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Full text of "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie"

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Vierteljahrssehrift 


für 

wissensehaftliehe  Philosophie 

gegründet  von 

Richard  Avenarius, 

in  Verbindung  mit 

Ernst  Mach  und  Alois  Riehl 

herausgegeben 
von 

Paul  Barth. 


Dreiundzwanzigster  Jahrgang. 


Leipzig. 

O.  R.  Reisland. 
1899. 


I 


Inhaltsverzeichnis 

des 

23.  Jahrganges. 


(Die  römischen  Ziffern  bezeichnen  das  Heft,  die  arabischen  die  Seite.) 


Artikel. 

Barth,  P.,  Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  I,  76 
bis  116. 

—  Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  I.  Darstellende  und  begriffliche 
Geschichte.    DI,  322-359. 

Düng€s,  A.,  Die  Zelle  als  Indiyiduum.    IV,  417—454. 

Ehren f eis,  Chr.  von,  Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  der  empi- 
ristischen Willenspsychologie  und  des  Gesetzes  der  relativen  Glücks- 
förderung.   III,  261—284. 

Kries,  J.  von,  Zur  Psychologie  der  Urteile.    I,  1—48. 

Külpe,  0.,  Über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks. 
II,  145-183. 

Posch,  E.,  Ausgangspunkte  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  1.  Art.: 
I,  49-74;  2.  Art.:  II,  185—204;  3.  Art.:  HI,  285-322;  4.  Art.:  IV,  385 
bis  416. 

Schwarz,  H.,  Die  empiristische  Willenspsychologie  und  das  Gesetz  der 
relativen  Glücksförderung.    11,  205—234. 

Vierkandt,  A.,  Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der 
Menschheit.    IV,  455—490. 

Bespreehungen« 

Bouiroux,  E.,  Etudes  d'Histoire  de  la  Philosophie.  —  Von  R.  Bichter. 

IV,  510  f. 
Bravnschweiger,  2).,  Die  Lehre  von  der  Aufinerksamkeit  in  der  Psychologie 

des  18.  Jahrhunderts.  —  Von  M.  Offner.    IV,  493—498. 
Cemelius^  B.y  Psychologie  als  Erfahrungs Wissenschaft.  —  Von  F.  Erueger. 

I,  117—124. 
Dwelshauvers,  C,  Nouvelles  Notes  de  Psychologie  Exp^rimentale.  —  Von 

P.  Mentz.    III,  367  ff. 
ErdmanHy  ß.,  und  Bodge,  Ä.,   Psychologische  Untersuchungen  über  das 

Lesen.  —  Von  F.  Krueger.    11,  239  ff. 
Fechiner,  E.,  John  Locke,  ein  Bild  aus  den  geistigen  Kämpfen  Englands 

im  17.  Jahrhundert.  —  Von  J.  Eisenhof  er.    I,  124  f. 


IV  Inhaltsverzeichnis. 

Fulliquetj  G.,  Essai   sur  l'Obligation  Morale.  —  Von  R.  Richter.    I\ 

506  f. 
Giefsler,  C.  M.,   Die  Atmung  im  Dienste   der  vorstellenden  Thätigkei 

—  Von  P.  Mentz.    HI,  365  ff. 

Gomperz,  H.,  Zur  Kritik  des  Hedonismus.  —  Von  P.  Hensel.    III,  374  i 
GrooSj  K,  Die  Spiele  der  Menschen.  —  Von  A.  Vierkandt.    III,  37 

bis  374. 
Qutberlet,  C,  Der  Kampf  um  die  Seele.  —  Von  M.  Offner.    IV,  498 
Grzymischy  Ä,  Spinozas  Lehren  von  der  Ewigkeit  und  Unsterblichkeit.  - 

Von  R.  Richter.    IV,  511  f. 
Heinrich,  W.,  Zur  Prinzipienfrage  der  Psychologie.  —  Von  0.  Külpc 

IV,  491—493. 
Kronenberg,  M.,  Moderne  Philosophen.  —  Von  R.  Richter.    IV,  511. 
Liehmann,  0.,  Gedanken  und  Thatsachen.  —  Von  F.  Krueger.    IV,  50 

bis  506. 
Lipps,  Th.,  Komik  und  Humor.  —  Von  F.  Krueger.    II,  235—239. 
Menzel^  A.,  Wandlungen  in  der  Staatslehre  Spinozas.  —  Von  R.  Richtei 

ni,  364. 
Mikhailowsky,  iV.,  Qu'est-ce  que  le  Progrös?   —  Von  J.  Seitz.    I,  126 
Naville,  K,  Le  Libre  Arbitre.  —  Von  R.  Richter.    IV,  506  ff. 
Raizel,  R,  Politische  Geographie.  —  Von  P.  Barth,    n,  249—251. 
Schulze,  J.,  Erläuterungen  zu  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft.  —  Voi 

R.  Richter.    III,  361—362. 
Sammer,  R.,  Lehrbuch  der  psycho-pathologischen  Üntersuchungs-Methoden 

—  Von  P.  Mentz.    III,  370. 

Spencer,  B.,  and  Gillen,  F.  /.,  The  Native  Tribes  of  Central-Australia.  — 

Von  A.  Vierkandt.    IV,  502. 
Wagner,  Fr.,  Freiheit  und  Gesetzmäfsigkeit  in  den  menschlichen  Willens 

akten.  —  Von  R.  Richter.    III,  364  f. 
Willareth,  0.,  Die  Lehre  vom  Übel  bei  Leibniz,   seiner  Schule  in  Deutsch 

land  und  bei  Kant.  —  Von  R.  Richter.    III,  362  f. 
Zehnder,  L.,  Die  Entstehung  des  Lebens  aus  mechanischen  Grundlagen 

entwickelt.    I.  Teil.  —  Von  A.  Dunges.    IV,  499—502. 
Ziehen,    Th.,    Psychophysische    Erkenntnisthorie.    —    Von    K.    Marbe 

II,  243—249. 

Selbstanzeigen. 

Fischer,  A.,  Die  Entstehung  des  socialen  Problems.    I,  127  f. 
Philipp,  S.,  Vier  skeptische  Thesen.    II,  251. 

Philosophisehe  Zeitschriften:   I,  129.    II,  253.    HI,  377.    IV,  513. 
Bibliographie:   I,  135.    II,  257.    ITI,  380.    IV,  516. 


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Abhandlungen. 


itiiNiiiiiiiniHwimirouuliiilUHNHiiNiiiiiniiu 


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Zur  Psychologie  der  Urteile. 


Von  J.  V.  Kries. 


Inhalt. 

Die  Arbelt  verfolgt  die  vom  Verfasser  fHiher  entwickelte  ünterscheidnnjr 
von  Real-  und  Beziehongs-Urteilen  in  psychologischer  Richtung.  Es  wird  die 
entsprechende  Differenz  des  GeltungsbewuTstseins  konstatiert,  sodann  die  Ote- 
staltonzen  desselben  in  der  Gesamtheit  realer  Denkvorgänge  erörtert  nnd  die 
den  loschen  Hanpt-Typen  zukommende  Sonderstellnng  dargelegt. 


Je  schärfer  neuerdings  in  der  Lehre  vom  ürteü  die 
Notwendigkeit  einer  präcisen  Trennung  logischer  und  psycho- 
logischer  Betrachtung  gefordert  wird,  um  so  mehr  macht  sich 
doch,  wie  mir  scheint,  auch  die  Einsicht  bemerklich,  dafs, 
um  zu  einer  ganz  befriedigenden  Klarheit  zu  gelangen, 
eine  gewisse  Durchfuhrung  beider  Betrachtungsweisen 
wünschenswert  ist.  Mag  auch  die  Ablösbarkeit  der  logischen 
Probleme  von  psychologischen  Untersuchungen  aufser 
Zweifel  stehen:  da  es  doch  einmal  zum  mindesten  nahe 
verwandte  Gegenstände  sind,  die  bei  der  einen  und  der 
anderen  Behandlung  des  Urteils  in  Frage  kommen,  so  wird 
ein  gewisses  Mafs  psychologischer  Diskussion  doch  auch 
immer  dem  Logiker  wertvoll  sein  müssen,  und  für  die 
psychologische  Forschung  dürfte  wohl,  vice  versa,  das 
Entsprechende  gelten.  Wenn  kein  anderer,  so  wird  jeden- 
falls der  Vorteil  zu  erreichen  sein,  dafs  erst  durch  den 
Überblick  über  beide  Untersuchungen  das  Verhältnis   der 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftL  Philosophie.    XXTTT.  l.  1 


2  J.  V.  Kries: 

Unabhängigkeit  oder  des  Gegensatzes,  in  dem  sie  stehen, 
in  voller  Deutlichkeit  hervortritt.  Selbst  von  denjenigen 
Autoren,  die  die  Logik  als  eine  Normenlehre  des  Denkens 
auffassen  und  sie  somit  in  den  denkbar  schärfsten  Gegen- 
satz zur  Psychologie  setzen,  ist  daher  öfter  die  eine  Be- 
trachtung neben  der  andern  geführt  worden.  Erblickt  man 
in  der  Logik,  wie  ich  es  unlängst  dargelegt  habe,^)  die 
Heraussonderung  und  systematische  Darstellung  einer  ge- 
wissen Kategorie  von  ürteüen,  nämüch  der  logischen  Be- 
ziehungs-ürteüe,  so  erscheint  in  noch  höherem  Grade  unser 
thatsächliches  Denken  als  Boden  und  Ausgangspunkt  der 
Untersuchung.  Gleichwohl  aber  ist  auch  hier  zu  bemerken, 
dafs  die  gewonnenen  Ergebnisse  zum  grofsen  Teil  auf  Ideal- 
falle  eines  wissenschaftlich  geklärten  Denkens  sich  beziehen, 
und  dafs  die  Betrachtung  sehr  mannigfaltige  Gestaltungen 
psychologischen  Geschehens,  die  wir  doch  auch  „Urteilen" 
nennen,  zunächst  ganz  ausgeschlossen  hat. 

Eine  psychologische  Untersuchung,  die  sich  die  Auf- 
gabe stellt,  diese  thatsächlichen  Gestaltungen  der  Denkvor- 
gänge allgemeiner  zu  behandeln  und  insbesondere  den  der 
Logik  zum  Ausgang  dienenden  Specialitäten  ihre  Stellung 
in  jener  Gesamtheit  anzuweisen,  erscheint  demnach  auch 
hier  als  eine  wünschenswerte  Ergänzung.  In  dem  be- 
scheidenen Rahmen  der  nachfolgenden  Blätter  kann  natür- 
lich nicht  versucht  werden,  eine  Psychologie  des  Denkens 
zu  entwickeln.  Doch  kann  wohl  ohne  Vermessenheit  und 
mit  Aussicht  auf  Erfolg  der  Versuch  unternommen  werden, 
diejenigen  Punkte  zu  bezeichnen,  in  denen  vorzugsweise 
die  reale  Mannigfaltigkeit  psychologischer  Gebilde  und 
Vorgänge  über  die  in  der  erwähnten  Abhandlung  von  mir 
zunächst  ins  Auge  gefafsten  Typen  hinausgeht.  Ein  der- 
artiger Versuch  schien  mir,  abgesehen  von  dem  unmittel- 
bar psychologischen  Interesse,  das  er  bietet,  schon  deswegen 

^)  über  Real-  und  Beziehungs-Urteile.  Diese  Zeitschr.  XVI,  S.  253. 


Zur  Psychologie  dei  Urteile.  3 

geboten,  weil  er  selbstverständlich  geeignet  ist,  mancherlei 
Bedenken  und  Schwierigkeiten  beiseite  zu  räumen,  die  sich 
der  fiiiher  versuchten,  nach  logischen  Gesichtspunkten  unter- 
nommenen Zergliederung  entgegenstellen  könnten;  sodann 
aber  auch,  weil  dies  wohl  der  geeignetste  Weg  ist,  um  zu 
einigen  auch  vom  Standpunkt  des  Logikers  aus  wünschens- 
werten Vervollständigungen  der  damaligen  Darlegungen  zu 
gelangen.    Die  damals  ins  Auge  gefa&ten  logischen  Be- 
ziehungen können  ganz  rein  nur  an  klar  und  scharf  ge- 
dachten, in  klaren  und  scharfen  Begriffen  sich  bewegenden 
Urteilen  zur  Geltung  kommen.    Wünschenswert  bleibt  es 
dabei,  sich  darüber  zu  unterrichten,  welche  Gebiete  denn  in 
der  ganzen  Mannigfaltigkeit  thatsächüchen  Denkens  es  sind, 
die  eine  derartige  Betrachtung  überhaupt  zulassen,  welche 
andre  sie  ganz  ausschliefsen  oder  nur  modifiziert  gestatten. 
Dafs  eine  Untersuchung,   die   zunächst   nur   vom  psycho- 
logischen Standpunkt  aus  eine  möglichst  vollständige  Über- 
sicht über  die  Vorgänge  des  Denkens  zu  gewinnen  sucht, 
auch  zu  einer  gewissen  Vervollständigung  eigentlich  logischer 
Betrachtungen  führt,  wird  sich  im  folgenden  zeigen. 

I. 

Nur  wenig  Schwierigkeit  bietet  die  Aufgabe,  mit  der 
naturgemäfs  hier  begonnen  werden  mufs,  die  nämlich,  die 
Sonderung  verschiedener  Urteils-Kategorien,  welche  wir  an 
die  Spitze  jener  logischen  Untersuchung  gestellt  hatten, 
von  einem  mehr  psychologischen  Standpunkte  aus  ins  Auge 
zu  fassen  und  zu  verifizieren.  Wir  werden  hier  von  der, 
später  freilich  noch  genauer  zu  prüfenden  Anschauung  aus- 
gehen dürfen,  dafs  im  Urteil  eine  Anzahl  von  Allgemein- 
Vorstellungen  oder  Begriffen  zusammengedacht  werde  unter 
Hinzutritt  eines  besonderen  und  offenbar  für  das  Urteil 
vorzugsweise  charakteristischen  Elements,  des  Geltungs- 

bewufstseins  oder  Geltungsgefühls,  wie  wir  im  An- 

1* 


4  J.  V.  Eries: 

schlufs  an  B.  Erdmakn^)  sagen  wollen.    Die  Notwendig- 
keit der  Hinzufügung  dieses  letzteren  Elements  wird  nicht 
bezweifelt   werden  können,   wenn   man   sich  einmal  klar 
macht,  dafs  wir  die  begriffichen  Elemente  eines  Urteils 
(Kreis  nnd  eben,  König  und  gerecht)  ganz  wohl  zusammen- 
denken können,  ohne  das  Urteil  (der  Kreis  sei  rund,   der 
König   sei  gerecht)  zu  fällen.    Müssen  wir  nun  solcher- 
gestalt  in    dem   Greltungsgefühl   geradezu   das   eigentlich 
Charakteristische   des  Urteils  erkennen,  so  hält  es  auch 
nicht  schwer,  jener  in  logischer  Untersuchung  entwickelten 
Sonderung  der  Urteilsarten  ihre  psychologische  Basis  zu 
geben.    Überall  da  wenigstens,  wo   es  sich  um  typische 
und  einfache  Fälle  von  Beziehungs- undEeal-Urteilen 
handelt,  läM  sich  die  Differenz  dieser  verschiedenen  Ur- 
teilsarten gerade  als  eine  psychologische  Differenz   des 
Geltungsgefühls   konstatieren.     Der  Natur   der   Sache 
nach  kann  man  für  eine  Behauptung  solcher  Art  keinen 
Beweis  erbringen,  sondern  nur  im  Wege  der  Erläuterung 
versuchen,  etwas,  was  eben  nur  innerlich  erlebbar  ist,  an- 
schaulicher  und   greifbarer   zu   machen.    Man  vergleiche 
nun  aber  das  Berechtigungsgefühl,  mit  dem  wir  z.  B.  aus- 
sagen: „Konstanz  liegt  am  Bodensee"  und  anderseits:  „zwei 
Zahlen  können   nicht   sowohl   gleich   als   ungleich  sein**. 
Die  typische  Differenz,  die  uns  zum  Ausgangspunkte  der 
logischen  Untersuchung  diente,  macht  sich  wohl  bei  solcher 
Gegenüberstellung  sehr  deutlich  bemerklich  und  rechtfertigt 
auch  die  hier  gegebene  psychologische  Konstatierung.    Vor 
allem  wird  darauf  hinzuweisen  sein,  dafs  die  Gültigkeit  des 
Beziehungs-Urteils    eine    selbstverständliche ,    unmittelbar 
evidente  ist,  was  für  das  Real-Urteil  nicht  zutrifft.    Die 
Gültigkeit  des  Urteils  findet  in  dem  einen  Falle  ihre  Be- 
gründung ganz  direkt  in  dem  Inhalt  des  Urteils  selbst, 
eben  vermöge  der  Natur  und  Bedeutung  der  verknüpften 

^)  B.  Erdmann:  Logik  I,  S.  281. 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  5 

Yorstellungen  und  ihres  gegenseitigen  Zusammenhanges; 
bei  dem  Eeal-Ürteüe  tritt  die  Überzeugung,  daüs  es  sich 
so  verhalte,  gewissermafsen  als  etwas  Fremdes  hinzu ;  wir 
empfinden,  dafs  es  sich  auch  anders  verhalten  könnte. 
Man  wird  diesen  psychologischen  Gegensatz,  der  uns  noch 
mehrfach  beschäftigen  wird,  etwa  als  den  eines  idiodetischen 
und  eines  heterodetischen  Geltungsgefühls  bezeichnen  dürfen. 

Wir  werden  aber  wohl  im  unmittelbaren  Anschlufs 
an  die  logischen  Untersuchungen  noch  einen  Schritt  weiter 
gehen  und  behaupten  dürfen,  dafs  hier  unter  dem  Namen 
eines  idiodetischen  Geltungsgefühls  bereits  mehrerlei  Ver- 
schiedenes zusammengefafst  ist,  und  dafs  im  Grunde  jeder 
der  dort  dargelegten  Arten  von  Beziehungs-Ürteüen  noch 
ein  besonderes  und  eigenartiges  Geltungsgeflihl  zugehört. 
Es  ist  eben  ein  verschiedenartiges  Gefühl  der  Nötigung, 
mit  dem  wir  einen  logischen  oder  einen  mathematischen 
Zusammenhang  einsehen;  und  können  wir  auch  alle  als 
idiodetisch  der  heterodetischen  Geltung  der  Real-Urteile 
gegenüberstellen,  so  ist  doch  der  damit  bezeichnete  Charakter 
nur  eine  Verwandtschaft,  eine  Ähnlichkeit,  die  ihnen  un- 
beschadet einer  deutlichen  und  charakteristischen  ünter- 
schiedenheit  zukommen  kann. 

Auf  den  ersten  Blick  nun  könnte  man  vielleicht 
glauben,  mit  dieser  psychologischen  Konstatierung  bereits 
das  geleistet  zu  haben,  was  als  Aufgabe  gestellt  wurde. 
Aber  dies  ist  doch  höchstens  in  dem  Sinne  richtig,  dafs 
wir  damit  etwa  die  psychologischen  Grundlagen  deutlich 
gemacht  hätten,  mit  denen  die  logische  Theorie  untrennbar 
zusammenhängt.  Aber  wir  sind  darum  gewifs  noch  sehr 
weit  davon  entfernt,  auch  nur  die  wichtigsten  von  den- 
jenigen psychologischen  Fragen  gelöst  zu  haben,  auf  welche 
die  logische  Behandlung  der  UrteUsarten  uns  hinweist. 
Und  zwar  ergeben  sich  die  restierenden  Schwierigkeiten 
sogleich,  wenn  wir  an  die  gewöhnliche  psychologische  Ge- 


6  J.  T.  Eries: 

staltong  Yon  Urteilen  denken,  wie  sie,  sei  es  dem  wissen- 
schaftlichen Denken,  sei  es  dem  täglichen  Leben,  angehören. 
Wir  bemerken  hier  das  Unznlängliche  der  eben  aufgestellten 
Schematisierung,   wie   mir   scheint,    in   zwei   Richtungen. 
Zuerst  nämlich  wird  auffallen,   dafs  in  zahlreichen  Fällen 
sich  nicht  ohne  weiteres  angeben  läfst,   von   welcher  Art 
eigentlich  das  dem  Urteil  eigene  Geltungsbewufstsein  sei; 
dies  beweisen  am  greifbarsten   z.  B.    die  mathematischen 
Sätze,    über    deren   logische   Natur  ja   endlos   gestritten 
worden  ist,  nicht  minder  aber  auch  verwickelte  Sätze  von 
der  Art,   wie  sie  uns  z.  B.  in  der  Rechtswissenschaft  be- 
gegnen,  wo   wir  im  Zweifel  sein  können,  ob  es  sich  um 
eine  Subsumtion,  ein  Real-Urteil  oder  gar  ein  Wert-Urteil 
handle.    Der  zweite  Punkt  ist   der  folgende.    Jede   Art 
von  Geltungsbewufstsein  sollte,  so  kann  man  von  vornherein 
erwarten,  an  eine  ganz  bestimmte  Kombination  begrifflicher 
Elemente  geknüpft  sein,  zwischen  denen  eben  ein  bestimmter 
Zusammenhang   als  gültig  empfunden  wird.    Aber  nur  in 
den  einfachsten  Fällen   scheint   sich   dies   zu   bestätigen. 
Die  verwickelten  Bildungen  der  Sprache   dagegen   zeigen 
uns  eine  zunächst  so  unübersehbare  Mannigfaltigkeit  von 
Wortbedeutungen  und  von  Kombinationen  derselben  in  der 
Aussage,   dafs   wir   dieselben  mit  den  einfachen  logischen 
Typen  kaum    mehr   in   Zusammenhang   bringen    können. 
Gleichwohl  sagen  wir  doch  auch  mit  einem  „Geltungsgefühl" 
z.  B.  aus,  „dafs  die  verfassungsmäfsig  gewährleistete  Un- 
absetzbarkeit  der  Richter  ein  Eckstein  unabhängiger  Justiz 
sei".    Von  welcher  Art  sind  denn  nun  hier  die  vereinigten 
psychologischen  Elemente,  von  welcher  Art  das  ihre  Ver- 
einigung begleitende  Geltungsgefühl  ?  Wir  werden  am  ehesten 
hoffen  können,  derartigen  Fragen  gerecht  zu  werden,  wenn 
wir,  von  den  einfachsten  Typen  ausgehend,  den  Erweiterungen 
und  Verallgemeinerungen  nachgehen,  welche  die  Berück- 
sichtigung psychologischer  Thatsachen  erforderlich  macht. 


Zur  Psyxdiologie  der  Urteile.  7 

Eine  Schwierigkeit  besonderer  Natur  erwuchs  bis  vor 
kurzem  einer  derartigen  Fragestellung  aus  dem  Umstände, 
dafs  es  weder  bei  Allgemein- Vorstellungen,  noch  bei  Be- 
griffen gelingen  wollte,  das  den  Wortklang  begleitende 
und  sein  Verständnis  bedingende  psychologische  Element 
in  befriedigender  Weise  anzugeben.  Ich  glaube,  dafs  diese 
Schwierigkeit  in  der  Hauptsache  beseitigt  ist  durch  die 
von  physiologischer  Basis  ausgehenden  Betrachtungen,  nach 
denen  wir  das  Substrat  des  Wortverständnisses  nicht  ge- 
nötigt sind  im  Bewufstsein  zu  suchen,  sondern  dasselbe 
in  gewissen  physiologischen  Zuständen,  cerebralen  Dis- 
positionen erblicken  dürfen.^)  Stellen  wir  uns  auf  diesen 
Standpunkt,  so  könnten  wir  den  Thatbestand  des  Urteils 
etwa  dahin  beschreiben,  dafs  es  in  dem  Auftreten  eines 
eigenartigen,  als  Geltungsgefühl  zu  bezeichnenden  Bewu&t- 
seins-Elementes  bestehe,  welches  die  Verbindung  mehrerer 
Vorstellungen  oder  dispositiver  Einstellungen  be- 
gleitet. Mit  dieser  Formulierung  würden  wir  den  vorhin 
erwähnten  Haupttypen  des  Geltungsgefühls  gerecht  werden 
können.  Sie  würde  uns  auch  die  erforderliche  Grundlage 
für  unsere  Hauptaufgabe  gewähren,  die  darin  bestehen 
würde,  eine  gewisse  Übersicht  darüber  zu  gewinnen,  in 
welchen  Beziehungen  wir  unsere  Ideal- Vorstellungen  vom 
Urteil  erweitem  und  verallgemeinem  müfsten,  um  sie  mit 
der  vollen  psychologischen  Vielgestaltigkeit  der  Denkvor- 
gänge zur  Deckung  zu  bringen. 

n. 

Der  erste,  sehr  schnell  zu  erledigende  Punkt,  in  dem 
die  psychologische  Betrachtung  die  logische  ergänzen  mufs, 
ist  die  variable  Stärke  oder  Sicherheit  des  Geltungsgefühls. 


^)  Vergl.  hierüber  v.  E^bies:  Über  die  Natur  gewisser  mit  den 
psychischen  Vorgängen  verknüpfter  Gehimzustände.  Zeitschrift  für 
Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane.    VIII,  S.  1. 


8  J.  T.  Kries: 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dafs  diese  Abstuf barkeit  bei 
den  mannigfaltigen  Gestaltungen  des  Geltungsgefnhls,  die 
wir  später  zu  verfolgen  haben  werden,  eine  sehr  grofse 
Kolle  spielt.  Ein  Satz,  wie  z.  B.  der,  dafs  die  Höhe  der 
Kultur  eines  Volkes  sich  deutlicher  als  in  jeden  anderen 
Instituten  in  seinem  Strafrecht  wiederspiegele,  wird,  wenn 
er  uns  vorgelegt  wird,  nicht  unbedingt  Zustimmung  finden; 
ein  nur  schwaches  und  zweifelndes  Geltungsgeflihl  wird 
nach  Mafsgabe  unseres  Wissens  und  unserer  sonstigen  An- 
schauungen eine  derartige  Aufstellung  begleiten.  Es  ist 
nicht  einmal  nötig,  zu  diesen  verwickelten  Fällen  zu  greifen; 
an  den  auf  Grund  der  Erinnerung  aufgestellten  Eeal-Urteilen 
können  wir  sehen,  dafs  auch  in  allereinfachsten  Fällen 
das  Geltungsgeflihl  eine  Abstufung  nach  Mehr  und  Minder 
besitzt.  Man  kann  sagen,  dafs,  von  besonderen  Ausnahmen 
abgesehen,  bei  allen  Real-Ürteilen  das  Geltungsgeflihl  ein 
abgestuftes  ist,  indem  die  Überzeugung,  dafs  es  sich  so 
verhalte,  mit  gröfserer  oder  geringerer  Sicherheit  gehegt 
wird.  Wir  haben  es  hier  mit  einem  sehr  bekannten  Ver- 
halten zu  thun,  welches  der  psychologischen  Betrachtung 
wohl  jederzeit  geläufig  gewesen  ist,  während  es  logisch 
keine  Bedeutung  besitzt. 

in. 

Von  weit  gröfserer  Wichtigkeit  ist  eine  nur  auf  den 
ersten  Blick  mit  der  soeben  erwähnten  verwandte  Er- 
scheinung, welcher  wir  nicht,  wie  jener,  bei  den  Real- 
Ürteilen,  sondern  gerade  bei  den  Beziehungs-Urteilen  be- 
gegnen. Auch  hier  freilich  handelt  es  sich  um  ein  ünsicher- 
werden  des  Urteils,  aber  aus  ganz  anderm  Grunde  und  in 
ganz  anderm  Sinne.  Als  einfachstes  Beispiel  erörtere  ich 
die  Subsumtion  eines  Einzelnen  unter  eine  Allgemein- Vor- 
stellung; und  zwar  wollen  wir  uns  noch  vorerst  an  die 
einfachste  Art  von  solchen  halten,  die  etwa  eine  Art  sinn- 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  9 

lieber  Empfindung  bezeichnen  (Süfs,  Rot  etc.).  Scbon  bei 
diesen  ist  zu  bemerken,  daXs  von  denjenigen  Fällen,  in  denen 
die  einzelne  Empfindung  sogleich  und  mit  Sicherheit  der 
betreffenden  Allgemein- Vorstellung  subsumiert  wird,  eine 
kontinuierliche  Abstufung  zu  denjenigen  führt,  in  denen 
die  Subsumtion  mehr  oder  weniger  zweifelhaft  erscheint, 
und  schlief slich  zu  denjenigen,  in  denen  sie  verneint  wird. 

Ganz  das  Gleiche  gilt  für  die  verwickeiteren  Allgemein- 
VorsteUungen,  die  zwar  die  Entwicklung  wissenschaftlichen 
Denkens  mehr  und  mehr  zu  beseitigen  strebt,  die  aber 
doch  im  alltäglichen  Denken  eine  so  ungeheure  Rolle  spielen. 
Die  Frage,  ob  ein  Komplex  von  Ereignissen,  der  uns  voll- 
kommen bekannt  ist,  eine  Revolution,  eine  Krisis,  eine  Ent- 
wicklung, eine  Decadence  sei,  wird  in  zahlreichen  Fällen 
ebenso  anstandslos  bejaht,  wie  in  andern  verneint  werden, 
in  zahlreichen  aber  zweifelhaft  erscheinen.  Betrachten  wir 
den  Grund  dieses  eigentümlichen  Verhaltens,  so  wird  es 
unerläfslich  sein,  auf  die  eigentliche  psychologische  Natur 
des  vorliegenden  Beziehungs-Urteils  zu  rekurrieren.  Und 
zwar  werden  wir  hier  von  der  vorhin  bereits  eingeführten 
Anschauung  Gebrauch  machen  dürfen,  dafs  das  physiologische 
Substrat  einer  Allgemein- Vorstellung  in  einer  bestimmten 
cerebralen  Einstellung  zu  suchen  sei  Wir  hätten  uns  dann 
weiter  zu  denken,  dafs  die  Koexistenz  der  gerade  realisierten 
Empfindung  und  jener  dispositiven  Einstellung  sich  in  der 
Erzeugung  eben  jenes  besonderen  Zusammengehörigkeits- 
gefühls geltend  macht,  welches  das  Subsumtions-Urteil  aus- 
macht. Nicht  minder  aber  ist  ersichtlich,  dafs  je  nach  dem 
Verhältnis,  welches  zwischen  Einzelempfindung  und  Ein- 
stellung besteht,  jenes  das  Urteil  konstituierende  Element 
verschiedenartig  sein  kann.  Es  ist  ein  ganz  bestimmtes 
und  typisches  da,  wo  wir  die  Subsumtion  mit  Sicherheit 
bejahen;  ein  wechselndes,  abstufbares  aber  überall,  wo  die 
Subsumtion  zweifelhaft  erscheint. 


10  ^'  ▼ 

Um  diese  YoMUidsse  richtig  aii£zii£[issai,  miiüs  Bum 
Tor  aDem  den  fmdamentaleii  Unterschied  sich  klar  machen, 
der  zwischen  der  Unsicherheit  dieser  Urteile  nnd  der  vorhin 
erwähnten^  an  den  Beal-Urteüen  zn  bemertLenden  statt- 
findet. Bei  diesen  letzteren  steht  im  allgemeinen  anls^ 
Zweifel,  dafe  das  in  Betracht  gezogene  Urteil  entweder 
richtig  oder  fälsch  sei;  nur  unsere  Unwissenheit  ist  Quelle 
der  Ungewifsheit.  Nicht  so  bei  dem  nnsichem  Snbsnmtions- 
L'rteile,  Ob  eine  Torgelegte  Farbe  noch  ein  Eot  ist  oder 
nicht,  das  ist,  sofern  „Kot"  eine  AUgemein-Vorstellnng  der 
hier  in  Kede  stehenden  Art  ist,  sobald  es  mir  zweifelhaft 
erscheint,  auch  der  Natur  der  Sache  nach  gar  nicht 
bestimmt;  es  ist  auch  gar  nicht  diskutierbar.  Wenn  wir 
die  Bedeutung  des  Wortes  „Unfiall"  nicht  als  einen  etwa 
noch  zu  suchenden  und  wissenschaftlich  festzustellenden 
Begriff  fassen,  sondern  sie  nehmen,  wie  sie  von  vornherein 
thatsächlich  ist,  als  einen  mehr  oder  weniger  unbestimmten, 
HO  ist  auch  die  Frage,  ob  das  uns  individuell  bekannte 
Ereignis  ein  Unfall  sei,  keine,  über  deren  Bejahung 
oder  Verneinung  eine  sachliche  Diskussion  gelührt  werden 
kann,  sondern  sie  ist  ihrer  Natur  nach  unbestimmt.  Das 
Verhältnis,  in  welchem  Einzelnes  und  Allgemein- Vorstellung 
stehen  können,  ist,  sobald  wir  die  Dinge  in  ihrer  vollen 
psychologischen  Mannigfaltigkeit  ins  Auge  fassen,  ein  abstuf- 
bares und  überaus  wechselndes.  Nur  gewisse  Fälle  geben 
das  sichere  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  und  haben 
dadurch  etwas  Typisches  und  Festes.  Wollen  wir  den 
psychologischen  Thatbestand  anderer  Fälle  hierzu  in  Gegen- 
satz bringen,  so  müssen  wir  hervorheben,  dafs  hier  das- 
jenige Gefühl,  welches  die  Koexistenz  von  Einzelnem  und 
Allgemein- Vorstellung  begleitet,  ein  stets  individuell  ge- 
prägtes, wechselndes,  ein  atypisches  ist.  Wollen  wir 
auch  diese  psychologischen  Thatbestände  als  Urteil  gelten 
lassen    (was    sich    aus    später   hervortretenden    Gründen 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  H 

empfiehlt),  so  können  wir  von  einem  atypischen  Be- 
ziehungs-Urteil reden.  Wir  hätten  danach  zu  sagen,  dafs 
das  Subsumtionsurteil  neben  den  typischen  Fällen  der  sichern 
Subsumtion  die  ihrer  Natur  nach  atypischen  der  mehr 
oder  weniger  unsichem  Subsumtion,  einer  unbestimmten 
Beziehung  umfafst. 

Man  wird  der  Aufstellung  dieser  Kategorie  vielleicht 
keine  sehr  grofse  Bedeutung  zuzuerkennen  geneigt  sein, 
wenn  es  sich  dabei  nur  um  die  Subsumtions-Verhältnisse 
bei  einer  gewissen  Unbestimmtheit  der  Allgemein- Vor- 
stellungen handeln  soll.  Thatsächlich  indessen  spielen,  wie 
ich  glaube,  die  atypischen  Beziehungs-Urteile  eine  viel  be- 
deutendere EoUe;  die  unsichere  Subsumtion  ist  nur  ein, 
aber  nicht   das   bedeutendste  oder  interessanteste  Beispiel 

I  derselben.    Am  beachtenswertesten  erscheint  mir  vielmehr 

die  Eigenschaft  der  Atypie  bei  der  Gresamtheit  der  psycho- 
logischen Vergleichungen  (Prädikationen  der  Gleichheit, 
des   Unterschiedes,    der   Ähnlichkeit   u.    dergl.),    und   ich 

I  komme  hiermit  wieder  auf  einen   von   mir  schon  öfter  er- 

örterten Punkt:  den  fundamentalen  Unterschied  nämlich 
des  in  der  That  vollkommen  typischen  mathematischen 
Grleichheits-Urteils  von  den  vielgestaltigen  der  psycho- 
logischen Vergleichung.  Ich  will,  um  dies  möglichst  klar 
zu  stellen,  zunächst  die  letztgenannten  Urteile  etwas  genauer 
ins  Auge  fassen.  Wenn  wir  zwei  Empfindungen,  Wahr- 
nehmungen oder  auch  zwei  Vorgänge  ähnlich  nennen:  was 
sagen  wir  eigentlich  damit  aus?  In  vielen  Fällen  meinen 
wir  damit  ohne  Zweifel  eine  gewisse,  objektiv  gültige  Auf- 
stellung über  das  reale  Verhalten  der  Dinge.  Lassen  wir 
diese,  die  uns  hier  nicht  interessiert,  und  deren  genauere 
Verfolgung  auch  keine  principielle  logische  Schwierigkeit 
einschliefst,  hier  beiseite,  so  bleibt  das  Urteil  als  reines 
Beziehungs-Urteil  übrig,  als  Konstatierung  eben  desjenigen 
Beziehungs-Gefühls,  welches  die  Zusammenhaltung  der  ver- 


12  J-  V-  Kries: 

glichenen  Empfindungen  etc.  begleitet.  Die  genauere  Be- 
trachtung lehrt  nun,  wie  mir  scheint,  unweigerlich,  dafs 
diese  Beziehungs-Grefiihle  stets  vollkommen  individuelle  und 
eigenartige  sind,  jedem  Einzelfall  eigentümlich  und  von 
Fall  zu  Fall  anders.  Am  greifbarsten  gilt  dies  Verhalten 
für  die  Prädikationen  der  Ähnlichkeit.  Die  Ähnlichkeit 
eines  Rot  und  eines  Orange,  eines  reinen  und  eines  grün- 
lichen Blau,  eines  gesungenen  und  eines  geblasenen  C, 
eines  RAFPAEL'schen  und  eines  Pebugino' sehen  Bildes: 
alle  können  wir  unter  den  unbestimmten  Begriff  der  Ähn- 
lichkeit subsumieren.  Aber  das  Beziehungs-Gefühl  ist  zu- 
nächst in  jedem  einzelnen  Falle  ein  individuelles;  es  ist 
nicht  genau  das  nämliche  Element,  welches  sich  in  dem 
einen  und  dem  anderen  Falle  vorfindet,  sondern  —  auch 
hier  können  wir  uns  nur  wieder  des  gleichen  Begriffes 
bedienen  —  ein  mehr  oder  weniger  ähnliches. 

Wir  können  dieser  Konstatierung  der  Atypie  als  einer 
Besonderheit  derartiger  Urteile  auch  nicht  durch  eine  nahe- 
liegende, etwas  andere  Auffassung  derselben  entgehen.  Man 
kann  fireilich  den  Nachdruck  darauf  legen,  dafs  die  schliefs- 
liehe  Prädikation,  eben  unter  Verwendung  des  Ahnlichkeits- 
Begriffes,  doch  immer  dieselbe  sei.  Fafst  man  das  atypische 
Beziehungs-Urteil  statt  in  seiner  individuellen  Bestimmtheit 
in  dieser  verallgemeinerten  Weise  auf,  so  bleibt  sein  Unter- 
schied gegenüber  den  typischen  Urteilen  darum  nicht  minder 
bedeutsam,  eben  darin  bestehend,  dafs  die  Prädikation  die 
unbestimmte  Allgemein-Vorstellung  der  Ähnlichkeit  besagt, 
statt  wie  in  anderen  Urteilen  die  typische  und  scharf  be- 
stimmte, jeden  Zweifel  ausschliefsende  der  Realität,  der 
mathematischen  Gleichheit,  des  notwendigen  logischen  Zu- 
sammenhanges etc.^)    Man  wird,   wie  ich  glaube,  im  all- 


*)  Bei  allen  atypischen  Beziehungs-Urteilen  läTst  sich  durch  eine 
derartige  Auffassung  die  Unsicherheit,  die  ihnen  anhaftet,  auf  eine 
Unsicherheit  der  Subsumtion  reduzieren,  indem  in  Frage  gebracht  wird, 
ob  das  individuell  gegebene  Beziehungs-Gefühl  in  eine  solche,  ihrer 
Natur  nach  unbestimmte  Kategorie  hineingehöre  oder  nicht. 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  13 

gemeinen  geneigt  sein,  dies  zuzugeben,  vielfach  dagegen 
zunächst  abgeneigt,  das  Entsprechende  auch  auf  die  Gleich- 
heits  -  Aussagen  auszudehnen.  Trotzdem  scheint  mir  die 
nähere  Betrachtung  der  psychologischen  Vergleichungen 
keinen  Zweifel  darüber  zu  lassen,  dafs  es  sich  da  ganz 
ebenso  verhält.  Denn,  um  es  sogleich  ganz  allgemein  zu 
sagen,  jede  solche  Gleichprädikation  ist  doch  immer  nur 
die  Konstatierung  einer  beschränkten  Übereinstimmung. 

Vergleichen  wir  z.  B.  Empfindungs-Unterschiede,  etwa 
die  Helligkeits-Differenz  eines  Weifs  und  eines  Grau  und 
andererseits  die  Differenz  zweier  Töne  von  verschiedener 
Höhe,  so  werden  wir  auch  zunächst  konstatieren  müssen, 
dafs  jede  solche  Differenz  etwas  besonderes  und  indmdueUes 
ist;  und  ebenso  ist  es  um  so  mehr  das  Beziehungs-Gefiihl, 
welches  die  Vergleichung  zweier  solcher  Unterschiede  aus- 
drückt. Kann  man  also  auch  hier  in  gewisser  Weise  von 
einer  Gröfsengleichheit  reden,  so  wird  man  doch  sich  gegen- 
wärtig halten  müssen,  dafs  hier  die  Beziehungs-Geflihle 
auch  durchaus  individuelle  sind,  und  dafs,  wenn  wir  hier 
durchweg  von  Gleichheits-Prädikation  reden,  auch  die 
psychologische  Gröfsengleichheit  (in  diesem  weiten  Sinne  ge- 
nommen) eine  höchst  unbestimmte  Allgemein-Vorstellung  ist. 
Nennen  wir  also  —  dahin  möchte  ich  das  Gesagte  kurz 
zusammenfassen  —  einmal  die  Helligkeit  zweier  Farben, 
sodann  die  Tonstufen  c — d  und  c^ — d^,  sodann,  den  Unter- 
schied zwischen  einem  ersten  und  zweiten  und  den  zwischen 
einem  dritten  und  vierten  Grau,  endlich  etwa  den  Unter- 
schied zweier  Farben  und  den  zweier  Töne  gleich,  so  ist 
die  subjektiv  empfundene  Beziehung  in  jedem  dieser  Fälle 
eine  verschiedene,  und  wir  sagen  also  (wie  man  es  nehmen 
will)  in  jedem  Falle  etwas  verschiedenes  oder  in  allen 
etwas  unbestimmtes,  eine  Menge  von  Verschiedenartigem 
Zusammenfassendes  aus ;  es  fehlt  also  der  Gesamtheit  dieser 
Prädikationen  der  ganz  fest  bestimmte,  scharfe  und  allemal 


14  J.  V.  Kries: 

gleiche  Sinn,   den  wir  bei  anderen  finden,   und  sie  dürfen 
daher  atypisch  genannt  werden. 

Man  kann  das,  worauf  es  ankommt,  vielleicht  noch 
deutücher  machen,  wenn  man  darauf  hinweist,  dafs  ur- 
sprünglich die  Möglichkeit,  so  Verschiedenartiges  zusammen- 
zufassen, auf  der  aufserordentlichen  Allgemeinheit  und  Un- 
bestimmtheit des  psychologischen  „Mehr"  und  „Weniger" 
beruht.  Nach  einem  gewissen  Gesamt-Eindruck  können 
wir  die  starke  Geruchsempfindung  im  Vergleich  zu  dem 
schwachen  Ton,  ebenso  die  palpabele  Differenz  zweier  ganz 
verschiedener  Farben  gegenüber  dem  die  Aufinerksamkeit 
wenig  auf  sich  ziehenden,  allenfalls  überhörbaren  Unter- 
schiede zweier  nahe  verwandter  Töne  als  ein  eindrucks- 
volleres, mächtigeres  oder  ein  gröfseres  bezeichnen.  Wo 
wir  weder  das  eine  noch  das  andere  von  zwei  verglichenen 
Elementen  mit  Sicherheit  als  ein  „Mehr"  empfinden,  können 
wir  dann  von  Gleichheit  reden.  Die  Unbestimmtheit  jener 
Allgemein- Vorstellungen  des  „Mehr"  und  „Weniger"  geht 
parallel  der  Unbestimmtheit  der  Gleichheits-Prädikation, 
die  im  Grunde  nur  darin  besteht,  dafs  für  keine  jener 
Subsumtionen  ein  genügender  Anlafs  da  ist. 

Haben  wir,  wird  man  fragen,  mit  der  eben  gemachten 
Auseinandersetzung  nicht  zuviel  bewiesen,  und  trifft  das 
Ausgeführte  nicht  mit  gleichem  Rechte  auch  bezüglich  der 
mathematischen  Gleichheit  zu?  Ich  glaube  das  nicht  und 
denke  das  auch  in  genügend  greifbarer  Weise  darlegen  zu 
können.  Naturgemäfs  (die  Gründe  dafür  werden  im  folgen- 
den Abschnitt  noch  zu  behandeln  sein)  tritt  der  typische 
Sinn  der  mathematischen  Gleichheit  ganz  deutlich  nur  in 
ihren  allereinfachsten,  unmittelbar  evidenten  Sätzen  hervor. 
Für  die  numerischen  Gleichheiten  finden  wir  eine  der 
Grundlagen,  auf  denen  sich  die  weitere  Entwicklung  auf- 
baut, z.  B.  in  dem  Satz,  dafs  a  +  (b  +  1)  =  (a  +  b)  +  1 
ist.    Erwägen  wir  den  Sinn  dieses  Satzes,   so   wird   man 


Zur  Psychologie  dei  Urteile.  15 

sagen  dürfen,  dafs  er  die  Unabhängigkeit  des  Zahlwertes 
von  der  Art  der  Zusammenfassung  der  Gruppen  ausdruckt. 
Er  sagt,  wie  man  es  auch  ausdrücken  könnte,  die  Möglich- 
keit einer  verschiedenen  begrifflichen  Bestimmung  derselben 
Vielheit  aus.  Für  mich  also  ist  die  hier  ins  Spiel  kommende 
numerische  Gleichheit,  eine  Beziehung,  die  darin  besteht, 
dafs  dieselbe  Vielheit  nur  in  anderer  Bezeichnung  und 
anderer  Zusammenfassung  dargestellt  wird,  etwas  völlig 
eigenartiges,  mit  der  Natur  unserer  Vielheits-Vorstellung 
unauflöslich  verknüpftes.  Aus  diesem  Grunde  ist  die  hier 
behauptete  Beziehung  (die  wir  numerische  Gleichheit  nennen) 
denn  auch  immer  wieder  genau  die  nämliche,  mögen  wir 
sie  nun  in  der  obigen  Form  aussprechen  oder  etwa  sagen, 
dafs  2  +  1  =  1  +  2  ist  u.  dergl. ;  sie  ist  genau  die  nämliche 
in  demselben  Sinne,  wie  auch  in  allen  analytischen  Urteilen 
die  Notwendigkeit,  welche  das  Subjekt  mit  dem  Prädikat 
verbindet,  in  allen  Real-Urteilen  der  Sinne  der  behaupteten 
Realität  derselbe  ist.  Und  darin  liegt  das  Typische  und 
Scharfe  der  mathematischen  Gleichheitsbehauptung,  darin 
auch  die  Unmöglichkeit  einer  Definition  derselben,  einer 
Zurückfuhrung  auf  andere  einfachere  Begriffe. 

Die  hier  gegebenen  Ausführungen  sind  schon  anticipierend,  zum 
Teil  auf  Grund  meiner  früheren  Darstellungen,  zum  Teil  auf  Grund 
privater  Mitteilungen  von  Meinono  ^)  besprochen  und  bestritten  worden. 
Ich  will  nicht  unterlassen,  auf  die  Kritik  Meinonos  hier  mit  einigen 
Bemerkungen  einzugehen.  Fraglich  ist  allerdings,  ob  die  weitere  Er- 
örterung noch  erheblich  über  die  Wiederholung  des  bereits  früher 
Gesagten  hinausführen  kann.  —  Auch  Mbinong  dürfte  geneigt  sein,  zu- 
zugeben, dafs  das  blofse  unmittelbare  Gleicherscheinen,  welches  im 
Grunde  nur  darin  beruht,  dafs  A  im  Vergleich  zu  B  weder  als  ein 
gröfseres  noch  als  ein  kleineres  mit  Sicherheit  bezeichnet  wird,  eine 
äufserst  vielgestaltige,  eine  atypische  Beziehung  ist.  Die  wirkliche 
Gleichheit  stellt  Meinung  diesem  Gleicherscheinen  ausdrücklich  gegen- 
über; für  sie  postuliert  er  auch  die  Gültigkeit  der  mathematischen 
Axiome,  als  ein  einfaches  Ergebnis  von  Denkgesetzen.    Dem  gegenüber 

*)  Mbinong:  Über  die  Bedeutung  des  WEBBR'schen  Gesetzes. 
Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane.  XI, 
S.  83  ff.  und  sep.  Hamburg  und  Leipzig  1896. 


16  J.  V.  Kries: 

kann  ich  eben  nur  sagen,  daTs  ich  mit  der  Behauptung,  e6  erschienen 
z.  B.  zwei  Stufen  innerhalb  einer  Intensitätsreihe  gleich,  den  vorher 
erwähnten  (atypischen)  Sinn  verbinden  kann;  dafs  dagegen  mit  der 
Behauptung,  sie  seien  wirklich  gleich,  oder  mit  der  Aufgabe,  zu  der 
einen  eine  andre  ihr  gleiche  zu  finden  (wozu  jenes  Gleicher  seh  einen 
nur  ein  mehr  oder  weniger  unvollkommenes  Hilfsmittel  sei),  keinen 
Sinn  zu  verbinden  vermag.    Auch  ist  von  Mbinong  die  Angabe  eines 
solchen  Sinnes  nicht  versucht  worden.    Ja  er  würde  diesen  Versuch 
(und  ich  komme  damit  zugleich  auf  den  zweiten  Punkt)  als  überflüssig 
und  gegenstandslos  ablehnen.    Denn  nach  seiner  Auffassung  liegen  die 
Verhältnisse  für  mathematische  und  physikalische  Gröfsenbeziehungen 
ganz  ebenso,  wo  doch  die  Gröfsenvergleichbarkeit  allgemein  anerkannt 
werde.    Schon  in  Bezug  auf  die  rein  mathematischen  Gröfsenbeziehungen 
mufs  ich  hier  gegen  Meinonos  Darstellung  einen  Einspruch  erheben. 
Meinong  hält  sich,   wie  mir  scheint,   zu  sehr  an  die  Frage  der 
praktischen  Ausführung  einzelner  Messungen  und  behält  nicht  genügend 
das  im  Auge,   worauf  es  mir   ankommt,   nämlich  den  absolut  klaren 
Sinn  der  (richtigen  oder  falschen,  zuverlässigen  oder  unsicheren)  Be- 
hauptungen.   Dies  geht  z.  B.  daraus  hervor,  dafs  nach  seiner  Ansicht 
(S.  42  der  Sep.-Ausg.)  gegenüber  der  Vergleichung  übermerklicher  Unter- 
schiede die  auch  von  mir  anerkannten  Baum-  und  Zeit-Vergleichungen 
nur  einen  graduellen  Zuverlässigkeitsvorzug  haben.    Es  geht  noch  deut- 
licher daraus  hervor,  dafs  Meinong  (S.  42  der  Sep.-Ausg.)  im  Gebiete  der 
Baummessungen  auf  die  Unterschiede  der  Lage  und  Richtung  hinweist, 
welche  doch  auch  qualitative  Differenzen  linearer  Strecken  darstellten, 
die  Vergleichungen  ja  auch  vielfach  sehr  merklich   erschwerten,   ohne 
sie  aber  doch  auszuschliefsen.    Für  die  Gleichheit  indessen,  von  der 
m.  E.  die  Mathematik  redet,   ist  der  Unterschied   der  Bichtung  oder 
Lage  als  qualitative  Differenz   gänzlich  bedeutungslos.    Die  faktische 
Erschwerung  der  Vergleichung  sinnlich  gegebener  Strecken  ist  dafür 
ganz  ohne  Belang.    Der  Gleichheitssinn,  der  der  Geometrie  eigen  ist, 
wird  deutlich,   wenn   wir   die   Behauptung   aufstellen,   dafs  für  jede 
Strecke,   die  in  beliebiger  Lage  und  Bichtung  gegeben  ist,   an  jedem 
Ort  und  in  jeder  Bichtung  eine  ihr  mit  absoluter  Genauigkeit  gleiche 
aufgewiesen  werden  kann.    Die  Natur  unserer  Baum-  (und  Zeit-)  Vor- 
stellung ist  es,   in  der  diese  Überzeugung  wurzelt;   es   ist   die   nicht 
weiter  zu  beschreibende  Gleichartigkeit  der  Baum-  und  der  Zeitteile, 
welche  ihre  absolut  scharfe,  jede  Unbestimmtheit  ausschliefsende  Ver- 
gleichbarkeit garantiert. 

In  Bezug  auf  die  Frage,  welche  Bolle  diese  mathematischen 
Gleichheitsbeziehungen  in  den  objektiv  gültigen  Beal-Urteilen  spielen, 
darf  ich  wohl  auf  meine  Ausführungen  in  meinem  früheren  Aufsatz 
(diese  Vierteljahrsschrift  XVI,  S.  275)  verweisen. 

Was  femer  die  physikalischen  Gröfsen  anlangt,  so  wird 
Meinong  wenigstens  zugeben  müssen,  dafs  in  der  theoretischen  Physik 


I 


I 

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I     I 


'     I 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  17 

in  ihrer  gegenwärtigen  Gtestalt  alle  komplizierteren  Gröfsen  auf  Längen-, 
Zeit-  und  Masseneinheiten  zurückgeführt  sind.  Er  behauptet  nun 
freilich,  dafs  diese  Zurückführungen  im  Grunde  nicht  notwendig  oder 
völlig  selbstverständlich  gewesen  seien.  Ich  mufs  zugeben,  daXs  das 
logisch  Willkürliche  und  Konventionelle,  was  nach  meiner  Ansicht 
diesen  Festsetzungen  anhaftet,  in  vielen  Gebieten  nicht  wohl  nach- 
gewiesen werden  kann.  Dies  ist  indessen  doch  sehr  natürlich.  Die 
Physik  bildet  eben  nur  diejenigen  Begriffe  aus,  die  von  mannigfacher 
und  fruchtbarer  Anwendung  sind;  greifen  wir  also  irgend  einen  der 
Principalbegriffe  der  theoretischen  Physik  (z.  B.  die  Intensität  eines 
i  elektrischen  Stromes)  heraus,   wie   darf  es  uns  überraschen,   dafs  sich 

1  jede  neue  Festsetzung  der  eingebürgerten  gegenüber   als  unbrauchbar 

i  erweist!    Über  das  Mafs  von  Willkür  zu  streiten,  welches  hier  in  die 

Festsetzungen  eingeht,  dürfte  also  ziemlich  gegenstandslos  sein.  Be- 
deutungsvoller ist  es,  seine  Aufmerksamkeit  den  Gebieten  zuzuwenden, 
in  denen  sich  diese  Festsetzungen  erst  mit  Schwierigkeiten  vollziehen 
oder  in  welchen  sie  überhaupt  nicht  getroffen  sind  und  vielleicht  auch 
nicht  getroffen  werden.  Ich  weise  hier  zunächst  wieder  auf  die 
Temperaturmessungen  hin.  Da  die  Erfahrung  lehrt,  dafs,  wenn 
zwischen  A  und  B,  ebenso  zwischen  B  und  C  kein  Wärmeaustausch 
stattfindet,  dann  auch  stets  zwischen  A  und  C  kein  solcher  beobachtet 
wird,  so  konnte  zunächst  in  durchaus  klarem  Sinne  verschiedenen 
Körpern  gleiche  Temperatur  zugeschrieben  werden.  Die  Messung  der 
Temperaturgrade  oder  Temperaturdifferenzen  hat  dabei  bisher  stets  als 
eine  Sache  der  Konvention  gegolten;  sie  konnte  geschehen,  indem 
irgend  eine  beliebige  Begleiterscheinung,  z.  B.  die  Ausdehnung  der 
r  Luft   oder   die   des  Quecksilbers,    als   Mafs   genommen    wurde.    Nach 

r  Mbinong  nun  hätte  die  Frage :  „ob  gleiche  Veränderungen  des  Wärme- 

3  zustandes  mit  gleichen  Veränderungen  in  der  Reihe  dieser  oder  jener 

Folgezustände  einhergehen",  also  auch  die,  welche  z.  B.  in  Graden  des 
Quecksilberthermometers    gemessene  Temperaturerhöhungen    „gleichen 
3  Veränderungen  des  Wärmezustandes"  entsprechen,  ihren  völlig  klaren 

Sinn.  Ich  glaube  indessen,  dafs  auch  jetzt  die  meisten  Physiker  die 
Beantwortung  oder  auch  nur  die  Diskussion  dieser  Frage  ablehnen 
würden,  da  nicht  ersichtlich  sei,  was  unter  gleichem  Zuwachs  des 
Wärmezustandes  verstanden  werden  soll.  Allerdings  fängt  die  theo- 
retische Physik  an,  eine  bestimmte  Temperaturskala  als  die  theo- 
retisch wertvollste  zu  bevorzugen.  Dies  ist  die  sogenannte  thermo- 
dynamische.  In  ihr  setzen  wir  die  Abstände  zweier  Temperaturen  vom 
absoluten  Nullpunkt  proportional  denjenigen  Wärmemengen,  die,  wenn 
ein  Körper  zwischen  diesen  Grenzen  einem  umkehrbaren  CARNOT'schen 
Kreisprozefs  unterworfen  wird,  bei  dem  einen  und  dem  anderen  Tem- 
peraturpunkt zugeführt  resp.  entzogen  werden  müssen,  eine  Definition, 
die  recht  verwickelt  und  um  so  weniger  selbstverständlich  ist,  als 
schon  die  Gültigkeit  des  CARNOT'schen  Princips,  auf  dem  ihre  Ein- 
VierteljahTBSchrift  f.  Wissenschaft!.  Philosophie.    XXm.  1.  2 


18  J.  V.  Kries: 

deutigkeit  beruht,  selbst  zwar  eine  Erfahrungsthatsache,  aber  gewifs 
nicht  selbstverständlich  istJ) 

MsiNONOs  Darstellung  läTst  es  zweifelhaft  erscheinen,  ob  er  diese 
Temperaturskala  mit  ausdrücklicher  Einsicht  in  ihre  Grundlage  im 
Auge  gehabt  hat.  Wie  dem  aber  auch  sei,  daXs  sie  die  allein  mögliche 
sei,  wird  man  ebensowenig  zugeben  können,  wie  dafs  eine  Unter- 
scheidung des  Wärmezustandes  genüge,  um  zu  ihr  zu  gelangen.  In 
den  Augen  der  Physiker  ist  sie  eine  neben  andern  mögliche;  sie  hat 
sich  im  Gebrauch  noch  nicht  einmal  eingebürgert;  benutzt  doch  die 
physik.-technische  Reichsanstalt  zu  ihren  Temperatur-Definitionen  das 
Gasthermometer.  Auch  Mach,  auf  den  sich  MisiNONa  beruft,  scheint 
mir  die  Sache  nicht  anders  anzusehen;  er  sagt:^ 

„Werden  die  Gasspannungen  als  TemperaturmaTs  beibehalten, 
so  sind  die  abgeleiteten  Beziehungen  nicht  genau  richtig.  Will  man 
hingegen  die  gefundenen  Sätze  in  ihren  schönen  einfachen  Formen 
festhalten,  so  ist  die  Wahl  eines  neuen  Temperaturmafses  notwendig." 
Dies  sind  die  Worte,  mit  denen  Mach  die  thermodynamische  Skalen 
einführt. 

