jeden Mit—
glieds der Gefelfchaft, der durch die Sicherung der all»
gemeinen Freyheit iedes Mitgliedes vermittelft allgemeis
ner Gefege modificirt iſt, oder in der ſyſtematiſchen Ver⸗
einigung des möglichen Gebrauchs aller perfönlichen Nech-
te und Kräffte- iedes einzelnen Bürgers mit der Frey»
heit aller übrigen vermittelſt gemeinfchafftlicher und durch
vereinte Macht unterflügter und erequirter Geſetze —
befteht das Wefen der bürgerlidyen Sreybeit.
Aeuffere Sicherheit und bürgerliche Freyheit find die
weſentlichen Zwecke des Staats. Andere Zwecke
koͤnnen noch zufällig Damit verbunden, müßen aber ienem
Hauptzwecke untergeordner werden.
$. 573-
Moralifche Gültigfeit eines Staats,
Wenn gleich die Negirungen durch Eeinen Vertrag,
fondern großentheilsdurch Gewaltthaͤtigkeiten fchlauer und
ſtarker Menfchen entffanden find,und wenn fie auch ietzt noch
zumeilen durch eben diefe Urfachen von Geiten der Negen-
ten, fo wie anderer Seits durch Schwäche, durch das Vor⸗
urtheil von mittelbarem oder unmittelbarem göttlichen Ur⸗
ſprung, durch Gewohnheit und durch Uneinigfeit, Traͤgheit
oder Gedanfenlofigfeit der Beherrfchten fid) vornehmlich er
halten
Angewandte Moral, 455
halten: fo beruht doch die eigentliche Bürgerpflicht auf
einem ausdrüffichen oder: ffillfchweigenden Vertrag der
Bürger , fich gemeinfchaftlichen Gefegen zu unterwerfen,
und die Laften fo wie die Vortheile dieſer a a}
mit einander zu theilen.
Jeder thut auf einen Iheil feiner natürlichen Frey⸗
heit Verzicht, um der Freyheit der übrigen Mitglieder
willen, mit der Bedingung, dag die Einfchränfung von
der perfönlichen Freyheit der uͤbrigen Mifglieder zur Si—
cherung feiner eignen Freyheit diene.
Gewalt und Lift, Gewohnheit und Alterthun macht
feinen Staat moralifch gültig, feine Regierung unvers
letzlich, und bringen feine Pflichr der Beherrſchten ge⸗
gen Menſchen hervor, deren Herrſchaft nur auf ſolchen
Gruͤnden beruht.
$. 574.
Die bürgerliche Verfaſſung und der Vertrag, wor:
auf fie beruht, ift ungültig und ohne Verbindlichkeit,
wenn und fofern ”) er mit den Rechten der Menſchheit
und Menfdlichkeit, der Verbundenen oder Nichrverbuns
Denen ffreitet, oder Die Rechte der Menfchen auflerhalb
dem Staate angreift. Die befondern zufälligen Rechte
einzelner Bürger koͤnnen durch den gefelfchaftlichen Ver⸗
Ff4 trag
*) Dartielle moraliſche Mängel eines geſellſchaftlichen
Dertrags bringen auch nur Ungultigfeit eines Theils
von den Dertrage hervor, Die Verbindlichkeit des
Ganzen d, ;. der ubrigen Bedingungen wird dadurch
‚nicht ſoglenh aufgehoben.
456 Angewandte Moral.
trag wechſelſeitig eingefchränfe werden, nach der allge-
meinen Regel des $. 570.
\
$. 575.
Wer ift Bürger? _
Wer die Bortheile einer Staatsverfaffung annimmt,
der erklärt ſich ſchon dadurch für einen Bürger, und
unferwirfe fich der Buͤrgerpflicht. Wollte er ſich der leg-
tern entziehen: fo müßte er ienen Vortheilen entfagen,
und fich entweder in eine anderg bürgerliche Verfaffung
begeben, mie Uebernehmung neuer Bürgerpflichten, oder
den Naturfiand fuchen. Allein für die genoffenen Vor—
theile, die er dem Staate zu verdanfen und nicht hin-
länglich vergolten hat, wäre er dennoch der Gefellfchaft eis
nen angemeffenen Erſatz fchuldig, meil fie in dieſen Er-
wartungen ihm tene Vortheile zuflieffen ließ, und einen
Theil ihrer Kräffte für ihm verwandte.
$. 576.
Regent, Tyrann, Defpor,
Die ganze Geſellſchaft macht den Staat aus. Die
Rechte und das Wohl aller verbundenen Glieder, ſind
das Recht und das Wohl des Staates. In keinem
wuͤrklichen Staate auf der Erde findet ſich die Macht des
Staates unter alle Theile und Mitglieder deſſelben gleich
vertheilt; einer oder einige ſind Regenten; andere wer—
den von dieſen regiert und ſind Unterthanen. Der
Urſprung dieſer Einrichtung iſt verſchieden von ihrer
Rechtmaͤſſigkeit. Sie gruͤndet ſich zwar hiſtoriſch auf
Staͤrke
. Angewandte Moral 457
Staͤrke und Liſt der erſtern, auf Schwäche und Thorheit
der letztern; moraliſch aber, lediglich auf der erfannz
ten Zweckmaͤſſigkeit eines ſolchen Verhaͤltniſſes und auf
einer freyen Einwilligung aller Verbundenen in dieſelbe.
Die wurklichen Begenten find alſo
» moraliſch ungültig, ſofern ſie die Unterthanen
als ihr Eigenthum (als Sachen, nicht als Perfos
nen; als Mitiel, nichtals Zwecke) betrachten und
behandlen. Gie heißen dann
a) Tyrannen, in fo fern fie die Herrſchaft uͤber
‚freye M enſchen ſich ſelbſt anmaaßen, ohne aus«
druͤkliche oder ſtillſchweigende Suwiligung der
Geſellſchaft.
Deſpoten, in ſo fern ſie nach Geſetzen herrſchen,
die lediglich aus ihrem eignen Willen, nicht aber
aus dem Willen der Geſellſchaft entſprungen
ſind, und nicht als aus dieſem entſprungen
vorgeſtellt werden koͤnnen.
2) moraliſchgültig, in fo fern fie weder als Ty—
rannen noch Defpoten zu betrachten find, ſondern
ſich ſelbſt betrachten und handlen
a) als Bürger d. h. als Glieder EN die,
was fie über ihr natürliches und ermorbeneg
Eigenthum an Rechten befigen, lediglich den uͤb—
rigen Gliedern der Geſellſchaft zu verdanken ha⸗
ben,
Sf 8 | ob) ai
458 Angewandte Moral,
b) als Repräfentanten des Dolfe v. h. als be⸗
vollmaͤchtigte Vollzieher von dem Willen deſſelben
und als ſolche Verwalter der Rechte, Die auen
uͤbrigen Mitgliedern zukommen.
Bey der Beurtheilung , ob eine Regierung moralifch
gültig oder ungüftig iſt, kommt eg nicht an auf ihren
biftorischen Urfprung, noch auf die Art, wie ein regie-
rendes Hauf zu diefem Vorzüge gelangt ift, fondern auf
die Geſellſchaft (das Volk), die entweder in die Regie—
rung willigt, oder nicht willige, und auf den Gebrauch
oder Mißbrauch, den die Negenten von ihrer Gewalt
machen, in fofern ") diefer die Einwilligung des Volfs
nder Das Gegentheil davon als Folge mach fich zieht.
Ein Regent, der Gefete giebt und fie auf einefol-
che Art erequirt, mworein dag Volk willigt (der kein De-
ſpot ift), ift eben Darum auch Fein Iyrann.
Das Recht des Negenten iſt mit dem Nechte des
Staats nicht zu verwechfeln.
$. 587. ı
Pflichten, die fi) auf den Staat —
Bey den Pflichten, die den Staat angehen, unterſchei⸗
det man
3) die Pflichten der Bürger gegen die Gefellfchaft der
Mitbürger.
2) der
*) Die Einwilligung bleibt immer weſentliche Bedin-
sung des Negentenrechts. Sonſt wuͤrde ein Regent fein
Au zwingen dürfen , wider eisnes Wollen, wert und wie
der Beherrſcher es meynte und wollte, gluͤcklich zu werden,
a
Angewandte Moral 459
2) der Regenten gegen die Unter thanen.
3) der Unterthanen gegen die Regierung,
4) der Staaten gegen Staaten. ——
$. 578.
Treue gegen den Staat.
Bey einem fo zuſammengeſetzten Vertrage, als der—
ienige iſt, worauf die bürgerliche Geſellſchaft beruht, def
fen vellftändigen Innhalt zu fennen, und auf alle vor
fommende Fälle anzuwenden, die Einficht vieler Mitz
glieder offenbar weit überfteige, wuͤrde die GSicherheif
feiner erſten Grundbedingungen leiden, und die’ Treue
des Bürgers gegen den Staat verlegt werden, wenn ie—
de (wenigſtens fcheinbar) eigenmächtige Einfchranfung
einzelner Rechte des einzelnen Bürgers dieſen beftimmte,
dem Regenten den Gehorfam aufzufagen, und Gewalt
gegen ihn zu gebrauchen. Die Untreue eines emzelnen
Gliedes — wenn es auch der Regent wäre — Fan
noch) fein Recht geben, den ganzen Vertrag mit allen
übrigen zu brechen. Sich als Einzelner den auch uns
gerechten Verfügungen des Regenten zu unterwerfen, iſt
alsdann , wenn nur fein Recht der Menfchheie und
Menſchlichkeit verlegt wird, -und wenn der Widerftand
den mwefentlichen Zweck des Staafes zerſtoͤren und ihn
nicht auf andere Art wieder herjichen würde — Pflicht
der Treue, zwar nicht unmitfelbar gegen die Perfon des
Regenten, aber Doch gegen den Staat, dem am der un-
gehinderten Aufrechthaltung und Ausübung der Regen;
tenrechte gelegen iſt. |
| $. 575:
460 Angewandte Moral,
*
$.. 579.
Zufaͤllige Beweggründe dazın
Zu der Verpflichtung der Treue, die man der Geſell⸗
ſchafft fchuldig ift, Fommen noch zwey Beweggründe
der Seldftpfliche hinzu, fie zu verſtaͤrken; nehmlich ſei—
ne eignen perförlichen Zwecke zu fichern, wozu das Da-
feyn und das; Anfehen einer Regierung erfordert wird,
und fich der. überwiegenden Gewalt der Gefellichaft, die
ihr Zwangsrecht ausüben würde, nicht Preiß zu geben.
589%. {
Da aber ale Menfchen, die ihre Vernunft ge-
brauchen fönnen, von Natur frey und nur der. Herr
fihaft ihrer eigenen Vernunft unterworfen. find: fo
kann und darf die ganze Geſellſchaft mitihrer Regierungs⸗
form, den Gefegen und den Perſonen, welche fie ad-
miniftriren, eine Veränderung vornehmen, die ihren
eignen beiten Einfichten gemaͤs iſt. Ja fie ift dazu) vers
bunden (aus Pflicht der Bervollfommnung), wenn es ohne
größere Gefahr größerer Uebel gefchehen fann. Ein Volk
begeht alfo feine Untreue gegen den Staat, (welcher
aus dem Volk felbft nicht aber aus beſtimmten Formen
feiner Verbindung oder gar ans dem Willen des Mes
genten beſteht), wenn es um ſolche Aenderungen feine
Regenten bittet, darauf dringt, und im Weigerungs⸗
falle ſie dazu noͤthigt. Doch muß es dabey die Rechte
der Menſchheit und Menſchlichkeit uͤberall, und die per—
ſoͤnlichen Eigenthumsrechte des oder der Regenten in ſo
fern ſchonen, als es ihm möglich iſt, ohne Angriffe dar⸗
auf
*
/ 24 *
Angewandte: Moral, 461
auf feine eigne Freyheit gegen —— zu ſchuͤtzen
und zu erhalten.
$. 581
Strenge Regentenpflicht,
Ein Tyrann und Defpor ($. 576.) in moraliſchen
Sinne ift überhaupt ieder Negent, der firh ein Eigen:
"thumsreche über Menfchen anmaaßt, fie und das Ihrige
blos als Mittel zu Beförderung feiner Privatzwecke zu
"gebrauchen, und der fih dadurd an der menfchlichen
Würde vergeht... Insbeſondere ieder Regent (Megts
rung), ; f
3) der mwiffentliche Gefege giebt, Die nicht aus den
Willen des Volks entipringen Fönnen.
2) der nicht Die Nechte der Menfchheit und Menſchlich⸗
keit auch an dem geringſten ſeiner Unterthanen re—
ſpektirt, ſondern dieſelben verletzt z. B. durch Ver-
ſuche, die allgemeine Denkfreyheit, Gewiſſensfrey⸗
heit, Religionsfreyheit einzuſchraͤnken.
ger 3) der die Gefellihafiz feinen Privatzwecken (perſoͤnli⸗
chen Neigungen und Leidenfchaften z. B. der Eros
berungsfacht ),
4) oder einzelne Theile- der Gefellfchafe andern Thei-
len derſelben aufopfere, ohne mögliche Einwilli⸗
"gung des Ganzen. .
