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Full text of "Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen"

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Vierteljahrsschrift 



für 



gerichtliche nnd Öffentliche 



Medicin. 



*^ "*-— 



^'i'in.. 



Unter Mitwirkung 

der 

Königlichen wissenschaftliclien Depntatioo 

für das Medicinalwesen im Ministerium der geistliehen, Unter- 
richts- und Medicinal-Angelegenheiten 

herausgegeben 

TOB 

Dr. Hermann Gulenbergr« 



Neue Folse, Band XV. 



Berlin, 1871. 

Yerlag rra Aigvst Hnchwaldi 

Unter den Linden Now 68. 



Inhalt. 



Seite 

1. Obergutachten der Königl. Wissenschaftlichen Deputation för 
das Medicinalwesen in der üntersuchungssache wider die nn- 
verehelichte F. L. aus F. Kopfverletzung eines Nengebornen 
in Folge einer bei Lebzeiten desselben zugefügten äusseren 
Gewalt. (Erster Referent: Hous seile.) 1 

2. Ein Fall von Gebären im Stehen. Sturz des Kindes auf den 
mit Brettern gedielten Fussboden. Fahrlässige Tödtung des 
Kindes. Von Dr. Bliimlein , K. Kreis-Wundarzt zu Grefrath, 
Kreises Kempen. 26 

3. Geburt auf dem Abtritt. Ob culpose oder dolose Tödtung 
des Kindes? Zwei gerichtliche Obductionen von Leichen Neu- 
geborener. Vom Kreis-Physikus und Medicinalrath Dr. Aren s 

zu Münster 43 

4. Tardieu's Flecke bei Erstickung. Von Dr. J. Lukomsky 
aus Kiew, Kreis-Physikus des Umao sehen Kreises, Kiewschen 
Gouvernements. . . . • 58 

5. lieber den Werth der Glycerinlymphe bei Massenimpfungeu. 
Vom Kreis-Physikus Dr. Weiss aus Krojanke, z. Z. dirig. Arzt 
der Lazarethe von Alt-Damm 97 

6. Achtfacher Mord, ausgeführt von Timm Thode in Gross- 
Kampen (Provinz Schleswig - Holstein ) an Vater, Mutter, 
Schwester, vier Brüdern und einem Dienstmädchen mit 
Brandstiftung. Actenmässig dargestellt von Dr. Goeze, 
bisher Physikus in Itzehoe, jetzt Ajrzt in Hamburg 161 

7. Gerichtsärztliche Mittheilnngen. Von Prof. Dr. Maschka 

in Prag 211 

8. Ueber Zählblättchen und ihre Benutzung bei statistischen Er- 
hebungen der Irren. Im Auftrage der Berliner Medicinisch- 
Psy chologischen Gesellschaft veröffentlicht von Dr. W. S a n d e r , 
Privatdocent an der Universität zu Berlin 245 

9. Ueber Mortalitäts-Statistik. Von Dr. H. Eulen her g. ... 271 
10. Beiträge zur medizinischen Statistik von Deutschland. Von 

Dr. W. Zuelzer, dirigirender Arzt in der KgL Gharite und 
Docent an der Universität zu Berlin 291 



IV lobalt 

§etie 

11. GorrespondenzeD ' 104. 323 

12. Referate 108. 827 

13. Litteratnr: 

Second annnal Report of the State Board of Health of If aMaehnsetta. Jaonar 

1871. BoatoD, 1871 135 

Zebertf Dr. Hermann^ Aetiologie and Statistik des R&ckfalltyphiis und des 
Flecktjphna in Brealan in den Jahren 1868 und 1869. Mit einer Blnlei- 
tnng ober den Binflusa des Bodens und des Trinkwasaers in Brealan 
aof endemische und epidemische Krankheiten. Leipzig, 1870 .... 139 

«. Paitäu, Statistischer Berieht über das st&dtische Krankenhaas xa Aller- 
heiligen in Brealan für das Jahr 1869 und Abhandlang fiber die in dieser 
Anstalt 1868/69 beobachtete Petechial-Typhns-Bpidemie. Breslau, 1870. 144 

Philipp» y Dr. Jot0phf Der Sauerstoff. Vorkonunen, Daratellang und Be- 
nntsnng deaselben zu Belenchtungsswecken , nebst einem neuen Ver- 
fahren der Sauerstoff- Beleuchtung. Berlin, 1871 145 

Cireular Ho. 4 War department, surgeon general'a Office. Waahingten, 
Deeember &, ] 870. Report on Barraka and Hospitals with Deseriptions 
of Military Posts. Washington. Government printing office. 1870. . . 146 

V. Bischof, Dr. Th. L. W. , Bemerkungen tu dem Reglement für die Prü- 
fung der Aerxte vom 25. Sept. 1860 im früheren Norddeutschen Bunde. 
Manchen, 1871 148 

Tenth annual report of the commiasioners of public Charitiea and Oorrection, 

New-Tork, for the year 1869. Albany, 1870 150 

Fourth annual Report of the Metropolitan Board of Health of the State of 

New-York. 1869. New- York, 1870 151 

V, Pettenko/er, M.^ Verbreitungsart der Cholera in Indien. Braun schweig, 1871. 354 

14. Amtliche Verffigangen: 

betreffend die Erthellung Ton Ooneessionen für PriTat-Krankenanstalt^n 158 

Verpachtung Ton Apotheken 155 

die Taxe für homSopathisohe Arsuei- Verordnungen 155 

die bei der Rinderpest entstehenden Kosten 156 

die Glyeerin-Lymphe 157 

die Obduetions- Verhandlungen 158 

das Desinfectionsverfahren bei der Rotskrankheit 159 



l 



1. 
Obergutaehten 

der Eönigl. Wissensohaftlichen Deputation für das 

Medioinalwesen 

in der 

üntersuchungssache wider die unverehelichte F» L. 

aus F. 

fiopfrerletzung eines Neugeborenen in 
Folge einer bei Lebzeiten desselben zuge- 
fügten äussern Gewalt 

(Erster RefereDt: llon00elle*) 



Uie unterzeichnete Wissenschaftliche Deputation für das 
Medicinalwesen hat das in der Untersuchungs-Sache wider 
die unverehelichte F. L. aus F. auf den Antrag des Gri- 
minal-Senats des Königl. Appellations-Gerichts zu M. vom 
25. Juni d. J. erbetene Obergutachten in der Sitzung vom 
17. October 18 . . auf den Vortrag zweier Referenten be- 
schlossen und verfehlt nicht, dasselbe, unter Rückgabe des 
mitgetheilten 1 Vol. (60 Fol.) Akten, in Nachstehendem 
zu erstatten. 

Geschichtserzaldung. 

Die unverehelichte F, L., 24 Jahre alt, wurde im Zu- 
stande ihrer ersten, nicht verhehlten Schwangerschaft in 

Vi«n»U«)>rMelir. f. g«r. Med. M. F. XV. 1. 1 



2 Obergutachten der K. Wissenschaft!. Deputation 

der Nacht vom 27. zum 28. September 18 . . von heftigen 
Leibschmerzen befallen, welche sie, weil sie ihre Entbin- 
dung noch nicht so nahe glaubte, nur als Folge einer Er- 
kältung ansah. Am nächsten Morgen ging sie baarfuss 
aufs Feld, musste sich aber, heimgekehrt, mit Frost und 
dem Gefühle allgemeinen Krankseins, zu Bette legen. 

Daselbst verbesserte sich ihr Befinden so, dass sie Abends 
(den 28. September) ruhig eingeschlafen war. Ihre frühere 
Scblafgenossin hatte sich für diese Nacht anderwärts ge- 
bettet, ohne jedoch die Nähe der Entbindung der pp. L. 
zu vermuthen. — In der Nacht erwachte die pp. L. mit 
Schmerzen im Unterleibe, welche sie so beunruhigten, dass 
sie das Bett verliess und sich mit einem Anrock und einem 
Unterrock bekleidet auf den Fussboden der Kammer legte. 
In dieser Lage erfolgte sehr bald, ohne alle Beihülfe und 
unter nur unbedeutenden Schmerzen, die Geburt eines 
Kindes, dessen Leben ihr an seinem Bewegen und Athmen 
bemerkbar wurde. Obwohl es in der Kammer „stock- 
finster^ war, hat sie angeblich mit einem Messer, „das 
sie immer in der Tasche hatte^, die Nabelschnur abge- 
schnitten und sich dann mit dem neugeboreaen Kinde in 
ihr Bett zurückbegeben, wo sie dasselbe an ihrer Seite der 
Wand zugekehrt lagerte und demnächst vor Mattigkeit ein- 
schlief. Als sie bei hellem Tage erwachte, fand sie das 
Kind neben sich kalt und todt. 

Nachdem darauf die Niederkunft der pp. L. entdeckt 
und auf die Aeusserung der herbeigerufenen Hebeamme, 
dass sich das Kind wegen der abgeschnittenen, aber nicht 
unterbundenen Nabelschnur verblutet haben könne, die 
Anzeige von dem Vorfall bei Gericht gemacht worden 
war, wurde die Legalobduction der Leiche am 1. October 
V. Js. von dem Kreis-Physikus Dr. W. und dem Kreis- 
Wundarzt P. vorgenommen. 



über Kopfverletzung eines Neugeborenen etc* 3 

Dieselbe ergab neben den unzweifelhaften Zeichen der 
Keife und des stattgehabten Athmens nach der Geburt nir^ 
gend einen auf Verblutung deutenden Blutmangel, aber auch 
nicht eine Blutanhäufung in den betreffenden inneren Or- 
ganen oder andere Zeichen, welche zur Annahme einer 
Erstickung als Todesursache hätte führen können« (cf. No^ 
15. 16. 39. 43. 45. 50. 53. 56.) Eben so waren Spuren 
äusserer Verletzungen (No. 30) am ganzen Korper nicht 
wahrzunehmen. 

Ausserdem aber sind folgende für die Entscheidung 
der entstandenen Streitfragen wesentliche Befunde zu re- 
gistriren: 

(No. 1.) Das wohlgebildete Rind männlichen Geschlechts befand 
sich in gutem firnährungsznstande. 

(No. 2.) Seine Länge betrug 20 Zoll, das Körpergewicht 7^ 
Zollpfund. 

(No. 6.) Der behaarte Theil des Kopfes fohlte sich nach den 
Seiten, bis zu den Ohrmuscheln hinab, nach hinten bis in die 
Gegend der Pro tuberanz des Hinterhauptbeins leicht teigig an, 
ohne dass sich Sngillationsflecke auf der äusseren Haut wahrnehmen 
Hessen. 

(No. 7.) Die grosse Fontanelle hatte einen Längen-Durchmesser 
von 1 Zoll, einen Queer-Durchmesser von l Zoll — zeigte keine Spur 
von Verletzung. 

(No. 9.) Die Kopfknochen liessen sich nur mit Mühe fiberein- 
ander schieben. 

(No. 20.) Am Banchringe befand sich ein 1 Zoll langes Stück 
der Nabelschnnr mit ziemlich glatten Trennnngsrändern. 

(No. 27.) Der Diagonal-Durchmesser des Kopfes betrug 5^ Zoll, 
der grosse Qaeer- Durchmesser „ S^ „ 

der kleine „ „ 3 „ 

der gerade Längen -Durchmesser „ 4| „ 

(No. 60.) Nach Znrücklegung der weichen Kopfbedeckungen 
zeigte sich die innere Fläche derselben mit einem im Zellgewebe 
abgelagerten, schwer von ihr trennbaren Extravasat von geron- 
nenem schwarzem Blut überzogen, so zwar, dass die Peripherie 
desselben sich oberhalb der Stirnhöcker über den oberen Theil 
der Schläfenbeine und nach dem Hinterhanptshöcker hinzog. Die 
Dicke dieses Extravasats war am stärksten, wo es den oberen Theil 
des Hinterhauptbeines, den unteren Theil des rechten Seitenwand- 
beines, die Schuppe des rechten Schläfenbeines und den oberen 



Obergntacbten der K. Wissenschaftl. Deputation 



Theil des Stirnbeines deckte, und konnte hier stellenweise 1| bis 2 
Linien betragen. 

(No. 61) Die Knochen der Schädeldecke erschienen blutig 
gefärbt, jedoch sämmtlich unverletzt mit Ausnahme des rechten 
Seitenwandbeines, welches der Länge nach durch einen parellel 
mit dem unteren Rande und etwa 1 Zoll von ihm entfernt verlaufen- 
den Bruch in zweiTheile ge- 



Kronennath 







Lambdanath 
a & c die Bruchlinie. 



t heilt war, ohne dass von den 
Bruchrändern aus sich weitere Fis- 
suren in die Knochenmasse hin- 
einbegaben. Der nicht ganz grad- 
linig verlaufende, sondern sich 
nach der Mitte des Scheitelbeines 
etwas winklich erhebende Bruch 
hatte sehr fein gezähnte, mit Blut 
unterlaufene Ränder, die jedoch 
nach Abspülen im Wasser sofort 
diese blutige Färbung verloren ond 
weiss erschienen. (Eine schema- 
tische Zeichnung ist aus dem 
Protokoll entnommen und neben- 
stehend wiedergegeben.) 



(No. 62.) Die Blutleiter der harten Hirnhaut waren stark mit 
dunkelm flüssigem Blut gefüllt; desgl. (No. 63) die Blutgefässe der 
weichen Hirnhaut an der Oberfläche des grossen Gehirns, welches 
hiervon vollständig roth überzogen erschien, ohne dass jedoch wirk- 
liche Blut-Extravasate vorhanden gewesen wären. 

(No. 64.) Das Gehirn war bereits so breiartig zerflossen, dass 
es eine nähere Untersuchung nicht gestattete. 

(No. 65.) Die Blutleiter an der Schädelgrundfläche waren mit 
dunkelm flüssigem Blut angefüllt. 

(No. 66.) Die Schädelknochen daselbst unverletzt. 

Ihr vorläufiges Qutachten gaben Obducenten dahin ab, 
dass das reife, lebensfähige Kind, welches nach der Geburt 
geathmet und gelebt habe, eines apoplectischen Todes ge- 
storben sei, der möglicherweise durch eine ihm während 
des Lebens zugefügte Kopfverletzung herbeigeführt 
sei. Diesen Ausspruch aber haben die Obducenten in dem 
motivirten Gutachten vom 14. November v. Js. abgeän- 
dert, indem sie zu dem Schluss gelangen: 
ad 3: dass das Kind eines apoplectischen Todes gestorben 
sei: 



über Kopfverletzung eines Neugeborenen etc. 5 

ad 4: dass die Yorgefandene Verletzung der Schädelknochen 
durch den Gebnrtsakt selbst bedingt worden und 
möglicherweise zur Herbeiführung des Todes mit- 
wirkend gewesen sei; 
ad 5 : dass der Sectionsbefund für die Annahme einer dem 
Kinde durch Andere zugefügten Gewaltthätigkeit 
keinen Anhalt geboten habe. 
Mit Rücksicht jedoch auf diese Abweichung von ihrem 
summarischen Gutachten und mit der Erklärung, dass ihnen 
ein derartiger Fall zum ersten Mal zur ßeurtheilung vor- 
liegt, beantragen die Obducenten zugleich, hierüber ein 
Obergutachten des Egl. Medicinal-GoUegiums zu erfordern. 
Auf das in Folge dessen Seitens der Königl. Staats- 
anwaltschaft unter dem 18. December y. Js. an das Königl. 
Medicinal-CoUegium zu E. gerichtete Ersuchen um Beant- 
wortung der Frage, 

ob es als festgestellt zu erachten ist, dass der Tod 
des Kindes der pp. L^ durch äussere Gewalt herbei- 
geführt ist, oder 

ob mit den obducirenden Aerzten dieser Nachweis 
nicht für geführt zu erachten ist, vielmehr die con- 
statirten Verletzungen eine Folge des Aktes der Ge- 
burt sind oder doch sein können? 
hat das Königl. Medicinal-CoUegium in dem ausfuhrlichen 
Superarbitrium vom 17« Januar d. Js. die ihm vorgelegte 
Frage dahin beantwortet: 

dass die constatirten Verletzungen nicht eine Folge 
des Aktes der Geburt sind und sein können, 
dass sie vielmehr durch äussere Gewalt entstanden 
sind und dadurch den Tod des Kindes herbeigeführt 
haben. 
Auf Grund dieses Gutachtens wurde gegen die F, L, 
die Voruntersuchung wegen Kindesmordes eröffnet. 



6 Obergutachten der K. WiBseDschaftl. Deputation 

Bei den zu diesem Zweck angestellten ZeugenTerneh- 
mungea hatten die Mutter und die Schwägerin der Ange- 
schuldigten ausgesagt, von derselben am Tage nach ihrer 
Entbindung gehört zu haben, dass sie aufrecht stehend 
von der Geburt überrascht worden und dass das 
Kind unvermuthet auf den Fussboden gefallen sei; hier- 
bei sei die Nabelschnur zerrissen; den Rest der Nabel- 
schnur habe sie dann mit dem Messer abgeschnitten. Beide 
Zeuginnen wollen auch an der Leiche des Kindes auf dessen 
Stirn eine „durchgestossene^ Stelle bemerkt haben. 

Hierüber wiederholt zur Rede gestellt, blieb die F. L, 
bei ihrer ersten Schilderung des Hergangs der Geburt im 
Wesentlichen zwar stehen, brachte aber nachträglich noch 
einen neuen Umstand bei, den sie bei ihrer damaligen 
Vernehmung vergessen zu haben vorgab, nunmehr jedoch 
erwähnen zu müssen glaubte. Ihrer Aussage nach nämlich 
sei sie, nachdem sie auf dem Fussboden liegend entbunden 
worden und nachdem sie die Nabelschnur sbgeschnitten 
hatte, aufgestanden und habe das Kind in die Arme ge- 
nommen, um mit ihm in's Bett zu gehen; das Bett sei so 
hoch, dass man erst auf einen Stuhl steigen müsse, um 
hinein zn kommen; von einer augenblicklichen Mattigkeit 
überkommen, sei ihr bei diesem Aufsteigen das Kind aus 
den Armen entsunken und auf den Boden gestürzt; sie 
habe es wieder aufgehoben und sich dann erst mit ihm in's 
Bett gelegt u. s. w.; an dem todten Kinde will sie einen 
blauen Fleck auf der Stirn bemerkt haben, von dem sie 
annahm, dass er von dem Falle herrühre. 

Dass das Bett die angegebene Höhe hat, wird von der 
Zeugin, Hebeamme F., bestätigt. 

Demnächst gab auch der Kreis-Physikus Dr. N,^ mit 
der geburtshülflichen Exploration der Beckenverhältnisse 
bei der pp. L. beauftragt, (am 19. März d. Js.) die Er- 



über Kopfverletzung eines Neugeborenen etc* 7 

klärang ab, dass er das Becken der Imploratin sowohl 
von aussen wie im Innern regelmässig gebaut gefunden 
und namentlich weder eine auffallende Enge der Aperturen, 
noch sonst eine Deformität der Beckenknochen, resp. £x- 
stosen an denselben habe entdecken können. 

Hiernach wurden die Akten dem K. Medicinal-Golle- 
gium nochmals mit dem Ei*suchen übersendet, sich darüber 
gutachtlich zu äussern, 

ob die äussere Gewalt, welche den Tod des Kindes 
herbeigeführt hat — den Angaben der Angeklagten 
gemäss — entstanden sein kann durch das Fallen- 
lassen beim Einsteigen in das hohe Bett, in einer 
Höhe von 3 Fuss, resp. durch dieses Fallenlassen 
beim Einsteigen in's Bett in Verbindung mit dem 
(bei den veränderten Auslassungen der Angeklagten) 
vielleicht doch anzunehmenden Eindessturz bei der 
Geburt im Stehen, 

oder ob Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass 
eine anders beschaffene äussere Gewalt, Schläge (oder 
welcher Art sonst) absichtlich den Tod herbeigeführt 
hat. 
In seinem demgeinäss erstatteten Gutachten vom 11. 
Mai d. Js. ist das Eönigl. Medicinal-GoUegium, gestützt 
auf eine hinsichtlich der Gestaltung des Blutextravasats am 
Kopf der Kindesleiche gewonnenen neuen Auffassung, zu 
der Annahme gelangt, dass die qu. Kopfverletzung wahr- 
scheinlich einer mindestens drei bis viermal wiederholten, 
gewaltsamen äusseren Einwirkung ihre Entstehung ver- 
dankt und hat sich schliesslich dahin votirt: 

dass die äussere Gewalt, welche den Tod des Kindes 
herbeigeführt hat, möglicherweise zwar entstanden 
sein kann durch das Fallenlassen desselben auf den 
Fussboden resp. durch Kindessturz bei der Geburt — , 



g Obergutacbten der K. Wissenschaftl. Deputation 

dass diese Entstehungsart aber nur wenig Wahrschein- 
lichkeit für sich hat, dass dagegen mit grosserer 
Wahrscheinlichkeit wiederholte Schl&ge mittelst eines 
stampfen Werkzeuges, oder StOsse gegen einen harten 
Körper mit glatter Oberfläche absichtlich den Tod 
des Kindes herbeigeführt haben. 
Nach eingehender Erwägung der in den vorliegenden 
Gutachten der Obducenten und des Königl. Medicinal- Col- 
legiums enthaltenen Widersprüche und insbesondere der 
nicht unbedenklich erschienenen Moti?irung des Super- 
arbitriums des letztern vom 11. Mai d. Js. hat der An- 
klage-Senat des Königl. Appellations - Gerichts zu M. in 
seiner Sitzung vom 25. Juni d. Js. den Beschluss gefasst, 
dass vor definitiver Beschlussnahme noch ein Gutachten der 
unterzeichneten Wissenschaftl. Deputation darüber einzu- 
holen sei, 

wodurch der Tod des Kindes der unverehel. L. er- 
folgt ist, 

ob sich namentlich bestimmt nachweisen lässt, dass 
der Tod keine Folge des Geburtsaktes gewesen ist, 
dass vielmehr eine bei Lebzeiten zugefügte äussere 
Gewalt den Tod herbeigeführt hat, und von welcher 
Art diese Gewalt gewesen sein muss, 
ob namentlich ein blosses Auffallen des Kindes auf 
den Fussboden, sei es bei dem Geburtsakte selbst, 
sei es bei dem Hineinsteigen in das Bett, genügt 
haben würde, die vorgefundenen Erscheinungen her- 
vorzurufen. 

Gatochten« 

Die noth wendige Vorbedingung zur Beantwortung der Frage, 
wodurch der Tod des Kindes der unverehel. L. er- 
folgt ist, 



über KopfverleUuDg eines Neagcborenen etc. 9 

dass nämlich dies Kind ein reifes und aasgetragenes ge- 
wesen sei and dass es nach der Gebart geathmet and ge* 
lebt habe, ist darch das Ergebniss der von den Obducenten 
Yorschriftsmässig aasgeffihrten Lungenprobe, so wie durch 
die Angabe der Mutter selbst , an Bewegungen und am 
Athmen das Kind als lebend erkannt zu haben, mit Sicher- 
heit festgestellt. Aus dem Befunde (Obd.-Prot. No. 47), 
„dass die Lungen nur massig stark ausgedehnt waren und 
„nur die äusseren Seiten des Herzbeutels bedeckten^, waren 
die Obducenten zugleich berechtigt, zu schliessen, dass das 
Kind nicht lange Zeit geathmet habe, sondern bald nach 
der Geburt gestorben sei. 

Hinsichtlich der Ursache dieses baldigen Absterbens 
bat die pp. L. bei ihrer Vernehmung am 10. Octbr. v. Js. 
zuerst in Anregung gebracht, dass die am Tage nach der 
Entbindung hinzugerufene Hebeamme, „als sie das Kind 
„sah, gesagt habe, es hätte sich verblutet^ und zugleich 
die ihr (der pp. L.) in dieser Beziehung etwa zur Last 
fallende Unterlassung damit entschuldigt, „dass sie die Na- 
„belschnur nicht unterbunden habe, weil es ihr unbekannt 
„gewesen, dass man dies thun müsse^. 

Abgesehen aber davon, dass die Hebeamme i^., hier- 
über vernommen, diese Aussage der pp. L. für unwahr er- 
klärt, da sie vielmehr, da der Körper des Kindes nicht 
weiss und blass, sondern blau aussah, der Ansicht gewesen 
sei, dass dasselbe „irgendwie gequetscht und gedrückt sein 
„müsse" — ist von den Obducenten aus der Abwesenheit 
von anämischen Erscheinungen an der Leiche mit Sicher- 
heit nachgewiesen worden, dass das Kind nicht an Ver- 
blutung gestorben sein kann. 

Eben so hat die aas der Lage des unter der Bettdecke 
neben der Mutter todt gefundenen Kindes etwa herzulei- 
tende Annahme, dass dasselbe während des tiefen Schlafes 



10 Obergutacbten der K. Wisseoschaftl. Deputation 

der eben Entbundenen erstickt sein könne, in richtiger 
Würdigung des hierauf bezüglichen Sections-'Ergebnisses 
seitens der Obducenten ihre unzweifelhafte Widerlegung 
gefunden. 

Wenn auch wir hiernach Verblutung und Erstickung 
als Todesursache auszuschliessen keinen Anstand nehmen 
dürfen, so haben wir uns nunmehr in Uebereinstimmung 
mit den Yorgutachten der Beurtheilung des einzigen zur 
Todesermittelung im vorliegenden Fall zu verwerthenden 
Anhaltspunktes, der in No. 60 u. 61 des Obductions*Pro- 
tokoUs beschriebenen Kopfverletzung des pp. L.'schen 
Kindes zuzuwenden. 

Betrachten wir diese Kopfverletzung zunächst nur in- 
soweit sie als ein Blutextravasat unter der Kopfschwarte, 
verbunden mit einer einfachen Fractur des Seitenwandbeines 
charakterisirt ist, so würden wir dieselbe an und für sich 
als nothwendige Bedingung zum Tode des Kindes nicht 
ansprechen können, weil die Erfahrung lehrt, dass Kinder, 
welche eine derartige Verletzung während des Geburts- 
aktes erlitten haben, nicht allein lebend geboren, sondern 
oft auch selbst dann noch am Leben erhalten werden kön- 
nen, wenn der Schädelknochen hierbei einen erheblichen 
Eindruck (Impression) zeigt. Es wird vielmehr zur Fest- 
stellung des causalen Zusammenhanges des Todes eines 
Neugeborenen mit einem an der Leiche desselben vorge'^ 
fundenen einfachen Schädel-Spaltbruche noch des Nach- 
weises von unmittelbaren Folgeerscheinungen der Fractur 
bedürfen, welche das Gehirnleben des Kindes zu unter-' 
drücken geeignet waren. Hierzu würden entweder Blut- 
ergüsse im Innern der Schädelhöhle, welche durch Druck 
aufs Gehirn tödtlich wirken, oder auch andere pathologisch- 
anatomische Veränderungen gehören, welche die Annahme 



über Kopfverletzang eioes Neageborenen etc. H 

einer bei dem Entstehen der Verletzung etwa stattgehabten 
Gommotion des Gehirns zu rechtfertigen vermögen. 

Im vorliegenden Fall v\rird das Vorhandensein von 
Blutextravasaten am Gehirn (No. 63 des Obd.-Prot.) ent- 
schieden in Abrede gestellt, lieber die Beschaffenheit der 
harten jBirnhaut aber, — ob dieselbe an der Bruchstelle 
des rechten Seitenwandbeines dem Knochen noch adhärirte ? 
ob sie mit verletzt war, oder nicht? — findet sich leider 
keine Angabe im Protokoll Wir erfahren nur, dass die 
Blutleiter derselben mit dnnkelm flüssigem Blut gefüllt 
waren (No. 62 ib.) und dass auch die Blutgefässe der 
weichen Hirnhaut eine so starke Ueberfüllung zeigten, „dass 
„das Gehirn vollständig roth überzogen schien^. 

Hiernach ist es zwar nicht zulässig, den Tod des Kin- 
des der pp. L. durch plötzliche Lähmung des Gehirns in 
Folge des Drucks einer durch die Verletzung erzeugten 
Blataustretung, d. h. durch Apoplexie im strengen Sinne 
des Wortes, zu erklären. Es muss jedoch in Ueberein- 
stimmung mit den Vorgutachten hervorgehoben werden, 
dass der vorgefundene Grad von Hyperämie sämmtlicber 
Blutgefässe der Gehirnhäute, für welche eine andere Ver- 
anlassung als die vorhandene Kopfverletzung nicht nach- 
weisbar ist, vollkommen ausreichend war, um auf das Ge- 
hirn des Kindes eine dem Druck eines wirklichen Extra- 
vasats gleichkommende verderbliche Wirkung auszuüben. 

Wir beantworten daher die uns ad 1 gestellte allge- 
meine Frage dahin, 

dass der Tod des Kindes der unvereheL L. erfolgt 
ist durch hochgradige Gehirnhyperämie, d. h. durch 
Apoplexie im weiteren Sinne des Wortes, ans Ver- 
anlassung der an demselben vorgefundenen Kopfver- 
letzung. 
Aus der Formulirang der uns ferner vorgelegten Fragesätze : 



12 Obergatacfaten der K. Wissenscbaftl. Deputation 

ob sich namentlich bestimmt nachweisen lässt, 
dass der Tod keine Folge des Geburtsaktes gewe- 
sen ist, 

dass vielmehr eine bei Lebzeiten zugefügte äussere 
Gewalt den Tod herbeigeführt hat und von welcher 
Art diese Gewalt gewesen sein muss, 
ob namentlich ein blosses Auffallen des Kindes auf 
den Fussboden, 

sei es beim Geburtsakte selbst, 
sei es beim Hineinsteigen in das Bett, 
genügt haben würde, die vorgefundenen Erscheinun- 
gen hervorzurufen? 
entnehmen wir, dass das K. Appellations- Gericht die vor- 
definirte Todesart des L/schen Kindes schon durch die 
Vorgutachten als unzweifelhaft festgestellt erachtet, indem 
dasselbe hier den Begriff des „Todes* mit dem der Todes- 
veranlassung, beziehungsweise mit „den an dem Kinde 
„vorgefundenen Verletzungs-Erscheinungen* identifi- 
cirt. Für uns wird es sich daher Behufs Beantwortung 
dieser Fragen principaliter um die Ermittelung 

der Entstehungsart der Kopfverletzung, durch welche 
der Tod des Kindes herbeigeführt worden ist, 
zu handeln haben. 

Ehe wir dieser Aufgabe näher treten, müssen wir be- 
vorworten, dass die Ursache einer Körperverletzung, welche 
nicht ausschliesslich auf einerlei Weise, sondern unter Be- 
dingungen verschiedener Art zu Stande kommen kann, sich 
bestimmt nur dann wird nachweisen lassen, wenn die 
Umstände, in welchen eine dieser Bedingungen nothwendig 
vorhanden sein musste, d. h. die äusseren Umstände, in 
denen der Verletzte zur Zeit seiner Schädigung sich be- 
fand, genau bekannt sind. Wo diese Kenntniss aber fehlt; 
wo, wie im vorliegenden Fall, nur aus der mit zweifei- 



über Kopfverletzung eines Nengeborenen etc. 13 

hafter Genauigkeit beschriebenen Form der Verletzung und 
ihrer Folgeerscheinungen an der Leiche auf die etwaige 
Eigenschaft der muthmasslich zur Wirkung gekommenen 
verletzenden Ursache geschlossen werden darf, wird die 
schliessliche Entscheidung für die eine oder die andere der 
in ihren Folgen nahezu analogen Bedingungen immer nur 
mit grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit getroffen 
werden können. 

Da wir unserer gutachtlichen Aeusserung ad I nur das 
aus den Sectionsbefunden No. 60 bis 63 u. 65 im Allge- 
meinen erkennbare Bild eines stattgehabten apoplektischen 
Todes zum Grunde gelegt haben, müssen wir dieselbe nun- 
mehr noch durch den Zusatz vervollständigen, dass die als 
Todesursache vorbezeichneten Erscheinungen, der Bruch 
des Seitenwandbeines, sowie die damit in Verbindung ste- 
hende Blutaustretung und Gehirnhyper&mie nicht nach 
dem Tode, sondern bei Lebzeiten des Kindes entstan- 
den sein müssen. Diese Annahme wird ausreichend be- 
gründet durch die geronnene Beschaffenheit des angetre- 
tenen schwarzen Blutes und durch 4^^ blutige Färbung der 
gezähnten Ränder des Schädelbruches selbst. Dass aber 
ein derartiger Enochenbruch nur durch Einwirkung einer 
äusserlichen Gewalt, sei es während oder sei es nach 
der Geburt des Kindes, erzeugt sein muss, bedarf keines 
Beweises. Die obwaltende Streitfrage bezieht sich mithin 
zunächst auf die Bestimmung der Zeit, in welcher die ge- 
dachte Verletzung sich ereignet haben wird. 

Der erste Eindruck, den das unter den weichen Kopf- 
bedeckungen abgelagerte, schwer von denselben trennbare 
Extravasat geronnenen, schwarzen Blutes, welches sich 
oberhalb der Stirnhöcker über den obern Tbeil beider 
Schläfenbeine bis nach dem Hinterhanptshöcker hinzog und 
theilweise eine Dicke von U bis ^Linien hatte, wobei 



14 Obergntacfaten der K. Wissenscbaftl. Deputation 

zugleich die Knochen der Schädeldecke blutig gefärbt er- 
Bcfaienen, und endlich eine parallel mit dem untern Rande 
und 1 Zoll von demselben entfernt verlaufende, fast grad- 
linigte, das rechte Schläfenbein in zv^ei Theile theilende 
Fractur zu Tage kam, — auf die Obducenten gemacht 
hatte, v^ar der gev^esen, dass sie eine dem Kinde während 
des Lebens, d. h. nach dessen Geburt zugefügte Kopfver- 
letzung vor sich zu haben glaubten. 

Von dieser Auffassung sind dieselben jedoch später 
abgewichen, nachdem sie in Casper^H Handbuch (Bd. II. 
§. 110) eine mit diesem Sectionsbefunde so auffallend über- 
einstimmende Schilderung der durch den Gebärakt allein 
oft bewirkten Schädelfissuren bei Neugeborenen gefunden 
zu haben glaubten, dass sie hieraus die üeberzeugung ge- 
wannen, es könne auch der vorliegende einfache Spalt- 
bruch des rechten Schläfenbeines nur für das Erzeugniss 
eines starken Druckes erklärt werden, dem der Kopf bei 
der Geburt seitens des Vorbergs des mütterlichen Beckens 
ausgesetzt gewesen sei. 

Abgesehen davon, dass der von den Obducenten an- 
geführte, aus seinem Zusammenhang gelöste Passus des 
Ca^jp^r'schen Handbuchs in seiner allgemeinen Fassung nur 
mit Vorsicht aufzunehmen ist, ergiebt es sich bei näherer 
Prüfung der einzelnen Sectionsbefunde im concreten Fall, 
dass die Folgerungen, welche die Obducenten aus dem 
Vergleich derselben mit dem Ca^p^r'schen Gitat ziehen, 
nicht überall zntreifend sind. Zunächst können wir der 
Ausführung derselben (Act. Fol. 22), nach welcher das zwi- 
schen der Kopfschwarte und der knöchernen Schädeldeck^ 
vorgefundene Extravasat als „die gewöhnlicbeKopfgeschwulst 
(caput succedaneum) der Neugeborenen'' bezeichnet werden 
müsse, nicht beitreten. 

Bei der aussei;«!! Besichtigung ist von einer Ge- 



über Kopfverletzung eines Nengeborenen etc. X5 

schwulst am Kopf der Kindesleiche überhaupt eben so 
wenig die Rede, als von einer durch ein Caput succeda- 
neum etwa bedingten, verlängerten oder zugespitzten Ge- 
staltung des Kopfes. Es heisst dagegen sub No. 6 des 
Obd.-Prot. ausdrücklich: „der behaarte Theil des Kopfes 
„(uhlt sich nach den Seiten bis zu den Ohrmuscheln herab, 
„nach hinten bis in die Gegend der Protuberanz des Hin- 
„terhauptbeines leicht teigig an, ohne dass sich äusser- 
„lich Sugillationsflecke wahrnehmen lassen". Diese Be- 
schreibung ist mit den Kriterien einer sogenannten Eopf- 
geschwulst schon hinsichtlich ihres Sitzes und ü m fan- 
ge s nicht congruirend. Die bei schweren und sich verzö- 
gernden Geburten am vorliegenden Theil des Kindeskopfes 
durch Andrängen desselben gegen die gespannte ringför- 
mige Oeifnung des Muttermundes, beziehungsweise der äus- 
seren Geschlechtstheile erzeugte, meist pralle, oedematöse 
Geschwulst hat bei den ersten Schädelstellungen fast con- 
stant ihren Sitz über der hinteren Gegend eines, und 
zwar am häufigsten des rechten Seiten wandbeines. In dem 
Umfange aber, dass sie beide Seiten des Kopfes gleich- 
massig bis zu den Ohrmuscheln hin einnimmt, kommt die- 
selbe schon deshalb nicht vor, weil der Kopf mit seinem 
Queer- und mit seinem geraden Längen-Durchmesser zugleich 
zum Durchschneiden nicht gelangt. 

Eben so wenig aber wie der Umfang der teigig anzu- 
fühlenden Kopfbedeckungen unterstützt auch das unter 
ihnen gefundene Blutextravasat die Annahme, dass hier 
eine gewöhnliche Kopfgeschwulst vorliege. Der Inhalt der 
letzteren nämlich wird allgemein als ein im subcutanen 
Zellgewebe befindlicher seröser Erguss characterisirt, dem 
nur mehr oder weniger theils flüssiges, theils coagulirtes 
Blut beigemengt zu sein pflegt, weshalb man demselben 
eben eine sulzige gallertige Beschaffenheit beilegt. Im 



16 Obergntachten der K. Wissenscbaftl. Deputation 

SectioDS-ProtokoU aber erwähnen die Obducenten einer der- 
artigen Eigenschaft des Blutextravasats ausdrücklich nicht, 
sondern verleihen ihm das Prädikat des ^sulzigen^ erst im 
motivirten Gutachten nachträglich. 

Wir sind hiernach zu dem Schluss berechtigt, dass der 
Bluterguss unter die Kopfbedeckungen, wie er im Sections- 
Protokoll geschildert ist, nicht zu der Zeit des Gebärakts 
erfolgt sein kann, in welcher die Bildung der gewöhnlichen 
Eopfgeschwulst vor sich zu gehen pflegt. — Es bleibt mit- 
hin nur noch die Frage zu entscheiden, ob Blutextra vasat 
und Fractur nicht etwa schon einem früheren Geburtshin- 
dernisse beim Eintritt des Kopfes in das kleine Becken 
der Gebärenden ihre Entstehung verdanken. Für die Mög- 
lichkeit eines derartigen Vorkommens scheinen viele aus 
der geburtshülflichen und gerichtsärztlichen Praxis mitge- 
theilten Fälle zu sprechen. 

Als nothwendige Bedingung des Zustandekommens der- 
selben ist aber stets ein zwischen den Dimensionen des 
Kopfes und dem mütterlichen Beckenraum obwaltendes 
Missverhältniss angenommen worden. Am Kopfe des Kin- 
des hat man in solchen Fällen entweder eine längliche, 
nicht nothwendig sugillirte Vertiefung in der Haut beob- 
achtet, welche von anhaltendem Druck gegen den Vorberg 
oder irgend eine abnorme Hervorragung des mütterlichen 
Beckens beim langsamen Deberschreiten dieser Hindernisse 
erzeugt ist, und unter welcher selbst eine Einknickung des 
Schädelknochens hat fühlbar werden können; oder es haben 
sich, wenn es zur Section gekommen ist, an der Leiche 
eine Fissur oder ein Spaltbruch des unterliegenden i8[no- 
chens mit mehr oder weniger Gefässzerreissungen resp. Blut- 
austretungen am Periost oder an den Gehirnhäuten vorge- 
funden. Fissuren aus dieser Veranlassung kommen aber 
vorzugsweise nur an sehr dünnen, unvollkommen ossificirten 



über Kopfverletzung eines Neugeborenen etc. 17 

Knochen vor und verlaufen allermeist nach der Richtung 
der Enochenfasern, von der Peripherie nach dem Gentrum 
hin. 

Vergleichen wir diese Erfahrungssätze mit den Ein- 
zelnheiten des vorliegenden Falles, so ergiebt sich Fol- 
gendes : 

Die Durchmesser des Kopfes des pp. L.'schen Kindes 
überschreiten nicht die durchschnittlich als normal ange- 
nommenen Maasse (No. 27 des Obd.-Prot.). Bei der, frei- 
i lieh ohne genaue Messungen angestellten geburtshulflichen 
i Manual-Üntersuchung der unverehel. L. ist ferner deren 

.] Becken aussen und innen regelmässig gebaut, * in seinen 
Aperturen geräumig und nicht mit Deformitäten oder Her- 
vorragungen an den Knochen behaftet, gefunden worden. 
Für die Annahme eines zwischen dem Kindeskopf und die- 
sem Becken etwa stattgehabten Missverhältnisses fehlt es 
daher an jedem Anhalt. 

lieber den umstand, dass die pp. L. eine leichte oder 
eine schwere Geburt gehabt hat, sind Zweifel erhoben wor- 
den (cf. den Beschluss des Königl. Appellations-Gerichts 
vom 25. Juni d. Js.). Aus dem, was hierüber als akten- 
mässig festgestellt angenommen wird, geht allerdings her- 
vor, dass die pp. L. schon in der Nacht vom 27. zum 28 
September die heftigsten Leibschmerzen gehabt hat. Trotz- 
dem aber ging sie am nächsten Morgen wieder baarfuss 
mit Frühstück aufs Feld und musste sich später erst wegen 
allgemeinen Unwohlseins zu Bett legen, wobei sie nicht 
über Leib-, sondern über Brustschmerzen klagte, und am 
Abend wieder so frei davon war, dass sie fest schlafend 
gefunden wurde. Hiernach können die Leibschmerzen in 
der Nacht vorher höchstens vorbereitende, nicht aber 
eigentliche Geburtswehen gewesen sein, noch als Zeichen 
einer schweren Geburt in Betracht kommen. Ueber den 

Vierte^alirsschr. f. gcr. Mod. H. F. XV. 1. 2 



■ 

I 




18 Obergutachten der K. Wi^senscbaftl. Deputation 

Verlauf der Entbindung selbst lässt sich aus den abwei- 
chenden Angaben der pp. L. so viel mit Sicherheit fest- 
stellen, dass sie in der Nacht vom 28. zum 29. September 
von heftigen Treibwehen befallen wurde, welche die Geburt 
„bald nachher'^, jedenfalls noch zur Nachtzeit der Art för- 
derten, dass das Kind „ohne alle Hülfe und unter nnr un- 
„bedeutenden Schmerzen zum Vorschein kam". Wie viel 
Zeit während dessen verlaufen? wann die Nachgeburt ab- 
gegangen war? und wie dieselbe beseitigt worden? ist un- 
bekannt geblieben. Man weiss nur, dass die pp. L. die 
Ueberlegung behielt, die Nabelschnur abzuschneiden und das 
Kind neben sich in's Bett zu legen. Erfahrt man über- 
dies, dass die pp. L. nach dem Vorgang sich eines ge- 
sunden Schlafes erfreute und dass sie am andern Tage von 
der Hebamme F. bereits „vollständig angezogen und im 
„Begriff milchen gehen zu wollen", angetroflfen wurde 
(Act. Fol. 44), so wird man sich zu dem Schluss berech- 
tigt halten dürfen, dass dieselbe keine schwere, sondern 
eine leichte Geburt gehabt haben muss. 

Was endlich die Beschaffenheit der Kopfverletzung selbst 
anbetrifft, so wollen wir auf den Umstand, dass an der- 
selben jedes Merkmal eines äusserlich stattgehabten Druckes 
fehlt, kein besonderes Gewicht legen, weil wir die Erzeu- 
gung einer Schädelfissur in Folge excessiver Wehenthätig- 
keit bei vorhandener relativer Beckenenge auch ohne 
Hinterlassung einer Druckmarke nicht für absolut unmög- 
lich erklären können. Dagegen müssen wir hervorheben, 
dass die tiefseitliche Lage der Fractur des rechten Seiten- 
wandbeines, einen Zoll entfernt von seinem untern Rande, 
der Schuppennuth , so wie die den Verknöcherungsstrahleu 
entgegengesetzte Richtung des Bruchs durch die ganze 
Länge des Knochens hindurch, sich nicht vereinbaren lässt 
mit der Annahme seiner Entstehung durch einen aus dem 



j 



über Kopfverletzung eines Neugeborenen etc. 19 

Geburtsakt herzuleitenden Druck auf den Kopf des Kindes. 
Das in dem Beschluss des Königl. Appellationsgerichts vom 
15. Juni er. erhobene Bedenken, ,,ob nicht gerade wegen 
„der grösseren Festigkeit der Schädelknochen die vorhan- 
,, denen Symptome und der vorgefundene Schädelbruch et- 
„was abweichend von den sonstigen Erfahrungen gewesen 
„sein können", würde nur dann seine Berechtigung finden, 
wenn es sich hier etwa um einen Gegenbruch (contre- 
coup) handelte. Abgesehen aber davon, dass nach 
Lage des Falles an eine derartige Entstehung des Schä- 
delbruchs während des Geburtsaktes überhaupt nicht ge- 
dacht werden kann, dürfte eine das Seitenwandbein in 
longitndineller Richtung vollständig trennende Fractur selbst 
als contre-coup einer das ganze Schädelgewölbe erschüt- 
ternden äusseren Gewalt zu den unmöglichen Vorkomm- 
nissen gehören. 

Hiernach müssen wir auf Grund unserer bisherigen 
Erörterungen und in vollkommenem Einverständniss mit 
den gründlichen Ausführungen des ersten Gutachtens des 
Königl. Medicinal - GoUegiums vom 17. Januar d. Js* den 
Nachweis für geführt erachten, 

dass die vorgefundenen Kopfverletzungen des Kindes 

der pp. L. keine Folge des Geburtsaktes gewesen 

sein können. 
Wenn wir daher nach dieser Erklärung in die Noth- 
wendigkeit versetzt sind, unsere Aufgabe weiter zu verfol- 
gen und demgemäss eine ausserhalb des Geburtsaktes lie- 
gende Gewalt zu ermitteln versuchen, welche möglicher- 
weise bei Lebzeiten des Kindes verletzend auf dasselbe 
gewirkt hat, so werden wir zunächst zu prüfen haben, 

von welcher Art diese äussere Gewalt gewesen sein 

muss. 
Die Lage der Schädelfractur in der unteren Hälfte 



20 Obergntachien der K. ^Vissenschaftl. Deputation 

des rechten Seitenwandbeins, einen Zoll von der Schuppen- 
nath entfernt, die feingezähnte Beschaffenheit ihrer mit 
Blut unterlaufenen Ränder, das zugleich vorgefundene, über 
den grösseren Theil des Schädelgewölbes verbreitete Ex- 
travasat geronnenen Blutes, ohne alle Mitverletzung der 
Gehirnhäute, an denen nur starke Blutüberfüllung, jedoch 
keine Blutaustretung bemerkbar gewesen — der Gomplex 
dieser Erscheinungen unterstützt wesentlich die Annahme, 
dass der gedachte Schädelbruch die directe Folge einer 
durch Stoss oder Schlag wirkenden Gewalt gewesen ist. 
Wäre das Seitenwandbein in Folge eines auf den Quer- 
durchmesser des Kopfes, d. h. auf den Purietal-Höcker in 
irgend einer Weise ausgeübten Druckes gebrochen, so würde 
Abreissung der ihm adhärirenden harten Hirnhaut, resp. 
deren Blutgefässe und Blutaustritt in die Schädelhöhle 
hierdurch vermittelt worden sein. Wir müssen folglich 
diese Art der Gewaltwirkung ausscbliessen. Als Unterlage 
aber für den bestimmten Nachweis, dass ein Stoss oder 
ein Schlag die verletzende äussere Ursache gewesen sein 
müsse, fehlt allerdings das Vorhandensein irgend einer 
oberflächlichen Gontusions-Erscheinung an den Hautdecken 
des Kopfes. Da jedoch die Erfahrung andrerseits lehrt, 
dass Fracturen eines, ja selbst mehrer Schädelknochen bei 
Neugeborenen nicht selten vorkommen, ohne dass an der 
Kopfschwarte sich zugleich Spuren von Verletzung bemerk- 
lich machen, so kann aus dem Fehlen der letzteren min- 
destens der directe Beweis dafür nicht hergeleitet werden, 
dass ein unter diesen Umständen gefundener Schädelbruch 
die Folge der Einwirkung einer äusseren Gewalt überhaupt 
nicht gewesen sein könne. Demgemäss steht auch im 
vorliegenden Falle der Annahme nichts entgegen, 

dass der Bruch des rechten Seitenwandbeines am 
Kopf des Kindes der pp. L. durch den Stoss oder 



über Kopfverletzung eines Neugeborenen etc. 21 

Schlag mit einem stumpfen Gegenstand gegen den 
Kopf, . oder mit diesem gegen jenen herbeige- 
führt sei. 

Zur Feststellung der Eventualitäten, unter welchen die 
Einwirkung einer äusseren Gewalt in gedachter Weise that- 
sächlich stattgehabt hat, bieten die Acten keinen sichern 
Anhalt. Die Angaben der pp. L. über die Vorgänge bei 
der Geburt erscheinen im hohen Grade unzuverlässig. Na- 
mentlich steht die Behauptung derselben, „es sei während 
„der Entbindung in ihrer Kammer stockfinster gewesen, 
„so dass sie das Kind nicht habe sehen können^, in auf- 
fallendem Widerspruch mit den Verrichtungen, welche sie 
in dieser Situation nothwendig hat ausführen müssen. Dass 
eine mit den Geburtsvorgängen noch vollkommen unbe- 
kannte Person das Abschneiden der Nabelschnur, selbst 
wenn das hierzu zu verwendende Messer in der Tasche ih- 
res Unterrocks zufällig zur Beseitigung zur Hand war, und die 
Beseitigung der Nachgeburt, welche zu der Zeit jedenfalls er- 
folgt sein muss, da deren Vorhandensein sonst Niemandem 
weiter aufgefallen ist, ohne alle Beleuchtung zu Wege gebracht 
haben sollte, ist stark zu bezweifeln. Sagt die Angeklagte 
doch selbst, dass sie das Unterbinden der Nabelschnur nur 
deshalb unterlassen habe, weil sie dasselbe nicht für noth- 
wendig gehalten. Dass sie davon aber wegen derFinster- 
niss in der Kammer Abstand genommnn habe, erwähnt 
dieselbe nicht. Ferner kann man aus den auf dem Fuss- 
boden später vorgefundenen, entweder theil weise verwa- 
schenen (Act. Fol. 3, 8) oder durch die Fusstritte der pp. 
L, verwischten (Act. Fol. 52) Blutflecken zwar schliessen, 
dass die Gebärende während des Geburtsaktes das Bett 
zeitweise verlassen haben muss. Der eigentliche Hergang 
der Niederkunft aber und die Behandlung, welche die pp. 



22 Obergotachten der K, Wisseoschaftl. Deputation 

L. dem Kinde hat angedeihen lassen, bleibt vollständig 
ungewiss. 

Unserer Aufgabe gemäss haben wir indessen die Vor- 
aussetzung zu beachten, dass bei dieser Gelegenheit ein 
Auffallen des Kindes auf den Fnssboden, sei es 
durch Sturz aus den Genitalien bei dem Geburtsakte 
selbst, sei es durch Entgleiten vom Arme der Ent- 
bundenen beim Hineinsteigen in das Bett stattge- 
funden haben kann. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass unter beiden Vor- 
aussetzungen für das Kind die Möglichkeit gegeben war, 
an dem Theile seines Körpers, mit welchem es auf den 
Fussboden auffiel, wahrscheinlich also am Kopfe eine Ver- 
letzung zu erleiden. In beiden Fällen, selbst wenn es sich 
zwischen denselben um eine Differenz der Fall- Höhe von 
2 bis 3 Fuss handelte, würde diese Verletzung nahezu die- 
selbe Beschaffenheit gehabt haben können. Wenn wir fer- 
ner auch zugestehen, dass dieselbe möglicherweise in 
einem Spaltbruche des Schädels mit seinen Consequenzen 
bestanden haben könnte, so würden wir denselben doch 
immer nur an der Stelle zu suchen haben, mit welcher der 
Kopf muthmasslich aufgestossen war. Als eine solche Stelle 
meinte die pp. L. bei ihrer spät vorgebrachten Aussage 
über das Hinfallen ihres Kindes einen von ihr bemerkten 
„blauen** oder „durchgestossenen" Fleck an dessen Stirn 
bezeichnen zu müssen. Allein abgesehen davon, dass ein 
neugeborenes Kind, wenn es aus einer massigen Höhe ver- 
möge seiner eigenen Schwere hinabfällt, mit der Stirn 
höchst wahrscheinlich zuerst den Boden berühren wird, ist 
eben so wenig dieser blaue Fleck bei der Section wie in 
der Stirngegend eine Fractur gefunden worden. Der Er- 
fahrung gemäss erscheinen Schädel-Fracturen Neugeborener 
in Folge des Hinstürzens bei der Geburt aus einer gewissen 



über Kopfverletzung eines Neugeborenen etc. * 23 

Höhe vorzugsweise am Hinterhauptbein oder auch an einem 
Seitenwandbein, und sind dann entweder einfache oder stern- 
förmige Spaltbrüche, welche von dem directen Berührungs- 
punkt des ursächlichen Stosses aus mehr oder weniger nach 
der Richtung der Verknocherungsstrahlen verlaufen. Da 
aber diese Eigenthümlichheiten mit der wiederholt beschrie- 
benen Lage und Beschaffenheit der Fractur des Seitenwand- 
beines des L.'schen Kindes nicht correspondiren, und da 
auch ein Aufstossen des Kopfes an dieser mehr abhängigen 
Seitenfläche desselben bei seinem event. Auffallen auf den 
gedielten Fussboden eines Zimmers kaum denkbar ist, so 
müssen wir es im höchsten Grade für unwahrscheinlich 
erachten, 

dass ein blosses Auffallen des L. 'sehen Kindes auf 
den Fussboden geeignet gewesen ist, die an ihm vor- 
gefundenen Verletzungserscheinungen hervorzurufen. 
Es bleibt uns sonach nichts übrig als der Anschluss 
an die Annahme, dass die äussere Gewalt, welche den Tod 
des Kindes herbeigeführt hat, wahrscheinlich ein dem Kopf 
desselben bei Lebzeiten in directer Weise zugefügter Stoss 
oder Schlag mit oder an einem stumpfen Gegenstand ge- 
wesen ist. In welcher Weise derselbe beigebracht worden 
ist, vermögen wir auch nicht muthmasslich auszusprechen. 
Wir sind auch ausser Stande, den Ausführungen des Königl. 
Medicinal-CoUegiums in dem zweiten Gutachten vom 11. 
Mai d. Js. zu folgen und beizutreten, nach welchen das- 
selbe lediglich aus dem umstände, dass das über dem 
Schädeldach in weiter Ausdehnung verbreitete Blutextra- 
vasat an vier, mehr oder weniger von einander entfernten 
Stellen in einer beträchtlicheren Dicke auflagert, zu dem 
Schluss gelangt, dass die Kopfverletzung des Kindes durch 
mindestens drei Schläge mit einem stumpfen Werkzeug 
oder durch mindestens drei Stösse gegen einen harten 



24 Obergutacfaten der K. Wissenschaftl. Deputation 

Körper mit glatter Oberüäche entstanden ist Za dieser 
Annahme würden wir uns nur dann berechtigt halten, wenn 
dieselbe durch das Vorhandensein von äusseren Gontasions- 
merkmalen, welche mit den bezeichneten Stellen corre- 
spondiren, unterstützt wäre. Indem wir aber auf Grund 
gerichtsärztlicher Erfahrung an der oben schon geäusserten 
Ansicht festhalten, dass es möglich ist, durch einen rasch 
und kräftig ausgeführten Stoss mittels eines harten Gegen- 
standes gegen den Kopf eines Neugeborenen, auch ohne 
Hinterlassung einer Quetschungsmarke auf der Haut, einen 
Schädelbruch zu erzeugen, und da ein Schädelbruch ge- 
nügt, um ein weit verbreitetes Blutextravasat unter der 
Kopfschwarte hervorzurufen, so müssen wir auch die Mög- 
lichkeit statuiren, dass eine einmalige Einwirkung einer 
äussern Gewalt der bezeichneten Art im vorliegenden Fall 
hinreichend gewesen sein kann, die vorgefundenen Yer- 
letzungserscheinungen herbeizuführen. 

Hiernach resumiren wir schliesslich unser Gutachten 
dahin, 

L dass der Tod des Kindes der unverehel. L. in Folge 
der an demselben vorgefundenen Kopfverletzung durch 
Apoplexie erfolgt ist; 

n. dass wir für nachgewiesen erachten, dass diese 
Kopfverletzung keine Folge des Geburtsaktes gewe- 
sen ist, 

dass vielmehr eine bei Lebzeiten des Kindes zuge- 
fügte äussere Gewalt die Kopfverletzung herbeige- 
führt hat, 

dass diese äussere Gewalt in einem, dem Kopf bei- 
gebrachten Stoss oder Schlag mittels eines harten, 
stumpfen Gegenstandes bestanden haben kann, 

dass jedoch ein blosses Auffallen des Kindes auf 



über Kopfverletzung eines Neugeborenen etc. 25 

den Fussboden, sei es bei dem Geburtsakte selbst, 
sei es beim Hineinsteigen der Mutter in das Bett, 
nicht geeignet gewesen sein kann, die vorgefundenen 
Erscheinungen hervorzurufen. 

Berlin, den 17. October 18 . . 

Die Königl. Wissenschaftliche Deputation für das 

Medicinalwesen. 

(Unterschriften.) 



Ein Fall von Oebären im Stehen. 

Stnrz des Kindes anf den mit Brettern gedielten ¥m 
boden. Fahrlässige Tödtnng des Kindes. 



Dr. Blttnileiii, Königl. Kreis- Wundarzt 
XU Grefrath, Kreises Kempea. 



Obgleich der liier abgehandelte Fall weder ein Assisen- 
Objeet noch Veranlassung zu einem motivirteo Gutachten 
geworden, bo verdient er nichts desto weniger näher ge- 
würdigt zu werden, und zwar aus dem Grunde, weil auch 
er zu den selteneren Fällen gehört, welche einen unnm- 
atösslichen Beweis für die Möglichkeit efner in den letz- 



Ein Fall von Gebären im Stehen. 27 

erschüttert und endlich von Hohl völlig über Bord gewor- 
fen; denn letzterer weist die Angaben der Inquisitin, im 
Stehen geboren zu haben und die durch den Sturz des 
Kindes auf den harten Fussboden herbeigeführte tödtliehe 
Beschädigung als reine Lügen zurück (Hdbch. der Gebrtsh^ 
1855, S. 573 u. 819). Ein in Hinsicht der Rechtspflege nicht 
hoch genug zu schätzender Fortschritt; denn mit dieser la- 
konischen Abfertigung, wäre sie über allen Zweifel erhaben 
und in der Erfahrung begründet, würde die gewiss bedenk- 
liche Lehre vom Sturze des Kindes ihr Todesurtheil er- 
halten, die Angeschuldigte dagegen ein wenn auch leider 
oft missbrauchtes und vorgeschütztes, in einem concreten 
Falle jedoch immerhin rechtliches, weil in dem natürlichen 
Geburtshergange begründetes Vertheidigungsmittel verloren 
haben. So wünschenswerth des Missbrauches und der Läh- 
mung der Bechtspflege wegen jenes ürtheil auch wäre, 
ebenso beklagenswerth würde aber dieser Verlust sein. 
Mag auch manche schuldige Kindesmörderin durch ihre 
unwahren Angaben sich zu retten versucht und auch wirk- 
lich der strafenden Gerechtigkeit sich entzogen haben, so 
sind derartige Vorkommnisse doch gewiss nicht berechtigt, 
obigen Lehrsatz zu streichen. Indessen hat er auch nur 
eine Anzweiflung, eine Erschütterung erlitten, seinen völ- 
ligen Untergang hat Casper durch die vielen, in seinem 
Handbuche und seinen klinischen Novellen der gerichtlichen 
Medicin verzeichneten, meistens vor Augenzeugen gesam- 
melten Thatsachen verhütet, so dass auf Grund der Erfah- 
rungen dieses Veteranen die überalte und allgemeine An- 
nahme den theoretischen Spitzfindigkeiten gegenüber wiederum 
gerechtfertigt dasteht, dass nämlich in jeder Stellung, auch 
in der aufrechten, die Kreissende von dem letzten Acte 
der Geburt überrascht werden, dass das Kind dabei aus 
ihren Geschlechtstheilen hervorstürzen und sich namentlich 



28 i^'o Fan von Gebären im Stehen. 

am Kopfe beschädigen, ja selbst tödtlich verletzen kann. 
Als Beleg für diese Wahrheit möge der folgende Fall 
dienen. 

(üeschichtserzählang. 

In den Nachmittags-Stunden des 28. Decembers 18 . . 
klagte die 22 Jahre alte Seideweberin J. St. aus H., eines 
Nachtwächters Tochter, welche bei ihren Eltern wohnte und 
arbeitete, diesen gegenüber, so wie auch überhaupt, ihre 
uneheliche Schwangerschaft verheimlicht und abgeleugnet 
hatte, obschon sie selbst von ihrem Zustande sich hinläng- 
lich überzeugt wusste, über allgemeines Unwohlsein und 
Unfähigkeit noch weiter zu arbeiten. Die Mutter empfahl 
ihr deshalb früh zu Bette zu gehen, was auch gegen 6 Uhr 
Abends geschah, gleichzeitig begleitet von einem 8jährigen 
Schwesterchen und 5jährigen Brüderchen, welche beide auf 
derselben Schlafstube in einem zweiten Bette sich zur 
Kühe begaben. 

Diese Schlafstube der J. befand sich auf dem Speicher, 
hatte nur ein 2 Fuss langes und 1 Fuss breites, über dem 
Fussende der J. befindliches, mit der Hand vom Fussboden 
aus erreichbares Dachfensterchen und eine nach Aussen, 
auf dem Speicher sich öffnende Thüre. Der durch einige 
Glaspfannen wenig erhellte Speicher hatte einen von der 
Schlafstube 16 — 17 Fuss entfernten, durch das schräglau- 
fende Dach gebildeten dunkelen Winkel. Auf dieser 
Schlafstube verweilte die J. mit den kleinen, alsbald schla- 
fenden Geschwisterchen allein, bis gegen |1 Uhr Nachts, 
um welche Zeit eine ausserhalb des Hauses arbeitende 
18jährige Schwester H. nach oben kam, um sich zu ihrer 
bereits im Bett liegenden Schwester «/., mit welcher sie 
zusammen zu schlafen gewohnt war, ebenfalls zur Ruhe zu 
legen. Als diese jedoch auf dem Fussboden dieses Schlaf- 



Ein Fall von Gebären im Stehen. 29 

Zimmers mehrere Blutflecke gewahrte und dieserhalb ihre 
Schwester J, befragte, erhielt sie von dieser die Antwort, 
dass die längst ersehnte Periode endlich eingetreten sei. 
Sie rief indessen die unten im Hause bereits zu Bette ge- 
gangene Mutter herauf, welche dieselbe Aussage von ihrer 
Tochter J, hinsichtlich der Herkunft des Blutes erhielt, 
solche au6h als wahr annahm, die Flecken auf dem Boden 
mit einem alten Sacke zudeckte und sich nach Unten wie- 
der schlafen legte. Die Schwester H, legte sich jedoch zu 
den kleinen schlafenden Geschwisterchen. Auf Grund die- 
ser nächtlishen Vorgänge in der St' sehen Familie lugten 
die den körperlichen Zustand der J. wohl wissenden Mit- 
bewohner desselben Ät 'sehen Hauses, von denen einer seine 
Wohnstube unmittelbar unter der Schlafstube der J. und 
deshalb deren Stöhnen und Wimmern am Abende vorher 
deutlich bemerkt hatte, schon in aller Frühe des folgenden 
Tages (29. December) nach dem corpus delicti und fanden 
auch bald in dem oben erwähnten dunklen Winkel des 
Speichers unter dem Dache eine kleine, nackte, noch mit 
Blut beschmutzte Kindesleiche. Die von diesem Factum 
sogleich in Kenntniss gesetzte Polizeibehörde nahm noch 
selbigen Morgens den Leichnam in Verwahrsam und be- 
richtete sofort an die Staatsanwaltschaft zu C, welche die 
gerichtliche Untersuchung und Obduction auf den 2. Januar 
18.. anberaumte. Letztere ergab folgende Befunde : 

A. Äeussere Besichtigung. 

1. Der kleine Leichnam war weiblichen Geschlechts, 19| Zoll 
lang und 6 Pfd. 4^ Loth schwer. 

2. Derselbe war wohlgebildet, aber mit Mekonium und getrock- 
netem Blnte über und über beschmutzt und hatte im Allgemeinen 
das Aussehen eines vollständig ansgetragenen Kindes. Nachdem es 
gehörig gereinigt war, bemerkte man an demselben vollständige 
Leichenstarre, aber noch gar keinen Leichengeruch, und war der 
Körper nirgends aufgedunsen. 

3. Die üaut des sonst gut genährten Kindes erschien frisch, 



30 ^it) Päll ^on Gebären im Stehen. 

von natürlicher blassrother Färbung und zeigte auf dem Rücken, dem 
Kreuzbeine und den Schulterblättern deutliche Todtenflecke. Die 
Oberhaut liess sich an keinem Theile des Körpers abstreife. Die 
eigentliche Haut fühlte sich überall fest und derb an und liess nir- 
gends eine Verletzung oder Sugillation wahrnehmen. 

4. Die verschiedenen Theile des Körpers zeigten ein richtiges 
Verhältniss zu einander, namentlich erschien auch der Kopf in nor- 
malem Verhältniss zu dem übrigen Körper. 

5. Der Kopf war mit \ Zoll langen braunen Haaren ziemlich 
dicht besetzt. Die Kopfknochen liessen sich gehörig über einander 
schieben und gaben Durchmesser von normaler Grösse an, namentlich 
war der grade Durchmesser 4|[ Zoll, der diagonale ö Zoll 1 Linie, 
und der quere 3 Zoll 8 Linien. Die Fontanellen waren 'sehr klein, 
die vordere etwas grösser wie eine Erbse, nicht mehr viereckig und 
die hintere so gross wie eine halbe Erbse. Die Ohren erschienen 
vollständig ausgebildet und knorplich. 

6. Das Gesicht zeigte im Allgemeinen nichts Bemerkenswert 
thes; es sei denn, dass das Kinn und die Wangen gegen die Nase 
zu heraufgedrückt erschienen, so dass hierdurch der Mund- und die 
Nasenlöcher vollständig geschlossen waren. Die Farbe des Gesichts 
war im oberen Theile bläulich, gegen den Mund und das Kinn hin 
röthlich. Die Augen waren geschlossen, ohne Pupillarmembran, der 
Augapfel noch gut erhalten, die Pupille klar und nirgends in dem 
Auge eine Röthung zu bemerken. Die Nase war wohlgebiidet, ein- 
gedrückt, der Nasenknorpel aber vollständig vorhanden und es floss 
weder Blut noch Schleim aus. Die Zunge lag hinter dem Zahnfleisch 
und in der Mundhöhle war ebenfalls weder Schleim noch Blut, noch 
sonst Ungewöhnliches zu entdecken. 

7. An dem Halse war nichts Bemerkenswerthes zu entdecken. 

8. Die Brust erschien gehörig gewölbt. 

9. Der Unterleib flach, etwas eingefallen, sonst aber noch von 
natürlicher Hautfärbung. Die Nabelschnur hatte noch einen Rest 
von 32 Zoll Länge, zeigte einen abgerissenen Rand und einen rosen- 
rothen Saum am Nabelringe. Uebrigens war er welk, noch ziemlich 
frisch, ohne wahre Knoten. 

10. Am Rücken war nichts Ungewöhnliches wahrzunehmen. Die 
Haut hier in etwas höherem Grade als an den übrigen Körperthcilen 
geröthet. Der After stand offen und war mit Kindspech verun- 
reinigt. 

11. Die Geschlechtstheile hatten eine dunkelrothe Färbung, die 
grossen Schaamlefzen von einander stehend und die kleinen Schaam- 
lefzen mit dem Kitzler hervortretend. 

12. Die Glieder waren gerundet und gut gebildet. Die Nägel 
an den Fingern und Zehen vollständig entwickelt, überragten die 
Spitzen der Finger und Zehen merklich. Die Knochenkerne an den 



Ein Fall von Gebären im Stehen. 31 

unteren Epiphysen der Oberschenkel stellten sich in einer Grösse 
von etwa 2 Linien dar. 

13. Uebrigens warde am ganzen Körper, auch nicht an der 
äusseren Bedeckung des Kopfes, nirgends die Spur einer Verletzung 
bemerkt. 

14. Der Durchmesser der Schultern hat sich auf 5| Zoll und 
der der Hüften auf 3^ Zoll ergeben. 

B. Section. 

I. Eröffnung der Bauchhöhle. 

15. Bei Eröffnung der Bauchhöhle, welche mittelst eines Kreuz- 
schnittes bewirkt wurde, und zwar mit der erforderlichen Berück- 
sichtigung resp. Schonung des Nabels, erschienen die Muskeln und 
das Zellengewebe von sehr guter Beschaffenheit. 

16. Die Lage der Unterleibseingeweide war die natürliche; das 
äussere Ausseben derselben ganz gesund und frisch. Auftreibnngen 
von Luft fanden sich nirgends vor; eben so wenig war Fäulnissge- 
ruch wahrzunehmen. 

17. Der Magen war klein und enthielt mit den sonst normal 
beschaffenen dünnen Gedärmen nur eine geringe Menge Magenschleim, 
während der Dickdarm sich mit Kindspech angefüllt erwies. 

18. Die Leber erschien gross, sehr dunkel von Farbe, von nor- 
maler Textur und zeigte beim Einschneiden mit dunkelm flüssigem 
Blute sich stark gefüllt. Die Gallenblase wies nichts Abnormes nach. 

19. Eben so normal erschien die Milz, nur von etwas geringe- 
rem Blutgehalte. 

20. Die linke Niere erschien grösser als die rechte, hatte auch 
eine dunklere Färbung und war mit dunkelm flüssigem Blute stark 
gefüllt, während der Blatgehalt der rechten nicht über das gewöhn- 
liche Normalmaass hinausging. 

21. Die Harnleiter und die Harnblase wurden gehörig beschaffen 
und die letztere leer befunden. 

22. Die Blutgefässe des Unterleibes hatten den normalen Blut- 
gehalt und in der Bauchhöhle fand sich eine blutige Flüssigkeit, etwa 
einen Löffel voll, ergossen. 

23. An der kleinen Gebärmutter war nichts besonders zu be- 
merken und der Stand des Zwerchfells fand sich zwischen der 4ten 
und Öten Rippe von unten. 

n. Eröffnung der Brusthöhle. 

24. Bei der Eröffnung der Brusthöhle, welche mittelst Lostren- 
nung der Hautdecken zu beiden Seiten und kunstmässiger Abneh- 
mnng der vorderen Wand des Brustkastens bewirkt wurde, Hess sich 
ebenfalls die Bildung eines gehörigen Fettpolsters und guter Musku- 
latur erkennen. 



32 Eiu Fall von Gebären im Stehen. 

25. Die Lage der Tbeile der Brnsthöble war die normale. 

26. Die ThjmnsdrSse war gross, zweitheilig, sonst von natfir- 
licher Farbe and BescbafPenbeit. 

27. Die Lungen lagen zn beiden Seiten noch etwas zurückge* 
drängt, so dass sie den Herzbentel zu seinem grössten Tbeile noch 
frei Hessen und ihre vorderen Ränder von der rechten Seite ihn nur 
eben bedeckten. Uebrigens fühlten die Lungen sich ziemlich elastisch 
an. Ihre Farbe war rosenroth, marmorirt, nach ihren hinteren Flä- 
chen hin dunkler gefärbt, ihr Aussehen frisch, ihre Oberfläche frei 
von Luftbläschen und ihre Beschaffenheit nirgends krankhaft. Nach- 
dem ■ unter gehöriger Unterbindung der grösseren Blutgefässe nach 
Eröffnung des Herzbeutels und nach Unterbindung der Luftröhre und 
Durchschncidung derselben oberhalb der Ligatur die Brusteingeweide 
in ihrer Gesammtheit exenterirt waren, wurden dieselben behutsam 
in ein Gefäss, mit reinem Wasser gefüllt, gebracht, und blieben auf 
der Oberfläche des Wassers schwebend, auch nachdem die Thymus- 
drüse entfernt war. 

28. Die Lungen, von dem Herzen getrennt und allein auf die 
Wasserfläche des obigen Gefässes gebracht, schwammen ebenfalls auf 
derselben und stiegen bei jedem Versuche, sie unter die Wasserfläche 
zu drücken, rasch empor. Dasselbe Resultat ergab sich, als das Ex- 
periment mit jeder Lunge einzelo, sowie später mit jedem einzelnen 
Lungenlappen wiederholt wurde. 

29. Beim Drücken der Lungen unter der Wasserfläche wurden 
aufsteigeude Luftblasen bemerkt nach gemachtem Einschnitte. 

30. Ebenso wurde beim Einschneiden der Luugen ein knistern- 
des Geräusch und auf der Schnittfläche etwas schäumiges Blut wahr- 
genommen. Ihr Blutgehalt war gering. 

31. Der Herzbeutel enthielt einen Esslöffel voll Flüssigkeit. 
Das Herz war übrigens von gehöriger Beschaffenheit und Grösse. 
Die linke Herzhälfte fast blutleer, während die rechte nur einen mas- 
sigen Gehalt von schwarzem flüssigen Blute nachwies. 

32. In der Brusthöhle selbst fand sich kein Erguss von Flüs- 
sigkeit vor. 

33. Weder an der inneren noch äusseren Fläche der Luftröhre, 
des Kehlkopfes und Kehldeckels etwas von der Norm Abweichendes. 
Die Schilddrüse zeigte sich ebenfalls normal beschaffen. 

34. Die Speiseröhre normal und die grossen Blutgefässe mit 
Ausnahme der Jugularis von normalem Blutgehalte. Letztere zeigte 
sich dagegen ziemlich blutgefüllt. 

m. Kopf höhle. 

35. Nach Zurückschlagung der allgemeinen Bedeckungen zeigten 
sich auf dem Schädel in der Mitte, nur getrennt durch die Pfeilnath, 
zwei fast gleich grosse, ^ Zoll lange und h Zoll breite Sugillationen 



Ein Fall von Gebären im Stehen. 33 

in dem Knochen resp. in der Knochensnbstanz, nnd konnte man bei 
genauer Einsicht eine Fissur des Knochens an dieser Stelle wahr- 
nehmen, die, getrennt ebenfalls durch die Pfeiloath, sich in der Sa- 
gillation des andern Scheitelbeines fortsetzte nnd auf diese Weise 
einen Knochenriss ven ungefähr 5 Linien Länge bildete. 

36. Die Kopfhaut selbst erschien an der Stelle, wo sich die 
KnocheDfissnr zeigte, weder an der äusseren noch an der inneren 
Fläche irgendwie schadhaft, verletzt oder sugillirt. Auch war an den 
übrigen Schädeiknochen eine Verletzung oder Röthang nirgend wo 
wahrzunehmen. Diese Fissur verlief in querer Richtung. 

37. Nach Abhebung der knöchernen Schädeldecke, wobei die 
harte Hirnhaut sich mit ihr innig verwachsen zeigte, erschien die 
Gehirnoberfläche normal beschaffen; die in den Gehirnwindungen 
verlaufenden Blutgefässe nicht über das Maass gefüllt. Dagegen 
wurde, zumal nach der linken Seite hin, bis in die Gegend des Obres, 
ein Austritt von geronnenem Blute auf die Gehimoberfläche immer 
stärker wahrgenommen und nach vorsichtiger Aushebung des Gehirns 
erwiesen sich die beiden mittleren Gehirn höhlen stark mit geronnenem 
Blute bedeckt, während in den vorderen HimhÖhlen sich gar kein 
Blut zeigte. In den hinteren Gehirnhöhlen war ebenfalls eine ziem- 
liche Menge geronnenen Blutes vorhanden. 

38. Die Gehirnhäute waren gehörig beschaffen; die Gehirnsnb- 
stanz sowohl im grossen wie im kleinen Gehirn noch ziemlich dicht 
und gut erhalten und in den Gehirnhöhlen die Adergeflechte mit 
dankeim Blute massig gefüllt. Deberhaupt gab sich der Blutreich- 
thum des Gehirns an seiner unteren Fläche durch AnfüUung sämmt- 
licher Blutgefässe und die Ansammlung des auf der Basis ausgetre- 
tenen Blutes kund; sonst aber war an der Schädelgrundfläche weiter 
nichts Widernatürliches nnd keine Verletzung zu bemerken. 

39. Die Blutleiter waren ohne Blat. 

Hiermit wurdo die Obduction geschlossen und gaben 
die SachTerständigen ihr vorläufiges Gutachten dahin ab: 

1) dass das obducirte Kind ein au&getragenes und voll- 
ständig lebensfähiges gewesen ist; 

2) dass es nach der Geburt gelebt hat; dass es 

3) durch schlagflüssigen Tod zu Grunde gegangen ist; 

4) dass dieser schlagflüssige Tod eine nothwendige Folge 
der Verletzung war, welche am Schädel des Kindes 
gefunden worden ist — Schädelbruch — ; 

5) dass die am Schädel yorgefundene Verletzung sowohl 
durch das Herabstürzen des Kindes auf den harten 

ViertellAhrMohr. f. ger. Med. N. F. ZV. 1. 8 



34 Ein Fall von Gebären im Stehen. 

Boäen bei der im Stehen erfolgten Geburt, als auch 
durch einen oder mehrere mit einem harten Gegen- 
stände auf den Kopf des Kindes geführte Schläge 
entstanden sein könne, dass jedoch das Erstere wahr- 
scheinlicher ist, als das Letztere. 
Erwägen wir den allgemeinen Habitus des obducirten 
weiblichen Leichnams (sub 2 u. 4), die Beschaffenheit der 
Hautdecke (8), den Kopf mit seinen Haaren, Fontanellen 
und Durchmessern (5), das Gewicht und die Länge (1), 
die Nägel an Fingern und Zehen (12), die Knorpel an Nase 
und Ohren (6 u. 5), deu Knochenkern in der unteren Epi- 
physe der Oberschenkel (12), den Schwund der Pupillar- 
membran (6), die Beschaffenheit der äusseren Geschlechts- 
theile (11), die Länge des noch im Nabelringe haftenden 
Nabelschnurrestes (9), die Durchmesser der Schultern und 
Hüften (14), so unterliegt es keinem Zweifel, dass das qu. 
Kind ein Fruchtalter von 10 Mondsmonaten gehabt hat, 
mithin ein ausgetragenes, reifes zu nennen ist. Diesem Al- 
ter gemäss und da die Obduction keine Bildungsfehler nach- 
gewiesen, welche die Möglichkeit fortzuleben ausschlössen, 
kann auch seine Lebensfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, die 
wahrscheinliche Lebensdauer eines Menschen zu erreichen, 
nicht bestritten werden. {Casper, Hdbch. d. ger. Med. Than. 
Th. S. 10 u. 681.) 

Obschon die Motivirung der ferneren vier Punkte des 
obigen vorläufigen Gutachtens in den Obductions-Befunden 
eine hinlängliche Erledigung findet, so wird die Beweisfüh- 
rung für die Bichtigkeit der Behauptungen der Obducenten 
ausserdem noch wesentlich unterstützt durch das in Gegen- 
wart des Gerichtspersonals am 3ten Januar, also am 6ten 
Tage nach der stattgehabten Geburt des Kindes, vom Wo- 
chenbette aus abgelegte Selbstgeständniss der Inculpatin, 
weshalb letzteres im Auszuge hier folgen mag. 



Ein Fall von Gebären im Stehen. 35 

^Meine Geburt ist gegen 7 Uhr erfolgt, nachdem ich 
vorher längere Zeit Schmerzen gehabt hatte* Ich hatte 
mich zuerst in's Bett gelegt, bin jedoch nicht lange in dem- 
selben geblieben, sondern bald wieder aufgestanden und 
theils auf dem Zimmer herumgegangen, theils habe ich 
mich auf das Bett meiner Schwester hingesetzt. Als die 
Geburt erfolgte, stand ich aufrecht, mit dem Rücken gegen 
das Bett meiner Schwester gelehnt. Die Geburt selbst ging 
sehr rasch von Statten; das Eind kam mit dem Kopfe zu- 
erst heraus und folgte der übrige Körper gleich nach, so 
dass es zwischen meinen Beinen auf die Erde stürzte. Die 
Nachgeburt blieb noch zurück und die Nabelschnur riss bei 
dem Herabfallen des Kindes durch. Ich habe gar kein 
Leben an dem Kinde verspürt und seine Stimme nicht ver- 
nommen. Ich habe es aber auch nicht angefühlt, sondern 
ruhig auf der Erde liegdn lassen, weil ich glaubte, dass 
das Eind kein Leben hätte. Auch während der Geburt 
und überhaupt in der letzten Zeit meiner Schwangerschaft 
habe ich kein Leben und keine Bewegung des Kindes ver- 
spürt. Nachdem das Kind auf die Erde gefallen war, habe 
ich mich auf das Bett meiner Schwester hingesetzt und hier 
ungefähr eine Stunde gesessen; dann nahm ich denkleinen 
Leichnam von der Erde auf und trug ihn über den Spei- 
cher unter das Dach, wo er am andern Tage gefunden 
worden ist. Hierauf, also etwa gegen 8 ühr, legte ich 
mich in mein Bett, nachdem ich vorher das auf der Erde 
befindliche Blut mit einem alten Kleide abgewischt hatte. 
Die Nachgeburt blieb noch zurück, um ^1 Uhr kam meine 
Schwester «7. herauf und da sie das Blut auf der Erde be- 
merkt haben mochte, ging sie wieder herunter, um meine 
Mutter zu rufen. Diese kam denn auch bald herauf, und 
auf ihre Frage, was vorgefallen, habe ich ihr nur gesagt, 

dass ich an meine Stunde gekommen sei und dass daher 

3* 



36 ^iQ P^ll ^oa Gebären im Stehen. 

das Blat rfihre. Meine Mutter ist nicht lange bei mir ge- 
blieben, hat auch kein Blut von der Erde abgewischt. Ich 
habe ihr nichts davon gesagt, dass ich geboren habe und 
hat sie dies erst am andern Tage, als die Leiche gefunden 
v^urde, erfahren. Am andern Morgen, als schon die Leiche 
gefunden war und der Bürgermeister in unserem Hause 
anwesend war, stand ich in unserem Wohnzimmer allein 
am Webestuhle und jetzt erst kam die Nachgeburt, so gross 
wie ein Teller, zum Vorschein ; sie fiel auf die Erde, von 
wo ich sie aufnahm und in den Ofen steckte, in dem sie 
verbrannt ist. Dies hat Niemand bemerkt. Als die Leiche 
gefunden worden war und ich nicht länger leugnen konnte, 
dass das Eind von mir sei, hat meine Mutter mir heftige 
Vorwürfe darüber gemacht, dass ich ihr meine Schwanger- 
schaft und Geburt verheimlicht hatte. 

Am Donnerstag Abend, als ich gegen ^6 Uhr auf meine 
Schlafstube ging, befanden sich meine Mutter und mein 
Vater in unserer Wohnstube und hatte ich meiner Mutter 
schon vorhergesagt, dass ich mich unwohl fühle, weshalb 
diese mich selbst aufforderte, früh zu Bette zu gehen.'' 

Ueber das wirkliche Verhalten der Nachgeburt befragt, 
deponirte die Beschuldigte: 

„Als ich nach der Geburt das Blut auf dem Boden 
meiner Stube abwischte, befand sich darunter auch eine 
dickere Masse, welche ich am Fensterchen heraus auf das 
Dach geworfen habe. Ob dies die Nachgeburt war, weiss 
ich nicht, da ich dies nicht kenne. Am andern Morgen 
ist mir jedoch auch noch eine klumpige Masse abgegangen, 
wenn auch nicht gerade so gross wie ein Teller, welche 
ich in den Ofen gesteckt habe.'' 

Diesen Referaten gemäss behauptet also die Inculpa- 
tin «/., in der letzteren Zeit ihrer Schwangerschaft, auch 
während und nach der Geburt keine Bewegung und kein 



Ein Fall von Gebären im Stehen. 37 

Leben an dem Kinde verspfirt, seine Stimme nicht ver- 
nommen und hieraus geschlossen zu haben, dass dasselbe 
kein Leben hätte. Diese Behauptungen, der vermeintlich 
einzige und sichere Rettungsanker, sich von der Anschul- 
digung einer absichtlichen Kindestödtung zu befreien, zu- 
mal dem Mädchen weder die Resultate der Obduction be- 
kannt, noch Belehrungen und Verhaltungsmaassregeln durch 
Andere ertheilt sein konnten, würden eine vernünftige Lo- 
gik enthalten, wenn sie auf Wahrheit beruhten; denn ein 
Kind, welches weder vor, noch in, noch nach der Geburt 
Lebenszeichen zu erkennen gegeben hat, ist entweder todt 
oder dem Tode wenigstens so nahe, dass derselbe leicht 
und bald ohne Jemandes Zuthun erfolgen kann. Indessen 
contrastiren diese der Herzensangst und der alterirten Ge- 
müthsverfassung einer heimlich und unehelich Erstgebären- 
den entsprungenen und deshalb zu entschuldigenden Be- 
weismittel für eine unverschuldete und natürliche Todes- 
ursache direct mit den Befunden der Obduction (27, 28, 
29, 30), welche das Geathmet-, also auch das Gelebthaben 
des Kindes ohne allen Zweifel bestätigen. Allerdings ist 
dieses Athmen und Leben, nach der etwas zurückgedräng- 
ten Lage und geringen Entfaltung der Lungen (27) zu ur- 
theilen, immerhin nur von kurzer Dauer gewesen und kann 
deshalb wegen Mangels des Schreiens und der der Aus- 
stossung des Kindes aus den Gebnrtstheilen sogleich fol- 
genden Todesursache wegen recht wohl unbemerkt geblieben 
sein; der Beweis jedoch, dass das qu. Kind nach der Ge- 
burt gelebt hat, wird hierdurch nicht geschmälert. 

Die causa proxima des eingetretenen raschen Todes 
des Kindes ist theils aus dem Obductionsbefunde selbst, 
theils aus der Behandlang des Kindes nach seiner Geburt 
leicht erklärlich. Auf der linken Seite der Gebirnober- 
fläche wurde bis in die Gegend des linken Ohres ein immer 



3g Bin Fall von Gebären im Stehen. 

stärker werdender Austritt von geronnenem Blute wabrge^ 
nommen; die beiden mittleren und hinteren GehirnhOhleo 
zeigten sich mit geronnenem Blute bedeckt, in letzterea 
die Adergeflechte gefüllt; überhaupt gab sich ein Blutreich- 
thum in allen Gefässen der basis cerebri und ausserdem 
eine Schicht hier ausgetretenen Blutes deutlich zu erkennen 
(37, 38). 

Solche pathologisch-anatomische Zustände mussten wäh- 
rend des Lebens des Kindes nothwendiger Weise einen Ge- 
birndruck, demnächst eine Gehirnlähmung (eine Apoplexia) 
mit Tod zur Folge haben. Dieser schlagflüssige Tod (apo- 
plexia sanguinea) trat gewiss um so rascher ein, als die 
Inculpatin ihrer eigenen Aussage gemäss das kaum den 
Geschlechtstheilen entschlüpfte Kind nackt und hülflos eine 
Stunde lang auf dem Fussboden eines kalten Zimmers lie- 
gen liess, bevor sie dasselbe aufhob und wegtrug. 

In der Verfolgung der ursächlichen Momente weiter- 
gehend, handelt es sich zunächst um die Quelle der ausser- 
halb und innerhalb des Gehirns vorgefundenen Blutextra- 
vasate, demnächst um Eruirung der Vorgänge, welche die 
Entstehung dieser Quelle veranlasst haben. In ersterer Be- 
ziehung wird Niemand Bedenken tragen, die mit dem, unter 
No. 35 des Übd.-Prot. beschriebenen Schädelbruche noth- 
wendig verbundene Gefässzerreissung als die Ursprungsstätte 
der nachgewiesenen Blutungen anzusehen; denn dieselbe 
Gewalt, welche auf den Kopf des Kindes einwirkend hier 
einen Knochenbruch zu bewirken stark genug war, musste 
auch hingereicht haben, eine ßuptur von Hirngefässen und 
somit einen Bluterguss hervorzurufen. Zur Ermittelung 
der Vorgänge nun, mit welchen diese auf das Kind einge- 
wirkt habende Gewalt, die entferntere Todesursache, das 
oberste Glied in der logischen Kette, unmittelbar verbunden 
war, giebt das Selbstgeständniss der Inculpatin über den 



Eia Fall von Gebären im Stehen. 39 

Verlauf ihrer Entbindang die einzigen und wichtigsten An- 
haltspunkte. Demgemäss hat die Beschuldigte im Stehen 
geboren und das Kind durch den Sturz auf den harten Fuss- 
boden die Kopfverletzung mit ihren tödtlichen Folgen sich 
zugezogen. Es wäre somit zu erörtern^ ob die einzelnen 
Angaben in dem Geständnisse auf Wahrheit beruhen, und 
die Kopfverletzung der Art beschaffen, dass sie durch den 
Sturz hat entstehen können. Die noch vom Wochenbette 
aus geschehene aufrichtige und rücksichtslose, von jeglichem 
Widerspruche freie Schilderung des Geburtsherganges sei- 
tens der Inculpatin vor dem lustructionsrichter kann schwer- 
lich als ein wohlüberdachtes und auswendig gelerntes Pen- 
sam angesehen werden ; wer sollte es der unkundigen Erst- 
gebärenden dictirt haben, die nur darauf bedacht war, ihre 
Schwangerschaft und Entbindung durch Beiseiteschaffung 
des Kindes zu verheimlichen und überdies auch nicht in 
einem Yorarreste durch die Vertheidigung hat unterrichtet 
worden sein können? Aus ihrem ganzen Geständnisse 
leuchtet ihre Unkenntniss von den möglichen Folgen eines 
Kindessturzes deutlich hervor; sie würde selbst, froh über 
den erfolgten Tod ihres Kindes, ganz gewiss den Sturz als 
die Ursache angegeben haben. Dazu muss jeder Geburts- 
helfer, der eine Kreissende im Stehen hat gebären sehen, 
zumal wenn dies auf präcipitirte Weise, wie hier, geschah, 
den geschilderten Hergang für einen ganz natürlichen er- 
kennen. Als fernere Beweise für die im Stehen vor sich 
gegangene Geburt möge noch gelten, dass (Act. F. 14) auf 
dem qu. Schlafzimmer zur Zeit der Entbindung ein Stuhl 
gestanden, an dessen Stempeln und Rande sich Blutspuren 
befanden, so wie solche auch auf dem Fussboden vor dem 
Stuhle, vor dem Bette und in der Mitte der Stube gefun- 
den worden. Behufs Feststellung eines rechtsgültigen Schlus- 
ses von der Art und Beschaffenheit der am Kopfe des Kindes 



40 Bin PftU ▼on Gebären im Stehen. 

Torgefandenen Verletzung auf deren Entstehung durch den 
Sturz ist es nOthig, an die durch die Erfahrung constatirten 
Folgen eines solchen Kindessturzes zu erinnern. Als solche 
bezeichnet Casper (Hdbcb. d. ger. M. Th. Theil S. 813) 
Reissen der Nabelschnur, vorzeitige Lösung der Nachgeburt 
mit ihren Wirkungen, Hirnerschutterung , Hyperämie am 
und im Schädel, wirkliche Hirn-Hämorrhagie, letztere an 
den verschiedensten Stellen, selbst an der Basis und na- 
mentlich Brüche der Schädelknochen. Vorzugsweise und 
fast ausschliesslich betreffen diese die Scheitelbeine, Eines 
oder Beide. Ferner Seite 816: Einfache Befunde, wie Su- 
gillationen, reine einfache Fissur (Fractur) eines oder beider 
Scheitelbeine, ohne Verletzung der Kopfschwarte und ohne 
sonstige Spuren von Verletzungen am Kindesleichnam, spre- 
chen mit hoher Wahrscheinlichkeit für die Angabe der An- 
geschuldigten, betreffend den Kladessturz bei der Geburt. 
In der Vrtjhrschr. für ger. u. öffentl. Med. (Bd. 23 S. 29) 
wird bei Beschreibung des Verlaufes dieser Fissur im Schei- 
telbeine gesagt: „oder es geht eine Fractur durch die 
Pfeilnath noch hinüber in das Scheitelbein der anderen 
Seite^. In den klinischen Novellen zur gerichtl Med. (1863 
S. 614) behauptet derselbe Autor, behufs Feststellung einer 
Differenzialdiagnose der Fractur eines lebenden und der 
eines todten Knochens, dass in ersterer die Ränder blut- 
infiltrirt sind, in letzterer nicht. Stellen wir mit diesen 
Erfahrungssätzen eines alten bewährten Lehrers die in un- 
serem Falle vorgefundenen Anomalien in Parallele, so ha- 
ben wir: 

1) eine abgerissene Nabelschnur (Obd.-Prot. 9); 

2) eine sehr leichte und rasche Lösung der Nachgeburt; 
(Inculpatin behauptet zwar (Fol. 29) keine Wissen- 
schaft von einer Nachgeburt zu besitzen, jedoch nach 
der Geburt beim Abwischen des Blutes auf dem Boden 



Ein Fall von Gebären im Stehen. 41 

eine dickere Masse (wohl sicher die Nachgeburt) ge- 
fondea und dieselbe durch das Fenster auf das Dach 
geworfen zu haben. Da sie nun nach der Geburt 
des Kindes nur noch eine Stunde aufgeblieben und 
in dieser Zeit sowohl das Wegwischen des Blutes 
auf dem Fussboden, als auch die Beiseiteschaffung 
des Kindes und der Nachgeburt besorgte, so lässt 
sich aus diesem kurzen Zeiträume wohl mit Recht 
auf eine rasche und leichte L5sung der letzteren 
scbliessen, zumal solche durch das Fallen des Kindes 
aus der Höhe der Geschlechtstheile, 2| Fuss, und 
durch den mit dem Zerreissen der Nabelschnur noth- 
wendig verbundenen Ruck nur beschleunigt werden 
musste und von einer künstlichen Lösung übrigens 
nirgendwo die Rede ist.) 

3) eine Hirnerschütterung. (Dieselbe ist zwar wie ge- 
wöhnlich anatomisch nicht nachweisbar, wird aber, 
in Folge des Sturzes entstanden und unvermeidlich, 
ohne Bedenken als vorhanden gewesen angenommen 
werden können.) 

4) Hyperämie und Hämorrhagie. (Auf der Mitte des 
Schädels^ nur getrennt durch die Pfeilnath (also auf 
den Scheitelbeinen) zeigten sich 2 fast gleich grosse 
\ Zoll lange und ^ Zoll breite Sugillationen in den 
Knochen resp. der Knochensubstanz (35), auf der linken 

^Seite ein Austritt von geronnenem Blute auf die Ge- 
hirnoberfläche, die mittleren und hinteren Gehirnhöhlen 
mit dunklem Blute bedeckt (37), an der basis cerebri 
Anfüllung sämmtlicher Blutgefässe, ausserdem noch 
eine Schicht hier ausgetretenen Blutes (38). 

5) Bruche beider Scheitelbeine (Fortsetzung der Fissur 
des einen Scheitelbeines in die Fissur des anderen 
Scheitelbeines, mit Sugillationen in der Knochensub- 



42 Bill I^äll ▼on Gebären im Stehen. 

stanz, ohne Verletzung der Kopfhaut und ohne son- 
stige Verletzungen am Leichname des Kindes (35 n. 36), 
Dieses Resum6 der anatomischen Befunde berechtigt zu 
dem Schlüsse, dass das qu. Kind an den Folgen des Stur- 
zes mit dem Kopfe auf den harten Fussboden bei seiner 
Geburt, welche im Stehen der Kreissenden vor sich ging, 
gestorben ist. 

Inculpatin wurde auf Grund ihres Selbstgeständnisses 
und der Obductionsbefunde, und weil sie bei ihrer Entbin- 
dung die leicht zu erlangende Hülfe nicht in Anspruch ge- 
nommen, vielmehr die in solchem Falle erforderliche Vor- 
sicht und Aufmerksamkeit ausser Acht gelassen, wegen fahr- 
lässiger Kindestödtung von dem Zuchtpolizeigericht zu sechs- 
monatlicher Ge&ngnissstrafe vernrtheilt. 



3. 

Geburt auf dem Abtritt 

Ob colpose oder dolose Tddtnng des Kindes! 

Zwei gerichtliche Obductionen von Leichen Neugeborener. 

Vom 

Kreis -Pbysikus and Medicinalrath Dr. Aren» 

zu Münster. 



Erster Fall. 

Ä. Aeussere Besichtigang. 

1. Die männliche Kindesleiche ist 5 Pfund Givilgewicbt schwer 
und 1 Fuss 6 ZoH 2 Linien ]ang. Sie ist ziemlich wohl genährt und 
zeigt fiber die ganze Körperoberfläche eine blassbtänliche Hantfarbe. 
Leichenstarre ist vorhanden ohne Verwesnngsgerucb. Der Kopf ist 
mit langen, dichten Haaren besetzt; der gerade Kopfdarchmesser be- 
trägt 4^ Zoll, der quere Durchmesser 3^ Zoll, der schräge Durch- 
messer 5^ Zoll; die grosse Fontanelle ist mit der Fingerspitze yoU- 
ständig zu bedecken. 

2. Die Ohrenkoorpel sind fest. Die Augen sind geschlossen, 
die Hornhaut ist klar. In, den Nasenöffnungen sind Kotbpartikelchen 
vorbanden; eben so in der Mundhöhle, welche fest geschlossen ist. 
In den äussern Gehörgängen wird dagegen Koth nicht angetroffen. 

3. Die Lippen sind dunkelblau gefärbt, die Zunge liegt hinter 
dem Unterkiefer-Rande und zeigt sonst nichts Bemerkenswerthes. Der 
Schulterdurchmesser beträgt 4^ Zoll. Der Nabel befindet sich in der 
Mitte zwischen dem unteren Rande des Brustbeines und der Scham- 
beinfuge. An demselben hängt ein 1^ Zoll langes Ende einer safti- 
gen frischen Nabelschnur, deren äusseres Ende gerissene blutinfil- 
irirte Ränder hat. Die Nägel an den Fingern sind fest und reichen 
bis zu den Spitzen. In der Epipbyse des Oberschenkels wird ein 
Knocbenkern von beinahe 2 Linien Durchmesser gefunden. 



44 Gebart anf dem Abtritt. 

B. Innere Besichtigung. 

I. Bau eil höhle. 4. Die höchste Wölbung des Zwerchfelles 
reicht bis zu dem Zwischenranme zwischen der 5ten und 6ten Rippe. 
Die Leber ist von daokler Farbe nod blutreich. Der Magen enthält 
etwas klare schleimige Flüssigkeit and am Eingänge desselben etwas 
gelblichen dickflüssigen Kotb; die Gefässe an der Oberfläche dessel- 
ben sind sehr markirt. Die Nieren wenig bluthaltig, der Dünndarm 
leer, der Dickdarm and Mastdarm mit Kindspech gefüllt. In der 
Urinblase wenig klaren, wässerigen Urin. 

IL Brusthöhle. 5. Die Lungen füllen nur den hinteren 
Theil der Brusthöhle aus und reichen nicht bis zum Herzbeutel. Sie 
sind von ziegelrother Farbe und fühlen sich compact an. Ecchj- 
mosen sind auf der Pleura nicht vorhanden. Beim Durch- 
schneiden der Luftröhre zeigt sich das Lumen derselben mit Abtritts- 
koth gefüllt. Diese Theile, zusammen auf die Oberfläche des Wassers 
gelegt, sinken zu Grunde. Auch die Lungen sinken für sich zn 
Boden. Die rechte Lunge, von der linken getrennt und aufs Wasser 
gelegt, senkt sich sehr langsam nach dem Grunde und verhält sich 
auf demselben flottirend, während die linke Lunge für sich schneller 
nach dem Boden des Wasserbehälters strebt und daselbst ruhig liegen 
bleibt. Bei Einschnitten in die verschiedenen Lappen der rechten 
Lunge wird ein knisterndes Geräusch nicht wahrgenommen. Beim 
Drucke steigt aus einer Schnittfläche ein Tropfen flüssigen Kothes 
hervor, während nur hin und wieder ein Tropfen dunklen flüssigen 
Blutes hervorquillt. Die linke Lunge bietet bei Einschnitten diesel- 
ben Erscheinungen dar. Doch treten hier beim Drucke mehr Eoth- 
punkte aus der Schnittfläche hervor. Die einzelnen Lappen der linken 
Lunge sinken rasch im Wasser und lassen sich aus den Schnitt- 
flächen derselben unter Wasser Luftbläschen nicht auspressen; auch 
die kleinsten Stückchen bei den Lappen sinken zu Boden. Die rechte 
Lunge, in ihre verschiedenen Lappen getrennt, sinkt überall zu Boden. 
Dagegen bleiben kleine Stückchen des scharfen Randes des oberen 
Lappens auf der Oberfläche des Wassers schwimmen, und lassen sich 
aus den schwimmenden Stückchen unter dem Wasser einzelne kleine 
Lnftbläschen ausdrücken. 

In beiden Ventrikeln des Herzens Blutleere. Unter den grös- 
seren Gefässen ist nur die aufsteigende Hohlvene massig mit dnnkelm 
flüssigem Blute gefüllt. 

Die Luftröhre, welche feste Ringe hat, ist mit Koth ange- 
füllt; die Schleimhaut derselben ist blass. 

Die Speiseröhre enthält ebenfalls Partikeln eines gelblichen 
Kothes von derselben Beschaffenheit wie der in der Luftröhre vor- 
gefundene. 

Iir. Kopfhöhle. 6. Bei Abtrennung der Kopfschwarte ergiesst 
sich ziemlich viel dunkles flüssiges Blut. Auf der Höhe beider Scheitel- 
beine zeigen sich die Knochen dunkel gefärbt und mit einer dünnen 



■■J 



Geburt auf dem Abtritt. 46 

Schicht aulzigen Blutes bedeckt. Die diesen Stellen entsprechende 
Stelle der inneren Kopfschwarte ist ebenfalls blutig gefärbt. Ein- 
drücke, Risse oder sonstige Regelwidrigkeiten werden an den Kno- 
chen des Schädelgewölbes nicht vorgefunden. Die Gefässe der har- 
ten und weichen Hirnhaut sind sehr blutreich. Die Längen -Sinus 
enthalten sehr viel dunkles fliissiges Blut. Das Gehirn ist von ver- 
hältnissmässig sehr fester Gonsistenz. Bei der schieb tweisen Abtra- 
gung des grossen und kleinen Gehirns zeigen sich auf den Schnitt- 
flächen viele Blutpunkte. Die Seiten-Ventrikel enthalten etwas blu- 
tiges Serum und sind die Adergeflechte sehr blutreich. Die Blut- 
leiter der Schädelgrundfläche sind stark mit dunklem flüssigem Blut 
gefüllt. 

Nachträglich bemerkten die Obducenten noch: 

Die uns vorgelegte Nachgeburt ist vollständig frisch und 
wiegt % Pfund. An derselben ist in der Nähe des einen 
Randes eine Nabelschnur inserirt von ebenfalls frischer Be- 
schaffenheit und 5\ Zoll Länge. Das untere Ende der Na- 
belschnur hat scharfe Ränder, welche nicht zu den gerissenen 
Rändern des am Kinde befindlichen Nabelschnurrestes passen. 

Hierauf gaben die Obducenten ihr summarisches Gut- 
achten dabin ab: 

1) Das Kind war reif und lebensfähig. 

2) Der Athmungsprozess und mithin das selbststähdige 
Leben hat einen Anfang genommen, ist aber wegen 
behinderten Zutritts der Luft zu den Lungen nicht 
zur Entwickelung gekommen. 

3) Das Kind ist durch Ertrinken in einer dicklichen 
kothigen Flüssigkeit apoplektisch gestorben. 

Geschiehtserzahlnng. 

Am 2. September 18 . . begab sich die Magd des 
Kaufmanns Ky nachdem sie über Tag in gewöhnlicher Weise 
gearbeitet, angeblich wegen heftiger Kreuzschmerzen, Abends 
gegen 7 Uhr zu Bett. Frau K schöpfte Verdacht, dass 
die 6. schwanger sei. Da diese aber auf Befragen solches 
leugnete, so liess Frau N, eine Hebamme herbeiholen, um 
Gewissheit über den Sachverhalt zu erlangen. Durch die 
Hebamme wurde constatirt, dass die G. in allerjüngster 



46 Gebart anf dem Abtritt. 

Zeit geboren habe. Als auch bald darauf die Nachgebart, 
in einen Unterrock gewickelt, bei der G. gefanden wurde, 
erklärte sie, dass das Kind im Abtritt liege. Eine noch 
am Abend vorgenommene üntersacbung des Abtritts führte 
zu keinem Resultat, dagegen wurde am folgenden Morgen 
auf dem Grunde der Abtrittsgrube die Leiche eines neu* 
geborenen Knaben gefunden. 

In dem gerichtlichen Verhör vom 17. October giebt 
die G. an, schon im Februar, vielleicht auch schon im 
Januar 18 . . fleischlichen Umgang mit einem Soldaten ge- 
habt und im Juni oder Juli 18 • . sich zuerst schwanger 
gefühlt zu haben. Am 2. September 18 . . Abends gegen 
6 Uhr habe sie, nachdem sie im Verlauf des Tages theils 
mit Tragen von grösseren Federballen, theils mit Schrubben 
beschäftigt gewesen, Schmerzen im Rücken und dann Drang 
zum Stuhl gefühlt, weshalb sie zum Abtritt gegangen sei. 

Während sie über den weiteren Hergang im Verhör 
vom 4. September deponirt: 

„Kaum hatte ich mich niedergesetzt, als ich einen 
schweren Gegenstand in den Abtritt fallen hörte. Ich 
vermnthete sofort, dass ich auf dem Abtritt ein Kind 
geboren und dass dasselbe in denselben gefallen sei^ 
giebt sie in Widerspruch hiermit bei ihrer Vernehmung vom 
17. October an, dass sie wohl gefühlt habe, dass ihr etwas 
abgegangen, dass sie dabei aber keine Schmerzen empfun- 
den und geglaubt habe, dass es Koth gewesen. Sie will 
nur etwa fünf Minuten auf dem Abtritt zugebracht haben 
(Verhör vom 17. October), dann wieder an ihre Arbeit ge- 
gangen sein, bald darauf aber, weil sie Schmerzen im 
Rücken empfunden, sich zu Bett begeben haben. Auf Be- 
fragen, ob ihr das „Plumpsen^ des Kindes, welches doch 
5 Pfund gewogen habe, nicht auffallig gewesen sei, stellt 
sie solches in Abrede. Gleich hinterher aber deponirt sie 



Geburt anf dem Abtritt. 47 

weiter, dass die Nabelschnur auf dem Abtritt gerissen sein 
müsse, dass ein Ende derselben an ihrem Körper hängen 
geblieben sei, welches sie mit einem alten Messer abge- 
schnitten und dann, wie auch ein zweites Stück, welches 
sie mit einer Scheere getrennt, in den Hof des Nachbars 
geworfen habe. Sie will ebenso wenig die Nabelschnur 
als die bald nachher abgegangene Nachgeburt als solche 
gekannt haben. 

Am 3. September 18 . • wurde die Eindesleiche ge- 
richtlich obdncirt. 

Nachträglich wurde von der Königlichen Staatsanwalt- 
schaft uns noch die Frage vorgelegt, „ob es möglich sei, dass 
das Kind, ohne dass die 6. solches merkte, und ohne Zu- 
thun derselben in den Abtritt fallen konnte^. 

Anf diese Frage werden wir im Verlauf des Gutach- 
tens zurückkommen. 

GntachteD. 

Obgleich die Leiche nur 5 Pfund schwer war, so spricht 
jedoch für die Reife des qu. Kindes der ganze äussere Be- 
fund und der Durchmesser des Knochenkernes in der un- 
tern Epiphyse des Oberschenkels. 

Der niedrige Stand des Zwerchfells wird nur durch 
Annahme stattgehabter Respiration erklärlich, und ebenso 
setzt die Anwesenheit von Koth in der Speiseröhre und 
dem Mi^en im Vereine mit dem Befunde derselben Materie 
in der Luftröhre und Lunge, Schling- resp. Athmungsbe- 
wegungen voraus. Schon durch diese Befunde allein ist 
mithin das selbstständige Leben des Kindes festgestellt. 
Aber auch die Lungen liefern, wiewohl sie die Bnisthöhle 
nicht ausfüllten und nicht bis zum Herzbeutel reichten und 
sich compact anfühlten, auch in fast allen Theilen nicht 
schwimmfähig waren, also in diesen Erscheinungen genau 



48 Geburt anf dem Abtritt. 

fötalen Lungen glichen, ein entscheidendes Griterium für 
stattgehabte Respiration in dem Umstände, dass kleine 
Stücke Yom oberen Rande der rechten Lunge auf dem 
Wasser schwammen und dass beim Druck unter Wasser 
aus ihnen Luft bläseben emporstiegen. Ein Product der 
Fäulniss konnte diese Luft nicht sein, da yon Fäulniss auch 
nicht eine Spur zu bemerken war. 