Wenn  einmal,  was  freilich  möglich  ist,  diese  Skala  als  die  wissen- 
^  schaftlich  wertvollste  sich  eingebürgert  haben  wird,  so  wird  allerdings 
auch  wiederum  die  Behauptung  möglich  sein,  eben  sie  und  nur  sie 
enthalte  das  wahre,  das  richtige  Mafs  des  Wärmezustandes.  In  ganz 
entscheidender  Weise  aber  zeigt  sich,  dafs  die  Aufgabe  der  Gleichheits- 
bestimmungen nicht  in  der  einfachen,  von  MEmoNa  für  genügend 
erachteten  Weise  gestellt  werden  kann,  überall  da,  wo  die  Theorie  gar 
nicht  oder  nicht  in  so  unmittelbarem  Anschluls  an  die  zuerst  sich 
bietenden  Formulierungen  zu  der  Fixierung  eines  mefsbaren  Begriffs 


^)  Übersichtlicher  ist  die  Definition  in  der  mathematischen  Zeichen- 
sprache. Wird  für  irgend  einen  Körper  ein  umkehrbarer  CABNOT'scher 
Kreisprozefs  zwischen  zwei  bestimmten  Temperaturen  Tj  und  T3  durch- 
geführt und  dabei  auf  der  höheren  Temperaturstufe  die  Wärmemenge 
Qi  zugeführt,   auf  der  niedrigeren  Q2  entzogen,  so  ist  das  Verhältnis 

der  beiden  Temperaturgrade   durch   die  Gleichung  ~  =  ^  definiert. 

X, To  ^      ^ 

-~= — =  ist  der  Bruchteil   des  auf  der  höheren  Temperaturstufe  zuge- 

■■■1 

führten  Wärmequantums,  der  bei  dem  Prozeüs  als  mechanische  Arbeit 

abgegeben,  in  sichtbare  Energie  verwandelt  wird.  Das  CARNOT'sche 
Prinzip  besagt,  daXs  jene  Verhältnisse  bei  bestimmten  Temperaturen 
von  der  Natur  des  dem  Kreisprozefs  unterworfenen  Körpers  unabhängig 
sind.  Auf  ihm  beruht  also,  wie  die  theoretische  Bedeutung  jener  De- 
finition überhaupt,  so  in  erster  Linie  ihre  Eindeutigkeit. 

>)  Mach:  Principien  der  Wärmelehre  1896,  S.  308. 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  J9 

gelangt.  Auch  hierfür  ist  es  leicht,  Beispiele  zu  finden.  Wir  nennen 
eine  chemische  Verbindung  stabiler  oder  labiler  als  eine  andere;  wir 
ordnen  die  Mineralien  nach  einer  sogen.  Härteskala  und  schreiben  dem 
einen  gröfsere  oder  geringere  Härte  als  einem  andern  zu.  Wir  nennen 
bei  optischen  Instrumenten  die  Abbildungen  schärfer  oder  weniger 
scharf,  auch  wohl  ganz  allgemein  besser  oder  schlechter,  nach  specielleren 
Gesichtspunkten  eine  Linse  z.  B.  periskopischer  als  eine  andere.  Wir 
schreiben  einem  Femrohr  oder  Mikroskop  eine  stärkere  oder  geringere 
Vwgröfserung  zu  etc.  Es  ist  belehrend  zu  betrachten,  wie  sich  die 
Physik  gegenüber  den  auf  derartige  Begriffe  gerichteten  Mafsfragen 
verhalten  würde.  Unter  allen  Umständen  wird  die  Beantwortung  oder 
auch  nur  die  Diskussion  einer  derartigen  Frage  als  sinnlos  abgelehnt 
werden,  solange  nicht  eine  Fixierung  des  betreffenden  Begriffs  in  dem 
Sinne  gegeben  ist,  dafs  er  auf  Raum-,  Zeit-  und  Massen-  oder  Zahlen- 
gröfsen  zurückgeführt  ist.  In  manchen  Fällen  (so  z.  B.  bei  der  Härte, 
der  chemischen  Stabilität)  wird  sich  eine  solche  Fixierung  nicht  geben 
lassen,  und  es  hat  alsdann  sein  Bewenden  dabei,  dafs  in  dieser  Beziehung 
Mafsangaben  nicht  zu  machen,  auch  nicht  zu  suchen  sind,  was  eine 
gewisse  Brauchbarkeit  des  Begriffs  nicht  ausschliefst.  In  anderen  Fällen 
können  auch  mehrere  Fixierungen  sich  als  gleichwertig  darbieten.  So 
können  wir  die  vergröfsemde  Exaft  eines  Fernrohrs  oder  Mikroskops 
durch  die  Zahl  messen,  die  angiebt,  unter  einem  wieyiel  gröfseren 
ebnen  Winkel  eine  Linie,  ebensogut  aber  auch  durch  diejenige,  die 
angiebt,  unter  einem  wieviel  gröfseren  körperlichen  Winkel  eine  Fläche 
erscheint.  Nach  der  einen  Bestimmung  werden  wir  die  vergröfsemde 
Kraft  des  Mikroskops  I  auf  das  10  fache,  nach  der  andern  auf  das 
100 fache  von  deijenigen  des  Mikroskops  II  veranschlagen.  Der  Begriff 
der  Vergröfserung  kann  aber  aufgestellt  und  z.  B.  zur  Ordnung  der 
Instrumente  in  eine  Beihe  benutzt  werden,  ohne  dafs  die  specielleren 
Begriffe  der  linearen  und  der  flächenhaften  Vergröfserung  gebildet 
worden  sind. 

Wir  sind  also  nicht  in  Verlegenheit,  physikalische  Begriffe  auf- 
zuführen, die  sich  sozusagen  von  selbst  darbieten,  welche  nur  insoweit 
bestimmt  sind,  dafs  nach  ihrer  Mafsgabe  irgend  welche  Eigenschaften, 
Zustände,  Vorgänge  passend  in  Eeihen  geordnet  werden  können,  die 
aber  gleichwohl  zunächst  keine  MaTsbestimmungen  gestatten.  Damit 
Mafsfragen  einen  Sinn  haben,  ist  eine  Fixierung  des  Begriffs  erforder- 
lich, über  die  man  sich  doch  nicht,  wie  über  etwas  Selbstverständliches 
hinwegsetzen  kann;  denn  im  Verlaufe  der  weiteren  Untersuchung  kann 
es  zwar  dahin  kommen,  dafs  sich  eine  bestimmte  Fixierung  gewisser- 
mafsen  als  selbstverständlich  darbietet.  Es  kann  aber  auch  sehr  wohl 
kommen,  dafs  sich  eine  solche  Fixiemng  nicht  ergiebt  und  der  Begriff 
dauernd  auf  die  unbedeutendere  Bolle  eines  zu  Mafsbestimmungen  nicht 
geeigneten  beschränkt  bleibt;  und  es  kann  auch  dahin  kommen,  dafs  sich 
für  ihn  zwei  oder  mehr  verschiedene,  ganz  gleichwertige  Festsetzungen 

2* 


20  J-  V-  Kries: 

darbieten,  dafs  er  gewissermaTsen  in  zwei  yerschiedene  Begriffe  gespalten 
wird  etc. 

Ich  yermag  nicht  abzusehen,  was  uns  auf  dem  Standpunkt  Meinongs 
abhalten  könnte,  auch  den  Fragen,  welche  Stufen  der  Härteskala,  welche 
Zuwüchse  in  der  yergröfsemden  Kraft  eines  Mikroskops,  welche  Grade 
der  chemischen  Stabilität  einander  gleich  seien,  einen  völlig  klaren 
Sinn  zuzuschreiben,  während  doch  ein  solcher  in  Wirklichkeit  für  die 
einen  nicht,  für  andre  in  mehrfacher  Weise  angegeben  werden  kann. 

Nun  wird  Mbinong  derartigen  Betrachtungen  gegenüber  ver- 
mutlich sagen,  das  verstehe  sich  ja  von  selbst,  dafs  unter  allen  Um- 
ständen genau  begrifflich  fixiert  sein  müsse,  was  eigentlich  gemessen 
werden  soll.  Allein  das  ist  es  ja  gerade,  was  ich  behaupte,  dafs  die- 
jenigen Begriffe,  die  sich  ganz  ohne  weiteres  allein  aus  dem  Umstände 
ergeben,  dafs  sich  eine  Anzahl  von  Eigenschaften,  Zuständen,  Vor- 
gängen etc.  für  unsere  Auffassung  in  eine  Keihe  ordnen,  zwar  ge- 
nügend sind,  um  von  einem  Mehr  und  Minder  zu  reden,  aber  im  all- 
gemeinen zu  unbestimmt,  um  in  Bezug  auf  sie  sinnvolle  MaTsfragen 
stellen  zu  können.  Wir  können  ja  ganz  wohl,  ohne  z.  B.  den  Begriff 
der  Vergröfserung  zu  fixieren,  nicht  nur  die  Mikroskope  nach  ihrer 
Vergröfserung  in  eine  Reihe  ordnen,  sondern  wir  würden  sogar  ge- 
legentlich ganz  verständlich  sagen  können,  zwischen  den  beiden  In- 
strumenten I  und  n  bestände  ein  geringer,  zwischen  III  und  IV  ein 
weit  gröfserer  Unterschied.  Aber  eine  weitere  Fixierung  ist  erforder- 
lich, ehe  wir  MaTsfragen  stellen  oder  numerische  Angaben  machen 
können.  Und  in  der  Physik  wird  man  kein  Beispiel  finden,  dafs 
eine  solche  die  Mafsbestimmungen  ermöglichende  Fixierung  eines  Begriffs 
anders  als  durch  die  Zurückführu'ng  auf  Raum-,  Zeit-  und  Mafsgröfsen 
(abgesehen  von  reinen  Zahlenwerten)  gegeben  wird. 

Auch  Mbinong  wird  also  zugeben  müssen,  dafs  die  MaTsangaben, 
von  denen  die  Physik  redet,  ausnahmslos  in  der  von  mir  angegebenen 
Weise  gedeutet  werden  können,  und  dafs,  wo  eine  solche  Deutung 
nicht  fixiert  ist,  die  Gefahr  vorliegt,  sich  in  sinnlosen  Fragen  zu  ver- 
irren; er  wird  auch  weiter  zugeben  müssen,  dafs  die  hiemach  erforder- 
liche Prüfung,  mögen  wir  sie  auch  etwa  in  die  allgemeine  Frage  ein- 
kleiden, ob  man  es  überhaupt  mit  einem  physikalisch  wertvollen  oder 
brauchbaren  und  einem  unzweideutigen  Begriff  zu  thun  habe,  that- 
sächlich  stets  darauf  hinausläuft,  jenen  festen  Zusammenhang  mit 
Raum-,  Zeit-  und  Masseneinheiten  zu  suchen,  eventuell  zu  schaffen. 
Dies  ist  alles,  was  ich  aus  der  Betrachtung  der  physikalischen 
Messungen  zur  Erläuterung  des  Gegenstandes  beizubringen  wünschen 
kann.  Will  jemand  behaupten,  dafs  jene  Zurückführungen  im  Grunde 
überflüssig  seien,  dafs  für  ihn  die  betreffenden  Mafsfragen  schon  an 
sich  einen  völlig  klaren  Sinn  haben,  so  läfst  sich  dies  naturgemäJDa 
wohl  kaum  widerlegen,  aber  gewifs  auch  ebensowenig  beweisen. 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  21 

In  dem  eben  Ausgeführten  ist  implicite  bereits  ein 
Punkt  berührt,  der  noch  zu  erwähnen  ist;  es  handelt  sich 
um  gewisse  von  mir  gebrauchte  Ausdrücke,  die  eine  mifs- 
verständliche  Auflfassung,  wie  ich  zugeben  mufs,  einiger- 
maXsen  nahe  legen  und  vielleicht  erfahren  haben.  Es  hat, 
wie  es  scheint,  bei  Meinung  (vielleicht  auch  anderweit) 
Anstofs  erregt,  dafs  ich  von  einer  willkürlichen  Festsetzung 
dessen,  was  gleich  genannt  werden  soll,  gesprochen  habe. 
Indessen  lassen  doch  meine  ganzen  Ausfuhrungen  wohl  er- 
kennen, dafs  bei  allen  den  Festsetzungen,  von  denen  ich 
geredet  habe,  es  sich  nicht  um  irgend  welche  willkürlichen 
Festsetzungen  oder  Modifikationen  des  Begriffes  „Gleich" 
handelt,  sondern  um  Festsetzungen  darüber,  was  gemessen 
oder  gezählt  werden  soll.  Dafs  bei  allen  physikalischen 
Gröfsenangaben  der  Begriff  „Gleich"  der  völlig  scharf 
fixierte,  einer  Erklärung  nicht  fähige  und  bedürftige  der 
mathematischen  Gleichheit  ist,  habe  ich  sogar  ausführlich 
dargelegt.  Einer  kurzen  Erläuterung  dagegen  wird  meine 
Ausdrucksweise  betreffend  der  psychologischen  GröJsen  be- 
dürfen; hier  habe  ich  in  der  That  davon  gesprochen,  dafs 
man  festsetzen  könne,  was  als  gleich  betrachtet  werden  soll 
(z.  B.  Messung  intensiver  Gröfsen,  diese  Zeitschr.  VI,  S.  276). 

Beachtet  man  indessen  den  Zusammenhang,  in  dem 
von  jenen  Festsetzungen  die  Rede  ist,  so  wird  doch  er- 
sichtlich, dafs  es  sich  auch  da  lediglich  um  eine  Frage 
der  Terminologie  handelt.  Setzten  wir  z.  B.  fest  (wie 
dort  als  möglich  angedeutet  ist),  dafs  die  eben  merklichen 
Unterschiede  einer  Intensitätsreihe  als  gleich  betrachtet 
werden  sollen,  so  gewinnen  wir  dadurch  die  Möglichkeit 
(und  das  ist  der  einzige  Zweck  der  Sache),  die  kurzen 
Ausdrücke  der  Mafsbezeichnungen  anzuwenden,  und  z.  B. 
eine  Stufe  3  fach  gröfser  als  eine  andere  zu  nennen,  statt 
sagen  zu  müssen,  dafs  sie  eine  3  fach  gröfsere  Zahl  eben 
merklicher    Zuwüchse    umfasse.      Der   Begriff,    der   hier 


22  J»  v-  Kries: 

konventionell  fixiert  wird,  indem  wir  dem  Satz,  dafs  zwei 
Intensitätsstufen  gleich  seien,  einen  bestimmten  Sinn  geben, 
ist  natürUch  im  Grunde  der  der  Intensität;  wir  verstehen 
unter  dem  (numerisch  angegebenen)  Intensitätsgrad  die 
Zahl  der  eben  merklichen  Zuwüchse,  um  welche  eine  jede 
Empfindung  von  einem  bestimmten  Ausgangspunkt  (etwa 
dem  NuUpunkt)  entfernt  ist.  Dies  wäre  vielleicht  von 
vornherein  noch  deutlicher  geworden,  wenn  ich  statt  des 
gewählten  kurzen  Ausdrucks  gesagt  hätte,  es  werde  fest- 
gesetzt, dafs  die  eben  merklichen  Zuwüchse  als  gleich 
grofse  Vermehrungen  der  Intensität  betrachtet 
werden  sollen.  Ich  begreife  vollkommen,  dafs  derjenige 
diese  Festsetzungen  perhorrescieren  mufs,  für  den  der  Be- 
griff der  Intensität  oder  besser  gesagt  des  numerischen 
Intensitätsgrades  etwas  ohne  weiteres  Klares  und  Festes  ist. 
Wer  dieser  Ansicht  nicht  ist,  wird  seine  konventionelle 
Fixierung  für  berechtigt  erklären  müssen.  Im  übrigen  bin 
ich  keineswegs  der  Meinung,  dafs  sich  die  Einfuhrung  einer 
derartigen  ßezeichnungsweise  besonders  empfiehlt,  schon  weil 
sie  mit  dem  Begriff  der  atypischen  Gleichheit,  mit  dem  des  un- 
mittelbaren  Gleicherscheinens  vielfältigst  in  Konflikt  kommt. 
Es  lag  mir  auch  damals  nur  daran,  anzugeben,  in  welcher 
Weise  man  im  Gebiete  der  Empfindungen  zu  einer  formell 
ähnlichen  Behandlung  wie  in  der  Physik  gelangen  könne. 

Ohne  den  Anspruch  auf  Vollständigkeit  will  ich  hier 
noch  einige  weitere  Fälle  atypischer  Beziehungen  auffuhren. 
Mit  gewissen,  noch  zu  berührenden  Vorbehalten  gehört 
dahin  die  auf  psychologischem  Gebiete  ebenfalls  viel  er- 
örterte Beziehung  des  Komplexes  zu  seinen  Elementen. 
Könnten  wir  irgend  welche  Fälle  aufweisen,  in  denen  zwei 
Bewufstseins-Elemente,  einmal  jedes  für  sich,  sodann  beide 
koexistierend  dargestellt  wären,  ohne  dafs  in  dem  letzten 
Falle  irgend  eine  Modifikation  des  einen  oder  andern  statt- 
fände, könnten  wir  also  im  allerengsten  Sinne  des  Wortes 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  23 

den  einen  Zustand  als  die  Summe  der  beiden  andern  dar- 
stellen, so  könnte  eine  solche  Beziehung  (der  Summe  zu 
ihren  Teilen)  wohl  als  etwas  ganz  Festes  und  Typisches 
in  Anspruch  genommen  werden. 

Dafs  es  Gebiete  geben  mag,  in  denen  derartiges  der 
Fall  ist,  soll  nicht  in  Abrede  gestellt  werden.  Von  Wichtig- 
keit aber  ist  es,  dafs  es  andre  giebt,  in  denen  die  Bedeutung 
des  Komplexes  in  der  Zusammenfligung  von  Bestand- 
teilen sich  nicht  erschöpft,  da  zwischen  diesen  ein  eigen- 
artiger und  nicht  weiter  erläuterbarer  Zusammenhang  statt- 
findet. Dies  ist  z.  B.  der  Fall  bei  der  Gesichtswahmehmung, 
an  der  man  das  räumliche  Element  und  den  Empfindungs- 
bestandteil, an  jedem  derselben  wohl  auch  noch  wieder  ver- 
schiedene Bestandstücke  einander  gegenüberstellen  kann, 
während  man  sie  doch  in  der  Empfindung,  wie  sie  nun 
einmal  ist,  in  einer  zunächst  nicht  weiter  erläuterbaren 
Weise  verknüpft  findet. 

Bezeichnen  wir  also  auch  etwa  das  räumliche  Element 
und  das  Empfindungsmaterial  als  die  Bestandteile  einer 
Gesichtswahrnehmung,  oder  fuhren  wir  die  einzehien  in 
ein  Urteil  eingehenden  Vorstellungen  als  seine  Teile  auf, 
so  werden  wir  doch  beachten  müssen,  dafs  hier  im  Ver- 
hältnis des  Teiles  zum  Ganzen  jedesmal  etwas  Besonderes 
vorliegt,  was  in  der  Benennung  „Komplex  und  Teil",  eben 
wegen  ihrer  Unbestimmtheit  nicht  zum  Ausdruck  gelangt. 
Von  Wichtigkeit  ist  die  Beachtung  dieses  Umstandes  des- 
halb, weil  wir  durch  sie  vor  der  Überschätzung  der  Erfolge 
gesichert  werden,  die  wir  vor  einer  Analysierung  oder  Zer- 
legung der  komplizierteren  Bewufstseins-Phänomene  erwarten 
können.  In  der  That  entschlüpft  uns  bei  dieser  Behand- 
lung jedesmal  das,  worauf  es  in  manchem  Betracht  wohl 
am  meisten  ankommen  dürfte  und  was  man  etwa  den 
funktionellen  Zusammenhang  der  Elemente  zu  nennen  hätte. 
Es  ist  natürlich  hier  nicht  der  Ort,  darauf  einzugehen, 


24  J-  V.  Eries: 

welche  Einseitigkeit  gelegentlich  durch  diese  Behandlungs- 
weise  in  die  Psychologie  hineingetragen  worden  ist. 

Gegentiber  der  Unzulänglichkeit  dieser  Anschauung 
ist  es  jedenfalls  als  ein  groJfeer  Fortschritt  zu  bezeichnen, 
wenn  man  gegenwärtig  nicht  nur  in  den  eben  behandelten 
Fällen  dem  funktionellen  Zusammenhange  der  Bestandteile 
wieder  erhöhte  Aufinerksamkeit  zuwendet,  sondern  auch 
in  einfacheren  Fällen,  z.  B.  bei  dem  Verhältnis  des  Klanges 
zu  den  in  ihn  eingehenden  Partialempflndungen,  in  dem 
man  von  einer  Verschmelzung  spricht,  der  eigenartigen 
Modifikation  Eechnung  trägt,  in  der  das  Einzelne  im  Komplex 
wiedergefunden  wird.  MögUch  ist  wohl  (hierin  Uegt  der 
vorhin  gemachte  Vorbehalt),  dafs  weitere  Untersuchung  es 
dahin  bringt,  die  Gesamtheit  solcher  Zusammenhänge  auf 
eine  Anzahl  fester  Typen  zu  reduzieren.  Sollte  es  indessen, 
was  mir  vorderhand  wahrscheinlicher  ist,  nicht  gelingen, 
alle  die  feinen  Modifikationen,  die  das  Verhältnis  des  für 
sich  vorgestellten  oder  empfundenen  Einzelnen  zu  dem  es 
umfassenden  Komplex  aufweisen  kann,  auf  feste  Typen  zu 
reduzieren,  so  würden  auch  die  eine  derartige  „Analyse" 
ausdrückenden  Urteile  (immer  natürlich,  sofern  sie  nicht 
ein  Gesetz  des  psychischen  Geschehens  ausdrücken,  sondern 
nur  die  unmittelbar  gegebene  Beziehung  konstatieren  wollen) 
als  atypische  Beziehungs-Urteile  zu  bezeichnen  sein. 

Ein  sehr  anderes  Beispiel  atypischer  Beziehungen 
bieten  uns  sodann  die  logischen  Verhältnisse  im  engeren 
Sinne.  Eine  ganz  feste  und  typische  ist  es,  die  darin  be- 
steht, dafs  ein  Urteil  die  notwendige  Konsequenz  eines 
oder  mehrerer  anderer  ist.  Wo  wir  konstatieren,  dafs  aus 
gewissen  Urteilen  sich  eine  kleinere  oder  gröfsere  Wahr- 
scheinlichkeit für  ein  anderes  ergiebt,  da  müssen  wir  wohl 
anerkennen,  dafs  auch  eine  gewisse  logische  Beziehui^ 
vorliegt,  welche  aber,  von  Fall  zu  Fall  variierend,  nur 
durch   jene    unbestimmte.    Verschiedenartiges    zusammen- 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  25 

fassende  Bezeicliniing  ausgedrückt  werden  kann.  So  ist  also 
z.  B.  das  logische  Verhältnis  des  Analogieschlusses  ein 
atypisches.  Das  Gleiche  gilt  aber  auch  für  die  Induktion, 
sofern  wir  das  Verhältnis  des  allgemeinen  Satzes  zu  den 
Einzelthatsachen,  aus  denen  man  ihn  ableitet,  ins  Auge 
fassen.  Er  folgt  nicht  aus  ihnen,  aber  sie  dienen  ihm 
doch  zur  Begründung,  sie  konstituieren  eine  gewisse  Wahr- 
scheinlichkeit für  ihn.  Auch  hier  fassen  wir  durch  diese 
unbestimmte  Bezeichnung  alle  die  logischen  Verhältnisse 
einzelner  Induktionen  zusammen,  konstatieren  dabei  aber 
nicht  in  allen  das  nämliche,  sondern  nur  ein  ähnliches  Ver- 
hältnis, schon  im  Wahrscheinlichkeitswert  von  Fall  zu  Fall 
variierend. 

Übrigens  ist  es  wahrscheinlich,  dafs  die  Kategorie 
dieser  atypischen  Beziehungen  noch  sehr  reichhaltig,  ja 
vielleicht  ihrer  Natur  nach  unbegrenzt  und  sozusagen  ins 
Unbestimmte  erweiterbar  ist.  Denn  da  wir  in  mannigfachster 
Weise  die  Bewufstseinsinhalte  in  Beziehung  zu  einander 
bringen  können,  und  da  sich  dabei  sehr  häufig  irgend 
welche  wieder  in  einer  Allgemein- Vorstellung  zusammenzu- 
fassende Beziehungsgefühle  ergeben  werden,  so  wird  man 
kaum  daran  denken  wollen,  das  Gebiet  zu  erschöpfen. 
Doch  ist  fraglich,  ob  diese  Erweiterungen  auch  in  irgend 
einer  Hinsicht,  am  fraglichsten,  ob  sie  in  logischer  Beziehung 
noch  viel  Interesse  gewähren  würden.  Ja  es  wird  viel- 
leicht nicht  an  Stimmen  fehlen,  welche  schon  die  hier 
eben  behandelten  Fälle  aus  der  Urteilslehre  verbannen, 
sie  nicht  als  wirkliche  Urteile  gelten  lassen  wollen.  Im 
Princip  nun  würde  mir  dies  als  ein  ziemlich  nutzloser 
Wortstreit  erscheinen;  doch  darf  man  darauf  hinweisen, 
dafs  die  Subsumtion  unter  unbestimmte  Allgemein- Vor- 
stellungen (vermittelst  deren  wir  z.  B.  eine  aktuelle 
Empfindung  als  Grün  oder  als  Kalt  bezeichnen)  stets  als 
Urteil  gegolten  hat  und  nach  ihrem  ganzen  psychologischen 


26  J-  V.  Kries: 

Thatbestand  auch  den  typischen  Urteilen  so  ähnlich  ist, 
dafs  man  sie  kaum  von  ihnen  wird  trennen  wollen.  Da 
sich  aber,  wie  vorher  schon  erwähnt,  jedes  atypische  Be- 
ziehungsurteü  als  die  Subsumtion  einer  individuellen  Be- 
ziehung unter  eine  Allgemein- Vorstellung  auffassen  läfst, 
so  wird  man  wohl  auch  die  Einreihung  derselben  in  die 
Ürteils-Kategorie  und  die  daraufhin  gewählte  Bezeichnung 
als  zweckmäfsig  anerkennen  müssen. 

IV. 

Die  bisherige  Auseinandersetzung  zeigt,  dafs  auch, 
wenn  wir  uns  auf  Urteile  beschränken,  die  eine  zergliedern- 
den Zurückführung  auf  andere  nicht  mehr  gestatten,  wir  gar 
vieles  finden,  was  unter  die  logischen  Haupt-Typen  sich 
nicht  unterordnet;  die  vollständigere  Betrachtung  hat  uns, 
wie  wir  sagen  dürfen,  veranlafst,  der  zunächst  mit  einiger 
WiUkür  bewerkstelligten  Herausgreifung  von  logischen 
Typen  gewisse  Ergänzungen  anzuschliefsen.  Die  wichtigsten 
Punkte,  in  denen  sich  die  thatsächliche  Gestaltung  des 
urteilenden  Denkens  von  den  logischen  Schematen  unter- 
scheidet, sind  indessen  damit  noch  nicht  bezeichnet.  In 
der  Hauptsache  nämlich  beruht  dies,  wie  nun  im  folgenden 
auszuführen  sein  wird,  auf  der  verwickelten  Natur  des 
Zusammenhanges,  in  dem  die  vielen  psychologischen  Vor- 
gänge, die  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  als  Urteile  be- 
zeichnet werden,  mit  definitiv  deutlichen  und  im  strengen, 
engsten  Sinne  des  Wortes  so  zu  nennenden  Urteilen  stehen, 

Ein  erstes,  um  das  es  sich  hierbei  handelt,  wiU  ich 
zunächst  an  einem  möglichst  einfachen  Fall,  einem  System 
analytischer  Urteile,  erläutern.  Im  voraus  wollen  wir  dabei 
beachten,  dafs,  wie  wir  annehmen  dürfen,  im  Begriff  seine 
wesentlichen  Bestimmungsstücke  nicht  als  reale  Bewufstseins- 
zustände,  wohl  aber  als  psychologische  Dispositionen,  also 
wenn  man  so  will,   latent,   vorhanden  sind.    Setzen  wir 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  27 

einen  Begriff  mit  irgend  einem  dieser  Bestimmungsstücke 
urteilend  in  Beziehung,  wie  es  im  analytischen  Urteil 
geschieht,  sagen  wir  also  z.  B. :  der  Kreis  ist  eben,  so  ist 
es  die  Aktivierung  einer  bereits  vorhandenen  Disposition, 
welche  das  Geltungsgefuhl  bestimmt  und  ihm  seinen  vorhin 
schon  berührten  Charakter  der  Selbstverständlichkeit  giebt. 
Nun  ist  aber  zu  beachten,  dafs  bei  verwickelten  Begriffs- 
systemen (und  zwar  wenn  jeder  Begriff  durch  eine  völlig 
scharfe  und  bekannte  Definition  genau  fixiert  ist)  der  erste 
Begriff,  von  dem  wir  ausgehen,  ex  definitione  mit  einer 
Anzahl  anderer  zusammenhängt,  jeder  von  diesen  wieder 
mit  einer  Anzahl  weiterer  etc.  Es  kommt  auf  diese  Weise 
dazu,  dafs  von  dem  ersten  (verwickeltsten)  Begriff  Aussagen 
gemacht  werden  können,  die  vollkommen  rein  und  streng 
als  analytische  Urteile  bezeichnet  werden  müssen,  denen 
aber  der  Charakter  der  Selbstverständlichkeit  und  unmittel- 
baren Evidenz,  den  wir  sonst  am  analytischen  Urteil  ge- 
wohnt sind,  bereits  abgeht.  Durch  die  Verwicklung  der 
Zusammenhänge  und  die  Ausdehnung  des  Systems  ist  das- 
selbe unübersehbar  geworden.  Psychologisch  und  im  Hin- 
blick auf  die  Dispositionen  ist  dies  ja  auch  vollkommen 
verständlich.  Denn  jene  erst  in  zweiter  oder  dritter  An- 
knüpfung mit  dem  Ausgangsbegriff  zusammenhängenden 
sind  in  ihm  selbst  dispositiv  so  wenig  und  unbestimmt 
vorhanden,  dafs  ihre  Prädizierung  den  Eindruck  der  Selbst- 
verständlichkeit nicht  mehr  macht.  Wir  müssen  demgemäfe 
konstatieren,  dafs  auch  in  dem  Gebiete  der  Beziehungs- 
Urteile,  sogar  bei  den  unanfechtbarsten  Vertretern  derselben, 
den  analytischen  Urteilen,  die  unmittelbare  Evidenz  ledig- 
lich durch  den  Mangel  an  Übersehbarkeit  aufhören  kann. 
Auch  hier  greift  also  dann  ein  Wissen  Platz,  welches  in 
gewissem  Umfange  Gedächtnis-Sache  ist. 

Hiermit  ist  nun  aber  —  und  das  ist  der  uns  wesent- 
lich interessierende  Punkt  —  der  psychologische  Charakter 


28  J-  V.  Kries: 

des  Geltungsgefühls  in  tiefgreifender  Weise  verändert. 
Solange  der  Prädikatsbegriff  in  dem  Subjektsbegriff  wenn 
auch  nur  in  schwacher  Andeutung  mitgedacht  ist,  zeigt 
das  Urteil  jene,  ihm  meistens  zugeschriebene  Besonderheit, 
die  Selbstverständlichkeit,  die  unmittelbare  Evidenz,  die, 
wie  wir  vorhin  sagten,  idiode tische  Geltung.  Dies  ist, 
sobald  die  Zusammenhänge  einen  gewissen  Grad  der  Ver- 
wicklung und  ünübersehbarkeit  gewonnen  haben,  nicht 
mehr  der  Fall;  wir  haben  zwar  ein  gewisses  Gefühl  der 
Berechtigung  für  die  betreffende  Aussage,  allein  dasselbe 
erscheint  nicht  mehr  mit  der  Natur  der  verknüpften  Be- 
griffe selbstverständlich  gegeben,  es  ist  etwas  von  aufsen 
an  sie  herantretendes,  psychologisch  genommen  dem  hete- 
rodetischen  der  Eeal-Urteile  ähnlich. 

Es  ist  aber,  wie  wir  weiter  hinzufügen  müssen,  nicht 
blofs  die  Art  des  Geltungsgefühls  verändert,  sondern  es 
ist  zugleich  auch  der  Behauptungsinhalt,  zwar  wohl  nicht 
eigentlich  geändert,  aber  doch  unersichtlich  geworden.  Fehlt 
uns  die  Übersicht  über  die  Zusammenhänge,  die  uns  be- 
rechtigen, einem  Begriffe  das  Merkmal  a  zuzuschreiben 
(wir  können  sie  eventuell  gänzlich  vergessen  haben),  so 
kann  wenigstens  sehr  leicht  auch  der  Sinn  der  Behauptung 
insofern  verdunkelt  sein,  dafs  die  begriflliche  (analytische) 
Geltung  gar  nicht  mehr  bemerkt  wird.  Das,  was  bestehen 
bleibt  und  allerdings  bestehen  bleiben  mufs,  wenn  das  Urteil 
eine  Bedeutung  im  psychologischen  Sinne,  d.  h.  irgend 
einen  Einflufs  im  Zusammenhange  des  Denkens  haben  soll, 
ist  etwas  ganz  anderes;  es  ist  keine  Einsicht  in  irgend 
ein  Verhalten  im  Sinne  der  logischen  Typen,  sondern  nur 
das  Gefühl  der  Berechtigung  einer  gewissen  Verfahrungs- 
weise,  seine  Bedeutung  ist  eine,  wie  ich  sagen  möchte, 
operative.  Wenn  wir,  um  ein  Beispiel  anzuflihren,  wissen, 
dafe  eine  Ellipse  eine  ebene  Kurve  zweiten  Grades  ist, 
so  können  wir  in  der  That  von  diesem  Urteil  sehr  wohl 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  29 

Gebrauch  machen,  auch  wenn  wir  etwa  im  Augenblick  nicht 
übersehen,  ob  darin  ein  mathematischer  Satz  ausgedrückt 
oder  nur  der  Begriff  der  Ellipse  analytisch  erläutert  ist; 
denn  der  Satz  genügt  uns,  um  z.  B.  irgend  einer  besonderen 
Kurve,  die  uns  als  Ellipse  bekannt  ist,  gewisse  Eigenschaften 
zuzuschreiben,  die  wir  an  den  Kurven  zweiten  Grades  kennen. 
Ebenso  wird  z.  B.  der  Satz  7  x  15  =  105  eine  gewisse 
psychologische  Funktion  ausüben  können,  auch  ohne  dafs 
darüber  Klarheit  herrscht,  ob  mit  der  Gleichheit  ein  Vor- 
stellungsverhältnis oder  eine  reale  Thatsache  ausgedrückt 
sein  soll.  Es  wird  vielmehr  für  seine  Funktion  die  operative 
Bedeutung  des  Gleichheitsbegrifis  voUkommen  genügen, 
demzufolge  wir  im  Einzelfall  etwa  wissen,  dafs  wir  aus 
105  Nüssen  7  Teile  zu  je  15  bilden  können. 

Die  Möglichkeit  solcher  Urteile  von  wesentlich  opera- 
tiver Bedeutung  beruht  natürlich  zum  Teil  auf  der  formalen 
Übereinstimmung  derjenigen  Verfahrungsweisen,  welche  aus 
mathematischen,  logischen  und  realen  Verhältnissen  ihre 
Berechtigung  herleiten.  Wie  weit  eine  solche  besteht, 
braucht  hier  nicht  untersucht  zu  werden ;  dafs  sie  in  gewissen 
Fällen  vorhanden  ist,  bedarf  keines  besonderen  Beweises. 

Auf  der  andern  Seite  —  es  geht  dies  aus  dem  eben 
Gesagten  schon  hervor  —  wird  die  operative  Bedeutung 
gegenüber  der  definitiven,  eigentlichen  um  so  mehr  hervor- 
treten, je  mehr  die  Zusammenhänge  des  betreffenden  Urteils 
und  der  in  ihm  figurierenden  Begriffe  mit  andern  verwickelt 
und  unübersehbar  werden.  Und  um  so  mehr  wird  an  Stelle 
der  typischen  Bedeutungen,  welche  den  klaren  analytischen, 
mathematischen  oder  Real-Urteilen  eigen  sind,  ein  unklares 
und  sehr  vielgestaltiges  Berechtigungsgefühl  vorliegen,  für 
welches  auch  gar  keine  andre  bestimmte  Einsicht,  sondern 
nur  die  Gewohnheit  so  zu  verfahren  und  die  ganz  allgemeine 
Erfahrung,  auf  solche  Weise  schliefslich  zu  richtigen  Re- 
sultaten zu  gelangen,  als  Begründung  angeführt  werden  kann. 


30  J-  V-  Kries: 

Die  genauere  Überlegung,  wie  sich  einem  derart%!W 
Sachverhalt  gegenüber  die  logische  Betrachtung  zu  ver- 
halten habe,  fflhrt  uns  zunächst  dazu,  eine  bisher  gemachte 
Voraussetzung  nochmals  besonders  zu  betonen,  die  nämlich, 
dafs  es  sich  dabei  durchweg  um  völlig  klare,  scharf  und 
fest  definierte  Begriffe  handle.  Solange  nämlich  dies  der 
Fall  ist,  sind  jene  Zusammenhänge,  wenn  auch  nicht  im 
Augenblick  gegenwärtig,  doch  durch  einen  jederzeit  einzu- 
leitenden  Uberlegungsprozefs  herzustellen.  Es  würde  also 
auch  unter  der  gemachten  Voraussetzung  über  die  defini- 
tive Bedeutung  eines  jeden,  auch  des  begrifflich  verwickelt- 
sten  Urteils  kaum  jemals  ein  ernsthafter  Zweifel  bestehen 
können.  Für  diesen  Fall  erscheint  es  also  auch  durchaus 
berechtigt,  wenn  man,  wie  es  in  der  logischen  Betrachtung 
üblich  ist,  jedem  Urteil  die  gleiche  Evidenzart  zuschreibt 
wie  denjenigen  anderen,  deren  logisches  Ergebnis  es  ist, 
also  z.  B.  der  gesamten  Mathematik  die  anschauliche,  er- 
fahrungs-unabhängige  Geltung  ihrer  Axiome  vindiziert.  Der 
eigentlich  psychologische  Sachverhalt  in  dem  verwickeiteren 
mathematischen  Urteil  wird  zwar  dadurch  nicht  zutreffend 
gekennzeichnet  (selbst  für  denjenigen  nicht,  der  sich  über 
den  Zusammenhang  des  betreffenden  Satzes  mit  den  Axiomen 
und  über  deren  logische  Natur  ganz  klar  ist),  aber  man 
operiert,  indem  man  gewissermafsen  eine  ideale  Überschau 
des  gesamten  Zusammenhanges  voraussetzt,  mit  einer 
psychologischen  Fiktion,  welche  für  die  logische  Betrachtung 
bequem  und  nützlich  ist. 

In  diesem  erweiterten  Sinne  läfst  sich  also  —  unter 
der  gemachten  Voraussetzung  —  die  Bedeutung  auch  des 
verwickeiteren  Urteils  stets  noch  klar  und  zweifellos  angeben. 
Unter  der  gemachten  Voraussetzung  völlig  scharf  be- 
stimmter, feststehender  Begriffe!  Gerade  der  Umstand 
aber,  dafs  diese  Voraussetzung  in  umfangreichen  Gebieten 
unseres  Denkens   nicht  erfüllt  ist,   führt   uns   auf  einen 


Zar  Psychologie  der  Urteile.  31 

andern  hier  zu  erörternden  Punkt,  auf  die  Bedeutung, 
welche  die  Unsiclierheit  und  Unbestimmtheit  der  Begriffe 
hier  gewinnt.  Ein  gewisses  unbestimmtes  Geltungs-  oder 
Berechtigungsgefuhl,  mit  welchem  wir  verschiedene,  selbst 
mehr  oder  weniger  unbestimmte  Begriffe  zusammen  denken, 
und  welches  unmittelbar  nur  insoweit  bedeutungsvoll  zu 
sein  braucht,  dafs  es  auf  den  Gang  unseres  Denkens  irgend 
einen  Einflufs  nimmt:  das  wäre  etwa  die  allgemeinste 
Formel,  unter  der  wir  das,  was  im  weitesten  Sinne  des 
Wortes  Urteil  genannt  werden  darf,  zusammenfassen  könnten. 
Es  ist  nicht  schwierig  zu  übersehen,  dafs  gerade  mit  der 
Unbestimmtheit  der  in  ein  Urteil  eingehenden  Begriffe 
auch  die  Natur  ihres  Zusammenhanges  und  die  Natur  der 
Berechtigung,  mit  der  wir  ihren  Zusammenhang  behaupten, 
vielgestaltig,  unklar  und  unbestimmt  wird;  auch  hier  gilt, 
dafs  dabei  gleichwohl  den  betreffenden  Urteilen  ein  grofser 
Wert  im  Zusammenhange  des  Denkens  zukommen  kann; 
durchweg  ist  unerläfsliche  Bedingung  hierfür  nur  die  opera- 
tive oder  psychologische  Bedeutung  der  betreffenden  Einsicht. 

Ich  erläutere  dies  zunächst  durch  den  Hinweis  auf 
Fälle,  wo  sogar  für  den  wissenschaftlichen  Gebrauch  eine 
genaue  Fixierung  der  Begriffe  entbehrlich  geblieben  ist 
und  bleiben  wird.  Auf  weiten  Gebieten  ist  es  die  reale 
Gesetzmäfsigkeit  der  Dinge,  die  es  ziemlich  gleichgültig 
und  willkürlich  macht,  ob  wir  einen  Begriff  durch  eine 
kleinere  oder  gröfsere  Anzahl  von  Merkmalen  definieren, 
ob  wir  seinen  Inhalt  und  Umfang,  rein  logisch  gesprochen, 
grofser  oder  kleiner  festsetzen  woUen.  Der  Chemiker  z.  B. 
hat  gar  keinen  Anlafs,  eine  Festsetzung  darüber  zu 
treffen,  ob  das  specifische  Gewicht  19,3  zum  Begriff  des 
Goldes  gehört  oder  nicht.  Ob  man  einen  Körper,  der  mit 
den  sonstigen  Eigenschaften  des  Goldes  etwa  ein  anderes 
ßpeciflsches  Gewicht  verbände,  Gold  nennen  würde  oder 
nicht,  darüber  zerbricht  man  sich  nicht  den  Kopf,  eben 


32  J.  V-  Kries: 

weil  es  solche  Körper  nicht  giebt.  Logisch  genommen 
müssen  wir  gleichwohl  konstatieren,  dafs,  wenn  wir  das 
Urteil  „Gold  besitzt  das  specifische  Gewicht  19,3"  aus- 
sprechen, es  im  Ungewissen  ist,  ob  wir  eigentlich  ein 
analytisches  oder  ein  synthetisches,  ein  Eeal-Urteil  nomo- 
logischen  Inhalts  aussprechen.  Für  die  Logik  bietet  dieser 
Sachverhalt  kein  besonderes  Interesse;  sie  würde  eine 
Fixierung  des  Begriffe  und  damit  eine  Klarstellung  der 
Urteilsart  fordern  müssen.  Für  die  betreffende  Wissenschaft 
selbst  ist  natürlich  der  hier  etwa  zuzugebende  logische 
Mangel  ebenfalls  ohne  Bedeutung,  solange  die  vorausgesetzte 
reale  Gesetzmäfsigkeit  wirklich  gilt.  Von  Interesse  aber 
ist  das  ganze  Verhalten  von  dem  hier  eingenommenen 
Standpunkt  psychologischer  Betrachtung  aus.  Denn  wir 
finden  hier  in  der  Natur  der  verknüpften  Begriffe,  respektive 
ihrer  psychologischen  Substrate  den  Grund  dafür,  dafs  auch 
das  sie  verbindende  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  kein 
typisches  Geltungsgefuhl  ist.  Es  ist  einerseits  die  Un- 
bestimmtheit der  dispositiven  Einstellung  überhaupt,  auf 
die  es  dabei  ankommt,  anderseits  aber  auch  der  Umstand, 
dafs  in  den  meisten  Begriffen,  vielleicht  in  allen,  schon 
ein  gewisses  Wissen,  eine  Reihe  von  Urteilen,  dispositiv 
enthalten  ist. 

Sagen  wir  also:  Gold  ist  gelb,  so  wird  die  dabei 
empfundene  Zusammengehörigkeit  die  selbstverständliche 
des  analytischen  Urteils  sein,  wenn  wir  die  mit  jenem 
Worte  verknüpfte  Disposition  soweit  in  Kraft  treten  lassen^ 
dafs  auch  die  Eigenschaft  gelb  darin  bereits  merklich  vor- 
bereitet ist.  Thun  wir  dies  nicht,  so  wird  die  Zusammen- 
gehörigkeit als  die  heterodetische  des  Real-Urteils  erscheinen ; 
da  wir  also  nicht  blofs  dispositiv  vorstellen,  sondern  auch 
dispositiv  wissen,  und  da  anderseits  eine  derartige  Dis- 
position in  ganz  ungleichem  Mafse  mit  einem  Wort  ver- 
knüpft sein  kann,  so  kann  auch  das  Gefühl  der  Zusammen- 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  33 

gehörigkeit,  welches  zwischen  dieser  und  einer  andern 
Einstellung  empfunden  wird,  ein  mannigfaltig  abgestuftes 
sein.  Der  psychologische  Übergang  des  analytischen  zum 
synthetischen  Urteil  vollzieht  sich  also,  wie  man  etwa  sagen 
könnte,  nach  Mafsgabe  der  geringeren  oder  gröfseren  Stärke, 
mit  welcher  die  betreflfende  Verknüpfung  bei  der  einen  oder 
der  anderen  Vorstellung  dispositiv  vorhanden  ist.^)  Im 
vollen  Gegensatze  zu  dieser  Unklarheit  des  Zusammenhangs- 
gefühls steht  nun  aber  die  Sicherheit  der  operativen  Be- 
deutung des  Urteils.  Darüber  sind  wir  gar  nicht  im  Zweifel, 
dafs  überall,  wo  von  Gold  die  Rede  ist,  das  specifische 
Gewicht  19,3  angenommen  werden  mufs. 

Und  auch  im  anderen  Sinne  finden  wir  den  eigent- 
lichen Wert  der  wissenschaftlichen  Einsicht  von  der  Fixierung 
des  Begriffs  unabhängig.  Das  Wesentliche  wird  z.  B.  sein, 
dafs  wir  aus  gewissen  an  einem  Gegenstand  beobachteten 
Eigenschaften  auf  das  specifische  Gewicht  19,3  schliefsen. 
Der  ganze  Gedankenweg,  den  wir  dabei  durchlaufen,  er- 
scheint sozusagen  nur  verschieden  eingeteilt,  je  nachdem 
wir  in  dem  vermittelnden  Urteil,  welches  den  Gegenstand 
für  Gold  erklärt,  den  Begriff  des  Goldes  enger  oder  weiter 
nehmen,  und  je  nachdem  wir  also  den  letzten  Schritt  als 
analytischen  oder  als  nomologischen  Schlufs  auffassen.  Da 
es  uns,  könnte  man  auch  sagen,  im  praktischen  Gebrauche 
unserer  Gedanken  auf  die  Richtigkeit  der  Endergebnisse, 
nicht  aber  auf  logische  Klarheit  des  Denkverfahrens,  an- 

^)  Es  verdient  dabei  hervorgehoben  zu  werden,  dafs  die  Sicher- 
heit und  Stärke  des  Zusammengehörigkeitsgefühls  keineswegs  von  dem 
Grade  dieser  dispositiven  Vorbereitung  abhängig  ist.  Ein  Urteil  kann 
ein  typisch  synthetisches  sein,  die  Zusammengehörigkeit  also  deutlich 
als  eine  Neu-Hinzufügung  empfunden  werden,  gleichwohl  aber  völlig 
sicher  erscheinen.  Der  Übergang  in  die  Empfindungsweise  des  ana- 
lytischen Urteils  hängt  nicht  von  der  Sicherheit,  sondern  weit  mehr 
von  der  Gewöhnung  ab.  In  den  altgewohnten  Urteilen  tritt  dieser 
Charakter  der  Selbstverständlichkeit  immer  mehr  hervor,  indem  das 
Prädikat  immer  mehr  zum  Subjektsbegriff  gerechnet  wird. 
VierteljahrsBchrift  f.  wissenschaftL  Philosophie.    XXIII.  1.  3 


34  J-  V-  Kries: 

kommt,  so  findet  (innerhalb  gewisser  Grenzen  ohne  Schaden) 
eine  Vermischung  des  operativ  Gleichwertigen,  hier  z.  B. 
des  analytischen  und  des  nomologisch-realen  Zusammen- 
hanges statt. 

Durften  wir  im  bisherigen  hauptsächlich  darauf  Gewicht 
legen,  dafs  die  Unbestimmtheit  der  Begriffe  und  die  damit 
verknüpfte  Vermischung  der  Geltungstypen  ohne  praktisch 
nachteilige  Folgen  bleibt,  so  wollen  wir  uns  nun  zu  Gebieten 
wenden,  wo  dies  zwar  im  gewissen  Umfange  auch  noch, 
aber  doch  nur  mit  grofsen  Einschränkungen  gesagt  werden 
darf.  Besonders  die  Denk-  und  Sprechweise  des  gewöhn- 
lichen Lebens  ist  reich  an  Fällen,  in  denen  in  der  Form 
eines  Urteils  mancherlei  Verschiedenes  zusammengefafst 
wird.  Dies  kann  nützlich  geschehen,  wenn  das  Zusammen- 
gefafste  z.  B.  in  praktischer  Beziehung  zusammengehörig 
und  gleichwertig  ist.  Die  Zusammenfassung  ist  auch  un- 
bedenklich, solange  die  Richtigkeit  aller  Teile  oder  Seiten 
der  gemischten  Aussage  aufser  Zweifel  steht,  wie  z.  B. 
wenn  sie  in  einer  Mitteilung  auftritt,  die  ein  mit  dem 
Gegenstande  Bekannter  macht  und  ein  andrer  ohne  weiteres 
als  richtig  entgegennimmt.  Erst  sobald  sich  Zweifel  erheben, 
wird  die  Sonderung  der  vermischten  Behauptungsinhalte 
naturgemäfs  erforderlich.  Ein  Beispiel  derartiger  Ver- 
mischung bieten  die  Sätze,  in  denen  die  Möglichkeit  eines 
bestimmten  zukünftigen  Ereignisses  ausgesagt  wird.  Bei 
genauerer  Kritik  können  wir  ihnen  im  allgemeinen  einen 
mehrfachen  Sinn  bemerken:  erstlich  den  des  problematischen 
Urteils,  indem  wir  lediglich  unsere  subjektive  Ungewifsheit 
bezüglich  des  Eintretens  oder  Nichteintretens  ausdrücken; 
hierzu  gesellt  sich  als  zweiter  zunächst  der  andere,  dafs 
zur  Zeit,  sei  es  aus  einem  gewissen  Personenkreise,  sei  es 
überhaupt,  niemand  mit  Sicherheit  wisse,  ob  das  Ereignis 
eintreten  werde  oder  nicht;  dazu  kommt  dann  endlich  der 
in  vielen  Fällen  wohl  wichtigste  und  am  meisten  betonte 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  35 

Sinn  derartiger  Sätze,  ein  nomologischer,  darin  bestehend, 
dafs  durch  irgend  welche  Bedingungen  der  Eintritt  des 
Ereignisses  den  realen  Gesetzen  des  Geschehens  gemäfs  nicht 
ausgeschlossen  sei.  Was  uns  hier  interessiert,  ist  die  Ver- 
mischung dieser  doch  sehr  verschiedenen  Inhalte  in  einem 
Urteil;  trotz  derselben  kann  es  sehr  wohl  psychologisch 
fanktionieren ;  sofern  es  z.  B.  einem  andern  gegenüber  aus- 
gesprochen wird,  wird  es  im  allgemeinen  den  intellektuellen 
Erfolg  haben,  dafs  auch  dieser  weder  das  Eintreten  noch 
das  Ausbleiben  mit  Sicherheit  erwartet,  den  praktischen, 
dafs  er  sich  für  beide  Eventualitäten  rüstet.  Die,  wie  wir 
es  ausdrückten,  operative  Bedeutung  sichert  also  dem  Urteil 
seinen  psychologischen  Wert.  Die  Vermischung  der  Inhalte 
wird  hier,  wie  überall,  ersichtlich,  sobald  wir  nicht  an  eine 
von  einer  Seite  gemachte  und  von  der  anderen  ohne  weiteres 
acceptierte  Mitteilung,  sondern  an  den  Fall  denken,  dafs 
sich  eine  Diskussion  darüber  erhöbe,  ob  der  Eintritt  des 
Ereignisses  als  möglich  zu  bezeichnen  sei.  Alsdann  würde 
die  Sonderung  der  Inhalte  sogleich  unbedingt  erforderlich  sein. 

Überaus  häufig  femer  ist  die  auf  ähnlicher  Unbe- 
stimmtheit der  Begriffe  beruhende  Vermischung  von  Eeal- 
Urteilen  mit  Wert-Urteilen.  In  den  seltensten  FäUen  gewifs 
werden  die  Wert-Urteile  ganz  klar  als  solche  gedacht; 
meistens  wird  das  (rein  subjektive  und  individuell  gültige) 
Wert-Urteil  zugleich  im  Sinne  einer  objektiv  gültigen 
Konstatierung  gegeben,  bei  welcher  von  der  Annahme  einer 
im  allgemeinen  übereinstimmenden  Wertschätzung  seitens 
der  Allgemeinheit  ausgegangen  wird.  Sagt  mir  jemand: 
„der  italienische  Eotwein  der  Firma  X  ist  vortrefflich",  so 
soll  im  allgemeinen  nicht  blofs  damit  gesagt  sein,  dafs  der 
Wein  dem  Urteilenden  selbst  schmeckt,  sondern  etwas  von 
objektiver  Bedeutung.  Diese  beiden  ganz  verschiedenen 
Bedeutungen  müfsten  sogleich  getrennt  werden,  wenn  sich 
etwa  eine  Meinungsverschiedenheit  darüber  erhöbe,  ob  der 


36  J-  V*  Kries: 

Wein  gut  ist.  In  vielen  Fällen  aber  wird  die  Unterscheidung 
nicht  gemacht  und  ist  thatsächlich  nicht  erforderlich,  da 
der  Begriff  „gut"  oder  „vortrefflich"  trotz  seiner  Unklarheit 
geeignet  ist,  um  gewisse  Folgerungen  daran  zu  knüpfen, 
welche  sich,  sofern  es  intellektuelle  sind,  als  zutreffend, 
sofern  es  praktische  sind,  als  zweckdienlich  erweisen. 
Solange  nun  diese  Unterscheidung  nicht  gemacht  wird,  ist 
natürlich  auch  das  Grefühl  der  Berechtigung,  mit  dem  wir 
etwa  den  Satz  aussprechen,  ein  unklares;  der  Sinn  des 
unklaren  Begriffs  geht  darin  auf,  dafs  aus  seiner  Prädi- 
zierung  gewisse  Folgerungen  zu  ziehen  sind,  und  die 
Geltung  bedeutet  die  Berechtigung  jener  Folgerungen 
Der  psychologische  Thatbestand  des  Urteils  weist  aber  nur 
ein  Zusammenhangsgefühl  zweier  Begriffe  auf,  welches, 
wegen  der  Unklarheit  derselben  von  den  typischen 
Geltungsgefühlen  verschieden  ist,  aber  seine  operative  Be- 
deutung hat. 

Noch  ein  weiteres  Beispiel  sei  hier  angeführt,  die 
Subsumtion  konkreter  Gegenstände  (oder  Vorgänge)  unter 
gewisse,  feststehende  Begriffe.  Stände  der  Begriff,  unter 
den  wir  subsumieren,  vollkommen  fest,  so  würde  (wenigstens 
bei  einiger  Aufmerksamkeit)  kein  Zweifel  darüber  aufkommen 
können,  ob  wir  mit  einer  solchen  Subsumtion  nur  das  be-* 
züglich  des  Gegenstandes  Bekannte  einer  Allgemein- Vor- 
stellung eioreihen  (also  die  Subsumtion  ein  reines  Beziehungs- 
Urteü  darstellt),  oder  ob  wir  dabei  bezüglich  des  realen 
Verhaltens  Neues  und  Mehreres  behaupten,  also  einen  auf 
andere  Einsichten  von  realer  Bedeutung  sich  stützenden 
Schlufs  ausführen.  Bei  vöUig  scharfen  Begriffen,  wie  gesagt, 
könnte  hierüber  nie  ein  Zweifel  entstehen.  Bei  unklaren 
Begriffen  aber  wird  sich  auch  hier,  ganz  ähnlich  wie  beim 
analytischen  und  nomologischen  Urteil,  der  logische  Cha- 
rakter verwischen.  Das  unklare  Gefühl  der  Zusammen- 
gehörigkeit,  welches  wir  empfinden,   wenn  wir  in  solcher 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  37 

Weise  subsumieren,  entspricht  keinem  der  Typen;  gemein- 
sam mit  allen  anderen  Arten  ist  ihm  auch  nur  das  Gefühl 
der  Berechtigung,  an  die  betreffende  Statuierung  gewisse 
weitere  Folgerungen  zu  knüpfen.  Und  im  Hinblick  hierauf 
können  wir  auch  hier  wieder  bemerken,  dafs  die  unklare, 
keinem  Geltungstypus  einzureihende  Statuierung  in  vielen 
Fällen  genügend  funktioniert.  Es  kommt  auch  hier  nur 
darauf  an,  dafs  wir  z.  B.  wissen,  wie  sich  in  allen  mög- 
lichen Beziehungen  das  uns  entgegenkommende  Tier  verhält; 
hierzu  ist  uns  die  Subsumtion  unter  den  Begriff  Auerhahn 
nützlich  und  genügend,  überflüssig  dagegen,  diesen  Begriff 
so  genau  zu  fixieren,  dafs  man  angeben  könnte,  wie  viel 
oder  wie  wenig  wir  zu  der  wirklich  gemachten  Wahrnehmung 
noch  durch  einen  Schlufs  ergänzen  müfsten,  um  die  Sub- 
sumtion ausführen  zu  dürfen. 

Wenn  nach  den  obigen  Ausführungen  ein  zu  richtigen 
Ergebnissen  führendes  und  praktisch  brauchbares  Denken 
trotz  einer  weitgehenden  Vermischung  der  Geltungstypen 
möglich  ist,  so  eröflhet  freilich  auf  der  anderen  Seite  die 
Übersicht  über  den  weiten  psychologischen  Thatbestand 
des  Urteilens  ohne  weiteres  den  Einblick  in  die  mannig- 
faltigen Möglichkeiten  des  irrtümlichen  und  verkehrten 
Denkens.  Wenn  zum  Thatbestande  des  Urteils  nichts 
weiter  gehört  als  ein  gewisses  Zusammenhangsgefühl  ver- 
schiedener Begriffe,  dem  zunächst  eine  nur  operative  Be- 
deutung zukommt,  und  dessen  Zusammenhang  mit  endgültig 
klaren  Urteils-Inhalten  gar  nicht  direkt  zu  übersehen  ist, 
so  ist  danach  auch  sogleich  die  Möglichkeit  von  Begriffs- 
kombinationen einzusehen,  denen  wir  einen  solchen  Zu- 
sammenhang zuzutrauen  geneigt  sind,  ohne  dafs  sie  ihn 
wirklich  besitzen,  von  Pseudo-Urteilen,  die  etwas  zu  be- 
deuten scheinen,  und  welche  eine  eingehendere  Prüfung 
als  ganz  inhaltslos  herausstellt. 