5) der wiffentfich die natürliche Freyheit (8. 573.) eis
nes Einzelnen oder aller Unterthanen enger“ bes
ſchraͤukt,
462 Angewandte Moral,
ſchraͤnkt, als es die bürgerliche Freyheit —* 573-)
überhaupt erfordert.
6) der gröffere Zwangsmittel anwendet, als zu dem
Zweck der innern Sicherheit gehoͤren.
7) der dem Volke alle Mittel zu rauben oder liſtiger⸗
weiſe zu entziehen ſucht, die feine bürgerliche Frey⸗
heit gegen fünftige Angriffe eines Regenten ſchuͤ—
gen.
Ein Regent, der alles dieg nicht thut, der iſt zwar nicht
ungerecht und treulos gegen den Staat; aber Darum
noch fein Vater und Wohltharer feines Volkes,
$. 582.
Pflicht der Unterthanen.
Unterthan iſt an ſich ieder den Geſetzen des Staats
oder ver Geſellſchaft worinn er lebt. Wenn und ſo—
fern nun das Recht, dergleichen Geſetze zu geben und
wuͤrkſam zu machen, gewiſſen Perſonen (Negenten) aufs
getragen oder auch nur ſtillſchweigend verwilligt worden ifte
dann und infofern ift der Bürger Unterthan des oder der
Negenten. Die fchuldige Pflicht der Unterthanen gruͤn⸗
det ſich alſo auf den Vertrag mit der Geſellſchaft, und
der Geſellſchaft mit ihren regierenden Mitgliedern; fie
geht fo weit, als diefer Vertrag reicht, und als dieſer
moraliſche Gültigkeit hat. —
$. 583.
Ein Bürger fündigt gegen den Staat, er iſt ums
treu gegen die Geſellſchaft, fo fern er ſich den erkann⸗
ten
/
/
/
Angewandte Moral, 463
ten Bedingungen nicht unterwirft, woran die Theilnah⸗
me an den Vortheilen des Staats gebunden iſt. Dieß
geſchieht |
1) durch Ungehorſam gegen Die bürgerlichen Geſetze,
wo fie der nothwendigen Pflicht nicht widerſtreiten.
2) durch gänzlichen Mangel an äufferer Unterwers
fung unter die richterlichen Ausfprüche des Staats.
3) durch Wivderfeglichkeie ‚gegen ſolche Zwangsmit⸗
tel des Staats, wodurch die Rechte der Menſch—
| beit. und Menfchlichfeit nicht gekraͤnkt werden.
4) durch gewaltſame oder heimliche Entziehung feis
ner vertragsmäffigen Dienfte und anderer Bey:
träge zu den Bedurfniſſen des Staats.
5) durch Unternehitungen wider die äuffere Sicher; -
heit des Staats überhaupt, Durch a
6) durch geheime Anfchläge und Berbitpungen, wel⸗
che den erlaubten Zweck der bürgerlichen Geſell⸗
ſchafft verhindern.
7 durch Verletzung der perſoͤnlichen Wuͤrde des
Regenten, als Regenten; durch Urtheile, welche
zur Verachtung, zum Ungehorſam und zur Wider⸗
ſetzlichteit verleiten, zum Nachtheil des Staa;
zes. Denn auſſerdem darf man den Regenten, wie
ieden andern Menſchen, beurtheilen, wenn die King;
heit es nur verſtattet. Gaͤnzliche Unterdruͤckung
ſeines freyen Urtheils uͤber Regenten, wuͤrde den
| De⸗
464 Angewandte Moral,
Deſpotismus beguͤnſtigen, und pflegt eben daher auch
nur von ſchwachen Regenten gefordert zu werden.
Ein Bürger, der alles dieß unterläßt, iff no fein Das
triot, er iſt nur negativ treu und gerecht gegen den
‚Staat; er erwirbt fich noch Fein Verdienft ums Vaters
land. *
6. 584.
Staaten gegen Staaten.
Eine Geſellſchaft, ein Staat und ſein Regent hat
auch natuͤrliche Pflichten gegen die ganze menſchliche Ge—
ſellſchaft, gegen fremde Volker und Staaten. Keine Un—
gerechtigkeit, kein Eingriff in fremde Rechte einzelner
Perſonen oder Verbindungen, kein Privilegium, das
uͤber Ungerechtigkeiten ertheilt wird, hoͤrt dadurch auf
— Entehrung der Menſchheit zu ſeyn, daß fie dem In—
tereſſe des Staats oder feines Regenten guͤnſtig find.
Ein Regent handelt ungerecht gegen das menſchliche Ge⸗
ſchlecht, wenn er die Macht des Staates zum Ungerech-
ten Zwang anderer Voͤlker oder einzelner Menfchen an;
sendet, gelegt auch daß die Gefellfchafe darein willigte
3. B. bey ungerechten DOffenfiofriegen; treulos, wenn
er die ausdrücklicheg oder ſtillſchweigenden Vertraͤge
bricht, wodurch die natürlichen Rechte der Völker und
ihre wechfelfeitigen Verbindlichkeiten naͤher beſtimmt wers
den. ‚Das Intereſſe des Staats, macht keine Ungerech⸗
tigkeit gerecht; denn dag Intereſſe ver Menſchheit iſt und
bleibt überall das hoͤchſte. lan
*
Angewandte Moral, 465
8:
Erfag, Wipererffattung,
Jede begangene Ungerechtigkeit, Unredlichkeie, Treu⸗
pofigfeit fordert, fobald fie anerfanne wird, Erfag, fo
weit diefer nur irgend (phyſiſch und moraliſch) möglich
iſt. Dieſen Erſatz iſt man einzelnen Menſchen, ganzen
Geſellſchafften und dem Staate — im ſtrengſten Verſtande
ſchuldig. Nur gegen Sophiſtereyen eines ſchwachen und
zweydeutigen Herzens koſtet es Mühe, diefe Forderung
zu rechtfertigen, Die dem Unbefangenen Fein Bedenfen
erregt,
$. 586.
Verbindung mit der firengen Seldftpflicht,
Die Erfüllung der fchuldigen Menfchenpfliche, ſchließt
die Handlungen mit in fich, wodurch ich mich feldft und
meine Kräfte zu erhalten ſuche. Denn ich bin ſchuldig,
mich und die Kräffte zu erhalten, wodurch ich ein Mir
tel und Werkzeug fremder Erhaltung bin und werde.
$. 587.
Vierte Menſchenpflicht.
Erhöhung der Menfchenwiürde,
$. 524. Num. 1. Erhöhe die Würde der
Menſchheit.
Jede Geſinnung, iede That, wodurch ich die Wuͤr⸗
„de der Vernunft und Menſchheit poſitiv anerkenne; al—
les, was ich für meine eigne (eines Menſchen, eines
Moralphuloſophie. Gg ver⸗
466 Angewandte Moral:
vernünftigen Weſens) Bildung thue und aufopfere, iff
Darlegung der Menfchenwörde, iſt ihre Verherrlichung.
Jede Vernachläßigung meiner ſelbſt, iede Verlegung der
pofitiven Selbftpfliche, iſt Bernachläßiguig der Menfch-
heit.
Befondere Vorfchriften,
Hege und äuffere gegen das. ganze menfchlihe Ges
fchlecht und gegen ieden einzelnen Menfchen fo viel Ad)»
tung und Vertrauen, als möglich if.
Befördere die Anerkenntniß der Menſchenwuͤrde durch
Darlegung deines eignen moraliſchen Werthes in fittlis
chen Handlungen.
Menſchheit, Vernunft , Cirticheit und Religion
mache ehrwurdig allen Menfchen.
Hindere, foviel an dir liege, daß menfchliche Cha:
raftere und Handlungen nicht fund werden, welche die
Menfchheit entehren koͤnnten; mache fund, was der
Menschheit zur Ehre gereicht. m
Ehre die Ordnung der Natur, wodurd
Menſchen ihr lebendiges Dafeyn erhalten, indem
du die darauf äbzielenden Kraͤffte und Naturtriebe nicht
nur nicht wider ihren Zweck, fondern auch der Würde der
Menfchheit vollfommen gemäs anmwendeft und behandelft.
Die Pflichten, melche auf den Gefchlechrstrieb Bes
zug haben, laffen fich zwar aus verfchiedenen Verpfliche
tungsgründen ableiten und darnach elafüfieiren; Der rein⸗
fte
Angewandte Moral, 467
ffe und eigenthümlichffe Darunter iſt aber wohl derienige,
der auf Erbaltung ($. 532.) und Erhöhung der
Menſchenwürde beruht, weswegen auch hier Die gan⸗
ze Abhandlung darüber vorfommt, und die andern Ver
pflichtungsgruͤnde damit verbunden werden.
Pflichten, die fich auf den Sefehlechtstrieh
beziehen,
$. 588.
Ueberhlaupt.
Es iſt niedrig, die Ordnung der Natur zu zerſtoͤren,
wodurch Menſchen ihr lebendiges Daſeyn erhalten; Erz
niedrigung der Menſchheit, diefe Kräffte zum blofs
fen Mittel eigner Sinnenluft zu machen, und ihre höhes
re Würfung zu vereiten; Vernachläßigung der
Menſchheit, diefe Zwecke auch nur nicht abfichelich zu
befördern, bey dem Beſitz und Gebrauch der Kröffte,
die dazu dienen. Es iſt lieblos zu verhindern, dag
Menſchen zum Leben Fommen, und doch die Vergnüguns
gen zu genießen, womit die Nafur die Erzeugung ders
ſelben weislich verbunden hat. Es ift ungerecht, ande
re Perfonen als Werkzeuge dabey zu gebrauchen, wider
ihre Zwecke; lieblos, diefe Verbindung für fie nicht fo
vortheilhaft und beglüdfend zu machen, als eg ung mög»
lich gewefen wäre, Dieß find die allgemeinen Geſichts⸗
punkte. I:
— *
G92 8: 589.
468 Angewandte Moral,
$. 589.!
Solgerungen,
Es iſt alfo Verachtung der Menfchheit, wenn man
1) die Zeugungsfeaft in fich felbft, oder inandern
zerſtoͤrt und ſchwaͤcht a) durch unmittelbare Zerſtoͤ⸗
rung der Organe b) durch unnatürlichen Gebrauch
derfelben, z. B. Onanie, Päderaftie, Beſtialitaͤt.
ec) Durch unmaͤßigen, ausſchweifenden, Ana
natürlichen Gebrauch.
2) den Sortpflanzungstrieb zweckmaͤßig äuffern
tönnte, ihn aber aus niedrigen Abfichten unter;
drückt z. B. aus Liebe zu einer üppigen Lebens—
art.
3)-ihn abfichtlich fo befriedigt, Haß nur das Vers
gnügen der Wolluſt genogen, die Fortpflanzung
des Gefchlechts aber verhindert werde.
Es iſt imallgemeinen erlaube, ihn auch bey einem relati⸗
ven Uebermaaß der Kraͤffte, um ſeiner ſelbſtwillen zu
befriedigen, ohne feinen Zweck; wenn dieſer Zweck ſchlech⸗
terdings nicht oder nur mit Verletzung moraliſch hoͤhe⸗
rer Zwecke befoͤrdert werden koͤnnte; aber nur wider
den Zweck ſoll es nicht geſchehen, die Kraͤffte ſollen nicht
fuͤr den Zweck verlohren gehen.
4) die Würkungen von der geaͤuſſerten Zeugungs⸗
fraft wieder zerftöre, wegen zufälliger Unannehns
lichkeiten, um ſich 5. B. der beſchwehrlichen Erzie-
hung zu entledigen.
” 5) die
5) diefen Trieb anders, als unter folchen Umſtaͤnden
und Verhältnißen befriedigt, dieder Erhaltung des
menfchlichen Gefchlechts, feiner Bildung und feis
nem Wohl am angemeflenften find.
6) wenn man diefen Trieb ben ſich und andern zweck⸗
widrig reist,
§. 590.
Keuſchheit.
Die Geſinnung eines Menſchen, der die Ordnung
der Natur in Erhaltung des menſchlichen Geſchlechts ehrt
und feiner Lage gemaͤs befolgt, heißt KReuſchheit.
GSelbftpfliche und Menfchenpflicht legen ung auch in ans
dern Rückfichten dieſelben Verbindlichfeiten auf, die aus
der Achtung für die Menfchheit in der Perfon der
- Nachwelt und für dieienige Narureinrichtung entſpringt,
wodurch die Erhaltung des menfchlichen Geſchlechts gefi>
chert wird. Diefer Beweggrund iſt aber der reinfte, der
am mwenigften den Verdacht erwecken kann, lediglich aus
natürlicher Selbſtliebe herzufommen, der auf die genau⸗
eften Beſtimmungen des ganzen Umfangs diefer Pflichten
führe, und dem Mißbrauch oder fophiftifchen Verdrehuns
gen — ausgeſetzt iſt, als andere.
9 591.
Ehe, eheliher Vertrag.
Jede Bereinigung von Perfonen beyderlen Gefchlechts
zu gemeinfchaftlicher Befriedigung des Gefchlechtstriebes
fest einen Vertrag voraus, der den allgemeinen Grund»
693 fügen
“
Angewandte Moral, 469
470 Angewandte Moral,
fären über geſellſchaftliche Verträge (8. 568. ff) gemäg
gefchloßen und beobachtet werden muß. Es darf dem-
nach weder Gewalt noch Rift dabey angewandt, es darf
feines Dritten Recht dabey gefränft, esdarf Fein Recht
der Menſchheit und Menfchlichkeit dabey verlest, es foll
iede Untreue vermieden werden.
