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Vierteljahrssehrift
für
wissensehaftliehe Philosophie
gegründet von
Richard Avenarius,
in Verbindung mit
Ernst Mach und Alois Riehl
herausgegeben
von
Paul Barth.
Dreiundzwanzigster Jahrgang.
Leipzig.
O. R. Reisland.
1899.
I
Inhaltsverzeichnis
des
23. Jahrganges.
(Die römischen Ziffern bezeichnen das Heft, die arabischen die Seite.)
Artikel.
Barth, P., Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. I, 76
bis 116.
— Fragen der Geschichtswissenschaft. I. Darstellende und begriffliche
Geschichte. DI, 322-359.
Düng€s, A., Die Zelle als Indiyiduum. IV, 417—454.
Ehren f eis, Chr. von, Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik der empi-
ristischen Willenspsychologie und des Gesetzes der relativen Glücks-
förderung. III, 261—284.
Kries, J. von, Zur Psychologie der Urteile. I, 1—48.
Külpe, 0., Über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks.
II, 145-183.
Posch, E., Ausgangspunkte einer Theorie der Zeitvorstellung. 1. Art.:
I, 49-74; 2. Art.: II, 185—204; 3. Art.: HI, 285-322; 4. Art.: IV, 385
bis 416.
Schwarz, H., Die empiristische Willenspsychologie und das Gesetz der
relativen Glücksförderung. 11, 205—234.
Vierkandt, A., Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der
Menschheit. IV, 455—490.
Bespreehungen«
Bouiroux, E., Etudes d'Histoire de la Philosophie. — Von R. Bichter.
IV, 510 f.
Bravnschweiger, 2)., Die Lehre von der Aufinerksamkeit in der Psychologie
des 18. Jahrhunderts. — Von M. Offner. IV, 493—498.
Cemelius^ B.y Psychologie als Erfahrungs Wissenschaft. — Von F. Erueger.
I, 117—124.
Dwelshauvers, C, Nouvelles Notes de Psychologie Exp^rimentale. — Von
P. Mentz. III, 367 ff.
ErdmanHy ß., und Bodge, Ä., Psychologische Untersuchungen über das
Lesen. — Von F. Krueger. 11, 239 ff.
Fechiner, E., John Locke, ein Bild aus den geistigen Kämpfen Englands
im 17. Jahrhundert. — Von J. Eisenhof er. I, 124 f.
IV Inhaltsverzeichnis.
Fulliquetj G., Essai sur l'Obligation Morale. — Von R. Richter. I\
506 f.
Giefsler, C. M., Die Atmung im Dienste der vorstellenden Thätigkei
— Von P. Mentz. HI, 365 ff.
Gomperz, H., Zur Kritik des Hedonismus. — Von P. Hensel. III, 374 i
GrooSj K, Die Spiele der Menschen. — Von A. Vierkandt. III, 37
bis 374.
Qutberlet, C, Der Kampf um die Seele. — Von M. Offner. IV, 498
Grzymischy Ä, Spinozas Lehren von der Ewigkeit und Unsterblichkeit. -
Von R. Richter. IV, 511 f.
Heinrich, W., Zur Prinzipienfrage der Psychologie. — Von 0. Külpc
IV, 491—493.
Kronenberg, M., Moderne Philosophen. — Von R. Richter. IV, 511.
Liehmann, 0., Gedanken und Thatsachen. — Von F. Krueger. IV, 50
bis 506.
Lipps, Th., Komik und Humor. — Von F. Krueger. II, 235—239.
Menzel^ A., Wandlungen in der Staatslehre Spinozas. — Von R. Richtei
ni, 364.
Mikhailowsky, iV., Qu'est-ce que le Progrös? — Von J. Seitz. I, 126
Naville, K, Le Libre Arbitre. — Von R. Richter. IV, 506 ff.
Raizel, R, Politische Geographie. — Von P. Barth, n, 249—251.
Schulze, J., Erläuterungen zu Kants Kritik der reinen Vernunft. — Voi
R. Richter. III, 361—362.
Sammer, R., Lehrbuch der psycho-pathologischen Üntersuchungs-Methoden
— Von P. Mentz. III, 370.
Spencer, B., and Gillen, F. /., The Native Tribes of Central-Australia. —
Von A. Vierkandt. IV, 502.
Wagner, Fr., Freiheit und Gesetzmäfsigkeit in den menschlichen Willens
akten. — Von R. Richter. III, 364 f.
Willareth, 0., Die Lehre vom Übel bei Leibniz, seiner Schule in Deutsch
land und bei Kant. — Von R. Richter. III, 362 f.
Zehnder, L., Die Entstehung des Lebens aus mechanischen Grundlagen
entwickelt. I. Teil. — Von A. Dunges. IV, 499—502.
Ziehen, Th., Psychophysische Erkenntnisthorie. — Von K. Marbe
II, 243—249.
Selbstanzeigen.
Fischer, A., Die Entstehung des socialen Problems. I, 127 f.
Philipp, S., Vier skeptische Thesen. II, 251.
Philosophisehe Zeitschriften: I, 129. II, 253. HI, 377. IV, 513.
Bibliographie: I, 135. II, 257. ITI, 380. IV, 516.
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Abhandlungen.
itiiNiiiiiiiniHwimirouuliiilUHNHiiNiiiiiniiu
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Zur Psychologie der Urteile.
Von J. V. Kries.
Inhalt.
Die Arbelt verfolgt die vom Verfasser fHiher entwickelte ünterscheidnnjr
von Real- und Beziehongs-Urteilen in psychologischer Richtung. Es wird die
entsprechende Differenz des GeltungsbewuTstseins konstatiert, sodann die Ote-
staltonzen desselben in der Gesamtheit realer Denkvorgänge erörtert nnd die
den loschen Hanpt-Typen zukommende Sonderstellnng dargelegt.
Je schärfer neuerdings in der Lehre vom ürteü die
Notwendigkeit einer präcisen Trennung logischer und psycho-
logischer Betrachtung gefordert wird, um so mehr macht sich
doch, wie mir scheint, auch die Einsicht bemerklich, dafs,
um zu einer ganz befriedigenden Klarheit zu gelangen,
eine gewisse Durchfuhrung beider Betrachtungsweisen
wünschenswert ist. Mag auch die Ablösbarkeit der logischen
Probleme von psychologischen Untersuchungen aufser
Zweifel stehen: da es doch einmal zum mindesten nahe
verwandte Gegenstände sind, die bei der einen und der
anderen Behandlung des Urteils in Frage kommen, so wird
ein gewisses Mafs psychologischer Diskussion doch auch
immer dem Logiker wertvoll sein müssen, und für die
psychologische Forschung dürfte wohl, vice versa, das
Entsprechende gelten. Wenn kein anderer, so wird jeden-
falls der Vorteil zu erreichen sein, dafs erst durch den
Überblick über beide Untersuchungen das Verhältnis der
Vierteljahrsschrift f. wissenschaftL Philosophie. XXTTT. l. 1
2 J. V. Kries:
Unabhängigkeit oder des Gegensatzes, in dem sie stehen,
in voller Deutlichkeit hervortritt. Selbst von denjenigen
Autoren, die die Logik als eine Normenlehre des Denkens
auffassen und sie somit in den denkbar schärfsten Gegen-
satz zur Psychologie setzen, ist daher öfter die eine Be-
trachtung neben der andern geführt worden. Erblickt man
in der Logik, wie ich es unlängst dargelegt habe,^) die
Heraussonderung und systematische Darstellung einer ge-
wissen Kategorie von ürteüen, nämüch der logischen Be-
ziehungs-ürteüe, so erscheint in noch höherem Grade unser
thatsächliches Denken als Boden und Ausgangspunkt der
Untersuchung. Gleichwohl aber ist auch hier zu bemerken,
dafs die gewonnenen Ergebnisse zum grofsen Teil auf Ideal-
falle eines wissenschaftlich geklärten Denkens sich beziehen,
und dafs die Betrachtung sehr mannigfaltige Gestaltungen
psychologischen Geschehens, die wir doch auch „Urteilen"
nennen, zunächst ganz ausgeschlossen hat.
Eine psychologische Untersuchung, die sich die Auf-
gabe stellt, diese thatsächlichen Gestaltungen der Denkvor-
gänge allgemeiner zu behandeln und insbesondere den der
Logik zum Ausgang dienenden Specialitäten ihre Stellung
in jener Gesamtheit anzuweisen, erscheint demnach auch
hier als eine wünschenswerte Ergänzung. In dem be-
scheidenen Rahmen der nachfolgenden Blätter kann natür-
lich nicht versucht werden, eine Psychologie des Denkens
zu entwickeln. Doch kann wohl ohne Vermessenheit und
mit Aussicht auf Erfolg der Versuch unternommen werden,
diejenigen Punkte zu bezeichnen, in denen vorzugsweise
die reale Mannigfaltigkeit psychologischer Gebilde und
Vorgänge über die in der erwähnten Abhandlung von mir
zunächst ins Auge gefafsten Typen hinausgeht. Ein der-
artiger Versuch schien mir, abgesehen von dem unmittel-
bar psychologischen Interesse, das er bietet, schon deswegen
^) über Real- und Beziehungs-Urteile. Diese Zeitschr. XVI, S. 253.
Zur Psychologie dei Urteile. 3
geboten, weil er selbstverständlich geeignet ist, mancherlei
Bedenken und Schwierigkeiten beiseite zu räumen, die sich
der fiiiher versuchten, nach logischen Gesichtspunkten unter-
nommenen Zergliederung entgegenstellen könnten; sodann
aber auch, weil dies wohl der geeignetste Weg ist, um zu
einigen auch vom Standpunkt des Logikers aus wünschens-
werten Vervollständigungen der damaligen Darlegungen zu
gelangen. Die damals ins Auge gefa&ten logischen Be-
ziehungen können ganz rein nur an klar und scharf ge-
dachten, in klaren und scharfen Begriffen sich bewegenden
Urteilen zur Geltung kommen. Wünschenswert bleibt es
dabei, sich darüber zu unterrichten, welche Gebiete denn in
der ganzen Mannigfaltigkeit thatsächüchen Denkens es sind,
die eine derartige Betrachtung überhaupt zulassen, welche
andre sie ganz ausschliefsen oder nur modifiziert gestatten.
Dafs eine Untersuchung, die zunächst nur vom psycho-
logischen Standpunkt aus eine möglichst vollständige Über-
sicht über die Vorgänge des Denkens zu gewinnen sucht,
auch zu einer gewissen Vervollständigung eigentlich logischer
Betrachtungen führt, wird sich im folgenden zeigen.
I.
Nur wenig Schwierigkeit bietet die Aufgabe, mit der
naturgemäfs hier begonnen werden mufs, die nämlich, die
Sonderung verschiedener Urteils-Kategorien, welche wir an
die Spitze jener logischen Untersuchung gestellt hatten,
von einem mehr psychologischen Standpunkte aus ins Auge
zu fassen und zu verifizieren. Wir werden hier von der,
später freilich noch genauer zu prüfenden Anschauung aus-
gehen dürfen, dafs im Urteil eine Anzahl von Allgemein-
Vorstellungen oder Begriffen zusammengedacht werde unter
Hinzutritt eines besonderen und offenbar für das Urteil
vorzugsweise charakteristischen Elements, des Geltungs-
bewufstseins oder Geltungsgefühls, wie wir im An-
1*
4 J. V. Eries:
schlufs an B. Erdmakn^) sagen wollen. Die Notwendig-
keit der Hinzufügung dieses letzteren Elements wird nicht
bezweifelt werden können, wenn man sich einmal klar
macht, dafs wir die begriffichen Elemente eines Urteils
(Kreis nnd eben, König und gerecht) ganz wohl zusammen-
denken können, ohne das Urteil (der Kreis sei rund, der
König sei gerecht) zu fällen. Müssen wir nun solcher-
gestalt in dem Greltungsgefühl geradezu das eigentlich
Charakteristische des Urteils erkennen, so hält es auch
nicht schwer, jener in logischer Untersuchung entwickelten
Sonderung der Urteilsarten ihre psychologische Basis zu
geben. Überall da wenigstens, wo es sich um typische
und einfache Fälle von Beziehungs- undEeal-Urteilen
handelt, läM sich die Differenz dieser verschiedenen Ur-
teilsarten gerade als eine psychologische Differenz des
Geltungsgefühls konstatieren. Der Natur der Sache
nach kann man für eine Behauptung solcher Art keinen
Beweis erbringen, sondern nur im Wege der Erläuterung
versuchen, etwas, was eben nur innerlich erlebbar ist, an-
schaulicher und greifbarer zu machen. Man vergleiche
nun aber das Berechtigungsgefühl, mit dem wir z. B. aus-
sagen: „Konstanz liegt am Bodensee" und anderseits: „zwei
Zahlen können nicht sowohl gleich als ungleich sein**.
Die typische Differenz, die uns zum Ausgangspunkte der
logischen Untersuchung diente, macht sich wohl bei solcher
Gegenüberstellung sehr deutlich bemerklich und rechtfertigt
auch die hier gegebene psychologische Konstatierung. Vor
allem wird darauf hinzuweisen sein, dafs die Gültigkeit des
Beziehungs-Urteils eine selbstverständliche , unmittelbar
evidente ist, was für das Real-Urteil nicht zutrifft. Die
Gültigkeit des Urteils findet in dem einen Falle ihre Be-
gründung ganz direkt in dem Inhalt des Urteils selbst,
eben vermöge der Natur und Bedeutung der verknüpften
^) B. Erdmann: Logik I, S. 281.
Zur Psychologie der Urteile. 5
Yorstellungen und ihres gegenseitigen Zusammenhanges;
bei dem Eeal-Ürteüe tritt die Überzeugung, daüs es sich
so verhalte, gewissermafsen als etwas Fremdes hinzu ; wir
empfinden, dafs es sich auch anders verhalten könnte.
Man wird diesen psychologischen Gegensatz, der uns noch
mehrfach beschäftigen wird, etwa als den eines idiodetischen
und eines heterodetischen Geltungsgefühls bezeichnen dürfen.
Wir werden aber wohl im unmittelbaren Anschlufs
an die logischen Untersuchungen noch einen Schritt weiter
gehen und behaupten dürfen, dafs hier unter dem Namen
eines idiodetischen Geltungsgefühls bereits mehrerlei Ver-
schiedenes zusammengefafst ist, und dafs im Grunde jeder
der dort dargelegten Arten von Beziehungs-Ürteüen noch
ein besonderes und eigenartiges Geltungsgeflihl zugehört.
Es ist eben ein verschiedenartiges Gefühl der Nötigung,
mit dem wir einen logischen oder einen mathematischen
Zusammenhang einsehen; und können wir auch alle als
idiodetisch der heterodetischen Geltung der Real-Urteile
gegenüberstellen, so ist doch der damit bezeichnete Charakter
nur eine Verwandtschaft, eine Ähnlichkeit, die ihnen un-
beschadet einer deutlichen und charakteristischen ünter-
schiedenheit zukommen kann.
Auf den ersten Blick nun könnte man vielleicht
glauben, mit dieser psychologischen Konstatierung bereits
das geleistet zu haben, was als Aufgabe gestellt wurde.
Aber dies ist doch höchstens in dem Sinne richtig, dafs
wir damit etwa die psychologischen Grundlagen deutlich
gemacht hätten, mit denen die logische Theorie untrennbar
zusammenhängt. Aber wir sind darum gewifs noch sehr
weit davon entfernt, auch nur die wichtigsten von den-
jenigen psychologischen Fragen gelöst zu haben, auf welche
die logische Behandlung der UrteUsarten uns hinweist.
Und zwar ergeben sich die restierenden Schwierigkeiten
sogleich, wenn wir an die gewöhnliche psychologische Ge-
6 J. T. Eries:
staltong Yon Urteilen denken, wie sie, sei es dem wissen-
schaftlichen Denken, sei es dem täglichen Leben, angehören.
Wir bemerken hier das Unznlängliche der eben aufgestellten
Schematisierung, wie mir scheint, in zwei Richtungen.
Zuerst nämlich wird auffallen, dafs in zahlreichen Fällen
sich nicht ohne weiteres angeben läfst, von welcher Art
eigentlich das dem Urteil eigene Geltungsbewufstsein sei;
dies beweisen am greifbarsten z. B. die mathematischen
Sätze, über deren logische Natur ja endlos gestritten
worden ist, nicht minder aber auch verwickelte Sätze von
der Art, wie sie uns z. B. in der Rechtswissenschaft be-
gegnen, wo wir im Zweifel sein können, ob es sich um
eine Subsumtion, ein Real-Urteil oder gar ein Wert-Urteil
handle. Der zweite Punkt ist der folgende. Jede Art
von Geltungsbewufstsein sollte, so kann man von vornherein
erwarten, an eine ganz bestimmte Kombination begrifflicher
Elemente geknüpft sein, zwischen denen eben ein bestimmter
Zusammenhang als gültig empfunden wird. Aber nur in
den einfachsten Fällen scheint sich dies zu bestätigen.
Die verwickelten Bildungen der Sprache dagegen zeigen
uns eine zunächst so unübersehbare Mannigfaltigkeit von
Wortbedeutungen und von Kombinationen derselben in der
Aussage, dafs wir dieselben mit den einfachen logischen
Typen kaum mehr in Zusammenhang bringen können.
Gleichwohl sagen wir doch auch mit einem „Geltungsgefühl"
z. B. aus, „dafs die verfassungsmäfsig gewährleistete Un-
absetzbarkeit der Richter ein Eckstein unabhängiger Justiz
sei". Von welcher Art sind denn nun hier die vereinigten
psychologischen Elemente, von welcher Art das ihre Ver-
einigung begleitende Geltungsgefühl ? Wir werden am ehesten
hoffen können, derartigen Fragen gerecht zu werden, wenn
wir, von den einfachsten Typen ausgehend, den Erweiterungen
und Verallgemeinerungen nachgehen, welche die Berück-
sichtigung psychologischer Thatsachen erforderlich macht.
Zur Psyxdiologie der Urteile. 7
Eine Schwierigkeit besonderer Natur erwuchs bis vor
kurzem einer derartigen Fragestellung aus dem Umstände,
dafs es weder bei Allgemein- Vorstellungen, noch bei Be-
griffen gelingen wollte, das den Wortklang begleitende
und sein Verständnis bedingende psychologische Element
in befriedigender Weise anzugeben. Ich glaube, dafs diese
Schwierigkeit in der Hauptsache beseitigt ist durch die
von physiologischer Basis ausgehenden Betrachtungen, nach
denen wir das Substrat des Wortverständnisses nicht ge-
nötigt sind im Bewufstsein zu suchen, sondern dasselbe
in gewissen physiologischen Zuständen, cerebralen Dis-
positionen erblicken dürfen.^) Stellen wir uns auf diesen
Standpunkt, so könnten wir den Thatbestand des Urteils
etwa dahin beschreiben, dafs es in dem Auftreten eines
eigenartigen, als Geltungsgefühl zu bezeichnenden Bewu&t-
seins-Elementes bestehe, welches die Verbindung mehrerer
Vorstellungen oder dispositiver Einstellungen be-
gleitet. Mit dieser Formulierung würden wir den vorhin
erwähnten Haupttypen des Geltungsgefühls gerecht werden
können. Sie würde uns auch die erforderliche Grundlage
für unsere Hauptaufgabe gewähren, die darin bestehen
würde, eine gewisse Übersicht darüber zu gewinnen, in
welchen Beziehungen wir unsere Ideal- Vorstellungen vom
Urteil erweitem und verallgemeinem müfsten, um sie mit
der vollen psychologischen Vielgestaltigkeit der Denkvor-
gänge zur Deckung zu bringen.
n.
Der erste, sehr schnell zu erledigende Punkt, in dem
die psychologische Betrachtung die logische ergänzen mufs,
ist die variable Stärke oder Sicherheit des Geltungsgefühls.
^) Vergl. hierüber v. E^bies: Über die Natur gewisser mit den
psychischen Vorgängen verknüpfter Gehimzustände. Zeitschrift für
Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. VIII, S. 1.
8 J. T. Kries:
Es versteht sich von selbst, dafs diese Abstuf barkeit bei
den mannigfaltigen Gestaltungen des Geltungsgefnhls, die
wir später zu verfolgen haben werden, eine sehr grofse
Kolle spielt. Ein Satz, wie z. B. der, dafs die Höhe der
Kultur eines Volkes sich deutlicher als in jeden anderen
Instituten in seinem Strafrecht wiederspiegele, wird, wenn
er uns vorgelegt wird, nicht unbedingt Zustimmung finden;
ein nur schwaches und zweifelndes Geltungsgeflihl wird
nach Mafsgabe unseres Wissens und unserer sonstigen An-
schauungen eine derartige Aufstellung begleiten. Es ist
nicht einmal nötig, zu diesen verwickelten Fällen zu greifen;
an den auf Grund der Erinnerung aufgestellten Eeal-Urteilen
können wir sehen, dafs auch in allereinfachsten Fällen
das Geltungsgeflihl eine Abstufung nach Mehr und Minder
besitzt. Man kann sagen, dafs, von besonderen Ausnahmen
abgesehen, bei allen Real-Ürteilen das Geltungsgeflihl ein
abgestuftes ist, indem die Überzeugung, dafs es sich so
verhalte, mit gröfserer oder geringerer Sicherheit gehegt
wird. Wir haben es hier mit einem sehr bekannten Ver-
halten zu thun, welches der psychologischen Betrachtung
wohl jederzeit geläufig gewesen ist, während es logisch
keine Bedeutung besitzt.
in.
Von weit gröfserer Wichtigkeit ist eine nur auf den
ersten Blick mit der soeben erwähnten verwandte Er-
scheinung, welcher wir nicht, wie jener, bei den Real-
Ürteilen, sondern gerade bei den Beziehungs-Urteilen be-
gegnen. Auch hier freilich handelt es sich um ein ünsicher-
werden des Urteils, aber aus ganz anderm Grunde und in
ganz anderm Sinne. Als einfachstes Beispiel erörtere ich
die Subsumtion eines Einzelnen unter eine Allgemein- Vor-
stellung; und zwar wollen wir uns noch vorerst an die
einfachste Art von solchen halten, die etwa eine Art sinn-
Zur Psychologie der Urteile. 9
lieber Empfindung bezeichnen (Süfs, Rot etc.). Scbon bei
diesen ist zu bemerken, daXs von denjenigen Fällen, in denen
die einzelne Empfindung sogleich und mit Sicherheit der
betreffenden Allgemein- Vorstellung subsumiert wird, eine
kontinuierliche Abstufung zu denjenigen führt, in denen
die Subsumtion mehr oder weniger zweifelhaft erscheint,
und schlief slich zu denjenigen, in denen sie verneint wird.
Ganz das Gleiche gilt für die verwickeiteren Allgemein-
VorsteUungen, die zwar die Entwicklung wissenschaftlichen
Denkens mehr und mehr zu beseitigen strebt, die aber
doch im alltäglichen Denken eine so ungeheure Rolle spielen.
Die Frage, ob ein Komplex von Ereignissen, der uns voll-
kommen bekannt ist, eine Revolution, eine Krisis, eine Ent-
wicklung, eine Decadence sei, wird in zahlreichen Fällen
ebenso anstandslos bejaht, wie in andern verneint werden,
in zahlreichen aber zweifelhaft erscheinen. Betrachten wir
den Grund dieses eigentümlichen Verhaltens, so wird es
unerläfslich sein, auf die eigentliche psychologische Natur
des vorliegenden Beziehungs-Urteils zu rekurrieren. Und
zwar werden wir hier von der vorhin bereits eingeführten
Anschauung Gebrauch machen dürfen, dafs das physiologische
Substrat einer Allgemein- Vorstellung in einer bestimmten
cerebralen Einstellung zu suchen sei Wir hätten uns dann
weiter zu denken, dafs die Koexistenz der gerade realisierten
Empfindung und jener dispositiven Einstellung sich in der
Erzeugung eben jenes besonderen Zusammengehörigkeits-
gefühls geltend macht, welches das Subsumtions-Urteil aus-
macht. Nicht minder aber ist ersichtlich, dafs je nach dem
Verhältnis, welches zwischen Einzelempfindung und Ein-
stellung besteht, jenes das Urteil konstituierende Element
verschiedenartig sein kann. Es ist ein ganz bestimmtes
und typisches da, wo wir die Subsumtion mit Sicherheit
bejahen; ein wechselndes, abstufbares aber überall, wo die
Subsumtion zweifelhaft erscheint.
10 ^' ▼
Um diese YoMUidsse richtig aii£zii£[issai, miiüs Bum
Tor aDem den fmdamentaleii Unterschied sich klar machen,
der zwischen der Unsicherheit dieser Urteile nnd der vorhin
erwähnten^ an den Beal-Urteüen zn bemertLenden statt-
findet. Bei diesen letzteren steht im allgemeinen anls^
Zweifel, dafe das in Betracht gezogene Urteil entweder
richtig oder fälsch sei; nur unsere Unwissenheit ist Quelle
der Ungewifsheit. Nicht so bei dem nnsichem Snbsnmtions-
L'rteile, Ob eine Torgelegte Farbe noch ein Eot ist oder
nicht, das ist, sofern „Kot" eine AUgemein-Vorstellnng der
hier in Kede stehenden Art ist, sobald es mir zweifelhaft
erscheint, auch der Natur der Sache nach gar nicht
bestimmt; es ist auch gar nicht diskutierbar. Wenn wir
die Bedeutung des Wortes „Unfiall" nicht als einen etwa
noch zu suchenden und wissenschaftlich festzustellenden
Begriff fassen, sondern sie nehmen, wie sie von vornherein
thatsächlich ist, als einen mehr oder weniger unbestimmten,
HO ist auch die Frage, ob das uns individuell bekannte
Ereignis ein Unfall sei, keine, über deren Bejahung
oder Verneinung eine sachliche Diskussion gelührt werden
kann, sondern sie ist ihrer Natur nach unbestimmt. Das
Verhältnis, in welchem Einzelnes und Allgemein- Vorstellung
stehen können, ist, sobald wir die Dinge in ihrer vollen
psychologischen Mannigfaltigkeit ins Auge fassen, ein abstuf-
bares und überaus wechselndes. Nur gewisse Fälle geben
das sichere Gefühl der Zusammengehörigkeit und haben
dadurch etwas Typisches und Festes. Wollen wir den
psychologischen Thatbestand anderer Fälle hierzu in Gegen-
satz bringen, so müssen wir hervorheben, dafs hier das-
jenige Gefühl, welches die Koexistenz von Einzelnem und
Allgemein- Vorstellung begleitet, ein stets individuell ge-
prägtes, wechselndes, ein atypisches ist. Wollen wir
auch diese psychologischen Thatbestände als Urteil gelten
lassen (was sich aus später hervortretenden Gründen
Zur Psychologie der Urteile. H
empfiehlt), so können wir von einem atypischen Be-
ziehungs-Urteil reden. Wir hätten danach zu sagen, dafs
das Subsumtionsurteil neben den typischen Fällen der sichern
Subsumtion die ihrer Natur nach atypischen der mehr
oder weniger unsichem Subsumtion, einer unbestimmten
Beziehung umfafst.
Man wird der Aufstellung dieser Kategorie vielleicht
keine sehr grofse Bedeutung zuzuerkennen geneigt sein,
wenn es sich dabei nur um die Subsumtions-Verhältnisse
bei einer gewissen Unbestimmtheit der Allgemein- Vor-
stellungen handeln soll. Thatsächlich indessen spielen, wie
ich glaube, die atypischen Beziehungs-Urteile eine viel be-
deutendere EoUe; die unsichere Subsumtion ist nur ein,
aber nicht das bedeutendste oder interessanteste Beispiel
I derselben. Am beachtenswertesten erscheint mir vielmehr
die Eigenschaft der Atypie bei der Gresamtheit der psycho-
logischen Vergleichungen (Prädikationen der Gleichheit,
des Unterschiedes, der Ähnlichkeit u. dergl.), und ich
I komme hiermit wieder auf einen von mir schon öfter er-
örterten Punkt: den fundamentalen Unterschied nämlich
des in der That vollkommen typischen mathematischen
Grleichheits-Urteils von den vielgestaltigen der psycho-
logischen Vergleichung. Ich will, um dies möglichst klar
zu stellen, zunächst die letztgenannten Urteile etwas genauer
ins Auge fassen. Wenn wir zwei Empfindungen, Wahr-
nehmungen oder auch zwei Vorgänge ähnlich nennen: was
sagen wir eigentlich damit aus? In vielen Fällen meinen
wir damit ohne Zweifel eine gewisse, objektiv gültige Auf-
stellung über das reale Verhalten der Dinge. Lassen wir
diese, die uns hier nicht interessiert, und deren genauere
Verfolgung auch keine principielle logische Schwierigkeit
einschliefst, hier beiseite, so bleibt das Urteil als reines
Beziehungs-Urteil übrig, als Konstatierung eben desjenigen
Beziehungs-Gefühls, welches die Zusammenhaltung der ver-
12 J- V- Kries:
glichenen Empfindungen etc. begleitet. Die genauere Be-
trachtung lehrt nun, wie mir scheint, unweigerlich, dafs
diese Beziehungs-Grefiihle stets vollkommen individuelle und
eigenartige sind, jedem Einzelfall eigentümlich und von
Fall zu Fall anders. Am greifbarsten gilt dies Verhalten
für die Prädikationen der Ähnlichkeit. Die Ähnlichkeit
eines Rot und eines Orange, eines reinen und eines grün-
lichen Blau, eines gesungenen und eines geblasenen C,
eines RAFPAEL'schen und eines Pebugino' sehen Bildes:
alle können wir unter den unbestimmten Begriff der Ähn-
lichkeit subsumieren. Aber das Beziehungs-Gefühl ist zu-
nächst in jedem einzelnen Falle ein individuelles; es ist
nicht genau das nämliche Element, welches sich in dem
einen und dem anderen Falle vorfindet, sondern — auch
hier können wir uns nur wieder des gleichen Begriffes
bedienen — ein mehr oder weniger ähnliches.
Wir können dieser Konstatierung der Atypie als einer
Besonderheit derartiger Urteile auch nicht durch eine nahe-
liegende, etwas andere Auffassung derselben entgehen. Man
kann fireilich den Nachdruck darauf legen, dafs die schliefs-
liehe Prädikation, eben unter Verwendung des Ahnlichkeits-
Begriffes, doch immer dieselbe sei. Fafst man das atypische
Beziehungs-Urteil statt in seiner individuellen Bestimmtheit
in dieser verallgemeinerten Weise auf, so bleibt sein Unter-
schied gegenüber den typischen Urteilen darum nicht minder
bedeutsam, eben darin bestehend, dafs die Prädikation die
unbestimmte Allgemein-Vorstellung der Ähnlichkeit besagt,
statt wie in anderen Urteilen die typische und scharf be-
stimmte, jeden Zweifel ausschliefsende der Realität, der
mathematischen Gleichheit, des notwendigen logischen Zu-
sammenhanges etc.^) Man wird, wie ich glaube, im all-
*) Bei allen atypischen Beziehungs-Urteilen läTst sich durch eine
derartige Auffassung die Unsicherheit, die ihnen anhaftet, auf eine
Unsicherheit der Subsumtion reduzieren, indem in Frage gebracht wird,
ob das individuell gegebene Beziehungs-Gefühl in eine solche, ihrer
Natur nach unbestimmte Kategorie hineingehöre oder nicht.
Zur Psychologie der Urteile. 13
gemeinen geneigt sein, dies zuzugeben, vielfach dagegen
zunächst abgeneigt, das Entsprechende auch auf die Gleich-
heits - Aussagen auszudehnen. Trotzdem scheint mir die
nähere Betrachtung der psychologischen Vergleichungen
keinen Zweifel darüber zu lassen, dafs es sich da ganz
ebenso verhält. Denn, um es sogleich ganz allgemein zu
sagen, jede solche Gleichprädikation ist doch immer nur
die Konstatierung einer beschränkten Übereinstimmung.
Vergleichen wir z. B. Empfindungs-Unterschiede, etwa
die Helligkeits-Differenz eines Weifs und eines Grau und
andererseits die Differenz zweier Töne von verschiedener
Höhe, so werden wir auch zunächst konstatieren müssen,
dafs jede solche Differenz etwas besonderes und indmdueUes
ist; und ebenso ist es um so mehr das Beziehungs-Gefiihl,
welches die Vergleichung zweier solcher Unterschiede aus-
drückt. Kann man also auch hier in gewisser Weise von
einer Gröfsengleichheit reden, so wird man doch sich gegen-
wärtig halten müssen, dafs hier die Beziehungs-Geflihle
auch durchaus individuelle sind, und dafs, wenn wir hier
durchweg von Gleichheits-Prädikation reden, auch die
psychologische Gröfsengleichheit (in diesem weiten Sinne ge-
nommen) eine höchst unbestimmte Allgemein-Vorstellung ist.
Nennen wir also — dahin möchte ich das Gesagte kurz
zusammenfassen — einmal die Helligkeit zweier Farben,
sodann die Tonstufen c — d und c^ — d^, sodann, den Unter-
schied zwischen einem ersten und zweiten und den zwischen
einem dritten und vierten Grau, endlich etwa den Unter-
schied zweier Farben und den zweier Töne gleich, so ist
die subjektiv empfundene Beziehung in jedem dieser Fälle
eine verschiedene, und wir sagen also (wie man es nehmen
will) in jedem Falle etwas verschiedenes oder in allen
etwas unbestimmtes, eine Menge von Verschiedenartigem
Zusammenfassendes aus ; es fehlt also der Gesamtheit dieser
Prädikationen der ganz fest bestimmte, scharfe und allemal
14 J. V. Kries:
gleiche Sinn, den wir bei anderen finden, und sie dürfen
daher atypisch genannt werden.
Man kann das, worauf es ankommt, vielleicht noch
deutücher machen, wenn man darauf hinweist, dafs ur-
sprünglich die Möglichkeit, so Verschiedenartiges zusammen-
zufassen, auf der aufserordentlichen Allgemeinheit und Un-
bestimmtheit des psychologischen „Mehr" und „Weniger"
beruht. Nach einem gewissen Gesamt-Eindruck können
wir die starke Geruchsempfindung im Vergleich zu dem
schwachen Ton, ebenso die palpabele Differenz zweier ganz
verschiedener Farben gegenüber dem die Aufinerksamkeit
wenig auf sich ziehenden, allenfalls überhörbaren Unter-
schiede zweier nahe verwandter Töne als ein eindrucks-
volleres, mächtigeres oder ein gröfseres bezeichnen. Wo
wir weder das eine noch das andere von zwei verglichenen
Elementen mit Sicherheit als ein „Mehr" empfinden, können
wir dann von Gleichheit reden. Die Unbestimmtheit jener
Allgemein- Vorstellungen des „Mehr" und „Weniger" geht
parallel der Unbestimmtheit der Gleichheits-Prädikation,
die im Grunde nur darin besteht, dafs für keine jener
Subsumtionen ein genügender Anlafs da ist.
Haben wir, wird man fragen, mit der eben gemachten
Auseinandersetzung nicht zuviel bewiesen, und trifft das
Ausgeführte nicht mit gleichem Rechte auch bezüglich der
mathematischen Gleichheit zu? Ich glaube das nicht und
denke das auch in genügend greifbarer Weise darlegen zu
können. Naturgemäfs (die Gründe dafür werden im folgen-
den Abschnitt noch zu behandeln sein) tritt der typische
Sinn der mathematischen Gleichheit ganz deutlich nur in
ihren allereinfachsten, unmittelbar evidenten Sätzen hervor.
Für die numerischen Gleichheiten finden wir eine der
Grundlagen, auf denen sich die weitere Entwicklung auf-
baut, z. B. in dem Satz, dafs a + (b + 1) = (a + b) + 1
ist. Erwägen wir den Sinn dieses Satzes, so wird man
Zur Psychologie dei Urteile. 15
sagen dürfen, dafs er die Unabhängigkeit des Zahlwertes
von der Art der Zusammenfassung der Gruppen ausdruckt.
Er sagt, wie man es auch ausdrücken könnte, die Möglich-
keit einer verschiedenen begrifflichen Bestimmung derselben
Vielheit aus. Für mich also ist die hier ins Spiel kommende
numerische Gleichheit, eine Beziehung, die darin besteht,
dafs dieselbe Vielheit nur in anderer Bezeichnung und
anderer Zusammenfassung dargestellt wird, etwas völlig
eigenartiges, mit der Natur unserer Vielheits-Vorstellung
unauflöslich verknüpftes. Aus diesem Grunde ist die hier
behauptete Beziehung (die wir numerische Gleichheit nennen)
denn auch immer wieder genau die nämliche, mögen wir
sie nun in der obigen Form aussprechen oder etwa sagen,
dafs 2 + 1 = 1 + 2 ist u. dergl. ; sie ist genau die nämliche
in demselben Sinne, wie auch in allen analytischen Urteilen
die Notwendigkeit, welche das Subjekt mit dem Prädikat
verbindet, in allen Real-Urteilen der Sinne der behaupteten
Realität derselbe ist. Und darin liegt das Typische und
Scharfe der mathematischen Gleichheitsbehauptung, darin
auch die Unmöglichkeit einer Definition derselben, einer
Zurückfuhrung auf andere einfachere Begriffe.
Die hier gegebenen Ausführungen sind schon anticipierend, zum
Teil auf Grund meiner früheren Darstellungen, zum Teil auf Grund
privater Mitteilungen von Meinono ^) besprochen und bestritten worden.
Ich will nicht unterlassen, auf die Kritik Meinonos hier mit einigen
Bemerkungen einzugehen. Fraglich ist allerdings, ob die weitere Er-
örterung noch erheblich über die Wiederholung des bereits früher
Gesagten hinausführen kann. — Auch Mbinong dürfte geneigt sein, zu-
zugeben, dafs das blofse unmittelbare Gleicherscheinen, welches im
Grunde nur darin beruht, dafs A im Vergleich zu B weder als ein
gröfseres noch als ein kleineres mit Sicherheit bezeichnet wird, eine
äufserst vielgestaltige, eine atypische Beziehung ist. Die wirkliche
Gleichheit stellt Meinung diesem Gleicherscheinen ausdrücklich gegen-
über; für sie postuliert er auch die Gültigkeit der mathematischen
Axiome, als ein einfaches Ergebnis von Denkgesetzen. Dem gegenüber
*) Mbinong: Über die Bedeutung des WEBBR'schen Gesetzes.
Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. XI,
S. 83 ff. und sep. Hamburg und Leipzig 1896.
16 J. V. Kries:
kann ich eben nur sagen, daTs ich mit der Behauptung, e6 erschienen
z. B. zwei Stufen innerhalb einer Intensitätsreihe gleich, den vorher
erwähnten (atypischen) Sinn verbinden kann; dafs dagegen mit der
Behauptung, sie seien wirklich gleich, oder mit der Aufgabe, zu der
einen eine andre ihr gleiche zu finden (wozu jenes Gleicher seh einen
nur ein mehr oder weniger unvollkommenes Hilfsmittel sei), keinen
Sinn zu verbinden vermag. Auch ist von Mbinong die Angabe eines
solchen Sinnes nicht versucht worden. Ja er würde diesen Versuch
(und ich komme damit zugleich auf den zweiten Punkt) als überflüssig
und gegenstandslos ablehnen. Denn nach seiner Auffassung liegen die
Verhältnisse für mathematische und physikalische Gröfsenbeziehungen
ganz ebenso, wo doch die Gröfsenvergleichbarkeit allgemein anerkannt
werde. Schon in Bezug auf die rein mathematischen Gröfsenbeziehungen
mufs ich hier gegen Meinonos Darstellung einen Einspruch erheben.
Meinong hält sich, wie mir scheint, zu sehr an die Frage der
praktischen Ausführung einzelner Messungen und behält nicht genügend
das im Auge, worauf es mir ankommt, nämlich den absolut klaren
Sinn der (richtigen oder falschen, zuverlässigen oder unsicheren) Be-
hauptungen. Dies geht z. B. daraus hervor, dafs nach seiner Ansicht
(S. 42 der Sep.-Ausg.) gegenüber der Vergleichung übermerklicher Unter-
schiede die auch von mir anerkannten Baum- und Zeit-Vergleichungen
nur einen graduellen Zuverlässigkeitsvorzug haben. Es geht noch deut-
licher daraus hervor, dafs Meinong (S. 42 der Sep.-Ausg.) im Gebiete der
Baummessungen auf die Unterschiede der Lage und Richtung hinweist,
welche doch auch qualitative Differenzen linearer Strecken darstellten,
die Vergleichungen ja auch vielfach sehr merklich erschwerten, ohne
sie aber doch auszuschliefsen. Für die Gleichheit indessen, von der
m. E. die Mathematik redet, ist der Unterschied der Bichtung oder
Lage als qualitative Differenz gänzlich bedeutungslos. Die faktische
Erschwerung der Vergleichung sinnlich gegebener Strecken ist dafür
ganz ohne Belang. Der Gleichheitssinn, der der Geometrie eigen ist,
wird deutlich, wenn wir die Behauptung aufstellen, dafs für jede
Strecke, die in beliebiger Lage und Bichtung gegeben ist, an jedem
Ort und in jeder Bichtung eine ihr mit absoluter Genauigkeit gleiche
aufgewiesen werden kann. Die Natur unserer Baum- (und Zeit-) Vor-
stellung ist es, in der diese Überzeugung wurzelt; es ist die nicht
weiter zu beschreibende Gleichartigkeit der Baum- und der Zeitteile,
welche ihre absolut scharfe, jede Unbestimmtheit ausschliefsende Ver-
gleichbarkeit garantiert.
In Bezug auf die Frage, welche Bolle diese mathematischen
Gleichheitsbeziehungen in den objektiv gültigen Beal-Urteilen spielen,
darf ich wohl auf meine Ausführungen in meinem früheren Aufsatz
(diese Vierteljahrsschrift XVI, S. 275) verweisen.
Was femer die physikalischen Gröfsen anlangt, so wird
Meinong wenigstens zugeben müssen, dafs in der theoretischen Physik
I
I
l
I I
' I
Zur Psychologie der Urteile. 17
in ihrer gegenwärtigen Gtestalt alle komplizierteren Gröfsen auf Längen-,
Zeit- und Masseneinheiten zurückgeführt sind. Er behauptet nun
freilich, dafs diese Zurückführungen im Grunde nicht notwendig oder
völlig selbstverständlich gewesen seien. Ich mufs zugeben, daXs das
logisch Willkürliche und Konventionelle, was nach meiner Ansicht
diesen Festsetzungen anhaftet, in vielen Gebieten nicht wohl nach-
gewiesen werden kann. Dies ist indessen doch sehr natürlich. Die
Physik bildet eben nur diejenigen Begriffe aus, die von mannigfacher
und fruchtbarer Anwendung sind; greifen wir also irgend einen der
Principalbegriffe der theoretischen Physik (z. B. die Intensität eines
i elektrischen Stromes) heraus, wie darf es uns überraschen, dafs sich
1 jede neue Festsetzung der eingebürgerten gegenüber als unbrauchbar
i erweist! Über das Mafs von Willkür zu streiten, welches hier in die
Festsetzungen eingeht, dürfte also ziemlich gegenstandslos sein. Be-
deutungsvoller ist es, seine Aufmerksamkeit den Gebieten zuzuwenden,
in denen sich diese Festsetzungen erst mit Schwierigkeiten vollziehen
oder in welchen sie überhaupt nicht getroffen sind und vielleicht auch
nicht getroffen werden. Ich weise hier zunächst wieder auf die
Temperaturmessungen hin. Da die Erfahrung lehrt, dafs, wenn
zwischen A und B, ebenso zwischen B und C kein Wärmeaustausch
stattfindet, dann auch stets zwischen A und C kein solcher beobachtet
wird, so konnte zunächst in durchaus klarem Sinne verschiedenen
Körpern gleiche Temperatur zugeschrieben werden. Die Messung der
Temperaturgrade oder Temperaturdifferenzen hat dabei bisher stets als
eine Sache der Konvention gegolten; sie konnte geschehen, indem
irgend eine beliebige Begleiterscheinung, z. B. die Ausdehnung der
r Luft oder die des Quecksilbers, als Mafs genommen wurde. Nach
r Mbinong nun hätte die Frage : „ob gleiche Veränderungen des Wärme-
3 zustandes mit gleichen Veränderungen in der Reihe dieser oder jener
Folgezustände einhergehen", also auch die, welche z. B. in Graden des
Quecksilberthermometers gemessene Temperaturerhöhungen „gleichen
3 Veränderungen des Wärmezustandes" entsprechen, ihren völlig klaren
Sinn. Ich glaube indessen, dafs auch jetzt die meisten Physiker die
Beantwortung oder auch nur die Diskussion dieser Frage ablehnen
würden, da nicht ersichtlich sei, was unter gleichem Zuwachs des
Wärmezustandes verstanden werden soll. Allerdings fängt die theo-
retische Physik an, eine bestimmte Temperaturskala als die theo-
retisch wertvollste zu bevorzugen. Dies ist die sogenannte thermo-
dynamische. In ihr setzen wir die Abstände zweier Temperaturen vom
absoluten Nullpunkt proportional denjenigen Wärmemengen, die, wenn
ein Körper zwischen diesen Grenzen einem umkehrbaren CARNOT'schen
Kreisprozefs unterworfen wird, bei dem einen und dem anderen Tem-
peraturpunkt zugeführt resp. entzogen werden müssen, eine Definition,
die recht verwickelt und um so weniger selbstverständlich ist, als
schon die Gültigkeit des CARNOT'schen Princips, auf dem ihre Ein-
VierteljahTBSchrift f. Wissenschaft!. Philosophie. XXm. 1. 2
18 J. V. Kries:
deutigkeit beruht, selbst zwar eine Erfahrungsthatsache, aber gewifs
nicht selbstverständlich istJ)
MsiNONOs Darstellung läTst es zweifelhaft erscheinen, ob er diese
Temperaturskala mit ausdrücklicher Einsicht in ihre Grundlage im
Auge gehabt hat. Wie dem aber auch sei, daXs sie die allein mögliche
sei, wird man ebensowenig zugeben können, wie dafs eine Unter-
scheidung des Wärmezustandes genüge, um zu ihr zu gelangen. In
den Augen der Physiker ist sie eine neben andern mögliche; sie hat
sich im Gebrauch noch nicht einmal eingebürgert; benutzt doch die
physik.-technische Reichsanstalt zu ihren Temperatur-Definitionen das
Gasthermometer. Auch Mach, auf den sich MisiNONa beruft, scheint
mir die Sache nicht anders anzusehen; er sagt:^
„Werden die Gasspannungen als TemperaturmaTs beibehalten,
so sind die abgeleiteten Beziehungen nicht genau richtig. Will man
hingegen die gefundenen Sätze in ihren schönen einfachen Formen
festhalten, so ist die Wahl eines neuen Temperaturmafses notwendig."
Dies sind die Worte, mit denen Mach die thermodynamische Skalen
einführt.
Wenn einmal, was freilich möglich ist, diese Skala als die wissen-
^ schaftlich wertvollste sich eingebürgert haben wird, so wird allerdings
auch wiederum die Behauptung möglich sein, eben sie und nur sie
enthalte das wahre, das richtige Mafs des Wärmezustandes. In ganz
entscheidender Weise aber zeigt sich, dafs die Aufgabe der Gleichheits-
bestimmungen nicht in der einfachen, von MEmoNa für genügend
erachteten Weise gestellt werden kann, überall da, wo die Theorie gar
nicht oder nicht in so unmittelbarem Anschluls an die zuerst sich
bietenden Formulierungen zu der Fixierung eines mefsbaren Begriffs
^) Übersichtlicher ist die Definition in der mathematischen Zeichen-
sprache. Wird für irgend einen Körper ein umkehrbarer CABNOT'scher
Kreisprozefs zwischen zwei bestimmten Temperaturen Tj und T3 durch-
geführt und dabei auf der höheren Temperaturstufe die Wärmemenge
Qi zugeführt, auf der niedrigeren Q2 entzogen, so ist das Verhältnis
der beiden Temperaturgrade durch die Gleichung ~ = ^ definiert.
X, To ^ ^
-~= — = ist der Bruchteil des auf der höheren Temperaturstufe zuge-
■■■1
führten Wärmequantums, der bei dem Prozeüs als mechanische Arbeit
abgegeben, in sichtbare Energie verwandelt wird. Das CARNOT'sche
Prinzip besagt, daXs jene Verhältnisse bei bestimmten Temperaturen
von der Natur des dem Kreisprozefs unterworfenen Körpers unabhängig
sind. Auf ihm beruht also, wie die theoretische Bedeutung jener De-
finition überhaupt, so in erster Linie ihre Eindeutigkeit.
>) Mach: Principien der Wärmelehre 1896, S. 308.
Zur Psychologie der Urteile. J9
gelangt. Auch hierfür ist es leicht, Beispiele zu finden. Wir nennen
eine chemische Verbindung stabiler oder labiler als eine andere; wir
ordnen die Mineralien nach einer sogen. Härteskala und schreiben dem
einen gröfsere oder geringere Härte als einem andern zu. Wir nennen
bei optischen Instrumenten die Abbildungen schärfer oder weniger
scharf, auch wohl ganz allgemein besser oder schlechter, nach specielleren
Gesichtspunkten eine Linse z. B. periskopischer als eine andere. Wir
schreiben einem Femrohr oder Mikroskop eine stärkere oder geringere
Vwgröfserung zu etc. Es ist belehrend zu betrachten, wie sich die
Physik gegenüber den auf derartige Begriffe gerichteten Mafsfragen
verhalten würde. Unter allen Umständen wird die Beantwortung oder
auch nur die Diskussion einer derartigen Frage als sinnlos abgelehnt
werden, solange nicht eine Fixierung des betreffenden Begriffs in dem
Sinne gegeben ist, dafs er auf Raum-, Zeit- und Massen- oder Zahlen-
gröfsen zurückgeführt ist. In manchen Fällen (so z. B. bei der Härte,
der chemischen Stabilität) wird sich eine solche Fixierung nicht geben
lassen, und es hat alsdann sein Bewenden dabei, dafs in dieser Beziehung
Mafsangaben nicht zu machen, auch nicht zu suchen sind, was eine
gewisse Brauchbarkeit des Begriffs nicht ausschliefst. In anderen Fällen
können auch mehrere Fixierungen sich als gleichwertig darbieten. So
können wir die vergröfsemde Exaft eines Fernrohrs oder Mikroskops
durch die Zahl messen, die angiebt, unter einem wieyiel gröfseren
ebnen Winkel eine Linie, ebensogut aber auch durch diejenige, die
angiebt, unter einem wieviel gröfseren körperlichen Winkel eine Fläche
erscheint. Nach der einen Bestimmung werden wir die vergröfsemde
Kraft des Mikroskops I auf das 10 fache, nach der andern auf das
100 fache von deijenigen des Mikroskops II veranschlagen. Der Begriff
der Vergröfserung kann aber aufgestellt und z. B. zur Ordnung der
Instrumente in eine Beihe benutzt werden, ohne dafs die specielleren
Begriffe der linearen und der flächenhaften Vergröfserung gebildet
worden sind.
Wir sind also nicht in Verlegenheit, physikalische Begriffe auf-
zuführen, die sich sozusagen von selbst darbieten, welche nur insoweit
bestimmt sind, dafs nach ihrer Mafsgabe irgend welche Eigenschaften,
Zustände, Vorgänge passend in Eeihen geordnet werden können, die
aber gleichwohl zunächst keine MaTsbestimmungen gestatten. Damit
Mafsfragen einen Sinn haben, ist eine Fixierung des Begriffs erforder-
lich, über die man sich doch nicht, wie über etwas Selbstverständliches
hinwegsetzen kann; denn im Verlaufe der weiteren Untersuchung kann
es zwar dahin kommen, dafs sich eine bestimmte Fixierung gewisser-
mafsen als selbstverständlich darbietet. Es kann aber auch sehr wohl
kommen, dafs sich eine solche Fixiemng nicht ergiebt und der Begriff
dauernd auf die unbedeutendere Bolle eines zu Mafsbestimmungen nicht
geeigneten beschränkt bleibt; und es kann auch dahin kommen, dafs sich
für ihn zwei oder mehr verschiedene, ganz gleichwertige Festsetzungen
2*
20 J- V- Kries:
darbieten, dafs er gewissermaTsen in zwei yerschiedene Begriffe gespalten
wird etc.
Ich yermag nicht abzusehen, was uns auf dem Standpunkt Meinongs
abhalten könnte, auch den Fragen, welche Stufen der Härteskala, welche
Zuwüchse in der yergröfsemden Kraft eines Mikroskops, welche Grade
der chemischen Stabilität einander gleich seien, einen völlig klaren
Sinn zuzuschreiben, während doch ein solcher in Wirklichkeit für die
einen nicht, für andre in mehrfacher Weise angegeben werden kann.
Nun wird Mbinong derartigen Betrachtungen gegenüber ver-
mutlich sagen, das verstehe sich ja von selbst, dafs unter allen Um-
ständen genau begrifflich fixiert sein müsse, was eigentlich gemessen
werden soll. Allein das ist es ja gerade, was ich behaupte, dafs die-
jenigen Begriffe, die sich ganz ohne weiteres allein aus dem Umstände
ergeben, dafs sich eine Anzahl von Eigenschaften, Zuständen, Vor-
gängen etc. für unsere Auffassung in eine Keihe ordnen, zwar ge-
nügend sind, um von einem Mehr und Minder zu reden, aber im all-
gemeinen zu unbestimmt, um in Bezug auf sie sinnvolle MaTsfragen
stellen zu können. Wir können ja ganz wohl, ohne z. B. den Begriff
der Vergröfserung zu fixieren, nicht nur die Mikroskope nach ihrer
Vergröfserung in eine Reihe ordnen, sondern wir würden sogar ge-
legentlich ganz verständlich sagen können, zwischen den beiden In-
strumenten I und n bestände ein geringer, zwischen III und IV ein
weit gröfserer Unterschied. Aber eine weitere Fixierung ist erforder-
lich, ehe wir MaTsfragen stellen oder numerische Angaben machen
können. Und in der Physik wird man kein Beispiel finden, dafs
eine solche die Mafsbestimmungen ermöglichende Fixierung eines Begriffs
anders als durch die Zurückführu'ng auf Raum-, Zeit- und Mafsgröfsen
(abgesehen von reinen Zahlenwerten) gegeben wird.
Auch Mbinong wird also zugeben müssen, dafs die MaTsangaben,
von denen die Physik redet, ausnahmslos in der von mir angegebenen
Weise gedeutet werden können, und dafs, wo eine solche Deutung
nicht fixiert ist, die Gefahr vorliegt, sich in sinnlosen Fragen zu ver-
irren; er wird auch weiter zugeben müssen, dafs die hiemach erforder-
liche Prüfung, mögen wir sie auch etwa in die allgemeine Frage ein-
kleiden, ob man es überhaupt mit einem physikalisch wertvollen oder
brauchbaren und einem unzweideutigen Begriff zu thun habe, that-
sächlich stets darauf hinausläuft, jenen festen Zusammenhang mit
Raum-, Zeit- und Masseneinheiten zu suchen, eventuell zu schaffen.
Dies ist alles, was ich aus der Betrachtung der physikalischen
Messungen zur Erläuterung des Gegenstandes beizubringen wünschen
kann. Will jemand behaupten, dafs jene Zurückführungen im Grunde
überflüssig seien, dafs für ihn die betreffenden Mafsfragen schon an
sich einen völlig klaren Sinn haben, so läfst sich dies naturgemäJDa
wohl kaum widerlegen, aber gewifs auch ebensowenig beweisen.
Zur Psychologie der Urteile. 21
In dem eben Ausgeführten ist implicite bereits ein
Punkt berührt, der noch zu erwähnen ist; es handelt sich
um gewisse von mir gebrauchte Ausdrücke, die eine mifs-
verständliche Auflfassung, wie ich zugeben mufs, einiger-
maXsen nahe legen und vielleicht erfahren haben. Es hat,
wie es scheint, bei Meinung (vielleicht auch anderweit)
Anstofs erregt, dafs ich von einer willkürlichen Festsetzung
dessen, was gleich genannt werden soll, gesprochen habe.
Indessen lassen doch meine ganzen Ausfuhrungen wohl er-
kennen, dafs bei allen den Festsetzungen, von denen ich
geredet habe, es sich nicht um irgend welche willkürlichen
Festsetzungen oder Modifikationen des Begriffes „Gleich"
handelt, sondern um Festsetzungen darüber, was gemessen
oder gezählt werden soll. Dafs bei allen physikalischen
Gröfsenangaben der Begriff „Gleich" der völlig scharf
fixierte, einer Erklärung nicht fähige und bedürftige der
mathematischen Gleichheit ist, habe ich sogar ausführlich
dargelegt. Einer kurzen Erläuterung dagegen wird meine
Ausdrucksweise betreffend der psychologischen GröJsen be-
dürfen; hier habe ich in der That davon gesprochen, dafs
man festsetzen könne, was als gleich betrachtet werden soll
(z. B. Messung intensiver Gröfsen, diese Zeitschr. VI, S. 276).
Beachtet man indessen den Zusammenhang, in dem
von jenen Festsetzungen die Rede ist, so wird doch er-
sichtlich, dafs es sich auch da lediglich um eine Frage
der Terminologie handelt. Setzten wir z. B. fest (wie
dort als möglich angedeutet ist), dafs die eben merklichen
Unterschiede einer Intensitätsreihe als gleich betrachtet
werden sollen, so gewinnen wir dadurch die Möglichkeit
(und das ist der einzige Zweck der Sache), die kurzen
Ausdrücke der Mafsbezeichnungen anzuwenden, und z. B.
eine Stufe 3 fach gröfser als eine andere zu nennen, statt
sagen zu müssen, dafs sie eine 3 fach gröfsere Zahl eben
merklicher Zuwüchse umfasse. Der Begriff, der hier
22 J» v- Kries:
konventionell fixiert wird, indem wir dem Satz, dafs zwei
Intensitätsstufen gleich seien, einen bestimmten Sinn geben,
ist natürUch im Grunde der der Intensität; wir verstehen
unter dem (numerisch angegebenen) Intensitätsgrad die
Zahl der eben merklichen Zuwüchse, um welche eine jede
Empfindung von einem bestimmten Ausgangspunkt (etwa
dem NuUpunkt) entfernt ist. Dies wäre vielleicht von
vornherein noch deutlicher geworden, wenn ich statt des
gewählten kurzen Ausdrucks gesagt hätte, es werde fest-
gesetzt, dafs die eben merklichen Zuwüchse als gleich
grofse Vermehrungen der Intensität betrachtet
werden sollen. Ich begreife vollkommen, dafs derjenige
diese Festsetzungen perhorrescieren mufs, für den der Be-
griff der Intensität oder besser gesagt des numerischen
Intensitätsgrades etwas ohne weiteres Klares und Festes ist.
Wer dieser Ansicht nicht ist, wird seine konventionelle
Fixierung für berechtigt erklären müssen. Im übrigen bin
ich keineswegs der Meinung, dafs sich die Einfuhrung einer
derartigen ßezeichnungsweise besonders empfiehlt, schon weil
sie mit dem Begriff der atypischen Gleichheit, mit dem des un-
mittelbaren Gleicherscheinens vielfältigst in Konflikt kommt.
Es lag mir auch damals nur daran, anzugeben, in welcher
Weise man im Gebiete der Empfindungen zu einer formell
ähnlichen Behandlung wie in der Physik gelangen könne.
Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit will ich hier
noch einige weitere Fälle atypischer Beziehungen auffuhren.
Mit gewissen, noch zu berührenden Vorbehalten gehört
dahin die auf psychologischem Gebiete ebenfalls viel er-
örterte Beziehung des Komplexes zu seinen Elementen.
Könnten wir irgend welche Fälle aufweisen, in denen zwei
Bewufstseins-Elemente, einmal jedes für sich, sodann beide
koexistierend dargestellt wären, ohne dafs in dem letzten
Falle irgend eine Modifikation des einen oder andern statt-
fände, könnten wir also im allerengsten Sinne des Wortes
Zur Psychologie der Urteile. 23
den einen Zustand als die Summe der beiden andern dar-
stellen, so könnte eine solche Beziehung (der Summe zu
ihren Teilen) wohl als etwas ganz Festes und Typisches
in Anspruch genommen werden.
Dafs es Gebiete geben mag, in denen derartiges der
Fall ist, soll nicht in Abrede gestellt werden. Von Wichtig-
keit aber ist es, dafs es andre giebt, in denen die Bedeutung
des Komplexes in der Zusammenfligung von Bestand-
teilen sich nicht erschöpft, da zwischen diesen ein eigen-
artiger und nicht weiter erläuterbarer Zusammenhang statt-
findet. Dies ist z. B. der Fall bei der Gesichtswahmehmung,
an der man das räumliche Element und den Empfindungs-
bestandteil, an jedem derselben wohl auch noch wieder ver-
schiedene Bestandstücke einander gegenüberstellen kann,
während man sie doch in der Empfindung, wie sie nun
einmal ist, in einer zunächst nicht weiter erläuterbaren
Weise verknüpft findet.
Bezeichnen wir also auch etwa das räumliche Element
und das Empfindungsmaterial als die Bestandteile einer
Gesichtswahrnehmung, oder fuhren wir die einzehien in
ein Urteil eingehenden Vorstellungen als seine Teile auf,
so werden wir doch beachten müssen, dafs hier im Ver-
hältnis des Teiles zum Ganzen jedesmal etwas Besonderes
vorliegt, was in der Benennung „Komplex und Teil", eben
wegen ihrer Unbestimmtheit nicht zum Ausdruck gelangt.
Von Wichtigkeit ist die Beachtung dieses Umstandes des-
halb, weil wir durch sie vor der Überschätzung der Erfolge
gesichert werden, die wir vor einer Analysierung oder Zer-
legung der komplizierteren Bewufstseins-Phänomene erwarten
können. In der That entschlüpft uns bei dieser Behand-
lung jedesmal das, worauf es in manchem Betracht wohl
am meisten ankommen dürfte und was man etwa den
funktionellen Zusammenhang der Elemente zu nennen hätte.
Es ist natürlich hier nicht der Ort, darauf einzugehen,
24 J- V. Eries:
welche Einseitigkeit gelegentlich durch diese Behandlungs-
weise in die Psychologie hineingetragen worden ist.
Gegentiber der Unzulänglichkeit dieser Anschauung
ist es jedenfalls als ein groJfeer Fortschritt zu bezeichnen,
wenn man gegenwärtig nicht nur in den eben behandelten
Fällen dem funktionellen Zusammenhange der Bestandteile
wieder erhöhte Aufinerksamkeit zuwendet, sondern auch
in einfacheren Fällen, z. B. bei dem Verhältnis des Klanges
zu den in ihn eingehenden Partialempflndungen, in dem
man von einer Verschmelzung spricht, der eigenartigen
Modifikation Eechnung trägt, in der das Einzelne im Komplex
wiedergefunden wird. MögUch ist wohl (hierin Uegt der
vorhin gemachte Vorbehalt), dafs weitere Untersuchung es
dahin bringt, die Gesamtheit solcher Zusammenhänge auf
eine Anzahl fester Typen zu reduzieren. Sollte es indessen,
was mir vorderhand wahrscheinlicher ist, nicht gelingen,
alle die feinen Modifikationen, die das Verhältnis des für
sich vorgestellten oder empfundenen Einzelnen zu dem es
umfassenden Komplex aufweisen kann, auf feste Typen zu
reduzieren, so würden auch die eine derartige „Analyse"
ausdrückenden Urteile (immer natürlich, sofern sie nicht
ein Gesetz des psychischen Geschehens ausdrücken, sondern
nur die unmittelbar gegebene Beziehung konstatieren wollen)
als atypische Beziehungs-Urteile zu bezeichnen sein.
Ein sehr anderes Beispiel atypischer Beziehungen
bieten uns sodann die logischen Verhältnisse im engeren
Sinne. Eine ganz feste und typische ist es, die darin be-
steht, dafs ein Urteil die notwendige Konsequenz eines
oder mehrerer anderer ist. Wo wir konstatieren, dafs aus
gewissen Urteilen sich eine kleinere oder gröfsere Wahr-
scheinlichkeit für ein anderes ergiebt, da müssen wir wohl
anerkennen, dafs auch eine gewisse logische Beziehui^
vorliegt, welche aber, von Fall zu Fall variierend, nur
durch jene unbestimmte. Verschiedenartiges zusammen-
Zur Psychologie der Urteile. 25
fassende Bezeicliniing ausgedrückt werden kann. So ist also
z. B. das logische Verhältnis des Analogieschlusses ein
atypisches. Das Gleiche gilt aber auch für die Induktion,
sofern wir das Verhältnis des allgemeinen Satzes zu den
Einzelthatsachen, aus denen man ihn ableitet, ins Auge
fassen. Er folgt nicht aus ihnen, aber sie dienen ihm
doch zur Begründung, sie konstituieren eine gewisse Wahr-
scheinlichkeit für ihn. Auch hier fassen wir durch diese
unbestimmte Bezeichnung alle die logischen Verhältnisse
einzelner Induktionen zusammen, konstatieren dabei aber
nicht in allen das nämliche, sondern nur ein ähnliches Ver-
hältnis, schon im Wahrscheinlichkeitswert von Fall zu Fall
variierend.
Übrigens ist es wahrscheinlich, dafs die Kategorie
dieser atypischen Beziehungen noch sehr reichhaltig, ja
vielleicht ihrer Natur nach unbegrenzt und sozusagen ins
Unbestimmte erweiterbar ist. Denn da wir in mannigfachster
Weise die Bewufstseinsinhalte in Beziehung zu einander
bringen können, und da sich dabei sehr häufig irgend
welche wieder in einer Allgemein- Vorstellung zusammenzu-
fassende Beziehungsgefühle ergeben werden, so wird man
kaum daran denken wollen, das Gebiet zu erschöpfen.
Doch ist fraglich, ob diese Erweiterungen auch in irgend
einer Hinsicht, am fraglichsten, ob sie in logischer Beziehung
noch viel Interesse gewähren würden. Ja es wird viel-
leicht nicht an Stimmen fehlen, welche schon die hier
eben behandelten Fälle aus der Urteilslehre verbannen,
sie nicht als wirkliche Urteile gelten lassen wollen. Im
Princip nun würde mir dies als ein ziemlich nutzloser
Wortstreit erscheinen; doch darf man darauf hinweisen,
dafs die Subsumtion unter unbestimmte Allgemein- Vor-
stellungen (vermittelst deren wir z. B. eine aktuelle
Empfindung als Grün oder als Kalt bezeichnen) stets als
Urteil gegolten hat und nach ihrem ganzen psychologischen
26 J- V. Kries:
Thatbestand auch den typischen Urteilen so ähnlich ist,
dafs man sie kaum von ihnen wird trennen wollen. Da
sich aber, wie vorher schon erwähnt, jedes atypische Be-
ziehungsurteü als die Subsumtion einer individuellen Be-
ziehung unter eine Allgemein- Vorstellung auffassen läfst,
so wird man wohl auch die Einreihung derselben in die
Ürteils-Kategorie und die daraufhin gewählte Bezeichnung
als zweckmäfsig anerkennen müssen.
IV.
Die bisherige Auseinandersetzung zeigt, dafs auch,
wenn wir uns auf Urteile beschränken, die eine zergliedern-
den Zurückführung auf andere nicht mehr gestatten, wir gar
vieles finden, was unter die logischen Haupt-Typen sich
nicht unterordnet; die vollständigere Betrachtung hat uns,
wie wir sagen dürfen, veranlafst, der zunächst mit einiger
WiUkür bewerkstelligten Herausgreifung von logischen
Typen gewisse Ergänzungen anzuschliefsen. Die wichtigsten
Punkte, in denen sich die thatsächliche Gestaltung des
urteilenden Denkens von den logischen Schematen unter-
scheidet, sind indessen damit noch nicht bezeichnet. In
der Hauptsache nämlich beruht dies, wie nun im folgenden
auszuführen sein wird, auf der verwickelten Natur des
Zusammenhanges, in dem die vielen psychologischen Vor-
gänge, die im weitesten Sinne des Wortes als Urteile be-
zeichnet werden, mit definitiv deutlichen und im strengen,
engsten Sinne des Wortes so zu nennenden Urteilen stehen,
Ein erstes, um das es sich hierbei handelt, wiU ich
zunächst an einem möglichst einfachen Fall, einem System
analytischer Urteile, erläutern. Im voraus wollen wir dabei
beachten, dafs, wie wir annehmen dürfen, im Begriff seine
wesentlichen Bestimmungsstücke nicht als reale Bewufstseins-
zustände, wohl aber als psychologische Dispositionen, also
wenn man so will, latent, vorhanden sind. Setzen wir
Zur Psychologie der Urteile. 27
einen Begriff mit irgend einem dieser Bestimmungsstücke
urteilend in Beziehung, wie es im analytischen Urteil
geschieht, sagen wir also z. B. : der Kreis ist eben, so ist
es die Aktivierung einer bereits vorhandenen Disposition,
welche das Geltungsgefuhl bestimmt und ihm seinen vorhin
schon berührten Charakter der Selbstverständlichkeit giebt.
Nun ist aber zu beachten, dafs bei verwickelten Begriffs-
systemen (und zwar wenn jeder Begriff durch eine völlig
scharfe und bekannte Definition genau fixiert ist) der erste
Begriff, von dem wir ausgehen, ex definitione mit einer
Anzahl anderer zusammenhängt, jeder von diesen wieder
mit einer Anzahl weiterer etc. Es kommt auf diese Weise
dazu, dafs von dem ersten (verwickeltsten) Begriff Aussagen
gemacht werden können, die vollkommen rein und streng
als analytische Urteile bezeichnet werden müssen, denen
aber der Charakter der Selbstverständlichkeit und unmittel-
baren Evidenz, den wir sonst am analytischen Urteil ge-
wohnt sind, bereits abgeht. Durch die Verwicklung der
Zusammenhänge und die Ausdehnung des Systems ist das-
selbe unübersehbar geworden. Psychologisch und im Hin-
blick auf die Dispositionen ist dies ja auch vollkommen
verständlich. Denn jene erst in zweiter oder dritter An-
knüpfung mit dem Ausgangsbegriff zusammenhängenden
sind in ihm selbst dispositiv so wenig und unbestimmt
vorhanden, dafs ihre Prädizierung den Eindruck der Selbst-
verständlichkeit nicht mehr macht. Wir müssen demgemäfe
konstatieren, dafs auch in dem Gebiete der Beziehungs-
Urteile, sogar bei den unanfechtbarsten Vertretern derselben,
den analytischen Urteilen, die unmittelbare Evidenz ledig-
lich durch den Mangel an Übersehbarkeit aufhören kann.
Auch hier greift also dann ein Wissen Platz, welches in
gewissem Umfange Gedächtnis-Sache ist.
Hiermit ist nun aber — und das ist der uns wesent-
lich interessierende Punkt — der psychologische Charakter
28 J- V. Kries:
des Geltungsgefühls in tiefgreifender Weise verändert.
Solange der Prädikatsbegriff in dem Subjektsbegriff wenn
auch nur in schwacher Andeutung mitgedacht ist, zeigt
das Urteil jene, ihm meistens zugeschriebene Besonderheit,
die Selbstverständlichkeit, die unmittelbare Evidenz, die,
wie wir vorhin sagten, idiode tische Geltung. Dies ist,
sobald die Zusammenhänge einen gewissen Grad der Ver-
wicklung und ünübersehbarkeit gewonnen haben, nicht
mehr der Fall; wir haben zwar ein gewisses Gefühl der
Berechtigung für die betreffende Aussage, allein dasselbe
erscheint nicht mehr mit der Natur der verknüpften Be-
griffe selbstverständlich gegeben, es ist etwas von aufsen
an sie herantretendes, psychologisch genommen dem hete-
rodetischen der Eeal-Urteile ähnlich.
Es ist aber, wie wir weiter hinzufügen müssen, nicht
blofs die Art des Geltungsgefühls verändert, sondern es
ist zugleich auch der Behauptungsinhalt, zwar wohl nicht
eigentlich geändert, aber doch unersichtlich geworden. Fehlt
uns die Übersicht über die Zusammenhänge, die uns be-
rechtigen, einem Begriffe das Merkmal a zuzuschreiben
(wir können sie eventuell gänzlich vergessen haben), so
kann wenigstens sehr leicht auch der Sinn der Behauptung
insofern verdunkelt sein, dafs die begriflliche (analytische)
Geltung gar nicht mehr bemerkt wird. Das, was bestehen
bleibt und allerdings bestehen bleiben mufs, wenn das Urteil
eine Bedeutung im psychologischen Sinne, d. h. irgend
einen Einflufs im Zusammenhange des Denkens haben soll,
ist etwas ganz anderes; es ist keine Einsicht in irgend
ein Verhalten im Sinne der logischen Typen, sondern nur
das Gefühl der Berechtigung einer gewissen Verfahrungs-
weise, seine Bedeutung ist eine, wie ich sagen möchte,
operative. Wenn wir, um ein Beispiel anzuflihren, wissen,
dafe eine Ellipse eine ebene Kurve zweiten Grades ist,
so können wir in der That von diesem Urteil sehr wohl
Zur Psychologie der Urteile. 29
Gebrauch machen, auch wenn wir etwa im Augenblick nicht
übersehen, ob darin ein mathematischer Satz ausgedrückt
oder nur der Begriff der Ellipse analytisch erläutert ist;
denn der Satz genügt uns, um z. B. irgend einer besonderen
Kurve, die uns als Ellipse bekannt ist, gewisse Eigenschaften
zuzuschreiben, die wir an den Kurven zweiten Grades kennen.
Ebenso wird z. B. der Satz 7 x 15 = 105 eine gewisse
psychologische Funktion ausüben können, auch ohne dafs
darüber Klarheit herrscht, ob mit der Gleichheit ein Vor-
stellungsverhältnis oder eine reale Thatsache ausgedrückt
sein soll. Es wird vielmehr für seine Funktion die operative
Bedeutung des Gleichheitsbegrifis voUkommen genügen,
demzufolge wir im Einzelfall etwa wissen, dafs wir aus
105 Nüssen 7 Teile zu je 15 bilden können.
Die Möglichkeit solcher Urteile von wesentlich opera-
tiver Bedeutung beruht natürlich zum Teil auf der formalen
Übereinstimmung derjenigen Verfahrungsweisen, welche aus
mathematischen, logischen und realen Verhältnissen ihre
Berechtigung herleiten. Wie weit eine solche besteht,
braucht hier nicht untersucht zu werden ; dafs sie in gewissen
Fällen vorhanden ist, bedarf keines besonderen Beweises.
Auf der andern Seite — es geht dies aus dem eben
Gesagten schon hervor — wird die operative Bedeutung
gegenüber der definitiven, eigentlichen um so mehr hervor-
treten, je mehr die Zusammenhänge des betreffenden Urteils
und der in ihm figurierenden Begriffe mit andern verwickelt
und unübersehbar werden. Und um so mehr wird an Stelle
der typischen Bedeutungen, welche den klaren analytischen,
mathematischen oder Real-Urteilen eigen sind, ein unklares
und sehr vielgestaltiges Berechtigungsgefühl vorliegen, für
welches auch gar keine andre bestimmte Einsicht, sondern
nur die Gewohnheit so zu verfahren und die ganz allgemeine
Erfahrung, auf solche Weise schliefslich zu richtigen Re-
sultaten zu gelangen, als Begründung angeführt werden kann.
30 J- V- Kries:
Die genauere Überlegung, wie sich einem derart%!W
Sachverhalt gegenüber die logische Betrachtung zu ver-
halten habe, fflhrt uns zunächst dazu, eine bisher gemachte
Voraussetzung nochmals besonders zu betonen, die nämlich,
dafs es sich dabei durchweg um völlig klare, scharf und
fest definierte Begriffe handle. Solange nämlich dies der
Fall ist, sind jene Zusammenhänge, wenn auch nicht im
Augenblick gegenwärtig, doch durch einen jederzeit einzu-
leitenden Uberlegungsprozefs herzustellen. Es würde also
auch unter der gemachten Voraussetzung über die defini-
tive Bedeutung eines jeden, auch des begrifflich verwickelt-
sten Urteils kaum jemals ein ernsthafter Zweifel bestehen
können. Für diesen Fall erscheint es also auch durchaus
berechtigt, wenn man, wie es in der logischen Betrachtung
üblich ist, jedem Urteil die gleiche Evidenzart zuschreibt
wie denjenigen anderen, deren logisches Ergebnis es ist,
also z. B. der gesamten Mathematik die anschauliche, er-
fahrungs-unabhängige Geltung ihrer Axiome vindiziert. Der
eigentlich psychologische Sachverhalt in dem verwickeiteren
mathematischen Urteil wird zwar dadurch nicht zutreffend
gekennzeichnet (selbst für denjenigen nicht, der sich über
den Zusammenhang des betreffenden Satzes mit den Axiomen
und über deren logische Natur ganz klar ist), aber man
operiert, indem man gewissermafsen eine ideale Überschau
des gesamten Zusammenhanges voraussetzt, mit einer
psychologischen Fiktion, welche für die logische Betrachtung
bequem und nützlich ist.
In diesem erweiterten Sinne läfst sich also — unter
der gemachten Voraussetzung — die Bedeutung auch des
verwickeiteren Urteils stets noch klar und zweifellos angeben.
Unter der gemachten Voraussetzung völlig scharf be-
stimmter, feststehender Begriffe! Gerade der Umstand
aber, dafs diese Voraussetzung in umfangreichen Gebieten
unseres Denkens nicht erfüllt ist, führt uns auf einen
Zar Psychologie der Urteile. 31
andern hier zu erörternden Punkt, auf die Bedeutung,
welche die Unsiclierheit und Unbestimmtheit der Begriffe
hier gewinnt. Ein gewisses unbestimmtes Geltungs- oder
Berechtigungsgefuhl, mit welchem wir verschiedene, selbst
mehr oder weniger unbestimmte Begriffe zusammen denken,
und welches unmittelbar nur insoweit bedeutungsvoll zu
sein braucht, dafs es auf den Gang unseres Denkens irgend
einen Einflufs nimmt: das wäre etwa die allgemeinste
Formel, unter der wir das, was im weitesten Sinne des
Wortes Urteil genannt werden darf, zusammenfassen könnten.
Es ist nicht schwierig zu übersehen, dafs gerade mit der
Unbestimmtheit der in ein Urteil eingehenden Begriffe
auch die Natur ihres Zusammenhanges und die Natur der
Berechtigung, mit der wir ihren Zusammenhang behaupten,
vielgestaltig, unklar und unbestimmt wird; auch hier gilt,
dafs dabei gleichwohl den betreffenden Urteilen ein grofser
Wert im Zusammenhange des Denkens zukommen kann;
durchweg ist unerläfsliche Bedingung hierfür nur die opera-
tive oder psychologische Bedeutung der betreffenden Einsicht.
Ich erläutere dies zunächst durch den Hinweis auf
Fälle, wo sogar für den wissenschaftlichen Gebrauch eine
genaue Fixierung der Begriffe entbehrlich geblieben ist
und bleiben wird. Auf weiten Gebieten ist es die reale
Gesetzmäfsigkeit der Dinge, die es ziemlich gleichgültig
und willkürlich macht, ob wir einen Begriff durch eine
kleinere oder gröfsere Anzahl von Merkmalen definieren,
ob wir seinen Inhalt und Umfang, rein logisch gesprochen,
grofser oder kleiner festsetzen woUen. Der Chemiker z. B.
hat gar keinen Anlafs, eine Festsetzung darüber zu
treffen, ob das specifische Gewicht 19,3 zum Begriff des
Goldes gehört oder nicht. Ob man einen Körper, der mit
den sonstigen Eigenschaften des Goldes etwa ein anderes
ßpeciflsches Gewicht verbände, Gold nennen würde oder
nicht, darüber zerbricht man sich nicht den Kopf, eben
32 J. V- Kries:
weil es solche Körper nicht giebt. Logisch genommen
müssen wir gleichwohl konstatieren, dafs, wenn wir das
Urteil „Gold besitzt das specifische Gewicht 19,3" aus-
sprechen, es im Ungewissen ist, ob wir eigentlich ein
analytisches oder ein synthetisches, ein Eeal-Urteil nomo-
logischen Inhalts aussprechen. Für die Logik bietet dieser
Sachverhalt kein besonderes Interesse; sie würde eine
Fixierung des Begriffe und damit eine Klarstellung der
Urteilsart fordern müssen. Für die betreffende Wissenschaft
selbst ist natürlich der hier etwa zuzugebende logische
Mangel ebenfalls ohne Bedeutung, solange die vorausgesetzte
reale Gesetzmäfsigkeit wirklich gilt. Von Interesse aber
ist das ganze Verhalten von dem hier eingenommenen
Standpunkt psychologischer Betrachtung aus. Denn wir
finden hier in der Natur der verknüpften Begriffe, respektive
ihrer psychologischen Substrate den Grund dafür, dafs auch
das sie verbindende Gefühl der Zusammengehörigkeit kein
typisches Geltungsgefuhl ist. Es ist einerseits die Un-
bestimmtheit der dispositiven Einstellung überhaupt, auf
die es dabei ankommt, anderseits aber auch der Umstand,
dafs in den meisten Begriffen, vielleicht in allen, schon
ein gewisses Wissen, eine Reihe von Urteilen, dispositiv
enthalten ist.
Sagen wir also: Gold ist gelb, so wird die dabei
empfundene Zusammengehörigkeit die selbstverständliche
des analytischen Urteils sein, wenn wir die mit jenem
Worte verknüpfte Disposition soweit in Kraft treten lassen^
dafs auch die Eigenschaft gelb darin bereits merklich vor-
bereitet ist. Thun wir dies nicht, so wird die Zusammen-
gehörigkeit als die heterodetische des Real-Urteils erscheinen ;
da wir also nicht blofs dispositiv vorstellen, sondern auch
dispositiv wissen, und da anderseits eine derartige Dis-
position in ganz ungleichem Mafse mit einem Wort ver-
knüpft sein kann, so kann auch das Gefühl der Zusammen-
Zur Psychologie der Urteile. 33
gehörigkeit, welches zwischen dieser und einer andern
Einstellung empfunden wird, ein mannigfaltig abgestuftes
sein. Der psychologische Übergang des analytischen zum
synthetischen Urteil vollzieht sich also, wie man etwa sagen
könnte, nach Mafsgabe der geringeren oder gröfseren Stärke,
mit welcher die betreflfende Verknüpfung bei der einen oder
der anderen Vorstellung dispositiv vorhanden ist.^) Im
vollen Gegensatze zu dieser Unklarheit des Zusammenhangs-
gefühls steht nun aber die Sicherheit der operativen Be-
deutung des Urteils. Darüber sind wir gar nicht im Zweifel,
dafs überall, wo von Gold die Rede ist, das specifische
Gewicht 19,3 angenommen werden mufs.
Und auch im anderen Sinne finden wir den eigent-
lichen Wert der wissenschaftlichen Einsicht von der Fixierung
des Begriffs unabhängig. Das Wesentliche wird z. B. sein,
dafs wir aus gewissen an einem Gegenstand beobachteten
Eigenschaften auf das specifische Gewicht 19,3 schliefsen.
Der ganze Gedankenweg, den wir dabei durchlaufen, er-
scheint sozusagen nur verschieden eingeteilt, je nachdem
wir in dem vermittelnden Urteil, welches den Gegenstand
für Gold erklärt, den Begriff des Goldes enger oder weiter
nehmen, und je nachdem wir also den letzten Schritt als
analytischen oder als nomologischen Schlufs auffassen. Da
es uns, könnte man auch sagen, im praktischen Gebrauche
unserer Gedanken auf die Richtigkeit der Endergebnisse,
nicht aber auf logische Klarheit des Denkverfahrens, an-
^) Es verdient dabei hervorgehoben zu werden, dafs die Sicher-
heit und Stärke des Zusammengehörigkeitsgefühls keineswegs von dem
Grade dieser dispositiven Vorbereitung abhängig ist. Ein Urteil kann
ein typisch synthetisches sein, die Zusammengehörigkeit also deutlich
als eine Neu-Hinzufügung empfunden werden, gleichwohl aber völlig
sicher erscheinen. Der Übergang in die Empfindungsweise des ana-
lytischen Urteils hängt nicht von der Sicherheit, sondern weit mehr
von der Gewöhnung ab. In den altgewohnten Urteilen tritt dieser
Charakter der Selbstverständlichkeit immer mehr hervor, indem das
Prädikat immer mehr zum Subjektsbegriff gerechnet wird.
VierteljahrsBchrift f. wissenschaftL Philosophie. XXIII. 1. 3
34 J- V- Kries:
kommt, so findet (innerhalb gewisser Grenzen ohne Schaden)
eine Vermischung des operativ Gleichwertigen, hier z. B.
des analytischen und des nomologisch-realen Zusammen-
hanges statt.
Durften wir im bisherigen hauptsächlich darauf Gewicht
legen, dafs die Unbestimmtheit der Begriffe und die damit
verknüpfte Vermischung der Geltungstypen ohne praktisch
nachteilige Folgen bleibt, so wollen wir uns nun zu Gebieten
wenden, wo dies zwar im gewissen Umfange auch noch,
aber doch nur mit grofsen Einschränkungen gesagt werden
darf. Besonders die Denk- und Sprechweise des gewöhn-
lichen Lebens ist reich an Fällen, in denen in der Form
eines Urteils mancherlei Verschiedenes zusammengefafst
wird. Dies kann nützlich geschehen, wenn das Zusammen-
gefafste z. B. in praktischer Beziehung zusammengehörig
und gleichwertig ist. Die Zusammenfassung ist auch un-
bedenklich, solange die Richtigkeit aller Teile oder Seiten
der gemischten Aussage aufser Zweifel steht, wie z. B.
wenn sie in einer Mitteilung auftritt, die ein mit dem
Gegenstande Bekannter macht und ein andrer ohne weiteres
als richtig entgegennimmt. Erst sobald sich Zweifel erheben,
wird die Sonderung der vermischten Behauptungsinhalte
naturgemäfs erforderlich. Ein Beispiel derartiger Ver-
mischung bieten die Sätze, in denen die Möglichkeit eines
bestimmten zukünftigen Ereignisses ausgesagt wird. Bei
genauerer Kritik können wir ihnen im allgemeinen einen
mehrfachen Sinn bemerken: erstlich den des problematischen
Urteils, indem wir lediglich unsere subjektive Ungewifsheit
bezüglich des Eintretens oder Nichteintretens ausdrücken;
hierzu gesellt sich als zweiter zunächst der andere, dafs
zur Zeit, sei es aus einem gewissen Personenkreise, sei es
überhaupt, niemand mit Sicherheit wisse, ob das Ereignis
eintreten werde oder nicht; dazu kommt dann endlich der
in vielen Fällen wohl wichtigste und am meisten betonte
Zur Psychologie der Urteile. 35
Sinn derartiger Sätze, ein nomologischer, darin bestehend,
dafs durch irgend welche Bedingungen der Eintritt des
Ereignisses den realen Gesetzen des Geschehens gemäfs nicht
ausgeschlossen sei. Was uns hier interessiert, ist die Ver-
mischung dieser doch sehr verschiedenen Inhalte in einem
Urteil; trotz derselben kann es sehr wohl psychologisch
fanktionieren ; sofern es z. B. einem andern gegenüber aus-
gesprochen wird, wird es im allgemeinen den intellektuellen
Erfolg haben, dafs auch dieser weder das Eintreten noch
das Ausbleiben mit Sicherheit erwartet, den praktischen,
dafs er sich für beide Eventualitäten rüstet. Die, wie wir
es ausdrückten, operative Bedeutung sichert also dem Urteil
seinen psychologischen Wert. Die Vermischung der Inhalte
wird hier, wie überall, ersichtlich, sobald wir nicht an eine
von einer Seite gemachte und von der anderen ohne weiteres
acceptierte Mitteilung, sondern an den Fall denken, dafs
sich eine Diskussion darüber erhöbe, ob der Eintritt des
Ereignisses als möglich zu bezeichnen sei. Alsdann würde
die Sonderung der Inhalte sogleich unbedingt erforderlich sein.
Überaus häufig femer ist die auf ähnlicher Unbe-
stimmtheit der Begriffe beruhende Vermischung von Eeal-
Urteilen mit Wert-Urteilen. In den seltensten FäUen gewifs
werden die Wert-Urteile ganz klar als solche gedacht;
meistens wird das (rein subjektive und individuell gültige)
Wert-Urteil zugleich im Sinne einer objektiv gültigen
Konstatierung gegeben, bei welcher von der Annahme einer
im allgemeinen übereinstimmenden Wertschätzung seitens
der Allgemeinheit ausgegangen wird. Sagt mir jemand:
„der italienische Eotwein der Firma X ist vortrefflich", so
soll im allgemeinen nicht blofs damit gesagt sein, dafs der
Wein dem Urteilenden selbst schmeckt, sondern etwas von
objektiver Bedeutung. Diese beiden ganz verschiedenen
Bedeutungen müfsten sogleich getrennt werden, wenn sich
etwa eine Meinungsverschiedenheit darüber erhöbe, ob der
36 J- V* Kries:
Wein gut ist. In vielen Fällen aber wird die Unterscheidung
nicht gemacht und ist thatsächlich nicht erforderlich, da
der Begriff „gut" oder „vortrefflich" trotz seiner Unklarheit
geeignet ist, um gewisse Folgerungen daran zu knüpfen,
welche sich, sofern es intellektuelle sind, als zutreffend,
sofern es praktische sind, als zweckdienlich erweisen.
Solange nun diese Unterscheidung nicht gemacht wird, ist
natürlich auch das Grefühl der Berechtigung, mit dem wir
etwa den Satz aussprechen, ein unklares; der Sinn des
unklaren Begriffs geht darin auf, dafs aus seiner Prädi-
zierung gewisse Folgerungen zu ziehen sind, und die
Geltung bedeutet die Berechtigung jener Folgerungen
Der psychologische Thatbestand des Urteils weist aber nur
ein Zusammenhangsgefühl zweier Begriffe auf, welches,
wegen der Unklarheit derselben von den typischen
Geltungsgefühlen verschieden ist, aber seine operative Be-
deutung hat.
Noch ein weiteres Beispiel sei hier angeführt, die
Subsumtion konkreter Gegenstände (oder Vorgänge) unter
gewisse, feststehende Begriffe. Stände der Begriff, unter
den wir subsumieren, vollkommen fest, so würde (wenigstens
bei einiger Aufmerksamkeit) kein Zweifel darüber aufkommen
können, ob wir mit einer solchen Subsumtion nur das be-*
züglich des Gegenstandes Bekannte einer Allgemein- Vor-
stellung eioreihen (also die Subsumtion ein reines Beziehungs-
Urteü darstellt), oder ob wir dabei bezüglich des realen
Verhaltens Neues und Mehreres behaupten, also einen auf
andere Einsichten von realer Bedeutung sich stützenden
Schlufs ausführen. Bei vöUig scharfen Begriffen, wie gesagt,
könnte hierüber nie ein Zweifel entstehen. Bei unklaren
Begriffen aber wird sich auch hier, ganz ähnlich wie beim
analytischen und nomologischen Urteil, der logische Cha-
rakter verwischen. Das unklare Gefühl der Zusammen-
gehörigkeit, welches wir empfinden, wenn wir in solcher
Zur Psychologie der Urteile. 37
Weise subsumieren, entspricht keinem der Typen; gemein-
sam mit allen anderen Arten ist ihm auch nur das Gefühl
der Berechtigung, an die betreffende Statuierung gewisse
weitere Folgerungen zu knüpfen. Und im Hinblick hierauf
können wir auch hier wieder bemerken, dafs die unklare,
keinem Geltungstypus einzureihende Statuierung in vielen
Fällen genügend funktioniert. Es kommt auch hier nur
darauf an, dafs wir z. B. wissen, wie sich in allen mög-
lichen Beziehungen das uns entgegenkommende Tier verhält;
hierzu ist uns die Subsumtion unter den Begriff Auerhahn
nützlich und genügend, überflüssig dagegen, diesen Begriff
so genau zu fixieren, dafs man angeben könnte, wie viel
oder wie wenig wir zu der wirklich gemachten Wahrnehmung
noch durch einen Schlufs ergänzen müfsten, um die Sub-
sumtion ausführen zu dürfen.
Wenn nach den obigen Ausführungen ein zu richtigen
Ergebnissen führendes und praktisch brauchbares Denken
trotz einer weitgehenden Vermischung der Geltungstypen
möglich ist, so eröflhet freilich auf der anderen Seite die
Übersicht über den weiten psychologischen Thatbestand
des Urteilens ohne weiteres den Einblick in die mannig-
faltigen Möglichkeiten des irrtümlichen und verkehrten
Denkens. Wenn zum Thatbestande des Urteils nichts
weiter gehört als ein gewisses Zusammenhangsgefühl ver-
schiedener Begriffe, dem zunächst eine nur operative Be-
deutung zukommt, und dessen Zusammenhang mit endgültig
klaren Urteils-Inhalten gar nicht direkt zu übersehen ist,
so ist danach auch sogleich die Möglichkeit von Begriffs-
kombinationen einzusehen, denen wir einen solchen Zu-
sammenhang zuzutrauen geneigt sind, ohne dafs sie ihn
wirklich besitzen, von Pseudo-Urteilen, die etwas zu be-
deuten scheinen, und welche eine eingehendere Prüfung
als ganz inhaltslos herausstellt.
Die Neigung, Betrachtungsweisen und Fragestellungen,
die sich in gewissem Umfange eingebürgert und bewährt
38 J- ▼• Kries:
haben, ohne besondere Prüfung auf weitere Gebiete aus-
zudehnen, hat es in der That zu solchen Schein-Urteilen
wohl in allen Wissensgebieten nur zu häufig kommen lassen.
Auch in dieser Beziehung ist eine weitere Verfolgung der
obigen Darlegungen von Interesse, weil die Klarstellung
und Sonderung der Geltungstypen nicht nur die erste an
ein wissenschaftlich wertvolles Denken zu stellende An-
forderung darstellt, sondern auch eine, die mit einigem
Aufwand von Mühe und Überlegung stets beftiedigt werden
kann. Die Unklarheit der Geltungsgefuhle bietet, wie
gesagt, die Möglichkeit für Begriffsverbindungen, die, unter
dem Schein von Urteilen auftretend, bei kritischer Ver-
folgung sich als inhaltsleer herausstellen, die aber,
für bedeutungsvoll gehalten, als Behauptungen, als
Fragen, als Gegenstand der Diskussion, irre itihren. Ein
nicht geringer TeU der Bestrebungen, die der „Bestimmung
eines Begriffes" gewidmet worden sind, sind derartigen
Täuschungen zum Opfer gefallen; ähnlich die psychologische
Forschung in überaus zahlreichen Fällen (u. a. z. B. als
sie an die Messung der Empfindungsstärken heranging).
Wichtiger indessen als die Abwendung von rein illusorischen
Zielen ist die deutUche Erfassung der wirkUch wertvollen
Aufgaben, die sich zumeist hinter jenen unklaren Formu-
lierungen zu verbergen pflegen. Für solche Zergliederungen
bietet nun, wie gesagt, die allgemeine Einsicht in die
Geltungstypen wohl den wertvollsten Anhalt; denn man
wird eben stets damit beginnen müssen, auf dieser Basis
sich klar zu machen, wonach man eigentlich suchen
will. Namentlich die Heraussonderung der Thatbestands-
fragen und die Einsicht, dafs, wenn das reale Verhalten
einmal festgestellt ist, weitere daran angeknüpfte Fragen
von irgend welcher anderer Bedeutung sein müssen, ist
vielfältigst fruchtbar und belehrend. Dieser Weg, wie sich
fast von selbst versteht, ist, auch ohne von einer syste-
Zur Psychologie der Urteile. 39
matischen Übersicht der Geltungstypen auszugehen, vielfach
und mit Erfolg eingeschlagen worden. Die Rechtswissen-
schaft hat in neuerer Zeit manche wertvolle Klärung und
Vertiefung ihrer Untersuchungen durch derartige Be-
trachtungen erfahren. Es war in der That notwendig zu
betonen, dafs die Frage nach dem „Wesen des Vertrages"
nicht eine Aufklärung gegebener realer Thatbestände wäre,
sondern dafs es sich nur um die zweckmäfsige Bildung
eines Begriffs handeln könne, von dem ein bestimmter
praktischer Gebrauch gemacht werden soll. Wenn femer
die Aufgabe einer Gesetzesinterpretation zu der Unter-
suchung fuhrt, was „der Wille des Gesetzgebers" gewesen
sei, so war es nützlich, sich klar zu machen, dafs diese
in der Form einer Thatbestandsfrage gestellte Aufgabe
vollkommen beantwortet ist, wenn man weifs, was bestimmte
reale Personen gedacht, gewollt, eventuell nicht bedacht,
übersehen oder verwechselt haben, und dafs, wenn sich
hiemach eine bestimmte Interpretation nicht ergiebt, man
vor allem darüber ins Klare kommen mufs, was die weitere
Au%abe der Interpretation, die nun eine Real-Untersuchung
jedenfalls nicht mehr sein kann, eigentlich zum Gegenstande
habe. Dafs ähnliche Klärangen vielfach, besonders im
Gebiete der Psychologie, noch sehr vonnöten wären, kann
hier freilich nur, ohne weiteres Eingehen, kurz angedeutet
werden. Sie sind es um so mehr, je mehr neben That-
bestandsfragen noch andere, wirklich bedeutungsvolle Auf-
gaben, wie z. B. in der Psychologie die Bildung von
Allgemein- Vorstellungen, vorliegen, die ihrer Natur nach
in ganz anderem Sinne behandelt werden müssen.
Die Bedeutung der obigen Ausführungen möchte ich
zunächst darin erblicken, dafs sie uns eine Anschauung
davon gewähren, welche Stellung die gewöhnlich zum Gegen-
stande logischer Untersuchung gemachten Urteile in der
Gesamtheit unseres Denkens im weitesten psychologischen
40 J> ^' Kries:
Sinne einnehmen. Es ist für sie vorzugsweise charakteristisch
der endgültige, auf nichts andersartiges mehr zurück-
zufahrende Charakter des Geltungsgefühls. Ein logisch
vollkommen durchgearbeitetes Denken wird ein solches sein,
bei welchem die Bedeutungen jedes Denkvorganges derart
geklärt und übersichtlich sind, dafs sein Zusammenhang
mit solchen endgültigen Behauptungsinhalten leicht über-
sehen und mit Sicherheit dargelegt werden kann. Selbst
ein Denken aber, welches auf dieses auszeichnende Prädikat
Anspruch erheben darf, kann in seinen Einzelgestaltungen,
wenn nicht anders, so jedenfalls durch die blofse Zusammen-
fassung von mehrerlei Verschiedenartigem von den logisch
fixierten Typen sich unterscheiden. Im übrigen ist klar, weshalb
die logische Betrachtung von dieser Mannigfaltigkeit psycho-
logischer Einzelgestaltungen absehen oder wenigstens sich
mit einem ganz allgemeinen Hinweis auf ihre Denkbedeutung
begnügen mufs. Die Frage nach dem logischen Zusammen-
hang mehrerer Urteile, die ja stets den wichtigsten Gegen-
stand aller logischen Betrachtung bildet, kann überhaupt
nur für Urteile im psychologisch engeren Sinne mit genau
fixiertem Geltungscharakter gestellt werden. Für alle die-
jenigen Bewufstseinsvorgänge, die wir wohl im weiteren
Sinne noch als Denkakt bezeichnen, können wir wohl (in
rein psychologischer Untersuchung) zu ermitteln streben,
welche EoUe sie faktisch im Ablaufe der Gedankenbewegung
spielen. Für jene logische Fragestellung aber fehlt bei dem
Mangel einer definitiv geklärten Geltung naturgemäfs die
Basis. Material und Ausgangspunkt der logischen Betrachtung
sind also selbstverständlich gewisse, psychologisch gegebene,
als Gegenstand innerer Erfahrung uns zugängliche und be-
kannte Denkakte ; es ist das aber nicht die gesamte Mannig-
faltigkeit psychologischen Geschehens, die wir wohl als
Denken bezeichnen; es sind vielmehr nur jene ausgezeichneten
Fälle, welche sich keiner weiteren Zurückführung und Er-
Zur Psychologie der Urteile. 41
klänmg fähig, als etwas endgültig Klares und endgültig
Bedeutungsvolles darstellen.
Das Ergebnis, zu dem wir gelangt sind, stellt in
der Hauptsache eine gewisse Erweiterung unserer psycho-
logischen Einsicht dar, die der logischen Betrachtungsweise
verdankt wird. Man wird fragen dürfen, wie bei der viel-
betonten Unabhängigkeit der beiden Behandlungen es zu
einem derartigen Kesultat eigentlich kommen kann, und es
ist nicht ohne Interesse, diese Frage zu beantworten. Die
Aufinerksamkeit auf die verschiedenen Arten der Geltung,
auf die Bedeutung und den logischen Zusammenhang der
Urteile ist von jeher das hervorstehende Merkmal gewisser
Untersuchungen gewesen, während andere ohne Interesse
oder Verständnis hierfür die Vorgänge des menschlichen
Seelenlebens als eine Eeihe von Erfahrungsthatsachen be-
handelten und ihre Erforschung ganz ebenso wie die aller
anderen Erfahrungsgebiete in Angriff nehmen wollten.
Diesen Gegensatz der logisch-kritischen und der psycho-
logischen Fragestellung und Untersuchung wird man be-
merken können, lange ehe von einer klaren Einsicht in
seinen Grund die Eede gewesen ist. Tiefgreifende Unter-
schiede der ganzen intellektuellen Veranlagung sind es
offenbar gewesen, die, gerade vor einer deutlichen Er-
kennung der Unabhängigkeit und des Verhältnisses beider
Betrachtungsweisen, die Arbeiten eines Teils der Denker und
und Forscher in eine, diejenige anderer in andere Richtung
gezogen haben. Ist nun durchgängig mit der rein psycho-
logischen Behandlung ein gewisser Mangel zum mindesten
an Interesse für die specifischen Betrachtungsweisen der
Logik verknüpft gewesen, so erklärt sich hieraus auch, dafs
dabei im allgemeinen jene Besonderheiten psychologischen
Verhaltens überhaupt nicht beachtet worden sind. Aber
hierin liegt, auch vom psychologischen Standpunkte aus,
eine Einseitigkeit und ein Mangel der Untersuchung, ein
42 J- V- Kries:
einfaches Übersehen gewisser überaus wichtiger Thatsachen.
Von der logischen Betrachtung aus an die psychologische
herantretend, müssen wir nachdrücklichst betonen, dafs in
den Differenzen der Geltungsgefühle und insbesondere auch
der Mehrheit der endgiltigen Typen eine Thatsache vor-
liegt, mit der jeder Versuch psychologischer oder gar psycho-
physischer Erklärungen der Denkakte rechnen mufs. In
diesem Verhältnis also liegt der Grund für die psychologische
Ausbeute der logischen Betrachtung.
V.
Mit den obigen Auffassungen fixiert sich von selbst
auch der Standpunkt gegenüber einigen weiteren Fragen der
UrteUslehre; es wird genügen, einiges Wenige in dieser Hin-
sicht hinzuzufügen. Zunächst: wie haben wir uns mit der
Au%abe abzufinden, das „Wesen des Urteils" anzugeben
oder deutlich zu machen, worin, psychologisch, das Charak-
teristische des Urteils besteht? Wir werden keine Schwierig-
keit haben, uns darüber klar zu werden, wie weit und in
welchem Sinne eine allgemeine Charakterisierung des psycho-
logischen Thatbestandes der Urteile überhaupt möglich ist.
Man kann sagen, dafs eine solche nur in sehr unbestimmter
Form gegeben werden kann, weil wir eben unter „Urteil"
vielerlei Verschiedenartiges verstehen, weil „Urteil" selbst
eine Allgemein -Vorstellung ist, die psychologisch ver-
schiedenes zusammenfafst, und deren Bedeutung daher gerade
wie die des Wortes Süfs oder Rot nicht in einer Definition,
sondern nur durch Aufzeigung von Beispielen deutlich ge-
macht werden kann. Und es gilt dies, worauf besonderer
Nachdruck gelegt werden mufs, nicht blofs für die grofse
Mannigfaltigkeit der Gestaltungen, die der gewöhnliche
Denkverlauf darbietet, sondern es wird selbst dann gelten,
wenn wir uns auf die Betrachtung typischer Normalfälle
beschränken. Allgemein läfst sich nicht mehr sagen.
Zur Psychologie der Urteile. 43
als wovon wir gleich zu Anfang ausgingen, dafs jedes
Urteil eine Verbindung zweier oder mehrerer Vorstellungen
(resp. dispositiver Einstellungen) sei, welche unter Hinzu-
tritt eines besonderen psychologischen Elementes sich voll-
zieht, das wir als Geltungsbewufstsein, Zusammengehörig-
keitsgefühl u. dergl. bezeichnen können. Aber es ist
wichtig, sich klar zu machen, dafs das wesentliche und
wertvolle Ergebnis einer Urteils-Psychologie gewifs nicht
in der Gewinnung einer solchen allgemeinen Formel be-
stehen kann. Einen gröfseren Wert könnte eine solche be-
anspruchen, wenn das Geltungsbewufstsein ein ganz be-
stimmtes, allemal genau gleichartiges Element des Urteils
wäre, und wenn dasselbe die Begleiterscheinung einer
wiederum in allen Fällen gleichartigen Beziehung von Vor-
stellungen wäre. Ist dies aber nicht so, sondern auch
„Geltungsbewufstsein" wiederum nur eine Zusammenfassung
von vielem psychologisch Verschiedenem, so ist natürUch
auch mit der Aufstellung einer solchen, die Urteile allgemein
beschreibenden Formel nur wenig gewonnen. Bedeutungs-
voller wird alsdann, wie ja immer in solchen Fällen, die
Einteilung sein, die Gewinnung einer Übersicht über das
Verschiedene und die Darstellung ihres gegenseitigen Ver-
hältnisses. In dieser Beziehung lehren nun die obigen
Darlegungen, dafs in der faktischen Gestaltung des all-
täglichen Denkens die Geltungsgefuhle von der aUerver-
schiedensten Art sein können. Die wissenschaftliche Prä-
zisierung der Begriffe fuhrt dazu, diese unklaren Zusammen-
hangsgefühle mehr und mehr zu beseitigen, und es bleiben
um so reiner und isolierter, je mehr diese Aufgabe gelöst
ist, eine relativ kleine Zahl gesonderter und typisch ver-
schiedener Geltungsgefuhle übrig. Aber, und dies ist von
Wichtigkeit, eine Anzahl verschiedenartiger Geltungsgefuhle
bleibt uns, auch nach vollständigster Lösung jener Aufgabe,
als etwas Endgültiges und nicht weiter Analysierbares übrig.
44 ^' '^^ Eries:
Hier ist, wie ich glaube, der Punkt, in dem wir uns von
der hergebrachten Auffassung entscheidend ablösen, die
erst in der allgemeinen, alle Arten des Urteils umfassenden
Charakterisierung ein wertvolles Ziel der Untersuchung zu
erblicken pflegt. In dem Begriff des Geltungsgefuhls
können auch wir das allen Urteilen Zukommende generali-
sierend zusammenfassen. Aber wir verlieren selbstverständ-
lich an Bestimmtheit in dem Mafse, wie wir an Allgemein-
heit gewinnen.
Es wird, wie mir scheint, immer bis zu einem gewissen
Grade Sache individuellen Geschmacks bleiben, wie weit
man Neigung und BedürMs hat, die verschiedenen Arten
der im Urteil ausgedrückten Geltung in einen allgemeinen
Begriff zusammenzufassen, oder wie weit man anderseits
bestrebt ist, die Unterschiede derselben zu betonen. Ist
man auch (wie ich es z. B. bin) weit mehr geneigt, die
Statuierung und Verfolgung dieser Unterschiede für wichtig
und firuchtbar zu halten (in üir liegt auch das Fundament
aller Logik), so soll doch damit die Übereinstimmung nicht
verkannt werden, welche das Gefühl der Richtigkeit, der
Geltung in allen seinen Formen besitzt, und welche eben
in dem allgemeinen Begriff der Gültigkeit ihren Ausdruck
gefunden hat. Ja, wir können sogar auch auf die Ähnlich-
keit hinweisen, welche zwischen diesen GeltungsgeJRihlen
und der ethischen und ästhetischen Billigung resp. Mifs-
billigung besteht, und wir nähern uns damit der Be-
trachtungsweise Windelbands, welcher logische, ästhetische
und ethische Geltung in den Begriff des Normgemäfsen
zusammenfafst. Niemand wird verkennen, wie zutreffend
und ftnchtbar dieser Gedanke für die historische Auffassung
aller philosophischen Bestrebungen ist. Und auch auf
modernem Standpunkt der Untersuchung ist er nicht be-
deutungslos. Für die mathematischen und logischen Sätze liegt
unzweifelhaft der wichtigste Punkt der Übereinstimmung
Zur Psychologie der Urteile. 45
in der Allgemeinheit des Sinnes. Die Unabhängigkeit der
ersteren von Ort, Gröfse und materieller Erfüllung des
Raumes, von der Natur der gezählten Gegenstände etc.,
ebenso logisch die Unabhängigkeit mancher Formen von
der Besonderheit der Begriffe läfst uns unmittelbar die
Mannigfaltigkeit der specielleren Gestaltung empfinden, in
welcher die mathematische resp. logische Geltung auftreten
kann. Hierauf beruht in erster Linie die grofse Bedeutung,
welche die betreffenden Sätze thatsächlich haben. Da
überdies die Komplikation der Zusammenhänge nicht ohne
weiteres übersehen läfst, ob eine einzelne Gröfsenbeziehung
oder eine bestimmte Gedankenbewegung mit jenen all-
gemeinen und selbständig evidenten Sätzen im Einklang
oder im Widerspruch ist, so entwickelt sich daraus die
Bestrebung, unser Denken auch im einzelnen jenen all-
gemeinen Einsichten entsprechend zu gestalten, worin ja
dann ganz vorzugsweise der Vergleichspunkt mit der ethischen
Norm und der durch sie regulierten Willensbestrebung liegt.
Ein Vergleichspunkt; aber doch, kann man auch wieder
sagen, nur ein äufserlicher, den psychologischen Effekt
betreffender; denn indem wir dem „SoU", von welchem
die Logik redet, nachgehen, finden wir seinen Sinn doch
wieder ganz ausschliefslich darin aufgehend, dafs ein ab-
weichendes Denken logisch widersprechend ist. Und worin,
wird man wieder fi-agen können, liegt denn nun das
Gemeinsame des logisch Widersprechenden und des ethisch
zu Mifsbilligenden oder dieser beiden mit dem nach an-
schaulicher Evidenz mathematisch Unmöglichen? Die Ge-
fahr einer Einmischung fremdartiger Elemente wird viel-
leicht noch näher liegen, wenn die gemeinsame Be-
stimmung in dem Merkmal der Allgemeingültigkeit
gefunden werden soll. Meines Erachtens ist der zwingen-
den Evidenz, mit der wir die Gültigkeit eines mathe-
matischen oder logischen Satzes empfinden, die Beziehung
46 J« V' Kries:
darauf, dafs wir zu allen Zeiten oder dafs sämtliclie andere
Menschen ebenso denken und anschauen müssen, durchaus
fremd. Ich kann die Gültigkeit des Satzes, dafs zwischen
zwei Punkten nur eine gerade Linie möglich ist, empfinden ;
die Annahme aber, dafs ich selbst jederzeit oder dafs alle
Menschen die gleiche Eaumanschauung besitzen müssen,
ist eine (zwar gewifs sehr wohl begründete, aber durchaus
empirische) Vorstellung, auf welcher allerdings die prak-
tische Wichtigkeit, nicht aber die eben jetzt empfundene
Gültigkeit jenes Satzes beruht. Und noch weniger zu-
treffend erscheint es mir, den Begriff der Allgemeingültig-
keit im obigen Sinne, wie es geschehen ist, auch mit
der Geltung des einfachen Real-Urteils in Verbindung zu
bringen.
Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis, wie die Erörterung
der Geltungsgefühle, führt auch die Untersuchung des Ver-
hältnisses, in dem die einzelnen Elemente des Urteils zu
einander stehen. Man hat sich immer bemüht, das Ver-
hältnis des Prädikats- zum Subjektsbegriff, welches das
Wesen der Aussage ausmachen soll, anzugeben. Versucht
man indessen, sich im voraus darüber klar zu werden, was
eine solche Untersuchung überhaupt leisten kann, so sieht
man, dafs in dem Verhältnis der im Urteil verbundenen
Begriffe ja der materielle Sinn der Aussage stecken . mufs.
Es erscheint also von vornherein kaum denkbar, das Ver-
hältnis in einer Weise zu bezeichnen, welche Urteilen
materiell verschiedenen Inhalts gleichmäfsig gerecht wird
(es sei denn, dafs man sich auf die ganz unbestimmte An-
gabe einer „logischen Beziehung" beschränkt). Thatsächlich
sieht man ja auch, dafs, wie schon öfter angedeutet, in
jeder Urteilsart nicht blofs das Geltungsbewufstsein, sondern
auch Art und Verhältnis der verknüpften Vorstellungen ein
eigentümliches ist. Im mathematischen Satze, dafs die
Summe der Kathetenquadrate gleich dem Hypotenusen-
Zur Psychologie der Urteile. 47
quadrat ist, in dem logischen Beziehungs-Ürteile, dafs ein
Satz notwendiges Ergebnis zweier andrer sei, im Real-
Urteile, dafs ein Ereignis zn der nnd der Zeit stattgefmiden
habe, sehen wir überall ganz verschiedene Elemente ver-
knüpft. Eine Verbindung dieser Elemente macht den Sinn
des Urteils aus und wir haben sie, indem wir den Sinn
des Urteils angeben, bereits bezeichnet; sie noch weiter
erklären zu wollen, ist, wie mir scheint, der Versuch, ein
psychologisch Letztes noch weiter zu analysieren. Es ist
dementsprechend auch durchaus folgerichtig, wenn Ebdmann
in der Verfolgung dieser Aufjgabe schliefslich zu der For-
mulierung gelangt, dafs eine „logische Immanenz" vorliege.
Gewifs, man wird dies sagen dürfen. Aber mir will nicht
scheinen, dafs mit dieser Statuierung einer logischen
Immanenz noch etwas mehr ausgesagt wäre, als etwa eine
„Denkbeziehung". Was haben wir gewonnen? Im Grunde,
wie mir scheint, nichts weiter, als dafs wir die verschiedenen
Geltungsbeziehungen durch die Bildung einer Allgemein-
Vorstellung zusammengefafst haben. Dies kann für die
psychologische Betrachtung notwendig und nützlich sein;
nur werden wir nicht glauben dürfen, hierdurch irgendwie
dem Wesen des Urteils näher zu kommen.
Als berechtigtes Ziel weiterer logischer Untersuchung
erscheint daher auch nicht eine allgemein zutreffende An-
gabe des Verhältnisses von Subjekts- und Prädikatsbegriff,
sondern eine Ermittlung, welche Vorstellungselemente jede
Art von Urteil verknüpft. Nicht das Wie dieser Verknüpfung,
welches eine weitere Erklärung nicht mehr gestattet, wohl
aber das Was der verknüpften Elemente ist eine Aufgabe,
mit deren Inangrifhahme sich noch ein Feld frucht-
barer und interessanter logischer Untersuchung eröfl&iet,
eine Aufgabe aber, die notwendig für die verschiedenen
Geltungstypen unabhängig geführt werden mufs. Wenn in
einem Real-Urteile von konkreter Bedeutung ein generell
48 J. V. Kries: Zur Psychologie der Urteile.
bezeichnetes Geschehen neben einer individualisierenden
Zeitbestimmung auftritt (es regnete gestern), mit welcher
Aussicht soll man über die Verknüpfung dieser beiden
Urteilselemente noch weiter spekulieren, oder wie soll man
versuchen, diese Verknüpfung unter einen gemeinsamen
Gesichtspunkt zu bringen mit derjenigen des Subjekts- und
Prädikatsbegriffs, etwa in dem Urteile: die Zahl 43 ist
eine Primzahl? Berechtigt aber und wichtig erscheint die
Frage, ob in alle Real-Urteile zeitliche Bestimmungen ein-
gehen, in welcher Form u. s. w.
Mit der Behandlung derartiger Aufgaben^) wendet
sich, wie mir scheint, am entschiedensten die neuere Unter-
suchung von den Wegen der älteren Logik ab ; denn diese
wurde an der Stellung solcher Angaben dadurch verhindert,
dafs sie als eine rein formale nach einer thatsächlich un-
erreichbaren Allgemeinheit streben zu müssen glaubte.
Dadurch wurde es ihr unmöglich, über die unfinichtbare
Lehre von der Verknüpfung des Subjekts- und Prädikats-
begriffs hinaus zu gelangen. — Da eine Verfolgung dieses
Gegenstandes natürlich aufserhalb des Rahmens dieser
Abhandlung liegt, so mufs ich hier auch die Erläuterung
schuldig bleiben, aus welchem Grunde und in welchem
Sinne davon ausgegangen wurde, dafs durchweg im Urteil
eine von einem Geltungsgefühl begleitete Verknüpfung
mindestens zweier Vorstellungen vorliegen müsse.
') Als Untersuchungen dieser Richtung erscheinen mir z. B. die
neuerdings sich häufenden Erörterungen der Impersonalia, die gewiTs
trotz der noch starken Divergenz der Auffassungen schon durch die
ganze Auffassung der Aufgabe einen der bedeutungsvollsten Fortschritte
gegenüber der älteren Logik darstellen.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der
Zeitvorstellung/)
Von Eugen Posch (Budapest).
(Erster Artikel.)
Inhalt.
Geeenstand des Vergehens sind die Eigenschaftskomplexe. Vergangen-
eeln ist Nichtsein. Ursache des Vergangenheitsbegriffs das Erinnerungsvermögen.
Zeitvorstellung nicht unbedingt an Beweeungsanblick geknüpft. Ob ein Zeit-
organ anzunehmen sei. Sprachlicher Ausorack des Vergangenseins.
Verzeichnis der citierten Bücher.
Aristoteles: „Acht Bücher Physik." Griechisch und
deutsch von Prantl. Leipzig 1854. (Hieraus Buch IV,
cap. 10 — 14.) — Augustinus: „D. Aurelii Augustini Libri
XTTT. Confessionum." Venetiis 1738. (Hieraus lib. XI, cap.
13 — 28.) — Bain: „Les sens et l'intelligence." Übers,
von CazeijLes. II. Aufl. Paris 1889. — Baumann: „Die
Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren
Phüosophie." Berlin 1868/69. Bd. I— H. — Bazin:
„Grammaire mandarine." Paris 1856. — Bopp: „Ver-
gleichende Grammatik ..." DI. Aufl. Berlin 1870. Bd.
n. — Condillac: „Trait6 des sensations." Paris 1803.
^) Bildet den ersten Abschnitt einer deutschen Bearbeitung von
des Verfassers ungarischem Original werke : „Az idö elm61ete", Bd. I
u. n, Budapest 1896—97.
Vierteljahrsschrift f. wlssenschaftl. Philosophie. XXTTT. 1. 4
50 Eugen Posch:
(Der 4. Band der „Oeuvres completes".) — Descartes:
„Prinz." = Philosophische Werke El: Die Prinzipien der
Philosophie. Übers, von Kibchmakn. IE. Aufl. Heidelberg
1887. (Hieraus I. Teil, Punkte 55—57 u. 62.) — Eyfferth:
„Über die Zeit." Berlin 1871. — Fichte I. H.:
„Ps." = „Psychologie." Leipzig 1864. I. Teü (Punkte
145 — 154). — Fouill^e: „Introduction" in dem GuYAu'schen
Werke. — Gnyau: „La genfese de l'idee de temps." Paris
1890. — Hegel: Werke. Berlin 1842. Band VH. („Vor-
lesungen über die Naturphilosophie." Hieraus §§ 257 — 259.)
— Herbart: „Sämtliche Werke." Ed. Hartenstein. Leipzig
1850/51. Band HI— VI. — Hobbes: „Elementorum philo-
sophiae Sectio prima: de corpore." (Opera philosophica,
quae latine scripsit, omnia. Amstelodami 1668.) Hieraus
Pars n, cap. Vn, 3. — Horwiez: „Psychologische Analysen
auf physiologischer Grundlage." Halle-Magdeburg 1872 und
1878. (Band H, beide Teile.) — Hnme: „Über die mensch-
liehe Natur." I. Band: „Über den menschlichen Verstand."
Übers, von Jakob. HaUe 1790. (H. Teil, S. 67—144.) —
Kant: „M. P." = „De mundi sensibilis atque intelligibilis
forma et principiis." Aus: „Die vier lateinischen Disser-
tationen Kants." Ed. Kirchmann. Leipzig 1878. —
„Kr." = „Kritik der reinen Vernunft." Ed. Kehrbach. —
Leibniz: „N. A." = „Neue Abhandlungen über den mensch-
lichen Verstand." Übers, von Schaarschmidt. Berlin 1873.
(n. Buch, S. 131—136.) — „Opera omnia." Ed. Dutens.
Genevae 1768. (Hieraus tom. H pars: der Briefwechsel mit
Claeke.) — Liebmann: „Zur Analysis der Wirklichkeit."
n. Aufl. Strafsburg 1880. — Locke: „Versuch über den
menschlichen Verstand." übers, von Kiechmann. Berlin
1872. (I. Band, H. Buch, S. 187—213.) — lotze: „Meta-
physik." n.Aufl. Leipzig 1884. Punkte 138— 157. (Bildet
den n. Teil von „System der Philosophie".) — Lucretii Cari:
„De rerum natura libri sex." Ed. Th. Creech. Lipsiae
1776. — Pott: „Verschiedene Bezeichnungen des Per-
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 51
fects . . . ." in Band 15 u. 16 der „Zeitschr. f. Völkerps.
u. Sprachw." — Schelling: „Sämtliche Werke." Ed. K. F.
A. Schelling. Stuttgart -Augsburg. Band Vn. (Hieraus:
„Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie."
„Aphorismen über die Naturphilosophie." „Kritische Frag-
mente." „Stuttgarter Privatvorlesungen.") — Sehleicher:
„Compendium der vergleichenden Grammatik der indoger-
manischen Sprachen. " Weimar 1876. IV. Aufl. — Sehopen-
haner A.: „Sämtliche Werke." Ed. Grisebach. Leipzig,
Eeclam. (Bände I — VI.) — Sextus Empirieas: „Des S. E.
Pyrrhoneische Grundzüge." Übers, u. erl. von Pappenheim.
Leipzig 1877. (Hieraus Buch m, cap. 15 — 17.) — „Opera."
Graece et latine. Ed. Fabricius, Lipsiae 1840/41. (Hiervon
Tomus I: die obigen Stellen; Tom. I: „Adversus Physicos."
S. 715 flf.) — 5,Sinipl/': = „Simplicü in Aristotelis Physico-
rum libros quattuor priores." Ed. Diels. Berlin 1882. —
Spencer: „Die Principien der Psychologie." HI. Aufl. Übers,
von Vettbb. Stuttgart 1886. — „Stob^^: „Joannis Stobaei
Eclogarum libri duo." Interprete G. Cantero. Antwerpiae
1575. — Talne: „De Tintelligence." IH. Aufl. Paris 1878.
(Band H.) — Tobler: „Übergang zwischen Tempus und
Modus." (Zeitschr. f. Völkerps., Band H, 1862.) — Volk-
mann: „Lehrbuch der Psychologie." DI. Aufl. Cöthen
1884/85. (Band H, §§ 86—89.) — Waitz: „Lehrbuch der
Psychologie als Naturwissenschaft." Braunschweig 1849. —
Wnndt: „Log." = „Logik." Band I. Stuttgart 1880. —
„Ph. Ps." = „Grundzüge der physiologischen Psychologie."
m. Aufl. Leipzig 1887. H. Band.
I. Die Vergangenheit.
Die Vorstellung und Thatsache des Nacheinander,
(der Succession), die sich schon dem flüchtigen Blicke^)
*) Bereits dem des Aristoteles, s. : rote tpafihv yeyovsvai ;^(>ovoy,
oxav tov ngox^Qov xal vaxeQov . . . aia^oiv Xaßwfxev (IV., cap. 11).
4*
52 Eugen Posch:
als innerster Kern dessen darstellt, was man unter „Zeit"
verstellt, ist zusammengesetzter Natur, indem sie das Be-
wufstsein und Faktum eines vergangenen, eines gegen-
wärtigen und eines bevorstehenden Sinnesinhalts in sich
begreift; eignet sich folglich zum Ausgangspunkt einer
Analyse der Zeitvorstellung weit weniger, als deren Ele-
mente, die letzterwähnten drei Thatsachen. ^)
Von diesen Thatsachen zieht nun wieder die des Ver-
gehens, des Austretens aus der Gegenwart, als mit dem
Zeitbegriffe anscheinend inniger zusammenhängend, unsere
Blicke in erster Linie auf sich, und es lassen sich schon
innerhalb derselben jene beiden Grundfragen (eine meta-
physische und eine psychologische) aller Zeitforschung auf-
werfen, deren genaue Scheidung ein Verdienst der Her-
BABT'schen (VI, 116 — 117) Philosophie ist, nämlich: was
ist Vergehen? und in welcher Weise wird es vom mensch-
lichen Geiste aufgefafst?
Die erstere erfordert Erledigung der Vorfrage: was
ist der wahre Gegenstand des Vergehens, was vergeht
eigentlich? — eine keineswegs unnütze Untersuchung, wenn
man bedenkt, wie sehr verhüllt das fragliche Subjekt in
den gewöhnlichen Urteilen über Vergangenes (den Per-
fektiv- oder Vergangenheitsurteilen, wie wir sie fortan
nennen wollen) ausgedrückt zu sein pflegt. Z. B. (neben
dem lichtvolleren Ausspruche: „Das Pferd sprang"):
„Freund N. war hier". Er lebt doch noch, also was war
eigentlich? Anderseits: „Es waren einst Hexenrichter."
Wer bedenkt, dafs das Untergegangensein eines Subjekts
(Person oder Gegenstand) einfach durch Leugnung (richtiger:
perfektiven Ausdruck) seines Forstbestehens (folglich einer
') Dieser Umstand wurde auch von Gütau (S 22 ff.) richtig er-
kannt, von Spencer und Hbrbart jedoch übersehen, trotzdem der Letz-
tere behauptete: „. . . die VorsteUungen der Zeitpunkte erzeugen sich
mit Hilfe der Urteile (A ist nicht mehr B), durch welche die Ver-
änderungen des Dinges eine nach der anderen aufgefaTst und in ihre
Ordnung gestellt werden." (VI, S. 306—307.)
Ausgangspunkte zu einer Theorie der ZeitTorstellung. 53
Eigenschaft, die so gut ist, wie jede andere) ausgedrückt
werden kann und auch wird, da das hierbei gebräuchliche
Verbum substantivum „war" eben das Sein (ursprünglich
konkreter ein Wohnen, Bleiben) des besagten Subjekts als
vergangen erscheinen läfst, dem wird sich eine scheinbar
gerechtfertigte Scheidung der Fälle in solche, wo das
Subjekt selber, und wo nur Eigenschaften oder Handlungen
desselben untergegangen wären, als überflüssig und hiermit
folgende Antwort als für alle Fälle gültig herausstellen:
„Jedwedes Perfektiv-Ürteil drückt eine erfolgte Auflösung
von Eigenschaftskomplexen, d. h. die Trennung einer Ver-
bindung von Subjekt und irgendwelchem Prädikat aus."
Gegenstand des Vergehens ist somit stets eine Verbindung
(richtiger: Verbundenheit, herbartisch: ein Zusammen) von
Eigenschaften.
In den obigen Beispielen sind die aufgelösten Eigen-
schaftsverbindungen: Dieses, so und so umschriebene Pferd,
und diese, gleichfalls so und so umschrieben zu denkende
Springhandlung. (Handlungen sind momentane Eigenschaf ben,
und „dieses" vertritt die Summe jener Eigenschaften, deren
Zusammensein eben ein gewisses Individuum ausmacht.)
Der Eigenschaftskomplex, benannt „Freund N", und das
Hiersein desselben. Der Komplex, erforderlich zur Be-
nennung „Hexenrichter", und das Sein desselben, d. h. die
Möglichkeit, ihn zu Gesichte zu bekommen.
Die Erwägung dieses Sachverhalts wird leicht hinweg-
helfen über ein natürliches Widerstreben gegen eine Be-
antwortungsart der oben gestellten metaphysischen Haupt-
frage, die ich hiermit vorschlage, weil sie dem Geiste der
modernen, empiristischen Gedankenrichtung, welche das
Prädikat der „Realität" auf sinnlich Eindrucksfähiges be-
schränkt, einzig entspricht, — nämlich: „Alles Vergehen
ist Vernichtung; das Vergangene ist nicht."
Die Gleichwertigkeit des Vergangenseins mit dem Nichtsein
scheint, wenigstens annäherungsweise, bereits von Aristoteles erkannt,
54 Eugen Posch:
indem er (IV, cap. 10) zwei Zeitteile, die Vergangenheit und Zukunft^
für nicht seiend ausgab, was seinerseits zum Beweise der Irrealität
der Zeit selbst, beziehungsweise ihrer nur (ibXiq xal afivSQÖig statt-
findenden Existenz Yorzüglich verwertet wurde. Ähnlich bei Chetsippus^
der für Vergangenheit und Zukunft ein vTta^x^iv nur im Sinne wie
für avfißsßt]x6ta zulassen wollte (Stob.); bei Lucbbtius (I, y. 465 — 469)
Denique Tyndaridem raptam, belloque subactas
Troiugenas gentes cum dicunt esse, videndu'st
Ne forte haec per se, cogant nos, esse fateri:
Quando ea saecla hominum, quorum haec eyenta fuere,
Irreyocabilis abstulerit iam praeterita aetas.
Femer bei Sextus Empibicus (Pyrrh. III, P. 144 — 146), Augustinus
(XI, cap. 15), HoBBBS (VII, cap. 3), Leibniz : „comment pourrait eiister
une chose, dont jamais aucune partie n'existe?" (Clabke V, P. 44 — 50).
ScHBLLiNG (Aph. 215, 220) und ähnlich Hegel (§ 259), „dafs Vergangen-
heit und Zukunft blofs denkbar und nicht im Bereich der Wirklichkeit
nachweisbar seien"; Schopenhauer: „Zukunft und Vergangenheit . . .
sind nur im Begriff, sind nur im Zusammenhange der Erkenntnis da.
. . . Unsere eigene Vergangenheit, auch die nächste und der gestrige
Tag, ist nur noch ein nichtiger Traum der Phantasie ..." (I, S. 363
bis 364, yergl. auch II, S. 673). Libbmann: „Zukunft und Vergangen-
heit führen ein blofses Phantasie-Dasein in den Gedanken yorstellender
Subjekte und wttrden bei etwaiger Aufhebung jeder Intelligenz yöUig
zu nichts." — Implicite liegt diese Ansicht den meisten Erzeugungs-
yersuchen einer Zeitreihe aus blofsen Vorstellungen zu Grunde.
Es giebt Vernichtung, wenn auch keine von StoflT
und Kraft, so doch von Vergesellschaftungen, unbeschadet
des Fortbestehens ihrer Elemente, — und sie ist Welt-
thatsache, so gut wie die Bildung von Komplexionen, das
Zusammenschiefsen von Elementen.
WüNDTs Behauptung, „es objektiyiere sich in der schwindel-
erregenden Vorstellung einer Welt als Schauplatz unaufhaltsamer Ver-
nichtung nur die rastlose Flucht unserer Vorstellungen" (Log. I, S. 434),
bedürfte des Nachweises, dafs die Thatsächlichkeit der Veränderungen
auch ohne Annahme einer objektiyen Vernichtung rettbar sei. — Lotzbs
Weigerung, die letztere anzuerkennen (P. 157), beruht auf der irrtüm-
lichen Meinung, die zu bekämpfen eben der Zweck yorliegender Schrift
ist, dafs sich das subjektiyistische Grundprinzip nicht konsequent durch-
führen und die Zeitform yom Objektiyen der Welt nicht rückstandslos
abheben lasse.
Die Verkennung des oben erwähnten Gegenstands des Ver-
gehens hat ScHOPBNHAUBRN das Konzept yerdorben, der an einer Stelle
(I, S. 365) auf das Entschiedenste für unsere, weiter unten auszu-
führende Ansicht yon einzig echter Eealität des Sinnenfälligen (des
Gegenwartsinhalts) und für die Nichtigkeit des Vergangenen wie Zu-
Ausgangspunkte zu einer Theorie der ZeitTorstellung. 55
künftigen eintrat, an anderem Orte (11, S. 563) wieder in offenbarem
Widerspruche mit diesem sich folgendermafsen vernehmen läTst: „Das
Substrat oder die Ausfüllung, nXriQWfia, oder der Stoff der Gegenwart
ist durch alle Zeit eigentlich derselbe. Die Unmöglichkeit, diese
Identität unmittelbar zu erkennen, ist eben die Zeit, eine Form und
Schranke unseres Intellekts. Dafs vermöge derselben z. B. das Zu-
künftige noch nicht ist, beruht auf einer Täuschung, welcher wir inne
werden, wann es gekommen ist."
Wer einsieht, dafs das zeitliche Kommen nnd Grehen
immer nur Komplexionen von Elementen (Individuen) und
niemals die Elemente selbst betriflffc, welche — der objektive
Materien- und Kräftevorrat der Welt — von aller Ewigkeit
in aUe Ewigkeit unversehrt vorhanden zu gelten haben,
dem wird die Bemüfsigung erspart bleiben, behufs Rettung
dieses letzteren Grundsatzes die Wirklichkeit des Vergehens
anzuzweifeln und der Welt des Realen Gestalten beizuzählen,
die rein nur in der menschlichen Erinnerung oder Hofl&iung
existieren. Die zwei Wahrheiten, dafs die Elemente, aus
welchen die Individualität Hannibal bestand, von ewiger
Dauer sind, aber jene gewisse Gruppierung derselben,
welche eben „Hannibal" hiefs, zu nichte geworden ist —
diese schon ziemlich populären zwei Wahrheiten können
friedlich nebeneinander bestehen. Weder in der einen,
noch in der anderen liegt „Täuschung". —
Unsere Ansicht findet sich — wenn auch in etwas zögernd
zaghafter Ausdrucksform — hei Libbmakk (S. 91) wieder: „Es könnte''
(sie!) „. . . das, was wir in räumlicher Metapher ,die Bewegung der Zeit*
nennen, eigentlicher aher auch abstrakter charakterisiert werden als
ein fortwährender Übergang von solchem, was nicht existiert, aber aus
dem Existierenden mit kausaler Notwendigkeit hervorgehen muTs, in
die Existenz ; und von Denjenigen, welches existiert, aber mit kausaler
Notwendigkeit durch seine Wirkung verdrängt werden mufs, in die
Nichtexistenz."
Zum mindesten ist „Vernichtung" ein eindeutigerer
Ausdruck, als jener beliebte vom „Fortbestehen in ver-
änderter Gestalt", welcher den Fragepunkt, den Verbleib
des vergangenen Thatbestands gar nicht triflft, dem
Eintreten einer thatsächlich neuen Verbindung und dem Um-
stände, dafs doch nur ein gewisser Eigenschaftskomplex mit
56 Eugen Posch:
dem nämlichen Namen bezeichnet werden kann, nicht gehörig
Eechnung trägt. Oder lassen sich vielleicht die Bäume und
hunderterlei Dinge, in die die Elemente der Eigenschafts-
komplexion bereits übergegangen sind, welche die Welt seiner-
zeit „Hannibal" nannte, gleichfalls „Hannibal" nennen?
Die Hauptursache des Sträubens vor unserer Ansicht
besteht übrigens in der für die gesamte Zeitvorstellung
eminent wichtigen Thatsache des Sicherinnerns, d. h.
dafs die aufgelösten Verbindungen im Verstände eines
menschlichen (und auch tierischen) Zuschauers ein Andenken
ihres Bestehens zurücklassen, dessen Lebhaftigkeit — zumal
bei jüngstvergangenen Ereignissen — der des eigentlichen
Sinneseindrucks, als einzig berechtigten Trägers des Eeali-
tätsprädikats, nahezu gleichkommt. Hierzu kommt noch
der Umstand, dafs das Vorhandensein kausaler Wirkungs-
folgen im Falle gewesener Dinge und der Ausfall solcher
bei blofsen, für nichtig anerkannten Phantasiegebilden
jenen ersteren doch ein gewisses Anrecht auf das Kealitäts-
prädikat zu erteilen scheint. Wenigstens hat ein Bona-
parte, dessen einstige Realität fortbestehende Spuren der-
selben noch laut verkünden, in unseren Augen auch heute
noch mehr Anwartschaft auf das Prädikat des Seins, als
die rein mythologische Figur eines Hebkules oder Satuenus.
Nun kommt jedoch zu bedenken: 1. dafs zwischen dem
noch so lebhaften Andenken und dem Sinneseindrucke ein
himmelweiter, hier nicht näher zu schildernder Unterschied
besteht, jedenfalls grofs genug, um das strittige Prädikat
nur letzterem vorzubehalten; 2. dafs Realität der Ursache
nur zum Eintritt und nicht zum Fortbestehen kausaler
Wirkungen nötig ist. — In jedem Falle ist die Anhäng-
lichkeit des menschlichen Gemüts an besagten Realitäts-
glauben bei vergangenen Dingen nur eine psychopathische,
durch die Thatsache des Erinnems erzeugte Eigentümlich-
keit, der die streng philosophische Gedankensichtung nicht
nachgeben darf.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 57
Ein nächstgelegener und meines Wissens zum erstenmale durch
Augustinus angewandter Kunstgriff zur Einlenkung gegenteiliger
Ansichten ist die Yexierfrage nach dem Wo? dieses angeblich seienden
Vergangenen („si enim sunt futura et praeterita, volo scire, ubi sunt." —
XI, cap. 18), bemerkenswert auch dadurch, dafs sie den Fragesteller,
durch die Erkenntnis „alles Vorhandene könne dort, wo es ist, nur
als Gegenwärtig yorhanden sein" — zu der wichtigen und für den
Subjektiyismus so erspriefslichen Thatsache des Yorwaltens eines
menschlichen Gedächtnisses als einzigen Aufspeicherungsortes für das
Verflossene hinleitete, welche Thatsache bei ihm zum erstenmale ihre
verdiente Würdigung fand. („Quamquam praeterita cum yera narran-
tur, ex memoria proferuntur; non res ipsae, quae praeterierunt, sed
verba concepta ex imaginibus earum : quae in animo velut yestigia per
sensus praetereundo fixerunt." — Ib.)
Beiläufig bemerkt zeugt die flotte Hervorkehrung dieses Wo?
von einer völlig materialistischen Fassung des Eealitätsbegriffs von
Seiten dieses übrigens durchaus katholisch gesinnten Schriftstellers —
eine Fassungsweise, die auf dem urwüchsigen Grundgedanken beruht:
„Alles was ist, muTs irgendwo sein." Die Antwort konnte nicht anders
lauten, als: alles Gewesene ist nur im Gedächtnisse des Zuschauers, —
ein umstand, der vereint mit der blofs gedanklichen Natur des Zu-
künftigen den denkbar besten Beweis für die rein subjektive Natur
der Zeit abgiebt, insofern sich nun herausstellt, dafs selbst die Daten
zur Ausgestaltung einer Zeitform (die gewesenen, sowie die zukünftigen
Eindrücke) nirgends anders, als im menschlichen Geiste aufgespeichert sind.
Ahnliche Hervorkehrungen des Erinnerungsvermögens finden sich
später bei Hobbes („quum de maiorum suorum temporibus loquuntur,
an existimant exstinctis maioribus suis, tempora eorum alibi esse posse,
quam in memoria recordantium?" cap. VII, 3), noch klarer bei Gon-
DiLLAC („s^l ne lui [»> seiner mit Empfindung begabten Statue] restait
aucun Souvenir de ses modifications [successives], ä chaque fois eile
croirait sentir pour la premiere: des ann6es enti^res viendraient se
perdre dans chaque moment pr6sent." I, chap. 2, § 5.) Ähnlich
FouiLLfiB (S. X, XV, XXXI) ; mehr oder weniger implicite in den Zeit-
darstellungen der HERBABT'schen Schule (u. a. bei Waitz, Lotzb, Volk-
MANN, Wundt), des ferneren auch bei Hegel (§ 259), Eyppbbth (S. 12—16),
Spengbe (§ 73), Taine („L'image präsente me parait Sensation pass6e;
c'est lä proprement le souvenir." 11, S. 48), Güyau (pr6f. 1: „Une des
cons6quences les mieux stabiles par la psychologie moderne, c*est que
tout est präsent en nous, y compris le passe meme").
Unsere Ignorierung der (äufseren) Bewegung, die
man vielleicht statt der von uns angesprochenen Thatsache
eines Zusammen- und Auseinandertretens von Eigenschafts-
verbindungen der Zeit zu Gmnde gelegt hätte sehen wollen,
findet ihre Rechtfertigung in dem Umstände, dafs Be-
5g Eugen Posch:
wegung — ein successives Auftauchen und Verschwinden
von Gesichtsbildern, wie solche durch augenscheinliche
Koincidenz (folglich Verbundenheit) des Bewegten mit ver-
schiedenen davor und dahinter befindlichen Raumteilen
entstehen — sich unter den oben erwähnten, entschieden
höheren Doppelbegriff bringen läfst.
Bei Etffbrth (S. 74) heiTst der allgemeinere Begriff, dem sie
unterstellt und der für die Zeitvorstellung angesprochen wird, „Thätig-
teit«^ — ftämlich die des Dinges an sich, welch letzteres ihm für
seine Zeitkonstruktion unentbehrlich scheint.
Dafs Bewegung nur als ein Erzeugungsmittel successiver Ein-
drücke, und wo solche (wie bei zu grofser oder zu geringer Geschwindig-
keit) nicht stattfinden, zur Zeitquelle gar nicht tauge, die Zeit
folglich keineswegs als ausschliefsliches Bewegungsprärogativ dürfe
angesehen werden, wufste schon Locke (XIV, § 6 ff., citiert bei Humb
S. 83 und CoNDiLLAC II, chap. 8, § 23). Dbscabtbs wollte diese An-
sicht durch den Umstand bekräftigen, dafs ja auch schnellere, d. h.
„mehr" Bewegung in ebensoviel Zeit ablaufen könne^ wie langsamere,
„wenigere" (Prinz. I, P. 67). Die Bevorzugung der „rein qualitativen
Veränderung eines Gegenstandes" gegenüber der Bewegung findet sich
auch bei Wundt, wo ihre Bedeutung für die Zeit blofs darin besteht,
dafs sie „nur ein besonders ausgeprägter Fall jener Konstanz des Ver-
änderlichen" sei, „die als die allgemeinste objektive Grundlage der
Zeit zurückbleibt" (Log. I, S. 435). Unausgesprochen liegt unsere
Ansicht den Eonstruktionsversuehen der gesamten HERBABT^schen Schule
zu Grunde. — Die gegenteilige Meinung fand ihre Vertreter an Plato
und dessen Anhang, ferner an Abistotbles, wo die der Zeit wie der
Bewegung gemeinsam anhaftende Stetigkeit, die Gleichheit der abge-
laufenen Zeitmenge mit der Menge vollendeter Bewegung, die diesen
beiden gemeinsame Successivität, die Ähnlichkeit der Bolle des Jetzt
als eigentlichen Zeitkemes mit der des beweglichen Körpers (letzterer
teile die Bewegung, ersteres die Zeit in einen abgelaufenen und einen
noch bevorstehenden Teil; auch seien beide die Ursache für die Stetig-
keit ihres betreffenden Zubehörs) — mit einem Worte, lauter höchst
nichtssagende Dinge für die Zusammengehörigkeit von Zeit und Be-
wegung (avayxij tijg xivrjascjg zi elvai rov XQOvov) angeführt werden.
Vergl. IV, 11. — Dafs Zeit auch mit dem Ruhezustand zusammenhänge,
wie Strato (jl fiäXkov iaxiv 6 xQovoq agid-fibg rov iv xivrfast ngoxHQOv
xal v<nsQov ri rov iv rjQSfila; Simpl. 187) und Sbxtus Empiricus
(Phys. 176) dem Abistotbles gegenüber betonten, hat wohl auch
Aristoteles in Betracht gezogen. Wollte er doch dessen Möglichkeit
durch seine Definition erklärt wissen, wonach Zeit nicht identisch mit
der Bewegung, sondern als ihre Zahl, nur nad'og xi rj k'Sig trig xivrjascag,
folglich selbst Unbewegliches sei (IV, cap. 12, 14). Die Bewegung
gegenüber dem Ruhezustande als Zeitquelle bevorzugt zu haben, ist
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 59
ein Beweis seines Vorgefühles jener (von Stbato und gax von Da-
HAscius [jM«AAov(!) riQBfilaq rpteQ xivijaefoq 6 ;f()6voe. Simpl. 184]
nehst seinem Verteidiger Simpliciüs augenscheinlich verkannten) That-
sache, dafs Zeit auf das Ruhende vom Beweglichen übertragen werde,
folglich mit ersterem weniger innig, wenigstens nicht ursprünglich
zusammenhänge, — eine Ansicht, die bereits dem PLATO-PLOTra'schen
Ausspruche, wonach Zeit dem Vergehen und Entstehen, und nimmer
der unzeitlichen aidiog ovala angehöre, zu Grunde zu liegen scheint,
und von Hümb zuerst in exakter Form (Zeitvorstellung könne niemals
durch Anschauung des ruhig Unveränderlichen entstehen, S. 84) aus-
gedrückt wurde.
HoBBEs' nach Baumann „sehr unfertige" und obendrein zirkel-
hafte Definition, wonach Zeit ein „phantasma motus" sei „quatenus
in motu imaginamur prius et posterius sive successionem" (cap. VII, 3),
kettet die Zeitvorstellung gleichfalls zu straff an die Bewegung. (Er
sagt sogar: „alio modo [i. e. quam ex motu] tempus nuUum apparet".)
Kants hierauf bezügliche Äufserungen s. u. Die GüYAu'sche (S. 31 u. a.)
Ansicht, wo die absichtliche Eigenbewegung des auffassenden Subjekts
für die Zeitkonstruktion herangezogen wird („c'est l'intention [37 : qui
aboutit toujours . . . . ä un mouvement] qui engendre ä la fois les
notions de l'espace et du temps"), mag wohl dem faktischen Sachverhalte
näher kommen, als die obigen Bewegungs-Theoreme, benötigt jedoch
der wohl schwerlich beizubringenden Ergänzungs-Erklärung, wodurch
und weshalb die ursprünglich nur eigenen Leistungen beigelegten
Zeitprädikate später auch auswärtigen Darbietungen zuerkannt, und
weshalb sie den letzteren anfangs vorenthalten wurden?
Anderseits wurde behauptet, wir besäfsen an unserem Gehörorgan
einen speciellen Sinn für Zeitauffassung, indem nämlich „die genaue
Anpassung der Empfindung an den äufseren Eindruck in Bezug auf
den zeitlichen Wechsel desselben" bei Gehörsvorstellungen diese als
„das wesentlichste Hilfsmittel der Zeitanschauung", wenigstens „für
deren höhere Ausbildung" (Wundt, Ph. Ps. II, S. 42) erscheinen lassen.
HoBwicz (II, 1. S. 141) stützt seine ähnliche Ansicht auf die Taug-
lichkeit des Ohres zur Klanganalyse, indem hierdurch „die Entgegen-
setzung und wechselseitige Messung und Vergleichung einer Gesamt-
empfindungsreihe und mehrerer Partikularreihen" ermöglicht ist, „wo-
durch erst die Möglichkeit der Zeitauffassung uns gegeben zu sein
scheint". Anderseits wird hier auch der Umstand herangezogen, dafs
das Ohr „in kontinuierlicher Folge fortwährend Klänge und Geräusche
hört" (auch wenn dasselbe durch äufsere Reize nicht erregt wird, . . .
sollen wir, sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf das Ohr richten,
fortwährend ein ganz leises Klingen und Bauschen vernehmen. Ihm
habe in seinen Knabenjahren dieses subjektive Geräusch stets lebhaft
die Vorstellung des dahinfliefsenden Zeitstromes erweckt). Bezüglich
der letzterwähnten Kontinuierlichkeit des Eindrucks hat nun auch
HoBwicz zugegeben, dafs sie für die Zeitvorstellung minder wesentlich
ist, und anderseits bei dem Auge (noch mehr vielleicht bei dem Tast-
gO Eugen Posch:
sinne der Haut?) ebenso vorhanden sei. Betreffs seiner ersten Auf-
stellung hingegen wollten wir bemerken, dafs jene Vergleichung simul-
taner mit successiven Empfindungsreihen — was wohl zunächst für
die Gleichzeitigkeitsvorstellung nötig ist — entschieden leichter durch
Gesichtseindrticke vermittelt wird (Gegenstandsgruppen oder simultane
Ereigniskomplexe, wo stets auch isolierte Veränderungsreihen mit unter-
laufen, welche die Blicke auf sich ziehen). Die Analysierkraft des Ohres
ist jedenfalls beträchtlicher, als die der niederen Sinne, aber bei weitem
nicht so grofs, wie die des Raum-überblickenden Auges.
Denn auch dem geübtesten Musiker ist es nicht ebenso leicht,
die einzelnen Klänge eines Accordes als solche zu erfassen, wie die
Gegenstände seiner Umgebung als Gruppenbestandteile (nicht ver-
wachsen!) zu erkennen. — Schliefslich, falls in der WuNDi'schen Auf-
stellung unter „Anpassung" der Umstand gemeint ist, dafs sich dem
Gehörorgan schon geringe Geschwindigkeitsunterschiede im objektiven
Schwingungshergang als Empfindungs- (=» Tonhöhen-) Änderung kund-
geben: so sehe ich nicht ein, inwiefern ein Organ, bei welchem solches
stattfindet, deshalb für ein specifisches Zeitorgan könne qualifiziert
werden, zumal ja die Unterschiedsempfänglichkeit hier keineswegs als
Wahrnehmung des in zwei Schwingungsprozessen enthaltenen zeitlichen
Unterschiedes selber auszudeuten ist, ja sogar der objektive Sachverhalt
(die Beschleunigung und Verlangsamung der Schwingungen) sich nicht
als gröfserer oder geringerer Zeitverbrauch (für die Einzelschwingung)
in der Empfindung abbildet. Wo jedem geringen „zeitlichen" Wechsel
(jeder Wechsel ist zeitlich!) im objektiven Hergang das Sinnesorgan
durch parallele qualitative Empfindungsabstufungen nachkommt, da
liegt eben ein überhaupt fein empfindliches Organ vor, aber noch kein
Zeitorgan, aufser es wäre die höhere Qualitätsempfindlichkeit auch ein
der Anknüpfung zeitlicher Vorstellungen günstiger Umstand — was
jedoch erst nachzuweisen wäre. —
Die Mangelhaftigkeit der angeführten Begründungen
bedeutet allerdings noch keine ünhaltbarkeit der These
selbst. Ich finde jedoch, dafs den Gründen, welche für
eine Vorzugsstellung des Gehörorgans in Punkte Zeitvor-
stellung angefiihrt werden können, sehr gewichtige Gegen-
gründe die Wage halten. Das Gehörorgan ist ein Zeit-
organ: 1. Weil der Fortfall (wenigstens die entschiedene
Geringfügigkeit) von räumlichen Nebengedanken bei allen
(vergl. GuYAU S. 74) und der Mangel ästhetischer^) oder
praktischer Bedeutsamkeit^) bei so vielen Schallreihen
^) Wohlgefällige Musik und \ lassen keine Zeitgedanjcen auf-
2) verständliche (zumal in- / kommen,wohl aber das Rauschen des
teressante) Rede i Baches oder Klappern der Mühle.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 61
die Hinwendung der Aufinerksamkeit auf deren zeitlichen
Verlauf begünstigen mufs. 2. Weil Gehörseindrücke sich
zur Darstellung, folglich auch zur Einübung kleiner Zeit-
räume, wie solches für die von Wundt erwähnte „weitere
Ausbildung" nötig ist, besonders eignen; (wohl nur deshalb,
weil Vorrichtungen zur Bewerkstelligung rascher Empfin-
dungsfolgen nur im Gehörsgebiete fertig und leicht zugäng-
lich vorliegen, — eben weil dieselben zu anderen als zu
wissenschaftlichen Versuchszwecken erfunden wurden. Es
sind unsere Musikinstrumente). Anderseits ist das Gehör-
organ kein specifisches Zeitorgan: weil in anderen Siones-
gebieten (besonders in dem der Objekterfassuug dienlichen
Gesichts- und Tastraum e) eine lebhaftere Gefuhlsbetonung
stattfindet, wie denn überhaupt der gröfste Teil unseres
Gefühlslebens an die Gesamtheit des Gegenständlichen ge-
knüpft ist, woraus folgt, dafs eine scharfe Entgegenstellung
von wirklich Empfundenem und blofs Erinnerlichem — be-
kanntlich die Grundbedingung alles zeitlichen Vorstellens —
im Gebiete der übrigen Sinne leichter stattfindet. Auch
den leidenschaftlichsten Musiker berührt der Verlust seines
Sohnes tiefer, wird ihn folglich sicherer zu Vergänglichkeits-,
somit Zeitgedanken hinleiten, als das Verschwundensein
einer schönen Melodie.
Diese Betrachtungen (ihrem Grundgedanken nach
verwandt mit den GuYAu'schen, S. 74 ff.) bezwecken eine
Eechtfertigung unseres Verfahrens, dafs wir jene ersten
Eindrücke, an die sich die Keime einer Zeitvorstellung
ansetzen, und welche, wie betont, nicht unbedingt Be-
wegungsbilder sein müssen, auch nicht ausgesprochen Ge-
hörseindrücke sein liefsen, wie dies etwa Anhänger der
obigen Ansichten erwarteten.
Der Besitz eines Andenkens an Gewesenes drängt
zunächst und jedenfalls schon vor Entfaltung perfektiver
Zeitbezeichnungen, wie „einst", „ehemals" etc., oder vollends
des abstrakten Begriffs „die Zeit" zur Bildung eines Ver-
62 Eugen Posch:
gangenheitsurteils (Typus A fuit), in welchem eine
Prädikativform hervortritt, die in ihrer Verschiedenheit
von der präsentialen einesteils klare Unterscheidung des
Vergangenen vom Gegenwärtigen (wohl hauptsächlich auf
Grund einer anders gearteten Gefuhlsbetonung bei dem
wirklich Empfundenen im Vergleiche zu dessen noch so
lebhafter Vorstellung), anderseits aber, bei ihrem keineswegs
blofs leugnenden — ein Vorhandensein leugnenden —
Sinne, ein Hinneigen zu jenem Fortbestehungsglauben
seitens der sprachbildenden Menschheit erkennen läM.
Die Urform des Perfekts im Indogermanischen, das re-
duplizierte Verbum,^) ist gleichzeitig Intensivum, und als
^) Alle Bildungen aufser dem reduplizierten Verbum, wie Aoriste
und Imperfekte, entpuppen sich als mehr oder weniger ungerecht-
fertigte, wenigstens nicht ursprüngliche Perfektbezeichnungen, da ihre
anscheinend wichtigsten Bestandteile ganz bedeutungslose oder doch
zur Deckung des Ferfektiysinnes ungeeignete Partikel sind. So kann
vor allem jene erweiterte Stammform von höchst wahrscheinlich
frequentativer Urbedeutung, wie sie bei Bildung der Imperfekte (sanskr. :
alimpam, lat.: noscebam Ton LIP, N0-) im Gegensatz zu der der
II. Aoriste (griech.: eXaiov, lat.: scidi, fidi) zur Verwendung kommt,
ebensowenig als ursprüngliche Yergangenheitsbezeichnung gelten, wie
die rein personale Suffixe enthaltenden Endungen dieser Formen oder
vollends das lateinische b, welches (nach Bopp § 526 und Schleicher
§ 296) dem Hilfszeitworte fuo (ursprünglich rein qualitativ: „wohnen,
bleiben") entstammt, nach andern jedoch ein blofses Hiatusfüllsel ist.
Ähnlich ist das s des sogenannten I. Aorists (griech.: eösi^a, lat.: rexi,
dixi) nichts als ein Überbleibsel des Verbum substantivum as (eines
Zeitwortes von ebenfalls ganz konkret qualitativer Urbedeutung:
„wohnen, bleiben, sich aufhalten"), dem somit die Bolle eines Perfektiv-
Exponenten nur aufgedrungen ist. Dasselbe gilt (laut Bopp) vom x
des Perfektums (ßeßovXevxa) ; nach Pott ist es eine rein physiologische
Aussprachshilfe eventuell aus ^x^ entstanden, die ganze Form ßeßovXsvxa
somit in letzterem Falle den deutschen Perfektsausdrücken mittelst
haben gleichwertig. Dafs das t der deutschen schwachen Zeitwörter
durch Umschreibung eines Nomen verbale mittelst thun (suchte ^ got.:
sokida) entstand, ist bekannt. Ähnliche Verwertungen der Zeitwörter
kar (machen), as, bhü (sein) im Sanskr.: corayam-cakä,ra«= cora-
yam-äsa » corayam-babhüva «» er machte Stehlung =» war stehlen
(Bopp § 619), sowie des xld-rifii in Aoristen auf -^v und -j^v im
Griechischen (§ 630 — 631). — Was die anscheinend bedeutungsvollen
Endungen auf« (lat. i: cucurri) anbelangt, so sind selbe für bloüse
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 63
solches orsprönglich jedenfalls eine auf das Quäle und
nicht auf Zeitliches gerichtete Bezeichnung für eine gewisse
Klasse vorhanden gedachter Sinneseindr&cke, diejenigen
nämlich, die sich durch kurzes, erschütterndes, unerfafs-
bares, nachdrucksvolles Auftreten bemerkbar machen, d. h.
in mehr oder weniger erschreckender Weise auf uns
einwirken. Eine solche Ausdruckswahl nun scheint mir
dahin zu deuten, dafs das vergangene Ereignis mit dem
danach — infolge der Betonungsänderung — eintretenden
Gefühle seines Mangeins, ebenso wie bei dem unmittelbaren
Anblicke der „intensiven" Geschehnisse, in einen Komplex
zusammengerafft, folglich im Sinne eines „intensiven"
Bindevokale zu betrachten, ebenso wie das y der Stämme auf a und i
(amayi, docui), von hier aus auch auf andere (oolui) übertragen.
Das charakteristische -siv (lat.: -er am) des Plusquamperfekts
(einer im Sanskrit noch fehlenden Zeitform) ist sichtlich aus dem ein-
fachen Verbum substantiyum elfil (ero) hervorgegangen.
Nach alledem bleibt nur das Augment (i-), die Redupli-
kation und der an deutschen starken Zeitwörtern, wie an griechischen
auftretende Lautwechsel auf seinen ursprünglichen Bedeutungswert
zu prüfen. Wäre das Augment nichts als ein a-privativum, ein blofser
„Ausdruck der Verneinung der Gegenwart", der Perfektivsinn in
a-diksham somit blofs durch „ich spreche nicht" ausgedrückt (Bopp
§ 537, auch von Volkmann, S. 18, adoptiert): so müTste die von uns be-
hauptete Gleichwertigkeit des Vergangenen mit dem Nichtseienden
schon jener sprachbildenden Urmenschheit eingeleuchtet haben, d. h.
der positive Begriff der Vergangenheit als eines „in eigentümlicher
Weise Seienden** erst später entstanden sein, was mir unwahrscheinlich
klingt. Ebenso die andere Vermutung Bopps (§ ö40), das Augment
wäre ein auf Entferntes hindeutendes Fürwort (der Sinn „ich sprach"
also ursprünglich = ich spreche dort, in der Entfernung), indem dieses
die Annahme erheischte, es wären räumliche Vorstellungen auf Ver-
gangenes schon gleich anfangs, von Hause aus tibertragen worden.
Die Wahrscheinlichkeit einer nicht über Bedarf produzierten, also
möglichst geringen Anzahl ursprünglicher Perfekt-Bezeichnungsmethoden
lenkt uns zu Buttmanns auch von Bopp (§ 541) nicht gänzlich abge-
lehnter Ansicht hin, wonach das Augment nichts als eine verkümmerte
Reduplikationssilbe sei. —
Die nunmehr übrig bleibenden zwei Methoden zum Ausdrucke
der Vergangenheit sind ebenfalls gleichwertig, indem die Redupli-
kation, gleich der „dynamischen" (Pott), d. h. nicht aus blofser
Kontraktion reduplizierter Worte (hielt pro haihalt, egi pro agagi)
64 Eugen Posch:
Präsens gedacht wurde und die ursprüngliche Bedeutung
des Perfektivurteils A<B^ folgende sei: „Zum Subjekte A
gehört ein Prädikat B, kein „gewöhnliches", sondern von
der Art intensiver B's (= B^), die sich durch Unfafsbarkeit
auszeichnen. Das als vergangen zu bezeichnende B ist,
hat ein Sein, aber von besonderer Art, ähnlich dem der
flüchtigen Intensivhandlungen." ^)
Es ist zu bemerken, dafs unser Nichtsein des Ver-
gangenen nicht eine Gleichstellung desselben mit einem nie-
mals gewesenen Phantasieinhalte bedeutet. Phantasmen
lassen sich als Fälschung, Verzerrung meines aus der Er-
fahrung erworbenen Erinnerungskomplexes auffassen. Sind
doch die Baustücke jener Erdichtungen lauter Erinnerungs-
vorstellungen, folglich einzeln zu dem Vergangenheitstitel
berechtigt. Hieraus wird erklärlich, warum derlei Ver-
zerrungen und nur solchen gegenüber ein abwehrendes,
d. h. das negative Urteil in Anwendung kommt; wohin-
gegen dort, wo es sich um blofse Aufsammlung von Er-
innerungsvorstellungen handelt, eine positive Ausdrucksform
(das Vergangenheitsurteil) benützt wird.
hervorgegangenen Stammlautahänderung „blofs eine Steigerung
des Begriffs bezweckt, der Wurzel einen Nachdruck giebt .... und
das Perfekt lautlich und auch geistig mit sanskr. Intensivum verwandt
ist*' (Bopp § 515).
Jene oben berührte metaphorische Bezeichnungsweise der Ver-
gangenheit durch besitzanzeigendes haben im Deutschen und ander-
wärtig, auch im Sanskr. und Chinesischen (ich habe geschrieben =* ich
besitze [kann vorweisen, folglich als Ganzes tiberblicken] Geschriebenes)
kommt mir viel raffinierter vor, als daTs ich sie vor einer vollen Aus-
bildung von Zeitvorstellungen entstanden denken könnte.
^) Diese Schilderung dehnt sich auf die chinesischen Perfekte
(uo — hio — kuo = ich — lernen — flieht, Bazin S .44—46) nicht aus, für
welche eben der Fortfall einer Zusammenfügung der prädikativen
Handlung mit ihrem Vergangensein charakteristisch ist, indem hier
(ähnlich wie bei Kindern, welche die Einverschmelzung bemerkter
Vorkommnisse in Epithetal-Ausdrücke noch meiden) nicht eine „ver-
gangene" oder „flüchtig gewordene" Handlung als Einheit dem Subjekte
beigefügt wird, sondern das Quäle der Handlung und ihre Abwesenheit
(richtiger: ihr Verschwinden) eines nach dem anderen, wie diese Mo
mente zum Bewufstsein kommen, hübsch gemächlich ausgedrückt werden.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 65
Der einzige Unterschied zwischen Vergangenheits-
nnd Gegenwartsurteil besteht in der bei ersterem hinzu-
tretenden Apperception des Mangels, einem Mangel-
gefühle, welches auch als Bezeichnungs-Gegenstand
für den Perfektiv-Exponenten als soi-disant Bezeichnungs-
mittel betrachtet werden kann und sich hierzu gewifs
besser eignet, als eventuell das — bekanntlich nicht vor-
handene — Vergangene selber oder dessen unerfafsbares
Andenken.^) Dieses Mangelgefühl ist sicherlich um so
intensiver, je entschiedener betont, d. h. angenehm oder
unangenehm der gegenwärtige Sinneseindruck B war, —
ein Sachverhalt, aus welchem unter anderen Waitz (S. 589),
Volkmann (S. 14) und Guyau (S. 40, 47) die Wichtigkeit
gefühlsbetonter Sinneseindrücke für Entstehung des Ver-
gangenheitsbegriffs einsahen.
^) Die irrtümliche Ansicht, als könnte die Seele das ihr inne-
wohnende Andenken — welches doch nur als verborgene Kraft wirkt
und sie zur Hinzufügung eines Nichtvorhandenen an Vorhandenes be-
fähigt — sich klar entgegenstellen und darüber Betrachtungen machen,
diese Ansicht, sage ich, scheint jener Verwunderung Taine's zu Grunde
zu liegen, warum die Seele jenes in ihr doch gegenwärtige Abbild
nicht für ein solches, nämlich ein Gedankenprodukt, sondern für einen
vergangenen Eindruck ansieht. („II n'y a rien en nous, que l'^cho
present d'une impression distante; pourtant, que nous afhrmons, ce
n'est pas P^cho, c'est Pimpression comme distante. II est une Illusion
en ce que Pimage actuelle ... est prise non pour une image actuelle,
mais pour une Sensation pass^e et qu'ainsi eile parait autre chose
qu'elle n'est." — S. 49.) Eine „hallucination" .... eine „Illusion, qui
aboutit ä une connaissance" (S. 16) würde bei Perfektivurteilen nur
dann vorliegen, wenn dieselben jenes Andenken selbst und nicht viel-
mehr den hierdurch vergegenwärtigten Eindruck für vergangen erklärten.
Bei GüTAü (S. 53), wo sich nebst anderen mehr geist- als lehr-
reichen Vergleichungen auch die SPENCER'sche Analogie von der Baum-
perspektive wiederfindet, ist die uns hier vorliegende Frage, auf welche
Weise aus der Erinnerungsvorstellung das Zeitbewulstsein hervorgehe,
durch die wohl etwas zu beiläufige Bemerkung erledigt: das Zeit-
bewufetsein („la perspective du temps") entstehe 1. durch die fühlbare
geringere Intensität der Erinnerungsvorstellung, 2. durch die Leich-
tigkeit, mit welcher dieselbe in das Bewufstsein zu treten vermag,
VierteljahrsBchiift f. wisseuscliaftL FtLilosophie. XXIII. l. 5
ßg Eugen Posch:
Aus dem Umstände, dafs sich das Perfektum, ebenso
wie das Futurum, ähnlich dem heutzutage abstrakten Sinne
ursprünglich konkreter Ausdrücke, als blofse Nebenbedeutung
einer Verbalform (des Intensivums) von rein qualitativer
Urbedeutung vorfindet, indem nämlich das frühzeitige Auf-
treten eines Intensivums keineswegs als Zeitgefühl für Ein-
druckskürzen ausgedeutet zu werden braucht, sondern als
Bezeichnung der oberwähnten rein qualitativen Eigen-
schaften momentaner Begebnisse aufgefafst werden kann:
aus diesem Umstände, behaupte ich, geht hervor, dafs die
zwei wichtigsten Teile der Zeit-„Linie", das Vergangene
und Zukünftige, sich dem menschlichen Geiste ursprünglich
nicht als benennungsbedürftiges Objektivum (Anschauung,
Form, Linie oder Flufs) darstellen, und femer, dafs die
Annahme einer voll ausgebildeten (d. h. mit den Neben-
vorstellungen des Zurückgehens, der Unwiederbringlich-
3. durch die Verbundenheit („lien") derselben mit noch älteren Vor-
stellungen.
Eine vorhergängige Stelle (S. 22 ff.), wo ein Gewahrwerden von
qualitativen und graduellen Unterschieden und Ähnlichkeiten am Ge-
gebenen beanspnicht wird, woraus sich eine „notion de dualit^", weiter
der Begriff der Zahl (!) entwickeln und dies alles die „premiere con-
dition de Pid6e de temps^' abgeben soll, ist wohl teilweise richtig,
enthält jedoch zu weit hergeholte — wohl zu einer ganzen Menge
sonstiger Begriffe ebenso notwendige — Dinge, als dafs durch diese
Zusammenstellung eine Aufklärung über die speciellen Entstehungs-
bedingungen des Zeitbegriffes geboten würde.