Die  Neigung,  Betrachtungsweisen  und  Fragestellungen, 
die  sich  in  gewissem  Umfange    eingebürgert  und  bewährt 


38  J-  ▼•  Kries: 

haben,  ohne  besondere  Prüfung  auf  weitere  Gebiete  aus- 
zudehnen, hat  es  in  der  That  zu  solchen  Schein-Urteilen 
wohl  in  allen  Wissensgebieten  nur  zu  häufig  kommen  lassen. 
Auch  in  dieser  Beziehung  ist  eine  weitere  Verfolgung  der 
obigen  Darlegungen  von  Interesse,  weil  die  Klarstellung 
und  Sonderung  der  Geltungstypen  nicht  nur  die  erste  an 
ein  wissenschaftlich  wertvolles  Denken  zu  stellende  An- 
forderung darstellt,  sondern  auch  eine,  die  mit  einigem 
Aufwand  von  Mühe  und  Überlegung  stets  beftiedigt  werden 
kann.  Die  Unklarheit  der  Geltungsgefuhle  bietet,  wie 
gesagt,  die  Möglichkeit  für  Begriffsverbindungen,  die,  unter 
dem  Schein  von  Urteilen  auftretend,  bei  kritischer  Ver- 
folgung sich  als  inhaltsleer  herausstellen,  die  aber, 
für  bedeutungsvoll  gehalten,  als  Behauptungen,  als 
Fragen,  als  Gegenstand  der  Diskussion,  irre  itihren.  Ein 
nicht  geringer  TeU  der  Bestrebungen,  die  der  „Bestimmung 
eines  Begriffes"  gewidmet  worden  sind,  sind  derartigen 
Täuschungen  zum  Opfer  gefallen;  ähnlich  die  psychologische 
Forschung  in  überaus  zahlreichen  Fällen  (u.  a.  z.  B.  als 
sie  an  die  Messung  der  Empfindungsstärken  heranging). 
Wichtiger  indessen  als  die  Abwendung  von  rein  illusorischen 
Zielen  ist  die  deutUche  Erfassung  der  wirkUch  wertvollen 
Aufgaben,  die  sich  zumeist  hinter  jenen  unklaren  Formu- 
lierungen zu  verbergen  pflegen.  Für  solche  Zergliederungen 
bietet  nun,  wie  gesagt,  die  allgemeine  Einsicht  in  die 
Geltungstypen  wohl  den  wertvollsten  Anhalt;  denn  man 
wird  eben  stets  damit  beginnen  müssen,  auf  dieser  Basis 
sich  klar  zu  machen,  wonach  man  eigentlich  suchen 
will.  Namentlich  die  Heraussonderung  der  Thatbestands- 
fragen  und  die  Einsicht,  dafs,  wenn  das  reale  Verhalten 
einmal  festgestellt  ist,  weitere  daran  angeknüpfte  Fragen 
von  irgend  welcher  anderer  Bedeutung  sein  müssen,  ist 
vielfältigst  fruchtbar  und  belehrend.  Dieser  Weg,  wie  sich 
fast  von  selbst  versteht,   ist,   auch   ohne  von  einer  syste- 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  39 

matischen  Übersicht  der  Geltungstypen  auszugehen,  vielfach 
und  mit  Erfolg  eingeschlagen  worden.  Die  Rechtswissen- 
schaft hat  in  neuerer  Zeit  manche  wertvolle  Klärung  und 
Vertiefung  ihrer  Untersuchungen  durch  derartige  Be- 
trachtungen erfahren.  Es  war  in  der  That  notwendig  zu 
betonen,  dafs  die  Frage  nach  dem  „Wesen  des  Vertrages" 
nicht  eine  Aufklärung  gegebener  realer  Thatbestände  wäre, 
sondern  dafs  es  sich  nur  um  die  zweckmäfsige  Bildung 
eines  Begriffs  handeln  könne,  von  dem  ein  bestimmter 
praktischer  Gebrauch  gemacht  werden  soll.  Wenn  femer 
die  Aufgabe  einer  Gesetzesinterpretation  zu  der  Unter- 
suchung fuhrt,  was  „der  Wille  des  Gesetzgebers"  gewesen 
sei,  so  war  es  nützlich,  sich  klar  zu  machen,  dafs  diese 
in  der  Form  einer  Thatbestandsfrage  gestellte  Aufgabe 
vollkommen  beantwortet  ist,  wenn  man  weifs,  was  bestimmte 
reale  Personen  gedacht,  gewollt,  eventuell  nicht  bedacht, 
übersehen  oder  verwechselt  haben,  und  dafs,  wenn  sich 
hiemach  eine  bestimmte  Interpretation  nicht  ergiebt,  man 
vor  allem  darüber  ins  Klare  kommen  mufs,  was  die  weitere 
Au%abe  der  Interpretation,  die  nun  eine  Real-Untersuchung 
jedenfalls  nicht  mehr  sein  kann,  eigentlich  zum  Gegenstande 
habe.  Dafs  ähnliche  Klärangen  vielfach,  besonders  im 
Gebiete  der  Psychologie,  noch  sehr  vonnöten  wären,  kann 
hier  freilich  nur,  ohne  weiteres  Eingehen,  kurz  angedeutet 
werden.  Sie  sind  es  um  so  mehr,  je  mehr  neben  That- 
bestandsfragen  noch  andere,  wirklich  bedeutungsvolle  Auf- 
gaben, wie  z.  B.  in  der  Psychologie  die  Bildung  von 
Allgemein- Vorstellungen,  vorliegen,  die  ihrer  Natur  nach 
in  ganz  anderem  Sinne  behandelt  werden  müssen. 

Die  Bedeutung  der  obigen  Ausführungen  möchte  ich 
zunächst  darin  erblicken,  dafs  sie  uns  eine  Anschauung 
davon  gewähren,  welche  Stellung  die  gewöhnlich  zum  Gegen- 
stande logischer  Untersuchung  gemachten  Urteile  in  der 
Gesamtheit  unseres  Denkens  im  weitesten  psychologischen 


40  J>  ^'  Kries: 

Sinne  einnehmen.  Es  ist  für  sie  vorzugsweise  charakteristisch 
der  endgültige,  auf  nichts  andersartiges  mehr  zurück- 
zufahrende Charakter  des  Geltungsgefühls.  Ein  logisch 
vollkommen  durchgearbeitetes  Denken  wird  ein  solches  sein, 
bei  welchem  die  Bedeutungen  jedes  Denkvorganges  derart 
geklärt  und  übersichtlich  sind,  dafs  sein  Zusammenhang 
mit  solchen  endgültigen  Behauptungsinhalten  leicht  über- 
sehen und  mit  Sicherheit  dargelegt  werden  kann.  Selbst 
ein  Denken  aber,  welches  auf  dieses  auszeichnende  Prädikat 
Anspruch  erheben  darf,  kann  in  seinen  Einzelgestaltungen, 
wenn  nicht  anders,  so  jedenfalls  durch  die  blofse  Zusammen- 
fassung von  mehrerlei  Verschiedenartigem  von  den  logisch 
fixierten  Typen  sich  unterscheiden.  Im  übrigen  ist  klar,  weshalb 
die  logische  Betrachtung  von  dieser  Mannigfaltigkeit  psycho- 
logischer Einzelgestaltungen  absehen  oder  wenigstens  sich 
mit  einem  ganz  allgemeinen  Hinweis  auf  ihre  Denkbedeutung 
begnügen  mufs.  Die  Frage  nach  dem  logischen  Zusammen- 
hang mehrerer  Urteile,  die  ja  stets  den  wichtigsten  Gegen- 
stand aller  logischen  Betrachtung  bildet,  kann  überhaupt 
nur  für  Urteile  im  psychologisch  engeren  Sinne  mit  genau 
fixiertem  Geltungscharakter  gestellt  werden.  Für  alle  die- 
jenigen Bewufstseinsvorgänge,  die  wir  wohl  im  weiteren 
Sinne  noch  als  Denkakt  bezeichnen,  können  wir  wohl  (in 
rein  psychologischer  Untersuchung)  zu  ermitteln  streben, 
welche  EoUe  sie  faktisch  im  Ablaufe  der  Gedankenbewegung 
spielen.  Für  jene  logische  Fragestellung  aber  fehlt  bei  dem 
Mangel  einer  definitiv  geklärten  Geltung  naturgemäfs  die 
Basis.  Material  und  Ausgangspunkt  der  logischen  Betrachtung 
sind  also  selbstverständlich  gewisse,  psychologisch  gegebene, 
als  Gegenstand  innerer  Erfahrung  uns  zugängliche  und  be- 
kannte Denkakte ;  es  ist  das  aber  nicht  die  gesamte  Mannig- 
faltigkeit psychologischen  Geschehens,  die  wir  wohl  als 
Denken  bezeichnen;  es  sind  vielmehr  nur  jene  ausgezeichneten 
Fälle,  welche  sich  keiner  weiteren  Zurückführung  und  Er- 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  41 

klänmg  fähig,  als  etwas  endgültig  Klares  und  endgültig 
Bedeutungsvolles  darstellen. 

Das  Ergebnis,  zu  dem  wir  gelangt  sind,  stellt  in 
der  Hauptsache  eine  gewisse  Erweiterung  unserer  psycho- 
logischen Einsicht  dar,  die  der  logischen  Betrachtungsweise 
verdankt  wird.  Man  wird  fragen  dürfen,  wie  bei  der  viel- 
betonten Unabhängigkeit  der  beiden  Behandlungen  es  zu 
einem  derartigen  Kesultat  eigentlich  kommen  kann,  und  es 
ist  nicht  ohne  Interesse,  diese  Frage  zu  beantworten.  Die 
Aufinerksamkeit  auf  die  verschiedenen  Arten  der  Geltung, 
auf  die  Bedeutung  und  den  logischen  Zusammenhang  der 
Urteile  ist  von  jeher  das  hervorstehende  Merkmal  gewisser 
Untersuchungen  gewesen,  während  andere  ohne  Interesse 
oder  Verständnis  hierfür  die  Vorgänge  des  menschlichen 
Seelenlebens  als  eine  Eeihe  von  Erfahrungsthatsachen  be- 
handelten und  ihre  Erforschung  ganz  ebenso  wie  die  aller 
anderen  Erfahrungsgebiete  in  Angriff  nehmen  wollten. 
Diesen  Gegensatz  der  logisch-kritischen  und  der  psycho- 
logischen Fragestellung  und  Untersuchung  wird  man  be- 
merken können,  lange  ehe  von  einer  klaren  Einsicht  in 
seinen  Grund  die  Eede  gewesen  ist.  Tiefgreifende  Unter- 
schiede der  ganzen  intellektuellen  Veranlagung  sind  es 
offenbar  gewesen,  die,  gerade  vor  einer  deutlichen  Er- 
kennung der  Unabhängigkeit  und  des  Verhältnisses  beider 
Betrachtungsweisen,  die  Arbeiten  eines  Teils  der  Denker  und 
und  Forscher  in  eine,  diejenige  anderer  in  andere  Richtung 
gezogen  haben.  Ist  nun  durchgängig  mit  der  rein  psycho- 
logischen Behandlung  ein  gewisser  Mangel  zum  mindesten 
an  Interesse  für  die  specifischen  Betrachtungsweisen  der 
Logik  verknüpft  gewesen,  so  erklärt  sich  hieraus  auch,  dafs 
dabei  im  allgemeinen  jene  Besonderheiten  psychologischen 
Verhaltens  überhaupt  nicht  beachtet  worden  sind.  Aber 
hierin  liegt,  auch  vom  psychologischen  Standpunkte  aus, 
eine  Einseitigkeit  und  ein  Mangel  der  Untersuchung,   ein 


42  J-  V-  Kries: 

einfaches  Übersehen  gewisser  überaus  wichtiger  Thatsachen. 
Von  der  logischen  Betrachtung  aus  an  die  psychologische 
herantretend,  müssen  wir  nachdrücklichst  betonen,  dafs  in 
den  Differenzen  der  Geltungsgefühle  und  insbesondere  auch 
der  Mehrheit  der  endgiltigen  Typen  eine  Thatsache  vor- 
liegt, mit  der  jeder  Versuch  psychologischer  oder  gar  psycho- 
physischer  Erklärungen  der  Denkakte  rechnen  mufs.  In 
diesem  Verhältnis  also  liegt  der  Grund  für  die  psychologische 
Ausbeute  der  logischen  Betrachtung. 

V. 

Mit  den  obigen  Auffassungen  fixiert  sich  von  selbst 
auch  der  Standpunkt  gegenüber  einigen  weiteren  Fragen  der 
UrteUslehre;  es  wird  genügen,  einiges  Wenige  in  dieser  Hin- 
sicht hinzuzufügen.  Zunächst:  wie  haben  wir  uns  mit  der 
Au%abe  abzufinden,  das  „Wesen  des  Urteils"  anzugeben 
oder  deutlich  zu  machen,  worin,  psychologisch,  das  Charak- 
teristische des  Urteils  besteht?  Wir  werden  keine  Schwierig- 
keit haben,  uns  darüber  klar  zu  werden,  wie  weit  und  in 
welchem  Sinne  eine  allgemeine  Charakterisierung  des  psycho- 
logischen Thatbestandes  der  Urteile  überhaupt  möglich  ist. 
Man  kann  sagen,  dafs  eine  solche  nur  in  sehr  unbestimmter 
Form  gegeben  werden  kann,  weil  wir  eben  unter  „Urteil" 
vielerlei  Verschiedenartiges  verstehen,  weil  „Urteil"  selbst 
eine  Allgemein -Vorstellung  ist,  die  psychologisch  ver- 
schiedenes zusammenfafst,  und  deren  Bedeutung  daher  gerade 
wie  die  des  Wortes  Süfs  oder  Rot  nicht  in  einer  Definition, 
sondern  nur  durch  Aufzeigung  von  Beispielen  deutlich  ge- 
macht werden  kann.  Und  es  gilt  dies,  worauf  besonderer 
Nachdruck  gelegt  werden  mufs,  nicht  blofs  für  die  grofse 
Mannigfaltigkeit  der  Gestaltungen,  die  der  gewöhnliche 
Denkverlauf  darbietet,  sondern  es  wird  selbst  dann  gelten, 
wenn  wir  uns  auf  die  Betrachtung  typischer  Normalfälle 
beschränken.      Allgemein    läfst   sich    nicht    mehr    sagen. 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  43 

als  wovon  wir  gleich  zu  Anfang  ausgingen,  dafs  jedes 
Urteil  eine  Verbindung  zweier  oder  mehrerer  Vorstellungen 
(resp.  dispositiver  Einstellungen)  sei,  welche  unter  Hinzu- 
tritt eines  besonderen  psychologischen  Elementes  sich  voll- 
zieht, das  wir  als  Geltungsbewufstsein,  Zusammengehörig- 
keitsgefühl u.  dergl.  bezeichnen  können.  Aber  es  ist 
wichtig,  sich  klar  zu  machen,  dafs  das  wesentliche  und 
wertvolle  Ergebnis  einer  Urteils-Psychologie  gewifs  nicht 
in  der  Gewinnung  einer  solchen  allgemeinen  Formel  be- 
stehen kann.  Einen  gröfseren  Wert  könnte  eine  solche  be- 
anspruchen, wenn  das  Geltungsbewufstsein  ein  ganz  be- 
stimmtes, allemal  genau  gleichartiges  Element  des  Urteils 
wäre,  und  wenn  dasselbe  die  Begleiterscheinung  einer 
wiederum  in  allen  Fällen  gleichartigen  Beziehung  von  Vor- 
stellungen wäre.  Ist  dies  aber  nicht  so,  sondern  auch 
„Geltungsbewufstsein"  wiederum  nur  eine  Zusammenfassung 
von  vielem  psychologisch  Verschiedenem,  so  ist  natürUch 
auch  mit  der  Aufstellung  einer  solchen,  die  Urteile  allgemein 
beschreibenden  Formel  nur  wenig  gewonnen.  Bedeutungs- 
voller wird  alsdann,  wie  ja  immer  in  solchen  Fällen,  die 
Einteilung  sein,  die  Gewinnung  einer  Übersicht  über  das 
Verschiedene  und  die  Darstellung  ihres  gegenseitigen  Ver- 
hältnisses. In  dieser  Beziehung  lehren  nun  die  obigen 
Darlegungen,  dafs  in  der  faktischen  Gestaltung  des  all- 
täglichen Denkens  die  Geltungsgefuhle  von  der  aUerver- 
schiedensten  Art  sein  können.  Die  wissenschaftliche  Prä- 
zisierung der  Begriffe  fuhrt  dazu,  diese  unklaren  Zusammen- 
hangsgefühle mehr  und  mehr  zu  beseitigen,  und  es  bleiben 
um  so  reiner  und  isolierter,  je  mehr  diese  Aufgabe  gelöst 
ist,  eine  relativ  kleine  Zahl  gesonderter  und  typisch  ver- 
schiedener Geltungsgefuhle  übrig.  Aber,  und  dies  ist  von 
Wichtigkeit,  eine  Anzahl  verschiedenartiger  Geltungsgefuhle 
bleibt  uns,  auch  nach  vollständigster  Lösung  jener  Aufgabe, 
als  etwas  Endgültiges  und  nicht  weiter  Analysierbares  übrig. 


44  ^'  '^^  Eries: 

Hier  ist,  wie  ich  glaube,  der  Punkt,  in  dem  wir  uns  von 
der  hergebrachten  Auffassung  entscheidend  ablösen,  die 
erst  in  der  allgemeinen,  alle  Arten  des  Urteils  umfassenden 
Charakterisierung  ein  wertvolles  Ziel  der  Untersuchung  zu 
erblicken  pflegt.  In  dem  Begriff  des  Geltungsgefuhls 
können  auch  wir  das  allen  Urteilen  Zukommende  generali- 
sierend zusammenfassen.  Aber  wir  verlieren  selbstverständ- 
lich an  Bestimmtheit  in  dem  Mafse,  wie  wir  an  Allgemein- 
heit gewinnen. 

Es  wird,  wie  mir  scheint,  immer  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  Sache  individuellen  Geschmacks  bleiben,  wie  weit 
man  Neigung  und  BedürMs  hat,  die  verschiedenen  Arten 
der  im  Urteil  ausgedrückten  Geltung  in  einen  allgemeinen 
Begriff  zusammenzufassen,  oder  wie  weit  man  anderseits 
bestrebt  ist,  die  Unterschiede  derselben  zu  betonen.  Ist 
man  auch  (wie  ich  es  z.  B.  bin)  weit  mehr  geneigt,  die 
Statuierung  und  Verfolgung  dieser  Unterschiede  für  wichtig 
und  firuchtbar  zu  halten  (in  üir  liegt  auch  das  Fundament 
aller  Logik),  so  soll  doch  damit  die  Übereinstimmung  nicht 
verkannt  werden,  welche  das  Gefühl  der  Richtigkeit,  der 
Geltung  in  allen  seinen  Formen  besitzt,  und  welche  eben 
in  dem  allgemeinen  Begriff  der  Gültigkeit  ihren  Ausdruck 
gefunden  hat.  Ja,  wir  können  sogar  auch  auf  die  Ähnlich- 
keit hinweisen,  welche  zwischen  diesen  GeltungsgeJRihlen 
und  der  ethischen  und  ästhetischen  Billigung  resp.  Mifs- 
billigung  besteht,  und  wir  nähern  uns  damit  der  Be- 
trachtungsweise Windelbands,  welcher  logische,  ästhetische 
und  ethische  Geltung  in  den  Begriff  des  Normgemäfsen 
zusammenfafst.  Niemand  wird  verkennen,  wie  zutreffend 
und  ftnchtbar  dieser  Gedanke  für  die  historische  Auffassung 
aller  philosophischen  Bestrebungen  ist.  Und  auch  auf 
modernem  Standpunkt  der  Untersuchung  ist  er  nicht  be- 
deutungslos. Für  die  mathematischen  und  logischen  Sätze  liegt 
unzweifelhaft   der  wichtigste  Punkt   der  Übereinstimmung 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  45 

in  der  Allgemeinheit  des  Sinnes.  Die  Unabhängigkeit  der 
ersteren  von  Ort,  Gröfse  und  materieller  Erfüllung  des 
Raumes,  von  der  Natur  der  gezählten  Gegenstände  etc., 
ebenso  logisch  die  Unabhängigkeit  mancher  Formen  von 
der  Besonderheit  der  Begriffe  läfst  uns  unmittelbar  die 
Mannigfaltigkeit  der  specielleren  Gestaltung  empfinden,  in 
welcher  die  mathematische  resp.  logische  Geltung  auftreten 
kann.  Hierauf  beruht  in  erster  Linie  die  grofse  Bedeutung, 
welche  die  betreffenden  Sätze  thatsächlich  haben.  Da 
überdies  die  Komplikation  der  Zusammenhänge  nicht  ohne 
weiteres  übersehen  läfst,  ob  eine  einzelne  Gröfsenbeziehung 
oder  eine  bestimmte  Gedankenbewegung  mit  jenen  all- 
gemeinen und  selbständig  evidenten  Sätzen  im  Einklang 
oder  im  Widerspruch  ist,  so  entwickelt  sich  daraus  die 
Bestrebung,  unser  Denken  auch  im  einzelnen  jenen  all- 
gemeinen Einsichten  entsprechend  zu  gestalten,  worin  ja 
dann  ganz  vorzugsweise  der  Vergleichspunkt  mit  der  ethischen 
Norm  und  der  durch  sie  regulierten  Willensbestrebung  liegt. 
Ein  Vergleichspunkt;  aber  doch,  kann  man  auch  wieder 
sagen,  nur  ein  äufserlicher,  den  psychologischen  Effekt 
betreffender;  denn  indem  wir  dem  „SoU",  von  welchem 
die  Logik  redet,  nachgehen,  finden  wir  seinen  Sinn  doch 
wieder  ganz  ausschliefslich  darin  aufgehend,  dafs  ein  ab- 
weichendes Denken  logisch  widersprechend  ist.  Und  worin, 
wird  man  wieder  fi-agen  können,  liegt  denn  nun  das 
Gemeinsame  des  logisch  Widersprechenden  und  des  ethisch 
zu  Mifsbilligenden  oder  dieser  beiden  mit  dem  nach  an- 
schaulicher Evidenz  mathematisch  Unmöglichen?  Die  Ge- 
fahr einer  Einmischung  fremdartiger  Elemente  wird  viel- 
leicht noch  näher  liegen,  wenn  die  gemeinsame  Be- 
stimmung in  dem  Merkmal  der  Allgemeingültigkeit 
gefunden  werden  soll.  Meines  Erachtens  ist  der  zwingen- 
den Evidenz,  mit  der  wir  die  Gültigkeit  eines  mathe- 
matischen oder  logischen  Satzes  empfinden,  die  Beziehung 


46  J«  V'  Kries: 

darauf,  dafs  wir  zu  allen  Zeiten  oder  dafs  sämtliclie  andere 
Menschen  ebenso  denken  und  anschauen  müssen,  durchaus 
fremd.  Ich  kann  die  Gültigkeit  des  Satzes,  dafs  zwischen 
zwei  Punkten  nur  eine  gerade  Linie  möglich  ist,  empfinden ; 
die  Annahme  aber,  dafs  ich  selbst  jederzeit  oder  dafs  alle 
Menschen  die  gleiche  Eaumanschauung  besitzen  müssen, 
ist  eine  (zwar  gewifs  sehr  wohl  begründete,  aber  durchaus 
empirische)  Vorstellung,  auf  welcher  allerdings  die  prak- 
tische Wichtigkeit,  nicht  aber  die  eben  jetzt  empfundene 
Gültigkeit  jenes  Satzes  beruht.  Und  noch  weniger  zu- 
treffend erscheint  es  mir,  den  Begriff  der  Allgemeingültig- 
keit im  obigen  Sinne,  wie  es  geschehen  ist,  auch  mit 
der  Geltung  des  einfachen  Real-Urteils  in  Verbindung  zu 
bringen. 

Zu  einem  ganz  ähnlichen  Ergebnis,  wie  die  Erörterung 
der  Geltungsgefühle,  führt  auch  die  Untersuchung  des  Ver- 
hältnisses, in  dem  die  einzelnen  Elemente  des  Urteils  zu 
einander  stehen.  Man  hat  sich  immer  bemüht,  das  Ver- 
hältnis des  Prädikats-  zum  Subjektsbegriff,  welches  das 
Wesen  der  Aussage  ausmachen  soll,  anzugeben.  Versucht 
man  indessen,  sich  im  voraus  darüber  klar  zu  werden,  was 
eine  solche  Untersuchung  überhaupt  leisten  kann,  so  sieht 
man,  dafs  in  dem  Verhältnis  der  im  Urteil  verbundenen 
Begriffe  ja  der  materielle  Sinn  der  Aussage  stecken .  mufs. 
Es  erscheint  also  von  vornherein  kaum  denkbar,  das  Ver- 
hältnis in  einer  Weise  zu  bezeichnen,  welche  Urteilen 
materiell  verschiedenen  Inhalts  gleichmäfsig  gerecht  wird 
(es  sei  denn,  dafs  man  sich  auf  die  ganz  unbestimmte  An- 
gabe einer  „logischen  Beziehung"  beschränkt).  Thatsächlich 
sieht  man  ja  auch,  dafs,  wie  schon  öfter  angedeutet,  in 
jeder  Urteilsart  nicht  blofs  das  Geltungsbewufstsein,  sondern 
auch  Art  und  Verhältnis  der  verknüpften  Vorstellungen  ein 
eigentümliches  ist.  Im  mathematischen  Satze,  dafs  die 
Summe    der  Kathetenquadrate   gleich   dem   Hypotenusen- 


Zur  Psychologie  der  Urteile.  47 

quadrat  ist,  in  dem  logischen  Beziehungs-Ürteile,  dafs  ein 
Satz  notwendiges  Ergebnis  zweier  andrer  sei,  im  Real- 
Urteile,  dafs  ein  Ereignis  zn  der  nnd  der  Zeit  stattgefmiden 
habe,  sehen  wir  überall  ganz  verschiedene  Elemente  ver- 
knüpft. Eine  Verbindung  dieser  Elemente  macht  den  Sinn 
des  Urteils  aus  und  wir  haben  sie,  indem  wir  den  Sinn 
des  Urteils  angeben,  bereits  bezeichnet;  sie  noch  weiter 
erklären  zu  wollen,  ist,  wie  mir  scheint,  der  Versuch,  ein 
psychologisch  Letztes  noch  weiter  zu  analysieren.  Es  ist 
dementsprechend  auch  durchaus  folgerichtig,  wenn  Ebdmann 
in  der  Verfolgung  dieser  Aufjgabe  schliefslich  zu  der  For- 
mulierung gelangt,  dafs  eine  „logische  Immanenz"  vorliege. 
Gewifs,  man  wird  dies  sagen  dürfen.  Aber  mir  will  nicht 
scheinen,  dafs  mit  dieser  Statuierung  einer  logischen 
Immanenz  noch  etwas  mehr  ausgesagt  wäre,  als  etwa  eine 
„Denkbeziehung".  Was  haben  wir  gewonnen?  Im  Grunde, 
wie  mir  scheint,  nichts  weiter,  als  dafs  wir  die  verschiedenen 
Geltungsbeziehungen  durch  die  Bildung  einer  Allgemein- 
Vorstellung  zusammengefafst  haben.  Dies  kann  für  die 
psychologische  Betrachtung  notwendig  und  nützlich  sein; 
nur  werden  wir  nicht  glauben  dürfen,  hierdurch  irgendwie 
dem  Wesen  des  Urteils  näher  zu  kommen. 

Als  berechtigtes  Ziel  weiterer  logischer  Untersuchung 
erscheint  daher  auch  nicht  eine  allgemein  zutreffende  An- 
gabe des  Verhältnisses  von  Subjekts-  und  Prädikatsbegriff, 
sondern  eine  Ermittlung,  welche  Vorstellungselemente  jede 
Art  von  Urteil  verknüpft.  Nicht  das  Wie  dieser  Verknüpfung, 
welches  eine  weitere  Erklärung  nicht  mehr  gestattet,  wohl 
aber  das  Was  der  verknüpften  Elemente  ist  eine  Aufgabe, 
mit  deren  Inangrifhahme  sich  noch  ein  Feld  frucht- 
barer und  interessanter  logischer  Untersuchung  eröfl&iet, 
eine  Aufgabe  aber,  die  notwendig  für  die  verschiedenen 
Geltungstypen  unabhängig  geführt  werden  mufs.  Wenn  in 
einem  Real-Urteile  von  konkreter  Bedeutung  ein  generell 


48  J.  V.  Kries:  Zur  Psychologie  der  Urteile. 

bezeichnetes  Geschehen  neben  einer  individualisierenden 
Zeitbestimmung  auftritt  (es  regnete  gestern),  mit  welcher 
Aussicht  soll  man  über  die  Verknüpfung  dieser  beiden 
Urteilselemente  noch  weiter  spekulieren,  oder  wie  soll  man 
versuchen,  diese  Verknüpfung  unter  einen  gemeinsamen 
Gesichtspunkt  zu  bringen  mit  derjenigen  des  Subjekts-  und 
Prädikatsbegriffs,  etwa  in  dem  Urteile:  die  Zahl  43  ist 
eine  Primzahl?  Berechtigt  aber  und  wichtig  erscheint  die 
Frage,  ob  in  alle  Real-Urteile  zeitliche  Bestimmungen  ein- 
gehen, in  welcher  Form  u.  s.  w. 

Mit  der  Behandlung  derartiger  Aufgaben^)  wendet 
sich,  wie  mir  scheint,  am  entschiedensten  die  neuere  Unter- 
suchung von  den  Wegen  der  älteren  Logik  ab ;  denn  diese 
wurde  an  der  Stellung  solcher  Angaben  dadurch  verhindert, 
dafs  sie  als  eine  rein  formale  nach  einer  thatsächlich  un- 
erreichbaren Allgemeinheit  streben  zu  müssen  glaubte. 
Dadurch  wurde  es  ihr  unmöglich,  über  die  unfinichtbare 
Lehre  von  der  Verknüpfung  des  Subjekts-  und  Prädikats- 
begriffs hinaus  zu  gelangen.  —  Da  eine  Verfolgung  dieses 
Gegenstandes  natürlich  aufserhalb  des  Rahmens  dieser 
Abhandlung  liegt,  so  mufs  ich  hier  auch  die  Erläuterung 
schuldig  bleiben,  aus  welchem  Grunde  und  in  welchem 
Sinne  davon  ausgegangen  wurde,  dafs  durchweg  im  Urteil 
eine  von  einem  Geltungsgefühl  begleitete  Verknüpfung 
mindestens  zweier  Vorstellungen  vorliegen  müsse. 


')  Als  Untersuchungen  dieser  Richtung  erscheinen  mir  z.  B.  die 
neuerdings  sich  häufenden  Erörterungen  der  Impersonalia,  die  gewiTs 
trotz  der  noch  starken  Divergenz  der  Auffassungen  schon  durch  die 
ganze  Auffassung  der  Aufgabe  einen  der  bedeutungsvollsten  Fortschritte 
gegenüber  der  älteren  Logik  darstellen. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der 

Zeitvorstellung/) 

Von  Eugen  Posch  (Budapest). 
(Erster  Artikel.) 

Inhalt. 

Geeenstand  des  Vergehens  sind  die  Eigenschaftskomplexe.  Vergangen- 
eeln  ist  Nichtsein.  Ursache  des  Vergangenheitsbegriffs  das  Erinnerungsvermögen. 
Zeitvorstellung  nicht  unbedingt  an  Beweeungsanblick  geknüpft.  Ob  ein  Zeit- 
organ anzunehmen  sei.    Sprachlicher  Ausorack  des  Vergangenseins. 


Verzeichnis  der  citierten  Bücher. 

Aristoteles:  „Acht  Bücher  Physik."  Griechisch  und 
deutsch  von  Prantl.  Leipzig  1854.  (Hieraus  Buch  IV, 
cap.  10 — 14.)  —  Augustinus:  „D.  Aurelii  Augustini  Libri 
XTTT.  Confessionum."  Venetiis  1738.  (Hieraus  lib.  XI,  cap. 
13 — 28.)  —  Bain:  „Les  sens  et  l'intelligence."  Übers, 
von  CazeijLes.  II.  Aufl.  Paris  1889.  —  Baumann:  „Die 
Lehren  von  Raum,  Zeit  und  Mathematik  in  der  neueren 
Phüosophie."  Berlin  1868/69.  Bd.  I— H.  —  Bazin: 
„Grammaire  mandarine."  Paris  1856.  —  Bopp:  „Ver- 
gleichende Grammatik  ..."  DI.  Aufl.  Berlin  1870.  Bd. 
n.   —   Condillac:    „Trait6  des  sensations."    Paris  1803. 

^)  Bildet  den  ersten  Abschnitt  einer  deutschen  Bearbeitung  von 
des  Verfassers  ungarischem  Original  werke :  „Az  idö  elm61ete",  Bd.  I 
u.  n,  Budapest  1896—97. 

Vierteljahrsschrift  f.  wlssenschaftl.  Philosophie.    XXTTT.  1.  4 


50  Eugen  Posch: 

(Der  4.  Band  der  „Oeuvres  completes".)  —  Descartes: 
„Prinz."  =  Philosophische  Werke  El:  Die  Prinzipien  der 
Philosophie.  Übers,  von  Kibchmakn.  IE.  Aufl.  Heidelberg 
1887.  (Hieraus  I.  Teil,  Punkte  55—57  u.  62.)  —  Eyfferth: 
„Über  die  Zeit."  Berlin  1871.  —  Fichte  I.  H.: 
„Ps."  =  „Psychologie."  Leipzig  1864.  I.  Teü  (Punkte 
145 — 154).  —  Fouill^e:  „Introduction"  in  dem  GuYAu'schen 
Werke.  —  Gnyau:  „La  genfese  de  l'idee  de  temps."  Paris 
1890.  —  Hegel:  Werke.  Berlin  1842.  Band  VH.  („Vor- 
lesungen über  die  Naturphilosophie."  Hieraus  §§  257 — 259.) 
—  Herbart:  „Sämtliche  Werke."  Ed.  Hartenstein.  Leipzig 
1850/51.  Band  HI— VI.  —  Hobbes:  „Elementorum  philo- 
sophiae  Sectio  prima:  de  corpore."  (Opera  philosophica, 
quae  latine  scripsit,  omnia.  Amstelodami  1668.)  Hieraus 
Pars  n,  cap.  Vn,  3.  —  Horwiez:  „Psychologische  Analysen 
auf  physiologischer  Grundlage."  Halle-Magdeburg  1872  und 
1878.  (Band  H,  beide  Teile.)  —  Hnme:  „Über  die  mensch- 
liehe  Natur."  I.  Band:  „Über  den  menschlichen  Verstand." 
Übers,  von  Jakob.  HaUe  1790.  (H.  Teil,  S.  67—144.)  — 
Kant:  „M.  P."  =  „De  mundi  sensibilis  atque  intelligibilis 
forma  et  principiis."  Aus:  „Die  vier  lateinischen  Disser- 
tationen Kants."  Ed.  Kirchmann.  Leipzig  1878.  — 
„Kr."  =  „Kritik  der  reinen  Vernunft."  Ed.  Kehrbach.  — 
Leibniz:  „N.  A."  =  „Neue  Abhandlungen  über  den  mensch- 
lichen Verstand."  Übers,  von  Schaarschmidt.  Berlin  1873. 
(n.  Buch,  S.  131—136.)  —  „Opera  omnia."  Ed.  Dutens. 
Genevae  1768.  (Hieraus  tom.  H  pars:  der  Briefwechsel  mit 
Claeke.)  —  Liebmann:  „Zur  Analysis  der  Wirklichkeit." 
n.  Aufl.  Strafsburg  1880.  —  Locke:  „Versuch  über  den 
menschlichen  Verstand."  übers,  von  Kiechmann.  Berlin 
1872.  (I.  Band,  H.  Buch,  S.  187—213.)  —  lotze:  „Meta- 
physik." n.Aufl.  Leipzig  1884.  Punkte  138— 157.  (Bildet 
den  n.  Teil  von  „System  der  Philosophie".)  —  Lucretii  Cari: 
„De  rerum  natura  libri  sex."  Ed.  Th.  Creech.  Lipsiae 
1776.  —  Pott:    „Verschiedene   Bezeichnungen   des    Per- 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.         51 

fects  .  .  .  ."  in  Band  15  u.  16  der  „Zeitschr.  f.  Völkerps. 
u.  Sprachw."  —  Schelling:  „Sämtliche  Werke."  Ed.  K.  F. 
A.  Schelling.  Stuttgart -Augsburg.  Band  Vn.  (Hieraus: 
„Aphorismen  zur  Einleitung  in  die  Naturphilosophie." 
„Aphorismen  über  die  Naturphilosophie."  „Kritische  Frag- 
mente." „Stuttgarter  Privatvorlesungen.")  —  Sehleicher: 
„Compendium  der  vergleichenden  Grammatik  der  indoger- 
manischen Sprachen. "  Weimar  1876.  IV.  Aufl.  —  Sehopen- 
haner  A.:  „Sämtliche  Werke."  Ed.  Grisebach.  Leipzig, 
Eeclam.  (Bände  I — VI.)  —  Sextus  Empirieas:  „Des  S.  E. 
Pyrrhoneische  Grundzüge."  Übers,  u.  erl.  von  Pappenheim. 
Leipzig  1877.  (Hieraus  Buch  m,  cap.  15 — 17.)  —  „Opera." 
Graece  et  latine.  Ed.  Fabricius,  Lipsiae  1840/41.  (Hiervon 
Tomus  I:  die  obigen  Stellen;  Tom.  I:  „Adversus  Physicos." 
S.  715  flf.)  —  5,Sinipl/':  =  „Simplicü  in  Aristotelis  Physico- 
rum  libros  quattuor  priores."  Ed.  Diels.  Berlin  1882.  — 
Spencer:  „Die  Principien  der  Psychologie."  HI.  Aufl.  Übers, 
von  Vettbb.  Stuttgart  1886.  —  „Stob^^:  „Joannis  Stobaei 
Eclogarum  libri  duo."  Interprete  G.  Cantero.  Antwerpiae 
1575.  —  Talne:  „De  Tintelligence."  IH.  Aufl.  Paris  1878. 
(Band  H.)  —  Tobler:  „Übergang  zwischen  Tempus  und 
Modus."  (Zeitschr.  f.  Völkerps.,  Band  H,  1862.)  —  Volk- 
mann: „Lehrbuch  der  Psychologie."  DI.  Aufl.  Cöthen 
1884/85.  (Band  H,  §§  86—89.)  —  Waitz:  „Lehrbuch  der 
Psychologie  als  Naturwissenschaft."  Braunschweig  1849.  — 
Wnndt:  „Log."  =  „Logik."  Band  I.  Stuttgart  1880.  — 
„Ph.  Ps."  =  „Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie." 
m.  Aufl.    Leipzig  1887.    H.  Band. 


I.  Die  Vergangenheit. 

Die   Vorstellung   und   Thatsache   des  Nacheinander, 
(der  Succession),    die  sich  schon  dem  flüchtigen  Blicke^) 

*)  Bereits  dem  des  Aristoteles,  s.  :  rote  tpafihv  yeyovsvai  ;^(>ovoy, 
oxav  tov  ngox^Qov  xal  vaxeQov  .  .  .  aia^oiv  Xaßwfxev  (IV.,  cap.  11). 

4* 


52  Eugen  Posch: 

als  innerster  Kern  dessen  darstellt,  was  man  unter  „Zeit" 
verstellt,  ist  zusammengesetzter  Natur,  indem  sie  das  Be- 
wufstsein  und  Faktum  eines  vergangenen,  eines  gegen- 
wärtigen und  eines  bevorstehenden  Sinnesinhalts  in  sich 
begreift;  eignet  sich  folglich  zum  Ausgangspunkt  einer 
Analyse  der  Zeitvorstellung  weit  weniger,  als  deren  Ele- 
mente, die  letzterwähnten  drei  Thatsachen.  ^) 

Von  diesen  Thatsachen  zieht  nun  wieder  die  des  Ver- 
gehens, des  Austretens  aus  der  Gegenwart,  als  mit  dem 
Zeitbegriffe  anscheinend  inniger  zusammenhängend,  unsere 
Blicke  in  erster  Linie  auf  sich,  und  es  lassen  sich  schon 
innerhalb  derselben  jene  beiden  Grundfragen  (eine  meta- 
physische und  eine  psychologische)  aller  Zeitforschung  auf- 
werfen, deren  genaue  Scheidung  ein  Verdienst  der  Her- 
BABT'schen  (VI,  116 — 117)  Philosophie  ist,  nämlich:  was 
ist  Vergehen?  und  in  welcher  Weise  wird  es  vom  mensch- 
lichen Geiste  aufgefafst? 

Die  erstere  erfordert  Erledigung  der  Vorfrage:  was 
ist  der  wahre  Gegenstand  des  Vergehens,  was  vergeht 
eigentlich?  —  eine  keineswegs  unnütze  Untersuchung,  wenn 
man  bedenkt,  wie  sehr  verhüllt  das  fragliche  Subjekt  in 
den  gewöhnlichen  Urteilen  über  Vergangenes  (den  Per- 
fektiv- oder  Vergangenheitsurteilen,  wie  wir  sie  fortan 
nennen  wollen)  ausgedrückt  zu  sein  pflegt.  Z.  B.  (neben 
dem  lichtvolleren  Ausspruche:  „Das  Pferd  sprang"): 
„Freund  N.  war  hier".  Er  lebt  doch  noch,  also  was  war 
eigentlich?  Anderseits:  „Es  waren  einst  Hexenrichter." 
Wer  bedenkt,  dafs  das  Untergegangensein  eines  Subjekts 
(Person  oder  Gegenstand)  einfach  durch  Leugnung  (richtiger: 
perfektiven  Ausdruck)  seines  Forstbestehens  (folglich  einer 

')  Dieser  Umstand  wurde  auch  von  Gütau  (S  22  ff.)  richtig  er- 
kannt, von  Spencer  und  Hbrbart  jedoch  übersehen,  trotzdem  der  Letz- 
tere behauptete:  „.  .  .  die  VorsteUungen  der  Zeitpunkte  erzeugen  sich 
mit  Hilfe  der  Urteile  (A  ist  nicht  mehr  B),  durch  welche  die  Ver- 
änderungen des  Dinges  eine  nach  der  anderen  aufgefaTst  und  in  ihre 
Ordnung  gestellt  werden."     (VI,  S.  306—307.) 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  ZeitTorstellung.         53 

Eigenschaft,  die  so  gut  ist,  wie  jede  andere)  ausgedrückt 
werden  kann  und  auch  wird,  da  das  hierbei  gebräuchliche 
Verbum  substantivum  „war"  eben  das  Sein  (ursprünglich 
konkreter  ein  Wohnen,  Bleiben)  des  besagten  Subjekts  als 
vergangen  erscheinen  läfst,  dem  wird  sich  eine  scheinbar 
gerechtfertigte  Scheidung  der  Fälle  in  solche,  wo  das 
Subjekt  selber,  und  wo  nur  Eigenschaften  oder  Handlungen 
desselben  untergegangen  wären,  als  überflüssig  und  hiermit 
folgende  Antwort  als  für  alle  Fälle  gültig  herausstellen: 
„Jedwedes  Perfektiv-Ürteil  drückt  eine  erfolgte  Auflösung 
von  Eigenschaftskomplexen,  d.  h.  die  Trennung  einer  Ver- 
bindung von  Subjekt  und  irgendwelchem  Prädikat  aus." 
Gegenstand  des  Vergehens  ist  somit  stets  eine  Verbindung 
(richtiger:  Verbundenheit,  herbartisch:  ein  Zusammen)  von 
Eigenschaften. 

In  den  obigen  Beispielen  sind  die  aufgelösten  Eigen- 
schaftsverbindungen:  Dieses,  so  und  so  umschriebene  Pferd, 
und  diese,  gleichfalls  so  und  so  umschrieben  zu  denkende 
Springhandlung.  (Handlungen  sind  momentane  Eigenschaf  ben, 
und  „dieses"  vertritt  die  Summe  jener  Eigenschaften,  deren 
Zusammensein  eben  ein  gewisses  Individuum  ausmacht.) 
Der  Eigenschaftskomplex,  benannt  „Freund  N",  und  das 
Hiersein  desselben.  Der  Komplex,  erforderlich  zur  Be- 
nennung „Hexenrichter",  und  das  Sein  desselben,  d.  h.  die 
Möglichkeit,  ihn  zu  Gesichte  zu  bekommen. 

Die  Erwägung  dieses  Sachverhalts  wird  leicht  hinweg- 
helfen über  ein  natürliches  Widerstreben  gegen  eine  Be- 
antwortungsart der  oben  gestellten  metaphysischen  Haupt- 
frage, die  ich  hiermit  vorschlage,  weil  sie  dem  Geiste  der 
modernen,  empiristischen  Gedankenrichtung,  welche  das 
Prädikat  der  „Realität"  auf  sinnlich  Eindrucksfähiges  be- 
schränkt, einzig  entspricht,  —  nämlich:  „Alles  Vergehen 
ist  Vernichtung;  das  Vergangene  ist  nicht." 

Die  Gleichwertigkeit  des  Vergangenseins  mit  dem  Nichtsein 
scheint,  wenigstens  annäherungsweise,  bereits  von  Aristoteles  erkannt, 


54  Eugen  Posch: 

indem  er  (IV,  cap.  10)  zwei  Zeitteile,  die  Vergangenheit  und  Zukunft^ 
für  nicht  seiend  ausgab,   was   seinerseits  zum  Beweise   der  Irrealität 
der  Zeit  selbst,   beziehungsweise  ihrer  nur  (ibXiq  xal  afivSQÖig   statt- 
findenden  Existenz  Yorzüglich  verwertet  wurde.  Ähnlich  bei  Chetsippus^ 
der  für  Vergangenheit  und  Zukunft  ein   vTta^x^iv  nur  im  Sinne  wie 
für  avfißsßt]x6ta  zulassen  wollte  (Stob.);  bei  Lucbbtius  (I,  y.  465 — 469) 
Denique  Tyndaridem  raptam,  belloque  subactas 
Troiugenas  gentes  cum  dicunt  esse,  videndu'st 
Ne  forte  haec  per  se,  cogant  nos,  esse  fateri: 
Quando  ea  saecla  hominum,  quorum  haec  eyenta  fuere, 
Irreyocabilis  abstulerit  iam  praeterita  aetas. 
Femer  bei  Sextus  Empibicus  (Pyrrh.  III,  P.  144 — 146),  Augustinus 
(XI,  cap.  15),  HoBBBS  (VII,  cap.  3),  Leibniz  :  „comment  pourrait  eiister 
une  chose,  dont  jamais  aucune  partie  n'existe?"    (Clabke  V,  P.  44 — 50). 
ScHBLLiNG  (Aph.  215,  220)  und  ähnlich  Hegel  (§  259),  „dafs  Vergangen- 
heit und  Zukunft  blofs  denkbar  und  nicht  im  Bereich  der  Wirklichkeit 
nachweisbar  seien";  Schopenhauer:  „Zukunft  und  Vergangenheit  .  .  . 
sind  nur  im  Begriff,  sind  nur  im  Zusammenhange  der  Erkenntnis  da. 
.  .  .  Unsere  eigene  Vergangenheit,  auch  die  nächste  und  der  gestrige 
Tag,  ist  nur  noch  ein  nichtiger  Traum  der  Phantasie  ..."  (I,  S.  363 
bis  364,  yergl.  auch  II,  S.  673).    Libbmann:  „Zukunft  und  Vergangen- 
heit führen  ein  blofses  Phantasie-Dasein  in  den  Gedanken  yorstellender 
Subjekte  und  wttrden  bei  etwaiger  Aufhebung  jeder  Intelligenz  yöUig 
zu  nichts."  —  Implicite  liegt  diese  Ansicht  den  meisten  Erzeugungs- 
yersuchen  einer  Zeitreihe  aus  blofsen  Vorstellungen  zu  Grunde. 

Es  giebt  Vernichtung,  wenn  auch  keine  von  StoflT 
und  Kraft,  so  doch  von  Vergesellschaftungen,  unbeschadet 
des  Fortbestehens  ihrer  Elemente,  —  und  sie  ist  Welt- 
thatsache,  so  gut  wie  die  Bildung  von  Komplexionen,  das 
Zusammenschiefsen  von  Elementen. 

WüNDTs  Behauptung,  „es  objektiyiere  sich  in  der  schwindel- 
erregenden Vorstellung  einer  Welt  als  Schauplatz  unaufhaltsamer  Ver- 
nichtung nur  die  rastlose  Flucht  unserer  Vorstellungen"  (Log.  I,  S.  434), 
bedürfte  des  Nachweises,  dafs  die  Thatsächlichkeit  der  Veränderungen 
auch  ohne  Annahme  einer  objektiyen  Vernichtung  rettbar  sei.  —  Lotzbs 
Weigerung,  die  letztere  anzuerkennen  (P.  157),  beruht  auf  der  irrtüm- 
lichen Meinung,  die  zu  bekämpfen  eben  der  Zweck  yorliegender  Schrift 
ist,  dafs  sich  das  subjektiyistische  Grundprinzip  nicht  konsequent  durch- 
führen und  die  Zeitform  yom  Objektiyen  der  Welt  nicht  rückstandslos 
abheben  lasse. 

Die  Verkennung  des  oben  erwähnten  Gegenstands  des  Ver- 
gehens hat  ScHOPBNHAUBRN  das  Konzept  yerdorben,  der  an  einer  Stelle 
(I,  S.  365)  auf  das  Entschiedenste  für  unsere,  weiter  unten  auszu- 
führende Ansicht  yon  einzig  echter  Eealität  des  Sinnenfälligen  (des 
Gegenwartsinhalts)  und  für  die  Nichtigkeit  des  Vergangenen  wie  Zu- 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  ZeitTorstellung.         55 

künftigen  eintrat,  an  anderem  Orte  (11,  S.  563)  wieder  in  offenbarem 
Widerspruche  mit  diesem  sich  folgendermafsen  vernehmen  läTst:  „Das 
Substrat  oder  die  Ausfüllung,  nXriQWfia,  oder  der  Stoff  der  Gegenwart 
ist  durch  alle  Zeit  eigentlich  derselbe.  Die  Unmöglichkeit,  diese 
Identität  unmittelbar  zu  erkennen,  ist  eben  die  Zeit,  eine  Form  und 
Schranke  unseres  Intellekts.  Dafs  vermöge  derselben  z.  B.  das  Zu- 
künftige noch  nicht  ist,  beruht  auf  einer  Täuschung,  welcher  wir  inne 
werden,  wann  es  gekommen  ist." 

Wer  einsieht,  dafs  das  zeitliche  Kommen  nnd  Grehen 
immer  nur  Komplexionen  von  Elementen  (Individuen)  und 
niemals  die  Elemente  selbst  betriflffc,  welche  —  der  objektive 
Materien-  und  Kräftevorrat  der  Welt  —  von  aller  Ewigkeit 
in  aUe  Ewigkeit  unversehrt  vorhanden  zu  gelten  haben, 
dem  wird  die  Bemüfsigung  erspart  bleiben,  behufs  Rettung 
dieses  letzteren  Grundsatzes  die  Wirklichkeit  des  Vergehens 
anzuzweifeln  und  der  Welt  des  Realen  Gestalten  beizuzählen, 
die  rein  nur  in  der  menschlichen  Erinnerung  oder  Hofl&iung 
existieren.  Die  zwei  Wahrheiten,  dafs  die  Elemente,  aus 
welchen  die  Individualität  Hannibal  bestand,  von  ewiger 
Dauer  sind,  aber  jene  gewisse  Gruppierung  derselben, 
welche  eben  „Hannibal"  hiefs,  zu  nichte  geworden  ist  — 
diese  schon  ziemlich  populären  zwei  Wahrheiten  können 
friedlich  nebeneinander  bestehen.  Weder  in  der  einen, 
noch  in  der  anderen  liegt  „Täuschung".  — 

Unsere  Ansicht  findet  sich  —  wenn  auch  in  etwas  zögernd 
zaghafter  Ausdrucksform  —  hei  Libbmakk  (S.  91)  wieder:  „Es  könnte'' 
(sie!)  „.  .  .  das,  was  wir  in  räumlicher  Metapher  ,die  Bewegung  der  Zeit* 
nennen,  eigentlicher  aher  auch  abstrakter  charakterisiert  werden  als 
ein  fortwährender  Übergang  von  solchem,  was  nicht  existiert,  aber  aus 
dem  Existierenden  mit  kausaler  Notwendigkeit  hervorgehen  muTs,  in 
die  Existenz ;  und  von  Denjenigen,  welches  existiert,  aber  mit  kausaler 
Notwendigkeit  durch  seine  Wirkung  verdrängt  werden  mufs,  in  die 
Nichtexistenz." 

Zum  mindesten  ist  „Vernichtung"  ein  eindeutigerer 
Ausdruck,  als  jener  beliebte  vom  „Fortbestehen  in  ver- 
änderter Gestalt",  welcher  den  Fragepunkt,  den  Verbleib 
des  vergangenen  Thatbestands  gar  nicht  triflft,  dem 
Eintreten  einer  thatsächlich  neuen  Verbindung  und  dem  Um- 
stände, dafs  doch  nur  ein  gewisser  Eigenschaftskomplex  mit 


56  Eugen  Posch: 

dem  nämlichen  Namen  bezeichnet  werden  kann,  nicht  gehörig 
Eechnung  trägt.  Oder  lassen  sich  vielleicht  die  Bäume  und 
hunderterlei  Dinge,  in  die  die  Elemente  der  Eigenschafts- 
komplexion bereits  übergegangen  sind,  welche  die  Welt  seiner- 
zeit „Hannibal"  nannte,  gleichfalls  „Hannibal"  nennen? 
Die  Hauptursache  des  Sträubens  vor  unserer  Ansicht 
besteht  übrigens  in  der  für  die  gesamte  Zeitvorstellung 
eminent  wichtigen  Thatsache  des  Sicherinnerns,  d.  h. 
dafs  die  aufgelösten  Verbindungen  im  Verstände  eines 
menschlichen  (und  auch  tierischen)  Zuschauers  ein  Andenken 
ihres  Bestehens  zurücklassen,  dessen  Lebhaftigkeit  —  zumal 
bei  jüngstvergangenen  Ereignissen  —  der  des  eigentlichen 
Sinneseindrucks,  als  einzig  berechtigten  Trägers  des  Eeali- 
tätsprädikats,  nahezu  gleichkommt.  Hierzu  kommt  noch 
der  Umstand,  dafs  das  Vorhandensein  kausaler  Wirkungs- 
folgen im  Falle  gewesener  Dinge  und  der  Ausfall  solcher 
bei  blofsen,  für  nichtig  anerkannten  Phantasiegebilden 
jenen  ersteren  doch  ein  gewisses  Anrecht  auf  das  Kealitäts- 
prädikat  zu  erteilen  scheint.  Wenigstens  hat  ein  Bona- 
parte, dessen  einstige  Realität  fortbestehende  Spuren  der- 
selben noch  laut  verkünden,  in  unseren  Augen  auch  heute 
noch  mehr  Anwartschaft  auf  das  Prädikat  des  Seins,  als 
die  rein  mythologische  Figur  eines  Hebkules  oder  Satuenus. 
Nun  kommt  jedoch  zu  bedenken:  1.  dafs  zwischen  dem 
noch  so  lebhaften  Andenken  und  dem  Sinneseindrucke  ein 
himmelweiter,  hier  nicht  näher  zu  schildernder  Unterschied 
besteht,  jedenfalls  grofs  genug,  um  das  strittige  Prädikat 
nur  letzterem  vorzubehalten;  2.  dafs  Realität  der  Ursache 
nur  zum  Eintritt  und  nicht  zum  Fortbestehen  kausaler 
Wirkungen  nötig  ist.  —  In  jedem  Falle  ist  die  Anhäng- 
lichkeit des  menschlichen  Gemüts  an  besagten  Realitäts- 
glauben bei  vergangenen  Dingen  nur  eine  psychopathische, 
durch  die  Thatsache  des  Erinnems  erzeugte  Eigentümlich- 
keit, der  die  streng  philosophische  Gedankensichtung  nicht 
nachgeben  darf. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.         57 

Ein  nächstgelegener  und  meines  Wissens  zum  erstenmale  durch 
Augustinus  angewandter  Kunstgriff  zur  Einlenkung  gegenteiliger 
Ansichten  ist  die  Yexierfrage  nach  dem  Wo?  dieses  angeblich  seienden 
Vergangenen  („si  enim  sunt  futura  et  praeterita,  volo  scire,  ubi  sunt."  — 
XI,  cap.  18),  bemerkenswert  auch  dadurch,  dafs  sie  den  Fragesteller, 
durch  die  Erkenntnis  „alles  Vorhandene  könne  dort,  wo  es  ist,  nur 
als  Gegenwärtig  yorhanden  sein"  —  zu  der  wichtigen  und  für  den 
Subjektiyismus  so  erspriefslichen  Thatsache  des  Yorwaltens  eines 
menschlichen  Gedächtnisses  als  einzigen  Aufspeicherungsortes  für  das 
Verflossene  hinleitete,  welche  Thatsache  bei  ihm  zum  erstenmale  ihre 
verdiente  Würdigung  fand.  („Quamquam  praeterita  cum  yera  narran- 
tur,  ex  memoria  proferuntur;  non  res  ipsae,  quae  praeterierunt,  sed 
verba  concepta  ex  imaginibus  earum :  quae  in  animo  velut  yestigia  per 
sensus  praetereundo  fixerunt."  —  Ib.) 

Beiläufig  bemerkt  zeugt  die  flotte  Hervorkehrung  dieses  Wo? 
von  einer  völlig  materialistischen  Fassung  des  Eealitätsbegriffs  von 
Seiten  dieses  übrigens  durchaus  katholisch  gesinnten  Schriftstellers  — 
eine  Fassungsweise,  die  auf  dem  urwüchsigen  Grundgedanken  beruht: 
„Alles  was  ist,  muTs  irgendwo  sein."  Die  Antwort  konnte  nicht  anders 
lauten,  als:  alles  Gewesene  ist  nur  im  Gedächtnisse  des  Zuschauers, — 
ein  umstand,  der  vereint  mit  der  blofs  gedanklichen  Natur  des  Zu- 
künftigen den  denkbar  besten  Beweis  für  die  rein  subjektive  Natur 
der  Zeit  abgiebt,  insofern  sich  nun  herausstellt,  dafs  selbst  die  Daten 
zur  Ausgestaltung  einer  Zeitform  (die  gewesenen,  sowie  die  zukünftigen 
Eindrücke)  nirgends  anders,  als  im  menschlichen  Geiste  aufgespeichert  sind. 

Ahnliche  Hervorkehrungen  des  Erinnerungsvermögens  finden  sich 
später  bei  Hobbes  („quum  de  maiorum  suorum  temporibus  loquuntur, 
an  existimant  exstinctis  maioribus  suis,  tempora  eorum  alibi  esse  posse, 
quam  in  memoria  recordantium?"  cap.  VII,  3),  noch  klarer  bei  Gon- 
DiLLAC  („s^l  ne  lui  [»>  seiner  mit  Empfindung  begabten  Statue]  restait 
aucun  Souvenir  de  ses  modifications  [successives],  ä  chaque  fois  eile 
croirait  sentir  pour  la  premiere:  des  ann6es  enti^res  viendraient  se 
perdre  dans  chaque  moment  pr6sent."  I,  chap.  2,  §  5.)  Ähnlich 
FouiLLfiB  (S.  X,  XV,  XXXI) ;  mehr  oder  weniger  implicite  in  den  Zeit- 
darstellungen der  HERBABT'schen  Schule  (u.  a.  bei  Waitz,  Lotzb,  Volk- 
MANN,  Wundt),  des  ferneren  auch  bei  Hegel  (§  259),  Eyppbbth  (S.  12—16), 
Spengbe  (§  73),  Taine  („L'image  präsente  me  parait  Sensation  pass6e; 
c'est  lä  proprement  le  souvenir."  11,  S.  48),  Güyau  (pr6f.  1:  „Une  des 
cons6quences  les  mieux  stabiles  par  la  psychologie  moderne,  c*est  que 
tout  est  präsent  en  nous,  y  compris  le  passe  meme"). 