Eine folhe Gefellichaft , fofern fie den allgemeinen
Bedingungen der Rechtmäßigkeit eines Vertrags, und
der Befriedigung des Gefchlechtstriebes angemeflen iſt,
heißt im weirläuftigen moralifchen Sinne eine Ehe. Mit
den weſentlichen Zwecken, echten und Verbindlichfei-
ten der ehelichen Gefellfchafe Fonnen noch andere Zwes |
de verbunden werden, morauf fich ebenfalls gewiſſe
Rechte und Verbindlichkeiten gründen (4. B. ſtandesge⸗
maͤſſe Erhaltung,) die aber nicht dag Weſen der Ehe aus-
machen helfen. Es kann aber auch andere Gefelifchaf-
ten zwifchen Perfonen beyder Gefchlechter geben, denen
Das Wefen der Ehe fehlt, ob fie gleich mach der buͤrger⸗
lichen Einrichtung ähnliche, auſſerweſentliche Rechte und
Verbindlichkeiten haben.
In Anſehung der auſſerweſentlichen Bedingungen
der Ehe kommt es auf den ausdruͤcklichen oder ſtillſchwei⸗
genden Vertrag an; der letztere bezieht ſich auffhirger-
liche Rechte, Sitten und Gewohnheiten, deren Inn⸗
halt, ohne ausdrüclich wiederholt zu werden, als bekannt
und genehmigt voransgefeßt wird.
d. 592.
\ Angewandre Moral, 471
$. 592.
Hurerey, Ehebruch, Unzucht.
Die Anwendung der Zeugungsfräffre auffer dem Ehe:
ffande im moralifhen Sinne ($. 593.) iſt Hurerey;
wider den ehelichen Vertrag — Ehebruch. Die Yeufs
ferung oder Neigung des Gefchlechtstriebes wider und
ohne den Naturzweck deſſelben, ift überhaupt Unzucht,
tvelche jederzeit einen Mangel an. fchuldiger Achtung für
die Menfchheit beweiſt, und darum allein fhon Sünde
feyn würde, geſetzt auch, daß fie in einzelnen Fallen Feine
phyſiſch oder bürgerlich nachtheiligen Folgen nach fich 30»
ge. Das legtere ift aber doch in unfern Staaten der
gemöhnliche Fall.
§. 593.
Allgemein verwerflidy iſt nach diefen Grundfägen
1) iede unnafürliche, und
2) iede ausfchweifende, Die eigne Natur serflörende
Befriedigung des Geſchlechtstriebes.
3) iede zwar natürliche und die Schranfen der Nas
tur beobachtende,, aber durch Zzwang, oder durch
Ciſt und Betrug von dem Einen Theil erhaltene
Defriedigung ; folglich auch
4) ieder Vertrag diefer Art, wobey der eine pa;
ciscirende Theil im Ganzen verliert; oder
5) wodurch ein Dritter (4. B.ein Ehegatte) in feiz
nem Rechte gewwaltfam oder heimlich gefränft wird.
694 6) wo⸗
472 Angewandte Moral,
6) wodurch das Entftehen mehrerer Menfchen abficht:
lich oder doch miffentlich verhindert, oder
7) die Pflihe der Ernährung, der Erziehung und
Bildung der Hülfsbedürftigen Kinder bey Geite
gefet oder zu fehr erſchwehrt wird.
$. 594.
Ungerechtigkeit und Lieblofigfeit gegen fich ſelbſt, ge>
gen den andern paciscirenden Theil oder gegen die Nach-
Fommenfchaft ift kaum vermeidlich
3) bey unbeflimmten, temporären Verträgen
diefer Art auf einen einzelnen oder aufeinige wenige
Faͤlle.
2) bey dem Umgange mehrerer Mannsperſonen mit
mehrern Weibern, verus vaga.
3) bey dem Concubinat d. i. einer ehelichen Verbin⸗
dung, die nicht auf Lebenslang gefchloßen wird.
4) bey der Polyandrie.
5) beyder Polygamie oder Vielweiberey.
$. 595.
Bürgerlihe Ehe
De diefe Verbindungen ($. 597.) im Allgemeinen
(in genere, wenn gleich nicht univer ſum) der Beftim-
mung des Geſchlechtstriebes und denübrigen Zwecken der
Menſchheit Abbruch hun, fo werden fie in gefitteten
Staaten gaͤnzlich unterfagt, und es iſt daher Pflicht
des Bürgers in Anſehung der Che |
i 2) dieſe
Angewandte Moral, 473
2) diefe Derbindungen überall und auch dann zu
vermeiden, wenn er ſie auffer dem Staate, wo⸗
win erlebt, für feine Perfon in dem einzelnen Falle
ohne Unſittlichkeit eingehen Fönnte '
2) dieienigen Nebenbeftimmungen zu beobachten, die
der Staat, deffen Bürger er iſt, mit einer bürgar-
lich rechtmäßigen Ehe verbunden hat, und. die öf-
ters nur um gewiſſer zufälligen Solgen willen feſt⸗
geſetzt worden find.
Dahin gehöre z. B. bey uns dag Verbot, nahe Vers
wandfe zu heirathen; ingl. die Formalitäten, die als.
Kennzeichen eines bürgerlich gültigen Ehevertrags anges
fehen werden. \
Sich z. B. eine Mätreffe zu halten, ſtreitet in den
mehreften Zällen gegen die Pflicht eines guten Bürgers;
wenn auch andere moralifche Verhältniffe es erlauben.
$. 596.
Die Achtung für die. Menfchheit an fich felbft und -
die Beobachtung diefer iegt erflärten Pflichten Forderf
auch eine folche Richtung feiner Phantafie, eine folche
Gemüthsftimmung, eine folche Behandlung des Coͤrpers,
und ein folches Betragen, als dem wichtigen Zwecke der
Zeugungsfräfte, der ernfihaftenBezeichung des Geſchlechts⸗
triebes, und der leichtern und allgemeinen Beobachfung
feiner natürlichen und bürgerlichen Schranfen, und dem
Charakter eines Menfchen gemäs iſt, der die Menfchheit
nicht durch Sklavenherrſchaft der thieriſchen Triebe über Die
| Gg5 Ver⸗
474 - Angewandre Moral.
Vernunft entehrenwill. Schambaftigfeit RZüchtig⸗
keit, Sittſamkeit des Betragens, pe es Rei⸗
nigkeit der Einbildungskraft.
$. 597.
Fuͤnfte und fechfte Renſchenpflicht. |
Bervollfommnung und Beglücfung Der
Menfchen. |
€. 524. Num. 2. Vervollkommne die Menſchen
d. h. befördere fo viel du Fannft Lie Zwecke der Menfche
beit und dem Gebrauch der Rechte, die fich darauf grüns
den, ($. 551.) m ohne durch Verträge es fchuldig zu
fepn.
Num. 3. Beglücke die Menſchen d.h. befördere
auch die Zwecke und den Gebrauch der Rechte der Menfch-
lichkeit ($. 552.) — ohne Verbindlichkeit durch Ders
träge,
Die Menfchen, denen du dieß fchuldig bift, find
deine Zeifgenoffen und Die Nachwelt. Die Verdienſte
um die Nachwelt Hat man um desmillen mehr: erhoben,
weil bey ihnen dag eigne Jutereſſe ver Selbftliebe nicht
fo offenbar würkſam erfcheint, und Dagegen Die Unei—
gennuͤtzigkeit ſichtbarer wird, wodurch Handlungen der
Güre erft ihren firtlichen Werth befommen.
$. 598.
Befördere die Volltommenpeit der Men⸗
ſchen. Dh
1) Suche
1
d:
e
J
J
9
Angewandte Moral. ATS
I) Süche ihr Leben zu erhalten, zu verlängern; fey
ihnen beförderlich, Die Nothwendigkeiten deskebens
ſich zu verfchaffen und zu erhalten; vertheidige, bes
ſchuͤtze menſchliches Leben.
2). Sen ihnen beförderlich zur — und Cultur
ihres Coͤrpers, und
3) zum freyen Gebrauch und zur Bildung —
lenkraͤfte. Befoͤrdere Freyheit zu denken, und
nach eigner Ueberzeugung zu ſprechen, zu ſchreiben,
zu handlen; Aufklärung; Geſchmack, Geſchicklich⸗
keit, Klugheit und Rechtſchaffenheit oder Weisheit.
4) Sen andern behuͤlflich zu aͤuſſern Mitteln, wo—
durch fie Diefe Zwecke der Menfchheit befördern koͤn⸗
nen. a) Zu Werkzeugen ihrer Thaͤtigkeit 3. B. Freun⸗
den b) zu Verftärfungsmitteln ihrer innern Krafe
z. B. durch Aufmunterung, Lob. c) zu Verſtaͤr⸗
fung des Auffern Erfolgs ihrer Thaͤtigkeit, und d)
zu einem angemeflenen Würfungsfreiß.
§. 599.
Beglücke die Menſchen. D. 5.
7) Mache fie beſſer und mic fich felbft zufriedener.
2) Defriedige ihre unfhuldigen Neigungen, ſoweit
es deiner und ihrer eignen Vollkommenheit nicht
fchader,
3) Erhöhe ihre Empfaͤnglichteit für Genuß,
4) Vermehre ihre aͤuſſern Gluͤcksguͤter.
5) Ver⸗
476 Angewandte Moral.
5) Vermehre die Kenntniſſe, Kraͤffte und Huͤlſsmit—
tel, die ihnen zu groͤſſerer Gluͤckſeligkeit befoͤrder⸗
lich ſind.
6) Verſtaͤrke, verbreite, belebe die Ueberzeugungen,
welche die Menſchen mit ihrem ganzen Zuſtande zu⸗
frieden machen, und auch im Leiden fie beruhigen.
$. 600.
Nähere Beſtimmungen, Graͤnzen.
Soll die Beförderung dieſer Zwecke (F. 597 bis 599.)
moraliſch aͤcht ſeyn: ſo muß ſie
1) ſich gründen auf die Vorſtellung des Menſchen
als Zweck an ſich ſelbſt. Ich ſoll andere nicht blos
um meinetwillen, als Mittel zu meinen Zwecken,
vollkommner und gluͤcklicher machen, wie wohl ſie
es eben dadurch werden. Die Selbſtpflicht führe
öfters auf diefelben materialen Folgen, und macht
dadurch die Erfüllung der Menfchenpflichten Teiche
zer; fie verftärft auch ihre Verbindlichkeit. Un⸗
eigennützigkeit bleibt aber dennoch ihr wefentlis
ches Merkmahl.
2) Sie muß fih daher verbreiten auch auf dieie⸗
nigen Sälle, two unfre fubieftiven Zwecke dadurch
entweder garnicht, oder doch weniger alg durch an⸗
dere Handlungen befördert werden.
3) Sie muß sondern Pflichren gehörig fub und
coordiniet werden.
Ich
Angewandte Moral, 477
Ich darf nicht meine Vollkommenheit dem Wohl anderer
oder meine gröffere Vollfommenheit und Gtlückfeligfeie
der geringern Dolltommenheit und —— anderer
aufopfern.
4) Gie müßen ſich einander ſelbſt gehörig bey⸗ und
untergeorönet werden.
Ich darf die Menfchen nicht glücklicher machen, mit
Aufopferung oder auch nur mit DVernachläßis
gung ihrer Vollkommenheit.
Ich darf das Recht Feines Menfchen Fränfen, um
dadurch andern gröffere Volfommenheit oder
Gluͤckſeligkeit zu verfchaffen.
Die verfchiedenen Theile und Bedingungen der Voll;
kommenheit foll ich nach ihrem Verhältnis zu dem
Ganzen und dem Weſen Derfelden befördern.
Die wichtigern Beſtandtheile und Beförderungsmitz
tel fremder Gluͤckſeligkeit geben den IRRE N
tigen vor.
Die freywillige Beförderung des Wohls, das fih
über viele verbreitet, bat im Collifionsfalle der
Dorzug vor der Beförderung des Privarwohls
eines Cinzigen oder nur weniger Menfchen.
$. 601.
Humanitaͤt, pofitive Menfchlichfeit.
Die moraliſche Gefinnung eines Menſchen, der die
Menfchheit überall zu vervellfommnen firebt , wollen teir
vor⸗
478 Angewandte Moral,
vorzugsweiſe (pofitive) Humanität; dieienige, die
ſich in dem Beſtreben aͤuſſert, Menſchenwohl uͤberall
zweckmaͤſſig zu befoͤrdern, Menſchlichkeit im poſitiven
Verſtande ts. 553.) nennen. Der Eifer für menſchli⸗
ches Wohl ſteht dem Eifer für die Bildung der Menſch⸗
heit moralifch nah. Zumeilen trägt aber die Befürdes
rung der Glückfeligfeit felbft zur Veredlung der Menfch-
heit als Mittel etwas bey, indem fie z. DB. mehr Zu⸗
trauen gegen Dieienigen erwekt, Die andere moralifch beffern
wollen, oder dem Geifte mehr Much und Krafftgefühl
giebt, fich thatig zu beweiſen und dadurch zu veredlen.