Das von Foüilläe (S. XXXI— XXXII) zu dem fraglichen Behufe
des Zeitauffassens beanspruchte „sentiment du changement'^ (ein un-
mittelbares Empfinden der in unserer Vorstellungswelt vorgehenden
Veränderungen) scheint mir durch eine (wenn auch unbewufst ver-
laufende) aperception du changement ersetzbar zu sein, d. h. durch
einen gedanklichen Vergleichungsprozefs, zu welchem sich die Glieder
durch die bekannte Erfahrungsthatsache darbieten, dafs nicht nur das
reine Quäle einer Empfindung (A), sondern auch deren Grad und Ge-
ftthlsbetonung ein Andenken zu hinterlassen vermögen, welches bei
Eintritt eines in letzterer Hinsicht anders gearteten Seelenzustaudes (B)
seitens der betroffenen Person benützt werden, ihr zum Merkzeichen
dienen kann.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeityorstellung. 67
keit etc. ausgestatteten) Vergangenheitsvorstellung zur Zeit
der Entstehung der ersten Perfektivurteile bei jener Ur-
menscUieit unnötig ist; folglicli, dals Zeitvorstellungen
keineswegs angeboren sein müssen, sondern wenigstens
können erworben sein, — eine Ansicht, die durch ihre
Analogie mit anderwärtigen Vorstellungen im höchsten Grade
wahrscheinlich ist, dem Volksglauben an einzig kenntnis-
erzeugende Kraft der Erfahrung gerecht wird, vielen vor-
kantischen Erörterungen (Augustinus, Locke) bereits un-
ausgesprochen zu Grunde lag und nach Kant in der Heb-
BABT'schen Schule ihre berufensten Vertreter fand.
Angesichts der Unmöglichkeit eines direkten Gegen-
beweises gegen den Nativismus wird sich der Kampf gegen
diese, durch ihre mystische Färbung von vornherein schon
verdächtige Weltanschauungsform auf den Nachweis be-
schränken müssen, dafs ein ursächliches Verständnis des
Gegebenen ohne derartige geheimnisvolle Hypothesen ebenso-
gut (manchmal freilich ebensowenig) kann erzielt werden,
als mit denselben, folglich, dafs jenes höchst unbequeme
Verlassen des sicheren Bodens der Erfahrung, jener Selbst-
zwang zur Vorstellung eines ünerfafsbaren, wie uns solches
diese Hypothese zumutet, zwecklos und überflüssig ist.
Bezüglich des Zeit-Nativismus und speciell gegenüber der
apriorischen Anschauungsform Kants hat diese ebenso vor-
sichtige, wie radikale Kampfesweise u. a. Bain (S. 561)
befürwortet.
Kants Behauptung, die Zeit sei Anschauung und „kein diskursiver,
oder wie man ihn nennt, allgemeiner Begriff" (Kr. S. 59 — „idea tem-
poris , . . non est generalis", M. P. S. 100), welch letzteres sie uns
erscheint, gründet sich auf folgende Momente: 1. Wo ein Begriff vor-
liegt, lassen sich stets mehrere, ihm gleichnamige Substrate vorweisen,
aus denen er sich abhob. Das Wort „Zeit" hat jedoch nur ein einziges
Substrat, insofern nämlich die „verschiedenen Zeiten nur Teile eben
derselben Zeit sind. Die Vorstellung, die nur durch einen einzigen
Gegenstand gegeben werden kann, ist aber Anschauung" (Ks., ib.).
Hierzu noch der Umstand, dafs die Erscheinungen in der Zeit befind-
5*
68 Eugen Posch:
lieh vorgestellt werden und nicht ihr unterstehend, wie Individuale»
dem Allgemeinen. — Wir antworten: Die Suhstrate des Begriffe Zeit
unterscheiden sich von denen anderer Begriffe nur durch den Umstand^
dafs die ersteren nicht gleichnamig sind mit dem ihnen zugehörigen
Begriffe (Zeit), was bekanntlich bei letzteren (wo z. B. dieser Tisch
und der Tisch im allgemeinen denselben Namen führen) der Fall ist.
Als Zeitsubstrate mufs man nämlich all die verschiedenen Bewegungs-
prozesse (ein Laufen, KoUen, Springen, Gehen, Gleiten, Fliefsen etc.)
gelten lassen, aus welchen sich ihre Grundvorstellung, die des Ver-
Schwindens und Eintretens, abheben konnte.
FoüiLLfeE (S. XVni), dessen Ausführungen über den begrifflichen
und nicht anschaulichen Charakter der Zeitvorstellung wir vollinhaltlich
beipflichten, bekämpft dieses KAUT'sche Argument mit der auch bei
Volkmann vertretenen Annahme, dafs dem Anfänger stets mehrere
von einander unabhängige Zeitreihen vorschweben, deren Absätze und
Lücken, ähnlich der Ausfüllungsart des blinden Fleckes bei der Kaom-
anschauung, erst später übertilncht werden, wodurch dann die einheit^
liehe Zeitreihe entstand. Der fernere Hinweis (S. XX f), dafs bei dem
Begriffe „Zeit" eben der von Kant an obiger Stelle betonte „einzige
Gegenstand'* desselben fehlt, indem nämlich Zeit kein irgend bemerk-
barer Gegenstand sei, berichtigt sich dahin, dafs an bezeichnetem Orte
das Wort „Gegenstand" beiläufig mit dem abstrakteren „Vorwurf"
gleichbedeutend ist, d. h. kein wirkliches Objekt gemeint ist, — was
Kant ja auch anderen Ortes lebhaft betont hat.
Die im obigen KANT-Citate weiter angeführte eigentümliche
Vorstellungsweise („in ihr, nicht unter ihr") mufs bezüglich ihres
Entstehens erklärt werden und kann all den triftigen Gründen für
begriffliche Natur der Zeit kein Gegengewicht bieten. „Es ist nicht
berechtigt — sagt Wündt (Log. I, S. 433) — , wenn Kant der Zeit-
vorstellung die begriffliche Natur abspricht. Der Zeitbegriff unter-
scheidet sich von anderen Begriffen nur dadurch, dafs er, obgleich zu
den allgemeinsten Begriffen gehörend, gleichwohl nicht von abstrakter,
sondern von konkreter Natur ist," d. h. seinen Substraten noch sehr
ähnlich, von denselben weniger losgelöst ist, als sonstige Begriffe von
dem ihrigen (vergl. ib. S. 97 ff.).
2. Kant sagt fortsetzungsweise: „es würde sich der Satz, dafs
verschiedene Zeiten nicht zugleich sein können, aus einem allgemeinen
Begriff nicht herleiten lassen. Der Satz ist synthetisch und kann aus
Begriffen allein nicht entspringen. Er ist also in der Anschauung
und Vorstellung der Zeit unmittelbar enthalten" (Kr. S. 59). Dies ist
meiner Ansicht nach gleichbedeutend mit der viel lichtvolleren Stelle
aus M. P. S. 100: „Quodnam . . . temporum diversorum sit prius,
quodnam posterius, nulla ratione per notas aliquas intellectui con-
ceptibiles definiri potest, nisi in circulum vitiosum incurrere velis, et
mens illud non discemit, nisi per intuitum singularem." Kant hat
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. ß9
hei „prius'* und „posterius" jene der Zeit zu Grunde liegende, allerdings
nur durch Vorweisung mitteilhare Thatsache eines Wechseins der Ein-
rücke (unser Entstehen und Verschwinden) im Auge, ohne sich der
seelischen Bearbeitung dieser Thatsache bewufst zu werden, welche in
den letztcitierten metaphorischen Benennungen niedergelegt ist, und —
nebst dem Umstände, dals sich den mancherlei evident menschlichen
Zuthaten in „Zeit" nur jene einzige objektive Grundthatsache (der
Eindruckswechsel) entgegenhalten läfst — eben für begriffliche
(und wegen Vorliegens einer Grundthatsache überhaupt: für nicht
chimärische) Natur der Zeit beweist.
3. „ . . . . Alle bestimmte Gröfse der Zeit ist nur durch Ein-
schränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich. Daher
mufs die ursprüngliche Vorstellung Zeit als uneingeschränkt gegeben
sein. Wovon aber die Teile selbst und jede Gröfse eines Gegenstandes
nur durch Einschränkung bestimmt vorgestellt werden können (vergl. M. P.
S. 106: non sicut leges rationis praecipiunt), da mufs die ganze Vor-
stellung nicht durch Begriffe gegeben sein (denn da gehen die Teil-
vorstellungen vorher), sondern es mufs ihre unmittelbare Anschauung
zum Grunde liegen." (Kb. S. 59. Vergl. M.P. S. 106—107: „nonnisi
dato infinito . . . tempore . . . tempus quodlibet definitum limitando
est assignabile.**) — Wäre die Zeit schon von Haus aus unendlich und
die Hinzufügung dieses Prädikats nicht vielmehr eine schwer erkämpfte
Kulturerrungenschaft (ähnlich wie jene Fähigkeit, Zeitgröfsen durch
Einschränkung einer einzigen zu Grunde liegend gedachten Zeit zu
bestimmen, oder die im gewöhnlichen Leben gangbare Meterlänge als
einen Meridianteil zu betrachten), so könnte diese ihre Unendlichkeit
noch allenfalls für einen Beweis in gewünschter Eichtung gelten
(vergl. Hebbabt VI, S. 115, 307), und nach Wundt nicht einmal dann,
„weil es eine ,uneingeschränkte Vorstellung' nicht giebt, und es eben
in der Natur des Begriffs liegt, . . . dafs er jeder gegebenen Vor-
stellung die Forderung beifügt, es müsse von ihr aus zu neuen Vor-
stellungen übergegangen werden" (Log. I, S. 433).')
4. Man verdankt — laut Kant — der Miteinbeziehung von Zeit
einen Zuwachs an Kenntnis — wie ein solcher durch blofse Begriffs-
analyse niemals, sondern nur durch Anschauung erhältlich ist — , indem
sie uns die Lösung der Frage ermöglicht, unter welchen Umständen
demselben Subjekte zwei widersprechende Prädikate zukommen könnten.
Die Antwort lautet: nacheinander können sie auftreten 2) (Kb. S. 59
') Die CiiABKE^sche Bemerkung, Zeit könne kein Begriff („simple
id^e") sein, weil Begriffe stets auf Endliches gehen, die Zeit hingegen
unendlich sei („il n'est pas possible de former une id6e du temps, qui
aille au delä du fini." — V. Anm. ddd), ist bei ihrer Seich tigkeit dem
KAnr'schen Einwände keineswegs ebenbürtig.
^ Dieser Gedanke liegt der ScHOPSNHAUBB^schen Stelle zu Grunde :
„Man kann die Zeit auch definieren als die Möglichkeit entgegen-
gesetzter Bestimmungen am selben Dinge (IIT, S. 42)."
70 Eugen Posch:
11. 60). — Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dafs die Person,
welche die gestellte Aufgabe durch Austauschung des gegenwärtigen
Prädikats B mit non-B zu lösen unternahm, ihr Recht mit in Anschlag
zog, das wohl verschwundene, jedoch „in der Vergangenheit existierende,
somit nicht ignorable!" B einem eventuellen Vorwurfe entgegenzuhalten,
wonach sie nur den zweiten Teil der Aufgabe (Beifügung von non-B)
gelöst hätte. Sie mufs folglich so viel Zeitvorstellung jedenfalls erlangt
haben, als zum Bewurstsein der Mitveranschlagbarkeit eines Vergangenen
erforderlich ist. Dafs nun selbst dieses Minimum kein blofses An-
schauungsprodukt sei, geht schon aus der Thatsache hervor, dafs jenes
Vergangene hier als existierend genommen, folglich mit einem keines-
wegs durch Anschauung erlangbaren Prädikate belegt wird.
Derselbe Gedanke Kants erscheint in M. P. S. 102 in der Form :
Die Zeit habe Oberherrschaft über das gesamte Denkvermögen, indem
dessen Grundprinzip A ^=s A (das Verbot des Widerspruchs) durch Hin-
zunahme eines Nacheinander umgangen, gleichsam entkräftet werden
könne — weshalb es wohl unwahrscheinlich sei, „ut quis unquam
temporis conceptum adhuc rationis ope aliunde deducat et explicet'^
Die behauptete Obergewalt der Zeit ergäbe sich jedoch aus Besagtem nur,
wenn ohne Kenntnis jenes Grundprinzips — bei dessen Aufstellung
seitens der Philosophen allerdings zeitliche Umstände mit in Eechnung
gezogen wurden, d. h. Zeitvorstellung mit im Spiele war — überhaupt
kein Denken von statten gehen könnte (vergl. Lockb Band I, S. 36 &.).
5. Zeit ist Anschauung, weil „alle ihre Verhältnisse (aufser der
Succession) sich an einer äufseren Anschauung (der Linie) ausdrücken
lassen" (Kr. S. 60 — 61). — Nun ist leider Succession eben das Wesent-
lichste an der Zeit, und dafs gerade dieses Verhältnis in gefordertem
Sinne undarstellbar bleibt, beweist entschieden gegen eine ursprünglich
anschauliche Natur der Zeitvorstellung. Lotze (P. 138) und Foüill^e
(S. XXV) haben vollkommen recht, wenn sie einen ursprünglichen
anschaulichen Charakter der Zeit eben deshalb leugnen, weil wir ihn
„durch Bilder gewonnen haben, die wir vom Baume entlehnten".
Für angeboren erklärte Kant die Zeitvorstellung nirgends, be-
stritt vielmehr — wohl nur in M. P. — diese Ansicht, als eine „philo-
sophia pigrorum'^, noch ganz im Sinne des grofsen Antinativisten Locke.
(„Conceptus temporis tantummodo lege mentis interna nititur, neque
est intuitus quidam connatus, adeoque nonnisi sensuum ope actus ille
animi, sua sensa coordinantis, eliciatur. S. 102 .... neque aliud hie
connatum est, nisi lex animi, secundum quam certa ratione sensa sua
e praesentia objecti conjungit." S. 108.) Doch verficht Kant unter
Ablehnung aller psychologischer Aufbauversuche eine Theorie (jene
vom apriorischen «= „fertigen und aller Erfahrung vorhergängigen Da-
Bein^\ ScHOPBMHAusB I, S. 37 u. 558 ff., auch III, S. 71) der Zeit,
welche unaufhaltsam zur Angeborenheitslehre hinführt, man müfste
denn annehmen, Kant habe gemeint, dafs jene, aller „wirklichen
Ansgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 71
Erscheinung der Gegenstände yorhergängige Anschauung*' (Prol. S. 34)
mit Anbeginn des wissenschaftlichen Denkens als eigentlichen Erfahrung-
yerarbeitens auf einmal wie himmlische Erleuchtung in unsere Seele
gefahren sei.
Auch der nachkantische Objektivismus, der eines Hbgel,
Trenoelenbijrg, Ulbici, Horwicz etc. enthalten nur eine Eichtung auf
den Natiyismus, jedoch keine ausdrückliche Befürwortung desselben,
ebenso wie Leibnizens Bemängelung (N. A.: S. 131) der LocKB'schen
Eonstruktionsweise. Ausgesprochener Natiyismus liegt jedoch in der
I. H. FicHTE'schen (übrigens auf Kant beruhenden) Stelle: „Ein raum-
zeitliches und zugleich bewufstes Wesen kann gar nicht umhin, auch
das Bild seiner Baum-Zeitlichkeit stetig yor sich zu haben. Diese
Bilder sind unserem Bewufstsein unauflöslich und unwiderstehlich an-
geheftet." (Psych. 152.) — Spencbbs (§ 208) darwinistisch unter-
stützter Überbrückungsyersuch, die Zeityorstellung nur für unsere
Vorfahren als erworben, bei uns selbst jedoch als teilweise angeboren
erscheinen zu lassen, mufs als gescheitert gelten, insofern sich hier
als angeboren nichts weiter, als eine gewisse organische Verfassung
(nämlich gesteigerte Empfänglichkeit für Unterschiede successiyer Be-
rührungsempfindungen oder auch Beweglichkeit der Glieder) angeben
liefs — eine sicherlich nützliche Vorbedingung zum Entstehen von
Zeit-, sowie gewifs auch von anderwärtigen Vorstellungen, die jedoch
selber augenfällig nicht einmal als elementarste Kenntnis eines Zeit-
lichen (Mitbestandteil einer namenswerten Zeitkenntnis), geschweige
denn als eigentliche Zeitvorstellung gelten kann.
Dafs durch die Verfassung unseres von den Ahnen überkommenen
Nervensystems eine gewisse nicht tiberschreitbare Geschwindigkeits-
grenze für auffafsbare Successionen mitbestimmt, also wohl angeboren
ist — was an anderer Stelle (§ 339) erwähnt wird — , ist allerdings
wahr, jedoch offenbar ebensowenig als ererbtes Stück einer Zeitkenntnis
anzusehen.
*
Noch mögen einige Schilderungen der Entstehungsweise des Ver-
gangenheitsbegriffs erwähnt werden. Laut Waitz entspringt das „Nicht-
mehr" durch ein Erwarten der Fortsetzung einer unterbrochenen an-
genehmen Empfindungsreihe (S. 584 — 685), wobei bezüglich der An-
wendung des Perfektivprädikats auf tonlose und unangenehm betonte
Erscheinungen noch zu bemerken bleibt, dafs solche das fragliche
Prädikat nur annehmen, wenn sie unserer Bede einverflochten werden,
also aus gewissem Gesichtspunkte interessant, quasi angenehm wurden. —
Laut Volkmann entsteht der positive Begriff vom Nichtseienden, als
einem Vergangenen (der des „Nichtmehr"), durch ein Anstreben der
entsprechenden Gedächtnisvorstellung A wider die thatsächliche Em-
pfindung B, behufs Bückerlangung ihres verlorenen Lebhaftigkeitsgrades.
„In dem Reflexe, den das Vorstellen des A in und auf sich selbst
72 Eugen Posch:
erleidet", liege ^das Bewafstwerden der Zeit, als einer Qualität des A,
d- h. das Vorstellen seines Nichtmehr" (S. 13). Überträgt man die
hier den Vorstellungen zugemuteten Verrichtungen auf das vorstellende
Subjekt selber, wodurch diese Schilderung freilich an poetischem und
HERBABT'schem Anfluge, jedoch zu Gunsten ihres Belehrungswertes
etwas einbüfst, so ergiebt sich der immerhin wertvolle Grundgedanke :
alle Eückerinnerungen erzeugen mehr oder weniger Wünsche nach
Wiedererlangung ihres Gegenstandes. („Streben" ist zu viel behauptet,
auch schon weil der kontemplative Charakter der Vergangenheitsurteile
gewahrt bleiben mufs.) Über die miteinverflochtene HEBSABT'sche An-
sicht von der Intensitätsabstufung s. w. u.
GüYAu's Augenmerk war mehr auf das Zustandekommen von
Successionsreihen, als auf das des einzelnen Vergangenheitsbegriffs
gerichtet. Bezüglich des letzteren findet sich nebst allegorisierenden
Vergleichungen — bekanntlich das beliebte Übertünchungsmittel für
Lücken in der Erklärung — die etwas absonderliche Äufserung, die
Vergangenheit sei ein Stück in uns übergegangenen Baumes („un
fragment de l'espace transport6 en nous", S. 39), wohl weil sie stets
mit räumlichen Nebengedanken ausgestattet ist.
Als pikantes Gegenstück zu den nüchternen Anschauungen der
Herbartianer möge hier eine Kundgebung Schellings Platz finden,
welcher sich in Verfolgung der PLOTin'schen Lehrmeinung von der Zeit
als einem Spiegelbilde der Ewigkeit so weit verstiegen hat, dafs er
geradezu nach Spuren dieser angeblich überirdischen Herkunft am
Körper der Zeit selbst fahndete, — Spuren, welche er (Schblling) in
Gestalt der unschuldigen Vergangenheit wähnte entdeckt zu haben.
Worin deren Verwandtschaft mit der Ewigkeit bestehen soll, ist aus
folgender Stelle ersichtlich: „Die Ewigkeit der Dinge reflektiert sich
in der Zeit nur als Negation der Zeit und damit alles Werdens —
als Vergangenheit, in der alle Zeit erloschen ist" (Aph. 216). An
anderer Stelle wieder heifst es, offenbar wegen der räumlich-meta-
phorischen Bezeichnungsweise der Vergangenheit in den Sprachen:
^Die Vergangenheit ist die als Baum gesetzte Zeit oder das Eäumliche
in der Zeit und wie die Zukunft nur die (einseitige) Synthese des
Bejahenden mit dem Bejahten (??): so die Vergangenheit nur die (ein-
seitige) Synthese des Bejahten mit seinem Bejahenden (! !) — die ab-
strakte oder unlebendige Ewigkeit" (Aph. 217. Vergl. Hegel § 259).
Diese angebliche „Räumlichkeit" der Vergangenheit hat übrigens ihren
Entdecker keineswegs behindert, anderen Orts (S. 249) wieder die
Gegenwart für „das Räumlichste in der Zeit" zu erklären.
Die Prinzipien, die unserer Konstruktion des Ver-
gangenlieitsbegriflFes zu Grunde liegen, sind nebst jenen des
bereits betonten Subjektivismus folgende: „Die Succession
im Vorstellen ist nicht eine vorgestellte Succession" (Heb-
Ausgaogspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 73
BABT, Lehrb. 174. Ähnlich VI, S. 117—118). „ . . . Der
Gegensatz des Gegenwärtigen zum Nichtgegenwärtigen ver-
wandelt sich in den von Empfindung und blofser Vorstellung,
und das Vorstellen, isiß diesen Gegensatz zu seinem Vor-
gestellten hat, bringt die Succession zum Bewufstsein."
(Volkmann S. 13. Erwähnt auch bei Eyffekth S. 13.)
„Soll es zu einem Zeitvorstellen kommen, so mufs sich
das Nichtgegenwärtige aus der negativen zu der positiven
Form erheben" (Volkmann S. 13). „Das Nichtmehr und das
Nochnicht treffen Verschiedenheiten des Vorstellens . . .;
alles Zeitbewufstsein ist als Geflihl ein Bewufstwerden des
Vorstellens." (Ib. S. 17. Bedarf der Ergänzung „und der
objektiven Seinsverhältnisse [Sein und Vernichtungen]").
Ähnlich Gtjyatt (S. 12): Zur Möglichkeit einer Zeit-
aufifassung sei erforderlich: „Faperception de la represen-
tation d'une Präsentation," nämlich „que . . . les repr6sen-
tations soient reconnues comme repr6sentations, non comme
sensations immediates." In minder exakter Fassung bereits
beiHuME, Kant und Stiedenroth: „Der Begriif der Zeit . . .
entspringt ganz allein von der Art und Weise, in welcher
die Eindrücke der Seele erscheinen" (Hüme S. 85).
„[Tempus] statum concemit, imprimis repraesentativum"
(Kant M. P. S. 107). „Die Zeit . . . bestimmt . . . das
Verhältnis der Vorstellungen in unserm inneren Zustande"
(Kb. S. 60). „Die Zeit ... ist eine Vorstellung, die an
der Form des Vorstellens, abgesehen von allem Inhalte,
entsteht" (Stibdenkoth S. 260). Ähnliches ist auch in der
CoNDiLLAc' sehen Stelle enthalten: „En passant . . . par
deux maniferes d'etre, la statue sent qu'elle n'est plus ce
qu'eUe a 6te. ... La connaissance de ce changement lui
fait rapporter la premi^re ä un moment different de celui,
oü eile 6prouve la seconde" (I, chap. 2, § 10), wozu zu
bemerken ist, dafs die Empfindung eines neuen Eindrucks
nur bei voll entwickelter Ich- Vorstellung des Empfindenden
ihm als seine „maniere d'etre" vorkäme, — femer, dafs
74 Eugen Posch: Ausgangspunkte zu einer Theorie etc.
die Übertragung des blofs Erinnerlichen auf einen anderen
Zeitpunkt noch keineswegs auf der hier fraglichen primi-
tivsten Entwicklungsstufe vorkommen kann. — Des weiteren
gehört hierher: „es ist nötig, dafs die beiden (successiven)
Vorstellungen von A und B die durchaus gleichzeitigen
Objekte eines beziehenden Wissens sind, welches völlig
unteilbar sie in einem einzigen unteilbaren Akte zusammen-
fafst" (LoTZE 154). Ähnlich ist bei Wündt (Log. I,
S. 432) die Vorstellung der Succession „eine simultane
Anschauung, in welcher sich die Wahrnehmung zweier ge-
trennter Vorstellungen . . . mit dem Bewufstsein eines sie
trennenden andersartigen Inhaltes verbindet". Dasselbe
praegnant bei Herbart: „es mufs über dem Vorstellen des
Zeitlichen die Zeit insofern nicht verfliefsen, wiefern sie
soll vorgestellt werden" (Lehrb. 172). Des ferneren
behauptet Lotze: den successiven Vorstellungen A und B
„bestimmte Plätze (= der einen, als in der Gegenwart,
der anderen, als in der Vergangenheit befindlich) anzuweisen,
kann die Seele . . . blofs . . . durch irgendwie qualitative
Verschiedenheiten ihres Inhaltes angeleitet werden, durch
Temporalzeichen, wenn wir so sagen wollen". (Ib. Unser
„Mangelgefühl", entsprungen aus der verschiedenartigen
Geflihlsbetonung der^ Vorstellung und der Empfindung,
spielt thatsächlich die Rolle eines „Temporalzeichens".)
Schliefslich Wundt: „Wesentlich für die Anschauung der
Zeit ist . . . einerseits die Verbindung verschiedener ge-
trennter Vorstellungen mittelst der Reproduktion und ander-
seits . dßs ebenfalls durch Reproduktion vermittelte Bewufst-
sein ihrer Trennung. In der That lehrt uns die innere
Wahrnehmung, dafs das Zeitbewufstsein um so lebendiger
wird, je intensiver die Reproduktion thätig ist, und dafs
es auf null herabgesetzt sein kann, wenn das Bewufstsein
völlig dem unmittelbaren Verlauf der Vorstellungen sich
hingiebt." (Log. I, S. 432.)
Die Frage des sittliehen Fortsehritts der
Menschheit/)
Von Paul Barth, Leipzig.
Inhalt.
Optlmismiis des 18. Jahrhimderts In dieser Frage. These Buckles darüber.
Ihr erster Teil, dafs die sittUchen Gnindsätze unwandelbar seien, Ist falsch.
Wandelbarkelt dieser Grundsätze in den religiösen nnd den philosophischen
Systemen. Ihre Wandelbarkelt im Rechte und in der Sitte im Sinne stetigen
Fortschritts zur Autonomie des mündigen Menschen. Auch der zweite Teil der
These, dafs die sittlichen Gefühle sich nicht ändern, ist unhaltbar. Die Sym-
pathie wächst, sowohl die Mitfreude als das Mitleid. Das Gewissen, bei Buckle
nicht erwähnt, ist auch..ein Gefühl. Es ändert sich in Bezug auf das, worauf
es reagiert, wegen der Änderung der sittlichen Grundsätze. Seine Intensität
ist abhängig vom Gedeihen und vom Verfallen einer socialen Ordnung, die auf
einem bestimmten Wirtschaftssystem und einer bestimmten gemeinsamen Welt-
anschauung beruht Die Gegenwart stellt einen absteigenaen Ast der Ent-
wicklung dar. Hilfe ist von der Wissenschaft, besonders von der Sociologie
zu erwai*ten.
Wenn wir, an der Neige des 19. Jahrhunderts stehend,
durch die freilich sehr äufserliche Analogie der Ziffer geleitet
auf die letzten Jahre des 18. Jahrhunderts zurückblicken, so
finden wir bei den deutschen und überhaupt bei den europä-
ischen Dichtem und Denkern einen jfreudigen Optimismus, der
sich nur mittelbar auf die Erwartung besserer äufserer Zu-
stände, unmittelbar dagegen auf die Hofl&iung einer allge-
meinen, alles durchdringenden Veredlung der menschlichen
Natur gründet, einer Veredlung, von der die Besserung der
äufseren Zustände die unmittelbare Folge sein müfste. Die
^) Eine erweiterte akademische Antrittsvorlesung.
76 Paul Barth:
Jugend durch die Erziehung, die Erwachsenen durch das Ideal
Humanität, der Verbindung christlicher Sittlichkeit mit
antiker ästhetischer Bildung emporheben zu können, war
die allgemeine Zuversicht. Kant ruft aus:^) „Hinter der
Edukation steckt das grofse Geheimnis der Vollkommenheit
der menschlichen Natur. ... Es ist entzückend sich vor-
zustellen, dafs die menschliche Natur immer besser durch
Erziehung werde entwickelt werden, und dafs man diese
in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen
ist. Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen
glücklichern Menschengeschlechte." Pestalozzis idealer,
humaner Junker Arner „zählte auf nichts weniger, als auf
ein Geschlecht, das dem nächsten, von dem es abstammt,
so ungleich sein würde, als Tag und Nacht einander un-
gleich sind".^)
Die Greuel der fi*anzösischen Eevolution vermochten
diesen Optimismus nicht zu entmutigen. Der edle Girondist
CoNDOECET,^) durch die Mächte der Eevolution von Ort zu
zu Ort gehetzt, in beständiger Todesgefahr schwebend,
schrieb auf dieser schrecklichen Flucht wenige Tage vor
seinem Selbstmorde, durch den er sich der Guillotine ent-
zog: „[die Menschheit wird eine Stufe erreichen] wo Stumpf-
sinn und Elend nur Unglücksfölle, nicht der gewohnheits-
mäfsige Zustand eines Teils der Gesellschaft sind."
Und Schiller folgt durchaus der Stimmung seiner
Zeit, wenn er in den „Künstlern" den Menschen, der „an
des Jahrhunderts Neige steht", verherrlicht:
Je schwächer wird des Schicksals blinde Macht,
Je höher streben seine Triebe,
Je kleiner wird er selbst, je gröfser seine Liebe.
^) Über Pädagogik, herausg. von Th. Vogt, Langensalza 1878, § 7.
^ Vergl. Pestalozzis ausgewählte Werke, herausg. von F. Mann,
4. Aufl., Langensalza 1891, II, S. 187.
*) Esquisse d'un tableau historique des progr^s de l'esprit humain
6. 1. 1795, S. 312. Zu vergleichen auch, was unmittelbar folgt.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 77
Diese Stimmung war und ist in unserem Jahrhundert
nicht mehr die allgemeine. Zunächst sah der Pessimismus
ScHOPENHATJEKS uud sciuer Anhänger überall Stillstand,
wo das 18. Jahrhundert stetigen Fortschritt erblickt hatte.
„Die wahre Philosophie der Geschichte/' sagt Schopen-
hauer, ^) „besteht in der Einsicht, dafs man, bei allen diesen
endlosen Veränderungen und ihrem Wirrwarr, doch stets
hur dasselbe gleiche und unwandelbare Wesen vor sich hat,
welches heute dasselbe treibt, wie gestern und immerdar. . .
Dies Identische und unter allem Wechsel Beharrende be«
steht in den Grundeigenschaften des menschlichen Herzens
und Kopfes — vielen schlechten, wenigen guten." Indessen
blieb diese Auffassung wohl auf den Kreis der Jünger
ScHOPENHAUEBs beschränkt. Viel allgemeineren Beifall fand
eine andere Anschauung vom Wesen des menschlichen Fort-
schritts, sowohl in ihrer ursprünglichen Form als auch iu
ihren Entstellungen, die Anschauung Th. Buckles. In
seiner berühmten „Geschichte der Civilisation in England 2)"
sagt Buckle, dafs es einen zweifachen Fortschritt gebe,
einen sittlichen und einen intellektuellen, wovon der erste
sich auf unsere Pflichten, der zweite auf unser Wissen be-
ziehe. In der weiteren Ausführung des Gedankens wird
der sittliche Fortschritt mit dem Fortschritt der Civilisation
identifiziert, die Frage aber bestimmter dahin gestellt, ob
dieser von den sittlichen Gefühlen oder von dem Wissen
abhänge; wenn das Gefühl das mächtigere Element sei,
würde der Fortschritt den Gesetzen des Gefühls folgen;
wenn aber das Wissen, dann würde er den Gesetzen des
Wissens, d. h. der Entwicklung des Wissens unterworfen
sein. Zum sittlichen Gefühle aber werden noch sittliche
Grundsätze hinzugefugt, und die Frage wird dahin ent-
') Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 38.
^) Deutsch von A. Rüge, 5. Aufl., Leipzig und Heidelberg 1874,.
I, 1, S. 148 ff.
78 Pa^l Barth:
schieden, dafs beide seit Jahrtausenden unveränderlich die-
selben geblieben seien, also nicht die Ursache veränder-
licher Erscheinungen, nämlich der sehr verschiedenen sitt-
lichen Zustände der Völker gewesen sein können. Es bleibt
somit nur der Fortschritt des Wissens als Ursache sittlicher
Veränderungen übrig. Zwei Übel besonders werden hervor-
gehoben, die das Wissen eingeschränkt habe, die religiöse
Unduldsamkeit und der Krieg: beide bringen Leiden, darum
sind sie für Buckle unsittlich. Die religiöse Unduldsamkeit
nennt er sogar eines der schwärzesten Verbrechen.^)
Immerhin, so wie Buckle seine These ausgesprochen
hat, will sie nicht den Thatsachen ins Gesicht schlagen,
sondern sie nur anders als bisher erklären. Früher erklärte
man, meint er, jede Veränderung der sittlichen Zustände
aus der Veränderung der Gefühle und der Grundsätze, also
einer inneren Umwandlung des Menschen, richtig aber sei
es, sie aus den Veränderungen des Wissens, also aus seinem
Thun oder sogar blofs einem Teile seines Thuns abzuleiten.
Dieses gebe, das ist der tiefere Sinn, der hinter seinen
Worten steckt, neue Ziele des Lebens und neue dahin
fuhrende Wege.
Aber Buckles These ist vielfach stark vergröbert worden und
meist in dieser vergröberten, entstellten Form in das grofse Publikum
gedrungen. So sagt F. v. Hbllwald,^) unter dem Einflüsse Bücklbs
1) A. a. 0. S. 156.
^ Kulturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung, 3. Aufl.,
Stuttgart 1884, II, S. 415. In der letzten Auflage dieses Buches (Leipzig
1896), in der es von mehreren Verfassern „neu bearbeitet" worden ist,
sagt allerdings L. Bochneb in dem Abschnitt „Die socialen Gesetze"
(Bd. I, S. 78): „Damit soll nicht jener Ansicht beigepflichtet werden,
welche die intellektuellen Kräfte gegenüber den sogenannten „mo-
ralischen" Kräften des Menschen für die Fortentwicklung des Menschen-
geschlechts von tiberwiegender Bedeutung hält." Wie sich aber aus
den hierauf folgenden Sätzen ergiebt, versteht BOchneb unter diesen
moralischen sowohl die guten als auch die bösen Kräfte. Ob im Fort-
schritte der Kultur eine Veränderung des Machtverhältnisses derselben
stattfinde, wird weder gefragt noch beantwortet.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 79
aber gewissermafsen da& Kind mit dem Bade ausschüttend: „Die
menschliche Natur hat sich nicht gebessert, die Sittlichkeit (soll wohl
helTsen : Unsittlichkeit) nimmt nur andere Formen an ; die Boheit allein
schwindet mit wachsendem Kulturschliff. Man schafft heute seine
Gegner nicht mehr wie Cisab Bobgia mit Gift und Dolch aus dem
Wege, man tötet sie durch die Konkurrenz.^ und noch deutlicher
erklärt der österreichische Sociologe L. Gomflowicz'): „Man vergiTst,
dafs diese Erfindungen und Entdeckungen einzelner, die immer sich
ereigneten, das Wesen der Menschheit nicht ändern, die Menschen
nicht bessern. Diese bleiben immer dieselben."
Hierzu kommt die Philosophie Nietzsches, die den starken, den
„langen" Willen vor allem betont, nicht den sittlichen Willen, diesen
sogar beinahe mit dem schwachen, unzulänglichen Willen identisch
setzt; femer die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung, die
nur den ökonomischen Trieb der Menschheit für mächtig, jeden anderen
für ohnmächtig oder für eine Folge des ökonomischen Begehrens hält.
Wenn die Moral somit, wie bei Nietzsche, für einen Irrtum der Ver-
gangenheit gilt, oder ihr, wie von deu Marxisten, für die Vergaugenheit
kein selbständiges Yerdieust zugeschrieben wird, so ist es kein Wunder,
dafs eine breite Strömung der öffentlichen Meinung und der Litteratur
im diametralen Gegensatze zum 18. Jahrhundert dahin geht, sie
gering zu schätzen, dafs sogar ein Philosoph und Psycholog, H. MOnsteb-
BEBG,2) erklärt: „Wir wollen nicht tugendhaft, sondern tüchtig sein,
ja die Tugendseligkeit der urgrofs väterlichen Generation berührt uns
geradezu fremdartig."
Auf die Meinungen, die den Wert der Sittlichkeit
herabsetzen, will ich hier nicht eingehen. Ich will nur
die Lehre Buckles von der Unwirklichkeit des eigentlich
moralischen Fortschritts näher beleuchten. Wenn sie sich
als unhaltbar erweist, so sind auch alle Behauptungen über
den vermeintlichen Unwert der Moral für das Leben widerlegt.
Buckles These zerfallt in zwei Teile. Der erste Teil
behauptet, die sittlichen Grundsätze seien im ganzen Ver-
laufe der Geschichte unverändert gleich geblieben; der
zweite behauptet dasselbe von den sittlichen Gefühlen.
Fassen wir zunächst den ersten Teil ins Auge.
Als besonders beweiskräftig citiert Buckle^) einen
Satz des schottischen Philosophen Mackintosh: „In der
1) Der Bassenkampfj Innsbruck 1883, S. 348.
8) Der Ursprung der Sittlichkeit, Freiburg i. B. 1889, S. 111.
3) A. a. 0. S. 154.
80 Paul Barth:
Moral giebt es keine Entdeckungen. . . . Mehr als 3000 Jahre
sind verflossen, seit der Pentateuch geschrieben wurde.
Und wer kann sagen, dafs seit jener fernen Zeit die Eegel
des Lebens sich in einer wesentlichen Hinsicht verändert
habe?" Aber gerade dieser Satz enthält einen Irrtum.
Seit dem Pentateuch hat sich die Regel des Lebens aller-
dings verändert. Das Christentum hat neue Eegeln ein-
geführt. Im Pentateuch ist „der Nächste" nur der jüdische
Volksgenosse,^) im Neuen Testamente jeder Mensch. Im
Pentateuch gilt das strenge Eecht der Vergeltung: Auge
um Auge, Zahn um Zahn, das Christentum sagt: „Liebet
eure Feinde!" Aber auch im Christentum selbst verändern
sich die Grundsätze. Der Katholizismus des Mittelalters
gründet die Rechtfertigung vor Gott auf die guten Werke,
der Protestantismus auf den Glauben, die Gesinnung.
Und nicht minder wandelbar als in den Religionen
sind die sittlichen Grundsätze in den philosophischen
Systemen, sowohl die allgemeineren als diejenigen, die auf
das Einzelne gehen.
Plato und Aristoteles rechtfertigen die Sklaverei als in dem
W"esen gewisser Völker, die zum Gehorchen bestimmt seien, durch die
Natur begriLndet; die Stoiker verwerfen sie, da alle Menschen als
Teilhaber an der göttlichen Vernunft gleich seien. Die Stoiker hin-
wiederum gebieten dem Weisen, am Staatsleben sich zu beteiligen, die
Epikureer warnen davor als vor einem nur bisweilen notwendigen Übel,
die Philosophie der Kirchenväter, selbst noch des H. Augustinus, be-
trachtet den Staat und die Teilnahme am Staatsleben als eine Sünde. ^)
Nach HoBBEs^) ist die Auflehnung eines Volkes gegen seine Regierung
unter allen umständen unsittlich, 3) nach Locke*) ist der Widerstand,
^) Vergl, B. Stade, Geschichte des Volkes Israel, I, Berlin 1887,
S. 510.
^) Vergl. H. VON Eicken, Geschichte und System der mittelalter-
lichen Weltanschauung, Stuttgart 1887, besonders S. 109 ff. und S. 144.
3) Vergl. Elem. phil. De cive, Kap. XII, § 1: Iniquae sunt illae
quamquam quotidianae voces: Regem esse qui rede facti. Et regihus
non esse öbtemperandum nisijustapraeceperint et aliae similes. Auch § 2.
*) Vergl. An essay conceming the true original, extent and
end of civil govemment^ § 232 ff., wo Locke Bakclays Ansicht, es sei
blofs Widerstand with reverence erlaubt, lächerlich macht.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. gl
der aktive wie der passive, unter gewissen Umständen erlaubt, nach
BoüssEAü^) in vielen Fällen eine heilige Pflicht. Nach den Epikureern
und nach La Mettrib ist es sittlich, seinen durch vernünftige Einsicht
geleiteten Neigungen zu folgen, nach Kakt unsittlich. Das Mitleid
ist nach Spinoza^ ein Fehler, nach Mandeville^) und nach Nietzsche
eine Schwäche, nach Kant indifferent oder unsittlich, nach Schopenhaübb
die Grundlage aller Tugenden.
Die von Buckle behauptete ünveränderlichkeit der
sittlichen Grundsätze ist also selbst da nicht vorhanden,
wo man sie am ehesten erwarten sollte, in den religiösen
und den philosophischen Systemen, die nach der reinen,
zeitlosen und darum keinem Wandel unterworfenen Wahr-
heit streben.
Indessen gegen sie könnte man einwenden, dafs sie
nicht zum eigentlichen Leben gehören, dafs sie vielmehr
konstruierte Ideale seien, die in den Büchern oder den
Köpfen ihrer Anhänger eine theoretische Existenz fuhren,
ohne das reale Leben zu durchdringen, und dafs sie darum
dem Wandel ebenso wie andere willkürliche Gebilde des
menschlichen Geistes, z. B. die Kleidermoden, unterliegen.
Dieser Einwand ist unzutreffend. Denn auch die sittlichen
Ideen der Eeligionen und der philosophischen Systeme
haben Beziehungen zum Leben, sie wirken mächtig ein
auf das Thun und Lassen ihrer Anhänger. Aber es sei
zugegeben, dafs mächtiger noch als die philosophischen
und religiösen Grundsätze diejenigen wirken, welche sich
im Rechte und in der Sitte ausprägen. Denn die letzteren
haben zu ihrer Durchfuhrung den Zwang für sich, das
Recht den Zwang der Staatsgewalt, die Sitte den Zwang,
durch den die Geselligkeit ihre Normen durchsetzt, indem
sie ihre Verletzung durch Strafen ahndet. Es wird sich
^) Contrat social, Buch III, Kap. 16.
5) Vergl. Ethica, Pars IV, Propos. 50.
8) An enquiry into the origin of moral virtue, S. 27 (enthalten
in der 9. Ausgabe der Bienenfabel, Edinburgh 1756) „Pity, tho' it is
the most gentle and the least mischieyous of all our passions, is yet
as much a fraüty of our nature, as anger, pride or fear.''
yierteljahrsschrift f. wlBsenschafÜ. Philosophie. XXin. l. 6
82 Paul Barth:
also darum handeln, ob auch diese Grundsätze des Rechts
und der Sitte unwandelbar seien oder ob sie vielmehr eine
Veränderung und zwar einen Fortschritt in einer bestimmten
Richtung erkennen lassen.
Aber freilich um von Fortschritt überhaupt sprechen
zu können, müssen wir ein den verschiedenen Grundsätzen
gemeinsames Moment haben, welches fortschreitet, welches
in ihnen allen in wachsendem Grade vorhanden ist und
also einen gemeinsamen MaTsstab abgeben kann.
Wollten wir nun diesen Mafsstab aus den Zwecken
nehmen, die dem sittlichen Leben gesetzt werden, so fanden
wir keinen, der von allen Moralphilosophen anerkannt würde.
Denn dem einen ist die Lust, dem andern die Glückseligkeit,
noch anderen die Tugend oder das Wissen der höchste
Zweck, das höchste Gut. Aber in einer Beziehung sind
glücklicherweise alle Ethiker einig, nämlich über die Art
und Weise, wie eine sittliche Handlung geschehen soll,
dafs sie desto höheren sittlichen Wert habe, je mehr sie
hervorgehe aus dem innersten Wesen, der innersten Ge-
sinnung des freien Menschen. Die „Autonomie" des sitt-
lichen Menschen hat Kant als wesentliche Bedingung für
jede sittliche Handlung festgestellt und der Heteronomie,
d. h. dem blofsen Gehorsam gegen ein von aufsen kommendes
Gebot, scharf entgegengesetzt. Und ohne Ausnahme wohl
stimmen die Ethiker in der Hochschätzung der Autonomie als
des Nervs der Sittlichkeit mit Kant überein. Auch die
Utilitarier, die weniger auf die Beweggründe der Handlungen
als auf ihren Wert für das letzte Ziel, das möglichst grofse
Glück einer möglichst grofsen Zahl, sehen, auch diese müssen
schliefsUch die Autonomie der Heteronomie vorziehen.^)
*) Vergl. H. SiDGwiCK, The Methods of Ethics, 4. ed., London
1890, S. 227 : Virtue is distinguished by us from other excellences by
the characteristic of voluntariness. S. 423: Qualities, that are in the
strictest sense of the tenn, Virtuous, are always such as we conceive
capable of being immediately realized by voluntary effort, at least to
some extent.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 83
Denn eine sittliche Handlung, die aus innerster Gesinnung
hervorgeht, trägt eine stärkere Tendenz zur Wiederholung
in sich, als eine solche, die nur von einer äufseren, fremden
Macht hervorgerufen wurde. ^) Ferner müssen die Utilitarier
zugeben, dafs das Glück der Einzelnen zum grofsen Teile
seine Bedingungen und seine Schranken findet in der Ord-
nung der Gesellschaft. Die beste und dauerhafteste Ordnung
aber wird zweifellos diejenige Gesellschaft haben, in der
alle mündigen, erwachsenen Menschen aus freiem sittlichen
Willen das Richtige thun. Denn durch gemeinsamen guten
Willen wird sie jeden etwaigen Zwiespalt friedlich über-
winden, und durch denselben guten Willen aller wird sie
neue Anpassungen, die sich etwa durch neue Lagen nötig
machen, leicht, ohne Störung ihrer Ordnung, zu finden
vermögen.
Man wird einwenden, dafs eine solche Gesellschaft,
die nur durch die autonome Sittlichkeit aller ihrer mündigen
Mitglieder, ohne jeden äufseren Zwang sich regulierte, ein
bisher unerreichtes und — der menschlichen Schwäche
wegen — ewig unerreichbares Ideal darstelle. Dies zu-
gegeben, wird damit ihre Brauchbarkeit als Mafsstab keines-
wegs aufgehoben. Auch das vollkommene Wissen der Ver-
gangenheit und die vollkommene Voraussicht der Zukunft —
in der Weise etwa, wie Laplace beides auf Grund einer
sogenannten Weltformel für möglich hielt — ist ganz
1) So sagt SiDGwiCK (a. a. 0. S. 425): „In the first place we
must carefuUy distinguish between the recognition of goodness in
disposiiions and the recognition of rightness in conduct." Und die
dispositions, deren Gesamtheit doch das ausmacht, was wir Gesinnung
nennen, werden dann als wichtiger denn einzelne Handlungen und
deren „felicific consequences" anerkannt. Auch der Utilitarier wird
nach SiDGwiCK solche felicific consequences nicht erkaufen wollen mit
„the moral deterioration of the person, whose conscientious convictions
were overbome by other motives" (S. 427). Und S. 429 heifst es: „It
is perhaps this disposition (far above the average in its general tendency
^ promote happiness), that we admire rather than the particular act.
6*
84 Paul Barth:
gewifs eine Unmöglichkeit.^) Denn die Kausalität des
menschlichen Willens, die in jener Weltfonnel eingeschlossen
sein müfste, ist so sehr zusammengesetzt und zugleich so
variabel, dafs zur mathematischen Fixierung aller ihrer
Faktoren wohl ein übermenschlicher Geist notwendig wäre ;
aufserdem würde durch die Kenntnis der „Weltformel" und
die daraus folgende Voraussicht der Zukunft die Kausalität
des Willens des Entdeckers sofort eine andere, so dafs die
Formel in demselben Augenblick, wo sie gefunden wäre,
auf den Finder wenigstens unanwendbar würde, also keine
Weltformel mehr wäre. Dennoch bleibt es ein regulatives
Ideal unseres Denkens, jedes Ereignis nicht blofs aus den
nächsten, sondern aus allen, auch den letzten Ursachen
abzuleiten, nicht blofs die wirkenden Prinzipien qualitativ
zu kennen, sondern auch ihren Anteil an jedem Ereignisse
quantitativ zu bestimmen. Und in demselben Sinne ist die
Autonomie, die Selbständigkeit des mündigen Menschen,
ein regulatives Ideal des sittlichen Lebens. Eine Gesell-
schaft wird desto vollkommener sein, je mehr sie diese
Selbständigkeit, ohne ihre Existenz zu geßlhrden, durch-
geführt hat, je mehr sie also auf den guten Willen ihrer
Mitglieder, das einzige schlechthin Gute, das es nach Kant
giebt, gegründet ist.
Um nun zu erkennen, ob jene Autonomie der Ein-
zelnen gewachsen ist, müssen wir eine längere historische
Entwicklungsreihe überblicken. Wir brauchen uns dabei
nicht innerhalb eines einzigen Volkes zu halten, denn sitt-
liche Prinzipien sind als Ideen nicht so an den Eaum und
die Zeit gebunden, wie physisches Leben, sie können von
einem untergehenden Volke zu einem aufstrebenden über-
gehen, sie bilden darum nicht blofs innerhalb eines Volkes,
sondern innerhalb eines Kulturkreises ein Kontinuum. —
*) Vergl. W. WuNDT, Ethik, 2. Aufl., Leipzig 1892, S. 465.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 85
Wenn ich mich nun auf den abendländischen Kultur-
kreis, der die Völker Süd-, Mittel- und Westeuropas umfafst,
beschränke, so will ich nicht von den Urzuständen jener
Völker ausgehen, zumal diese auch nur durch Hypothese
und Analogie uns bekannt sind. Von der gesamten vor-
geschichtlichen Zeit, d. h. derjenigen, die, der Schrift noch
entbehrend, nicht durch schriftliche Denkmäler der Nachwelt
von sich Kunde giebt, ist nur die letzte Epoche uns genauer
bekannt. Sie klingt durch Sagen und Lieder in die eigent-
lich geschichtliche Zeit hinüber. Es ist die Zeit der nach
Geschlechtem organisierten Gesellschaft, der sogenannten
Gentilverfassung. Die Gesellschaft ist in dieser Epoche
noch ganz ein Werk der Natur, sie wird zusammengehalten
durch die rein natürlichen Bande der Blutsverwandtschaft.
Mehrere Familien, die blutsverwandt sind oder zu sein
glauben, bilden ein Geschlecht {y^vog^ Gens, Sippe), mehrere
Geschlechter einen Stamm, mehrere Stämme ein Volk.
Die Weltanschauung dieser Epoche ist der naturalistische
Polytheismus, d. h. die Verehrung der personifizierten Natur-
mächte, an die sich eine bunte, ihre Schicksale in mensch-
licher Weise ausmalende Mythologie anknüpft. Für das
Leben aber ist noch wichtiger als diese Religion der Kultus
des gemeinsamen Ahnen des Geschlechts, der neben dem
gemeinsamen Grundbesitz des Geschlechts ein festes Band
der Einheit desselben und der Einigkeit aller seiner Mit-
glieder bildet.
Es scheint nun, als ob schon hier, vor dem Anfange
der eigentlichen Geschichte, eine ideale Art und Weise
des menschlichen Zusammenlebens erreicht wäre, die man
sonst geneigt ist erst als letztes Ergebnis einer langen
geschichtlichen Entwicklung zu erwarten. Es scheint, als
ob in der gentilen Gesellschaft eine gewisse ideale Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklicht wäre. In der
Zeit z. B., die in den homerischen Gedichten geschildert
86 Paul Barth:
ist, scheint allgemeine Freiheit zu herrschen, da der Mensch
nicht abstrakten, von aufsen an ihn herantretenden Geboten,
sondern seinen natürlichen Trieben folgt. Nicht minder
allgemeine Gleichheit. Denn die Sklaverei hat geringe
Bedeutung und hebt den freundschaftlichen Verkehr zwischen
dem Herrn und dem Sklaven nicht auf,^) die Freien aber
sind dem Könige gegenüber nicht zu blindem Gehorsam
verpflichtet, sondern haben in ihrer Versammlung über alle
Unternehmungen des Königs mitzuberaten und zu ent-
scheiden. 2) Und die Brüderlichkeit fehlt wenigstens nicht
innerhalb des Geschlechts. Was einen Geschlechts-
genossen schädigt, geht alle an, wird von allen abgewehrt
oder gerächt.
Und dennoch, bei aller dieser Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit giebt es keine Autonomie des Einzelnen,
einfach deshalb, weil der Einzelne als solcher noch nicht
existiert. Er hat sich noch nicht losgelöst von der gemein-
samen Lebens- und Weltanschauung des Stammes und des
Volkes, von den gemeinsamen Interessen des Geschlechts^
von dem instinktiven, nicht auf Reflexion beruhenden Ge-
horsam gegen die Alten, so dafs es einen Gegensatz zwischen
dem Einzelwillen und dem Gesamtwillen noch nicht giebt.
Da auf diesem Gegensatze später die „Schuld" des Einzelnen
beruht, so giebt es in der homerischen Zeit — wenigstens
in den Beziehungen der Menschen zu einander, nicht zu
den Göttern — auch keine Schuld, sondern nur Unglück,
Verirrung. Wer einen Mord begeht, mufs vor der Rache
der Blutsverwandten des Ermordeten fliehen, wird aber in
^) So verkehrt Odyssbus freundschaftlich mit EuMios, lebt La-
BRTEs auf dem Lande, selbst den Garten behackend wie seine Knechte
und Mägde, Nausikaa spielt Ball mit ihren Dienerinnen.
2) Vergl. E. A. Freeman, Comparative Politics, London 1873,
S. 146: „He (the king of heroic Greece) can rule only by the help of
his Council of Eiders and with the good will of the general Assembly
of his whole folk."
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 87
der Fremde freundlicli aufgenommen^) und in ein Ge-
schlecht adoptiert, selbst wenn er bekennt, ein Meuchel-
mörder zu sein. 2)
K. Lehrs^) hat mit Recht darauf hingewiesen, wie Helena in
der Odyssee nach ihrem Ehebruch, nach ihrer Bückkehr aus Troja
unverminderter Ehre geniefst, wie nirgends in der Ilias und in der
Odyssee gegen sie ein Vorwurf erhoben wird, während die späteren
Dichter, je weiter vom homerischen Zeitalter entfernt, desto heftiger
sie und ihren Fehltritt verwünschen und immer schwerere Strafen er-
leiden lassen. Und von der Orestes-Sage ist bei Homeb nur die erste,
nicht aber die zweite Hälfte vorhanden. Orestes hat seine Mutter
ermordet, um seines Vaters Ermordung zu rächen, aber er wird nicht
von den Erinnyen oder einer von ihnen verfolgt.*) Damit stimmt der
oft wiederkehrende Gedanke, dafs der Mensch von der Göttin Ate
verleitet wird, also nicht aus eigenem Willen, sondern infolge einer
unheilvollen höheren Macht sündigt.^) Ein so freiwillig, so bewuTst
durchgekämpfter Konflikt wie derjenige der Antigonb wäre bei Homer
unmöglich.
Aber es endet zu einer gewissen Zeit die natürliche
Verfassung der Gesellschaft. Überall, im Orient wie im
Occident, folgt auf die Gentilverfassung die Epoche der
Gesetzgebung, die den natürlichen Zusammenhang aufhebt
und einen neuen, künstlichen an seine Stelle setzt. Es
werden nun bei den klassischen Völkern Stände unterschieden
nach der Höhe des Vermögens und der Leistungen für den
Staat. Mit der Gleichheit aber hört auch die allgemeine
Mündigkeit auf. Die Frauen werden zeitlebens dem Schutze
eines Mannes unterworfen, sie sind keines Rechtsgeschäftes
fähig; der Sklave hat nicht einmal die Bedeutung eines
lebenden Wesens, sondern ist, in Rom wenigstens, ein
^) So nimmt Tblemach (Odyssee, 15. Buch, V. 224 ff.) den wegen
eines Mordes verfolgten Theoklymenos sehr freundlich auf.
^ Im 13. Buche der Odyssee, V. 256 ff., scheut sich Odyssbus
nicht, sich yor der ihm als Jüngling erscheinenden Athene als flüch-
tigen Meuchelmörder des Orsilochos, Sohnes des Idomeneüs, auszugehen.
^) Populäre Aufsätze a. d. Altertum, 2. Aufl., Leipzig 1875, S. 9 ff.
*) Vergl. Odyssee, III, V. 306 ff.
^) Vergl. K. F. v. Nigelsbach, Homerische Theologie, 3. Aufl.,
herausg. von G. Autenrieth, Nürnberg 1884, S. 290 ff.
88 Paul Barth:
instrumentum vocale, also wie jedes andere Instrument,
eine Sache. Die Rechte der Staatsbürger sind abgestuft
nach ihren Leistungen, so dass die Niederen den Vorrechten
der Höheren unterworfen sind, also auch im Staatsleben
Heteronomie herrscht. Wenn auch bei den Griechen die
Sklaven milder behandelt werden, im grofsen und ganzen
zerfallt auch bei ihnen die Gesellschaft in Mündige und
Unmündige, wobei aber die Unmündigen keineswegs mit
den Kindern identisch sind, sondern den gröfseren Teil der
Erwachsenen darstellen. Die Gesellschaft als Ganzes konnte
dabei sehr wohl gedeihen, solange den Vorrechten der
Herren, der Mündigen, auch Vorpflichten entsprachen. Wenn
aber die Autonomie der Persönlichkeit ein sittliches Ideal
ist, so war die Blütezeit der klassischen Völker davon weit
entfernt, wie auch ihre Demokratie zum gröfsten Teile
nur Schein ist, in Wirklichkeit die Herren, die Aristokraten
nicht blofs de facto, sondern meist auch de jure immer die
Zügel in der Hand behielten.^)
Es ist nun eine eigentümliche Erscheinung, dafs gerade
die Zeit des Niederganges des antiken Staatslebens an
') In Athen, dem Musterstaate der Demokratie, bestand die volle
Demokratie staatsrechtlich erst seit dem Sturze des Areopags (460 v. Chr.).
Und auch in ihr regierte nicht die Volksversammlung, sondern der
Eat, in dem naturgemäfs nur die für Staatsgeschäfte Zeit Habenden,
also Vornehme oder mindestens Wohlhabende safsen, der über jede
Angelegenheit einen Vorbeschlufs (TtQoßsvksvfia) fafste und diesen dem
Volke vorlegte. Sehr konservativ wirkte auch die ygaipri naQavbfxwv^
die jedem Antragsteller drohte, wenn ihm nachgewiesen wurde, dafs
sein Antrag gegen die Verfassung war. Vergl. H. S. Maine, die volks-
tümliche Regierung, deutsche Ausgabe, Berlin 1887, S. 27 : „Die kurze
athenische Demokratie, unter deren Schutz Kunst, Wissenschaft und
Philosophie so wunderbar emporschössen, war nur eine Aristokratie,
die sich auf den Trümmern einer viel engeren [Aristokratie] erhob."
In Rom regierte nach aufsen wie im Innern bis zur Zeit der Gracchen
nicht das Volk, sondern der Senat. Und selbst bei den Wahlen ge-
horchte es immer der Autorität der Vornehmen. Vergl. C. Nbumann,
Geschichte Roms während des Verfalles der Replublik, herausg. von
E. GoTHBiN, Breslau 1881, S. 22 ff.
Die Frage des Bittlichen Fortschritts der Menschheit. 89
socialen Neubildungen fruchtbar war ; ein Zeichen, dafs die
Geschichte nicht stillsteht, dafs sie hier ein Gewebe auflöst,
gleichzeitig aber dort ein neues anfängt. ^) In der römischen
Kaiserzeit erst wird die Unmündigkeit des Individuums
eingeschränkt. In der Politik, im Staatsrechte zwar ist
das Individuum nichts gegen den Willen des Alleinherrschers,
aber im Privatrechte dringen allmählich die bisher Unter-
drückten zur Autonomie vor. Und zwar war es zum Teil
politische Erwägung der Kaiser, zum Teil aber das ideale
Prinzip der Juristen, die aequitas, also ein sittlicher Grund-
satz, was die Änderungen des alten jus strictum herbeiführte.
AuGUSTus befreite die Witwen, die mehrere Kinder hatten, von
der tutela,^ Claudius unterdrückte die Vormundschaft der männlichen
Verwandten, so dafs die Frauen, die eines Vormundes bedurften, ihn
frei wählten, Theodosius befreite alle nicht verheirateten Frauen,
gleichviel ob Witwen oder unvermählt geblieben, von der Vormundschaft.
Das Recht der Kinder wurde ebenfalls gegen die früher absolute Willkür
des Vaters geschützt. Cabacalla verbot den Vätern, Kinder als Sklaven
zu verkaufen, und den Gläubigern, sie als Pfand anzunehmen.^
Auch der Sklave erlangte immer mehr Menschenrechte. Nero
schon gab Polizeigesetze, die der Unmenschlichkeit der Herren Schranken
setzten. *) Antoninüs Pids gab den gemifshandelten Sklaven das Becht
zur Flucht zu den Altären der Kaiser, die zur Folge hatte, dafs sie
an einen anderen Herrn verkauft werden mufsten. Im 3. Jahrhundert
wurde verboten, die Sklavenfamilien durch Verkauf zu trennen.^) Zu
derselben Zeit erhielten die Staatssklaven das Becht, über die Hälfte
ihres Vermögens zu testieren. Und endlich im 4. Jahrhundert erlangten
^) „Wenn man die Geschichte des römischen Kaiserreichs auf
die socialen Veränderungen ansieht, die in ihr vorgehen, so vergilt sie
einigermafsen die Mifsempfindung, die wir von der Schule her gewohnt
sind, mit ihrer politischen Betrachtung zu verbinden.** (K. Bodbebtus
in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik, IV, 1865, S. 341.)
^) Vergl. P. Gide, £tude sur la condition priv6e de la femme,
Paris 1867, S. 157 ff.
^) H. Wallon, histoire de l'esclavage dans antiquit6, 2. ed. III,
Paris 1879, S. 49.
*) Wallon, a. a. 0. S. 56. Die Lex Petronia aus der Zeit Nebos
verbot, Sklaven zum Tierkampfe auszuleihen, Hadbtan verbot, sie zum
Gladiatorenkampfe, Mabc Aubel zum Tierkampfe zu verkaufen (Wallon,
a. a. 0. S. 57).
^) Wallon, a. a. 0. S. 52.
90 Paul Barth:
alle Sklaven die Befugnis, in gewissen Fällen gegen ihren Herrn zu
klagen, wenn auch nicht direkt, so doch durch einen Rechtsheistand. *)
Das Christentum hat, als es zur Macht gelangt war, keine neue
Tendenz hinzugehracht, sondern nur die vorgefundene weiter geführt. ^
Die alte Kirche ignorierte die Sklaverei, sie betrachtete die Menschen
im christlichen Gemeindeleben als gleich, wollte sich aber nicht in die
weltlichen Angelegenheiten mischen. Constanmn jedoch setzte die Er-
mordung eines Sklaven jedem anderen Morde gleich, nachdem schon
Hadbianus sie bestraft und Septimius Sbvbrus die Mifshandlung von
Sklaven mit Ehrlosigkeit geahndet hatte. ^) Jüstinian machte auch
formell den Sklaven zur rechtsfähigen Person, indem er ihm persönlich
vor Gericht zu erscheinen erlaubte.*)
Als das weströmische Reich unterging, waren für die
Gesellschaft zwei wichtige Änderungen vollzogen. Frauen
und Sklaven waren als mündige Menschen anerkannt. Und
zwar dauerte diese Anerkennung auch im byzantinischen
Eeiche fort.^)
In Westeuropa ging nun freilich zunächst mit der
antiken Kultur auch das Prinzip der Mündigkeit der Frauen
und Sklaven unter. Bei den Germanen, die nun ganz West-
europa besetzten, war die Frau, streng genommen, nicht
rechtsfähig, weil sie nicht waffenfähig war, sie mufste,
wenn sie unvermählt war, einen Stellvertreter haben, wenn
sie vermählt war, war sie in der Gewalt (Munt) des Mannes.
Aber die unverheirateten Frauen erlangen auch bei den
Völkern des Mittelalters allmählich gröfsere Selbständigkeit.
In manchen Teilen Deutschlands z. B. ist am Ende des
Mittelalters die Tutel über Frauen ganz verschwunden,^)
in anderen ist es ihnen erlaubt, ihren Tutor zu wählen.
In dieser Form erhielt sie sich in manchen Gebieten, wie
in den Hansastädten, bis zur Gegenwart;*^) erst das bürger-
1) Wallon, a. a. 0. S. 393.
2) Vergl. F. OvERBECK, Studien zur Geschichte der alten Kirche,
I, Schlofs-Chemnitz 1875, bes. S. 171 ff. und S. 177.
3) OvBRBEOK, a. a. 0. S. 170 u. 171.
*) Wallon, a. a. 0. S. 393.
6) Wallon S. 426 ff., Gide S. 218 ff.
«) GiDB, a. a. 0. S. 313.
7) Giue, a. a. 0. S. 317.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 91
liehe Gesetzbuch machte ihr auch dort ein Ende ; dasselbe
Gesetzbuch stellt auch die Ehefrau dem Ehemanne rechtlich
fast gleich.^)
Schlimmer als die Rechtsbeschränkung der Frauen
war in den neuen germanischen Staaten die Lage der
Sklaven.*'^) Sie war nicht besser als im republikanischen
Rom, das Recht jener Staaten behandelt sie wie Haustiere.
Aber die christliche Religion und die Kirche sorgen dafür,
dafs die höhere Schätzung des Menschen, die am Ende
der alten Welt errungen war, nicht ganz verloren gehe,
sie sind es ja überhaupt, die die Kontinuität der alten mit
der neu entstehenden Welt herstellen. Das Konzil von
Agde (im Jahre 606 n. Chr.) verbot und bestrafte wenig-
stens die Tötung des Sklaven durch den Herrn im fränkischen
Reiche.^) Ähnliche Beschränkungen der Willkür fanden
später in den übrigen Reichen statt, auch setzte die Kirche
die Anerkennung ihres Asylrechtes durch.*) Es vollzog
^) Vergl. H. Jastrow, Das Eecht der Frau nach dem bürger-
lichen Gesetzbuch, Berlin 1897, S. 4: „Eine Frau hat ganz dieselbe
Fähigkeit und Befugnis, Rechte zu erwerben, zu besitzen und auszu-
üben, wie ein Mann. Das Geschlecht begründet hierin keinen Unter-
schied. Diese Sätze beherrschen das bürgerliche Gesetzbuch, ohne dafs
sie in demselben irgendwo ausgesprochen wären
Für die verheiratete Frau giebt es einzelne Ausnahmen von
ihrer Geschäftsfähigkeit. Für die unverheiratete Frau giebt es inner-
halb des bürgerlichen Gesetzbuches gar keine Ausnahme." S. 23/24:
„Wenn der Mann die Zustimmung zur Übernahme der Thätigkeit (zu
der sich die Frau durch einen Vertrag verpflichtet hat) verweigert^
so kann die Frau von vornherein beim Vormundschaftsgericht den Antrag
auf Erteilung dieser Zustimmung stellen." S. 79: „Der Inhalt des Ehe-
vertrages hängt vom freien Belieben der Braut- oder Eheleute ab. Sie
sind dabei durchaus nicht auf das Vermögen der Frau beschränkt. Auch
das Vermögen des Mannes kann den Gegenstand der Regelung bilden."
2) Vergl. A. RiviERB, L'6glise et l'esclavage, Paris 1864, S. 300 ff.
3) RiviEKE, a. a. 0. S. 304. Vergl. Lex Salica, ed. J. Merkel,
Berlin 1850, XXXV.
*) Vergl. L. V. Ba», Geschichte des deutschen Strafrechts, Berlin
1882, S. 80 ff. und R. Schröder, Lehrbuch der deutschen Rechts-
geschichte, Leipzig 1889, S. 212 ff.
92 Paul Barth:
sich nun allmählich die Umwandlung des Sklaven in den
Hörigen, der, an die Scholle gebunden, dem Herrn entweder
Fronarbeit oder Naturalabgaben schuldete. Im Eechte
des späteren Mittelalters ist der Hörige dem Herrn ver-
pflichtet, er entbehrt des Rechtes der Freizügigkeit, aber
in mancher Hinsicht ist auch der Herr ihm verpflichtet,
sein Leben gilt ebensoviel wie das des Freien.^)
Im 16. und 17. Jahrhundert ist in Deutschland viel-
fach eine Verschlechterung des Rechtes der Hörigen ein-
getreten,^) mehr nach WiUktir als nach neuen Prinzipien.
Aber am Ende des vorigen und am Anfang dieses Jahr-
hunderts ist überall die Aufhebung der Hörigkeit und damit
das Prinzip der Mündigkeit der Bauern durchgedrungen.
Aus diesem Überblicke geht hervor, dafs in dem west-
europäischen Kulturkreise eine beständige Ausdehnung der
Mündigkeit auf immer mehr Personen stattgeftmden hat,
dafs also im geltenden Rechte die sittliche Forderung der
Autonomie der Persönlichkeit eine immer gröfsere Aus-
dehnung erreicht hat. Aber nicht blofs extensiv, auch
intensiv ist im Rechte die Autonomie gewachsen. Die
Macht der Persönlichkeit beruht auf dem Umfange der
Güter und Handlungen, die in ihrer Gewalt sind. Und
dieser Umfang ist in dem von uns betrachteten Kulturkreise
beständig erweitert worden. Das Altertum schützte das
Leben, ^) das Eigentum und die persönliche Freiheit der
Staatsbürger, es liefs in seiner Blütezeit die Gewissens-
freiheit nicht immer unangetastet, und es hat in der Zeit
1) Vergl. R. ScHKöDBR, a. a. 0. S. 437 ff. — L. v. Bab, a. a. 0. S. 9&.
2) Für Frankreich vergl. A. Du Boys, histoire du droit criminel
des peuples modernes, II, Paris 1858, S. 225: „L'offense faite aux hommes
du seigneur remonte au seigneur lui-meme." Bemerkenswert ist auch
ebenda S. 230: „On peut remarquer, que les m§mes peines ignominieuses
s'appliquaient alors aux gentilshommes et aux vilains."
*) Es strafte aber erst dann, wenn ein Ankläg^er auftrat, es
schätzte also verlorenes Leben nur dann, wenn ein Überlebender es
schätzte, nicht so prinzipiell, wie es jetzt geschätzt wird.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 93
des Niederganges ihr grofse Hindernisse in den Weg gelegt.
Das Mittelalter schützte Leben, Eigentum und persönliche
Freiheit (letztere mit den durch die Unmündigkeit gewisser
Klassen gegebenen Beschränkungen), es wuTste nichts von
Gewissensfreiheit. Erst die neueste Zeit hält auch diese
für ein unveräufserliches Recht des Individuums. Aber
aufser Leben, Eigentum, persönlicher und Gewissensfreiheit
hat der moderne Mensch noch mehr Güter, die ihm ge-
schützt werden, und ihr Kreis strebt nach beständiger Er-
weiterung. Die Ehre des Menschen wird immer empfind-
licher, das Eecht wehrt immer mehr Handlungen und Worte
ab, die früher nicht als beleidigend galten. Im römischen
Rechte ist der Begriff der strafbaren wörtlichen Beleidigung
sehr eng, er umfafst zuerst nur Schmähschriften, später
nur grobe Beschimpfungen und Verleumdungen.^) Im
ältesten Strafrecht der Germanen war nur der Vorwurf des
Betrugs, der Unzucht und der Feigheit und Belegung mit
Tiemamen beleidigend.'^ Im späteren Mittelalter kommt
noch der Vorwurf der rechtlichen Bescholtenheit hinzu. ^)
Im 18. Jahrhundert und im gegenwärtigen Strafrecht ist
jedes Wort beleidigend, wenn ihm die beleidigende Absicht
innewohnt.*) Frühere Gesetzgebungen unterwarfen den
Geschmack und den persönlichen Aufwand des Einzelnen
genauer Regulierung ; die römische Republik, das Mittelalter,
noch der Polizeistaat des vorigen Jahrhunderts hatten
Luxusgesetze und Kleiderordnungen. Der moderne Mensch
aber hat ein Recht auf seinen individuellen Geschmack,
sofern er nicht gegen die „öffentliche Sittlichkeit" verstöfst.
Ein ganz neues Gut ist femer die politische Freiheit im
') Vergl. W. Rein, Das Kriminalrecht der Römer, Leipzig 1844,
S. 357, 363 ff.
5*) V. Bab, a. a. 0. S. 62 und Lex Salica XXX.
®) Vergl. V. Friese, Das Strafrecht des Sachsenspiegels, Breslau
1898, S. 276 ff.
*) So schon im Preufsischen Landrechte, Teil II, Tit. X, § 640.
^94 Paul Barth:
Sinne der unbehinderten Wahl für gesetzgebende Körper-
schaften. Im Altertum war sie nicht vorhanden, ebenso-
wenig im Mittelalter, erst die Neuzeit betrachtet die staat-
liche Beeinflussung der Wahl, die in Rom ein Verdienst
war, als ein Vergehen und bestraft den Staatsbeamten,
dem sie nachgewiesen wird. Weniger erlaubt war in Rom
direkter Kauf einzelner Stimmen seitens der Amtsbewerber,
sehr erlaubt aber der indirekte Kauf durch grofse allgemeine
Spenden. In den modernen Kulturländern aber wird nicht
blofs der Kauf, sondern auch der Verkauf von Stimmen seitens
Privater strenge bestraft. Das Stimmrecht der Frauen und
das Recht auf Arbeit sind heutzutage gröfstenteils erst For-
derungen, nur im beschränkten Umfange verwirklicht. Je
mehr beides zur Durchführung kommt, desto gröfser wird
der Frauen und der Arbeiter Besitz an Rechtsgütem. — Ja
sogar manches, was als Zwang erscheint, ist bei näherem
Zusehen ein Recht. Der Schulzwang ist nur vom Stand-
punkte des Kindes ein Zwang, vom Standpunkte des Erwach-
senen ist er ein Recht auf ein bestimmtes Mafs von Bildung.
Nicht minder aber als die im Rechte sich ausprägen-
den Grundsätze sind diejenigen, die in der Sitte ihren
Ausdruck finden, dem Wandel unterworfen. Und auch in
ihnen läfst sich ein Vorwärtsgehen in der Richtung be-
merken, dafs der Einzelne immer weniger dem äufserlichen,
mechanischen Zwange unterworfen, und in seiner ganzen
Lebensführung immer mehr seinem Pflichtbewufstsein und
seinem Gewissen überlassen werde. Diesen Gang auf allen
Gebieten der Sitte zu verfolgen, würde zu weit fuhren, es
genüge, zwei Beispiele anzuführen. Die Frauen waren bei
den Griechen an das Frauengemach gefesselt, das sie, je
vornehmer, desto weniger verliefsen, in Rom an das Haus
gebunden. Im Mittelalter dürfen ehrbare Frauen auch da,
wo die Sicherheit nicht gefährdet ist, nicht allein reisen. ^)
^) Vergl. K. Weinhold, Die deutschen Frauen im Mittelalter,
II, Wien 1892, S. 203.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 95
Jetzt aber beteiligen sie sich vielfach am öffentiichen Leben,
von dem sie in der ganzen Vergangenheit ausgeschlossen
waren, und bewegen sich überall in der civilisierten Welt
ohne besonderen Schützer. Das Mafs von Zurückhaltung,
das im Interesse ihrer Weiblichkeit nötig ist, wird nicht
mehr durch Absperrung durchgesetzt, sondern immer mehr
ihrem eigenen Takte überlassen. Die ganze „Frauen-
emancipation", soweit sie ernst aufgefafst wird, bewegt
sich in dieser Eichtung. Und wie die Frau fiiiher die
erste Dienerin des Hauses war, aber zur Gleichberechtigung
mit dem Manne aufsteigt, so erheben sich, wenn auch nicht
zu gleicher Höhe, auch die übrigen Dienerinnen und Diener.
Indem heutzutage ihnen gegenüber die Formen der Höflich-
keit immer allgemeinere und konsequentere Anwendung
finden, so wird durch die Sitte anerkannt, dafs auch sie
sittlich selbständige, verantwortliche und wertvolle Personen
sind.
So finden wir im Eecht und in der Sitte ein stetiges
Wachsen der Autonomie der Persönlichkeit, und zwar sowohl
in der Richtung der Extensität wie in der der Intensität.
Keineswegs mufs damit eine Schwächung der Gesellschaft
verbunden sein. Wenn sie in der römischen Kaiserzeit
damit verbunden war, so lag dies nicht an der wachsenden
Autonomie des Einzelnen, sondern an der mangelhaften
Staatskunst der regierenden Klassen. Autonomie des Indi-
viduums bedeutet keineswegs Individualismus, vielmehr
können im Einzelnen die socialen Imperative durch die
Erziehung und durch die Macht der öffentlichen Meinung
so mächtig, in seinem Gewissen so fest verankert sein,
dafs die Gesellschaft als Ganzes vortrefflich gedeiht. Sie
bedarf dann keines grofsen Apparats, sie lebt vielmehr im
Innern eines Jeden.
Somit ist der erste Teil der These Buckles als un-
haltbar erwiesen. Die ünveränderlichkeit der sittlichen
96 Paul Barth:
Grundsätze existiert nicht. Schwieriger zu behandehi
als der erste Teil ist der zweite Teil der These, der
besagt, dafs auch die sittlichen Gefühle unveränderlich gleich
bleiben.
Zunächst zeigt sich Buckle als mangelhaften Psycho-
logen, da er gar nicht genauer angiebt, was er unter „sitt-
lichen Gefühlen" (moral feelings) versteht. Aus den Bei-
spielen, die er anfuhrt, geht hervor, dafs er sie den Thaten
der Grausamkeit, wie dem Kriege oder der Verfolgung
Andersgläubiger, entgegensetzt, dafs er also darunter
Sanftmut und Sympathie versteht. Er entfernt sich damit
nicht von dem Sprachgebrauche der englischen Philosophen.
Bei Shaftesbuby, dem frühesten und populärsten der eng-
lischen Moralisten, sind oft die „moralischen" Gefühle
(moral aflfections) schlechthin gleichbedeutend mit den
„wohlwollenden" (benevolent aflfections).^)
Es bestimmt sich also die Behauptung Buckles zu-
nächst dahin, dafs die Sympathie, sowohl das Mitleid als
auch die Mitfreude, im Laufe der Geschichte immer dieselbe
gebUeben sei, sich weder vermehrt noch vermindert habe.
Was nun das Mitleid betriflft, so widerspricht diese Be-
hauptung durchaus den Thatsachen. Es ist eine allgemein
anerkannte Wahrheit der Ethnographie, dafs die Naturvölker
gar kein Mitleid haben. ^ Der Naturmensch ist grausam
*) Vergl. Shaftbsbübts Philosophische Werke. Deutsche Über-
setzung, Biga 1777, Bd. II, S. 187 ff. Selfish ist bei Shaptssbubt
oft gleich vicious. Vergl. auch Th. Fowleb, Shaftksbuby and Hütchkson,
London 1882, S. 66, 71. Anderswo freilich (z. B. a. a. 0. S. 106 ff.)
liegt die Tugend bei Shaptbsbuby nicht in den wohlwollenden Neigungen
allein, sondern in dem richtigen Verhältnisse zwischen ihnen und den
selbstischen, das der moralische Sinn (moral sense) bestimmt. Da aber
für die selbstischen Neigungen die Natur so sehr gesorgt hat, gehören
sie weniger zu dem, was die Tugend erwerben soll, und treten darum
im Begriffe der Tugend doch wieder zurück.
^ Vergl. Z. DiMiTBOPF, Die Geringschätzung des menschlichen
Lebens bei den Naturvölkern, Leipziger Dissert. 1891, S. 148 ff.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 97
gegen sich selbst, behandelt andere grausam und sieht ganz
kaltblütig Grausamkeiten Dritter an. Das Mittelalter und
der Anfang der Neuzeit sind noch voll von unmenschlichen
Qualen. Die Folter ist ein unentbehrliches Mittel der ge-
richtlichen Untersuchung, und die Leibesstrafen sind entweder
schreckliche Verstümmelungen oder langsame Folterungen
zum Tode. ^) Im 18. und im Anfange des 19. Jahrhunderts
sind alle diese Folterungen und Verstümmelungen abgeschafft,
Untersuchungshaft und Strafhaft werden unterschieden, die
Strafe ist überhaupt nicht mehr Eache, wie sie im Mittel-
alter und noch im 16. und 17. Jahrhundert war, sondern
nach Thomasius und anderer Ausdrucke ein Heilmittel, das
zur Besserung sowohl des Verbrechers als der übrigen
Bürger führen, nach anderen eine Mafsregel des Staates,
die zur Abschreckung der Bösen dienen soll.^) Die Straf-
gesetze der modernen Kulturvölker schützen sogar das Tier
vor willkürlicher Grausamkeit des Menschen. — Man kann
diese ganze Abnahme der Grausamkeit physiologisch er-
klären, man kann sagen: der Mensch ist immer empfind-
licher geworden, immer unfähiger zu leiden, und darum
auch unfähiger leiden zu sehen. Dies mag richtig sein.
Nichtsdestoweniger bleibt die Thatsache bestehen, dafs das
Mitleid gewachsen ist.^)
Nicht ebenso einfach liegt die Frage, ob die Mitfreude
gewachsen ist. Es scheint, als ob der primitive Mensch
enger mit seinesgleichen zusammenlebte, also auch die
^) Eine recht lange Liste dieser verschiedenen Todes- und Leibes-
strafen giebt J. George, Humanität und Eriminalstrafen, Jena 1898,
S. 73 — 101. Auch die S. 101 ff. aufgezählten Arten der Freiheitsstrafen
schliefsen noch allerlei verschärfende Qualen ein.
2) Vergl. L. V. Bab, a. a. 0. S. 147—165, über die Strafrechts-
theorien ebenda S. 219 ff.
^) Mannigfaltige dafür sprechende Thatsachen führt auch an
C. M. Williams, A review of the Systems of ethics founded on the
theory of evolution, London 1893, S. 466 ff.
Yierteljahrsschrift f. wissenscliaftl. FhilosopMe. XXHL 1. 7
98 Paul Barth:
Freuden seiner Volksgenossen mehr teilte, als der Kultur-
mensch, der mehr Bewegungsfreiheit hat,^ sich weniger eng
an seine Gruppe anschliefst. Aber andererseits zeigt der
primitive Mensch auch gar viele der Züge des Kindes, und
Kinder haben wenig Mitfreude miteinander. Zur Entscheidung
kann nur eine allgemeine Betrachtung des menschlichen
Seelenlebens fuhren, insbesondere der Art und Weise, wie
es sich aus subjektiven und objektiven Elementen zusammen-
setzt. Und diese Betrachtung lehrt uns, dafs, je höher
das Seelenleben sich entwickelt, desto mehr die Allein-
herrschaft des Selbstbewufstseins zurücktritt vor dem Be-
wufstsein, vor der Vorstellung der objektiven Welt. Nach
diesem Gesetze ist der Fortschritt vom Angenehmen zum
Schönen geschehen. Die Lust am Angenehmen ist eine
Lust des Selbstbewufstseins, die in der Eegel — wegen
ihrer nahen Beziehung zum körperlichen Leben — physische
Lust genannt wird; die Lust am Schönen aber ist eine Lust
des Bewufstseins, d. h. hervorgerufen durch ein objektives
Verhältnis, das zu unserem leiblichen Wohl oder Wehe
gar keine Beziehung hat. Wenn aber durch die Existenz
des Wohlgefallens am Schönen erwiesen ist, dafs die Freude
an der objektiven Welt zugenommen hat, so mufs auch die
am objektiven Leben, d. h. am Leben anderer, also die
Mitfreude gewachsen sein. Also nicht blofs das Mitleid,
sondern auch die Mitfreude, also die Sympathie überhaupt
ist gestiegen, sie ist nicht, wie Buckle meint, unverändert
geblieben.
Dieser Fortschritt vom Subjektiven zum Objektiven
ist überhaupt nicht blofs im Gefühlsleben, sondern auch im
Bereich des Willens und des Handelns nachweisbar, und
bildet einen mächtigen Faktor des sittlichen Fortschritts.
Denn das Subjektive kann oft unsittlich oder sittlich gleich-
gültig sein, das Objektive aber wird meistens das, was sich
aus Prüfung der Umstände ergeben hat, also das Richtige,
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 99
das Sittliche seiQ. In Hegels System ist der objektive
Wüle auch der sittliche Wüle.^)
Kehren wir aber zu den sittlichen Gefiihlen zurück,
so mufs es uns auflEiaJlen, dafs Buckle von einem sittlichen
Gefühle, dem in der Ethik mit Recht immer grofse Macht
zugeschrieben wird, gar nicht spricht, nämlich vom Gewissen.
Es mag überraschend klingen, das Gewissen ein Gefühl zu
nennen. Es ist jedoch in der That nichts weiter als ein
Gefühl, das erweckt, oder eine Gefühlsdisposition, ^) die wirk-
sam gemacht wird durch die sittliche Qualität einer Hand-
lung oder einer Unterlassung, die als beabsichtigt oder als
geschehen unser Bewufstsein erfüllt. Das Verhältnis des
Gewissens zu den Handlungen wird am klarsten, wenn wir
das Gefühl vergleichen, das den sprachlichen Ausdruck
begleitet, das Sprachgefühl. Auch dieses charakterisiert
einen Satz, eine Wendung, eine Form als richtig oder
^) Vergl. auch F. A. Lanob, Geschichte des Materialismus, II,
3. Aufl., S. 463: „Die feinere Sinnenfreude, die Lust am Schönen nament-
lich, verschmilzt nicht mit dem Vorstellungshilde des Körpers, sondern
mit dem des Objektes Das Aufgehen in diesem Objekt (der
Menschen weit) ist der natürliche Keim alles dessen, was in der Moral
unvergänglich ist, und wert erhalten zu werden."
^) Vergl. darüber W. Wundt, Ethik, 2. Aufl., Leipzig 1892,
S. 481: „Der einzelne Gewissensakt kann Gefühl, Affekt, Trieb, Urteil
sein." Doch scheint mir diese Fassung des Begriffs zu weit. Affekte
und Triebe können aus dem Gefühle, das die Handlungen begleitet,
entspringen, Urteile können daraus entstehen, aber auch ihm zu Grunde
liegen. Das Elementare jedoch und bei dem, was wir Gewissen nennen,
immer Vorhandene scheint mir nur ein Gefühl zu sein. P. Räb, Die
Entstehung des Gewissens, Berlin 1885, S. 8, will das Gewissen „be-
schreiben", indem er sagt: „Das Gewissen ist ein Unterscheidungs-
vermögen, welches die Handlungen in zwei Klassen teilt, nämlich in
löbliche und in tadelnswerte." Abgesehen davon, dafs man mit so
allgemeinen Begriffen wie „Unterscheidungsvermögen" keine Be-
schreibung eines psychologischen Thatbestandes geben kann, fehlt die
Gefühlsseite des Gewissens, die doch zweifellos existiert, ganz und gar.
Richtiger Th. Elsenhans, Wesen und Entstehung des Gewissens, Leipzig
1894, S. 171: „Gefühle sind also die ursprünglichen Elemente des
Gewissens."
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* •
100 Paul Barth:
unrichtig. Und beide, das Gewissen wie das Sprachgefühl,
haben auch das gemeinsam, dafs sie desto stärker und
deutlicher werden, je öfter sie befolgt worden sind.
Wenn man den Ursprung des Sprachgefühls untersucht,
so findet man, dafs es auf Analogien oder Grundsätzen
beruht. Wer z. B. nach seinem „Sprachgefühl" das Prä-
teritum „ich frag" bildet, wird geleitet von der Analogie
der Verba tragen, schlagen u. a. Wem der Satz: „ich
wünsche, dafs es geschieht" unangenehm ins Ohr fallt, in
dem hat sich der Grundsatz befestigt, dafs das Geforderte
im Konjunktiv, nicht im Indikativ stehen mufs. Beide,
die Analogien wie die Grundsätze, brauchen nicht in voller
Klarheit und Deutlichkeit bewufst zu sein, sie können in
halb bewufstem, selbst in fast unbewufstem Zustande vor-
handen sein und dennoch ein Gefühl für oder gegen eine
Wendung oder eine Form erzeugen. Dieser Zustand ist
sogar der gewöhnliche. Erst bei näherer Besinnung finden
die Sprechenden oder wenigstens diejenigen unter ihnen,
die wissenschaftlich zu denken fähig sind, welchen Analo-
gien und welchen Grundsätzen sie im einzelnen Falle ge-
folgt sind.
Ganz ebenso verhält es sich mit dem Gewissen. Auch
dieses beruht auf Analogien früherer Handlungen, die die
neue Handlung vertraut, „normal", „richtig" oder fremd-
artig, unheimlich, „unnormal", „unrichtig" erscheinen lassen.
Dieselbe Wirkung haben Grundsätze, die durch die Er-
ziehung oder durch die öffentliche Meinung und die Sitte
eingeprägt oder durch Erfahrung erworben worden sind.
Beide, nicht blofs die Analogien, sondern auch die Grund-
sätze brauchen, wie beim Sprachgefühl, nicht voll bewufst
zu sein, sie können halb bewufst dem Handelnden oder
einer geschehenen Handlung 4Dder Unterlassung sich Er-
innernden vorschweben und dennoch ein mächtiges Gefühl
erzeugen. Diese Dunkelheit des Untergrundes, aus dem
• •
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 101
„die Stimme des Gewissens" sich erhebt, ist die Ursache
des geheimnisvollen Charakters, den das Gewissen für viele
hat, von Sokbates, der es als „Daimonion", also eine über-
menschliche Erscheinung bezeichnete, bis zu denjenigen
Theologen, die in ihm eine direkte Offenbarung des gött-
lichen Wissens und Willens erblicken.^)
Auch vom Gewissen hat wohl Buckle seine Be-
hauptung gelten lassen wollen, dafs die sittlichen Gefühle
unveränderlich seien. Und auch hier findet das gerade
Gegenteil statt. Das Sprachgefühl ändert sich langsam
mit dem Sprachgebrauch. Im Deutschen des 16. Jahr-
hunderts z. B. wurden die Verba „entbehren" und „ge-
niefsen" immer mit dem Genetiv verbunden. Das Sprach-
gefühl reagierte gegen jeden Akkusativ, der ihm folgte, ab-
lehnend. Jetzt verhält sich der Sprachgebrauch und ihm
gemäfs das Sprachgefühl gegen einen solchen Akkusativ
nicht mehr ablehnend. Ähnlich verhält es sich mit dem
Gewissen. Die sittlichen Grundsätze ändern sich, wie oben
bewiesen wurde. Daraus folgt notwendig, dafs auch das
Gewissen, das auf Analogien und Grundsätzen beruht, nicht
immer auf dieselben Handlungen in derselben Weise rea-
gieren kann. 2) Und in der That: das Gewissen erlaubt
bei den Naturvölkern und in früheren Zeiten vieles, was
wir verabscheuen. Ein Fidschi-Insulaner wird einen Greis
seines Stammes, vielleicht seinen eigenen Vater töten, ohne
nachher Gewissensbisse darüber zu empflüuden. Denn es
ist ein Grundsatz seines Stammes, dafs kraftlose Alte, die
nichts mehr helfen, weggeräumt werden. Ein Europäer wird
durch sein Gewissen vor einer ähnlichen That abgeschreckt.
Dem Eömer Julius Cäsar war es nicht gegen sein Gewissen,
seinen tapferen Gegner Vercingetorix, den grofsen Vor-
kämpfer für die Freiheit der Gallier, am Tage seines
*) Vergl. W. Gass, Die Lehre vom Gewissen, Berlin 1869, S. 114.
») Vergl. W. WuNDT, a. a. 0. S. 483.
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*
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102 Paiil Barth:
Triumphes erdrosseln zu lassen, wie milde er auch sonst
gegen besiegte Feinde verfahr. Heute wäre eine solche
That dem Gewissen des siegreichen Feldherm wie dem
des siegreichen Volkes im Innersten zuwider. Und um-
gekehrt, vieles, was einem primitiven Menschen sein Ge-
wissen verbietet, wie die Verletzung heiliger Tiere, die
Berührung dessen, was „tabu" ist, wird später nicht mehr
als Vergehen betrachtet. Und wie wir eine bestimmte
Richtung in der Entwicklung der sittlichen Grundsätze
festgestellt haben, nämlich zur Ausdehnung der Autonomie
über einen immer gröfseren Kreis von Personen und einen
immer gröfseren Umfang von Gütern, so können wir auch
eine Entwicklung des Gewissens in dieser Richtung fest-
stellen, nämlich zu immer gröfserer Achtung der sittlichen
Selbständigkeit des mündigen Mitmenschen.
Aber als Gefühl ist das Gewissen noch in einer anderen
Beziehung der Veränderung unterworfen, nämUch in seiner
Intensität. Und die Theologen, die sich mit der Psychologie
des Gewissens viel beschäftigt haben, meinen die ver-
schiedene Intensität, wenn sie vom wachenden oder schlafen-
den, vom scharfen oder stumpfen Gewissen sprechen.
Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit dem Gewissen?
Hat es bei allen Menschen an Intensität beständig abge-
nommen oder zugenommen, oder ist seine Intensität eine
beständig wechselnde gewesen, oder hat es in der einen
Klasse der Gesellschaft abgenommen, in der anderen zuge-
nommen? Diese Frage ist genau die Hälfte des ganzen
Problems. Denn es kommt flir den sittlichen Fortschritt,
für das stetige Wachstum der relativen Summe der sittlichen
Handlungen nicht blofs darauf an, dafs die in der Gesell-
schaft geltenden Grundsätze immer sittlicher werden, sondern
auch darauf, dafs sie befolgt werden. Das Mafs ihrer
Befolgung aber ist abhängig von dem Mafse der in der
jeweiligen Gesellschaft vorhandenen Gewissenhaftigkeit.
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• •••-;
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 103
Nach der populären Aufifassung nun befindet sich jede
Gesellschaft in dieser Hinsicht in beständigem Niedergange.
Die gute alte Zeit, die entschwundene Herrlichkeit der
vergangenen Tage, die Kraft und die sittliche Tüchtigkeit
der Altvordern sind seit dem im 6. Jahrhundert vor Chr.
lebenden Dichter Theognxs ein beliebtes Thema der jedes-
maligen älteren Generation gewesen. H. Delbrück^) hat
nachgewiesen, dafs kein Jahrhundert der christlichen Zeit-
rechnung, auch nicht die scheinbar tüchtigsten und glück-
lichsten Generationen, von dem Glauben an den Verfall
und von der Sehnsucht nach der besseren Vergangenheit
frei war. Wäre diese Ansicht von der Vorzeit richtig, so
müfsten die Menschen längst in ihren Sünden untergegangen
sein oder sich gegenseitig aufgerieben haben.
Aber läfst sich die hier aufgeworfene Frage überhaupt
heute schon nach wissenschaftlicher Methode beantworten?
Die guten, gewissenhaften Handlungen, die in einer Gesell-
schaft geschehen, werden nicht gezählt, auch nicht alle
sehlechten, gewissenlosen, sondern nur diejenigen, die gegen
die bestehenden Gesetze offenkundig verstofsen. Diese
^) Preufsische Jahrbücher, 71. Band (1893), S. 1 ff. Die Vor-
stellung des stetigen sittlichen Verfalls ist verwandt mit der des fort-
schreitenden physischen Verfalles. Schon bei Homer rühmen die Alten
die gröfsere !&raft ihrer Generation, Cyprian von Carthago (bei Delbrück,
a. a. 0. S. 26) fand die Menschheit im 3. Jahrhundert n. Chr. alt und
unmittelbar vor ihrem Untergange stehend, Egbert von Lüttich (im
11. Jahrhundert) fand, wie schon Juvenal, die Menschheit verkümmernd
(S. 23), und endlich führt Delbrück aus dem 15. Jahrhundert zwei
Stimmen an, die behaupten, dafs die Deutschen früher viel stärker
waren. Delbrück hätte noch hinzufügen können, dafs auch die Klage
über zunehmende Nervosität nicht neu ist. Schon J. H. Campe in der
Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens, 8. Teil, Wien
und Wolfenbüttel 1787, S. 153, macht gegen E. Ch. Trapp in Bezug
auf den Gebrauch von Märchen im Unterrichte geltend, dafs es „besonders
in unseren phantasiereichen und nervenkranken Zeiten höchst gefährlich"
sei, die Phantasie zu reizen. Im Altertum, z. B. bei Lukrez (De
rerum natura, Lib. II, S. 1150 ff.) finden wir sogar die Vorstellung,
dafs nicht blofs die Menschheit, sondern die Erde selbst alt werde.
104 Paiil Barth:
letzteren bilden sicherlich nur einen kleinen Teil der über-
haupt verübten schlechten Handlungen. Aber vergleichs-
weise liefsen ihre Zahlen, die die Kriminalstatistik ergiebt,
sich dennoch verwerten. Wenn eine Generation gegenüber
der voraufgehenden eine höhere Zahl von offenkundig ge-
wordenen Verbrechen aufweist, so zeigt sich darin —
ceteris paribus — eine Zunahme der Gewissenlosigkeit.
Leider jedoch arbeitet die Kriminalstatistik erst seit
50 — 80 Jahren. Nur für die letzten Jahrzehnte also giebt
sie uns die Möglichkeit, aus ihren Ziffern Zu- oder Abnahme
der Gewissenlosigkeit zu erschliefsen. Um über die fernere
Vergangenheit ein Urteil zu gewinnen, bleibt uns nur der
deduktive Weg der Betrachtung übrig.
Das Leben einer Gesellschaft beruht zunächst auf
einer bestimmten wirtschaftlichen Ordnung, d. h. auf einer
bestimmten Verteilung des Besitzes und einem bestimmten
Verhältnisse der Arbeitenden zu den Besitzenden, die, in
den Zeiten des Privateigentums wenigstens, nur zum Teile
mit den ersteren identisch sind. Wenn die Bevölkerung
wächst, so kann das Fortbestehen der alten Ordnung viele
vom Besitz oder von der Arbeit ausschliefsen. Neid und
Not erzeugen dann viel Gewissenlosigkeit, die Verbrechen
werden sich vermehren.
Die zweite Grundlage des Gedeihens einer Gesellschaft
ist eine gemeinsame Lebensanschauung, die sich in gemein-
samen religiösen und sittlichen Ideen ausprägt. Solche Ideen
sind aber keineswegs etwas ein für allemal Gegebenes,
sondern eine Schöpfung des Menschen, ein immer von neuem
zu gewinnender Erwerb. Sie sind kein Wissen, aber sie
ruhen auf dem jeweiligen Wissen, sie dürfen ihm auch
nicht widersprechen. Es kann aber das Wissen Fortschritte
machen, ohne dafs die Ideen sich ihm anpassen. Dann
verlieren sie ihre Gewalt über die Geister. Und nicht
minder können sie ihre Gewalt über die Gemüter verlieren.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 105
Wie alle Vorstellungen und alle aus Vorstellungen ent-
standenen Gebilde unterliegen auch die religiösen und sitt-
lichen Ideen dem teils wohlthätigen, teils verhängnisvollen
Gesetze der Ermüdung. Bis zu einem gewissen Mafse
wiederholt, kann eine Vorstellung ihre Wirkung auf das
Gefühl steigern; wenn dieses Mafs aber überschritten ist,
so kann sich das Gefühl gegen sie abstumpfen, gleichgültig
werden.^) Zwar das sittliche Streben und der religiöse
Glaube selbst können nicht aufhören, sie gehören zu den
Gesetzen des Lebens. Aber sie bedürfen der Begründung
und der Einkleidung. Und diese Begründungen und Ein-
kleidungen können durch Unvereinbarkeit mit dem Wissen
oder durch Abstumpfung des Gefühls, das, je älter sie sind,
Urnen gegenüber desto matter wird, ihre Kraft einbüfsen.
Wenn nun die alten Einkleidungen und Begründungen,
d. h. die alten Ideen nicht mehr gelten, die neuen aber
noch keine feste Gestalt angenommen haben, so kann ein
Interregnum des religiösen und sittlichen Gefühls eintreten
und naturgemäfs in der Gesellschaft, die ihm verfallen ist,
Gewissenlosigkeit begünstigen.
Und in der That, wenn wir die kritischen Epochen der Geschichte
betrachten, so finden wir sogar in der Überlieferung, die uns vorliegt,
die für den gröfsten Teil der Vergangenheit nur chronistisch ist, die
fast immer Ereignisse erzählen, nicht Zustände beschreiben will,
mancherlei Züge, die unsere Deduktion bestätigen. Kritisch war jeden-
falls die Zeit Chlodwigs und der ihm nachfolgenden fränkischen Könige.
Denn in ihr vollzieht sich der Übergang vom Kommunismus der Gentil-
verfassung zum Privateigentum und zur ständischen Gliederung der
Gesellschaft. Dazu stimmt, dafs wir bei Gregor von Tours, dem Ge-
schichtsschreiber jener Zeiten, so viel Verbrechen, Grausamkeiten und
Gewaltthätigkeiten erzählt finden, wie bei keinem anderen Historiker
der christlichen Zeiten. 2) Eine andere kritische Zeit ist die der Ee-
^) Vergl. W. WuNDT, Grundzüge der physiologischen Psychologie,
4. Aufl., I, Leipzig 1893, S. 576.
^ Vergl. J. W. LÖBBLL, Gregor von Tours und seine Zeit,
2. Aufl., Leipzig 1869, S. 35: „Desto öfter sehen wir dagegen die
Glieder aller Stände, nur den Eingebungen ihrer rohen Sinnlichkeit,
Eifersucht, gemeinen Habsucht, Ehr- und Rachgier folgend, nach allen
106 Paul Barth:
formation. Besonders die Bauernschaft war durch Anschwellen ihres
Nachwuchses, der nicht mehr durch Kolonisation Ahflufs fand, in
Deutschland seit dem 14. Jahrhundert, in Westeuropa noch früher in
eine gedrückte Lage geraten. ') Durch furchtbare Aufstände suchte sie
in England und in Frankreich im 14. Jahrhundert, in Deutsehland
im 15. und im Anfange des 16. ihre Fesseln zu sprengen. Auch in
den Städten hatten die Besitzlosen sehr zugenommen. Dazu kam, dafs
der alte Glaube überall wankte. Die katholische Gesetzesreligion war
für die Mehrzahl der Menschen nicht mehr befriedigend, die neue
Religion der Gesinnung aber, der Protestantismus, hatte noch keine
feste Organisation gewonnen. So ist es kein Wunder, wenn wir bei
Thomas Morus in der Einleitung zu seiner Utopie von der grofsen
Menge Verbrechen lesen, die er namentlich gegen das Eigentum be-
gangen sieht; kein Wunder, dafs, wie er berichtet, oft 20 Menschen
an einem Tage an einem einzigen Galgen gehängt wurden. 2) Und
im damaligen Deutschland „spiegelt uns die Litteratur in höchst be-
deutsamer Schärfe einen gesellschaftlichen Kriegszustand, der nicht
allein den unblutigen Waffen der Kritik und des Spottes den freiesten
Lauf liefs, sondern auch häufig genug den vorhandenen feindseligen
Stimmungen in erbarmungslosen Thaten Luft machte.^)"
Und als der französische Absolutismus des vorigen Jahrhunderts
durch seine Mifswirtschaft das Land ins Elend gebracht hatte, da waren
die Verbrechen von ungewöhnlicher Häufigkeit, die Sicherheit des Lebens
und des Eigentums sehr gering.*)
So sehen wir, wie die sittlichen Grundsätze stetig im
Sinne wachsender Autonomie des Einzelnen fortschreiten,
wie auch die Sympathie in beständigem Wachstum begriffen
ist,^) wie aber die Macht des Gewissens sich in Kurven
Seiten hin die Bande göttlicher und menschlicher Gebote und jeder
Sitte durchbrechen und sich den wildesten Gewaltthätigkeiten überlassen.
Gregor ist voll von sprechenden Zügen dieser Art, sie füllen einen
grofsen Teil seines Wortes."
*) Vergl. K. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittel-
alter, I, Leipzig 1886, S. 1197 ff., 1227—1242.
2) Vergl. Thomas Morus, Utopia, Lib. I, Das Kapitel de legibus
parum aequis.
8) F. VON Bezold, Geschichte der deutschen Keformation, Ber-
lin 1890, S. 46/47.
*) Vergl. H. Taine, Les origines de la France contemporaine,
deutsch von L. Katscher u. d. T. : Die Entstehung des modernen Frank-
reich, 2. Aufl., Leipzig, s. a. I, S. 430 ff.
*) Hierbei wirkt die Vererbung mit. Es ist oft zu beobachten,
dafs sie die Disposition zur Sympathie von den Eltern auf die Nach-
Die Frage des sittlichen Fortscbritts der Menschheit. 107
bewegt-, die mit dem Entstehen, Blühen und Verfallen einer
wirtschaftlichen Ordnung oder eines religiös-sittlichen Ideals
oder beider zugleich parallel gehen. Die sittlichen Grund-
sätze, die in einer Gesellschaft herrschen, und das Mafs
von Sympathie, das ihre Mitglieder verbindet, ergeben eine
gewisse potentielle Sittlichkeit, ein konstruierbares Ideal,
das vollkommen verwirklicht würde, wenn alle Mitglieder
dieser Gesellschaft nach den geltenden sittlichen Prinzipien
und den Antrieben ihrer Sympathie lebten. Das Mafs der
Gewissenhaftigkeit aber, mit der die sittlichen Grundsätze
und die Gefiihle der Sympathie befolgt werden, giebt die
Höhe der aktuellen Sittlichkeit einer Gesellschaft an. Die
potentielle Sittlichkeit läfst sich ihres stetigen Aufsteigens
wegen durch eine, unter einem gewissen Winkel zur Ebene —
die Ebene stellt den schuld- und verdienstlosen Natur-
zustand dar — aufsteigende Grade darstellen, die aktuelle
Sittlichkeit aber, wie die Gewissenhaftigkeit, von der sie
abhängt, durch Kurven, zu denen diese Grade beinahe die
gemeinsame Tangente ist. Der Scheitelpunkt jeder dieser
Kurven liegt höher als der Scheitelpunkt der voraufgehenden,
ihr tiefster Punkt aber kann so tief unter die Grade sinken,
dafs der Anschein unaufhaltsanjen Verfalls erregt wird,
während der absteigende Ast der Kurve in Wirklichkeit
vielleicht nicht einmal so tief sinkt, wie der absteigende Ast
der voraufgegangenen.
Es ist nun eine nicht blofs interessante, sondern auch
wichtige Frage, auf welchem Aste der Kurve der aktuellen
Sittlichkeit sich unsre Gegenwart befindet.
kommen überträgt. Dasselbe lehrt die Erfahrung von Stärke und
Schwäche des Willens, und zwar ist es wahrscheinlich, dafs nicht blofs
die angeborene, sondern auch die erworbene Stärke des Willens auf
die Kinder übergehen kann. Gegen Weismann und seine Anhänger, die
die Vererbung erworbener Eigenschaften leugnen, macht C. M. Williams
(a. a. 0. S. 402 ff.) mit Recht geltend, dafs Krankheiten doch erworbene
Eigenschaften sind und dennoch vererbt werden; und „that which we call
disease is not more physical, than that which we call moral characteristic".
108 Pa^l Barth:
Was zunächst die oben festgestellten beiden Grund-
lagen der Gewissenhaftigkeit und der mit ihr gleichbedeuten-
den aktuellen Sittlichkeit betrifft, so sind sie heutzutage
keineswegs fest und sicher. Die wirtschaftliche Ordnung
ist gestört. In den letzten 100 Jahren ist das wirtschaft-
liche Leben unsicherer und unruhiger geworden. Durch
nichts wird diese Thatsache schärfer beleuchtet, als durch
Erinnerung an eine Betrachtung, die Adam Smith über
das Bankerottmachen anstellt. Er sagt, dafs zu seiner Zeit
von 1000 Handel oder Gewerbe Treibenden durchschnitt-
lich nur Einer einmal in seinem Leben bankerott wird,
und hält einen Bankerott, indem er wohl nur das Urteil
seiner Zeit nachspricht, für das gröfste, demütigendste Un-
glück, das einen anständigen Mann treffen kann.^) Damit
verglichen hat heutzutage sich die Häufigkeit der Konkurse^)
auf das 30 fache erhoben. Mit der steten Zunahme der
Bankerotte ist auch ein Rückgang der Gewissenhaftigkeit
^) Wealth of Nations, 2. Buch, 3. Kapitel.
2) Im Jahre 1895 gab es in Deutschland, für welches, da es die
beste Berufsstatistik hat, die Verhältnisse am klarsten liegen (nach
dem Handwörterbuch der Staatswissenschaften, herausg. yon
J. CoNBAD, L. Elster, W. Lexis, E. Löning, 2. Supplementband, Jena
1897, S. 189), 5482151 selbständige Unternehmer und Besitzer. Von
diesen wurden (nach dem Statistischen Jahrbuche für das Deutsche
Reich, Jahrgang 1896, S. 142) im Jahre 1895 bankerott 6994. Das
ergiebt schon auf 783 Besitzer einen Bankerotteur, aber nicht während
eines Lebensalters, wie bei Apah Smith, sondern während eines einzigen
Jahres. Eechnet man das Lebensalter auch nur im Sinne der durch-
schnittlichen wirtschaftlichen Selbständigkeit auf 30 Jahre, so kann
man sagen, dafs die Häufigkeit, die Adam Smith annimmt, sich auf mehr
als das 30 fache gehoben hat. Und noch immer ist in Deutschland die
Neigung zum Bankerottmachen zunehmend, wie sich ergiebt, wenn man
die Ziffern für die Zeit 1881—1889 mit denen für die Jahre 1891—1894
Tergleicht. Denn im ersteren Zeitraum kamen (nach dem genannten
Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Bd., Jena 1892, S. 810).
durchschnittlich im Jahre auf 100000 Einwohner 11,4 eröffnete Kon-
kurse, dagegen im letzteren (nach dem 1. Supplementband, S. 608) 14,5.
In den übrigen westeuropäischen Staaten und in Nordamerika liegen
die Verhältnisse keineswegs besser, eher noch schlechter.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 109
eingetreten. In weiten Kreisen des Volkes ist heutzutage
ein selbstverschuldeter Konkurs kein sittlicher Makel mehr,
ein Zeichen, dafs Unsicherheit des wirtschaftlichen Daseins
und gesteigerter Kampf um dasselbe nur für die Minder-
zahl ein Mittel, den Charakter zu stärken, für die Mehrzahl
vielmehr eine Verführung zur Charakterlosigkeit ist.
Aber auch die ideologischen Grundlagen der Sittlichkeit
sind ins Wanken geraten. Vor hundert Jahren, am Ende
der Epoche der Aufklärung, übten teils die religiösen, teils
die moralischen Ideen noch eine feste, unerschütterte Herr-
schaft über die Geister und die Herzen. ^) Die Aufklärung
war in Deutschland wenigstens keine Zeit der Skepsis,
sondern des gläubigen Idealismus. Und noch 1848, im
Jahre der Revolution, waren die revolutionären Klassen
religiös fühlend, 2) gegenwärtig sind weite Volksschichten
in demselben Grade wie revolutionär zugleich irreligiös
gesinnt. Es ist damit nicht gesagt, dafs ihnen alle sittlichen
Ideen abhanden gekommen seien, aber ein Teil derselben
ist durch das Verblassen des religiösen Glaubens, das in
^) Vergl. darüber meine Philosophie der Geschichte als Sociologie,
I, Leipzig 1897, S. 270, 389.
^ Es ist z. B. eine bekannte Thatsache, dafs die Berliner Be-
Yolutionäre, die am 19. März 1848 die Leichen der gefallenen Barrikaden-
kämpfer in den Schlofshof brachten, dort aus freien Stücken andächtig
den Choral „Jesus, meine Zuversicht" sangen. Vergl. A. Wolpf,
Berliner Revolutions-Chronik, I, Berlin 1851, S. 248 ff. In Breslau wurde
wegen UnbotmäTsigkeit der Zöglinge und vermuteter demokratischer
Umtriebe am 29. Januar 1846 durch einen königlichen Kommissarius
das dortige Schullehrerseminar aufgelöst. „Am Abend desselben Tages
versammelten sich die tief erschütterten Zöglinge auf eigenen Antrieb
nochmals im Musik- und Betsaal des Seminars und stimmten zum letzten-
male in diesen Mauern das Lied „Ein' feste Burg ist unser Gott" an,
sangen nochmals aus voller Seele und in wahrhaft erhebender Weise,
und stärkten sich dadurch und durch ein von einem Zöglinge verfafstes
und gehaltenes Gebet zur Ertragung des über sie verhängten Schicksals."
K. Fischer, Geschichte des deutschen Volksschullehrerstandes, II,
Hannover 1893, S. 245.
f
110 Paul Barth:
manchen schon zum Erlöschen geworden ist, sicherlich
entschwunden.
Auch in den nicht revolutionär gesinnten Volkskreisen,
zu denen fast alle „Gebildeten" gehören, ist das religiöse
Bewufstsein nicht mehr so lebendig, wie in früheren Jahr-
zehnten. Aber selbst das, was in Bezug auf die Lebens-
führung bei ihnen gleichen Erfolg haben könnte, als die
Religion, die Überzeugung vom Werte der sittlichen Ideale
ist nicht unerschüttert geblieben. Die Philosophie Nietzsches
verdankt ihren grofsen Einflufs sicherlich weniger ihrem
sittlich positiven Bestandteil, der stärker als die frühere
Ethik betont, dafs der Wille vor allem erst ein starker
sein müsse, ehe er ein guter sein könne, mehr verdankt
sie zweifellos ihrer kritischen, negativen Lehre, dafs das
Mitleid eine Schwäche, die Freiheit des Geistes ein höheres
Gut als die Sittlichkeit der jeweiligen Gesellschaft und in
diesem Sinne der Gewissensbifs „unanständig" sei. Denn
wir finden sonst keineswegs in der specifisch modernen
Litteratur einen Kultus der Willensstärke, vielmehr eine
ausgesprochene Vorliebe für die Schwächlinge, die Deka-
denten,^) die zugleich sehr egoistisch sein können. Dem
Kultus des Egoismus verdankt auch M. Stibneb sein Wieder-
aufleben, ein Schriftsteller, der wegen Mangels an Geist
und Wissen seiner Zeit ganz unbeachtet blieb und längst
der verdienten Vergessenheit anheimgefallen war.
Aus dem Stande der Bedingungen der aktuellen
Sittlichkeit ergiebt sich also der Schlufs, dafs die Gegen-
wart einen Rückgang, einen absteigenden Ast derselben
darstelle. Und dieser Schlufs wird durch die Kriminal-
statistik bestätigt. Sie lehrt, dafs in den letzten 50 Jahren
^) Das Wort ist ebenso seltsam, für das deutsche Sprachgefühl
wenigstens, wie der Begriff. Es ist auf einem Umwege vom fran-
zösischen „d^cadence*^ gebildet, anstatt direkt aus dem Lateinischen,
nach dem es Decident heilsen müTste.
Die Frage des sittlichen FortBchritts der Menschheit. Hl
die Zahl der Verbrechen im allgemeinen abgenommen hat,
dafs aber gewisse Klassen von Verbrechen, nämlich die der
Jugendlichen, der EückfaUigen und die Verbrechen gegen
die Sittlichkeit, stetig zugenommen haben und noch zu-
nehmen. ^) Die Zunahme der jugendlichen Verbrecher weist
hin auf Unzulänglichkeit der Erziehung, also Schwäche der
Gesellschaft, die nicht mehr imstande ist, durch Erziehung,
öffentliche Meinung und Sitte richtige Grundsätze der heran-
wachsenden Generation fest genug einzuprägen. Die
wachsende Zahl der Rückfälligen zeigt einen immer gröfseren
Kreis, der das von der Gesellschaft geforderte sittliche
Minimum überhaupt nie mehr erreicht, und die sich mehren-
den Verbrechen gegen die Sittlichkeit sind ebenso viele
Beweise gewissenlosen Geistes.
Aber selbst der Trost, den man aus der allgemeinen
relativen Verminderung der Verbrechen schöpfen könnte,
wird durch die Ansichten der meisten Kriminalstatistiker
noch zunichte gemacht. Denn diese gehen dahin, dafs die
geringere Zahl verbrecherischer Thaten nur auf Zunahme
der Vorsicht und auf Abnahme der Aussicht auf Straflfreiheit
beruht, dafs aber die verbrecherische Gesinnung im allge-
meinen gewachsen ist.^
Es ist femer eiue bekannte Thatsache der Statistik,
dafs in allen Kulturländern in den letzten Jahrzehnten
die relative Zahl der Selbstmörder sehr gewachsen ist.^)
*) Vergl. B. FöLDEs, Einige Ergebnisse der neueren Kriminal-
Statistik in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft,
Bd. XI (1891), besonders S. 568 ff., 663, 667. Über die zunehmende
Verwahrlosung von Kindern in Grofs-Britannien vergl. F. Tönkibs,
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. XIU S. 896 ff.
^ Nach FöLDBS (a. a. 0. S. 667) sind die Deutschen Mittelstadt,
Illino, Ottingbn, Stbüssbbbg dieser Meinung, in Italien Febbi und
Gaboealo, in England Leone Levi, in Frankreich Yvbbnbs, Tabde, Joly,
FäbjS u. a., während Stabcke die Ansicht vertritt, dafs in Preufsen seit
dem Kriege von 1870/71 die Kriminalität sich nicht verschlimmert habe.
^) In Frankreich z. B., welches keineswegs besonders reich an
Selbstmorden ist, betrug 184i — 1845 der Jahresdurchschnitt der Selbst-
112 Paul Barth:
An sich ist dies noch nicht ein Symptom verminderter
Sittlichkeit. Denn es könnte ja die Zunahme aus Steigerung
des Ehrgefühls entstehen. Aber E. Dubkheim, ^) der zuletzt
die Häufigkeit und auch die Beweggründe des Selbstmords
nach den Thatsachen der Statistik untersucht hat, kommt
am Ende seiner Arbeit zu dem Ergebnis : ,.Das Unbehagen,
an dem wir leiden, rührt nicht daher, dafs die objektiven
Ursachen von Leiden an Zahl oder Heftigkeit gewachsen
wären; es zeugt nicht von einem gröfseren ökonomischen,
sondern von einem beunruhigenden moraüschen Elend."
Mufs nun der denkende Betrachter der Gegenwart
angesichts dieser Symptome verzagen oder hat er Grund
zu der Hofl&iung, dafs die Völker der modernen Kultur ia
absehbarer Zeit auch wieder einen aufsteigenden Ast der
aktuellen Sittlichkeit erreichen werden? — Ich glaube, das
letztere ist zu bejahen.
Man hat unsere Zeit oft mit der römischen Kaiserzeit
verglichen. Es giebt in der That einige übereinstimmende
Züge. Wie damals, konzentriert sich auch jetzt der Besitz
in immer weniger Hände, aber in viel langsamerem Tempo
und mit sehr wirksamen Widerständen, besonders im Grund-
besitze, von dem darum eine Hemmung der konzentrierenden
Bewegung zu erwarten ist. Wie einst im römischen Reiche,
mischen sich auch in den modernen Kulturländern, besonders
in der Neuen Welt, viele sehr verschiedene Kassen. Und
wie in den ersten 3 Jahrhunderten der Kaiserzeit, so herrscht
mörder 2951, im Jahre 1892 aber war die Zahl 9285, sie ist also auf
mehr als das Dreifache gestiegen (Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften, herausg. von J. CoNnAo, L. Elsteb, W. Lbxis, E. Lönino,
1. Supplementband, Jena 1895, S. 692). Da die Bevölkerung Frank-
reichs in der Zwischenzeit sich nur etwa um Ve vermehrt hat, von
33406864 im Jahre 1841 auf 38343192 im Jahre 1891 (Handw. der
Staatsw., II, S. 429 und 1. Suppl. S. 212), so ist die zunehmende
Häufigkeit des Selbstmordes offenbar.
1) Le suicide, Paris 1897, S. 445.
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 113
auch jetzt eine bunte Mannigfaltigkeit der Welt- und Lebens-
anschauungen in der Gesellschaft, und zwar nicht blofs
über theoretische Fragen, in denen die Buntheit der An-
sichten teils unvermeidlich, teils nützlich ist, sondern auch
über prinzipielle, praktische Hauptfragen, in denen tief-
gehende Uneinigkeit nicht ungefährlich für die Erziehung
des Nachwuchses ist.
Aber andererseits giebt es Momente genug, die die
Gegenwart von der Zeit des sinkenden Altertums unter-
scheiden und uns hoffen lassen, dafs die moderne europäische
Kultur nicht wie die antike auf dem Wege zum Untergänge
sei. Der Einzelne hat einen viel höheren Wert in der
Gesellschaft und darum ein viel höheres Interesse für sie,
als damals. Jenes Absterben der Gesellschaft von innen
heraus, wie es sich in der Flucht der Kolonen zu den
„Barbaren" und in dem Abscheu der „Kurialen" vor über-
nähme staatlicher Amter ausspricht, ist wohl heute nicht
mehr möglich. Auch giebt es heute keine so mächtige
Strömung, die dem Staate so feindlich gegenüberstände,
wie das Christentum der Kirchenväter. Der gröfste Vorzug
aber, den wir vor den Menschen der antiken Welt voraus
haben, ist der Besitz der Wissenschaft, und zwar von der
Natur sowohl als von der Geschichte.
Was die Naturwissenschaft betrifft, so ist es ja be-
kannt, dafs sie im Altertum nicht über die ersten Anfänge
hinausgekommen ist. Die Technik, die auf ihr beruht,
war darum dürftig, sie ist jetzt eine grofse Macht, und
wenn sie auch keineswegs, wie manche meinen, an sich
schon inneres Gedeihen der GeseUschaft verbürgt, so giebt
sie doch einen grofsen Vorrang über die „Barbaren".
Wirksamer aber noch wäre die richtige Anwendung der
Wissenschaft der Geschichte, oder was mit ihr gleichbe-
deutend ist, der Wissenschaft von der menschlichen Gesell-
schaft, der Sociologie.
Vierteljahrsschrift f. wlssenschaftL Philosophie. XXIIL 1. 8
114 Paul Barth:
Die Sociologie ist keineswegs gleichbedeutend mit der
Nationalökonomie. Sie ist umfassender als diese, die
sicli nur mit den Thatsaclien der Produktion und der Ver-
teilung der Güter beschäftigt. Denn wirtschaftliche Güter
sind nur Material, über die letzten Zwecke, denen sie dienen
oder dienen sollen, kann die Nationalökonomie nichts lehren.
Ebensowenig ist die Sociologie gleich der Demo-
graphie. Diese hat nur zu thun mit der Statistik des
äufseren Lebens, der Ehen, Geburten, Todesfälle, Epidemien,
auch der Verbrechen, die ebenfalls an sich nur äufsere
Thatsachen sind.
Beide, weder Nationalökonomie noch Demographie,
wissen etwas vom inneren Leben der Gesellschaft, von den
Ideen, die in ihr herrschen, die allein Zwecke setzen und
sittliche Energie flir ihre Erreichung erzeugen können.
Die Ziffern der Nationalökonomie und der Demographie sind
der Sociologie keineswegs gleichgültig. Sie geben die
äufseren Symptome der inneren Verhältnisse. Die Sociologie
wird durch sie aufmerksam auf die Erscheinungen, deren
letzte Ursachen sie zu ergründen hat. Sie mufs die in
einer Gesellschaft wirksamen Ideen betrachten, kritisch
untersuchen und schliefslich entscheiden, welche von ihnen
zum Absterben, welche zu weiterem inneren Wachstum an
finchtbaren Konsequenzen und zu weiterer, auf immer mehr
Menschen sich erstreckender Ausbreitung bestimmt scheinen.
Sie wird in ihrer Anwendung zur praktischen Politik, und
sie wird desto sichrere Diagnosen und Prognosen stellen,
je genauer sie das Leben der vergangenen Gesellschaft
erforscht hat. So ist es nicht blofs eine theologische,
sondern auch eine sociologische Frage, durch welche neue
Begründungen und Einkleidungen, eventuell auch Modifi-
kationen die gegenwärtige christliche Dogmatik im Leben
der modernen Völker wieder eine gröfsere Macht werden
könne. Denn die Entwicklung der Weltanschauung folgt
Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 115
einer gewissen Gesetzmäfsigkeit, die der Sociologe zn er-
forschen oder von anderen Wissenschaften zu lernen hat,
nm sie in seinen Ausblicken mit in Eechnung zu ziehen.
So ist es auch eine sociologische Frage, ob der Patriotismus,
die Pflege und Verteidigung des eigenen Volkstumes, der
Hingebung an ein allgemeines Menschentum zu weichen
habe, oder ob er auch heute noch ein unentbehrlicher sitt-
licher und das Leben steigernder Faktor sei. Wenn das
letzte bejaht wird, so fragt es sich wiederum, welche Mittel
der Patriotismus anzuwenden habe, ob er durch politische
oder durch ökonomische Kämpfe die Macht seines Volkstums
zu erweitem streben oder nur auf die erhaltende und
werbende Kraft der nationalen Kultur bauen und diese
immer feiner ausbilden solle. Auch diese Frage läfst sich
nur auf Grund genauer Kenntnis der innersten Lebens-
prozesse der verschiedenen Gesellschaften der Gegenwart
wie der Vergangenheit entscheiden.
So ist es also doch wieder die Wissenschaft, bei der
wir angelangt sind, und es scheint beinahe, als wären wir
wider Willen auf Buckles These zurückgeführt worden.
Aber es scheint eben nur so. In Wahrheit haben wir
gesehen, dafs das Innere des Menschen sich nicht so gleich
geblieben ist, wie Buckle annimmt, dafs seine Grundsätze
und seine Gefühle sich allmählich verändert haben und
noch verändern. Und für die Zukunft soll nach unserem
Wunsche und nach unserer Hofl&iung die Wissenschaft nur
die Bedingungen ergründen und der öffentlichen Meinung
kund thun, unter denen nach eigenem Gesetz die mensch-
liche Seele sich weiter zu entwickeln vermag, unter denen
Autonomie und Sympathie weiter wachsen, das Gewissen
wieder empfindlicher und dadurch die aktuelle Sittlichkeit
höher werden kann. Dabei aber ist das Wissen nicht un-
abhängig von der schon vorhandenen Sittlichkeit. Denn
es gehört schon sittliche Energie dazu, um von eigenen
8*
11g PaulBarth: Die Frage des eittlichen Fortschritts d. Menschheit.
und fremden Vorurteilen frei die Wahrheit zu erkennen,
bis in ihre letzten, wenn auch vielleicht unbehaglichen,
sogar peinlichen Konsequenzen zu verfolgen und in der
Praxis gegen „das Gesetz der Trägheit" durchzusetzen.
So wirkt die Sittlichkeit auf die Wissenschaft und die
Wissenschaft auf sie zurück. Und in dieser Wechselwirkung
wird die Wissenschaft in Zukunft, wie wir zu hoflfen wagen
dürfen, die beste Führerin und Trösterin der Menschheit sein.
Als Schiller vor 100 Jahren schrieb, wollte er die
höchsten Aufgaben der Kunst zuweisen. Sie sollte den
Menschen nicht blofs zum Guten flihren, nicht blofs eine
„ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts" bewirken,
sondern, wie er in den „Künstlern" ausführte, sogar ihm neue
Erkenntnisse eröffnen. In der Wissenschaft selbst — viel-
leicht war dies eine Nachwirkung seiner ehemaligen jugend-
lichen Begeisterung für Rousseau — erblickte er einen
gefährlichen Bestandteil, wie „das verschleierte Bild zu
Sais" und „die Poesie des Lebens" beweisen. Darum
scheint es für ihn allgemeinere, nicht blofs individuelle
Bedeutung zu haben, wenn er Kassandra ausrufen läfst:
„Nur der Irrtum ist das Leben, und das Wissen ist der
Tod." Wir können der heutigen Kunst nicht so hohe Auf-
gaben anvertrauen, wie Schilleb derjenigen seiner Zeit.
Denn sie will die Menschen gar nicht über die gemeine
Wirklichkeit erheben, sondern sie darein versenken. Wir
müssen heute mit der Verwahrung, dafs wir nicht in
BucKLES Einseitigkeit zurückfallen, den Satz Sghillebs
umkehren :
Nur das Wissen ist das Leben,
Und der Irrtum ist der Tod.
/'
liuiiininiiiiiitliiuiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiilllliii'
^"v^t^v:^'^ v:,t v:t:v:
I.
Besprechungen.
Cornelius, Hans, Psychologie als Erfahrungswissen-
schaft. Leipzig, B. S. Teubner, 1897.
Das neue Buch von Cornelius ist nicht ein Lehrbuch
dessen, was als gesicherter Besitz der psychologischen
Wissenschaft anzusehen sei, nicht ein Kompendium der
wichtigsten Ergebnisse bisheriger Psychologie, sondern es
beabsichtigt „eine erkenntnis-theoretische Grundlegung der
Psychologie", und ist daher in erster Linie eine Psychologie
des Erkennens. Dem entsprechend werden manche Einzel-
fragen, auch solche, die augenblicklich im Vordergrunde
des psychologischen Interesses stehen, in dem Buche gar
nicht oder verhältnismäfsig kurz und nur in erkenntnis-
theoretischem Zusammenhange erörtert. Die Bemühungen
und Fragestellungen der experimentellen Psychologie z. B.
erfahren nur eine allgemeine erkenntnis-theoretische Be-
leuchtung. Die Thatsachen des Gefühls- und Willenslebens
werden nicht so ausführlich behandelt, wie die des Urteilens
und der Begriffsbildung. Aber wir haben es keineswegs
ausschliefslich mit einer „Erkenntnistheorie auf psycho-
logischer Grundlage" zu thun. Die intellektuellen Funktionen
des Bewufstseins werden in ihrem Zusammenhange mit dem
psychischen Leben überhaupt begriffen und in ihrer natür-
lichen Entwicklung genetisch untersucht.
Der methodologische Charakter des Buches kann als
reiner, voraussetzungsloser Empirismus bezeichnet werden.
Nicht abstrakte und hypothetische „Elemente" des psy-
'
118 Felix Krueger:
chisclieii Geschehens, auch nicht irgend welche psycho-r
logischen Annahmen bilden den Ausgangspunkt der Unter-
suchung, sondern überall geht Cobnelitjs von den Gesamt-
inhalten des Bewufstseins, als dem allein unmittelbar
Gegebenen, aus. — Die Analyse des Vorgefundenen flihrt
zu gewissen letzten, nicht weiter zurückführbaren Faktoren,
auf denen die Möglichkeit eines zusammenhängenden und
zeitlich verlaufenden psychischen Lebens beruht. Als diese
fundamentalen Faktoren des Bewufstseinsverlaufs ergeben
sich zunächst die Thatsachen der Unterscheidung
successiver Bewufstseinsinhalte, der Erinnerung
und des Wiedererkennens. Die Unterscheidung gleich-
zeitiger Teilinhalte setzt diejenige successiver Mehrheiten
bereits voraus. Die Erkenntnis der Ähnlichkeit beruht
wiederum auf dem Dasein, d. h. Unterschiedensein einer
Mehrheit von Teilinhalten ; ja, es werden „mit Ähnlichkeit
nur besondere Arten von Verschiedenheit" bezeichnet.
Andererseits ist dabei die Thatsache der Erinnerung er-
sichtlich impliziert. Aus der Unterscheidung von Graden
der Ähnlichkeit ergeben sich „Eeihen" der Ähnlichkeit,
und wo ein Inhalt mehreren Ahnlichkeitsreihen zugleich
angehört, da kann von Ähnlichkeitserkenntnis in einer be-
stimmten Hinsicht, von dem, Unterlassen einer Ver-
gleichung in Hinsicht auf andere Ahnlichkeitsreihen und damit
von Abstraktion geredet werden. Auf der Einordnung
der Inhalte in bestimmte Ähnlichkeitsreihen beruht jede Art
der Begriffsbildung und der Prädikation. Alle zwischen
zwei oder mehr Inhalten möglichen Relationen (einschüefs-
lich der zeitlichen) sind im Grunde Ähnlichkeitsrelationen.
Besonders beachtenswert an diesen grundlegenden
Erörterungen scheint mir dies zu sein, dafs Cobnelitjs die
Thatsache dabei nie aus den Augen verliert, deren Ver-
nachlässigung zu den schlimmsten theoretischen Verirrungen
führen mufs und oft genug geführt hat: ich meine die
Thatsache, dafs psychologisch das Ganze früher ist als der
Teil; dafs Komplexe, die auf Grund nachträglicher Analyse
sich als mannigfach zusammengesetzt herausstellen, doch
als etwas völlig Einheitliches erlebt werden können; „dafs
überall nicht die einzelnen Teilinhalte, sondern die Gesamt-
inhalte das primär Gegebene sind" (S. 216). Durch das
prinzipielle Festhalten an dieser Einsicht werden die Aus-
Cornelius, „Psychologie als Erfahrungswissenschaft". 119
fohrnngen des Buches allenthalben vereinfacht und zugleich
vertieft. Man vergleiche in dieser Hinsicht das in ver-
schiedenen Zusammenhängen über die Zeitwahmehmung
und über den Begriff der Zeit Gesagte; die Theorie der
Erinnerung, sowie die überaus einfache Beschreibung und
weitere Zurückführung der Thatsachen, die gewöhnlich als
Berührungsassociation bezeichnet werden; ferner die Aus-
führungen über den unbeachteten „ffintergrund" des Be-
wufstseins, über „unbemerkte" Teilinhalte, über willkürliche
und unwillkürliche Aufmerksamkeit; schüefslich die Ein-
wände, die von jenem prinzipiellen Standpunkt aus gegen
gewisse psychophysische und physiologische Fragestellungen
erhoben werden (S. 304 ff.).
Die in unsem Tagen noch keineswegs ganz ausge-
storbene „atomistische" oder „Mosaikpsychologie" (S. 214)
hat insbesondere die Thatsache übersehen, dafs jeder psy-
chische Komplex als solcher über die Summe der Eigen-
schaften seiner Teilinhalte hinaus noch gewisse specifische
Eigenschaften besitzt. Diese Grundthatsache des psychischen
Lebens, auf die in neuerer Zeit von verschiedenen Seiten
hingewiesen wurde (man vergleiche Wundts Prinzip der
„schöpferischen Synthese"), hat z. B. in Ehbenfelb'
Theorie der „Gestaltqualitäten" Ausdruck gefunden. Cob^
NELius acceptiert den Begriff der Gestaltqualität und zieht
aus der ihm zu Grunde liegenden Einsicht neue, von
EHRENFELa uoch uicht berücksichtigte Konsequenzen, nament-
lich für die Psychologie des FüMens und Strebens.
Stellt der erste Teil seines Werkes sozusagen eine
Morphologie des psychischen Organismus dar, so giebt
CoBNELiTJs im Weiteren eine Besclu'eibung von der Ent-
wicklung dieses Organismus und ihren Gesetzmäfsigkeiten.
Hierher gehören teilweise schon die Ausführungen über die
zunehmende Verfeinerung und Differenzierung der Ähnlich-
keitserkenntnis und des Gedächtnisses. Die folgenden Ka-
pitel (etwa von Kapitel V ab) haben es fast ausschliefslich
mit dem Verlauf der psychischen Entwicklung, mit der
Aufeeigung ihrer natürlichen Formen und Faktoren zu thun.
Im Mittelpunkte der Untersuchung stehen überall die im
engeren Sinne des Wortes intellektuellen Funktionen
des Bewufstseins. Aber die Konsequenzen der hier ge-
wonnenen Ergebnisse werden schliefslich bis in das ethische
120 Felix Krueger:
und ästhetische Gebiet hinein verfolgt. — Der Schönheits-
begriflf wird in einer bestimmten Hinsicht an dem Beispiel
der bildenden Künste näher erläutert. Das Moment der
künstlerischen Eaumgestaltung bildet gewifs einen un-
gemein wichtigen Faktor dessen, was Malerei und Plastik
flir uns leisten; freilich, wie der Verf. selbst betont, nur
einen Faktor neben anderen. Die werttheoretischen und
ethischen Erörterungen tragen m. E. durchgängig einen zu
intellektualistischen Charakter. Das mag teilweise durch
den alles beherrschenden erkenntnis-theoretischen Gesichts-
punkt bedingt sein. Zum Teü hängt es wohl auch damit
zusammen, dafs die Begriffe Urteil und Erkennen hei Cor-
nelius überall eine ungewöhnlich weite Bedeutung haben.
So wird schon das unmittelbare Gegebensein eines Teilinhalts,
d. h. sein IJnterschiedensein vom „Hintergrunde", oder das
blofse Dasein einer Ähnlichkeitsrelation für das Bewufstsein
durchgängig als „Erkenntnis" bezeichnet. Der Ausdruck
„ürteü" findet auch auf solche Thatbestände Anwendung,
bezüglich deren die Frage nach der Wahrheit sinnlos ist,
wie bei einem Teil der sogen, „unmittelbaren Wahmehmungs-
urteile" und bei den primären Thatsachen der Erinnerung. —
Wenn von Urteilen nur da geredet werden soll, wo die
Frage nach der Wahrheit gestellt werden kann, so werden
auch gewisse Thatbestände, die Cornelius als Werturteile
bezeichnet, besser anders (etwa als „Wertungen") zu be-
nennen und wohl auch noch einfacher zu beschreiben sein.
Auf die Einzelheiten der von Cornelius entwickelten Wert-
theorie kann hier nicht eingegangen werden.
Es ist unmöglich, den reichen Inhalt des knapp stili-
sierten Buches an dieser Stelle auch nur in Andeutungen
zu erschöpfen.^) Statt dessen soll zum Schlufs nur noch
auf diejenigen Ergebnisse des Werkes hingewiesen werden,
denen der Verf offenbar das Hauptgewicht beimifst, und
auf denen in der That seine Bedeutung für die Gesamt-
^) Höchst beachtenswert ist z. B. der fruchtbare Begriff des
„Symbols" (S. 57 ff. u. sonst vielfach) für die vielumstrittene That-
sache, dafs nicht gegenwärtige Inhalte durch gegenwärtig vorgefundene
„repräsentiert" werden können. — Im letzten Kapitel (S. 400 — 406)
findet sich auch eine interessante neue Theorie der äufseren Willens-
handlung.
Cornelius, „Psychologie als Erfahrungswissenschaft". 121
entwicklung des philosophischen Denkens beruhen diirfle;
ich meine die Analyse des Dingbegriffs und des Begriffs
der objektiven Existenz (Kap. IT), sowie die darauf be-
ruhenden Erörterungen über die „objektive Welt" (V) und
über Wahrheit und Irrtum (VI).
Die Eeflexionen der früheren Erkenntnistheorie liefen
fast immer auf die Frage hinaus: was erkennen wir von
den Dingen, wie sie an sich sind, abgesehen von aUen
ihren Erscheinungen? Damit wurde ein Existenzbegriff
dogmatisch eingeführt, dessen empirische Definition unmög-
lich ist. Die Antwort auf die so gestellte Frage konnte
nicht anders als negativ ausfallen. Trotzdem werden noch
heute von den meisten Psychologen jene an sich unerkenn-
baren „Dinge an sich" unkritisch als existierend voraus-
gesetzt; sie sollen „auf das Bewufstsein wirken" u. dergl.
Diese im Grunde metaphysische Voraussetzung ist für die
naturwissenschaftliche Einzelforschung ziemlich ungefährlich ;
der Psychologie aber ist sie nicht gestattet, weil sie hier
die gröbsten Begriffsverwechselungen und geradezu unent-
wirrbare Komplikationen nach sich zieht. Kant hat zu-
weilen sehr deutlich gesehen, dafs vor allem eine psycho-
logische Analyse des Ding- und Existenzbegriffs gefordert
werden mufs; und trotz seiner Geringschätzung der em-
pirischen Psychologie hat er die wertvollsten Beiträge zur
Lösung dieser psychologischen Aufgabe geliefert. Aber die
hierauf bezüglichen Untersuchungen Kants werden, wie
man weifs, nicht durchgängig von derselben Fragestellung
beherrscht; auch war Kant zu sehr in der halb meta-
physischen Psychologie seiner Zeit befangen, als dafs er
die psychologische Analyse rein hätte durchflihren und zu
einem eindeutigen Resultat hätte gelangen können. Cob-
NELius lehnt sich teilweise unmittelbar an die Kantische
Erkenntnistheorie an; aber er deutet sozusagen deren Er-
gebnisse erst empirisch um, er übersetzt sie, soweit sie
üim haltbar erscheinen, ins rein Psychologische. Die alte,
mifsverständliche Frage, ob und inwieweit eine Erkenntnis
der (als existierend vorausgesetzten) Dinge an sich möglich
sei, ersetzt er durch die psychologische, wie denn eine
Erkenntnis von gegenwärtig nicht wahrgenommenen „Dingen"
überhaupt zustande komme, und was demnach jene
Existenzbehauptung empirischerweise zu bedeuten habe.
122 Felix Krueger:
Wie kommen wir psycliologiscli zu der Behauptung, dafs
eine objektive Welt, dafs Dinge an sich existieren, und
was meinen wir damit? Diese Frage muTs gestellt werden,
wenn man Ernst macht mit dem methodologischen Grundsatz,
dafs die Psychologie lediglich von den vorgefundenen, un-
mittelbar gegebenen Inhalten des Bewufstseins auszugehen
habe. Und sie wird von Cobnelius in eindeutiger Weise
psychologisch beantwortet. Von dem primären Existenz-
begriff, der nur das Dasein der vorgefundenen Inhalte als
solcher behauptet, und von den „Wahrnehmungsbegriffen",
durch die wir Mehrheiten ähnlicher Inhalte einheitlich zu-
sammenfassen, unterscheidet er die „empirischen Begriffe"
von Wahrnehmungszusammenhängen. Das sind Abbre-
viaturen von Urteilen über früher gemachte und zugleich
über künftig mögliche, nämlich: unter gewissen Bedingungen
zu erwartende Wahrnehmungen. Neben den „unmittel-
baren Wahmehmungsurteilen", die nur über das gegenwärtig
Vorgefundene etwas aussagen, und neben den reinen Ge-
dächtnisurteilen fällen wir im entwickelten Leben überall
Erfahrungsurteile im engeren Sinne des Wortes, d. h. Urteile
über einen Zusammenhang von Erfahrungen, wonach auf
Grund früherer Erfahrungen im Anschlufs an bestimmte
Teilinhalte andere, gegenwärtig nicht vorgefundene
Inhalte erwartet werden. Dieser Art sind alle Urteile
über objektive Existenz. Das ist der Sinn der Behauptung,
dafs Dinge existieren, auch wenn wir sie gegenwärtig nicht
wahrnehmen. Die gleiche Bedeutung haben alle Aussagen
über bleibende „objektive" Eigenschaften der Dinge, über
den dreidimensional ausgedehnten Kaum (als welcher niemals
unmittelbar wahrgenommen wird), über die objektive Zeit,
über konstante Gesetze des Naturgeschehens und über
psychische Dispositionen.
Die Analyse des Begriffs der objektiven Existenz,
speciell der objektiv existierenden „Aufsenwelt", flihrt unter
anderem zu einer ungemein durchsichtigen Erörterung über
den Gegensatz der Begriffe „Innen" und „Aufsen" und die
Doppeldeutigkeit dieser Bezeichnungen, die in der Geschichte
der Philosophie zahllose Verwirrungen gestiftet und selbst
einen Kant gelegentlich zu Unklarheiten veranlafst hat.
Wie aus der Urteilslehre von Cornelius und aus seiner
Theorie der Begriffsbildung ein völlig immanenter, voraus-
Cornelius, „Psychologie als Erfahrungswissenschaft". 123
setzungsloser und eindeutig definierter Wahrheitsbegriff
sich ergiebt (Kap. VI), soll hier nicht näher dargelegt werden.
Die erkenntnis-theoretische Weltanschauung, in der
diese psychologischen Untersuchungen gipfeln, ist eben so
weit entfernt von dem unkritischen Naturalismus, der eine
unabhängig von jedem Bewufstsein existierende Welt der
„Dinge an sich" dogmatisch voraussetzt, wie von dessen
Schatten: dem absoluten Phänomenalismus oder Illusionismus,
der an der Erkennbarkeit der Welt, wie sie „wirklich ist",
verzweifelt und die Begriffe Schein und Erscheinung ver-
wechselt. CoBNELius bezeichnet selbst seinen Standpunkt
als den des „naiven Realismus". Bedenkt man aber, wie
tief eingewurzelt und wie weit verbreitet die oben charakteri-
sierten dogmatischen Vorurteile bei den „naiven" Menschen
sind, so findet man vielleicht eine andere Bezeichnung,
etwa die des reinen oder kritischen Empirismus, treffender.
Es ist im Grunde der „transcendentale Idealismus" Kants,
nur psychologisch revidiert, weiter ausgeführt und strenger
festgehalten. —
Cornelius entwickelt in seinem Buche gelegentlich
einen Gedanken, der andeutungsweise schon ziemlich oft
in der Geschichte der Philosophie aufgetreten ist; klar
formuliert wurde er wohl zum erstenmale von Avenaeius
in seinem „Prinzip des Denkens nach dem kleinsten Kraft-
mafse" (vergl. Machs „Prinzip der Ökonomie des Denkens").
Diesen Begriff und die damit zusammenhängende Anschauung
vom Wesen der wissenschaftlichen wie der vorwissenschaft-
lichen Theorienbildung hat Coknelius acceptiert und seinen
Untersuchungen zu Grunde gelegt. Wahrscheinlich hat
besonders dies dazu beigetragen, dafs er zuweilen schlecht-
weg als ein Vertreter der „empiriokritischen" Philosophie
bezeichnet wird. Aber das trifft in dieser Allgemeinheit
nicht zu. Die Ergebnisse von Avenaeius und die von
CoENELius sind im einzelnen vielmehr recht verschieden.
Der m. E. von metaphysichen Bestandteilen nicht ganz
jfreie Begriff des „Systems C" z. B., der im Mittelpunkte
der AvENAEius'schen Psychologie steht, findet in derjenigen
von CoENELius überhaupt keine Stelle. Gemeinsam ist
beiden Philosophen insbesondere das Ziel, das sie sich
selbst und aller Philosophie gesteckt haben: die Begründung
einer rein empirischen Weltanschauung, unter Ausschlufs
124 H. J. Eisenhofer:
aller metaphysischen Voraussetzungen. Aber schon die
Wege, die sie zur Erreichung dieses Zieles einschlagen,
sind wesentlich verschieden. Die Untersuchungen von
CoBNELius sind, wie bereits erwähnt, überall von dem
methodologischen Prinzip geleitet, dafs die unmittelbar ge-
gebenen Inhalte des Bewufstseins den Ausgangspunkt der
Psychologie zu bilden hätten. Diese Anschauung ist von
AvENAEius prinzipiell zurückgewiesen worden.
Mich hat gerade das vorliegende Buch von neuem
überzeugt, dafs der von Cornelius eingeschlagene und
konsequent innegehaltene Weg der empirisch-psychologischen
Analyse weiter fuhrt, als derjenige, den der scharfsinnige
Verf. der >, Kritik der reinen Erfahrung" für den allein
gangbaren hielt.
Felix Kruegeb.
Fechtner, Dr. Ed. John Locke, ein Bild aus den
geistigen Kämpfen Englands im 17. Jahrhundert.
Stuttgart, Fr. Frommann (E. Hauflf) 1898. 8 ^. XI, 298 S.
Pr. 5 M.
Wer sich bisher über Locke gründlicher informieren
wollte, war, wenn man von den mehr oder weniger zu-
sammengedrängten Darstellungen in den Lehrbüchern der
Geschichte der Philosophie und der Geschichte der Pädagogik
absieht, in der Hauptsache auf Sallwübks Einleitung zu
seiner Übersetzung der „Gedanken über Erziehung" (Manns
BibUoth. päd. Klassiker, 1. Aufl. 1883: S. I— LXXH;
2. Aufl. 1897: S. 3 — 74) angewiesen. So wertvoll und
zuverlässig diese auch ist, so genügt sie doch keineswegs
für den, der in intimere Beziehungen zu den Schicksalen
und zur Lebensarbeit Lockes zu treten wünscht. Dafs
ein biographisches Gesamtuntemehmen wie Bettelheims
„Geisteshelden^* wohl einen Cablyle, nicht aber einen
Locke zu den „führenden Geistern", die in erster Linie
zu berücksichtigen wären, rechnet, muss als seltsam er-
scheinen und kann nur dadurch erklärt werden, dafs bis
vor kurzem eine allgemeine Nachfrage nach monographischen
Darstellungen der grofsen Denker, wie etwa in England,
nicht stattfand. Falckbnbebg hingegen hat von vornherein
Fechtner, „John Locke, ein Bild a. d. geist. Kämpfen etc.'' 125
eine Lockebiographie als Bestandteil der von ihm heraus-
zugebenden „Klassiker der Philosophie" in Aussicht gestellt.
Dafs die vorliegende Arbeit, die ihm vorgelegen haben dürfte,
nun trotzdem dem genannten Unternehmen nicht einge-
gliedert wurde, sondern separat, wenn auch in gleichem
Verlage erschien, ist eine flir die Beurteilung des Buches
nicht unwichtige Thatsache. Es fehlt ihm vor allem die
grofszügige Art in der Behandlung der Lebensumstände,
die die meisten bis jetzt erschienenen Bände auszeichnet,
und der Versuch einer zusammenhängenden Darstellung
und Würdigung der LocKE'schen Gedankenwelt. Der Verf.,
k. k. Skriptor der Wiener techn. Hochschule, der vor
einigen Jahren eine kleine Arbeit über Lockes „Gedanken
über Erziehung" (Wien 1894) veröflFentlichte, hat unter
weitgehender Benutzung der grofsen Biographie Fox
BoüBNES und unter Verwertung des in Briefen und in der
historischen Litteratur gebotenen Materials ein Lebensbild
gezeichnet, dem wohl kein irgendwie bedeutsamer Zug
fehlt. Zugleich suchte er den verschiedenen Richtungen
der Locke' sehen Schriftstellerei durch Irihaltsangaben und
kürzere Auszüge gerecht zu werden. Das Referat über
das Hauptwerk umfafst allein über 30 Seiten. Mit dieser
Ausdehnung stimmt freilich nicht ganz sein ursprüngliches
Vorhaben: „Lockes Lehren sind .... nur in dem Mafse
entwickelt, als dies zur Charakteristik der geistigen Eigen-
art und zur Darlegung der kulturhistorischen Bedeutung
des Philosophen nötig erschien" (Vorwort). Das Buch ist
nützlich und für den des Englischen nicht mächtigen Leser
unentbehrlich, aber es ist keine philosophie-geschichtliche
Arbeit, die etwa der Kantbiographie von Paulsen an die
Seite gestellt werden könnte. — Zur Vervollständigung der
bibliographischen Daten sei auf folgendes aufmerksam ge-
macht: S. 206 sollte auch Schusters Übersetzung, die
wohl S. X genannt ist, angetührt werden. Die Angaben
S. 207 sind dahin richtigzustellen, dafs die 4. Aufl. 1699
und die 5. 1705 erschien. Für die Abschätzung des Ein-
flusses der LocKE'schen Schriften ist auch die Kenntnis
ihrer Verbreitung durch Übersetzungen wichtig. Für
„Some thoughts concerning education" seien hiermit die
Angaben S. X erweitert : Französische Übersetzungen er-
schienen Amsterdam 1695, 1708, 1721, 1738; holländische
1
126 J- Seitz:
Amsterdam 1751 und 1763 und Rotterdam 1698; eine
schwedische Stockholm 1709; eine italienische von C.Eollin,
Venedig 1782; deutsche Leipzig 1713 von Gottfried,
von Oleabius, Hannover 1720 (vereinigt mit einer Fenelon-
Übersetzung), Leipzig 1787 von K. S. Ouvbieb und Braun-
schweig 1787 von RüDOLPHi (Abdruck aus dem Campe-
schen Revisionswerk). Die Angaben in „Tr6sor de Hvres
rares et pr6cieux" von Graesse (Dresden 1863, 4. Bd.,
S. 243), es sei 1762 in Wien eine deutsche Übersetzung
von CosTE erschienen, beruht wohl auf einem Lrrtum.
Ludwigshafen a. Rh.
H. J. ElSENHOFER.
Mikhailowsky, N., Qu'est-ce que le Progres? Examen
des idees de M. Herbert Spencer. Traduction du Russe ;
revue par Paul Louis. Paris, Felix Alcan, 1897. (200 S.)
Der Hauptsatz von Herbert Spencer, welchen der
Verfasser bekämpft, lautet: Die Entwicklung ist wie eine
Veränderung vom Homogenen zum Heterogenen, so auch
eine Veränderung vom Unbestimmten zum Bestimmten.
Neben dem Fortschritt, der von der Einfachheit zur Mannig-
faltigkeit führt, geschieht ein Fortschritt von der Verwirrung
zur Ordnung, von unbestimmter zu bestimmter Anordnung.
Die Entwicklung irgend einer Art zeigt nicht blofs eine
Vermehrung der ungleichartigen Teile, sondern eine Zu-
nahme der Deutlichkeit, mit der diese TeUe sich vonein-
ander unterscheiden. Derart unterscheidet sich der Zu-
wachs an Heterogenität, welcher den Fortschritt ausmacht,
von demjenigen, welcher keüi Fortschritt ist.
MiKHAiLowsKY Stellt dem gegenüber als die bessere
Auffassung hin: Der Fortschritt besteht in der stufenweisen
Höchststeigerung der Integralität der Individuen, der mannig-
faltigsten und vollständigsten Arbeitsteilung unter den Or-
ganen und endlich in der geringsten Arbeitsteilung unter
den Menschen. Alles, was diese Entwicklung hemmt, ist
unmoralisch, ungerecht, unvernünftig und schädlich. Im
Gegenteil ist alles, was die Heterogenität der Gesellschaft
vermindert und damit gleichzeitig die Heterogenität ihrer
Glieder vermehrt, moralisch, gerecht, vernünftig und nützlich.
Mikhailowsky, „Qu'est-ce que le Progres?" — Selbstanzeige. 127
Referent ist nicht recht davon überzeugt worden, dafs
für ein solches Resultat ein Buch von 200 Seiten nötig war.
Auch ist er der Meinung, dafs Verfasser und Übersetzer
sehr wohl gethan hätten, den Gedanken an eine gründliche
Operation des Werkes durch Ausscheidung, Kürzung,
Änderung und Ordnung wirklich auszufuhren.
Zürich. J. Seitz.
Selbstanzeige.
Fischer, Arnold, Entstehung des socialen Problems.
XVI, 781 S., 8^. Rostock, C. J. E. Volckmann, 1898.
Der Verfasser ist bestrebt, die Menschheit und ihre
Civilisation aus den Lebensgesetzen der organischen Natur
zu erklären und den Entwicklungsgesetzen der Kultur nach-
zugehen. Er findet das Wesen dessen, was gewöhnlich
Kidtur genannt wird, in der äufseren Erscheinung von
seelischen Vorgängen, die aus der Selbsthilfe der Natur
gegen die stetig fortschreitende Abnahme ihres Lebensvor-
gangs hervorgehen. Diese Abnahme selbst tritt in dem
steten Übergang von lebenskräftigeren zu schwächeren Arten
in die Erscheinung. Sie bewirkt aus diesem Selbsthilfe-
trieb eine im Verhältnis zur Intensitätsabnahme des Lebens-
vorgangs fortschreitende (jedoch, dem Wesen des organischen
Lebens entsprechend, begrenzte) Erhöhung des Bewufst-
seins als eines physiologischen Vorgangs.
Das Buch behandelt in seinem ersten Abschnitt „die
Entstehung und das Wesen der Civilisation" unter Zugrunde-
legung der in erster Reihe von Bachofen und Morgan
festgestellten so ciologischen Thatsachen aus der Bewufst-
seinsentwicklung des Menschen; im zweiten Abschnitt die
Kulturperiode der „reinen Empfindung", d. h. mit vorwalten-
dem Empfindungsleben, die mit jener der Gentilorganisation
zusammenfällt, in der „Krise der reinen Empfindung" in
den Zustand des Niedergangs übergeht und in der folgenden
128 SelbBtanzeige.
primären Krise (jener der jfreien Veraunft) abstirbt; im
dritten Abschnitt die Kultnrperiode der freien Vemmift oder
des Bürgertums, die in der Krise der reinen Vernunft ihren
Höhepunkt erreicht und in die Epoche der „reinen Btirger-
herrschaft" übergeht; im vierten Abschnitt den Verlauf
dieser das 18. und 19. Jahrhundert umfassenden Krise mit
dem Entstehungsprozefs der Arbeiterklasse, als der „Volks-
klasse der reinen Vernunft". Das Buch schliefst mit der
Darstellung der in der sekundären Krise von 1870/71 be-
ginnenden Entwicklungsstufe der neuen Epoche.
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Archiv für Geschichte der Philosophie (Berlin, Eeimer).
Bd. 11, Heft 4.
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Philosophie. — W. Dilthey, A. Heubaum, A. Schmekel, Jahresbericht
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A. Dyroff, Zur Ethik der Stoa.
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Zur Geschichte des Positivismus von A. Schmekel. — Neueste Erscheinungen.
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eingegangene Schriften. — Bibliographie. — Ans Zeitschriften.
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Beyae de M^taphyslqne et de Morale (Paris, Colin & Co.).
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Chr. MarechaL
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G. Lechalas, L'axiome de libre mobUite d^aprös M. Rüssel.
B. Rüssel, Les axiomes propres k Euclide sont-ils empiriques?
P. Lacombe, Le vote libre. — Table des matiöres. — Supnlement: Livres
nouveaux. — Revues et periodiqnes. — La Philosophie dans les universites.
Heyne Nl^o-Scolastiqne (Louyain, Institut sup^rieur de Philosophie)
5. Jahrg., No. 3.
C. Besse, Leon Olle. — Laprune (suite et flu).
£. Pa sanier, Les hypoth^ses cosmogoniques.
M. de wulfj Qu'est-ce que la Philosophie scolastique? Les Notions Fausses
et incompletes (suite et fln).
A. Thlery, Qu'est-ce que l'art? — Ferreira-Deusdado, La Philosophie thomiste
en Portugal — Bulletins. — Comptes rendus.
5. Jahrg., No. 4.
La Terminologie Fran^alse de la scolastique.
J. Huys, La notion de substance dans la Philosophie contemporaine et dans
la Philosophie scolastique.
A. Tniery, Qu'est-ce que Tart? (suite et fln.)
D. Nys, La nature du compose chimique.
St. George Mivart, L'utllite explique-t-elle les caracteres speciflques?
G. de Craene, La croyance au monde exterieur. — Ferrefra-Deusdado, La
Philosophie thomiste en Portugal (suite et flu). — Bulletins. — Comptes rendus.
Llnterm^dialre deci Neurologlstes et des Hl^nlstes (Paris, Alcan).
]. Ann^e No. 1«
Notre Progi'amme. — Questions. — Reponses. — Sommaires des Periodiqnes.
— Onvrages re9us.
1
134 Philosophische Zeitschriften.
BiYista Italiana di Filosofia (Roma, Balhi).
Anno XIII, YoL IL Settembre-Ottobre.
Lettera del Prof. Carlo Cantoni al Prof. A. Onesotto.
N. Fornelli, Dopo la morte del Comte. — Littrö ed i Comtlsti.
R. Bianchi, II Naturalismo e la Filosofia di Diderot.
A. Bartolomei, U principi fondamentall dell' Etica di Roberto Ardigo e le
dottrine della filosofia scientlfica. — Bibliografia. — Bolletino pedagog^co e
fllosofico. — Riviste italiane. — Recenti puDDlicazionl.
n NnoTO Bisorgimento (Torino, Ufficio del Periodico. Borna, Fra
telli Bocca. Milano, Galli).
Yol. Till, Fase. XI.
C. Uttini, L^operositä indirizzata air educazlone della persona.
L. M. Billia, Di alcune contraddizioni del neo-tomismo (continuaz.). — Rassegna
blbliografica etc.
Yol. Till, Fase. XII.
C. Calzl, Impronta della Razlonalitä.
L. M. Billia, Di alcune contraddizioni del neo-tomismo (cont. e fine).
G. B. Gerini, Le Idee educative di Giovanni Battista Vico (cont e fine). —
Rassegna biDliogi*afica. — Rassegna politica. — Notizie.
Wissenschaftliche Zeitsehrift für OUnltismus (Beriin-Neurahnsdorf,
Brand).
1. Jahrg., No. 1. Zur Einführung. — Vom Herausgeber.
F. Maack, Elektrographie.
R. Müller, Hypnotiscnes Hellsehen.
V. Schrenck-Notzing, Zur Methodik bei medinmistischen üntersuchnngen.
F. Maack, Louis Lucas und J. S. C. Schweigger.
C. Driefsen, Zur „Enquete über Okkultismus^ — Referate. — Recensionen. —
Notizen. — Litteratur.
Yoprosni plülosophii i psichologii (Moskva, Kuschnereff). 1898.
Kniga 44 (IT).
Tschitscherin, realnost i samosoznanie.
Gere, 0. Kont i je wo znatschenie v istoritscheskoij nau^je.
Kalenow, Krasota 1 iskusstvo.
Trubetzkoi, Religioznuii ideal jevreev.
Kolubovskij, Mateiialul dlja istorii philosophii v Rossii. — Krltika i biblio-
graphija. — Isvjestija i zamjetkl — Psichologitscheskoje obschtschestvo.
Kniga 45 (T).
Bugaleff, Matematika i nautschnophilosophskoje mirosozertzanie.
Tschitscherin, philosophija prava L Voedenie.
Kaienoff, Krasota i iskusstvo.
Kodschevnikoff, Razstroistvakrovoobraschtschenij apod vlijaniem duschev-
nuij volnenüj.
Grot, Kritlka ponjatija progressa.
Gere, 0. Kont i jewo znatschenie v istoritscheskoij naukje.
Wagner, Psichologijd nasjekomuich.
Kare Jeff, Novui istorikophilosophskii trud. — Kritlka i bibliographija. —
Isvjestija 1 zamjetki. — Psichologitscheskoje obschtschestvo. — Materialul
dlja dschumalnoj statistiki.
Przeglad Filozoflezny (Warszawa, ulica Knicza No. 46).
Rok I, Zeszyt IT.
P. Chmielowsklego, Filozoflczne Po^lady Mickiewicza.
L. Gumplowicza, Ibn Chaldun, Socjolog arabski XIV w. — Referate. —
Kritiken. — Chronik etc.
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Tennyson and pessimism: The knowledge of good and eyil; Natural
laws; ethics and eyolution; The implications of self-consciousness;
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Schnurpfeil. M. —,80; geb. M. 1,20.
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bingen, Laupp. M. 2,80.
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Beiträge zur Ästhetik. Herausg. v. Thdr. Lipps u. Rieh. Maria Werner.
VI. Lipps, Thdr. Komik u. Humor. Eine psychologisch-ästhetische
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Corssen, Pet., Die Antigone des Sophokles, ihre theatralische und
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Driesmann, Ueinr., Die plastische Kraft in Kunst, Wissenschaft und
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Fechner, Gnst. Th., Vorschule der Ästhetik. 2. Teil, 2. Aufl. (IV, 319 S.)
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Philosophische Aphorismen. (VILI, 160 S.) Braunschweig, Sattler.
M. 2,40.
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Briere. 1 fr. 50 c.
Jnsti, Carl, Winckelmann und seine Zeitgenossen. 2. Aufl., 2. und
3. (Schlufs-) Bd. Winckelmann in Rom. (IV, 374 und IV, 423 S.
mit 1 Bildnis.) Leipzig, Vogel, ä M. 12,— ; geb. k M. 14,50.
Leitschnh, Fns. Frdn, Das Wesen der modernen Landschaftsmalerei.
(VIII, 365 S.) Strafsburg, Heitz. M. 6,—.
Lessing, JnL, Das Moderne in der Kunst. Vortrag. (32 S.) Berlin,
Simion. M. 1, — .
Maaerhof, Emil, Schiller und Heinrich y. Kleist. (170 S.) Zürich,
Henckell & Co. M. 4,—.
Nef, Willi, Die Ästhetik als Wissenschaft der anschaulichen Erkenntnis.
Ein Vorschlag über den Gegenstand, die Methoden und Ziele einer
exakt wissenschaftl. Ästhetik. (52 S.) Leipzig, Haacke. M. 1, — .
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P^res, J«, L'art et le r6el, essai de m^taphysique fond^e sur Pesth^tigue.
Paris, Alcan. 3 fr. 75 c.
Sittenberger, Hans, Studien zur Dramaturgie der Gegenwart. 1. Beihe :
Das dramatische Schaffen in Österreich. (XII, 433 S.) München,
Beck. M. 7, — ; geb. M. 8,—.
Stelger, Edgar, Das Werden des neuen Dramas. 2. Teil. A. u. d. T. :
Von Hauptmann bis Maeterlinck. (35ö S.) Berlin, Fontane & Co.
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Tappenbeck, Wilh«, Die Religion der Schönheit. Ihr Fundament.
(96 S.) Leipzig, Haacke. M. 2,—.
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iHiiiiiniutitiiiuiniiiiiMiiiiMiiiiidiiiiiiiiiiiii
iiiiiiiiiiiiiiiiiiMiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiMiiiiiiiK
Abhandlungen.
Über den assoeiativen Faktor des ästhetisehen
Eindrucks/)
Von Oswald Kiilpe, Würzburg.
Inhalt.
Historische Beziehungen zu Fechners Unterscheidung des direkten nnd
assoeiativen Faktors. Zur Kritik Fechners. Begriff des ästhetischen Eindrucks.
Entstehung des assoeiativen Faktors. Seine ästhetische Bedeutung.
Seit den ersten Anfängen des ästhetischen Nachdenkens
pflegt man zwischen zwei Quellen und ihnen entsprechenden
Wirkungen ästhetischer Art zu unterscheiden. Die Schönheit
des Körpers, sagt Demokrit, ist tierisch, wenn ihr nicht Geist
zu Grunde liegt, und die Bilder der Sinneswahmehmung sind
zwar durch ihre Schönheit zur Betrachtung geeignet, aber
seelenlos.^ Ebenso unterscheidet Platon eine körperliche
und eine seelische oder innere Schönheit, die einander im
Menschen entsprechen sollen, auf dafs der Körper der Seele,
der er dient, ähnlich sei und Ebenmafs zwischen ihnen herrsche.
Als Inhalte der Sinneswahmehmung sind die glänzenden Farben,
die reinen Töne, die symmetrischen Gestalten nur ein Schein,
aber in ihnen spiegelt sich die Idee der Schönheit in besonders
klarer Form. Auch giebt es nach Platon ein Schönes im
^) Diese im Anschlurs an einen akademischen Vortrag entstandene
Abhandlung war bereits fertig, als die wertvolle Arbeit von P. Stern:
Einfühlung und Association 1898 erschien. Ich behalte mir vor, an einer
anderen Stelle mich mit ihr auseinanderzusetzen.
ä) Mullach, fr. mor. 129, 18; Natorp (Ethica des Dbmokmtos)
fr. 16, 172.
Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. XXIII. 2. 10
146 Oswald Külpe:
Sinne eines an sich Angenehmen nnd eines NützKchen : schleeht-
tiri und an sich schön sind Farben und Töne, an denen wir
ein von aller Begierde und dadurch bedingten Unlust freies
Gefallen empfinden; Körper und Gemälde dagegen sind zu
etwas schön, insofern sie zweckmäfsig sind für ihre Ver-
richtungen oder für die Darstellung dessen, was sie ausdrücken
sollen.^) Einer ähnlichen AuflEassung begegnen wir femer
bei dem Neuplatoniker Plotin, der einer sinnlichen Schönheit
eine innere, geistige überordnet und als eigentliche und erste
Quelle alles Schönen das Gute betrachtet.^)
Was hier körperliche und geistige oder äufsere und
innere Schönheit heifst, tritt in der Ästhetik des 18. Jahr-
hunderts unter anderen Namen auf. So redet Hutcheson
von einer absoluten und einer relativen Schönheit. Jene kommt
einem Gegenstande an sich zu und beruht auf der Verbindung
einer einheitlichen Form mit einer Mannigfaltigkeit von Ob-
jekten. Die relative Schönheit aber findet Hutcheson in der
Übereinstimmung zwischen Vorbild und Nachahmung: das
Kunstwerk ist die Darstellung eines Gegenstandes, der in der
Natur oder in der Vorstellung gegeben sein kann. ^ Sicherlich
ist dieser Begriff ein weit engerer, als der der geistigen
Schönheit, aber er fällt vom Standpunkt des Beobachters in
die nämliche Sphäre. Ahnlich ist die Unterscheidung von
Home zwischen einer eigenen, intrinsic, und einer Schönheit
des Verhältnisses, relative beauty. Jene wird bloüs durch die
Sinne empfunden: die Schönheit einer schattigen Eiche oder
eines flieJ^enden Baches kann durch einen blolsen Akt des
Sehens erfalst werden. Zu der EmpfijDLdung der anderen
Schönheit dagegen wird Betrachtung und Nachdenken erfordert,
denn sie liegt in den Dingen nur, sofern sie als Mittel zu
ii^end einem guten Zwecke oder Vorsatz angesehen werden.
1) Vergl. besonders PhIdeits, 279 BC, 250 D; Timäus, 87 CD; Ke-
pabl. m, 402 C, X, 601 D; Philbbus, 51 C; Gobgias, 474 D.
3) Ennsas. V, 9, 2; II, 9, 17; I, 6, 9.
') Untersuchung unserer Begriffe Ton Schönheit und Tugend, 1762,
S. 17 f.
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 147
Ein alter gotischer Turm, der keine eigene Schönheit hat,
wird von uns dennoch schön genannt, wenn wir ihn als eine
gute Schutzwehr gegen einen Feind betrachten. Ein Wohnhaus,
dem alle Regelmäfsigkeit fehlt, ist gleichwohl hinsichtlich seiner
Bequemlichkeit schön. Wenn beide Arten von Schönheiten an
einem und demselben Gegenstande verbunden vorkommen, so
wirkt er sehr ergötzlich ; so gefölllt der schlanke Wuchs eines
Pferdes, das zum Laufen bestimmt ist,, jedem Auge, teils
wegen der Symmetrie, teils auch wegen der Nützlichkeit.^)
Schon vor diesem bedeutendsten Vertreter einer empirisch-
psychologischen Ästhetik im 18. Jahrhundert hat Moses
Mendelssohn von einer Schönheit der Form und einer solchen
des Ausdrucks gesprochen. Durch Gestalt, Farbe, Bewegung
kann eine „Naturmaschine" an sich reizvoll sein, eine „tote
Schönheit" darsteUen, oder sie kann gute und böse Eigen-
schaften, Vollkommenheiten und Mängel sichtbar machen und
insofern gefallen oder mifsfallen. Zugleich hat er sich ein-
gehend um eine allgemeine Theorie der Zeichen bemüht und
mit ihrer Hilfe eine Scheidung der Künste vollzogen. Während
sich Poesie und Beredsamkeit, die schönen Wissenschaften,
der Worte, d. h. der willkürlichen Zeichen bedienen, um
Empfindungen oder Handlungen auszudrücken, stehen der
Musik, der Architektur, Malerei und Skulptur, den schönen
Künsten, natürliche Zeichen, die Töne, Farben und Formen,
zur Verfügung. 2) Auch in diesen Betrachtungen erkennen
wir unschwer den alten Gegensatz des Äufseren und Inneren
wieder. Winckelmann, der Verehrer des griechischen Schön-
heitsideals, erhebt . ebenfalls die Forderung einer ausdrucks-
vollen Schönheit, die sich in der edlen Einfalt und der stillen
Gröfse vollendet, und nennt die ausdruckslose, blofs „linearische"
Schönheit unbedeutend. ^) Demselben Zusammenhange gehört
auch Lessing an, welcher der Kunst ein Ideal der Form und
1) Grundsätze der Kritik, 1772, I, S. 262 ff.
3) Gesammelte Schriften 1844, IV, 1. Abtl., S. 47; Philosophische
Schriften 1783, II, S. 118 ff.
8) Sämtliche Werke 1825, I, S. 30; IV, S. 189; VH, S. 119.
10*
^ i
148 Oswald Eülpe:
daneben ein Ideal des pennanenten, nicht des transitorisclien
Ausdrucks empfiehlt,^) und Hebdeb, nach dem die Schönheit
der Dinge nicht sowohl auf dem. beruht, was sie sind, als
vielmehr auf dem, woran sie erinnern oder was sie ausdrücken. ^)
Was endlich Kant über die freie und die anhängende Schön-
Jieit ausfuhrt, fällt im wesentlichen mit Homds Unterscheidung
einer inneren und einer Schönheit des Verhältnisses zusammen.
So wenig nun auch Kant geneigt ist, der letzteren eine er-
hebliche ästhetische Bedeutung beizumessen, so wird doch
auch nach ihm dem Schönen erst durch seine Beziehung zum
Guten seine volle Würde gesichert. Das Schöne, sagt Kant^
ist das Symbol des Sittlich-Guten, und nur in dieser Rücksicht
gefällt es mit einem Anspruch auf allgemeine Zustimmung.^)
An diese neue Prägung der Begriffe knüpft der im 19.
Jahrhundert entbrannte Streit zwischen den Form- und den
Gehaltsästhetikem an. Alle Schönheit, behaupten jene, deren
Meister Herbaet ist, beruht auf der Harmonie der Farben
und Töne, dem Ebenmafs und der Symmetrie von Gestalten
und Zeitfolgen. Die Materie, der geformte Inhalt, ist für das
ästhetische Urteil gleichgültig, mag man darin eine Sinnes-
qualität oder eine Idee sehen. In diesem Sinne ist z. B. von
Hanslick alles Gefallen an der Musik auf tönende Formen^
auf Melodie, Harmonie und Rhythmus zurückgeführt worden.
Jeder Ausdruck von Gemütsbewegungen oder gar bestimmten
Vorstellungen ist illusorisch, pathologisch, jedenfalls unästhe-
tisch. Dagegen erklärt Schelling, eines der Häupter der
gehaltsästhetischen Schule, dafs die Form zwar das Erste an
der Schönheit sei, dafs sie jedoch durchaus als symbolisch^
als Ausdruck eines Inhalts gedacht werden müsse. Noch be-
stimmter äufsert sich Hegel: das Schöne ist ein Ruf an die
Gemüter und Geister, die es vermöge seines idealen Gehalts
zum seligsten Genufs erhebt. Nur als Ausdrucksmittel eines
geistigen Inhalts ist die formale Schönheit von Bedeutung^
^) Ausg. Hbmpel, vi (Laokoon Anhang), S. 264 f.
2) Ausg. SüPHAN, XXII, S. 74 ff.
») Krit. d. Urteilskr., Ausg. Kehrbach, S. 76 ff., 228 ff.
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 149
und berechtigt. Wo der sinnliche Stoflf aufhört ein adäquater
Ausdruck der Idee zu sein, da entfaltet sich die höchste
Kunstform, die romantische, und die Dreiheit wertvollster
Künste, Malerei, Musik und Poesie.^) Auch Schopenhauer,
sonst der eingeschworene Feind der beiden eben genannten
Philosophen, steht hier mit ihnen auf gleichem Boden. Die
Kunst ist Wiederholung der durch reine Kontemplation auf-
gefafsten ewigen Ideen, der Willensobjektivationen, und die
Musik ist gar ein Abbild des Willens selbst, der Weltrealität.^)
Diesen die ganze Geschichte der Ästhetik durchziehenden
Gegensatz zwischen äufserer und innerer, absoluter und rela-
tiver, freier und anhängender, formaler und idealer Schönheit
hat Fechner, der grofse Bahnbrecher für die moderne Psycho-
logie und Ästhetik, auf einen einfachen psychologischen Aus-
druck gebracht, indem er das ästhetische Gefallen von zwei
Faktoren, einem direkten und einem associativen Faktor, ab-
hängig machte. Der Genufs eines Kunstwerks wird damit
zu einer Funktion zweier Variablen, der äufseren, durch die
sinnlälligen Eigenschaften bestimmten Erscheinung, und alles
dessen, was unsere Erfahrung, unsere Einbildungskraft ge-
schäftig hinzubringt. Sonach kann von einer Vorstellung eine
doppelte ästhetische Wirkung ausgehen, eine unmittelbare und
eine mittelbare. Was die älteren Ästhetiker als Ebenmafs,
Farben- und Tonharmonie, als rhythmische Bestimmtheit be-
schrieben haben, fällt in das Gebiet der unmittelbaren ästhe-
tischen Wirkung, weil all das in dem Sinneseindruck selbst
gegeben ist und für jeden, der unter den gleichen Bedingungen
der Perzeption steht, in derselben Form vorhanden sein mufs.
Was sie aber Ausdruck oder inneres Leben, Beseelung des
toten Stoffes oder Nachempfindung genannt haben, gehört zur
mittelbaren Wirkung, die nur in einem durch Erfahrung be-
lehrten und mit williger Phantasie begabten Geiste zustande
kommen kann, in einem Geiste, der eine Vorstellung als Zeichen,
Symbol, Ausdrucksmittel für andere zu begreifen und zu ge-
1) W. W. X, 1. Abtl., S. 93 ff.
2) Ausg. FbaubnstXdt, II, S. 217 f., 302 ff.
150 Oswald Külpe:
brauchen weifs, und der auch das niemals vorher Erfahrene
nach Mafsgabe seiner Analogien mit dem Bekannten zu deuten
oder nachzubilden vermag. Hier, auf dem Boden der von dem
associativen Faktor abhängigen ästhetischen Auffassung und
Würdigung einer Vorstellung, erschliefst sich das Persönliche,
Willkürliche und Zufällige des Geschmacks, das ihm von
alters her anhaftet und ihm das Merkmal des Unbestreitbaren,
Unwiderleglichen aufgeprägt hat.^)
Man hätte denken sollen, dafs die neue Terminologie
Fechnees nicht nur m ihrem Zusammenhange mit den älteren
Begriffen Erscheinung und Idee, Form und Gehalt u. dergl.,
sondern auch als eine fruchtbare psychologische Analyse des
ästhetischen Eindrucks überhaupt aufgefafst worden wäre.
Keines von beiden ist wirklich geschehen. Als Fechner
einen Vortrag, den er in Leipzig über „das Associationsprinzip"
gehalten hatte, in Lützows Zeitschr. f. bild. Kunst 1866 er-
scheinen liefs, versah ihn der Herausgeber mit der charak-
teristischen Anmerkung, er habe geglaubt, „diesem originellen
Versuch »eine neue Gottheit in die Ästhetik einzuführen« im
Interesse der Leser bereitwillig Raum bieten zu sollen". Dafs
die Sache selbst so alt ist, wie die Ästhetik, davon hatte
demnach der verdiente Kunsthistoriker v. Lützow keine
Ahnung. Andererseits hat Ed. v. Habtmann zwar erkannt,
dafs die Unterscheidung des direkten und des associativen
Faktors mit dem Gegensatz der Form- und der Gehaltsästhetik
auf das Engste zusammenhänge, aber die jenen innewohnende
Fruchtbarkeit, die durch ihre Einführung bewerkstelligte Re-
duktion unerklärter ästhetischer Thatsachen auf allgemein
bekannte psychologische ist ihm nicht zum Bewufstsein ge-
kommen. Er verharrt lieber auf dem alten Standpunkte,
unklare, abgegriffene metaphysische Schlagworte wie Idee und
^) Von den älteren Ästhetikern hat diesen Unterschied wohl am.
dentlichsten bezeichnet der seit A. W. Schlegels billigem Witz so stark
verunglimpfte E. Bubkb. Vergl. seinen Philos. Inquiry, 1842, S. 165 f.
Aufserdem ist das Associationsprinzip im Anschlufs an Hctme (Treatise on
Human Natnre, Bd. II, P. 3, Sect. 8) mit voller Bestimmtheit von A. Gebabd
in seinem Essay on Taste 1759, S. 20, ausgesprochen worden.
über den associativen Faktor des ästhetiBchen Eindrucks. 151
Erscheinung der wissenschaftlichen Eindeutigkeit einer psycho*
logischen Bestimmung vorzuziehen. Volkelt dagegen ist der
Meinung, dafs der Ausdruck Association auf den hier vor-
liegenden Thatbestand überhaupt nicht angewandt werden
dürfe. Es handle sich um eine intuitive Beseelung des Objekts
durch die Phantasie, nicht um associative Ergänzung; die
Association sei eine äufserliche Form, aus der sich die ästhe-
tische Anschauung nicht ableiten lasse. Aber äufserhch ist
die Association doch nur für den, der sie so auffafst, und in
der modernen Psychologie wird sich dazu schwerlich eine
Berechtigung nachweisen lassen. Wem das Konvexe den
Eindruck des Zurückdrängenden, Niederhaltenden, das Konkave
den des Hineinziehenden, Emporhebenden macht, gewinnt
diesen Eindruck trotz aller seiner Innerlichkeit nur auf Grund
von Koproduktionen. Statt dessen von einer intuitiven Funktion
der Phantasie, von Einfühlen oder Verschmelzung zu reden,
bedeutet doch wohl das Aufgeben durchsichtiger, präcis defi-
nierter Begriffe zu Gunsten einer unklareren Bestimmung.
Schon der HEBSAET'sche Begriff der Apperception wies auf
eine umfassendere Bedeutung von Association und Reproduktion
hin, die es erlaubt, auch die allerfestesten, innigsten Zusammen-
hänge auf diesem Wege zu erklären. ^) Das lockere Nebenein-
ander verschiedener Vorstellungen ist ja nur eine der mög-
lichen Formen von associativ bedingten Reproduktionen.
So ist es denn gekommen, dafs sich nur in den annoch
spärlichen Versuchen einer experimentellen Ästhetik die
FECHNER'sche Terminologie eingebürgert und bewährt hat.
Hier, wo es sich um die gefallenden räumlichen, zeitlichen,
farbigen Elementarphänomene, also um den direkten Faktor
handelt, hat gerade die genauere Scheidung der beiden Fak-
toren voneinander, die prinzipiell so leicht ist, grofse Schwierig-
keiten bereitet. Selbst die einfachsten Farbenverbindungen,
linearen Motive, rhythmischen Formen haben bereits eine aus-
gesprochene Reproduktionstendenz und lassen daher neben
>) Vergl. Lipps, Grundtats. d. Seelenleb., S. 408-409.
I
152 OswaJd Külpe:
dem direkten den associativen Faktor auf den ästhetischen
Gesamteindruck Einflufs gewinnen. Aber innerhalb der ex-
perimentellen Ästhetik hat dieser EinfluTs bisher nur die Rolle
eines die Reinheit der Versuchsumstände beeinträchtigenden
Fehlers gespielt. Man wollte über die Gesetze, welche das
Gefallen am direkten Faktor beherrschen, ins Klare kommen,
und strebte deshalb nach einer Elimination des associativen
oder wenigstens der von ihm abhängigen Wirkungen. In
seiner positiven Bedeutung ist er somit auch hier noch nicht
zur Geltung gelangt, und die an der Hand der experimentellen
Methoden ermöglichte Feinheit und Genauigkeit der psycho-
logischen Analyse ist dem associativen Faktor noch nicht,
sondern nur dem direkten zu gute gekommen.
An dieser Vernachlässigung des wichtigen Begriffs trägt
nun aber auch Fechnee selbst unverkennbar eine gewisse
Schuld. Erstlich redet er bei der Einführung desselben von
einem Associationsprinzip, das er so formuliert: Nach Mafs-
gabe als uns das gefällt oder mifsfäUt, woran wir uns bei
einer Sache erinnern, trägt auch die Erinnerung ein Moment
des Gefallens oder Mifsfallens zum ästhetischen Eindruck der
Sache bei — und stellt dies Prinzip mit vielen anderen, dem
der Übereinstimmung, der Abstumpfung, des Kontrastes etc.
auf eine Stufe. Dadurch wird eine ganz falsche Vorstellung
erweckt, nämlich die Meinung, dafs es sich lediglich um eine
gelegentlich mitwirkende Bedingung für das Gefallen oder
Mifsfallen handle, die auch fehlen oder durch den Einflufs
einer anderen kompensiert werden könne. Daneben aber stellt
Fechneb richtig dem direkten Faktor den associativen als
einen unentbehrlichen Bestandteil des ästhetischen Eindrucks
gegenüber und läfst seine sonstigen Prinzipien sämtlich für
beide gelten. Nun läfst sich offenbar nur die eine von diesen
Auffassungen in einer konsequenten Ästhetik durchführen.
Der Widerspruch, in den sich Fechneb dadurch verwickelt,
dafs er sowohl von einem Associationsprinzip, als auch von
einem associativen Faktor redet, hat zu einer begrifflichen
Unklarheit geführt, die das richtige Verständnis und damit
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. X53
auch den jBuchtbaren Gebrauch des neuen Terminus wesentlich
gehemmt hat. Insbesondere hat gerade sie es bisher kaum
erkennen lassen, in welch engem Zusammenhange derselbe
mit den älteren Begriffen einer inneren, relativen, idealen
Schönheit eigentlich steht.
Aber noch in einem zweiten Sinne haben Fechnebs
eigene Auseinandersetzungen die Anerkennung seines Gedankens
beeinträchtigt. Sein Associationsprinzip ebenso wie die Bei-
spiele, welche die Grundlage für dessen Aufetellung bilden,
gehen über den engeren Bereich des zum ästhetischen Eindruck
Gehörigen mehr oder weniger weit hinaus. Denn nicht jede
beliebige angenehme oder unangenehme Erinnerung ist geeignet,
zu dem ästhetischen Eindruck eines Gegenstandes einen Beitrag
zu liefern. Wenn ein Landwirt Fechneb gestand, „dafs es
ihm ein eigentümlich angenehmes Gefühl erwecke, in einen
Viehstall zu treten und den Geruch des Mistes, wenn er eben
au%eräumt oder aufgerührt sei, zu verspüren, indem der
Eindruck" der durch den Dünger erzeugten Fruchtbarkeit
dadurch besonders lebhaft in ihm angeregt werde, so wird er
selbst schwerlich gemeint haben, dafs er damit einen ästhe-
tischen Genufs geschildert habe. Wenn wir nach Fechner
vor einer Goldkugel mit einer Art kalifornischer Hochachtung
stehen, weil sich ganze Paläste, Kutsche und Pferde, Bediente
in Livree, schöne Reisen daraus zu entwickeln scheinen, so
hat all das mit dem ästhetischen Werte, den wir der Gold-
kugel etwa beilegen, an sich nichts zu thun, da die Form
des Objekts hierfür völlig gleichgültig ist und der häfslichste
Klumpen denselben Dienst erweist. Hieraus erwächst dem
Ästhetiker die wichtige Aufgabe, innerhalb des associativen
Faktors in Fechnebs Sinne eine engere Provinz abzustecken,
welche seiner Bedeutung für den Geschmack, das Gefallen
oder Mifsfallen entspricht. In welcher Richtung eine solche
Verengerung des Begriffsumfangs stattzufinden hat, darüber
geben die Untersuchungen älterer Ästhetiker, namentlich die
Verwendung des Symbol- und Einfühlungsbegriffs, einen ge-
wissen Aufschlufs. Die folgenden Mitteilungen sind dazu be-
154 Oswald Ktilpe:
stimmt, der Lehre vom associativen Faktor, soweit es im
Rahmen einer mehr ein Programm, als eine erschöpfende
Untersuchung bildenden Skizze geschehen kann, die erforder-
liche schärfere und bestimmtere Fassung im Interesse der
Ästhetik zu verleihen.
Penken wir uns gewisse allgemein anerkannte ästhetische
Eindrücke, etwa das herrliche Landschaftsbild von Berchtes-
gaden, Beethovens 5. Symphonie, Goethes Werther, den Apoll
von Belvedere, Raphaels Schule von Athen und das Wiener
Rathaus ! Was ist, so frage ich dann, allen diesen Eindrücken
gemeinsam? Oder, was auf dasselbe hinauskommt, worin be-
stehen die Merkmale des auf sie alle nach dem Sprachgebrauch
angewandten Begriffs eines ästhetischen Eindrucks?
Der besondere Vorstellungsinhalt als solcher kann offenbar nicht
dazu gehören, denn dieser weist schon insofern die erheblich-
sten Abweichungen auf, als er hier von akustischer, dort von
optischer Beschaffenheit ist. Aber auch innerhalb der auf den
Gesichtssinn z. B. wirkenden Gruppe von Gegenständen treten
uns sehr beträchtliche Unterschiede entgegen, was hat der
Apoll mit dem Rathaus oder der Landschaft gemein? Natürlich
alles, was überhaupt den Gesichtsvorstellungen zukommt, wie
Farben, Helligkeiten, Räumliche Formen, aber sonst nichts.
Die nämliche Ungleichartigkeit finden wir in den Reproduk-
tionen, die durch die Sinneseindrücke angeregt werden, ja,
die mögliche Mannigfaltigkeit in Erinnerungs- und Phantasie-
bildem ist noch gröfser, weil eine Fülle individueller Differenzen
hinzukommt. Ebensowenig können wir das Gemeinsame dieser
Eindrücke in der Art ihrer Entstehung entdecken, denn selbst
abgesehen von dem hier obwaltenden Gegensatz zwischen
Natur und Kunst ist auch das künstlerische Schaffen bei dem
Komponisten ein wesentlich anderes, als bei dem Architekten
oder Maler. Nicht minder versagen die Gesichtspunkte der
Zweckmäfsigkeit und Nützlichkeit. Bei einem Kunstbau, wie
dem Rathause, läfst sich zwar allenfalls vom Nutzen sprechen,
insofern er nicht nur als ästhetischer Eindruck fungiert,
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 155
aber bei den anderen Beispielen dürfte davon gar nicht geredet
w^den.
Ich will den Leser nicht durch ein weiter fortgesetztes
Verfahren per exclusionem ermüden, sondern sofort das Eesultat
mitteilen. Gemeinsam ist allen den genannten Objekten oder
Vorstellungen eine Wirkung auf den Zuschauer oder Zuhörer
oder Leser, nämlich zu gefallen, Lust zu erregen. Aber Lust
wird auch durch mancherlei andere Gegenstände geweckt,
durch erfolgreiche Forschung, durch Sinnesreize von einer
gewissen Intensität, durch vorteilhafte Geschäfte. Darum mufs
die von den ästhetischen Eindrücken ausgehende Gefühlswirkung
noch etwas Eigentümliches haben, und dieses besteht in
ihrer Beziehung auf einen Vorstellungsinhalt nach
seiner blofsen Beschaffenheit. Bei den sinnlichen Ge-
fühlen der Lust und Unlust kommt es gar nicht darauf an,
wie uns der erregende Reiz erscheint, welche Empfindung er
hervorruft, sondern nur auf die Art seines Eingriffs in den
Organismus. Das allgemeine Gesetz für ihren Verlauf besagt,
dafs schwache bis mäfsig starke Reize Lust, darüber hinaus
gesteigerte Unlust erwecken. Ob wir dabei eine richtige oder
unrichtige Auffassung von der Intensität haben, thut nichts
zur Sache. Ein blendendes Licht wirkt schmerzhaft, mögen
wir es nun dafür halten oder nicht. Ein langes Hinstarren auf
ein Objekt ermüdet und hat ein Unlustgefühl zur Folge, auch
wenn uns die Intensität der dabei aufgewandten Spannung
unserer Augenmuskeln gar nicht zum Bewufstsein kommt.
Die ästhetischen Gelühle dagegen hängen gänzlich von der
Beschaffenheit des Eindrucks, so wie wir sie merken und
auffassen, ab. Falscher Gesang in einem Konzert, Verzeich-
nungen in einem Gemälde, unpassendes Pathos bei einem
Vortrag stören den ästhetischen Genufs nur insofern, als sie
auffallen, empfunden werden. Als Reiz kann eine kleine Se-
kunde genau die gleiche Bedeutung für unseren Organismus
haben, wie die grofse Terz, und doch welch ein beträchtlicher
Unterschied zwischen beiden hinsichtlich ihrer ästhetischen
Wirkung! Darum kommt es hier auch nicht auf die objektive
156 Oswald Külpe:
Natur eines Reizes an, sondern nur auf die Vorstellung, die
wir von ihm haben. Ein objektiv richtig gezeichnetes
Quadrat mifsfällt, wie zahlreiche Versuche gelehrt haben,
weil es infolge einer bekannten optischen Täuschung nicht
als Quadrat angesehen wird, in der Vorstellung als ein Recht-
eck mit ungleicher Seitenlänge erscheint.
Derselbe Gesichtspunkt leitet uns auch bei der Unter-
scheidung der ästhetischen Gefühle von anderen als den sinn-
lichen. Die Befriedigung, die der wissenschaftlich Arbeitende
erlebt, wenn es ihm gelingt, durch eine neue Erkenntnis in
einen bisher dunklen Komplex von Thatsachen Licht und
inneren Zusammenhang zu bringen, wird nicht diesem neuen
Vorstellungsinhalt als solchem verdankt, sondern der Beziehung,
in der er zu einer ganzen Gruppe anderer Thatsachen steht,
der logischen Leistung, die er vollbringt. Das Nützliche,
Zweckmäfsige ist erfreulich nur mit Rücksicht auf dasjenige,
dem es dient, wozu es taugt oder sich brauchbar erweist.
An sich kann es gleichgültig oder gar unangenehm sein.
Selbst die sittliche Billigung, die wir einer barmherzigen
Handlung oder einer wahrhaftigen Gesinnung spenden, ein
Verhalten, dessen Verwandtschaft mit dem ästhetischen mehr-
fach hervorgehoben worden ist, gründet sich nicht auf ein
ursprüngliches Gefallen an solcher Handlung oder Gesinnung —
ist doch deren Erscheinungsform als solche für das sittliche
Urteil belanglos — , sondern auf eine vorausgehende Aner-
kennung des Zweckes, den sie erfüllen, oder des Gesetzes,
in dessen Sinn sie erfolgen. Eben darum kann sehr wohl
das Gute ein ästhetisches Mifsfallen und das Schöne eine
ethische Unlust erregen. Wenn es anders wäre, so würde
die grofse Rolle, welche das Unsittliche innerhalb ästhetischer
Darstellung spielt, unbegreiflich sein. Ein Prahler, wie Fal-
STAFF, ein Bösewicht, wie Richard HI., ein gemeiner Feigling,
wie Franz Moor, sie könnten uns keinen ästhetischen Genufs
gewähren, wenn die ethische Verurteilung auf ein Mifsfallen
an den betreffenden Vorstellungen als solchen gegründet wäre.
Nennen wir alle Gefühle dieser Gruppe Beziehungsgefühle,
Über den associatiTen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 157
weil sie nur auf Grund einer Relation zu anderen Inhalten
entstellen und sich nach dieser richten, bezeichnen wir die
sinnlichen Gefühle als Reizgefühle, weil die objektive Be-
schaffenheit des Reizes für sie mafsgebend ist, so werden wir
den ästhetischen Gefühlen den Namen von Inhalts- oder
Vorstellungsgefühlen beilegen dürfen, da sie lediglich die
angenehme oder unangenehme Wirkung eines Vorstellungs-
inhalts bedeuten. Wir können hiemach den ästhetischen
Eindruck als einen solchen definieren, der Inhalts- oder Vor-
stellungsgefuhle hervorruft.
Von allen Erscheinungen, die ein Lustgefühl erregen
oder zu erregen erfahrungsgemäfs fähig bezw. geeignet sind,
sagen wir, dafs sie einen Wert haben. Hiemach giebt es
sinnliche, sittliche etc. Werte. Verstehen wir nun unter
Kontemplation einen Zustand, in dem man sich befindet,
wenn man eine Vorstellung durch ihren blofsen Inhalt auf das
Gemüt wirken läfst, so werden wir die ästhetischen Eindrücke,
die uns derartige Gefühle vermitteln, auch als Kontem-
plationswerte bezeichnen können. Damit haben wir eine
Anzahl wohldefinierter Begriffe gewonnen, mit denen wir im
folgenden bequemer zu operieren imstande sind.
Nach diesen Ausfuhrungen über die Natur der ästhetischen
Eindrücke ist es für sie belanglos, welche Beziehung zur Wirk-
lichkeit sie haben mögen. Ob etwas existiert, worauf eine uns
Inhaltsgefühle vermittelnde Vorstellung kausal zurückgeführt
werden kann, ob sie durch reale Gegenstände oder diese vor-
täuschende Zeichen hervorgebracht wird, ist für die ästhetische
Wirkung selbst gleichgültig. Genauer gesprochen bedingt die
Relation zu irgend welchen äufseren, in der Natur, der Aufsen-
welt gegebenenErscheinungen erstKch nurinsofem den Charakter
des ästhetischen Zustandes, als sie auf die Vorstellung selbst
von EinfluTs ist. Die wirkliche Landschaft ist thatsächlich
nach Helligkeit, Farbenfülle, Umfang etc. eine andere Vor-
stellung zu erzeugen fähig, als die gemalte. Ferner weckt
die Realität der Dinge ein anderes Verhalten, unser Wollen
und Handeln wird durch sie herausgefordert, wissenschaftliche
158 Oswald Külpe:
und ethische Betrachtungsweisen treten in den Vordergrund.
Eine natürliche Folge davon ist die Beeinträchtigung oder
Verdrängung des ästhetischen Zustandes. Wie ganz anders
berührt uns derselbe Vorgang auf der Bühne und als wirk-
liches Erlebnis ! Endlich mischen sich Erinnerungen an reale
(Gegenstände oder Ereignisse unwillkürlich in die Anschauung,
die uns durch ihre Darstellung in Wort oder Bild erzeugt
wird, und ein Widerstreit zwischen dem Inhalt der Schilderung
und dem bekannten Original kann ablenkend, hemmend, ver-
nichtend auf den Genufs eines Kunstwerks einwirken. Aber
alle diese Fälle einer Beeinflussung des ästhetischen Zustandes
durch die Wirklichkeit heben die allgemeine Behauptung von
ihrer Bedeutungslosigkeit für denselben keineswegs auf. Denn
von einer positiven Bedingung der Inhaltsgefühle dürfte man
bei der Realität nur dann sprechen, wenn sie unter sonst
gleichen Umständen den ästhetischen Zustand als solchen
zu alterieren, regelmäfsig nach gewissen Richtungen umzu-
gestalten vermöchte. Das ist aber keineswegs der Fall, viel-
mehr verschwinden alle Unterschiede, sobald die Neben-
wirkungen der Realität einerseits und jede merkliche Ab-
weichung zwischen ihr und der künstlerischen Darstellung
andererseits vermieden sind.
Haftet der ästhetisch Geniefsende an der Beschaffenheit
einer Vorstellung, wie sie nun einmal ist, so versteht es sich
von selbst, dafs er durch deren Beziehung auf wirkliche
Gegenstände weder gewinnen noch verlieren kann. Farbige
Flächen, Melodien, Rhythmen etc. bleiben als Vorstellungs-
inhalte genau dieselben, mag man sie nun auf objektive Ein-
flüsse, auf räumlich und zeitlich gegliederte Luft- oder Äther-
schwingungen zurückbeziehen können oder nicht. In dem
blofsen Interesse für den Vorstellungsinhalt kehren wir zu
jener ursprünglichen Stellung zurück, die wir alle den Objekten
gegenüber einmal eingenommen haben. Was weifs das am
Beginn seiner geistigen Entwicklung stehende Kind von einer
Aufsenwelt, welche auf seinen Organismus einwirkt, und von
einem Ich, einem erkennenden und handelnden Subjekt, das
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 159
auf die andringenden Reize irgendwie reagiert? In der
Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und Gefühle ist seine
ganze Welt beschlossen, erst allmählich gruppieren sie sich,
verbinden und trennen sie sich, bilden sich Unterschiede aus
zwischen dem Verhalten gegenüber objektiven und gegenüber
subjektiven Vorgängen, und empfangen diese Unterschiede
ihre begriffliche Prägung. Die ursprüngliche Einheit aller
Erfährung erneuert sich bei jeder Versenkung in das Schöne.
Wem diese Fähigkeit zur unbefangenen, naiven Hingebung an
die Vorstellungsinhalte durch die unablässige Reflexion auf
Äufseres und Inneres, Objekt und Subjekt erdrückt wird,
dessen Empfänglichkeit für ästhetische Eindrücke ist gering.
Daraus ergeben sich wichtige Folgerungen. Zunächst
beruht auf dem geschilderten Verhalten die prinzipielle ästhe-
tische Gleichwertigkeit der Wahrnehmungen, Erinnerungs-
nnd Phantasievorstellungen, sowie innerhalb der Wahr-
nehmungen dessen, was durch entsprechende Objekte, und
dessen, was durch ihre Stelle vertretende, sie repräsentierende
Zeichen hervorgerufen wird. Unterschiede in der ästhetischen
Würdigung sind in aUen diesen Fällen nur durch die Be-
schaffenheit der Wahrnehmungen oder Vorstellungen selbst,
nicht aber dadurch bedingt, dafs die einen eine objektive
Grundlage haben, die den anderen fehlt. Darum sind z. B.
Natur und Kunst ästhetisch einander gleichgestellt, ebenso
Malerei und Poesie, und innerhalb der Künste die Darstellung
wirklicher derjenigen erdichteter Ereignisse. Darum ist die
alte Definition der Kunst als einer Nachahmung der Natur
völlig schief, weil sie zwischen beiden Potenzen eine Be-
ziehung herstellt, die für ihre ästhetische Bedeutung gleich-
gültig ist und das Stoffgebiet der Kunst unzweckmäfsigerweise
einzuschränken droht. Der Naturalismus, der den engen An-
schlufs an die gegebene Realität fordert, ist von diesem Ge-
sichtspunkt aus betrachtet überhaupt keine ästhetische Richtung.
Somit ist der schaffende Künstler frei in seinen Konzeptionen
und Entwürfen, nur den Gesetzen unterworfen, welche die
lebensvolle Gestaltung eines gewählten Stoffes ermöglichen.
160 Oswald Külpe:
Aufserdem können wir noch die kritische Folgerung*
geltend machen, dafs eine in der modernen Ästhetik mit Vor-
liebe ausgebildete Lehre, nämlich die Theorie vom schönen
Schein, von der ästhetischen Illusion, der bewufsten Selbst-
täuschung hinsichtlich der realen Natur des genossenen Objekts
u. dergl. die ästhetischen Thatsachen in einer mindestens
irreführenden Weise schüdert. Da wird uns gesagt, es müsse
sich ein Bild vom Gegenstande ablösen, man müsse das äufser-
lich Gegebene in innerer Nachahmung spielend nacherzeugen,
der künstlerische Genufs bestehe seinem Wesen nach in einer
absichtlich hergestellten und festgehaltenen Illusion, die das
für wirklich nimmt, was doch nur Kunst sei. Alle solche
Versuche, den Kern des ästhetischen Verhaltens aufzudecken,
beruhen auf einer Sonderung dessen, was darin gar nicht ge-
sondert ist, des Äufseren und Inneren, des Objektiven und
Subjektiven, des Wirklichen und des Scheins. Wir nehmen
nicht in einer bewufsten Selbsttäuschung das irreale Produkt
des Künstlers für eine Realität, sondern wir erheben uns
gänzlich über diesen Gegensatz in die Sphäre konkreter Ein-
heit der Erfahrung. Wir bilden nicht innerlich nach, was
uns an architektonischer Form an einem Gegenstande der
Aufsenwelt entgegentritt, sondern wir überlassen uns willig
den Vorstellungsinhalten und dem Spiel von Reproduktionen^
das sie anregen. Das Bild ist uns kein Augenschein, dem
wir die Natur der Dinge gegenüberstellten, das Musikwerk
kein Ohrenschein, dem wir die Prädikate der Wirklichkeit
abzuerkennen hätten, sondern beide sind Vorstellungen, deren
Beschaffenheit uns ganz unabhängig von ihrer sonstigen Be-
deutung für Welt und Leben fesselt und gefallt. Es ist zu
wünschen, dafs die Ästhetik mit diesen ganz unpsychologischen,
der Erkenntnistheorie entnommenen Beschreibungen des ästhe-
tischen Verhaltens ^) aufräume und Begriffe beseitige, die seiner
Eigentümlichkeit nicht gerecht zu werden imstande sind.
^) An dieser Subsumtion der ästhetischen Thatsachen unter logische
und erkenntnistheoretische Begriffe hat die deutsche Ästhetik im Gegensatz
zur englischen von Anfang an gelitten.
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. Ißl
Jeder ästhetische Eindruck setzt sich normalerweise für
das entwickelte BewuTstsein aus zwei Bestandteilen zusammen,
einem percipierten, der Sinnesthätigkeit als solcher entspringen-
den, und einer durch die Erfahrung vermittelten Ergänzung
oder Modifikation des ersteren. Farbige Flächen von einer
gewissen Helligkeit haben für das neugeborene Kind nur die
Bedeutung farbiger Flächen, und werden von dem Blind-
geborenen, der nach erfolgreicher Operation zuerst seinen
Blick ihnen zuwendet, nur nach Mafsgabe der seinen anderen
Sinnen entstammenden Erfahrung zu interpretieren versucht —
in äu&erst willkürlicher, von zufälligen Analogien geleiteter
Form. Für uns, denen lange Übung im Sehen einen grofsen
Schatz optischer Bilder hat erwerben helfen, werden die
farbigen Flächen bald Tische oder Teiche, Häuser oder Bäume.
Jeder neue Eindruck verbindet sich mit reproduzierten und
verschmilzt mit ihnen zu einer Einheit, die wir Wahrnehmung
nennen. Den von der blofsen Perception abhängigen Bestand-
teil des Kontemplationswertes bezeichnen wir als seinen
direkten, den durch die Eeproduktionsthätigkeit bedingten
als den associativen Faktor. Soweit demnach die ästhe-
tischen Eindrücke Wahrnehmungen sind, soweit enthalten sie
auch diese beiden Faktoren. Wahrnehmungen aber sind sie
zweifellos zum allergröfsten Teil.
Gegen diese Unterscheidung der beiden Faktoren könnte
der Einwand ins Feld geführt werden, dafs wir beim Lesen
eines Gedichts oder einer musikalischen Komposition, falls
wir die gedruckten Zeichen nicht in die ihnen entsprechenden
Klänge oder Laute, wenn auch nur andeutungsweise, umsetzen,
des direkten Faktors ganz entbehren. Denn daran, dafs dieser
bei der Poesie (abgesehen vom Drama) so gut wie bei der
Musik im Gebiet des Gehörssinns gesucht werden mufs, kann
nicht wohl gezweifelt werden. Keim, Ehythmus, Wohlklang
der Worte, Strophenbau, kurz alle Bestandteile des direkten
Faktors einer Dichtung, sie können auf uns einen Eindruck
nur hervorrufen, wenn wir hören oder Gehörsvorstellungen
uns zu bilden vermögen. Aber beim Lesen werden eben doch
Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. XXIII. 2. 11
1
162 Oswald Külpe:
diese Bestandteile des direkten Faktors eines poetischen Werkes
nicht percipiert, nicht sinnlich wahrgenommen, sondern auch
bereits reproduziert, aus unserer Erfahrung hinzugethan. Und
damit scheint dasjenige, worin die ästhetische Bedeutung jener
Bestandteile beim tönenden, klingenden Vortrag wurzelt, selbst
erst durch Association vermittelt, also in den associativen
Faktor hinübergewandert zu sein. Ja, nicht nur dies kann
stattfinden, es läfst sich auch der Fall denken, dafs infolge
der sehr geläufigen Association zwischen den Schriftzeichen
und den zugehörigen Bedeutungen, die es ja auch dem Taub-
stummen ermöglicht Gelesenes zu verstehen, gelegentlich auch
die reproduzierten Gehörsvorstellungen fehlen werden. Dann
würde der Genufs eines poetischen Werkes lediglich eine
Funktion des associativen Faktors werden, da die gesehenen
Worte keine Träger einer hier in Betracht zu ziehenden
ästhetischen Wirkung sein können.
Dazu kommt ein anderes, in der nämlichen Kichtung
wirkendes Moment. Die sprachlichen Laute und Schriftzeichen
sind nur konventionelle Repräsentanten einer Bedeutung, will-
kürliche oder künstliche Hinweise auf Vorstellungen oder
Begriffe. Das, was sie ausdrücken, kann man ihnen weder
ansehen noch anhören, wie schon die Verschiedenheit der
Sprachen und der dem nämlichen Begriff dienenden Wörter
innerhalb derselben Sprache, der Synomyma, zeigt. Darum
kann der nämliche associative Faktor an sehr abweichenden
direkten hängen, derselbe Sinn in wesentlich anders lautenden
Formen wiedergegeben werden. Selbstverständlich trägt auch
dieser Mangel einer eiadeutigen Korrespondenz zwischen
Sprache und Bedeutung dazu bei, das Gewicht des direkten
Faktors in der Poesie zu verringern und den Zusammenhang
zwischen beiden Faktoren erheblich zu lockern. Endlich ist
hiertür auch der Umstand verhängnisvoll geworden, dafs die
gleichen willkürlichen Zeichen zur Mitteilung, zur Darstellung
im gewöhnlichen Leben, in der Wissenschaft Verwendung finden,
wo sie nur oder fast ausschliefslich ihrer Bedeutung nach ge-
schätzt und behandelt werden. Sie gleichen damit einer abge-
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 163
griffenen Münze, deren Wert nicht nach ihrem zufälligen Aus-
sehen, sondern nur nach der Prägung beurteilt wird, die sie ein für
allemal erfahren hat. So haben wir uns gewöhnt — und die
moderne Prosadichtung hat dem gleichialls Vorschub geleistet — ,
beim Lesen von dem zu abstrahieren, was das Gelesene für
unser Gehör in ästhetischer Beziehung bedeutet, obwohl hier
noch grofse individuelle Unterschiede bestehen geblieben sind.
So zweifellos hiemach die Poesie am meisten auf die
besondere Wirkung des direkten Faktors verzichtet, so sicher
ist doch zugleich, dafs er auch in ihr noch immer eine un-
verächtliche EoUe spielt. Man braucht nur den Eindruck
eines gelesenen mit dem eines gut vorgetragenen Gedichts zu
vergleichen, um den Beitrag würdigen zu lernen, den der
direkte Faktor zum ästhetischen Gesamteindruck liefert. Dafs
eine sinngetreue Übersetzung einer Erzählung in eine fremde
Sprache möglich ist, bezweifelt man nicht ; wenn dennoch das
Original eine andere ästhetische Wirkung hervorbringt, so liegt
das vorzugsweise an den Eigentümlichkeiten des direktenFaktors.
Mein Lehrer im Russischen war so kühn, die Übertragungen deut-
scher Dichtungen von Schuko wski oder Lebmontow „schöner" zu finden,
als die ihnen zu Grunde liegenden ScHiLLER'schen oder GoETHB'schen
Originale. Er hatte von seinem Gefühl aus offenbar recht, da ihm Klang-
und Lautverbindung in der russischen Sprache vertrauter, sympathischer
waren, als die entsprechenden Momente im Deutschen.
Wenn femer auch die wissenschaftliche Darstellung die
häufige Wiederholung der nämlichen Ausdrücke, derselben
Satzkonstruktionen zu vermeiden trachtet, so beruht das nur
auf der Berücksichtigung des direkten Faktors und seiner
ästhetischen Wirkung. Sodann aber darf nicht übersehen
werden, dafs an den Lauten, an den nur für das Gehör be-
stehenden Unterschieden der Tonhöhe, Klangstärke, der Ge-
schwindigkeit u. dergl., abgesehen von dem konventionellen
Begriff, auch noch ein natürlicher Ausdruck haftet, der näm-
liche, den wir auch in der Musik antreffen. Dafs rascheres
Sprechen eine gröfsere Lebhaftigkeit, Unruhe, Erregung be-
deutet, die Verstärkung des Klanges dem Gesprochenen einen
besonderen Nachdruck verleiht, dafs Erhebung der Stimme
11*
164 Oewald Ktilpe:
am Schlüsse eines Satzes eine Frage oder einen Zweifel laut
werden läfst — das alles sind Zusammenhänge, die nur. dem
Hörenden verständlich und geläufig sind, und die völlig ver-
schwinden würden, wenn wir auf den besonderen akustischen
Faktor bei der Poesie Verzicht leisten sollten. Auch der
Lesende vergegenwärtigt sich diese Eigentümlichkeiten der
hörbaren Sprache unwillkürlich. Endlich möchte ich einen
Gedanken aufiiehmen, den Btibke ^) entwickelt hat. Er weist
darauf hin, dafs die Wörter in der Regel keine Bilder der
von ihnen bezeichneten Gegenstände hervorrufen, wie er durch
sorgfältige Beobachtung, die er an sich -selbst und andere
auf seine Aufforderung hin angestellt hatten, bezeugen kann.
Trotzdem wirken sie ähnlich, ja unter Umständen tiefer, als
die Dinge, von denen sie berichten. Das Verständnis der
Wörter hängt also nicht an den Erinnerungs- oder Phantasie-
bildern, die sie reproduzieren, sondern an den gleichartigen
Beziehungen zur Geistes- und Gemütsthätigkeit, die sie ver-
möge der associativen Verknüpfung mit jenen Vorstellungen,
als deren Substitute, in Kraft treten lassen. Somit kann von
dem gelesenen Worte auch eine ganz ähnliche Wirkung aus-
gehen, wie von dem gehörten, ohne dafs die akustischen
Bilder im Bewufstsein deutlich zu werden brauchen. Freilich
nicht die optische Beschaffenheit, sondern die durch sie ver-
tretene hörbare hat diese Wirkung ursprünglich entstehen
lassen. Aber im Bewufstsein würde dann das gesehene Wort
den direkten Faktor repräsentieren.
Somit glaube ich, dafs der direkte Faktor auch in der
Poesie eine erhebliche Leistung vollbringt. Dafs er sich nun
in unserem lesenden Zeitalter selbst so oft in das Gebiet der
Reproduktionen, der Erinnerungs- und Phantasievorstellungen
zurückzieht, mufs uns freilich veranlassen, den Begriff des
direkten Faktors nicht lediglich auf das in der Sinneswahr-
nehmung als solcher Gegebene zu beschränken. Immerhin
bildet dieser Fall nur einen schwachen, unvollkommenen Ersatz
^) A. a. 0. S. 216 ff. Vergl. auch H. Roetteken: Über ästhetische
Kritik bei Dichtungen, Würzburg 1897, S. 10.
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 165
für die sinnliche Eepräsentation. Ungleich stärker, eindrucks-
voller kommt der direkte Faktor zur Geltung, wenn wir das
Gedicht laut lesen oder vortragen hören. So wenig dem
Komponisten das Studium der Partitur die volle, genügende
Vorstellung des musikalischen Kunstwerks vermitteln kann,
so wenig hat sie der still Lesende von dem poetischen. Wie
oft täuschen sich Komponisten und Dramatiker über die
Wirkung der von ihnen geschriebenen Stücke!
Als Haydn zum erstenmal der Auflführung seiner „Schöpfung"
beiwohnte, da wurde er von der berühmten Stelle „es ward Licht" selbst
80 sehr ergriffen, dafs er Gott dankte, der ihn so Schönes habe schaffen
lassen. Und doch war ihm die Komposition auch vorher völlig bekannt
gewesen.
Es handelt sich also bei solcher Versetzung des direkten
Faktors in den Bereich der Reproduktionen um diejenige Ab-
schwächung, die den Erinnerungsvorstellungen in der Eegel
gegenüber den Wahrnehmungen zukommt. Wir haben es mit
einem Surrogat zu thun, aber mit keinem Ersatz. Und da
nach allgemeinen psychologischen Gesetzen die Lebhaftigkeit
und Energie der reproduzierten Empfindungen von derjenigen
der reproduzierenden abhängig sind, so pflegt bei diesem
Surrogat nicht nur die Wirkung des direkten, sondern auch
die des associativen Faktors Schaden zu leiden.
Der Name „associativer Faktor" ist nicht glücklich ge-
wählt. Er entstammt einem laxen Sprachgebrauch, der das
Wort Association, wie so manchen anderen Ausdruck in der
psychologischen Terminologie, betroffen hat. Zunächst aus-
schliefslich dazu bestimmt, denjenigen engen Zusammenhang
zweier Empfindungen oder Vorstellungen zu bezeichnen, ver-
möge dessen das Auftauchen der einen im Bewufstsein auch
die Reproduktion der anderen nach sich zieht, ist der Begriff
der Association allmählich dahin erweitert worden, jede be-
liebige Reproduktion aus Anlafs eines gegebenen geistigen
Vorgangs zu bedeuten. Nur in diesem weiteren Sinne ist er
zu nehmen, wenn von einem associativen Faktor schlechthin
die Rede ist. Man thäte also eigentlich besser, diesen That-
bestand, um Mifsverständnisse zu vermeiden, etwa „reproduk-
166 Oswald Külpe:
tiven" Faktor zu nennen, oder im Geiste des HEBBAET'schen
Apperceptionsbegriffs von einer Apperceptionsmasse zu sprechen.
Denn bei den ästhetischen Eindrücken spielt die Association
im strengeren und engeren Wortgebrauch keine entscheidende
KoUe, weil wir hier sehr oft auf neue Vorstellungen direkter
Art stofsen, die noch nicht einen eingeübten Zusammenhang
mit anderen durch sie reproduzierbaren eingegangen sind.
Wer zum erstenmal durch ein ihm fremdes Museum wandert,
hat auf Schritt und Tritt direkte Faktoren vor sich, deren
reproduzierende Kraft oder Tendenz durch keine Association
unterstützt wird.^) Bezeichnen wir solche unmittelbar ange-
regten Vorstellungen als freie Reproduktionen im Gegensatz
zu den anderen auf Grund früherer Verknüpfung im Bewufst-
sein gebundenen, so erhellt, dafs wir in der Welt der Kon-
templationswerte mit jenen in hervorragendem Mafse zu rechnen
haben. Sie sind es, welche ' den freien Flug der Phantasie
über den geschlossenen Kreis des Gedächtnisses hinaus be-
gründen und in unerschöpflich neuen Kombinationen unsere
geistige Regsamkeit bekunden. Sie sind es hauptsächlich,
die den Geschmacksurteilen, der ganzen Auffassung eines
Eindrucks jene überraschende Mannigfaltigkeit individueller
Unterschiede verleihen, die vielen als das einzig allgemein-
gültige Faktum der ganzen Ästhetik erscheint. Sie sind es
zugleich, denen wir die befriedigende Gewifsheit verdanken,
dafs wir den unversiegbaren Quellen des Schönen mit gleich-
wertigem Reichtum gegenüberstehen, der frischen TJrsprüng-
lichkeit eines genialen Künstlers nicht minder gewachsen,
wie den eigenartigsten Bildungen der Natur.
Aber gesetzlos, blindem Zufall anheimgegeben ist doch
auch diese Reproduktionsthätigkeit nicht, wir sind vielmehr
in der Lage, die für sie bestehende Abhängigkeit von dem
direkten Faktor auf eine recht einfache Formel zu bringen.
Ist eine Vorstellung a — so können wir sagen — einer
^) Vorausgesetzt ist hierbei natürlich, dafs die eigenartigen Gesamt-
eindrücke als solche reproduzierend wirken.
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 167
anderen b ähnlich, die in associativer Verknüpfung mit einer
dritten r steht, so vermag auch a diese letztere oder eine
derselben ähnliche zu reproduzieren. Alle Wälder und Wiesen,
Berge und Thäler, Menschen und Tiere, die wir noch nicht
kannten, wecken die nämlichen oder ihnen verwandte Vor-
stellungen und Gemütsbewegungen in uns, wie früher erlebte
und gedeutete derselben Art. Dem Kinde wird jedes neue
männliche Wesen, mit dem es in Berührung kommt, zum Onkel
und jedes weibliche zur Tante. Der Entdecker, dem es ge-
lingt, einen bisher unbekannten Thatbestand aufzufinden, be-
nennt und interpretiert ihn zunächst in Anlehnung an die
Zeichen und Erklärungen, die flir andere bereits erforschte
und ihm gleichende Erscheinungen gelten. So setzen alle
freien Reproduktionen allerdings das Bestehen von Associa-
tionen voraus uiid werden selbst wieder zu Gliedern von
solchen — aber so mannigfaltig die Grade der Ähnlichkeit
zwischen den Vorstellungen sind, so zahlreich sind die Anlässe
zu immer neuen Bildungen dieses Charakters. ^) Und wenn es
richtig ist, dafs uns das wahrhaft Schöne, im Gegensatz zur
vergänglichen Liebhaberei des Zeitgeschmacks, bei wieder-
holter Betrachtung -Quellen des Gefallens aufschliefst, die uns
vorher noch nicht geflossen waren, so werden wir dieses
Merkmal unzerstörbarer Frische auf die vielseitige Repro-
duktionstendenz solcher edelsten Kunstwerke nach den an-
gestellten Erwägungen zurückführen dürfen. Nicht der direkte
Faktor an sich hat ein neues Gepräge erhalten, wir selbst
sind mit der Zeit Andere, Reichere, Tiefere geworden. Indem
jedoch ein ästhetischer Eindruck sich fähig erweist, allen
diesen Wandlungen unserer Natur zu folgen und auch die
später erworbenen Schätze unseres Wesens zu heben, wird
er selbst vermöge der neuen Beziehungen, in die er mit
unserem Denken und Sinnen und Fühlen gerät, für uns ein
vielgestaltiger Proteus. So geleiten uns die klassischen Zeugen
echter künstlerischer Schaffenskraft durch das ganze Leben.
^) Vergl. meinen Gnindrifs der Psychologie, S. 206 ff.
168 Oswald Külpe:
Dem feurigen Jüngling, dem besonnenen Manne, dem lebens-
müden Greise werden sie zu ausdrucksvollen Bildern ihres
Stürmens, Handelns und Sehnens. Nie sinken sie zu Gliedern
eines associativen Mechanismus herab, mit dessen zunehmender
Festigkeit sich ihre Bedeutung für das Bewufstsein abstumpfte,
nie wird ihre Sprache zu einer toten Formel, die sich zwar
unverlierbar ins Gedächtnis eingegraben, aber keine selb-
ständige Wirkung mehr zurückbehalten hätte. Diese bleibende
Kraft inneren Widerstandes gegen die Mächte der Abstumpfung
und der Gewohnheit verdanken sie aber nicht einer bizarren
Seltsamkeit, einem noch nie dagewesenen Einfall, sondern
vielmehr den zahllosen Beziehungen der Ähnlichkeit, die sie
mit dem, was wir erleben, verknüpfen.
Damit soll nicht geleugnet werden, dafs es auch asso-
ciativ bedingte Eeproduktionen giebt, die durch die überragende
Bedeutung, die sie für unser Leben besitzen, ein ungeschwächtes
Interesse beanspruchen und finden. Gesundheit, Krankheit
und Tod, Sittlichkeit, Liebe und Gemeinschaft gehören hierher.
Die Teilnahme an solchen und ähnlichen Formen des asso-
ciativen Faktors kann nicht verblassen und schwinden, so-
lange die natürlichen Zusammenhänge unseres Daseins einen
Bestand haben und jene Erscheinungen in immer wieder sich
erneuernden Trieben und Erfahrungen unsere Entwicklung
durchsetzen. Hat es ein Künstler verstanden, den lebhaften
Eindruck dieser Mächte zu erwecken, so kann sein Werk
nicht veralten, weil die Erinnerung an sie niemals den fesseln-
den Reiz einzubüfsen vermag, der dem Allgemeinmenschlichen
eignet.
Das Verhältnis zwischen dem direkten und dem asso-
ciativen Faktor eines Kontemplationswertes ist somit überall
dieses, dafs jener das Motiv für das Auftreten der zu diesem
gehörigen Reproduktionen abgiebt. Der direkte Faktor ist
also zwar nicht die einzige, aber wenigstens die veranlassende
Bedingung für den associativen. Es ist hiemach ohne weiteres
klar, dafs der letztere mehr oder weniger leicht und stark
durch den ersteren angeregt werden kann. Mag man sich
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. IgQ
eine Phantasie noch so wilKg denken, den Beizen zn folgen,
die von aufsen an sie herantreten, so kann sie sich doch
immer nnr in den Bahnen bewegen, die ihr durch entsprechende
Grundrisse in der Perception vorgezeichnet werden, und je
unzweideutiger diese Grundrisse sind, um so klarer und ein-
heitlicher wird auch das Bild ausfallen, das sie aufiiehmen
sollen. Aus diesem Zusammenhange ergiebt sich, dafs der
direkte Faktor, die Laute, Töne, Farben, die Gestalten und
Rhythmen, eine fundamentale Bedeutung für den ästhetischen
Eindruck haben ; sie sind die Zeichen, aus deren Beschaffenheit
und Kombination wir ihren Sinn erschliefsen, die Ausdrucks-
oder Darstellungsmittel, die uns bestimmte Gegenstände oder
Vorgänge, Stimmungen oder Handlungen andeuten. Beides
im Verein aber bildet den ästhetischen Eindruck, die Vor-
stellung, die uns durch ihre blofse Beschaffenheit gefällt oder
mifsfallt. So darf es uns denn auch nicht wundem, dafs das
Verhältnis zwischen beiden Faktoren ein besonderes Objekt
des ästhetischen Urteils zu sein pflegt. Wir mifsbilligen ein
Kunstwerk, bei dem Idee und Erscheinung sich nicht gegen-
seitig fordern oder wo sich ein Zwiespalt zwischen beiden
aufthut. Wir erheben unwillkürlich die kritische Frage, ob
die Absicht und die Ausführung des Meisters im Einklang
miteinander stehen, oder ob die letztere hinter der ersteren
zurückbleibt. Selbst ganz naive, in künstlerischen Dingen
unerfahrene Personen bringen diese Prüfung ungescheut zur
Anwendung und vermessen sich wohl gar zu sagen, wie sie
verfahren wären, wenn sie dies Bild zu malen, jenes Haus
zu bauen gehabt hätten. Und nicht nur die Leistung der
Kunst, bei der ja menschliche Unvollkommenheit gefehlt haben
kann, sondern auch die Natur mufs sich zuweilen solchen
Einspruch und Vorwurf gefallen lassen.
Die zuletzt angestellten Betrachtungen leiten uns bereits
zu der zweiten Aufgabe hinüber, der wir uns nach der ge-
naueren Feststellung der Begriffe eines ästhetischen Eindrucks
und seiner Faktoren noch zu unterziehen haben, nämlich zu
170 Oswald Külpe:
der Würdigung der ästhetischen Bedeutung, welche dem asso-
ciativen Faktor zukommt, und zu der dadurch geforderten
Verengerung seines Begriffs. Nicht jede Reproduktion —
das lehrten uns schon die oben erwähnten Beispiele Fechners —
genügt dem hiermit eingeführten Gesichtspunkte ; wir werden
vielmehr drei einander ergänzende Bestimmungen treffen können,
denen ein associativer Faktor entsprechen mufs, wenn anders
er als Bestandteil eines ästhetischen Eindrucks soll gelten
dürfen. Erstlich mufs er mit dem zugehörigen direkten Faktor
eine Einheit, eine Gesamtvorstellung bilden, zweitens
mufs er selbst einen Kontemplationswert darstellen und
drittens in einem notwendigen und eindeutigen Zu-
sammenhange mit dem direkten stehen. Indem wir daran
gehen, . diese Bestimmungen zu erläutern und zu begründen,
glauben wir damit im Prinzip, d. h. in den allgemeinsten
Zügen die Lehre vom associativen Faktor für die Ästhetik
zu einem befriedigenden Abschlufs zu bringen.
Vorbedingung dafür, dafs ein Gefallen oder Mifsfallen
zustande kommt, ist nach unseren früheren Ausfuhrungen über
die Natur des ästhetischen Eindrucks die Beteiligung der Auf-
merksamkeit an seinem Inhalt. Sowie nur die Verzeichnungen
oder Verstimmungen, die uns zum Bewufstsein kommen, ein
Mifsfallen erwecken können, so mufs auch natürlich die Har-
monie und Reinheit der Töne oder Farben aufgefafst, wahr-
genommen werden, wenn sie imstande sein soll, unser Gefallen
zu erregen. Man darf das so ausdrücken, dafs man das
Interesse an einer Vorstellung als die conditio sine qua non
für den Eintritt eines sich auf sie beziehenden ästhetischen
Verhaltens bezeichnet. Von der Energie oder Lebhaftigkeit
dieses Interesses ist nun auch die Intensität der Inhaltsgefühle
abhängig. Das Häfsliche erscheint uns um so garstiger, das
Schöne um so erfreulicher, je ausschliefslicher und stärker
wir uns seinem Eindruck hingegeben haben. Wo mehrere
voneinander unabhängige Gegenstände gleichzeitigen Anspruch
auf Beachtung erheben, da wird vermöge der natürlichen Enge
der Aufmerksamkeit entweder der eine auf Kosten der anderen
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 171
bevorzugt oder allen ein verhältnismäfsig geringes Interesse
zuteil. Darum ist Einheit des Interesses eine notwendige
Bedingung für das Zustandekommen eines lebhaften ästhe-
tischen Verhaltens. Da es sich nun bei den gefallenden oder
mifsfallenden Objekten in der Natur und in der Kunst regel-
mäXsig um eine Vielheit von Bestandteilen handelt, so ist es
als ein Grundgesetz ihrer ästhetischen Wirkung zu bezeichnen,
dafs das Interesse an ihnen ein einheitliches sei. Hier haben
wir nach einer Richtung den tieferen Sinn, den psycho-
logischen Kern des in der Geschichte der Ästhetik so oft
hervorgetretenen, zwei wesentlich verschiedene Gesichts-
punkte in sich bergenden Prinzips der Einheit in der Mannig-
faltigkeit.
Eine solche Einheit ist bei der geschilderten Enge der
Aufmerksamkeit aber nur in der Form ohne Schaden für die
Energie des ästhetischen Verhaltens möglich, dafs alle Be-
standteile einem einzigen Interesse, dem Hauptinteresse, in
letztem Grunde dienen und dadurch einen engeren Zusammen-
hang untereinander aufweisen, als mit aufserhalb befindlichen
Gegenständen. Jedes Kunstwerk pflegt sich von seiner Um-
gebung abzuheben, ein Konzert oder ein Vortrag durch die
sonst herrschende Stüle, ein Schauspiel aufserdem durch die
Bühne, ein Gemälde durch seinen Rahmen, eine Skulptur
durch ihren Sockel. Und innerhalb dieser Grenzen bietet
sich dem Auge und Ohr ein wohlgegliedertes Gefiige, das
sich von dem in Rede stehenden Gesichtspunkte aus als ein
Stufenreich der Interessen darstellt. Was in diesem
Reiche die Hauptsache ist, der sich alles andere unterzuordnen
hat, darüber werden wir, wo es sich nicht von selbst versteht,
durch allerlei deutliche Winke von dem Künstler belehrt.
Das Drama und der Roman haben ihre Hauptpersonen, das
Musikstück sein Hauptthema, und eine Menge von Hilfsmitteln
einfacherer und verwickelterer, feinerer und gröberer Art
stehen dem Meister zur Verfügung, um uns die ausgezeich-
neten Gegenstände in solchen Werken mühelos und sicher
erkennen zu lassen. Hier giebt der Maler dem wichtigsten
172 Oswald Külpe:
Bestandteil seines Bildes eine bevorzugte Stellung oder rückt
ihn in die hellste Beleuchtung, dort wiederholt und variiert
der Musiker seine Hauptmotive und -themen am häufigsten
und eingehendsten und berichtet uns der Dichter über seinen
Helden am ausführlichsten. Die Mannigfaltigkeit der mög-
lichen Versuche, das Interesse des Sehenden oder Hörenden
in die richtigen Bahnen zu lenken, spottet jeder Aufzählung,
doch werden schon die wenigen Beispiele ausreichen, um die
allgemeine Bedeutung dieses ästhetischen Fundamentalprinzips
aufser Frage zu stellen.
Ziehen wir daraus einen Schlufs flir unseren Fall, so
werden wir zu fordern haben, dafs der associative Faktor
sich mit dem direkten zu einer Einheit verbinde. Erinnert
mich ein Bild, das ich sehe, an ein anderes ihm ähnliches,
oder an den Ort, wo ich es zuerst kennen gelernt habe, so
wird das Interesse geteilt oder von seinem ursprünglichen
Gegenstande ganz abgelenkt. Eeproduziert eine Symphonie,
die ich höre, die Vorstellung von einer landschaftlichen Scenerie
oder einem kriegerischen Schauspiel, so wird die Energie,
mit welcher ich ihrer musikalischen Entwicklung folge, gleich-
falls bedroht sein oder leiden. Der associative Faktor wird
also nur dann die ästhetische Bedeutung des Gesamteindrucks
unterstützen oder zu ihr einen wertvollen Beitrag liefern,
wenn er sich dem Hauptinteresse des Ganzen unterordnet.
Es ist ohne weiteres klar, dafs nicht alle Reproduktionen
dieser Forderung genügen, und dafs somit schon durch das
Gesetz der Einheit eine beträchtliche Einschränkung der
möglichen Formen des associativen Faktors bewirkt wird.
Hier eröffnet sich ein weites und fruchtbares Feld für die
Specialuntersuchung. Da handelt es sich z. B. darum, zu
erwägen, welche Empfindungen mit welchen anderen sich zu
einer in sich geschlossenen Vorstellung verknüpfen lassen.
Da wird man ferner auf die individuellen Unterschiede ein-
zugehen haben, die für solche Verbindungen zweifellos be-
stehen. Der Ästhetik wird es sicherlich nicht zum Schaden
gereichen, wenn sie diesen besonderen Aufgaben, die uns durch
über den associatiYen Faktor des ästhetischen Eindracks. 173
Fechners induktive Betrachtungen nahe gelegt werden, sorg-
fältig und umsichtig nachgeht. Und der innige Zusammen-
hang, in den sie dadurch sowohl mit dem künstlerischen
Schaffen, wie mit der allgemeineren Gesetzmäfsigkeit des
ästhetischen Verhaltens gerät, mag und mufs sie für das
damit verbundene Herabsteigen von den luftigen Höhen der
Spekulation in die Niederung des Kleinbetriebs reichlich ent-
schädigen.
Eine zweite beschränkende Bestimmung erfährt der
Begrijff des associativen Faktors durch die einer näheren Be-
gründung kaum bedürftige Angabe, dafs er selbst einen Kon-
templationswert bilden oder als Glied eines solchen müsse
aufgefafst werden können. Wer vor einem Kunstbau die
lustbetonte Vorstellung bequemen Wohnens in solchen Räumen
zur Herrschaft gelangen läfst, oder wer den Wert eines
Musikwerks darnach bemifst, welche anregende Kraft zu
geistiger Arbeit von ihm ausgehe, der verknüpft mit dem
direkten Faktor einen associativen, dem eine ästhetische Be-
deutung abgesprochen werden darf. Es versteht sich von
selbst, dafs nicht jede Erinnerung, jede Leistung ergänzender
oder deutender Phantasie einen Kontemplationswert darstellt,
und es ist fast eine Tautologie, zu behaupten, dafs nur ein
solcher einen associativen Faktor befähige, der Bestandteil
eines ästhetischen Eindrucks zu werden. Und dennoch wird
wohl gegen keine Eegel häufiger verstofsen, als gerade gegen
diese, nicht nur vom Laien, sondern auch vom Künstler und
vom Ästhetiker. Man ist nur zu gern bereit, das Gefallen
an beliebigen Eindrücken durch jedwede angenehme und das
Mifsfallen durch jegliche unerfreuliche Vorstellung, die er re-
produziert, gewinnen zu lassen. Und so triumphiert denn in
den meisten Dramen das Gute über das Böse, rühmt der
Kritiker die gesunde Tendenz eines Kunstwerks, ergötzt sich
der Geniefsende an der Vornehmheit und den irdischen Glücks-
gütem eines Romanhelden. Aufserästhetische Gesichtspunkte
werden dem direkten Faktor gegenüber nicht leicht in An-
wendung gebracht, weil die sinnlichen Gefühle, die hier allein
174 Oswald Ktilpe:
mit den ästhetischen in Konkurrenz treten können, bei den
Tönen, Farben und Helligkeiten der Kunst keine erhebliche
EoUe spielen. Eine um so gewichtigere wird den sonstigen
Wertprädikaten beim associativen Faktor praktisch und theo-
retisch zugestanden und damit der gröfsten Willkür unbe-
denklich Thür und Thor geöffnet*
Der Grund dieser Erscheinung ist nicht schwer zu finden.
Wären die einzelnen Gefühle der Lust, die wir verschiedenen
Anlässen verdanken, auch nur annähernd so mannigfaltig,
wie die Empfindungen der roten und der blauen Farbe oder
des eingestrichenen C und des D der höheren Oktave, so
würde sich auch bei gleichzeitiger Einwirkung der ihnen ent-
sprechenden Ursachen verhältnismäfsig leicht erkennen lassen,
mit welcher Art von Annehmlichkeit man es eigentlich zu
thun habe. Aber aus der blofsen Lust heraus würde es niemand
gelingen zu erraten, ob er sie einem erfrischenden Bade oder
einer wohlschmeckenden Speise oder einer anregenden Unter-
haltung verdanke. So zahllos die Differenzen sind, die zwischen
den möglichen Gefühls anlassen für die unmittelbare Auffassung
eines jeden normal beanlagten und entwickelten Individuums
bestehen, so einförmig ist der Lust- oder Unlust erfolg, den
sie hervorrufen. Selbst von denjenigen Psychologen, die an
einer qualitativen Verschiedenheit, also an Arten der Annehm-
lichkeit und der Unannehmlichkeit festhalten zu sollen glauben,
wird doch zugegeben, dafs sich die einzelnen Formen der
Lust bei gleichzeitigem Zusammentreffen zu einer unanalysier-
baren Einheit verbinden. Wir sind daher aufser stände, die
sittlichen, sinnlichen, ästhetischen Werte nach ihrer blofsen
Bedeutung für das Gefühl voneinander zu sondern. Ja,
noch mehr, wir erfahren eine einfache Lustverminderung,
wenn ein Wert der einen Art sich mit einem Unwert der
anderen vereinigt, und eine merkliche Lustverstärkung, wenn
zu einem bestimmten Wert ein zweiter von anderer Herkunft
hinzutritt. Jedermann weifs, dafs der Genufs der effekt-
vollsten Komödie durch Kopfschmerzen oder verstimmende
Erinnerungen getrübt wird, und dafs man gegen die künst-
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 175
lerische Bedeutung einer Dichtung leicht ungerecht wird,
wenn die Tendenz derselben abstufst. Diesen Thatsachen
wird durch die Vernachlässigung der Bestimmung Rechnung
getragen, die vom associativen Faktor eines ästhetischen
Eindrucks verlangt, dafs er selbst ausschliefslich als Kontem-
plationswert wirke.
Allerdings kann man es einem Künstler nicht verdenken,
dafs er das Gefallen an seinem Werke nicht durch die Ein-
führung sonstiger Unwerte in Frage gestellt sehen möchte,
dafs er somit Stoffe wählt, deren Natur es ihm erlaubt, auch
die ethischen Bedürfnisse zu befriedigen. Aber die ästhetische
Bedeutung braucht diesem Gesichtspunkte wahrlich nicht ge-
opfert zu werden. Nebenwirkungen unmöglich zu machen,
dazu sind wir bei der komplexen Natur der dem Geschmacks-
urteil unterliegenden Gegenstände meist aufser stände; auch
ungewollt drängen sie sich auf und fordern ihr Recht. Der
Maler und Büdhauer, die das Nackte darstellen, können es
ebenso wenig verhindern, dafs solche Gestalten die sinnliche
Einbildungskraft reizen, wie der Dichter historischer Dramen
ihre Prüfung auf die geschichtliche Treue auszuschliefsen
vermag. Aber der ästhetische Zusammenhang kann trotz
alledem ein in sich geschlossener sein und dadurch wenigstens
alle diejenigen befriedigen, die ihm allein ihre Aufmerksamkeit
zuwenden. Findet ein Werk auf Grund solcher Nebenwirkungen
bei den Zeitgenossen nicht die gebührende Anerkennung und
das unbefangene Verständnis, so kann beides ihm in der Zu-
kunft erblühen, und umgekehrt pflegt der lebhafteste Beifall,
den sich ein Künstler bei Lebzeiten durch die Berücksichtigung
aufserästhetischer Gesichtspunkte erwirbt, ihn vor Verurteilung
und Vergessenheit in späteren Epochen nicht zu schützen.
Aus den zahlreichen religiösen Bildern des Mittelalters haben
sich einen dauernden Ruhm doch nur diejenigen erhalten, die
neben ihrer Wirkung auf andächtige Gemüter eine reine und
kräftige ästhetische Bedeutung aufzuweisen haben, und von
den vielen politischen Satiren, die im Laufe der Zeiten ent-
standen, sind die meisten verdientermafsen verschollen, weü
176 Oswald Külpe:
ihr Genufs von der zufälligen Konstellation der staatlichen
oder socialen Verhältnisse gänzlich abhängig war, zu deren
Dlustration oder Geifselung sie dienen sollten.
Künstlerisches kann auf die Dauer eben doch nur durch
künstlerische Qualitäten fesseln und befriedigen. Aber in
unserer Aufmerksamkeit besitzen wir, die empfänglichen Zu-
schauer und Zuhörer, zugleich eine Fähigkeit, die es uns
gestattet, von den unvermeidlichen Nebenwirkungen eines
ästhetischen Eindrucks zu abstrahieren. Wir können uns
streng an die Kontemplationswerte halten und diejenigen
Apperceptionsmassen in Bereitschaft setzen, welche mit ihnen
in Verbindung stehen. Durch solche absichtsvolle Vorbereitung
und „Einstellung" geht jene passive Versenkung, die für die
ästhetische Beschaulichkeit so charakteristisch ist, keineswegs
verloren, sie wird vielmehr durch die wachsame Hemmung
störender anderweitiger Reizwirkungen noch intensiver. Somit
läfst unsere Forderung, dafs der associative Faktor selbst ein
Kontemplationswert sei oder als Glied eines solchen erscheine,
auch allen sittlichen, sinnlichen oder sonstigen Werten, die
ihm beigelegt werden können, zum Trotz eine klare und ein-
heitliche Durchführung zu. Der Künstler kann und soll, wenn
anders es ihm darauf ankommt, ein ästhetischen Ansprüchen
vollauf genügendes Werk zu schaffen, seine Darstellung aus-
schliefslich auf die Erregung der Inhaltsgefuhle anlegen. Die
innere Gesetzmäfsigkeit des Ganzen, die seinen Aufbau und
die Wechselwirkung seiner Teile nur unter ästhetischen Ge-
sichtspunkten begreifen läfst, wird sodann den auf sie einge-
stellten Betrachter alsbald das erfreuliche oder unbefriedigende
Beiwerk abscheiden lassen, das sich gleich einer das Leben
des Stammes gefährdenden Schlingpflanze um einen kraftvollen
Baum rankt.
Und nun noch zu der letzten Bestimmung, welche
verlangt, dafs der associative Faktor mit dem direkten in
einem eindeutigen und notwendigen Zusammenhange stehe.
Hier laufen alle Fäden unserer bisherigen Untersuchung zu-
sammen. Denn nichts anderes ist es bei genauerer Betrachtung,
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 177
als was die ältere Ästhetik durch die Forderung ausdrückte,
dafs die Idee sich in der Erscheinung dargestellt oder sym-
bolisiert finden solle. Zugleich erhalten unsere Bemühungen
um eine engere Begrenzung des Begriflfs vom associativen
Faktor durch diese Festsetzung ihre letzte und entscheidende
Unterstützung. Wenn wir zuerst verlangten, dafs die beiden
Bestandteile eines ästhetischen Eindrucks zu der einheitlichen
Form einer Gesamtvorstellung zusammentreten müfsten, so
wird jetzt die Art derselben näher bezeichnet. Wenn wir
femer die ästhetische Bedeutung einer Reproduktion nach dem
Mafse bestimmten, iu welchem sie selbst einen Kontemplations-
wert büde oder an demjenigen des Gesamteindrucks teilnehme,
so werden wir nunmehr mit der Bedingung bekannt, unter
der die Verwirklichung dieses Postulats steht und sich voll-
zieht. Indem sonach diese dritte Einschränkung den anderen
beiden die erforderliche Specialisierung liefert, wird ihre Be-
gründung von der dort entwickelten abhängig. Auch für die
besondere Art der Verknüpfung, in die wir jetzt den asso-
ciativen Faktor mit dem direkten setzen, läfst sich aus der
allgemeinen Ästhetik zunächst der Grund beibringen, dafs
ein ungeteiltes, lebhaftes Interesse nur aus wechselseitiger
Durchdringung derselben entspringen könne. Sodann wird
der ästhetische Charakter einer Reproduktion durch den ein-
deutigen Zusammenhang mit einer der gleichen Eigenschaft
sich erfreuenden Perception ohne Zweifel am besten gewähr-
leistet. Aber zu der damit aufgezeigten Abhängigkeit des
neuen Prinzips von den Grundsätzen, die uns die Aufstellung
der anderen allgemeineren Bestimmungen haben rechtfertigen
helfen, tritt doch noch eüie seiner specielleren Fassung ent-
sprechende Ableitung aus ästhetischen Voraussetzungen un-
abweisbar hinzu.
Die moderne Entwicklung der Oper und der mit Kom-
mentaren versehenen symphonischen Dichtungen hat die
Meinung erweckt, als handle es sich bei der Verbindung eines
bestimmten musikalischen Motivs mit gewissen Worten des
Textes nicht etwa um eine zufällige Zusammenstellung, ver-
Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. XXTTL 2. 12
1
178 Oswald Külpe:
mittelt durch die Verwandtschaft des Stimmungsgehalts,
sondern um eine eindeutige Interpretation des einen durch
das andere. Die enge Association, welche zwischen den
gleichzeitig gegebenen Bestandteilen zweier Künste nach ein-
fachen psychologischen Gesetzen entsteht, verleitet zu der
irrigen Annahme, dieses Motiv könne überhaupt und an sich
nur die in den begleitenden Worten niedergelegte Bedeutung
haben, oder diese Strophe lasse nur die in dem nebenher er-
tönenden Thema gebotene musikalische Darstellung zu. Da-
durch werden die Grenzen zwischen dem naturwüchsigen und
dem durch individuelle Wülkür geschaffenen Ausdruck eines
direkten Faktors in unzweckmäfsiger Weise verwischt. Denn
es ist ein grofser Unterschied, ob in diesem oder jenem In-
dividuum infolge einer nur für sie geltenden associativen
Verknüpfung eine Perception sofort eine dieser entsprechende
Reproduktion auslöst oder ob ein jedes unter normalen Ent-
wicklungsbedingungen der Erfahrung gebildete Subjekt eine
Gruppe von Empfindungen als natürliches Zeichen für be-
stimmte Gegenstände, Vorgänge, Beziehungen ansieht und
verwendet. Solange es wünschenswert bleibt, der Kunst eine
allgemeine und gleichförmige Wirkung zu sichern, solange
ist es unumgänglich, den ästhetischen Eindruck von der Mit-
wirkung zufälliger und individueller Reproduktionen unabhängig
zu machen. Ein historisches Drama mufs auch von dem be-
griffen und genossen werden können, der die geschichtlichen
Vorgänge, die seinen Stoff oder seine Grundlage bilden, nicht
kennt. Aus sich selbst heraus mufs sich der Aufbau einer
malerischen oder musikalischen Komposition rechtfertigen,
nicht durch die Anlehnung an Erinnerungen oder Kenntnisse,
die nicht zum Gemeingut der Geniefsenden gerechnet werden
können. Nur wenn der associative Faktor wie etwas Selbst-
verständliches, jedem Geläufiges aus dem direkten hervorwächst,
nur des letzteren natürlichen Ausdruck bildet, genügt er diesem
angestammten Bedürfnis einer Kunst, die keinen Sonder-
interessen dienen, kein Specialwissen voraussetzen will. Das
ist die eine Wurzel unserer Forderung eindeutigen Zusammen-
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 179
hanges zwischen beiden Faktoren eines ästhetischen Eindrucks.
Eine andere finden wir in einem zweifellosen Interesse der
Ästhetik. Soll diese eine Wissenschaft sein können, die sich
über die Danaidenarbeit einer erschöpfenden Beschreibung
aller Einzelthatsachen zu Allgemeinbegriffen, zu Gesetzen er-
hebt, so darf die ästhetische Bedeutung einer Vorstellung
nicht an die unfafs];)are, unberechenbare Vielgestaltigkeit indi-
yiduell geformter Erinnerungen oder Phantasiebilder preis-
gegeben werden. Wissenschaftlich zu bewältigen ist der
associative Faktor nur dann, wenn er in dem hier geforderten
Verhältnis zu dem direkten steht.
Endlich aber und hauptsächlich kann es nur durch die
Erfüllung dieser Forderung verhütet werden, dafs beliebige,
zu verschiedenen direkten Faktoren gleich gut passende Re-
produktionen bei der ästhetischen Würdigung des Gesamt-
eindrucks mitwirken. Erinnern wir uns an I^chnebs Beispiel
von der Goldkugel! Die kalifornische Hochachtung, die wir
ihr zollen, und aus der heraus Bilder von Kutschen, Palästen
und anderen schönen Dingen entstehen, hat mit der indivi-
duellen Vorstellung des runden Objekts nichts zu thun, sondern
knüpft sich lediglich an das Wissen um seine materielle Be-
schaffenheit. Damit wäre aber gerade die anschauliche Form
zu einer unwichtigen, gleichgültigen Potenz herabgedrückt,
was sie offenbar, sofern es sich um ästhetische Auffassung
handelt, nicht ist und sein kann. Unsere dritte den asso-
ciativen Faktor einschränkende Bestimmung beruht hiernach
auf der Einsicht, dafs nur bei ihrer Berücksichtigung ein
individuelles Verhältnis zwischen beiden Faktoren möglich
Avird, durch das der Eigentümlichkeit der äufseren Erscheinung
eine genau entsprechende Eigentümlichkeit ihrer Bedeutung,
ihres Gehalts, ihrer Idee zugeordnet wird. Auch in dem
Reiche des Gefallens und Mifsfallens herrscht ein Gesetz der
Ökonomie, dem zufolge aller Überflufs, alles, was den Interessen
und Absichten des Ganzen nicht dient, auszuscheiden ist.
Das gilt nicht nur für den Künstler, der sich um die Ge-
staltung eines einheitlichen ästhetischen Gebildes bemüht,
12*
180 Oswald Külpe.
auch für den Geniefsenden, sofern er sich nicht in schranken-
losem Spiel der Phantasie von dem Gegenstande seines Ge-
nusses beliebig weit entfernen will. Diese innere Gesetz-
mäfsigkeit des Zusammenhangs, eine Art ästhetischer Logik,
verknüpft vor allem den direkten und den associativen Faktor
miteinander, nur durch sie findet der eine im anderen seine
notwendige Ergänzung, halten und tragen i^e sich gegenseitig,
bleiben sie aufeinander angewiesen, wie das Ding und seine
^ Eigenschaften, Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck, das
Ganze und seine Teile.
Aber läfst sich dieser Unterschied zwischen Notwendigem
und Zufälligem, Eindeutigem und Vieldeutigem überhaupt in
dem Gebiet der ästhetischen Eindrücke machen? Der Dichter
pflegt ja doch die Begriffe, mit denen er operiert, nicht zu
definieren, und der kurze Titel, den der Musiker, Maler oder
Bildhauer ihrem Werke geben, läfst in der Kegel auch der
gefafstesten Einbildungskraft einen bedeutenden Spielraum.
Wodurch verrät uns vollends die weite und wechselnde Natur^
wie allein sie betrachtet und genossen sein will? Gewifs
beruht die Eindeutigkeit hier nicht auf dem Zwange der Logik,
der in der wissenschaftlichen Darstellung den Gebrauch der
Wörter von den Definitionen ihrer Begriffe abhängig macht.
Sie gründet sich vielmehr lediglich auf die allgemeine, ge-
wöhnliche, durch langen Verkehr und wiederholtes Mitteilungs-
bedürfnis fest und sicher gewordene Kenntnis der Sprache
und bedarf keiner gröfseren Genauigkeit, als der auf diesem
Wege vermittelten. Es ist Sache des Dichters, keine Mifs-
verständnisse aufkommen zu lassen, seine Schilderung so ein-
zurichten, dafs sie ohne weitere Voraussetzungen begriffen
und in die der Intention des Künstlers entsprechenden Vor-
stellungen umgesetzt werden kann. Was bei den „künstlichen'^
Zeichen, den Worten, infolge der den Sinn einengenden Zu-
sammenfassung jedes einzelnen mit einer ganzen Anzahl anderer
möglich ist, wird natürlich um so leichter bei denjenigen Zeichen
verwirklicht, die durch ihre sinnliche Ähnlichkeit mit dem
Dargestellten einen unmittelbaren Hinweis auf dasselbe ent-
über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. Igl
halten. Was die Farben und Formen der bildenden Kunst
oder der Natur bedeuten, wenn sie in bestimmter Anordnung
sich zu einer Landschaft oder einer Genrescene vereinigen,
das pflegt demjenigen, der die Augen Jahre hindurch der ihn
umgebenden Welt geöflhet hat, auch ohne jede Besonderheit
der Erfahrung und des Wissens vertraut zu sein.
Es kann somit kaum einem Zweifel unterliegen, dafs
-der direkte Faktor eines ästhetischen Eindrucks eindeutig
sein oder, was dasselbe ist, einen ganz bestimmten associativen
Faktor repräsentieren oder symbolisieren kann. Aber nicht
nur in der einfachen Form, wie sie die bisherigen Ausführungen
zeigen, auch in den verwickeiteren Fällen allegorischer Schil-
derung ist ein solches Verhältnis beider Faktoren zu einander
möglich. Dafs ein mit der Sense bewaflöietes Skelett den Tod,
die zum Kriege gerüstete Frauengestalt auf unseren Sieges-
denkmälem Deutschland bedeutet, ist ohne besondere Über-
legung sicher und leicht zu erkennen.
Eine der wirkungsvollsten Radierungen yon Eunobb zeigt uns einen
Torn offenen, nach der Tiefe des Bildes zu sich erstreckenden Engpafs,
Yon steil aufragenden hohen Felswänden eingeschlossen, und in ihm eine
gewaltige Tigerin, das Haupt drohend gegen den Beschauer gekehrt.
Hier giebt es kein Entrinnen — das ist der unmittelbare Eindruck, der
sich bei dieser Scene dem Betrachtenden aufdrängt. Sie ist eindeutig und
verständlich auch ohne jede allegorische Beziehung. Diese wird durch
den Titel „die sociale Frage" hineingetragen. Dadurch wird an der Sach-
lage nichts Wesentliches geändert. Denn der an sich zufällige Zusammen-
hang jenes Bildes mit dem, was wir alle als sociale Frage kennen und
farchten, kann nur insofern eine ästhetische Bedeutung beanspruchen, als
die bildliche Erscheinung Trägerin der ihr beigegebenen Idee ist. Nur
was yon der socialen Frage eine Stimmung in uns weckt, derjenigen
gleichend, die wir empfänden, wenn wir im geschlossenen EngpaTs uns
einer wilden Tigerin gegenüber befänden, hat in dem associativen Faktor
dieses ästhetischen Eindrucks eine Rolle zu spielen. Alles übrige — und
es giebt ja der Gedanken und Vorstellungen, die der Titel in uns wecken
kann, nicht wenige — gehört nicht dazu, überschreitet die Grenzen ein-
deutigen Zusammenhangs.
Damit sind wir bereits stillschweigend einem Einwände
entgegengetreten, der sich an die Forderung der Eindeutig-
keit vielleicht geheftet hat. Nicht den Hinweis auf ein Ein-
zelnes, Konkretes schlechthin verstehen wir darunter, sondern
nur die Ansicht, dafs Gehalt und Form einander decken müssen,
182 Oswald Külpe:
wenn jener zu dem Gesamteindruck einen ästhetisch zu wür-
digenden Beitrag liefern soll. Der associative Faktor kann
somit sehr wohl etwas Allgemeines, ja auch wohl etwas
Wechselndes sein, wenn der direkte keine gröfsere Bestimmt-
heit des Ausdrucks besitzt. Auch das Wortspiel genügt
unserer Forderung, obwohl es die Eindeutigkeit im logischen
Sinn ausschliefst. Unser ästhetisches Postulat schränkt nicht
den Sinn eines Zeichens überhaupt ein, es stellt die Repro-
duktionsthätigkeit nur unter die Bedingung, durchweg und
unmittelbar blofs durch den allen zugänglichen direkten Faktor
als solchen und nicht durch Nebengedanken, eigentümliche
Erfahrungen und sonstige von seiner Natur nicht wesentlich
abhängende Umstände bestimmt zu werden.
Ich bin am Ende. Durch die genauere Begrenzung,
die wir im Interesse der Ästhetik dem Begriff des associativen
Faktors gegeben haben, ist die allgemeine Aufgabe gelöst.
Folgerungen und Anwendungen sehr verschiedener Art hätten
sich anzuschliefsen. Insbesondere wäre die Frage nach dem
animistischen Verhalten, das wir manchen Ästhetikern zufolge
Eaumformen gegenüber einschlagen, einer Erörterung wert. ^)
Auch die Untersuchung der einzelnen Künste und Kunstweisen
von dem hier eingenommenen Standpunkte aus würde einigen
Ertrag versprechen. Nicht minder scheint uns die bisher noch
gar nicht aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit von Super-
Positionen der Reproduktion, die besonders bei der ästhetischen
Wirkung der Poesie eine Rolle spielen, eine Beantwortung
zu fordern und zu verdienen. Aber solche Erwägungen hätten
den Rahmen der mir in diesem Zusammenhange möglichen
Ausführungen gesprengt und zur Begründung der wichtigsten
prinzipiellen Aufstellungen nichts beigetragen. Entbehrt somit
das, was ich hier habe entwickeln können, vielleicht des an-
schaulichen Reizes, der den Anwendungen eigen zu sein
^) ViscHBRs Einfühlung und die ähnliche Ansicht von Lipps fallen
mit den hier entwickelten Einschränkungen des associativen Faktors nicht
völlig zusammen, sondern sind teils engere, teils weitere Bestimmungen.
Auch auf diese Frage gedenke ich später ausführlich einzugehen.
über den associatiyen Faktor des ästhetischen Eindrucks. 183
pflegt, SO wird es dafür einen tieferen und umfassenderen
Blick über die Bestrebungen der modernen empirischen Ästhetik
vermittelt haben. Das Ergebnis der Gedankenarbeit, das ich
darzustellen versuchte, ist durchaus einer psychologischen
Betrachtung der ästhetischen Thatsachen entsprungen. Indem
ich ein Beispiel fruchtbarer Anwendung der Psychologie auf
die Ästhetik vorführte, wollte ich zugleich der Überzeugung
Ausdruck geben, dafs nur eine psychologisch betriebene Ästhetik
unserem wissenschaftlichen BedttrMs genügt, dafs die Ästhetik
nur ein Zweig der angewandten Psychologie ist, der nach
dem Prinzip der Arbeitsteilung zu einer besonderen Wissen-
schaft ausgewachsen ist.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der
Zeitvorstellung,
Von Eugen Posch, Budapest.
(Zweiter Artikel.)
Inhalt.
Die Zukunft blofser Gedanke. Sprachliche Formen der Zukunftsvor Stellung.
Sekundärer Charakter des Grenzenprädikats an der Gegenwartavorstellung. Ob
Gegenwart ein Zeitteil seL Sprachliche Formen des Gegenwartsbegriffs und Ver-
wertung derselben für begriffsgeschichtliche Folgerungen. Anheben der Gleich-
zeitigkeitsvorstellung von Gegenwärtig -Gleichzeitigem. Zwei Anwendungsfölle
dieses Begriffs zu scheiden: überblickbares und nicht überblickbares Gleichzeitige.
Verzeichnis der citierten Bücher.
(Fortsetzung.)
Beekelet: „Abhandlung über die Prinzipien der mensch-
lichen Erkenntnis." Übers, von Überweg, Berlin 1869. (Hieraus
Punkt XCVn — Vin.) — BuDENz: „Magyar-ugor összehasonlitö
szotär." Budapest. — Cohen: „Kants Theorie der Erfahrung."
n. Aufl., Berlin 1885. — Cubtius: „Grundzüge der griechischen
Etymologie." V. Aufl., Leipzig 1879. — DtiHRiNG: „Kursus
der Philosophie ..." Leipzig 1875. — Euler: „R6flexions
sur l'espace et le temps." (In „Histoire de TAcad^mie royale
des sciences et helles lettres". Berlin 1748, S. 324.) —
Fichte, I. H.: „Beitr." = „Beiträge zur Charakteristik der
neueren Philosophie zu Vermittelung ihrer Gegensätze."
Sulzbach 1829. (S. 63—170.) — Fick: „Wörterbuch der
indogermanischen Grundsprache." Göttingen 1868. — Plato:
„Timaeos und Kritias". Griechisch und deutsch. Leipzig 1853,
Engelmann. (Hieraus: Timaeos, cap. 10 und 11.) — Plotinus:
„De rebus philosophicis libri LIV in enneades sex distributi."
186 Eugen Posch:
Ed. : MarsiliusFicinus. Saligniaci 1540. (Hieraus : Enneadis m
über VII: „De aeternitate et tempore".) — Schmitz-Dümont :
„Zeit und Raum .... abgeleitet aus dem Satze des Wider-
spruchs." Leipzig 1875. — Spinoza: „Eth." = „Ethica."
Ed.: Ginsberg. Leipzig 1875. — „Ep." = „Opera, quae super-
sunt omnia." Ed.: Paulus. Jena 1802. (Hieraus: Epistola
XXIX.) — Stiedenboth: „Psychologie . . . ." Berlin 1824,
Bd. I. — Stumpf: „Über den psychologischen Ursprung der
Raum Vorstellung." Leipzig 1873. — Trendelenburg: „Lo-
gische Untersuchungen." Leipzig 1862, H. Aufl., Bd. I.
(Abschnitte V — VL) — Ulrici: „Compendium der Logik."
Leipzig 1860. (§§ 31—33.) — Wundt: „M. Th." = „Vor-
lesungen über die Menschen- und Thierseele. " Bd. I. Leipzig 1863.
n. Die Zukunft.
Begebnisse, welche nach bisheriger Erfahrung gewisse
andere nach sich zogen, m. a. W.: im Entstehen begriffene
Eigenschaftsverbindungen sind der reale Sachverhalt, der den
Vorstellungen von Zukunft zu Grunde liegt. Da das aufsen
wirklich Vorhandene bei dieser Begriffsbildung nur als „An-
zeichen" flir ein anderes Ereignis gilt^) und der eigentliche
Zielpunkt und Gegenstand der Zukunftsvorstellung jenes er-
wartete, 2) folglich ein dem thatsächlichen Weltinhalte nicht
angehöriges, ihm auch niemals einverleibt gewesenes Ereignis
ist : so läfst sich behaupten (wurde auch bereits in sehr klarer
Form von Volkmann S. 18), dafs die Zukunft nicht einmal so
viel Anwartschaft auf Realität, „Nachklang von Wirklichkeit"
(ibid.) besitzt, wie die Vergangenheit.^) Sie ist mehr Sache
der Vermutung, als des Wissens, und da sich ihre Vorstellung
nur aus Erinnerungsbildern von Erlebtem abheben läfst, dem
sie infolge (übersehener) Ungleichartigkeit der damals und der
jetzt vorwaltenden Erzeugungsum stände meistenteils ziemlich
unähnlich ausfällt, während dieses Erinnerungsbild selber dem
wirklichen Eindrucke abgeborgt und bei treuem Gedächtnisse
gut bewahrt werden konnte: so ist erklärlich, wenn die Vor-
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeityorstellung. Ig7
Stellung des Zukünftigen im Vergleich zu der des Vergangenen
ihrem Gegenstande in der objektiven Welt meist weniger
vollkommen entspricht und an und für sich auch ver-
schwommener und undeutlicher Natur ist.
^) Auf dem beständigen Vorhandensein gewisser Zukunfts-Vorboten
in der Gegenwart beruht wohl der LBiBNiz-HKGBL'sche Ausspruch: die
Gegenwart gehe schwanger mit der Zukunft.
*) Das Erwarten als psychische Grundbedingung einer Zukunfts-
vorstellung ist zuerst hervorgehoben bei Augustinüb, der das Vorhandensein
eines gegenwärtigen Seelenzustandes (wie solcher zur Möglichkeit von
Zukunfts- wie von Vergangenheitsvorstellungen gleich unerläfslich ist)
zuerst bei Aussprüchen über beabsichtigte, d. h. seitens des Sprechenden
zu realisierende Zukunft nachwies und sehr richtig „Praemeditation" be-
nannte (cap. 18). Auch die oben erwähnten „Anzeichen", erforderlich als
Anknüpfungspunkte für die „expectatio" bei jenen rein spekulativen Zu-
kunftsurteilen, die ein von auswärts erwartetes Geschehen ausdrücken,
entgingen seiner Aufmerksamkeit nicht. („Cum ergo videri dicuntur futura,
non ipsa, quae nondum sunt, id est quae futura sunt, sed eorum causae
vel Signa forsitan videntur, quae iam sunt. Ideo non futura, sed praesentia
sunt iam videntibus, ex quibus futura praedicantur animo concepta: quae
rursus conceptiones iam sunt et eas praesentes apud se intuentur, qui illa
praedicunt." Ib.) — Der augustinische Gedanke findet sich auch auf un-
günstigen HEOBL^schen Boden (§ 259) verpflanzt, wo er freilich gar keine
weiteren Früchte trug. In seiner vollen Tragweite wurde jener Gedanke
zuerst in der HEBBABx'schen Schule erfafst und hier am klarsten von Waitz
ausgesprochen, der den Eeim jeder Zukunfts Vorstellung, das Noch-nicht,
von Erwartungsgefühlen („Urteilen gespannter und getäuschter Erwartung")
ableitete.
Nach Waitz (S. 584) entsteht uns das Gefühl der Erwartung —
die Grundbedingung jeder Zukunftsvorstellung — in dem Falle, „wenn
eine zur Evolution kommende Vorstellungsreihe durch die sinnliche Wahr-
nehmung darin aufgehalten wird, indem uns diese zu einem längeren
Verweilen bei einzelnen Gliedern der Reihe nötigt, als das psychologische,
von den jedesmaligen äufseren Veränderungen unabhängige Gesetz ihres
Ablaufs verlangf*. Da die „Evolution einer Vorstellungsreihe" nichts
anderes ist, als der Akt, wenn sich dem Vorstellen ein entsprechender
Sinneseindruck unterschiebt, und die „psychologischen Gesetze ihres Ab-
laufs" eigentlich gar keine Gesetze sind, sondern nur die höchst individuelle
Geschwindigkeit des Vorstelluugsverlaufs, d. h. Gelassenheit oder Unruhe
des Temperaments bedeuten, so läfst sich behaupten, daTs obige Darstellung
nichts als eine überflüssige AUegorisierung jener trivialen Wahrheit sei,
wonach Erwartung immer entsteht, „wenn wir's nicht erwarten können",
d. h. wenn die Geschwindigkeit unseres Vorstellungsverlaufs die des Welt-
gangs übertrifft. Diese Ungleichartigkeit der beiderseitigen Geschwindig-
keiten erzeugt nun nicht blofs das an die anticipierte Vorstellung ge-
knüpfte Gefühl von Ungeduld und Erwartung, sondern überzieht auch das
Dargebotene, jene „Anzeichen" bevorstehender Erfüllung eines Erwünschten,
188 Eugen Posch:
in unseren Augen mit dem Schleier des Langweiligen, aus welchem sich
später das Prädikat der Dauer entwickeln kann. All dies, samt der hieraus
hervorgehenden rein suhjektiven Bedeutung der erwähnten Prädikate, ist
auch von Waitz richtig erfafst, wenn er behauptet (S. 697), es entstünde
der Begriff des Während, „wenn wir in der Auffassung einer Ver-
änderungsreihe, deren Fortschrittsgesetz uns bekannt ist, durch eine andere
Beihe psychischer Vorgänge unterbrochen werden, später aber uns zu jener
wieder zurückgeführt finden". Es erschienen „Lücken und Kuhepunkte",
welche nämlich durch unser hastiges Denken entstehen und durch „Urteile
gespannter und getäuschter Erwartung" (= noch nicht !) ausgefüllt werden,
„anfangs als objektive Pausen, als wirkliche Absätze der ineinander über-
gehenden Veränderungen selbst" (da nämlich „die von der gespannten
Erwartung anticipierte Vorstellung auf die gegenwärtige sinnliche Wahr-
nehmung bezogen wird"), indem sie uns „als Unterbrechungen unserer
Beobachtung der Erscheinungen unmittelbar gar nicht bemerkbar werden
können, weil es nicht diese selbst ist, welche wieder von uns beobachtet
wird" (S. 583—586).
Laut Volkmanns noch mehr allegorischer Schilderung ginge das
Prädikat „Noch-nicht", ebenso wie das „Nicht-mehr" (s. o.), hervor aus
dem vergeblichen Anstreben einer reproduzierten Vorstellung C um den
Klarheitsgrad des gegenwärtigen B, wobei der Verfasser dem lernenden
Subjekte kein anderes Unterscheidungsmerkmal für die Auswahl der frag-
lichen zwei Zeitprädikate darzubieten vermag, als den Umstand, dafs,
„während A [das Vergangene], von B verdrängt, dem B widerstrebt, C,
indem es B zu verdrängen strebt, gegen B anstrebt, d. h. während A sinkt,
trotzdem es sich zu behaupten strebt, C sein Ziel zu erreichen nicht ver-
mag, trotzdem es die Tendenz hat zu steigen". Nicht-mehr und Noch-
nicht seien beide „Prätendenten, von denen jener die Krone (=den
höheren Klarheitsgrad), die er besessen, verloren; dieser um eine Krone
wirbt, die er noch nicht getragen hat" (S. 13—14). Dies heifst m. a. W.,
der Mensch hätte den ihm schon so frühzeitig geläufigen Unterschied
zwischen Vergangenem und Zukünftigem durch das jedenfalls schwierig zu
erlangende Bewufstsein erlernt, dafs die thatsächliche Dunkelheit einer
vorliegenden Vorstellung (A oder C) in einem Falle durch Verlust eines
innegehabten Klarheitsgrades entstanden sei, während sie im anderen Falle
aus vergeblichem Bestreben um Neuerwerb hervorgehe. Auch liegt in
dieser Darstellung ein unverkennbarer Zirkel, da dem Lernenden zugemutet
wird, für seine Entscheidung (ob „vergangen" oder „zukünftig") zu er-
wägen, ob ein gewesener oder ein niemals innegehabter Klarheitsgrad
vorliege.
Dafs die erste Zielhandlung, die erste selbstthätige Herbeischaffung
eines Linderungsmittels meines gegenwärtigen Unbehagens vorhergängige
Erfahrungen über Zweckdienlichkeit dieses Mittels erheische, d. h. Fälle
Toraussetze, wo uns dasselbe in einem ähnlichen Zustande ohnmächtigen
Leidens ohne eigenes Dazuthun zufällig zukam, m. a. W. dafs die erste
Zukunft uns von aufsen zugeführt wird, unterliegt wohl keinem Zweifel ;
doch dürfte dieser Umstand keineswegs gegen eine Theorie wie die
GüYAu'sche gekehrt werden, deren Sinn ist, dafs die erste Hinlenkung
Ausgangspunkte zu einer Theorie der ZeitTorstellung. Ig9
der Aufmerksamkeit auf ein Zukünftiges, d. h. das Anspinnen der
ZukunftsTor st eilung, bei und durch Zielhandlungen stattfinde. („Le
futur k l'origine, .... c'est ce que je n'ai pas et ce dont j'ai d6sir ou
besoin, c'est ce que je trayaüle ä po8s6der . . . L'avenir n'est pas ce qui
vient vers nous, mais ce yers quoi nous allons.** S. 32 — 33.) Güyaü scheint
vielmehr dem gewichtigen Sachverhalte gerecht werden zu wollen, dafs
eine Fixierung der Aufmerksamkeit auf successive Darbietungen eines von
uns unabhängigen Weltlaufs, also quasi Naturbeobachtuug, viel entwickel-
tere Geisteskräfte erfordert, als die Eonzentrierung der Gedanken auf ein
durch eigene Arbeitsbeteiligung verwirklichbares Ziel. Primitive Zukunfts-
urteile mit wollen (auch bei äufseren Geschehnissen, s. u.) mögen diese
Theorie bekräftigen; die Ausdrücke Zukunft, avenir, ungarisch jövö etc.,
hingegen, wo ausdrücklich die passive Vorstellung des Kommens unter-
läuft, die Vermutung rechtfertigen, dafs entwickeltere Zukunftsvor-
stellungen aus jener kontemplativen Betrachtung des Naturlaufs entsprungen
seien. Diesem gemäfs möge man die im Texte befindlichen Ausdrücke
„Erwartung" etc. in entsprechend weiterem Sinne nehmen, d. h. auch auf
ein „von mir, von meiner Körperkraft Erwarten" ausgedehnt denken. —
Der Umstand, dafs die anorganische Natur seitens des naiven Beschauers
gleichfalls als „wollend, strebend, beabsichtigend" angesehen wird, mag
der Übertragung der — ursprünglich nur Zielvorstellungen zukömmlichen —
Zukunftsprädikate auf blofs abzuwartende äufsere Ereignisse Vorschub
geleistet haben. Gutau (S. 47) scheint sich diese Übertragung durch die
im „d6sir" keimhaft enthaltene „id6e de possibilitö" (Möglichkeit des ge-
schehen Sollenden) zu denken, welche „id^e" sich dann zu einem „ant^c^-
dent" läutert, d. h. zu „quelque chose d'id6al et d'imagin6 (im weitesten
Sinne) qui pr6cede Papparition vive du r6el".
^) ScHELLiNO nennt sie deshalb, nämlich weil sie die Haupteigen-
Bchaft des Zeitstromes, seine Irrealität, am deutlichsten zur Schau trüge,
„das Zeitlichste der Zeit". Seine hier wie sonst ziemlich kraus geratene
Schilderung lautet: „Das in der Zeit eigentlich Zeitliche ist die Zukunft.
Denn die Zukunft ist das, wodurch das Bejahende mit seinem Bejahten"
(soll vielleicht heifsen: Subjekt mit dem Prädikat), „die Möglichkeit mit
ihrer Wirklichkeit verbunden wird; der Begriff derselben beruht also am
meisten auf dem Gegensatz dieser beiden" (Aph. 214). Des ferneren
meint er, „da . . . die Zukunft lediglich denkbar und offenbares Produkt
blofser Imagination" sei, das „einzig Beeile" an ihr in einem „Bande des
Bejahenden mit dem Bejahten, d. h. in dem Nichtzeitlichen" (Aph. 215)
entdeckt zu haben. Ähnliche Bänder erblickte er auch an der Vergangen-
heit und der Gegenwart (Aph. 220, 224), von denen er erstere wegen ihrer
Nichtzeitlichkeit und seiner äonensüchtigen Theorie zu Liebe geradewegs
mit Ewigkeit identifizierte (vergl. S. 72 dies. Zeitschr.).
Aus den Entstehungsbedingungen der Zukunftsvorstellimg
ergiebt sich, dafs dieselbe jedenfalls erst nach der des Ver-
gangenen kann Wurzel gefafst haben, ^) und zweitens, dafs
for die Bildung derselben die betonten Empfindungen, als
natürlichster Gegenstand der Erwartung und Befürchtung,
190 Eugen Posch:
des Anstrebens und Vorbauens von höchstem Belang sein
müssen (ebenso wie bei der Vergangenheits Vorstellung).
') Laut Waitz (S. 585), weil der Begriff des Noch-nicht eine „be-
festigte Vorstellungsreihe" erfordert.
Um Mifsverständnissen vorzubeugen, sei hier bemerkt,
dafs wir die Festlegung zweier so grundverschiedener Zeit-
kategorien, wie die der Vergangenheit und der Zukunft,
keineswegs auf den allerdings geringen Unterschied zwischen
dem blofsen Quäle, den Tonförbungen eines Erwartungs- und
Mangelgelühls (der Mangel Empfindende hat die Fortsetzung
des entschwundenen Angenehmen doch gewifs erwartet, vergl.
Waitz S. 589) zurückführen, sondern den ferneren Verlauf
der beiderseitigen Apperceptionen, wenn es sich um Ver-
gangenes und wenn um Zukünftiges handelt (Bemerkung von
Anzeichen in einem Falle, und Mangel solcher im anderen),
d. h. die Entstehungsumstände jener Gefühle verschieden
genug halten, um Verwechselung der beiden Begriffe seitens
des Sprechenden, die vielleicht niemals vorkommt, hintanzu-
halten. Wo es fraglich werden sollte, ob das Erwartete nicht
vielleicht schon gewesen ist, da bieten sich dem Zweifler
genug äufsere Umstände und Fingerzeige zur Entscheidung
dar (z. B. Mangel der notwendigen Folgen des Erwarteten,
und bei geistig Vorgeschritteneren: die Möglichkeit einer
Selbstbeobachtung, nämlich der Besinnung auf die bis zum
Eintritt des Zweifels durchlaufenen Seelenzustände).
GüYAü (S. 26) behauptet das Gegenteil. Seine Berufung auf Vor-
kommnisse bei psychophysischen Experimenten, wo ein seitens der Ver-
suchsperson gespannt erwarteter Eindruck (== Zukunft) irrtümlich als be-
reits eingetreten («= vergangen) signalisiert wird, scheint mir jedoch in
der gewünschten Kichtung nicht beweiskräftig zu sein, da in den Fällen
Vorzeitiger Registrierung stets nur eine unrichtige Ausdeutung eines dem
erwarteten Eindrucke in irgend welcher Beziehung ähnlichen oder mit
ihm verknüpft gedachten Nebeneindruckes vorliegt, weshalb diese
Fälle nur jenen gewöhnlichen Begebenheiten des Alltagslebens an die
Seite zu stellen sind, wenn ich ein während meiner Erwartung eines be-
stimmten Besuches wahrgenommenes Geräusch irrtümlich für Ankunft
jenes gewissen Freundes ausdeute.
Auch sei noch erwähnt, dafs der Bannkreis der Ver-
gangenheitsvorstellung ein bedeutend weiterer ist, als der der
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeityorstellung. 191
Zukunft, da eigentlicli sämtliche Vorstellungen, die unser Ge-
müt, unabhängig von äufserem Gegebenen, bewegen (z. B.
Phantasiegebilde), weil füglich — ihren Baustücken nach —
sinnlichen Ursprungs, das Beiwort der Vergangenheit wohl
verdienen, wenn auch nicht immer fuhren; wogegen das Prä-
dikat des Zukünftigen nur jenen unserer Vorstellungskomplexe
gebührt, an die sich begründete Erwartung knüpft.
Was die Formen des Zeitworts in Zukunftsurteilen
anbelangt, so dürfen wir als Ergebnis indogermanischer Sprach-
wissenschaft hinstellen, dafs es ureigentlich Zukünftiges be-
zeichnende Exponenten ebenso wenig giebt, wie solche für
Vergangenes. Andererseits läfst sich ein geeignetes Substrat
für den Exponenten, aufgefafst als Bezeichnungsmittel, hier
viel leichter ausfindig machen, als bei Vergangenheitsurteilen,
da nämlich das Futurum in den indogermanischen Sprachen,
wo nicht durch blofs präsentiale Formen vertreten, ^) beinahe
ausschlief slich durch Umschreibung mit Hilfszeitwörtern^) ge-
bildet wird, welche, wie gehen, werden, anfangen, wollen,
haben zu . . . etc., sehr klar die äufsere, dem erwarteten
Ereignis vorhergängige Sachlage (s. „werden") oder anderseits
den Seelenzustand des Wartenden^) als jenes gesuchte Substrat
(Gegenstand der Bezeichnung für den Futural-Exponenten)
erkennen lassen. Die Sprache erfafst das Zukünftige, ebenso
wie das Vergangene, an seinen in die Gegenwart hereinreichen-
den Fäden; sie läuft ihm nicht nach, noch greift sie ihm
vor, — ein wichtiger Fingerzeig für den Zeitpsychologen,
nicht dem entschwundenen Eindrucke nach, noch dem Zu-
künftigen entgegen zu spähen, wenn er was lernen will,
sondern hineinzublicken in die Seele des erinnerungs- und
erwartungsvollen Menschen.
^) So die lateinischen futura auf -bo, falls b blofses Hiatusfüllsel ist.
^ Als solche erscheint auch der ursprünglich modal-potentiale [nicht
temporal-futurale ^)] Ausdruck mit -ao) im Griechischen,^) entsprungen aus
^) Vergl. Tobleb: „Die Ansicht, dafs die Tempora (doch wohl das
Präsens ausgenommen) aus ursprünglichen Modi erwachsen seien, kann
sich am ehesten auf das Futurum stützen, welches auch, wo es in relativ
einfacher Form vorhanden ist, d. h. nicht überhaupt fehlt oder umschrieben
192 Eugen Posch:
sanskr. -syami = as [verb. subst.] + ya [Potential -Exponent, wo ya
vielleicht =«= y „wünschen" + a, ein Bindevokal. Bopp, § 670 — 671].
^) Je parler-ai = j'ai [nämlich: le dessein] ä parier; offenbar im
Englischen: I shall say, he will say.
Die innigere Verwandtschaft der beiden Zeitkategorien Vergangen-
heit und Zukunft im Vergleich zur Gegenwart scheint bereits in
jener Platonischen Gruppierung ausgedrückt, wonach die ersterwähnten
Zwei nichts als „abgeleitete Formen" der Zeit selbst seien, (to r ^v xb
T^axai xQovov yeyovdta stöi], cap. 10.) Dafs diese Verwandtschaft in
Irrealität derselben bestehe, ist zuerst bei Aristoteles ausgesprochen
(vergl. S. 53 — 54 dies. Zeitsch.). Noch klarer liegt das Bewufstsein ihrer
Zusammengehörigkeit den Forschungen eines Augustinus („duo . . . illa
tempora, praeteritum et futurum quomodo sunt?" — cap. 14) oder Con-
DiLLAC nach den psychologischen Entstehungsquellen für jene beiden Zeit-
teile zu Grunde. Selbstverständlich auch denen der gesamten HERBABT'schen
Schule. Vergl. oben in den Citaten gewisse Behauptungen, die gemeinsam
auf Zukunft und Vergangenheit ausgedehnt sind.
ni. Die Gegenwart.
Die Lehre vom Entstehungsgang unserer Erkenntnis,
die ihre Forschungen naturgemäfs bei den einfachsten Be-
griflfsgebilden beginnen mufs, braucht sich durch Nebenvor-
stellungen von Flüchtigkeit, Punkt- und Grenzähnlichkeit (wie
solche dem hier fraglichen Begriffe anhaften und u. a. von
Leibniz, N. A., S. 131, gegenüber der LocKE'schen Definition
des Augenblicks hervorgehoben wurden und [vergl. Guyau
S. 30, 64] jedenfalls spätere Hinzufügungen sind) nicht be-
irren zu lassen,^) und mag die Gegenwart getrost mit dem
unbefangenen Auge des Kindes für „jene weite Welt der Ge-
nüsse und Belehrung da draufsen" ansehen, welche der Auf-
fassung gemächlich stand hält und in der Kinderseele alles
eher als (ScHOPENHAUEB'Sche I, S. 403) Ideen von Vergäng-
lichkeit (dafs die Gegenwart „ein stetes Sterben, ein stetes
Hinstürzen in die tote Vergangenheit" sei) erweckt. Sie ist
also auf dieser Stufe mit Objektivität, Vorstellungssubstrat,
Realität (noch nicht mit Dauer) gleichbedeutend, wie sich
wird, sich als spätere Bildung, aus dem Konjunktiv oder Optativ ent-
nommen, zu erkennen gieht."
2) Inwiefern das ao) ursprünglicher Ausdruck für ,,Darauflosgehen*'
sein soll, wie Yolkuavs (S. 18) will, ist nicht erfindlich.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 193
denn auch an Metaphysischem nicht viel mehr Ober Gegenwart
beibringen läfst, als dafs sie der einzig rechtmäfsige (zum
mindesten der ursprünglichste) Besitzer und — in ihrem
Eindrucke auf uns — der Entstehungsgrund des Realitäts-
prädikates ist, welches von ihr und nur im Hinblick auf sie
auch auf vergangene Eindrücke übertragen wurde. ^)
^) AxiBTOTBun' Einwendungen wider beide der gegenteiUgen An-
schauungsweisen des Jetzt (ähnlich denen des Sextüb Emfibicus s. u.)
liegt statt Yermittlungstendenzen nur die echt skeptische Absicht zu
Grunde, an der angeblich widerspruchsvollen Natur dieses einen Zeitteiles
das irreelle, blofs schattenhafte {/lokig xal afAvSgmq, IV, cap. 10) Wesen
der Zeit selbst darznthun. Er behauptet, wohl unter Heranziehung ge*
wisser ^^wxsgixol Xoyoi (ib.): 1. Die Dauerhaftigkeit des Jetzt (dafs es
fv xtd tavxov asl öiafihei, ib.) sei unmöglich, weil in diesem Falle auch
Ereignisse der nächst zukünftigen Jahrtausende in dasselbe miteinbegriffen,
d. h. Jetzt" Torhanden genannt werden dürften. 2. Anderseits sei auch
ein fortwährender Wechsel (aXlo xal aXXo, ib.) der Jetzt-e ausgeschlossen,
da der Zeitpunkt des unTermeidlichen Verschwindens dieser Zeitprodukte
unbestimmbar sei, indem das frühere Jetzt a) weder so lange es gegen-
wärtig ist, b) noch in dem späteren Jetzt-e yerschwinden könne, weil die
letztere Annahme eine der Erfahrung widerstreitende punktmäfsige (nicht
stetige) Anreihungsweise der Jetzt-e ergäbe. (?arce> yccQ aövvatov ixof^'^^ff
slvui äXkijküfv tä vvv, SaneQ (ftiyfji^ atiyfi^g, ib.) — Bei 1. blieb unbe-
achtet, dafs gröfsere Zeiträume doch nur auf Grund ihrer inneren Gleich-
förmigkeit und ihres Gegensatzes zu einem Vorherigen, folglich nur,
wenn sie überblickt werden können — was bei Zeitabschnitten,
die aus Gegenwärtigem und Zukünftigem zusammengesetzt gedacht werden,
offenbar nicht der Fall ist — , den Namen „Gegenwart" annehmen. Man
bedenke den Ausdruck „heutzutage" oder Schopbnhauebs gerügte „Jetzt-
zeit". Bei 2. b) ist übersehen, dafs die Augenblicke, aus denen Dauer-
eindrücke aufgebaut scheinen, keineswegs durch objektive Taktstriche an
den letzteren bezeichnet zu sein brauchen (yergl. Humb, S. 139 — 140), um
angenommen werden zu dürfen.
Des Sbxtüs Ekpiricus ähnliche Einwendungen — hervorgegangen
aus einer Yermengung der zwei möglichen Bedeutungen des Wortes
„Gegenwart" — lauten: 1. Die Gegenwart könne nicht teilbar sein und
zwar, weil sie in diesem Falle a) entweder aus lauter kürzeren Gegen-
warten bestehen müfste (was wegen des bekannten Übergehens jeglicher
Gegenwart in Vergangenheit ausgeschlossen ist), oder aber b) aus einem
vergangenen und einem zukünftigen Teile müTste zusammengesetzt sein,
was wegen der Nichtexistenz dieser Zeitstücke wieder unmöglich ist, be-
ziehungsweise zur Nichtexistenz der Gegenwart selber führen würde.
2. Anderseits sei die Gegenwart auch nicht unteilbar, da in ihr doch an-
erkanntermafsen verschiedene Ereignisse stattfinden (z. B. Eisen zum
Schmelzen kommt), was bei blofs punktueller Ausdehnung derselben un-
möglich wäre. Aufserdem könnte sie, wenn unteilbar, weder Anfang,
YlerteljahrsBchrift f. wlBsenschaftl. Fhilosopliie. XXIII. 2. 13
294 Eugen Posch:
noch. Ende, noch auch eine Mitte hahen, d. h. sie würde üherhaupt nicht
existieren (Pyrrh. 144-146, Phys. 198).
Das BewuTstsein der Zulässigkeit zweier verschiedener Auffassungs-
arten der Gegenwart liegt auch der Bemerkung des Apollodobus und
PosinoNiüs (bei Stobabus) zu Grunde, welche Philosophen die Benützung
des Ausdruckes Jetzt in Fällen, wo nicht Zeit grenze gemeint ist, als
eine blofse Bedeutungserweiterung („ampliori comprehensione") hinstellten
und verteidigten. Desgleichen erwiderte Damasciüs dem Abistotbles:
das Jetzt sei teilbar, sofern es als Zeitbestandsstück gilt, hingegen un-
teilbar, wenn als blofse Zeitgrenze betrachtet, (xov xQovov xä fihv atg
Tcigaza xa vvv ccfjisQrj iaxi, xä Sh dg /jtsQtj ovxhi, Simpl. 183 — 184. —
Vergl. letzteres bei Abistoteles: als Zeit grenze gefafst könne es nicht
zugleich Zeit sein. IV, cap. 11. — Ähnliches verficht Lbibniz gegen Locke
betreffs des Augenblicks. S. o.)
Hbgel machte sich wenig Skrupel über die Frage, ob das dauerhafte
Jetzt aus dem punktmäfsigen, oder dieses aus jenem und in welcher
Weise es hervorgehend gedacht werden könne. , Er läfst (§ 259) das
flüchtige Jetzt einfach „als seiend fixieren^, um „die endliche (Gegenwart"
daraus zu erhalten. Dafs ihm übrigens das punktmafsige Jetzt als die
ursprünglichere der beiden Vorstellungen gegolten habe, glaube ich aus
folgender Stelle entnehmen zu können, — soweit ich nämlich solches
Deutsch zu verstehen vermag: „Das unmittelbare Verschwinden dieser
Unterschiede" (nämlich der drei „Dimensionen" : Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft) „in die Einzelheit ist die Gegenwart als Jetzt, welches
als die Einzelheit ausschliefsend und zugleich schlechthin kontinu-
ierlich in die anderen Momente, selbst nur dies Verschwinden seines
Seins in Nichts und des Nichts in sein Sein ist" (ib.).
2) Diese Auffassungsart dürfte wohl jene LiEBMAira'sche (S. 90 — ^91)
Gegenüberstellung der Gegenwart mit den anderen zwei Zeitphasen ver-
anlafst haben, in welcher für erstere ungerechtfertigterweise ein Sein
beansprucht wird, was wohl für ihr Substrat, aber keineswegs für sie
selber gilt, die doch im heutigen Sinne, d. h. mit all den oben (von Leibniz)
berührten Nebenvorstellungen ausgerüstet gedacht werden mufs.
Schopenhaubbs Ausdruck: Gegenwart allein sei „die Form des
Lebens oder der Eealität" (I, S. 363) ist eine durch EANT'sche Terminologie
verundeutlichte Fassung jenes wertvollen positivistischen Gedankens, der
in voller Klarheit auf Seite 365 des Erstgenannten erscheint: „reale Ob-
jekte giebt es ... . nur in der Gegenwart; Vergangenheit und Zukunft
enthalten blofse Begriffe und Phantasmen". (Eine vorhergängige Er-
klärung: „In Wahrheit .... macht .... nur der Berührungspunkt des
Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt ... die Gegenwart
aus" — enthält keine Abschwächung dieses Gedankens, wenn sie in dem
Sinne genommen wird: nur durch die erwähnte Berührung könnten Gegen-
wartsbegriffe entstehen.)
Mit dem hier beregten Gedanken hängt wohl die Streit-
frage zusammen, ob die Gegenwart ein Zeitteil sei oder keiner.
Ihre Lösung lautet: Das, was ursprünglich blofs Ursache
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. ^95
der Zeitvorstellung, d. h. der Ausbildung einer Zeitreihe war
(nämlich die thatsächliche Empfindung, als notwendiges Gegen-
stück zum Bewufstwerden eines Andenkens als solchen)^ wird
später bei bereits entwickelter Zeitvorstellung mit in dieselbe
als Bestandteil der Zeitreihe aufgenommen.
Aristotblb» verficht ein gegenseitiges AbhängigkeitsyerhältniH
zwischen Gegenwart und Zeit und vergleicht es mit dem zwischen Be-
wegtem und Bewegung (ro (psQOfiBvov und ^ <poQa\ Einheit (/lovag) und
Anzahl (vergl. seine Zeitdefinition, IV, cap. ll). An anderer Stelle (ib.
cap. 10): Gegenwart sei deshalb kein Zeitteil, weil die Zeit nicht aus
lauter Gegenwarten besteht.
Die Unhaltbarkeit der GuYAu'schen Hypothese, wonach die gesamte
Zeitvorstellung, nämlich alle drei Phasen, von der Thatsache des mensch-
lichen Handelns ausginge („en d^sirant et enagissant dans la directiou
de nos dßsirs, nous cr^ons k la fois l'espace [!] et le temps" ; S. 46), bekundet
sich am besten durch die Verlegenheit ihres Urhebers bei der Gegenwarts-
vorstellung, welche gemäfs seiner Hypothese aus dem Handeln heraus
zu erklären seinem besseren Bewufstsein widerstrebte, demzufolge zur
Möglichkeit der Gegenwartsvorstellung schon die thatsächliche Em-
pfindung eines irgendwie Gegebenen (der „contuitus", bereits bei Au-
ousTiKüs cap. 20) Ausreicht, das so Empfundene also getrost von uns un-
abhängiger, z. B. gegenständlicher Natur sein könne, und keineswegs eine
unserer selbstbeobachteten Handlungen zu sein braucht. Aus dieser Klemme
trachtet nun der Verfasser mit Hilfe der Etymologie herauszukommen,
welche ihm zum Glücke gewährleistet, dafs „actualit6" [d. h. das wirklich
Empfundene] von ,,action" herstammt (s. die Zusammenstellung dieser
beiden Worte in der Stelle S. 29 : „tout d'abord, sous l'id^e de präsent, se
trouve Celle d'actualit6, d'action . . .**), womit die Hypothese von einem
Mitobwalten der „action" bei dem Gegen wartsbegriife gerettet — sein möchte.
Herbarts treffender Ausspruch, dafs die Succession im
Vorstellen noch keine vorgestellte Succession sei (Lehrb. 174),
mit dem er die Blicke auf die Bedingungen und Umstände
der Auffassung des faktisch in der Zeit Gegebenen hinlenken
wollte, erscheint besonders bei dem Gegenwartsbegriffe ge-
rechtfertigt, da es hier klar am Tage liegt, dafs durch blofses
„Vorlegen" nichts erklärt wird, indem thatsächliches Gegeben-
sein eines Objektiven, die blofse Betrachtung (contuitus) des-
selben, noch keineswegs den Begriff, das Bewufstsein der
Verschiedenheit dieses Eindrucks von Vergangenem und Zu-
künftigem, d. h. jene Vorstellungen erzeugen kann, die einem
seines Namens werten Begriffe von Gegenwart auch für den
Laien untrennbar anhaften.
13*
196 Eugen Posch:
ScHSLUKG nennt die Gegenwart yielleicht deshalb, d. h. weil ihr
Begriff nur durch Yergleichung des Empfundenen mit Erinnerlichem und
Erwartetenl entstehen konnte, die „Einheit von Vergangenheit und Zu-
kunft". Hieran knüpft sich ihm die Folgerung, es könne „das wahrhafte
Lebendige in der Zeit" nur in der Gegenwart herrortreten, „wie das
eigentümliche Keale im Kaume nur die dritte Dimension, als die Synthese
der beiden ersten ist" (Aph. 219). Worte, Worte!
DaXs das Unterscheidungsmerkmal, dessen Erfassung für
das Festwerden eines — gleichwohl nur rudimentären —
Gegenwartsbegriflfes ausschlaggebend ist, durch das Gewahr-
werden jenes „Gefühles organischen ErgriflFenseins" (Hob-
wicz) — jenes andersartigen Gefuhlstones beim Empfinden^
als bei blofsem Vorstellen — beigebracht werde, ist bereits
oben erwähnt (vergl. S. 62—65).
Wenn das Vorkommen gewisser perfektiver und futuraler
Formelemente am Zeitworte noch nicht als Beweis fiar eine
bei dem Sprecher erfolgte Ausbildung der betreffenden Zeit-
kat^gorien im heutigen Sinne dienen konnte, wie viel weniger
kann die thatsächliche Verwendung von Präsentialformen, die
sich bekanntlich durch Mangel jedwedes Zeitexponenten aus-
zeichnen, ^) als Anzeichen eines errungenen Gegenwartsbegriffs
gelten! Der Umstand, dafs der blofse Verbalstamm, das
sprachliche Äquivalent des blofsen Empfindungsquales, zugleich
Präsens ist, beweist zur Genüge, dafs diese Form einer Sprach-
bildungsepoche entstammt, wo der gegenwärtige Eindruck nur
zur Benennung seines qualitativen Inhalts anregte und das
zeitliche Moment, nämlich Vergänglichkeit oder Dauer des
Gegebenen — auch für den heutigen Zuschauer mehr oder
weniger zurückgedrängt — , nicht zum Bewufstsein gelangte.
Jedenfalls darf man mit einfachem Hinweis auf den
Umstand, dafs bei Vorbehalt des exponentenlosen Ausdrucks
für eine einzige Zeitform ein Mifsverständnis ausgeschlossen,,
ein Präsentialexponent somit „überflüssig" sei, über den be-
regten Sachverhalt nicht hinwegeilen, da für den Psychologen
^) Ausnahmefälle, wie die erweiterten Stämme auf -sc, -n und -io
im Lateinischen nascor, tango, capio (Wurzel: nat-, tag-, cap-),
sind kein Einwurf, da ihr Auftreten im Imperfektum den angehlichea
Präsentialwert dieser Bildungssilben zweifelhaft erscheinen läfst.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 197
eben das interessant ist, warum gerade die Gegenwart von
den drei Zeitphasen für eine solche indirekte Bezeichnungsart
auserkoren wurde. Hierauf läfst sich nur antworten: weil bei
dem Gegenwartsurteil jenes hinzukömmliche Moment bei Apper-
ception des prädikativen Ereignisses fehlt, dem zuliebe der
Verbalstamm bei den anderen zwei Zeitphasen in irgend
welcher Weise abgeändert werden mufste : nämlich das Gefühl
des Mangels und der Erwartung. Der blofse Verbalstamm
ist — als Interjektion aufgefafst — Gefühlsäquivalent des
rein qualitativen Eindrucks, gilt folglich nur einem Zuhörer
mit voll ausgebildeter Zeitvorstellung und nicht dem naiven
Sprecher selbst für gleichzeitigen Ausdruck eines Jetzt; die
Momentan- (Perfektiv-) Form ist einheitliche Empfindungs-
äufserung -für qualitativen Eindruck plus Mangelgeflihl, ebenso
wie die Futural-Form für qualitativen Eindruck plus Er-
wartung. Wenn somit das Gegenwartsurteil um eine Apper-
ception ärmer ist, als die zwei anderen, so läfst sich behaupten,
was an und für sich schon plausibel klingt, dafs es im Ver-
gleiche zu letzteren älteren Ursprungs ist, was selbst bei
Veranschlagung der (nicht bis zu einheitlichem Ausdruck ge-
diehenen) chinesischen Perfekt- und Futurumbildungen (uo
hio-kuo = ich habe gelernt, s. o.S.64; uo jao-hios*» ich werde
[= will] lernen) wahrscheinlich bleibt, da kürzere Apper-
ceptionsprozesse früher entstanden sein müssen, als längere.
IV. Die Gleichzeitigkeit.
ScHOPENHAUEBs Behauptung, wonach die Gleichzeitigkeit
nicht Zeit-, sondern wenigstens zur Hälfte Eaumkategorie sei,
ist besserer Unterstützung bedürftig und auch fähig (hierüber
w. u.), als diejenige ihres Verfechters war („sind zwei Dinge
zugleich und doch nicht eins, so sind sie durch den Raum
verschieden; sind zwei Zustände eines Dinges zugleich —
z. B. das Leuchten und die Hitze des Eisens — , so sind sie
zwei gleichzeitige Wirkungen eines Dinges, setzen daher die
Materie und diese den Eaum voraus," I, S. 601), welche unter
Hinweis auf gleichzeitiges Vorkommen rein qualitativer
198 Eugen Posch;
Empfindungen (z. B. Kopf- und Zahnschmerz) u. a. auch
seitens Etpfebths (S. 49) begründete Mifsbilligung fand.
Vorderhand möge sie jedoch im Hinblick auf ihre Benennung
als Zeitkategorie behandelt werden.
Die Ausbeute an metaphysischem Material, welche sie
gewährt, ist, wie übrigens auch bei den bisherigen Zeitkate-
gorien, eine ziemlich spärliche. Die objektive Thatsache
nämlich, die hier zu Grunde liegt (dafs stets mehr als eine
Verbindung — Komplexion — in den Sinneshorizont des Em-
pfindenden ein- und aus selbem austreten könne), kann be-
züglich ihres Warum oder der Anzahl und Umstände solcher
eintrittsfähiger Komplexionen, worauf vielleicht jemand begierig
sein dürfte, hier ebenso wenig erörtert werden, als uns der-
gleichen an den bisher (Abschn. I — IH) angeführten Welt-
thatsachen beschäftigen konnte, indem nur der Physik (das
Wort im weitesten Sinne genommen) eine Kompetenz flir
ähnliche Entscheidungen zusteht.
Für die psychologische Seite der Frage, nämlich die,
welche sich auf die Ursache des Entstehens der Gleichzeitig-
keits vor Stellung zuspitzt, mufs im Sinne des auf Seite 72
dieser Zeitschrift erwähnten HEBBABT'schen Ausspruches das
Prinzip vor Augen behalten werden, dafs die Thatsache des
Gegebenseins gleichzeitiger Sinneseindrücke zu erwähntem
Behufe erst bei Kenntnis ihrer Aufiassungsweise seitens des
Betroffenen von Wert sei. Eine gewisse Arbeitserleichterung
wird durch Erwägung des Umstandes erzielt werden können,
dafs die Vorstellung vergangener und zukünftiger Gleichzeitig-
keiten an und durch gegenwärtige entstanden ist, folglich
nur letztere eigentlich untersucht zu werden brauchen, insofern
nämlich vergangene Ereignisse stets dann und deshalb als
gleichzeitig gedacht werden, wenn und weil sie zu Zeiten
ihrer Gegenwärtigkeit als gleichzeitig erfafsbar gedacht wurden.
Da nun eine Vielheit von Gegenwärtigem nicht nur in
dem Falle für gleichzeitig gilt, 1.) wenn sie bei entsprechender
Gruppierung mit einem einzigen Blicke übersehen wird, d. h.
wenn sämtliche Teile gleich regen Sinneseindruck verursachen
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeityorstellung. 199
(^wobei die Aufmerksamkeit möglichst gleichmäfsig auf sämt-
liche Eindrücke gerichtet ist", Wundt, Ph. Ps., ü, S. 332),
sondern auch 2.) wenn letzteres infolge räumlicher Auseinander-r
ruckung nicht stattfindet: so ergeben sich für die psycho*
logische Untersuchung naturgemäfs zwei Fälle, die gesondert
behandelt werden wollen.
Die nächstgelegene Frage, die sich bei Fall 1.) aufwirft,
nämlich „warum der Sehende das Linienstück B, das er mit
dem Stücke A auf einen Blick übersieht, auch gegenwärtig
nennt?" erledigt sich einfach durch Hinweis auf gehörige
Konsequenz des Sehenden, welcher gleiche Lebhaftigkeitsgrade
des Vorstellens mit gleichen Zeitprädikaten belegen wird.
Jene tiefergehende Nachforschung, weshalb er das einheitlich
Überblickte und als gegenwärtig Aufgefafste in Teile scheidet,
d. h. für eine zufallige Gruppierung selbständiger Individuen
ansieht — eine begreiflicherweise notwendige Vorbedingung
zur Anwendung des Gleichzeitigkeitsbegriffes („auch B ist
jetzt da") — , diese Frage, meine ich, ist nicht zeitpsycho-
logischer Natur und braucht uns deshalb um so weniger zu
beschäftigen, als sie unter Hinweis auf Erfahrungen über
Verschiebbarkeit, Beweglichkeit etc. der gegebenen Teile,
wodurch diese sich erst als Individuen kundgeben, schon
mehrfach erledigt wurde.
CoNDiLLACs Statue vermag die gleichzeitig einwirkenden Geruchs-
und Tonempfindungen nur durch die Erinnerung an vorherigen successiven
Eintritt solcher Empfindungen zu scheiden [I, chap. 9, § 3]. Spenobr er-
klärt das Vorhandensein gesonderter Aufnahmsnerven und das Bewufstsein
der räumlichen Entfernung der Eindrucksstellen für die Vorhedingung der
Erkenntnis, daüs der empfangene Gesichtseindruck von mehr als einem
Gegenstande herrührt (§ 366). Sein hieraus gezogener Bückschlufs, dafs
zur Entstehung des Begriffs „Eo Existenz" stets die Hilfsvorstellungen
räumlicher Entfernung notwendig seien, mag bezüglich dieses Begriffs
wohl seine Bichtigkeit haben, liefse sich jedoch auf unseren weiteren von
Gleichzeitigkeit nicht anwenden.
Die Entwicklung des in Rede stehenden Begriffs ist also
im Falle 1.) ein Leichtes und würde sich augenscheinlich auch
dann nicht schwieriger gestalten, wenn sich durch entwick-
lungsgeschichtliche Ergebnisse herausstellen sollte, dafs bei
dem Menschen jene unterscheidungsunfilhige Anschauungs-
200 Eugen Posch:
weise — wo ihm nämlich das möblierte Zimmer einem Haat-
relief gleichkam, d. h. er die Möbel für Wandauswüchse an-
sah — ein läaigst überwundener Standpunkt und das BewuJst-
sein getrennter und nur zusammengerückter Objekte bereits
lange vorher eingetreten sei, wenn sich ihm das Gegebene
als in strengem Sinne gegenwärtig darstellt. In diesem Falle
liejGse sich das Entstehen des Gleichzeitigkeitsbegriffs allerdings
nicht einfach durch erfolgte Verteilung des dem „teillosen"
Komplexe beigelegten Gegenwartsprädikats auf die nun er-
sichtlich gewordene Vielheit von Eindrücken erklären, wie
oben; es bliebe jedoch der bereits erwähnte Ausweg der
„Konsequenz" übrig, und die Antwort auf unsere Frage : „wie
entsteht die Vorstellung eines gleichzeitig Gegenwärtigen?"
würde lauten: „dadurch, dafs das Individuum von selten eines
zweiten Sinnesinhalts, welcher sich mit dem ersten zu einer
Gesamtempftndung verbinden läfst, den nämlichen Lebhaftig-
keitsgrad empfindet, dem zuliebe es den ersten Sinnesinhalt
f&r gegenwärtig erklärt hat".
Wenn die Daten A und B nicht auf einmal, durch einen
einzigen Blick erfafst werden können (= Fall 2), so mufs
hervorgehoben werden, dafs ihre Gleichzeitigkeit stets er-
schlossen und nicht unmittelbar bemerkt wird, selbst in dem
Falle, wenn B durch einfache Augenwendung von A aus er-
reichbar wäre. Es darf nämlich die, wenn auch blofs logische
Möglichkeit einer Unterschiebung eines dem A in allen Stücken
ähnlichen A' während der Hinwendung des Blickes nach B
nicht übersehen werden, — ein Fall, durch welchen die Be-
hauptung, A und B seien gleichzeitig, illusorisch gemacht
werden könnte, da A längst zu Grunde gegangen sein mag,
wenn der zurückkehrende Blick, durch die Ähnlichkeit ge-
täuscht, jenes zweite Bild (A') von .der Stelle des A, dem
nämlichen Objekte A zuschreibt.
Dem bei Spenceb (§ 366) betonten, im Grunde HsBBABT'schen Ge-
danken, wonach sich bei unserer Unfähigkeit, mehr als einen Baumpunkt
mit YoUer Aufmerksamkeit zu erfassen, der Begriff „Gleichzeitigkeit"
(Koexistenz) stets nur durch hin und her (von A nach B und dann von
B nach A) laufende Vorstellungsreihen bilden könne (§ 365) — dieser
\
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 201
Ansicht halte ich die STUMFF'sche Bemerkung entgegen: „es wird nicht
snerst durch Bewegung des Auges ein Teilchen nach dem anderen und
ohne es wahrgenommen, sondern ohne Bewegung das ganze Gesichts-
feld« (S. 69).
Wo folglich die Behauptung von Gleichzeitigkeit recht-
mäfsig sein soll, da müssen Fährlichkeiten, wie die oben er-
wähnten Unterschiebungen, ausgeschlossen und der Sprechende
sich dieses Umstandes bewuTst sein, wozu er im Vertrauen auf
sein Gehör — wenn A und B Gegenstände sind — , welches
ihm dergleichen Vorgänge wohl verraten würde, auch be-
rechtigt ist. Hiermit will nicht behauptet sein, man hielte
die Möglichkeit erfolgter Unterschiebung stets vor Augen,
wenn man auf Grund hin und her eilenden Schauens die
Möbel im Zimmer für gleichzeitig vorhanden erklärt. Nur
das soll betont werden, dafs man gemeiniglich viel mehr un-
mittelbar zu sehen vermeint, als was man wirklich sieht
j(gegeben ist mir bei dem zweiten Hinblicke doch nur ein
dem ersten Bilde A ähnlicher Eindruck; dafs derselbe vom
nämlichen Gegenstande herrührt, kann ich unmöglich sehen,
sondern nur folgern) — ein Punkt, über welchen sich sehr
interessante Ausfuhrungen in Helmholtz's physiologischer
Optik vorfinden.
Viel klarer liegt das Mitobwalten einer Schlulskette am
Tage bei Urteilen über unübersehbares Gleichzeitige, d. h.
wo sichs um die Mitgegenwart eines vom Standpunkte A
unbemerkbaren B (z. B, die Chinas von Mitteleuropa, der
Tragbalken im Zimmer etc.) handelt. Denn erstens gründen
sich derlei Urteile auf gewisse, im Bereiche A's wahrnehmbare
Umstände (kausale Konsequenzen — die Zimmerdecke hält
fortan fest — eventuell blofses Vertrauen auf Gewährsmänner),
aus welchen auf gleichzeitiges Fortbestehen des angeb-
lichen B's als Ursache geschlossen wird; und zweitens mufs
biehufs Umwandlung des Prädikats „Fortbestehen" in das von
„Gegenwärtigkeit" miterwogen werden, dafs der zu dem
letzteren nötige Lebhaftigkeitsgrad des fraglichen B uns blofs
durch Hindemisse (eine Scheidewand zwischen dem Beschauer
und B, z. B. gro&e Entfernung) verkümmert ist.
202 Eugen Posch;
Spbnceb ist eich yollkommen konsequent, wenn er behauptet: für
gleichzeitig gelte, was wir überzeugt sind, in. beliebiger Reihenfolge gleich
leicht erfassen zu können (§366).
Die Thatsache, dafs der Gleichzeitigkeitsbegriff im Falle
1.) nach Eintritt der oben erwähnten Unterscheidnngsfähigkeit
sozusagen eo ipso, und im Falle 2.) durch Schlufsfolgerungen
rein physikalischer Natur entsteht, ist wohl der einzige —
unstreitig etwas fragliche — Eechtstitel, besagten Begriff aus
der Eeihe der Zeitkategorien zu streichen. Noch mag her-
vorgehoben werden, dafs die zu demselben erforderlichen
Denkprozesse keineswegs einen vollwertig ausgebildeten Gegen-
wartsbegriff erheischen, wie sichs denn in dieser Untersuchung
nur darum handeln konnte, nachzuweisen, wodurch der mensch-
liche Verstand zu einer Ausdehnung des nämlichen Zeit-
prädikats (gleichviel welches es sei, und ob bereits ausge-
bildet oder nicht) auf mehrere Sinnesinhalte bewogen wird —
ein Punkt, der sich offenbar ganz gut auch ohne Miteinbe-
ziehung der Natur dieses Zeitprädikats selber erörtern lälst.
Der Sprachausdruck, in welchem sich eine keimende
Gleichzeitigkeitsvorstellung am ehesten ausprägt, dürften die
Sätze sein mit „und" („der Mond und die Sterne leuchten"),
welche sichtlich ohne jegliches Zeitbewufstsein möglich sind,
und, wenn zeitlich gedacht, die hier erforderliche Verteilung
des nämlichen Zeitprädikats auf mehrere Subjekte in einfach-
ster Weise zum Ausdruck bringen. Dafs auch vergangene
Gleichzeitigkeit ohne eigentliches Zeitbewufstsein ausgedrückt
werden könne, beweist schon die nichtzeitliche Stammbedeutung
der hierbei gebräuchlichen Umstandswörter, wie „als" (= all'
so: „als der Feind abzog, erschien . . ."), lateinisch: „quum"
(= cum) etc.
DaTs völlig gegensatzlos zu denkende Zustände der Dinge
auch gleichzeitig vorhanden gedacht werden müfsten, wie Leibniz be-
hauptet (erwähnt bei Baumann, II, S. 93), indem nämlich bei Verlegung
derselben auf verschiedene Zeitpunkte schon ein Gegensatz entstünde, ist
wohl wahr, jedoch eine Aufstellung von rein akademischem Werte, da der
erwähnte Sachverhalt für eine Konstruktion des GleichzeitigkeitsbegriffeSf
welcher sehr wohl auch an qualitativ gegensätzlichen Daten entsteht,
nicht verwertet werden kann. Ebensolcher Natur ist die Äufserung
Schopenhauers: „Streng genommen ist das Zugleich eine negative Be-
AuBgangspiii]s;te zu einer Theorie der ZeitvorsteHujig. 203
Stimmung, die blofs enthält, dafs zwei Dinge oder Zustände nicht durch
die Zeit yerschieden sind" (1, S» 601), da nämlich durch die blosse Be-
tonung, zwei Daten fieien nicht als successiv zu denken, nur dengenigen
das BewnJTstsein ihrer Gleichzeitigkeit entstehen kann, der diesen Begriff
schon fest gefafst hat, — ein umstand, dem bereits Kant gerecht wurde
(„Simultanea non sunt ideo talia, quia sibi non succedunt. Nam. remota
successione tollitur quidem eoniunotio aliqua, quae erat per seriem tem*
poris, sed inde non statim oritur alia yera relatio, qualis est coniunctio
omnium in momento eodem.'' M. P., S. 102).
Eypfbbths Weitschweifigkeiten ist wohl das Verdienst nicht abzu-
sprechen, dieses stark vernachlässigte Zeityerhältnis in den Vordergrund
gerückt zu haben, doch wäre uns statt der platten Versicherungen Yon
ohnedies nirgends angezweifelter Unentbehrlichkeit einer Gleichzeitig-
keit, sowie statt Hinstellung derselben als zweiter Zeitdimension („Zeit-
breite'') eine Erklärung der Entstehungsweise dieses Begriffes, sowie einige
Rechtfertigung der Dimensionsvergleiche viel erwünschter: Die Behaup-
tung, es werde mit vorschreitender Kultur jene zweite Zeitdimension,
d. h. die Summe des gleichzeitig Vorhandenen, immer gröfser, ist hinfällig,
indem nämlich das angebliche Plus, welches heute zum Vorschein kommt
(die reichhaltigeren Einrichtungen und gröfsere Betriebsamkeit unserer
modernen Gesellschaft), nichts als veränderte Ausgaben längst vorhandener
und in damaliger Gestalt des Erwähnens unwerter Sachverhalte, beziehungs-
weise Elemente sind. Wo jetzt viel gleichzeitige Handlungen sind,
war früher zum mindesten viel gleichzeitige Buhe, welch letztere bei
einer Frage nach der Menge des Zeitinhaltes nicht ignoriert werden darf,
da sie dem Handeln in dieser Beziehung gleichwertig ist. Durch Kultur
ist nur eine Stellvertretung unerheblicher Zeitinhalte durch bedeutungsvolle
(Arbeit statt Zerstreuung) bewirkt worden. Schliefslich ist nicht erfind-
lich, auf welche Weise jene „Gleichwertigkeit der Thätigkeiten desselben
Subjekts" eingesehen werden solle und in welcher Hinsicht eine solche
bestehe, aus welcher Thätigkeiten Verknüpfung der Begriff von Gleich-
zeitigkeit angeblich hervorgehen soll (S. 18 — 19, 46 — 58).
Die Verwendung der Gleichzeitigkeit für Mitteilung des Zeitpunktes
vergangener Ereignisse ist wohl sehr beliebt (auch von Hebbabt, V, S. 496,
IV, § 297, und Horwioz, I. H., S. 136 bemerkt), doch braucht kaum be-
tont zu werden, dafs die Erwähnung jenes Ereignisses (B), mit welchem
das Fragliche (A) gleichzeitig stattgefunden hat, für die Erfassung des
Zeitpunktes A doch nur in dem Falle wirklich förderlich ist, wenn der
Abstand des B von der Gegenwart 0 (d. h. die Gröfse der zwischen 0
und B begriffenen successiven Ereignismenge) richtig vorgestellt werden
kann, was in Fällen, wo die Distanz 0 — B diejenige meines Lebens über-
schreitet, unmöglich ist, indem die Anwendung was immer für welcher
Vorstellungsbehelfe mich doch nie in den Stand setzen kann, die auf
solche Weise erzeugten Längen — z. B. auch nur das Doppelte meiner
Lebenslänge — wirklich zu überblicken. Eben deshalb kommt eine der-
artige Zeitpunktserklärung in den meisten Fällen den Ausdrücken einer
Unbekannten durch eine andere in der Mathematik gleich [y = f(x)].
Die Hervorhebung synchronistischer Ereignisgruppen bleibt trotzdem eine
204 Eugen Posch: Ausgangspunkte z. e. Theorie d. Zeitrorstellang.
wertvolle Methode für den Geschichtsunterricht, weil gleichzeitiges Sein
unter allen Umständen, so weit abseits yom Heute es auch liegen möge,
klar Yorgestellt werden kann, und weil die Kenntnis zusammengehöriger
Ereignisgruppen auch dann yon Wert ist, wenn die Abstände der meisten
Tom Jetzt und untereinander nicht klar zum Bewufstsein gebracht werden
können. — Ein Specialfall des Obigen ist wohl der yon Volkmann (S. 19)
erwähnte, wo sichs um die Frage handelt, „ob wir eine Vorstellung
(«-oben A) schon lange und wie l^nge wir sie besitzen'^. Ihre Be-
antwortung ist ermöglicht „dadurch, dafs wir die einzelnen Vorstellungen
in die Zeitreihe unseres Lebens einstellen", und erfolgt, „indem wir uns
dabei der Zeitreihe zwischen der Gegenwart und jener Vergangenheit,
die durch die betreffende Vorstellung mitbestimmt (»^ oben B) wurde, als
Mafsstab bedienen ''.
Die empiristisehe Willenspsyehologie und das
Gesetz der relativen Gltteksförderung.
Von Hennanii Scbwarx, Halle a. S.
Inhalt*
NativistiBche und empiilstiBche Willenspsyehologie. Erste Fonn des extremen
Elmplrismns: die WlUensregnngen seien Komplexe ans Gefühlen nnd Vorstellungen.
Irr&keit dieser Anifassnng; sie erklärt weder den Thatbestand beim mittelbaren
Wollen, noch beim Widerstreben. Zweite Form des extremen Empirismns: die
Willensres^nngen seien blofse Vorstellnngen, die mit einer gewissen maximalen Stärke
im Bewnlstsein hafteten, v. Ehrenfels' hierher gehöriges Gresetz der relativen
Glücksförderung nnd die vier möglichen Interpretationen desselben. Abweisung
sowohl der genannten Willensdefinition, wie des Hotivgesetzes, auf dem sie beruhC
1. In der letzten Zeit sind, veranlafst besonders dnrch
die eindringenden Arbeiten von Meinung, „Psychologiscb-
ethische Untersuchungen zur Werttheorie" 1894, und von
Ehbenfels, „System der Werttheorie, I. Bd., Allgemeine
Werttheorie, Psychologie des Begehrens" 1897, die Fragen
der Willenspsychologie in regen Flufs gekommen. Auch der
Verfasser dieses Aufsatzes gedenkt in kurzem mit einer Ver-
öfifentlichung hervorzutreten, in der, wie er glaubt, dem alten
Problem einige neue Gesichtspunkte abgewonnen sind. Bei
der Auseinandersetzung mit der bisherigen Willenspsychologie
erwies es sich ihm als nützlich, zwei Eichtungen der letzteren
zu unterscheiden. Nach der einen nativistischen haben
die Willensregungen ihre selbständige Wurzel in den soge-
nannten „Trieben". Diese Auffassung lehnt der Verfasser ab,
um sich seinerseits auf einen neuen nativistischen Standpunkt
zu stellen. Nach der zweiten empiristischen Anschauung
sind die Willensregungen gar nichts Ursprüngliches, sondern
ihrem psychologischen Wesen nach mehr oder minder un-
206 Hermann Schwarz:
selbständig. Nach dem gemäfsigten Empirismus Beentano's
(Psychologie vom empirischen Standpunkte 1874; Vom Ur-
sprünge sittlicher Erkenntnis 1889) besitzen die Willens-
regungen noch immer eine gewisse Eigenart. Sie gelten ihm
mit keinem der übrigen geistigen Vorgänge identisch; nur für
nahe verwandt hält er sie mit den Gefühlen, deren Gattungs-
charakter sie teilen sollen. Weit schroffer die zweite empi-
ristische Wendung! Ihr sind die Wülensregungen über-
haupt nichts Eigenes. Sie seien Gesamtvorgänge, die sich
in Gefühle und Vorstellungen auflösen liefsen; ja, manche
sehen im Wünschen, Widerstreben, Wollen nichts als ein
Vorstellen.
Es sei gestattet, diesem extremen willenspsychologischen
Empirismus im folgenden nachzugehen, womit ich der erwähnten
Veröffentlichung nur teilweise vorgreife*
2. In der Behauptung, dafs sich Vorstellungen und Ge-
fühle zu den Wülensregungen verbänden, liegt etwas, was
bestechen und verwirren könnte! Dafs unser Wünschen und
Wollen etwas Anderes sei, als das blofse Vorstellen, das
hat jeder erlebt. Tausendmal hat er vorgestellt, ohne zu
wollen oder zu wünschen. Ebenso ist es jedermann geläufig,
dafs sich Wunsch und Wille von den blofsen Gefühlen
unterscheiden. Zu deutlich erinnern wir uns, manches Mal
gefühlt zu haben, ohne zu wünschen und zu wollen! So
drängt es sich schlagend genug auf, wie himmelweit alle
Willensregungen vom Vorstellen einzeln und vom Fühlen
einzeln verschieden sind. Aber bei aller Klarheit, mit der
das naive Bewufstsein jene Aufstellungen einzeln zurückweisen
würde, ihrer Vereinigung erwehrt es sich nicht mit der
gleichen Sicherheit. Findet es sich doch aUe Augenblicke
voll von Gesamtvorgängen, die es schlecht zergliedert! Es
wird ihm schwer, die feineren Grenzen zu finden, welche Teil
von Teil scheiden; leichter bemerkt es, dafs und wann etwas
ausgefallen ist, als dafs es zu trennen wüfste, was da ist.
Und so steht es staunend zwar, aber hilflos gegen die Be-
hauptung, dafs auch das Wünschen, auch das Wollen ein
Die empiristische Willenspsychologie etc. 207
Gesamtvorgang^ sei, dea es unaufgelöst gelassen habe, und
der restlos ans Fühlen nnd Vorstellen bestehe. Es nützt
nichts, sich hiergegen anf das Zeugnis der unmittelbaren Er-
fahrung zu berufen. Täuscht diese z. B. doch auch einen
Klang mit einer Selbständigkeit vor, die sich verflüchtigt,
sobald man ihn in seine Partialtöne auflöst! So mufs das
wissenschaftliche pro und contra beginnen.
Unsere Willensregungen, sagt man, setzten sich aus
Gefühlen und Vorstellungen zusammen? Nun wohl, mit
welchem Anteil geht das Vorstellen und mit welchem das
Fühlen in den Gesamtvorgang ein? Dazu, um dies auszu-
machen, gilt es, die wesentlichen Merkmale der Willensregungen
ins Auge zu fassen.
3. a) Es giebt ein solches, durch das sich die letzteren
auf den ersten Blick von allen blofsen Gefühlen unterscheiden.
Die Gefühle sind Vorgänge, die ganz in sich beschlossen sind
und in keiner Weise über sich hinausgehen. Nichts, was
darin ein inneres Thun oder eine Eichtung anzeigte! Wohl
aber kommt den WiUensregungen solche Eichtung zu. Sie
beziehen sich auf irgendwelche Gegenstände, die dadurch zu
Werten oder Unwerten werden. Derartige Gegenstände können
z. B. auch unsere Lust- und Unlustgefühle selber sein. Von
jenen können wir wünschen, dafs sie wachsen, fortdauern,
wiederkehren, diesen widerstreben wir und wünschen sie fort.
Sicher kann das Wollen, Wünschen, Widerstreben, was sich
dergestalt auf Gefühle bezieht, nicht wieder Gefühl sein;
solche könnten sich zwar associieren, aber nicht zu jenem
inneren, gleichsam logischen Verhältnis verknüpfen, wonach
eines das Objekt des anderen wäre. — Indessen, hier setzt
die empiristische Antwort ein, was den Gefühlen unmöglich
sei, das vermöchten Vorstellungen! Deren eigenstes Wesen
sei es gerade, sich auf Gegenstände aller Art zu richten. So
auch in unserem Falle: dafs sich das Wünschen, Wider-
streben, Wollen auf Gegenstände aller Art beziehe, dürfe
nicht als Leistung eines eigenen Willensaktes gelten, sondern
es sei der Anteil, mit dem das Vorstellen in dem Gesamt-
208 Hermann Schwarz:
Yorgange auftrete, der Wollen, Wünschen, Widerstreben hei&e
und aus Fühlen und Vorstellen bestehe.
Man hat seit alters die Beziehung, welche jedes Wahri-
nehmen. Vorstellen, Urteilen auf seinen Gegenstand hat, als
intentionale bezeichnet Das soll heifsen: Wir vergegen-
wärtigen alle möglichen Gegenstände durch jene Vorgänge,
ohne sie jemals in ihnen zu haben. — Um das kurz zu er-
läutern: Was wir haben, sind, im metaphysischen Sinne,
immer nur unsere eigenen Zustände und Vorgänge, ein-
schliefslich der Akte des Wahmehmens, Vorstellens, Urteilei^s
selber. Die Gegenstände aber, die wir durch diese Akte
vergegenwärtigen, sind von uns und allen unseren Vorgängen,
auch von den Vergegenwärtigungsakten, sehr verschieden;
hier sind sie etwas Äufseres (die Sonne, die wir am Himmel
sehen), dort etwas Abstraktes (die Lehrsätze vom Dreieck,
die wir beweisen), in anderen Fällen etwas Imaginäres (das
Gespenst, das wir uns einbilden); nur in der sogenannten
inneren Wahrnehmung sind es unsere eigenen Zustände und
Vorgänge selbst (die Sehnsucht, die ich spüre). Von allen
diesen Gegenständen wissen wir nur durch das Wahrnehmen,
Vorstellen, Urteilen, das sie vergegenwärtigt, und haben sie
nicht darin. Dies nicht einmal in der inneren Wahrnehmung;
denn auch von ihr bleibt das eigene Wollen, Fühlen, Urteilen,
das sie vergegenwärtigt, ^ ewig verschieden. Nicht sie ist es,
die sie hat, sondern die Person, welche innerUch wahrnimmt.
Die äufseren, die abstrakten, die imaginären Gegenstände hat
auch die Person nicht. Sie sind nur oder sind nicht. ^) —
Diesem eigentümlichen Kennen, Vergegenwärtigen, das alle
Wissensvorgänge auszeichnet, gebührt mit Eecht ein be-
sonderer Name. Es ist eben das, was man die intentionale
Beziehung des Wahrnehmens, Vorstellens, Urteilens auf seine
Gegenstände genannt hat. — Führen wir den Ausdruck hier
ein, so muTs man im Sinne der empiristischen Lehre sagen;
^) Man yergl. meine „Umwälzung der Wahmehmungshypothesen
durch die mechanische Methode. Nebst einem Anhange über die Grenzen
der physiologischen Psychologie". II, S. 155 Anm. und im Register unter
„Erkenntnis des Seienden'\ Leipzig, Duncker & Humblot, 1895.
Die empiristische Willenspsychologie etc. 209
Alles Wünschen, Widerstreben, Wollen beziehe
sich intentional auf das, was gewünscht, verab-
scheut, gewollt werde. Letzteres werde dadurch
zum Ziel, Gegenstand, Zweck des ersteren. Diese
intentionale Beziehung wohne aber keinem selb-
ständigen Willenselemente ein, solches gebe es nicht.
Sondern Vorstellungen stellten sie her und erwiesen
sich so als der eine Bestandteil aller Willens-
regungen.
b) Das Vorstellen soll unseren Willensregungen die
Richtung geben. Und der Beitrag der Gefühle, des anderen
Bestandteils, der helfen soll, die Willensregungen zu bilden?
Sie müfsten ihnen nach der empiristischen Lehre die Inten-
sität liefern! — Kein Zweifel, dafs dem Wünschen, Wollen,
Widerstreben solche in den wechselndsten Graden zukommt.
Sie können bald stärker, bald schwächer sein. Schwach erst
war z. B. im Anfange die Sehnsucht jenes, welcher der Heimat
fem war. Mit der Dauer wuchs sie so, dafs er es zuletzt
vor Heimweh kaum aushielt. Ein anderer will arbeiten; sein
Wollen ist stark, wenn er dabei bleibt, welche Verlockungen
und Hindemisse auch hinzutreten. Es ist schwach, wenn er
denselben nachgiebt, um so schwächer, je leichter es geschieht.
Jedermann endlich widerstrebt einer Gefahr um so stärker,
je näher er sie glaubt. — Woher diese Intensitätsabstufungen
der WiUensregungen, wenn sie nichts Selbständiges, sondern
aus Vorstellungen und Gefühlen gemischt sind? Dieselben
können ihnen nicht von ihren gedanklichen Bestandteilen zu-
fliefsen; denn Vorstellungen unterscheiden sich nicht durch
Stärke. Die Vorstellung eines Donners z. B. ist nicht stärker,
als die vom Ticktack einer Taschenuhr. ^) Wohl aber wechseln
die Gefühle ihre Stärke. Die sinnliche Lust und Unlust,
Furcht, Traurigkeit, Staunen, das Mitgefühl u. dergl., das
alles kann gröfser oder geringer, stärker oder schwächer sein.
^) Vergl. meine „Umwälzung u. s. w.", II, S. 158, und meinen Aufsatz
im Archiv für systematische Philosophie, Bd. III, Heft 3: „Uphues' Lehre
vom Inhalt und Gegenstand des Erkennens", S. 369.
YierteljahrBBchrift f. Wissenschaft!. Philosophie. XXIII. 2. 14
210 Hermann Schwarzz
Was folgt daraus im Sinne der empiristisclien Lehre? Von
den Vorstellungen sollten die Willensregungen ihre Richtung
borgen. Den Grad ihrer Stärke müssen sie ihren
gefühlsmäfsigen Bestandteilen schulden.
c) Aber die Willensregungen unterscheiden sich auch
in ihrer Qualität. Sie wandeln sich aus einem wunschlosen
Werthalten ^) ins Wünschen und Wollen, sie zeigen den Gegen-
satz von Wünschen und Verabscheuen, Begehren und Wider-
streben. — Woher erstens der Wandel des wunschlosen Wert-
haltens ins Wünschen und Wollen? Hier wäre auf die gedank-
lichen Bestandteile hinzuweisen, die nach der empiristischen
Lehre in den Willensregungen steckten. Werte, die wir
schlechtweg vorstellten, hielten wir ohne Wunsch wert; be-
sännen wir uns, dafs sie unwirklich seien, so wünschten wir;
stellten wir gleichzeitig das Mittel vor, sie zu erreichen, so
wollten wir. — Woher zweitens der Gegensatz von Begehren
und Widerstreben, Wünschen und Verabscheuen? Dieser
müfste von den gefühlsmäfsigen Bestandteilen herkommen;
er wäre im Sinne der empiristischen WiUenslehre mit dem
von Lust und Unlust identisch. Die letztere Auskunft wäre
freilich noch zu allgemein. Lust und Unlust sind blofse Ab-
strakta.^) Wir müssen vielmehr fragen, welche bestimmte
einzelne Lust und Unlust den Willensregungen zu Grunde liege?
Darauf könnte die Antwort nur lauten, dafs das eine besondere
Vorstellungslust und -Unlust sei; sie gäbe den Vorstellungen,
welche die Willensziele vergegenwärtigten, einen ganz eigenen
^) Vergl. Mbinono, „Psychologisch-ethische Untersuchungen zur
W^ertteorie", 1894, S. 15—16, 97.
2) Es sei darauf hingewiesen, dafs viele Psychologen der Gegenwart
Lust und Unlust als solche schon Gefühle nennen und darin geradezu
das Wesen der letzteren sehen. Man würde vielleicht anderer Meinung
werden, wenn man sich mehr als bisher vorhielte, dafs sich durch Lust
und Unlust nach einer bekannten logischen Regel nicht das Wesen der
Gefühle definieren lassen kann, sondern dafs dies blofse Artmerkmale
derselben sind, durch die wir sie einteilen. Man sehe die vorzügliche
Auseinandersetzung bei Mabtinbau, Types of Ethical Theory, 1. Aufl., 11,
S. 299, der die specifische Verschiedenheit der mannigfaltigsten Lust- und
Unlustgefühle scharf betont.
Die empiristische Willenspsychologie etc. 211
Lustton oder Unlustton. Das lustbetonte Vorstellen
einiger Gegenstände, das unlustbetonte anderer, das
eben sei unser Wollen und Widerstreben.
4. Damit rühren wir schon an die Beurteilung der em-
piristischen Lehre, während sich uns ihr Bild noch entrollt.
Sie gleicht einem Gebäude, dessen Balken zusammenbrechen,
kaum, dafs es gefugt ist. Nicht ein Balken trägt. Wie?
Die Vorstellungen sollten den Willensregungen ihre Richtung
leihen? Aber manchmal stellen wir uns überhaupt kein Ziel
vor, während wir wollen,^) und manchmal ist das, was uns
vorschwebt, gerade nicht das Willensziel. 2) Weiter! Die
Gefühle sollten den Willensregungen ihre Stärke schenken?
Aber oft genug wollen wir stark ohne stark zu fühlen, ja,
wir brauchen dabei gar nichts zu fühlen. Die beiden Inten-
sitäten, statt identisch zu sein, stehen nicht einmal in regel-
mäfsigem Verhältnis.^) Endlich, der Gegensatz der Willens-
regungen sollte der von Lust und Unlust sein? Schwer zu
begreifen aber, welcher Qualität dieser Lust- oder Unlustton
sei, und warum er einigen Vorstellungen zukomme, anderen
nicht. Zudem giebt es ein Wünschen und Wollen, bei dem
wir keine Spur von Lust und Unlust erleben.
Das alles wird im einzelnen deutlich, wenn man insbe-
sondere an die Fälle des mittelbaren WoUens und des Wider-
strebens denkt.
a) Das mittelbare Wollen. Es ist bekannt, dafs wir
mittelbar wollen können; so wollen wir z. B. die Mittel zu
Zwecken, etwa eine Operation um willen der Gesundheit;
oder wir wollen auch darum mittelbar, weil wir etwas anderem
widerstreben; der Selbstmörder will mittelbar den Tod, weil
er nicht in Schande leben mag ; der Furchtsame will mittelbar
die Nähe eines Menschen, der ihm sonst unsympathisch ist,
weil er nicht allein bleiben möchte. Ebenso erleben wir ein
^) Vergl. WuNDT, Phys. Psychol., 3. Aufl., II, S. 411 ff.; Ethik,
2. Aufl., S. 446.
2) Vergl. Meinung, a. a. 0. S. 35.
^) Dies hebt sehr gut v. Ehbenpels, a. a. 0. S. 15 ff., hervor.