Unsere  Ignorierung  der  (äufseren)  Bewegung,  die 
man  vielleicht  statt  der  von  uns  angesprochenen  Thatsache 
eines  Zusammen-  und  Auseinandertretens  von  Eigenschafts- 
verbindungen der  Zeit  zu  Gmnde  gelegt  hätte  sehen  wollen, 
findet   ihre   Rechtfertigung   in   dem   Umstände,   dafs   Be- 


5g  Eugen  Posch: 

wegung  —  ein  successives  Auftauchen  und  Verschwinden 
von  Gesichtsbildern,  wie  solche  durch  augenscheinliche 
Koincidenz  (folglich  Verbundenheit)  des  Bewegten  mit  ver- 
schiedenen davor  und  dahinter  befindlichen  Raumteilen 
entstehen  —  sich  unter  den  oben  erwähnten,  entschieden 
höheren  Doppelbegriff  bringen  läfst. 

Bei  Etffbrth  (S.  74)  heiTst  der  allgemeinere  Begriff,  dem  sie 
unterstellt  und  der  für  die  Zeitvorstellung  angesprochen  wird,  „Thätig- 
teit«^  —  ftämlich  die  des  Dinges  an  sich,  welch  letzteres  ihm  für 
seine  Zeitkonstruktion  unentbehrlich  scheint. 

Dafs  Bewegung  nur  als  ein  Erzeugungsmittel  successiver  Ein- 
drücke, und  wo  solche  (wie  bei  zu  grofser  oder  zu  geringer  Geschwindig- 
keit) nicht  stattfinden,  zur  Zeitquelle  gar  nicht  tauge,  die  Zeit 
folglich  keineswegs  als  ausschliefsliches  Bewegungsprärogativ  dürfe 
angesehen  werden,  wufste  schon  Locke  (XIV,  §  6  ff.,  citiert  bei  Humb 
S.  83  und  CoNDiLLAC  II,  chap.  8,  §  23).  Dbscabtbs  wollte  diese  An- 
sicht durch  den  Umstand  bekräftigen,  dafs  ja  auch  schnellere,  d.  h. 
„mehr"  Bewegung  in  ebensoviel  Zeit  ablaufen  könne^  wie  langsamere, 
„wenigere"  (Prinz.  I,  P.  67).  Die  Bevorzugung  der  „rein  qualitativen 
Veränderung  eines  Gegenstandes"  gegenüber  der  Bewegung  findet  sich 
auch  bei  Wundt,  wo  ihre  Bedeutung  für  die  Zeit  blofs  darin  besteht, 
dafs  sie  „nur  ein  besonders  ausgeprägter  Fall  jener  Konstanz  des  Ver- 
änderlichen" sei,  „die  als  die  allgemeinste  objektive  Grundlage  der 
Zeit  zurückbleibt"  (Log.  I,  S.  435).  Unausgesprochen  liegt  unsere 
Ansicht  den  Eonstruktionsversuehen  der  gesamten  HERBABT^schen  Schule 
zu  Grunde.  —  Die  gegenteilige  Meinung  fand  ihre  Vertreter  an  Plato 
und  dessen  Anhang,  ferner  an  Abistotbles,  wo  die  der  Zeit  wie  der 
Bewegung  gemeinsam  anhaftende  Stetigkeit,  die  Gleichheit  der  abge- 
laufenen Zeitmenge  mit  der  Menge  vollendeter  Bewegung,  die  diesen 
beiden  gemeinsame  Successivität,  die  Ähnlichkeit  der  Bolle  des  Jetzt 
als  eigentlichen  Zeitkemes  mit  der  des  beweglichen  Körpers  (letzterer 
teile  die  Bewegung,  ersteres  die  Zeit  in  einen  abgelaufenen  und  einen 
noch  bevorstehenden  Teil;  auch  seien  beide  die  Ursache  für  die  Stetig- 
keit ihres  betreffenden  Zubehörs)  —  mit  einem  Worte,  lauter  höchst 
nichtssagende  Dinge  für  die  Zusammengehörigkeit  von  Zeit  und  Be- 
wegung (avayxij  tijg  xivrjascjg  zi  elvai  rov  XQOvov)  angeführt  werden. 
Vergl.  IV,  11.  —  Dafs  Zeit  auch  mit  dem  Ruhezustand  zusammenhänge, 
wie  Strato  (jl  fiäXkov  iaxiv  6  xQovoq  agid-fibg  rov  iv  xivrfast  ngoxHQOv 
xal  v<nsQov  ri  rov  iv  rjQSfila;  Simpl.  187)  und  Sbxtus  Empiricus 
(Phys.  176)  dem  Abistotbles  gegenüber  betonten,  hat  wohl  auch 
Aristoteles  in  Betracht  gezogen.  Wollte  er  doch  dessen  Möglichkeit 
durch  seine  Definition  erklärt  wissen,  wonach  Zeit  nicht  identisch  mit 
der  Bewegung,  sondern  als  ihre  Zahl,  nur  nad'og  xi  rj  k'Sig  trig  xivrjascag, 
folglich  selbst  Unbewegliches  sei  (IV,  cap.  12,  14).  Die  Bewegung 
gegenüber  dem  Ruhezustande  als  Zeitquelle  bevorzugt   zu  haben,    ist 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.         59 

ein  Beweis  seines  Vorgefühles  jener  (von  Stbato  und  gax  von  Da- 
HAscius  [jM«AAov(!)  riQBfilaq  rpteQ  xivijaefoq  6  ;f()6voe.  Simpl.  184] 
nehst  seinem  Verteidiger  Simpliciüs  augenscheinlich  verkannten)  That- 
sache,  dafs  Zeit  auf  das  Ruhende  vom  Beweglichen  übertragen  werde, 
folglich  mit  ersterem  weniger  innig,  wenigstens  nicht  ursprünglich 
zusammenhänge,  —  eine  Ansicht,  die  bereits  dem  PLATO-PLOTra'schen 
Ausspruche,  wonach  Zeit  dem  Vergehen  und  Entstehen,  und  nimmer 
der  unzeitlichen  aidiog  ovala  angehöre,  zu  Grunde  zu  liegen  scheint, 
und  von  Hümb  zuerst  in  exakter  Form  (Zeitvorstellung  könne  niemals 
durch  Anschauung  des  ruhig  Unveränderlichen  entstehen,  S.  84)  aus- 
gedrückt wurde. 

HoBBEs'  nach  Baumann  „sehr  unfertige"  und  obendrein  zirkel- 
hafte Definition,  wonach  Zeit  ein  „phantasma  motus"  sei  „quatenus 
in  motu  imaginamur  prius  et  posterius  sive  successionem"  (cap.  VII,  3), 
kettet  die  Zeitvorstellung  gleichfalls  zu  straff  an  die  Bewegung.  (Er 
sagt  sogar:  „alio  modo  [i.  e.  quam  ex  motu]  tempus  nuUum  apparet".) 
Kants  hierauf  bezügliche  Äufserungen  s.  u.  Die  GüYAu'sche  (S.  31  u.  a.) 
Ansicht,  wo  die  absichtliche  Eigenbewegung  des  auffassenden  Subjekts 
für  die  Zeitkonstruktion  herangezogen  wird  („c'est  l'intention  [37 :  qui 
aboutit  toujours  .  .  .  .  ä  un  mouvement]  qui  engendre  ä  la  fois  les 
notions  de  l'espace  et  du  temps"),  mag  wohl  dem  faktischen  Sachverhalte 
näher  kommen,  als  die  obigen  Bewegungs-Theoreme,  benötigt  jedoch 
der  wohl  schwerlich  beizubringenden  Ergänzungs-Erklärung,  wodurch 
und  weshalb  die  ursprünglich  nur  eigenen  Leistungen  beigelegten 
Zeitprädikate  später  auch  auswärtigen  Darbietungen  zuerkannt,  und 
weshalb  sie  den  letzteren  anfangs  vorenthalten  wurden? 

Anderseits  wurde  behauptet,  wir  besäfsen  an  unserem  Gehörorgan 
einen  speciellen  Sinn  für  Zeitauffassung,  indem  nämlich  „die  genaue 
Anpassung  der  Empfindung  an  den  äufseren  Eindruck  in  Bezug  auf 
den  zeitlichen  Wechsel  desselben"  bei  Gehörsvorstellungen  diese  als 
„das  wesentlichste  Hilfsmittel  der  Zeitanschauung",  wenigstens  „für 
deren  höhere  Ausbildung"  (Wundt,  Ph.  Ps.  II,  S.  42)  erscheinen  lassen. 
HoBwicz  (II,  1.  S.  141)  stützt  seine  ähnliche  Ansicht  auf  die  Taug- 
lichkeit des  Ohres  zur  Klanganalyse,  indem  hierdurch  „die  Entgegen- 
setzung und  wechselseitige  Messung  und  Vergleichung  einer  Gesamt- 
empfindungsreihe  und  mehrerer  Partikularreihen"  ermöglicht  ist,  „wo- 
durch erst  die  Möglichkeit  der  Zeitauffassung  uns  gegeben  zu  sein 
scheint".  Anderseits  wird  hier  auch  der  Umstand  herangezogen,  dafs 
das  Ohr  „in  kontinuierlicher  Folge  fortwährend  Klänge  und  Geräusche 
hört"  (auch  wenn  dasselbe  durch  äufsere  Reize  nicht  erregt  wird,  .  .  . 
sollen  wir,  sobald  wir  unsere  Aufmerksamkeit  auf  das  Ohr  richten, 
fortwährend  ein  ganz  leises  Klingen  und  Bauschen  vernehmen.  Ihm 
habe  in  seinen  Knabenjahren  dieses  subjektive  Geräusch  stets  lebhaft 
die  Vorstellung  des  dahinfliefsenden  Zeitstromes  erweckt).  Bezüglich 
der  letzterwähnten  Kontinuierlichkeit  des  Eindrucks  hat  nun  auch 
HoBwicz  zugegeben,  dafs  sie  für  die  Zeitvorstellung  minder  wesentlich 
ist,  und  anderseits  bei  dem  Auge  (noch  mehr  vielleicht  bei  dem  Tast- 


gO  Eugen  Posch: 

sinne  der  Haut?)  ebenso  vorhanden  sei.  Betreffs  seiner  ersten  Auf- 
stellung hingegen  wollten  wir  bemerken,  dafs  jene  Vergleichung  simul- 
taner mit  successiven  Empfindungsreihen  —  was  wohl  zunächst  für 
die  Gleichzeitigkeitsvorstellung  nötig  ist —  entschieden  leichter  durch 
Gesichtseindrticke  vermittelt  wird  (Gegenstandsgruppen  oder  simultane 
Ereigniskomplexe,  wo  stets  auch  isolierte  Veränderungsreihen  mit  unter- 
laufen, welche  die  Blicke  auf  sich  ziehen).  Die  Analysierkraft  des  Ohres 
ist  jedenfalls  beträchtlicher,  als  die  der  niederen  Sinne,  aber  bei  weitem 
nicht  so  grofs,  wie  die  des  Raum-überblickenden  Auges. 

Denn  auch  dem  geübtesten  Musiker  ist  es  nicht  ebenso  leicht, 
die  einzelnen  Klänge  eines  Accordes  als  solche  zu  erfassen,  wie  die 
Gegenstände  seiner  Umgebung  als  Gruppenbestandteile  (nicht  ver- 
wachsen!) zu  erkennen.  —  Schliefslich,  falls  in  der  WuNDi'schen  Auf- 
stellung unter  „Anpassung"  der  Umstand  gemeint  ist,  dafs  sich  dem 
Gehörorgan  schon  geringe  Geschwindigkeitsunterschiede  im  objektiven 
Schwingungshergang  als  Empfindungs-  (=»  Tonhöhen-)  Änderung  kund- 
geben: so  sehe  ich  nicht  ein,  inwiefern  ein  Organ,  bei  welchem  solches 
stattfindet,  deshalb  für  ein  specifisches  Zeitorgan  könne  qualifiziert 
werden,  zumal  ja  die  Unterschiedsempfänglichkeit  hier  keineswegs  als 
Wahrnehmung  des  in  zwei  Schwingungsprozessen  enthaltenen  zeitlichen 
Unterschiedes  selber  auszudeuten  ist,  ja  sogar  der  objektive  Sachverhalt 
(die  Beschleunigung  und  Verlangsamung  der  Schwingungen)  sich  nicht 
als  gröfserer  oder  geringerer  Zeitverbrauch  (für  die  Einzelschwingung) 
in  der  Empfindung  abbildet.  Wo  jedem  geringen  „zeitlichen"  Wechsel 
(jeder  Wechsel  ist  zeitlich!)  im  objektiven  Hergang  das  Sinnesorgan 
durch  parallele  qualitative  Empfindungsabstufungen  nachkommt,  da 
liegt  eben  ein  überhaupt  fein  empfindliches  Organ  vor,  aber  noch  kein 
Zeitorgan,  aufser  es  wäre  die  höhere  Qualitätsempfindlichkeit  auch  ein 
der  Anknüpfung  zeitlicher  Vorstellungen  günstiger  Umstand  —  was 
jedoch  erst  nachzuweisen  wäre.  — 

Die  Mangelhaftigkeit  der  angeführten  Begründungen 
bedeutet  allerdings  noch  keine  ünhaltbarkeit  der  These 
selbst.  Ich  finde  jedoch,  dafs  den  Gründen,  welche  für 
eine  Vorzugsstellung  des  Gehörorgans  in  Punkte  Zeitvor- 
stellung angefiihrt  werden  können,  sehr  gewichtige  Gegen- 
gründe die  Wage  halten.  Das  Gehörorgan  ist  ein  Zeit- 
organ: 1.  Weil  der  Fortfall  (wenigstens  die  entschiedene 
Geringfügigkeit)  von  räumlichen  Nebengedanken  bei  allen 
(vergl.  GuYAU  S.  74)  und  der  Mangel  ästhetischer^)  oder 
praktischer   Bedeutsamkeit^)   bei  so  vielen   Schallreihen 


^)  Wohlgefällige  Musik  und  \  lassen    keine    Zeitgedanjcen    auf- 

2)  verständliche   (zumal  in-  /  kommen,wohl  aber  das  Rauschen  des 

teressante)  Rede  i  Baches  oder  Klappern  der  Mühle. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.         61 

die  Hinwendung  der  Aufinerksamkeit  auf  deren  zeitlichen 
Verlauf  begünstigen  mufs.  2.  Weil  Gehörseindrücke  sich 
zur  Darstellung,  folglich  auch  zur  Einübung  kleiner  Zeit- 
räume, wie  solches  für  die  von  Wundt  erwähnte  „weitere 
Ausbildung"  nötig  ist,  besonders  eignen;  (wohl  nur  deshalb, 
weil  Vorrichtungen  zur  Bewerkstelligung  rascher  Empfin- 
dungsfolgen nur  im  Gehörsgebiete  fertig  und  leicht  zugäng- 
lich vorliegen,  —  eben  weil  dieselben  zu  anderen  als  zu 
wissenschaftlichen  Versuchszwecken  erfunden  wurden.  Es 
sind  unsere  Musikinstrumente).  Anderseits  ist  das  Gehör- 
organ kein  specifisches  Zeitorgan:  weil  in  anderen  Siones- 
gebieten  (besonders  in  dem  der  Objekterfassuug  dienlichen 
Gesichts-  und  Tastraum  e)  eine  lebhaftere  Gefuhlsbetonung 
stattfindet,  wie  denn  überhaupt  der  gröfste  Teil  unseres 
Gefühlslebens  an  die  Gesamtheit  des  Gegenständlichen  ge- 
knüpft ist,  woraus  folgt,  dafs  eine  scharfe  Entgegenstellung 
von  wirklich  Empfundenem  und  blofs  Erinnerlichem  —  be- 
kanntlich die  Grundbedingung  alles  zeitlichen  Vorstellens  — 
im  Gebiete  der  übrigen  Sinne  leichter  stattfindet.  Auch 
den  leidenschaftlichsten  Musiker  berührt  der  Verlust  seines 
Sohnes  tiefer,  wird  ihn  folglich  sicherer  zu  Vergänglichkeits-, 
somit  Zeitgedanken  hinleiten,  als  das  Verschwundensein 
einer  schönen  Melodie. 

Diese  Betrachtungen  (ihrem  Grundgedanken  nach 
verwandt  mit  den  GuYAu'schen,  S.  74  ff.)  bezwecken  eine 
Eechtfertigung  unseres  Verfahrens,  dafs  wir  jene  ersten 
Eindrücke,  an  die  sich  die  Keime  einer  Zeitvorstellung 
ansetzen,  und  welche,  wie  betont,  nicht  unbedingt  Be- 
wegungsbilder sein  müssen,  auch  nicht  ausgesprochen  Ge- 
hörseindrücke sein  liefsen,  wie  dies  etwa  Anhänger  der 
obigen  Ansichten  erwarteten. 

Der  Besitz  eines  Andenkens  an  Gewesenes  drängt 
zunächst  und  jedenfalls  schon  vor  Entfaltung  perfektiver 
Zeitbezeichnungen,  wie  „einst",  „ehemals"  etc.,  oder  vollends 
des  abstrakten  Begriffs  „die  Zeit"  zur  Bildung  eines  Ver- 


62  Eugen  Posch: 

gangenheitsurteils  (Typus  A  fuit),  in  welchem  eine 
Prädikativform  hervortritt,  die  in  ihrer  Verschiedenheit 
von  der  präsentialen  einesteils  klare  Unterscheidung  des 
Vergangenen  vom  Gegenwärtigen  (wohl  hauptsächlich  auf 
Grund  einer  anders  gearteten  Gefuhlsbetonung  bei  dem 
wirklich  Empfundenen  im  Vergleiche  zu  dessen  noch  so 
lebhafter  Vorstellung),  anderseits  aber,  bei  ihrem  keineswegs 
blofs  leugnenden  —  ein  Vorhandensein  leugnenden  — 
Sinne,  ein  Hinneigen  zu  jenem  Fortbestehungsglauben 
seitens  der  sprachbildenden  Menschheit  erkennen  läM. 
Die  Urform  des  Perfekts  im  Indogermanischen,  das  re- 
duplizierte Verbum,^)   ist  gleichzeitig  Intensivum,  und  als 

^)  Alle  Bildungen  aufser  dem  reduplizierten  Verbum,  wie  Aoriste 
und  Imperfekte,  entpuppen  sich  als  mehr  oder  weniger  ungerecht- 
fertigte, wenigstens  nicht  ursprüngliche  Perfektbezeichnungen,  da  ihre 
anscheinend  wichtigsten  Bestandteile  ganz  bedeutungslose  oder  doch 
zur  Deckung  des  Ferfektiysinnes  ungeeignete  Partikel  sind.  So  kann 
vor  allem  jene  erweiterte  Stammform  von  höchst  wahrscheinlich 
frequentativer  Urbedeutung,  wie  sie  bei  Bildung  der  Imperfekte  (sanskr. : 
alimpam,  lat.:  noscebam  Ton  LIP,  N0-)  im  Gegensatz  zu  der  der 
II.  Aoriste  (griech.:  eXaiov,  lat.:  scidi,  fidi)  zur  Verwendung  kommt, 
ebensowenig  als  ursprüngliche  Yergangenheitsbezeichnung  gelten,  wie 
die  rein  personale  Suffixe  enthaltenden  Endungen  dieser  Formen  oder 
vollends  das  lateinische  b,  welches  (nach  Bopp  §  526  und  Schleicher 
§  296)  dem  Hilfszeitworte  fuo  (ursprünglich  rein  qualitativ:  „wohnen, 
bleiben")  entstammt,  nach  andern  jedoch  ein  blofses  Hiatusfüllsel  ist. 
Ähnlich  ist  das  s  des  sogenannten  I.  Aorists  (griech.:  eösi^a,  lat.:  rexi, 
dixi)  nichts  als  ein  Überbleibsel  des  Verbum  substantivum  as  (eines 
Zeitwortes  von  ebenfalls  ganz  konkret  qualitativer  Urbedeutung: 
„wohnen,  bleiben,  sich  aufhalten"),  dem  somit  die  Bolle  eines  Perfektiv- 
Exponenten  nur  aufgedrungen  ist.  Dasselbe  gilt  (laut  Bopp)  vom  x 
des  Perfektums  (ßeßovXevxa) ;  nach  Pott  ist  es  eine  rein  physiologische 
Aussprachshilfe  eventuell  aus  ^x^  entstanden,  die  ganze  Form  ßeßovXsvxa 
somit  in  letzterem  Falle  den  deutschen  Perfektsausdrücken  mittelst 
haben  gleichwertig.  Dafs  das  t  der  deutschen  schwachen  Zeitwörter 
durch  Umschreibung  eines  Nomen  verbale  mittelst  thun  (suchte  ^  got.: 
sokida)  entstand,  ist  bekannt.  Ähnliche  Verwertungen  der  Zeitwörter 
kar  (machen),  as,  bhü  (sein)  im  Sanskr.:  corayam-cakä,ra«=  cora- 
yam-äsa  »  corayam-babhüva  «»  er  machte  Stehlung  =»  war  stehlen 
(Bopp  §  619),  sowie  des  xld-rifii  in  Aoristen  auf  -^v  und  -j^v  im 
Griechischen  (§  630 — 631).  —  Was  die  anscheinend  bedeutungsvollen 
Endungen  auf«  (lat.  i:  cucurri)  anbelangt,  so  sind  selbe  für  bloüse 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.         63 

solches  orsprönglich  jedenfalls  eine  auf  das  Quäle  und 
nicht  auf  Zeitliches  gerichtete  Bezeichnung  für  eine  gewisse 
Klasse  vorhanden  gedachter  Sinneseindr&cke,  diejenigen 
nämlich,  die  sich  durch  kurzes,  erschütterndes,  unerfafs- 
bares,  nachdrucksvolles  Auftreten  bemerkbar  machen,  d.  h. 
in  mehr  oder  weniger  erschreckender  Weise  auf  uns 
einwirken.  Eine  solche  Ausdruckswahl  nun  scheint  mir 
dahin  zu  deuten,  dafs  das  vergangene  Ereignis  mit  dem 
danach  —  infolge  der  Betonungsänderung  —  eintretenden 
Gefühle  seines  Mangeins,  ebenso  wie  bei  dem  unmittelbaren 
Anblicke  der  „intensiven"  Geschehnisse,  in  einen  Komplex 
zusammengerafft,    folglich    im    Sinne    eines    „intensiven" 

Bindevokale  zu  betrachten,  ebenso  wie  das  y  der  Stämme  auf  a  und  i 
(amayi,  docui),  von  hier  aus  auch  auf  andere  (oolui)  übertragen. 

Das  charakteristische  -siv  (lat.:  -er am)  des  Plusquamperfekts 
(einer  im  Sanskrit  noch  fehlenden  Zeitform)  ist  sichtlich  aus  dem  ein- 
fachen Verbum  substantiyum  elfil  (ero)  hervorgegangen. 

Nach  alledem  bleibt  nur  das  Augment  (i-),  die  Redupli- 
kation und  der  an  deutschen  starken  Zeitwörtern,  wie  an  griechischen 
auftretende  Lautwechsel  auf  seinen  ursprünglichen  Bedeutungswert 
zu  prüfen.  Wäre  das  Augment  nichts  als  ein  a-privativum,  ein  blofser 
„Ausdruck  der  Verneinung  der  Gegenwart",  der  Perfektivsinn  in 
a-diksham  somit  blofs  durch  „ich  spreche  nicht"  ausgedrückt  (Bopp 
§  537,  auch  von  Volkmann,  S.  18,  adoptiert):  so  müTste  die  von  uns  be- 
hauptete Gleichwertigkeit  des  Vergangenen  mit  dem  Nichtseienden 
schon  jener  sprachbildenden  Urmenschheit  eingeleuchtet  haben,  d.  h. 
der  positive  Begriff  der  Vergangenheit  als  eines  „in  eigentümlicher 
Weise  Seienden**  erst  später  entstanden  sein,  was  mir  unwahrscheinlich 
klingt.  Ebenso  die  andere  Vermutung  Bopps  (§  ö40),  das  Augment 
wäre  ein  auf  Entferntes  hindeutendes  Fürwort  (der  Sinn  „ich  sprach" 
also  ursprünglich  =  ich  spreche  dort,  in  der  Entfernung),  indem  dieses 
die  Annahme  erheischte,  es  wären  räumliche  Vorstellungen  auf  Ver- 
gangenes schon  gleich  anfangs,  von  Hause  aus  tibertragen  worden. 
Die  Wahrscheinlichkeit  einer  nicht  über  Bedarf  produzierten,  also 
möglichst  geringen  Anzahl  ursprünglicher  Perfekt-Bezeichnungsmethoden 
lenkt  uns  zu  Buttmanns  auch  von  Bopp  (§  541)  nicht  gänzlich  abge- 
lehnter Ansicht  hin,  wonach  das  Augment  nichts  als  eine  verkümmerte 
Reduplikationssilbe  sei.  — 

Die  nunmehr  übrig  bleibenden  zwei  Methoden  zum  Ausdrucke 
der  Vergangenheit  sind  ebenfalls  gleichwertig,  indem  die  Redupli- 
kation, gleich  der  „dynamischen"  (Pott),  d.  h.  nicht  aus  blofser 
Kontraktion  reduplizierter  Worte  (hielt  pro  haihalt,  egi  pro  agagi) 


64  Eugen  Posch: 

Präsens  gedacht  wurde  und  die  ursprüngliche  Bedeutung 
des  Perfektivurteils  A<B^  folgende  sei:  „Zum  Subjekte  A 
gehört  ein  Prädikat  B,  kein  „gewöhnliches",  sondern  von 
der  Art  intensiver  B's  (=  B^),  die  sich  durch  Unfafsbarkeit 
auszeichnen.  Das  als  vergangen  zu  bezeichnende  B  ist, 
hat  ein  Sein,  aber  von  besonderer  Art,  ähnlich  dem  der 
flüchtigen  Intensivhandlungen."  ^) 

Es  ist  zu  bemerken,  dafs  unser  Nichtsein  des  Ver- 
gangenen nicht  eine  Gleichstellung  desselben  mit  einem  nie- 
mals gewesenen  Phantasieinhalte  bedeutet.  Phantasmen 
lassen  sich  als  Fälschung,  Verzerrung  meines  aus  der  Er- 
fahrung erworbenen  Erinnerungskomplexes  auffassen.  Sind 
doch  die  Baustücke  jener  Erdichtungen  lauter  Erinnerungs- 
vorstellungen, folglich  einzeln  zu  dem  Vergangenheitstitel 
berechtigt.  Hieraus  wird  erklärlich,  warum  derlei  Ver- 
zerrungen und  nur  solchen  gegenüber  ein  abwehrendes, 
d.  h.  das  negative  Urteil  in  Anwendung  kommt;  wohin- 
gegen dort,  wo  es  sich  um  blofse  Aufsammlung  von  Er- 
innerungsvorstellungen handelt,  eine  positive  Ausdrucksform 
(das  Vergangenheitsurteil)  benützt  wird. 

hervorgegangenen  Stammlautahänderung  „blofs  eine  Steigerung 
des  Begriffs  bezweckt,  der  Wurzel  einen  Nachdruck  giebt  ....  und 
das  Perfekt  lautlich  und  auch  geistig  mit  sanskr.  Intensivum  verwandt 
ist*'  (Bopp  §  515). 

Jene  oben  berührte  metaphorische  Bezeichnungsweise  der  Ver- 
gangenheit durch  besitzanzeigendes  haben  im  Deutschen  und  ander- 
wärtig,  auch  im  Sanskr.  und  Chinesischen  (ich  habe  geschrieben  =*  ich 
besitze  [kann  vorweisen,  folglich  als  Ganzes  tiberblicken]  Geschriebenes) 
kommt  mir  viel  raffinierter  vor,  als  daTs  ich  sie  vor  einer  vollen  Aus- 
bildung von  Zeitvorstellungen  entstanden  denken  könnte. 

^)  Diese  Schilderung  dehnt  sich  auf  die  chinesischen  Perfekte 
(uo  —  hio  —  kuo  =  ich  —  lernen  —  flieht,  Bazin  S  .44—46)  nicht  aus,  für 
welche  eben  der  Fortfall  einer  Zusammenfügung  der  prädikativen 
Handlung  mit  ihrem  Vergangensein  charakteristisch  ist,  indem  hier 
(ähnlich  wie  bei  Kindern,  welche  die  Einverschmelzung  bemerkter 
Vorkommnisse  in  Epithetal-Ausdrücke  noch  meiden)  nicht  eine  „ver- 
gangene" oder  „flüchtig  gewordene"  Handlung  als  Einheit  dem  Subjekte 
beigefügt  wird,  sondern  das  Quäle  der  Handlung  und  ihre  Abwesenheit 
(richtiger:  ihr  Verschwinden)  eines  nach  dem  anderen,  wie  diese  Mo 
mente  zum  Bewufstsein  kommen,  hübsch  gemächlich  ausgedrückt  werden. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.         65 

Der  einzige  Unterschied  zwischen  Vergangenheits- 
nnd  Gegenwartsurteil  besteht  in  der  bei  ersterem  hinzu- 
tretenden Apperception  des  Mangels,  einem  Mangel- 
gefühle, welches  auch  als  Bezeichnungs-Gegenstand 
für  den  Perfektiv-Exponenten  als  soi-disant  Bezeichnungs- 
mittel betrachtet  werden  kann  und  sich  hierzu  gewifs 
besser  eignet,  als  eventuell  das  —  bekanntlich  nicht  vor- 
handene —  Vergangene  selber  oder  dessen  unerfafsbares 
Andenken.^)  Dieses  Mangelgefühl  ist  sicherlich  um  so 
intensiver,  je  entschiedener  betont,  d.  h.  angenehm  oder 
unangenehm  der  gegenwärtige  Sinneseindruck  B  war,  — 
ein  Sachverhalt,  aus  welchem  unter  anderen  Waitz  (S.  589), 
Volkmann  (S.  14)  und  Guyau  (S.  40,  47)  die  Wichtigkeit 
gefühlsbetonter  Sinneseindrücke  für  Entstehung  des  Ver- 
gangenheitsbegriffs einsahen. 


^)  Die  irrtümliche  Ansicht,  als  könnte  die  Seele  das  ihr  inne- 
wohnende Andenken  —  welches  doch  nur  als  verborgene  Kraft  wirkt 
und  sie  zur  Hinzufügung  eines  Nichtvorhandenen  an  Vorhandenes  be- 
fähigt —  sich  klar  entgegenstellen  und  darüber  Betrachtungen  machen, 
diese  Ansicht,  sage  ich,  scheint  jener  Verwunderung  Taine's  zu  Grunde 
zu  liegen,  warum  die  Seele  jenes  in  ihr  doch  gegenwärtige  Abbild 
nicht  für  ein  solches,  nämlich  ein  Gedankenprodukt,  sondern  für  einen 
vergangenen  Eindruck  ansieht.  („II  n'y  a  rien  en  nous,  que  l'^cho 
present  d'une  impression  distante;  pourtant,  que  nous  afhrmons,  ce 
n'est  pas  P^cho,  c'est  Pimpression  comme  distante.  II  est  une  Illusion 
en  ce  que  Pimage  actuelle  ...  est  prise  non  pour  une  image  actuelle, 
mais  pour  une  Sensation  pass^e  et  qu'ainsi  eile  parait  autre  chose 
qu'elle  n'est."  —  S.  49.)  Eine  „hallucination"  ....  eine  „Illusion,  qui 
aboutit  ä  une  connaissance"  (S.  16)  würde  bei  Perfektivurteilen  nur 
dann  vorliegen,  wenn  dieselben  jenes  Andenken  selbst  und  nicht  viel- 
mehr den  hierdurch  vergegenwärtigten  Eindruck  für  vergangen  erklärten. 

Bei  GüTAü  (S.  53),  wo  sich  nebst  anderen  mehr  geist-  als  lehr- 
reichen Vergleichungen  auch  die  SPENCER'sche  Analogie  von  der  Baum- 
perspektive wiederfindet,  ist  die  uns  hier  vorliegende  Frage,  auf  welche 
Weise  aus  der  Erinnerungsvorstellung  das  Zeitbewulstsein  hervorgehe, 
durch  die  wohl  etwas  zu  beiläufige  Bemerkung  erledigt:  das  Zeit- 
bewufetsein  („la  perspective  du  temps")  entstehe  1.  durch  die  fühlbare 
geringere  Intensität  der  Erinnerungsvorstellung,  2.  durch  die  Leich- 
tigkeit, mit  welcher  dieselbe  in  das  Bewufstsein  zu  treten  vermag, 
VierteljahrsBchiift  f.  wisseuscliaftL  FtLilosophie.    XXIII.  l.  5 


ßg  Eugen  Posch: 

Aus  dem  Umstände,  dafs  sich  das  Perfektum,  ebenso 
wie  das  Futurum,  ähnlich  dem  heutzutage  abstrakten  Sinne 
ursprünglich  konkreter  Ausdrücke,  als  blofse  Nebenbedeutung 
einer  Verbalform  (des  Intensivums)  von  rein  qualitativer 
Urbedeutung  vorfindet,  indem  nämlich  das  frühzeitige  Auf- 
treten eines  Intensivums  keineswegs  als  Zeitgefühl  für  Ein- 
druckskürzen ausgedeutet  zu  werden  braucht,  sondern  als 
Bezeichnung  der  oberwähnten  rein  qualitativen  Eigen- 
schaften momentaner  Begebnisse  aufgefafst  werden  kann: 
aus  diesem  Umstände,  behaupte  ich,  geht  hervor,  dafs  die 
zwei  wichtigsten  Teile  der  Zeit-„Linie",  das  Vergangene 
und  Zukünftige,  sich  dem  menschlichen  Geiste  ursprünglich 
nicht  als  benennungsbedürftiges  Objektivum  (Anschauung, 
Form,  Linie  oder  Flufs)  darstellen,  und  femer,  dafs  die 
Annahme  einer  voll  ausgebildeten  (d.  h.  mit  den  Neben- 
vorstellungen   des   Zurückgehens,    der   Unwiederbringlich- 


3.  durch  die  Verbundenheit  („lien")   derselben  mit   noch   älteren  Vor- 
stellungen. 

Eine  vorhergängige  Stelle  (S.  22  ff.),  wo  ein  Gewahrwerden  von 
qualitativen  und  graduellen  Unterschieden  und  Ähnlichkeiten  am  Ge- 
gebenen beanspnicht  wird,  woraus  sich  eine  „notion  de  dualit^",  weiter 
der  Begriff  der  Zahl  (!)  entwickeln  und  dies  alles  die  „premiere  con- 
dition  de  Pid6e  de  temps^'  abgeben  soll,  ist  wohl  teilweise  richtig, 
enthält  jedoch  zu  weit  hergeholte  —  wohl  zu  einer  ganzen  Menge 
sonstiger  Begriffe  ebenso  notwendige  —  Dinge,  als  dafs  durch  diese 
Zusammenstellung  eine  Aufklärung  über  die  speciellen  Entstehungs- 
bedingungen des  Zeitbegriffes  geboten  würde. 

Das  von  Foüilläe  (S.  XXXI— XXXII)  zu  dem  fraglichen  Behufe 
des  Zeitauffassens  beanspruchte  „sentiment  du  changement'^  (ein  un- 
mittelbares Empfinden  der  in  unserer  Vorstellungswelt  vorgehenden 
Veränderungen)  scheint  mir  durch  eine  (wenn  auch  unbewufst  ver- 
laufende) aperception  du  changement  ersetzbar  zu  sein,  d.  h.  durch 
einen  gedanklichen  Vergleichungsprozefs,  zu  welchem  sich  die  Glieder 
durch  die  bekannte  Erfahrungsthatsache  darbieten,  dafs  nicht  nur  das 
reine  Quäle  einer  Empfindung  (A),  sondern  auch  deren  Grad  und  Ge- 
ftthlsbetonung  ein  Andenken  zu  hinterlassen  vermögen,  welches  bei 
Eintritt  eines  in  letzterer  Hinsicht  anders  gearteten  Seelenzustaudes  (B) 
seitens  der  betroffenen  Person  benützt  werden,  ihr  zum  Merkzeichen 
dienen  kann. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeityorstellung.         67 

keit  etc.  ausgestatteten)  Vergangenheitsvorstellung  zur  Zeit 
der  Entstehung  der  ersten  Perfektivurteile  bei  jener  Ur- 
menscUieit  unnötig  ist;  folglicli,  dals  Zeitvorstellungen 
keineswegs  angeboren  sein  müssen,  sondern  wenigstens 
können  erworben  sein,  —  eine  Ansicht,  die  durch  ihre 
Analogie  mit  anderwärtigen  Vorstellungen  im  höchsten  Grade 
wahrscheinlich  ist,  dem  Volksglauben  an  einzig  kenntnis- 
erzeugende Kraft  der  Erfahrung  gerecht  wird,  vielen  vor- 
kantischen  Erörterungen  (Augustinus,  Locke)  bereits  un- 
ausgesprochen zu  Grunde  lag  und  nach  Kant  in  der  Heb- 
BABT'schen  Schule  ihre  berufensten  Vertreter  fand. 

Angesichts  der  Unmöglichkeit  eines  direkten  Gegen- 
beweises gegen  den  Nativismus  wird  sich  der  Kampf  gegen 
diese,  durch  ihre  mystische  Färbung  von  vornherein  schon 
verdächtige  Weltanschauungsform  auf  den  Nachweis  be- 
schränken müssen,  dafs  ein  ursächliches  Verständnis  des 
Gegebenen  ohne  derartige  geheimnisvolle  Hypothesen  ebenso- 
gut (manchmal  freilich  ebensowenig)  kann  erzielt  werden, 
als  mit  denselben,  folglich,  dafs  jenes  höchst  unbequeme 
Verlassen  des  sicheren  Bodens  der  Erfahrung,  jener  Selbst- 
zwang zur  Vorstellung  eines  ünerfafsbaren,  wie  uns  solches 
diese  Hypothese  zumutet,  zwecklos  und  überflüssig  ist. 
Bezüglich  des  Zeit-Nativismus  und  speciell  gegenüber  der 
apriorischen  Anschauungsform  Kants  hat  diese  ebenso  vor- 
sichtige, wie  radikale  Kampfesweise  u.  a.  Bain  (S.  561) 
befürwortet. 

Kants  Behauptung,  die  Zeit  sei  Anschauung  und  „kein  diskursiver, 
oder  wie  man  ihn  nennt,  allgemeiner  Begriff"  (Kr.  S.  59  —  „idea  tem- 
poris  ,  .  .  non  est  generalis",  M.  P.  S.  100),  welch  letzteres  sie  uns 
erscheint,  gründet  sich  auf  folgende  Momente:  1.  Wo  ein  Begriff  vor- 
liegt, lassen  sich  stets  mehrere,  ihm  gleichnamige  Substrate  vorweisen, 
aus  denen  er  sich  abhob.  Das  Wort  „Zeit"  hat  jedoch  nur  ein  einziges 
Substrat,  insofern  nämlich  die  „verschiedenen  Zeiten  nur  Teile  eben 
derselben  Zeit  sind.  Die  Vorstellung,  die  nur  durch  einen  einzigen 
Gegenstand  gegeben  werden  kann,  ist  aber  Anschauung"  (Ks.,  ib.). 
Hierzu  noch  der  Umstand,  dafs  die  Erscheinungen  in  der  Zeit  befind- 

5* 


68  Eugen  Posch: 

lieh  vorgestellt  werden  und  nicht  ihr  unterstehend,  wie  Individuale» 
dem  Allgemeinen.  —  Wir  antworten:  Die  Suhstrate  des  Begriffe  Zeit 
unterscheiden  sich  von  denen  anderer  Begriffe  nur  durch  den  Umstand^ 
dafs  die  ersteren  nicht  gleichnamig  sind  mit  dem  ihnen  zugehörigen 
Begriffe  (Zeit),  was  bekanntlich  bei  letzteren  (wo  z.  B.  dieser  Tisch 
und  der  Tisch  im  allgemeinen  denselben  Namen  führen)  der  Fall  ist. 
Als  Zeitsubstrate  mufs  man  nämlich  all  die  verschiedenen  Bewegungs- 
prozesse (ein  Laufen,  KoUen,  Springen,  Gehen,  Gleiten,  Fliefsen  etc.) 
gelten  lassen,  aus  welchen  sich  ihre  Grundvorstellung,  die  des  Ver- 
Schwindens  und  Eintretens,  abheben  konnte. 

FoüiLLfeE  (S.  XVni),  dessen  Ausführungen  über  den  begrifflichen 
und  nicht  anschaulichen  Charakter  der  Zeitvorstellung  wir  vollinhaltlich 
beipflichten,  bekämpft  dieses  KAUT'sche  Argument  mit  der  auch  bei 
Volkmann  vertretenen  Annahme,  dafs  dem  Anfänger  stets  mehrere 
von  einander  unabhängige  Zeitreihen  vorschweben,  deren  Absätze  und 
Lücken,  ähnlich  der  Ausfüllungsart  des  blinden  Fleckes  bei  der  Kaom- 
anschauung,  erst  später  übertilncht  werden,  wodurch  dann  die  einheit^ 
liehe  Zeitreihe  entstand.  Der  fernere  Hinweis  (S.  XX f),  dafs  bei  dem 
Begriffe  „Zeit"  eben  der  von  Kant  an  obiger  Stelle  betonte  „einzige 
Gegenstand'*  desselben  fehlt,  indem  nämlich  Zeit  kein  irgend  bemerk- 
barer Gegenstand  sei,  berichtigt  sich  dahin,  dafs  an  bezeichnetem  Orte 
das  Wort  „Gegenstand"  beiläufig  mit  dem  abstrakteren  „Vorwurf" 
gleichbedeutend  ist,  d.  h.  kein  wirkliches  Objekt  gemeint  ist,  —  was 
Kant  ja  auch  anderen  Ortes  lebhaft  betont  hat. 

Die  im  obigen  KANT-Citate  weiter  angeführte  eigentümliche 
Vorstellungsweise  („in  ihr,  nicht  unter  ihr")  mufs  bezüglich  ihres 
Entstehens  erklärt  werden  und  kann  all  den  triftigen  Gründen  für 
begriffliche  Natur  der  Zeit  kein  Gegengewicht  bieten.  „Es  ist  nicht 
berechtigt  —  sagt  Wündt  (Log.  I,  S.  433)  — ,  wenn  Kant  der  Zeit- 
vorstellung die  begriffliche  Natur  abspricht.  Der  Zeitbegriff  unter- 
scheidet sich  von  anderen  Begriffen  nur  dadurch,  dafs  er,  obgleich  zu 
den  allgemeinsten  Begriffen  gehörend,  gleichwohl  nicht  von  abstrakter, 
sondern  von  konkreter  Natur  ist,"  d.  h.  seinen  Substraten  noch  sehr 
ähnlich,  von  denselben  weniger  losgelöst  ist,  als  sonstige  Begriffe  von 
dem  ihrigen  (vergl.  ib.  S.  97  ff.). 

2.  Kant  sagt  fortsetzungsweise:  „es  würde  sich  der  Satz,  dafs 
verschiedene  Zeiten  nicht  zugleich  sein  können,  aus  einem  allgemeinen 
Begriff  nicht  herleiten  lassen.  Der  Satz  ist  synthetisch  und  kann  aus 
Begriffen  allein  nicht  entspringen.  Er  ist  also  in  der  Anschauung 
und  Vorstellung  der  Zeit  unmittelbar  enthalten"  (Kr.  S.  59).  Dies  ist 
meiner  Ansicht  nach  gleichbedeutend  mit  der  viel  lichtvolleren  Stelle 
aus  M.  P.  S.  100:  „Quodnam  .  .  .  temporum  diversorum  sit  prius, 
quodnam  posterius,  nulla  ratione  per  notas  aliquas  intellectui  con- 
ceptibiles  definiri  potest,  nisi  in  circulum  vitiosum  incurrere  velis,  et 
mens  illud  non  discemit,   nisi   per  intuitum  singularem."    Kant  hat 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.         ß9 

hei  „prius'*  und  „posterius"  jene  der  Zeit  zu  Grunde  liegende,  allerdings 
nur  durch  Vorweisung  mitteilhare  Thatsache  eines  Wechseins  der  Ein- 
rücke (unser  Entstehen  und  Verschwinden)  im  Auge,  ohne  sich  der 
seelischen  Bearbeitung  dieser  Thatsache  bewufst  zu  werden,  welche  in 
den  letztcitierten  metaphorischen  Benennungen  niedergelegt  ist,  und  — 
nebst  dem  Umstände,  dals  sich  den  mancherlei  evident  menschlichen 
Zuthaten  in  „Zeit"  nur  jene  einzige  objektive  Grundthatsache  (der 
Eindruckswechsel)  entgegenhalten  läfst  —  eben  für  begriffliche 
(und  wegen  Vorliegens  einer  Grundthatsache  überhaupt:  für  nicht 
chimärische)  Natur  der  Zeit  beweist. 

3.  „  .  .  .  .  Alle  bestimmte  Gröfse  der  Zeit  ist  nur  durch  Ein- 
schränkungen einer  einigen  zum  Grunde  liegenden  Zeit  möglich.  Daher 
mufs  die  ursprüngliche  Vorstellung  Zeit  als  uneingeschränkt  gegeben 
sein.  Wovon  aber  die  Teile  selbst  und  jede  Gröfse  eines  Gegenstandes 
nur  durch  Einschränkung  bestimmt  vorgestellt  werden  können  (vergl.  M.  P. 
S.  106:  non  sicut  leges  rationis  praecipiunt),  da  mufs  die  ganze  Vor- 
stellung nicht  durch  Begriffe  gegeben  sein  (denn  da  gehen  die  Teil- 
vorstellungen vorher),  sondern  es  mufs  ihre  unmittelbare  Anschauung 
zum  Grunde  liegen."  (Kb.  S.  59.  Vergl.  M.P.  S.  106—107:  „nonnisi 
dato  infinito  .  .  .  tempore  .  .  .  tempus  quodlibet  definitum  limitando 
est  assignabile.**)  —  Wäre  die  Zeit  schon  von  Haus  aus  unendlich  und 
die  Hinzufügung  dieses  Prädikats  nicht  vielmehr  eine  schwer  erkämpfte 
Kulturerrungenschaft  (ähnlich  wie  jene  Fähigkeit,  Zeitgröfsen  durch 
Einschränkung  einer  einzigen  zu  Grunde  liegend  gedachten  Zeit  zu 
bestimmen,  oder  die  im  gewöhnlichen  Leben  gangbare  Meterlänge  als 
einen  Meridianteil  zu  betrachten),  so  könnte  diese  ihre  Unendlichkeit 
noch  allenfalls  für  einen  Beweis  in  gewünschter  Eichtung  gelten 
(vergl.  Hebbabt  VI,  S.  115,  307),  und  nach  Wundt  nicht  einmal  dann, 
„weil  es  eine  ,uneingeschränkte  Vorstellung'  nicht  giebt,  und  es  eben 
in  der  Natur  des  Begriffs  liegt,  .  .  .  dafs  er  jeder  gegebenen  Vor- 
stellung die  Forderung  beifügt,  es  müsse  von  ihr  aus  zu  neuen  Vor- 
stellungen übergegangen  werden"  (Log.  I,  S.  433).') 

4.  Man  verdankt  —  laut  Kant  —  der  Miteinbeziehung  von  Zeit 
einen  Zuwachs  an  Kenntnis  —  wie  ein  solcher  durch  blofse  Begriffs- 
analyse niemals,  sondern  nur  durch  Anschauung  erhältlich  ist  — ,  indem 
sie  uns  die  Lösung  der  Frage  ermöglicht,  unter  welchen  Umständen 
demselben  Subjekte  zwei  widersprechende  Prädikate  zukommen  könnten. 
Die  Antwort  lautet:  nacheinander  können  sie  auftreten 2)  (Kb.  S.  59 

')  Die  CiiABKE^sche  Bemerkung,  Zeit  könne  kein  Begriff  („simple 
id^e")  sein,  weil  Begriffe  stets  auf  Endliches  gehen,  die  Zeit  hingegen 
unendlich  sei  („il  n'est  pas  possible  de  former  une  id6e  du  temps,  qui 
aille  au  delä  du  fini."  —  V.  Anm.  ddd),  ist  bei  ihrer  Seich tigkeit  dem 
KAnr'schen  Einwände  keineswegs  ebenbürtig. 

^  Dieser  Gedanke  liegt  der  ScHOPSNHAUBB^schen  Stelle  zu  Grunde : 
„Man  kann  die  Zeit  auch  definieren  als  die  Möglichkeit  entgegen- 
gesetzter  Bestimmungen  am  selben  Dinge  (IIT,  S.  42)." 


70  Eugen  Posch: 

11.  60).  —  Es  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel,  dafs  die  Person, 
welche  die  gestellte  Aufgabe  durch  Austauschung  des  gegenwärtigen 
Prädikats  B  mit  non-B  zu  lösen  unternahm,  ihr  Recht  mit  in  Anschlag 
zog,  das  wohl  verschwundene,  jedoch  „in  der  Vergangenheit  existierende, 
somit  nicht  ignorable!"  B  einem  eventuellen  Vorwurfe  entgegenzuhalten, 
wonach  sie  nur  den  zweiten  Teil  der  Aufgabe  (Beifügung  von  non-B) 
gelöst  hätte.  Sie  mufs  folglich  so  viel  Zeitvorstellung  jedenfalls  erlangt 
haben,  als  zum  Bewurstsein  der  Mitveranschlagbarkeit  eines  Vergangenen 
erforderlich  ist.  Dafs  nun  selbst  dieses  Minimum  kein  blofses  An- 
schauungsprodukt sei,  geht  schon  aus  der  Thatsache  hervor,  dafs  jenes 
Vergangene  hier  als  existierend  genommen,  folglich  mit  einem  keines- 
wegs durch  Anschauung  erlangbaren  Prädikate  belegt  wird. 

Derselbe  Gedanke  Kants  erscheint  in  M.  P.  S.  102  in  der  Form : 
Die  Zeit  habe  Oberherrschaft  über  das  gesamte  Denkvermögen,  indem 
dessen  Grundprinzip  A  ^=s  A  (das  Verbot  des  Widerspruchs)  durch  Hin- 
zunahme eines  Nacheinander  umgangen,  gleichsam  entkräftet  werden 
könne  —  weshalb  es  wohl  unwahrscheinlich  sei,  „ut  quis  unquam 
temporis  conceptum  adhuc  rationis  ope  aliunde  deducat  et  explicet'^ 
Die  behauptete  Obergewalt  der  Zeit  ergäbe  sich  jedoch  aus  Besagtem  nur, 
wenn  ohne  Kenntnis  jenes  Grundprinzips  —  bei  dessen  Aufstellung 
seitens  der  Philosophen  allerdings  zeitliche  Umstände  mit  in  Eechnung 
gezogen  wurden,  d.  h.  Zeitvorstellung  mit  im  Spiele  war  —  überhaupt 
kein  Denken  von  statten  gehen  könnte  (vergl.  Lockb  Band  I,  S.  36  &.). 

5.  Zeit  ist  Anschauung,  weil  „alle  ihre  Verhältnisse  (aufser  der 
Succession)  sich  an  einer  äufseren  Anschauung  (der  Linie)  ausdrücken 
lassen"  (Kr.  S.  60 — 61).  —  Nun  ist  leider  Succession  eben  das  Wesent- 
lichste an  der  Zeit,  und  dafs  gerade  dieses  Verhältnis  in  gefordertem 
Sinne  undarstellbar  bleibt,  beweist  entschieden  gegen  eine  ursprünglich 
anschauliche  Natur  der  Zeitvorstellung.  Lotze  (P.  138)  und  Foüill^e 
(S.  XXV)  haben  vollkommen  recht,  wenn  sie  einen  ursprünglichen 
anschaulichen  Charakter  der  Zeit  eben  deshalb  leugnen,  weil  wir  ihn 
„durch  Bilder  gewonnen  haben,  die  wir  vom  Baume  entlehnten". 

Für  angeboren  erklärte  Kant  die  Zeitvorstellung  nirgends,  be- 
stritt vielmehr  —  wohl  nur  in  M.  P.  —  diese  Ansicht,  als  eine  „philo- 
sophia  pigrorum'^,  noch  ganz  im  Sinne  des  grofsen  Antinativisten  Locke. 
(„Conceptus  temporis  tantummodo  lege  mentis  interna  nititur,  neque 
est  intuitus  quidam  connatus,  adeoque  nonnisi  sensuum  ope  actus  ille 
animi,  sua  sensa  coordinantis,  eliciatur.  S.  102  ....  neque  aliud  hie 
connatum  est,  nisi  lex  animi,  secundum  quam  certa  ratione  sensa  sua 
e  praesentia  objecti  conjungit."  S.  108.)  Doch  verficht  Kant  unter 
Ablehnung  aller  psychologischer  Aufbauversuche  eine  Theorie  (jene 
vom  apriorischen  «=  „fertigen  und  aller  Erfahrung  vorhergängigen  Da- 
Bein^\  ScHOPBMHAusB  I,  S.  37  u.  558  ff.,  auch  III,  S.  71)  der  Zeit, 
welche  unaufhaltsam  zur  Angeborenheitslehre  hinführt,  man  müfste 
denn  annehmen,   Kant  habe  gemeint,   dafs  jene,   aller  „wirklichen 


Ansgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.         71 

Erscheinung  der  Gegenstände  yorhergängige  Anschauung*'  (Prol.  S.  34) 
mit  Anbeginn  des  wissenschaftlichen  Denkens  als  eigentlichen  Erfahrung- 
yerarbeitens  auf  einmal  wie  himmlische  Erleuchtung  in  unsere  Seele 
gefahren  sei. 

Auch  der  nachkantische  Objektivismus,  der  eines  Hbgel, 
Trenoelenbijrg,  Ulbici,  Horwicz  etc.  enthalten  nur  eine  Eichtung  auf 
den  Natiyismus,  jedoch  keine  ausdrückliche  Befürwortung  desselben, 
ebenso  wie  Leibnizens  Bemängelung  (N.  A.:  S.  131)  der  LocKB'schen 
Eonstruktionsweise.  Ausgesprochener  Natiyismus  liegt  jedoch  in  der 
I.  H.  FicHTE'schen  (übrigens  auf  Kant  beruhenden)  Stelle:  „Ein  raum- 
zeitliches und  zugleich  bewufstes  Wesen  kann  gar  nicht  umhin,  auch 
das  Bild  seiner  Baum-Zeitlichkeit  stetig  yor  sich  zu  haben.  Diese 
Bilder  sind  unserem  Bewufstsein  unauflöslich  und  unwiderstehlich  an- 
geheftet." (Psych.  152.)  —  Spencbbs  (§  208)  darwinistisch  unter- 
stützter Überbrückungsyersuch,  die  Zeityorstellung  nur  für  unsere 
Vorfahren  als  erworben,  bei  uns  selbst  jedoch  als  teilweise  angeboren 
erscheinen  zu  lassen,  mufs  als  gescheitert  gelten,  insofern  sich  hier 
als  angeboren  nichts  weiter,  als  eine  gewisse  organische  Verfassung 
(nämlich  gesteigerte  Empfänglichkeit  für  Unterschiede  successiyer  Be- 
rührungsempfindungen oder  auch  Beweglichkeit  der  Glieder)  angeben 
liefs  —  eine  sicherlich  nützliche  Vorbedingung  zum  Entstehen  von 
Zeit-,  sowie  gewifs  auch  von  anderwärtigen  Vorstellungen,  die  jedoch 
selber  augenfällig  nicht  einmal  als  elementarste  Kenntnis  eines  Zeit- 
lichen (Mitbestandteil  einer  namenswerten  Zeitkenntnis),  geschweige 
denn  als  eigentliche  Zeitvorstellung  gelten  kann. 

Dafs  durch  die  Verfassung  unseres  von  den  Ahnen  überkommenen 
Nervensystems  eine  gewisse  nicht  tiberschreitbare  Geschwindigkeits- 
grenze für  auffafsbare  Successionen  mitbestimmt,  also  wohl  angeboren 
ist  —  was  an  anderer  Stelle  (§  339)  erwähnt  wird  — ,  ist  allerdings 
wahr,  jedoch  offenbar  ebensowenig  als  ererbtes  Stück  einer  Zeitkenntnis 
anzusehen. 

* 

Noch  mögen  einige  Schilderungen  der  Entstehungsweise  des  Ver- 
gangenheitsbegriffs erwähnt  werden.  Laut  Waitz  entspringt  das  „Nicht- 
mehr"  durch  ein  Erwarten  der  Fortsetzung  einer  unterbrochenen  an- 
genehmen Empfindungsreihe  (S.  584 — 685),  wobei  bezüglich  der  An- 
wendung des  Perfektivprädikats  auf  tonlose  und  unangenehm  betonte 
Erscheinungen  noch  zu  bemerken  bleibt,  dafs  solche  das  fragliche 
Prädikat  nur  annehmen,  wenn  sie  unserer  Bede  einverflochten  werden, 
also  aus  gewissem  Gesichtspunkte  interessant,  quasi  angenehm  wurden.  — 
Laut  Volkmann  entsteht  der  positive  Begriff  vom  Nichtseienden,  als 
einem  Vergangenen  (der  des  „Nichtmehr"),  durch  ein  Anstreben  der 
entsprechenden  Gedächtnisvorstellung  A  wider  die  thatsächliche  Em- 
pfindung B,  behufs  Bückerlangung  ihres  verlorenen  Lebhaftigkeitsgrades. 
„In  dem  Reflexe,   den  das  Vorstellen  des  A  in  und  auf  sich  selbst 


72  Eugen  Posch: 

erleidet",  liege  ^das  Bewafstwerden  der  Zeit,  als  einer  Qualität  des  A, 
d-  h.  das  Vorstellen  seines  Nichtmehr"  (S.  13).  Überträgt  man  die 
hier  den  Vorstellungen  zugemuteten  Verrichtungen  auf  das  vorstellende 
Subjekt  selber,  wodurch  diese  Schilderung  freilich  an  poetischem  und 
HERBABT'schem  Anfluge,  jedoch  zu  Gunsten  ihres  Belehrungswertes 
etwas  einbüfst,  so  ergiebt  sich  der  immerhin  wertvolle  Grundgedanke : 
alle  Eückerinnerungen  erzeugen  mehr  oder  weniger  Wünsche  nach 
Wiedererlangung  ihres  Gegenstandes.  („Streben"  ist  zu  viel  behauptet, 
auch  schon  weil  der  kontemplative  Charakter  der  Vergangenheitsurteile 
gewahrt  bleiben  mufs.)  Über  die  miteinverflochtene  HEBSABT'sche  An- 
sicht von  der  Intensitätsabstufung  s.  w.  u. 