. 602.
Oflicia innoxiae vtilitatis.
Die gemeinfte Sumanität und Menſchlichkeit
bemeift fich durch eine folche Einrichtung derienigen Hand-
lungen, die ich ummeiner felbft willen (als Selbftpflicht)
ausübe, wodurch zugleich Die Menfchheie und Menſch—
fich£eit aufler mir gewinnt. Wenn ich z.B. meine Kraͤffte
durch nügliche Berufsgefchäffte), oder mein Vermögen
(durch Ausleihen) gegen nahen oder entfernten Erfag
für andere verwende, oder in Geſellſchafft meinen Stoff
zu angenehmer Unterhaltung gegen fremden Stoff diefer
Art austaufche: fo opfere ich nichtg von meiner Voll
kommenheit und Glückfeligfeit auf.
$. 603.
Wohlthaͤtigkeit.
Wenn aber auch Fein ſolcher von der Gelbffpflicht
abgeleiteter Beweggrund vorhanden wäre, oder wenn
diefer
Angewandte Moral, 479
diefer wenigſtens feinen zureichenden entfcheidenden Ans
trieb zu einer Handlung gabe: fo habe ich Doch) um an⸗
derer Menfchen felbft willen, die Pflicht, ihre Vollkom⸗
menheit und ihr Wohlfeyn zu befördern. Diefe Gefin-
nung, bie ſich gaͤnzlich auf den Werth anderer Merfd,en
“gründet , und Diefe Art zu handlen, wozu ich lediglich,
wenigſtens ſchon allein zureichend, durch die Vorſtellung
des abſoluten Menſchenwerths in der Perſon anderer be⸗
ſtimmt werde, verdient eigentlich den Nahmen der wohl
thätigkeit.
$. 604.
Dienftfertigkeie, Mildthaͤtigkeit, Billigkeit.
Die Wohlthaͤtigkeit erhaͤlt verſchiedne Benennungen.
1. nach Verſchiedenheit der Gegenſtände, in Anſe—
hung deren ich meine Selbſtliebe fuͤr andere ein—
ſchraͤnke. Ich widme dem andern, uneigennuͤtzig,
und ohne mich durch Vertraͤge verbunden zu haben,
a) meine Dienſte, oder einen Theil von der
Wuͤrkſamkeit meiner innern Kraͤfte — Dienft:
fertigkeit.
b) mein Vermögen, oder einen Theil meiner
aͤuſſern Kraͤffte, der Mittel zu den Zwecken der
Maenſchheit und Menſchlichkeit — Mildthätig⸗
keit.
©) Ich ſchraͤnke den Gebrauch meines Rechts,
meiner aͤuſſern Freyheit ein, zum Beſten eines
andern — poſitive Billigkeit.
§. 605.
430 Angewandte Moral.
Ir $. 605. *
Barmherzigkeit, Geſelligkeit, Gemeinnuͤtzigkeit,
Friedfertigkeit. |
2. nah Derfhiedenheit der (materialen) Gründe,
die mich bewegen, meine Kräfte, mein Vermögen,
meine. Rechte den. Zwecken anderer Menfchen zu
widmen, und meine eignen Zwecke ienen nachjus
fegen. Es gefchieht dieß pflichtmäßig alsdann,
a) wenn das Beduͤrfniß des andern, dem ich abs
helfen fann , dringender ift, als das meinige
— moraliſche Barmherzigkeit.
b) wenn mein Dienft, oder mein Aufwand an
Vermoͤgen dem andern mehr nügt, als er mich
Foftet; wenn dadurch feine Imecfe mehr, oder
wenn wichtigere Zwecke fuͤr ihn befördet werden,
als ich eben dadurch fuͤr mich zu bewuͤrken im
Stande waͤre — poſitive Geſelligkeit.
c) wenn das Gute (die Vollkommenheit oder Gluͤck⸗
feligfeit), Das (die) ich flifte, fich über viele ver;
breitet, das aufferdem nur ein einziger, ich als
lein, genöffe — Bemeinnüsigfeit.
Wenn diefe Viele zu einer Gefellfchaft mit mir gehören
— Gefellfhaftsgeift, wohin der Samiliengeift, der
Sreundfchaftegeift, und der Patriotismus mir!gehö=
ren. Der Geiſt ver Aufopferung feines Privatvorsheils
für das menfchliche Gefchlecht überhaupt, auch für die
Nachwelt, Heißt Welsbürgergeift,. Cosmopolitismus.
N A) wen
Angewandte Mord 481
d) wenn ich die gerechten Zwangsmittel gegen Bes
leidigungen anderer um deswillen nicht anmwende,
weil dadurch gröfferes Uebel für den andern, oder
für die Geſellſchaft hervorgebracht werden wuͤr⸗
de, als dasienige iſt, dem ich durch den Ges
brauch des Zwanges entgehen fönnte— poſitive
Stiedfertigfeic.
{ §. 606.
— der Wohlthaͤtigkeit.
Auſſer den Einſchränkungen, welche die Ausuͤ⸗
bung der Pflicht der Wohlthaͤtigkeit in ihrem ganzen
Umfange durch die Pflichten der Gerechtigkeit ge,
gen mich ſelbſt und gegen andere leidet ($. 603.), ſetzt
ihr ach noch die phyſiſche Einſchränkung eines ie;
den Menſchen gewifle nothwendige, obgleich unbeſtimm⸗
boare Graͤnzen. Jeder Menſch iſt nehmlich eingeſchraͤnkt
auf ein gewiſſes Maaß innerer Kraft, Faͤhigkeit und
Einſicht, aͤuſſerer Kraͤffte und Vermoͤgen und auf einen
gewiſſen Waurkungskreiß, den aͤuſſere Hinderniße mar
willkuͤhrlich erweitern laßen.
Es iſt daher Pflicht
I) dieſe Graͤnzen nicht ſelbſt zu verengen, oder ihre
moraliſch und phyſiſch moͤgliche Erweiterung zu ver⸗
mnachlaßigen; ſich ſelbſt innerlich ind aͤuſſerlich voll⸗
kommner zu machen, und feine Sphäre zu erweitern,
um auch für fremde Vollkommenheit und Glückfe-
ligfeit thatiger und mit miehreren Erfolge thätig
zu feyn.. !
Woraippilofoppie, 5 3) ſel⸗
482 Angewandte Moral.
2) feinen vom innen und auffen beſtimmten — Wür-
fungsfreiß kennen zu lernen, und
3) ihn verhaͤltnißmaͤſſig zu erfüllen,
$. 607.
Die Einſchraͤnkung meiner Kräffte und meiner Sphäre
($. 606.) erlaubt es nicht, allen Menfchen, in gleichem
Maafe und auf gleiche Art wohlzuthun. Ich fol das
| her meine Wohlthätigfeit fo vollfommen einzurichten fu-
hen, als eg diefe Einfchränfung verflatter. Sch habe
Daher
1) bey dee Wahl der perfönlihen Obiekte meis
ner Wohlthätigfeit darauf zu fehen,
a) welche überhaupt die Bedürftigften find 3. B.
Kinder, alte Leute, Kranfe, Verlaſſene. Die
Bedürftigffen find nicht immer die, welche am
lauteſten Elagen, noch auch die, welche ihr? Bes
duͤrfniß am meiften fühlen.
b) welcher Menfchen Bevürfnig am wenigften
obne mid) wird abgebolfen werden, von deren
Beduͤrfniß ich die genaueſte Kenntniß habe, mit
wen ich in- genauer Verbindung flehe.
c) welchen Menfchen ich amleichteften und würk⸗
ſamſten helfen kann, wegen meiner Kräffte,
Meigungen, Fähigkeiten, Hoffnungen, wodurch
ich mir au wenigften Kraft raube, noch in Zu⸗
kunft tmwohlchätig zu feyn. Daher find Eltern
mehr verbunden für ihre Kinder zu thun, als
ans
Angewandee Moral, 483
andere; Verwandte für Verwandte; Freunde
für Freunde; Mitbürger für einander.
d) welche die meifte innere und aͤuſſere Empfäng:
lichkeit für meine Wohlthat haben z. B. meine
Wohlthaͤter.
e) durch welche ſich meine Wohlthat am weiteſten
verbreitet z. B. Familien — verdiente Perfos
nen, ſie moͤgen es im moraliſchen oder gemeinen
Sinne des Worts ſeyn (welches fein Menſch ber
urtheilen kann), oder geweſen ſeyn; ſolche die
durch Wohlthaten beduͤrftig worden ſind.
2) Meine Wahl unter den nicht perſönlichen Ob⸗
iekten, ſoll beſtimmt werden theils durch die Art
der Krafft und Faͤhigkeit, die ich zu Befoͤrderung
dieſer oder iener Vollkommenheit, dieſes oder ienes
Theiles der Gluͤkſeligkeit — von Natur oder durch
Uebung — vorzüglich befise..
theils durch die äuffere Rage und Berhältniffe, die
mic) in den Stand fegen, gerade hierdurch ver
Menfchheit aufzuhelfen, diefes menfchliche Elend zu
vermindern, diefen Theil menfchliher Wohlfahrt
und Freude zw befördern. Anvers beweift ſich
mwohlthätig der Negent, anders der Gelehrte, an
ders der Arzt, der Lehrer u. f. mw. ieder in feiner
eignen Sphäre.
* §. 608.
Die wahre Wohlthaͤtigkeit mindert nicht nur das
Sen Uebel (Unvollkommenheit und Ungluͤckſelig⸗
Sh2 keit,)
484 Angewandte Moral,
feie), fondern fie verhütet es auch. Sie vermehrt
und verbreitet, fo viel fie Fann, Vollkommenheit und
Glüdfeligfeit. Sie ehrt die Menfchheit und Menfch-
Jichfeit auch in dem verborbenften und lafterhafteften
Menfchen, auch in dem perfönlichen Feinde. Jeden
Menſchen ſtrebt fie fo volllommen und gluͤckſelig zu ma-
then, als es ihr möglich ift, als es das Wohl anderer
Menfchen und die Selbftpflicht erlaubt.
Sie folgt nicht blindlings dem Zug der natürlichen
Sympathie oder dem Triebe des guten Herzens. Ver⸗
nunft hält fie zurück, aus Menfchenliebe ungerecht ge-
gen fich felbft, oder gegen andere, oder partheilfh in
ver Wahl der Dbiefte, oder in der Proportion der Wohl⸗
thaten zu ſeyn; oder mehr für auſſerweſentliche Güter,
als für die wefentlichen zu ſorgen; oder Die Mittel zur
Bervolfommnung und Begluͤckung ver Menfchen blind;
Yings und thöricht zu wählen. Sie fucht aber dennoch
auch pathologifche Liebe (der Empfindung) in fich zu ers
Halten und zu verflärfen, um mit gröfferer Leichtigkeit
vem Gebote der Pflicht zu gehorchen,
Religion,
oder
Pflichten gegen Gott,
6. 609.
Allgemeine Begriffe,
Die uneigennüsige Bewunderung der göttlichen
Größe,oder das uneigennuͤtzige Wohlgefallen an feiner Voll⸗
| ü ; fom-
Angewandte Moral 485 -
kommenheit iſt zwar ein aͤſthetiſches Gefühl, welches fich auf
Gott , als feinen Gegenftand bezieht, an fich aber nicht mo⸗
raliſch⸗ und weder Religion noch Pflicht gegen Gost iſt.
ı Mas lediglich aus dem Verhaͤltniß der ſinnlichen
Neigung zu einem högern Wefen fließt, was aus finn«
licher Hoffnung oder Furcht vor ihm gefchieht , das iſt
inlfo fern nicheeigentlich Religion, noch Erfüllung einer
Pflicht gegen die. Gottheit; es Hat überall feinen ſittli—
hen Werth.
Altes dasienige, was aus der moralifchen Gefin ⸗
nung in Bezug auf die Idee von der Gottheit (und die
damit verbundene Idee von Unfterblichkeit) entfpringe,
ift Religion. Was ich zwar in diefem Bezug, zunaͤchſt
aber aus Achtung fuͤr meine eigne oder fuͤr andere Per⸗
fonen thue: das iſt allerdings Religion und hat ſittli—
chen Werth, iedoch nicht als Pflicht gegen Gott, fon»
dern als. Selbfipflicht oder Menfchenpflicht 5. B. wenn
ich andere in ihren religiöfen Ueberzeugungen und Hands
lungen nicht ftöre, weil ſich fie alg Iheil oder Mittel ih—
. rer Vollfommenheit und Glückfeligfeit betrachte, wenn
ich mich durch den‘ Gedanfen an Gott und Vergeltung
zum Guten ffärfe.
Jede innere oder äuffere Handlung, deren Beweg⸗
grund Die Vorftellung ift „Gott iff als ein vernünftiges-
„Weſen höchfter Selbſtzweck, ift in fofern eine Pflicht
gegen. Gott.
5 3 $. 610%
486 Angewandte Moral, '
6. 610, —
Realitaͤt dieſes Begriffes.