Die ersten Athemzüge des Neugeborenen sind in der 
Regel nur kurz und unvollständig, es wird durch sie nur 
wenig und diese wenige Luft fast ausschliesslich nur zur 
rechten Lunge geführt. 

Die letztere Erscheinung beruht auf dem anatomischen 
Bau der Luftröhre, welche vor ihrem Eintritt in die Lungen 
sich in einen zur rechten Lunge führenden kurzen und 
weiten und in einen zur linken Lunge führenden längeren 
und weniger weiten Ast theilt. Die wenige, durch die 
ersten unvollkommenen Athemzüge in die Luftröhre auf- 
genommene Luft folgt dem weitesten und kürzesten Wege 
und muss somit in die rechte Lunge eindringen. 

Wie einerseits durch den Luftgehalt der Lunge erwie- 
sen ist, dass das qu. Kind geathmet und gelebt hat, so 
liefert andererseits das geringe Maass des Luftgehaltes und 
sein Beschränktsein auf die rechte Lunge den sicheren Be- 
weis, dass der Athmungsprozess noch wenig entwickelt war, 
als er auch schon unterdrückt und damit dem kurzen Leben 
des Kindes ein Ziel gesetzt wurde. So weit war es jedoch 
noch nicht gekommen, als das Kind in die Abtrittsgrube 
gelangte. Damals lebte es entschieden noch, sonst hätte, 
wie oben angezeigt, der Inhalt der Abtrittsgrube ebenso 
^enig in die Speiseröhre und in den Magen als in die 
Luftröhre und in die Lungen dringen können. Dann aber 
erlosch das Leben sehr rasch , indem durch das Eindringen 



Gebart anf dem Abtritt: 49 

des Kothes in die Luftwege der Respirationsprozess aufge- 
hoben wurde. 

Bei dieser Sachlage hätte man vermuthen sollen, in 
der Leiche die Erscheinungen des Erstickungstodes in aus- 
geprägter Weise und vollständig zu finden. Ausser der 
Flüssigkeit des Blutes fand sich aber kein weiteres Zeichen 
der SufFocation vor. Statt dessen traten die Erscheinungen 
der Apoplexie in höchst eclatanter Weise zu Tage; die Ge- 
fässe der harten und weichen Hirnhaut, die Längenblut- 
leiter, die Substanz des grossen und kleinen Gehirns, die 
Adergeflechte in den Seitenventrikeln und endlich die Blut- 
leiter der Schädelgrandfläche zeigten grossen Blutreichthum. 
Dieser Befund hat jedoch durchaus nichts Auffälliges. Schon 
unter gewöhnliohen Umständen werden in vielen Leichen 
notorisch Ertrunkener nicht etwa die Zeichen der Suffoca- 
tion, sondern die Zeichen der Apoplexie gefunden. Um so 
erklärlicher ist es, wenn die Obduction in unserem Falle, 
in welchem die Respiration und somit auch der kleine 
Kreislauf, in dessen Bereich die Suffocations-Erscheinungen 
fast ausschliesslich fallen, noch gar nicht zur vollständigen 
Entwickelung gediehen waren, bezüglich dieser ein nega- 
tives Resultat ergab. 

Der Eintritt der Apoplexie dagegen war um so natür- 
licher, als bereits durch den Act der Geburt, welche, wie 
weiter unten nachgewiesen werden wird, ganz zweifellos 
in der Scheitellage erfolgte, ein vermehrter Zufluss des 
Blutes zum Kopfe bedingt war. 

Die Angaben der ö. über den Hergang der Geburt 
erhalten durch die Obductionsbefunde insofern eine Unter- 
stützung, als es nach diesen durchaus glaubwürdig erscheint, 
dass die Geburt erfolgt ist, während die ö. auf dem Ab- 
tritt sass, so dass das Kind fast in den Abtrittskoth hin- 
eingeboren wurde. Dasselbe hat entweder, nachdem der 

Vierteljahr saehr. f. ger. Med. N. F. XV. 1. 4 



50 Gebort; auf dem Abtritt. 

Kopf geboren war und während der Austritt der Schultern 
noch zögerte, oder auch in dem Moment, als es den Raum 
zwischen dem Schoosse der Mutter und dem Abtrittskothe 
durchschnitt, den einen oder den andern unvollständigen 
Athemzug gethan. Die Geburt konnte auf diese Weise 
recht gut ohne besonderes Zuthun der Mutter erfolgen, wie 
denn auch am Körper des Kindes Zeichen einer manuellen 
Einwirkung nicht wahrgenommen sind. Dagegen müssen 
wir der ferneren Angabe der G., dass sie von der Geburt 
nichts gemerkt habe, mit aller Entschiedenheit entgegen 
treten. Die Geburt war keine präcipitirte und ist erst er- 
folgt, nachdem ein längerer und starker Wehendruck auf 
den vorliegenden Tbeil des Kindes, — und das war der 
Kopf — eingewirkt hat. Dieses ist ganz «zweifellos durch 
die Obduction erwiesen. Bei Abtrennung der Kopischwarte 
ergoss sich ziemlich viel dunkles flüssiges Blut und auf der 
Höhe beider Scheitelbeine waren die Knochen dunkler ge- 
färbt und mit einer dünnen Schicht sulzigen Blutes bedeckt 
Hierin kann nichts anderes als die Bildung des sogenannten 
Yorkopfes erkannt werden, welche nur bei vorliegendem 
Kopfe und nach anhaltendem Wehendrange erfolgt. Diesen 
musste die G. fühlen und um so mehr als solchen erkennen, 
als sie sich eingestandenermaassen längst schon schwanger 
wusste. 

Hiermit glauben wir auch die nachträglich von der 
Königlichen Staatsanwaltschaft aufgeworfene Frage erledigt 
zu haben. 

Schliesslich sprechen wir unsere gutachtliche Meinung 
dahin aus: 

1) das Kind war reif und lebensfähig; 

2) der Athmungsprozess und mithin das selbstständige 
Leben haben einen Anfang genommen, sind aber wegen 



Geburt auf dem Abtritt. 51 

behinderten Zutritts der Luft zu den Lungen nicht zur 
Entwickelung gekommen; 

3) das Kind ist durch Ertrinken im Abtrittskoth apo- 
plectisch gestorben; 

4) die Geburt kann wohl ohne besonderes Znthun, nicht 
aber ohne Wissen der Mutter auf dem Abtritt er- 
folgt sein. 

Noch bemerken wir, dass der Umstand, dass der am 
Kinde befindliche und der an der Nachgeburt hängende 
Nabelschnurrest nicht zu einander passten, dadurch genü- 
gende Aufklärung findet, dass die G. zwei Stücke der Na- 
belschnur abgeschnitten hat 



Zweiter Fall. 

Die unverehelichte C. K. fühlte in der Nacht vom 2. 
auf den 3. November heftige Schmerzen, nachdem sie noch 
am Tage zuvor ausser dem Hause genäht hatte. Sie will 
während der ganzen Nacht laut geschrieen und, da ihre 
Mutter, bei der sie sonst wohnte, verreist, sie mithin allein 
war, nach der C, B, gerufen haben, welche in einem über 
ihrer Schlafstube gelegenen Zimmer schlief. Diese horte 
indess den Ruf erst in der Morgen zeit und begab sich so- 
fort in das Zimmer der £ Diese klagte über brennenden 
Durst und über heftiges Drängen im Leibe. Nachdem sie 
Wasser getrunken, äusserte sie Bedürfniss zum Stuhle zu 
haben und giujg, mit Hülfe der B, angekleidet, ohne deren 
Begleitung zu dem im Hinterhause gelegenen Abtritt, wäh- 
rend die jB. in ihre Wohnung zurückkehrte. Nach etwa 
einer Viertelstunde hörte diese, dass die K, den Abtritt 
verliess und sich zu Bette legte, worauf es im Zimmer 
derselben ruhig blieb. 

Zu verschiedenen Personen, welche im Laufe des Vor- 



52 Gebort auf dem Abtritt. 

mittags die K, besuchten, äusserte sie, dass sie an hart- 
näckiger Verstopfung gelitten habe, dass ihr aber wohler 
geworden, nachdem sie in der Nacht Stuhlgang bekommen 
und das Geblüt sich eingestellt habe. 

Der am Nachmittage auf Veranlassung einer Nachbarin 
gerufene Arzt schöpfte schon nach einer oberflächlichea 
Untersuchung Verdacht, dass die K. geboren habe. Indess 
verneinte diese alle desfallsigen Fragen hartnäckig. Als 
aber der Arzt in einer ihm vorgezeigten blutig -schwam- 
migen Masse, welche im Bett der K. gefunden war, eine 
noch ganz frische Nachgeburt erkannte, und durch das £r- 
gebniss einer hierauf angestellten genaueren Untersuchung 
die Ueberzeugung gewann, dass die K. innerhalb der letzt- 
verflossenen 24 Stunden geboren habe, machte er bei der 
Polizei von dem Vorfall Anzeige. 

Noch an demselben Abend wurde in dem Abtritt, der 
am Morgen von der K. benutzt war, die Leiche eines neu- 
geborenen Kindes männlichen Geschlechts gefunden. Trotz- 
dem blieb die K. bei der Behauptung, weder von ihrer 
Schwangerschaft noch auch von der erfolgten Geburt eine 
Ahnung gehabt zu haben, räumt aber doch ein, sich im 
Februar mit einem Manne geschlechtlich eingelassen za 
haben. 

Die am 5. November ausgeführte Obduction der Kin- 
desleiche ergab im Wesentlichen nachstehende Befunde. 

Der männliche 19^ Zoll lange und 6 Pfund 27 Loth schwere 
Körper verbreitete keinen Verwesungsgeruch, zeigte aber Leichen- 
starre. Der Körper war gut genährt. Der mit dunklen zolllangen 
Haaren besetzte Kopf maass im geraden Durchmesser 4|^ ", im queren 
Durchmesser 3| " und im grössten Durchmesser b\ ", Die grosse 
Fontanelle war sehr klein und mit der Fingerspitze vollständig zu 
bedecken. In den Nasenöffnungen, auf der Zunge und im äus- 
seren Gehörgange rechter Seits wurde Menschenkoth vorgefunden. 
Die Ohrmuscheln waren fest, ebenso die Nägel an den Fingern und 
Zehen. Der Knochenkern in der Epiphjse des Oberschenkels hatte 
3 Linien im Durchmesser. Die 8 " lange Nabelschnur war saftig und 



J 



Gebart auf dem Abtritt. 53 

frisch und hatte am freien Eode gerissene Räuder. Die Körperober- 
fiäche hatte ein blasses Aussehen, nur die Stirn war duukelblau; 
daselbst gemachte Einschnitte ergaben, dass Blut in's Zellgewebe 
nicht ergossen war. Die höchste Wölbung des Zwerchfelles reichte 
bis zum oberen Rande der 5. Rippe. Die liieren wenig blutreich; 
in den grossen Gefässen der Bauchhöhle viel dunkles flüssiges Blut 
Im Map;en viele Gase und wenigstens eine halbe Unze flüssigen 
Menschenkot h. In der Harnblase ziemlich viel klaren Urin. 

Die Lungen waren nicht sehr ausgedehnt, reichten aber bis zum 
Herzbeutel, waren von gleichmässig dunkelrother Farbe, bewirkten 
beim Druck unter den Fingern ein knisterndes Gefühl und Hessen 
beim Einschneiden ein knisterndes Geräusch vernehmen, und zwar 
in allen Theilen beider Lungen. An ihrer hinteren Fläche waren die 
Lungen mit vielen hellrothen Punkten bedeckt (Ecchymosen). 
Langen, Herz und Thymusdrüse zusammen, senkten sich laugsam im 
Wasser zu Boden, hielten sich hier aber in beständiger flottirender 
Bewegung, und zwar so, dass die Lungen immer den höchst gelegenen 
Theil bildeten. Auch die Lungen im Ganzen, wie die einzelnen 
Lappen derselben senkten sich im Wasser zu Boden. Kur einzelne 
Stückchen der Lungen waren schwimmfähig, und zwar von der lin- 
ken Lunge nur Stückchen vom oberen Rande des oberen Lappens, 
von der rechten Lunge dagegen die Randstücke aller drei Lappen, 
während alle übrigen Stücke zu Boden sanken. Aus den letzteren 
drang überall Koth hervor; ausserdem enthielten sie Luft, was beim 
Drock unter Wasser bei allen Stacken durch Aufsteigen von Luft- 
blasen sich deutlich zu erkennen gab. Auch die Luftröhre war 
mit Koth ausgefüllt. Die Ventrikel des Herzens leer. In [den 
grossen Gefässen der Brusthöhle viel dunkles flüssiges Blut. Die 
Schleimhaut der Luftröhre biass. Innerhalb der Schädelhöhle 
bedeutender Blutreichthum , namentlich enthielten die Läugenblut- 
leiter viel flüssiges Blut. Die Gefässe der harten und besonders der 
weichen Hirnhaut sehr blutreich ; das grosse und kleine Gehirn zeigte 
^uf den Schnittflächen viele Blutpuukte. Die Adergeflechte stark, 
die Blutleiter der Schädelgrundfläche massig bluthaltig. 

Diese Befände veranlassten uns, unser summarisches 
Gutachten dahin abzugeben: 

1) das Kind war reif und lebensfähig; 

2) das Kind hat geathmet und gelebt; 

3) das Kind ist durch Ertriuken im Menschenkoth apo- 
plectisch gestorben. 

Diese Ansicht wollen wir nachstehend näher zu be- 
gründen, dann aber auch die von der Königlichen Staats- 



54 Gebart anf dem Abtritt. 

anwaltschaft nachträglich aufgeworfene Frage, „ob es mög- 
lich sei, dass das Kind ohne Zuthun oder ohne Wissen der 
K. in den Abtritt gefallen sei^, zu erledigen versuchen. 

Gatachten. 

Die Neugeburt des Kindes bedarf einer besonderen Be- 
sprechung nicht ; sie giebt sich schon auf den ersten Blick 
durch die saftige und frische Nabelschnur und durch den 
an verschiedenen Körperstellen haftenden Käseschleim in 
unzweideutiger Weise zu erkennen. 

Wir beginnen daher mit der Erörterung des Inhalts 
unseres summarischen Gutachtens: 

a) Das Kind war reif und lebensfähig. Die- 
jenigen Merkmale, welche die Reife einer Frucht documen- 
tiren, fanden sich in unserem Falle sehr ausgeprägt und in 
grosser Vollständigkeit vor. 

b) Das Kind hat geathmet und gelebt. Wie- 
wohl die Lungen von dunkelrother Farbe und nicht sehr 
ausgedehnt waren, auch weder in Verbindung mit dem 
Herzen und der Thymusdrüse, noch auch für sich allein im 
unzerschnittenen Zustande Schwimmfähigkeit zeigten, inso- 
fern also fötalen Lungen sich ähnlich verhielten, so lieferte 
doch die Lungenprobe hinsichtlich des Luftgehalts der Lun- 
gen anderweitig so viele positive Befunde, dass diesen ge- 
genüber und gegenüber dem hohen Stande des Zwerchfells 
jene Befunde jeden Werth verlieren. Die Lungen reichten 
bis zum Herzbeutel, sie bewirkten beim Druck ein knistern- 
des Gefühl unter den Fingern und wenn sie auch im Gan- 
zen nicht schwimmfähig waren, so schwammen doch ein- 
zelne Stuckchen derselben. Aber selbst die sinkenden 
Stücke waren ohne Ausnahme lufthaltig, denn beim Druck 
unter Wasser stiegen Luftblasen aus ihnen empor. Dieser 
Luftgehalt kann, da jede Spur von Fäulniss fehlte, nur 



Gebart auf dem Abtritt. 55 

durch Athmung in die Lungen gelangt sein. Ja der üm- 
stand, dass alle Theile der Lunge lufthaltig waren , beweist, 
dass der Athmungsprozess schon zu einer verhältnissmässig 
vorgeschrittenen Entwickelung gediehen war. 

Dass die Lungen trotz des nachgewiesenen bedeutenden 
Luftgehalts in ihrem überwiegend grösseren Theile nicht 
schwimmfähig waren, findet seine ganz ungezwungene Er- 
klärung darin, dass sie mit Menschenkoth, dessen speci- 
fisches Gewicht das des Wassers bedeutend übersteigt, an- 
gefüllt waren. Hierdurch wurde die Wirkung der specifisch 
leichteren Luft compensirt 

c) Das Kind ist durch Ertrinken im Menschen- 
koth apoplectisch gestorben. Aus der Gegenwart 
von Eoth in den Lungen, der Luftröhre und dem Magen 
geht hervor, dass das Kind noch lebte, als es in den Ab- 
tritt gelangte. Ohne Athmungs- resp. Schluckbewegungen 
wäre ein derartiger Befund nicht möglich gewesen, nament- 
lich hätte der Eoth ohne gewaltsame Athmungsbewegungen 
nicht bis in die feineren Verzweigungen der Luftröhre in 
die Lungen dringen können. Dass hier gewaltsame Ath- 
mungsbewegungen bei Ausschliessung der atmosphärischen 
Luft stattgefunden, geht aus der Gegenwart von Ecchymosen 
auf der Oberfläche der Lungen hervor. Wir finden solche 
freilich auch bei todtgeborenen Früchten, wenn nämlich 
durch irgend einen begünstigenden Umstand, z. B. durch 
Druck der Nabelschnur etc. die Frucht vor der Geburt zu 
instinctiven Athmungsversuchen genöthigt wurde, ohne dass 
bei der Absperrung der atmosphärischen Luft die Fortset- 
zung der Respiration möglich war. Von einem derartigen 
Vorgange kann indess hier nicht die Bede sein, da nach- 
gewiesenermaassen das Kind nach der Geburt gelebt hat. 
Die Ecchymosen können in unserem Falle entschieden nur 
dadurch hervorgerufen sein, dass das Kind von Abtrittskoth 



56 Gebart auf dem Abtritt. 

umspült, die bereits eingetretene Respiration fortzusetzen 
sich bestrebte, aber respirabele Luft nicht fand und daher 
starb. 

In gerade nicht seltenen Fällen finden wir in den Lei- 
chen Ertrunkener nicht sowohl die Erscheinungen der Snf- 
focation, als vielmehr die Erscheinungen der Apoplexie. 
Auch in unserem Falle fanden sich ausser der Flüssigkeit 
des Blutes und der Blutfülle in den grossen Gelassen der 
Brusthöhle anderweitige Erscheinungen des Erstickungs- 
todes nicht vor, dagegen traten die Zeichen des Schlag- 
flusses in sehr deutlicher Weise zu Tage, da in der 
Schädelhöhle der ausgeprägteste Blutreichthum sich kundgab. 

Dieser Befund hat in unserem Falle um so weniger 
etwas Auffälliges, als durch den Vorgang der Geburt selbst, 
welche, wie sich aus der blaurothen Farbe des hinteren 
Tbeiles beider Scheitelbeine und des oberen Theiles des 
Hinterhauptbeines ergiebt, eine Kopfgeburt war, bereits 
grössere Blutfülle innerhalb der Schädelhöhle bedingt war. 

d) Anlangend die von der Königlichen Staatsanwalt- 
schaft aufgeworfene Frage, „ob es möglich sei, dass das 
Kind ohne Zuthun oder ohne Wissen der K. in den Abtritt 
gefallen sei^, müssen wir den ersten Theil dieser Frage 
bejahend, den zweiten Theil aber entschieden verneinend 
beantworten, unter allen Umständen konnte ein actives 
Eingreifen der K. erst eintreten, nachdem der Kopf des 
Kindes geboren und ihr dadurch eine Handhabe für manuelle 
Mithülfe gegeben war, und demnächst konnte sie die Na- 
belschnur durchreissen. Beides war aber durchaus nicht 
nöthig, ja unter Umständen kaum thunlich; denn nach er- 
folgtem Austritt des Kopfes folgen die übrigen Kindestheile 
nicht selten sehr rasch ohne jegliche Nachhülfe und die 
Nabelschnur konnte in unserem Falle lediglich durch das 
Gewicht des Kindes um so leichter zerreissen, als der jähe 



Gebort auf dem Äbtritt. 57 

Sturz desselben einen gewaltigen Ruck an der Nabelschnur 
bewirken musste. Es ist demnach wohl möglich, dass das 
Kind ohne Zuthun der K. in den Abtritt gefallen ist. 

Dagegen müssen wir die Möglichkeit, dass die Geburt 
ohne Wissen der Mutter erfolgte, mithin auch das Kind 
ohne deren Wissen in den Abtritt fiel, entschieden in Ab- 
rede stellen. Die Geburt war keine leichte, denn die ganze 
Nacht hindurch hatte die K. heftige Schmerzen, wie sie selbst 
bei ihren gerichtlichen Vernehmungen zugesteht, auch stell- 
ten sich dem Austritt des Kopfes nicht unerhebliche Schwie- 
rigkeiten entgegen, welches sich daraus ergiebt, dass die 
K. einen Darmriss erlitten (Bericht über die Untersuchung 
der K. von Dr. Ä). Bei solcher Lage der Sache musste 
die Ä, welche auch nicht vorübergehend das Bewusstsein 
verloren hatte, (sie ging allein zum Abtritt und kehrte eben 
so zurück) unter allen Umständen wissen, was vorging, selbst 
wenn es unzweifelhaft feststände, dass die Geburt auf dem 
Abtritt erfolgt ist. Indess ist es immerhin möglich, ja in 
Rücksicht auf den bedeutenden Luftgehalt der Lungen nicht 
einmal gerade unwahrscheinlich, dass die Geburt ausser- 
halb des Abtritts erfolgt und das Kind demnächst von der 
K. in den Abtritt geworfen ist. Dass aber in diesem Falle 
die K, erst recht um die Geburt gewüsst hat, ist selbstver- 
ständlich und bedarf eines besonderen Beweises nicht. 

Schliesslich sprechen wir unsere gutachtliche Meinung 
dahin aus: 

1) das Kind war reif und lebensfähig; 

2) das Kind hat geathmet und gelebt; 

3) das Kind ist durch Ertrinken im Menschenkoth apo- 
plectisch gestorben; 

4) es ist wohl möglich, dass das Kind ohne Zuthun der 
K,^ aber es ist nicht möglich, dass es ohne Wissen 
derselben in den Abtritt gefallen ist. 



4. 



Tardien's Flecke bei Erstickiing, 



Von 



Dr. JFnlins linkomsl&y aus Kiev, 
Kreis-Physikus des ümaii'schen Kreises, Kiev'schen Gouvernements. 



1/ie Unzulänglichkeit der Mittel zur Bestimmung der ge- 
waltsamen Todesart durch Erstickung an Leichnamen ist 
von allen gerichtlichen Aerzten anerkannt worden. Die 
Untersuchung der besondern Art der Erstickung füllt in 
der letzten Zeit einen grossen Theil der gerichtsärztlichen 
und physiologischen Literatur aus. 

Die Untersuchungen fiber die Veränderungen der che- 
mischen Eigenschaft des Blutes, über sein physikalisches 
Verhalten, über die Bedingungen der quantitativen Verthei- 
lung desselben in den Organen in ihrer Abhängigkeit von 
der Art und Dauer des gewaltsamen Momentes, welcher 
den Zutritt des Sauerstoffes der Luft in die Lungen unter- 
bricht, müssen als eine vorzügliche Stütze bei der Diagnose 
des Erstickungstodes dienen. 

Mit den Untersuchungen über Bestimmung der Gase 
im Blute Erstickter hat man begonnen. Vielleicht wird die 
Spektral-Analyse des Blutes nach der Anleitung von Gwoe- 
dew noch ein wichtiges Hülfsmittel der Diagnose darbieten. 



Tardieu's Flecke bei Erstickaog. 59 

Nicht minder sind die Veränderungen der Organe unter 
dem Einflüsse des chemisch veränderten Blutes bei Er- 
stickung von Wichtigkeit. Die Versuche von Ssdbinsky 
sprechen einigermaassen für die eigenthümliche Wirkung 
eines solchen Blutes auf die Gontraction des Milzgewebes. 
Die Anämie der Milz bei Erstickung bleibt bis jetzt eine 
isolirte Erscheinung, da sie sich nicht immer in der Praxis 
bestätigt, und der ursächliche Zusammenhang dieses ört- 
lichen Befundes mit den übrigen Erscheinungen der Erstik- 
knng xioch nicht aufgeklärt ist. Dasselbe kann man von 
einer anderen Erscheinung bei der Erstickung, nämlich von 
der Anämie des Gehirns sagen, Vielehe durch Acker- 
mami^ Versuche an Thieren nachgewiesen worden ist*) 

Zu den häufigen Erscheinungen an Leichnamen von 
Menschen, welche an Erstickung gestorben sind, gehören 
die kleinen subpleuralen Ecchymosen an den Organen 
der Brust, in seltenen Fällen an denen des Unterleibs und 
an der Galea aponeurotica. 

Die Frage über den diagnostischen Werth dieser Ec- 
chymosen hält sich bis jetzt fast nur auf juridischem Boden« 
Tardüu legt ihnen eine absolute Bedeutung als Zeichen 
des Todes durch Erstickung im engeren Sinne zu, 
indem er darunter hauptsächlich den Tod versteht, welcher 
durch mechanische Hindernisse auf Mund und Nase, auf 
Luft- und Speiseröhre, durch Druck auf Brust und Unter- 
leib, durch Ueberschüttung mit Erde oder einem andern 
pulverformigen Körper veranlasst worden ist. 

Andere gerichtliche Aerzte, namentlich deutsche, welche 
sich auf Beobachtungen stützen, nach denen Tarc^idt^'sche 
Flecke auch beim Tode durch Erhängen, Ertrinken etc. 
vorkommen, geben denselben nur eine beschränkte Be- 



♦) Virchow'B Arch. XV. Bd. 6. Heft. 



60 Tardiea's Flecke bei Erstickung. 

deutung als Zeichea des Todes durch Erstickung (Maachka, 
Ldman^ Scibauemtein). 

Vielfache Versuche an Thieren trugen wenig zur Auf- 
klärung dieser interessanten Erscheinung bei, da sie sich 
nur auf das Endresultat — auf die Gegenwart oder Abwe- 
senheit der Flecke bei der einen oder andern Art der 
Asphyxie — stützten; aber bei keinem dieser Versuche hat 
man sich bisher bemüht, den Prozess des Todes selbst 
einer physiologischen Untersuchung zu unterwerfen und 
zwar mit Bezug auf dia Gegenwart oder Abwesenheit die- 
ser Flecke. 

Einige interessante Fälle (15) in meiner gerichtsärzt- 
lichen Praxis, in welchen sich die Diagnose des Erstickungs- 
todes im engeren Sinne auf die Gegenwart der Tardieu- 
sehen Flecke stützte und die späterhin durch die gericht- 
liche Untersuchung bestätigt wurde, veranlassten mich, diese 
Frage einer physiologischen Untersuchung zu unterwerfen. 
Die Aufgabe, welche ich mir stellte, theile ich in 2 Theile: 
1) in die Erforschung des arteriellen und venösen Druckes 
des peripherischen Gefässsystems der Brusthöhle, so wie 
der Schwankungen des Blutdruckes in der Art. pulmonal, 
vor und während der Erstickung; 2) in die Erforschung 
der Anstrengung des motorischen Athmungsapparates wäh- 
rend der Erstickung. Die Untersuchungen wurden im phy- 
siologischen Laboratorium des Professors Tomsa angestellt. 

Zu Versuchen dienten hauptsächlich Hunde, welche vor- 
her durch Einspritzen von \ — 1 Drachme Tinct. Opii in die 
Fussvene waren narkotisirt worden. Die Narkotisation übte 
ohne Zweifel eine gewisse Schwankung in dem Blutdrucke 
aus; jedoch ist dieser Einfluss sehr unbedeutend im Ver- 
gleiche mit den plötzlichen und heftigen Störungen, welche die 
Unterbrechung des Zutritts des Sauerstoffes der Luft erzeugt. 
Das äussere Bild des Todeskampfes bleibt dasselbe beim nar- 



Tardieu's Flecke bei Erstickung. 61 

kotisirtett und nicht narkotisirten Thier; nanjentlich ist der 
üebergaog Ton partiellen zu allgemeinen Krämpfen der- 
selbe, das Absterben von gleicher Dauer und in allen Fäl- 
len von Erstickung mittels Verstopfung der Luftröhre (mehr 
als 40) zeigten sich Tardieu^scte Flecke, mochten die Thiere 
narkotisirt worden sein oder nicht. 

Die Messung des arteriellen Blutdruckes.- 

Zur Untersuchung des arteriellen Blutdruckes wurde 
die Art. mammaria zwischen der 2ten und 3ten Rippe ge- 
wählt, wo sie in der Pleura liegt. An dieser Stelle bietet 
sie den Vortheil dar, dass sie zum peripherischen Gefäss- 
system der Brusthöhle gehörig wegen ihres grösseren Um- 
fanges und ihrer oberflächlichen Lage der Untersuchung zugäng- 
lich ist. Die operative Methode bestand in Folgendem: 

Das Thier wurde auf dem Rücken unbeweglich befe- 
stigt und die Narkotisation desselben auf die oben ange- 
führte Weise bewerkstelligt. Nach Entfernung der Brust- 
muskeln von ihrer Verbindung mit dem Brustbein wurde 
die 3te Rippe blossgelegt, von den Intercostalmuskeln auf 
einen Raum von 5 — 6 Cm. befreit und vom Brustbein ge- 
trennt. Mittels einer Zange wurde von diesem ein Stück 
von 4 Cm. abgebrochen und die Art. mammar. ohne Ver- 
letzung der Pleura blossgelegt. 

Die Blutung der Gefässzweige beseitigt man durch das 
Glüheisen. Die Art. mammaria findet sich in einem fett- 
reichen Zellgewebe 5 — 7 Mm. vom Rande des Brustbeines 
entfernt. 

Zur Messung des Blutdruckes diente der Ludwig'^chc'. 
Kymograph. Zu jedem Versuche wurde die Trommel 
mit einigen Bogen Papier beklebt. Nach jeder vollen Um- 
drehung der Trommel wurde das Blatt Papier sogleich mit 
der darauf gezeichneten Curve abgeschnitten, worauf auf 



62 Tardien's Flecke bei Bratickung. 

dem folgenden Blatte eine neue Gnrve erhalten wurde. 
Die Trommel war auf einer Fläche befeetigt. Der ganze 
Zeitraum zur Abnahme des Blattes und zur Richtung der 
schreibenden Kanüle betrug ungefähr 20 Minuten. 

Auf diese Weise vermochte ich annäherungsweise die 
Dauer der Erhebung und Senkung der Curve des Blut- 
druckes im Verlaufe eines Versuches zu bestimmen. 

' Das Zählen der Herzschläge wurde durch die Hand 
bewirkt, welche ich an die Brustwandung in der Herzge- 
gend hielt. Die krampfhaft vermehrten Athmungsbewe- 
gungen in der ersten Periode der Erstickung erschwerten 
den Versuch sehr. 

Beim Messen des Druckes in der Art. pulmo- 
nalis konnte ich durch unmittelbares Auflegen des Fingers 
auf das Herz die Veränderungen seiner Schläge und die 
Stärke der einzelnen Schläge in jeder Phase der Erstik- 
kung verfolgen. Ich überzeugte mich, dass beim Bloss- 
legen der Brusthöhle die Veränderungen im Rhythmus der 
Herzschläge in derselben Ordnung erfolgten, wie in der 
geschlossenen Brusthöhle. 

Von 4 nach dieser Richtung hin angestellten Versuchen 
wurden 2 derselben während des ganzen Verlaufes der Er- 
stickung durchgeführt. Die andern 2 wurden in der Pe- 
riode der heftigen krampfhaften Bewegungen des Thieres 
durch Zerreissung des Blutgefässes unterbrochen. 

Beim ersten Versuche war der anfängliche Druck 
in der Art. mammar. = 84,6 Mm. In der ersten Minute 
der Erstickung erreichte er 105 Mm., im Verlaufe der 
dritten Minute 174.2 Mm. Im Beginn der vierten Minute 
wurde er auf der mittleren Höhe von 147 Mm. unterbrochen. 

Beim zweiten Versuche war der anfängliche Druck 
= 111 Mm. Am Ende der 1. M. der Erstickung stieg er 
bis 146 Mm. Im Beginn der 3. M. erreichte er 220 Mm. 



Tardieu's -Flecke bei Erstickung. jß8 

Beim dritten Versuche war der Blutdruck nach 
Wiederherstellung des Blutlaufes in der Arterie = 56,6 Mm. 
Hierauf fiel derselbe ein wenig und das Fallen setzte sich 
während der nicht völligen Erstickung beim Zudrehen der 
Klammer um die Luftröhre fort. Nach völliger Absperrung 
des Luftzutritts war er anfänglich = 52,6 Mm. Nach der 
ersten M. begann der Druck sich schnell zu erhöhen und 
unter Verstärkung der krampfhaften Athmungsbewegungen 
des Brustkastens und des ganzen Körpers erreichte er An- 
fangs der dritten M. die bedeutendste Höhe == 177 Mm,, 
dreimal höher als im Anfange. Hierauf fiel er schnell bis 
70 Mm., im Verlaufe der fünften M. bis 64 und 37,4 Mm., 
in der sechsten M. bis 24,6, 13,6 und 6 Mm. und endlich 
nach der sechsten M. auf 0. 

Mit dem Beginn der Erstickung wurden die Wellen 
der Curve des Blutdruckes umfangreicher, worauf die ein- 
zelnen Erhöhungen derselben eine konische Gestalt annah- 
men. Die Pulshügelchen wurden rundlicher und umfang- 
reicher, was den mehr starken und etwas langsamen Herz- 
schlägen entsprach. 

Mit Beginn der zweiten M. der Erstickung wurden die 
Herzschläge seltener, stärker und unregelmässiger. Ihre 
Zahl verminderte sich von 130 bis 80 und alsdann im 
Umfange der dritten M. bis 20 Schläge in 30 Sekunden. 
Die Athmungserhöhungen theilten sich in 2 und 3 Hügel- 
chen, von denen die höchsten den krampfhaften Ausath- 
mungsbewegungen entsprachen. 

Im Beginn der dritten M. machte das Thier eine hef- 
tige krampfhafte Ausathmung, begleitet von einem allge- 
meinen tetanischen Krämpfe, welcher über 5 Minuten an- 
hielt. Die Curve drückte sich durch eine horizontale Linie 
auf «iner bedeutenden Höhe aus. (Fig. Ic.) 

Hierauf folgten beschwerliche und verlangsamte Einath- 



64 

Dungs - Bewe- 
;aQgen, welche 
venig Einäuss 
mf die Carve 
insübteD n. im 
Verlaufe der 
Itea M. einen 
leutlich pnls- 
'örmigen Cha- 
rakter dar- 
stellten. 

Die Herz- 
schläge in die- 
ser Periode wa- 
ren selten — 
36 Schläge in 
einer M. — , er- 
schütterten 
fühlbar den 
Brustkasten, 
zeigten jedoeli 
nicht die an- 
ßagliche Kraft 
and Heftigkeit 

des ayatoli- 
schen StOBses. 
(Fig. Id.) 

Die Puls- 
hügelehen cha- 
rakterisirten 
sich groBS mit 
abgerundeter 
Oberfläche. 



Tardieu's Flecke bei Erstickung. 65 

Im Verlaufe der fünften und sechsten M. vermehrten 
sich die Herzschläge, die Erhöhungen wurden flacher und 
endlich ging die Gurve in die gerade Linie über mit kaum 
bemerkbaren Pulseindrücken auf derselben. Mit Beginn der 
fünften M. verlor das Thier den Athem. 

Fig. 1. Die Länge des Abschnitts 200 Mm. = 20" der Drehong 
der Trommel, 

a) die Cnrve bei normaler Athmung, 

b) im Anfange der Erstickung, 

c) am Ende der zweiten Minnte der Erstickung, 

d) in der vierten M. der Erstickung. 

Vierter Versuch. Einem grossen Hunde wurde die 
linke Art. mammar. und Carotis blossgelegt und mit dem 
Manometer des Kymographs verbunden. 

Es wurde eine gleichzeitige Messung des Blutdruckes 
iu beiden Arterien angestellt. Der Druck in der Arfc. 
mammar. nach Wiederherstellung des Blutlaufs war = 90,6 
Mm., in der Art. carotis = 83,4 Mm. 

In der ersten M. der Erstickung stieg er in der Art. 
mammar. bis 122,6 Mm., in der Art. carotis bis 116,6 Mm. 
Mit Beginn der zweiten M. erfolgte ein Fallen des Druckes 
in der Art. mammar. bis 100, in der Art. carotis bis 109 Mm. 

Im Verlaufe der dritten M. stieg er wieder in der Art. 
mammar. bis zu 143 Mm., in der Carotis bis zu 151,8 Mm., 
worauf der Druck in der Art. mammar. eine beständig wach- 
sende Erhöhung bis zu 169 Mm. zeigte. 

Im Beginn der fünften M. war er in der Art. mamm. 
gleich 97 Mm., in der Carotis = 82 Mm., worauf eine schnelle 
Senkung des Druckes in beiden Arterien folgte. 

Aus dieser kleinen Zahl von Versuchen kann man 
mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit folgende Schlüsse 
ziehen : 

1) Bei der Erstickung wird der arterielle Druck 
bedeutend erhöht. 

ViertelJahrtBclir. f. ger. Med. N. F. XY. I. 5 



66 Tardieu's Flecke bei ErBticknng. 

In 3 Fällen war er zweimal höher als Anfangs, 
und einmal dreimal höher. 

2) Der Druck des Blutes zeigte sich in zwei 
vollkommen gelungenen Versuchen noch im 
Verlaufe der fünften M. in der Periode der 
Verkürzung der Athmungsbewegungen grös- 
ser als Anfangs. 

Angenommen, dass bei Erstickung der Herzschlag 
nicht über 2 Minuten nach der Verkürzung des Athems 
dauert, gelangt man zu dem wahrscheinlichen Schlüsse, 
dass die Periode der Erhöhung des Blutdruk- 
kes die des Fallens desselben überwiegt, be- 
sonders im arteriellen System derBrusthöhle. 

3) Der Blutdruck erreichte seine grösste Höhe 
im Verlaufe der dritten M. und traf mit der 
Periode der krampfhaft erhöhten Athmungs- 
bewegungen zusammen. 

Die bedeutendsten Erhöhungen wurden 
im Momente der krampfhaft verlängerten 
Ausathmungen bei tetanischer Spannung 
des ganzen Körpers erhalten. 

Die Messung des venösen Blutdruckes. 

Er zeigte bei normalen Athmungsbewegungen sehr we- 
nig Selbstständigkeit und unterlag Schwankungen, welche 
hauptsächlich vom Rhythmus der Athmungsbewegungen, von 
der Thätigkeit des Herzens und Muskelsystems abhingen. 

Die Untersuchungen von Volkmomn^ Ludwig und Jacob- 
8on lieferten in dieser Beziehung sehr widersprechende Re- 
sultate. So betrug nach Volkmann der Druck der Ven. jugal. 
= — 9 und + 18 Mm., nach Ludwig und Mock = — 12,8 
Mm., nach Jacobson == + 0,2 Mm. in der rechten und 
— 0,1 Mm. in der linken Ven. jugal. In der kleinen Hals- 
vene fand Volkinann den Druck =:= + ^4 Mm. und Ja- 



67 

in der Handvene bei 
Ausfluss in die Vena 
ria= — 1 Mm.*) 
I Hessen de» Druckes 
nen stellte ich an der 
nammaria an und 
.6 dasn die oben sin- 
ne operative Methode 
rmeidung jeder Ver- 

des Pleura- Sackes, 
esaen wurde Ludu ig's 
ertffler's Ansatz aage- 

fter Versuch. Ein 
littlererGrösse zeigte 
ch der Narkotiaatioo 
äectorisch. In den 
10 Sek. nach Wieder- 
UDg des Blutlanfd in 
le betrug ihr maao- 
her Druck = — 5,4 

den zweiten 30 Sek. 

bis + 0,6 Mm. Vor 

der Erstickung war 
f 3,8 Mm. In den 

30 Sek. der Er- 
i stieg der Druck bis 
m., in den zweiten 30 

+ 41 Mm. S.Pig.a. 
l. a) Dornale AthnnDg, 
T Periode der grösütuu 
g- 

leohson. Heber die Ulut- 
g in den Venen. 
WaArcb.«d.3ti.Uft.l. 



Im Verlaufe der zweiten M, 
begann er zu sinken , und ge- 
langte allmälicb bis zu -f- IE 
Mm. Auf dieser HCbe ging ei 
in die horizontale Linie ober 
In der Tierten M. äusserte dae 
Thier keine ÄtbmuDgBbewegun- 
gen mehr. 

Sechster Versuch an ei- 
nem Hunde mittlerer Grösse. 
Im Anfange betrag der Druck 
in der Von. mammar. — 3,4 
Mm, ; er stieg allmälicb bis zu 
+ 3,6 Mm. In der ersten M. 
der Erstickung stieg er schnell 
biä 6,6 Mm. ; hierauf wellen- 
förmig steigend erreichte er im 
Anfange der dritten M. 47 Mm. 
Im Anfange der vierten M. fiel 
er bis 30 Mm., fm Anfange der 
fünften M. bis 23 Mm. und ging 
auf dieser Höhe in die gerade 
horizontale Linie über. 

Fig. 3. a) normale Atbrnong, 

b) im AßfaDge der Erstickung, 

c) JD der zweiten Minute der Er- 
stick ang. 

Siebenter Versuch. Ein 
Hand mittlerer GrOsse. Im An- 
fange des Versuchs betrug der 
Druck in der Ven. mamm. -)- 
3 Mm., dann Btieg er bis 11,8 
Mm. und sank hierauf bis 1,4 
Mm. Bei der nacbfolgendea 



Tardieu's Flecke bei Erstickung. 69 

Zunahme des Druckes erfolgte die Erstickung. In der 
ersten M. der Erstickung erreichte er 27 Min. Im Ver- 
laufe der zweiten M. sank er bis 23 Mm. und im Anfange 
der dritten M. bis 20 Mm. Auf dieser Höhe ging er in 
die gerade horizontale Linie über. 

Achter Versuch. Ein grosser Hund. Nach Wieder- 
herstellung des Blutlaufes in der V. mamm. war der Druck 
= — 6 Mm., nach Verlauf von 30 Sek. stieg er bis + 1,4 
Mm., folgte alsdann im Steigen und Fallen den Athmungs- 
schwankungen und stieg bis + 4,2 Mm. Im Verlaufe von 
2 Minuten erreichte er 17 Mm. In der ersten M. der Er- 
stickung nimmt der Druck stufenweise zu und am Ende 
der ersten M. ist er gleich 47 Mm. Im Verlaufe der zwei- 
ten M. steigt er bis 47,4 Mm. Der Versuch wurde unter- 
brochen und das Thier erholte sich sogleich. 

Die Curve des Druckes bestand bis zur Erstickung 
aus kleinen Schwankungen von 1 Mm. Grösse, entsprechend 
der Zahl der Pulsschläge, und erzeugte unter dem Einflüsse 
der Athmungsbewegungen schwache Erhöhungen und Sen- 
kungen. Mit Beginn der Erstickung wurden diese Schwan- 
kungen umfangreicher und gingen allmälich in flache erha- 
bene Hügel über, der Stärke und dem Anhalten der Aus- 
athmungen folgend. Enge Vertiefungen entsprachen den 
Einathmungen. 

Beim Sinken des Druckes entstand eine Erniedrigung 
der Höhen der Hügelchen und Erweiterung der Vertiefungen. 

Neunter Versuch. Derselbe Hund. Der Blutdruck 
bis zur Erstickung schwankte zwischen 23 und 39 Mm. 
Im Verlaufe der ersten M. der Erstickung erreichte der 
Druck 50 Mm.; im Anfange der zweiten M. stieg er bis 
63 Mm. und fiel hierauf allmälich im Verlaufe der zweiten 
und dritten M. bis 34 Mm. 

Auf dieser Höhe ging die Curve beinahe in die gerade 



70 Tardieu'ö Flecke bei Erstickang. 

über, langsam sinkend im Verlaufe der fünften und secbBten 
M. biß + 5 Mm. 

Bezüglich des venösen Blutdruckes ergiebt sich somit 
Folgendes : 

1) Sogleich nach Herstellung des Blutstromes zeigte sich 
der Blutdruck in der Yen. mammar. bei drei Unter- 
suchungen negativ. Bei einem Versuche hatte er 
eine unbedeutende positive Grosse. Hierauf stieg er 
allmälich und im Anfange der zweiten M. schwankte 
er beständig bei allen Versuchen auf positiven Höhen. 

2) Die Athmungsschwankungen beim normalen Athmen 
erwiesen einen ziemlich beschränkten Einfluss auf die 
Schwankungen des Blutdruckes in der V. mammar. 

3) Beim Ersticken nahm der Druck des Venenblutes 
schnell zu und erreichte im Verlaufe der zweiten M. 
die bedeutendste Höhe. Der Druck blieb auf ziem- 
lich bedeutender Höhe und übertraf den anfanglichen 
noch im Verlaufe der dritten M. 

4) Die Curve beim Ersticken ergab mehr oder weniger 
bedeutende Schwankungen, welche sichtbar von der 
Kraft und Dauer der Athmungsbewegungen des Brust- 
kastens abhängig waren. In die Curve des Venen- 
druckes fielen die höchsten Erhabenheiten und die 
Erhöhung des mittleren Druckes mit der Periode der 
beschleunigten Ausathmungen zusammen. 

Als allgemeines Resultat ergiebt sich, dass 
beim Ersticken sowohl in der Art. mammar., als 
auch in der Ven. mammar. gleichzeitig und be- 
deutend sich der Seitendruck des Blutes erhöht. 

Der Analogie gemäss müssen dieselben Bedingungen 
für die Erhöhung des Blutdruckes auch für das ganze pe- 
ripherische Gefösssystem der Organe der Brusthöhle be- 
stehen. 



Tardieu's FJeeke bei Erstickung. 71 

Die Messung des Blutdruckes in der Art. pulmo- 

nalis sinistra. 

Die Untersuchungen wurden nach der Methode von 
Ludwig und Beutner durch Bildung eines Fensters In der 
linken Seite des Brustkastens zwischen der 3ten und 7ten 
Bippe angestellt. Durch Unterbindung der Art. intercost. 
wurde der Blutverlust beseitigt, wobei der erste Pleura- 
sack unbeschädigt blieb. 

Die Schwankungen des Blutdruckes in der Art. pulmon. 
sind in allen Yersuchen fast gleich, weshalb ich mich auf 
allgemeine Schlüsse beschränke. 

Beim Aufrechthalten des künstlichen Athmens entsprach 
der Druck in der Art. pulmon. mehr oder weniger der 
Grösse der Thiere. So stieg er bei grossen Hunden bis 
23 Mm., bei mittleren bis 11 und 17 Mm. und bei einem 
kleinen Hunde bis 7,2 Mm. 

Bei verstärktem Drängen der Luft in die Lungen er- 
höhte sich sogleich der Druck. Dabei vergrösserte sich 
der Umfang des Herzens, wohingegen die Energie und Häu- 
figkeit seiner Schläge sich verminderte, bis bald ein Still- 
stand des Herzens erfolgte. 

Das Zerreissen des rechten Pleura-Sackes erhöhte bis- 
weilen den Blutdruck auf 3 Mm. 

Sogleich nach der Suspension der künstlichen Athmung 
sank der Blutdruck ein wenig und in der Gurve gleichen 
die Athmungshügel sich auf einige Secunden aus. Alsdann 
erschienen breite, stumpfkugelige Erhöhungen, und am 
Ende der ersten M. und beim Beginn der zweiten M. er- 
höhte sich der Blutdruck; aber im Verlaufe der zweiten M. 
erfolgte ein bedeutendes Fallen. 

Die hierauf folgende beständige Senkung entsprach der 
Verlangsamung der Herzschläge, welche sich auf der Curve 
in Gestalt von engen konischen Erhöhungen mit abgcrun- 



72 Tardien'a Flecke bei Erstickung. 

deter Spitze kundgaben. Nach jeder Erhöhung erfolgte 
eine mehr oder weniger tiefe Einsenkung; alsdann eine 
nicht grosse Beule und eine horizontale Linie, welche in 
die darauf folgende konische Erhöhung überging.*) 

Am Ende der Erstickung gleichen sich die Zwischen- 
räume zwischen den Kugeln aus. Die konischen Erhöhun- 
gen verkleinerten sich, ihre Spitzen rundeten sich und die 
Curve ging in regelmässige wellenförmige Erhöhungen über, 
gleichmässig und schnell sinkend. Zugleich wurden die 
Herzschläge häufiger, schwächer und gingen endlich in 
Verkürzung der Vorhöfe über. 

Die Untersuchung des Blutdruckes in der Art. pulmon. 
führte zu der allgemeinen Schlussfolgerung, dass die Un- 
terbrechung des künstlichen Athmens die Hinder- 
nisse der Blutströmung durch das Lungengewebe 
vermindert, und die vermehrte Thätigkeit der 
linken Herzkammer unterhält. Folglich beför- 
dert dasselbe die Erhöhung des Blutdruckes wäh- 
rend der Erstickung.**) 

Zehnter Versuch über den Blutdruck in der Art. 
pulmon. Ein Hund von mittlerer Grösse. 



*) Der auf die konischen Erhöhungen folgende kleine Högel 
drückte wahrscheinlich die Grösse der Eigenschwingungen der Queck- 
silbersäule während der Diastole aus. 

**) Verf. hat bei der Deutung seiner Versuche die Wirkung der 
vasomotorischen Nerven ganz unberücksichtigt gelassen. Bekanntlich 
werden diese bei der Erstickung bedeutend stärker erregt. Die da- 
durch bewirkte Verengerung der kleinen Arterien bewirkt einerseits 
den erhöhten Druck im Aorteusystem, andererseits wird sie aber auch 
den Zufluss des Blutes aus dem Aortensjstem in das Körpervenen- 
system hindern, somit den Druck in der Pulmonalarterie vermindern. 
Diese Deutung der Versuche des Verf., welche wir dem Prof. Rosen- 
ihal veriianken, ist wohl zulässiger, als die jedenfalls nicht richtige 
Folgerung des Verf., dass die Thätigkeit des linken Herzens bei der 

Erstickung erhöht sei. 

Anm. d. Red. 



Tardieu's Flecke bei Erstickung. 73 



Zahl der Herzschläge in 30 Sek. j 



Vor der Erstickung 




17,4 Mm. 1 


82 


- . " 




ie,6 . i 




In denisten 30 Sek. 


der Erst. 


11,8 Mm. 


60 


- - 2ten 30 - 


- 


- 


21,4 - 


60 


- - 3ten30 - 


- 


- 


13,8 - 


30 


- - 4ten 30 - 


- 


- 


10,2 - 


20 


- - 5ten 30 - 


- 


- 


11,4 - 


20 


- - 6teD 30 - 


- 


- 


6,4 - 


40 


- ' 8ten 30 - 


- 


- 


1,0 - 


45 


Elfter Versuch:. 


Ein kleiner Hund. 


Vor der Erstickung 






9,4 Mm. 


80 


In denisten 30 Sek. 


der Erst. 


8,8 - 


75 


- - 2ten 30 - 


- 


- 


14,2 - 


60 


- " 3ten 30 - 


- 


- 


19,4 - 


40 


- - 5ten30 - 


- 


- 


6,6 - 


20 


- - 6ten30 - 


- 


- 


3,8 - 


12 


- - 7ten 30 - 


- 


- 


1,8 - 


12 


- - 8ten 30 - 


- 


- 


3,8 - 


15 


- - 9ten 30 - 


- 


» 


1,6 - 


45 


Zwölfter Versuch. 


Ein grosser 


Hand. 


Vor dem Anlegen einer 


Liga- 






tur um die Art. carot. sinist. 


23 Mm. 


30 


Nach dem Anlegen 






25 - 


80 


Vor der Erstickung 






23,8 - 


90 


In den Isten 30 Sek. 


der Erst. 


23 - 


90 


' - 2ten 30 - 


- 


* 


19,8 - 


40 


- - 3ten 30 - 


- 


- 


17,8 - 


20 


- - 4ten30 - 




- 


18,6 - 


20 


. - 5ten30 - 


- 


§■ 


11 - 


40 


. - 6ten 30 - 


- 


- 


4,2 - 


40 


. - 7ten 30 - 


- 


- 


1,6- 


45 



Dreizehnter Versuch. Ein Hund von mittlerer Grösse. 



74 Tardiea's Flecke bei Erstickaog. 

Vor der Erstickung ia der Art. pnlm. 8 Mm., 
9,6 . 

In den ersten 20 Sek. der Erstickung 9 
- . zweiten 20 - - - 9,3 - 

Vor der Erstickung in der Art. carotis sin. 79 Mm., 

86,6 - 

In den ersten 20 Sek. der Erstickung 90,2 - 

- - zweiten 20 - - - 127 - 

lieber die Entstehung der subpleuralen 

Ecchymosen. 
Die Untersuchungen des Blutdruckes zeigen uns den 
innigen Zusammenhang seiner Schwankungen mit 
denen des motorischen Athmungsapparates. Des- 
halb bleibt noch zu untersuchen übrig, wie sich die Schwan- 
kungen des Athmungsmechanismus verhalten und welchen 
Einfluss die veränderte Thätigkeit desselben, namentlich 
die Verstärkung oder Verminderung der einzelnen Athmungs- 
momente auf die Entstehung der subpleuralenEcchy- 
mosen ausübt. 

Wir untersuchen deshalb die Athmungsschwankungen 

1) bei einfacher Erstickung durch Schliessung des Lumen 
der Luftröhre; 

2) bei Erstickung mit Erregung der Nerven, welche die 
Thätigkeit der einzelnen Athmungsmomente beein- 
flussen ; 

3) bei Erstickung mit Durchschneidung der Nerven; 

4) bei Absperrung der Luftröhre nach vorhergegangener 
Verdichtung der Luft in die Lungen; 

5) bei Erstickung unter Einfluss verdünnter Luft. 

Die Versuche wurden an Hunden, die vorher durch 
Injection von Tinct.Opii narkotisirt worden waren, angestellt. 
Die Luftröhre wurde bloHsgelegt. Unter der hintern Wand der- 
selben wurden eiserne Klammern behufs Hervorrufuog der 



Tardieu's Flecke bei Erstickang. 75 

Erstickung geführt. An ihrer vordem Wand wurde eine 
kurze eiserne Röhre nach dem Muster des Ludwig^schen 
Mundstücks für Geiasse befestigt und mittels einer Kaut- 
schukröhre mit dem horizontalen Schenkel des Quecksilber- 
Manometers verbunden, welches eine Scala von 100 Mm. so- 
wohl über-, als unterhalb des Quecksilber -Niveaus hatte. 
Der Durchmesser des Kanals der eisernen Röhre betrug 
2 Mm. 

Nach Verbindung des Manometers mit der Luftröhre 
wurden periodische Schwankungen des Quecksilbers in dem 
einen oder andern Schenkel des Manometers erhalten. 

Die Höhe dieser Schwankungen entsprach der Kraft 
der Athmungsbewegungen. Die Grösse des Thieres der- 
selben Art übte auf dieselben keinen merklichen Einfluss 
aus. Bei jedem Versuche wurde die Untersuchung bis zum 
Ausbleiben jedes Lebenszeichens fortgeführt. 

Die Höhen der Athmungsschwankungen wurden von 
dem Beobachter bemerkt und vom Gehülfen angeschrieben. 
Eine derartige Untersuchung könnte vielleicht nicht genau 
genug genannt werden. 

In der ersten Minute der Erstickung, wenn die Ath- 
mungsschwankungen rasch aufeinander folgen , ist die Beob- 
achtung allerdings sehr erschwert; jedoch am Ende der 
zweiten M. oder am Anfange der dritten M. entstanden 
Hemmungen auf den Athmungshöhen, welche sowohl die 
Höhe der Athmungsbewegungen, als auch die Dauer der 
Stockung derselben ziemlich genau zu bemerken erlaubten. 

Das spezielle Ergebniss der 23 Versuche, welche in 
dieser Weise angestellt wurden, lässt sich hier im Detail 
nicht mittheilen, weshalb ich im Allgemeinen bemerke, 
dass nach der Vereinigung der Luftröhre mit dem Mano- 
meter die Athmungsschwankungen während ein bis zwei 
Minuten bis zur Erstickung beobachtet wurden. Die Schnei- 



76 Tardiea*B Flecke bei Erstickung. 

ligkeit und Höhe derselben war vom Grade der Erregtheit 
der Thiere abhängig. Die Ausathmnngserhöhungen übertrafen 
die der Einathmung und verhielten sich im Ganzen wie 3 : 2. 

Fasst man die manometrischen Facta der Athmungs- 
schwankungen bei Erstickung zusammen, so ergiebt sich 
Folgendes: 

1) Bei gev^öbnlicher Erstickung folgten die Athmangs- 
Schwankungen dem gleichen Typus. Im Anfange äusserte 
das Thier während einiger Sekunden augenscheinlich kei- 
nerlei Athmungsbewegungen , wenn auch das Quecksilber 
unbedeutende Schwankungen zeigte. Hierauf folgten um- 
fangreiche und beschleunigte Athmungsbewegungen mit 
vorherrschenden Ausathmungen, welche mit krampf- 
haften Bewegungen des ganzen Körpers verbunden waren. 

Nach jeden 3 oder 4 Athmungssch wankungen erfolgte 
ein kurzer Stillstand und das Quecksilber zeigte 1 bis 2 
Schwankungen. Mit der zweiten M. zeigte sich ein wach- 
sendes Uebergewicht der Einathmungshöhen bei 
Verlängerung des Stillstandes der Ausathmung. 

Die Athmungsbewegungen verringerten sich bedeutend 
in der Zahl und zeigten folgenden Charakter: Die Einath- 
mungen vollzogen sich langsam mit geringen Stillständen 
und unter Betheiligung aller accessorischen Athmungsmus- 
keln. Das Quecksilber im Manometer stieg anfänglich ziem- 
lich schnell, alsdann langsam und nicht gleichförmig. Nach 
Erreichung der grössten Einathmungshöhe stand es einen 
Augenblick still, sank dann schnell und ging zur Ausath- 
mungshöhe über, auf welcher es sich während eines ge- 
wissen Zeitraums erhielt. 

Im Verlaufe der fünften und sechsten M. endigten alle 
Athmungsschwankung('n auf der Athmungshöhe. Im Ver- 
laufe der folgenden 10 Minuten blieb die Höhe fast unver- 
ändert und nur in einem Falle ging der Quecksilberdruck 



Tardieu's Fleeke bei BrstickiiDf. 7* 

bei einem stark reflectoriecben Thiere, bei welcbem eicb 
eehr starke AthmungBschwaakungen äusserten, allm&Uch auf 
die EiaatbnmngBbßhe Aber. 

Nachstehende Zeichnung (Fig. 4) giebt annaheiungs- 
weise ein Bild von den Athmungsschwankungen des Queck- 
silbers im absteigenden 
Schenkel beim normalen 
Atbmen und bei der Er- 
stickung. 

Ans diesem Schema 
gebt deutlich hervor, 

1) dass der Athmungs- 
rhythmuB bei der Ersttk- 
kung von dem normalen 
nicht blos in der GrOsse, 
sondern auch im Cha- 
racter der einzelnen Mo- 
mente bedeutend ab- 
weicht. 

Die Erregung und 
Dnrchschneidung derNer- 
ven, welche die Bewe- 
gungen des Brustkastens 
vermitteln, veränderten 
auf verschiedene Weise 
den Athmungsrhythinns 
in der ersten Hälfte der 
Erstickung. 

2) Die electrische Er- 
regung der centralen Ab- a) Normales EiDatbrneo. 

schnitte der N. N. tag. » J?™*'" A»""'™";. 

" o') Emathmaog bei Erstickang. 
beschränkte die Höhe b') Auaattamatig bei Erslickung. 



^- 



78 Tardien's Flecke bei Erstickang. 

der Athmangsbewegungen. Die Erregung des N. Laryng. 
sup. rief aaftnglich eine bedeutende Erhöhung des Ausath- 
mungsjmomentes hervor , aber in der zweiten Phase der Er- 
stickung sanken die Ausathmungshöhen schnell, während 
die Einathmungen eine bedeutende Anstrengung und Höhe 
zeigten, welche scheinbar um so^grösser waren, je länger 
die Periode der Erhöhung der Ausathmungsthätigkeit dauerte. 

Der Reiz der N. N. phrenic. * wirkte verschieden nach 
dem Grade der Erregtheit der Nerven. Der Strom von 
20 Mm. Entfernung der Bolle des Dubais^ schetn Schlitten- 
apparates verstärkte die Spannung des Ausathmungsmo- 
mentes während der Erstickung.- Ein schwächerer Strom 
erhöhte umgekehrt bedeutend die Spannung der Einath- 
mung, sowohl in der ersten, als in der zweiten Hälfte der 
Erstickung. In dieser zweiten Hälfte waren die respectiven 
oder absoluten Erhöhungen des Binathmungsmomentes und 
die verlängerten Stillstände auf niedrigen Ausathmungs- 
höhen oder selbst die gänzliche Abwesenheit derselben 
allen Erstickungsfällen eigentbfimilich, abgesehen von den 
Veränderungen der Bedingungen^ unter denen sie statt- 
fanden. 

3) Das Durchschneiden der N. N. vag. ergab keinen 
besondern Einfluss auf die Einatlimungsschwankungen beim 
Ersticken. 

Das Durchschneiden der N. N. Laryng. sup. et inf und 
der N. N. phrenic. übte denselben Einfluss auf den Cha- 
racter der Athmungsschwankungen , und verstärkte die 
Spapnung des Einathmungsmomeptes bis zu einem solchen 
Grade, dass in. der zweiten Phase der Erstickung die Queck- 
Silberschwankungen fast beständig auf den Einathmungs- 
höhen standen. Nur in einem Versuche behaupteten trotz 
des bedeutenden üebergewichts der Einathmungsl^ewegungen 
die Ausathmungsschwankungen eine gewisse Grösse. 



Tardieu's Flecke bei Erstickang. ♦ 79 

Die gewöhnliche Erstickung veränderte unter Einfluss 
des hohen Inspirationsdruckes ( — DD) nicht den Rhythmus 
der Athmungsschwankungen. Die Beizung der N. N. vag. 
beschränkte unter derselben Bedingung scheinbar den Um- 
fang der Athmungsbewegungen. 

TardieuHQhB Flecke wurden erbalten bei Srstik- 
kung, welche mit Reizung der N. N. Laryng. sup. verbunden 
war; in 2 Fällen der Erstickung mit Reizung des N. pbrenic, 
bei Durchschneidung der N. N. vag.; in einem Falle bei 
Durchschneidung der N. N. Laryng. sup.; ebenso bei Er- 
stickung unter Einfluss verdünnter Luft. 

Die Flecke wurden in der Regel an der Seitenober- 
fläohe der Lungen, am meisten an den mittleren Theilen 
derselben, weniger häufig auf der innern Oberfläche und 
an den Theilungsstellen der Lungen gefunden. In grösster 
Anzahl zeigten sie sich in 2 Versuchen von einfacher Er- 
stickung, in einem Versuche von Erstickung bei Reizung 
der centralen Durchschnitte des N. N. vag., in einem Ver- 
suche bei Reizung der N. N. phrenic, in einem Versuche 
bei Durchschneidung des N. Laryng. sup. und in einem 
Versuche von einfacher Erstickung unter Einfluss des ho- 
hen Inspirationsdruckes ( — DD). In einem Versuche mit 
Reizung der N. N. phrenic. fanden sie sich auf dem Herzen 
und in 2 Versuchen mit Durchschneidung der N. N. vag. 
und des N. Laryng. sup. auf der Glandula thyreoid. bei 
jungen Hunden. In einem Falle von einfacher Erstickung 
war das Netz mit ziemlich grossen Eccfaymosen bedeckt. 

In allen Versuchen, wobei die Messung des Blutdruckes 
angestellt wurde, fanden sich ebenfalls Tardieus Flecke. 

TardeWsche Flecke wurden nicht erhalten in 
einem Falle der Erstickung bei Reizung des N. phrenic, 
bei Durchsehneidung der N. N. Laryng. sup., bei Durch- 
schneidung des N. N. Laryng. inf. und N. N. phreniCi, bei 



''-- 



TiuMQiluaiabr. (. («. UmL N. i 



g2 Tardieu'ä Flecke bei Erstickung. 

Erstickung unter dem Einfluss verdünnter Luft und gleich- 
zeitiger Reizung des N. phrenicus. 

Vergleicht man die Atbmungsschwankungen in diesen 
letzten Fällen, so findet man, dass sie ein und denselben 
Typus darstellen, sich durch absolutes Vorherrschen 
des Einathmungsmomentes bei völliger Unter- 
drückung des Ausathmens in der zweiten Phase 
der Erstickung characterisiren. (S. Fig. 5«) 

Betrachtet man dagegen die Fälle, in welchen Tardiew 
sehe Flecke gefunden wurden, so ersieht man, dass 
bei diesen der Ausathmungsmoment eine beständige 
manometrische Grösse darstellt. 

In allen diesen Versuchen gleicht der Gharacter der 
Atbmungsschwankungen dem Schema gewöhnlicher Erstik- 
kung. (S. Fig. 6.) 

Hiernach ist die Annahme wohl gerechtfertigt, dass 
die bedeutende Erhöhung des Einathmungsmo- 
mentes, welche mit den activen, mehr oder we- 
niger anhaltenden Ausathmungsbewegungen ab- 
wechselt, die wichtigste mechanische Bedingung 
zur Erzeugung der Tardieu'* sehen Flecke bildet. 

Fassen wir die Untersuchungen über den Blutdruck 
und die Schwankungen des Athmungsmechanismus während 
der Erstickung zusammen, so gelangen wir zu folgenden 
Schlüssen : 

1) Während der Erstickung findet eine typische 
Veränderung des Rhythmus der Athmungs- 
bewegungen statt. 

2) Es zeigt sich eine bedeutende Zunahme des 1 
Blutdruckes in den Arterien und Venen, be- 
sonders im Bereiche des Brustkastens. 

3) Es zeigt sich eine Verminderung des Druckes 
in der Art. pulmonalis. 



Tardieu'fl Flecke bei Erstickung. 83 

4) Die grösste Erhöhung deB Blutdruckes fällt 
mit der Periode der verstärkten Atbmungs- 
bewegungen, namentlich der Ausathmungen 
zusammen. 
Es entsteht nun die Frage, weshalb die der gewöhn- 
lichen Erstickung eigenthümliche Veränderung des Ath- 
mungsrhythmus eine so beträchtliche Erhöhung des Blut- 
druckes veranlasst? 

Bei normalen Bedingungen des Athmens vergrössert 
jede Einathmungsbewegung den Zufluss des Blutes zur rech- 
ten Herzkammer, in Folge dessen die Herzschläge sich 
beschleunigen und der Seitendruck im arteriellen Gefäss- 
system erhöht wird. Die darauf folgende langsame Aus- 
athmungsbewegung wirkt umgekehrt, sie verzögert den 
Herzschlag. Anfangs erhöht sie ihn auf einige Augenblicke, 
darauf vermindert sie den Seitendruck in den Arterien und 
erhöht ihn ein wenig in den Venen. 

Auf diese Weise wird der Blutdruck in beiden Syste- 
men ausgeglichen. 

Beim Ersticken befördert die bedeutende Grösse und 
Dauer jedes einzelnen Einathmungsmomentes einen ui^gleich 
grösseren Zufluss des Blutes zur rechten Herzkammer. 
Bei gleichzeitiger Verminderung des Druckes in der Art. 
pulm. iiiesst das Blut schneller aus der rechten Herzkam- 
mer in die linke, in Folge dessen die Thätigkeit desselben 
und der Seitendruck im Arteriensystem bedeutend zunimmt. 
Wenn der Einathmungsmoment seine grösste Spannung 
erreicht hat, folgt, wie sich aus Obigem ergiebt, eine schnelle 
und energische Ausathmung, welche mit dem activeu Zu- 
sammenpressen des Brustkastens zu der vorhandenen be- 
deutenden Grösse des arteriellen Blutdruckes noch einen 
Druck hinzufügt und zwar in zweifacher Wirkung: dprch 



84 Tardieu's Flecke bei Erstickung. 

mechanischen Druck auf die Gefässe und durch plötzliche 
Herstellung eines Hindernisses im venösen Strom. 

Auf den Curven des Blutdruckes beim Ersticken findet 
man eine ziemlich deutliche Erklärung, wie bedeutend 
jede Ausathmuiigsbewegung den schon vorhan- 
denen vergrösserten Blutdruck im arteriellen und 
venösen System erhöht. 

Ein nicht minder wichtiger umstand, welcher die 
Summe der den Blutdruck erhöhenden Bedingungen ver- 
grössert, besteht in der Dauer des Ausathmungsmo- 
mentes selbst und den sich kundgebenden krampf- 
haften Bewegungen des Rumpfes und der Extre- 
mitäten während desselben. 

Dass der erhöhte Blutdruck an sich selbst eine we- 
sentliche Bedingung zur Zerreissung der Gapillargefässe 
in der Brusthöhle bildet, dafür zeugen die Versuche mit 
Bluttransfusion, bei welchen bei weniger als dem dop- 
pelt erhöhten Blutdruck eine bedeutende Menge ecchymo- 
tischer Blutausicerungen auf der Oberfläche der Brust- und 
Bauchhöhle erfolgten. 

Die Entstehung der TardtWschen Flecke steht 
somit in directer Abhängigkeit von der der ein- 
fachen Erstickung eigenthümlichen Form der 
Athmungsanstrengungen und dem dadurch be- 
dingten erhöhten Blutdruck. 

Man hat auch die Frage aufgeworfen, ob die Tardieu- 
sehen Flecke wirkliche subpleurale Ecchymosen sind oder 
ob dabei die Gefasswandungen unverletzt bleiben. 

Obgleich es zur endgiltigen Entscheidung dieser Frage 
noch besonderer Untersuchungen bedarf, so sprechen doch 
die makroskopischen Facta: ihre scharf gezeichnete, mei- 
stens regelrecht gerundete Form, die Verdickung an den 
Orten ihrer Entstehung, das dichte, durch Ausscheidung 



Tardieu's Flecke bei Erstickung. g5 

und Gerinnung des Fibrins bedingte Haften an der Pleura, 
für ifare Entstehung durch Zerreissung der Gapillargefässe. 



Wir haben bisher diejenigen mechanischen Momente 
besprochen, welche der Erstickung im engeren Sinne 
eigenthümlich sind, d. h. bei einer solchen Erstickung vor- 
kommen, welche durch unmittelbare Schliessung des Lu- 
mens der Luftröhre stattfindet. Wenn wir nun noch andere 
Arten des asphyktischen Todes betrachten, z. B. Erhängen 
und Ertrinken, so führt schon eine oberflächliche Anschauung 
zu dem Schlüsse, dass hierbei nicht die Athmungsanstren- 
gung vorkommen kann, welche der wirklichen Erstickung 
eigenthümlich ist. 

Das Erhängen kann man in ein vollkommenes 
und unvollkommenes eintheilen. 

Beim vollkommenen Erhängen bebarrt der Brust- 
kasten bei vertikal ausgestreckter Lage der Wirbelsäule 
durch den Widerstand der Muskeln der obern und untern 
Körpertheile mehr oder weniger im Zustande der Einath- 
mung. 

In dieser Beziehung kann man das Erhängen mit den 
Versuchen über Erstickung bei künstlich hervorgerufener 
Erhöhung des Einathmungsmomentes oder mit der Un- 
terdrückung des Ausathmungsmomentes in gleicher 
Linie stellen. 

Die wichtigste Folge eines solchen Zustandes wird der 
unzureichende Zufluss des Blutes zu den Lungen und eine 
rasche Abnahme der Herzthätigkeit sein. In der That fin« 
det man auch bei einer bedeutenden Zahl der Fälle von 
voUl^ommenem Erhängen den anämischen Zustand der 
Lungen als eine vorherrschende Erscheinung in der Leiche, 
folglich muss die Abwesenheit der TardtWschen Flecke 



gg Tardiea'd Flecke bei Erstickung. 

unter solchen Bedingungen zu den gewöhnlichen Erschei- 
nungen gehören. 

Das unvollkommene Erhängen kann man als eine 
Erdrosselung mittels einer Schlinge in stehender oder ir- 
gend einer andern Lage betrachten. Es bietet dem Körper 
zwei entgegengesetzte Stützpunkte, aber zugleich auch mehr 
Freiheit der wechselnden Thätigkeit der Brust- und Bauch- 
muskeln dar und bedingt dadurch einen mehr freien Zu- 
und Abfluss des Blutes durch die Lungen. Nach Tardieu^s 
Ansicht kommt deshalb die Erdrosselung mehr einer Er- 
stickung im engeren Sinne gleich und die Möglichkeit des 
Vorkommens der Flecke ist deshalb in seltenen Fällen der 
Erdrosselung und Erwürgung nicht ausgeschlossen. 

Durch möglichst starkes Anziehen einer Schlinge, welche 
ich unmittelbar auf die Umgebung der Luftröhre eines Thie- 
res anlegte, konnte ich keine völlige Schliessung des Lu- 
mens derselben erzielen. Deshalb ist es wahrscheinlich, 
dass bei Erdrosselung nur mehr oder weniger eine Unter- 
brechung des Luftzutritts zu den Lungen stattfindet und 
der Gharacter der Anstrengung des motorischen Athmungs- 
apparates von dem Orte der Anlegung der Schlinge und 
der dadurch bedingten Veränderung der Lage derjenigen 
Theile, welche den Eingang zum Schlünde resp. Kehlkopfe 
umgeben, abhangt. 

Was das Ertrinken betrifft, so wurden in einem 
Ca^p^r'schen von Liman erwähnten Falle auf der Ober- 
fläche der Lungen Tardieu^i^h^ Flecjsie gefunden. Dabei 
macht Liman die Bemerkung, dass sie beim Ertrinken eine 
sehr seltene Erscheinung sein müssten, da Casper bei der 
grossen Menge von Ertrunkenen, welche er beobachtet habe, 
sie nur in einem Falle nachgewiesen habe. Dagegen fan- 
den Ackermann und Sckauenstein*) bei einer grossen Zahl 

*) Bandb. d. ger. Medicin. Artikel: Erstickung darch Ertriokeu. 



Tardiea's Flecke bei Ereticknog. g7 

ertränkter Thiere auf der Oberflär^he der Lungen deutlich 
ausgeprägte ringförmige Ecchymosen. 

Man kann schon a priori zugeben, dass die Verschie- 
denheit der Bedingungen beim Ertrinken Einfluss auf die 
Verschiedenheit des Hergangs beim Sterben haben muss. 
Auf diese a priori'sche Schlussfolgernng fussend stellte ich 
eine Reihe von Versuchen des Ertrinkens an jungen Hunden 
und Katzen an. 

Ich beobachtete dabei 3 verschiedene Bedingungen, 
unter denen die ertränkten Thiere zu Grunde gingen. 

1) Die Thiere wurden frei in ein grosses Gefäss mit 
Wasser, z. B. in eine grosse gläserne Wanne versenkt, so 
dass sie frei schwimmen und nach verschiedenen Rich- 
tungen hin sich bewegen konnten 

Das Gefäss wurde ganz angefüllt und mit einem Deckel 
bedeckt. Das Thier begann nach einigen Versuchen, sich 
über die Oberfläche des Wassers zu erheben, regelrechte 
schwimmende Bewegungen zu machen, wobei es sich an 
den Wänden des Gefässes hielt und Wasser verschluckte. 
Nach 1\ — 2 Minuten wurde es matt, leblos und sank mit 
dem Kopfe zu Boden. Im Verlaufe der folgenden 10 M. 
bemerkte man einige schwache krampfhafte Zuckungen am 
Rumpfe, am Schwänze, an den Lippen, an der Zunge und 
an den Nasenlöchern. 

Bei der Section zeigte sich die Luftröhre mit blass 
rosenrothem Schaum angefüllt; die Lungen waren stark 
ausgedehnt, von blasser rosarother Farbe ; auf ihren Durch- 
schnittsflächen trat eine reichliche Menge schaumiger Flüs- 
sigkeit zu Tage und die Lungeogefässe enthielten eine grosse 
Menge dunklen Blutes. Tarc^iVw'sch'e Flecke fanden 
sich in keinem Falle vor. Der Magen war mehr oder 
weniger mit Wasser angefüllt. 

2) Thiere wurden frei in «ine nicht grosse gläserne 



88 Tardien's Flecke bei Erstickong. 

Wanne gelassen, deren Umfang Schwimmbewegungen nach 
vorn unmöglich machte. 

Das Thier fing sogleich an, im Wasser zu plätschern, 
sich mit den Lippen an die Wände und den Deckel des 
Gefässes ansaugend. Nach | M. erschienen einige schlak- 
kende Bewegungen, nach welchen Luftblasen auf der Ober- 
fläche des Wassers sich ausschieden. Nach 1 M. liess das 
Thier den Kopf sinken und machte mit geschlossenem Munde 
einige schluckende Bewegungen. Nach 1^- — 1^- M. begann 
es von Zeit zu Zeit das Maul weit zu öffnen und mit ein- 
gezogenem Bauche sich zu krümmen, wobei jedesmal aus 
dem Maule eine Luftblase trat. Im Verlaufe von 4 — 5 M. 
hielt das Thier sich in halbgebogener Lage und mit dem 
Kopfe nach unten im untern Drittheil des Gefässes, indem 
es von Zeit zu Zeit das Maul weit öffnete, als ob es An- 
strengungen zum Erbrechen machte. 

Bei solchen Bewegungen kam bei zwei Hündchen ausser 
Luftbläschen halb geronnene Milch aus dem Maule. 

Bei der Section war in einigen Fällen die Luftröhre 
mit rosafarbigem Schleim angefüllt, in andern leer und nur 
beim Pressen der Brusthöhle erhob sich alsdann eine Säule 
wässriger Flüssigkeit mit einigen Luftbläschen in dem Lu- 
men derselben. Die Lungen waren mehr oder weniger aus- 
gedehnt, jedoch füllten sie die Brusthöhle nie aus. Die 
Oberfläche derselben war mit einer grösseren 
oder kleineren Anzahl sehr kleiner hellrother 
Flecke von eccbymotischer Natur bedeckt. Einige 
grosse Flecke von 2 — 4 Linien wurden auf der 
Gland. thyreoid. gefunden. Auf den Durchscbnitts- 
flächen der Lungen floss mehr oder weniger eine reichliche 
Menge schleimiger Flüssigkeit aus. Der Inhalt des Wassers 
im Magen war verschieden. 

3) Thiere wurden mit einer an den Füssen befestig- 



Tardiea's Flecke bei ßrAticknng. 89 

ten Last auf den Boden gesenkt oder mit gebundenen Ex- 
tremitäten im Wasser gehalten. 

Hier zeigten sich dieselben Erscheinungen beim Sterben 
wie bei den Thieren der zweiten Klasse. 

Nach dem Eintauchen in's Wasser erfolgten eben so 
schnell weite Äufsperrungen des Manles und eine Zusam- 
menziehung des Rumpfes, so dass der überwiegende 
Ausathmungscharacter dieser Bewegungen mich 
nicht in Zweifel liess. Es ist sehr wahrscheinlich, dass 
das instinctive Bedürfniss des Athmens von Zeit zu Zeit 
die spasmodische Schliessung der Stimmritze bezwingt und 
die anfängliche Ursache des Maulaufsperrens und der Ein- 
athmungsversuche ist; aber die Berührung der ersten Theil- 
chen des eintretenden Wassers mit der Schleimhaut des 
Schlundes ruft sogleich eine energische Ausathmungs- 
bewegung hervor, auf welche die schleunige Schliessung 
der Stimmritze folgt. 

Dr. Falk erklärt in seinen Versuchen über den Tod 
im Wasser*) die Oeffnung des Schlundes in der zweiten 
Periode des Ertrinkens, welche er die asphyktische nennt, 
für mit unbedeutenden Ausathmungen verbundene Ei na th - 
mungsbewegungen. 

Dass die Berührung der Flüssigkeit mit der Schleim* 
haut des Schlundes die wirkliche Bedii^gung des spasmo- 
dischen Schliessens der Stimmritze ist, wird durch Kru- 
schefky^s Untersuchungen in seiner Arbeit über Schaum und 
die schaumartige Flüssigkeit in den Respirationswegen Er- 
trunkener sehr wahrscheinlich.**) 

Bei der Section der Thiere der dritten Klasse zeigten 
die Lungen eine dunkle Rosafarbe und eine massige Auf- 



•) Virchow'6 Archiv. XLVII. 1 u. 2. 
*^) Archiv der gerichtl Medicin und Hygiene. 1870 No. 1 d. 2. 
Petersburg. 



90 Tardieu's Flecke bei Erstickung. 

getriebenheit. Auf der Oberfläche derselben befan- 
den sich Tar(/iWsche Flecke, welche eine grossere and 
abgerundetere Form als in den Fällen der zweiten Klasse 
hatten. Die Gland. thyreoid. war stark ecchymosirt. 
In einem Falle nahmen die Flecke die vordere Ober- 
fläche des Herzens ein. Beim Durchschneiden des Lan- 
gengewebes floss viel schaumige Flüssigkeit aus und die 
Lungengefässe enthielten ziemlich viel dunkles Blut. 

Somit zeigten die Fälle der zweiten und dritten Klasse 
dieselben Erscheinungen, nur waren sie in der dritten Klasse 
deutlicher ausgeprägt. 

Vergleicht man die Resultate dieser Versuche mit de- 
nen von Schauenstein , so kommt man zu dem Schlüsse, 
dass seine Versuche denen der zwei letzten Klassen glei- 
chen. Er ertränkte Thiere, indem er sie auf den Boden 
des Gefasses mit an den Füssen gebundenen Gewichten 
senkte. Bei einem solchen Mechanismus des Ertränkens 
bemerkte er niemals eine bedeutende Ausdehnung der Lunge; 
eine Erscheinung, welche von Casper und andern Beobach- 
tern für das allerbeständigste Zeichen des Todes für Er- 
trinken gehalten wird. Schauenstein hält dagegen dieses 
Zeichen für nicht beständig und erklärt die Abwesenheit 
desselben bei den von ihm ertränkten Tbieren damit, dass 
beim schnellen Herablassen derselben auf den Boden sie 
bei der Unmöglichkeit, Luft einzuathmen, doch 
unter dem Wasser zum Theil ausathmen können, 
in Folge dessen die Lungen manchmal sichtbar zusammen 
gefallen erschienen. 

In den Versuchen von Schauenstein ^ so wie in meinen 
Versuchen der zweiten und dritten Klasse sehe ich die Be- 
stätigung der Thatsache, dass die Erhaltung des Aus- 
athmungsmomentes oder sogar die Verstärkung 



Tardiea's Flecke bei Erstickung. 91 

desselben eine der wichtigsten Bedingungen zur 
Entstehung der Tardi^w'schen Flecke bildet. 

Die Bedingungen, unter welchen Schauenstein die Thiere 
ertränkte, werden in der Wirklichkeit nur sehr ausnahms- 
weise sich ereignen. 

Die Bedingungen, welche ich in der zweiten Klasse 
aufgeführt habe, können bei den Todesfällen der Früchte 
im Mutterleibe vorkommen. 

Auf Grund der oben angeführten Versuche kann man 
annehmen, dass der Tod durch Ertrinken in seinem 
Mechanismus zwei ziemlich scharfe Unterschiede zeigt: 
1) je nachdem der Ertrinkende Raum genug für seine Fort- 
bewegungen findet und diese Bewegungen nicht mechanisch 
erschwert sind, sei es durch an die Extremitäten befestigte 
Gewichte, sei es durch Binden derselben. Dieses ist das 
Ertrinken im wahren Sinne des Wortes. 2) Das Ertrinken 
nimmt mehr den Gharacter der Erstickung im engeren Sinne 
an, wenn der Ertrinkende in die Mitte der Flüssigkeit ge- 
langt und dabei unfähig ist, freie Bewegungen zu machen. 
Im Allgemeinen erfordert diese interessante Frage jedoch 
noch weitere Untersuchungen. 

Hierbei erlaube ich mir, meine Meinung über die wich- 
tigste Ursache der Erscheinungen dieser beiden Todesarten 
im Wasser auszusprechen; eine Meinung, welche sich auf 
augenscheinliche Beobachtungen des Characters der Bewe- 
gungen ertränkter Thiere in beiden Fällen gründet. Ich 
bin der Ansicht, dass die beständige, bewegende Richtung 
nach vorwärts und zum Theil nach oben die beständige 
Einathmungsanstrengung der Muskeln des Brustkastens be- 
dingt, woraus das bedeutende Uebergewicht des 
Einathmungsmomentes entsteht. 

Mücke*) zählt in seiner Abhandlung über die physio- 

*) Deutsche Klinik. 1863. No. 26 u. 21, 



A 



92 Tardieu's Flecke bei Ersti ckurg. 

logischen Erscheinungen beim Tode durch Ertrinken haupt- 
sächlich die beträchtliche Vergrösserung des ümfangs der 
Langen, den Verlust der Elasticität derselben und die un- 
geheure Erweiterung des Brustkastens zu den cbaracteri- 
stischen Erscheinungen in der Leiche. Die Ursache dieses 
Leichenbefundes sucht er in den krampfhaften und ange- 
strengten Einathmungsbewegungen. 

Die Versuche, welche von der Londoner Commission 
über die Methode von Sylvester zur Rettung der Schein- 
todten in Folge von Ertrinken angestellt worden sind, zei- 
gen, dass eine grosse Menge Luft (37 — 50 Cub. Cm.) bei 
Einathmungsbewegungen der oberen Extremitäten in die 
Lungen gedrängt wird. 

Hieraus kann man schliessen, dass die Einathmungs- 
anstrengung bei beständiger Bewegung nach vorn eine be- 
deutende sein muss. Folglich kann die Abwesenheit 
der TardieuschQü Flecke bei diesem Mechanismus 
des Sterbens als eine praktische Bestätigung des 
Resultates der Versuche dienen. 

Die Symptomatologie der Vergiftung durch narko- 
tische Gifte, sowie der dabei vorkommenden Leichenbe- 
funde stimmen im Allgemeinen mit den Zeichen des asphyk- 
tischen Todes überein. 

Die Verschiedenheit der Ansichten über den Tod durch 
Chloroform, Blausäure und Strychnin kann durch 
die verschiedene Anwendungsweise dieser Körper, durch 
die individuelle Empfänglichkeit des Organismus und durch 
verschiedene andere, sowohl auf den Todesmechanismus, 
als auf den Leichenbefund influirende umstände erklärt 
werden. Den Tod durch Chloroform schreiben Einige 
dem Nervenschlage, Andere der Erstickung und noch An- 
dere der chemii^chen Wirkung zu. Betrachtet man die cha- 
racteristischen Zeichen dieser Todesarten, so können sie je 



Tardieu's Flecke bei Erstickung. 93 

nach der Menge, der Art und Dauer seines Gebrauches, 
nach der örtlichen Wirkung auf die Athmungsorgane und 
endlich nach der Individualität des Organismus alle drei 
hervorgerufen werden. 

So tritt in dem einen Falle der Tod plötzlich während 
einer Ohnmacht mit Unterbrechung der Herzthätigkeit ein; 
in dem andern Falle mehr allmälich, indem sich bedeutende 
Störungen der Athmungsthätigkeit wie bei der Erstickung 
im engeren Sinne ausbilden. Endlich werden Fälle ange- 
führt, in welchen der Tod nach einigen Stunden nach Been- 
digung der Narkotisation eintrat. Es kann daher nicht auf- 
fallen, dass man unter Umständen auch hierbei TarfitWsche 
Flecke antreffen wird. 

Alle Beobachter sind damit einverstanden, dass der 
Tod durch Strychnin unter Zeichen der Erstickung er- 
folgt. In dem einen Falle tödtet das Strychnin allmälich, 
indem es die Thätigkeit des Rückenmarkes und der Ath- 
mungsmuskeln paralysirt. In einem andern Falle ist seine 
Wirkung eine rasche und der Tod entsteht unter Erschei- 
nungen der krampfhaften Schliessung der Stimmritze und 
durch Erstickung hervorgerufenen Störung der Respiration 
und Circulation. 

Den wichtigsten Einwand gegen den diagnostischen 
Werth der TardieusGhen Flecke als Zeichen der Erstik- 
kung hat man den Beobachtungen der Todesfalle durch 
Fallen von einer Höhe oder überhaupt durch bedeutende 
mechanische Erschütterungen, welche mit Brüchen des 
Schädels und der Extremitäten verbunden waren, entnom- 
men. Eine solche Todesart schliesst jedoch die Möglich- 
keit einer gleichzeitigen Asphyxie nicht aus. Ausserdem 
kann die Gehirnerschütterung selbst in Folge einer heftig 
mechanisch wirkenden Ursache den aspbyktischen Tod her- 
vorrufen und zwar entweder durch Unterdrückung der Le- 



94 Tardieu's Flecke bei Erstickung. 

bensthätigkeit der Gehirncentra, welche die Herz- and 
Respiratioasthätigkeit beeinflussen , oder durch refleetorische 
krampfhafte Schliessung der Stimmritze in Folge der an- 
fänglichen bedeutenden Erregung der Thätigkeit des ver- 
längerten Markes. Im ersten Falle würde es der von Casper 
angenommene neuroparalytische Tod, im zweiten Falle der 
Tod durch Erstickung im engeren Sinne sein. 

Alle diese Thatsachen führen zu dem Schlüsse, dass 
man über den Mechanismus des Todes nicht nach dem 
Character der äusserlich eingewirkt habenden Ursache ur- 
theilen kann« Es ist kaum möglich, in jedem concreten 
Falle vorher mit Genauigkeit die Wirkung und Ausdehnung 
des zerstörenden Einflusses auf den Organismus zu bestim- 
men. Das Zusammentrefien vieler äusserer und innerer 
Bedingungen und die Individualität des Organismus spielt 
hierbei eine so mächtige Rolle, dass wir nur mit mehr oder 
weniger Wahrscheinlichkeit aus den Leichenerscheinungen 
einen Schluss auf die Wege der Ausbreitung eines bekannten 
gewaltsamen Momentes und die dadurch hervorgerufene 
Zerstörung des Organismus ziehen können. 

Die widersprechenden Resultate, welche manche Beob- 
aciiter beim Verschütten der Thiere unter Sand und 
Asche erhielten, veranlassten mich, auch nach dieser Rich- 
tung hin einige Versuche zu machen. 

Thiere, wie Katzen und junge Hunde, wurden in eine 
gläserne, mit Sand angefüllte Wanne gebracht, so dass über 
ihnen eine Schicht von 1^ Fuss Dicke lag. Von öThieren, 
welche einer solchen Erstickung unterworfen wurden, waren 
eine Katze und zwei junge Hunde mit gebundenen Extre- 
mitäten in dem Sande vergraben worden. 

Bei allen drei fanden sich TardiWsche Flecke 
in grosserAnzahl. Auch bei einem Hündchen, welches 
frei eingegraben wurde, zeigten sie sich. 



Tardieu'B Flecke bei ErstickuDg. 95 

Die Flecke fobltea bei einer grossen, frei verschüt- 
teten Katze, welche 15 Minuten nach der £ingrabung durch 
eine schwache Stimme noch Lebenszeichen kundgab. Bei 
der Section derselben nach 35 M. langer Verschüttang zeig- 
ten sich noch schwache Verkürzungen des Praecordium. 

In allen 5 Fällen zeigten sich Sandklumpen am obern 
Rande der Stimmritze, im Schlünde und zum Theil im 
Magen, unter der Stimmritze in der Luftröhre zeigte sich 
nicht das geringste Sandkörnchen. 

Diese Versuche, sowie die widersprechenden Resultate 
der Beobachtungen v^n Casper^ Maschka und Liman über 
Verschüttung mit Erde und Sand lassen die Vermuthung 
zu, dass die bekannte leichte Beweglichkeit eines Medium 
wie Sand auf verschiedene Weise, je nachdem die Masse 
eine bedeutendere oder geringere ist, den Widerstand des 
Organismus begrenzen kann und den verschiedenen Gha- 
racter der Athmungsbewegungen beim Sterben bedingt. 

Eine sehr interessante Thatsache bietet das Auffinden 
Tardieuschtv Flecke auf der Oberfläche der Lungen und 
des Herzens beim Tode durch starken arteriellen 
Blutfluss dar. 

Diese Beobachtung machte ich an zwei Hunden, welche 
durch Blutentleerung aus der Art. cruralis getödtet wurden. 
Als ein Hund bei einer ähnlichen dritten Tödtung starke 
krampfhafte Bewegungen mit dem Brustkasten zu machen 
anfing, welche denen während der Erstickung ähnlich wa- 
ren, durchschnitt ich die Luftröhre, wodurch die Athmungs- 
bewegungen sogleich langsamer und mehr oberflächlich wur- 
den. Hier fanden sich bei der Section keine Tar- 
dieu^sche Flecke vor. 

Diesen vereinzelten Fall kann man mit einer gewissen 
Wahrscheinlichkeit dadurch erklären , dass die starke arte- 
rielle Blutung beim Erscheinen allgemeiner Krämpfe die 



96 Tardiea*8 Flecke bei Ersticknng. 

krampfhafte Schliessang der Stimmritze nnd die dadurch 
folgenden Erscheinungen Ton Erstickung hervorrief, welche 
durch die Durchschneidung der Luftröhre gemindert wurden. 
Eulenburg und Landoü*) behaupten nämlich, dass bei acuter 
durch Blutverlust bedingter Anaemie die Tbiere asphyktisch 
sterben, weil in Folge der schleunigen Verminderung der 
rothen Blutkörperchen der Mangel an Sauerstoff anfänglich 
eine vermehrte Erregung und eine dadurch folgende Paralyse 
der Respirationscentra in der Medulla oblong, hervorrufe. 

Obgleich ich selbst überzeugt bin, dass ich die foren- 
sisch so wichtige Frage über die subpleuralen Ecchymosen 
durch meine Arbeit noch nicht erschöpft habe, so hoffe ich 
doch, einen Beitrag zur Lösung derselben geliefert zu haben 
und vielleicht auch Andere anzuregen, auf diesem Wege 
weiter zu gehen.**) 



*) Gentralbl. d. med. WisBousch. 1866. S. 722. 

**) Der Versuch des Verfassers, durch die Experimental-Physio- 
logie practische Fragen ans der forensischen Praxis zu erläutern, 
verdient gewies alle Anerkennung und stellt ffir die gerichtliche Me- 
dicin grosse Erfolge in Aussicht. Anm. d. Redact. 



5. 

Heber den Werth der Glycerinlymphe bei 

JMasseiiünpfnngen. 

Von 

EreiS'Physikus Dr. IRTellili aus Krojanke, 

c. Z. dirig. Arat der Lazarethe von AU- Damm. 



Wer jemals in der Lage war, ausserhalb des Zeit- 
raums der öffentlichen Schutzpockenimpfungen einer bös- 
artigen Pocken -Epidemie durch möglichst schleunige und 
zahlreiche Impfungen resp. Revaccinationen energisch ent- 
gegentreten zu müssen, wird ohne Weiteres zugeben, wie 
enorm schwierig die Beschaffung und Gonservirung der hierzu 
erforderlichen Lymphe ist. 

In einer derartigen Lage befand sich Verfasser, anfangs 
des Jahres 1871 als dirigirender Arzt der Lazarethe nach 
Alt-Damm berufen, der in dem dortigen Kriegsgefangenen- 
Depot, wie in fast allen übrigen, aufgetretenen, aus Metz 
eingeschleppten Pocken-Epidemie gegenüber. 

Bei . einer Effektivkopfstärke von anfangs 2,687, zuletzt 
5,447 Mann 

erkrankten an Variola: starben: 

in der letzten Dekade des Decbr. 1870 5 . . • . 2 

- - ersten - - Januar 1871 25 .... 4 

- - zweiten - - - - 42 ... 1 

- - dritten - - - - 44 ... 9 

- - ersten - - Februar - 62 .... 4 

178 20 

VierieU*ltfS0cfar. /. ger. Med. N. F. XV. 1. 7 



98 üeber den Werth der Glyceriolymphe bei Massenimpfangen. 

Die Krankheit war sonach dermassen in der Zunahme 
begriffen und von so bösartigem Charakter, dass die schleu- 
nigste Impfung resp. Revaccination sämmtlicher Kriegsgefan- 
genen um so dringender geboten erschien, als dieselben 
theils in nächster Nähe, theils innerhalb der Stadt eng 
kasernisirt lagen. 

Woher aber die für eine solche nach Möglichkeit zu be- 
schleunigende Massenimpfung erforderliche Lymphe nehmen ? 

Nach der bisherigen Impfmethode von Arm zu Arm 
wären selbst bei der angestrengtesten Thätigkeit und bei den 
günstigsten Resultaten Wochen und Monate zur Ausführung 
dieses riesenhaften Impfgeschäftes erforderlich gewesen, da 
die Impfung immer nur von acht zu acht Tagen hätte er- 
folgen können. Zudem ist die Zahl der wirklich abimpf- 
baren Pusteln bei Revaccinirten erfahrungsgemäss immer nur 
eine sehr geringe, die Untersuchung zahlreicher, zur Lyjnph- 
abnahme zu verwendender Individuen auf Syphilis und andere 
ansteckende Krankheiten immerhin eine sehr zeitraubende, 
und die bei Erwachsenen zweifellos weit häufiger als bei 
Kindern vorkommende Gefährdung durch latente Syphilis 
auch bei der sorgfältigsten Untersuchung nicht zu vermeiden. 

Zum Glück hatte Verfasser, anfänglich in Folge wieder- 
holter Fehlimpfungen mittelst aus der Königl. Schutzpocken- 
Impfungs- Anstalt zu Berlin bezogener Glycerinlymphe ein 
entschiedener Gegner der letzteren, schon seit Jahren bei 
den öffentlichen Gesammtimpfungen seines heimischen Be- 
zirks Gelegenheit gehabt, sich ebensowohl von der Zuver- 
lässigkeit, als auch von den Annehmlichkeiten der frisch 
bereiteten Glycerinlymphe zu überzeugen. Anstatt sich 
mit hunderten von keifenden Müttern und schreienden Säug- 
lingen tagtäglich herumzuärgern und zu quälen, um schliess- 
lich wegen Mangels an ausreichender Lymphe acht Tage 
später die Impfung entweder fortsetzen oder wiederholen' 



Deber den Werth der Gljcerinljmphe bei MassenimpfangeD. 99 

zu müsBOD, hatte Verfasser sich vor Beginn des Impfgeschäfts 
aus den Impfpusteln oft eines einzigen Impflings mittelst 
Glycerin- Verdünnung in Zeit von kaum einer Stande die 
zur Impfang seines ganzen Bezirks erforderliche Lymphe 
verschafft und dieselbe stets mit bestem Erfolge verwandt. 

Anstatt auf jeder Impfstation sämmtliche zur Lymph- 
abnahme geeignete Impflinge von Kopf bis Fuss auf Syphilis 
und andere durch die Impfung übertragbare Krankheiten 
untersuchen zu müssen, um schliesslich doch vor der üeber- 
tragung möglicherweise momentan latenter Zustände dieser 
Art nicht sicher zu sein, da der Impfarzt eines grösseren 
Bezirkes meist weder die Impflinge, noch deren £ltern 
kennt, auch wohl einmal in den oft mangelhaft erhellten, 
von Menschen überfüllten Impflokalen und im Drange des 
ebenso aufregenden als abspannenden Impfgeschäfts nicht 
allzu genau zu untersuchen vermag, erwählte sich Verfasser 
aus den ihm bekannten Kreisen die wenigen zur Lymph- 
bereitung genügenden Impflinge, und war so mit einem 
Schlage air den oben erwähnten, ebenso zeitraubenden als 
unzuverlässigen Proceduren überhoben. 

Das Verfahren bei der Glycerinlymphbereitung aber ist 
ein sehr einfaches. Die zur Lymphabnahme geeigneten 
Pusteln werden in herkömmlicher Weise geöffnet. Die 
heraussickernde Lymphe wird mittelst eines feinen Haar- 
pinsels aufgefangen und sofort mit der Glycerinmischung 
(Glycerin und Aqu. destill, ana) zu anfangs 5, später bei 
reichlich fliessender Lymphe allmälig mehr Tropfen, in 
einem Uhrglase innig vermischt und verrieben. Die auf 
diese Weise gewonnene Glycerinlymphe hält sich in einem 
gut verkorkten, mit Schweinsblasentektur versehenen Gläs- 
chen, an einem kühlen und dunklen Orte aufbewahrt, Jahr 
und Tag unverändert und unbeschadet ihrer Impfkraft. 

Die Erfolge der Impfung mit Glycerinlymphe weichen 



100 Oeber den Werth der Glycerinljmphe bei Massenimpfangeo. 

zwar in der Regel von denen der Impfung mit unverdünnter 
Lymphe in sofern ab, als 

1) die Glycerinlympbe durchschnittlich nur etwa die 
Hälfte an Pusteln aus den Impfstichen erzielt, und 

2) die Impfpusteln sich langsamer, erst am 9,-10. Tage 
bis zur Abimpfbarkeit entwickeln; 

doch ist diesen beiden üebelständen jederzeit leicht abzu- 
helfen, und zwar 
ad 1) durch Verdoppelung der Impfstiche und des Lymph- 
quantums, 
ad 2) durch entsprechende Vertagung des Impftermins. 

Fehlimpfungen hat die Glycerinlympbe im Allgemeinen 
bei zum ersten Male Geimpften nicht mehr und nicht minder 
als reine Lymphe zur Folge. 

Darüber aber, wie sich die Wirksamkeit der Glycerin- 
lymphe bei der Revaccination im Allgemeinen und bei, 
wie dies bei der fiberwiegenden Mehrzahl der Kriegsgefan- 
genen der Fall war, bereits wiederholt Revaccinirten 
im Besonderen verhalte, standen dem Verfasser nicht die 
geringsten Erfahrungen zu Gebote. 

Die Resultate einer zur Entscheidung dieser Frage an- 
gestellten Probe waren zwar zufällig rein negativ, ermuthig- 
ten aber immerhin zu weiteren Versuchen. 

Mit der aus Berlin bezogenen Glycerinlympbe wurden 
am 16. Januar zunächst 3 bisher ungeimpfte Kinder und 6 
bereits in Frankreich mit Erfolg geimpfte und revaccinirte 
Kriegsgefangene geimpft. 

Bei der am 25. Januar vorgenommenen Revision zeigten 
s&mmtliche 3 Kinder vollständig normal entwickelte Impf- 
pusteln, sämmtliche 6 Kriegsgefangene dagegen nicht die 
Spur von Erfolg. 

Letztere wurden sofort von Arm zu Arm mittelst reiner 



Deber den Werth der Gljcerinljmphe bei Massenimpfangen. 101 

Lymphe geimpft; gleichzeitig mit frisch bereiteter Glycerin- 
lymphe 116 Mann. 

Die Revision am 1. Februar ergab wiederum keine Spur 
von Erfolg bei den vorerwähnten 6 Mann, wohl aber voll- 
ständig normale Impfpusteln bei 38 von den letztgenannten 
116 Mann« 

Der Beweis, dass nicht die Beschaffenheit der Lymphe, 
sondern die Individualität der Geimpften die erfolglose Im- 
pfung verursacht hatte, war sonach eclatant geführt. 

Die den Impfpusteln der am 16. Januar geimpften 3 
Kinder am 25. ej. entnommene Lymphe aber war mittelst 
Glycerin- Verdünnung sowohl quantitativ als qualitativ so 
ergiebig gewesen, dass mit derselben nicht nur am 25. Januar 

die oben erwähnten 122 

sondern auch am 27. ej. weitere .... 426 

und endlich am 28. ej. weitere 312 

mithin von 3 Kindern in Summa 860 Mann 
geimpft resp. revaccinirt werden konnten, davon 

mit Erfolg 196 - 

Die vorbemerkten mit Erfolg geimpften 38 Mann ferner 
setzten Verfasser sofort in den Besitz 80 massenhafter Quan- 
titäten von Glycerinlymphe, dass 

am 1. Februar die Revaccination von 295 

- 2. - . - - 706 
. 3. - - - - 264 
. 4. - - - - 342 

- 5. - - - - 813 

in Summa 2420 Mann, 
davon mit Erfolg 614 
ermöglicht wurde; mithin in der Zeit vom 25. Januar c. bis 

5. Februar die Impfung von 3280 Mann, 

von denen mit Erfolg revaccinirt wurden . . 810 

Bei den so überaus günstigen Resultaten dieser ersten 



102 üeber den Werth der Gljcerinlymplie bei MaBsenimpfangen. 

Massenimpfang konnte die sofortige Revaccination sämmt- 
licber nach und nach neu zugehender Mannschaften mittelst 
sorgfältig aufbewahrter Glycerinlymphe nicht der geringsten 
Schwierigkeit unterliegen. Auf diese Weise wurden ferner 
revaccinirt: 

am 6. Februar 248 

- 10. - 200 

- 17. - 94 

- 19. - 823 

- 20. . 899 

. 6. März 257 

in Summa 2521 Mann 
und zwar mit Erfolg 776 

Mithin wurden in Summa mit Erfolg geimpft: 1586 yon 
5801 Mann. 

Deutliche Yariolanarben zeigten und wurden daher nicht 
geimpft 717 Mann. Mit deutlichen Impfnarben waren ver- 
sehen in Summa 4023 Mann. Nach ihrer Angabe waren 
die Leute fast durchweg in Frankreich als Kinder geimpft 
und später nicht selten 2 bis 3 Mal revaccinirt. Sie zeigten 
demgemäss zahlreiche Impfnarben am Oberarm oder Ober- 
schenkel. Aus verschiedenen Gründen blieben ungeimpft 
2333 Mann. 

Von den mit und ohne Erfolg Revaccinirten erkrankten 
zwar ab und zu noch Einige an Yariolois und sogar an 
Variola, doch geschah dies meist innerhalb der ersten vier 
Wochen nach der Impfung, so dass sie zur Zeit derselben 
sich sehr wohl schon im Stadium incubationia der Krankheit 
befunden haben konnten, und war der Ausgang ohne Aus- 
nahme ein günstiger. 

In der Zeit vor der Impfung vom 21. November 1870 
bis 21. Januar c. bei einer Kopfstärke von 2687 erkrankten 
72, starben 7 Mann. 



Deber den Wertii der GkceriBljmphe bei Masseniinpfiiiigeii. 103 

la der Zeit nach der Impfang Tom 25. Janaar bis 
15. April c. bei einer Eopfstarke Ton 8851 erkrankten: 

mit Erfolg Geimpfte ohne Erfolg Geimpfte Dngeimpfte 
6 25 164 

starben: 

22 

Aber ancb der Einflass der Massenimpfang auf den Gang 
der Epidemie war ein unverkennbar günstigen 
Wie vorerwähnt, 
erkrankten in der 1. Dekade des Februar 62, starben 4; 
dagegen 
erkrankten in der 2. Dekade des Februar 27, starben 2, 

- - 3. - 
. - 1. - 
. - 2. - 

- - 3. - 

- . 1. . 

Die in den letzten Dekaden Gestorbenen waren sämmt- 
licb aus früheren Dekaden üebertragene oder aus verschie- 
denen Ursachen Ungeimpftgebliebene. 

Die Glycerinlymphe hat sich sonach auch bei den 

Massenimpfongen Erwachsener, grösstentheils bereits Revac- 

cinirter nach allen Richtungen hin so glänzend bewährt, dass 

die bier gewonnenen wichtigen Resultate jedem unbefangenen 

Beurtheiler den praktischen Beweis davon liefern müssen, 

wie die Glycerinlymphe für die Revaccination und 

jede schleunige Hassenimpfung von unechätzbarem 

Werthe, wenn nicht geradezu unentbehrlich ist. 



- 


21 


2 


März 


19 


1 


- 


9 


2 


- 


7 


1 


April 


5 


1 


Somma 


88 


9 



6. 

Correspondenzen. 



8t Peteribirgy iei 29. Itl •. c Nachdem die Cholera 
seit August a. p. hier geherrscht hat, kann man jetzt die Epidemie 
als erloschen ansehen. Es kam eine ziemlich bedeatende Zahl Yon 
Erkrankungen mit vielfach todtlichem Aasgange vor. Viele plötz- 
liche Anfalle tödteten oft im Verlaufe von wenigen Standen. Nach 
dem amtlichen Cholera^Bericht waren vom 29. April bis 11. Mai c. 
noch 172 Personen, 88 M. and 84 Fr., erkrankt. Im Laofe des 
Tages kamen noch 1 M. and 2 Fr. hinzu. Ein Mann starb, so 
dass noch 87 M and 84 Fr. in Behandlang blieben. 