14*
212 Hermann Schwarz:
mittelbares Widerstreben, z. B. dagegen, etwas zu essen, was
uns zwar schmeckt, aber nicht bekommt. Nicht immer ist
das mittelbare Wollen so lustvoll, wie z. B. bei dem, der die
Vorbereitungen zu einer schönen Keise trifft. Es kann auch
sehr unlustvoll sein. Der Selbstmörder, von dem wir sprachen,
sucht gewifs nicht gerne den Tod; viel lieber möchte er
weiter leben, wenn es ohne Schande geschehen könnte. Noch
häufiger ist das mittelbare Wollen weder lustvoll, noch un-
lustvoll. Dies vielfach dann, wenn wir uns nicht der Zwecke
erinnern, wegen deren wir etwas wollen. Dann haben wir
nur den Eindruck, das, was wir vorhaben, sei irgendwie und
irgendwarum wichtig, einen Eindruck, in dem sich das Werthalten
ganz rein kundgiebt, ohne dafs es Lust- oder ünlustgefuhle
begleiteten. Jemand habe z. B. gelesen, und nun nahe ihm
die Zeit, einen Gegenbesuch zu machen. Er blickt auf die
Uhr, sieht, dafs es spät ist, springt auf und eilt zum Kleider-
schranke, um den Rock zu wechseln. Warum das? Das
weifs er schwerlich in dem Augenblicke, wo er es thut. Nur
jenen Eindruck, es sei irgendwie und irgendwarum wichtig,
erlebt er. Vielleicht hatte er denselben Eindruck schon vor-
her, als er aufsprang, zum Kleiderschrank eilte, den Schlüssel
umdrehte. Das alles thut er nicht, um den Besuch zu machen.
Dazu brauchte er nur den Hut zu ergreifen und so, wie er
ist, hinauszueilen. Sondern er thut es, weil er etwas anderem
widerstrebt, ohne dafs er das Ziel dieses Widerstrebens ver-
gegenwärtigt. Der Mifsachtung widerstrebt er, in die er ge-
riete, wenn er seinen Besuch im Hausrocke machte. — Dies
die Thatbestände beim mittelbaren Wollen. Wie vertragen
sie sich mit den Annahmen des willenspsychologischen Em-
pirismus ?
Hätte derselbe Recht, so dürfte es kein Wollen geben^
das nicht lustbetonte Vorstellung seines Gegenstandes wäre.
Auch alles mittelbare Wollen müfste dieser Regel folgen.
LustvoU müfste das Wollen jenes Selbstmörders sein, der den
Tod der Schande vorzieht. Lustvoll wären die Vorstellungen
des Ausgehenden, zum Schranke zu gehen, den Rock zu
\
Die empiristische Willenspsychologie etc. 213
wechseln. Er giebt den Befehl, man möge die Personen
warten lassen, die während seiner Abwesenheit vorsprechen.
Das müfste wieder eine lustbetonte Vorstellung sein! Davon
zeigt die Erfahrung nichts! — Der verzweifelten Stimmung
des Selbstmörders giebt vielmehr eine hohe Unlust den Ton.
Es ist wah;*, er zieht den Tod der Schande vor. Aber wählen
wir darum das Mifsfällige gern, weil das, was übrig bleibt,
noch mifsfäUiger ist? Keineswegs, und so klaffen hier
die positive Qualität. des Wollens und die negative
Gefühlsbetonung des begleitenden Vorstellens un-
heilbar auseinander! — Eine Fabel femer, dafs die Vor-
stellungen dessen, der ausgeht, überhaupt irgend lust- oder
unlustbetont wären! Auch wäre es nicht möglich, hier von
unmerklichen Gefühlen zu sprechen. Das Wollen ist doch
merklich; so merklich, wie es selber, müfste auch das Grefuhl
sein, dessen Stärke seine eigene sein soll. Das ist eben nicht
der Fall. Möge man die Qualität des Wollens hypothetisch
als Lust deuten, seine Stärke stimmt mit der dieses
Lustgefühls gewifs nicht überein. Woher kommt die-
selbe aber denn? Von der Vorstellung, die aufserdem noch
im Wollen stecken soll? Sie könnte ihm überhaupt keine
Grade der Intensität leihen! Und so sehen wir hier zum
zweiten Male die empiristische Lehre scheitern.
Fanden wir nicht endlich, derselbe Ausgehende wisse
gar nicht einmal, warum er den Eock wechsle? Nur den
Eindruck habe er, es sei das irgendwie und irgendwarum
wichtig; der letzte Gegenstand des verborgenen Widerstrebens,
das dabei mitspiele, schwebe seinem Vorstellen nicht vor? So
fanden wir es in diesem Falle, so finden wir es in hunderten,
die ähnlich sind : Der Richter wünscht zu wissen, wie alt der
Angeklagte und ob er vorbestraft ist. Das Dienstmädchen
geht zur Herrschaft, ihr einen Besuch zu melden. Der Arzt
untersucht berufsmäfsig einen Patienten nach dem anderen.
Der Schmied schickt sich an, ein Pferd zu beschlagen. Alle
diese Personen wollen und zwar mittelbar. Ihnen allen kommt
es auf das, was ihnen zunächst vorschwebt, gar nicht un-
214 Hermann Schwarz:
mittelbar an. Auch sie haben dabei nur den Eindruck, es
sei ihnen aus irgend einem Grunde wichtig. Aber aus welchem,
das vergegenwärtigen sie nicht, und darum läfst es sie ohne
Geflihlsbewegung. Der Eichter vergegenwärtigt nicht, dafe
ihn sein Gerechtigkeitssinn treibt (den Jugendlichen trifft
mildere, den Vorbestraften härtere Strafe), der Arzt nicht,
dafs er einer Nächstenpflicht gehorcht, der Schmied nicht,
dafs er Lohn gewinnen will, das Dienstmädchen nicht, dafs
es einem gegebenen Befehle folgt (und dies wieder nur mittel-
bar). — Dürfte das sein, wäre das Vorstellen für alles Vor-
stellen wesentlich? Nein! Was wir wollten, müisten wir
dann auch ausnahmslos vorstellen, und was wir mit Lustbe-
tonung vorstellten, müfsten wir wollen. Statt dessen fehlt
hier jegliches Vorstellen, das in den verborgenen
unmittelbaren Willensregungen als Fackel leuchtete;
es fehlt ebenso, wie zu dem mittelbaren Wollen, das aus ihm
entspringt, jegliches Fühlen fehlt. Zum dritten Male versagt
damit, an ein und demselben Beispiele, die empiristische An-
nahme, dafs sich alles Wollen aus Vorstellen und Fühlen zu-
sammensetze.
b) Das Widerstreben. Derselbe allgemeine Zusammen-
bruch des willenspsychologischen Empirismus in allen seinen
Teilbehauptungen, wenn wir auf das Widerstreben blicken!
Dies müfste nach der empiristischen Lehre Unlustqualität haben.
Es müfste um so energischer auftreten, je gröfser die Unlust
wäre, in der es bestände, und sein Ziel müsse in einer Zweck-
vorstellung klar vorliegen.
Aber die Qualität keines Widerstrebens läfst sich je auf
Lust oder Unlust zurückfuhren. Nicht auf Unlust; dehn suchen
wir nach öiaer Vorstellung, die sich mit dem Widerstreben
möglichst deckt, so scheint es die zu sein, dafs uns dies oder
jenes Mifsfällige erspart bleibe. Wem z. B. der Gedanke
widerstrebt, Kicinusöl einzunehmen, der wünscht sich die
Unlust vom Halse, die ihm droht. Er verwünscht die Medizin
und den Zustand, der ihn zwingt, sie zu gebrauchen. Das
um so mehr, je mifsfälliger ihm die erstere ist. Wie könnte
Die empiristische Willenspsychologie etc. 215
eine Vorstellung selber unlustvoll sein, die gerade gegen
Unlust geht? — Doch auch lustbetont kann die Vorstellung
nicht sein, in der nach der empiristischen Lehre das Wider-
streben wurzelt. Man frage den Verbrecher, wie ihm zu Mute
ist, während er zum Richtblock geschleppt wird. Mit allen
Fasern seines Wesens widerstrebt er dem Schicksal, dem er
entgegengeht. Sein Wille richtet sich um so energischer gegen
das Schreckliche, je näher es bevorsteht. Und ihm sollte er
mit Lust widerstreben, mit um so gröfserer, je näher es
kommt? Nein. Wer widerstrebt, den freut beileibe sein
Widerstreben nicht. Es richtet sich zwar gegen ein Objekt,
das mifsfällt, aber darum noch lange nicht auf ein solches,
das gefSJlt!
Dringen wir tiefer, so stofsen wir hier auf ein eigen-
tümliches Dilemna, um es bei allem Widerstreben wieder zu
finden. Zweierlei nämlich pflegt uns vorzuschweben, während
wir widerstreben. Einmal stellen wir den mifsfälligen Gegen-
stand selber vor und dafs er bevorstehe ; andererseits vergegen-
wärtigen wir sein Aufhören. Die erstere Vorstellung kann
nur unlustvoll, die andere nur lustvoll sein. Hat der Empi-
rismus Eecht, so mufs sich das Widerstreben mit einer von
beiden decken. Aber mit welcher? Man versuche es, wie
man will; immer stimmt entweder die Qualität oder
die Richtung nicht. Unlustvoll ist es, an den mifsfälligen
Gegenstand und sein Bevorstehen zu denken; in unseren Bei-
spielen wäre das die Vorstellung des Patienten, Ricinusöl ein-
nehmen, des Verbrechers, sterben zu müssen. Sofern ihre
Qualität negativ ist, wie die des Widerstrebens, deckt sie
sich also mit diesem. Allein das letztere ist keine blofse
Trauer, die wir hätten, indem wir Mifsfalliges vorstellten.
Nein, es richtet sich dagegen, es wendet sich von dem mifs-
fölligen Gegenstande ebenso ab,^) wie die Vorstellung auf
ihn geht. So klaffen beide, jene Vorstellung und das Wider-
1) Vergl. WüHDT, Ethik, 2. Aufl., S. 30: „Der ünlusteffekt wendet
sich ab von dem schmerzerregenden Gegenstand, so wie die Verneinung
eine als möglich yorgestellte Behauptung zurückweist".
216 Hermann Schwarz:
streben, in der Richtung erst recht auseinander. Der Glaube,
Mifsfälliges sei nahe, bewirkt viehnehr das Widerstreben,
statt einen Bestandteil desselben zu bildeuL Femer viel eher
möchten wir den unlieben Gegenstand haben. — Um so ein-
stimmiger scheint das Widerstreben mit der anderen Vor-
stellung gerichtet, die noch übrig bleibt; mit der, dafs das
Mifsfällige aufhöre oder uns erspart bleibe. So wünscht jener
Patient, dafs er kein Ricinusöl zu nehmen brauche, der Ver-
brecher, dafs man ihn leben lasse. Unmöglich indessen, auch
diese Vorstellung ins Widerstreben hineinzusehen, denn sie
pafst wieder nicht in der Qualität zu letzterem ! Sie ist lust-
voll, positiv ihre Geflihlsbetonung, dem Widerstreben eignet
negative Qualität.
Oder schiene das nur so? Wie, wenn das Widerstreben
auch seinerseits positive Qualität hätte? Damit versuchten
wir es im Änfangsbeispiele vom Ricinusöle. Ein inneres Ver-
halten, das gegen die Unlust gehe, könne, sagten wir dort,
unmöglich selber unlustvoll sein. Trotzdem ist das Wider-
streben ganz bestimmt nicht lustvoll. Die Intensitäts-
thatsachen verbieten es, das anzunehmen. Das sehen
wir deutlich im zweiten Beispiele. Nicht mit der Lust, gerade
mit der Unlust wuchs das Widerstreben des Verbrechers.
Kurz, wer immer mit dem Empirismus nach einer Vorstellung
sucht, die sich sowohl in der Richtung wie im Gefiihlston
mit dem Widerstreben deckt, der gerät so oder so ins
Dilemna. Das ist kein Wunder! Denn es giebt über-
haupt keinen Vorstellungsgegenstand, der das
Ziel des Widerstrebens ausreichend wiedergäbe!
Immer nur, dafs etwas nicht sei, liefse sich bestenfalls als
solches Ziel angeben. Aber es ist doch etwas ganz anderes,
gegen ein Objekt gerichtet zu sein, als auf sein Nichtsein.
Nur das erstere ist reines Widerstreben,^) letzteres wäre
^) Da das Widerstreben gegen sein Objekt geht, nicht auf das
Aufhören desselben, so erklärt es sich, dafs uns auch Vergangenes wider-
streben kann, z. B. die einstigen Sexenprozesse, oder in der „Ereue'* die
eigene frühere Schlechtigkeit.
Die empiristische Willenspsychologie etc. 217
schon ein Wünschen. Auch ist die Vorstellung, dafs etwas
nicht sei, ungemein abstrakt; ein Kind hat sie gewifs nicht,
und doch vermag es unzweideutig zu widerstreben. So mufs
es sich gerade umgekehrt verhalten, als es der Empirismus
vermutet. Wir widerstreben nicht, indem wir lustvoll oder
unlustvoll vorstellten; nein, wir widerstreben Gegenständen,
die uns mifsfallen, in einer Weise, die man überhaupt nicht
entsprechend in Vorstellungen fassen kann. Erst nachdem
das öfter geschehen ist, stellt sich mit dem Erfolge des Wider-
strebens der Wunsch oder die Vorstellung ein, dafs Gegen-
stande nicht seien. Statt dafs sie das Widerstreben bedingte
oder gar bildete, bedingt dieses sie. ^) Das Denken borgt hier
vom Wollen, das theoretische vom praktischen Bewufstsein,
nicht aber borgt das praktische Bewufstsein vom theoretischen.
5. Eine umfassende Probe, an deren Ende wir stehen!
Es galt die extrem-empiristische Willenslehre zu wägen. Wir
haben es gethan und sie zu leicht befunden. Alle ihre An-
nahmen versagten. Nichts, worüber sie ausreichende Rechen-
schaft geben könnte, weder über die Stärke, noch über die
Qualität, noch über die Richtung der WiUeusregungen. Am
Ende der empiristischen Willenslehre selber stehen wir trotz-
dem nicht. Erst jüngst ist ein neues empiristisches System
aufgekommen, das eine Reformation der älteren empiristischen
Lehre an Haupt und Gliedern bringen will. Es meidet ihre
Schwächen; aber nur, um an dem Prinzip, die Willensregungen
seien nichts Selbständiges, um so zäher festzuhalten und es
unter der Hülle eines psychologischen Gesetzes erst recht auf
den Schild zu heben.
V. Ehbenfels^) hat diesen Versuch unternommen. Ihm
gilt alles Wünschen, Streben, Wollen nicht erst für eine Ver-
*) Die Vorstellungen des Seins und Nichtseins Yon Gegenständen
haben ganz sicher eine, vielleicht ihre kräftigste, Wurzel i^ den Er-
fahrungen des Willenslebens. Das hat mit Recht Dilthbt betont. „Bei-
träge zur Lösung der Frage yom Ursprünge unseres Glaubens an die
Realität der Aufsenwelt." Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1890.
*) V. Ehbbnfsls, System der Werttheorie, I. Bd. Allgemeine Wert-
theorie. Psychologie des Begehrens, 1897.
218 Hermann Schwarz:
biüdmig von Gefühlen und Vorstellungen, sondern schlechtweg
für ein Vorstellen, das sich auf unsere Gefühlslage beziehe.
Nicht, als ob es diese zum Gegenstande hätte, von sich aus
darauf Beziehung nähme! Das wäre der Irrtum des Hedo-
nismus. Nein, es sei keine Zweckvorstellung von derselben.
Wohl aber stehe es mit unserer Gefuhlslage in einem that-
sächUchen Zusammenhange. Nicht einfach in dem, dafs es
lustbetontes Vorstellen sei. Hier liege ein anderer Irrtum,
der des älteren Empirismus (Aktualitätstheorie). Gebe es
doch Willensregungen, ohne dafs die geringste Lust beiträte,
ja, ohne dafs überhaupt Gefühle mit ihnen zusammen zu er-
wachen brauchten! Was mag aber dann fiir die Vorstellung
noch übrig bleiben, die nach v. Eheenfels Willensregung
sein soll? Sie soll sich nicht auf unsere Gefuhlslage richten,
es soll nicht notwendig sein, dafs sich ihr überhaupt positiv
gefühlte Lust gesellt? Sie hänge, lautet die Antwort, in einer
ganz bestimmten verborgenen Weise von unserer ganzen Ge-
fühlslage ab. Das nämlich, was wir Willensregung
nennen, sei die Vorstellung eines Gegenstandes, den
wir erreicht oder vermieden denken. Diese Vor-
stellung müsse, daraufkomme es an, im Augenblicke,
wo sie auftrete, die relativ angenehmste sein. Sie
brauche nicht gerade positiv lustvoll zu sein, müsse
aber einen höheren Glückszuwachs zur bisherigen
Gemütslage herbeiführen, als jede andere, die gleich-
zeitig möglich sei. Die Stärke des Strebens und
Wollens sei der Gröfse jenes Glückszuwachses gleich.
Man kann dasselbe auch so ausdrücken: Ein besonderes psy-
chisches Grundelement, Begehren giebt es nach v. Ehbenfels
nicht. Das, was wir so nennen, ist eine Vorstellung, durch
die wir einen Gegenstand vermieden oder erreicht denken.
Eine solche nämlich, die durch ihren Eintritt den Gefuhls-
stand so verändert, dafs derselbe zu einem Lustmaximum
oder Unlustminimum aufrückt. Natürlich kann das letztere
auch manchmal der Null gleich sein. Alsdann stellen wir
jenen Gegenstand blofs vor, ohne irgend etwas dabei zu
\
Die empiristische Willenspsychologie etc. 219
fühlen,^) und wollen ihn doch. Derselbe Gedanke in aller-
kürzester Fassung : Wille ist ein Maximum sich verringernder
Unlust, welches zusammen mit der Vorstellung eintritt, dafs
ein Gregenstand sei oder nicht sei.^ Das ist die Form einer
Definition. Um ihr die Form eines Gesetzes zu verleihen:
Wir können nicht wünschen und streben, ohne dafs
uns wenigstens für die Anfangszeit (warum nicht auch
für die Dauer? d. Verf.) des Wünschens und Strebens
mehr Glück erwachse, als wenn jene Akte unter-
blieben wären, v. Eheenfels hat dies das Gesetz der
relativen Glücksförderung für den Anfang des Wünschens und
Wollens genannt.^)
6. Allein dies Gesetz und diese Definition sind nicht so
einfach, wie sie aussehen. Es fällt sogar recht schwer, sie
im einzelnen klar auseinanderzulegen.
a) Man könnte beides z. B. nicht einfach am Beispiele
des sogenannten Motivenkampfes erläutern und etwa behaupten:
„Wer sich nach längerem Schwanken strebend oder wollend
nach einer bestinunten Richtung hin entscheidet, mufs bei
redlichem Nachdenken die Überzeugung gewinnen, er habe
denjenigen Teil erwählt, aus welchem ihm zum mindesten für
die Anfangszeit des Strebens- oder Willensaktes mehr (eigenes)
Glück erwachse, als wenn jene Akte unterblieben wären".*)
Das hiefse unterstellen, das, was wir für mehr des eigenen
Glücks hielten, sei unser Willensziel, unterstellen, dafs wir
stets glauben müfsten, das Lustvollere gegenüber dem Un-
lustvolleren gewählt zu haben. Damit stimmen weder alle
^) Da V. Ehreittels neutrale Gefühle nicht annimmt, und nach
seiner physiologischen Theorie nicht annehmen darf. Unter Glück versteht
derselbe Autor immer ein Mehr von Lust oder Weniger von Schmerz.
*) CoRNBLiDS, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, S. 342, giebt
dafür die Formel: G(Ba)<G(A), wo A der Gegenstand der Strebungs-
vorstellung, a diese selbst, B die übrigen BewuTstseinsinhalte und G die
Gefühlsbetonung bezeichnet.
8) A. a. 0. S. 31.
^) So drückt es einmal v. Ehrbnfels selbst aus, ohne die im Texte
gerügte Unterstellung mitmachen zu wollen. S. 31. Vergl. auch a. a. 0.
S. 234—235.
220 Hermann Schwarz:
Thatsachen: denn wer nach schwerem Seelenkampfe einen
heifsgeliebten Freund dem Staatsanwalt übergiebt, hat sich
ganz gewifs nicht für das entschieden, was ihm selber ange-
nehm wäre. Noch vergleichen wir, wo wir eine solche hedo-
nistische Entscheidung treffen, den künftigen lustvolleren Zu-
stand, auf den wir es abzwecken, mit unserem gegen-
wärtigen, wie er einträte, wenn jegliches Wollen ausbliebe;
daran denkt überhaupt kein Sterblicher. Sondern wir ver-
gleichen ihn während des Motivenkampfes mit einem zweiten
künftigen Zustande, demjenigen, der auf ein anderes
Wollen folgte. Wir rechnen das aus, was wir an Lust und
Unlust erleben werden, wenn wir nach dem einen Wollen
thun und von dem anderen abstehen.
b) Besser erscheint eine andere Erläuterung. Soll, wie
es offenbar gemeint ist, durch die Willensregungen unser
gegenwärtiger Zustand zu einem Unlustminimum an-
schwellen, wie kann das nur zugehen? So, dafs die Vor-
stellungen, in denen sie stecken sollen, stets lustbetont ^) sind.
Nur aus der ausnahmslosen Lustmitgift jener Vorstellungen
könnte die angebliche Thatsache erklärt werden, dafs sich
ausnahmslos mit jeder Willensregung die vorhandene Lust
vergröfserte, die vorhandene Unlust verminderte, v. Ehefn-
FELS kommt selber an einer Stelle dieser Deutung nahe: Er
spricht von der ausnahmslos beobachteten relativen Glücks-
zunahme bei jedem Akte des Wünschens, Strebens, WoUens
(S. 33). Wie könnten wir solche Glückszunahme, solche Ver-
besserung unseres Gefühlszustandes (nach S. 30 eine bekannte
Thatsache beim Streben und Wollen) beobachten, aufser wenn
die Vorstellungen geradezu lustvoll wären, in welchen die
Willensregungen beständen! Wären sie unlustvoll, und sei es '
noch so wenig, so würden sie im Gegenteil die schon vor-
handene Unlust noch vermehren; denn Unlust zu Unlust hin-
zugefügt, gäbe ja niemals eine Abnahme, sondern immer eine
^) V. Ehbbnfbls deutet einen brieflichen, hierauf fufsenden Einwand
von C. Stumpf an.
Die empiristische Willenspsychologie etc. 221
Zunahme von Lust! — Das wäre dann so ziemlich dasselbe,
wie die ältere empiristische Lehre. Nur, dafs etwas ausge-
strichen würde, was diese noch zuliefs: dafs niemals unlust-
betonte Vorstellungen den Grundstock von Willensregungen
abgeben könnten. Und dafs etwas hinzugefügt würde, was
diese nicht enthielt: die Lustmitgift jeder Vorstellung, die
Willensregung sei, müsse eine gewisse maximale Höhe haben.
Allein auch diese Deutung widerstreitet, soweit es die
negativen Willensregungen angeht, allen Thatsachen. Von
der ausnahmslosen Lustbetonung der Vorstellungen, die
Willensregungen sein sollten, müfsten wir doch auch regelmäfsig
etwas merken, selbst wenn ein Meer von Unlust diese Lust
gleich wieder verschlänge! Das Widerstreben ist aber nicht
lustbetont! Unmöglich, dies zu verkennen! Nur der kommt
zur Annahme lustbetonten Vorstellens bei allem Wollen, wer
fölschlich die negativen Willensregungen nicht gegen das
Dasein ihrer Objekte, sondern auf die Aufhebung oder Ver-
nichtung-derselben gehen läfst.^) Würde der letzteren aber
noch widerstrebt? Nein, sie wird gerade gewünscht oder
begehrt. Der ältere Empirismus konnte die entgegengesetzte
Qualität der beiden Arten von Willensregungen doch anerkennen
und den Versuch wagen, sie wieder aus einem Gegensatze,
dem von Lust und Unlust, zu erklären. Die neue Lehre in
dieser zweiten Interpretation dürfte jenen Gegensatz der Willens-
regungen nicht einmal zugeben. Sie stände in diesem Punkte
noch hinter der älteren empiristischen Anschauung zurück,
während alle Blöfsen der letzteren auf sie mit übergingen.
^) So y. Ehrenfels selbst S. 6, 18, 240 ff. Dagegen findet sieb
S. 218 die richtige Bescbreibung : „Analog werden mit dem verabsebeuen-
den Begehren die Objekte in den Vorstellungen gleichsam abgestofsen
oder zurückgewiesen**. Dieses „verabscheuende Begehren^' ist genau das,
was wir Widerstreben nannten. Da es gegen sein Objekt geht, nicht
auf das Aufhören desselben, so erklärt es sich, dafs wir auch Vergangenes
verabscheuen können, z. B. Hexenprozesse (S. 27 von v. Ehbenfels nicht
richtig erklärt). Auch eigene frühere Schlechtigkeit können wir verab-
scheuen und nennen solchen Abscheu ,3eue^*. Die letztere ist also
keineswegs, wie unser Autor S. 236 meint, ein auf Unerfüllbares sich
richtender Wunsch.
222 Hermann Schwarz:
c) Unser Autor zeigt auf eine dritte Deutung (S. 37).
Lustgefühle, meint er, begleiteten keineswegs ausnahmslos
alle Akte des Strebens, sondern nur die, deren Objekte wir
zuversichtlich zu erreichen glaubten. Selbst aber, wenn das
erstere ausnahmslos geschehe, brauchte es darum doch nicht
gerade durch sie, durch den Zuschufs der positiven Strebens-
oder Willenslust, zu einer relativen Glücksförderung,
zu einem Minimum von Unlust zu kommen. Denn das Streben
und Wollen, bezw. die lustbetonte Vorstellung, in der es sich
verkörperte, seien nur sehr schwache Gefühlsquellen. Viel
stärkere seien die Hoffiiung auf das Eintreten, die Furcht vor
dem Ausbleiben des Begehrten. Durch eine Unlust aus der
letzteren Quelle könnte die specifische Strebens- oder Willens-
lust mehr als aufgehoben werden, wenn ihr nicht eine ent-
sprechende Lust aus der nämlichen Quelle, die Hoffiiungslust,
zu Hilfe käme und das Streben und Wollen bedingte (vergl.
auch S. 190). — Eine Deutung, welche zwar die Schatten
der älteren empiristischen Lehre nicht mehr heraufbeschwört,
ihrerseits aber sichtlich auf den ersten Blick nicht genügt.
Denn nun gehörte es gar nicht mehr zum Charakter der
WoUens- und Strebensvorstellung selber, dafs sie mit maximaler
Lustbetonung begabt wäre. Schon ehe sie aufträte, hätte
sich, indem entsprechende Hoffnungsgefuhle gespielt hätten,
der Gefühlsstand auf das Minimum von Unlust eingestellt, und
aus diesem Gefühlsstand heraus wäre sie erst geboren. Sie
wäre nur das Zeichen, dafs er andauerte. Auf die Natur ihrer
Ursache, auf jene Hoffnungslust im Verhältnis zu anderen
gleichzeitigen Unlustquellen, käme alles an, auf sie selber,
trotzdem sie das Wünschen oder Wollen verkörperte, nichts.
Sie wäre irgend eine ganz gewöhnliche Vorstellung mit irgend
einer ganz gewöhnlichen Gefühlsbetonung, ob von Lust oder
Unlust, das auszumachen gehörte gar nicht in die Willens-
psychologie. Denn die Qualität des Wollens wäre dann
sichtlich keine andere als die des Vorstellens, da wir ja
auch bei ganz neutralem Gefühlsstand noch wollen können.
Damit würde abermals der Gegensatz der Willensregungen
Die empiristische Willenspsychologie etc. 223
hinweggefegt, der sich nun einmal nicht ableugnen läfst. —
Zudem dürfte man jetzt nicht mehr behaupten, dafs beim
wollenden Verhalten der Gefühlsstand besser sei, als beim
nichtwoUenden. Die relativ beste Gefuhlslage ist ja bereits
verwirklicht, ehe wir wünschen oder wollen, verabscheuen
oder widerstreben. Ist sie doch die Ursache davon, dafs diese
Akte auftreten. Man denke sich die Vorstellung fort, in der
das Wünschen, Wollen, Verabscheuen, Widerstreben besteht,
lasse sie, etwa infolge von Keproduktionsschwierigkeiten oder
abgelenkter Aufmerksamkeit, nicht auftreten, dann haben wir
den Zustand des Nichtwollens, und nichts wird sich an der
Gefühlslage ändern, aus der sonst die angebliche Willens-
vorstellung entsprossen wäre ; so wenig, wie sich an der Sonne
etwas änderte, wenn man die Wärme des Steins fortnähme, auf
den sie scheint. Der Glückszustand beim Wollen und beim
Nichtwollen bliebe ganz gleich.
d) Indessen die genannte Deutung läfst sich verbessern.
Setzen nicht die Hoflfnung auf das Eintreten, die Furcht vor
dem Ausbleiben eines Gegenstandes die Vorstellung schon
voraus, deren „Haften im Bewufstsein" unter dem Namen
eines „Begehrens" diese starken Gefühlsquellen allererst be-
dingen sollten? Und ist nicht die Hofl&iung selber bereits
ein Begehren? (S. 21: Hoflhung ist ein zuversichtlich freudiger
Wunsch.) Das vei^öfsert zunächst die Schwierigkeiten,
treibt aber auch mit innerer Notwendigkeit zu einem Lösungs-
versuch, der die Verbesserung bringt. Beides, jene Schwierig-
keiten und ihre Lösung, spiegelt sich in der endgültigen
Formulierung, die v. Ehbenfels S. 41 giebt: „Alle Akte des
Begehrens werden in ihren Zielen sowohl wie in ihrer Stärke
von der relativen Glücksforderung bedingt, welche sie gemäfs
den Gefühlsdispositionen des betreffenden Individuums bei
ihrem Eintritte ins Bewufstsein und während ihrer Dauer
in demselben mit sich bringen/'
Wie? Die Akte des Begehrens von einer Glücksforderung
bedingt, welche sie bei ihrem Eintritt ins Bewufstsein erst
mit sich bringen? Welche Wirkung könnte die Ursache
224 Hermann Schwarz:
schon vorher herbeiführen, aus der sie ihrerseits erst nachher
flösse? Dies die Anerkennung der Schwierigkeit! Der Ver-
such, dieselbe zu lösen, liegt in dem Worte von den Gefühls-
dispositionen. Das heilst, soviel ich sehe: nicht allein auf
die Hoflöiung oder Furcht^) komme es an, welche dem ersten
Auftreten der Vorstellung folge, die hernach als Begehren im
Bewufstsein hafte, sondern auch auf die Hoffnung oder
Furcht, welche anderen Vorstellungen folgen würde, wenn
diese ins Bewufstsein träten. Man müsse sich denken, dafs
jede dieser Vorstellungen, die, welche wirklich auftrete, und
die, welche aufserdem auch auftreten könnten, gleichsam einen
Geflihlssturm entfesseln oder entfesseln würden. Zum Be-
gehren komme es dann und nur dann, wenn der Gefühlssturm,
den die erste Vorstellung wirklich entfache, mit weniger Unlust
abschliefse, als die anderen möglichen Gefuhlsstfirme, welche
die übrigen Vorstellungen entfachen würden. Und zwar sei
das Begehren um so stärker, je mehr Unlust im ersten, gegen-
über dem zweiten Falle gespart werde.
Unser Autor glaubt hier sogar einem ganz allge-
meinen Gesetze auf die Spur gekommen zu sein, das nicht
nur für die Begehrungsvorstellungen, sondern für alle mög-
lichen gelte, und die Stärke ihres Haftens im Bewufstsein be-
stimme: S. 191 „Die Differenz der Gefühlszustände, welche
sich an zwei beliebige Vorstellungen knüpfen würden (und
nicht etwa positive Gefühle oder eine stete Glückszunahme),
giebt den Grund ab, weshalb immer die angenehmere in Bezug
auf die unangenehmere einen Zuschufs zu der ihr aus ander-
weitigen Umständen zukommenden Kraft erhält, so dafs ein
solcher Zuschufs selbst bei einem auf dem Indifferenzpunkt
zwischen Lust und Unlust verbleibenden, ja, bei einem stetig
sich verschlechternden Gefühlszustände immer noch bestehen
kann. Die Höhe des Kraftzuschusses ist nicht proportional
der Höhe des Glückszustandes, auch nicht der Gröfse einer
etwaigen Glückssteigerung, sondern er ist proportional dem
^) Besser „Befürchtung". Befürchtung ist eine Unlust, die an das Vor-
handensein eines GewoHten geknüpft ist. Furcht, Grauen ist etwas anderes.
Die empiristUche Willenspsychologie etc. 225
Unterschiede im Glückszustande, welcher sich an die betreffen-
den Vorstellungen knüpfen würde. Je mehr sich mit dem
Verdrängtwerden einer Vorstellung A durch eine Vorstellung B
der Grefiihlszustand (gleichgültig, ob er ein lust- oder schmerz-
voller ist) verschlimmem würde, eine desto gröfsere Kraft
setzt A diesem Verdrängtwerden entgegen". An diesem Ge-
setze nähmen auch die Begehrungsvorstellungen teil. Die
Stärke des Begehrens werde geradezu durch die relative
Kraft ihres Haftens im Bewufstsein gemessen; nur dafs bei
ihnen noch der Nebengedanke von der Erreichbarkeit oder Ver-
meidbarkeit des Gegenstandes, auf den sie gingen, ausdrück-
lich hinzutreten müsse (S. 248 — 249).
Man sieht, hier erst kommt das wahre Gesicht des
V. Eheenfels' sehen Reformationsversuches zum Vorschein!
Hier in der That ein entschiedenes Hinausschreiten über die
ältere empiristische Lehre! Nach wie vor gilt noch das Be-
gehren als eine Vorstellung, aber ihre aktuelle Gefuhlsbe-
tonung rückt nach der neuen Auffassung zu etwas Unwesent-
lichem herab. Keine Rede mehr davon, aus ihr die Stärke
der Willensregungen zu erklären. Vielmehr die Stärke, mit
der die genannte Vorstellung im Bewufstsein haftet, die soll
jetzt die Stärke der Willensregung sein. Begehren, das
sei eben die Vorstellung, die am stärksten im Be-
wufstsein hafte, soweit es nicht auf die Associationsgesetze,
sondern auf den Stand des Gefühls ankomme. ^) Das Maximum
relativer Glückshöhe oder, was dasselbe ist, ersparter Unlust
soll sie gleichsam anziehen und festhalten. Dies über die
Stärke der Willensregungen. Und welches ist, im Sinne
von V. Ehrenfels, ihre Qualität? Nicht der Lust- oder
Unlustton der Begehrensvorstellung, da es auf diesen ja gar
nicht ankomme; sei sie doch gelegentlich ganz neutral!
^) Nach Hbbbabt ist bekanntlich das Begehren ein Aufstreben der
Vorstellung, deren Inhalt begehrt wird, gegen Hindernisse. Es sei aber
hier von aller Analogie mit älteren Lehren abgesehen. Eine gute Über-
sicht derselben bei Külpe: „Die Lehre vom Willen in der neueren Psycho-
logie'*, in WuNDTS „Philosophischen Studien" V, 2.
Yierteljahrssclirift f. wissenschaftl. Philosophie. XXIII. 2. 15
226 Hermann Schwarz!
Sondern er fällt mit der Qualität des Vorstellens zu-
sammen. Woher weiter der qualitative Gegensatz der
Willensregungen? Dieser soll dadurch herauskommen, dafs
wir uns im Streben, Wünschen, Wollen vorstellen, der Gegen-
stand sei erreicht, im Widerstreben, er sei vermieden. Selbst-
verständlich decke sich dabei auch die Richtung des Be-
gehrens stets mit jener des Vorstellens.
7. Unstreitig haben wir hier den willenspsychologischen
Empirismus in seiner feinsten und geistigsten Gestalt! In-
dessen unüberwindliche Schwierigkeiten auch hier!
a) Die Willensregungen sollten blofse Vorstellungen sein,
die sich mit einer gewissen maximalen Stärke im Bewufstsein
behaupteten? Dawider steht unerschütterlich der Nachweis,
dafs wir zu manchen Willensregungen überhaupt keine Gegen-
stände vorstellen könnten, die ihnen entsprächen, so z. B.
wenn wir widerstreben; dafs wir femer zu manchen anderen
die Ziele gewifs nicht vergegenwärtigen, die zu ihnen gehören,
so z. B. nicht die letzten Zwecke vieler mittelbarer Wollungen.
Selbst wenn jene Ziele in einem unbewufsten Denken vor-
lägen, ^) so fiele doch noch immer der Nebengedanke aus, sie
könnten erreicht oder vermieden werden. Ohne diesen aber
giebt es nach v. Eheenjpels kein Wollen, und so fehlte hier
gerade der Wille, der das mittelbare Wollen allererst zu dem
machte, was es ist. Der letzte mafsgebende unmittelbare
Wille fehlte, ohne den wir bei den Gegenständen des mittel-
baren Wollens, die uns für sich selber gleichgültig liefsen,
nimmermehr den Eindruck hätten, sie seien irgendwie und
irgendwozu wichtig. Die Erfahrungen, welche die Eichtung der
Willensregungen angehen, widersprechen also allem und jedem
Empirismus. — Nicht minder das, was wir von ihrer Qualität
wissen. Ist es ausnahmslos eine maximale Glücksförderung,
durch welche sich die Begehrungsvorstellungen im Bewufstsein
behaupten, woher sollte ihnen jemals der Gegensatz von Be-
^) Gegen die Annahme unbewufsten Vorstellens vergl. meine „Um-
wälzung der Wahmehmungshypothesen" an den im Register unter „un-
bewulst" angeführten Stellen.
Die empiristische WiUenspsyctologie etc. 02?
gehren und Widerstreben anfliegen? Unser Autor deutet
ihn nicht eben glücklich hinweg, indem er allen Willens-
regungen blofse Vorstellungsqualität giebt und dabei das
Widerstreben gleich eiaem Wünschen setzt, welches aufs
Aufhören seines Gegenstandes ziele! Das sind Bedenken,
von denen bereits die Rede war, wider deren Stachel auch
die neue Lehre nicht zu locken vermag. Die Willens-
regungen sind eben und bleiben in ihrem Wesen durchaus
selbständig ; in keine Vorstellungen oder Gefühle, in keine
Gesamtheiten von Vorstellungen und Gefühlen, in keine Be-
ziehungen der Vorstellungen zu Gefühlsdispositionen lassen
sie sich je auflösen.
b) Wir wollen darum lieber gleich das Gesetz der rela^
tiven Glücksförderung als das behandeln, was es ist. Nicht
so sehr, was die Willensregungen sind, will es im letzten
Grunde aussagen, sondern was sie verursacht. Es ist seiner
Absicht nach als ein Motivgesetz des Willens gedacht.
Wie immer sich jede Strebung ihrem Wesen nach zu der
Vorstellung verhalte, die gerade am stärksten im Bewufstsein
hafte, stets sei sie von ihr abhängig; sie habe entweder diese,
die Zielvorstellung, selbst zur Ursache, oder doch mit ihr
zusammen in unseren Gefühlsdispositionen die gleiche Ursache ;
und so trete sie stets mit einem Stärkegrade auf, welcher
der Festigkeit proportional oder gleich sei, mit der jene Vor-
stellung im Bewufstsein hafte, habe dazu mit ihr die gleiche
Dauer.
8. Die Willensregungen sollen hiernach, was sie auch
selber seien, von dem Maximum relativen Glückszuwachses,
das eine Vorstellung mit sich bringt, unbedingt abhängig
sein!
a) Blicken wir, um das zu prüfen, jetzt auf ihre Dauer
und Stärke, wie wir vorhin auf ihre Qualität und ihre
Eichtung geblickt hatten! — Gälte jenes Motivgesetz, so
könnten unsere Willensregungen nur unter einer Bedingung
länger anhalten und gleich stark bleiben: die Zielvorstellung
müfste unausgesetzt, -wie sich auch der Gefühlsstand änderte,
15*
228 Hermann Schwarz:
mehr Glück bringen, als alle anderen Vorstellungen,^) und
wir müfsten bei ihr, diesen anderen gegenüber, stets gleich
viel Unlust ersparen. Verringerte oder vergröfserte sich die
ersparte Unlust, so müfste auch die Stärke der Begehrung
sinken oder wachsen. — Bleibt nun nicht aber z. B. der
Wille eines Schachspielers, den feindlichen König mat zu
setzen, während der ganzen Partie gleich? Von Anfang bis
zu Ende erstrebt er es mit gleicher Stärke. Und doch!
Welche Fülle von Gefühlen strömt schon allein mit dem
wechselnden Gange des Spieles auf ihn ein! Hier HoflBaung,
dort Furcht, hier Freude über eine gelungene List, dort
Ärger über den eigenen Fehler; hier der geistige Genufs an
einer spannenden Stellung, dort Langeweile über den ein-
tönigen Verlauf! Von den äufseren Einflüssen zu schweigen,
die den Gefühlsstand verändern. Die Art, wie sich der
Gegner im Spiele benimmt, kann uns sympathisch oder un-
sympathisch berühren, aus der Umgebung kommen Geräusche,
welche stören, angenehme Sinneseindrücke (z. B. durch das
Rauchen einer Zigarre), die den Geflihlsstand heben u. s. w.
Wie sollte bei so wechselnder Gefühlslage der Wille zu ge-
winnen wandellos fortdauern, wenn anders seine Stärke von
dem Grade abhinge, in dem seine Zielvorstellung glücksfördem-
der als andere wäre ? Er müfste vielmehr sinken, während wir
z. B. der starken Versuchung widerstehen, einen Zug zu thun,
der zwar glänzend, aber in seinem Erfolge fraglich ist. Oder
wenn wir uns über das Benehmen unseres Gegners ärgern.
Beidemal bliebe in der Vorstellung des künftigen XJewinns
der Stachel einer Unlust zurück und verringerte ihren Glücks-
unterschied gegenüber anderen Vorstellungen, gegenüber der,
möglichst glänzend zu spielen, oder der, einen genehmeren
Partner zu haben. Statt dessen ändert sich nicht das Ge-
ringste in unserem Willen zu gewinnen, sofern er überhaupt
fortbesteht. Wir müssen uns vielleicht erst ausdrücklich dazu
entschliefsen, mit dem unlieben Genossen das Spiel fortzu-
') Da „sich durch das Begehren stets der jeweilig heste der mög-
lichen Gefühlszustände verwirklicht*^ v. Ehbbnfels (a. a. O. S. 41).
Die empiristische Willenspsychologie etc. 229
setzen. Dann thnn wir es aber auch mit der gleich starken
Absicht anf Gewinn. Wir woUen erst gewinnen, und das so
fest wie vorher, dann aufhören.
.Man könnte entgegnen, dann sei es eben jenes Doppelte,
erst gewinnen, dann aufhören, was wir wollen ; dieses Wollen
entspreche genau dem relativen Gliicksmaximum aus unserer
gesamten nunmehrigen Geffthlslage, wie sie sich dadurch ge-
staltet habe, dafs obiges Mifsfallen neu eingetreten sei. Allein
das erklärte nach wie vor nicht, warum das Wollen, das
schon vorher bestand, nämlich zu gewinnen, so stark bleibt,
wie es war. Das neue relative Glücksmaximum ist doch ge-
rade ein anderes geworden, seüi Unlustbetrag ist gegen das
vorige heraufgegangen! Zudem wird hier eine neue Schwierig-
keit sichtbar!
b) Um sie zu kennzeichnen, sei einmal eine positive
Bemerkung gestattet. Nicht so sehr der wechselnde Stand
der relativen Glückshöhe beeinflufst die Willensregungen, als
dafs vielmehr der umgekehrte Einflufs besteht. Sind Willens-
regungen schon da, so scharen sich Vorstellungen oder Ge-
fühle um sie in einer Weise, an die v. Ehbenfels mit seinem
Gesetze sichtlich gerührt hat. Hängt es nun von den Willens-
regungen ab, dafs sie glücksfördemde Vorstellungen um sich
scharen, so kann das ganz gut in so vielen verschiedenen
Kreisen geschehen, als es Willensregungen giebt. So be-
fiiedigt sich z. B. jeder Bergsteiger gleichzeitig im Gefallen
an der körperlichen Bewegung, im Genufs der schönen Gegend,
im gehobenen Gefühl der Persönlichkeit. Das alles triflPt
ebenso viele Seiten seines Willens, die gleichzeitig rege werden.
Seine Vorstellungen und Glücksgeflihle gehen dann um alle
drei Centren, bald mehr um dieses, bald mehr um jenes. So
kann auch jener Schachspieler ohne weiteres Entschlüsse
fassen, an denen sich gleichzeitig mehrere Wünsche und
Widferstrebungen beteiligen. Anders, wenn man die Vor-
stellungsbewegung und die Glücksförderung nicht von Willens-
regungen abhängen läfst, die schon vorhanden sind, sondern
das Verhältnis umkehrt, wie es v. Ehbenfels thut, der vom
230 . Hermann Schwarz: _
Geföhlsstaude ausgeht, diesen als ein kompaktes Ganzes
nimmt und aus seiner jeweiligen höchstmöglichen Gesamt-
erhebung das Begehren entstehen läfst. Danach könnte es
in jedem Augenblicke nur ein einziges mögliches Glücks-
maximum geben, und da dieses das Begehren bestimmen soll,
so müfste es in jedem Augenblicke auch nur ein einziges
Begehren geben.
Dagegen predigt mit tausend Zungen die Erfahrung
z. B. jenes Schachspielers. Auch schon alles mittelbare Wollen
(vergl. V. Ehrenfels S. 233) erweist das Gegenteil. Wenn
wir einen Zweck und die Mittel dazu wollen, dann wollen
wir beides, den Zweck und das Mittel, streng gleichzeitig.
Und doch ist das nicht ein Wollen, sondern es sind zwei
Willensregungen, die sich deutlich unterscheiden, besonders
wenn wir den Zweck gerne, das Mittel minder gerne wollen. —
Man denke femer daran, wie verschieden sich der geübte
Schwimmer und der unkundige Anfänger im Wasser benehmen.^)
Beide wollen sich mit gleich starkem Willen über Wasser
halten. Aber der unkundige Schwimmer glaubt sich aufser-
dem jeden Augenblick in Gefahr, und so erlebt auch er zwei
Willensregungen, nämlich aufser dem Wollen zu schwimmen
bezw. schwimmen zu lernen, noch ein Widerstreben. Der Ge-
fahr widerstrebt er unter Angstgefühlen, die nicht besteht,
die er aber nahe glaubt. Das alles sind einfache Thatsachen,
aber sie werden unverständlich, wenn man den Willen aus
der relativen Glücksforderung ableitet, statt ihn ihr voran-
gehen zu lassen.
9. Unser erstes Ergebnis war: die Willensregungen seien
und blieben ihrem Wesen nach selbständige Erlebnisse, auch
wenn das Gesetz der relativen Glücksförderung so gälte, wie
es V. Ehbeneels formuliert habe. Die Eigenheiten ihrer
Qualität, Intensität, Eichtung wiesen sie in eine besondere
Klasse. Unter keinen Umständen könne man sie als Vor-
stellungen erklären, wie immer man diese auf Gefühle beziehe.
^) Dies Beispiel behandelt v. Ehsenfels a. a. 0. S. 16, 35, -38, 39.
\
Die empiristische Willenspsychologie etc. 231
Die Willensdefinition unseres Autors sei nnannehmbar.
Wir fanden zweitens eben jetzt, dafs auch sein Motivgesetz
versage, dafs ein etwaiges Maximum relativer Glückshöhe
nicht einmal auf den Willen wirke* Viel eher möchten von
den Willensregungen gewisse Einflüsse allererst ausgehen, an
die man bei jenem Begriffe der relativen GlticksfÖrderung
denken könne. Dazu kommt ein Drittes.
a) Die ganze Anschauung ist unvollziehbar, auf der sich
das „Gesetz" v. EHBEinPELs' aufbaut. Die relative Glücks-
förderung ist ja gar nichts psychisch Aktuelles, sondern sie
ist nur die Differenz zwischen einem aktuellen und einem
möglichen Gefühlszustande. Wie könnte jene Differenz, die
gar nicht real existierte, jemals dazu kommen, zu wirken,
zur Beharrungstendenz einer gegenwärtigen Vorstellung etwas
zuzuschiefsen, eine Willensregung herbeizufuhren? Unser
Autor erwähnt selber die Schwierigkeit. Um sie zu heben,
bezieht er sich auf die physiologischen Grundlagen (S. 246,
199). Die streitenden Vorstellungen, die eine, zu welcher der
wirkliche, und die andere, zu welcher der mögliche Gefühls-
zustand gehört, sollen auf nervösen Erregungen beruhen, die
sich in den Eindenbahnen des Grofshirns mit verschiedener
Leichtigkeit ausbreiten. So komme die eine eher dazu, als
die andere, Partien des Gehirns zu ergreifen, in denen nervöse
Energie genug aufgestapelt sei, um die Nervenerregung, die
zu ihr dringe, rückwärts fort und fort zu unterhalten.
Allein was hätten diese Verhältnisse mit einer Differenz
zu thun und gar mit der eines wirkUchen und eines mögUchen
Gefühlszustandes? Soll man denken, die anderen nervösen
Erregungen, die den gehemmten Vorstellungen entsprächen,
drängen ihrerseits zu anderen Stapelorten nervösen Kraft-
vorrats vor; von da aus bezögen sie rückwirkende Kräfte
gegen die erste; so käme es dann, dafs sich der Nerven-
prozefs, welcher der Begehrungsvorstellung entspreche, nicht
in voller Stärke erhielte, sondern um ebenso viel geschwächt
würde, als jene Gegenwirkungen ihn nähmen? Und der Betrag
der letzteren, das sei deshalb gerade der gesuchte Subtra-
232 Hermann Schwarz:
hendus und mit der „möglichen" Glückshöhe beim Ausbleiben
der Begehrungsvorstellung einerlei? Mag man diese Inter-
pretation gelten lassen, solche Thatsachen giebt es nicht.
Denn nach allem, was man weifs, würden die anderen Er-
regungen längst schon vorher gehemmt sein und kämen gar
nicht erst dazu, den Weg zu solchen Kraftquellen zu finden.
Auch drohen noch andere Übelstände diesem Versuche, psycho-
logische Hypothesen durch neue physiologische zu stützen. —
In ihn hat sich die Voraussetzung eingeschlichen, jeder Vor-
stellung entspräche ein genau umschriebener Kreis von Nerven-
bahnen und verschiedenen Vorstellungen entsprächen ver-
schiedene solche Kreise. Das Rätsel mü&te aber erst gelöst
sein, für die Nervenprozesse, welche etwa den Eitelkeits-
vorstellungen oder der Erreichbarkeit oder Vermeidbarkeit
beliebiger Werte entsprechen, wohl umschriebene Bahnen
auch nur auszudenken!^) — So ist es denn vergeblich, in
dieser ganzen Sache bei der Physiologie Zuflucht zu suchen.
Sie schafft jenem ersten Bedenken logischer Art keine Ab-
hilfe, von dem wir ausgingen. — Es bleibt nicht allein.
b) Ein zweites Bedenken gleicher Art gesellt sich
hinzu. Die Differenz, die zwischen einem wirklichen und
einem möglichen Glückszustande bestehen soll, das ist gar
kein scharf umschriebener Begriff! Denn der Umkreis des
Möglichen ist unendlich grofs, grofs noch der Kreis auch nur
der Vorstellungen, die nach psychologischer Wahrscheinlichkeit
mit einer gegebenen rivalisieren könnten. Demgemäfs giebt
es viele mögliche Gefiihlszustände, von denen der gegenwärtige
der „jeweilig beste" wäre.^ Und entsprechend Terschieden
^) Um von der anderen Voraussetzung abzusehen, als beruhten alle
Gefühle auf Assünilations- und Dissimilationsprozessen. Das gilt allenfalls
von den Lustgefühlen frischer, den ünlustgefühlen ermüdender Thätigkeit.
Wie es von der geistigen Unlust der Beue, oder auch nur von der spe-
cifischen leiblichen Unlust des Hungers gelten sollte, ist nicht abzusehen.
S. 22 spricht unser Autor von Lust und Unlust des befriedigten oder un-
befriedigten Strebens. Wie steht es wohl damit physiologisch?
^) A. a. 0. S. 41 : ,,Im Begehren verwirklicht sich stets der jeweilig
beste der möglichen Gefühlszustände". Yergl. S. 48—49.
Die empiristische Willenspsychologie etc. 233
wäre auch der Unterschied des gegenwärtigen und der mög-
lichen Gefiihlszustände, je nachdem, mit welchem der letzteren
man ihn vergleicht. Da es gar keinen Anhalt gäbe, den
Vergleich lieber mit dem einen, als mit dem anderen der
möglichen Glückszustände zu vollziehen, so bliebe die relative
Glückshöhe des gegenwärtigen ihrer Natur nach ganz unbe-
stimmt. Deshalb könnte auch die Kraft, mit der sie die
siegende Vorstellung oder Strebung im Bewufstsein festhalten
soll, überhaupt mit keiner bestimmten Stärke einsetzen, selbst
wenn reale Wirkungen eines solchen Potentiellen denkbar wären!
Diese Unbestimmtheit in ihrem blofsen Begriff bliebe, auch
wenn man sich begnügte, nur den Glückszustand beim Wollen
und beim ausbleibenden Wollen zu vergleichen. Denn wiederum
hinge es ja von den übrigen, noch möglichen Vorstellungen
ab, wie grofs der Glückszustand beim Nichtwollen wäre. Er
schwölle an oder sänke, je nach den anderen Vorstellungen,
welche durch Geföhlslage, Associationsdrang, Urteilszwang
gerade aufsteigen.^)
c) Mit dem allem zerbricht das Gesetz der relativen
Glücksförderung und der geistvolle empiristische Versuch, der
sich darauf stützte. Es ist zweifellos v. Eheenfels' Verdienst,
mit der Konzeption dieses Gesetzes auf eine Lücke hinge-
wiesen zu haben, die in der Vorstellungspsychologie bestand.
Unstreitig giebt es noch andere Einflüsse auf unser Vorstellen,
als Associationsdrang und logischen Zwang. Der genannte
Autor versah es aber damit, dafs er mit seiner Konzeption
die Gedanken der empiristischen Willenspsychologie verband,
und darum das ganze Problem, das ihn beschäftigte, auf das
Geflihlsleben hinausspielte. Sonst wäre er vielleicht darauf
auflnerksam geworden, dafs die Einflüsse, denen er so scharf-
sinnig nachspürte, keine anderen seien, als die des Willens,
^) In obiger physiologischer Hypothese kommt es eben gar nicht
zum Ausdruck, dafs doch auch die übrigen Vorstellungen bezw. ihre ner-
vösen Korrelate wieder gegenseitig in Hemmungs- und Bahnungsver-
hältnissen stehen. Sie sind keine blofse Summe, die eintritt, wenn die
Begehrungsvorstellung ausbleibt, sondern wieder einzelne, die auch mit
einander streiten.
234 Hermann Schwarz: Die empiristische Willenspsychologie etc.
der auf Vorstellungen und Gefühle zurückwirkt, wie diese
auf ihn einwirken.
Die Genesis der geschilderten Schwierigkeiten läfst unser
Philosoph selbst erkennen. Der verdienstvolle Meinong hatte
den Wert eines Objekts 0 der Summe der Intensitäten des
Lust- und Unlustgefuhls gleich gesetzt, welche durch die
beiden Urteile „0 existiert" und „0 existiert nicht" aus-
gelöst werden. Ganz richtig ersetzt v. Ehbeneels in dieser
Definition S. 55 die absoluten Summen der Gefiihlsintensi-
täten durch den weiteren Begriff ihrer algebraischen Diffe-
renz, die ürteilsakte durch Akte anschaulichen Vorstellens.
Dann aber identifiziert er jene Differenz mit der relativen
Glücksförderung, welcher wir nach dem Objekt strebend gegen-
über dem NichtStreben (bezw. dem Nichtexistenzgefühl ib.)
teilhaftig werden können. Dieser Zustand des Nichtstrebens
ist natürlich etwas viel Unbestimmteres, als der, welcher bei
der Vorstellung „0 existiert nicht" eintritt, vorausgesetzt,
dafs alles andere ebenso bleibt. Bei Meinung femer hatte
es sich um die Differenz zweier realer psychischer Zustände
gehandelt. Bei unserem Autor wird daraus, da das Nicht-
streben faktisch nicht eintritt, die Differenz eines realen und
eines blofs möglichen Gefühlsstandes, die natürlich niemals
ein real wirksamer Faktor sein kann.
Berichtigungen zum i. Hefte.
S. 92 Z. 10 von oben ist ^ zu streichen. Was unter dem Text
zu 2) gehört, ist nur Fortsetzung von ').
S. 101 Z. 14 von oben ist zu lesen ihnen (nicht ihm).
irnilllllllMIflll'Mlnillill llllllllMMlllllMIK
Berichterstattung.
I.
Besprechungen.
Lipps^ Theodor, Komik und Humor. (Beiträge zur Ästhetik.
Herausgegeben von Th. Lipps und E. M. Werner.) Hamburg
und Leipzig, Vofs, 1898. 264 S.
Vor einer Beihe von Jahren hat Lepps in den Philosophischen Monats-
heften eine psychologische Theorie der Komik veröffentlicht. Wer jene
Aufsätze kannte, mufste wünschen, ihr höchst bedeutsamer Hauptgedanke
möchte noch einmal eine zusammenfassende Darstellung und die vielseitige
psychologische Begründung erfahren, deren er fähig ist. Solche Wünsche
hat Lipps jetzt reichlich erfüllt. Seine neue „psychologisch-ästhetische
Untersuchung der Komik und des Humors" behandelt die oft erörterten
Probleme unvergleichlich gründlicher und erschöpfender als alle früheren.
Mancher wird geneigt sein, von den zahlreichen wertvollen Leistungen des
Münchener Psychologen diese wissenschaftlich am höchsten zu bewerten.
Ausführlicher als sonst geht Lipps zunächst kritisch auf die um-
fängliche Litteratur von Vorarbeitern ein. Am eingehendsten setzt er
sich mit Heckeb, Gboos, K&Ipbun, Wukdt und Hethans, hinsichtlich des
Humors mit Lazabüb auseinander. Gelegentlich werden neben anderen
noch Jean Paül, Schopenhaüeb, Vischeb, Spenceb, Ziegleb und die neuesten
Arbeiten von Lilly, MIslinaüd, Hebkenbath erwähnt. Mit glänzender
Dialektik hebt der Verf. die schwachen Punkte aller dieser Theorien oder
Definitionen und ihrer Konsequenzen hervor. Im U. Abschnitt wird aus
einer eindringenden Analyse der verschiedensten Fälle und einfachen Bei-
spiele die allgemeine Definition der Komik gewonnen: Das Gefühl der
Komik „entsteht überall, indem der Inhalt einer Wahrnehmung, einer Vor-
stellung, eines Gedankens den Anspruch auf eine gewisse Erhabenheit
macht oder zu machen scheint, und doch zugleich eben diesen Anspruch
nicht machen kann oder nicht scheint machen zu können" (S. 99 — 100).
Drei Hauptgattungen des Komischen unterscheidet Lipps: Objektiv
komisch sind alle Dinge, Personen, Begebenheiten, kurz faktischen
Thatbestände, an denen wir (und soweit wir an ihnen) den angedeuteten
Gegensatz des in irgend einem Sinne Grofsen, Wichtigen, Eindrucksvollen
und de& relativ Kleinen, Bedeutungslosen oder Nichtigen erleben. Sub-
236 Felix Krueger:
jektiy komisch oder witzig ist immer nur eine Bethätigung oder
Aktivität der Persönlichkeit. Den Witz macht man; er haftet an den
menschlichen Worten, Handlungen oder Gehärden, in denen irgend ein
Sinn, eine Bedeutung liegt oder zu liegen scheint; genauer: witzig ist
eine solche ÄuTserung, „wenn wir ihr eine Bedeutung mit psychologischer
Notwendigkeit zuschreiben, und indem wir sie ihr zuschreiben, sofort auch
wiederum absprechen^. Die naive Komik endlich ist nach Lifps objektiv
und subjektiv zugleich. Sie enthält stets einen Gegensatz zweier Stand-
punkte, nämlich deijenigen des Urteilenden und des als naiv komisch Be-
urteilten. Alle naive Komik „schliefst dies in sich, dafs die Äufserungen
oder Handlungen wahr, klug, vernünftig, kurz irgendwie positiv bedeutsam
erscheinen vom Standpunkte des naiven Subjektes aus, und dann doch
wiederum nicht so erscheinen von unserem Standpunkte aus^. Dafs bei
aller Komik ein „Kontrast^, ein Gegensatz zwischen einem Positiven und
einem Negativen vorliege, ist schon vor Lifps vielfach betont worden, so
von Kant, Sghopenhaubb, Jean Paul, neuerdings von Wunbt und KaI-
PELIN. Aber die psychologische Natur dieses Kontrastes ist niemals vorher
zureichend bestimmt worden. Lipps weist überzeugend nach, dafs es nicht
um einen blofs vorgestellten, sondern einen unmittelbar erlebten, nicht
um einen „Vorstellungs-", sondern um einen „Bedeutungskontrast" sich
handelt. Der Vorzug und der reiche Erfolg der LiPPs'schen Untersuchung
beruht in erster Linie darauf, dals sie rein psychologisch von den vorge-
fundenen Inhalten ausgeht und allen vorzeitigen Objektivismus zu ver-
meiden strebt: nicht etwas „an sich'' Bedeutsames, Sinnvolles, Wichtiges,
sondern ein für uns und im Augenblicke Eindrucksvolles, die Erwartung
Spannendes, ein rein psychologisch Gewichtiges (und sein Gegensatz) steht
in Frage. Lipps sucht die komischen Objekte überall in ihrem psycho-
logischen Zusammenhang zu erfassen, das Komische nicht in abstrakter
Isolierung, sondern aus dem Gesamtzustand des Bewufstseins einschließlich
der psychologischen Vorbereitung zu begreifen. — Der HI. Abschnitt be-
handelt die Psychologie der Komik in mehr systematischer Weise und
verknüpft die Theorie mit des Verfassers allgemeinen psychologischen
Anschauungen. Das Gefühl der Komik ist nicht ein „gemischtes'^ oder
zwischen Lust und Unlust „wechselndes'^, sondern ein specifisches Gefühl
des „Heiteren'^, das freilich stets in irgend einem Grade zugleich lustge-
färbt ist. Die Gründe dieser Lustfärbung und das Gemeinsame aller
Gefühle des Heiteren, Leichten, Spielenden, das Eigenartige der komischen
Spannung und ihrer Lösung, die Steigerungen und Hemmungen, der
komischen Wirkung — dies alles führt Lipps auf die bekannten, leider
noch zu selten diskutierten Begriffe seiner Psychologie zurück: die Be-
griffe der Association im erweiterten Sinne des Wortes, der den be-
wufsten Inhalten „zu Grunde liegenden'^ unbewufst psychischen Vorgänge,
der psychischen Kraft und ihrer Begrenztheit, der psychischen Energie
u. s. w. Auf diese prinzipiellen Fragen einzugehen, ist hier unmöglich. —
Der rV. Abschnitt, über die Unterarten des Komischen, giebt Gelegenheit,
die Hauptergebnisse der Untersuchung an einem sehr mannigfaltigen
Thatsachenmaterial von neuem zu erproben. Die zahlreichen Einteilungen
und Untereinteilungen namentlich des Witzes sind natürlich nicht alle gleich
Lipps, „Komik und Humor". 237
wertyolL — Die Ausführungen des letzten Abschnitts über den Humor
(und Über die ästhetische Bedeutung des Komischen) enthalten im Vergleich
zu den früheren Veröffentlichungen des Verf. am meisten Neues. Sie
werden namentlich der Kunstwissenschaft hoch willkommen sein. Mehr
noch als das des Komischen lag ja das schwierigere Problem des Humors
bisher im Argen. Als das Wesen des Humors ergiebt sich eine gewisse
„Erhabenheit" in der Komik und durch sie. Menschlich Wertvolles wird
durch den Humor komisch negiert und dadurch in seinem Werte um
so fühlbarer. Die ästhetische Bedeutung der (humoristischen) Komik
besteht darin, dafs sie das Erhabene in einzigartiger Weise uns nahe bringt,
seiner Strenge entkleidet. Zugleich ist sie das beste künstlerische Mittel,
sittliche Tüchtigkeit und Gröfse uns auch in unscheinbarer Gestalt
yerehrend fühlen zn lassen. Die vielfach schon von früheren Philosophen
hervorgehobene Analogie des Tragischen wird von Lipps ausführlich
erörtert. In diesem Zusammenhange finden sich auch tiefgreifende Be-
merkungen über Kunst und ästhetischen Wert überhaupt. Mehr und mehr
drangen sich dem Verf. neuerdings die Probleme des Wertes in ihrer
grundlegenden Bedeutung für die Ethik, Logik und Ästhetik auf. Das
vorliegende Werk enthält in dieser Hinsicht manche wichtige Anregung.
Freilich — und damit gehe ich zu einigen von den Bedenken und
Wünschen über, die mir nach dem Studium des lehrreichen Buches noch
geblieben sind — : eine klare und einheitliche Anschauung vom Wesen des
Wertes suchte ich vergebens. Wo der Verf. dieser fundamentalen Frage
sich nähert, tritt uns sehr häufig die in ihrer Vieldeutigkeit geradezu
verhängnisvolle Gegenüberstellung des Subjektiven und Objektiven, des
subjektiv und des objektiv Bedingten entgegen. Schon die Bezeichnung
der Anschauungs-, Situatiöns- und Charakterkomik als objektiver, des
Witzes als subjektiver Komik scheint mir unglücklich und ungerechtfertigt
zu sein. Der Gegensatz des Könnens und Nichtkönnens soll ein objektiver,
der dem Witz zu Grunde liegende von Sinn und Unsinn ein subjektiver sein
(S. 101). Die Beurteilung unserer Leistungen wird eine objektive ge-
nannt, im Gegensatz zur logischen als der subjektiven (S. 104). Eine nahezu
entgegengesetzte Bedeutung gewinnen die Begriffe subjektiv und objektiv,
wenn der Verf. das Erkennen oder logische Verhalten als den „objektiv
bedingten" Vorstellungsverlauf dem Gemütsleben als dem „subjektiv be-
dingten" gegenüberstellt (S. 203 ff.). Beide Bethätigungen sollen in
„fundamentalem Gegensatz" zu einander stehen und „vollkommen unab-
hängig von einander sich vollziehen können" (?). — In ethischen Zu-
sammenhängen unterliegt Lipps nicht selten einem erkenntnistheoretisch
bedenklichen Objektivismus. Das „nichtssagende Abstraktum" Idee (S. 236)
und einige ihm nahe verwandte Allgemeinbegriffe erfahren im letzten Teil
des Buches eine überraschend häufige Verwendung. Der empirische Begriff
des psychologisch Bedeutsamen, Eindrucksvollen, Gewichtigen wird im
Verlauf der Untersuchung doch mehr und mehr durch den des schlechthin
oder objektiv Wertvollen, Erhabenen verdrängt. Aus diesem Grunde mufs
der Verf. z. B. das „Gesetz" des quantitativen Kontrastes (S. 154 ff.),
kaum dafs er es aufgestellt hat, bis zur Unkenntlichkeit einschränken.
Die Scheidung zwischen der Energie oder psychologischen Bedeutung, die
238 Felix Krueger:
einem Inhalt oder Komplex von Inhalten „an sich" (S. 132 nnd sonst)
zukommt („abgesehen von dem Vorstellungszusammenhang", in dem er
steht [S. 157]) — und deren faktischer Bedeutung oder Wirkungsfähigkeit,
die ganze Unterscheidung objektiv bedingter von subjektiv bedingten
Wirkungen eines psychischen Thatbestandes (S. 231 ff.) kann m. E. nur
verwirrend wirken. Um so mehr, als Lipps auch hier wieder sonderbarer-
weise den Gefühlen jede „psychomotorische Bedeutung" (S. 10) abspricht.
Ein Gefühl der Spannung ist notwendige Bedingung für den Eintritt
jedes komischen Effekts; und doch soll dieses Gefühl „nicht mitwirksamer
Faktor" sein (S. 55). — Im Gegensatz zur naiven Komik wird der Witz
einmal in feinsinniger Weise (S. 111) als „gänzlich unpersönlich" charak-
terisiert. Warum behält er trotzdem den schillernden Namen des sub-
jektiv Komischen? Der Verf. hat hierfür noch einen anderen Grund,
und damit kommen wir zu einer völlig neuen Bedeutung der Worte sub-
jektiv und objektiv. Die subjektive Komik oder der Witz haftet, wie
schon erwähnt, stets an einer „Aktivität oder Bethätigung" der Persön-
lichkeit; und zwar soll nicht jede logisch-unlogische Äufserung eines
Menschen — sie stofse ihm etwa unfreiwillig zu — , sondern nur diejenige
Bethätigung subjektiv komisch oder witzig heiXsen, deren Komik ich
mache. Die subjektive Komik hafte an der Aktivität (S. 79 f.). Diese
Begriffsbestimmung wird aber zuweilen über der anderen, wonach jede
sinnlose und doch wieder sinnvolle Äuferung witzig oder subjektiv komisch
sei, vergessen. So z. B. wenn die Verdrehungen von Fremdwörtern, die
Eeuters Onkel Bräsig „völlig unbewufst" (S. 238) und „wider Willen"
begegnen, dem subjektiv Komischen untergeordnet und als witzig be-
zeichnet werden (S. 172, 173 — 174); wenn es heilst, dafs ein uns ver-
ständlicher, aber ungewöhnlicher Jargon uns einen witzigen Eindruck
mache (S. 183). Andererseits handelt der Verf. ausführlich (S. 166 ff.)
von einer gewollten Komik (komischen Darstellung), die nicht subjektiv
oder witzig sei. — Nach der zuletzt erwähnten Definition des Witzes,
die mir dem Sprachgebrauch am besten zu entsprechen scheint, ist jede
gewollt komische Darstellung witzig; BrIsiqs Wortverdrehungen sind
komisch in jedem Falle; aber witzig sind sie nur vom Standpunkte des
darüberstehenden Dichters, der die Komik will. Der Standpunkt des
Künstlers und der seiner Personen werden von Lipps nicht streng genug
auseinander gehalten. Auch nicht hinsichtlich des Humors. Die Putten
in Eafaels Madonna di San Sisto (S. 237) sind ihrerseits naiv komisch;
humoristisch ist nur Eafael und seine Art sich künstlerisch auszusprechen.
Mit gutem Grunde unterscheidet Lipps den Witz, den man macht, oder
das „humoristische Thun" von dem Witz oder dem Humor, den man hat.
Aber es ist zu bedauern, dafs er das zweite wichtige Problem prinzipiell
aufser Betracht läfst (S. 78, 235). Die Beziehung zwischen dem Humor
als psychischer Disposition und der Empfänglichkeit für den Witz wird
einmal (S. 156), allzu kurz, berührt. Das Wesen des Humors liefse sich
überhaupt nicht erschöpfend beschreiben, wollte man von der humoristischen
Gesinnung oder Geistesbeschaffenheit absehen. Der Verf. trägt dieser
Thatsache Eechnung, ohne doch klar genug erkennen zu lassen, wo vom
dispositionellen, wo von blofs aktuellem Humor die Rede ist. Die erste
\
Lipps, „Komik und Humor". 239
„Däseinsweise" des Humors, die er unterscheidet, der Humor als Stimmung
oder Weltbetrachtung (S. 242 ff.), auch „subjektiver" Humor genannt, ist
offenbar von der ersten Art. Daneben stellt er den Humor der Darstellung
und den „objektiven" Humor. Diese in erster Linie vollzogene Einteilung
ermangelt jedes tieferen einheitlichen Grundes. „Objektiviert" in der hier
gemeinten Bedeutung des Wortes ist natürlich stets auch der lyrische Humor.
Und der Humor in Epos und Drama ist immer doch Humor der Darstellung.
Wo bleibt femer der Humor in anderen Künsten, etwa in der Musik, z. B.
der höchst verschiedenartige Humor BBBTHOVEN'scher Scherzi? Die wichtigen
Bemerkungen über den satirischen Humor (besonders S. 256 — 57, wonach
selbst solche Kunstwerke zum „objektiven" Humor gerechnet werden, deren
„Held" die „Idee" ist,) beweisen von neuem, dafs die Gegenüberstellung von
objektivem Humor und Humor der Darstellung unhaltbar ist; ebenso un-
haltbar wie die der „Schicksals-" und der „Charakterkomödie". Ungleich
wertvoller und tiefer begründet ist die Einteilung des Humors in die drei
„Stufen" des unentzweiten, des satirischen und des ironischen Humors.
Es braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden, dafs durch
die soeben angedeuteten Einwände gegen gewisse Seiten der Lipps'schen
Arbeit deren unverlierbarer und fruchtbarer Grundgedanke unberührt bleibt
Leipzig. Felix Kbubgbr.
Erdmann^ Benno^ und Dodge, Raymond^ Psychologische
Untersuchungen über das Lesen. Auf experimenteller
Grundlage. Halle, Niemeyer, 1898. 360 S.
Die mannigfach zusammengesetzten psychophysischen Vorgänge beim
Lesen schliefsen eine Fülle psychologischer Fragen in sich. Gelegentliche
Beobachtungen von Valentin, Adbebt, Donders, Helmholtz, Baxt waren
wesentlich vom physiologischen Interesse beherrscht und erstreckten sich
fast ausschliefslich auf das Erkennen und Aussprechen zusammenhangloser
Buchstaben. In den 80er Jahren veröffentlichte Cattell die Ergebnisse
seiner in Wundts Laboratorium angestellten umfassenden Eeaktionsversuche.
Neuerdings sind nach dem Vorgange Gbasheys die Probleme des Lesens
in der psychopathologischen Litteratur vielfach erörtert worden Aber erst
GoLDscHEiDEK, iu Gemeinschaft mit B. Fb. MOlleb, berücksichtigte neben
den Bemühungen der Mediziner in gebührender Weise die psychologischen
Fragestellungen und Beobachtungen; er überwand z. T. die in den natur-
wissenschaftlichen Arbeiten dogmatisch festgehaltenen Annahmen; aber
seine Fragestellung blieb noch unklar, seine psychologische Analyse war
durchaus unzureichend. — Ebdmann und sein Schüler Dodge haben vielfach
auf dem von anderen, besonders von Cattell vorbereiteten Grunde weiter-
gearbeitet. Ihre grofszügig angelegte Untersuchung zeichnet sich aus
durch die Mannigfaltigkeit und Tragweite der scharf gefaTsten Probleme,
durch eine auf diesem Gebiete bisher unerreicht gewesene Feinheit der
Methoden und durch ebenso vorsichtige wie geistvolle theoretische Ver-
wertung der Versuchsergebnisse. Ihre eindringende Analyse des verständ-
nisvollen Lesens zerfällt in zwei Hauptteile: sie betrifft 1. die optische
240 Felix Krueger:
Wahmeiunung und das Erkennen gedruckter Schriftzeichen, 2. die „Re-
produktion^ der entsprechenden Lautzeichen. — Zunächst stellte sich
heraus, dafs hei allem Lesen in unyerrückter Kopfhaltung ein „regel-
mäTsiger Wechsel zwischen Buhepausen und Bewegungen der Augen^
stattfindet. Zahl und Zeityerhältnis dieser heiden Phasen wurden unter
verschiedenartigen Bedingungen näher untersucht. Die Spiegelheohachtung
des Lesenden geschah leider fast durchweg mit hlofsem Auge, ohne Fem-
rohr, so dafs es zuweilen (z. B. S. 64, 69) fraglich bleibt, ob nicht sehr
kleine Augenbewegungen dem Beobachter entgangen sind. Das wtLrde
viele von den ermittelten Zahlen wesentlich modifizieren, ünerschüttert
bliebe jedoch das wichtigste Ergebnis des I. Kapitels: „Das optische Er-
kennen der Schriftzeichen beim Lesen erfolgt ausschliefslich während der
Buhepausen des Auges". Der Vergleich der Lesezeiten f&r geläufige und
für ungeläufige Texte fällt natürlich zu Gunsten der geläufigen aus. Die
Versuche an fremdsprachlichen Texten hätten bessere Vergleichszahlen
ergeben, wenn für beide Sprachen durchweg Texte gleichen Satzes und
gleicher Zeilenlänge wären verwendet worden. Einfache Versuche über
den Umfang des „in allen seinen wesentlichen Bestandteilen" simultan
deutlich wahrnehmbaren Gebiets einer Druckzeile (Käp. II) gestatteten
den Schlufs, dafs „die Felder simultanen Er kenne ns beim Lesen" gröfser
sind „als die Gebiete möglichen deutlichen Wahrnehmens der einzelnen
in ihnen enthaltenen Schriftzeichen". Die durchschnittliche Gröfse jener
„Lesefelder" wurde aus der Zahl der Buhepausen und der Zeilenlänge
berechnet. Durch genaue Beobachtungen eines lesenden Auges wurde
femer festgestellt, dafs der erste Fixationspunkt jeder Zeile um etwa ein
halbes Gebiet deutlichen Wahmehmens vom Zeilenanfang nach rechts, der
letzte noch weiter vom Zeilenende nach links entfemt zu liegen pflegt
(Bedeutung des indirekten Sehens und der von Fall zu Fall verschiedenen
„apperzeptiven" Bedingungen). Nachbildversuche dienten einer genaueren
Bestimmung der Orte direkter Fixation. Kap. III enthält die Beschreibung
eines Apparats zur experimentellen Isoliemng der Lesepausen und -Felder.
Dieser für binokulare Wahrnehmung eingerichtete Projektionsapparat
gestattet, was Gattbll nicht genügend berücksichtigt hatte, scharfe Ein-
stellung der Augen vor Beginn jeder Exposition und eine simultane
Exposition der. zu lesenden Schriftbilder. Diese zweite Möglichkeit, die
den Apparat über alle seine Vorgänger weit erhebt, wird durch die
Öffnung und Schliefsung einer Linsen spalte erreicht; sie bedeutet
zweifellos den wesentlichsten Vorzug der — anschaulich geschilderten —
Versuchsanordnung, weil dadurch das Lesen der dargebotenen Schriftbilder
dem gewöhnlichen Lesen ähnlicher wird, als bei allen früher gebrauchten
Instrumenten. Im Gegensatz zu der Mehrzahl ihrer Vorgänger waren die
Verf. darauf bedacht, jede Augenbewegung im Verlauf einer Exposition
auszuschliefsen. Nun führte eine besondere Versuchsreihe (rascher Wechsel
zwischen zwei Fixationspunkten, von denen der zweite bei der Fixation
des ersten eben im blinden Fleck verschwand), zu dem Ergebnis: „Eine
für das Weiterlesen auf Grund einer neuen Fixation erfolgreiche reagierende
Blickbewegung ist bei einer Expositionszeit von 0,188^^ vollständig aus-
geschlossen". Zur Sicherheit wurde für die entscheidenden Versuche eine
Erdmann-Dodge, „Psychologische Untersuchungen über das Lesen". 241
noch kürzere Expositionsdauer: 0,1" gewählt. Es zeigte sich, dafs wir
^unter den gleichen Expositionsbedingungen 4 — 5 mal so viel Buchstaben
im Wortzusammenhang, als solche ohne Wortzusammenhang^ laut
lesen können; und zwar werden von den zusammenhanglosen Buchstaben
fast durchgängig die am weitesten rechts stehenden, also später auszu-
sprechenden mangelhafter gelesen. Sicherlich stehen diese Buchstaben,
auch wenn sie deutlich erkannt werden, unter relativ ungünstigen Be-
dingungen der (successiven !) „lautsprachlichen Reproduktion". Nebenbei
scheint es mir, namentlich da, wo die Beobachter nur die ungefähren
Mitten einer Buchstabengruppe fixiert zu haben angeben, nicht ausge-
schlossen, dafs schon die Fixationspunkte, alter Lesegewohnheit entsprechend*
etwas nach links verschoben waren. Die grofsen Unterschiede zwischen
dem Lesen von Wörtern und dem von blofsen Buchstabengruppen werden
dadurch nicht gemindert. Mit Recht weisen die Verf. besonders auf die
„feste associative Fügung der Laut ganzen '^ hin, die durch die erkannten
Wörter erregt werden. Noch entscheidender dürfte der Einflufs eines
zweiten, von ihnen hervorgehobenen Faktors sein: der Qesamtform des
Wortes, als eines optischen Ganzen. Zwei interessante Versuchsreihen
mit stark verkleinerter Buchstabengröfse beweisen, dafs wir „uns optisch
geläufige Schriftwörter unter Bedingungen erkennen, die jedes Erkennen
der einzelnen Buchstaben ausschliefsen". Die Bedeutung der optischen
Gesamtformen für das Lesen hat schon Cattell durch die allgemeine Be-
merkung gewürdigt, dafs die Worte „als Ganze" gelesen würden; die
Kritik, die diese Bemerkung von Seiten der Verf. erfährt, scheint mir ein
wenig über das Ziel hinauszuschiefsen, ebenso wie die Kritik der Gold-
scHBiDBB-MOLLBR'schen Hypothese „determinierender Buchstaben". Aber
gewifs ist jene Bemerkung viel zu allgemein und diese Hypothese einseitig.
Ebdhann undDoDOE geben eine gründliche Analyse der psychologischen
Wirkung, die den optischen Gesamtbildern namentlich auch für das zu-
sammenhängende Lesen zukommt. Prinzipiell wichtig sind die Aus*
führungen über die Nachwirkungen früherer Leseerfahrungen auf das Lesen
jedes Geübten, die als „apperzeptive Verschmelzungen" im Gegensatz zur
Association durch selbständige Erinnerungsbilder charakterisiert werden.
Die Mehrzahl der bisher angedeuteten Überlegungen mündet in der Er-
kenntnis, dafs die Schriftzeichen beim normalen Lesen niemals Buchstabe
für Buchstabe aufgefafst werden. Ein im optischen Sinne buchstabierendes
Lesen wird nur dann versucht, „wenn sowohl die Gesamtform des Wortes,
als auch die einzelnen Buchstabenformen" undeutlich und' aus dem Be-
deutungszusammenhang nicht erratbar sind. Durch die zahlreichen Beweise
für diese Anschauung dürfte ein altes Vorurteil der psychologisierenden
Naturwissenschaft endgültig widerlegt sein. Die angedeutete Position
wird gefestigt und erweitert durch die Erörterungen über Laut- und
Schriftwörter, über die Art, wie beide einander psychologisch entsprechen»
Daraus folgt die Unhaltbarkeit der namentlich von Goldsoheideb ver-
tretenen Theorie des buchstabierenden Sprechens. — Die Reaktionsversuche,
von denen die beiden letzten Kapitel berichten, bestätigen die Ergebnisse
der theoretischen Diskussion. Eingeleitet wird dieser Bericht von einer
sehr ausführlichen Kritik der Voraussetzungen, unter denen Cattbll psy-
YierteljahrsBclirift f. wissenschaftl. Philosophie. XXm. 2. 16
242^©lixErüeget: Erdmann-Dodge „Psycholog. Untersuchungen etc."
chische Zeiten für die Vorgänge beim Lesen aus seinen Beaktionsrersuchen
abzuleiten unternahm. Manche von den hier zu Tage tretenden Differenzen
sind wohl nur terminologischer Natur. Aber zweifellos sind die Wukdt-
ÜATTELL'schen Begriffe der Unterscheidung, des Erkennens, der Wahl und
Benennung nicht frei yon Dunkelheiten; und die experimentelle Psychologie
ist den Verf. Dank schuldig für die sorgfältige Analyse, der sie diese für
alle Beaktions versuche bestimmend gewordenen Begriffe unterwerfen.
Auch die rechnerische Verwertung der ÜATTBLL'schen Zahlen, hinter der
Oattbll selbst ihre psychologische Deutung hatte zurücktreten lassen,
wird von Erdmann-Dodgb eingehend geprüft. Die von ihnen selbst unter-
suchten Lautreaktionen, bei denen sie sich des ÜATTELL'schen Schall-
schlüssels bedienten, erhärten und ergänzen vielfach die früher gewonnenen
Besultate. „Die Zeiten für die adäquaten . . Lautreaktionen auf je eins
von 26 eingeprägten . . Schriftzeichen sind beträchtlich gröfser, als die
Zeiten für die inadäquate, aber gleichförmige Lautreaktion auf eine helle
Fläche in Buchstabengröfse . ." „Die Zeiten für die adäquaten Laut-
reaktionen auf je eins von 26 eingeprägten, in willkürlicher Folge ex-
ponierten 4-buchstabigen Wörtern sind etwas kürzer, als die Zeiten
für die entsprechenden Beaktionen auf Buchstaben." Mit der Zahl der
Buchstaben wachsen die Zeiten der Wortreaktionen um ein Geringes an.
Von den zahlreichen mittelbaren Ergebnissen dieser Versuche sei nur her-
vorgehoben, dafs die Lichtreaktionen von den Verf. als reflektorische, die
Schriftreaktionen als central, aber „direkt sensorisch" ausgelöste gedeutet
werden. Schliefslich werden die beobachteten Zeitverkürzungen und -Ver-
längerungen hypothetisch auf die sensorische und die motorische Kompo-
nente der gemesseneu Vorgänge verteilt, und wird die „Bewul^tseins-
deutung" der beiden Komponenten mit Zuhilfenahme der Selbstbeobachtung
versucht. Die Auffassung der Schriftreaktionen als direkt sensorischer
scheint mir nicht völlig einwandfrei. Die „Bedeutungsresiduen" der ein-
geprägten Wörter sollen nirgends „Bedingungen", sondern stets nur Be-
gleitvorgänge der Beaktion gewesen sein, aus dem einzigen Grunde, weil
ihre „Beproduktionszeit" aus den gemessenen Zeiten herausfällt. Sollte
nicht die Bekanntheit oder Geläufigkeit der Bedeutung eines gelesenen
Wortes ebenso zeit verkürzend wirken können, wie die seines Schrift-
bildes oder Lautkomplexes? Die Verf. selbst setzen einen solchen Einflufs
der „Bedeutungsresiduen" zuweilen (z. B. S. 320) implicite voraus. Sie
wollten von diesem für das zusammenhängende Lesen ganz besonders wich-
tigen Faktor bei ihren Versuchen im allgemeinen abstrahieren. Aber das
wird auch bei der Exposition isolierter Wörter immer nur in beschränktem
Mafse gelingen. Bei der Literpretation der Verlesungen (man vergleiche
S. 183, wo es sich z T. um völlig sinnlose Wörter handelt) und des Lesens
fremdsprachlicher Texte hätte die verschiedene Geläufigkeit (Bereitschaft)
des Sinnes stärker müssen betont werden. — Ein Anhang berichtet über
Nachbildversuche Donass zur Messung der Winkelgeschwindigkeit der
Blickbewegungen. Die an Helmholtz-Lamanskt sich anlehnende Methode
ist durch eine kleine Verbesserung des Apparats und durch eine wesentr
liehe Vereinfachung der Fixationsbedingungen ausgezeichnet.
Leipzig. Felix Kbueoeb.
Karl Marbe: Ziehen, „Psychophysiologische Erkenntnistheorie**. 243
Ziehen^ Th., Psychophysiologische Erkenntnistheorie.
Jena, 1898. V, 105 S.
Die Existenz der Aufsenwelt läfst sich nicht beweisen. Die Ver-
suche, welche neuerdings Bibhl gemacht hat (Philosoph. Eriticismus II,
2, S. 128 ff.)} einen solchen Nachweis zu erbringen, sind ebenso wenig
überzeugend, als die bekannten Ausführungen des Cabtssius über diesen
Gegenstand. Der Idealismus und auch der Solipsismus sind Standpunkte,
deren Haltlosigkeit sich nicht demonstrieren läfst. Die Annahme, dafs
die ganze Welt nur in meiner Vorstellung oder in den Vorstellungen von
mir und einigen anderen Subjekten existiert, ist nicht widerlegbar.
Etwas anderes ist die ünwiderlegbarkeit, etwas anderes die Richtig-
keit eines Satzes. Es ist ein leichtes, in unbeschränkter Zahl Sätze zu
nennen, die alle Gelehrten der Welt nicht widerlegen können, ohne dafs
sie deshalb im mindesten richtig zu sein brauchen. Daraus, dafs ein Satz
nicht widerlegbar ist, folgt für seine Wahrheit nicht das allermindeste.
Ist deshalb der Satz, dafs die ganze Welt nur in meiner Vorstellung
existiere, auch nicht widerlegbar, so braucht er doch nichtsdestoweniger
richtig zu sein.
Richtig sind erstens diejenigen Sätze, welche unmittelbar einleuch-
tend sind, wie der Satz „zwei und zwei sind vier"; zweitens alle die-
jenigen, welche entweder in der äufseren oder in der inneren Wahrnehmung
ihre direkte Stütze finden, z. B. der Satz „die Wärme dehnt das Eisen
aus'', oder der Satz „die Beproduktionsvorstellungen entstehen auf Grund
von Wahrnehmungen". (Zu dem Nachweis, dafs ein Satz thatsächlich in
der inneren oder äufseren Wahrnehmung seine Stütze finde, bedarf es
vielfach komplicierter Methoden, deren Gesamtheit Gegenstand der Methoden-
lehre ist.) Aufser den unter eins und zwei genannten Sätzen sind drittens
alle diejenigen richtig, welche sich auf jene auf rein logischem Wege
zurückführen lassen. Diese Zurückführung von Sätzen auf solche der
ersten und zweiten Klasse bezw. die Ableitung eines Satzes aus Sätzen
der ersten und zweiten Klasse heifst Beweis. Mit den hier erwähnten
richtigen Sätzen ist ihre Gesamtheit erschöpft: es giebt keine richtigen
Sätze, welche sich nicht in eine dieser Klassen einordnen liefsen.
Man behandelt nun trotzdem in der Wissenschaft vielfach Sätze als
richtig, welche offenbar nicht zur ersten und zweiten der obigen Klassen
gehören und deren Zugehörigkeit zur dritten Klasse sich nicht erweisen
läfst. In diesem Falle nimmt man an, dafs die betreffenden Sätze allerdings
der dritten Klasse angehören, dafs aber unsere wissenschaftlichen Kenntnisse
uns z. Z. nicht gestatten, den Nachweis dieser Zugehörigkeit zu erbringen.
Alle Wissenschaften mit Ausnahme der mathematischen Disciplinen ent-
halten derlei Sätze, die man Hypothesen nennt, in grofser Menge. — Der
Wert einer Hypothese hängt nun offenbar davon ab, wie sie sich in das
System der Wissenschaft, welcher sie angehört, einreiht. Eine Hypothese,
die entweder direkt oder indirekt mit als richtig bekannten Sätzen der
fraglichen Wissenschaft im Widerspruch steht, wird als falsch abgelehnt.
Eine solche, deren Inhalt mit den Sätzen der betreffenden Wissenschaft
nicht genügend zusammenhängt, wird als überflüssig verworfen.
16*
244 Karl Marbe:
Zu den Hypothesen gehört nun offenbar auch die Behauptung des
Idealismus, mag sie in der Form des Solipsismus oder in irgend einer
anderen Form auftreten. Beweisbar ist der Satz, dafs die Welt nur als
Vorstellung existiert, ganz und gar nicht, wenngleich oben eingeräumt
werden mufste, dafs er nicht widerlegbar ist.
Die Hypothese des Idealismus ist nun aber zu verwerfen, weil sie
mit unserer Naturwissenschaft im schroffsten Widerspruch steht. Die
Physik und die Chemie setzen voraus, dafs die Gegenstände, auf welche
sie sich beziehen, auch existieren, wenn sie durch kein Subjekt wahrge-
nommen werden. Der Mond würde sich in der von der Astronomie fixierten
Weise weiter bewegen, auch wenn alle Menschen geblendet wären, das
Wachsen der Pflanzen erfolgt stetig, ob sie beobachtet werden oder nicht
u. s. w. u. s. w. Der Idealismus steht aber nicht nur mit der wirklichen
Naturwissenschaft im Widerspruch, es ist auch ganz unmöglich, irgend
eine andere Wissenschaft von der Natur ,,auf den Idealismus zu gründen.
In der Welt des Idealismus, d. h. in der Welt, welche wir unmittelbar
erleben, giebt es keine lückenlose Kausalität; die Annahme einer unter-
brochenen Kausalität innerhalb der Sinnenwelt ist aber für den mensch-
lichen Geist und daher für die Wissenschaft unmöglich.
So fällt denn dier Idealismus mit seiner Identifikation von Existieren
und vorgestellt werden, — nicht weil er widerlegt, sondern weil er eine
unzweckmäfsige Hypothese ist. Die Wissenschaft von der Natur im
denkbar weitesten Sinne des Wortes steht hinsichtlich des Problemes der
Aufsenwelt auf dem Standpunkt des ganz gewöhnlichen gesunden Menschen-
verstandes, der gewissen Gegenständen eine Existenz zuspricht, abgesehen
davon, ob sie vorgestellt werden oder nicht. Dieser Standpunkt ist freilich
auch nur eine Hypothese, aber er bildet ein wesentliches Moment
unserer Wissenschaft, er ist wissenschaftlich zweckmäfsig und deshalb —
vorläufig wenigstens — unbedingt festzuhalten. Den Begriff der Existenz
aber scheint man mir im Sinne des Lebens und der Wissenschaft am
besten zu fixieren, wenn man sagt, dafs allen Gegenstäiden Existenz zu-
kommt, die entweder direkt oder indirekt auf die innere oder äufsere
Wahrnehmung des Menschen einen Einflufs auszuüben ihrer Natur nach
geeignet sind, gleichgültig, ob diese Einwirkung stattfindet und ob Sub-
jekte vorhanden sind oder nicht.')
Das im Titel dieses Artikels genannte Buch von Ziehen steht zu
meinen Ansichten, die freilich hier, im Eahmen einer Recension, nur ober-
flächlich skizziert und nicht ausführlich begründet werden konnten, im
schroffsten Gegensatz. Der Idealismus ist für Ziehen nicht eine Hypothese,
sondern eine ausgemachte Thatsache, obgleich der Verf. für den Idealismus
nur den Umstand namhaft zu machen weifs, dafs alles, was gegeben ist,
entweder Empfindung oder Vorstellung ist. Hieraus aber folgt natürlich
für oder gegen die Existenz der Aufsenwelt gar nichts, wofern man nur
^) Eine ähnliche Auffassung der Existenz findet sich bei Biehl im
„Philosophischen Kriticismus."
Ziehen, „Psychophysiologische Erkenntnistheorie". 245
den Begriff der Existenz in dem oben präcisierten Sinne faTst. Für Zibhen
freilich ist psychisch, bewuTst und existierend dasselbe; aber diese auf
dem Boden des Idealismus gehaltene Definition steht, wie sich aus unseren
obigen Darlegunen ergiebt, mit der Wissenschaft von der Natur im
Widerspruch: sie macht dieselbe unmöglich.
Der wesentliche Inhalt der ZiBHEN'schen Schrift ist nun der Versuch,
die Thatsachen der physiologischen Psychologie yom idealistischen Stand-
punkte aus zu beleuchten, ohne dafs Verf. dabei die Behandlung des Zu-
sammenhangs der psychologischen Probleme mit allgemein philosophischen
Fragen vermeidet. Ein derartiges Unternehmen mufs natürlich auch die
wissenschaftliche Behandlung der Eörperwelt im weitesten Umfang be-
rücksichtigen. Eben deshalb mufs es notwendig scheitern; denn der
Idealismus kann der Naturwissenschaft nicht gerecht werden. Im folgenden
mag nun zunächst der Inhalt des ZiBHEiv'schen Buches wiedergegeben werden.
Alles, was ist oder gegeben ist, sagt unser Verf., ist entweder
Empfindung oder Vorstellung. Unter Empfindungen versteht er die Qegen-
stände unserer Wahrnehmung, mögen sie einfach oder zusammengesetzt sein.
Unter Vorstellungen versteht er die Erinnerungsbilder der Empfindungen.
Die Empfindungen zerfallen in zwei Teile, in einen Beduktions-
bestandteil und in einen Bestbestandteil. Die Beduktionsbestandteile der
Empfindungen sind nichts anderes, als diejenigen Objekte und Vorgänge,
welche von der Naturwissenschaft (exklusive der Psychologie) behandelt
werden. Sie stehen miteinander in Wechselwirkungen, welche durch all-
gemeine Gesetze ausgedrückt werden können, deren Gesamtheit Ziehen
als Kausalformel bezeichnet.
Zu den Empfindungen gehören auch unsere Sinnesorgane, die wir
namentlich durch Gefühl und Gesicht kennen lernen. Die Empfindungen
des gesamten Sinnesapparates bis zur Hirnrinde inklusive bezeichnet Ziehen
als v-Empfindungen. Auch die Beduktionsbestandteile dieser v-Empfindungen
stehen zu den Beduktionsbestandteilen der anderen Empfindungen in
Wechselwirkungen, welche durch die Kausalformel ausdrückbar sind. Die
Thatsache des Wahmehmens drückt Ziehen nun dahin aus, dafs er sagt,
die v-Empfindungen wirkten, wenn sie durch die Beduktionsbestandteile
anderer Empfindungen verändert würden, auf diese zurück. Die Thatsache
des psychophysischen Parallelismus wird durch die Behauptung paraphrasiert,
dafs die Bückwirkungen und die ihnen korrespondierenden Veränderungen
der v-Empfindungen nicht in kausalem Verhältnis stehen, sondern dafs sie
sich vielmehr in ihrer Gesamtheit anderen Gesetzmäfsigkeiten unterordnen
lassen. Die Gesamtheit dieser gesetzmäTsigen Zuordnungen bezeichnet
Ziehen als Parallelformel.
Es mag nicht unangebracht sein, diese im Original vielleicht nicht
gerade sehr übersichtlich dargestellte Auffassung durch ein Beispiel zu
erläutern. Wenn ich einen roten Würfel betrachte, so wirkt derselbe,
sofern er Gegenstand der Naturwissenschaften ist (d. h. sofern er eine
bestimmte Gröfse hat, sofern er Licht von einer bestimmten Wellenlänge
aussendet u. s. f.), auf mein Auge und daran anschliefsend auf meine
Hirnrinde. Der Würfel, sofern er Gegenstand der Naturwissenschaften ist,
ist eine reduzierte Empfindung im Sinne Ziehens, er macht den Beduktions-
246 Karl Marbe:
bestandteil der Würfelempfindung au8. Die Wirkung dieses Beduktions
bestandteils auf mein Auge und die sich daran anschliefsenden Ver-
änderungen im y-Eomplex verlaufen durchaus kausal. Nun treten aber
mit den Veränderungen im Nervensystem auch psychische .Prozesse im
herkömmlichen engeren Sinne des Wortes auf: der Würfel wird als roter
Würfel von bestimmter Beschaffenheit bewufst. Dieser Würfel ist aller-
dings abhängig von den Veränderungen, welche die ^-Empfindungen durch
die reduzierte Würfelempfindung erfahren; er ist aber nicht durch sie
verursacht, sondern geht ihnen vielmehr parallel. Die im Sinne der Pa-
rallelformel von den v-Empfindungen abhängigen Veränderungen machen
nach Ziehen eben die Bestempfindungen aus, von denen oben die Bede
war. Jede Empfindung zerfällt in eine solche Bestempfindung oder (wie
Ziehen auch sagt) in eine v-Komponente und in den Beduktionsbestandteil.
Als das tiefste und schwerste Problem für das menschliche Denken
bezeichnet Ziehen den Widerspruch zwischen der Eausal- und der Parallel-
formel. Er glaubt diesen Widerspruch zu lösen: Das Kausalgesetz ergiebt
sich erst, nachdem die v-Eomponenten der Empfindungen eliminiert sind. Man
kann daher nicht verlangen, dafs es auch für die v-Eomponenten selbst gelte.
Alle Empfindungen gehören einem bestimmten Individuum an. Sie
enthalten r-Eomponenten, die einem bestimmten Nervensystem oder, was
dasselbe bedeutet, einem bestimmten Eomplex von v-Empfindungen zuge-
hören. Ganz anders die Beduktionsbestandteile der Empfindungen. Wenn
ich ein Objekt mit den Augen betrachte und dann die Augen schlief se,
so fällt die v-Komponente der Empfindungen zwar weg, ihr Beduktions-
bestandteil bleibt aber bestehen. Die Beduktionsbestandteile der Em-
pfindungen bestehen überhaupt unabhängig von den Nervensystemen, und
sie würden bestehen, wenn es gar keine Nervensysteme gebe. Ihre Existenz
wird von Ziehen nichtsdestoweniger als eine psychische bezeichnet. Freilich
existieren sie nicht individuell psychisch und auch nicht unbewurst, sondern
„allgemein bewufst''. „„Unbewufste Empfindungen" sind eine inhaltslose
Wortkombination'', „allgemein bewufste Empfindungen'' eine notwendige
Beduktionsvorstellung, welcher man nur widerstrebt, so lange man sich
nicht von der Vorstellung einer von der Materie hervorgerufenen Em-
pfindung frei gemacht hat.'' Diese allgemein bewufsten Beduk-
tionsbestandteile der Empfindungen verwandeln sich so oft in Objekt-
empfindungen, sie verbinden sich so oft mit f>-Eomponenten, als sie auf
v-Empfindungskomplexe einwirken und Bückwirkungen von diesen erfahren.
Die Trennung der Beduktionsbestandteile und der 1^■Eomponenten
bildet eine Hauptaufgabe der Wissenschaft. Verf. gelangt zu dem Besultat,
dafs räumliche und zeitliche Anordnung der Empfindungen ebensowohl als
Qualität und Intensität bereits den Beduktionsbestandteilen der Em-
pfindungen zukomme. Einen eigenen Gefühlston haben die Beduktions-
bestandteile nicht. Trotzdem lehrt Ziehen, dafs der Gefühlston aufser
von den v-Empfindungen auch von den übrigen Eigenschaften der Beduk-
tionsbestandteile abhänge.
Die Gehimprozesse, welche den Empfindungen entsprechen, lassen
nach dem Aufhören der Empfindungen irgendwelche Spuren im G«him
zurück. Wenn der Beduktionsbestandteil einer Empfindung aufhört, sagt
V
Ziehen, „Psychophysiologische Erkenntnistheorie". 247
Ziehen hierfür, in dem Grade yerändemd auf einen 1^-EoInplex zu wirken,
datfi die Parallelrückwirkung zustande kommt, so bleiht doch innerhalb
des v-Komplexes eine Veränderung zurück. Diese Veränderung nennt
Ziehen t^Disposition. Die genannten physiologischen Nachwirkungen der
Empfindungen erzeugen, wenn sie in günstiger Weise durch andere Pro-
zesse im Nervensystem beeinfiufst werden, Vorgänge, mit welchen Vor-
stellungen parallel gehen. Diese Thatsache drückt Ziehen so aus: Wenn
die ihDispositionen eine geeignete innerhalb des v-Eomplexes fortschreitende
Veränderung erfahren, so erzeugen sie durch Parallelwirkungen Erinnerungs-
bilder oder Vorstellungen der ihnen korrespondierenden Empfindungen.
Unter den Vorstellungen, welche, wie übrigens auch die Em-
pfindungen, mancherlei Eomplexionen erfahren können, spielen die Be-
duktionsTorstellungen, d. h. die Vorstellungen der Beduktionsbestandteile
der Empfindungen, eine besondere Bolle für die Erkenntnistheorie. Nur
in der Vorstellung lernen wir übrigens jene Reduktionsbestandteile kennen,
wenngleich sie im Verein mit den v-Eomponenten die reale Empfindung
ausmachen. Die richtig gebildeten Eeduktionsvorstellungen sind die all-
gemeinsten Vorstellungen der Empfindungen und Empfindungsbeziehungen.
Sie dürfen zu keiner unserer Empfindungen im Widerspruch stehen, und
sie müssen thatsächlich aus den Empfindungen abstrahiert sein: als Grund-
lage für die BeduktionsTorstellungen dürfen nur Empfindungen selbst
dienen. Solche BeduktionsTorstellungen geben uns eine richtige Vorstellung
Yon der sogenannten Welt. Verf. verwirft die üblichen Reduktionen der
Objektempfindungen, d. h. der Empfindungen von Objekten: Der Begriff
der Materie setzt nicht<-psychische Objekte voraus, d. h. Gegenstände,
welche nicht existieren.
Eine besondere Gruppe von Vorstellungen, welche Verf. gleichfalls
ausführlich behandelt, bilden auch die Beziehungsvorstellungen. Sie ent-
stehen aus den Empfindungen durch Weglassung bestimmter Merkmale
der Empfindungen. Die Vorstellungen der Gleichheit, der Ähnlichkeit
und Verschiedenheit, des Gleichbleibens, der Veränderung und des Wechsels
und vor allem die der Eausalität sind besonders wichtige Beziehungs-
vorstellungen. Übrigens können derlei Beziehungsvorstellungen gelegent-
lich auch aus Vorstellungen entspringen.
Die Thatsache der tierischen Bewegungen wird von Ziehen dahin
„reduziert", dafs die kausalen Veränderungen innerhalb der v-Eomplexe
sich oft auf die Beduktionsbestandteile von Empfindungen fortpflanzen,
welche mit den v-Eomplexen räumlich aufs engste zusammenhängen.
Diese Beduktionsbestandteile, deren Gesamtheit Ziehen als /c^-Empfindungen
bezeichnet, bilden das sogenannte motorische System des Eörpers. Die
Vorgänge in den /[/-Eomplexen wirken nach der Eausalformel wieder auf
die Beduktionsbestandteile der Objektempfindungen zurück.
Dies ist der wesentliche Inhalt der ZisHEN'schen Schrift. Die Zer*
legung der Empfindungen in einen Beduktionsbestandteil und einen Best-
bestandteil ist psychologisch vollständig unmotiviert. Eeiner psychologischen
Analyse ist es bis jetzt gelungen, in der Empfindung einer roten Fläche
248 Karl Marbe:
eine Komponente zu entdecken, welche Gegenstand der Naturwissenschaften
wäre. Wir wissen allerdings, dafs die fragliche Empfindung dann entsteht,
wenn eine Fläche Licht von einer bestimmten Wellenlänge auf das normale
menschliche Auge ausstrahlt. Aber dieser Beiz ist in der Empfindung
nicht im mindesten enthalten. Der ZiEHEiv'sche Eeduktionsbestandteil der
Empfindung ist vielmehr ein Begriff, welcher in einer für die Psychologie
höchst unzweckmäfsigen Vermengung von Reiz und Empfindung seine
Wurzel hat, einer Behandlung des Empfindungsbegriffs, die sich schon in
Ziehens Leitfaden der Psychologie konstatieren läfst. Dafs die Eeduktions-
bestandteile der Empfindungen in den Empfindungen gar nicht enthalten
sind und dafs sie demnach auch nicht durch Analyse aus den Empfindungen
entwickelt werden können, folgt übrigens auch aus Ziehens eigenen Dar-
legungen. Nur in der Vorstellung lernen wir ja jene Brcduktionsbestand-
teile der Empfindungen kennen; das heifst doch wohl, wir empfinden sie
nicht, sie sind keine Komponenten der Empfindung. Das Problematischste
dieser Eeduktionsbestandteile der Empfindungen ist aber ihre Eigenschaft,
vorhanden zu sein, ohne dafs Empfindungen vorhanden sind. Wenn es
keine Nervensysteme gäbe, sagt ja Ziehen, so gäbe es doch Beduktions-
bestandteile der Empfindungen. Man könnte glauben, Ziehen habe seinen
idealistischen Standpunkt des Esse gleich Pebcifi aufgegeben und fasse
den Begriff der Existenz in ähnlicher Weise, wie ihn der Referent oben
fixiert hat. Aber nein! Die Existenz der Beduktionsbestandteile ist für
Ziehen nichtsdestoweniger eine psychische. Das aber begreife, wer kann!
Freilich sucht uns Ziehen die Faisbarkeit des UnfaXsbaren dadurch zu
erleichtem, dafs er die Eeduktionsbestandteile der Empfindungen „allge-
mein bewufst" nennt. Aber Ziehen versäumt es, uns den Begriff des
„allgemein bewufsten" klar zu machen, und man kann ihn auch nicht
klar machen. AUgemeinbewufst ist ein leeres Wort.
Alle diese Ungereimtheiten haben offenbar ihre Wurzel in dem
Versuch, den Idealismus mit der Naturwissenschaft, welche die Existenz
der Dinge aufser uns fordert, vereinen zu wollen. Dieser Versuch ist
notwendig resultatlos. Entweder läfst man nur Vorstellungen im allge-
meinen erkenntnistheoretischen Sinne des Wortes existieren. Dann sind
die Beduktionsbestandteile der Empfindungen Worte, denen alle Prädikate
von AUgemeinbewufstheit und dergL keinen Inhalt verleihen können.
Oder man folgt der anderen Hypothese; man läfst die AuXsenwelt in dem
oben skizzierten Sinne des Lebens und der Wissenschaft existieren. Dann
kann man die Eeduktionsbestandteile der Empfindungen beibehalten, —
freilich nicht als Produkte einer fingierten psychologischen Analyse, wie
Ziehen will: die sogenannten Eeduktionsbestandteile der Empfindungen
sind dann nichts anderes als die Materie der Naturwissenschaften. Wenn
somit Ziehens Versuch, den Idealismus für die Betrachtung der Aufsenwelt
fruchthar zu machen, gescheitert ist, so hat sich nur dasselbe Schauspiel
wiederholt, das uns alle idealistischen Philosophen geboten haben, welche
sich überhaupt bemühten, den Idealismus im einzelnen durchzuführen.
Ebenso wenig auch wie seinen Vorgängern ist es Ziehen gelungen,
den Solipsismus zu widerlegen. Er glaubt zwar diese Ansicht dadurch zu
^beseitigen, dafs er nachweist, dafs nicht das eigene Ich primär gegeben
Ziehen, „Psychophysiologische Erkenntnistheorie". 249
sei (wie der Solipsismus annehme), sondern lediglich die eigenen Em-
pfindungen und Vorstellungen. Aher seit wann ist denn die Annahme der
primären und ausschliefslichen Existenz des eigenen Ich für den Solipsismus
wesentlich? Versteht man denn unter Solipsismus nicht die Ansicht, dals ledig-
lich das eigene Seelenleben primär gegeben sei und daher ausschlierslich
existiere, ganz abgesehen davon, ob man als dessen Wesen ein „Ich" oder
Empfindungen und Vorstellungen oder sonst etwas auffafst? Dieser Solip-
sismus läfst sich ebenso wenig widerlegen oder beweisen, als die Existenz
der Au&enwelt. Er ist eine Hypothese und zwar Ton allen Versionen des
Idealismus die unfruchtbarste Hypothese. Und deshalb ist er abzuweisen.
Nachdem bis jetzt der Versuch gemacht wurde, zu zeigen, dafs die
Grundanschauungen der ZnsHEN'schen Schrift durchaus verfehlt sind, sollen
unter den meiner Meinung nach unrichtigen mehr nebensächlichen Aus-
führungen nur noch zwei Punkte besonders kritisiert werden.
ZiEBBNs Lösung des Widerspruchs zwischen der „Kausalformel"
und der „Parallelformel" (vergl. diese Becension S. 246) setzt voraus, dafs
das Kausalitätsgesetz aus der Betrachtung der Welt nach Elimination der
v-Komponenten empirisch gewonnen werde. Das ist freilich sehr einfach!
Es ist nur schade, dafs Ziehen diede allerdings etwas paraphrasierte Be-
hauptung nicht näher begründet hat.
Steht Ziehen hinsichtlich der Eausalitätsfrage im Widerspruch zu
ScHOPENHAUEB, der sonst auf ihn den gröfsten EinfluTs ausgeübt hat, so
steht er hinsichtlich der Lehre von den Allgemeinvorstellungen im Gegen-
satz zu einem Philosophen, von dem er im übrigen nächst Schopenhauer
am meisten abhängig ist. Während Bbbkeley die Existenz der Allgemein-
vorstellungen durchaus abgelehnt hatte, werden sie von Ziehen im weitesten
Umfang aufrecht erhalten. Gehört ja selbst die Kausalität zu den oben
erwähnten Beziehungs Vorstellungen! Eef. ist nicht imstande, allge-
meine Vorstellungen im Sinne der ZiEHEN'schen Ausführungen zu bilden.
Ich vermag mir gleiche, verschiedene, gleichbleibende, wechselnde Gegen-
stände und Vorgänge vorzustellen. Ebenso kann ich Veränderungen und
speciell kausal bedingte Veränderungen vorstellen, nicht aber Gleichheit,
Verschiedenheit u. s. w. In diesen Ausdrücken sehe ich vielmehr blofs
Zeichen für Begriffe, deren Inhalt zwar definiert, aber durch eine Vor-
stellung so wenig repräsentiert werden kann, wie der Inhalt des Begriffes
des mathematischen Punktes oder der Linie.
Mit Recht erwähnt Ziehen im Vorwort, dafs seine Darlegungen mit den-
jenigen von Mach, Avenabiüs, Schuppe u. a. verwandt sind. Die Ausführ-
ungen dieser Autoren, mit denen Eef. sich freilich gleichfalls nicht einverstanden
erklären kann, sind z. T. unverhältnismäfsig bedeutender als die Ziehens.
Würzburg. Kabl Mause.
Batzel^ Fr., Politische Geographie. Mit 33 in den Text
gedrückten Abbildungen. München und Leipzig, E. Olden-
bourg, 1897. XX und 715 S.
Batzels „Politische Geographie" bildet eigentlich nur eine breitere
Ausführung eines . Teiles seiner. ,,Anthropogeographie", nämlich der .Be-
250 P. Barth:
Ziehungen des staatlichen Lebens zur Gestalt der Länder, während die
Anthropogeographie die Beziehungen des ganzen Lebens zu ihr behandelt
Das staatliche Leben ist ja von allen Funktionen der Gesellschaft das
sichtbarste, konkreteste ; seine Veränderungen prägen sich auch äuTserlich
deutlich aus und werden in sehr wahrnehmbarer Weise durch die geo-
graphischen Verhältnisse bedingt. Diese bilden einen wichtigen Teil der
bestimmenden Momente, aber neben ihnen wird das innere Leben, die
Macht der Ideen sicherlich, je weiter die Geschichte fortschreitet, immer
mehr mitbestimmend. Sowohl für die erstere Wahrheit, als auch für ihre
Ergänzung durch die letztere bietet Eatzels Buch eine gute Sammlung
Ton Beispielen, eine imponierende Fülle gut gesichteten und geordneten
Materials, das auch für den philosophischen Betrachter der Geschichte
mannigfaltiges Interesse hat. Insbesondere sind es 2 Fragen, auf die hier
neues Licht fällt. 1. Wie weit ist der Geist der Natur (hier den geo-
graphischen Momenten) überlegen, selbständig gestaltend? 2. Wie weit
sind Politik und Verkehr voneinander abhängig, und welche yon beiden
Mächten ist die führende, wegweisende? Die erste Frage kann man nach
Batzels Dokumenten von neuem dahin beantworten, dafs die Macht des
Geistes wächst. Der Staat ist ihm mit Eecht „eine fortschreitende Organi-
sation des Bodens durch immer engere Verbindung mit dem Volke" (S. 6).
Organisation aber bedeutet in diesem Zusammenhange Aufnahme in das
Lebendige, also auch in das geistige Thun des Volkes. Und noch bedeut-
samer für die wachsende Macht des Geistes sind manche einzelne That-
sachen, die Eatzel anführt. Z. B. S. 38: „Selbst die Wüsten können
nicht mehr als leere Bäume aufgefafst, d. h. unbeachtet gelassen werden.
Seit Jahren sehen wir die Franzosen um die Herrschaft in der menschen-
armen Sahara der Tuareg zwischen Algerien und der Gebirgsoase von Air
ringen, und Eufsland hat durch die Wüste von Turan eine strategische
Bahn gelegt. '^ Ähnlich S. 349, wo bewiesen wird, dafs die Aufgabe der
Verwaltung und der Unterhaltung regelmäfsigen Verkehrs den Staat oft
zum Wachstum auch an solchen Stellen zwingt, „wo es aus anderen
Gründen nicht angestrebt würde", wo also die Natur nicht einladend ist,
der Geist aber trotzdem Werte erkannt und in Besitz genommen hat.
Auf die zweite Frage, die nach dem Verhältnis der Politik zum Verkehr,
giebt Batzel die Antwort, dafs anfänglich meist der politische Herrscher
die Wege in seinem Interesse bahnt, der Verkehr aber ihm nachfolgt
(S. 335, 409), später jedoch das Verhältnis sehr oft sich umkehrt, der
Verkehr die Schranken der Politik überschreitet und diese nach sich zieht
(S. 403, 418).
Auch für andere sociologische Fragen wird von Batzbl neues
Material gebracht, so für die von Mobgan angeregte, warum die patri-
archalischen Herrscher sich nach dem Volke, die späteren aber nach dem
Lande nennen (Bex Numidarum, roi de France). Wenn auch Mobga^s
Unterscheidung der societas (als auf Blutsverwandtschaft beruhend) von
der civitas (als auf Bodenbesitz gegründet) falsch ist, soweit er damit der
alten societas das staatliche Element absprechen will, so wird er soweit
wohl Becht behalten, dafs die ackerbauenden Völker ein engeres Verhältnis
zum Boden haben, als die Nomaden, und dies allmählidi auch in der Be-
Ratzel, „Politische Geographie". 251
Zeichnung der Herrscher nach dem Lande zum Ausdrucke kommt. Und
wie eine philosophische Betrachtung des Ausblicks in die Zukunft nicht
entbehren kann, so finden wir auch dafür bei Ratzbl Anregungen. Sehr
verbreitet ist die Schwärmerei für die allgemeine Gleichmachung der
Völker und Staaten durch Weltsprache, Weltverkehr, Weltrecht, schliefs-
lich Weltstaat. Sie entspringt einer oberflächlichen Betrachtung, die
übersieht, dafs nach einer richtigen Fassung der Formel der Entwicklung
mit der Integration auch die Differenzierung der Teile wächst. Batzel
entzieht jener Schwärmerei jeden sicheren Grund, indem er sagt : „Die
Geschichte wird mit jeder Generation geographischer und territorialer".
Kann denn diese. Tendenz zur Vertiefang der Geschichte in die territorialen
Antriebe und Aufgaben auf einmal plötzlich abbrechen, die Menschheit
sich in einen Allerweltsbrei auflösen? So ist Batzbls Buch nach vielen
Seiten hin ein auf Thatsachen, nicht auf Konstruktionen beruhender,
wertvoller Beitrag zur Philosophie der Geschichte.
Leipzig. P. Babth.
Selbstanzeige.
Philipp, S., Vier skeptische Thesen. Leipzig, 0. R.
Reisland, 1898.
Es giebt mehrere Methoden der Erkenntniskritik. Zunächst die
skeptisch-sophistische Methode, die sich einfach an die Thatsache hält,
dafs die Erkenntnisse der Menschen mit Widersprüchen behaftet sind und
die Meinungen einander widersprechen. Sie führt sehr viele Belege für
diese Thatsache vor, ohne nach dem Warum dafür zu fragen. Andere
Methoden füllen diese Lücke aus. Die eine stellt den Menschen als reines
Individuum hin und fafst den Geist auf als eine Sunmie von Vermögen,
Kräften, Fähigkeiten, Funktionen. Sie zeigt nun, dafs es eines bestimmten
Zusammenwirkens dieser Vermögen und Funktionen bedarf, um Erkennt-
nisse hervorzubringen, sie knüpft also die Erkenntnisfähigkeit an gewisse
technische Bedingungen und schränkt durch diese Bedingtheit das Gebiet
des Erkennbaren ein. Die Methode führt daher von selbst jene gemäfsigte
Skepsis mit sich, wie wir sie bei Kamt, dem Erfinder dieser individualistisch-
technischen Methode, sehen. Dieser Methode kann man eine andere gegen-
überstellen, die social-genetische, welche sich nicht auf jene anatomische
Untersuchung des einzelnen Menschengeistes einläfst, sondern den Menschen
als sociales Glied und den Menschengeist als ein aus den winzigen An-
fängen urzeitlich tierischer Zustände heraus entwickeltes Gebilde auffafst,
und nun zu ermitteln sucht, welche Schranken diese seine Natur und
252 SelbstaDzeige.
Entwicklung dem scheinbar schrankenlosen Menschengeiste zieht. Zwar
an Untersuchungen über den Ursprung von Vernunft und Sprache ist kein
Mangel, aber dafs der so entstandene Menschengeist nur ein beschränktes,
von den Bedingungen seines Ursprungs nicht zu erlösendes Gebilde sein
kann, und welches die hieraus erwachsenden Schranken seiner Befähigung
sind, das bedurfte einer besonderen Untersuchung.
Hierin besteht die Aufgabe der vorliegenden Schrift. Bei der
Durchführung seiner Aufgabe konnte der Verfasser Auseinandersetzungen
und Polemik vermeiden gegenüber anderen Wegen der Erkenntniskritik
und Erkenntnistheorie, da sie ihm als ebenso löblich und gangbar er-
scheinen, wie sein eigener Weg. So geziemt es dem Skeptiker. Die
Unterschiede liegen in den verschiedenen Methoden begründet, und eine
allein richtige Methode giebt es nicht. Wohl aber kann eine Methode
zeitgemäfser sein, als die andere, und wenn heutzutage das Denken der
Menschen überall auf das Genetische gerichtet ist, so wird der Erkenntnis-
kritiker hier den Hebel ansetzen und zeigen müssen, welche Konsequenzen
sich aus dieser Denkweise und ihren wissenschaftlichen Grundlagen ergeben
bezüglich der Frage, wie weit die Erkenntnisfähigkeit des Menschen reicht.
Das Ergebnis ist eine noch stärkere Einschränkung der Prätensionen
der menschlichen Vernunft, als bei Kant, und darum nennt der Verfasser
seine Ergebnisse einfach skeptische, obwohl ihm jenes grundsätzliche
Zweifeln fem ist, das manche für die Signatur der wahren Skepsis halten.
Man braucht nicht ein Übertreiber zu sein, um die Befugnis zu erlangen,
sich einen Skeptiker zu nennen. Da der Skeptiker die Ansprüche des
Menschengeistes widerlegen und einschränken will, so mufs er der Ver-
nunft, mit deren Hilfe er dies unternimmt, zum mindesten die Fähigkeit
zu allgemeingültigen Widerlegungen lassen. Der Nachweis, dafs die
Vernunft im wesentlichen nur diese widerlegende, einschränkende, ne-
gierende Macht besitzt, ist dem Verfasser durch eine neue Auffassung der
Logik gelungen« Die Vernunft auf dem Erkenntnisgebiete erweist sieh
dadurch als ganz dieselbe, die auf dem Willens- und Gefühlsgebiete wirk-
sam ist, wo sie gleichfalls nur zurückhalten und eindämmen kann. Das
Positive in unseren Meinungen entspriefst anderen Wurzeln, nicht der
Vernunft; es läfst sich nicht vollständig rationalisieren, es hat einen be-
stimmten Charakter, ist also stets einseitig, und daher läfst sich in jeder
positiven Meinung eine Unvollständigkeit und Lückenhaftigkeit nachweisen,
die, wenigstens vom Standpunkte der Vernunft aus betrachtet, als fehler-
haft erscheint.
n.
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Die noch fehlenden Abteilungen VHI, IX, X der Bibliographie
werden im nächsten Hefte nachgetragen werden.
.iiiiiiiiiiiMiiiHiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiruiiiMMiiii
■M^iC
tiiMiiiiriiuiiiiriiiiiiiiiiiiiimiiitiitiririliiiiiiiiii
Abhandlungen.
iiiHiiiiiMiitniiiiHinniiiiiiiiiiiiuiiiiiiiiiKiiii
UllllllllllimillllllllHIlKIIIIIIMIIIIIIIIIIIIIMIIIl
Entgegnung
auf
H. Schwarz' Kritik der empiristischen Willens-
psychologie und des Gesetzes der relativen
Glücksförderung.
Von Christian v. Eiirenfels, Prag.
Inhalt.
Erklärrmg der dem (besetze der relativen Glücksfördening zu Gnmde Ueeen-
den realen Faktoren. Die nStärke** des Wollene Ist kein aktuelles BewnJJBtseinB-
element. Das Widerstreiten ist ein auf ein Nichtsein gerichtetes Begehren. Kein
Begehren ohne Zielvorstellung. Andere Differenzpnnkte.
H. ScHWABz hat im letzten Hefte dieser Zeitschrift einen
Aulsatz veröffentiicht, in welchem er die von ihm treffend
sogenannte „empiristische" Willenspsychologie — die Auf-
fassung des Willens, und des Begehrens überhaupt, nicht als
eines letzten Urphänomenes, sondern als eines Komplexes
anderweitig bekannter psychischer Elemente — einer dankens-
werten, eingehenden Kritik unterzieht. Hierbei nimmt er
hauptsächlich auf meinen Versuch der Analyse des Begehrens
und der Aufstellung eines Motivationsgesetzes Bezug, um zu
einer Ablehnung sowohl dieses, wie jener zu gelangen. Die
vorgebrachten Argumente vermochten mich, obgleich ich ihre
subjektive Berechtigung recht gut nachzuempfinden vermag,
nicht zu überzeugen; wohl aber begrüfse ich in ihnen einen
willkommenen Anlafs zur weiteren Klärung meiner Theorie,
den ich anderen und mir selbst am besten dadurch zu nutze
Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. XXTTT. 3. 18
262 Christian y. Ehrenfels:
zn machen glanbe, dafs ich hier möglichst kurz und bändig
zusammenfasse, was ich auf die Einwürfe meines Kritikers
zu entgegnen habe. — Ich glaube am zweckentsprechendsten
zu verfahren, indem ich die verschiedenen Einwürfe nach
sachlichen Gesichtspunkten, und vornehmlich nach dem Mafs
ihrer Tragweite ordne, um mit den weitestreichenden und
tiefstgehenden zu beginnen, denen Schwaez ihre Stelle erst
gegen Schlufs seiner Ausführungen angewiesen hat.
Meine Theorie besteht aus der Aufstellung eines Mo-
tivationsgesetzes und der sich hieran schliejjsenden weiteren
einer Analyse des Begehrens. Diese letztere steht und
föllt mit dem ersteren, jenes aber keineswegs mit dieser;
vielmehr wäre die Annahme meines Motivationsgesetzes mit
einer „nativistischen" Auffassung von der Natur des Begehrens
logisch verträglich. Ich setze daher an erste Stelle die Er-
wägung der Argumente gegen mein Motivationsgesetz der
relativen Glücksförderung, und unter diesen wieder zuvörderst
die Erwägung jenes Argumentes, mit welchem Schwabz das
besagte Gesetz als eine ündenkbarkeit oder Unmöglichkeit
von vornherein darzustellen sucht.
SoHWABz geht hierbei von meiner eigenen Bemerkung
aus, dafs die relative Glücksförderung — die Differenz zwischen
einem thatsächlichen und einem nur möglichen Gefuhlszu-
stande — ja selbst gar nichts Aktuelles^) sei, so dafe ihr
keinerlei reale Wirksamkeit (also auch nicht die Erhöhung
der Beharrungstendenz einer Vorstellung) zugeschrieben werden
^) Wenn hier und im folgenden yon aktuellen psychischen Phä-
nomenen oder BewuTstseinszuständen die Rede ist, so sind hierunter nur
die thatsächlichen, gegenwärtig vorhandenen Bewurstseinszustände gemeint,
im Gegensatz zu den blofs virtuellen, für welche gegenwärtig nur die
Disposition vorliegt. Psychisches, welches nicht aktuell ist, kann nie
wirksam werden. Nicht aber hat man unter dem psychisch Aktuellen als
solchem schon psychisch Wirksames zu verstehen. Es kann psychisch
Aktuelles geben, dem doch alle Wirksamkeit fehlt. Nach der mecha-
nistischen Auffassung der psychophysischen Beziehungen z. B. kann man
allem Psychischen Wirksamkeit absprechen — nicht aber Aktualität,
d. h. Vorhandensein im Bewufstsein.
Entgegnung auf H. Schwarz^ Kritik d. empirist. Willenspsychol. etc. 263
könne. — Dies ist unzweifelhaft richtig und, wie gesagt, von
mir selbst ausdrücklich anerkannt worden. Ich habe auch
niemals behauptet, dafs die relative Glücksförderung, welche
sich mit einer Vorstellung einstellt, das Agens sei, welches
diese Vorstellung im BewuTstsein festhalte, sondern nur,
dafs relative Glücksförderung immer mit gröfserer Beharrungs-
tendenz der Vorstellung zusammenfalle. Wie man sich
dieses Zusammenfallen etwa zu erklären haben möchte, dafür
suchte ich in einer physiologischen Deutungshypothese, für
welche mancherlei Anzeichen sprechen, ein Beispiel zu geben,
dessen Darlegung ich jedoch mit der Bemerkung beschliefse,
dafe „die Anerkennung des — empirisch begründeten — Ge-
setzes von der relativen Glücksförderung, wie sich von selbst
versteht, von der Anerkennung oder Verwerfung dieses physio-
logischen Deutungsversuches unabhängig bleiben müsse"
(„System der Werttheorie", I. Bd., S. 200). Ich hätte, um
mich ganz klar auszudrücken, wohl noch hinzufügen sollen,
daJs die Anerkennung des Gesetzes der relativen Glücks-
förderung von derjenigen des speciellen physiologischen
Deutungsversuches besonders darum auch unabhängig bleiben
dürfe, weü der letztere, wenn er selbst im einzelnen verfehlt
sein sollte, doch jedenfalls das Prinzip angiebt, wie man
sich von jedem monistischen (resp. mechanistischen), ja selbst
von jedem dualistischen Standpunkte aus das Zusammenfallen
von relativer Glücksförderung und Beharrungstendenz erklären
könnte. Diese Unterlassung meinerseits ist, wie es scheint,
meiner Theorie in Schwabz' Beurteilung verhängnisvoll ge-
worden. Er scheint anzunehmen, dafs die Möglichkeit einer
Erklärung des Gesetzes der relativen Glücksförderung streng
an die Richtigkeit meines physiologischen Deutungsversuches
gebunden sei; und da er entscheidende Gründe gegen diesen
letzteren zu besitzen glaubt, meint er auch jenes „Gesetz",
als auf einer „unvollziehbaren Anschauung" (S. 230) beruhend,
abweisen zu dürfen. — Allein die vorgebrachten Gründe
scheinen mir nicht einmal die Unhaltbarkeit des speciellen
physiologischen Deutungsversuches darzuthun, und noch viel
18*
264 Christian y. Ehrenfels:
weniger die Unübertragbarkeit seines Prinzips auf eine andere
Auffassung von dem psychophysischen Kausalnexus.
Da ScHWAEz, wie mir dünkt, das Prinzip meiner physio-
logischen Deutungshypothese nicht ganz so aufgefafst hat,
wie es gemeint war, wiU ich dasselbe zunächst auf einem
ganz neutralen Boden schematisch darzustellen versuchen. —
Man denke sich zu diesem Behufe aus irgend einem festen
Stoflf, z. B. aus Stein, ein Gebirgsrelief mit mannigfachen
Faltungen, Einbuchtungen, Thälem, Kesseln u. s. w. gebildet,
und nehme an, es werde auf eine bestimmte Stelle des höchsten
Gipfels durch eine bestimmte Zeit hindurch ein Wasserstrahl
von bestimmter Form, Eichtung, Mächtigkeit und Geschwindig-
keit fallen gelassen. Das Wasser wird nun, entsprechend den
Faltungen des Reliefs, seiner eigenen Geschwindigkeit und
dem Gesetze der Schwere, vielleicht viel verschlungene Bahnen
zurücklegen, und sich zuletzt in einem oder in mehreren
Kesseln des Reliefs ansammeln, wo es zum Stillstand gelangt,
oder es wird ganz oder teilweise aus irgendwelchen Thälem
des Reliefs auf noch tiefer gelegene Teile der Umgebung aus-
strömen. Der Weg des Wassers läfst sich, wenn alle Vor-
aussetzungen genau bekannt sind, vollkommen bestimmt vor-
aussagen. Die Abänderung der Bewegungsrichtung und -ge-
schwindigkeit eines jeden Wasserteilchens ist an jedem Punkt
im wesentlichen die Resultierende dreier zusammenwirkender
Faktoren, nämlich 1. des Trägheitsmomentes, mit welchem
das Wasserteilchen ankommt, 2. der Schwerkraft, und 3. der
Neigung des Gebirgsreliefs an der bestimmten Stelle. — In
diesem Schema bedeutet nun der Wasserstrom den psycho-
physischen Reizungsprozefs, gleichgültig, ob man ihn monistisch
als einen durchaus physisch, oder dualistisch als einen durch
Zusammenwirken von physischen und rein psychischen Reali-
täten gebildeten denken mag; die Trägheitsmomente der Wasser-
teilchen an den verschiedenen Punkten bedeuten die rein
associativen Vorstellungstendenzen; das Gebirgsrelief bedeutet
die psychischen Dispositionen, wieder unabhängig davon, ob
man sie sich als rein physiologisch, oder als teilweise in der
Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik d. empirist. Willenspsychol. etc. 265
Nerven-, teilweise in einer rein psychischen Substanz fundiert
vorstellen möge ; das Benetztwerden der einzelnen Stellen des
Gebirgsreliefs durch den Wasserstrom bedeutet das Entstehen
der betreffenden aktuellen psychischen Phänomene; das all-
mähliche raschere oder langsamere Hinabsinken des Wassers
bedeutet die mit den einzelnen aktuellen Phänomenen sich
einstellende positive Glücksverbesserung (Zunahme von Lust
oder Abnahme von Schmerz); die Schwerkraft bedeutet die
Beharrungstendenz, welche den Vorstellungen nicht durch,
wohl aber mit der relativen Glücksförderung zukommt; der
Höhenabstand endlich zwischen zwei benachbarten Stellen
des Reliefs, von denen die eine benetzt wird, die andere un-
benetzt bleibt, bedeutet die relative Glücksförderung. Das
Bild hält dem Vergleich mit dem psychophysischen Vorgang,
wie ich ihn mir beim Begehren denke, nicht in jeder Beziehung
stand, wohl aber in den wichtigsten Punkten. Es erklärt
vornehmlich, auf welche Art wir es zu denken haben, dals,
entsprechend der Tendenz des Wassers, unter übrigens gleichen
Umständen immer die abschüssigsten Bahnen zu wählen, sich
immer der von der gröfsten relativen Glücksförderung be-
gleitete Prozefs einstellt. Das Wirkende ist hier ebenso wenig
die relative Glücksförderung selbst, wie bei jenem Schema die
Höhendifferenz zwischen den benetzten und den unbenetzten
Teilen des Reliefs; das Wirkende sind hier ebenso wenig die
nichtaktualisierten, blofs möglichen Vorstellungen, wie dort
die nur mögliche Benetzung der thatsächlich unbenetzten Teile
des Reliefs. Das Wirkende sind vielmehr hier die psychischen
Dispositionen (welches Wort ja nichts anderes bedeutet, als
„Aktualisierungsfähigkeiten oder -kräfte"), wie dort das Ge-
birgsrelief mit seinen Widerstandskräften gegen den Druck
des strömenden Wassers, hier die Associationstendenzen der
Vorstellungen, wie dort die Trägheitsmomente der Wasser-
teilchen, und endlich sowie dort die Schwerkraft, hier jene
psychophysische Tendenz, welche durch das Gesetz der
relativen Glücksförderung nicht ihrem Wesen, sondern ihrem
Effekt nach charakterisiert werden soll. — Ich wüfste nicht,
266 Christian v. Ehrenfels:
was selbst der überzeugteste Dualist und Vertreter unräum-
licher Seelensubstanzen, die mit dem funktionierenden Grofe-
him in echte und rechte Wechselwirkung träten, gegen die
prinzipielle Zulässigkeit eüies derartigen Wirkungsschemas
einzuwenden haben sollte. Im Gegenteil wird er, um auch
nur die altbekannten Associationsgesetze als Wirkungsmöglich-
keiten zu begreifen, zu ganz ähnlichen Schemen seine Zuflucht
nehmen müssen. Und somit mufs ich auf das Entschiedenste
dem Einwände entgegentreten, als beruhe die Conception des
Gesetzes der relativen Glücksforderung von vornherein auf
einer „unvollziehbaren Anschauung".
Sollte man aber statt des anschaulichen Bildes den ab-
strakten Gedanken verlangen, so läfst sich dieser ohne
Schwierigkeit klar aussprechen. Das Gesetz der relativen
Glücksförderung fordert nicht mehr, als ein funktionelles
Verhältnis zwischen derLeichtigkeit der Aktualisierung
der Vorstellungsdispositionen und der Annehmlichkeit (im
Sinne des Gefühls verstanden) der aktualisierten Vor-
stellungen; — und zwar ein funktionelles Verhältnis der
einfachsten Art, so dafs mit dem Anwachsen der einen
Gröfse auch die zweite zunimmt. Und es ist in keiner Weise
abzusehen, weshalb diese Forderung nicht sollte erfüllt werden
können — mögen nun die Vorstellungsdispositionen
ausschliefslich an physischen oder zum Teil an rein
psychischen Kealitäten haften.
Aber auch die Einwände, welche Schwarz gegen meinen
speciellen physiologischen Deutungsversuch vorbringt, scheinen
mir keineswegs zwingend zu seiQ. Er referiert zunächst voll-
kommen in meinem Sinne: „Die streitenden Vorstellungen,
die eine, zu welcher der wirkliche, und die andere, zu welcher
der mögliche Gefühlszustand gehört, sollen auf nervösen Er-
regungen beruhen, die sich in den Eindenbahnen des Grofs-
hims mit verschiedener Leichtigkeit ausbreiten. So komme
die eine eher dazu, als die andere, Partien des Gehirns zu
ergreifen, in denen nervöse Energie genug aufgestapelt sei,
Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik d. empirist. Willenspsychol. etc. 267
um die Nervenerregimg, die zu ihr dringe, rückwärts fort und
fort zu unterhalten." (S. 231.) — und fragt hierauf: —
^Allein was hätten diese Verhältnisse mit einer Differenz zu
thun, und gar mit der eines wirkUchen und eines mögUchen
öefühlszustandes?" — Die Antwort ist nach dem Gesagten
unschwer zu finden. Der Grad der Annehmlichkeit eines
durch die Beizung einer bestimmten Stelle des Gro&hims
aktualisierten BewuTstseinszustandes wird eben als Funktion
des „mit potentieller Energie Geladenseins" jener Partie be-
trachtet, wovon wieder die Leichtigkeit ihrer Erregung ab-
hängt. Die psychophysische Reizwelle nun wird sich not-
wendigerweise auf diejenigen Partien fortpflanzen, welche sie
mit gröfster Leichtigkeit au&ehmen und fortführen (ebenso
wie das Wasser auf dem G^birgsrelief stets den Weg nach
abwärts sucht), und sie wird diese Bahnen mit um so größerer
Beharrlichkeit festhalten, je gröfseren Widerstand die benach-
barten Partien ihrem Vorwärtsdringen entgegensetzen, d. h.
also, je gröfser die Differenz der Leichtigkeit ist, mit
welcher die benachbarten Partien in Erregung versetzt werden
können. Nun steht aber, wie vorausgesetzt, der Grad der
Annehmlichkeit (im Sinne einer höheren Lust oder geringeren
Unlust) der Bewnüstseinszustände, welche durch Beizung ein-
zelner Himparüen entstehen oder entstehen würden, in pro-
portionalem Verhältnis zu jenem Grade der Leichtigkeit —
woraus sich direkt erklärt, dafs die Beharrlichkeit, mit welcher
die BeizweUe bestimmte Bahnen im Hirn, und mithin das
Bewufstsein bestimmte Vorstellungen festhält, gemessen werden
kann durch die Diflferenz zwischen einem nur möglichen und
einem aktuaKsierten Gefühlszustand — die relative Glücks-
förderung.
ScHWABz selbst fahrt an der Hand eines, mir übrigens
nicht ganz klaren physiologischen Hinweises einen ähnlichen
Gedanken aus, um jedoch hierauf einzuwenden, dafs es, nach
allem, was wir wissen, solche Thatsachen in den physiologischen
Himfunktionen nicht gebe. Hieran schliefsen sich Bedenken
gegen die Voraussetzung, als entspräche jeder Vorstellung ein
268 Christian v. Ehrenfels:
genau umschriebener Kreis von Nervenbahnen, die Aufforderung,
etwa für Eitelkeitsvorstellungen oder Vorstellungen der Er-
reichbarkeit oder Vermeidbarkeit beliebiger Werte solche
Bahnen „auch nur auszudenken", eine ähnliche Frage, welches
wohl die dem Gefühl der Reue, der Lust und Unlust des be-
friedigten oder unbefriedigten Strebens zugrunde liegenden
Assimilations- oder Dissimilationsprozesse sein sollten, endlich
der Hinweis auf die Vergeblichkeit, „in dieser ganzen Sache
bei der Physiologie Zuflucht zu suchen". Sie schaffe Jenem
ersten Bedenken logischer Art" (dafs nämlich die relative
Glücksförderung als blofse Differenz zwischen einem wirklichen
und einem möglichen Zustand nicht wirken könne) keine Ab-
hilfe. (S. 232.)
Was zunächst den letzten Einwurf betrifft, so wurde er,
wie mir dünkt, durch das Vorausgehende schon zurückgewiesen.
Nicht um eine Zuflucht bei der Physiologie handelt es sich,
in einer Sache, in der etwa die Psychologie sich nicht mehr
Rats wüfste, sondern darum, sich ein empirisch gefundenes
Gesetz durch Anwendung des einfachen Dispositions-
gedankens erklärlich zumachen, — des Dispositionsgedankens,
dessen der Psychologe keinen Schritt weit entraten kann,
selbst nicht bei der Erklärung von Thatsachen wie die Ent-
stehung einer Sinnesempflndung, oder wie das Abreifsen des
Bewufstseinsfadens im Schlafe und das Wiederanheben des-
selben beim Erwachen.
Wenn aber Schwarz in dem „Ausdenken" von Nerven-
prozessen für die feineren psychischen Regungen unüberwind-
liche Schwierigkeiten erblickt, so kann dies einen doppelten
Sinn haben. Entweder er meint, dafs unsere Kenntnisse noch
nicht genug weit vorgeschritten sind, als dafs wir über die
Besonderheit jener Prozesse berechtigte Hypothesen aufzu-
stellen vermöchten — oder er hält die Differenzierungsmög-
lichkeiten physiologischer Prozesse, welche das Grofshim,
überhaupt oder speciell nach der in Anspruch genommenen
Richtung, bietet, für zu gering, um die Mannigfaltigkeit des
psychischen Geschehens zu erklären. — Ersteres mufs ohne
\
Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik d. empirist.Willenspsychol. etc. 269
weiteres zugestanden werden — woraus aber keineswegs ein
Verbot gegen die Annahme irgend welcher besonderer Prozesse
auch für die feineren und feinsten Bewufstseinszustände ab-
geleitet werden kann. Diese Zustände müssen ja doch
irgendwo ihre Ursache haben, entweder in einem physio-
logischen Vorgang allein, oder in einem solchen, verbunden
mit einem an einer unräumlichen Seelensubstanz sich ab-
spielenden Prosefs, den wir jedenfalls noch viel weniger „auch
nur auszudenken" vermögen, als jenen. Wir können also hier
der Annahme dunkler und rätselhafter Prozesse auf keinen
Fall entgehen. Bleibt also nur die letztere Deutung in Kraft. —
Zu ihrer Beurteilung erwäge man folgendes : Wir wissen, dafs
die physiologischen Eigenschaften des tierischen oder mensch-
lichen Vaters auf die Nachkommen allein durch Vermittlung
eines einzigen Spermatozoons übertragen werden. Dieses
wunderbare, mikroskopisch kleine organische Gebilde enthält
also eine Differenzierung des Baues, aus welchem sich beim
entwickelten Individuum Details wie ein vom Vater ererbter
Haarwirbel im linken Stirnwinkel, ein Grübchen in der rechten
Wange, oder eine abweichende Form des Nagels der kleinen
Zehen entwickeln. Nun übertrifft aber unser Grofshim ein
einzelnes Spermatozoon an organischer Substanz um ein Viel-
millionenfaches und ist, so weit wir es kennen, nicht gröber
organisiert als dieses. Hat da die Behauptung irgend eine
haltbare Unterlage, es können die physiologischen Prozesse
dieses Organes an die Differenziertheit der Bewufstseins-
zustände nicht heranreichen, so dafs man zur Erklärung der
letzteren die Einwirkungen einer unräumlichen Seelensubstanz
oder -realität hereinzuziehen gezwungen sei? — Eine solche
Behauptung mufs zum mindesten als voreilig bezeichnet
werden. — Vielleicht hat jedoch Schwabz Anderes im Sinne.
Nicht die möglichen physiologischen Prozesse des Grofshiras
überhaupt hält er für unzureichend gegenüber der Mannig-
faltigkeit des psychischen Geschehens, sondern nur die von
mir zu dem physiologischen Deutungsversuch speciell heran-
gezogenen. Nicht dagegen wendet er sich, dafs jeder Vor-
270 Christian v. Ehrenfels:
Stellung ein besonderer physiologischer Prozefs zugeordnet
werde, sondern dagegen, daXs jeder Vorstellung ein „genau
umschriebener Kreis von Nervenbahnen" entspreche, und iaSs
somit die Unterscheidungen jener einzelnen Prozesse lediglich
in ihre verschiedenen Lokalisationen verlegt werden. — Selbst
unter dieser Voraussetzung scheint mir die Behauptung gewagt,
es könne das Grofshim die nötige Mannigfaltigkeit an Pro-
zessen ffir den Reichtum des psychischen Lebens nicht auf-
bieten; wichtiger aber ist, dafs mein physiologischer Deutungs-
versuch zwar zunächst auf die Annahme eines homogenen
physiologischen Prozesses in allen Himpartien Rücksicht nimmt,
keineswegs aber sie notwendig voraussetzt, sondern anstands-
los auf die — vorgängig wahrscheinlichere — Annahme quali-
tativer Verschiedenheiten des Reizungsprozesses bei der Ak-
tualisierung verschiedener Grundklassen von psychischen Ele-
menten übertragen werden kann. Die möglichen qualitativ
verschiedenen Reizungen ein und derselben Himpartie sind
dann mit den qualitativ gleichartigen Reizungen verschiedener
Himpartien auf eine Stufe zu stellen. Die Bahnen der psycho-
physischen Reizwelle differenzieren sich dann nicht nur lokal
an verschiedenen, sondern auch qualitativ an identischen Stellen.
Die Leichtigkeit, mit welcher eine Nervenzelle z^ sich nach
der qualitativen Besonderheit q^ reizen läfst, kann sich von
der Leichtigkeit, mit welcher sie sich nach q^ reizen läfst,
resp. dem Widerstand, den sie dieser speciflschen Reizung
entgegensetzt, ebenso sehr unterscheiden, wie sie sich von
der Leichtigkeit der Reizung einer zweiten Nervenzelle z*
nach der gleichen Art q^ unterscheiden kann, und die „An-
nehmlichkeit" des betreffenden aktualisierten BewuJjstseins-
zustandes kann hier wie dort eine einfache Funktion dieser
Leichtigkeit sein. — So entschwindet meines Erachtens auch
das letzte Bedenken gegen die Möglichkeit einer physiologischen
Deutung des Gesetzes der relativen Glücksförderung.
Dennoch mufs ich anerkennen, dafs die besprochenen
Argumente mich auf Mängel und Lücken, zwar nicht in meiner
Theorie, wohl aber in der Darstellung derselben, aufinerksam
\
Entgegnung auf H. Schwaxz' Kritik d. empirißt. Willenspsychol. etc. 271
gemacht haben, so dafs es mich gar nicht wundem könnte,
wenn etwa Schwarz erwidern würde : „Hätte Ehbenfels seinen
Gedanken über das Gesetz der relativen Glücksforderung von
Anbeginn solchen Ausdruck verliehen, so wäre mindestens
dieser Teil der Kontroverse überflüssig geworden".
Folgerichtig habe ich an nächster Stelle eine Zwischen-
frage zu beantworten, welche mir Schwaez einwirft, und die
von der Konsequenz seines Denkens Zeugnis giebt. Der Ein-
wurf erfolgt gelegentlich seiner Formulierung des Gesetzes der
relativ^i Glücksforderung. Die ganze Stelle lautet: „Wir
können nicht wünschen und streben, ohne dafs uns wenigstens
ftr die Anfangszeit (warum nicht auch für die Dauer?) des
Wünschens und Strebens mehr Glück erwachse, als wenn jene
Akte unterblieben wären". (S. 219.) Die Frage „warum
nicht auch für die Dauer?" weist wirklich auf eine scheinbare
Halbheit oder Inkonsequenz meiner Theorie hin, — aber auch
nur auf eine scheinbare. Kehren wir zum Schema vom Ge-
birgsrelief zurück! — Sicher kann behauptet werden, das
Wasser wähle, insofern es nicht durch das Trägheitsmoment
beeinflufst wird, immer diejenige unmittelbare Fortsetzung
seiner Bahn, welche es am meisten zur Tiefe fuhrt, oder mit
anderen Worten den Weg, der ihm für den Anfang die
abschüssigste Bahn bietet. Keineswegs aber folgt daraus,
dafs der auf den höchsten Gipfel niederfallende Wasserstrahl
gleichsam in Voraussicht und mit vorgängiger Kenntnis des
Reliefs diejenige Bahn erwähle, welche, obgleich im Anfang
ansteigend oder minder abschüssig, doch später die günstigsten
Chancen zum Fall in die Tiefe eröflhet. Vielmehr ist es
möglich, dafs das Wasser, immer unter dem Gesetz der Schwere,
sich in Sackgassen, in hochgelegene Gebirgskessel verlaufe,
welche nur durch relativ niedere und schwache Dämme von
tiefen Thälem abgeschlossen sind, in die das Wasser doch
niemals hinabgelangen kann, weil es eben an die tiefsten
Stellen nicht im grofsen Ganzen, sondern für den An-
fang der jeweiligen Fortsetzung seiner Bahn gebunden ist. —
272 Christian v. Ehrenfels:
Auf gleiche Weise können im Hirn Herde aufgestapelter
potentieller Energie oder grofser ßeizungsleichtigkeit durch
eine abschliefsende Wand von Reizungswiderständen umgeben
sein, so dafs die Reizwelle nicht zu ihnen dringen kann, ob-
gleich hier ein viel höherer Lusteffekt zu gewinnen wäre,
als auf ihrer thatsächlich eingeschlagenen Bahn. Die Reiz-
welle wendet sich nämlich, wie dort das Wasser, stets nach
der Richtung des geringsten Widerstandes, nicht für den
weiteren Verlauf, sondern für den Anfang der jeweiligen
Fortsetzung ihrer Bahn* Auch wenn man rein psychische
Dispositionen annimmt, eröffnen sich gleiche Möglichkeiten. So
kann also nach dem Gesetz der relativen Glücksfbrderung
von einem Begehrenden auch nur behauptet werden, sein Gre-
fühlszustand müsse für den Anfang, für das Entstehen des
Begehrens ein günstigerer gewesen sein, als er ohne das Be-
gehren gewesen wäre. Man kann weiter auch behaupten, es
müsse für jedes» spätere Zeitdifferential, in welchem das Be-
gehren noch andauert, der Geflihlszustand ein günstigerer sein,
als wie wenn das Begehren dann, nämlich mit diesem Zeit-
differential, aufgegeben würde. Es darf aber nicht behauptet
werden, dafs jedes Begehren in seiner vollen Dauer einen
günstigeren Gefühlszustand bedinge, als er eingetreten wäre,
wenn das Begehren von allem Anfang an unterblieben sein würde.
In einem weiteren Einwand (S. 220) wirft mir Schwabz
einen Widerspruch gegen meine eigene Behauptung vor. Ich
habe konstatiert, dafs es Willensregungen ohne jegliches ak-
tuelles Lustgefühl, ja oft nur von Unlustgefühlen begleitet,
giebt Schwabz meint, dies lasse sich mit einer relativen
Glückszunahme bei jedem Akte des Begehrens nicht vereinen,
da ja dann die Vorstellungen, auf deren Hinzutreten das Be-
gehren beruhe, geradezu lustvoll sein müfsten. Er übersieht
jedoch erstens, dafs sich der Zustand des Begehrens gegen-
über demjenigen des Nichtbegehrens, besonders wenn ein
Streben oder Wollen vorliegt, nicht nur durch ein Mehr an
lustvollen, sondern ebenso durch ein Minder an unlustvollen
Vorstellungen unterscheiden kann» (So werden dadurch, dafs
\
Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik d* empirist. Willenspsychol. etc. 273
wir uns strebend oder wollend gegen eine drohende Gefahr
wenden, die beängstigenden Vorstellungen, die uns im Zu-
stande des Nichtstrebens gleichsam an den Leib rücken würden,
geradezu unterdrückt oder doch mindestens bedeutend abge-
schwächt.) Zweitens aber kann sich die positive Gefuhlstendenz
einer Vorstellung nicht nur durch die Schaffung einer aktuellen
Lust, sondern auch durch die Herabminderung einer bereits
bestehenden aktuellen Unlust bethätigen.
Auf einem Versehen beruht es wohl, wenn Schwaez mir
(S. 229) vorwirft, meine Theorie könne der — empirisch
allerdings unzweifelhaften — Thatsache des gleichzeitigen
Vorhandenseins mehrerer Begehrungen im Bewufstsein nicht
gerecht werden- Ich behaupte wohl, dafs jeweilig glücks-
fordemde Vorstellungen das Begehren ausmachen, keineswegs
aber, dafs diese jeweilig glücksfördemden Vorstellungen immer
nur — eine Vorstellung — sein müfsten. Auch läfst sich
ein solcher Schlufs in keiner Weise aus dem Gesetz der rela-
tiven Glücksförderung begründen. Gerade so, wie auf dem
Gebirgsrelief das Wasser, seinem Zug nach abwärts folgend,
sich gleichzeitig in verschiedene Adern verzweigen kann, so
kann mir auch die psychophysische Reizwelle, der Eichtung
des geringsten Widerstandes folgend, gleichzeitig die ver-
schiedensten glückfördemden Vorstellungen von Verwirk-
lichungen vorführen, z. B. die Vorstellungen eines auszu-
führenden Spazierganges, einer Kahnfahrt, eines Theaterbe-
suches. So lange die Zeit der Verwirklichung eines dieser
Wünsche nicht gekommen ist, braucht selbst die Unverträg*
lichkeit ihrer Objekte ihr Beisammensein im Bewufstsein nicht
zu stören, und selbst während der Wahl und Ausführung
eines von ümen können sich mit den Vorstellungen der be-
treffenden Ziele die anderen zeitweise einfinden.
Dieser Einwand leitet zu anderen hinüber, welche das
deskriptive Moment des Vorhandenseins oder Fehlens von
aktuellen Akten des Wünschens, Strebens und Wollens mit
berücksichtigen.
274 Christian y. Ehrenfels:
S. 227 ff. weist Schwabz vollkommen richtig nach, dafs
die Geltung meines Motivationsgesetzes einen häufigen Wandel
in der Stärke des Begehrens bedingen würde, von welchem
die innere Erfahrung uns nichts zu erkennen gebe.
Ich kann dies nur vollinhaltlich bestätigen, muTs jedoch
hinzufügen, dafs es gegen mein Motivationsgesetz nur etwas
beweisen würde, falls man dieses mit einer deskriptiven Auf-
fassung von der Natur der Begehrungsphänomene verbinden
wollte, welche der meinigen widerstreitet; — mit der Auf-
fassung nämlich, dafs dasjenige, was wir Stärke des Be-
gehrens, speciell des Wollens nennen, sich uns innerlich in
der hohen Intensität eines aktuellen Phänomenes kundgebe.
Wäre dies der Fall, dann müfste allerdings der von Schwarz
als Beispiel herangezogene Schachspieler bei Gültigkeit meines
Motivationsgesetzes ein stetes An- und Abschwellen eines
intensiven Willenselementes in sich beobachten können —
wovon (wie ich willig zugebe) die Erfahrung nichts erkennen
läfst. — Aber wie steht es mit jener Voraussetzung? —
Spiegelt sich wirklich die Stärke unseres Wollens in der
Intensität eines aktuellen Phänomenes ab, das wir, so lange
wir wollen, in uns herumtragen? — Ich erinnere hierbei an
mein Beispiel von dem geübten und dem ungeübten Schwimmer,
von denen beide mit dem gleich starken Willen, nicht unter-
zusinken, sich über Wasser halten, der erste in vollständiger
Gemütsruhe und ohne irgend welche merkliche Gefühlser-
regung, — der zweite, obgleich nicht stärker wollend als
jener, von den intensivsten Gefuhlsschwankungen der Be-
fürchtung,^) unterzusinken, und der Hoflhung, über Wasser
zu bleiben, hin- und hergeworfen! — Schwabz selbst erklärt
sich mit diesen und ähnUchen Beispielen einverstanden
(S. 212) — allerdings bezüglich eines anderen Punktes, als
des hier in Frage stehenden, nämlich bezüglich des Fehlens
eines Parallelismus zwischen der Stärke des Wollens und der
Intensität aktueller Gefühle, während es sich nun um das
^) Ich acceptiere die Bemerkung von Schwabz (S. 224), dafs „Be-
fürchtung" in ähnlichen Fällen der angemessenere, weil weitere Terminus sei.
Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik d. empirist. Willenspsychol. etc. 275
Verhältnis zwischen der Stärke des WoUens und der Intensität
eines behaupteten aktuellen Willensaktes handelt. — Aber
man betrachte nur dasselbe Beispiel unter diesem Gesichts-
punkt! — Trägt der furchtlose, geübte Schwimmer, welcher
mit dem denkbar stärksten Willen, nicht unterzusinken, dennoch
in vollkommener Gemütsruhe die Wellen teilt, überhaupt irgend
ein Bewufstseinselement in sich, welches ein empirisches
Maximum von Intensität aufwiese, — etwas, das sich mit
einer himmelstürmenden Freude, mit einem rasenden Schmerz,
mit einem dröhnenden Schall, einem blendenden Licht auch
nur entfernt vergleichen liefse? — Ich denke, die Antwort
kann für den unbefangenen Beobachter nur negativ ausfallen.
Die Stärke des Willens ist ein dispositioneller oder potentieller,
kein psychologisch aktueller Begriff. Ein stärkerer Wille ist
derjenige, welcher schwerer zum Wanken gebracht und besiegt
werden kann, derjenige, welcher gröfsere Unlustopfer auf sich
zu nehmen fähig ist, ohne aufgehoben zu werden. Die Stärke
unseres Willens können wir durch das Experiment — durch
das thatsächlich oder in der Phantasie ausgeführte — er-
forschen, wir können sie aber nicht wie an einem Ziffem-
blatt an der Intensität eines aktuellen BewuTstseinselementes
ablesen. Auch die „nativistische" Willenstheorie darf, wenn
sie mit noch so grofser Bestimmtheit die Existenz eines letzten
psychischen Elementes „Begehrungs-, speciell Wülensakt"
behauptet, diesem Element doch keine Intensität zuschreiben —
mindestens keine, welche derjenigen Gröfse entspräche oder
proportional wäre, die wir „Stärke des Begehrens" nennen.^) —
Und somit braucht jener von Schwaez als Beispiel angeführte
Schachspieler auch kein An- oder Abschwellen in sich zu er-
fahren, obgleich die Stärke seines Wollens in dem oben er-
klärten Sinne einem beständigen Wechsel thatsächlich unter-
worfen ist. Niemand wird nämlich angesichts des Sachver-
*) Vergl. Fbanz Brentano, „Zur Lehre von der Empfindung",
Bericht des dritten internationalen Kongresses für Psychologie in München
1896, namentlich S. 124, sowie meine Entgegnung „Die Intensität der
Gefühle", Zeitschrift für Psych, und Phys. der Sinnesorgane, Bd. XVI,
namentlich S. 53.
276 Christian v. Ehrenfelß:
haltes leugnen können, dafs die Festigkeit oder Opferfähigkeit
des auf die Fortführung der Partie zum Zwecke des endlichen
Sieges gerichteten Willens durch die angenommenen Gefühls-
schwankungen sehr beträchtlich modificiert werden würde. So
bedürfte es etwa in einem Momente, in welchem sich der
Schachspieler über seinen Gegner ärgert, einer viel geringeren
Versuchung, um ihn zum Aufgeben der ganzen Partie zu be-
wegen, als in einem Moment, in welchem ihm das Spiel hohe
Lust bereitet.
Diese Erwägungen beantworten auch den weiteren Ein-
wand, dafs nach meinem Motivationsgesetz die Willensstärke
etwas Relatives sei (S. 232). Ganz gewifs ist sie das; hieran
wird aber nach allem Gesagten nur derjenige Anstofs nehmen ,
der sie dennoch, im Gegensatz zu meiner Auffassung, der
Intensität eines aktuellen psychischen Elementes gleichsetzt.
Hiermit gelangen wir zur zweiten Gruppe der Einwände,
die sich gegen den deskriptiven Teil meiner Theorie
richtet — den Teil, der naturgemäfs zur Kritik und zum
Widerspruch weit mehr Anlafs giebt, als das Motivationsgesetz.
Ich gestatte mir daher einige Andeutungen über die sachlichen
Beziehungen dieses zu jenem. — Die Annahme meines Moti-
vationsgesetzes ist mit der Annahme eines psychischen Grund-
elementes „Begehren" verträglich, vorausgesetzt, dafs man
nicht diesem Element eine der „Stärke" des Begehrens pro-
portionale Intensität zuschreibe. Dennoch kann dem Moti-
vationsgesetz für sich eine gewisse Tendenz zur Leugnung
eines solchen Grundelementes nicht abgesprochen werden;
denn wenn das Gesetz richtig ist, so darf man einem Grund-
Clement „Begehren", selbst wenn man es vom deskriptiven
Standpunkt aus anerkennt, dennoch keine andere als die Rolle
einer wirkungslosen Begleiterscheinung im psychischen Leben
zuschreiben, die Rolle eines Phänomenes, welches uns durch
sein Auftauchen gewisse Kräftebeziehungen im Wechselspiel
unseres Bewufstseinslebens anzeigt, ohne dieses im geringsten
zu beeinflussen. Mein Motivationsgesetz läfst für ein
Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik d. empirist. Willenspsychol. etc. 277
Grundelement „Begehren" im psychischen Kansalgetriebe keinen
andern Platz oflfen, als etwa die rein mechanistische Auffassung
der psychophysischen Prozesse überhaupt für sämtliche
psychischen Phänomene offen läfst. So wie nun jener mecha-
nistischen Auffassung eine Tendenz innewohnt, die Existenz
des Psychischen zu bestreiten, dessen Wirksamkeit sie leugnet
(eine Tendenz, die allerdings hier sofort ins Absurde fuhrt),
so erweckt auch mein Motivationsgesetz die Neigung zur
Leugnung eines Grundelementes „Begehren", nachdem dasselbe
aus der Reihe der psychischen Kräfte gestrichen worden.^)
Den Diskussionen über Sein oder Nichtsein psychischer
Grundelemente ist ihrer Natur nach stets eine sehr enge Grenze
gezogen. Über den Hauptpunkt, auf den hier alles ankommt —
dafs dem einen die innere Erfahrung mit Evidenz zu zeigen
scheint, was der andere mit gleicher Berufung bestreitet,
läfst sich nämlich nicht diskutieren. Nur die Argumente
können hier abgewogen werden, welche auf Umwegen ihrem
Ziele zustreben, oder aber auf besonders auffallige Beispiele
verweisen, an denen vielleicht die Evidenz der Anerkennung
leichter zu gewinnen ist, als anderswo. Namentlich wird die
Leugnung eines letzten psychischen Elementes auf Grund
einer versuchten Analyse der betreffenden Phänomene am
ehesten dadurch zu widerlegen sein, dafs Beispiele aufgedeckt
werden, in denen die von der Analyse behaupteten Bestand-
teile nicht, oder nicht vollständig vorhanden sind, und die wir
doch als Phänomene der betreffenden Kategorie deutlich er-
kennen.
ScHWAEz ist sich — wie schon seine einleitenden Worte
beweisen — dieser Verhältnisse vollkommen bewufst; er er-
schöpft sich daher nicht in allgemeinen Beteuerungen, dafs
meine Analyse dem Thatbestande der inneren Erfahrung nicht
gerecht werde, sondern sucht nach besonderen Fällen der
^) Die aUenthalben in der Natur beobachtete Sparsamkeit der Mittel
ist ea, aus der wir auf die Unwahrscheinlichkeit von aktuellen und doch
wirkungslosen Bewurstseinszuständen schliefsen. Dies deutet C. Stumpf
an, „EröflEnungsrede", Bericht des dritten internationalen Kongresses für
Psychologie 1896, S. 10 ff.
Yierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. XXTTT. 3. 19
278 Christian v. Ehrenfels:
charakterisierten Art. Solche glaubt er nun hauptsächlich
in dem Widerstreben gefunden zu haben. — Ich betrachte
das Widerstreben als identisch — und zwar nicht etwa nur
„gleichwertig", sondern im eigentlichsten Sinne „identisch" —
mit einem auf ein Vergehen oder Nichtsein gerichteten Streben.
Ein solches Streben nach Vergehen oder Nichtsein setzt na-
türlich die Vorstellung des Vergehens oder Nichtseins voraus,
welche wir aus dem Vorstellungs- und TJrteilsgebiete (dem
„Denken" oder theoretischen „Bewufstsein") bereits gewonnen
haben müssen, damit ein Widerstreben auch nur möglich werde.
ScHWABz glaubt hiergegen geltend machen zu können, dafs
ein auf ein Nichtsein gerichtetes Begehren etwas anderes sei,
als ein Widerstreben, dafs das Widerstreben überhaupt gar
keine Vorstellung eines Nichtseins enthalte oder doch zu
enthalten brauche, dafs es beim Kinde sich viel früher ein-
stelle, ehe diesem die abstrakte Vorstellung des Nichtseins
noch zugeschrieben werden könne, dafs die Vorstellung des
Nichtseins, statt dem Widerstreben voranzugehen, vielmehr in
diesem „eine, vielleicht ihre kräftigste Wurzel" besitze; „das
Denken borgt hier vom Wollen, das theoretische vom prak-
tischen Bewufstsein, nicht aber borgt das praktische Bewufst-
sein vom theoretischen". Ja, er glaubt so, und — wie aus
dem Zusammenhang hervorgeht — nur so die Thatsache er-
klären zu können, dafs wir auch Vergangenem widerstreben
(S. 216 ff.).
Die letzte Behauptung geht nun wohl ganz entschieden
zu weit, da man ja auch das Nichtsein vergangener Dinge
vorstellen kann; im übrigen aber enthalten diese Hinweise
manches, welches dem Vertreter meiner Auffassung Bedenken
einzuflöfsen vermöchte ; am meisten wohl der Hinweis auf das
Widerstreben beim Kinde, das die Vorstellung des Nichtseins
oder Vergehens noch nicht zu fassen vermag.
Allein dieser Einwand bringt nichts Neues, — nichts,
das ich bei der Abfassung meiner Arbeit unberücksichtigt
gelassen hätte. Er bezieht sich auch nicht lediglich auf das
Widerstreben, da ich mich ja auch für das positive Begehren
Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik d. empirist. Willenspsychol. etc. 279
keineswegs mit der Vorstellung seines Objektes schlechthin
begnüge, sondern die Vorstellung eines Entstehens oder Da-
seins verlange, welche nicht leichter zu gewinnen sein dürfte,
als diejenige des Vergehens oder Nichtseins. Ich habe unter
diesem Gesichtspunkte das Begehren (und Widerstreben) der
Tiere und Kinder ausdrücklich behandelt (S. 256 f.), und habe
meinen Darlegungen hier nichts weiter hinzuzufügen.
Die Frage, ob die Vorstellung des Nichtseins in dem
Widerstreben eine, vielleicht ihre kräftigste Wurzel besitze,
tmrde hier zu weit führen. Jedenfalls behauptet auch Schwaez
nicht, dafs die Vorstellungen von Sein und Nichtsein, von
Werden und Vergehen im Streben und Widerstreben die
einzigen Wurzeln besitzen; und so dürfte — bei der Strittig-
keit der Begriffe von Sein und Werden — diesem Argument
wohl kaum die Entscheidung des Streitfalles zu entnehmen sein.