Nach dieſem Begriffe kann und muß es Pflichten ge⸗
gen Gott eben fo gut geben, als es Pflichten gegen fich
und gegen andere Menfchen giebt. Denn es fommt
hier nicht darauf an, daß in dem Hbiefte einer Pflicht
etwas hervorgebracht oder verändert , daß feine Voll—
kommenheit oder Glückfeligfeie erhalten und vermehrt
werde. Der Werth der Pflichten hängt auch nicht von
dem Daſeyn oder Nichtfenn oder von der Größe der äuf-
fern Folgen ab, fondern er beruht auf der Moralitaͤt
der innern Gefinnung, auf der Vernunftmäßigfeit. Aus
dieſem Geſichts punkte angefehen, zeigt fich die Meynung
als Vorurtheil, daß die Pflichten gegen Gott die gering»
ſten, wenigſtens minder bedeutend als die übrigen waͤ⸗
ren. Daß die äuffern (materialen) Handlungen der
Gottesverehrung mit dem Materiale der übrigen Pflich—
ten — gegen fih und Menfchen — übereintreffen , ift
fein Grund, fie diefen unterzuordnen. Denn das nad)»
fie Princip ift Doch verfchieden.
$. 611.
Grund der Verbindlichkeit,
Die Pflicht gegen Gott muß, wie iede andere Pflicht,
ſich auf Achtung für Vernunft gründen, und ſich durch
Achtung für Vernunft beweifen. Die religiöfe Tugend
d. i. die Achtung für die Gottheit, ift Achtung fürdas
vollfommenfte Subieft der reinften Moralitat, oder der
höchften Vernunft. Da die Idee yon der Gottheit dieß
ent:
‚Angewandte Moral, 487
enthält, fo muß fie nothwendig der Gegenſtand eben derz
felben Achtung ſeyn, die wir für Vernunft und für vers
nünftige Weſen überhaupt hegen. Moraliſche Geftn-
nung und die Befanntfchaft mit der Idee von Gott führe
nothwendigerweiſe Religion herbey.
$. 612.
Erfenntnig Gottes.
Einen Gott zu erkennen, oder fein Daſeyn zu glaus
ben, iſt lediglich ein Gegenftand des Erfenntnißvermös
gens, und Feine Pflicht. Gleichwohl ifE das Bewußt⸗
ſeyn der Pflicht überhaupt das Dbieft, wovon das Er-
kenntnißvermoͤgen einen entfcheidenden Grund für Dies
fe Ueberzeugung hernimmt. Daher entffand wohl der
Schein, als ob es Pflicht wäre, Gott zu erfennen.
Der Glaube an die Gottheit iſt in der moralifhen Ges
finnung obieftiv gegründet.
$. 613.
Verehrung der Gottheit.
Da nichts Ddieftives vorhanden iſt, was die Ach-
fung für die Gottheit einfchranfen Eönnte, fo muß fie
unendlich d.i. Derebrung (S. 332.) feyn. Die Vers
ehrung, diewir der Gottheit widmen, ift eigentlich dem
ſittlichen Vernunftgefege geweiht ($. 358. 360. 362.
379.) welches wir uns in ihr, als der vollfommenften
Intelligenz, hypoſtaſirt gedenken. Gottesverehrung
iſt unendliche Achtung fuͤr die unendliche Wuͤrde des ſitt⸗
lich Vollkommenſten.
554 $.614.
488 Angewandte Moral,
$. 614. 4
Negative, pofitive Gottesverehrung.
Ach verebre Gotf
I) negativ; wenn ich alles dasienige Nessie
Verachtung der Gottheit vorausfege.
2) pofitiv; durch eine folche Einrichtung meines
Zhuns und Laffens, die der Vorfiellung von der
unendlichen Würde Gottes vollk ommen entſpricht.
85 . 615.
Entehrung Gottes,
Gott wird entehrt
1) poſitiv, durch ieden Verſuch, ihn *
wider ſeine Zwecke zu gebrauchen, ihn zum Werk⸗
zeug der Unſittlichkeit zu machen z. B. durch Heu—
cheley.
3) negativ, dadurch, dag man feine ſittlichen Zwecke
nicht durchaus genehmigt und an feinen Theil zu
befördern. ſtrebt. |
$. 616.
Muftif, Gortesdienft,
Aechte Gottesverehrung ($. 613. f.) unterſcheidet
ſich durch dieſes Princip
1) von der myſtiſchen Liebe Gottes, oder der re⸗
ligioͤſen Schwaͤrmerey d. i. von einer unmittelba⸗
gen, blinden, ſinnlichen Neigung‘ zu einem finnlich
gedach⸗
Angewandte Moral, 489
gedachten uͤberſinnlichen Weſen. Was nicht auf
Vernunft, ſondern auf finnlicher Neigung beruht,
das hat feinen ſittlichen Werth, und kann ſich auch
nicht nothwendigerweiſe durch Vernunft und Sitt⸗
lichkeit, durch Achtung fuͤr vernuͤnftige und mora⸗
liſche Weſen beweißen. Myſtik gruͤndet ſich auf
vermeynte ſinnliche Anſchauung deſſen, was doch
Ueberſinnlich iſt, und da dieſe unmöglich iſt, fo
muß bey dem Myſtiker nothwendigerweiſe ein ſinn⸗
liches Phantom der Einbildungskraft die Stelle
der Gottheit vertreten, Das gewiſſe ihm angemeſ⸗
fene Gefühle erregt, die aber nicht moralifcher,
fondern thieriſcher oder aͤſthetiſcher Natur find.
Bey der Vorausfegung, daß unmittelbare Einwür->
fungen der Gortheit (auffer denen durch) die Natur
und nach Naturgeſetzen) möglich waren, und bey
"einiger Empfänglichfeie der Phanrafie , ihre Wuͤrk⸗
lichkeit fich einzubilden, wird aller ſowohl reineals
eimpirifcher Wernunfrgebrauch im Abfiche auf das
Tun und Laffen aufgehoben, und für vergeblich
erkläre, und. ven Einflüßgen der Leivenfchaften auf -
die Phantafie wird die ganze Einrichtung deg Les
\ bens Preiß gegeben.
2) von den eigentlichen Bottesdienft d. i. dem von
Moralitaͤt unabhängigen Befireben ſich dem maͤch⸗
tigſten uͤbermenſchlichen Weſen gefällig zu machen,
durch Befriedigung feiner ſubiektiven Neigungen.
5 $. 637.
499 "Angewandte Moral,
§. 617.
Theurgie, Dämonolarrie,
Der Gortesdienft wird geleifter d. h. man beffrebe
fih, die vermeynten fubieftiven Neigungen der Gottheit
zu befriedigen
1) aus natürlicher Kiebe und Dankbarkeit für Wohl
thaten, wodurch man von- einem höhern Weſen
‚ ohne moralifhe Gründe und mit SPartheilichfeie
vor andern Menfchen und Völkern ausgezeichnet
worden zu feyn glaubt. Go dient z. B. ein Vol
feinem Schutzgott. Wenn feine Partheiligfeit bey
Gott vorausgefezt, und diefer Dienft aus mora⸗
liſchen Gründen auf moralifcye Are erwiefen wird:
fo har derfelbe fubiefeiw firclichen Werth, wenn
gleih eine irrige Vorftellung dabey zum Grunde
liegen folte. Auflerdem ift er Sünde, wenn auch
„Der theoretiſche Irrthum unvermeidlich wäre. Ein
moralifcher Menfch würde „eine folche vermeynte
Gottheit nicht verehren koͤnnen, und ihr feinen
folchen Dienft erweifen, wenn er auch das Daſeyn
derfelben glaubte.
2) aus einer verffändigen Neigung zu einem übers
menfchlichen, höhern Weſen, das man fi) als
wohlwollend (ohne Moralitaͤt) vorftellt, als ein
Mittel zu Befriedigung feiner-finnlihen Neigun>
gen, Theurgie, finnlich eigennügige Religion.
3) aus
f
Angewandte Moral, 491
3) aus einem verftändigen Beſtreben, ſich die Gnade
eines übelgefinnten, aber mächtigen Wefens zu ers
werben. Dämonolatrie.
Die fubiefeiven Neigungen, die man der Gottheit bey
legt und zu befriedigen ſucht, find
a) entweder etwas, das dem Materiale der Tugend
und Pflicht mehr oder weniger zuwiderlaͤuft, was
ig einzelnen Faͤllen die Erfüllung der Pflicht aus⸗
ſchließt z. B. Menſchenopfer
b) Oder was zwar von der Tugend verſchieden iſt,
aber doch uͤberhauptgenommen neben ihr beſtehen
kann z. B. Opfer von Fruͤchten und Thieren.
ec) oder etwas zufaͤlliger Weiſe mit der Tugend (ma-
terialiter.) übereinftimmendeg
&). Moralität allein, oder
8) fie, in Verbindung mit nicht moralifchen Din»
gen 5. Bi Opfern, Verſoͤhnungen.
$. 618.
Auch die unverfchuldere Natur des Irrglaubens ar
die Möglichkeit und Würffamfeit eineg eigentlichen Got»
tesdienftes hebt die Sünde nicht auf, einem ſolchen Irr⸗
thum gemäs eigennüßig und pflichtwidrig zu handlen.
Denn die Moralität und Immoralitaͤt haͤngt nicht von
theologifchen UWeberzeugungen, fondern von, der reinen
oder eigennügigen Denfungsart.ab. Dämonologie kann
nur bey böfen Menfchen Die es auch ohne diefen dogma⸗
tiſchen
492 Angewandte Morgk,
tifchen Irrthum ſeyn und es dann nur auf andere Art zB.
Durch niedrige Menſchenfurcht und Menſchengefaͤlligkeit
beweiſen würden) Demonolatrie; der Glaube an eigen⸗
nuͤtzige, uͤbrigens wohlwollende Götter nur, bey eigen⸗
nuͤtzigen Geſinnungen Thurgie hervorbringen. Natuͤr⸗
liche Pflichten, deren Anerkenntniß von Religionsmey⸗
nungen unabhängig iff, aus finnlicher Hoffnung zu
verlesen, bleibt Unrecht, geſetzt auch daß die Hoffnung
oder Furcht ſelbſt gegrümdet wäre. Aber auch ſelbſt
die Ausübung der Tugend (ihrem Stoffe nach), oder die
Beobachtung des Vernunftgefeges um Borteswillen,
iſt weder ächte Religion, noch wahre Tugend überhaupf
($. 54. Num. 2b. ) 5 es iſt ihr Buchftabe ohne den Geiff.
Man entzieht der Moralitaͤt die Achtung, die ihr unmittel⸗
bar und zuerſt gebuͤhrt; ; man ehrt das Geſetz nicht als eig⸗
nes, vernuͤnftiges, an ſich gutes Geſetz, ſondern als
Geſetz des mächtigſten Weſens, als etwas relativ
Gutes zw ſinnlichen Zwecken Umgefehre ſollen wir Gott,
das maͤchtigſte Weſen ehren, theils weil Sittlichkeit,
das unbedingte Gut, ihm eigen, weil er ſie ſelbſt iſt,
theils weil Verehrung Gottes unſre an ſich gute mo⸗
raliſche Geſinnung verſtaͤrkt und wuͤrkſamer macht.
Es darf alſo, um der Reinheit der Tugend willen,
keine Pflicht auf die Ueberzeugung vom Daſeyn Gottes
und auf die Hoffnung einer ewigen Vergeltung gegruͤn⸗
det werden. Ein moraliſches Weſen würde die Idee
von der Gottheit in ſeiner Vernunft zum Gegenſtand
feiner hoͤchſten Verehrung machen, wenn es ſich auch von
| der
Angewandte Moral, 493
der obieftiven Realitaͤt dieſes Gedankeng'd.i. davon,
daß eine Gottheit — nicht — ar koͤnnte
— 6
Ge der Reinheit. |
Se unmittelbarer und reiner ſich die Gottesvereh—
rung auf Die Vorſtellung gründet, daß die Gottheit eiln
vernuͤnftiges und ſittlich vollkommenes Weſen iſt; ie we⸗—
niger ſinnliche Triebfedern und Vorſtellungen von der
Macht oder auch nur der (nicht moralifchen) Güte Gotz
tes dazu mifwürfen ; iemehr die Erkenntniß Gottes und
ihre praftifche Wuͤrkung dem Ideal von ſittlicher Voll⸗
kommenheit entſpricht; ie weiter aller Eigennutz und alle
Vorſtellung von ſubiektiven Zwecken der Gottheit davon
entfernt bleiben; ie mehr ſie ſich durch Erfuͤllung der
Selbſt⸗ und Menſchenpflichten beweiſt — deſto SER und
moraliſchwuͤrdiser iſt ſie.
9. 620.
Verhaͤltniß der Religion zur Sinnlichkeit.
Saottesverehrung ($ 616.) iſt dem menſchlichen Gei⸗
ſte (der Menſchheit) offenbar angemeſſener, als Myſtik
und Gottesdienſt ($- 619.), Aber dem finnlichen Men
fchen (der Menfchlichkeie) wird es fchwer, ſich zu dieſem
rein moralifchen Ideale zu erheben, und dieſe reine ſitt⸗
liche Denkart auszuüben, da er im Gegentheil bei) ienen
vermeynten Surrogaten aͤchter Religion ſeine Sinnlich⸗
keit ungehindert zu befriedigen, und ſich von den ſinn⸗
lich laͤſtigen Zorderungen der Vernunft init einen Schein
RN dee
494 Angewandte Moral,
der Vernunftmaͤßigkeit loszumachen ‚weiß. Doch wird
auch hierdurch der ſinnlichen Natur oft Gewalt angethan
(z. B. durch Buͤſſungen), die um ſo druͤckender iſt, ie
weniger fie von dem edlern Theile der Menſchen für noth⸗
wendig erfannt wird.