Die Gesammtzahl der Erkrankten betrag vom 17. August a. p. 
bis zam 12. Mai c. 2940 M. und 1556 Fr., überhaupt 4496. Es 
genasen davon 1631 M. und 886 Fr,, überhaupt 2517 Individuen. 
Es starben 1206 M. und 579 Fr., überhaupt 1785 Individuen. 

Die von der Polizei angeordneten Hospitäler sind geschlossen 
und die zur Verabreichung gut bereiteter Speisen für die ärmeren 
Volksklassen eingerichteten öffentlichen Küchen sind jetzt ausser Be- 
trieb gestellt worden. (Nach amtlicher Nachriebt.) 

CheHiiti, den 7. Jui a. c. Im Jahre 1870 sind in der 
Stadt 3183 Kinder geboren worden mit 83 Todtgeburten. Auf 18 
Einwohner kommt eine Geburt. Unter den Geborenen waren 
1633 Knaben und 1550 Mädchen. Von den Todtgeborenen waren 
51 Knaben, 32 Mädchen, 74 ehelich, 9 unehelich. Eheliche Ge- 
burten überhaupt waren 2822, uneheliche 361, d. h. 11,3%. 

Den Religionsverhältnissen nach waren 3071 Protestanten, 73 
Katholiken, 27 Deutschkatholische, 3 Juden, 3 Dissidenten. Es 
starben — von den Todtgeborenen abgesehen — 2268, d. h. von 
25 Einwohnern einer. Von den Verstorbenen waren 1174 
M., 1094 Fr., welche sich nach den Altersklassen folgendermassen 
vertheilen. M. Fr. 

Es starben im Alter unter 1 Jahre 552 520, also 34,58 % der 

von 1 — 2 Jahren 131 116 Lebendgeborn. 

2—3 - 35 29 

3—4 - 20 34 

4—5 - 9 14 



Gorrespondenzen. 



105 



M. 
Es starben im Alter von 5 — 10 Jahren 21 

8 
77 
61 
64 
66 
66 
36 
11 

1 



10—15 
20—30 
30—40 
40—50 
50—60 
60—70 
70-80 
80-90 
über 90 



Fr. 
26 
11 
56 
64 
35 
46 
52 
48 
13 



überhaupt 1174 1094 



starben 




192. 

128, 

204. 

34. 

89. 

9. 

12. 

17. 

17. 

3. 

24. 

27. 

1. 



An Blattern 

- Typhus 

- Tuberkulose 

- Miliartuberkulose 

- Durchfall und Brech- Durchfall 

- Diphtheritis 

- Croup 

- Keuchhusten 

- Syphilis 

- Säuferdyscrasie 

- Unglücksfall 

- Selbstmord 

- Todtung 

Ausser den oben angeführten Todtgeborenen sind noch 143 
frühzeitig Geborene auf dem Kirchhofe beigesetzt worden. 

Bezirksarzt Dr. PUnxer. 

Stettin, den N. Iti a. c. Stettin mit beinahe 80,000 Ein- 
wohnern ist seit dem Jahre 1860 in hervorragender Weise nicht 
von den Pocken heimgesucht worden , wenngleich seit dem genann* 
ten Zeitpunkte jährlich einzelne Pockenfälle vorgekommen sind. So 
erkrankten im Jahre 1860 34 Personen mit 3 Todesfällen, im Jahre 
1861 15 Personen mit 1 Todesfall, so 1867 12 Personen mit 3 To- 
desfällen u. s. w. Epidemisch treten die Pocken hier beinahe re- 
gelmässig alle 7 Jahre auf, so 1858 und 1865. In letzterem Jahre 
erkrankten 319 Personen, 67 Kinder und 252 Erwachsene; von den 
Erkrankten waren 45 Kinder und 193 Erwachsene geimpft gewesen 
und starben von der ganzen Summe der Erkrankten 54, 17 Kinder 
und 37 Erwachsene. Anders gestalten sich die Verhältnisse in der 
jetzigen, noch keineswegs abgelaufenen Epidemie. Dieselbe beginnt 
in der Woche vom 28. December 1870 bis 3. Januar 1871. Bis 
zum 25. April sind nämlich schon 321 Erkrankungen mit 166 Todes- 



106 CorrespondenieD. 

f&lleo gemeldet worden. Mass aach immerhin zagegeben werden, 
dass ein grosser Theil der an den Pocken Erkrankten nicht ange- 
meldet worden ist, so ist dieser nichtgemeldete Thdl doch nicht 
so bedentend, dass das Verhütniss der Gestorbenen zu den Er- 
krankten als das gewöhnliche bei einer dnrchimpften Bevölkernng 
angesehen werden könnte. Es darf Tielmehr angenommen werden , 
dass die Pocken in dieser Epidemie eine ganz ansserordentliche 
Intensität besitzen and darch dieselbe eine Mortalität herbeifahren, 
wie sie nar je im Yorigen Jahrhandert ohne vorangegangene Lnpfong 
bestanden hat, sowie, dass überall da, wo diese Epidemie, wie 
hier, darch die gefangenen Franzosen in's Leben gerafen worden 
ist, z. B. in Glogaa, in Leipzig a. s. w., der Gang derselben sich 
in einer ähnlichen Weise offenbart. Es würde sich hier also die 
schon yielfach früher wahrgenommene and constatirte Thatsaohe, 
dass Typhas, Pocken, Scharlach a. s. w., wenn sie darch einen 
fremden Volksstamm eingeschleppt werden, in grösserer Intensität 
and bedentenderer Mortalität verlaufen, anch jetzt bei den dorch die 
gefangenen Franzosen eingeschleppten Pocken wiederholen and gel- 
tend machen. Aeltere Beweise für diese Annahme sind die Typhas- 
epidemien in Deatschland im Jahre 1813, die durch die Rassen 
verbreitet worden waren, die declmirenden Pockenepidemien unter 
den Indianern Amerika' s, die Intensität der Syphilis, wenn sie von 
einem einer fremden Race angehörenden Individuum erlangt worden 
ist. Wenn dieser Grundsatz richtig ist, so würde aus demselben 
eine Consequenz für die Impfung gezogen werden dürfen. Man 
würde annehmen dürfen, dass die Impfung eines der 
germanischen Race angehÖrigen Kindes mit einer Lym- 
phe, die einem Kinde der slavischen oder romanischen 
Race entnommen worden ist, einen viel intensiveren 
Verlauf und daher einen grösseren Schutz gegen die 
Menschenblattern entwickeln müsste. Es erscheint diese 
aus dem jetzigen Verlauf der Menschenblattern zu ziehende Conse- 
quenz wichtig genug, um Versuche in der angegebenen Richtung 
hin anzustellen und wird es unserer so vortrefflich verwalteten 
Central-Impfanstalt nicht schwer fallen, in Petersburg und Mayland 
einen Austausch von Lymphe und von Beobachtungen über die 
Wirksamkeit derselben zu erlangen. Man muss nur nicht die For- 
derung an die selbst wirksamste Lymphe stellen, dass sie in allen 
Fällen einen dauernden Schutz gegen die Menschenblattern gewähren 
solle. Die Fähigkeit, zweimal von letzteren befallen werden zu 
können, ist nämlich viel verbreiteter, als von den Aerzten ange- 
nommen wird. Nach meinem Dafürhalten würde die Revaccination 
ebenso obligatorisch eingeführt werden müssen, wie die Vaccination 
obligatorisch sein müsste. Eine intensiver wirkende Lymphe wird 
nur den Nutzen haben, Kinder etwa bis zum 12., 15. Jahre hin 
gegen einen das Leben geföhrdenden Verlauf der Menscheublattem 



Correspondenzen. 107 

bewahren zu können; abgesehen von den Fällen, wo eine gut ver- 
laufene Vaccine einen dauernden Schutz gegen die Menschenblattem 
gewährt. Wie sehr eine derartige Lymphe wünschenswerth wird, 
zeigt eine in der jetzt herrschenden Epidemie in Frauendorf bei 
Stettin gemachte Beobachtung. In einem von mehreren Familien 
daselbst bewohnten Hause erkrankten 14 Kinder in einem Alter von 
I Jahre bis zu 12 Jahren an den Pocken und starben von diesen 
Erkrankten 5. Nur 1 Kind war nicht geimpft gewesen. Von den 
älteren Personen dieses Hauses erkrankte niemand, sowie denn über- 
haupt die ganze Epidemie in Frauendorf vorwaltend sich auf das 
Kindesalter beschränkte. Vor 3 Jahren beobachtete ich in einem 
anderen Dorfe eine Pockenepidemie, die sich nur auf Kinder und 
keinen einzigen Erwachsenen erstreckt hatte. Der Grund dieser 
Erscheinung liegt nach meinem Uafürhalten in einer Abschwächung 
des Impfstoffes und würde seine Regeneration eben durch Lymphe 
von Kindern, die einer fremden Kace angehören, allein gewonnen 
werden können. 

Es soll hier noch erwähnt werden, dass die Verreibung und 
Verdünnung der Lymphe mit Glycerin nach den von den Impf- 
ärzten meines Bezirks gesammelten Erfahrungen als practisch und 
gut sich bewährt hat; dagegen hat die Impfung mit Lymphe, die 
einer mit Menschenlymphe geimpften Kuh entnommen worden war, 
keine günstigen Resultate geliefert. Schon im vorigen Jahrhundert 
wurde das letztere Experiment von englischen und holländischen 
Aerzten angestellt, aber bald wieder als unpractisch und ungenü- 
gend aufgegeben. 

Noch zu einer anderen Beobachtung hat die hier verlaufende 
Pockenepidemie Gelegenheit gegeben. Es sind nämlich bisher von 
den sämmtlichen der Prostitntion dienenden Mädchen, von denen 
angenommen worden darf, dass sie alle einmal der Syphilis ver- 
fallen gewesen, nur 2 an den Pocken erkrankt, und ferner, es 
hat sich die Syphilis während der jetzt herrschenden Pockenepidemie 
in einer ganz auffallenden Weise vermindert. Im Krankenhause 
lagen früher immer 30 bis 32 syphilitisch afficirte Mädchen ; die 
Zahl derselben ist aber während des Verlaufs der Pockenepidemie 
auf 13 bis 15 nach und nach herabgesunken und hält sich auf die- 
ser niedrigen Stufe. Es fragt sich zunächst nun, ob an andern 
Orten ähnliche Beobachtungen gemacht worden sind. 

Dr. tioedeii. 



7. 

Referate. 



Sterblichkeit der Kinder während des 1. Lebens- 
jahres in Süddeatschland, insbesondere in Bayern. 
Dr. Georg Mayr hat in der Zeitschr. des E. Bayr. Statist. Bar. 
No. 4, Oct. u. Dec. 1870 hierüber sehr eingehende statistische Er- 
hebungen mitgetheilt. Zar Uebersicht der Sterblichkeit in den ver- 
schiedenen Ländern dient zanächst folgende Zasammenstellang. Von 
je 100 lebend geborenen Kindern starben im 1. Lebensjahre 
in Norwegen (1856-65) 10,4 in Preassen (1859-64) 20,4 

- Schottland (1855-64) 11,9 - Italien (1863-64) 22,8 

- Oldenburg (1855-64) 12,5 - Ungarn (1864-65) 24,7 

- Schweden (1861-67) 13,5 - Oesterreich (1855-65) 25,1 

- Dänem. m. Island (im Reichsrathe vertretenes 
u.Faröer Inseln (1850-54) 13,6 Land) 

- Belgien (1851-60) 15,5 - Sachsen (1859-65) 26,3 

- Frankreich (l»4ö-50) 16,6 (1856-65) 26,3 
Franitreicü (igsi^ßo) 17,3 ^^^^^'^ (1827-69) 30,7 

- Spanien (1858-68) 18,6 - Bayern' (1845-56) 34,8 

- England- Wales (1865-66) 19,6 - Würtemberg (1858-66) 35,4 
Von vornherein macht M. darauf aufmerksam, dass die vermehrte 
Kindersterblichkeit keine Natnrnothwendigkeit sei; denn in Schwe- 
den betrag von 1755- 1775 die Kindersterblichkeit noch 20,46. Die 
Statistik widerlege den gefährlichen Optimismus, welcher die ent- 
scheidende Ursache der Kindersterblichkeit in einer vom mensch- 
lichen Willen und Können unabhängigen naturlichen Thatsache suche. 
In Bayern sind in den 34 Jahren von 1834-69 über 4,257,873 
Kinder lebend geboren. Von diesen sind 1,319,409 oder 30,9 % im 
1. Lebensjahre gestorben. 

Die Todtgeborenen sind ausgeschlossen, weil sie nur un- 
sicher zu erheben sind. In katholischen Gegenden findet sich na- 
mentlich eine geringere Zahl von Todtgeborenen, weil in den pfarr- 
amtlichen Registern die während, zuweilen aach vor der Geburt 
Gestorbenen, aber Nothgetauften als lebend Geborene aufgeführt 
werden. Escherich (Bayer, ärztl. IntelL-Bl. No. 19, 20, 1871) 
macht' ferner darauf aufmerksam, dass nach Dr. V ach er (Gazette 



Referate. 



109 



med. de Paris 1870 p. HO) auf Grund der in der Pariser Akademie 
im Febr. 1870 stattgefandenen Discussion festgestellt worden sei, 
dass in Norwegen alle vor der Taufe gestorbenen Kinder nicht 
als lebendgeborene eingetragen werden. Die Taufe findet aber dort 
erst im 1. und 2. Monate, bisweilen auch noch später statt. In 
England werden alle jene Kinder als lebendgeborene nicht ge- 
zählt, welche nicht als solche registrirt werden, und das Gesetz 
erlaubt noch 42 Tage nach der Geburt die Anzeige. In Frank- 
reich und in den linksrheinisch deutschen Gebieten, wo der Code 
Napoleon gilt, werden die Kinder, welche vor der Einregistrirung 
(in den ersten 3 Lebenstagen) gestorben sind, nicht als lebendge- 
borene eingetragen. In Bayern, Würtemberg und Baden 
werden die Geburten wenige Stunden nach der Geburt, jedenfalls 
am ersten Tage, den Pfarrämtern angezeigt und eingetragen, auch 
mit der Unterscheidung, ob sie todtgeboren oder etwa bald darauf 
gestorben sind, in welchem letzteren Falle sie als lebendgeborene 
eingetragen werden. Man sieht hieraus, wie vorsichtig man bei der 
Verwerthung der verschiedenen statistischen Erhebungen sein muss. 
Mayr hat die Ergebnisse in Bayern nach den 8 Regierungsbezirken, 
von welchen jeder ^ Million Einwohner zählt, in 5 siebenjährigen 
Zeitabschnitten dargestellt. 





Von 100 lebendgeborenen Kindern sind im 


Von 
beasj 
Kind 
im 1 


Regierungs- 


]. Lebensjahre gestorben 


« " -1 o 
er (• 


VkA^irlr 






UCAilJk 


1835-41 


1841-48 


1848—95 


1855^62 


1882-69 


1835—69 


SS 5.7 


Schwaben 


39,8 


40,2 


40,5 


40,9 


41,2 


40,9 


18,1 


Oberbayern 


38,9 


39,4 


39,5 


42,0 


42,0 


4(),6 


18,0 


Niederbayern 


33,8 


34,3 


33,6 


35,4 


36,7 


34,7 


16,9 


Oberpfalz 


30,8 


31,0 


32,3 


34,8 


35,6 


33,1 


16,8 


Mittelfranken 


29,9 


30,0 


30,0 


33,0 


33,5 


31,5 


13,7 


Oberfranken 


20,8 


21,4 


20,9 


21,9 


22,3 


21,5 


9,4 


Unterfranken 


23,9 


22,9 


23,8 


24,1 


25,3 


24,1 


11,4 


Rheinpfalz 


18,8 


18,5 


17,8 


18,6 


19,6 


18,7 


4,9 



Der Ueberschuss an Todesföllen bei den Knaben bestätigt sich 
auch in Bayern und beträgt in der Periode von 1835 — 63 durch- 
schnittlich 4,8 auf 100 Lebendgeborene. 

Ebenso ist die grössere Sterblichkeit der unehelichen Kin- 
der im Vergleich mit den ehelichen eine constatirte Erfahrung. Im 
Ganzen ist die Sterblichkeit der Unehelichen im 1. Lebensjahre 
etwa um ein Fünftel stärker als die der Ehelichen, wobei aber 
eine auffallende Verschiedenheit in den einzelnen Regierungsbezirken 
vorkommt. In der Pfalz sind die unehelichen Geburten am seltensten 
und doch zeigt sich dort die grosste verhältnissmässige Sterblichkeit 



110 Referate. 

der Unehelichen. In Niederbayern and in der Oberpfalz ist die 
Zahl der unehelichen Gebarten eine sehr grosse bei einem geringen 
üeberschuss der Sterblichkeit der Unehelichen. Die grössere Sterb- 
lichkeit der Unehelichen steht daher nicht in einem unbedingten 
Zusammenhange mit der Häufigkeit der unehelichen Geburten. 

In den meisten Kreisen zeigt sich in der neueren Zeit eine 
Zunahme der Sterblichkeit, ganz besonders in Mittelfranken. 

Sterblichkeit im 1. Lebensjahre nach Monatsgrup- 
pen. In Bayern starben 13,95g der Lebendgeborenen im 1. Lebens- 
monate, in den beiden folgenden Monaten 7 ^ , im zweiten Viertel- 
jahr 5,4 und in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres noch 
5,7 % der Lebendgeborenen. 

In Oberbayern und Schwaben steigt die Sterblichkeit im 1. 
Lebensmonate auf 18,0 — 18,1 % der Lebendgeborenen und speziell 
bei den Unehelichen auf 21,8 und 21,0^. Am höchsten ist auch 
hier die Lebensbedrohung der unehelichen Knaben, von wel- 
chen in Oberbayern schon im 1. Lebensmonate ein Viertel (23,4%) 
dahin stirbt. Im 2. und 3. Lebensmonate steht Oberfranken 
mit 4,5% am günstigsten. Auch im 2. Vierteljahre zeigt Oberfran- 
ken noch erhebliche günstigere Resultate (3,8%), während Ober- 
bayern und Schwaben ein Maximum von 6,6 resp. 6,8% haben. 
In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres zeigt nur Mittel- 
franken ein Maximum von 6,9%, 

Die Unehelichen sind in allen Monatsgruppen einer grös- 
seren Sterblichkeit unterworfen. 

Im Vergleich mit andern Ländern nimmt die Kindersterblich- 
keit in Bayern im 1. Lebensmonate die höchste Ziffer ein. Am 
nächsten steht ihm Oesterreich mit 11,5, Baden mit 10,16, Italien 
mit 10,0 % der Kindersterblichkeit. Am günstigsten steht auch hier 
Schweden mit 4,7 und auch Oldenburg mit 4,8%. 

Was die wichtigsten Todesursachen betrifft, so erlagenden 
Fraisen im 1. Lebensjahre 10,61% der Lebendgeborenen, und im 
1. Lebensmonate 4,95% aller Geborenen. An Atrophie starben 
5,28% der Lebendgeborenen, ein schwaches Drittel davon im 1., 
ein anderes schwaches Drittel im 2. und 3. Lebensmonate und das 
letzte starke Drittel im Reste des ersten Lebensjahres. Aber auch 
hier zeigt sich eine grosse Verschiedenheit nach den einzelnen Re- 
gierungsbezirken . Letzteres ist weniger bei der Lebensschwäche 
der Fall, welcher 4,15% der Lebendgeborenen erlagen. 

An Durchfall starben 13,53% der Lebendgeborenen; in Ober- 
bayern 6,44 und in Oberfranken nur 6,81 % . Im Durchschnitt für 
das gesammte Königreich fällt nahezu ein Fünftel der Neugebo- 
renen dem Durchfall, den Fraisen und der Atrophie zum Opfer. 

Sterblichkeit in den einzelnen Amtsbezirken. Der 
Amtsbezirk Ebersberg, ein geographisch abgerundeter Bezirk am 
antern Laufe der Altmahl und am mittleren Laufe der Donau 



Referate. 111 

zeigt das Maximam der Kindersterblichkeit von 50 — 55 Sterbefällen 
im 1. Lebensjahre aaf 100 Lebendgeborene. Hieran gränzt das 
ganze Alpengebiet mit 30—35 pGt., alsdann die Hochgebirgsbezirke 
von Berchtesgaden und Immenstadt mit 25 — 30 pCt. In 
Südbayern findet sich diese Sterblichkeit nnr vereinzelt im Bezirke 
Lindaa and an der Südspitze des bayerischen Waldes. Die ge- 
ringste Sterblichkeit von 15— 20pGt. ist im grosseren westlichen 
Theile der Pfalz und im Nordosten von Oberfranken vertreten. 

Was die Unehelichen betrifft, so zeigen die beiden Bezirks- 
ämter Manchen eine Sterblichkeit derselben von 70 — 74 pGt. im 
1. Lebensjahre, wovon gewiss ein grosser Theil aaf die unglück- 
lichen Eostkinder kommen wird, obgleich auch in Ebersberg die 
Sterblichkeit 70,0 pCt., im Bezirksamt Eelheim 69,1 pCt. und in 
Brechsegar 75,4 pGt. beträgt. 

In Würtemberg findet sich in neuerer Zeit ebenfalls eine 
massige Zunahme der Kindersterblichkeit. In der Periode von 
1846 — 56 betrug sie 34,8 pGt. der Lebendgeborenen, in der Periode 
von 1858—66 35,4 pGt. und in der Zeit von 1862—68 sogar 36 pGt. 

Dasselbe zeigt sich in Baden. In der Periode von 1856—63 
betrug die Kindersterblichkeit 26,3 pGt. und in der Zeit von 1864 — 69 
ist sie auf 27,8 pGt. gestiegen. 

In den Hohen zollern 'sehen Landen beträgt sie im 1. Le- 
bensjahre durchschnittlich 29,2 pGt. der Lebendgeborenen, im El- 
sa ss 22,5 pGt. 

Bezüglich der muthmasslichen Ursachen der Kindersterblich- 
keit ist zwar Klima und Boden mit in Anschlag zu bringen; 
Escherich geht aber zu weit, wenn er die Elevation der 
Wohnorte als massgebend für die geographische Verbrei- 
tung der Kindersterblichkeit bezeichnet; eine Ansicht, welche 
er schon früher (1. c. 1860 S. 572) aufgestellt und neuerdings wieder 
vertheidigt hat (L c- No. 19 u. 20 1871). Ploss (Archiv für ge- 
m^insch. Arbeiten ^c. 17. 1863) schliesst sich dieser Ansicht zwar 
an, giebt aber jedoch zu, dass sich zu einem grossen Theil die 
mit der Elevation des Bodens wechselnde Kindersterblichkeit aus 
einer Differenz in der Ernährungsweise erklären lasse. Auch Mayr's 
Arbeit entscheidet diese Gontroverse über den Einfluss der Boden- 
elevation auf die Kindersterblichkeit in verneinender Weise. Der 
Bodenelevation verbleibt nur der schädliche Einfluss, welchen das 
Klima der Hochebenen zu äussern scheint. 

Was den Zusammenhang der Kindersterblichkeit mit 
allgemeinen bevölkerungsstatistischen Verhältnissen 
betrifft, so ist Mayr der Ansicht, dass Geburtsfrequenz und Kinder- 
sterblichkeit gegenseitig wie Ursache und Wirkung zu einander ste- 
hen. Für die Hauptursache hält er die mangelhafte Ernäh- 
rung und Pflege, namentlich bei den Unehelichen, wenn auch 
zugegeben werden müsse, dass die aussereheliche Empfangniss von 



1 12 Referate. 

yorDhefein die geringere Lebensföhigkeit des Kindes zur Folge habe. 
Für eine grosse Unterlassangssünde hält er mit Recht das Nicht- 
stillen der Kinder. In Schweden, welches sich durch eine geringe 
Kindersterblichkeit vor allen andern Ländern auszeichnet, stillen fast 
alle Mutter ihre Kinder. Als im yorigen Jahrhundert in einigen 
Distrikten des bothnischen Busens der Lndel sich eingeschlichen 
hatte, bemerkte man sofort eine ausserordentliche Zunahme der 
Kindersterblichkeit. Zur Beseitigung des Uebels ordnete ein könig- 
liches Edict eine conectionelle Bestrafung der Mütter an, yon wel- 
chen nachgewiesen werden konnte, dass sie ihre Kinder durch Ent- 
ziehung der Brust hatten zu Grunde gehen lassen. 

Schliesslich sei hier noch bemerkt, dass die Ursachen der Kin- 
dersterblichkeit unendlich yerschieden sind, yielfach yon lokalen 
Verhältnissen abhängen, häufig schon mit der Empföngniss in Ver- 
bindung stehen und überhaupt mit tausend Fäden im socialen Leben 
wurzeln. Die Statistik soll uns immer mehr die Mittel an die Hand 
geben, diesen an der Menschheit nagenden Gebrechen entgegen zu 
steuern. 



Zur Lehre yon den Lucida interyalla in foro hat Dr. 
y. K rafft -Ebing Beiträge geliefert Er unterscheidet zunächst 
Recidiy, Intermission und Remission. Während bezüglich der 
Unterscheidung yon Intermission und Remission nur die diagnostische 
Schärfe der Beobachtung im concreten Falle entscheiden könne, lassen 
sich für die Auseinanderhaltung yon Recidiy und Intermission 
einige allgemeine Anhaltspunkte gewinnen; obgleich Haslam und 
Flemming ganz reine Lucida interyalla sehr bezweifeln. K. yer- 
gleicht das Lucidum interyallum mit der Zeit der Apyrezie eines 
Intermittenskranken oder dem Intenrall, welches zwischen zweien 
Anfällen yon conyulsiyer Epilepsie liegt. 

Beim Recidiy trennen nach dem Verf. längere Zeiträume die 
Anfölle und die ursächlichen Momente für den Wiederansbruch der 
Psychose sind yerschiedene und getheilte, der Verlauf ist ein diffe- 
renter, während beim Lucidum interyallum die Krankheit fast 
ausnahmslos plötzlich und ohne genügende äussere Veranlassung, 
oft unter den gleichen prodromalen Symptomen wieder ausbricht und 
den gleichen Verlauf einhält, so dass meist ein Paroxysmus dem 
andern bis in's Detail gleicht. Dies gilt besonders für die soge- 
nannten freien Zwischenräume bei Mania periödica, deren An- 
fälle noch ausserdem der Umstand auszeichnet, dass dem maniaca- 
lischen Paroxysmus kein einleitendes Depressionsstadium yorausgeht, 
wie es bei der gewöhnlichen Manie die Regel ist. Auch geht der- 
selbe nicht durch ein melancholisches Stadium in den sogenannten 
freien Zeitraum wieder über und die Zeitdauer zwischen 2 Anfällen . 
ist oft genau gleich lang im ganzen Verlauf der Krankheit. Bei 
solchen Kriterien kann nie yon einem Recidiy die Rede sein. 



Referate. 113 

Für ein Recidiv sprechen nur die Kennzeichen einer vollkommenen 
Genesung nach dem ersten Anfall, nämlich volle Krankheits- 
einsicht in die üherstandene Krankheit, deren Berüh- 
rung dem wirklich Genesenden nie peinlich ist, sowie 
völlige Rückkehr der alten Persönlichkeit mit alT ih- 
ren Gharacter-Eigenthümlichkeiten. 

Auch hahnen sich wirkliche Genesungen nur allmalich 
und höchstens sprungweise an, während plötzliches Abschneiden der 
Krankheitssymptome (Folie her^ditaire, Mania periodica etc.) nur 
eine Intermission erwarten lässt, und erfahrungsgemäss bald von 
einer Exacerbation der sicher nur latent gewordenen Krankheit ge- 
folgt ist. 

Am häufigsten und reinsten kommen Intervalla lucida bei ein- 
facher und periodischer Manie, vor; obgleich bei letzterer in 
den spätem Jahren der Krankheit, gerade wie bei Mania epi- 
leptica und hysterica sich nur Remissionen annehmen lassen. 

Bei der Folie circulaire unterscheidet eine leicht überseh- 
bare, aber stets vorhandene melancholische Depression zwei Tob- 
suchtsanfälle. Sehr selten sind Intervalla lucida bei der Melan- 
cholie und beim Wahnsinn. Bei Verrücktheit sind sie un- 
möglich. 

Im Verlaufe des Deliriums fieberhafter Krankheiten hat man 
häufiger Lucida intervalla angenommen, als gerechtfertigt sein dürfte. 
"Wie vorsichtig man hier sein muss, lebrt ein von Ray citirter 
Fall, in welchem ein an Pneumonie erkrankter Mann sein Testament 
gemacht hatte. Einige Monate nach seiner Genesung fand er den 
Akt, wovon er gar keine Erinnerung hatte. Die Amnesie spricht 
hier für die temporäre Störung des Selbstbewusstseins , welche der 
Umgebung ganz entgangen war. 

Verf. hält Lucida intervalla im Criminalf oro für nicht annehm- 
bar, weil es sich nicht feststellen lässt, ob auf eine in diesem In- 
tervallum begangene That nicht psychopathische Momente aus der 
Zeit des letzten Krankheitsanfalls influirten oder Prodrome des fol- 
genden Paroxysmus zeitlich mit ihr zusammenfielen. 

Bezüglich der civilrechtlichen Bestimmungen gehen die 
Gesetzbücher weit auseinander. Nach römischem Rechte war 
die Fähigkeit, Zeugniss abzulege*, im Lucidum intervallum erlaubt. 
Nach dem Code Napoleon ist dem Volljährigen, der sich in 
einem bleibenden Zustande von Gemüthsschwäche, Raserei und Blöd- 
sinn befindet, die Verwaltung seines Vermögens zu entziehen, selbst 
wenn er lichte Zwischenzeiten hätte. Das englische Gesetz 
erkennt auf volle Verantwortlichkeit und Verfügungsfreiheit im Lu- 
cidum intervallum. Preussen und Oesterreich erkennen Lucida 
intervalla an. Das.erstere erkennt die Verfügungsfreiheit an, so 
lange nicht Cnratel verhängt ist, das letztere lässt die Entscheidung 

Viertel) ahrasehr. f. «er. Med. N. F. XV. 1. ^ 



1 14 Referate. 

nur von der Expertise eines sachverständigen Arztes abhängen, oh 
ein Lucidum intervallum vorlag. 

Die Ahgahe eines gerichtlichen Zeugnisses üher Ereignisse, 
welche in die Zeit eines Lucidum intervallum fielen, ist in Preussen 
zulässig, hat jedoch keine völlige Beweiskraft. Eingedenk der That- 
sache, dass selbst im besten Fall während eines Lucidum inter- 
vallum die Erankheitssymptome nur fehlen, die Grundkrankheit ^ber 
noch fortbesteht und ein Einflass dieser auf die EntSchliessungen 
des Betreffenden nie ganz ausgeschlossen werden kann, wäre es 
nach der Ansicht des Verf. zu wünschen, dass die Dispositions- 
fähigkeit im Lucidum intervallum nur eine beschränkte wäre, in- 
dem Leuten, welche an einer abwechselnden Geistesstörung leiden, 
ein Gerichtsbeistand bestellt sein müsste, ohne dessen Gegenzeich- 
nung die bürgerlichen Akte eines Kranken im Lucidum intervallum 
null und nichtig zu erachten wären. 

(Friedreich's Blätter für gerichtl. Med. 22. 1. 1871.) 



Durch äussere Gewalt herbeigeführte Magenrisse 
ohne alle Spuren einer äusseren Verletzung. Davy legte 
der pathologischen Gesellschaft zu London den Magen eines Hundes 
vor, welcher auf der Strasse überfahren worden war. Es fand sich 
keine äussere Verletzung vor und doch war der Magen durch einen 
breiten Querriss gespalten. Arnott knüpfte hieran die Bemerkung, 
dass solche Fälle nicht selten wären. 

In einem Falle war ein kleiner Knabe von einer Leiter ge- 
fallen, wobei derselbe einen breiten Magenriss erlitt, ohne dass man 
äusserlich das Geringste bemerken konnte. In der üniversitäts- 
Klinik erschien ein Mann mit heftigen Leibschmerzen. Die Krank- 
heit verschlimmerte sich alsbald und der Tod trat plötzlich ein. 
Derselbe war Tags zuvor gefallen und hatte sich in der Seite ver- 
letzt, blieb jedoch noch im Stande, nach Hause zu gehen und eine 
reichliche Mahlzeit zu sich zu nehmen. Bei der Section fand sich 
ein weiter Riss in der Wand des Magens und der Inhalt desselben 
lag in der Bauchhöhle. 

Murchison hat solche Fälle häufig bei Eisenbahn -Unfällen 
beobachtet, wenn die Reisenden einen angefüllten Magen hatten. 

Hulke beobachtete einen Fall, in welchem der Magen sich 
an einem Nabelbruch betheiligte. Bei den gewaltsamen Repositions- 
Versuchen entstand ein Riss von 4—5 Zoll Länge in der Magen- 
wand. Moxon obducirte einen Knaben, welcher überfahren worden 
war. Hier schien die Wirbelsäule den Magen wie ein Messer durch- 
schnitten zu haben. Arnott machte noch auf einen andern Fall 
aufmerksam, welcher sich bei einem jungen Mann, der sich bei 
dem Fussballspiel beschädigt hatte, ereignete. Er hatte bloss einen 
Stoss mit dem Ellenbogen erhalten. Als er am folgenden Tage 



Referate. 115 

starb, £and man eine weite Oeffnung im Jejunum. (Patholog. societ. 
of London. No. 15. 1870. Brit. med. Journ. Dec. 3. 1870.) 

Ein Selbstmordversuch durch Versehlucken von 
zerstossenem Glase. £. E., ein Mädchen von 16 Jahren und 
guter Gesundheit, zerrieb ein Stück einer gläsernen Flasche in kleine 
Stücke und verschluckte davon Nachmittags 5 Uhr am 19. Novbr. 
1870 in einem Anfalle von Lebensüberdruss allmälich einen Thee- 
lofiFel voll , vermischt mit Brot. Erst am nächsten Morgen trat ein 
heftiger Schmerz im Epigastrium ein, welcher paroxysmenweise auf- 
trat und Nachmittags 4^ Uhr die höchste Heftigkeit erreichte. Die 
Kranke delirirte vor Schmerzen. Es wurde eine subcutane Mor- 
phium-Injection von li — 2 Gran gemacht. Abends 9^ Uhr wurde 
sie in das Stadthospital zu Boston gebracht. Der Schmerz im 
Epigastrium und in der Nabelgegend war noch sehr heftig, der 
ganze Bauch sehr empfindlich. Haut heiss, Zunge trocken bei star- 
kem Durst. Puls 112, Temperatur 99*^ F. Subcutane Morphium- 
Injection von % Gran. Innerlich stündlich 2 Dr. Ol. Olivar. Um 
12 Uhr ein sehr heftiger Anfall von Schmerz, wobei die Kranke 
ans dem Bett auffährt und sich wie wahnsinnig herumwälzt. Jetzt 
und um 1 Uhr eine Gabe von ^ Gran Morphium. Um 2 Uhr ist 
sie ruhig und fast frei von Schmerz. Am nächsten Tage zeigten 
sich die Schmerzensanfälle weniger heftig. Leib tympanitisch und 
sehr empfindlich ; die Kniee an den Leib angezogen ; Zunge stark 
belegt. Terpentinumschläge und zum Getränke viel Milch. Wäh- 
rend des Tages in Zwischenräumen 2 Gran Morph., Puls 120, 
Temperatur 100® F. 

Am 22. Novbr. mehrstündiger Schlaf. Nachmittags und Abends 
3mal h Gran Morphium. Später erhielt sie noch 20 Gran Brom- 
kalium und schlief dann die ganze Nacht. Am 23. Novbr. reich- 
liche Stuhlentleerung nach einem Lavement, womit grossere und 
kleinere Glasstückchen entfernt wurden Ruhe und Schlaf Nur 
•J Gran Morph, und 20 Gran Bromkalium. . Das Olivenöl wurde 
weggelassen. Entschiedene Besserung. Durch zwei Stüble wurde 
der Rest des genommenen Glases entleert. Am 1. Decbr. voll- 
ständige Gesundheit. (The Boston med. and. surg. Jour. Vol. VII. 
No. 12. March 23.) 

Die Untersuchung der Blutflecke nach van Deen's 
Methode hat Taylor einer Kritik unterworfen*). Erhält 
Terpentinöl nicht für ein geeignetes Mittel hierzu, da es sich nicht 
leicht mit Wasser oder Alkohol mischen lasse. Auch wäre es 
schwierig zu bestimmen, ob es die hinreichende Menge von Ozon 
oder vielmehr von Antozon enthielte. Die unzureichenden Resultate 



•) Conf. C. Lim an in Vierteljhrsch. 21. p. 193. 1863. 

• 8* 



116 Referate. 

seiner früheren Untersuchungen schiebt er theils auf eine unreine 
alkoholische Lösung des Guajakbarzes, theils auf das nicht voll- 
ständig ozonosirte Terpentinöl. Er verlangt zunächst 1) eine Lösung 
von Guajakharz, welche mit 83grädigem Weingeist bereitet worden 
ist, 2) eine Lösung, welche nicht Ozon, wie van Deen an- 
nimmt, sondern Antozon oder Wasserstoffhyperoxyd enthält. 

Die Lösung von Guajakharz muss saturirt sein und man wähle 
die innern Theile desselben, welche von der Luft in ihrer Farbe 
nicht verändert worden sind. Man schütze sie besonders vor der 
Einwirkung der Luft. Durch Zusatz einiger Tropfen dieser Lösung 
zu Wasser entsteht ein weisser milchichter Niederschlag, welcher 
durch Absorption des atmosphärischen Sauerstoffes sich sehr allmälich 
bläut. Diese Bläuung erfolgt rascher, wenn man den Niederschlag 
in einem Gefäss mit purem Sauerstoff schüttelt; sie bildet sich aber 
sofort in einer ozonosirten Atmosphäre. Alle sog. Ozonide bewirken 
dasselbe; ebenso Chlor, Brom, Jod, Untersalpetersäure, mehrere 
Salze, schwefelsaures Eisen, Blutlangensalz, auch Platinmohr, 
mehrere organische Körper,^ wie arabisches Gummi, Leim, die rohe 
Milch, rohe geschabte Kartoffeln. Bemerkenswerth ist es, dass 
die Eigenschaft mehrerer Körper, das Guajakharz zu bläuen, schon 
durch eine massige Wärme verloren geht und beim Erkalten nicht 
wiederkehrt. Jedenfalls ist das Blauwerden des Guajakbarzes ein 
Oxydationsprozess, welcher sich schneller oder langsamer durch den 
blossen Contakt mancher mineralischer und organischer Körper mit 
dem frisch gefällten Guajakharz manifestiren kann. 

Amylum, Fibrin, Albumin, die gekochte Milch, 
das heiss aufgelöste und wieder erkaltete Akazien-Gummi und 
der Blutfarbstoff üben keinen Einfluss auf das Harz aus. 

Die Mineralsubstanzen, welche nach Schönbein den Sauer- 
stoff in der Form von Antozon enthalten, wie Wasserstoffhyper- 
oxyd, Baryumhyperoxyd und die Hyperoxyde der alkalischen Me- 
talle überhaupt, üben keine oxydirende Wirkung auf das Guajak- 
harz aus und bläuen es nicht. Das Guajakharz soll deshalb geeignet 
sein, ein Ozonid von einem Antozonid zu unterscheiden. Beide 
oxydiren nämlich Kalihydroiodic. unter Freimachung von Jod ; aber bloss 
das den negativen Sauerstoff^ enthaltende Ozonid soll das Guajak- 
harz bläuen. Das Antozonid, welches den positiven Sauerstoff 
enthält, habe diese Wirkung nicht. 

Fügt man Wasserstoffhyperoxyd zum präcipitirten Guajak- 
harz, so bildet sich keine Farbenveränderung. Alle Flüssigkeiten, 
welche den Sauerstoff in der Form von Antozon enthalten, sollen 
ähnlich wirken. 

Die sogenannten ozonosirten Aether und Oele enthielten das 
Ozon in der Form von Antozon und der Name derselben beruhe 
nur auf einem Missverständniss. Sie glichen dem Wasserstoffhyper- 
oxyd (einem Antozonid), unterschieden sich aber von den Ozoniden 



Referate. 117 

nicht bloss durch die ihnen mangelnde Reactiou auf Guajakharz, 
sondern auch durch ihre Eigenschaft, die rothe Chromsäure in blaue 
üeberchromsänre (Cr, 0^) zu verwandeln. 

"Wie schon erwähnt worden ist, hat der Blutfarbstoff keine Wir- 
kung auf das Guajakharz, setzt man aber zu demselben einen Kör- 
per, welcher Antozon enthält und selbst keine oxydirende Wir- 
kung auf das Harz besitzt, so wird letzteres durch das Blut 
oxydirt und gebläut. 

Bei der Untersuchung von Blut etc. verfahre man nach Taylor 
folgendermassen. Man setze einige Tropfen der Guajactinktur zu 
16 Grm. Wasser, theile dieses in zwei Theile und fuge zu dem 
einen Theil so viel von der wässrigen Lösung des Blutroths hinzu, 
dass eine schwach röthliche Färbung entsteht. Dem andern Theile 
setze man einige Tropfen einer Lösung von Wasserstoffhyperoxyd 
hinzu. In 'beiden Gefässen wird keine Färbung entstehen. 

Fügt man aber nun zu dem Glase, welches das Blut und das 
Harz enthält, einige Tropfen vom Wasserstoffhyperoxyd hinzu, so 
entsteht in ein paar Minuten eine bläuliche Färbung. Dasselbe 
Resultat erhält man, wenn man zum zweiten Glase, welches die 
Mischung des Harzes mit dem Wasserstoff hyperoxyd enthält, etwas 
von der Blutlö.sung hinzufügt. Da sich aber das Guajakharz noch 
mit andern Substanzen ohne Gegenwart von Wasserstoff hyperoxyd 
oxydiren resp. bläuen kann, so ist es zur Vermeidung eines Irr- 
thums vorzuziehen, die zu untersuchende Flüssigkeit zuerst zum 
Niederschlage des Guajakharzes zu setzen. Ein grosser Fehler der 
bisherigen Untersuchungen beruhe gerade in dem Umstände, dass 
man gewöhnlich das Harz und das ozonosirte Mittel zusammen 
zur Blutlösung geschüttet habe. 

Andere rothe Farben, wie das Cochenilleroth, die rothen Far- 
ben von Früchten, Blumen, Blättern, Hölzern, von rothem Wein, 
rother Dinte, von Kino, Catechu, Brasilholz und Saflor liefern ein 
negatives Resultat. 

Auf die Reinheit des Wasserstoffbyperoxyds und die Güte 
des Guajakharzes ist ein grosses Gewicht zu legen. 

Bei bunten Stoffen, geringen Mengen von Blut oder ausge- 
waschenen Blutflecken bringe man die Reagentien direct auf den 
betreffenden Stoff und zwar sowohl an der Stelle des Fleckes, als 
auch an einer fleckenlosen Stelle. Alsdann drücke man nach eini- 
ger Zeit die noch feuchten Stellen gegen weisses Fliesspapier, um 
auf diesem die etwaige Reaction zu beobachten. 

Uebrigens lässt Taylor auch noch die mikroskopische oder 
spektralanalytische Untersuchung hierbei nicht ausser Acht. (Annal. 
d'hyg. publ. Oct. 1870. p. 390.) 

Lefort hat das Taylor 'sehe Verfahren geprüft und gefunden, 
dass ein Tropfen reinen Blutes, welcher in 100 Grm. Wasser auf- 
gelöst war, noch eine sehr deutliche blaugrünliche Färbung gab. 



118 Referate. 

Man könne daher aacb bei Blutflecken auf einem weissen Zeuge, 
selbst wenn sie tbeilweise ausgewaschen sind, diese Methode als 
einen Beweis für das Vorhandensein von Blut anwenden. Sie ge- 
währe aber allein keine absolute Sicherheit. 

Ausserdem führt Taylor selbst die Thatsache an, dass ein 
pyämisches Blut (durch Eiter vergiftetes Blut nach der früheren 
Auffassung. A. d. R.) sowie alte Blutflecke das Guajakharz ohne 
Zusatz von Wasserstoffhyperoxyd bläuen, obgleich im letzteren Falle 
bei der Spektralanalyse die Blutbänder sich zeigten und zwar das 
eine in Roth und das andere in Grün. (Nach Sorby soll das 
Band in Roth charakteristisch für altes Blut sein.) 

Ferner wirft Lefort mit Recht die Frage auf, ob die che- 
mischen Eigenschaften des Antozons schon so ausreichend bekannt 
seien, dass man es in legalen Fällen mit Sicherheit als ein geeig- 
netes Mittel zum Nachweise des Blutes betrachten könnte? 

Hierauf kann man schon erwiedern, dass neuerdings die Exi- 
stenz von A n 1 z n , dieser von Schönbein aufgestellten allotropi- 
schen Modification des Sauerstoffes, ganz geleugnet wird, da Eng- 
1er und Nasse in Folge einer grossen Reihe von Versuchen das- 
selbe nur für Wasserstoffhyperoxyd erklären (Annal. d. Chem. 
u. Phys. CL. IV. 215). Bei den Taylor 'sehen Versuchen kann des- 
halb auch nur von Wasserstoff hyperoxyd die Rede sein. Und wie 
mannigfaltig ist femer die Wirkung des Guajakharzes unter dem 
Einfluss der verschiedensten Substanzen? 

In dieser Beziehung führt Lefort noch zwei Thatsachen an, 
wonach sowohl der Nasenschleim, als auch der reine Mund- 
speichel die Bläuung durch Zusatz von Guajakharz und Wasser- 
stoffhyperoxyd bewirken soll. Auch bei Flecken von Rothwein 
trete je nach der Qualität und dem Reichthnm an Farbstoff die 
Reaction zwar nicht sogleich, aber nach mehreren Stunden ein. Der 
Farbstoff, welcher in mehreren Schwämmen, die zur Gattung Bo- 
letus gehören (Boletus cyanescens u. B. luridus), im farb- 
losen Zustande sich befindet, verwandelt sich gerade wie das Anilin 
durch oxydirende Substanzen in Blau. Bei den vielen mit Anilin- 
salzen gefärbten Stoffen könnte somit die Probe mit Guajakharz 
gar nicht zur Anwendung kommen. 

Alle diese Thatsachen fordern zur grössten Vorsicht auf und 
beweisen, dass diese Probe zwar keine absolute Gewissheit bietet, 
aber immerhin unter Umständen, besonders bei Blutflecken auf 
ungefärbten Stoffen beachtungswerth bleibt, namentlich, wenn es 
sich herausstellen sollte, dass die Anwendung von Wasserstoff- 
hyperoxyd zuverlässiger als Terpentinöl ist. (Annal. d'hyg. publ. 
Juli et Oct. 1870. p. 390.) 



Die Milch als Träger eines Contagiums. Dp. Ballard 
beobachtete im Gebiete von Islington in der Nähe von London eine 



Referate. 119 

Typhus- Epidemie , welche auf den Bezirk einer viertel engl. Meile 
beschränkt war. In 67 Häusern wurden 168 Personen befallen, 
wovon 26 starben. Ausserhalb dieses Gebietes erkrankten nur 20. 
Die Familien, in welchen die tödtlichen Fälle vorkamen, hatten 
aus einer und derselben Melkerei Milch bezogen. Der Eigenthümer 
derselben starb ebenfalls am Typhus und 7 aus der Familie und 
den Bediensteten litten an dieser Krankheit. Nach längeren Nach- 
forschungen stellte es sich heraus, dass die Ratten die Erde bis 
zum Grunde einer unterirdischen Wassergrube unterminirt und auf 
diese Weise eine Communication derselben mit 2 alten Abzugs- 
kanälen herbeigeführt hatten. Obgleich sich auf der Meierei ein 
neuer Abzugskanal für die Ableitung der Abfallwässer befand, so 
hatte sich derselbe jedoch aus irgend einer Ursache verstopft, so 
dass alle schädlichen Flüssigkeiten leicht in die alten Abzugska- 
näle und von diesen in die Wassergrube gerathen konnten. Es 
wurde femer nachgewiesen, dass die Milch, welche von der ge- 
nannten Melkerei herrührte, mit Wasser verdünnt worden und mit 
einem unangenehmen Geruch behaftet war, obgleich die Arbeits- 
leute versicherten, dass sie dazu nicht das Wasser aus der Wasser- 
grube benutzt, sondern dasselbe nur zum Waschen und Spülen der 
Milchkannen verwendet hätten. Ballard ist der Ansicht, dass 
das Contaginm mittels des Wassers, welches durch Eanalinhalt ver- 
unreinigt worden war, in die Milch fibergeführt worden sei. 

Schon Dr. Bell von St. Andrew hat darauf aufmerksam ge- 
macht, dass die Uebertragung des Scharlachgiftes auf dieselbe 
Weise erfolgen könne, und bezieht sich in dieser Beziehung auf 
einen Fall, in welchem Kühe von Leuten, welche Reconvalescenten 
vom Scharlachfieber waren, gemelkt worden seien, wobei die Milch 
das Scharlachcontagium aufgenommen habe. 

Im Jahre 1870 suchte eine Frau in Steeven's Hospital ärzt- 
liche Hülfe nach. Nach dem Genuss von Milch, welche von einer 
benachbarten Melkerei gebracht worden war, bekam sie sofort 
Diarrhoe und Würgen. Die Milch war mit 35 pCt. Wasser ver- 
dünnt worden und roch nach Schwefelwasserstoff. Durch Kochen 
verlor sie den üblen Geruch. In diesem Falle war es gewiss, dass 
fauliges Wasser zur Verfälschung der Milch benutzt worden war. 

Beim letzten Ausbruch der Cholera in Dublin machte Dr. 
Robert M'Donnel die Beobachtung, dass sich die Krankheit 
nur auf die Gefangenen im Zellengefängniss beschränkte. Kein 
Beamter wurde davon befallen. Gewöhnlich wird die Milch, welche 
an die öffentlichen Anstalten in Dublin geliefert wird, mit 16 bis 
40 pCt. Wasser verdünnt, welches stets Pumpen- und nicht Lei- 
tungswasser ist. Die Cholera war ebenfalls an dem Orte, woher 
die Milch bezogen wurde, herrschend. Es ist nicht unwahrschein- 
lich, dass auch hier die Milch der Träger des Contagiums war. 
(The Dublin Quaterly Journ. of Med. Science. Mai 1871.) 



120 Referate. 

Grosser Nutzen der tiefgebohrten Pumpbrunnen. 
Die Verschlechterung des Brunnenwassers ist in grosseren Städten 
eine allgemeine Calamität. Nachdem sich der Boden mit den ver- 
schiedensten Abfallwässern gesättigt hat, gelangen sie schliesslich 
in den Brunnen und verderben das Trinkwasser. H. Rein seh 
hat berechnet, dass in einer Stadt von 12,000 Einwohnern nur 
durch den Genuss des Salzes, welches durch den Urin grössten- 
theils wieder aus dem Körper ausgeschieden wird und in die un- 
dichten AbtrittsgTuben gelangt, binnen 100 Jahren 23,000,000 Pfund 
Salz in den Boden, d. h. in den Untergrund einer solchen Stadt 
eindringen. Da sich nicht überall Wasserleitungen anlegen lassen, 
so bieten die Tiefbrunnen ein geeignetes Mittel dar, um die 
Brunnen vor fremden Zuflüssen zu schützen und ein reines Trink- 
wasser zu erhalten. Beispielsweise beruft sich R. auf die Stadt 
Erlangen, welche auf einem Sandlager ruht, durch welches 
die Flüssigkeit leicht durchsickern und dadurch in die Brunnen ge- 
langen könne. Die Sandschicht ist durchschnittlich 31 Fuss dick. 
Die 10 — 15 Fuss tiefen Brunnen erhalten aus dieser Schicht Wasser. 
Unter ihr liegt eine 25 Fuss dicke Sandsteinschicht und dann 
folgt eine 15 Fuss dicke Lehmschicht, durch welche das Ober- 
wasser, welches aus der Sandschicht in die Tiefe hinabdringt, voll- 
kommen abgesperrt wird. Dieser Lehm ist nämlich so dicht, dass 
er keine Spur von dem Oberwasser hindurch dringen lässt, und im 
mittleren Theile der Schicht ganz trocken erscheint. Durchbohrt 
man nun mittels des Erdbohrers die Sandstein- und Lehmschicht, 
so kommt man auf einen wasserführenden Sandstein, wel- 
cher ein ganz reines Wasser liefert. Um dieses zu erhalten, darf 
man nur ein Bleirohr bis in die Tiefe auf den unter der Lehm- 
schicht liegenden Sandstein führen, durch welches nun das reine 
Wasser aus der Tiefe emporsteigt, ohne sich mit dem unreinen 
Wasser der obern Schichten vermischen zu können. Das hierbei 
zu beobachtende technische Verfahren ist verschieden und muss 
sich nach den lokalen Verhältnissen, nach der Beschaffenheit des 
Bodens und nach dem Bedarf an Wasser richten, (conf. Fürther 
Gewerbeztg. u. Deutsche Gemeindeztg. No. 20. 1871.) 



Die Desinfectionsmassregeln in der Umgebung von 
Metz sind auf Veranlassung des Königl. Eriegsministeriums mit 
grosser Sorgfalt ausgeführt worden. 

1) Die als Lagerplätze der Truppen benutzten Fel- 
der sind umgegraben oder umgepflügt und sogleich mit Hafer, 
Wicken und Klee besäet worden. 

Die mit Pferdecadavern gefüllten Gruben wurden nach theil- 
w eiser Aufhebung der Erddecke mit einer fusshohen Lage von 
frischem Kalk auf das sorgfältigste beschüttet. Demnächst 
wurden dieselben wieder mit Erde bedeckt und zwar mittels runder 



Referate. 121 

Hügel von mindestens 4 Fuss Hohe nnd von einer den Umfang 
der Grabe weit überragenden Basis. Der Erdaufwurf wurde fest 
eingestampft und in seiner ganzen Ausdehnung mit Wicken oder 
Klee bepflanzt. Wo Thiercadaver noch blosslagen, mithin die durch 
Freilegung derselben sonst für die Arbeiter bedingte Gefahr nicht 
erst herbeigeführt zu werden brauchte, wurde die Methode der 
Verbrennung nach üebergiessung mit Theer und Petroleum in 
Anwendung gebracht. 

2) Bezüglich des Zustandes der Dörfer um Metz 
wurde angeordnet: eine Verlegung der Dungstätten ausserhalb der 
Dörfer, die Reinigung der Kloaken, die Beseitigung der Pfützen, 
die Säuberung der Dorfstrassen von Nahrungsmittel-Ueberresten, von 
zu Lazarethzwecken benutztem Stroh etc. Die zusammengekehrten 
Stoffe wurden an einer geeigneten Stelle ausserhalb der Dörfer 
verbrannt. 

Die Luftverderbniss im Dorfe Courcelles sur Nied rührte 
theils her von dem dort in grossen Massen meistens sehr ober- 
flächlich vergrabenem, an der Rinderpest gefallenem Vieh, theils 
von dem starken Verkehr auf einer Eisenbahnstation, welche monate- 
lang für Tausende von Kranken zur Evacuation nach Deutschland 
benutzt worden war. Ausserdem hatte an diesem Orte während 
der Belagerung ein grosses Proviantdepot bestanden und waren von 
demselben beim Abzüge so grosse Mengen verdorbener Nahrungs- 
mittel, Speck, Hafer, Brot etc. zurückgelassen worden, dass allein 
von diesen in Gährung begriffenen Stoffen ein Lager von 120 Schritt 
Länge und 20 Schritt Breite bei einer Tiefe von circa 2 Fuss ge- 
bildet wurde. 

3) Bezüglich der Schlachtfelder um Metz wurden 
von vier Pionier-Gompagnien unter Führung ihrer Offiziere und 300 
Civil-Arbeitern die hygienischen Maassregeln ausgeführt. 

Bei der Besichtigung der einzelnen Stätten kam zur Beur- 
theilung die Nähe der Wohnungen und der zu diesen gehörigen 
Brunnen; ferner die Terrainbeschaffenheit mit Rücksicht auf den 
Abfluss etwa angesammelten Wassers. Darauf folgte die chemische 
Untersuchung des Brunnenwassers, die Prüfung des Bodens an be- 
wohnten Stätten nnd endlich die Aufstellung von statistischen Ueber- 
sichten über Morbilität und Mortalität der Ortsbewohner; namentlich 
da, wo Ruhr- und Typhuslazarethe bestanden hatten. 

Zur Constatirung der Begräbnissstellen waren Probespatenstiche 
nnerlässlich, da die Erfahrung gelehrt hatte, dass, sei es ans Ver- 
sehen, sei es aus Muthwillen, mehrfach Translokationen von Be- 
zeichnungen für Menschengräber auf Viehgruben stattgefunden hatten. 

Die Menschengräber, welche zum grossen Theil eine den hy- 
gienischen Vorschriften gegenüber ungenügende Erdbedeckung zeig- 
ten, wurden nach stattgefundener Constatirung durch vorsichtiges 
Entnehmen der Erdüberschüttung theilweise aufgedeckt, so dass 



122 Referate. 

eine Lage frischen Kalkes von wenigstens 1 Fnss Tiefe eingefügt 
werden konnte. Hierauf worden die Stellen dorch fest eingestampfte 
Erdanfschättung so erhöht, dass die Leichen mindestens ö Foss 
davon bedeckt waren. Die Basis des Hügels überragt nach allen 
Richtangen hin weit die Grabe. Die Wände desselben sind sorg- 
fältig mit Rasen, theilweise auch mit grossen Feldsteinen nmkleidet 
und ihre Oberfläche mit Gras- oder Eleesamen besäet worden. 

Zur weiteren Bezeichnung resp. Beschützung der Statte dient 
eine hölzerne Einfriedigung, das Anpflanzen von Bäumen, die An- 
lage lebender Hecken etc. 

Wo einzelne Menschengräber sehr ungünstig lagen, z. B. in 
unmittelbarer Nähe von bewohnten Räumen, in Chausseegräben etc., 
erfolgte unter ärztlicher Aufsicht die Exhumation und nach Auf- 
nahme in einen besonderen Sarg der Transport in ein Massengrab 
oder auf den nächsten Kirchhof. Hierbei ward nach Aufhebung 
der Erddecke die ganze Leiche mit pulverisirter Holzkohle, mit 
Chlorkalk oder Desinfectipnspulver (Torferde mit Carbolsäure 
durchtränkt) so reichlich beschüttet, dass für die Träger eine Gefahr 
vor Krankheitsentstehung nicht wohl vorhanden sein konnte. Das 
bisherige Grab wurde vor dem vollständigen Verschluss mit Des- 
infectionspulver ausgefüllt. 

Von der bei Sedan jetzt in Anwendung gekommenen Methode 
der Verbrennung der Mcnschenleichen mittels Theer 
und Petroleum ward Abstand genommen, 1) wegen der durch 
die vollkommene Freilegung der Leichen für die Anwesenden be- 
dingten Gefahr, da eine solche stattfinden muss, damit das Brenn- 
material auch die aufliegenden Theile der Leiche berühren kann; 
2) aus Gründen der Pietät und 3) weil unsere Gesetze die Ver- 
brennung von Leichen nicht gestatten. 

Wo die Terrainbeschaffenheit dadurch Gefahr bot, dass in 
Massengräbern Wasseransammlung stattfinden konnte oder wirklich 
stattfand, ward das ganze Gebiet durch solide, mit Rasen ausge- 
kleidete Abzugskanäle trocken gelegt und demnächst die Grabstätte, 
wie oben erwähnt , hergestellt. (Nach amtlichen Quellen ) 



Chloraluminiumhydrat macht als Desinfections- 
mittel gegenwärtig der Carbolsäure eine bedeutende 
Concurronz. Es wird unter dem Namen Chloralaun durch eine 
Gesellschaft in London (The chloralum Company 1 & 2 Great Win- 
chester Street Buildings) fabrikmässig dargestellt. Der Handel da- 
mit ist schon sehr bedeutend geworden. Eine vorzügliche Eigen- 
schaft desselben besteht in der Geruchlosigkeit und Unschäd- 
lichkeit. In Lösungen gebraucht man es deshalb zur Conservirung 
von frischem Fleisch und Fischen, wozu Lösungen von 1,005-1,010 
spez. Gewicht (1 Th. Chloralaun in 20-30 Th. Wasser) ausreichen. 



Referate. 123 

Stärkere Lösungen ertheilen den Nahrangsmitteln einen Beigeschmack. 
Ein ganz geringer Zusatz zur Milch soll ihre Zersetzung verhüten. 
Obgleich es nicht flüchtig ist, so kann es doch mittels eines 
Zerstäuhnngsapparates als luftreinigendes Mittel benutzt werden, 
wenn man es nicht vorzieht, ein damit befeuchtetes Tuch in den 
Krankenstuben aufzuhängen. Es soll nämlich alle Feuchtigkeit und 
die feuchten, Erankheitskeime einschliesseuden Partikelch:n der Luft 
absorbiren. Zum Verband bei Wunden wird es wie Carbolsäure 
benutzt. Als Besprengnngsmittel fär Strassen, Schlachthäuser, Kuh- 
ställe etc., als Desinfectionsmittel für stinkende Rinnsteine, Spuck- 
näpfe in Krankenstuben etc. wird es sehr gerühmt. Auch zum 
Fällen der festen Bestandtheile aus dem Inhalte der Stadtkanäle 
wird es gebraucht. Der Dungwerth der ausgefüllten Bestandtheile 
soll dadurch nicht vermindert werden. Dem Pflanzenwuchse soll 
Chloralaun nicht nachtheilig sein. 



Es verdient grosse Beachtung, dass die Phenyl- 
säuro (Carbolsäure) auch im Gebiete der Technik in 
sanitätspolizeilicher Beziehung von Bedeutung wird. Emil Sommer 
macht auf die mannigfaltigen Anwendungen derselben auf diesem 
Gebiete aufmerksam. Hierher gehören: 1) die Gerbereien. An- 
statt mit Salz kann man die frischen Häute zum Schutz gegen 
Fäulniss mit einer Lösung von Phenylsäure in Wasser bestreichen. 
Auch zum Einmachen des Kalkes kann man statt des Wassers 
eine schwache Lösung von Phenylsäure (1 : 300 — 500) verwenden. 
Ganz besonders empfiehlt sich dieselbe zum Uebergiessen der thie- 
rischen Abfälle, um die Entwickelung fauliger. Gase zu verhindern. 
2) Die Darmsaitenfabrikation. Die angeführte Phenylsäure- 
lösung eignet sich eben so gut wie reines Wasser zur Maceration 
der Därme. Man weiche dieselben eine Stunde lang darin ein, 
hänge sie 24 Standen lang an einem zugigen Orte auf und weiche 
sie abermals in eine PhenylsaurelÖsung von 1 : 1000 ein. Sie haben 
hierdnrch allen Geruch verloren, können ohne Belästigung macerirt 
und weiter bearbeitet werden. 3) Die Leimfabrikation. Das 
Leimgut und dasjenige Wasser, welches hauptsächlich bei der Ent- 
fernung des Fettes gedient hat, ist in ähnlicher Weise zu behan- 
deln. 4) Die Unschlittfabrikation. Hier kann man die zur 
Gewinnung des Unschlittes dienenden Abfälle, sowie das zum Aus- 
kochen desselben verwendete Wasser durch Phenylsäure vor der 
Zersetzung schützen und geruchlos machen. 

Da für solche technische Zwecke die Phenylsäure noch etwas 
zu theuer ist, so kann man statt derselben das Steinkohlen- 
theerwasser anwenden, welches man durch Uebergiessen des 
Steinkohlentheers oder des Steinkohlentheeröls mit Wasser, Um- 
rühren und Absetzenlassen darstellt. (Dtsch. Ind.-Ztg. 3. 1871.) 



124 Referate. 

Der Gehalt des Steinkohlengases an Schwefel ist 
in sanitStspolizeilicher Beziehung noch mehr, als bisher 
geschehen, zu beachten, da die Verbrennnngsprodacte nicht bloss 
auf alle Vegetation, sondern auch auf die Respirationsorgane der 
Menschen höchst nachtheilig einwirken. Dem Gehalt der Zimmer- 
luft an sauren Dämpfen ist es in einem solchen Falle zuzuschreiben, 
dass Pflanzen schlecht gedeihen und Personen mit empfindlichen 
Respirationsorganen über eine schlechte und trockene Luft klagen, 
obgleich in der That die Feuchtigkeit durch das brennende Gas 
vermehrt wird. Der Nachweis von Schwefel im Stein- 
kohlengase wird nach Ulex in der .Weise geführt, dass man 
eine Platinschale mit etwa \ Liter Wasser füllt und sie so lange 
über einem Bunsen 'sehen Gasbrenner erhitzt, bis das Wasser ver- 
dampft ist. Man findet alsdann aussen an der Schale da, wo die 
Flamme den Boden berührt, eine schmierige Flüssigkeit, welche 
sich als concentrirte Schwefelsäure erweist. Fernerwerden 
die Zuggläser der Gasflammen nach karzer Zeit inwendig weiss 
tind zeigen stellenweise eine Erystallisation. Spült man sie mit 
Ammoniak aus, so findet man in dem Wasser schwefelsaures 
Ammoniak. Haben in einem Zimmer während einiger Abende 
eine oder mehrere Gasflammen gebrannt, so braucht man nur mit 
den Fingerspitzen an einer Fensterscheibe mehrmals hin und her 
zu reiben und diese nachher mit destillirtem Wasser abzuspülen, um 
eine Lösung zu erhalten, welche auf Zusatz von Chlorbar yum 
weiss und milchig, und auf Zusatz von Ealiumquecksilber Jodid 
ziegelroth wird. Werden solche Fenster etwa acht Tage nicht 
abgewaschen, so bemerkt man im Scheine der Sonne tausende von 
kleinen glänzenden Erystallen, welche die eben angeführte Reaction 
ergeben und sich als schwefelsaures Ammoniak ergeben, 
welches, da die Lösung sauer reagirt, üeberschuss an Schwefel- 
säure hat. (Joorn. für Gasbeleuchtung. 24. 1870.) 



Die zweckmässige Heizung mittels sogenannter 
Füll Öfen kommt immer mehr zur Geltung. Neuerdings sind die 
von Prof. Dr. Meidinger in Carlsruhe und von Prof. Dr. Wol- 
pert in Kaiserslantern construirten FüUÖfen vielfach besprochen und 
gerühmt worden. 

Den Meidinger'schen Füllofen hat Capitain Koldewey auf 
seiner arktischen Reise benutzt und dadurch in der Cajüte nicht 
bloss eine gleichmässige Temperatur von 12 — 16® R., sondern auch 
eine ausreichende Ventilation erzielt. Dieser Ofen besteht aus einem 
gusseisernen Füllcylinder ohne Rost und ist von einem doppelten 
Blechmantel umgeben. Der Füllcylinder besteht aus einzelnen Rin- 
gen, welche man auswechseln kann, und hat unten statt der Rost- 
Öffnung einen Hals mit einer hermetisch schliessenden Thür, welche 
durch seitliche Verschiebung den Luftzutritt ganz genau r:guliren lässt. 



Referate. 125 

Bei den Oefen der Nordpol - Expedition hatte man durch Za- 
führnng eines Laftrohres von Aussen in den Mantel des Ofens die 
Ventilation erhöht. 

Dieser Ofen hat nur den einzigen Nachtheil, dass man nur 
Steinkohlen und Koks darin hrennen kann. Auch müssen diese zu 
einer hestimmten Grösse verkleinert werden, wozu man ein 
Doppelsieh benutzt, in welchem das obere mit Centim. weiten 
Maschen die zu groben Theile zurückhält und das untere den Staub 
durchfallen lässt. 

Der Walpert'sche Füllofen hat den Vortheil, dass man 
jedes Brennmaterial dazu benutzen kann, obgleich Koks vorzuziehen 
sind. Er besteht im Wesentlichen aus einem Feuerkasten, welcher 
einen Füllcylinder und eine Anzahl (8 — 16) enge Heizröhrchen 
trägt. Der Cylinder dient zur Aufnahme des Brennstoffes; die Ver- 
brennung geschieht nur im Feuerkasten und die verbrannten Gase 
durchströmen die engen Röhrchen, welche sich oben in einen ge- 
meinschaftlichen Kasten vereinigen und von dort in das Rohr ab- 
ziehen. In den engen nur 0,04 Meter weiten Heizröhrchen kommt 
die gesammte Masse der heissen Gase zur Wirkung. Ausserdem 
bilden sie eine grosse Oberfläche, welche bei der grössten Nummer 
einem Cylinder von 0,76 Meter Durchmesser, entspricht. Der Feuer- 
verschluss ist derselbe wie bei dem Meidinger'schen Ofen. Die 
Verbrennung kann sich nicht in den Füllcylinder hinaufziehen, da 
letzterer oben durch einen in Sandverschluss liegenden Deckel her- 
metisch abgeschlossen ist. 

Um eine kräftige Ventilation zu etabliren, ist der Ofen 
mit einem gusseisernen Mantel umgeben, an dessen Fuss an drei 
Seiten mit dem Zimmer correspondirende Oeffnungen angebracht sind. 
Die vierte Seite steht mit einem in^s Freie mündenden Kanal in 
Verbindung. Schliesst man den in's Freie führenden Kanal, den 
eigentlichen Ventilationskana), und öffnet die 3 andern Oeffnungen, 
so heizt man mit Circulation, indem man immer wieder dieselbe 
Zimmerluft erwärmt. Oeffnet man den Ventilationskanal bei ge- 
schlossenen inneren Oeffnungen, so strömt beständig frische Luft 
von Aussen zwischen Ofen und Mantel, welcher als Kamin wirkt, 
in die Höhe und verlässt oben gut erwärmt den Ofen. 

Da hierbei der Abzug der Zimmerluft unter den Rost und in 
das Rohr nicht genügt, so muss man hinter dem Ofen nahe am 
Boden einen Abzugskanal anbringen, welcher denselben Querschnitt 
wie das Zuströmungsrohr resp. der Ventilationskanal hat und neben 
dem Kamin in die Höhe steigt^ um den Zug in demselben herzu- 
stellen. 

Ein solcher Ofen eignet sich für Schulen und Kranken- 
säle auch schon deshalb ganz vorzüglich, weil dabei jede Erwär- 
mung durch Strahlung ausgeschlossen ist. Nur in Lokalen, welche 
mit vielen Gasflammen versehen oder mit Tabaksrauch angefüllt sind, 



126 Referate. 

wird im oberen Theile derselben sich eine so bedeutende Hitze ent- 
wickeln, dass die Lnft nicht mehr herunterzieht. In solchen Fällen 
mass man an der Decke eine hinreichende Oeffnung anbringen, dnrch 
welche man zeitweilig den Ranch abziehen lassen kann. (Indnstrie- 
Blätter No. 2 u. 3. 1871.) 



Die Verwendung des Glycerins wird mit jedem Tage 
mannigfaltiger. Ausser in der Medicin und Chirurgie, bei der Fa- 
brikation von Seifen, Pomaden, als Zusatz zu Zucker- und Conditor- 
waaren, zu Chocoladen, um das Austrocknen zu verhüten, kommt 
es bei der Weinfabrikation ganz besonders zur Anwendung. 
Man versusst dadurch saure Weine oder macht aus Aepfelwein und 
Glycerin sogenannte Rhein- und Moselweine. Ein Wein, welcher 
beim Schuttein leicht schäumt und wobei der Schaum lange stehen 
bleibt, ist verdächtig und lässt schon von vornherein auf den Zu- 
satz von Glycerin schliessen. In den Kellern der Cbampagner- 
fabriken ist Glycerin ein sehr bekannter Artikel. 

Bei der Darstellung von Liquenren, von Malzextracten (sog. 
Gesundheitsbieren) vertritt das Glycerin theilweise den Zucker. 

Mehrere untersuchten Biere lieferten nicht unter 0,2 % , das Er- 
langer Lagerbier sogar 0,9 9^ . ( Dingler 's Polyt. Journ. CXCVI. 487.) 

Um den Geschmack und die Fülle auf der Zunge zu verbes- 
sern, setzt man dem Biere bisweilen noch extra 1 ^ Glycerin zu. 

Ferner dient es zum Reinhalten der Schusswaffen, zum An- 
rühren der Malerfarben, statt des Alkohols zur Aufbewahrung von 
anatomischen Präparaten, mit Wasser vermischt zum Anfüllen der 
Gasuhren, zum Einschmieren der verschiedensten Maschinentheile , 
zum Imprägniren hölzerner Geräthschaften , zum Weichhalten des 
Leders und zum Ausziehen der Riechstoffe aus Blumen, Blättern, 
Hölzern, Wurzeln etc. 

Durch Einwirkung von Salpetersäure und Schwefelsäure auf 
Glycerin entsteht Nitroglycerin, welches gegenwärtig in der Technik 
in Verbindung mit Eieselguhr eine grosse Rolle als Dynamit 
spielt und bekanntlich eins der wichtigsten Sprengmittel darstellt. 



Einen Beitrag zur Casuistik der Staubinhalations- 
krankheiten hat Dr. Gottlieb Merkel zu Nürnberg geliefert. 
Ein Mann von 56 Jahren hatte sich 12 Jahre lang mit Blankmachen 
der Eisenbleche beschäftigt und zwar in einem kleinen, mit schie- 
fem Dach und einigen Fenstern versehenen Holzschuppen ohne jede 
Ventilation. Auf grossen Holztischen liegen die circa 3' im Qua- 
drat haltenden Eisenbleche, wie sie zur Verkleidung der Eisenbahn- 
wagen gebraucht werden. Dieselben sind mit einem losen, leicht 
abblätternden üeberzug von Eisenoxyduloxyd bedeckt, den sie aus 
den Walzwerken, von welchen sie bezogen werden, mitbringen. 
Dieser Üeberzug wurde mit grossen Sandsteinstücken, welche mit 



Referate. 127 

den Händen auf den Blechen hin nnd her bewegt werden, abge- 
schliffen, bis das Eisenblech blank zu Tage lag, um aufgenagelt 
nnd lackirt zu werden. Obgleich die Luft des Arbeitsranmes mit 
den leicht fliegenden feinen Eisentheilchen geschwängert war, so 
versicherten die übrigen anwesenden Arbeiter, dass sie (zum Theil 
schon viele Jahre lang in diesem Räume arbeitend) noch nie irgend 
eine Belästigung von der staubigen Atmosphäre verspürt hätten. 

Als der Mann am 7. Febr. 1870 in's städtische Krankenhaus 
aufgenommen wurde, bot er alle Zeichen der Lungenphthise dar. 
Die Sputa zeichnete sich durch eine grauschwarze Färbung aus. 
Als Ursache derselben ergab die mikroskopische Untersuchung ver- 
schieden gestaltige kleine schwarze Moleküle, die sich 
durch mikrochemische Reaction unzweifelhaft als Eisen 
manifestirten. 

Tod am 13. April. Bei der Section zeigten sich die obern 
zwei Drittheile des rechten obern Lungenlappens in eine buchtige, 
von Brücken und Balken durchzogene glattwandige, mit einem gros- 
sem Bronchus communicirende Caverne verwandelt. Der Mittel- 
lappen war gleichmässig grau gefärbt mit schwarzen Pigmentstreifen 
und Flecken und zahlreichen grauschwarzen Knötchen durchsetzt. 
Die Lungen boten schon makroskopisch eine viel stärkere Pigmen- 
tirung als gewöhnlich dar. 

Bei der mikroskopischen Untersuchung fand sich die Pigment- 
ablagernng zumeist in den Septis und um die Bronchien, am dich- 
testen gehäuft in den peripheren Lungenschichten. Die Eisen- 
theilchen fanden sich in Rundzellen eingeschlossen. In den Bronchial- 
drüsen lagen sie zumeist in den peripheren Schichten und im Binde- 
gewebe. 

Auch bei der chemischen Analyse ergab sich ein weit über 
das Normale gehendes Vorhandensein von Eisentheilchen in den 
Lungen. 

Merkel ist der Ansicht, dass die Phthisis des Verstorbeneu 
durch die fortgesetzte Inhalation des Eisenstaubes hervorgerufen 
worden sei. Kann man nicht mit demselben Rechte fragen, ob 
nicht die Tuberkulose schon vor der stattgehabten Einwirkung des- 
selben vorhanden gewesen ist? Als sicher kann man stets an- 
nehmen, dass Staubinhalationen vorzugsweise bei Tuberkulösen sehr 
gefährliche Folgen haben können, weshalb Brustkranke dieselben 
stets ängstlich zu vermeiden haben. 

Der vorliegende Fall hatte das Gute zur Folge, dass fortan 
die Bleche in neuen grossen Räumen durch Eintauchen und mehr- 
stündiges Liegenlassen in verdünnter Salzsäure von ihrem Eisen- 
oxyduloxyd-Ueberzag auf eine rationellere Weise befreit wurden. 

Ein 39 jähriger Mann, welcher kurze Zeit als Mühlenstein- 
behaner beschäftigt gewesen war, hatte in den letzten 10 Jahren 
die Beaufsichtigung und Bedienung von 12 Mühlengängen in einer 



128 Referate. 

Ultramarinfftbrik, auf denen eine Miscbong von 2 Theilen Thonerde 
and 1 Theile Soda gemahlen wnrde. Er kam am 30. April 1870 
In das Krankenhaas and erkrankte unter typhoiden Erscheinungen. 
Bei der Section ergab sich neben den Aasgängen einer Peritonitis 
ein aa{£aUender Befand der Lange. 

Das Bindegewebe derselben zeigte sich nnier dem Mikroskop 
sehr verdichtet mit kleinzelliger Wacherang. Die Alveolen waren 
zam grossen Theil angefällt mit in starker fettiger Degeneration 
befindlichen, grossen Randzellen. Gröbere nnd feinere, zam Theil 
dankalschwarze eckige, zam Theil mehr braune rundliche, das Licht 
stark brechende Molekaie waren im Bindegewebe und in den Rand- 
zellen eingelagert. Daneben frei herumschwimmend zahlreiche Con- 
glomerate zarter rhombisch- tafelförmiger Erystalle, zum Theil mit 
ansgebrochenen Ecken und Kanten. Das in Weingeist gehärtete 
Präparat fühlte sich wie geleimtes, mit feinem Sand bestreutes Pa- 
pier an. Es zeigte sich nun, dass die Krystallconglomerate in den 
Alveolen, wie in anscheinend verödeten, stark mit Einlagerungen 
umgebenen, feinen Bronchialverzweigungen lagen. Ihre Grösse be- 
trag durchschnittlich 0,075—0,125 Mm. 

Nach der chemischen Analyse von v. Gorup-Besanez in 
Erlangen ergaben 227 Grm. der fraglichen Lunge 

^. i Thonerde 1,5969 Grm., 

^^^^ \ Kieselerde 1,5966 - 
Eisenoxyd 0,3290 - 
Sand 0,3298 - 

Bei der Behandlung der Lunge mit rauchender Salpetersäure schied 
sich eine nicht unbeträchtliche Menge fein vertheilter Kohle ab. 
In dem Lokale, in welchem die Kohle gepulvert wurde, war der 
Verstorbene nicht beschäftigt gewesen. Von aussen hatte er somit 
die Kohle nicht bezogen. Uebrigens spricht sich Merkel bestimmt 
dabin aus, dass die Inhalation der genannten Stoffe direct oder in- 
direct die Erkrankung nnd den Tod veranlasst habe. (Deutsches 
Archiv für klinische Medicin. 8. Bd. 2. Heft. 1871. S. 206.) 



Ueber die Uebertragbarkeit der Perlsucht des Rin- 
des durch Impfung und Fütterung hat Geh Medicinal-Rath 
Gerlach, früher zu Hannover, gegenwärtig Director der Königl. 
Thierarzneischule zu Berlin, interessante Versuche angestellt. Es 
finden sich bei dieser Krankheit neben der eigenthümlichen Knoten- 
bildung auf den serösen Häuten stets zugleich tuberkulöse Degene- 
rationen der Lymphdrüsen, Tuberkeln und Verkäsungen in den Lun- 
gen, was auf einen gewissen Causalnexus zwischen Perlsucht und 
Tuberkulose hinweist und Ger lach bestimmt hat, beide Krank- 
heiten im Wesentlichen für identisch zu halten. Es werden 1) aus- 
führliche Irapfversuche mit frischen kleinen Knötchen (Perlen) 
von den serösen Häuten perlsüchtiger Kühe mitgetheilt, welche 



Referate. 129 

dieselben Resultate ergeben, wie die Impfversache mit Tuberkel- 
masse von tuberkulösen Menschen and Affen. In der allgemei- 
nen Infection, der Erzeugung von Tuberkulose, ist von 8 Ver- 
suchen nnr einer und zwar bei einem Kalbe fehlgeschlagen, obwohl 
die örtliche Infection noch nach 5 Monaten sehr auffällig war. Bei 
den andern 7 Versuchen waren die Lungen und die Bronchialdrüsen 
durchweg und im höhern Grade tuberkulös erkrankt; ausserdem 
wurden die Nieren 4 mal, Nebennieren und Hüftdarm je 3 mal, 
Gekröse, Pleura und Periost an den Rippen je 2 mal, Leber und 
Milz je Imal bei Kaninchen und nur bei diesen tuberkulös ge- 
fanden. 

Die mikroskopischen BestandthMle waren überall dieselben und 
übereinstimmend mit denen der durch AfPentnberkeln erzeugten 
Knoten; in den grössern grauen Knoten war jedoch die Inter- 
cellalarsubstanz mehr entwickelt, die bei den grössten ein Binde- 
gewebsgerüste darstellte, in welchem die verkästen Tuberkelheerde 
eingebettet lagen. 

2) Fntterungsversuche a) mit den Knoten von der 
serösen Haut eines perlsüchtigen Rindes wurden bei 
einem Arbeitshunde und einem Schweine angestellt Beim ersteren 
zeigten sich nach 35 Tagen in einem Lappen der rechten Lunge 
eiterige Infiltration und Cavernen, während beim Schweine nach 2 
Monaten eine grosse Anzahl grauer Knötchen, theils unter der 
Pleura und prominirend, theils in dem interlobulären Bindegewebe 
von Punkt- bis Hirsekorngrösse , ja sogar Erbsen grosse beobachtet 
wurden. Die grossem zeigten auf der Schnittfläche graue, matte 
Punkte. Alle bestanden ans zartem, formlosem Bindegewebe mit 
mehr oder weniger dicht gelagerten lymphoiden Körpern. Die 
Rundzellen waren mit einem grossen Kern und einem glänzenden 
Kemkörperchen versehen. Mesenterialdrüsen und Lungendrüsen ge- 
schwellt. 

Auch M. A. Chauveau (Recueil de medec. veter. 1869 No. 3 
Mars p. 202) hat Versuche bekannt gemacht, welche für eine Tu- 
berkelinfection von den Verdauungswegen aus zeugen sollen, was 
bekanntlich auch Villemin zuerst behauptet hat. Chauveau 
findet in den Resultaten seiner Versuche eine Bestätigung der von 
Villemin entdeckten Contagiosität der Tuberkulose und den Be- 
weis, dass der Verdauungskanal bei Menschen und Rindern der 
geeignetste Weg zur üebertragung der Tuberkulose sei Da er 
jedoch verfaulte und stinkende Tuberkelmasse angewendet bat, so 
fragt es sich noch, ob diese nicht wie jede andere verfaulte thie- 
rische Materie gewirkt hat. 

b) Fütterungsversuche mit der Milch von einer 
perlsüchtigen resp. schwindsüchtigen Kuh Dieselbe war 
7—8 Jahr alt, sehr abgemagert, zeigte Athmungsbeschwerden mit 
einem rauhen, matten Husten; respiratorisches Geräusch überall 

VteneUaliraschr. t. gor. Med N. F. XV. 1. 9 



130 Referate. 

hörbar, aber mit yerschiedenen fremden, namentlich mit trockenen 
Rasselgeräaschen gemischt. Percassionston nirgends gedämpft. Fieber 
fehlte; Appetit gut; Milchertrag täglich 1500 Grm. Er nahm tag- 
lich ab und sank im 1. Monate anf 600, im 2. Monate auf 500 
Grm. In den letzten 8 Tagen war die Milch bei gatem Fntter 
fast ganz verschwanden. Bei der Obdnction nach 3 Monaten 
zahllose linsen- und erbsengrosse glatte, glänzende Knötchen anf 
der Rippenwandang , dem Zwerchfell und dem Mittelfell, weniger 
auf der Langenpleura Die Langen, yoluminös and von doppeltem 
Gewichte, fählten sich stellenweise fest und knotig an. Bronchial- 
drüsen bedeatend yergrossert, hart nnd knotig. Anf der Schnitt- 
fläche der Lunge kleine und grosse Höhlen mit schleimig -eitrigem 
oder käsigem Inhalt, dicken und glatten Wänden. In den Lungen- 
läppchen Miliartuberkeln von Punktform bis Hirsekorngrösse , theils 
spärlich, theils dicht gelagert. 

Mit der Milch von dieser Kuh wurden 2 Kälber, 2 Schweine, 
1 Schaf und 2 Kaninchen gefüttert. 

Bei 5 Versuchen fanden sich wesentlich dieselben anatomischen 
Abnormitäten ; in allen Fällen Schwellung und in 4 Fällen weitere 
tuberkulöse Degeneration (graue Knötchen, kleine käsige Heerde 
und Ablagerung von Kalksalzen) der Mesenterialdrüsen; in allen 
Fällen graue Miliartuberkeln in den Lungen, dabei zugleich zwei- 
mal im Darm (bei den Kaninchen) und einmal in der Leber (beim 
Schaf). Die grauen Miliartuberkeln fanden sich durchscheinend, nur 
aus lymphoiden Körperchen zusammengesetzt; es fand sich dieselbe 
regressive Metamorphose, welche im Gentrum beginnt und einen 
käsigen Zerfall herbeiführt; es fanden sich die gelben opaken Knöt- 
chen und Knötchenconglomerate. Hieraus ergiebt sich eines- 
theils eine Uebereinstimmung mit der Perlsucht der 
Rinder, anderntheils mit der Tuberkulose, wie sie bei 
Menschen und Affen am ausgeprägtesten auftritt. 

Ist die Perlsucht des Rindes eine Tuberkulose, so muss auch 
die Taberkulose als eine spezifische Krankheit betrachtet .werden, 
so weit wenigstens bis jetzt unsere Erfahrungen über diese Krank- 
heit, besonders deren Erblichkeit geht, und so lange wir nicht die 
Perlsucht direct auf traumatischem Wege oder andern Wegen er- 
zeugen und einfach als Entzündnngsprodukt bezeichnen können. 

Die Milch von schwindsüchtigen (perlsüchtigen) 
Kühen ist nach den Versuchen nicht bloss schädlich 
überhaupt, sie ist spezifisch schädlich, sie erzeugt 
dieselben pathologischen Neubildungen, sie ist also 
infectiös. 

Die Mesenterialdrüsen waren bei den Versuchen constant krank 
und zeigten dnrch kleine käsige Heerde and stellenweise Ablage- 
rungen von Kalksalzen zugleich die älteste Erkrankung. Alles 
dieses spricht dafür, dass die Schädlichkeit vom Verdauungskanale 



Referate. 131 

ausg^egangen und auf dem physiologischen Wege in den Körper 
gelangt ist. Eine weitere Frage ist nun, ob die Schädlichkeit in 
der Einwirkung auf die Lymphdrüsen erschöpft worden ist, die 
Erankheitsprodukte in dieser ersten Erankheitsstatlon eine fernere 
Infection bewirkt baben, und die weiteren Folgen, die Knotenbil- 
dnng in den Lungen, den Bronchialdrüsen etc. als das Ergeh- 
niss einer Selbstinfection zu betrachten sind, wie z. B. die 
Tuberkeln bei den Kaninchen und Meerschweinchen von der Ver- 
käsung einzelner Lymphdrüsen in der Nähe der Infectionswunde , 
oder ob die spezifische Schädlichkeit den ersten Schlagbaum durch- 
brochen, weiter bis in das Blut vorgedrungen und so direkt 
die Knotenbildung in den verschiedenen Geweben verursacht hat. 
Der Umstand, dass die Mesenterialdrüsen geschwellt, hypertrophisch 
waren, dass sie kleine Krankheitsheerde zeigten, die sich selbst 
schon als Tubei^elbildung darstellet, und dass niemals eine wirk- 
liche Verkäsung einer Mesenterialdrüse gefunden worden ist, lässt 
die Annahme einer weiteren Selbstinfection von den Lymphdrüsen 
im Gekröse nicht zu. Es erscheint auch nicht zulässig, die durch 
Milch von einer schwindsüchtigen Kuh angefütterte Krankheit als 
eine nicht spezifische Res orptions krank hei t zu bezeichnen, wie 
Waidenburg die Tuberkulose genannt hat. 

Von grösster Bedeutung ist die Nutzanwendung dieser Versuche 
für die SanitätspolizeL Wenn bisher die Perlsucht in sanitäts- 
polizeilicher Beziehung für eine unschuldige Krankheit gehalten 
worden ist, so muss sie fortan für eine schuldige erklärt werden. 

Bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts nannte man sie 
Franzosenkrankheit, weil man sie für eine Syphilis des Rindes 
ansah, weshalb man auch das Fleisch verschmähte und das ge- 
schlachtete Rind mit den benutzten Schlachtinstrumenten dem Ab- 
decker überlieferte. 

Als man erkannt hatte, dass die Perlsucht keine Syphilis ist, 
hielt man das Fleisch wieder für unschädlich. Nachdem der be- 
kannte Heim 1782, damals Physicus in Spandau, dem Ober-Sani- 
täts-GoUegium einen Bericht über die Unschädlichkeit des Fleisches 
bei der Franzosenkrankheit des Rindes übergeben hatte, wurde 
später in Preussen durch Verordnung vom 26. Juli 1785 und in 
Oesterreich durch Rescript vom 11. Juli 1788 der Genuss des 
Fleisches erlaubt. An eine Schädlichkeit der Milch von perlsüch- 
tigen Kühen hat man bisher noch viel weniger geglaubt. 

Welches Unheil aber durch die Milch perlsüchtiger Kühe unter 
der Menschheit, namentlich in der Kinderwelt, angerichtet wird, 
davon bekommt man, sagt Ger lach, an der Hand unserer Ver- 
SQchsresaltate eine Ahnung, wenn man die Milchwirthschaften vor 
den Thoren grosser Städte betrachtet. 

In diesen Wirthschaften werden nur milchende Kühe ge- 
halten und hauptsächlich mit Küchenabfällen ernährt, welche di^ 

9* 



132 Referate. 

Rückfracht der Milch wagen aus den Städten bilden. Köhe, die 
friBchmilchend oder hochträchtig sind, werden gekauft, abgenutzt 
and dann dem Schlächter übergeben. So oft Gerlach diese Ställe 
darchmustert hat, fand er fast immer perlsuchtige Kühe darin, wenn 
auch oft noch ohne auffällige Abzehrung. Er hat zuweilen mehr 
als die Hälfte des Viehstandes der Perisacht verdächtig gefunden. 
Und nun denke man sich, dass die Kühe in diesen Milch- 
wirthschaften die Ammen der meisten Kinder in gros- 
sen Städten abgeben! 

Ger lach hält die Perlsacht für eine Familien- and fieerde- 
krankheit. Sie werde gewöhnlich angeerbt oder mit der Milch an- 
gefüttert. Behufs Verbannang der Perlsacht aus den Viehställen 
räth er an, Stammbucher anzulegen, aus gesunden Familien zu 
züchten and nur aus diesen die Milch als Nahrungsmittel für die 
Zachtkälber zu verwenden. 

Das Fleisch von perlsüchtigen Rindern muss von 
der menschlichen Nahrung wieder ausgeschlossen wer- 
den. Im rohen Zustande darf es niemals genossen werden. Ob 
seine Schädlichkeit durch Kochen und Braten za beseitigen ist, 
muss erst darch weitere Versuche festgestellt werden. Wieder ein 
Grand mehr zur Herrichtung der Schlachthäuser, welche vom sani- 
tätspolizeilichen Standpunkt aus unentbehrlich geworden sind. 

Die Kühe dürfen nicht mehr als Ammen dienen, 
wenn ihr Gesundheitszustand nicht festgestellt ist. 

Leider ist die Perlsucht erst erkennbar, wenn sie einen ge- 
wissen Grad erreicht hat. Die grösste Sicherheit ist nur zu er- 
langen, wenn die Abstammung aus Heerden festgestellt werden 
kann, in denen die Perlsucht fremd ist. Ziegen bleiben die 
bessern Ammen, weil sie nach den bisherigen Erfah- 
rungen nicht an Perlsacht Leiden. 

Die Milchkuren, das methodische Trinken der ro- 
hen Milch, womöglich warm von der Kuh, haben hier- 
nach ebenfalls ihr Bedenken und dürfen nur dann statt- 
finden, wenn man sich von dem Nichtvorhandensein der 
Perlsacht überzeugen kann. 

Was von der Milch schwindsüchtiger Kühe nachgewiesen ist, 
lässt sich natürlich von der Milch schwindsüchtiger Mütter prä- 
sumiren. 

(Jahresbericht der Königl. Thierarznei - Schule zu Hannover. 
Zweiter Bericht 1869. Hannover 1870. S. 133 etc.) 



Ein bayerischer Sanitätszug hat nach Dr. Solger 
in Reichenhall folgende Einrichtung. Von 12 mit Betten 
ausgerüsteten, zum Durchgehen eingerichteten Wagen enthält jeder 
im Sommer je 3 längs der langen Wagenseite befestigte Bett- 
stellen ; im Winter wird das mittlere Bett auf einer Seite entfernt, 



Referate. 133 

um einem kleinen eisernen Ofen Platz za machen. Man verfägt 
somit im Sommer über 72, im Winter über 60 Betten für Lieg- 
kranke. Die Mehrzahl der Betten besteht aas Strohsack, Ross- 
baarmatratze, Kopfkissen und je zwei Leintüchern und Wolldecken. 
Eine kleinere Anzahl Betten hat statt des Strohsackes Federmatratzen. 
Die Bettstellen ruhen sämmtlich auf Federn. Für je zwei Wagen 
ist eine Wärterin bestimmt, wozu mit Vorliebe Klosterfrauen ge- 
wählt werden. Die übrige Mannschaft besteht aus einem Comman- 
danton (Militair), einem Verwalter, je nach Bedürfniss 1-2 Aerzten, 
etlichen Assistenten und Krankenwärtern, einer Köchin und Küchen- 
magd und zwei Dienern. Für Wasserherbeischleppen, Holztragen 
etc. eventuell für Bewachung sind jedem Zuge ein Unteroffizier und 
drei Mann mit voller militairischer Ausrüstung beigegeben. Ausser- 
dem begleitet im Winter ein Bahnbediensteter den Zug, um die 
Heizung der 7—8 Sitzwagzn zu besorgen. Letzere sind gewöhnliche 
Wagen zweiter und dritter Klasse. Ein Wagen ist für den Zugs- 
commandanten und die Verwaltung, einer für die Aerzte, einer für 
die Küche und einer als Abtrittswagen bestimmt. Die übrigen 
Wagen dienen für das mitzunehmende Material: Proviant, Holz und 
Kohlen, Bekleidungsgegenstände, Decken, Bettwäsche etc. Endlich 
ist ein Güterwagen mit Strohsäcken als Reservewagen für ausser- 
ordentliche Vorkommnisse beigegeben. So zählt jeder Zug 28 Wagen 
und etwas über 20 Personen Begleitung. Er kann je nach der 
Jahreszeit 250 — 270 Mann aufnehmen. Die Wagen für Aerzte, 
Küche, Verwaltung und der Abtrittswagen bilden die Mitte des 
Zuges, an welche sich nach einer Seite die Sitz-, nach der andern 
Seite die Liegwagen anschliessen. (Aerztl. Intellig.-Bl. 11. Mai 1871.) 

Die Behandlung der Kloakenmassen für den Zweck 
der Düngergewinnung besteht gegenwärtig in England viel- 
fältig in einer unmittelbaren Irrigation der Felder mit den Kloaken- 
stoffen. Die wegzuschaffenden Wasser sollen auf diese Weise weit 
besser als durch die künstliche Filtrationsart filtrirt werden. Bis- 
her wurde die Filtration durch Erdterrassen oder Beete von Kiesel, 
Eisenschlacken etc. bewerkstelligt, wobei eine schwarze kothige 
Masse zurückblieb, welche mit Asche oder Strassenkehricht ge- 
mengt und als Dünger verkauft wurde. Die filtrirte Flüssigkeit 
enthält aber stets noch viel thierische und pflanzliche Stoffe in 
•Lösung, weshalb sie leicht in Fäulniss übergeht, so wie die lös- 
lichen Mineralbestandtheile des Düngers. Um diese werthvoUen 
Bestandtheilo durch Präcipitation zu gewinnen, hat man sich der 
Kalkmilch, der Kalkmilch mit Eisenchlorid, des carbolsauren Kalkes 
oder der carbolsauren Magnesia, des schwefelsauren Kalkes, des 
Eisenvitriols, des Alauns, der Thonerde, der Thierkohle und sogar 
des frisch gezapften Blutes bedient. Ein Comite von Chemikern 
und englischen Ingenieuren, welches mit dieser Untersuchung beauf- 



134 Referate. 

tragt war, hat sich for die Prädpitatioiismethode nidit entscheiden 
können. (Berl. ehem. Gesellach. 3. 916.) 

Rawlinson ist sogar der Anächt, dass Jemand eher das 
Perpetnom Hohile erfinden oder die Quadratur des Zirkels beweisen 
könne, als den flüssigen Dünger konsistent und za einem trans- 
portabeln Dang zu machen. Die ehemischen Bemühungen hätten 
bisher nicht mehr erreichen können, als 4 der werthyollen Sub- 
stanzen des flüssigen Düngers in feste Form zu bringen. 

Die Erde besitze die Kraft, von dem flüssigen Dünger alle 
festen Stoffe abzusondern , wenn die aufgetragene Masse dem Boden, 
dessen Tiefe und Eigenthümlichkeit angemessen sei. £s komme vor 
Allem darauf an, wann und in welcher Quantität man den 
flüssigen Dünger anwendet. Flüssiger Dünger könne bei jeder Art 
Yon Boden mit Nutzen angewendet werden, welcher von Natur 
trocken oder künstlich trocken gelegt sei. Er könne das ganze 
Jahr hindurch zur Anwendung kommen. Die Benutzung des flüs- 
sigen Düngers erfordere aber eine spezielle Kenntniss, welche sich 
jeder Landwirth aneignen müsse. (Report to the Tottenham 
Local Board of Health on the Disposal of the Sewage 
of their District Md 1870. London.) 

Dr. Eibg. 



8. 

Litteratnr. 



Second annual Report of the State Board of Health 
of Massachusetts. Januar 1871. Boston 1871. 

Die Thätigkeit in der Offen tlichen Gesandheitspflege giebt sich 
in erfrealicher Weise auch in Amerika kund. Dieser zweite Bericht 
der Saoitäts-Gonimission vom Staate Massachusetts zeichnet sich 
durch fleissige Beiträge und Untersuchuogen aus. Eine Abhandlung 
über die Schädlichkeit der Bleiröhren für Wasserleitungen 
stützt sich auf zahlreiche Wasseranaijsen. Die Frage: Haben sich 
Fälle von Bleikolik oder Lähmung in Ihrer Stadt oder in Ihrem Be- 
zirke ereignet, welche man auf die Wasserleitnngsröhren zurückführen 
kann? wurde unter 170 Gorrespondenten von 41 mit Ja! von 101 mit 
Nein! und yon 20 unbestimmt beantwortet. 8 berichteten, dass man 
in der Stadt keine Bleiröhren gebrauche. 

Im Allgemeinen bemerkte man keinen Nachtheil, wenn Qnell- 
wasser ohne Unterbrechung durch Bleiröhren floss. Der Niederschlag 
von schwefelsauren, phosphorsauren und kohlensauren Salzen auf 
der inneren Seite der Röhren wirkt schützend, theils weil er selbst 
wenig löslich ist, theils weil er die Berührung des Wassers mit dem 
Metall verhütet. 

Schwefelsaures Blei erfordert 20,000, das kohlensaure 
50,000 Theile Wasser zur Lösung. Fhosphorsaures Blei ist un- 
löslich. Dagegen ist Ghlorblei in 135 Th. (bei 12,5 o G.) und das 
Salpetersäure Blei in 3Th. Wasser von der gewöhnlichen Tem- 
peratur löslich. Die Frage über die Schädlichkeit der Bleiröhren 
kann daher nur mit Rücksicht auf die Natur des betreffenden Wassers 
beantwortet werden. Stets müssen alle Bleiröhren zuvor mehrere 
Wochen in Gebrauch genommen werden, ehe man das Wasser zum 
Trinken benutzen darf, da sich zuerst die Salze auf ihrer Innern 
Fläche ablagern müssen. Sehr nachtheilig sind stets heisses Wasser 
oder Wasserdämpfe, wodurch das Metall förmlich angefressen wird. 

Wasser in Bleibehältern stehen zu lassen, hat stets gefähr- 
liche Folgen, wobei auch die gelötheten Stellen von Einflnss sind. 
Anf diese Weise erlitt in England die Familie von Louis Philipp 



136 Litterator. 

die iiachtbeilige Einwirkang des Bleies. Die Menge des nachgewie- 
senen Metalls betrug hier \ Gran auf den Gallon. Dr. An g. Smith 
hält Vio — V^o Gran auf den Gallon Wasser für gefährlich, während 
Parkes, Graham und Taylor eine Quantität, welche weniger als 
1 20 Gran auf den Gallon beträgt, fQr unschädlich halten. 

Alle diese Angaben sind tehr relativ, da hierbei nnr die Indi- 
vidualität massgebend sein kann. 

Mit Recht bemerkt der Bericht, dass es sich hierbei nicht immer 
um schwere Erkrankungen zu handeln brauche; manche andere Leiden, 
wie Neuralgien und sogenannte Rheumatismen könnten leicht durch 
geringe Mengen dieses Giftes allmälich herbeigeführt werden. Die 
Commission ist der Ansicht, dass man sich eines andern Materials 
ffir Wasserleitnngsröhren bedienen sollte. 

Trichinoßis in Massachusetts. Die Erscheinungen waren 
die gewöhnlichen, namentlich war ein heftiger Schmerz in den Mus- 
keln das erste und auffallendste Symptom. Ausser der Anschwellung 
des Gesichts, einer angestrengten Respiration, der Contraktion der 
Flexoren zeigte sich mehrmals Diarrhoe. Bei einem jungen Manne 
von 19 Jahren bildete sich ein vollständiger Typbus ans, welcher 
tödtlich verlief. 

In einem Falle war die Krankheit durch den Oenuss eines ge- 
räucherten Schinkens entstanden; ein abermaliger Beweis, dass 
das Räuchern des Fleisches nicht schützt. Auch der geräucherte 
Schinken muss noch 2—3 Stunden gekocht werden, um sich vor der 
Krankheit zu schützen. Eben so verhält es sich mit dem gepö- 
kelten Fleische. 

Die Gesundheit der Städte. In einem Circular vom 8. 
April 1870 v/urden folgende Fragen vertheilt: 

1) Giebt es bestimmte Krankheiten, welche Ihrer Stadt oder 
Gegend, in welcher Sie praktiziren, eigenthümlich sind und vorherr- 
schend auftreten? 

2) Verhält es sich so, so wollen Sie uns die Natur derselben 
näher angeben. 

3) Können Sie einen Grund von diesem Vorherrschen angeben 
und ist derselbe nach Ihrer Meinung etwa entfernbar? 

Auf die speziellen lokalen Verhältnisse können wir hier nicht 
näher eingehen; wir hielten es aber für noth wendig, die Fragestel- 
lungen mitzutheilen , um daraus die Art und Weise der Thätigkeit 
einer solchen Gesundheits-Commisäion zu ersehen. Obgleich der Be- 
richt hervorhebt, dass die Aerzte im Allgemeinen wenig mittheilsam 
sind, wenig sprechen und schreiben, dass namentlich in kleineren 
Städten die Aerzte wenig Gelegenheit hätten, sich gegenseitig aus- 
zusprechen, es sei denn in den ärztlichen Versammlungen der Bezirks- 
vereine oder bei Gonsultationen , dass vielmehr Jeder seine eigenen 
Wege ginge, so ist doch dankbar anzuerkennen, dass noch 170 Ant- 
worten einliefen, in denen 120 Aerzte behaupten, dass keine spezielle 



Litteratar. 137 

Eraokbeit in ihrem praktischen Wirkungskreise geherrscht habe. 
50 Aerzte beobachteten folgende Klassen von Krankheiten: Leiden 
der Respirationsorgane , Schwindsucht, Typhus, ISerTenkraukheiten, 
Croup und Pneumonie, Dysenterie, Fnnctionsstörungen des Uterus 
in Folge der Nähmaschinen, Meniugitis ccrebro-spinali:) und Rheuma- 
tismen. Die beiden ersteren Krankheiten forderten die meisten Opfer. 

Ueber Milzbrand wird Bekanntes berichtet. Seit 1866 waren 
26 Fälle von Pustula maligna vorgekommen, wovou 14 tödtlich ver- 
liefen. Das Contagium war höchst wahrscheinlich durch aus Süd- 
Amerika eingeführte Rosshaare übertragen worden. 

Ue'ber die Ursachen des Typhus in Maseachusetts. 
Bei der Nachforschung über die Aetiologie des Typhns gelangte mau 
zn der Ansicht, dass die Zersetzung der organischen und 
namentlich der vegetabilischen Substanzen eine Hauptrolle 
spiele; gleichviel ob das Trinkwasser oder die auf irgend eine Weise 
durch Fäulnissgase verunreinigte Luft der Träger der Schädlichkeit 
sei. Ks sei wahrscheinlich, dass ein reicher und fruchtbarer Boden, 
in welchem die zersetzbaren Substanzen durch irgend eine Ursache, 
sei es durch ein Thonlager, einen felsigen Untergrund, oder grosse 
Trockenheit nahe an der Oberfläche gehalten würden, die Erzeugung 
von Typhns sehr begünstige. 

Eine Erörterung über Arbeiterwohnungen und die Kanal- 
wasserfrage stützt sich vorzüglich auf englische Erfahrungen. 

üeber den Nachtheil der Spirituosen Getränke sind 164 
Gorrespondenzen eingegangen. Auch andere Länder sind hierbei be- 
rücksichtigt worden. 

Die Abhandlung über die Sterblichkeit in Boston im Jahre 
ld70 ist von einem schönen und sorgfältigen Stadtplan begleitet. Bei 
der Ventilation der Schulen hat man das Aspirationg System 
mittels eines Lockkamins zu Grunde gelegt und durch mehrere Bau- 
pläne erläutert. 

Die Luft und ihre Verunreinigung, die Reinigung der 
Flüsse, die Beaufsichtigung der Minderjährigen in den ver- 
schiedenen Manufactur- Fabriken liefern manche interessante Notizen. 

Den Schluss des Werkes bildet eine Abhandlung über Milch 
von Kühen, welche an Maul- und Klauenseuche leiden. 

Dass der Genuss der rohen Milch nachtheilig einwirken kann , 
wird auch in Amerika bestätigt. In einer Familie brach darnach im 
Verlaufe von 5-6 Tagen unter denselben Erhcheinungen bei 3 Indi* 
viduen eine Krankheit aus, welche in vermindertem Appetit, Ekel, 
geringer Beschleunigung des Pulses, Anschwellung der Mandeln und 
Submaxillardrüseu, in dem Ausbruch von einigen Blasen auf den 
Lippen und der Zunge und in einer ähnlichen Hauterupticn auf den 
untern Extremitäten bestand. An letztern bildeten sich Haufen von 
Papeln, Blasen, Pusteln und Geschwüre von verschiedener Grösse 
AQt». Die Geschwüre charakterisirten sich durch eine dankelrothe 



138 Litteratnr. 

Farbe, während die Ränder derselben leicht erhaben und entzündet 
waren. Der Aasbrach erfolgte gewöhnlich gleichzeitig. In einem 
Falle beschränkte sich derselbe anf eine Extremität, in 2 Fällen er- 
schien er anf der Stirn und seitlich vom Schenkel, in einem Falle 
gerade anter dem Kinn. Obgleich die constitotionellen Störungen 
nicht bedeutend waren, so war der ganze Verlauf doch unangenehm 
and dauerte 6—8 Wochen. 

Interessant sind folgende Versuche. Kleine Federposen wurden 
mit dem Inhalt der Bläschen, welche sich bei einer Frau entwickelt 
hatten, angefüllt und zwei Kaninchen beigebracht. Nach 2 Tagen 
schwoll die innere Seite der Oberlippe an und bedeckte sich mit 
eioem blutigen Ansflass; alsdann bildeten sich mehrere dünne weisse 
Flecke anf der entzündeten Stelle; die Thiere yerfielen in Convul- 
sionen und starben, das eine am dritten, das andere am vierten Tage. 