Es bleibt hier also nur noch die Behauptung zur Dis-
kussion übrig, dafs Fälle von Widerstreben zu beobachten
Seien, bei welchen nicht Vergehen oder Nichtsein des Gegen-
standes, dem wir widerstreben, vorgestellt werde, sondern eben
nur dieser Gegenstand selbst. — Ich leugne nun nicht, dafs
es Fälle der beschriebenen Art giebt, in denen der Sprach-
gebrauch ein Widerstreben zu konstatieren pflegt; ich be-
haupte jedoch, dafs dies auf Gnmd einer jener dem Psycho-
logen so wohl bekannten Äquivokationen geschieht, welche
schon zu vielen Irrtümern geführt haben. Die mit dem Aus-
druck „Streben" (und daher auch „Widerstreben") verbundenen
Äquivokationen zählen zu den verbreitetsten und gefährlichsten.
Sie wurden in meinem Werke ausführlich behandelt (S. 226 ff.),
so dafs hier nur der Hinweis darauf nachzutragen bleibt, dafs
wir äquivok von einem Streben oder Widerstreben nicht blofs
dann sprechen, wenn ein äufseres Handeln ohne Begehren
gegeben ist, sondern oft auch in Fällen, in denen weder ein
Handehi, noch ein Begehren gegeben ist, sondern nur ein
Lust- oder Unlustgefühl mit gewissen charakteristischen Vital -
empfindungen. Wenn mir ein Gegenstand Unlust erweckt,
so kann ich, noch lange, ehe es zum eigentlichen wider-
19*
280 Christian v, Ehrenfels:
strebenden Begehren kommt, eigentümliche physische, lokali-
sierte Phänomene an mir beobachten, welche auch das eigent-
liche Widerstreben begleiten und daher leicht mit diesem zu
verwechseln sind. Es sind krampföhnliche, im Innern des
Leibes, am merklichsten in der Gegend des Zwerchfelles
lokalisierte Empfindungen, häufig vereint mit dunklen Vor-
stellungen einer Bewegung gegen den Gegenstand hin, eines
Fort- oder Abstofsens desselben. Diese rein physischen
Phänomene, welche zu dem echten psychischen Widerstreben
eine gewisse Analogie zeigen und aufserdem mit ihm in gene-
tischem Zusammenhang stehen, verlangen natürlich keinerlei
Vorstellung von Nichtsein oder Vergehen des die Unlust er-
weckenden Gegenstandes; und sie dürfte auch Schwabz mit
dem eigentlichen Widerstreben verwechselt haben. Wo dieses
selbst, das psychische Phänomen, unzweifelhaft vorliegt, dort
glaube ich auch überall die Vorstellung des Vergehens oder
Nichtseins konstatieren zu können — und ebenso beim posi-
tiven Begehren die Vorstellung des Werdens oder Seins seines
Gegenstandes.
Übrigens läfst sich die Undurchführbarkeit von Schwabz^
Auffassung des Widerstrebens auch direkt nachweisen. Er
selbst gesteht zu (S. 216), dafs es ein auf Nichtsein oder
Vergehen gerichtetes Wünschen, also auch Streben und Wollen
gebe; und dafs dieses sprachüblich als „Widerstreben" be-
zeichnet wird, dürfte er wohl schwerlich leugnen. Unter den
Akten, die wir Widerstreben nennen, wären also nach Schwarz
zwei Kategorien zu unterscheiden, nämlich positive Begehrungs-
akte, welche auf ein Nichtsein oder Vergehen, und negative
Begehrungsakte, welche schlechthin auf — oder gegen — ihren
Gegenstand gerichtet seien. Nun ist weiter klar, dafs min-
destens alles Widerstreben, in welchem wir Mittel zum Zwecke
begehren (wie etwa, wenn wir ein Medikament zu erlangen
trachten, um eine Krankheit, der wir widerstreben, zu be-
seitigen), der ersten Kategorie angehören. Denn wie sollten
wir die Mittel ausfindig machen und wünschen können, ohne
den Zweck, welchen sie bewirken sollen — das Nichtsein
Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik d. empirist. Willenspsychol. etc. 281
resp. Aufhören des betreffenden Objektes — vorzustellen und
zu wünschen? — Wäre also das Widerstreben auch anfangs
nicht auf Nichtsein, sondern schlechthin gegen ein Objekt
gerichtet, so miifste es doch, sobald es dazu gelangt, Mittel
zu seinem Zwecke zu wünschen, plötzlich in den entgegen-
gesetzten Akt des Anstrebens eines Nichtseins oder Vergehens
umschlagen; und dieses plötzliche Umschlagen in einen Akt
mit verändertem Objekt und konträrer Qualität könnte uns
unmöglich verborgen bleiben. — Dafs wir aber von alledem
nichts beobachten können, ist geradezu ein Beweis dafür, dafs
es dem Anstreben konträre Akte des Widerstrebens nicht giebt,
und dafs alles, was wir so nennen, nichts anderes ist, als
Anstreben des Nichtseins oder Vergehens.^)
ScHWABZ greift den deskriptiven Teil meiner Theorie
jedoch auch noch an anderen Punkten an. Ich habe (S. 226
bis 230) ausführlich zu zeigen gesucht, dafs alle Fälle, in
denen es den Anschein haben könnte, als gäbe es ein Wollen,
allgemein ein Begehren, welches nur auf ein Mittel zum Zweck
und nicht zu gleicher Zeit auf diesen Zweck selbst gerichtet
sei, auf Täuschung beruhen. Schwaez dagegen behauptet
mehrmals auf das entschiedenste, dafs das Wollen des Zweckes
und das Wollen des Mittels zwei verschiedene „Willens-
regungen" Seien (S. 230), von denen auch die letztere ohne
die erstere vorkommen könne (S. 226). — Er führt indessen
zur Begründung seiner Behauptung nichts an, was ich nicht
(a. a. 0.) schon berücksichtigt und m. E. widerlegt hätte;
ja, er thut meiner hierauf bezüglichen Ausführungen nicht
einmal Erwähnung, weshalb mir hier nichts weiter obliegt,
als den Leser darauf hinzuweisen.
^) Selbst die Schule Bbsntanos, der bekanntlich die Gefühle und
Begehrungen als specielle Fälle der umfassenden Grundklasse des „Liebens
und Hassens*' betrachtet, erblickt im Widerstreben niemals ein „Hassen'^,
sondern immer nur ein „Lieben" des Nichtseins oder Vergehens. — Aller-
dings scheint mir durch diese richtige Auffassung zugleich die Analogie
preisgegeben zu sein, auf Grund welcher die Zusammenfassung des Fühlens
(Lust und Unlust) und Begehrens (Anstrebens und Widerstrebens) unter
jene behauptete gemeinsame Klasse etwas Verführerisches besitzt.
282 Christian v. Ehrenfels:
In den allerschärfsten Widerspruch zu dem deskriptivea
Teil meiner Theorie tritt endlich Schwaez mit den Be-
hauptungen, dafs wir manchmal uns überhaupt gar kein Ziel
vorstellen, während wir wollen, und manchmal das, was uns
während des Wollens vorschwebt, etwas anderes sei, als das
WiUensziel (S. 211). — Dies wäre nun allerdings für meine
Theorie schlimm genug. Denn da ich einen eigenen Wille^s-
akt nicht gelten lasse und der Ansicht bin, das psychisch
Bewufste am Begehren bestehe oft nur in Vorstellungen, und
zwar in Vorstellungen dessen, was wir Begehrungsziel nennen,
so bliebe für ziellose Begehrungen nun überhaupt gar kein
Bewufstseinsinhalt mehr übrig; sie würden sich nach meiner
Theorie in Nichts auflösen; höchstens das Vorhandensein einer
äquivok als Willen bezeichneten Willens- oder Geflihlsdispo-
sition könnte zugegeben werden. — Allein mir dünkt, dieser
befremdliche Schlufs kommt der Wahrheit sehr nahe, und die
ziellosen Willensakte dürften sich allen Ernstes bei näherem
Zusehen dem empirischen Psychologen geradeso in ein Nichts
auflösen, wie meine Theorie es verlangt, — Schwabz beruft
sich bei seinen Behauptungen auf Autoritäten, und zwar be-
züglich der ersten auf diejenige Wundts, bezüglich der zweiten
auf Mbinong. Was nun den letzten betrifft, so mufs hier
wohl hervorgehoben werden, dafs er an der von Schwabz
bezeichneten Stelle („Psychologisch-ethische Untersuchungen
zur Werttheorie", S. 36) nicht von Willensakten, überhaupt
gar nicht vom Begehren, sondern von Gefühlen spricht,
welche wir unter Umständen mit Scheininhalten versehen.
Dieses Verhältnis wird von Meinung (a. a. 0. S. 36) so ge-
deutet, dafs der wirkliche und eigentliche, im Bewufstsein
vorhandene Inhalt des Gefühles unserer Aufinerksamkeit ent-
gehe, während wir falschlich dem Gefühl irgend ein Objekt
zuschrieben, auf das es thatsächlich nicht gerichtet sei. —
Ein solches Phänomen weicht aber von einer „Willensregung",
bei welcher „das, was uns vorschwebt, gerade nicht das
Willensziel" ist, doch beträchtlich ab. Keinesfalls kann
Meinong die Ansicht imputiert werden, dafs mitunter Willens-
Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik <L empirist. Willenspsychol. etc. 283
akte oder Gefülile ihre wahren Inhalte mit falschen auszu-
tauschen vermöchten; der Austausch vollzieht sich nach
Meinong immer in unserem irrenden Urteil, während die
Phänomene selbst, wie ja auch gar nicht anders denkbar,
ihre eigentKchen Inhalte behalten. Meinongs Ansicht stellt
daher nicht die geringste Annäherung zu der Annahme von
Willensakten dar, deren Ziel nicht vorgestellt würde. Auch
gegen meine Theorie verstöfst die Thatsache des Irrtums über
das eigentliche Willensziel nicht im mindesten; sie erscheint
vielmehr als ein Argument für dieselbe, da sie unter der
Voraussetzung eines Grrundelementes „Begehrungsakt" viel
schwerer erklärt werden kann, als ohne dieselbe (System der
Werttheorie, I. B., S. 252).
Auf die Willenstheorie Wundts hier näher einzugehen,
um die Frage des Willens ohne vorgestelltes Ziel zu erörtern,
würde zu weit führen ; ^) auch bleibt abzuwarten, ob Schwabz,
der ja nach seiner kritischen Studie binnen kurzem mit einer
Veröffentlichung über Willenspsychologie hervorzutreten be-
absichtigt, sich mit dieser Theorie identifizieren wird. Ich
kann mir die Behauptung, es sei ein Wille ohne vorgestelltes
Ziel denkbar, nicht anders als durch Vermittlung einer einfachen
Aquivokation zustande gekommen denken. Was man unter
„Willen" versteht, wenn man dies behauptet, ist etwas anderes,
als was man sonst mit diesem Worte bezeichnet: entweder
die psychische Seite eines Handelns, welches zu Willens-
handlungen äufsere Analogie zeigt, thatsächlich aber auf ge-
wohnheitsmäfsig erworbenen oder angeborenen Mechanismen
beruht, — oder ein gewisser Komplex von Vitalempflndungen
mit dunklen Bewegungsvorstellungen (vergl. S. 279 f dieses
Aufsatzes); — oder gar nichts psychisch Aktuelles, sondern
eine Willens-, eine Gefühls-, ja selbst nur eine Disposition
zu mechanisierten Bewegungen. Ein psychisch aktuelles
^) Ich habe Wundts hierhergehörige Lehren in der ersten Publi-
kation meiner Willenstheorie „Über Fühlen und Wollen", Sitzungsberichte
der philos. histor. Klasse der kaiserl. Akademie der Wissenschaften, Wien
1887, einer kurzen Kritik unterzogen.
284 Christian v. Ehren fels: Entgegnung auf H. Schwarz' Kritik etc.
Wollen ohne vorgestelltes Ziel ist ein Unding, nicht minder
als eine Vorstellung ohne Objekt.
Nach der hiermit beendeten Besprechung der sachlichen
Argumente sei es mir noch gestattet, auf eine persönliche
Bemerkung Schwaez' zurückzukommen. Er glaubt die Genesis
meiner Willenstheorie aus der Wertdeflnition Meinongs ver-
folgen zu können (S. 234), während umgekehrt diese durch
jene beeinflufst wurde. Ich habe meine Willenstheorie schon
1887 veröffentlicht;^) 1894 erschien die Arbeit Meinongs, und
erst 1895 modifizierte dieser in einem Supplement'^) seine
Wertdefinition zu ihrer gegenwärtigen Gestalt. — Ich erwähne
dies jedoch nur, indem ich zugleich hier — wie anderwärts —
dankend der Förderung gedenke, die meine psychologische
Bildung im allgemeinen durch Meinung erfuhr.
Zum Schlufs wiederhole ich auch Schwabz meinen Dank
für seine eingehende Kritik, durch die er mich zur näheren
Erläuterung und Ausführung mancher klärungsbedürftigen
Partien meiner Willenstheorie veranlafst hat.
^) Vergl. die letzte Anmerkung.
2) „Über Werthaltung und Wert", Archiv für system. Philosophie,
Bd. I, H. 3.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der
Zeitvorstellung.
Von Eugen. Posch, Budapest.
(Dritter Artikel.)
Inhalt*
Dauern ist nichts, als mit zeitlichen Begriffen belegtes Sein. Zwei Ent-
stehungsarten des Dauerbegriffs. Das Messen ist ein konstitutives Element dieses
Begriffs. Eigentlicher Sinn der „unwiederbringlichen Vergangenheit". Räumliche
Nebengedanken bei zeitlichen Vorstellungen.
V. Die Dauer.
Da unser Standpunkt — wonach Zeit nicht objektive
Weltingredienz oder zwischen Objektivem und Subjektivem in
der Mitte schwebende „Form" (res sui generis) sei — uns
auferlegt, bei Bezeichnung jener Weltthatsache, die den Dauer-
vorstellungen zu Grunde liegt, die nächstliegende Benennung
(dafs nämlich Gegebenes wirklich verschieden lange andauere)
zu meiden, indem durch eine solche Ausdruckswahl Zeitliches
als objektiv vorhanden hingestellt würde, so wolle man sich
zur Bezeichnung der fraglichen Weltthatsache mit dem nega-
tiven Ausdruck begnügen: „was in den Sinneshorizont des
Beschauers vereint (nämlich gleichzeitig) eingetreten ist, tritt
nicht immer vereint aus". Man mufs hier vor Augen be-
halten, dafs sich der Weltlauf bezüglich der Abberufung seiner
Darbietungen an die rein menschlich ästhetischen Ansprüche
von Symmetrie und Rhythmus nicht kehrt, insofern sich weder
ständige Gleichzeitigkeit, noch ein in regelmäfsigen Absätzen
oder Gruppen erfolgender Abzug für zusammen eingetretene
Gestaltungen behaupten läfst, und auch bezüglich des Wann?
286 Eugen Posch:
dieses Abgangs überhaupt gar keine andere Eegel anzugeben
bleibt, als diejenige: „jede Komplexion (eine Kräfteresultante)
hört auf, wenn der Weltlauf die zu ihrer Aufhebung hin-
reichenden Bedingungen (eine entsprechende Gegenkraft) zu-
stande gebracht hat".
Bei Untersuchung der Entstehungsbedingungen unseres
Begriffs von Dauer mufs, wie bei dem vorhergängigen, er-
wogen werden, dafs derselbe bei der Betrachtung des Gegen-
wärtigen anhebt, d. h. dafs die Thatsache der Auffassung
vergangener Eindrücke als dauernd durch den Umstand einer
ähnlichen Auffassung derselben, so lange sie gegenwärtig
waren, hinlänglich erklärt ist.
Waitz sieht in dieser Übertragung der DauervorsteUungen auf
Vergangenes, entstanden einfach durch Mitreproduktion des Dauerprädikats
bei Auftauchen des betreffenden rein qualitativen Erinnerungsbildes
(S. 595 — 596), die erste Phase einer Weiterausbildung der Zeitvorstellung.
Wie sehr diese Zeitkategorie an Gegenwärtiges geknüpft
sei, beweisen u. a. diverse Spracherscheinungen, wonach näm-
lich Gegenwärtigkeit der Handlung, wo auszuprägen nötig,
durch dem Zeitworte angehängte Bildungssüben, welche eigent-
lich And au er bedeuten (so -sz in den ungarischen Zeitwörtern
lesz, tesz, hisz, visz, mit Wurzel auf -v), bezeichnet wird.
Die WAiTz'sche Behauptung jedoch, dafs der Begriff „Gegenwart"
geradezu aus dem von Dauer entstanden sei, scheint mir nur als Kund-
gebung einer innigen Herausfühlung der Zusammengehörigkeit beider
Zeitkategorien von Wert zu sein.
Der erste Keim des Dauerbegriffs scheint in der Vor'
Stellung eines „trotzdem Vorhanden'* -en zu liegen, die sich
am leichtesten durch Erfahrungen von Unzulänglichkeit jener —
anfangs nur reflektorischen — Bewegungen behufs Verr
scheuchuug unangenehmer Eindrücke gewinnen läfst, welche
Bewegungen sich in bisherigen Fällen zweckdienlich erwiesen
haben. Hiermit ist gesagt — und wir wollen es hervorheben — ,
dafs 1.) zur Entstehung der Dauervorstellung das Hervortreten
eines einheitlichen, gleichbleibenden oder wenigstens -gel-
tenden Eindrucks A erforderlich ist, weü hier nebst der Er-»
Wartung des endlichen Aufhörens eine fortwährende (nur durch
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 287
Rückerini^i^rung ermöglichte) Vergleichung der vergangenen
Phasen von A und Identifikation derselben mit den gegen-
wärtigen Eindrücken (sonst könnte man ja nicht sagen: A sei
noch da!) stattfinden mufs; 2.) dafs zur Entstehung der frag-
lichen Vorstellung, speciell der unterscheidbarer Phasen, das
uns bewufste Mitwirken einer parallel ablaufenden Reihe von
anderweitigen Eindrücken nötig ist, als solche sich am ehesten
die Empfindungen jener eigenen Einmischungen (a, b, c, z. B.
Zählen oder Kraftäufserungen behufs Verjagung) darbieten,
zu welchen uns die Ungeduld hindrängt; und 3.) dafs die
Hauptvorstellung A betonter und zwar unangenehm betonter
Natur sein mufs — eine Annahme, die schon wegen der Ana-
logie mit den bisherigen Zeitbegriffen, wo Betontes sich so
wichtig erwies, und anderseits auch durch die Thatsache
nahegelegt ist, dafs die „Zeit", nämlich was man dafür hält,
besonders bei langweiligen Eindrücken fühlbar wird.
Dafs der blofse Anblick eines thatsächlich dauerhaften Eindruckes
zur Erzeugung der Dauervorstellung ungenügend ist, wird jeder Anhänger
des bereits öfter erwähnten HERBABT'schen Prinzips (s. o.) zugeben (vergl.
auch Volkmann, S. 21). Dies wurde schon von Condillac sehr klar ein-
gesehen („La Statue n'aurait Jamals connu qu'un instant, si le premier corps
odorif^rant eüt agi sur eile d'une mani^re uniforme, pendant une heure
un jour ou dayantage . . . Si eile ne distingue pas des instauts, comment
apercevra-t-elle la dur6e?" I. chap. 4, § 17). Für letzten Satz vergl. Her-
babt: „Wird inmitten einer sehr vollstimmigen Musik . . . auf einmal
nur eine Stimme hörbar, welche eine lange Note aushält . . ., so wird
dieser Ton als dauernd wahrgenommen; warum? weil auf ihn die Töne
der anderen Instrumente, welche man erwartet, . . . übertragen werden^.
(VI, S. 144.) — Ähnlich DOubino: „Dauer ist eine Häufung von Elementen,
und woher soll in dem Ununterschiedenen eine solche Häufung kommen? . . .
Leere Dauer hat nur dann einen Sinn, wenn ihr eine von Veränderungen
erfüllte Dauer als Mafs gegenübersteht" (S. 69—70).
Unsere ersten beiden Voraussetzungen für die Entstehung der
Dauervorstellung finden sich bereits bei Hume vor — statt der zweiten
wohl nur eine während der Betrachtung A's in uns unwillkürlich ab-
laufende Vorstellungsreihe (8. 139 — 140) — , deren Vorwalten Humb als
einzigen Bechtfertigungsgrund für die Anwendung zeitlicher Vorstellungen
auf „unveränderliche Objekte" (mit denen jene Vorstellungen wegen ihres
Ursprungs aus successiven Beihen nichts gemein haben dürften) hinstellt,
da zwei Anblicke eines solchen Objekts ohne Einschaltung irgend welcher
Successionsreihe nicht djstant, d. h. in zeitlichem Abstände voneinander
gedacht werden könnten. (Ib.) Die nur mittelbare Anwendbarkeit zeit-
288 Eugen Posch:
lieber Prädikate auf Beharrliches giebt auch Dühbin» zu: „Allerdings ist
die Zeit auch die Form des Beharrens, aber sie ist dies nur vermöge des
Gegensatzes, in welchem das Bleibende nur unter Begleitung von Ver-
änderungen als solches wahrnehmbar wird" (S. 69 — 70, vergl. Abistoteles,
S. 58 dies. Zeitschr.). Der hier ausgesprochenen Ansicht huldigt in obiger
Stelle offenbar auch Herbart. — Die CoNDiLLAc'sche Veranstaltung für
Erzeugung des Dauerbegriffs unterscheidet sich von der unsrigen nur darin,
dafs der französische Denker A ein Gedankenbild sein läfst, während die
parallel ablaufende Successionsreihe aus Sinneseindrücken besteht (I, chap. 4).
Jedenfalls ist es am natürlichsten, beide Faktoren Sinneseindrücke sein zu
lassen, da sich der Dauerbegriff gewifs eher am Sichtbaren und Fühlbaren,
als an blofsen Einbildungsvorstellungen festgesetzt hat, und Eindrücke
auch leichter erfafsbare Phasen abgeben, als blofse Vorstellungsbilder.
Die Keime all dieser Anschauungsweisen liegen in der LocEE'schen
Stelle: „wir nennen unser Dasein oder den Fortgang unseres Daseins oder
eines anderen Dinges nach dem Mafse der Folge der Vorstellungen in
unserer Seele die Dauer von uns oder von einem anderen Dinge, was mit
unserem Denken gleichzeitig da ist" (S. 188). — Diese Stelle mag auch
als Ausgangsgunkt für die BAUMANN'sche (II, S. 569 — ^560) Bestreitung
der HüMB'schen Anschauungsweise gedient haben, derzufolge zeitliche
Prädikate auf Beharrliches schon deshalb unmittelbar und nicht, wie Hume
will, nur indirekt anwendbar wären, weil die Zeitvorstellung selber durch
Beharrliches, ein über die Wandlungen seiner Zustände erhabenes Ich,
entstanden sei. Dieser Gedankß findet sich näher und schärfer ausgeführt
bei A. EiEHL^) wieder (hierüber w. u.).
Der WAiTz'schen Ansicht (S. 593), wonach die für Dauer nötige
Vorstellung eines Identischen mit Einschnitten (Phasen) durch
„Zusammenfassung" (nicht völlige Verschmelzung) jener Gefühlsäufserungen
entsprungen wäre, welche uns das stetig anwachsende Gefühl des Unbe-
hagens bei einer langweiligen Gegenwart abringt — dieser Ansicht, sage
ich, mufs aufser Unklarheit dieses Verschmelzungsprozesses entgegen-
gehalten werden, dafs die blofse Steigerung eines Gefühls (der Langweile),
wie sie hier angesprochen wird, zur Erzeugung neuer Vorstellungen niemals
tauglich ist. Denn entweder ist die erste Anwandlung von Überdrufs
schon geeignet, die Vorstellung eines „zu lang"-en zu erwecken, in welchem
Falle alle ferneren Grade, als höchstens den Begriff eines „noch länger"-en
bewirkend, für unseren Zweck überflüssig sind; oder jene erste Anwandlung
ist zu erwähntem Behufe nicht geeignet. Die Steigerung eines zur Ge-
winnung neuer Kenntnisse ungeeigneten Gefühles wird aber höchstens
quälen und nicht unterrichten. Bei Volkmann entsteht uns die Dauer-
vorstellung im Zustande des Erwartens, wenn sich unsere Aufmerksamkeit
nicht dem Vorstellungsbilde zuwendet — solches würde Zukunftsvor-
stellungen erzeugen — , sondern sich dem vorhandenen Sinnesinhalt zu-
kehrt („aus dem Nochnichtda der Zukunft wird das bewuTste Nochda der
^) Der philosophische Kriticismus, II. Bd., 1. Teil, Leipzig 1879,
S. 123 ff.
V
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 289
Gegenwart dadurch, dafs die Erwartung auf die Gegenwart gleichsam
reflektiert wird: die Gegenwart dauert, wenn sie die Erwartung der Zu-
kunft Lügen straft", S. 21). Zu bemerken ist, dafs bei Volkmann das
öftere Hervortreten unserer Ungeduld nicht zur eigentlichen Beschaffung,
sondern blofs zur reihenhaften Ausbreitung der Dauervorstellung dient.
Dies scheint sieh aus folgender, freilich wieder etwas zu poetisch geratener
Schilderung entnehmen zu lassen: „Jeder Versuch des [erwarteten] B, zu
steigen, stöfst auf das festgehaltene [gegenwärtige] A und führt zu einer
Hemmung . . . Jede dieser Hemmungen schlägt wie eine Welle an A an
und markiert sich an ihm, A bestätigt sich gegen jeden Angriff, setzt
sich selbst jedesmal gleichsam aufs Neue, zerlegt sich in eine Mehrheit
und dehnt sich in eine Reihe aus, denn die Erwartungen tragen die Dauer,
die sie abweist, mit sich in die Succession fort. Durch den Andrang der
Zukunft wird die Gegenwart eine Zeit und durch den gegliederten Andrang
eine gegliederte, gemessene Zeit". (Ib.) — Der HBGBL'schen ÄuXserung
(§ 258), die Dauer sei „das Allgemeine dieses Jetzts und jenes Jetzts"
(d. h. ein durch Vergleichung verschiedener Momente erhältliches Ab-
straktum), liegt die geradezu erstaunliche Meinung zu Grunde, die augen-
scheinliche Verwischung (Undeutlichkeit) der Scheidelinien am Dauerhaften
und das Verschwinden der individuellen Unterschiede vor dem Allgemeinen
(jener bei Bildung abstrakter Begriffe eintretende Vorgang) seien durch
die nämliche Ursache bedingt.
Der rein subjektive Charakter, wie solcher sich für das
Prädikat „Dauer" aus dessen Entstehungsbedingungen ergiebt —
erscheint sie doch als blofse, auf Objektives gemünzte Unge-
duld! — , wird nicht getrübt, wenn man als zweite ürsprungs-
quelle dieses Zeitprädikats noch eine andere, offenbar ebenso
naheliegende Situation zuläfst, bei der wohl jenes „unange-
nehme" A fortfällt, jedoch als Ersatz ein anderes subjektives
Element, nämlich Vergleichung, ein rein willkürlicher Ge-
dankenprozefs, vorwaltet. Ich denke nämlich, dafs der Anblick
eines Untergehenden (AO neben Verbleibendem derselben Art
(A) recht frühzeitig zu Vergleichungen anzuregen vermag,
welche, wenn sie zufälligerweise gleichzeitig Eingetretenes
betrafen, ganz gut zum Ausgangspunkt von Dauerprädikaten
für A und A' dienen können. Ist nun seit Eintritt des A
nicht nur jenes mit ihm gleichzeitig erschienene A' vergangen,
sondern auch ein das A' unmittelbar ablösendes A", und zwar
letzteres gleichzeitig mit dem nun ebenfalls verschwindenden
A, so bieten sich schon naturgemäfs zwei Phasen, eine zwei-
gliedrige Parallelreihe, für die Beurteilung der Dauer von A^
290 Eugen Posch:
welch letzteres dem Anfänger nun für ebenso „bleibens-
bestrebt" ^) gelten wird, wie A' und A" zusammen. Dafs
Kückerinnerung (an frühere Phasen des A) auch bei dieser
Entstehungsart eine Rolle spielt, liegt auf der Hand, sowie
dafs auch im früheren Falle Vergleichung vorkommt, dort
nämlich, wo das Subjekt die gegenwärtige Unzulänglichkeit
seiner sonst zweckdienlichen Kraftäufserungen einzusehen
bekam.
Vergl. ÜLWci (§ 31): Die Vorstellung der Dauer bildet sich erst
durch Unterscheidung eines unmittelbaren Nacheinander von einem durch
Zwischenglieder vermittelten, d. h. infolge der Bemerkung, dafs die eine
Erscheinung unverändert bestehen bleibt, während andere sich ändern oder
vergehen.
Wenn jedoch hieraus geschlossen wird, die Vorstellung von Dauer,
eines Andauernden, sei die notwendige Prämisse zur Möglichkeit des
Successionsbegriffes, somit „die Vorstellung der Dauer die eigentliche Zeit-
vorstellung" (A. EiBHL, a. a. 0. S. 118), so waltet hier jene auch im Texte
gerügte Verwechslung eines als dauernd Erfafsten mit einem blofs Seienden
ob. Nicht das ist nötig, dafs mir ein unveränderliches Sein als andauernd
bewufst sei — denn da ist es schon zeitlich gedacht — , um ein mit ihm
verglichenes Verschwinden mir als solches zum Bewufstsein zu bringen,
sondern nur, dafs ich an A ein Sein bemerke, während das mit ihm ver-
eint eingetretene B zu Grunde geht. Dauer hat ebenso ein rein qualita-
tives, von menschlichen Zu thaten unabhängiges Grundelement, wie Succession;
es h«ifst Sein, so wie das Grundphänomen von Succession Verschwinden,
Vernichtetwerden heifst.
Ich betone, dafs der Unterschied, den die Versuchs-
person an den Objekten seiner Vergleichung notwendigerweise
bemerken mufs — da bei völligem Fortfall eines solchen
(d. h. wenn alles gleichzeitig Eingetretene stets auch gleich-
zeitig verschwände) eine Vorstellung von Dauer ebenso wenig
entstehen könnte, wie eine des Eoten, wenn alles rot wäre — ,
dafs dieser Unterschied, sage ich, ein rein qualitatives und
nicht zeitliches Moment betrifft, insofern vorderhand nicht
verschiedene Länge oder Dauer der Darbietungen kon-
statiert wird, sondern nur ein Sein (Bleiben, bei A) und ein
Nichtbleiben (bei A' und A"). Es wird eben das unmittelbare
') Sit venia verbo! Ich bedurfte hier eines Ausdrucks zur Schil-
derung jener Vorstellung, welche bei einer noch nicht zeitgewandten
Intelligenz unseren zeitlichen Begriff des „Andauern "-s vertritt.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 291
Erträgnis all dieser Beobachtungen des kindlichen Zuschauers
noch immer keine im heutigen Sinne verstandene Dauervor-
stellung sein, sondern es werden sich vorläufig nur Prädikate,
wie „dennoch", „hartnäckig", „bleibensbestrebt" etc. ent-
wickeln, wertvolle Anknüpfungspunkte für jenen Läuterungs-
prozefs, welcher in späteren Jahren mit Herausbildung einer
rein abstrakt zeitlichen Dauervorstellung abschliefst, da die
letztere sich u. a. auch von dem sinnverwandten Begriffe
physischer Dauerhaftigkeit (Kohäsionskraft) ablösen mufs,
von welcher sie wegen Abstammung des Wortes duratio
von durus bereits Locke (S. 206) ableitete.
Die in der Sprache selbst enthaltenen Fingerzeige zur Klarlegung
jener räumlich-konkreten Vorstellungen, wie solche jeglichem Zeitbegriffe
ursprünglich anhaften, führen jedenfalls sicherer zum Ziele, als selbstge-
wahlte Pfade, wie z. B. bei Qütaü (S. 74), wo zum Nachweise des ur-
sprünglich räumlichen Charakters aller Dauervorstellung der Umstand
herangezogen wird, dafs wir bei „Dauer" stets an ein irgendwo („dans
tel milieu") Dauerndes und Geschehendes zu denken pflegen.
Die Parallelreihen, zufällig erfafste Miteindrucke des A
und von ganz ungleicher Dauer, stellen Zeitmafse dar (wohl
nur deren primitivste Ansätze), da ihre Glieder zu Eekon-
struktion eines einheitlichen Gröfseren aus diversem Kleineren
(zur Gleichstellung von A und [A'+A"+A'"+ . . . A^]) dienen,
ein Prozefs, wie solcher jeder Messung zu Grunde liegt,
für welch letztere eine Gleichheit (Identität) der Mafseinheiten
bekanntlich kein wesentliches Erfordernis, sondern nur ein
Erleichterungsmittel ist. Auch das ist gemessen, dessen
Länge ich nicht anders auszudrücken vermag, als „es ist so
lang, wie ein Meter, eine Elle und ein Fufs zusammen".
Dafs der Sinn für derlei Mefsbethätigungen sich ziemlich
ftiihzeitig entwickeln dürfte, wird zugeben, wer bedenkt, dafs
es sich hier wesentlich nur um ein Bemerken und Herausheben
jener an und für sich schon fesselnden Fälle handelt, wo
eines (A) sich „gerade so" verhält (nämlich bleibt), wie
vieles (A', A" etc.) andere. Entdeckte Gleichheiten an Ver-
schiedenem, bekanntlich auch der Grund des Wohlgefallens
am Rhythmischen und Symmetrischen, verursachen bereits
dem Kinde Freude.
292 Eugen Posch:
Noch sei bemerkt, dafs das Messen nicht als accessorischer
Prozefs neben dem Begriffe von Dauer aufzufassen ist, als
was er sich heutigen Tages nach erfolgter Ausbildung des
Dauerbegriffs und Feststellung der Mafsiaethoden darstellt
(die Dauer gilt uns heute nur als mefsbar), sondern ein
wesentlich konstitutives Element dieses Dauerbegriffs selbst
ist, da derselbe niemals ohne jene Begleit- und Mafsreihe
würde entstanden sein.
Das BewuTstsein des innigen Zusammenhanges zwischen Zeit und
Veränderung einerseits — wie solches hereits die merkwürdige Abktotblbs-
sche Stelle „(pavsQÖv oxi ovx ^arcv avsv xcvr^iJsojg xal fjistaßoXTJg XQovoct*^
(cap. 11) ausdrückt — und die Nichtbeachtung jener von Hume so klar
erblickten Vermittlungsglieder anderseits, durch welche eine Übertragung
zeitlicher Vorstellungen auf Unveränderliches möglich wird, hatte zur
Folge, dafs die Dauervorstellung aus der Eeihe der zeitlichen ausge-
schlossen, beziehungsweise die Dauer selbst für etwas der Zeit (das Dauer*
hafte dem Zeitlichen) Entgegengesetztes hingestellt wurde. Die Vertreter
dieses Gedankens (welcher bereits in dem ahnungsvollen platonischen
Ausspruche von der unzeitlichen atSioq ovala [s. o.] anklingt und von
DssCABTEs verdiente Küge fand : „wir bemerken fürwahr in der Bewegung
keine andere Dauer, als in den nicht bewegten Dingen ..." Pr. I, 57),
sind dieNeuplatoniker, wo Ungeheuerlichkeiten, wie der Aeon, jene
nicht-successive Zeitspecialität (richtiger Seinsform) für Götter und Welt-
seelen, und eine unschädlichere Ausgabe desselben, nämlich ein hoxmq oder
TtQOfTog XQ^'^^^ (Damascius bei Simpl., 184 — 185) für irdisches Beharr-
liche, als Mitteldinge zwischen Zeit und Ewigkeit zu Tage traten. (Das
„kardcf' übrigens fand bereits innerhalb der Schule — in Simplicius, [184] —
einen Bekämpfer.)
Auch Spinoza scheidet Dauer und Zeit zu scharf voneinander, wenn
er behauptet (Ep. XXIX), erstere dürfe, im Gegensatz zu letzterer, nicht
aus Momenten, ja überhaupt nicht aus Teilen bestehend gedacht werden.
(Siehe besonders: „idem . . . est durationem ex momentis componere, quam
numerum ex sola nullitatum additione". Ib. — Es läuft hier wohl auch
die unten erwähnte Verwirrung von Dauer und Sein mit unter.) Warum
femer diese landläufige Vorstellungsart der Dauer alle Erklärungsversuche,
in welcher Weise („qua ratione") einheitliche Zeitintervalle vergingen,
vereiteln sollte, und ihren Anhänger in die bekannte zenonische Verlegen-
heit (Achilles und die Schildkröte) bringen müTste, wie Spinoza meint,
ist nicht einzusehen. — Die Scheidelinie zwischen „Dauern" und „Sein",
die den Neuplatonikem noch so wenig bewufst war, indem dort als Welt-
substanz stets ein Dauerhaftes und nicht ein einfach Seiendes auftritt,
scheint auch noch bei Descabtes, Spinoza und Leibniz nicht klar genug
erfafst. Ersterer behauptet, die beiden Prozesse (sogar Substanz und
Dauer) seien eigentlich gleich, weil jede Substanz, wenn sie zu dauern
aufhört, auch zu sein aufhört" (Pr. I, 62). Sie würden „nur in dem
Denken" voneinander unterschieden. Und Leibniz (erwähnt bei Bauhann»
Ausgangspunkte zu einer Theorie der ZeitYorstellung. 293
II, S. 91): Dauer und Zeit unterscheiden sich dadurch, dafs Dauer ein
objektives Attribut der Dinge ist (sie!), Zeit hingegen nur bestimmt, das-
selbe zu messen. (Recte: „Sein" ist ein Prädikat, entsprungen aus der
rein qualitativen Thatsache eines Ergriffenseins der Sinne; „Dauer" hin-
gegen ist ein Sein, welchem Abschnitte hinzugedacht sind. Sohbllino
drückt dies folgendermafsen aus: „die abstrakte Existenz, die unbeschadet
des Begriffs als grOfser oder kleiner bestinmit werden kann, heifst Dauer"
[Aph. 231], wobei jedoch das Wie einer solchen Anwendung von Gröfsen-
begriffen auf die Existenz, sowie dessen Möglichkeit nicht näher erklärt
wird.) Dbscabtbs' Definition: Dauer sei ein Prädikat („Zustand"), ver-
mittelst dessen wir „die Dauer eines Dinges nur als den Zustand nehmei,
unter dem wir die Sache, sofern sie zu sein fortfährt, vorstellen" (Pr. I,
55): dieser Definition, denke ich, gebricht's bei „fortfährt", einem Aus-
drucke, der den objektiv zu Grunde liegenden Sachverhalt bezeichnen will,
wobei tibersehen wurde, dafs der Begriff „fortfahren" sich nur durch
Scheidungslinien und Identifikation mehrerer geschieden gedachter Teile
gewinnen läfst, folglich bereits zeitlicher Natur und dem Worte „Dauer"
sinnverwandt sei. Bei Spinoza findet sich wenigstens neben der „indefi-
nita existendi continuatio" (Eth. II, def. 5 ) der richtigere Ausdruck: „du-
ratio, hoc est existentia, quatenus . . . tamquam quaedam quantitatis
species concipitur" (ib. prop. 45) — wie es denn auch ein Verdienst des
berühmten Pantheisten ist, den Begriff Existenz von seinen im Gemein-
gebrauche entstandenen Anlagerungsstoffen gesäubert, d. h. die zeitlichen
Nebenvorstellungen, mit denen dieser Begriff im Alltagsbewufstsein schier
unentwirrbar verquickt ist, als hinzugekommene nachgewiesen zu haben
(siehe III, prop. 6, 8, IV. praef., I. def. 8).
Der HsGEL'sche Ausspruch, dafs es im Falle völliger Bewegungs-
losigkeit in der Aufsenwelt und in unserem Inneren keine Zeit, sondern
nur Dauer (recte: nur ein Sein) gäbe (§ 258), bekandet die nämliche Be-
griffsverwechselung. (DOhbinob [S. 69] kritischer Geist hingegen erkannte
ganz richtig, dafs in einer derartigen Welt „sich . . . der speciellere Zeit-
begriff in die allgemeinere Idee des Seins verwandeln mtifste . . .") Eine
ähnliche Entgegensetzung zwischen der „nicht seienden" Zeit und der „ab-
solut realen" Dauer, diesem „beharrenden und im Beharren wandelnden Sein,
welches an seinen unendlichen Wandlungen Zeit und Baum selbst ewig
schafft und ausgebiert", — dieser in letzter Analyse plato-plotinische Ge-
danke findet sich auch bei dem Anti-Eantianer I. H. Fichte (Beitr. 140
bis 150). — Bemerkenswert ist, dafs dieser so weit in die Gegenwart fort-
gesponnene Irrtum bereits bei Platos grofsem Antipoden Abistotbles ver-
mieden ist, insofern sich derselbe sehr klar über das „in der Zeit (sie!)
begriffene Ruhende" ausspricht und auch die Möglichkeit solcher Vor-
stellungsanwendung in seiner Art („weil Zeit, als blofse Zahl der Be-
wegung, selber ja gleichfalls ruhend sei", cap. 12) zu erklären unternimmt.
Aus dem Altertum bliebe noch Sextus Empibicus zu erwähnen, bei dem
sich jedoch nicht mehr, als blofse Ableugnung aller Dauer vorfindet, „da
ihre Grundbedingung, die Ruhe, als durch gegensätzliche Wirkungen
erzeugt (avvexsoS'ai öoxel vno T(jv tcsqI avro, Pyrrh., 140) selber un-
möglich, d. h. keine eigentliche Ruhe, sondern ein Leiden sei.
VierteljahrsBclirift f. wissenscliaftl. Philosophie. XXni. 3. 20
294 Eugen Posch:
Wie wenig ernst es Hebbabt mit seiner Nichtigkeitserklärung von
Raum und Zeit war (s. u.), beweist u. a. sein Unternehmen, objektive
Dauer konstruieren zu wollen (IV, § 287). Dieselbe soll durch „Multi-
plikation" einer intensiven Gröfse entstehen, falls nämlich die ferneren
Grade nicht in den ursprünglich vorhandenen hineingesetzt würden (dies
ergäbe eine hier nicht beabsichtigte Steigerung der obwaltenden Inten-
sitätsgröfse), sondern bei jeglicher Neusetzung der bereits vorhandene Grad
aufgehoben würde. (Der schlichte Haus verstand, der da meint, es könne
somit gar nichts übrig bleiben, wird belehrt : „die Aufhebungen oder Ver-
neinungen sollten blofs dazu dienen, die Setzungen gesondert zu halten,
damit sie nicht ineinander fallen". Es dürften daher „nur die Setzungen
gelten".) Streicht man hier den gelehrt klingenden Auf bausch und die
absichtlichen Verundeutlichungen, so bleibt als Kern dieses Philosophems
eine ganz harmlose Beschreibung einer (aber auch blofs einer) der Arten,
wie „dauerhaft" genannte Eindrücke zuwege gebracht werden können:
nämlich durch knappe Aneinanderreihung gleichartiger kürzerer Eindrücke,
80 daTs sich die Scheidelinien verwischen. (Ein langgedehnter Orgelton
anderseits entsteht nicht durch schnell folgendes Angeben kürzerer.) Dafs
die Objektivität jener Kunstgriffe, vermittelst welcher dauerhafte Eindrücke
(und niemals die Dauer selbst!) erzeugt werden können, für die Objekti-
vität dieser Dauer selbst gar nichts beweise, indem besagtes Prädikat
einfach durch menschliche Auffassung des Erzeugnisses entstanden sein
kann (und ist), bedarf wohl nach Bisherigem keiner weiteren Versicherung.
Die EvFFEBTH'sche ÄuTserung (S. 20), Dauer wäre eine „Zeitfolge gleicher
Thätigkeiten" desselben Subjekts, wo unter „Subjekt" das Ding an sich
verstanden wird, ist weiter nichts, als die HEBBABT^sche Lehre, verquickt
mit einer an solcher Stelle höchst unpassenden Anwendung jener KANT^schen
Geistesausgeburt.
VI. Weiterausbildung der Zeitvorstellung.
Bei Inangriffnahme der hier im Titel angedeuteten Auf-
gabe dürfen wir uns deren nur ungenügende Lösbarkeit nicht
verhehlen, insofern nämlich die Reihenfolge der Ent-
wicklungsstufen, welche der menschliche Verstand von den
bisher dargethanen ersten Keimen eines zeitlichen Denkens
bis zur heutigen Ausbildung desselben durchwandeln mufste,
erst nach Einlauf hinlänglicher entwicklungsgeschichtlicher
Beobachtungen wird festgestellt werden können. Ferner da
es bei zeitpsychologischen, sowie bei ähnlichen Untersuchungen
viel leichter ist, sich in der Phantasie auf den Standpunkt
des noch gänzlich Unkundigen, als auf den des halbwegs
Eingeübten zu versetzen, so dürfte selbst die genaue Fest-
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 295
legung und wahrheitsgetreue Schilderung besagter Zwischen-
stufen selber kaum gelingen. Man möge deshalb mit einer
Darstellung vorlieb nehmen, die sich gestehen mufs, blofs
heuristisch, skizzenhaft und mutmafsungsvoU zu sein.
Baümann (II, S. 662 ff.) unterscheidet drei Entwicklungsstufen an
der Zeitvorstellung: 1.) die Periode einer „psychologischen Zeit", entstanden
durch „Beziehung" der Vorstellungssuccession „auf die Dauer unseres Ich",
innerhalb welcher Zeitform sich bereits die Prädikate von Successivität,
Unwiederbringlichkeit, Linienähnlichkeit und Notwendigkeit ergeben sollen;
2.) die „allgemeine praktische" Zeit, welche Form durch Verwendung eines
während der Beobachtung gleichförmiger (Himmels-) Bewegungen regu-
lierten Gedankenlaufes — statt des unwillkürlichen — entstanden ist.
Auf dieser Stufe sollen die Prädikate von Unendlichkeit, unendlicher Teil-
barkeit, GleichmäTsigkeit, Ubiquität und auch der Kealitätsglaube sich
entwickelt haben. 3.) Eine astronomische Zeit (s. die Newtons u.), welche
nichts anderes ist, als eine durch physikalische Errungenschaften erzielte
Vervollkommnung der allgemeinen praktischen. — Volkmann sagt: „Jede
Zeitreihe hat ihren bestimmten Inhalt, ihre Länge und ihre Beziehung
auf das vorstellende Subjekt. Die Weiterentwicklung des Zeitvorsteilens
besteht darin, dafs die Zeitreihe sich von diesen Bestimmungen successiv
befreit. Die erste Stufe wird dadurch erreicht, dafs die volle Zeitreihe
zur leeren . . . wird". Sodann kommt „die Fortführung dieser letzteren
über alle Grenzen hinaus" (Unendlichkeitsprädikat), und schliefslich die
Stufe einer „Zeit an sich", einer für objektiv geltenden Zeit, wo „was
unser Geschöpf ist, unser Beherrscher" wurde (S. 27 — 32). — Ich glaube
mich meines Beitritts zu einer dieser beiden Aufstellungen eben deshalb
enthalten zu müssen, weil sie mir beide (und gewifs noch viele unter
sich mehr verschiedene andere, die sich beibringen liefsen) gleich wahr
scheinlich vorkommen. So unschwer sich Zusammenstellungen von beiläufig
gleich schwierigen Kenntnissen zu einheitlichen Bildungsstufen und auf-
steigende Skalen solcher Stufen selbst anfertigen lassen, so gewifs sind
dergleichen Geistesprodukte doch nur dann von Wert, wenn sie den that-
sächlichen Bildungsgang der Menschheit wiederspiegeln, wie solcher einzig
und allein durch geschichtliche Forschung ermittelt werden könnte.
X. Urteilsformen.
a) Da das Perfektum (eigentlich Intensivuin) sich als
sprachlicher Reflex (also quasi Benennung) jenes Uber-
raschungs- oder Mangelgefiihls darstellt, welches infolge Ent-
ziehung resp. Abwesenheit des Eindrucks bei Vorhandensein
seines Andenkens entstehen mufste, so läfst sich mit ziemlicher
Wahrscheinlichkeit behaupten, dafs Perfektivurteile auch für
den Sprechenden ursprünglich präsentialen Charakter hatten
(vergl. S. 63 — 64 dies. Zeitschr.), wenigstens noch ohne Hin-
20*
296 Eugen Posch:
zudenken des typischen Begriffs einer Vergangenheit, als
das entschwundene Ereignis enthaltend, verstanden wurden.
Diese Stufe dürfte nun infolge starker Hinlenkung der Auf-
merksamkeit auf jenes Erinnerungsbild, besonders bei lebhaft
betonten und jüngst vergangenen Darbietungen, bald über-
wunden worden sein und sich eine Deutungsart besagter Ur-
teile herausgebildet haben, wonach das perfektive Zeitwort
nichts anderes, als die normative Benennung des vergangenen
Eindruckes selber sei. Dem die fertige Sprache Erlernenden
gilt auch wirklich der Ausdruck „schwamm" z. B. als fest-
gesetzte Benennung eines verschwundenen Schwimmens, so
wie „schwimmt" für die eines vorhandenen, und es gewinnt
selbst für den Psychologen leicht den Anschein, als sei die
Präsentialform eine für die empfundene und die perfektivische
eine für die blofs gedachte Handlung ersonnene Bezeichnung —
eine Meinung, die sich angesichts der Unmöglichkeit, ein blofses
Andenken zu benamsen, von selbst widerlegt. Die starre
Anheftung der Aufmerksamkeit an den rein qualitativen Inhalt
des (und besonders des wertvollen) Andenkens dürfte dann
sehr bald, neben der festwurzelnden Überzeugung vom Fort-
bestehen dieses Vergangenen, gewisse Grübeleien über die
Art und Weise eines solchen eigentümlichen Seins und als
deren Ergebnis die naturwüchsige Erklärung veranlafst haben:
„was besteht und unsichtbar ist, hat sich nur verborgen" —
eine Idee, der sichtlich die Überzeugung zu Grunde liegt,
alles sinnlich Eindrucksfähige sei räumlicher Natur, und ein
Raum als Aufiiahmsstelle für das Entschwundene auch hinter
unserer Sinnesfläche vorhanden.
Herbabt (VI, S. 143) behauptet, „die Negation in dem Begriffe des
Aufhörens" könne, so lange die Zeitvorstellung blofse Anschauung bleibt
und noch nicht zum Begriffe gediehen ist, nicht zum BewuXstsein gelangen,
darum, weil sich blofse Negationen, wie das Nichtsein, niemals anschauen,
sondern nur denken liefsen. So wahrscheinlich die hierin ausgedrückte
Hypothese von einem stets für naivere Stufen des Zeitvorstellens charak-
teristischen Eealitätsglauben in Bezug auf das Vergangene auch sein mag
und so gut diese Ansicht zu unserer obigen Darstellung paTst, so können
wir doch anderseits in dem Umstände, dafs das Zeitvorstellen vor der be-
grifflichen eine anschauliche Stufe durchzumachen hat, noch gar keinen
Bechtstitel für die HERBAHi'sche Aufstellung erblicken, indem nämlich
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 297
auch auf jener primitiven Stufe doch niemals ein wirkliches Zeit anschauen
! stattfindet und das Wort „Anschauung" hier ehen nur eine ziemlich
schlecht gewählte Bezeichnung für eine der exakteren yorhergängige
Bildungsstufe ist. Nur wenn je wirkliches Zeitanschauen stattfände,
könnte man sagen, dafs alles Nichtanschauliche an ihr so lange unhewufst
I bleiben müsse, als dieser Zustand anhält.
I Dafs die Folgerungsweise „das Seiende sei stets im Baume" auch
I bei Gegenwartsurteilen Anlafs zur Bethätigung findet, und hier um so
mehr, als prädikatives Geschehen, selbst wenn abstrakter Natur, dennoch
die Vorstellung eines dasselbe umfassenden realen Baumteiles mit sich
führt (desjenigen nämlich, mit welchem es durch sein Subjekt oder sonst
irgendwie verknüpft ist'): all dies ist eine richtige Beobachtung Guyaus
(S. 39 — 40, 70 — 75), aus welcher sich ihm ergab, dafs der Vergangenheits-
ramn nichts als ein hinter uns befindlich gedachter Gegenwartsraum
(der reale) sei. Das Vergehende würde also quasi seinen ihm schon in
der Gegenwart anhaftenden Baum in die Vergangenheit mit sich fortnehmen.
(„Le temps pass6 est un fragment de l'espace transportö en nous", S. 39.)
Das Prädikat von ünwiederbringlichkeit, augenfällig aus
diesem Glauben an eine räumlich beschaffene Vergangenheit
hervorgegangen, bringt für den Subjektivisten nichts anderes,
als den Umstand zum Ausdruck und zwar in naiv volkstüm-
licher Fassung, dafs Erinnerungen unverlöschbar sind. Denn
dies ist der einzige Grund, warum ein dem A in jeder Hin-
sicht ähnliches zweites Ereignis (AO als zweites gelten mufs ;
m. a. W., dafs sich nichts Gethane ungeschehen machen läfst.
Wem nämlich die Vergangenheit ein hinter unserer
Sinnesfläche befindlicher geheimnisvoller Raum und das Ver-
gangene ein Seiendes ist, der thut ganz recht, wenn er den
Umstand, welcher der Unwiederbringlichkeits-Hypothese zum
Ausgangspunkt diente (dafs nämUch bei noch so peinHch ge-
nauer Wiedergabe [= A'] einer vergangenen Handlung [= A]
sich die letztgenannte nicht ungeschehen machen läfst), in der
Weise schildert: „was einmal in den Vergangenheitsraum
hineingeraten ist, läfst sich nicht mehr hervorholen"; denn
^) Selbst aus lauter Abstraktis aufgebauten Sätzen (z. B. „diese
Schlulsfolgerung ist unrichtig") gesellt sich die Vorstellung eines Wo
hinzu: desjenigen Baumes nämlich, welcher mir Gelegenheit zu dem be-
treffenden Satze geboten hat und folglich als „die konstatierte Thatsache
enthaltend" kann angesehen werden. Es ist dies für unser Beispiel
derjenige Baum, wo (=s in oder an welchem) ich jene „unrichtige Schlufs-
folgerung" las oder hörte. Dieselbe ist mir dort, wo ich sie bemerkte.
298 Eugen Posch:
wenn ihm eine derartige Entleerung dieses Raumes gelänge,
wäre sein Bestreben, A' als erste und einzige Handlung an-
erkannt zu sehen, erreicht. Ist hingegen Vergangenheit
nichts als ein Gedankenprodukt, ein Abstraktum, und das
Vergangene blofs ein durch unser Erinnerungsvermögen er-
zieltes, gänzlich wesenloses Gedankenbild, so mufs für den
soeben erwähnten „Umstand" jene andere Erklärungsart her-
beigezogen werden: „Erinnerungen sind nicht verlöschbar";
denn nur, wenn sie es wären, d. h. wenn niemandem in der
Welt eine Erinnerung an A bliebe (ähnlich Guyau, S. 119),
auch sich der Mangel einer solchen (etwa angesichts gewisser,
in der Gegenwart nachweisbarer Konsequenzen und Anzeichen
eines gewesenen A) nicht als blofser Zufall resp. Verhinderung
darstellte, würde und miifste A' als erste Handlung gelten
(„les deux actes . . . se fondront dans le meme tout" sagt
GUTAU).
Zu bemerken, dafs dieses volkstümliche Zeitphilosophem
auch deshalb besondere Beachtung verdient, weil eine hin-
länglich grelle Herausschattierung der eben in ihm so reich-
lich enthaltenen Überreste einer lebhaft bildlichen An-
schauungsweise uns den hauptsächlichsten Behelf liefert für
Festlegung einer Zwischenstufe des Zeitvorsteilens, welche
zwischen der keimhaften ersten und der weiter unten zu
schildernden heutigen in der Mitte lag.
Mit der Ausbildung des erinnerungsweise Festgehaltenen
zu dem eines Vergangenen geht dann die sprachliche Los-
lösung der Perfektivform vom Intensivum Hand in Hand,
welcher Vorgang, besonders wo er bis zu Festsetzung unter-
schiedlicher Wortgestalten für beide Verbalformen vorge-
schritten ist, den Ursprung des Perfektausdrucks gänzlich
vergessen macht. Dem Sprechenden bedeutet das Urteil Typus
„A fuit B" nun nicht mehr: „zu A gehört ein Prädikat B,
ähnlich denen von intensiver Art", sondern „zu A gehört ein
Prädikat B und zwar ein verborgen, im Hintergrunde exi-
stierendes". Auch in den Umschreibungen mit haben (im
Germanischen und Sanskrit) mufs nun letzteres Verbum seine
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 299
ursprüngliche Bedeutung einbüfsen, zum blofsen Hilfszeitwort
herabsinken und sich der metaphorische Charakter solcher
Perfektsausdrücke verlöschen.
Der Bopp-PoTT'schen Ansicht (§ 515, vergl. oben S. 63
bis 64) — wonach das Intensivum schon ursprünglich als
Vertreter eines gesteigerten Seins gegolten habe und zum
Perfektum nur infolge Ähnlichkeit des Vergangenen mit der-
artigem Sein geworden wäre — möge an dieser Stelle ent-
gegengehalten werden, dafs der Begriif eines gesteigerten
Seins für „ursprünglich" jedenfalls zu kunstgerecht erscheint,
und es viel natürlicher ist, den thatsächlichen Unterschied
zwischen vergangener und gegenwärtiger Handlung (das
Mangelgefühl) als ersten Vorwurf bei Benennung des Ver-
gangenen anzunehmen, um so mehr, als jenes metaphysisch
geartete Seinsprädikat nur durch Weiterverfolgung des eben
durch das Mangelgeflihl angeregten, d. h. in die Richtung
abstrakter Gedankenbildungen hingelenkten Denkens zustande
kommen konnte.
Die geschilderte Fortschrittsstufe ist noch nicht die letzte.
Der Gebildete, der sich heute, eines Vergangenheitsurteils be-
dient, denkt gewifs keine Wohnräume für das „vergangen"
erklärte Ereignis hinzu und macht sich überhaupt keine Skrupel
über dessen Wosein, sondern will seinen Ausspruch einfach
in dem Sinne aufgefafst wissen, das Behauptete gehöre in den
Bereich der Wahrheit, sei Mitglied des Weltlaufs und nicht
blofse Phantasie. Man bedenke, was betont sein will, wenn
es heifst: „Es war soeben mein Freund N. hier". —
b) Betreffs der Zukunftsurteile mufs bemerkt werden,
dafs bei ihnen jene Ursache eines Eaumhinzudenkens, welche
bei den Urteilen über Vergangenes vorlag (nämlich das Be-
streben nach Erklärung des betreffenden objektiven Hergangs,
= Verschwinden), nicht besteht, da Zukunftsurteilen kein ob-
jektives Geschehen zu Grunde liegt, sondern sie blofse Mög-
lichkeiten ausdrücken. Den individuellen Neigungen bleibt
also hier betreffs der Hinzudichtungen freier Spielraum, und
sie dürften nur durch den Umstand einige Zügelung erfahren
300 Eugen Posch:
und zur Annahme des reellen, statt eineis eingebildeten Aus-
gangsraumes für das Zukünftige hingelenkt werden, daüs letz-
teres thatsächlich von gewissen reellen Raumteilen ausgeht,
sich irgendwie und -wo in solchen vorbereitet oder mit ihnen
zusammenhängt; weshalb ein Hinzudenken dieser Räumlich-
keiten statt eines geheimnisvollen Aufbewahrungsortes,
„Schofses" der Zukunft, empfehlenswerter erscheint. Jeden-
falls bleibt die schon oben erwähnte Regel auch hier bestehen,
dafs die Ausmalung des blofs Vorgestellten als eines Räum-
lichen und Körperlichen mit lebhafter, detaillierter Yergegen-
wärtigung desselben Hand in Hand geht, »und da dies bei
Erinnerüchem ganz natürUch, bei Erwartetem jedoch nur in
aufi-egungsvoUen Seelenlagen der Fall ist, so sieht man, wie
wenig Anlafs übrig bleibt, Raumvorstellungen an zukünftige
Ereignisse zu knüpfen.
Die Verblassung der Hilfszeitwörter, die so weit vor-
schritt, dafs in Fällen, wo dieselben in voller ursprünglicher
Bedeutung genommen werden sollen, andere Redewendungen
nötig wurden,^) diese Verblassung, sage ich, gilt wie oben
als Anzeichen vorgeschrittener Entwicklung der betreffenden
Urteilsform und deren zu Grunde liegender Apperceptions-
prozesse.
*) Z. B. je parlerai bedeutet eigentlich „ich habe zu («soll)
sprechen", heute jedoch so ausschliefslich „ich werde sprechen", dafs,
wenn ersterer Sinn beabsichtigt wird, es heifsen mufs: j'ai ä parier.
c) Das Gegenwartsurteil, bekanntlich das älteste von
allen, ist heute nach erfolgter Ausbildung der andern beiden
Urteilsformen auch nicht mehr jener unmittelbare Sprachreflex
interessanter Darbietungen, der es war, sondern Sache der
Auswahl (wohl einer längst eingeübten), da nunmehr die
Möglichkeit einer irrtümlichen Anwendung zweier anderer
Urteile vorliegt, wenn auch nicht die Wahrscheinlichkeit
einer solchen Verwechslung (wegen errungener Sprachgewandt-
heit und des grofsen Unterschieds zwischen Empfundenem
und Vorgestelltem).
Der Unterschied zwischen der Geftihlsbetonung des blofsen Vor-
stellens und des wirklichen Empfindens scheint mir zu deutlich, als dafs
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 301
ich mit Waitz (S. 590) die Verwertung dieses Kriteriums bei Auswahl
eines der drei Zeitprädikate für den Lernenden zu schwierig halten sollte
und zugäbe, der Gegenwartsbegriff bedürfe zu seiner Festsetzung der
Dauervorstellung.
Charakteristisch in ihrer Unrichtigkeit ist die laienhafte
Antwort auf die wohl als komisch empfundene Frage; „warum
man Gegenwärtiges nicht vergangen nennt?" nämlich: „ich
sehe ja, dafs es ist und nicht war" — ein Umstand, der
sich doch gewifs nicht sehen läfst!
Bei aller „Auswahl" bleibt jedoch das zeitliche Gepräge
des Gegenwartsurteils auch heute noch ein geringes, eben
weü dieses Urteil naturgemäfs bei interessanten Erscheinungen
Platz findet, aUwo das Hineinversenken in den qualitativen
Teil des Dargebotenen die Mitvorstellung eines Jetzt oder
gar der Dauer nicht recht aufkommen läfst.
Mit dem Umstände, dafs ein geistiges Vertieftsein dem Auftauchen
zeitlicher Vorstellungen ungünstig ist, hängt wohl auch jene yon Locke
(S. 189) bemerkte und für seine Theorie ausgebeutete Thatsache zusammen,
dafs in Vertiefung, d. h. mit Festhalten einer Vorstellung verbrachte
Zeitabschnitte uns gemeiniglich kürzer vorkommen, als sie sind. Das-
selbe findet sich auch bei Herbart (VI, S. 14ö — 146), Eyfferth (S. 81)
u. a. erwähnt und je nach ihrer Zeittheorie verschiedenartig erklärt.
Waitz' Beanspruchung des Langweilegefühls für die Erzeugung von Zeit-
vorstellungen läfst einen ähnlichen Gedanken erkennen.
Vergangenes fesselt im allgemeinen weniger, ist also der
Annahme zeitlicher Prädikate günstiger, als die Gegenwart.
Dafs übrigens auch reproduzierte Vorstellungsreihen ihren zeitlichen
Charakter, wenigstens den Anschein ihrer Successivität einzubüfsen ver-
mögen, belegte Volkmann mit dem Beispiele der „römischen Könige^
(S. 16), bei deren memorierter Keihenfolge die einzelnen Glieder nicht durch
die entsprechenden Zeitintervalle gesondert vorgestellt werden. (Dies hat
wohl seinen Grund an den mangelhaften Schulbüchern, die dem Schüler
ihre eigene Skizzenhaftigkeit, d. h. dafs es in den geschilderten Zeiträumen
noch viel mehr Ereignisse gab, nicht gehörig zum Bewufstsein bringen.)
Spinoza erklärt sich diesen Umstand ganz richtig aus unserer Unfähigkeit,
Intervallengröfsen über ein gewisses Mafs hinaus zu erfassen. („ — tem-
poris distantiam non nisi usque ad certum quendam limitem possumus
diatincte imaginari : hoc est . . . objecta, quorum existendi tempus longiore
a praesenti intervallo abesse imaginamur, quam quod distincte imaginari
solemus, omnia aeque longo a praesenti dlstare imaginamur et ad unum
quasi temporis momentum referimus." — Eth. IV, def. 6.)
Die Ursache der gewifs schon mehrerseits bemerkten
Thatsache, dafs man weniger geneigt ist, Gegenwartsnrteilen
302 Eugen Posch:
das Wort und die Vorstellung „Jetzt" miteinzuverflechten,
als Vergangenheitsurteile mit „einst", „damals" etc. zu be-
gleiten, mag unter anderem auch in dem liegen, dafs die
punkthafte Gegenwart im Verß:leiclie zur linienähnliclien Ver-
gangenheit eine nähere Bezeichnung des Wann der behaup-
teten Handlung überflüssig erscheinen läXst. Die Ansicht,
man begleite alle seine Vorstellungen mit der der Zeit, ist
mehrerseits mit Recht bestritten worden, und beruht auf einer
Verwechslung mit dem Umstände, dafs alle Vorstellungen in
der Zeit sind, wenigstens als solche gelten müssen. Nur die
Fähigkeit, Zeit überall hinzuzudenken, kann dem Gebildeten
nicht abgestritten werden, läfst ihn jedoch in Fällen der Auf-
regung und Vertiefung oft genug im Stich.
Auf den FortfaU aUes ZeitbewuTstseins im Schlafe und wenn man
„keine Acht hat auf die seine Seele durchziehenden Vorstellungen" (Locke,
S. Ib9) hat bereits Aristoteles (IV, cap. 11) hingewiesen. Dafs gewisse
Dinge nicht zeitlich vorgestellt werden, findet sich bei ihm in der
Fassung, dieselben „seien nicht in der Zeit" (cap. 12). Solche wären
diejenigen, welchen „weder Bewegung noch Ruhe zukommt" (man bedenke,
dafs bei ihm XQ(>^<>?i ^^^ xivr^osufg ti nad-oq rj h'^ig aQi^fioq ys uv (cap. 14)
nur auf Bewegbares, d. h. auf alles Eäumliche geht), also erstens gewisse
abstrakte Prinzipien, sogen, ewige Wahrheiten, wie solche als „sub specie
aeternitatis" (SimpL, 184: „im Aeon befindlich") aufzufassend, auch
Spinoza (Eth. II, prop. 44) unter das Zeitlose rechnete, Damasciüs hin-
gegen, als nayxQovia [=«* ewig -«s durch alle Zeiten hindurch bestehend],
folglich noXvxQovitläxaxa (in der allermeisten Zeit seiend), jedenfalls für
eyxQova (SimpL, ib.) anerkannt wissen wollte. Zweitens sei unzeitlich
laut Aristoteles dasjenige, „dessen Gegenteil immer ist" (cap. 12), näm-
lich das Absurde, „z. B. eine Quadratdiagonale (« V^)» die mit der
Seite (= 1) dieses Quadrats commensurabel wäre". Die Begründung des
Stagiriten („Ewiges wie Absurdes seien deshalb aufser der Zeit, weil selbe
die ersteren nicht zu umfassen vermöge") klingt doch wenigstens ernst-
hafter, so schwächlich sie ist, als die Phantasmagorien Heoels, wonach
die Aufserzeitlichkeit des „frei für sich existierenden abstrakten Begriffs
Ich «s Ich" von seiner „absoluten Negativität und Freiheit", d. h. von seiner
Anpassung an die ebenfalls „negative" Natur aller Zeit herrühren soll,
welch letztere dem Begriffe deshalb nichts anhaben (nicht seine „Macht"
werden, ihn nicht vergehen lassen) könne (§ 258). — Taines Kollektiv-
bezeichnung für alles unzeitlich Gedachte: nämlich „Produkte unserer
Phantasie" (S. 57) begreift auch die von Aristoteles erwähnten Gebiete
in sich (jedes wissenschaftliche Grundprinzip ist ein — rechtfertigungs-
fähiges — Phantasieprodukt) und ist obendrein erschöpfender. — Eine
gegenteilige Ansicht scheint in J. H. Fichte ihren Vertreter gefunden zu
haben, indem er im Anschlufs an Kants unaufhebbare Zeit (s. w. u.) be-
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 303
hauptete, „ein raumzeitliches und zugleich bewufstes Wesen könne gar
nicht umhin, auch das Bild seiner Baumzeitlichkeit stetig vor sich zu
haben ; diese Bilder seien unserem Bewulstsein unauflöslich und unwider-
stehlich angeheftet" (Psych., 152) — eine Äufserung, die gleichzeitig
gegen die zeitgenetischen Theorien gerichtet sein will.
2. Der Begriff des Nacheinander.
Nacheinander erlangte Eindrücke speichern sich in dem
imaginären Vergangenheitsranme nicht einfach auf, sondern
werden in ihm geordnet als Nacheinander vorgestellt.
Behufs Erklärung der Entstehungsart dieser Vorstellung
mufs man von der einfachsten Sachlage ausgehen, bezw. die
möglichst leichteste ürteilsform auswählen, in die das erwähnte
Zeitprädikat eingeht. Als solche bietet sich der Ausspruch
dar: „A war vor B", oder: „B ist nach A", wo B als gegen-
wärtig gelten möge, — ein Umstand, der psychologisch aus-
gedrückt lautet: „der Zuschauer empßlngt die Empfindung B
und erinnert sich hierbei an eine vergangene Empfindung A".
Es ist dies, wie ersichtlich, genau die nämliche Situation,
aus welcher auf früherem Bildungsgrade das einfache Ver-
gangenheitsurteil „es war ein A" entsprungen ist, und welche
nun von der höher entwickelten Versuchsperson einem anderen
Menschen mitgeteilt werden soll. Dafs unser Gewährsmann,
eine Person von jedenfalls noch sehr primitivem Bildungsgrad,
sich hierbei der einzig exakten Darstellungsweise für die mit-
zuteilende Sachlage, nämlich der psychologischen Beschreibung
(„stelle Dir vor, ich besitze A nur als Andenken, B hingegen
als Empfindung"), nicht bedient, und anderseits, dafs er die
rein räumliche Vorstellung eines vor und nach (=nahe)^)
seiner Erzählung de facto einverflicht, kann niemanden be-
fremden ; ersteres, weil unserem Versuchsmedium eine psycho-
logische Betrachtungsart doch gewifs noch ferne liegt, und
auch das zweite nicht, weil ein Hang zu räumlicher Auffassung
des Vergangenen — soviel wenigstens — bei ihm schon früher
beansprucht wurde.
^) Dafs das vor und nach ursprünglich räumliche Prädikate sind,
liest man bereits bei Aristoteles (to öh örj tiqoxsqov xal vaxsQov iv xotico
nQ:öxbv iaxiv, IV, cap. 11), und dafs sie aufser der räumlichen und zeit-
304 Engten Posch:
liehen nieht noeh eine dritte Bedeutung („connexum tempori") haben, be-
tonte Plotin („aut enim prius posteriusque secundum locum quis accipit aut
certe non locale, . . . sed temporale accipiendum*', cap. 8), welch' letzterer
anderseits das „prius posteriusque habere" für etwas Höheres zu halten
scheint, als das ,,in tempore yersari", indem er ersteres dem „motus
intelligibilis'* zuerkennt, letzteres hingegen abstreitet (cap. 12).
Das Vorkommen des gegenwärtigen B im Ausspruche
„A war vor B" und Nichtvorkommen desselben in dem ein-
fachen Vergangenheitsurteil „A war" kann zur Erläuterung
jenes vor dienen und widerlegt gleichzeitig die nahe liegende
Deutungsart, dieses Umstandswort sei dort, oder in elliptischen
Ausdrücken, wie vordem, vormals, vorher, im Sinne eines
vor mir, vor meinen Augen zu verstehen, als bedeute
beispielsweise der Satz „vorher war A" etwa „vor Augen
hatte ich A" — ein Sinn, der den zu schildernden Sachverhalt
immerhin recht gut wiedergeben würde. Auch werden dann
leicht eventuelle Bedenklichkeiten behoben, wie das Ver-
gangene (A), sonst nachweislich „hinter mir seiend" vorge-
stellt, nun auf einmal „vorne befindlich" (= vor) gedacht
werden könne. Die Worte „war vor B" beweisen nämlich
ganz deutlich, dafs die Ortsbestimmung des A, um die sich's
im besprochenen Ausdrucke handelt, von dem Punkte B, dem
Gegenwartsinhalt, ausgehe, welcher bei obigem „vorher" nur
weggelassen ist, und die Perfektivform „war" (nicht „ist")
zeigt speciell, dafs nicht der gegenwärtige Aufenthaltsort dieser
Erinnerungsvorstellung A, sondern der Ort der ent-
sprechenden Empfindung A angegeben werden wollte. Aus
all dem läfst sich entnehmen, dafs den eingangs fixierten
beiden Aussprüchen die phantastische Vorstellung einer Lauf-
bahn zu Grunde liegt, auf welcher die Eindrücke, quasi be-
wegliche Körper, räumlich hintereinander geordnet an unsere
Sinnesfläche herangefahren kämen, um in den hinter derselben
angenommenen Vergangenheitsraum zu gelangen. Alle ver-
tünchten Nebengedanken recht grell herausschattiert, ^ird
speciell das erste Urteil („A war vor B") lauten: „A befindet
sich jetzt an der Stelle, die sich für selbes natürlicherweise
ergiebt, wenn ihr bedenkt, dafs es auf der Einlaufsbahn mit
Ausgangspunkte zu einer Theorie der ZeitToretellung. 305
einem Vorspninge vor dem B dahertrieb". Da es vor B war,
so ist es jetzt bereits am Zielpunkte, im Hinterraum. — Es
ist dies eine Leseart, die erstlich dem Umstände Rechnung
tragen will, dafs jenes vor (ein rein räumliches Verhältnis-
wort) nur durch metaphorische Deutung zu zeitlichem Sinne
gelangt sei, und anderseits den Zweck des fraglichen Aus-
spruchs vor Augen behält, bestehend darin, den rein psychischen
Sachverhalt gleichzeitig erfolgter Apperception von Empfindung
und Erinnerungsbild mitzuteilen.
Nun liegt wohl klar am Tage, dafs die hierzu erwählte
Ausdrucksweise, ebenso wie die andere: „B befinde sich nahe
bei (= nach) A" ein wenn auch scharfsinniger, doch gänzlich
niifslungener Nachbildungsversuch des obwaltenden Sachver-
haltes ist. Der Sprecher mag räumliche Ordnungen drehen
und wenden, wie er will, sie werden sich doch niemals zu
zeitlichen Verhältnissen umwandeln, und niemals wird sich
durch Schilderung äufserer Verhältnisse ein seelischer Zustand
wiedergeben lassen, dessen Bild sich im gegenwärtigen Falle
bei dem Angesprochenen ja auch nur dadurch wiedererzeugt,
dafs er die Thatsache seines Zusehens bei einem solchen
I Wettlaufe mit hinzudenkt.
Tainbs Erklärungsweise (S. 53, 233) des „rejet en arriere" mit ilirem
stark physikalischen Zuschnitt, wonach die fragliche „r^pulsion*' (ein „total
de r^pulsions'^, also quasi Eräfteresultante) aus dem Gegensatze („con
tradiction") zwischen Sinneseindruck und Erinnerungsbild hervorgegangen
wäre — einem Gegensatze, der am Berührungspunkt des Vergangenen
mit der Gegenwart am geringsten und an den anderen beiden Endpunkten
am gröfsten sei — diese nicht einmal gehörig durchgeführte Darstellung,
bei welcher wohl nur die Richtungswahl für die Verlegung des Erinnerungs-
bildes (wann „vor" und wann „nach" gesagt wird) das Haupterklänmgs-
ziel gebildet hat, verrät deutlich, dafs der Verfasser die zeitliche Bedeutung
der Worte vor und nach nicht als eine blofse metaphorische Verwendungs-
weise dieser Worte ansah. Ähnliches, nämlich die vergangenen Eindrücke
wirklich irgendwo, in gewissen Lagen zueinander befindlich vorgestellt
zu haben, läfst sich auch aus Spencers Definition („eine bestimmte Zeit ist
nichts anderes, als eine Lagebeziehung zwischen zwei bestimmten Zuständen
in der Beihe der Bewufstseinszustände", femer : „Zeit im allgemeinen . . .
ist das Abstraktum aus allen Beziehungen der Lage zwischen aufeinander
folgenden Bewufstseinszuständen", § 337) entnehmen, und liegt klar am
Tage bei seinem Landsmann Locke, der „den Abstand (sie!) zwischen . . .
der Erscheinung zweier Vorstellungen in der Seele „Dauer" nennt (S. 188).
306 Eugen Posch:
Wir wollen nun auch B entschwunden sein lassen, d. h.
an die Frage herantreten, aufweiche Weise der Mensch zwei
vergangene Eindrücke in die Ordnung eines Nacheinander
einzustellen erlernt — eine Errungenschaft, deren selbstver-
ständlichste Vorbedingung sein wird: fähig zu sein, das Ver-
gangene als ein vor, vor dem, d. h. vermittelst des oben-
erwähnten Bahn-Phantasmas vorzustellen. Ein naheliegender
(u. a. von Eyffebth, S. 14, acceptierter) Lösungsvorschlag
wäre folgender: Dafs A vor dem B war, weifs ich dadurch,
dafs ich mich nicht nur an die zwei Eindrücke selbst, sondern
auch an den Nebenumstand erinnere, B in dem Seelenzustande
eines Kückerinnems an A empfangen zu haben. M. a. W.:
Man erlernt zwei nacheinander erhaltene vergangene Eindrücke
als solche vorzustellen, indem man sich der Art und Weise
ihrer Erfassung durch uns selbst erinnert, und nennt dann
immer denjenigen Eindruck den späteren, bei dessen Ankunft
man den anderen nur als Erinnerungsbild weifs gehabt zu
haben. — Hierauf sei erwidert: Das Erinnern an stattgehabtes
Erinnern, wie es hier beansprucht wird, ist ein viel zu
schwieriger Gedankenprozefs für das junge Kind, welches doch
auch schon fähig ist, die Keihenfolge zweier Eindrücke richtig
wiederzugeben. Anderseits freilich ist dieser Gedankenprozefs
bedeutend erleichtert, wenn das Zurückdenken an A in einem
Vergangenheitsurteil („A war vor B") bei Eintritt und in
Gegenwart des B ausgesprochen wurde, da hiermit der
nachherigen Rückerinnerung statt eines ungreifbaren Seelen-
zustandes ein reeller Gehörseindruck als Gegenstand darge-
boten wäre. Die gesuchte Einordnung der vergangenen Ein-
drücke A und B entstünde nun sozusagen von selber, da man
nur vorauszusetzen braucht, die Versuchsperson behalte ihr
Urteil „A war vor diesem B" noch aufrecht nach Verschwinden
des B, was nur natürlich ist, da dieses Verschwinden der
Wahrheit jenes Urteils keinen Abbruch thun kann.
Eine zweite Erklärungsart lautet: Die Klarheitsgrade
unserer Erinnerungsbilder richten sich nach deren Alter, d. h.
ergeben eine Reihe, welche mit dem geringsten Grade, dem
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 307
des Mhest erworbenen, also zeitlich ältesten Erinnerungsbildes
anhebt und dem höchsten Ausmafse von Klarheit — der
Jüngstvergangenheit — endigt. Man braucht also blof s die
betreffenden Klarheitsgrade miteinander zu vergleichen, wenn
man um die Reihenfolge zweier vergangener Vorstellungen,
M und N, befragt wird. — Dieser Ansicht (aus HEBBAET'schen
Angaben [VI, S. 124] zusammengestellt) ^) läfst sich vor allem
die Bemerkung Spinozas (s. o.) entgegenhalten, dafs über einen
gewissen Punkt hinaus alle Erinnerungsbilder, die unserer
frühesten Kindheit und vollends das nicht Erlebte, z. B. die
römischen Könige (s. o.), gleich dunkel erscheinen; die an-
gebliche Gradabstufung sich somit nur auf ein gewisses, be-
züglich seiner Ausdehnung nicht näher bestimmbares, jeden-
falls aber neueres Vorstellungsgebiet beschränkt. Sodann
ist nicht zu übersehen, dafs die Klarheitsunterschiede unserer
Vorstellungen keineswegs blofs durch deren Alter, sondern
auch durch die Auflnerksamkeit bedingt ist, mit der sie seiner-
zeit (als Empfindungsdata) erfafst wurden, — so zwar, dafs
ihre ursprüngliche Klarheitsabstufung durch diesen zweiten
Faktor ins gerade Gegenteil kann verkehrt werden. Es müfste
deshalb die verlangte Einstellung in das zeitliche Nacheinander
stets falsch ausfallen, sobald sichs um die einer uninteressanten
neueren Vorstellung (B) nebst einer interessanten älteren (A)
handelt, — eine Verirrung, die als stabil doch nirgends nach-
gewiesen ist. Hierzu kommt noch, dafs durch die erwähnte
„Vergleichung" (ein wegen qualitativer Verschiedenartigkeit
der betreffenden Vorstellungen A und B an und für sich schon
sehr prekäres Unternehmen) das ursprüngliche Klarheitsver-
hältnis der fraglichen Erinnerungsbilder erheblich gestört würde,
da während dieses Denkaktes stets die jeweilig im Blickpunkte
des Bewufstseins verweilende der zwei Vorstellungen klarer
erscheinen müfste.
^) Vorgebildet bereits bei Spinoza: „imago rei futurae vel praeter-
itae . . . caeteris paribus debilior est imagine rei praeseutis" (Eth. IV, prop. 9).
Auch heilst es hier, es wäre Jüngstvergangenes und Nächstzukünftiges darum
interessanter, als Entfernteres, weil dieselben eben der Gegenwart ähnlicher
seien („aliquid imaginamur, quodrei praesentiam minus secludit", IV, prop. 10).
308 Eugen Posch:
Tadoes Behauptung, die n-te Vorstellung würde, wenn sie uns in
Begleitung der (n — l)-ten und der (n-t-l}-ten im Gedanken auftaucht,
deshalb zwischen die beiden letzteren verlegt, weil sie durch dengröfseren
Druck („eile est refoul6e par^ . . ., S. 233) der (n + l)-ten an deren An-
fangspunkt und durch die geringere Strebung der (n — l)-ten an deren
Endpunkt geheftet würde — diese Erklärung ist eine ziemlich oberfläch-
liche Anwendungsart der bereits entsprechend diskreditierten vorstellungs-
mecbanischen Theorie Hesbarts.
Hbsbabts eigene Ansicht, die Vorstellung des Zwischen (Lehrb.,
75, des Mittleren, VI, S. 262), wie solche bei jeglichem der vier
(nicht zwei, wie Kant!) parallelen Eontinua: Raum, Zeit, Zahl und Grad
in Anwendung kommt, könne an jedem derselben infolge der abgestuften
Ordnung, in welcher die Reihenelemente der betreffenden Kontinua er-
scheinen, selbständig entstanden sein (d. h. dieses Zwischen sei bei den
letzteren drei Eontinua nicht blofs raum-metaphorischer Natur) : diese An-
sicht ist jedenfalls etwas bedenklich, da das fragliche Dazwischensein nur
bei der Raumform von anschaulicher Natur ist, bei den anderen Reihen
hingegen abstrakt gedanklicher Art (bestehend in „dem Umstände", dals
das Element [n + 2] von n aus nur durch [n -{- 1] erreichbar sei), so dafs
es sehr unwahrscheinlich klingt, es hätte den sprachbildenden Menschengeist
ein so luftig unfafsbarer „Umstand'^ je mit solcher Lebhaftigkeit ergreifen
können, als zur Erschaffung von Benennungen nötig ist. Diese Hebbabt-
sche Meinung hängt übrigens innigst mit seiner Zeit-Linientheorie (s. u.)
zusammen.
Eine dritte, u. a. von Leibniz (bei Baümann, ü, S. 93)
befürwortete Ansicht wäre die, welche unser Bewufstsein von
kausaler Zusammengehörigkeit der vorliegenden zwei Vor-
stellungen für ihre Einordnung in das Nacheinander zu ver-
werten suchte („vor nennt man, was als Ursache, nach, was
als Wirkung sich darstellt") — welche Behauptung sich auf
die thatsächlich vorhandene, wenn auch unhaltbare Meinung
stützt, dafs die Ursache ihrer Wirkung stets vorhergehe,
d. h. dafs eine „Ursache ohne Wirkung" (Heebaht, IV, § 299)
auch nur einen Augenblick lang möglich sei.
Kant läfst im Gegenteil die ZeityorsteUung die Lehrmeisterin fOr
das Verhältnis von Kausalität sein („nonnisi temporis respectu opitulante,
quid sit prius, quidnam posterius, sive causatum, edoceri mens potest",
M. P., S. 107).
Diese Erklärungsweise erhält eine schätzenswerte Unter-
stützung an der Thatsache, dafs die richtige Einordnung bei
Daten, die sich als kausal zusammenhängend erkennen lassen,
leichter gelingt, als bei unzusammenhängenden. (Die Reihen-
folge weltgeschichtlicher Begebenheiten prägt sich dem Ge-
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeityorstellung. 309
dächtnisse eher ein, als die gesehener Nebelbilder im Pano-
rama.) Bei Annahme dieser Ansicht müfste man jedoch die
gänzlich unwahrscheinliche Behauptung wagen, dafs die rich-
tige Einfliguug zweier Erinnerungsbilder -nicht eher, als nach
Erkenntnis der kausalen Zusammengehörigkeit der entsprechen-
den Empfindungsdata, sowie nach Aneignung der oben ge-
rügten Kausälitätstheorie erfolgen könne, — eine Erkenntnis,
die, beiläufig bemerkt, wieder auf gar keine andere Weise,
als durch öftere Erfahrung des betreflfenden Nacheinander-
Auftretens konnte erlangt werden. (Bekanntes HuME'sches
Prinzip, prägnant bei Volkmann: „Jede Kausalreihe war ur-
sprünglich Zeitreihe, jede Zeitreihe kann Kausalreihe werden".
S. 32.) Der naheliegende Vorwurf eines Zirkels („wie könne
der Begriff von Kausalität einen Lehrbehelf für das Nach-
einander abgeben, wenn er selber nur aus dem Nacheinander
gebildet wurde?") ist ungerechtfertigt, da die zwei BegriflFe
Kausalität und Nacheinander sich in späteren Lebensjahren
voneinander straff abscheiden, indem der Ursprung des ersteren
gänzlich in Vergessenheit gerät, weshalb die Möglichkeit, aus
erkannter' Kausalität irgendwo auf das Nacheinander zu
schliefsen, nicht bestritten werden darf.
Dafs die Auswahl der Prädikate „vergangen" und „gegenwärtig"
für irgend eine Erscheinung (sinnverwandt mit den Worten vor und nach)
nicht durch Veranschlagung der Rangstufe dieser Erscheinung in der
Kausalreihe (ob sie Ursache oder Wirkung ist?) sich vollziehe, sondern
diese Auswahl sich lediglich nach Mafsgabe der Wirkungsweise dieser
Erscheinung auf unser Erfassungsvermögen (ob gefühlt oder blofs vorge-
stellt wird?) entscheide, hat u. a. Lotzb (150 — 151) treffend nachge-
wiesen. — Die Verwandtschaft von Eausalitäts- und Zeitvorstellung, sowie
jene üngleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung liegt in der Schopen-
HAUBE'schen Stelle (III, S. 167 u, a.) ausgesprochen: Zeit sei „das einfache,
hur das Wesentliche enthaltende Schema . . . des Satzes vom zureichenden
Grunde", — d. h. von der Kausalreihe nur durch Mangel aller Erzeugungs-
kraft zwischen ihren Gliedern verschieden. Viel zutreffender ist die
WüKDT'sche Vergleichung: „Die Zeitanschauung erfafst die Regelmäfsigkeit
des Geschehens von ihrer Aufsenseite, indem sie die Gegenstände unseres
Erkennens in einer bestimmten Ordnung aufzeigt . . . Der Substanz- und
der Kausalbegriff wollen beide aus dem inneren Wesen der Dinge die
nämliche Regelmäfsigkeit des Geschehens begreiflich machen". (Log. I,
S. 437.)
Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. XXin. 3. 21
310 Eugen Posch:
Bei GuYAu (S. 36) findet sich die durch seine zeitgenetische Grund-
anschauung (s. 0.) nahegelegte Ahart der ohigen (dritten) Eausalitäts-
hypothese, dafs für Bestimmung der Beihenfolge vergangener Handlungen
der Umstand mafsgehend sei, oh sie sich als Zweck oder als Mittel dar-
stellen. Was Mittel ist» müsse stets früher stattgefunden haben, als wozu
es das Mittel ist, — ein Sachverhalt, welcher sich als innere Logik
der Thatsachen hinstellen lasse und, wenn richtig erfaTst, den besten
Leitfaden zu jener angestrebten Einordnung abgebe. (,.11 y a dans la vie
une certaine logique, et c'est cette logique qui pennet le souvenir.")
Die anthropomorphistische Urgestalt des Begriffspaares Ursache und
Wirkung (Ursache = anfangs nur „la force musculaire", Wirkung = r^^ui-
tention", S. 33) und die Thatsache, dafs die Erkenntnis von dessen inner-
stem Wesen, als einer blofsen „gewohnten" Succession, späteren wissen-
schaftlichen Analysen entstammt (S. 34), enthält allerdings gute Wider-
legungsgründe wider die mehr oder weniger nativistisch gefärbten Be-
anspruchungen des Zeitbegriffs als fundamentalster („constitutif") Vor-
stellung, — berechtigt jedoch keineswegs zu der umgekehrten Behauptung
des französischen Verfassers, wonach nämlich die Zeitvorstellung geradezu
aus jenem anthropomorphistisch gefafsten Kausalitätsgedanken hervor-
gegangen wäre. Nur soviel ist durch seine verdienstlichen Klarlegungen
erwiesen, als wir im Texte betonten, dafs nämlich die Kausalitätsvorstellung
von der der Zeit thatsächlich strenge genug geschieden ist, um sie vor-
wurfsfrei als Leitfaden für zeitliche Einordnungen in Beschlag nehmen
zu dürfen. — Auch findet sich in seiner mehr geistreich essayhaften, als
wissenschaftlich systematischen Darstellung das Lokalisationsproblem, wie
solches uns hier beschäftigt, von dem allgemeineren einer Zeitvorstellungs-
genese nicht streng genug geschieden, und in einem Atem nebst den
eigentlichen Lokalisationshilfen noch ein paar Erfordernisse erwähnt
(nämlich gehörige Ähnlichkeit und Verschiedenartigkeit der Eindrücke,
ferner deren Anschlufs an irgendwelche objektive Kaumteile), die unter den
„conditions de la memoire et de Pid^e du temps" (S. 47) immerhin ihre
richtige Stelle dürften gefunden haben, für das eigentliche Lokalisations-
problem jedoch entschieden unerheblich sind.
Als Endergebnis all dieser Erwägungen wollen wir den
Satz hinstellen: wo sich mehrere Wege zur Erlangung einer
Kenntnis eröffiien, wie hier, läfst der menschliche Verstand
höchst wahrscheinlich keinen unbenutzt. Demgemäfs müssen
wir die Ansprüche auf Ausschliefslichkeit, wie sie obigen Er-
klärungsvorschlägen zu Grunde lagen, zurückweisen. Für jede
der erwähnten drei Methoden lassen sich Fälle anfuhren, wo
sie unanwendbar wird, weshalb der Lernende in solchen mit
Erfolg zu einer der beiden anderen greifen mag. Augen-
scheinlich dürfte übrigens der erste der drei Lokalisations-
behelfe (mit der angeführten Modifikation) auf weitestem
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 311
Gebiete brauchbar sein, weshalb ich für wahrscheinlich halte,
dafs die meisten unserer Einordnungen ins Nacheinander in
der Weise entstanden sind, dafs B, solange es noch Empfindung,
d. h. gegenwärtig war, mit dem Prädikate „Nach A" belegt
wurde, welches ihm dann auch als Vorstellung, d. h. nachdem
es zur Vergangenheit wurde, belassen blieb. Noch mag nach-
holend erwähnt werden, dafs auch die Vorstellung von Gleich-
zeitigkeit dem Lernenden hier zu statten kommt, in Fällen
nämlich, wo er das Nacheinander der Data A und B aus dem
ihm schon geläufigen Nacheinander A und C vermittelst der
gleichfalls bewufsten Gleichzeitigkeit zwischen B und C er-
schliefst. Z. B. : Angenommen, ich habe die Reihenfolge zweier
deutscher Reichstage zur Zeit der Reformation vergessen,
wisse jedoch, dafs auf dem, wo die Augsburgische Konfession
tiberreicht wurde (= B = 1530, den 24. Juni), Lutheb als
Geächteter abwesend war (= C), so ergiebt sich mir, dafs
ein Reichstag, wo die Achterklärung erfolgte (der von
Worms = A = 1621, den 26. Mai), früher mufs stattgefunden
haben. — Die Thatsache, dafs Erwachsene auch die Reihen-
folge längst erlebter unzusammenhängender Eindrücke, z. B.
Nebelbilder, richtig anzugeben wissen — ein Problem, welches
augenscheinlich aufserhalb des Anwendungsgebietes der drei
erwähnten Methoden liegt — , beweist noch nicht für die
Mangelhaftigkeit unserer Anfuhrungen. Denn die (erste)
Lösung der erwähnten Aufgabe erfordert bekanntlich einiges
Nachsinnen, und es fragt sich nur, was derjenige eigentlich
denke, der über die Frage dahinbrütet und im Buche seiner
Erinnerungen blättert. Es läfst sich kaum was anderes ant-
worten, als: er sucht kausale Zusammenhänge auf, die ihn
vermittelst erinnerlicher Gleichzeitigkeiten (begleitende Neben-
umstände der Schaustellung) zum Ziele fuhren mögen,
Unsere „NebeDumstände" sind wesentlich nichts anderes, als die
GuTAU (S. 66 — 67) -RiBOT'schen „points de repöre", worunter ein bezüg-
lich seines Abstandes von der Gegenwart bekanntes „6venement" oder
„6tat de conscience" zu verstehen ist, welch beide für Lokalisation
eines mit ihnen verknüpften anderweitigen Ereignisses zum Ausgangs-
punkt dienen. Laut Güyau eignen sich zu diesem Behufe nur räumliche
Bilder.
21*
312 Eugen Posch:
Meiner Ansicht nach ist das Nacheinander ein rein
psychologisches nnd kein metaphysisches Problem, da sich
nämlich über die Thatsache, dafs die Darbietungen des Welt-
laufs einander ablösen, gar nicht weiter philosophieren (vergl.
Spencee, § 374: „das Verhältnis der Folge . . . übersteigt
jede Analyse"), ja sich diesbezüglich nicht einmal eine in
Philosophie einschlägige Frage erfinden läfst (warum und
wann gegebene Komplexionen zunichte werden, geht bekannt-
lich die Physik an). Wohl aber kann gefragt und auch zu-
friedenstellend beantwortet werden, in welcher Weise der
menschliche Verstand zur Vorstellung eines Nacheinander
gelange, — ein zum mindesten ebenso erheblicher Punkt, wie
jene Einteilung der „Folgen", die Spencer (ib.) als hier
einzig mögliche Geistesarbeit zulassen wollte und versuchte.
Das Wesen des fraglichen Problems ist gelöst, wenn die Ent-
stehung eines zweigliedrigen Nacheinanders beleuchtet wurde, da
das mehrgliedrige einfach durch erfolgte Hinzufügungen bei Fort-
setzung der bereits begonnenen VorsteUungsweise erklärlich ist.
Anläufe, die unbestimmte Dunkelheit des Nacheinander,
wie sie dem zu konkreter Fragestellung noch nicht gelangten
Laien vorschwebt, durch metaphysische Erörterungen zu be-
heben, an denen es in der Philosophie niemals gefehlt hat,
erachte ich auch, abgesehen von der Hinfälligkeit der hierbei
zu Tage geförderten Eesultate (nichtssagende Ausdrücke,
wie „Zeit ist eine Ordnung, Form, etwas sui generis" etc.),
für ein verfehltes Unternehmen.
3. Die VervoUkommnung der Zeitmessung.
Der Bildungstrieb, den der Mensch bei der Vervoll-
kommnung einiger Zeitkategorien bethätigt hatte, bleibt gewifs
auch gegenüber anderen Bestandstücken dieses Vorstellungs-
komplexes nicht müfsig, weshalb wir einen so ziemlich gleich-
mäfsig in allen Teilen weiterschreitenden Ausbildungsgang
der Zeitvorstellung als wahrscheinlich annehmen, von dem der
Messungsprozefs natürlich nicht ausgeschlossen bleiben konnte.
Zu besserem Verständnis der nachfolgenden Schilderungen
und zur Kennzeichnung des Standpunktes, von welchen^ aus
\
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 313
wir das Zeitmessen betrachten, sei hier folgendes erwähnt:
Zeitmessung ist Arbeit, zu der sich der Mensch aus wirk-
sameren Bestimmungsgründen dürfte entschlossen haben, als
beispielsweise die Aussicht wäre, hierdurch ein an und für
sich ja höchst uninteressantes Wie viel? der verflossenen
Momente zu erkunden. Und die Frage, was den naiven
Menschen bestimmen konnte, die Zeit zu messen, erscheint
um so schwieriger, als der natürlichste Zweck aller Eaum-
messungen — für bevorstehende Arbeitsleistungen dessen
Gröfse zu ermitteln — hierher nicht pafst, da nur ein bereits
unverwertbarer Teil der Zeit, die Vergangenheit, gemessen
werden kann. Wer meint, es wäre der gesuchte Bestimmungs-
grund in dem unserer alltäglichen Erkundigungen nach der
Uhr (wie viel Uhr es ist?) enthalten, folglich durch Lösung
der Frage, warum wir die Uhr zu wissen wünschen ? zu ent-
ziffern: der möge bedenken, dafs selbst der nächstKegende,
im Gebiete des Praktischen zu suchende Zweck solcher Er-
kundigungen - nämlich behufs Überschlags über noch aus-
fuhrbare Leistungen den Abstand des gegenwärtigen Zeit-
punktes von irgendwelchem Termin zu erfahren — eine be-
reits vorgeschrittenere, an Zeitmessung gewöhnte, mit dem
durchschnittlichen Zeitbedarf seiner Leistungen vertraute Indi-
vidualität voraussetzt, woraus folgt, dafs diese ganze Sache
für unsere Angelegenheit völlig wertlos ist.
Der primitivste Beweggrund des Zeitmessens ergiebt
sich jedoch von selber, wenn man bedenkt, dafs die Definition
alles Messens, nämlich „Nachbildung eines stetigen Ganzen
aus diskreten Teilen" zu sein, auch auf Zeitmessung passen
mufs. Denn hieraus ist ersichtlich, dafs 1.) der ursprüngliche
Gegenstand dieser Verrichtung nur ein dauerhafter Eindruck
(A) sein konnte, und das Mafsmittel eine zufällig mit diesem
gleichzeitig ablaufende diskrete Eindrucksreihe (a, b, c . . .),^)
^) Dieser Umstand enthält wohl die beste Abweisung für das oft
gehörte Vexirwort, Zeit sei überhaupt unmefsbar, da Vergangenheit und
Zukunft nicht zu erreichen [Aügüstinits : „nicht existierend", cap. 16, 21]
und die Gegenwart ein blofser Augenblick sei.
314 EugcD Posch:
und 2.) dafs der Zweck auch dieses Messens kein anderer ist,
als die Aufstellung einer Gleichung [A = a + b + c + . . . + m],
sein Beweggrund somit nur: Bestrebnis nach jenem rein
ästhetischen Wohlgefallen, welches uns bemerkte Gleichjförmig-
keiten an sonst Verschiedentlichem gewähren.
Die augastinische Bemerkung (cap. 27) — auch eine „dahin-
schwindende Gegenwart" (was schliefslich auf unseren dauerhaften Eindruck
herauskommt) sei unmefshar, da sich ihre Länge doch erst hei Eintritt
ihres Endpunktes angehen läfst, und sie sich dann, weil zum Vergangenen
(=» Nichtexistierenden) geworden, erst recht nicht messen lasse — diese
Bemerkung yergifst, dafs der Mefsprozefs doch ganz gut ohne vorhergängige
Kenntnis seines Ergehnisses (wozu denn dann messen?!) gleichzeitig mit
Eintritt des A hegonnen werden kann und das Resultat sich gleichzeitig
mit dem Aufhören A's aussprechen läüst. Die fernere Behauptung (ih.),
es werde niemals der Eindruck selber, sondern nur das stets gegenwärtige
Andenken eines Vergangenen gemessen (hierzu der Beleg: eine Pause lasse
sich mit dem vorhergegangenen Klange nur dadurch gleichlang schätzen,
weil letzterer während der Pause aus dem Gedächtnisse nachgesungen
wurde), dieser nicht einmal eingehend durchgeführte Einfall scheint dem
Verfasser durch Analogie entstanden zu sein, nämlich im Vertrauen auf
psychische Momente, deren Herbeiziehung ihm bereits aus anderen Ver-
legenheiten (z. B. wo das Vergangene zu suchen sei) geholfen hat. — Dafs
ein Sbxtds Empibicüs sich die gute Gelegenheit einer Ausbeute der hier
obwaltenden Schwierigkeiten im Sinne seines Nihilismus nicht entgehen
lassen konnte, ist selbstverständlich. Er behauptet (Pyrrh. ni): Die Zeit
sei weder unteilbar, da sie doch in 3 Teile (Vergangenheit, Gegenwart,
Zukunft) zerlegt wird, noch teilbar, weil sie nicht wie sonstiges Teilbare
(otav SaxTvXip TCrfxvv (lexQ'^fisv) durch mehrmalige Auftragung eines Teiles
zwischen ihre beiden Grenzen abgemessen werden könne. — Die Descartes-
SpiNozA'sche Bezeichnung der Zeit als „auxilium imaginationis'', welches
„oritur ad durationem . . . determinandam, ut quoad fieri potest, eam
facile imaginemur'^ (Spinoza, Ep., ähnlich Descabtes, Pr. I, 55), sowie
die Behauptung Etffbbths („was ... an der Zeit gemessen wird, das
ist nur Dauer oder Intensität", S. 103) verraten eine der unserigen ähn-
liche Ansicht über das ursprüngliche Zeitmessungsobjekt, während Locke
(§ 17) die successive Eindrucksreihe selber für den ursprünglichen Mefs-
gegenstand gehalten haben dürfte. Die oben betonte Gleichzeitigkeit
zwischen Messungsobjekt und Mafs, sowie dafs letzteres ein ganzer Pro-
zefs sein müsse, ist hinwiederum auch von ihm anerkannt. („Es kann
. . . nur ein solches Mafs für die Zeit gebraucht werden, was die ganze
Länge ihrer Dauer durch wiederkehrende feste Perioden in gleiche Teile
teilt." Ib. Ähnlich Eyffbbth, S. 102.) Bei Waitz (S. 595—598) findet
sich dasselbe in umhüUter Weise ausgesprochen, dort, wo der Verfasser
auf die Gleichartigkeit der Entstehungsbedingungen von Zeitmessung mit
denen des Begriffs „während" hinweist.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 315
Bafs Zeitmessung zunächst entstünde, „wenn das erwartete Quantum
einer Wahrnehmung dem sinnlich gegebenen nicht entspricht, sondern ein
beträchtliches Mifsverhältnis zwischen beiden sich findet" (Waitz, S. 596),
kann schon darum nicht richtig sein, weil der Eindruck doch erst durch
stattgehabte Messung den Charakter eines Quantums annimmt. Die Wündt-
sche Behauptung: „Wenn ... es Zeit gab, so mufste doch diese Zeit auf
irgend eine Weise gemessen werden. Eine Zeit ohne Mafs ist ebenso
undenkbar, wie ein Raum ohne Ausdehnung" (M. Th., S. 28) enthält ebenso-
wenig eine Darlegung der Beweggründe des Zeitmessens, wie die geistr
vollen Ausführungen Guyaus (S. 70 ff.) und die sehr summarisch gehaltenen
Hekbabts (VI, S. 310) und Volkmanns (S. 29) über diesen Gegenstand.
Die Parallele zwischen Raum- und Zeitmessung ist im
Sinne jenes mathematischen Grundgesetzes, wonach Flächen
nur durch Flächen, Körper durch Körper etc. . mefsbar sind,
soweit durchzuführen, dafs die erwähnte Mafsreihe (a, b, c, d)
als Summe kleiner Dauerstticke (von a bis b, b bis c etc.)
gelten mufs und nicht als blofser Inbegriff vieler punkthafter
Augenblicke. Anderseits besteht ein augenfälliger und höchst
wesentlicher Unterschied zwischen Raum- und Zeitmessung
darin, dafs erstere vermittelst einer einzigen, nur mehrmals
aufeutragenden Mafseinheit auslührbar ist, während bei letz-
terer die nochmalige Benützung des selbigen Mafsstückes a
ausgeschlossen bleibt.
Aus Besagtem ergiebt sich als primitivste Uhr ein
Musikinstrument, vermittelst dessen eine Eindrucksreihe a, b, c,
wenn mit dem Eintritte A's nicht ohnedies schon mitgegeben,
dargestellt werden kann. Die Unbequemlichkeit einer solchen
Mafsmethode, wo nämlich die Einheiten nur aus dem Gedächt-
nisse addiert werden konnten, ist zu fühlbar, als dafs sich
ihre Anwendung über die natürliche Dauer einer Vorstufe zu
vollkommenerer Auswahl dürfte ausgedehnt haben.
Dafs Bewegung nur eines der vielen möglichen Zeitmafse sei, da
„ein beständiges periodisches Auftreten oder ein Wechseln in den Vor-
stellungen in anscheinend gleichen Zeitabständen, wenn sie beständig und
allgemein zu beobachten wären, ebensogut die Zeitabschnitte erkennbar
gemacht haben würden, als die jetzt gebräuchlichen Mafse", wufste schon
Locke (S. 195).
Der Bestimmungsgrund unserer Entscheidung für Be-
wegungsprozesse zu fraglichem Behufe dürfte nicht einfach in
der allwärtigen Augenfälligkeit dieser Prozesse, speciell der
316 Eugen Posch:
Himmelsbewegungen, zu suchen sein (wie Condillac, m,
chap. 7, § 3, haben wollte), sondern nicht am geringsten
auch in der Entdeckung, dafs sich bei Anwendung dieses
Mafsmittels eine augenscheinliche Gleichheit der Mafs-
einheiten (eine wesentliche und als Abkürzung jedenfalls
später entstandene Erleichterung für den Apperceptionsprozefs,
da A = n . a das Unbekannte [A] auf ein einziges Bekannte [a]
zurückführt, während A = a + b + c + ...m deren mehrere
beansprucht) viel leichter erzielen, d. h. gleichen Zeitteilen
entsprechende Stücke sich abheben lassen, als bei der vorher
erwähnten Mefsweise.
Die ausschliefsliche Bevorzugung gleichmäfsiger Be-
wegungen zum Zwecke des Zeitmessens wurde in der Weise
erklärt, dafs man eine durch Zeitsinn (s. u.) bewirkte Kenntnis
gleicher Zeitintervalle bei der Menschheit vorhergehen liefs
und dann annahm, man habe sich für jene Bewegungssorte
auf Grund des Befundes entschieden, dafs bei ihr auf die
gleichen Zeitabstände überall gleiche Wegstrecken fallen.
Diese Ansicht,^) von Wundt mit dem Bemerken unterstützt:
„ohne das unmittelbare Erkennen gleicher Zeitteile wären wir
niemals imstande gewesen, objektive Zeitmafse zu schaflfen,
denn jeder Antrieb, nach solchen zu suchen, hätte gefehlt"
(Log., S. 437), vereint sich mir schwer mit dem schier grenzen-
losen Uralter der Bewegungsverwertung für Zeitmessung neben
dem schwierigen, also jedenfalls späteren Entstehen eines
halbwegs zuverlässigen Zeitsinnes. Die Verlegenheit des
Psychologen, die bei freien Intervallschätzungen mitwirkenden
subjektiven Behelfe des Individuums zu ermitteln (s. u.) deckt
sich in diesem Falle mit einer ähnlichen Schwierigkeit für
das Individuum selber, sich solche zu erfinden. Kaum dürfte
im nächsten Bereiche liegen und schon dem naiven Menschen
erreichbar sein, was der Seelenforseher nur so schwer zu
entziffern vermag.
^) Sie ist Ton Locke ausgegangen, der behauptete, die Gleichheit
successiver Interyalle sei anfänglich „nach dem Zug der Gedanken" be-
urteilt worden, der in dem fraglichen Abschnitt die Seele durchlaufen hatte.
(S. 197. Siehe hierüber bei „Zeitsinn«.) Hobwicz (II, 2. Th., S. 139)
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeit Vorstellung. 317
meint im Rhythmus das erste und natürlichste Zeitmafs gefunden zu
haben, da derselbe jenes „mittlere Mafs von Wechsel und Eegelmäfsigkeit"
enthalte, welches „zur Ermöglichung einer Vergleichung", wie das Zeit-
messen eine ist, notwendig sei. Aus dem Umstände jedoch, dafs der
Bhythmus jene Eintrittsbedingungen eines Zeitmessens enthält, wie auch
wir sie mit anderen Worten festsetzten, indem er zu einer Identifikation
seiner gröfseren Intervalle mit der Summe seiner kleineren Anlafs bietet
(ein Umstand, welchen Volkmann [S. 34] mit dem geistvollen Ausdrucke
wiedergab: der Bhythmus sei sein eigenes Zeitmafs) — aus diesem Um-
stände, sage ich, folgt blofs, dafs der Bhythmus der natürlichste Gegen^
stand eines Zeitmessens sei, und keineswegs, dafs er das ursprünglichste
Mafs mittel wäre. Die „natürlichen Bhythmen des Herzschlags, ... die
regelmäfsige Pendelbewegung des Gehens, . . . der Wechsel von Wachen
und Schlaf, femer das stetige leise Sausen und Bauschen im Ohr" (ähnlich
bei Spencbb, § 91) — all diese „dem Naturmenschen sich aufdrängenden
Bhythmen", ohne die er „niemals jene gröfseren ZeitmaTse zu handhaben
würde gelernt haben", sind eben nur als Vorstufe jener schwierigeren
„Handhabung" notwendig, indem sie unmittelbarere Bethätigungsobjekte
seiner Mefslust sind.
Wer bedenkt, dafs sich gröbere Abweicliungeii von der
Gleichmäfsigkeit schon dem blofsen aufmerksamen Zusehen
durch Veränderungen des Bewegungsbüdes zu erkennen gehen
(Zusammenfliefsen bei sehr schneller Bewegung, zitternde
Punkte und Linien beim Langsamerwerden), so dafs der Fort-
fall all solcher Nebenerscheinungen und ein stetes Gleichbleiben
des Bewegungsbüdes zwischen gewissen Grenzen für eine
Gewährleistung der objektiven Gleichmäfsigkeit der Bewegung
angesehen werden kann, der wird unserer Vermutung Raum
geben, dafs gerade dieses im Vergleiche zum WuNDT^schen
bedeutend leichter zu erringende Kriterium bei Ausscheidung
der ungeeigneten Bewegungssorten zur Verwendung kam<.
Dafs sich nun unsere Auswahl für eine Bewegung (die schein-
bare der Sonne um die Erde) entschied, an der selbst die
genaueste wissenschaftliche Kontrolle kaum einige üngleich-
mäfsigkeit zu entdecken vermochte, erklärt sich jedenfalls
durch die Auffälligkeit dieser Bewegung (s. o.) — ein für die
Menschheit glücklicher Umstand, da ihr nur für gröbere Ge-
schwindigkeitsänderungen empfilnglicher „Zeitsinn** sich leicht
mit minder gleichmäfsigen Bewegungsarten, als die Erdachsen-
drehung eine ist, hätte begnügen können. Jedenfalls war es
nicht die Kenntnis der Gleichmäfsigkeit jener Erdbewegung,
318 Eugen Posch:
sondern nur deren Anschein nebst ihrer Augenfälligkeit, was
die Menschheit zur Auswahl derselben bestimmte, — ein
Punkt, auf den (nebst der Unmöglichkeit, die Gleichheit
successiver Intervalle streng zu beweisen, „da zwei Zeitfolgen
nie aufeinander gelegt werden könnten"^)) zuerst Locke
(S. 196—198) hinwies.
Ähnliches bei Hbbbart (VI, S. 310). Auch VoLKniAiny sagt, es seien
Erscheinungen zu Zeitmafsen auserkoren worden, „welche uns eine strenge
Gleichmäfsigkeit in der Aufeinanderfolge der Empfindungen erwarten
lassen" (S. 29). Laut Wundt war es „unser Vertrauen in die Gesetz-
mäfsigkeit der Naturerscheinungen" (Log., S. 437), was uns zur Annahme
objektiver Zeitmafse bewog.
EiBHL (Der philosophische Eiiticismus, II, 1) hat den in Ermangelung
eines exakten Mafsstabes blofs voraussetzungshaften Charakter des abso-
luten Gleichförmigkeitsprädikates („Homogeneität*') der Zeit gleichfalls
eingesehen. Wenn er jedoch meint, den Entstehungsgrund für diese Vor-
aussetzung in unserer „Reflexion auf die Identität der Bewurstseinsform
in der Zeit" (S. 125) gefunden zu haben, so liegt hierin sein bereits oben
(S. 290) besprochener Irrtum zu Grunde vom Dauerbegriflf als Grundlage
des Successionsbegriffes. Auch hat Biehl es unterlassen, das Sprunghafte
der dem Zeitlemenden zugemuteten Folgerung: „mein Bewufstsein ist
gleichförmig, folglich ist es auch die Zeit" (die belangreichste Stelle des
Verfassers lautet: „Die Beflexion auf das Moment [s= der Gleichförmigkeit]
des Bewufstseins in der Zeit, das Denken der Zeit also, bringt in die
Kontinuität absolute Gleichförmigkeit hinein", ib.) durch Angabe von
Vermittlungsgliedem glaubhafter zu machen.
1) GuYAU (S. 73) und Liebmann (S. 93) nennen die Messung der
Zeit deshalb eine indirekte. Da femer diese Unmöglichkeit genau dieselbe
bleibt, ob man nun die mathematische Zeit Newtons, wie Eulbb (S. 332)
will, für wirklich vorhanden hinnimmt, oder aber die Zeitvorstellung mit
dem Subjektivisten durch den Anblick der „changements" von Körpern
entstanden sein läfst, so erscheint der Wert jener „exakteren" Definition
von der Gleichheit zweier Zeiten — wie solche sich bei ersterer Annahme
angeblich erzielen läfst und bei letzterer wegen Unbestimmbarkeit eines
Körpers mit wirklich gleichmäfsigem Veränderungsablauf unmöglich werden
soll — zum mindesten etwas fraglich, ebenso wie die Empfehlung, die
dem EüLEB'schen Objektivismus aus dieser Definitionsüberlegenheit angeb-
lich erwächst.
Auch war der Umstand, dafs die Erdachsendrehimg
nicht eine blofse, jedermann leicht bemerkbare Begleiter-
scheinung unserer Handlungen ist, sondern — als Ursache unseres
Wachseins und Schlafens - — geradezu die Vorbedingung all
unseres Handelns abgiebt, mit diesem also objektiv und aufs
Innigste verknüpft ist, gewifs mit ein Bestimmungsgrund bei
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 319
der erwähnten Auswahl, ebenso wie auch deren- Unzugäng-
lichkeit für menschliche Störungen (Etpfeeth, S. 103). Hier-
bei kommt noch zu bemerken, dafs Bewegung, weil zum
Zeitmessen geeignet, doch nicht ausschüefslich wegen des-
selben, d. h. um gleiche Dauerstücke am bequemsten abheben
zu können, braucht auserkoren worden zu sein. Sie ist viel-
mehr als ein, und zwar als der bequemst darstellbare Fall
jener Succession von Eindrücken (solche sind hier die je-
weiligen Positionen des Beweglichen, ebensoviele Bilder, cha-
rakterisiert durch Deckung verschiedener Hintergrundstücke)
anzusehen, welche zur Anwendung zeitlicher Begriffe —
und ein solches ist doch das Messen — ebenso notwendig
sind, wie zu deren Entstehen (vergl. Wundt, Log., S. 435).
Nur die Ausschliefsung aller ungleichmäfsigen Bewegungen
mufs direkt aus Mefszwecken erfolgt sein, da sich hierfür
kein anderer Grund ausfindig machen läfst, als die Bestrebnis,
gleiche Ereignismengen (in der Sprache des Entwickelten:
„gleiche Zeitstücke") vermittelst gleich langer Wegstücke
auszudrücken.
Die Thatsache, dafs Zeit durch Bewegung gemessen wird, darf
keineswegs gegen jene Behauptung gekehrt werden, auch Bewegung,
wenigstens eine Seite derselben, würde mit der Zeit gemessen, wie dies
unter Bestreitung einer angeblich stratonischen Behauptung von Seiten
des Sextus Empibigus geschah. Dieses gegenseitige Mafsyerhältnis zwischen
Zeit und Bewegung (von Aristoteles als Beleg für seine Definition
„Zeit SB Zahl'^ angesprochen, „indem bei der Zahl und dem Zählbaren
eine ähnliche Gegenseitigkeit vorliege" [cap. 12]) wurde speciell von Locke
(XIV, § 22) recht ungerechtfertigterweise (s. Leibniz' Kritik) bestritten,
weil „sich ein richtiges Mafs der Bewegung auch auf deren Baum und
die Mafse des Beweglichen erstrecken müsse". Des Sextus' Einwurf ist
besser und lautet: „es diene bewufstermarsen stets das Anschaulichere
(folglich Bewegung und Buhe) als Erfassungsmittel für das minder An-
schauliche (die Zeit) und nicht das letztere für jenes" (}.tj<p9^slij 6*av ovx
ex xov SvoS'sat^^Tov rb evd'sdQfjrov ak)* avanaXiv, 177 — 180). — Ebenso
wenig darf anderseits die letzterwähnte Rolle der Zeit, nämlich „motus
leges secundum temporis mensuram . . . determinare", gegenüber unserer
Hypothese vom Abstammen der Zeit aus Bewegungsvorgängen geltend
gemacht werden, wie dies von Kant geschah (M. P., S. 102), da eine
Vorstellung uns recht gut durch eine Erscheinung kann zugekommen sein,
deren exakte Auffassung erst mit Hilfe dieser Vorstellung möglich ist.
Aristoteles hat den Umstand, dafs die Vorstellung der Bewegungseigen-
schaften „schnell" und „langsam" die der Zeit voraussetze (ro . . . ßgaSv
320 Eugen Posch:
xal xaxv XQ^^V ^Qi^oxaiy cap. 10), blofs gegen IdentifizienmgsTersuche
der Zeit mit Bewegung (Definitionen, wie „Zeit = Bewegung") in " die
Wagschale geworfen.
Wenn schon Zeit und Bewegung, so dürfen wohl auch Zeit und
Baum für ihr gegenseitiges Mafs erklärt werden, insofern einesteils die
Stunde durch ein gewisses, vom Uhrzeiger durchlaufenes Baumstück ge-
messen wird, und anderseits, wie Spbnceb (§ 336) bemerkte, die räumliche
Entfernung zweier Orte in Stunden (nämlich Marsches, ein gewöhnliches
Längenmafs der schweizer Bergführer) kann ausgedrückt werden. Das
Vorkommen der letzteren Mafsmethode bei den „anciens H^breux" und
bei wilden Völkern berechtigt keineswegs zu der Annahme, es sei dieselbe
noch vor der heute viel gebräuchlicheren umgekehrten Mefsweise (der
Zeit vermittelst des Baumes) entstanden, — eine Annahme Spbncers,
welcher Gütau (S. 72 — 73) sehr treffend den Umstand entgegenhält, dafs
die ursprüngliche Bedeutung der Dauerbezeichnungen in den Sprachen
eine rein räumliche sei (s. u.) und deshalb nicht sowohl die Baummessung
und -Vorstellung aus der zeitlichen, sondern vielmehr diese letztere aus
jener hervorgegangen sei. (Dafs Spenceb hier und auch sonst gemeint
hätte: „que la notion du temps [»»die gesamte Zeitvorstellung] ait
vraiment pr6c6d6 celle de l'espace", wogegen Guy au mehreren Ortes leb-
haft ankämpft, beruht auf einem Mifsverständnisse.)
Trotzdem das Prinzip, die Zeit vermittelst diskreter
successiver Eindrücke zn messen, auch bei der Messung mittelst
Erdachsendrehung gewahrt bleibt, insofern auch hierbei nur
die einzelnen Positionen des Beweglichen das eigentlich
Messende abgeben,^) so ist die Überlegenheit dieser Mafs-
methode über die früher (s. o.) erwähnte doch offenbar, da
nun die höchst unbequeme Bemüfsigung, die abgelaufene An-
zahl der Mafseindrücke im Gedächtnis zu behalten, bezw.
dieselben stetig zu verfolgen, umgangen ist, und anderseits
der Zeitunterscheidung an der verwendeten Mafsreihe keine
Grenzen gesetzt sind, indem sich die Bewegungsreihe durch
blofse Geistesanstrengung interpolieren (innerhalb zweier
Situationen mehrere einschalten, unterscheiden) läfst, wodurch
nun auch kleinere Dauerstücke mefsbar werden.
*) Plotins naive Bemerkung, Zeit würde deshalb mittelst Bewegung
und nicht mittelst dauerhafter Eindrücke gemessen, weil es leichter an-
zugeben sei, wie lange sich ein Körper bewegt habe, als wie lange er
ruhte („planius patere potest, quantum aliquid motum fuerit, quam
quantum steterit", cap. 12), wird sich im Sinne des Obigen leicht be-
richtigen lassen.
Aufigangspunkte zu einer Theorie der ZeitTorstelluug. 321
Auch wird durch die nunmehrige Mafsmethode ermög-
licht, die Frage nach dem Wie lang? eines Eindruckes in
sehr bequemer Weise, nämlich durch Benennung des mittler-
weilen abgelaufenen scheinbaren Sonnenwegssttickes zu beant-
worten, eine Antwort, welche die Anzahl der innerhalb der
angegebenen Grenzen zu unterscheidenden Zwischenpositionen,
sowie überhaupt die Herausgreifung solcher dem Gutdünken
des Fragenden anheimstellt. Bei Bestimmung der Abschnitts-
längen dieser zeitmessenden Erdbewegung war ihre Kreis-
ähnlichkeit mafsgebend, infolge deren sich als erstes und
natürlichstes Teilungsprodukt Wegstücke von der Länge einer
ganzen Umdrehung (der Tag) ergaben.
Dafs die Ereisähnlichkeit der erwählten Bewegung nur einfach
mit in den Kauf genommen und — weil zur Tauglichkeit eines Zeitmafses
keineswegs erforderlich — bei der Auswahl nicht angestrebt wurde, hat
Abistoteles nicht zugegeben, indem er für die Festsetzung jenes kreis-
förmigen Mafsmittels die recht dürftige Erklärung beibrachte: „eine der-
. artige Bewegung lasse ihre Zahl (<» die Zeit) besser, als jede sonstige,
hervortreten" {ozi 6 a^id-fibg o zavtijg, nämlich xvxXo^oQlaq, yviaQifidtaxoq,
cap. 14). Die lebhaften Betonungen des „Periodischen" der Mafsbewegung
bei Locke (§ 18—21), Horwicz (II, 2. T., S. 139 ff.) und Wündt (Log.,
S. 435) scheinen auf eine ähnliche Wertschätzung jener Kreisförmigkeit
hinzudeuten.
Bei der Weitereinteilung scheint die geometrische Form
besagter Abschnitte aufser Betracht gebKeben zu sein, infolge
der wohlbegründeten Bestrebnis, sich einer fortwährenden,
nicht einmal ausfuhrbaren Sonnenbeobachtung zu entziehen,
weshalb neue Bewegungsarten auserwählt resp. dargestellt
werden mufsten, deren ürsprungsquelle nunmehr für die Länge
eines Abschnittes innerhalb des „Tag" -es mafsgebend wurde.
(Weder der 10-, noch der 12-, noch der 24 stündige Tag be-
ruht auf dem Prinzipe der Kreisteilung, denn die Stundenlänge
hängt einfach nur mit den Herstellungsbedingungen der ver-
wendeten Uhren — ob Klepsydra-, Sand- oder Pendeluhr —
zusammen. Anderseits mufsten nun absichtlich kreisförmige
Bewegungen geschaffen werden, weil andernfalls das Ziffer-
blatt unendlich lang sein müfste.) Dafs darum der Gebrauch
von Uhren noch keine Emancipation des Menschen von der
322 Eugen Posch: Ausgangspunkte z. e. Theorie d» Zeitvorstellung.
lebensregelnden Himmelsbewegung bedeutet, sondern nur etwa
einem Vorgange, wie Einführung der Scheidemünze zur üm-
wechslung gröfseren und eigentlichen Geldes gleichkommt,
liegt klar, wenn man bedenkt, dafs das schliefsliche Eegulativ
unserer Zeitmessungen die Sonnenuhr ist, und anderseits,
dafs alle den „Tag" übersteigenden gröfseren Zeitstücke
(Wochen, Monate, Jahre) wiederum Himmelsbewegungsab-
schnitte vorstellen. Dafs letztere, nämlich die Mond- sowie
die Erdumlaufszeit, unter sich und mit der Dauer einer Erd-
achsendrehung inkommensurabel sind, ist bekannt.
\
Fragen der Gesehiehtswissensehaft.
L Darstellende und begriffliche Geschichte.
Von Paul Barth, Leipzig.
Inhalt.
Below über das Verhältnis der Geschichte zur Systematik und zur Kau-
salität. Die Kausalkette in der Darstellung der Ereignisse oft unterbrochen, wie
in der Kunst. Diese Unterbrechung beruht nur auf mangelhafter Kenntnis.
Stammlers Dualismus ist nicht kantiscn. Die Geschichte, wie sie Below meint, ist
.darstellende** Geschichte. — Das Allgemeine zeigt empirische Gleichförmigkeiten.
Diese sind auf kausale Gesetze zurückfUhrbar, und zwar auf psychologische. Eine
besondere „historische** Psychologie giebt es nicht. Lamprecht meint mit seiner
Art der Geschichte dieses Streben nach Gleichförmigkeiten und Gesetzen. Ihr
bester Name ist «begriffliche** Geschichte. Beide Arten sind unentbehrlich.
An das Erscheinen der ersten 5 Bände der „Deutschen
Geschichte" von K. Lampbecht, eines Werkes, das manche
bisher im Hintergrunde gewesene Seiten der Vergangenheit
in den Vordergrund zu stellen sucht, hat sich zwischen
Lampbecht und einigen anderen Historikern eine lebhafte
Polemik angeschlossen, die zuerst allerlei Einzelheiten der
Darstellung Lampbechts zum Gegenstande hatte, später aber
sich zu einer allgemeinen Erörterung der Aufgaben und Me-
thoden der Geschichtswissenschaft erweitert hat. Über die
erste Phase des Streites, die die Einzelheiten betriflPt, steht
mir kein Urteil zu, auch nicht über die Grunde der persön-
lichen Gereiztheit, mit welcher der Streit geführt wird. Nur
an die zweite Phase, die Behandlung der prinzipiellen Fragen,
die ja zugleich Fragen der Erkenntnistheorie sind, möchte
ich im folgenden anknüpfen.
Als die letzten Zusammenfassungen der beiderseitigen
Anschauungen liegen zwei Abhandlungen vor,^) von denen
^) G. VON Below, Die neue historische Methode. In der Histo-
rischen Zeitschrift (begründet von H. von Stbel). Bd. 81 (neue
324 Paul Barth:
ich zunächst diejenige Belows, des Gegners Lampbechts,
beleuchten will. Ihre wesentlichen Sätze sind die folgenden:
1. Über das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zur
Systematik im allgemeinen und im besonderen zur „natur-
wissenschaftlichen Systematik": „Die Geschichtswissenschaft
bestreitet immer die Allgemeingültigkeit der Systeme, der
Begriffe" (S. 241). [Die Geschichte lehrt,] „dafs es unzulässig
ist, flir die menschliche Entwicklung feste Naturgesetze zu
dekretieren" (S. 242). „Der Historiker darf, wenn er richtig
sehen will, sich nicht der Brille des Naturforschers bedienen;
er hat ja seine eigenen Augen (dasselbe Gleichnis auf S. 248,
wo nur zum Naturforscher noch der Philosoph hinzugefügt
wird). Und sein Beruf wird es eben voraussichtlich immer
bleiben, gegen die Konstruktionen der Systematiker Einspruch
zu erheben" (S. 243). „Wer einem socialen Ideal, wer über-
haupt einem Ideal huldigt, der protestiert gegen den lähmenden
Gedanken einer rein gesetzmäfsigen Entwicklung" (S. 245).
2. Über die Geltung der Kausalität: „Dieser Glaube
[an die unbedingte Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes] wird
stark angefochten" (S. 246). „Wir brauchen uns indessen als
Historiker mit der Frage der Geltung des Kausalitätsgesetzes
nicht aufzuhalten. Denn es ist noch nie gelungen, seine
ausnahmslose Geltung auf dem Gebiete der Geisteswissen-
schaften nachzuweisen, und es wird auch nie gelingen, das
Kausalitätsgesetz hier selbst nur in annähernder Reinheit
durchzuführen, am wenigsten auf dem Gebiete der Geschichte"
(S. 246 — 247). „Dafs die Historiker gut thun, ihre Methode
von der naturgesetzlich begründeten Psychologie frei zu halten,
heben auch die Philosophen Windelband und Delthet hervor"
(S. 248, Anm. 1). „Wir gestehen gern, dafs wir nicht alles
erklären können. Wir beanspruchen es gar nicht. Es er-
scheint uns im Gegenteil von der höchsten Wichtigkeit, dafs
wir die Unerklärbarkeit konstatieren müssen. Die Persönlich-
Folge 45), Heft 2, München und Leipzig 1898, S. 193—273. Dagegen:
£. Lampbecht, Die historische Methode des Herrn von Bblow, eine Kritik.
Berlin, R. Gärtnbb (H. Hbyfbldbr) 1899, 50 S.
Fragen der Geschichtswissenschaft. 325
keit ist in der That ein EUtsel" (S. 249). Und S. 265 wird
Stammlers Spott über die „magische Kraft" des Kausalitäts-
gesetzes mit Zustimmung erwähnt. (In dem Abschnitte des
Buches von Stammleb, aus dem das Citat stammt, wird der
Beweis versucht, dafs das Kausalitätsgesetz auf menschliche
Zwecke, die durch Wahlhandlungen erreicht werden, keine
Anwendung finde.)
Es ist offenbar, dafs Below mit dieser Methodologie
das Gebiet der Wissenschaft zum Teile verläfst. Wer darauf
verzichtet, die Kausalität tiberall nachzuweisen, wer die Per-
sönlichkeit flir ein Rätsel hält, der unterbricht das wissen-
schaftliche Denken, der betrachtet die Dinge, mit Schopen-
HAUEB zu reden, unabhängig vom Satze des Grundes, er be-
trachtet sie ähnlich wie der Ktinstler und der Beschauer eines
Kunstwerks. Die ästhetische Betrachtung geht auf den Inhalt
der Vorstellungen, nicht auf ihre rationale Verknüpfung. Die
Wissenschaft wird immer der -Schwerkraft und alles dessen,
was daraus folgt, eingedenk sein, der Künstler aber und der
ästhetische Betrachter nehmen keinen Anstofs daran, dafs die
Sixtinische Madonna über den Wolken schwebt. Und wie
die Kunst nicht das einzelne Ereignis unter die allgemeine
Formel, das Gesetz, zu bringen braucht, so braucht sie auch
nicht das einzebie Objekt blofs nach seinen aUgemeinen, der
ganzen Gattung gemeinsamen Merkmalen darzustellen, sie
kann nicht blofs, sie mufs sogar auch die individuellen
Merkmale als solche betrachten und hat nicht nötig, zu er-
klären, warum sie in diesem besonderen Falle so und nicht
anders sich verhalten.
Ursprünglich ist alle Geschichte Kunst gewesen. Denn
sie ist ursprüngHch identisch mit der Sage und- dem volks-
tümlichen Epos. In diesen beiden Urformen . der Geschichte
ist die Wirklichkeit noch vermischt mit demjenigen, was die
Phantasie hinzufügt. Allmählich tritt, wenigstens bei den
Griechen, eine Trennung ein, die Wirklichkeit wird Gegenstand
der erzählenden Prosa, des Logos (bei den Logographen),
wofür später der Name „Historie" aufkommt, was hingegen die
Vierteljahrssclirift f. wiftsenschaftl. PhUoiophle. XXm. 3. 22
326 Paiil Barth:
Phantasie hinzufügt, fallt der Dichtung (noii^aig) anheim.
Doch ist wohl im Bewufstsein der Alten — Polybios vielleicht
ausgenommen — die Geschichte niemals toto genere von der
Kunst getrennt worden. Aristoteles unterscheidet zwar in
seiner „Poetik" die Geschichte von der Dichtkunst, aber gerade
diese Gegenüberstellung zeigt, dafs sie ihm, wenn auch ent-
gegengesetzt, doch wohl zu einer und derselben Gattung ge-
hören. Diese Gattung dürfte wohl die Kunst sein. In seinem
Systeme der Wissenschaften wenigstens findet die Geschichte
keine Erwähnung. Wenn er in seiner Politik (2. Buch, 2. Kap.)
sagt, dafs man auch auf die lange Zeit und die vielen Jahre
[der Vergangenheit] achten müsse, so meint er hier nach dem
Zusammenhange nicht die Geschichte der Ereignisse, sondern
der Verfassungen. Und fast alle Geschichtsschreiber des
Altertums haben in ihre Werke kunstvolle Reden eingeflochten,
die nicht gehalten worden sind, sondern nur in dem Zusammen-
hange der Dinge, in dem sie stehen, hätten gehalten werden
können, die also nicht das Wirkliche, sondern das nur Mög-
liche, aber zugleich ästhetisch Wertvolle darstellen.
Erst in der Renaissance beginnt man die Geschichte zu
den Wissenschaften zu rechnen. Bacon ist wohl unter den
Philosophen der erste, der die Geschichte scharf von der
Kunst scheidet, indem er drei verschiedene Weltbilder annimmt:
ein gedächtnismäfsiges (historia), ein phantasiemäfsiges (poesis),
ein vernunftmäfsiges (philosophia). ^) Die historia aber um-
fafst viel mehr als heute. Sie ist sowohl historia naturalis
als auch civilis. Bei Bacon also steht die Menschengeschichte
auf gleicher Stufe mit der beschreibenden Naturwissenschaft.
Sie ist endgültig von der Kunst getrennt, kaum ein Philosoph —
wenn man von der Gegenwart absieht — hat sie wieder unter
den Begriff der Kunst zurückgebracht, nur innerhalb der
Wissenschaft wechselt sie ihre Stellung, bis endlich nach
mancherlei Anregungen von Hume und Condobcet Saint-Simon
^) Vergl. E. Mayb, Die philosophische Geschichtsauffassung der
Neuzeit, I, Wien 1877, S. 93.
Fragen der Geschichtswissenschaft. 327
sie, ebenso wie die Politik, der Wissenschaft, die er allein
als solche anerkennt, der Physik, nahezubringen fordert.^)
Indessen eine Auffassung und Behandlung der Geschichte,
die sie der Kunst nähert, hat auch heilte noch zweifellos ihre
Berechtigung. Die Wissenschaft geht auf das Allgemeine,
ihre Ziele sind der Begriff und das Gesetz, die viel weniger
enthalten, als das Konkrete, Einzelne. Das Ziel der Kunst
aber ist gerade das Konkrete, Einzelne, in dem das Allgemeine
auch enthalten, aber um das Besondere vermehrt ist. Darum
sagt z. B. der römische Dichter lieber „Falemum" statt des
allgemeineren „vinum", spricht Schiller nicht blofs abstrakt von
der „Menschheit Leiden", sondern fügt sofort Laokoon als
einen der Leidenden hinzu, darum sind in der bildenden Kunst
Allegorien, d. h. Gestalten, die nicht ein Einzelwesen, sondern
einen allgemeinen Begriff bedeuten, kalt, soweit sie nicht zu-
gleich persönliche Eigenschaften haben, ohne Wirkung, sie ge-
hören nicht zu den Objekten, die die Kunst zu schaffen hat.
Der Unterschied zwischen den Künsten und der Geschichte
ist nur der, dafs die Künste ein mögliches Konkretum dar-
stellen dürfen, die Geschichte aber ein wirklich gewesenes,
und zwar so, wie es wirklich gewesen ist. Auch in ihrem
Konkretum darf das Allgemeine, das ihm mit anderen gleich-
artigen Konkretis gemeinsam ist, nicht fehlen, aber es darf
nicht isoliert hervortreten, es mufs mit dem Besonderen ver-
bunden sein.
Mit Kecht hat B. Cboce*^) auf dieses Streben der Ge-
schichte nach der Darstellung des Einzelnen aufmerksam ge-
macht. Mit Recht hat er femer hervorgehoben, dafs es auch
andere Objekte gebe, die eine künstlerische, das Einzelne
treu wiedergebende Darstellung verlangen, z. B. die Land-
schaft, so dafs der Geograph zuerst ein Künstler sein müsse,
ehe er wissenschaftlich arbeite, viele, wie Alexandee von
1) Vergl. meine „Philosophie der Geschichte als Sociologie", I,
Leipzig 1897, S. 18 ff.
2) II concetto della storia ridotto sul concetto generale dell' arte,
2. edizione, Borna 1896.
22*
328 Paul Barth:
Humboldt^ auch wirklich Künstler gewesen seien.^) (Ceocb
hätte hinzufügen können, daXs es sich beim Geologen umge-
kehrt verhält, dafs er zuerst das allgemeine Aussehen einer
Landschaft einer vergangenen geologischen Periode erschliefsen
mufs, dann aber eine individuelle Landschaft künstlerisch
darstellen kann.) Wenn E. Bebnheim^ gegen diese Gleich-
stellung der geschichtlichen mit der künstlerischen Darstellung
einwendet, die Geschichte habe ein Anrecht auf den vollen
Titel einer Wissenschaft, da „sie uns ein in sich zusammen-
hängendes, einheitliches und gesichertes Wissen vermittelt",
so treffen eben zwei der von Bernheim ihr gegebenen Prädi-
kate auf die geschichtliche Darstellung, wie sie Ceoce meint
und wie sie in den weitaus meisten Fällen wirklich ist, nicht
zu. Diese Darstellung kann wohl ein gesichertes Wissen
geben, vorausgesetzt, dafs die Zeugnisse für das Dargestellte
in genügender Anzahl vorhanden und nach allen Regeln der
Kritik gesichtet und verwertet worden sind. In sich zu-
sammenhängend und einheitlich aber wird es nur in be-
schränktem Mafse, fast nie in seinem ganzen Umfange sein.
Denn einheitlich und zusammenhängend wird eine Summe von
Wahrnehmungen nur durch stetige strenge Anwendung der
Kategorien des Verstandes, und zwar, wo es sich, wie in der
Geschichte, um Zustände und Ereignisse handelt, durch den
Gebrauch der Kategorie der Kausalität. Nur dadurch werden,
mit Kant zu reden, Wahmehmungsurteile zu Erfahrungsurteilen,
d. h. zu Bestandteilen eines einheitlichen, zusammenhängenden
Systems. Und nur die Erfahrung in diesem Sinne ist Wissen-
schaft.
Und in diesem strengen Sinne ist die allgemein übliche
geschichtliche Darstellung keine Wissenschaft. Denn sie kann
gar keinen ganz einheitlichen, fortlaufenden Zusammenhang
geben. Da sie auf Einzelnes geht, so mufs sie fortwährend
neue Momente einführen, die im Vorausgegangenen, im Vorher-
1) A. a. 0. S. 89.
2) Lehrbuch der historischen Methode, 2. Aufl., Leipzig 1894, S. 111
und 599.
Fragen der Geschichtswissenschaft. 329
erzählten nicht ihre Ursache haben. Aus einem dunklen,
unerkennbaren Hintergrunde treten ihr die neuen Ereignisse
hervor; das Auftreten Napoleons z. B. ist doch ein Moment,
das in den vorausgegangenen Ereignissen nicht begründet ist.
Die Verhältnisse, wie sie nach der Eeaktion des Thermidor
in Paris lagen, sind nicht die Ursache, dafs er ein energischer
Mann war. Sie sind nur die Ursache, dafs er seinen ener-
gischen Willen entfalten konnte. Dieser Wille selbst ist das
Ergebnis der Natur seiner Heimat, des Charakters seines
Volkes, des Charakters und der Lebensführung einer langen
ihm voraufgehenden Ahnenreihe, wie sie Taine, der eben
eine neue, möglichst kausale Betrachtung einführen wollte,
zum Teüe verfolgt hat, wie sie aber der Historiker im Sinne
Belows meist gar nicht verfolgen will. Der letztere wird
einfach Napoleons starken Willen als ein neues, nicht weiter
erklärbares, aber fortan wirkendes Stück zu den bisherigen
Bestandteilen der Wirklichkeit hinzunehmen. Ähnlich verhält
es sich für diese Art der Geschichtsdarstellung mit dem
Hunneneinfall, mit dem Wirken Karls des Grossen und über-
haupt mit unzähligen Ereignissen und Persönlichkeiten, die
sich nicht aus dem Vorausgegangenen ableiten lassen, wie
ja auch Below erklärt; „die Persönlichkeit ist ein Kätsel!"
Diese Ereignisse und Persönlichkeiten treten also in die
Welt so unberechenbar ein, wie der Eingriff des Schicksals
in der Schicksalstragödie, der ebenfalls aufserhalb des kausalen
Zusammenhanges der irdischen Handlungen steht, der sich
diesen Zusammenhang nur unterwirft, aber nicht, wie jedes
irdische Geschehen, selbst ihm unterworfen ist. Die Wissen-
schaft jedoch kennt kein aus reiner, überirdischer Höhe ein-
greifendes Schicksal, sie kennt nur Ereignisse, deren Ursachen
genau so wie die Ursachen der erklärten Ereignisse vorhanden,
aber aus irgend einem Grunde unserem unvollkommenen Wissen
noch verborgen sind. Sie kennt nur unerklärte, nicht uner-
klärbare Ereignisse. „In mundo non datur fatum" ist nach
Kant eine ebenso fundamentale Wahrheit für jede Wissen-
schaft (nicht blofs für die Naturwissenschaft), wie die drei
330 Paul Barth:
anderen: in mundo [nicht blofs in natura!] non datur hiatus,
non datur saltus, non datur casus. ^) Und insofern, als die
geschichtliche Darstellung die Unterbrechung der Kausalreihe
zuläfst, weil sie jeden Augenblick neue Wirkungsweisen alter
Kräfte und neue Kräfte annehmen mufs und darf, ist ihre
Methode gleich der der Kunst.
Sie unterscheidet sich freilich von der Kunst insofern,
als sie sich nur auf eine wirkliche, nicht auf eine mögliche
Vergangenheit richtet, auch nicht, wie die Kunst, ihre Gebilde
überhaupt ohne zeitliches und örtliches Datum hinstellen darf.
Aber für die erkenntnistheoretische Struktur ihres Verfahrens
macht dies keinen prinzipiellen Unterschied, ebenso wie die
Mathematik ihr prinzipielles Verfahren beibehält, gleichviel,
ob sie eine in der Natur vorkommende Kurve (etwa die Pa-
rabel) oder eine rein konstruierte, bisher weder in der Natur,
noch im Laboratorium geschaute behandelt.
Es kommt hier eben in erster Linie auf den erkenntnis-
theoretischen Typus an. Und dieser ist, in der Kunst sowohl
wie in der blofs darstellenden Geschichte, nicht das Streben
nach einem streng geschlossenen Systeme, sondern die mög-
lichste Annäherung an ein Maximum. Für die Geschichte heifst
dieses Maximum die vergangene Wirklichkeit schlechthin,
für die Kunst, wenn sie naturalistisch ist, die gegenwärtige
oder vergangene typische Möglichkeit, wenn sie idealistisch
ist, die nach irgendwelchen ästhetischen oder ethischen
Forderungen gesteigerte Wirklichkeit. Und beide, die
Wissenschaft wie die Kunst, können sich ihrem Ziele nur
annähern, nie es ganz erreichen. Von der Kunst ist es wohl an-
erkannt, dafs sie ein unendliches Streben darstellt, der Idealis-
mus nach dem Schönen, der Naturalismus nach der voll-
kommenen Treue der Wiedergabe des Typischen. Aber auch
die Geschichte kann sich der Treue der Wiedergabe des
Wirklichen nur nähern. Auch das Wirkliche ist nach Wundt^)
ein Grenzbegriff.
^) Kritik der reinen Vernunft, herausg. von Kehbbach, S. 213.
2) System der Philosophie, 1. Aufl., S. 161, 2. Aufl., S. 154.
Fragen der Geschichtswissenschaft. 331
Was Beenheim zur wissenschaftlichen Thätigkeit der
Geschichte rechnet, die Kritik und die Hermeneutik, das
wäre — in einem System der Wissenschaften — nicht zur
Geschichtswissenschaft, sondern zur Erkenntnistheorie und
zwar zur Methodenlehre zu rechnen, die für alle Gebiete, fiir
die Naturwissenschaften, die Geschichte, auch für die Kunst,
gleichviel ob sie das Typische oder das Ideale will, die Ver-
fahrungsweisen zu bestimmen hat. Dafs dies Verfahren der Kunst,
ihre Technik, noch nicht zur Methodenlehre gerechnet wird,
ist ein Mangel ; sie gehört prinzipiell unter sie ; wie sicherlich
auch die Methodenlehre der auf die Naturwissenschaft ge-
gründeten Technik, wie sie Keuleaux^) versucht hat, unter
die Methodenlehre zu rechnen ist. Die Erkenntnistheorie
sollte sich nicht allein auf die Erkenntnis des Wirklichen,
sondern mehr als bisher auch auf die Erkenntnis des Mög-
lichen richten. Und wenn die Kritik und die Hermeneutik
ihr Werk gethan haben, so ist noch nichts weiter vorhanden,
als einzelne Thatsachen, von innerem Zusammenhange ist in
jene Thatsachen selbst nichts eingegangen. Der Historiker
ist dann erst da angelangt, wo der Naturforscher und der
Geograph oft (wenn auch keineswegs immer) ohne wissen-
schaftliche Vorarbeit schon von Anfang an sind, nämlich bei
seinem Materiale. Dieses Material besteht nicht in den Ur-
kunden, Büchern, Inschriften, überhaupt in den Zeugnissen
der Vergangenheit, sondern in den auf Grund der Zeugnisse
erschlossenen Thatsachen. Und erst an diesen beginnt nun
die specifische Arbeit des Geschichtsschreibers, sei es, dafs er
sie blofs im Zusammenhange darstellen, sei es, dafs er aus ihnen
weitere, allgemeinere Wahrheiten erschliefsen will. Ge-
schichtsforschung ist doch nur die Vorstufe der Geschichts-
schreibung, nicht diese selbst, so wenig wie die Erlernung
des Mikroskopierens oder die Anwendung der Mikroskopier-
kunst, wie fein und gewandt sie auch sei, schon Darstellung
des Baues einer Pflanze oder eines Tieres ist.
') Theoretische Kinematik, Braunschweig 1875.
332 Paul Barth:
Aber wenn so der darstellende Historiker wie der
Künstler die durch alle Ereignisse der Welt durchgehende
Kausalität ignorieren darf, so darf er nicht behaupten, dass
sie nicht existiere. Und hierin scheint Below zu irren. Er
scheint die Kausalität als eine Färbung der Dinge zu be-
trachten, die nur dem Philosophen und dem Naturforscher
infolge ihrer besonderen „Brille" erscheine, dem Historiker
aber gar nicht notwendig zu erscheinen brauche. Indessen
die Kausalität ist nicht ein künstliches Werkzeug, wie die
Brille, sie bleibt jedem Menschen fremd, wenn er bloss an-
schaut, auch dem Naturforscher und dem Philosophen, und
sie drängt sich jedem, auch dem Historiker notwendig auf,
wenn er denkt. Sie ist auch nicht ein „Glaube", sondern
die notwendige Voraussetzung des Denkens, sie gehört bei
vielen Philosophen zu den „logischen Axiomen". Sobald der
Historiker denkt, sobald er Wissenschaft treiben will, muss
er alles in strenger kausaler Verknüpfung sehen, oder wo
diese Verknüpfung eine Lücke hat, eiuen Mangel der Wissen-
schaft zugeben.
Wenn Stammler i) meinte das Gesetz der Kausalität gelte nur für
Erscheinungen, „vorliegende", also schon vergangene Handlungen, „woraus
sich als sicher ergiebt, dafs unser Gesetz auf die Vorstellung von künftigen
nur möglichen Handlungen und auf den Gedanken einer Wahl zwischen
ihnen überhaupt noch keine Anwendung finden kann", und wenn er, von
dem Subjektiven zum Objektiven übergehend, hinzufügt : „Der Inhalt dieser
eben genannten Vorstellungen bedeutet das grade Gegenteil von dem
Inhalt derjenigen, den [soll heissen: die] wir als Erscheinungen fassen
können", so ist das seine, aber keineswegs wie er meint, indem er sich
streng an Kant halten will, Kants Ansicht. Er giebt keine Stelle an,
wo Kant dergleichen gelehrt habe, und er wird auch nirgends eine finden.
Nur als sittlich wollendes Wesen ist der Mensch frei von der allgemein
herrschenden Kausalität, nicht einmal als wollendes Wesen schlechthin;
denn Akte der Willkür oder des Begehrungsvermögens, die blofs natürlich,
nicht vernünftig sind, unterliegen ihr nach Kant ebenso, wie jedes Natur-
ereignis. Als denkendes Wesen aber muss der Mensch nach Kant alles.
Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, auch seine und seiner Mit-
menschen Handlungen nach dem Gesetze der Kausalität zusammenfassen,
er kann ihm im Denken nicht entgehen, so wenig, als er über seinen
Schatten springen kann. Wenn vor der Zukunft, so wie es sich Stammleb
^) Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichts-
auffassung, Leipzig 1896, S. 363.
k.
V
Fragen der Geschichtswissenschaft. 333
Torstellt, die Kette der Kausalität abbräche, wie könnte Kant da die
oben angeführten Gesetze aussprechen: ^in mundo non datur saltus, non
datur hiatus, non datur casus?" Kant sagt vielmehr ausdrücklich:^) „der
Verstand kann von dieser [der Natur] nur erkennen, was da ist oder ge-
wesen ist, oder sein wird [nicht was sein soll]", ordnet also den Ge-
setzen des Verstandes die Zukunft nicht minder als die Gegenwart und
die Vergangenheit unter.
Stammlebs Dualismus ist ein ganz anderer als der, den
Kant lehrt. Und zwar ist der erstere ein solcher, dafs er
jede Geisteswissenschaft unmöglich macht. Wenn die Kausa-
lität für die Natur gilt, aber nicht für die menschlichen Hand-
lungen, so sind eben die letzteren frei, es giebt keine Er-
klärung einer That im Sinne einer Subsumtion unter eine
allgemeine Regel, es ist vielmehr dann alles regellos, es giebt
dann aber auch keine Pädagogik und keine Politik, die beide
auf eine Technik der Lenkung des Willens ausgehen und wie
jede Technik, ein gesetzmäfsiges Verhalten ihres Materials
wie ihrer Werkzeuge voraussetzen. Einen solchen, Geistes-
wissenschaft und Geistesfuhrung zerstörenden Dualismus hat
Kant nie gelehrt. Der betrachtende Mensch kann nie von
der Denkform der Kausalität sich befreien, der sittlich wollende
freilich kann die Kausalreihe durchbrechen.
Jeder hat nach Kant seinen intelligiblen und seinen empirischen
Charakter. Der letztere ist Erscheinung, als solche für den denkenden
Zuschauer — sowohl für einen Fremden, als für den Träger des Charakters,
so weit er sich selbst betrachtet — den Naturgesetzen unterworfen, die
häufig gar keine Unterbrechung erleiden, bisweilen aber durch die Eigen-
schaft des intelligiblen Charakters, selbst Anfang einer Beihe von
Wirkungen zu sein, die in der äusseren und der inneren Natur nicht ver-
ursacht sind, einer gewissen Störung ausgesetzt sind. Der denkende
Beobachter mufs dann eben das Sittengesetz als einen besonderen Modus
der Verursachung von Handlungen anerkennen, und wenn er nach Kant
dieses selbst auch nicht erklären, aus irgend welchen Bedingungen ab-
leiten kann, es doch als eine unter gewissen Voraussetzungen wirkende Kraft
in seine Eechnung aufnehmen. Ähnlich, wie etwa ein Physiker elektrische
Experimente macht, die durch einen in der Nähe befindlichen Magneten
modifiziert werden.
Auch dies freilich ist ein Dualismus, und ihn mufs die
von Kant ausgehende, aber nicht bei ihm stehen bleibende
Wissenschaft zu tiberwinden suchen, anstatt da, wo Kant
*). Kritik der reinen Vernunft, herausg. von Kehbbach, S. 438.
334 Paul Barth:
schon Einheit und Konsequenz erreicht hatte, einen neuen
Dualismus zu schaffen. Wenn Kant den wollenden Menschen
so sehr von allen anderen Erscheinungen trennt, dafs er von
ihm sagt, er könne Ursache werden, ohne Wirkung gewesen
zu sein, er könne eine Kausalreihe selbständig beginnen, so
müssen freilich starke Thatsachen vorliegen, um diesen be-
sonnenen Denker zur Annahme einer solchen Diskontinuität
zu bringen. Und diese Thatsachen sind die der eigentümlichen
Natur der psychischen Kausalität. Schopenhaueb hat mit
Recht darauf hingewiesen, dafs in der unbelebten Natur der
Satz gilt: „der Grad der Wirkung ist gleich dem Grade der
Ursache", oder wie man es jetzt ausdrückt: „die Wirkung
ist der Ursache äquivalent". In der belebten Welt, in der
Physiologie fand er diese Äquivalenz nicht. Der Begriff der
Auslösung hat nach ihm es ermöglicht, sie auch darin noch
durchzuführen. Am allerentferntesten von der Äquivalenz
schien ihm die Kausalität des menschlichen Handelns. Und
darin hat er für alle Ewigkeit recht.
Das menschliche Handeln ist Ton so komplicierten Bedingungen
abhängig, dafs an eine Yergleichbarkeit eines Willensaktes des Menschen
mit dem äu/seren Beize, der auf ihn eindringt, selten noch zu denken ist,
die Beziehung zwischen Beiz und Handlung oder — allgemeiner ausge-
drückt — zwischen Beiz und Beaktion sich vielmehr desto weiter von
der Äquivalenz entfernt, je mehr bewufste Wahl auf den Beiz folgt. Am
nächsten werden jener Äquivalenz noch die Triebhandlungen sein, wenn
man sie mit Hilfe des Begriffs der Auslösung deutet, am entferntesten
aber diejenigen, die auf einem bestimmten, erworbenen Charakter beruhen.
Die Triebhandlungen beruhen auf Beizen, auf einzelnen Empfindungen
oder Vorstellungen, z. B. das Tanzen auf der erregenden Kraft gewisser
Gehörsempfindungen, die Charakterhandlungen aber auf abstrakten Grund-
sätzen. Empfindungen jedoch und Vorstellungen unterliegen dem Gesetze
der Ermüdung, sie können im Laufe der Zeit sich abstumpfen und ihren
Einflufe auf den Willen verlieren. Grundsätze hingegen, z. B. der Vorsatz,
nie Böses mit Bösem zu vergelten, steigern durch Wiederholung ihren
Einflufs, die Gewöhnung befestigt ihre Kraft, anstatt sie zu vermindern,
so dafs sie allerdings ein ganz anderes Verhältnis zum menschlichen Willen
zeigen, als der Beiz der Empfindungen und der Vorstellungen. Auch bei
den Grundsätzen ist die Mitwirkung des Gefühls (besonders bei erhabenen,
„grofsen" Geboten) nicht ganz ausgeschlossen, aber sie tritt doch hinter
der Macht der Gewöhnung und der logischen Konsequenz so sehr zurück,
dafs es schliefslich verständlich ist, warum Kant die sittlichen Grundsätze
aus dem Naturzusammenhange heraushob. Nur hätte er diese Heraushebung
Fragen der Geschichtswissenschaft. 335
lediglich auf die specifische Art der Wirkung der Grundsätze des Cha-
rakters gründen sollen, nicht auf eine vermeintliche völlige Zusammen-
hangslosigkeit mit dem ührigen Seelenleben, aus dem doch der Charakter
Bchliefslich sich aufgebaut hat.
Aber wenn anch die Gleichheit von Ursache und Wirkung
im Gebiete der menschlichen Handlungen aufhört, so hört
doch damit nicht die Kausalität selbst auf. Nur die natur-
wissenschaftliche Kausalität endet hier; und, soweit in seiner
Betonung des Unterschieds der Geschichte von den Natur-
wissenschaften Below dies meint, ist er im Rechte. Auf der
Gleichheit von Ursache und Wirkung und auf der Mefsbarkeit
der Erscheinungen beruht die Fälligkeit der Naturwissen-
schaften, in vielen Gebieten den Eintritt gewisser Veränderungen
auf Tag und Stunde, in manchen sogar auf Minute und Sekunde
vorauszusagen, und die Möglichkeit, die Gröfse dieser Ver-
änderungen genau zu bestimmen, kurz die sogenannte „Exakt-
heit", die man nach gewöhnlichem, aber unberechtigtem
Sprachgebrauche nur da findet, wo es quantitative, nicht blofs
qualitative Gesetze giebt.
Dieser Grad wissenschaftlicher Erkenntnis ist nun jfreilich
für die Handlungen Einzelner oder ganzer Gruppen von Menschen,
die nach Below und nach der bisher vorwiegenden Richtung
den Gegenstand der Geschichte bilden, ganz unerreichbar.
Die besondere Beschaffenheit der psychischen Kausalität läfst,
wie wir gesehen haben, keine Vorausberechnung auf Tag und
Stunde zu, so dafs wir z. B. nicht wissen, ob und wann das
christliche Kreuz wieder über der Hagia Sophia in Kon-
stantinopel sich erheben wird, und ebensowenig erklären können,
warum ein bestimmtes Ereignis, z. B. die Ermordung Wallen-
steins, gerade an diesem bestimmten Tage, dem 25. Februar
1634, eintrat. So können wir niemals die Glieder einer ge-
schichtlichen Kausalreihe quantitativ genau bestimmen. Oft
aber fehlt uns die stetige Kausalreihe überhaupt. Von mancher
Handlung wissen wir die Ursache, die Summe der Motive
gar nicht. Und wenn wir sie erschliefsen wollen, so machen
wir den Schlufs von der Wirkung auf die Ursache, der nach
einer sehr alten logischen Regel sehr unsicher ist. Denn eine
336 Paul Barth:
Ursache kann nur eine bestimmte Wirkung haben, aber eine
Wirkung, ein Ereignis, kann sehr verschiedenen Ursachen
entsprungen sein. Das Herzklopfen z. B. ist ein Symptom,
eine Wirkung, die aus sehr verschiedenen Ursachen, sehr
verschiedenen pathologischen Zuständen entstanden sein kann.
Es kann in konstanter Nervosität, in vorübergehender Er-
regung, in einer Vergiftung, in einem Herzklappenfehler oder
in anderen Verhältnissen seinen Ursprung haben.
Immer also, wenn es sich um Darstellung geschichtlicher
Ereignisse, die doch schliefslich nur menschliche Thaten sind,
handelt, wird man sich mit einer ähnlichen Darstellung be-
gnügen müssen, wie die Kunst: mit einer Wiedergabe des
Einzelnen, in der die Kausalkette oft abbricht, oder nur nach
unsicheren Analogien fortgeflQirt wird, die femer mit allge-
meinen Begriffen an ihren Gegenstand herantritt, aber die
besonderen Züge desselben der Anschaulichkeit wegen sorg-
fältig verzeichnet, ohne dafs sie nötig hat bei jedem dieser
Züge das Warum seines Erscheinens zu erklären. Als ein
mustergiltiges Beispiel dieser Art anschaulicher geschicht-
licher Darstellung sei etwa die „französische Revolution"
Carlyles genannt.
Da indessen die Geschichte, wie oben bemerkt, ein
anderes Maximum hat, dem sie sich zu nähern strebt, als die
Kunst, nämlich die Wirklichkeit schlechthin, während die
naturalistische Kunst dem möglichen, durchschnittlichen, die
idealistische dem möglichen, aber qualitativ gesteigerten Leben
nachstrebt, so ist es verständlich, wenn Bernheim ^) die Ge-
schichte mit der Kunst nicht vermengt wissen will. Sie fallen
zwar in der Erkenntnistheorie unter dieselbe Gattung, die
Geisteserzeugnisse, die nur teilweise den BegriflF^der Kausalität
anwenden, aber sie sind speciflsch verschieden. Die Geschichte
darf nichts verrücken, weder Inneres noch Äusseres, die
Kunst darf Äufseres ändern, sie kann Namen, Orte, Datierung
verändern, wenn nur die innere Wahrheit erhalten bleibt.
^) Lehrbuch der historischen Methode, 2. Aufl., Leipzig 1894,
S. 100 ff.
Fragen der Geschichtswissenschaft. 337
Darum ist es wohl besser, die Geschichte, wie sie Below im
Auge hat, und die grofse Mehrzahl der geschichtlichen Werke
sie geben, „darstellende Geschichte" zu nennen. Ähnlich
wie Herbart ^) denjenigen Vortrag des Lehrers, der weiter
nichts bezweckt als die sinnliche Anschauung zu ersetzen,
so zu sprechen, dafs der Schüler das Beschriebene zu sehen
und zu hören glaube, den blofs darstellenden Unterricht
nennt, von dem er den an das Denken sich wendenden als
analytischen oder synthetischen unterscheidet.
Ohne Zweifel hat die „darstellende" Geschichte Vorzüge.
Sie befriedigt, so weit es möglich ist, das Bedürfnis nach
Anschauung, das nicht blofs bei dem naiven, sondern auch
bei dem entwickelten Menschen ein sehr hohes ist. Wir
möchten alle gerne Zuschauer der bedeutungsvollen Thaten
und Ereignisse der Vergangenheit sein. Aufserdem ist die
Darstellung grofser Persönlichkeiten von pädagogischem Werte
und desto wirksamer, je mehr anschauliche Einzelheiten sie
einfügt.
Aber für das Denken ist die Geschichte als blofse, wenn
auch noch so künstlerische Darstellung immer und ewig un-
genügend. Wer denkt, wiU im Wechsel das Beständige sehen,
den „ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht", also das
den Erscheinungen Gemeinsame, die allgemeinen Wahrheiten.
Solcher bedarf auch der Politiker, nicht einer Thatsache von
beschränkter Dauer, sondern stets gültiger, allgemeiner Sätze,
mit deren Hilfe er aus der Gegenwart seine Schlüsse auf die
Zukunft ziehen kann. Und auch Below kann sich dieses
Verlangens nicht entschlagen. Er meint, der Nutzen der
historischen Betrachtung sei sehr positiver Natur (S. 243),
und führt als positiv, nützlich zwei „allgemeine Wahrheiten"
an: 1. den Gedanken der historischen Rechtsschule, dafs das
Recht Produkt des Volksgeistes sei, der aber seine Ein-
schränkung finde durch „die RANKE'sche Entdeckung von dem
Einflufs der auswärtigen Verhältnisse auf die inneren Vorgänge
^) Allgemeine Pädagogik, 2. Buch, 5. Kap., I. UmriXs pädagogischer
Vorlesungen, § 107 ff.
338 Paul Barth:
der Staaten"; 2. „die Anschauung von der tiefgreifenden Be-
deutung der Persönlichkeit", die ebenfalls der von der histo-
rischen Eechtsschule und der Komantik ausgegangenen Hoch-
schätzung des Volksgeistes zur Einschränkung diene.
Schon Lampeecht hat in seiner Gegenschrift (S. 24)
mit Recht bemerkt, dafs mit diesen „allgemeinen Wahrheiten"
das Gebiet der Geschichte der Thaten und Ereignisse über-
schritten sei. Below wird darauf vielleicht einwenden, dafs
er blofs von allgemeinen Wahrheiten als Zusammenfassungen
dessen, was vielen Einzelerscheinungen gemeinsam sei, nicht
von Gesetzen gesprochen habe. Und nur wo Gesetze gelten,
da sei auch Kausalität.
Indessen dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Wenn
Below den RANKE'schen Satz anerkennt, dafs die auswärtigen
Verhältnisse Einflufs auf die inneren Vorgänge der Staaten
haben, so giebt er zu, dafs hier gewisse Ursachen immer
und notwendig gewisse Wirkungen haben, d. h. die Kau-
salität in ihren beiden specifischen erkenntnistheoretischen
Merkmalen, der Allgemeinheit und der Notwendigkeit, vor-
handen ist. Damit ist nicht gesagt, dafs die Wirkungen jener
Ursachen immer sichtbar werden müssen, sie können ja durch
irgendwelche anderen Mächte dieser Sichtbarkeit beraubt
werden und im Zustande blofser Spannkräfte bleiben. Vor-
handen müssen sie aber jedenfalls sein, sonst wäre eben jene
Wahrheit vom Einflüsse der auswärtigen Verhältnisse keine
„allgemeine" und flir Folgerungen, für „positiven Nutzen"
nichts mit ihr anzufangen. Und ebenso wenig hätte sie irgend-
welche logische Kraft, wenn sie nicht auf Notwendigkeit be-
ruhte.
Nun ist es aber unmöglich, auf einem Gebiete, wie es
die Geschichte ist, das erfahrungsgemäfs in allen seinen Teilen
zusammenhängt, hier die Kausalität gelten, dort aber nicht
gelten lassen zu wollen. Denn in einem so zusammenhängen-
den Gebiete steht alles schliefslich in Wechselwirkung. Diese
ist, sobald man die Kausalität anerkennt und, wie die Wissen-
schaft es notwendig thun mufs, für die Welt der Erfahrung,
Fragen der Geschichtswissenschaft. 339
sowohl die physische als auch die geistige, die Endlichkeit
annimmt, eine notwendige Folgerung. Sie ist bei Kant ein
wesentliches Element der Wirklichkeit, wobei er nur darin
irrt, dafs er sie nicht aus der Kausalität ableitet, sondern als
selbständige, neue Kategorie neben sie stellt. Und sie ist
bei einem nur von der Erfahrung ausgehenden Denker, wie
Spencee, sogar eine in stetem Wachstum begriffene Erscheinung.
Denn zu seinem Begriffe der Evolution gehört auch die stetig
zunehmende Abhängigkeit aller Elemente des Seienden von-
einander und ihre zunehmende Wirkung aufeinander. Jedes
kleine oder grofse Moment der Geschichte mufs also, da es
sich nicht in eine Unendlichkeit zerstreuen kann, in seiner
zeitlichen und räumlichen kausalen Fortwirkung schliefslich
mit jedem anderen Momente einmal zusammenkommen, mit
ihm sich vereinigen oder interferieren. Ist also die Kausalität
an einem Punkte aufgehoben, so giebt es auch keine Sicher-
heit ihrer Geltung für alle anderen Punkte. Herrscht in den
übrigen Beziehungen der Geschichte keine regelmäfsige Kau-
salität, so ist es auch notwendig, dafs diese Unregelmäfsigkeit
in die Beziehung der äufseren zu den inneren Verhältnissen
der Staaten übergreife und die nach Ranke vorhandene Regel-
mäfsigkeit dieser Beziehung vernichte. Nun scheint ja auch
BEiiOw nur zu sagen, die Kausalität sei vielleicht vorhanden,
aber nicht erkennbar. Wenigstens S. 239, Anm. erklärt
er, er leugne nur, dafs es wahrnehmbare Gesetze der Ge-
schichte gebe. „Denn es läfst sich ja nicht beweisen, dafs
der Charakter der Notwendigkeit bei den geschichtlichen Er-
eignissen absolut ausgeschlossen ist." Aber anderswo scheint
ihm wieder der Ausschlufs dieser Notwendigkeit als das
Richtige. So S. 245: „Wer einem ,socialen Ideal*, wer über-
haupt einem Ideal huldigt, der protestiert gegen den lähmenden
Gedanken einer rein gesetzmäfsigen Entwicklung". Es ist
wohl der SiAMMLEB'sche Dualismus, der hier zu Grunde liegt,
von dem oben nachgewiesen wurde, dafs er ein anderer als
der KANT'sche ist, aber er ist logisch unhaltbar. Wird die
Kausalität in einem Teile der Geschichte aufgegeben, so ist
340 Paul Barth:
sie auch in den übrigen Teilen zerstört. Giebt es, mit Kä.nt
zu reden, einen „Hiatus", eine Lücke im Zusammenhange der
Welt, so giebt es keine Kausalität. Und es wäre sehr leicht
an Kant anknüpfend nachzuweisen, dafs ohne Kausalität nicht
blofs die Ordnung der objektiven Welt, sondern auch die des
Denkens aufhören würde, dafs schon in der Anerkennung
der Gesetze der Association der Vorstellungen die Kausalität
vorausgesetzt wird, dafs ohne sie eine sehr einfache Leistung
des Denkens, die Erwartung, also erst recht jedes kunstmäfsige
Denken unmöglich wäre, dafs die Kausalität also im Wesen
des Denkens (der Synthesis des Bewufstseins oder der syn-
thetischen Einheit des Bewufstseins, wie Kant sagt) begründet
ist. und sie läfst darum keinen Hiatus zu.