GüYAu's  Augenmerk  war  mehr  auf  das  Zustandekommen  von 
Successionsreihen,  als  auf  das  des  einzelnen  Vergangenheitsbegriffs 
gerichtet.  Bezüglich  des  letzteren  findet  sich  nebst  allegorisierenden 
Vergleichungen  —  bekanntlich  das  beliebte  Übertünchungsmittel  für 
Lücken  in  der  Erklärung  —  die  etwas  absonderliche  Äufserung,  die 
Vergangenheit  sei  ein  Stück  in  uns  übergegangenen  Baumes  („un 
fragment  de  l'espace  transport6  en  nous",  S.  39),  wohl  weil  sie  stets 
mit  räumlichen  Nebengedanken  ausgestattet  ist. 

Als  pikantes  Gegenstück  zu  den  nüchternen  Anschauungen  der 
Herbartianer  möge  hier  eine  Kundgebung  Schellings  Platz  finden, 
welcher  sich  in  Verfolgung  der  PLOTin'schen  Lehrmeinung  von  der  Zeit 
als  einem  Spiegelbilde  der  Ewigkeit  so  weit  verstiegen  hat,  dafs  er 
geradezu  nach  Spuren  dieser  angeblich  überirdischen  Herkunft  am 
Körper  der  Zeit  selbst  fahndete,  —  Spuren,  welche  er  (Schblling)  in 
Gestalt  der  unschuldigen  Vergangenheit  wähnte  entdeckt  zu  haben. 
Worin  deren  Verwandtschaft  mit  der  Ewigkeit  bestehen  soll,  ist  aus 
folgender  Stelle  ersichtlich:  „Die  Ewigkeit  der  Dinge  reflektiert  sich 
in  der  Zeit  nur  als  Negation  der  Zeit  und  damit  alles  Werdens  — 
als  Vergangenheit,  in  der  alle  Zeit  erloschen  ist"  (Aph.  216).  An 
anderer  Stelle  wieder  heifst  es,  offenbar  wegen  der  räumlich-meta- 
phorischen Bezeichnungsweise  der  Vergangenheit  in  den  Sprachen: 
^Die  Vergangenheit  ist  die  als  Baum  gesetzte  Zeit  oder  das  Eäumliche 
in  der  Zeit  und  wie  die  Zukunft  nur  die  (einseitige)  Synthese  des 
Bejahenden  mit  dem  Bejahten  (??):  so  die  Vergangenheit  nur  die  (ein- 
seitige) Synthese  des  Bejahten  mit  seinem  Bejahenden  (! !)  —  die  ab- 
strakte oder  unlebendige  Ewigkeit"  (Aph.  217.  Vergl.  Hegel  §  259). 
Diese  angebliche  „Räumlichkeit"  der  Vergangenheit  hat  übrigens  ihren 
Entdecker  keineswegs  behindert,  anderen  Orts  (S.  249)  wieder  die 
Gegenwart  für  „das  Räumlichste  in  der  Zeit"  zu  erklären. 

Die  Prinzipien,  die  unserer  Konstruktion  des  Ver- 
gangenlieitsbegriflFes  zu  Grunde  liegen,  sind  nebst  jenen  des 
bereits  betonten  Subjektivismus  folgende:  „Die  Succession 
im  Vorstellen  ist  nicht  eine  vorgestellte  Succession"  (Heb- 


Ausgaogspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.         73 

BABT,  Lehrb.  174.  Ähnlich  VI,  S.  117—118).  „  .  .  .  Der 
Gegensatz  des  Gegenwärtigen  zum  Nichtgegenwärtigen  ver- 
wandelt sich  in  den  von  Empfindung  und  blofser  Vorstellung, 
und  das  Vorstellen,  isiß  diesen  Gegensatz  zu  seinem  Vor- 
gestellten hat,  bringt  die  Succession  zum  Bewufstsein." 
(Volkmann  S.  13.  Erwähnt  auch  bei  Eyffekth  S.  13.) 
„Soll  es  zu  einem  Zeitvorstellen  kommen,  so  mufs  sich 
das  Nichtgegenwärtige  aus  der  negativen  zu  der  positiven 
Form  erheben"  (Volkmann  S.  13).  „Das  Nichtmehr  und  das 
Nochnicht  treffen  Verschiedenheiten  des  Vorstellens  .  .  .; 
alles  Zeitbewufstsein  ist  als  Geflihl  ein  Bewufstwerden  des 
Vorstellens."  (Ib.  S.  17.  Bedarf  der  Ergänzung  „und  der 
objektiven  Seinsverhältnisse  [Sein  und  Vernichtungen]"). 

Ähnlich  Gtjyatt  (S.  12):  Zur  Möglichkeit  einer  Zeit- 
aufifassung  sei  erforderlich:  „Faperception  de  la  represen- 
tation  d'une  Präsentation,"  nämlich  „que  .  .  .  les  repr6sen- 
tations  soient  reconnues  comme  repr6sentations,  non  comme 
sensations  immediates."  In  minder  exakter  Fassung  bereits 
beiHuME,  Kant  und  Stiedenroth:  „Der  Begriif  der  Zeit .  .  . 
entspringt  ganz  allein  von  der  Art  und  Weise,  in  welcher 
die  Eindrücke  der  Seele  erscheinen"  (Hüme  S.  85). 
„[Tempus]  statum  concemit,  imprimis  repraesentativum" 
(Kant  M.  P.  S.  107).  „Die  Zeit  .  .  .  bestimmt  .  .  .  das 
Verhältnis  der  Vorstellungen  in  unserm  inneren  Zustande" 
(Kb.  S.  60).  „Die  Zeit  ...  ist  eine  Vorstellung,  die  an 
der  Form  des  Vorstellens,  abgesehen  von  allem  Inhalte, 
entsteht"  (Stibdenkoth  S.  260).  Ähnliches  ist  auch  in  der 
CoNDiLLAc' sehen  Stelle  enthalten:  „En  passant  .  .  .  par 
deux  maniferes  d'etre,  la  statue  sent  qu'elle  n'est  plus  ce 
qu'eUe  a  6te.  ...  La  connaissance  de  ce  changement  lui 
fait  rapporter  la  premi^re  ä  un  moment  different  de  celui, 
oü  eile  6prouve  la  seconde"  (I,  chap.  2,  §  10),  wozu  zu 
bemerken  ist,  dafs  die  Empfindung  eines  neuen  Eindrucks 
nur  bei  voll  entwickelter  Ich- Vorstellung  des  Empfindenden 
ihm  als  seine   „maniere  d'etre"  vorkäme,  —  femer,  dafs 


74        Eugen  Posch:  Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  etc. 

die  Übertragung  des  blofs  Erinnerlichen  auf  einen  anderen 
Zeitpunkt  noch  keineswegs  auf  der  hier  fraglichen  primi- 
tivsten Entwicklungsstufe  vorkommen  kann.  —  Des  weiteren 
gehört  hierher:  „es  ist  nötig,  dafs  die  beiden  (successiven) 
Vorstellungen  von  A  und  B  die  durchaus  gleichzeitigen 
Objekte  eines  beziehenden  Wissens  sind,  welches  völlig 
unteilbar  sie  in  einem  einzigen  unteilbaren  Akte  zusammen- 
fafst"  (LoTZE  154).  Ähnlich  ist  bei  Wündt  (Log.  I, 
S.  432)  die  Vorstellung  der  Succession  „eine  simultane 
Anschauung,  in  welcher  sich  die  Wahrnehmung  zweier  ge- 
trennter Vorstellungen  .  .  .  mit  dem  Bewufstsein  eines  sie 
trennenden  andersartigen  Inhaltes  verbindet".  Dasselbe 
praegnant  bei  Herbart:  „es  mufs  über  dem  Vorstellen  des 
Zeitlichen  die  Zeit  insofern  nicht  verfliefsen,  wiefern  sie 
soll  vorgestellt  werden"  (Lehrb.  172).  Des  ferneren 
behauptet  Lotze:  den  successiven  Vorstellungen  A  und  B 
„bestimmte  Plätze  (=  der  einen,  als  in  der  Gegenwart, 
der  anderen,  als  in  der  Vergangenheit  befindlich)  anzuweisen, 
kann  die  Seele  .  .  .  blofs  .  .  .  durch  irgendwie  qualitative 
Verschiedenheiten  ihres  Inhaltes  angeleitet  werden,  durch 
Temporalzeichen,  wenn  wir  so  sagen  wollen".  (Ib.  Unser 
„Mangelgefühl",  entsprungen  aus  der  verschiedenartigen 
Geflihlsbetonung  der^  Vorstellung  und  der  Empfindung, 
spielt  thatsächlich  die  Rolle  eines  „Temporalzeichens".) 
Schliefslich  Wundt:  „Wesentlich  für  die  Anschauung  der 
Zeit  ist  .  .  .  einerseits  die  Verbindung  verschiedener  ge- 
trennter Vorstellungen  mittelst  der  Reproduktion  und  ander- 
seits .  dßs  ebenfalls  durch  Reproduktion  vermittelte  Bewufst- 
sein ihrer  Trennung.  In  der  That  lehrt  uns  die  innere 
Wahrnehmung,  dafs  das  Zeitbewufstsein  um  so  lebendiger 
wird,  je  intensiver  die  Reproduktion  thätig  ist,  und  dafs 
es  auf  null  herabgesetzt  sein  kann,  wenn  das  Bewufstsein 
völlig  dem  unmittelbaren  Verlauf  der  Vorstellungen  sich 
hingiebt."     (Log.  I,  S.  432.) 


Die  Frage  des  sittliehen  Fortsehritts  der 

Menschheit/) 

Von  Paul  Barth,  Leipzig. 


Inhalt. 

Optlmismiis  des  18.  Jahrhimderts  In  dieser  Frage.  These  Buckles  darüber. 
Ihr  erster  Teil,  dafs  die  sittUchen  Gnindsätze  unwandelbar  seien,  Ist  falsch. 
Wandelbarkelt  dieser  Grundsätze  in  den  religiösen  nnd  den  philosophischen 
Systemen.  Ihre  Wandelbarkelt  im  Rechte  und  in  der  Sitte  im  Sinne  stetigen 
Fortschritts  zur  Autonomie  des  mündigen  Menschen.  Auch  der  zweite  Teil  der 
These,  dafs  die  sittlichen  Gefühle  sich  nicht  ändern,  ist  unhaltbar.  Die  Sym- 
pathie wächst,  sowohl  die  Mitfreude  als  das  Mitleid.  Das  Gewissen,  bei  Buckle 
nicht  erwähnt,  ist  auch..ein  Gefühl.  Es  ändert  sich  in  Bezug  auf  das,  worauf 
es  reagiert,  wegen  der  Änderung  der  sittlichen  Grundsätze.  Seine  Intensität 
ist  abhängig  vom  Gedeihen  und  vom  Verfallen  einer  socialen  Ordnung,  die  auf 
einem  bestimmten  Wirtschaftssystem  und  einer  bestimmten  gemeinsamen  Welt- 
anschauung beruht  Die  Gegenwart  stellt  einen  absteigenaen  Ast  der  Ent- 
wicklung dar.  Hilfe  ist  von  der  Wissenschaft,  besonders  von  der  Sociologie 
zu  erwai*ten. 


Wenn  wir,  an  der  Neige  des  19.  Jahrhunderts  stehend, 
durch  die  freilich  sehr  äufserliche  Analogie  der  Ziffer  geleitet 
auf  die  letzten  Jahre  des  18.  Jahrhunderts  zurückblicken,  so 
finden  wir  bei  den  deutschen  und  überhaupt  bei  den  europä- 
ischen Dichtem  und  Denkern  einen  jfreudigen  Optimismus,  der 
sich  nur  mittelbar  auf  die  Erwartung  besserer  äufserer  Zu- 
stände, unmittelbar  dagegen  auf  die  Hofl&iung  einer  allge- 
meinen, alles  durchdringenden  Veredlung  der  menschlichen 
Natur  gründet,  einer  Veredlung,  von  der  die  Besserung  der 
äufseren  Zustände  die  unmittelbare  Folge  sein  müfste.    Die 

^)  Eine  erweiterte  akademische  Antrittsvorlesung. 


76  Paul  Barth: 

Jugend  durch  die  Erziehung,  die  Erwachsenen  durch  das  Ideal 
Humanität,  der  Verbindung  christlicher  Sittlichkeit  mit 
antiker  ästhetischer  Bildung  emporheben  zu  können,  war 
die  allgemeine  Zuversicht.  Kant  ruft  aus:^)  „Hinter  der 
Edukation  steckt  das  grofse  Geheimnis  der  Vollkommenheit 
der  menschlichen  Natur.  ...  Es  ist  entzückend  sich  vor- 
zustellen, dafs  die  menschliche  Natur  immer  besser  durch 
Erziehung  werde  entwickelt  werden,  und  dafs  man  diese 
in  eine  Form  bringen  kann,  die  der  Menschheit  angemessen 
ist.  Dies  eröffnet  uns  den  Prospekt  zu  einem  künftigen 
glücklichern  Menschengeschlechte."  Pestalozzis  idealer, 
humaner  Junker  Arner  „zählte  auf  nichts  weniger,  als  auf 
ein  Geschlecht,  das  dem  nächsten,  von  dem  es  abstammt, 
so  ungleich  sein  würde,  als  Tag  und  Nacht  einander  un- 
gleich sind".^) 

Die  Greuel  der  fi*anzösischen  Eevolution  vermochten 
diesen  Optimismus  nicht  zu  entmutigen.  Der  edle  Girondist 
CoNDOECET,^)  durch  die  Mächte  der  Eevolution  von  Ort  zu 
zu  Ort  gehetzt,  in  beständiger  Todesgefahr  schwebend, 
schrieb  auf  dieser  schrecklichen  Flucht  wenige  Tage  vor 
seinem  Selbstmorde,  durch  den  er  sich  der  Guillotine  ent- 
zog: „[die  Menschheit  wird  eine  Stufe  erreichen]  wo  Stumpf- 
sinn und  Elend  nur  Unglücksfölle,  nicht  der  gewohnheits- 
mäfsige  Zustand  eines  Teils  der  Gesellschaft  sind." 

Und  Schiller  folgt  durchaus  der  Stimmung  seiner 
Zeit,  wenn  er  in  den  „Künstlern"  den  Menschen,  der  „an 
des  Jahrhunderts  Neige  steht",  verherrlicht: 

Je  schwächer  wird  des  Schicksals  blinde  Macht, 

Je  höher  streben  seine  Triebe, 

Je  kleiner  wird  er  selbst,  je  gröfser  seine  Liebe. 


^)  Über  Pädagogik,  herausg.  von  Th.  Vogt,  Langensalza  1878,  §  7. 

^  Vergl.  Pestalozzis  ausgewählte  Werke,  herausg.  von  F.  Mann, 
4.  Aufl.,  Langensalza  1891,  II,  S.  187. 

*)  Esquisse  d'un  tableau  historique  des  progr^s  de  l'esprit  humain 
6.  1.  1795,  S.  312.    Zu  vergleichen  auch,  was  unmittelbar  folgt. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  77 

Diese  Stimmung  war  und  ist  in  unserem  Jahrhundert 
nicht  mehr  die  allgemeine.  Zunächst  sah  der  Pessimismus 
ScHOPENHATJEKS  uud  sciuer  Anhänger  überall  Stillstand, 
wo  das  18.  Jahrhundert  stetigen  Fortschritt  erblickt  hatte. 
„Die  wahre  Philosophie  der  Geschichte/'  sagt  Schopen- 
hauer, ^)  „besteht  in  der  Einsicht,  dafs  man,  bei  allen  diesen 
endlosen  Veränderungen  und  ihrem  Wirrwarr,  doch  stets 
hur  dasselbe  gleiche  und  unwandelbare  Wesen  vor  sich  hat, 
welches  heute  dasselbe  treibt,  wie  gestern  und  immerdar.  .  . 
Dies  Identische  und  unter  allem  Wechsel  Beharrende  be« 
steht  in  den  Grundeigenschaften  des  menschlichen  Herzens 
und  Kopfes  —  vielen  schlechten,  wenigen  guten."  Indessen 
blieb  diese  Auffassung  wohl  auf  den  Kreis  der  Jünger 
ScHOPENHAUEBs  beschränkt.  Viel  allgemeineren  Beifall  fand 
eine  andere  Anschauung  vom  Wesen  des  menschlichen  Fort- 
schritts, sowohl  in  ihrer  ursprünglichen  Form  als  auch  iu 
ihren  Entstellungen,  die  Anschauung  Th.  Buckles.  In 
seiner  berühmten  „Geschichte  der  Civilisation  in  England 2)" 
sagt  Buckle,  dafs  es  einen  zweifachen  Fortschritt  gebe, 
einen  sittlichen  und  einen  intellektuellen,  wovon  der  erste 
sich  auf  unsere  Pflichten,  der  zweite  auf  unser  Wissen  be- 
ziehe. In  der  weiteren  Ausführung  des  Gedankens  wird 
der  sittliche  Fortschritt  mit  dem  Fortschritt  der  Civilisation 
identifiziert,  die  Frage  aber  bestimmter  dahin  gestellt,  ob 
dieser  von  den  sittlichen  Gefühlen  oder  von  dem  Wissen 
abhänge;  wenn  das  Gefühl  das  mächtigere  Element  sei, 
würde  der  Fortschritt  den  Gesetzen  des  Gefühls  folgen; 
wenn  aber  das  Wissen,  dann  würde  er  den  Gesetzen  des 
Wissens,  d.  h.  der  Entwicklung  des  Wissens  unterworfen 
sein.  Zum  sittlichen  Gefühle  aber  werden  noch  sittliche 
Grundsätze  hinzugefugt,  und  die  Frage  wird  dahin  ent- 


')  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  II,  Kap.  38. 
^)  Deutsch  von  A.  Rüge,  5.  Aufl.,  Leipzig  und  Heidelberg  1874,. 
I,  1,  S.  148  ff. 


78  Pa^l  Barth: 

schieden,  dafs  beide  seit  Jahrtausenden  unveränderlich  die- 
selben geblieben  seien,  also  nicht  die  Ursache  veränder- 
licher Erscheinungen,  nämlich  der  sehr  verschiedenen  sitt- 
lichen Zustände  der  Völker  gewesen  sein  können.  Es  bleibt 
somit  nur  der  Fortschritt  des  Wissens  als  Ursache  sittlicher 
Veränderungen  übrig.  Zwei  Übel  besonders  werden  hervor- 
gehoben, die  das  Wissen  eingeschränkt  habe,  die  religiöse 
Unduldsamkeit  und  der  Krieg:  beide  bringen  Leiden,  darum 
sind  sie  für  Buckle  unsittlich.  Die  religiöse  Unduldsamkeit 
nennt  er  sogar  eines  der  schwärzesten  Verbrechen.^) 

Immerhin,  so  wie  Buckle  seine  These  ausgesprochen 
hat,  will  sie  nicht  den  Thatsachen  ins  Gesicht  schlagen, 
sondern  sie  nur  anders  als  bisher  erklären.  Früher  erklärte 
man,  meint  er,  jede  Veränderung  der  sittlichen  Zustände 
aus  der  Veränderung  der  Gefühle  und  der  Grundsätze,  also 
einer  inneren  Umwandlung  des  Menschen,  richtig  aber  sei 
es,  sie  aus  den  Veränderungen  des  Wissens,  also  aus  seinem 
Thun  oder  sogar  blofs  einem  Teile  seines  Thuns  abzuleiten. 
Dieses  gebe,  das  ist  der  tiefere  Sinn,  der  hinter  seinen 
Worten  steckt,  neue  Ziele  des  Lebens  und  neue  dahin 
fuhrende  Wege. 

Aber  Buckles  These  ist  vielfach  stark  vergröbert  worden  und 
meist  in  dieser  vergröberten,  entstellten  Form  in  das  grofse  Publikum 
gedrungen.    So  sagt  F.  v.  Hbllwald,^)  unter  dem  Einflüsse  Bücklbs 


1)  A.  a.  0.  S.  156. 

^  Kulturgeschichte  in  ihrer  natürlichen  Entwicklung,  3.  Aufl., 
Stuttgart  1884,  II,  S.  415.  In  der  letzten  Auflage  dieses  Buches  (Leipzig 
1896),  in  der  es  von  mehreren  Verfassern  „neu  bearbeitet"  worden  ist, 
sagt  allerdings  L.  Bochneb  in  dem  Abschnitt  „Die  socialen  Gesetze" 
(Bd.  I,  S.  78):  „Damit  soll  nicht  jener  Ansicht  beigepflichtet  werden, 
welche  die  intellektuellen  Kräfte  gegenüber  den  sogenannten  „mo- 
ralischen" Kräften  des  Menschen  für  die  Fortentwicklung  des  Menschen- 
geschlechts von  tiberwiegender  Bedeutung  hält."  Wie  sich  aber  aus 
den  hierauf  folgenden  Sätzen  ergiebt,  versteht  BOchneb  unter  diesen 
moralischen  sowohl  die  guten  als  auch  die  bösen  Kräfte.  Ob  im  Fort- 
schritte der  Kultur  eine  Veränderung  des  Machtverhältnisses  derselben 
stattfinde,  wird  weder  gefragt  noch  beantwortet. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  79 

aber  gewissermafsen  da&  Kind  mit  dem  Bade  ausschüttend:  „Die 
menschliche  Natur  hat  sich  nicht  gebessert,  die  Sittlichkeit  (soll  wohl 
helTsen :  Unsittlichkeit)  nimmt  nur  andere  Formen  an ;  die  Boheit  allein 
schwindet  mit  wachsendem  Kulturschliff.  Man  schafft  heute  seine 
Gegner  nicht  mehr  wie  Cisab  Bobgia  mit  Gift  und  Dolch  aus  dem 
Wege,  man  tötet  sie  durch  die  Konkurrenz.^  und  noch  deutlicher 
erklärt  der  österreichische  Sociologe  L.  Gomflowicz'):  „Man  vergiTst, 
dafs  diese  Erfindungen  und  Entdeckungen  einzelner,  die  immer  sich 
ereigneten,  das  Wesen  der  Menschheit  nicht  ändern,  die  Menschen 
nicht  bessern.    Diese  bleiben  immer  dieselben." 

Hierzu  kommt  die  Philosophie  Nietzsches,  die  den  starken,  den 
„langen"  Willen  vor  allem  betont,  nicht  den  sittlichen  Willen,  diesen 
sogar  beinahe  mit  dem  schwachen,  unzulänglichen  Willen  identisch 
setzt;  femer  die  sogenannte  materialistische  Geschichtsauffassung,  die 
nur  den  ökonomischen  Trieb  der  Menschheit  für  mächtig,  jeden  anderen 
für  ohnmächtig  oder  für  eine  Folge  des  ökonomischen  Begehrens  hält. 
Wenn  die  Moral  somit,  wie  bei  Nietzsche,  für  einen  Irrtum  der  Ver- 
gangenheit gilt,  oder  ihr,  wie  von  deu  Marxisten,  für  die  Vergaugenheit 
kein  selbständiges  Yerdieust  zugeschrieben  wird,  so  ist  es  kein  Wunder, 
dafs  eine  breite  Strömung  der  öffentlichen  Meinung  und  der  Litteratur 
im  diametralen  Gegensatze  zum  18.  Jahrhundert  dahin  geht,  sie 
gering  zu  schätzen,  dafs  sogar  ein  Philosoph  und  Psycholog,  H.  MOnsteb- 
BEBG,2)  erklärt:  „Wir  wollen  nicht  tugendhaft,  sondern  tüchtig  sein, 
ja  die  Tugendseligkeit  der  urgrofs väterlichen  Generation  berührt  uns 
geradezu  fremdartig." 

Auf  die  Meinungen,  die  den  Wert  der  Sittlichkeit 
herabsetzen,  will  ich  hier  nicht  eingehen.  Ich  will  nur 
die  Lehre  Buckles  von  der  Unwirklichkeit  des  eigentlich 
moralischen  Fortschritts  näher  beleuchten.  Wenn  sie  sich 
als  unhaltbar  erweist,  so  sind  auch  alle  Behauptungen  über 
den  vermeintlichen  Unwert  der  Moral  für  das  Leben  widerlegt. 

Buckles  These  zerfallt  in  zwei  Teile.  Der  erste  Teil 
behauptet,  die  sittlichen  Grundsätze  seien  im  ganzen  Ver- 
laufe der  Geschichte  unverändert  gleich  geblieben;  der 
zweite  behauptet  dasselbe  von  den  sittlichen  Gefühlen. 
Fassen  wir  zunächst  den  ersten  Teil  ins  Auge. 

Als  besonders  beweiskräftig  citiert  Buckle^)  einen 
Satz  des  schottischen  Philosophen  Mackintosh:    „In  der 

1)  Der  Bassenkampfj  Innsbruck  1883,  S.  348. 

8)  Der  Ursprung  der  Sittlichkeit,   Freiburg  i.  B.  1889,   S.  111. 

3)  A.  a.  0.  S.  154. 


80  Paul  Barth: 

Moral  giebt  es  keine  Entdeckungen.  .  .  .  Mehr  als  3000  Jahre 
sind  verflossen,  seit  der  Pentateuch  geschrieben  wurde. 
Und  wer  kann  sagen,  dafs  seit  jener  fernen  Zeit  die  Eegel 
des  Lebens  sich  in  einer  wesentlichen  Hinsicht  verändert 
habe?"  Aber  gerade  dieser  Satz  enthält  einen  Irrtum. 
Seit  dem  Pentateuch  hat  sich  die  Regel  des  Lebens  aller- 
dings verändert.  Das  Christentum  hat  neue  Eegeln  ein- 
geführt. Im  Pentateuch  ist  „der  Nächste"  nur  der  jüdische 
Volksgenosse,^)  im  Neuen  Testamente  jeder  Mensch.  Im 
Pentateuch  gilt  das  strenge  Eecht  der  Vergeltung:  Auge 
um  Auge,  Zahn  um  Zahn,  das  Christentum  sagt:  „Liebet 
eure  Feinde!"  Aber  auch  im  Christentum  selbst  verändern 
sich  die  Grundsätze.  Der  Katholizismus  des  Mittelalters 
gründet  die  Rechtfertigung  vor  Gott  auf  die  guten  Werke, 
der  Protestantismus  auf  den  Glauben,  die  Gesinnung. 

Und  nicht  minder  wandelbar  als  in  den  Religionen 
sind  die  sittlichen  Grundsätze  in  den  philosophischen 
Systemen,  sowohl  die  allgemeineren  als  diejenigen,  die  auf 
das  Einzelne  gehen. 

Plato  und  Aristoteles  rechtfertigen  die  Sklaverei  als  in  dem 
W"esen  gewisser  Völker,  die  zum  Gehorchen  bestimmt  seien,  durch  die 
Natur  begriLndet;  die  Stoiker  verwerfen  sie,  da  alle  Menschen  als 
Teilhaber  an  der  göttlichen  Vernunft  gleich  seien.  Die  Stoiker  hin- 
wiederum gebieten  dem  Weisen,  am  Staatsleben  sich  zu  beteiligen,  die 
Epikureer  warnen  davor  als  vor  einem  nur  bisweilen  notwendigen  Übel, 
die  Philosophie  der  Kirchenväter,  selbst  noch  des  H.  Augustinus,  be- 
trachtet den  Staat  und  die  Teilnahme  am  Staatsleben  als  eine  Sünde.  ^) 
Nach  HoBBEs^)  ist  die  Auflehnung  eines  Volkes  gegen  seine  Regierung 
unter  allen  umständen  unsittlich, 3)  nach  Locke*)  ist  der  Widerstand, 

^)  Vergl,  B.  Stade,  Geschichte  des  Volkes  Israel,  I,  Berlin  1887, 
S.  510. 

^)  Vergl.  H.  VON  Eicken,  Geschichte  und  System  der  mittelalter- 
lichen Weltanschauung,  Stuttgart  1887,  besonders  S.  109  ff.  und  S.  144. 

3)  Vergl.  Elem.  phil.  De  cive,  Kap.  XII,  §  1:  Iniquae  sunt  illae 
quamquam  quotidianae  voces:  Regem  esse  qui  rede  facti.  Et  regihus 
non  esse  öbtemperandum  nisijustapraeceperint  et  aliae  similes.  Auch  §  2. 

*)  Vergl.  An  essay  conceming  the  true  original,  extent  and 
end  of  civil  govemment^  §  232  ff.,  wo  Locke  Bakclays  Ansicht,  es  sei 
blofs  Widerstand  with  reverence  erlaubt,  lächerlich  macht. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  gl 

der  aktive  wie  der  passive,  unter  gewissen  Umständen  erlaubt,  nach 
BoüssEAü^)  in  vielen  Fällen  eine  heilige  Pflicht.  Nach  den  Epikureern 
und  nach  La  Mettrib  ist  es  sittlich,  seinen  durch  vernünftige  Einsicht 
geleiteten  Neigungen  zu  folgen,  nach  Kakt  unsittlich.  Das  Mitleid 
ist  nach  Spinoza^  ein  Fehler,  nach  Mandeville^)  und  nach  Nietzsche 
eine  Schwäche,  nach  Kant  indifferent  oder  unsittlich,  nach  Schopenhaübb 
die  Grundlage  aller  Tugenden. 

Die  von  Buckle  behauptete  ünveränderlichkeit  der 
sittlichen  Grundsätze  ist  also  selbst  da  nicht  vorhanden, 
wo  man  sie  am  ehesten  erwarten  sollte,  in  den  religiösen 
und  den  philosophischen  Systemen,  die  nach  der  reinen, 
zeitlosen  und  darum  keinem  Wandel  unterworfenen  Wahr- 
heit streben. 

Indessen  gegen  sie  könnte  man  einwenden,  dafs  sie 
nicht  zum  eigentlichen  Leben  gehören,  dafs  sie  vielmehr 
konstruierte  Ideale  seien,  die  in  den  Büchern  oder  den 
Köpfen  ihrer  Anhänger  eine  theoretische  Existenz  fuhren, 
ohne  das  reale  Leben  zu  durchdringen,  und  dafs  sie  darum 
dem  Wandel  ebenso  wie  andere  willkürliche  Gebilde  des 
menschlichen  Geistes,  z.  B.  die  Kleidermoden,  unterliegen. 
Dieser  Einwand  ist  unzutreffend.  Denn  auch  die  sittlichen 
Ideen  der  Eeligionen  und  der  philosophischen  Systeme 
haben  Beziehungen  zum  Leben,  sie  wirken  mächtig  ein 
auf  das  Thun  und  Lassen  ihrer  Anhänger.  Aber  es  sei 
zugegeben,  dafs  mächtiger  noch  als  die  philosophischen 
und  religiösen  Grundsätze  diejenigen  wirken,  welche  sich 
im  Rechte  und  in  der  Sitte  ausprägen.  Denn  die  letzteren 
haben  zu  ihrer  Durchfuhrung  den  Zwang  für  sich,  das 
Recht  den  Zwang  der  Staatsgewalt,  die  Sitte  den  Zwang, 
durch  den  die  Geselligkeit  ihre  Normen  durchsetzt,  indem 
sie  ihre  Verletzung  durch  Strafen  ahndet.    Es  wird  sich 

^)  Contrat  social,  Buch  III,  Kap.  16. 

5)  Vergl.  Ethica,  Pars  IV,  Propos.  50. 

8)  An  enquiry  into  the  origin  of  moral  virtue,  S.  27  (enthalten 
in  der  9.  Ausgabe  der  Bienenfabel,  Edinburgh  1756)    „Pity,  tho'  it  is 
the  most  gentle  and  the  least  mischieyous  of  all  our  passions,  is  yet 
as  much  a  fraüty  of  our  nature,  as  anger,  pride  or  fear.'' 
yierteljahrsschrift  f.  wlBsenschafÜ.  Philosophie.    XXin.  l.  6 


82  Paul  Barth: 

also  darum  handeln,  ob  auch  diese  Grundsätze  des  Rechts 
und  der  Sitte  unwandelbar  seien  oder  ob  sie  vielmehr  eine 
Veränderung  und  zwar  einen  Fortschritt  in  einer  bestimmten 
Richtung  erkennen  lassen. 

Aber  freilich  um  von  Fortschritt  überhaupt  sprechen 
zu  können,  müssen  wir  ein  den  verschiedenen  Grundsätzen 
gemeinsames  Moment  haben,  welches  fortschreitet,  welches 
in  ihnen  allen  in  wachsendem  Grade  vorhanden  ist  und 
also  einen  gemeinsamen  MaTsstab  abgeben  kann. 

Wollten  wir  nun  diesen  Mafsstab  aus  den  Zwecken 
nehmen,  die  dem  sittlichen  Leben  gesetzt  werden,  so  fanden 
wir  keinen,  der  von  allen  Moralphilosophen  anerkannt  würde. 
Denn  dem  einen  ist  die  Lust,  dem  andern  die  Glückseligkeit, 
noch  anderen  die  Tugend  oder  das  Wissen  der  höchste 
Zweck,  das  höchste  Gut.  Aber  in  einer  Beziehung  sind 
glücklicherweise  alle  Ethiker  einig,  nämlich  über  die  Art 
und  Weise,  wie  eine  sittliche  Handlung  geschehen  soll, 
dafs  sie  desto  höheren  sittlichen  Wert  habe,  je  mehr  sie 
hervorgehe  aus  dem  innersten  Wesen,  der  innersten  Ge- 
sinnung des  freien  Menschen.  Die  „Autonomie"  des  sitt- 
lichen Menschen  hat  Kant  als  wesentliche  Bedingung  für 
jede  sittliche  Handlung  festgestellt  und  der  Heteronomie, 
d.  h.  dem  blofsen  Gehorsam  gegen  ein  von  aufsen  kommendes 
Gebot,  scharf  entgegengesetzt.  Und  ohne  Ausnahme  wohl 
stimmen  die  Ethiker  in  der  Hochschätzung  der  Autonomie  als 
des  Nervs  der  Sittlichkeit  mit  Kant  überein.  Auch  die 
Utilitarier,  die  weniger  auf  die  Beweggründe  der  Handlungen 
als  auf  ihren  Wert  für  das  letzte  Ziel,  das  möglichst  grofse 
Glück  einer  möglichst  grofsen  Zahl,  sehen,  auch  diese  müssen 
schliefsUch   die  Autonomie   der  Heteronomie   vorziehen.^) 

*)  Vergl.  H.  SiDGwiCK,  The  Methods  of  Ethics,  4.  ed.,  London 
1890,  S.  227 :  Virtue  is  distinguished  by  us  from  other  excellences  by 
the  characteristic  of  voluntariness.  S.  423:  Qualities,  that  are  in  the 
strictest  sense  of  the  tenn,  Virtuous,  are  always  such  as  we  conceive 
capable  of  being  immediately  realized  by  voluntary  effort,  at  least  to 
some  extent. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  83 

Denn  eine  sittliche  Handlung,  die  aus  innerster  Gesinnung 
hervorgeht,  trägt  eine  stärkere  Tendenz  zur  Wiederholung 
in  sich,  als  eine  solche,  die  nur  von  einer  äufseren,  fremden 
Macht  hervorgerufen  wurde.  ^)  Ferner  müssen  die  Utilitarier 
zugeben,  dafs  das  Glück  der  Einzelnen  zum  grofsen  Teile 
seine  Bedingungen  und  seine  Schranken  findet  in  der  Ord- 
nung der  Gesellschaft.  Die  beste  und  dauerhafteste  Ordnung 
aber  wird  zweifellos  diejenige  Gesellschaft  haben,  in  der 
alle  mündigen,  erwachsenen  Menschen  aus  freiem  sittlichen 
Willen  das  Richtige  thun.  Denn  durch  gemeinsamen  guten 
Willen  wird  sie  jeden  etwaigen  Zwiespalt  friedlich  über- 
winden, und  durch  denselben  guten  Willen  aller  wird  sie 
neue  Anpassungen,  die  sich  etwa  durch  neue  Lagen  nötig 
machen,  leicht,  ohne  Störung  ihrer  Ordnung,  zu  finden 
vermögen. 

Man  wird  einwenden,  dafs  eine  solche  Gesellschaft, 
die  nur  durch  die  autonome  Sittlichkeit  aller  ihrer  mündigen 
Mitglieder,  ohne  jeden  äufseren  Zwang  sich  regulierte,  ein 
bisher  unerreichtes  und  —  der  menschlichen  Schwäche 
wegen  —  ewig  unerreichbares  Ideal  darstelle.  Dies  zu- 
gegeben, wird  damit  ihre  Brauchbarkeit  als  Mafsstab  keines- 
wegs aufgehoben.  Auch  das  vollkommene  Wissen  der  Ver- 
gangenheit und  die  vollkommene  Voraussicht  der  Zukunft  — 
in  der  Weise  etwa,  wie  Laplace  beides  auf  Grund  einer 
sogenannten   Weltformel   für  möglich   hielt  —   ist   ganz 


1)  So  sagt  SiDGwiCK  (a.  a.  0.  S.  425):  „In  the  first  place  we 
must  carefuUy  distinguish  between  the  recognition  of  goodness  in 
disposiiions  and  the  recognition  of  rightness  in  conduct."  Und  die 
dispositions,  deren  Gesamtheit  doch  das  ausmacht,  was  wir  Gesinnung 
nennen,  werden  dann  als  wichtiger  denn  einzelne  Handlungen  und 
deren  „felicific  consequences"  anerkannt.  Auch  der  Utilitarier  wird 
nach  SiDGwiCK  solche  felicific  consequences  nicht  erkaufen  wollen  mit 
„the  moral  deterioration  of  the  person,  whose  conscientious  convictions 
were  overbome  by  other  motives"  (S.  427).  Und  S.  429  heifst  es:  „It 
is  perhaps  this  disposition  (far  above  the  average  in  its  general  tendency 
^  promote  happiness),  that  we  admire  rather  than  the  particular  act. 

6* 


84  Paul  Barth: 

gewifs  eine  Unmöglichkeit.^)  Denn  die  Kausalität  des 
menschlichen  Willens,  die  in  jener  Weltfonnel  eingeschlossen 
sein  müfste,  ist  so  sehr  zusammengesetzt  und  zugleich  so 
variabel,  dafs  zur  mathematischen  Fixierung  aller  ihrer 
Faktoren  wohl  ein  übermenschlicher  Geist  notwendig  wäre ; 
aufserdem  würde  durch  die  Kenntnis  der  „Weltformel"  und 
die  daraus  folgende  Voraussicht  der  Zukunft  die  Kausalität 
des  Willens  des  Entdeckers  sofort  eine  andere,  so  dafs  die 
Formel  in  demselben  Augenblick,  wo  sie  gefunden  wäre, 
auf  den  Finder  wenigstens  unanwendbar  würde,  also  keine 
Weltformel  mehr  wäre.  Dennoch  bleibt  es  ein  regulatives 
Ideal  unseres  Denkens,  jedes  Ereignis  nicht  blofs  aus  den 
nächsten,  sondern  aus  allen,  auch  den  letzten  Ursachen 
abzuleiten,  nicht  blofs  die  wirkenden  Prinzipien  qualitativ 
zu  kennen,  sondern  auch  ihren  Anteil  an  jedem  Ereignisse 
quantitativ  zu  bestimmen.  Und  in  demselben  Sinne  ist  die 
Autonomie,  die  Selbständigkeit  des  mündigen  Menschen, 
ein  regulatives  Ideal  des  sittlichen  Lebens.  Eine  Gesell- 
schaft wird  desto  vollkommener  sein,  je  mehr  sie  diese 
Selbständigkeit,  ohne  ihre  Existenz  zu  geßlhrden,  durch- 
geführt hat,  je  mehr  sie  also  auf  den  guten  Willen  ihrer 
Mitglieder,  das  einzige  schlechthin  Gute,  das  es  nach  Kant 
giebt,  gegründet  ist. 

Um  nun  zu  erkennen,  ob  jene  Autonomie  der  Ein- 
zelnen gewachsen  ist,  müssen  wir  eine  längere  historische 
Entwicklungsreihe  überblicken.  Wir  brauchen  uns  dabei 
nicht  innerhalb  eines  einzigen  Volkes  zu  halten,  denn  sitt- 
liche Prinzipien  sind  als  Ideen  nicht  so  an  den  Eaum  und 
die  Zeit  gebunden,  wie  physisches  Leben,  sie  können  von 
einem  untergehenden  Volke  zu  einem  aufstrebenden  über- 
gehen, sie  bilden  darum  nicht  blofs  innerhalb  eines  Volkes, 
sondern  innerhalb  eines  Kulturkreises  ein  Kontinuum.  — 


*)  Vergl.  W.  WuNDT,  Ethik,  2.  Aufl.,  Leipzig  1892,  S.  465. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  85 

Wenn  ich  mich  nun  auf  den  abendländischen  Kultur- 
kreis, der  die  Völker  Süd-,  Mittel-  und  Westeuropas  umfafst, 
beschränke,  so  will  ich  nicht  von  den  Urzuständen  jener 
Völker  ausgehen,  zumal  diese  auch  nur  durch  Hypothese 
und  Analogie  uns  bekannt  sind.  Von  der  gesamten  vor- 
geschichtlichen Zeit,  d.  h.  derjenigen,  die,  der  Schrift  noch 
entbehrend,  nicht  durch  schriftliche  Denkmäler  der  Nachwelt 
von  sich  Kunde  giebt,  ist  nur  die  letzte  Epoche  uns  genauer 
bekannt.  Sie  klingt  durch  Sagen  und  Lieder  in  die  eigent- 
lich geschichtliche  Zeit  hinüber.  Es  ist  die  Zeit  der  nach 
Geschlechtem  organisierten  Gesellschaft,  der  sogenannten 
Gentilverfassung.  Die  Gesellschaft  ist  in  dieser  Epoche 
noch  ganz  ein  Werk  der  Natur,  sie  wird  zusammengehalten 
durch  die  rein  natürlichen  Bande  der  Blutsverwandtschaft. 
Mehrere  Familien,  die  blutsverwandt  sind  oder  zu  sein 
glauben,  bilden  ein  Geschlecht  {y^vog^  Gens,  Sippe),  mehrere 
Geschlechter  einen  Stamm,  mehrere  Stämme  ein  Volk. 
Die  Weltanschauung  dieser  Epoche  ist  der  naturalistische 
Polytheismus,  d.  h.  die  Verehrung  der  personifizierten  Natur- 
mächte, an  die  sich  eine  bunte,  ihre  Schicksale  in  mensch- 
licher Weise  ausmalende  Mythologie  anknüpft.  Für  das 
Leben  aber  ist  noch  wichtiger  als  diese  Religion  der  Kultus 
des  gemeinsamen  Ahnen  des  Geschlechts,  der  neben  dem 
gemeinsamen  Grundbesitz  des  Geschlechts  ein  festes  Band 
der  Einheit  desselben  und  der  Einigkeit  aller  seiner  Mit- 
glieder bildet. 

Es  scheint  nun,  als  ob  schon  hier,  vor  dem  Anfange 
der  eigentlichen  Geschichte,  eine  ideale  Art  und  Weise 
des  menschlichen  Zusammenlebens  erreicht  wäre,  die  man 
sonst  geneigt  ist  erst  als  letztes  Ergebnis  einer  langen 
geschichtlichen  Entwicklung  zu  erwarten.  Es  scheint,  als 
ob  in  der  gentilen  Gesellschaft  eine  gewisse  ideale  Freiheit, 
Gleichheit  und  Brüderlichkeit  verwirklicht  wäre.  In  der 
Zeit  z.  B.,   die  in  den  homerischen  Gedichten  geschildert 


86  Paul  Barth: 

ist,  scheint  allgemeine  Freiheit  zu  herrschen,  da  der  Mensch 
nicht  abstrakten,  von  aufsen  an  ihn  herantretenden  Geboten, 
sondern  seinen  natürlichen  Trieben  folgt.  Nicht  minder 
allgemeine  Gleichheit.  Denn  die  Sklaverei  hat  geringe 
Bedeutung  und  hebt  den  freundschaftlichen  Verkehr  zwischen 
dem  Herrn  und  dem  Sklaven  nicht  auf,^)  die  Freien  aber 
sind  dem  Könige  gegenüber  nicht  zu  blindem  Gehorsam 
verpflichtet,  sondern  haben  in  ihrer  Versammlung  über  alle 
Unternehmungen  des  Königs  mitzuberaten  und  zu  ent- 
scheiden. 2)  Und  die  Brüderlichkeit  fehlt  wenigstens  nicht 
innerhalb  des  Geschlechts.  Was  einen  Geschlechts- 
genossen schädigt,  geht  alle  an,  wird  von  allen  abgewehrt 
oder  gerächt. 

Und  dennoch,  bei  aller  dieser  Freiheit,  Gleichheit  und 
Brüderlichkeit  giebt  es  keine  Autonomie  des  Einzelnen, 
einfach  deshalb,  weil  der  Einzelne  als  solcher  noch  nicht 
existiert.  Er  hat  sich  noch  nicht  losgelöst  von  der  gemein- 
samen Lebens-  und  Weltanschauung  des  Stammes  und  des 
Volkes,  von  den  gemeinsamen  Interessen  des  Geschlechts^ 
von  dem  instinktiven,  nicht  auf  Reflexion  beruhenden  Ge- 
horsam gegen  die  Alten,  so  dafs  es  einen  Gegensatz  zwischen 
dem  Einzelwillen  und  dem  Gesamtwillen  noch  nicht  giebt. 
Da  auf  diesem  Gegensatze  später  die  „Schuld"  des  Einzelnen 
beruht,  so  giebt  es  in  der  homerischen  Zeit  —  wenigstens 
in  den  Beziehungen  der  Menschen  zu  einander,  nicht  zu 
den  Göttern  —  auch  keine  Schuld,  sondern  nur  Unglück, 
Verirrung.  Wer  einen  Mord  begeht,  mufs  vor  der  Rache 
der  Blutsverwandten  des  Ermordeten  fliehen,  wird  aber  in 


^)  So  verkehrt  Odyssbus  freundschaftlich  mit  EuMios,  lebt  La- 
BRTEs  auf  dem  Lande,  selbst  den  Garten  behackend  wie  seine  Knechte 
und  Mägde,  Nausikaa  spielt  Ball  mit  ihren  Dienerinnen. 

2)  Vergl.  E.  A.  Freeman,  Comparative  Politics,  London  1873, 
S.  146:  „He  (the  king  of  heroic  Greece)  can  rule  only  by  the  help  of 
his  Council  of  Eiders  and  with  the  good  will  of  the  general  Assembly 
of  his  whole  folk." 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  87 

der  Fremde  freundlicli  aufgenommen^)  und  in  ein  Ge- 
schlecht adoptiert,  selbst  wenn  er  bekennt,  ein  Meuchel- 
mörder zu  sein.  2) 

K.  Lehrs^)  hat  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  wie  Helena  in 
der  Odyssee  nach  ihrem  Ehebruch,  nach  ihrer  Bückkehr  aus  Troja 
unverminderter  Ehre  geniefst,  wie  nirgends  in  der  Ilias  und  in  der 
Odyssee  gegen  sie  ein  Vorwurf  erhoben  wird,  während  die  späteren 
Dichter,  je  weiter  vom  homerischen  Zeitalter  entfernt,  desto  heftiger 
sie  und  ihren  Fehltritt  verwünschen  und  immer  schwerere  Strafen  er- 
leiden lassen.  Und  von  der  Orestes-Sage  ist  bei  Homeb  nur  die  erste, 
nicht  aber  die  zweite  Hälfte  vorhanden.  Orestes  hat  seine  Mutter 
ermordet,  um  seines  Vaters  Ermordung  zu  rächen,  aber  er  wird  nicht 
von  den  Erinnyen  oder  einer  von  ihnen  verfolgt.*)  Damit  stimmt  der 
oft  wiederkehrende  Gedanke,  dafs  der  Mensch  von  der  Göttin  Ate 
verleitet  wird,  also  nicht  aus  eigenem  Willen,  sondern  infolge  einer 
unheilvollen  höheren  Macht  sündigt.^)  Ein  so  freiwillig,  so  bewuTst 
durchgekämpfter  Konflikt  wie  derjenige  der  Antigonb  wäre  bei  Homer 
unmöglich. 

Aber  es  endet  zu  einer  gewissen  Zeit  die  natürliche 
Verfassung  der  Gesellschaft.  Überall,  im  Orient  wie  im 
Occident,  folgt  auf  die  Gentilverfassung  die  Epoche  der 
Gesetzgebung,  die  den  natürlichen  Zusammenhang  aufhebt 
und  einen  neuen,  künstlichen  an  seine  Stelle  setzt.  Es 
werden  nun  bei  den  klassischen  Völkern  Stände  unterschieden 
nach  der  Höhe  des  Vermögens  und  der  Leistungen  für  den 
Staat.  Mit  der  Gleichheit  aber  hört  auch  die  allgemeine 
Mündigkeit  auf.  Die  Frauen  werden  zeitlebens  dem  Schutze 
eines  Mannes  unterworfen,  sie  sind  keines  Rechtsgeschäftes 
fähig;  der  Sklave  hat  nicht  einmal  die  Bedeutung  eines 
lebenden  Wesens,    sondern  ist,   in   Rom   wenigstens,    ein 


^)  So  nimmt  Tblemach  (Odyssee,  15.  Buch,  V.  224  ff.)  den  wegen 
eines  Mordes  verfolgten  Theoklymenos  sehr  freundlich  auf. 

^  Im  13.  Buche  der  Odyssee,  V.  256  ff.,  scheut  sich  Odyssbus 
nicht,  sich  yor  der  ihm  als  Jüngling  erscheinenden  Athene  als  flüch- 
tigen Meuchelmörder  des  Orsilochos,  Sohnes  des  Idomeneüs,  auszugehen. 

^)  Populäre  Aufsätze  a.  d.  Altertum,  2.  Aufl.,  Leipzig  1875,  S.  9  ff. 

*)  Vergl.  Odyssee,  III,  V.  306  ff. 

^)  Vergl.  K.  F.  v.  Nigelsbach,  Homerische  Theologie,  3.  Aufl., 
herausg.  von  G.  Autenrieth,  Nürnberg  1884,  S.  290  ff. 


88  Paul  Barth: 

instrumentum  vocale,  also  wie  jedes  andere  Instrument, 
eine  Sache.  Die  Rechte  der  Staatsbürger  sind  abgestuft 
nach  ihren  Leistungen,  so  dass  die  Niederen  den  Vorrechten 
der  Höheren  unterworfen  sind,  also  auch  im  Staatsleben 
Heteronomie  herrscht.  Wenn  auch  bei  den  Griechen  die 
Sklaven  milder  behandelt  werden,  im  grofsen  und  ganzen 
zerfallt  auch  bei  ihnen  die  Gesellschaft  in  Mündige  und 
Unmündige,  wobei  aber  die  Unmündigen  keineswegs  mit 
den  Kindern  identisch  sind,  sondern  den  gröfseren  Teil  der 
Erwachsenen  darstellen.  Die  Gesellschaft  als  Ganzes  konnte 
dabei  sehr  wohl  gedeihen,  solange  den  Vorrechten  der 
Herren,  der  Mündigen,  auch  Vorpflichten  entsprachen.  Wenn 
aber  die  Autonomie  der  Persönlichkeit  ein  sittliches  Ideal 
ist,  so  war  die  Blütezeit  der  klassischen  Völker  davon  weit 
entfernt,  wie  auch  ihre  Demokratie  zum  gröfsten  Teile 
nur  Schein  ist,  in  Wirklichkeit  die  Herren,  die  Aristokraten 
nicht  blofs  de  facto,  sondern  meist  auch  de  jure  immer  die 
Zügel  in  der  Hand  behielten.^) 

Es  ist  nun  eine  eigentümliche  Erscheinung,  dafs  gerade 
die  Zeit   des  Niederganges   des   antiken  Staatslebens   an 

')  In  Athen,  dem  Musterstaate  der  Demokratie,  bestand  die  volle 
Demokratie  staatsrechtlich  erst  seit  dem  Sturze  des  Areopags  (460  v.  Chr.). 
Und  auch  in  ihr  regierte  nicht  die  Volksversammlung,  sondern  der 
Eat,  in  dem  naturgemäfs  nur  die  für  Staatsgeschäfte  Zeit  Habenden, 
also  Vornehme  oder  mindestens  Wohlhabende  safsen,  der  über  jede 
Angelegenheit  einen  Vorbeschlufs  (TtQoßsvksvfia)  fafste  und  diesen  dem 
Volke  vorlegte.  Sehr  konservativ  wirkte  auch  die  ygaipri  naQavbfxwv^ 
die  jedem  Antragsteller  drohte,  wenn  ihm  nachgewiesen  wurde,  dafs 
sein  Antrag  gegen  die  Verfassung  war.  Vergl.  H.  S.  Maine,  die  volks- 
tümliche Regierung,  deutsche  Ausgabe,  Berlin  1887,  S.  27 :  „Die  kurze 
athenische  Demokratie,  unter  deren  Schutz  Kunst,  Wissenschaft  und 
Philosophie  so  wunderbar  emporschössen,  war  nur  eine  Aristokratie, 
die  sich  auf  den  Trümmern  einer  viel  engeren  [Aristokratie]  erhob." 
In  Rom  regierte  nach  aufsen  wie  im  Innern  bis  zur  Zeit  der  Gracchen 
nicht  das  Volk,  sondern  der  Senat.  Und  selbst  bei  den  Wahlen  ge- 
horchte es  immer  der  Autorität  der  Vornehmen.  Vergl.  C.  Nbumann, 
Geschichte  Roms  während  des  Verfalles  der  Replublik,  herausg.  von 
E.  GoTHBiN,  Breslau  1881,  S.  22  ff. 


Die  Frage  des  Bittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  89 

socialen  Neubildungen  fruchtbar  war ;  ein  Zeichen,  dafs  die 
Geschichte  nicht  stillsteht,  dafs  sie  hier  ein  Gewebe  auflöst, 
gleichzeitig  aber  dort  ein  neues  anfängt.  ^)  In  der  römischen 
Kaiserzeit  erst  wird  die  Unmündigkeit  des  Individuums 
eingeschränkt.  In  der  Politik,  im  Staatsrechte  zwar  ist 
das  Individuum  nichts  gegen  den  Willen  des  Alleinherrschers, 
aber  im  Privatrechte  dringen  allmählich  die  bisher  Unter- 
drückten zur  Autonomie  vor.  Und  zwar  war  es  zum  Teil 
politische  Erwägung  der  Kaiser,  zum  Teil  aber  das  ideale 
Prinzip  der  Juristen,  die  aequitas,  also  ein  sittlicher  Grund- 
satz,  was  die  Änderungen  des  alten  jus  strictum  herbeiführte. 

AuGUSTus  befreite  die  Witwen,  die  mehrere  Kinder  hatten,  von 
der  tutela,^  Claudius  unterdrückte  die  Vormundschaft  der  männlichen 
Verwandten,  so  dafs  die  Frauen,  die  eines  Vormundes  bedurften,  ihn 
frei  wählten,  Theodosius  befreite  alle  nicht  verheirateten  Frauen, 
gleichviel  ob  Witwen  oder  unvermählt  geblieben,  von  der  Vormundschaft. 
Das  Recht  der  Kinder  wurde  ebenfalls  gegen  die  früher  absolute  Willkür 
des  Vaters  geschützt.  Cabacalla  verbot  den  Vätern,  Kinder  als  Sklaven 
zu  verkaufen,  und  den  Gläubigern,  sie  als  Pfand  anzunehmen.^ 

Auch  der  Sklave  erlangte  immer  mehr  Menschenrechte.  Nero 
schon  gab  Polizeigesetze,  die  der  Unmenschlichkeit  der  Herren  Schranken 
setzten.  *)  Antoninüs  Pids  gab  den  gemifshandelten  Sklaven  das  Becht 
zur  Flucht  zu  den  Altären  der  Kaiser,  die  zur  Folge  hatte,  dafs  sie 
an  einen  anderen  Herrn  verkauft  werden  mufsten.  Im  3.  Jahrhundert 
wurde  verboten,  die  Sklavenfamilien  durch  Verkauf  zu  trennen.^)  Zu 
derselben  Zeit  erhielten  die  Staatssklaven  das  Becht,  über  die  Hälfte 
ihres  Vermögens  zu  testieren.    Und  endlich  im  4.  Jahrhundert  erlangten 

^)  „Wenn  man  die  Geschichte  des  römischen  Kaiserreichs  auf 
die  socialen  Veränderungen  ansieht,  die  in  ihr  vorgehen,  so  vergilt  sie 
einigermafsen  die  Mifsempfindung,  die  wir  von  der  Schule  her  gewohnt 
sind,  mit  ihrer  politischen  Betrachtung  zu  verbinden.**  (K.  Bodbebtus 
in  den  Jahrbüchern  für  Nationalökonomie  und  Statistik,  IV,  1865,  S.  341.) 

^)  Vergl.  P.  Gide,  £tude  sur  la  condition  priv6e  de  la  femme, 
Paris  1867,  S.  157  ff. 

^)  H.  Wallon,  histoire  de  l'esclavage  dans  antiquit6,  2.  ed.  III, 
Paris  1879,  S.  49. 

*)  Wallon,  a.  a.  0.  S.  56.  Die  Lex  Petronia  aus  der  Zeit  Nebos 
verbot,  Sklaven  zum  Tierkampfe  auszuleihen,  Hadbtan  verbot,  sie  zum 
Gladiatorenkampfe,  Mabc  Aubel  zum  Tierkampfe  zu  verkaufen  (Wallon, 
a.  a.  0.  S.  57). 

^)  Wallon,  a.  a.  0.  S.  52. 


90  Paul  Barth: 

alle  Sklaven  die  Befugnis,  in  gewissen  Fällen  gegen  ihren  Herrn  zu 
klagen,  wenn  auch  nicht  direkt,  so  doch  durch  einen  Rechtsheistand.  *) 
Das  Christentum  hat,  als  es  zur  Macht  gelangt  war,  keine  neue 
Tendenz  hinzugehracht,  sondern  nur  die  vorgefundene  weiter  geführt.  ^ 
Die  alte  Kirche  ignorierte  die  Sklaverei,  sie  betrachtete  die  Menschen 
im  christlichen  Gemeindeleben  als  gleich,  wollte  sich  aber  nicht  in  die 
weltlichen  Angelegenheiten  mischen.  Constanmn  jedoch  setzte  die  Er- 
mordung eines  Sklaven  jedem  anderen  Morde  gleich,  nachdem  schon 
Hadbianus  sie  bestraft  und  Septimius  Sbvbrus  die  Mifshandlung  von 
Sklaven  mit  Ehrlosigkeit  geahndet  hatte.  ^)  Jüstinian  machte  auch 
formell  den  Sklaven  zur  rechtsfähigen  Person,  indem  er  ihm  persönlich 
vor  Gericht  zu  erscheinen  erlaubte.*) 

Als  das  weströmische  Reich  unterging,  waren  für  die 
Gesellschaft  zwei  wichtige  Änderungen  vollzogen.  Frauen 
und  Sklaven  waren  als  mündige  Menschen  anerkannt.  Und 
zwar  dauerte  diese  Anerkennung  auch  im  byzantinischen 
Eeiche  fort.^) 

In  Westeuropa  ging  nun  freilich  zunächst  mit  der 
antiken  Kultur  auch  das  Prinzip  der  Mündigkeit  der  Frauen 
und  Sklaven  unter.  Bei  den  Germanen,  die  nun  ganz  West- 
europa besetzten,  war  die  Frau,  streng  genommen,  nicht 
rechtsfähig,  weil  sie  nicht  waffenfähig  war,  sie  mufste, 
wenn  sie  unvermählt  war,  einen  Stellvertreter  haben,  wenn 
sie  vermählt  war,  war  sie  in  der  Gewalt  (Munt)  des  Mannes. 
Aber  die  unverheirateten  Frauen  erlangen  auch  bei  den 
Völkern  des  Mittelalters  allmählich  gröfsere  Selbständigkeit. 
In  manchen  Teilen  Deutschlands  z.  B.  ist  am  Ende  des 
Mittelalters  die  Tutel  über  Frauen  ganz  verschwunden,^) 
in  anderen  ist  es  ihnen  erlaubt,  ihren  Tutor  zu  wählen. 
In  dieser  Form  erhielt  sie  sich  in  manchen  Gebieten,  wie 
in  den  Hansastädten,  bis  zur  Gegenwart;*^)  erst  das  bürger- 

1)  Wallon,  a.  a.  0.  S.  393. 