Mit einem andern Theile dieser Flüssigkeit wurde ein gesunder 
Mann auf dem Arm geimpft. Nach 2 Tagen bildeten sich an 2 Impf- 
stellen ganz ähnliche Bläschen, wie die auf dem Schenkel einer Frau 
waren, denen die Ljmphe entnommen worden war. Nach 4—5 Tagen 
hatten dieselben die Grösse einer Erbse erreicht, brachen auf und 
hinterliessen unreine Geschwüre, welche keine Tendenz zur Heilung 
zeigten, sondern sich vergrösserten und auch am 12. Tage noch nicht 
geheilt waren. 

Aeltere Beobachtangen über die schädliche "Wirkung der unge- 
kochten Milch rühren von Hertwig (Med. Vereinsz. 1834. No. 48) 
und Jacob zu Basel (Journ. de Möd. vetör. publ. a i'Ecole de Lyon, 
Tome IL 1846) her. Zwei von Hislop (Edinb. Med. Rev. Febr. 1863. 
p. 704) mitgetheilte Fälle beweisen, dass der Ausbruch der Haut- 
krankheit auch einen unregelmässigen Charakter annehmen kann» 
Bei einer Familie, welche frische Milch von kranken Kühen ge- 
trunken hatte, zeigten sich bei der Frau too den Füssen bis zum 
untern Theile des Körpers verbreitete, rothe, sich abschuppende 
Flecke von ^ Zoll Durchmesser, so dass nur geringe Zwischenräume 
von gesunder Haut übrig blieben. Beim Manne fanden sich Lippen, 
Mund und Rachen mit oberflächlichen Geschwüren bedeckt, welche 
einen weissen Schorf hatten, nach dessen Entfernung eine reine, aber 
höchst empfindliche, rundliche Vertiefung zurückblieb. Auch die Stirn 
war mit ähnlichen Flecken bedeckt, welche sich bei seiner Frau an 
den unteren Extremitäten zeigten. Verschiedene Rinder hatten nur 
einen wunden Hals und alle Symptome waren hier milder. 

Was dc^n Genuss des Fleisches von Kühen, welche an Maal- 
und Klauenseuche leiden, betrifft, so kann dasselbe im gekochten 
oder gebratenen Zustande eben so gut ohne Nachtheil genossen wer- 
den, wie die gekochte Milch. Es bewährt sich somit auch hier 
das allgemein gültige Gesetz, dass die animalischen Gifte durch hohe 
Temperaturgrade zerstört werden. 

Aus dieser Uebersicht des lohalts des vorliegenden Berichts geht 



Litteratur. 139 

hervor, von welcher grossen Bedeutung die Thätigkeit einer Gesund- 
heits-Gommission werden kann. Der Bericht kann fflr deutsche ärzt- 
liche Vereine und GeBundheits-Gommissionen als mustergültig be- 
zeichnet werden. 



Dr. Hermann Lehert, Aetiologie und Statistik des 
RQckfalltyphus und des Flecktyphus in Bres- 
lau in den Jahren 1868 und 1869. Mit einer Einleitung 
über den Einfluss des Bodens und des Trinkwassers in 
Breslau auf endemische und epidemische Krankheiten. 
Leipzig 1870. 136 S. 

Die Einleitung, welche vorzugsweise die öffentliche Mediein in- 
teressirt, trägt das Motto: »Schlechtes, durch organische Bestand- 
theile verunreinigtes Trinkwasser und nnzweckmässige Entfernung 
menschlicher Abfallstoffe haben von jeher mehr Menschen getödtet, 
als die blutigsten Kriege* an ihrer Spitze. 

Das rege Streben, die ätiologischen Momente von Epidemien 
immer mehr zu ergründen, ist die lohnendste Aufgabe des Arztes. 
Vorliegende Schrift, welche einen werthvollen Beitrag hierzu liefert, 
ist deshalb mit grossem Danke zu begrfissen. Sie berührt die wich- 
tigsten Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege und gewährt des- 
halb das grÖBste Interesse. 

Da Breslau vor allen andern Städten Deutschlands von Epide- 
mien heimgesucht wird, so bot es dem Verf. ein günstiges Terrain 
für seine Forschungen dar. So hat Verf. während seiner lOjährigen 
Thätigkeit daselbst Masern, Scharlach, Pocken, Diphtheritis, Keuch- 
husten, Periparotitis, alle Formen des Typhus und namentlich die 
Gholera in fürchterlicher Art herrschen sehen. In den Jahren 1862 
bis 1863 starben in Breslau 2000 Individuen an Scharlach. Im Jahre 
1866 kamen 6303 Gholerafälle vor, so dass nahezu 4 pGt der Ge- 
sammtbevölkerung befallen wurden. Hiervon starben 0,7 in einer 
Epidemie, welche nur 145 Tage gedauert hat. Wechselfieber hören 
in Breslau nie auf. 

Verf. lebt der Ueberzeugung, dass man in Breslau für Epide- 
mien einen zu ausschliesslichen Werth auf die socialen Missstände 
gelegt habe, deren Einflnss freilich in keiner Weise zu unterschätzen 
sei; dass man dagegen die Bodenverhältnisse bei Weitem nicht in dem 
Maasse, wie es absolut noth wendig sei, geprüft und in Anschlag ge- 
bracht habe. Im Boden finde sich die Brut- und Keimstätte vieler 
Seuchen und endemischer Krankheiten, während sociale Missstände 
meistens nur den freilich günstigen Boden für die weitere Entwicke- 
lung und Ausbreitung dieser Keime darböten. Eine vollständige 
^ubterrane Geologie der Städte müsse bekannt sein, wenn 



J40 Litteratnr. 

man MaaseregelD zur Abhülfe echlfcbtcr GesnndheitB- 
Verhältnisse treffen wolle. 

Im ersten Theile seiner Schrift bespricht Verf. nur Breslau's Bo- 
den , Trinkwasser und Brunnen in ihrem Verhältniss zur Gesundheit. 

Für eine wichtige Ursache der Gesundheitsstörung hält Verf. die 
Ailnviallette im Oderbette, an der Oder und Ohlau, sowie zwischen 
diesen beiden Flüssen. Der Dichtigkeit und Undurchdringlichkeit 
und nur stellenweise geringen Darcbgängigkeit dieser Schlickschicht 
verdanke man die Masse des ungesunden Grundwassers und sein 
zeitweises Eindringen in Keller und Grundbauton. Auch für Breslau 
zeige die Erfahrung, dass der schlimme Zeitpunkt für die Gesundheit 
nicht der der Grundwasseranhäufung und sichtbarer, sowie 
unterirdischer Ueberschwemmung sei. Die schlimmste Einwirkung 
des Bodens, des Grund- und Brunnenwassers zeige sich aber, wenn 
das Wasser sich zurückziehe. Viele in der früher stark durch- 
nässten, jetzt immer mehr austrocknenden Erde und in dem Grund- 
wasser selbst wuchernde Organismen stürben jetzt ab, faulten und 
so mischten sich die Producte der Fäulniss, der Verwesung und der 
Gährung und gingen noth wendig in das Brunnenwasser, welches 8i<^ 
speisen, über und spülten noch mehr von der ohnehin schon hinein 
sickernden Excretjauche in dieselben hinein. Diese organischen Zer- 
setzungsprodncte können nach des Verfassers Aneicht alsdann durch 
Abzugsröhren und Kanäle frei in die Luft vertheilt in die Höhe 
steigen und sich in die Häuser vertheiien. Auch directe schädliche 
Bodenemanationen gehörten bei trockener Boden beschaffenheit nicht 
zu den Seltenheiten und gelangten gewisse Krankheitskeime ebenso 
gut darch das Trinkwasser, wie auch durch die Luft in den Körper. 

Ohne die hohe Wichtigkeit des Grundwasser-Einflnsses zu unter- 
schätzen, ist Verfasser zu der Ueberzeugung gekommen, dass für 
Endemien und Epidemien diese sehr subtilen und fein ver- 
theilten Krankheitskeime auf allen nur möglichen Wegen: 
durch Trinkwasser, Bodenemanationen, Häuseremanationen, durch 
atmosphärische Luft und durch fliessendes Wasser weiter getragen, 
von Individuum zu Individuum, durch Excretflüssigkeiten, durch an 
Zeilen und Zellen dehvato gebundene, in die umgebende Luft gelan- 
gende, scheinbar flüchtige AnsteckungsstofPe in mannigfachster Art 
sich verbreiten können. 

Er hält es für zu einseitig, wenn man die im Trinkwasser ge- 
fundenen Bakterien, Monaden, Pilzfäden etc. nur als directe Krank- 
heitskeime ansehen wolle; sie könnten ebenso gut nur die Träg(^r 
eines ansteckenden Stoffes sein, wie es z. B. beim Keuchhusten ein 
Leucocjt oder eine Epithelzelle werde, welche vom kranken Kinde 
ausgehustet in den Körper und besonders in die Athmnngsorgane 
eines gesunden Kindes gelange. 

Was das Trinkwasser von Breslau betrifft, so theilt Verfasser 
mehrere Analysen desselben mit, welche einen hohen Gehalt an 



Litteratar. 141 

Chlor and Saipetersäare darthan und hierdurch die VermischiiDg 
des Brannenwassers mit den Produkten der Fäulniss organischer 
Substanzen beweisen. Diese Brunnenverunreinigungen finden in den 
schlechten Abfubrverhältnissen Breslan's ihre Erklärung. Nachdem 
Verfasser die schlimmen Folgen derselben nach den in England ge- 
machten Beobachtungen und besonders den von Buchanan, 
Schiefferdecker, Mittermaier, Göttisheim etc. citirten Bei- 
spielen besprochen hat, geht er zu den von Ferdinand Cohn an- 
gestellten mikroskopischen Untersuchungen des Trinkwassers über. 

Die Schlussfolgerungen der bisherigen Forschungen desselben 
sind folgende: 

1) Selbst sehr geringe Spuren von Eisen und kohlensaurem 
Kalk verrathen sich unter dem Mikroskop durch die .bräunlichen 
Flecken oder die Krystalle von Arragonit an der Oberfläche oder am 
Grunde des Wassers. 

2) Wasser, welches grfine Algen und Diatomeen enthält, ist 
als frei von aufgelösten organischen Verbindungen zu betrachten, da 
diese Organismen in Wasser mit organischen Verbindungen zu 
Grunde gehen. 

9) Wasser, welches gewisse Wasserpilze und Infusorien 
enthält, verräth Gegenwart von Ammoniak und Salpetersäuren Ver- 
bindungen, wovon jene Myc eilen leben können, während die Infu- 
sorien sich wieder von den Pilzen oder andern ins Wasser gerathenen 
Körperchen nähren. 

4) Wasser mit Monaden, Vibrioneu, Spirillen, Bakte- 
rien, gewissen Fadenpilzen und Infusorien (Glaucoma scio- 
tillans, Cjelidium) enthält organische stickstoffhaltige Verbindungen 
in Auflösung und ist in Fäulniss und Gährung begriffen. Je reich- 
licher entwickelt jene Organismen der Fäulniss sind, desto energischer 
ist der Prozess der Gährung im Wasser; er verräth sich auch durch 
opalisirende Trübung des Wassers, so wie durch Bildung von weissen 
oder bräunlichen Flöckchen oder Bäutchen (Zoogloea), welche theils 
schwimmen, theils sich am Boden absetzen. 

5) Endlich lässt sich durch das Mikroskop direct erkennen, ob 
sich im Wasser fremde Körper, Milben, Fäcalstoffe, Haare oder viele 
andere mit dem Staube hineingefallene Verunreiuigungen finden. 

Verfasser fügt diesen Gohn'schen Folgerungen eine lange Liste 
der von ihm aus seinen Specialuntersuchungen zusammengestellten 
einzelnen Substanzen und Organismen hinzu, welche bisher im Bres- 
lauer Trinkwasser gefunden worden sind. Er führt eine ganze Welt 
von Thieren und Pflanzen vor, welche im schlechten Trinkwasser 
lebt und gedeiht. 

Bei der Frage: Wie wirken inficirte Brunnen auf die Gesundheit 
und was ist von dem Parasitismus in Infektionen und Infektions- 
krankheiten zu halten? stellt Verfasser als Tbatsache auf, dass keine 
Ursache der Gesundheitsstörung so ununterbrochen, so verborgen 



142 Litteratnr. 

und BO gleichroSssig an der Kraft und Gesundheit der Menschen 
zehre, wie das mit Gährnngs- und Fftalnissprodnkten verunreinigte 
Wasser. Seine Wirkung wflrde noch yerderblicher sein, wenn nicht 
dnrch das Kochen der Speisen viele gefährliche organische Keime 
zerstört wurden. 

Alle spezifischen Krankheitskeime, welche im Grundwasser einen 
Träger finden köuneo, wQrden besonders hei schlechter Isolirung der 
Brunnen und Abtritte dem Körper in grosser Menge zugeffthrt. So 
wie der Abdominaltyphus das endemische Barometer sei, so sei die 
Cholera das epidemische ffir schlechtes Brunnen- und Trinkwasser. 
Deshalb zeige sich auch jetzt schon fiberall, wo radicalere Reformen 
in Bezug auf Abfuhr und Trinkwasser eingeführt worden seien, Ver- 
besserung der allgemeinen Gesundbeitsverhätnisse, Vermindernog der 
Mortalität und merkliche Abnahme der endemischen Infektionskrank- 
heiten, so wie der Epidemien. 

Bin Hauptgrund der Verschlechterung des Brunnenwassers in 
Breslau ist der Mangel hinreichenden Schutzes gegen äussere Bin- 
flfisse. Bs ist gar nicht zweifelhaft, dass die Brunnen aller grösseren 
Städte fast ebenso sehr durch von aussen hineingelangende 
Unreinigkeiten, wie durch snbterrane Einflüsse verdor- 
ben werden. 

Es ist unverantwortlich, dass man in dieser Beziehung den Brun- 
nen so wenig Aufmerksamkeit schenkt. Während man im Alterthume 
jede Quelle und jeden Brunnen als ein Heiligthum ansah und das 
Trinkwasser mit grosser Sorgfalt hfitete, profanirt man es gegen- 
wärtig dnrch den gemeinsten Schmutz. Auch in Breslau zeigen sich 
die Schädlichkeiten, welche in den meisten Städten die Brunnen ver- 
derben. Schadhafte Kanäle, schlecht ausgemauerte Senkgruben, an- 
tihygienisch angelegte Viehställe, die grosse Nähe beider an den 
Brunnen, Gasausströmungen, schlechtes Halten der Brunnen, Besch&- 
digung der Einfassung lassen alle möglichen Stoffe in die Brunnen 
gelangen* Auch in Breslau finden sich viele gar nicht ausgemauerte 
Senkgruben, da der Vortheil, welcher dnrch die abfliessende Jauche 
durch die Gonsistenz und den Preis des Düngers erwuchs, lange 
Zeit absichtlich den Verschluss nach unten vernachlässigen liess. 
Dass manche auf sehr durchgängigem Sande stehende Senkgrube, 
besonders bei der grossen Nähe eines Brunnens, direkt ihren flüssi- 
gen Inhalt in das Boden wasser, welches den Brunnen speist, gelan- 
gen läset, ist leider eine Thatsacbe, welche sich sehr häufig findet. 
Sind nun, wie es meistens der Fall ist, die Brunnen schlecht con- 
struirt, haben sie Risse oder Oeffnungen in der Wand oder Bedeckung, 
so dringt die Excrementjauche von der Seite oder von oben ein, ja 
bei schlechter Brunnenbedeckung sollen, wie dem Verfasser von einem 
höchst competeuten Augenzeugen versichert worden ist, die Bewohner 
mancher Häuser direkt ihre Excrete in die schlecht gedeckte Brun- 
nenöffaung giessen. Nicht minder sind die auf allen Strassen und 



Litteratur. 143 

Plätzen yorhaodenen DroschkenstäDde zu beachten, da sie den 
Erdboden in hohem Grade inficiren. Es ist nicht zweifelhaft, dass 
die Verschlechterang mancher Brnnnen, welche früher gutes Wasser 
lieferten, auf Gasaosströmungen und Pferdeurin zurück zu führen ist. 
Nicht bloss in Breslau, sondern in den meisten Städten achtet man 
bei der Anlage von neuen Brunnen viel zu wenig darauf, die 
Wandung derselben von gutem Material wasserdicht und dauer- 
haft herzustellen. Statt dessen sucht man den Brunnen so billig als 
möglich zu machen und manche Gemeinde gibt den Hauptanstoss 
zu einer schlechten Oonstruktion der Brunnen, wenn sie die Anlage 
derselben den Mindestfordernden überlässt und sich nicht weiter 
darum bekümmert, ob die sanitätspolizeilichen Interessen gewahrt 
werden. Mit Recht legt Verfasser ein grosses Gewicht auf die An- 
fertigung der obern Einfassung der Brunnen. Auch in 
dieser Beziehung kommen die grössten Vernachlässigungen vor und 
der schlechte Schutz der obern Einfassung vor allen möglichen 
schlechten Zuflüssen ist eine Hauptveranlassung der Verunreinigung 
der Brunnen. Sehr viele Städte können traurige Belege hierfür 
liefern. 

Wie in Breslau, so geschieht es auch in den meisten Städten, 
dass man die obere Einfassung der Brunnen meistens in gleichem 
Niveau mit der Erdoberfläche macht, darauf einen von vornherein 
möglichst schlechten Deckel legt, welcher bald darauf ganz schadhaft 
wird und das Einfliessen von allen Unreinigkeiten von oben gestattet. 
Und wie oft begegnet man noch den menschlichen Dejectionen ganz 
in der Nähe der Brunnen! 

Um die Brunnen gegen äussere Einflüsse zu schützen, theilt Ver- 
fasser spezielle Einrichtungen mit. Am sichersten würde die Anlage 
von Tiefbrunnen allen Inconvenienzen vorbeugen. Leider schätzt 
man den Werth derselben noch nicht hoch genug; sonst würde 
man mit ihrer Einrichtung energischer vorgeben und sich auf eine 
zuverlässige Weise vor dem Verderbniss des Brunnenwassers 
schützen. 

Im zweiten Theil seiner Schrift behandelt Verfasser die Aetio- 
logie und Statistik des Rückfalltjrphus, des Flecktyphus, das gegen- 
seitige, Verhältniss beider und einiges über Statistik des Abdominal- 
typhus. Wir können hier dem bewährten Kliniker nicht weiter folgen 
und müssen den Leser auf die Schrift selbst verweisen. Nur bezüg- 
lich der Aetiologie des Flecktyphus ist noch zu erwähnen, dass der 
Verfasser in dieser Beziehung nach seiner Erfahrung mehr Gewicht 
auf die schlechten antihjgienischen Verhältnisse der Armuth, als 
auf Hunger und Entbehrung legt. Die Armuth prädisponire zur 
Infection, ohne dass dem Hunger eine weitgehende Rolle zu ertheilen 
sei. Mit Recht verwahrt sich aber Verfasser dagegen, diese Sätze 
als allgemein gültige auszusprechen. Eine solche Behauptung würde 
auch nicht zutreffen, da zweifelsohne sehr viele Fälle von Flecktyphus 



144 Litteratnr. 

TorkommeD, in welcher der Hanger und die Notb keine Nebenrolle 
spielen. 



V, Pastau. Statistischer Bericht über das städtische Kran- 
kenhaus zu Allerheiligen in Breslau ffir das Jahr 1869 
und Abhandlung über die in dieser Anstalt 1868/69 
beobachtete Petechial- Typhus -Epidemie. Bres- 
lau 1870. 159 S. 

Der Verfasser, ein bewährter Hospitalarzt, stimmt in den Haupt- 
punkten, welche sich auf die Hygiene Breslau's beziehen, vollständig 
mit den obenerwähnten Ansichten von Lebert fiberein. Sehr be- 
achtungswerth ist die Erfahruog des Verfassers, dass eine Isolirung 
der Flecktyphus -Kranken in einem Hospitale im wahren Sinne dea 
Wortes nicht stattfinden könne. Der innerhalb des Hauses noth- 
wendige Verkehr begünstige die Verschleppung der Krankheit von 
einer Abtheilung in die andere. Zu einer wirklichen Absperrung der 
Typhuskranken hält er besondere Lokalitäten für noth wendig, 
welche ausserdem den Vortheil haben, dass die in der Stadt zer- 
streuten Krankheitsheerde rasch evacuirt werden nnd so viel als 
möglich der Gefahr vorgebeugt wird, dass eine weitere Verschleppung 
des Oontagiums in noch nicht inficirte Gegenden der Stadt bewirkt 
v^ird. Auch hält er es mit Recht für ein Erforderniss der Humani- 
tät, dass die im Hospital an andern Krankheiten verpflegten Kranken 
nicht der Gefahr einer Ansteckung Preis gegeben werden. Der 
exanthematische Typhus erfordere ebenso wie diePocken 
eine Entfernung der Kranken aus dem Bereiche der Com- 
mnnication, so weit sich dies ohne Beeinträchtigung 
privater Rechte ermöglichen lasse. Leute, welche der öfTent- 
lichen Krankenpflege anheimfallen nnd von ansteckenden Krankheiten 
ergriffen sind, sollten in solche besondere Localitäten gebracht wer- 
den, wo sie eben vollständig von allem Verkehr isolirt sind. Dies 
hält Verfasser für die einzige und nächste praktische Präven- 
tivmassregel, welche man ergreifen könne, um die Verbreitung 
einer so gefährlichen und eminent ansteckenden Krankheit zu ver- 
hüten. Den nahen Zusammenhang der Recurrens mit dem Fleck- 
typhus leugnet Verfasser nicht. Die Recurrens -Epidemie ging der 
Petechialtyphus -Epidemie voraus, welche alsdann mit mehr als dop- 
pelter Heftigkeit auftrat. Auch stimmte die Recurrens mit dem Fleck- 
typhus den befallenen Orten nach überein. Aber nur dieses ätiolo- 
gische Moment scheint nach Verfassers Ansicht Flecktyphus und 
Recurrens gemeinsam zu haben, während sie ihrem sonstigen Wesen 
nach sich ebenso unterschieden, wie Fleck- und Unterleibstyphus. 
Dass bei der Cholera und den Blattern noch andere ursächliche 
Momente mitwirkten, als beim Flecktyphus, ging für Breslau daraus 



Litteratar. 145 

hervor, dass sie in Bezag auf Lokalitäten, Bezirke und Strassen und 
selbst Häuser, die sie befallen, sich anders verhalten wie der Fleck- 
typhus. Sehr beachtnngswerthe Thatsachen, welche ans einer sorg- 
fältigen statistischen Erhebung resultiren nnd auf diesem Wege 
weiter verfolgt werden müssen! 

BezGglich der Behandlung des Flecktyphus gewährt die vom 
Verfasser gemachte Erfahrung noch ein allgemeines Interesse, dass 
die Behandlung mit kaltem Wasser ein Plus für die Geheilten und 
ein Minns für die Gestorbenen von 4,68% zu Gunsten der Kaltwasser- 
behandlung herausstellte. 



Dr. Joseph Philipps. Der Sauerstoff. Vorkommen, 
Darstellung und Benutzung desselben zu Be* 
leuchtungszwecken, nebst einem neuen Ver- 
fahren der Sauerstoff-Beleuchtung. Mit Holz- 
schnitten und 2 lithographirten Tafeln. Berlin, 
1871. 50 S. 

Bei der vielfachen Anwendung des Sauerstoffes hat man sich 
in neuerer Zeit vorzugsweise um die billige Darstellung desselben 
bemüht. Die neuesten Darstellungsmethoden sind in obiger Schrift 
genauer erläutert worden. Die Methode, aus Kupferoxychlorid 
durch Erhitzen Sauerstoff zu gewinnen, hat zuerst Mall et im Grossen 
ausgeführt. Den von ihm angegebenen Apparat beschreibt Verf. ge- 
nauer nnd bedient sich desselben zur Sauerstoffdarstellung. Es bleibt 
Knpferehlorfir hierbei zurück, welches man an der Luft mit 
Wasser befeuchtet, um es auf diese Weise wieder in Kupferoxy- 
Chlorid überzuführen. Verf. hat auf diese Weise das Eupferchlorür, 
weiches man durch Erhitzen von Kupferchlorid erhält, zu mehr als 
200 Operationen benutzt, wodurch überhaupt die Anwendung des 
Sauerstoffes zu industriellen Zwecken ermöglicht worden ist. 

Tessiö dn Motay und Marechal in Paris bedienen sich des 
mangansauren {Patrons. Leitet man über dieses Wasserdampf, 
so wird der Sauerstoff frei nnd das Salz zerfallt in Brannstein 
und Natronhydrat. Schmelzt man dieses Gemenge, so verwandelt es 
sich unter Aufnahme von Sauerstoff wiederum in mangansaures Natron. 

Interessant ist die Sauerstoff-Gewinnung durch Schei- 
dung des Sauerstoffes vom Stickstoff der Luft auf phy- 
sikalisch-mechanischem Wege, wozu sich ebenfalls Mallet 
ein Verfahren und entsprechend construirte Apparate hat patentiren 
lassen. Zeichnung und Beschreibung ist in der Schrift zu finden. 
Diese Methode stützt sich auf das bekannte Frincip der verschiedenen 
Löslichkeit von Sauerstoff und Stickstoff im Wasser und anderen 
Flüssigkeiten. Es ist nur Wasser, Luft und eine Triebkraft 
dazu erforderlich. 

VtortelJahrMehr. t ger. Med. N. F. XV. 1. 10 



146 Litteratnr. 

Die Benntznng des Sauerstoffes för Heizung, metallar* 
gische, chemische und selbst Beilzwecke gewinnt immer mehr an Aos- 
dehnang, ist aber nenerdings für die Beleuchtung ganz besonders 
wichtig geworden, nachdem sie 1866 zuerst von Tessiö du Motay 
und Marechal zu Paris in grossem Maassstabe ausgeführt worden ist. 

Wenn man Leuchtgas mit den Dämpfen sehr flfichtiger Rohlen- 
wasserstofife (Benzin, Petrolaeth er etc ) sättigt, so nimmt dasselbe be- 
kanntlich so viel davon auf, dass es ohne Ausscheidang von Rass 
nicht mehr brennt (carburi rt es oder carbonisirtes Gas). Lässt 
man aber nun Sauerstoff in eine solche Flamme strömen, so er- 
hält man ein brillantes weisses Licht 

Verf. gebraucht statt des Leucht- oder Wasserstoffgases eine 
Flössigkeit von sehr hohem Kohlen stoffgehalt (Oarboline), welche ans 
festen und flüssigen Kohlenwasserstoffen besteht, unter denen das 
Naphtalin (G,« H,) einen Hauptbestandtheil bildet. Eine dazu 
besonders construirte Lampe ist beschrieben und abgebildet. Die 
Verbrennungsproducte sind geruchlos und besteben aus Kohlensäure 
und Wasser. Da die Flamme mehr Kohlenstofftheilchen hergiebt, 
so werden entsprechend dieser Menge allerdings mehr Verbrennungs- 
producte gebildet. Ein grosser Vortheil besteht aber darin, dass die 
Flamme den zur Verbrennnng nothwendigen Sauerstoff nicht aus dem 
ihr angewiesenen Räume hernimmt, weshalb man diese Beleuchtungs- 
methode neut'rdings auch bei Tunnelbauten benutzt hat Bei den 
Wasserbauten der jetzt in Ausführung begriffenen Brooklynbrücke 
über den Eastriver bei Newjork sind 12 Lampen im Betriebe, welche 
täglich 2000 GM. Sauerstoff verbrauchen. Die Helligkeit einer 
Hydroxygenflamme, welche mit Leuchtgas gespeist wird , ist 16^ Mal 
so gross, wie die einer gewöhnlichen Leuchtgasflamme mit demselben 
Gas verbrauch. 

Bei der Garboxygen-Beleuchtung des Verf. giebt die Flamme bei 
50^ Sauerstoff das Maximum der Lichtstärke, welche der von 95 Pa- 
rafflnkerzen entspricht. Sie ist bei Tunnelbauten in sanitätspolizei- 
licher Beziehung um so mehr zu empfehlen, weil sie bei Anwesenheit 
von Leuchtgas zum Auftreten von schädlichen Verbrennungsprodocten 
keine Veranlassung geben kann. Zur Ableitung der Kohlensäure als 
Verbrennungsprodnct Hessen sich hierbei leicht Vorkehrungen treffen. 
Das grosse Zerstreu ungsvermögen dieses Lichtes zeigt sich vorzüg- 
lich bei der Beleuchtung eines öffentlichen Platzes. Auch zu opti- 
schen und physikalischen Zwecken, zu photographischen Darstellun- 
gen, zur Erleuchtung von grossen Sälen, Theatern und Leuchtthürmen 
eignet sich diese Beleucbtnngsmethode ganz vorzüglich. 



Circular No. 4. Wardepartement, surgeon generaFs Office. 
Washington, December 5, 1870. Report onBarraks 
and Hospitals with Descriptions of Military 



Litteratar. 147 

Posts. Washington. Government printing office. 1870. 
Quartformat, mit vielen Holzschnitten und 494 Seiten. 

Eio fOr die Militair- Hygiene hdcbst wichtiges Werk, welcb<>8 
unter der Leitung des General - Wundarztes der vereinigten Staaten, 
Joseph K. Barnes, von seinem Assistenten John S. Billing» 
mit Benntznng der zahlreichen ärztlichen Berichte mit grossem Fleiss 
ausgearbeitet worden ist. Anfangs des Jahres 1868 wurde jede Mi- 
litair-Station mit Anweisung verseben, die Bedingungen und Ursachen, 
welche nacbtheilig auf die Gesundheit der Truppen einwirken, anzu- 
geben. Zu diesem Zwecke wurde in einem Buche von dem betref- 
fenden Militairarzte (medical officer) zunächst eine Beschreibung der 
Militair-Station und ihrer Umgebung mit Einschluss der botanischen, 
geologischen etc. Verhältnisse geliefert. Es stellte ein Protokollbnch 
der Station in ärztlicher Beziehung dar („Record of the Medical History 
of the Post"* war sein Titel). Jeder neu eintretende Arzt rousste es 
fortsetzen und auf Grund der Beobachtungen seines Vorgängers zu 
vervollkommnen bemfiht sein. Ehe ein Arzt ausschied, musste er in 
dieses Buch den vorhandenen Gesundheitsznstand der Station, der 
Truppen und des Hospitals sorgfältig eintragen. Sein Nachfolger 
musste die Beobachtungen in derselben Weise wieder aufnehmen. 
Wenn ein Medicinal-Director oder der von ihm beauftragte Inspector 
die Station besuchte, so hatte er in dieses Buch das Resultat seiner 
Beobachtungen einzutragen. 

In hygienischer Beziehung wurde den eigentlichen Baracken, den 
Räumen und Zellen ffir Gefangene, sowie den Hospitälern eine be- 
sondere Sorgfalt gewidmet, namentlich bezfiglich der reichlichen Ge- 
währung von Licht und frischer Luft. Plan, Construction der Ba- 
racken, sowie die Art der Heizung und Ventilation werden durch viele 
vortre£fliche Holzschnitte erläutert. DerNachtheii der ausgeatbmeten 
Luft in mit vielen Menschen angef&llten Räumen, dieses „Luftkothes^ 
(aerial filth) oder dieses »physiologischen Miasmas*', wie Becquerel 
diese schlechte Luft nennt, wird mit ganz besonderer Sorgfalt be- 
rflcksichtigt. Es wird die Ansicht ausgesprochen, dass die organi- 
schen Ezhalationen in den Fällen von Pneumonie oder Typhus, in 
welchen die regressive Metamorphose sehr rasch vor sich ginge, ffir 
andere Kranke, welche an Rheumatismus oder Verwundungen litten, 
viel schädlicher seien, als der Rheumatismus und das Fieber selbst. 

Das Minimum von frischer Luft, wobei das Leben noch bestehen 
kOnne, sei nicht ganz genau bekannt. Dr. Read (lllustrations of 
Ventilation. Lond. 1844. p. 179) sagt hierfiber Folgendes: „In einem 
längliehen metallischen Kasten, der nur so geräumig war, dass ich 
mich horizontal hineinlegen konnte, und dessen Thfir luftdicht ver- 
lOthet wurde, vermochte ich nur 1—2 Stunden auszuhalten/' Dies 
Experiment wurde in etwas veränderter Form und zu andern Zwecken, 
frfiber in der Marine in den sogenannten Schwitzkasten (Sweat 

10^ 



148 Litteratür» 

boxes) angestellt. Dies sind b61zerne Behälter, welche nur so gross 
sind, dass ein &fann aufrecht darin stehen kann. Gewöhnlich fanden 
sich in der Thür und den Seiten Bohrlöcher. Ein zweistündiger Auf- 
enthalt in denselben erzengt gewöhnlich eine grosse Erschöpfung, 
und verschiedene Fälle sind vorgekommen, in welchen eine vollstän- 
dige Bewusstlosigkeit die Folge war. Mit Recht hält man gegen- 
wärtig diese Art der Bestrafung ffir entehrend und unerlaubt. 

Als Grundsatz gilt, dass in den gemässigten Klimaten jeder 
Soldat in den Baracken 600 GF. Luftraum erhält, wovon in den Schlaf- 
zimmern 50—60 FuBS auf die Oberfläche kommen. Unter 36 Grad 
nördlicher Breite soll der Luftraum 800 OF. und die Oberfläche 70 
Fnss betragen. In einem Schlafraum von 24 F. Breite, 12 Fuss Höhe 
und 67 F. Länge sollen ffir 30 Mann stfindlich 60,000 GF. Luft ein- 
nnd ausgetrieben werden. Bei warmem Wetter dienen hierzu die 
geöffneten Fenster. Bei kaltem Wetter wird die Heizung mit der 
Ventilation verbunden, obgleich es als besser anerkannt wird, die 
Heizung von der Ventilation zu trennen. 

Der strahlenden Wärme wird der Vorzug vor der erwärmten Loft 
gegeben, weil letztere weit mehr Feuchtigkeit aufnehme. Das Erd-. 
Gloset wird gerfibmt, aber nur fQr Lager, Stationen etc. 

In den Hospitälern soll jeder' Raum 24 Fuss breit, 15 Fuss hoch 
und so lang sein, dass auf einen Mann 1200 GF. Luftraum kommen. 
Auf jeder Seite sollen Fenster angebracht werden, wovon eins auf 
zwei Betten kommt. Sie reichen beinahe bis zur Decke. Die Ven- 
tilation soll wenigstens 3000 GF: frische Luft pro Mann und Stunde 
liefern. 

Bei dem umfangreichen Werke, welches in grösster Ausffihr- 
lichkeit die lokalen Verhältnisse schildert, ist es nicht möglich, auf 
die Einzelheiten einzugehen. Für Militairärzte ist es eine Fundgrube 
der wichtigsten Beobachtungen, da die Beschreibung der einzelnen 
Militair- Stationen den Haupttheil desselben ausmacht. 

In einem Anhange wird die Methode der Prüfung der Luft in 
den Baracken mitgetheilt. Bei der Bestimmung der Kohlensäure ver- 
fuhr man nach der «Quantitativen Analyse von Fresenius* und 
nach Pettenkofer. Bei der Bestimmung der organischen Stoffe 
wurde ^Parkes's Manual of Practical Hygieina** zu Grunde 
gelegt. Die „Military- Hygieina** desselben mfisse jeder Militair - Arzt 
der Armee besitzen und mache es unnöthig, die Details derselben 
zu behandeln. 



Dr. Th. L. W. t>. Bischofs Professor zu München. Bemer- 
kungen zu dem Reglement für die Prüfung der 
Aerzte vom 25. Sept. 1869 im frühern norddeut- 
schen Bunde. München 1871. 



Litteratnr. 149 

Das Bestreben der süddentschen UniTersitäten , sich an das 
Prfifungs- nnd Promo tionswesen des seitfaerigeo norddeutschen Bun- 
des anzuschliessen , ist mit Dank als einen Beitrag zur deutschen 
Einigkeit zn begrfissen. Auch Verfasser wünscht diese Einigkeit nnd 
vergleicht das oben erwähnte Prüfungs- Reglement mit dem Bayeri- 
schen, nm zn prüfen, was der Süden vom Norden nnd der Norden 
vom Süden anzunehmen hat. Jedenfalls ist der Verfasser durch eine 
langjährige Thätigkeit als Lehrer und Examinator zn einer solchen 
Prüfung berechtigt. 

PrüfuDgs-Behörden. Verfasser verlangt, dass die medizini- 
schen Facultäten aller Universitäten die Prüfungs - Gommissionen bil- 
den und die Universitäts • Professoren in erster Linie die Prüfenden 
sind. Er verwirft die Berufung nicht lehrender Personen zu Exami- 
natoren. Nur in Ausnahmefällen behält er sich den Recnrs auf diese 
vor. Nur der Lehrende sei im freien Gebrauche des Lehrfaches, wie 
er zu einer guten und gerechten Prüfung ndtbig sei. Ausserdem 
hält er den Nachweis eines wenigstens 4jährigen Universitäts - Stu- 
diums für nothwendig. 

Prüfungs-Fächer. Da auch schon in Bayern eine naturwissen- 
schaftliche Prüfung in Chemie, Physik, Zoologie, Botanik nnd Mine- 
ralogie besteht, so wünscht er das Tentamen physicnm des nord- 
deutschen Bundes beizubehalten. Auch billigt er es, dass die Prüfung 
in der Anatomie und Physiologie sowohl beim Tentamen phy- 
sicum, als bei der Approbations-Prüfung vorkomme. Nur ist er mit 
der Anordnung der anatomischen Prüfungen nicht einverstanden. 
Die physiologische Prüfung müsste schon im Tentamen physi- 
cnm so viel als möglich eine praktische sein. In der Schlussprfifung 
verlangt Verfasser noch eine mündliche Prüfung über Psychiatrie. 

Fragestellung. Auffallen der weise hält Verfasser es für das 
sicherste Mittel, die Frage durch das Loos bestimmen zu lassen. 
Den Einwurf, dass hierdurch das „Einpauken** befördert würde, sucht 
er zu beseitigen, nach unserer Ansicht aber in nicht überzeugender 
Weise. 

Gensur-Ertheilung. Verfasser will die Gensur: »sehr gut" 
wegfallen lassen und die Zahl der zu ertheilenden Noten auf 4 fest- 
setzen: 1. ausgezeichnet, 2. gut, 3. mittelmässig und 4. schlecht, er- 
laubt aber noch ünterabtheilungen, z. B. eine reine 2, aber auch 2^, 
2|, während 2J, 2J schon 3 liefern. 

Oeffentlichkeit der Prüfungen. Wenn Verfasser dieselbe 
für ein absolutes Sicherungsmittel sowohl für die Gandidaten gegen 
Parteilichkeit und Einseitigkeit der Examinatoren, als die Examina- 
toren gegen den Vorwurf solcher Parteilichkeit, zu grosser Strenge etc. 
hält, so wird ihm Jeder hierin beistimmen. In der Schlnssprüfnng 
besteht schon längst die Oeffentlichkeit, wird aber hier bei der phar- 
maceutischen Staatsprüfung mehr benutzt, als bei der medicinischen. 

PrüfnngS'^Gebflhren, Mit Recht legt Verfasser hierbei die 



150 Litterator. 

Zeit, welche die verschiedenen Examinatoren auf die PrQfang zu ver- 
wenden, za Grande. »Time is monej** macht sich als praktischer 
Grundsatz überall geltend. 

Bei den im Allgemeinen geringen Differenzen, welche Verfasser 
vorführt, ist anf eine vollkommene Einigung sehr zu hoffen. Dabei 
vergesse man nicht, dass das Prüfungsreglement vom 2ö. Sept. 1869 
unter den obwaltenden Verhältnissen sehr rasch aufgestellt werden 
musste, so dass die spätere Praxis schon manche Verbesserungen 
eingeführt hat, welche den Vorschlägen des Verfassers in mehreren 
Punkten begegnen. 



Tentb annnal report of tbe commissioners of pu- 
blic Charities and Correction, New-York, for 
tbe year 1869. Albany 1870. 

Dieser Bericht liefert jährlich eine Hospital- Statistik, welche ein 
grosses Interesse gewährt und Rechenschaft über die Verwaltung der 
zahlreichen Wohlthätigkeits- und Besserungs- Anstalten, so wie die 
aufgenommenen und behandelten Kranken ablegt. Deutschland dürfte 
»ich ein Beispiel an einer solchen Thätigkeit nehmen, welche Ver- 
waltungsbeamte und Aerzte in einem gemeinschaftlichen Streben ver- 
eint. Man erhält spezielle Mittheilungen über Gefangenhäuser, Stadt- 
Hospitäler, Krankenhäuser für Fieberkranke, Epileptische, Pocken- 
kranke, Unheilbare, Geisteskranke, Kinder, über Anstalten für obdach- 
lose Arme, Trunkenbolde, unheilbare Blinde, ober Besserungs- und 
Strafanstalten, Qber das Invalidenhospital, über Arbeitshäuser und die 
Marineschule. 

Interessant ist die Einrichtung eines sog. Ambulance-Gorps, 
welches Tag und Nacht zu jeder Stunde bereit steht, die Hülfsbe- 
dürftigen mittels eines passenden Wagens in die betreffenden Hospi- 
täler zu transportiren. Jeder Wagen kann 2 Patienten aufnehmen, 
ibt mit den nothwendigen medicinischen und chirurgischen Hülfsmit- 
teln versehen und wird von einem Wundarzte (Surgeon) begleitet. 
Zweckmässig ist auch die Einrichtung in der Morgue. Hier ist 
nämlich eine Tabelle angeschlagen, welche die Namen der recognos- 
cirten und die Zahl der unerkannt gebliebenen Verunglückten mit der 
Todesursache und dem Orte des Begräbnisses angiebt. Ausserdem 
linden sich dort noch die Photographitsen derjenigen Leichen, welche 
wegen vorgeschrittener Fäulniss frühzeitig beerdigt werden mussten, 
um später Bekannten und Verwandten noch Gelegenheit zur Identi- 
iicirung der Verunglückten zu geben. 

Sehr nacbahmungswerth sind die Bemühungen, die Geistes- 
kranken in der städtischen Irrenheilanstalt (New- York Gitj Lnnatic 
asylum) so viel als möglich auf eine angemessene Weise zu beschäf- 
tigen. Mit Recht hebt der ärztliche Bericht hervor, dass eine Un- 



Litteratar. 151 

tbätigkeit schon aaf ein gesnndes Gemoth nachtheilig wirkt, weshalb 
der kranke Geist um so eher einer äusseren Anregung bedürfe. Es 
wird eine Menge von Gegenständen aufgeführt, welche zugleich zur 
Erheiterung der Kranken benutzt werden. 

Unter den Krankheitsformen herrschte die Manie vor. Unter 
680 Kranken kamen 263 Maniakalische, 163 Melancholische, 41 Wahn- 
sinnige, 13 Faral^rtiker , 28 Fälle von Mauia potu vor. Bhr Tod er- 
folgte ]7mal durch Erschöpfung (Exhaustion froro Mania) und 17mal 
durch Lungenphthise. 

In der Idioten-Anstalt war eine Typhus-Epidemie ausge- 
brochen. Sogleich wurden alle Mittel in Bewegung gesetzt, um die 
UrBache davon zu entdecken, welche man schliesslich in der durch 
die Röhtenleituug herbeigeführten Verschlechterang des Wassers fand. 
Beim Ausbruch des Scharlachs wurde sofort die strengste Isolation 
bewerkstelligt. Diese Maassregeln sind deshalb erwähneoswertb, weil 
sie beweisen, wie eifrig man in Amerika gerade wie in England stets 
die ätiologischen und prophylaktischen Momente im Auge behält. 

Beim reichhaltigen Inhalte dieses Berichts können wir nur einen 
kurzen Abriss davon liefern, empfehlen aber dieses Werk allen Hos- 
pitalärzten und Verwaltungsbeamten auf das Angelegentlichste. Druck 
und Papier ist vortrefflich. Schon bezüglich der äusseren Ausstattung 
solcher Werke überflügelt uns die neue Welt. 



Foarth annual Report of the Metropolitan Board 
of Health of the State of New-York. 1869. 
New-York 1870. 594 S. 

Vorliegender Bericht zeichnet sich gleich den früheren Jahr- 
gängen durch ein sehr reichhaltiges Material aus. Ausser den sta- 
tistischen und meteorologischen Mittheilungen kommen die wich- 
tigsten Fragen ans der öffentlichen Gesundheitspflege zur Sprache« 
Es werden namentlich die verschiedenen und zweckmässigsten Reini- 
gungsmethoden des Gases, die Kennzeichen eines guten Petroleums 
für die Beleuchtung (Kerosene) und die Resultate der Untersuchung 
der Miethwobnungen (Tenement - houses) erörtert. Interessant ist 
auch die m^ikroskopische Untersuchung einiger Wässer. Nicht gerin* 
gere Sorgfalt wird der Beaufsichtigung der. Milch gewidmet. 279 
verschiedene Sorten derselben wurden einer chemischen Analyse un- 
terworfen. Ausser der Verdünnung durch Wasser wurde in keinem 
Fall eine eigentliche Verfälschung nachgewiesen. Im Allgemeinen 
konnte man annehmen, dass auf drei Qnart purer Milch ein Quart 
Wasser kam. 

Bei der Untersuchung der Gosmetica wurde fast in allen Mitteln 
für den Haarwuchs (Hair Tonics, Washes, Restoratives) Blei nach- 
gewiesen. Viele Waschmittel für das Gesicht enthielten Sublimat 
und schwefelsaures Zink. 



152 Litteratur. 

Eine besondere Gommissioii hat das Desinfectionswesen in 
Händen und der Bericht des Vorsitzenden derselben liefert genaue 
Angaben fiber die Krankheiten, wobei desinficirt worden, und Qber 
die Häaser und Gebäude, in welchen die Desinfection stattgefunden 
hat. Als der Typhus in der Uten, I2ten und 13ten Strasse herrschte, 
wurden sofort alle Aborte auf beiden Seiten dieser Strassen, so wie 
die Kanäle mittels schweren Theeröls desinficirt. Ausser diesem 
Mittel kommt noch Garbolsäure, ein Gemisch von Garbolsäare und 
Gampher, schweflige Säure, Ghlcrkalk, schwefelsaures Eisen, zerklei* 
nerte Holzkohle und übermangansaures Kali zur Anwendung. Ffir 
KleiduDgsstficke und Bettzeug gebraucht man vorzugsweise eine Lo- 
sung von schwefelsaurem Zink unter Zusatz von etwas Garbolsäure. 

Bei der Pockenkrankheit zieht man die Räacherungen mit 
Schwefel vor. Es ist in New-York Regel, alle Räume, in welchen 
Pockenkranke verweilt haben, sofort mit schwefliger Säare und den 
Dämpfen der Garbolsäure zu desinficiren. Es ist Pflicht der Gesund- 
heitsbeamten, für die gewissenhafte Ausführung dieses Geschäftes 
Sorge zu tragen. 

Bei der Pockenkrankheit beobachtet man aber ausserdem noch 
die ausgedehnteste Isolirung bezüglich alles dessen, wodurch das 
Gontagium mitgetheilt werden kann, so dass alle Kleider, alle Lokale, 
ja jeder Gegenstand, welcher könnte inficirt worden sein, zuvor der 
Desinfection unterworfen werden, ehe sie in den Verkehr gelangen. 
Man giebt zu, dass das Maass der Entfernung, innerhalb welcher 
das Gontagium durch die Luft sich mittheilen kann, unbekannt 
ist; aber man habe hinreichenden Grund zu glauben, dass, wenn die 
Pocken in einer angehäuften Bevölkerung herrschend sind, das 
Gontagium sich durch die Luft fiber Strassen und Plätze von Haus 
zu Uaus ausdehnen könne, namentlich wenn ungewaschene und nicht 
desinficirte Kleidungsstücke und Bettzeug, wollene Decken und Ma- 
tratzen oder die Bekleidungsgegeustände der Kranken oder Verstor- 
benen auf dem Hofraum oder dem Dach ausgebreitet und der freien 
Luft ausgesetzt würden. 

Ohne den Werth der Isolirung und Desinfection 
gänzlich unterschätzen zu wollen, suchen wir den 
Schwerpunkt aller Schutzmaassregeln in einer geregel- 
ten Vaccination und Revaccination. Auch in New-York 
wird Jedem Gelegenheit geboten, »an dem wunderbaren Segen theii- 
zunehmen, welchen Jenner der menschlichen Gesellschaft % verlie- 
hen hat*. 

Dr. Elbg. 



9. 

Amtliche Verfugiingen. 



I. Betreffend die Briheilung von Concessionen für Privat- 

Krankenansialten. 

Der Herr Onterstaats-Secretair Dr. Leknert hat mir das Schreiben 
vom 4. d. Mts. und das dazu gehörige Promemoria vorgelegt, worin 
Ew. Wohlgeboren die Bestimmungen der neuen Gewerbe- Ordnung über 
die Privat-Kranken-, Privat- Irren- und Privat-Entbindungs- Anstalten 
besprechen. Ich kann den von Ihnen hierüber geäusserten Auffas- 
sungen nicht überall beistimmen. 

Dies gilt zunächst von der Ansffihrung, dass nur approbirte Me- 
dicinalpersonen fähig seien, die Goncession zur Anlegung einer Privat- 
Heilanstalt zu erlangen. Denn schon vor Erlass der neuen Gewerbe- 
ordnung sind dergleichen Concessionen vielfach an Laien verliehen, 
wenn Letztere durch Engagirnng von Sachverständigen die erforder- 
liche Gewähr für eine gehörige Krankenbehandlung boten. Hiergegen 
läset sich auch principiell Nichts einwenden, weil die Verwaltung 
eines Krankenhan ses ausser der eigentlichen Krankenbehandlung in 
ökonomischer und finanzieller Beziehung umfassende Thätigkeiten in 
Anspruch nimmt, für welche eine ärztliche Vorbildung nicht unbedingt 
nöthig ist. 

Dass hierin die Gewerbe- Ordnung für den Norddeutschen Bund 
eine neue bisher unbekannte Schranke habe aufrichten wollen, lässt 
sich nicht annehmen. 

Ebenso kann ich denjenigen Ausführungen nicht zustimmen, wel- 
che darauf abzielen, die Privat- Krankenanstalten etc. auf gleiche Linie 
mit den im §. 16. der Gewerbe-Ordnung genannten Anlagen zu stellen. 
De lege ferenda mag sich hierfür Manches sagen lassen. Die lex lata 
steht aber bei unbefangener Auslegung dieser Deductionen nicht zur 
Seite. 

Dagegen stimme ich Ew. Wohlgeboren darin bei, dass die bis- 
herige medicinal- und sanitiStspollzeiliche Beaufsichtigung der Privat- 
Kranken- etc. Anstalten durch die neue Gewerbe-Ordnung nicht auf- 
gehoben ist. Im Gegentheil; je mehr die neue Gewerbe- Ordnung die 
Berechtigung des Individuums zu möglichst freier Bewegung als lei- 
tendes Princip in den Vordergrund stellt, desto dringender wird die 
Aufgabe der Behörden, durch *» — -" '-***'* Ausübung des ihnen ver- 
bliebenen Aufsichtsrechte die möglichen Gefahren 



154 Amtliche Verfflgungen. 

jenes Princips zu schützen, soweit es innerhalb der dorch das Gesetz 
gezogenen Schranken geschehen kann. 

\Senn der §. 30. der neuen Gewerbe-Ordnnng die Ertheilnng der 
Concession Torschreibt, falls nicht Thatsachen vorliegen, welche die 
UnzQTerlädsigkeit des Nachsuchenden in Beziehung auf den beabsich- 
tigten Gewerbebetrieb darthun, so ist hierin die Präsumtion für die 
Zuverlässigkeit jeden Bewerbers um eine solche Concession ausge- 
sprochen. Wenn aber sodann §. 53. AI. 2. 1. c. die Zurücknahme der 
Concession unter der Voraussetzung gestattet, dass aus Handlungen ' 
oder Unterlassungen des Inhabers der Mangel derjenigen Eigenschaften 
klar erbellt, welche bei ihrer Ertheilnng vorausgesetzt werden mussten, 
so kann es bei gehöriger Beaufsichtigung einer mangelhaft geleiteten 
Privat* Krankenanstalt nicht schwer fallen, aus der Erfahrung heraus 
Thatsachen zu constatiren, welche die Dnzuverlässigkeit des Conces- 
sions-lnbabers in Beziehung auf seinen Gewerbebetrieb klar erheilen 
lassen. Dies genügt, um ihm sowohl die Concession zu entzieheoy als 
auch die Ertheilnng einer neuen zu versagen. 

Es kann hiergegen eingewendet werden, dass eine solche regres- 
sive Maassregel eine nothwendige präventive nicht ersetze. Das ist 
richtig, aber mehr gestattet das Gesetz nicht Eine verständige Auf- 
sichtsbehörde wird zwar wohlthun, bei Anträgen auf Verleihung der- 
artiger Concessionen sich Kenntniss von den für die Erreichung des 
Zwecks der Anstalt wesentlichen Einrichtungen zu verschaffen und 
den Unternehmer auf Unzuträglichkeiten, welche hierbei entgegen- 
treten, aufmerksam zu machen. Nur ist daran festzuhalten, dass 
dies lediglich ex nobili officio geschieht, und dass, wenn der Unter- 
nehmer sich unzugänglich zeigt, hieraus kein Grund zur Verweige- 
rung der Concession, wohl aber Anlass zu erhöhter Aufmerksamkeit 
auf die Leistungen der Anstalt und zu event. Einschreiten auf Grund 
des §. &3. AI. 2. zu entnehmen ist Oat der Unternehmer die ihm 
vor der Concessionirung erlheilten Winke unbeachtet gelassen, so 
muss er es sich selber beimessen, wenn ihm die Concession entzogen 
und hierdurch ein vielleicht bedeutendes finanzielles Opfer auferlegt 
wird. 

Ew. Woblgeboren wollen sich hieraus überzeugen, dass es auch 
innerhalb der durch die neue Gewerbe-Ordnung gezogenen Schranken 
recht wohl möglich sein wird, das Publikum gegen die Ausbeu- 
tung durch gewinnsüchtige Unternehmer von Privat- Heilanstalten zu 
schützen. 

Berlin, den 30. September 1870. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- 

Angelegenheiten. 

«Oft Mühler, 
An 
den Königl. Regiernngs- und 
Medicinal-Rath Dr. N. zu N. 



Amtliche Verf&gongen. 155 

II. Betreffend Verpachtang von Apotheken. 

Auf den Bericht vom 21. d. Mts., die Zalässigkeit der Verpach- 
tung von Apotheken betreffend, erkläre ich mich damit einverstanden, 
dass kein Grand vorliegt, die in dieser Beziehung früher angeordneten 
Beschränkungen, insonderheit die Verfügung vom 19. Mai 1821 noch 
ferner aufrecht zu erbalten. Die Zulässigkeit einer Stellvertretung 
im Betriebe von Apotheken ist nach den Bestimmungen der Gewerbe» 
Ordnung für den Norddeutschen Bund, namentlich nach den §§. 45 und 
151 derselben zu benrtheilen; der privatreehtliche Theil aber, auf 
Grund dessen die Stellvertretung stattfindet, ist einer amtlichen Co- 
gnition nicht zu unterwerfen. 

Berlin, den 28. Februar 1871. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinai- 

Angelegenheiten. 

von Mühler. 
An 

die Königl. Regierung zu N. 



UL Betreffend die Taxe für homöopathische Arxnei- 

Verordnungen. 

Es sind Über die Anwendung der Taxe für homöopathische ^Arz- 
nei-Verordnungen vom 6. August 1869 Zweifel entstanden, welche 
mich veranlasst haben, die gutachtliche Aeusserung der technischen 
Commission für pbarmaceutische Angelegenheiten zu erfordern. Ich lasse 
der Königlichen Regierung dieses Gutachten abschriftlich hier /.eben 
zugehen mit der Veranlassung, die darin abgegebenen Erklärungen 
zur Erledigang von dort etwa ebenfalls obwaltenden Zweifeln hin- 
sichtlich der Auslegung der gedachten Tax • Bestimmungen zu be- 
achten. 

Berlin, den 16. März 1871. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- 

Angelegenheiten. 
An 
sämmtliche Königliche Regierungen und 
Landdrosteien und das Königliche 
Polizei-Präsidium hier. 

Abschrift. 

Die verschiedene Auslegung, welche die Taxe für die homöo- 
pathischen Arznei-Verordnungen vom ö. August 1869 erfahren hat, be- 
ruht lediglich auf einer nicht genauen Beachtung des Wortlautes der 
einzelnen Positionen derselben. 

Im Allgemeinen ist zu beachten, dass die Taxe in ihren Positio- 
nen 1 8 iucl. nur Preise für gewisse Quantitäten fertiger ho- 
möopathischer Präparate feststellt, hierbei jedoch von Drogueupreisen 
oder sonstigen Bestimmungen der allopathischen Arzneitaxe yoll- 
ständig absieht. 



156 Amtliche Yerffigongen. 

Die bei den PositioDen 1—5 ansgeworfeDen Preise kommen nur 
dann zur Anwendnng, wenn die betreffenden Arzaeiformen an und 
fQr sich, d. h. einfach und ohne weitere Beimischang verordnet sind. 
Die Position 6 aber, welche zn den in Frage stehenden Differen- 
zen vorzugsweise Anlass gegeben hat, laatet: 

»Solutionen, ans ürtinctaren oder Verdfinnnngen und einem 
»Yehikei bereitet,^ d. h. welche bereitet wor- 
den sind. 
Es handelt sich hierbei folglich nicht nm den Ansatz eines 
Preises ffir die Bereitung oder fQr die einzelnen Bestandtheile 
solcher Solutionen oder Mixturen, ebensowenig wie nm etwaige 
Mischnngs- oder andere Arbeitspreise. Es sollen diese Solutionen 
oder Mixturen der Position 6 vielmehr nur nach dem absoluten Ge- 
wicht der ganzen verordneten Quantität berechnet werden. 

Dasselbe gilt für die Position 8 hinsichtlich der Anzahl der 
Pulver und für die Scheinpnlver im 2. Alinea der Position 10, 
bei welchen ohne Rücksicht anf den Inhalt an Milchzucker oder des 
homöopathischen Ingredienz nur die fertige Pulverzahl zu be- 
rechnen ist. 

Wir glauben, dass es nach dieser Declaration einer etwanigen 
Abändernng der Bestimmungen der homöopathischen Arzneitaxe vom 
5. Angust 1869, welche zu Zweifeln anderweit bisher nicht Anlass 
gegeben hat, nicht bedürfen wird. 
Berlin, den 3. Februar 1871. 

Die technische Commission für die pharmaceutischen 

Angelegenheiten, 
(gez.) Drm Houaselle, Schacht Laux. Link» Kohligk, 
An 
den Königlichen Staats- und Minister 
der geistlichen etc. Angelegenheiten 
Herrn Dr. von Mühler. 



IV. Betreffend die bei der Rinderpest entstehenden Kosten. 

Mit Rücksicht anf die Bestimmung im §. 3. des Gesetzes vom 
7. April 1869 (B. G. Bl. S. 105), Massregeln gegen die Rinderpest 
betreffend, veranlasse ich die Königliche Regierung etc., eintretenden 
Falls nicht allein die Kosten ffir die Abschätzung des in Folge der 
Rinderpest getödteten und gefallenen Viehes, der vernichteten Sachen 
und enteigneten Plätze, sondern auch diejenigen Kosten, welche durch 
die angeordnete Desinfection und die hiermit, sowie mit der Tödtung, 
dem Transport und der Verscharrung des Viehes in Verbindung 
stehenden Arbeitsleistungen erwachsen, bei dem Herrn Bundeskanzler 
zur Erstattung ans der Bundeskasse zu liquidiren. 

Berlin, den 13. April 1871. 
Der Minister der geistlichen^ Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten. 

In Vertretung. 
An 
sämmtliche Königliche Regiernngen und 

Landdrosteien und das hiesige Königl. 
Polizei «Präsidium. 



Amtliche Yerfagongen. 157 

y. Betreffend die Glycerin- Lymphe. 

Die Königliche RegieruDg etc. erhält in der Anlage eine Anwei- 
sung zur Bereitung der Glycerin- Lymphe mit der Veranlassung, solche 
schleunigst zur öffentlichen Kenntniss zu bringen und gleichzeitig die 
Ereisphysiker und Impfärzte zu beauftragen, sich auf diese Weise 
stets in den Besitz eines hinreichenden Vorraths von Lymphe zu 
setzen. Bei der in vielen Gegenden gegenwärtig epidemisch auftre- 
tenden Pockenkrankheit handelt es sich zur raschen Bekämpfung der- 
selben ganz besonders um eine zeitige Revaccination, zu deren ergie- 
bigen und massenhaften Ausführung sich die Glycerin-Lymphe nach 
den vielen jetzt vorliegenden Erfahrungen vorzüglich eignet. Ebenso 
zweckmässig ist sie auch bei der öffentlichen Vaccination in Anwen- 
dung zu bringen, deren mangelhafte Ausführung keine Entschuldigung 
mehr in der fehlenden Lymphe finden kann. Da die Impfpusteln eines 
einzigen Impflings bei zweckmässiger Behandlung mit Glycerin einen 
sehr reichlichen Impfstoff liefern und somit die Impfung von Arm zu 
Arm in Wegfall kommt, so wird das ganze Impfgeschäft durch die 
Glycerin-Lymphe ausserordentlich erleichtert und aller bisher damit 
verbundenen Inconvenienzen überhoben. 

Die Königliche Regierung etc. wolle deshalb dieser Angelegenheit 
die grösste Aufmerksamkeit widmen und die darüber gemachten Er- 
fahrungen bei der Einreichung der General-Impftabellen mittheilen. 

Berlin, den 10. Mai 1871. 

Der Minister der geistl., Unterrichts* und Medicinal- Angelegenheiten. 

In Vertretung: 

gez. Lehnert» 

An 
sämmtliche Königl. Regierungen und 
Landd rosteten und das hiesige KgL 
Polizei-Präsidium. 

Anlage. 
Anweisung zur Bereitung der Glycerin-Lymphe. 

Man Öffne die normalen und kräftig entwickelten Pocken eines 
gesunden Impflings so, dass die Lymphe reichlich ausfliesst. Am besten 
geschieht dies in der Weise, dass man mit einer scharfen und feinen 
Impfnadel vielfach in die Basis der Pocken flach einsticht. Die nach 
einigen Minuten ausfliessende Lymphe nimmt man wiederholt mit einer 
breiten Lanzette auf, wobei man durch Streichen der Lanzette über 
die Pocken den Abfluss der Lymphe befördert. Durch Abstreifen der 
Lanzette bringt man die Lymphe alsdann auf ein Uhrglas und fügt 
derselben chemisch reines Glycerin und destillirtes Wasser in dem 
Verhältniss hinzu, dass auf 1 Theii Lymphe 2 Theile Glycerin und 
2 Theile destillirtes Wasser kommen. Man mischt hierauf die Lymphe 
mit dem Glycerin und Wasser mittels eines neuen Tuschpjnsels stark 
zusammen und armirt mit letzterem auch, wenn sofort geimpft wer- 
den soll, die Impflanzette oder Impfnadel reichlich. 

Soll die Lymphe aufbewahrt werden, so lässt man sie aus dem 
ührglase in starke Haarröhrchen ziehen, oder man bereitet die ganze 
Mischung sogleich in einem neuen Arzneigläschen (etwa von 2,0 bis 



158 Amtliehe VerfQgiingeo. 

3,0 GriD. Inhalt) oder man drQckt die Lymphe aas dem Uhrglase 
mittels des Pinsels in das Gläschen 

Die aaA>ewahrte Gljcerin - Lymphe moss vor jedesmaligem Ge- 
brauche Yon Nenem dareheinander gerührt werden. 

Will man grosse, lymphreiche Pusteln erzielen, so impfe man nicht 
mit der Impfnadel, sondern mit einer reich armirten Lanzette dorch 
seichte Einschnitte, in welche man die Lymphe durch wiederholtes 
Hinfiberstreichen mit der Lanzette stark eindringen lässt. 

Berlin, den 10. Mai 1871. 



VI. Betreffend die Obduotiona-yerhandlnngen. 

Der Königlichen Regierung erwiedcre ich auf den Bericht Tom 
24. ▼. Mts. (A. IIb. 763), dass fiber die Menge der in den meisten 
Abschriften der zur Superrevision eingehenden Obductions-Verhand- 
lungen vorkommenden sinnentstellenden Schreibfehler von der König* 
liehen Wissenschaftlichen Deputation für das Medicinai-Wesen wieder- 
holt Klage geffihrt worden ist. So viel als möglich wird auf diese 
Fehler bei der Benrtheiinng der Arbeiten Rücksicht genommen; da 
es häufig aber zweifelhaft bleibt, ob es sich in solchen Fällen um 
einen Schreibfehler oder um einen von den Obduccnten uurichtig 
gewählten Ausdruck handelt, so kann hin und wieder auch wohl ein 
die Obdncenten irrtbümlich gravirendes Urtheil ausgesprochen 
werden. 

Diesem Uebelstande würde nur dadurch abzuhelfen sein, dass 
die Obdncenten selbst dafür Sorge trügen, sich von den Gerichts- 
behörden resp. den Kanzleien derselben die Vorlage der Abschriften 
ihrer Obductions-Verhandlungen behufs Collationirnng vor deren A.b- 
Sendung an die Königlichen Regierungen in jedem einzelnen Fall zu 
erwirken. Obwohl ein derartiges Verfahren sich allerdings nicht fiber- 
all ausfahrbar erweisen wird, so wolle die Königliche Regierung df>ch 
die Kreisphysiker ihres Verwaltungsbezirks auf diesen Weg zur Ver- 
meidung des beregten Oebelstandes, welcher mindestens der Wissen- 
schaftlichen Deputation nicht zur Last gelegt werden kann, um so 
mehr aufmerksam machen, als die Befolgung desselben dem Verneh- 
men nach ffir einzelne Kreisphysiker sich in der Tbat bereits be- 
währt bat 

Berlin, den 17. Mai 1871. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- Angelegenheiten. 

In Vertretung: (gez.) Lehnert. 
An 

die Königliche Regierung zu Arnsberg. 

Abschrift vorstehenden Erlasses vom 17. d. Mts erhält die iCö- 
nigliche Regierung etc. zur Kenntnissnahme und Nachacht nng. 
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- Angelegenheiten. 

In Vertretung. 
An 
sämmtliche Königliche Regierungen, 
Landdrosteien und das Königliche 
Polizei-Präsidium hier. 



Amtliche Yerffigangen. 159 

VIX. Betreffend das DesinfectionsTeifUireii bei der Rotz- 
krankheit. 

Der KdDigHchen Regierong überseDde ich auf den Bericht vom 
4. April d. J. (A. IV b. u. II. 357) anliegcDd zur weiteren Veranlas- 
BDOg die gewfinscbte 

»gemeiofassliche Anleitung für das DeBiofections-Yerfahren 

bei der Rotzkrankheit** 
mit dem Bemerken, dass die sonstigen Anträge des Berichts abge- 
sondert verhandelt werden. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- 

Angelegenheiten 
Im Auftrage : (gez.) Knerk. 
An ^ 

die Königliche Regierung zu N. 

Abschrift hiervon und der Anlage erbalten die Königlichen Re- 
gierungen etc. zur Kenntnissnahme und event. Benutzung. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und MedicinaU 

Angelegenheiten. 
Im Auftrage. 
An 
sSmrotliche Königliche Regierungen, 
Landdrosteien und das Königliche 
Polizei-Präsidium hier. 

Gemeinfassliche Anleitung 
ffir das Desinfectionsverfahren bei der Rotzkrankheit 

Der Ansteckungsstoff der Rotzkrankheit ist fix und nur insoweit 
fifichtig, als er an der feuchten Hant- und Lungendünstnng haftet, ohne 
jedoch in der Luft länger wirksam zu bleiben;' weshalb es sich bei 
der Desinfection nicht um eine Vertilgung desselben in der atmo- 
sphärischen Luft, sondern an Gegenständen handelt, welche eine 
üebertragung vermitteln können. Diese Gegenstände sind namentlich: 

Ställe und Eisenbahnwagen, Stallgeräthe und Patzzeug, Pferde- 
decken, Sättel, Geschirre und Wagendeichsel. 

Zo den praktischen und wirksamsten Desinfectionsmitteln 
gehören : 

1) heisses Seifenwasser und Seifenlauge — zur Reinigung; 

2) Kalk und Chlorkalk, letzterer in einer Mischung von 1 Ge- 
wichtstheil auf 10 Gewichtstheile Wasser — zur Desinfection der 
Stall wände. Decken und Fussböden; 

3) rohe Garbolsäure fär sich allein — zur Desinfection hölzer- 
ner Gegenstände — oder 

mit einem fetten Oel zu gleichen Gewichtstheilen — zur Desin- 
fection des Holz- und Eisenwerkes und des Lederzeuges — und 

trockene Hitze nicht unter 60^ G. — besonders zur Desinfection 
der Pferdedecken, Satteldecken etc. 

Das Desinfectionsverfahren bei den verschiedenen Gegenständen: 

1) Die Pferdeställe. 

Reinigung von Dünger, Entfernung der hölzernen Krippen und 
Raufen, des hölzernen Fussböden s und der alten schadhaften Bretter- 
verschläge. Der hölzerne Fussböden ist nicht wieder verwendbar, die 
fibrigen Gegenstände können wieder benutzt werden nach sorgfälti- 
ger Reinigung mit heissem Seifenwasser oder heisser Lauge und nach 
Ueberstreichen mit roher Garbolsäure fQr sich allein oder in Verbin- 
dang mit Oel, wenn das Holz fest und gesund, d. h. nicht angefault 



160 Amtliehe YofiiguiigeB. 

oder wnmiBtiehig ist Mieht ^tferabues Hols- oder BiBenwerk, wie 
»och steiDeme Krippen werden im Stalle ebenso gereinigt und mit 
Carbols&ore behandelt; die steinernen Krippen können anch mit 
Chlorkalk desinficirt werden. W&nde and Decken werden mit Kalk 
oder Chlorkalk flbertfincht; wo Stroh oder Heu die Ställe decken, 
sind diese Gegenstände, wenigstens die unteren Schichten derselben 
zn entfernen and anderweitig, d. h. nicht bei Pferden za yerwenden. 
Feste« nndarchlassende Fassböden werden abgeschlemmt und mit 
Chlorkalk behandelt; schlechtes Pflaster wird anfgenommen nnd die 
Erde bei nngepflasterten Passböden, wie anch nach anfgenommenem 
Pflaster so tief entfernt, als sie dnrchfeachtet erscheint Die alten 
Pflastersteine können nach gehöriger Reinigung wieder benatzt 
werden. 

2) Eisenbahnwagen. 

Reinigung von allen Excrenenten , im Innern abwaschen mit 
heissem Wasser nnd darauf mit Carbolsäure behandeln, wie das Holz- 
werk in den Pferdeställen. 

3) Stall-Utensilien. 

Hölzerne Geräthschaften werden yernichtet (verbrannt), w^nn sie 
werthlos sind, sonst aber, wie bereits angegeben, gereinigt und mit 
CarboUäore bebandelt; die Strigeln können im Feuer desinficirt wer- 
den, das fibrige Putzzeug aber wird vernichtet 

4) Zäume, Sättel und Geschirre. 
Das Polsterwerk muss entfernt nnd neu ersetzt werden; das 
Lederzeng wird einige Stunden in heisses Seifenwasser eingeweicht, 
mit BQrsten gereinigt nnd hierauf mit Carbolsäure-Oel bestrichen. 
Gebisse und Ketten legt man einige Minuten ms Feuer. 

5) Decken, 
gleichgültig ans welchen Stoffen sie bestehen, werden mit kochendem 
Seifenwasser gebrfiht nnd gewaschen, oder mit einer trockenen Hitze 
nicht unter 60 ' C. in Backöfen etc. einige Stunden ausgesetzt. 

6) Die Wagendeichsel 
wird desinficirt wie das Holzwerk im Pferdestalle. 

Berlin, den 22. Mai 1871. 



0«4rtt«kt b«l JaUttS Slttinfold in B«rlln. 



10. 

Achtfacher Mord, 

aasgefnhrt von Timm Thode in Gross -Kämpen (Provinz 

Sdileswig- Holstein) an Vater, Nntter, Schfifester, vier 

Brndem und einem Dienstmadehen 

mit Brandstiftung. 

Acienmässig dargestellt 

Ton 

Dr. Cioeze^ 

bisher Physikus in Itzehoe, Jetzt Arzt In Hamburg. 



Mit Recht werden die gerichtsärztlichea Facbgenossen schon 
länger nach einem authentischen Bericht über ein Verbre- 
chen ausgesehen haben^ welches grossartig in seiner Anlage 
und Ausfuhrung, über jeden Begriff scheusslich und wider- 
natürlich, in weiten Kreisen das peinlichste Aufsehen er- 
regt hat. — Und in der That sieht man sich in der ganzen 
criminalistischen Litteratur vergebens nach einem Fall uni, 
der auch nur entfernt an Grossartigkeit und Scheusslichkeit, 
an bestialischer Roh heit und gemeinster Berechnung dem Timm 
TAode'schen Verbrechen an die Seite gestellt werden könnte, 
und es bietet der ganze Criminalfall, sowohl was die Art 
der Ausführung und die Persönlichkeit des Thäters, als 
auch was den Verlauf der Untersuchung, sowie eine Reihe 
dabei in Betracht kommender gerichtsärztlicher Fragen be- 
trifft, eine solche Fülle von interessantem Material, dass ich 

YlertaUahrsiehr. f. ger. Med. N. F. XV. 2. H 



162 Achtfacher Mord. 

es als eine anf mir rahende Verpflichtong empfinde, die 
Eiozelnbeiten dieses Criminalfalles , bei welchem ich als 
Gerichttfarzt wiederholt in Thätigkeit getreten bin, etwas 
eingehender zu schildern. Nur den gehäuften ärztlichen 
Bernfsgeschäften ist die Schuld beizumessen, dass ich mit 
der Mittheilung des reichen Stoffes so verspätet in die 
Oeffentlichkeit trete. 

Ich werde es meine Aufgabe sein lassen, in einem 
ersten Abschnitt eine möglichst gedrängte Geschichtserzäh* 
Inng des Verbrechens, sowie Auszfige aus dem von mir er- 
statteten Gutachten zu geben, während ich in einem zweiten 
Abschnitt einzelne interessante Seiten des Criminalfalles 
heryorzuheben , zum Schluss aber eine Schilderung der 
ganzen Persönlichkeit des Mörders zu liefern gedenke, wie 
sie sich nach den Acten und in seinem Verhalten von der 
Zeit des Mordes bis zu seiner Hinrichtung dem Beobachter 
dargestellt hat 

Erster Abschnitt. 
A. GeschichtseriäUaDg. 

In der Nacht vom 7. auf den 8. August 1866 brannte das 
dem Hofbesitzer Johann Thode in Gross-Eampen gehörende 
Gehöft unter Umständen ab, welche sofort über das Vorhan- 
densein eines ungewöhnlichen Verbrechens nicht den gering- 
sten Zweifel Hess. — Von dem ganzen Personal der Haus- 
bewohnerschaft — Vater, Mutter, fünf erwachsene Söhne, 
eine Tochter und ein Dienstmädchen — entging nur ein Ein- 
ziger dem Tode: der reichlich 20jährige Timm Thode. Dieser 
war vor dem Schlafstubenfenster des Nachbars mit dem Ge- 
schrei: es brenne, zu Boden gestürzt, in anscheinend unbesinn- 
lichem Zustande ins Haus getragen worden und hatte weitere 
Auskunft nicht mehr ertheilen können. Mit sich genommen 



Achtfacher Mord. 163 

hatte er zwei kleine Kästchen, in denen sich das Silberzeug, 
die Werthpapiere und einiges Geldpapier befanden, sowie 
einige Kleidungsstücke, welche auf dem Steinpflaster des 
Nachbarhofes neben ihm liegend gefanden waren. 

Der Nachbar S. eilte mit seinem Sohne sofort zur 
Brandstelle, fand alle Thuren verschlossen und bahnte sich 
durch Einschlagen eines Fensters den Weg in die Schlaf- 
stube der Familie. — Alles im Hause ist ruhig und lautlos, 
das Wohnhaus im Innern nur noch wenig vom Feuer er- 
griffen, während die daneben liegende Scheune — mit einem 
Strohdach versehen wie das Wohnhaus — in hellsten Flam- 
men stand. — Mit Hülfe seines Sohnes bringt der Nachbar 
aus den zwei Bettstellen der Familienschlafstube vier mensch- 
liche Leichen heraus, welche theilweise mit brennendem und 
glimmendem Stroh bedeckt lagen, und zeigen sich bald an 
mehreren derselben nebst starken Spuren von Verbrennung 
Zeichen eines gewaltsamen Todes, W'unden und Blutflecken. 
— Ein weiteres Durchsuchen des Hauses wird wegen des 
mehr sich entwickelnden Feuers und namentlich wegen des 
Rauches, der bereits alle Räume durchdringt, zur Unmög- 
lichkeit, und erst am anderen Morgen findet man beim Ab- 
räumen des Schuttes die vier übrigen bedeutend verkohlten 
Leichen. Zwei derselben lagen in dem am Hiuse befind- 
lichen Pferdestall nebst den verkohlten Resten eines grossen 
Hundes, die zwei anderen stark verkohlt auf den Resten 
der fast vollständig verbrannten Betten, und zwar eine 
männliche in der Schlafkammer der drei Brüder, die weib- 
liche, dem Dienstmädchen angehörige, in der Mädchen- 
kammer. Die vier zuerst herausgeschafften zum Theil an- 
gebrannten Leichen gehörten dem Vater, der Mutter, der 
Schwester und einem grossgewachsenen Bruder von 15 Jahren 
an, welcher in demselben Bett mit der Schwester geschlafen 

hatte. 

II* 



134 Achtfacher Mord. 

Der einzig Üeberlebende aus dem Haase lag in einem 
anscheinend bewasstlosen Zustande den ganzen folgenden 
Tag bis zum Morgen . des 9. August. — Seine ersten An- 
gaben über das von ihm in der Schreckensnacht Erlebte 
gingen dahin : er habe beim Erwachen aus einem schweren, 
betäubten Schlaf die Scheune hell brennen sehen, habe die 
in seiner Schlafstube aufbewahrten beiden Kästchen, Werth- 
sachen enthaltend, welche erst vor Kurzem, da sein Zimmer 
nach zwei Seiten Fenster hatte, ihm zur grösseren Sicher- 
heit vom Vater übergeben worden, an sich genommen, so- 
wie einige gerade zur Hand liegende Kleidungsstücke, sei 
zum Fenster hinausgesprungen und habe nun beim Schein 
der brennenden Scheune vier bis fünf Männer auf dem Hofe 
stehen sehen, habe diese in der Meinung, dass es die Sei- 
nigen wären, angerufen, habe dann aber von denselben zuerst 
einen Schuss auf sich abfeuern sehen, sei davongelaufen und 
habe noch die Verfolgung und einige ihm nachgesandte 
Schüssp gehört. Darauf sei er an das Fenster des Nachbarn 
gelaufen (etwa 300 Schritt von dem Thode^&chQn Gehöft 
entfernt) und sei dann besinnungslos auf das Steinpflaster 
gefallen. Aus diesem betäubten Zustande sei er erst am 
Morgen des 9. August erwacht. 

Freilich lenkten verschiedene eigenthümliche Umstände 
sofort den Verdacht der Thäterschaft auf den einzig über- 
lebenden Timm Thode, namentlich das schlechte Verhältniss, 
in welchem dieser eine Sohn zum Vater und zu den älteren 
Brüdern gestanden hatte; dann der Umstand, dass alle 
Werthsachen und besonders alle Papiere sich gerade durch 
diesen überlebenden Sohn gerettet fanden; dann die Un- 
möglichkeit, irgend welchen Raub in dem Hause nachzu- 
weisen, und verschiedene andere mehr oder minder gravi- 
rende Momente. — Der erste Untersuchungsrichter aber, 
ein noch der nun glücklich beseitigten Patrimonialgerichts-* 



Achtfacher Mord. 165 

barkeit angehöriger Einzelrichter, welchem ein zweiter com- 
missarisch beigeordnet wurde, gelangte bei sorgfaltiger Prü- 
fung aller in Betracht kommenden Momente zu dem Schluss : 
wenn der überlebende Sohn an der That betheiligt gewesen^ 
so müsste derselbe die ganze That allein ohne irgend eine 
Beihülfe vollführt haben; da das aber, an sich eine phy* 
sieche und moralische Unmöglichkeit, in diesem Falle um 
so mehr undenkbar sei, indem trotz der durch die Obduction 
nachgewiesenen Gegenwehr bei einigen der Ermordeten an 
dem Timm Thode bei sorgfältiger Untersuchung weder eine 
Hautverletzung, noch eine Blutspur am Morgen nach der 
That aufzufinden war, so müsste von diesem Verdachte ab- 
gesehen und nach anderen Seiten hin die Spur des Thäters 
verfolgt werden. 

So geschah es, dass während das Gericht nach allen 
Seiten die angestrengtesten Nachforschungen anstellte, na- 
mentlich auch in Betreff eines im Pferdestall gefundenen 
Schlächterbeils, mit welchem muthmaasslich die That aus- 
geführt war, — der immerhin nicht unverdächtige Timm 
Thode nach einem kurzen unfreiwilligen Aufenthalt in dem 
Privatzimmer eines Gefangenwärters bald wieder, nur unter 
eine Art von polizeilicher Aufsicht gestellt, freien Fusses 
umherging. 

Von Anfang August 1866, wo die Greuelthat geschah, 
bis Anfang Mai 1867 machte die Enthüllung des grausigen 
Räthsels keinerlei Fortschritte und erst mit der Anfang 
Mai durch eine obercriminalgerichtliche Gommission neu 
aufgenommenen Untersuchung gelang es, Licht in das un- 
heimliche Dunkel zu bringen. Timm Thode wurde inhaftirt, 
scharf inquirirt Tag auf Tag, bald durch eine Reihe schla- 
gendster Verdachtsgründe mehr und mehr in die Enge 
getrieben und schon 14 Tage nach dem ersteq Verhör vom 
Geständnis» gebracht« 



tgg Achtfacher Mord. 

Das Geständniss nun, welches in allen Hauptsachen 
auch später von ihm festgehalten ist, giebt von den Ein- 
zelnheiten der grässlichen That folgendes Bild. 

Schon länger war der Plan gefasst, durch Ermordung 
seiner ganzen Familie sich in den Besitz des Vermögens 
und des Hofes zu setzen. Plan war es, die Opfer nicht im 
Schlaf zu überfallen, wo leicht der Eine oder Andere wach 
werden konnte, sondern jeden Einzelnen zu überfallen und 
meuchlings zu erschlagen. Die Ausführung dieses Planes ge- 
schah in folgender Weise. Während Vater und Mutter am Nach- 
mittag zu einem Besuch ausgefahren und der älteste Bruder 
ebenfalls vom Hause abwesend war, war Timm mit seinen 
drei Brüdern, Martin^ Cornila und Reimer^ am Nachmittage 
des 7. August besohäftigt, von dem ausgedroschenen Stroh 
den zum Decken von Strohdächern bestimmten sogenannten 
„Schoof^ zu binden und denselben von der Hausdiele in 
die 30 — 40 Schritt entfernte Scheune zu tragen. — Bei die- 
ser Arbeit nun wusste der Mörder es einzurichten, dass 
während die beiden Brüder Reimer und Cornih nach dem 
Wohnhause zu gingen, um die letzte Tracht Schoof zu holen, 
er dem Martin soweit voran in die Scheune kam, dass er 
Zeit hatte, eine sogenannte Handspake, eine 4 — 5 Fuss 
lange dünne Keule aus Eschenholz, mit einem Gewicht von 
15 — 16 Pfd., deren mehrere ihren regelmässigen Platz in 
der Scheune hatten, zu ergreifen und damit dem Martin beim 
Eintritt in die Scheune unvermerkt aufzulauern. Er Hess 
ihn an sich vorübergehen und tödtete ihn von hinten mit 
einem sicheren Schlage auf den Kopf, dem er, als der 
Bruder vornübergefallen am Boden lag, noch einige weitere 
hinzufügte. Die Leiche wurde mit Schoof bedeckt, ehe der 
zweite Bruder Reimer mit einer neuen, der letzten Tracht an- 
kam. Auch dieser wurde in gleicher Weise mit derselben 
Waffe beim Eintritt in die Scheune getödtet und mit Stroh 



Achtfacher Mord. 167 

bedeckt. — Es galt jetzt, da kein Schoof weiter hinflber- 
zatragen war, den dritten Bruder mit List in die Scheune zu 
locken. Timm sagte ihm, der Bruder Martin meine, der Schoof 
müsse auf den Bilgen gebracht werden, Cornih möge mit 
einer Forke (Heugabel) nachkommen. Beim Eintritt in die 
Scheune wurde auch der dritte Bruder, der den nach ihm 
geführten Schlag, zu spät freilich, gewahr wurde und aus- 
zuweichen versuchte, niedergestreckt und mit einigen raschen 
Schlägen auf den Kopf vollends getödtet. — Timm schloss 
nun die Scheune ab, ging ins Haus, um Stiefeln und eine 
andere Hose anzuziehen, um die bisher unbesudelt gebliebene 
Hose nach beendeter Blutarbeit wieder anziehen und da- 
durch den Beweis liefern zu können, dass er die am Tage 
des Verbrechens getragene Arbeitshose, von Blut rein, am 
anderen Tage noch angehabt habe. — Jetzt begann ein 
schweres Stück Arbeit. Die drei Leichen mussten, da es 
noch hell war, gegen 6 ühr Abends, — und da der 
Bruder Johann vielleicht nach seiner Zurückkunft noch den 
Wagen, mit welchem er zum Steinfahren aus war, in die 
Scheune bringen konnte, in ein sicheres Versteck gebracht 
werden. Timm brachte die Leichen der drei erschlagenen 
Brüder mittelst treppenartig aufgestapelten Schoofes auf den 
sogenannten Bilgen, einen offenen Raum oberhalb des Kuh- 
stalles , indem er sie bei den Beinen hinaufzog und dann 
mit Stroh bedeckte. — Jetzt schloss er die Scheunenthür 
und ging, nachdem er noch eine weite leinene Hose über 
die blutige Hose angezogen und seiner ihm im Hause be- 
gegnenden Schwester gesagt hatte, seine Brüder seien wohl 
auf den Scbaafhandel aus, in den Aussendeich, um die Zeit 
bis zur Rückkehr seiner Eltern und seines Bruders Johann 
besser hinzubringen. 

Um 7^ Uhr kam Timm nach dem Hofe zurück und 
befand sich nun mit seiner Schwester und dem Dienst- 



168 Achtfacher Mord. 

m&dchen allein im Hause, indem eine Näherin, — später 
die einzige Zeugin ffir die Vorkommnisse an dem Nach- 
mittage des Mordes, — bei seiner Rückkehr gerade fort- 
gegangen war. Jetzt ass der Mensch mit seiner Schwester 
und dem Mädchen zu Abend, legte sich in seiner Stube 
reine Wäsche und ein Paar Pantoffeln zurecht und über- 
legte noch einmal die weitere Ausführung seines Planes. 
Zuerst sollte Johann und der Vater erschlagen werden; „mit 
den Frauenzimmern werde er dann leicht fertig.^ — Beim 
Dunkelwerden kam der Bruder JoJiarm mit seinem Bauwagen 
heim, und gleich darauf auch der Wagen, auf dem sich der 
Vater und die Mutter befanden. Timm lockte den Johann unter 
einem Verwände in dieselbe Scheune, wo die ersten Morde 
vollbracht waren und erschlug ihn in gleicher Weise hinter- 
rücks mit der Handspake. Der Anschlag gegen den Vater, 
den er in den Pferdestall zu locken versuchte, misslang 
zuerst, indem die Tochter den Vater begleitete. Erst 
der zweite Versuch gelang. Hinter dem Vater hergehend 
und seine Handspake durch ein Brett, welches er auf der 
Schulter trug, maskirend erschlug er den Vater in dem 
Augenblick, als sich dieser gegen ihn umwandte, auf der 
unweit des Hofes gelegenen Weide, wohin er ihn unter dem 
Verwände gelockt hatte, dass das Vieh in den Waizen 
durchgebrochen sei. Jetzt wurde von dem Scheusal aus 
dem Hause ein Schubkarren und Spaten geholt, die Leiche 
des Vaters nebst einem Stück des ausgestochenen blutigen 
ßasens, — welches ja zum Verräther werden konnte, — 
nach dem Hause gefahren und in den Pferdestall gebracht. 
Zur weiteren Fortsetzung des Werkes sollten nun zunächst 
die beiden grossen Hunde des Hauses beseitigt werden, um 
gegen Störungen gesichert zu sein. Der eine Hund wurde 
mit einem Strick aufgeknüpft und getödtet, dem anderen 
sollte mit einem grossen Taschenmesser die Gurgel durch- 



Achtfacher Mord. 169 

schnitten werden. Der Schnitt kam indessen nicht tief 
genug, der Hand riss sich los and veranlasste durch sein 
Geheul, dass die Mutter des Timm mit einem Licht aus 
der Stube trat, um nach der Ursache des Geheuls zu fragen. 
Der Mörder, in der Besorgniss, seine Mutter und Schwester 
könnten Verdacht geschöpft haben und vielleicht entfliehen, 
bescbloss jetzt, rasch und direct auf seine Opfer einzudringen 
nnd ein Ende mit ihnen zu machen. Er holte aus einem 
Wandschrank der Diele ein grosses Schlächterbeil und drang 
mit demselben in das kleine Zimmer, in welchem Mutter 
und Schwester sich befanden, letztere bereits im Bette. — 
Die jetzt folgende Scene ist über jede Beschreibung gräss- 
lich und die Feder sträubt sich, die Einzelnheiten derselben 
zu schildern, — das Resultat des Kampfes war, dass der 
Tiger Mutter und Schwester, welche dem Morder nur ein 
Umklammern und flehentliche Bitten um ihr Leben als 
Wafi^en entgegenzustellen hatten, mit Axtschlägen, bald mit 
der schaffen Schneide, bald mit dem Rücken geführt, nieder- 
metzelte, nnd zuletzt, als es mit der Schwester nicht 
rasch genug ging, ein Tischmesser zu Hülfe nahm und da- 
mit schnitt und stach, wohin er nur trefien konnte. — 
Endlich wurde es stille und Alles war gethan. — Hiernach 
ist denn noch zum Schluss als letztes Opfer das Dienst- 
mädchen gefallen, welche in ihrem Bette liegend und schla- 
fend im Dunkeln mit der Axt erschlagen wurde. — Nach- 
dem die Blutarbeit beendet, nahm der Mörder nun noch 
eine Reihe von Handlungen, die zur Verdeckung seiner 
Unthat dienen sollten, und eine Reihe von Beraubungen vor, 
die ein Bild von unbeschreiblicher Rohheit und Habgier und 
von einer Kaltblütigkeit geben, die zu dem Unerhörtesten 
und Teuflischsten gehört, was in der Griminalistik je vor- 
gekommen ist. — Die Leichen wurden von allen Seiten 
herbeigeschleppt und zwar auf dem Umwege durch den im 



170 Achtfacher Mord. 

Haase befindlichen Pferdestall, weil der Mörder bef&rchtete, 
das Oeffnen der grossen Dielenthür könnte von einem Vor- 
abergehenden bemerkt werden. Jede Leiche sollte in das 
ihr gehörige Bett gebracht werden. Es gelang dem Mörder, 
Vater und Matter, Reimer und die Schwester in ihre Betten zu 
schleppen, auch den Comils brachte er in sein in der Knecht- 
kammer befindliches Bett, dagegen musste er Martin und «Tb- 
kann als zu schwer und wahrscheinlich auch wegen eintreten- 
der eigener Erschöpfung im Pferdestall liegen lassen, und da 
Johann noch immer etwas „Wind hatte^, so holte er einen im 
Pferdestall hängenden Hammer und schlug damit so lange 
auf den Kopf des Bruders los, „bis aller Athem heraus war.^ 

um sich die Früchte seiner That nun möglichst voll- 
ständig zu sichern, ging er jetzt an ein Plündern der Lei- 
chen ; zum Johann kehrte er in den Pferdestall zurück, fühlte 
sich dessen Leiche heraus, da er wusste, dass ef Geld bei 
sich habe, und nahm ihm sein Portemonnaie aas der Tasche, 
sowie sein Messer, suchte auch noch nach einem Tbaler, 
der ihm herausfiel und der auch später beim Abräumen des 
Schuttes neben der Leiche gefunden ist. — Von der Leiche 
des Vaters hatte er sich schon vorher den Geldbeutel mit 
dem Schlüssel herausgenommen, der zu dem kleincil Kasten 
mit Werthsachen gehörte, sowie den zum „Cylinder**. Aus 
der Tasche der Mutter nahm er das Kleingeld, sowie den 
Schlüssel zu einer kleinen Kasse, in welcher der Erlös aus 
verkauften Eiern verwahrt wurde. 

Mit teuflischer Berechnung begann nun erst die ^Reini- 
gung, ehe die Leerung der Kassen bewerkstelligt wurde. 
Die Reinigung geschah in der Küche und im Dunkeln, „um 
nicht vom Deich aus gesehen zu werden. ** Alsdann wurde 
das früher zurecht gelegte Zeug, die am Tage getragene 
Arbeitshose u. s! w. angezogen. Alle betreffenden Kasten 
und Kästchen raffte er zusammen, begab sich mit denselben 



Achtfacher Mord 171 

in die nach hinten gelegene Knechtkammer, verschlosB das 
Fenster durch eine Luke und ordnete die verschiedenen 
Kassen und Werthsachen. — Zum Schluss durchsuchte er 
auch noch im grossen Zimmer den Gylinder, holte aus dem 
Zimmer, in dem die vier Erschlagenen, Vater, Mutter, die 
Schv^ester und Reimer lagen, aus einem Schrank zwei bis 
drei Arme voll des besten Zeuges und begann nun die Brand- 
stiftung. Zuerst zündete er die Scheune an, in der ja die 
Blutspuren vertilgt werden mussten, dann trug er Stroh in 
die Knecbtkammer, bedeckte die Leichen in der kleinen 
Stube in ihren Betten mit Stroh und legte an beiden Stellen 
Feuer an. 

Jetzt ging er mit seinem Raub, einer Anzahl guter 
Kleidungsstücke und seinem Bettzeug aus dem Fenster der 
grossen Wohnstube, in welcher er zu schlafen pflegte, in 
der Absicht, auf der Brandstelle zu bleiben, bis Leute kom- 
men würden, die ihn bewusstlos auf der Erde liegend finden 
sollten. — Es wurde ihm jetzt aber doch etwas „dösig* zu 
Muthe und er konnte es auf der Hofstelle nicht recht mehr 
aushalten. — Mit den beiden Kästen unter dem Arm und 
so vielem Zeug als er tragen konnte, ging er längs dem 
Teich nach des Nachbars Gehöft und wartete hier die 
weitere Entwickelung des Feuers ab. — Als das Dach der 
Scheune einstürzte, glaubte er nicht länger warten zu dürfen, 
obwohl das Wohnhaus noch immer nicht brannte; er ging 
an das Schlafzimmer des Nachbarn, machte Feuerlärm und 
liess sich bewusstlos ins Haus tragen. — Jetzt spielte er 
die Komödie fortdauernder Bewusstlosigkeit bis zum Morgen 
des 9. August. 

Indem ich es mir für den zweiten Abschnitt meiner 
Arbeit vorbehalte, die einzelnen für den Gerichtsarzt und 
Psychologen interessanten Seiten dieses Criminalfalles des 
Weiteren hervorzuheben, lasse ich jetzt aus den Obductions- 



172 Achtfacher Mord. 

berichten, soweit sie von dem Dr. Dreesen und mir in 
dieser Sache erstattet sind, Einiges im Aaszuge folgen. 

B, €atachteii« 

Ich werde mir gestatten, nur den einen Obductions- 
bericht, welcher sich auf die am stärksten verstümmelte, 
aber vom Feuer verschont gebliebene Leiche bezieht, unter 
Hinweglassung des ObductionsprotokoUs ziemlich vollständig 
zu geben, von den übrigen Gutachten aber, von denen sich 
sechs auf die von mir und dem Dr. Dreesen besichtigten Lei- 
chen, zwei auf die vom Physikus Dr. Ta^g und einem hinzu- 
gezogenen Arzte aus N. vorgenommenen Obductionen be- 
ziehen, nur einzelne Momente hervorzuheben, welche aus 
irgend einem Grunde ein besonderes Interesse beanspruchen. 

1. Gntaehteii über die Leiche der Anna Thade. 

Die im Obdactionsprotokoll yerzeichneten Verletzungen, 36 bis 
37 an der Zahl, sind theils Hautwunden, theils KnochenverletznDgeo 
voD gröBster Bedeutung. Die Wunden yertbeilen sich über Kopf, Hals 
und beide oberen Extremitäten, während der Übrige Körper keine 
Verletzungen aufweist. — Im Gegensatz zu allen übrigen von uns 
besichtigten Leichen finden sich bei dieser keine Spuren von Ver- 
brennung. Von den Wunden betreffen 3 (vielleicht 4) den Schädel, 
welcher durch dieselben gesprengt ist, und von denen 2 einen ober- 
flächlichen Defect des Schädelknochens veranlasst haben, 3 das Ge- 
sicht, darunter eine scharf bis auf den Kuoehen des Unterkiefers 
dringend und die grosse Ohrspeicheldrüse durchschlagend, eine bis 
auf den rechten Augenhöhlenrand eindringend, mehrere leichte am 
Hals (ihre Zahl ist nicht angegeben). — Von diesen Kopf- und 
Hals wunden haben drei bedeutende, tief dringende und offenbar mit 
grosser Gewalt geführte, ihre Lage auf der linken Seite des Schei- 
tels; ausserdem liegen noch einige Halswunden links. Auf der rech- 
ten Seite dagegen befinden sich nur eine Wunde am Schädel, eine 
Gesicbtswunde und einige leichtere Halswunden. 

Ausserdem zeigen Schultern und obere Extremitäten eine 
grosse Anzahl meist schwerer Verletzungen, nämlich rechtersei ts 
3 Pleischwunden der Schulter, ferner 8 Verletzungen des Vorderarms 
und der Hand, von welchen an der Rückseite der Hand und an der 
Streck Seite des Vorderarms sich 2 der Länge nach verlaufende Haut- 
wunden und eine tiefe, in die Handwurzelknochen dringende Querwunde 



Achtfacher Mord. 173 

befinden, an der Bengeseite des Vorderarms aber und an der inneren 
Fläche der Hand eine Hautwunde zwei Finger breit über dem Hand- 
gelenk und in der Hand neben 3 oberflächlichen Hautwunden eine 
durch die ganze Uohlband gehende tiefe Querwunde, Muskeln und 
Sehnen der Hand durchschneidend. 

Die linke Oberextremität ist mit noch zahlreicheren und noch 
schwereren Wunden bedeckt. Zunächst ist das linke Schultergelenk 
durch einen das Acromialende des Schulterblattes zerschmetternden 
Schlag, sowie dnrch eine mit diesem parallele Hautwunde betrofifen, 
der Oberarm dnrch 2 tief dringende Qoerwunden, deren eine den 
äusseren Gondjlus des Ellbogens gespalten hat, ferner der Vorder^ 
arm dnrch 3 an der Streckseite gelegene Querwunden, deren 2 den 
Hauptknochen des Vorderarms gespalten resp. verletzt haben. Noch 
dringt eine Querwunde in die Rücken fläche der Handwurzelknochen 
und ausserdem sind neben 5 oberflächlichen Querwunden der Haut 
3 Wunden der Rückseite der Hand resp. der Finger bezeichnet. 

Nachdem wir obige übersichtliche Gruppirung der ge- 
fundenen Verletzungen vorangescbickt, gehen wir an die 
von dem Gericht gestellten Fragen. 

A, »Von welcher Art die an der Leiche der Anna Thode 
„gefundenen Verletzungen gewesen sind, ob Stich-, 
„Schnitt- oder Hiebwunden, und im letzteren Falle 
„ob mittelst eines scharfen oder stumpfen Instru- 
„ments zugefügt?^ 

Aus der Beschaffenheit der gefnodenen Verletzungen, welche 
tbeils eine Conti nuitätstrennung der Weichtheile, theils eine bedeu- 
tende Zerschmetterung der tiefer gelegenen Theile bewirkt haben, 
geht zunächst hervor, dass sowohl ein scharf, wie ein mit stumpfer 
Gewalt wirkendes Werkzeug zur Anwendung gekommen sein muss. 

Als Wunden durch ein scharfes Werkzeug beigebracht stellen 
sich dar »die tiefe mit glatten Rändern, 3i Zoll lang, auf den Unter- 
kiefer dringende Gesicbtswunde'', die „quer verlaufende, 1 Zoll lange 
Hautwunde bis auf den unteren Rand der Augenhöhle dringend', die 
»Fleischwunden der rechten Schultei'% die ,» Fleisch- und Knochen- 
wunden der linken Schulter*', sowie „sämmtliche an den Ober- und 
Vorderarmen beiderseits befindlichen Wunden.' — Was die an den 
Händen gefundenen Wunden betrifft, so r&hrt die 2 Zoll lange, quer 
verlaufende, bis in die Mittelbandknochen dringende Wunde, die längs 
verlaufende Hautwunde, die 3 Zoll lange, die Sehnen trennende und 
in die vordere Reihe der Handwurzel knochen eindringende Querwunde, 
die beiden am' Daumen befindlichen, bis auf den Knochen dringenden 
Wunden unzweifelhaft vou einem scharfen Werkzeuge her, und lässt 



174 Achtfacher Mord. 

sich aus der Tiefe und ans der starken Verletzung der Knochen, bo 
namentlich an dem Schultergelenk, am Ellenbogen und an dem Haapt- 
knochen des Vorderarms, sowie an den Handgelenken, der zweifellose 
Sehlnss ziehen, dass das scharfe Werkzeug mit bedeutender V^ucht 
gegen die Theile eingewirkt habe. ^ Nach der Länge der Hautyer- 
letzungen, welche von 3 bis \ Zoll variirt, lässt sich schliessen, dass 
die Schneide des Werkzeuges mindestens eine Länge von 3 Zoll ge- 
habt habe, und würden sich die kurzen Wunden in der Art unge- 
zwungen erklären lassen, dass das benutzte Instrument an seiner 
Schneide zwei scharfe Winkel gehabt habe, durch welche noth wendig, 
wenn der vordere oder hintere Winkel allein den Körpertheil traf, 
eine kurze i bis H Zoll laoge Verletzung der Haut bewirkt werden 
konnte. 

Ein Werkzeug nun, welches alle diese Eigenschaften an sich 
hat, ist offenbar eine nicht zu breite Axt mit scharfer Schneide, deren 
Winkel einem rechten sich nähere, und wird die Annahme, das ver- 
letzende Werkzeug sei eine derartige Axt gewesen, zu einer annähernd 
gewissen, wenn man noch die anderen Verletzungen, welche offenbar 
durch mehr stumpf wirkende Gewalt zu Stande gekommen sind, einer 
näheren Prfifung unterzieht. 

Als solche Verletzungen, deren Entstehung sich nur durch die 
Einwirkung einer wuchtigen, stumpf wirkenden Gewalt erklären lässt, 
steht obenan die Zersprengung des ganzen Schädeldaches, wie sie im 
Obductionsprotokolle des Näheren beschrieben ist. — Eine solche Zer- 
sprengung der Schädelnähte, welche überhaupt nur bei Menschen im 
JDgendlichen Alter möglich ist, 'wo die später eintretende knöcherne 
Verwachsung der einzelnen Schädelknochen noch nicht vollständig 
vor sich gegangen ist, kann nur zu Stande gebracht werden, wenn 
der den Schädel treffende Schlag nicht so sehr auf den unmittelbar 
betroffenen Knochenrand wirkt, sondern seine Einwirkung auf den 
ganzen Omfang des Schädelgewölbes gewissermaassen strahlenartig 
ausbreitet. — Eine derartige Gewalt wird niemals mit einem mit der 
Schneide eindringenden Werkzeug, sondern nur mit einem stumpf 
wirkenden zu Stande zu bringen sein, und wird es als Erforderniss 
angesehen werden müssen, dass das hierzu gebrauchte Werkzeug ge- 
nügendes Gewicht habe und mit starker Wucht, aber mit mehr breiter 
Fläche den Körpertheil treffe. — Als ein solches Werkzeug aber wird 
eine Axt, und zwar die Rückseite derselben, als das durchaus ent- 
sprechende sich wie von selbst darbieten, und wird eine solche An- 
nahme in diesem Falle zur Gewissheit erhoben, wenn man den Haut- 
wunden und Knochenverletzungen, wie sie am Schädel beschrieben 
sind, eine grössere Aufmerksamkeit zuwendet. — Die hier in Betracht 
kommenden Verletzungen zeichnen sich vor allen Übrigen durch die 
Eigenthümlichkeit aus, dass die eine Hautwunde als »lappig*' mit 
einem nach links und hinten zu liegenden Winkel, die andere 1 Zoll 
nach rechts von der Mittellinie des Schädels gelegene als eine 



Achtfacher Mord. 175 

»dreieckig lappige Wände*" bezeichnet ist, und dass auerserdem Schä- 
delverletzungen sich vorfanden von ganz charakteristischer Art. 

Diese beiden Schädelverletzangen bestehen in einem Substanz- 
defect an der äusseren Oberfiäche des Schädelknochens, die erstere 
f Zoll lang und i Zoll breit, (oder genauer gemessen nach Entfernung 
der weichen Schädeldecken 1 Zoll lang und 4 Zoll breit), mit streifi- 
gem Ansehen und dadurch die Richtung des yerletzenden Werkzeuges 
von hinten nach vom constatirend. 

Die zweite gleichartige Schädel Verletzung weist sich als noch 
tiefergehend aus, indem der Knocbendefect fast die ganze Dicke des 
Knochens umfasst, »fast bis zur Glastafel eindringend'', und in einer 
Richtung liegt, »von oben nach unten und von innen nach aussen.^ 

Die Entstehungsweise einer derartigen Haut- und Knochen- 
verletzung nun ergiebt sich von selber. Das hierbei zur Anwendung 
gekommene Werkzeug muss die genügende Härte und Scbarfkantig- 
keit gehabt haben, uro eine dreieckig lappige Wunde mit darunter 
belegener oberflächlicher Abmeisselung des Knochens zu Stande zu 
bringen, und muss, nach dem streifigen Ansehen der einen Wunde 
zu urtbeilen, eine etwas unebene und schartige Kante gehabt haben. 
Die Berührung, in welche das Werkzeug mit dem Schädel gekommen 
sein muss, ist nothwendig von der Art, dass das von scharfen Kanten 
und Winkeln begrenzte scharfe Werkzeug vorzugsweise mit dem einen 
Winkel des vorderen Randes einen den Schädel stark streifenden 
Schlag zur Wirkung gebracht hat. — Dass aber mit der Rückseite 
einer Axt am leichtesten eine derartige Haut- und Knochenverletzung 
habe zu Stande gebracht werden können, liegt auf der Hand. 

Zu derselben Annahme wird man gedrängt durch die Eigenthüm- 
lichkeit der Hautwunde, welche durch ihre zackige Beschaffenheit, 
sowie durch die Abtrennung der Weichtheile, deren Ränder 1| bis 
2 Zoll von dem knöchernen Schädel abgetrennt sind, sowie endlich 
durch die blutige Infiltration der Wundränder als mit einem scharf- 
kantigen, doch stumpfen Werkzeug beigebracht sich charakterisirt. 

Diesem Befunde der Weichtheile entsprechend zeigt der darunter 
gelegene Knochen nicht etwa eine scharfe Wunde, sondern nur jene 
schon früher hervorgehobene Sprengung der Schädelnähte. 

Sonach sehen wir uns zu der Annahme gedrängt, dass auch 
diese 5 Zoll lange, »wie es scheint, aus 2 Wunden gebildete zackige 
Wunde*' mit den scharfen Kanten der Rückseite einer Axt müsse bei- 
gebracht sein, nicht aber mit der Schärfe derselben, und erscheint 
die im Obductionsprotokoll ausgesprochene Vermuthung, dass die 
zackige fünfzöliige Wunde aus zweien in einander übergehenden be- 
stehe, durchaus gerechtfertigt. 

Es erübrigt noch die Frage zu beantworten, ob auch die bisher 
nicht in Betracht gezogenen Verletzungen, namentlich die Wunden 
an der Innenfläche der rechten Hand, sowie die an beiden Seiten des 
Halses gefundenen, vielleicht auch noch einige der bereits bespreche- 



176 Achtfacher Mord. 

DCD kleineren Wunden an den oberen Extremitftten, auf die Anwendang 
eines andersartigen Werkzeuges mit Nothwendigkeit hinweisen resp. 
durch ein solches beigebracht sein können. 