Specielle Ausführung der Pflichten gegen Gott,
$. 621.
heile
Die Pflichten gegen Gott find:
1) Erhaltung und Erhöhung d. 1. fubieftive Vereh—
rung feiner perjonlichen Wurde — unmittelbare
Religioſität.
2) Erhaltung und Befoͤrderung d. i. Verehrung ſei⸗
ner Zwecke — mittelbare Religioſität.
§. 622.
Unmittelbare Religionspflicht. Verehrung
der goͤttlichen Wuͤrde.
$. 621. Num. 1. Die Pflicht der unmittelbaren
Verehrung der Gottheit gebietet überhaupt: Bott ins
nerlidy zu verehren, und diefer innern Vereh⸗
sung gemäs ſich äuſſerlich zu betragen.
Insbeſondere:
1) negativ. : Vermeide alles dasienige, was r
nen Mangel an Derehrung der Bortheit
ausdrückt. om
Denfe,
Angewandte Moral, 495
Denfe, nenne die Gottheit und alles, was auf fie in
unmittelbarer Beziehung ſteht, nie anders, als mit Ernſt
und mie Ehrfurcht. Verlaͤugne dieſe Geſinnung nie.
Verbreite keinen Gedanken, der dieſe Aston bey ans,
dern fchwächen Fönnte,
Was andre Menfchen als göttlich und eilig anſehen;
weſſen Verehrung bey ihnen mit der Gottesverehrung
und dadurch mittelbarerweiſe mit der Achtung für Ver—
nunft und Moralitat zuſammenhaͤngt, das entweihe nicht,
weil es bey ihnen die Religion und Tugend, wenigſtens
die Legalitaͤt ſchwaͤcht. Selbſt Aberglauben und Schwaͤr⸗
merey bekaͤmpfe mit Behutſamkeit. Auch die aͤuſſeren
Zeichen der Gottesverehrung, deren ſich die Menſchen
bedienen, mit welchen du umgehſt, mache nicht laͤcherlich,
beraube fie nicht ihres Eindruckes, ohne etwas Würfe
fameres dafür zu geben, oder geben zu Fönnen. Oef—
ters kann fchon die perfönliche Vernachlaͤßigung religide
fer Formalitäten für Verachtung Gottes gelten.
° Das Motiv zu diefer Pflicht, welches von der Ach⸗
gung für Sittlichkeit, Vernunft und Gottheit her⸗
genommen iſt, zeichnet die moralifche Erfüllung —*
ben aus
a) von aufferer Ehrfurcht für Gott, aus ſtlaviſcher
Furcht vor göttlichen Strafen, oder aus eigen⸗
nuͤtziger Hofnung goͤttlicher Belohnungen (Lohne
ſucht)
b) von ſcheinbarer und affektirter Religioſi tät ledi⸗
glich aus Menſchenfurcht oder —
fälligkeit, aus Eigennutz.
Eben
496 Angewandte Morak
Eben dieſe Art zn handlen ift auch der Selbſipficht,
der Menſchenpflicht/ der Klagheit gemaͤs.
Die hoͤchſte Vernunft leichtſinnig zu behandlen, ver⸗
raͤth eine unmoraliſche Denkungsart.
Ehre die Vernunft, auch in deiner Perſon und in
der Perſon eines ieden Menſchen — denn was ver;
nunftig ift, gottlich
§. 623.
2) poſitiv: Erhalte und veredle in dir ſelbſt
und in andern iede religiöſe Geſinnung oder:
verherrliche Gore. Alſo:
Befeſtige und läutere deine Begriffe und Leberzeugun:
gen won Gott. Belebe fie, und das Gefühl für ihn.
Veredle dieß Gefühl durch Abfonderung alles deſſen,
was der Goftheit unmwürdig iſt.
Verbreite und. befördere Achtung für Vernunft und
Menſchheit.
Befoͤrdere wahre und lebendige Erkenntniß, Betrach⸗
tung und Gefühl für Gott auch bey andern Menjchen,
Auch diefe Handlungen laſſen fich aus der. Geldft-
pflicht, der Menfchenpflicht, und mus Regeln der Klugs
heit ableiten. Sie find-aber auch Price | in unmittelba
rer rn auf Sort.
$. 624.
Graͤnzen.
Die Graͤnzen dieſer Pflicht 6. — 623.) der
Sottes betrachtung und des deligioſen Befühls (zu⸗
ſam⸗
J
Angewandte Moral, 497
fammengenommen der Andacht) werden beſtimmt durch
Das DVerhältniß der Handlungen, wodurch fie erfülg
wird, zu dem legten Princip und Zweck aller Pflicht.
Wo die innere und äuffere Ihatigkeit der Vernunft im
Ganzen ‚dadurch eingefchranfe würde, da hören diefe
Handlungen auf pflichtmaͤßig zu feyn. Alsdann würde
die thätige Verehrung der göstlichen Zwecke Dadurch ver⸗
hindert.
$. 625. a
Unterfchiede,
Dieß Princip und diefe Gränzen beffimmen den Un—
terfchied. der Achten Religiofität oder Andachr.
3) vondem vermeynten Bortesdienft ($. 616.),
durch Entfernung aller eigennügigen Zwecke, um
derentwillen der Diener Gottes diefe Handlungen
vornimmt. Der wahre Andächtige wird nur durch
die firtliche Vortreflichkeit und Würdigfeit deg Ges
genftandes dazu beſtimmt, und durch den Einfluß,
den diefe Handlungen auf moralifche Bildung feis
nes Geiſtes und Herzens haben.
2) von Abergläubigkeit überhaupt, dadurch daß
fie fih nur auf die Gottheit als Princip der Site;
lichfeit bezieht. Der Abergläubige verehre oder
fürchter vielmehr die Macht, als die Weisheit und
Güte der Gottheit.
3) von Bigotterie d. i, der pofitiven Unterordnung _
aller Pflichten unter die Pflicht der unmittelbaren
Neligiofität. Der wahre Andächtige ordnet die
Moralppilofoppie. 5.1 An-
498 Angewandte Moral.
Andacht allen feinen übrigen, mehr thätigen als
Fontemplativen Tugenden, unter, weil er. thätige
Verehrung der göttlichen Zwecke für das höchfte Ziel
aller Religion erkennt. Dieſe wirdaber nur durch
die moͤglichſte Ausbreitung der — und
Gluͤckſeligkeit bewieſen.
$. 626.
Andächteley, Froͤmmeley.
Die Bigotterie (F. 625. Num. 3.) zeige fich
3) als Andächteley, durch Uebertreibung der Ans
dacht zum Nachtheil der thätigen Verehrung der
göttlichen Zwecke, ver äuffern ſittlichen Wuͤrkſam—
keit.
2) als Frömmeley, durch zweckloſen und zweckwidri⸗
gen Gebrauch der aͤuſſern Huͤlfsmittel der Andacht,
wenn dieſe
entweder gar Feine Andacht, oder eine falſche An»
dacht, oder Andacht zum Nachtheil der übrigen
Pflichten hervorbringen. -
Das zweckloſe und zweckwidrige liegt bald inder Beſchaf⸗
fenheit, bald in den Uebermaaß des Gebrauchs ver Ans
dachtsmittel.
627. |
Mirtelbare Religionspflicht.
Verehrung der göttlichen Zwecke,
$ Gar Num 2. Erhalte und befördere die gött⸗
lien Zwecke.
Der Zweck der Gottheit ift ver obieltive Zweck
der vernuͤnftigen Weſen überhaupt, oder Das Weltbe⸗
— ſte
Angewandte Moral, 499
fled.i. Sittlichkeit und Glückfeligkeit der vernünftigen
Weſen in vollfommenfter Harmonie. Andere perfönliche
Zwede eigner Vollkommenheit oder Glückfeligfeit hat
Gott nicht, weil er Gott d. i. der Allgenugfame iſt.
Den obieftiven Zweck der Gottheit zubefördern, find
wir als feine Gefchöpfe phyſiſch genöthigt, wir müß
fen es hun. Ihn zu hindern, die ſittliche Weltregies
rung zu flören, iſt uns. phyfifh unmöglich, wir Fönz
nen es nicht. Aber ver Wille es zu hun, die Ein»
ſtimmung unfers Willens in den göttlichen; daß wir
Gottes Zwecke genehmigen und aus freyem Triebe zu bez
fördern ſuchen, das iſt unfrer Freyheit uͤberlaßen, und
hierin koͤnnen wir unfre Moralität bemeifen, oder fie
verläugnen.
6 628.
Negative Beflimmung.
Der göttliche Zweck ift von dem wefentlichen Zweck
eines vernünftigen Wefensnicht verfchieden. Geſetzt aber,
daß fich iemayd, einen ſolchen blog ſubiektiven Zweck eines
übermenfchlichen Wefens als wuͤrklich Dächte: fo würde
er doch moralifch verpflichter feyn, ihm nicht zum Nach»
theil des obieftiven Zwecks feiner Vernunft, etwa aus
eigennügigen finnlichen Abfichten zu befördern, -
Das negative Gefeg der Verehrung göttlicher Zwe⸗
cke ift demnach: diene Gore nicht (in der oben $. 616.
620. und 627 erflarten, dem herrichenden Sprachge⸗
brauch gemäflen Bedeutung) d. h. befördere die göftli-
chen Zwecke nur in fofern, als du fie für obieftive
a Zwecke
*
500 Angewandte Moral,
Zwecke eines moralifchen Wefens erfenneft; thue nichts
in Bezug auf einen Begriff von Gott, der andere Zwe⸗
de vorausfegt , dieſe zu verläugnen; handle nie wider
die erfennbare Gelbft - und Menfchenpfliche, wenn du
auc) dadurch die Gnade eines fo mächtigen, übermenfch>
lichen Weſens erwerben, oder feine Ungnade abwenden,
#8 verföhnen zu koͤnnen Cirrigerweife) glaubreft,
6. 629.
Poſitive Beftimmung,
Pofitiv: Genehmige, erhalte, befördere in
deinem freyen Willen die göttlichen Zwede, als
die obieftiven Zwecke der Vernunft. Dieß ge
fchiehe |
I) durch religiöfe Verehrung feines Geſetzes.
2) durch religiöfe Beurtheilung der Welt.
3) durch religiöfe Behandlung aller Gefchöpfe und
Einrichtungen Gottes in der Welt.
$. 630,
Meligiöfe Verehrung des göttlichen Geſetzes.
3. Ehre und halte heilig fein Befeg, ale das
Geſetz der Vernunft. Derehre Gott als den
Realgrund aller Sirtlichfeit, als moraliſches Ober⸗
haupt der fitrlichen Wefen. |
Moralität ehren und heilig halten, und Gottes -
Willen und Gefeg gehorchen ift ungertrennlich. verbun⸗
den in der Vorftelluug deſſen, der Gott als das ſittlich
vollfommenfte Wefen kennt. Wer im Gegentheil ſich
von der Gottheit nicht diefen Begriff bilder, wer fich
rs
Angewandte Moral“ 501
irgend ein Gebot derſelben als willführlich und vernunft⸗
los vorftellt, ver ift moralifch verbunden, ein folches
— wenn gleich feiner irrigen Meynung nach, göftliches
— Gebot zu Übertreten. Denn die DVerbindlichfeie
Gott zu gehorchen, ift der höchften Pflicht, feiner Ver⸗
nunft gehorfam zu ſeyn, untergeordnet.
2. Liebe fein Geferz d. i. firebe darnach, fein Ge⸗
feg eine Pflicht) gern zu erfüllen, weil eg niche
nur dag Gefeg deines Geiſtes, fondern auch das
Geſetz des Urhebers deiner und der allgemeinen
Glücfeligkeie durch Beobachtung deflelben ift. Vers
ehre Gott als den Vereinigungsgrund des Reichs
der Sitten und der Natur, als Urheber der moras
lifhen Welt ($. 210. Num. 4.), als Schöpfer,
Regenten und Richter der Welt.
$. 631.
Meligiöfe Beurrheilung der Welke,
$. 629. Sum. 2. Beurtheile und billige die
‚Welt, als das Werk des moraliſch Beſten >. 1.
des weifeften und gütigſten Weſens.
Die moralifhe Gefinnung bringt es mie fih, die
Moralitaͤt als höchften Zweck zu verehren, und ihr den
Zweck ver Glücfeligfeie unterzuordnen.
Die religiöfe Ueberzeugung befteht in dem Glauben,
daß in der würklichen Welt dieſe beyden Zwecke. und zwar
in diefer Unterordnung wuͤrkſam befördert und erreiche
erden.