Und gerade, wer „einem Ideal huldigt", der bedarf für
seinen Glauben einer durchgehenden Kausalität, also auch
durchgehender Gesetzmäfsigkeit, ähnlich wie oben erinnert
wurde, dafs der Pädagog und der Politiker den Determinismus
des WiQens voraussetzen. Denn wenn in der Geschichte die
Kausalkette jeden Augenblick abbrechen kann, dann ist es,
wie streng auch ihr bisheriger Verlauf die Eichtung auf den
Idealzustand innegehalten habe, doch nicht sicher, dafs sie
schliefslich zu diesem führe. Die Eichtung kann ja jeden
Augenblick umschlagen. Dann ist auch keiner sicher, dafs seine
eigene Thätigkeit zur Erreichung des Idealzustandes irgend
etwas beitragen könne. Denn ihre Nachwirkung kann ja in
dem allgemeinen, teils vorwärts, teils rückwärts wogenden
Chaos untergehen. Wer aber mit vielen Denkern, Philosophen
wie Historikern, glaubt und mit dem Dichter Tennyson^) sagt:
„Yet I doubt not, through the ages one increasing purpose runs,
And the thoughts of men are widened with the process of the suns*',
und wer mit Goethe denkt: „Die vernünftige Welt ist als
ein grofses unsterbliches Individuum zu betrachten, welches
unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich
sogar über das Zufällige zum Herrn erhebt",^ der ist Idealist,
^) In Locksley Hall.
^) Dieser an einen bekannten Ausspruch Aügubtotb und Pascals
Fragen der Geschichtswissenschaft. 341
weil er die Überzeugung hat, dafs sein eigenes Thun sich in
einen grofsen forttragenden Strom einordnet, nicht in irgend-
welchen gesetzlosen Zufälligkeiten versandet.
Und so weist alles darauf hin: Wer einmal einige all-
gemeine Wahrheiten erkannt und anerkannt hat, der wird
auch weiter suchen und suchen müssen, der setzt damit die
allgemein gültige Kausalität und die gesetzmäfsige Entwicklung
voraus, der ergiebt sich — nach Belows Ausdrucke — der
„naturwissenschaftUchen Auflfassung" der Geschichte.
Es ist eine sehr einleuchtende Wahrheit, an die Below
(S. 232) mit Simmbl erinnert, dafs es wegen der Komplexität
aller geschichtlichen Erscheinungen keine einheitliche Formel
für die gesamte geschichtliche Entwicklung geben kann. Nicht
einmal Comte hat dies angenommen,^) obgleich bei ihm, der
von den Naturwissenschaften herkam, dies erklärlich gewesen
wäre. Der denkende Betrachter der Geschichte wird noch
mehr zugeben, er wird sogar einräumen, dafs man zunächst —
eben wegen der Vielfältigkeit der überall mitwirkenden Ur-
sachen — von eigentlich kausalen Gesetzen absehen, dafs
man aber die von J. St. Mill^ und allen Philosophen nach
ihm sogenannten empirischen Gesetze oder noch besser em-
pirischen Gleichförmigkeiten zu finden streben müsse.
Wo aber sind diese Gleichförmigkeiten zu suchen? —
Die an die Sociologie anknüpfenden Historiker haben mit
Recht gefunden, dafs der einzelne Mensch nur zum Teile
individuell ist, dafs die Elemente seines Bewufstseins zum
andern Teile in der herrschenden Weltanschauung, in der er
lebt, begründet sind. So unterscheidet Lacombb^) am Menschen
dreierlei: 1. den allgemeinen Menschen, den Menschen als
Naturwesen, d. h. alle diejenigen Merkmale, die Sache der
allgemeinen Biologie (der Anthropologie und Psychologie) sind ;
ankliDgende Satz Goethes ist citiert bei W. Dilthet, Einleitung in die
Geisteswissenschaften, I, Leipzig 1883, S. 66.
^) Yergl. mein oben genanntes Buch, S. 33 £f.
^ Logik, Buch III, 5. Kap., § 8 und 22. Kap.
^) L'histoire comme science, Paris 1894. Vergl. mein oben ge-
nanntes Buch, S. 79 ff.
Yierteljahrsschrift f. wisBenschaftl. Philosophie. XXm. 3. 28
342 Paul Barth:
2. den singulären Menschen, der bestimmte individuelle Merk-
male trägt; 3. den temporären oder historischen Menschen,
der nicht nur allgemein menschliche, ewige, auch nicht nur
singulare, nur einmal vorhandene Züge aufweist, sondern solche,
die den Menschen eines bestimmten Gebiets und einer be-
stimmten Epoche gemeinsam, die lür ihren Zeitabschnitt typisch
sind. Und dieselbe Dreiheit der Merkmale unterscheidet er
an jeder einzigen menschlichen Handlung und an jedem ge-
schichtlichen Ereignis, das ja aus einer oder aus mehreren
menschlichen Handlungen besteht.
Es ist nun offenbar, dafs das Singulare, bei jedem Ver-
schiedene, beständig Wechselnde nicht auf einer beständigen
Ursache, sondern auf einem beständig veränderlichen Zusammen-
wirken vieler Ursachen beruht, dafe dieses Zusammenwirken
so mannigfaltig wie die Individuen selbst ist und wegen der
oben erwähnten Komplikation der psychischen Kausalität, von
sehr wenigen genau bekannten Persönlichkeiten abgesehen, sich
unserer- Erkenntnis entzieht, dafs aber dasjenige, was an
Personen und an Ereignissen typisch ist, was sich an aUen
oder den meisten Personen eines Landes eine geschichtliche
Periode hindurch wiederholt, auf einer alle betreffenden und
zugleich dauernden und, weil so oft und in so vielen wirksam,
nicht verborgen bleibenden Ursache beruht, nämlich auf einer
bestimmten, allgemein verbreiteten Weltanschauung oder einer
Einrichtung, die teils aus dieser Weltanschauung, teils aus
den einer bestimmten Klasse oder einem ganzen Volke gemein-
samen Bedürfhissen hervorgegangen ist. — Solche Weltan-
schauungen und Einrichtungen sind, weil Ursachen so vieler
Handlungen, auch besonders wichtig. Der denkende Betrachter
der Geschichte wird sie darum herausheben und in möglichst
bestimmten Ausdrücken definieren. Wenn er bei anderen
Völkern in gewissen Epochen ähnliche Einrichtungen und
ähnliche Weltanschauungen findet, so wird er eine Gleich-
förmigkeit, d. h. ein empirisches Gesetz aufstellen können,
dafs in dieser und jener Periode der Geschichte eines Volkes
sich dieser oder jener Inhalt der Religion und diese oder jene
Fragen der Geschichtswissenschaft. 343
Einrichtung findet. Es ist dies, wie gesagt, zunächst nur ein
empirisches Gesetz, eine Gleichförmigkeit, aber keineswegs
wertlos, da es zur Vereinheitlichung des Wissens dient. Je
gröfser die Zahl der Stufen des Völkerlebens ist, durch die
hindurch sich die Gleichförmigkeit der Entwicklung nach-
weisen läfst, desto mehr dient sie der Vereinheitlichung des
Wissens, desto mehr erlaubt sie auch Analogieschlüsse von
der Entwicklung eines vorausgeeilten Volkes auf ein anderes,
das langsamer gegangen ist, Analogieschlüsse, die desto
richtiger sein werden, wenn sie neben den Gleichheiten auch
die Verschiedenheiten der jedesmaligen Lagen in Eechnung
ziehen, desto mehr giebt die Gleichförmigkeit den „positiven
Nutzen", den Below erwähnt und sehr betont.
Nach Windelband, ^) dem Below (S. 239) beistimmt,
sind es freilich „nur ein paar triviale Allgemeinheiten, die
sich nur mit der sorgfältigen Zergliederung ihrer zahlreichen
Ausnahmen entschuldigen lassen", was bei solchem Streben
herauskommt. Aus dem Zusammenhange, in dem diese Worte
stehen, geht hervor, dafs Windelband dabei an die „soge-
nannte Geschichtsphilosophie des Positivismus", also an Comte
gedacht hat. Ich will hier nicht über den Wert dieser Ge-
schichtsphilosophie rechten, weil es, wie hoch oder wie niedrig
dieser sei, nicht billig ist, die Sociologie, die bei Comte mit
der Geschichtsphilosophie identisch ist, endgültig nach ihren
ersten Anfängen zu beurteilen. Hätte Windelband an die
allgemeinen Wahrheiten gedacht, die, durch Comte angeregt,
die späteren Sociologen von ihm bis zur Gegenwart, etwa
bis B. KiDD, nach sehr breiter Induktion teils gefiinden haben,
teils aus den Thatsachen hätten entnehmen können, z. B. an
die extensiv und intensiv wachsende Autonomie der Persön-
lichkeit, wie sie in unserem ganzen Kulturkreise seit dem
Erwachen der Persönlichkeit, d. h. seit dem Ende der Gentil-
verfassung, sich in der Rechtsgeschichte deutlich offenbart,^)
^) Geschichte u. Naturwissenschaft, Eektoratsrede, Strafsburg 1894, S. 21 .
^) Vergl. H. S. Maine, Ancient Law, am Ende des 5. Kap. Auch
meine Abhandlung: Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit,
in der Viertetjahrsschrift für wissenschaftl. Philosophie, XXIII, S. 82 ff.
23*
344 I'aal Barth:
an den überall bei den geschichtlichen Völkern nachweisbaren
oder erschliefsbaren Gang der Religion vom Geisterglauben
dnrch den Animismus, den naturalistischen Polytheismus, die
Gesetzesreligion bis zur Religion der Gesinnung, an die nach-
weisbare stetige Zunahme des Mitleids, die wahrscheinlich
auch die Zunahme der Mitfreude einschliefst, ^) an die steigende
Vergeistigung und VerinnerUchung des künstlerischen Schaffens,
wie sie trotz vielen vorübergehenden Rückfällen in der Kunst-
geschichte sich darstellt und schon der HEOEL'schen Unter-
scheidung der symbolischen, der klassischen und der ro-
mantischen Kunst als Thatsachenkem zu Grunde liegt, —
wenn Windelband alle diese Entwicklungstendenzen und so
manches andere, was die nicht blofe in den Naturwissen-
schaften, etwa in der vergleichenden Anatomie, sondern auch
in der Geschichte sehr mächtige vergleichende Methode ge-
funden hat, seiner Beachtung gewürdigt hätte, so wäre sein
Urteil über die von der Sociologie ermöglichten Allgemein-
heiten sicherlich anders ausgefallen. Wer die angeführten
geschichtlichen Bewegungsrichtungen unbefangen betrachtet,
wird ihre Auffindung nicht für trivial halten. Auch nicht für
praktisch bedeutungslos. Sie ist nach beiden Seiten, nach
der praktischen wie nach der theoretischen, mindestens ebenso
wichtig, wie jene obenerwähnte „wissenschaftliche Entdeckung
allerersten Ranges" von Ranke (über den Einflufs der aus-
wärtigen Verhältnisse auf die inneren Vorgänge der Staaten),
die nach Below „alle Entdeckungen der Nationalökonomen und
Sociologen, von den modernen Geschichtsklitterem gar nicht
zu reden, bei weitem hinter sich läfst" (S. 240).
Und ärmlich dürfen ja die Allgemeinheiten nicht sein,
denn sie sind es ja, von denen Below „positiven Nutzen**
erwartet. Sie sind in der That diejenigen Ergebnisse der
Geschichte, aus denen der Politiker seine Schlüsse auf die
Zukunft ziehen kann. Solche Schlüsse sind, wie oben bemerkt,
solange es sich um empirische Gesetze handelt, blofs Analogie-
schlüsse, aber auch solche sind für das. Leben wertvoll.
^) Vergl. meine vorstehend genannte Abhandlung S. 96 — 99.
\
Fragen der Geschichtswissenschaft. 345
Z. B. „Ich werde sterben'', dieser Schlufs ist, wenn man die Er-
fahrung der Menschheit in Bechnung zieht, ein Induktionsschlufs, beruhend
auf der seit Jahrtausenden gemachten Beobachtung, dafs die Menschen ge-
storben sind. Dem Obersatz dieses Induktionsschlusses hat man sogar
ganz allgemeine Form gegeben: „Alle Menschen sind sterblich'', obgleich
er nur ein empirisches, nicht ein Kausalgesetz ist. Denn die chemischen
Ursachen der Sterblichkeit sind unbekannt. Wir haben für jenen Obersatz
nur einen Erkenntnis-, nicht einen Bealgrund. Für des Einzelnen Beobachtung
aber, wenn man unmittelbare Wahrnehmung verlangt, ist der Schlufs „ich
werde sterben'' nur ein Analogieschlufs. Denn aus unmittelbarer Wahr-
nehmung kennt jeder nur wenige Todesfalle. Was man aber aus nur
wenigen Fällen schliefst, ist ein Analogieschlufs. Und so liegen überhaupt
unserem privaten Thun und Lassen neben anderen Arten der Folgerung
auch unzählige Analogieschlüsse zu Grunde. Es sind also auch blofse
Analogieschlüsse keineswegs zu verachten.
Aber freilich noch wertvoller als empirische Gesetze
sind die Kausalgesetze. Sie geben eben die konstant wirken-
den Ursachen, die hinter den Erscheinungen hegen, sie geben
ihren Wirkungsmodus, einige wenige einfache Momente, aus
deren Zusammenwirken die komplizierteren empirischen Ge-
setze abzuleiten sind. Und so wird auch die Geschichte nach
den Ursachen ihrer empirisch festgestellten Gleichförmigkeiten
suchen. Die Ursachen aber der menschlichen Handlungen
sind die Zustände und die Vorgänge in den menschUchen
Seelen. Und so mufs die Geschichte, die nach Gesetzen
sucht, notwendig die Psychologie zur Hilfswissenschaft nehmen.
Hier tritt uns nun die oft wiederholte Behauptung ent-
gegen, auch so, wenn sie Zustände psychologisch erklären
wolle, komme die Geschichte doch zu keinem „naturwissen-
schaftUchen Verfahren", denn sie könne die jetzt herrschende
„naturwissenschaftlich begründete" Psychologie nicht brauchen,
sie bedürfe vielmehr einer besonderen „historischen" Psychologie.
Diese Ansicht ist mit dem Versuche einer Beweisführung
von W. DiLTHBY^) aufgestellt, von anderen als blofse Be-
hauptung ausgesprochen worden. Aber was Dilthet gegen
die „erklärende" Psychologie einwendet, die bei ihm mit der
1) In dem ohen angeführten Werke S. 40 ff. Auch in einer Ab-
handlung in den Berichten der Berliner Akademie der Wissen-
schaften 1894, II, S. 1313 ff.: Ideen über eine beschreibende und zer-
gliedernde Psychologie.
346 Paul Barth:
„naturwissenschaftlichen" gleichbedeutend ist, das wird teils
ohne weiteres von dieser anerkannt,^) giebt also keinen Grund
für eine neue Wissenschaft ab, teils ist es unzutreffend. Wenn
DiLTHEY durch die seiner „historischen" Psychologie gegebenen
Beiwörter „beschreibend und zergliedernd" den komplexen
Charakter jeder geschichtlichen Erscheinung bezeichnen wül,
der die in den Naturwissenschaften bisweilen mögliche Er-
klärung aus einem einzigen Prinzip nicht zulasse, so wird
die heutige „naturwissenschaftliche" Psychologie dies ohne
weiteres zugeben. Was aber den von Dilthey gegen sie
gleichfalls behaupteten Gebrauch allzu vieler Hypothesen be-
trifft, so hat H. Ebbinghaus ^ diesen Vorwurf genügend ent-
kräftet. Die gegenwärtige induktiv und, so weit möglich,
experimentell arbeitende Psychologie hat weniger Hypothesen,
als die psychologischen Systeme der Vergangenheit, deren
einem ihre Gegner doch anhängen müssen.
Was man mit Recht historische Psychologie nennt, unter-
scheidet sich von der allgemeinen wissenschaftlichen Psycho-
logie nicht anders, als die Meteorologie von der Physik. Es
ist einfach eine Anwendung der allgemeinen Wissenschaft,
um aus ihren Gesetzen komplexe Erscheinungen zu erklären.
Wie es aber niemandem einfallen wird, aus einer Anwendung
der Physik, der Meteorologie, eine besondere Art der Physik
zu machen, so sollte auch niemand aus einer Anwendung der
Psychologie eine besondere Art der Psychologie machen wollen.
Nicht dafs man ohne weiteres die physikalischen Gesetze
auf die Erscheinungen des Wetters übertragen könnte. Auch
hier bedarf es neuer Induktion, vielleicht neuer, im Labora-
torium nicht vorkommender üntersuchungsarbeiten. Das
DovE'sche Gesetz der Winddrehung ist nicht durch Deduktion
aus bekannten physikalischen Gesetzen, sondern aus den be-
obachteten Thatsachen gefunden worden. Aber es ist, nach-
dem es als empirisches Gesetz gefunden war, nach den all-
*) Vergl. Zeitschrift für Psychologie uod Physiologie der Sinnes-
organe, Bd. IX, S. 180—184.
a) A. a. 0. S. 201 if.
Fragen der Geschichtswissenschaft. 347
gemeineren Gesetzen der Physik aus der Mechanik der Luft-
strömungen und der Erddrehung erklärt worden. Kein Meteoro-
loge wird sich seine besondere „Physik" machen, sondern
sich durch das Studium der allgemeinen Physik für sein be-
sonderes Fach vorbereiten.
Und genau so verhält es sich mit der Anwendung der
Psychologie auf die Geschichte. Der künftige wissenschaft-
liche Historiker wird Psychologie studieren, und zwar die
einzige, die es giebt, nicht eine vermeintliche „historische",
von der immerfort gesprochen wird, aus der aber noch keiner
ihrer Sachwalter eine etwa der wissenschaftlichen Psychologie
nicht bekannte oder nicht zugängliche Wahrheit gelehrt hat.
Der Psychologe wird natürlich — und das ist einer der
den Anwälten der „historischen Psychologie" vorschwebenden
Unterschiede, ihr logischer Beweggrund — nicht vergessen,
dafs die seelischen Vorgänge einen anderen Charakter an-
nehmen, wenn sie nicht mehr individuell, sondern einer Menge,
vielleicht einer bestimmt abgegrenzten Menge, einem Volke
oder einer Staatsgemeinde innerhalb eines Volkes, oder einem
anderen gröfseren Kreise gemeinsam sind. E. de Robebty ^)
hat, um die Annahme eines besonderen socialen „Psychismus"
im Gegensatze zum seelischen Einzelleben zu Stützen, darauf
aufmerksam gemacht, dafs ein Wassertropfen ein anderes physi-
kalisches Verhalten aufweist als eine Wassermasse; er hätte
mit noch gröfserem Rechte darauf hinweisen können, dafs
Wasser in feinen Röhren, sogenannten Kapillarröhren, sogar
bis zu einem gewissen Grade von der Schwerkraft unabhängig
ist und Eigenschaften zeigt, die es in weiteren Röhren durch-
aus nicht hat. Aber die auffallige Thatsache der Kapillar-
attraktion begründet durchaus keine besondere Art der
Physik, sondern sie wird schliefslich den allgemein aner-
kannten physikalischen Begriffen und Gesetzen untergeordnet.
Ebenso zeigen seelische Prozesse und Zustände, die der
Menge gemeinsam sind, andere Erscheinungen als diejenigen,
1) L'id6e de P6volution et l'hypothese du psychisme social in der
Eevue philoaophique, Vol. 46 (1898), No. 7, S. 1—18.
348 Paul Barth:
die auf den Einzelnen beschränkt sind. Sind es Vorstellungen
über objektive oder sittliche Verhältnisse, so haben sie eben
dadurch, dafs sie vielen gemeinsam sind, schon eine gröisere
Überzeugungskraft, die der Vorstellung eines Individuums
fehlt. Führen die gemeinsamen Vorstellungen zu Handlungen,
so haben diese Handlungen eine viel stärkere Suggestions-
kraft, weil sie öfter wiederholt werden, als die eines Einzelnen;
sie werden, solange nicht die allmählich gegen den Reiz sich
geltend machende Ermüdung und Abstumpfung wirkt, viel
kräftiger zur Nachahmung anregen, als was nur von Einem
geschieht. Sie sind darum die Handlungen, die Macht ge-
winnen, die das Leben des Volkes ausmachen und gestalten,
die „historischen" Handlungen. Und jede Vorstellung eines
Einzelnen ist nur so weit historisch, als sie allgemeine An-
erkennung findet und dadurch nicht blofs seine, sondern auch
der anderen Handlungen bestimmt. Freilich streben alle Vor-
stellungen, alle Ideen danach, sich zu jener allgemeinen An-
erkennung durchzusetzen; es giebt einen Kampf der Ideen
ums Dasein, d. h. um Anerkennung, aber nur wenige siegen,
und nur diese erwerben den auszeichnenden Charakter, Ge-
schichte zu machen, geschichtlich zu sein. Diejenigen Vor-
stellungen, die im Privatgebrauche bleiben, sind nicht ge-
schichtlich, sie können ja vielleicht später dazu gelangen ; so-
lange sie aber nur in einem Einzelnen leben, gehören sie nicht
in die Geschichte, sondern in die allgemeine Psychologie, und
zwar in denjenigen Teil, der die Möglichkeiten individueller
Kombination der Seelenvorgänge untersucht. Und ebenso wie
mit den Vorstellungen verhält es sich mit den Gefühlen und
Willensakten.
Aber die Thatsache, dafs es eine besondere, ausgezeichnete
Art von Vorstellungen und Gefühlen giebt, die geschicht-
lichen, begründet keine besondere Psychologie. Es läfst sich
ja der besondere Charakter der geschichtlichen Vorstellungen
und Gefühle durchaus mit den Mitteln der am Individuum be-
obachtenden wissenschaftlichen Psychologie analysieren und
begreifen. Die Begriffe der Suggestion, der Abhängigkeit
Fragen der GeBchichtswissenschaft. 349
der Empfindung und des Gefühls von der Dauer, ^) die Begriffe
der Übung, der Ermüdung und Abstumpfting, alle diese und
andere genügen eine geschichtliche Bewegung zu erklären, wie
die im kleinen Laboratorium gewonnenen Ergebnisse genügen,
um die grofse Naturerscheinung eines Grewitters zu begreifen.
Wer einmal psychologisch gründlich gearbeitet hat, der
hat damit auch eine Vorbildung für die Erkenntnis grofser
geschichtlicher Erscheinungen gewonnen. Und umgekehrt,
wer geschichtliche Erscheinungen beobachtet hat, der wird
gewisse Gleichförmigkeiten, empirische Gesetze finden, deren
letzte Erklärung ihm nur die Psychologie giebt. Betrachten
wir ein Beispiel des letzten Falles.
Jedem denkenden Historiker ist gewifs oft genug die
Thatsache aufgefallen, dafs zum Teil die Erscheinungen des
äufseren Lebens, die Politik und die Wirtschaft, noch mehr
aber, sogar fast ausnahmslos diejenigen des inneren Lebens,
der Philosophie, der Künste, der Wissenschaft, auch der Religion
— innerhalb eines bestimmten Kulturkreises — in ihrer Ab-
folge sich in Kontrasten bewegen, dafs eine Richtung herrscht,
eine ihr entgegengesetzte auftritt, zuerst unbeachtet bleibt,
aber gerade durch ihren Gegensatz bei Einigen desto stärkeren
Eindruck macht, bis sie allmählich alle gewinnt und der alten
Richtung gegenüber sich durchsetzt, um ihrerseits zu herrschen.
Dies ist zunächst ein empirisches Gesetz, eine blofse Gleich-
förmigkeit. Indem aber W. Wundt die wirkende Ursache,
die auch in der individuellen Psychologie wirkende „Kontrast-
verstärkung" aufwies,*^) war er berechtigt, dieses „Gesetz
der historischen Kontraste" als ein kausales zu betrachten
und es den andern beiden von ihm formulierten historischen
Gesetzen, dem der historischen Resultanten und dem der
historischen Relationen, an die Seite zu stellen. Nebenbei
bemerkt, — diese „historischen Gesetze" Wundts sind so
') Vergl. W. WuHDT, Grundzüge der physiologischen Psychologie,
4. Aufl., Leipzig 1893, I, S. 676. 0. Külpb, Grundrifs der Psychologie,
Leipzig 1893, S. 236.
«) Logik, 2. Aufl., II, 2, S. 282 ff. und 413 ff.
350 Paul Barth:
allgemein, so sehr psychologisch zugleich, weil sie eben kausale,
nicht empirische Gesetze sein wollen und darum, wie oben
erwähnt, auf die konstante Ursache aller Geschichte, auf die
menschliche Seele zurückgehen müssen.
Man kann ja nun das Gesetz (oder Prinzip) der Kon-
trastverstärkung alltäglich an seiner eigenen Seele erfahren.
Eine niedrige Temperatur, in die wir plötzlich eintreten, wird
sehr lebhaft gefühlt, wenn wir aus einer höheren kommen,
während sie nach einiger Übergangszeit ganz indifferent ist.
Jede Süfsigkeit wirkt um so mehr, je bitterer der vorher
gekostete Gegenstand war. Aber noch intimer, noch viel
anschaulicher wird derjenige das Gesetz der Kontrastver-
stärkung kennen lernen, der es im Laboratorium studiert.
Er wird die eigentümliche Wirkung des Kontrastes alltäglich
auf allen Sinnesgebieten, bei den Farben, von denen die kon-
trastierenden sich gegenseitig heben, bei den Tönen, sowohl
wenn es sich um Schallstärken als auch wenn es sich um
Beurteilung der Tonhöhe handelt, beim Geschmacke, beim
Gerüche, beim Tastsinne, beim Zeitsinne und ebenso wie bei
den Empfindungen auch bei den Gefühlen erfahren und von
der Wichtigkeit des Kontrastes ein noch viel lebendigeres
Bild als der blofse Gelegenheitspsychologe erlangen.
Und so wird der experimentelle Psychologe im Mikro-
kosmos seiner Werkstatt ausgerüstet für das Verständnis des
Makrokosmos der Geschichte. Denn das Gesetz der Kon-
trastverstärkung spielt in diesem eine grofse Rolle. Es er-
klärt uns allerlei Abweichungen von der zu erwartenden,
weil schliesslich allein dauerhaften, richtigen Mitte, wie sie
in der Geschichte infolge der Ablenkung des sachlichen
Denkens durch das Gefühl regelmäfsig vorkommen, sich in
der Wissenschaft in Zukunft vielleicht vermindern, im Leben
aber (trotz Spencers Ideal eines Gleichgewichtszustandes)
ihren Schauplatz nur von der äufseren Welt mehr in die
innere verlegen werden.
In der griechischen Philosophie z. B. ist der Kynismus allein ans
dem psychologischen Gegensatze gegen den Eudämonismus des Sokhates
und Plato und den Hedonimus der Kyrenaiker zu erklären. Und zwar war
Fragen der Geschichtswissenschaft. 351
es eben mehr die psychologische Wirkung, die der Begriff der Bedürfnis-
losigkeit hervorrief, als die äufsere Lage, was viele zum Kynismus trieb.
Die Eyniker sind keineswegs alle arm, sondern manche sehr wohlhabend. ^)
Noch wichtiger aber ist das Prinzip der verstärkenden Kontrastwirkung
für die Erklärung der intensivsten geistigen Bewegung, die es bisher
gegeben hat, der Ausbreitung des Christentums. Der tiefe Eindruck, den
es auf die Menschen der römischen Eaiserzeit machte, ist nur zu ver-
stehen aus dem vollen Gegensatze, in den es zu ihrer Weltanschauung
trat. Dem orthodoxen Judentume gegenüber setzte es eine Bewegung
fort, die schon lange bestand, die dem Gesetze und dem Opfer die Tugend
und zwar besonders die Gerechtigkeit entgegen stellte. Die Lehre der
Evangelien und des Paulus betont dem Gesetze gegenüber die Gesinnung.
Noch mehr aber als zum Judentume tritt sie zum Kömertume in Wider-
spruch. Gegen das „regere imperio populos" und „debellare superbos",
das ViBftiL als Mission der Römer preist, heilst es : „Selig sind iie Sanfte
mutigen, denn sie werden das Erdreich besitzen". Gegen den Kaiser
Caligula, der sich Jupiter Latiaris nannte, und die anderen Cäsaren, die
nach ihrem Tode göttlich verehrt wurden: „Selig sind die Friedfertigen,
denn sie werden Gottes Kinder heifsen." Gegen den Materialismus und
die Genufssucht des Römertums, gegen sein „rem augere" : „Sammelt euch
Schätze, die weder Motten noch Rost fressen," und Empfehlung der Askese
(Matthäus 19, 12). Gegen die Verachtung des Armen, der nach römischer
Anschauung immer ruchlos sein mufs, nie z. B. die Wahrheit schwur 2):
„Es ist leichter, dafs ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dafs ein
Reicher ins Reich Gottes komme." Vergl. auch 1. Kor. 1, 28: „Das Un-
edle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt." Gegen die
hellenische Hochschätzung desForschens und Wissens (Aristoteles: ^ d^emgla
zb riÖLCTov xal aQioxov): „Was thöricht ist vor der Welt, das hat Gott
erwählt, dafs er die Weisen zu Schanden mache" (1. Kor. 1, 27). Vergl.
auch 1. Kor. 3, 19. Auch gegen die Geringschätzung der Kinder, wie
sie sich in der von Augustus vergeblich bekämpften römischen Neigung
zur Ehelosigkeit offenbart, nicht minder in der unbeschränkten patria
potestas, die dem Vater erlaubt, das Kind auszusetzen, zu töten oder
dreimal zu verkaufen, die Hochschätzung der Kinder, wie sie Matthäus 19, 14,
Marcus 10, 14—16 und Lucas 18, 16 u. 17 ausgesprochen wird. Gegen
die römische Todesfurcht, wie sie uns z. B. bei Horaz entgegentritt:
„Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg!" Gegen den römischen
Kultus der Gewalt, die auch vor der religiösen Überzeugung der Unter-
worfenen nicht Halt machte, der Glaube an die Macht der Ideen, Ab-
neigung sogar gegen diejenige Gewalt, die nicht das Gute, sondern das
Schlechte unterdrücken will: „Widerstrebet nicht dem Übel!" „Was
schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, dafs er zu Schanden
mache, was stark ist" (1. Kor. 1, 27). So also eine völlige „Umwertung
aller Werte", wie Nietzsche mit Recht sagt, aber zugleich durch den
1) Vergl. E. Zeller, Die Philosophie der Griechen, 4. Aufl., II, 1,
Leipzig 1889, S. 317.
^) Vergl. JuvEMALis, Satirae III, 144 ff.
352 Paul Barth:
Widersprach eiidrucksvoll. Wenn man die verstärkende Kontrastwirkung
nicht in Rechnung zieht, so steht man vor der Geschichte der ersten
christlichen Jahrhunderte wie vor einem Batsei.
Und so wie hier das Prinzip der verstärkenden Kontrast-
wirkung, so wird die vnssenschaftliche Geschichte auch andere
psychologische Gesetze, z. B. das Gesetz der schöpferischen
Synthese und das des Wachstums der psychischen Energie^)
heranziehen, um die durch Induktion gefundenen, blofs em-
pirischen Gesetze in kausale zu verwandeln. Es giebt also
neben der darstellenden noch eine zweite Geschichtsschreibung,
die nicht das Einzelne, Vorübergehende, sondern das Allge-
meine, Zuständliche im Auge hat, seine Ähnlichkeiten und
Verschiedenheiten im Wechsel der Zeiten und der Völker be-
stimmt und möglichst kausal zu verknüpfen sucht. Wie die
darstellende Geschichte der Kunst, so ist diese zweite in
ihrer erkenntnistheoretischen Struktur der beschreibenden
und erklärenden Wissenschaft gleich. Indessen wäre es zu
ihrer Kennzeichnung ungenügend, diese zweite Art beschreibend
und erklärend zu nennen. Denn die darstellende Geschichte
beschreibt und erklärt auch, nämlich die einzelnen Er-
eignisse und die geschichtlichen Thaten. Auch „wissen-
schaftliche Geschichte" ist kein empfehlenswerter Name, da
er auf die darstellende den Schein werfen könnte, dafs sie
unwissenschaftlich sei. So ist es am besten, sie „begriffliche
Geschichte" zu nennen. In dem Beiwort „begrifflich" liegt
beides: dafs sie auf das Allgemeine, nicht auf das Einzelne
ausgeht, und dafs sie nach Möglichkeit eine Verbindung unter
den Begriffen, ein System zu geben sucht. Da es bei ihr
sich immer um die Formen der Gesellschaft und die ver-
schiedenen Seiten des socialen Lebens handehi wird, so wäre
es sachlich noch treffender, sie „sociologische Geschichte" zu
nennen. Indessen der erkenntnistheoretische Gegensatz zu
der anderen Art, der doch vrichtig ist, wird durch das Bei-
wort „begrifflich" besser bezeichnet.
J) Vergl. W. WüNDT, Logik, 2. Aufl., II, 2, S. 267 ff. und 276 ff.
Fragen der GeBchichtswisBenschaft. 353
Diese begriffUche Geschichte ist es, die Lampbecht in
seinen programmatischen Schriften immer im Auge hat. Er
stellt sie (S. 48 ff.) als Wissenschaft schlechthin der anderen
Art der Geschichte, als der Kunst gegenüber. Sein Programm
ist zweifellos so berechtigt, wie das menschliche Denken
überhaupt. Mit Recht gründet er es auf die Natur des Ur-
teils. Denn wenn wir auch Einzelurteile fällen, von wissen-
schaftlichem Werte sind nur die allgemeinen, so dafs es einen
Logiker giebt, K. Keoman,^) der die Einzelurteile aus der
Wissenschaft überhaupt ausschliefst.
Nur eine Ergänzung ist zu Lampeechts Ausführungen
nötig. Er unterscheidet nicht genügend zwischen empirischen
und kausalen Gesetzen. Dieser Unterschied schwebt ihm nur
unbestimmt vor, wenn er meint (S. 19), dafs „von dem schlecht-
hin Individuellen eine unendliche kontinuierliche Stufenfolge
hinaufflihrt zu dem erfahrungsmäfsig ausnahmslos GenereUen".
Die empirischen Gesetze bilden eben für die Erkenntnis die
Mittelglieder zwischen den Einzelthatsachen und den Kausal-
gesetzen. Mit dieser Unterscheidung der empirischen und
der kausalen Gesetze erledigt sich auch die Frage der Differenz
zwischen „Entwickelung und gesetzmäfsiger Entwickelung",
die Lampbecht (S. 26 ff.) berührt. Beruht eine Entwickelung
auf einem empirischen Gesetze, ist sie blofs ein bei mehreren
Völkern nachgewiesenes Nacheinander, dann ist sie weniger
gewifs als eine solche, die auf ein psychologisches kausales
Gesetz zurückgeführt ist. Nur die letztere ist eine gesetz-
mäfsige im strengsten Sinne.
Wie Lampbecht in der „Deutschen Geschichte" sein
Programm ausgefiihrt hat, ist hier nicht die Frage und müfste
aufser Betracht bleiben, selbst wenn es nicht über meine Zu-
ständigkeit hinausginge. In der Konstruktion seines Ideals
der Geschichtsschreibung ist er einheitlicher und folgerichtiger
als Below. Auch Below wäre folgerichtig und unanfechtbar,
wenn er das Wesen der Kausalität schärfer erfafst und an
') Kurzgefafste Logik und Psychologie, deutsch von F. Bbndixkk,
Leipzig 1890, S. 1.
354 Paul Barth:
der darstellenden Geschichte mit bewufster Beschränkung fest-
gehalten hätte. Indem er aber durch die „allgemeinen Wahr-
heiten" von „sehr positivem Nutzen" der anderen Eichtung Zu-
geständnisse macht, gerät er ins Schwanken. Dieses Schwanken
zeigt, dafs man die darstellende Geschichte als sein Ideal
anerkennen, der begrifflichen aber doch nicht entbehren kann.
Vielmehr sind beide Arten der Geschichte, sowohl die
darstellende wie die begriffliche, gleich notwendig. Sie er-
gänzen sich genau so wie Anschauung und Denken. Und
wie nach Kant Anschauungen ohne Begriffe blind, Begriffe
ohne Anschauungen leer sind, so ergeben erst beide Arten
zusammen die Erkenntnis der Vergangenheit. Das Verhältnis
ist nicht gleich, aber ähnlich, wie das zwischen den be-
schreibenden und den erklärenden Naturwissenschaften. Der
beschreibende Naturforscher richtet sich, wie der darstellende
Historiker, zunächst auf die Thatsachen und möchte nichts
als ihr reiner Spiegel oder, wenn notwendig, ihr Mikroskop
mit achromatischer Linse sein. Aber dazu wäre nur ein Gott
imstande; der Mensch mufs mit Begriffen an die Dinge
herangehen, nach denen er einzelne Merkmale als wichtigere
vor der Fülle der anderen, als der weniger wichtigen, bevor-
zugt. Wer etwa die Pflanzen beschreiben will, der mufs ge-
wisse bei allen in abgestufter Mannigfaltigkeit vorkommende
Merkmale zu Grunde legen und nach ihnen eine Systematik
aufstellen, mit der er die unbegrenzte Menge der Erschei-
nungen bewältigt, wie z. B. Linnä die Zahl und die Form
der Staubgefäfse und die Gestalt des Stempels zu Grundlagen
seiner Systematik gewählt hat. Diese Auswahl jedoch der
wesentlichen Merkmale kann nicht geschehen ohne Rücksicht
auf ihren physiologischen Wert, bedeutet also eine Anleihe
bei einer erklärenden Naturwissenschaft, der Pflanzenphysio-
logie. Und umgekehrt wird natürlich diese den Ergebnissen
der beschreibenden Wissenschaft volle Beachtung schenken, da
sie ihr Material liefern und Fragen stellen.
So sind beide Arten der Geschichte jedem Forscher un-
entbehrlich. Ein Rangstreit zwischen ihnen wäre ebenso ver-
Fragen der GeschichtswisBenschaft. 355
kehrt und ebenso überflüssig, wie etwa ein Rangstreit zwischen
Kunst und Wissenschaft. Freilich der Philosophie als dem
Streben nach allgemeiner, darum begrifflicher Erkenntnis, wird
die begriffliche Geschichte näher sein als die darstellende. In
diesem Sinne schrieb ich in einem der Philosophie (!) der Ge-
schichte gewidmeten Buche: „Lamprechts Ansicht hat so
sehr die Kraft der Wahrheit flir sich, dafs ihre Gegner kaum
noch sich zu verteidigen vermögen, dagegen Annäherungen
an sie sich unwillkürlich aufdrängen*'. Unter den Gegnern
meinte ich diejenigen, die nur die darstellende Geschichte
anerkennen wollen. Dafs diese unwillkürlich bei Gelegenheit
in die andere Art übergehen, hat Below selbst in seiner
Abhandlung, vielleicht wider Willen, bewiesen.
Below meint (S. 245): „Eine wahre Verflachung der
historischen Betrachtung bewirkt die naturwissenschaftliche
Auffassung". Die naturwissenschaftliche, die mit dem natur-
wissenschaftlichen Kausalbegriffe arbeitet, ganz gewifs, da er
hier unberechtigt ist, wie oben erwiesen wurde. Und selbst die
wissenschaftliche Auffassung, deren Notwendigkeit ich zu er-
härten suchte, kann zur Verflachung fuhren. Die Verallge-
meinerung ist ein Velociped des Erkennens, das auf rauhem,
zackigem, mannigfach gestaltetem oder auf schlüpMgem Boden
leicht zu Unfällen führt. Aber genau ebenso kann die Auffassung,
die Below verteidigt, zur Verflachuug führen, zu gedankenloser
und nutzloser Anhäufung von Einzelheiten.
Überhaupt, die begriffliche Art der Geschichte „natur-
wissenschaftlich" zu nennen, ist falsch. Ihre Methoden sind aller-
dings naturwissenschaftlich, wie diejenigen jeder Wissenschaft.
Aber ihre Begriffe sind nicht naturwissenschaftlich, wenigstens
bei keinem Forscher, der sich an die moderne Psychologie
hält. Diese weifs wohl, dafs für die Welt des Geistes, der
sich in der Geschichte offenbart, vor allem nicht derselbe
Begriff der Kausalität gilt, den die Naturwissenschaft teils
als gültig nachgewiesen hat, teils, wo es noch nicht gelungen
ist, doch — bei aller Anerkennung der Ungleichheit der
Qualität der Vorgänge fltr die Anschauung — als gültig nach-
356 Paul Barth:
zuweisen strebt, nämlich den, der die quantitative Gleichheit
von Ursache und Wirkung einschliefst, dafs auch andere
Begriffe der Naturwissenschaft nur für die untermenschHche
Welt gelten, z. B. der Kampf ums Dasein mit rein physischen
Mitteln, Fortschritt durch natlirliche Zuchtwahl allein, All-
macht der physischen Umgebung u. s. w. Wenn man also
nicht etwa jede Wissenschaft überhaupt Naturwissenschaft
nennen will, so hat es keinen Sinn, die begriffliche Geschichte
so zu nennen. ^) Sie hat ja ein anderes Stoffgebiet, als die
Naturwissenschaft, und das macht die Selbständigkeit der
Geschichte aus, für die Below fürchtet, nicht die Methode,
die ihr mit anderen Wissenschaften gemeinsam sein mufs.
Ein Muster der begrifflichen Geschichte hat H. Taine in
seinen Origines de la France contemporaine gegeben. Nichts
beleuchtet den Gegensatz beider Arten der Geschichts-
schreibung besser, als sein Verhältnis zu Cablyle. Dieser
giebt beides, die alte Regierung wie die Revolution, in Einzel-
bildern: Krankheit und Tod Ludwigs XV., Aufsteigen der
Montgolfifere, die Petition in Hieroglyphen vom Jahre 1775
u. s. w. Taine hingegen giebt begriffliche Darstellung
der Zustände, der Sitten, der Art der Regierung, der
Lebensansichten mit Statistik und Psychologie, Eigen-
namen und Einzelfälle aber nur zur gelegentlichen Ver-
anschaulichung des Allgemeinen. Dafs Taine eine „Ver-
flachung der historischen Betrachtung" bewirkt habe, kann
ich durchaus nicht finden. Wer es behauptet, der nenne erst
einen Geschichtsschreiber, der das ancien regime so vor Augen
fuhrt, wie Taine. Toqueville hat nur Vorarbeiten geliefert
Kaum einem bedeutenden Geschichtsschreiber ist jemals
die begriffliche Geschichte, die wie jedes System von BegriflFen
notwendig zu einer Geschichtsphilosophie führt, fremd ge-
wesen. Jeder ist mit einer geschichtsphilosophischen An-
schauung an die Erscheinungen herangetreten und hat — oft
') Vergl. über die schliersliche Identität wissenschaftlicher und
naturwissenschaftlicher Methoden (nicht Begriffe!) auch F. Bbbntjlno,
Die Zukunft der Philosophie, Wien 1893, S. 24 ff.
Fragen der Geschichtswiesenschaft. 357
mehr instinktiv als bewufst — das ausgewählt, was im Lichte
seiner Anschauung bedeutend war. Ja, wie oben bemerkt,
eine reine Beschreibung ohne zu Grunde liegendes Begriffs-
system ist unmöglich. Die Anwälte der begrifflichen Ge-
schichte — zu denen, weil sie allein nicht blofse Kenntnisse,
sondern Erkenntnisse giebt, die Philosophen notwendiger-
weise immer gehören müssen, ohne die Unentbehrlichkeit der
darstellenden leugnen zu wollen — wünschen schliefslich nur,
dafs das, was bisher mehr unbewufst geschehen ist, künftig
mit mehr Bewufstsein, mit mehr philosophischer Besinnung
geschehe. Und wie die philosophische Besinnung, nach langer
Verachtung der Philosophie, durch Helmholtz wieder zu
Ehren gebracht, der deutschen Naturwissenschaft nichts ge-
schadet hat, so wird sie auch sicherlich der deutschen Ge-
schichtsforschung und Geschichtsschreibung keineswegs zum
Schaden gereichen.
Die instinktive Eücksicht auf die Forderungen der begrifflichen
Geschichte, die die bisherige Geschichtsschreibung genommen hat, habe
ich auch in meinem oben angeführten Buche genügend anerkannt. Es
heilst dort S. 217: „Der Einzelne als solcher ist nicht Gegenstand der
Geschichte, sondern der Naturgeschichte. Thatsächlich hat die bisherige
Geschichtsschreibung auch instinktiv dies erkannt. Denn ein Individuum,
das weder typisch noch führend war, ist ihr nie ein würdiger Gegenstand
gewesen". Wenn Bblow (a. a. 0. S. 223 in der Anmerkung) mir zum
Vorwurfe macht, dafs ich M. Lehmanns Ansichten von der Bedeutung des
Einzelnen nach dem in der Zeitschrift für Kulturgeschichte, 1894, er-
schienenen Referate wiedergebe, so kann ich diesen Vorwurf durchaus
nicht als berechtigt anerkennen. Woher soll ich denn wissen, dafs
M. Lehmann jenes Referat nicht anerkennt? Wenn es falsch ist, so hatte
er doch vom Jahre 1894, wo es erschien, bis zum Jahre 1897, wo ich es
benutzt habe, Zeit, es zu berichtigen. Dies ist aber sogar bis zum Sommer
1898 nicht geschehen, obgleich Lampbbcht in der „Zukunft" vom 7. No-
vember 1896 und zum zweitenmale in der vom 5. März 1898 es in die
öffentliche Diskussion gezogen hatte. Denn auch Bblow sagt von jenem
Referate blofs (S. 221): „Ob es zuverlässig ist, mufs dahingestellt bleiben".
Was würde wohl Below einem Blritiker antworten, der ihm mit dergleichen
Vorhaltungen käme? Aufserdem ist Lehmann nicht der einzige „Indivi-
dualist", es kommen noch diejenigen hinzu, die von Bouedbau angeführt
werden. S. 201, Anm. 1, habe ich auf ihn verwiesen. Wenn femer Below
in meinem Buche Savignt, überhaupt die historische Rechtsschule, die
romantische Schule, von neueren Meekbl, Schmolleb, Ed. Meteb, Hinne-
BEBG, BucHHOLz vemüfst, auch Sybel und Dboysen nicht gewürdigt findet,
so erlaube ich mir, ihn auf mein Vorwort hinzuweisen, in dem es heifst:
VierteljahrBBchrift f. wissenschaftl. Philosophie. XXTTT. 3. 24
358 Paul Barth:
„In der Geschichtsphilosophie, die gemäfs ihrer hisherigen Trennung von
der Sociolögie meist einseitige Ansichten der Geschichte hervorgebracht
hat, habe ich nur die letzten Theorien, die heute noch lebendig sind, zu-
sanunengestellt". Also Sabiont und die historische Bechtsschule, selbst
wenn sie eine eigene tiefere G^schichtsphilosophie darstellten, was nicht
der Fall ist, zu behandeln, war gar nicht meine Aufgabe. Denn ich
wollte mich ja auf die Gegenwart beschränken. Woraus erschliefst also
Below meine Unkenntnis Savignts? Ebenso wenig war es meine Aufgabe,
die anderen genannten Autoren alle durchzugehen, da sie keine ausgeführte
einseitige Geschichtsphilosophie, wie sie allein in mein Thema fiel, ver-
treten. Dafs sie hier und da eine geschichtsphilosophische Bemerkung
machen, mag sein; der Vollständigkeit wegen werde ich, wenn ich die
Frage der individualistischen oder kollektivistischen Aufgabe der Geschichte
noch einmal bespreche, auch ihre etwaigen Beiträge dazu heranziehen.
Dafs ich etwas Wesentliches übersehen habe, bestreite ich. Der Streit
ScHlFBBs und Gk)THEnis z. B., der die wesentlichste Divergenz der deut-
schen Geschichtsschreiber darstellt, ist genau berichtet. Dbotsen will in
seiner „Historik" gar keine Geschichtsphilosophie, sondern eine „Methodo-
logie" geben. Bankes Ideen werden nicht blofs nach „Lampbechts Bezept"
dargestellt, sondern ebenso sehr nach dem von 0. Lobenz, was Below über-
sehen zu haben scheint. Lobenz ist dreimal citiert. Übrigens habe ich
einen Unterschied in den beiden Darstellungen nicht entdecken können.
Es scheint also, als ob auch Lobenz bei Bänke über die „Ideen^^ nicht
das gefunden habe, was nach Below seine wahre Meinung ist. Und so
werde ich allerdings künftig bei Bänke selbst Belehrung suchen.
Wenn übrigens Below fragt: „Wie kann nur ein Philosoph bei
Lampbecht in die Schule gehen?'' so ist dies eine arge petitio principii.
Denn woher weifs denn Below, dafs ich bei Lampbecht in die Schule
gegangen bin? Meine Ansicht über die Aufgaben der Geschichte habe
ich schon im Herbste 1893 vorgetragen, ehe ich mit Lampbecht ein Wort
gesprochen und etwas anderes als sein „Deutsches Wirtschaftsleben im
Mittelalter" gelesen hatte. Ich bin also genau ebenso bei Lampbecht in
die Schule gegangen, wie Below selbst, der (vergl. S. 269) dieses Werk
ebenfalls studiert hat und sich teilweise anerkennend darüber ausspricht.
Lampbecht ist in demselben Mafse mein Mentor gewesen, wie seiner, und
wie ich Below selbst (in Bezug auf seine von Lampbecht abweichende
Ansicht über die Frage der Entstehung der Landesherrschaft) künftig
gerne zum Mentor nehmen, d. h. zur Belehrung über jene Frage berück-
sichtigen werde. Meine Übereinstimmung mit Lampbecht über die Auf-
gabe der begrifflichen Geschichte ist durchaus das Ergebnis meines eigenen
Nachdenkens und der logischen Notwendigkeit des von Lampbecht kon-
struierten Ideals der Geschichtsschreibung. In manchen Einzelfragen,
z. B. in der Auffassung des Begriffes „Kultur", weiche ich von ihm ab
(vergl. S. 254 ff. meines Buches). Ebenso wenig habe ich mich seiner
Annahme eines strengen Parallelisn^us der Veränderungen der geistigen
und der materiellen Kultur, den er anscheinend für allgemein hält, irgendwo
angeschlossen.
\
Fragen der Geschichtswissenschaft. 359
Wenn endlich Bblow (S. 228) sagt : „Die Art, wie Babth a. a. 0.
S. 216 ff. die indiyidualistische Geschichtsauffassung bekämpft, wird ihm
und Lamprecht wenig Anhänger gewinnen. Interessant ist es, daüs er
sich yeranlafst sieht, mehr für als gegen die Bedeutung der Persönlichkeit
im geschichtlichen Verlaufe zu sprechen^', so klingt dies, als ob in meinen
Ausführungen ein Widerspruch enthalten wäre, und ich, unachtsam genug,
gar nicht merkte, dafs ich mich selbst erwürge. Indessen meine Auf-
fassung ist durchaus ohne Widerspruch. Aufgabe der geschichtlichen
Wissenschaft sind die Thaten, Leiden und Ideen der Massen. Wie viel
aber dayon der „grofse Mann'' yerursacht, das ist die Frage. Lahpbecht,
wie Tainb und andere, nahm blofs seine graduelle Verschiedenheit yon
den anderen an; ich suchte zu erweisen, dafs diese notwendig auch zur
qualitatiyen Verschiedenheit führe. Damit ist noch nicht gesagt, dafs
die grolsen Männer als Einzelne Gegenstand der Geschichte werden. Denn
die Aufgaben werden ihnen yon dem Leben der Massen, der Gesellschaft
gestellt, sie können, wie £. Meter bei Below (S. 221) sagt, nur „erfassen,
was in den gegebenen Verhältnissen erreichbar ist". Also um die Aus-
gangspunkte ihres Wirkens zu erkennen, mufs man jedenfalls die allge-
meinen Zustände ins Auge fassen. Mithin ordnet sich das Wirken selbst
des Gröfsten in den ganzen geschichtlichen Verlauf ein, und die Keihe,
die er yorfindet, die Ergebnisse der Arbeit yon hunderten yon Generationen,
ist jedenfalls länger, als das Stück, das er, mag er noch so genial sein,
in der kurzen Zeit seines Lebens hinzufügen kann. — Also yon einem
Widerspruche ist gar keine Eede. Indessen mufs ich anerkennen, dafs
Below meine Bemerkungen, die sich auf das Verhältnis des „grofsen
Mannes" zu seiner Umgebung beziehen, gelesen hat, während L. Stein i)
sie nicht gelesen hat und infolgedessen schreibt: „Die Rolle der ästhe-
tischen Anschauung, auf welche Paul Barth das geschichtliche Indi-
yiduum beschränken möchte, wird seiner Bedeutung nicht entfernt gerecht".
Wenn man ihn wörtlich yersteht, so habe ich behauptet, dafs das Indiyi-
duum nichts weiter zu thun habe, als ästhetisch anzuschauen, die Welt-
geschichte also ein mit Liebhabern angefüllter Kunstsalon sei. Aber dies
ist nur falsches Deutsch yon Stein. Er meint offenbar, nur für die ästhe-
tische Betrachtung habe nach meiner Ansicht der Einzelmensch, auch
der „grofse Mann**, eine Bedeutung. Das habe ich nirgends gesagt,
auch nicht S. 6, die er anführt. Stein lese gefälligst S. 2 und S. 217 ff.
Dann wird sich etwas anderes ergeben.
') Wesen und Aufgabe der Sociologie, Berlin 1898, S. 22.
24*
Berichterstattung.
IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIMMI.IIIIllll II
I.
Besprechungen.
Schulze^ Johann, weil. kgl. preufs. Hofprediger in Königsberg,
Erläuterungen zu Kants Kritik der reinen Ver-
nunft. Im Gewände der Gegenwart herausg. von Rob.
C. Hafferberg. Jena und Leipzig, 0. Rafsmann, 1898. 223 8.
Die neue Herausgabe der im Buchhandel selten gewordenen „Er-
läuterungen" mufs der Kantforschung eine willkommene Gabe sein.
JoH. ScHüLZB war ein guter Bekannter Kants und wurde von diesem
selbst wiederholt zu der Abfassung eines Kommentars der Vemunftkritik
ermuntert. Über die ursprünglich als Recension geplante und später zur
vorliegenden Schrift erweiterte Inhaltsangabe der Kr. d. r. V. urteilte
Kant in einem Briefe an den befreundeten Prediger wie folgt: „Es macht
mir ungemein viel Vergnügen, Sie an meinem Versuche mit Hand anlegen
zu sehen, vornehmlich aber die Allgemeinheit der Übersicht, mit der Sie
allenthalben das Wichtigste und Zweckmäfsigste auszuheben und die
Richtigkeit, mit welcher Sie meinen Sinn zu treffen gewufst.
Dieses letztere tröstet mich vorzüglich für die Kränkung, fast von niemand
verstanden worden zu sein" u. r. w. Der Wert der Schrift ist also durch
keinen Geringeren als Kant selber verbürgt, und das allein macht es
nicht nur zum Bedürfnis, sondern geradezu zur Pflicht, dieselbe den
Porschem leicht zugänglich zu machen.
ScHULZBs „Erläuterungen" sind der Sache nach durchaus nicht ver-
altet oder durch neuere Darstellungen in gleichem Rahmen Überholt.
Der erste Abschnitt „Versuch einer deutlichen Anzeige des Inhalts
der Kr. d. r. V." leistet mustergiltig, was der Verf. bezweckt, nämlich
den wesentlichen Gedankengang der Kritik, welchen Kants dunkle und
schwierige Ausdrucksweise für so viele Leser der damaligen wie der heutigen
Zeit bis zur Unkenntlichkeit beschattete, durch möglichste Sparsamkeit
im Gebrauch der termini technici fliefsend und fafslich vorzutragen. Und
das ist keine Kleinigkeit! Selbst die schwierigsten Partien des Werkes
gewinnen durch die glatte, durchsichtige und dabei niemals oberflächliche
Darstellung Schulzes an Verständlichkeit. So ist ganz meisterhaft die
362 Raoul Richter: Schulze, „Erläuterungen zu Kai^ts Kritik etc.".
knappe und klare Wiedergabe der sogen, subjektiven Deduktion der Kate-
gorien (S. 34 ff.), der verzwickten Beweise für die Analogien der Erfahrung
(S. 53 ff.), der Unterscheidung der Dinge in Phänomene und Noumene
(S. 66 ff.), der schwierigen Lösung der dritten Antinomie (S. 121 ff.);
auch die Zusammenfassung der Endergebnisse der gesamten Kritik ist in
ihrer Kürze vortrefflich. Eine wesentliche Aussetzung wüfste ich nur bei
der Reproduktion der kritischen Raum- und Zeitlehre zu machen, in
welcher die Apodikticität der mathematischen Sätze mit unter den Beweisen
für die Apriorität, der synthetische Charakter derselben aber unter den
Beweisen für die Anschaulichkeit von Raum und Zeit fungieren. Das
aber ist ganz unkantisch. Die Apodikticität der Mathematik ist nicht
Voraussetzung, sondern Ergebnis der Apriorität von Zeit und Raum, kann
also nicht zum Beweise dieser Apriorität in der transcendentalen Ästhetik
herangezogen werden. Den synthetischen Charakter der mathematischen
Urteile teilen aber nach Kant auch die Grundsätze der reinen Natur-
wissenschaft, deren Medium die Stammbegriffe des Verstandes sind. Die
Synthese kann also ebenso wenig als Argument für die Anschaulichkeit^
wie die Apodikticität für die Apriorität von Raum und Zeit im Sinne
Kants verwendet werden. Von den „Winken zur näheren Prüfung" der
Kr. d. r. V., welche der zweite Abschnitt des Werkes giebt, ist gar
mancher auch heute noch beherzigenswert. Am erfreulichsten aber ist
mir an der Schrift die ganz untendenziöse Darstellung gewesen ; sie sucht
wirklich nur Kants Meinung zu geben, ohne Bevorzugung irgend eines
der in der Kr. d. r. V. (zur Einheit, wie ihre Freunde, zum Chaos, wie
ihre Feinde meinen) zusammenlaufenden Fäden. Ein Muster dieser Partei-
losigkeit ist die sonst sich selten dieses Vorzugs erfreuende Darstellung
der KANT'schen Lehre vom Ding an sich.
Nach alledem bedeutet die neue Herausgabe der ScHULZE^schen „Er-
läuterungen" eine verdienstvolle That für die Wissenschaft. Das „neue
Gewand", in dem H. sie hat erscheinen lassen, besteht (Selbstanzeige des
Werks, Kantstudien, Bd. IH, Heft I, II, S. 205) in der Modernisierung
der Orthographie, einiger veralteter Ausdrücke und dem am Schlüsse bei-
gegebenen Inhaltsverzeichnisse.
Leipzig. Raoul Richtbb.
Willarethy Otto, Die Lehre vom Übel bei Leibniz,
seiner Schule in Deutschland, und bei Kant. Strafs-
burg, C. J. Goeller. 149 S.
Die historisch-kritische Skizze gliedert sich in zwei Hauptabschnitte;
der erste Teil (S. 3—92) handelt von der Lehre vom Übel und den
Problemen der Theodicee bei Lbibniz, Wolff, den genuinen Leibniz-
Wolffianern, deren Gegnern, bei Lessing und Hbbdbr, der zweite
Teil (S. 93 — 143) ist einzig der Darstellung und Weiterbildung der be-
treffenden Lehren bei Kant gewidmet.
Nach einer kurzen Erörterung des Standes der Frage vor Leibniz
prüft Verf. die Theodicee und die Erklärung des Übels im LsiBNiz'schen
Systeme und gelangt zu dem Ergebnis, dafs sich Leibniz durch den dog-
Wiixttrqrl»,-,.j'ir Lehre vom Übel bei Leibniz, etc.". 363
matiscben Oiit- loiri^rmi^' \d die Befolgung der rein deduktiven Methode
den Weg zu einer enoigreichen Theodicee selbst versperrt habe: „mehr
als einmal hat er sich ins unkontrollierbare, Übersinnliche zurückziehen
müssen, wohin ihm sein Gegner mit seinen Einwendungen nicht folgen
kann, ohne selbst die Basis exakter Beweisführung zu verlassen, aber in
den transcendenten Aufstellungen von Lbibniz können wir jedenfalls nur
geistreiche Hypothesen, keine Lösungen sehen" (S. 29). Das nämliche
Urteil trifft auch Wolpp und die genuinen Leibniz-Wolffianer: „sie zehren
' allesamt von der Theodicee und es dürfte schwer halten, wenigstens in
unserem Problem, neue originale Gedanken nachzuweisen" (S. 30). Wolfps
Ansichten werden erörtert, sowie die der Wolffianer Thüming, Bilfikgeb,
Baumgabten, Rbimabüs, Meieb und Mendelssohn, und die Ansichten von
der Lockerung der apriorischen ontologischen Fundamente in der Wolff-
schen Schule betont. Die Einsicht, dafs eine Theodicee nur auf moralischer
(nicht auf metaphysischer) Basis möglich sei, beginnt zu dämmern (S. 53).
Darauf werden bei den Gegnern des Wolffianismus, unter denen in dankens-
werter Weise auch die weniger bekannten herangezogen werden (aufser
Buddbus, Eidigeb, Cbusius auch Männer wie Pfaff, Jebusalem, Werder-
mann u. a.), diese Hindeutungen auf Kant weiter verfolgt, aber im ganzen
doch das Urteil gefallt, dafs sie nur gegen die Ergebnisse des Leibniz-
schen Systems sich wandten, dagegen die Prinzipien als richtig stehen
liefsen (S. 56). Der Besprechung von Lbssings und Hebdebs Ansichten
ist ein besonderer Abschnitt gewidmet. Lessing ersetzt die mifslungene
metaphysische Theodicee des Leibniz durch die historisch-philosophische
der Entwicklung und Erziehung. Aber auch er führt den Nachweis nicht
induktiv, sondern dogmatisch und deduktiv (S. 82 ff.); und Hebdeb, obwohl
Kants Schüler, ist gleichfalls auf dem vorkritischen Standpunkt stehen
geblieben.
Erst. Kant durchschaut völlig die prinzipiellen Ursachen von dem
Mifslingen aller bisherigen Versuche einer Theodicee. Verf. pflichtet nun
Kant in all den negativen Ergebnissen bei, zu denen dessen Schüft „über
das Mifslingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee" gelangte
Auch in dem positiven Ergebnisse steht der Verf. zu Kant, dafs das Übel
nur ethisch zu rechtfertigen sei (nachdem er das malum metaphysicum
und physicum aus einer konsequenten Weltanschauung ausgeschieden,
so dafs nur das malum morale übrig bleibt, cf. die interessanten Ausein-
andersetzungen S. 113 — 116). Das Übel ist demnach eine Aufgabe für
den Menschen, das Sittliche gegen das Natürliche, reine Vemunftgesetze
gegen die natürlichen Triebe durchzusetzen. Diese kritisch-moralische
Theodicee, deren Grundlagen Kant aber in allzu abgeschlossener und
starrer Form entwickelt, soll ihre Ergänzung erfahren durch die von
Lessing und Herdeb inaugurierte historische Theodicee, deren induktive
Bestätigung der Zukunft als Aufgabe überlassen bleibt.
Die Schrift Willabbths ist anregend geschrieben und bringt (haupt-
sächlich im I. Hauptteil) manch interessantes Material. Mit den Ansichten
des Verf. sich auseinanderzusetzen (der allzuviel Standpunkte vereinigen
möchte) würde den Umfang eines Referats überschreiten.
Leipzig. Raoul Richter.
364 Raoul Richter: Menzel, „Wandlungen i. d. Staatslehre Spinozas".
Menzel, Adolph^ Wandlungen in der Staatslehre
Spinozas. Stuttgart, Cotta, 1898. 38 S.
Die Schrift macht es sich zur Aufgabe, die bisher so gut wie un-
beachtet gebliebenen Entwicklungsstadien in Spinozas Ansichten vom
Staate zu beleuchten. Die Hauptquellen für die Kenntnis der Spinoza-
schen Staatslehre sind bekanntlich der Tr. theol.-pol. und der Tr. politicüs
des Philosophen. Letzterer ist um mindestens zwölf Jahre später abgefafst,
als jener. Menzel möchte nun die Wandlungen zeigen, welche sich in
einigen staatsphilosophischen Ansichten Spinozas zwischen den beiden
Hauptdarstellungen der Staatslehre vollzogen haben, und ihre Ursachen
erforschen. Das Ergebnis ist kurz folgendes : Über die Entstehung des
Staates lehrt der tr. theol.-pol., dafs der Staat einem Vertrage seine Ent-
stehung verdanke ; dafs er den Sieg der Vernunft über die Affekte bedeute.
Im tr. pol. führt dagegen der Naturtrieb und der Affekt zur Staatenbildung,
das juristisch-tonstruktive Element der Vertragstheorie tritt hinter
das realistisch - psychologische Element zurück (S. 9). In der
früheren Abhandlung ist die Demokratie der Musterstaat; in der späteren,
allerdings auf diesem Punkte unvollendeten, zeigt Spinoza eine Vorliebe
für die Aristokratie. Die rechtsphilosophischen Argumente werden
durch rein politische ersetzt (S. 12). Auch die Grenzen der Freiheitsrechte
des Einzelnen (religiöse Ansichten) sind im politischen Tr. enger gezogen,
als im theol.-politischen. Nachdem der Verf. in einem besonderen Ab-
schnitte: „Spinoza und Rousseau" die religion civile des letzteren als in
Spinozas politischem Tr. vorgebildet nachzuweisen gesucht hat, geht er
an die innere Begründung der Wandlungen in Spinozas Staatslehre: Der
theol.-pol. Tr. atmet den Geist des Milieus der KoUegianten und Menno-
niten, in deren Kreisen Spinoza ja viel verkehrte (S. 32). Die Bekannt^
Schaft mit Jan de Witt und besonders die Katastrophe von dessen Er-
mordung sollen in Spinozas Staatslehre die realistische Wendung bewirkt
haben (S. 37). Dies der Inhalt der anregenden kleinen Schrift.
Leipzig. Eaoul Richteb.
Wagner, Dr. Friedrieh, Freiheit und Gesetzmäfsigkeit
in den menschliclien Willensakten. Eine philosophische
Abhandlung. Tübingen, H. Laupp, 1898. 115 S.
Das Problem, welches der Schrift zu Grunde liegt, soll nicht die
Frage sein, ob der menschliche Wille frei ist oder nicht, sondern diese:
„wie der Mensch die Welt ansieht, wenn er sich frei glaubt, und wie er
sie auffafst, wenn er sich die Freiheit abspricht" (S. 1). Dadurch aber,
dafs der Verf. auf die letztere alles Licht, auf erstere allen Schatten fallen
läfst, wird der parteilose Standpunkt zu Gunsten einer Apologie des De-
terminismus aufgegeben. Auch für den Deterministen giebt es eine Frei-
heit, wenn auch nur eine relative ; dieThätigkeitstriebe im Menschen
sind die Basis dieser Freiheit, wie allen sittlichen Wertes. Denn bei
ihnen wirkt nicht, wie bei den „Genufstrieben", ein Lustgefühl als Motiv
(dieses tritt nur als accidentielle Wirkung hinzu), sie sind nichts als
Wagner, „Freiheit u. (n'^ctzmäfsigkeit i. d. menschl. WillcDsakten". 365
„reiner zweckl.)ser Draüg (S. 76), Thätigkeit ist ihr Selbstzweck. Die
höchste Kraftäuüserung aber des Thätigkeitstriebes ist die Begeisterung,
bei welcher der Wille „in der Erregung selbst unmittelbar seine gröfste
Befriedigung hat" (S. 30). Daher beruht die Sittlichkeit für den Deter-
ministen nicht in der Unterdrückung oder Überwindung des natürlichen
Trieblebens, sondern in der prinzipiellen Bevorzugung der schöpferischen
Affekte. Von diesem Standpunkte aus wird dann die Übliche Polemik
eröffnet gegen Kants scharfe Scheidung yon Sinnlichkeit und Sittlichkeit,
FiCHTEs Steigerung dieser Lehre, Schopbnhaüebs Mitleidsmoral, die christ-
liche Askese, Augustins Lehre von der Gnade (Kap. HI). Endlich am
Schlufs der Schrift wird noch einmal die „positive" Moral auf Kosten der
lebensfeindlichen, negativen in allen Tonarten herausgestrichen, und dieser
nur das etwas gezwungen klingende Verdienst gelassen, „den verschütteten
Born der edelsten Naturtriebe, nämlich der begeisterungsfähigen Thatkraft,
in versunkenen Menschen und Greschlechtern wieder zu öffnen" (Kap. IV).
Die Schrift bringt nichts, was nicht von originalen Denkern mit gröfserer
Wucht und Bestimmtheit bereits gesagt wäre. Denn dafs bei der Auf-
stellung des Thätigkeitstriebes, bei welchem die Lust nicht Selbstzweck
ist, des Abistotbles Lehre von der ivsQysia und der tjSovtj dg iniyiyvo'
fisvov Ti xsXoq nicht mit einem Worte gedacht wird, dafs bei der Wertung
der Begeisterung als des obersten Affektes der admiratio Desgabtes', bei
der Förderung der aktiven Triebe der actiones Spinozas keine Erwähnung
geschieht, macht diese Gedanken noch nicht zur originalen Entdeckung
des Verfassers.
Leipzig. Eaoul Bichter.
Giefsler, C. M., Die Atmung im Dienste der vor-
stellenden Thätigkeit. Leipzig, Pfeffer, 1898. 32 S.
Das allein Wertvolle in dieser kleinen Abhandlung ist der Hinweis
darauf, dafs im allgemeinen bei sinnlicher Aufiuerksamkeit die Zeit der
Inspiration eine gröfsere Klarheit, die Zeit der Exspiration eine ent-
schiedenere Deutlichkeit des Objektes darzustellen scheint. Ob dieses in
der That in genügender Weise der Fall ist, müTste durch multiple pneu-
matographische Eegistrierung und momentane oder kontinuierliche Re-
gistrierung sorgfältiger untersucht werden. Sollte sich dies einigermafsen
bestätigen, so würde man in der Anstrengung der Innervation bei der
Inspiration und ihren entsprechenden Folgeempfindungen die Ursache einer
Verteilung der Aufmerksamkeit während der Inspiration sehen, während
die normale, relativ leichtere Exspiration als blofses Nachlassen der Muskeln
keine solche Verteilung der sinnlichen Aufmerksamkeit mit sich führte.
Freilich müfsten dann bei entsprechender Modifikation der Atmung, z. B.
langsamerer, schnellerer, vor allem aber tieferer Atmung sich auch ent-
sprechende Folgeerscheinungen im Sinne dieser Auffassung zeigen. Aufser-
dem wäre gerade die multiple Atmungsregistrierung erforderlich, um sich
über die sämtlichen Änderungen auf dem Laufenden zu erhalten, und die
Erscheinungen müfsten auch individuell variieren, also bei bedeutender
vitaler Kapacität sich erheblich in ihrem Einflüsse verringern.
366 P- Mentz:
Wenn Verf. diese Beobachtung jedoch mit den Aufmerksamkeits-
Bchwankungen überhaupt zusammenbringt, so ist er hierin weniger glücklich.
Da bei der Untersuchung derselben noch niemals genügend der Einfluls
der Abstumpfung als wachsende und zunächst nur durch Vermehrung der
Intensität der Aufmerksamkeit einigermalsen zu kompensierende, vielleicht
auch durch völligen Nachlafs der Aufmerksamkeit wieder mehr oder weniger
zu vermindernde Herabsetzung berücksichtigt wurde, femer nicht der
Einflufs der Langeweile und Unlust infolge der Monotonie des Beizes und
das Herandrängen und Wirken lustvollerer, komplexerer Vorstellungen,
ja bereits der blofsen Associationen aus irgendwelchen Gründen unter-
schieden wurde, schliefslich lediglich in einer der zahlreichen hierauf be-
züglichen Arbeiten (und nicht analytisch und kritisch genug) die gleich-
zeitigen Änderungen der Atmung, und noch niemals diejenigen des Blut-
druckes registriert wurden, kann man über die Ursachen derselben noch
sehr zweifelhaft sein. Die im einzelnen Falle sehr komplicierten Verhält-
nisse der Atmungsinnervationen mit den durch sie verursachten Änderungen
der Muskelempfindungen, um es kurz so auszudrücken, und der Gemein-
empfindungen (was hier ebenfalls nur eine Abkürzung des Ausdrucks sein
soll) geben sehr wahrscheinlich zu einem erheblichen Teile die Möglichkeit
der Ablenkung und somit zur Abschwächung der Vorstellung bezw.
Empfindung her. Die aus den Tabellen einiger Versuche z. B. bei Marbb
sich ergebenden gröfseren Schwankungsperioden hinsichtlich der Zeiten
des Beibleibeus mögen vielleicht auch mit den TnAUBE-HERiNo^schen
Schwankungen zusammenhängen, doch ist ohne genauere Untersuchung
schon hier keineswegs zu entscheiden, ob stärkerer Blutdruck das Bei-
behalten der Vorstellung begünstigen würde oder gerade umgekehrt durch
Begünstigung von Association dasselbe stören würde. Noch unsicherer
liegen die Verhältnisse hinsichtlich der Änderungen innerhalb der einzelnen
Atmungsperioden, die Verf., wie seiner Zeit Lehmann, in einseitiger Weise
allein für die Schwankungen verantwortlich machen will. Ob hier die
Änderung der Vasokonstriktion der Einatmung und die zunehmende Dila-
tation der Ausatmung entsprechende Wirkungen haben können, mufs
dahingestellt bleiben. Bei geringerer Blutfülle des Gehirns müfste sich
dies einigermafsen bestimmt zeigen, ebenso aber bei nur physiologischer
Beeinflussung der Kreislaufverhältnisse. Wenn Verf. nun gar eindeutige
Erklärungen des Eintrittes verschiedener Atemtypen, als Verflachung,
Beschleunigung, Verlangsamung, Vertiefung, geben will und in ihnen be-
stimmte Zweckmäfsigkeiten sieht, so setzt dies natürlich den sicheren
Eintritt derselben in Wirklichkeit voraus. In Wirklichkeit hat man aber
augenscheinlich folgende fünf Ursachen der Atemänderung als wirksam
anzusehen: erstens irradiatorische, also gegenüber bestimmten Zwecken
sozusagen zufällige, d. h. disparate Ursachen, zweitens kompensierende,
also rein physiologisch zu starke Wirkungen herabsetzende Ursachen,
drittens im Sinne unmittelbarer psychischer Zwecke, z. B. für die Absicht
des Lauschens günstige Wirkungen, viertens willkürliche und nur zum
Teil unwillkürliche reaktorische Wirkungen, z. B. tiefe Ausatmung nach
langem Lauschen, also nur sehr mittelbar anderweitige Wirkungen kom-
pensierende und daher nicht unmittelbar zweckmäfsige Erscheinungen,
GiefslcK T']- Atinuiv! vd J/iei-ste der yorstellenden Thätigkeit". 367
fünftens reproduktive Wirkungen, welche, wie überhaupt die verschiedenen
Fälle, im Hinblick auf das unmittelbar Beabsichtigte schädlich sein können
und gegebene Zwecke vereiteln mögen, also z. B. aus blofser Irradiation
heraus oder als Eompensierung in irgendwelcher Hinsicht, aber bei den
primären Fällen Wirkungen erzielend, die in dem gegebenen Falle mög-
licherweise nicht in Betracht kommen oder den Erfolg geradezu aufheben.
Dieser Erfolg kann natürlich ein unmittelbarer oder aber ein aufserdem
gewünschter sein. Ähnliches gilt von den Änderungen im Kreislaufsystem
selbst, dessen Verhältnisse aber ebenfalls bei der Atmung in Betracht
kommen. Hier, wie man nur zu leicht geneigt ist, Zweckmäfsigkeiten
anzunehmen, oder, um eine andere Einseitigkeit der Auffassung anzugeben,
hier, wie kürzlich R. Anobll und Thompson, lediglich Wirkungen und
Gegenwirkungen als Ausgleichungen anzunehmen, ist in gleicher Weise
durchaus einseitig. In Wirklichkeit liegt die Sachlage viel verwickelter,
zumal da hier umgekehrt die Beziehung zur Atmung ihre Geltung hat
oder doch möglicherweise haben kann. Immerhin ist die Untersuchung
gerade an den Aufmerksamkeits Verhältnissen hier insofern noch am
günstigsten, als bei Einwirkung anderer Reize die Aussagen und daher
auch die Analyse der Verhältnisse besonders erschwert sind, und sonst
auch leicht andere Faktoren, sachlich sekundärer Art, eher hinzutreten
und sogar in den Vordergrund treten können. Daher sind Untersuchungen
gerade dieser Verhältnisse zunächst noch am wünschenswertesten. Haupt-
sache ist aber, wie überhaupt bei jeder Untersuchung der Aufmerksamkeits-
verhältnisse, besoaders tüchtige und geschulte Versuchspersonen und um-
sichtige Analyse der besonderen Verhältnisse, soweit dies natürlich überhaupt
möglich ist. In dieser Weise mögen auch die hier vom Verf. berührten
und stark vergewaltigten Fragen einmal gründlich experimentell unter-
sucht werden.
Leipzig. P. Mentz.
Dwelshanvers, G,, Nouvelles Notes de Psychologie
Experimentale. Extrait de Revue de rUniversite de
Bruxelles. 1898—1899, Tome IV. Bnixelles, 1898. 295 S.
Erste Versuchsgruppe: Die Beaktionsversuche des Verf. leiden an
irrtümlicher Auffassung der beiden Hauptarten der Beaktion und sind
daher auch in ihrer Polemik unnütz. Ebenso wie die bezüglichen Versuche
von Cattell, Floürnoy, Baldwin, Angell und Moore stehen auch sie
nicht einer prinzipiellen Unterscheidung von mehr reflektorischer und mehr
apperceptorischer Beaktionsart inhaltlich entgegen. Sie stellen vielmehr
nach den Erfahrungen des Beferenten lediglich Sonderfälle besonderer
Verteilung der Aufmerksamkeit bezw. individueller Einübung dar. Als
letztere haben sie ein gewisses, aber natürlich beschränktes Becht. Es
ist auch dem Beferenten kaum zweifelhaft, dafs sie sich je nach den Be-
dingungen gegenseitig ineinander überführen lassen, vorausgesetzt, dafs
die Anweisung dazu genau genug und die betreffenden Versuchspersonen
auch psychologisch geschickt genug dazu sind.
368 P- Mentz:
Zweite Versuchsgnippe : Mittelst chronographischer Registrierung
wurden die Wechsel der Auffassung der perspektivisch doppeldeutigen
Figuren, wie Schema des aufgeschlagenen Buches, Tetraeder u. s. w.,
bei andauernder Fixation festgestellt und gemessen. Die Perioden des
Gleichbleibens waren durchschnittlich länger bei Anwendung intensiverer
Aufmerksamkeit oder bei gleichzeitigem Klopfen eines Rhythmus (mit
dem Telegraphentaster) von 0,5 bis 0,7 Sekunden Zwischenzeit. Hierbei
wurden freilich auch die mittleren Variationen länger. Die Intensität
des begünstigenden Klopfrhythmus ist vom Verf. leider nicht gemessen
worden. In derselben Weise wurden das Wiederauftauchen und Ver-
schwinden bei möglichst andauernder Reproduktion einer abgestumpften
Pyramide und des Erinnerungsbildes der Venus von Milo untersucht.
Eine Unterscheidung zwischen visuellen, taktilen und motorischen Elementen
der Reproduktion wurde hierbei nicht versucht. Es hätte sich dies auch
registrieren lassen. Auch die gleichzeitigen Atmungs- und Blutdruck-
perioden wurden nicht registriert, was immerhin wichtig gewesen wäre, da
Versuche an den vorliegenden Aufgaben bisher nicht angestellt worden sind.
Dritte Versuchsgruppe : Möglichst schnelles Zählen bezw. Benennen
der fortlaufenden Buchstaben eines Textes in normaler bezw. umgekehrter
Lage ergab bei chronographischer Registrierung der Vollendung je einer
Gruppe zu zehn als durchschnittliche Reaktionszeit für den einzelnen
Buchstaben nach der Berechnungsweise des Verf. 0,3 bis 0.4 Sekunden.
Im Ganzen lagen die Werte zwischen 0,2 und 0,8 Sekunden. Die Reaktion
des Abschliefsens einer Gruppe hat aber jedenfalls irgendwie mitgewirkt.
Aufser der Forderung richtigen Abschlusses und der involvierten, keinen
Buchstaben zu vergessen, haben möglicherweise auch der Sinn der Worte
und die Neigung zu Reproduktionen hemmend mitgewirkt. Auf alle Fälle
hat man diese Reaktionen mehr oder minder als apperceptorische anzusehen.
Da aufser den genannten hemmenden Momenten auch wie bei jeder Häufung
von Reaktionen zu Reaktionsketten fortschreitende Übung und Automatismus
und andererseits Abstumpfung, Nachlafs der Reproduktionen und Ermüdung
sich geltend machen können, so wäre die Scheidung der erhaltenen Zahlen
nach der Zeitfolge wichtig gewesen, sowie die weitere Fortführung der
Reihen. Naheliegend ist auch, dafs Versuche mit kleineren oder gröfseren
Gruppen des Abschlusses etwas andere Werte ergeben. Entsprechende
Versuche hätten über die Art des Zusammenfassens und Reagierens nähere
Auskunft geben können, ünerläfslich aber vor allem wäre es gewesen,
die Reproduktion möglichst auszuschalten und auch Versuche mit sinnlosen
Buchstabenreihen zu machen. Ein Hinweis hierauf fehlt völlig.
Vierte Versuchsgruppe: Leere und ausgefüllte Intervalle zwischen
2 und 5 Sekunden, geklopft mittelst des Telegraphentasters, ergaben bei
Reproduktion in derselben Art (auf ein gegebenes Signal hin) ausnahmslos
zu grofse Längen. Zunächst könnte man geneigt sein, die bekannte
Überschätzung sehr kurzer Intervalle als die Ursache hiervon anzusehen.
Würde man die Thätigkeit der Reproduktion selbst als Mitbedingung der
Zeitschätzung ansehen, so würde (nach den bisherigen Versuchen wenigstens)
das Entgegengesetzte zu erwarten sein. Indessen ist eine Verzögerung
sehr wahrscheinlich durch die Forderung der Richtigkeit und der Re-
Dwelsha/ »'!>, ..Nyn\» t'> Notes de Psychologie Exp6rimentale". 369
Produktion überhaupt veranlafst worden. Augenscheinlich kam es der
Versuchsperson darauf an, vor allem richtige Relativität zu erzielen, also
eine proportionale Wiedergabe des Gegebenen zu liefern, denn die Forderung
des Rhythmus schliefst eine Beziehung in sich. Daher wäre es notwendig
gewesen, einmal Reproduktionen zu fordern mit möglichst richtigem Ge-
samttempo, ungeachtet der Zahl der Einzelfehler, sodann solche mit mög-
lichster Richtigkeit in den Einzelheiten und nur proportionalem Gesamt-
tempo, schliefslich solche mit ebenfalls möglichst umfangreicher Richtigkeit
in den Einzelheiten, jedoch diesmal unbekümmert um gelegentliche Ver-
zögerung durch Besinnen oder gelegentliche Unrichtigkeit dieser oder
jener Einzelheit. Will man überhaupt die Forderung der Gesamtrichtigkeit
und der Eiuzelrichtigkeit zugleich erfüllen, so wird es doch meist nur
ein Mischergebnis unbestimmter Herkunft und unsicherer psychologischer
Beurteilung geben. Daher ist hier eben die weitere Scheidung und weitere
Untersuchung unerläfslich, und man sollte hier den Einzelheiten noch
genauer nachgehen. Hinsichtlich der Versuche der Reproduktion der ge-
klopften Rhythmen von vokalen und instrumentalen Musikstücken ist nur
noch zu bemerken, dafs sich, anscheinend mit zunehmender Schwierigkeit,
eine zunehmende Anähnlichung der reproduzierten Elemente zeigte, zu-
nehmend mit der Zahl der Wiederholungen. Auch die Unter- bezw. Über-
schätzung der Zahl und der Zeitdauer der Bestandteile erhöhte sich durch-
schnittlich bei erneuter Reproduktion. Um jedoch über deren primäre Ursachen
etwas aussagen zu können, dazu sind die Versuche zu wenig zahlreich gewesen.
Fünfte Versuchsgruppe : Versuche der Reproduktion des 20 Sekunden
lang exponierten Kupferstiches „Melancholie" von DObbb durch Beschreibung
zeigten als Hauptgruppen der Art der Auffassung bezw. der Individuen:
erstens Zusammenhangslosigkeit und Langsamkeit der Auffassung, beides
hier augenscheinlich in bestinmitem Zusammenhange, zweitens objektives
Erfassen der Einzelheiten bis zu gewissen Grenzen hin, drittens Streben
nach Vereinheitlichung und Gruppieren in der Auffassung. Zweckmäfsiger
hätte man zuerst nur eine geringe Zeit gegeben und sofort die Beschreibung
liefern lassen, dann eine vielleicht gleiche Zeit gegeben (als Sunmiation
der Exposition) und wiederum die Beschreibung fordern sollen, dann eben-
falls eine blofse Zusatzzeit und so fort, um sich über den Verlauf des
Erfassens genauer zu orientieren. Die Wiederholung der Reproduktion
(nur als Beschreibung, man hätte auch die MaTsverhältnisse berücksichtigen
können u. dergl.) nach 8 Tagen ohne erneute Exposition zeigte häufigen,
äufserlich geradezu auffallenden Gebrauch der früheren Wortverbindungen,
aufserdem aber, was psychologisch bedeutend wichtiger ist, eine zweifellose
Zunahme der subjektiven Sicherheit des Behauptens, auch hinsichtlich
gerade der nur teilweise und der völlig irrig erfafsten oder wiedergegebenen
Einzelheiten. Dafs diese auch anderweitig aus extremeren Fällen des
Lebens bekannte Thatsache von bedeutender Wichtigkeit ist für die Be-
urteilung von Zeugenaussagen in den verschiedenen Stadien von Prozessen,
hebt Verf. zu Recht hervor. Im Ganzen läfst, trotz der vielfach sehr
sinnreichen Versuchsaufgaben, wie oben gezeigt, die theoretische Ver-
arbeitung erheblich zu wünschen übrig.
Leipzig. P. Mentz.
370 P- Mentz:
Sommer, B., Lehrbuch der psycho-pathologischen
Untersuchungs -Methoden. Berlin und Wien, ürban
und Schwarzenberg, 1899. 399 S. Mit 86 Abbüdungen.
Es ist selbstverständlich, daTs mau iu der Praxis die theoretische
und die praktische Aufgabe der Psychiatrie nicht immer in gleichem Malse
berücksichtigen kann. Nichtsdestoweniger ist ein stärkeres Auseinander-
fallen, eine erhebliche Trennung beider aus naheliegenden Gründen doch
nach Möglichkeit zu y ermeiden. Es ist daher immerhin zweckentsprechend,
wenn Verf. diese naturgemäTse Doppelaufgabe der Psychiatrie, soweit als
es irgend angängig ist, also bis zu gewissen Grenzen hin, möglichst zu-
gleich erfüllt wissen will. Dies kann einigermafsen erreicht werden durch
systematische Anwendung erprobter gleicher Beize, Fragestellungen und
Versuchsanordnungen in möglichst praktischer und auch theoretisch wichtiger
Auswahl. Bei vielen Gelegenheiten wird sich diese systematische und
zugleich praktisch beschränkte Anwendung der Methode der ,.gleichen
Beize" in erster Linie durch die schnelle und sichere Fixierung des Pro-
tokolls mit Hilfe eines Vordrucks augenscheinlich als nützlich erweisen.
Sie gestattet durch Anwendung auf dasselbe Individuum zu verschiedenen
Zeiten und aufserdem auf die allerverschiedensten Fälle und Krankheits-
typen einerseits eine bequeme Vergleichbarkeit, andererseits das Verfolgen
der verschiedenen Stadien der Erkrankung und daher auch unter der
Voraussetzung der Lösung der theoretischen oder der Deutbarkeit der
praktischen Einzelheiten eine frühzeitige und sichere Prognose.
Die Anwendung dieser planmäfsig fixierten Untersuchungsweise,
so sehr sie ihre naturgemäfsen Schranken besitzt, giebt in der That häufig
wertvolle Winke und Handhaben für die Prognose und Diagnose, voraus-
gesetzt, daTs die Sachlage auch hier niemals zu leicht genommen wird.
Eine verhältnismäfsig beschränkte Anzahl zweckmäfsig ausgewählter
Fragen, wie sie z. B. Verf. nach seiner Erfahrung giebt, kann nicht nur
sofortige Auskunft über die Verhältnisse der Orientiertheit des Kranken
in gewissem Umfange geben, sondern häufig auch bereits Materialien zur
Beurteilung der Stimmungen, der Beproduktionsfähigkeit, der Sinnes-
täuschungen und der Dlusionen als häufig ganz brauchbaren Nebenerfolg.
Diese weiteren Untersuchungsrichtungen lassen sich wieder in paralleler
Weise genauer in Angriff nehmen, bei Sprachstörungen wird man z. B.
zu dem ausführlichen Untersuchungsschema von Biegeb in Würzburg
greifen, und so erhält man im analytischen Fortschreiten das zur Beur-
teilung notwendige Material. In zahlreichen Fällen wird sich diese Methode
zweifellos in eine Fülle theoretischer Einzeluntersuchungen auflösen. Bei
Gelegenheit der Illusionen hebt übrigens Verf. mit Becht hervor, dafs in
Theorie und Praxis häufig Hallucinationen der Patienten angenommen
werden, wo es sich in Wirklichkeit nur um Illusionen durch Überwiegen
der Assimilation und äufserlich vorhandene Beize oder schliefslich, wie
man hinzufügen mag, um besondere Labilität gewisser Beproduktionen
oder aus verschiedenen Ursachen heraus übertriebene Ausdrucksweise der
Kranken handelt.
Somiuir, ^Lehrbuch d r jk.v. : > patholog. üntereuchungB-Methoden". 371
Was die Dot-ve- lii, . n versuch sanordnungen betrifft, sogiebtVerf.
z. B. einen durchaus zweckmäXsig zusammengestellten Apparat zur Unter-
suchung der Pupillenform und -weite bei genauer Variierung der Licht-
stärke als Keiz des einfallenden Lichtes. Die Verwendung zu yerschiedenen
Zeiten liegt nahe. Durch einen Apparat mit Äquilibrierung des Unter-
schenkels erhält man femer eine in diesem Umfange noch nicht gekannte
Fülle von Arten des Eniesehnenreflexes, welcher hier durch die Äquili-
brierung künstlich modifiziert und in erster Linie in seiner Wirkung
yerlängert ist und je nach Zeitpunkt und Art des Eingreifens nahe liegen-
der, hemmender oder verstärkender Innervationen zu verschiedenen Zeiten
oder bei verschiedenen Individuen verschiedene Kurven giebt. In ganz
ähnlicher Weise wie Eniesehnenreflex mögen Fufsklonus und Zitterbewegung
(letztere z. B. bei Epileptischen, Hysterischen, Alkohollsten) durch drei-
dimensionale Begistrierung aufgenommen werden, und zwar zunächst für
den Fufs oder auch für den Arm. Zur Messung klinischer Beaktionszeiten
wird eine weitere, in den Einzelheiten bereits bekannte Apparatzusammen-
stellung gegeben. Die Kontrollen des Chronoskopes von Hipp sind freilich
insoweit hier nicht exakt, als der Fallapparat nur Öffnung bis Schlufs
mifst, während sämtliche gegebenen Anordnungen das Gegenteil erfordern.
Daher ist hier Anwendung des Kontrollhammers oder eine entsprechende
Abänderung des Fallapparates unerläfslich. Kraepelin hat das letztere
mit Erfolg angewendet. Nebenschaltung würde das störende Hinzutreten
bezw. Wegfallen eines zweiten Stromkreises nach sich ziehen und auTser-
dem etwas gröfsere Schwierigkeit der Versuche bewirken.
Zum Photographieren des Gesichtsausdruckes, der Haltung, der
Gesten der Kranken wendet Verf. Tageslicht, vermehrt um den erforder-
lichen Betrag von hinzukommendem Magnesiumlicht, an. Die Abwesenheit
besonderer Lenkung, Künstlichkeit, Ortsänderung ist ja sachlich notwendig.
Besonderes Augenmerk ist der begrifflich noch immer schwankenden und
in der That nur einen vorläufigen Sammelbegriff darstellenden Gruppe
der katatonischen Erscheinungen zugewendet. Durch die gegebenen Me-
thoden ist in der That zu erwarten, dafs gerade hier wie in anderen
zweifelhaften Fällen der Deutung Theorie und Praxis vielfach gefördert
werden können. Wenn auch das vom Verf. Dargebotene, wie aus diesen
wenigen Proben bereits ersichtlich ist, bei weitem noch kein eigentliches
„Lehrbuch" darstellt, obgleich dies der Titel verspricht — denn dazu ist es
vielfach noch zu individuell ausgewählt, noch nicht allseitig praktisch
durchgeprüft, auch hinsichtlich der Mitteilung anderweitiger Methoden
viel zu beschränkt — , so werden doch sowohl Psychiater als praktische und
theoretische Psychologen, letztere insbesondere aus dem Thatsachenmaterial
der letzten hundert Seiten (Associationen u. s. w.), manche Anregung
erhalten können. Hemmend ist natürlich auch, dafs sich in Wirklichkeit
theoretische Interessen und klinische Erfordernisse nie werden völlig
unter einen Hut bringen lassen.
Leipzig. P. Mentz.
372 A. Vierkandt:
Oroos^ Karl, Die Spiele der Menschen. Jena, Verlag
von Gustav Fischer, 1899. IV und 538 S.
Schon das vor drei Jahren veröflfentlichte Werk des Verfassers über
die Spiele der Tiere erwies sich als glücklicher Griff, der eine bislang
wenig beachtete und doch der Beachtung werte Reihe von Erscheinungen
unserem Verständnis näher rückte. Welche Goldader aber Karl Gboos
bei der Untersuchung der Welt der Spiele angeschlagen hat, zeigt erst
das vorliegende Buch, das naturgemäfs einen ungleich weiteren Gesichts-
und Interessenkreis umspannt als sein Vorgänger und auf bleibende Be-
deutung Anspruch hat. Seinen Inhalt bildet eine psychologische Be-
schreibung der wichtigsten menschlichen Spiele, an die sich eine Reihe
theoretischer Erörterungen anknüpft. Das Spiel wird dabei kontrastiert
mit der „ernsthaften" Bethätigung eines Triebes, ohne dafs jedoch diese
ihrerseits definiert wird. Andererseits definiert Groos (S. 7 u. 493) das
Spiel als eine Beschäftigung, die lediglich um ihrer selbst willen, wegen
der damit verknüpften Lust, ausgeübt wird — eine Definition, mit der
es sich freilich kaum vereinigen läfst, wenn er auch für den sexuellen
Trieb zwischen einer spielenden und ernsthaften Bethätigung unterscheidet,
da auch für die letztere das Kriterium des ausschliefslichen Selbstzweckes
wenigstens vielfach zutrifft. Ein allgemein gültiges Unterscheidungs-
merkmal läfst sich vielleicht überhaupt nur auf objektivem Boden an-
geben, sofern nämlich bleibende Wirkungen in direkter Form nur von
der ernsthaften Thätigkeit ausgehen oder ausgehen können, von der
spielenden aber" nur in indirekter Form, in dieser freilich, da das Spiel
meist erziehend wirkt, häufig in hohem Mafse.
Die Spiele in diesem Sinne sind nicht auf die Kindheit beschränkt,
sondern es gehören zu ihnen auch manche Thätigkeiten der Erwachsenen,
sowohl bei den Naturvölkern wie bei uns. Auch die Befriedigung der
elementaren ästhetischen Anlagen gehört hierher, der Genufs an denjenigen
ästhetischen Erscheinungen, welche, wie z. B. der Rhythmus oder die
einfachsten optischen Formen und Gestalten, zu ihrer Erzeugung keine
besonderen künstlerischen Leistungen erfordern. Spiel in diesem Sinne
ist die Befriedigung jedes menschlichen Instinktes oder ursprünglichen
menschlichen Bedürfnisses — der Verf. zieht den letzteren Ausdruck vor,
weil die hier in Betracht kommenden Willensregungen von viel generellerem
und veränderlicherem Inhalte sind als die an bestimmte Reize gebundenen
Äufserungen der mit der körperlichen Organisation eng verknüpften
tierischen Triebe — . Das Buch bildet demnach einen Beitrag zur Psycho-
logie des menschlichen Wollens. Es stellt ein reiches Material
von — zumeist fremden, gelegentlich auch eigenen — Beobachtungen und
Thatsachen aus der Psychologie des Kindes, der Naturvölker, des täglichen
Lebens und gelegentlich auch aus derjenigen der Tiere und der experi-
mentellen Psychologie zusammen — die Hilfsmittel dieser letzteren könnten
beiläufig wohl für manche hier behandelten Probleme noch verwertet
werden — und ordnet sie nach ihrer inneren Verwandtschaft. Es ist
also eine Inventarisierung der gesamten ursprünglichen Bedürfnisse,
welche der Verf. unternimmt. Dafs die Klassifikation der letzteren, wie
r(j(K% ^I>ii' Spiele der Menschen". 373
sie Gboob vornimmt, wohl nur als eine vorläufige gelten kann, thut der
Bedeutung des Buches keinen Abbruch. Auch im einzelnen wird man ihr
gegenüber öfter zu prüfen haben, ob alle hier unterschiedenen Bedürfhisse
wirklich primär sind. Es ist z. B. eine sehr wichtige, noch der Unter-
suchung bedürftige Frage, ob der von Gboos neben dem Geselligkeits-
und dem Mitteilungstrieb als dritter unterschiedene sociale Trieb der Ein-
fügung und Unterordnung unter die Normen einer Gemeinsamkeit wirklich
ein Anrecht auf eine selbständige Zählung hat oder ob es sich hier etwa
nur einerseits um eine den allgemeinen Zusammenhang zwischen Be-
wegungsYorstellung und Bewegung verstärkende Verengung des Bewufst-
seins handelt, wie sie der Einflufs der leitenden imponierenden Persönlich-
keit zuwege bringt, und andererseits um B«gungen des Selbstgefühles
und der Eitelkeit, welche durch die freiwillige Unterordnung Anerkennung
zu finden hoffen.
Aus der Fülle der Einzelbetrachtungen erwähnen wir nur zwei
Punkte. Die Betrachtung der Spiele, welche sich um Sinneseindrücke
drehen, führt den Verf. zu dem allgemeinen Satz (S. 495), dafs erstens
jeder Sinnesreiz schlechtweg, zweitens jeder starke und drittens jeder
angenehme Sinnesreiz gefällt. Und die Nachahmung erklärt er für
eine gemischte Erscheinung, bei der eine Reihe angeborener Bedürfnisse
sowie Belehrungen durch die Erfahrung mit dem ursprünglichen Zu-
sammenhang zwischen sensorischen und motorischen Vorgängen, genauer
zwischen Bewegungsvorstellungen und Bewegungen, zusammenwirken —
ein Problem, für dessen Aufhellung vielleicht experimentelle Unter-
suchungen von Nutzen wären.
Der allgemeine Gewinn der Arbeit entspringt der Methode der
Vergleichung, welche sich bei dem Verfahren des Verf. von selbst
ergiebt. Er kann nicht überall blank und haar aufgezählt werden, sondern
vielfach handelt es sich nur um Anregungen, welche der selbständige Leser
aus dem reichen Material und seiner Zusammenstellung schöpfen wird.
Es kommen dabei nicht nur dem Umkreis der menschlichen Spiele selbst
angehörende Vorgänge in Betracht, sondern auch gewisse andere Er-
scheinungen, zu denen die menschlichen Spiele im Verhältnis primitiver
Vorläufer oder besonders einfacher Beispiele stehen. Allerdings mufs man
dabei äufsere ÄhnUchkeit und innere Übereinstimmung, sowie Vergleichung
und Erklärung auseinanderhalten. In dieser Beziehung scheinen uns z. B.
die Versuche des Verf., das ästhetische Problem durch eine Wanderung
durch die Welt der Spiele aufzuhellen — ursprünglich das Hauptmotiv
für die Abfassung des Werkes — , verschieden beurteilt werden zu müssen.
Die Zurückverfolgung der ästhetischen Elementarvorgänge, der Freude
am Bhythmus und den einfachsten Farben und Formen bis zum kindlichen
Spiel ist gewifs lehrreich, wennschon auch hier die Frage nicht ganz ab-
zuweisen wäre, ob es sich in beiden Fällen auch wirklich um dieselben
Bewufstseinsvorgänge handelt. Besonders beachtenswert erscheint uns
hier der Hinweis des Verf. auf die bewuTstseinsverengende, hypnotische
Wirkung des Bhythmus, wodurch er einen günstigen Boden schafft für
die intensivere Gefühlswirkung anderweitiger Reize. Wer aus der ethno-
graphischen Litteratur weifs, wie allgemein der Rhythmus von den Priestern
YlerteljahrBBchrift f. wiBsenBchaftL FhiloBopMe. XXIII. 3. 25
374 A.. Vierkandt: Groos, „Die Spiele der Menschen".
der Naturvölker benutzt wird, um sich in einen Zustand der Hypnose und
Ekstase zu versetzen, dem wird diese Auffassung besonders einleuchten.
Wenn dagegen Gboos den Vorgang der Einfühlung oder inneren Nach-
ahmung durch eine yoraufgehende Erörterung der Spiele der äufseren
Nachahmung unserem Verständnis näher zu rücken hofft, so würden dazu
angesichts der tiefen Kluft, die beide Beihen von Vorgängen voneinander
trennt, doch wohl erst weitere Untersuchungen nötig sein. Und wenn
der Verf. die Illusion beim künstlerischen Gfinufs durch diejenige des
Kindes bei seinem Spiel aufzuhellen versucht, so ist — ganz abgesehen
von der Frage, ob beide Vorgänge wirklich wesensgleich sind — doch
auch die kindliche Illusion ein viel zu komplexer und selbst der Zer-
gliederung und Aufklärung bedürftiger Vorgang, als dafs unser Verständnis
durch diese Zusammenstellung erheblich gefördert würde.
Sehr beachtenswert erscheinen uns dagegen gewisse Folgerungen,
die der Verf. mehrfach (S. 57, 112, 386, 402, 406, 455) für die Ent-
stehung von Kulturgütern zieht. So sehr man nämlich im allgemeinen
für sie angesichts der trägen, indolenten Natur des primitiven Menschen
nach praktischen, naheliegenden (z. B. mythologischen) Beweggründen
sich umzusehen Anlafs hat, so ist doch nach dem hier beigebrachten Ma-
terial auch die Heranziehung des einfachen Spieltriebes nicht überall ab-
zuweisen.
Zum Schlufs ein Wort über einen allgemeinen Eindruck, den
uns eine Wanderung durch die Welt der Spiele hinterläüst. Zeugen schon
die „Spiele der Tiere" von einem Beichtum an Lebensäufserungen, hinter
dem der Emstgehalt ihres Lebens im allgemeinen zurücksteht, so erhalten
wir für den Menschen mit doppelter Stärke denselben Eindruck eines
Mifsverhältnisses zwischen Blüte und Frucht, zwischen dem Beichtum der
ursprünglichen Anlage und der Armut des eigentlichen Kulturbesitzes.
Zu einem Teil erklärt sich dies MifsverhältniTs offenbar aus der indolenten,
sich schwer zum systematischen Ernst aufraffenden Natur des Menschen,
zum andern aber aus dem harten Wesen der menschlichen Kultur, welche
dem Beichtum des menschlichen Geistes nur eine beschränkte Zahl fester
Formen zur Verfügung stellt und alles, was sich nicht in sie hineinpressen
läTst, unbarmherzig opfert.
Berlin. A. Viebkandt.
Gomperz^ Dr. H., Zur Kritik des Hedonismus. Wien,
1898. 121 S.
In dieser äufserst lesenswerten und gedankenreichen kleinen Schrift
wird Schritt für Schritt der Hedonismus in allen seinen Formen besprochen.
Man sieht, dafs er ein Standpunkt ist, dem der Verf. die eingehendste
Betrachtung geschenkt, dem er selbst vielleicht angehört hat. Wenn die
letztere Vermutung richtig sein sollte, so haben wir hier ein Absage-
schreiben vor uns. Zunächst wird die Frage rein psychologisch gestellt:
ist es richtig, daXs unsere Handlungen durch Lust oder Vermeidung von
Unlust motiviert sind? Dabei stellt es sich heraus, dafs zwar die Lust-
und Unlustgefühle als die zeitlich frühesten beim Individuum zu fassen
P. P 11-= mperz, „Zur Kritik des Hedonismus". 375
sind (es wäre hier yielleicht auf Zieglbb „Das Gefühl'^ zu verweisen ge-
wesen), dafs aber jeder weitere Schritt im Seelenleben des Menschen ihn
über diese erste Stufe hinausführt und dafs die einzelnen fein skizzierten
Entwicklungsstufen nicht nur keinen Zuwachs an dieser Gefühlsqualität
bringen, sondern diese sogar dauernd in den Hintergrund drängen, bis die
Eücksicht auf Lust oder Unlust sich als ein ganz verschwindendes Element
in dem psychologischen Gesamtbild darstellt. Gern hätte Bef. dem Verf.
den Beweisgang, dafs auch hier die Ontogenese der Phylogenese entspricht,
erlassen. Wir können derartige psychologische Beobachtungen bei niedriger
stehenden Menschen und vollends bei Tieren nur mit Hilfe einer in rück-
schreitender Richtung immer gewagteren Analogie anstellen, und die voll-
ständig richtigen Beobachtungen beim Menschen sichern diesem Teil auch
ohne die entwicklungstheoretischen Excurse volle Zustimmung.
Mit dieser Feststellung aber ist die Entscheidung über den ethischen
Hedonismus noch durchaus nicht gefallen. Es könnte ganz gut sein, dafs
Lust nicht immer erstrebt wird, wohl aber erstrebt werden soll, und dafs
also der ethische Hedonismus trotz mangelnder psychologischer Legitimation
durchaus berechtigt ist, als ethische* Werttheorie aufzutreten. Dies kann
der Hedonismus in zwei Formen thun. Als individueller Hedonismus, der
das Wohl des einzelnen Individuums in dem Maximum von Lust, dem
Minimum von Unlust sieht. Dieser aber sieht sich dazu gedrängt, syste
matisch jeden Fortschritt des Individuums, der nur durch Aufsuchen und
Überwinden von Leid möglich ist, zu negieren, und ist also als durchweg
entwicklungsfeiudlich aufzufassen. Und zwar mufs ihm folgerichtig
jeder Schritt auf der Lebensbahn als eine Abkehr von der Lust, mithin
als Irrweg erscheinen, wie denn auch Hbobsias im Altertum aus der
Schule des Aristippos hervorging.
Die andere Form, in der der Hedonismus als ethische Theorie auf-
treten kann, ist der Utilitarismus, der nicht das Glück des Einzelnen,
sondern „das gröfste Glück der gröfsten Anzahl" als Richtschnur des
Handelns aufstellt. Mit der begeisterten Schilderung der Persönlichkeit
und der Lehre Bbnthams, die diesen Abschnitt eröffnet, kann ich mich
vollständig einverstanden erklären. Nur hätte doch mit einigen Worten
darauf hingewiesen werden müssen, dafs auch für Bjcntham die Basis des
Utilitarismus der Hedonismus war. Wenn bei der Beförderung des Wohls
Aller das Individuum etwa leer ausgehen sollte [freilich nach Bbntham
ein casus Irrealis], so hätte das Individuum gar keine Veranlassung, dieses
Wohl zu befördern. Diesen Schritt zur Annahme einer Lust aus Menschen-
liebe selbst hat erst Mill gemacht, und somit richtet sich auch die fein-
sinnige Kritik des Verf., worin er zeigt, dafs die Menschenliebe in keiner
der drei von ihm angenommenen Formen sich utilitarisch werten läfst,
mehr gegen Mill als gegen Bekthah. Endlich folgt eine gleichfalls sehr
treffende Zurückweisung von Spencers Verquickung des Evolutionismus
und Utilitarismus, die in der richtigen, aber manche Ausführung des Verf.
selbst treffenden Auseinandersetzung gipfelt, dafs wir aus der Entwicklung
einer Erscheinung durchaus nicht auf ihren Wert schliefsen dürfen, das
heifst also, dafs der Evolutionismus nie eine Basis für den Utilitarismus
abgeben kann.
25*
376 ^' Hensel: Gompenz, „Zur Kritik des Hedonismus".
Auch die bei Bbnthah so stark herrortretende Anwendung des
Utilitarismus auf juristische und sociale Fragen wird als nicht zutreffend
nachgewiesen. Nicht, weil eine Körperverletzung Unlust bringt, wird sie
bestraft, sondern weil die Staatsgemeinschaft nicht will, dafis sie geschehe —
und sie kann gelegentlich Dinge wollen, die Unlust bringen, Dinge nicht
wollen, die Lust bringen. Die Zwecke der Gesellschaft sind utilitarisch
nicht zu ergründen, ihre Prinzipien liegen zum grofsen Teil auf ganz
anderem Gebiet.
Darf Eef. einen Wunsch äuTsem, so wäre es der, dafs manche ge-
wagte Terminologien unterblieben wären. Das Streben nach Herrschaft
über die Natur „physiokratisch*' zu nennen, geht doch wohl etymologisch
wie historisch nicht an. Und wenn das Streben nach der Wissenschaft,
nach Bethätigung im Staat, Lösung socialer Aufgaben unter dem Namen
der „ästhetischen^ Zwecke zusammengefalst wird, so ist dies auch nicht
als glücklich zu bezeichnen. Störend wirkt auch als Substantiv „das
Nachhinein".
Das soll uns aber die Freude an der schönen kleinen Schrift nicht
verderben. Vorzüglich wird ihre Tendenz in dem Motto zusammengefafst,
das an Angblüs Silesius anklingt, das aber Ref. nicht zu identifizieren
vermochte :
„Wollt' ich dem Leid entrinnen,
Wie sollt' ich Lust gewinnen?
Gott lenkt durch Lust und Leid
Die Welt in Ewigkeit."
Heidelberg. P. Hensbl.
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iiilllllillliillllliiiliiililiilliriiliiiliiiiiiiühiiili
luiiiiiiiiiiMiiimiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiii
Abhandlungen.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der
Zeitvorstellung.
Von Eugen Posch, Budapest.
(Vierter Artikel.)
Inhalt.
Entstehuiig und Bedeatnng der „leeren*^ Zeit. Ansdehnnnffsgebiet der Zeit-
vorBtellimg. Warum man die Dinee in der Zeit befindlich vorstellt, nnd warum
man nur an eine Zeitreihe glaubt. Bas Liniensymbol. Das Stetigkeitsprädikat.
Die unendliche Zeit. Der Begriff „Zeif* ist Schlufsleistung und nicht Anfangspunkt
des Zeitkategorien ersinnenden Denkens. — Sprachliche Belege für die empiristische
Theorie.
4. Der Begriff „Zeit** und seine Prädikate.
Zur Einsicht der Entstehungsumstände des Begriffs
„Zeit", einer Kette, wird uns das Verständnis ihrer Glieder,
der Intervalle, hinüberleiten. Etymologisch würde „Intervall"
irgend ein dazwischen liegendes Leeres, folglich „leere
Zeit" bedeuten und wäre ein rein empirischer, d. h. durch
stattgehabtes „Ablesen vom Gegebenen" erklärbarer Begriff,
falls nur leere Zeit überhaupt vorhanden und die Zeit nicht
stets mit irgendwelchen, wenn auch unbemerkten, Eindrücken
erfüllt wäre.
DaTs es leere Zeit nicht giebt („les instants hors des choses ne sont
rien") und falls es welche gäbe, unbemerkbar bliebe, findet sich bei Lbibniz
(Ep. V, 27; Ep. III, 4 — 6, an Claekb), jedoch ohne dafs die hieraus zu
Gunsten des Subjektivismus erwachsende Empfehlung (die des Prinzips:
Zeit ist blofser Gedanke) irgend beherzigt würde. Ähnliche Behauptungen
bei HuMB (S. 90—91), I. H. Pichte (Beitr. S. 141—142), Dühring (S. 69),
LlBBMANN (S. 90—110), WUNDT (Log. S. 432) u. a.
Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. XXIIL 4. 26
386 Eugen Posch:
Da nun Begriffe eines nachweislich Nichtvorhandenen
niemals im obigen Sinne empirisch, d. h. blofse Wieder-
spiegelungen empfangener Eindrücke sein können, so müssen
die in ihnen enthaltenen Umbildungen — im gegebenen Falle
die Leerheitsvorstellung — auf ihre Ursache hin erforscht
werden. Dieselbe dürfte in der Thatsache zu suchen sein,
dafs die Zeit auch viel uninteressante, wenigstens uns ad hoc
nicht fesselnde Erfüllungen enthält, folglich nicht nur uns
selbst manchmal leer erscheint, sondern auch anderen gegen-
über, deren Aufmerksamkeit von dem Inhalte ab- und auf
das blofse Gröfsenmoment (bei Dauervergleichungen) hin-
gelenkt werden soll, sehr zweckmäfsig als „leer" bezeichnet
wird. Das Intervall ist also ursprünglich ein als nicht-
vorhanden geltender dauerhafter Eindruck oder ein diesem
gleichwertiges dauerhaftes Geschehen, und die Zeit nichts
anderes, als eine Keihe successiver Intervalle.
Die HERBABT'sche Erzeugungsweise der Leerheitsvorstellung aus
Pausen, wie solche in der Rede oder Musik, wenn sie ins Stocken geraten,
vorkommen (VI, S. 143 — 144), weicht vom Prinzipe der unserigen nicht
ab, sondern unterscheidet sich von derselben nur in betreff des hierbei
übergangenen thatsächlichen Zeitinhalts, als welchen Herbabt jene V^eiter-
führungen der Rede oder Melodie erwähnt, wie sie dem Zuhörer während
Stockungen gemeiniglich zu entschlüpfen pflegen. Nun ist jedoch die
Vernachlässigung eines von uns selbst beigesteuerten Zeitinhalts — ein
hierdurch erfolgendes „Verlöschen der Reproduktionen", infolge dessen
„nichts, als die Form derselben, das Nacheinander noch merklich bleibt" —
viel weniger wahrscheinlich, als die Aufserachtlassung eines uninteressanten
auswärts Gegebenen, wie solches an den zahlreichen Gesichts- und sonstigen
Eindrücken vorliegt, welche uns bei Pausen doch von allen Seiten zuströmen.
Auch beweisen die häufigen Fälle von Langweile („leerer Zeit"), welche
ohne Musik- oder Redestockungen eingetreten sind, jedenfalls gegen die
Unentbehrlichkeit der von Hbrbart für die Leerheitsvorstellung bean-
spruchten Vorkommnisse.
Da es jedoch für Entstehung der Leerheitsvorstellung nur auf jenes
Vernachlässigen des thatsächlichen Zeitinhaltes ankommt, so mufs man
alle Lebenslagen, in denen dieses eintreten kann, als geeignete Ausgangs-
punkte für die fragliche Vorstellung anerkennen ; denn viele Wege führen
nach dem Rom der menschlichen Erkenntnis. Dies bezieht sich aufser der
HERBABT'schen auch auf die VoLKMANN'sche Darstellung, wo ein quantitativ
gleiches Gefühl des Überdrusses zu besagtem Zwecke herbeigezogen wird,
wie solches infolge zu langer Dauer bei den verschiedenartigsten, anfangs
gar nicht uninteressanten Darbietungen zu entstehen pflegt, und eine
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 387
„Zusammenfassung der qualitativ verschiedenen Gegenwarten in denselben
Gesamteindruck'', sowie „Hemmung der wechselnden Qualitäten unterein-
ander" (S. 27) bewirken soll. Dafs Pausen eigentlich nur durch unser,
mit dem Weltlaufe nicht schritthaltendes Denken (-« Ungeduld) zu „Pausen",
d. h. bemerkbar, und hiermit zum Ausgangspunkte der Zeitvorstellung
wurden, findet sich in eleganter Fassung bei Waitz (S. 586).
Die Ähnlidikeit der „leeren Zeit" mit der Leerheit der mathematischen
Formeln und sonstiger Begriffsschemen (vergl. Wuvdt, Log. S. 432,
Spsnceb, §§ 73 und 104), allwo doch auch nur die Zulässigkeit was
immer für welchen Inhalts, statt eines gewissen, sich unvermeidlich
aufdrängenden bezeichnet werden will, und keineswegs der Glaube an
faktische Leerheit erweckt wird, wenigstens es nicht werden soll — diese
Ähnlichkeit bringt aufser der obigen VoLKMANn'schen und der nur ganz
andeutungsweisen WuNDT'schen noch die STiEDENBOXH^sche Darstellung
(S. 261) zum Ausdruck, wo die „leere Zeit", d. h. die Zufälligkeit ihres
eben gegebenen Inhalts durch die Yergleichung meines Lebensabschnittes
(A, a, b, c, B) mit einem beliebigen fremden (A, d, c, f, B) gewonnen wird.
Jedenfalls ist dies nicht die bequeme Heerstrafse, sondern ein gewifs nur
selten betretener Seitenweg zur fraglichen Vorstellung. (Laut Yolkmann
[S. 33] selbst das nicht.) Die HoBWicz'sche Äufserung (1. Hälfte, S. 141),
„das BewuTstsein der Zeit" [so allgemein!] käme „dadurch zutande, dafs
zahlreiche Empfindungsreihen nebeneinander ablaufen, unter denen eine
als Hauptreihe sich mit den anderen vergleicht" — halte ich nur für eine
undeutlichere Fassungsweise des STiBDBNBOTH'schen Gedankens.
Den Begriff des Zeitraumes, der sich von dem des Intervalls
doch gewifs in Nichts unterscheidet, läfst Hxbbabt aus Vorstellungsreihen
hervorgehen, die man sich eingeübt hat, „mit gleicher Geläufigkeit rück-
wärts wie vorwärts zu durchlaufen" (Lehrb. 175). Wem bekannt ist,
dafs solcherlei Beihen bei Hebbabt zur Darstellung der Baumform dienen,
wird zugeben, dafs er hier, in Yerkennung des rein metaphorischen Cha-
rakters der fraglichen Zeitbenennung, meinte, etwas wie Verschmelzung
von Zeit und Baum vor sich zu haben, und deshalb glaubte, auch die für
die letztere Vorstellung nötigen Veranstaltungen herbeiziehen zu müssen.
Warum das Gefühl der leeren Zeit unangenehm ist, meint der letzt-
erwähnte Denker im Sinne seiner vorstellungsmechanischen Theorie durch
den Umstand erklärt zu haben, dafs dieses Gefühl „aus Beproduktionen
von entgegengesetzter Art entsteht, die sich, eben .indem sie ins Bewufst-
sein fortwährend vordringen, gegenseitig Gewalt anthun" (VI, S. 145).
Ihm hat hier sein Bestreben nach allseitiger Durchführung seiner
Spannungs-Hyi>othe8e die Einsicht jener ganz nahe gelegenen Wahrheit
verkümmert, dafs das fragliche Gefühl hier einfach durch Unzufriedenheit
mit dem thatsächlich dargebotenen und vom erhofften verschiedenen Inhalte
entsteht. Die Ledigkeit, nämlich erfolgte Loslösung, von allem bestimmten
Inhalte ist für den Begriff der Zeit jedenfalls charakteristisch, ein Moment,
welches an Begriffsbildungen, wo sie mit Erdumdrehungen identifiziert
wird,') noch nicht klar zu Tage tritt, und anderseits, wo fest gewurzelt,
leicht zur unhaltbaren Voraussetzung einer frei von allem Inhalte vor-
handenen Zeit führen kann.
26*
388 Eugen Posch:
') Hierher gehört z. B. Plato (cap. 10—11), wo der ysvvriaaq naxrjQ
,piOisl" (sie!) die Zeit, indem er die Planeten in ihre gehörigen Orte
einstellt, „iva yevvfi^y XQOvo^', — Ausdrücke, die eine offenbare, auch
jetzt noch häufige Verwechslung der Zeit mit ihrem MaTse erkennen lassen,
wie solche beispielsweise von Wowdt (M. Th. S. 27) gerügt worden ist.
Eine Gegenbemerkung des Abistoteles s. w. u.
Im Eifer, die Zeit leer und recht abstrakt zu denken, d. h. ein
Über alle UnregelmäXsigkeiten äulserer Verläufe erhabenes Idealbild yon
Oleichmäfsigkeit zu entwerfen, wird die Thatsache, dafs diese Begriffs-
bildung ein blofses Denkgebot ist, vergessen, wodurch dann jenes unab»
hängig zu Denkende zu einem unabhängig Seienden wird („weil ich
sie leer denken muTs, so ist sie gewifs leer''), d. h. es entsteht der Glaube
an die Existenz des geschilderten Idealbildes. So bei Eülsb (s. u.),
auch bei Newton (cit. bei Libbmakn S. 87), wo das Vorhandensein eines
„tempus absolutum, verum et mathematicum", welches „in se et natura
sua absque relatione ad extemum quodvis aequabiliter fluit" und nur vom
„vulgus^ mit den — stets ungenauen — Zeitmafsmitteln identifiziert werde,
betont ist. (Wurde von Clabkb gegen Leibniz geltend gemacht.)
Der LEiBNiz'sche Hinweis auf die Unregelmäfsigkeit unseres Ge-
dankenverlaufs im Vergleiche zur absolut gleichmäfsig dahinfliefsenden
Zeit, welch letztere Locke aus ersterem abzuleiten unternahm, war ange-
sichts des Mangels jeder Erklärung bei dem englischen Denker für das
Zustandekommen exakterer Zeitformen („Weiterausbildung !^) wohl am
Platze, enthält jedoch keinen Grund für Ablehnung der ganzen LocKE'schen
Hypothese. Vollends verraten die Bemerkungen, Zeitvorstellung würde
durch den Gedankenlauf höchstens „erweckt", keineswegs „hervorgebracht**
(femer, „wenn es auch nichts Gleichmäfsiges in der Natur gäbe, so würde
die Zeit dann doch bestimmt sein'' ..«.,§ 15), einen auch bei Lexbkiz
festgewurzelten Glauben an die Bealität des leeren Zeitschemas. — Die
ähnliche Meinung liegt dem viel umstrittenen Ausspruche Kants zu Grunde,
man könne „in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbsten
nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit
wegnehmen kann^' (Ej*. S. 58, ähnlich Prol. S. 33; vergl. auch das oft
erwähnte „Vorhergehen, Zugrundeliegen'' der Zeit) — ein Umstand,
welcher nebst anderen (s. u.) von dem Eönigsberger Philosophen mit Ver>
kennung des lediglich durch Abstraktion entstandenen begrifflichen Wesens
dieser „Leerheit" für ein apriorisches Vorhandensein der Zeitvorstellung
und gegen den „empirischen Ursprung" derselben zu Felde geführt wird
(s. w. u.).
Dieser EANr'schen Anschauungsweise ist die Lotze (156) -Wunbt'
(Log. S. 432) -sehe Bemerkung entgegenzuhalten, dafs die leere Zeit, in
welcher „durch den Eintritt bestimmter Vorstellungen einzelne Punkte
markiert werden", nichts als eine durch Vermittlung der Stetigkeits- und
Linienvorstellungen erzielte Fortbildungsstufe des zeitlichen Vorstellens
ist, charakterisiert dadurch, dafs das Zeitbewufstsein hier eine Umkehmng
erfahren hat, indem nunmehr die Inhaltsteile, d. h. eben dasjenige den
Anschein einer nachträglichen Zuthat annimmt, was zur Erzeugung der
angeblich a priori zu Grunde liegenden Zeitform selber notwendig war.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeityorstellung. 389
folglich eben primärer Natur ist. Dafs bei dem Bestreben, dem oben er-
wähnten Denkgebote nachzukommen, uns doch immer nur „une Image
des sensations ä l'etat vague et confus'' entsteht, hat FoüiLLfiE (S. XXIY)
bemerkt und für die Nachträglichkeit dieses „leeren" Zeitbildes der Eant-
schen Theorie gegenüber geltend gemacht.
Dafs Zeit so gut wie ihr Element, das Intervall, soweit
es sich um die populäre Vorstellung handelt, ein blofses Phan-
tasiegebilde ist, immerhin ein nützliches, selbst unentbehr-
liches, braucht wohl dem flir Geisterspuk unempfänglichen
Sohne des XIX. Jahrhunderts nicht erst beteuert zu werden.
Der Vorschlag des Dahasciüs, zweierlei Arten des Seins anzunehmen
und der Zeit, sowie auch der Bewegung (statt ihnen jegliche Bealität
abzustreiten) jene Seinsweise zuzuerkennen, welche durch fortwährendes
Entstehen und Vergehen gekennzeichnet sei (^ xlnjaig xal o xQovog ovx
Motiv awitbaraza, aX^ iv t^ ylvscS-ai rb slvai ^x^i* zb ös ylveoS-ai ov tb
firj sivai anXmq itniv, aXXcc rb aXXoxe iv aXXio (jl^qsi rov sivai vtplaraod'txi,
Simpl. 184) — dieser Vorschlag, sage ich, liefse sich wohl betreffs der
Bewegung annehmen, deren Realität durch ein nachweisliches Subjekt
dieses Prozesses selbst (der bewegte Körper) gewährleistet ist, aber nicht
in Bezug auf die Zeit, wo ein ähnlich reales Subjekt für das Prädikat
des Verfliefsens nicht yorliegt.
Auch wird die Bemüfsigung, die Zeit als vollkommen
inhaltsleer, „absolut gleichmäfsig fliefsend" vorzustellen, uns
nach obigen Ausführungen über das Intervall keineswegs mehr
zu Forschungen nach einer der exakten Zeitvorstellung genau
entsprechenden Weltthatsache, deren Abbild sie wäre, anregen,
sondern höchstens eine ausführUchere Untersuchung über den
Entstehungsgang besagter Vorstellung und deren verschiedene
Prädikate wünschenswert erscheinen lassen.
Zeit ist kein absichtlich gebildeter technischer Begriff,
sondern ein natürliches Ergebnis, quasi ein Niederschlag der
auch nichtwissenschaftlichen Denkthätigkeit, allerdings präciser
gefafst und strenger durchgebildet im Kopfe des geschulten
Mathematikers (vergl. die Ausführungen Newtons oben). Dafs
Vergleichungen verschieden dauerhafter, nämlich zusammen
ein-, aber nicht zusammen austretender Eindrücke der Ur-
sprungsquell ihrer Erzeugung waren, braucht nach obigem
vielleicht nicht besonders betont zu werden;^) wohl aber mag
hervorgehoben sein, dafs das Bewufstwerden des (auch inner-
halb des Intervalles stattfindenden) Vergehens der natürlichste
390 Eugen Posch:
AnlaXs zur Ausgestaltung einer Vorstellung gewesen sein
mufste, die eben nicht nur „leer" ist, sondern auch das Prä-
dikat der Successivität enthält.
1) LocKB bemerkt wohl an einer Stelle, der Gedankenzug, „aus
dessen Selbstwahmehmung unser Begriff von Dauer und Zeit herkommt^
(§§ ^9 ^) ^e^gl* Dbscabtbs, Ep. 6:^ „prius . . et posterius durationis
cuiuscunque mihi innotescit per prius et posterius durationis successivae,
quam in cogitatione mea, cui res aUae coexistunt, deprehendo''), werde
u. a. auch „durch äulsere Gegenstände veranlafst, welche die Sinne er-
regen" (XIV, § 27), — scheint jedoch so wenig, wie sein berühmter Vor-
gänger, die UnWahrscheinlichkeit einer Zeitausbildung aus blofs innerlichen
Phantasiebildem erkannt zu haben. Huhe läCst den Begriff der Zeit
wenigstens „Ton der Succession unserer Vorstellungen aller Art abgeleitet^
sein, „von Begriffen sowohl, als von Impressionen, und zwar von letzteren,
sie mögen durch Sinne oder durch Beflexion entstanden sein" (S. 82),
wohingegen Condillac schon klar erkennt, die „id6e de la dur^e'^ sei
„d'abord produite par la succession des impressions" (I, chap. 4, § 16) —
eine Ansicht, die den HBBBABx'schen und ähnlichen Darstellungen still-
schweigend zu Grunde liegt und bei Spenceb ausdrücklich befürwortet
wird, da sich die Zeit von äuTseren Eindrücken leichter „dissociiere" (§ 91),
als von inneren, somit auf ersterem Wege eher gewonnen werden könne.
Der Umstand, dafs Zeit, dieses blofse Schema (der all-
gemeine Begriflf) jener tausendfältigen, durch Vergehen ge-
kennzeichneten Weltvorgänge, einen Namen erhalten hat,
während sonstige Eindrucksniederschläge, jene aQgemeinen
Schemen, wie sie die äufseren Objekte in uns hinterliefsen,
unbenannt bleiben, erklärt sich durch die ursprünglich konkrete
Grundbedeutung der verschiedenen Sprachausdrücke für Zeit,
welche Grundbedeutung einesteils ein interessantes Streiflicht
auf die Entstehungsweise dieser Vorstellung wirft und deren
allmähUch erfolgte Abklärung von materialem Zubehör darthut,
anderseits erkennen läfst, dafs hier keineswegs die befremd-
liche Thatsache einer volkstümlich gewordenen Benennung
blofser Gedankenschemen vorliegt. Die Ursache des Glaubens
an die Realität der Zeit, beziehungsweise der Grund der
Unbeliebtheit unserer gegenteiligen Ansicht, wird wohl am
ehesten in jener für ein mangelhaftes Abstraktionsvermögen
charakteristischen Begriffsbildung zu suchen sein, wo nämlich
1) „E. D. Epistolae omnes.'' Ed. Knoch, Frankfurt a. M. 1692
(s. Pars II; ep. 4 u. 6).
Ausgangspunkte zu einer Theorie der ZeitTorstellung. 391
der Begriff „Zeit" noch nicht streng genug von den ihm
associierten wirklich realen Messungsvorgängen und all deren
materialem Zubehör (bewegter Körper, zurückgelegte Weg-
strecke) losgetrennt ist, weshalb eine Leugnung der Zeitrealität
als Anzweiflung jener, der Zeit selbst untergeschobenen
Vorgänge gefühlt wird.
Dies läTst sich, abgesehen von den Bestimmungsgründen des Plato-
PLOTiN^schen Standpunktes, für die Haltung des nach-kantischen Idealismus
behaupten. Wenn Hbgbl gegenüber den EANr'schen Fixierungen einer
leeren Zeit versichert, die Zeit sei „selbst das Werden, Entstehen und
Vergehen, das seiende Abstrahieren, der alles gebärende und seine
Geburten zerstörende Kronos^^ (§ 258), so enthält dies neben der richtigen
Ansicht von Nachträglichkeit der Leerheitsvorstellung eine höchst unge-
rechtfertigterweise gegen den Subjektivismus gemünzte Gleichstellung von
Zeit mit den ihr zu Grunde liegenden physischen Prozessen. Die Tben-
DELENBüBG^Bchen „bestimmten Stadien des Ablaufs* \ an welche sich an-
geblich alles organische Leben bindet und welche die objektive Bealität
der Zeit beweisen sollen (S. 164), sind wohl auch nichts anderes, als
Reihen gewisser Ereignisse (Metamorphosen), welche der Organismus zu
durchwandeln hat, um zu einer gewissen Existenzform zu gelangen. Eine
ähnliche Begriffsverwirrung liegt in dem oben citierten Ausspruche
I. H. FiCHTBs und in den weiter unten anzuführenden Stellen Ulbicis,
Hartmanns und Lotzes.
Diese Verwechslung der Zeit mit ihrem Inhalte scheint
auch den gemeintiblichen Übertragungen der Prädikate „gegen-
wärtig, vergangen und zukünftig" von Ereignissen auf die
Zeit selber (d. h. Ausdrücken wie „gegenwärtige, vergangene
und zukünftige Zeit") zu Grunde zu liegen.
Ähnlich denkt Hbebart (IV, § 288). Was jedoch das der Zeit bei-
gelegte Fliefsen anbelangt, welches der letztere gleichfalls vom Zeit-
inhalte herzuleiten scheint, so dürfte dieses Prädikat, zumal es doch nur
bei einer sehr eng begrenzten Klasse von Zeitinhalten in eigentlichem
Sinne benutzt werden konnte, viel eher infolge jener Ausbreitungs- und
Stromesvorstellung entstanden sein, von welcher w. u. (Eine Handlung,
die nicht in Fortbewegung von Flüssigkeiten besteht, „fliefsend" zu
nennen, ist nicht weniger eine Metapher, als der Ausdruck „fliefsende Zeit^'.)
Femer Dohbiho: „Das sogenannte Fliefsen der Zeit läfst sich nur als
Grundgestalt von realen Unterschiedssetzungen in der Beschafifenheit der
Vorgänge denken'* (S. 69). Auch I. H. Fichtb: „Jene endlos sich auf-
hebenden Jetzt . . . sind nichts an sich, sie sind nur die . . . Momente
des Verharrens der absoluten Wirklichkeit, ... die Abschattung der ab-
soluten Realität" (Beitr. S. 141—142 und 170).
Die Thatsache, dafs 1.) alles in der Zeit befindlich vor-
gestellt wird, beruht auf der Fähigkeit des Erwachsenen, den
392 Eugen Posch:
allermeisten Erscheinungen der Aufsenwelt und später auch
denen seines Inneren einen Zeitlauf hinzuzudenken, — einer
Fähigkeit, die dort, wo sie uns im Stiche läfst (Fälle grofser
Aufregung oder Vertiefung), durch das Gefühl der Ähnlich-
keit jener aufregenden Ereignisse mit zeitlich vorgestellten
ersetzt wird.
Abistoteles meint den Umstand, dafs die Zeit iv navxl öoxsX s'ivai
(IV, cap. 14) aus der Bewegbarkeit sämtlicher Dinge, ihrer Eignung und
Bezüglichkeit zur Bewegung, deren naS'og tj k'Sig {aQid-fiog ys wv) die
Zeit sei, erklärt zu haben. Plotins Antwort auf die Frage: „quomodo
tempus est ubique?*^ lautet: weil „anima, yita illa (<=die den ZeitfluTs
gebärende Weltseele) a nuUo . . . abest'^, cap. 12. (Könnte mit der
Änderung von illa in haec [««das menschliche Denkvermögen] unter-
schrieben werden.) Looks scheint die blofse Thatsache der Gleichzeitigkeit
äufserer Dinge mit unserem zeiterzeugenden Gedankenprozesse für einen
hinlänglichen Erklärungsgrund unserer Ausbreitung der Zeitvorstellung auf
alles Aufsere gehalten zu haben. (S.: „Wir nennen unser Dasein oder
den Fortgang unseres Daseins oder eines anderen Dinges nach dem Mafse
der Folge der Vorstellungen in unserer Seele die Dauer von uns oder von
einem anderen Dinge, was mit unserem Denken gleichzeitig da ist.'^
XIY, § 3.) Seine Bemerkung, dafs die Zeitvorstellung, wenn einmal durch
die „Wahrnehmung der Folge und Zahl unserer eigenen Gedanken^' er-
langt, dann auch „auf Dinge anwendbar sei, die bestehen, während man
nicht denkt'', eventuell auch schläft (XIY, § 5), wurde von Bebkblxts
Übersetzer übbbbweo treffend gegen des letzteren Schlufsfolgerung (XCVHI)
geltend gemacht, die Seele müfste „immer denken^', „wenn die Dauer eines
endlichen Geistes nach der Zahl der Ideen oder der Handlungen abge-
schätzt werden mufs, die einander in eben diesem Geiste oder Gemüte
folgen" (ib.).
Kant vergleicht in „M. P." das Sichausdehnen der Zeit auf alles
Gegebene mit der vielseitigen Gültigkeit allgemeiner Begriffe (sie soll
hierdurch „universali atque rationali conceptui magis appropinquare'^ als
der Baum [S. 107]; ähnlich Lbibniz), während in der „Kr." (S. 61) dieser
Punkt einfach mit der Bemerkung abgethan ist: die Zeit sei „die un-
mittelbare Bedingung der inneren Erscheinungen (unserer Seele) und eben
dadurch mittelbar auch der äulseren Erscheinungen", folglich von ausge-
dehnterer Anwendbarkeit, als der Baum, welcher nur auf äufsere Er-
scheinungen geht. Das Wort „mittelbar** will hier wohl nur die Gleich-
wertigkeit des Empfundenen mit dem blofs Vorgestellten, d. h. den Vor-
stellungscharakter des ersteren kennzeichnen. Hobwicz läfst die Zeit-
vorstellung zuerst nur „auf das eigene Ich", aus welchem er sie ableitete,
„gerichtet und beschränkt" sein, und wagt die unbewiesene Behauptung,
sie werde von hier zunächst auf unsere Beflexbewegungen, sonach auf die
beweglichen Körperteile, und schliefslich „in dem Entwicklungsstadium,
das wir Projektion nennen", auf äufsere Gegenstände übertragen (S. 136).
Spbhcbbs gegenteilige Ansicht bezüglich des Ausgangspunktes unserer
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 393
Zeitvorstellungs. o. (S. 390). Yolkmaw erklärt sich die Übertragung derselben
auf Gedankengebilde durch die Beleuchtungskraft fixierender Aufmerksam-
keit, welche (ähnlich wie das Empfinden im Vergleiche zu blofsem Er-
innern) den Klarheitsgrad ihres Gegenstandes — der fixierten Vorstellung —
zu steigern und dieselbe hierdurch zum Beziehungspunkt für dunklere,
d. h. zum Gegenwärtigen zu stempeln vermöge. (Ähnlich Güyaü
[S. 44] : „Pourquoi, si ce n'est par ce que le sentiment du pass^ nous est
donn6 par Peffacement des Souvenirs?^) Der Umstand, dafs nun einem
Erinnerungsbilde Gegenwärtigkeit beigemessen wird, soll den „Anschein*^
erzeugen, „als wäre die Vorstellung eine gegenwärtige und vergangene
zugleich*^ (S. 16), und aus diesem Konflikte uns die Betrachtung heraus-
führen, es sei doch nur „in der Reproduktion gegenwärtig, was als Em-
pfindung vergangen ist*^ Auf diese Weise kämen wir dazu, „das Nach-
einander von den Vorstellungen auf das Vorstellen zu übertragen*^ Ich
denke, der besagte „Anschein" entstehe in Wirklichkeit niemals — höch-
stens im Gehirne des über die Zeit nachgrübelnden Psychologen. Auch
halte ich jene Beleuchtungskraft der Fixierung nicht stark genug, um
eine Ähnlichkeit ihres Gegenstandes mit Empfundenem wahrnehmen zu
lassen, und meine deshalb, nicht das mit Aufmerksamkeit Ergriffene über-
haupt sei das nächste Anwendungsgebiet der Zeitvorstellung im Bereiche
des Gedanklichen, sondern die Ausdrücke für geistiges Thun und Lassen
unseres Ichs (ich denke, glaube, befürchte, bezweifle, will etc.), und zwar,
weil dieselben den äufseren ähnlich reelle Thatsachen zu bezeichnen
scheinen; — wohingegen impersonelle Gedankengebilde, d. h. Beproduk-
tionen objektiver Verhältnisse, wie solche den Forscher beschäftigen, bei
hallucinationsfreien Köpfen niemals Gegenwärtigkeitsglauben erzeugen.
Die auch von Volkmank zugestandene Ledigkeit wissenschaftlicher Prin-
zipien von zeitlichen Nebengedanken (s. o. S. 302) mag als Beleg hierfür
gelten.
Dafs alles 2.) in (nicM unter, mit, neben) der Zeit
vorgestellt wird — eine Thatsache, die, beiläufig bemerkt, auf
die KANT'sche Begriffsbildung einer alles befassenden „Form"
von Einflufs gewesen sein mag — , beruht wohl auf der all-
verbreiteten Identifizierung der Zeit mit einem die Welt
durchfliefsenden Strome; eine Metapher, die den soeben er-
wähnten Umstand, dafs ihrer Berührung nichts entgeht, sehr
geschickt zum Ausdruck bringt.
Abistotblbs' schwankende Ausdrucksweise lälst seine Meinung, ob
das Verhältnis des in der Zeit Seins konkret (wörtlich) oder blofs abstrakt
(metaphorisch) zu denken sei, nicht klar erkennen. Zuerst heifst es (IV,
cap. 12): ro iv XQ<>^V elvai sei nichts als ro fiexQeXaQ'ai z^ Xq'ov<o, und
das fragliche Verhältnis dem Inbegriffensein (auch Tts^Uxecv) des Paaren,
ünpaaren und der Einheit in der Zahl gleichzustellen. Später jedoch
verleitet ihn die Erwägung, dafs in jener Bedensart doch mehr als blofses
Zugleichsein der Zeit mit den Dingen ausgedrückt ist ((pccvsQov . . . on
394 Eugen Posch:
ovx €cri xo iv XQ^^V ^'f-vfti- xo elvai oxs 6 xQovog iozlv), zu Zugeständ-
nissen in der Bichtung des Objektivismus, indem er nun behauptet, es
finde wirkliches tcsqLsx^I'V statt, welches wohl auch seine Bückwirkungen
auf das umfangene ausübe {xal Ttaaxsi Sr^ ti imb tov xQovov, nämlich
das iv XQ^^V ^^X ^^^ ^^^ ^^^^ zerstörende (im Sinne des „tempus edax
rerum"), wie dies aus dem Zusammenhange der Zeit mit der Bewegung^
(einem Prozesse, welcher bekanntlich das Bestehende hinwegfegt, 17 . . •
xlvrjaig iSlaxtjoi xo vnaQxov) erklärlich sei. Der moderne Psychologe
wird, statt anderweitiger Beispiele für das fragliche halb abstrakte
Verhältnis, lieber Erklärungsgründe suchen für das Entstehen jener
urwüchsigen Vorstellung von wirklich konkreter Darinnenbefindllchkeity
wie dieselbe betreffe des Zeit-„inhalt"-es (sie!) im stets objektivistisch ge-
sinnten Laienbewufstsein vorhanden ist.
Ulrici sagt: „Sofern das allgemeine Nacheinander der Dinge jeden
einzelnen Zeitpunkt und damit alle einzelnen Dinge in sich befafst, kann
man .... sagen, dafe alle einzelnen Dinge in der Zeit seien" (§ 31).
Zugegeben, was Eakt mit gutem Grunde bestritt und hier in verhüllter
Weise behauptet wird, dafs das Enthaltensein der einzelnen Augenblicke
im gesamten Zeitflufs dem Inbegriffensein des Individuellen im allgemeinen
gleichzustellen und hieraus zu verstehen sei, so entbehrt man noch immer
einer Erklärung für den ferneren Umstand, dafs die „einzelnen Dinge"
gleichfalls in (und nicht auf, bei, unter) den einzelnen Zeitpunkten
befindlich gedacht werden. Die BAUMANN^sche Darlegung, es entstünde
„der Anschein, als ob alles in der Zeit sei" (11, S. 666), dadurch, dafs
alles, was überhaupt einer Zeitvorstellung unterliegt, „mit ihr verglichen
oder nach ihr und mit ihr bestimmt werden kann", erklärt das Zustande-
kommen der charakteristischen Vorstellung dieses darinnen sichtlich
nicht, und wäre höchstens dann befriedigend, wenn die fragliche Bedensart
lautete: „die Dinge sind mit der Zeit" (vergl. Aristoteles oben). Eine
lebhafte Schilderung der Stromvorstellung samt aller Ungereimtheiten,
die sich bei folgerichtiger Festhaltung und Durchführung derselben ergeben,
findet man bei Lotze (138 — 140).
Cohens verständnisvoll erwählte Anführungen wider die Hebbart
(V, S. 505—507) -TRBNDBLENBüBG'sche (I, S. 166) Gleichstellung der Kaht-
schen „Form" (aus der Definition: „die Zeit ist nichts anderes, als die
Form des inneren Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres
inneren Zustandes", Er. S. 60) mit einem „Gefafse aus starrem Gufs, in
welches die Sinne ihren Inhalt hineinschütten", beweisen nur, Kant habe
die Zeit nicht „als eine Sache" behandeln wollen, aber keineswegs, was
der Zielpunkt der CoHEN'schen Widerlegungen (S. 147 — 156) ist, Kant sei
von der irrtümlichen Voraussetzung frei geblieben, es wäre das Verhalten
der Zeitvorstellung zu den sinnlichen Daten ähnlich dem eines G^fäTses
zu seinem Inhalte. Schon der Ausdruck „worinnen" in dem auch von
Cohen citierten Satze Kants: „da das, worinnen sich die Empfindungen
allein ordnen und in gewisse Form gestellt werden können, nicht selbst
wiederum Empfindung sein kann^' etc. (Kr. S. 49), macht das Vorwalten
jenes Bildes bei Kant wahrscheinlich, und noch viel mehr der Umstand,
dafs sich dieser Vergleich für das fragliche Verhalten dem Leser der
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 395
KANT'schen aprioristischen Zeittheorie sozusagen von seiher aufdrängt.
Auch YoLKMANN (S. 29) sieht Kant vom „Scheine'^ hefangen, „als wäre
die leere Zeit das prius der yoUen^^, und ist geneigt, sich die EAKr'sche
Lehrmeinung aus dessen einseitiger Veranschlagung des Umstands zu er-
klären, dafs „bei ausgebildetem Zeitvorstellen die volle Zeitreihe mit
der leeren gemessen, diese also jener entgegengebracht wird".
Das dritte Moment, dafs alles 3.) in der Zeit (d. h. in
einem einzigen Zeitflusse) befindlich gedacht und für die vielen
gleichzeitigen VS^eltbegebenheiten nicht parallele Zeitreihen
angenommen werden, erklärt sich aus dem fest gewordenen
Begriffe der Gleichzeitigkeit, d. h. aus dem Vermögen, die
qualitativ verschiedensten gleichzeitigen Erscheinungen, qua
wirklich empfunden, unter dem gemeinschaftlichen Prädikate
der Gegenwärtigkeit „verwandt" aufzufassen. Die letztere
Erwägung scheint mir leichter zu sein, folglich auch eher
unternommen, als die Ausbildung einer abstrakten Zeitreihe,
weshalb ich für unwahrscheinlich halte, es habe vor Fest-
setzung unserer einheitlichen Zeitreihe ein Zustand stattge-
funden, da an mehrere, parallel nebeneinander herlaufende
Zeiten geglaubt wurde.
Letztere Annahme findet sich bei Schklling, verquickt mit einer
eigentümlichen Deutungsweise des Ausdrucks „alle Zeit ist subjektiv",
nämlich: sie sei „eine innere, die jedes Ding in sich selbst hat, nicht
aufser sich'*. Weil aber jedes eiuzelne Ding andere Dinge vor und aufser
sich habe, so könne alsdann seine Zeit mit der Zeit anderer Dinge ver-
glichen werden, da es doch nur eine eigene subjektive Zeit hat. Dadurch
entstünde dann das Abstraktum Zeit (Stuttg. Priv. S. 431). Bei Etfferth
(S. 113 u. a.) finden sich soviel „subjektive" Parallelzeiten, als es Bewufst-
seine zu deren Ausgestaltung giebt (obzwar die doch alle dasselbe ausge-
stalten, wenigstens sollen!), und soviele objektive Zeitreihen, als es Träger
zusammenhängender Erscheinungsreihen, nämlich Dinge an sich giebt.
(Über die „objektive Zeit" w. u.) Die Verschmelzung der vielen objektiven
zu einer gemeinsamen Zeit geschähe, falls sich ein gemeinsamer Grund
für alle Dinge an sich ergäbe (=»Gott); und die Verschmelzung der sub-
jektiven, falls ein „aUwissendes Subjekt" (wieder = Gott) alle individuellen
Zeiten in sich vereinige (S. 111 — 114).
Eine vom Gesichtspunkte systematischen Denkens jedenfalls löbliche
Zugabe Ribhls zu der von ihm vertretenen BAUMANN'schen Zeitkonstruk-
tionsweise (s. 0. S. 288) aus der Bewufstseinskonstanz ist das Unternehmen,
die Zeiteigentümlichkeiten sämtlich aus (sogar für) Bewufstseinseigen-
schaften zu erklären. So wird beispielsweise die Einheit des Bewulstseins
herangezogen, um die erfolgte Verschmelzung parallel ablaufend gedachter
Zeitreihen in eine Zeit begreiflich zu machen. („Da wir . ,. . die Vor-
396 Eugen Posch:
Stellung dieser Zelten notwendig zur Einheit des Bewufstseins bringen
müssen, so würden die Zeiten subjektiv doch nur Eine Zeit bilden/^ S. 126.)
BiEHL, der früher (s. o. S. 318) gewisse Zeiteigentümlichkeiten aus dem
Zeitlemenden selbst als bekannt vorausgesetzten Eigenschaften seines
Bewufstseins erklärt hatte, scheint hier die blofse, dem Lernenden nicht
notwendigerweise bewuTste Thatsache der Einheit seines Selbstbewufst-
seins für Ausgestaltung des fraglichen Zeitprädikates hinreichend zu halten.
Nun ist es jedoch vom Standpunkte der Erfahrung aus eine sehr gewagte
Voraussetzung, es werde eine thatsächliche Einrichtung meines psychischen
Vermögens mir irgend ein besonderes Prädikat für eine Ausgeburt des-
selben in den Mund legen, und noch dazu ein solches, welches mit einer
wissenschaftlichen Schilderung dieser Einrichtung gerade gleich lautet«
Die Erklärungsart Bibhls scheint mir ähnlich, als wenn jemand die Ur-
sache derEreisförmigkeit des Horizonts nicht in der Kreisbewegung, sondern
in der Eugelform unserer Augen meinte gefunden zu haben.
Volkmanns sinnige Bemerkung, dafs „mein Leben, meine Zeit alle
dem, was ich eine Zeit nannte, den Anknüpfungspunkt darbietet'^ (S. 17),
ist gewifs wahr; dafs jedoch dieser Anknüpfungspunkt nicht allsogleich
aufgesucht und gefunden würde, sobald unerlebte Vorstellungsreihen
(a . . . z), die sich dem Überdenken darbieten, als Zeitreihen, folglich
der erlebten Beihe A . . . Z ähnlich gedacht werden, und dafs die ver-
schiedenen „Zeitreihen^^ anfangs „untereinander aufser aller Beziehung
stünden, miteinander nichts gemein'* hätten (S. 16), scheint mir um so
unwahrscheinlicher, als dieses wohl bedeutete, etwas in der Zeit abgelaufen
zu denken, ohne vor Augen zu haben, dafs es entweder gleichzeitig mit
oder vor, eventuell nach meiner Beihe A . . . Z abgelaufen sein mufs.
Ein mehr im wissenschafüichen, als im alltäglichen
Verstandesgebrauch eingebürgertes Symbol der Zeit ist die
gerade Linie, passend für Bezeichnung derselben wegen
des beiden Gebilden gemeinschaftlichen Momentes der Stetig-
keit und der einzigen, nämUch Längendimension, unpassend
jedoch wegen der zur Ausdrückung der Successivität unfähigen,
räumlich-simultanen Natur der Linie. Die Frage, ob die er-
wähnten Linienprädikate der Zeit im eigentlichen oder nur
im übertragenen Sinne gebühren, entscheidet sich für das
Längenprädikat in letzterem Sinne, da dasselbe den körper-
lichen Dingen als ureigentümlich zugesprochen werden mufs,
falls die gerade Linie, dieses irrtümlicherweise objektiv
gegeben geltende Abstraktum, eigentlich ein seiner übrigen
Dimensionen verlustig gedachter Körper ist (d. h. durch
Abscheidung der übrigen zwei Dimensionen von einem geraden
Körper, z. B. Stange, entstanden), und daher dem Sprach-
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 397
gebrauch entgegen nicht Eigner des Längenprädikates ist
(„die Linie hat Länge, ist lang"), sondern nur dessen andere
Benennungsweise. (Man bedenke, dafs die festgehaltene einzige
Dimension st^ts Länge heilst und niemals Breite oder Tiefe.
Nur breite oder nur tiefe Gebilde kennt die Geometrie nicht,
wohl aber nur lange.) Die Übertragung des Längenprädikats
oder, was hiemach dasselbe ist, des Linienbildes auf die Zeit
erscheint insofern zulässig, als Länge oder Linie durch „An-
reihung von Punkten in stets der nämlichen Weise" entstanden
gedacht (wohl mehr phantasiert, als gedacht!) werden kann, —
und die Zeit, wo gruppiert auftretende Darbietungen stets in
einen Zeitmoment einbegriflfen werden, auch aus einartiger
Anreihung ausdehnungsloser, somit punktähnlicher Eindrücke
zustande gekommen ist. Ob jedoch für die Ausbildung des
Liniensymbols für die Zeit wirklich dieses, aus der Ent-
stehungsweise beider Gebilde hervorgängige Moment bestimmend
war, und nicht vielmehr die stete Verwendung von Weglängen
bei Zeitmessung jenes Vergleichungsbild befestigte und eine
irrtümliche Übertragung des Längenprädikates vom Mafse
(dem Sonnenwege) auf das Gemessene (die Zeit) veranlafst
habe, bleibt dahingestellt.
Zur letzteren Annahme scheint sich Guyau zu bekennen, wenn er
behauptet, die fragliche Linie „repr^sente au fond la ligne suiyie par le
soleil et les astres dans leur perp6tuelle evolution'^ (S. 72).
Der ETFFBBTH'sche Gedanke von der Zeitbreite (s. o. S. 203) findet
sich bereits bei Kant (M. P. S. 102), wo gegenüber der Linie die Fläche
als Zeitsymbol bevorzugt wird, indem sie auch die NfiWTON'sche „Ubiquität"
der Zeit (die Ausdehnbarkeit des nämlichen Augenblicks auf eine Vielheit
von Darbietungen) zum Ausdruck bringe. Kants aus dem Liniensymbol
gezogene Schlüsse s. o. (S. 70). — Hbrbart (IV, §§ 247—249, 289) hat die
Ahnlichkeitspunkte zwischen der Zeit und der geometrischen Linie scharf
hervorgehoben zum Beweise seiner paradoxen Ansicht, die Zeit sei eigent-
lich und nicht eine blofs im übertragenen Sinne sogenannte Linie (IV,
§ 141). Wenn er jedoch meint, die Zeitelemente wären, weil ausdehnungs-
los, wirkliche Punkte, reihten sich wahrhaftig an- und nebeneinander, so
dafs ein wirkliches „Zwischen^^ entstünde, wodurch dann jedes Element
„Ort und Stelle" erhalte, ja durch die gleichartige Anreihungsweise der
Zeitpunkte sogar wirkliche Geradheit der Zeitlinie entstehe, und sie sich
von der geometrischen nur durch ihren Mangel an Stetigkeit (daher „Starr-
heit", weil ursprünglich diskret) unterscheide, so weisen wir dem
gegenüber auf die Thatsache hin, dafs eine Gleichstellung, wie deren die
398 Eugen Posch:
Sprache so yiele enthält, dem unbefangenen Menschenverstände stets für
metaphorisch gilt, sobald sich die Ähnlichkeit zwischen den Yergleichungs-
gliedern auf minder anschauliche Punkte erstreckt, als die ünähnlichkeit.
Der Mangel an Räumlichkeit aber, wie solcher bei dem einen Teile der
hier gegenübergestellten Dinge vorliegt, wird jedenfalls als ein viel zu
wesentliches Moment gefühlt, als dafs man drüber hinwegsehen und sich
entschliefsen könnte, einer so ^unnatürlichen Gleichstellung: „Zeit = Linie",
wenn nicht allegorisch zu nehmend, beizupflichten.
Laut WüNDT (Log. S. 432) entsteht das Liniensymbol, diese „Ver-
äinnlichung einer . . . leeren Zeit", nach erfolgter Festsetzung des Be-
griffs ihrer Stetigkeit, und bei Lotze ist die linienförmige Zeit, „als un-
endliches Ganze mit ihren beiden entgegengesetzten Ausdehnungen gefafst,
ein Versuch, durch Bilder, welche vom Eaume entlehnt sind, einem Ge-
danken Anschaulichkeit zu geben, welchen wir über die innere Abhängig-
keit der einzelnen Inhaltsteile des Geschehens («» Kausalität s. u.) hegen"
(149). Diese Entlehnung, d. h. die Thatsache, dals unsere Zeitvor-
stellungen auch sonst reichlich mit räumlichen durchzogen sind und durch
solche vertreten werden (man denke an die Redensart „eine Tagereise
weit", wo Zeitliches räumlich ausgedrückt wird), ist laut Spbngbu nichts
als eine Äufserung jener auch von anderwärts her bekannten menschlichen
Fähigkeit, successiv Erhaltenes zu verschmelzen und als Einheit zu repro-
duzieren. „Wir sehen ....(§ 336), dafs die Reihe von Bewufstseins-
zuständen, welche durch ,eine Tagereise^ angedeutet wird, sich zu einem
Bewufstsein von den durchmessenen koexistierenden Lagen zusammenzu-
ordnen vermag, .... ein thatsächlich einfacher Bewufstseinszustand,
welcher im Denken und Sprechen die ganze Reihe der durch ihn reprä-
sentierten Zustände verdrängt hat". Da sichs hier um Unterschiebung
einer fremdartigen Reihe für die zeitliche, folglich um ein Verlöschen des
eigentümlichen Charakters der letzteren handelt, und keineswegs blofs
schnellere, vielleicht simultane Reproduktion des successiv Erhaltenen
vorliegt, wie solches durch das hier angesprochene Phänomen der Übung
allerdings erzielt werden kann, so wird man zugeben, dafs die obige Er-
klärung für das Zustandekommen solcher Zeitverräumlichung ungenügend
und dieselbe kein blofses Übungsphänomen, sondern eben Ideenassociation
ist, zumal jene Zugesellung räumlicher Vorstellungen nicht ausschliefslich
bei Reproduktionen von Reihen, sondern auch bei Erfassung einheitlicher
Erinnerungsbilder (s. o. „Vergangenheitsraum") vorkommt.
GuYAü würde sagen, Zeit wird deshalb räumlich ausgedrückt, weil
sie uns ursprünglich mit dem Räume verschmolzen, nämlich nur quasi die
vierte Dimension (S. 71) desselben war. Heobls (§ 259) dreidimensionale
Zeit mit den drei Zeitphasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als
„Dimensionen" ist nichts als eine höchst plumpe Zusammenwürfelung
jzweier Dinge, die, wie Raumdimensionen und Zeitphasen, wahrhaftig gar
nichts, als ihre zufällige Dreifältigkeit, miteinander gemein haben. Gegen
Anwendung des Begriffs „Dimension" auf die Zeit hat sich u. a. auch
ScHMiTz-DüMONT (S. 17 — 18) in seiner (bezüglich der Zeit sehr wortkargen)
Schrift erklärt.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 399
Dafe auch das Prädikat von Stetigkeit eines derjenigen
ist, welches die Zeitvorstellung erst in vorgeschritteneren
Stadien ihrer Ausbildung annimmt, und keineswegs an und
für sich mit derselben einhergehe, ist eine Errungenschaft
der HEBBABT'schen Forschung (HI, § 140—142, IV, § 243,
VI, S. 129)^) gegenüber den Kant' sehen Aufstellungen, wichtig
durch die wesentliche Förderung, die sie der psychogenetischen
Einsicht angedeihen liefs durch die nunmehr erschlossene
Möglichkeit, eine Zeiteigenschaft vorläufig zu ignorieren,
welche der Hypothese von agglomerativer Entstehungsweise
der Zeitvorstellung stets hinderlich entgegenstand.
^) Eine annähernde Erkenntnis dieses IJmstandes ist auch, auTser
in den LocKs^schen und HuMs'schen Ausführungen, in der CoNDiLLAc'schen
Stelle enthalten, die Zeitreihe sei ursprünglich nur so lang, wie die Summe
ihrer Elemente, der successiyen Empfindungen. („Si l'on suppose, que la
m6moire peut rappeler k la statue distinctement jusqu'ä quatre, cinq,
six mani^res d'etre, eile distinguera en cons^quence quatre, cinq, six
instants dans sa duree.^ I, chap. 4, § 11.)
Für die Thatsache ursprüngUcher DiskontinuierUchkeit
der Zeitreihe spricht der Umstand, dafs ihre einander ab-
lösenden Inhaltsteile anfangs nicht für dauerhaft (ausgedehnt),
sondern nur für seiend (vorhanden) gelten, woraus sich als
primitivste Zeitvorstellung eine Reihe einander ablösender
Empfindungskomplexe ergiebt, deren jedes Element, weil von
dem Beteiligten nur als Position eines bestimmten Quales
aufgefafst, von selten eines geometrie-gewandten Beurteilers
solcher Auffassung durch blofse Punkte ausgedrückt werden
müfste. Dies soll demnach keineswegs bedeuten, es würde
ein bis zu der erwähnten Stufe zeitlicher Vorstellungen ge-
langtes Kind sich denken können: „meine Zeit ist diskret",
sondern nur, dafs es eine denkt, die faktisch diskret ist.
Nachträglichkeit des Stetigkeitsprädikats bedeutet keineswegs,
dafs vorher je sein Entgegengesetztes wäre verfochten worden.
Waitz' treffender Bemerkung, es könne „die Frage, ob sich zwischen
die Zeitpunkte etwas einschieben lasse oder nicht, . . . von dem Kinde
noch gar nicht aufgeworfen werden" (S. 587), und die Zeit würde deshalb
zu Anfang weder kontinuierlich, noch diskontinuierlich vorgestellt, schliefsen
wir uns yollinhaltlich an.
400 Eugen Posch:
Erst mit Eintritt der Fälligkeit, das einheitlich Dar-
gebotene durch gedankliche Entgegenstellungen in Abschnitte
zu zerlegen, kann die Voraussetzung der Teilbarkeit der durch
gelegentliche Teilung erhaltenen Stücke Platz gegriffen haben, —
einer Eigenschaft, die für das Prädikat der Stetigkeit wohl
wesentlich ist, deren Vorstellung jedoch bezüglich ihres Ent-
stehungsganges ziemlich schwer zu erklären ist. Dafs das
fragliche Prädikat nicht auf empirischem Wege, d. h. durch
die Wahrnehmung stets unbehinderter Teilung entstanden
sein kann, beweist schon die gerade gegenteilige Thatsache
eines Zeitminimums, laut welcher der Mensch unfähig ist,
bei Intervallen unter 0,002^^, eventuell selbst 0,16° (Wundt,
Ph. Ps. S. 331— 332; 1) Heebaet [VI, S. 309] nimmt aufe
Geratewohl 1 — 60^^ an) ein „Früher" von einem „Später" zu
unterscheiden. Es liegt also hier eine Anhänglichkeit des
Menschenverstandes an ein Zeitprädikat vor, dem die Erfahrung
widerstreitet, und welches sich bei seiner allseitigen Ver-
breitung gleichwohl kaum als Hirngespinst aburteilen läfst. —
Die Erkenntnis, dafs sich unser beschränktes Teilungsvermögen
vermittelst geeigneter Vorrichtungen (wie der Schxtlz-Lissajous-
sche Apparat, durch den die Zeitsekunde in 400000 Teile
zerlegt werden kann) erweitem lasse, darf wohl auch nicht
als Entstehungsursache des Glaubens an endlose Teilbarkeit
der Zeit angeführt werden, zumal dergleichen Vorrichtungen
dem griechischen Zeitalter, wo jener Glaube sich bereits nach-
weisen läfst, noch unbekannt waren, und anderseits, weil ja
selbst die vollkommenste Teilungsmaschine Grenzen ihrer
Leistungsfähigkeit hat.
Dafs die subjektive Eignung zur Trennung kleiner Zeiträume mit
der Stärke des Beproduktionsyermögens zunehme, läfst sich ohne die weit-
schweifigen, vorstellungsmechanischen Nachweise Hbbbabts (VI, S.146 — 147)
einfach schon daraus erschliefsen, dafs zu beiden eine Fähigkeit zu
schneller, scharfer Auffassung und zu Selbstanstrengung erforderlich ist.
^) Hier hat sich die bemerkenswerte Thatsache ergeben, dafs für
Eindrücke, die alle dem nämlichen Sinnesorgane gelten, das Scheidungs-
intervall ohne Gefahr des Verschwimmens viel kleiner gewählt werden
kann, als wenn die Eindrücke alternativ zwei Sinneswerkzeuge beschäftigen.
V
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 401
Die Ausflucht, als wäre das in Rede stehende Prädikat
von dem Symbole der Zeit, der geraden Linie, auf sie selber
übertragen worden und bei letzterer nur in ähnlichem Sinne,
wie für die Linie, aufrechterhalten (nicht in jenem exakteren,
dafs in allen Zeitintervallen eine Ausscheidung vergangener,
gegenwärtiger und zukünftiger Teile möglich sei), eine solche
Ausflucht, sage ich, löst keine der obwaltenden Schwierigkeiten,
sondern wälzt sie nur auf ein anderes Feld ab, wo sie ebenso
bestehen.
Je gewisser es erscheint, dafs nicht die Einsicht in un-
endliche Teilbarkeit der Zeit die Entstehungsursache des
Stetigkeitsprädikats gewesen ist, um so notwendiger wird es,
uns nach einer anderen Eigenschaft stetiger Gebilde umzu-
sehen, deren Erfassung vielleicht zum Ausgangspunkt des
fraglichen Prädikats wfrd dienen können. Als solche bietet
sich die Thatsache dar, dafs stetige Gebilde nicht aus ander-
wärtigen Elementen, sondern sozusagen nur aus sich selber
bestehen, d. h. selbst elementarer Natur sind. Dem laienhaften
Bewxifstsein, das den inneren Aufbau der Zeitreihe durch
Anreihung erinnerlicher Sinneseindrücke nicht kennt, gilt die-
selbe nur „aus sich selber, aus lauter Zeit" bestehend, und
es verwandelt sich die Unkenntnis ihrer Elemente in den
positiven Ausdruck, dafs es hier Baustücke, vom Ganzen ver-
schieden benannte, überhaupt nicht giebt. An diese Voraus-
setzung kann sich nun sehr leicht die blofse Schlufs-
folgerung geknüpft haben, dafs die Zeit, als ein nicht zu-
sammengesetztes, folglich stetiges Gebilde, auch jene andere
Eigenschaft stetiger Dinge besitze, welche mit denselben
bewufstermafsen verknüpft ist, nämlich die unendliche
Teilbarkeit. Der Umstand, dafs die Zeitreihe für den ihres
Aufbaues kundigen Psychologen das Stetigkeitsprädikat mehr
oder weniger einbüfst und ihm mehr nur in Gestalt eines
Bewufstseins, sie für stetig hinnehmen zu sollen, vorschwebt,
mag als Beleg unserer Ansicht dienen. Nach all diesem er-
ledigt sich die oben beregte Frage, betreffend den eigent-
lichen oder übertragenen Sinn des Beiwortes „stetig" für
Vierteljahrsschi-ift f. wJssenschaftl. PhUosopliie. XXm. 4. 27
402 Engen Posch:
die Zeitreihe, in der Richtung, dafs selbes allerdings im
eigentlichen Sinne der Zeit beigelegt wurde, falls „stetig"
nichts anderes bedeutet, als „nicht zusammengesetzt", bei
welcher Entscheidung der Umstand, dafs sichs hier um ein
unräumliches Gebilde handelt, unberücksichtigt bleiben konnte.