Die durch die ganze innere Handfläche quer Terlaufende Wände 
von 4 Zoll Länge, von dem Mittelbandknochen des Daumen bis fiber 
den Kieinlingerrand reichend und tbeilweise Sehnen und Muskeln der 
Hand durchschneidend, hat so ausgesprochen den Charakter einer 
Schnittwunde, dasa nicht wohl an eine andere Entstehungsweide ge- 
dacht werden kann. Die übrigen bezeichneten Halswunden aber sind 
nach dem Obductiousprotokoil »anscheinend" Stichwunden von | Zoll 
Länge, offenbar aber von nur unbeträchtlicher Tiefe, da hier&ber keine 
Notiz verzeichnet ist, und können auch mehrere der fr&ber bereits 
erwähnten Verletzungen ebensowohl und noch leichter .durch Stieb, 
als durch die scharfen Ecken einer Axt entstanden sein. — Sehen 
wir zuerst die quere Schnittwunde an der inneren Fläche der rechten 
Hand etwas näher an in Bezug anf die vorliegende Frage, so ist es 
allerdings als „möglich* zu bezeichnen, dass ein Griff des unglück- 
lichen Schlachtopfers in die Schneide der Axt quer durch die ganze 
Hohlhand eine ähnliche Verwundung der Weichtheile habe efifectoiren 
können; indessen scheint doch der Umstand, dass diese Verwundung 
im Protokoll bezeichnet wird als über den Kieinfingerrand der Hand 
hinausgehend, in zu charakteristischer Wtise darauf hinzuweisen, 
dass durch den Zug eines Messers durch die dasselbe umschliessende 
Hohlhand diese beträchtlich lange (reichlich 4 Zoll messende) Ver- 
wundung entstanden sei. — Diese letztere Erklärung gewinnt aber 
noch mehr an Sicherheit, wenn man die in der Hohlhand noch ferner 
beflndlichen 8 oberflächlichen Wunden und die am Halse sich zei- 
genden Verwundungen berücksichtigt, welche klein, nur knapp i Zoll 
lang sind und den obducirenden Aerzten so evident als Stichwunden 
sich dargestellt haben, dass sie von einer näheren Beschreibung und 
von einer genaueren Angabe der Zahl glaubten absehen zu können. 
— Es würde eine Entstehung dieser Wunden durch die scharfen 
Winkel der Axtschneide gezwungen erscheinen, während sich diesel- 
ben ganz natürlich erklären, wenn man annimmt, dass bei dem länger 
dauernden Kampfe von dem Mörder schliesslich ausser dem eigent- 
lichen Mordwerkzeug, der Axt, noch ein spitzes Messer zu Hülfe ge- 
nommen sei, mit welchem Stiche nach dem unglücklichen Mädchen 
geführt wurden. 

Nach diesen Erörterungen sehen wir uns zu der Er- 
klärung berechtigt: 

1) Die sämmtlichen an der Leiche der Anna Tlwde vor- 
findlichen Verletzungen sind als Hiebwunden zu be- 
zeichnen, mit Ausnahme der unter 3. verzeichneten; 



Achtfacher Mord. 177 

2) als Werkzeug, mit welchem die sämmüichea Hieb- 
wunden beigebracht sind, muss mit einer an Ge- 
wissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit eine Axt mit 
scharfer, rechtwinklich begrenzter Schneide (diese 
letztere wahrscheinlich nicht viel über 3 Zoll lang) 
angesehen werden, welcher ein wuchtiger Schlag eigen 
war, sei es durch die Schwere des Eisens selbst, sei 
es durch einen verhältnissmässig langen Stiel; 

3) es ist wahrscheinlich, dass die Schnittwunde an der 
rechten Hand von einem scharfen Messer herrührt, und 
ebenfalls sind die übrigen Wunden in der rechten 
Hohlhand und die Wunden am Hals mit grosser Wahr- 
scheinlichkeit auf dasselbe scharfspitzige Werkzeug 
zurückzuführen. 

Die zweite von der Obercriminalgerichtlichen Gommis- 
sion gestellte Frage: 

B. „welche Verletzungen als die wirkende Todes- 
„ursache angesehen werden müssen?'' 
versuchen wir in Folgendem zu beantworten. 

Da in den Organen der Brast- und Unterleibshöhle bei dem 
wohlgenährten kräftigen jnngen Mädchen keinerlei Krankheiten, mit 
Ausnahme unerheblicher, das Leben nicht bedrohender Reste früherer 
Eraukheitsprozesse (Verwachsnug der rechten Lunge mit der Brnst- 
wand und mehrere kleine Blasen in beiden Eierstöcken) sich nach- 
weisen liessen, so haben wir unsere Aufmerksamkeit sofort der wich- 
tigsten Höhle, der Schädelhöhle zuzuwenden. 

Dieselbe zeigt die Spuren erlittener äusserer Gewalt in einer 
Ausdehnung und in einem Grade, die auch dem Laien sofort die Vor- 
stellung unbedingter Tödtlichkeit aufzwingt. Es finden sich im Ob- 
ductionsprotokoll drei resp. vier schwere Verletzungen des Schädels 
verzeichnet, von denen vielleicht jede einzelne für sich den Tod hätte 
herbeifuhren können. Die Wirkung dieser den Schädel treffenden, 
mit bedeutender Gewalt geführten Schläge mittels einer Axt hat zu- 
nächst in Erschütterung des Gehirns bestanden, dann in Zerreissnng 
der innerhalb der Schädelhöhle liegenden Blutgefässe und bedeuten- 
dem Blutaustritt an der Oberfläche des Gehirns, sowie in vollstän- 
diger Zersprengung des Schädeldaches, theilweise mit Absprengnng 

Vieriifljahraacljr. L ger. Ile4. N. F. XV. 2 12 



178 Achtfacher Mord. 

einzelner Knochensificke, so des hinteren Winkels vom rechten Seiten- 
wandbein und eines quadratischen Stückes Tom Winkel des Hinter- 
hauptbeines. 

Verwundungen der unmittelbar unter dem Sch&delknochen lie- 
genden harten Hirnhaut oder des Gehirns sind freilich nicht gefonden, 
dagegen sind beträchtliche Blutgerinnsel, besonders stark an der 
rechten Seite des grossen Gehirns, sowie an dem Hintertheil der 
linken Gehirnhälfte, blutige Durchtränkung der weichen Haat des 
Gehirns und eine auffallende Blässe der Gehirnsubstanz verzeich- 
net. Diese letzteren mit einander im Zusammenhang stehenden 
Veränderungen aber am Gehirn und seinen Häuten bezeichnen die 
weiteren Folgezustände, welche durch die auf den Schädel ausgeübte 
starke Gewalt neben der Gehirnerschfitternng (welche sich bekannt- 
lich darch einen anatomischen Befund nicht nachweisen lässt) her- 
vorgebracht sind und welche noch durch die übrigen tiefdringrendeo 
und schweren Verletzungen, welche das Gesicht, der Hals, namentlich 
aber die beiden oberen Extremitäten aufzuweisen haben, verstärkt 
worden sind. Durch sämmtliche Wunden hat ein beträchtlicher Blut- 
verlust herbeigeführt werden müssen, und die auffällig blasse Be- 
schaffenheit des Gehirns ist das objective Zeichen der im Körper der 
Anna Thode durch die zahlreichen Wunden, namentlich aber des 
Schädels bewirkten Blutarmuth. 

Sonach beantworten wir die uns gestellte Frage dahin: 

1) dass Anna Thode an Hirnerschütterung und Blutarmuth 
gestorben sei, und 

2) dass in erster Reihe und vorwiegend die verschiede- 
nen beträchtlichen Schädelverletzungen diese den Tod 
bedingenden Veränderungen herbeigeführt haben, dass 
aber die bedeutenden Verwundungen im Gesicht, am 
Halse und an den oberen Extremitäten zu der den Tod 
herbeiführenden Blutarmuth als mitwirkend angesehen 
werden müssen. 

Schliesslich wenden wir uns zu der dritten Frage der 
Obercriminalgericbtlichen Gommission : 

C „Giebt der Befund Momente an die Hand, aus denen 
„mit Sicherheit resp. einiger Wahrscheinlichkeit ge- 
„folgert werden kann, in welcher Lage und Situa- 
„tion die Verstorbene eine gewisse Verletzung er- 
„halten haben müsse und welche Stellung dabei 



Achtfacher Mord. 179 

„der Thäter eingenommen habe, wobei namentlich 
„auch in Betracht zu ziehen sein wird, ob üm- 
„ stände vorliegen, welche darauf hindeuten, dass 
„der Thäter die Waffe mit der rechten oder linken 
„Hand geführt habe?** 
Bei Beantwortung obiger Frage kommen folgende Mo- 
mente in Betracht: 

ZuDächst ist es klar, dass die Absicht des Mörders darauf ge- 
richtet gewesen ist, durch starke nach dem Kopf geführte Schläge 
mit der Axt dem Leben seines Opfers ein Ende zu machen. — Ans 
der Zahl aber der an beiden oberen Extremitäten vorgefundenen 
schweren Hautwunden lässt sich der Schluss ziehen, dass die tödt- 
lichen Streiche auf den Sch&del nicht sofort gelungen sind, dass viel- 
mehr nach dem Verunglücken des ersten Angriffs die beiden Arme 
von Seiten des unglücklichen Mädchens gebraucht siud, um die tödt- 
liehen nach dem Kopf geführten Streiche von dem Kopf abzuwenden. 
— Dabei ist offenbar der linke Arm vorzugsweise benutzt, den Kopf 
zu decken; darauf weisen die an der äusseren Seite der linken Schulter 
und des Oberarmes, die an der Streckseite des Vorderarmes, sowie 
an der Rückenfläche der Hand gefundenen schweren, bis in die Kno- 
chen dringenden Hautwunden hin, welche ihrer ganzen Beschaffenheit 
nach mit der Schärfe einer Axt müssen beigebracht sein. — Bemer- 
kenswerth ist es, dass die sämmtlichen Wunden der linken Ober- 
extremität von der Schulter bis zur Hand herab an der äusseren 
Seite resp. an der Streckseite des Vorderarmes und an der Rücken- 
fläche der Hand sich befinden, während die rechte Oberextrem i tat 
6 Wunden aufweist an der Beugeseite des Vorderarmes resp. an der 
inneren Fläche der Hand. — Es erhellt aber hieraus und aus der 
fiberwiegenden Zahl von Wunden an der linken Körperseite, dass der 
Mörder mit grösster Wahrscheinlichkeit die rechte Hand zur Ausfüh- 
rung seiner That gebraucht habe, und wird man mit grosser Wahr- 
scheinlichkeit voraussetzen dürfen, dass der Mörder an der linken 
Seite des Mädchens oder vor ihr gestanden habe, da es im entgegen- 
gesetzten Falle, wenn man eine Stellung desselben zur Rechten des 
Mädchens annähme, schwer zu erklären wäre, weshalb an dem zum 
Schutz des Kopfes erhobenen linken Arm die sämmtlichen Verwun- 
dungen sich an der äusseren Streckseite, am äusseren Gondjlus des 
Ellbogens befunden hätten, während doch viel eher die dann dem 
Mörder zugekehrte Beugeseite des Vorderarmes und viel eher der 
innere Gondylus des Ellbogens einer Verletzung ausgesetzt waren. 

Was nun die bis in die Mittelhandknochen dringende 2 Zoll lange 
Wunde auf dem Rücken der rechten Hand, sowie die ebenfalls auf 
dem rechten Handrücken liegenden beiden Hautwunden betrifft, so 

12* 



180 Achtfacher Mord. 

sind dieselben natürlich ebenfalls bei dem Vorhalten derselben zum 
Schatze des Kopfes entstanden, während die an der Beugeseite des 
rechten Vorderarmes, zwei Finger breit über dem Handgelenk liegende 
li Zoll lange Querwände der Haut, «nach der Kleinfingerseite za oiit 
zackig lappigem Rande*", sichtlich als eine Wunde sich darstellt, die 
beim Greifen der rechten Hand nach dem Mordwerkzeng , während 
dasselbe zu einem neuen Schlage ausholte, als Streifwunde ent- 
standen ist. 

Zu demselben Resultat werden wir gedrängt, wenn wir die den 
Tod herbeiführenden, vorwiegend links gelegenen bedeutenden Schädel- 
▼erletzungen , sowie die bedeutende Gesichtswunde berücksichtigen, 
welche unterhalb des linken Ohrläppchens beginnend bis zu 1 Zoll ?on 
dem Nasenflfigel sich erstreckt und die Ohrspeicheldrüse durchschla- 
gend bis auf den aufsteigenden Ast des Unterkiefers gedrungen ist. 

Die natürliche Entstehungsweise dieser sämmtlichen Wunden ist 
nämlich die, dass ein Mensch mit der rechten Hand die Alt schwin- 
gend und vor oder links Yon dem Mädchen stehend die Wunden bei- 
gebracht habe, während man bei der Annahme, es seien diese Ver* 
letzungen durch die linke Hand des Mörders zugefügt, zu der immer- 
hin bei solchem Kampfe, wie er offenbar stattgefunden hat, unwahr- 
scheinlichen Voraussetzung gelangt, der Mörder müsse dabei hinter 
dem Mädchen gestanden haben. — Uebrigens scheint die Eigenthüm- 
lichkeit der unterhalb des linken Ohrläppchens beginnenden queren 
Gesichtswunde, dass dieselbe »nach vorn zu mit geringer, nur die 
Haut betreffender Tiefe*" verlief, mit ziemlicher Sicherheit darauf hin- 
zuweisen, dass der Streich von vorn oder von der linken Seite des 
Mädchens geführt sei, und würde damit die Annahme, der Mörder 
habe die linke Hand gebraucht, nur in der gezwungensten Weise ver- 
einbar sein. 

Dass übrigens während der Dauer des Kampfes vielfach eine 
Aendernng der Stellung von beiden Seiten eingetreten sei, ist an sich 
klar, wenn man sich vergegenwärtigt, eine wie lange Zelt und in wel- 
cher Todesangst das bemitleidenswerthe Mäd« hen sich gewunden ha- 
ben mnss, ehe der letzte tödtliche Streich dem Leben und dem Kampfe 
ein Ende machte. 

Es geht das aber ausserdem ans der Lage der Wanden hervor, 
und zwar zunächst aus dem Umstände, dass auch die rechte Schulter 
3 Fleischwunden zeigt, von denen die eine »2 Zoll von dem äusse- 
ren Rande des Schultergelenkes'' liegt, also an einer Stelle, welche 
nur zugänglich erscheint, wenn man sich den Mörder bei der Ent- 
stehung dieser Verletzung rechts von dem Mädchen stehend denkt. 

In welcher Lage sich die Unglückliche befunden habe, als sie die 
Mehrzahl der Arm- und Schädelwunden erlitt, ob sie im Bette liegend 
oder im Bette aufrecht sitzend verwundet sei, darüber giebt die Be- 
schaffenheit der Mehrzahl der Wunden keinen sicheren Aufschluss. — 
Es ist aber eine Veiletzuug am Schädel vorhanden, welche mit 



Achtfacher Mord. 181 

grosser Wahrscheinlichkeit den Schluss verlangt, entweder dass das 
Bett der Ermordeten ein ungewöhnlich niedriges und der Mörder von 
bedeutender Grösse gewesen sein müsse, oder aber, dass das Mädchen 
in dem Moment der Verwundung niedriger als der Mörder, also etwa 
in knieender Stellung auf dem Erdboden sich befanden habe. Die 
Verwundung, welche zu dieser Annahme drängt, ist die dreieckig 
lappige Hautwunde, den Winkel der Wunde nach links und hinten 
gekehrt, mit einer Abmeisselung eines KnochenstQckes von \ resp. 
1 Zoll und i Zoll Breite; eine Verwundung, welche man sich nur ent- 
standen denken kann in der Weise, dass der Mörder mit dem rechten 
Winkel des vorderen Randes von der Rückseite des Beiles von oben 
her die convexe Fläche des Scheitels gestreift habe. Eine solche 
Streifung aber ist nur dann denkbar, wenn man annimmt, dass die 
Höhe des Scheitels sich ziemlich viel niedriger befunden habe, als 
die geschwungene Axt des Mörders. Wäre dagegen der Kopf des in 
einem Bette von gewöhnlicher Höhe aufrecht sitzenden Mädchens von 
der in der angegebenen Weise einwirkenden Axt getroffen worden, 
so hätte wohl eine dreieckige Hautwunde, nicht aber eine solche 
Streifwunde an der äusseren Fläche des Schädels entstehen können, 
sondern wäre ein Knochenbruch, vielleicht ein Eindruck des abge- 
sprengten Knochenstfickes die Folge gewesen. (Nebenbei bemerkt 
spricht auch die Lage gerade dieser Wunde auf's Entschiedenste 
dafür, dass der Mörder die rechte Hand bei seiner Unthat gebraucht 
habe.) 

Die zweite am Hinterhauptbein gefundene Wunde, welche eine 
ähnliche, nur noch tiefer gehende Streifung der äusseren Fläche des 
Knochens aufweist, schräg von oben nach unten und von innen nach 
aussen verläuft, ist am wahrscheinlichsten in ähnlicher Weise wie 
die vorige entstanden, indem von verhältnissroässig bedeutender Höhe 
(aber hier von hinten her) die Axt den Knochen gestreift hat; und 
auch die verschiedenen langen und tief dringenden Verletzungen an 
den oberen Extremitäten machen die Annahme wahrscheinlich, das 
Mädchen habe niedriger gestanden oder gelegen als der Mörder. 

Schliesslich sei hier noch eines im Obductionsprotokolle erwähur 
ten Befundes an der Leiche gedacht, welcher geeignet sein dürfte, 
einen bestimmten Fingerzeig für die Situation zu geben, in welcher 
sich das Mädchen bei dem auf sie gerichteten mörderischen Anfall 
befunden habe. — Auffallender Weise wurde Anna Thode fast voll- 
ständig bekleidet gefunden; es fehlten eigentlich nur die obersten 
Röcke (event. das Kleid) und die Strümpfe. In dieser Beziehung 
möchte besonders Gewicht auf das Gorset zu legen sein, welches mit 
ziemlicher Sicherheit zu dem Schlüsse drängt, dass das Mädchen sich 
nicht im Bette befanden haben könne, als der Anfall aaf sie gemacht 
wurde, indem es eine kaum deckbare Annahme wäre, sie hätte die 
Zeit und Ruhe gehabt, dieses Kleidungsstück anzulegen, weon sie 



]32 Achtfacher Mord. 

etwa durch verdächtige Geräusche im Zimmer aus dem Schlafe ge- 
weckt wäre. 

Ebenso unwahrscheinlich würde aber auch die Annahme sein, 
das Mädchen habe sich mit dem Gorset (sowie mit Unterhose und 
Unterrock) zu Bette gelegt, und sofern nicht durch die Untersuchung 
des Gerichts sich herausgestellt hätte, dass diese sonderbare Art, 
bekleidet im Bette zu liegen, eine dem Mädchen gewohnte gewesen 
sei, darf mit allem Recht aus diesem Umstand der Schluss gezogen 
werden, das Mädchen sei noch nicht im Bette gewesen, als sie von 
dem Mörder fiberfallen wurde. Die Über den Mund der Leiche ge- 
legte Machthaube aber spricht entschieden nicht gegen eine solche 
Annahme, vielmehr lässt sich dieser Befund entweder so erklären, 
dass das Mädchen angefangen habe, sich für das Zubettegehen vor- 
zubereiten und deshalb mit der Nachthaube bekleidet gewesen sei, 
als der Mörder auf sie eindrang, oder aber so, dass der Mörder die 
Nachthaube nur genommen habe, um sie fiber das Gesicht der Er- 
schlagenen zu decken, in der Absicht vielleicht, dadurch die Meinung 
zu erwecken, das Mädchen sei im Bette erschlagen. Jedenfalls geht 
ans dem Umstände, dass das Protokoll die Nachthaube nur als blut- 
getränkt bezeichnet, nicht als gleichzeitig zerrissen, mit einiger Wahr- 
scheinlichkeit hervor, dass die Ermordete die Haube nicht auf dem 
Kopfe gehabt habe, als die Streiche auf den Schädel geführt wurden. 
Uebrigens spricht die bei der Leiche gefundene Nachthaube im Zu- 
sammenhange mit den übrigen vorgefundenen Kleidungsstücken ent- 
schieden dafür, dass das Mädchen beim Auskleiden begriffen ge- 
wesen sei, wahrscheinlich erst eben damit angefangen habe, als der 
Mörder auf sie eindrang. Es würden in diesem Falle wahrscheinlich 
sämmtliche constatirte Wunden ausserhalb des Bettes dem Mädchen 
beigebracht sein. 

Es kann natürlich nicht als die Aufgabe des Gerichts- 
Arztes angesehen werden, den einzelnen wahrscheinlichen 
Stellungen nachzuspüren, in welchen sich die Unglückliche 
bei den einzelnen Verwundungen befunden haben könne; 
es wird aber auch, wie wir annehmen dürfen, den Zwecken 
des Gerichts genügen, wenn wir resümirend folgende Punkte 
als das Resultat unserer Untersuchung hinstellen. 

1) Den tödtlichen Sehädelverletzungen ist von Seiten der 
Anna Thode eine längere Zeit eine Abwehr mit beiden 
Armen entgegengesetzt worden; 

2) es ist mit grösster Wahrscheinlichkeit anzunehmen, 



Achtfacher Mord. Ig3 

dass der Mörder seine WafFe mit der rechten Hand 
geführt habe; 

3) der Mörder hat mit grosser Wahrscheinlichkeit an 
der linken Seite des Mädchens oder vor ihr stehend 
die grosse Mehrzahl der Yerwundungen beigebracht; 

4) die Mehrzahl der Verletzungen können wohl in lie- 
gender oder sitzender Stellung des Mädchens im Bette 
beigebracht sein; 

5) dagegen sind zwei Schädelverletzungen vorhanden, von 
welchen die eine mit grosser Wahrscheinlichkeit, die 
andere mit Gewissheit zu dem Schlüsse hindrängt, 
Anna Thode habe sich in einer ziemlichen viel nie- 
drigeren Stellung als der Mörder befunden, als ent- 
weder in einem ungewöhnlich niedrigen Bette oder 
auf dem Erdboden liegend oder knieend; 

6^ es ist mit einer an Gewissheit grenzenden Wahrschein- 
lichkeit anzunehmen, dass Anna Thode vor dem Zu- 
bettegehen beim Auskleiden von dem Mörder über- 
fallen sei und die sämmtlichen Verletzungen ausser- 
halb des Bettes erlitten habe. 
Itzehoe und Wesselburen, den 14. Juni 1867. 

Dr. Goeze^ Physikus. Dr. H. ö. Dreeaen. 

2. Ao8 dem flutachten aber die Leiche des Johtiin Thode sen. 

Aus dem Befand einer tiefdringenden Kopfwunde in der rechten 
Oberschläfengegend, reichlich 1 Zoll lang, mit scharf geschnittenen 
Rändern und einer Depression des unteren Enochenrandes , starkem 
Blutgerinnsel unter der Knochenhaut, namentlich in der Stirn- und 
rechten Schläfengegend, nnd Spaltung des Schläfenbeins, sowie des 
rechten Seitenwandbeins der Art, dass die obere Wand der Augen- 
höhle als loses Knochenstöck sich darstellt, endlich aus einer Fissur bis 
in das rechte Felsenbein mit frei zu Tage tretendem Gehörknöchel- 
chen wurde von uns der Schluss gezogen, dass die den Schädel zer- 
splitternde Hiebwunde mit einer scharfkantigen schweren Axt, deren 
Rnckseite etwa 1^ Zoll Breite gehabt habe, müsse beigebracht sein. 



Ig4 Achtfacher Mord. 

Ferner glaubten wir uns auf Grand der Richtung und Lage der 
Ropfverletzang zu der Annahme berechtigt, dass der tödtliche Streich 
nicht von hintenher geftlhrt worden sei, wahrscheinlich habe der 
Mdrder znr Rechten des Ermordeten gestanden. 

Endlich gelangten wir ans der fast vollständigen Bekleidung der 
Leiche, welche sich trotz der starken Yerkohlang derselben noch nach- 
weisen Hess, zu dem Schluss, dass der Mord aller Wahrscheinlichkeit 
nach ausgeführt sei, ehe der Johann Thode im Bette gelegen. 

Das GestSndniss des Mörders bestätigte allerdings diese letztere 
Annahme, dagegen war unser Schluss in Betreff der zur Ansführnng 
des Mordes benutzten Waffe unrichtig, indem nicht eine Axt, sondern 
eine sogenannte Handspake, ein längeres wie eine dünne Keule ge- 
staltetes Werkzeug mit unten an dem dicken Ende ziemlich scharf 
abgeschnittenen Rändern zur That verwandt war. — Auch die Stel- 
lung des Mörders zu seinem Opfer war von uns unrichtig gedeutet, 
indem der Mörder allerdings von hinten her seinen Vater getroffen 
hatte, aber in dem Angeoblicke, als dieser sich gegen ihn umwandte. 

S. Ais dem fiufachieii aber die Leiche des Dienstmadehens 

Engel Hegen. 

Die Verkohlung der Leiche war eine so weitgehende, dass sich 
nur noch aus dem Knochenbau und den Resten von verkohlten Klei- 
dungsstücken die weibliche Leiche erkennen Hess. — Ans dem an der 
Rückenfläche der Leiche anhaftenden Stück des anderweitig ganz ver- 
brannten, hier aber unverbrannt gebliebenen Bettzeuges konnten wir 
Bchliessen, dass die Verbrennung der Leiche in der Rückenlage der- 
selben im Bett erfolgt sei. Trotz der bedeutenden Verkohlung der 
Leiche — die unteren Extremitäten z. B. fehlten vollständig, die 
Schädelhöhle lag offen zu Tage, indem einzelne Knochen vollständig 
verbrannt waren, während das Gehirn als eine unregelmässig runde 
verschrnmpfte Masse sich darstellte — glaubten wir wegen des Um- 
standes, dass der Defect des Schädeldaches durch die Kranz-, Pfeil- 
und Hinterhanptsnaht scharf begrenzt war, uns dahin aussprechen 
zu können, dass der genannte Befund die Annahme eines gewaltsamen 
Todes bestätigen könne, indem muthmaasslicherweise die rechte Schä- 
delhälfte einen durch dii Schädeluähte begrenzten Defect deshalb 
aufweise, weil eine etwa vorhandene Sprengung der rechtsseitigen 
Schädelknochen eine grössere Zerstörung dieser Seite des Schädels 
durch die Einwirkung des Feuers begünstigt haben mnsste. 

Das Geständuiss des Mörders bat in der That die Richtigkeit 
unserer Vermuthung bestätigt 

4. Ans dem finttchten ober die Leiche des Cornils. 

Die Verkohlung der nnr noch aus dem Rest des Rumpfes be- 
stehenden Leiche war eine sehr bedeutende. Nichtsdestoweniger Hess 



Achtfacher Mord. 185 

Bich aus den der Rückenfläche anhaftenden Resten von halbverbrann- 
tem Bettzeug und Federn, sowie ans den vorfindlichen Spnren einer 
Sammetweste schliessen, dass die Verbrennung der Leiche allerdings 
in der Röckenlage im Bett stattgefunden, dass aber wahrscheinlich 
der Tod den jungen Menschen ereilt habe, ehe er sich im Bett be- 
funden, und dass derselbe demnach wahrscheinlich als Leiche ins 
Bett geschafft worden sei. — Die Aussagen des Mörders haben auch 
diese Annahme als richtig erwiesen. 

a. Ans dem fiotaehten über die Leiche des Martin. 

Die Schädelzertrümroerungen an dieser Leiche waren von sehr 
beträchtlichem Umfange und zeichneten sich namentlich durch zwei 
am Hinterhaupt und in der I^ähe des Foramen magnum gelegene 
KnochenstQcke, deren durch Weichtheile geschützte Lage besonders 
bemerkenswerth war, aus. Interessant war es auch, dass die Spnren 
der erlittenen Gewalt und der dadurch bedingten Blutung auf's Deut- 
lichste nachweisbar waren, trotz der weitgehenden Yerkohinng der 
Leiche und namentlich auch des Schädels. Die bis in die Grund- 
fläche des Schädels hineinreichenden Fissuren, wodurch dieselbe in 
zwei bewegliche Hälften getheilt war, sowie die blutige Infiltration der 
Weichtheile, namentlich auch der das Hinterhaupt bedeckenden Nacken- 
muskeln waren unzweifelhafte Beweise der im Leben erlittenen be- 
trächtlichen Gewalt vor erfolgter Verbrennung, und auch dfe wegen 
der Blutdnrchtränknng nn verbrannt gebliebenen Kleidungsstücke an 
der oberen R5rperhälfte, sowie die mit Blut verklebten Haare zeugten 
unverkennbar für die dem Lebenden beigebrachten Kopfwunden. ^^ 
Es konnte aus dem Vorhandensein zweier Knochenlückeu, die eine 
von der Grösse einer ungarischen Zwetsche in der Nähe des Foramen 
magnum, der wahrscheinliche Schluss gezogen werden, dass eine di- 
recte Gewalt mittelst eiues wuchtigen stumpfen, aber scharfkantigen 
Werkzeuges an diesen Stellen eingewirkt habe, und konnte ferner 
ans der Lage der Knochendefecte gefolgert werden, dass diese Ver- 
letzungen wahrscheinlich beigebracht seien, als das Opfer mit vorge- 
beugtem Kopf oder mit dem Gesicht auf der Erde liegend dem 
Mörder die tiefgelegenen Schädelparthien zum Schlage dargeboten 
habe, und wurde es als wahrscheinliche Vermuthung hingestellt, dass 
einige der Schläge, namentlich diejenigen, welche auf ein schützendes 
Mnskelpolster getroffen, erst dann dem Ermordeten beigebracht seien, 
als mit erlöschendem oder vollständig erloschenem Leben die natür- 
liche Spannung der Muskeln einer Erschlaffung derselben bereits ge- 
wichen war. — Auch hier waren wir zu dem irrigen, aber doch ge- 
wiss nach dem vorliegenden Befund gerechtfertigten Schluss gelangt, 
dass mit grosser Wahrscheinlichkeit die Rückseite einer Axt als das 
zur Anwendung gekommene Werkzeug angenommen werden müsse. 

Die aufgestellte Vermuthung, dass ein Theil der Schläge dem 



186 Achtfacher Mord. 

Ermordeten zugefügt seien, als derselbe bereits am Boden lag und 
wahrscheinlich schon verschieden war, ist durch die Aussage des 
Mörders bestätigt. 

6. Aus dem Gatachten aber die Leiche des Johann (des Bruders)« 

Ziemlich bestimmt Hessen sich mindestens drei den Schädel 
treffende Schläge nachweisen, von denen zwei, offenbar von vorn her 
beigebracht, einen nnregelmässig viereckigen, fast kreisrunden Kno- 
chendefect bewirkt hatten, von welchem radienartig in weitem Umfang 
Spalten der Schädelknochen ausgingen. Ein dritter Schlag hatte die 
obere Gesichtshälfte getroffen, Nasenbeine, Jochbogen und Oberkiefer 
bis zu den Alveolen hin zertrümmert, auch Keilbein nud Felsenbein 
gespalten. — \Vir glaubten annehmen zu müssen, dass diese weit- 
gehende bis in die Schädelbasis sich erstreckende Splitterung der 
Knochen nicht dem ersten gegen den Ermordeten geführten Schlage 
seine Entstehung verdanke; einmal weil der Mörder schwerlich von 
vorn her sein Opfer, welches sich zweifellos ausser dem Bette be- 
funden hatte, (das ging aus der fast vollständigen Bekleidung, na- 
mentlich aus den an den verkohlten Unterschenkeln .noch vorgefun- 
denen Strümpfen und Schuhen, sowie aus der in der Westentasche 
steckenden ühr hervor), würde angegriffen haben; dann auch, weil 
anzunehmen stand, dass dieser eine mächtige Schlag, wenn er der 
erste gewesen, alle weiteren würde überflüssig gemacht haben. — Das 
Geständniss des Mörders bestätigte die Richtigkeit der Annahme, dass 
der erste Schlag von hinten her geführt sei und die übrigen Streiche 
erst dem am Boden liegenden Körper beigebracht seien. 

7. Ans dem fintachten über die Leiche des Reiner. 

Auch hier hat die Obduction einen ähnlichen Befund von Schä- 
delverletzungen constatirt wie an den übrigen Leichen. Die Nähte 
zwischen Hinterhaupt und Seitenwandbeinen waren gesprengt, ausser- 
dem gingen Spalten bis durch das rechte Scheitelbein, das rechte 
Schläfenbein und rechte Os petrosum. Der Blutaustritt ausserhalb 
des Schädeldaches, wie unter demselben, war ausserordentlich gross 
und erstreckte sich bis in's Gesicht und bis in das Zellgewebe des 
Halses. — Auch in diesem Falle liess sich aus den gut erhaltenen 
Resten der Bekleidung der gesicherte Schluss ziehen, dass der Er- 
mordete ausser dem Bette in seinem Arbeitszeug erschlagen wor- 
den sei. 

8. Aus dem Gutachten über die Leiche der Ehefrau Thode. 

Aus der Beschaffenheit der zahlreichen verschieden gestalteten 
Hautverletzungen am Schädel, sowie an der Hand liess sich mit grosser 
Bestimmtheit nachweisen, dass eine Axt theils mit der Schneide, theils 



Achtfacher Mord. 187 

mit der Rückseite als Mordwerkzeog gewirkt habe, und mit dieser 
Annahme war auch die schwere Zertrümmerung des Schädels, in einer 
Sprengung der Nähte, einem Querbruch der Grundfläche des Schädels, 
sowie einer Zersprengang der Gesichtsknochen bestehend, sehr wohl 
vereinbar, und hat auch das Geständniss des Mörders die Richtigkeit 
unserer Schlüsse erwiesen. — Auch waren wir mit Recht aus der 
Lage und der Beschaffenheit der Verletzungen za dem Schlüsse ge- 
langt, daas das unglückliche Opfer einen längeren Kampf bestanden 
oder wenigstens eine längere Abwehr der tödtlichen Streiche versucht 
habe. Das Fehlen der Strümpfe, sowie der Unterröcke an der Leiche 
drängte zu der Annahme, dass die Ermordete im Bett oder vielleicht 
beim Auskleiden überfallen sei. 



Zweiter Abschnitt 
i. Einzelne interessante Seiten des Criminalfalles. 

Zunächst erlaube ich mir auf eine Gefahr hinzuweisen, 
welcher sich der Gerichtsarzt bei dem Ziehen von Schlüs- 
sen ans dem Inhalt des Obductionsprotokolles nur zu leicht 
ausgesetzt sieht. — Wie aus der obigen Schilderung hervor- 
geht, hatten wir verschiedene fehlerhafte Schlüsse aus dem 
Leichenbefund gezogen, namentlich was die zur Anwendung 
gekommenen Werkzeuge, und die Stellung des Mörders zu 
seinem Opfer im Augenblick der That betrifft. Während 
wir aus einigen ganz bestimmt charakterisirten Wunden an 
den Weichtheiien und den Knochen uns berechtigt hielten, 
auf eine als Mordwerkzeug angewandte Axt zu schliessen, 
mit einer Schneide von mindestens 3 Zoll Länge und ei- 
ner Kückenbreite von U bis 2 Zoll, zeigte es sich, dass 
die Scheide des Beils eine Länge von reichlich 7 Zoll ge- 
habt hatte, und während wir die meisten der schweren Ver- 
letzungen an den verschiedenen Leichen als wahrscheinlich 
von einer solchen Axt herrührend bezeichnet hatten, haben 
die Geständnisse des Mörders es dargethan, dass nur bei 
3 der Erschlagenen ein solches Mordwerkzeug gebraucht 
worden, während bei den 5 anderen jenes keulenartige 



188 Achtfacher Mord. 

Werkzeug von Holz mit scharfer Kante verwandt 
worden ist. 

Dieselbe Vorsicht aber wie bei der Scblussfolgerung 
nach der speciellen Beschaffenheit des verletzenden Werk- 
zeuges ist geboten bei der Verwerthung des Obductions- 
materials zur Beantwortung der vom Gericht gestellten 
Fragen nach der wahrscheinlichen Stellung des Mörders 
zu seinem Opfer. — Der Gerichtsarzt wird immer die For- 
raulirung eines Ausspruches, der Mörder müsse diese oder 
jene Stellung eingenommen haben, zu vermeiden und sich 
darauf zu beschränken haben, auszusprechen, am leichtesten 
und natürlichsten könne eine Verwundung bei dieser oder 
jener Stellung des Mörders beigebracht sein. — Die Wirk- 
lichkeit ist oft so sonderbar, dass sie alle noch so scharf- 
sinnig erdachten Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten 
zu Schanden macht. 

Am eclatantesten ergiebt sich die Wahrheit dieser Be- 
hauptung, wenn man sich einmal die That in ihren Einzel- 
heiten, wie sie durch das Geständniss des Mörders jetzl 
klar zu Tage liegt, vor Augen stellt. — Würde man nicht 
mit vollem Recht einen Romanschriftsteller für geschmack- 
los und albern erklären, der ein Scheusal zu schildern ver- 
suchte, welches wie Timm Thode mit kalter Berechnung 
den Plan fasste, seine ganze Familie mit eigener Hand zu 
morden? — Es ist ja etwas so Monströses in diesem Ge- 
danken und dazu etwas so Albernes und Verrücktes, wenn 
man die Möglichkeit der Ausführung in Betracht zieht, dass 
man über eine solche Erfindung der Phantasie ohne Weiteres 
den Stab brechen müsste. In Wirklichkeit aber ist ja doch 
die Sache diese. Ein Mensch fasst den Gedanken, an einem 
Tage seinen Vater und seine Mutter zu erschlagen, dazu 
vier Brüder, welche durchweg jeder einzelne (mit Ausnahme 
des jüngsten) mindestens dasselbe Maass von Eörperkraft 



Achtfacher Mord* lg9 

besitzen wie der Mörder, ausserdem noch eine erwachsene 
Schwester und ein Dienstmädchen. Der Mord muss in 
einer Reihenfolge vollführt werden in der Art, dass jeder 
einzelne vollbracht ist, ohne dass die noch Lebenden von 
der That oder von dem vollbrachten Mord eine Ahnung 
haben. Das muss sich nicht einmal oder zweimal, nein 
siebenmal wiederholen, ehe der letzte Mord die Möglichkeit 
bietet, die Früchte des grausigen Schlachtens zu ernten.-- 
Ein einziger nicht berechneter Zwischenfall, ein einziger 
Schrei des Überfallenen Opfers stürzte das ganze Gebäude 
über den Haufen; ein einziger Schlag, der nicht sofort den 
üeberfallenen niederwarf, vernichtete den ganzen teuflischen 
Plan. — Und er fing das Werk an mit der Blutgier eines 
Tigers und der kalten Berechnung eines Teufels und er 
führte es aus, ohne dass seine Kräfte versagten und ohne 
dass ein unberechenbarer Zwischenfall hemmend entgegen- 
trat. Und dieses ganze Werk, welches Nachmittags um 
4 oder 5 Uhr begann und bis in die Nacht hineindauerte, 
wenigstens bis gegen 9 oder 10 Uhr, verläuft ohne Störung 
und ohne Zeugen. — Das dann folgende Plündern und 
Stehlen, das Schleppen der verschiedenen Leichen von einer 
Stelle zur andern, das Wechseln der Kleider, die gründliche 
Säuberung des Körpers von Blut, die Brandstiftung, Alles 
gelingt, auch die Täuschung des Gerichts bis zu einem ge- 
wissen Punkte. — Nur an der Hose, welche von ihm in 
der Nacht ausgezogen und auf ein in derselben Kammer 
stehendes Bett gelegt war, zeigten sich „frische Blutspuren 
in Gestalt von angetrockneten, über der Fläche hervortreten- 
den, noch blanken Blutspritzen", auf welche das erste ün- 
tersuchungs- Gericht aber kein Gewicht legte, indem es 
sich die Entstehung durch zufallige Verunreinigung beim 
Ansetzen von Blutegeln (auf Anordnung des in der Nacht 
herbeigerufenen Arztes) erklärte. 



190 Achtfacher Mord. 

Unter dem vielen Sonderbaren und Unerhörten, was 
dieser Griminalfall aufweiset, hat für mich besonders die 
Thatsacbe einen hervorragenden Platz eingenommen, dass 
eine Verletzung der Haut oder «ein Blutfleck an dem 
Mörder trotz sorgfältigster Untersuchung am andern Mor- 
gen in dem anscheinend betäubten Zustande nicht aufzu- 
finden gewesen ist. Ich habe mit Dr. Dreeaen den Mör- 
der vom Kopf bis zum Fuss, das Haar und die Augen- 
brauen, die seitlichen Rander der Fingernägel, an denen 
bekanntlich auch nach gründlichem Waschen-so leicht kleine 
Reste von angetrocknetem Blut zurückbleiben, genau inspi- 
cirt; ich habe sogar etwas bräunlichen Schmutz, der an 
diesen Stellen sass, zur grösseren Sicherheit abgetrennt 
und zu den Akten gegeben; derselbe ist später von Prof. 
Dr. Bimly in Kiel auf Blut untersucht worden, und es 
hat die Analyse kein Blut nachweisen können. — Macht 
man sich nun aber ein Bild von der Blutarbeit, die der 
Mörder vollbracht hatte, von dem Umherschleppen der er- 
schlagenen Brüder, die er aus der Scheune über den Hof, 
durch den Pferdestall ins Haus resp. in ihre Betten zerrte, 
und dazu in der Dunkelheit, da er ein Licht zu gebrauchen 
aus Furcht vor Entdeckung sich scheute ; ..vergegenwärtigt 
man sich das Durchsuchen aller Sachen, das Herau#- 
sprin^en aus dem Fenster, das Niederfallen auf das Stein- 
pflaster, — berücksichtigt man das Alles, und sagt man 
sich, dass diese vielfach mit zwingender Nothwendigkeit 
sich darbietenden Gelegenheiten zu Hautverletzungen 
vorüber gehen konnten, ohne dass der Mörder auch 
nur eine verdächtige Hautschramme bekam, so folgt 
daraus gewiss mit vollem Recht, dass man nicht vor- 
sichtig genug sein kann mit dem Ausspruch, eine der- 
artige Thatsacbe sei eine „Undenkbarkeit, eine physische 
Unmöglichkeit". 



Achtfacher Mord. 191 

Auch die dann im Hause des Nachbarn aufgeführte 
Comödie einer länger dauernden Unbesinnlichkeit, eines 
sonderbaren Zustandes Ton Betäubung, zu welcher er sich 
veranlasst sah, gelang ihm bis zu einer gewissen Grenze 
mit Erfolg durchzuführen. — Das über seinen sonderbaren 
Zustand aufgenommene Protokoll fand Seitens des ersten 
Untersuchungsrichters, obwohl dasselbe einige höchst auf- 
fällige und verdächtige Momente enthielt, keinerlei Be- 
achtung. Die Aerzte sind in der ganzen Zeit vom 8. Au- 
gust 1866 bis zum Mai 1867, wo eine neue Obercriminal- 
gerichtliche Gommission die bereits abgeschlossene Unter- 
suchung wieder aufnahm, mit keiner Sylbe über den Zustand 
des von dem Gericht für unverdächtig angesehenen Timm 
Thode befragt worden , ebensowenig, wie sie bis zu diesem 
Zeitpunkt eine Aufforderung zur gerichtsärztlichen Yerwer- 
thung der ObductionsprotokoUe erhalten haben. Unauf- 
gefordert aber dem Gericht die verdächtigen Momente, 
welche das über den anscheinend betäubt daliegenden Timm 
Thode aufgenommene Protokoll klar und offen vorliegend 
enthält, aufzudrängen und damit eine directe Beschuldi- 
gung des Menschen, gegen den nach allen bis dahin ge- 
machten Ermittelungen des Gerichts keine genügende Yer- 
dachtsgründe erhoben waren und der deshalb fast vollständig 
seine Freiheit hatte, auszusprechen, das wäre eine Yermes- 
senheit gewesen, die dem Gerichtsarzt nicht zusteht. — 
Hätte das Gericht nur einfach eine Beurtheilung des Zu- 
Standes von Betäubung bei dem Timm Thode und eine 
Erklärung über die Entstehungsweise der an der Hose des- 
selben gefundenen Blutspritzen verlangt, so würde mit 
grosser Wahrscheinlichkeit sofort die feste Grundlage zu 
einer Untersuchung gegen den Mörder gefunden worden 
und der Beweis seiner Schuld nicht schwierig gewesen sein. 
Ich theile bei dem besonderen Interesse, welches mit Recht 



192 Achtfacher Mord. 

diese von dem Inculpaten ausgeführte Simulation, deren 
Darlegung erst später von der zweiten Obercriminalgericht- 
lichen Gommissiqn mit Erfolg versucht wurde, beanspruchen 
kann, den Wortlaut des ProtokoUes mit, und bemerke da- 
bei, dass eine grössere Ausführlichkeit in der Aufnahme 
des Befundes durch die auf uns lastende nächste Aufgabe, 
die Besichtigung der vielen Leichen, wesentlich erschwert, 
ja fast unmöglich gemacht wurde. 

Das über den Befund des anscheinend betäubt Daliegen- 
den von mir dictirte Protokoll enthält Folgendes: 

„Der Kranke liegt mit geschlossenen Augen, etwas 
„geröthetem Gesicht und einem leichten über den gan- 
„zen Körper verbreiteten Schweiss in der Rückenlage. — 
„Athem ruhig, nur mitunter durch eine tiefe Inspiration 
„und kleinere Unregelmässigkeiten unterbrochen. Bewusst- 
„sein scheint nicht vorhanden, indessen ist das Bild 
„des Kranken nicht eigentlich das eines tief 
„Soporösen. Puls zählt 96 — 100 Schläge und zeigt 
„eine mittlere Stärke. — Beim Oeffnen der Augenlieder 
„sind die Pupillen zusammengezogen, reagiren bei 
„wechselnder Lichteinwirkung deutlich. Will- 
„kührliche Bewegungen macht der Kranke nicht, doch 
„hilft er bei passiver Veränderung seiner Lage 
„durch active Unterstützung derselben.'^ 
Später, im Mai 1867, als die bereits geschlossene Un- 
tersuchung von Neuem durch die zweite Untersuchungs- 
Gommission aufgenommen wurde, war es nach der Verhaf- 
tung des Timm Thode eine der ersten Massregeln der 
Commission, dass ein Gutachten von jedem der beiden 
Aerzte, welche damals denselben nach der That gesehen 
hatten, einzeln abzugeben, verlangt wurde über die Bedeu- 
tung des damaligen Zustandes von Betäubung, namentlich 
wurden die Fragen gestellt, ob Momente vorhanden wären, 



Achtfacher Mord. 193 

welche der Annahme eines wahren und natürlichen (Krank- 
heits-) Zustandes widersprächen und auf eine Simulation 
schliessen liessen. 

In dem von mir erstatteten Gutachten hob ich zunächst 
das Auffallige des ganzen Zustandes in seinen Einzelnheiten 
hervor, namentlich die lange Dauer einer Bewusstlosigkeit 
bei einem jungen anscheinend kräftigen Menschen, die feh- 
lenden Zeichen eines eigentlichen Sopors, die active Unter* 
Stützung mit ihm vorgenommener passiver Bewegungen, die 
deutlich vorhandene Reizempianglichkeit der Pupillen gegen 
Einwirkung des Lichtes; Alles Erscheinungen, welche mit 
der Annähme einer etwa erlittenen Gehirnerschütterung 
und dadurch bedingter Erlahmung des Sensoriums und der 
Bewegungsorgane nicht in üebereinstimmung sich befanden. 
— Nach einer Hinweisung auf das Precäre gewisser Krank- 
heitszustände des Gehirn- und Nervenlobens, besonders bei 
einzelnen zu derartigen Erkrankungen disponirten Naturen, 
unter fernerem Hinweis auf die jedenfalls grausigen Erleb- 
nisse des Menschen in der Mordnacht vermied ich es vor- 
läufig, ein positives ürtheil über die auf eine etwaige Si- 
mulation gerichtete Frage allein auf meine Beobach- 
tungen zu gründen. 

Das Gutachten des Dr. D, gelangte zu dem Resultat, 
dass Einiges für, das Meiste aber gegen eine Simulation 
spräche, und dass er eine solche demnach nicht anzu- 
nehmen vermöge. 

Unterdessen Hess sich der durch fortgesetzte und ein- 
dringliche Verhöre in die Enge getriebene Delinquent zu 
einem Simulationsversuch verleiten, welcher dazu bestimmt 
war, die früher angeblich eingetretene Bewusstlosigkeit 
wahrscheinlich zu machen, welcher aber mit solcher Unge- 
schicklichkeit ausgeführt wurde, dass die Entdeckung der 
Simulation keine erheblichen Schwierigkeiten darbot In- 

Vtort«l]ahrf«elir f. ir«r. M«d. M. F. XV. 2. 13 



194 Achtfacher Mord. 

teressant wiar «s dabei , dasg eine während der ^irnttlirten 
BewusstloBigkieit Ton mir beobftditete Langsamkeit- des 
Pulses von 64, einmal sogar von nur 60 Schlägen in der 
Minute y do* wie eine trSge Iteaktion deif PtipiHen beä der 
Einwirkung tonLicht^Erschein^ngen) welc&e wohl geeignet 
gewesen w&ren^ da sie mb durdi den Einflöss ^des WiUess 
nioht bersielltg machen lassen, ffir das Vothaü'deiisein 
eines ' krankhaften Gehrrnzustande» zu sprechen V-: dem 
Delinquenten zd der Zeit der Dnter&odning eigentbfimlich 
und Jiatftriich waren, w^esiob [das durch eine wiederholte 
Beobachtung desselben in den Tagen naeh> dem Verun- 
glückte Simulatfionsversuch coDStatiren Hess. / 

'^ ^Nachdem < nun der Delinquent ^ durch diesen : lettiteren 
Vetswch seine schon: eiemlicbufifhaltbar gewordene' Pomtion 
der < Untersuchung gegenüber vells^itedig' unhaltbar genrächt 
hatte, «nd nacbtlem in einer unwiderstehlichen Weise Indi^ 
(Qien anf Indieien sich gegen den Verbrecher häufteiü, (gelang 
ee BfiAoii wenige I^ge später,' eün umfassendes und in -'der 
Hauptsache mit der Wahrheit ' übe^einstitninendes Gestand^ 
niss .'Sim^ erzielen. '-' • .^•• 

Das ' Ergebnigs desselben, welches wegen der iniiner 
wieder auftauchenden Lügen in Betreff der Ein^etnheiten 
der Aiisführiing erst durch wiederholie Verhöre gewönnen 
wurde und a^»ch schliesslich in dem Schwurgericbt von dem 
Verbreehev in sdlen Wesentlichen Punkten aufrecht erbaltein 
wurde, habe ich bereits zu Anfang meiner Arbeit dem 
Leser mitgetheilt. ^• 

Bp Cbarakteristik 4er Per^nlichlieU d«& Tibhii : flwde. 

ich ^r0u<^he es nun^ «tum Schluss eine etwas genanere 
Personalschildernng des Verbrechers «u geben, wie ich sie 
theils aus den! Acten, tfaeils aus^: eigener BeobachttiBg^ Shells 
abbr aus Mittheilungen derer, welche mit demselben in der 



jj 



Achtfacher ■ Mord. 195 

Zeit ßieiÄeT GefangeöscbÄft 1d näherer Berfihlrimg' gekomm^eu 
siÄd^ geseböpft habe. ^ ' -^''-^ 

firrim Thodig^ 21Jahr ait; der Zweitälteste Sohn einet^ 
aus 6 Kindern bestehenden Familie, war ein Mensch vo^ii 
mittlerer Grösse, grobknochigem Bau und starker Musku- 
latur. Seine Haltung war schlecht, von der Art, wie sie 
bei Leuten, die früh schwere Arbeit gethan haben, in hie- 
siger Gegend zu sein pflegt, indem der obere Tbeil der 
Brustwirbel eine Wölbung nach hinten zeigte und der Eopf 
mit dem Hals etwas Vorgestrecktes hatte. Der Gang 
schwerfallig, wie denn die ganze Erscheinung des Menschen 
den Eindruck von ünbeholfenheit und Schwerfälligkeit 
macht. Seine Hände und Füsse waren auffallend gross, 
breit und knochig. Der Ausdruck des Gesichts hat etwas 
grob Sinnliches, fast Thierisches, wozu hauptsächlich die 
auffällig dicken gewulsteten Lippen, die kleinen, wenig In- 
telligenz und Gefühl verrathenden graublauen Augen, die 
meistens nach abwärts gerichtet sind und nicht leicht 
Jemand ansehen^ da» Meiste^ beitragen; Der Eindruck, 
äen seine ganze Erscheinung a«f ünbiBfangena zu machen 
pflegt, ist der eines rohea Baüerburschea mit starker Be^ 
tonung des Rohen und Ungeschlachten. Bosheit und Tücke 
zeigten sich in den Gesichtszügen nicht, dagegen: fehlte auoh 
alleä' Offene ond Freie. Es hat wohl kaum Einen gegeben 
unter den Vielen, welche ihn in der Zwischenzeit zwisch^i 
seiner Thai und seiner Verhaftung im Mai 1867 geseheit 
haben, welche nach dem Eindruck, den seine ganze Per^ 
sönlichkeit machte, ihn för ffihig hielten, eine so grässliche 
That zu begehen. ^- Man hielt ihn für zu dnmm,vfür zu 
gutmüthig, für zu schwach, geistig sowohl ali^ körperliök 

Was sein Aeusseres betrifflby so giebt die beigefügte Photo-* 
gra^hie ein ziemlich getreues Büd desselben, und« möchte diese 
von um so grösserem Interesse sein, als es leider ideht gelun** 

X8* 



196 Achtfacher Uord. 

gea ist, deD Schädel des MOrders, welcher mit dem Leich- 
nam den Angehörigen zum Bestatten überliefert wurde, 
f&r das Kieler anatomische Musenm zu gewinnea und dar- 
nach eine detaUlirte Beaehreibang zu lieFero. 



Versneben wir nun, um die Möglichkeit za begreifen, 
dasä ein Mensch solche unerhörte Verbrechen planen und 
ausführen konnte, den psychologischen Eotwickelungsgang 
und die ganze Individualität des Verbrechers etwas genauer 
zu schildern. 

Es wird dabei vor Allem darauf ankommen, das Haus 
und die Familie, deren Mitglied Timm Thode war und die 
den Boden bildeten, auf welchem diese menschliche Mon- 
strosität entstehen und zur Entwicklung gelangen konnte, 
näher ins Auge zu fassen. — Aeusserlicb angesehen gehörte 
Timm Thode zu einer augesehenen, sehr begüterten Bauern- 
familie der Wilstermarsch , welche der Landarbeit mit 
Eifer ergeben, ruhig und still ein, wie es den Anscbeio 
hatte, ehrbares und behagliches Leben fQhrte. — Man 
WUBste wohl, dass der Vater Johann Thode für Weiteres 



Achtfacher Mord. 197 

keinen Sinn habe, als für den Betrieb seiner Landwirth- 
schaft, dass er in Geldsachen peinlich sei, seine Söhne, die 
bei ihm als Knechte nach landüblicher Weise die Arbeit 
thaten, kurz hielt, dass auch kein besonders gates Familien- 
leben herrschte. Erst die gerichtlichen Ermittelungen haben 
unter der Schale der äusserlichen Wohlanständigkeit und 
Behaglichkeit eine Wurmstichigkeit und Verdorbenheit im 
Innern des Hauses aufgedeckt, welche die vollste Aufmerk- 
samkeit verdient. Zunächst ist sclavische Arbeit, um zu 
erwerben, Sparen bis zum schmutzigen Geiz, Gemüthlosig- 
keit und Lieblosigkeit, Fehlen jedes höheren geistigen In- 
teresses, Mangel an religiösem, geschweige denn christlichem 
Sinn die traurige Signatur des Hauses. Der Vater, ein ab- 
geschlossener, kalter, herzloser, harter Charakter, kannte 
keine andere Lebensaufgabe, als seinen Familienbesitz durch 
stete Arbeit zu vergrössern. Obwohl sehr vermögend, er 
wurde auf über 40,000 Thlr. geschätzt, klagte er immer 
über hohe Abgaben, stellte sich so, als könne „er. nicht 
rund kommen^ und gab bei freiwilligen Sammlungen nie- 
mals Etwas. Er war unfreundlich und herrisch gegen die 
Frau, wie gegen seine Kinder. Er gestattete letztern so 
wenig, wie der Frau irgend welchen Einblick in seine Ver- 
mögensverhältnisse, gab ihnen keinen bestimmten Lohn, 
auch kein festes Taschengeld, vielmehr mussten sie sich 
dieses durch einen gemeinschaftlieh von ihnen betriebenen 
Schafhandel, bei welchem sie vom Vater nur die Begünsti- 
gung freier Schafweide genossen, zu verschaiFen suchen. — 
Die Folge dieser Behandlung Seitens des Vaters war, dass 
die Söhne verdrossen und mit Widerstreben ihre Arbeit 
thaten, dass sie sich heimlich davon schlichen, wenn sie 
sich einige freie Stunden zu verschaffen wünschten, und 
wenn auch oftmals unter sich in Streit, doch immer ge- 
meinschaftlich Front machten gegen den Vater, den sie 



198 Atbthcher I 

ata ibren Peiniger offeobar wedei 

Deber das Leben in der Familie ftnsserte »eh Timpt eio- 
mal in einem der SchloBSverhQre in sehr cbsrakterJBtiecher 
Weise: „Dass wir einmal za Hanw lasammen vergnügt 
»waienj kam gans selten TOr; vielleicht einmal^ w«nn Vater 
„Bein Vieh gat verkauft hatte; gewOhntiob saBBOo wii bo 
„h)Q ia der kleines Stube and wenn der £ine dieses, der 
„Andere dae sagte oder er^&hlte, so gab .es regelmfisug 
„VeranlaaeuDg za Schelten and Streit." — Cnter den Brü- 
den beriBchte, wie bemerkt, der Geist des UoAriecleila and 
der Lieblosigkeit, und ea kam mitunter nlebt blos- m 
Streitigkeiten, sondern zu Gewaltthätigkeiten unter eioandei. 
— Die Matter scheint milder und weicher geart^ gewesen 
saseio, war wohltbfttig, masste ihr Tbnn aber sorgßltig 
vor dem Manne yerbergen. — Sie war auch immer frennd- 
lich gegen. J^mvt, w&brend dieser Bosst von AUea xarfiok- 
geaetBt and schlecht bebaadelt wurde. — Auefa die einzige 
Tochter des Baases war freundlich gegen den zfveiten 
Brader, scJieiBt überhaupt mehr den Sinn der Mutter ge- 
habt XU baben< — Die Motter ist aber offenkar von .«cbwa" 
ehem Charakter gewesen and Termocbte. in keiner Weise 
auf dea Geist des Hauses einen iigend bemerkensw.ert}tea 
£influs3 zu üben. :Bücher gab eä im Hause .nicht, wohl 
aber fanden sich eine Anzahl Rftuber- und Mordgeschiditen 
TOT in der Gestalt von den Liedern, wie sie zur Drehergel 
auf Jftbnn&rkten gesuugeo werden. —' Die Ki/ebe wutde 
regelmässig gemieden; nur selten gingen einzelae Glieder 
des Hanses an Festtagen zor Eirohe. -^ Verkehr mit Be> 
kannten pflegte man wenig oder gaj" niobt, auch za den 
ia der. Gegend wohnenden Verwandten des Vaters waren 
die Beziehung«! tbeils «ehr locker, tbeils ganz geifiBt. 

Das dwh&usliobe Boden, anf welchem der Vecbreeher 
sein» Jugend verlebte and von dem das Gemüthskbeo 



Aehtlacher Mord. 1;99 

sein«» Eindruek erfahr. — ^Män wkd es verstehent, dass 
TOh 'emer> giadeihUcbeii lEntwifeklttog des Gemütb&leben« 
QQter diefieOi Einfi^s&eü' nicht wohl \die; Bede Imm .kufsmt^ 
hei eioeiB HenseheDy iieir bffenbac io der Hanpts^^e^ m 
Beiader AnJage^naGihdieia.Vdtet^ nicht nach, der Jfaittär gen 
artet war y und. der ducoh seine > früh kß/cxmtwet&aäef^ be^ 
BOöidereo Eigentbutk^iehk^tea, ihi eine. Stalh&iigi'.ia^ deiner 
Uflftgebiiöi; ikankv :^elohe mit^ Npthiwendi^keit* veiraebleohternd 
md ertHtternd iBtatt' ve(r&öbn&nd auf ' äein .Gei&ilh ein-» 
wirken mnsste;-^ !■.>:••.;■;'.•. ■ ■• i -i- 

Wimm^. von^ mittelmässig^ni^ .«geistij^n /Anlageii^^eigte 
fon. Klein an eine gewiaäe Sd2lwieffälligk;eit. ünid.üngdscfaiokr 
Ußhkeit in^ geinem gaiü^ian: Wieaen-, iWeloh&i oftmals Gdgior«^ 
stand des Spottes > und, der . Zar&eksetiwng Seitens' beider 
Bräder wurden; da^tn war er Bettnäsiser v/on Juglead a.n, 
mosste/deswegeti.fiein Bettallein haben: und wurde dadurdh 
auch./ anäsjerlieh . iB: if&blbftrer .WeifiS!^> ton .seined Briden 
isöliit.;^ Diäs^ hatten n^Miob- bei iMm G^istöi ^om Box^-^ 
losigkeit, Welcher da» Hans i därchdraingt>. nieht \etwä>Mit^ 
leiden, mit d^n Bruder^ sondern emp£9iidea. wegen diesem 
schweren .Gebfecbeius Widerwillen gegiaa ihn und >.liej^eii 
ihn das^ fohlen.^ Ich glauibei : nicht .211 J^^riW^. wenn tioh in 
diesem unglädclkhen kdiperliebenFefaleryan welbhem Timm 
9on. Klein an litt, ein bedeutendes Jtfotnent finde, 1 welche« 
aaf die : traurige geistige and< sittlich«!' Etitwioklang des 
Kfiaben voa' verhSngniesv^ollem Ei^iflua^ geworden; ist -r^ 
Von den erstein LehenseiiidrüßkeQi an; datirt sich dffejjtbar 
bei Timm das Gefühl des Auj^gestosseoen, deis Misshandel-r 
teil, f^ und es war. zunächst doch ein uniVer^chuMetes Un** 
gl&ck, wekhes ihn in diese. ^htimm^ Lag^ Seinen-Brüdern 
gegenüber brachte 9 und lange beTOf .er durch, seiae 4dl- 
mftlich sieh entwickelnden unliebenswürdigein undseh^eichten 
Oharaktefzüge den; b^^chttgten.GruQd z^iar .'Z]qJ*ftcksetz^Dg 



200 Achtfacher Mord. 

und unfreandlichen Behandlung Seitens der Brüder gab, 
wird sein jugendliches Gemüth peinlich und schwer das 
Unrecht und die Herzlosigkeit empfunden haben, welche 
man gegen ihn zeigte, und wird dadurch zum grossen Theil 
die Richtung und Stimmung bekommen haben, welchen 
wir später deutlicher und schärfer als den Grundton sei- 
nes Innern ausgeprägt linden. — Nehmen wir dazu die 
mittelmässigen geistigen Fähigkeiten, das Schwerfällige und 
Ungeschickte, welches schon früh bei Timm hervortrat, 
und vergegenwärtigen wir uns, welche Wirkungen diese 
unglücklichen Naturanlagen auf die Stellung des Knaben 
im Hause und in einem solchen Hanse haben mussten, so 
werden wir uns nicht wundern können, wenn aus dem 
schwerfälligen Jungen ein träger, aus dem sich zurückge- 
setzt fühlenden ein bitterer und trotziger wird. — Und wie 
sich in weiterer Folge und in gegenseitiger Wechselwirkung 
aus dem Trotz und der Trägheit, den Tücken und Lügen, aus 
der hierauf folgenden Bestrafung in der Schule und der 
Zurücksetzung und dem Schelten, so wie den Prügeln inoi 
Hause wiederum eine Verbissenheit und Verstocktheit ent- 
wickeln mussten , das darf ich wohl als eine auf der Hand 
liegende Noth wendigkeit bezeichnen. — So kann es denn 
nicht auffallen, dass übereinstimmend von seinem Lehrer 
wie von anderen Zeugen die Aussagen gemacht worden, 
dass Timm es liebte, heimliche Streiche zu machen, dass 
er unwahr, verschlagen, tückisch gewesen, dass er gegen 
körperliche Züchtigungen unempfindlich sich zeigte, indem 
er dagegen durch die häufigen Strafen des Vaters abge- 
härtet worden, und dass schon bei seiner Gonfirmation die 
Frau des Lehrers die Befürchtung aussprechen konnte, 
„die Aeltern werden noch Etwas an ihm erleben.** — 

Frühzeitig hat sich unzweifelhaft bei dem Knaben auch 
der vom Vater ihm überkommene Erwerbstrieb entwickelt. 



Achtfacher Mord. 201 

und zwar nicht geregelt und in Schraaken gehalten durch 
die Gesetze der Moral und der Zucht, sondern früh schon in 
extravaganter und verbrecherischer Gestalt. — Schon als 10* 
bis 12 jähriger Knabe hat er einen von seinem Bruder gefan- 
genen Iltis gestohlen; einmal hat er einem Bäckerjangen, 
den er auf dem Wege im Dunkeln begegnete, halb mit 
List, halb mit Gewalt einiges Kleingeld geraubt. — Diese 
That wurde entdeckt und bestraft, während die übrigen 
Streiche seiner Knabenjahre und auch seine späteren Ver- 
brechen gegen das Eigenthum, deren eine ganze Reihe ver- 
zeichnet ist, wunderbarer Weise uncntdeckt blieben. — 

Nach seiner Gonfirmation, welche ohne einen Eindruck 
auf sein inneres Leben vorüberging, nahm begreiflicher 
Weise seine Verwilderung zu; er ging Sonntags oft ins 
Kirchdorf und gab sich bald im Verkehr mit Gleichgesinn- 
ten den rohen Vergnügungen der DorQugend und zwar 
am liebsten den der Knechte, zu denen er sich mehr als 
zu den Bauersöhnen hingezogen fühlte, dem Kegel- und 
Kartenspiel und Tanz hin. — Da der Vater ihm kein Taschen- 
geld gab und der Erlös aus dem Scbttfhandel zu den Aus- 
gaben nicht reichte, war er darauf angewiesen, sich ander- 
weitige Einnahmequellen zu verschaffen. — Der Sohn des 
reichen Bauern wurde zum Dieb und zwar zum Dieb an 
seinen Brüdern und an seinem Vater. Die Üntersuchungs- 
akten enthalten darüber detaillirte Enthüllungen. In der 
Zeit bis 1863, wo er wieder das älterliche Haus verliess, 
hat "er wiederholt, wohl 4 — 5 Mal die Kasse seines Vaters 
bestohlen, indem er die erforderlichen Schlüssel dazu heim- 
lich wegnahm oder aach, indem er seinen zu dem Kasten 
passenden Schlüssel benutzte. Zur Zeit nahm er etwa 
8 Thlr., die er meist im Tanz und Spiel verthat. -^ Vom 
Herbstl863 bis zumNovember 1865 hatteer bei verschiedenen 
Herrschaften 5 rasch gewechselte Dienste; die meisten ver- 



202 Aehtfiusher Mord. 

liesfi er beimlieh; einmal stellte er sicfa krank, ein aader<eß 
Mal zündete er in Abweeenb^t seines Herrn bei bellem 
Tage die Mühle an ans keinem anderen Grande ^ , ab. am 
anf „schiekUche Weise^ diesen ibm nicbt ansagenden Dienst 
als Müller sa verlassen. Darnach kam er als Hansknecfat 
zu einem Advokaten in Pinneberg, einem dickt fern von 
Hamburg gelegenen kleinen Ort, wo er Gelegenheit fand, 
im Umgang mit schlechten Subjeeten seinen Gesichtskreis 
als Verbrecher zu erweiteni, eine Reibe fortgesetzter Man- 
sereien an seinem Herrn zu begehen und einem SohlSohter^ 
lehrling^ mit dem er „befreundet^ vrar, durch nficbtliofaes 
Einsehleichen um 20 Thlr. zu bestehlen, indem er den 
Schlüssel zu dem Kasten ans der Hose des schlafenden 
Freundes entnatim. -r^ Die JSähe von Hamburg gab ihm 
öfter Gelegenheit, die grosse Stadt, zu besuchen; er ging 
dann öfter in Bordelle, hütete sich aber vor den Dirnen 
aus Furcht, sie könnten ihn bestebleil. — ^ Umgang mit aus- 
gesprochenen Verbreehieni ist nicht nachzuweisen, gewesen, 
auch nicht einmal Leetüre von Mord* und. Räubergesebiclv* 
ten und derartiger Romane; es ist aber unzweifelhafti da^e 
sich die Zuchtlosigkeit des jugendlichen Verbredhers fort- 
dauernd steigern mnsste, theils durch den ümstaüd, dass 
alle seine sich häufenden Verbrechen unentdeckt. blieben, 
theils durch das lockere ungebundene Leben ^ wie er es 
bei seinen Besuchen in den schlechten Lokalto der Grofis- 
stadt kennen lernte, r*-- Nach Hause zuruekgek^rt, wo er 
bei seiner eigenen zunehmenden Verwild-erung einer ge- 
steigerten Entfremdung bei seinen Angehörigen begegnete, 
beging er im April 1866 wiederum einen Diebstahl an seinem 
Bruder Johann, dem er durch Einschleichen aus seiner 
Hose 8 Thlr. stahl — Dieser Diebstahl wurde für ihn in 
so fern verhängnissvoll, als sein Bruder Martin ihn beim 
Hinausschleichen gesehen und erkannt hatte, und er von 



4ichtfac)ief Mord. 203 

jetzt an eiae geradezu unerträgliche Stellung, im Hause 
l)ekai9« T- Dio Brüder setzitenvon jetzt an mit allem. Recht 
a»ch alle früheren Hausdiebstähle auf TimnC^ Rechnung 
i^nd liessen ihm das überall fühlen. Früher hatte wwig* 
eiten^ der ^foder Johann noch bteweälen zu Tianm gehalten ; 
jetet waren sia ihm alte entgegen. - Timm bekam bei der 
Yertbeilung; der Arbeit imm^er die achleohteste, die soge- 
nannte Tagelohnerarbeit. Darüber entstand immer von 
Neuem Streit und UnfriediB, und die Arbeit, die Timm 
überall nicht Jiebte ^-r. denn er war von Hause aus nicht blos 
uQgeBchickt) sondern: auch faul ^--i wurde ihm vollständig ver-^ 
leidet. -*r:.Gs: ist begreiflich, dass der allmälig zum Gewohn-* 
beits «Verbrecher gewordene Timm den durch seine £nt* 
laryuBg heftig erregten Unmuth und Groll mit gesteigerter 
Heftigkeit g^W: seine Brüder richtete, für die längst kein 
Schatten de&Gelabls in s^em Herzen war, was- 6e- 
sebwistertiebe g^aant werden k5nntei . Es ist die Angabe 
des Yerbrechers, dass ^u dieser Zeit die ersten Mordge* 
danken ia ihm aufgestiegen seien ,. psychologisch vollkom«- 
men glaubhaft, ^r hätte daanvor ihnen Friede«^ — War 
dann aber die Aufregung und die gesteigerte Bitterkeit 
ivorüber,. so wichen auch wieder die Mordgedanken, aber 
imty umjmmer vnn Neuem verschärfter und in immer be- 
stimmtexer Gestalt wieder aufzutauchen. AllmäHch erweiterte 
sieb deir Mordgedanke bis zu dem ünerhOrtea; wenn er 
die ganze Familie erschlüge, könne er den Hof allein be» 
sitzen: und AUes gemessen, und mehr und mehr gewann 
der 4ämoni8ch6 Gedanke Gewalt über die Seele des bereits 
hartgesottenen Verbrechers. ^ Am 6. Juli 1866 traf ein kal* 
ter Blitzstrahl das Haus der TAe»(2«'schen Familie. — An* 
£Eings wurde durch den Eindruck, den dieses Ereigniss 
auch auf das Gemüth von Timm machte, der Mordgedanke 
auf einige Zeit, auf 8 Tage etwa zurückgedrängt, dann 



204 Aehtfacher Mord. 

aber musste aueb dieses Ereigoiss mit zur weiteren Pla- 
nung der üntbat dienen. — Es berrscbt auf dem Lande in 
hiesiger Gegend der sonderbare Aberglaube, dass eine 
längere Zeit nach einem kalten Blitzstrahl noch Feuer in 
dem davon getroffenen Hause ausbrechen könne, und schnell 
entstand bei Timm der Gedanke, dass er ja bequem durch 
Anzünden der Hofstelle sein Verbrechen verdecken könne, 
indem die Feuersbrunst ja leicht auf Rechnung des Blitz- 
strabls werde geschoben werden. Bald beherrschten die 
Mordgedanken den Verbrecher der Art, dass er auch bei 
der Arbeit sich nicht davon frei machen konnte und der 
Schlaf von ihnen gestört wurde. — Anfangs dachte er da- 
ran. Alle im Bette zu erschlagen, dann aber schien es ihm 
richtiger, wenn sie beim Hause beschäftigt wären, die Tbat 
zu vollführen lind Jeden einzeln von hinten her zu er- 
schlagen. Am Sonntag Abend, also zwei Abende vor der 
Ausführung der Tbat, nachdem er mit den Brüdern von 
einer Tanzgesellschaft nach Hause kam, hatte er viel mit 
dem Gedanken zu thun; es kamen aber noch wieder Zwei- 
fel, — nicht etwa durch die Stimme des Gewissens — son- 
dern darüber, ob der Plan auch ausführbar sei. — Fest- 
vorgenommen hat er sich die That erst in der Nacht von 
Montag auf Dienstag. — Am Dienstag Nachmittag begann 
dann ja das grausige Trauerspiel bei hellem Tage und 
endete in der Nacht zwischen 12 und 1 Uhr beim Schein 
des brennenden Gehöftes. — 

Wir haben versucht, in der actenmässigen Schilderung 
des Verbrechens mit seiner Umgebung und seinen Ante- 
cedentien bis zu seiner That einen Anhalt zu gewinnen für 
das Verständniss des unerhörten Verbrechens. Es wird das 
aber immer nur bis zu einer gewissen Grenze möglich sein. 
Der Sprung von dem Standpunkt eines Diebes und Brand- 
stifters bis zu dem eines Mörders ist schon ein grosser, 



Achtfacher Mord. 205 

aber der bis zu einem achtfachen Mörder, zu einem Morder 
an den leiblichen Eltern und an allen Geschwistern, das 
bleibt doch immer ein so gewaltiger, dass man auf eine 
ausreichende Erklärung der Tiiat aus den Antecedentien 
des Verbrechers wird verzichten müssen. — Was wir vor 
uns haben in der Gestalt des Vater- und Brudermörders 
bleibt immer eine moralische Monstrosität, deren Realität 
wir stehen lassen müssen, ohne sie doch psychologisch zu 
begreifen« Absolute Abstumpfung des Gemüthslebens, Mangel 
jedes sittlichen Gefühls und jeder Regung des Gewissens, 
eine Gottlosigkeit in des Wortes strengster Bedeutung, da- 
bei eine Habgier in höchster Steigerung und eine stupide 
Dummdreistigkeit in der Planung, sowie eine immense 
Zähigkeit und Ausdauer in der Durchführung des einmal 
gefassten Beschlusses, das sind die Eigenschaften, welche 
allein zu einem solchen Verbrechen qualificirten und welche 
wir in vollem Maasse bei Timm Thode vereinigt finden. 

Der Kampf, welcher vor der Ausführung der That in 
seinem Innern eine kurze Zeit sich gezeigt hat, beruhte 
nicht auf einer Vorstellung von dem Grässlichen und un- 
erhörten seiner That, sondern bezog sich nur auf die Aus-^ 
fübrbarkeit derselben; von einem weichen Gefühl für seine 
Opfer, namentlich die Mutter und die Schwester, welche 
doch immer gut gegen ihn waren, war keine Rede. Auch 
später nach der That, als die unmittelbare Gefahr der Ent- 
deckung beseitigt schien, zeigen sich keine Spuren von in- 
nerer Unruhe und Verklagen des Gewissens bei ihm, viel- 
mehr lebt er das gewöhnliche und behagliche Leben des 
sorgenlosen Nichtsthuns, und Alle, welche Gelegenheit hatten, 
ihn unvermerkt in seinem ganzen Gebahren zu beobachten, 
waren einig in dem Zeugniss, er könne der Mörder nicht 
sein, da er mit grösster Seelenruhe sein einförmiges Leben 
verbringe. — Es wird namentlich angeführt, dass er des 



206 Achtfacher Mord. 

ruhigsten Schlafes sich erfreute, den besten Appetft gehabt 
und immer sieh gleichmässig zufrieden und heiter j^eiseigt 
habe. Er konnte singen und scherzen, verkehrte mit den 
Kindern des Hauses auf freundlichem Fus^, entlkielt 6ieh 
jeder Extravaganz In Verwendung seiner Reiöhthfimer, ver- 
mied rauschende Vergnügungen, ging aber Ofteirs zu öffent- 
lichen Lustbarkeiten. — Von einer Reue über die Thät ist 
nirgend ein Anzeichen, dagegen hat ihm, seiner Atissage 
zufolge, der Gedanke mitunter einige Unruhe gemacht, er 
könne doch noch mal „anlaufen^, es werde Vielleicht seine 
Zeit dauern und dann doch herauskommen. 

Im Verlauf der letzten Verhöre hat er freilieh oft ge- 
weint, hat eine grosse Erschütterung an den Tag'gei^gt, 
die ersichtlich nicht erheuchelt gewesen, indessen sind das 
offenbar augenblickliche Gemüthserregungen gewesen, die 
rasch wieder schwanden, ihn natnentlieh nicht hrndetten, 
nach beendetem Verhör über starken Hunger zu klagen 
und mit grosser Begier seine Mahlzmt zu bälteh. -^ Als 
Beweise seiner sittlichen Stumpfheit führe ich noch an, 
einmal, dass er den ersten Besuch bei dem Nachb^rtf, in 
dessen Hause er in der Mordnacht die Gomödie der ünbe- 
sinnlichkeit ausgeführt hatte, dazu benutzte, mit dem zu- 
fällig allein im Hause anwesenden Dienstmädchen ünfcnebt 
zu treiben; dann, dass er beim ersten Betreten der M^ird- 
stätte, wohin er nach abgelegtem Geständniss geführt wurden 
auch nicht die geringsten Zeichen von Erschütterung zeigte, 
vielmehr mit sichtlichem Interesse die Arbeiten der mit dem 
Neubau beschäftigten Handwerker verfolgte. -^ Das Setzen 
eines Denkmals für seine Fam^ilie betrieb er mit <sicbtliGhem 
Eifer, und hatte er folgende Inschrift unter BeiMlfe seines 
früheren Lehrers für den Gedenkstein bestimmt: 



Achtfacher Mord. 207 

^fiier iiibeii san^ftin Gott meine lieben Aeltern nnd OeBchwister, 
die:diirQh .¥öfdßrs Hände gestorben ßind in der Nacht vom 7ten 
auf den 8ten Angnst 1866.*"' 

darunter die Verse: 

„Gä schickt der Tod nicht immer Boten, 
Unangemeldet tritt er. «in, 
Uod fordert Dich in'e Reich der Todten : 
Drnm werd' noch heut' in Jesu rein, 
Denn an des Lebens kürzet Zeit 
Hängt Deiner Seelen Seligkeit 

Von einer Zerknir^cbung^ von einem aucb nur entfernt 

richtigeii Gefühl für die Grösse seiner Schuld ist auch nach 

de^ Qe^tändnisiS und trot?^ des Zuspruches des Geistlichen 

in, den ersten MoQaten noch keine Rede. Oftmals konnte 

• • • * 

derselbe gleich^ nachdem er in Gegenwart des . Geistlichen, 
SßlbsianHUg^n und Tb^räiien g€fzeigt, die trivialsten. Gesprädhe 
fähren, , oJ^ne irgend ei^e daiuernde Depression des Gemüths- 
lebena zu verrsttben. .— Nach dem October aber trat eine 
merkliche Vefäjjderung, in dem ganzen Gebahren des Ge- 
fangenen ein. Er wurde lärmend und ungestüm, pfiff den 
ganzeq Tag, oder ßang Gassenhauer, redete viel Anstössiges 
und Zotiges, sprang und. tanzte in seiner Zelle umher, so- 
weit , seine Kette es zuliess. Dem Prediger gegenüber zeigte 
er sich upfreundlich und trotzig, gab auf Befragen an, er 
sei so grlmnaig, er wisse sich gar nicht zu lassen, es sei 
ein Hundeleben ) das er gar nicht mehr aushalten könne, 
er wi^se sich vor Lapgeweüe nicht zu bergen, darum 
m^sse er singep und pfeifen, damit doch wenigstens die 
Zeit hingehe. — Aeusserlich erklärte sich diese bis zur 
Verzweiflung gebende Langeweile allerdings durch den Um- 
stand,, dass bei den kürzer werdenden Tagen die an sich 
dunkele Zelle fast den ganzen Tag über jäer zum Lesen 
nöthigen Helligkeit entbehrte, — innerlich aber hing dieser 
veränderte Zustand, der sich durch Lärmen und Singen und 
unanständige Seden zu erkennen gab, offenbar zusammen 



208 Achtfacher Mord. 

mit dem allmälich erwachenden Gefühl von innerem Unbe- 
hagen und gemüthlicher Unruhe und Leere, verbunden mit 
der Unmöglichkeit, sich von demselben zu befreien. — Lange 
blieb die Einwirkung des Geistlichen vollständig erfolglos, 
und erst gegen Weihnachten hin, wo es dem Timm Thode 
vom Gericht mitgetheilt wurde, dass er Ende Januar vor's 
Schwurgericht gestellt werde, — es war dies das erste, was 
in der neuen Provinz Schleswig-Holstein abgehalten werden 
sollte, — schien mehr Ruhe und Sammlung einzutreten und 
das Gemüth für die Einwirkung des Predigers empfänglicher 
zu werden. Namentlich scheint ihm der Gedanke des 
Oeifentlichen sehr störend gewesen zu sein; auch fürchtete 
er seinen Grossvater als Zeugen gegen sich auftreten zu 
sehen, und offenbar lastete die Vorstellang, dass er nun 
noch einmal vor allen Leuten seine entsetzliche That werde 
bekennen müssen, wie ein schwerer Druck auf ihm und 
wirkte wesentlich darauf hin, seinen wilden Geist zu bän- 
digen. — 

In der Schwurgerichts- Verhandlung war sein Verhalten 
ein im Ganzen angemessenes and verhältnissmässig würdiges. 
Er sass mit niedergeschlagenen Augen, beantwortete ruhig 
die an ihn gestellten Fragen des Präsidenten, legte noch 
einmal wieder sein früheres Geständniss mit allen schreck- 
lichen Einzelnheiten ab, allerdings ohne sichtliche Zeichen 
von Rührung und Zerknirschung, sichtlich in dem Gefühl, 
dass er das Unvermeidliche auf sich nehmen müsse. — Das 
über ihn gesprochene Todesurtbeil hörte er ohne Erschütte- 
rung an, da ihn dasselbe natürlich nicht überraschte, son- 
dern ihm selbstverständlich erschien, und wie er in sein 
Gefängniss zurückgeführt wurde, mied er die Augen auf die 
seiner wartenden Menge zu richten und suchte sich durch 
rasches Gehen sobald wie möglich den neugierigen Blicken 
der Menschen zu entziehen. 



Achtfacher Mord. 209 

Nach dem Zeugniss des Predigers hat nach diesem 
Zeitpunkte die ruhige Ergebung den Verbrecher nicht mehr 
verlassen, üeber seine schwere Verschuldung sprach er 
oft und viel, nicht selten mit bitteren Thränen, und er be- 
zeichnete sich als einen Menschen^ in welchem die Furcht 
Gottes und alles menschliche Gefühl ganz erstorben gewesen 
sei. — Mit dem Gedanken zu sterben beschäftigte er sich 
YJel und gern^ und er sprach es oft aus, dass er sehnsüchtig 
auf die letzte Stunde warte. ,,In der Welt*, sagte er in 
den letzten Tagen, „ist keine Stelle für mich; wenn meine 
Missethat mir auch von Gott vergeben ist, so lässt sie sich 
doch nicht ungeschehen machen; sie würde, so lange ich 
lebe, mir vor Augen bleiben; auch die Menschen würden 
nimmer vergessen können, was ich gethan habe; ich sehne 
mich deshalb nach Erlösung." — Zum Vollzug der Todes- 
strafe wurde er von Itzehoe nach Glückstadt gebracht. 
Bis zur Hinrichtung daselbst ist kein Bangen und Zagen 
mehr bei ihm zu Tage getreten, auch nicht im letzten 
Augenblick, als der Richter noch einmal ihm das Todes- 
urtheil verlas und die Frage an ihn richtete, ob er seinem 
Geständniss noch etwas hinzuzufügen habe. — Nachdem er 
noch einmal wiederholt, dass er in allen Hauptsachen die 
Wahrheit gesagt, liess er sich dem Scharfrichter überant- 
worten, legte selbst seine Oberkleider ab, kniete nieder 
und erlitt, ohne zu zittern, den Todesstreich. 

Dies das Ende des tief gefallenen, entmenschten Ver- 
brechers. — Offenbar haben die starken Eindrücke, denen 
der Verurtheilte gerade in den letzten Monaten unterworfen 
war, sowie der Einfluss eines bedeutenden Mannes und 
Predigers dahin gewirkt, den schwachen Funken von Ge- 
müth und menschlichem Empfinden, der auch in der Seele 
dieses Menschen unter der Asche geglommen hat, anzu- 

ViertelJahrsMhr. f. ger. MmI. N. F. XV. 2. 14 



210 Achtfacher Mord« 

fachen und oeuza beleben. Es liegt unYerkennbar etwas 
Versöhnendes in den Aeasserungen menschlicher Gefühle^ 
die wir bei ihm in der letzten Zeit vor dem Tode gewahren, 
and andererseits beweist die Charakterfestigkeit des Yer- 
nrtheilten, welche ihn befähigte, mit einer keinen Augen- 
blick erschütterten Ruhe dem Tode entgegenzugehen nnd 
freudig den Tod zu erleiden, wie stark die Natur dieses 
Menschen von Haus aus angelegt gewesen ist, und welche 
grosse Leistungen auch nach der guten Seite hin unter 
anderen und günstigeren Verhältnissen Yon Timm Thode 
hätten erwartet werden können. 



11. 
Gerichtsärzdiche Mittlieilangen 



Ton 



Professor Dr. llla«ehka in Prag. 



Körperliche Beschädigaog^ als deren Folge Epilepsie anf- 
getreten sein soU; nicht nachweisbarer Zosammenhang. 

«/. /8., 18 Jahre alt, Geschirrhändlerssohn und Hausirer, 
welcher früher vollkommen gesund gewesen sein soll, er- 
hielt am 4. Dezember 1868 in Folge eines Wortwechsels 
mit dem Bauer «/• N. von diesem eine so starke Ohrfeige, 
dass ihm die Pfeife aus dem Munde und die Mütze vom 
Kopfe flog und er niederstürzte. Als er sich aufraffte und 
davon lief, liefen ihm «/. N.j der Vater und dessen Sohn 
nach, holten ihn im Yorhause des Gemeindevorstehers St. 
ein, schlugen ihn auf den Kopf und warfen ihn nieder, 
wobei er auf den Drücker des Zimmerschlosses aufgefallen 
sein soll. — Der Beschädigte gibt an, nach dieser Miss- 
handlung bewusstlos gewesen zu sein, welcher Umstand aber 
durch die Erhebungen nicht constatirt ist. Er wurde an 
der linken Wange blutend nach Hause geführt und soll 
Schmerzen im ganzen Leibe gefühlt und an Ohnmachts- 
anwandlnngen gelitten haben. 

Am 5. Dezember 1868 fand Wundarzt K. das linke 



212 Gericht8ftrztliche Mittheilungen. 

untere Augenlid bläulich geerbt und in der Mitte der linken 
Stirnhälfte eine 1 Zoll lange, 3 Linien breite quer ver- 
laufende Hautaufschärfiing. Der Verletzte klagte über ein 
Gefühl von Unwohlsein, Schmerzen im Kopfe und in der 
Brust. 

Am 6. Dezember 1868 wurde der Verletzte von Dr. N. 
und Wundarzt K. untersucht und Nachstehendes gefunden. 

Der Kranke lag im Bette, und man bemerkte an der 
linken Stirnhälfte eine 1 Zoll lange, 1 Linie breite bereits 
vernarbte Wunde ; der Puls war 76, der Bauch massig auf- 
getrieben, beim Druck angeblich schmerzhaft; der Kranke 
klagte über Schmerz im Kopf und Rücken, Ohrensausen, 
vermehrten Durst; dabei sollen massiges Delirium und zeit- 
weilige Ohnmächten beobachtet worden sein. Ordinirt wur- 
den anfänglich Nüruntj später Morphium mit Magnesia; am 
8. Dezember 1868 wurden wegen der Kopfschmerzen 5 Blut- 
egel applicirt und wegen der Delirien ^ Gran Morphium ver- 
abreicht; der Puls zählte an diesem Tage 60 Schläge. 

Die Aerzte erklärten die Beschädigung für eine leichte 
Verletzung, welche jedoch möglicherweise noch zu einer 
schweren werden könne. 

Am 9. Dezember 1868 wurde der Kranke mit den 
Sterbesakramenten versehen, ohne dass jedoch aus den Er- 
hebungen ein besonders gei'ahrvoUer Zustand hervorging, 
üeber den weiteren Krankheitsverlauf geht aus den Er- 
hebungen nichts Sicheres hervor, auch hat eine weitere 
ärztliche Behandlung desselben nicht stattgefunden ; nur die 
Eltern desselben gaben am 3. Januar 1869 — wo derselbe 
bei Gericht erscheinen sollte — an, dass er wegen fort- 
währender Schwäche nicht erscheinen könne, und dass sich 
am 1. Januar 1869 zum ersten Male ein Anfall der hin- 
fallenden Krankheit bei ihrem Sohne eingestellt habe, 
wobei er aus dem Bette herausgefallen sei. 



} 



Gerichtsärztliche Mittheilangen. 213 

Am 7. Januar 1869 wurde der Verletzte von Dr. N. 
und Wundarzt N. untersucht. 

Dieselben fanden einen 19jährigen gut genährten Mann 
von starkem Körperbau und sehr gut entwickelter Musku- 
latur. Der Untersuchte hielt den Kopf nach vorn gebeugt 
und gab an, beim Geraderichten Schmerzen im Nacken zu 
empfinden, welche längs der Wirbelsäule hinabgingen und 
sich dann nach vorn in die Magengegend erstreckten; ferner 
klagte er über Schmerzen in den Kniegelenken und über 
das Gefühl von Ameisenlaufen in den Händen. Gleichzeitig 
war ein Katarrh vorhanden. — Die Aerzte sprachen sich 
merkwürdigerweise dahin aus, dass sie am nächsten 
Tage einen epileptischen Anfall an dem Verletzten beob- 
achten und die weitere Untersuchung bis dahin vertagen 
wollten. 

Am nächsten Tage, d. i. am 8. Januar 1869, soll J. S., 
als er aus dem Gerichtslokale in das Gasthaus kam, wirk- 
lich einen epileptischen Anfall gehabt haben, welchen der 
Wundarzt Cz, gesehen haben sollte. Dieser aber gab an, 
er habe den S. nur im Bette liegen gesehen, ihn nicht un- 
tersucht, und könne daher nicht sagen, ob es wirklich Epi- 
lepsie gewesen sei. Dr. N. und N, kamen aber erst an, 
als dieser angebliche Anfall bereits vorüber war. — Sie 
fanden den Kranken angeblich erschöpft, über Ameisenlaufen 
in der linken Hand klagend ; auch soll sich Erbrechen ein- 
gestellt haben. — Nach anderthalb Stunden stellte sich 
abermals ein Anfall ein; der Eopf wurde nach rückwärts 
gezogen, die Hände und Füsse von Krämpfen befallen; er 
war bewusstlos und unempfindlich gegen Stiche mit Nadeln. 
Der Anfall dauerte 10 Minuten, dann trat Erbrechen und 
später Schlaf ein. — Die Aerzte erklärten, dass die Epi- 
lepsie eine Folge der erlittenen Beschädigung sei, und dass 
diese demnach für eine schwere Verletzung erklärt werden 



214 GerichtBärztliche Mittheilnngen. 

müsse, welche eine lebeusgefabrliche und unheilbare Krank- 
heit, sowie auch eine Erwerbsunfähigkeit bedingt habe. 

Eine weitere ärztliche Behandlung oder fortgesetzte 
Beobachtung des Kranken fand nicht statt, und es geht 
aus den Erhebungen hervor, dass «7. S. mit seinem Vater 
und Bruder als Hausirer herumgezogen sei. Während die- 
ser Zeit soll er zu verschiedenen Malen von epileptischen 
Anfällen heimgesucht worden sein, und zwar: zufolge des 
Zeugnisses des Wundarztes K. N. am 15. Februar 1869> 
zufolge des Zeugnisses des Chirurgen K. am 7. Dezember 
1869, zufolge der Angabe des Gemeindevorstehers zu St. 
am 20. Februar 1870, und endlich gemäss Zeugnisses des 
Chirurgen D. am 9. April 1870. Zufolge der Aussage der 
Eltern sollen diese Anfälle gegenwärtig viel seltener sein. 

Bei der am 18. November 1870 abgehaltenen Schluss- 
verhandlung erklärte Dr. iS., dass die Misshandlung des «/. S. 
geeignet war, Epilepsie herbeizufahren, und demnach f&r 
eine schwere Verletzung erklärt werden mfisse. — Dr. M. 
dagegen gab das Gutachten dahin ab, dass ein Zusammen- 
hang dieser angeblichen Erkrankung mit der Verletzung 
nicht nachgewiesen werden könne und die letztere somit 
als eine leichte aufzufassen sei. 

Wegen Divergenz der Gutachten wurde der Gegenstand 
an die medioinische Facultät geleitet. 

Gutachten. 

Es unterliegt der ärztlichen Erfahrung zufolge keinem 
Zweifel, dass nach Verletzungen mitunter epileptische An- 
fälle auftreten und als Folge derselben auch zurfickbleiben 
können. Damit aber eine solche schwerwiegende Folge ein- 
trete, erscheint es doch nothwendig, dass die erlittene Ver- 
letzung die Centralorgane des Nervensystems, Gehirn oder 



Gerichtsärztliche Mittheilnngen. 215 

Rflckenmark| schädige , und ia denselben gewisse abnorme 
Veränderungen hervorrufe. 

Ber&cksichtigt man nun den gegenwärtigen Fall und 
alle aus den Erhebungen sich ergebenden umstände, so 
erheben sich gegründete Bedenken gegen die Annahme: 
dass bei «7. S, in Folge der am 4. Dezember 1868 erlitte- 
nen Misshandlung eine Erkrankung an Epilepsie einge- 
treten sei. 

Zuvörderst muss bemerkt werden, dass das Verhalten 
des J. S. unmittelbar und in der nächisten Zeit nach er- 
littener Verletzung, wenn nicht ganz simulirt, so doch 
jedenfalls bedeutend übertrieben zu sein scheint. 
So gibt derselbe an, nach der Misshandlung bewusstlos 
gewesen zu sein, welcher Angabe aber die Erhebungen 
widersprechen. — Die Wunde selbst war eine unbedeutende 
Hautaufschürfung, welche am zweiten Tage bereits vernarbt 
erschien, und alle Erscheinungen, welche Wundarzt K. und 
Dr. N. beobachteten, sind subjectiver Natur, werden durch 
keine objectiven Wahrnehmungen bestätigt, ja im Gegen- 
theil durch das normale Verhalten des Pulses (76 Schläge 
in der Minute) sehr zweifelhaft gemacht; ebenso erscheint 
auch das Versehen mit den Sterbesakramenten am 9. De- 
zember 1868 nicht gerechtfertigt, indem kein gefahrdrohen- 
der Zustand vorhanden war, und nachdem auch keine ärzt- 
liche Behandlung mehr stattgefunden hatte; somit sind um- 
stände genug vorhanden, welche die Annahme einer Simula- 
tion oder üebertreibung rechtfertigen. 

Was nun die epileptischen Anfälle selbst anbe- 
langt, deren erster am 1. Januar 1869 aufgetreten sein soll, 
so muss zuvörderst hervorgehoben werden, dass die Angabe 
des Dr. JN* und Wundarztes N. über den ersten Anfall am 
8. Januar 1870 jeden Werth verliert, weil sie selbst den 



t^^ 



216 Gericbtsärztliche Mittheilangen. 

Anfall nicht gesehen haben und der Wundarzt Cz.^ auf den 
sie sich berufen, gleichfalls in dieser Beziehung nichts be- 
stätigt. — Es liegen ferner wohl verschiedene Zeugnisse 
vor, welche bestätigen, dass S. während der Zeit, als er 
als Hausirer in der Welt herumzog, von epileptischen An- 
fällen heimgesucht worden sein soll. — Ohne dieses Factum 
gerade bestreiten zu wollea, kann die Facultät doch die 
Bemerkung nicht unterdrücken, dass in dieser Hinsicht 
Simulationen nicht gerade zu den grossen Seltenheiten ge- 
hören, und dass zufolge des schon früher erwähnten Ver- 
haltens des £>. auch bei ihm eine Simulation gerade nicht 
unmöglich erscheint, dass aber andererseits, wenn man den 
S. als zu jener Zeit wirklich an Epilepsie leidend annimmt, 
es doch nicht über allen Zweifel erhaben ist, ob nicht 
schon vordem ein oder das andere Mal ein Anfall einge- 
treten war, von dem entweder nichts bekannt wurde, oder 
welcher absichtlich verschwiegen blieb. 

Erwägt man nun unter Berücksichtigung der ange- 
führten umstände, namentlich die Geringfügigkeit der an 
J. S. wahrgenommenen Verletzung, so kann die Facultät 
nur zu dem Ausspruche gelangen, dass ein Zusammenhang 
der angeblich am 1. Januar 1869 aufgetretenen Epilepsie 
mit der am 4 Dezember 1868 stattgefundenen Misshandlung 
nicht nur nicht zweifellos nachgewiesen werden 
kann, sondern sogar unwahrscheinlich erscheint. 



Kopf?erletzang darch einen Schlag — Rippenbrueh durch 
Ueberfahren — Pyämie — Tod. — Welche der Ver- 
letzungen hat den Tod bedingt? 

Am 26. Februar 1869 erhielt der Milchmann Josef J. 
bei einem Streite im Wirthshause zu E. einen Schlag mit 



Gerichtsärztliche Mittheilungen. 217 

dem Stocke auf den Kopf, worauf er blutete, jedoch das 
Bewusstsein nicht verlor, unmittelbar nach erhaltenem 
Schlage legte J, noch einen zwei Stunden weiten Weg zu- 
rück, suchte um 1 Uhr Morgens am 27. Februar die Hilfe 
des Wundarztes B.. nach und verlangte ein Zeugniss. 

Der Wundarzt fand das Gesicht und die Kopfhaare 
mit Blut beschmutzt, ferner am hintern Theile der linken 
Seitenwandbeingegend eine die Kopfnchwarte durchdrin- 
gende Hautwunde, welche 1 " lang war, deren innerer Rand 
glatt erschien, während der äussere zwei Einkerbungen 
zeigte. — Die Wunde wurde goreinigt, verbunden, ein 
kalter Umschlag und Ruhe angeordnet. Am 2. März war 
die Wunde in der hintern Hälfte vereinigt, während sie 
in der vorderen etwas eiterte; das Allgemeinbefinden war 
vollkommen normal. — Am 4. März fand der Wundarzt 
den Verletzten nicht mehr zu Hause und erfuhr, dass 
derselbe seinem Milchgeschäfte wieder nachgehe. — Am 
11. März wurde der Wundarzt gerufen; er fand den 
*/. stark fiebernd, über etwas Kopf- und Brustschmer- 
zen klagend} die Körperwärme war erhöht. — In den 
nächsten Tagen verschlimmerte sich der Zustand; der 
Wundarzt diagnosticirte eine rechtsseitige Rippenfell- 
und Lungenentzündung und vermuthete, dass ein 
Rippenbruch vorhanden sei, weil ihm mitgetheilt wurde, 
dass J. vor dieser Erkrankung vom Wagen herabgestürzt 
sei; mit Bestimmtheit konnte er jedoch den Rippenbruch 
nicht sicherstellen. 

Am 18. März wurde Patient im allgemeinen Kranken- 
hause aufgenommen. Daselbst fand man am Höcker des 
linken Seitenwandbeines eine \^^ lange, mit zackigen Rän- 
dern versehene Wunde, durch welche man mit der Sonde 
auf den rauhen Knochen gelangte und aus der sich Eiter 



218 GerichtsSrztliche MittheiloDgen. 

entleerte. In der Gegend der 3. rechten Rippe bemerkte man 
ein Hautemphysem, sowie eine abnorme Beweglichkeit der 
Rippe und ein crepitirendes Geräusch. — Patient delirirte, 
klagte über Kopf- und Brustschmerzen. — Die Untersuchung 
ergab in der rechten Brusthälfte Dämpfung und bronchiales 
Athmen. Unter Zunahme der Athmungsbeschwerden bei an- 
dauernden Delirien erfolgte am 22. März der Tod. 

Bei der am 23. März vorgenommenen Obduction fand 
man die Leiche eines 40jährigen grossen kräftigen Mannes, 
die Hautdecken gelb gefärbt. Neben dem linken Seiten- 
wandbeinhöcker fand man eine erbsengrosse rundliche 
Wunde mit zackigen Rändern, aus welcher sich Eiter ent- 
leerte; sonst war äusserlich am ganzen Körper, selbst auch 
am Brustkorbe keine Veränderung bemerkbar. 

Die Schädeldecken waren der Kopfwunde entsprechend 
abgelöst, die äussere Knochentafel im Umfange eines Tha- 
lers rauh und missfarbig, eine Verletzung des Knochens 
nicht wahrnehmbar. Die innere Glastafel war an derselben 
Stelle in demselben Umfange rauh und mit Eiter bedeckt; 
unter der harten Hirnhaut war über die ganze obere und 
äussere Fläche der linken GrosshirnhälfLe eine eitrige 
Flüssigkeit ergossen, in der Rindensubstanz des Gehirns 
mehrere bohnengrosse, erweichte, eitrig infiltrirte Stellen; 
auch an der Basis des grossen und kleinen Gehirns fand 
man eitrige Meningitis, sonst jedoch weder ein Bluteztra- 
vasat, noch einen Knochenbruch. 

Am Brustkorbe fand man rechterseits in der Ge- 
gend der 1. bis 3. Rippe zwischen dem Zellgewebe und 
den Muskeln eine apfelgrosse, mit Jauche gefüllte Höhle; 
die 2. Rippe war knapp neben dem Knorpel gebrochen 
und gesplittert, die Bruchränder rauh, eine Gommunication 
mit der Brusthöhle nicht vorhanden. Beide Lungen waren 



Gerichtsärztliche Mitthcilangen. 219 

mit zarten, gelben, membranartigen Exsadationsgerinnseln 
bedeckt; in der Substanz beider Langen mehrere bohnen- 
bis wallnnssgroBse, eitrig zerfallene Infarcte. Die Milz war 
geschwellt, in ihrer Substanz ein keilförmiger dunkelbrauner 
Infarct; in der Leber mehrere Eiterheerde von der Grösse 
einer Bohne bis zu der eines kleinen Apfels; die Nieren 
geschwellt, in ihrer Rindensubstanz mehrere erbsengrosse^ 
dunkelrothe, härtliche Stellen. Magen und Darmkanal 
waren normal beschaffen. 

Aus den weitern Erhebungen und Zeugenaussagen 
geht hervor, dass «/. einige Tage nach der erlittenen Kopf- 
verletzung seinem Milchhandel wie gewöhnlich nachging, 
bis er hierauf wieder erkrankte. Gleichzeitig liegen zwei 
Zeugenaussagen vor, welche bestätigen, dass sie den «/. 
auf der Strasse liegen sahen, dass ihm ein Rad über die 
Brust gegangen sein musste, und </. selbst hatte sich gegen 
mehrere Personen geäussert, dass er vom Wagen herabge- 
fallen sei. 

Der Tag, an welchem J. dieser Unfall passirte, ist 
nicht genau konstatirt; doch musste derselbe sich jedenfalls 
erst mehrere Tage nach Zufugung der Kopfverletzung 
zugetragen haben, weil die Zeugen angeben, dass sie acht 
Tage nach diesem Vorfalle gehört haben, dass «/. in das 
Krankenhaus gebracht worden sei. — Beide Zeugen geben 
übrigens an, dass </. bei jenem Vorfalle, als er nämlich 
vom Wagen stürzte, betrunken gewesen sei, mit Mühe 
aufstand, wieder auf den Wagen stieg und fortfuhr. 

Gutachten. 

1. Aus den gepflogenen Erhebungen ergibt es sich, 
dass «7. am Abend des 27. Februar 1869 mit einem Stocke 
einen Schlag auf den Kopf erhielt, unmittelbar hierauf einen 



220 GericbtsSrztliche Mittbeilangen. 

2 Stunden weiten Weg zurücklegte und nach vorgenom- 
mener Untersuchung Seitens des Wundarztes H, bereits am 
4. März seinem Milchgeschäfte wieder nachging. 

Es ergibt sich ferner, dass «/. am 11. März schwer er- 
krankte, und nachdem er am 18. März in das Krankenhaus 
transportirt worden war, daselbst am 22. März verschied; 
gleichzeitig ist aber aus den Zeugenaussagen zu entnehmen, 
dass J. nach erlittener Kopfverletzung und vor der am 
11. März eingetretenen schweren Erkrankung in trunkenen 
Zustande vom Wagen herabstürzte und derart zu liegen 
kam, dass ihm das Rad wahrscheinlich über die Brust 
gegangen war. 

2. Zufolge des Obductionsbefundes, und zwar nament- 
lich der Eiteransammlung zwischen den Gehirnhäuten und 
der in den Lungen, der Leber und Milz vorgefundepen 
eitrigen Infarcte unterliegt es keinem Zweifel, dass J, an 
Pyämie und Entzündung der Gehirnhäute ge- 
storben ist. 

3. Gleichzeitig wurde eine Wunde in der linken Sei- 
ten wandbeingegend vorgefunden, welche mit Ablösung der 
Hautdecken, Eiterung und Rauhigkeit des entblössten Schädel- 
koochens verbunden war, und unzweideutig von dem er- 
littenen Schlage mit dem Stöcke herrührte. 

Eine zweite Verletzung wurde am Brustkorbe wahr- 
genommen, nämlich eine Splitterung der rechtsseitigen 2. 
Rippe, welche mit einer bedeutenden Verjauchung der 
Weichtheile verbunden war. 

Was diesen Rippenbruch anbelangt, so ist zwar der 
Zeitpunkt, wann derselbe entstanden ist, aus den Akten 
nicht genau zu ersehen, doch dürfte es keinem Zweifel 
unterliegen, dass derselbe nicht bei der am 27. Februar 
stattgefundenen Misshandlung, sondern erst später beim 



Gerichteärztliche MittheilaDgen. 22 t 

Herabstürzen des </. vom Wagen durch Deberfahrenwerden 
veranlasst warde, und zwar aus folgenden Gründen: 

a. hat </. bei der unmittelbar nach der ersten Misshand- 
lung am 28. Februar durch Wundarzt H, vorgenom- 
menen Untersuchung kein Zeichen eines Rippenbruches 
dargeboten und über keine Beschvirerde beim Athmen 
oder bei Bewegungen des Brustkorbes geklagt, was 
nicht wohl möglich gewesen wäre, wenn der Split- 
terbrnch der Rippe schon damals bestanden hätte; 

b. war das Ueberfahren, wobei ein Wagenrad über die 
Brust ging, vollkommen geeignet, einen solchen 
Rippenbruch zu bedingen, und spricht auch die am 
11. März eingetretene Erkrankung, bei welcher «/. 
über die Brustschmerzen klagte und worauf sich 
bald eine Entzündung des Rippenfelles und der Lunge 
entwickelte, dafür, dass jener Rippenbrnch kurz vor 
jener Zeit entstand. 

4. Nun entf^teht die Frage: welche von diesen beiden 
Verletzungen die Ursache des lethal gewordenen Krank- 
heitszustandes bildet, ob nämlich die Kopfverletzung 
für sich allein die Veranlassung zur Entstehung der 
Hirnhautentzündung und der Folgen derselben abgab, 
oder ob erst in Folge des später hinzugetretenen Rippen- 
bruches und der durch denselben bedingten Verjauchung 
der Weichtheile Pyämie mit Eiterablagerungen zwischen 
den Hirnhäuten und in den anderen Organen eintrat, welche 
dann ihre schädliche Wirkung auch auf die bereits geheilte 
Kopfwunde äusserte, und ob sonach der Rippenbruch 
allein die Ursache des Todes wurde. 

5. Erwägt man nun, dass die Kopfwunde an und für sich 
von keiner besonderen Ausdehnung und Tiefe, mit keiner 
Gehirnerschütterung verbunden war, keine Allgemeinerschei- 



222 GerichtBftrztliebe Mittheilangen. 

nungen hervorrief, und dass J. bereits am 5. Tage unge- 
hindert seinem Milchgeschäfte nachging, so I&sst es sich 
wohl mit Tollem Rechte annehmen, dass diese Kopfwunde 
für sich allein von keiner besonderen Bedeutung war 
und keine wesentlichen Nachtheile bedingt hatte. 