2)  Vergl.  F.  OvERBECK,  Studien  zur  Geschichte  der  alten  Kirche, 
I,  Schlofs-Chemnitz  1875,  bes.  S.  171  ff.  und  S.  177. 

3)  OvBRBEOK,  a.  a.  0.  S.  170  u.  171. 
*)  Wallon,  a.  a.  0.  S.  393. 

6)  Wallon  S.  426  ff.,  Gide  S.  218  ff. 
«)  GiDB,  a.  a.  0.  S.  313. 

7)  Giue,  a.  a.  0.  S.  317. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  91 

liehe  Gesetzbuch  machte  ihr  auch  dort  ein  Ende ;  dasselbe 
Gesetzbuch  stellt  auch  die  Ehefrau  dem  Ehemanne  rechtlich 
fast  gleich.^) 

Schlimmer  als  die  Rechtsbeschränkung  der  Frauen 
war  in  den  neuen  germanischen  Staaten  die  Lage  der 
Sklaven.*'^)  Sie  war  nicht  besser  als  im  republikanischen 
Rom,  das  Recht  jener  Staaten  behandelt  sie  wie  Haustiere. 
Aber  die  christliche  Religion  und  die  Kirche  sorgen  dafür, 
dafs  die  höhere  Schätzung  des  Menschen,  die  am  Ende 
der  alten  Welt  errungen  war,  nicht  ganz  verloren  gehe, 
sie  sind  es  ja  überhaupt,  die  die  Kontinuität  der  alten  mit 
der  neu  entstehenden  Welt  herstellen.  Das  Konzil  von 
Agde  (im  Jahre  606  n.  Chr.)  verbot  und  bestrafte  wenig- 
stens die  Tötung  des  Sklaven  durch  den  Herrn  im  fränkischen 
Reiche.^)  Ähnliche  Beschränkungen  der  Willkür  fanden 
später  in  den  übrigen  Reichen  statt,  auch  setzte  die  Kirche 
die  Anerkennung  ihres  Asylrechtes  durch.*)    Es  vollzog 


^)  Vergl.  H.  Jastrow,  Das  Eecht  der  Frau  nach  dem  bürger- 
lichen Gesetzbuch,  Berlin  1897,  S.  4:  „Eine  Frau  hat  ganz  dieselbe 
Fähigkeit  und  Befugnis,  Rechte  zu  erwerben,  zu  besitzen  und  auszu- 
üben, wie  ein  Mann.  Das  Geschlecht  begründet  hierin  keinen  Unter- 
schied.   Diese  Sätze  beherrschen  das  bürgerliche  Gesetzbuch,  ohne  dafs 

sie  in  demselben  irgendwo  ausgesprochen  wären 

Für  die  verheiratete  Frau  giebt  es  einzelne  Ausnahmen  von 

ihrer  Geschäftsfähigkeit.  Für  die  unverheiratete  Frau  giebt  es  inner- 
halb des  bürgerlichen  Gesetzbuches  gar  keine  Ausnahme."  S.  23/24: 
„Wenn  der  Mann  die  Zustimmung  zur  Übernahme  der  Thätigkeit  (zu 
der  sich  die  Frau  durch  einen  Vertrag  verpflichtet  hat)  verweigert^ 
so  kann  die  Frau  von  vornherein  beim  Vormundschaftsgericht  den  Antrag 
auf  Erteilung  dieser  Zustimmung  stellen."  S.  79:  „Der  Inhalt  des  Ehe- 
vertrages hängt  vom  freien  Belieben  der  Braut-  oder  Eheleute  ab.  Sie 
sind  dabei  durchaus  nicht  auf  das  Vermögen  der  Frau  beschränkt.  Auch 
das  Vermögen  des  Mannes  kann  den  Gegenstand  der  Regelung  bilden." 

2)  Vergl.  A.  RiviERB,  L'6glise  et  l'esclavage,  Paris  1864,  S.  300  ff. 

3)  RiviEKE,  a.  a.  0.  S.  304.  Vergl.  Lex  Salica,  ed.  J.  Merkel, 
Berlin  1850,  XXXV. 

*)  Vergl.  L.  V.  Ba»,  Geschichte  des  deutschen  Strafrechts,  Berlin 
1882,  S.  80  ff.  und  R.  Schröder,  Lehrbuch  der  deutschen  Rechts- 
geschichte, Leipzig  1889,  S.  212  ff. 


92  Paul  Barth: 

sich  nun  allmählich  die  Umwandlung  des  Sklaven  in  den 
Hörigen,  der,  an  die  Scholle  gebunden,  dem  Herrn  entweder 
Fronarbeit  oder  Naturalabgaben  schuldete.  Im  Eechte 
des  späteren  Mittelalters  ist  der  Hörige  dem  Herrn  ver- 
pflichtet, er  entbehrt  des  Rechtes  der  Freizügigkeit,  aber 
in  mancher  Hinsicht  ist  auch  der  Herr  ihm  verpflichtet, 
sein  Leben  gilt  ebensoviel  wie  das  des  Freien.^) 

Im  16.  und  17.  Jahrhundert  ist  in  Deutschland  viel- 
fach eine  Verschlechterung  des  Rechtes  der  Hörigen  ein- 
getreten,^) mehr  nach  WiUktir  als  nach  neuen  Prinzipien. 
Aber  am  Ende  des  vorigen  und  am  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts ist  überall  die  Aufhebung  der  Hörigkeit  und  damit 
das  Prinzip  der  Mündigkeit  der  Bauern  durchgedrungen. 

Aus  diesem  Überblicke  geht  hervor,  dafs  in  dem  west- 
europäischen Kulturkreise  eine  beständige  Ausdehnung  der 
Mündigkeit  auf  immer  mehr  Personen  stattgeftmden  hat, 
dafs  also  im  geltenden  Rechte  die  sittliche  Forderung  der 
Autonomie  der  Persönlichkeit  eine  immer  gröfsere  Aus- 
dehnung erreicht  hat.  Aber  nicht  blofs  extensiv,  auch 
intensiv  ist  im  Rechte  die  Autonomie  gewachsen.  Die 
Macht  der  Persönlichkeit  beruht  auf  dem  Umfange  der 
Güter  und  Handlungen,  die  in  ihrer  Gewalt  sind.  Und 
dieser  Umfang  ist  in  dem  von  uns  betrachteten  Kulturkreise 
beständig  erweitert  worden.  Das  Altertum  schützte  das 
Leben,  ^)  das  Eigentum  und  die  persönliche  Freiheit  der 
Staatsbürger,  es  liefs  in  seiner  Blütezeit  die  Gewissens- 
freiheit nicht  immer  unangetastet,  und  es  hat  in  der  Zeit 

1)  Vergl.  R.  ScHKöDBR,  a.  a.  0.  S.  437  ff.  —  L.  v.  Bab,  a.  a.  0.  S.  9&. 

2)  Für  Frankreich  vergl.  A.  Du  Boys,  histoire  du  droit  criminel 
des  peuples  modernes,  II,  Paris  1858,  S.  225:  „L'offense  faite  aux  hommes 
du  seigneur  remonte  au  seigneur  lui-meme."  Bemerkenswert  ist  auch 
ebenda  S.  230:  „On  peut  remarquer,  que  les  m§mes  peines  ignominieuses 
s'appliquaient  alors  aux  gentilshommes  et  aux  vilains." 

*)  Es  strafte  aber  erst  dann,  wenn  ein  Ankläg^er  auftrat,  es 
schätzte  also  verlorenes  Leben  nur  dann,  wenn  ein  Überlebender  es 
schätzte,  nicht  so  prinzipiell,  wie  es  jetzt  geschätzt  wird. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  93 

des  Niederganges  ihr  grofse  Hindernisse  in  den  Weg  gelegt. 
Das  Mittelalter  schützte  Leben,  Eigentum  und  persönliche 
Freiheit  (letztere  mit  den  durch  die  Unmündigkeit  gewisser 
Klassen  gegebenen  Beschränkungen),  es  wuTste  nichts  von 
Gewissensfreiheit.  Erst  die  neueste  Zeit  hält  auch  diese 
für  ein  unveräufserliches  Recht  des  Individuums.  Aber 
aufser  Leben,  Eigentum,  persönlicher  und  Gewissensfreiheit 
hat  der  moderne  Mensch  noch  mehr  Güter,  die  ihm  ge- 
schützt werden,  und  ihr  Kreis  strebt  nach  beständiger  Er- 
weiterung. Die  Ehre  des  Menschen  wird  immer  empfind- 
licher, das  Eecht  wehrt  immer  mehr  Handlungen  und  Worte 
ab,  die  früher  nicht  als  beleidigend  galten.  Im  römischen 
Rechte  ist  der  Begriff  der  strafbaren  wörtlichen  Beleidigung 
sehr  eng,  er  umfafst  zuerst  nur  Schmähschriften,  später 
nur  grobe  Beschimpfungen  und  Verleumdungen.^)  Im 
ältesten  Strafrecht  der  Germanen  war  nur  der  Vorwurf  des 
Betrugs,  der  Unzucht  und  der  Feigheit  und  Belegung  mit 
Tiemamen  beleidigend.'^  Im  späteren  Mittelalter  kommt 
noch  der  Vorwurf  der  rechtlichen  Bescholtenheit  hinzu.  ^) 
Im  18.  Jahrhundert  und  im  gegenwärtigen  Strafrecht  ist 
jedes  Wort  beleidigend,  wenn  ihm  die  beleidigende  Absicht 
innewohnt.*)  Frühere  Gesetzgebungen  unterwarfen  den 
Geschmack  und  den  persönlichen  Aufwand  des  Einzelnen 
genauer  Regulierung ;  die  römische  Republik,  das  Mittelalter, 
noch  der  Polizeistaat  des  vorigen  Jahrhunderts  hatten 
Luxusgesetze  und  Kleiderordnungen.  Der  moderne  Mensch 
aber  hat  ein  Recht  auf  seinen  individuellen  Geschmack, 
sofern  er  nicht  gegen  die  „öffentliche  Sittlichkeit"  verstöfst. 
Ein  ganz  neues  Gut  ist  femer  die  politische  Freiheit  im 


')  Vergl.  W.  Rein,  Das  Kriminalrecht  der  Römer,  Leipzig  1844, 
S.  357,  363  ff. 

5*)  V.  Bab,  a.  a.  0.  S.  62  und  Lex  Salica  XXX. 

®)  Vergl.  V.  Friese,  Das  Strafrecht  des  Sachsenspiegels,  Breslau 
1898,  S.  276  ff. 

*)  So  schon  im  Preufsischen  Landrechte,  Teil  II,  Tit.  X,  §  640. 


^94  Paul  Barth: 

Sinne  der  unbehinderten  Wahl  für  gesetzgebende  Körper- 
schaften. Im  Altertum  war  sie  nicht  vorhanden,  ebenso- 
wenig im  Mittelalter,  erst  die  Neuzeit  betrachtet  die  staat- 
liche Beeinflussung  der  Wahl,  die  in  Rom  ein  Verdienst 
war,  als  ein  Vergehen  und  bestraft  den  Staatsbeamten, 
dem  sie  nachgewiesen  wird.  Weniger  erlaubt  war  in  Rom 
direkter  Kauf  einzelner  Stimmen  seitens  der  Amtsbewerber, 
sehr  erlaubt  aber  der  indirekte  Kauf  durch  grofse  allgemeine 
Spenden.  In  den  modernen  Kulturländern  aber  wird  nicht 
blofs  der  Kauf,  sondern  auch  der  Verkauf  von  Stimmen  seitens 
Privater  strenge  bestraft.  Das  Stimmrecht  der  Frauen  und 
das  Recht  auf  Arbeit  sind  heutzutage  gröfstenteils  erst  For- 
derungen, nur  im  beschränkten  Umfange  verwirklicht.  Je 
mehr  beides  zur  Durchführung  kommt,  desto  gröfser  wird 
der  Frauen  und  der  Arbeiter  Besitz  an  Rechtsgütem.  —  Ja 
sogar  manches,  was  als  Zwang  erscheint,  ist  bei  näherem 
Zusehen  ein  Recht.  Der  Schulzwang  ist  nur  vom  Stand- 
punkte des  Kindes  ein  Zwang,  vom  Standpunkte  des  Erwach- 
senen ist  er  ein  Recht  auf  ein  bestimmtes  Mafs  von  Bildung. 
Nicht  minder  aber  als  die  im  Rechte  sich  ausprägen- 
den Grundsätze  sind  diejenigen,  die  in  der  Sitte  ihren 
Ausdruck  finden,  dem  Wandel  unterworfen.  Und  auch  in 
ihnen  läfst  sich  ein  Vorwärtsgehen  in  der  Richtung  be- 
merken, dafs  der  Einzelne  immer  weniger  dem  äufserlichen, 
mechanischen  Zwange  unterworfen,  und  in  seiner  ganzen 
Lebensführung  immer  mehr  seinem  Pflichtbewufstsein  und 
seinem  Gewissen  überlassen  werde.  Diesen  Gang  auf  allen 
Gebieten  der  Sitte  zu  verfolgen,  würde  zu  weit  fuhren,  es 
genüge,  zwei  Beispiele  anzuführen.  Die  Frauen  waren  bei 
den  Griechen  an  das  Frauengemach  gefesselt,  das  sie,  je 
vornehmer,  desto  weniger  verliefsen,  in  Rom  an  das  Haus 
gebunden.  Im  Mittelalter  dürfen  ehrbare  Frauen  auch  da, 
wo  die  Sicherheit  nicht  gefährdet  ist,  nicht  allein  reisen.  ^) 

^)  Vergl.  K.  Weinhold,   Die  deutschen  Frauen  im  Mittelalter, 
II,  Wien  1892,  S.  203. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  95 

Jetzt  aber  beteiligen  sie  sich  vielfach  am  öffentiichen  Leben, 
von  dem  sie  in  der  ganzen  Vergangenheit  ausgeschlossen 
waren,  und  bewegen  sich  überall  in  der  civilisierten  Welt 
ohne  besonderen  Schützer.  Das  Mafs  von  Zurückhaltung, 
das  im  Interesse  ihrer  Weiblichkeit  nötig  ist,  wird  nicht 
mehr  durch  Absperrung  durchgesetzt,  sondern  immer  mehr 
ihrem  eigenen  Takte  überlassen.  Die  ganze  „Frauen- 
emancipation",  soweit  sie  ernst  aufgefafst  wird,  bewegt 
sich  in  dieser  Eichtung.  Und  wie  die  Frau  fiiiher  die 
erste  Dienerin  des  Hauses  war,  aber  zur  Gleichberechtigung 
mit  dem  Manne  aufsteigt,  so  erheben  sich,  wenn  auch  nicht 
zu  gleicher  Höhe,  auch  die  übrigen  Dienerinnen  und  Diener. 
Indem  heutzutage  ihnen  gegenüber  die  Formen  der  Höflich- 
keit immer  allgemeinere  und  konsequentere  Anwendung 
finden,  so  wird  durch  die  Sitte  anerkannt,  dafs  auch  sie 
sittlich  selbständige,  verantwortliche  und  wertvolle  Personen 
sind. 

So  finden  wir  im  Eecht  und  in  der  Sitte  ein  stetiges 
Wachsen  der  Autonomie  der  Persönlichkeit,  und  zwar  sowohl 
in  der  Richtung  der  Extensität  wie  in  der  der  Intensität. 
Keineswegs  mufs  damit  eine  Schwächung  der  Gesellschaft 
verbunden  sein.  Wenn  sie  in  der  römischen  Kaiserzeit 
damit  verbunden  war,  so  lag  dies  nicht  an  der  wachsenden 
Autonomie  des  Einzelnen,  sondern  an  der  mangelhaften 
Staatskunst  der  regierenden  Klassen.  Autonomie  des  Indi- 
viduums bedeutet  keineswegs  Individualismus,  vielmehr 
können  im  Einzelnen  die  socialen  Imperative  durch  die 
Erziehung  und  durch  die  Macht  der  öffentlichen  Meinung 
so  mächtig,  in  seinem  Gewissen  so  fest  verankert  sein, 
dafs  die  Gesellschaft  als  Ganzes  vortrefflich  gedeiht.  Sie 
bedarf  dann  keines  grofsen  Apparats,  sie  lebt  vielmehr  im 
Innern  eines  Jeden. 

Somit  ist  der  erste  Teil  der  These  Buckles  als  un- 
haltbar  erwiesen.    Die   ünveränderlichkeit   der  sittlichen 


96  Paul  Barth: 

Grundsätze  existiert  nicht.  Schwieriger  zu  behandehi 
als  der  erste  Teil  ist  der  zweite  Teil  der  These,  der 
besagt,  dafs  auch  die  sittlichen  Gefühle  unveränderlich  gleich 
bleiben. 

Zunächst  zeigt  sich  Buckle  als  mangelhaften  Psycho- 
logen, da  er  gar  nicht  genauer  angiebt,  was  er  unter  „sitt- 
lichen Gefühlen"  (moral  feelings)  versteht.  Aus  den  Bei- 
spielen, die  er  anfuhrt,  geht  hervor,  dafs  er  sie  den  Thaten 
der  Grausamkeit,  wie  dem  Kriege  oder  der  Verfolgung 
Andersgläubiger,  entgegensetzt,  dafs  er  also  darunter 
Sanftmut  und  Sympathie  versteht.  Er  entfernt  sich  damit 
nicht  von  dem  Sprachgebrauche  der  englischen  Philosophen. 
Bei  Shaftesbuby,  dem  frühesten  und  populärsten  der  eng- 
lischen Moralisten,  sind  oft  die  „moralischen"  Gefühle 
(moral  aflfections)  schlechthin  gleichbedeutend  mit  den 
„wohlwollenden"  (benevolent  aflfections).^) 

Es  bestimmt  sich  also  die  Behauptung  Buckles  zu- 
nächst dahin,  dafs  die  Sympathie,  sowohl  das  Mitleid  als 
auch  die  Mitfreude,  im  Laufe  der  Geschichte  immer  dieselbe 
gebUeben  sei,  sich  weder  vermehrt  noch  vermindert  habe. 
Was  nun  das  Mitleid  betriflft,  so  widerspricht  diese  Be- 
hauptung durchaus  den  Thatsachen.  Es  ist  eine  allgemein 
anerkannte  Wahrheit  der  Ethnographie,  dafs  die  Naturvölker 
gar  kein  Mitleid  haben.  ^    Der  Naturmensch  ist  grausam 


*)  Vergl.  Shaftbsbübts  Philosophische  Werke.  Deutsche  Über- 
setzung, Biga  1777,  Bd.  II,  S.  187  ff.  Selfish  ist  bei  Shaptssbubt 
oft  gleich  vicious.  Vergl.  auch  Th.  Fowleb,  Shaftksbuby  and  Hütchkson, 
London  1882,  S.  66,  71.  Anderswo  freilich  (z.  B.  a.  a.  0.  S.  106  ff.) 
liegt  die  Tugend  bei  Shaptbsbuby  nicht  in  den  wohlwollenden  Neigungen 
allein,  sondern  in  dem  richtigen  Verhältnisse  zwischen  ihnen  und  den 
selbstischen,  das  der  moralische  Sinn  (moral  sense)  bestimmt.  Da  aber 
für  die  selbstischen  Neigungen  die  Natur  so  sehr  gesorgt  hat,  gehören 
sie  weniger  zu  dem,  was  die  Tugend  erwerben  soll,  und  treten  darum 
im  Begriffe  der  Tugend  doch  wieder  zurück. 

^  Vergl.  Z.  DiMiTBOPF,  Die  Geringschätzung  des  menschlichen 
Lebens  bei  den  Naturvölkern,  Leipziger  Dissert.  1891,  S.  148  ff. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  97 

gegen  sich  selbst,  behandelt  andere  grausam  und  sieht  ganz 
kaltblütig  Grausamkeiten  Dritter  an.  Das  Mittelalter  und 
der  Anfang  der  Neuzeit  sind  noch  voll  von  unmenschlichen 
Qualen.  Die  Folter  ist  ein  unentbehrliches  Mittel  der  ge- 
richtlichen Untersuchung,  und  die  Leibesstrafen  sind  entweder 
schreckliche  Verstümmelungen  oder  langsame  Folterungen 
zum  Tode.  ^)  Im  18.  und  im  Anfange  des  19.  Jahrhunderts 
sind  alle  diese  Folterungen  und  Verstümmelungen  abgeschafft, 
Untersuchungshaft  und  Strafhaft  werden  unterschieden,  die 
Strafe  ist  überhaupt  nicht  mehr  Eache,  wie  sie  im  Mittel- 
alter und  noch  im  16.  und  17.  Jahrhundert  war,  sondern 
nach  Thomasius  und  anderer  Ausdrucke  ein  Heilmittel,  das 
zur  Besserung  sowohl  des  Verbrechers  als  der  übrigen 
Bürger  führen,  nach  anderen  eine  Mafsregel  des  Staates, 
die  zur  Abschreckung  der  Bösen  dienen  soll.^)  Die  Straf- 
gesetze der  modernen  Kulturvölker  schützen  sogar  das  Tier 
vor  willkürlicher  Grausamkeit  des  Menschen.  —  Man  kann 
diese  ganze  Abnahme  der  Grausamkeit  physiologisch  er- 
klären, man  kann  sagen:  der  Mensch  ist  immer  empfind- 
licher geworden,  immer  unfähiger  zu  leiden,  und  darum 
auch  unfähiger  leiden  zu  sehen.  Dies  mag  richtig  sein. 
Nichtsdestoweniger  bleibt  die  Thatsache  bestehen,  dafs  das 
Mitleid  gewachsen  ist.^) 

Nicht  ebenso  einfach  liegt  die  Frage,  ob  die  Mitfreude 
gewachsen  ist.  Es  scheint,  als  ob  der  primitive  Mensch 
enger   mit   seinesgleichen  zusammenlebte,   also   auch   die 


^)  Eine  recht  lange  Liste  dieser  verschiedenen  Todes-  und  Leibes- 
strafen  giebt  J.  George,  Humanität  und  Eriminalstrafen,  Jena  1898, 
S.  73 — 101.  Auch  die  S.  101  ff.  aufgezählten  Arten  der  Freiheitsstrafen 
schliefsen  noch  allerlei  verschärfende  Qualen  ein. 

2)  Vergl.  L.  V.  Bab,  a.  a.  0.  S.  147—165,  über  die  Strafrechts- 
theorien ebenda  S.  219  ff. 

^)  Mannigfaltige  dafür  sprechende  Thatsachen  führt  auch  an 
C.  M.  Williams,  A  review  of  the  Systems  of  ethics  founded  on  the 
theory  of  evolution,  London  1893,  S.  466  ff. 

Yierteljahrsschrift  f.  wissenscliaftl.  FhilosopMe.    XXHL  1.  7 


98  Paul  Barth: 

Freuden  seiner  Volksgenossen  mehr  teilte,  als  der  Kultur- 
mensch, der  mehr  Bewegungsfreiheit  hat,^  sich  weniger  eng 
an  seine  Gruppe  anschliefst.  Aber  andererseits  zeigt  der 
primitive  Mensch  auch  gar  viele  der  Züge  des  Kindes,  und 
Kinder  haben  wenig  Mitfreude  miteinander.  Zur  Entscheidung 
kann  nur  eine  allgemeine  Betrachtung  des  menschlichen 
Seelenlebens  fuhren,  insbesondere  der  Art  und  Weise,  wie 
es  sich  aus  subjektiven  und  objektiven  Elementen  zusammen- 
setzt. Und  diese  Betrachtung  lehrt  uns,  dafs,  je  höher 
das  Seelenleben  sich  entwickelt,  desto  mehr  die  Allein- 
herrschaft des  Selbstbewufstseins  zurücktritt  vor  dem  Be- 
wufstsein,  vor  der  Vorstellung  der  objektiven  Welt.  Nach 
diesem  Gesetze  ist  der  Fortschritt  vom  Angenehmen  zum 
Schönen  geschehen.  Die  Lust  am  Angenehmen  ist  eine 
Lust  des  Selbstbewufstseins,  die  in  der  Eegel  —  wegen 
ihrer  nahen  Beziehung  zum  körperlichen  Leben  —  physische 
Lust  genannt  wird;  die  Lust  am  Schönen  aber  ist  eine  Lust 
des  Bewufstseins,  d.  h.  hervorgerufen  durch  ein  objektives 
Verhältnis,  das  zu  unserem  leiblichen  Wohl  oder  Wehe 
gar  keine  Beziehung  hat.  Wenn  aber  durch  die  Existenz 
des  Wohlgefallens  am  Schönen  erwiesen  ist,  dafs  die  Freude 
an  der  objektiven  Welt  zugenommen  hat,  so  mufs  auch  die 
am  objektiven  Leben,  d.  h.  am  Leben  anderer,  also  die 
Mitfreude  gewachsen  sein.  Also  nicht  blofs  das  Mitleid, 
sondern  auch  die  Mitfreude,  also  die  Sympathie  überhaupt 
ist  gestiegen,  sie  ist  nicht,  wie  Buckle  meint,  unverändert 
geblieben. 

Dieser  Fortschritt  vom  Subjektiven  zum  Objektiven 
ist  überhaupt  nicht  blofs  im  Gefühlsleben,  sondern  auch  im 
Bereich  des  Willens  und  des  Handelns  nachweisbar,  und 
bildet  einen  mächtigen  Faktor  des  sittlichen  Fortschritts. 
Denn  das  Subjektive  kann  oft  unsittlich  oder  sittlich  gleich- 
gültig sein,  das  Objektive  aber  wird  meistens  das,  was  sich 
aus  Prüfung  der  Umstände  ergeben  hat,  also  das  Richtige, 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.  99 

das  Sittliche  seiQ.    In  Hegels  System  ist  der  objektive 
Wüle  auch  der  sittliche  Wüle.^) 

Kehren  wir  aber  zu  den  sittlichen  Gefiihlen  zurück, 
so  mufs  es  uns  auflEiaJlen,  dafs  Buckle  von  einem  sittlichen 
Gefühle,  dem  in  der  Ethik  mit  Recht  immer  grofse  Macht 
zugeschrieben  wird,  gar  nicht  spricht,  nämlich  vom  Gewissen. 
Es  mag  überraschend  klingen,  das  Gewissen  ein  Gefühl  zu 
nennen.  Es  ist  jedoch  in  der  That  nichts  weiter  als  ein 
Gefühl,  das  erweckt,  oder  eine  Gefühlsdisposition,  ^)  die  wirk- 
sam gemacht  wird  durch  die  sittliche  Qualität  einer  Hand- 
lung oder  einer  Unterlassung,  die  als  beabsichtigt  oder  als 
geschehen  unser  Bewufstsein  erfüllt.  Das  Verhältnis  des 
Gewissens  zu  den  Handlungen  wird  am  klarsten,  wenn  wir 
das  Gefühl  vergleichen,  das  den  sprachlichen  Ausdruck 
begleitet,  das  Sprachgefühl.  Auch  dieses  charakterisiert 
einen  Satz,   eine  Wendung,    eine  Form   als   richtig   oder 


^)  Vergl.  auch  F.  A.  Lanob,  Geschichte  des  Materialismus,  II, 
3.  Aufl.,  S.  463:  „Die  feinere  Sinnenfreude,  die  Lust  am  Schönen  nament- 
lich, verschmilzt  nicht  mit  dem  Vorstellungshilde  des  Körpers,  sondern 

mit  dem  des  Objektes Das  Aufgehen  in  diesem  Objekt  (der 

Menschen  weit)  ist  der  natürliche  Keim  alles  dessen,  was  in  der  Moral 
unvergänglich  ist,  und  wert  erhalten  zu  werden." 

^)  Vergl.  darüber  W.  Wundt,  Ethik,  2.  Aufl.,  Leipzig  1892, 
S.  481:  „Der  einzelne  Gewissensakt  kann  Gefühl,  Affekt,  Trieb,  Urteil 
sein."  Doch  scheint  mir  diese  Fassung  des  Begriffs  zu  weit.  Affekte 
und  Triebe  können  aus  dem  Gefühle,  das  die  Handlungen  begleitet, 
entspringen,  Urteile  können  daraus  entstehen,  aber  auch  ihm  zu  Grunde 
liegen.  Das  Elementare  jedoch  und  bei  dem,  was  wir  Gewissen  nennen, 
immer  Vorhandene  scheint  mir  nur  ein  Gefühl  zu  sein.  P.  Räb,  Die 
Entstehung  des  Gewissens,  Berlin  1885,  S.  8,  will  das  Gewissen  „be- 
schreiben", indem  er  sagt:  „Das  Gewissen  ist  ein  Unterscheidungs- 
vermögen, welches  die  Handlungen  in  zwei  Klassen  teilt,  nämlich  in 
löbliche  und  in  tadelnswerte."  Abgesehen  davon,  dafs  man  mit  so 
allgemeinen  Begriffen  wie  „Unterscheidungsvermögen"  keine  Be- 
schreibung eines  psychologischen  Thatbestandes  geben  kann,  fehlt  die 
Gefühlsseite  des  Gewissens,  die  doch  zweifellos  existiert,  ganz  und  gar. 
Richtiger  Th.  Elsenhans,  Wesen  und  Entstehung  des  Gewissens,  Leipzig 
1894,  S.  171:  „Gefühle  sind  also  die  ursprünglichen  Elemente  des 
Gewissens." 

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*  • 


100  Paul  Barth: 

unrichtig.  Und  beide,  das  Gewissen  wie  das  Sprachgefühl, 
haben  auch  das  gemeinsam,  dafs  sie  desto  stärker  und 
deutlicher  werden,  je  öfter  sie  befolgt  worden  sind. 

Wenn  man  den  Ursprung  des  Sprachgefühls  untersucht, 
so  findet  man,  dafs  es  auf  Analogien  oder  Grundsätzen 
beruht.  Wer  z.  B.  nach  seinem  „Sprachgefühl"  das  Prä- 
teritum „ich  frag"  bildet,  wird  geleitet  von  der  Analogie 
der  Verba  tragen,  schlagen  u.  a.  Wem  der  Satz:  „ich 
wünsche,  dafs  es  geschieht"  unangenehm  ins  Ohr  fallt,  in 
dem  hat  sich  der  Grundsatz  befestigt,  dafs  das  Geforderte 
im  Konjunktiv,  nicht  im  Indikativ  stehen  mufs.  Beide, 
die  Analogien  wie  die  Grundsätze,  brauchen  nicht  in  voller 
Klarheit  und  Deutlichkeit  bewufst  zu  sein,  sie  können  in 
halb  bewufstem,  selbst  in  fast  unbewufstem  Zustande  vor- 
handen sein  und  dennoch  ein  Gefühl  für  oder  gegen  eine 
Wendung  oder  eine  Form  erzeugen.  Dieser  Zustand  ist 
sogar  der  gewöhnliche.  Erst  bei  näherer  Besinnung  finden 
die  Sprechenden  oder  wenigstens  diejenigen  unter  ihnen, 
die  wissenschaftlich  zu  denken  fähig  sind,  welchen  Analo- 
gien und  welchen  Grundsätzen  sie  im  einzelnen  Falle  ge- 
folgt sind. 

Ganz  ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  Gewissen.  Auch 
dieses  beruht  auf  Analogien  früherer  Handlungen,  die  die 
neue  Handlung  vertraut,  „normal",  „richtig"  oder  fremd- 
artig, unheimlich,  „unnormal",  „unrichtig"  erscheinen  lassen. 
Dieselbe  Wirkung  haben  Grundsätze,  die  durch  die  Er- 
ziehung oder  durch  die  öffentliche  Meinung  und  die  Sitte 
eingeprägt  oder  durch  Erfahrung  erworben  worden  sind. 
Beide,  nicht  blofs  die  Analogien,  sondern  auch  die  Grund- 
sätze brauchen,  wie  beim  Sprachgefühl,  nicht  voll  bewufst 
zu  sein,  sie  können  halb  bewufst  dem  Handelnden  oder 
einer  geschehenen  Handlung  4Dder  Unterlassung  sich  Er- 
innernden vorschweben  und  dennoch  ein  mächtiges  Gefühl 
erzeugen.    Diese  Dunkelheit  des  Untergrundes,   aus   dem 


•    • 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.        101 

„die  Stimme  des  Gewissens"  sich  erhebt,  ist  die  Ursache 
des  geheimnisvollen  Charakters,  den  das  Gewissen  für  viele 
hat,  von  Sokbates,  der  es  als  „Daimonion",  also  eine  über- 
menschliche Erscheinung  bezeichnete,  bis  zu  denjenigen 
Theologen,  die  in  ihm  eine  direkte  Offenbarung  des  gött- 
lichen Wissens  und  Willens  erblicken.^) 

Auch  vom  Gewissen  hat  wohl  Buckle  seine  Be- 
hauptung gelten  lassen  wollen,  dafs  die  sittlichen  Gefühle 
unveränderlich  seien.  Und  auch  hier  findet  das  gerade 
Gegenteil  statt.  Das  Sprachgefühl  ändert  sich  langsam 
mit  dem  Sprachgebrauch.  Im  Deutschen  des  16.  Jahr- 
hunderts z.  B.  wurden  die  Verba  „entbehren"  und  „ge- 
niefsen"  immer  mit  dem  Genetiv  verbunden.  Das  Sprach- 
gefühl reagierte  gegen  jeden  Akkusativ,  der  ihm  folgte,  ab- 
lehnend. Jetzt  verhält  sich  der  Sprachgebrauch  und  ihm 
gemäfs  das  Sprachgefühl  gegen  einen  solchen  Akkusativ 
nicht  mehr  ablehnend.  Ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem 
Gewissen.  Die  sittlichen  Grundsätze  ändern  sich,  wie  oben 
bewiesen  wurde.  Daraus  folgt  notwendig,  dafs  auch  das 
Gewissen,  das  auf  Analogien  und  Grundsätzen  beruht,  nicht 
immer  auf  dieselben  Handlungen  in  derselben  Weise  rea- 
gieren kann.  2)  Und  in  der  That:  das  Gewissen  erlaubt 
bei  den  Naturvölkern  und  in  früheren  Zeiten  vieles,  was 
wir  verabscheuen.  Ein  Fidschi-Insulaner  wird  einen  Greis 
seines  Stammes,  vielleicht  seinen  eigenen  Vater  töten,  ohne 
nachher  Gewissensbisse  darüber  zu  empflüuden.  Denn  es 
ist  ein  Grundsatz  seines  Stammes,  dafs  kraftlose  Alte,  die 
nichts  mehr  helfen,  weggeräumt  werden.  Ein  Europäer  wird 
durch  sein  Gewissen  vor  einer  ähnlichen  That  abgeschreckt. 
Dem  Eömer  Julius  Cäsar  war  es  nicht  gegen  sein  Gewissen, 
seinen  tapferen  Gegner  Vercingetorix,  den  grofsen  Vor- 
kämpfer  für   die   Freiheit   der   Gallier,   am   Tage   seines 


*)  Vergl.  W.  Gass,  Die  Lehre  vom  Gewissen,  Berlin  1869,  S.  114. 
»)  Vergl.  W.  WuNDT,  a.  a.  0.  S.  483. 


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102  Paiil  Barth: 

Triumphes  erdrosseln  zu  lassen,  wie  milde  er  auch  sonst 
gegen  besiegte  Feinde  verfahr.  Heute  wäre  eine  solche 
That  dem  Gewissen  des  siegreichen  Feldherm  wie  dem 
des  siegreichen  Volkes  im  Innersten  zuwider.  Und  um- 
gekehrt, vieles,  was  einem  primitiven  Menschen  sein  Ge- 
wissen verbietet,  wie  die  Verletzung  heiliger  Tiere,  die 
Berührung  dessen,  was  „tabu"  ist,  wird  später  nicht  mehr 
als  Vergehen  betrachtet.  Und  wie  wir  eine  bestimmte 
Richtung  in  der  Entwicklung  der  sittlichen  Grundsätze 
festgestellt  haben,  nämlich  zur  Ausdehnung  der  Autonomie 
über  einen  immer  gröfseren  Kreis  von  Personen  und  einen 
immer  gröfseren  Umfang  von  Gütern,  so  können  wir  auch 
eine  Entwicklung  des  Gewissens  in  dieser  Richtung  fest- 
stellen, nämlich  zu  immer  gröfserer  Achtung  der  sittlichen 
Selbständigkeit  des  mündigen  Mitmenschen. 

Aber  als  Gefühl  ist  das  Gewissen  noch  in  einer  anderen 
Beziehung  der  Veränderung  unterworfen,  nämUch  in  seiner 
Intensität.  Und  die  Theologen,  die  sich  mit  der  Psychologie 
des  Gewissens  viel  beschäftigt  haben,  meinen  die  ver- 
schiedene Intensität,  wenn  sie  vom  wachenden  oder  schlafen- 
den, vom  scharfen  oder  stumpfen  Gewissen  sprechen. 

Wie  steht  es  nun  in  dieser  Hinsicht  mit  dem  Gewissen? 
Hat  es  bei  allen  Menschen  an  Intensität  beständig  abge- 
nommen oder  zugenommen,  oder  ist  seine  Intensität  eine 
beständig  wechselnde  gewesen,  oder  hat  es  in  der  einen 
Klasse  der  Gesellschaft  abgenommen,  in  der  anderen  zuge- 
nommen? Diese  Frage  ist  genau  die  Hälfte  des  ganzen 
Problems.  Denn  es  kommt  flir  den  sittlichen  Fortschritt, 
für  das  stetige  Wachstum  der  relativen  Summe  der  sittlichen 
Handlungen  nicht  blofs  darauf  an,  dafs  die  in  der  Gesell- 
schaft geltenden  Grundsätze  immer  sittlicher  werden,  sondern 
auch  darauf,  dafs  sie  befolgt  werden.  Das  Mafs  ihrer 
Befolgung  aber  ist  abhängig  von  dem  Mafse  der  in  der 
jeweiligen  Gesellschaft  vorhandenen  Gewissenhaftigkeit. 


'*• 


*   •   • 


•  •••-; 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.        103 

Nach  der  populären  Aufifassung  nun  befindet  sich  jede 
Gesellschaft  in  dieser  Hinsicht  in  beständigem  Niedergange. 
Die  gute  alte  Zeit,  die  entschwundene  Herrlichkeit  der 
vergangenen  Tage,  die  Kraft  und  die  sittliche  Tüchtigkeit 
der  Altvordern  sind  seit  dem  im  6.  Jahrhundert  vor  Chr. 
lebenden  Dichter  Theognxs  ein  beliebtes  Thema  der  jedes- 
maligen älteren  Generation  gewesen.  H.  Delbrück^)  hat 
nachgewiesen,  dafs  kein  Jahrhundert  der  christlichen  Zeit- 
rechnung, auch  nicht  die  scheinbar  tüchtigsten  und  glück- 
lichsten Generationen,  von  dem  Glauben  an  den  Verfall 
und  von  der  Sehnsucht  nach  der  besseren  Vergangenheit 
frei  war.  Wäre  diese  Ansicht  von  der  Vorzeit  richtig,  so 
müfsten  die  Menschen  längst  in  ihren  Sünden  untergegangen 
sein  oder  sich  gegenseitig  aufgerieben  haben. 

Aber  läfst  sich  die  hier  aufgeworfene  Frage  überhaupt 
heute  schon  nach  wissenschaftlicher  Methode  beantworten? 
Die  guten,  gewissenhaften  Handlungen,  die  in  einer  Gesell- 
schaft geschehen,  werden  nicht  gezählt,  auch  nicht  alle 
sehlechten,  gewissenlosen,  sondern  nur  diejenigen,  die  gegen 
die  bestehenden   Gesetze    offenkundig   verstofsen.     Diese 


^)  Preufsische  Jahrbücher,  71.  Band  (1893),  S.  1  ff.  Die  Vor- 
stellung des  stetigen  sittlichen  Verfalls  ist  verwandt  mit  der  des  fort- 
schreitenden physischen  Verfalles.  Schon  bei  Homer  rühmen  die  Alten 
die  gröfsere  !&raft  ihrer  Generation,  Cyprian  von  Carthago  (bei  Delbrück, 
a.  a.  0.  S.  26)  fand  die  Menschheit  im  3.  Jahrhundert  n.  Chr.  alt  und 
unmittelbar  vor  ihrem  Untergange  stehend,  Egbert  von  Lüttich  (im 
11.  Jahrhundert)  fand,  wie  schon  Juvenal,  die  Menschheit  verkümmernd 
(S.  23),  und  endlich  führt  Delbrück  aus  dem  15.  Jahrhundert  zwei 
Stimmen  an,  die  behaupten,  dafs  die  Deutschen  früher  viel  stärker 
waren.  Delbrück  hätte  noch  hinzufügen  können,  dafs  auch  die  Klage 
über  zunehmende  Nervosität  nicht  neu  ist.  Schon  J.  H.  Campe  in  der 
Revision  des  gesamten  Schul-  und  Erziehungswesens,  8.  Teil,  Wien 
und  Wolfenbüttel  1787,  S.  153,  macht  gegen  E.  Ch.  Trapp  in  Bezug 
auf  den  Gebrauch  von  Märchen  im  Unterrichte  geltend,  dafs  es  „besonders 
in  unseren  phantasiereichen  und  nervenkranken  Zeiten  höchst  gefährlich" 
sei,  die  Phantasie  zu  reizen.  Im  Altertum,  z.  B.  bei  Lukrez  (De 
rerum  natura,  Lib.  II,  S.  1150  ff.)  finden  wir  sogar  die  Vorstellung, 
dafs  nicht  blofs  die  Menschheit,  sondern  die  Erde  selbst  alt  werde. 


104  Paiil  Barth: 

letzteren  bilden  sicherlich  nur  einen  kleinen  Teil  der  über- 
haupt verübten  schlechten  Handlungen.  Aber  vergleichs- 
weise liefsen  ihre  Zahlen,  die  die  Kriminalstatistik  ergiebt, 
sich  dennoch  verwerten.  Wenn  eine  Generation  gegenüber 
der  voraufgehenden  eine  höhere  Zahl  von  offenkundig  ge- 
wordenen Verbrechen  aufweist,  so  zeigt  sich  darin  — 
ceteris  paribus  —  eine  Zunahme  der  Gewissenlosigkeit. 

Leider  jedoch  arbeitet  die  Kriminalstatistik  erst  seit 
50 — 80  Jahren.  Nur  für  die  letzten  Jahrzehnte  also  giebt 
sie  uns  die  Möglichkeit,  aus  ihren  Ziffern  Zu-  oder  Abnahme 
der  Gewissenlosigkeit  zu  erschliefsen.  Um  über  die  fernere 
Vergangenheit  ein  Urteil  zu  gewinnen,  bleibt  uns  nur  der 
deduktive  Weg  der  Betrachtung  übrig. 

Das  Leben  einer  Gesellschaft  beruht  zunächst  auf 
einer  bestimmten  wirtschaftlichen  Ordnung,  d.  h.  auf  einer 
bestimmten  Verteilung  des  Besitzes  und  einem  bestimmten 
Verhältnisse  der  Arbeitenden  zu  den  Besitzenden,  die,  in 
den  Zeiten  des  Privateigentums  wenigstens,  nur  zum  Teile 
mit  den  ersteren  identisch  sind.  Wenn  die  Bevölkerung 
wächst,  so  kann  das  Fortbestehen  der  alten  Ordnung  viele 
vom  Besitz  oder  von  der  Arbeit  ausschliefsen.  Neid  und 
Not  erzeugen  dann  viel  Gewissenlosigkeit,  die  Verbrechen 
werden  sich  vermehren. 

Die  zweite  Grundlage  des  Gedeihens  einer  Gesellschaft 
ist  eine  gemeinsame  Lebensanschauung,  die  sich  in  gemein- 
samen religiösen  und  sittlichen  Ideen  ausprägt.  Solche  Ideen 
sind  aber  keineswegs  etwas  ein  für  allemal  Gegebenes, 
sondern  eine  Schöpfung  des  Menschen,  ein  immer  von  neuem 
zu  gewinnender  Erwerb.  Sie  sind  kein  Wissen,  aber  sie 
ruhen  auf  dem  jeweiligen  Wissen,  sie  dürfen  ihm  auch 
nicht  widersprechen.  Es  kann  aber  das  Wissen  Fortschritte 
machen,  ohne  dafs  die  Ideen  sich  ihm  anpassen.  Dann 
verlieren  sie  ihre  Gewalt  über  die  Geister.  Und  nicht 
minder  können  sie  ihre  Gewalt  über  die  Gemüter  verlieren. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.        105 

Wie  alle  Vorstellungen  und  alle  aus  Vorstellungen  ent- 
standenen Gebilde  unterliegen  auch  die  religiösen  und  sitt- 
lichen Ideen  dem  teils  wohlthätigen,  teils  verhängnisvollen 
Gesetze  der  Ermüdung.  Bis  zu  einem  gewissen  Mafse 
wiederholt,  kann  eine  Vorstellung  ihre  Wirkung  auf  das 
Gefühl  steigern;  wenn  dieses  Mafs  aber  überschritten  ist, 
so  kann  sich  das  Gefühl  gegen  sie  abstumpfen,  gleichgültig 
werden.^)  Zwar  das  sittliche  Streben  und  der  religiöse 
Glaube  selbst  können  nicht  aufhören,  sie  gehören  zu  den 
Gesetzen  des  Lebens.  Aber  sie  bedürfen  der  Begründung 
und  der  Einkleidung.  Und  diese  Begründungen  und  Ein- 
kleidungen können  durch  Unvereinbarkeit  mit  dem  Wissen 
oder  durch  Abstumpfung  des  Gefühls,  das,  je  älter  sie  sind, 
Urnen  gegenüber  desto  matter  wird,  ihre  Kraft  einbüfsen. 
Wenn  nun  die  alten  Einkleidungen  und  Begründungen, 
d.  h.  die  alten  Ideen  nicht  mehr  gelten,  die  neuen  aber 
noch  keine  feste  Gestalt  angenommen  haben,  so  kann  ein 
Interregnum  des  religiösen  und  sittlichen  Gefühls  eintreten 
und  naturgemäfs  in  der  Gesellschaft,  die  ihm  verfallen  ist, 
Gewissenlosigkeit  begünstigen. 

Und  in  der  That,  wenn  wir  die  kritischen  Epochen  der  Geschichte 
betrachten,  so  finden  wir  sogar  in  der  Überlieferung,  die  uns  vorliegt, 
die  für  den  gröfsten  Teil  der  Vergangenheit  nur  chronistisch  ist,  die 
fast  immer  Ereignisse  erzählen,  nicht  Zustände  beschreiben  will, 
mancherlei  Züge,  die  unsere  Deduktion  bestätigen.  Kritisch  war  jeden- 
falls die  Zeit  Chlodwigs  und  der  ihm  nachfolgenden  fränkischen  Könige. 
Denn  in  ihr  vollzieht  sich  der  Übergang  vom  Kommunismus  der  Gentil- 
verfassung  zum  Privateigentum  und  zur  ständischen  Gliederung  der 
Gesellschaft.  Dazu  stimmt,  dafs  wir  bei  Gregor  von  Tours,  dem  Ge- 
schichtsschreiber jener  Zeiten,  so  viel  Verbrechen,  Grausamkeiten  und 
Gewaltthätigkeiten  erzählt  finden,  wie  bei  keinem  anderen  Historiker 
der  christlichen  Zeiten.  2)    Eine  andere  kritische  Zeit  ist  die  der  Ee- 

^)  Vergl.  W.  WuNDT,  Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie, 
4.  Aufl.,  I,  Leipzig  1893,  S.  576. 

^  Vergl.  J.  W.  LÖBBLL,  Gregor  von  Tours  und  seine  Zeit, 
2.  Aufl.,  Leipzig  1869,  S.  35:  „Desto  öfter  sehen  wir  dagegen  die 
Glieder  aller  Stände,  nur  den  Eingebungen  ihrer  rohen  Sinnlichkeit, 
Eifersucht,  gemeinen  Habsucht,  Ehr-  und  Rachgier  folgend,  nach  allen 


106  Paul  Barth: 

formation.  Besonders  die  Bauernschaft  war  durch  Anschwellen  ihres 
Nachwuchses,  der  nicht  mehr  durch  Kolonisation  Ahflufs  fand,  in 
Deutschland  seit  dem  14.  Jahrhundert,  in  Westeuropa  noch  früher  in 
eine  gedrückte  Lage  geraten. ')  Durch  furchtbare  Aufstände  suchte  sie 
in  England  und  in  Frankreich  im  14.  Jahrhundert,  in  Deutsehland 
im  15.  und  im  Anfange  des  16.  ihre  Fesseln  zu  sprengen.  Auch  in 
den  Städten  hatten  die  Besitzlosen  sehr  zugenommen.  Dazu  kam,  dafs 
der  alte  Glaube  überall  wankte.  Die  katholische  Gesetzesreligion  war 
für  die  Mehrzahl  der  Menschen  nicht  mehr  befriedigend,  die  neue 
Religion  der  Gesinnung  aber,  der  Protestantismus,  hatte  noch  keine 
feste  Organisation  gewonnen.  So  ist  es  kein  Wunder,  wenn  wir  bei 
Thomas  Morus  in  der  Einleitung  zu  seiner  Utopie  von  der  grofsen 
Menge  Verbrechen  lesen,  die  er  namentlich  gegen  das  Eigentum  be- 
gangen sieht;  kein  Wunder,  dafs,  wie  er  berichtet,  oft  20  Menschen 
an  einem  Tage  an  einem  einzigen  Galgen  gehängt  wurden.  2)  Und 
im  damaligen  Deutschland  „spiegelt  uns  die  Litteratur  in  höchst  be- 
deutsamer Schärfe  einen  gesellschaftlichen  Kriegszustand,  der  nicht 
allein  den  unblutigen  Waffen  der  Kritik  und  des  Spottes  den  freiesten 
Lauf  liefs,  sondern  auch  häufig  genug  den  vorhandenen  feindseligen 
Stimmungen  in  erbarmungslosen  Thaten  Luft  machte.^)" 

Und  als  der  französische  Absolutismus  des  vorigen  Jahrhunderts 
durch  seine  Mifswirtschaft  das  Land  ins  Elend  gebracht  hatte,  da  waren 
die  Verbrechen  von  ungewöhnlicher  Häufigkeit,  die  Sicherheit  des  Lebens 
und  des  Eigentums  sehr  gering.*) 

So  sehen  wir,  wie  die  sittlichen  Grundsätze  stetig  im 
Sinne  wachsender  Autonomie  des  Einzelnen  fortschreiten, 
wie  auch  die  Sympathie  in  beständigem  Wachstum  begriffen 
ist,^)  wie   aber  die  Macht  des  Gewissens  sich  in  Kurven 


Seiten  hin  die  Bande  göttlicher  und  menschlicher  Gebote  und  jeder 
Sitte  durchbrechen  und  sich  den  wildesten  Gewaltthätigkeiten  überlassen. 
Gregor  ist  voll  von  sprechenden  Zügen  dieser  Art,  sie  füllen  einen 
grofsen  Teil  seines  Wortes." 

*)  Vergl.  K.  Lamprecht,  Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Mittel- 
alter, I,  Leipzig  1886,  S.  1197  ff.,  1227—1242. 

2)  Vergl.  Thomas  Morus,  Utopia,  Lib.  I,  Das  Kapitel  de  legibus 
parum  aequis. 

8)  F.  VON  Bezold,  Geschichte  der  deutschen  Keformation,  Ber- 
lin 1890,  S.  46/47. 

*)  Vergl.  H.  Taine,  Les  origines  de  la  France  contemporaine, 
deutsch  von  L.  Katscher  u.  d.  T. :  Die  Entstehung  des  modernen  Frank- 
reich, 2.  Aufl.,  Leipzig,  s.  a.  I,  S.  430  ff. 

*)  Hierbei  wirkt  die  Vererbung  mit.  Es  ist  oft  zu  beobachten, 
dafs  sie  die  Disposition  zur  Sympathie  von  den  Eltern  auf  die  Nach- 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortscbritts  der  Menschheit.        107 

bewegt-,  die  mit  dem  Entstehen,  Blühen  und  Verfallen  einer 
wirtschaftlichen  Ordnung  oder  eines  religiös-sittlichen  Ideals 
oder  beider  zugleich  parallel  gehen.  Die  sittlichen  Grund- 
sätze, die  in  einer  Gesellschaft  herrschen,  und  das  Mafs 
von  Sympathie,  das  ihre  Mitglieder  verbindet,  ergeben  eine 
gewisse  potentielle  Sittlichkeit,  ein  konstruierbares  Ideal, 
das  vollkommen  verwirklicht  würde,  wenn  alle  Mitglieder 
dieser  Gesellschaft  nach  den  geltenden  sittlichen  Prinzipien 
und  den  Antrieben  ihrer  Sympathie  lebten.  Das  Mafs  der 
Gewissenhaftigkeit  aber,  mit  der  die  sittlichen  Grundsätze 
und  die  Gefiihle  der  Sympathie  befolgt  werden,  giebt  die 
Höhe  der  aktuellen  Sittlichkeit  einer  Gesellschaft  an.  Die 
potentielle  Sittlichkeit  läfst  sich  ihres  stetigen  Aufsteigens 
wegen  durch  eine,  unter  einem  gewissen  Winkel  zur  Ebene  — 
die  Ebene  stellt  den  schuld-  und  verdienstlosen  Natur- 
zustand dar  —  aufsteigende  Grade  darstellen,  die  aktuelle 
Sittlichkeit  aber,  wie  die  Gewissenhaftigkeit,  von  der  sie 
abhängt,  durch  Kurven,  zu  denen  diese  Grade  beinahe  die 
gemeinsame  Tangente  ist.  Der  Scheitelpunkt  jeder  dieser 
Kurven  liegt  höher  als  der  Scheitelpunkt  der  voraufgehenden, 
ihr  tiefster  Punkt  aber  kann  so  tief  unter  die  Grade  sinken, 
dafs  der  Anschein  unaufhaltsanjen  Verfalls  erregt  wird, 
während  der  absteigende  Ast  der  Kurve  in  Wirklichkeit 
vielleicht  nicht  einmal  so  tief  sinkt,  wie  der  absteigende  Ast 
der  voraufgegangenen. 

Es  ist  nun  eine  nicht  blofs  interessante,  sondern  auch 
wichtige  Frage,  auf  welchem  Aste  der  Kurve  der  aktuellen 
Sittlichkeit  sich  unsre  Gegenwart  befindet. 

kommen  überträgt.  Dasselbe  lehrt  die  Erfahrung  von  Stärke  und 
Schwäche  des  Willens,  und  zwar  ist  es  wahrscheinlich,  dafs  nicht  blofs 
die  angeborene,  sondern  auch  die  erworbene  Stärke  des  Willens  auf 
die  Kinder  übergehen  kann.  Gegen  Weismann  und  seine  Anhänger,  die 
die  Vererbung  erworbener  Eigenschaften  leugnen,  macht  C.  M.  Williams 
(a.  a.  0.  S.  402  ff.)  mit  Recht  geltend,  dafs  Krankheiten  doch  erworbene 
Eigenschaften  sind  und  dennoch  vererbt  werden;  und  „that  which  we  call 
disease  is  not  more  physical,  than  that  which  we  call  moral  characteristic". 


108  Pa^l  Barth: 

Was  zunächst  die  oben  festgestellten  beiden  Grund- 
lagen der  Gewissenhaftigkeit  und  der  mit  ihr  gleichbedeuten- 
den aktuellen  Sittlichkeit  betrifft,  so  sind  sie  heutzutage 
keineswegs  fest  und  sicher.  Die  wirtschaftliche  Ordnung 
ist  gestört.  In  den  letzten  100  Jahren  ist  das  wirtschaft- 
liche Leben  unsicherer  und  unruhiger  geworden.  Durch 
nichts  wird  diese  Thatsache  schärfer  beleuchtet,  als  durch 
Erinnerung  an  eine  Betrachtung,  die  Adam  Smith  über 
das  Bankerottmachen  anstellt.  Er  sagt,  dafs  zu  seiner  Zeit 
von  1000  Handel  oder  Gewerbe  Treibenden  durchschnitt- 
lich nur  Einer  einmal  in  seinem  Leben  bankerott  wird, 
und  hält  einen  Bankerott,  indem  er  wohl  nur  das  Urteil 
seiner  Zeit  nachspricht,  für  das  gröfste,  demütigendste  Un- 
glück, das  einen  anständigen  Mann  treffen  kann.^)  Damit 
verglichen  hat  heutzutage  sich  die  Häufigkeit  der  Konkurse^) 
auf  das  30  fache  erhoben.  Mit  der  steten  Zunahme  der 
Bankerotte  ist  auch  ein  Rückgang  der  Gewissenhaftigkeit 


^)  Wealth  of  Nations,  2.  Buch,  3.  Kapitel. 

2)  Im  Jahre  1895  gab  es  in  Deutschland,  für  welches,  da  es  die 
beste  Berufsstatistik  hat,  die  Verhältnisse  am  klarsten  liegen  (nach 
dem  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften,  herausg.  yon 
J.  CoNBAD,  L.  Elster,  W.  Lexis,  E.  Löning,  2.  Supplementband,  Jena 
1897,  S.  189),  5482151  selbständige  Unternehmer  und  Besitzer.  Von 
diesen  wurden  (nach  dem  Statistischen  Jahrbuche  für  das  Deutsche 
Reich,  Jahrgang  1896,  S.  142)  im  Jahre  1895  bankerott  6994.  Das 
ergiebt  schon  auf  783  Besitzer  einen  Bankerotteur,  aber  nicht  während 
eines  Lebensalters,  wie  bei  Apah  Smith,  sondern  während  eines  einzigen 
Jahres.  Eechnet  man  das  Lebensalter  auch  nur  im  Sinne  der  durch- 
schnittlichen wirtschaftlichen  Selbständigkeit  auf  30  Jahre,  so  kann 
man  sagen,  dafs  die  Häufigkeit,  die  Adam  Smith  annimmt,  sich  auf  mehr 
als  das  30  fache  gehoben  hat.  Und  noch  immer  ist  in  Deutschland  die 
Neigung  zum  Bankerottmachen  zunehmend,  wie  sich  ergiebt,  wenn  man 
die  Ziffern  für  die  Zeit  1881—1889  mit  denen  für  die  Jahre  1891—1894 
Tergleicht.  Denn  im  ersteren  Zeitraum  kamen  (nach  dem  genannten 
Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften,  4.  Bd.,  Jena  1892,  S.  810). 
durchschnittlich  im  Jahre  auf  100000  Einwohner  11,4  eröffnete  Kon- 
kurse, dagegen  im  letzteren  (nach  dem  1.  Supplementband,  S.  608)  14,5. 
In  den  übrigen  westeuropäischen  Staaten  und  in  Nordamerika  liegen 
die  Verhältnisse  keineswegs  besser,  eher  noch  schlechter. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.        109 

eingetreten.  In  weiten  Kreisen  des  Volkes  ist  heutzutage 
ein  selbstverschuldeter  Konkurs  kein  sittlicher  Makel  mehr, 
ein  Zeichen,  dafs  Unsicherheit  des  wirtschaftlichen  Daseins 
und  gesteigerter  Kampf  um  dasselbe  nur  für  die  Minder- 
zahl ein  Mittel,  den  Charakter  zu  stärken,  für  die  Mehrzahl 
vielmehr  eine  Verführung  zur  Charakterlosigkeit  ist. 