Das die Zeit der Zahl gegenüber charakterisierende Merkmal von
Stetigkeit wurde zuerst von Strato wider die AsisTOTELRs'sche Zeitdefinition
geltend gemacht: 6 fihv aQi^fibq SiwQia/jiivov nooov, ij Sh xlvijaig xal
6 xQovog ovv6xv<S (Simpl. 187). — Locke war sich klar bewufet, dafs
die Thatsache eine» Zeitminimums (» „Augenblick"), nämlich dafs es einen
Zeitteil giebt, „in dem man keine Folge bemerkt", weil „die Seele in
solchen nur eine Vorstellung aulninmit und keine weiter" (XIV, § 10),
noch keineswegs für die (später von Hümb so sehr befürwortete) zeit-
atomistische Ansicht beweise, als wären nämlich „die gröfseren Vor-
stellungen von . . . Dauer" einfach durch „Wiederholung" jener „unteil-
baren Einheit oder Vorstellung" entstanden, zumal man ja überhaupt
„keine solche unteilbare Vorstellung gewinnen" könne (XV, § 9). Hiermit
sind die physische und die blofs logische Möglichkeit der Teilung vonein-
ander scharf geschieden und klar erkannt, dafs die Hypothese einer den
Körpern gleich aus Atomen (unteilbaren Zeitstücken) aufgebauten Zeit
besserer Unterstützungen bedürfte, als die Thatsache unserer Unfähigkeit
eine ist, über gewisse Grenzen hinaus weiterzuteilen. Humbs Ausführungen
enthalten solche Unterstützungen nicht. Denn : 1.) dafs bei Leugnung von
Zeitatomen das Vorhandensein einer unendlichen Menge Teile in einem
Zeitstücke von endlicher Länge zugegeben werden müfste (S. 72 — 76),
gilt insofern nicht, als zur Möglichkeit einer Teilung keineswegs ein
der Trennung vorhergängiges Bestehen, Bereitliegen jener Teile
notwendig ist, dieselben vielmehr erst durch die Scheidung zu individueller
Existenz gelangend gedacht werden können. Nicht nur aus drei Stücken
Aufgebautes, sondern jedes individuelle Ganze läfst sich in drei Teile
zerschneiden. 2.) Dafs alles Vorhandene der Zahl ähnlich, somit infolge
der Wirklichkeit seiner Einheiten bestehend sei, welch letztere bei Be-
hauptung ihrer Teilbarkeit illusorisch würden, d. h. sie zu blofsen Eom-
plexionen herabsänken, — diese Anschauung läfst sich auf die Zeit schon
wegen ihrer Unwirklichkeit nicht anwenden und ist auch sonst unrichtig,
weil Einheiten niemals durch blofse Teilbarkeit, sondern nur durch fak-
tische Geteiltheit zu Komplexionen werden. ^) 3.) Des weiteren heifst es :
wer die kleinen, successiven Zeitteile „Augenblicke" und diese doch teil-
bar nennt, müsse deren Teilungsprodukte wider alle Natur der Zeit für
gleichzeitig erklären, da er sie andernfalls, seinem Sprachgebrauche gemäfs,
selber „Augenblicke" heifsen müfste. Wir antworten: kleinst geltende
^) Diese beiden Argumente, von Hümb eigentlich zur Unterstützung
der raumatomistischen Lehre hingestellt, sind auf Grund seiner Bemerkung
(S. 75), sie könnten auch auf die Zeit ausgedehnt werden, von mir auf
diese übertragen worden.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 403
Zeitteile für geteilt, d. h. aus Teilen bestehend zu erklären, ist ein Wider-
spruch; sie teilbar zu nennen jedoch schon deshalb erlaubt, weil uns
technische Errungenschaften (Chronoskop) unsere bishin „kleinst möglichen"
Zeitstücke schon öfter als noch weiter zerlegbar erwiesen haben. 4.) Die
Gleichheit zweier Zeiten — heifst es weiter zur Empfehlung der benannten
Hypothese — läfst sich nur bei Annahme einer endlichen Menge in ihnen
enthaltener Teile befriedigend definieren; nämlich: „gleich sind zwei Zeiten,
die die gleiche Menge Augenblicke enthalten"^) (S. 102 — 108). Wir er-
widern: Mit dieser Definition wäre nur dann etwas gewonnen, wenn sich
gemäfs der ihr zu Grunde liegenden Zeitanschauung wirklich stets eine
unumstöfsliche Anzahl in einem Stücke enthaltener Zeitteile nachweisen
liefse. ö.) „Die Yorstellungsfähigkeit ist nicht unendlich; folglich kann
kein Begriff . . . der Dauer aus einer unendlichen Anzahl yon Teilen oder
kleineren Begriffen bestehen, sondern er mufs aus einer endlichen Anzahl,
und zwar einfacher, unteilbarer Teile zusammengesetzt sein: Es ist also
möglich, dafs . . . Zeit diesem Begriffe gemäfs existiere^ (S. 91). „Mög-
lich" wohl, aber der Behauptung, dafs jedes meiner thatsächlich als Einheit
erfafsten Zeitbaustücke geteilt werden könne, liegt nichts im Wege.
Eine scharfe Unterscheidung yon Teilbarkeit und Geteiltheit, wie
solche bei Humb yemachlässigt erscheint, versetzte Dohring in die Lage,
das Prädikat unendlicher Teilbarkeit der Zeit mit der Ansicht zu vereinen,
iafs „für die getrennten Realitäten, welche in der Zeit als unterscheidbare
Akte aufeinanderfolgen, ... die Bestimmtheit der Zahl das durch blofse
logische Einsicht gesicherte Naturgesetz" (S. 64) sei. — Hebbabts Ansicht
über die Entstehungsbedingungen des Stetigkeitsprädikates, beziehungsweise
über die Bedingungen des Zurücktretens einer punktreihenhaften Zeitr
anschauung lautet: man müsse vorher die Inkongruenz jener Linien be-
merkt haben, welche bei Anblick verschiedener Bewegungsgeschwindig-
keiten als deren Abbild in unserem Kopfe zurückbleiben (lY, § 291). Dies
scheint mir ein zu schwieriger Lehrbehelf für ein so gangbares Prädikat. —
Bei YoLKMAKN (S. 34) ist die Stetigkeit ein Prädikat der in späteren
Entwicklungsstufen für objektiv geltenden Zeit, und entsteht durch den
Glauben an ein Weiterfliefsen der letzteren, auch während unser zeit-
messendes Denken aussetzt, indem nämlich die hierdurch entstandenen
Pausen stets mit dem leeren Zeitflusse erfüllt gedacht werden. Ich glaube,
ein Weiterfliefsen während gewisser Pausen genügt für die Stetigkeit
noch keineswegs, da dies Prädikat vielmehr einen Mangel jedweder
Unterbrechung ausdrückt. — Wündts Ansicht, das fragliche Prädikat sei
aus der Erwägung hervorgegangen, dafs ein gegebenes Intervall durch
Jeden beliebigen anderen und anders verteilten Yerlauf von Yorstellungen"
(Log. S. 432) hätte erfüllt sein können, läuft sichtlich auf die Hebbabt-
sche hinaus. Zu bemerken wäre, dafs das Bewufstsein, es hätte die Stelle
der in einem gegebenen Yerlaufe vorwaltenden Pausen bei einem anderen
^) Ist von HüME gleichfalls nur bezüglich des Baumes und der Linie
behauptet und wurde von mir, wegen einer Anspielung auf die Zeit (S. 107)
und weil er letztere sicherlich auch für eine Linie hielt, auf die Zeit
übertragen.
27*
404 Eugen Posch:
Verlaufe getrost durch Inhaltliches erfüllt sein können, und vice versa,
nur mit Hilfe jenes Zwischengedankens zum Stetigkeitsprädikate hinführt,
es lasse sich zu jedem Intervalle ein Divisor finden, insofern das Mais-
intervall unbeschadet seines zeitlichen Charakters nach Bedarf verkleinert
werden könne. — Batjmanms Äufserung: „wenn irgendwo, so ist bei der
Zeit das Kontinuierliche ein Wesentliches in ihrem Begrifft (II, S. 666), zu-
sammengehalten mit seiner Versäumnis einer Erörterung der Begriffe
Gregenwart, Vergangenheit und Zukunft, deren genaue Geschiedenheit im
Bewulstsein eben einen Hbrbabt (IV, § 243) zur Annahme ursprünglicher
Diskontinuierlichkeit der Zeitreihe veranla&t hat, — dieses alles scheint
mir auf eine der HsBSABT'schen Grundanschauung entgegengesetzte An-
sicht des erwähnten Verfassers hinzudeuten.
RiEHL behauptet konsequenterweise, dafs „die Vorstellung der
Stetigkeit . . . aus der Permanenz des Bewufstseins in der Auffassung'
des Nacheinander abzuleiten" sei (S. 124). Der Verfasser scheint Kon-
tinuität und unendliche Teilbarkeit der Zeit für zwei verschiedene Dinge
zu halten, da uns nämlich die nähere Erklärung dessen, wie und weshalb
diese Übertragung einer BewuTstseinseigenschaft auf die Zeit stattfinde,
an anderer Stelle (S. 12ö) geboten wird. Unendliche Teilbarkeit solle
eingesehen werden, weil „zwischen zwei so nahe als man will gedachten
Vorgängen immer noch die Einheit des Bewufstseins interpoliert werden
kann und mufs'^ Von allem anderen (ähnlichen Einwänden, wie w. u.)
abgesehen, steht nun ganz fest, dafs, wer den fraglichen Begriff durch
fortgesetzte Interpolation zu erlangen unternimmt, nicht die „Einheit
seines Bewufstseins", sondern irgend einen vorgestellten Eindruck, eventuell
blofsen Taktstrich in den ungeteilt vorliegenden Zeitflufs einschiebt.
Eyffbbths langatmige Ausführungen, in denen gelegentlich auch
der HBBBABT'sche Gedanke, Kontinuierlichkeit sei kein „konstituierendes
Merkmal" (S. 32) der Zeit, eine Stelle findet, bieten statt einer Erklärung
der Entstehungsart dieses Prädikates nur recht überflüssige Empfehlungen,
die Zeit nur ja gewifs für kontinuierlich hinzunehmen. Die Beanspruchung
von Dingen an sich, welche durch ihr freundliches „Zusammenhalten der
sonst unvermeidlich auseinanderfallenden Erscheinungen" Kontinuierlicbkeit
(fragt nur nicht wie?) erzeugen sollen, ist ein erbarmenswerter Hilferuf
an den Dens ex machina und obendrein eine Bekundung höchst herbarts-
widrig objektivistischer Denkungsart; die Versicherung (S. 36) wiederum,
auch die menschliche „Auffassung" bringe die fragliche Kontinuität zu-
stande, ist eine ganz unbefriedigende Abfertigung unserer eben auf das
Wie dieses Zustandebringens gerichteten Frage. Etwas ganz Barockes
in diesem Genre hat aber Hsoel geboten, wo die Stetigkeit der Zeit (im
Sinne von Gleichartigkeit der kleinsten Teile mit dem Ganzen) der un-
differenzierten Verfassung organischer Keime gleichgestellt, d. h. von einer
angeblich keimhaften Natur der Zeit hergeleitet wird, bestehend darin,
dafs sie als „abstrakt sich auf sich beziehende Negativität" in dieser Ab-
straktion „noch keinen reellen Unterschied" (§ 258) aufweist.
Dafs die Punktmäfsigkeit der Gegenwart eine mit Hilfe
des soeben besprochenen Teilungsvorgangs entstandene Vor-
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 405
Stellung sei, braucht wohl kaum versichert zu werden. Da
Teilung so lange stattfinden kann, als überhaupt Ausgedehntes
vorliegt, so folgt, dafs jedwedes, wie immer kurzes Dauersttick
in eine Eeihe succedierender Intervalle aufgelöst werden kann,
wodurch dann der Begriflf „Gegenwart" seiner ursprünglichen
Bedeutung entrückt wird, indem nun nach erfolgter Auflösung
ein beträchtlich kürzeres Dauerstück für ihn eintreten mufs.
Das Bewufstsein nun, dafs jedwede, wie immer kurze Aus-
dehnung, die man der Gegenwart beilegen mag, eine dergleichen
Selbstwiderlegung (Zurücknahme der ursprünglichen Gegen-
wartsbenennung und Übertragung derselben auf noch kürzeres)
zur Folge haben müfste — m. a. W. die Überzeugung, dafs
Gegenwart eigentlich nie kurz genug angenommen werden
könne — , führt zu dem Entschlüsse, ihr überhaupt jedwede
Ausdehnung abzusprechen, was — mit Bezug auf ihre Zuge-
hörigkeit zur linienhaften Zeit — in Gestalt jener Ver-
sicherung geschieht, sie sei ein „Punkt".
VoLKKANN (S. 34) läTst dieses Punkt-Prädikat in ähnlicher Weise
entstehen, durch das BewuTstsein nämlich, dafs die Zeit, wenn bereits als
objektiv gedacht, „in jenen Pausen nicht stille steht, während welcher
unser Zeitvorstellen" aussetzt. VergL noch oben (S. 192) Leibniz.
Die Unendlichkeit ergiebt sich gleichfalls als ein später
hinzugekommenes Prädikat, wenn man den Hervorgang der
Zeit aus erlebten Eindrucksreihen nicht vergüst. Streng
gefafst bedeutet Unendlichkeit nichts anderes, als dafs die
Anzahl der gegebenen Momente für die Ausflihrbarkeit fernerer
Hinzufügungen gleichgültig ist. Die Möglichkeit, einem ge-
gebenen Zeitmomente zwei andere, ein vorhergängiges und
ein nachfolgendes, hinzuzudenken, bleibt ungeschmälert, wenn
nicht ein, sondern Millionen Momente vorliegen. Aus dem
jedenfalls betonungswerten rein mathematischen Charakter des
Unendlichkeitsbegriffes folgt, dafs der letztere, mit erschlossener
Einsicht in das mathematische Ariom vom unbehinderten
Addieren, auch bei der Zeit erstehen mufste, falls nur deren
Ausbildung bis zur Erkenntnis des Einheitencharakters ihrer
Momente vorgeschritten ist. Die Begriffsverwirrung, als be-
deute die thatsächliche Unendlichkeit der Zeitreihe eine ahn-
406 Eugen Posch:
liehe Eigentümlichkeit des Weltlaufe — ein auch von Düh-
BiNG (S. 27 — 28) gerügter Irrtum, entstanden durch Nicht-
berücksichtigung auch leer hinzudenkbarer Zeitmomente —
ist wohl mit an jenem Heiligenschein samt Weihrauchwolke
schuld, mit denen dieses höchst harmlose, trocken mathematische
Zeitprädikat von selten erbauungsbedürftiger Gemüter stets
umgeben und zu religiösen Anknüpfungen ausgebeutet wurde.
Der übrigens unleugbaren Empfindung eines Unterschieds
zwischen Unendlichkeit der Zeit- und der der Zahlenreihe
(wonach erstere von selber weiter fliefeen, letztere hingegen
nur beUebig fortsetzbar sein soll) liegt Verkennung des rein
menschlichen Gemachtseins der Zeit und ihrer hieraus hervor-
gängigen Ähnlichkeit mit der Zahlenreihe zu Grunde.
Noch ist erwähnenswert, dafs vom Standpunkte unseres
Subjektivismus, dem die Zeit keine objektive Weltingredienz,
sondern nur menschliches Vorstellungsgebilde ist, selbst eine
Bestreitung von deren Unendlichkeit — in dem Sinne nämlich,
als wäre eine Zeit immer gewesen und werde stets sein —
durchführbar ist, indem behauptet werden darf, dafs Zeit,
als aufsen nirgends und niemals vorhanden, nur so alt
wie ihre Vorstellung ist, folglich mit dem ersten Erscheinen
zeitlicher Begriffe im Gehirne irgendwelcher Urmenschen be-
gonnen habe und mit Untergang des letzten solcher Begriffe
fähigen Gehirnes aufhören werde. Eine Vorstellung, die bei
exakter Ausgestaltung das Prädikat von Unendlichkeit an-
nimmt, uns somit zu Einverleibung auch jener Kindheitsperioden
in sie selber (den Zeitflufs) befähigt, welche Perioden wir,
solange sie gegenwärtig, d. h. wir Kinder waren, keineswegs
„in der Zeit befindlich" denken konnten: eine solche Vor-
stellung braucht, wie leicht ersichtlich, keineswegs von un-
endlichem Alter zu sein.
Yergl. RiBHL (S. 126): „Es ist . . . . nicht denknotwendig . . . .,
auch vor irgend einen Anfangsznstand, sondern nur mit ihm zugleich
die Einheit des Bewufstseins zu setzen. Nachdem aber einmal der Anfangs-
zustand in Bücksicht auf einen folgenden als Anfang appercipiert, d. i.
die Vorstellung der Folge erzeugt worden ist, kann die blofse Zeitform
allerdings in Gedanken auch über den Anfangspunkt hinaus erstreckt werden''.
\
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 407
Das Bewußtsein der Unendlichkeit der Zeit, wenigstens a parte
post, liegt bereits der platonischen Stelle zu Grunde, sie sei ein xa-i
agi&fjibv lovaa aidviog eixtiv (cap. 10 -^ Abbild der Ewigkeit). Gegen
die „Tcreinzelte'' Ansicht Platos, sie sei erst &fia . . . r^ ovQavd^ ent-
standen, machte Abistotelbs geltend, der Anfangsmoment einer a parte
ante endlich gedachten Zeit sei doch auch ein Jetzt (to . . . la/aro^'
xov . . . xQ^^ov Iv xivi tdv vvv ta%aiy VIII, cap. 1), folglich eine fisoottj^
TIC, mit welch einer stets ein vor und nach yerbunden sein müsse.
Sbxtus Empibicus hat, gemäfis seinem Grundsatze absolutester AUesleugnung,
der Zeit nicht nur die Unendlichkeit, sondern auch deren Gegenteil, die
Endlichkeit, abgestritten, indem er behauptete: 1.) die Zeit könne weder
unendlich lang sein, da zwei ihrer Bestandteile (Vergangenheit, Zukunft)
gar nicht existieren und der dritte, die Gegenwart, punkthaft, folglich
ausdehnungslos sei (ähnliches bei Augustinus, cap. 15); auch sei sie nicht
endlich lang, da dies zur widerspruchsvollen Annahme einer Zeit führte,
wo es noch keine Zeit gab, und zu einer, wo es schon keine mehr geben
werde; 2.) sie sei nicht entstanden und vergänglich {ysvvrjtog . . .
xal (pd'ccQtog), da sich für sie keine wirklich seiende Ursprungsquelle an-
geben lasse, insofern die Zukunft, aus deren allmählichem Eintritt und
Vergehen sie angeblich entstünde, selber nicht existiert, und anderseits
die gegenwärtige Zeit in der Zukunft oder eventuell in der Vergangenheit
nur bei Inbegriffenheit derselben in einer der letztbenannten beiden, also
wenn Gegenwart selbst zu Zukunft oder Vergangenheit würde, entstehen
könnte. Auch sei die Zeit nicht ewig und unverwüstlich (ayivvTjrog
xal atpd^aQtog), zumal ja einer ihrer Teile bereits vernichtet und der andere
noch nicht vorhanden sei. (Der grofse Leugner übersieht hier offenbar die
Identität der Zeitprädikate 1. und 2.)
Die von Plato angebahnte und im Neoplatonismus kulminierende
Entgegensetzung von Zeit und Ewigkeit (eetoiv eigentlich = unendliche
Dauer), wobei die letztere eine zeitgebärende Kraft und überhaupt vor-
nehmere (geradezu himmlische) Heimatszuständigkeit zuerkannt erhielt,
hatte dem Unendlichkeitsprädikat gewifs mit zu seinem selbst in neueren
Darstellungen bemerklichen Schleier von Heiligkeit verholfen, der erst
von LocKBs mutigem Finger zerstreut wurde. So hat z. B. Spinoza dem
durch spätere Einwirkungen nicht gestörten Einzelwesen nur „unbestimmte
Dauer" (indefinita existendi continuatio, Eth., Pars II, def. 5) beizulegen
sich entschlossen, wo doch aus dem Trägheitsprinzipe entschieden ewige
Dauer desselben folgt — offenbar, weil er die letztere nur dem Welt-
ganzen als vornehmerem Gegenstande zukömmlich hielt (s. auch: „nee
aetemitas tempore definiri, nee ullam ad tempus relationem habere potest^*,
Vni, prop. 23), wie Baumann (I, S. 179) richtig bemerkte. Anderseits
hat der letztbenannte Verfasser Lockbs Ausspruch vom naturgemäfsen,
ohne überirdische Hilfe (durch „dieselben Mittel und Quellen, welche zu
der Vorstellung der Zeit [und der Unendlichkeit der Zahl, § 30] führen",
nämlich durch „Hinzusetzung einer Zeitlänge zur anderen im Gedanken,
so oft man will", XIV, § 27; ähnlich Hbsrbart V, S. 506) erfolgten Ent-
stehen der Ewigkeitsvorstellung auf die blofs „astronomisch gedachte"
Ewigkeit (so wie Condillac auf „une dur^e vague" II, chap. 8, § 27)
408 Eugen Posch:
beschränken wollen, und behauptet, „die Ewigkeit der menschliched Seele
und ToUends die Ewigkeit Gk)ttes" (sie!) lasse „sich nur vergleichsweise
so bestimmen'^ und müsse „aus dem Begriff der Bauer als der Fortsetzung"
der Existenz entwickelt werden" und werde „so nach der verschiedenen
Art zu existieren je ihr eigentümliches Gepräge erhalten" (I, S. 399).
Wenn ein Denker vergifst, dafs die evident zeitliche Natur der Ewigkeits-
vorstellung durch den Gegenstand, ^^uf den sie angewandt wird^ nicht
alteriert werden kann, so ist daran wohl jene mittelalterliche Neigung
schuld, gewisse „heilige" Dinge, nachdem man ihnen überhaupt Baum gab,
mit lauter superlativischen, „von allem Irdischen verschieden" sein sollenden
Eigenschaften auszustatten, — was freilich nicht zu wundem ist bei einem
Schriftsteller, der es in seiner pietistischen Anhänglichkeit bis zu Gefühls-
schilderungen Gottes (II, S. 660) brachte.
Die LEiBNiz'sche Erwiderung auf die Ausführungen Lockes (nämlich :
„Um den Begriff der Ewigkeit" zu erhalten, müsse man „bedenken,
dafs derselbe Grund" [d. h. ein ewig dauerndes Gegebene] „immer bleibt,
um [in der Hinzufügung] weiter zu gehen") ist wohl gerechtfertigt ange-
sichts dessen, dafs letzterem an einer (von Leibniz nicht erwähnten) Stelle
(XIV, § 31) für Entstehung der Ewigkeitsvorstellung das blofse „Ver-
mögen" genügte, „Vorstellungen von Zeitlängen . . ., so oft man will,
in Gedanken zu wiederholen und aneinanderzulegen". Jedoch ist diese
Erwiderung gleichfalls von einigem verkappten Ingrimm getragen ob der
allzunatürlichen Darstellungsweise des englischen Denkers, wie aus der
von Locke ganz unverdienten Zurechtweisung hervorgeht, „die Sinne
allein" könnten „nicht genügen, um die Bildung dieser Begriffe zu be-
werkstelligen" (XIV, § 27), und auch hervorguckt aus dem Bestreben
Lbibniz', die von dem Naturalisten verunglimpfte „Ewigkeit" an dieser
Stelle durch die Versicherung zu entschädigen, sie (»= das Absolute) nähme
in der Wirklichkeit stets die erste Stelle ein (= Unbegrenztes vor der
Grenze) und nur im menschlichen Gehirne, welches stets vom Belativen
auszugehen gezwungen ist, die zweite. (Wurde von I. H. Fichte [Beitr.
S. 63 — 64] noch überboten.) Ebenso hat auch Kant dem Schrankenlosen
Priorität vor dem Beschränkten im menschlichen Verstände eingeräumt,
wenn er sich das Unendlichkeitsprädikat, unbekümmert um das Verhalten
des kindlichen Denkens — was Hbbbabt [VI, S. 115 u. 307] ihm vorwarf — ,
als der Zeit ursprünglich anhaftend dachte und behauptete, es bedeute
„nichts weiter, als dafs alle bestimmte Gröfse der Zeit nur durch Ein-
schränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei".
(Kr. 59; vergl. oben S. 69.) Jenen von Lbibniz geforderten „Grund, immer
weiter zu gehen", hat Baumann (II, S. 666) berücksichtigt, der die „Unend-
lichkeit a parte ante" der „allgemeinen praktischen Zeit" von dem Bewufst-
sein herleitet, dafs die ihr zu Grunde liegenden Himmelsbewegungen schon
vor unserer Geburt und der unserer Vorfahren in infinitum bestanden hätten.
Eypfbbth, der an dem orthodoxen Welterschaffungs- und -Ver-
nichtungsglauben festzuhalten scheint und anderseits den objektiven Weltlauf
mit der Zeit verwechselt, spricht letzterer die Unendlichkeit im gewohnten
Sinne ab, da „die Zeit mit der Welt und zwar zugleich mit der letzten
Thätigkeit ende" (S. 43). Das fragliche Prädikat gebühre ihr nur insofern,
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeityorstellung. 409
als ihre kleinsten Teile stetiger Natur, d. h. nur mefsbar, aber nicht
zählbar, folglich (sie!) zahllos, d. h. unendlich seien (S. 39 — 41). Dafs
die Beschränktheit der — EYFPEETH'schen — Weltthätigkeiten einer
„Häufung der Zeitgröfsen**, wie sie zur ünendlichkeitsvorstellung nötig
ist, um so weniger im Wege stehen kann, als eine „beharrliche, sich selbst
gleiche Wirklichkeit" doch ewig vorhanden war und bleibt, hat Dühbing
(S. 28) eingesehen.
Sjbhls einschlägige, wortkarge Stelle (sie lautet wörtlich: wir
müssen „zweien zeitlich noch so entfernt gedachten Vorgängen in (be-
danken die Einheit des Bewufstseins, die Bedingung ihrer Vorstellbarkeit
als zeitlicher Ereignisse, voraussetzen. Die Zeit ist der Idee nach ins
Unendliche fortsetzbar", S. 125->126) ist mir nicht deutlich genug,
um mich an eine Kritik derselben zu wagen, zumal der einzige, mir er-
findliche Sinn derselben unhaltbar scheint, nämlich: es lasse sich das Unend-
lichkeitsprädikat aus unserer Einsicht gewinnen, daüs der Abstand zweier
Ereignisse unbeschadet der Einheit unseres Bewufstseins in Gedanken
beliebig erweitert werden könne.
YoLKMAVJx hat mehr nach einem Beweggrund, als nach einem Grund
(im LsiBNiz'schen Sinne) zum Weitergehen geforscht, und einen solchen
in der gewohnheitsmäfsigen „Verwendung der leeren Zeitreihe als Mafs-
stab" zu finden gemeint, da nunmehr „die blofse Setzung eines Punktes
als Zeitpunkt, die leise Accentuierung einer dunklen Vorstellung als
Gegenwart genügt, um sie sofort zum Ausgangspunkt einer leeren Zeit-
reihe** [d. h. der Frage: und dann?] „zu machen'* (S. 29). Dafs erfüllte
und zwar mit befriedigendem Inhalte erfüllte Zeitreihen der Nachfrage
um Fortsetzung weniger günstig sind, als uninteressant erfüllte, ist That-
sache. Den Umstand, dafs die Unendlichkeit der Zeit nicht durch Er-
probung gefunden worden und die Möglichkeit des steten Weiterschreitens
eine recht eigentliche Behauptung a priori sei, drückt Volkmanks
folgende Stelle (S. 30) aus: „Der Prozefs, durch welchen wir zu dem
Vorstellen der unendlichen Zeitreihe gelangen, ist selbst kein unendlicher;
. . . uns genügt es bei dem Versuche, ihn einzuleiten, ... die Vorstellung
des infinitum durch ein Vorstellen vorzustellen, das ein indefinit um
ist**. Die „nach beiden Seiten hin über jede Grenze hinaus konstruierte
leere Zeitreihe" («die Ewigkeit) nennt derselbe Verfasser (ib.) „keine
Vorstellung", sondern „das Vorstellen eines Vorstellens, d. h. ein Gefühl",
da es der Versuch sei, den Begriff der Zeit, das Nacheinander, „in einer
Anschauung darzustellen". Des ferneren werden drei verschiedene Vor-
stellungsweisen der Ewigkeit (als aeon =» nunc stans, als „leere unendliche
Zeitfolge" und als „endliche volle, aber unendlich rekurrente Zeitreihe")
durch hier (S. 33) wie durchgehends reichhaltige litterarische Belege nach-
gewiesen.
Um mit Hebbaet die von Kant bestrittene Möglichkeit
einer noch vor Ausbildung des Begriffs „Zeit" stattfindenden
Benutzung zeitlicher Begriffe und selbst des Zeitmessens ein-
zusehen, ist es nötig, sich die rein abstrakte und von so
410 Eugen Posch:
mancherlei Prädikaten umschriebene Natur dieses Begriffs zu
vergegenwärtigen (Heebabt VI, S. 116) und anderseits zu
bedenken, dafs schwierigere, mehr Verstandesthätigkeit er-
fordernde Erzeugnisse stets spätere Geisteserscheinungen sind.
Die Thatsache, dafs sich dem Erwachsenen verschiedene zeit-
liche ürteilsf ormen des Kindes vom Standpunkte einer bereits
voll ausgebildeten Zeitvorstellung als Verwertungen des Be-
griffs „Zeit" darstellen, bedeutet keineswegs, dafs sie auch
dem Kinde Anwendungsarten dieses Begriffs sind. Giebt man
nach all diesem zu, dafs der Begriff „Zeit" die so ziemUch
späteste Frucht der einschlägigen Gedankenbildung sei, so
kommt noch zu bedenken — wie schon oben angedeutet — ,
dafs auch innerhalb dieses Begriffs ein Entwicklungsgang
mufs stattgefunden haben, indem ein plötzliches Hervortreten
seiner heute gangbaren abstrakten Fassungsweise, oder gar
gleichzeitiges Entstehen seiner bisher erwähnten Prädikate
höchst unwahrscheinlich ist. Die entwicklungsgeschichtliche
Reihenfolge dieser letzteren läfst sich freilich in Ermangelung
entsprechender Beobachtungen nicht bestimmen.
Waitz läXst den typischen Zeit-Begriff ganz nach Art sonstiger
Abstrakta hervorgehen, und zwar durch Abscheidung der „specifischen
Bestimmtheiten" zeitmessender Prozesse von deren „gemeinsamem Wesen",
nämlich der „regehnäfsigen Wiederkehr eines Wechsels, durch welche man
in den Stand gesetzt wird, sich über den Verlauf aller anderen Ver-
änderungsreihen zu orientieren" (S. 598). Ähnlich Volkmann (s. o.).
Bei Spkncbb, wo „eine bestimmte Zeit nichts anderes ist, als eine Lage-
beziehung zwischen zwei bestimmten Zuständen in der Beihe der BewuTst-
seinszustände", ist „Zeit im allgemeinen ... das Abstraktum aus allen
Beziehungen der Lage zwischen aufeinander folgenden Bewufstseinszu-
ständen" (§ 337). Abgesehen davon, dafs der Begriff „Zeit", der eines
Flusses, viel eher aus dem Vergleiche von Prozessen, als aus dem ruhender
Entfernungen hervorgehen dürfte, scheint hier noch in der Schilderung
eines gewissen Zeitverhältnisses vermittelst einer rein räumlichen Metapher
(des Wortes „Lage"), ohne die ausdrückliche Erklärung, dafs es eine
Metapher sein will, ein Best objektivistischer Vorstellungsneigungen mit
unterzulaufen. Bei Wundt ist „die abstrakte Zeit eben jene leere Zeit,
der keine Wirklichkeit zukommt, zu deren Abstraktion wir aber gleich-
wohl genötigt werden". Sie stehe „in dieser Beziehung auf einer Linie
mit den allgemeinen Begriffen, denen ebenfalls keine Gegenstände ent-
sprechen, welche aber die allgemeinen Denkformen darstellen, in die von
uns die Gegenstände und ihre Beziehungen gebracht werden müssen"
(Log. S. 432 — 433). Ähnlich bei Libbmann (S. 110), wo die NBwroH'sche
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeityorstellung. 411
Zeit ein durch Abstraktion gewonnener mathematischer Hilfsbegriff ist,
ähnlich dem der geometrischen „Linie^, dessen Unentbehrlichkeit für die
Naturwissenschaft und hier statthafte Hypostasierung desselben niemals
einen Beweis seiner objektiven Bealität abgeben kOnne.
Die begriffähnliche Natur der Vorstellung „Zeit'^ ist bereits bei
Leibniz (Opp. n, S. 91) ausgesprochen, wo die Zeit mit den Zahlen [und, in
N. A. XIV, § 26, mit den ewigen Wahrheiten] verglichen wird, weil
sie ähnlich, wie jene beiden, auch blofse Möglichkeiten (possibilit^s) aus-
zudrücken vermöge, d. h. nicht nur auf das thatsächlich Vorhandene an-
wendbar sein soll (. . . „quadre non seulement k ce qui est actuellement,
mais encore ä ce, qui pourrait Stre mis k la place, comme les nombres
sont indifferente k tont ce qui peut §tre res numerata"). Noch bliebe
Ulbici zu erwähnen, wo gleichfalls ein „Begriff der Zeit" der „Zeit-
anschauung" gegenübergestellt und verfochten wird, das „blofse Ab-
strahieren von der Bestimmtheit der einander folgenden Erscheinungen' '
genüge höchstens für Erzeugung einer Zeitanschauung, indem für den
„Begriff" vielmehr ein „Unterscheiden des Nacheinanders der Dinge rein
als solchen von ihrem ruhigen Nebeneinander" (§ 31) nötig wäre. Als
wenn vom laienhaften Menschenverstände jene dem Philosophen geläufige
Gegenüberstellung von „Nacheinander" und „Nebeneinander** zu ge-
wärtigen wäre!
5. Wörter von seitlicher Bedeutung.
Die Ergebnisse vergleichender Sprachwissenschaft, welche
im Bereiche des Ugromagy arischen ebenso, wie in dem des
Indogermanischen und sicherlich auch auf anderen Sprach-
gebieten eine ursprünglich konkret-qualitative Bedeutung der
allermeisten, heute abstrakt zeitlichen Ausdrücke (d. h. Hin-
zukömmlichkeit ihres heutigen Sinnes) darthun und Ur-
sprünglichkeit desselben wenigstens nirgends nachweisen, —
diese Ergebnisse sind ein vorzüglicher Beleg Sir unsere Hypo-
these, wonach Zeitvorstellungen der Menschheit nicht an-
geboren, sondern allmählich erworben sind, und sich nicht
als „Anschauungen" dem menschlichen Verstände darstellen
(denn da gäb's doch einige direkte Bezeichnungen für sie),
sondern rein gedanklicher Natur sind, gleich den nomina ab-
stracta. Wenn auch die einzelnen Entwicklungsphasen unserer
zeitlichen Vorstellungen sich bei heutigem Stande semasio-
logischer Forschungen aus dem dargebotenen Materiale noch
nicht entnehmen lassen, so ist durch Aufdeckung des Aus-
gangspunktes der jetzigen Zeitbedeutungen doch ein wichtiger
Fingerzeig gewonnen für Schlufsfolgerungen (wenn man will,
412 Eugen Posch:
nur für MutmaXsungen) über den Verlauf des betreffenden
Bildungsganges. Der unleugbar oft hypothetische Charakter
etymologischer Aufstellungen ist freilich nicht geeignet, die
Sprachwissenschaft als Beweismittel unserer Zeittheorie ins
Feld zu stellen; doch beansprucht ja auch die letztere nicht
mehr, als den Bang einer Hypothese, welche sich jedoch
durch ihre Harmonie mit Voraussetzungen fremder Gebiets-
bearbeiter nicht wenig gefördert fühlt.
In folgendem sind einige Beispiele aus dem Bereiche
des Indogermanischen und des Ugromagyarischen zusammen-
gestellt.
1.) Das griech. alsl, lat. aevuni, got. aivs («Zeit, Ewigkeit),
alt-ir. und kymbr. ois, ais («=tempas, aetas, saeculum) entstammen dem
sanskr. äyu («■ „Lebenszeit", aber auch rein qualitativ „Leben") entweder
unmittelbar, oder — nach Cubtius (S. 385) — durch Vermitthmg des Wortes
evas, eines „Gang, Wandel" bedeutenden, also gleichfalls rein qualitativen
(eyentuell von i »» „gehen" abstammenden) Ausdrucks.
2.) Das griech. XQ^'*'^^ ^^^ ^^ ^^^ \Aoh räumlichen x^Q^ (Tanz-
platz) und lat. hortus verwandt, und stammt, wie das zend. zrvana
(«»Alter, Zeit), von der Wurzel ghar («umfassen, nehmen), weshalb
XQOvoq „umfassende Zeitgrenze" (Cübtius S. 200), anfangs also „Kreislauf*
(der Sonne) bedeutet haben mufs, — ähnlich dem ungarischen idö (heute
=^ Zeit), welches infolge seiner Verwandtschaft mit wogulisch und ostjakisch
entep, endep («Gürtel) auch nur irgendwelchen „ambitus, circuitus"
(BuDBNz S. 809), somit etwas Nichtzeitliches bezeichnet haben dürfte. (Auch
das mordwinische pingä [«sEeif, Tonnenband] bedeutet gleichzeitig
,,Zeit, Stunde"; siehe noch lat. annus und annulus.) Die Abstammung
eines abstrakt „Zeit" bedeutenden Wortes von einer Wurzel „Kreislauf"
spricht für jene anfängliche Verwirrung der Zeit mit ihrem Mafsstabe,
der Sonnenbahn, deren wir oben erwähnten, — eine Verwirrung, die gewifs
so lange währte, als die Herkunft des zeitbedeutenden Wortes von jener
Wurzel klar gefühlt wurde.
3.) Das griech. ivöslexv^S, ivSslixeia, ivdeXex^fn geht auf sanskr.
dirghas (lang), und letzteres wahrscheinlich auf die Wurzel dhar (halten,
tragen, stützen) zurück (Curtius S. 191 — 192), woraus, wie aus der bereits
von LocKB bemerkten Abstammung des Wortes „duratio" von „durus"
(s. 0.), hervorgeht, dafs die Vorstellung der Dauer sich von der der phy-
sischen Stärke, Haltbarkeit (s. o. „Hartnäckigkeit") herleitet. Im un-
garischen „tart6ssäg" liegen die letzteren beiden Bedeutungen auch heute
noch friedlich beisammen.
4.) Das zend. yäre, griech. ojQoq, got. jera, ahd. jär (sämtlich
e= Jahr), sowie — nach Cubtius S. 355 — das griech. ^Qa, tschech. jaro
(Frühling), eventuell das lat. hornus, mhd. hiure=»nhd. heuer ent-
stammen der Wurzel ya (gehen), ähnlich wie das ungar. 6v, finn. ikä.
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeitvorstellung. 413
esth. iga, erza-mordw. ie, tscheremiss. i, läpp, jake (Budbnz S. 803, durch-
gängig = „Jahr") einer Wurzel jög- (fluere, currere). Bedeuten also diese
Zeitbenennungen ursprünglich nicht mehr als „Lauf" (wir meinen Sonnen-
lauf), so liegt hier aller Wahrscheinlichkeit nach die nämliche Verwechslung
der Zeit mit ihrem Mafsstabe, d. h. Mangel eines abstrakten Zeitbegriffs
Tor, wie oben unter 2.) Die Entwicklungsphasen des letzteren scheinen
zu sein: 1.) Umlauf, 2.) dauerhafter Umlauf, 3.) Umlauf er füllte Dauer,
4.) Dauer yon der Länge eines Umlaufs.
5.) Das sanskr. dina (Tag) und — Cübtius S. 236 — diva, auch
dyaus (Hinmiel, Tag), lat. dies, bi, -tri -duum, interdiu; nun- (•= novem)
-dinus, femer lith. dena »» kirchenslaw. dini «b kymbr. diw = altir.
die « „Tag", sowie das sanskr. adja =: kymbr. he diw«> kirchenslaw.
dinisis» altir. ind in «3 „heute", gehen sämtlich auf di («« scheinen)
zurück, bedeuten also eigentlich etwas helles, mit der Sonne zusammen-
hängendes, ähnlich dem ungar. nap, welches „Tag" und „Sonne" bezeichnet.
Der Sinn „heute" dürfte, wie im lat. ho die (»=» hoc die), vermittelst eines
einverschmolzenen Demonstrativpronomens („diese Sonne" «= mit dieser
Sonne, diesen Tag) erzielt worden sein, welches im ungar. ma (verwandt
mit m OS t «jetzt, majd »> dann, Budenz S. 606 — 607) selbständig auftritt.
Hierher gehört auch das griech. (xvgiov, verwandt mit ^ql, ^igioq,
vom sanskr. us.- (glänzen, leuchten, Cübtitjs S. 400), in welchem, sowie im
ungar. holnap (wo hol ursprünglich <« „lux, splendor", Budenz S. 105),
der Sinn „morgen" durch die Wendung „mit erglänzender Sonne" wieder-
gegeben erscheint.
Eine ähnliche Zeitbenennung ist femer zend. zima („Winter" und —
als pars pro toto, Cübtius S. 201 — „Jahr"), welches, sowie das noch
abstraktere lat. bi, -(tri)-mus (=bi, -tri, -himus), des ferneren hiems,
hibernus, griech. x^dv (Schnee) und ;(f£^a>v (Winter), auf das sanskr.
hima (kalt, Schnee, Winter) zurückgehen. Die Bedeutung „Winter"
wurde somit ursprünglich etwa durch „Schneeigkeit" ausgedrückt. —
Das zend. vanhra (Frühling), sanskr. vasara (Tag), vasantas
(Frühling), ushasya (morgend), kirchenslaw. vesna (Frühling), lith. va-
sara (Sommer), griech. &(> (pro: FiaaQ) und lat. ver (pro: veser) sollten —
CuRTiüs S. 388 — gemäfs ihrer Wurzel vas (aufleuchten), anderseits auch
€a7t€Q0(;, lat. vesperB^lith. vakaras aus diminutivem vask (etwas auf-
leuchten, bei Fick), eigentlich „etwas Leuchtendes" bedeuten, sowie das
ungar. t a v as z (Frühling), stammverwandt (Budenz S. 187 ff.) mit tscheremiss.
sokso (calidus), eigentlich „etwas Warmes, Wärme", undhajnal (Tages-
anbruch) von kogo = „leuchten" (Budenz S. 104), „etwas Leuchtendes,
Licht" bedeuten sollten.
Auch y^()ae = sanskr. gara (Wurzel: gar ««„gebrechlich machen,
. . . werden", Cübtius S. 176) sollten nur „Gebrechlichkeit", statt „Alter
=3 Zeitpunkt, wo man hinfällig wird", bedeuten. (Alter durch blofse
„Gröfse" ausgedrückt findet sich — Budenz S. 37-38, 718 und 857 — in
rjkixla von rjklxog [= wie grofs], ungar. kor [akkor-a = so grofs], ös
[«uralt, verwandt mit finn. iso, mordw. otschu=amagnus], ungar. agg
[s. finn. aikas»„tempus" und magnus] und im deutschen alt, von lat.
al-, wachsen, s. altus.) Hierher gehört auch als Bezeichnung eines Zeit-
414 Eugen Posch:
Punktes mittelst eines denselben charakterisierenden Ereignisses der
zend. Ausdruck für ,,Mittag^': arem-pitu, eigentlich ,,FertigBein des
Essens*', — eine Zeitbenennung, welche fortentwickelt gedacht bis zur
Stufe: „wenn das Essen fertig ist^* sich von der heute üblichen Mittag»-
bezeichnung („um 12 ühr^^, wo ein an sich gänzlich uninteressantes und
nur zum Zwecke der Zeitbezeichnung wichtig gewordenes Ereignis, näm-
lich die Ankunft zweier Uhrzeiger auf der Ziffer 12, zum Anknüpfungs-
punkt dient) wesentlich nur durch die Auserwählung eines auch an und
für sich interessanten Ereignisses unterscheidet.
Aus alle dem läfst sich entnehmen, dafs die Namen von Zeitab-
schnitten, welche durch gewisse, sie ausfüllende Erscheinungen charak-
terisiert sind, ursprünglich nur diese Erscheinungen selbst, d. h. die reinen
Qualitäten bezeichneten; dann später dieselben mit dem Nebenbegriffe
ihrer Dauerhaftigkeit, welch letzterer schliefslich aus einem blofsen Epi-
theton zur Hauptsache wurde und Verkümmerung der Urbedeutung nach
sich zog. Also z.B.: 1.) „Helles^ dann 2.) „dauerhaftes Helles'^, schliefs-
lich 3.) „helle (helligkeiterftillte) Dauer" « Tag.
6.) Ein Beispiel für die oben (S. 296, 304) berührte Yerraumlichung
der Zeit liegt im lat. antiquus, welches (Cübtiüs S. 204), vom platt
räumlichen ante, sanskr. anti („gegenüber, vor, angesichts'*) herstanmiend,
eigentlich „vorne befindlich^' bedeuten sollte.
Das gleiche gilt von ncc^og (=» früher, vor), welches — Cübtiüs
S. 269 — auf sanskr. puras (-=vom, vor) zurückgeht; femer von tiqIv
(früher, bevor), 7tQ(l>Tjv (vordem, vorgestern), lat. pristinus undpriscus,
got. fruo (früh) und altir. riam (»» antea) angesichts der Bedeutung
„vor, fort" ihrer sanskr. Wurzel pra, zend. fra (Cübtiüs S. 283). Vergl.
hiermit lat. antea aus ante ea.
In diese Klasse gehört auch das griech. ^v&a, altpers. ada, welche
Worte neben der zeitlichen Bedeutung („dann, damals*') auch noch die
rein räumliche („dort'') ihres sanskritischen Stammwortes adha oder
andha bewahrt haben. (Letztere Ausdrücke, einschliefslich des deutschen
damals, dienen zur Bezeichnung vergangener Gleichzeitigkeit. Zum
Anheftungspunkt für das in Frage stehende Ereignis dient stets jenes
andere, welches bei „damals'' hinzugedacht wird. Simul, verwandt mit
similis [Cübtiüs S. 322] sowie cifia, beide vom sanskr. samas [eben, gleich]
und zend. hama [derselbe, der gleiche], drücken die Gleichzeitigkeit als
Ähnlichkeit des zweiten Ereignisses mit dem vorher erwähnten ersten aus.)
Das got. aftra (weiter, abermals) vom altpers. Komparativ apa-
tara (der fernere) läfst das spätere Ereignis als entfernter erscheinen,
während es das griech. vaxsQog, -ov (vom Komparativ uttaram der sanskr.
Wurzel ud a« auf, hinauf) eigentümlicherweise als in vertikaler Eichtung
befindlich hinstellt. (Übrigens übersetzt Cübtiüs [S. 228] ud auch durch
„auf, aus".)
Erwähnenswert sind hier noch die griech. Ausdrücke ttotc (wann),
^vioxs (manchmal, bisweilen), fihaC^ (hernach), wo die Anhängung einer —
übrigens ganz bedeutungslosen — Bildungssilbe -xe, -'Qe an Grundstämme
von räumlich-konkreter Bedeutung (tto »» sanskr. ka ist ein interrogativer
Pronominalstamm — Cübtiüs S. 466 — , iVtot heifst „manche" und (jLBxa
Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeityorstellung. 415
„mit, unter, nach^) in Fällen zeitlicher Anwendung derselben zweifellos
auf einen bereits entwickelteren Zeitsinn zurückschliefsen läfst.^)
7.) Eine andere Bezeichnungsart des Sinnes „antiquus, priscus"
liegt im Ungar, r 6 gl, 6, 6cska, avas, welche Ausdrücke (Bcdbnz S. 649
und 831) in Anbetracht ihrer diversen Stammverwandten auf den Begriff
„dunkel^ — möglicherweise die dunkle Farbe alter Gegenstände — zurück-
gehen.
Anderseits ist der Sinn „iam pridem** in dem Ausdrucke „einst,
einmal" („es war einmal ein . . ."), sowie im got. suman (verwandt
mit griech. a(io, •afzod'sv «■ irgendwoher, &/if»g « irgendwie, Cubtius S. 393)
und Ungar, egyszer durch blofse Zahlbenennung wiedergegeben.
Auch die Gegenwart und Jüngstvergangenheit findet sich von ihrer
rein qualitativen Seite, nämlich als neu aufgefafst in sanskr. numan
(jetzig, sicherlich), zend. nü (eben, gerade), griech. vvv>*lat. nunc
»■ kirchenslaw. nyne»» ,Jetzt" und lat. nudius, nuper, denuo, sämt-
liche vom sanskr. navas („neu, frisch, jung", woher auch griech. vsog
und lat. novus, Gubtiüs S. 315, 318). Ahnlich würde das ungar. jelen
(gegenwärtig) — verwandt mit osljjak. jilip, jidep, wogul. jälpel,
tscheremiss. jäl, finn. elpy- (sämtlich« „novus, iuvenis", Budsnz S. 144
bis 145) — gemäfs seines angeblich verbiden Grundstammes jäl oder jil
(glänzen) eigentlich nur „neu, glänzend" bedeuten.
8.) Gleichfalls ein Komparativ und zwar des Demonstrativums i
(—der andere) ist das nunmehr rein zeitliche iterum, dessen Eignung
zum Ausdrucke von Wiederholungen von dem Umstände herrührt, dafs
„das andere" stets für das Gegenstück des „einen", somit für ein ihm
irgendwie Ähnliches gebraucht wird.
Das griech. naXiv von naXkto (schwingen, schütteln) bedeutet eigent-
lich — CuBTiüs S. 268 — „im Umschwung zurück", giebt also den Begriff
der Wiederholung durch den eines vollendeten Kreislaufs wieder. Das
sinnverwandte ungar. megint (pro: meg6-nt) bedeutet ursprünglich
zurück".
9.) Das sanslcr. acu (gesteigert: aciyams, acistha), griech. üuevqy
lat. ocior sollten ihrer Wurzel (ak «» eindrmgen) nach „eindringungsfähig"
bedeuten, sowie das sinnverwandte xaxv<; und d^ooq (Wurzeln: tak- und
^^.Qi SB laufen) eigentlich „laufend"; das lat. citus (verwandt mit xl(a,
xlwfiai, xivito, CüRTius S. 149) wäre «= „bewegt" ; das altir. dian, dene
(-" celeritas, von di== fliegen, Cubtius S. 236) „fliegend" und luath
(s= velox, von plu im griech. niia}, Cubtius S. 279) „schwimmend", ähnlich
wie das ungar. gyors (ts schnell, verwandt mit wogul. jar, ostjak. jur,
züijän. jör — Kraft, Budbuz S. 162) eigentlich „kräftig". — Das altir.
mall und griech. ßgadvq gehen (Cubtius S. 230) auf sanskr. mrdus (weich,
zart) zurück, sollten also schwächliche, statt „langsame" Bewegung be-
deuten, sowie das sinnverwandte ungar. lassü (laut läpp, lossed — ■ gravis,
BuDENz S. 684) eigentlich „schwerfällig" heifsen sollte. — Wenn dem
n
^) Die wahrscheinlichen Produkte eines solchen, wie z. B. sanskr.
tan (tempus), griech. fir^v (Monat) etc. — s. Cubtius — , sind, weil zur
Bestätigung unserer Hypothese unbrauchbar, hier übergangen worden.
416 Eugen Posch: Ausgangspunkte z. e. Theorie d. Zeitvorstellung.
Menschenverstände sich „schnell^ ursprünglich nur als „kräftig'^ und
„langsam'^ als „schwächlich^ darstellte, so verrät sich hierin offenbar, daTs
diese Bewegungsbezeichnungen von der menschlichen und tierischen Be-
wegung ausgegangen und von dieser auf andere übertragen worden sind.
(Ähnliches bei Cubtius S. 113.)
Ein bemerkenswerter Umstand ist femer der Mangel jedweder Be-
zugnahme auf den Zeitlauf in den obigen, offenbar rein qualitativen Be-
nennungen einer Bewegungseigenschaft; deren Vorstellung heute mit
zeitlichen Nebengedanken auf das innigste verwoben ist.
Zur Überleitung auf das Folgende möge hier noch das sanskr. Ad-
verbium anjasa (stracks, bald) und got. anaks (sogleich) von ang
(a« salben, bestreichen, glatt machen) erwähnt werden, in welchen die
Baschheit durch deren häufige Ursache (Geschmiertsein, also: „wie ge-
ölt''), d. h. gleichfalls rein qualitativ bezeichnet ist.
10.) Das got. galeiks und sinnverwandte nhd. gleich (von sanskr.
arju-Bsich streckend, gerade), sowie das ungar. 6p en (im Sinne „soeben,
sofort*', von 6p =» ganz, unversehrt) drücken die Kürze des zeitlichen Ab-
Standes mittelst der Vorstellung von Geradheit einer dazwischengedachten
Linie aus.
Denselben Sinn wiedergiebt mox «» sanskr. ma(n)kshu -« „bereit*'
und „alsbald" (von mangh >» „begaben, begabt sein, fördern") durch „fertig
zu etwas", weil eine Handlung stets „bald" eintritt, wenn sie, oder man
zu ihr, „bereit" (fertig) ist.
Das lat. repente ist ein Lokativ des Participiums vom Zeitworte
Qhco) («» sich neigen ; hiervon ^ott?/ =^ Neigung, Ausschlag, momentum;
CüBTius S. 3öl), bedeutet also eigentlich „ausschlaggebend".
S tat im konmit von sto (Cürtius S. 212), hiefse also „auf der Stelle,
in ea statione", ähnlich dem ungar. azonnal (pro: azon helyt), — eine
ebenso räumliche Bezeichnung geringer Zeitabstände, wie noch illico
aus in loco.
11.) Das lat. mane (zu guter Stunde), eine adverbiale Bildung vom
altlat. man US (Cuetius S. 328), bedeutet eigentlich nur „gut".
12.) Eine, wie bei Punkt 9.), rein qualitative und wohl etwas
poetische Benennung des entsprechenden Zeitraumes liegt im sanskr. nak
=s griech. vv| = lat. nox «=» got. nahts •= lith. naktis = nhd. Nacht,
insofern deren Wurzel nac (verderben, zerstören) die Nacht, welche
(CüRTiüs S. 162—163) „keines Menschen Freund ist", als ein „Verderben-
bringendes, Unheilvolles" hinstellt.
Fortsetzung und Schlufs folgt im nächsten Jahrgange.
Die Zelle als Individunm.
Eine psychophysische Studie von August Dfinges, Cleve.
Inhalt.
Begriff des IndividuTuns. Kennzeichen der Individualität. Die ..Zelle als
selbBtändlges Lebewesen. Selbständigkeit der Funktion der Zelle. Über das
Vorhandensein einer Zellpsyche.
§ 1. Begriff des Individuums.
Unter Individuum verstehen wir ein Wesen, das sich
gegenüber der Aufsenwelt, vor allem gegenüber den Wesen
derselben Art, als ein davon zu unterscheidendes besonderes
Ich auffafst. Dieses Bewufstsein vom eigenen Ich ist, wie
überhaupt alles Bewufstsein, bei verschiedenen Wesen, aber
auch bei ein und demselben Wesen zu verschiedenen Zeiten,
in verschieden hohem Grade vorhanden. Nicht selten entstehen
Zweifel, ob man einem Wesen die Individualität in dem hier
gefafsten Sinne (= Ichheit) zusprechen darf. Jedoch hat die
hier gewählte Begriffsbestimmung den Vorzug, dafs sie, auf
die freilich zunächst nur in der Auffassung des Subjektes be-
stehende Einheit und Unteilbarkeit des Ich begründet, dem
Sinne des Wortes Individualität auf das Genaueste gerecht wird.
Im folgenden soll nun untersucht werden, ob und in-
wieweit es möglich ist, der Körperzelle die Eigenschaft der
Individualität in dem hier gemeinten Sinne zuzusprechen.
§ 2. Kennzeichen der Individualität.
Zur Lösung dieser Aufgabe ist es notwendig, festzustellen,
woran das Vorhandensein der Individualität zu erkennen sei.
Dabei ergiebt sich von vornherein die Schwierigkeit, dafs das
Vierteljahrsschrift f. wlssenschaftl. Philosophie. XXIII. 4. 28
418 August Dunges:
wesentlichste Merkmal der Ichheit eben jene subjektive Auf-
fassung des eigenen Ich darstellt, welche als solche andern
nicht mitgeteilt werden kann. Doch schliefst das nicht aus,
dafs auch objektive Kennzeichen existieren. Zur Auffindung
derselben wollen wir uns vergegenwärtigen, welchen Wesen
wir ohne weiteres den Besitz der Ichheit zuerkennen. Dies
sind in erster Linie unsere Mitmenschen, sodann vielleicht die
Tiere, weiter können wir nicht gehen. Warum aber nehmen
wir ohne weiteres an, dafs unsere Mitmenschen im Besitze
der Ichheit sind? Es bedarf keiner grofsen Überlegung, um
sich darüber klar zu werden, dafs die Thätigkeit es ist, und
zwar im Gegensatz zur Maschine die Thätigkeit aus eigenem
Antriebe, welche uns vor allem veranlafst, in dem Mitmenschen
ein besonderes Ich zu sehen, in derselben Weise, wie wir
uns selbst als ein solches auffassen. Diese Thätigkeit aus
eigenem Antriebe, dieses spontane, selbständige Handeln setzt,
wie einen jeden die Erfahrung von sich selbst belehrt, Be-
wufstsein und WiUen voraus und damit auch das Vorhandensein
der Ichheit. Freilich ist es nicht immer leicht, festzustellen,
ob die Thätigkeit, die wir an irgend einem Wesen wahrnehmen,
als eine spontan erfolgende anzusehen ist. Anderseits darf
aus dem Umstände, dafs eine spontane Thätigkeit nicht wahr-
genommen werden kann, nicht ohne weiteres auf den Mangel
der Individualität geschlossen werden. Jedoch giebt es sonst
kein zuverlässiges Kennzeichen, es sei denn, dafs besondere
Leistungen ihre Spontaneität durch ihren psychischen Charakter
besonders deutlich offenbaren. Darum werden zuweilen Be-
weisgründe anderer Art die Beobachtung stützen oder selbst
ersetzen müssen.
Um also die psychische Individualität der Körperzelle
darzuthun, wird es nötig sein, zu zeigen, dafs dieselbe ein
selbständiges, zur Thätigkeit aus eigenem Antriebe befilhigtes
Wesen darstellt. Sollte es aufserdem gelingen, direkte Belege
für ein Erkennen und Wollen auch nur niedrigsten Grades
beizubringen, so würden dieselben für unseren Beweis von
besonderem Werte sein. Aber auch dann dürfen bei der
Die Zelle als Individuum. 419
Schwierigkeit der hier zu leistenden Beweisführung indirekte,
auf dem Wege der Kombination gewonnene Gründe nicht
verschmäht werden. Ob es damit gelingt, alle hinsichtlich
der Ichheit der Zelle auftauchenden Zweifel zu überwinden
und vor allem, ob es mit dem zur Zeit vorliegenden Wissens-
materiale schon gelingen kann, das lasse ich dahingestellt.
Jedenfalls aber verlohnt es sich, diese Frage einer Untersuchung
zu unterwerfen und alle Gründe, welche die psychische
Selbständigkeit jener kleinen Lebewesen wahrscheinlich machen,
zusammenzutragen.
§ 3. Die Zelle als selbständiges Lebewesen.
(Individualität im biologischen Sinne.)
Bereits in der Cellularpathologie von R. Vibchow ^) findet
sich der bedeutsame Satz: „Jedes Tier erscheint als eüie
Summe vitaler Einheiten, von denen jede den vollen Charakter
des Lebens an sich trägt". Diese biologische Selbständigkeit
der Körperzellen ist nun sowohl für ihren Zusammenhang
untereinander, als auch für denjenigen mit dem Gesamt-
organismus, zu erweisen. In ersterer Hinsicht sind die histo-
logischen Untersuchungen der neueren Zeit über das Nerven-
system insofern von grofser Tragweite, als daraus hervorgeht,
dafs die Nervenzellen nicht, wie man früher annahm, mit-
einander in einer organischen Verbindung stehen und gleich-
sam ein grofses in sich zusammenhängendes Netz darstellen,
sondern dafs sie nur mittels ihrer vielfach verästelten Aus-
läufer (Dendrone) eine allerdings innige und umfangreiche
Berührung eingehen. Für manche andere Zellenarten des
Tier- und Pflanzenkörpers werden Verbindungen durch Proto-
plasmafäden (Intercellularbrücken) angenommen,^ jedoch dürfte
die mit den Nervenzellen gemachte Erfahrung auch hier zu
der Vorsicht mahnen, die Entscheidung darüber, ob es sich
um einen organischen, die Wesenseinheit der Zelle in Frage
stellenden Zusammenhang handelt, einer mit vollkommeneren
1) R. ViRCHOw, Die Cellularpathologie, 2. Aufl. 1859, S. 12.
3) 0. Hbrtwig, Die Zelle und die Gewebe, 1898, II. Buch, S. 34.
28*
420 August Dunges:
Untersuchimgsmitteln ausgerüsteten Zukunft zu überlassen«
Wichtiger ist für unseren Beweis die Thatsache, dafs die
meisten Zellen imstande sind, aufserhalb ihres Zusammenhanges
mit dem Gesamtorganismus kürzere oder längere Zeit weiter-
zuleben. Die Lymphoidzellen zeigen auf warmem Objektträger
ihre Bewegungen 2 — 3 Stunden lang. Die Samenfaden bleiben,
auf den weiblichen Organismus übertragen, viele Tage lang
lebens- und ftmktionsfähig, auch in geeigneten Lösungen sind
sie haltbar. Die Samenfäden des Frosches können viermal
nacheinander ohne Nachteil einfrieren, sie leben nach Mante-
6AZZA in den in die Bauchhöhle anderer Frösche überpflanzten
Hoden bis 70 Tage.^) Schneidet man aus der Kachen-
schleimhaut eines Frosches ein Stück heraus und spannt es
auf einen Korkrahmen, so kann man, wenn es nur vor Ver-
trocknung geschützt wird, tagelang die Flimmerbewegung
beobachten. ''^ Das aus einem lebenden Tiere herausgeschnittene
Herz ist noch stundenlang thätig, Skelettmuskeln, vom Körper
getrennt, können noch längere Zeit nachher zur Kontraktion
erregt werden. Freilich handelt es sich hier um eine Gruppe
von Zellen, doch darf man wohl annehmen, dafs auch die
einzelne Zelle, falls ihre Isolierung gelänge, eine gewisse,
wenn auch kurze Zeit am Leben bliebe. Besonders interessant
sind die Beobachtungen, welche bei der Transplantation ge-
macht werden. Liunggeeen ist es gelungen, Epithelstückchen
in sterilem, flüssigem Serum 6 Monate (!) lang lebensfähig zu
erhalten und teilweise mit Erfolg zu verpflanzen.^) Beet
konnte enthäutete Schwänze und Füfse von Ratten noch drei
Tage, nachdem sie abgeschnitten waren, unter die Rückenhaut
einheilen. Dieselben wuchsen sogar in ihren knöchernen
Partien.*) Man hat Kaninchen die Ovarien exstirpiert und
an eine andere Stelle des Peritoneums übertragen mit dem
Erfolge, dafs trotzdem Gravidität und Geburt am normalen
^) LAin>ois, Lehrbuch der Physiologie, 3. Aufl. 1883, S. 951.
2) Vbrworn, Allgemeine Physiologie, 2. Aufl., Jena 1897, S. 398.
2) Nach J. Wbntschbr, Centralblatt für Chirurgie 1898, No. 1.
*) Landois, a, a. 0. S. 688.
Die Zelle als Indiyidaum. 421
Ende der Schwangerschaft eintrat.^) Selbst vom Tier auf
den Menschen wurden Überpflanzungen erfolgreich vorge-
nommen.^) Am deutlichsten aber erweist sich die Fähigkeit
der Zelle, unabhängig vom Gesamtorganismus eine Zeit lang
weiter zu leben, im Tode. Derselbe ist nicht Sache eines
Augenblickes, sondern die Zellen sterben nach und nach inner-
halb eines beträchtlichen Zeitraumes. Angenommen, die Todes-
ursache sei ein Erlahmen der Herzkraft, so ist die erste Folge
das Aufhören der Blutcirkulation. Nun wird also den Organen
keine neue Nährflüssigkeit und kein frischer Sauerstoff mehr
zugeführt. Dadurch müssen sie verhungern und ersticken.
Aufserdem werden die durch die Lebensthätigkeit entstehenden
Stoffwechselprodukte nicht weggeschafft, so dafs eine Art
innerer Vergiftung den Tod beschleunigt. Trotzdem leben
manche Zellen noch viele Stunden lang. Sehr bald stirbt das
Gehirn, etwas später das Rückenmark, noch später die Nerven-
stämme. Am längsten behalten die sympathischen Fasern
ihre Reizbarkeit, so am Darm bis 10 Stunden. Die ver-
schiedenen Muskeln bewahren ihre Erregungsfähigkeit ver-
schieden lange Zeit, z. B. die Gesichts- und Zungenmuskeln
bis zu drei, die Stammmuskehi bis zu sechs Stunden p. m.^)
Die Flimmerepithelien der Luftwege können durch Neutralisation
lähmender Säuren noch 24 Stunden nach dem Tode des Körpers
zu erneuter Flimmerthätigkeit erweckt werden (Vibchow).
Auf Grund derartiger und vieler anderer Beobachtungen
wird man sich unschwer entschliefsen, die Körperzelle als
ein besonderes Lebewesen, als eine Individualität im biologischen
Sinne anzusehen.
§ 4. Selbständigkeit der Funktion der Zelle,
a) Die Funktion der Zelle im Verhältnis zu der des Gesamt-
organismus.
Das ganze Getriel)e des Organismus steht unter dem
Einflüsse des Nervensystems. Jedoch erstreckt sich derselbe
1) E. Knaukb, Centralblatt für Gynäkologie 1898, No. 8.
') LAin>ois, a. a. 0. S. 469.
>) Ebendaselbst S. 572.
422 August Dunges:
vor allem auf die Organe und Organteile ; die Zelle als solche
unterliegt ihm zwar auch in der Regel, aber nicht unbedingt
und immer. Schon für das Nervensystem selber besteht die
Möglichkeit, dafs Teile desselben aus dem übrigen Zusammen-
hange losgelöst für sich funktionieren (Ganglienzellen des
herausgeschnittenen Herzens; Bückenmark nach Entfernung
des Gehirns). Vom Rückenmark wurde bei einem Hunde der
Brust- und Lendenteil entfernt, gleichwohl gingen in dem
rückenmarkslosen Eörperabschnitte alle für die Erhaltung des
Lebens unentbehrlichen Punktionen in ausreichendem Mafse
von statten.^) Gänzlich unabhängig von nervösen Impulsen
ist die amöboide Bewegung und Diapedese der Blutkörperchen,
die Fortbewegung des Samens in der Vagina, wahrscheinlich
auch die Wanderung des Eies nach dem Uterus. Durch die
Schnittversuche Engelmanns am ausgeschnittenen Herzen ist
erwiesen, dafs die Erregung, welche die fortschreitende Kon-
traktion zur Folge hat, nicht durch Nervenbahnen, sondern
durch die kontraktile Masse selber fortgeleitet wird.^ Das-
selbe nimmt Engelmann auch für die Darm- und üreteren-
muskulatur an. Die „paralytische Speichelsekretion" erfolgt
nach Durchschneidung aller die Drüse versorgenden Nerven.
Viele Zellen funktionieren auch noch nach gänzlicher Los-
trennung vom Körper (Lymph-, Samenkörperchen, Flimmer-
epithelien).
b) Die Veränderlichkeit der Zellfunktion.
Die Zelle kann durch Übung und vermehrte Blutzufuhr
eine quantitative Änderung ihrer Leistungsfähigkeit erfahren,
so dafs sie unter besonderen Umständen geeignet wird, die
Funktion zu Grunde gegangener gleichartiger Zellen mit zu
übernehmen („vikariierende Thätigkeit"). Aufserdem ist aber
auch eine qualitative Änderung der Zellfunktion möglich.
Wenn die Hydra, ein Süfswasserpolyp, der annähernd die
1) PplPgers Archiv, Band 63: F. Goltz u. J. R. Ewald, Der Hund
mit Terklirztem Bückenmark.
^) Landois, a. a. 0. S. 104.
J
Die Zelle als Individuum. 423
Form eines Handschuhfingers hat, von innen nach aufsen
gestülpt wird, so atmen die nach anfsen gekehrten Verdauungs-
zellen, während die Atmungszellen die Verdauung übernehmen. ^)
Unter den Fischen zeigen die Schlammpitzger, zumal wenn
es ihnen an Wasser gebricht und sie sich im Schlamm ein-
wühlen, eine Darmatmung, indem sie an der Oberfläche des
Wassers Luft verschlucken, im Darm daraus den Sauerstoff
entnehmen und sie schliefslich kohlensäurereich durch den
After wieder entleeren.^ Die Protospongia Haeckelii, eine
Kolonie von Geifselinfusorien, welche durch eine gallertige
Masse zusammengehalten werden, hat inmitten der Gallertmasse
amöboide, am Rande Wimperzellen („Kragengeifselzellen")-
Die amöboiden Zellen haben nun die Fähigkeit, an die Ober-
fläche zu wandern, und entwickeln sich dann ebenfalls zu
Kragengeifselzellen. ^ Es ist natürlich, dafs bei den höheren
Organismen schon der eigenartige Bau der Organe einer weit-
gehenden funktionellen Änderung im Wege steht; gleichwohl
ist auch hier die Zelle nicht streng an ihre specifische Thätig-
keit gebunden. So sei nur an die vielfachen Metamorphosen,
welche das Bindegewebe eingehen kann, erinnert. *) Bezüglich
der Sinnesorgane hat sich jetzt als herrschende Ansicht die
herausgebildet, dafs nur der eigenartige Bau des Aufiiahme-
organes und die im Gehirn während des Lebens durch Übung
entstandene ftinktionelle Anpassung an den durch das be-
treffende Sinnesorgan übermittelten und modifizierten Reiz die
Ursachen für den verschiedenartigen Sinneseindruck darstellen.
Also nicht eine Verschiedenartigkeit der Zellen selbst, sondern
nur eine verschiedene Anordnung von Zellen ist hier das
Entscheidende. Wir sehen nur deshalb nicht mit dem Ohre,
weil Trommelfell und Gehörknöchelchen nicht imstande sind,
die Ätherwellen in gehöriger Litensität fortzuleiten. Wären
^) Nach Dabwin, Entstehung der Arten. Deutsch von Hask, Leipzig,
Eeclam, S. 243.
2) Lanüois, a. a. 0. S. 265.
8) Vbbworw, a. a. 0. S. 582.
*) Ausführliches siehe bei 0. Hebtwig, Die Zelle und die Gewebe,
II, S. 200 ff.
424 August Dunges:
sie es imstande, so würde sich das Endorgan der Nerven im
Gehirn dem Eeize angepafst haben and dafür aufnahmefähig
geworden sein. Überhaupt kommt Wundt^) hinsichtlich der
centralen Funktion zu folgenden wichtigen Sätzen; „Kein
Element vollbringt specifische Leistungen, sondern die Form
seiner Funktion ist von seinen Verbindungen und Beziehungen
abhängig." „Für Elemente, deren Funktion gehemmt oder
aufgehoben ist, können andere die Stellvertretung übernehmen,
sofern sich dieselben in den geeigneten Verbindungen befinden."
Sprechen somit bedeutsame Gründe dafiir, dafs die Zellen
überhaupt befähigt sind, im Laufe ihres Daseins die ihnen
eigentümliche Funktion mit einer anderen zu vertauschen und
damit selbstverständlich auch die der neuen Funktion ent-
sprechende Organisation anzunehmen, so liegt anderseits auch
die merkwürdige Beobachtung vor, dafs Zellen unter Um-
ständen zur embryonalen Beschaffenheit und Funktion sich
zurückverwandeln. So äufsert sich Paul Grawitz über die
Gewebsveränderung bei der Entzündung etwa folgendermafsen : ^
„In der Grundsubstanz der Gewebe sind zellenwertige Elemente
enthalten, da bei der embryonalen Entwicklung Zellen unter
Aufgabe ihrer Gestalt und der chemischen Eigenschaften ihres
Kernes, aber unter Beibehaltung ihrer Lebensfähigkeit und
der Möglichkeit, wieder in den zelligen Zustand zurückzukehren,
in dieselbe übergehen." .... „Es bewährt sich somit als
durchgehendes Gesetz, dafs die fertigen Gewebe eine Umkehr
durchmachen, welche sie mehr oder minder weit in einen
zelligen Zustand zurückführt, ähnlich demjenigen, aus welchem
sie in früher Zeit der Entwicklung einmal hervorgegangen
sind." Auch Ranviee^) kommt zu dem Schlüsse, dafe die
Entzündung die Gewebe wieder in den embryonalen Zustand
versetzt. Wenn man sich dieser Auffassung der Entzündungs-
vorgänge anschliefst, so erscheint auch die Beobachtung, dafs
gewisse Geschwülste, zumal die entzündlichen Granulations-
^) Grundztige I, S. 235.
2) Archiv für klinische Chirurgie, Bd. XLIV, S. 502.
3) Münchener medizinische Wochenschrift 1896.
Die Zelle als Individuum. 425
geschwülste, embryonalen Bau besitzen, in einem besonderen
Lichte. Es gewinnt den Anschein, als ob die Zellen, sobald
sie infolge irgend einer Störung eine besondere Funktion für
den Organismus nicht mehr zu erfüllen haben oder, aus dem
Zusammenhange mit dem Ganzen losgerissen, nicht mehr er-
füllen können, zu der rein in Wachstum und Vermehrung
bestehenden ursprünglichsten embryonalen Funktion zurück-
kehren. — Nach alledem müssen wir uns schliefslich dahin
entscheiden, den sämtlichen Zellen eines Organismus gemäfs
ihrer Abstammung von ein und derselben Urzelle eine prin-
zipielle Gleichwertigkeit zuzuerkennen. Den Grundtypus bildet
die amöboide Zelle. Das Eikörperchen hat amöboiden Cha-
rakter, am Cylinderepithel der Darmzotten befinden sich
Protoplasmafortsätze, welche, den Pseudopodien der Amöbe
vergleichbar, das feinkörnige Fett erfassen und in den Zellen-
leib hineinziehen. Eine Ähnlichkeit und auch wohl innere
Verwandtschaft mit diesen Protoplasmafortsätzen haben die
Härchen der Flimmerepithelien, der Schwanz des Samenfadens,
die Fortsätze mancher Bindegewebszellen (die sternförmigen
Pigmentzellen mancher niederen Wirbeltiere zeigen ein zwar
langsames, aber unverkennbares lebendiges Zusammenziehungs-
vermögen),^) vielleicht auch die Zahnung der Riffzellen im
Stratum Malpighii der Haut und — die Fortsätze der Nerven-
zellen. LUPINE und DuvAL haben die Hypothese aufgestellt,
„dafs die Neurone im Zustande funktioneller Thätigkeit sich
ausdehnen, um in physiologische Berührung mit solchen anderen
Neuronen zu kommen, die wesentlich an einer besonderen
Funktion Anteil haben". ^) In der That konnte Demoob an
Nervenzellen deutliche Kontraktionserscheinungen entsprechend
den an den Pseudopodien von Rhizopoden zu beobachtenden
direkt nachweisen. ^) Die Amöbe selbst hat eine proteusartige
VerWandlungsfähigkeit, so „dafs die verschiedenen Amöben-
formen, die man nach der Gestalt der Pseudopodien zu unter-
^) Nach Frey, Grundzüge der Histologie, 1. Aufl., S. 59.
2) Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 1897, No. XII.
I 3) Vebwokn, a. a. 0. S. 383.
426 AugnBt Dunges:
scheiden pflegt, durchaus nicht immer als besondere Arten im
Sinne der Systematik aufgefafst werden dürfen".^) Da es
auch Pflanzenzellen giebt, welche amöboide Bewegung besitzen,
so scheint im Pflanzenreiche ebenfalls die Amöbe den Grundtypus
der Zelle darzustellen. Wir kommen schliefslich dazu, in allen
Zellen aller Wesen einander verwandte Gebüde zu sehen,
eüie Auffassung, welche mit der Evolutionstheorie von Lamabck-
Darwin aufs beste übereinstimmt. Die Punktion und die ihr
entsprechende Organisation aber halten wir nicht für etwas,
was der Zelle ein für allemal unabänderlich aufgeprägt ist,
sondern wir halten beides für veränderlich. Die Zelle nimmt
diejenige Funktion an, welche ihr im Zellenstaate nach dem
Prinzip der ArbeitsteUung zugewiesen wird. Die Arbeitsteüung
aber ergiebt sich mit Notwendigkeit aus der Staatenbildung
von selbst.
Die ursprüngliche Funktion der aus der Sameneizelle hervor-
gegangenen Zellen ist die Vermehrung unter gleichzeitiger Beibehaltung
des Zusammenhangs. In einem gewissen Stadium dieser fortschreitenden
Vermehrung ist die Morulaform am günstigsten, weil dabei alle Zellen
aus dem sie umgebenden Nahrungsdotter ihre Nahrung entnehmen können.
Aber weiterhin genügt diese Art der Gruppierung nicht mehr. Es sind
im Innern Zellen entstanden, welche mit der Oberfläche keine direkte Be-
rührung mehr haben, und, damit auch sie mit Nahrung versorgt werden
können, mufs das Ganze sich schlauchförmig gestalten („Gastrula"). Natur-
gemäfs werden sich aus dem mit der AuTsenwelt in Berührung stehenden
Ektoderm die Sinnesorgane herausbUden, während das Entoderm die Funktion
d^r Ernährung behält und nachträglich Organe aus sich entstehen läfst,
deren Aufgabe es ist, die festflüssige und luftförmige Nahrung aufzunehmen,
in eine geeignete Form umzuwandeln und sie dem Organe der inneren
Ernährung, dem Blutgefäfssystem, zuzuführen. Dieses letztere geht aus
dem Mesoderm hervor, indem die infolge weiterer Vermehrung zwischen
jenen beiden Keimblättern entstandenen Zellen ihre Nahrung nicht mehr
direkt empfangen können und deshalb Lücken lassen, durch welche der
Nährsaft hindurchfliefsen kann. Jedoch kommen neben dem durch die
Notwendigkeit der Arbeitsteilung geübten Zwange noch andere Faktoren
bei der Entstehung des Organismus und der Ausbildung der Funktionen
in Betracht. Ihre Erörterung kann erst später erfolgen.
Jede Zelle hat ihre besondere Lebensgeschichte, welche
allerdings mit der des Gesamtorganismus in einem gewissen
Zusammenhange steht. Die Entwicklung der Funktion ist
^) Verwohn, a. a. 0. S. 189.
Die Zelle als IndiTiduum. 427
wesentlich eine Folge der an die Zelle mit fortschreitender
Entwicklung des Organismus herantretenden Aufgaben.
Diese Auffassung steht in einem Gegensatze zu der von Wbismann
u. a. ausgebildeten sogenannten Mosaiktheorie und schliefst sich der Theorie
der Biogenesis von Hebtwio anJ) Nach Wbishann mufs die Funktion
der Zellen als eine schon in der Sameneizelle prädestinierte angesehen
werden, während die Lehre Hebtwigs den Lebensschicksalen der Zelle
einen Einflufs auf die Gestaltung ihrer Funktion einräumt. Es würde zu
weit führen, hier die Gründe zu entwickeln, welche gegen die Mosaik-
theorie sprechen, und darf wohl dieserhalb auf das Buch von Oskak Hebtwio,
„Die Zelle und die Gewebe", verwiesen werden. Nur möchte ich ausserdem
noch hervorheben, dafs auch die Fähigkeit der Eegeneration mit der
Mosaiktheorie unvereinbar erscheint. Wie will man sich die Wiederer-
neuerung ganzer Gliedmafsen und selbst der Augen bei Schnecken und
Salamandern erklären, wenn man annimmt, dafs diese Körperabschnitte
aus ganz bestimmten Teilen der Urzelle hervorgegangen sind? Jene Ur-
zellenteile würden doch sicher in dem fertigen Organ oder Körperteil völlig
aufgegangen und mit seinem Verluste auf immer verloren sein. Es ist
auch gar nicht notwendig, mit Nussbaum^) anzunehmen, dafs die Zellen,
welche Geschlechtszellen werden, sich sehr früh von den übrigen absondern.
Sogar die Möglichkeit mufs zugegeben werden, dafs Zellen, die schon eine
Zeit lang anders, etwa als Epithel oder Neuron, fungiert haben, sich
nachher in Geschlechtszellen umwandeln, wenn es auch thatsächlich nur
bei niederen Tieren vorkommen mag. So sind die Zellen, aus denen bei
der Knospung das neue Individuum hervorgeht, ursprünglich gar nicht
Geschlechtszellen, und doch läfst sich das Erzeugnis der Knospe von dem
aus dem Ei hervorgegangenen desselben Tieres in keiner Weise unterscheiden.
c) Die Ursachen der Zellfunktion.
Die Thätigkeit der Zelle wird gern mit der Energie-
entwicklnng eines zur Explosion gebrachten chemischen Körpers
oder Gemisches (Nitroglycerin,^) Pulver) verglichen. Doch
besteht ein wesentlicher Unterschied darin, dafs die Zelle auf
den äufseren Anstofs hin nicht ihre ganze Kraft auf einmal
in Aktion setzt, vielmehr genug übrig behält, um ein zweites
Mal und noch öfter in Thätigkeit zu treten. Die Zelle hemmt
sich offenbar selbst, bevor es zum völligen Kraftverbrauche
kommt. Gegen empfindliche oder rasch aufeinander folgende
Reize nimmt sie diejenige Form an, welche weiteren Angriffen
die geringste Fläche darbietet. Die Lymphkörperchen nehmen
1) 0. Hbetwig, Die Zelle und die Gewebe, II, S. 91 ff.
3) Vergl. Weismawn, Aufsätze über Vererbung, Jena 1892, S. 235.
3) M. Vbrworn, a. a. 0. S. 127.
428 August Dunges:
Kugelform an, die Samenzelle rollt sich auf, der Muskel ver-
fällt in Tetanus. Man möchte fast den Vergleich ziehen mit
dem Igel, der sich zusammenrollt, oder dem Hunde, der vor
seinem Bedroher sich kauert. In anderen Fällen sehen wir
jedoch, dafs die äufsere Einwirkung eine gesteigerte Thätig-
keit zur Folge hat. So wird die Thätigkeit der Flimmerhaare
durch den galvanischen Strom zu gröfserer Geschwindigkeit
gesteigert (Engelmann), ^) indem besonders die Frequenz und
die Amplitude des Wimperschlages und damit der Nutzeffekt
beeinflufst wird. Wie für die amöboiden Zellen die Kugelform,
so ist für die Flimmerzellen gesteigerte Flimmerthätigkeit die
beste Art der Abwehr. Femer reagiert die Zelle nicht einfach
mechanisch auf veränderte äufsere Bedingungen mit ihrer ge-
wohnten Thätigkeit, sondern sie ist, wie die Veränderlichkeit
der Funktion beweist, imstande, sich diesen anzupassen, um
auch unter ungünstigen Verhältnissen weiter existieren zu
können. Sie dient getreu dem Organismus, der ihr in der
Blutbahn die nötigen Existenzmittel bietet, und sie erfüllt die
ihr anerzogene Funktion so lange, als die Befehle des Or-
ganismus sie dazu anspornen. Aber die Zelle will vor allem
leben und sich fortpflanzen, auch bei ihr sind schon Hunger
und Liebe die mächtigsten Triebfedern ihres Thuns, und so
geht sie unter veränderten äufseren Bedingungen wenn mögUch
zu einer anderen Funktion über. (Dies Vermögen der An-
passung ist für die ganze organische Welt von der gröüsten
Bedeutung. Acclimatisation und Immunität beruhen wenigstens
zum Teil darauf, und auch die Überwindung von Krankheiten
ist wohl nur dadurch möglich, dafs die Zellen Veränderungen
eingehen, welche ihnen entweder eine bessere Abwehr oder
eine schnellere Ausscheidung der Giftstoffe [Toxine] ermög-
lichen. Auch an arzneiliche Gifte kann mit der Zeit eine
Gewöhnung eintreten, welche direkt zu der Annahme zwingt,
dafs in den Zellen selbst ihre Ursache gelegen ist.) Diese
Fähigkeit der Zelle, unter dem Drucke neuer Verhältnisse
Veränderungen einzugehen, ist nicht nur für die Erhaltung
^) M. Vebworn, a. a. 0. S. 428.
Die Zelle als IndlYiduum. 429
des Individuums, sondern auch für die Entstehung neuer Arten
von grofser Bedeutung. Der Selbsterhaltungstrieb der Zellen,
auf diese Weise begünstigt, wird zu einem wesentlichen Faktor
für die Entwicklung der organischen Welt, und die Zweck-
mäfsigkeit der Naturbildungen gewinnt dadurch, dafs sie mit
der Anpassung von Mikroorganismen in Zusammenhang ge-
bracht wird, eine brauchbarere Erklärung, als sie unter der
Bezeichnung der „Teleologie" gegeben zu werden pflegt.
Bei gewissen Formen von Zellthätigkeit läfst sich nun
aber mehr oder weniger deutlich nachweisen, dafs die An-
regung dazu nicht von aufsen erfolgt, sondern aus der Zelle
selbst hervorgeht. Die Ernährung könnte als ein chemisch-,
physikalischer Vorgang angesehen werden, und dafs solche
Vorgänge bei der Assimilation, d. h. der Umwandlung der
Nährstoffe in Körpersubstanz, beteiligt sind, ist unzweifelhaft.
Aber das schliefst nicht aus, dafs bei der Aufiiahme der
Nahrung die Zelle aktiv bethätigt sei. Die amöboiden Be-
wegungen der Lymphzellen haben doch wohl vorwiegend den
Zweck, Nahrung zu suchen und dem Körper einzuverleiben
(vergl. Phagocytose), und wenn bei der Mehrzahl der Zellen
ein entsprechender Vorgang nicht zur Beobachtung gelangt,
so liegt es daran, dafs ihnen durch die Einrichtung des Blut-
kreislaufes die Gewinnung der Nahrung höchst bequem ge-
macht ist und dieselbe auch eine Beschaffenheit besitzt, welche
besondere Bewegungen zur Einverleibung (etwa ein Umfliefsen
nach Art mancher Infusorien) erübrigt. Aber auch so läfst
sich eine aktive Beteiligung der Zelle wenigstens insofern
annehmen, als sie befähigt ist, aus der dargebotenen Nähr-
lösung das für sie Passende auszuwählen. Wäre diese Aus-
wahl ein passiv-chemischer Vorgang, so müfste man erwarten,
dafs die Art der aufgenommenen und ausgeschiedenen Sub-
stanzen immer dieselbe bliebe, wodurch die Möglichkeit einer
Funktionsänderung, welche auch eine Emährungsänderung in
der Regel bedingen wird, fast als ausgeschlossen zu betrachten
wäre. Vor allem spricht aber auch gegen jene Annahme die
Anpassungsfähigkeit der Zelle gegenüber giftigen Körpern,
430 August Dunges:
wobei der Selbsterhaltungstrieb wieder zur Geltung kommt.
Ist es nun für die Wanderzellen, deren Thätigkeit ein Autor ^)
in die Worte kleidet „sie fressen und marschieren", so gut
wie sicher, dafs sie ihre Nahrung aktiv ergreifen, für die
anderen Zellen wenigstens in gewissem Sinne wahrscheinlich
und um so wahrscheinlicher, wenn man auf die gemeinsame
Abstammung der Zellen Rücksicht nimmt und dabei die An-
nahme gelten läfst, dafs fixe Zellen unter gewissen Umständen
zu Wanderzellen werden können, so besteht immer noch die
Möglichkeit, dafs der Emährungs Vorgang insofern einer äufseren
Einwirkung zuzuschreiben ist, als eine Reizwirkung dabei
stattfindet. Jedoch kommt ein Reiz offenbar nur dann zustande,
wenn eine Änderung der normalen Verhältnisse eintritt. Den
Sauerstoff der Luft, den wir 16 — 20 mal in der Minute ein-
ziehen, können wir nicht als ein Reizmittel betrachten ; wenn
aber bestimmte Veränderungen in der Zusammensetzung der
Luft vorliegen (stärkerer Ozonreichtum, Ammoniakgehalt etc.),
so wirken diese als Reiz. Darum mögen wohl für die ZeUe
veränderte Ernährungsbedingungen, z. B. Gifte oder auch ein
verstärkter Blutzuflufs, als Reiz zur Geltung kommen, aber
für die regelmäfsige Zellemährung ist bei der sich im grofsen
und ganzen gleich bleibenden Beschaffenheit der Nährlösung
eine Reizwirkung nicht anzunehmen.
Wie die Ernährung, so hängen auch Wachstum und
Vermehrung der Zelle in erst^ Linie von der Blutzufuhr ab,
und insofern ist die Zelle passiv beteiligt. Jedoch kann auch
die Blutzufuhr von den Zellen beeinfluist werden, indem ge-
steigertes Wachstum eines Organes stärkere Nahrungszufuhr
nach sich zieht. Jedenfalls spricht die ganze Natur der bei
der Zellteilung sich abspielenden Vorgänge, wobei sich zudem
viele Analogien zwischen Körperzellen und einzelligen Wesen
finden, dafür, dafs die Anregung dazu aus der Zelle selbst
hervorgeht. Aufsere Reize können wohl einen fördernden oder
hemmenden Einflufs ausüben. So kann man in der erhöhten
Inanspruchnahme eines Organes oder in der stimuUerenden
*) Vergl. H. Frey, Grundzüge der Histologie, Leipzig 1875, S. 10.
Die Zelle als Individuum. 431
Wirkung von Giften, in der reichlicheren Zufuhr von Stoff-
wechselprodukten (bei der vikariierenden Thätigkeit) „Wachs-
tumsreize" erkennen. Aber derartige Einflüsse sind nicht
unerläfsliche Vorbedingung der Zellvermehrung. Am wichtig-
sten ist die Höhe der Temperatur, wobei man freilich im
Zweifel sein kann, ob man eine Eeizwirkung der Wärme an-
ztmehmen oder in den ungünstigen Temperaturgraden wachs-
tumshemmende Reize zu sehen habe. Wenn man bedenkt,
wie sich Organismen und Zellen auch der Kälte allmählich
anzupassen und trotz derselben zu wachsen und sich zu ver-
mehren vermögen, wie es die eigenartige Vegetation der
Gletscher beweist, wenn man femer in Betracht zieht, dafs
die günstigste Temperatur für das Wachstum eine individuell
verschiedene ist, so wird man eine gewisse Selbständigkeit
der Zelle gegenüber den Temperatureinflüssen zugeben müssen.
Dafs ein bestimmter Wärmegrad am günstigsten ist. Hegt wohl
daran, dafs der zur Assimilation notwendige Chemismus sich
dabei am leichtesten vollzieht. Nicht ausgeschlossen ist aber
auch die Möglichkeit, dafs die Zelle, um jedesmal diesen
günstigsten Grad herbeizuführen, in den ungünstigeren Fällen
eine innere Arbeit leistet, welche einen den Stoffansatz
schädigenden Stoff- und Kraftverbrauch bedingt. Wir kämen
damit zu der Ansicht, dafs der Trieb, zu wachsen und sich
zu vermehren, in der Zelle zu jeder Zeit vorhanden ist, und
nur die Möglichkeit seiner stärkeren oder geringeren Be-
friedigung von äufseren Umständen abhängt.
Aber nicht blofs Ernährung und Wachstum, auch sonstige
Zellthätigkeit dürfte unabhängig von Reizen, also spontan,
erfolgen können. Läfst man auf Lymphzellen Induktions-
schläge einwirken, so werden sie durch Einziehung aller
Fortsätze rund; sobald der elektrische Schlag vorbei ist, fangen
sie wieder mit ihren amöboiden Bewegungen an. ^) Sie funk-
tionieren also, ehe der Reiz eintritt und nach demselben, auf
den Reiz selbst stellen sie ihre Funktion ein. Es ist nicht
anzunehmen, dafs sie vor- und nachher ebenfalls unter der
^) Landois, a. a. 0. S. 33.
432 August Dunges:
Einwirkung eines Reizes stehen, wenig:stens sollte man denken,
dafs sie gegen alle äufseren Beize sich gleichmäfsig verhalten
würden. Das einzige, woraus sich diese amöboiden Bewegungen
erklären lassen, ist die Annahme eines inneren Antriebes, dem
nun Hunger oder das Verlangen nach Orientierung zu Grunde
liegen mag. Auch in anderen Fällen sehen wir, dafs die
Zellbewegung dann eintritt, wenn hemmende Beize beseitigt
werden, so bei den Samenkörperchen und den Flimmerepithelien,
welche, in verdünnte alkalische Lösungen gebracht, durch
Neutralisation lähmender Säuren wieder bewegungsfähig werden.
Die Thätigkeit des herausgeschnittenen Herzens mufs als eine
spontane angesehen werden. Wenn Beize darauf einwirken,
so schlägt es zwar energischer, kommt aber auch früher zur
Buhe. Am wichtigsten ist für seine Thätigkeit eine genügende
Ernährung. Daher schlägt es länger in Nährlösungen, z. B.
Milch, Serum, als in indifferenter Kochsalzlösung, länger in
sauerstoffhaltiger Luft, als in anderen Gasen. ^)
§ 5. Über das Vorhandensein einer Zellpsyche.
Nachdem nunmehr gewichtige Gründe beigebracht wurden,
um eine aus eigenem Antriebe erfolgende Thätigkeit der
Körperzelle zu erweisen, wenden wir uns demjenigen Teile
der Untersuchung zu, welcher die für die Annahme einer
Zellpsyche direkt zu verwertenden Schlüsse und Beobachtungen
umfafst. Hierzu dienen als Grundlage:
a) die vergleichende Psychologie,
b) die psychogenetische Wissenschaft,
c) direkte Beobachtungen von psychischer Thätigkeit an
Zellen oder Zellgruppen.
a) Die Frage, ob das Tier im allgemeinen ein mit Ich-
bewufstsein begabtes Wesen ist, werden wir getrost bejahen
dürfen. Man ist zwar in der Zeit vor Dabwin vielfach anderer
Ansicht gewesen (vergl. Kant, Anthropologie, § 1), jedoch
wird man jetzt auf Grund der durch die Evolutionstheorie
1) Landois, a. a. 0. S. 107.
Die Zelle als Individuum. 433
gewonnenen Erkenntnis zwischen der tierischen und mensch-
lichen Psyche nur einen gradweisen Unterschied anzunehmen
berechtigt sein. Ein Bewufstsein ohne Selbstbewufstsein, wie
man es den Tieren zusprechen wollte, ist etwas, was wir aus
der Erfahrung überhaupt nicht kennen. Denn das uns aus
der Erfahrung bekannte eigene Bewufstsein enthält eben auch
ein Selbstbewufstsein. Jene des letzteren entbehrende Art
von Bewufstsein kann also nur auf Grund einer theoretischen
Konstruktion angenommen werden. Es ist aber viel wahr-
scheinlicher, dafs ein qualitativer Unterschied im Bewufstsein
verschiedener Wesen überhaupt nicht existiert, sondern nur
ein quantitativer, auf den Umfang des jeweils vorliegenden
Erfahrungsmateriales sich gründender. Die Einheitlichkeit
unseres Bewufstseins ist gerade darin begründet, dafs unsere
sämtlichen Erfahrungen subjektiver Natur sind, dafs sie in
dem Ich ihren Konzentrationspunkt besitzen und dafs die
jeweilig im Bewufstsein herrschenden Vorstellungen mit dem
Ich in irgend einem Zusammenhange stehen. Die Auj&nerk-
samkeit vermag nicht lange bei einem jBremden Gegenstande
zu verweilen, ohne immer wieder auf das eigene Ich zurück-
zukommen. Wenn man überhaupt das Bewufstsein als „inneres
Sehen" zu dem äufseren Sehen in Gegensatz und Vergleich
stellen und von einem Blickfelde desselben sprechen darf, so
ist es wohl gerechtfertigt, zu behaupten, dafs das eigene Ich
immer in diesem Blickfelde sich befindet, auch wenn den
Blickpunkt ein äufserer Gegenstand einnimmt. Wir werden
bei jeder neuen Erfahrung uns über die Bedeutung derselben
für das eigene Ich klar zu werden suchen, und je gröfser
diese Bedeutung uns vorkommt, um so mehr unsere Aufinerk-
samkeit anspannen, die Erfahrung desto inniger mit unserem
Ich verbinden und sozusagen in uns einverleiben. Daher unser
Ich uns am lebhaftesten gegenwärtig wird, das Selbstbewufst-
sein am stärksten in die Erscheinung tritt, wenn Vorteil oder
Schaden für das Ich in Frage steht und dadurch Lust- oder
Unlustgefühle erweckt werden. Alles dies wird, wenn auch,
dem geringeren Helligkeitsgrade des Bewufstseins gemäfs, in
Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. XXIU. 4. 29
434 August Dunges:
vermindertem Grade, für das Tier Geltung haben. Auch das
Tier ist ein egoistisches Wesen, und neue Erfahrungen werden
sich bei ihm im allgemeinen um so besser einprägen, je mehr
sie zu dem eigenen Ich in Beziehung stehen. Auch beim
Tiere beobachten wir Freude und Trauer. An Hunden sehen
wir deutlich genug, dafs sie empfangene Wohlthaten und
Milshandlungen im Gedächtnis au&ubewahren, also Erfahrung
zu sammeln befähigt sind. Sie unterscheiden ihre Wohlthäter
von ihren Feinden und treffen überhaupt unter Menschen und
Tieren eine Wahl, aus der die Befähigung zu individualisieren
klar hervorgeht. Aus diesen Gründen wird man das Vor-
handensein eines wie auch immer besthaflfenen Ichbewufstseins
bei den Tieren überhaupt anzunehmen nicht umhin können.
Etwas anderes ist es mit der Frage, ob es innerhalb
des Tierreiches eine Grenze giebt, unterhalb welcher wohl
noch Leben, aber keine Psyche mehr existiere, und femer,
ob die Pflanzen als beseelte Wesen anzusehen sind. Tanzi^)
stellt die Behauptung auf, in der Tierreihe beginne das Be-
wufstsein mit der Umwandlung der gangliös-reflektorischen
Organisation in die centralistisch-individualistische. Das
Echinoderm z. B. habe kein Bewufstsein. Diese Behauptung
ist an sich recht willkürlich. Zudem müfste nach dem hier
aufgestellten Prinzip den einzelligen Wesen, die ja auch eine
„centralistisch-individualistische Organisation" besitzen, wieder
ein Bewufstsein zugesprochen werden, was doch nicht angeht,
wenn man es höher organisierten Tieren abspricht. In der
That dürfte ein triftiger Grund für die Annahme einer solchen
Grenze nicht vorliegen. Wundt^) kommt zu der Schlufs-
folgerung: „Die Lebensäufserungen schon der niedersten
Protozoen sind nur unter der Voraussetzung erklärlich, dafs
ihnen ein Bewufstsein zu Grunde liegt, welches allein in dem
Grade seiner Entwicklung von unserem eigenen verschieden
ist", und an einer anderen Stelle äufsert derselbe Autor sich
') Grenzen der Psychologie. Centralblatt fttr Nervenheilkunde und
Psychiatrie 1898, No. 2.
2) Grundzüge I, S. 23.
Die Zelle als Individuum. 435
dahin : ^) „Das Selbstbewufstsein in den Anfängen seiner Ent-
wicklung ist ein durchaus sinnliches. Es besteht aus einer
Reihe sinnHcher Vorstellungen, die nur durch ihre Permanenz
und ihre teilweise Abhängigkeit vom Willen sich vor anderen
auszeichnen, während lebhafte Grefühle, namentlich Gemein-
geflihle, ihre Wirkung verstärken. Schon bei den niedersten
Tieren sind alle Bedingungen zur Ausbildung eines solchen
einfachen Selbstbewufstseins vorhanden". Es ist auch vom
Standpunkte der Entwicklungstheorie aus nicht recht zu ver-
stehen, dafs, nachdem sich schon eine Menge verschieden-
artiger, selbständiger Wesen aus den niedrigsten nach und
nach entwickelt hatten, nun auf einmal auf einer bestimmten
Stufe als etwas ganz neues das Ichbewufstsein hinzugekommen sei.
Auch fttr die Pflanze wird man von diesem Gesichts-
punkte aus ein, sei es auch noch so dunkles, Ichbewufstsein
annehmen. Tiere und Pflanzen müssen nach der Evolutions-
theorie denselben Ahnen haben, und wenn die Ichheit allen
Gliedern der ganzen Entwicklungsreihe zugesprochen wird,
so mufs auch jener gemeinschaftliche Ahne dieselbe besessen
haben und sie mufs von ihm auf die Pflanzen übergegangen
sein. Sehen doch auch hervorragende Physiologen in den
Pflanzen nichts weiter als einseitig entwickelte Tiere. Be-
kanntlich sind auf den niedrigen Stufen der Wesenreihe die
Unterschiede zwischen Tier und Pflanze vielfach verwischt,
so dafs wir Eigenschaften, die für jenes als charakteristisch
angesehen werden, bei di^ii^r wiederfinden und umgekehrt.
Auch der Mangel eines Nervensyst^aa^^i der Pflanze bedeutet
keinen tiefgreifenden Gegensatz. Dennw^s^ auch die wesent-
liche Funktion desselben, die Übertragung vöb^^eizen an eine
Centralstelle, wohl kaum im Pflanzenreiche verkneten sein
dürfte, so ist die Vorbedingung dieser Funktion, die Reizlö^tf^
keit, auch an der pflanzlichen Zelle vorhanden. Man kann ^
wohl sagen, dafs die Zellen der Pflanzen im allgemeinen die
doppelte Funktion von Nerven- und Drüsenzellen behalten
haben, indem sich eine Arbeitsteilung nach dieser Richtung
1) A. a. 0. n, S. 303.
29*
436 August Dunges:
nicht als notwendig erwiesen hat. Die Pflanze wird von ihren
Lebensreizen in der Regel nicht an bestimmten Stellen, sondern
an ihfer ganzen Oberfläche beeinflufst, denn Luft, Licht,
Wärme sind um sie tiberall verbreitet, und sie benötigt nicht
in dem Mafse wie das Tier besonderer Organe, um die Nahrung
zu wittern und sich zu schützen im Kampfe mit ihren Feinden.
Auch würden ihr, da sie nicht fliehen kann, Sinnesorgane zur
Entdeckung des Feindes wenig nützen. Wenn wir demnach
mit einem gewissen Rechte allem, was Zelle heilst, eine innere
Wesensgleichheit zugestehen, so ist es folgerichtig, ebenso
wie in Moneren und Amöben, auch in den zu einem gröfseren
Organismus zusammengefügten Zellen mit Ichheit begabte
Wesen zu erkennen.
b) Für die Reihe derjenigen Wesen, aus denen sich
nach der Evolutionstheorie endlich der Mensch entwickelt hat,
glaubten wir einen Unterschied zwischen solchen, die im Be-
sitze der Ichheit wären, und solchen, die derselben entbehrten,
nicht machen zu dürfen. Eine Rekapitulation dieser Wesen-
reihe flnden wir in der embryonalen Entwicklung (Haeckelu. a.).
Daher wird man es von vornherein als wahrscheinüch ansehen
müssen, dafs die Ichheit, welche dem extrauterinen Tiere und
Menschen eigen ist, schon in allen Stadien des embryonalen
Daseins von den Wesen besessen werde. Was insbesondere
die am Anfang dieser Stadien befindliche Sameneizelle betrifft,
so läfst sich die Annahme einer psychischen Individualität der-
selben mit triftigen Gründen belegen. Die Eikörperchen haben
alle charakteristischen Eigenschaften einer Amöbe. Pkeyeb
(a. a. 0. 2. Vorwort) sagt darüber: „Sie wachsen und bewegen
sich durch Aussenden und Einziehen von Scheinfttfsen, nehmen
Nahrung in sich auf . . . verhalten sich überhaupt wie Amöben
oder andere einfache lebende Wesen". „Einigen Teilen des
Eünhaltes kommen unzweifelhaft geistige Eigenschaften po-
tentiell zu, wenigstens Empfindungsvermögen." Die Samen-
körperchen hält Stbassbubgee für wesentlich gleichartige
Gebilde wie die Eizellen. Die Unterschiede in der äufseren
Form betreffen nur unwesentliche Teile und sind durch die
Die Zelle als Individuum. 437
verschiedenartige Funktion bedingt. Wenn man also der Ei-
zelle psychische Eigenschaften zugesteht, so wird man nicht
umhin können, sie auch für das Samenkörperchen gelten zu
lassen. Massabt ^) hat Versuche angestellt über das Ein-
dringen der Spermatozoen des Frosches in quellende Sub-
stanzen (Gelatine, Quittesamen, Froscheischleim u. a.). Er
sagt: „Die Spermatozoen dringen in die quellende Substanz
infolge einer besonderen Empfindlichkeit für Berührung; sie
empfinden dabei einen wachsenden Genufs (!) und dringen
deshalb weiter zum Ei vor". Es erhebt sich nun die Frage,
ob auch das durch die Kopulation von Samen- und Eizelle ent-
stehende Verschmelzungsprodukt eine Ichheit darstelle. Dies
ist schon deshalb vorauszusetzen, weil man nicht annehmen
kann, dafs bereits vorhandene psychische Qualitäten bei Fort-
bestehen des Lebens untergehen sollten. Zudem ist bei dem
Vorbilde jener Verschmelzung, bei der Konjugation von In-
fusorien, das Gegenteil der Fall. Eine weitere Frage ist die,
ob beide Zellen nach der Kopulation zu einer einzigen Ichheit
verschmelzen oder ihre eigene Ichheit bewahren. Die Be-
obachtung unter dem Mikroskop, wonach beide Zellen nach
Ausstofsung des „Richtungskörperchens" eine einzige neue
Zelle darzustellen scheinen, spricht wohl für erstere Annahme.
Eine Hypothese von Kbeidmann,^ welche das Getrenntbleiben
der Ichheiten verständlich machen könnte, soll hier wenigstens
erwähnt werden. Danach wächst gewissermafsen jede der
beiden ZeUen zu einem vollständigen Organismus aus, aber
so, dafs deqenige der einen Zelle vollwertige, der der anderen
nur rudimentäre Organe repräsentiert. Hinsichtlich der Ge-
schlechtsorgane ist ja dieses doppelte Vorkommen längst be-
kannt. Aber auch für alle anderen Organe glaubt Kbeidmann
das entsprechende, vom zweiten Teile des Eltempaares her-
rührende, rudimentär gebliebene angeben zu können, wobei er
freilich vielfach mit anderweitigen nicht unbegründeten
^) Mass ABT, Sur la Penetration des spermatozoides dans Poeuf de
la grenouille. BuUetin de PAcademie des Sciences de Beige XYIU, 8, p. 215.
3) Ärztliche Rundschau 1896.
438 August Dunges:
Deutungen in Widerspruch geraten dürfte. Danach würden
also die Samen- und die Eizelle nach der Kopulation ihre
Individualität behalten und doch zugleich in ihrer Verbindung
eine neue Ichheit darstellen. Es bestünde dann für die zwei
Zellen dasselbe Verhältois, welches wir fiir die Billionen Zellen
des fertigen Organismus annehmen und erwdfi^i möGhten.
Doch es ist hier nicht der Ort, um über diese bisher wenig
beachtete Hypothese zu entscheiden. Halten wir uns also
an die landläufige Annahme der Verschmelzung von Samen-
faden und Ei zu einem Individuum, so haben wir darin die
Stammmutter aller Zellen des Organismus vor uns, und wenn
dieser der Besitz der Ichheit zugestanden wird, so folgt daraus,
dafs auch ihfe Abkömmlinge, die Körperzellen, als Ichheiten
angesehen werden müssen. Wenigstens ist von vornherein
anzunehmen, dafs die Ichheit, wenn sie einmal vorhanden ist,
höchstens mit dem Leben selbst wieder verloren gehen kann,
und dafs sie, wenn eine Zelle sich in zwei neue teilt, auf
beide zugleich übergeht. Oder sollte man glauben, dafs nur
die eine der Tochterzellen in den Besitz der Ichheit gelangte
und bei deren Teilung auch wieder nur eine u. s. f., so dafs
also immer nur eine Zelle des ganzen Organismus Trägerin
der Ichheit wäre? Dem widerspricht die Thatsache, dafs man
bei gewissen Tieren und Pflanzen aus einem beliebigen Teile
ein neues Individuum erzielen kann. Sehen wir also mit
gutem Grunde in der Sameneizelle ein mit Ichheit begabtes
Wesen, so macht dies die Individualität der Körperzellen
überhaupt in hohem Mafse wahrscheinlich.
Von besonderer Wichtigkeit aber flir die Erledigung
dieser Frage sowohl als fiir die psychogenetische Forschung
überhaupt sind die Vorgänge der Vererbung. Um dieselben
flir die vorliegende Auseinandersetzung verwerten zu können,
dünkt es mich am praktischsten, zwei Theorien einander gegen-
überzustellen und gegeneinander abzuwägen, nämlich eine
solche, welche den Begriff der Zelle rein stofflich fafst, und
zweitens eine solche, welche der Zelle auch eine Psyche
beilegt.
Die Zelle als Individuuin. 439
In ersterem Sinne lälst sich .die bekannte von Wbisicanh^) aufge-
stellte Theorie deuten, welche annimmt, der Zellkern enthalte die „Ver-
erbungssubstanz'^, indem die Kernfäden aus einer grofsen Menge von
„Biophoren" bestünden, deren jedes bestimmten Eigenschaften einer späteren
Körperzelle entspräche. Danach müfste die Summe der Biophoren in der
Sameneizelle gleich sein der Summe aller Zellen im fertigen Organismus.
Durch die jeweils verschiedenartige Mischung der Biophoren des Samen-
körperchens und des Eichens während der Kopulation und Ausstofsung
der überflüssigen Biophoren in Eichtungskörperchen entsteht nach Weis-
HANN die Variation der Individuen. Aus diesen werden durch Zuchtwahl
die tüchtigsten ausgelesen und, indem sie ihre durch die zufällige Variante
empfangene Tüchtigkeit weiter vererben, immer vollkommenere Arten
herangebildet. Die Vererbung erworbener Eigenschaften wird von Weis-
MA.NN bestritten.
Eine Theorie, welche eine psychische Beschaffenheit der Zelle mit
io Betracht z6ge, würde etwa folgendermafsen lauten: Die Zelle wird
von den Lebenserfahrungen des Gesamtorganismus beeinflufst und unter
allen Zellen besonders diejenigen, welche, frei von einer speciellen Funktion,
am besten befähigt sind, einen Gesamteindruck von der jedesmaligen Lage
und Beschaffenheit des Organismus auf sich wirken zu lassen. So ist
dem die Erfahrung der Jahrmillionen, welche die gesamte Organismenwelt
bis zu ihrer heutigen Entwicklung gebraucht hat, in den Zellen und be-
sonders in denen des Generationssystems ausgeprägt. Die Fähigkeit, Er-
fahrung aufzuspeichern, heilst Gedächtnis, die Reproduktion der Erfahrung
Erinnerung. Je häufiger sich eine Erfahrung wiederholt, desto tiefer
prägt sie sich dem Gedächtnisse ein. Die Tochterzelle empfängt von der
Mutterzelle mit der gleichen Beschaffenheit auch das ganze Erfahrungs-
material derselben. Wie das möglich ist, darüber läfst sich eine bestimmte
Vorstellung noch nicht bilden. Am besten ist es, sich hier auf den all-
gemeinen psychophysischen Standpunkt zurückzuziehen, wonach jede
psychische Erscheinung im physischen ihr Äquivalent besitzt. ''*) So mögen
wir denn denken, dafs der Substanz die Fähigkeit innewohnt, die in ihr
(und durch sie) ausgeprägte Erfahrung durch die eigene Verdoppelung zu
verdoppeln, so dafs also aus der Mutterzelle zwei Tochterzellen entstehen,
welche mit gleichem Erfahrungsinhalte begabt sind und deren Tochter-
zellen wieder mit dem gleichen u. s. f. Schliefslich sehen wir in allen
Zellen des Organismus Wesen, welche ursprünglich dasselbe Erfahrungs-
material in sich aufgespeichert enthalten. Wie entsteht nun die besondere
Funktion? Damit aufgespeicherte, also gleichsam latente Erfahrung aktiv,
d. i. Erinnerung werde, mufs ein äufseres Moment hinzukommen. Dies
wird beim Embryo durch die gegenseitige Lage der Zellen und die mit
dem Wachstum sich ergebende Notwendigkeit der Arbeitsteilung dargestellt.
Wie die uralten Vorfahren der Sameneizelle, die Amöben, alle Funktionen
mit einer einzigen Zelle ausüben, so sind auch die Körperzellen von vom-
^) A. Weismann, Aufsätze über Vererbung, Jena 1892.
^) WuNDT, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 4. Aufl. 1893,
ir, S. 644.
440 August Dunges:
herein zu allen Funktionen fähig, und erst durch die besonderen Verhält-
nisse wird eine bestinunte Funktion vorwiegend übernommen und geübt.
Jedoch mufs in den Zellen noch eine besondere Eigenschaft vorhanden
sein, welche es ihnen ermöglicht, sich gerade zu dem besonders gearteten
Organismus auszuwachsen, das eine Mal ein Insekt, das andere Mal ein
Säugetier u. s. w. zu werden. Diese Befähigung setzt voraus, dafs die
Geschlechtszellen das Leben des Gesamtorganismus in gewisser Weise mit-
zuerleben und an den Wandlungen desselben teilzunehmen imstande seien.
Da aber diese Wandlungen vielfach durch Zuchtwahl bestimmt sind, s«
kommt eine solche auch für die Gestaltungsfähigkeit der Geschlechtszellei
in Betracht. Überhaupt könnte die Fähigkeit der Zellen, aus sich der
Gesamtorganismus zu reproduzieren, durch Zuchtwahl sich ausgebildet
haben. Nachdem im Laufe der Evolution einmal die Fähigkeit gefunden
war, auf bestimmte Zellen die Bildung neuer Organismen zu übertraget,
wurde dies nach und nach zur Gewohnheit, und Gewohnheit ist auch
nichts weiter als aufgespeicherte Erfahrung. So erklärt sich auch die
embryonale Entstehung von Organen, welche erst im postembryonalen
Leben in Funktion treten, nur als Akt der Gewohnheit. Die Zellen bauen
den Organismus aus sich auf, nicht etwa, wie wenn sie eine bestimmte
Vorstellung von ihrem Enderzeugnis hätten, sondern gelenkt durch iie
stereotyp gewordene Erfahrung der Jahrmillionen, wie auch der Voa^el
zum erstenmal ein Nest errichtet oder Bienen und Ameisen eine kunstvolle
Wohnung herstellen, ohne bewufste Vorstellung von ihrem Werke, nur
geleitet durch den Instinkt oder sagen wir besser die aufgespeicherte
Erfahrung von vielen Tausenden von Generationen. (Eine ausführKche
Theorie über die Vererbung erworbener Eigenschaften ist bekanntlich
von Hebbebt Spenceb ausgebildet worden.)
Wägen wir nun die beiden Theorien gegeneinander:
Bei einer rein materiellen Auffassung des Vererbungsvorganges
ist es nicht zu verstehen, wie nach Verlust einer von einer
bestimmten Menge von Vererbungssubstanz sich herleitenden
Zell- oder Organgruppe Regeneration eintreten kann, und doch
sehen wir, dafs bei manchen Tieren Extremitäten und sogar
Augen regeneriert werden können. Man kann femer nach
jener Theorie nicht begreifen, inwiefern bei manchen Pflanzen
und Tieren auch Zellen oder Zellgruppen, welche mit dem
Sexualsystem nichts zu thun haben, ein vollkommen neues
Individuum erzeugen, wie denn überhaupt eine Änderung der
Funktion bei Zellen, welche schon in der Anlage zu einer
bestimmten Thätigkeit vorherbestimmt sind, nicht vorausgesetzt
werden kann. Nach der WEisMANN'schen Theorie läfst sich
auch datür, warum der Embryo durch die Formen der Vor-
fahren sich hindurchentwickeln mufs, eine beMedigende Er-
Die Zelle als iDdividuum. 441
klärung nicht geben. Wenn in der Zelle die stoffliche Be-
schaffenheit des fertigen Organismus in irgend einer Weise
vorgebildet daliegt, so mufs man erwarten, dafs die Ent-
wicklung ohne Umweg sofort der Form des Gesamtorganismus
zustrebt. Der Begriff des Mosaiks, wie die rein stoffliche Auf-
fassung überhaupt, giebt eine zu einseitig räumliche Vorstellung.
Sehen wir in der embryonalen Formenwandlung eine
Wiedererinnerung, so entsteht dabei allerdings insofern eine
Schwierigkeit, als die Vorfahren der Samen- und Eizelle immer
nur Zellen gewesen sind und nie ein vollständiger Organismus.
Hier mufs die Hypothese aushelfen, dafs die Greschlechtszellen,
frei von jeder Funktion, an den Geschicken und Erfahrungen
des Gesamtorganismus Anteil nehmen. Die Möglichkeit einer
solchen Anteilnahme liegt um so näher, als bei niederen Or-
ganismen, wo die Funktionen noch nicht erheblich differenziert
sind, auch aus anderen als Geschlechtszellen sich ein ganzer
Organismus entwickeln kann. Die Vererbung erworbener
Eigenschaften wird in der Eegel mit solchen Beispielen zu
widerlegen gesucht, bei denen es sich gar nicht um er-
worbene Veränderungen im wahren Sinne des Wortes handelt,
sondern um solche, welche die Vorfahren absichtslos erlangten
(Beschneidung, Schädelkompression der Indianer u. s. w.).
Ob solche Eigenschaften, welche durch heifses Streben errungen
und durch Generationen hindurch immer wieder angestrebt
werden, femer ob die durch Anpassung erworbenen vererbbar
sind oder nicht, darüber dürfte ein endgültiges Urteil noch
nicht gefällt sein. Räumen wir daher die Möglichkeit ein,
dafs die Erfahrungen des Gesamtorganismus sich in irgend
einer Weise den Geschlechtszellen mitteilen und sich in ihnen
als Erfahrungsmaterial niederschlagen, so ist es nicht schwer,
die embryonale Formenskala auf Erinnerung im weitesten Sinne
zurückzufuhren. Es braucht sich dabei nicht um bewufste
Erinnerung zu handeln, auch jene unbewufste Erinnerung,
die wir als Gewohnheit bezeichnen, mag vorliegen. Das
ganze Embryonalleben ist eine Eekapitulation des Lebens
der ganzen Ahnenreihe. Es handelt sich um Wiedererinnerung
442 August Dunges:
an räumliche und zeitliche Verhältnisse. Auszudenken, wie
sich dabei im einzelnen die Vorgänge gestalten mögen, darauf
wird man wohl vorläufig noch verzichten, ein thatsächlicher
Gewinn ist dabei nicht abzusehen. Nur auf die Regelmäfsig-
keit, mit welcher gerade in zeitlicher Beziehung die embryo-
nale Entwicklung vor sich geht (vorausgesetzt, dafs sie nicht
künstlich gehemmt wird), sei hier kurz hingewiesen. Mag
auch die psychocellulare Theorie ihre Schwierigkeiten haben,
direkte Bedenken stehen ihr m. E. nicht entgegen, und inso-
fern dürfte sie vor der rein materiellen den Vorzug verdienen —
ein Grund mehr, die Ichheit der Samenzelle und der Körper-
zellen überhaupt anzunehmen.
Anmerkung 1. Im Anfang dieses Kapitels wurde der Satz aufge-
stellt, dafs die Ichheit dem Embryo in allen Stadien seiner Entwicklung
zukäme, eine Ansicht, die schon aus dem Grunde einer eingehenden Er-
örterung bedarf, weil heryorragende Autoren sie nicht zu teilen scheinen.
So sagt Wündt:') „Das Ich fällt nicht mit dem Individuum zusammen.
Die unbewufsten Seelenyorgänge haben mit dem Ich nichts zu schaffen,
denn das Ich ist ja das Produkt des Bewufstseins". Nach Preteb') gehört
zum Zustandekommen des „Ichgefühls'', dafs das Kind seine ihm selbst
fühlbaren und sichtbaren Körperteile als ihm gehörig erkennt, und dazu
kommt es erst durch eine Reihe von Erfahrungen, besonders durch die
Schmerzempfindung beim Stofsen u. s. w. Offenbar handelt es sich hier
um jene schon hochentwickelte Form der Ichvorstellung, welche voraus-
setzt, dafs das Individuum sich über sein Verhältnis zur AuTsenwelt und
über seine Stellung in der Welt überhaupt bis zu einem gewissen Grade
klar geworden ist. Dazu mufs aber eine ganze Reihe von Erfahrungen
vorhergehen, und eigentlich ist jede neue Erfahrung eine Bereicherung
dieses Wissens vom eigenen Ich, dieses durch Abgrenzung gegen die
Aufsenwelt, also indirekt und empirisch gewonnenen Ichbewufstseins.
Das macht es aber wahrscheinlich, dafs in den frühesten Erfahrungen,
die ein Wesen überhaupt gewinnt, auch die Anfänge zur Ausbildung eines
Ichbewufstseins zu sehen sind. Immerhin ist dieses nicht die Voraussetzung
für das Vorhandensein der Ichheit überhaupt; denn das Ichbewufstsein
ist das empirische Ich, welches erst auf dem Wege der Erfahrung ge-
wonnen wird. Voraussetzung aller Erfahrung aber ist das Vorhandensein
der Ichheit. Jedoch in Wirklichkeit ist auch ein Ich ohne Erfahrung
nicht denkbar, ohne etwas aulser ihm Befindliches kann das Ich keine
Erfahrung machen. Es giebt kein Subjekt ohne Objekt und umgekehrt.')
') WuNDT, Vorlesungen ü. d. Menschen- u. Tierseele, I. Aufl., I, S. 313.
2) W. Prbyee, Die Seele des Kindes, 3. Aufl., S. 456.
') Vergl. ScHOPENHAUEB, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1859,
n. Bd., Kap. 1.
Die Zelle als Individuum. 443
Erfahrung ist die Vereinigung von Subjekt und Objekt. Diese Vereinigung
von Subjekt und Objekt in der Erfahrung ist Leben, ist Wirklichkeit.
Jede Erfahrung hinterläfst Erinnerung, diese bleibt so lange, bia eine
andere Erfahrung sie verdrängt, doch geht sie nicht Tcrloren, sondern
tritt aus dem Bewufstsein so lange hexaiu. Ins sie durch eine entsprechende
Erfahrung wieder gew«ckt wird. So wird die Erfahrung in Form von
v.riifciMWTH^ Istent. Ein lebendes Wesen kann als Wesenseinheit, als Ich,
nur eine Erfahrung gleichzeitig machen. Dieselbe Erfahrung, immerund
immer wiederholt, kann eine Gewohnheit herbeiführen und als solche ver-
erbt werden. So erklärt sich die Vererbung der Instinkte. Es ist nun
nicht wahrscheinlich, dafs die Zelle und der embryonale Organismus die
Fähigkeit der Übertragung von latenter Erfahrung besäfse, ohne zur Auf-
nahme von Erfahrung befähigt und demgemäfs im Besitze der Ichheit zu
sein. Der Embryo befindet sich in einem schlafartigen Zustande, und es
fragt sich, ob in einem solchen die Möglichkeit, Erfahrung zu machen,
besteht. Jedenfalls ist der Traum, bei dem es sich im wesentlichen um
Wiedererinnerung handelt, eine innere Erfahrung. An viele Träume er-
innern wir uns im wachen Zustande nicht mehr. Vielleicht giebt es gar
keinen traumlosen Schlaf, vielleicht sind wir um so intensiver mit inneren
Erfahrungen beschäftigt, je mehr uns Einwirkungen der Aufsenwelt fern-
bleiben. Ein halbseitig des Gefühls- und Gehörsinnes beraubter Mann mit
totaler Anästhesie, den Stbümpell*) beobachtete, versank jedesmal in
Schlaf, wenn ihm das noch funktionierende Auge und Ohr geschlossen
wurden. Darnach ist der Schlaf vorwiegend durch den Mangel äufserer
Einwirkungen und Erfahrungen charakterisiert. Jedoch bin ich selbst im
tiefsten Schlafe befähigt, äufsere Erfahrung aufzunehmen. Ich mag die-
selbe vielleicht falsch deuten und zu einem wirren Traumbilde verweben,
aber das geschieht auch mit mancher Erfahrung im wachen Zustande.
Macht nun der Embryo in dem schlafartigen Zustande, in dem er sich
befindet, innere Erfahrung? Man sollte meinen, dafs die grofsen Um-
änderungen, welche sich an diesem kleinen Organismus aufs schnellste
vollziehen, eine äufserst lebhafte innere Erfahrung bedeuteten, die als
Wiedererinnerung sich um so genauer und vollkommener abspielen kann,
weil die Natur für Fernhaltung äufserer Einwirkungen aufs beste gesorgt
hat. Aber auch äufsere Erfahrung ist der Embryo wenigstens in den
späteren Monaten seines Daseins aufzunehmen befähigt. „Einzelne um
2 Monate zu früh geborene Kinder verhalten sich fast wie ausgetragene"
(Pbeybb). Ein im 6. Monat zur Welt gekommenes Kind macht Inspira-
tionsbewegungen und rührt die Glieder. Lutaud^) berichtet über einen
Fall, in dem ein Chirurg in Paris irrtümlich unter Annahme einer patho-
logischen Geschwulst den schwangeren Uterus exstirpierte. In seiner
Höhle lag ein 4 Monate alter Fötus. Es wurde angenommen, dafs er
maceriert sei. Man legte ihn in Alkohol und erstaunte über die kräftigen
Bewegungen, die er in dieser Flüssigkeit machte. — Jedoch auch ohnedies
1) Strümpell, Lehrbuch der speciellen Pathol. u. Therapie, 6. Aufl.
1889, Bd. II, S. 17.
2) Revue pratique d'obst^trique et de gynaecologie 1897.
444 August Dunges:
geht das Vorhandensein der Ichheit beim Embryo schon aus der Über-
tragung latenter Erfahrung, z. B. in den Instinkten, hervor; denn eine
Erfahrung irgendwelcher Art ist ohne ein Ich nicht denkbar.
Anmerkung 2. Von vielen Forschem wird der Zellkern allein als
der Träger der Vererbungsmasse angesehen (s. bei A. Weismann a. a. 0.).
Diese Auffassung bedingt für die Annahme der psychischen Individualität
der mehrkemigen Zelle eine gewisse Schwierigkeit, welche am besten
dadurch gelöst werden kann, dafs Protoplasma und Zellkern als Gebilde
angesehen werden, deren jedes eine besondere Individualität darstellt und
die zusammenwirken nach Art einer Symbiose, ähnlich etwa wie sich in
den Flechten Alge und Schlauchpilz zu einer Symbiose zusammengefunden
haben. Stützpunkte für diese mit aller Beserve ausgesprochene Hypothese
giebt es mehr als einen. Dafs es kernloses Protoplasma und protoplasma-
lose Kerne gebe, ist zwar oft genug in Zweifel gezogen, aber noch nicht
endgültig widerlegt worden. Eine gewisse Unabhängigkeit zwischen Kern
und Protoplasma beweist schon der Umstand, dafs bei der Zellvermehrung
die Teilung des Kernes in der Begel zuerst erfolgt. In manchen Fällen
teilt sich auch nur der Kern allein, während das Protoplasma allenfalls
an Gröfse zunimmt, ohne sich einzuschnüren. Kernlose Zellen oder Teil-
stücke von solchen können eine Zeit lang weiter leben.') Nach Balbian
bleiben kernlose Teilstücke von Infusorien noch viele Tage lang mit völlig
unveränderten Bewegungen am Leben. Dafs schliefslich das des Kernes
beraubte Protoplasma nicht mehr allein am Leben bleiben kann, ist bei
einem symbiotischen Verhältnisse leicht verständlich. Die beiden Teile
werden mit der Zeit eine Arbeitsteilung eingegangen sein, welche das
eine von der Funktion des anderen abhängig macht. Sehen wir doch
etwas ähnliches bei gewissen Ameisenarten, die sich andere Ameisen zu
Sklaven machen und deren Dienstleistungen zuletzt so wenig entbehren
können, dafs sie ohne deren Hilfe verhungern müssen. Dbmoor konnte
mit Chloroform das Protoplasma von Leucocyten lähmen — und doch setzte
der Kern seine amöboiden Bewegungen fort.*)
c) Wenn man eine Zellpsyche aus direkten Beobachtungen
nachweisen will, darf man nicht mit übertriebenen oder gar
unrichtigen Vorstellungen von den seelischen Fähigkeiten eines
so niedrig stehenden Wesens an diese Aufgabe herantreten.
Zunächst ist daran zu denken, dafs sich in einem so kleinen
Gebilde das Seelenleben schon zeitlich ganz anders abspielen
mufs, als bei einem komplizierteren Organismus. Man hat
bei höheren Tieren und beim Menschen nachgewiesen, dafs
ein Reiz, um sich durch einen Nerven fortzupflanzen, Zeit
braucht, die gemessen werden kann (beim Menschen nach
') S. b. M. Vbrwobn a. a. 0. S. 512.
2) M. Vbrworn a. a. 0.
Die Zelle als Individuum. 445
Helmholtz für einen Meter Nervenlänge ungefähr V34 Sekunde).
Die Zeit, welche verfliefst zwischen dem Moment, wo ein
Sinneseindruck stattfindet, und demjenigen, in welchem die
Apperception dieses Eindrucks an einer Vorrichtung registriert
wird, übersteigt in der Regel 0,2 Sekunden. („Reaktionszeit."
Es ist die Art der Messung vorausgesetzt, wobei die Auf-
merksamkeit auf den Sinneseindruck selbst gerichtet ist.)^)
Wenn also die psychischen Leistungen des Gesamtorganismus
Zeit brauchen, so wird es auch mit denen der Zelle der Fall
sein, nur ist zu erwarten, dafs diese Zeit von der des Orga-
nismus ganz verschieden ist. Und dasselbe mufs auch be-
züglich der räumlichen Vorstellungen angenommen werden.
Überhaupt werden sich alle psychischen Regungen, wenn ich
so sagen darf, in mikroskopischer Breite bewegen. Die Sinnes-
empfindungen beschränken sich vermutlich im allgemeinen
wie bei der Amöbe auf Tastempfindungen. Jedoch ist es
durchaus nicht sicher, ob nicht auch Erschütterungen fester
Körper oder eines flüssigen oder luftförmigen Mediums und
selbst die des Äthers empfunden werden. Die Empfindung
wird sich in einer für uns unermefslich kleinen Zeit in Vor-
stellung umwandeln, die Vorstellungen selbst aber werden bei
der Einförmigkeit der äufseren Eindrücke nur einen äufserst
bescheidenen Grad von Abwechslung darbieten. Auch die in
der Zelle aufgespeicherte latente Erfahrung kann sich natür-
lich nur in den Grenzen der diesen kleinen Lebewesen eigenen
Fähigkeiten bewegen. Wenn also Eigenschaften vererbt
werden, so darf man nicht annehmen, dafs die denselben ent-
sprechenden Vorstellungen in der Keimzelle vorhanden wären,
zumal es sich in der Regel um Vorstellungen handelt, zu
deren Zustandekommen im Gesamtorganismus eine grofse Menge
von Zellen associativ zusammenwirken wird. Vielmehr nur
diese Fähigkeit, unter gleichen Bedingungen mit gleichartigen
Zellen zusammen wieder die betreffende Vorstellung zu er-
zeugen, wird vermutlich vererbt werden. Ist aber der Zu-
sammenhang der betreffenden Zellen im Laufe der Entwicklung
») W, WuNDT, Grundztige II, S. 310 ff.
446 August Dunges:
des neuen Organismus hergestellt, so bedarf es nur einer
entsprechenden Anregung, um die Vorstellung wachzurufen.
Hühnchen, die Allen Thomson auf einen Teppich ausschlüpfen
und einige Tage darauf verweilen liefs, zeigten keine Neigung
zu scharren, begannen aber gleich damit, sobald ein wenig
Kies auf den Teppich gestreut wurde. ^)
Gehen wir nun mit den bescheidensten Ansprüchen an
die Erforschung psychischer Regungen des Zellorganismus
heran, so werden wir auch den primitivsten Äufserungen eines
Seelenlebens Wert beilegen dürfen. Hierhin gehören zunächst
die aus innerem Antriebe erfolgenden Bewegungen, über welche
schon abgehandelt wurde. Femer dürften die rhythmischen
Bewegungen unsere Aufmerksamkeit verdienen. Ein lebendes
Wesen, welches rhythmisch thätig ist, mufs eine irgendwie
geartete Zeitvorstellung besitzen. Von hohem Interesse sind
dieserhalb die Studien, welche Veewoen an Wimperzellen
angestellt hat. „Bei einer Wimpelreihe, die in der Mitte
durch einen Einschnitt in zwei Hälften getrennt ist, schlägt
jede Hälfte in eigenem Rhythmus."^) Jedes Haar, aus dem
Konnex mit den anderen getrennt, zeigt vollkommene Selb-
ständigkeit der Bewegung. Die Ausbildung einer rhythmischen
Thätigkeit, welche zudem Schnelligkeit und Rhythmus ändern
kann, ist wohl bei einem lebenden Wesen nur möglich, wenn
es die Fähigkeit besitzt, Zeitintervalle abzumessen, und diese
Fähigkeit wird man nur als eine psychische auffassen können.
Auch die Reizbarkeit findet sich vielleicht allein bei Wesen,
welche im Besitze der Ichheit sind, und würde demnach als
ein Merkmal derselben aufzufassen sein. Schon oben wurde
angedeutet, dafs die auf starke Reize erfolgende Bewegung
möglicherweise als Abwehr aufzufassen sei, wie man ja auch
in den Sehnen-, Lid- und Hautreflexen stereotyp gewordene
Abwehrbewegungen sieht, während schwache Reize in der
Regel die gewohnte Funktion der Zelle auslösen. Man könnte
in dem Reiz ein Mittel sehen, durch welches latente Erfahrung
') W. Päeyer, Die Seele des Kindes, 3. Aufl., S. 185.
2) A. a. 0. S. 578.
Die Zelle als Indiyiduuin. 447
in aktive umgesetzt oder Erfahrung überhaupt gewonnen wird.
Vielleicht bewirken schwache Reize ein Lust-, starke ein
Unlustgefiihl. Erstere erhöhen die vitale Energie der Zelle,
letztere wirken eher lähmend. Endlich müssen wir noch die-
jenige Zellthätigkeit in Betracht ziehen, welche den Charakter
des Zweckmäfsigen an sich trägt. Es ist das diejenige
Änderung der Funktion und überhaupt der ganzen Beschaffen-
heit, welche sich in der Zelle vollzieht, um widrigen Ein-
flüssen gegenüber ihr Dasein behaupten zu können. Die An-
passungsfähigkeit setzt eine Psyche voraus ; denn sie verlangt,
dafs in der Zelle ein Trieb vorhanden ist zur Verfolgung
eigener Zwecke. Sind diese Zwecke auch nur auf Erhaltung
des Lebens gerichtet, so ist doch ohne eine Ichempfindung
eine solche oder überhaupt eine .Zwecksetzung nicht wohl
denkbar.
Aufser diesen Beobachtungen an der Einzelzelle giebt
es auch solche, wo Zellgruppen unabhängig vom Gesamt-
organismus eine Art von psychischer Thätigkeit aufweisen.
Bekannt sind die Vorgänge^ welche man an enthimten oder
geköpften Tieren beobachtet und die psychischen Leistungen
so genau entsprechen, dafs Pflügeb daraufhin eine besondere
„Rückenmarksseele" angenommen hat. Das herausgeschnittene
Herz schlägt rhythmisch weiter, der Rhythmus kann sein
Tempo verändern, er kann (z. B. bei starker Kompression
des Organs zwischen den Fingern) in ein ungeordnetes Gewoge
übergehen.^) Das Organ hat also gleichsam in sich einen
Zeitsinn. Die Reflexe können unabhängig vom Gehirn zu-
stande kommen. Wundt^) sieht in ihnen mechanisch ge-
wordene Willenshandlungen. Dieselbe Auffassung verdient
auch die Rhythmik des Herzens und der Atmung, verdienen
überhaupt alle an hirnlosen Tieren zu beobachtenden zweck-
mäfsigen Handlungen. Sie liegen alle für den Gesamtorganismus
im Bereiche des Unbewufsten, sind aber vorher so oft mit
Bewufstsein ausgeflihrt und eingeübt worden, dafs ihr psychischer
*) Lakdois, Lehrbuch d. Physiologie, S. 110.
2) WuNDT, Grundzüge d. physiolog. Psychologie, 4. Aufl., Bd. II, S. 591.
448 August Dunges:
Ursprung deutKch auf der Hand liegt. Sie werden in gleicher
Weise unbewufst vollzogen, wie wir ohne besondere Aufmerk-
samkeit und Willensanstrengung manche schwierigen koordi-
nierten Bewegungen zu vollflihren vermögen. Wir können
gehen, ohne dabei an das Gehen zu denken; die Fingerhaltung
beim Klavierspiel, anfangs mit grofser Mühe eingeübt, gelingt
schliefslich unbewufst. Vielfach werden wohl auch die von
ganzen Generationen immer und immer wieder eingeübten
Handlungen vererbt. Alle diese Erscheinungen sind mit der
des Gedächtnisses auf eine Stufe zu stellen. Es handelt sich
um latent gewordene Erfahrung, welche bei einer entsprechen-
den Anregung ausgelöst, also aktiv wird. Willenshandlungen
sind innere Erfahrungen, insoweit sie sich auf den Willen,
und äufsere, insoweit sie sich auf die Ausfuhrung beziehen. ^)
Der Organismus kann auch Erfahrungen machen, welche ihm
niemals zum Bewufstsein kommen oder vielleicht erst in ihren
Polgen. So werden Infektionskrankheiten während des In-
kubationsstadiums tagelang unbewufst herumgetragen, so voll-
zieht sich die Einübung des Gehens, des Musizierens, ohne
dafs die dazu notwendigen Muskelbewegungen zum Bewufstsein
zu kommen brauchen. Mann kann sich gewöhnen, zu einer
bestimmten Zeit morgens aufzuwachen, ohne zu wissen, wie
diese Gewohnheit erlangt wird. Eine vom Hypnotiseur er-
teilte Suggestion ist nach dem Erwachen aus der Hypnose
vergessen und tritt genau zu der angegebenen Zeit ins Be-
wufstsein. Wir müssen demnach bewufste und unbewufste
Erfahrung unterscheiden. Zum Bewufstsein gelangt eine Er-
fahrung nur, wenn sie stark genug ist, um die gerade darin
befindliche zu verdrängen. Den Vorzug verdienen dabei die-
jenigen Erfahrungen, welche für die Zwecke des Ganzen
wichtig sind. Von mehreren gleichzeitig eindringenden Er-
fahrungen bleiben die weniger wichtigen so lange im Unbe-
wufsten, bis für die wichtigeren das Interesse erlahmt ist.
Obwohl diese Darlegungen ihren Gegenstand bei weitem nicht
erschöpfen, so geht aus ihnen doch hervor, dafs der Begriff
^) WuNDT, Grundztige etc., II. Bd., S. 564 ff.
Die Zelle als Individuum. 449
des Unbewufsten nicht entbehrt werden kann. Man glaubte
wohl über die durch das Widersinnige dieses Begriffes ge-
schaffene Schwierigkeit dadurch hinwegzukommen, dafs man
ein Unterbewufstsein annahm. Aber es ist nur zweierlei
möglich : entweder ist das Bewufstsein zu verschiedenen Zeiten
verschieden stark und man bezeichnet verhältnismäfsig schwache
Grade als UnterbewuTstsein, oder die psychischen Voi^änge,
welche ins „Unbewufste" verlegt werden, gehören einer anderen
Psyche, einem anderen Bewufstsein an als dem des Gesamt-
organismus. Jede Ichheit ist eine Einheit, die nur ein Be-
wufstsein haben, immer nur eine Erfahrung zugleich machen
kann. Das Unbewufste aber ist nur ein Begriff, der durch
Negation des aus der Erfahrung gewonnenen Begriffes Be-
wufstsein entstanden ist, und entbehrt demgemäfs wie alle
derartigen Negationsbegriffe der BrCalität. Wir sehen uns also
genötigt, im Organismus das Vorhandensein einer zweiten
Ichheit oder überhaupt anderer Ichheit neben dem Gesamt-Ich
anzunehmen. Die Annahme einer zweiten Ichheit, welche
doch wohl in das Rückenmark zu verlegen wäre, genügt aber
auch nicht. Denn bekanntlich können verschiedene Teile
desselben für sich allein Lebensäufserungen von sich geben,
die als Auslösung latenter Erfahrung angesehen werden müssen.
(Umklammerungsversuch von Goltz, wobei nur das zu den
vorderen Extremitäten gehörige Stück Rückenmark erhalten
zu sein braucht.) Also sind im Rückenmark selber verschiedene
Ichs anzunehmen. Am natürlichsten aber ist es, so viele
Ichheiten neben dem Gesamt-Ich gelten zu lassen, als Zellen
da sind oder, mit anderen Worten, in der Individualität der
Zelle die Ursache für die Möglichkeit unbewufster, nicht in
das Bewufstsein des Gesamtorganismus gelangender Er-
fahrungen zu erkennen. Dem enthirnten Tiere noch eine
Ichheit im ganzen zuzusprechen, dazu Uegt kein zwingender
Grund vor, auch wird diese Annahme entbehrlich, wenn man
die Zellen als Ichheiten ansieht. Allerdings ist sogar der
hirnlose Frosch imstande, neue Erfahrung aufzunehmen und
in seinen Bewegungen geschickter und regsamer zu werden,
VlerteljahrsBchrift f. wlssenschaftl. Fhilosophie. XXTTT. 4. 30
450 August Dunges:
falls er lange genug am Leben bleibt. Daher glaubt Wttndt, ^)
dafe das enthimte Tier schliefslich noch eine Art Bewu&tsein
in sich ausbilden könne, obwohl er niemals Bewegungen be-
obachtet hat, die in der Weise von äuiseren Anregungen un-
abhängig würden, wie die willkürlichen Bewegungen sämtlicher
Tiere es sind. Aber es genügt zur Erklärung jener Beob-
achtungen die Voraussetzung, dafs die Fähigkeit der Einzel-
zellen, associativ zu psychischen Leistungen sich zu vereinigen,
erhalten geblieben ist, und dafs diese Associationen in Er-
mangelung anderer Sinnesorgane nur noch durch die Thätig-
keit des Hautsinnes angeregt werden. Jene associative
Fälligkeit der Zellen ist es ja, worauf ihre Zusammenfiigung
zu Organismen beruht, und so gut wie sich auf Grund der-
selben vor Jahrmillionen aus einem locker gefugten Zellen-
haufen eine mehrzellige psychische Einheit entwickelte, ist
sie auch notwendig, damit die Tochterzellen der Sameneizelle
sich zu einer Ichheit vereinigen und diese Einheit auch auf
ihre Abkömmlinge übertragen.
Man könnte nun gerade die Beobachtungen an gehim-
losen Tieren dazu verwerten, um alles psychische Dasein zu
leugnen und jegliche Lebensthätigkeit der Organismen aus
physikalischen und chemischen Prozessen zu erklären. Dem-
gegenüber ist zu betonen, dafs das Vorhandensein der Ichheit
ebenso gut eine Erfahrungsthatsache ist, wie jede noch so
gut beobachtete physikalische oder chemische Erscheinung,
und dafs alle Versuche, dieses Ich aus der Organismenwelt
zu eliminieren, einfach daran scheitern müssen, dafs das eigene
Ich des Beobachters bei jeder Beobachtung und Erfahrung
dabei und ohne dasselbe die Erfahrung gar nicht möglich ist.
Wenn ich von irgend einem Dinge etwas aussage, so geschieht
es nur im Sinne einer von mir oder einem Wesen derselben
Gattung (also Mitmenschen) gemachten Erfahrung. Ich kenne
daher kein Ding, welches nicht auf Grund subjektiver Be-
trachtung zu meiner Erkenntnis gelangt wäre. So kann ich
^) W. WuNDT, Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele,
1. Aufl. 1863, S. 734 ff.
\
Die Zelle als Individuum. 451
also auch bei der Betrachtung des menschlichen und tierischen
Organismas meine Ichheit nicht loswerden. Es giebt eben
keine Erfahrung ohne ein Ich, welches sie macht, so gut wie
es kein Ich giebt ohne einen Erfahmngsinhalt. Die physi«
kalischen und chemischen Kräfte sind Gegenstand der Er-
fahrung, nicht Subjekt derselben. Sie können wohl im Momente
der Erfahrung mit dem Ich zu einer Erfahrung verschmelzen,
aber das nur so lange, bis ein neuer Eindruck sie ablöst.
LoTZE sagt im Mikrokosmos (Bd. I, S. 161): „Wie weit wir
auch den eindringenden Sinnesreiz durch den Nerven verfolgen,
wie vielfach wir ihn seine Form ändern und sich in immer
feinere und zartere Bewegungen umgestalten lassen, nie werden
wir nachweisen können, dafs es von selbst in der Natur irgend
einer so erzeugten Bewegung liege, als Bewegung aufzuhören
und als leuchtender Glanz, als Ton, als Süfsigkeit des Ge*
schmacks wieder geboren zu werden". In seinem Entwürfe
zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Er-
scheinungen betrachtet es Exneb als seine Aufgabe, „die
wichtigsten psychischen Erscheinungen auf die Abstufung von
Erregungszuständen der Nerven und Nervencentren, demnach
alles, was im BewuTstsein als Mannigfaltigkeit erscheint, auf
quantitative Verhältnisse und auf die Verschiedenheit der
centralen Verbindungen von sonst wesentlich gleichartigen
Nerven und Centren zurückzuführen".^) Ich kann es nicht
für erwiesen halten, dafs damit eine rein physiologische Er-
klärung gegeben, der psychische Faktor völlig eliminiert ist,
denn es mufs wenigstens die Möglichkeit zuzugeben werden,
dafs die „Erregungszustände" sich auf psychischem Gebiete
abspielen. Wenn Exneb dann weiter sagt, die Lebensäufserungen
des tierischen Organismus würden so reguliert, dafs sie im
Sinne der Erhaltung des Individuums, der Nachkommenschaft
und der Genossenschaft zweckmäfsige sind, so ist auch
darin der Hinweis auf das Subjekt der Erfahrung deutlich
genug enthalten.
^) S. ExNSB, Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der
psychischen Erscheinungen, I. Teil, Wien 1894, S. 3.
30*
452 August Dunges:
Nach dieser Abschweifung kehren wir zu unserer Absicht
zurück, für eine vom Gesamtorganismus unabhängige psychische
Thätigkeit von Zellengruppen Belege beizubringen. Eines
der wunderbarsten Beispiele hierfür erhält man, wenn man
einen Regenwurm durchschneidet, indem jeder Abschnitt flir
sich weiter lebt und sich in jeder Beziehung so verhält, dafs
er als ein besonderes Ich aufgefafst werden mufs. Dieser
Vorgang läfst sich am besten erklären durch die schon früher
erwähnte Fähigkeit der Zellen, sich zu einer psychischen
Einheit höherer Ordnung zu associieren. Je einfacher ein
Wesen organisiert ist, um so leichter und schneller wird diese
Association sich vollziehen. Besonders leicht kommt sie in
der Pflanzenwelt zustande, wo ein Zweig oder ein Blatt ge-
nügt, um ein neues Individuum entstehen zu lassen. Wenn
aber Agassiz^) sagt: „Die Botaniker haben nie den Baum
einfach als ein Individuum angesehen, sondern als ein Aggreat
von Einzelwesen, die auf derselben Grundlage gewachsen und
an den Mutterstamm gefesselt auch bei ihm verbleiben'^, so
kann ich, so sehr auch diese ÄuTserung für die Individualität
der Zelle sich verwerten läM, nicht einsehen, dafs die Sonder-
wesenheit der Teile einen Gegenbeweis gegen die Ichheit des
Ganzen darstellen solle.
Jedenfalls aber wird durch derartige Beispiele gezeigt^
daüs ein Organismus mehrere psychische Dignitäten in sich
vereinigen kann, eine Thatsache, welche geeignet ist, die
Individualität der Zelle verständlicher zu machen.
Zum Schlüsse sei unsere Betrachtung noch gewissen
pathologischen Zellbildungen gewidmet, den Geschwülsten
und den Mifsbildungen. Die Geschwülste sind Zellgruppen,
welche nicht nur an den Zwecken des Gesamtoi^anismus
sich nicht beteiligen, sondern denselben oft genug feindlich
entgegentreten. Sie verdanken zum Teil Bakterien oder
sonstigen Parasiten ihren Ursprung, für andere aber ist bis
jetzt eine solche Ursache nicht erwiesen, vielmehr scheint
') AoAssiz, Der Schöpfuugsplan, deutsch von E. Gibbbl, Leipzig
1875, S. 122.
Die Zelle als Individuum. 453
hier die CoHNHEiM'sche Ansicht, dafs sie aus persistierenden
embryonalen Keimanlagen hervorgehen, sich zu behaupten.
Wie hier embryonales, so kann auch ausgewachsenes, ureigenes
Gewebe des Organismus diesem verderblich werden, z. B.
Metastasen des Schilddrüsen-, des Placentargewebes. Gewisse
Geschwülste stammen nachweislich von einer anderen Indivi-
dualität her, als der des Organismus, nämlich die Teratome,
von denen manche als rudimentäre Doppelmifsbildungen, als
das Überbleibsel eines nicht zur vollen Entwicklung gelangten
zweiten Zwillings angesehen werden müssen. Endlich ver-
dienen die Doppelmifsbildungen selber die gröfste Beachtung.
Sie betreffen in der Regel zwei deutlich unterscheidbare Indi-
viduen, welche so miteinander verwachsen sind, dafs sie ge-
wisse Organe gemeinsam haben. Nicht blofs der Eumpf,
auch die Köpfe, ja beides zugleich können vereinigt sein.^)
Bei Tieren sind Mifsbildungen künstlich erzeugt vorden.^)
Besonders interessant sind die Verwachsungsversuche, welche
BoRN^ mit Amphibienlarven anstellte, bei denen nicht blofs
eine anatomische, sondern auch eine funktionelle Vereinigung
erzielt wurde. Fehlt dem einen Partner das Herz, so wachsen
in ihn Gefäfse aus dem anderen hinein, verbinden sich mit
den an Ort und Stelle entstandenen und stellen eine aus-
reichende Cirkulation her. Auch gemeinsame Darmabschnitte
können entstehen. In anderen Fällen wurde ein ganzes
Körperende mit allen seinen Organen durch Anfügung der
entsprechenden Teile eines zweiten Tieres ersetzt oder ver-
längert oder verdoppelt. Die Organe des Hinterstückes und
des Vorderstückes arbeiteten dann so zusammen, wie die zu-
sammengehörenden Teile eines Exemplares. Für alle diese
recht staunenswerten Bildungen läfst sich am ehesten oder
vielleicht überhaupt nur dann ein Verständnis gewinnen, wenn
man die Zellen als Wesen auffafst, welche eine vom Gesamt-
1) ZiBGLEB, Lehrbuch der pathol. Anatomie 1887, S. 279.
2) 0. Hertwio, a. a. 0. 11, S. 125.
8) BoBN, Über Verwachsungsversuche mit Amphibienlarven. Archiv
für Entwicklungsmechanik 1897, Bd. IV, Heft 3 u. 4.
454 August Dunges: Die Zelle als Individuum.
Organismus unabhängige Psyche besitzen (eine in sich abge-
schlossene Bewufstseinseinheit darstellen), dabei aber mit der
Fähigkeit ausgestattet sind, sich mit anderen Zellen zu einem
höheren Organismus zu associieren. —
Wie ein Krystall aus vielen kleineren, ebenso beschaffenen
Krystallen entsteht, so baut sich der Organismus auf aus vielen
ursprünglich gleichartigen Zellen, welche, veränderten Zwecken
und Lebensbedingungen sich anpassend, zugleich dem Ganzen
dienen und sich selber. Wie in einem Sonnensystem jeder
Himmelskörper für sich da ist, aber durch eine besondere
Kraftrichtung auch mit dem Ganzen zusammenhängt, so unter-
werfen sich jene Ichheiten, jene Körperchen des Körpers, jene
Seelchen der Seele einer höheren Idee, einem allgemeinen
Gesetze. Die Zwecke der Teile und des Ganzen sind gleich-
gerichtet, wie die Eisenmolektile eines Magnetes, und erst
Krankheit oder Tod heben die Richtung auf, so dafs nur die
eigene Individualität der Zelle eine Zeit lang noch übrig bleibt.
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortsehritts
der Menschheit.
Von A. Yierkandt, Braunschweig.
Inhalt.
1. FragesteUang. 2. Das Wesen der Eultnr. 3. Die Mehrung nnd Erhaltung
der Kulturgüter. 4. Folgerungen aus den vorigen Erörterungen für unser Pi'oblem.
5. Wirkungen der Eulturentwicklung auf das Individuum: Steigerune der Intelligenz,
der Willensstärke und der Objektivität. 6. Der Fortschritt der Normen. ^. Der
Fortschritt der sittlichen Leistungen. 8. Der Fortschritt der sittlichen Handlungen.
9. Der Fortschritt der Gesinnung. 10. Die Verschiebung der Interessenkreise.
1. Zu der Frage nach dem sittlichen Fortschritt der
Menschheit, wie sie von dem Herausgeber dieser Zeitschrift
in ihr an einer anderen Stelle erörtert worden ist,^) beab-
sichtigen die folgenden Zeilen einen Beitrag zu liefern, der
von der vorigen Arbeit hauptsächlich in zwei Richtungen
abweicht, nämlich erstens hinsichtlich der zum Vergleich mit-
einander herangezogenen Kulturkreise und zweitens hinsicht-
lich der Fragestellung. 2) In ersterer Beziehung machen die
Betrachtungen über den in Rede stehenden Gegenstand sich
nicht selten einer Vermengung heterogener Dinge schuldig.
Sie legen ihren Erwägungen meist denjenigen etwas buntge-
mischten Kreis von Völkern und Kulturen zu Grunde, den
man herkömmlich als das Gebiet des geschichtlichen Lebens
zu bezeichnen pflegt, nämlich die orientalischen Völker der
letzten Jahrtausende v. Chr. G., das klassische Altertum und
die westeuropäischen Völker während des Mittelalters und der
1) Vergl. P. Barth, Die Frage des sittlichen Fortschritts der
Menschheit, S. 75 — 116 dieses Bandes.
2) Gegenbemerkungen zur vorliegenden Abhandlung, der ich in
wesentlichen Thesen nicht zustimme, behalte ich mir vor. P. Barth.
456 A. Vierkandt:
Neuzeit. Mit zwei Ubelständen ist diese Zusammenstelluiig
behaftet. Erstens ist der Standpunkt der Betrachtung zu
niedrig, der Gesichtskreis nicht weit genug gewählt, um
zwischen zufälligen Erscheinungen und wesentlichen Zügen
der Entwicklung, zwischen vorübergehenden Schwankungen
und einer bleibenden Entwicklungstendenz mit Sicherheit
unterscheiden zu können. Zweitens ist der Stoff nach zu-
fälligen statt nach wesentlichen, nämlich nach räumlichen
und zeitlichen statt nach kulturellen Gesichtspunkten ausge-
wählt. In Wirklichkeit bezieht sich unser Problem doch auf
den Zusammenhang zwischen Kultur und Sittlichkeit, zwischen
dem Fortschritt auf dem einen und demjenigen auf dem anderen
Gebiete; es erfordert demgemäfs eine Gegenüberstellung von
Völkern oder Völkergruppen mit ausgeprägt distinkter Kultur-
höhe, gleichviel ob diese Massen simultane oder successive
Erscheinungen bilden. Aus rein praktischen Gründen wollen
wir uns im folgenden für das Erstere entscheiden, nämlich
die Zustände der heutigen Naturvölker, wie Indianer, Neger,
Polynesier u. s. w., mit denjenigen der modernen europäischen
Völker, unter gelegentlicher Berücksichtigung ihrer Verhält-
nisse auch während der letzten voraufgegangenen Jahrhunderte
und der wesensverwandten alten griechischen Kultur, ver-
gleichen. Die Zustände der heutigen Naturvölker bei der
Betrachtung an die Stelle derjenigen der alten Germanen und
der ihnen verwandten Stämme treten zu lassen, die übrigens
in den wesentlichen, hier in Betracht kommenden Punkten
mit ihnen als gleich vorauszusetzen kaum einem berechtigten
Einwand unterliegen dürfte, empfiehlt sich deswegen, weil sie
uns nach ihrer äufseren wie nach ihrer inneren Seite besser
bekannt sind. Vor der Gefahr der Vermengung des Wesent-
lichen und Unwesentlichen sind wir bei dem einen Gliede
des Vergleiches allerdings nicht völlig sicher; dazu enthalten
die modernen Verhältnisse der westeuropäischen Völker be-
sonders auf dem wirtschaftlichen Gebiet zu viel Einzigartiges,
zu dem wir in dem übrigen Bereich der Vollkultur kein
Seitenstück finden. Allein einerseits scheint die Entwicklung
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 457
9
dieser ganzen Zustände mit einer gewissen psychologischen
Notwendigkeit aus dem Wesen der Vollkultur hervorzugehen,
andererseits besitzen gerade unsere modernen Zustände in
praktischer Beziehung eine so überragende Wichtigkeit, dafs
es, selbst wenn ihr singulärer oder exceptioneller Charakter
festgestellt wäre, von hohem Interesse für uns sein würde,
sie zum Gegenstande eines Vergleiches mit den sittlichen
Verhältnissen der Naturvölker zu machen.
In der Fragestellung weichen wir von der vorigen
Arbeit insofern ab, als wir nicht blofs nach der Thatsache
des sittlichen Fortschritts fragen, sondern auch nach dem qua-
litativen Charakter, nach dem inneren Werte oder Gehalte
eines solchen etwaigen Fortschritts. Auch in dieser Beziehung
sind die meisten älteren Betrachtungen mit einem erheblichen
Ubelstande behaftet, welcher sich aus ihrem Mangel einer
ausreichenden Analyse des äufserst komplexen Thatsachen-
bestandes ergiebt. Allerdings stellen sich einer solchen Zer-
gliederung erhebliche und fast unüberwindliche Schwierigkeiten
entgegen, welche teils in der Sache liegen, teils sich auf die
sprachliche Unterscheidung und Verständigung beziehen.
Zunächst freilich ergiebt sich ohne weiteres, dafs man bei
einer Betrachtung des sittlichen Lebens eines Volkes zu
unterscheiden hat zwischen den sittlichen Normen, wie sie
sich teils in dem öffentlichen Bewufstsein und den ihm ent-
sprechenden socialen Normen, teils in dem Gewissen des Ein-
zelnen bekunden, als dem theoretischen Teile der Sittlichkeit
eines Volkes und ihrem praktischen Teile, bei dem wir wieder
die äufsere und innere Seite der sittlichen Handlungen, ihre
Wirkungen und ihre Motive, oder, wie wir in der Folge sagen
wollen, die sittlichen Leistungen und die sittlichen Handlungen
zu trennen haben. In dieser Beziehung folgt aus dem Wesen
des ganzen Kulturmechanismus unmittelbar der Satz, dafs der
Fortschritt der sittlichen Normen gröfser als derjenige der
sittlichen Leistungen und dieser wieder gröfser als derjenige
der sittlichen Handlungen ist, während es mit dem inneren
Werte dieser drei Gruppen von Thatsachen sich offenbar
458 A. Vierkandt:
umgekehrt verhält. Auf grofse Schwierigkeiten hingegen
stofsen wir bei dem Versuche der Klassifikation und Ab-
grenzung sowohl der sittlichen Motive wie der sittlichen
Handlungen. Hinsichtlich der ersteren bereiten alle ge-
wohnheitsmäfsigen Handlungen, soweit sie für unseren Zweck
in Betracht kommen, Schwierigkeiten, d. h. alle diejenigen,
bei denen die Macht der Gewohnheit als ein innerer Zwang
wirkt, während gleichzeitig die begleitenden Gefühle vermöge
des Prozesses der Mechanisation sich auf ein Minimum redu-
ziert haben oder völlig geschwunden sind. Ein schematisches
sich Bewegen in festen Geleisen ist die notwendige und hin-
reichende Bedingung für diesen Prozefs, und demgemäfs gehört
das Tagewerk der meisten Menschen hierher. Soweit solche
Leistungen überhaupt direkt oder irgendwie indirekt sittliche
Werte erzeugen helfen, können ihre ursprünglichen Motive
sowohl sittlicher wie aufsersittlicher Natur sein, können sie
sowohl dem Bereich des Mitgeflihls, des Selbstgefühls, der Liebe
zur Sache oder irgendwelcher imperativer Vorstellungen an-
gehören als in der Eitelkeit oder der Eücksicht auf sociale
oder wirtschaftliche Vorteile bestehen. In ihrer definitiven
Gestalt aber müssen alle diese Erscheinungen offenbar einem
Grenzgebiet, einer sittlichen Indifferenzzone überwiesen werden.
Auf eine ähnliche Zone stofsen wir bei der Begrenzung der
sittlichen Handlungen. Nach ihrem Ziel können wir alle
menschlichen, noch nicht mechanisierten Handlungen in drei
Klassen einteilen, je nachdem dieses sich auf das eigene Ich
oder ein fremdes Ich bezieht oder in einem objektiven, un-
persönlichen Sachverhalt als solchem besteht. Die mittlere
Klasse fällt offenbar restlos unter den Begriff der altruistischen
Handlungen. Bei der ersten aber hat man jedenfalls zwischen
niederen und höheren oder zwischen egoistischen oder in-
differenten und perfektionistischen Bestrebungen zu unter-
scheiden, während der Versuch einer genauen Abgrenzung
beider als aussichtslos erscheint. Bestrebungen objektiven
Inhaltes aber können entweder mehr imperativen Motiven
entspringen, wie dem Ehrgefühl und der Pflichttreue, insbe-
\
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 459
sondere der Berufstreue, oder es kann die Freude an dem
individuellen Sachverhalt der Schöpfer der einzelnen Leistung
sein. Im letzteren Falle wird man geneigt sein, die Wert-
beurteilung nach dem objektiven Werte der Leistung zu be-
messen, also z. B. bei Leistungen von künstlerischem oder
wissenschaftlichem Gehalte oder bei solchen von socialer Be-
deutung jene impulsiven Eegungen für sittlich wertvoll zu
erklären, in den anderen Fällen dagegen sie ebenfalls einer
Indifferenzzone zu überweisen. Immerhin geht auch in dem
letzten Falle, z. B. bei der Bemühung eines Handwerkers um
eine sorgfaltige Leistung oder bei der Pflege, die etwa ein
Eentner seinem Garten erweist, von solchen objektiven Hand-
lungen eine wertvolle sittliche Rückwirkung aus, indem einer-
seits die Fähigkeit des objektiven Interesses überhaupt eine
Vorbedingung für viele sittliche Handlungen, namentlich solche
altruistischen Inhalts bildet, andererseits jede Arbeit eine
Schule der Selbstüberwindung und somit ein Erziehungsmittel ist.
Aber auch innerhalb der so unterschiedenen einzelnen
Provinzen des sittlichen Lebens verlangen die Erscheinungen
noch eine weitere Zergliederung; denn eine solche gewährt
eine bessere Einsicht als die einfache Bejahung oder Ver-
neinung der Frage nach dem Fortschritt, weil wir so vielfach
im einzelnen beide Erscheinungen nebeneinander finden. Nur
eine derartige Zergliederung der Erscheinungen sowohl in
der einen wie in der anderen Hinsicht eröfl&iet uns ein wirk-
liches Verständnis jener pessimistischen Beurteilung der
menschlichen Kultur, welche uns schon im Aufklärungszeit-
alter als eine so nachdrückliche Unterströmung entgegentritt.
Schon ihre Hartnäckigkeit und die Thatsache, dafs ihre Ver-
treter teilweise mitten im Leben stehende Männer sind, macht
es wahrscheinlich, dafs ihr ein gewisser Wahrheitsgehalt nicht
abgeht. In der That ist ein solcher in zweierlei Art bei ihr
vorhanden. Erstens finden wir, wie erwähnt, im einzelnen
neben Fortschritten häufig Rückschritte von demselben, ja
stellenweise sogar von gröfserem Belang. Zweitens aber sehen
wir das sittliche Element in dem gesamten Mechanismus der
460 A. Yierkandt:
Eultur keineswegs eine dominierende nnd fuhrende Eolle
spielen, und demgemäfs erscheint der sittliche Fortschritt
auch weniger als Ursache denn als eine unbeabsichtigte und
darum gelegentlich teilweise oder ganz ausbleibende Folge
des Kulturfortschritts.
Dieses vorausgeschickt, wenden wir uns unserem eigent-
lichen Thema zu. Bei einem Vergleich der Naturvölker mit
der modernen Kultur glauben wir im grofsen und ganzen die
Thatsache des sittlichen Fortschritts nach den drei Seiten
der Normen, der Leistungen und der Handlungen als festge-
stellt voraussetzen zu dürfen. Unsere Bemühung gut dem-
gemäfs der Zergliederung dieses Fortschritts und dem Versuch,
ihn nach seinem inneren Wesen und Gehalt gebührend zu
begrenzen. Dabei betrachten wir der Reihe nach die Normen,
die Leistungen und die Handlungen. Voraus schicken wir
angesichts des naheUegenden kausalen Zusammenhanges eine
kurze Erörterung über das Wesen der Kultur und die Art
ihrer Erhaltung und ihres Wachstums.
2. Das Wesen der menschlichen Kultur, d. h. ihre
sowohl an sich wie insbesondere auch für die vorliegende
Betrachtung wichtigste Eigenschaft, erblicken wir in der
Existenz fester Formen, welche alles menschliche Geschehen
und Handeln im Gegensatze zu dem rein impulsiven Verlaufe
der aufserhalb des Bereiches der Kulturformen sich abspielen-
den psychischen und körperlichen Vorgänge von aufsen her
beeinflussen und ihm eine feste Fassung aufiiötigen. Für das
Bereich der Sprache, der Sitte und des Rechts bedarf die
Existenz und Bedeutung solcher fester Formen keines Wortes.