Erwägt man ferner, dass die 2. rechtsseitige Rippe 
gebrochen, gesplittert und mit einer Verjauchung der 
Weichtheile verbunden war; erwägt man ferner, dass kurz 
nach dem Zeitpunkte, wo dieser Rippenbruch entstanden 
sein musste, die schwere Erkrankung des J. auftrat, welche 
sich anfänglich vorzugsweise durch Erscheinungen in den 
Brustorganen — Entzündung des Rippenfelles und der 
Lunge — manifestirte , und zu welcher erst im späteren 
Verlaufe Erscheinungen einer Affektion des Gehirns, wie 
Delirien etc. hinzutraten, so lässt es sich mit Recht an- 
nehmen, dass jener Rippen.bruch und die durch 
denselben bedingte Verjauchung der Weichtheile 
es waren, welche die pathologischen Verände- 
rungen in den Organen und in der schon fest ver- 
heilten Kopfwunde hervorriefen und den Tod 
durch Pyämie bedingten. 

6. Was die Kopfverletzung für sich allein an- 
belangt, so lässt sich zwar mit voller Bestimmtheit nieht an- 
geben, welchen Verlauf dieselbe genommen hätte, wenn jener 
Rippenbruch nicht hinzugekommen wäre; nach dem früher 
Gesagten ist jedoch kein Grund vorhanden, um derselben eine 
grosse Bedeutung zuzuschreiben, und dieselbe kann unter 
diesen umständen an und für sich nur in die Klasse der 
leichten Verletzungen eingereiht werden. 



GerichtdärztlichQ Mittheilangen. 223 

Selbstmord darch Erhängen oder erwärgtt — Verletzungen 
vor oder nach dem Tode entstanden! 

Am 17. Februar 1869 erschien der Grundbesitzer «/. B., 
ein stets wohlverhaltener Mann und Familienvater, bei dem 
Wundarzte H. mit der Angabe, er habe seinen 9jährigen 
Sohn unter dem Dache einer Schupfe in einem Schlitten 
todt aufgefunden, und sprach die Vermuthung aus, dass der 
Knabe vom Dache herabgestürzt sein möge. — Da 
sich jedoch mehrfache Gerüchte bezüglich einer anderen 
Todesursache verbreiteten und an der Leiche verschiedene 
auffallende Verletzungen vorgefunden vrurden, so erstattete 
der genannte Wundarzt die Anzeige. 

Der Sachverhalt war folgender: J. £., Sohn des 
oben erwähnten Grundbesitzers, dessen Alter in den Acten 
einmal mit 9 und das andere Mal mit 11 Jahren angegeben 
ist, war zufolge mehrfacher Zeugenaussagen ein wilder, böser 
Knabe, der die Schule nicht besuchen wollte, selbst gegen 
seine Mutter thätlich vorgegangen war und schon früher ein- 
mal gedroht haben soll, sich mit einem Messer zu erstechen. 
Am 16. Februar war der Vater ß. vom Hause abwesend 
und kehrte gegen 5 Uhr Nachmittags zurück. — Auf die 
Frage, wo der Knabe «7. sei, erwiderte die Mutter, derselbe 
habe heute wieder nicht die Schule besucht und sich wahr- 
scheinlich, als er den Vater kommen hörte, irgendwo ver- 
steckt. — Auf dies hin nahm der Vater eine Karabatsche 
(eine aus mehreren Lederriemen bestehende Peitsche) und 
suchte den Knaben im ganzen Hause, um ihn wegen des 
Ausbleibens aus der Schule zu strafen. Als er bei dieser 
Nachsuchung hinter das Gebäude in den offenen Schupfen 
kam, sah er zufolge seiner Angabe, dass der Knabe in 
einem Schlitten zusammengekauert sitze und todt sei, 



224 Gerichtsärztliche MittheilaDgen. 

worauf er denselben in die Stube trng, mit seiner Frau 
Wiederbelebungsversuche anstellte, die jedoch fruchtlos 
blieben. 

Zufolge Anzeige des Wundarztes H.^ welcher der Mit- 
theilung des Vaters, dass der Knabe von einem Balken 
herabgestürzt sei, keinen rechten Glauben schenkte, wurde 
am 20. Febr. die gerichtliche Obduction vorgenommen. — 
Bei derselben fand man: 

Der Körper 52 Zoll lang, kräftig entwickelt, die Augen- 
lider geschlossen, die Zungenspitze zwischen den Zähnen 
sichtbar, die Finger in halber Beugung, am Rücken Todten- 
flecke. — Von Verletzungen fand man vor: 

1. Oberhalb des rechten Auges eine hirsekorngrosse, 
mit einer Kruste bedeckte Hautaufschürfung und an der 
rechten Schläfe eine linsengrosse sugillirte Stelle. 

2. An der Vorderseite des Halses, sowohl rechts als 
links, Hautaufschürfungen, die sich vom Kehlkopf schräg 
nach aufwärts bis gegen die Ohren erstreckten; die links- 
seitige hatte eine Länge von 2\ Zoll, die rechtsseitige 2 Zoll. 

3. Hinter dem rechten Ohre zwei voneinander etwa 
14 Zoll entfernte, blutig unterlaufene, \ Zoll lange, theil- 
weise der Oberhaut entblösste Hautstellen. 

4. Am Vordertheil des Halses und zwar in der Dros- 
selgrube zwei etwa \ Zoll lange, parallel in der Richtung 
von oben nach unten verlaufende Hautaufschürfnngen. 

5. An der inneren Brusthälfte von der 7. bis 11. Rippe 
9 Striemen mit vertrockneter Oberhaut; jede Strieme be- 
stand aus zwei parallel verlaufenden Linien, die eine nicht 
verfärbte Hautpartie einschlössen. 

6. An den unteren Extremitäten einige gelblich rothe 
Streifen ohne Hautaufschürfung und ohne Blutaustritt. 

7. An der inneren Seite des linken Ellbogengelenks 



Gerichtsärztliche Mittheilnngen. 225 

eine gerGthete Stelle mit einigen schmalen, wie von Nägeln 
herrührenden Hautaufschürfungen. 

Die Schädeldecken und Schädelknochen ganz unverletzt, 
die Hirnhäute sehr blutreich, der Sichelblutleiter von dunkel- 
rothem Blute strotzend, an der Schnittfläche des Gehirns 
zahlreiche Blutpunkte, die Querblutleiter mit Blut gefüllt. 
— Beide Drosselvenen sehr stark bluthaltig, im Kehlkopf 
und der Luftröhre eine feinschaumige weissliche Flüssigkeit, 
die Schleimhaut der Luftröhre sehr stark geröthet, beide 
Langen frei, sehr stark luftgedunsen, beim Einschnitt 
knisternd, die Schnittfläche ziemlich trocken; beim Druck 
entleert sich aus den Bronchien eine schaumige Flüssigkeit; 
der Herzbeutel leer, das Herz normal, in der rechten Herz- 
höhle eine massige Menge dunkelflüssigen Blutes. — Der 
Magen enthielt einen aus Erdäpfeln und Schwämmen be- 
stehenden Speisebrei, seine Schleimhaut, sowie auch jene 
des Darmkanals normal; Leber, Nieren und Milz normal, 
massig blutreich. — Die Wirbelsäule unbeschädigt, die 
ßackenmarkshäute massig blutreich, das Rückenmark blass, 
sonst normal. 

Die Obducenten gaben ihr Gutachten ab: 

1) dass der Knabe am Stickschlagfluss gestorben ist; 

2) dass ein Sturz wegen des gänzlichen Mangels eines 
jeden Knochenbruches und einer jeden anderen ausser- 
lieh wahrnehmbaren schweren Verletzung nicht statt- 
gefunden haben könne; 

3) dass die Spuren einer Gewaltthätigkeit am Halse 
darauf schliessen lassen, dass ein anhaltender starker 
Druck auf die Luftröhre in der Art stattgefunden habe, 
dass der Hals des Knaben von einem kräftigen Manne 
mit der linken Hand so umfasst wurde, dass der Zeige- 
und Mittelfinger hinter das rechte Ohr zu liegen kamen, 

Vi«rt«ljahra«chr. /. ger. Med. N. F. XV. 3. 15 r 



226 Gerichtsfirztliche MittheiloDgen. 

während der Handteller und der Daumen die vordere 
und die Seitenpartie des Halses einnahmen; 

4) die Striemen am Brustkorb sind während des Lebens 
entstanden und rühren von der Einwirkung der so- 
genannten Earabatsche her, und es ist anzunehmen, 
dass der Knabe, während er beim Halse gehalten 
wurde, mit dieser Peitsche gezüchtigt wurde; 

5) die Striemen an den Füssen und der rothe Fleck 
am Ellbogen rühren von den Wiederbelebungsver- 
suchen her 

Auf Grundlage dieses Gutachtens wurde J, B. (der 
Vater) in Anklagezustand versetzt. 

Aus den eingeleiteten Erhebungen ist hervorzuheben, 
dass der Eisenbahnarbeiter K,, welcher an demselben Nach- 
mittage in einer Entfernung von nur 28 Klaftern von dem 
Wohnhause des B. arbeitete und dieses Wohnhaus, sowie 
auch die Schupfe gerade vor sich hatte, eidlich bestätigt, 
dass </. B. (der Vater) gegen 5 Uhr Nachmittags nach 
Hause gekommen sei, dass derselbe nach kurzer Zeit her- 
auskam, um das Haus herumging, dann in den Schupfen 
trat und nach ungefähr zwei Minuten den Knaben auf den 
Armen haltend heraustrat, wobei der Kopf und die Arme 
des letzteren schlaff herabhingen; er habe den Knaben 
weder schreien, noch weinen gehört und habe den- 
selben auch nicht gesehen, wie er in den Schupfen hin- 
einging. 

Bezüglich des Knaben selbst gab der Zeuge F. an, 
dass er denselben um halb 2 Uhr in der Nähe des Schupfens 
gesund und wohlgemuth gesehen habe; nach einer Viertel- 
stunde sah er den Knaben abermals, welcher jetzt den Eopf 
auf die Hände gelegt hatte und weinte. Auf die Frage, 
was ihm fehle, gab er keine Antwort, worauf sich Zeuge 
entfernte. 



Gerieb tsär^tliche Mittheilungen. 227 

Bei der am 29. November 1869 abgehaltenen Schluss- 
yerhandlung änderte </. B, seine Aussage dahin 
ab, dass er den Knaben in dem Schupfen mittelst eines 
um den Hals gelegten Strickes erhängt vorgefunden, den- 
selben sogleich losgemacht, in die Stube getragen und mit 
seiner Frau Belebungsversuche angestellt habe, bei wel* 
oben sie den Knaben auch mit Ruthen und der Earbatsche 
peitschten, um ihn zum Leben zu bringen, welche Versuche 
jedoch fruchtlos blieben; er gab ferner an, dass er diesen 
Umstand deshalb früher verschwiegen habe, weil dieses eine 
Schmach für seine Familie gewesen wäre, deren er sich 
schämte. — Bei der Auffindung war der Knabe ganz an- 
gezogen; als er ihn in die Wohnung brachte, waren die 
Beine kalt, die Brust noch warm; ferner gab er an, dass 
er nicht allein, sondern mit seiner 7jährigen Tochter 
in den Schupfen getreten sei, — und dieses Kind bestätigte 
wirklich, dass sie, als sie mit dem Vater in jenen Schupfen 
getreten war, gesehen habe, dass ihr Bruder J. einen Strick 
um den Hals hatte. Der früher erwähnte Zeuge K. bestä- 
tigte ebenfalls, dass das kleine Mädchen gleichzeitig mit 
ihrem Vater in jenen Schupfen getreten sei. 

Ueber weiteres Befragen gab «/. B. an, dass er den 
Strick, an welchem der Knabe gehangen war, vor dem 
Schupfen vergraben habe^ und es wurde wirklich bei der 
am 19. Febr. 1870 vorgenommenen Nachsuchung an dieser 
Stelle ein bereits morscher, aus Baumwolle gefertigter, ^ Zoll 
dicker dreiflechtiger Strick aufgefunden. 

Die Mutter F. B. gab bei der Schlussverhandlung an, 
dass der Vater, als er mit dem todten Knaben ins Zimmer 
getreten war, geschrieen habe: Josef h^t sich erhängt; 
sie bestätigt auch, dass sie bei den Belebungsversuchen 
den Körper mit einer Ruthe und der Peitsche geschlagen 
habe. 

15* 



228 Gerichtsinüiche MittheiloDgen. 

Nach Bekanntgebung dieser Aussagen und Umstände 
gaben die Obducenten Dr. E. und Wundarzt H. ihre Aeusse- 
rnng dahin ab, dass sie ein Selbsterhängen des Knaben 
durchaus nicht annehmen könnten und ihr früheres Gut- 
achten vollständig aufrecht halten mussten und zwar ans 
folgenden Grfinden: 

1) weil ein Strick, falls der Tod durch Strangulation er- 
folgt, unter jeder Bedingung eine pergamentartig ver- 
trocknete Strangulationsrinne zurücklassen mnss und 
die am Halse vorgefundenen Hautaufschürfungen kei- 
nesfalls von der Einwirkung eines Strickes herrühren 
können; 

2) weil die Verletzungen am Brustkorb nicht von Be- 
lebungsversuchen herrühren können, sondern während 
des Lebens entstanden sein müssen, indem Eingriffe 
auf den todten Organismus keine Reaction hervor- 
bringen, während die vorgefundenen Striemen von der 
Oberhaut entblösst und mit einem Blutschorf bedeckt 
waren ; 

3) die Localbesicbtigung ergab, dass von dem Schlitten- 
rande, auf welchem der Knabe gesessen haben soll, 
bis zu der Latte, an welcher der Strick befestigt war, 
28 Zoll Zwischenraum war. — Da nun die Leiche 
52 Zoll lang war und die Beckengegend als die 
Hälfte der Körperlänge angenommen werden kann, 
so erübrigt zwischen dem Oberkörper und der Latte 
nur ein Zwischenraum von 2 Zoll, in welchem es 
nicht möglich ist, den Kopf durch eine Strangschlinge 
zu stecken. Die Annahme aber, dass der Knabe sich 
früher den Strick um den Hals gelegt und nachher 
das Ende desselben befestigt hätte, erscheint nicht 
wahrscheinlich. 



GerichtsSrztUche Mittheilongen. 229 

Bei der Scblussverhandlang wurde «7. B. wegen Ab- 
ganges beweisender Momente freigesprochen, wogegen 
die Staatsanwaltschaft rekurrirte. 

Von Seiten des Oberlandesgerichts wurde der Gegen- 
stand an die Facult&t geleitet mit der Anfrage, ob unter 
den geschilderten Umständen die Möglichkeit eines Selbst- 
mordes vorhanden sei oder ob ein solcher ausgeschlossen 
werden müsse? 

Gutachten. 

1. Die an der Leiche wahrgenommenen und von den 
Obducenten hervorgehobenen Erscheinungen, und zwar: die 
dunkle Beschaifenheit des Blutes, die intensive Röthung der 
Luftröhrenschleimhaut, das Gedunsensein der Lungen, die 
Anfüllung des Kehlkopfes und der Luftröhre mit einer 
weissen schaamigen Flüssigkeit, der reichliche Blutgehalt 
der Drosselvenen und des rechten Herzens, sowie endlich 
die Einklemmung der Zunge zwischen den Zähnen spre- 
chen bei der gänzlichen Abwesenheit einer jeden andern 
Todesursache dafür, dass J. B. (Sohn) an Erstickung in 
Folge des behinderten Zutrittes der atmosphärischen Luft 
zu den Luftwegen gestorben ist 

2. Die am Halse wahrgenommenen deutlichen Zeichen 
einer mechanischen Einwirkung lassen darauf schliessen, 
dass die Erstickung durch einen auf den Hals ausgeübten 
Druck herbeigeführt wurde. 

3. Bei Beantwortung der Frage, auf welche Art dieser 
Druck auf den Hals ausgeübt wurde, ist in Berücksichti- 
gung aller umstände des Gegebenen vorzugsweise zu er- 
örtern, ob ein Erhängen oder Erwürgen stattgefunden 
hat. — Bei Beleuchtung dieses Fragestückes ist Nachstehen- 
des zu erwägen: 



280 GerichtsSrztliche Mittheilangen. 

a. der allenfalls denkbare Fall, dass der Knabe durch 
irgend eine andere Gewaltthätigkeit, z. B. 
durch Schläge getödtet und dann erst in Agone oder 
nach bereits erfolgtem Tode aufgehängt worden wäre, 
lässt sich vollkommen ausschliessen , weil einerseits 
weder ein Knochenbiucfa, noch eine andere Verletzang 
eines innern Organes vorgefunden wurde, anderer- 
seits aber, wie oben erwähnt, die Erscheinungen anf 
Erstickung hindeuten. — Ebenso lässt sich 

b. der Fall, dass jB. von einem Andern aufgehängt 
worden wäre, gleichfalls ausschliessen, weil hierbei 
wegen des von Seite des kräftigen Knaben ausgeüb- 
ten Widerstandes Zeichen der Gegenwehr vorhanden 
gewesen wären, übrigens auch die aus den Erhebun- 
gen hervorgehenden Umstände einer solchen Annahme 
ganz widersprechen, da von Seite des in geringer 
Entfernung anwesend gewesenen Zeugen K. weder 
ein Weinen noch ein Geschrei des Knaben gehört 
worden war und auch die Zeit von 2 Minuten, die 
vom Eintritte des Vaters bis zu dessen Entfernung 
aus der Schupfe verfloss, viel zu kurz war, um eine 
solche Handlung zu unternehmen. 

Es erübrigen soriach die Fälle des absichtlichen 
Selbsterhängens oder des Erwürgens durch einen 
Andern. 

c. Die Obducenten scbliessen ein Selbsterhängen mit 
Bestimmtheit aus und nehmen die letztgenannte ge- 
waltthätige Einwirkung, nämlich das Erwürgen an; 
doch sind die für dieselben hierfür angeführten Gründe 
nicht in allen Punkten stichhältig und massgebend. 

4. Die Behauptung, dass ein Strick immer eine per- 
gamentartig vertrocknete Strangfnrche zurücklassen müsse, 
ist ganz unrichtig, weil nach Erhängungen in manchen 



r 



Gerichtsärztliche Mittheil ungen. 231 

Fällen blosse Eindrücke der Haut, in andern blosse Hant- 
aufschürfangen, in manchen Fällen sogar äasserlich am 
Halse gar kein Zeichen vorgefunden wird. Da nun der 
Knabe vollständig bekleidet war, somit anzunehmen ist, 
dass auch der Hals durch das Hemd und ein Tuch ge- 
schützt gewesen sein mochte; da der aufgefundene Strick 
ferner aus Baumwolle gefertigt, somit weich und nachgiebig 
war, so ist es immerhin möglich, dass durch ein solches 
Strangulationswerkzeug keine harte vertrocknete 
Strang furche, sondern bloss Hautaufschürfungen bewirkt 
wurden. 

Die Obdncenten geben an, dass die am Halse vorge- 
fundenen HautaufschürfuQgen der Einwirkung einer den 
Hals umfassenden Hand einer kräftigen Person entsprächen, 
wobei der Zeige- und Mittelfinger hinter das rechte Ohr 
zu liegen kamen, während der Handteller und der Daumen 
die vordere Partie des Halses umfassten. 

Auch diese Erklärung ist keinesfalls entsprechend, in- 
dem der Handteller, sowie die gespannte Hautfalte zwi- 
schen den von einander entfernten Zeigefinger und Daumen 
wegen ihrer weichen Beschaffenheit gar keine Hautauf- 
scbürfungen erzeugen können, durch den Druck mit den 
Fingerspitzen aber nur kleine halbmondförmige, der Form 
des Nagels entsprechende, keineswegs aber lange streifen- 
förmige Excoriationen zu entstehen pflegen. 

Nachdem nun an dem Halse des Knaben lange strei- 
fenförmige Hautaufschürfnngen gefunden wurden, welche 
vom Kehlkopfe beiderseits bis zu den Ohren aufstiegen, so 
entspricht diese Form vielmehr der Einwirkung eines den 
Hals umgebenden Strickes, als dem Drucke einer Hand; 
was aber die hinter dem rechten Ohre befindlichen zwei 
kleinen Hautaufschurfungen anbelangt, so können diese ganz 
gut auch von dem Drucke des hier befindlichen Knotens 



I 



232 Gerichts&rztliche Mittheilaogen. 

der Schlinge hergeleitet werden; es spricht sonach die 
Form und Lage der Hautaufschürfungen vielmehr für 
ein Selbsterhängen, als für Erwürgen. 

Der Einwurf, dass ein Selbsterhängen nicht stattge- 
funden haben könne, weil zwischen dem Kopfe und der 
Latte, an welcher der Strick befestigt gewesen sein soll, 
nur ein Zwischenraum von zwei Zoll übrig blieb, ist gleich- 
falls nicht wichtig, indem auch unter solchen Umständen 
ein Selbsterhängen ganz gut möglich ist. Denkt man sich 
nämlich, dass die gebildete Schlinge anfänglich unmittelbar 
die Latte berührte, so konnte der Kopf des Knaben, der 
sich im Schlitten aufrichtete, ganz wohl durch dieselbe 
durchgesteckt und dann durch plötzliches Niederkauern und 
Zusammenziehen der Schlinge die Strangulation bewerk- 
stelligt worden sein. 

d. Das jugendliche Alter bildet gleichfalls keinen abso- 
luten Widerspruch des Selbstmordes, weil der Er- 
fahrung zufolge auch Knaben dieses Alters als un- 
zweifelhafte Selbstmörder gestorben sind, und weil 
speziell bei diesem kräftig entwickelten, heftigen, zu 
Gemüthsbewegungen disponirten Knaben, der sogar 
schon einmal mit Selbstmord gedroht hatte, eine 
solche Handlungsweise aus Furcht vor wohlverdien- 
ter Strafe immerhin als im Bereiche der Möglichkeit 
liegend angenommen werden kann. 

e. Noch eines ümstandes ist jedoch zu erwähnen, näm- 
lich der Striemen am Brustkorbe, von denen die 
Obducenten annehmen, dass sie bei Lebzeiten des 
Knaben, und zwar während er am Halse gehalten 
und gewürgt wurde, beigebracht worden sind. 

Schon aus den Erhebungen ergeben sich Umstände, 
die gegen eine solche Auffassung sprechen. — Der Zeuge 
K. gibt unter seinem Eide an, der Vater wäre in Beglei- 



Gerichtsärztliche Mittheilangen. 233 

tODg seiner kleinen Tochter in den Schupfen eingetreten, 
nach längstens 2 Minuten mit dem Knaben auf dem Arme 
herausgetreten, und er habe nicht das geringste Weinen 
und Schreien gehört; das Kind gibt aber an, ihr Bruder 
habe einen Strick um den Hals gehabt. — Dievse Umstände 
sprechen gegen eine Beibringung dieser Striemen durch 
Schläge in dem Schupfen, weil in diesem Falle der Knabe 
geweint oder geschrieen hätte, was dem Zeugen nicht hätte 
entgehen können. 

Es wäre der Fall denkbar, dass diese Striemen von 
einer früheren, vielleicht schon einen oder mehrere Tage 
zuvor stattgefundenen Züchtigung mit einer Peitsche her- 
rühren. Da aber aus den Akten nichts hervorgeht, was 
diese Annahme bekräftigen würde, die Eltern selbst auch 
nichts hiervon erwähnen, so ist kein Grund für diese An- 
nahme vorhanden, und es bleibt nur die Frage zu erörtern, 
ob diese Striemen nicht auch nach dem Tode entstanden 
sein konnten, und zwar bei den Belebungsversuchen, welche 
nach der Angabe der Eltern unter andern auch in Schlä- 
gen mit der Peitsche und einer Ruthe bestanden haben 
sollen. 

Berücksichtiget man die Beschaffenheit dieser von den 
Obducenten mit dem Namen Striemen bezeichneten Be^ 
Schädigungen, so ergibt sich, dass dieselben aus mit einer 
Kruste bedeckten, d. h. vertrockneten Hautaufschürfungen 
bestanden; von einer wirklichen Blutaustretung oder Blut- 
unterlaufung ist jedoch keine Rede. 

Nun lehrt die alltägliche Erfahrung, wie man das 
namentlich bei allen auf die Haut einwirkenden Belebungs- 
versuchen sehen kann, dass auch jene Hautaufschürfungen, 
welche einem Körper erst nach bereits eingetretenem Tode 
zugefügt werden, in Folge der Verdunstung der Flüssig- 
keit eintrocknen und pergamentartig krustenähnlich 



234 Gerichtsftntliche MittheilDDgeo. 

scheinen, so zwar, dass es unmöglich ist, zu entscheiden, 
ob solche Excoriationen noch während des Lebens oder 
erst nach dem Tode entstanden sind. — Je früher nach 
eingetretenem Tode solche Aufschürfungen entstehen, desto 
deutlicher* ist wegen der noch vorhandenen grösseren 
Menge von Feuchtigkeit die Eintrocknung; ja man hat 
Fälle beobachtet, wo Verletzungen, die kurz nach erfolgtem 
Tode beigebracht wurden, sogar mit einem geringen filut- 
austritte verbunden waren, was dadurch erklärlich wird, 
dass sich noch nicht alles Blut aus den oberflächlichen 
Gefässen entleert hatte, und somit durch Zerreissnng eines 
derselben immerhin eine Blutaustretung veranlasst werden 
konnte. 

Nnn lässt sich aber ans allen Umständen' annehmen, 
dass der Tod des Knaben kurz vor dessen Auffindung er- 
folgt sein mochte; denn zufolge der Angabe des Vaters 
war dfe Brust noch warm und nach der Aussage des 
Zeugen K. hingen Kopf und Arme des von dem Vater ge- 
tragenen Knaben schlaff herab; ein Beweis, dass die 
Todtenstarre noch nicht eingetreten war. 

Wenn nun kurz nach dem Absterben, wie die Eltern 
angaben, mit der erwähnten Peitsche oder einer Ruthe 
Schläge gegen den Körper geführt wurden, so ist es nicht 
unmöglich, dass hierdurch Hautanfschürfungen entstanden, 
welche nach eingetretener Verdunstung eingetrocknet waren 
und ein krustenähnliches Aussehen darboten; es sind so- 
mit diese Striemen an und für sich gleichfalls 
keine sicheren Beweise für eine gewaltthätige 
Tödtung 

Fasst man demnach alle erwähnten Umstände zusam- 
men, erwägt man ferner, dass an der Leiche kein Zeichen 
geleisteten Widerstandes gefunden wurde; erwägt man, dass 
der Zeuge K. weder ein Schreien noch ein Weinen, noch 



Gerichtfiärztliche Mittheilangen. 235 

sonst eine Andeutung einer ausgeübten Gewaltthätigkeit 
wahrgenommen hatte, und auch die 7jährige Tochter an- 
gab, sie habe den Bruder erhängt gesehen; erwägt man 
endlich, dass der Zeitraum von zwei Minuten doch viel zu 
kurz ist, um eine solche Gewaltthätigkeit in ihrer ganzen 
Ausdehnung vorzunehmen, so ergibt es sich, dass die An- 
nahme des Selbsterhängens nicht nur möglich, 
sondern sogar wahrscheinlich erscheint. 



Stichfronde am flalse eines nengeboreneii Kindes. 

M, A., 22 Jahre alt, Dienstmagd, wurde schwanger, 
suchte jedoch diesen Zustand, obwohl er von mehreren Per- 
sonen bemerkt wurde, zu verheimlichen. — Aus dor Aus- 
sage einer Zeugin geht hervor, dass die Angeklagte zur 
Zeit des Erdäpfelbehackens sie ersucht habe, Zeugin mtge 
zu einer Zeit, wo sie die Reinigung habe, das Hemd der 
A/. R, anlegen, und es ihr ungewaschen zurückstellen, da- 
mit sie ihre Dienstfrau überzeugen könne, dass sie nicht 
schwanger sei. 

Am 4. Oktober 1866 klagte M. R über Kopfschmer- 
zen, Abgeschlagenheit und begab sich deshalb in ihre 
Kammer, wo sie sich niederlegte. — Gegen die Leute, 
welche sie an diesem Abende besuchten, äusserte sie an- 
fänglieh, dass ihr schon besser sei. — Als aber später die 
Zeugin R. B. die Inculpatin in der Schlafkammer stark 
ächzen hörte, theilte sie dieses dem Dienstherrn mit, wel- 
cher sich mit der Laterne in die Schlafkammer begab und 
auf der Erde Blutspuren bemerkte. Auf die Frage, was 
geschehen sei, gab R an, dass von ihr blos etwas Blut 
abgegangen sei. — Der Dienstherr jedoch — Verdacht schö- 
pfend, dass R. geboren habe — schickte um die Hebamme, 
fi. sträubte sich anfänglich gegen die Untersuchung; als 



236 QericbtsSrztliche Mittheilaogen. 

aber die letztere doch yorgenommen wurde, überzeugte 
sich die Hebamme, dass R. geboren habe, and entfernte 
gleichzeitig die Nachgeburt. Demohngeachtet stellte K. die 
Entbindung anfänglich noch immer entschieden in Abrede 
und gab an, dass von ihr blos Blut abgegangen sei, wel- 
ches sie weggeschüttet habe. — üeber den Ort befragt, 
wohin sie dieses Blut gegossen habe, gab sie zuerst an, 
dass sie am Aborte, dann aber, dass sie auf der Dungstätte 
gewesen sei, und als man an diesen beiden Orten keine 
Kindesleiche vorfand, gab sie endlich an, dass sie sich auf 
einen Wasserkfibel gesetzt und diesen in den Kanal ent- 
leert habe. 

Dieser Kanal oder eigentlich mehr Wasserausguss be- 
findet sich im Hofraume, ist mit Steinen gepflastert und 
mit grossen Steinplatten überdeckt. Nahe an der in die 
Schlafkammer der R. führenden Thüre ist von einer der 
den Kanal bedeckenden Platten eine Ecke abgeschlagen, wo- 
durch eine unregelmässige Oeffnnng zwischen der Kanal- 
wand und der Deckplatte gebildet wird. In dieser Oeifnung 
wurde von der Hebamme die Kindesleiche fest einge- 
klemmt vorgefunden und mit Anstrengung bei den Füss- 
chen hervorgezogen, wobei man sogleich eine bedeutende 
Verletzung im Gesichte bemerkte. Der Boden des Kanals, 
sowie die Wandungen desselben waren vollkommen 
trocken, so dass kurz zuvor eine Flüssigkeit nichfc einge- 
gossen worden sein konnte. 

Beim Gericht vernommen, gestand R, ein, dass sie 
schwanger gewesen sei, stellte jedoch jeden Gedanken auf 
YerObung eines Kindsmordes oder einer absichtlichen Be- 
seitigung der Leibesfrucht entschieden in Abrede. — Nach 
ihrer Angabe glaubte sie, dass die Entbindung erst in zwei 
Monaten erfolgen werde, weshalb sie auch ihr Unwohlsein 
keineswegs als Vorboten der bevorstehenden Geburt ansah; 



Gerichtsärztliche Mittheilangen. 237 

es befiel sie angeblich plötzlich ein Drang, als wenn sie 
auf die Seite gehen sollte, weshalb sie vom Bette aufstand 
und sich auf den Kübel, in welchem sich etwas Wasser 
befand, setzte. Da habe sie plötzlich ein Krachen gefühlt, 
als wenn etwas zerrissen wäre, und da gleichzeitig in ihre 
Geschlechtstheile Etwas wie eine grosse Blase eintrat, so 
habe sie, um sich Erleichterung zu verschaffen, mit einer 
in der Nihe liegenden Scheere in diese vermeintliche 
Blase eingestochen , worauf Alles in den Kübel fiel. Hier- 
auf stand sie auf und schüttete den ganzen Inhalt der 
Butte, ohne denselben anzusehen, in den Kanal, begab sich 
ganz erschöpft in ihre Schlafkammer und ging zu Bette. — 
üeber weitere Fragen gab sie an, dass die Nabelschnur 
abgerissen sein müsse; später gab sie wieder an, dass Et- 
was aus ihr herausgehangen habe wie ein Darm, dass sie 
diesen mit der rechten Hand entzwei gerissen habe, wor- 
auf das Uebrige wieder in sie hineingegangen sei. — 

Nachträglich ist noch zu bemerken, dass man am 
Dunghaufen einzelne Blutklumpen und den Stiel der 
Mistgabel mit frischem Blute beschmatzt vorfand; auch 
auf dem Kübel, auf dem R. gesessen sein soll, wurden 
Blutspuren wahrgenommen. 

Bei der am 7. Oktober vorgenommenen Obduction 
fand man eine männliche Eindesleiche, deren Gewicht 5 
Pfund 2 Loth, deren Länge 19 Zoll betrug. Die Haut 
war fest, dick, massig mit Fett ausgepolstert, in den Achsel- 
höhlen und Leisten käsige Schmiere, die vordere Hals- und 
obere Brustgegend, sowie die Schultern mit vertrocknetem 
Blute beschmutzt; der Kopf erschien zugespitzt, die Haare 
dicht, der gerade Kopfdurchmesser 5 Zoll, der lange 5^ 
Zoll, der quere 2^ Zoll, die Knorpeln der Nase und der 
Ohrmuscheln fest, die Nasenlöcher mit Blut beschmutzt, 



238 Gerichtsärztliche Mittheilangen. 

die Lippen trocken, die Zungenspitze auf der Unterlippe 
anfliegend. 

An der rechten Gesicbtsseite bemerkte man eine 1^ 
Zoll lange and ^ Zoll breite mit scharfen geraden Rän- 
dern versehene Wunde, welche am rechten Mundwinkel 
beginnt , etwas schief nach aussen und «abwärts gegen 
den Hals verläuft und hier stumpfwinklig endigt; die Ran« 
der dieser Wunde und deren nächste Umgebung sind blutig 
feucht. — Nach Präparation der Theile fand man das Zell- 
gewebe mit Blut infiltrirt, die Muskeln daselbst zerrissen 
und von infiltrirtem Blute dunkelroth ; gleichzeitig bemerkte 
man in der Wunde die Oeffnimg der durchschnittenen 
äusseren Kieferarterie und Vene, sowie auch im 
rechten Gaumen bogen eine 2 Linien lange, nicht durch- 
dringende Trennung, deren Umgebung mit Blut infiltrirt 
war. Die rechte Hälfte des Unterkiefers war doppelt 
gebrochen, und zwar zunächst der Verbindungsstelle mit 
der linken Hälfte und andererseits ^^ Zoll von dieser 
Stelle entfernt; das Zahnfleisch war von der Bruchstelle 
theil weise abgelöst, röthlich gefärbt, die Bruchenden rauh 
und zackig, blutig feucht und das Bruchstück der vorderen 
Wand theilweise beraubt, so dass der Zahnkeim zum Vor- 
schein kam. — Mit dem Unterleib hing ein 13 Zoll langer 
Rest der derben bluthaltigen Nabelschnur zusammen, deren 
freies Ende ungleich und zackig erschien; die Nägel waren 
härtlich, über die Fingerspitzen vorragend. 

Ausser der bereits erwähnten Wunde fand man noch 
an der rechten Stirnhälfte eine -^ Zoll lange, yV ^^^^ 
breite, bräunliche, vertrocknete, von oben nach abwärts ver- 
laufende Hautaufschürfung ohne Blutaustretung. Das Unter- 
hantzellgewebe der Kopfhaut erschien in der linken Scheitel- 
und Hinterhauptsgegend sulzig, mit etwas Blut infiltrirt, 
die Schädeiknochen unverletzt, die Hirnhäute normal, die 



GerichtsärztHche Mittheilangeo. 339 

Substanz des Gehirns weich, massig blutreich, in den Blut- 
leitern nur wenig Blut Die Speise und Luftröhre leer, die 
Schleimhaut blass, das Zwerchfell stand zwischen der 5. 
und 6. Rippe. Die Lungen waren nur wenig ausgedehnt, 
elastisch, blassr^thlich gefärbt; sie schwammen sowohl im 
Ganzen, als in Stücke zerschnitten vollständig auf dem 
Wasser, waren massig blutreich und Hessen zerschnitten 
unter knisterndem Geräusch Luftblasen und blassrdthlichen 
Schaum emporsteigen; der Herzbeutel war leer, das Herz 
normal, in den Herzhöhlen nur wenig flüssiges Blut. Die 
Nabelgefässe waren offen, bluthaltig, die Leber gross, 
schwarzbraun, blutreich. Der Magen blass, in seiner Höhle 
eine eiweissartige, blutig gefärbte, theils gelblich schleimige 
Flüssigkeit; die Milz normal; der dünne Darm zusammen- 
gefallen, im dicken Darme viel Kindspech. Der Mutter- 
kuchen war normal beschaffen, und mit demselben hing 
ein 4^ Zoll langes Stück der Nabelschnur zusammen, deren 
freies Ende zackig erschien. 

Befragt, auf welche Art diese Verletzung dem Kinde 
beigebracht wurde, wollte die Inculpatin anfänglich nichts 
davon wissen; später meinte sie, dieselbe möge entstanden 
sein, als das Kind bei der Geburt auf den mit Steinplatten 
bedeckten Fussboden gefallen sei, oder aber, wie sie sich 
bei der Geburt selbst geholfen habe. 

Die Obducenten gaben das Gutachten ab: 

1) dass das Kind neugeboren, vollkommen reif war, ge- 
athmet und gelebt hat; 

2) die Gesichtswunde ist eine während des Lebens ent- 
standene Stich- und Schnittwunde; dieselbe bildet zu- 
folge der durch sie bedingten Blutung eine schwere 
und lebensgefährliche Verletzung; sie kann aber, so- 
wie auch die Nichtunterbindung der Nabelschnur nach 
dem Blutgehalte der inneren Organe nicht für tödt- 



240 Gerichtsftrztliche Mittheilnngen. 

lieh erklärt werden, sondern das nntorsachte Kind 
starb am Stickfluss, welcher 

3) auf die Art bedingt worden sein mochte, dass das 
Kind unmittelbar nach der Geburt in die Wasserbutte 
fiel und mit dem Gesicht auf den Boden des Ge- 
fässes auflag; 

4) die Scheere entspricht Yollkommen dem Werkzeug, 
mit dem die Wunde beigebracht wurde; 

5) diese Wunde konnte bei der Oeffnnng der Wasser- 
blase durch die Scheere nicht beigebracht worden 
sein, ausser die Gebärende hätte den bereits ent- 
wickelten Kopf für die Blase gehalten , was wohl 
möglich, aber nicht wahrscheinlich sei; 

6) die Nabelschnur war nicht durchschnitten, sondern 
abgerissen und die Abschürfung an der Stirn nur 
eine leichte Verletzung. 

Wegen Wichtigkeit des Falles wurde der Gegenstand 
zur Begutachtung an die medicinische Facultät geleitet 

Gutachten. 

• 

1. Der mit dem Kindeskörper noch zusammenhängende 
Rest der frischen Nabelschnur, sowie der vorhandene Mutter- 
kuchen liefern den Beweis, dass das Kind der M.R. neu- 
geboren war, während gleichzeitig 

2. die Länge von 19 Zoll, das Gewicht von 5 Pfd. 
2 Lth«, die Durchmesser, sowie die sonstige Entwickelung 
des Körpers bei der Abwesenheit einer jeden Missbildung 
oder eines angeborenen Krankbeitszustandes dafür sprechen, 
dass dasselbe vollkommen reif und geeignet war, 
sein Leben auch ausserhalb des mütterlichen Organismas 
fortzusetzen. 

3. Die Färbung, Lufthaltigkeit und Schwimmfähigkeit 
der von der Fäulniss noch nicht ergriffenen Lungen lassen 



Gerichtßärztliche Mittbeilungen. 241 

es bei dem Umstände, als im gegebenen Falle von einem 
etwaigen Lufteinblasen gleichfalls nicht die Rede sein kann, 
nicht bezweifeln, dass dieses Kind nach derGebart we- 
nigstens durch kurze Zeit gelebt und geathmet hat. 

4. Was nun die Todesursache des Kindes anbelangt, 
80 kann zuvörderst: 

a. selbst in dem Falle, wenn in dem Kübel, in welchen 
das Kind zufolge der Angabe der Mutter gefallen sein 
soll, eine Flüssigkeit befindlich gewesen wäre, doch 
von einem Ertrinken desselben keine Rede sein, 
weil an der Leiche und insbesondere an den Lungen 
durchaus kein Zeichen des Ertrinkungstodes vorge- 
funden wurde. Ebensowenig kann 

b. eine Verblutung aus der nicht unterbundenen Na- 
belsehnur als Todesursache angesehen werden, weil 
der Erfahrung zufolge nach eingetretenem Athmen, 
insbesondere wenn, wie im gegenwärtigen Falle, die 
Nabelschnur eine Lange von 13 Zoll hat, eine Blu- 
tung aus derselben nicht einzutreten pflegt; 

c. auch die Hautaufschürfung an der Stirn steht 
mit dem erfolgten Tode in keinem Zusammenhange, 
da dieselbe ganz oberflächlich und unbedeutend war, 
und selbst wenn sie während des Lebens entstanden 
sein sollte, was sich mit Gewissheit nicht bestimmen 
lässt, nur eine leichte Verletzung bildet. 

5. Dagegen fand man an der rechten Gesichts- und 
Halsseite eine Wunde, welche zufolge der Infiltration der 
getrennten Theile mit extravasirtem Blute jedenfalls noch 
während des Lebens entstanden war. Diese Wunde 
hatte nebst der Trennung der Muskeln auch eine Durch- 
Bchneidung der Kieferarterie und Vene, und somit noth- 
wendigerweise auch einen bedeutenden Blutverlust herbei- 

VierteQahrMchr. f. ger. Med. N. F. XV, 3. 16 



242 GerichtBärztlicbe Mittheilaogeo. 

geführt. Da nnn der Erfahrung zufolge bei Neugeborenen 
ein schon yerhältnissmässig geringer Blntverlust hinreicht, 
den Tod herbeizufuhren, und eine andere Todesursache nicht 
vorgefunden wurde, so lässt es sich nicht bezweifeln, dass 
das Kind der A/. R. blos allein in Folge der Verblu- 
tung aus der erwähnten Wunde gestorben ist, und es muss 
diese letztere für eine ihrer allgemeinen Natur nach 
tödtliche Verletzung erklärt werden. Der Umstand, 
dass in den einzelnen Organen noch Blut vorgefunden wurde, 
bildet durchaus keinen Widerspruch dieser Behauptung (wie 
die Obducenten glauben), weil selbst nach constatirten 
grossen Blutverlusten die Organe niemals ganz blutleer ge- 
funden werden. 

6. Diese Verletzung lässt zufolge ihrer geradlinigen 
Ränder und des tiefen Eindringens bis zum Gaumenbogen 
auf die Einwirkung eines stechenden und zugleich 
schneidenden oder wenigstens scharfreissenden 
Werkzeuges schliessen, gleichzeitig musste aber auch eine 
grössere Gewalt stattgefunden haben, da der Unterkiefer 
doppelt gebrochen war. 

In dieser Beziehung sind nur bezüglich der Veranlas- 
sung dieser Verletzung unter den gegebenen Umständen 
des Falles mehrere Möglichkeiten denkbar. 

Bevor in die Besprechung derselben eingegangen wird, 
muss zuvörderst bemerkt werden, dass die Angabe der M i^.; 
„es sei bei ihr eine grosse Blase aus den Geschlechtsthei- 
len herausgetreten, nach deren Aufstechen mit der Scheere 
der ganze Inhalt, beziehungsweise das Kind plötzlich her- 
vorstürzte,^ der Glaubwürdigkeit entbehrt. Eine solche an- 
gebliche Blase konnte nämlich nichts anderes gewesen sein, 
als der mit den unverletzten Eihäuten geborene Kopf; 
wobei es aber wieder unwahrscheinlich erscheint, dass bei 
einem bereits so weit herabgerfickten. Kopfe eines starken aus- 



Oerichtsärztliche MittheilaDgen. 243 

getragenen Kindes die Eihäute nicht von selbst eingerissen 
wären; angenommen aber, dass wirklich der Kopf soweit 
hervorgetreten wäre, so hätte Ky falls sie — wie sie an- 
gibt — um sieh Erleichterung zu verschaffen, in die ver- 
meintliche Blase' gestochen hätte, vielleicht die Stirn oder 
Schläfegegend des Kindes, keinesfalls aber den jedenfalls 
noch innerhalb der Geschlechts theile gelagerten Hals, am 
allerwenigsten aber durch einen solchen Einstich einen 
Bruch des Unterkiefers herbeigeführt. 

Ebenso wie die Verletzung des Kindes nicht auf diese 
Art entstanden sein konnte, konnte dieselbe aber auch 
keinesfalls, wie R. einmal im Verhöre angab, durch einen 
Sturz auf das harte Pflaster der Kammer entstanden 
sein, weil bei einem solchen wohl ein Bruch des Unter- 
kiefers, nicht aber eine Schnittwunde im Gesichte ent- 
stehen kann. 

7. Bei so bewandten Umständen, wo die zufallige 
Entstehung dieser tödtlichen Verletzung ausgeschlossen 
werden muss, erübrigt nichts anderes als anzunehmen, dass 
dieselbe dem Kinde erst nach der Geburt mit einem 
stechend schneidenden Werkzeuge und zwar ab- 
sichtlich beigebracht wurde. — Ein solches Werkzeug 
konnte die mit den Akten vorgelegte Scheere sein, da 
mit derselben zufolge ihrer Beschaffenheit die vorgefundene 
Schnitt- und Stichwunde beigebracht werden konnte. Da 
dieselbe übrigens gleichzeitig mit Blut besudelt war und 
die Inculpatin selbst zugibt, diese Scheere (wenn auch in 
nicht glaubwürdiger Weise) gebraucht zu haben, so er- 
scheint es auch wahrscheinlich, dass dieses Instrument 
bei Zufügung der tödtlichen Verletzung in Anwenduqg ge- 
zogen wurde. — Ebensogut konnte aber diese Verletzung 
möglicherweise durch einen Stich mit der Mistgabel 

16* 



244 OerichtBSrztUche Mittheilttogen. 

entstanden sein. — Da nämlich am Dnogbaufen Blutklum- 
pen und am Stiele der Mistgabel Blutsparen vorgefanden 
wurden, welche ümst&ude doch jedenfalls darauf hindeuten, 
dass die Incnlpatio auch an diesem Orte th&tig war, so 
w&re immerhin der Fall denkbar, dass R. das Kind kurz 
nach der Entbindung zuerst im Dunghaufen zu verbergen 
trachtete, mit der Mistgabel Dünger darauf warf, hierbei das 
Kind verletzte und das letztere dann erst in der Absicht, 
das Auffinden desselben noch mehr zu erschweren, wieder 
herausnahm und in den Kanal verbarg. — - 

8. Was den vorgefundenen Bruch des Unterkie- 
fers anbelangt, so l&sst derselbe, wie bereits erwähnt, auf 
die gleichzeitige Einwirkung einer gewissen Gewalt schlies- 
seo, und es konnte derselbe entweder durch einen kräfti- 
gen Druck mit den Händen, einen Stoss mit der Mistgabel 
oder durch ein Auffallen oder Aufschlagen des Kindskopfes 
an irgend einen harten Körper, oder auch möglicherweise 
beim Einzwängen des Kindes in die enge OefTnung des 
Kanals entstanden sein, wobei noch zu bemerken ist, dass 
eben zufolge dieses starken Einzwängens des Kindskörpers 
der letztere nicht zufällig beim Ausgiessen des 
Wassers dahingelangt sein konnte, sondern absichtlich 
und mit Anwendung von Gewalt in diese Oeffnung gesteckt 
worden sein musste. 

Möge nun die als Todesursache erklärte Verletzung 
auf die eine oder die andere Weise entstanden sein, so 
hat sie, wie bereits dargethan, jedenfalls das noch le- 
bende Kind betroffen, wurde absichtlich unternommen, 
und lässt mit Gewissheit darauf schliessen, dass der Thä-^ 
ter die Absicht gehabt habe, das Kind des Lebens 
zu berauben. 



12. 

Heber Zählblättchen und ihre Benntzmig bei 
statistischen Erhebnngen der Irren. 

Im Auftrage der Berliner Medicinisch-Pgychologischen Gesellschaft 

veröffentlicht 'Ton 
Dr. Ur. Sander, 

FriTatdo«tDt an der Unlvertitit sa Btrlis. 



ijei der in diesem Jahre bevorstehenden allgemeinen Volks- 
zählung (am 1. December) wird zum ersten Male der Ver- 
such gemacht werden, die üraufnahmen der statistischen 
Thatsachen durch sogenannte Zählkarten zu bewirken. Es 
dürfte daher wohl geboten sein, die Aufmerksamkeit auch 
der Fachgenossen auf diese neue Methode der Statistik hin- 
zulenken, welche den ärztlichen Kreisen bisher im Allge- 
meinen fern geblieben zu sein scheint, und deren ander- 
weitige Verwendbarkeit bei specielleren medicinischen Un- 
tersuchungen sich wohl bald ergeben dürfte. In der That 
ist es die wesentliche Absicht dieser Zeilen, auf die Be- 
nutzung dieser Methode bei der Statistik der Irren, wie sie 
von Seiten der medicinisch-psychologischen Gesellschaft in 
Berlin vorgeschlagen worden ist, hinzuweisen und gleich- 
zeitig die Vorschläge dieser Gesellschaft gegen ungerecht- 
fertigte Angriffe sicher zu stellen. 

Demjenigen, der mit dem Modus der statistischen Er- 
hebungen bei der Volkszählung vertraut ist, dürfte es bekannt 



246 Ueber Zäblblättchen und ihre BenatzaDg 

sein, dass die Listen, welche in den einzelnen Haushaltungen 
ausgefüllt werden, nicht direct zur Auffindung der Resultate 
benutzt werden können. Es muss aus ihnen erst die Be- 
völkerungstabelle zunächst für den Ort oder Kreis zusam- 
mengestellt werden. Zu diesem Zweck bediente man sich 
früher allgemein nur der Methode der Ausstrichelung; 
in neuerer Zeit ist hierzu zuerst in Italien, bei der letzten 
Volkszählung aber auch schon theilweise in Deutschland 
die Methode mittelst der Zäblblättchen gekommen. 
Die Merkmale beider Methoden giebt unser verdienter Sta- 
tistiker E/igel (Actenmässige Darstellung der Vorbereitungen 
zu den statistischen Aufnahmen im December 1867 ; Ztschr. 
des Kgl. Statist. Bureaus, Jahrg. 1867.) folgendermaassen an: 
„Bei der ersteren (der Strichelung) wird eine Tabelle ganz 
wie die aufzustellende, jedoch mit viel breiteren Spalten, 
angefertigt. Wenn dies geschehen, wird aus der Zäfalungs- 
liste jeder einzelne Fall in die betreifende Strichtabelle mit 
einem Strich eingetragen. Ist der Inhalt sämmtlicher Zäh- 
lungslisten in die Strich tabelle übergestrichelt, so werden 
die Striche der einzelnen Spalten gezählt und die Zahl in 
die wirkliche Bevölkerungstabello eingeschrieben. Bei der 
zweiten Methode (der mittelst Zäblblättchen) wird der In- 
halt der Zählungslisten auf kleine Zäblblättchen von der 
Grösse eines Spielkartenblattes übertragen, und zwar so, 
dass für jede einzelne Person ein solches Blatt bestimmt 
und ausgeschrieben wird. Die Angaben der männlichen 
Personen werden zur leichteren und untrüglichen Unter- 
scheidung auf Blättchen von anderer Farbe geschrieben, als 
die Angaben der weiblichen Personen. Nachdem der Inhalt 
sämmtlicher Zählungslisten in Zäblblättchen übertragen ist, 
werden letztere allein zur Aufstellung der Tabelle benutzt 
Handelt ^s sich z. B. darum, zunächst nur Alter und Ge- 
schlecht zu classificiren, so werden die Zäblblättchen jeder 



bei statistischen Erhebungen der Irren. 247 

Farbe mit Rücksicht auf das Alter in so viel Haufen sortirt, 
als Altersklassen unterschieden werden sollen. Die Aus- 
zählung der Blätteben jeden Haufens ergiebt sofort die ge- 
wünschte Zahl. Soll innerhalb des Alters auch noch der 
Familienstand unterschieden werden, so wird jeder Haufen 
der Altersklassen einfach noch in die Familienstands - Kate- 
gorien sortirt, und die Zahl der Blättchen dieser weiteren 
Sortirung ist die gewünschte und in die Tabelle einzutra- 
gende.^ Nach dieser Beschreibung dürfte es wohl einleuch- 
ten, dass die zweite Methode nicht blos bequemer, sondern 
auch sicherer für die Uebertragung der ursprünglichen Listen 
in die Bevölkerungstabellen ist. 

Es knüpft sich aber hieran gleich ein weiterer Fort- 
schritt, der bei der diesjährigen Volkszählung in Deutsch- 
land zur Ausfuhrung kommen soll. Nach dem Vorschlage 
von Engel nämlich werden die bisherigen Zählungslisten 
überhaupt nicht mehr zur Anwendung kommen, sondern 
statt derselben von vornherein Zählblättchen oder Zähl- 
karten (von stärkerem Papier) vertheilt werden. Diese sind 
mit Vordruck versehen, welcher die einzelnen in Betracht 
kommenden Kategorien bezeichnet und die Ausfällung auch 
dem weniger Gebildeten erleichtert, und werden für jede 
einzelne Person von dieser selbst oder von dem betreffen- 
den Haushaltungsvorstande ausgefüllt. Es lallt also damit 
die früher nothwendige lästige Uebertragung aus den Listen 
in die Tabelle oder auf die Zählblättchen weg, und können 
die eingesammelten Zählkarten gleich direct zur Eruirung 
des Gesammtresultats benutzt werden in der Weise, wie es 
oben von den Zählblättchen geschildert ist. Dass ausserdem 
auch die Sortirung der Karten nach den einzelnen Katego- 
rien und ihre Abzahlung nicht mehr in den Gemeinden oder 
Kreisen vorgenommen werden, sondern an der Gentralstelle 
(im statistischen Bureau) geschehen soll, dürfte ein weiterer 



248 Ueber Zählblätichen und ihre Benutznog 

Fortschritt Beio, welcher hier aber zunächst nicht in Be- 
tracht kommt. Wer sich dafür interessirt;, findet das Nähere 
darüber in der Schrift: „Die Kosten der Volkszählungen, 
mit besonderer Bücksicht auf die im December 1870 im 
preussischen Staate bevorstehende Zählung^ von Dr. Engel. 

Dagegen dürfte es wohl dem besseren Yerständniss des 
Folgenden dienen, wenn die Vorzüge der statistischen Er* 
hebungen durch Zählkarten in Kürze auseinandergesetzt 
werden. In der oben genannten Schrift weist Hr. Dr. Engel 
hauptsächlich nach, dass die vorgeschlagene Methode we- 
niger kostspielig als die frühere sein werde. Ist auch dieser 
Umstand bei medicinisch - statistischen Untersuchungen mit 
ihren verhältnissmässig kleinen Zahlen nur wenig ins Ge- 
wicht fallend, so dürfte er doch insofern bei einer amt- 
lichen Statistik der Irren - Anstalten in Betracht zu ziehen 
sein, als eine solche nicht ohne persönliche Arbeitskräfte 
stattfinden kann, deren Gewinnung ohne Kosten nicht mög- 
lich sein dürfte. Vor Allem aber ist die Methode leichter 
und bequemer, als die frühere mittelst der Tabellen; sie ist 
viel sicherer, da die Manipulation der Karten einfacher ist, 
als das Stricheln; sie lässt bei gleicher Uebung weniger 
Fehler erwarten und gestattet leichter eine Correctur der 
etwa vorgekommenen. 

Besonders hervorzuheben ist aber, dass auch die Aus- 
fertigung der Zählkarte, wenn sie mit dem entsprechenden Vor- 
druck versehen ist, leichter und weniger zeitraubend ist, als 
die Eintragung in Listen oder Tabellen mit eben so vielen 
Rubriken. Es ist dies desshalb von Wichtigkeit, weil es sich 
bei der Irrenstatistik um eine Arbeit handelt, wo die Aus- 
führung der ersten Aufnahmen (wohl zu beachten: nicht 
ihre weitere Verarbeitung!) den schon sehr in Anspruch 
genommenen Anstaltsärzten obliegen würde. Es gewährt 
also diese Methode den doppelten Vortheil, sowohl die 



bei fttatifitiscben Erhebungen der Irren. 249 

Arbeit des das Material sammelnden Arztes zu vermindern, 
als auch das Sichten und Verarbeiten des gesammelten Ma- 
terials zu erleichtern. 

Diese Vorzuge der Karten - Methode sind, wenn auch 
von grosser Bedeutung, doch als mehr äusserliche anzu- 
sehen; sie hat aber andere wesentliche, innere Vorzüge. 
Während in der Tabelle nach der Zusammenzählung das 
Individuum ganz verschwindet, giebt uns die Zählkarte ein 
dauerndes Bild des einzelnen Individuum nach denjenigen 
Richtungen hin, deren statistische Erhebung gerade wün- 
Bohenswerth ist. Sie hat einen dauernden Werth ; man kann 
die von derselben Person zu verschiedenen Zeiten ausge- 
stellten Zählkarten sammeln und vergleichen, und dadurch 
gewissermaassen die Entwickelung derselben nach einzelnen 
Richtungen hin verfolgen. „Wie die Photographieen einer 
Person^, sagt Engel in der citirten Schrift, „aus verschie- 
denen Altersjahren das Werden und Wachsen derselben ver- 
anschaulichen , so repräsentiren die Zählkarten einer und 
derselben Person aus verschiedenen Zählungsperioden gleich- 
sam die Fortschreibung des Individualkatasters dieser Per- 
son, dessen einzelne Blätter zwar nicht blos mit den Census- 
resultaten angefüllt werden möchten, sondern für jede grosse 
Gruppe von Lebensäusserungen (also für die physischen, 
geistigen, sittlichen, religiösen, wirthschaftUchen, socialen 
und politischen) müsste eine Rubrik angelegt werden, damit 
die öffentlichen Akte der betreffenden Aeusserungen darin 
regelmässig fortgeschrieben werden könnten.^ Gewiss ist 
ein solches Fortschreiben aller Lebensäosserungen bei den 
allgemeinen Volkszählungen für lange Zeit hinaus ein kaum 
erreichbares, ideales Ziel ; wenn man sich aber nur auf ge- 
wisse Reihen von Lebensäusserungen, die pathologischen, 
soweit sie der statistischen Untersuchung zugänglich sind, 
beschränkt, w^enn man nur eine verhältnissmässig kleine 



250 Ueber Zäblblättchen und ihre Benut/.uog 

Bevölkerung, die der Irren- Anstalten, in Rechnung zieht, 
dann dürfte sich jener Wunsch wohl allmählich den Grenzen 
der möglichen Erfüllung nähern. — Die Zählkarten machen 
den Bearbeiter des gesammten Materials einigermaaseen un- 
abhängig von demjenigen, der die Thatsacben erhebt, da er 
die Zählkarten der einzelnen Person vor Augen hat und 
etwaige unwahrscheinliche Angaben genauer prüfen kann. 
Sie gestatten endlich, das Material nach ganz verschiedenen 
Richtungen hin zu verwerthen, es in jeder Weise zu com- 
biniren, welche sich oft erst während der Bearbeitung als 
wünschenswerth herausstellt, und dadurch Resultate zu er- 
halten, welche man zuerst nicht ins Auge fassen, konnte, 
während bei den Tabellen die Bearbeitung des Materials 
immer nur nach den Kategorien möglich ist, welche man 
bei ihrer Anlage schon berücksichtigen konnte. 

Diese Vorzüge der Zählkarten -Methode, denen sich 
wahrscheinlich, ist sie erst eingeführt, noch andere an<- 
schliessen werden, bewogen die medicinisch-psychologische 
Gesellschaft in Berlin, auch für die Irren - Statistik , deren 
Realisirung im Königreich Preussen sie beantragt hatte, die 
Anwendung dieser Methode bei dem Herrn Minister der 
geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- Angelegenheiten in 
Vorschlag zu bringen*). 

Im Jahre 1867 nämlich bemühte sich die genannte 
Gesellschaft zuerst dahin, mit der gerade bevorstehenden 
Volkszählung auch eine Aufnahme der Irren im Preussischen 
Staate und in der Stadt Berlin zu verbinden. Sie war sich 
dabei recht wohl bewnsst, dass es sich zunächst mehr dar- 



*) S. Archiv für Psych, u. Nervenkrankh. Bd. II. p. 506 sq. Wir 
schliessen diesem Aufsatze einen Abdruck des von der oben erwähn- 
ten Gesellschaft vorgeschlagenen Zählblättchens an, wollen aber nicht 
unterlassen zu bemerken, dass dies eben nur ein ,» Entwurf*^ ist, dessen 
definitive Redaktion noch einzelne formelle Aenderungen nöthig machen 
könnte. 



bei statis tischen Erhebangcn der Irren. 251 

um liandehe, die Geisteskranken einmal in den Bereich 
der periodisch wiederkehrenden Zählangen za ziehen, als 
grosae wissenschaftliche Resultate zn erhalten. In der That 
ist seitdem die Aufmerksamkeit auch für unsere Kranken 
wach geblieben, und es dürften wohl in ZukuufG bei jeder 
Zählung die Irren neben den Blinden und Taubstummen 
sich finden. Indessen führten die an die ersten Schritte der 
Gesellschaft sich anknüpfenden Erörterungen zu weiteren 
Vorschlägen. Im Interesse einer besseren Ausnutzung des 
Materials beantragte sie zunächst, dass ihr die bei der all- 
gemeinen Volkszählung eingekommenen Zählblättchen 
der Geisteskranken nach ihrer Bearbeitung im statistischen 
Bareau zu weiterer Benutzung nach den etwa wünschens- 
werthen Ricfatungen hin überlassen werden möchten. Doch 
koofifte das hierdurch gebotene Material nur zur Beant- 
wortung einiger und verhältnissmässig einfacher Fragen 
dienen; grössere wissenschaftliche Resultate liessen sich 
dadurch nicht erreichen. Um auch solche zu erhalten, so 
weit dies überhaupt auf diesem Wege möglich ist, musste 
man sich mit bestimmten Fragen an diejenigen Kreise 
wenden, welche genaue und wissenschaftliche Auskunft 
über die Irren geben konnten; man musste also die ausser- 
halb der Anstalten lebenden Irren ausser Acht lassen, und 
nur die in den Anstalten befindlichen ins Auge fassen; ver- 
lor man dadurch auch an Umfang des Beobachtungsmate- 
rials, so gewann man doch dafür die Möglichkeit, bestimmte 
wissenschaftliche Fragen zu stellen und eine genaue Beant- 
wortung derselben erwarten zu können. In diesem Sinne 
beantragte die Gesellschaft weiter eine periodisch wieder- 
kehrende Aufnahme der in Anstalten befindlichen Geistes- 
4cranken und entwarf ein Zählblättchen, um diejenigen Fra- 
gen zu fixiren, deren Beantwortung zunächst zweckmässig 
erschien. Dieses Zählblättchen, welches mit dien Verhandlung 



252 lieber Zählblättchen and ihre Benutzang 

gen über diese Angelegenheit in den Sitzungsberichten der 
Gesellschaft im Archive fflr Psych, und Nervenkrankh. 
(Bd. I, p. 210 u. 211—216 und Bd. II, p. 506-513) pu- 
blicirt ist, hat Veranlassung zu verschiedenen Ausstellungen 
gegeben, welche sich unter dem Titel : „Kritik der Zähl- 
blättchen der Berliner med.-psycholog. Gesell- 
schaft, betreffend die Geisteskranken der An- 
stalten^ in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie 
(Bd. 27, p. 626 —-637) ohne Namen, wahrscheinlich also 
von der Redaktion ausgehend, finden. Es scheint im In- 
teresse der Sache geboten, diese Kritik hier etwas näher 
zu beleuchten und im Folgenden als unberechtigt zurück- 
zuweisen. 

Man sollte glauben, dass, wer den Entwurf von Zähl- 
blättchen (oder besser Zählkarten) kritisiren wollte, zunächst 
sich den Begriff derselben klar machen musste. Davon ist 
aber bei der in Kode stehenden Kritik keine Kode. Weder 
über die Einrichtung eines solchen Blattes, noch über den 
Unterschied zwischen der damit eingeschlagenen Methode 
und der früheren Methode der Statistik durch Listen 
und Tabellen, noch über den durch die Einführung der 
Zählkarten bedingten Fortschritt zeigt sich jene Kritik 
unterrichtet. Es geht vielmehr aus ihr hervor, dass der oder 
die Verfasser derselben noch auf dem früheren Standpunkte 
der Listen und Tabellen stehen. Es zeigen dies viele 
einzelne Stellen der Kritik; des Beispiels wegen führe 
ich nur die sonst unverständliche Stelle an (p. 630), wo 
in Betreff des Familienstandes die Abtheilungen „verwitt- 
wet'^ und „geschieden^ zusammengefasst werden sollen, 
wie es heisst „der Vereinfachung wegen^; bei einer Tabelle 
entsteht in dieser Weise allerdings eine solche Verein- 
fachung, bei einem Zählblättchen ist es ganz gleichgültig, 
ob die beiden Worte „verwittwet und geschieden" neben 



bei statistischen Erhebungen der Irren. 253 

eiuander, me in der Kritik, oder untereinander, wie in 
unserm Entwürfe stehen. (Es bleibe ganz dahin gestellt, 
ob nicht doch das Verhältniss der Geistesstörung bei Ge- 
schiedenen ein anderes sein kann als bei Yerwittweten.) 
Dass die Kritik nicht die Einrichtung einer Zählkarte, 
sondern die einer Tabelle im Auge hat, geht noch aus 
andern Stellen hervor, so p. 632, wo vorgeschlagen wird, 
das Pelir. tremens, weil es zwar in grossen städtischen, 
aber in dem grOssten Theil der Anstalten nicht vorkommt, 
„getrennt als Anhang zu bearbeiten, und zwar 
nur in der Tabelle der Bewegung**; p. 635, wo 
gesagt ist, dass eine „wichtige Aufgabe** keine Berück- 
sichtigung gefunden, „um die Tabelle nicht zu sehr 
zu compliciren**. Es liegt also der Kritik von vorn- 
herein ein gänzliches Missverständniss dessen, was wir 
eigentlich vorgeschlagen haben, zu Grunde; ein Missver- 
ständniss, welches auch in einem späteren Hefte (p. 722) 
sieh wiederfindet bei Gelegenheit von „Vorschlägen zur 
Ansfuhrung einer Statistik der Irren und Blödsinnigen in * 
der Provinz Brandenburg bei der im December d. J. ange- 
ordneten Volkszählung**, indem für diese ein „Zählblättchen** 
vorgeschlagen wird, welches einer gewöhnlichen Tabelle so 
ähnlich sieht wie ein Ei dem andern.'*') 



•) Wir können nicht nmhin zu bemerken, dass wir diesen „Vor- 
schlägen" wenig Aussicht auf Erfolg versprechen können, da es kei- 
nem mit den Schwierigkeiten der allgemeinen Volkszählung vertrauten 
Manne in den Sinn kommen wird, dieselbe noch durch eine gleich- 
zeitige gesonderte Zählung der Irren zu vermehren. Es ist dies aber 
auch kein Verlust für die Provinz Brandenburg; denn wer sich das 
sogen. Zählblättchen näher ansieht, wird leicht erkennen, dass bis auf 
die Nummern 13 und 14 und 18 bis 21 alles, was dadurch erhoben 
werden soll, schon durch die Volkszählung selbst neben vielem andern 
erhoben wird, dass also diese aparte Zählung ganz überfliissig ist. 
Ob es aber gerade der rechte Weg ist, die Erblichkeit in dieser Weise zu 
untersuchen, und welchen statistischen Werth eine Rubrik: „Besondere 
Bemerkungen" haben soll, das wollen wir dahingestellt sein lassen. 



254 lieber Zählblättchen und ihre Benutzang 

So sehen wir also, dass sich die in Rede stehende 
Kritik eigentlich mit einem andern Gegenstande beschäftigt, 
als mit dem von uns vorgeschlagenen ; es sind verschiedene 
Ausgangspunkte, welche der Bespreebung zu Gmnde liegen. 
Diese Verschiedenheit ist aber in diesem Falle von beson- 
derer und nicht bloss formeller Wichtigkeit. Grade für 
solche Untersuchungen, wie wir sie hier im Auge haben, 
dürften die Vortheile, welche die neue Methode der Zähl- 
karten im Gegensatze zu der früheren der Tabellen hat, be- 
sonders deutlich zu Tage treten. Die durch die ersteren ge- 
gebene Möglichkeit, das einzelne Individuum zu fixiren und 
in seiner weiteren (auch pathologischen) Entwicklung zu 
verfolgen, es nach Bedürfniss gesondert von den übrigen 
zu betrachten und dann wieder je nach den in Frage 
stehenden Verhältnissen mit andern beliebig zu combinirea, 
die verhältnissmässige Leichtigkeit der Handhabung bei 
der Eruirung' der allgemeinen Resultate, diese und ähn- 
liche Vortheile hätten von vorn herein manchen Einwand 
der Kritik nicht aufkommen lassen, der bei einer Tabelle 
wohl gerechtfertigt erscheint. Dies gilt zunächst von der 
Complicirtheit. Es wäre gewiss eine viel zu complicirte 
und kaum noch zu handhabende Tabelle, deren Kopf alle 
die verschiedenen, von uns aufgestellten Fragen als Ab- 
theiluDgen enthalten sollte, und der Mangel an Uebersicht, 
welcher dabei nicht fehlen kann, dürfte die Resultate einer 
solchen bedeutend herabsetzen gegenüber der aufgewand- 
ten Mühe. Aber ganz derselbe Uebelstand wird auch noch 
nach der „Vereinfachung**, wie sie in der Kritik vorge- 
schlagen ist, bleiben, und um eine leicht zu handhabende 
und wenig complicirte Tabelle zu erhalten, müsste die 
Streichung der einüdlnen zu erledigenden Fragen eine sehr 
radtcale sein, wodurch aber natürlich der Werth der ge- 
leisteten Arbeit ein viel geringerer werden würde. — 



bei Btatistischen Erhebungen der Irren. 255 

Was nun diese Arbeit selbst anlangt, so ist darauf ein 
Hauptgewicht gelegt; denn die Kritik war, wie es am 
Schlüsse derselben heisst, bestimmt, „den Preussischen Irren- 
ärzten vorgelegt zu werden und deren Theilnahme zu ver- 
anlassen, um zu verhüten, dass ihnen nicht Arbeiten aufer- 
legt werden, die entsprechende praktische und wissen- 
schaftliche Resultate zu erzielen nicht im Stande schienen.^ 
Letztere Behauptung würde allerdings entscheidend sein, 
um das ganze Unternehmen fallen zu lassen; aber wir 
können ihre Begründung eigentlich in der Kritik, trotzdem 
sie Vieles tadelt, nicht finden und müssen sie, nachdem wir 
jede einzelne der vorgelegten Fragen genau auf ihre prak- 
tische und wissenschaftliche V er werth barkeit geprüft haben, 
um so mehr zurückweisen, als der in der Kritik aufgestellte 
Gegenentwurf im Wesentlichen dieselben Fragen, wenn auch 
etwas modifieirt, aufnimmt Wenigstens wird man die Ar- 
beitslast dadurch wohl kaum wesentlich erhöht finden, 
wenn in unserm Entwürfe auch noch der Geburtsort, Stand 
und Beruf des Kranken selbst und seiner Eltern, das Da-> 
tum der Entlassung u. a. verlangt werden, im Gegenent- 
würfe aber fehlen. Was die übrigen Modificationen anlangt, 
so werden dieselben später ihre Erledigung finden. Frei- 
lich ohne Arbeit ist überhaupt kein Resultat zu erhalten. 
Ifidessen trauen wir unsern GoUegen in Preussen (und auch 
in gsmz Deutschland) noch so viel Interesse an der Sache 
zu, dass sie sich dieser Arbeit unterziehen werden, welche 
in Wahrheit viel geringer ist, als sie erscheint oder dar- 
gestellt wird. Wenn man im Ernste sich mit dem Gedan- 
ken vertraut machen konnte, sich an der internationalen 
Statistik des Herrn Lunier mit ihrem monströsen Wüste 
von Tabellen und Listen und ihrer auf der Hand liegenden 
Resultatlosigkeit zu betheiligen, wenn auch mit noch so vielen 
Modificationen, so kann die durch unsere Zählkarten ver- 



256 ^«ber Zthlbläitehen aod ihre Beaitnuis 

anlasste Arbeit kanm noch als eine grosse erscheinen. 
Unser Entwarf begnfigt sich mit der Feststellung yon that- 
sächlichen Verhältnissen, welche theils selbstrerstindbch 
▼on jedem IndiTidnom aufgenommen werden mfissen (das 
sogenannte Nationale), theils von jedem wissenschaftlichen 
Arzte emirt nnd in die Krankenjonmale aalgenommen xn 
werden pflegen, so dass also die Zählkarte jedes Kranken 
geirissermassen nar einen Extrakt ans seinem Jonmale vor- 
stellt, ein Extrakt, welcher anserer Absicht nach 
diejenigen Fragen xurLösang bringen soll, deren 
Lösung fiberhaupt auf statistischem Wege mög- 
lich ist and ein grosses Beobachtnngsmaterial 
braucht Die eigentliche Arbeitslast fallt also nicht etwa 
auf den Tag, an welchem der Bestand aufgenommen wer- 
den soll (nach unserem Entwürfe der 31. Decbr. jeden 
Jahres), sondern vertheilt sich auf das ganze Jahr; sie be- 
steht im Wesentlichen nicht in der Ausfertigung der Zähl- 
karten, sondern in der möglichst sorgfiiltigen Erhebung der 
Thatsachen, die aber auch sonst dem wissenschaftlichen 
Arzte obliegt, und zu der Jeder, dem ein solches Material 
anvertraut ist, wohl eine gewisse Verpflichtung fühlen muss. 
Eine andere Frage ist es, ob die Verwerthung der alle 
Jahre an der Centralstelle zusammen kommenden Zählkar- 
ten bei den kurzen jährlichen Perioden möglich ist; diese 
Frage, deren Beantwortung hier nicht hergehört und wahr- 
scheinlich der Erfahrung durch die Praxis fiberlassea blei- 
ben muss, könnte unter Umstanden eine Verlängerung der 
Periode zur zwei- oder dreijährigen bedingen. Was die 
rein mechanische Tbätigkeit anlangt, so sei noch darauf 
hingewiesen, dass dafür die bisher jährlich an die Regie- 
rungen eingereichten Listen und Berichte wegfallen, deren 
Verwerthung bisher noch nie Jemand unternommen hat, 



bei statistischen Erbebougen der Irren, 267 

welche also nur eine überflüssige und unfruchtbare Mühe 
verursachten. 

Die Kritik beginnt mit den Worten: „Der Forderung 
der Berliner medicinisch-psychologiscben Gesellschaft, sämmt- 
liche Fragepunkte zweimal, für den Bestand ult. December 
und für die Ausgeschiednen zu erheben, stellen wir die 
Beschränkung dieser Detailarbeit auf nur eine Gruppe 
entgegen." Abgesehen davon , dass " der Gegenentwurf der 
Kritik sich dann nicht auf die von ihm als zweckmässiger 
hingestellte Bearbeitung der Aufgenommenen beschränkt, 
sondern dann auch „Zählblättchen" für Abgang und Be- 
stand, wenn auch wesentlich reducirt, in Aussicht nimmt, 
80 dass also dreierlei Zählkarten oder richtiger die Füh- 
rung von drei Listen erforderlich wird; davon wie gesagt 
abgesehen, liegt jenem Satze wiederum eine irrthümliche 
Auffassung unserer Vorschläge zu Grunde. Wir wollen 
periodisch (und zwar zunächst jährlich) wiederkehrende 
Aufnahmen der Irren nach bestimmten näher zu erörternden 
Gesichtspunkten, in derselben Weise, wie die Statistik von 
Zeit zu Zeit Aufnahmen veranstaltet von der 6esammtbevöl> 
kerung, vonDampfjtnaschinen, von Häusern, vonHausthieren u. 
dgl. Wir konnten uns aber nicht verhehlen, dass viele Geistes- 
kranke, welche im Laufe eines Jahres in die Anstalt ein- 
treten, noch im Laufe desselben Jahres die Anstalt wieder 
verlassen, dass wir also dadurch einen Theil des Materials 
und zwar gerade einen recht interessanten Theil verlieren 
würden. Um diesem üebel abzuhelfen, wählten wir den 
Ausweg, für die im Laufe des Jahres Ausgetretenen eben- 
falls Zählkarten anzulegen. Es kann hier von einer dop- 
pelten Bearbeitung desselben Materials keine Rede sein. 
In denjenigen Fällen aber, wo ein Geisteskranker, dessen 
Zählkarte schon vorhanden ist, im nächsten Jahre ausscheidet, 
ist es nicht nur kein üebelstand, sondern sogar erwünscht, 

Vieruljahniebr. t g«r. Med. N. F. XV. 2- 17 



358 Ueber Zftblblftttcben und ihre Beoutsane: 

ibn am Ende des Jahres wiederum in einer Karte reprä- 
sentirt vorzufinden, da es eben mit zu denwesentlichenVorthei- 
len der Karten-Methode gehört, auch das einzelne Individuum 
verfolgen zu können, sehen zu können, was aus ihm geworden 
ist Dagegen dürfte in rein technischer Beziehung es aller- 
dings auf der Hand liegen, dass wir für die von uns ins 
Auge gefassten Zwecke gar nicht zweierlei Zählkarten be* 
dürfen; die für die Entlassenen in Vorschlag gebrachten, 
welche ja nur die eine Rubrik unter Nr. 19, die Zeit und 
den Modus der Entlassung betrefi^nd, mehr enthalten als 
die andern für den Bestand vorgeschlagenen, können für 
beide Kategorien ausreichen, indem bei dem noch vorhan- 
denen Bestände nur jene Rubrik Nr. 19 nicht ausgefüllt 
zu werden braucht. Es dürfte sich diese Modification der 
Einfachheit wegen empfehlen. 

Die Kritik führt fünf Gründe dafar an, dass es vor- 
theilhafter wäre, nicht den Bestand, sondern den Zugang 
der Geisteskranken zu bearbeiten. Setzen wir einmal vor- 
läufig voraus, dass diese Gründe stichhaltig seien, so liegt 
es jeder Zeit in der Hand desjenigen, der die Zählkarten 
bearbeitet, nur die neu eingetretenen Kranken in Betracht 
zu ziehen, die andern auszuschliessen. Es ist das wieder- 
um ein so wesentlicher Vortheil der Karten - Methode, 
dass sie Gelegenheit zu so vielen Combinationen bietet; 
wenn sich daher Fragen erheben, welche speciell die Neu- 
Eingetretenen betreffen, so werden zu ihrer Lösung eben 
nur die Zählkarten dieser benutzt, alle andern ausgeschlos- 
sen. Wir wollen zudem ja keine Anstaltsstatistik, sondern 
eine periodische, statistische Aufnahme einer bestimmten, für 
den Staat und die Wissenschaft besonders interessanten 
Bevölkerangskategorie. So wenig man bei der Bevölkerung 
im Ganzen daran denken wird, nur die neu Zagekommenen 
aufzunehmen, die bei der letzten Zählung schon Vorhände- 



bei statistischeu Erhebungen der Irren. g59 

nen aber ausser Acht zu lassen, weil sie sieb inzwiscben nicbt 
verändert haben, so wenig kann diese Methode bei der Aufnahme 
einer bestimmten Kategorie der Bevölkerung Platz greifen. 

Von diesen Gesichtspunkten aus verlieren die fünf 
Gründe, welche eigentlich nur darthun könnten, dass die 
in den einzelnen Anstalten geführten Tabellen zweck- 
mässiger die neu eintretenden Kranken behandeln, ganz-* 
lieh ihre Bedeutung. Betrachten wir sie aber einmal nä- 
her, so dürfte sich bald zeigen, dass sie auch im Uebrigen 
nicht stichhaltig sind. Zunächst wird den Neueintretenden 
ein grösseres ärztliches Interesse zugeschrieben, weil unter 
ihnen die Heilbaren sich befinden; das ist erstens nur sab^ 
jectiv, und zweitens kann dem Staat vielleicht grade mehr 
an den Unheilbaren liegen, jedenfalls entgehen ihm die 
Heilbaren auch nach unsrer Methode nicht. Richtiger ist 
es, wenn gesagt wird, dass in dem Bestände die vielen 
alten Fälle sich finden, über welche sich keine genauen 
Daten nach den heutigen Anforderungen mehr machen 
lassen; aber dies wäre nur ein vorübergehender, mil dem 
Beginne des Unternehmens verknüpfter Uebelstand. Indess 
darf man die Sache überhaupt nicht so auffassen, als wenn 
bei jedem Kranken alle Fragen beantwortet werden müssen. 
Dies wird niemals möglich sein und würde nur zu fal-*- 
sehen Resultaten führen. Unser Wunsch geht gerade dahin, 
dass nur das in die Zählkarten aufgenommen wird, was 
genau constatirt worden ist. Wird dadurch auch für ein- 
zelne Fragen das Material kleiner, so gewinnt es doch an 
Zuverlässigkeit. Es dürfte wohl kaum einen noch so alten 
Kranken geben, von dem nicht wenigstens einzelne der 
gewünschten Fragen zu eruiren wären. 

Ein zweiter Einwand behauptet, dass die Aufnahme 

ein getreueres Bild der Erkrankungsfähigkeit in einer be-* 

stimmten Bevölkerungskategorie gebe, als der Bestand, und 

11* 



260 Deber ZftMDlSttcbeo aod Ihre Benntiong 

sncht dies aa Beispielen klar zu macben. Wir werden 
an demaelbeo Beispiele zeigeo, daes diese Behaaptuog 
nicht stichbahig ist. Es wird gesagt: „Nacb der letzten 
Volkszäblung verbält sich die Zabl der von 21—30 Jabr 
Lebenden Überhaupt zu der von 51—60 Jahr = 100:46. 
Füll nun, dase eine verbältnissmäHsig gleiche Er- 
gszahl aus beiden Altersklassea erfolgt, and dass 
ilere Krankheitsdauer (bis zur GeDesung, resp. bis 
le bei den ungebeilt Gebliebenen) beiderseits eine 
wäre, so würde in einem sich ans den beiden 
iBsen bildenden Bestände das Verhältnis» von 
wiederkehren. Bei der Ännabme aber, dass die 
loittliche Krankheitsdauer bei der ersteren Älters- 
oppelt Bu gross wäre (in Wahrheit scheint sie nach 
tden Daten noch grösser zn sein) als bei der zwei- 
rde der Bestand, der sich aus den Erkranknagen 
rsstufe von 21—30 Jahren rekrutirt, sich zu dem- 
Ton 51 — 60 Jahren wie 200:46 verhalten. Es 
daher eine Berechnung, welche den Bestand nnd 
e Erkranknngsverbältnisse zur Grundlage nähme, 
ere Altersstufe doppelt zu stark belasten." D&b 
Bhtig, wenn man überhaupt in dieser Weise zu 
i;inge. Wenn Jemand sagt, ich habe heut a 50jäh- 
1 j/ 20jährJge Geisteskranke in meiner Anstalt, 
bält sich die ErkraDkungsiähigkeit der ^Ojährigea 
er 20jährigen Menschen wie x:i/, so kann das zwar 
t guter Irreuanstaltädirektor sein, er ist aber sicher- 
schlechter Statistiker. Nach der von uns ins Auge 
I Methode würde sich die Sache aber doch anders 
I. Es hat Jemand s&mmtliche Zählkarten des 
Ehen Staates zur Vergleichung und Bearbeitung, 
t darunter <r Karten mit dem Alter von 50 — 60 
y Karten mit dem Alter von 20 — 30 Jahren; er 



bei statistischen Erhebnngen der Irren. 261 

weiss ferner, dass im Preussischen Staate n Menschen das 
erstere, m das zweite Alter haben; dann wird er, wenn 
ihn diese Frage interessirt, den Schluss machen, unter 
n Leuten im Alter von 50 — 60 Jahren sind a, unter m im 
Alter von 20 — 30 Jahren y Geisteskranke in der Irren- 
anstalt, oder es kommt ein Anstaltskranker bei 50jährigen 

auf -^, bei 20jährigen auf — Personen; und es kann sein, 

X y 

dass diese Berechnung für einen bestimmten Zweck gerade 
Interesse hat. Die Erkrankungshäufigkeit aber einer Alters- 
klasse wird durch die Rubrik: „wie lange ist Patient krank", 
gelöst werden, wenn ein recht grosses, zuverlässiges Mate- 
rial vorhanden «ein wird, welches uns zeigt, in welchen 
Jahren die meisten Erkrankungen erfolgen. In ähnlicher 
Weise ist das weiterhin angeführte Beispiel von den Ledigen 
durchaus nicht beweisend für das, was bewiesen werden 
soll. Uebrigens können wir nicht umhin, uns gegen solche 
(ohne jeden Beweis hingestellte) Behauptungen zu verwahren, 
dass die Aufnahmen in Anstalten einen (auch nur) annähern- 
den Ausdruck für die Verhältnisse der stattfindenden Er- 
krankung, der Anstalts - Bestand für den Irren - Bestand in 
der Bevölkerung enthalten, da darauf ja, wie bekannt, sehr 
viele Dinge einwirken, auf die Aufnahme z. B. die Entfer- 
nung der Anstalt von einer Gegend, die UeberfüUung der 
Anstalt selbst, ihr Ruf u. dgl; auf den Bestand z. B. die 
Höhe der Verpflegungskosten (man vergleiche die Erfah- 
rungen im Königreich Sachsen), die wechselnden Ansichten 
der Aerzie üt)er die Entlassungsfahigkeit u. a. m. 

ad 3. wird darauf hingewiesen, das» der grösste Theil 
des Bestandes unverändert bleibt, und dass es daher kein 
Interesse hat, und den statistischen Eifer nicht hebt, immer 
diese Fälle von Neuem wieder zu bearbeiten. Wir lassen 
es dahin gestellt, ob wirklich so gar keine Aenderung im 



36^ Ueber Z&blblStti'beD uud ibre BeouUaDg 

Laufe eineB ganzen JahreB bei den meisten Kranken eia- 

tritt; wenn dies aber selbst der Fall wäre, bo würde dies 

nur ein Grnnd für die Verlängerung der Periode der sta- 

tistiBchen Anfnabme sein, falle nicht andere wichtigere 

Gründe dagegen sprechen. AuBserdem aber brancfat in 

liehen Falle daa frühere ZShlbUtt anr einfach co- 

' vielleicht, um unnütze Arbeit zn vermeiden, ganz 

dasselbe hingewiesen zu werden, da es ja jeder 

ier aufzufinden ist. 

will es unterlassen, auf die snb 4 und ö aufge- 
Giründe auch noch näher einzugehen, da dies nach 
'hergesagten wohl überflüssige Mühe sein wfirde. 
1 aber nicht umhin darauf hinzuweisen, dass viele 
deren Erhebung wohl allgemein als wünschens- 
igesehan wird, wie z. B. die wichtigen die Erblich- 
effeaden, oft im Anfange der Beobachtung eines 
noch gar nicht genau bekannt sind, dass sie erat 
luweilen nach Jahren noch, eruirt werden kOnnen, 
h die AnBichten über die Art der Erkrankung, die 
I in Betreff der Heilung u. a. sich noch ändern 
der Beobachtung. Alles dies sind Gründe, welche 
De Btatistische Aufnahme des EranRen gleich bei 
Dintritt in die Anstalt sprechen, was aber nicht 
sst, dass zu jeder beliebigen Zeit alle diejeüigen 
i ausgefüllt werden kßnnen, die schon genau be- 
id, um nicht den letzten Tagen des Jahres zu viel 
1 überlassen. 

werden nunmehr den einzelnen, von uns aufge- 
tragen in den Zählkarten diejenigen gegenüberge- 
elche die Kritik für zweckmässiger hält, und es 
die letzteren als VerbeEserungen motivirt. Indem 
demzufolge liier auf die einzelnen Positionen näher 
en gezwungen sind, um die angebrachten AuBStel- 



bei statistischen Erhebungen der Irren, 263 

• 

langen zurückzuweisen, lassen wir natürlich solche Aende- 
rangen ausser Betracht, welche nicht die Sache, sondern 
nur die Form betreflFen, wie z. B. bei 1. „Name", wo die 
Kritik „Vor- and Familienname** hat, bei 4 „Alter d. h. 
Geburtsjahr und Geburtstag**, wofür die Kritik unter 3. 
„Tag und Jahr der Geburt** setzt u. dgl. Es ist selbst- 
verständlich, dass diese rein formellen Aenderungen Sache 
der definitiven Redaktion der Zählkarten sein werden. Auch 
bei der rein sachlichen Besprechung können wir des 
Raumes wegen nicht alle Einwände berühren und zurück- 
weisen, sondern wollen nur einzelne herausgreifen, nament- 
lich wo es sich um principielle und wesentliche Dinge 
handelt. So zeigt sich zunächst eine Difi^erenz, indem wir 
unter 2. die Frage nach dem Geburtsort, unter 3. die nach 
dem letzten Wohnorte aufnehmen, während die Kritik nur 
eine Frage, die nach dem Wohnort für nothwendig hält, und 
zwar, weil dadurch nur die betreffende Person genau bezeichnet 
werden soll, während die Frage wissenschaftlich kein Inter- 
esse bieten soll. Wir können aber ganz genau denselben bei 
dieser Gelegenheit aus einander gesetzten Gesichtspunkt für 
die Aufstellung der einzelnen Positionen annehmen, wie wir 
ihn auch bei unserer Aufstellung festgehalten zu haben 
glauben, und doch noch immer ein gewisses, auch wiiüBen- 
schaftliches Interesse in den beiden Fragen finden. Bei- 
spielshalber kann es wissenschaftlich recht interessant sein, 
dass aus einem bestimmten Orte verhältnissmässig viele 
Schwachsinnige stammen, dass aus einem Orte viele Geistes- 
kranke mit Kropf oder andern Missbildungen behaftet 
stammen; es kann dem Staate wünscheniiwerth sein, der- 
artige Orte kennen zu lernen und dgl. Was den letzten 
Aufenthaltsort betrifft, so kann auch dieser für die Auffassung 
der Krankheit Interesse haben, wenn derselbe z. B. eiü 
Gef&ngnie^s oder gegenwärtig vielleicht ein Quartier in 



264 Df>b»r Zäblblättchen und ihre Benutzung 

Frankreich war. Ausserdem aber ist ja nicht bloss von 
Pro vinzial- Anstalten die Rede, welche vielleicht einen en- 
gern Gesichtskreis bieten, und welche die Kritik allein 
berücksichtigt, sondern auch von den Privatanstalten und 
denen der grossen Städte, in welche von allen Theilen des 
Landes her Kranke kommen. Die von uns aufgestellten 
Fragen nach Stand und Beruf des Kranken, so wie seiner 
Eltern lässt die Kritik ebenfalls fallen, weil sie die Bear- 
beitung nicht für hinreichend wissenschaftlich dankbar hält. 
Es scheint aber doch, als ob man erst abwarten sollte, ob 
und welche Resultate sich ergeben, ehe darüber so ohne 
Weiteres abgeurtheilt wird. Wissenschaftlich interessante 
Fragen lassen sich jedenfalls hier anknüpfen; so z. B. ist 
gesagt worden, dass Militairs besonders häufig der para- 
lytischen Geistesstörung verfallen; andererseits ist ange- 
geben, dass eine solche Disposition vom Feldwebel ab- 
wärts aufhöre; es hat den Anschein, als ob Feuerarbeiter 
zur Epilepsie disponireo; interessant sind auch diejenigen 
Geisteskranken, welche in ihrem Leben überhaupt zu keinem 
Berufe kommen konnten; und so Hesse sich noch eine 
Anzahl von Gesichtspunkten anfahren, von denen aus auch 
die für diese Fragen aufgewendete Arbeit recht dankbar 
erscheinen kann. Der Stand der Eltern lässt uns z. B. 
einen Schluss auf Erziehung und Bildung des Kranken, 
auf die socialen Verhältnisse ziehen, in denen er auf- 
gewachsen. 

Bei unserer Position sub 11 nach dem Vorhandensein 
bestimmter ätiologischer Verhältnisse wird eine jedem 
Anfänger geläufige Abhandlung über die Unsicherheit der 
Aetiologie und die zweifelhafte Verwerthbarkeit der soge- 
nannten Schädlichkeiten gegeben; eine Abhandlung, deren 
Inhalt von uns schon längst in Betracht gezogen ist (vgl 
Archiv I, p. 214), wie schon daraus hervorgeht, dass nach 



bei Btatiatiachen Erhebungen der Irren. 265 

bestimmten, nachweisbaren ätiologischen Momenten 
gefragt wird. Es bezieht sieb diese Frage eben nur auf 
den kleinen Brachtheil von Fällen, wo dergleichen vor- 
handen sind, Fälle, die sich vielleicht mit der Zeit ver- 
mehren. Wenn von 20,000 einlaufenden Zählkarten auch 
nur 100 solche Momente wie Syphilis, Schädel Verletzung 
Q. dgl. angeben, so wäre dies schon ein interessantes 
Resultat. 

Auch die Bemerkungen über »Form der Geistesstörung, 
Gomplikation mit Constitution eilen Krankheiten und mit kör- 
perlichen Missbildungen^ sind von uns selbst genügend er- 
örtert. Soweit dabei die subjektive Auffassung der einzelnen 
Beobachter in Betracht kommt, worauf die Kritik ein Haupt- 
gewicht legt, so hatten wir die Absicht, den Zählkarten so 
zu sagen eine Art von Instruktion beizugeben (Archiv Bd. IL 
p. 508), um möglichste üebereinstimmung zu erzielen, in 
der Hoffnung, dass die einzelnen Beobachter im Interesse 
der Sache einen Tbeil ihrer persönlichen Ansichten, die 
ihnen ja sonst bleiben, unterordnen würden.« Wir hatten 
auch dieses Opfer auf ein möglichst geringes Mass einge- 
schränkt; denn dass Jemand bei der Frage: „Sind körper- 
liche Missbildungen vorhanden?^ an „leichtere Difformitäten 
der Schädelbildung^ denken sollte, wie dies die Kritik thut, 
das konnten wir kaum erwarten. Zudem sind als Formen 
der 6ei::itesstörung die vom internationalen Congress vorge- 
schlagenen von uns acceptirt, und dass wir die einfache 
Geistesstörung nicht weiter in Melancholie, Manie, Wahn- 
sinn und Blödsinn zerlegten, dafür hatten wir gute und 
stichhaltige Gründe, deren nochmalige Erörterung hier nicht 
nöthig ist. — Statt der Frage nach Gomplikationen mit 
constitutionellen Krankheiten schlägt die Kritik eine Rubrik 
für Taubstummheit und Blindheit vor, wie es heisst „be- 
sonders wegen der Beziehung zu den Volkszählungen, bei 



266 I'eber Zäblbiättchen nnd ihre BeoaUüDg 

denen diese Punkte ermittelt werden.^ Aber gerade durch 
diese Beziehang wird die Aufnahme dieser Rubrik ganz 
fiberflüssig; denn da von jedem Menschen im Staate auf- 
genommen wird, ob er blind resp. taubstumm ist, und da 
andererseits auch die Irren in den Anstalten mitgezählt 
werden, so lehrt uns die Volkszählung an sich schon, wie 
viele und (nach der Karten - Methode auch) welche Irren 
gleichzeitig blind resp. taubstumm sind. Das ist die Kritik, 
welche überflüssige Arbeit vermeiden will! 

Debergehen wir schnell die Position 15, wo die Frage 
nach der präsumtiven Heilbarkeit, sonst immer als sehr 
wichtig angesehen, auf einmal als irrelevant beseitigt wird, 
und Position 16, wo von wiederholten Aufnahmen und Ke- 
cidiven die Rede sein soll, und wo die Kritik nicht gerade 
logischer Weise die Frage anreiht, „ob der Kranke aus einer 
anderen Anstalt gekommen sei**, eine Frage, die für uns 
schon durch den letzten Aufenthaltsort erledigt ist. Die 
Frage 17: „Ist Patient und wodurch vor seiner Aufnahme 
in die Anstalt mit dem Strafgesetz in Gonflikt gerathen?'^ 
enthält, nach unserer Kritik, „bei Kxcessen aufgeregter Kran- 
ker im Beginn oder Verlauf der Krankheit für eine wissen- 
schaftliche Verwerthung völlig irrelevante Beziehungen und 
würde ferner, bei allen Kranken erhoben, nicht geeignet 
sein, die ohnehin bestehenden Vorurtheile gegen Geistes- 
kranke zu verringern.** Was die Vorurtheile zunächst an- 
langt, so werden solche gewöhnlich nicht durch Nachgie- 
bigkeit gegen sie vermindert, sondern durch Bekämpfung 
und sachliche Aufklärung. Gerade diese würde aber ent- 
schiedene Fortschritte durch die Beantwortung jener Frage 
und die daraus zu ziehenden Resultate machen. Ausserdem 
dürfte es doch nicht so ganz irrelevant sein z.'B. für die 
Lehren von der Zurechnungsfähigkeit und Gemeingefährlich- 
keit, wenn man dieselben dem allgemeinen Raisonnement 



bei Btatistischeo Erhebaugeo der Lren. 267 

entrückt und der thatsäehlichen Erhebung näher bringt 
durch die Angabe, wie viele und wie schwere Störungen 
von Geisteskranken ausgehen, wie viele von den gegen die 
sociale Ordnung verstossenden Handlungen von Geistes- 
kranken begangen werden. Der Raum erlaubt nicht, noch 
weiter auf das Interesse einzugehen, welches die Behand- 
lung auch dieser von uns mit üeberlegung und auf beson- 
deren Wunsch der in unserer Mitte befindlichen Gerichts- 
ärzie aufgenommenen Frage bietet. 

Aus demselben Grunde kann ich der Kritik nicht ge- 
nauer in den Bemerkungen folgen, mit denen sie die letzte 
Frage, „die nach der erblichen Anlage^, begleitet und mo- 
dificirt; Bemerkungen, welche uns auch früher schon be- 
kannt waren, uns aber durchaus nicht veranlassen konnten, 
von der möglichst exakten Eruirung gerade dieses Punktes 
abzugehen. Die Kritik geht eben schon bei vielen Fragen, 
besonders aber bei dieser von der Voraussetzung des Re- 
sultats aus, das wir erst aus der Erfahrung erhalten wollen, 
und sie hält je nach ihrem subjektiven Befinden das eine 
Resultat für irrelevant oder für nicht „dankbar^, das andere 
dagegen für wichtig. Es dürfte wohl aber Grund genug 
geben, um es für wünschenswerth zu halten, die erbliche 
Anlage (soweit es möglich ist) bei allen den Familien- 
mitgliedern, welche darunter litten, zu constatiren ; es kann 
z. B. die Frage entstehen, ob Art und Schwere der Erkran- 
kung in irgend einem Zusammenhange steht mit der Zahl 
der erkrankten Familienangehörigen, mit ihrem Geschlecht, 
mit der Art ihrer Erkrankung u. s. w. Ich brauche ferner 
nur an die Annahme der stufenweisen Degeneration in den 
Familien zu erinnern, um die genaue Aufnahme jedes ein- 
zelnen Mitgliedes der pathologischen Familie zu motiviren. 

Da unser Zählblättchen far die Entlassenen sich von 
dem anderen (f&r den Bestand) nur dadurch unterscheidet. 



268 Uebnr Zählblättcheo and ihre BeDatzuog 

daes es noch eine Rubrik für die Art der Entlassung ent- 
hält, so ist nur noch dieser Punkt zu berühren; denn warum 
die Kritik die Frage von der erblichen Anlage und von 
der Dauer der Krankheit vor der Aufnahme nur für die 
Genesenen gelten lassen wilK dafür lassen sich wohl kaum 
Gründe finden, es sei denn, dass die Kritik schon heute 
genau davon unterrichtet ist, dass nur die Genesenen eine 
erbliche Anlage und eine bestimmte Krankheitsdauer haben. 

Was nun die Rubrik über die Entlassung anlangt, so 
lässt die Kritik das Datum derselben fallen, weil es keine 
weitere Verwertkung findet; nun, bisher war es noch immer 
Sitte, das Datum des Ausscheidens aus irgend einem Ver- 
bände anzugeben, ganz abgesehen davon, dass z. B. die An- 
gabe der Zahl der Verpflegungstage zu irgend einem Zwecke 
sich als wünschenswerth herausstellen kann. Bei den nn- 
geheilt Entlassenen fragen wir, ob sie nach der eigenen 
oder in eine fremde Familie entlassen werden; diese Frage 
kann nach der Kritik bei den Provinzialanstalten nur sehr 
selten von Belang sein. Aber wenn man sich z. B. über- 
haupt einmal über den Werth der sogen, familialen Pflege 
unterrichten will (und das dürfte doch wohl auch den Pro- 
vinzialanstalten von Belang sein), dann wird man jenen 
Unterschied nicht ausser Acht lassen können. Dass bei 
der Frage: „in die Verpflegungsabtheilung der Anstalt auf- 
genommen?^ nur die Anstalten zu antworten haben, die 
eine solche besitzen, hätte mit einiger üeberlegung wohl 
ebenso gut errathen werden können, wie dass unter c: 
„wohin entlassen?^ die Pflegeanstalt gemeint ist, in welche 
der Kranke etwa versetzt wird. 

Hiermit dürfte die nicht angenehme Arbeit einer Anti* 
kritik zu schliessen sein, wenn auch durchaus nicht alle die 
hingestellten Behauptungen, welche mehr oder weniger hin- 
fällig sind, besprochen sind. Das Angeführte wird aus- 






bei Btatistischen Erhebnogen der IrreD. 269 

reichen, um den Standpunkt, auf dem die Kritik steht, zu 
kennzeichnen. Es ist gewiss leichter, da, wo eine An- 
regung gegeben ist, an dieser zu mäkeln und dadurch die 
Angelegenheit wieder ins Stocken zu bringen und vielleicht 
ganz zu beseitigen, als zunächst der gegebenen Anregung 
ruhig zu folgen, damit sie die ihr entgegenstehenden Schwie- 
rigkeiten überwinden und zur Ausführung gelangen kann, 
und dann erst die sich in der Praxis etwa ergebenden Mängel 
zu verbessern. Was ist aber für die Sache erspriesslicher? 



ZählbUttchen für Geisteskranke. 





Nr. . . , 


des Journals. 


Anstalt 








Regierungsbezirk 






1. 


Name 






2. 


Geburtsort 






3. 


Letzter Wohnort 






4. 


Alter, d. h. Geburtsjahr 


und 


Geburtstag 


ö. 


Familienstand: 







unverheirathet? 
verheirathet? 
▼erwittwet? 
geschieden ? 

6. Glaubensbekenntniss 

7. Stand oder Bernf 

8. Stand oder Bernf der Eltern 

9. Wann ist Patient erkrankt? 

10. Datum der Aufnahme in die Anstalt 

11. Sind bestimmte ätiologische Momente nachweisbar, und welche? 

12. Form, in welcher die Krankheit auftrat: 

Idiotie? — CretinismusV 
Einfache Geistesstörung? 
Paralytische Geistesstörung? 
Dementia senilis? 
Organische Birnkrankheiten? 
Delirium tremens? 

13. Sind Gomplicationen mit constitutionellen Krankheiten Tor- 
handen? 



70 ZShIbiattcheD für Gelatesknoke. 

14. Sind kCrperliche Mies bil dangen vorhandeuV 

15. lat Patient pTäsomtiT heilbar? 

16. RQckßlligkeit resp. wiederholte Aufnahme in die Anatalt 

Wie oit war Patient scbon in einer Anitalt! 
mm 1. Uale von bia 

- 2. von bis 

- 8. - Ton bis 

ie wurde derselbe jedesmal entlaeBen? 

Patient, und wodurch, vor seiner Aufnahme in die Anstatt 
dem Strafgesetze in ConSict geratheo? 
uDdere, die Erblichkeit berührende Fragen. 
) Sind Vater und Mutter des Patiunten mit einander *er- 

vrandt? In welchem Grade? 
I Sind in der Familie des Patienten Geistes- oder Nerven- 
kraukheiten vorgekommen? 

CE. Seitens des Vatera bez. der GroBaeltern 

väterlicheraeits. 

ß. Seitena der Mutter bez. der GroBseitem 

mütterlicberseita. 

;'. bei einem bez. mehreren (wi« vielen) BrOdern ? 

rf. bei einer bez. mehreren (wie vielen) SchwesterD ? 

t. bei einem bez. mehreren Vaterabrüdern ? 

bei einer bez. mehreren Vatersachweatern? 

bei einem bez. mehreren Hatterabrfldern ? 

bei einer bez. mehreren UuttersacbwesterD? 

C bei den Kindern des Patienten? 
Sind in itt Familie dea Patienten 
a. Fälle von Selbatmoid and Sei batmord versuchen bä- 
kannt? 

1q welühem Verwandtachaftagrade? 
ß. Fälle von Verbrechen? 

in welchem Vertrandtachaftagrade ? 
;ang aus der Anstalt. 
ob gebeilt entlaaaen? 
Datum der Entlassung. 
ob gebessert entlassen? 
Datoni der Entlaasuug. 
ob DDgeheilt eDtlasaenP 
Datum der Eotlaasung. 
Wohin entlassen? 

In die eigene Familie surQck oder tu eine fremde entlassen T 
' in die Verpflegungsabtheilung der Anstalt aufgenommen? 
Datum der AufDabme 
Gestorben? Datum des Todes? Todesursache? 



13. 

üeber Hortalitäts - Statistik. 

Von 

H. Eiilenberi^« 



Um die Mortalitäts- und Morbilitäts-Yerhältnisse einer Stadt 
oder Gegend richtig beurtheilen zu können, muss uns die 
Volkszählung zunächst die Mittel an die Hand geben, 
am die Lebenskraft der Bevölkerung zu erforschen und die 
nothwendigen Vergleichungspunkte mit sämmtlichen Sterbe- 
fallen zu gewinnen. Andererseits bildet die Eenntniss der 
Sterbefälle im Allgemeinen die Unterlage, auf welcher 
eine Vergleichung mit den an einer bestimmten Krankheit 
Gestorbenen ermöglicht wird. 

Geburts«- und Sterbelisten bilden somit einen wesent- 
lichen Theil der medizinischen Statistik. Diese um- 
fasst ein tieferes Forschen, belehrt uns über die Krankheiten 
und Todesursachen und ihren Einfluss auf die Gesammt- 
Sterblichkeit, sowie über den Antheil, welchen Wohlhaben- 
heit, Stand und Beruf, Nahrung und Pflege, Wohnungs- 
verhältnisse etc. am erfolgten Tod gehabt haben. Die me- 
dizinische Statistik steht somit wiederum mit der öffent- 
lichen Gesundheitspflege im innigsten Zusammen- 
bange, insofern sie erst die Schäden aufzudecken vermag, 
welche an der aligemeinen Gesundheit nagen. Es ist be- 



272 U«ber Mortalitäts-Statistik. 

kannt, dass man in England erst zur obligatorischen Vac* 
cination überging, nachdem man durch die Mortalitats- 
Statistik kennen gelernt hatte, dass jährlich mehrere Tausend 
Menschen durch die Pocken zu Grunde gingen. Wenn die 
Statistik uns ferner beweist, dass in irgend einem Stadtviertel 
der Typhus in excessiver Weise tödtlich auftritt, so muss die 
öffentliche Gesundheitspflege den Ursachen dieser abnormen 
Mortalität nachzuforschen suchen. Die medizinische Sta- 
tistik ist stets der Wegweiser für die öffentliche 
Gesundheitspflege, welcher vor Verirrung schützt 
und den Pfad bezeiciinef, auf welchem man am 
sichersten den schädlichen Einflüssen entgegen- 
zutreten vermag. 

Trotz der grossen Wichtigkeit der medizinischen Sta- 
tistik ist dieselbe nur in wenigen Ländern gepflegt worden 
und die erste systematische Behandlung dieser Wissen- 
schaft, welche Oesterlen geliefert hat*), ist vorzugsweise 
nur durch die Beiträge ermöglicht worden, welche ihm 
England und Genf dazu geliefert haben. Erst mit der wei- 
teren Entwicklung der öffentlichen Gesundheitspflege macht 
sich auch in Deutschland das Bedürfniss nach einer medi- 
zinischen Statistik immer dringender geltend. Bei der regen 
Theilnahme vieler Fachgenossen an diesem bedeutenden Zweig 
der medizinischen Wissenschaft ist es an 'der Zeit, in grös- 
serem Massstabe die Hand ans Werk zu legen uncf auch das 
Interesse der Staatsregierung in die Bemühungen der Aerzte 
hineinzuziehen. „Regierungen'^, sagt Oesterlen^ „welche gar 
wohl alles ihnen wichtig Scheinende zu zählen wissen, Ge- 
burten, Todesfälle so gut als Erwerbs- und Steuerquellen, 
Viehstand, Handel, jedes Loth Zucker oder Kaffee, das ver- 
braucht wird, würden gewiss auch Mittel finden zur Ermitte- 



*) Handbuch der mediclDischen Statistik. TübiDgen, 1865. 