Aber  auch  die  ideologischen  Grundlagen  der  Sittlichkeit 
sind  ins  Wanken  geraten.  Vor  hundert  Jahren,  am  Ende 
der  Epoche  der  Aufklärung,  übten  teils  die  religiösen,  teils 
die  moralischen  Ideen  noch  eine  feste,  unerschütterte  Herr- 
schaft über  die  Geister  und  die  Herzen.  ^)  Die  Aufklärung 
war  in  Deutschland  wenigstens  keine  Zeit  der  Skepsis, 
sondern  des  gläubigen  Idealismus.  Und  noch  1848,  im 
Jahre  der  Revolution,  waren  die  revolutionären  Klassen 
religiös  fühlend,  2)  gegenwärtig  sind  weite  Volksschichten 
in  demselben  Grade  wie  revolutionär  zugleich  irreligiös 
gesinnt.  Es  ist  damit  nicht  gesagt,  dafs  ihnen  alle  sittlichen 
Ideen  abhanden  gekommen  seien,  aber  ein  Teil  derselben 
ist  durch  das  Verblassen  des  religiösen  Glaubens,  das  in 


^)  Vergl.  darüber  meine  Philosophie  der  Geschichte  als  Sociologie, 
I,  Leipzig  1897,  S.  270,  389. 

^  Es  ist  z.  B.  eine  bekannte  Thatsache,  dafs  die  Berliner  Be- 
Yolutionäre,  die  am  19.  März  1848  die  Leichen  der  gefallenen  Barrikaden- 
kämpfer in  den  Schlofshof  brachten,  dort  aus  freien  Stücken  andächtig 
den  Choral  „Jesus,  meine  Zuversicht"  sangen.  Vergl.  A.  Wolpf, 
Berliner  Revolutions-Chronik,  I,  Berlin  1851,  S.  248  ff.  In  Breslau  wurde 
wegen  UnbotmäTsigkeit  der  Zöglinge  und  vermuteter  demokratischer 
Umtriebe  am  29.  Januar  1846  durch  einen  königlichen  Kommissarius 
das  dortige  Schullehrerseminar  aufgelöst.  „Am  Abend  desselben  Tages 
versammelten  sich  die  tief  erschütterten  Zöglinge  auf  eigenen  Antrieb 
nochmals  im  Musik-  und  Betsaal  des  Seminars  und  stimmten  zum  letzten- 
male  in  diesen  Mauern  das  Lied  „Ein'  feste  Burg  ist  unser  Gott"  an, 
sangen  nochmals  aus  voller  Seele  und  in  wahrhaft  erhebender  Weise, 
und  stärkten  sich  dadurch  und  durch  ein  von  einem  Zöglinge  verfafstes 
und  gehaltenes  Gebet  zur  Ertragung  des  über  sie  verhängten  Schicksals." 
K.  Fischer,  Geschichte  des  deutschen  Volksschullehrerstandes,  II, 
Hannover  1893,  S.  245. 


f 


110  Paul  Barth: 

manchen   schon   zum   Erlöschen  geworden   ist,   sicherlich 
entschwunden. 

Auch  in  den  nicht  revolutionär  gesinnten  Volkskreisen, 
zu  denen  fast  alle  „Gebildeten"  gehören,  ist  das  religiöse 
Bewufstsein  nicht  mehr  so  lebendig,  wie  in  früheren  Jahr- 
zehnten. Aber  selbst  das,  was  in  Bezug  auf  die  Lebens- 
führung bei  ihnen  gleichen  Erfolg  haben  könnte,  als  die 
Religion,  die  Überzeugung  vom  Werte  der  sittlichen  Ideale 
ist  nicht  unerschüttert  geblieben.  Die  Philosophie  Nietzsches 
verdankt  ihren  grofsen  Einflufs  sicherlich  weniger  ihrem 
sittlich  positiven  Bestandteil,  der  stärker  als  die  frühere 
Ethik  betont,  dafs  der  Wille  vor  allem  erst  ein  starker 
sein  müsse,  ehe  er  ein  guter  sein  könne,  mehr  verdankt 
sie  zweifellos  ihrer  kritischen,  negativen  Lehre,  dafs  das 
Mitleid  eine  Schwäche,  die  Freiheit  des  Geistes  ein  höheres 
Gut  als  die  Sittlichkeit  der  jeweiligen  Gesellschaft  und  in 
diesem  Sinne  der  Gewissensbifs  „unanständig"  sei.  Denn 
wir  finden  sonst  keineswegs  in  der  specifisch  modernen 
Litteratur  einen  Kultus  der  Willensstärke,  vielmehr  eine 
ausgesprochene  Vorliebe  für  die  Schwächlinge,  die  Deka- 
denten,^) die  zugleich  sehr  egoistisch  sein  können.  Dem 
Kultus  des  Egoismus  verdankt  auch  M.  Stibneb  sein  Wieder- 
aufleben, ein  Schriftsteller,  der  wegen  Mangels  an  Geist 
und  Wissen  seiner  Zeit  ganz  unbeachtet  blieb  und  längst 
der  verdienten  Vergessenheit  anheimgefallen  war. 

Aus  dem  Stande  der  Bedingungen  der  aktuellen 
Sittlichkeit  ergiebt  sich  also  der  Schlufs,  dafs  die  Gegen- 
wart einen  Rückgang,  einen  absteigenden  Ast  derselben 
darstelle.  Und  dieser  Schlufs  wird  durch  die  Kriminal- 
statistik bestätigt.     Sie  lehrt,  dafs  in  den  letzten  50  Jahren 


^)  Das  Wort  ist  ebenso  seltsam,  für  das  deutsche  Sprachgefühl 
wenigstens,  wie  der  Begriff.  Es  ist  auf  einem  Umwege  vom  fran- 
zösischen „d^cadence*^  gebildet,  anstatt  direkt  aus  dem  Lateinischen, 
nach  dem  es  Decident  heilsen  müTste. 


Die  Frage  des  sittlichen  FortBchritts  der  Menschheit.        Hl 

die  Zahl  der  Verbrechen  im  allgemeinen  abgenommen  hat, 
dafs  aber  gewisse  Klassen  von  Verbrechen,  nämlich  die  der 
Jugendlichen,  der  EückfaUigen  und  die  Verbrechen  gegen 
die  Sittlichkeit,  stetig  zugenommen  haben  und  noch  zu- 
nehmen. ^)  Die  Zunahme  der  jugendlichen  Verbrecher  weist 
hin  auf  Unzulänglichkeit  der  Erziehung,  also  Schwäche  der 
Gesellschaft,  die  nicht  mehr  imstande  ist,  durch  Erziehung, 
öffentliche  Meinung  und  Sitte  richtige  Grundsätze  der  heran- 
wachsenden Generation  fest  genug  einzuprägen.  Die 
wachsende  Zahl  der  Rückfälligen  zeigt  einen  immer  gröfseren 
Kreis,  der  das  von  der  Gesellschaft  geforderte  sittliche 
Minimum  überhaupt  nie  mehr  erreicht,  und  die  sich  mehren- 
den Verbrechen  gegen  die  Sittlichkeit  sind  ebenso  viele 
Beweise  gewissenlosen  Geistes. 

Aber  selbst  der  Trost,  den  man  aus  der  allgemeinen 
relativen  Verminderung  der  Verbrechen  schöpfen  könnte, 
wird  durch  die  Ansichten  der  meisten  Kriminalstatistiker 
noch  zunichte  gemacht.  Denn  diese  gehen  dahin,  dafs  die 
geringere  Zahl  verbrecherischer  Thaten  nur  auf  Zunahme 
der  Vorsicht  und  auf  Abnahme  der  Aussicht  auf  Straflfreiheit 
beruht,  dafs  aber  die  verbrecherische  Gesinnung  im  allge- 
meinen gewachsen  ist.^ 

Es  ist  femer  eiue  bekannte  Thatsache  der  Statistik, 
dafs  in  allen  Kulturländern  in  den  letzten  Jahrzehnten 
die  relative  Zahl  der  Selbstmörder  sehr  gewachsen  ist.^) 

*)  Vergl.  B.  FöLDEs,  Einige  Ergebnisse  der  neueren  Kriminal- 
Statistik  in  der  Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft, 
Bd.  XI  (1891),  besonders  S.  568  ff.,  663,  667.  Über  die  zunehmende 
Verwahrlosung  von  Kindern  in  Grofs-Britannien  vergl.  F.  Tönkibs, 
Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft,  Bd.  XIU  S.  896  ff. 

^  Nach  FöLDBS  (a.  a.  0.  S.  667)  sind  die  Deutschen  Mittelstadt, 
Illino,  Ottingbn,  Stbüssbbbg  dieser  Meinung,  in  Italien  Febbi  und 
Gaboealo,  in  England  Leone  Levi,  in  Frankreich  Yvbbnbs,  Tabde,  Joly, 
FäbjS  u.  a.,  während  Stabcke  die  Ansicht  vertritt,  dafs  in  Preufsen  seit 
dem  Kriege  von  1870/71  die  Kriminalität  sich  nicht  verschlimmert  habe. 

^)  In  Frankreich  z.  B.,  welches  keineswegs  besonders  reich  an 
Selbstmorden  ist,  betrug  184i — 1845  der  Jahresdurchschnitt  der  Selbst- 


112  Paul  Barth: 

An  sich  ist  dies  noch  nicht  ein  Symptom  verminderter 
Sittlichkeit.  Denn  es  könnte  ja  die  Zunahme  aus  Steigerung 
des  Ehrgefühls  entstehen.  Aber  E.  Dubkheim,  ^)  der  zuletzt 
die  Häufigkeit  und  auch  die  Beweggründe  des  Selbstmords 
nach  den  Thatsachen  der  Statistik  untersucht  hat,  kommt 
am  Ende  seiner  Arbeit  zu  dem  Ergebnis :  ,.Das  Unbehagen, 
an  dem  wir  leiden,  rührt  nicht  daher,  dafs  die  objektiven 
Ursachen  von  Leiden  an  Zahl  oder  Heftigkeit  gewachsen 
wären;  es  zeugt  nicht  von  einem  gröfseren  ökonomischen, 
sondern  von  einem  beunruhigenden  moraüschen  Elend." 

Mufs  nun  der  denkende  Betrachter  der  Gegenwart 
angesichts  dieser  Symptome  verzagen  oder  hat  er  Grund 
zu  der  Hofl&iung,  dafs  die  Völker  der  modernen  Kultur  ia 
absehbarer  Zeit  auch  wieder  einen  aufsteigenden  Ast  der 
aktuellen  Sittlichkeit  erreichen  werden?  —  Ich  glaube,  das 
letztere  ist  zu  bejahen. 

Man  hat  unsere  Zeit  oft  mit  der  römischen  Kaiserzeit 
verglichen.  Es  giebt  in  der  That  einige  übereinstimmende 
Züge.  Wie  damals,  konzentriert  sich  auch  jetzt  der  Besitz 
in  immer  weniger  Hände,  aber  in  viel  langsamerem  Tempo 
und  mit  sehr  wirksamen  Widerständen,  besonders  im  Grund- 
besitze, von  dem  darum  eine  Hemmung  der  konzentrierenden 
Bewegung  zu  erwarten  ist.  Wie  einst  im  römischen  Reiche, 
mischen  sich  auch  in  den  modernen  Kulturländern,  besonders 
in  der  Neuen  Welt,  viele  sehr  verschiedene  Kassen.  Und 
wie  in  den  ersten  3  Jahrhunderten  der  Kaiserzeit,  so  herrscht 


mörder  2951,  im  Jahre  1892  aber  war  die  Zahl  9285,  sie  ist  also  auf 
mehr  als  das  Dreifache  gestiegen  (Handwörterbuch  der  Staatswissen- 
schaften, herausg.  von  J.  CoNnAo,  L.  Elsteb,  W.  Lbxis,  E.  Lönino, 
1.  Supplementband,  Jena  1895,  S.  692).  Da  die  Bevölkerung  Frank- 
reichs in  der  Zwischenzeit  sich  nur  etwa  um  Ve  vermehrt  hat,  von 
33406864  im  Jahre  1841  auf  38343192  im  Jahre  1891  (Handw.  der 
Staatsw.,  II,  S.  429  und  1.  Suppl.  S.  212),  so  ist  die  zunehmende 
Häufigkeit  des  Selbstmordes  offenbar. 

1)  Le  suicide,  Paris  1897,  S.  445. 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.        113 

auch  jetzt  eine  bunte  Mannigfaltigkeit  der  Welt-  und  Lebens- 
anschauungen  in  der  Gesellschaft,  und  zwar  nicht  blofs 
über  theoretische  Fragen,  in  denen  die  Buntheit  der  An- 
sichten teils  unvermeidlich,  teils  nützlich  ist,  sondern  auch 
über  prinzipielle,  praktische  Hauptfragen,  in  denen  tief- 
gehende Uneinigkeit  nicht  ungefährlich  für  die  Erziehung 
des  Nachwuchses  ist. 

Aber  andererseits  giebt  es  Momente  genug,  die  die 
Gegenwart  von  der  Zeit  des  sinkenden  Altertums  unter- 
scheiden und  uns  hoffen  lassen,  dafs  die  moderne  europäische 
Kultur  nicht  wie  die  antike  auf  dem  Wege  zum  Untergänge 
sei.  Der  Einzelne  hat  einen  viel  höheren  Wert  in  der 
Gesellschaft  und  darum  ein  viel  höheres  Interesse  für  sie, 
als  damals.  Jenes  Absterben  der  Gesellschaft  von  innen 
heraus,  wie  es  sich  in  der  Flucht  der  Kolonen  zu  den 
„Barbaren"  und  in  dem  Abscheu  der  „Kurialen"  vor  über- 
nähme  staatlicher  Amter  ausspricht,  ist  wohl  heute  nicht 
mehr  möglich.  Auch  giebt  es  heute  keine  so  mächtige 
Strömung,  die  dem  Staate  so  feindlich  gegenüberstände, 
wie  das  Christentum  der  Kirchenväter.  Der  gröfste  Vorzug 
aber,  den  wir  vor  den  Menschen  der  antiken  Welt  voraus 
haben,  ist  der  Besitz  der  Wissenschaft,  und  zwar  von  der 
Natur  sowohl  als  von  der  Geschichte. 

Was  die  Naturwissenschaft  betrifft,  so  ist  es  ja  be- 
kannt, dafs  sie  im  Altertum  nicht  über  die  ersten  Anfänge 
hinausgekommen  ist.  Die  Technik,  die  auf  ihr  beruht, 
war  darum  dürftig,  sie  ist  jetzt  eine  grofse  Macht,  und 
wenn  sie  auch  keineswegs,  wie  manche  meinen,  an  sich 
schon  inneres  Gedeihen  der  GeseUschaft  verbürgt,  so  giebt 
sie  doch  einen  grofsen  Vorrang  über  die  „Barbaren". 
Wirksamer  aber  noch  wäre  die  richtige  Anwendung  der 
Wissenschaft  der  Geschichte,  oder  was  mit  ihr  gleichbe- 
deutend ist,  der  Wissenschaft  von  der  menschlichen  Gesell- 
schaft, der  Sociologie. 

Vierteljahrsschrift  f.  wlssenschaftL  Philosophie.    XXIIL  1.  8 


114  Paul  Barth: 

Die  Sociologie  ist  keineswegs  gleichbedeutend  mit  der 
Nationalökonomie.  Sie  ist  umfassender  als  diese,  die 
sicli  nur  mit  den  Thatsaclien  der  Produktion  und  der  Ver- 
teilung der  Güter  beschäftigt.  Denn  wirtschaftliche  Güter 
sind  nur  Material,  über  die  letzten  Zwecke,  denen  sie  dienen 
oder  dienen  sollen,  kann  die  Nationalökonomie  nichts  lehren. 

Ebensowenig  ist  die  Sociologie  gleich  der  Demo- 
graphie. Diese  hat  nur  zu  thun  mit  der  Statistik  des 
äufseren  Lebens,  der  Ehen,  Geburten,  Todesfälle,  Epidemien, 
auch  der  Verbrechen,  die  ebenfalls  an  sich  nur  äufsere 
Thatsachen  sind. 

Beide,  weder  Nationalökonomie  noch  Demographie, 
wissen  etwas  vom  inneren  Leben  der  Gesellschaft,  von  den 
Ideen,  die  in  ihr  herrschen,  die  allein  Zwecke  setzen  und 
sittliche  Energie  flir  ihre  Erreichung  erzeugen  können. 
Die  Ziffern  der  Nationalökonomie  und  der  Demographie  sind 
der  Sociologie  keineswegs  gleichgültig.  Sie  geben  die 
äufseren  Symptome  der  inneren  Verhältnisse.  Die  Sociologie 
wird  durch  sie  aufmerksam  auf  die  Erscheinungen,  deren 
letzte  Ursachen  sie  zu  ergründen  hat.  Sie  mufs  die  in 
einer  Gesellschaft  wirksamen  Ideen  betrachten,  kritisch 
untersuchen  und  schliefslich  entscheiden,  welche  von  ihnen 
zum  Absterben,  welche  zu  weiterem  inneren  Wachstum  an 
finchtbaren  Konsequenzen  und  zu  weiterer,  auf  immer  mehr 
Menschen  sich  erstreckender  Ausbreitung  bestimmt  scheinen. 
Sie  wird  in  ihrer  Anwendung  zur  praktischen  Politik,  und 
sie  wird  desto  sichrere  Diagnosen  und  Prognosen  stellen, 
je  genauer  sie  das  Leben  der  vergangenen  Gesellschaft 
erforscht  hat.  So  ist  es  nicht  blofs  eine  theologische, 
sondern  auch  eine  sociologische  Frage,  durch  welche  neue 
Begründungen  und  Einkleidungen,  eventuell  auch  Modifi- 
kationen die  gegenwärtige  christliche  Dogmatik  im  Leben 
der  modernen  Völker  wieder  eine  gröfsere  Macht  werden 
könne.    Denn  die  Entwicklung  der  Weltanschauung  folgt 


Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.        115 

einer  gewissen  Gesetzmäfsigkeit,  die  der  Sociologe  zn  er- 
forschen oder  von  anderen  Wissenschaften  zu  lernen  hat, 
nm  sie  in  seinen  Ausblicken  mit  in  Eechnung  zu  ziehen. 
So  ist  es  auch  eine  sociologische  Frage,  ob  der  Patriotismus, 
die  Pflege  und  Verteidigung  des  eigenen  Volkstumes,  der 
Hingebung  an  ein  allgemeines  Menschentum  zu  weichen 
habe,  oder  ob  er  auch  heute  noch  ein  unentbehrlicher  sitt- 
licher und  das  Leben  steigernder  Faktor  sei.  Wenn  das 
letzte  bejaht  wird,  so  fragt  es  sich  wiederum,  welche  Mittel 
der  Patriotismus  anzuwenden  habe,  ob  er  durch  politische 
oder  durch  ökonomische  Kämpfe  die  Macht  seines  Volkstums 
zu  erweitem  streben  oder  nur  auf  die  erhaltende  und 
werbende  Kraft  der  nationalen  Kultur  bauen  und  diese 
immer  feiner  ausbilden  solle.  Auch  diese  Frage  läfst  sich 
nur  auf  Grund  genauer  Kenntnis  der  innersten  Lebens- 
prozesse der  verschiedenen  Gesellschaften  der  Gegenwart 
wie  der  Vergangenheit  entscheiden. 

So  ist  es  also  doch  wieder  die  Wissenschaft,  bei  der 
wir  angelangt  sind,  und  es  scheint  beinahe,  als  wären  wir 
wider  Willen  auf  Buckles  These  zurückgeführt  worden. 
Aber  es  scheint  eben  nur  so.  In  Wahrheit  haben  wir 
gesehen,  dafs  das  Innere  des  Menschen  sich  nicht  so  gleich 
geblieben  ist,  wie  Buckle  annimmt,  dafs  seine  Grundsätze 
und  seine  Gefühle  sich  allmählich  verändert  haben  und 
noch  verändern.  Und  für  die  Zukunft  soll  nach  unserem 
Wunsche  und  nach  unserer  Hofl&iung  die  Wissenschaft  nur 
die  Bedingungen  ergründen  und  der  öffentlichen  Meinung 
kund  thun,  unter  denen  nach  eigenem  Gesetz  die  mensch- 
liche Seele  sich  weiter  zu  entwickeln  vermag,  unter  denen 
Autonomie  und  Sympathie  weiter  wachsen,  das  Gewissen 
wieder  empfindlicher  und  dadurch  die  aktuelle  Sittlichkeit 
höher  werden  kann.  Dabei  aber  ist  das  Wissen  nicht  un- 
abhängig von  der  schon  vorhandenen  Sittlichkeit.  Denn 
es  gehört  schon  sittliche  Energie  dazu,  um  von  eigenen 

8* 


11g     PaulBarth:  Die  Frage  des  eittlichen  Fortschritts  d.  Menschheit. 

und  fremden  Vorurteilen  frei  die  Wahrheit  zu  erkennen, 
bis  in  ihre  letzten,  wenn  auch  vielleicht  unbehaglichen, 
sogar  peinlichen  Konsequenzen  zu  verfolgen  und  in  der 
Praxis  gegen  „das  Gesetz  der  Trägheit"  durchzusetzen. 
So  wirkt  die  Sittlichkeit  auf  die  Wissenschaft  und  die 
Wissenschaft  auf  sie  zurück.  Und  in  dieser  Wechselwirkung 
wird  die  Wissenschaft  in  Zukunft,  wie  wir  zu  hoflfen  wagen 
dürfen,  die  beste  Führerin  und  Trösterin  der  Menschheit  sein. 
Als  Schiller  vor  100  Jahren  schrieb,  wollte  er  die 
höchsten  Aufgaben  der  Kunst  zuweisen.  Sie  sollte  den 
Menschen  nicht  blofs  zum  Guten  flihren,  nicht  blofs  eine 
„ästhetische  Erziehung  des  Menschengeschlechts"  bewirken, 
sondern,  wie  er  in  den  „Künstlern"  ausführte,  sogar  ihm  neue 
Erkenntnisse  eröffnen.  In  der  Wissenschaft  selbst  —  viel- 
leicht war  dies  eine  Nachwirkung  seiner  ehemaligen  jugend- 
lichen Begeisterung  für  Rousseau  —  erblickte  er  einen 
gefährlichen  Bestandteil,  wie  „das  verschleierte  Bild  zu 
Sais"  und  „die  Poesie  des  Lebens"  beweisen.  Darum 
scheint  es  für  ihn  allgemeinere,  nicht  blofs  individuelle 
Bedeutung  zu  haben,  wenn  er  Kassandra  ausrufen  läfst: 
„Nur  der  Irrtum  ist  das  Leben,  und  das  Wissen  ist  der 
Tod."  Wir  können  der  heutigen  Kunst  nicht  so  hohe  Auf- 
gaben anvertrauen,  wie  Schilleb  derjenigen  seiner  Zeit. 
Denn  sie  will  die  Menschen  gar  nicht  über  die  gemeine 
Wirklichkeit  erheben,  sondern  sie  darein  versenken.  Wir 
müssen  heute  mit  der  Verwahrung,  dafs  wir  nicht  in 
BucKLES  Einseitigkeit  zurückfallen,  den  Satz  Sghillebs 
umkehren  : 

Nur  das  Wissen  ist  das  Leben, 

Und  der  Irrtum  ist  der  Tod. 


/' 


liuiiininiiiiiitliiuiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiilllliii' 


^"v^t^v:^'^  v:,t  v:t:v: 


I. 

Besprechungen. 


Cornelius,  Hans,  Psychologie  als  Erfahrungswissen- 
schaft.    Leipzig,  B.  S.  Teubner,  1897. 

Das  neue  Buch  von  Cornelius  ist  nicht  ein  Lehrbuch 
dessen,  was  als  gesicherter  Besitz  der  psychologischen 
Wissenschaft  anzusehen  sei,  nicht  ein  Kompendium  der 
wichtigsten  Ergebnisse  bisheriger  Psychologie,  sondern  es 
beabsichtigt  „eine  erkenntnis-theoretische  Grundlegung  der 
Psychologie",  und  ist  daher  in  erster  Linie  eine  Psychologie 
des  Erkennens.  Dem  entsprechend  werden  manche  Einzel- 
fragen, auch  solche,  die  augenblicklich  im  Vordergrunde 
des  psychologischen  Interesses  stehen,  in  dem  Buche  gar 
nicht  oder  verhältnismäfsig  kurz  und  nur  in  erkenntnis- 
theoretischem Zusammenhange  erörtert.  Die  Bemühungen 
und  Fragestellungen  der  experimentellen  Psychologie  z.  B. 
erfahren  nur  eine  allgemeine  erkenntnis-theoretische  Be- 
leuchtung. Die  Thatsachen  des  Gefühls-  und  Willenslebens 
werden  nicht  so  ausführlich  behandelt,  wie  die  des  Urteilens 
und  der  Begriffsbildung.  Aber  wir  haben  es  keineswegs 
ausschliefslich  mit  einer  „Erkenntnistheorie  auf  psycho- 
logischer Grundlage"  zu  thun.  Die  intellektuellen  Funktionen 
des  Bewufstseins  werden  in  ihrem  Zusammenhange  mit  dem 
psychischen  Leben  überhaupt  begriffen  und  in  ihrer  natür- 
lichen Entwicklung  genetisch  untersucht. 

Der  methodologische  Charakter  des  Buches  kann  als 
reiner,  voraussetzungsloser  Empirismus  bezeichnet  werden. 
Nicht  abstrakte   und  hypothetische   „Elemente"   des  psy- 


' 


118  Felix  Krueger: 

chisclieii  Geschehens,  auch  nicht  irgend  welche  psycho-r 
logischen  Annahmen  bilden  den  Ausgangspunkt  der  Unter- 
suchung, sondern  überall  geht  Cobnelitjs  von  den  Gesamt- 
inhalten des  Bewufstseins,  als  dem  allein  unmittelbar 
Gegebenen,  aus.  —  Die  Analyse  des  Vorgefundenen  flihrt 
zu  gewissen  letzten,  nicht  weiter  zurückführbaren  Faktoren, 
auf  denen  die  Möglichkeit  eines  zusammenhängenden  und 
zeitlich  verlaufenden  psychischen  Lebens  beruht.  Als  diese 
fundamentalen  Faktoren  des  Bewufstseinsverlaufs  ergeben 
sich  zunächst  die  Thatsachen  der  Unterscheidung 
successiver  Bewufstseinsinhalte,  der  Erinnerung 
und  des  Wiedererkennens.  Die  Unterscheidung  gleich- 
zeitiger Teilinhalte  setzt  diejenige  successiver  Mehrheiten 
bereits  voraus.  Die  Erkenntnis  der  Ähnlichkeit  beruht 
wiederum  auf  dem  Dasein,  d.  h.  Unterschiedensein  einer 
Mehrheit  von  Teilinhalten ;  ja,  es  werden  „mit  Ähnlichkeit 
nur  besondere  Arten  von  Verschiedenheit"  bezeichnet. 
Andererseits  ist  dabei  die  Thatsache  der  Erinnerung  er- 
sichtlich impliziert.  Aus  der  Unterscheidung  von  Graden 
der  Ähnlichkeit  ergeben  sich  „Eeihen"  der  Ähnlichkeit, 
und  wo  ein  Inhalt  mehreren  Ahnlichkeitsreihen  zugleich 
angehört,  da  kann  von  Ähnlichkeitserkenntnis  in  einer  be- 
stimmten Hinsicht,  von  dem,  Unterlassen  einer  Ver- 
gleichung  in  Hinsicht  auf  andere  Ahnlichkeitsreihen  und  damit 
von  Abstraktion  geredet  werden.  Auf  der  Einordnung 
der  Inhalte  in  bestimmte  Ähnlichkeitsreihen  beruht  jede  Art 
der  Begriffsbildung  und  der  Prädikation.  Alle  zwischen 
zwei  oder  mehr  Inhalten  möglichen  Relationen  (einschüefs- 
lich  der  zeitlichen)  sind  im  Grunde  Ähnlichkeitsrelationen. 
Besonders  beachtenswert  an  diesen  grundlegenden 
Erörterungen  scheint  mir  dies  zu  sein,  dafs  Cobnelitjs  die 
Thatsache  dabei  nie  aus  den  Augen  verliert,  deren  Ver- 
nachlässigung zu  den  schlimmsten  theoretischen  Verirrungen 
führen  mufs  und  oft  genug  geführt  hat:  ich  meine  die 
Thatsache,  dafs  psychologisch  das  Ganze  früher  ist  als  der 
Teil;  dafs  Komplexe,  die  auf  Grund  nachträglicher  Analyse 
sich  als  mannigfach  zusammengesetzt  herausstellen,  doch 
als  etwas  völlig  Einheitliches  erlebt  werden  können;  „dafs 
überall  nicht  die  einzelnen  Teilinhalte,  sondern  die  Gesamt- 
inhalte das  primär  Gegebene  sind"  (S.  216).  Durch  das 
prinzipielle  Festhalten  an  dieser  Einsicht  werden  die  Aus- 


Cornelius,  „Psychologie  als  Erfahrungswissenschaft".         119 

fohrnngen  des  Buches  allenthalben  vereinfacht  und  zugleich 
vertieft.  Man  vergleiche  in  dieser  Hinsicht  das  in  ver- 
schiedenen Zusammenhängen  über  die  Zeitwahmehmung 
und  über  den  Begriff  der  Zeit  Gesagte;  die  Theorie  der 
Erinnerung,  sowie  die  überaus  einfache  Beschreibung  und 
weitere  Zurückführung  der  Thatsachen,  die  gewöhnlich  als 
Berührungsassociation  bezeichnet  werden;  ferner  die  Aus- 
führungen über  den  unbeachteten  „ffintergrund"  des  Be- 
wufstseins,  über  „unbemerkte"  Teilinhalte,  über  willkürliche 
und  unwillkürliche  Aufmerksamkeit;  schüefslich  die  Ein- 
wände, die  von  jenem  prinzipiellen  Standpunkt  aus  gegen 
gewisse  psychophysische  und  physiologische  Fragestellungen 
erhoben  werden  (S.  304  ff.). 

Die  in  unsem  Tagen  noch  keineswegs  ganz  ausge- 
storbene „atomistische"  oder  „Mosaikpsychologie"  (S.  214) 
hat  insbesondere  die  Thatsache  übersehen,  dafs  jeder  psy- 
chische Komplex  als  solcher  über  die  Summe  der  Eigen- 
schaften seiner  Teilinhalte  hinaus  noch  gewisse  specifische 
Eigenschaften  besitzt.  Diese  Grundthatsache  des  psychischen 
Lebens,  auf  die  in  neuerer  Zeit  von  verschiedenen  Seiten 
hingewiesen  wurde  (man  vergleiche  Wundts  Prinzip  der 
„schöpferischen  Synthese"),  hat  z.  B.  in  Ehbenfelb' 
Theorie  der  „Gestaltqualitäten"  Ausdruck  gefunden.  Cob^ 
NELius  acceptiert  den  Begriff  der  Gestaltqualität  und  zieht 
aus  der  ihm  zu  Grunde  liegenden  Einsicht  neue,  von 
EHRENFELa  uoch  uicht  berücksichtigte  Konsequenzen,  nament- 
lich für  die  Psychologie  des  FüMens  und  Strebens. 

Stellt  der  erste  Teil  seines  Werkes  sozusagen  eine 
Morphologie  des  psychischen  Organismus  dar,  so  giebt 
CoBNELiTJs  im  Weiteren  eine  Besclu'eibung  von  der  Ent- 
wicklung dieses  Organismus  und  ihren  Gesetzmäfsigkeiten. 
Hierher  gehören  teilweise  schon  die  Ausführungen  über  die 
zunehmende  Verfeinerung  und  Differenzierung  der  Ähnlich- 
keitserkenntnis und  des  Gedächtnisses.  Die  folgenden  Ka- 
pitel (etwa  von  Kapitel  V  ab)  haben  es  fast  ausschliefslich 
mit  dem  Verlauf  der  psychischen  Entwicklung,  mit  der 
Aufeeigung  ihrer  natürlichen  Formen  und  Faktoren  zu  thun. 
Im  Mittelpunkte  der  Untersuchung  stehen  überall  die  im 
engeren  Sinne  des  Wortes  intellektuellen  Funktionen 
des  Bewufstseins.  Aber  die  Konsequenzen  der  hier  ge- 
wonnenen Ergebnisse  werden  schliefslich  bis  in  das  ethische 


120  Felix  Krueger: 

und  ästhetische  Gebiet  hinein  verfolgt.  —  Der  Schönheits- 
begriflf  wird  in  einer  bestimmten  Hinsicht  an  dem  Beispiel 
der  bildenden  Künste  näher  erläutert.  Das  Moment  der 
künstlerischen  Eaumgestaltung  bildet  gewifs  einen  un- 
gemein wichtigen  Faktor  dessen,  was  Malerei  und  Plastik 
flir  uns  leisten;  freilich,  wie  der  Verf.  selbst  betont,  nur 
einen  Faktor  neben  anderen.  Die  werttheoretischen  und 
ethischen  Erörterungen  tragen  m.  E.  durchgängig  einen  zu 
intellektualistischen  Charakter.  Das  mag  teilweise  durch 
den  alles  beherrschenden  erkenntnis-theoretischen  Gesichts- 
punkt  bedingt  sein.  Zum  Teü  hängt  es  wohl  auch  damit 
zusammen,  dafs  die  Begriffe  Urteil  und  Erkennen  hei  Cor- 
nelius überall  eine  ungewöhnlich  weite  Bedeutung  haben. 
So  wird  schon  das  unmittelbare  Gegebensein  eines  Teilinhalts, 
d.  h.  sein  IJnterschiedensein  vom  „Hintergrunde",  oder  das 
blofse  Dasein  einer  Ähnlichkeitsrelation  für  das  Bewufstsein 
durchgängig  als  „Erkenntnis"  bezeichnet.  Der  Ausdruck 
„ürteü"  findet  auch  auf  solche  Thatbestände  Anwendung, 
bezüglich  deren  die  Frage  nach  der  Wahrheit  sinnlos  ist, 
wie  bei  einem  Teil  der  sogen,  „unmittelbaren  Wahmehmungs- 
urteile"  und  bei  den  primären  Thatsachen  der  Erinnerung.  — 
Wenn  von  Urteilen  nur  da  geredet  werden  soll,  wo  die 
Frage  nach  der  Wahrheit  gestellt  werden  kann,  so  werden 
auch  gewisse  Thatbestände,  die  Cornelius  als  Werturteile 
bezeichnet,  besser  anders  (etwa  als  „Wertungen")  zu  be- 
nennen und  wohl  auch  noch  einfacher  zu  beschreiben  sein. 
Auf  die  Einzelheiten  der  von  Cornelius  entwickelten  Wert- 
theorie kann  hier  nicht  eingegangen  werden. 

Es  ist  unmöglich,  den  reichen  Inhalt  des  knapp  stili- 
sierten Buches  an  dieser  Stelle  auch  nur  in  Andeutungen 
zu  erschöpfen.^)  Statt  dessen  soll  zum  Schlufs  nur  noch 
auf  diejenigen  Ergebnisse  des  Werkes  hingewiesen  werden, 
denen  der  Verf  offenbar  das  Hauptgewicht  beimifst,  und 
auf  denen  in  der  That  seine  Bedeutung  für  die  Gesamt- 


^)  Höchst  beachtenswert  ist  z.  B.  der  fruchtbare  Begriff  des 
„Symbols"  (S.  57  ff.  u.  sonst  vielfach)  für  die  vielumstrittene  That- 
sache,  dafs  nicht  gegenwärtige  Inhalte  durch  gegenwärtig  vorgefundene 
„repräsentiert"  werden  können.  —  Im  letzten  Kapitel  (S.  400 — 406) 
findet  sich  auch  eine  interessante  neue  Theorie  der  äufseren  Willens- 
handlung. 


Cornelius,  „Psychologie  als  Erfahrungswissenschaft".         121 

entwicklung  des  philosophischen  Denkens  beruhen  diirfle; 
ich  meine  die  Analyse  des  Dingbegriffs  und  des  Begriffs 
der  objektiven  Existenz  (Kap.  IT),  sowie  die  darauf  be- 
ruhenden Erörterungen  über  die  „objektive  Welt"  (V)  und 
über  Wahrheit  und  Irrtum  (VI). 

Die  Eeflexionen  der  früheren  Erkenntnistheorie  liefen 
fast  immer  auf  die  Frage  hinaus:  was  erkennen  wir  von 
den  Dingen,  wie  sie  an  sich  sind,  abgesehen  von  aUen 
ihren  Erscheinungen?  Damit  wurde  ein  Existenzbegriff 
dogmatisch  eingeführt,  dessen  empirische  Definition  unmög- 
lich ist.  Die  Antwort  auf  die  so  gestellte  Frage  konnte 
nicht  anders  als  negativ  ausfallen.  Trotzdem  werden  noch 
heute  von  den  meisten  Psychologen  jene  an  sich  unerkenn- 
baren „Dinge  an  sich"  unkritisch  als  existierend  voraus- 
gesetzt; sie  sollen  „auf  das  Bewufstsein  wirken"  u.  dergl. 
Diese  im  Grunde  metaphysische  Voraussetzung  ist  für  die 
naturwissenschaftliche  Einzelforschung  ziemlich  ungefährlich ; 
der  Psychologie  aber  ist  sie  nicht  gestattet,  weil  sie  hier 
die  gröbsten  Begriffsverwechselungen  und  geradezu  unent- 
wirrbare Komplikationen  nach  sich  zieht.  Kant  hat  zu- 
weilen sehr  deutlich  gesehen,  dafs  vor  allem  eine  psycho- 
logische Analyse  des  Ding-  und  Existenzbegriffs  gefordert 
werden  mufs;  und  trotz  seiner  Geringschätzung  der  em- 
pirischen Psychologie  hat  er  die  wertvollsten  Beiträge  zur 
Lösung  dieser  psychologischen  Aufgabe  geliefert.  Aber  die 
hierauf  bezüglichen  Untersuchungen  Kants  werden,  wie 
man  weifs,  nicht  durchgängig  von  derselben  Fragestellung 
beherrscht;  auch  war  Kant  zu  sehr  in  der  halb  meta- 
physischen Psychologie  seiner  Zeit  befangen,  als  dafs  er 
die  psychologische  Analyse  rein  hätte  durchflihren  und  zu 
einem  eindeutigen  Resultat  hätte  gelangen  können.  Cob- 
NELius  lehnt  sich  teilweise  unmittelbar  an  die  Kantische 
Erkenntnistheorie  an;  aber  er  deutet  sozusagen  deren  Er- 
gebnisse erst  empirisch  um,  er  übersetzt  sie,  soweit  sie 
üim  haltbar  erscheinen,  ins  rein  Psychologische.  Die  alte, 
mifsverständliche  Frage,  ob  und  inwieweit  eine  Erkenntnis 
der  (als  existierend  vorausgesetzten)  Dinge  an  sich  möglich 
sei,  ersetzt  er  durch  die  psychologische,  wie  denn  eine 
Erkenntnis  von  gegenwärtig  nicht  wahrgenommenen  „Dingen" 
überhaupt  zustande  komme,  und  was  demnach  jene 
Existenzbehauptung   empirischerweise   zu   bedeuten   habe. 


122  Felix  Krueger: 

Wie  kommen  wir  psycliologiscli  zu  der  Behauptung,  dafs 
eine  objektive  Welt,  dafs  Dinge  an  sich  existieren,  und 
was  meinen  wir  damit?  Diese  Frage  muTs  gestellt  werden, 
wenn  man  Ernst  macht  mit  dem  methodologischen  Grundsatz, 
dafs  die  Psychologie  lediglich  von  den  vorgefundenen,  un- 
mittelbar gegebenen  Inhalten  des  Bewufstseins  auszugehen 
habe.  Und  sie  wird  von  Cobnelius  in  eindeutiger  Weise 
psychologisch  beantwortet.  Von  dem  primären  Existenz- 
begriff, der  nur  das  Dasein  der  vorgefundenen  Inhalte  als 
solcher  behauptet,  und  von  den  „Wahrnehmungsbegriffen", 
durch  die  wir  Mehrheiten  ähnlicher  Inhalte  einheitlich  zu- 
sammenfassen, unterscheidet  er  die  „empirischen  Begriffe" 
von  Wahrnehmungszusammenhängen.  Das  sind  Abbre- 
viaturen von  Urteilen  über  früher  gemachte  und  zugleich 
über  künftig  mögliche,  nämlich:  unter  gewissen  Bedingungen 
zu  erwartende  Wahrnehmungen.  Neben  den  „unmittel- 
baren Wahmehmungsurteilen",  die  nur  über  das  gegenwärtig 
Vorgefundene  etwas  aussagen,  und  neben  den  reinen  Ge- 
dächtnisurteilen fällen  wir  im  entwickelten  Leben  überall 
Erfahrungsurteile  im  engeren  Sinne  des  Wortes,  d.  h.  Urteile 
über  einen  Zusammenhang  von  Erfahrungen,  wonach  auf 
Grund  früherer  Erfahrungen  im  Anschlufs  an  bestimmte 
Teilinhalte  andere,  gegenwärtig  nicht  vorgefundene 
Inhalte  erwartet  werden.  Dieser  Art  sind  alle  Urteile 
über  objektive  Existenz.  Das  ist  der  Sinn  der  Behauptung, 
dafs  Dinge  existieren,  auch  wenn  wir  sie  gegenwärtig  nicht 
wahrnehmen.  Die  gleiche  Bedeutung  haben  alle  Aussagen 
über  bleibende  „objektive"  Eigenschaften  der  Dinge,  über 
den  dreidimensional  ausgedehnten  Kaum  (als  welcher  niemals 
unmittelbar  wahrgenommen  wird),  über  die  objektive  Zeit, 
über  konstante  Gesetze  des  Naturgeschehens  und  über 
psychische  Dispositionen. 

Die  Analyse  des  Begriffs  der  objektiven  Existenz, 
speciell  der  objektiv  existierenden  „Aufsenwelt",  flihrt  unter 
anderem  zu  einer  ungemein  durchsichtigen  Erörterung  über 
den  Gegensatz  der  Begriffe  „Innen"  und  „Aufsen"  und  die 
Doppeldeutigkeit  dieser  Bezeichnungen,  die  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  zahllose  Verwirrungen  gestiftet  und  selbst 
einen  Kant  gelegentlich  zu  Unklarheiten  veranlafst  hat. 

Wie  aus  der  Urteilslehre  von  Cornelius  und  aus  seiner 
Theorie  der  Begriffsbildung  ein  völlig  immanenter,  voraus- 


Cornelius,  „Psychologie  als  Erfahrungswissenschaft".         123 

setzungsloser  und  eindeutig  definierter  Wahrheitsbegriff 
sich  ergiebt  (Kap.  VI),  soll  hier  nicht  näher  dargelegt  werden. 

Die  erkenntnis-theoretische  Weltanschauung,  in  der 
diese  psychologischen  Untersuchungen  gipfeln,  ist  eben  so 
weit  entfernt  von  dem  unkritischen  Naturalismus,  der  eine 
unabhängig  von  jedem  Bewufstsein  existierende  Welt  der 
„Dinge  an  sich"  dogmatisch  voraussetzt,  wie  von  dessen 
Schatten:  dem  absoluten  Phänomenalismus  oder  Illusionismus, 
der  an  der  Erkennbarkeit  der  Welt,  wie  sie  „wirklich  ist", 
verzweifelt  und  die  Begriffe  Schein  und  Erscheinung  ver- 
wechselt. CoBNELius  bezeichnet  selbst  seinen  Standpunkt 
als  den  des  „naiven  Realismus".  Bedenkt  man  aber,  wie 
tief  eingewurzelt  und  wie  weit  verbreitet  die  oben  charakteri- 
sierten dogmatischen  Vorurteile  bei  den  „naiven"  Menschen 
sind,  so  findet  man  vielleicht  eine  andere  Bezeichnung, 
etwa  die  des  reinen  oder  kritischen  Empirismus,  treffender. 
Es  ist  im  Grunde  der  „transcendentale  Idealismus"  Kants, 
nur  psychologisch  revidiert,  weiter  ausgeführt  und  strenger 
festgehalten.  — 

Cornelius  entwickelt  in  seinem  Buche  gelegentlich 
einen  Gedanken,  der  andeutungsweise  schon  ziemlich  oft 
in  der  Geschichte  der  Philosophie  aufgetreten  ist;  klar 
formuliert  wurde  er  wohl  zum  erstenmale  von  Avenaeius 
in  seinem  „Prinzip  des  Denkens  nach  dem  kleinsten  Kraft- 
mafse"  (vergl.  Machs  „Prinzip  der  Ökonomie  des  Denkens"). 
Diesen  Begriff  und  die  damit  zusammenhängende  Anschauung 
vom  Wesen  der  wissenschaftlichen  wie  der  vorwissenschaft- 
lichen Theorienbildung  hat  Coknelius  acceptiert  und  seinen 
Untersuchungen  zu  Grunde  gelegt.  Wahrscheinlich  hat 
besonders  dies  dazu  beigetragen,  dafs  er  zuweilen  schlecht- 
weg als  ein  Vertreter  der  „empiriokritischen"  Philosophie 
bezeichnet  wird.  Aber  das  trifft  in  dieser  Allgemeinheit 
nicht  zu.  Die  Ergebnisse  von  Avenaeius  und  die  von 
CoENELius  sind  im  einzelnen  vielmehr  recht  verschieden. 
Der  m.  E.  von  metaphysichen  Bestandteilen  nicht  ganz 
jfreie  Begriff  des  „Systems  C"  z.  B.,  der  im  Mittelpunkte 
der  AvENAEius'schen  Psychologie  steht,  findet  in  derjenigen 
von  CoENELius  überhaupt  keine  Stelle.  Gemeinsam  ist 
beiden  Philosophen  insbesondere  das  Ziel,  das  sie  sich 
selbst  und  aller  Philosophie  gesteckt  haben:  die  Begründung 
einer  rein  empirischen  Weltanschauung,  unter  Ausschlufs 


124  H.  J.  Eisenhofer: 

aller  metaphysischen  Voraussetzungen.  Aber  schon  die 
Wege,  die  sie  zur  Erreichung  dieses  Zieles  einschlagen, 
sind  wesentlich  verschieden.  Die  Untersuchungen  von 
CoBNELius  sind,  wie  bereits  erwähnt,  überall  von  dem 
methodologischen  Prinzip  geleitet,  dafs  die  unmittelbar  ge- 
gebenen Inhalte  des  Bewufstseins  den  Ausgangspunkt  der 
Psychologie  zu  bilden  hätten.  Diese  Anschauung  ist  von 
AvENAEius  prinzipiell  zurückgewiesen  worden. 

Mich  hat  gerade  das  vorliegende  Buch  von  neuem 
überzeugt,  dafs  der  von  Cornelius  eingeschlagene  und 
konsequent  innegehaltene  Weg  der  empirisch-psychologischen 
Analyse  weiter  fuhrt,  als  derjenige,  den  der  scharfsinnige 
Verf.  der  >, Kritik  der  reinen  Erfahrung"  für  den  allein 
gangbaren  hielt. 

Felix  Kruegeb. 


Fechtner,  Dr.  Ed.  John  Locke,  ein  Bild  aus  den 
geistigen  Kämpfen  Englands  im  17.  Jahrhundert. 
Stuttgart,  Fr.  Frommann  (E.  Hauflf)  1898.  8  ^.  XI,  298  S. 
Pr.  5  M. 

Wer  sich  bisher  über  Locke  gründlicher  informieren 
wollte,  war,  wenn  man  von  den  mehr  oder  weniger  zu- 
sammengedrängten Darstellungen  in  den  Lehrbüchern  der 
Geschichte  der  Philosophie  und  der  Geschichte  der  Pädagogik 
absieht,  in  der  Hauptsache  auf  Sallwübks  Einleitung  zu 
seiner  Übersetzung  der  „Gedanken  über  Erziehung"  (Manns 
BibUoth.  päd.  Klassiker,  1.  Aufl.  1883:  S.  I— LXXH; 
2.  Aufl.  1897:  S.  3 — 74)  angewiesen.  So  wertvoll  und 
zuverlässig  diese  auch  ist,  so  genügt  sie  doch  keineswegs 
für  den,  der  in  intimere  Beziehungen  zu  den  Schicksalen 
und  zur  Lebensarbeit  Lockes  zu  treten  wünscht.  Dafs 
ein  biographisches  Gesamtuntemehmen  wie  Bettelheims 
„Geisteshelden^*  wohl  einen  Cablyle,  nicht  aber  einen 
Locke  zu  den  „führenden  Geistern",  die  in  erster  Linie 
zu  berücksichtigen  wären,  rechnet,  muss  als  seltsam  er- 
scheinen und  kann  nur  dadurch  erklärt  werden,  dafs  bis 
vor  kurzem  eine  allgemeine  Nachfrage  nach  monographischen 
Darstellungen  der  grofsen  Denker,  wie  etwa  in  England, 
nicht  stattfand.    Falckbnbebg  hingegen  hat  von  vornherein 


Fechtner,  „John  Locke,  ein  Bild  a.  d.  geist.  Kämpfen  etc.''     125 

eine  Lockebiographie  als  Bestandteil  der  von  ihm  heraus- 
zugebenden „Klassiker  der  Philosophie"  in  Aussicht  gestellt. 
Dafs  die  vorliegende  Arbeit,  die  ihm  vorgelegen  haben  dürfte, 
nun  trotzdem  dem  genannten  Unternehmen  nicht  einge- 
gliedert wurde,  sondern  separat,  wenn  auch  in  gleichem 
Verlage  erschien,  ist  eine  flir  die  Beurteilung  des  Buches 
nicht  unwichtige  Thatsache.  Es  fehlt  ihm  vor  allem  die 
grofszügige  Art  in  der  Behandlung  der  Lebensumstände, 
die  die  meisten  bis  jetzt  erschienenen  Bände  auszeichnet, 
und  der  Versuch  einer  zusammenhängenden  Darstellung 
und  Würdigung  der  LocKE'schen  Gedankenwelt.  Der  Verf., 
k.  k.  Skriptor  der  Wiener  techn.  Hochschule,  der  vor 
einigen  Jahren  eine  kleine  Arbeit  über  Lockes  „Gedanken 
über  Erziehung"  (Wien  1894)  veröflFentlichte,  hat  unter 
weitgehender  Benutzung  der  grofsen  Biographie  Fox 
BoüBNES  und  unter  Verwertung  des  in  Briefen  und  in  der 
historischen  Litteratur  gebotenen  Materials  ein  Lebensbild 
gezeichnet,  dem  wohl  kein  irgendwie  bedeutsamer  Zug 
fehlt.  Zugleich  suchte  er  den  verschiedenen  Richtungen 
der  Locke' sehen  Schriftstellerei  durch  Irihaltsangaben  und 
kürzere  Auszüge  gerecht  zu  werden.  Das  Referat  über 
das  Hauptwerk  umfafst  allein  über  30  Seiten.  Mit  dieser 
Ausdehnung  stimmt  freilich  nicht  ganz  sein  ursprüngliches 
Vorhaben:  „Lockes  Lehren  sind  ....  nur  in  dem  Mafse 
entwickelt,  als  dies  zur  Charakteristik  der  geistigen  Eigen- 
art und  zur  Darlegung  der  kulturhistorischen  Bedeutung 
des  Philosophen  nötig  erschien"  (Vorwort).  Das  Buch  ist 
nützlich  und  für  den  des  Englischen  nicht  mächtigen  Leser 
unentbehrlich,  aber  es  ist  keine  philosophie-geschichtliche 
Arbeit,  die  etwa  der  Kantbiographie  von  Paulsen  an  die 
Seite  gestellt  werden  könnte.  —  Zur  Vervollständigung  der 
bibliographischen  Daten  sei  auf  folgendes  aufmerksam  ge- 
macht: S.  206  sollte  auch  Schusters  Übersetzung,  die 
wohl  S.  X  genannt  ist,  angetührt  werden.  Die  Angaben 
S.  207  sind  dahin  richtigzustellen,  dafs  die  4.  Aufl.  1699 
und  die  5.  1705  erschien.  Für  die  Abschätzung  des  Ein- 
flusses der  LocKE'schen  Schriften  ist  auch  die  Kenntnis 
ihrer  Verbreitung  durch  Übersetzungen  wichtig.  Für 
„Some  thoughts  concerning  education"  seien  hiermit  die 
Angaben  S.  X  erweitert :  Französische  Übersetzungen  er- 
schienen Amsterdam  1695,  1708,  1721,  1738;  holländische 


1 


126  J-  Seitz: 

Amsterdam  1751  und  1763  und  Rotterdam  1698;  eine 
schwedische  Stockholm  1709;  eine  italienische  von  C.Eollin, 
Venedig  1782;  deutsche  Leipzig  1713  von  Gottfried, 
von  Oleabius,  Hannover  1720  (vereinigt  mit  einer  Fenelon- 
Übersetzung),  Leipzig  1787  von  K.  S.  Ouvbieb  und  Braun- 
schweig 1787  von  RüDOLPHi  (Abdruck  aus  dem  Campe- 
schen  Revisionswerk).  Die  Angaben  in  „Tr6sor  de  Hvres 
rares  et  pr6cieux"  von  Graesse  (Dresden  1863,  4.  Bd., 
S.  243),  es  sei  1762  in  Wien  eine  deutsche  Übersetzung 
von  CosTE  erschienen,  beruht  wohl  auf  einem  Lrrtum. 

Ludwigshafen  a.  Rh. 

H.    J.    ElSENHOFER. 


Mikhailowsky,  N.,  Qu'est-ce  que  le  Progres?  Examen 
des  idees  de  M.  Herbert  Spencer.  Traduction  du  Russe ; 
revue  par  Paul  Louis.    Paris,  Felix  Alcan,  1897.    (200  S.) 

Der  Hauptsatz  von  Herbert  Spencer,  welchen  der 
Verfasser  bekämpft,  lautet:  Die  Entwicklung  ist  wie  eine 
Veränderung  vom  Homogenen  zum  Heterogenen,  so  auch 
eine  Veränderung  vom  Unbestimmten  zum  Bestimmten. 
Neben  dem  Fortschritt,  der  von  der  Einfachheit  zur  Mannig- 
faltigkeit führt,  geschieht  ein  Fortschritt  von  der  Verwirrung 
zur  Ordnung,  von  unbestimmter  zu  bestimmter  Anordnung. 
Die  Entwicklung  irgend  einer  Art  zeigt  nicht  blofs  eine 
Vermehrung  der  ungleichartigen  Teile,  sondern  eine  Zu- 
nahme der  Deutlichkeit,  mit  der  diese  TeUe  sich  vonein- 
ander unterscheiden.  Derart  unterscheidet  sich  der  Zu- 
wachs an  Heterogenität,  welcher  den  Fortschritt  ausmacht, 
von  demjenigen,  welcher  keüi  Fortschritt  ist. 

MiKHAiLowsKY  Stellt  dem  gegenüber  als  die  bessere 
Auffassung  hin:  Der  Fortschritt  besteht  in  der  stufenweisen 
Höchststeigerung  der  Integralität  der  Individuen,  der  mannig- 
faltigsten und  vollständigsten  Arbeitsteilung  unter  den  Or- 
ganen und  endlich  in  der  geringsten  Arbeitsteilung  unter 
den  Menschen.  Alles,  was  diese  Entwicklung  hemmt,  ist 
unmoralisch,  ungerecht,  unvernünftig  und  schädlich.  Im 
Gegenteil  ist  alles,  was  die  Heterogenität  der  Gesellschaft 
vermindert  und  damit  gleichzeitig  die  Heterogenität  ihrer 
Glieder  vermehrt,  moralisch,  gerecht,  vernünftig  und  nützlich. 


Mikhailowsky,  „Qu'est-ce  que  le  Progres?"  —  Selbstanzeige.    127 

Referent  ist  nicht  recht  davon  überzeugt  worden,  dafs 
für  ein  solches  Resultat  ein  Buch  von  200  Seiten  nötig  war. 
Auch  ist  er  der  Meinung,  dafs  Verfasser  und  Übersetzer 
sehr  wohl  gethan  hätten,  den  Gedanken  an  eine  gründliche 
Operation  des  Werkes  durch  Ausscheidung,  Kürzung, 
Änderung  und  Ordnung  wirklich  auszufuhren. 

Zürich.  J.  Seitz. 


Selbstanzeige. 


Fischer,  Arnold,  Entstehung  des  socialen  Problems. 
XVI,  781  S.,  8^.    Rostock,  C.  J.  E.  Volckmann,  1898. 

Der  Verfasser  ist  bestrebt,  die  Menschheit  und  ihre 
Civilisation  aus  den  Lebensgesetzen  der  organischen  Natur 
zu  erklären  und  den  Entwicklungsgesetzen  der  Kultur  nach- 
zugehen. Er  findet  das  Wesen  dessen,  was  gewöhnlich 
Kidtur  genannt  wird,  in  der  äufseren  Erscheinung  von 
seelischen  Vorgängen,  die  aus  der  Selbsthilfe  der  Natur 
gegen  die  stetig  fortschreitende  Abnahme  ihres  Lebensvor- 
gangs hervorgehen.  Diese  Abnahme  selbst  tritt  in  dem 
steten  Übergang  von  lebenskräftigeren  zu  schwächeren  Arten 
in  die  Erscheinung.  Sie  bewirkt  aus  diesem  Selbsthilfe- 
trieb eine  im  Verhältnis  zur  Intensitätsabnahme  des  Lebens- 
vorgangs fortschreitende  (jedoch,  dem  Wesen  des  organischen 
Lebens  entsprechend,  begrenzte)  Erhöhung  des  Bewufst- 
seins  als  eines  physiologischen  Vorgangs. 

Das  Buch  behandelt  in  seinem  ersten  Abschnitt  „die 
Entstehung  und  das  Wesen  der  Civilisation"  unter  Zugrunde- 
legung der  in  erster  Reihe  von  Bachofen  und  Morgan 
festgestellten  so  ciologischen  Thatsachen  aus  der  Bewufst- 
seinsentwicklung  des  Menschen;  im  zweiten  Abschnitt  die 
Kulturperiode  der  „reinen  Empfindung",  d.  h.  mit  vorwalten- 
dem Empfindungsleben,  die  mit  jener  der  Gentilorganisation 
zusammenfällt,  in  der  „Krise  der  reinen  Empfindung"  in 
den  Zustand  des  Niedergangs  übergeht  und  in  der  folgenden 


128  SelbBtanzeige. 

primären  Krise  (jener  der  jfreien  Veraunft)  abstirbt;  im 
dritten  Abschnitt  die  Kultnrperiode  der  freien  Vemmift  oder 
des  Bürgertums,  die  in  der  Krise  der  reinen  Vernunft  ihren 
Höhepunkt  erreicht  und  in  die  Epoche  der  „reinen  Btirger- 
herrschaft"  übergeht;  im  vierten  Abschnitt  den  Verlauf 
dieser  das  18.  und  19.  Jahrhundert  umfassenden  Krise  mit 
dem  Entstehungsprozefs  der  Arbeiterklasse,  als  der  „Volks- 
klasse der  reinen  Vernunft".  Das  Buch  schliefst  mit  der 
Darstellung  der  in  der  sekundären  Krise  von  1870/71  be- 
ginnenden Entwicklungsstufe  der  neuen  Epoche. 


Philosophische  Zeitschriften. 


Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  (Berlin,  Eeimer). 
Bd.  11,  Heft  4. 