Aus iener Gefinnung und diefer Ueberzeugung zus
fommengenommen , entfpringt ale unzertrennliche Folge
Ji3 3) Zu⸗
562 Angewandte Moral, '
1) Zufriedenheit mit der Welt im Ganzen,
als einem Syſtem von zweckmaͤſſig verbundenen
Kräften, worinn der Zweck der Vernunft im Gan⸗
zen am: vollfommenffen erreicht werde; Zufrieden»
heit mit. der ganzen Einrichtung, daß das Wohls
befinden an die Bedingung des Wohlverhalteng ge⸗
“bunden iff. vr
2) Zufriedenheit mit feinem eignen perfönlichen
Zuftande, Billigung feines Schidfals im Ganzen.
a) Dankbarfeit, Billigung des Angenehmen in
ſeinem Zuftahde, in fo fernman es fich als übers
einſtimmend denkt mis dem hoͤchſten Gute. «
b) Genügſamkeit, Betrachtung desienigen in unf-
rer Rage, was der Erfüllung unſrer Wünfche
noch mangelt, als übereinftimmend mit dem
hoͤchſten Gute; Billigung deffen, dag niche alle
unſre Wünfche befriedigt werden.
I Seduld; Betrachtung und Billigung deflen,
was uns finslich wehe thut, unfrer Leiden, als
übereinffimmend mit dem höchften Gute.
d) Vertrauen, billigende Vorftellung feines zu⸗
fünftigen Schickſals, als übereinffimmend mit
dem hörhften Gute; Unterwerfung aller unfrer
Wünfhe und Hofnungen unter Die Drduung eis
ner moralifchen Welt ; die Hoffnung fo glücklich
in der Welt zu werden, als. es unfre moralifche
> MWürdigfeit zulaͤßht. -
Je moralifcher ‚ein Menfch denkt, ie, weiter dehnen ſich
dieſe Empfindungen und Geſinnungen auch auf andere
aus;
Angetvandte Moral, 503
aus; ie mehr fallen alle eingeſchraͤnkte und eigennägige
Aeuflerungen 5. B. der Danfbarfeit weg. Gott danken,
daß wir es befler haben als andere, iſt nicht moralifch,
wenn der Mangel des Guten bey andern der Grund
unſres Danfes ift.
a
Neligiöfe Behandlung görtlicher Geſchoͤpfe
und Einrichtungen.
$. 629. Num. 3. Behandle die Welt den gött⸗
lichen, zwecken gemäß d. h. hoͤchſt zweckmaͤſſig
1) die gefhaffenen Weſen
a) Ale leblofe Wefen behandle als Mittel für die
Rebendigen, mit pofitiver Unterordnung.
b) Alle lebendige, vernunftlofe Weſen, als
Mittel für die Bernünftigen mie negariver Un—
terordnung d.h. fo, Daß Die vernünftigen We-
fen, die Erhaltung und Zunahme ihrer Vollkoin-
menheit und Glückjeligfeit nicht durd) die Ver.
nunftlofen eingefchranft, ihnen nicht nachgefege
erden.
Auſſer dieſem Verhaͤltniße ift ihr Wohl Zweck der Ner-
nunft und der Gottheit, die dem Uebel nie unmitzel-
bar den Vorzug vor dem Wohle geben fann.
c) Ale vernünftige Wefen behandle als Selbſt⸗
zweck.
d) In den vernünftigen Weſen behandle ihre mo⸗
raliſchvernunftige Wurkſamkeit als hoͤch⸗
ſten Zweck, der dem blos phyſiſchen Wohle vors
geht.
Dieß
”
504 Angewandte Moral,
”
Dieß iſt die Rangordnung der Vernunft und der Sort;
Beit.
2) die SBinrichtungen und Schicffale.
Befoͤrdere überall das Wohlverhalten und das Wohl:
befinden in moͤglichſter Harmonie — überallmo-
ralifche Zufriedenheit.
Beſtrebe dich dein Gluͤck moralifch zu geniegen, um
dich deſſen würdig und dafielbe Dauerhaft zu
machen. Thätiger Danf.
Sude die Befriedigung deiner Wünfche nur auf.
moralifchen Wege. Thätige Genügſamkeit.
Wende deine Leiden zu deiner fietlichen Veredlung
an. Moralifhe Geduld.
Hoffe und fuche nur das, was dir moralifch guf
ift; befördere deine Glückfeligfeit vornehmlich
dadurch, daß du deine Pflichten erfuͤlleſt. Thä⸗
tiges Vertrauen.
$. 633.
Keil Gott Feine zufälligen, fubieftiven Zwecke hatt fo
3, muß iede Handlung, die der Pflicht gegen Gott
gemaͤs iſt, zugleich als Selbftpflicht und Menſchen⸗
pflicht Fönnen betrachtet werden. Es find aber
doch verfchiedene Motive.
2) kann feine wahre Religionspflicht mie andern
Pflichten, gegen fich und andere Menfchen, in Colli⸗
fion kommen.
3) werden alle materiale Religionspflichten durch die
Motive zu Erfüllung ver-übrigen — * un⸗
terſtuͤtzt.
Ber
)
i
S
J Angewandte Moral. 505
Verbindung aller Pflichten unter ſich ſelbſt.
4 §. 634:
Nach dem Entwurf des $.455. Num. 4. muß auf
die Unterfuchung ‚der Selbftpflichten ($: 458: fe), der
Pflichsen gegen andere Menfchen, ($: 517: ff), und ge⸗
gen die Gottheit CS. 609. ff.) noch eine Betrachtung
folgen über die Verbindung aller dieſer Pflichten und
Tugenden unter fich felbit:
— $. 635.
1. Cie fliegen dem Weſen nach alle aus Einen
Princip. Achtung für fich, fin die Menfchen, für
die Gottheit find nur verfchiedene Richtungen und
Aeufferungen der einen Grundrugend — Achtung
für die Vernunft. Sie haͤngen daher weſentlich
unter fich zuſammen.
2. Aus dem richtigen Grundfag für die Eine Claffe
von Pflichten lagen fih die Pflichten ieder anz
dern Klafjeableiten. Erhaltung und Erhöhung
der Würde der Vernunft iſt der Vereinigungspunft
alter Pflichten, und das Band; das fie alle vers
fnüpfe.
3. Aud) ibrein Innhalte nach findet ein nothwen⸗
diger Zufommenhang ftatt. 3. B. Ohne mich zu erhals
ten, Fann ich weder andereerhalten,, noch vollfomms
ner, noch glücklicher machen — und umgekehrt. Oh—
ne Religion fehle es mir felbft an der hoͤchſten Ent»
wickelung des Geiftes und Ausbildung des Herzens,
Moralphiloſophie. Re ohne
506 Angewandte Mora ea
ohne welche wiederum die vollkommenſte Erfuͤllung
der Pflicht gegen andere Menſchen unmoͤglich iſt.
4. Die einzelnen materialen Pflichten koͤnnen ſich
in einzelnen Faͤllen ausſchließen; dann fordern Die al,
gemeinen Colliſtonsregeln ($. 428: ff.)ihre Anwen⸗
Dung, wodurch wntfchieden wird, welche materiafe
Handlung unter den gegebenen Umftänden der fors
malen Pflicht entfpreche. +
3. Scheintugenden Formen fi) einander mechfelfeis
tigen Abbruch hun 3. B. myſtiſche Gottesliebe der
Menfchenliebe; Gottesdienft dem Streben nad) eig
ner Vollkommenheit oder auch dem Dienfteifer für
Menfchen. Aber die wahre, einzige Tugend kann
eben darum, weil fie einfach iſt, fich ſelbſt nicht
einfchränfen.
All⸗
/
Angewandte Moral, 507
Allgemeine prakliſche Anthropologie.
Zweyter Abſchnitt.
Altgemeine empiriſche Ascetik oder Theorie der
ſittlichen Erziehung des Menſchen.
636
Begriff,
Die allgemeine empirische Afcerif ($: 450. Num.
2.) eder die allgemeine Theorie der Erziehung des Men»
fchen zur Tugend, unterfucht -
1) den Begriff und die fubieftiven Bedingungen det
menſchlichen Tugend.
2) ihre ſubiektiven Hinderniße.
3) die Mittel dieſe Hindernife wegzuraͤumen.
| 8.637.
Menfchliche Tugend.
Menſchliche Tugend ift die Uebereinffimmung der
inhern Kräffte und Beſtimmungen des Mienfchen, zus
Wuͤrkſamkeit des ſittlichen Vernunftgeſetzes.
| 6. 638.
Groͤße der menſchlichen Tugend.
Je groͤſſer dieſe Wuͤrkſamkeit; ie groͤſſer die Tu—
gend eines Menſchen. Je reiner, ie ſtaͤrker, anhalten⸗
der und ausgebreiteter die ſittliche Vernunft eines Men⸗
ſchen wuͤrkt; deſto mehr Tugend beſitzt er. ($- 447.)
R
Kia $. 638.
508 Angewandte Moral.
$. 639.
Nähere Erklärung.
Reinheit der - Tugend ift Lauterfeit der Beweg—
gründe; reine Würffamfeit der oberften Principien; Zus
länglichfeit derfelben zu Hervorbringung eines pflichtmaͤſ⸗
figen Entſchluſſes und einer tugendhaften Handlung.
Das Mitwürfen anderer Vorftellungen, die fich auf
die eignen Triebe und Neigungen beziehen, ſchraͤnkt die
Reinheit der Tugend nicht ein, wenn nur ohne dieſe mit—
würfenden Antriebe vie fittliche Triebfeder allein genom⸗
men auch hinreichend geweſen wäre, die Würfung zu
beftimmen. |
Stärfe der Tugend ift der Grad der Würffam-
keit fietlicher Gründe, in Befiegung gleichzeitiger, fubs
ieftiver Hinderniße von finnlichen Antrieben und empis
riſchen Bemweggründen.
Dauerhaftigkeit ift ihre Größe, fofern fie nach
der fortdauernden und öftern Wieverhohlung entgegenger
fester Antriebe geſchaͤtzt wird.
Ausdehnung oder Ausbreitung, iſt die Größe
der vernünftigen Würffamfeit, fofern fie nach ihrer zu=
fammengefegren Beziehung auf viele und mannigfaltige
gegebene Gegenftände, Verhaͤltniſſe und Handlungen ges
ſchant wird.
§. 649,
Angewandre Moral, sog
$. 640.
Zweck der firtlichen Erziehung.
Die fiteliche Erziehung hat nun 1) pofitid: kei⸗
nen andern Zweck, als den: eine reine, ſtarke, dauer—
hafte und ausgebreitete Tugend (6. 639641.) in den
Menfchen — und dieſe ing Unendliche zu
erhoͤhen.
2) negativ: Ihr Zweck iſt Demnach) nicht
a) Sittlichkeit oder den guten Willen hervorzu-
bringen. Diefe muß vielmehr überall als Grund-
Bedingung vorausgefegt werden.
b) bloße Legalität, ohne moralifche Gefinnung
zu befördern.
c) die Sinnlichkeit auszurotten, oder auch nur
im Ganzen einzufchränfen Dieß würde theils
unmöglich theils ziwecfwidrig feyn.
d) Unſchuld zu erhalten.
e) Butherzigfeit und Empfindſamkeit zu nähe
ren.
> Enthuſiasmus für einzelne, legale Sronlanr
gen zu erregen.
8) einzelne gute Vorfäge zu erzeugen
Mittel, die blos einen oder auch mehrere von dieſen
Zwecken befoͤrdern, koͤnnen nicht fuͤr eigentliche Tugend⸗
mittel gelten. | ;
Kfz { $ 641.
510 Angewandte Moral.
§. 641. —
Maͤhere Beſtimmung.
Die naͤhere Modification dieſes Zwecks wird beſtimmt
durch
I) die Beschaffenheit ver Menſchen ‚ die man zur
Zugend bilden will
a) die natürliche — forfdauernde 3. B. Tempera⸗
ment, Gefchleht — zufällige z. B. Fahr, Stim⸗
mung.
b) die durch Bildung entſtandene
2) durch die Lage, worinn ſich Tugend beweiſen ſoll.
Sie erfordert ein fortgeſetztes, tiefes Studium der menſch⸗
Ichen Natur überhaupt, und ihrer verfchiedenen Modi-
ficationen und Formen, und die Schwierigkeit diefen
Zweck zu erreichen, iſt der Wichtigkeit Villa ange:
meſſen.
§. en
Die fubieftive Bedingung der Tugend überhaupt ift
— Beherrſchung feiner ſelbſt durch ſittliche Prim;
cipien. Die vier Zweige der fubieftiven menschlichen
Tugend find: ſittliche Maäßigkeit, Enthaltfamkeit,
Tapferkeit und Geduld..$. 497.
$. 643,
Diefe fegen voraus
3) das Bewußtſeyn rein fi teficher ia
2) Ge⸗
Angewandte Moral 511
2) Gefhärfte Urcheilskraft, fie anzumenden.
3) Krafft, das iedesmahlige Urtheil der fittlichen Bes
urtheilungsfraft zu befolgen.
‘
| $. 644.
Man kann dreyerlen Beföederungemgithf der Tu⸗
gend unterſcheiden 1) entfernte und allgemeine Voruͤ⸗
bungen 2) unmittelbare Zugendmittel, 3) a oder
Hülfsrugenden.
} |
$. 645.