Ueber Mortalit&td-StatUtik. 273 

lang jener Ursachen, an welchen jährlich so und so viel 
Procente der Bevölkerung vor der Zeit sterben mfissen. 
Menschen, Menschenleben sind ja einmal das grösste Ca- 
pital, welche» ein Staat besitzen kann; nur durch excessive 
Morbilität wie Sterblichkeit durch Krankheiten gehen jähr- 
lich auch Millionen an Werth verloren. Immerhin dürfte 
wohl kein halbwegs civilisirtes Land mehr verzichten wollen 
auf eine genaue und durchgreifende Registrirung mindestens 
seiner wichtigsten Todesursachen. Auch ist um so mehr 
hierauf zu dringen, weil einmal die Statistik hier wie 
überall nur als vergleichende ihre volle Bedeutung er- 
halten und dieser Gegenstand erst dann zu einem befriedi- 
genden Alschluss gelangen kann, wenn einmal alle Staaten 
Rechenschaft geben werden von den Ursachen ihrer Todes- 

aiie.« 

Bleiben wir daher zunächst bei der Mortalitäts- 
Statistik als dem ersten und wichtigsten Erforderniss 
stehen. Erst mit der weiteren Entwicklung der medizini- 
schen Statistik wird auch die Morbilitäts-Statistik an 
die Reihe kommen, nachdem die Registrirung der Todes- 
ursachen einen gewissen Grad von Vollkommenheit erreicht 
hat und wir die Berechtigung erhalten haben, nach dem 
VoUkommnern zu streben und auch die Faktoren, welche 
das blosse Erkranken beherrschen, in den Bereich unseres 
Forschens zu ziehen. In dieser Beziehung müssen wir uns 
einstweilen mit der Statistik begnügen, welche uns die 
Hospitäler, die verschiedenen Kranken- und Gewerks- Ver- 
eine etc. liefern werden. Die vielen wiederholten Versuche, 
das Material für die Morbilitäts-Statistik aus der Praxis der 
praktischen Aerzte zu schöpfen, sind stets gescheitert, und 
zwar um so mehr, wenn dabei grosse Stadtbezirke ins Auge 
gefasst wurden. Eine Vereinbarung von Aerzten für einen 

Vi«rtelJahrs»ohr. f. ger. M«d. N. F. XV. 2. 18 



274 lieber Ifortalit&ts-SUtifitik. 

bestimmt begränzten Bezirk ist das Höchste, was in dieser 
Beziebmig erreicht werden kann. 

Um DQii eine erfolgreiche Mortalitäts-Statistik an- 
zubahnen, betrachten wir 1) die Methode der statistischen 
Erhebung, 2) die Form der Todtenscheine und 3) die Bear- 
beitung und Verwerthung des statistischen Materials. 

1) Die Methode der statistischen Erhebung. 
Sie ist in den verschiedenen Ländern bekanntlich eine ver- 
schiedene, und von ihrer grösseren oder geringeren Zweck- 
mässigkeit hängt der ganze Erfolg ab. 

In vielen Staaten von Deutschland besteht noch die 
Todtenbeschau, welche von Nichtärzten ausgeübt wird, 
die der eigentlichen Aufgabe, die Todesursache zu bezeich- 
nen, nicht gewachsen sind, unmöglich kann hierbei Zu- 
verlässiges für die Statistik gewonnen werden, wesshalb 
auch in der letzten Zeit Stimmen für eine Reform in die- 
sem Gebiete laut geworden sind; namentlich empfiehlt 
Küchenmeister auch für Sachsen die Ausstellung der Leichen- 
bestattungs - Scheine durch den behandelnden Arzt, anstatt 
durch einen Nichtarzt oder einen nicht behandelnden Arzt*). 
In PreuBsen war bisher Stettin die einzige Stadt, für welche 
das Institut der Leichenbeschau - Aerzte durch die §§. 13. 
und 15. des vom General -Directorium bestätigten Leichen- 
Reglements vom 23. August 1806 eingeführt worden war. 
Nach der hierzu erlassenen Instruction**) lag es den Lei- 
chenbeschau - Aerzten ob, jede in Stettin zu beerdigende 
Leiche zu besichtigen, mit Ausnahme derjenigen der dorti- 
gen französischen Kirchengemeinde und des Militairs. Schon 
seit einer Reibe von Jahren ist die Aufbebung dieses In- 
stituts in Vorschlag gebracht, aber erst neuerdings ent- 



*) Die Methodik der Todteo-Statistik. Drp.sdeo, 1868. 
**) S. Augu9tin^& PreuBB. Medicinal-VerfaBSUDg. Bd. II. S 729. 



Heber Mortalit&ts-Statistik. 275 

schieden beantragt worden. Die damalige' Instruction ging 
von dem Grundsatz aus, dass die Wissenschaft der Medizin 
gewisse sichere Merkmale zur Unterscheidung des Todes 
vom Scheintode kenne, welche dem Laien unbekannt und 
unzugänglich wären, und dass selbst unter den Aerzten nur 
diejenigen als Schau - Aerzte mit Erfolg zu fungiren ver- 
möchten, welche die Kenntniss der Zeichen des Todes zu 
einer besonderen Disciplin für sich gemacht liätten, wess- 
halb auch nach §. 2. der genannten Instruction nur solche 
Aerzte angestellt werden durften, welche die Physicats- 
Prüfung bestanden hatten. 

Man hätte glauben sollen, dass ein solches Institut 
namentlich für statistische Zwecke von bestem Erfolge 
gewesen sein würde, und doch hat die Erfahrung gelehrt, 
dass es gerade in dieser Beziehung durchaus nicht förder- 
lich eingewirkt hat, da die Schau -Aerzte bei der Angabe 
der Krankheit als Todesursache in den meisten Fällen sich 
bloss auf die Angabe der Angehörigen und nächsten Um- 
gebung stützen konnten und im besten Falle nur indirekt 
die Mittheilung des behandelnden Arztes erhielten, wodurch 
selbstverständlich die grössten Ungenauigkeiten veranlasst 
wurden. Ausserdem war Seitens der Polizei-Behörde schon 
längst Klage geführt worden, dass die Geschäftslast der 
beiden angestellten Leichenschau- Aerzte schon in normalen 
Zeiten eine überaus grosse, bei Epidemien oder sonst er- 
höhter Sterblichkeit aber eine nicht zu überwältigende sei. 
Dieser Uebelstand trat namentlich im Jahre 1866 bei der 
in Stettin herrschenden Cholera ein. Wenn die Zahl der 
Aerzte kaum zur Behandlung der Kranken ausreichte, so 
konnten um so weniger noch Aerzte gewonnen werden, 
welche ihre Zeit fast ausschliesslich zu weiten Wanderun- 
gen von einer Sterbestätte zur anderen zu verwenden bereit 
waren Da ausserdem die Entfernung der Cboleraleichen 

18* 



■ « 



276 U^^^i* Murtaliffttä-StütUtik. 

ans dem Sterbehanse und die Beerdigung mit möglichster 
Eile zu bewirken war, so zeigte sieh die weitere Folge, 
dass Leichen bestattet werden mussten, ohne dass ein zur 
Ausstattung des Leichenschau - Attestes nach bestehender 
Vorschrift berechtigter Arzt die Leichenschau vorgpenommen 
hatte. Bei dem hiernach eintretenden Mangel eines Schau- 
Attestes konnte sodann die Eintragung des Sterbefalles in 
die kirchlichen Sterbe- Register nicht erfolgen, wodurch die 
grössten Inconvenienzen in Bezug auf die bürgerlichen und 
Rechtsverhältnisse der Familien hervorgerufen wurden. 

Selbst in sanitätspolizeilicher Beziehung hatte 
der Mangel an berechtigten Schau • Aerzten die grössten 
Uebelstände herbeigeführt, indem in einzelnen Fällen mit 
Abfuhnmg der Choleraleichen bis zum Erscheinen eines 
Schau -Arztes gewartet werden musste und hierdurch eine 
so lange Zeit verfloss, dass die Leichen die ekelhaftesten 
und zur Verbreitung der Epidemie in hohem Grade bei- 
tragenden Effluvien verbreitet hatten. 

Auch bezüglich des Kostenpunktes ist dies Institut nicht 
zu empfehlen, da es dem Armen nicht unerhebliche Aus- 
gaben verursacht. 

Auf Grund aller dieser Erfahrungen haben sich der 
Magistrat, die Stadtverordneten und die Polizei- Directiou 
einhellig für Aufhebung der Leichenschau- Aerzte und für 
Einführung der Todtenscheine Seitens der be- 
handelnden Aerzte ausgesprochen, indem sie von der 
richtigen Ansicht ausgingen, dass sowohl die statistischen, 
als forensischen Zwecke durch Einfuhrung der Todtenscheine 
besser zu erreichen sind, wenn der behandelnde Arzt ver- 
pfliclitet ist, den Namen der Krankheit resp. die Todes- 
ursache selbst einzutragen, während durch die Leichenschau- 
Aerzte gerade diejenigen Aerzte ausgeschlossen werden, 
welche den Verstorbenen behandelt und vermöge ihrer 



Deber HorUlitSte- Statistik. 

KenotniBs der Krankheit, welche den Tod herb 
die meiste Garantie für die Richtigkeit eines Todt 
darbieten; die wenigen Fälle ansgenommen, wo d( 
Arzt zugleich behandelnder Arzt gewesen ist 

Dnreh Ministerial-VerfQgnng vom 20. Febrt 
wurde demnach die Efinigliche Regiernng zn Si 
mächtigt, das Institut der Leichen e eh an 
durch die mittels Polizei-Verordnung tn 
keode Einführung von Todtensebeinen sn 

Wir haben absichtlich die Erfahrungen Qber < 
gelegenheit ausführlicher mitgetheilt, nm den Vert 
der Leichenschau iMhnfs statistischer und forensische 
die grossen Schattenseiten derselben Torzuführen ui 
SjAtem, welches den Anforderungen der Wissenscl 
mehr entspricht, die praktische Unterlage in entri 

Es liegt anf der Hand und bedarf keiner weit 
theidignng mehr, dass nur die behandelnden A 
Stande sind, durch eine gewissenhafte Todtenbeecl 
ein znverlfissiges statistit^ches Material zu liefern. 

Es sind hierzu aber zwei Bedingungen noi 
a) die obligatorische Einführung der ' 
scheine und b) das willfährige Entgegenl 
und die regste Betbeiligung der prak 
Aerzte. 

Hier in Berlin ist der Todtenschein schon sei' 
ren eingeführt und hat diese Einrichtung es alleii 
gemacht, dass ein ziemlich ausreichendes statistie 
terial in AnsRicht gez^tellt werden kann, nachdem 
Todtenscheine in die zur statistischen Verwerthnii] 
bare Karienfonn gel^racbt bat, ganz abgesehen 
vielen dankenswerthen statistischen Mittheilungei 
Mcbon von verschiedenen Seiten ans publicirt wort 
Wenn der obligatorische Todtenschein in Berli 



278 Ueber Mortalitäts- Statistik. 

geworden ist, so wird seiner Einführung in den anderen 
Städten der Monarchie resp. des Norddeutschen Bandes 
auch kein Hinderniss entgegenstehen, wenn die Lokal- 
behörden, wie es in Stettin der Fall gewesen ist, yon 
einem gemeinsamen Geiste beseelt und von der Nothwen- 
digkeit erfasst werden, sich „der Logik der Thatsachen zu 
accomodiren.^ 

Selbstverständlich können die gesetzlichen Bestimmun- 
gen über die Eintragung der Sterbefälle in die Kirchen- 
bücher oder Civilstandsregister durch die Einführung 
des Todtenscheines nicht berührt werden. Beide Einrich- 
tungen können neben einander bestehen, da durch beide 
ein besonderer Zweck erreicht wird. Es muss nur mit 
ganzer Strenge daran gehalten werden, dass Je- 
dem, welcher einen Sterbefall bei der zuständi- 
gen Behörde anmeldet, ein Todtenschein mitge- 
theilt wird, welchen der behandelnde Arzt inden 
Punkten auszufüllen hat, worüber ihm allein die 
Kenntniss zusteht, nachdem die betreffende Be- 
hörde auf demselben schon dasjenige notirt hat, 
worüber sie selbst am besten Auskunft zu geben 
vermag. 

Ein solcher Modus existirt hier in Berlin, welcher nach 
unserem Ermessen durchaus keinen Schwierigkeiten unter- 
liegt und auch dem viel beischäftigten praktischen Arzte keine 
besondere Last aufbürdet. 

Es ist aber leicht ersichtlich, dass nur unter Mitwir- 
kung einer Behörde ein geregelter Fortgang in der Erhebung 
des Todtenscheins möglich ist, wesshalb auch alle Versuche, 
durch die freie Vereinbarung der Aerzte ein statistisches 
Material zu beschaffen, wenig oder gar keine Früchte ge- 
tragen hat. Die Ausdauer erlahmt erfahrungsgemäss bald, 
während das Hineingreifen einer amtlichen Tbätigkeit das 



- ^ • ^^* • . • 

üeber Mortalitäts- Statistik. 2T9: 

belebende Prinzip und den Motor den ganzen MechanismuB 
abgeben mass. Andererseits muss die Bereitwilligkeit und 
der wissenschaftliche Eifer der Aerzte hinzutreten, um dem 
Todtenschein immer mehr den Stempel der grösseren Zu- 
verlässigkeit aufzudrücken und ihn zu einem brauchbaren 
Mittel für statistische Zwecke zu machen. 

Aerztliche Vereine würden sich ein unerschöpfliches 
Feld der segensreichsten Thätigkeit eröffnen, wenn sie diese 
Angelegenheit auf die bestandige Tagesordnung setzten und 
durch Besprechungen über epidemische Erkrankungen und 
über diagnostische Verhältnisse sich in den Hauptpunkten 
stets einigten, um auf diese Weise dem Todtenschein die 
sicherste Unterlage zu verleihen. 

Das gemeinschaftliche Streben muss der Hebel sein, 
welcher die Schwierigkeiten bewältigt und die Bausteine 
zum Aufbau einer noch unvollkommenen Wissenschaft zu- 
sammeofügt. Die Noth wendigkeit der ärztlichen Association 
tritt täglich mehr an uns heran und kein Mittel ist zur 
Begründung derselben geeigneter, als der wissenschaftliche 
Verband. 

Vereinigen wir uns daher zur Erreichung eines Ziels, 
wozu jeder Arzt sein Scherflein beitragen muss, und gehen 
wir muthig an ein Werk, welches von Geschlecht zu Ge- 
schlecht mit stets grösseren Erfolgen gekrönt werden wird. 

Einstweilen wird es nothwendig werden, die Einführung 
der Todtenscheine bloss auf die Städte zu beschränken, da 
bekanntlich auf dem Lande viele Personen sterben, bei 
denen kein Arzt zugezogen worden ist. Auch liegen manche 
Ortschaften zu entfernt von der Wohnung eines Arztes, so 
dass die Herbeiholung desselben für die Ausfüllung des 
Todtenscheins oft mit unerschwinglichen Kosten verbunden 
sein würde. In vielen Landgemeinden wird man desshalb 
notbwendigerweise von der Einführung eines Todtenscheins 



280 Ueber Mortalitäts-StatiBtik 

abseben mfissen. In allen abgeschlossenen städtischen Ge- 
meinden aber, wo die Bevölkerung eine mehr zusammen- 
gedrängte ist und die Entfernung keine Schwierigkeit bietet, 
muss man damit vorgehen. Die Kosten, welche hierdurch 
entstehen, belaufen sich nur auf die Beschaffung des Todten- 
scheins. und diese sind unerheblich und repräsentiren für 
keine Stadtgemeinde ein Opfer. Bei notorisch Armen muss 
selbstverständlich der Armenarzt die Ausfüllung des Todten- 
scheins unentgeltlich übernehmen. 

2) Die Form des Todtenscheins. Es ist ein Haupt- 
erforderniss, dass in dieser Beziehung eine Gleichmässig- 
keit erzielt wird, obgleich wir die Schwierigkeit dieser 
Aufgabe nicht verkennen. Jedenfalls treten hierbei andere 
Anforderungen als bei der einfachen Registrirung der 
Sterbefalle an uns heran. Soll die medizinische Statistik 
die ätiologischen Verhältnisse bei TodesföUen aufklären, so 
müssen die Fragen, deren Beantwortung erforderlich wird, 
ausführlicher, aber auch nicht zu ausführlich gestellt werden. 
Wenn wir es versuchen, hier einen Todtenschein aufzustel- 
len, so unterbreiten wir denselben einstweilen nur dem Ur- 
theil der Fachgenossen und hoffen, dass eine weitere Dis- 
cussion über diese wichtige Frage zu einem endgültigen 
ürtheile führen wird. Erfolgt nur eine Verständigung über 
die Hauptpunkte, so sind Einschaltungen nach den lokalen 
Verhältnissen und Bedürfnissen noch immerhin gestattet. 
Die Form muss nicht starr, sondern überall anwendbar sein. 

Schon das Wort „Todtenschein^ ist mit Recht ange* 
griffen worden, und man muss dem CoUegen Dr. Reck in 
Braunschweig beistimmen, wenn er dafür „Todtenbescheini- 
gung^ vorschlägt*). Auch stimmen wir mit demselben 
überein, wenn er die Frage : Welches sind die Zeichen 



*) cf. Dr Züher*B Wochenschrift für mediz. Statist, a. Epidemiol. 
Bd. II. Ko. 48. 



ücber MortalitÄts- Statistik. 281 

des eingetretenen Todes? för nicht praktisch hält, weil 
ihre Beantwortung dem gewissenhaften Arzte unnOthig Zeit 
raubt, während er nach unserer Ansicht bei eintretendem 
Zweifel von selbst diesen Punkt zur Sprache bringen wird. 
In fast allen Fällen gibt ja auch schon die Natur der vor- 
hergegangenen Krankheit hierüber Gewissheit. 

Die Frage: War die Krankheit ansteckend? ist 
mit Recht als bedenklich zu erachten, weil bekanntlich die 
Ansichten über die Ansteckungsfähigkeit der einzelnen Krank- 
heiten sehr differiren. 

Nicht minder nutzlos ist die Frage: Welche Mass- 
regeln sind zur Verhütung der Weiterverbreitung 
getroffen worden?, weil eben in den wenigsten Fällen 
prophylaktische Massregeln ergriffen werden und es sich 
hier höchstens um die Anwendung von Desinfectionsmitteln 
handeln kann. Wo diese nothwendig werden, da gibt das 
Gesetz die bestimmte Anleitung dazu. 

Alle peinlichen Fragen dieser Art sind wegzulassen, 
weil sie den praktischen Arzt verstimmen und ihm für die 
Beantwortung der wichtigeren Fragen die Zeit und Lust 
benehmen. 

Wir lassen nun das Formular folgen, um an die wichtig- 
sten Punkte desselben noch einige Bemerkungen zu knüpfen. 

Todtenbescheinigung. 

1) Tauf und Familiennamen des Verstorbenen. 
Bei Ongetauften das Geschlecht. 

2) Alter (Datum der Geburt). 

B-i Prfibgeburten Angabe des SchwangerBobaftsmonatB. 

3) Todtgeboren. 

Mit oder ohoe Kuostbfilfe? Mit welcher? 
Geburtshelfer, Hebamme oder öffentliche Anstalt? 

4) Geburtsort und Religion. 

Wie lange hier? 



!82 Ueber HortsÜtats-SUtiatik. 

5) TodeBuTHaehe. 

h) Prlmire Todesursauhe oder Haupt t ran kbeit 
ii) Secundiie TodeauTsatho oder die spSter« Krankheit, welche 
dem Tode Toraneging oder ibo bedingte, 
ind Stande des Todes. 

\ Stand, Beschäftigung oder Dienstverhältnisse 
rerstorbeneD. 

i Kindern: Bernf, Stand etc. der Eltern oäer FBeger. 
[ienstaod. 

rheirathet? Unverheiratbet? Vernittwet? üeachieden! 
i Rindern: ebelich oder unehelich geboren? 
Pfleg« bei Eltern oder Fremden? 
I einjährigen Kindern: Art der Ernfthrung? 
Dorcb Untier- oder AmmenbraBt? Dnrch kBnatliche oder 

gemischte N abrang? 
e der Verstorbene ans {IfTentlichen oder anderen 
In unterstatzt F 
mag des Veretoibenen. 
i Kindern: der Eltern oder Pfleger. 
Straese, Bausnummer. In welchem Stockwerk? 
Im Vorder- oder üiuterbauae? Im Keller? 
Wie lange in der letzten Wohnung? 
er Verstorbene dem Arste persönlich bekannt war, 
hm ärstlich behandelt resp. recognoscirt worden? 
rknngeo (etwa ober die Lebensweise dee Veretorbeoen, 
bkeit der Krankheit, Beerdignogezeit, Wiederbelebungs* 
he, Oebranch von Desiufectionsmitteln oder andere wich- 
iaU). 
Angabeii , sowie dass an der Leiche de» oben 

nntrngliche Zeichen des Todes nnd 

»n einer widernatärliclien Veranlassung desselben 
tindea haben, bescheinigt 

tnm. Name, 

me der Kirche Eigen scharten, 

Wohnung des Ante«. 






lieber Mortalitäts-Btatisttk. 283 

Man ersieht leicht, dass der Schwerpunkt in den Haupt- 
nummeru liegt und die anderen Zusätze nach Bedurfniss 
noch erweitert oder auch verkürzt werden können. 

Die Todtgebornen (3) haben wir mitaufgenommen, 
weil die Angabe derselben von grosser Wichtigkeit ist, wie^ 
wohl es bekannt ist, dass man in der statistischen Erhebung 
derselben sehr variirt und die bisher in dieser Beziehung 
erhaltenen Resultate wenig Glaubwürdigkeit verdienen. Um 
so mehr darf nach unserem Ermessen dies Kapitel nicht 
vernachlässigt werden, wenn man nur stets die Faul- 
todten von den kurz vor oder während der Geburt Ge- 
storbenen unterscheidet. Nur unter letzteren sind die 
Todtgebornen zu verstehen, wesshalb auch die bei der 
Geburt etwa stattgefundenen manualen oder operativen Ein- 
griffe berücksichtigt zu werden verdienen. 

Ob man auch Frühgeburten (2) registriren will, 
lassen wir dahin gestellt. ' In vielen Fällen kann, es von 
Interesse sein, hierüber genauere Auskunft zu erhalten. 

Die Angabe der Todesursachen ist bekanntlich 
die Hauptsache und unterliegt den meisten Schwierigkeiten. 
Wir unterlassen et«, die verschiedenen Ansichten über die 
Classification der Todesursachen anzuführen, da sie 
bei der Todtenbescheinigung in Form der Zählblättchen 
nicht zur Sprache kommen kann. Wir erwähnen nur kurz, 
dass die in England und Nordamerika gebräuchliche Clas- 
sification vorzüglich die ätiologischen Momente, die Volks- 
krankheiten, epidemische, endemische oder miasmatische, 
infectiöse^ zymotische, die sporadischen und weiterhin die 
localen und symptomatischen Krankheiten berücksichtigt. 

Die von der wissenschaftlichen Deputation für das 
Medicinalwesen vorgeschlagene Eintheilung in Todtgeburten, 
Tod an Lebensschwäche ^ Altersschwäche, Tod durch äus- 






284 Deber Mort'4liti&t8.Stati»(ik 

8ere Gewalt, in innere acute and chronische Krankheiten 
ist bekannt.*) 

Bei den bisher ausgeführten Registrirungen in den 
verschiedenen Ländern wurden vorzngsweise 6 Klas- 
sen als Hauptabtheilungen benutzt: 1) Todtgeburten, 2) 
Bildungsfebler und Tod an Lebensschwäche bald nach der 
Gebart, 3) Altersschwäche, Marasmus senilis, 4) Acussere 
Gewalt, d. h. gewaltsame Todesarten, zufällige, wie ab- 
sichtliche, 5) Krankheiten, 6) Plötzliche Todesfalle aus in- 
neren Ursachen. 

Die Klasse der unbestimmten Todesfälle hält 
Oesterlen mit Recht für eine Negation oder einen Lücken- 
büHser, welche keinen wissenschaftlichen Werth habe, so 
wichtig sie auch in praktischer Hinsicht als Sammelplatz 
für alle unbekannten Todesarsachen sein m5ge. Man könne 
sie aber als Massstab für die Zuverlässigkeit der Erhebun- 
gen in den verschiedenen Ländern benützen. So betragen 
sie in Genf und England kaum 5pCt. aller Todesfälle, in 
Preussen 7, in Frankreich 14 pCt. und mehr. 

Für die vergleichende Statistik ist es von der 
grössten Wichtigkeit, nicht die vernchiedenen Classificationen, 
sondern die einzelnen Krankheiten zu berücksichtigen, 
weshalb auch alles Streben dahin gehen muss, sich über 
den Begriff and die Definition der einzelnen 
Krankheiten zu verständigen. In England wurde 
desshalb' im Jahre 1869 ein Work an alleAerzte vertheilt, 
welches die Nomenclatar aller Krankheiten in la- 
teinischer, franz^>sischer, deutscher, italienischer und eng- 
lischer Sprache enthält *••). 



•) S diese Vierteljahrsschrift Bd. XIV, 1858. 
**) Handb, d. med. Statistik. S. 364. 

***) Nomenclature of diseases, drawn op by a Joint coniniittee 
appoJDted bj the Royal College of Prijsicians of London. Lond. 1869. 



>•■♦ 



Ueber Mortalitftts-Statistik. 286 

Obgleich dies Werk eine verschiedene Beurtheilnng er- 
fahren hat, so halten wir es jedenfalls für ein verdienst- 
liches Unternehmen, um eine Ueberstimmung in der No- 
menclatur der Krankheiten gerade für statistische Zwecke 
anzubahnen. Selbstverständlich kann ein solches Werk 
keinen bleibenden Werth behaupten, da sich nach den 
Fortschritten der Wissenschaft auch bekanntlich die Namen 
der Krankheiten ändern, weshalb nach einem gewissen 
Zeitraum Revisionen nothwendig werden müssen. Wir be- 
grüssen es haupti^ächlich als das Resultat einer ärztlichen 
Association, woran deutsche ärztliche Vereine sich ein Bei- 
spiel nehmen können, um in einer so gemeinnützlichen An- 
gelegenheit ein gleiches Streben zu entwickeln. 

Bezüglich der Todtenbescheinignng halte man sich an 
der wissenschaftlichen Bezeichnung der Krankheit. Einzelne 
Irrthümer fallen nicht so bedeutend in die Wagschale, wenn 
es sich um ein massenhaftes statistisches Material handelt. 
Auch zu genaue Diagnosen sind nicht nothwendig, namentlich 
bei chronischen Herz- und Leberkrankheiten oder bei 
Krankheiten, deren Diagnose erst durch die Section Auf- 
klärung gefunden hat. Dagegen vermeide man die unbe- 
stimmten Namen, wie „Lungenlähmung^, „Zahnen^, „Was- 
sersucht^, „Diarrhoe**, „Convulsionen*' etc. 

Will man den eigentlichen Krankheitsnamen aus Rück- 
sicht für die Hinterbliebenen des Verstorbenen verschwei- 
gen, so helfe man sich mit der lateinischen Bezeichnung 
aus oder verständige sich selbst über gewisse Zeichen und 
Benennungen, worüber aber den Behörden der betreffende 
Commentar mitzutheilen ist. 

Das Hauptgewicht ist stets auf die. infectiösen Krank- 
heiten, auf die acuten, einer bestimmten Gegend eigen- 
thümlichen Erkrankungen, wie Group, Lungenentzündung, 
Keuchhusten, Enteritis, acuten Rheumatismus etc., ferner 



•4 



286 öeber Mortalitäts-Statistik. 

auf die chrooischen Leiden, wie Taberculose, Rhachitis, 
Gicht, Krebs etc. za legen. 

Die Unterscheidung der primären und ßeeun- 
dftren Todesursache (5) ist wichtig und Hchützt vor 
Verwirrung, wenn man sich der dabei zur Geltung kom- 
menden Prinzipien bewusst bleibt. Stirbt ein Scharlach- 
kranker an Gehirnentzündung, so registrirt man den 
Scharlach als Hauptkrankheit oder primäre Todesursache 
und die Gehirnentzündung als secundäre Todesursache. 
Stirbt ein Typhuskranker an Darmblutungen, so bleibt 
der Typhus stets die primäre Todesursache. Oe^terlen stellt 
als Regel auf, dass nur die primäre oder Hauptkrankheit, 
an welcher der Verstorbene ganz besonders litt, als Todes- 
ursache, nicht aber secundäre spätere Krankheiten und Zu- 
fälle zu rcgistriren sind. Dies ist bezüglich des ersten Punktes 
vollkommen richtig, und wird keinem Widerspruch unterliegen. 
Wenn nun aber Oeatei-len ausserdem es doch für nothwendig 
erachtet, dass Seitens der Registratoren immer, besonders aber 
bei zweifelhafteren Fällen Gomplikationen und Nexus zwi- 
schen der frühern oder Hauptkrankheit und den secundären, 
zuletzt tödtlichen oderdenTod zunächst vorangehenden Krank- 
heiten notirt werden, so scheint es uns einfacher und über- 
sichtlicher zu sein, wenn man in den betreifenden Fällen 
nach obiger Anleitung primäre und secundäre Todesursache 
untereinander stellt, wodurch alsdann der Bearbeiter des 
statistischen Materials ohne Weiteres die nothwendige Auf- 
klärung erhält. 

Die Angabe der secundären Todesursache 
soll also nur das Nähere über die Erscheinungen, 
unter welchen der Tod eintrat, liefern, wohin- 
gegen die primäre Todesursache für die spätere 
Verwerthung des statistischen Materials allein 
das Massgebende bleibt. 



Ueber MoHalitäts-Siatistik. 287 

Was nun den Beruf, Stand etc. des Verstorbenen (7) 
betrifft, so ist die Registrirung der Lebensverhältnisse 
in ätiologischer Beziehung zweifelsohne von der grössten 
Wichtigkeit und bedarf keines weiteren Gommentars. 

Ebenso verhält es sich mit dem Familienstand (8); 
namentlich ist die Frage: ob Kinder bei den Eltern oder 
Fremden gepflegt worden sind, besonders bei den unehe- 
lichen und Waisenkindern von Bedeutung. Auch die Art 
und Weise der stattgefundenen Ernährung der einjäh- 
rigen Kinder hat hier ihren Platz gefunden, um wenig- 
stens annäherungsweise ihren Einfluss auf den erfolgten 
Tod kennen zu lernen, wenn man auch zugestehen muss, 
dass es höchst schwierig ist, hierbei zu allgemein gültigen 
Schlüssen zu gelangen, da es z. B. hauptsächlich von Fa- 
milienverhältnissen, von Wohlhabenheit, von der Bildung, 
Einsicht und dem Ordnungssinn der Mütter etc. abhängt, 
ob die künstliche Ernährung mit Erfolg gekrönt wird. 
Aber auch das einfache Faktum, ob in einer Stadt oder 
Gegend die Neugeborenen durch Selbststillen oder mehr 
durch die künstliche Ernährung aufgezogen werden, hat 
schon an und für sich ein mannigfaltiges Interesse. 

Die Wohlhabenheit oder Dürftigkeit (9) und die 
Wohnungsverhältnisse der Verstorbenen (10) können 
und dürfen bei einer sorgfältigen Registrirung nicht über- 
gangen werden. 

Die Recognoscirung des Verstorbenen (11) hat 
einen forensischen Zweck und ist in grossen Städten er- 
forderlich. Die Abwesenheit von Verletzungen und die 
Zeichen des eingetretenen Todes werden am besten am 
Schlüsse summarisch bescheinigt. Die Bemerkungen(12) 
lassen dem behandelnden Arzte einen weiten Spielraum 
und sollen ihm Gelegenheit geben, mit kurzen Worten 
dasjenige zu bezeichnen, was für den erfolgten Tod von 



388 (}et>er Mortalitftto-StatiBtik. 

Wichtigkeit ist oder darauf iiifluirt bat. Wenn es sich 
z. B. um einen Trunkenbold handelt, so genfigt der ein- 
fache Zusatz: Potator. Alles Uebrige bleibt der Einsicht 
und dem eignen Interesse des behandelnden Arztes über- 
lassen. 

Bei der Namensunterschrift des Arztes sind auch die 
„Eigenschaften^ denselben erwähnt worden. Dieser Zusatz 
ist für Berlin nothwendig geworden, nachdem sich nach 
der Freigebung der ärztliihen Prasis die Thatsache her- 
ausgestellt hat, dass auch unqualifizirte Personen die Drei- 
stigkeit hatten, Todtenbescheinigungen auszustellen. 

3) Die Bearbeitung und Verwerthung des sta- 
tistischen Materials. Dem praktischen und behandeln- 
den Arzte kann nur die Pflicht auferlegt werden, die 
Todtenbescheinigung an den betreffenden Stellen auszufüllen. 
Thut er dies gewissenhaft, so wird er den werth vollsten 
Beitrag zum grosses Ganzen liefern. Sorgt dabei die zustän- 
dige Behörde für die obligatorische Todteubescheinigung, so 
wird aus dem Zusammenfluss dieser vereinten Thätigkeit sieh 
eine lebendige und fruchtbringende Strömung bilden. 

Alsdann tritt die sehr wichtige Frage über die 
Bearbeitung und Verwerthung des statistischen 
Materials an uns heran. Es ist leicht ersichtlich, dass bei 
einer über sehr viele Städte ausgedehnten Mortalitäts-Sta- 
tistik ein statistisches Material sich anhäufen wird, zu des- 
sen Bewältigung eine Arbeitskraft u&d Beßlhigung gehört 
Andererseits muss dasselbe auch in einer Weise zusam- 
mengestellt werden, dass ein wirklicher Nutzen für das 
Sanitätswesen daraus erwächst, welcher mehr oder weniger 
für die Gesammtheit verloren gehen würde, wenn nicht 
aus der Vergleichung des statistischen Materials ans sehr 
vielen Städten die ver^^chiedenen Differenzen sogleich erkannt 
werden könnten. Es ist deshalb absolut nothwendig, dass 



Uebcr Morialitäts- Statistik. 289 

die Todtenbescheinigungen gesammelt und wöchentlich oder 
monatlich an eine Gentralstelle eingesendet werden. 

Mit der Zeit werden die grössten Städte genöthigt 
werden, für ihre eigenen Zwecke statistische Bareau's 
zu errichten, wenn sie erst den Werth der Statistik kennen 
gelernt und sich überzeugt haben, dass nicht die „todten 
Zahlen^ das Wesen derselben ausmachen. 

Einstweilen besitzt nur die Stadt Berlin ein statisti- 
sches Bureau, dessen Nothwendigkeit und Nützlichkeit täg- 
lich mehr anerkannt wird. 

Für die vergleichende medizinische Statistik 
bleibt kein anderes Mittel übrig, als das statistische Mate- 
rial der Staatsregierung einzusenden. Da hierbei vorzugs- 
weise das ärztliche Interesse vertreten ist, so würde auch 
das Ministerium der etc. Medizinal -Angelegenheiten die 
geeignetste Stelle sein, an welcher das statistische Material 
zur Bearbeitung und Verwerthung zusammenflösse. 

Wollte man letztere den Provinzial-Regierungen über- 
lassen, so würde erstens die rasche vergleichende 
üeber sieht des statistischen Materials verloren gehen, und 
zweitens würden sich auch die Kosten bedeutend vermehren, 
wenn jede einzelne Regierung sich die Arbeitskräfte dafür 
anschaffen sollte. Mehr oder weniger verhält es sich ähn- 
lich, wenn man dafür die Medizinal-Collegia in Aussicht 
nehmen wollte. 

Das hiesige königliche, unter der erfolgreichen Lei- 
tung des Herrn Geheimraths Dr. Engel stehende statistische 
Bureau befasst sich bekanntlich nur mit der Volkszählung 
und der Registrirung der Sterbefälle im Allgemeinen, kann 
sich desshalb nicht auch noch mit den Faktoren beschäf- 
tigen, deren Erforschung für das gesammte Gesundheits- 
wesen von Wichtigkeit ist, dem Geschäftskreise des könig- 
lichen statistischen Bureau aber fern liegt 

?i«rtelJ«hri«ohr. f. g«r. Med. N. F. XV. 2. 19 



290 Ueber Mortalitäts-Statistik. 

Die Eenntniss der Volkszählung und der Gesammt- 
sterblichkeit kann, wie aus dem oben Erörterten hervor- 
geht, auch für die medizinische Statistik nicht entbehrt 
werden. Letztere muss uns aber die Mittel an die Hand 
geben, auch noch dem Einfluss vieler Faktoren, welche bei 
der Sterblichkeit in ärztlicher Beziehung von Wich- 
tigkeit sind, näher zu treten. Gerade dadurch, dass m^ 
durch die Todtenbescheinigung, wie sie oben vorgeschlagen 
worden ist, in den Stand gesetzt wird, die Todesfälle an 
ein und derselben Krankheit mit allen anderen Todes- 
fällen und allen Lebenden derselben Altersklasse zu ver- 
gleichen, die Todesfalle nach den verschiedenen Alters- 
klassen, nach Beruf, Wohlstand, Armuth, den verschiedenen 
Wohnungs- und Lebensverhältnissen etc. zu beurtheilen, 
gelangt man in ein ärztliches Gebiet, welches auch nur 
von qualifizirten Medizinalpersonen mit vollständigem Er- 
folge beherrscht werden kann. 

Es würde desshalb allen Erfordernissen und dem 
grössten Bedürfniss der Gegenwart entsprochen werden, 
wenn ein besonderes Bureau für medizinische Sta- 
tistik ins Leben gerufen würde. 

Es ist hier nicht der Ort, das Weitere über die innere 
Organisation einer solchen Anstalt oder über die etwaige 
Verbindung derselben mit dem königlichen statistischen 
Bureau zu entwickeln; unsere Absicht geht nur dahin, auf 
die Nothwendigkeit der medizinischen Statistik wiederholt 
hinzuweisen, ein Formular für die dazu erforderlichen Tod- 
tenbescheinigungen in Vorschlag zu bringen und die Er- 
richtung eines besondern Bureau für medizinische Statistik 
als das einzige Mittel für eine ergiebige Verwerthung des 
statistischen Materials angelegentlichst zu empfehlen. 



14. 

Beiträge zur medizinischen Statistik Ton 

Deutschland. 

Von 

Dr. 1¥. Ziielzer, 

dir1gir«Bder Arit in der Kgl. Charitö and Docent an d«r UniT«rtit&t 

in Berlin. 



Den nachfolgenden Blättern habe ich einige Notizen über 
die Art und Weise vorauszuschicken, wie das Material ge- 
sammelt, und über die Methode, nach der ich es früher 
bearbeitet habe. 

Das dringend gefühlte Bedürfniss eine medizinische 
Statistik herzustellen hat auch in Deutschland zu einer 
grossen Zahl von Versuchen nach dieser Richtung geführt. 
Während aber in England, zum Theil auch in den Nieder- 
landen und in Wien, von Seiten des Staates durch eine 
grossartige Organisation eine systematische Bearbeitung der 
Mortalitäts- und Geburts-Statistik sowie zahlreicher anderer, 
die Krankheits-Aetiologie etc. betreffender Verhältnisse her- 
gestellt wurde, blieb es in Deutschland meist dem einzelnen 
Forscher überlassen, das für seine Untersuchungen nöthige 
Material sich selbst zu beschaffen. In einzelnen Städten, 
wo ein medizinisch - statistisches Amt besteht, wurden auch 
früher periodische Zusammenstellungen über die Geburts- 
und Sterbeverhältnisse veröffentlicht; aber immer geschah 
es in privater Weise, und fast überall nach verschiedenen 
oder selbstständig abgeänderten Forraularen. Anerkannt 

19* 



292 Beiträge zur medizinischen Statistik von Deutschland. 

mass hier freilich werden^ dass die von den statistischen 
Versammlungen gemachten Vorschläge für ein gemeinschaft- 
liches Formular zu medizinisch-statistischen Arbeiten überaus 
mangelhaft waren und dem gegenwärtigen Standpunkt der 
Medizin nicht entsprachen. 

Dem Uebelstande hauptsächlich, dass das immerhin an 
sich wohl brauchbare Material ungleichmässig vorbereitet 
und in den verschiedensten Organen und in verschiedener 
Weise publicirt wurde, ist es zuzuschreiben, dass eine ver- 
gleichende Zusammenfassung und systematische Bearbeitung 
desselben auch für Fachmänner unmöglich wurde; ein Blick 
auf jedes Handbuch der medizinischen Statistik lehrt, wie 
spröde und lückenhaft das aus den deutschen Quellen her- 
stammende Material sich auch gegenüber einer gut ge- 
schulten Hand erweist« 

Die Krankheits- Statistik zeigte noch grössere Mängel. 
Jedes Hospital arbeitete für sich allein und von verschiede- 
nen Gesichtspunkten ausgehend. Eine Statistik der ausser- 
halb der Krankenhäuser in der Bevölkerung auftretenden 
Krankheiten fehlte gänzlich, und selbi^t bei epidemischen 
Krankheiten von der grössten allgemeinen, besonders na- 
tional-ökonomischen Bedeutung erfolgten die Berichte wenn 
überhaupt erst spät nach Abschluss der drängenden Krank- 
heitsepoche, meist nur als mehr oder weniger werthvolles 
historisches Material. 

Eine Zusammenfassung derjenigen Gegenstände, welche 
für die allgemeine oder specielle Aetiologie der Krankheiten 
von Wichtigkeit sind, musste in anderweitigen,, meist natio- 
nal-ökonomischen Zwecken dienenden Arbeiten der statisti- 
schen Bureaus etc. gesucht werden. Gut vorbereitet erschei- 
nen nur die Resultate des von Dave trefiflich eingerichteten 
meteorologischen Instituts mit seinen die Zahl von 300 weit 
übersteigenden Beobachtungsstationen. 



Beiträge zur medizioiBchen Statistik ton Dentschland. 293 

Diese Andeatungen mögen genügen, um auf die Mängel 
der früher bestehenden und die nothwendigen Erfordernisse 
einer neu zu begründenden medizinischen Statistik hinzu- 
deuten. Jedenfalls lehrte die einfache Beobachtung, welche 
Wege für eine zweckmässigere Begründung der medizinischen 
Statistik einzuschlagen wären. — Als wichtigster Punkt neben 
der gleichmässigen Bearbeitung und Zusammenstellung er- 
schien die Herstellung einer vergleichenden Statistik. Da 
eine genaue erfolgreiche Detailforschung so lange unmöglich 
sein wird, bis eine ausreichende Fragestellung erfolgen kann, 
so muss die vergleichende Medizinal-Statistik dazu dienen, 
die wichtigsten Punkte ausfindig zu machen, welche für die 
Erankheitsgenese , und auf Herstellung einer solchen be- 
schränken wir uns zunächst, von Einfluss sind. Hieran kön- 
nen sich dann die Einzeluntersuchungen knüpfen, welche ohne 
solche Vorbedingungen immer nur ein dilettautisirendes Ver- 
suchen, im besten Falle einseitige empirische Anfänge bleiben. 

Von diesen Gesichtspunkten ausgehend veröffentlichte 
ich vom 5. November 1868 an in einem eigenen Blatte unter 
dem Titel „Wöchentliche Uebersicht der Geburten und Todes- 
falle aus den grösseren Städten Deutschlands" wöchentliche 
Mittheilungen über die fortlaufende Geburts- und Sterbe- 



Statistik, anfangs aus den Städten Königsberg, Berlin, Bres- 
lau, Dresden, Bremen und Köln. Aus Wien berichtete der 
bekannte Statistiker Dr. Glatter und aus London wurden 
die amtlichen Publikationen von Dr. Farr^ dem Begründer 
der medizinischen Statistik in Europa, eingesandt. Anfänglich 
wurden die Geburtsverhältnisse mit Rücksicht auf das Ge- 
schlecht und in ihrem relativen Verhältniss zur Einwohner- 
zahl, ferner die Todesfälle nach denselben Gesichtspunkten, 
sowie nach dem Alter und der Todesursache betrachtet. 
Ausserdem wurden die Temperaturverhältnisse bemerkt. 
An dieses in seinen äusseren Formen sehr bescheidene 



294 B«itrige tar medizioiscben Statielib tod Deutschland 

Blatt BchlosB sich eine grosse Zabl von gleiche rebeoden 

MäDoern, die Ende Juni 1S69 zn einem eigenen Verein 

nnter dem Namen „Dentacher Verein für mediziai- 

sche Statistik" zneammentraten, zn dessen Organ die 

7aitt><>hrift^ and zwar vom 31- Jnli 1869 an unter dem 

Wochenblatt für medizinische Statistik und 

iologie" gewählt wurde. Die erste nnd bisher 

^ersamnilang des Vereins fand 1869 während der 

ilnng deutscher Naturforscher und Aerzte zu lons- 

att, wo anf Antrag des Vereins zuerst eine Sektion 

zinische Statistik etablirt wurde. Die Verhandlungen 

1 sind in der Vereins-Zeitschrift 1869. No. 40 if. 

kt. 

Arbeiten des Vereins gewannen schnell eine grosse 
i und intensive Verbreitung. Die Mittbeiliingen 
sich über 25 der i;rd8seren deutschen St&dte aus, 
ich Nachrichten ans London, Brüssel, Paris und 
ADBcbloBsen. — Die wöchentlichen Mittheilungen, 
HB mehrfachen Gründen von Freitag bis zum nächst- 
a Donnerstag liefen, betrafen folgende Verbältnisse: 
Geburten (Knaben, Mädchen) ezcl. der Todtgebore- 
3) Todesfälle (männl., weihl.), gleichfalls excl. der 
renen. — 3) Tagestemperatnr (mittlere, höchste, 
e) ond die Regenmenge. — 4) Todtgeburten. — 
der Verstorbenen (unter 1 Jahr, 1—5, 6 — 10, 
21—30, 31—50, 51—70, über 70 Jahren). — 
laupteäcblichsten Todesursachen und zwar getrennt 
1 Verstorbenen nnter nnd Über 5 Jabren. Die an- 
in Fragen betrafen: Lebensschwäche bald nach der 
Atrophie der Kinder, Durchfall und Brechdurchfall 
!er, Keucbbusten, Bräune und Diphtherie, Masern, 
I), Pocken, Ruhr, Cholera, Unterleibstyphus, Fleck- 
recarrirender Typbus, Wochenbettfieber, Py&mie, 



Beiträge zur medizinischen Statistik von Deutschland. 295 

katarrhalisches Fieber, Rothlauf, Trichinenkrankbeit, Rheu- 
matismus, Pbthisis, Krebskrankheiten, organische Herzkrank- 
heiten, Entzündung des Brustfells, der Luftröhre und Lungen, 
plötzliche Todesfälle (Schlagfluss), Gehirnkrankheiten, Alters- 
schwäche, Selbstmord und Unglücksfalle. Die Rubriken 
„andere entzündliche*^ und „chronische* Krankheiten waren 
für diejenigen Fälle bestimmt, welche in den übrigen Co- 
lumnen nicht unterzubringen waren. Die Auswahl der Ru- 
briken und deren Bearbeitung geschah mit der Maassgabe, 
dass nur diejenigen Krankheiten herbeigezogen werden soll- 
ten, deren statistische Betrachtung mit Wahrscheinlichkeit 
ein möglichst genaues und zuverlässiges Resultat hoffen liess. 

An diese der allgemeinen Biostatistik angehörenden Ar- 
beiten schlössen sich von der 6. Woche des Jahres 1869 an 
wöchentliche Berichte aus deutschen Krankenhäusern, deren 
Zahl allmälig auf 16 stieg. — Hier wurde der individuellen 
Anschauung ein grösserer Spielraum gewährt; die obligato- 
rischen Fragen betrafen nur : 1) den Belagraum, zur Kennt- 
niss der Grössenverhältnisse der Hospitäler ; 2) denEranken- 
bestand am Anfang der neuen Beobachtungswoche; 3) die 
Zahl der im Laufe der Woche Verstorbenen, 4) der Ent- 
lassenen und 5) der neu Aufgenommenen. 

Unter der Rubrik: „hauptsächlichste Krankheiten" wur- 
den die Zahlen der innerlichen, chirurgischen, psychischen, 
syphilitischen etc. Kranken gesondert angegeben und im 
Anschluss daran die wichtigsten Krankheiten, unter Voran- 
stellung der epidemischen, sowie die Sektionsbefunde der 
Verstorbenen einzeln angeführt. 

Die jährlichen üebersichten über die Geburts- und 
Sterbeverhältnisse der einzelnen Städte, sowie über die 
Krankenbewegung in den Hospitälern wurden meist von den 
Beobachtern selbst zusammengestollt. Von Seiten der Re- 



296 fieitrSge lar med izi Diachen Statistik von Dentacbtand. 

daktiOD erfolgte eine wOcheatliche und eine vierteljährliche 

vergleicbende Bearbeitung. 

Als ein nicht weniger wichtiger Theil endlich sind 

die Berichte über die Krankheiten in der Bev&Ikening 
,u ernähaen. Hieran dienteo Nachrichten über die 
itungen aus der Armen- nnd Gewerks-KraDkenpflege 
er die medizinische Statistik des norddeutschen 

Bserdem erliess die Hufeland*s(AiB med -cliir. Ge- 
ft in Berlin auf meinen Vorschlag im November 
neo Aufruf an die Berliner Gollegen, um dieselben 
atlichen Mittheilungen aber die in der Privatpraxis 
iteten Krankheitsfälle zu veranlassen. 
B vorgeschlagene Formular betraf: Variola, Scarla- 
orbilli, Intermittens, Typh. abdominalis, Typb. ex- 
Uicus, Typb. recurrens, Erysipelas, Catarrh. gastr. 

Dysenteria, Angina membranacea, Diphtherie, Febr. 
b1., Rhenm ac. art. und Apoplexia cerebri sang, et 
— Es sollten demnach wesentlich die epidemischen 
siten und von den übrigen diejenigen wichtigen 
aitsformen in Betracht gezogen werden, welche sich 
ch genau begrenzen lassen, 
r Aufruf hatte ein aber Erwartung günstiges Re- 

Von den Berliner Gollegen betheiligten sich gegen 

i den erbetenen Mittheilangen, deren Bearbeitung 

Wochenblatt für med. Statistik und Epidemie 

6. 

sserdem entstanden in Folge dieses UnternehmenB 
ihe ähnlicher Arbeiten. Im Anschluss an den deut- 
^erein für med. Statistik bildeten sich in Zwickan 
trieb des Medizinalrath Dr- Günther, in Chemnitz 
ist durch den Physikus Dr. Fiinzer, in Lübeck ver- 
dnrch Dr. Mareth etü. ärztliche Zweigvereiae, die 



Beiträge zur medizinischen Statiätik von Deutächland. 297 

genau in derselben Weise theils monatliche, theils wöchent- 
liche Berichte über Geburts- und Sterbefalle, Krankenbewegung 
in den Hospitälern und über die Beobachtungen aus der Pri- 
vatpraxis lieferten. Am ausgedehntesten und erfolgreichsten 
wirkte in dieser Richtung der Zweigverein in Hanau; hier 
traten auf Anregung des Physikus Dr. Noll sämmtliche 
Aerzte der Stadt zu einem Verein zusammen, dessen Mit- 
glieder in höchst eingehender Weise über fast alle Beob- 
achtungen am Krankenbett und aus den statistischen Re- 
gistern berichteten. 

Welchen eminenten Werth derartige Arbeiten für die 
Aetiologie und für die Kenntniss des Gesundheitszustandes 
einer ganzen Bevölkerung überhaupt, ja für die Ethnogra- 
phie, sowie rückwirkend auf die spezielle Pathologie ganz 
besonders der Infektionskrankheiten haben, bedarf kaum 
einer Auseinandersetzung. Ich will nur noch darauf hin- 
deuten, dass auch in mehreren ausserdeutschen Städten, 
z. B. in Krakau, Lemberg etc. sich eben solche Vereine 
bildeten. 

Diese Arbeiten wurden bis zum Ausbruch des letzten 
Krieges fortgesetzt, mussten aber damals aus inneren und 
äusseren Gründen unterbrochen werden. Einerseits wurde 
damals das Redaktionspersonal und ein grosser Theil der 
Mitarbeiter zu den Fahnen einberufen oder trat bei der 
Militair-Krankenpflege in Thätigkeit. Aodererseits wurden 
die Verkehrsverhältnisse plötzlich so sehr gestört und die 
Zusammensetzung der Bevölkerung durch die Insfeldstel- 
lung von nahezu einer Million Soldaten so sehr verändert, 
dass eine Fortsetzung unserer nur auf normale Verhältnisse 
basirenden Statistik unmöglich war. Am 17. Juli 1870 
erschien die letzte Nummer des Wochenblattes für medi- 
zinische Statistik und Epidemiologie. 

Bei dieser plötzlichen Unterbrechung der Zeitschrift 



298 Beitr&ge zur meäiziaiachen Statistilc von Deutacbland. 

3ch ein grosBes Material unbearbeitet zurück. Dm 
1 zu verwerthen und wenn mOglich eine Wieder- 
ang an die durch den Krieg unterbroclienen Ar- 
I bewirken, will ich in den folgenden Blättern nacb- 

die Mortalitäts Statistik des I. Quartals 1870 in 
litigBten deutüchen Städten vergleichsweise zusam- 
en. Dieselbe umfaest 20 deutsche Städte und be- 
F den Mittheilungen der Königl. Polieei-Fräsidten 
n, Breslau, Danzig und Potsdani, des Stadtraths 
Medisinal-Baths Dr. Biüchma/m zu Dresden, der 
hSrde (C. C. II. Müller) zu Hamburg, des statisti- 
firean {Dr. Glatter) zu Wien, des General- Register- 
3r. Farr) 7,u London, des Ober- Med izinalrath Dr. 

zu C&rlsruhe, Pbysikus Dr. Kraus zu Altona, des 
?ermeister-Amts zu Köln, Dr. Pfeiffer zu Weimar, 
Et Dr. Pfeiffer zu Darmstadt, Dr. Alexander Spiest 
kfurt a. M., Physikus San.-ßath Dr. Joem zu Kiel, 
Polieei- Direktion zu Stettin, der Pr^fectnre de la 
id Dr. Vacher zu Paris, Dr. Fr. Sander zu Barmen, 
ä Dr. IJelwiff zu Mainz, Docent Dr. Seydel zu Kfl- 

, des Königl. Oberbürgermeister-Amts zu Düssel- 

d des statistischen Börean zu Bremen. — Die 
hierüber folgt genau der früher angewandten 



Geburts- und Sterbefälle in 20 deutschen 
ädten während des 1. Quartals 1870. 
ist zweckmässig, bei der Zusammenstellung der Sterb- 
Terhältnisse gleichzeitig die Geburtsstatistik in Be- 
a ziehen, weil jene ohne letztere in manchen Punk- 
le richtigen Resultate ergeben würde. Die Reiben- 
typricht dem Prozentsatze der Geburten und Sterbe- 

Gesammtbevülkerung. 






Beitrage zur mediciDiecben Statistik von Deutsrhland. 299 

Tabelle I. Es wurden geboren im 1. Quartal 1870: 

zusammen: männl.: weibl. : auf 10,000 Einw.: j 



Barmen 856 437 419 129,7 

Breslau 2151 1088 1063 111,3 

Düsseldorf 679 338 341 107,3 

Berlin 8301 4314 3987 103,7 

Köln 1294 648 646 101,1 

Mainz 534 280 254 100,4 

Bremen 750 388 362 97,3 

Hamburg 2254 1244 1010 96,3 

Danzig 855 436 419 96,0 

Dresden 1574 793 781 89,4 

Frankfurt a. M. 723 371 352 85,0 

Königsberg 901 460 441 83,1 

Potsdam 277 146 131 6O4 



Summa: 


21149 


10943 


10206 


102,6 


eile II. Es 


starben 


im 1. Quartal 1870: 




Altona 


619 


— 


— 


82,5 


Bremen 


632 


323 


309 


82,0 


Königsberg 


829 


410 


419 


77,2 


Karlsruhe 


244 


122 


122 


76,2 


Hamburg 


1770 


972 


798 


75,5 


Breslau 


1449 


771 


678 


73,5 


Wien 


4472 






71,8 


Düsseldorf 


451 


241 


210 ■ 


^,2 


Danzig 


631 


334 


297 


70,8 


Berlin 


5634 


2945 


2689 


70,4 


Barmen 


474 


270 


204 


66,7 


Mainz 


340 


179 


161 


66,6 


Köln 


859 


445 


414 


65,2 


Weimar 


95 


54 


41 


63,3 


Stettin 


464 


238 


226 


62,5 


Darmstadt 


231 


121 


110 


62,4 


Potsdam 


282 


138 


144 


62,2 


Dresden 


1079 


564 


515 


61,3 


Frankfurt a.M 


. 474 


245 


229 


58,1 


Kiel 


147 


85 


62 


51,2 



Summa: 21176 8457 7628 69,4 



300 Beiträge zur medizinischen Statistik von Deutschland. 



Die Zahl der Verstorbenen in Paris betrug 15,178 
oder 80,3 pro 10,000 Einwohner; in London wurden ge- 
boren 30,384 Kinder oder 93,9 pro 10,000 und starben 
21,406 Personen oder 66,6 pro 10,000. — 

Durchschnittlieh kamen in den deutschen Städten 
102,6 Geburten und 69,4 Todesfälle auf 10,000 Einwohner 
zur Beobachtung. 

Die Tabelle der Geburten bedarf keiner näheren Aus- 
einandersetzung. Bei der Gegenüberstellung der Sterbefälle 
aber zeigt sich deutlich, in welcher Weise die Sterbeziffer 
von der Geburtszahl beeinflusst wird. Mit Ausnahme von 
Königsberg, Barmen und Bremen, welche in den Tabellen 
einen etwas verschiedenen Platz einnehmen, entspricht die 
Reihenfolge beider Tabellen einander ziemlich genau. Der 
Mangel der Geburtszahlen aus 7 Städten erschwert den Ver- 
gleich einigermaassen. 

In wie weit diese Verhältnisse sich gleich geblieben 
sind, lehrt eine Vergleichung mit den vorangegangenen 
Quartalen; die Tabellen darüber sind dem Wochenblatte 
für med. Statistik und Epidem. 1869, Nr. 32 u. Nr. 47, 
und 1870, Nr. 12 entnommen. 

Tabelle III. Es wurden geboren*): 



im 3. Quartal 1869. 
auf 10,000 Einw. 

Barmen 126 

Breslau 113 

Berlin 106 

Düsseldorf 103 

Danzig 99 

Köln 98 

Hamburg 9 1 

Königsberg 90 

Dresden 87 
Frankfurt a. M. 73 



im Mittel: 98 



im 4. Quartal 1869. 
auf 10,000 Einw. 

Barmen 123 

Mainz 1 1 

Breslau 107 

Berlin 104 

Düsseldorf 101 

Köln 98 

Dresden 94 

Danzig 94 

Hamburg 93 

Königsberg 80 

Frankfurt a. M. 71 

Potsdam 57 



im Mittel: 94 



*) Das 2. Quartal 186^ enthält eine Geburtsstatistik nur aus sehr 
wenigen Städten. In mehreren Städten ist die Sammlung der Geburt»- 
zahlen erst darch das Wochenblatt angeregt worden. 



Beiträge zur medizinischen Statistik von Deutschland. 301 



Tabelle IV. Es starben: 



im 2. Quartal 


1869. 


im 3. Quartal 1869. 


im 4. Quartal 1869. 


auf 10,000 Einw. 


auf 10,0C0 EiDw. 


auf 10,000 Einw. 


Ki^l») 


102 


Breslau 86,6 


Breslau 73,0 


Breslau 


101 


Barmen 81,6 


Mainz 72,5 


Altena 


87 


Berlin 80,9 


Carlsruhe 66,5 


Berlin 


83 


Dresden 72,0 


Barmen 66,3 


Königsberg 


;83 


Köln 71,5 


Berlin 66,2 


Danzig 


78 


Altena 66,7 


Danzig 66,1 


Köln 


75 


Hamburg 66,1 


Darmstadt66,l 


Dresden 


73 


Darmstadt65,l 


Wien 63,5 


Hamburg 


72 


Danzig 64,1 


Hamburg 62,7 


Darmstadt 


66 


Königsb. 63,4 


Stettin 62,5 


Carlsruhe 


59 


Düsseid. 63,0 


Köln 61,4 


Weimar 


59 


Stettin 62,0 


Dresden 61,2 


Frankfurt 


58 


Frankfurt 56,1 
Carlsruhe 55,9 


Düsseid. 60,9 


im Mittel: 


76 


Altena 59,7 






Kiel 52,5 


Königsb. 54,8 






Weimar 48,5 


Weimar 47,8 






im Mittel: 73,0 


Frankfurt 46,2 
Kiel 41,1 
Potsdam 35,8 



im Mittel: 59,7 

Die in den vorstehenden Tabellen angeführten Zahlen 
betreflfen freilich nur 1 Jahr, — vem April 1869 bis ult. 
März 1870, — und zeigen in der ersten Zeit mannigfache 
Lücken, deren völlige AuisfüUung auch bis zum Abschlüsse 
jener Periode noch nicht gelungen ist. Weitergehende 
Schlüsse sind schon aus diesen Gründen nicht erlaubt« In- 
dess ergibt schon die blosse Vergleichung der Tabellen man- 
nigfache, nicht unwichtige Momente zur Beurtheilung der 
Sterblichkeit. 

Zunächst zeigt sich die Durchschnittszahl der Morta- 
lität im 3. Quartal am bedeutendsten (73) und sinkt dann 
regelmässig bis März, wo sie nur noch 59 beträgt**). Eine 



*) Es muss bemerkt werden, dass damals in Kiel eine sehr bös^ 
artige Masern- Epidemie herrschte. 

**) Es musa bemerkt werden, dass im 2. Quartal noch die Todt-. 



302 Beiträge zur medizinischen StatiBtik von Deutschland. . 

eingehendere Betrachtang der Todesfalle nach den einzelnen 
Monaten würde an dieser Stelle zu weit führen, besonders 
gegenüber dem noch nicht genügend vorbereiteten Material. 

Weiterhin ist die grosse Uebereinstimmung bemerkbar^ 
welche die Tabellen in der Reihenfolge der Städte, nach 
dor Grösse der Mortalität geordnet, darbieten. Nur einige 
Städte, und zwar solche mit geringerer Einwohnerzahl, ha- 
ben in den verschiedenen Tabellen einen ungleichen Platz. 
In Kiel z. B., wo im 2. Quartal 1869 die Mortalität in Folge 
einer sehr bösartigen Masernepidemie die Höhe von 102 
Todesfällen auf 10,000 Einwohner erreicht, sinkt dieselbe 
im nächsten Vierteljahr nach Beendigung der Epidemie auf 
52 pro 10,000. Dieselbe Epidemie, welche alsdann den 
nordwestlichen und westlichen Theil von Deutschland durch- 
zog, steigert im 4. Quartal 1869 die Sterblichkeit in Carls- 
ruhe bis zu 66 pro 10,000. In ähnlicher Weise wirkt die- 
selbe Epidemie auf die Sterblichkeit in Darmstadt, wo im 
2. Quartal 1869 nur 1 Todesfall durch Masern beobachtet 
wurde, während im 3. Vierteljahr 13 pCt. sämmtlicher Ver- 
storbenen den Masern erlegen sind. 

In den grösseren Städten ist der Einfluss der Masern- 
epidemie auf die Gesammtsterblichkeit weniger auffällig; 
so betrug die Zahl der an den Masern Verstorbenen in 
Hamburg im 2. Quartal 1,8 pCt., im 3. Quartal 6,9 pCt, 
im 4. Quartal 1869 1,1 pCt. der Verstorbenen; im 1. Quartal 
1870 kam kein Todesfall an Masern vor. Demgemäss schwankt 
die Stellung Hamburgs in der Tabelle nur in engen Grenzen. 
In Berlin betrugen die Todesfälle an Masern im 2. Quartal 
0,8, im 3. Quartal 0,5, im 4. Quartal 1869 1,1 pCt. der 
Verstorbenen und im 1. Quartal 1870 ebenso viel. 



gebarten unter der Zahl der Verstorbenen mit inbegriffen sind, wäh- 
rend sie später davon ausgeschieden wurden; ihre Zahl beträgt ÖjpCt. 
aller Verstorbenen. 



Beiträge zur medicinischen Statistik vod Deutschland. 303 

Im üebrigen zeigt sich ganz regelmässig, dass die 
Städte mit hi)her Geburtszahl durchweg eine hohe, die mit 
niedriger Geburtszahl eine kleine Mortalität darbieten. In 
Bezug auf diesen Punkt ist der Unterschied z. B. von 
Breslau und Barmen gegenüber Potsdam und Frankfurt a. M. 
recht constant und in die Augen fallend. 

Genauere Resultate würde erst eine durch mehrere 
Jahre fortgesetzte Beobachtung ergeben. 



b 



II. Todtgeburten. ? 

Nach allgemeinem Uebereinkommen werden jetzt die 
Todtgeburten abgesondert von den Geburts- und Sterbe- 
fallen betrachtet. Indessen ist die Ausscheidung derselben 
von den als lebend geboren Angegebenen keineswegs leicht, 
und jede Biostatistik des Kindesalters leidet deshalb an 
mehr oder weniger grossen Fehlern. Zwei Momente na- 
mentlich mögen diese Bedenken rechtfertigen. Einerseits 
ist es lediglich Sache der subjektiven Auffassung, ob un- 
reife Früchte oder vorzeitig Todtgeborene und endlich solche 
lebend geborene Kinder, die nur ganz kurze Zeit gelebt 
haben, als Todtgeborene registrirt werden sollen oder nicht. 
Wenn hiernach schon der Begriff der Todtgeburt ausser- 
ordentlich schwankend ist, so macht G, Mayr in seiner 
Arbeit über die Sterblichkeit der Kinder während des ersten 
Lebensjahres in Süddeutschland, besonders in Bayern, 
(Ztschr. des k. bayr. stat. Bur., J. IL) auch noch darauf 
aufmerksam, dass in den katholischen Ländern überall eine 
geringere als die wirkliche Zahl von Todtgeburten registrirt 
wird, weil die während, vielleicht auch schon vor der Ge- 
burt Gestorbenen, aber Nothgetauften als Lebendgeborene 
angeführt werden. Diesen Fehlerquellen gegenüber wird eine 
intensivere Verwerthung der so gefundenen Zahlen unzulässig. 
Ausserdem aber fehlt eine Grundlage dafür, in welcher 



{ 



304 Beiträge zur medizinischeD Statistik fon DeutschlaDd. 

Häufigkeit die verschiedenen Ursachen, welche das Ab- 
sterben der Leibesfrucht bedingen, auftreten. Angeborene 
Krankheitszustände der Früchte, Krankheiten der Mutter 
vor und während der Geburt, und hierbei in erster Reihe 
die Knochenkrankheiten, welche Abnormitäten des weib- 
lichen Beckens bedingen, besonders schwieriger Geburts- 
verlauf, Krankheiten und Anomalien der Adnexa der Frucht 
concurriren jedenfalls in einem nach den verschiedenen Län- 
dern durchaus verschiedenen Verhältniss bei der Summe 
der Todtgeburten. Diese Verhältnisse würden zunächst nach 
genauen Hospitalbeobachtungen festzustellen sein, bevor man 
an eine weitere Schlussfolgerung aus den rohen Zahlen der 
Todtgeburten wird denken können. Jetzt möchte es viel- 
leicht durch sehr grosse Zahlen nur gelingen, den Einfluss 
einzelner weniger Faktoren auf die Todtgeburten festzu- 
stellen, so z. B. des Auftretens umfangreicher Epidemien 
von Variola oder Typhus recurrens, welche Krankheiten 
bekanntlich ein frühzeitiges Absterben der Frucht und eine 
vorzeitige Geburt zu veranlassen pflegen. 

Die folgende Tabelle V. umfasst die Todtgeburten in 
20 deutschen Städten während des 1. Quartals 1870. 

Tabelle V. Todtgeburten: 

Samma: mäuol.: weibl.: auf 100 Verst.: 

Barmen 66 38 28 13^9 



Mainz 


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22 


18 


11,8 


Dresden 


112 


67 


44 


10,3 


Düsseldorf 


U 








9,8 


Altona 


58 


82 


26 


9,3 


Danzig 


57 


37 


20 


9,0 


Kiel 


13 


1^ 

4 


6 


8,8 


Köln 


66 


34 


32 


7,6 


Frankf. a. M. 


31 


15 


16 


7,5 


Königsberg 


64 


29 


35 


7,5 


Stettin 


31 


19 


12 


7,3 



Beiträge sar mediBiniBchen Statistik von Deatschland. 305 





Summa: 


männl.: 


weibl. : 


auf 100 Verat: 


Weimar 


7 


4 


3 


7,3 


Garlsruhe 


17 




— 


6,8 


Berlin 


378 


216 


162 


6,7 


Hamburg 


114 


62 


52 


6,3 


Darmstadt 


14 


9 


5 


6,0 


Bremen 


37 


18 


19 


5,8 


Wien») 


245 







6,4 


Breslau 


62 


— 





*,3 


Potsdam 


2 


1 


1 


0,7 



U58 Im Mittel 6^8 

Es kommen nach dieser Tabelle auf je 100 Verstorbene 
6,8 Todtgeburten, im 2. Quartal 1869 5,7, im 3. Quartal 
6,4 und im 4. Quartal 8,9. Diese Zahlen sowie ein Ver- 
gleich der in der Tabelle angeführten Ziffern mit den Ta- 
bellen über Geburten und Sterbefalle zeigen, dass ein Zu- 
sammenbang mit der Geburts- oder Sterbeziffer nicht zu 
constatiren ist. Mehrere Städte mit hoher Geburts- und 
Mortalit&tszahl, z. B. Breslau, Bremen etc., zeigen wenig 
Todtgeburten, während andere, wie Mainz, Köln, Kiel, 
Frankfurt a. M. etc., ^vergleichsweise viel Todtgeburten haben. 
Eine Goincidenz ist nur ausnahmsweise vorhanden und ver- 
schwindet bei längerer Beobachtungszeit gänzlich. Noch 
mehr zeigt sich bei einem Vergleich mit der Sterblichkeit 
des 1. Lebensjahres, die in der folgenden Tabelle angegeben 
ist, dass die Kindersterblichkeit und die Zahl der Todt- 
geburten weder in direktem, noch im umgekehrten Verhält- 
niss zu einander stehen Allgemein ausgedrückt heisst dies, 
dass nach den vorliegenden Beobachtungen die Sterblichkeit 
vor und nach der Geburt durch ganz verschiedene Faktoren 
beeinflusst zu sein scheint. 

Für eine spätere erfolgreiche Untersuchung wird es 

*) In Betreff von Wien ist zu bemerken, dass dort die Zahl der 
Mortalität die im Findelhause Gestorbenen nicht einscbliesst. 

VI«rMU«hnMhr. L gor. Itod. N. F. XV. % 20 



306 Beitrftge zur medizintBoheD Statiatik von Deatacbland. 

wichtig, die Lokalitäten kennen zu lernen, wo andauernd 
eine hohe oder eine geringe Zahl von Todtgeburten vorkommt. 

III. Altersverhältnisse der Verstorbenen. 

DiQ Altersverhältnisse der Verstorbenen sind in der 
folgenden Tabelle dargestellt. Es ist hier nicht der Ort, 
dieselben ins Einzelne zu verfolgen; dessbalb sind z. B. die 
Aliersverhältnisse der Geschlechter nicht gesondert ange- 
geben. Die relativen Zahlen sind auch hier wieder nach 
der Gesammtsumme der Verstorbenen berechnet. Eine Re- 
duktion auf die Zahlen der gleich alten Lebenden, die frei- 
lich wünschenswerth wäre, ist jetzt nicht genau ausführbar, 
auch wenn die durch die Volkszählungen ermittelten Zahlen 
zu Grunde gelegt würden. Zum annähernden Vergleich ver- 
weise ich auf die treffliche Arbeit von Pfeifer in Darmstadt, 
„llebersicht der Bevölkerungen von 18 deutschen Städten 
nach Alter und Geschlecht* (Wochenbl. f. med. Statistik u. 
Epidemiologie, 1870. p. 212 ff.). Im Allgemeinen zeigt sich 
hieraus die Verschiedenartigkeit, womit die Altersklassen in 
den einzelnen Städten vertreten sind. So findet sich z. B. in 
den Fabrikstädten ein bedeutender Ueberschuss der jüngeren 
Altersklassen; auf 1000 Lebende kommen u. a. in Barmen 
262, in Altona 222, in Berlin 203 Kinder unter 10 Jahren, 
dagegen in Garlsruhe nur 148, in Frankfurt a. M. 145. 
Andere Städte mit zahlreicher Garnison oder starkem Handel 
etc. haben eine ungleich höhere Zahl Einwohner im Alter 
von 20 — 30 Jahren ; so zeigt Carlsruhe 307, Frankfurt a M. 
278, Darmstadt 268, Kiel 267, Potsdam 252, dagegen Köln 
nur 236, Königsberg 227, Altona 217, Barmen endlich nur 
194 Bewohner im Alter von 20—30 Jahren. Aehnlich diffe- 
riren die Zahlen in den höheren Altersstufen. Die Abstractio- 
nen werden sich erst, sobald genügend grosses Material ge- 
sammelt ist, sicher machen lassen. 



Beitrftge zur med itini sehen Statistik von Deatscbland. 307 



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308 Beiträge zur medizioiscben Statistik von Deutschland. 

Während nach dieser Tabelle der Durchschnitt der 
Kindersterblichkeit im 1. Lebensjahre 29^5 pGt. der Ver- 
storbenen beträgt, zeigt derselbe im 2. Quartal 1869 35,3, 
im 3. Quartal 44,2 und im 4. Quartal 1869 31,2 pGt. der 
Verstorbenen. Die Betheiligung der übrigen Altersklassen 
in den früheren Perioden ist in der folgenden Tabelle dar- 
gestellt. 

Tabelle VII. Es befanden sich unter 100 Verstorbenen: 

im Alter toü 1-10. 11-20. 21—30. 31-60. 50—70. ober 70 J. 
im 2^ Qu. 1869: 17,8 2,6 7,3 14,9 14,2 7,7 
. 3. - - 17,9 2,8 6,2 12,1 10,9 5,7 
. 4. - - 18,9 3,3 7,3 15,2 14,5 7,8 

Ein Vergleich dieser Zahlen ergiebt, dass, während 
die Sterblichkeit der Kinder im Verhältniss zur Gesammt- 
mortalität bei uns in ziemlich weiten Grenzen schwankt, — 
44,2 bis 29,5 pCt. der Verstorbenen, — die der übrigen 
Altersklassen ungleich weniger Differenzen unterworfen ist 

Im Durchschnitt der Sterblichkeit des 1. Quartals 1870 
zeigt, nach zehnjähriger Zusammenfassung, entsprechend den 
früheren Beobachtungen die Mortalität bis zum 20. Lebens- 
jahre eine stete Abnahme; von da an steigt die Betheiligung 
der einzelnen Altersklassen bis zum 70. Lebensjahre ebenso 
regelmässig. Das höhere Alter über 70 J. ist mit 9,7 pCt. 
an der G'esammtsterblichkeit betheiligt; in zwei kleineren 
Städten, Weimar und Potsdam, erhebt sich die Betheiligung 
dieser Altersklasse bis zu 20 resp. 19 pGt. der Gesammtsterb- 

« 

lichkeit, während sich in Barmen unter 100 Verstorbenen nur 
6,9, in Berlin 7,6, in Dresden 8,2, in Breslau 9,4 und in 
Mainz 8,8 pGt. im Alter über 70 Jahren befinden. Die 
Altersstufe von 50 — 70 Jahren ist unter 100 Todesfällen im 
3. Quartal 1869 nur mit 10, im 2. und 4. mit 14, im 
1. Quartal 1870 aber mit 16 Fällen vertreten. 



Beiträge snr mediziDischen Statistik von Deutschlaod. 309 

IV. Hauptsächlichste Todesursachen. 

Die geringen Fortschritte der medizinischen Statistik 
im Vergleich zur Gesammtheit der medizinischen Wissen- 
schaft lassen es nicht zweckmässig erscheinen, alle Todes- 
ursachen in die Berechnung zu ziehen. Um gröbere Fehler 
zu vermeiden, wird man gut thun, nur die wichtigeren epi- 
demischen Krankheiten und einige der hauptsächlichsten 
sogen constitutionellen Krankheiten hier zu betrachten; aber 
auch bei diesen muss man sich erinnern, dass selbst deren 
Zahlen eine gewisse Menge von Fehlern einschliessen. Eine 
" grössere Sicherheit auch bei den leichter zu diagnosticiren- 
den Krankheiten darf erst durch ein allgemeineres Interesse 
der Aerzte an der medizinischen Statistik und durch eine 
enge Verbindung der letzteren mit der Klinik erwartet werden. 
1) Durchfall und Brechdurchfall der Kinder. 
Diese Krankheiten bewirkten in den Monaten Januar, Fe- 
bruar und März 1870 in 18 deutschen Städten im Ganzen 
787 Todesfälle oder 3,9 pCt. der Gesammtsterblichkeit. Im 
2. Vierteljahr 1869 betrug diese Zahl 5,7, im 3. Quartal 
stieg sie auf 15^8 und fiel in den Monaten October, No- 
vember und Dezember 1869 auf 4,5 pCt. der Verstorbenen. 
Den einzelnen Städten nach finden sich in Königsberg 48, 
Danzig 20, Stettin 15, Kiel keine, Altena 41, Hamburg 65, 
Berlin 240, Potsdam 2, Breslau 58, Dresden 10, Weimar 6, 
Frankfurt a. M. 3, Durmstadt 3, Mainz 11, Barmen 11, 
Köln 2, Carkruhe 20 und in Wien 284 derartiger Todes- 
fälle angegeben. Den Procenten zur Zahl der Sterbefalle 
nach bilden sie in Garlsiuhe 8,1 ? Altena 6,6, Wien und 
Weimar 6,3, Königsberg 5,7, Berlin 4,2, in Breslau 3,8, 
Hamburg 3,6, in Stettin und Mainz 3,2, in Danzig 3,1, in 
Barmen 2,3, in Darmstadt 1,3, in Dresden 0,9, in Frank- 
furt a. M. 0,6 und in Köln 0,2 pGt. sämmtlicher Todesfalle. 



310 Beiträge zur medizinischen Statistik von Deutschland. 

Die»e Reihenfolge ist erheblich verschieden von der der 
vorangehenden Vierteljahre; namentlich hat Berlin besonders 
im Hochsommer eine erheblich grössere Zahl derartiger Todes- 
fälle aufzuweisen, 23,6 pGt. Mort.; im 2. Quartal betrug diese 
Ziffer 10,4, in den letzten drei Monaten 1869 5,6 pGt. Mt 
In Garlsruhe dagegen wurden durch Durchfall und Brech- 
durchfall der Kinder im 2. Quartal 1869 5,3, im 3. 22,7 
und im 4. Quartal 7,0 pGt. aller Todesfalle bewirkt In 
Altona ist die Reihenfolge nach den einzelnen Vierteljahren 
im 2. Quartal 1869 2,5, im 3. 1,15, im 4. Vierteljahr 1869 
3,8 und zuletzt 6,6 pGt. Mt. Jede dieser Städte stellt dem- 
nach einen eigenartigen Boden für die Begünstigung dieser 
für das erste Eindesalter so gefährlichen Krankheit dar. 
Von den übrigen Städten zeigt nur Stettin insofern eine 
grosse Aehnlichkeit mit Berlin, weil dort wie hier die 
höchste Sterblichkeit in Folge von Brechdurchfall, 20,9 pCt. 
Mt., in den Hochsommer fällt, während dieselbe im 4. Quartal 
nur 4,9 und im 1. Quartal 1870 3,2 pGt. beträgt. 

2) Keuchhusten. In den angeführten Städten sind 
im Ganzen 171 Todesfälle als durch diese Krankheit be- 
wirkt notirt. Es kamen in Danzig 9, in Kiel 3, Hamburg 
16, Altona 4, Berlin 52, Breslau 6, Darmstadt 5, Mainz 7, 
Barmen 11, Köln 8, Karlsruhe 5 und Wien 38 derartiger 
Todesfälle vor ; in den übrigen Städten waren die Fälle nur 
vereinzelt Die Procentzahlen sind für Barnien 2,3, Darm- 
stadt 2,1, Kiel und Karlsruhe 2,0 und Hamburg, Berlin und 
Wien 0,9 pGt Mt. 

3) Bräune und Diphtherie. Eine ungleich höhere 
Wichtigkeit nehmen diese Affectionen in Anspruch. Beide 
werden hier zusammengefasst, weil ihre Trennung in sta- 
tistischen Tabellen nicht mit Sicherheit durchführbar ist. 
Im Ganzen sind 445 derartiger Todesfalle oder 2,2 pCt. Mt 
nötirt. Im 3. Quartal 1869 war diese Zahl Z^b und im 



Beiträge zor medizinischen Statistik von Deotschland, 311 

4. Quartal 1869 2,9 pGt. Mt. In den einzelnen Städten sind 
folgende Zahlen angegeben: in Königsberg 22, in Dan2ig 
6, in Hamburg 31, in Altona 21, in Berlin 213, in Pots- 
dam 14, in Breslau 12, in Dresden 27, in Frankfurt a. M. 

5, in Barmen 11^ in Köln 13 und in Wien 59 Todesfälle. Die 
relativ grösste Zahl betrifft wie im vorangehenden Viertel- 
jahF (4,5) Potsdam 4,9. In Berlin zeigen die aufeinander 
folgenden letzten 4 Vierteljahre unter 100 Verstorbenen 
4,4, 3^9, 4,5 und 3,9 pCt. an Bräune und Diphtherie Ver- 
storbene. Von den anderen Städten sind nur noch Altona 
mit 3,S, Königsberg mit 2,6, Dresden mit 2,5 und Barmen 
mit 2,3 pCt. Mt. zu erwähnen; in den übrigen Lokalitäten 
bildet die Zahl der an Bräune und Diphtherie Verstorbenen 
nav einen sehr kleinen Procentsatz. 

4) Von den akuten Exanthemen boten die Masern in 
der Zeit vom 1. April 1869 bis letzten März 1870 ein be* 
sonderes Interesse, weil es möglieb war, durch die wöchent- 
lichen Mittbeilungeo eine Epidemie näher zu verfolgen, die 
von Kiel anfangend den Nordwesten und später den west«» 
liehen Theil Deutschlands durchzog. Im 1. Quartal 1870 
sind in den genannten Städten noch 116 Todesfälle durch 
Masern bewirkt, 0,5 pGt der Gesammtsterblichkeit. Vor- 
zugsweise betroffen erscheint nur no^h Stettin mit 13 Fällen, 
2,8 pGt. Mt. Im 2. Quartal 1869 wurden dagegen in Kiel 
49 Todesfälle, 21,8 pGt. Mt., im 3. Quartal in Hamburg 
102 Fälle, 6,9 pCt. Mt, und in Darmstadt 35 Todesfälle, 
endlich im 4. Quartal 1869 in Garkruhe 53 Todesfälle (23 
pCt. Mt.) und in Stettin 21 Todesfälle an Mafsern notirt, — 
Zahlen, welche bei der geringen Mortalität der Krankheit 
die Grösse ihrer epidemischen Verbreitung andeuten. 

5) Dm Scharlachfieber bewirkte im Ganzen in den 
angefährlon Städten 172 Todesfälle oder 0^ pGt. Mt. Am 
meisten betroffen, erscheinen Kiel mit 13, Hamburg mit 58 



312 Beitr&ge zar medizinischen SUtistik Ton Dentschland. 

(3,2 pCt.) und Altona mit 17 (2,7 pCt.) Todesfällen. Im 
2. Quartal 1869 betrug die Zahl der Sterbefälle an Scharlach 
im Ganzen 130 oder 0,9 pCt., wovon auf Hamburg 17 uad 
auf Köln 27 kommen; im 3. Quartal im Ganzen 187 oder 
1,2 pGt., davon in Barmen 49 (9,3 pCi), in Frankfurt a. M. 
20 (4,5 pCt.), und im 4. Quartal zusammen 135 oder 0,9 
pCt., davon in Barmen 19 Fälle; die übrigen kamen ver- 
einzelt vor. 

6) In der hier betrachteten Periode waren die Blat- 
tern nur in Frankreich in grosser Ausdehnung verbreitet; 
in der ersten Hälfte des Jahres 1870 sind in Paris allein 
2734 derartiger Sterbefälle notirt, von denen auf das 1. Vier- 
teljahr 937 kamen. In den deutschen Städten starben im 
Ganzen in den ersten 3 Monaten 138 Personen oder 0,6 
pGt. Mt. ; auf Wien kommen davon 65 Todesfälle, 1,4 pGt., 
auf Berlin 49 oder 0,8 pGt. und auf Breslau 10 Todesfälle 
oder 0,7 pGt. Mt. Im 2. Quartal 1869 betrug die Gesammt- 
summe 180 Todesfälle oder 1,2 pGt. Mt., wovon 92 auf 
Breslau trafen; im 3. Quartal starben im Ganzen 165 oder 
0,9, und im 4. Quartal 1869 nur 58 Personen, wovon auf 
Berlin 41 und auf Breslau 11 kommen. Die grosse Epi- 
demie, welche gegenwärtig im nördlichen Deutschland 
herrscht, nimmt ihren Anfang erst im Januar 1871. 

7) Der Gang des Unterleibstyphus stellt sich im 
Durchschnitt für die deutschen Städte nach den Todesfällen 
folgendermassen dar: Im 3. Quartal 1869 finden sich in 
16 Städten 556 Todesfälle notirt oder 3,0 pCt. der Ver- 
storbenen, in Wien 232 oder 5,7 pCt, in Berlin 120 oder 
2,1 pCt, in Breslau 36 oder 2,2 pCt etc.; im 4. Quartal 
1869 in 18 Städten 501 oder 2,1 pGt. Mt. , und zwar in 
Wien 210 oder 5 pCt, in Berlin 126 oder 2,9 pCt., in 
Hamburg 29 oder 2 pCt., in Breslau 27 oder 2 pCt. und 
in Stettin 15 oder 3 pCt.; im 1. Vierteljahr 1870 endlich 



Beiträge znr medizinischen Statistik von Deutschland. 313 

in 18 Städten 465 Todesf&lle oder 2,3 pCt. der Verstorbenen, 
von denen auf Berlin 124 oder 2,2 pGt., auf Wien 118 oder 
2,6 pGt., auf Hamburg 41 oder 2,3 pGt. und auf Breslau 
37 oder 2,5 pGt. Mt. kommen. — Die Gesetzmässigkeit im 
Gange der Krankheit nach den Jahreszeiten tritt in diesen 
Zahlenreihen weniger hervor, weil die Monate nicht nach 
den natürlichen Jahreszeiten zusammengestellt werden konn- 
ten. Immerhin aber deuten diese Zahlen auf die Gesichts- 
punkte, von wo aus der Zusammenhang der Krankheit mit 
gewissen Lokalitäten hinreichend beurtheilt werden kann. 

Von den nicht epidemischen Krankheiten sind, wie 
oben angedeutet, nur wenige der statistischen Untersuchung 
zugänglich, weil sich die Grösse der Fehlerquellen aus den 
Urzahlen in einer nicht zu controlirenden Weise steigert. 
Um indessen annäherungsweise die Verbreitung einiger der 
wichtigsten Krankheiten darzuthun, mögen noch folgende 
hier angeführt werden. 

8) Phthisische Krankheiten sind im 1. Quartal 
1870 in 18 Städten bei 4127 Todes&llen als Todesursache 
angef&hrt, oder 20,5 pGt. Mt. Die Hauptzahl, 1488 Fälle 
oder 33,2 pGt. Mt, kommt auf Wien. In Barmen sind 
132 Fälle oder 27,9 pGt. Mt, in Mainz 78 oder 22,9 pGt, 
in Stettin 102 oder 21,9 pGt, in Frankfurt a. M. 102 oder 
21,5 pGt, in Garlsruhe 52 oder 21,3 pGt, in Köln 177 
oder 20,5 pGt, in Dresden 221 oder 20,4 pGt, in Darm- 
stadt 44 oder 19,1 pGt., in Berlin 984 oder 17,4 pCt, in 
Kiel 23 oder 15,6 pGt, in Hamburg 268 oder 15,1 pGt, 
in Altona 88 oder 14,2 pGt, in Breslau 193 oder 13,3 
pGt., in Potsdam 35 oder 12,4 pGt., in Königsberg 90 oder 
10,8 pGt, Danzig 44 oder 6,9 pCt. und in Weimar 6 Todes- 
&lle oder 6,3 pGt Mt. angegeben. Die Gesammtsumme der 
Todesfälle in Folge von phthisischen Krankheiten betrug 
im 2. Quartal 1869 in 15 Städten 2018 oder 14,1 pCt Mt, 



314 Beiträge zur medizinischen Statistik yon Deutschland. 

im 3. Quartal in 16 Städtea 2840 oder 18 pGt. Mt. und im 
4. Quarta] 2942 oder 18 pCt. Mt Am höchsten erscheint 
dauernd Wien betroffen. Auch sonst ist die Reihenfolge 
der Städte nach dem Procentsatz der an „'Schwindsucht^ 
Verstorbenen in den einzelnen Quartalen nahezu dieselbe. 

9) Im Anschluss an die phthisischen Krankheiten ist 
es wichtig, die Zahlen der in Folge von Entzündungen 
der Athmungsorgane Verstorbenen zu betrachten. Nach 
den vorliegenden Mittheilungen starben hierdurch in 18 
Städten 2242 Personen oder 11,1 pGt. Mt. Im 3. Quartal 
1869 erreichte diese Zahl nur 5,7 pGt. und im 4. Quartal 
1869 5,1 pGt. Die höchste relative Zahl der Sterbefälle 
im 1. Quartal 1870 findet sich in Königsberg, wo 20,8 pCt. 
Mt. oder 173 derartiger Fälle notirt sind; Darmstadt zeigt 
47 Fälle oder 20,4 pGt., Kiel 26 Fälle oder 17,6 pCt, 
Frankfurt a. M. 73 Todesfälle oder 15,4 pGt, Hamburg 
223 Fälle oder 12,5 pGt., Berlin 677 Todesfälle oder 12,0 
pGt. Mt. ; ebensoviel betragen die in Mainz vorgekommenen 
41 Todesfälle. In Wien starben 529 Personen oder 11^ 
pCt, in Altena 73 oder 11,7 pGt., in Barmen (54 Fälle) 
und in Garlsruhe (28) 11,3 pGt., in Weimar 11 Fälle oder 
11,5 pGt, in Stettin 44 oder 9,4 pGt., in Danzig 60 oder 
9,3 pGt., in Potsdam 23 oder 8,1 pGt., in Breslau 98 oder 
6,5 pGt, in Dresden 65 oder 6,0 pGt. und in Köln 32 oder 
3,7 pGt. Ein Vergleich mit den übrigen Jahreszeiten zeigt 
mannigfache Verschiedenheiten; namentlich sind dtie See-* 
Städte in den Wintermonaten ungleich stärker von Todes- 
fällen in Folge von Entzündungen der Respirationsorgane 
betroffen als die Binnenstädte. 

10) Die Todesfälle durch Herzkrankheiten zeigen 
folgende Verhältnisse: In 18 Städten sind 439 derartiger 
Fälle notirt, welche 2,1 pGt. der Gesammtsterblichkeit dar- 
stellen. Die höchste relative Ziffer zeigt Mainz, wo 20 Todes- 



Beiträge zur medizioischen Statistik von Deutschland. 315 

fälle durch Herzleidea bedingt sind oder 5,8 pGt. Mt. Dann 
folgt Carlsruhe mit 14 Fällen oder 5,7 pCt , Frankfurt a. M. 
23 oder 4,8 pCt., Potsdam 3,1 pCt., Wien mit 117, Köln 
mit 23 und Danzig mit 17, sämmtlich 2,6 pGt. der Ver- 
storbenen, Hamburg mit 42 oder 2,3 pGt., Königsberg 19 
oder 2,2 pGt., Altena 12 oder 1,9 pGt, Berlin und Breslau 
je 1,7 pCt., Dresden 16 und Barmen 7 oder 1,4 pGt. Mt. In 
Stettin sind 6, in Darmstadt und Weimar je 5 und in Kiel 
3 Todesfälle vorgekommen. - Die Gesammtsumme der im 
2. Vierteljahr 1869 an Herzleiden Verstorbenen betrug 1,9 
pGt. , im 3. Quartal 1,8 pGt. und im 4. Quartal ebenfalls 
1,8 pCt. sämmtlicher Todesfälle. 

11) Krebsleiden sind als Todesursache in 17 Städten 
(aus Wien liegen keine Angaben vor) bei 328 Personen 
oder 1,6 pCt. der Verstorbenen angegeben, und zwar in 
Königsberg 15, Danzig 3, Stettin 10, Kiel 5, Hamburg 49, 
Altena 18, Berlin 96, Potsdam 7, Breslau 52, Dresden 26, 
Weimar 2, Frankfurt a. M. 18, Darmstadt 4, Mainz 10, 
Barmen 3, Köln 2 und Carlsruhe 8 Mal. Im 2. und 3. 
Quartal 1869 betrug die relative Zahl der Krebskrankheiten 
1,4 pCt. und im 4. Quartal 1,8 pCt aller Verstorbenen. 

12) Plötzliche Todesfälle sind im 1. Quartal 1870 
in 18 Städten bei 863 Personen notirt oder 4,0 pCt. der 
Gesammtsumme. Die relativ grösste Zahl mit 8,1 pCt. oder 
23 Fällen zeigt Potsdam und Hamburg mit 7,6 pCt. oder 
136 Fällen. Dresden hat 6,5 pCt. oder 71 Fälle, Darmstadt 
6,0 pCt. oder 14, Berlin 5,2 pCt. oder 297, Weimar 5 Fälle, 
Stettin 4,9 pCt. oder 23, Breslau 4,5 pCt. oder 65, Frankfurt 
a. M. 21 und Köln 38 Fälle oder je 4,4 pCt, Königsberg 4,2 
pCt. oder 35, Mainz 4,1 pCt. oder 14, Carlsruhe 4,0 pCt. oder 
10, Kiel 4 Fälle, Danzig 2,5 pCt. oder 16, Altena 1,7 pCt. 
oder 11, Wien 1,6 pCt. oder 74 und Barmen 1,2 pCt. oder 
6 Fälle. Im 2. Quartal 1869 sind 4,1 pCt, im 3. Quartal 



316 Beitr&g« sar media iDincbea SUtistik Ton DentBchland. 

3,9 pCt. and im 4. Quartal 1869 3,4 pCt. aller Todesmile 
als aplCtztiche" oder „Schlagflu»»" bezeichnet. 

^°^ Aus nahe liegenden GrQndeo, die meist in der 
keit der Trennung liegen, sind alle Todesfälle durah 
Bwalt zusammengcfasst. Während in den Monaten 
Juli 1869 im Gänsen 2,3 pGt. aller Todesßüle 
nord oder als Unglficksfölle durch äussere Gewalt 
; sind, beträgt ihr« Zahl im 3. Quartal 2,8 pGt., 
rtal 1869 2,6 pCt. und im 1. Quartal 1870 1,3 pCt 
hierbei nicht aufgenommea). Im letzteren kamen 
138 oder 2,2 pCt., Hamburg 53 oder 2,9 pGt., 
2 oder 1,7 pGt., Dresden 27 oder 2,5 pGt., Kfl- 
18 oder 2,1 pCt., Frankfurt a. M. 18 oder 3,7 pCt., 
r oder 2,6 pCt., Stettin 15 oder 3,2 pGt., Sola 15 
pGt, Mainz 8 oder 1,4 pGt., Potsdam 8 oder 
Barmen 7 oder 1,4 pCt., Altena 6 oder 0,9 pCt 
5, in Carlsmhe 3 und in Weimar 2 Fälle. 



rlortalität in den ersten drei Monaten 1870 bietet 
in den einzelnen Städten folgendes Bild : 
L Königsberg wurden auf 1000 Einwohner ge- 
nnd starben 7,7 oder pr. a. 33,2 p. M. (im 2, Vier- 
69 betrug die Zahl 8,3, im 3. 6,3 und im 4. 5,4). 
lichkeit der ersten 5 Lebensjahre betrug auf 100 
üoder*) (die Reductioa auf die G eburtszahlen ist 
t tbunlicb) 2,6. — Als hauptsäcblichBte Todes- 
figuriren unter 100 TodesföUen Enteandungen der 
Organe bei 20,8, Phthisis bei 10,8, Durchfall der 
n 5,7, plötzliche Todes^le bei 4,2, Dnterleibs- 

Vergleicbszahlen der Lebenden sind Dach der oben ange- 
<eit von P/tifftr, .Uebersicbt der Bevölkerung von 2(i deut- 
ten uach Alter ond Geschlecht*, zusammen gee teilt. 



Beiträge zur medizinischen Statistik von DeatschUnd. 3t7 

typhus bei 2,9, Bräune und Diphtherie bei 2,6, Herzleiden 
bei 2,2, Krebsleiden bei 1,8; dorch Selbstmord und Unr 
glücksfälle starben 2,1 pGt. 

2) Dauzig zeigt eine Geburtsziffer von 9,6 und eine 
Sterblichkeit von 7,0 der Einwohner oder pn a. 28,0 p. M. 
(im 2. Vierteljahr 1869 betrug die Zahl 5,2, im 3. 6,4 und 
im 4. 6,6). Die Sterblichkeit in den 5 ersten Lebensjahren 
betrug auf 100 lebende Kinder 2,9. — Als die veichtigsten 
Todesursachen erscheinen unter 100 Todesfällen: Entzün- 
dungen der Athmungsorgane bei 9,3, Phthisis bei 6,9, 
Durchfall der Kinder bei 3,1, Herzleiden bei 2,6, plötzliche 
Todesfälle bei 2,5, Typhus abdom. bei 2,2, Keuchhusten 
bei 1,4 und Selbstmord und Unglücksfälle bei 2,6. 

3) Stettin zeigte eine Todesziffer von 6,2 auf 1000 
Einwohner oder 24,8 pr. a. (Ebenso gross war sie im 
3. und 4. Vierteljahr 1869.) Die Sterblichkeit der ersten 5 
Lebensjahre betrug auf 100 lebende Kinder 2,7. -- Die 
Hauptzahlen der Todesursachen fallen auf: Phthisis mit 21,9, 
Entzündungen der Athmungsorgane mit 9,4, plötzliche Todes- 
fälle mit 4^9, Durchfall der Kinder mit 3,2, Masern mit 2,8, 
Typhus abdom. und Krebb$leiden mit je 2,1, Herzleiden mit 
1,2 und Selbstmord und Unglücksfälle mit 3,2 pCt. Mt 

4) In Kiel sind auf 1000 Einwohner 5,1 oder nach der 
Jahresrate 20,4 Todesfälle notirt (im 2. Vierteljahr 1869 6,8, 
im 3. 5,2 und im 4. 4, 1 ). Die Todesziffer der ersten 5 
Lebensjahre auf 100 lebende Kinder ist 1,9. — Die wich- 
tigsten Todesursachen waren Entzündungen der Athmungs- 
organe bei 17,6, Phthisis bei 15,6, Scharlach 8,8 ^ Typhus 
abdom. und Krebsleiden bei 3,4, plötzliche Todesfälle bei 
2,7, Herzleiden bei 2,0 und Selbstmord und Unglücksfalle 
bei 3,4 pCt. Mt. 

5) Hamburg zeigte 9,6 Geburten und 7,5 auf je 1000 
Einwohner oder jährlich 30,0 (im 2. Quartal 1869 7,2, 



318 BeitrRge mr medisiniachen Statistik Ton Deutschland. 

im 3. 6,6 und im 4. 6,2)- Als hauptsächlichste Todes- 
ursachen erscheinen: Phthisis mit 15,1, Entzündungen der 
Athmungßorgane mit 12,5, plötzliche Todesfälle mit 7,6, 
Durchfall der Kinder mit 3,6, Scharlach mit 3,2, Krebs- 
leiden mit 2,7, Typhus abdom. und Herzleiden mit 2,3, 
Bräune mit 1,7 und Selbstmord und Unglücksfälle mit 2,3 
pGt. Mt. 

6) In Altona starben 8,2 pr. m, oder 32,8 pr. a. 
(im 2. Vierteljahr 8,7, im 3. 6,6 und im 4. 6,9). In den 
ersten 5 Lebensjahren starben auf 100 lebende Kinder 3,9. 
Als wichtigste Todesursachen sind notirt: Phthisis bei 14,2, 
Entzündungen der Athmungsorgane 11,7, Durchfall der 
Kinder 6,6, Bräune und Diphtherie 3,3, Krebsleiden 2,9, 
Scharlach 2,7, Typhus abdom. 2,4 und Selbstmord und Un- 
glücksfalle 0,9 pGt. Mt. 

7) In Bremen kamen 9,7 pr. m. Geburten und 8,2 
oder pr. a. 32,8 Todesfälle von Weitere Angaben fehlen. 

8) In Berlin betrug die Geburtsziffer auf je 1000 Einw. 
103 und die Ziffer der Todesfälle 7,0 oder pr. JaJhr 28,0 
(im 2. Quartal 1869 8,3, im 3. 8,0 und im 4. 6,6). Auf 
die ersten 5 Lebensjahre kommt eine Sterblichkeit von 
3,5 pCt. der Lebenden. Die Hauptzahlen der Todesursachen 
fallen auf: Phthisis mit 17,4, Entzündungen der Athmungs- 
organe 12,0, plötzliche Todesfälle 5,2, Durchfall der Kinder 
4,2, Bräune und Diphtherie 3,9, Typhus abdom. 2,2, Herz- 
leiden 1,7, Krebsleiden 1,6, Masern 1,1, Keuchhusten 0,9 
und Selbstmord und Unglücksfalle mit 2,2 pGt. Mt. 

9) In Potsdam war die Geburtsziffer 6,0 und die 
Mortalität 6,2 pr. M. oder jährlich 24,8 p. M. (im 4. Viertel- 
jahr 1869 betrug sie 3,5). Die Sterblichkeit der ersten 5 
Lebensjahre erreichte auf je 100 lebende Kinder dieses 
Alters 2,3. — Unter je 100 Verstorbenen ist als Todes- 
ursache angegeben: Phthisis bei 12,4, Entzündungen der 



u 



Beiträge zur medizinischen Statistik von Deutschland. 319 

Athmungsorgane und plötzliche Todesfälle bei je 84 pCt., 
Diphtherie und Group .bei 4,9, Herzleidea bei 3,1, Selbst- 
mord und Unglücksfälle bei 2,7, Erebsleiden bei 2,5 und 
Unterleibstyphus bei 1,9. 

10) In Breslau wurden 11,1 Geburten und 7,3 oder 
pr. a. 29,2 Todesfälle auf je 1000 Einwohner notirt (im 
2. Quartal 1869 10,4, im 3. 8,6 und im 4. 7,3), In den 
ersten 5 Lebensjahren kommen auf je 100 lebende Kinder 
2,9 Verstorbene. — Als die wichtigsten Todesursachen 
figuriren: Phthisis bei 13,3, Entzündungen der Athmungs- 
organe 6,5, plötzliche Todesfälle 4,5, Durchfall und Brech- 
durchfall der Kinder 3,8, Krebsleiden 3,5, Unterleibstyphus 
2,5, Herzleiden 1,7, Bräune und Diphtherie 0,8 und Selbst- 
mord und Unglücksfälle bei 1,7 pGt. Mt 

11) Dresden hatte auf 1000 Einwohner 8,9 Geburten 
und 6,1 oder pr. a. 24,4 Todesfälle (im 2. Vierteljahr 1869 
7^3, im 3. 7,2 und im 4. 6,1). Die Sterblichkeit der ersten 
5 Lebensjahre auf je 100 lebende Kinder betrug 2,7, — 
Die hauptsächlichsten Todesursachen waren phthisische Krank- 
heiten bei 20,4, plötzliche Todes&Ue bei 6,5, Entzündungen 
der Athmungsorgane bei 6,0, Bräune und Diphtherie bei 2,5, 
Krebaleiden bei 2,4, Typhus abdom. bei 1,6, Herzleiden bei 
1,4, Durchfall der Kinder bei 0,9 und Selbstmord und Un- 
glücksfälle bei 2,5 pCt Mt. 

12) In Weimar starben von je 1000 Einw. 6,3 oder 
pr a. 25,2 p. M. (im 2. Vierteljahr 1869 5,9, im 3, 4,8 und 
im 4. 4,7). Von je 100 lebenden Kindern in den ersten 
5 Lebensjahren starben 2,0. — Als wichtigste Todes- 
ursachen wurden notirt: Entzündungen der Athmungsorgane 
bei 11,5, Durchfall der Kinder und Phthisis je 6,3, Schar- 
lach , Herzleiden und plötzliche Todesfälle je 5,2 , Typhus 
abdom 4,2 und Selbstmord und Unglücksfälle 2,1 pGt. Mt. 



320 Beiträge znr medizinischen Statistik Ton Deutschland» 

13) Frankfurt a. M. zeigte 8,5 Geburten und 5,8 oder 
pr. a. 23,2 Todesfälle auf je 1000 Einw. (im 2. Quartal 
1869 5,8, im 3: 5,6 und im 4. 4,6). Die Mortalität der 
ersten 5 Lebensjahre auf je 100 lebende Kinder betrug 2,0. 
Die hauptsächlichsten Todesursachen waren: Phthisis bei 21,5, 
Entzündungen der Athmungsorgane bei 15,4, Herzleiden 4,8, 
plötzliche Todesfälle 4,4, Erebsleiden 3,7, Typhus abdom. 
1,8 und Selbstmord und Unglücksfälle bei 3,7 pGt. Mt. 

14) In Darmstadt starben 6,2 pn M. oder 24,8 p. M. 
pr. a. (in den 3 vorangehenden Vierteljahren war die Sterb- 
lichkeit i5,6 pr. m.j Von je 100 lebenden Kindern unter 
5 Jahren starben 2,1. Die Hauptzahlon der Todesfälle 
kamen auf Entzündungen der Athmungsorgane mit 20,4, 
Phthisis mit 19,1, plötzliche Todesfälle mit 6,0, Keuch- 
husten und Herzleiden mit je 2,1, Krebsleiden und Schar- 
lach mit je 1,7 und Selbstmord und Unglücksfälle mit 
2,6 pCt. Mt. 

lö) Mainz zeigt auf je lÖOO Einw. 10,0 Geburten und 
6,6 oder pr. a. 26,4 p. M. Todesfälle (im 4. Vierteljahr 1869 
7,2). Auf je 100 lebende Kinder im Alter bis 5 Jahren 
betrug die Sterblichkeit 3,1. Als die wichtigsten Todes- 
ursachen sind angegeben: Phthisis bei 22,9, Entzündungen 
der Athmungsorgane bei 12,0, Herzleiden bei 5,8, plötz- 
liche Todesfälle bei 4,1, Durchfall der Kinder bei 3,2, 
Krebsleiden bei 2,9, Typhus abdom. bei 2,6 und Selbstmord 
und Unglücksfälle bei 1,4 pGt. Mt. 

16) Barmen hatte auf 1000 Einwohner 12,9 Gebur- 
ten und 6,6 oder pr. a. 26,4 Todesfälle (im 3. Quartal 
1869 6,6, im 4. 8,1). Die Mortalität der ersten 5 Le- 
bensjahre auf je 100 lebende Kinder betrug 2,1. Die 
Hauptzahlen der Todesursachen fallen auf: Phthisis mit 
27,9, Entzündungen der Athmungsorgane 11,3, Durchfall 
der Kinder, Keuchhusten, Bräune und Diphtherie und Typhus 



Beiträge fur medisinlBeheD Statistik Ton Deutschland. 521 

abdom. je 2,3, Herzlei<^n 1,4, plötzliche Todesfälle 1,2, 
Selbstmord und Unglücksmlle 1^4 pGt. Mt. 

17) In Köln betrug Mie GeburtsziflFer 10,1 und die 
Ziffer der Todesfälle 6,5 auf 1000 Einw. oder pr. a. 26,0 
(im 2. Vierteljahr 1869 7,5, im 3. 7,1 und im 4. 6,1), 
Von je 100 lebenden Kindern in den ersten 5 Lebensjah- 
ren starben 2,9. Als wichtigste Todesursachen sind notirt: 
Phthisis 20,5, plötzliche Todesfälle 4,4, Entzündungen der 
Athmungsorgane 3,7, Herzleiden 2,6, Bräune und Diphtherie^ 
Scharlach und Unterleibstyphus mit je 1,5, und Selbstmord 
und Unglücksfälle mit 1,7 pCt. Mt. 