Aber auch für die Erscheinungen des wirtschaftlichen, reli-
giösen, politischen und geistigen Lebens zeigt eine einfache
Besinnung sowie die Beobachtung des täglichen Lebens, dafs
alle über die Existenz des einzelnen Individuums hinaus-
greifenden und zu dem Range einer dauernden Kulturleistung
sich erhebenden Vorgänge feste Formen schaffen, innerhalb
deren sich der Lauf der Dinge immer wieder in derselben
Weise abspielt. Daraus ergiebt sich sofort als eine der
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 461
wichtigsten Eigenschaften, welche die menschliche Kultur in
kausaler Beziehung dem einzelnen Individuum gegenüber her
sitzt, ihre Objektivität: dem Einzelnen mit seinen Bedürf-
nissen, Wünschen und individuellen Anlagen tritt die Kultur
als eine Reihe fest gegebener Zustände gegenüber, welche auf
ihn überall zwingende Einflüsse ausübt und ihn demgemäfs
viel stärker kausal bestimmt, als er seinerseits im allgemeinen
auf sie zurückzuwirken vermag. Das ganze tägliche Thun
und Lassen des Individuums z. B. wird durch die Sitte und
die öffentliche Meinung, sein wirtschaftliches Leben und seine
Erwerbsthätigkeit durch die auf diesen Gebieten ausgebildeten
Überlieferungen und festen Formen, seine Anschauungen über
das Leben, das Dasein, die Ursachen der Dinge u. s. w.
durch feststehende religiöse, mythologische, philosophische
und wissenschaftliche Ideen seiner Zeit bestimmt. Gleich
wie das physische Leben eines jeden Organismus durch seine
Umgebung in der stärksten Weise beeinfluTst wird, so stellt
die Gesamtheit aller Einrichtungen der Kultur eine Eeihe von
Beizen dar, welche neben der besonderen Anlage jedes Ein-
zelnen den Verlauf seines Lebens bestimmen. Diese Eeize
treten als eine zweite Art der Kausalität neben diejenigen,
welche die umgebende physische Natur auch bei den Menschen
noch ausübt; während diese aber bei den Tieren allein oder
bei den gesellig lebenden fast ausschliefslich deren Lebenslauf
bestimmt, tritt hier ihre Bedeutung mit der wachsenden Kultur
gegenüber deijenigen der socialen Kausalität immer mehr
zurück. Das natürliche Milieu verliert an Ba^um fortwährend
zu Gunsten des socialen. Auf wirtschaftlichem Gebiete z. B.
wirken bei den Naturvölkern der Ernährung ungünstige Natur-
einflüsse, welche etwa die Ausbeute der Jagd vermindern oder
den Ertrag der Bodenbestellung beeinträchtigen, angesichts der
hier herrschenden Naturalwirtschaft noch auf jeden Einzelnen
direkt ein, während bei uns von solchen Ereignissen, ganz
abgesehen von der Verminderung ihrer Tragweite, wie sie
sich aus den vielen Vorbeugungsmafsregeln einer höheren
Kultur ergiebt, nur noch einzelne Berufsklassen direkt, alle
462 A. Vierkandt:
Übrigen aber nur indirekt vennöge der socialen Beziehungen,
welche sie mit jenen verknüpfen, also nur durch Vermittelung
des socialen Milieus betroffen werden. Freilich wird die gesamte
Abhängigkeit des Menschen von der Natur dadurch nicht
verringert, sondern eher erhöht angesichts der gröfseren
Enei^e, Besonnenheit und Planmäfsigkeit, mit der die Natur-
kräfte den menschlichen Interessen dienstbar gemacht werden.
Allein die Abhängigkeit wird besonders infolge der gesteigerten
Arbeitsteilung aus einer direkten immer mehr zu einer in-
direkten, bei der zwischen dem Naturreiz als dem Anfangs*
und der menschlichen Handlung als dem Endglied der kausalen
Kette eine Reihe von Handlungen und Überlegungen teils
derselben, teils anderer Individuen eingeschaltet sind. Die
physische Kausalität wird m. a. W. immer mehr zu Gunsten
der socialen zurückgedrängt.
3. Wir knüpfen hieran die Frage nach dem Mechanismus
der Erhaltung und Mehrung der Kulturgüter. Die
populäre Auffassung, welche die Kultur im allgemeinen mit
der Summe der sittlichen Lebensgüter identifiziert, erblickt,
indem sie eine Adäquatheit von Wirkung und Ursache vor-
aussetzt, die Gründe für die Erhaltung und das Wachstum
der Kultur vorwiegend in Vorgängen sittlicher Natur. Auch
die Aufklärung teilte in der Hauptsache diesen Standpunkt,
obschon es ihr bekanntlich an einer ganz entgegengesetzten,
pessimistischen Nebenströmung nicht fehlte, die sich bis auf
die Gegenwart fortgesetzt hat. Beide Voraussetzungen jenes
Standpunktes erweisen sich indessen als nicht stichhaltig.
Erstens bedeutet durchaus nicht jeder Fortschritt der Kultur
auch einen solchen auf sittlichem Gebiet, und zweitens ist
das geistige Leben bekanntlich überall durch ein quantitatives
wie qualitatives Mifsverhältnis von Ursache und Wirkung
charakterisiert. Und in der That wird auch die pessimistische
Auffassung dem Sachverhalte viel mehr gerecht. Wir erörtern
das zunächst für die Erscheinungen der Mehrung und Wandelung
der Kulturgüter. Dabei ist zwischen solchen von mehr socialem
Ursprung, wie Sitte und Sprache, und solchen von mehr
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 463
individuellem Ursprung, wie den technischen und politischen
Vervollkommnungen, zu unterscheiden. Die Entstehung der
letzteren ist der Beobachtung und dem Verständnis leichter
zugänglich, obschon sie bis jetzt keine einheitliche Behandlung
erfahren hat; diejenige der ersteren hat man sich meist be-
gnügt auf die Thätigkeit eines Volksgeistes zurückzufahren,
während zu einer Analyse ihres Mechanismus bis jetzt nur
vereinzelte Anläufe vorliegen. Eine solche ergiebt natürlich,
dafs erstens der Begriff des Volksgeistes lediglich im aktuellen
Sinne zu verstehen ist, und dafs zweitens diejenigen Bewufst-
seinsvorgänge des Einzelnen, in Gestalt deren sich seine
Leistungen vollziehen, von ihren übrigen psychischen Prozessen,
welche lediglich individuellen Interessen dienen und lediglich
individuelle Tragweite besitzen, sich nur unter dem Gesichts-
punkt ihrer Wirkung, nicht unter dem ihrer Ursache, unter-
scheiden. Ob angesichts dieser Thatsache die Beibehaltung
des Sammelbegriffs „Volksgeist" sich überhaupt noch empfiehlt,
kann zweifelhaft erscheinen. Es liegt nämlich die Gefahr
nahe, dafs man die durch ihn ausgedrückte Einheitlichkeit
der Bewufstseinsvorgänge verschiedener Individuen im Süme
einer altruistischen, socialen Gesinnung versteht, dafs man
m. a. W. zwei Arten der Übereinstimmung des Willens ver-
schiedener Individuen verwechselt: eine solche, bei der es
sich um eine Reihe egoistischer, nur zufällig auf dasselbe
äufsere Ziel gerichteter Bestrebungen handelt (wie z. B. das
Bestreben einer Anzahl Kaufleute, dasselbe Geschäft abzu-
schliefsen), und eine solche, bei der es sich um die solidarische
Verfolgung desselben Zieles handelt (wie z. B. das Bestreben
eines Regiments in einer Schlacht, eine bestimmte Position
zu erobern). Für die Leistungen des Volksgeistes kommt
natürlich nur die erstere Art von Übereinstimmung in Betracht.
Bei der Schaffung oder Umwandlung eines Kulturgutes durch
ihn kann man zwei Stadien unterscheiden: die eigentliche
Neuerung, die durch einzelne — ein oder mehrere oder viele
Individuen — vollzogen wird, und ihre Aneignung durch die
Gesamtheit auf dem Wege der Nachahmung. Der erstere
464 -^- Vicrkandt:
Schritt beruht fast immer entweder auf halb unbewufsten
Zufälligkeiten — so meistens bei der Sprache — oder, wie
2. B. bei dem Brechen mit einer lästig gewordenen Sitte oder
bei der durch die Eitelkeit veranlafsten NachäflFung gewisser
Äufserlichkeiten einer fremden, überlegenen Kultur, auf aus-
geprägt egoistischen Regungen. Bei dem zweiten Schritt
über liegt das Hauptmotiv, abgesehen von der Lust am Neuen
und der Befriedigung des allgemeinen Thätigkeitstriebes, in
den Regungen des Selbstgefühles und der Eitelkeit und der
daraus hervorgehenden Rücksicht auf die öflfentliche Meinung:
sobald nämlich eine Neuerung erst bei einigen social ange^»
sehenen Personen Fufs gefafst hat, erhöht jeder, wie das
Beispiel der Mode am besten lehrt, sein Ansehen durch ihre
Aneignung.
Den Mechanismus der Erhaltung der Kultur macht
man sich am besten durch einen Blick auf die Aneignung
der bestehenden Kultur durch die aufwachsenden Grenerationen
klar. Die dabei mafsgebenden Thatsachen und Motive sprechen
übrigens auch bei der eben betrachteten Neuschaffimg von
Kulturgütern vielfach mit. Zu ihnen zählt in erster Linie
einerseits das Geselligkeits- und Mitteilungsbedürfris, anderer*
seits der allgemeine Thätigkeitstrieb, die Freude zunächst
am einfachen Thun, sodann am Können und vorzüglich am
Besserkönnen, femer die Bedeutung der Übung, welche der
durch sie bewirkten Erleichterung und dem Mangel der
menschlichen Natur an Spontaneität, d. h. an Fähigkeit zu
eigentlich schöpferischen Leistungen entspringt, und welche
daher dem Einzelnen die gewohnten Geleise vor neuen Bahnen
bevorzugen läfst, endlich das Selbstgefühl in edlerer wie in
niedrerer Form, welches sich in der Freude an jedem Können,
insbesondere aber in der Befriedigung über den Beifall der
Gesamtheit bethätigt, wie er positiv oder negativ durch jede
ihren Erwartungen und Gewohnheiten entsprechende, in den
ausgeschliffenen Geleisen sich bewegende Leistung erworben
wird. Eine wichtige Rolle spielt endlich ein allgemeiner Trieb
der Unterordnung, der Einfügung in eine bestehende Ordnung,
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 465
wie er sich z. B. schon früh in den Spielen vorzüglich der
männlichen Jugend, femer in der inneren Anerkennung und
Billigung jeder verdienten Strafe von selten der Jugend wie
tiefer stehender Stämme oder in jedem Vereinsleben bekundet.
Dazu kommen beim Erwachsenen last not least wirtschaft-
liche Kücksichten, um ihn vor einem Ausbrechen aus den
überkommenen Geleisen zu bewahren.
4. Aus der vorstehenden Betrachtung ziehen wir für
den Gegenstand unserer Erörterung den Schlufs, dafs der
Fortschritt und die Erhaltung der Kultur sich viel weniger
auf sittlichen als auf indifferenten oder egoistischen Motiven
aufbaut. Von den ersteren kommen eher noch Eegungen des
Selbstgefühls als solche des Mitgefühls in Betracht; denn
eine so grofse Rolle auch altruistische Regungen für das
Familienleben und damit für die Erhaltung der menschlichen
Gesellschaft spielen, so baut sich doch die eigentliche Kultur
direkt viel mehr, abgesehen von der rein passiven Annahme
ihrer Formen, teüs auf wirtschaftlichen Reizen, teils auf
Regungen der Eitelkeit und etwa noch einigen edleren Formen
des Selbstgefühls, wie der Freude am Können, auf. Vorzüg-
lich auf diese Thatsache des geringen Anteils sittlicher Ele-
mente an dem Fortschritte der Kultur stützt sich die pessi-
mistische Auffassung von dem sittlichen Fortschritte. Vermögen
wir ihr auch schon deswegen nicht beizustimmen, weil sie
jene bereits mehrfach erwähnte Inadäquatheit von Ursache
und Wirkung im geistigen Leben aufser acht läfst, so mufs
uns doch die hier festgestellte Thatsache nachdenklich stimmen.
Erscheint uns auch ein sittlicher Fortschritt unbestreitbar,
so darf er doch nur als ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt
der Kulturentwicklung aufgefafst werden — ein Umstand, der
eine direkte empirische Bestätigung in der bekannten Er-
scheinung erhält, dafs in gewissen Zeitaltem ein Sinken der
Sittlichkeit mit einem Steigen oder wenigstens Beharren des
Kultumiveaus Hand in Hand geht. Die Lockerheit des Zu-
sammenhanges zwischen sittlichem und kulturellem Fortschritt
mufs uns von vornherein die in der That der Wirklichkeit
VierteljahrsBclirift f. wissenschafÜ. Philosophie. XXIII. 4. 31
466 A. Vierkandt:
entsprechende Vermutung nahelegen, dafs der sittliche Fort-
schritt kein durchgängiger auf allen Gebieten zu sein braucht,
dafs er einen Stillstand, ja einen Rückgang auf einzelnen
Gebieten und zwar nicht blofs für einzelne vorübergehende
Perioden, sondern ganz allgemein nicht ausschliefst.
Zur Aufdeckung jenes indirekten Zusammenhanges
zwischen sittlichem und kulturellem Fortschritt gehen wir
von den Wirkungen aus, welche die Kultur auf das ihren
Einflüssen unterworfene Einzelwesen ausübt. Vorher möchten
wir jedoch die Hochgradigkeit der Abhängigkeit betonen,
in der sich das Individuum seinem kulturellen Milieu gegen-
über befindet. Die Handlungen eines jeden Wesens werden
bekanntlich einerseits durch seine eigene Natur, andererseits
durch diejenige seiner Umgebung bestimmt. Hinsichtlich des
ersteren Punktes befinden wir uns für den vorliegenden Fall
leider in einer beklagenswerten Unkenntnis. Denn die Frage
der Rassenbegabung gehört zu den vielen ungelösten, vielleicht
zu den hofl&iungslosen Problemen einer Völkerpsychologie.
Nehmen wir sie aber selbst als im bejahenden Sinne ent-
schieden an, so sehen wir doch eng verwandte Völker, wie
z. B. verschiedene Völker der indogermanischen Gruppe, auf
den verschiedensten Kulturstufen sich befinden. Eine über-
legene Gesittung setzt also nicht mit Notwendigkeit ein von
Haus aus für sie empfänglicheres Substrat voraus. Könnte
sie aber nicht nachträglich das Wesen ihrer Träger, d. h.
deren innere Beanlagung modifizieren? Die Erfahrung, dafs
Angehörige tiefer stehender Stämme, wenn sie im jugendlichen
Alter den Kreisen der europäischen Kultur überwiesen wurden,
auf die Dauer ihre inferiore Natur nicht zu verleugnen ver-
mochten, kann, da es sich hier niemals um eine Versetzung
unmittelbar nach der Geburt unter Ausschliefsung aller er-
wachsenen Elemente der fremden Rasse handelte, für die
Beantwortung dieser Frage nicht entscheidend sein. Die
Möglichkeit, dafs sie bei genügender Sachkenntnis einmal im
verneinenden Sinne beantwortet werden kann, ergiebt sich
aber aus dem der menschlichen Natur eigenen Mangel an
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 467
Spontaneität, d. h. an der Fälligkeit, selbständig von innen
herans zu handeln und zu urteilen. Die tägliche Erfahrung
lehrt uns ja überall, dafs selbst ein einfacher sinnlicher Reiz
im allgemeinen viel stärker als die verwickeltsten Überlegungen
und die besten theoretischen Gründe den Menschen bestimmen,
und dafs eine jede Berufsthätigkeit, die den Charakter einer
Eeihe von Reaktionen besitzt, welche durch äufsere Reize
erzwungen werden, dem Menschen viel leichter fallt als eine
solche, welche, wie z. B. eine rein wissenschaftliche oder
künstlerische Thätigkeit, ohne feste äufsere Formen und äufseren
Zwang seine Leistungen lediglich von spontanen Regungen
abhängig macht. Dieser Mangel an Spontaneität lälst es uns
als möglich erscheinen, dafs die Verschiedenheiten des durch-
schnittlichen menschlichen Typus in den verschiedenen Kultur-
kreisen lediglich auf Rechnung der Verschiedenheit des Milieus
zu setzen sind, dafs aber die durchschnittliche angeborene
Veranlagung und das innere Wesen des Einzelnen auf allen
Kulturstufen unverändert bleibt, dafs also m. a. W. ein neu-
geborenes Kind sich bei sofortiger Verpflanzung einem fremden
Kulturkreise widerstandslos einfügen würde. Diese Vorstellung
ist natürlich nur eine Hypothese ; allein dafs die uns bekannten
Thatsachen sie überhaupt gestatten, wirft ein bezeichnendes
Licht auf die Dinge. Im besonderen ist es demgemäfs auch
eine hypothetisch zulässige Vorstellung, dafs die eigentliche
sittliche Substanz des Menschen von dem Wachstum der
Kultur und dem Fortschritt der Sittlichkeit unberührt bleibt,
d. h. dafs die sittliche Überlegenheit des durchschnittlichen
modernen Westeuropäers gegenüber den alten Germanen
lediglich auf der Verschiedenheit der einwirkenden kulturellen
Reize beruht. Die Einwendungen, welche man gegen die
Lehre vom sittlichen Fortschritt erhoben hat, haben teilweise
diesen Punkt nachdrücklich betont, allein ganz abgesehen
davon, dafs es sich bei ihm nur um eine Hypothese handelt,
schliefst eine solche Konstanz der eigentlichen sittlichen
Substanz doch einen Fortschritt der Leistungen nicht aus.
Immerhin wird aber auch diese Erwägung uns veranlassen,
31*
468 A. Vierkandt:
unsere Erwartungen über den sittKchen Fortschritt nicht zu
hoch zu spannen.
6. Die Wirkungen des kulturellen Milieus auf den
Einzelnen liegen teils auf dem Gebiet des Intellektes, teils
auf demjenigen des Charakters und Gefühls. In ersterer
Hinsicht bedarf es keines Wortes, dafs die Intelligenz sowohl
substantiell wie aktuell mit der Kultur gewachsen ist: ent-
sprechend der Zurückdrängung der mythologischen durch die
wissenschaftliche Denkweise besitzt der moderne Mensch
verglichen mit dem primitiven sowohl richtigere Vorstellungen
und reichere Kenntnisse als eine entwickeltere Urteilskraft.
Freilich darf man diesen Vorzug nicht überschätzen: die
wissenschaftliche Denkweise herrscht selbst innerhalb der
Wissenschaft nicht uneingeschränkt, aufserhalb ihrer aber
wird sie besonders im Bereich der Fragen des geistigen,
socialen und politischen Lebens durch eine laxere, gleichsam
vorwissenschaftliche Denkweise ersetzt, welche zwischen der
wissenschaftlichen und mythologischen etwa die Mitte erhält.
Im Bereich des Charakters und Gefühls drängen sich
uns vor allem zwei Wirkungen der entwickelteren Kultur auf:
die Erhöhung der Selbstbeherrschung und diejenige der
Objektivität im Denken und Handeln. Das Verständnis des
ersteren Momentes erschliefst uns am leichtesten ein Blick
auf den bekannten Schiffbruch, den so viele tiefer stehenden
Stämme bei der Berührung mit der europäischen Kultur er-
fahren haben: nicht nur die Entwurzelung der religiösen
Vorsteliungskreise und die Zersetzung der überlieferten Sitten
mit ihrer zähmenden Gewalt ist daran schuld, sondern ebenso
die geringere Entwicklung der Willenskraft, welche den neuen
Versuchungen und erhöhten Anforderungen nicht gewachsen
ist. Alle Kultur bedeutet nämlich an Stelle der unmittelbaren
Befriedigung der auftauchenden Bedürfiiisse, wie sie beim Tiere
die Regel ist, eine mittelbare BeMedigung derselben, d. h.
eine solche, bei der zwischen dem Anfangs- und Endglied
der Kette eine Reihe anderer Glieder teils in Gestalt natür-
licher oder technischer Prozesse, teils in Gestalt der Benutzung
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 469
Ton Werkzeugen lebloser oder belebter Art eingesclialtet wird.
Vermöge des mit dem Kultnrfortschritt verknüpiPben Strebens
nach einer Vervollkommnung der Befriedigung der Bedürfiiisse
wird mit steigender Kultur der räumliche und zeitliche Betrag
jener Mittelglieder oder der zeitliche und räumliche Abstand
zwischen dem ersten und letzten Glied jener Reihe im Durch-
schnitt erhöht, wie es uns z. B. ein Vergleich der nur für
den Nahkampf geeigneten Waffen primitiver Stämme mit den
modernen Geschützen und Torpedos zeigt. Eine Vergröfserung
jener Distanz bedeutet aber auch eine Steigerung des Dualis-
mus von Mittel und Zweck, welcher daher das menschliche
Leben bei uns viel stärker als bei den Naturvölkern beherrscht.
Jeder solcher Dualismus bedeutet aber wieder einen Zwang
zur Überwindung von Unlustgefühlen und eine Verminderung
der sinnlichen Behaglichkeit des Lebens, womit beiläufig die
Thatsache zusammenhängt, dafs die durchschnittliche Lebens-
stimmung bei den Naturvölkern so viel heiterer ist als bei uns.
Im gleichen Sinne wirken auch die die Lebensführung regelnden
äufseren Normen: mit wachsender Kultur werden sie, wie
z. B. das Polizeigebot und geschriebene Recht gegenüber dem
Gewohnheitsrecht und dieses gegenüber der Sitte zeigt, immer
objektiver, treten immer selbständiger und anspruchsvoller
dem Individuum gegenüber, von dem sie daher ein steigendes
Mafs von Selbstbeherrschung verlangen. Die Fähigkeit das
sinnliche Begehren zurückzudrängen und sich zu überwinden
mufs daher auf höheren Kulturstufen viel stärker entwickelt
sein. Unsere Gewehre z. B. vermag der Neger gar nicht als
Femwaffen zu verwenden, weil es ihm dazu an der nötigen
Ruhe und Besonnenheit fehlt, und an der regelrechten Ver-
wendung unserer Geschütze hindert ihn gelegentlich schon die
unüberwindliche Scheu vor ihrem Rückstofs.
Das Zunehmen der Objektivität im Denken und
Handeln mit dem Wachsen der Kultur beruht auf denselben
Faktoren. Einerseits drängen die gehäuften äufseren Normen
sich dem Bewufstsein wegen ihrer Wichtigkeit auf und erfüllen
es mit Bildern einer objektiven Ordnung. Andererseits ver-
470 A. Vierkandt:
langt jeder Vorgang oder Gegenstand, der ein Mittel zur
Befriedigung menschlicher Bedürfiiisse bildet, eine mehr oder
minder selbständige Betrachtung und Behandlung. Je kom-
plizierter dieses Reich der Mittel wird, desto gröfser sind
die Ansprüche, die es an den Intellekt und den Willen stellt.
Bei den Naturvölkern finden wir eine solche ObjektiAdtät in.
stärkerem Mafse nur auf zwei Gebieten ausgebildet: erstens
vorzüglich bei Jägerstämmen gegenüber den Tieren, welche
ob ihrer hervorragenden Bedeutung für ihren Nahrungserwerb,
wie teilweise auch für ihre ganze Lebensführung, ein sehr
starkes Interesse erregen, wie es in den mythologischen
Leistungen dieser Stämme objektiviert ist, und zweitens in
der künstlerischen Verzierung der Geräte des tägUchen Lebens,
der Schmuckgegenstände und des Kultusapparates — eine
Verzierung, die angesichts der Sprödigkeit des Materials und
der geringen Entwicklung technischer Hilfsmittel oft erst ein
Ergebnis jahrelanger mühevoller Arbeit ist und mit Recht oft
das Erstaunen der Reisenden erregt hat. Auf der Stufe unserer
Kultur kommt, ganz abgesehen von der Entfaltung der Wissen-
schaft und der höheren Entwicklung der Kunst, vorzüglich
die veränderte Gestaltung des Erwerbs- und Berufslebens als
ein die Objektivität vermehrender Umstand in Betracht. Schon
das einfache Erwerbsleben nötigt, zumal wo infolge des Wett-
bewerbes die Anforderungen erhöht sind, zu einer aufser-
ordentKchen Sorgfalt, welche ohne eine starke Objektivität
wenigstens auf intellektuellem Gebiete nicht möglich ist, häufig
aber auch hier schon wohlthätige Rückwirkungen auf das Gemüt
und den Charakter ausübt. Um wieviel ist z. B. in dieser Be-
ziehung unser Handwerker dem Angehörigen der Naturvölker
überlegen, welcher alle Gewerbe in einer Person oder vielmehr in
einer Familie vereinigt und lediglich für den Bedarf seines eigenen
Haushaltes produziert. Noch günstiger aber wirken die höheren
Berufearten, weil bei ihnen zu dem Nahrungserwerbe als weiteres
Motiv die Liebe zur Sache selbst hinzutritt und die Objektivität
sich hier demgemäfs im Bereiche des Fühlens und Wollens
fast ebenso stark wie in demjenigen der Intelligenz entfaltet.
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 471
6. Wir wenden uns jetzt demjenigen Faktor des sitt-
lichen Lebens zu, der durch die sittlichen Normen der
Gesamtheit repräsentiert wird. Sie stellen sich uns teils als
reine Gebote, teils als eine Verkörperung solcher in socialen
Institutionen, teils als eine Verbindung beider dar: die öffent-
liche Meinung, Sitte und Kecht, die religiösen Gebote und
so viele Einrichtungen des Staates, der Kirche und der Ge-
sellschaft, die der öffentlichen Wohlfahrt und geistigen Inter-
essen dienen, gehören mehr oder weniger hierher. Für die
sittliche Beurteilung eines Volkes fallen sie teüs unmittelbar
in die Wagschale, indem sie einerseits die sittlichen An-
schauungen des Volksgeistes repräsentieren, andererseits ein
System objektiver sittlicher Leistungen darstellen, teils beein-
flussen sie mittelbar das Verhalten des Einzelnen auf das stärkste,
indem sie auf dem Wege der Erziehung und Belehrung und
durch das Beispiel auf tausend Wegen in die Seele eindringen
und sich in ihr so festsetzen, dafs sie häufig alle Spuren ihres
Ursprunges hinter sich verlöschen und dem Theologen und
Philosophen immer wieder als Gebote des Gewissens Anlafs
zum Staunen geben konnten. Dafs die Fülle und der Reichtum
dieser Normen mit wachsender Kultur steigt, wird kaum be-
stritten werden. Verschieden von diesem äufseren Fortschritte
ist die Frage nach seiner inneren Bedeutung. Zu ihrer Ent-
scheidung müssen wir einerseits den Ursprung dieser Normen
und Institutionen, andererseits die Art ihrer Bethätigung
näher betrachten.
Ihren Ursprung hat man mit Vorliebe aus ihrem socialen
Nutzen abzuleiten gesucht. Selbst wenn man den Begriff des
Nutzens dabei im weiteren Sinne, nämUch nicht blofs im
objektiven, sondern auch im subjektiven Sinne versteht, also
auch z. B. den imaginären Wert darin einbegreift, welchen
die Befriedigung mythologisch begründeter Bedürfnisse dem
gläubigen Gemüte gewährt, so lassen sich mit dieser Auf-
fassung nicht alle Erscheinungen in Übereinstimmung bringen.
Bei einem Teile von ihnen allerdings ist ein aufsersittlicher
Ursprung aufser Zweifel. Ihr späterer sittlicher Charakter
472 A. Vierkandt:
erklärt sich ungezwungen aus jener mehrfach betonten häufigen
Heterogenie von Ursache und Wirkung im socialen Leben.
Insbesondere haben mythologische BedürMsse manche Er-
scheinungen von sittHchem Charakter ins Leben gerufen, wie
z. B. die Tugend der Gastfreundschaft bei den Naturvölkern
hierher zu rechnen ist. Bei vielen von ihnen aber haben
schon von Anfang sittliche Motive mitgewirkt. Dahin gehören
so viele humane Einrichtungen der Gegenwart, dahin müssen
auch alle religiösen Gebote sittlichen Inhalts gerechnet werden,
da ja in den Augen des Gläubigen den Göttern nur solche
Handlungen für wertvoll gelten können, die ihm selbst bereits
als solche erscheinen. Etwas ähnliches gilt wahrscheinlich
auch von der Entwicklung der Strafe, die man schwerlich
ohne Zuhilfenahme sittlicher Regungen aus der Rache abzu-
leiten vermag. In allen diesen Fällen ist jfreilich die Regung
sittlicher Momente allein nicht ausreichend zur Schaffiing
ihnen entsprechender socialer Institutionen. Es mufs vielmehr,
um sie für die Masse annehmbar erscheinen zu lassen, ent-
weder ihre Nützlichkeit, oder es müssen Regungen der Eitel-
keit, der Freude am Können und ähnliche Motive hinzutreten,
um einer sittlichen Bestrebung einzelner besonders veranlagter
Individuen zu einer allgemeinen Tragweite zu verhelfen. Der
Idealismus Einzelner mufs m. a. W. sich erst mit gröberen
Motiven amalgamieren, um eine sociale Wirksamkeit zu er-
langen, um objektive Kulturgüter ins Leben rufen zu können,
eine Thatsache, die ganz der oben betonten Art der Ent-
wicklung der menschlichen Kultur entspricht, die sich weniger
auf edle als auf indifferente oder egoistische Motive stützt.
Innerlich sind also demgemäfs alle jene Institutionen von
sittlichem Inhalte gekennzeichnet durch ein Milsverhältnis
zwischen ihrem hohen objektiven Werte und dem geringeren
subjektiven sittlichen Gehalte, der sie ins Leben rief, während
dieses selbe Milsverhältnis äufserlich betrachtet als einer jener
Fälle erscheint, in denen der Mechanismus der menschlichen
Kultur sich von der äufsersten Zweckmäfsigkeit zeigt, sofern
er sittlichen Kräften von ursprünglich verhältnismäfsig geringer.
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 473
weil auf wenige Individuen beschränkter Wirksamkeit durch
Erregung anderweitiger Interessen zu einer verhältnismäfsig
hohen Tragweite zu verhelfen vermag.
Der sittliche Gehalt, welcher sich in der Wirksamkeit
der in Rede stehenden Normen und Institutionen äufsert, darf
nicht tiberschätzt werden. Erstens kann die objektive Be-
thätigung aller jener sittlichen Institutionen sich ohne eine
entsprechende subjektive Gesinnung vollziehen, sofern alle
diejenigen, welche durch den Mechanismus des gesellschaft-
lichen Lebens an die betreflfende Stelle gestellt werden, schon
aus aufsersittlichen Motiven zu einer entsprechenden Thätig-
keit genötigt werden. Dafs sich mit ihr auf die Dauer ent-
sprechende altruistische oder überhaupt sittliche Regungen
im allgemeinen verbinden, ist sicher unzweifelhaft, ebenso
sicher aber auch, dafs sie in den meisten Fällen nicht das
stärkste Element in der Gesamtheit der dabei in Betracht
kommenden Motive darstellen. Auf den Einzelnen aber tiben
jene sittlichen Normen teils in Gestalt der Forderungen der
Sitte, des Herkommens, der öffentlichen Meinung, der Götter
u. s. w., teils auch in Gestalt der mystischen Stimme des
Gewissens vorzüglich aus zwei Gründen eine beschränkte
Wirksamkeit aus. Erstens sind sie mehr genereller und daher
gröberer Natur und für die Feinheiten des einzelnen kompli-
zierten Falles nicht specialisiert genug, zweitens aber gehen
sie mehr auf das äufsere Verhalten als auf die innere Ge-
sinnung. Ihre Früchte Kegen daher im allgemeinen mehr im
Bereiche der Legalität als in demjenigen der Moralität.
Selbst für die Wirkung des Gewissens müssen wir diese
Behauptung innerhalb gewisser Grenzen aufrecht erhalten.
Hat doch den überzeugten Anhänger der christlichen
Sittenlehre diese in früheren Zeiten nicht verhindert, den
Andersgläubigen zu verbrennen oder in jedem beliebigen
Raubkriege seinen Nächsten ums Leben zu bringen oder
seine farbigen Mitmenschen als Sklaven zu verwenden,
und haben doch alle Gebote der christlichen Mildthätigkeit
selbst in dem hochkirchlichen England die Entfaltung der
474 A.' Vierkandt:
schlimmsten Gräuel des Fabrikarbeiterelends nicht zu hemmen
vermocht.
7. Der Fortschritt der sittlichen Leistungen bleibt
hinter demjenigen der sittlichen Normen erheblich zurück.
Soweit ihre Motive sittlicher Natur sind, werden wir sie unter
dem Begriffe der sittlichen Handlungen im folgenden Abschnitte
erörtern. Hier beschränken wir uns auf die Betrachtung
derjenigen Leistungen, welche aufsersittlichen Motiven ent-
springen. Diese bestehen vorzüglich, abgesehen von der auf
der Grenze stehenden Macht der Gewohnheit, teils in der
Rücksicht auf die öffentliche Meinung und die göttlichen
Gebote, teils in der Freude am Können und Besserkönnen,
teils in dem Hinblick auf den wirtschaftlichen und socialen
Vorteil. An Stärke haben diese Motive mit der wachsenden
Kultur kaum zugenommen, wohl aber an Häufigkeit ihrer
Wirksamkeit. Für das altruistische und das objektive Gebiet,
soweit man das letztere hierher zu rechnen geneigt ist, ergiebt
sich diese Zunahme als eine unmittelbare Folge der mit der
wachsenden Kultur verknüpften Arbeitsteilung und Vermehrung
solcher Berufearten, welche direkt oder indirekt sittliche Güter
fördern. Ähnlich beruhen die Vorzüge der gröfseren Willens-
stärke, der weiter ausholenden Energie, der Besonnenheit,
Fürsorge und Voraussicht, welche der Kulturmensch gegenüber
dem Naturmenschen besitzt, auf einer fortgesetzten Wieder-
holung von Handlungen, die vorzüglich aufsersittlichen Motiven
entspringen. Und diesem indifferenten Ursprünge entsprechen
auch völlig die Wirkungen, die von ihnen ausgehen können,
die sowohl sittlicher wie indifferenter und egoistischer Natur
sein können, und die durch die Vermittelung des Kultur-
mechanismus den gesamten sittlichen Gehalt einer Kultur
nicht blofs fördern, sondern auch schädigen können. Auch der
Erwerb der gesamten Bildung einer Zeit gehört zum grofeen
Teile hierher, vom ersten Schulzwange an bis auf die für viele
stets mafsgebend bleibende Rücksicht auf das Urteil anderer. 0
*) Dafs auch die Abnahme der Verbrechen zum grofsen Teil auf
derartigen auffiersittlichen Motiven beruht, führt sehr schön Tarde aus
in seinem Buch: La criminalit6 compar^e, 3. 6d., p. 180 — 193.
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 475
Da auch eine mögKclist harmonische Ausbildung und Ent-
faltung der gesamten Persönlichkeit zu den sittlichen Lebens-
gutem zählt, deren Erwerb vorzugsweise auf inadäquaten
Ursachen beruht, so haben wir ein Kecht, auch sie hier in
diesem Zusammenhange zu betrachten. Neben den unmittelbar
einleuchtenden Vorzügen einer höheren Kultur stofsen wir
dabei auch hier auf schwere Schatten. Schon an sich bedeutet
ja die Arbeitsteilung, welche bei uns an die Stelle der ge-
schlossenen Hauswirtschaft getreten ist, vermöge der mit ihr
verknüpften Vereinseitigung einen Rückschritt. Doppelt fühlbar
macht sich dieser da, wo der Beruf keine Grelegenheit zur
Entfaltung der ganzen Persönlichkeit oder wenigstens einer
gröfseren Reihe ihrer wesentlichen Eigenschaften bietet, sondern
den Menschen mehr oder weniger zur Maschine erniedrigt.
Verglichen mit dem Neger oder Indianer, der eine ganze
Reihe wichtiger wirtschaftlicher und socialer Thätigkeiten,
wie das Jagen und Fischen, die Herstellung d^r Waffen imd
Geräte für den Nahrungserwerb und die eifrige Beschäftigung
mit den Interessen des ganzen Stammes, in einer Person ver-
einigt, erscheint der moderne Fabrikarbeiter fast als ein patho-
logisches Gebilde, und den Helden der Odyssee gegenüber,
die nicht blofs zu herrschen und zu kämpfen, sondern auch
Schiffe zu bauen und Waffen zu schmieden verstehen, kann
selbst ein hoch gestiegener modemer Mensch sich eines leisen
Gefühls der Wehmut kaum erwehren. Insbesondere sind die
Folgen, welche der entwickelte Industrialismus, wie wir ihn
besonders in England und in seinen Kolonien beobachten
können, auf die gesamte Persönlichkeit ausübt, ein lehrreiches
Beispiel für den an sich indifferenten Charakter des Kultur-
prozesses und die zwiespältigen Wirkungen, die von ihm
ausgehen. Bei den Gebildeten fordert der Industrialismus
wohl die Energie, aber doch nur eine solche, die vorzüglich
die Ellbogen in ihrem eigenen Interesse zu rühren versteht,
er befördert wohl die Intelligenz, aber vorzüglich nur, soweit
es sich unmittelbar um einen naheliegenden praktischen Vor-
teil handelt, während in allen weitergehenden wirtschaftlichen
476. A. VierkaDdt:
Fragen der englischen Industrie eine gewisse Engherzigkeit
und Kurzsichtigkeit vorgeworfen wird. Den Arbeiter aber
vermag, um die Worte eines guten Beobachters zu wieder-
holen, ^) die moderne Maschinentechnik gewifs von der Plump-
heit und Schläfrigkeit des Lasttieres zu erlösen, aber sie
macht auch seinen Geist flach, unpersönlich, farblos, unfähig,
sich tiefer für sich selbst zu interessieren.
8. Bei der Betrachtung der sittlichen Handlungen
unterscheiden wir zwischen altruistischen, perfektionistischen
und objektiven Handlungen. Beginnen wir mit den altru-
istischen, so haben wir es sowohl mit Fortschritten wie mit
Rückschritten zu thun. Die Fortschritte haben wiederum
teils einen negativen, teils einen positiven Charakter. Zu-
nächst fallen auf der Stufe unserer Kultur gewisse Hemmungen
fort, welche teils auf dem emotionalen, teils auf dem in-
tellektuellen Gebiete liegen. In ersterer Beziehung ist die
Thatsache zu beachten, dafs die Naturvölker vielmehr von
starken Affekten heimgesucht werden, vielmehr den Leiden-
schaften unterworfen sind als wir. Insbesondere haben daher
auch alle hierher gehörigen unsittlichen Regungen, wie Hafs,
Rachsucht, Jähzorn und dergl., eine viel stärkere Gewalt über
sie und reifsen sie leicht zu Greuelthaten hin, wie sie uns
noch aus dem Mittelalter so wohl bekannt sind. In intellektu-
eller Hinsicht kommt die Reinigung des modernen Geistes
von einer grofsen Anzahl von Vorurteilen in Betracht, welche
insbesondere auf dem Gebiete des Partei- und Sektenwesens,
des religiösen und politischen Glaubens liegen, und welche
auf tieferen Stufen in einem Gegner auf diesem Gebiete so
leicht zugleich einen Verworfenen erblicken lassen, dem gegen-
über alle Ausbrüche des Fanatismus als gerechtfertigt, ja
vielleicht als sittlich oder religiös geboten erscheinen.
In positiver Weise bethätigt sich der Altruismus bei
uns auf manchen Gebieten stärker sowohl in intensiver wie
in extensiver Hinsicht. In ersterer Beziehung erinnern wir
daran, dafs jede Teilnahme an fremdem Schicksal die Fähigkeit
^) Gustav F. Steffen, Streifzüge durch Grofsbritannien, S. 126.
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 477
voraussetzt, sich in das fremde Wesen hinein zu versetzen,
und demgemäfs von einer gewissen Intelligenz abhängig ist,
mit dem Wachsen der letzteren also auch steigt. Dafs dem-
gemäXs im allgemeinen die Feinfiihligkeit und das Mitgefühl
mit fremdem Wohl und Leid, dafs alles, was Takt, Zartgefühl
und dergl. heifst, bei uns ceteris paribus — wir werden die
Bedeutung dieser Restriktion sogleich kennen lernen — stärker
entwickelt ist, bedarf keines Wortes. Zur Erläuterung des
extensiven Fortschritts des Altruismus gehen wir von der
Existenz einer dualistischen Ethik bei allen Naturvölkern
aus, d. h. von der Thatsache, dafs sie zwischen Freund und
Feind den stärksten Unterschied machen — ein Gegensatz,
der im allgemeinen mit demjenigen von Stammesangehörigen
und Stammesfremden zusammenfällt. Ein Hinweis auf die
Existenz des Krieges auch bei uns noch nötigt uns zu dem
Zugeständnis, dafs diese dualistische Ethik, für die übrigens
auch die Behandlung der Naturvölker durch die Europäer
viele Beläge bietet,^) auch uns noch nicht völlig fremd ge-
worden ist. Allein seit der Aufrichtung des Römerreiches
und der Herrschaft des Christentums sind die Grenzen, inner-
halb deren der Begriff gleichartiger oder befreundeter Wesen
Anwendung findet, aufserordentlich, mindestens über den ganzen
westeuropäischen Völkerkreis, erweitert worden. Demgemäfs
ist die durchschnittliche Summe täglicher altruistischer
Regungen und Handlungen bei einem Individuum bei uns
ceteris paribus viel gröfeer als etwa bei einem Buschmann,
für den vielleicht nur zehn bis zwanzig Personen die Nächsten
im Sinne der christlichen Moral bilden — ein Fortschritt,
der wesentlich, wie jüngst Tabde mit Recht betont hat,^
mit den Fortschritten der Technik und des Verkehrs zusammen-
1) AnläTslich der hekannten Expedition Jahbsons gegen Transvaal
schriehen englische Zeitungen, „dafs man zu Hause in England kaum
imstande sei, eine solche Erscheinung zu heurteilen. Es ist etwas ganz
anderes drauTsen in Afrika mit seinem unkonventionellen Lehen. Da
kommt es so leicht vor, dafs man nach dem Gebote des Herzens handelt
und sich um kein Völkerrecht bekümmert". Gustav P. Steppen, England
als Weltmacht und Eulturstaat, Stuttgart 1899, S. 47.
^) Tabob, La criminalit6 compar^e, 3. 6d., p. 188.
478 A. Vierkandt:
hängt und darum einen der vielen lehrreichen Beläge für die
Inadäquatheit von Ursache und Wirkung auf dem geistigen
Gebiete bildet.
Diesen Fortschritten treten jedoch eine Eeihe von Eück-
schritten zur Seite, d. h. eine Reihe von Erscheinungen,
bei denen die Wagschale sich zu Gunsten der Naturvölker
neigt. Man kann sie mit dem Namen des primitiven Altru-
ismus oder allgemeiner einer primitiven Sittlichkeit bezeichnen —
primitiv deswegen, weil sie weniger auf einer positiven Ent-
wicklung der sittlichen Kräfte als auf einem Mangel oder
einem geringeren Grade von Versuchungen beruhen.^) Be-
sonders drei Gruppen von Erscheinungen sind es, in welchen
sich eine solche sittliche Überlegenheit der Naturvölker uns
gegenüber bekundet. Erstens finden wir vielfach eine viel
gröfsere Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit im täglichen Verkehr,
wie besonders im Handel und insbesondere auch eine gröfsere
Sicherheit fremden oder verlorenen Gutes gegenüber der Gefahr
des Diebstahls. Zweitens sind die Sympathiegefiihle in ex-
tensiver Hinsicht bei ihnen vielfach stärker entwickelt als
bei uns. Diejenige Zärtlichkeit und Teilnahme, die sich bei
uns auf die Familie beschränkt, erstreckt sich vielfach
über den ganzen Stamm und gelegentlich sogar über ihn
hinaus, z. B. in Gestalt des gegenseitigen, unentgeltlichen
Leihens von Geräten, des oft so stark ausgeprägten Gastrechtes,
der unentgeltlichen Speisung und Verpflegung vorübergehender
Stammesangehöriger oder Fremder u. s. w. Drittens sind
aber auch in intensiver Hinsicht die Naturvölker uns auf
diesem Gebiete wenigstens teilweise überlegen. Die Kinder-
liebe ist in der Regel sehr stark, die Gattenliebe durchaus
nicht immer gering entwickelt, und insbesondere geniefst
innerhalb der Grofsfamilie die ältere Generation oft viel Liebe
und Verehrung. Die Gründe dieses primitiven Altruismus
sind, wie schon bemerkt, mehr negativer als positiver Natur,
und zwar teils subjektiver, teUs objektiver Art. Einerseits
^) Ausführlich hat der Verfasser diese Dinge in einem in der Zeit-
hrift „Glohus" Bd. 76, S. 149—154, veröffentlichten Aufsatz behandelt.
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 479
liegt dem Naturmenschen wegen der geringeren Entwicklung
seines Willens und seiner Intelligenz die Versuchung eines
planmäXsigen, berechnenden Egoismus femer, und die natür-
lichen Regungen der Teilnahme werden daher von dieser Seite
bei ihm weniger eingeengt. Andererseits spricht die anders-
artige Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse erheblich
mit, sofern die hier allgemein herrschende geschlossene Haus-
wirtschaft, d. h. die Thatsache, dafs alle wirtschaftlichen
BedürMsse innerhalb der Familie oder der sie ersetzenden
Einheit selbst befriedigt, alle wirtschaftlichen Erzeugnisse
innerhalb ihrer selbst verwendet werden, die wirtschaftliche
Konkurrenz und damit ein wichtiges Hemmnis der Bethätigung
altruistischer Kegungen ausschliefst. Auch der hohe Grad
von Öffentlichkeit, die allgemeine Durchsichtigkeit der Ver-
hältnisse ist von Belang, sofern sie die Versuchung zur Un-
ehrlichkeit vermindert. Endlich darf auch die auf dieser Stufe
noch stärker als bei uns wirkende Kraft der Sitte mit ihren zum
Teil altruistischen Geboten nicht aufser acht gelassen werden.
Innerhalb des perfektionistischen Gebietes weisen
wir nur auf zwei Punkte hin, auf die Entwicklung des Ehr-
gefühls und der Wahrheitsliebe. Das Ehrgefühl oder all-
gemeiner das Selbstbewufstsein ist bei vielen, wie es scheiut,
vorzüglich bei den in erster Linie von der Jagd lebenden
Naturvölkern, wie den Indianern, sehr stark entwickelt. Die
Berührung mit der europäischen Kultur hat auf sie mit des-
wegen so verheerend gewirkt, weil sie ihr Selbstgeflthl auf
das äufserste kränkte. Die Wirksamkeit eines solchen Ehr-
gefühls hält sich natürlich in den durch den sittlichen Gehalt
ihrer Kultur bestimmten Grenzen. Sind unsere Verhältnisse
denjenigen der Naturvölker hierin weit überlegen, so fehlt
doch auch ihnen der Schatten nicht. Die zunehmende Ob-
jektivität und Arbeitsteilung einer höheren Kultur bringt eine
wachsende Abhängigkeit flir den Einzelnen, nicht nur für den
Kaufinann und Beamten, sondern für fast jeden, der sich noch
nicht alles Wünschens begeben hat, mit sich, und wie sehr
diese die Feinheit des Ehrgefühls abstumpfen mufs, ist klar.
480 A.. Vierkandt:
Ähnlich zwiespaltig verhält es sich mit der Wahrheits-
liebe. Die Versuchungen zur Unwahrheit nehmen mit dem
Wachsen der Intelligenz und der egoistischen Fürsorge, wie
mit der Verwickeltheit der Verhältnisse, die eine Täuschung
weniger leicht durchschauen lassen, zu. Gerade den am tiefeten
stehenden Stämmen wird daher vielfach eine AuMchtigkeit
nachgerühmt, die wir angesichts des Mangels an Versuchung
unter den Begriff der primitiven Tugenden zu subsumieren
berechtigt sind. Viele Natur- und Halbkulturvölker zeichnen
sich im Gegensatz dazu durch eine ausgesprochene Lügen-
haftigkeit aus. Ist diese bei uns viel geringer, so liegt ein
Hauptgrund dafür in der stärkeren Ausbildung einerseits des
Geistes der Kritik beim Publikum, der die Aussichten für den
Erfolg der Lüge vermindert, andererseits der indifferenten
Eigenschaft der Vorsicht bei dem Handelnden, die das Reich
der Lüge mehr scheut. Im Gegensatz dazu ruft übrigens die
Verwickeltheit unserer wirtschaftlichen, politischen und gesell-
schaftlichen Zustände eine Fülle neuer Antriebe zur Unwahr-
haftigkeit ins Leben, teils zur direkten Lüge, noch mehr aber
zu jener halb oder ganz unbewufsten positiven oder negativen
Entstellung der Wahrheit, die dem dichterischen Idealismus
so viel Stoff zur Kritik unserer Gesellschaft bietet. Alles in
allem darf man daher schon den objektiven Fortschritt unserer
Kultur auf diesem Gebiet, der vielfach nur ein solcher vom
Gröberen zum Feineren ist, nicht überschätzen, und der sub-
jektive bleibt hinter ihm noch erheblich zurück.^)
Auch auf dem objektiven Gebiete endlich handelt es
sich sowohl um einen Gewinn wie um einen Verlust mit
steigender Kultur. Diese Zwiespältigkeit beruht unmittelbar
darauf, dafs die letztere, wie oben erörtert, den Dualismus
von Mittel und Zweck erhöht: einerseits werden dadurch
immer mehr Vorgänge, die ursprünglich nur als Mittel Be-
deutung hatten, verselbständigt, andererseits aber auch Dinge
von eigener Bedeutung zu blofsen Mitteln herabgedrückt.
^) Man vergleiche hierzu die Ausführungen bei Tabdb, La criminalit^
compar6e, 3. M., p. 194 — 211.
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 481
Indem einerseits mit steigender Kultur, wie oben erörtert,
die Summe fester Formen immer gröfser wird, ist auf der
Höhe unserer Kultur an die Stelle der geschlossenen Haus-
wirtschaft der Naturvölker eine unübersehbare Fülle von
Erwerbs- und Berufsarten getreten, die teils dem wirtschaft-
lichen Leben, teils dem Bereich der politischen, kirchlichen
und gesellschaftlichen Interessen angehören. Bei der Erfüllung
der hier geforderten Leistungen spricht aufser aufsersittlichen
Motiven vielfach als ein rein sittliches Motiv auch die Lust
an der Sache um ihrer selbst wülen mit, und je nachdem
dies im Durchschnitt bei einer bestimmten Leistung der Fall
ist oder nicht, unterscheiden wir zwischen Beruf oder Geschäft.
Alle höheren Erwerbsarten sind wir in diesem Sinne berechtigt
den Berufen zuzuzählen, und auch bei vielen anderen, insbe-
sondere in den Kreisen der niederen Beamtenwelt, spielt jenes
Interesse an der Sache um ihrer selbst willen besonders in
Gestalt des freilich oft zur Pedanterie und Kleinlichkeit ent-
arteten Pflichtgefühls eine grofse Rolle. Andererseits freilich
ist gerade gegenwärtig der Kreis derjenigen Thätigkeiten, die
vm als reine Geschäftsthätigkeit im oben angegebenen Sinne
bezeichnen müssen, im Wachsen begriffen. Die Gründe daffir
liegen teils in der Natur der in Betracht kommenden Vorgänge
selbst, teils in der Art ihrer Wirkungen. Die Art der Be-
schäftigung, mag sie körperlicher oder geistiger Art sein,
entbehrt oft zu sehr des eigenen Reizes, indem sie entweder
zu mechanisch ist, oder eine fortdauernde Anstrengung er-
fordert, ohne sie mit einem entsprechenden sinnHchen oder
geistigen Genüsse zu belohnen. Ihre Wirkungen aber sind
entsprechend der oben erörterten wachsenden Entfernung von
Ursache und Wirkung, welche jeder höheren Kultur eigen ist,
durch eine zu grofse räumliche oder zeitliche Entfernung von
dem Vorgange selber getrennt. Es herrscht m. a. W. eine
zu grofse Distanz zwischen dem Produzenten und Konsumenten,
diese Begriffe nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im
geistigen Sinne genommen, als dafs der Erfolg der Arbeit in
sinnlicher Gestalt dem Arbeitenden vor die Augen treten und
VierteljahrsBchlift f. Wissenschaft!. Philosophie. XXIIL 4. 32
482 ^' Vierkandt:
ihn für die Mühe einer an sich wenig reizvollen Beschäftigung
zu entschädigen vennöchte. — Blicken wir zurück, so sehen
wir also an die Stelle eines mittleren Zustandes, wie er bei
den Naturvölkern herrscht, eine Reihe von Abstufungen treten,
die sich teüs nach oben, teils nach unten von jener Mittellage
entfernen. Bei den Naturvölkern nämlich werden die meisten
Arbeiten nicht blofs aus Rücksicht auf die äufseren Effekte
und aus Gewohnheit, sondern angesichts des hohen sinnlichen
Reizes, der mit ihnen verknüpft ist, auch um ihrer selbst
wiUen verrichtet — ein Zustand, der hinter der berufsmäfsigen
inneren Hingabe an die Sache ebensoweit zurückbleibt, wie er
der blofs geschäftsmäfsigen Thätigkeit an Wert überlegen ist.
9. Eine neue Beleuchtung gewinnt unser Problem, wenn
wir nach dem Verhältnis der sittlichen zu den übrigen Be-
wufstseinselementen und nach dem Wandel dieses Verhältnisses
fragen. Drei Punkte kommen dabei in Betracht. Erstens
ist zwischen einem absoluten und einem relativen Fortschritt
des sittlichen Lebens zu unterscheiden. Nur der letztere be-
deutet eine Verschiebung des Schwerpunktes des Bewufstseins
nach der Seite der Sittlichkeit hin, während bei dem ersteren
das Wachstum des sittlichen Lebens mit demjenigen des
geistigen überhaupt im besten Falle Schritt hält. Zweitens
empfiehlt es sich, die quantitativen Fortschritte der Sittlichkeit
von den qualitativen, von der Eroberung neuer Gebiete, zu
sondern. Die letzteren fallen natürlich schwerer als die ersteren
in die Wagschale, bedeuten aber auch noch nicht immer einen
relativen Fortschritt. Endlich kann ein zwiefaches Verhältnis
zwischen der Entwicklung der sittlichen und derjenigen der
gesamten Bewufstseinsvorgänge stattfinden. Entweder kann
nämlich die Steigerung des sittlichen Lebens lediglich eine
Folge der Steigerung der gesamten Intensität des Bewufstseins-
verlaufes sein — in diesem Falle handelt es sich meist wohl
um einen absoluten, aber nicht um einen relativen Fortschritt — ,
oder es können umgekehrt die sittlichen Bewufstseinselemente
eine solche dominierende Stellung einnehmen, dafs sie auf die
gesamte Lebensführung und den gesamten Bewufstseinsverlauf
Semerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 483
einen bestimmenden Einflufs ausüben. Wir wollen unter diesem
letzten Gresichtspunkt, indem wir dabei gelegentlich auch auf
die beiden anderen eingehen, hier nochmals einen Blick auf
die Entwicklung des sittlichen Lebens werfen, Suchen wir
dabei nach einem zusammenfassenden Worte, so können wir
von einer Entwicklung der Gesinnung sprechen, indem wir
diese durch das Verhältnis des sittlichen zu dem übrigen
geistigen Leben charakterisiert denken.
Im allgemeinen überwiegt der erstere der von uns unter-
schiedenen Fälle den zweiten bei weitem. Das gilt besonders
von allen gewohnheitsmäfsigen sittlichen Leistungen, von
denen, wie oben erwähnt, die meisten überhaupt durch eine
Mechanisierung aufsersittlich, nämlich durch die Eücksicht
auf das Herkommen, die öffentliche Meinung und dergleichen
motivierter Handlungen, sich entwickelt haben. Aber auch da,
wo diese Leistungen an die Stelle ursprünglich sittlich be-
gründeter Handlungen getreten sind, entfalten doch aufser-
sittliche Motive derselben Art wie im vorigen Falle eine
unterstützende Wirksamkeit. So unverkennbar grofs daher
das Wachstum der gewohnheitsmäfsigen sittlichen Leistungen
im Bereiche des Familien- und Berufslebens ist, so unleugenbar
ist es doch, dafs der letzte entscheidende Grund dafür in dem
gesamten Mechanismus der Kultur liegt, in der Fülle von
neuen Reizen, denen er mit dem Wachstum der Kultur ihr
Substrat, die einzelnen Menschen, ausgesetzt hat. Nicht ein
Wandel der Gesinnung, sondern ein Wandel des Milieus ist
hier der letzte Grund des an sich unbestreitbaren absoluten
Fortschritts.
Ahnliches gilt über das Wachstum der impulsiven
sittlichen Leistungen, deren ganze Natur ja die stärkste Ab-
hängigkeit vom Milieu und den auf das Individuum eindringenden
Reizen mit sich bringt. Bei einer Abwägung der einzelnen
Leistungen finden wir hier, wie früher erörtert, sowohl Ge-
winn wie Verlust. In quantitativer Hinsicht ist ein ab-
soluter Gewinn gewifs unbestreitbar entsprechend der Be-
reicherung und Vertiefung des gesamten Bewufstseins. Freilich
32*
484 A. Vierkandt:
ist selbst dieser Gewinn, wie wir sahen, weder auf dem Ge-
biete der altruistischen, noch auf demjenigen der perfektio-
nistischen und objektiven Leistungen ohne Einschränkungen.
Das moderne Leben bringt nicht überall die Menschen mit-
einander in solche engere Beziehungen, welche Gelegenheit
zur Bethätigung einer wohlwollenden Gesinnung bieten, sondern
isoliert und stellt die Menschen in vielen Fällen geradezu
feindlich einander gegenüber. Und ähnliches gilt hinsichtlich
der Entwicklung des Selbstgefühls und der Objektivität. Ob
aber auch relativ von einem Gewinn unserer Kultur hier
gesprochen werden kann, ist eine Frage, die wir nicht zu
entscheiden wagen. Prüfen wir jetzt die Veränderungen auf
dem qualitativen Gebiete, so ist hier zunächst ein Gewinn
zu verzeichnen, der im Zusammenhange steht mit einem all-
gemeinen Wandel des Gefühls- und Willenslebens, den die
steigende Kultur mit sich bringt. An die Stelle starker, rasch
vorübergehender Affekte und Willensimpulse setzt sie schwächere,
aber andauerndere. Namentlich auf dem Gebiete des Altruismus
kommt die immer wiederholte dauernde Bethätigung an sich
vielleicht vielfach schwächer gewordener Gefühle als ein wohl-
thätiger Wandel in Betracht. Können wir aber auch diesen.
Fortschritt nicht als einen relativen anerkennen, so ist eiu
solcher doch sicher insofern nicht zu bestreiten, als dem im-
pulsiven Handeln eine Reihe neuer Gebiete mit der wachsen-
den Kultur erschlossen sind. Wir meinen damit diejenigea
Erscheinungen, welche sich als Bethätigungen des Zartgefühls,
des Taktes und auch des Selbstgefühls darstellen. Aber auch
hier handelt es sich mehr um eine Folge, als um eine Ursache
der Änderung des gesamten Zustandes des Bewulstseins, dena
aus seiner höheren Entwicklung fliefsen alle diese Akte als
eine notwendige Folge, ohne demjenigen, der sie vollbringt,
erhebliche Opfer aufeulegen, ohne also an seine imperative
Sittlichkeit Anforderungen zu stellen. Namentlich auf dem
altruistischen Gebiete handelt es sich hier um Vorgänge, die,
so sehr sie von einer Verfeinerung des Gemüts zeugen, ebenso
gering an objektiver Bedeutung sind und den Gang der
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 485
Kultur selbst da, wo ihre Folgen den altruistischen Interessen
direkt entgegengesetzt sind, nicht aufzuhalten vermögen.
Denn derselbe Mann z. B., der persönlich jeder Not voller
Teilnahme gegenübersteht, kann doch durch seine rege Be-
teiligung an der industriellen Entwicklung der Gegenwart
ohne es zu wollen zu ihrer Vermehrung mitwirken. Ebenso
wenig hoch anzuschlagen ist von unserem Standpunkte die
nicht abzuleugnende Verminderung der Grausamkeiten, welche
uns von den Zuständen der Naturvölker oder des Mittelalters
trennt. Handelt es sich doch hier nur um eine Folge der
Steigerung der Intelligenz und der damit verbundenen Fähig-
keit der Sympathie, welche von einem Einzelnen keinerlei
Opfer verlangt.
Anders liegt der Sachverhalt, soweit imperative sitt-
liche Handlungen in Betracht kommen, d. h. solche, deren
Vollbringung ohne Rücksicht auf Neigung und äufsere Ver-
hältnisse entweder nach' der populären Ausdrucksweise die
Stimme des Gewissens, oder in mehr bewufster Weise das
Ideal einer sittUchen Lebensführung fordert. In seinen feineren
Formen das seltene Vorrecht edler Naturen ist dieses sittliche
Element in quantitativ erheblichem Mafse nur in jener gröberen
Form wirksam, in der es vorzüglich im Berufeleben die Be-
obachtung gewisser herkömmlicher Formen verlangt und einer
raschen Mechanisierung ausgesetzt ist. An Umfang kann
sich dieses sittliche Handeln mit dem impulsiven und gewohn-
heitsmäfsigen bei weitem nicht messen. Davon abgesehen
handelt es sich jfreilich hier, da ein derartiges Handeln den
Naturvölkern überhaupt fehlt, um einen qualitativen Gewinn
der höheren Kultur, um einen Fortschritt auch im absoluten Sinne.
Wir wenden uns jetzt dem entgegengesetzten, zweiten
Falle zu, in dem die Entwicklung der sittlichen Elemente
des Bewufstseins eine so starke ist, dafs sie die der übrigen
überflügelt und ihrerseits die Führerrolle ergreift. Ein Blick
auf den bekannten Antagonismus zwischen der sittlichen Höhe
der Gesinnung und den günstigsten Bedingungen für den
Erfolg im Leben könnte uns zunächst erwarten lassen, dafs
486 A. Vierkandt:
dieser Fall eine ausgedehnte Verbreitung hat. BekanntKch
gewährleisten die höchsten sittlichen Eigenschaften, die Lauter-
keit und Uneigennützigkeit der Gesinnung, in vielen Fällen
nicht den meisten Erfolg im Leben sowohl der Einzelnen,
wie der Völker. Wenn gleichwohl 'im ganzen von einem
Fortschritt des sittlichen Lebens gesprochen werden kann,
so kann dieser letztere demnach nicht als ein blofser Neben-
effekt der allgemeinen Kulturentwicklung aufgefafst werden,
und zu seiner Erklärung hat man in der That darauf hinge-
wiesen, dafs die sittlichen Motive, wenn sie erst eine gewisse
Stärke erlangt haben, ihrerseits eine führende Stelle im Be-
wufstsein einzunehmen bestrebt sind. Mufs uns schon ein
Blick auf das praktische Leben in empirischer Hinsicht an
dieser Erklärung zweifeln lassen, so enthüllt sie sich uns
a priori als verfehlt bei einem Blick auf den mehrfach er-
örterten Mechanismus der Kulturentwicklung. Es genügt,
wie wir oben sahen, ein derartiges Vorherrschen der sittlichen
Elemente bei einzelnen Individuen, um gelegentlich vermittelst
des Mechanismus des socialen Lebens deren Bestrebungen
einen über die unmittelbare Tragweite der subjektiven sitt-
lichen Gesinnung weit hinausreichenden Erfolg zu gewähren,
der bis zu ihrer Verkörperung in objektiven Kulturformen fuhrt,
denen ein sittlicher Gehalt wohl nach ihrer Wirkung, aber
nur wenig oder gar nicht nach den dabei jedesmal in Betracht
kommenden Motiven zukommt. Der ungeheure sittliche Fort-
schritt, der in objektiver Beziehung, unter dem Gesichtspunkte
fester Institutionen und Normen betrachtet, unserer Kultur
sicherlich gegenüber den Zuständen der Naturvölker zukommt,
darf, wie schon früher erörtert, daher nicht verwechselt werden
mit einem entsprechenden Fortschritte der Gesinnung. Sicher-
lich haben in vielen Fällen sittliche Motive zu dem Zustande-
kommen dieses Fortschritts mitgewirkt, sicherlich sprechen
sie in vielen Fällen bei der Bethätigung dieser Institutionen
mit, aber dieser Anteil tritt zurück gegenüber demjenigen
aufsersittlicher Motive. Gerade ein Blick auf die modernen
Zustände, auf ihre Schwierigkeiten und die grofsen Aufgaben,
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 487
denen unsere Zeit hilflos gegenübersteht, zeigt uns, wie eng
begrenzt im ganzen doch die Kraft rein sittlicher Motive im
Leben der Kultur ist. Die nachträgliche sittliche Rationali-
sierung der durch aufsersittliche Motive so oft ins Leben ge-
rufenen Listitutionen, an der frühere Zeiten mit viel weniger
Bewufstsein gearbeitet haben, stellt sich der unsrigen als das
grofse Problem dar, das sie nicht zu lösen vermag. Die
wirtschaftlichen, socialen und rechtlichen Grundlagen unserer
Kultur, wie die Verschiedenheit des Besitzes und Standes,
die Arbeitsteilung u. s. w., haben vielfach nicht nur unter
der Wirkung auf sersittlicher Motive, sondern geradezu durch
unsittliche Mächte, durch Raub und Gewalt, ihre Gestaltung
gefunden. Erst nachträglich geben die so geschaffenen Ver-
hältnisse den Anlafs zu einer Fülle sittlicher Leistungen,
welche den späteren Betrachter sich mit ihrem Ursprung aus-
söhnen läfst, indem er ihn als die unumgängliche Vorbedingung
des sittlichen Fortschritts anerkennen mufs. Dafs eine der-
artige tiefgreifende Rationalisierung, eine Umgestaltung der
durch den indifferenten Kulturmechanismus erzeugten heutigen
wirtschaftlichen und socialen Verhältnisse nach sittlichen
Gesichtspunkten die grofse Aufgabe der Zeit bildet, ist gewifs
unbestreitbar, ebenso unbestreitbar, dafs es für ihre Lösung,
die natürlich nicht als ein einmaliger Akt, sondern als eine
fortgesetzt kontinuierliche Arbeit zu denken ist, fast überall
an Wille und Einsicht fehlt.
Diesem socialen Mangel entspricht ein individueller.
Die Herrschaft des sittlichen Prinzips über die Lebensführung
bezeugt sich vor allem in der Fähigkeit, Opfer zu bringen,
sich selbst zu bezwingen in immer neuen Formen. Gerade
dieser Wechsel der Formen ist von einschneidender Bedeutung,
denn da, wo es sich um einen solchen Prozefs in festen Ge-
leisen handelt, wird die Schwierigkeit und das Verdienst der
Selbstüberwindung bald durch den Vorgang der Mechanisierung
und die Macht der Gewohnheit vermindert. Das imperative
Handeln sinkt dann zu einem zwangs- und gewohnheitsmäfsigen
herab und büfst damit an Bedeutung ein. Fragen wir aber
488 A. Vierkandt:
nach der Häufigkeit eines solchen opferwilligen Handelns, nach
der Häufigkeit derartiger Naturen, so vermögen wir gerade
in diesem Punkte, wo es sich um das innerste Heiligtum der
Gesinnung handelt, der pessimistischen Auffassung des Lebens
nicht unrecht zu geben. Der Mensch der modernen Kultur
mag an Pflichtgefühl, an Hingabe an objektive Interessen,
die sich in festen Geleisen bewegen, an unwillkürlicher Be-
thätigung der Teilnahme anderen gegenüber, an Zartgefühl
und Takt den Individuen der Naturvölker weit überlegen sein.
Wo aber aufserhalb der Bahnen des Herkommens und aufser-
halb des Bereiches rein impulsiver Motive neue schwere sitt-
liche Anforderungen an ihn herantreten, da erweist er sich
fast als ebenso indifferent und ebenso egoistisch wie auf
tieferen Kulturstufen. Der Fortschritt des sittlichen Lebens
liegt mehr in der Richtung der Verfeinerung als in derjenigen
der Vertiefung. Auch der Durchschnittsmensch unserer Kultur
wird vorwiegend halb von der Gewohnheit, halb vom Egoismus
geleitet und ist geneigt, alle, gewisse herkömmliche feste Formen
überschreitenden sittlichen Interessen nur als ein dekoratives
Beiwerk des Lebens gelten zu lassen.
10. Denselben Eindruck eines beschränkten, mehr auf der
Oberfläche als in der Tiefe sich abspielenden Fortschritts
erhalten wir, wenn wir zum Schlufs einen vergleichenden Blick
auf die wichtigsten Interessengebiete des menschlichen
Lebens werfen. Wir können für unseren Zweck ihrer sechs
unterscheiden, von denen zwei mehr oder weniger sittlicher
Natur sind, nämlich die altruistischen und die objektiven Be-
strebungen, die letzteren einschliefslich der perfektionistischen.
Die übrigen vier Gebiete sind zunächst dasjenige der körper-
lichen Interessen, worunter wir die Sorge für die Erhaltung
des Lebens, für die Ernährung und für die Befriedigung aller
feineren oder gröberen sinnlichen Bedürfhisse verstehen; sodann
zweitens das wirtschaftUche Interessengebiet, drittens das
sociale, worunter wir alle diejenigen Bestrebungen und Hand-
lungen begreifen, welche aus der Rücksicht auf die öffentliche
Meinung und das Ansehen des handelnden Individuums in den
Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit. 489
Augen seiner Mitmenschen entspringen und die Erhaltung
oder Vermehrung dieses Ansehens zum Ziele haben, und end-
lich viertens das Gebiet der mythologischen Interessen. Ver-
gleichen wir den Raum, den jedes dieser Gebiete im Bewufst-
sein des Individuums bei den Naturvölkern und bei uns ein-
nimmt, miteinander, so finden wir auf drei von ihnen erhebliche
Wandlungen : das mythologische Interessengebiet hat an Umfang
verloren zu Gunsten des wirtschaftlichen und objektiven.
Von dem Eaum, den das erstere bei den Naturvölkern ein-
nimmt, kann man sich kaum übertriebene Vorstellungen machen.
Seine ^Gröfse ist die notwendige Folge der auf serordentlichen
EeaJität, welche die übersinnliche Welt für die Naturvölker
besitzt, deren Geister nicht nur gelegentlich direkt in mensch-
licher Form erscheinen oder vorübergehend sich Menschen
als Behausung auswählen, sondern fortgesetzt eine Reihe von
Wirkungen auf die Lebenden ausüben, welche denjenigen der
natürlichen Kräfte an Umfang und Bedeutung mindestens die
Wagschale halten. Demgemäfs ist das Zurückgehen des reli-
giösen Interessenkreises eine notwendige Folge einer jeden
höheren Kultur. Mag auch in der Gegenwart die Kraft reli-
giöser Motive ein Minimum erreicht haben, mag unsere Zeit
zu jenen Ausnahmeperioden gehören, in denen eine gewisse
sociale Zersetzung ihre unheilvolle Kraft entfaltet, so wird
sich doch die Wirksamkeit des religiösen Vorstellungskreises
eines hochgestiegenen Kulturvolkes niemals mit demjenigen
eines Naturvolkes messen können, weil die religiösen Vor-
stellungen bei dem ersteren viel zu sehr durchgeistigt, viel
zu abstrakt sind, um mit der robusteren sinnlichen Natur der
Geisterwelt tieferer Völker wetteifern zu können.
Die so entstandene Lücke wird vor allem teils durch
objektive, teils durch wirtschaftliche Interessen ausgefüllt.
Auf den aufserordentlichen Raum, den die letzteren in der
modernen Kultur einnehmen, und die unheilvollen Folgen, die
in Gestalt des Industrialismus und Amerikanismus von ihm
ausgehen, weisen wir nur hin. Gerade infolge des höheren
Mafses von Voraussicht und Fürsorge, gerade infolge der
490 A. Vierkandt: Bemerkungen z. Frage d. (sittlichen Fortschritts etc.
Stärkung der Intelligenz und des Willens ist den wirtschaft-
lichen Interessen ein so aufserordentlich ausgedehntes Gebiet
bei uns erwachsen. Sie beziehen sich nicht nur auf die Be-
friedigung gelegentlicher Bedürfnisse, sondern in einer aus-
geprägt und anscheinend immer wachsend systematischen Weise
einerseits auf die Sicherung des* ganzen Lebens, andrerseits
auf seinen möglichst umfassenden Genufs im Sinne einer
möglichsten Ausdehnung des Komforts. Da aber beide Ziele
ihrer Natur nach unendlich, die zu ihrer Erreichung dienenden
Mittel mithin unbegrenzt sind, so ergiebt sich daraus mit
Notwendigkeit jene absorbierende Kraft des wirtschaftlichen
Interesses, die auf den Charakter des Einzelnen wie die
Kulturentwicklung ganzer Völker einen so nachteiligen Einflufs
auszuüben vermag.
Die objektiven Interessen, die an jenem Gewinn Anteil
haben, besitzen nur zum Teil einen sittlichen Inhalt, da alle
niedrigen Erwerbsarten, vor allem fast alle, die dem wirt-
schaftlichen Leben angehören, höchstens sehr indirekt als
Grundlage für höhere Leistungen eine sittliche Bedeutung
beanspruchen können. Aber auch die höheren objektiven
Interessen bewegen sich noch vielfach an der Grenze des
eigentlichen sittlichen Lebens. Die Motive der in Betracht
kommenden Handlungen sind vielfach aufsersittlicher Art,
und selbst wo sie das nicht sind, raubt die mit der Gewohn-
heit verknüpfte Mechanisierung ihnen bald den höheren inneren
Wert. Es sind hier, wie bei dem wirtschaftlichen Interessen-
kreise, vorwiegend indifferente Leistungen, die an die Stelle
der Bethätigung de§ mythologischen Interessenkreises treten.
In den grofsen Zügen betrachtet besteht also die Hauptver-
schiebung des Interesses darin, dafs an Stelle mehr oder
weniger indifferenter Interessen andere von dem nämlichen
Charakter getreten sind.
..uilillllllllIrllllllll.linilllliMilJllilil.lllll'i
iiiiiiiiiiitriiilii'iiiiiiiiiiiliiiiiiiriiiiiiiiiiiiiiiiiii
Berichterstattung.
iiliii'ijii:n!i:>'i'iMiiMiiiJiniii'iiiiiii • m>
I.
Besprechungen.
Heinrich, W., Zur Prinzipienfrage der Psychologie,
Zürich, E. Speidel, 1899. 74 S.
Der Verf. hat es, ,,nachdem die Frage der psychologischen Prinzipien
so in den Vordergrund getreten ist", „für angemessen" gehalten, auch
seinerseits dazu Stellung zu nehmen. Thatsächlich bringt er Jedoch fflr
die Entscheidung oder Klärung dieser Frage nichts Neues bei, wenn wir
die Anschauungen berücksichtigen, die er bereits früher in seiner Schrift
über „die moderne physiologische Psychologie in Deutschland" mitgeteilt
hat. Diese Schrift ist gleichzeitig in zweiter Auflage erschienen, wobei
es der Verf. für angemessen gehalten hat, die gröfsere Zahl der in einer
eingehenden Kritik der ersten Auflage von mir gerügten Fehler einfach
stehen zu lassen.^)
J) Vergl. Zeitschrift f. Philos. u. philos. Kritik Bd. 110, S. 9 ff.
Wohlgemerkt, von Fehlern und nicht von Meinungsverschiedenheiten ist
die Rede. Die Art, wie sich H. mit dieser Kritik seines Buches in dem
Anhang der neuen Auflage abfindet, sei hier nur mit einigen Worten
gekennzeichnet. Er behauptet, meine „vernichtende Kritik" sei „der
Hauptsache nach" eine Zusammenstellung von Druckfehlem! Dennoch
glaubt er „auf den Vorwurf historischer Ungenauigkeit reagieren zu
müssen". Ich hatte von H.'s Angabe, dafs die Phantasiebilder nach
Che. Wolfp durch die Abschwächung der Empfindungen entstehen, erklärt,
dafs man diese Ansicht in den Schriften Wolffs vergeblich suche. Jetzt
werde ich auf die Psychologia empirica §§ 91 — 100 verwiesen. Dadurch
hat H. seine Sache nur verschlimmert, denn es geht daraus hervor, dafs
er Wolffs Ausführungen an der genannten Stelle einfach nicht verständen
hat. Er nenne mir doch nur einen Satz, in dem die von mir beanstandete
Aussage eine Stütze findet! Ferner hatte ich einen aus Hebbabts Ab-
handlung De attentionis mensura etc. citierten Satz : Eeproductio quodmodo
dirigetur attentione res est a nostro proposito allinea als offenbar korrum-
piert bezeichnet. H. erwidert, die korrumpierte Form bestehe darin, dafs
statt alliena irrtümlich allinea gedruckt stehe. Diese Erwiderung, die,
492 0. Külpe:
Nachdem der Verf. in den Vorbemerkungen wieder einmal die
methodologische Bedeutung des Prinzips vom psychophysischen Parallelismus
betont hat, wendet er sich in einem Abschnitt über die psychische Kau-
salität gegen Wündts Annahme derselben und sucht in einem weiteren
Abschnitt über die physische Kausalität zu zeigen, dafs diese „geschlossen^
ist, also durch das Eingreifen psychischer Energie nicht unterbrochen
werden darf. Das Prinzip der Erhaltung der Energie sei eben nicht das
einzige Kausalgesetz, sondern es kämen noch andere speciellere hinzu,
die die Verlaufsrichtung des physischen Geschehens in jedem einzelnen
Falle eindeutig bestimmten. Der dritte Abschnitt über die mechanischen
Begriffe und die Erhaltung der Energie bringt längere Ausführungen über
die Entstehung der mechanischen Grundbegriffe, eine Polemik gegen die
Energetik von Ostwald und zum Schlufs die Behauptung, man dürfe den
Begriff der Energie nicht auf die psychischen Vorgänge anwenden. Die
mechanischen Begriffe seien von vornherein nur zur Darstellung körper-
licher Erscheinungen und Beziehungen bestimmt gewesen und liefsen sich
daher nicht auf die seelischen Thatsachen tibertragen. Daran schliefst
sich ein längerer Abschnitt über die Monismusfrage, in dem der naive
Bealismus ebenso wie der Idealismus als unrichtige Standpunkte gekenn-
zeichnet und die Aufgabe der Psychologie in die objektive Untersuchung
des Mitmenschen verlegt werden. Eine eigentliche Antwort auf die Frage
nach dem Psychischen und seinem Verhältnis zum Physischen wird jedoch
nicht gegeben. Der letzte Abschnitt über die Methode der Psychologie
wiederholt, was wir schon aus der früheren Schrift wissen. Die Psycho-
logie soll nicht Bewufstseinserscheinungen untersuchen, sondern objektiv,
naturwissenschaftlich das Verhältnis des Mitmenschen zu seiner Umgebung
erforschen, wobei die Aussagen desselben ebenso als ein objektiver That-
bestand aufzufassen seien, wie die Bewegungen oder die Änderungen der
Umgebung. Nun haben freilich die Aussagen eine Bedeutung, sie sind
wie man sieht, die Korruption des Textes nicht völlig beseitigt, ist ja nur
eine Rechtfertigung meiner Behauptung. Da H. jedoch durch den Aus-
druck „korrumpiert" verletzt zu sein scheint, so bemerke ich für ihn, dafö
der philologische Sprachgebrauch mit dem Begriff der Korruption keines-
wegs das Merkmal eines dolus verbindet. Endlich hatte ich die Polemik
gegen Fechners Ausführungen über die Gültigkeit des Gesetzes von der
Erhaltung der Energie für die psychophysischen Prozesse unpassend und
die Vorstellung, die H. dem Begründer der Psychophysik unterzuschieben
wage, albern genannt. H. macht daraus, dafs ich seine Äufserung über
Fechners Auffassung für albern erklärt habe, und citiert zu meiner Wider-
legung eine ganze Seite der Psychophysik. Er hat demnach seinen Irrtum
auch jetzt noch nicht eingesehen, und mir fehlt der Baum, um auf diesen
Punkt nochmals zurückzukommen. „Die ganze Reihe weiterer Ein-
wendungen", heifst es zum Schlufs, „beantworte ich nicht". Dennoch hat
H. in der hier besprochenen Schrift noch einmal auf meine Kritik Bezug
genommen. Ich soll nach S. 3 Anmerk. die praktische Bedeutung des
psychophysischen Parallelismus mit der metaphysischen verwechselt haben.
Diese Behauptung ist, wie ich wohl ohne Übertreibung sagen darf, völlig
aus der Luft gegriffen.
Heinrich, „Zur Prinzipienfrage der Psychologie". 493
Symbole, und das soll sogar die ganze Untersuchung erst zu einer psycho-
logischen machen. Trotzdem ist diese Bedeutung nicht das Ziel der
Forschung, sondern nach H. offenbar etwas Nebensächliches. Die deskriptive
Methode, die auch in den Naturwissenschaften immer mehr zur Anerkennung
gelangt, fordert femer, dafs man die Umgebung hierbei nicht als qualitäts-
lose Summe mechanischer Vorgänge betrachte, sondern sie in derjenigen
qualitativen Verschiedenheit als real annehme, in der sie sich der unmittel-
baren Auffassung darbietet. Wie man die objektive, naturwissenschaftliche
Untersuchung damit vereinigen soll, hat uns der Verf. nicht gezeigt.
Die Aufgabe der Psychologie ist nach ihm gelöst, wenn alle Verhältnisse
zwischen dieser Umgebung und den Äulserungen des Menschen unter Be-
rücksichtigung der Änderungen der Sinnesorgane und des Nervensystems
festgestellt sind. Es bleibe dann nur noch das philosophische Problem
übrig, wie sich der Beschreibende zu dem Vorgefundenen verhalte.
Wie man sieht, gehen die Erörterungen des Verf. nirgends in die
Tiefe und führen daher auch die berührten, nicht behandelten Probleme
um keinen Schritt weiter. Wer etwa der Ansicht sein sollte, dafs der
Begriff einer psychischen Energie oder psychischer Energien geeignet sei,
den Konflikt mit dem Erhaltungsprinzip zu schlichten, wird sich durch
die Argumente H.'s darin gewifs nicht irre machen lassen. Als Dsscartbs
und Lkibniz von einer Erhaltung der Kraft redeten, da verstanden sie
unter Kraft nur die kinetische oder Lageenergie, nicht die elektrische oder
thermische oder chemische. Man hätte daher nach H.'s Anweisung auch
den späteren Versuchen einer Erweiterung der Begriffe in dieser Eichtung
entgegenhalten können, dafs diese ja „nur dazu bestimmt" gewesen seien,
die mechanischen Vorgänge im engeren Sinne des Wortes auszudrücken.
Niemand leugnet femer, dafs physische Kausalgesetze eben physische
Kausalgesetze sind und dafs ein physisches Geschehen sich eindeutig durch
sie bestimmen läfst. Aber darin liegt doch keine Unmöglichkeit psycho-
physischer Kausalbeziehungen begründet. Wer da behauptet, dafs es solche
gebe, der sucht ja fein säuberlich einen Widerspruch mit den physischen
Kausalgesetzen zu vermeiden oder als vermeidbar hinzustellen. Was
endlich H.'s originale Idee, seine psychologische Methode, anbelangt, so
verzichte ich auf eine Wiederholung der Einwände und Bedenken, die ich
früher bereits gegen sie vorgebracht habe. Haben sie, wie die Abhandlung
zeigt, bisher keine Wirkung ausgeübt, so darf ich mir eine solche von einer
Reproduktion derselben wohl auch nicht versprechen. Immerhin, einen
Erfolg scheinen meine damaligen Ausführungen doch gehabt zu haben.
Die Solidarität mit Avenarius hat der Verf. aufgegeben, wenn die Kritik,
die er S. 66 an ihm übt, auch auf diesen Punkt ausgedehnt werden darf.
0. KOLPB.
Brannschweiger, Dr. D., Die Lehre von der Aufmerk-
samkeit in der Psychologie des 18. Jahrhunderts.
Leipzig, H. Haacke, 1899. Vm und 176 S. 8^. Preis 3,60 M.
Harry Kohn wirft in seiner Dissertation „Zur Theorie der Auf-
merksamkeit" die überraschende Behauptung auf, erst in unserem Jahr
494 Max Offner:
hundert sei die Frage nach Wert und Wesen der Aufmerksamkeit in ihrer
Bedeutung erkannt worden. Das war ein bischen gewagt, und wir be-
zweifeln, dals er das behauptet hätte, wäre ihm die psychologische Litteratur
des vorigen Jahrhunderts in ihrer yerwirrenden Fülle näher bekannt ge-
wesen. Denn geradezu ein Lieblingsgegenstand war die Aufmerksamkeit
für diese Psychologen. Das nachzuweisen hat Bb. in vorliegender Unter-
suchung unternommen, die auf eine Anregung von Prof. Kolpe in Würz-
burg zurückgeht. Es war keine leichte Aufgabe, die der Verf. sich damit
gestellt hat. Ist doch die Aufmerksamkeit eine Erscheinung in unserem
Seelenleben, die sich wohl schwerer als wie jede andere aus dem Zusammen-
hang des übrigen Seelenlebens herauslösen und gesondert betrachten läfst.
Das haben auch jene Psychologen schon klar erkannt, wenngleich man
ihnen so gern den Vorwurf machte, die Seele in lauter Vermögen auf-
gelöst zu haben. Schütz z. B. betont sehr mit Becht: „Man sollte die
sogen. Seelenkräfte nicht blofs jede für sich, sondern sie insgesamt mehr
im Zusammenhang miteinander beobachten".
Aber gerade diese Forderung machte eine dennoch klare und über-
sichtliche Darstellung sehr schwer — freilich auch um so verdienstlicher.
Verf. steckt nun sein Feld ab, indem er Lbibniz und Wolff als
die eine, Kant als die andere Grenze nimmt. Durch Wolff wurde die
Psychologie in gewissem Sinne hoffähig gemacht, indem er sie in den
Kreis der philosophischen Dlsciplinen als eigene Wissenschaft einführte,
und zwar gleich in der Doppelform der empirischen und der rationalen
Psychologie. Durch Eaitt hingegen wurde ihr klipp und klar die Zu-
gehörigkeit zur Philosophie, ja überhaupt zur Wissenschaft abgesprochen
(vergl. A. Heolbb, Die Psychologie in Kants Ethik, S. 59; J. B. Mbteb,
Kants Psychologie, S. 218 ff.).
In der Zwischenperiode aber erfreute sich die Psychologie einer
eifrigen Pflege, sie wurde vielfach geradezu als Mittelpunkt aller Wissen-
schaften, als Grundlage aller philosophischen Disciplinen betrachtet, eine
Ehrenstellung, die auch heute wieder von vielen ihrer Vertreter für sie' —
und nicht ohne Erfolg — beansprucht wird.
Diese lebhafte Pflege bedingte selbstverständlich einen grofsen Eeich-
tum von verschiedenen Meinungen, nicht selten schon in den grundlegen-
den Fragen. So war unter anderen ein Streitpunkt, der die damaligen
Psychologen sehr beschäftigte, die Scheidung der sogen. Seelenvermögen
in untere und obere, sinnliche und intellektuelle. Dementsprechend wurde
auch die Aufmerksamkeit bald als sinnliches, bald als intellektuelles Ver-
mögen angesprochen, je nach den Gegenständen, denen sie sich zuwendete.
Unter sinnlicher oder äufserlicher Aufmerksamkeit verstand
man ähnlich, wie gelegentlich auch heute, die Aufmerksamkeit auf äussere
Objekte, auf äufsere Impressionen, Sinneseindrücke, sinnliche Vorstellungen,
oder wie man sonst die Empfindungen und Wahrnehmungen benannte.
Ihr Gegensatz ist die innere oder geistige Aufmerksamkeit, auch
intellektuelle oder vernünftige (Platner) genannt. Sie wendet sich auf
Gegenstände unseres eigenen Bewufstseins, auch auf solche, die mit Zu-
hilfenahme der Phantasie oder des Gedächtnisses zustande kommen (z. B.
GONDILLAC).
Braunschweiger, „Die Lehre von der Aufmerksamkeit etc.". 495
Das Wesen der Aufmerksamkeit wird oft nur damit bezeichnet, dafs
sie ein Vermögen sei, das verschiedene Funktionen auszuüben vermöge,
und zwar zunächst „ein Objekt, eine Empfindung, eine Idee aus der Summe
der uns umgebenden und uns offizierenden herauszuheben, dann sie durch
Kenntlichmachung der Merkmale aufzuklären, ferner sie allein in unser
Bewufstsein treten zu lassen, endlich ihr ausschliefslich Klarheit und Deut-
lichkeit zu verleihen" (S. 31).
Nicht mehr als blofses Vermögen, sondern bereits als aktives Be-
streben, einen Gegenstand herauszuheben, eine Vorstellung zur Haupt-
vorstellung zu machen, wird sie betrachtet von Tetbns, Tikdemann, Ibw^ino
und Kant.
Und ganz modern mutet es uns an, wenn die Aufmerksamkeit als
ein Zustand der Seele bezeichnet wird, als eine ausnahmsweise Be-
schäftigung der Seele mit einer einzigen Idee, einem einzigen Gegenstand
(Bbown, Homb, Dbstutt de Tbacy, Schmid). Man wird erinnert an Eibots
mono'id^sme intellectuel, an Jaubs, Hbbbart und Kolpe.
Pbiestlby fafst sie gar nur als blofse Perzeption, wohl aber nur,
so dürfen wir seinen Gedanken vielleicht ergänzen, wenn sie auf ein
Objekt sich beschränkt. Und ihm ähnlich sieht Condillac in der Auf-
merksamkeit eine Sensation, die durch den Grad der Stärke oder durch
andere Ursachen als einzige allein noch vorhanden ist.
An der Aufmerksamkeit werden nun gewöhnlich drei Eigenschaften
unterschieden, die Dauer, deren Gegensatz die Flüchtigkeit ist, die Stärke
oder Intension, welche in der Geschicklichkeit besteht, einer Vorstellung
eine besondere Klarheit zu verschaffen, endlich der Umfang oder die
Extension. Bonnbt freilich zögert, den Umfang als eine besondere, selb-
ständige Eigenschaft der Aufmerksamkeit gelten zu lassen, bestimmt durch
die bekannte Beobachtung, dafs zwischen Stärke und Dauer einerseits und
Umfang anderseits ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, insofern die Zu-
nahme der einen durch eine Abnahme des anderen bedingt ist und um-
gekehrt. Darüber aber sind alle einig, dafs dieser Umfang sehr gering
ist. Ja manche, wie Hallbb, Krügeb, Sülzbb, Beimabüs und Condillac,
glauben sogar, dafs man in einem Moment immer nur einer einzigen Vor-
stellung wirklich Aufmerksamkeit zuwenden könne. Freilich ob sie z. B.
einen mehrfarbigen Körper für eine einzige Vorstellung oder für eine
Summe solcher erklären würden, erfahren wir nicht. Nur Stewabt scheint
die letzten Bestandteile noch als einzelne Vorstellungen zu behandeln.
Als weitere Eigenschaft der Aufmerksamkeit wird gelegentlich, so von
Irwing, Kiesewbtteb, Stiebbitz, Wolfp, die Geschmeidigkeit erwähnt,
die Fähigkeit, sich auch auf unbedeutende Objekte richten zu können.
Ihr steht gegenüber die Steifheit. Diese lasse sich aber durch Übung
wohl beheben, „sonderlich, wenn man si^h vorstellt, dafs man aus allen
Pingen profitieren kann", wie Stiebbitz ermunternd hinzufügt. Die Übung
vermag natürlich auch die anderen Eigenschaften zu vervollkommnen, und
jCs ist recht bezeichnend für den "praktischen Geist des Aufklärungsjahr-
hunderts, dafs über Verringerung, Steigerung und Herabsetzung der Aufmerk-
samkeit gerade zu rein praktischen, besonders psychohygienischen Zwecken
imvergleichlich mehr geschrieben worden ist, als in unserem Jahrhundert.
496 Max Offner:
Dagegen liegen auch unserem gegenwärtigen Interesse wieder sehr
nahe die Beobachtungen über die Beize der Aufmerksamkeit. Unter Beiz
verstand man die Veranlassung, welche dazu beiträgt, dafs die Thätigkeit
der Seele in Wirksamkeit tritt (so Ibwino). Sie sind natürlich verschieden.
So unterscheidet Lossius — um nur einen aus vielen zu nennen — zu-
nächst physikalische, äufsere oder sinnliche Beize, deren Wirksamkeit
lediglich abhängt von der Heftigkeit und Lebhaftigkeit der Impression.
Weiterhin verursacht erhöhte Aufmerksamkeit die Klarheit und Deutlichkeit
der Perceptionen wie der Vorstellungen, unter Umständen auch ihre Dauer,
ferner die begleitenden Lust- oder Unlustgefühle. Diesen nach physischen
Gesetzen wirkenden Ursachen stellt Lossius die moralischen Ursachen
gegenüber, welche die Aufmerksamkeit nicht unmittelbar, sondern erst
durch Vermittelung anderer Vorstellungen wecken, wie etwa ein Wamungs-
signal, das selbst schwach ist und doch wegen der von ihm hervorgerufenen
Vorstellung der Gefahr unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt
(Tibdemann). Hblvetius bezeichnet dieses Verhältnis als Interesse und
gründet dieses selbst wieder auf die „Liebe zu unserer Glückseligkeit".
Es könne deshalb nichts anderes als eine Wirkung der physischen Empfind-
lichkeit sein. Damit ist implicite schon gesagt, dafs auch unsere Leiden-
schaften, unsere Gemütszustände, uuser Temperament und unsere Thätigkeit
bestimmend sind für unser Interesse. Aber auch das Neue und Unerwartete
ruft unsere Aufmerksamkeit wach, wofür Hoffbaubr recht ansprechend
auch als Grund angiebt, dals mit einer neuen Vorstellung noch nicht so
viele andere Vorstellungen vergesellschaftet sind, welche unsere Aufmerk-
samkeit von derselben abziehen.
Während sich so die Ansichten der Philosophen über die Aufmerk-
samkeit erzeugenden Beize decken oder wenigstens ergänzen, viri in
philosophorum officina bene politi iuter se pugnant, utrum attentio a sola
voluntate an vero ab intellectu an ab utroque simul pendeat (Mollmann).
Darüber femer, dafs man mit Bücksicht auf die Mitwirkung des
Willens zwei Arten Aufmerksamkeit unterscheiden könne, sind sich die
Philosophen noch einig, und trennen darum die natürliche, unvorsätz-
liche, passive von der willkürlichen, vorsätzlichen, aktiven. Um so
zwiespältiger aber sind sie über MaXs und Art der Mitwirkung des Willens
bei der zweiten Art. Das im einzelnen hier zu verfolgen, wollen wir uns
schenken. Dagegen wollen wir mit Freuden — oder soll ich sagen mit
Beschämung? — konstatieren, dafs, was heute noch immer nur als
Forderung vorhanden ist, schon vor mehr als hundert Jahren in seinem
Wert erkannt worden ist, ich meine das Hand in Hand gehen der Psycho-
logie und der Medizin. Krüger schwärmt von dem „schwesterlichen Band
der Liebe zwischen Arzneigelehrtheit und Weltweisheit und Seelenlehre**,
Schütz preist die Medizin als die „Schwester der Philosophie", ja Metzgeb
sieht in der medizinischen Seelenlehre das einzige Fundament der philo-
sophischen Seelenlehre, ohne welches diese ein schwaches, unhaltbares Ge-
bäude sei. NüDow hingegen klagt über „die schnöde Vernachlässigung
und Geringschätzung der Psychologie besonders von Ärzten" — tont comme
ehez nous beim III. Internationalen Kongrefs für Psychologie in München!
Braunschweiger, „Die Lehre von der Aufmerksamkeit etc.". 497
Dafs bei derartiger Auffassung das Physiologische auch in der
Auhnerksamkeitslehre breiten Baum einnimmt, ist nur natürlich. Der
Gedanke Bonitbts, das Materielle der Aufmerksamkeit gründe sich auf
gewisse Beschaffenheit der Fibern, gewisse Anlage des Gehirnes, kehrt in
verschiedenen Variationen wieder. Freilich laufen dabei manchmal etwas
wunderliche Anschauungen mit unter. So meint üngeb, dafs sich infolge
der Aufmerksamkeit (Erwartung) der Seele die Spitzen deijenigen Nerven
aufrichten, welche zum Ausführen der Handlung, die man gerade vorhat,
nötig sind, so z. B. erheben sich die Nervenspitzen in den Fingern, wenn
man sich anschickt, etwas genau zu befühlen, die Zungenwarzen, wenn
man sich in die Erwartung setzt, ein Stück Zucker oder Salz zu schmecken.
Trefflich ist dagegen Wolffs Beobachtung der Innervationsempfindungen :
Si in Phantasma visibile attentionem dirigis vel eandem in eodem conservas,
in casu priore oculum eidem directe obvertere conaris, in posteriore eundem
conatum continuas.
Die bekannte Thatsache, dafs bei intensiver Aufmerksamkeit auf
einen Teil des Bewufstseinsinhaltes der übrige zurücktritt oder ganz ver-
schwindet, damals häufig Abstraktion genannt, wird von Platnbb nach
BoNKSTS und FosHEYs Vorgang damit erklärt, dafs fast der ganze Nerven-
geist sich auf den einen Gegenstand hinziehe, so dafs bei den übrigen
Gegenständen, wie überhaupt im ganzen Nervensystem, die Wirkung des
anderen, restierenden Nervengeistes vermindert und geschwächt wird. Ist
es viel mehr als ein Wortunterschied, wenn unser Hauptvertreter der
physiologischen Psychologie, Wundt, schreibt: „Ein je gröfserer Teil des
Centralorganes sich in einem Zustand funktioneller Latenz befindet, um
so gröfser wird die Reizbarkeit des funktionierenden Restes"? Übrigens
ist damit die Wirksamkeit der Aufmerksamkeit nach Ansicht mancher
noch nicht erschöpft. Sie nehmen noch an, dafs durch sie die Seele zu
einer Art von Rückwirkung, von Reaktion auf die Organe, die Gehim-
fibern veranlafst würde. „Die Aufmerksamkeit verstärkt die Wirksamkeit
der Vorstellungsnerven oder verlängert die Dauer davon, je nachdem die
Thätigkeit der Seele hierbei stark und erhaltend ist" (Irwing).
Angesichts aller dieser der Aufmerksamkeit zugeschriebenen
Wirkungen können wir es begreifen, wenn sie von den Psychologen sehr
hoch geschätzt wird. Manche preisen sie geradezu Überschwenglich.
CoNDiLLAc, Meier, Tbtbns sehen in ihr das höchste Erkenntnisvermögen,
Hblvbtius erkennt in allen Äufserungen des Geistes die Wirkung der
Aufmerksamkeit wieder; als „Mutter der Wissenschaft" feiert sie
BoERHAAVE, als priucipc de nos lumi^res Croüsaz. Doch würde es uns
zu weit führen, den bald übereinstimmenden, bald sich ergänzenden Aus-
führungen nachzugehen, durch welche diese und andere Lobredner der
Aufmerksamkeit ihre Begeisterung begründen. Übrigens lassen sie es bei
blofs platonischer Liebe nicht bewenden. Sie suchen auch nach Mitteln
und Methoden, die Aufmerksamkeit zu vervollkommnen und auszubilden.
Meier, der alle Geisteskräfte verbessern will, Stiebbitz, Sulzeb, Clebicus
(= Jean Leclbrc), Hblvetius geben mehr oder weniger eingehend Regeln
an, durch die man bei sich und anderen höhere Aufmerksamkeit erzielen
kann. Entsprechend wird dann Wesen und Ursache ihres Gegenteils, der
Vlerteljahrsschiift f. wissenschaftl. Philosophie. XXIII. 4. 33
498 Max Offner:
Zerstreutheit, allseitig beleuchtet und auf ihren psychologischen Wert und
ihre Gefahr hin gewürdigt.
Damit schliefst die mit grofser Sorgfalt und Übersichtlichkeit durch-
geführte, an interessanten Einzelheiten reiche Untersuchung. Die Angaben
scheinen nach den Proben, die Ref. genommen hat, meist genau und ver-
lässig zu sein. Nur S. 154 liegen ein paar Druck- oder Schreibfehler Yor.
Die dort angeführten Schriften Ch. Bonhets befinden sich nicht in Tome
XVIII und XVn der CoUection complete des oeuvres, sondern in Tome VIII.
Ebendort mufs es in der Anmerkung statt „Ausg. des Briefwechsels
Mendelssohns von Brasch" heifsen „M. Mendelssohns Schriften u. s. f.".
Nicht recht befreunden konnte sich Ref. mit der Gewohnheit des
Verf., die Schriften der Philosophen nicht durchweg nach den Original-
ausgaben zu eitleren, sondern möglichst immer nach den deutschen Über-
setzungen. Das ist zu sehr geeignet, über die Zeitfolge der Originalwerke
irrezuführen. Man kann billigerweise nicht verlangen, dafs der Leser die
Erscheinungsjahre der einzelnen Schriften stets parat habe. Aus demselben
Grunde wäre in den Anmerkungen die Aufzählung der citierten Werke
möglichst chronologisch durchzuführen und nicht alphabetisch, wie in dem
angehängten Quellen- und Litteraturverzeichnis. Überhaupt hat Verf. dem
zeitlichen Moment zu wenig Rechnung getragen, das uns wenigstens
einigen Anhaltspunkt geben kann über die Wandlung und Wanderung
eines Gedankens. Gerade die Abhängigkeit des einen Denkers vom anderen,
ihre dadurch gekennzeichnete gröfsere oder geringere Selbständigkeit, das
Persönliche der einzelnen Forscher tritt nach Ansicht des Ref. in dem
Buche doch nicht genügend hervor, obwohl Ref. recht wohl weiTs, dafs
die gestellte Aufgabe diesem Persönlichen schon von vornherein geringen
Raum zugestehen kann. Indes soll uns das nicht hindern, das aufser-
ordentlich fleifsige, viel entsagungsreiche Arbeit verratende Buch will-
kommen zu heifsen.
München. Max Offnbb.
Gutberlet, Dr. Constantin^ Der Kampf um die Seele.
Vorträge über die brennenden Fragen der modernen Psycho-
logie. Mit bischöflicher Approbation. Mainz, Franz Kirch-
heira, 1899. Vin und 501 S. 8^.
Verf., in katholischen Kreisen durch eine Fülle philosophischer
Schriften, besonders Lehrbücher, bekannt, versucht hier die Hauptprobleme
der modernen Psychologie für solche darzustellen, welche der psychologischen
Wissenschaft femer stehen. Seine Darstellung ist aber meist zu einer
Polemik geworden; denn er findet in der neuesten Psychologie die aus-
gesprochene Tendenz, eine Seelenlehre ohne Seele, eine Religion ohne Gott
zu schaffen. Das klingt freilich etwas sonderbar, wenn man an die
psychologischen Untersuchungen der WüNDT'schen und der KBAEPELiN'schen
Schule denkt, wenn man sich der Arbeiten und Lehrbücher von Ebbinghaus,
EhBENFELS, GkOOS, ' HöFLBB, MüLLEB, SCHÜMANN, LiPPS, STUMPF, VOn
Baldwin, Bain, James, Sully u. a. erinnert.
Gutberiet, ^Der Kampf um die Seele". 499
Und was Schlimmes daran sein soll, wenn man aus einer Erfahrungs-
wissenschaft die Metaphysik ausschliefsen will, vermögen wir auch nicht
recht zu verstehen, sintemalen man allgemein zwischen diesen beiden
einen Gegensatz findet, also eine empirische Psychologie eo ipso keine
metaphysische sein kann. Und mehr als empirisch will die moderne
Psychologie gar nicht sein. Diese Bescheidenheit sollte man ihr doch
nicht übel nehmen. Indes auch darüber wollen wir mit dem Verf. nicht
länger rechten. Contra principia negantem non est disputandum kommt
uns hier unwillkürlich in den Sinn.
In neun Vorträgen entledigt sich Verf. seiner Aufgabe. Es seien
wenigstens ihre Titel mitgeteilt: Der gegenwärtige Stand der Psychologie,
Ist die Seele Thätigkeit oder Substanz?, Das „Ich", Der psychophysische
Parallelismus, Über den Sitz der Seele, Neues und Altes über das Gefühl,
Psychologische Religion, Der Spiritismus ein psychologisches Problem,
Der Darwinismus ein materialistisches pantheistisches Vorurteil. Verf.
verfügt übrigens immerhin über ausreichende Kenntnis der einschlägigen
Litteratur, freilich ohne sie jeweils zu geschlossenen Bildern der einzelnen
Richtungen zu verarbeiten. Man erhält dadurch den Eindruck, als ob das
von vielen Seiten zusammengetragene Material nur in grofser Hast anein-
andergereiht worden sei. Viele Flüchtigkeiten in der Darstellung und
die zahlreichen Druckfehler sprechen nicht dagegen.
München. Max Offnbb.
Zehnder, Ludwig, Die Entstehung des Lebens aus
mechanischen Grundlagen entwickelt. I. Teil. Mo-
neren. Zellen. Protisten. Mit 123 Abbildungen im Text.
Freiburg i. B., J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1899. 256 S.
In dem auf drei Bände berechneten Werke, wovon der erste Band
bis jetzt Yorliegt, wird beabsichtigti die Entstehung der „in der organischen
Welt" zu beobachtenden Lebensvorgänge einzig aus der Schwerkraft der
Atome herzuleiten. Vorausgesetzt wird, dafs die Körperatome Schwere,
Volumen und eine für die verschiedenen Atomarten verschiedene Gestalt
besitzen, und dafs den dazwischengelagerten Ätheratomen ebenfalls eine
wenn auch viel geringere Schwere und Ausdehnung zukommt. Alsdann
werden die Körperatome von einer Ätherhtille umgeben sein, welche dichter
ist als der Weltäther. Die Schwingungen der durch die Ätherhüllen zu
Molekeln zusammengehaltenen Atomgruppen entsprechen der Wärme,
diejenigen von Molekelkomplexeu dem Schalle (Claüsiüs). Ebenso ist
nach Ansicht des Verf. die Elektricität auf die Bewegungen der Äther-
atome, das Licht auf diejenigen der Ätherkomplexe zurückzuführen. Die
Vereinigung von Atomen zu Molekeln, womit der Anfang zu Wachstum
und Struktur gegeben ist, wird im wesentlichen darauf zurückgeführt,
dafs die Ätherhüllen atome zweier aneinanderprallender Körperatome dadurch,
dafs ihre Schwingungsphase von der der letzteren sich unterscheidet, sich
zu einer einzigen Hülle vereinigen und dann durch den auf die Körper-
atome ausgeübten Druck diese in ihrem Bestreben, sich nach dem An-
einanderprallen wieder zu trennen, hindern. Die Gröfse der Affinität hängt
33*
500 August Dunges:
ab Ton Temperatur, Licht und Elektricität. Aufserdem aber kommt bei
der Molekelbildung auch die von den Ätherhüllen selbst ausgehende
Strahlung in Betracht, denn sie ist Ursache, dafs vermöge der Resonanz
unter einer Auswahl yon vielen Atomen die gleichartigen bevorzugt werden.
Dc^er sucht jede Molekel die ihren Atomen entsprechenden an sich zu
reilsen, „es kommt dann Assimilation zustande, wenn die passende Nahrung
vorhanden ist". Wie die gleichartigen, so werden auch die gleichorientierten,
d. h. diejenigen Molekeln, bei denen die Atome in derselben Bichtung
gelagert sind, bei der Assimilation bevorzugt. Daraus wird der erste
biologische Fundamentalsatz hergeleitet: „Die Substanz hat das
Bestreben, sich zu vermehren". Dieses Bestreben führt, begünstigt durch
die verschiedenartige Gestalt der verschiedenen Atome, zu einer im Grunde
unendlichen Mannigfaltigkeit von Gebilden, unter denen die im Kampfe
ums Dasein mit den vorteilhaftesten Bedingungen versehenen überdauern
und wiederum zu neuen Bildungen Anlafs geben. So kommen also schon
für diese unterhalb der mikroskopischen Sichtbarkeit sich abspielenden
Vorgänge die Grundsätze der Evolutionslehre zur Anwendung. Das für
den Aufbau der Organismenwelt wichtigste Molekelaggregat ist die
„Fistelle", wobei die Molekeln cylinderförmig um einen Hohlraum gelagert
sind. Indem sich Fistellen infolge der durch Strahlung veranlagten Assi-
milation nebeneinander lagern, entsteht die Membran, welche imstande ist,
in die Fistellenhohlräume Wassermolekeln aufzunehmen und dadurch zu
quellen. „Mit der Quellung nahe verwandt sind die Eontraktionsvorgänge."
„Aus den Fistellen bildet sich demnach kontraktile Substanz" (S. 61).
Die Fistellen selbst können auXser der Cylinderform noch vielerlei andere
Formen haben, so dafs mannigfaltige Gebilde aus ihnen entstehen können,
so „die cylindrische Membran" und „das Ovoid". Von wesentlicher Be-
deutung für die Entstehung solcher Gebilde ist das Vorhandensein der
passenden „Nahrung". Ist dieselbe nicht in genügender Menge gegeben,
so werden schliefslich unter veränderten Nahrungsbedingungen neue
Bildungen entstehen und von ihnen diejenigen im Kampfe ums Dasein
fortdauern, welche den neuen Verhältnissen sich anzupassen imstande sind.
Daher der zweite biologische Fundamentalsatz: „Die Substanz hat
das Bestreben, sich ihren Daseinsbedingungen anzupassen". Die wichtig-
sten Fistellengebilde sind: Bläschen, Kömchen, Eöhrchen, Fibrille und
Gastrula. Die Entstehung der Gastrula wird aus Nahrungsmangel her-
geleitet, indem die Fistellenmembran, welche sich zu einem kugelförmigen
Gebilde (Bläschen oder Kömchen) zusammenschliefsen will, die letzten,
zum Abschlufs dienenden Fistellen zu erzeugen verhindert ist, und das
fertige Gebilde daher eine Öffnung behält. Besteht die Fibrille aus kon-
traktiler Substanz, so treten bei Nahrungsaufnahme Bewegungserscheinungen
auf, indem auf der Seite, auf welcher die Nahmng aufgenommen wird,
Quellung stattfindet. Die Gastrula wird sich, wenn sie ringsum von
Nahrung umgeben ist, in ihrer Gesamtheit ausdehnen, und sich zusammen-
ziehen, wenn keine Nahrung da ist. „Sie wird dadurch in ihr Inneres
Nahrung selbstthätig einsaugen, wenn solche in ihrer Umgebung vorhanden
ist, sie wird nicht nahrhafte Flüssigkeit wieder ausstofsen. Durch solche
Kontraktionen und Expansionen kann die Gastrula Ortsveränderungen
Zehnder, „Die Entstehung des Lebens etc.". 501
Yomehmen, wenn die ersteren und die letzteren Bewegungen mit ungleichen
Geschwindigkeiten ausgeführt werden" (S. 95). Durch Apposition und
Intussusception neuer Fistellen yergröfsem sich die Fistellengebilde, die
kugelförmige Membran der Bläschen wird gespannt (entweder unter Bei-
behaltung der Kugelform oder unter Annahme einer elliptischen Form)
und schliefslich zum Zerplatzen gebracht. Dann sind zwei Membranen
vorhanden, die sich infolge ihrer natürlichen Beschaffenheit wieder kugel-
förmig krümmen werden, so daTs zwei dem ursprünglichen Gebilde gleich-
artige Bläschen entstehen. Damit hat eine Fortpflanzung durch äquale
Teilung stattgefunden. Bei inäqualer Teilung bezeichnet man den analogen
Vorgang als Enospung. Auch Körnchen und Gastrula pflanzen sich in
entsprechender Weise fort. Zu den aus Fistellen sich zusammensetzenden
Gebilden gehört schliefslich auch die Zellmembran. Sie ist infolgedessen
durchlässig vor allem für diejenigen Stoffe, welche die Zelle erhalten.
Sowohl für die Zelle als auch für den Zellkern wird die Membran als
wesentlicher Bestandteil angesprochen, der auch da yorhanden ist, wo ihn
das Mikroskop noch nicht gezeigt hat. Kernlose Zellen, die . Moneren,
müssen entweder noch jetzt in der Natur bestehen, oder doch, als Vorfahren
unserer jetzigen Generationen, einmal bestanden haben, und es müssen
dieselben durch Urzeugung entstanden sein (S. 129). Die Zelle ist im
wesentlichen zusammengesetzt aus Fistellengebilden (Bläschen, Kömchen,
Eöhrchen u. s. w.). In diesen Gebilden kämpfen alle Molekeln, alle Fistellen
fortwährend ihren Kampf ums Dasein. Die beständigsten siegen und
pflanzen sich fort. Dadurch wächst die Zelle. Wird die Zellmembran
durch äufsere Kräfte mälsig beansprucht, ohne dafs dabei ihre kleinsten
Teilchen zerreifsen, so mufs sie stärker assimilieren, als wenn sie nicht
beansprucht würde. Ihre Molekeln strahlen stärkere Ätherwellenbewegungen,
stärkeres Eigenlicht aus. Die Membran „arbeitet". Überhaupt jede Sub-
stanz, welche in den Grenzen ihrer Fähigkeit arbeitet, kräftigt sich selbst
durch verstärkte Assimilation vermöge ihrer verstärkten Molekularbewegung.
Dem entspricht der dritte biologische Fundamentalsatz: „Die
Funktion erhöht das Bestreben der Substanz, sich zu vermehren". Die
Zellmembran funktioniert vor allem als verdauendes Organ (S. 153), indem
sie aus einer Nährflüssigkeit für sich und die anderen Zellsubstanzen die
nötigen Stoffe aufnimmt. „Jede von diesen Substanzen sucht nach Mög-
lichkeit zu assimilieren, sucht sogar die anderen Substanzen in die mit
ihr gleichartige zu verwandeln, und nur dann verliert ein solches Bestreben
wesentlich an Stärke oder es verschwindet ganz, wenn die sich berührenden
Substanzen in dem entsprechenden Gegenseitigkeitsverhältnisse günstigster
Besonanz zu einander stehen. Gebilde des Zellinnem, welche mit eigenen
Bewegungsorganoiden begabt sind, können sich selbständig im Zellsaft
bewegen und ihre Nahrung aufsuchen." Aufser der verdauenden Substanz
enthält jedes Gebilde, auch das kleinste und einfachste, Stützsubstanz,
transportierende, secemierende, kontraktile und nervöse (reizleitende)
Substanz. „Besteht dasselbe nur aus einer einzigen Substanz, so mufs
sie allein alle diese Funktionen übernehmen" (S. 165). In einem kompli-
zierten Gebilde, wie die Zelle, kommt es zur Differenzierung, indem jede
der erwähnten Funktionen von einer besonderen Substanz übernommen
502 August Dunges: Zehnder, „Die Entstehung des Lebens etc.".
wird. Die reizleitende unterscheidet sich von anderer Substanz durch
ihre gröfsere chemische ümsetzbarkeit, die von ihr übertragenen Beize
sind wahrscheinlich in der Kegel chemischer Natur (S. 163). Wirken
Reize anderer Art (thermische, akustische, elektrische u. a.) auf die Zelle,
80 können sie nach dem Gesetz von der Erhaltung der Energie in chemische
Beize umgewandelt werden. Aber nicht blofs eine chemische, auch eine
morphologische Differenzierung (S. 172) findet in der Zelle statt, so dafs
die Substanzen in Bezug auf ihre Gestaltung und den Platz, den sie ein-
nehmen, den Forderungen der ZweckmäXsigkeit unterliegen. Endlich
kommt auch eine Differenzierung mehrerer Zellen zur Ausbildung, indem
in jeder Zelle gerade die Substanz, welche yermöge einer besonderen
Funktion besonders in Anspruch genommen wird, am stärksten assimiliert.
So entstehen Nervenzellen, kontraktile Zellen, Stützzellen u. s. w.
Die Fortpflanzung kommt zustande, indem jede einzelne Substanz,
die sich in der Zelle befindet, sich in ihrer Weise vergröfsert oder ver-
mehrt. „Sind Bläschen, Körnchen, Böhrchen, Fibrillen, Gastrula im Zell-
innem, so teilen sie sich infolge solchen Wachstums direkt in zwei gleiche
Teile, oder sie knospen und lassen schliefslich indirekt doch zwei gleich-
artige Gebilde entstehen, oder sie vermehren sich durch ganz einfache
Ablösung von Fistellen oder Molekeln." Für die mikroskopisch sichtbaren
Vorgänge der Zellteilung wird eine sehr interessante Theorie entwickelt.
Hier sei nur erwähnt, dafs die Kernspindel als die nervöse Substanz an-
gesehen wird, welche bei der die Teilung einleitenden Vergröfserung des
Zellkerns sich vorerst noch nicht vergröfsert, so dafs ihre in dem „Central-
körperchen" zusammenlaufenden Fäden gespannt und dadurch sichtbar
gemacht werden. Das Central- oder Polkörperchen wächst dann zuerst
und teilt sich, während die Fäden vorerst noch angespannt bleiben. Dieses
Körperchen ist überhaupt die Centralstelle, von der aus alle Vorgänge in
der Zelle scheinbar geleitet werden (S. 187).
Der letzte Abschnitt des hervorragenden Buches bringt zur Be-
festigung der darin entwickelten Theorien Belege aus der Litteratur.
Das Erscheinen der beiden anderen Teile des Werkes darf mit Spannung
erwartet werden.
Gleve. August DOnoes.
Spencer^ Baldwin, and Gillen, F. J., The Native Tribes of
Central Australia. London, Macmillan a. Co., 1899. 692 S.
Das vorliegende Werk gehört zu den wenigen, in letzterer Zeit
glücklicherweise etwas häufiger werdenden wirklich wissenschaftlichen
Schilderungen fremder Völker, die sich nicht auf ein blofses Begistrieren
des zufällig Wahrgenommenen und Dargebotenen beschränken, sondern
auf Grund eindringender Fragestellungen ihr Material selbständig ver-
arbeiten. Es kann in dieser Beziehung mit dem bekannten Buche Kasls
VON DBN Steinen über die Schingustämme verglichen werden, obschon es
diesem an Beichtum der psychologischen Beflexion nachsteht. In erst-er
Linie wirkt es statt dessen durch die Fülle der sorgsam und einheit-
lich verarbeiteten Thatsachen. Sie stellen uns nachdrücklich die wunder-
A. Vierkandt: Spencer and Gillen, „The Native Tribes etc.". 503
bare Eigenart der Kultur der Australier vor Augen, die in dem Mifsver-
hältnis zwischen der geringen Entwicklung ihres materiellen Elementes
und der reichen Entfaltung ihrer geistigen Seite auf dem socialen, mytho-
logischen und religiösen Gebiete besteht. Der letzteren gilt vorzüglich
die Darstellung, aus der wir hier einige wichtige Punkte erwähnen. In
den verwickelten Klassenorganisationen der Eingeborenen und den vielen
Formen eines freieren Geschlechtsverkehrs erblicken die Verf. im Gegensatz
zu anderen, die letzteren nur als sekundäre Eückbildungen deutenden
Auffassungen die Eudimente einer ehemaligen Gruppenehe, durch die als
eine ältere Form eine einstige noch freiere Kegelung der Geschlechts-
beziehungen hindurchschimmert. Völlig unabhängig von dieser Organisation
ist die Totemgliederung, die einen rein örtlichen Charakter trägt. Die
Zugehörigkeit eines neugeborenen Kindes zu einem Totem richtet sich
übrigens nicht nach den Eltern, sondern nach der Örtlichkeit, wo die
Mutter glaubt es empfangen zu haben; denn man nimmt an, dafs bei
diesem Akt der Geist eines Verstorbenen seinen Einzug in sie gehalten
habe, und glaubt, dafs diese Geister nach ihrer Totemzugehörigkeit an
bestimmten, heilig gehaltenen Ortlichkeiten, deren es in jedem Totembezirk
je eine giebt, hausen. Sie stehen dabei in enger Beziehung zu gewissen
heiligen Objekten, Steinen oder Hölzern, Alcheringa genannt, die in dem
Stammesheiligtum aufbewahrt werden. Jedem Kinde wird demgemäfs bald
nach seiner Geburt von bestimmten männlichen Personen ein solches Objekt
zugewiesen, das entweder vorher aus dem Heiligtum zu diesem Zweck
herausgeholt oder künstlich hergestellt wird. Zwischen ihm und der Seele
des Kindes besteht ein gewisser Zusammenhang, der gegenwärtig nicht
näher bestimmt ist, während man früher die letztere geradezu in jenem
weilend glaubte. Die meisten Alcheringa sind übrigens mit Zeichnungen
verziert, welche Menschen, Tiere, Pflanzen u. s. w. in sehr primitiver, fast
völlig konventionalisierter Weise andeuten (S. 146 — 150) und für die
Entwicklungsgeschichte der Ornamentik nicht ohne Interesse sind.
Allgemein lassen die Mitteilungen über das religiöse Leben die
aufserordentliche Eealität erkennen, welche die übersinnliche Welt für die
Naturvölker besitzt. Die Geister werden, wie überall, wie leibliche Menschen
mit körperlichen Mitteln angelockt, bedroht, vertrieben u. s. w., und wo
sie in bestimmten Gegenständen lokalisiert sind, werden sie oder ihre
Zauberkräfte in grob mechanischer Weise durch Streichen, Drücken,
Saugen u. s. w. aus ihnen entfernt und anderen Körpern mitgeteilt. Auch
für die Kolle, welche die Suggestion bei dem Glauben an die Geisterwelt
spielt, enthält das Werk Belege. Der Eingeborene stirbt auch an einer
leichten Wunde, die ihm ein feindlicher Speer beigebracht hat, falls er
diesen für verzaubert hält. Eine Klasse von Medizinmännern behauptet,
bei der Ausübung ihres Berufes von gewissen Steinen abhängig zu sein,
die die Geister in sie hineinpraktiziert haben, und die von ihnen wieder
in die Kranken hineingezaubert werden. Thatsächlich erklären sie sich
oft für unfähig zur Behandlung Kranker, weil ihnen der Vorrat ausgegangen
sei. Über die Frage der Mitwirkung des Betruges bei diesen Dingen
äufsem die Verf. sich dahin, dafs jüngere Männer wohl oft, um anderen,
an deren übernatürliche Kräfte sie glauben, in den Augen des Publikums
504 Felix Krueger:
nicht nachzustehen, zum Betrüge greifen, an seine Stelle aber später meist
die Überzeugung oder wenigstens die gedankenlose Gewohnheit trete
(S. 123, Tergl. S. 623) — also auch hier eine ähnliche Verquickung niederer
und höherer Elemente, wie sie bei uns die Grundlage so vieler sociider
Institutionen bildet.
Für die Sorgsamkeit der Fragestellung liefert einen glänzenden
Beweis die Erörterung eines Problemes (S. 12 — 14), dessen Behandlung
man überall in der ethnographischen Litteratur schmerzlich yermirst: wir
meinen die Frage nach dem Mechanismus der Entstehung und Wandelung
der Sitten, die bei dem anscheinend so starren, völlig objektiven Charakter
der Sitte so rätselhaft erscheint. Höchst wahrscheinlich gehen die
Änderungen in völlig planvoller Weise von einzelnen Individuen
aus, nämlich von einzelnen besonders intelligenten Stammeshäuptlingen,
die sie bei den Versammlungen benachbarter Häuptlinge in Vorschlag
bringen und eventuell durchsetzen. Von ihrem Ürsprungsgebiet breiten
sie sich dann in ähnlicher Weise weiter aus.
A. ViERKANDT.
Liebmann, Otto, Gedanken und Thatsachen. Philo-
sophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien. I. Bd.
(In 3 Heften.) Strafsburg, Trübner, 1899. X und 470 S.
Schwierige Probleme der Wissenschaft in schöner, auch dem denken-
den Laien zugänglicher Form zu behandeln, ist eine wichtige Aufgabe
des Gelehrten, der zugleich ein stilistischer Könner ist. Das yorliegende
Werk ist wohl geeignet, weitere Kreise zu philosophischem Denken an-
zuregen. Das Moralproblem und die Fragen der Ästhetik werden freilich
nicht berührt in diesen philosophischen Essays, die uns von der Universität
Schillers und Fichtbs kommen. Aber die Probleme der Erkenntnistheorie,
Naturphilosophie und allgemeinen Psychologie bedürfen ebenso sehr der
leicht verständlichen und zugleich gründlichen Darstellung. Innerhalb
dieser Grenzen bewegen sich die acht hier vereinigten Arbeiten Libbmanns.
Der Grundton, auf den sie einheitlich gestimmt sind, ist Kants trans-
cendentaler Idealismus, wie er in des Verf. Hauptwerk „Zur Analysis der
Wirklichkeit" verstanden wird.
Das erste Heft (121 S.) ist der unveränderte Abdruck einer im
Jahre 1882 erschienenen ersten Ausgabe. Die an der Spitze stehende
Abhandlung erörtert in streng wissenschaftlicher Form und in systematischer
Gliederung die Arten der Notwendigkeit. Der Unterschied zwischen
realer und intellektueller Notwendigkeit wird sehr einleuchtend gemacht;
innerhalb der intellektuellen wird hier, wie in der 2. Aufl. der „Analysis",
von der logischen noch die intuitive oder Anschauungs-Notwendigkeit
bezw. -Möglichkeit unterschieden, und diese Unterscheidung wird gegen
mancherlei Einwände scharfsinnig verteidigt. Was zur Synthese der ver-
schiedenen Begriffe von Notwendigkeit gesagt wird, läuft auf eine qnanti-
tative Über- und Unterordnung hinaus (mit Bücksicht auf das Geltungs-
gebiet). Mir scheint noch eine innigere, qualitative Synthese hier möglich
zu sein, und zwar auf psychologischem Wege. Der Aufsatz endet mit
Liebmann, „Gedanken und Thatsachen". 505
einer schematischen Stufenordnung der deduktiven Wissenschaften nach
Mafsgabe ihrer Allgemeinheit und Notwendigkeit. Die prinzipielle Ethik
und Psychologie finden leider keine Stelle in diesem systematischen Ent-
\ wurf. — In der zweiten Untersuchung werden weniger Fragen beantwortet,
als ungelöste und vielfach übersehene Bätsei aufgezeigt. Sie handelt von
der mechanischen Naturerklärung, ihren Voraussetzungen und ihrem
hypothetischen Charakter. Besonders interessant sind die historischen und
sachlichen Bemerkungen zum Problem der actio in distans und der be-
schleunigenden Kraft. — Eine dritte, „rhapsodische Betrachtung^ behandelt
die Begriffe Idee und Entelechie und ihre unverminderte Bedeutung
für die moderne Naturauffassung. Die idiotypische, mehr individualistische
Anschauung des Aristoteles behält schliefslich ein starkes Übergewicht
gegen die universalistische (nomokratische) des Platon.
Heft n (177 S.) enthält eine zusammenhängende Beihe von „Ge-
\ danken über Natur und Naturerkenntnis**. Ausgehend von er-
kenntnistheoretischen und allgemeinen methodischen Fragen schreitet die
^ Untersuchung durch die anorganische zur organischen Natur vorwärts.
Wichtige Theorien und Hypothesen der modernen Physik, Chemie und
Biologie werden in ihrer prinzipiellen Bedeutung beleuchtet. Die Um-
wälzungen des naturwissenschaftlichen Denkens durch Galilei und Newton,
Darwin und B. Mater werden in ihren Voraussetzungen wie in ihren
Eonsequenzen dargestellt. Das Problem der Teleologie erscheint in engerem
Zusammenhange mit Thatsachen des organischen Lebens. Ein Grund-
gedanke des ganzen Buches ist die ünvermeidlichkeit des anthropo-
centrischen — ja, näher noch: psychocentrischen — Standpunkts für alle
Naturbetrachtung.
Der Inhalt des dritten Heftes (170 S.) ist allgemein psychologisch.
Zunächst werden „die Bilder der Phantasie** in ihrem Verhältnis zu
den Empfindungen, Hallucinationen, Illusionen und verwandten Thatsachen
beschrieben. Die (etwas summarische) Darstellung der pathologischen
Erscheinungen betont wiederholt den von der Psychiatrie zuweilen ver-
nachlässigten emotionalen Faktor. — Es folgt eine Analyse des Zeit-
bewufstseins mit einer kurzen Besprechung des Unterschiedes zwischen
Erinnerung und Phantasie und einer dialogischen Erörterung des Para-
doxons „Ich bin in der Zeit; — die Zeit ist in mir**, wobei der Doppelsinn
des Wortes „in** mehr hätte herausgestellt werden können. — An dritter
Stelle findet sich ein „Versuch** über die Sprachfähigkeit. Er verwertet
interessante Thatsachen aus dem Gebiete der Tierpsychologie und findet
den wahren inneren Grund der menschlichen Sprachfähigkeit im Mitteilungs-
bedürfnis. Bedenkt man jedoch, dafs zahlreiche höhere Tiere dieses Be-
dürfnis zweifellos empfinden können und doch niemals in den Besitz einer
Lautsprache gelangen, so erscheint dieser einfache Erklärungsversuch von
vornherein als unzureichend. Ohne jede Bücksicht auf biologische und
physiologische Thatsachen wird das Problem nicht wesentlich zu fördern
sein. Bei der Behandlung der Urteile ist, wie schon an einer früheren
Stelle, die notwendige Unterscheidung zwischen dem Standpunkt des
Sprechenden und dem des Hörenden zu vermissen. — Den Schlufs bilden
psychologische Aphorismen, die wenig Neues enthalten, aber vieles
506 Eaoul Bichter:
Wichtige treffend bezeichnen. Nach einigen kritischen Bemerkungen über
Materialismus und psychologisierende Gehirnphysiologie geht der Verf. zu
einer Kritik des WBBEB'schen Gesetzes über, deren Eesultat ungefähr mit
WuNDTs psychologischer Auffassung übereinstimmt. Lehrreich ist femer
die mehrfache Polemik gegen die reine Associationspsychologie und den
psychologischen Atomismus. Daran schliefsen sich geistyolle Apergüs über
die Enge des Bewufstseins, das Unbewufste, den Willen, zuletzt über das
früher schon zuweilen gestreifte Problem des Ich. Der Psychologe wird
an diesem letzten Punkte nicht geneigt sein, das Feld so rasch dem
„Transcendentalphilosophen^ zu räumen, wie Libbman» das fordert. Mit
besonderer Vorliebe weist der Verf. hier und allenthalben auf die Grenzen
wissenschaftlicher Erkenntnis hin. Vielfach jedoch scheinen mir diese
Grenzen zu eng gezogen und der Schritt ins Metaphysische verfrüht. Die
gefährliche Vieldeutigkeit der Begriffe subjektiv und objektiv, innen und
aufsen, Schein, Erscheinung, Erfahrung und Eealität erfordert ein strengeres
Auseinanderhalten ihrer verschiedenen Bedeutungen und genauere empirische
Definitionen, als das bei essayartiger Behandlung üblich ist. — Ungemein
wohlthuend ist der wahrhaft historische Sinn, mit dem Liebmann überall
die Probleme und die Versuche ihrer Lösung weit in die Geschichte des
menschlichen Denkens zurückverfolgt, und die Achtung, mit der er den
grofsen Denkern der Vergangenheit begegnet. Es giebt so viel Gelehr-
samkeit und Scharfsinn ohne Vornehmheit; ein Zeichen vornehmer Geister
ist, dafs sie verehren können.
Eiel. Felix Kbüegeb.
Desdouits^ Th., La Eesponsabilite Morale. Examen des
doctrines nouvelles, ouvrage couronnö par rAcad6mie des
Sciences Morales et Politiques. Paris, Fontemoing, 1896.
179 S.
Fnlliqnet, Georges, Essai sur 1' Obligation Morale.
Paris, Alcan, 1898. 454 S.
Nayille, Ernest, Le Libre Arbitre. ü. Edition. Paris,
Alcan, 1898. 311 S.
Die drei Bücher wollen gemeinsam besprochen sein. Ihre Verf.
(auch der Schweizer Naville) sind Vertreter der französischen Philosophie,
die behandelten Gegenstände gleiche oder ähnliche : sittliche Verantwortung,
sittliche Pflicht, sittliche Freiheit mit den angrenzenden metaphysischen
und psychologischen Gebieten. Aber neben dieser mehr äufseren Überein-
stinmiung zwischen den untersuchenden Subjekten und zwischen den unter-
suchten Objekten verbindet die Schriften ein innerlicheres Gemeinsames:
Grundanschauungen und Tendenzen, die für gewisse Erzeugnisse der
modernen französischen Philosophie vielleicht typisch sind, nicht gerade
zu deren Vorteil; und da die Autoren sich aus der unbedeutenden Masse
herauszuheben scheinen (Naville pflegt in philosophiegeschichtlichen Werken
Desdonits, Fulliquet und Nayille. 507
als einer der Erneuerer des Spiritualismus genannt zu werden, Desdottits'
Arbeit ist eine gekrönte Preisschrift, die Fdlliqubts zeugt von Kenntnissen
und Geist), so kann man an ihren Schriften nicht achtlos yorttbergehen.
Diesen nun ist bis auf ihre einzelnen Teile herab eigentümlich: Bück-
ständigkeit in den wissenschaftlichen Grundanschauungen, Zaghaftigkeit
des geistigen Gewissens, die einmal gewonnene Überzeugung auch nur
unzweideutig klar auszusprechen, in der Begründung eine rein begriffliche,
fast nur sprachliche Logik, deren Schärfe mehr glänzt als schneidet.
Bückständig will ich es noch nicht einmal nennen, wenn die in Rede
stehenden Verf. sämtlich die Begründung einer Moral ohne Gott, Freiheit
und Unsterblichkeit für unmöglich halten, wohl aber die Art, wie sie
dabei zu Werke gehen: als ob Kant niemals eine transcendentale Dialektik
in der Kritik der reinen Vernunft geschrieben hätte ! (Von Kant behagt
ihnen überhaupt nur der zweite Teil der Kritik der praktischen Vernunft
mit dem Inhalt der drei Postulate, falls die Form des Postulats dabei zum
Dogma umgegossen wird.) Daher sieht man all das Büstzeug der yor-
kritischen Philosophie zum Kampfe für die genannten religiös-metaphysischen
Dogmen, kaum frisch geputzt, wieder heryorgeholt; über den Ursprung
des Bösen werden, wie zu Leibniz' Zeiten, subtile Nachforschungen an-
gestellt (NAyiLLE S. 267 ff.), für die Bealität einer Seelensubstanz mit
den alten cartesianischen Argumenten eifrig Lanzen gebrochen (Desdouits
S. 71 ff., Navillb S. 64 ff., 79 ff., 260 ff.). Dafs und warum kritische
Erkenntnislehre und moderne Psychologie gerade auf diesem Punkte zu
gleichem, Desgabtbs' Meinung entgegengesetztem Ergebnisse gelangt
sind, wird nicht etwa widerlegt, sondern einfach ignoriert (besonders
deutlich NAyiLLE S. 67). Natürlich, dafs auch die alte Trennung der
„Vermögen", yon Sinnlichkeit und Vernunft, höheren und niederen Seelen-
bestandteilen mit der üblichen rationalistischen Wertung der Sinnlichkeit
als der Quelle alles Falschen und alles Bösen in naiyster Weise wieder-
kehrt (NAyiLLE S. 70—71, Fulliquet S. 60 ff.). Überhaupt sehen wir die
dualistische Tendenz Descartes' sich über alles ausdehnen: Gott und Welt
(Desooüits S. 172), Organisches und Anorganisches (Fulliquet S. 32 ff.),
J Leib und Seele, Mensch und Tier (NAyiixE S. 70 ff., Fulliquet S. 197 ff.).
Jede monistische Weltanschauung wird geradezu als Todfeind (insonderheit
der Moral) betrachtet („le monisme est le postulat de toute doctrine qui
nie la responsabilit^ humaine", Desdouits S. 92, Fulliquet S. 243 ff.).
Eine solche wird yor allem in der Eyolutionstheorie gewittert; nicht
biologisch, sondern logisch sucht man diese zu widerlegen — in erster
Linie aber sollen ihre bösen moralischen Folgerungen, besonders der un-
sittliche Determinismus, ihre Irrtümlichkeit erweisen (Desdouits S. 103 ff.,
Fulliquet S. 248 ff., NAyiLLE S. 21 ff.). Dem allen liegt die grundfalsche
Anschauung unter, als ob ohne spiritualistische Metaphysik weder Sittlich-
keit noch Sittenlehre möglich sei — man sollte denken, nach A. Langes
„Geschichte des Materialismus'^ ein endgültig überwundenes Vorurteil.
Über die Zaghaftigkeit in der Eestauration solch alter Anschauungen
und die daraus entspringende Mattigkeit im Ausdruck der eigenen Meinung
will sich Ref. nicht yerbreiten; jeder Leser dieser Werke wird den Mangel
an klarer, reiner Luft yon selbst yerspüren.
i
508 Baoul Bichter:
Noch ein Wort über die Methode, die Art der wissenschaftlichen
Begründungsweise : überall macht sich der Mangel an genauer Beobachtung*
der Erfahrung, besonnener und vorurteilsloser Bearbeitung des Beobachteten
geltend. Dagegen nehmen die ontologische Beweismethode (Nayille S. 256 ff.)
und die abgebrauchten Kniffe der scholastischen Dialektik (ebenda S. 234 ff.,
Desdouits S. 57 ff.) einen um so breiteren Baum ein. Alles in allem ist
in den drei, zusammen ca. 1000 Seiten fassenden Schriften auch kaum eine
These, die nicht Schofenhaueb in seinen beiden ethischen Abhandlungen
(auf ein Viertel des Baumes) klarer präcisiert und begründet oder schlagen-
der widerlegt hätte. Bef. hat diese allgemeinen, leider einer ganzen
Klasse französischer Arbeiten geltenden Bemerkungen nur ungern und
mit Widerstreben niedergeschrieben; es schien ihm aber Becht und Pflicht,
weil die Verf. typische Vertreter einer gewissen wissenschaftlichen Bück-
zugsarmee sind, weil sie sich zudem in unbescheidenster Weise über die
gröfsten wissenschaftlichen Errungenschaften der Neuzeit hinwegsetzen,
weil sie endlich durch den Glanz einer Fseudologik den Uneingeweihten
zu blenden und irre zu führen geeignet sind.
Über den speciellen Inhalt der einzelnen Schriften nur wenige Worte.
Die gekrönte Preisschrift Desdouits' bringt im ersten Teile „Partie
analytique" (S. 9 — 46) eine — durchaus ungenügende — Darstellung der
hauptsächlichsten neueren Lehren über die sittliche Verantwortung: der
Moralphilosophie St. Mills, der italienischen Schule (Lombboso, Garofalo),
der Eyolutionstheorie (Spemceb, Fouill£b, Paulhan, Tabdb), der Neo-
kantianer (Lävy-Lbbrun) ; im zweiten Teile (S. 46 — 173), der „Partie
critique", die Beurteilung der Grundlagen und Folgerungen genannter
Theorien. Zunächst gelangt die Widerlegung des Determinismus zu Gunsten
einer Willensfreiheit ganz im Sinne des alten liberum arbitrium in-
differentiae zu folgendem scholastischen Ergebnis, dessen blofse Wiedergabe
jede Kritik überflüssig macht: „Le d6terminisme n'est absolument pas
autre chose que la loi d'inertie elle-m§me . . . le döterminisme tient unique-
ment ä. Fimpossibilit^ de choisir. Ainsi le d6tenninisme n'est qu'un degr6
inf6rieur d'actiyit^. II s'explique non par une cause efficiente, mais par
une cause d6ficiente" (S. 59). Folgt in der Prüfung der Grundlagen die
übliche Bekämpfung des Monismus (allein schon gerichtet durch S. 98 A. 1)
und die Bettung einer „substance spirituelle". Die zweite Hälfte des
kritischen Teiles zählt alle die bösen Folgen auf, zu denen die modernen
Moral theorien angeblich führen sollen; auf dem Gebiete der Sittlichkeit
liegen die schlimmsten (S. 99 — 117), aber auch Staat und Gesetzgebung
(S. 118—127), Kunst (S. 128—144) und Erziehung (S. 145—163) werden
schwer geschädigt. Es verlohnt nicht der Mühe, die oberflächlichen Aus-
einandersetzlingen hierüber im einzelnen zu referieren oder gar zu wider-
legen ; nur das eine, wiederum weil es typisch ist, sei hervorgehoben : der
Fehlschlufs des Verf. und seiner zahlreichen Gesinnungsgenossen von der
Bedauerlichkeit der Konsequenzen auf die Irrtüpilichkeit des Prinzips.
FüLLiQUBTs Essai sur PObligation Morale zeugt von eingehenderen
Kenntnissen und gründlicherem Denken. Die Erklärung der Bedeutung
der sittlichen Verpflichtung will die Etüde psychologique (S. 9 — 196) ge-
leistet haben. Auch hier wird vor allem gegen den Determinismus ange-
Desdonits, Fulliquet and Nayille. 509
kämpft und die sittliche Freiheit gerettet. „Le potentiel Tital^ ist der
Bronn dieser Freiheit, der jedem Lebewesen fliefst : Bubidans Esel würde
nicht verhungert sein! (S. 35 ff.) Die Freiheit aber ist lediglich Wahl-
freiheit, „la libert^ r^side entierement dans le choix, mais tout, sauf le
choix, est rigoureusement n^cessit^^ (S. 72). Die Freiheit kennt nur ein
Gesetz: die Pflicht (S. 92). Zur Erklärung des Pflichtgefühls wird der
Mensch in zwei Hälften gespalten: ein Bewnüstes und ein Ünbewulstes.
Im Beiche des letzteren wirkt die verpflichtende Kraft, das Freiheits-
bewufstsein verspürt nur ihre Wirkung „Pobligation est Pinfluence du moi
inconscient sur le moi conscient^ (S. 276). Als die Eigentümlichkeit der
verpflichtenden Kraft wird unter Kants Einflufs angegeben, dafs sie absolut
und nur auf das, was wir für gut halten, gerichtet ist. Auf solch bequeme
Art wird dann der Gottesbeweis geführt: „qui dit saint et absolu, dit
Dieu" (S. 105). Gut ist nicht ein Etwas, zu dem wir verpflichtet sind,
sondern wozu wir verpflichtet sind (besser : uns fühlen), ist gut („Le bien
BS ce qui est obligatoire", S. 130). Die einzelnen moralischen Imperative
werden durch Umformung psychologischer Gesetze gewonnen (S. 133 — 158),
die bestgeschriebene Partie des Buches. Im zweiten, kritischen Teil zeigt
F. dann das Scheitern aller Moraltheorien, welche die Pflicht aus den
egoistischen (Utilitarismus) oder den altruistischen Trieben (Schopenhaubb),
der Vernunft (Positivismus) oder dem Ideal (Fouill^b), dem Entwicklungs-
gesetz oder den Forderungen der Gesellschaft ableiten. Eine „Etüde
historique", welche mit Sachkenntnis die Sittenlehre Kants, Schopbnhauebs,
Spbngbbs, Bbnouvibbs, S^cbetans, Fouillües und Güyaus bespricht, be-
schliefst das Buch.
Navillbs Schrift „Le Libre Arbitre'' mutet sonderbar mittelalterlich
an. Der analytische Teil handelt von der Idee der Freiheit (S. 26—105),
den Zeichen der Freiheit (S. 106—145), den Einwürfen gegen die Freiheit
(S. 146—195). Von den 70 Thesen und Beweisen, welche die Existenz
der Wahlfreiheit darthun sollen, wüfste ich nicht eine, die es der Mühe
lohnte, herauszuheben. Die „Synthese" bespricht die Verträglichkeit der
Freiheitsidee mit den drei Weltanschauungen des Materialismus, Idealismus
und Spiritualismus (eine durch nichts gerechtfertigte Dreiteilung) und ge-
steht dem Spiritualismus als dem Better in allen moralischen, theologischen
und psychologischen Nöten den Preis zu. Den scholastischen Geist der
Schrift kennzeichnet zur Genüge die These 92 mit ihrem Beweise: „Le
spiritualisme explique Pexistence de la libert6 par la doctrine de la cr6ation".
„Si Pon admet que la libert6 est le degr6 le plus 61ev6 de P^tre,
la libertö relative de Phomme ne peut proc^der que de la libert6 supreme
du Cr^ateur. Tout autre Systeme ferait provenir la libert6 de quelque
chose qui lui serait inf^rieur. Or, admettre que le plus proc^de du moins,
non pas dans le d6veloppement progressif d'une virtualit6 pr^existante,
mais dans le sens absolu des termes, c'est admettre des ph^nom^nes saus
cause, c'est nier les bases de la raison; c'est attribuer un pouvoir pro-
ducteur au n6ant, ce qui constitue un jugement contradictoire, puisque le
n6ant n'est que Pexpression de la n^gation pure, du non §tre dont rien ne
saurait sortir."
Leipzig. Baoul Bichtbb.
510 Raoul Richter: Boutroux, „Etudes d'Histoire de la Philosophie".
Bontroux, Emile, Etudes d'Histoire de la Philosophie.
Paris, Alcan, 1897. 443 S.
Die Schrift steht in vorteilhaftem Gegensatz zu den eben be-
sprochenen Proben der französischen Philosophie. Philosophiegeschichtliche
Skizzen, aus den yerschiedensten Anlässen entstanden, sind hier zu einem
ansehnlichen Bande vereinigt worden. Ihnen liegt eine bescheidene und
für die Bearbeitung einzelner Gebiete gewifs auch die berechtigste
Auffassung von der Geschichte der Philosophie zu Grunde: nicht die
Philosophen „ala mehr oder minder gelehrige Werkzeuge einer immanenten
Weltvemunft" zu betrachten, nicht den absoluten Wahrheitsgehalt ihrer
Systeme herauszuschälen und das Vergängliche fallen zu lassen, vielmehr
die Lehren der Denker im Sinne ihrer Schöpfer darzustellen und zu er-
klären. Durch diesen Standpunkt gewinnen die einzelnen Studien eine
erfreuliche Parteilosigkeit, welche bei höheren Absichten sich nicht immer
einhalten liefse. Gleich der erste Artikel über „Sokrates als Gründer der
Moralwissenschaft" (S. 11—93) möchte untersuchen, nicht was Sokrates
dem Plato oder Hegel, sondern was er in seinen eigenen Augen gewesen
ist (S. 16). Darum werden die objektiveren Memorabilien Xenophons den
gefärbteren Darstellungen des Plato und Aristoteles als Quelle vorge
zogen (S. 18). In feinen Linien wird nuu das Gerüst der sokratischen
Philosophie gezeichnet, gezeigt, wie es nur durch die Art seiner Funda-
mente verständlich werden kann; von zwei Seiten her hat Sokrates die
Grundlage seiner Lehre gewonnen: von der griechischen Physik, deren
Objekt, die Ergründung der Natur, er fallen läfst, deren Form, die wissen-
schaftliche Behandlungsweise, er beibehält, und von der Sophistik, deren
Objekt, die menschlichen Angelegenheiten, er sich zu eigen macht, deren
Form, die unwissenschaftliche Routine, er verbannt (S. 33). So vereinigt
er Praxis und Theorie, rix^rj und iTticttj/irj : „cette id6e d'une r^union de
la science et de Part est le germe meme de la philosophie socratique^
(S. 34). Aus dieser Befruchtung aber erblüht die bis dahin nicht vor-
handene Disziplin einer „science morale". Sehr hübsch wird nun gezeigt,
wie die Bestimmung der Wissenschaft als der Erkenntnis des Allgemeinen
in der Bedeutung, die dieser Begriff in des Sokrates' Geist hatte (darüber
die lichtvollen Ausführungen S. 44), nur auf die science morale, nicht auf
die Wissenschaft überhaupt gerichtet sein könne, und wie auch die Einzel-
heiten der sokratischen Methode, die dialogische Form, die Ironie, die
Maieutik, die Definition und Induktion immer nur sinnvoll sind in ihrer
Anwendung auf sittliche Probleme, als methodologische Regeln der Physik
oder der Metaphysik dagegen widerspruchsvoll und gezwungen werden.
Mit einem Hinweis auf die Lebendigkeit der sokratischen Ideen gerade
in unseren Zeiten schliefst der Aufsatz, der alles hält, was man von einem
Manne erwartet, welcher die lohnende Mühe nicht gescheut, Zellers
„Philosophie der Griechen" für seine Landsleute ins Französische zu über-
tragen.
Von den übrigen Skizzen hat Ref. noch die Artikel über Descabtes
und über Kant, beide mit grofsem Interesse, gelesen. Gewifs zeugt es
von berechtigter Begeisterung, wenn Boutroux sein anläfslich der grofsen
Baoul Eichter: Kronenberg, „Moderne Philosophen". 511
Gesamtausgabe der Werke Descabtes' verfafstes Gedenkblatt (S. 289 — 299)
mit den Worten schliefst : „Etudier Descabtes est le faire connaitre, c'est
trayailler ä Paccomplissement de la mission scientifique et ciyilisatrice
de la France". Aber man darf gerade die Gröfse Descabtes' nicht auf
allen Gebieten suchen. So kann es denn auch Boütboüx nicht gelingen,
auf den mit manch feinsinnigen Bemerkungen durchflochtenen Seiten,
welche von „der Beziehung der Moral zur Wissenschaft in der Philosophie
des Descabtes" handeln (S. 299 — 316), Descabtes' ethischen Bemerkungen
einen originalen Charakter abzugewinnen.
Dagegen mufs man sich voll und ganz mit dem in der „Grande
Encyclop6die" aufgenommenen Aufsatz über Kant (S. 317 — 411) einver-
standen erklären. Konnte die Studie sich ihrer Bestimmung gemäfs nicht
auf Tiefen noch Feinheiten des Kriticismus einlassen, so leistet sie dafür
an Klarheit und Vollständigkeit alles Mögliche. Selbst bei so schwierigen
Partien wie der Deduktion der Kategorien oder dem Schematismus fliefst
die Darstellung glatt und lichtvoll weiter; besonders wird auch den un-
berühmteren Partien der KAKT'schen Philosophie, wie der vorkritischen
Periode (S. 337 — 346), Kants historischen, anthropologischen, pädagogischen
Bemühungen (S. 386 — 398) gebührend Rechnung getragen.
Angenehm berührt den deutschen Leser in allen Artikeln die Ver-
trautheit BouTBOux' mit der deutschen einschlägigen Litteratur. Aufeer
den erwähnten enthält das Buch Boütboux' noch Studien über Abistoteles
(S. 95—209), Jakob Böhme (S. 210—288) und „de Pinfluence de la Philo-
sophie ^cossaise sur la philosophie francaise" (S. 412 — 443).
Leipzig. Baoül Bichteb.
Kronenberg, M., Moderne Philosophen. Porträts und
Charakteristiken. München, Beck, 1899. 221 S.
Die modernen Philosophen sind : Lotze, Lak»e, Cousin, Feüebbach,
Stieneb. Die Zusammenstellung rechtfertigt der Verf. durch die Zusammen-
gehörigkeit dieser Männer in dem grofsen Streite Ton Eealismus und
Idealismus, der in den Jahren zwischen dem Sturze der HEOEL^schen
Philosophie und der Herrschaft des Positivismus die wissenschaftlichen
Gemüter hewegte. Die Lebenshilder, welche Kef. gelesen, sind glatt und
nicht ohne Schwung geschrieben und wohl geeignet, das Interesse für ihre
Helden in weiteren Kreisen zu wecken. Zu einer wissenschaftlichen Be-
sprechung geben sie keine Veranlassung.
Leipzig. Eaoül Bichteb.
Orzymischy Siegfried, Spinozas Lehren von der Ewig-
keit nnd Unsterblichkeit. Breslau, Calvary, 1898. 59 S.
Verf. verfolgt zunächst die Entwicklung des Ewigkeitsbegriffs und
seine Anwendung auf Gott und Welt in den vor der „Ethik" abgefafsten
Schriften. Im kurzen Trakt, erscheint die Ewigkeit noch der endlosen
Dauer gleichgesetzt, der in dem Hauptwerk so stark betonte Gegensatz
von unendlicher Zeit und Ewigkeit noch nicht angedeutet, die unendlichen
512 Eaoul Richter: Grzymisch, „Spinozas Lehren v. d. Ewigkeit etc.".
Modi als „vor aller Ewigkeit von Gott geschaffen" erklärt, die Unsterh-
lichkeit des Menschen als eine endlose Dauer des Geistes nach der Trennung
von seinem Körper gefaTst (S. 3 — 9). Im Trakt, de intellectus emendatione
zeigen sich schon deutliche Spuren einer scharfen Trennung von Dauer
und Ewigkeit ; in den cogitata metaphysica bricht die endgültige Definition
der Ewigkeit als das zum Wesen gehörige Dasein „in fertiger, wenn auch
formell unvollendeter Ausgestaltung" durch, eine Schöpfung von Ewigkeit
her wird aufgegeben, im Anhang II zum kurzen Trakt, die Lehre von
der Unsterblichkeit- der Seele um einen Schritt in der Bichtung auf die
Ethik hin gefördert. In der Ethik endlich (S. 17—29) erlangt die Lehre
von der Ewigkeit und Unsterblichkeit ihre völlige Keife ; von Nachklängen
aus den früheren Zeiten und dadurch entstehenden Widersprüchen ist sie
indes nicht frei: den strengen Begriff der aetemitas mit Ausschliefsung
jedes zeitlichen Momentes gelingt es Spinoza nur für die Gottsubstanz
und ihre Attribute, nicht aber für die Ewigkeit der unendlichen Modi,
festzuhalten, und auch in der Unsterblichkeitslehre wird der psychophysische
Parallelismus zu Gunsten des Geistes durchbrochen. — Nach Fbbüdbnthals
Vorbild werden dann auch für den Ewigkeitsbegriff scholastische Vorbilder
bei Zeitgenossen gesucht und gefunden (S. 41 — 45) ; etwas künstlich wirkt
der Nachweis über die Abhängigkeit von Dbsoabtbs in den Beweisen für
die Ewigkeit Gottes (S. 46 — 48); dafs das Wesen des Geistes in der Er-
kenntnis liege, brauchte Spinoza aber gewifs nicht von jüdischen und
arabischen Philosophen (warum übrigens nicht auch ebensogut von jedem
anderen Bationalisten, etwa Plato oder Abistotblbs?) zu lernen (S. 50);
auch für solch innerlichst aus dem System herausbrechende Gefühle wie
die selige Stimmung im amor dei intellectualis nach äufseren Anregungen
zu suchen, beschattet mehr als es erleuchtet das Wachstum grofszügiger
Anschauungen. Die Schrift G.'s bietet einen wertvollen Beitrag zur
specielleren SpiNOZA-Forschung.
Leipzig. B.AOUL Bichtbb.
Berichtigungen zum 3. Hefte:
S. 345 Z. 2 von oben ist zu lesen statt „ein InduktionsschluTs'' :
eine Folgerung aus dem Ergebnis eines Induktionsschlusses.
Z. 4 von oben statt „dieses Induktionsschlusses" : dieser Folgerung.
n.
Philosophische Zeitschriften.
r
Arohly für Geschichte der Philosophie (Berlin, Beimer).
! Bd. 12, Heft 4.
■ Ludwig stein, Die Eontinnität der griechischen Philosophie in der Gedanken-
welt der Araber. (Drittes Stück.)
r Johann Zmave, Die Wertteorie hei Aristoteles und Thomas von Aqnlno.
[ Joh. Zahlfieisch, Einige Gesichtspunkte für die Auffassung und Beurteilung
der Aristotelischen Metaphysik.
r R. Steck, Ein Besuch bei Jacob! im Jahre 1797.
£. Thouverez,La Familie Descartes d'apr^s les documents publies par les Soci^t^s
Savantes de Poitou^ la Touraine et de Bretagne. Jahresbencht über die Eirchen-
l Väter und ihr Verhältnis zur Philosophie 1893—1896. Von H. Lüdemann. — Neueste
, Erscheinungen.
Philosophische Studien (Leipzig, Engelmann).
Bd. 15, Heft 2.
W. Wundt, Bemerkungen zur Theorie der Gefühle. Mit 6 Fig. im Text.
Einar Buch, Über die „Verschmelzung^ von Empfindungen, besonders bei Klang-
eindrücken. (SchluTs.) Mit 6 Flg. im Text
Jonas Cohn, Gefühlston und Sättigung der Farben.
Bd. 15, Heft 8.
"W. Wundt, Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.
Zwetan Radoslawow-Hadjl-Denkow, Untersuchungen über das Gedächtnis
für räumliche Distanzen des Gesichtssinnes. Mit 6 Fig. im Text und Taf. I— U.
Zeitschrift fQr Philosophie und philosophische Kritik (Leipzig, Pfeffer).
Bd. 114, Heft 2.
M. F. Sc hei er, Arbeit und Ethik.
A. Döring, Zur Kosmogonie Anaximanders.
K. Vorländer, Eine „Socialpädagogik'^ auf kantischer Grundlage.
O. Liebert, Über die Beziehung des Menschen auf die Natur und das Menschen-
geschlecht.
F. He man, Paulsens Kant.
H. Türk, Erwiderung.
E. Kühnemann, Antwort. — Recensionen. — Notizen. — Neu eingegangene
Schriften. — Bibliographie. — Aus Zeitschriften.
Bd. 115, Heft 1.
F. Paulsen, Noch ein Wort zur Theorie des Parallelismus.
E. V. Hart mann, Zum Begriff der Kartegorialfonktion.
L. Busse, Jahresbericht über die Erscheinungen der anglo-amcrikan. Litteratur
der Jahre 1894/95. (Carus, Ribot-SneU, Ladd, Fräser, Seth, Fowler, Douglas, Jones,
Veitch-Wenlev. Baldwln.)
E. Neuendorff, Lotzes Kausalitätslehre. — Recensionen. — Neu eingegangene
Schriften. — Aus Zeitschriften.
Vierteljahrsschrift f. Wissenschaft]. Philosophie. XXTTT. 4. 34
514 Philosophische Zeitschriften.
Zeitschrift fQr Psyehologlo und Physiologie der Sinnesorgane (Leipzig,
Ambr. Barth).
Bd. 20, Heft 6.
W. Stemberg, Geschmack und ..Chemismus.
0. Abraham und W. S chäf er, Über die maximale Geschwindigkeit von Tonfolgen.
0. Abraham, Über das Abklingen von Tonempflndungen.
A. König, Bemerkungen über angeborene Farbenblindheit. — Litteraturbericht. —
Namenregister.
Bd. 21, Heft 1 n. 2.
H. G. Hamaker, Über Nachbilder nach momentaner Helligkeit.
Ludwig Helwig, Über die Natur des Erinnerungsbildes.
C. Stumpf, Über den Begriff der Gemütsbewegung.
— Beobacntungen über suDJektive Töne und über Doppeltöne. — Besprechungen. —
Litteraturbericht.
Bd. 21, Heft 8 u. 4.
Karl Schäfer, Die Bestimmung der untern Hörgrenze.
M. Kelchner und P. Rosenblum, Zur Frage nach der Dualität des Tempera-
tursinnes.
A. Meinong, Über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren
Wahrnehmung. — Litteraturbericht.
Bd. 21, Heft 5.
G. Hevmanns, Untersuchungen über psychische Hemmung.
L. William Stern, Die Wahrnehmung von Tonveränderungen.
Sigm. Exner, Notiz über die Nachbilder vorgetäuschter Bewegungen. — Litteratur-
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Yol. VIII, No. 4.
J. G. Schurmann, Kants A Priori Elements of Understanding. II.
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W. Caldwell, Von Hartmanns Moral and Social Philo sophy. L The Positive Ethlc.
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Krytyka i Sprawozdanla. — Przeglad Czasopism. — Wiadomosci biezace. —
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M. Kozlowskl, Psychoiogiczne zrodla niektorych praw przyrody (dokonczenie).
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Mit 12 erläut. Textfig. (110 Fig.) Leipzig, Georgi. M. 2,—.
TyndaU, John, Fragmente aus den Naturwissenschaften. Vorlesungen
und Aufsätze. 2. deutsche Ausg. Nach der 8. Aufl. d. engl. Originals
übers, von A. v. Helmholtz und E. Du Bois-Reymond. (In 2 Bdn.)
2. Bd. (V, 522 S.) Braunschweig, Vieweg u. Sohn. M. 8,—; geb.
M. 9,50.
ITagner, Adf., Studien und Skizzen aus Naturwissenschaft u. Philosophie.
II. Zum Problem der Willensfreiheit. (61 S.) Berlin, Bomtraeger.
Kart. M. 1, — .
Zehnder, Lndw«, Die Entstehung des Lebens. Aus mechan. Grundlagen
entwickelt. 1. Tl. Moneren. Zellen. Protisten. (VIII, 256 S., mit
123 Abbildgn.) Freiburg i. B., Mohr. M. 6,-.
524 Bibliographie.
X. Allgemeine Pädagogik.
Amieis, £ de, Herz. Ein Buch für die Jugend. Deutsch von B. Müller.
Basel, Geering. M. 2,80.
Barnett, P* A», Common sense in education and teaching: an introduction
to practice. (321 p.) New York, Longmans, Green & Co. Doli. 1,50.
Dntton, S. T., Social phases of education in the school and the home.
(259 p.) New York, Macmillan Co. 5 sh.
Kooistra, L, Sittliche Erziehung. Aus dem Niederländ. nach der 3. Aufl.
übers, von Ed. Müller. (VI, 100 S.) Leipzig, Wunderlich. Mk. 1,60;
geb. 2, — .
Penzig, Bad., Ernste Antworten auf Einderfragen. Ausgewählte Kapitel
aus einer prakt. Pädagogik fürs Haus. 2. Aufl. (271 S.) Berlin,
Dümmlers Verlag. M. 2,80; geb. 3,60.
Druck Ton Friedrich Stollberg in Henebnrg.
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XXIII. Jahrgang.
IV. Heft.
Vierteljahrssehrift
für
wissenschaftliche Philosophie
gegründet von
Richard Avenarius,
in Verbindung mit
Ernst Mach und Alois Riehl
herausgegeben
von '
Paul Barth.
Inhalt:
Eugen Posch: Ausgangspunkte zu
einer Theorie der Zeitvorstellung.
Vierter Artikel.
August Dunges: Die Zelle als Indi-
viduum.
A. Vierkandt : Bemerkungen zur Frage
des sittlichen Fortschritts der
Menschheit.
Besprechungen von:
Heinrich, Zur Prinzipienfrage derPsyclio-
logie.
Braunsehweiger, Die Lehre von der Auf-
- merksamkeit in der Psychologie des
18. Jahrhunderts.
Gutberiet, Der Kampf um die Seele.
Zehnder, Die Entstehung des Lebens.
Speiticer and Oillen, The Natlve Tribes
of Central Australia,
Liehmann, Gedanken und Thatsachen.
Desdouits, La Responsablllte Morale.
Fulliquet, Essai sur l'Obligation Morale.
Naville, Le Libre Arbitre.
Boutroiix, Etudes d'Histoire de la Philo-
sophie.
Kronenberg, Moderne Philosophen.
Grzymiach, Spinozas Lehren von
Ewigkeit und Unsterblichkeit.
Philosophische Zeitschriften.
Bibliographie.
der
-- 1^^>-
Leipzig.
O. R. Reisland.
1899.
Ausofeüfeben am 11. November 1899.
'Ö^O
Hierzu als Extraheft (gegen Berechnung): Willy, Krisls in der Psychologie,
s. a. S. 3 des Umschlags.
Bei der Redaktion sind eingegangen:
AcheliSy Th., Sociologie. Leipzig, G. J. Göschen. (148 S.)
AlbertSy 0«, Aristotelische Philosophie in der türkischen Litteratur des
11. Jahrhunderts. Halle a. S., C. A. Kämmerer & Co. (20 S.)
Amlirosi, L,, Che cos' e la Materia? Roma, Corso angolo del Caravita, 6.
(VII, 79 S.)
— La Filosofia, nel gran ciclo delle produzioni umane. Roma, Corso ang'olo
del Caravita, 6. (30 S.)
— Libertä o necessitä, nelP azione umana. Roma, Corso angolo del Caravita,
6. (30 S.)
£isler, R«, Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke. Berlin,
Ernst S. Mittler & Sohn. Dritte, Vierte u. fünfte Lieferung. (S. 193—288,
289-384, 385-480.)
Eck, S., David Friedrich Straufs. Stuttgart, J. G. Cotta. (VIII, 278 S.)
Gneifse, K., Deduktion und Induktion. Eine Begriffsbestimmung. Strafsburg,
Heitz & Mündel. (39 S.)
Kant, Kritik der reinen Vernunft. Herausg. von K. Vorländer. Halle, Hendel.
(XLVIII, 839 S.)
Kefsler, B«, Eine Philosophie für das XX. Jahrhundert. Berlin NW., Conrad
Skopnik. (274 S.)
Lipps, G. F., Grundrifs der Psychophysik. Leipzig, G. J. Göschen. (167 S.)
Masaryk, Th. 6., Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des
Marxismus. Wien, Carl Konegen. (XV, 600 S.)
Nilsen, M., Zur Religion. Ein Wort zur Verständigung an die Gebildeten,
unter ihren Verehrern und Verächtern. Stuttgart u. Hamburg, Wilh. Digel.
(42 S.)
Ormond, A. T. (Princeton Contributions to Philosophy), The History of the
Principle of Sufficient Reason : Its Metaphysical and Logical Formulations.
Prenfs, W. U., Geist und Stoff. Erläuterungen des Verhältnisses zwischen
Welt und Mensch. Oldenburg, Schulze. (IV, 302 S.)
Rappaport, S., Spinoza und Schopenhauer. Eine kritisch-historische Unter-
suchung. Berlin, R. Gärtner. (148 S.)
Shinn, W. (University of California Studies), Notes on the Development of
a Child. Parts III and IV. Berkele}^, published by the University.
(S. 180—424.)
Siegel, C, Entwicklung der Raumvorstellung des menschlichen Bewufstseins,
Leipzig u. Wien, Deuticke. (IV, 52 S.)
Tienes, A., Nietzsches Stellung zu den Grundfragen der Ethik genetisch
dargestellt. (Bemer Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte. Bd.
XVII. Heransg. von Dr. L. Stein.) Bern, C. Sturzenegger. (50 S.)
Tschitscherin, B., Philosophische Forschungen. Heidelberg, Otto Petters.
(X, 536 S.)
Ziegler, Th., Glauben und Wissen. Rektoratsrede. Strafsburg, Heitz
& Müudel. (31 S.)
-\_
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Princeton, University. (88 S.) i
\
Adresse der Redaktion:
Dr. Paul Barth, a. o. Professor an der Universität,
Leipzig, Grassistrafse 25^-
Es wird gebeten, alle Buchsendungen, die für die Redaktion
bestimmt sind, ausschliefslich durch Vermittlung der Verlags-
buchhandlung O. R. Reisland, Leipzig, Hospitalstrafse 10, ein-
senden zu wollen.
Manuskriptsendungen werden nach vorhergegangener An-
frage an die Redaktion erbeten, und zwar spätestens acht Wochen
vor Erscheinen desjenigen Heftes, für welches sie bestimmt sind.
Die „Vierteljahrsschrift für wissei^schaftliche Philosophie" erscheint
im Januar, April, Juli und Oktober.
Preis des Jahrgangs von mindestens 32 Bogen M. 12. — .
Einzelhefte M. 4. — . (Hierdurch werden frühere Preisangaben für den Bezug
von Einzelhefteh aufgehoben.)
Anzeigen, im Preis von 20 Pf. die durchlaufende Petitzeiie Raum,
werden durch die Verlagsbuchhandlung und die Annoncen-Expeditionen an-
genommen. Beilagen je M. 12. — .
An die Abonnenten!
Soeben erschien:
Die Krisis
in der Psychologie
von
Rudolf Wüly.
Xri u. 253 S. Gr. 8^ Br. M. 5,—.
Nachdem die Abnehmer der „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche
Philosophie" einen, wenn auch kleinen Teil des Buches bereits in dieser
(zuletzt Vierteljahrsschrift XXI, 3) erhalten haben, liefere ich an dieselben
das vollständige Werk
als Extraheft
zur „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie"
zu/m Preise von M. 5,60.
Leipzig*, November 1899.
O. R. Reisland.
!Für Interessenten!
««-^« PHILOSOPHIE. "IShS"
Auf Verlangen gratis und franko,
Jakob Dirnboecks Buchhandlung & Antiquariat (Ed. Beyer),
Wien I, Herrengasse 12.
Verlag von 0. R. Reisland, Leipzig.
Die
köriKrMen
von Dr. Alfred Lehmann,
Direktor des psychophysischen Laboratoriums au der Universität Kopenhagen.
Übersetzt von F. Bendixen.
Erster Teil: Plethysmo^aphisehe llntersuehnngen. Text.
1899. Gr. -80. XIV und 218 S.
Nebst einem Atlas von 68 in Zink geätzten Tafeln.
Preis des kompletten Werkes M. 20, — . Der Text apart kostet M. 6, — ,
der Atlas M, 14,—.
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Verlag von Carl Konegen in Wien.
Socrates.
Nach den Überlieferungen seiner
Schule dargestellt
von
Richard Kralik.
1899, Kl.-8<>. XXIV, 617 Seiten.
Preis M. 7,50; geh, M. 9—,
Inhalt:
Vorrede. — Quellen. — Biographie des Socrates 469 — 399
V. Chr. — Die socratische Schule.
Durch alle Buchhandlungen zu beziehen.
Druck von Fri»;diit*h Stollberg in Merseburg
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