1. Was nur irgend dazu dient, um das Vermoͤgen,
allgemeine Begriffe und Grundfäge zu denken, fie
auf einzelne Faͤlle im Urrheile anzuwenden, und
darnach zu empfinden und zu handlen — zu cul»
tiviren und zu verftärfen; Das dient wenigſtens
als entfernte Vorübung oder Vorbereitung zur
Tugend. Denn wenn gleich Tugend nicht blos da⸗
rinn befteht, ſo werden doch diefe Fertigkeiten da—
bey vorausgefegt, wenn fie entfliehen und zuneh⸗
men fol.
$. 646.
Was die fittlichen Grundfäge aufflärt, ihre Fols
gerungen entwickelt, was angemeflene Gefühle er-
weft; mas. die Kenntniß von dem fittlichen Wuͤr⸗
Fungsfreife eines Menfchen befördert ; mag dieſem
Würfungsfreis der iedesmahl vorhandenen Kraft
eines Menſchen, moraliſch zu handlen, anpaßt:
Kf4 das
»
512 Angewandte Moral.
das ift ein unmittelbares, näheres Tugend:
mittel,
$. 647. i
3. Jede Modification und Richtung einer natürlichen
Neigung, welche das Materiale der Tugend beförs
. dert (zu legalen Handlungen antreibt), fie mag na»
gürlich oder angewoͤhnt ſeyn, erleichtert in fofern
y die Tugend , als fie einige ihrer auflerlichen Hin—⸗
derniffe wegräumt; fie kann aber feinen moralis
fchen Werth geben, auffer in fo fern der Menſch
aus reiner Achtung für die Sittlichkeit ſelbſt dieſe
ihr guͤnſtigen natuͤrlichen Anlagen ausbildet, und
dieſe Angewoͤhnungen unterhält, befördert, mora⸗
liſch beherrſcht und den Grundſaͤtzen der Sittlich—
keit unterwirft. Man kann ſie adoptirte oder
Hülfstugenden nennen, |
$. 648.
Hülfstugenden,
Die Hülfstugenden (F. 649.) find
entweder gegründet in der Befchaffenheit des Tem⸗
peraments ; Gutartigfeit des Naturells , Tempe
samentstugend; 3. d: Sympathie mir dem
Wohl lebendiger Wefen, felbft ver vernunfelofen
Ihiere, Sinn für Harmenie, für Volkommens
beit,
oder in der Richtung der Phantafie und Gewoͤh⸗
nung z.B. Bildung des Geſchmacks, des Sinnes
für
*
—
Angewandte Moral, 513
für dag Schöne, Harmonie; angewoͤhntes, liebrei⸗
ches Betragen, Wohlanftandigkeit, Höflichkeit, Ehr⸗
trieb. Gutartigkeit der Sinnesare
oder in empirifchen Grundfägen der Vernunft —
Verftandesiugend 52. Marimen der Klugheif.
Selbſt manche zur Religion gerechnete Tugenden
find Ddiefer Art 3. B. Liebe Gottes, wegen der
perfönlichen Wohlthaten, die man von ihm em⸗
pfangen hat; Furcht vor göftlichen Strafen.
| §. 649,
Hinderniffe der menfchlichen Tugend.
Die Hinderniffe der menfchlichen Tugend find
3) innere: Unvollfommenheit des Bewußtſeyns von
- dem moralifchen Princip — unbeftimmte — fal-
ſche — undeutlihe Grundfige — Zmeifel an all-
gemeinen moralifchen Wahrheiten,
Unrichtige oder fehlende Subfumtion der einzelnen Sand.
lungen unter die Grundfäge
Schwaͤche der moraliſchen Empfindungen in Verhaͤltniß
zu andern Gefuͤhlen.
Staͤrke und Menge der Neigungen, im Verhaͤltniß zu
der moraliſchen.
2) äuſſere, welche die innern hervorbringen oder
veranlaßen.
Res Ales
514 Angewandte Moral,
Alles, was die finnlichen. Benürfniffe vermehrt; was
die finnlichen angenehmen Gefühle verflärft; die firtlis
chen ſchwaͤcht oder erffift,; was ſittliche Vorurtheile vers
anlaßt oder unterhält (3. B. unſittliche Religionsnieys
nungen, Ehrenpunfte, Gitten und Gebräuche); was
zu unrichtiger Beurrheilung und Schasung des Guten
und Dofen Anlaß giebt; was die Bekanntſchaft mirden
Annehmlichkeiten des Laſters ausbreitet — kann ein
änfleres Hinderniß der Tugend abgeben.
$. 650.
Die immoralifche Geſinnung beftehe
I) entweder darinn, daß die Borftellung und Bils
figung eines moralifchen Zwecks nicht würffam ges
nug ift, aus Mangel an gehöriger Kenntniß oder
Erwägung der Mittel und ihres Verhältniffes zu
dem Zwecke z. B. wenn man blos zur Beluſtigung
medifirt , ohne fchaden zu wollen — Eitelkeit.
2) oder darinn, daß man den Zweck ſelbſt nicht
billige, und ihn daher nicht befördern, fondern
verlegen will 3. B. wenn einer medifirk, um zu
ſchaden. Bosheit.
Eitelkeit und Bosheit ſind eigentlich nur dem Grade nach
unterſchieden; beyde ſind Beweiſe von einem mehr oder
minder auffallenden Mangel an moraliſcher Bildung.
§. 651.
6
Angewandte Moral, 515
9. 651.
Moraliſche Methodenlehre.
Auſſer demienigen, was die empiriſche Pfychologie
uͤber Wuͤrkſamkeit der Grundſaͤtze, uͤber Beherrſchung
der Neigungen und Leidenſchaften, über das Eutſtehen
son Gefinnungen und Bildung der Charaktere lehrt,
beruht die allgemeine Ascetik auf folgenden Grundfägen:
3) Erweiterung und Aufflärung des fittlichen Bes
ſichtskreiſes. Suche das ſittliche Urtheil zu
berichtigen, durch Belebung feines ächten Prins
eips, vermittelft der häufigen Anwendung auf ein⸗
Zelne Faͤlle. $. 648; |
3) Eben dadurch wird auch) das fittlihe Gefühl
verffärft und zweckmaͤßig gelaͤutert. $. 648.
. 3) Man fuche durch Gewöhnung eine Sertigfeit
hervorzubringen, alles moralifdy zu beurthei⸗
len, und dies Urtheil mit einem angemeffenen mo⸗
raliſchen Gefühle zu begleiten. $. 648.
4) Man muß überhaupt den Geift cultivirem. Je—⸗
de Cultur des Geiftes iſt Vorbereitung und Beför-
perungsmittel feiner ſittlichen Ausbildung $. 647.
5) Man muß fuchen, das Syftem der Neigun⸗
gen fo einzurichten und zu erhalten, Daß es im
Durchfchnitte. mie den Forderungen des morali-
ſchen Gefeges übereinffimme. Schonung um Bif
dung der Zulfstugenden. $. 649. 65%
Die
®
516 Angewandte Moral.
Die Reinigkeit der Tugend wird nicht verletzt, wenn
man ſinnliche Triebfedern z. B. Menſchenliebe aus Nei—
gung, aus Reflexion uͤber die Guͤte der Menſchen
ſelbſtthätig belebt und in Bewegung ſetzt, um feine
Pflicht, die man um ihrer felbfi willen ehrt, lies
ben und mit gröfferer Leichtigkeit uͤben zu koͤnnen. Nur
muß man: diefe Triebfedern der Vernunft unteroronen, —
und nach ſittlichen Grundſaͤtzen modificiren. So wuͤrkt
3B. der Ehrtrieb, wenn man ihn durch die Vorſtel⸗
lungsart modificire, wie andere Menfchen unfre Hand»
jungen beurtheilen follten.
6) Man richte fo viel alg möglich, feine Page fo ein,
daß die Neigungen mit (dem Materiale) der Pflicht,
die fie fodert, uͤbereinſtimmen. Sreye Beſtim⸗
mung feines ſictlichen Wurfungsfreifes von
innen und auffen nach der Krafft. 3. B. Wahl
einer Lebensart, eines Berufs, zu deſſen pflicht⸗
mäßigen Erfüllung man natürliche Neigung hat
- 9) Man erweitere diefe Sphäre, fo wie die
moralifche Krafft ſich verſtaͤrkt.
8) Man erwerbe fich dieienigen Renntniffe, diezur |
richtigen Beftimmung des moralifchen: Urtheils es
fordert werden; Kenntniffe von dem Subiekt und
den Gegenſtaͤnden ſeiner Pflicht.
2) Selbſtkenntniß, feiner aittlichen Natur, feis
ner Sinnlichfeit,, feiner angenommenen Vorur⸗
theile
Angewandte Moral, 517
theile und Gemohnheiten, : feiner ‚äuffern Lage
und Verhaͤltniſſe.
b) Wienichenfenneniß ; der Menfchen überhaupt
und befonders derienigen, mit "weichen man naͤ⸗
her verbunden iff.
c) Sottes kenntniß.
| H Naturkenntniße
e) Kenntniß der Dinge und Einrichtungen
in der Welt — der natuͤrlichen ſo wohl als
kuͤnſtlichen — mit denen man in Verbindung
ſteht, ihres Werthes oder Unwerths.
9) Diefe Kenntniffe müßen geläufig werden d. 5.
öfters und zur rechten Zeit ins Bewußtſeyn treten.
Dazu dient
a) öftere Beſchaͤftigung mit Vetrachtung ſeiner
Pflichten und ihrer Obiekte
B) oͤftere Selbſtpruͤfung
c) Aufmerkſamkeit auf alle Dinge, mit morali⸗
fcher Reflerion.
Oeftere Schaͤtzung und Beurtheilung der Dins
ge aus moralifhen Gefichtspunften.
d) Uebung im der Bedachtſamkeit und Enid loſ⸗
ſenheit.
10) Be⸗
518 Angewandte Moral,
10) Belebe die 'religiöfe Ueberzeugung vom
Daſeyn Gottes und vonder Unfterblichfeir. Schẽ⸗
pfe Dir. Kenntniß Davon aus allen Quellen. Gtre-
be, die Begriffe davon rein aufzufalfen, und fie
mie Anwendung auf dich und deine Pflicht zu den:
fen. Sey behutſam mit Dem Gebrauche dieſes groͤß⸗
ten aller moralifchen Heil: und Gtärfungsmittel ;
fpare feinen "unmittelbaren. Oebraud) für die
wichtigſten und Dringendfien Falle auf. - Diefe
Vorſtellungen find mehr beſtimmt, die ganze Rich:
fung des Charafters zu modificiren, als iede eins
zelne ſittliche — —— oder zu
unferffügen.
11) Uebe dich in moralifcher Klugheit ($. 8
179.), um dir die Tugend leichter, am angeneh⸗
men und nuͤtzlichen Folgen ergiebiger zu machen, und
ihre Unannehmlichkeiten und Nachrheile für deine
Gluͤckſeligkeit möglichft zu vermindern.
Specielle praktifhe Anthropologie,
$. 652.
Begriff N
Die ſpecielle praktiſche Anchropolögie (8: 451.
um. 2.) if die Anleitung zue menfchlichen Tugend,
mir befonderer Ruͤckſicht auf die DVerfchiedenheiten, die
unter den Menfchen ſtatt finden, und auf ihte Mora⸗
litaͤt Einfluß haben.
$. 653:
Angewandte Moral, 519
& 653.
* Theile
Ihr erfter Theil Cfperielle angewandte Ethik
451. Rum. 2. a) bandelt von den Pflichten der Menz
fchen, mie Ruͤckſicht auf ihre N ag ee
und Verhaͤltniſſe.
654.
Ihr anderer * (pecielle — Ye,
cetik $. 451. Num. 2. b.) beftimmt die Tugendmirtel
und die Art ihres Gebrauchs naher, nach der Verſchie⸗
denheit der Menfchen,
$. 655.
Entwurf
Bon diefen zwey aͤuſſerſt wichtigen, und größten:
theils noch unbearbeiteten moralifcher Wiffenfchafften
($. 655. 656. erlaubt die Einrichtung und Beſtim—
mung dieſes Lehrbuches, mur einen Entwurf der abs
zuhandelnden Marerie zu liefern. Man hat in beyden
Theilen der fpeciellen Moral Rückficht zu nehmen
-I, auf die verfihiedenen innern Befchaffenheiten —
die natürlichen 3. B. Temperament, Geſchlecht
— die erworbenen, die Ginnesart, Gewoͤhnung
oder Verwohnung.
2. auf Die verfchiedenen äuffern Verhaͤltniſſe, die
natuͤrlichen ſowohl, als die gefeligen und geſell—
ſchaft⸗
520 Angewandte Moral,
Schaftlichen 3. B- Herefhafften, Dienftboten , EL -
tern, Kinder u. f. m.
Die Gründe aller fpecielfen moralifchen Regeln, der
Ethik ſowohl als der Ascetik, ‚liegen theils in den
Lehren der allgemeinen, angewandten Moral, und
entfernter Weife der Metaphyſik der Eitten, theils
in den theoretifchen und hifiorifchen Kenntniffen von
ver Verſchikdenheit menfchlicher Gemürhsarten, Sins
nösarten, Denfatten und aͤuſſerer Lagen und DVerhälts
niſſe. *