18) In Garlsruhe starben 7,6, pr. 1000 Einw. oder 
30^4 pr. a. (im 2. Quartal 18t)9 5,9, im 3. 5,5 und im 
4. 6,6). Die Mortalität der ersten 5 Lebensjahre auf je 
100 lebende Kinder betrug 3,2. Als hauptsächlichste 
Todesursachen sind angegeben: die phthisischen Krankhei- 
ten bei 21,3, Entzündungen der Athmungsorgane bei 11,3, 
Durchfall der Kinder bei 8,1, Herzleiden bei 5,7, plötzliche 
Todesfälle bei 4,0, Krebsleiden bei 3,2, Keuchhusten und 
Typhus abdom. bei je 1^,0, und Selbstmord und Unglücks- 
fälle bei 1,4 pGt. Mt. 

19) In Wien war die Sterblichkeit auf je 1000 Einw. 
7,1 oder pr. a. 28,4 (im H. Quartal 1869 6,5 und im 
4. 6,3). Die Hauptzahlen der Todesursachen fallen auf 
Phthisis bei 33,2, Entzündungen der Athmungsorgane bei 
11,8, Durchfall der Kinder bei 6,3, Herzleiden und Typhus 
abdom. bei je 2,6, plötzliche Todesfälle 1,6, Bräune und 
Diphtherie bei 1,3, Keuchhusten 0,8 und Scharlach 0,2 pGt. 
Mt«; Krebsleiden sowie Selb^itmord und Unglücksfälle sind 
nicht angegeben. 

Die Grenzen, welche dieser kurzen Zusammenstellung 
gesteckt sind, gestatten kein weiteres Eingehen auf die 

ViarttUahrMelur. f. gwr. M«d. N. F. XY. S. 21 



B82 Bdltitg« int ttieditinisebeD Stotisttk von Dentsehland. 

dinselneä Punkte. Btta Vergleich tnit dön vorangehenden 
Perioden zeigt einen entschiedenen Fortschritt in Betreff 
der Ton einheitlichereb Grundsätzen ausgehenden Sammlang 
des Materials; die immerhin aber noch sehr zahlreichen 
Lücken tind ünebenheiteki fordern noch zu einer längeren 
and systematischen gemeinschaftlichen Arbeit auf. Die üf- 
zablen selbst entziehen sich jetzt noch einer eingehenden 
Kritik, obgleich von vornherein gemäss dem hohen wissen* 
schaftlich eki Standpunkte der deutschen Aerzte jedenfalls 
bessere Angaben fBr die medizinische Statistik zu erwarten 
sind, als sie irgendwo geliefert werden können. Ein enges 
Zusammengehen mit der klinischen Medizin und eine stete 
vergleichende Bearbeitung lassen für die weitere Arbeit die 
besten Resultate erwarten. 



k 



15. 

Correspondenzeiif 



St. Petersburg. Gegen Ende Mai hat sich die Cholera wie- 
demm etwas stärker gezeigt. Die Gesammtzahl der seit dem Auftreten 
derselben im Angnst v. Js. bis znm 17. Juni a. c. Erkrankten be- 
trug 4693 (3085 M. und 1608 Fr.), die der Genesenen 2619 (1699 M. 
und 920 Fr.) und die der Gestorbenen 1884 (1279 M. und 605 Fr.). 
Die Führer der im hiesigen Hafen befindlichen deutschen Schiffe sind 
für sich und die Mannschaften ihrer Schiffe zur Vorsicht aufgefordert 
worden. Ein Seemann erkrankte an der Cholera und wurde ins Ho- 
spital translocirt. 

Seit dem 1. Juli ist die Krankheit wieder im Zunehmen. Bis 
zum 29. August waren im Ganzen erkrankt 6072 (4066 M., 2006 W.). 
Davon genasen 3042 (1991 M. und 1049 W.). Als gestorben sind ver- 
zeichnet worden 2485 (1726 M. und 759 W.). (Nach amtlichen Nach- 
richten.) 

Bvjiikdere. Der ohnehin schon bedenkliche Gesundheits- 
zustand in Persien hat sich nach den letzten Nachrichten in beun- 
ruhigender Weise vermehrt. Die Cholera wüthet mit unverminderter 
Heftigkeit bereits seit mehreren Monaten in dem von einer über das 
ganze Reich sich ausdehnenden Hungersnoth bedrängten Lande, vor- 
züglich in den Hauptstädten Teheran, Schiraz und Ehum. Zu 
dieser Epidemie hat sich der Typhus gesellt und nadi den neuesten 
Berichten eine pestartige Krankheit, bei welcher die Beulen, das 
charakteristische Symptom der asiatischen Pest, auftreten. Ihre ersten 
Spuren zeigten sich in Bana, einem vier Tagereisen von der türki- 
schen Grenze gelegenen Distrikte. Der Gesundheitsrath hat in Folge 
dessen die Ueberwachungsmassregeln an der Grenze verdoppelt, um 
die Provinz Bagdad vor der Importation Jener Epidemie zu schützen. 
(Nach amtlichen Nachrichten.) 

9 an dg. Auf 3 voja Königsberg in Ne^fahrwasser angekom- 
menen Sohiffesi hatoeo «iGh 4 an der asiatischen Qbolera erkrankte Per- 

21* 



324 OorrespondeDsen. 

sonen befanden, von denen einer gestorben igt. Ansserdem ist in 
Snceaseam frischen Haff im Kreise Eibing 1 Choierafall am 10. Aag. 
amtlich constatirt worden. 

Seit dem Jahre 1848 hat in Danzig bereits 9 mal die Cholera ge- 
herrscht nnd jedesmal ist zwischen dem Zeitpunkt der ersten Ein- 
schleppnng der Krankheit und dem wirklichen Ausbrach der letzteren 
immer ein Zeitraum von mehreren Wochen verstrichen. Je später 
jedoch im Jahre und namentlich je später nach dem Monat Juli die 
Epidemie bisher aufgetreten, von um so kürzerer Dauer ist sie er- 
schienen. 

In Eibing waren bis zum 23. August 19 erkrankt, wovon 14 
starben. In Danzig sind vom 23. bis 24. Aug. 3 neue Gholerafalle 
vorgekommen. 

Koilgsberg. Vom 26. Juli bis zum 16. August sind 399 Per- 
sonen von der Cholera ergriffen worden und 187 daran gestorben. Im 
Ganzen sind in der Stadt vom 26. Juli bis 31. Aug. 1791 Personen 
erkrankt, 837 gestorben und 954 genesen. In den Kreisen Eylau, 
Königsberg, Labiau, Fischhausen, Pr. Holland und beson- 
ders Wehlau erkrankten 251, starben 121 und genasen 130. Hiervon 
kommen 138 Erkrankungsfälle auf die Stadt Wehlau, wovon 53 
starben und 85 genasen. (Nach amtlichen Nachrichten.) 

fiinbiBien. In der ersten Hälfte des Monats Juli trat die 
Cholera in der 3 Meilen von der preussischen Grenze entfernten 
Kreisstadt Wilkowiski auf, nachdem sie bereits seit Anfang Mai in 
dem etwa 1 Meile von der diesseitigen Landesgrenze entfernt gelege- 
nen Grenzstädtchen Wirballen vereinzelt, jedoch mit meist schnell 
tödtlichem Verlaufe vorgekommen war. In der gegen 24 Meilen von 
der Landesgrenze entfernten Stadt Wilna herrschte diese Krankheit 
seit länger als 4 Wochen und soll täglich durchschnittlich 10 Menschen 
hinwegraffen. 

Am 13. Juli zeigte sich im Kreise Pill k allen der erste Fall 
von Cholera in dem am Grenzflusse Szeszappe belegenen Gute 
Sziunken und folgten hier in demselben Hause, jedoch in 2 ver- 
schiedenen Familien, nach einander bis zum 29. Juli 7 Erkrankungs- 
fälle. Die Krankheit wurde durch eine Frau eingeschleppt, welche 
auf dem ^ Meilen entfernten Gute Doristhal wohnt und zur Pflege 
ihrer erkrankten Tochter nach Czumken geeilt war. Auf diesem 
Gute erkrankten nach einander 5 Personen in 2 Häusern. 

Ausser im Kreise P i 1 1 k al 1 e n ist die Cholera auch in den Kreisen 
Inster bürg, Bagnit, Lykund besonders heftig im Kreise letz ko 
ausgebrochen*). 



*) Der zweite in Berlin vorgekommene Cholerafall betraf einen jadi- 
schen Kaufinann aus Lyk, welcher auf der Ostbahn ankam und In der 



OorreBpondenzen. 325 

CfüHbiiiiieii. Eine Verfügnng der E5nigl. Regiening vom 
18. Novbr. 1864 ordnet an, dass die Ortsbehörden, da die Besteuerung 
der Hunde eine communale Angelegenheit ist und nicht anbefohlen 
werden kann, ein genaues Verzeichnlss der in ihren Ortschaften be- 
findlichen Hunde zu führen und darauf zu achten haben, dass die 
Besitzer ihren Hunden Halsbänder mit genauer Bezeich- 
nung des Namens und Wohnortes umlegen. Der Vortheil 
hiervon springt in die Augen. Die Besitzer werden zur Vermeidung 
von Strafen auf ihre Hunde mehr achten und im Falle des Entlaufens 
und der Tödtung des Hundes wird sich annähernd der Weg bestim- 
men lassen, den derselbe genommen hat. Für den Fall, dass das 
Thier wuthkrank war, wird die Massregel des Ankettens der Hunde 
innerhalb des von dem tollen Hunde durchstrichenen Bezirks mit 
grosserer Sicherheit angeordnet werden können, als dies ohne Eennt- 
niss von dem Ursprünge des kranken Hundes möglich ist. Anderer- 
seits werden unnöthige Vexationen des Publikums vermieden werden, 
wie sie die willkürliche Festsetzung eines Gebietes für jene Massregel 
zur Folge haben muss. 

Leider halten selbst Verwaltungsbeamte die angeordnete Mass- 
regel für mindestens überflussig, oder für kaum ausführbar. Jeden- 
falls ist fast überall die Aufmerksamkeit der Lokalbehörden bezüg- 
lich dieser höchst wichtigen Angelegenheit auf Null herabgesunken. 
Ueberall würden ein paar Straffestsetzungen die Indolenz der Bevöl- 
kerung sehr bald beseitigen. In technischen Dingen ist aber ohne 
Beirath des Technikers keine zweckmässige Verwaltung möglich; 
denn der Gesetzesparagraph, der technischem Ermessen seine Ent- 
stehung verdankt, wird erst lebendig durch das Verständniss seiner 
Unterlage , welches dem Verwaltungsbeamten als solchem doch nicht 

nothwendig innewohnt. 

Departements-Thlerarzt Dr. Rlcliter« 

Posen. Seit längerer Zeit will Ereis-Thierarzt Rodloff die 
Wahrnehmung gemacht haben, dass typhöse Leiden der Schafe dem 
übermässigen Füttern der im Birnbaumer Ereise stark kultivirten 
Lapinen beizumessen seien. Zur Ermittelung der Einwirkung der 
Lupine auf die Blutbeschaffenheit liess er 20 Schafe vom Januar bis 
Ende März 1871 ausschliesslich mit Lupinen füttern und untersuchte 
das diesen Thieren von 14 zu 14 Tagen aus der Jngularis entnom- 
mene Blut mikroskopisch. Schon bei der zweiten Untersuchung ergab 
sich eine auffällige Veränderung der Blutkörperchen. Dieselben hatten 
nicht mehr den normalen Umfang und erschienen mehr länglich rund. 
Nach weiteren 14 Tagen erschienen sie noch kleiner im Durchmesser, 



darauf folgenden Nacht, am 17. August, im jüdischen Erankenhause starb. 
Bis zum 7. Sept. sind im Ganzen 7 Fälle angezeigt worden. In Stettin 
wurden am 29. Aug. 3 Cholerafalle constatirt. 



3S6 CotTMpondaDMD. 

Abgeflacht and von nnregelmSuigei Form. Die Ver&idening ging 
stetig weiter, so dau die letzt« Unteranchnog nur zosammeDgefaUene, 
venchiedenartig geformte and Tenchrompfte BlatkSrperchen «ahr- 
nehmen llesi. Nichtadestowenig«! waren die Schafe gut gen&hit 
nnd genind. 

Kreis- Thierant Einicke sah lelbit von der Verfätterang 
Mhimmeliger und verdorbener Lnpiae, welche von den Schafen lehi 
gern nad gierig gefressen wurde, nicht den geringsten Nachtheil tax 
die Oesandheit der Thiete, was auch die meisten Lsndwirthe be- 
stUigen*). 

O^MrtAawnta-Thieraitt MIktkrt. 



irliche Belehnug bieräb«r findet sich in J. H. F. Günther' ■ 
1 nnd darauf baiirte Sommer- und Winterfntte- 
^haf« nnd übrigen Hsnsthiere. HannOier, 1857. 
Anm. der B»d. 



16. 

Bef ernte« 



Die Unterscheidnng der Todtenflecke von Blnt- 
extrayasaten anterliegt bekanntlich keiner Schwierigkeit; 
and doch kommen Fälle vor, in denen selbst erfahrene foren- 
sische Aerzte sich tauschen. Bin Mann ¥on jM Jahren mit 
dickem Schädel bot 14 die Kopfschwarte durchdringende Kopfr 
wanden mit einem Brac)^ der Nasenbeine dar, welche gezackte 
and zerrissene Ränder hatten and darqh Schläge mittels eines 
starken, ßu seinem antern Ende mit Kapfer beschlagepei^ 
Stockes beigebracht worden waren. Dabei war die ga^ze 
Rackenfläche roth geißrbt Die gleicbmässige, nar darcb iü s ei- 
förmige, nprmal gefärbte Haatstellen anterbrocl^ßne Rothe 
dehnte sich aaf die äussere and hintere Fläche des Linken 
Oberarmes bis zar Mitte des Unteraroies and bis aaf die hintere 
Fläche des linken Oberschenkels (jias Einschnitte in diese 
Stellen ergabep fast aberall „Blatergass in das Uiiterhai^tzell- 
gewebe.^ Die ObdQcenten gaben ihr Gauwebten dahin ab, da^s 
der Tod durch Gehirnerscbutterang in Folge der Kopfyerlet^an- 
gen und durch Contusiopen herbeigefahrt worden .sei. Letztere 
Ansicht war unrichtig, da es siph hierbei nur ap^ Todten- 
flecke piit Imbibition von aufgelöstem Blatroth handeln 
konnte, wofär auch schon bei der äasaerp Besichtigung die 
gleichmässige Ausdehnang der Hautrothe, welche hier und da 
durch inselformige , normalgefärbte Haatstellen anterbrpchen 
wurde, so wie die Abwesenheit von Strjemen un.d Streifen 
sprach. (Nach amtlichen Quellen.) 



Heber Tätowirnng in gerichjtsärztlicber Bezie- 
hung berichtet Horteloap. Es hängt von der Natur der 
gebrauchten Substanzen ab, ob die Tätowirnng rascher oder 
langsamer schwindet. Am scbnellsten geschieht dies bei Zin- 
nober. Bei 78 Pers.Qnen war die aaf diese Weise gemachte 
Tätowirung llma| ganz verschwanden. Beim Gebraach einer 
schwarzen Farbe, der chinesischen oder einfachen Schreibtinte 
und der Kohle, yiB,T sif» bei i04t Personen nicht ein einzign^<M 



328 Referate. 

ganzlich verscbwanden. Wenn auch jede Tatowirang verschwin- 
den kann, so ronss man hiernach doch mit grosser Einschran- 
knng das Verschwinden der mit schwarzer Farbe gemachten 
Zeichnungen zageben. 

Wichtig ist noch die von Follin hervorgehobene Thatsache, 
dass man bei Sektionen in den lymphatischen Drasen eine 
Ablagerung derselben Substanz beobachten kann, womit die 
Tätowirnng bewerkstelligt worden ist. Die Tätowiraogen können 
von selbst verschwinden in Folge vermehrter Hautausdunstung 
und Hautabschupp ung oder auch durch die eben erwähnte Ein- 
wanderung der Farbpartikelchen in die benachbarten Lymph- 
drüsen. 

Künstlich kann man sie durch reisende Einreibungen, welche 
oberflächliche Verschwärungen und Erustenbildung erzeugen, 
wegschaffen. 

Uebrigens hat Tardieu darauf aufitnerksam gemacht, dass 
man bei sorgfältiger Untersuchung und mit Hülfe einer Loupe oft 
noch einige regelmässige Linien antreffen könne, welche durch 
eine leichte Erhabenheit und eine matte weisse Farbe von der 
übrigen glatten und gleichförmigen Haut der nächsten Umgebung 
sich unterscheiden. Bisweilen gelingt es auch, durch starkes 
Reiben die Bilder dadurch hervortreten zu lassen, dass sich die 
Haut hierbei röthet, die früher tätowirten Stellen aber in blass- 
bläulichen Umrissen sich abzeichnen. Es ist unmöglich, etwas 
Bestimmtes über die Zeit zu sagen, innerhalb welcher eine Tä- 
towirnng verschwinden kann. 

Einige Autoren haben als Folgen der Tätowirnng gefährliche 
Zufälle von Entzündung, Eiterung oder Brand und selbst von 
Blutvergiftung beobachtet. Hut in erzählt, dass ein Tätowirer 
beim Gebrauche seines Speichels die Syphilis inoculirt hat, weil 
er mit einem Halsschanker behaftet war. 

Vorstehende Mittheilungen hat Horteloup einer Abhand- 
lung von Berchon entnommen, welche unter dem Titel: Hi- 
stoire medicale du tatouage, im Arch. de med. nav. Mai 1869 er- 
schienen ist. In Berlin kam bekanntlich diese Angelegenheit 
1849 zuerst durch Casper vor das wissenschaftliche Forum, 
worauf die Arbeiten von Hutin (Bullet, de l'Acad. Tom. 18) 
und von Tardieu (Annal d'hyg. publ. 1855, 2. Ser. S. HL) 
folgten. (Annal. d'hyg- pM, Oct 1870. S. 440.) 



Die nachtheiligen Einflüsse der Nähmaschinen 
hat Decaisne näher besprochen und auf das richtige Mass 
zurückgeführt. Aus seinen Beobachtungen, welche er bei 661 Ar- 
beiterinnen angestellt hat, scbliesst er Folgendes: 

1) Die Einwirkung auf das Muskelsystem bei der Nähma- 
schine unterscheidet sich in keiner Weise von jeder anderen 



Referate. 829 

Arbeit, welche mit einer grossen oder einseitigen Anstrengung 
der Muskeln verbunden ist. Die Schmerzen in den Muskeln, 
im Kreux, die Steifigkeit der Glieder etc. bemerkt man qicht bei 
Frauen, welche täglich nur 2—3 Stunden arbeiten. Sie ver- 
schwinden gewohnlich nach einiger Zeit bei denjenigen, welche 
langer arbeiten. 

2) Zugegeben, dass eine anstrengende Arbeit bei einer Frau 
eine mächtige Ursache von Magenstornngen abgeben kann und 
muss, so ist es doch nicht zulässig, die Nähmaschinen als die 
Ursache der vielen Digestionsstorungen anzuklagen, welche man 
in Paris 16 mal unter 20 Fällen bei Arbeiterinnen eines jeden 
Gewerbes antrifft. 

3) Auch gewisse Affektionen der Respirationswege, nament- 
lich die Dyspnoe, findet man in denselben Verhältnissen bei allen 
Arbeiterinnen ohne Unterschied. 

4) Als einen nachtheiligen Einfluss auf das Nervensystem 
hat man das Geräusch, welches die Maschine macht, angeklagt. 
Dieser Vorwurf ist nicht begründet. Die zitternde Bewegung 
der Maschine veranlasst nur anfangs ein Unbehagen; alle Ar- 
beiterinnen ge wohnen sich aber alsbald daran. 

5) Ohne bestimmt behaupten zu wollen, dass die Maschine 
keine geschlechtlichen Aufregungen erzeuge, so muss man doch 
alle hierüber gemachten Beobachtungen und die Schlüsse, welche 
man daraus gezogen hat, nicht für sehr beweisend halten. Selten 
ist dies Uebel die Folge der Maschine und fast immer kann man 
den Grund gewisser aufregender Bewegungen auf frühere Ge- 
wohnheiten, auf Unmoralität und besondere physische Störungen 
zurückfuhren. 

6) Eine sorgfaltige Untersuchung hat ergeben, dass die Arbeite- 
rinnen, welche sich überhaupt mit mechanischen Arbeiten beschäf- 
tigen, unter gleichen Verhältnissen nicht mehr den Blutflussen, den 
Fehlgeburten, der Peritonitis und dem Fluor albus ausgesetzt sind, 
als andere Arbeiterinnen. Die Thatsachen, welche man dafür 
aufgestellt hat, sind nur als ein zufälliges Zusammentreffen und 
als die Folge einer die Kräfte einer Frau übersteigenden Arbeit 
zu betrachten. 

7) Wenn man auch in einzelnen besonderen Fällen der Näh- 
maschine begründete Vorwürfe machen kann, so haben diese 
doch keine grosse Bedeutung, wenn man damit die vielfältige 
Anwendung des Dampfes und anderer stets billiger werdenden 
Motoren, welche für die Werkstätten und die Arbeiterinnen auf 
Stuben erfunden worden sind, vergleicht. 

8) Was nun die Nähmaschinen betrifit, welche die Frau selbst 
in Bewegung setzt, so sind diejenigen, bei denen ein gleichzei- 
tiges Senken und Heben beider Unter- Extremitäten stattfindet, 
denjenigen vorzuziehen, wobei abwechselnd die eine Extre- 



380 ReferAte* 

mitat gehoben und die andere gesenkt wird. Dnrcb die Apparate 
der erstem Constraction werden die Arbeiterinnen vor jeder ge- 
schlecbtlichen Reisang gescbntst. 

9) £nrz, wenn die Nähmaschine verständig Qpd nicht aber- 
massig gehandhabt wird, so übt sie anf die Gesundheit keinen 
nachtheiligern Einflass, als die Arbeit mit der Nahnadel aas. 

ßei 2S Fraaen, welche taglich 3-* 4 Stppden arbeiteten, 
konnte man nicht den geringsten nachtheiligen Eiufluss der Näh- 
maschine bemerken. (Annales d'hjgiene publ. Jailles et OcL 
1870. p. 105, 322.) 

Ventilation in den Volksschalen. Wenn erfahrungs- 
gemäss ein erwachsener gesunder Mensch pro Stunde eine Zu- 
führung von frischer Luft von 1430 Kubikfuss ^= 44 Kubikmeter 
bedarf, so kann für ein Kind die Hälfte davon, somit 700 Kubik- 
fuss SS 22 Kubikmeter als genügend angenommen werdeq. Es 
ist übrigens nur dann eine gute Mischung der eintretenden fri«- 
schen Luft mit der im Zimmer vorhandenen möglich, wenn die 
frische Luft mit einer Geschwindigkeit von mindestens 3' oder 
ca. 1 Meter pro Secunde durch die Oeffnung, durch welche solche 
in das Zimmer gelangen soll, einströmt. Es ergibt sich hiernach 
die Grösse der Aus- und Einströmungsöffnungen für die Ventila- 
tion einer Schnlstube für 80 Kinder f u 5Qa.-Fass oder i Qq.*Meter 
Grösse. Da eine solche Grösse öfters mit einer Oeffnung nicht 
zu erreichen sein wird, so können swei, auch drei dergleichen 
mit zusammen 5 Qn.-Fuss Querschnitt angebracht werden. 

Hiernach wird sich also einerseits die Gröese der in den 
Fenstern anzubringenden Luftscheiben bemessen, andrerseits a,\wh 
die Grösse des Querschnittes der Ventilationskanäie zur Einfüh- 
rung der frischen Luft und derjenigen zur Abführung der ver- 
dorbenen Luft bestimmen lassen. 

In einer Volksschule, deren Heizung eine Kachelofenheizung 
ist, wird man hiernach 4 verschiedene Einrichtungen für die 
Ventilation treffen müssen. 

1) Es sollte jede Schnlstube eine Ofenheizung von innen 
haben, damit durch die Ofenthnr eine Ventilation während d^ 
Heizens selbst eintritt, Ist der Ofen nur von aussen zu hßizon, 
so sollte das Heizloch und die Aschen£allthüre, wenn eine solche 
vorhanden ist, mit luftdichten Thuren verschlossen werden kön- 
nen, während der Ofen in der Stube ausserdem eine verschliess* 
bare Oeffnung hat, welche eventuell unter den Rost führt, damit 
durch diese Oeffnung dem Feuer im Ofen, beim Verschluss der 
aussen gelegenen Thür, die erforderliche Luft aus dem Schnl- 
zimmer zugeführt wird. 

Eine Ofenthnr hat in der Regel eine lichte Oeffnung von 
80Qu.-Zoll oder 0,17 Qn.-Meter, und strömt hier die Luft mit grosser 



Referate. 331 

Geschwindigkeit f wohl mit 5' ==: 1,62 Meter pro Seciiode aus, 
so dass also in der Stande hier 10,000 Euhikfues = 309 Kabik- 
meter Luft aasströmen. 

Angenommen, dass 80 Kinder 80x700 = 56000 Kubikfuss oder 
1760 Kabikmeter frischer Laft in der Stube gebrauchen, so wird 
also durch die OfenthSr der 5 — 6. Theil der vorhandenen schlech- 
ten Luft abgesaugt, wahrend eine gleiche Menge frischer Luft 
durch die Fugen der Fenster und Tünren eintritt. 

2) Eine nothwendige Ventilation ist diejenige der Luft- 
scheiben in den Fenstern der Schulstuben. Die Scheiben, 
welche zum Oeffnen eingerichtet sind, müssen an der untern 
Seite befestigt sein und sich derartig in Charnieren hier bewegen, 
dass sie von oben in die Schule hineinfallen, wenn eine Schnur, 
welche über eine Rolle gebend sie anhält, losgelassen wird. Auf 
beiden Seiton der dann entstehenden Oeffnungen sind Backen 
aus Blech anzubringen, damit die eintretende kalte Luft nur 
nach oben eintreten kann. Nur bei Wind, Regen und £älte ist 
diese Einrichtung nicht anwendbar. 

3) Es eignen sich dann besser Ventilationskanäle fSrdie 
Abfahrung der Terdorbenen Luft aus dem Schulsimmer nach 
dem Dachboden, welcher durch Anbringung von Dachluken etc. 
in den Giebeln zu ventiliren ist 

Da nun 5 Qu.-Fuss oder 0,5 Meter Querschnitt bei einer Ab- 
zugsöffiiung schwer zu erreichen sind, so legt man zweckmässig 
zwei derselben und zwar in der Decke des Schulzimmers in 
den beiden Aussen ecken an und fuhrt selbige durch einen 
Holzkssten von etwa 3 * Hohe auf den Bodenraum, scbli^sst hier 
oben den Kasten mit einem feinen Drahtsieb in schräger Lage, 
und in der Decke des Zimmers selbst mit einer Holzklappe, 
welche mittels einer Schnur beliebig vom Zimmer aus zu öffnen 
und zu schliessen ist. 

4) Um während des Winters frische Luft in das Schulzimmer 
einzuführen, wird ein Kanal von 2 Fuss = 0,63 Meter Quer- 
schnitt im Quadrat unter dem Fussboden angelegt. Der Kanal 
mundet aussen an der Front des Hauses, wo er mit einem 
feinen Drahtnetz verschlossen ist, oder in einen gut ventilirten 
Keller, welcher die frische Luft in eine Luftkammer fuhrt, die 
zwischen Ofen und Wand in den Schulstuben anzulegen ist 
Hier erwärmt sich die frische Luft und tritt dann am obern Ende 
dieser Luitkammer durch eine mindestens 4 Qu. -Fuss grosse Oeff- 
nung in das Zimmer ein. Im Kanal findet sich an seinem Ein- 
trittsende eine Drosselklappe, mittels welcher der Kanal theii- 
weise od«r ganz geschlossen werden kann. 

Da 1 Qu.-Fuss als durch die Fugen der Thuren und Fenster 
bei der Heizung ersetzt anzunehmen ist, so muss die Luftkammer 
einen Querschnitt von 4 Qu.-Fuss haben, weshalb der Ofen 



382 Referate. 

1 Fase = 0,31 Meter von den Wanden entfernt aufgestellt 
werden mass. 

Für eine bessere Binrichtung in letzterer Besiehnng wird die 
Laftheizong erachtet, deren Kosten, njit Ausnahme der Kosten 
für die Unterkellernng, sich nicht wesentlich höher stellen sollen, 
als bei Einrichtang einer Kachelofenheizong. 

Ein Haupterforderniss ist, dass der Raum an und für sich 
nicht zu klein, mithin für 80 Kinder mindestens ein Raum von 
80 X 60 » 4800 Knbikfuss oder 80 X 1,85 = 148 Kubikmeter 
vorhanden ist. 

(Stiehl's Centraiblatt für die ges. Unterrichts- Verwaltung in 
Preassen. Berlin 1871. Mai^Heft.) 



Einen Beitrag zur Statistik der bayerischen Straf- 
und Polizei- Anstalten hat Dr. Carl Mayer, Mitarbeiter im 
K. statistischen Bureau in München, geliefert. Je nach der Schwere 
der Oesetzesverletzung dienen zum Vollzug der Freiheitsstrafen 
in Bayern Zuchthäuser und Gefangenanstalten. In Po- 
lizeianstalten befinden sich solche Personen, welche die ihnen 
zuerkannte Freiheitsstrafe erstanden haben, hier aber noch beson- 
ders verwahrt werden können, oder auch geringere Verbrecher. 
Den verschiedenen Beobachtungen ist eine 5jährige Periode 
1863-68 zu Grunde gelegt worden. 

Unter den Krankheiten und Todesursachen der 
Gefangenen stehen, wenn man 1) Erkrankte und Gestorbene 
nach KrankheJtsfamilien berücksichtigt, die Krankheiten 
der Verdauungsorgane mit 36,9 pCt. oben an. Sie erheben 
sich in den Zuchthäusern auf 43,7 pCt. und fallen in den Polizel- 
anstalten auf 31,9 pCt. herab. Das umgekehrte Verhältniss findet 
in den Krankheiten der Athmungsorgane statt, welche in 
sämmtiichen Anstalten 17,8 pCt. betragen und zwischen 16,7 pGt 
in den Gefangenanstalten und 21,1 pCt. in den Polizeianstalten 
schwanken. 

In dritter Reihe stehen die chirurgischen Krankheiten 
mit 13 pCt. sämmtlicher Krankheiten. Die Hautkrankheiten 
mit 10,9 pCt. sind in den Gefangen- und Polizeianstalten um 
mehr als das Doppelte häufiger, als in den Zuchthäusern. Dann 
folgen die epi- und endemischen Krankheiten, als deren Re- 
präsentanten Typhus und Wechselfieber zu betrachten sind, mit 
3,6 pCt. Ihnen am nächsten stehen die Krankheiten der Blut- 
mischung mit 3,5 pCt, wobei die Zuchthäuser aberwiegen. 
Ebenso verhält es sich mit den Krankheiten des Nervensy- 
stems, welche mit 3,2 pCt. in Zuchthäusern relativ häufiger, als 
in den übrigen Anstalten vorkommen. Die Syphilis mit 2 pCt. 
ist am häufigsten in den Polizeianstalten, weil in diesen Anstalten 
vorzugsweise Prostituirte eingeschafit werden. Bezüglich der 



Referate. 3S3 

Mortalität weisen die Krankheiten der Oreise die ungünstigste 
Sterblichkeitsziffer mit 30,2 pGt. auf. Ausserdem trifft die höchste 
Mortalität anf die Krankheiten des Nervensystems mit 
10,9 pCt, Torzags weise in den Zachthänsern wegen des anter den 
männlichen Gefangenen häufig vorgekommenen Schlagflasses. 
Hieran reiht sich die Sterblichkeit an den Krankheiten der 
Athmangsorgane mit 8,5 pCt., speziell mit 12,3 pCt. anter 
den Insassen der Zuchthäuser. Alsdann folgt die Sterblichkeit 
an den Krankheiten des Oefässsy;3tems mit 8,3 pCt, der 
Harnorgane mit 7,4 pCt., der ßlutmischung mit 6,2 pCt. und 
der epi- und endemischen Krankheiten mit 5,2 pCt. 

2) Erkrankte und Gestorbene nach den wichtigsten Krank- 
heits-Arten. Die am häufigsten vorgekommenen Krankhei- 
ten waren die mit und ohne Fieber verlaufenden Magenka- 
tarrhe mit 21 pCt. sämmtlicher Krankheiten und die Magen- 
darmkatarrhe und Diarrhöen mit fast 10 pCt. aller Krank- 
heiten. Beide Krankheitsformen zusammen betragen ober 30 pCt. 
sämmtlicher Kranken. Im Zuchthanse Kais klein betragen die 
Magendarm- Affektionen wenigstens 50 pCt. sämmtlicher Krank* 
heiten und gehen nicht selten in Typhus und Ruhr über. Die 
Bronchialkatarrhe folgen mit 7,7 pCt. 'sämmtlicher Kranken 
und sind in den Polizeianstalten am häafigsten. In dritter Reihe 
waltet die Lungentuberkulose mit 5,6 pCt. in den Zucht" 
hänsern nur bei den Männern vor. In vierter Reihe steht die 
Krätze mit 5,2 pCt. vorzugsweise in den Gefangenanstalten. 

Die höchste Sterblichkeit fällt anf den Schlagfluss^ 
durchschnittlich mit 56,5 pCt., mit 58,3 pCt. in Zuchthäusern und 
mit 80,0 bei den Weibern. An Meningitis und Encephalitis 
starben 53^8 pCt., speziell in den Polizeianstalten 83,3 pCt. Die 
Sterblichkeit an Altersschwäche betrug 30,2 pCt., an allge- 
meiner Wassersucht 22,7 pCt», an Typhus 21,7 pCt., an 
Lungentuberkulose 19,8 pCt. Letztere Krankheit verlief 
beim weiblichen Geschlecht noch ungonstiger, als beim männli- 
chen. An Pneumonie starben 16,5 pCt., in den Polizeianstalteu 
18,4 pCt. (Aerztliches Intelligenzblatt Nr. 28. 1871 ) 



Ueber die Verbreitung der wichtigsten Social- 
krankeiten im Regie rungsbezirk Merseburg, nämlich 
des Armen-, V.erbr echer-, Vagabunden- and Ziehkin- 
der-Wesens hat Geheimrath Dr. Koch statistische Mittheilun- 
gen gemacht. .Wir erwähnen hier nur einige Punkte. Was die 
unehelichen Geburten betrifft, so kommen dieselben im 
Allgemeinen häufiger in den Städten, als auf dem Lande vor. 
Nur einzelne Kreise machen eine Ausnahme, 

So beträgt im Kreise Torgau der Procentsatz in den Städ- 
ten 15,40, auf dem Lande 17,01, im Kreise Zeitz in den Städten 



884 lUferftte. 

14,83, auf dem Lande 15,31. In dem siebenjährigen Darehschnitt 
(1858—64) war das Bterblichkeitsverhaltniss unter den 
ehelichen Kindern im Kreise Delitzsch am bedentendsten 
nnd betrog 25,81 pGt., am geringsten imMansfelder Gebirg s- 
kreise mit 16,09 pCt.; darchschnittiich betrug die Sterblichkeit 
in den Städten 22,90 pCt., anf dem Lande 19,78. Die geringste 
Ziffer bietet anf dem Lande der Mansfelder Oebirgskreis 
dar, nämlich 13,41 pCt., während der Landkreis Merseburg am 
höchsten mit 20,04 pGt steht. 

Worin die sam Theil bedeutenden Unterschiede der Sterb- 
lichkeit in den verschiedenen Kreisen beruhen , insbesondere 
wie es Eugeht, dass die Kreise mit der höchsten Sterblichkeit in 
den Städten Deiitssch (25,81 pCt), Naumburg (22,8 pCt.) und 
Liebenwerda (21,24), in den Landkreisen eine sehr massige 
Sterblichkeit (16,44 u. 15,74 pCt) aufweisen, obwohl Epidemien 
sich nicht anf die Städte eu beschränken pflegen, darüber lassen 
sich nach Koches Ansicht cur Zeit auch nicht einmal Vermuthun- 
gen aufstellen. 

Das Mehr der Sterblichkeit unter den unehelichen Kin- 
dern bezieht er auf die mit dem Ziehkinderwesen verbundenen 
besondern Schädlichkeiten. 

Den höchsten Procentsatz bieten die Städte Halle (60,40 pCt.), 
Torgau (40,47 pCt.) und Naumburg (20,34 pCt), den gering- 
sten die Städte im Mansfelder Gebirgskreise (20,90 pCt.) und 
Kreise Sangerhausen (20,75 pCt.) dar. Was das Land betrifft, 
so findet sich im Landkreise Torgau der höchste (33,03 pCt.) 
und im Kreise Sangerhausen der niedrigste Procentsate (19,95pCt.). 
Die Kreise Sangerhausen, Mansf. Oebirgskreis, Schwel- 
nits und Maus f. Seekreis bieten die geringste Sterblichkeit 
der unehelichen Kinder in Stadt und Land dar, welche in man- 
chen Jahren sogar die der ehelichen nicht erreicht. Rncksichtiich 
der drei ersten Kreise ist ein wesentliches Moment bekannt, dass 
nämSich die Kinder mit geringer Ausnahme bei Verwandten unter- 
gebracht werden, die in Folge der gebirgigen Beschaffenheit des 
Landes in der Regtil im Besitz von Ziegen sind, mit deren Milch 
die Kinder ernährt werden; eine Bestätigung der ärztlichen Er- 
fahrung im Grossen, dass bei dem kunstlichen Auffuttern der 
Kinder die Milch von Ziegen, weiche beim Fressen niemals die 
Massigkeit überschreiten, viel gunstigere Erfolge erzielt werden, 
als mit der Milch von gefrässigen Kühen, zumal während der 
Kleefntterung, welche bei den Kindern leicht gefährliche Durch- 
falle erzeugt. 

Bezuglich der Quelle der Verbrechen gelangt K. zu 
dem Scbluss, dass die ausserordentliche Theuerung der Nahrungs- 
mittel zwar den nächsten Anreiz zu Verbrechen gegen das Eigen- 
thum abgeben, dass dieser aber wie die Theuerung selbst einen 



Referate. 836 

Uebergang hat, während Gerichtsgefaognisse and Strafanstalten 
Jahr aas Jahr ein mit Verbrechern gefällt sind, bei denen min* 
destens in der grossen Mehnahl Andere Beweggrande wirksam 
gewesen sein müssen. 

(Separatabdrack ans R. Hildebrand 's Jahrbachern für 
Nationalökonomie and Statistik. Bd. XV. Heft 5 a. 6.) 



Zar Uebei^tragang der Syphilis durch die Vaccina- 
tion hat Dr. Heinrich Kobner Beitr?i;;e geliefert. Die Lehre 
von der Uebertragbarkeit der Syphilis darch die Vaccination hat 
bekanntlich sehr viele Diskussionen hertorge rufen. Seit 1860 ist 
Viennois (Archiv, geb^r. de med. Juni, Juli, Sept.) unermüdlich 
in der Eriäuterung dieser Lehre. Die Gegner derselben berafen 
sich einestbeils auf diagnostische Irrtbümer und anderntheils auf 
blosse Coincidenz von Syphilis bei Vaccinirten, 

K. erörtei't genauer die abnormen Vorkommnisse nach 
der Vaccination überhaupt und berücksichtigt ausser den 
Entzündungen an den Impfstellen selbst und an den ^on 
den Itbpfstellen ausstrahlenden Lymphgefässen vorzüglich die 
spezifisch virulenten Anomalien. Die Entstehung von 
Pocken (Nebenpocken, Vaccinolae) wird theils auf eine ge- 
legentliche lokale Ueberimpfung (Auto-Inoculation) der 
Vaccine aas den Efflorescenzen an den Armen auf schon vorher 
beSEtehende juckende Hautentzündungen und E&coriationen an an- 
dern Korpertheilen, theils auf das zufällige Zusammentreffen einer 
wirklichen Blatternform mit den noch in Blüthe stehenden Schutz- 
pocken zorückgeführt. Nach Abzug dieser Anomalien und Com- 
plikationen der Kohpocken existiren nun zahlreiche Beobachtun*- 
gen von constitutioneller Syphilis, welche in unmittel- 
barem Ansohlass an die Vaccination aufgetreten ist. 
Besiglich der Reihenfolge und der Zeit des Auftretens der Sy-^ 
philis- Symptome nach der Vaccination verhalten sich die 
meisten Fälle verschieden. . ViennoiB hat dieselben mit Omodei 
(1838) in 2 Klass<en eingetheilt. Zur 1. Klasse gehören die 
Kinder, bei welchen schon während der Entwicklung der Vac- 
oinepasteln oder knrz nach dem Eintrocknen derselben, 
also zwischen dem 4. und 21. Tage nach der Vaccination die all- 
gemeine Syphilis in Gestalt von maculösen, papulosen oder pu- 
stulosen Syphiliden auftrat, während die Vaccine selbst normal 
veriäuffc. Diese Individuen sind für hereditär-syphili- 
tisch zto halten. 

Hieraus folgert' K. die wichtige Lehre, dass man am nor- 
malen Aussehen der Vaccinepocken am 7. oder 8. Tage niemals 
die Gesundheit des Stamnnimpf^ings erkennen kann; ein solcher 
sei vieknebr jedesmail am ganzen Korper mit besonderer Rücksicht 
auf die Prädilektionsstellen der Syphilis za untersuchen. 



886 Referftie. 

Die Erfahrung hat ergeben, dass die absolateLateHK 
der Syphilis solcher Impflinge am Tage der Vaccination, 
wie sie nur darch sorgfaltige Untersuchung des gansen Kör- 
pers behauptet werden kann, bisher nur in äusserst spärlichen 
Fällen festgestellt worden ist. 

Zur 2. Klasse gehören die Fälle, in welchen an den 
Impfstellen selbst als erstes Zeichen stattgefnndener Syphilis- 
infection Geschwüre entstanden, welche meistens als indurirte, 
sehr langsam heilende und mit Hinterlassung harter, zum Auf- 
brechen und EU saniöser Eiterung tendirehder Narben beschrieben 
werden. In der 7. bis 8. Woche nach der Vaccination traten als- 
dann allgemeine, Constitutionen syphilitische Symptome auf. Eine 
Kritik aller als Syphilis vaccinata aufgeführten Beobachtungen 
haben Bohn und MiIlie(Schmidt*s Jahrb. 1863, p. 96*-l09), sowie 
A uspi ts (Lehre vom syph. Contag. Wien 1866. p. 213 etc.) geliefert. 

Als Schlussurtheil ergibt sich, dass die Thatsache der 
Transmission der Syphilis durch die Vaccination nur aus der 
grasen Zahl, der Gleichzeitigkeit und der gleicharti- 
gen Entwicklung der als Syphilis erwiesenen Erkrankungen 
nach der Vaccination erhärtet ist. 

. Nur wenige Facta enthalten über die Impfquelle und zam 
Theil über sämmtliche Abgeimpfte Details, welche für die 
Deberseugung in der Hauptsache auch den Skeptikern in der 
franzosischen Akademie (Debatten aus den Jahren 1865 u. 1869) 
genügt haben. 

Auch Kobner hatte Gelegenheit, die grosse Schwierigkeit 
des Nachweises aller in Betracht kommenden Faktoren bei 2 
Fällen kenneu zu lernen, welche er auf preussischem Boden be- 
obachtet hat. Trotz der Unmöglichkeit, den Gesundheitszustand 
der Stammimpflinge vor und zur Zeit der Vaccination, so wie 
der mit diesen Kranken gleichzeitig abgeimpften Personen nach 
derselben exakt festzustellen, hält er diese Fälle doch um so mehr 
für mittheilungswerth , als der 2. Fall einen Militär- Arzt betraf, 
welcher vom Tage der Re vaccination an bis über den Ausbruch 
der constitutionellen Syphilis hinweg eine sorgfältige ärztliche 
Controle führte, während der 2. Fall zwar erst in den ersten 
6 Wochen nach der Vaccination ärztlich behandelt wurde, jedoch 
wegen der nach 1 Jahre gemachten Sektion — der ersten bei 
Syphilis vaccinata — eine besondere Beachtung verdient. 

Unzweifelhaft war es, dass es sich im 1. Falle am eine Sy- 
philisinocuiation am Arme handelte; aber bezüglich des 
Herkommens und des Vehikels der Infektion blieb alle Nach- 
forschung vergeblich. 

Im2. Fallestarb das 2 jährige mit Syphilis cutanea pustu- 
losa et ulcerosa universalis behaftete Kind an käsiger In- 
filtration aller Lymphdrüsen des Körpers und Tuberculosia 



Referate. 337 

miliariB acuta. Hier war wenigstens mit annähernder Gewiss- 
heit sowohl eine nach der Vaccination acqairirte, als anch eine 
hereditäre Syphilis auszaschliessen. 

Um das scheinbar paradoxe Faktum, dass unter einer gros- 
sem oder kleinern Anzahl von Personen, welche Ton derselben 
Impfquelle, mit derselben Lanzette vaccinirt worden, nicht alle 
syphilitisch wurden, aufzuklaren, erörtert K. ausführlich die 
Frage, wie und durch welches Medium man sich die Uebertra- 
gung der Syphilis bei der Vaccination zu denken habe. Viennois 
stellte die Hypothese auf, dass die Syphilis nie mittels der Vaccine 
eines syphilitischen Vaccineträgers, sondern stets nur mittels seines 
ßlutes, welches unvorsichtigerweise gleichzeitig mit der Vaccine 
und an derselben Stelle eingeimpft worden sei, übertragen wer- 
den könne. Die Vaccine entwickle sich zuerst, da sie ein viel 
kürzeres Incubationsstadium habe, als die constitutio- 
nelle Syphilis, und habe Zeit, beinah abzulaufen, ehe die Sy- 
philis sich zu localisiren beginne. 

Gambe rini vermnthet ein am Grunde der Vaccinepusteln 
eines Syphilitischen vorhandenes, von reiner Vaccinelymphe be- 
decktes Geschwür als Ursache der Syphilis vaccinata. 

Die Experimentalimpfungen mit blossem Blute Constitu- 
tionen Syphilitischer auf Gesunde haben ergeben, dass 
unter 23 ßlutinoculationen nur 6 positive Resultate hatten. Aus 
den statistischen Erhebungen ergibt sich dagegen, dass von 324 
vom ersten Stammimpfling Geimpften 222 inficirt wurden. 61 
blieben gesund und 41 wurden nicht wieder gesehen. Hierbei 
fallt der auffallende Contrast gegenüber dem erwähnten Zahlen - 
Verhältnisse der experimentell durch blosses Blut Constitutionen 
Syphilitischer Inficirten auf. 

Bezüglich der Fragen, 1) ob es sich in allen Fällen um eine 
doppelte Gontagion mit Syphilis und Vaccine gehandelt habe, 
und 2) ob die für alle Fälle als nothwendig erklärte Abkürzung 
der Incubation der Vaccinesyphilis gegenüber einer ander- 
weitig acqnirirten Syphilis constatirt sei, betrachtet Kobner 
ad 1) die bisherigen Beobachtungen von Syphilis vaccinata a) im 
Vergleich zu einander und findet, dass sie in solche, wo 
sowohl Vaccine als Syphilis übertragen worden, und in 
blosse Syphilisübertragungen zerfallen. 

So hat Pacchiotti die kränksten 5 Kinder unter den 46 
syphilitisch gewordenen nach der Vaccination erfolglos revac- 
cinirt, und zwar mit Lymphe, welche sich bei anderen Personen 
wirksam zeigte. Dahingegen sind von Kobner 's inficirten Kin- 
dern 6 revaccinirt worden, wovon sich bei 4 vollständige Vac- 
cinepusteln entwickelten. Bei 2 ähnelten jedoch die Revaccina- 
tionspusteln vielmehr der Variolois. Selbst Viennois gibt zu, 
dass jene 4 gar nicht mit Vaccine (sondern nach seiner An- 

Vi«rt«MahrtMhr. f. ger. Med. N. F. XV. 2. 22 



338 Referate. 

Bicht mit Blat) geimpft worden seien, während bei diesen 2 die 
Revaccinationsbläschen ebenso verliefen, wie nach einer f^elun- 
genen ersten Vaccination. Betrachtet man b) auch noch die 
örtlichen Resultate auf den Armen der Beschuldigten, so 
fallt auch in dieser Beziehung das ungleiche Verhalten der 
Vaccinationsstiche theils in verschiedenen Fällen, theils auch 
an den Impfstellen eines und desselben Individuums auf. Für 
die alleinige Syphilisübertragung sprechen die Fälle, in 
welchen sich gar keine Vaccinepusteln entwickelten; 
die Vaccine schien zu abortiren. Bisweilen bildete sich ein rother 
Knoten, welcher in eine braune Schuppe überging und nach 4 
Monaten Zeichen der constitutionellen Syphilis zur Folge hatte. 
Oder die Vaocinebläschen füllten sich normal, trock- 
neten am 8.— 10. Tage ein und gingen alsdann oder nach dem 
Abtrocknen der Borke, bisweilen sogar erst nach vollständiger 
Vernarbung in syphilitische Ulcera oder Infiltrate über. Die in- 
durirten Schanker entstanden aber nicht an allen 
Impfstellen. An andern Stellen können sich gleichzeitig nor- 
mal* verlaufende Vaccinepocken entwickeln. 

Dieses für die Theorie und Praxis gleich wichtige Moment der 
Ungleichwerthigkeit der auf den Armen eines und des- 
selben Impflings aufschiessenden Impfefflorescenzen 
liefert nach Köbner den Beweis, dass das Syphilisgift nicht in der 
in allen diesen Fällen am 8. Tage eingeimpften Vaccine der syphi- 
litischen Stammimpflinge enthalten sein kann, sondern dass die 
Einimpfung desselben direkt von einem andern syphilitischen 
Stoffe getragen sein muss. Gerade diese Beobachtungen gäben 
auch den Schlüssel ab für die Deutung derjenigen seltenern Fälle, 
in welchen sämmtliche, anfänglich als Vaccine erscheinende Impf- 
efflorescenzen sich in syphilitische Geschwüre verwandelten. 

ad 2) Was die Dauer der Incubation der Syphilis 
betriüt, so ist der Ausbruch der allgemeinen Syphilis mei- 
stens nicht unter 2 Monaten nach der Vaccination, bisweilen so- 
gar zwischen der 10., 12. ja 16. Woche nach derselben constatirt. 

Das Auftreten von Syphilisinfiltraten an den Impf- 
stichen ist zwischen dem 15. und 20. Tage oder gar nach dem 
Abfallen der Borke, je nachdem bereits eine anscheinend fertige 
Narbe gebildet war, gesehen worden. Wo die Vaccine nicht 
haftete, sondern eine rein syphilitische Inoculation zu 
diagnosticiren war, begann die Entwicklung des syphilitischen 
Primäraffektes ungefähr in der 2. Woche. In andern ausschliess- 
lich syphilitischen, durch die Vaccinationslanzette vermit- 
telten Impfungen währte es ganz wie bei der Mehrzahl der 
Experimente mit sccnndär syphilitischen Produkten oder bei 
einigen wirklich mit Syphilis und Vaccine Inoculirten etwa4 Wochen. 

Es findet sich somit thatsächlich überhaupt keine abgekürzte 



Referate. 339 

iDCubatioDsfrist für die allgemeioe Infektion der Geimpften im Ver- 
gleich mit jeder anderweitig acqnirirten oder inocalirten Syphilis. 
Aus den vorliegenden Thatsachen gelangt K. zu demSchluss, dass 
1) wirkliche Vaccinepasteln neben einer oder mehreren 
Bjphilitischen Efflorescenzen an den Armen vorkom- 
men. Es konnten deshalb beide Contagien gesondert auf eine 
zweite Reihe von Impflingen übertragen werden, oder beide 
Krankheiten entwickelten sich, wenn sowohl aus den Vaccine- 
pocken, als auch vom Syphilisinfiltrat geimpft worden sei. 2) Kann 
ein mechanisches Gemenge von Vaccine und syphiliti- 
schem Gewebe oder Secret auf die vom ersten Stamm- 
impfling Geimpften übertragen werden und zwar a) von Vac- 
cine und Bestandtheilen eines gelegentlich am Grunde 
der Vaecinepustel vorhandenen Lokalaffektes; b) durch 
ein Gemenge von Vaccine und Blut von einem (ersten) Stamm- 
impfling, wofür eine Beobachtung von Sebastian spreche. 

Kobner geräth, nachdem er die Bluthypothese bekämpft 
hat, hier in einen Widerspruch, welchen er übrigens selbst ge- 
steht; ein Beweis, dass die ganze Angelegenheit noch der wei- 
tern Aufklärung und Untersuchung bedarf. 

Als praktische Regeln bezüglich der Prophylaxis stellt 
K. folgende auf: 

1) Der Schwerpunkt aller Vorsichtsmassregeln liegt in der 
Auswahl der Stammimpflinge. Solche dürfen wegen etwaiger 
congenitaler oder von der Amme übertragener Syphilis am besten 
nicht unter 1 Jahr alt sein und nur aus den dem Impfarzt hygie- 
nisch bekannten Familien gewählt werden. 

2) Uneheliche Kinder sind als Impfquellen zu meiden. 

3) Am normalen Aussehen der Vaccinepocken am 7. oder 8. 
Tage soll man niemals die Gesundheit des Stammimpflings er- 
kennen wollen. Der ganze Körper desselben muss vorher unter- 
sucht werden 

4) Blut- oder eiterhaltige Vaccine oder verspätet entwickelte 
Impfpusteln sind zu meiden. 

5) Ueber 10 Jahre alte Kinder müssten — was Allem vor- 
zuziehen sei — mit der wirksamem Retrovaccinelymphe vorge- 
impft und zum Abimpfen benutzt werden. (? ?) 

Die öffentliche Vaccination und Revaccination, wie sie jetzt 
von Arm zu Arm geschehe, biete keine Garantie gegen die 
Mitverimpfung von Syphilis.*) Der Staat sei verpflichtet, als 
Correlat zu dem zum Gesetz zu erhebenden heilsamen 
Impfzwang einerseits für eine beständige Regeneration der 
Lymphe, andererseits für ein ausreichendes Personal wissen- 



♦) Die Glycerinlympbe macht das Impfen von Arm zu Arm nn- 

22» 



uQUiig. Anm. d. Red 



340 Referate. 

Bch&ftlich geprüfter Impfarcte eininstehen, keineswegs aber die 
ärctliche Gewerbefreiheit auf diesem Gebiete sa versachen. 
(Separatabdruck aus dem Archiv für Dermatologie and Syphilis. 
1871. IL Heft. Prag 1871.) 

In »Lancet, Nr. 11, Vol. IL Juni 1871.« werden die Fälle 
von Hutchinson und Waren Tay ausführlich besprochen. £^ 
wird auf die Unsicherheit der Diagnose und die unzureichenden 
Beweise für eine wirklich vorhandene Syphilis hingewiesen. 
Auch die von einigen Mitgliedern der Königl. medizinisch -chirurg. 
Gesellschaft unternommene Untersuchung habe die Sache nicht 
gefordert. 

£s sei unzulässig, Jemanden auf Grund der einfachen That- 
sache, dass er eine verhärtete Wunde am Arm hat, die sich nach 
der Heilung wieder öffnet, für syphilitisch zu erklären. Dies sei 
ein Ereiguiss, welches nicht so selten vorkomme, aber von den 
Anhängern der auimalen Vaccination zu ihrem Vortheii 
ausgebeutet werde. Uebrigens habe Trott er, Assistenz- Wund- 
arzt bei der Coldstream- Garde eine Reihe von Fällen beobachtet, 
in welchen nach der animalen .Vaccination auf dem Arm sich 
Wunden entwickelt hätten, die dem Schanker sehr ähnlich ge- 
wesen wären. 

Aber selbst angenommen, die Thatsache von der Ueber- 
tragung der Syphilis durch die Vaccination wäre bewiesen, so 
würde die Gefahr doch nur eine sehr geringe sein, wenn man 
die gehörige Aufmerksamkeit bei der Impfung beobachte. Es 
existire noch nicht der geringste Beweis, dass Vaccinesyphi- 
lis jemals inficirt habe. Nach den stattgehabten Discussionen 
würden aber die Aerzte hoffentlich noch vorsichtiger in der Be- 
obachtung der alten, wohl begründeten Regel sein, niemals 
Lymphe anzuwenden, welche nur das kleinste Partikelchen von 
Blut oder irgend einen anderen fremden Gegenstand enthielte. 
Alle Aerzte müssten sich stets für verpflichtet erachten, niemals 
Lymphe von einem Kinde zu nehmen, welches entweder selbst 
oder dessen Familie ungesund ist. 

Im Juli-Heft berichtet die ^Lancet« weiter über die Fälle 
von Hutchinson und gesteht, dass 3 Fälle die unzweideutigen 
Beweise einer constitutionellen Syphilis dargeboten hätten und 
kein Grund vorhanden wäre, daran zu zweifeln, dass die Krank- 
heit durch die Vaccination übertragen worden. Ueber die Art 
und Weise der geschehenen Impfung und über die Beschaffen- 
heit des eingeimpften Stoffes, ob Lymphe, Blut oder Beides ge- 
nommen worden, konnte man nichts Zuverlässiges erfahren. Der 
Impfling, ein 7 Monate alter Knabe, war am 13. Februar zum 
Weiterimpfen benutzt worden. Das Kind hat einen grossen, hy- 
drocephalischen Kopf, dessen Fontanellen grosser als gewohnlich 
sind, ein blasses, zartes Aussehen und einen herpetischen Aus- 



Referate. 34X 

schlag auf der Stirn. Es atbmete mit Mabe durch die Nase 
und war am Zahnen. Am After bemerkte man eine kleine weisse 
Narbe, welche von einer Verschwärung herzurühren schien. 
Die Drusen in beiden Leistengegenden waren vergrossert. 
Auf dem rechten Arm bemerkte man 5 Vaccinations-Narben. 

Die Mutter des Kindes sah gesund aus und will niemals 
krank gewesen sein. Sie hat ihr Kind aber gelegentlich ihrer 
Wirthin und deren Kindern zur Pflege übergeben. Diese und eins 
ihrer Kinder sind krank gewesen; die Natur ihres Leidens blieb 
jedoch unbekannt. 

Der Vater des Impflings, ein blasser, aber gesunder Kunst- 
schreiner, will nie syphilitisch gewesen sein. Man fand bei ihm 
jedoch in der linken Leistengegend vergrosserte Drüsen und 
eine oberflächliche weisse Narbe an der Innern Seite der Wange, 
dem linken Backzahn gegenüber. 

In der medizinisch - chirurgischen Gesellschaft zu Boston 
sprach man sich ebenfalls für die Ansicht ans, dass nur das der 
Lymphe beigemischte Blut die Syphilis roitzutheilen vermöge. 
(The Boston Med. and Sarg. Journ. June 1, 1871, p. 474.) 

Auch in Deutschland neigt man sich der Ansicht hin, dass 
blutige Lymphe gefahrlicher als reine ist. 

Dr. Mair in Ansbach ^Aerztl. Intellig.- Blatt Nr. 27, 1871) 
sagt: Alte Praktiker sträuben sich gegen die Annahme einer 
Uebertragung von Syphilis, weil Vaccine -Gift ein spezifisches, 
unter allen Umständen sich gleich bleibendes Gift ist und die 
Vereinigung eines spezifischen Giftes mit einem andern, ebenfalls 
spezifischen — Scrofel- oder Syphilis- Gift — dem Begriffe eines 
spezifischen Giftes widerstreitet Doch wird auch von ihnen an- 
gerathen, die Lymphe möglichst rein, d. h. unblutig abzunehmen, 
weil durch das Blut allerdings eine Uebertragung stattfinden könne. 

Kussmaul sagt in seinen vortrefflichen „Zwanzig Briefen 
über Menschenpocken* und Kuhpocken -Impfung^, dass auf 
mindestens 100—120 Millionen Impfungen, die in den verschieden- 
sten Ländern ausgeführt wurden, nur 25-' 26 Syphilis verimpf an- 
gen mit Gewissheit oder mit mehr oder weniger Wahrscheinlich- 
keit constatirt worden sind. Mag dieser schlimme Zufall sich 
auch noch öfter ereignet haben, so darf man immerhin behaupten, 
dass die Zahl der durch Vaccination syphilitisch Angesteckten 
gegenüber der Gesammtbevölkerung eine verschwindend kleine 
gewesen ist. 

Sind die syphilitischen Zufälle wirklich Folge der 
Vaccination, so treten sie bald nach der Impfung in einer so 
auffalligen Weise hervor, dass man über ihre Natur und ihren 
Zusammenhang mit der Impfung nicht lange in Zweifel sein kann. 
Die Impfstellen verwandeln sich nämlich in charakteristische Ge- 
schwüre; es zeigen sich Hautausschläge, Hautentzündungen etc. 



342 Referate. 

Aber selbst beim Abimpfen von syphilitischen Personen wird 
darchaus nicht immer Syphilis verimpft, sondern es entwickelt 
sich in der Regel nnr Vaccine. 

Dr. Delienne in Paris impfte sich absichtlich zweimal von 
Blut reine Vaccine von Syphilitischen ein und bekam nur eine 
Vaccinepustel. Aehnliche Resultate gewann er bei vielen andern 
Personen, die sich zu solchen gefahrlichen Versuchen hergaben 
(Vlrchow's Jahresber. 1868. 2. Bd. S. 572). 

Auch Kussmaul hält desshalb die blutige Lymphe für weit 
gefährlicher, als reine. (1. c. S. 101.) 

Nach den von Felix in Bukarest gemachten Erfahrungen 
(Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege. 
3. Bd. I. Heft. S. 15) kam die Uebertragung der Syphilis durch 
den Impfakt nicht vor. Man hfitete sich nämlich, beim Oeffnen 
der Pusteln behufs Abnahme der Lymphe gleichzeitig Blut zu 
entnehmen und auf das andere Kind zu übertiagen. Man unter- 
suchte die Kinder, von denen abgeimpft wurde, mit besonderer 
Genauigkeit am After, an den Geschlechtstheilen, in der Mund- 
höhle und im Halse und nahm nur von mehr als sieben Mo- 
nate alten Kindern Impfstoff zur Weiterimpfung ab, von der 
Erfahrung ausgehend, dass die Symptome der angeborenen Sy- 
philis sich selten später als im fünften Monate des extraute- 
rinen Lebens äussere. 

John Simon (eod. loc. S. 105—110) beruft sich auf tausend 
und abermal tausend Fälle von Vaccination und Revaccination, 
auf die negativen Zeugnisse von Chomel, Moreau, Ray er, 
Ricord, Rostan, Velpeau, Hebra, Oppolzer und Sig- 
mund und gelangt zu dem Resultate, dass entweder die Kuh- 
pocken-Impfung — sofern sie wirklich Kuhpocken-Impfung ist 
— nicht das Mittel zur Verbreitung einer andern Krankheit sein 
könne, oder aber die Impfärzte seien überall in dieser Beziehung 
so sorgsam, dass dadurch jede Gefahr ausgeschlossen werde. 

Die Nachthelle der animalen Vaccination sucht er in 
dem so häufigen Misslingen derselben. Auch die geschicktesten 
Aerzte hätten grosse Schwierigkeit, die Impfung von Kalb zu 
Kalb stetig fortzufuhren. .Das Verhältniss des Misslingens bei 
der animalen Vaccination sei 20 mal grösser, als beim gewöhn- 
lichen Impfen von Arm zu Arm. Auch verderbe die vom Kalb 
genommene Lymphe im Vergleich zur gewöhnlichen Kuhpocken- 
lymphe beim Aufbewahren leicht und sei namentlich in Glas- 
röhren aufbewahrt so unzuverlässig, dass das ImpHnstitut in 
Rotterdam zur Versendung von Lymphe nur noch die den Men- 
schen entnommene zu versenden pflege. 

Kreisphysikus Dr. Werner in Sangerhausen spricht sich auf 
Grund einer 20jährigen Erfahrung dahin aus, dass die Vaccine 
rein spezifisch sei, d. h. dass das in der Vaccinationsblase ge- 



Referate. 343 

bildete lymphatische Exsudat, mag es einem uoch so kranken Kör- 
per entstammen, aufgegangen sei in dem Spezifischen der Yac- 
cinez^Ue, ebenso wie syphilitische Exsudate, mögen sie auf scro- 
fulösen oder sonst wie kranken Körpern haften, immer nur die 
Syphilis, nicht aber die andere Krankheit des Körpers über- 
tragen. Es sei daher für die Weiterbenntzung der Lymphe ganz 
gleichgültig, ob der Träger im Uebrigen scrofulös, syphilitisch 
oder sonst wie siech sei. Mit der Abimpfung aus normal ent- 
wickelten Vaccinationsblasen würden daher nie anderweitige 
Krankheiten übergeimpft, vorausgesetzt, dass durch das 
Anstechen der Blase nicht neben der klaren Lymphe 
Blut mit austrete. Er habe es sich beim Impfgeschäft seit 
langen Jahren zum Grundsatz gemacht, blutgestreifte Lymphe 
auch von als gesund geltenden Kindern nie zu benutzen, son- 
dern lieber eine neue Blase mit grösserer Vorsicht anzustechen. 
Mit Recht spricht er sich gegen den Vorschlag derjenigen aus, 
welche revaccinirte Kinder von 10—11 Jahren zum Abimpfen 
benutzen, weil bei diesen der Gesundheitszustand leichter consta- 
tirt werden könne, als bei Kindern im ersten Lebensjahre, in 
denen so mancher Krankheitskeim schlummern könne. (Berl. 
Klinische Wochenschrift Nr. 34, 1871.) 



Die obligatorische Vaccination in England ist 
durch den Vaccinations- Akt von 1867 (30. u. 31. Vict. c. 84. 
s. 31) geregelt- Derselbe schreibt vor, dass auf eine Anzeige an 
einen Friedensrichter durch einen angestellten Beamten, dass 
irgend ein Kind unter 14 Jahren noch nicht mit Erfolg geimpft 
worden, und dass die Aufforderung an die Eltern oder den Vor- 
mund des Kindes, die Impfung zu bewerkstelligen, nicht beob- 
achtet worden, „der Richter, die Eltern oder der Vormund vor- 
laden kann, mit dem Kinde zu einer gewissen Zeit und an einem 
gewissen Ort zu erscheinen, und sollte der Richter beim Er- 
scheinen nach einer Untersuchung, wie er sie für gut erachtet, 
finden, dass das Kind noch nicht geimpft worden ist und auch 
noch nicht die Pocken gehabt hat, so kann er, wenn es ihm be- 
liebt, unter seiner eignen Hand und seinem Siegel eine Ordre er* 
lassen, welche vorschreibt, dass ein solches Kind in einer 
gewissen Zeit geimpft werde ^, und es besteht eine Strafe auf 
die Nichtbefolgung dieser Vorschriften. 

In einem gewissen Falle verweigerte Jemand, sein Kind 
vorzuführen* Der betreffende Magistrat nahm als durch Zeugen 
erwiesen an, dass das fragliche Kind ein Jahr und elf Monate 
alt und noch nicht geimpft war, auch die Pocken noch nicht ge- 
habt hatte; er glaubte aber keine Machtvollkommenheit zu haben, 
eine Ordre für die Impfung zu erlassen, da der Beklagte ohne 
das Kind erschienen sei. Er legte desshalb diesen Fall dem. 



344 Referate. 

Gerichtshöfe zur Entscheidung vor. Derselbe entschied, dass die 
Vorführung des Kindes keine Bedingung sei, welche dem Brlass 
der Ordre vorhergehen müsse. „Es mag sehr rathsam sein% sagte 
der Richter, „dass das Kind gebracht wird, aber wenn die Eltern 
dasselbe nicht bringen wollen, so kann ihre Widerspenstigkeit die 
Ausführung des Parlamentsakts nicht behindern.^ Der Fall wurde 
demgemäss dem Magistrat zur Ausführung der Ordre remittirt. 
(Med. Times and Gazette. Vol. 1. 1871. No. 1095.) 



Untersuchung des Wassers mittels des elektrischen 
Lichtes. John Tyndall hat das Trinkwasser einer neuen 
Untersuchungsweise unterworfen, welche derselbe an eine Vor- 
lesung über Licbtzerstreuung anknüpfte. Tyndall ist bekannt- 
lich ein ausgezeichneter Physiker und sein Werk über Wärme 
ist neuerdings von Helmholtz in deutscher Ausgabe heraus- 
gegeben worden. 

Fällt ein Lichtstrahl in ein dunkles Zimmer, sagt Tyndall 
in dem gedachten Vortrage, so erkennen wir deutlich die Bahn 
des Lichts an den sogenannten Sonnenstäubchen, die in mehr 
oder weniger grosser Menge in der Luft vertheilt sind und nie 
ganz fehlen. Jedes einzelne Staubpartikelchen reflectirt Licht in 
unser Auge; wir sehen also den Staub in der Luft, aber nicht 
die Luft selbst. Wäre diese vollkommen frei von feinen festen 
Theilchen, so konnten wir auch den Lichtstrahl nicht sehen* Ob 
dieser aber von der Sonne oder von einer elektrischen Lampe 
ausgeht, ist schliesslich einerlei; im letzteren Falle sind wir jeden- 
falls insofern im Vortheil, als wir auch unabhängig von der Sonne 
experimentiren können. Diese Thatsache hat nun Tyndall auf 
die Ermittelung der Reinheit des Wassers angewendet. 

Das absolut reine Wasser wird so wenig wie die absolut reine 
Luft das Licht zerstreuen können ; dieses geht hindurch und wird 
dabei wie von jeder anderen Flüssigkeit verschluckt, absorbirt. 

Bei den verschiedenen Flüssigkeiten ist auch die Absorptions- 
fähigkeit verschieden gross und wächst diese mit der Flüssig- 
keitsschicht. Um dies zu beweisen, warf Tyndall mit der elek- 
trischen Lampe ein Farbenspektrum an die Wand und brachte 
dann zwischen diese und das Prisma eine Glaszeile mit Lösung 
von Kupfervitriol, dann zwei und so steigend, bis nach und nach 
alle Theile des Spektrums verschwunden waren durch Absorp- 
tion der einzelnen Farbstrahlen. Dieselbe Erscheinung wurde in 
derselben Weise mit einer Lösung von übermangansaurem .Kali 
gezeigt. 

Wie aber hier gefärbte Salzlösungen das Licht absorbiren, 
so auch das Seewasser, überhaupt jedes Wasser. Trifit ein 
Bündel Sonnenlicht das Meer, so werden schon auf der Ober- 
fläche des Wassers die Wärmestrahlen absorbirt; dann folgen in 



Referate. 345 

« 

der obersten Schiebt die rothen Strahlen, die Terschlackt werden, 
erst in tiefern die grünen und zuletzt die blauen. Eothält nun 
das Wasser zugleich kleine feste Partikelchen, so werden diese 
die grünen Strahlen reflectiren und das Wasser erscheint ans 
grün. Wer hätte noch nicht Gelegenheit gehabt, auf dem Meere, 
auf Flüssen oder Seen vom Bord eines Schiffes diese grüne Farbe 
des Wassers zu beobachten? Fehlen aber die festen Bestand- 
theile, so setzen die grünen Strahlen ihren Weg fort, bis sie ganz 
absorbirt und ausgelöscht sind. Wasser von grosser Tiefe und 
absoluter Reinheit müsste demnach ganz schwarz und wie eine 
See von Tinte erscheinen und würde kein Licht reflectiren ausser 
einem Schimmer an der Oberfläche. Wird eine silberne Tafel- 
platte an einem Seil ins Meer gelassen, so erscheint sie stets 
grün. Derselben Untersuchungsweise unterwarf nun Tyndall 
das Londoner Trinkwasser. Auch hier liess er während der Vor- 
lesung den Strahl der elektrischen Lampe nach und nach durch 
9 Flaschen mit Londoner Wasser fallen. Je deutlicher die Bahn 
darin erkennbar war, um so grösser musste auch die Menge der 
darin enthaltenen festen Theile sein, welche das Licht zerstreuen. 
Am schlechtesten und unreinsten zeigte sich das Wasser der 
Lambethgesellschaft, am reinsten das der Kentgeseil- 
schaft; ihm an Reinheit zunächst stand das Wasser der West- 
Mittelessex-Gesellschaft und unter den übrigen war die 
Wahl schwer, welches am unreinsten sei. Aber auf diese Weise 
werden ja nur die festen Verunreinigungen nachgewiesen, un- 
sichtbar bleiben die ausserdem massenhaft darin vorkommenden 
gelösten Verunreinigungen. Wie schwer es aber ist, die im 
Wasser suspendirten festen Theilchen durch mechanische Mittel 
zu beseitigen, zeigten Tyndall's Versuche mit destillirtem und 
filtrirtem Wasser. Alle diese waren, wenn man sie mit Londoner 
Wasser verglich, sehr klar, aber in allen war trotzdem der Strahl 
deutlich siebtbar. Zum Beweis, wie manches natürlich vorkom- 
mende Wasser eine bewundernswerthe Reinheit zeigt, liess Tyn- 
dall den Lichtstrahl durch eine Flasche mit Wasser aus dem 
Genfer See fallen und es war derselbe darin nur als schwache 
blaue Linie zu erkennen. 

Dieser Versuch brachte Tyndall auf den practischen Schluss, 
auf den er hinzielte, auf die Versorgung Londons mit Wasser 
aus den englischen Kalkformationen. Dieses Wasser ist von der 
höchsten nur irgend erreichbaren Reinheit Zwar ist es durch 
seinen grossen Kalkgehalt so hart, dass es dadurch für den häus- 
lichen Gebrauch nn verwendbar ist, aber durch den Clark 'sehen 
Process*) könnte es in den Centralwerken vollkommen von koh- 



*) Derselbe besteht im Zoffigen von Kalkwasser oder einer dün- 
nen Kalkmilch zu dem harten Wasser, Umrühren und Absitzenlassen. 



346 Referate. 

leosaarem Kalk befreit und dann mit gleicfatnässiger Temperatur 
frei von organischen Substanzen und darin vertfaeilten festen 
Stoffen nach London geleitet werden. Tyndali Eeigte den Ver- 
such an einer Flasche so gereinigten Wassers von Ganterbury 
neben einer Flasche von Londoner Wasser, welche er vom 
Strahl der elektrischen Lampe durchstreichen Hess. Der Un- 
terschied war so auffallend wie der etwa zwischen 
Bergkrystall und Erbsensuppe. (Gaea, Natur u. Leben. 
7, Jahrg. 4. Hft. Cöln u. Leipzig, 1871.) 



Einen Fall von acutem Rotz beim Menschen hat Dr. 
Nina US in Graz mitgetheilt. Am 11. April d. J. wurde eine 
40jährige ledige Magd in d(\s Hospital gebracht, welche im 6. 
Monat schwanger war, während des Transports Wehen bekom- 
men hatte und einige Stunden nach ihrer Ankunft gebar. Die 
Frucht lebte, starb aber bald. Die Lider beider Augen sind 
hochgradig angeschwollen wie bei höchst entwickelter Ghemose 
der acuten Blenorrhoe; die des linken Auges können gar nicht, 
die des rechten nur passiv geöffnet werden. Es zeigt sich hier- 
bei, dass der Bulbus frei und die Bindehaut leicht ödematös ist. 
Die Anschwellung setzt sich auf den Nasenrücken und die linke 
Stirnhälfle fort und bildet an dieser Stelle eine über thalergrosse, 
livide, von zerstreuten schwärzlichen, hanfkorn- bis kleinerbsen- 
grossen Bläschen besetzte Elevation. An den Schultern, Ellen- 
bogen, Enieen, Handwurzel- und Sprunggelenken sind ähnliche, 
nuss- bis handtellergrosse livide Anschwellungen der Haut, die 
sich weniger über das Niveau erheben, als sich in die Tiefe er- 
strecken, genau abzugrenzen und sehr prall anzufühlen sind. 
Man kann sie in toto, nicht aber die Haut über ihnen verschieben. 
Es lässt sich nirgends Fluctuatiou nachweisen. Patientin em- 
pfindet weniger Schmerz bei Berührung derselben, als bei Be- 
wegungen des entsprechenden Gelenks. Die Nasenlöcher sind 
durch schmutzig braune Borken geschlossen, die Zunge von 



Die Kalkmilch entzieht dem Wasser die halbgebundeue Kohlensäure, 
bildet damit uDlöslichen kohlensauren Kalk und bewirkt zugleich die 
Ausscheidung des darin gelöst gewesenen kohlensauren Kalks. In 
England werden auf diese Weise grosse Mengen Wasser für die Tech- 
nik weich gemacht. Themse wasser, welches ziemlich grosse Mengen 
Härte gebende Salze, die 24 Grain in der Gallone betragen, enthält, 
hat man nach diesem Verfahren behandelt, die betreffenden Salze da- 
durch auf 8 Grain heruntergebracht und gleichzeitig die organische 
Materie bis auf die Hälfte entfernt. Oonf. die chemische Technologie 
des Wassers von Dr. Bolley. Braunschweig, 1862. S. ö9. 

Anm. d. Red. 



Referate, 347 

trocknem, die GaumenbogeQ von einem schmierigen grauen Be- 
leg besetzt. Temperatur in der Achselhöhle 4IoC. Interne lässt 
sich nichts wesentlich Krankhaftes nachweisen. Puls 108, voll, 
gleichmässig, Respiration 36. — Die Anamnese ergibt, dass Pa- 
tientin seit 3 Wochen krank ist. Zuerst hatte sie ausser zeitwei- 
liger Hitze und Kälte heftige Schmerzen im Rücken und in der 
linken Brustseite, welche nach und nach auf alle Gelenke über- 
gingen. Am 10. Tage zeigten sich die ersten Flecke am Körper 
und zwar am linken Knie. Die Anschwellung im Gesicht bestand 
seit 4 Tagen. Es ergab sich ferner, dass das einzige Pferd des 
Hofes rotzkrank gewesen und am 15. April zu Grunde ge- 
gangen sei, obgleich Pat. behauptete, mit dem Pferdedienste nichts 
zu schaffen gehabt zu haben. 

Es wurden säuerliche Getränke aus Chinin gereicht. Am 
nächsten Tage Zunahme der Anschwellungen und Phlyktänie. 
Morgens Temperatur 39,6*, Puls 96. Nachts 41®. Morgens 40", 
Puls 120. Schweres Athmen. Die Schleimhaut des Rächens und 
des harten Gaumens von einem dichten, trocknen, pastösen Be- 
leg überzogen, die der Nasenhöhlen geschwellt, dunkel, geröthet. 
Stimme frei, Husten selten; unterhalb der linken Scapula Schall 
und Athmen vermindert; die Lochien spärlich, blutig, nicht übel- 
riechend. — Nachmittags Bewusstlosigkeit, stertoröses Athmen, 
zeitweise Zuckungen durch den ganzen Körper; Puls 150, un- 
gleich, aussetzend. Harn sauer, enthält ziemlich viel Albumin, 
im Sedimente Urate und rothe Blutkörperchen neben Leucin 
und Ty rosin. Um 6 Uhr mehrmals krampfartige Anfälle, wel- 
che den ganzen Körper betrafen. Um 9^ Uhr Abends Tod. — 
Section am 21. April. Die linke Hälfte der Stirn, sowie die 
Lidhaut beider Augen bläulich violett mit theils zusammengeflos- 
senen, theils gtuppirten, theils isolirten grösseren und kleineren, 
mit rothgelbem Eiter gefüllten Pusteln versehen, unter welchen 
das Korium etwas geschwollen, hyperämirt und in den tiefern 
Schichten von kleinen Eiterheerden durchsetzt war. Aehnliche 
Stellen von nur theilweise mit Serum erfüllten Blasen fanden 
sich an der rechten Schulter; dann zerstreut am übrigen Körper 
livide Flecke, an denen Blasen und Pusteln noch nicht vollstän- 
dig entwickelt waren. Das Gesicht und mehrere Stellen der 
Haut, namentlich der Vorderarm ödematös geschwollen. Hier 
fanden sich in der Muskulatur ziemlich umfängliche, mit zähem 
rotbgelbem Eiter gefüllte Abscesse. Schleimhaut des Larynx und 
der Trachea geröthet, von zähem schmutzigem Schleim bedeckt. 
In der Spitze der linken Lunge einige Schwielen und ein paar 
erbsengrosse obsolete Tuberkeln. Am rechten Oberlappen ein 
paar bohnengrosse, dunkelrothe Infarkte innerhalb scharfer Be- 
grenzung; in ihnen und in ihrer Umgebung einige Eiteransamm- 
lungen. Im Unterlappen dieser Seite einzelne und in jenem der 



848 Referate. 

linken siemlich sahireiche lobuläre Hepatisationen, gleichfalls mit 
stellenweisen kleinen Abscessen. Im hinteren Umfange des lin- 
ken Oberlappens ein haselnussgrosser, mit dickem Eiter erfüllter 
Abscess. Zwischen den vorgenannten Infiltrationen war die 
Lange lufltarm, hyperämirt, etwas gelockert nnd odematos. Die 
übrige Lunge massig mit Blut versehen. Im HerEbentel etwas 
Seram und im Herzen flüssiges nnd locker geronnenes Blut. Der 
Zellstoff an der Spitze des rechten Ventrikels im Umfange einer 
Haselnuss etwas hjperämirt, derb und gelockert Die Bicuspi- 
dalis sammt ihren Sehnen etwas verdickt, letztere verkürzt. In 
den Hohlen nnd grossen Qefassen flüssiges Blut mit derbem nnd 
lockerm Gerinnsel. Die Leber um ein Drittel grosser, talghaltig; 
die Milz weich; blutreich; die Nieren derb. Der Uterus den 
Umsf.änden gemäss vergrössert, aber nicht erkrankt. 

Der Zustand hatte am meisten Aehnlichkeit mit puerperaler 
Pyämie. Die Schleimhaut der Rachen- und Mundhöhle war im 
Zustande crouposer Exsudation. Der Nasenausfluss hatte sich 
nach rückwärts gesenkt und war verschluckt worden. Der Ge- 
ruch aus Mund und Nase war sehr fotid. Für die akute Rots- 
krankheit -* sprechen besonders das Vorhandensein eines rotz- 
kranken Thieres, die Infectionsmöglichkeit, die peripheren meta- 
statischen Heerde, die Erkrankung der Nasenrachenschleimhaut 
mit Affection der Weichtheile des Gesichts und die über den 
Körper zerstreuten Eiterpusteln (Rotzexanthem nach Virchow). 
(Wiener medizinische Presse. No. 29. 1871.) 



Die Lehre der Trichinenkrankheit hat Professor Dn 
Zenker zu Erlangen durch sehr wichtige Untersuchungen be- 
reichert. Die Ratten haben bisher bekanntlich in der Trichinen- 
frage eine wichtige Rolle gespielt Da sie recht eigentlich als 
die ,, Quelle*^ der Trichinengefahr bezeichnet worden sind, so 
hat es Zenker unternommen, diese Rattentheorie auf ihre Stich- 
haltigkeit zu prüfen. Nach den bisher an den verschiedensten 
Arten stattgefundenen Untersuchungen ergaben sich von 704 Ratten 
als trichinös 59 == 8,3 pCt, 

von 208 Ratten der Fallmeistereien trichinös 46 es 22,1 pCt., 
. 224 - aus Schlächtereien - 12 ss 6,3 - 

- 272 - aus anderen Lokalitäten - 1 = 0,3 - 

Die Fragen, welche Zenker an der Hand dieser Zahlen zu 
losen versucht, sind folgende: 

1) Sind die Trichinen unter den Ratten wirklich so 
häufig nnd in solcher Weise verbreitet, dass die letz- 
teren als die hauptsächlichste (so zu sagen regelmäs- 
sige) Infections quelle für die Schweine angesehen wer« 
den können? 



Referate. 349 

2) Woher beziehen die Ratten ihre Trichinen? 
Beziehen sie sie hauptsächlich von ihrem eigenen 
Geschlecht oder von anderen trichinigen Thieren? 
Sind also die Ratten oder andere Thiere die eigent- 
liche Trichinenquelle? 

Zenker ist der Ansicht, dass die Ratten ihre Trichinen 
in erster Linie nicht von ihrem eigenen Geschlecht, sondern 
aus dem Fleisch anderer trichiniger Thiere beziehen. Er sieht 
in den trichinösen Ratten ein Symptom des Vorkommens tri- 
chinoser Schweine an den betreffenden Lokalitäten. 

Das Schwein ist somit als der eigentliche und ursprüng- 
liche Trichinenträger, als die wahre Trichinenquelle zu be- 
trachten. In ihm läuft in der Regel, ohne Einschaltung eines 
anderen Trägers, der ganze Kreislauf der Tricbinenentwicke- 
lung ununterbrochen ab, in ihm pflanzen sich die Trichinen fort 
von Geschlecht zu Geschlecht. Von ihm bezieht der Mensch, 
beziehen andere Thiere, besonders auch die Ratten ihre Tri- 
chinen. Das Schwein habe vielfache Gelegenheit, die Quelle 
seiner Trichinen von seinem eigenen Geschlecht, direkt und 
indirekt zu beziehen. 

Die möglichen Wege sind nach Zenker folgende: 

1) Die Infection durch Verschlucken von mit dem 
Kothe anderer Schweine abgegangenen Darmtrichi- 
nen und Embryonen. 

2) Die Infection durch das Fressen trichinigen 
Fleisches anderer Schweine. 

In letzterer Beziehung bieten die Fall- oder Wasenmeiste- 
reieu, die sog. Abdeckereien und die Verfutternng der Fleisch- 
abtälle beim Schweineschlachten an die Schweine des Gehöftes 
eine gunstige Gelegenheit dar. 

Die prophylaktischen Massregeln, von denen man 
sich wirklich Erfolg versprechen kann, ergeben sich aus dem 
Gesagten von selbst. Sie haben sich zunächst gegen die bei- 
den Gelegenheiten zu richten, in denen man die Hauptgefahr 
findet. 

In Betreff der ersten Gelegenheit haben die Sanitäts- 
Polizeibehörden einzuschreiten. Es ist ihre dringende 
Pflicht, die gefährliche Trichinenquelle in den Ab- 
deckereien zu verstopfen. Und dieses Ziel ist bei einiger 
auf die richtige Einsicht begründeter Energie vollkommen er- 
reichbar. Es mnss durch ganz klare und unzweideutige ge- 
setzliche Bestimmungen den Fallmeistern das Halten, Füttern 
und Schlachten von Schweinen, sowohl für den Verkauf, als 
für den eigenen Bedarf ohne alle Ausnahme auf das Strengste 
(nöthigenfalls unter Androhung ernsterer Strafen) untersagt, 
die Durchführung dieses Verbots aber durch die strengste Con- 



350 Referate. 

trole gesichert werden. Sie müssen ferner ebenso bestimmt 
verpflichtet werden, alle an sie abgelieferten Schweinecadaver 
durch geeignete Behandlung, wohl am zweckmässigsten durch 
Aussieden, im Hinblick auf die Trichinengefahr vollkommen 
unschädlich zu machen, niemals aber dieselben (oder auch nur 
irgend welche Abfalle davon) als Viehfutter zu benutzen. Wer- 
den diese Massregeln wirklich durchgeführt — und das kann 
nicht schwer sein — , so ist von den Abdeckereien nichts mehr 
zu fürchten und auch die trichinösen Rattencolonien jener Orte 
werden dann in nicht langer Zeit nur noch eine historische 
Remini scenz sein. Die Falimeister würden durch solche Be- 
schränkungen ihrer bisherigen Befugnisse in ihrem Binkom- 
men wahrscheinlich nicht unerheblich beeinträchtigt werden. 
Da sie aber bei ihrem bisherigen Verfahren wohl grösstentheiis 
ganz bona iide gehandelt, die Gefahr nicht gekannt haben und 
auch von den Behörden nicht darauf hingewiesen worden sind, 
so wäre es unbillig, sie darunter leiden zu lassen Man wird 
ihnen also irgend welche Entschädigung zuweisen müssen und, 
wenn es keinen anderen Weg gibt, pekuniäre Opfer nicht 
scheuen dürfen. Die dadurch erkaufte Sicherung vor Gefahr 
bietet dafür genügenden Ersatz. 

Zenker hat schon unterm 13. Januar 1866 der Kgl. Regie- 
rung von Mittelfranken die betreffenden Vorschläge gemacht. 
Es ist aber noch I^ichts in dieser Richtung geschehen. Einst- 
weilen ist in Oesterreich durch Staatsministerial-Erlass vom 
10. Mai 1866 den Wasenmeistern ^das Halten von Schweinen 
verboten worden**, nachdem in der Wiener Wasenmeisterei ein 
trichiniges Schwein gefunden worden war. 

Was die zweite Infectionsgelegenheit, die landwirthschaft- 
liche Verfütterung von Schweinefleisch an Schweine betrifft, so 
liegt diese ausserhalb der Machtsphäre der Sanitätspolizei. In 
dieser Beziehung muss man sich an die Einsicht und den guten 
Willen der Landwirthe und Schweinezüchter wenden. 

Der Grundsatz, der als feststehende Regel in der Land- 
wirthschaftGeltung erlangen muss, heisst:„Bei dem Schlach- 
ten der Schweine darf nichts, auch nicht das Min- 
deste von den Abfällen, nichts auch von den Ku- 
chenabfällen zur Zeit und kurz nach dem Schweine- 
schlachten wieder in den Futtertrog der Schweine 
gelangen. Es ist deshalb insbesondere auch das bei 
solchen Gelegenheiten benutzte Spülwasser durch- 
aus davon fern zu halten.*' 

Alle diese Abfälle wären vielmehr, am besten wohl durch 
Aussieden, auf alle Fälle unschädlich zu machen. Freilich 
wäre all dies bei gesunden Schweinen ganz unbedenklich. Aber 
die Trichinengefahr tritt an den Landwirth stets versteckt heran. 



Referate. 361 

und er kann sich daher vor ihr nur durch allgemein durch- 
geführte Massregeln schützen. Der Nährwerth aber, der ihm 
durch solche Massnahmen verloren geht, ist ja ein so ver- 
schwindend kleiner, dass sich Niemand um deswillen einer 
Gefahr wird aussetzen wollen. Handelt der Landwirth (und 
jeder Schweinezüchter) danach, so wird er, wenn ihm ein Tri- 
chinenschwein von aussen zukommt, wenigstens nicht mehr, 
wie bisher, die Trichinen auf seinem eigenen Gehöfte fort- 
züchten 

Zenker findet mit Recht etwas Tröstliches darin, dass 
der allgemeine Krieg gegen die Ratten ihm ausserhalb der 
Grenzen der Trichinen frage zu liegen scheine; denn er könne 
nicht läugnen, dass er in dem Satze: „vertilgen wir die Ratten, 
so vertilgen wir die Trichinen", einen bittern Hohn fände. So 
lange die Ratten im Kampfe ums Dasein noch solche Kraft 
zeigten, wie heute, sei diese Ansicht doch gar zu aussichtslos! 
(Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. 8. Hft. 3 u. 4. 1871. S. 387.) 



Die Versuche über Tuberculosis bei Thieren von 
Prof. Günther und Dr. Harms zu Hannover ergänzen die 
im vorigen Hefte dieser Zeitschrift mitgetheilten Experimente 
von Gerlach. Aus denselben geht hervor, dass 7 Kaninchen, 
welche mit rohen Knoten von einer perlsüchtigen Kuh geimpft 
worden waren, tuberculös wurden und krepirten. Nur ein Pferd, 
welches am 15. Tage nach der Impfung an Starrkrampf starb, 
blieb frei. 

Was die Fütterungsversuche betrifft, so wurden 1) rohe 
Substanzen von tuberkelkranken Thieren gereicht. 
4 Kaninchen wurden mit Fleisch von einem extrem tu- 
berkulösen Schwein gefüttert. Eins wurde nach 14 Tagen, 
dem Verenden nahe, getödtet und frei von Tuberkeln gefunden 
Ein anderes Kaninchen war nach 3 Monaten noch frei von Tu- 
berkeln. Zwei Kaninchen zeigten nach circa 3 Monaten be- 
sonders in der Wand des Darmkanals zahlreiche Miliartuber- 
keln. Fütterungen mit dem Lungenstück eines tuberkulö- 
sen Schweins erzengten bei 4 Kaninchen eine weit verbreitete 
Tuberculosis. 

Die Fütterung mit rohen Perl suchtknoten einer frisch 
geschlachteten Kuh brachte bei einem Kaninchen, welches 8 
Grm. davon erhielt, nach 1 Monat Miliartuberkeln in den Lun- 
gen hervor, aber nicht in grosser Verbreitung. 

Ein Hund wurde mit der Lunge eines perlsüchtigen Rindes 
gefüttert und zwar 3 Tage lang. Nach 24 Tagen wurde er ge- 
tödtet und ganz frei von Tnberkeln gefanden. 



352 Referate. 

2) Gekochte Substanzen von tuberkulösen Thie- 
ren. 3 Kaninchen erhalten 30 Grm. gekochtes Fleisch von ei- 
nem tuberkulösen Schwein. Sie blieben frei von Tuber- 
keln. 4 Kaninchen erhielten 5 Grm. gekochtes Fleisch von 
einem perlsüchtigen Rind. Nach 26 Tagen wurden sie bei der 
Section gesund befunden. 

Drei Kaninchen erhielten 3 Grm. von einem gekochten, stark 
tuberkulösen Lungenstuck vom Schwein, ßei Allen wur- 
den nach circa 2 Monaten Lungentuberkeln gefunden. Die ge- 
.kochten Knoten vom Brustfell einer tuberkulösen Kuh wur- 
den zu 8 Grm. bei 2 Kaninchen verfüttert. Nach 2 Monaten 
getodtet, fand man bei ihnen keine Tuberkeln. 

£ine Vererbung der Tuberkeln auf die Jungen, welche 
von tuberkulös gemachten Kanineben stammten, fand nicht statt. 

Interessant ist bei diesen Versuchen, dass das roheFleisch 
eines tuberkulösen Schweins die Tuberkulose übertrug, 
im gekochten Zustande aber nicht, während die extrem tu b e r k u - 
löse Lunge desselben sowohl im rohen, als gekochten 
Zustande inficirte, wenn auch im letztern schwächer; dass 
ferner die Perlknoten vom Rinde im rohen Zustande nur 
schwach, im gekochten gar nicht inficirten. Auch das gekochte 
Fleisch vom Rinde erzeugte keine Tuberkeln. (Magazin für die 
gesammte Heilk. 3. Heft. 1871. S. 180.) 



Die Tuberkulose der Ziegen, welche bisher noch nicht 
beobachtet worden, hat Dr, Harms bei einer 3jährigen Ziege 
nachgewiesen. £s zeigten sich hirsekorn- bis erbsengrosse 
Knoten und haselnuss- bis hühnereigrosse Höhlen mit höcke- 
rigen, aber glatten Wänden. Die kleineren waren geschlossen 
und mit einer graubraunen krümeligen Masse gefüllt; die grös- 
seren communicirten mit den Bronchien und enthielten eben- 
falls eine graubraune Masse, welche mit Luftblasen untermischt 
war. (Jedenfalls kommt diese Krankheit höchst selten bei Zie- 
gen vor.) (Loc. eod, S. 149.) 



Schädliche Einwirkung des durch faulende Stoffe 
verunreinigten Trinkwassers auf das Vieh. Departe- 
ments-Thierarzt und Veterinär- Assessor Hildebrandt zu Mag- 
deburg hat fast jährlich Gelegenheit zu beobachten, dass nach 
dem Trinken des Viehes mit Wasser aus Brunneui zu dem die 
Mistjauche Zutritt hat, oder aus Teichen, deren Wasser mit 
vielen faulenden vegetabilischen Stoffen geschwängert ist, Milz- 
brand entsteht. Man darf nur nicht glauben, dass sich bei 
allem Vieh die bösen Folgen gleichmässig und sogleich äussern. 



J 



Referate. 353 

Das stärker organisirte Vieh überwindet sie unter den Milz- 
brand nicht begünstigenden Verhältnissen oft ganz; bei andern 
Stacken treten die Folgen oft erst nach Wochen oder Monaten 
ein, während bei andern der Tod dnrch plötzliche Blutzersetzung 
und Lähmung bald nach dem Genüsse eines solchen Wassers 
eintritt. In letzterem Falle wird die schnell eintretende Krank- 
heit und deren kurzer Verlauf bis zum Tode unzweifelhaft auch 
durch den Grad der Verderbniss des genossenen Wassers be- 
dingt. Dasselbe ist gewöhnlich am schlechtesten, wenn es in 
halb ausgetrockneten Abzugsgräben stehen geblieben und lange 
der Einwirkung der Sonnenstrahlen ausgesetzt gewesen ist oder 
in tiefen Lachen oder Pfützen nach Frühjahrsüberschwemmun- 
gen sich angesammelt hat und viele vom Winde hineingewehte, 
in der Zersetzung begriffene vegetabilische Stoffe enthält. 

Alle in der Nähe solcher Lachen oder Pfützen wachsende 
Wasserpflanzen sind in der Regel mit Rostpilzen befallen, z. B 
die Poa aquatica. Werden sie nach dem Trinken des faulen 
Wassers von dem Vieh in erheblicher Quantität gefressen, so 
tritt der Tod meistens schon binnen einer oder mehrerer Stan- 
den ein. Ein Domainepächter verlor auf diese Weise 7 Ochsen, 
bevor die Gespanne beim Heueinfahren von der Wiese nach 
Hause zurückgekehrt waren. Er vermuthete, dass die Ochsen 
in Folge des Genusses von Giftpflanzen verendet wären; allein 
eine Untersuchung der angeblichen Giftpflanzen zeigte, dass sie 
nur in der stark befallenen Poa aquatica bestanden. (General- 
Veterinär- Bericht vom April 1870 bis April 1871.) 

Dr. Elbg. 



ViertelJfthrMehr. L ger. H^d. N. F. XV. 2. 23 



17, 

Litteratnr. 



Max V, Peitenkofer. Verbreitungsart der Cholera in 
Indien. Braunschweig, 1871. 

Pettenko/er hat die neueren Arbeiten von Macpherson^ Murray^ 
Macnamaray Cuningham^ Lewis y Bryden etc. benutzt, um daraus das 
Wichtigste ffir den künftigen Gang der Forschungen und die schon 
jetzt ZQ ziehenden praktischen Oonsequenzen bezäglich der Cholera 
henrorzaheben. 

Was znoächst das Alter der Cholera in Indien betrifft, so darf 
man mit Bestimmtheit annehmen, dass die Choleraepidemien in Indien 
so alt sind, wie das dortige Menschengeschlecht oder die indische 
Cultor. Bezüglich der örtlichen Ausbreitung der Cholera in 
Indien hat Bryden festgestellt, dass die Oertlichkeit einen wesent- 
lichen Factor der Cholerafrequenz ausmacht, dass diese mit örtlichen 
Bedingungen in irgend einer Weise zusammenhängen muss, dass diese 
Bedingungen aber ausserdem noch an gewisse Jahre gebunden sind, 
dass sie nur im endemischen Bezirke jedes Jahr gegeben sind 
und in den ausserhalb gelegenen, sogenannten epidemischen Be- 
zirken sich nur zeitweise einstellen, und dass nur zu solchen Zeiten 
die Cholera in epidemischer Form in diese Bezirke verpflanzt werden 
kann, zu einer anderen Zeit nicht. 

Durch seine Untersuchungen über die Ausbreitung der Cholera 
in Indien ist Bryden Miasmatiker alten Stjls geworden und glaubt, 
dass die Verbreitung der Krankheit durch den menschlichen Verkehr, 
wenn auch in vereinzelten Fällen nicht unmöglich, im Grossen und 
Ganzen keine Bedeutung habe. 

Auch Pettenko/er gesteht, dass das Verhalten der Cholera in Indien 
viel besser auf die miasmatische, als auf die contagiöse Ansicht passe. 
Die miasmatische Ansicht sei dort auch eigentlich die einheimische, 
während die contagiöse aus Europa dort eingewandert sei. Die Ein- 
geborenen fliehen nie die Cholerakranken , sondern nur Choleraorte. 
Auch bei den europäischen und eingeborenen Truppen ist es eine ein- 
gebürgerte Massregel, die Caserne, das Lager, die Linien möglichst 
bald zu verlassen, sobald sich Cholerafälle zeigen. 

Was die Hindu- und Mohammed-Pilger als Verbreiter der Cholera 
betrifft, so ist Bryden der Ansicht, dass keine Pilgermasse Cholera 
hervorbringen oder bekommen wird, ausser wo Cholera ohnehin ist 
und für epidemische Verbreitnng vorbereitet ist. Er macht auch noch 
darauf aufmerksam, dass diejenige Ausdehnung der Cholera während 
des Krieges, welchen die grosse indische Empörung in den Jahren 



Litteratur. 355 

1857 — 59 hervorgerufen hatte, nicht für die Verbreitung durch den 
persönlichen Verkehr an und für sich spräche. Ebenso erklärt Cu- 
ningham^ dass fast von jeder Garnison und fast von jedem Regiment, 
sowie fast von jedem Gefäugniss mit einer Gleichförmigkeit, die ganz 
eintönig klinge, constatirt werde, dass keine Communication, weder 
direkt noch indirekt, zwischen dem ersten {{ranken und einem vor- 
ausgehenden Cboleraanfalle nachgewiesen werden konnte. 

Desshalb hält Pettenko/er auch die Frage über Quarantaine 
als Schutzmittel gegen Cholera zwar nicht für immer erledigt, 
jedoch scheint ihm so viel festzustehen , dass Quarantaine so lange 
ohne allen Nutzen bleiben werde, so lange wir nicht andere Gesichts- 
punkte dafür gewinnen, als bisher. 

Den Werth der Desinfection schätzt man auch in Indien hoch. 
Macnamara legt bezüglich der Präventivmassregeln grossen Werth auf 
die Reinhaltung des Trin kwassers von Excrementen, des- 
sen Filtration und Kochen, sowie das Sauermachen und 
Sauerhalten aller Excremente. 

Man empfiehlt besonders Eisenvitriol und Karbolsäure. Dass 
Unreinlichkeit im Allgemeinen die Oholeratälle vermehrt, ist auch 
in Indien allgemein Annahme, aber nicht gerade, dass es vorwaltend 
die unreinen Abtritte sind, von welchen die Ansteckung ausgeht. 
Auffallend gering findet P. auch in Indien die Ausbeute an Thatsachen, 
welche nur einigerraassen für einen Einfluss des Trinkwasser« sprä- 
chen und nicht schon auf den ersten Biick ganz anders gedeutet wer- 
den könnten. 

Bezüglich der Incubationsdauor stimmen die Thatsachen ans 
Indien sehr genau mit denen aus Bayern, wonach Zeiträume von 2^ 
bis 5 Tagen, im Durchschnitt 3 Tage als Minimum beobachtet wor- 
den sind. 

P, findet seinen Satz, dass die Cholera auf Schiffen von 
vorausgegangenen Einflüssen und Processen auf dem 
Lande bedingt und abhängig sei, auch durch die Beobachtun- 
gen in Indien bestätigt. Die Choleiafälle auf Schiffen dürfe man nicht 
mehr länger als Einwürfe gegen die unentbehrliche Rolle des Bodens 
beim Choleraprozesse ansehen. Eine Cholera ohne Boden gäbo 
es nicht. So weit Cholera auf Schiffen vorkomme, stamme sie stets 
vom Lande. 

Endlich erhält auch die individuelle Disposition zn dem 
Erkranken ihre gehörige Berücksichtigung. Es ist faktisch, dass die 
Europäer ISmal mehr von der Cholera leiden, als die Eingeborenen. 
Keinem Arzte wird in seinem Wirkungskreise der grosse Eiufluss der 
individuellen Disposition entgangen sein, mag er auf einem Punkte der 
Erde Cholerakraoke behandeln, wo er will. 

Im Allgemeinen erblickt P. in den indischen Beobachtungen eine 
Bestätigung seiner Grundwassertheorie, wobei er noch besonders her- 
vorhebt, dass Schwankungen des Wasserspiegels im Boden 
nur dann eine Bedeutung haben, wenn sie vom Wechsel 
der Durchfeuchtung einer Örtlich darüber liegenden po- 
rösen Bodenschicht abhängen und herrühren, wenn sie 
für -den Einfluss des Regens so zu sagen Zifferblatt und 
Zeiger sind. Das Resultat seiner Studien, welches ihm nach den 
in Indien und Europa gemachten Erfahrungen unzweifelhaft zu sein 
scheint, lautet in gedrängter Kürze in der Hauptsache folgendermassen: 

1) Die Ursache der in Indien endemischen Cholera kann nicht in 
den dort lebenden Personen, sondern muss in einer noch unbekannten 
Relation des spezifischen Krankheitskeimes zu Boden und Klima ge- 
sucht werden. 



366 Litteraiur. 

2) Die Cholera wird durch den Verkehr zn Lande und zu Wasser 
thatsfichlich verbreitet, oder richtiger gesagt, kann unter gewissen 
Bedingungen verbreitet werden. 

3) Die Cholera ist keine contagiöse Krankheit in gewöhnlichem 
Sinne, indem der Infectionsstoff sich -nicht im menschlichen Körper 
erzeug^ und fortpflanzt. 

4) Die Vorstellung, dass die Cholera durch die Bxcremente der 
Menschen von einem Orte zum anderen verschleppt werde, ruht auf 
der falschen Lehre der Contagiosität der Cholera und ist vielleicht 
wie diese falsch. 

Nach Lewis existiren keine »Cysten" in Choleraausleernngen, 
welche nicht auch unter andern Bedingungen gefunden werden. Der 
von Ballier beschriebene Pilz ist nicht auf Cholerastühle beschränkt. 
Die Flocken und Körperchen in ReisswasserstQhlen bestehen nicht aus 
Epithelium; ihre Bildung scheint vielmehr vom Erguss von Blutplasma 
abzuhängen. Kurz! nach allen Resultaten würde man sich nicht er- 
muthigt fühlen, die Hauptaufgabe der Forschung noch immer im Auf- 
finden des Cholerakeimes in den Excrementen zu erblicken. 

ö) Unsere nächste Aufgabe ist, jetzt den Einflnss der Bodenver- 
hältnisse mit allem Eifer zu studiren, nachdem auch Bryden^B Unter- 
suchungen bewiesen haben, dass Boden undWasser in ihm bei 
der Cholera eine wesentliche Rolle spielen. 

6) Boden und Grundwasser sind nur zwei von den mannigfaltigen 
Bedingungen zum Erkranken, und auch von diesen ist nicht anzu- 
nehmen, dass ihre wesentlichen Functionen nothwendig stets und 
fiberall in den gleichen äusseren Formen aufzutreten haben. 

Zwischen Boden und Grundwasser und Cholera und Typhus be- 
stehen nicht so constante Beziehungen, wie etwa zwischen Tempe- 
ratur der Luft und Ausdehnung des Quecksilbers. Neben den Unter- 
suchungen über Bodenbeschaffenheit, Porosität^ Wasserdichtigkeit und 
Wasserdurchlässigkeit sind fortlaufende Untersuchungen über Grund- 
wasserschwankungen, Bodentemperatur, Regenmenge, Lufttempe- 
ratur und über die organischen Prozesse im Boden anzustellen. 

7) Der Genuss verschiedenen, etwa mit Ausleerungen Cholera- 
kranker verunreinigten Trinkwassers vermag das örtliche und zeit- 
liche Auftreten der Cholera in Indien in keiner Weise zu erklären. 

Bei der grossen Gefahr, welche uns wieder droht, hielten wir es 
für angemessen, die neuesten Ansichtt^n eines unermüdlichen Forschers 
mitzutheilen, wenn sie auch keine neue Aufklärungen verschaffen, son- 
dern nur wiederum beweisen, dass wir über die Cholera noch nichts 
Bestimmtes wissen. 

Dr. Elbg. 



Gedruckt bei Julius Sittenfeld in Berlin. 



Berlin. PROSPECTÜS. September 1871. 



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DIE GEFANGNISSE 

Strafanstalten und Strafsysteme 

ihre 

Einrichtung und Wirkung in hygienischer Beziehung 

von 

Dr. Baer, 

zweitem Arzt an der Strafanstalt zu Nangard. 

Preis 2 Thlr. 

VERLAG VON TH. CHR. FR. ENSLIN IN BERLIN. 

Inhalts -Verzeichnif 8. 



ERSTER ABSCHNITT. 

Die Sterblichkeit in den Strafanstalten. 

Sterblichkeit in den Anstalten im Allgemeinen. — Analyse der von 
1848 bis mit 1868 in der Anstalt Naugard-GoUnow vorgekommenen 
Todesfälle. — Beschaffenheit der Anstalt. — Verhältnifs der Sterb- 
lichkeit. — Verhältnifs der Gestorbenen zu ihrem Lebensalter. — 
Verhältnifs der Sterblichkeit zur Haft. — Einflufs der Haftdauer auf 
die Sterblichkeit. — Von den Todesursachen. — Von der Phthisis 
(Schwindsucht). — Von der Wassersucht. — Von der Morbidität in 
den Strafanstalten. 

ZWEITER ABSCJHNITT. 

Bauliche Einrichtungen. 

Bodenbeschaffenheit. — Baumaterial. — Stellung der Anstaltsgebäude, 
deren Bauart. — Fenster, Thüren, Wände und Fufsboden. — Ven- 
tilation. — Heizung. — Beleuchtuug. — Abfalle (Abtrittseinrich- 
tungen). — Lazareth und Badeanstalt