P.  Natorp,  Über  die  Methode  der  Chronologie  platonischer  Schriften  nach 
sprachliclien  Kriterien. 

A.  Messer,  Die  Behandlung  des  Freiheitsproblems  bei  John  Locke. 

A.  Dyroff,  Zur  Ethik  der  alten  Stoa. 

E.  Praechter,  Zur  Frage  nach  Lukians  philosophischen  Quellen. 

H.  Lüdemann,  Jahresbericht  über  die  Kirchenväter  und  ihr  Verhältnis  zur 
Philosophie.  —  W.  Dilthey,  A.  Heubaum,  A.  Schmekel,  Jahresbericht 
über  die  nachkantische  Philosophie.  —  Neueste  Erscheinungen. 

Bd.  12,  Heft  1. 

P.  Natorp,  Untersuchungen  über  Piatos  Phädrus  und  Theaetet. 

J.  Cookwilson,Zu  Ai-istoteles  Politik. 

A.  Dyroff,  Zur  Ethik  der  Stoa. 

R.  Richter,  Bl.  Pascals  Moralphilosophie.  —  Jahresbericht  über  die  nach- 
kantische Philosophie  von  W.  Dilthey,  A.  Heubaum,  A.  Schmekel,  IL 
Zur  Geschichte  des  Positivismus  von  A.  Schmekel.  —  Neueste  Erscheinungen. 

Kantstndien  (Hamburg  und  Leipzig,  L.  Yofs). 
Bd.  in,  Heft  1  n.  2. 

K.  Vorländer,  Villers'  Bericht  an  Napoleon  über  die  Kantische  Philosophie. 

H.  Mai  er,  Die  Bedeutung  der  Erkenntnistheorie  Kants  für  die  Gegenwart. 

P.  Menzer,  Der  Entwickelungsgang  der  Kantischen  Ethik  in  den  Jahren  1760 
bis  1785. 

C.  Lülmann,  Kants  Anschauung  vom  Christentum. 

K.  Vorländer,  Kant,  Schiller,  Göthe. 

E.  Fromm,  Zur  Vorgeschichte  der  Königl.  Kabinetsordre  an  Kant  vom  1.  Ok- 
tober 1794. 

J.  E.  Creighton,  American  Current  Literature  on  Kant. 

Lubowski  und  Diestel,  Ein  neues  Kantbildnis. 

P.  V.  Lind,  Eine  erfüllte  Prophezeihung  Kants.  —  Litteraturbericht.  —  Selbst- 
anzeigen. —  Recensionen.  —  Zeitschriftenschau.  —  Sonstige  neu  eingegangene 
Schrinen.  —  Mitteilungen.  —  Vajla. 

Zeitschrift  f&r  Philosophie  nnd  philosophische  Kritik  (Leipzig, 
Pfeffer). 

Bd.  112,  Heft  1. 


J.  Volkelt,  Die  tragische  Entladung  der  Affekte. 

ipbell  über  die  Stella 
Reihenfolge  der  Platonischen  Dialoge. 


S.  M ekler,  L.  Campbell  über  die  Stelle  des  Parmenides  in  der  chronologischen 


W.  Lutoslawski,  Stylometrisches. 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXIU.  1.  9 


130  Philosophische  Zeitschriften. 

W.  Schmidt,  Fr.  Bacoa  Theorie  der  Induktion. 

F.  Sommerlad,  Ans  dem  Leben  Philipp  Mainländers.  —  Becensionen.  —  Ken 
eingegangene  Schriften.  —  Bibliographie.  —  Ans  Zeitschriften. 

Bd.  112,  Heft  2. 

B.  Encken,  Die  Stellung  der  Philosophie  znr  religiösen  Bewegung  der  Gegen- 
wart. 
H.  Siebeck,  Die  Willenslehre  bei  Dnns  Scotns  nnd  seinen  Nachfolgern. 
J.  Yolkelt,  Beiträge  znr  Analyse  des  Bewnfstseins. 
J.  V.  Olasenapp,  Duplizität  in  dem  Ursprung  der  Moral.  —  Becensionen  etc. 

Bd.  113,  Heft  1. 

£.  V.  Hartmann,  Zur  Auseinandersetzung  mit  Herrn  Prof.  Dr.  A.  Domer  in 
Königsberg. 

B.  Bicnter,  Die  Methode  Spinozas. 

C.  Lülmann,  Fichtes  Aufßässnng  vom  Christentum. 

A.  Lasson,  Jahresbericht  über  Erscheinungen  der  philosophischen  Lltteratur 
in  Frankreich  aus  den  Jahren  1894—1895.  —  Becensionen  etc. 

Philosophische  Stndien  (Leipzig,  Engelmami). 
Bd.  14,  Heft  1. 

W.  Wundt,  Zur  Theorie  der  räumlichen  Gesichtswahmehmungen. 

B.  Bichter,  Der  Willensbegriff  in  der  Lehre  Spinozas. 

Bd.  14,  Heft  2. 

Li  PPS,  Untersuchungen  über  die  Grundlagen  der  Mathematik. 
B.  Kien t er,  Der  "Willensbegriff  in  der  Lehre  Spinozas. 

Bd.  14,  Heft  8. 

H.  Bruns,  Zur  Kollektiv-Mafslehre. 

E.  Marbe,  Die  stroboskopischen  Erscheinungen. 

B.  Müller,  Über  Baumwahmehmung  beim  monokularen  indirekten  Sehen. 

B.  Schulze,  Über  Elanganalyse. 

Bd.  14,  Heft  4. 

E.  Mosch,  Zur  Methode  der  richtigen  und  falschen  Fälle  im  Gebiete   der 
Schallempflndungen. 

B.  Seyffert,  Über  die  Auffassung  einfachster  Baumformen. 

F.  Eiesow,  Zur  Psychophysiologie  der  Mundhöhle. 

—  Ein  einfacher  Appai'at  zur  Bestimmung  der  Empfindlichkeit  von  Temperatur- 
punkten. 

—  Schmeckversuche  an  einzelnen  Papillen. 

E.  M.  Weyer,  Die  Zeltschwellen  gleichartiger  und  disparater  Sinneseindrücke. 

Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane 

(Leipzig,  Ambros.  Barth). 

Bd.  XYIII,  Heft  1  n.  2. 

F.  Schumann,   Zur   Schätzung  leerer  von  einfachen   Schalleindrücken  be- 
grenzter Zeiten. 

"WT  Wirth,  Vorstellungs-  und  Gefühlskontrast. 
W.  V.  Zehender,  Über  die  Entstehung  des  Baumbegriffs. 
K.  Ebhardt,  Zwei  Beiträge  zur  Psychologie  desBhj^hmus  und  des  Tempos. — 
Litteraturbericht. 

Bd.  XVIII,  Heft  8. 

O.  Abraham  und  L.  J.  Brühl,  Wahrnehmung  kürzester  Töne  und  Geräusche. 
K  Deffner,  Die  Ähnlichkeitsassociation.  —  Litteraturbericht. 

Bd.  XTIII,  Heft  4. 

H.  y  o  este ,  Messende  Versuche  über  die  Qualitätsänderungen  der  Spektralfarben. 
J.  G.  Schonte,  Abnorme  Augenstellung  bei  excentrisch  gelegener  Pupille. 


Philosophische  Zeitschriften.  131 

M.  Meyer.  Nachtrag  zu  meiner  Abhandlung  „Über  Tonverschmelznng  und  die 

Theorie  der  Konsonanz". 
C.  Stumpf,  Erwiderung.  —  Litteratorbericht. 

Bd.  XYIU,  Heft  5  n.  6. 

C.  stumpf  und  M.  Meyer,  Malsbeatimmungen  über  die  Reinheit  konsonanter 
Intervalle. 

Th.   Lipps,   Raumästhetik  und  geometrisch -optische   Täuschungen.    —  Be- 
sprechung. —  Litteraturbericht  —  Namenregister. 

Bd.  XIX,  Heft  1. 

Th.  Lipps,  Tonverwandtschaft  und  Tonverschmelzung. 
W.  V.  Zehender,..Die  unbeweisbaren  Axiome. 
Anna  Fötsch,    Über  Farbenvorstellungen  Blinder. 

J.  V.  Kries,  Über  die  anomalen  trichromatischen  Farbensysteme.  — Litteratur 
berichte 

Bd.  XIX,  Heft  2. 

St.  Witasek,  Über  die  Natur  der  geometrlsch-on tischen  Täuschungen. 

J.  V.  Kries,  Kritische  Bemerkungen  zur  Farbentneorie. 

W.  V.  Zehender,  Vernunft,  Verstand  und  Wille.  —  Besprechung:  Th.  Ziehen, 

Kritischer  Bericht  über  wichtigere  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  des  Central- 

nervensystems  der  Wirbeltiere.  —  Litteraturbericht. 

Zeltsohrift  für  Philosophie  und  Pädagogik  (Langensalza,  Beyer 
&  Söhne). 

Y.  Jahrg.,  Heft  4. 

0.  Flügel,  Idealismus  und  Materialismus  der  Geschichte.    (SchluTs.) 
S.  Heyn,  Ein  gründlicher  Reformer  des  Religionsunterrichts. 
A.    Wernicke,     Deutsche    Handelshochschulen.    —     Mitteilungen.    —     Be- 
sprechungen. —  Aus  der  Fachpresse. 

Y.  Jahrg.,  Heft  5. 

Marx  Lobsien,  Zur  Urgeschichte  der  elementaren  Sprachmittel. 
A.  Rofsner,  Die  aUgem.  evang.-luth.  Kirchenzeitung  und  der  moderne  Lehrer. 
L.  Sachse,  Das  Kind  und  die  ZahL  —  Mitteilungen.  -—  Besprechungen.  —  Aus 
der  Fachpresse. 

Y.  Jahrg.,  Heft  6. 

0.  Flügel,  Richard  Rothe  als  spekulativer  Theologe. 

A.  Rofsner,  Die  allgem.  evang.-luth.  Kirchenzeitung  und  der  moderne  Lehrer. 
(SchluTs.)  —  Mitteilungen.  — Besprechungen.  —  Aus  der  Fachpresse. 

Mind,  January  1899  (London,  Williams  and  Norgate). 

D.  G.  Ritchie,  Philosophy  and  the  study  of  philosophers. 

M.  F.  Washburn,  Subjective  colours  and  the  after-image:  their  signifance  for 

the  theory  of  attention. 
J.  £.  Mactaggart,  Hegels  treatmentof  the  cateeories  of  the  objectivenotion. — 

A.  F.  Ravenshear,  Testimony  and  authority.  —  Critical  notices.  —  New 

books.  —  Fhilosophical  periodicals. 

International  Journal  of  Ethics  (London,  Swan  Sonnenschein  &  Co.). 
Yol.  YIU,  No.  4. 

F.  J.  Stimson,  The  national  arbitration  law. 
J.  S.  Mackenzie.  The  bearings  of  philosophy  on  education. 
Th.  Davidson,  The  brothers  of  sincerity. 
W.  Caldwell,  Philosophy  of  the  actlvity-experience. 
M.  W.  Barr,  Defective  children,  their  needs  and  their  riehts. 
M.  Macmillan,  Sidgwick  and  Schopenhauer  on  the  foundation  of  morality.— 
Book  reviews. 

Yol.  IX,  No.  1. 

F.  Adler,  The  parting  of  the  ways  in  the  foreign  policy  of  the  United  States. 

B.  Bosanquet,  A  moral  from  atnenian  history. 

«7 


][32  Philosopliische  Zeitschriften. 

R.  C.  Cabot,  Belligerent  discnsslons  and  trathseeking. 

J.  DavidBon,  Luxnry  and  extravagance. 

F.  A.  Kellor,  Sex  in  crime.  —  Book  reviews. 

Vol.  XI,  No.  2. 

T.  J.  Lawrence,  The  Tsar's  Rescript. 
J.  Mac  Cunn,  Cosmopolitan  Dutiee. 

D.  S.  Miller,  The  Will  to  belleve  and  the  duty  to  doubt. 
J.  S.  Mackenzie,  The  idea  of  Pro^ess. 

F.  C.  Sharp,  Some  alma  of  Moral  £dncation.  —  Discussion.  —  Book  reviews. 

The  Monist  (Chicago  and  London,  The  Open  Court  Publishing  Co.). 
Vol.  9,  No.  1. 

H.  Poincare,  On  the  Foundations  of  Geometay. 

E.  Schroeder,  On  Pasigi'aphy.    Its  Present  State  and  the  Pasigraphic  Move- 
ment in  Italy. 

P.  Topinard,  The  Social  Problem, 

C.  P.  C  off  in,  An  Illustration. 

Editor,  God.  With  discussion. 

Literary  correspondence:  Lucien  Arreat:  France.  —  Discussions.  —  Book  reviews. 

The  Philosophical  Reriew  (New  York  and  London,  The  Macmillan 
Company). 

Vol.  VII,  No.  6. 

E.  B.  Titchener,  The  Postulates  of  a  structural  psychology. 
A.  K.  Rogers,  Epistemology  and  experience. 
E.  A.  Singer,  Sensation  and  the  Datum  of  Science. 

W.  G.  Everett,  The  Concept  of  the  Good.  —  Discussion.  —  Reviews  of  books 
—  Summaries  of  articles.  —  Notices  of  new  books.  —  Notes. 

Vol.  VII,  No.  6. 

J.  Seth,  Scottlsh  Moral  Philosophy. 

E.  P.  Robins,  Modem  Theories  of  Judgment 


J.  D.  Logan,  Psychology  and  the  Argument  from  Design. 
~[.  M.  Stanley,  Space  and  Science.  —Discussions.  —  Social interpretat 
Reviews  of  oooks.  —  Summaries  of  articles.  —  Notices  of  new  books. 


The  Fsjchologieal  Reyiew  (New  York  and  London,  The  Macmillan 
Company). 

VoL  V,  No.  4. 

G.  Tosti,  Social  Psychology  and  Sociology. 
J.  H.  Hyslop,  Psycnical  Research  and  Coincidences. 

C.  H.  Judd,    Visual  Perception  of  the  Third  Dimension.  —  Discussion  and 
Reports.  —  Literature.  —  New  books.  —  Notes. 

Vol.  V,  No.  6. 

M.  W.  C  al  k  i  n  s ,  Short  Studies  in  Memory  and  in  Association  from  the  Wellesley 

College  Laboratory. 
R.  MacDougal,  Music  Imagery:  A  Confession  of  Experience. 

F.  Kennedy,   On  the  Experimental  Investigation  of  Memory.  —  Discussion 
and  Reports.  —  Literature  etc. 

Vol.  V,  No.  6. 

G.  T.  W.  Patrick,  Some  peculiarities  of  the  Secondary  Personality. 

J.  R.  Angell,  Studies  from  the  Psychological  Laboratory  of  the  Dnlversity  of 
Chicago. 

F.  B.  Sumner.A  Statistical  Study  of  BeUef. 

G.  M.  Stratton,  A  Mirror  Pseudoscope  and  the  Limit  of  Visible  Depth.  — . 
Discussion  and  Reports.  —  Literature  etc. 


Philosophische  Zeitschriften.  133 

Vol.  YI,  No.  1. 

H.  Münsterbere,  History  and  psycbology. 

J.  R.  Angell  and  H.  B.  Thomson,   The  relaüons  between  certain  organic 

processes  and  conscionsness. 
0.  Ladd  Franklin,  Prof.  Müllers  theory  of  the  llghtsense.  —  Shorter  con- 

tribntions  and  discossions.  —  Psychological  literature.  —  New  books.  —  Notes. 

The  Ameriean  Journal  of  Psjehologrj  (Worcester,  Mass.  Orpha). 

H.  D.  Sheldon,  The  Institutional  acüvitieB  of  amerlcan  children. 

J.  0.  Quantz,  Dendro-Psychoses. 

N.  Triplett,  The  Dynumogenic  factors  in  pacemaking  and  competition. 

M.  H.  Cfarter,  Darwins  idea  of  mental  developement. 

G.  M.  Whipple,  The  influence  of  forced  respiration  on  psychlcal  andphysical 

Activity. 
£.  B.  Belabarre,  A  method  of  recording  eye-movements. 
£.  B.  Hney,   Preliminary  experiments  in  the   physiology  and  psychology  of 

Headlng. 
C.  M.  Hill,  On  choice.  —  Literature.  —  Correspondence.  —  Books  received. 

Index. 

BeYue  Philosophiquey  JanTier  1899  (Paris,  Alcan). 

F.  Le  Dantec,  Les  neo-darwiniens  et  Theredite  des  caracteres  acqois. 
K  Boirac,  Les  phenomönes  cryptoides. 

A.  Schinz,  Le  nositivisme  est  une  methode  et  non  nn  Systeme. 

Revue  crltique:  össipLourie,  Tolstoi"  et  la  question  de  l'art.  —  Analyses  et 
comptes  rendus.  —  itevue  des  periodiqnes  etrangers. 

Beyae  de  M^taphyslqne  et  de  Morale  (Paris,  Colin  &  Co.). 
6.  Jahrg.,  No.  6. 

G.  Vailati,  La  methode  deductive  comme  Instrument  de  recherche. 
Lamennais,  Un  fragment  inedit  de  r„Esquisse  d^une  Philosophie",  public  par 

Chr.  MarechaL 
M.  Blondel,  L'illusion  id^aliste. 
G.  Lechalas,  L'axiome  de  libre  mobUite  d^aprös  M.  Rüssel. 

B.  Rüssel,  Les  axiomes  propres  k  Euclide  sont-ils  empiriques? 

P.  Lacombe,  Le  vote  libre.  —  Table  des  matiöres.  —  Supnlement:    Livres 
nouveaux.  —  Revues  et  periodiqnes.  —  La  Philosophie  dans  les  universites. 

Heyne  Nl^o-Scolastiqne  (Louyain,  Institut  sup^rieur  de  Philosophie) 
5.  Jahrg.,  No.  3. 

C.  Besse,  Leon  Olle.  —  Laprune  (suite  et  flu). 
£.  Pa  sanier,  Les  hypoth^ses  cosmogoniques. 

M.  de  wulfj  Qu'est-ce  que  la  Philosophie  scolastique?    Les  Notions  Fausses 

et  incompletes  (suite  et  fln). 
A.  Thlery,  Qu'est-ce  que  l'art?  —  Ferreira-Deusdado,  La  Philosophie  thomiste 

en  Portugal  —  Bulletins.  —  Comptes  rendus. 

5.  Jahrg.,  No.  4. 

La  Terminologie  Fran^alse  de  la  scolastique. 

J.  Huys,  La  notion  de  substance  dans  la  Philosophie  contemporaine  et  dans 

la  Philosophie  scolastique. 
A.  Tniery,  Qu'est-ce  que  Tart?    (suite  et  fln.) 

D.  Nys,  La  nature  du  compose  chimique. 

St.  George  Mivart,  L'utllite  explique-t-elle  les  caracteres  speciflques? 
G.  de  Craene,   La  croyance  au  monde  exterieur.  —  Ferrefra-Deusdado,  La 
Philosophie  thomiste  en  Portugal  (suite  et  flu).  —  Bulletins.  —  Comptes  rendus. 

Llnterm^dialre  deci  Neurologlstes  et  des  Hl^nlstes  (Paris,  Alcan). 
].  Ann^e  No.  1« 

Notre  Progi'amme.  —  Questions.  —  Reponses.  —  Sommaires  des  Periodiqnes. 
—  Onvrages  re9us. 


1 


134  Philosophische  Zeitschriften. 

BiYista  Italiana  di  Filosofia  (Roma,  Balhi). 

Anno  XIII,  YoL  IL    Settembre-Ottobre. 

Lettera  del  Prof.  Carlo  Cantoni  al  Prof.  A.  Onesotto. 

N.  Fornelli,  Dopo  la  morte  del  Comte.  —  Littrö  ed  i  Comtlsti. 

R.  Bianchi,  II  Naturalismo  e  la  Filosofia  di  Diderot. 

A.  Bartolomei,  U  principi  fondamentall  dell'  Etica   di  Roberto  Ardigo  e  le 

dottrine  della  filosofia  scientlfica.  —  Bibliografia.  —  Bolletino  pedagog^co  e 

fllosofico.  —  Riviste  italiane.  —  Recenti  puDDlicazionl. 

n  NnoTO  Bisorgimento  (Torino,  Ufficio  del  Periodico.    Borna,  Fra 
telli  Bocca.    Milano,  Galli). 

Yol.  Till,  Fase.  XI. 

C.  Uttini,  L^operositä  indirizzata  air  educazlone  della  persona. 
L.  M.  Billia,  Di  alcune  contraddizioni  del  neo-tomismo  (continuaz.).  —  Rassegna 
blbliografica  etc. 

Yol.  Till,  Fase.  XII. 

C.  Calzl,  Impronta  della  Razlonalitä. 

L.  M.  Billia,  Di  alcune  contraddizioni  del  neo-tomismo  (cont.  e  fine). 
G.  B.  Gerini,  Le  Idee  educative  di  Giovanni  Battista  Vico  (cont  e  fine).  — 
Rassegna  biDliogi*afica.  —  Rassegna  politica.  —  Notizie. 

Wissenschaftliche  Zeitsehrift  für  OUnltismus  (Beriin-Neurahnsdorf, 
Brand). 

1.  Jahrg.,  No.  1.    Zur  Einführung.  —  Vom  Herausgeber. 

F.  Maack,  Elektrographie. 
R.  Müller,  Hypnotiscnes  Hellsehen. 

V.  Schrenck-Notzing,  Zur  Methodik  bei  medinmistischen  üntersuchnngen. 
F.  Maack,  Louis  Lucas  und  J.  S.  C.  Schweigger. 

C.  Driefsen,  Zur  „Enquete  über  Okkultismus^  —  Referate.  —  Recensionen. — 
Notizen.  —  Litteratur. 

Yoprosni  plülosophii  i  psichologii  (Moskva,  Kuschnereff).    1898. 
Kniga  44  (IT). 

Tschitscherin,  realnost  i  samosoznanie. 
Gere,  0.  Kont  i  je  wo  znatschenie  v  istoritscheskoij  nau^je. 
Kalenow,  Krasota  1  iskusstvo. 
Trubetzkoi,  Religioznuii  ideal  jevreev. 

Kolubovskij,  Mateiialul  dlja  istorii  philosophii  v  Rossii.  —  Krltika  i  biblio- 
graphija.  —  Isvjestija  i  zamjetkl  —  Psichologitscheskoje  obschtschestvo. 

Kniga  45  (T). 

Bugaleff,  Matematika  i  nautschnophilosophskoje  mirosozertzanie. 

Tschitscherin,  philosophija  prava  L  Voedenie. 

Kaienoff,  Krasota  i  iskusstvo. 

Kodschevnikoff,  Razstroistvakrovoobraschtschenij  apod  vlijaniem  duschev- 

nuij  volnenüj. 
Grot,  Kritlka  ponjatija  progressa. 

Gere,  0.  Kont  i  jewo  znatschenie  v  istoritscheskoij  naukje. 
Wagner,  Psichologijd  nasjekomuich. 
Kare  Jeff,  Novui  istorikophilosophskii  trud.  —  Kritlka  i  bibliographija.  — 

Isvjestija  1  zamjetki.  —  Psichologitscheskoje  obschtschestvo.  —  Materialul 

dlja  dschumalnoj  statistiki. 

Przeglad  Filozoflezny  (Warszawa,  ulica  Knicza  No.  46). 
Rok  I,  Zeszyt  IT. 

P.  Chmielowsklego,  Filozoflczne  Po^lady  Mickiewicza. 
L.  Gumplowicza,  Ibn  Chaldun,  Socjolog  arabski  XIV  w.  —  Referate.  — 
Kritiken.  —  Chronik  etc. 


n. 
Bibliographie. 

(Bis  Ende   Dezember  1898.) 


I.     Geschichte  der  Philosophie. 

Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters.  Texte  und 
Untersuchungen.  Herausg.  von  Clem.  Baeumker  und  Geo.  Prhr. 
V.  Hertling,  2.  Bd.,  6.  (Schlufs-)  Hft.   gr.  8^.   Münster,  Aschendorff. 

—  6.  Baenmker,  Clem«,  Die  Impossibilia  des  Siger  yon  Brabant,  e. 
philos.  Streitschrift  aus  dem  XIII.  Jahrh.  Zum  ersten  male  voll- 
ständig herausg.  und  besprochen  (HI,  VIII,  200  S.).    M.  6,50. 

Bembard,  Johs«,  Friedrich  Nietzsche  Apostata.  Ein  Vortrag.  (56  S.) 
Lübeck,  Lübcke  &  Hartmann.    M.  1,—. 

Beth,  Carl,  Die  Grundanschauungen  Schleiermachers  in  seinem  ersten 
Entwurf  der  philosoph.  Sittenlehre.  (64  S.)  Berlin,  Wameck.  M.  1,50. 

B5ttger,  Rieh«,  Das  Grundproblem  der  Schopenhauerschen  Philosophie. 
(V,  42  S.)    Greifswald,  Abel.    M.  —,90. 

Borkowski,  Heinr.,  Der  Glaube  an  die  Unsterblichkeit  der  Seele  in 
Schillers  Leben,  Philosophie  und  Dichtung.  (IV,  138  S.)  Königs- 
berg, Teichert.    M.  2,—. 

Brockdorff,  Baron  Cay  t.  Kants  Teleologie.  (60  S.)  Kiel, 
Gnevkow  &  v.  Gellhorn.    M.  1,20. 

Bruno,  Giordano,  Eroici  furori  oder  Zwiegespräche  vom  Helden  und 
Schwärmer.  Übers,  und  erklärt  von  Ludw.  Kuhlenbeck.  (XVIII, 
256  S.)    Leipzig,  Friedrich.    M.  6,—. 

Carboni,  Cst«,  La  sintesi  ülosofica  del  pensiero  dantesco.  (176  S.) 
Pitigliano.    L.  3, — . 

Chollet,  Abb6  A«,  La  Morale  sto'icienne  en  face  de  la  morale  chr^tienne. 
Paris,  Lethielleux.    3  fr.  50  c. 

Damm,  Ose«,  Schoppenhauers  Ethik  im  Verhältnis  zu  seiner  Erkenntnis- 
lehre und  Metaphysik.  Eine  Monographie.  (101  S.)  Annaberg, 
Graser.    M.  1,50. 


1 


N 


136  Bibliographie. 

Darmesteter,  M*  J«,  La  Vie  d'Ernest  Benan.    Paris,  C.  Levy.   3  fr.  50  c. 
Dimltroff«  Athanas«,   Die   psychologischen    Grundlagen    der    Ethik 

J.  G.  Fichtes  aus  ihrem  Gesamtcharakter  entwickelt.    (VII,  187  S.) 

Jena,  Strobel.    M.  2, — . 
Fairbanks,  Arthur,  The  First  Philosophers  of  Greece.     An  Edition 

and  Translation  of  the  Hemaining  Fragments  of  the  Presokratic 

Philosophers,   together  with  a  Translation  of  the  more  Important 

Accounts  of  their  Opinions  Contained  in  the  Early  Epitomes  of  their 

Works.    (310  S.)    London,  Trübner  &  Co.    7  sh.  6  d. 
Faye,  De,  Clement  d'Alexandrie.    Etüde  sur  les  rapports  du  christia- 

nisme  et  de  la  philosophie  grecque  au  Ile  sidcle.     (220  S.)    Paris, 

Leroux.    7  fr.  50  c. 
Fischer,  Knno,  Geschichte  der  neueren  Philosophie.    Jubiläumsausg., 

4.    Bd.:   Immanuel  Kant  und  seine  Lehre.    1.   Teil.    Entstehung 

und  Grundlegg.  der  krit.  Philosophie.    4.  Aufl.    (XX,  620  S.)    Heidel- 
berg, Winter.    M.  16,—  ;  geb.  M.  18,—. 
—  Geschichte  der  neueren  Philosophie.    Jubiläumsausg.,  8.  Bd.,  1.  Lfg. 

Hegels  Leben,  Werke   und  Lehre.    1.  Lfg.    (144  S.)    Heidelberg, 

Winter.    M.  3,60. 
Frenzel,  Bernhard,   Der  Associationsbegriff  bei  Leibnitz.    (109  S.) 

Leipzig,  Fock.    M.  2,—. 
Frendenthal,  J«,  Die  Lebensgeschichte  Spinozas  in  Quellenschriften, 

Urkunden  und  nichtamtlichen  Nachrichten.    (XVI,  304  S.)    Leipzig, 

Veit  &  Co.    M.  10,—. 
Friedrieh,    Rieh.,   Nietzsche-Kultus.      Konferenz-Vortrag.      (23    S.) 

Leipzig,  Wigand.   M.  —,40. 
Gerhardt,  C.  J.,  Über  die  vier  Briefe  v.  Leibniz,  die  Samuel  König 

in  dem  Appel  au  public.  Leide  MDCCLIII,  veröffentlicht  hat.  (9  S.) 

Berlin,  Reimer.    M.  —,50. 
Geyer,  Paul,  Schillers  ästhetisch-sittliche  Weltanschauung,  aus  seinen 

Philosoph.  Schriften  gemeinverständlich  erklärt.    2.  Teil.    (VII,  72  S.) 

Berlin,  Weidmann.    Kart.  M.  1,60. 
Goldschmidt,  Lvdw.,  Kant  und  Helmholtz.    Populärwissenschaftliche 

Studie.    (XVI,  135  S.)    Hamburg,  Vofs.    M.  5,—. 
Hartmann,  Frz.,  Grundrifs   der  Lehren  des  Theophrastus  Paracelsus 

V.  Hohenheim.    Vom  religionswissenschaftl.  Standpunkte  betrachtet. 

(VII,  261  S.)    Leipzig,  Friedrich.    M.  3,—. 
Hassencamp,  D.,  Der  Düsseldorfer  Philosoph  Friedrich  Heinrich  Jacobi 

und  sein  Heim  in  Pempelfort.   (32  S.)  Düsseldorf,  Vofs  &  Co.  M.  1,—. 
Hegel,  G«  W.  F.,  The  wisdom  and  religion  of  a  German  philosopher: 

being  selections  from  the  writings  of  G.  W.  F.  Hegel;  collected  and 

ed.  by  Eliz.  S.  Haidane.    (138  S.)    New  York,   C.  Scribner's   Sons. 

1  Doli.  75  c. 
Hettinger,  Frz.,  Thomas  v.  Aquin  und  die  europäische  Civilisation. 

2.  Aufl.    (33  S.)    Frankfurt  a.  M.,  Kreuer.    M.  —,50. 


Bibliographie.  137 

Kalina,  Paul  Ew.,  Fundament  und  Einheit  in  Friedrich  Nietzsches 
Philosophie.    (VI,  124  S.)    Leipzig,  Friedrich.    M.  2,—. 

Keplers  Traum  yom  Mond.  Von  Ludw.  Günther.  Mit  dem  Bildnis 
Keplers,  dem  Fksm.-Titel  der  Orig.-Ausg.,  24  Abbild,  im  Text  und 

2  Taf.    (XXII,  185  S.)    Leipzig,  Teubner.    M.  8,—. 

Lao-tze*8  Sao-teh-king.     Chinese-English,  with  introd.,  transliteration 

and  notes,   by   Paul    Carus.     (346  S.)     Chicago,    The  Open  Court 

Publishing  Co.    3  Doli. 
Marx,  M.,  Charles  Georges  Leroy  und  seine  „Lettres  philosophiques'*. 

Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  vergleich.  Psychologie  des  XVIII. 

Jahrh.     (VIII,  99  S.)    Stralsburg,  Singer.    M.  2,—. 
Sdieidemantel,  Herrn.,  Die  Grundprobleme  der  Ethik  Spinozas.  („Der 

Begriff  der  actio  im  Gegensatze  der  passio   in   Spinozas   Ethik.") 

(36  S.)    Leipzig,  Haacke.    M.  — ,80. 
Schulze,  Joh»,  Erläuterungen  zu  Kants  Kritik   der  reinen  Vernunft. 

Im  Gewände  der  Gegenwart  herausg.  von  Rob.  C.  Hafferburg.  (224  S.) 

Jena,  Halsmann.    M.  2,50. 
Siebert,    Otto,   Geschichte   der  neueren   deutschen   Philosophie   seit 

Hegel.    Ein  Handbuch  zur  Einführung  in  das  philosoph.  Studium  der 

neuesten  Zeit.    (VIII,  496  S.)    Göttingen,  Vandenhoeck  &  Ruprecht. 

M.  7,50;  geb.  M.  8,50. 
Studien,  Berner,  zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.    Herausg.  von 

Ludw.  Stein.    Bern,  Steiger  &  Co.    IX.  Bd.    Rothenberger,  Chm., 

Pestalozzi  als  Philosoph.    (86  S.)    M.  1,75. 

—  XII.  Band.  Bensow,  Ose,  Zu  Fichtes  Lehre  vom  Nicht-Ich  (41  S.)  M.  1, — . 
Zeller,  Ed.,  Grundrifs  der  Geschichte  der  griechischen  Philosophie. 

5.  Aufl.    (X,  324  S.)    Leipzig,  Reisland.    M.  5,—  ;  geb.  M.  5,60. 

II.     Logik  und  Erkenntnistheorie. 

Dandolo,   6i.,  Le  integrazioni  psichiche  per  la  percezione  esterna. 

(115  S.)    Padova.    M.  3,50. 
Daxer,  Oeo.,  Über  die  Anlage  und  den  Inhalt  der  transscendentalen 

Ästhetik  in  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft.    (96   S.)    Hamburg, 

Vofs.    M.  2,40. 
Oottlieb,    Heinr«,    Das   Erkenntnisproblem,    auf   naturwissenschaftl. 

Grundlage  formuliert.     (28  S.)    Wien,  Gerold.    M.  —,70. 
Kowalewski,  Arnold,  Über  das  Kausalitätsproblem.   Eine  philosophische 

Studie.    (II,  121  S.)    Leipzig,  Mutze.    M.  2,60. 

—  Prodromos  einer  Kritik  der  Erkenntnis  theoretischer  Vernunft, 
(n,  30  S.)    Leipzig,  Mutze.    M.  —,60. 

Martin,  Abb6  J«    La  Demonstration  philosophique.    Paris,  Lethielleux. 

3  fr.  50  c. 

Philipp,  S.,  Vier  skeptische  Thesen.   (182  S.)  Leipzig,  Eeisland.  M.  3,60. 
Read,  Canreth,  Logic:  Deductive  and  Inductive.    (340  S.)    London, 
Richards.    6  sh. 


138  Bibliographie. 

Behmke,  Jolis.,  Aursenwelt,  Innenwelt,  Leib  und  Seele.  Eektorats- 
rede.     (48  S.)    Greifswald,  Abel.    M.  1,20. 

Sctaoeler,  Ueinr«  t»,  Kritik  der  wissenschaftl.  Erkenntnis.  Eine  vor- 
urteilsfreie Weltanschauung.  (VIII,  667  S.)  Leipzig,  Engelmann. 
M.  12,-  ;  geb.  M.  15,—. 

Yowinkel,  Ernst,  Geschichte  und  Dogmatik.  Eine  erkenntnis-theoret. 
Untersuchung.    (VII,  111  S.)    Leipzig,  Deichert.    M.  1,60. 

Ziehen,  Thdr«,  Psychophysiologische  Erkenntnistheorie.  (V,  105  S.) 
Jena,  Fischer.    M.  2,80. 

III.     Allgemeine  Philosophie  und  Metaphysik. 

Bodn&r,  Sigrm.,  Mikrokosmus.  2  Bde.  (VII,  399  u.  III,  328  S.) 
Berlin,  Walther.    M.  10,—. 

Brandt,  M.  t«.  Die  chinesische  Philosophie  und  der  Staats-Confucianismus. 
(121  S.)    Stuttgart,  Strecker  &  Moser.    M.  2,—. 

Engel,  H.,  Die  gröfsten  Geister  über  die  höchsten  Fragen.  Aussprüche 
und  Charakterzüge  erster,  nicht-theolog.  Autoritäten  des  19.  Jahrh. 
2.  Aufl.    (VII,  291  S.)    Leipzig,  Wehner.    M.  1,20;  geb.  M.  1,75. 

Hager,  Thdr«,  Metaphysisches  Brevier.  Ein  Auszug  aus  dem  Manu- 
skript: „Stoff  und  Kraft,  Geist  und  Wille  in  Raum  und  Zeit,  Ver- 
nunft und  Freiheit.«    (IV,  70  S.)    Mainz,  Kirchheim.    M.  1,—. 

James,  Red.  W.,  Human  immortality:  two  supposed  objections  to  the 
doctrine.    (70  S.)    Boston,  Houghton,  Mifflin  &  Co.    1  Doli. 

Kappes,  Matth.,  Die  Metaphysik  als  Wissenschaft.  Nachweis  ihrer 
Existensberechtigg.  und  Apologie  e.  übersinnl.  Weltanschauung. 
(60  S.)    Münster,  Aschendorff.    M.  1,60. 

Kttlpe,  0«,  Einleitung  in  die  Philosophie.  Zweite,  verbesserte  Aufl. 
Leipzig,  S.  Hirzel.    279  S.    M.  4,—. 

Mttller,  Jos.,  System  der  Philosophie.  Enth.:  Erkenntnistheorie, 
Logik  und  Metaphysik,  Psychologie,  Moral-  und  Religionsphilosophie. 
(VII,  372  S.)    Mainz,  Kirchheim.    M.  5,- ;  geb.  M.  6,—. 

Panlsen,  Frdr«,  Einleitung  in  die  Philosophie.  5.  Aufl.  (XVI,  444  S.) 
Berlin,  Besser.    M.  4,50;  geb.  M.  5,50. 

Bibert,  L«,  Essai  d'une  Philosophie  nouvelle  sugg6r6e  par  la  Science. 
Paris,  Alcan.    6  fr. 

Sehellwien,  Bob«,  Philosophie  und  Leben.  (III,  121  S.)  Leipzig, 
Janssen.    M.  2,40. 

Smith,  Goldwin,  Guesses  at  the  riddle  of  existence  and  other  essays 
on  kindred  subjects.   (295  S.)   New  York,  Macmillan.   1  Doli.  25  c. 

Wirth,  Chrn«  Kann  das  Übel  und  Böse  in  der  Welt  aus  der  Willens- 
freiheit der  Geschöpfe  hergeleitet  werden?  (42  S.)  Bayreuth, 
Giefsel.    M.  —,70. 

IV.    Psychologie. 

Alexander,  Arehlbald,  Theories  of  the  will  in  the  history  of  philo- 

sophy.    (357  S.)    New  York,  C.  Scribner's  Sons.    1  Doli.  50.  c. 
Alliero,  G.,  La  psicologia  di  Herbert  Spencer.   (160  S.)  Torino.  M.  3,60. 


Bibliographie.  139 

Beiträge  zur  Akustik  und  Musikwissenschaft,  herausg.  y.  Carl  Stumpf. 
1.  Hft.  Stumpf,  C,  Konsonanz  und  Dissonanz.  (V,  108  S.)  Leipzig. 
Barth.    M.  3,60. 

Belleeza,  F.,  Genio  e  follia  di  Alessandro  Manzoni.   Milano.   M.  5,—. 

Charakterbilder,  graphologische.  I.  Busse,  Hans,  H.:  Bismarcks 
Charakter.  Eine  graphologische  Studie.  Mit  40  Handschriften- 
Proben  von  Bismarck  und  anderen.    (38  S.)    Leipzig,  List.    M.  1, — . 

Groos,  Karl,  The  Play  of  Animals.  A  Study  of  Animal  Life  and 
Instinct.  Translated,  with  the  Author's  Cooperation,  by  Elizabeth 
L.  Baldwin.  With  a  Preface  and  an  Appendix  by  J.  Mark  Baldwin. 
(368  S.)    London,  Chaplnann  and  Hall.     10  sh.  6  d. 

Krause,  F.,  Das  Leben  der  menschlichen  Seele  und  ihre  Erziehung. 
Psychologisch-pädagog.  Briefe.  1.  Teil.:  Das  Vorstellungs-  und 
Denkleben.    (289  S.)    Dessau,  Kahle.    M.  3,— 

Laborde,  Dr.  I.  V.,  L6on  Gambetta,  biographie  psychologique.  Le 
cerveau,  la  parole.    Paris,  Schleicher  freres.    5  fr. 

Lyoy,  P.,  Spirito  del  pensiero.    Milano.    M.  5, — . 

Mantegazza,  Paul,  Bätsei  der  Liebe.  Aus  dem  Ital.  v.  Willy  Alex 
Kastner.    (IX,  301  S.)    Jena,  Costenoble.    M.  3,—  ;  geb.  M.  4,20. 

Möbius,  P.  I.,  Über  das  Pathologische  bei  Goethe.  (VI,  208  S.)  Leipzig, 
Barth.    M.  2,40;  geb.  M.  3,20. 

—  Vermischte  Aufsätze.  (V.  Hft.  der  Neurologischen  Beiträge.) 
(VI,  173  S.)    Leipzig,  Barth.    M.  4,—. 

Müller,  Rud.,  Das  hypnotische  Hellseh-Experiment  im  Dienste  der 
naturwissenschaftlichen  Seelenforschung.  2.  Bd.  Das  normale  Be- 
wufstsein.    (171—322  S.)    Leipzig,  Strauch.    M.  4,—. 

Przibram,  Walt.,  Versuch  einer  Darstellung  der  Empfindungen.  (28  S. 
m.  5  Tab.)    Wien,  Holder.    M.  1,40. 

Seherer,  Karl  Chrph.,  Das  Tier  in  der  Philosophie  des  Hermann 
Samuel  Reimarus.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  vergleichenden 
Psychologie.    (VII,  183  S.)    Würzburg,  Göbel.    M.  2,50. 

Sehofleld,  Alfred  Th.,  The  unconscious  mind.  (452  S.)  London, 
Hodder  and  Stoughton.    7  sh.  6  d. 

Seotti,  G.,  Lo  spiritismo  e  i  nuovi  studi  psichici.  (82  S.)  Bergamo.  M.  2, — . 

Stern,  William,  Psychologie  der  Veränderungsauffassung.  (VIII,  264  S.) 
Breslau,  Preufs  &  Jünger.    M.  6, — . 

SuUy,  James,  Handbuch  der  Psychologie  f.  Lehrer.  Eine  Gesamt- 
darstellung der  pädagog.  Psychologie  für  Lehrer  und  Studierende. 
Aus  dem  Engl.  v.  J.  Stimpfl.  (XIII,  447  S.)  Leipzig,  Wunderlich. 
M.  4,—  ;  geb.  M.  4,80. 

Wundt,  W«,  Grundrifs  der  Psychologie.  3.  Aufl.  Leipzig,  Engelmann. 
M.  6,—;  geb.  M.  7,—. 

V.    Ethik  und  Rechtsphilosophie. 
Baumann,  Jul.,   Eealwissenschaftliche  Begründung   der  Moral,    des 
Rechts  und  der  Gotteslehre.  (VII,  295  S.)  Leipzig,  Dieterich.  M.  7, — . 


140  Bibliographie. 

Dörini^,  A.,  Handbuch  der  menschlich-natürlichen  Sittenlehre  für  Eltern 
u.  Erzieher.  (Ein  Versuch  im  Sinne  der  von  der  deutschen  Gesell- 
schaft f.  eth.  Kultur  gestellten  Aufgabe.)  (XVI,  415  S.)  Stuttgart, 
Frommann.    M.  4, — ;  geb.  M.  5, — . 

Ehrenfels,  Chr.  Yon,  System  der  Werttheorie.  II.  Band.  Grundztige 
einer  Ethik.    Leipzig,  Eeisland.    269  S.    M.  5, — . 

Eisler,  Zur  ethischen  Bewegung.  Der  Weg  zum  Frieden.  (107  S.) 
Leipzig,  0.  Wigand.    M.  1,50. 

Fried,  A.  H,,  Das  Tagebuch  eines  zum  Tode  Verurteilten.  Mit  einer 
Einleitung  über  die  Todesstrafe  von  Ludw.  Büchner.  (IV,  153  S.) 
Berlin,  Duncker.    M.  2, — . 

Oeorg^e,  J.,  Humanität  und  Kriminalität.  Eine  Zusammenstellung 
sämtlicher  Kriminalstrafen  vom  frühesten  Mittelalter  bis  auf  die 
Gegenwart,  unter  Berücksichtigung  aller  Staaten  Europas,  nebst  einer 
Besprechung  derselben  unter  dem  Gesichtswinkel  der  Humanität. 
(XXVn,  383  S.)    Jena,  Costenoble.    M.  10,  - ;  geb.  M.  12,50. 

Hilty,  K.,  Über  die  Höflichkeit.    (132  S.)    Bern,  Wyfs.    Geb.  M.  2,-. 

Jowett,   J.   H.,   From   strength   to   strength.    (131  S.)    New  York, 

Dodd  Mead  &  Co.    50  c. 
Kneib,  Phpp.,  Die  Willensfreiheit  und  die  innere  Verantwortlichkeit. 

(XII,  73  S.)    Mainz,  Kirchheim.    M.  1,20. 

Knortz,  K.,  Friedrich  Nietzsche  und  sein  Übermensch.  Zürich,  v.  Stern. 
M.  1,—. 

Krüger,  Fei.,  Der  Begriff  des  absolut  Wertwollen  als  Grundbegriff 
der  Moralphilosophie.    (96  S.)    Leipzig,  Teubner.    M.  2,80. 

Lazarus,  M.,  Die  Ethik  des  Judentums.  (XXV,  469  S.)  Frankfurt  a.  M., 
Kauffmann.    M.  3, — . 

Lewetzki,  S.,  Willensbildung.    Ein  Beitrag  zur  Lösung  der  socialen 

Frage.    (24  S.)    Berlin.    M.  —,60. 
Lotz,  Rad.y  Die  Philosophie  und  der  Zweck  des  Lebens.    (III,  73  S.) 

Athen,  Barth  u.  v.  Hirst.    M.  1,60. 

Magnns,  Yiv.t.,  Der  Siegfried  des  Geistes.  Ein  neues  Menschheitsideal. 
(III,  304  S.)    Dresden,  Pierson.    M.  4,-. 

Naumann,  Gust.,  Antimoralisches  Bilderbuch.  Ein  Beitrag  zu  einer 
vergleich.  Moralgeschichte.  (IV,  379  S.)  Leipzig,  Hassel.  M.  5,—; 
geb.  M.  6, — . 

Nikoltschoif,   WasslL,    Das  Problem    des   Bösen  bei  Fichte.    Diss. 

(83  S.)    Jena,  Strobel.    M.  1,60. 
Oppenlieim,  L.,  Das  Gewissen,  gr.  8^.   (50  S.)  Basel,  Schwabe.  M.  1,20. 
P^'k,  Job.,  Praktische  Philosophie.    (VII,  180  S.)    Wien,  Konegen. 

M.  3,—. 

Bobertj,  E.  de,  Les  Fondements  de  PEthique,  troisieme  Essai  sur  la 
morale  consid6r6e  comme  Sociologie  616mentaire.  Paris,  Alcan. 
2  fr.  50  c. 


Bibliographie.  141 

Rojce,  Josiata,  Studies  of  good  and  eTÜ:  a  series  of  essays  upon 
Problems  of  philosophy  and  of  life.  (384  S.)  New  York,  Appleton. 
1  Doli.  50  c. 

Contents:  The  Problem  of  Job;  The  case  of  John  Buynan; 
Tennyson  and  pessimism:  The  knowledge  of  good  and  eyil;  Natural 
laws;  ethics  and  eyolution;  The  implications  of  self-consciousness; 
Self-consciousness,  social  consciousness,  and  nature ;  Originality  and 
consciousness. 
Sehott,   J.  K.,   Eine  Sittenlehre   für  das   deutsche   Volk.     Leipzig, 

Schnurpfeil.  M.  —,80;  geb.  M.  1,20. 
Wagner,  Frdr.,  Freiheit  und  Gesetzmäfsigkeit  in  den  menschlichen 
Willensakten.  Eine  philosophische  Abhandlung.  (III,  15  S.)  Tü- 
bingen, Laupp.  M.  2,80. 
Wintzer,  M'illi.,  Die  natürliche  Sittenlehre  Ludw.  Feuerbachs.  Im 
Zusammenhange  dargestellt  u.  beurteilt.  (VI,  40  S.)  Leipzig,  Fock, 
M.  1,-. 

VI.   Ästhetik. 

Beiträge  zur  Ästhetik.  Herausg.  v.  Thdr.  Lipps  u.  Rieh.  Maria  Werner. 

VI.  Lipps,  Thdr.    Komik  u.  Humor.    Eine  psychologisch-ästhetische 

Untersuchung.    (VIII,  264  S.)    Hamburg,  Vofs.    M.  6,—. 
Corssen,   Pet.,   Die  Antigone  des  Sophokles,   ihre  theatralische  und 

sittliche  Wirkung.    (75  S.)    Berlin,  Weidmann.    M.  1,40. 
Driesmann,  Ueinr.,  Die  plastische  Kraft  in  Kunst,  Wissenschaft  und 

Leben.    (VIII,  215  S.)    Leipzig,  Naumann.    M.  4,— ;  geb.  M.  5,50. 
Fechner,  Gnst.  Th.,  Vorschule  der  Ästhetik.  2.  Teil,  2.  Aufl.  (IV,  319  S.) 

Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel.    M.  6, — . 
Feilner,   Thdr.  Jean,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Kultur  u.  Kunst. 

Philosophische  Aphorismen.    (VILI,  160  S.)    Braunschweig,   Sattler. 

M.  2,40. 
Oalabert,  Edm.,  Le  Röle  social  de  Part.    (28  S.)    Paris,   Giard  et 

Briere.    1  fr.  50  c. 
Jnsti,  Carl,  Winckelmann  und  seine  Zeitgenossen.    2.  Aufl.,   2.  und 

3.  (Schlufs-)  Bd.    Winckelmann  in  Rom.    (IV,  374  und  IV,  423  S. 

mit  1  Bildnis.)    Leipzig,  Vogel,    ä  M.  12,—  ;  geb.  k  M.  14,50. 
Leitschnh,  Fns.  Frdn,  Das  Wesen  der  modernen  Landschaftsmalerei. 

(VIII,  365  S.)    Strafsburg,  Heitz.    M.  6,—. 
Lessing,  JnL,  Das  Moderne  in  der  Kunst.    Vortrag.    (32  S.)  Berlin, 

Simion.    M.  1, — . 
Maaerhof,   Emil,   Schiller  und  Heinrich  y.  Kleist.    (170  S.)    Zürich, 

Henckell  &  Co.    M.  4,—. 
Nef,  Willi,  Die  Ästhetik  als  Wissenschaft  der  anschaulichen  Erkenntnis. 

Ein  Vorschlag  über  den  Gegenstand,   die  Methoden  und  Ziele  einer 

exakt  wissenschaftl.  Ästhetik.    (52  S.)    Leipzig,   Haacke.    M.  1, — . 


142  Bibliographie. 

P^res,  J«,  L'art  et  le  r6el,  essai  de  m^taphysique  fond^e  sur  Pesth^tigue. 

Paris,  Alcan.    3  fr.  75  c. 
Sittenberger,  Hans,  Studien  zur  Dramaturgie  der  Gegenwart.  1.  Beihe : 

Das  dramatische  Schaffen  in   Österreich.    (XII,  433  S.)     München, 

Beck.    M.  7, — ;  geb.  M.  8,—. 
Stelger,  Edgar,  Das  Werden  des  neuen  Dramas.    2.  Teil.    A.  u.  d.  T. : 

Von  Hauptmann  bis  Maeterlinck.    (35ö  S.)    Berlin,  Fontane  &  Co. 

M.  5, — ;  geb.  M.  6,—. 
Tappenbeck,  Wilh«,  Die  Religion  der  Schönheit.    Ihr  Fundament. 

(96  S.)    Leipzig,  Haacke.    M.  2,—. 
Tipper,  H.,  The  Growth  and  Influence  of  Music  in  Relation  to  Civili- 

sation.    (234  S.)    London,  Stock.    ^6  sh. 
Tolstoi,  Graf,  Leo«,  Gegen  die  moderne  Kunst.    Deutsch  y.  Wilh.  Thal. 

(Neue  Folge   zu   desselben  Verf.  Werk:    Was  ist  Kunst?)     Berlin, 

Steinitz.    M.  1, — . 
Tf  erker,  Die  Theorie  der  Tonalität,  ein  Beitrag  zur  Gründung  eines 

konsequenten  Ton-  und  Musiktheorie-Systems.    (50  S.)    Norden  und 

Nordemey,  H.  Braams.    M.  2, — 

VII.     Philosophie  der  Gesellschaft  und  der  Geschichte. 

Flerowsky,  N.,  Das  ABC  der  socialen  Wissenschaften.    (XVI,  614  S.) 

Aus  dem  Russischen.    Leipzig,  Haacke.    M.  12,—. 
Pfleiderer,  Edm«,  Über  den  geschichtlichen  Charakter  unserer  Zeit. 

Festrede.    (28  S.)    Tübingen,  Laupp.    M.  —,80. 
Bise  and  fall  of  the  United  States :    a  leaf  from  history  A.  D.  2060 

by  a  diplomat.    (205  S.)    New  York,  Jennyson  Neely.    25  c. 
Sohm,  Bad«,  Die  socialen  Aufgaben  des   modernen  Staates.     (32  S.) 

Leipzig,  0.  de  Liagre.    M.  —,50. 
Tarde,  6«,  Etudes  de  Psychologie  sociale.    (326  S.)    Paris,  Giard  et 

E.  Briere.    9  fr. 
Zenker,  E«  Y«,  Anarchism.  a  criticism  and  history  of  the  anarchist 

theory.    (266  S.)    New  York,  C.  Scribner's  Sons.    3  Doli. 

VIII.     Religionsphilosophie  und  Theosophie. 

Besant,  Annie,  Der  Mensch  und  seine  Körper.    Eine  theosoph.  Studie 
Übers,  v.  Günth.  K.  Wagner.    (111,96  S.)   Leipzig,  Friedrich.  M.  1,— 

— ,  Die  Geburt  und  Entwicklung  der   Seele,  eine   theosoph.   Studie 
Übers,  von  Ludw.  Deinhard.    (62  S.)    Leipzig,  Friedrich.     M.  1, — 

Bibliotliek  esoterischer  Schriften.    1.  und  II.  Bd.    Leipzig,  Friedrich 
M.  1, — .     I.  Keligionslehre,  die,  der  Buddhisten.     Deutsch  v.  Frz 
Hartmann.   (V,  129  S.)  —  II.   Sankaracharya :   Das  Palladium   der 
Weisheit  (Viveka  Chudamani).    Aus  dem  Sanskrit  übers,  v.  Mohini 
Chatteqi.   (V,  98  S.) 

Hartmann,  Frz.,  Die  Eeinkarnation  oder  Wiederverkörperung.     Vor- 
trag.   (36  S.)    Leipzig,  Friedrich.    M.  — ,60. 


Bibliographie.  143 

Maller,  F*  Max,  Physical  Eeligion.  The  Gifford  Lectures  delivered 
before  the  University  of  Glasgow  in  1890.  New  ed.  (422  S.) 
LongmaBS.    5  sh. 

—  Theosophie;  or  Psychological  Eeligion.  The  Gifford  Lectures 
Delivered  before  the  University  of  Glasgow  in  1892.  New  Issue. 
(610  S.)    London,  Longmans.    5  sh. 

Sabatier,  Aug.,  Eeligionsphilosophie  auf  psychologischer  und  ge- 
schichtlicher Grundlage.  Deutsch  von  Aug.  Baur.  (XX,  326  S.) 
Freiburg  i.  B.,  Mohr.    M.  6, — . 

IX.    Naturphilosophie. 

Bettex,  F.,  Symbolik  der  Schöpfung  und  ewige  Natur.    (440  S.)    Biele 

feld,  Velhagen  &  Klasing.    Geb.  M.  6, — . 
Bölsche,  W«,   Das  Liebesleben  in  der  Natur.     Eine  Entwicklungs- 
geschichte der  Liebe.   Mit  Buchschmuck  v.  Müller-Schönefeld.  I.  Folge. 

(X,  402  S.)    Florenz,  Diederichs.    M.  6,—. 
Ooette,    Alex«,    Über   Vererbung   und    Anpassung.      Eektoratsrede. 

(31  S.)    Strafsburg,  Heitz.    M.  —,80. 
Orofs,  Th.  Robert,  Mayer  und  Hermann  v.  Helmholtz.    Eine  kritische 

Studie.    (V,  IV,  174  S.)    Berlin,  Fischer.    M.  4,60. 
Grofse,  W«,  Der  Äther  und  die  Fernkräfte.    Mit  besond.  Berücksicht. 

der  Wellentheorie.  (VI,  89  S.  m.  17  Fig.)   Leipzig,  Quandt  &  Händel. 

M.  2,25. 
Jacqnlnet,  M.,  Des  Problemes  de  la  Vie  et  de  la  Mort  et  de  quelques 

questions  qui  s'y  rattachent.    Paris,  Perrin  et  Cie.    2  fr.  50  c. 
Mongr^,  Paul,  Das  Chaos   in   kosmischer  Auslese.    Ein    erkenntnis- 
kritischer  Versuch.     (VI,    213    S.)    Leipzig,    Naumann.      M.   4, — ; 

geb.  M.  5,50. 
Bosenberger,  Ferd«,  Die  moderne  Entwicklung  der  elektrischen  Prin- 

cipien.    5  Vorträge.    (176  S.)    Leipzig,  Barth.    M.  3, — . 
Scheffler,  Herrn.,  Die  Grundlagen  des  Weltsystems  in  gesetzlichem 

Zusammenhange  nach  ihrer  physischen,  mathematischen,   logischen 

und  philosophischen  Bedeutung.   (VI,  247  S.)   Braunschweig,  Wagner. 

M.  4,—. 
Thiele,  Oünth«,  Eosmogonie  und  Eeligion.    Antritts-Vorlesung.  (30  S.) 

Berlin,  Skopnik.    M.  — ,50. 
Troost,  B«,  Die  Urzeugung.    Ein  Beitrag  zur  Lichtäther-Hypothese, 

populär  dargestellt.    (38  S.)    Wiesbaden,  Troost.    M.  — ,75. 
Wellisch,  Siegln.,  Das   Alter  der  Welt.     Auf  mechani^h-astronom. 

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Bach,  Albert,  B«,  Musical  Education  and  Vocal  Culture  for  Vocalists 
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144  Bibliographie. 

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Verlehrtentum.    (330  S.)    Grorsenhain,  Baumert  &  Ronge.    M.  2,50. 
Kaibel,  Geo,  Wissenschaft  und  Unterricht.    Kede.    (19  S.)    Göttingen, 

Vandenboeck  &  Ruprecht.    M.  — ,40. 
L5we,  K«  B.,  Wie  erziehe  und  belehre  ich  mein  Kind  bis  zum  6. 

Lebensjahre?  Hannover,  Meyer  (Gust.  Prior).    M.  1,50;  geb.  M.  2, — . 
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Palermo.    M.  1,50. 
Xatorp,  Paul,  Socialpädagogik.    Theorie  der  Willenserziehung  auf  der 

Grundlage  der  Gemeinschaft.    (VIII,  352  S.)    Stuttgart,  Frommann. 

M.  6,—. 
Petit,  Dr.  G.,  Pour  nos  Enfants,  Conseils  d'hygi^ne  physiqüe  et  morale. 

Paris.    Soc.  d'Edit.  scientif.    3  fr. 


iHiiiiiniutitiiiuiniiiiiMiiiiMiiiiidiiiiiiiiiiiii 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiMiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiMiiiiiiiK 


Abhandlungen. 


Über  den  assoeiativen  Faktor  des  ästhetisehen 

Eindrucks/) 

Von  Oswald  Kiilpe,  Würzburg. 


Inhalt. 

Historische  Beziehungen  zu  Fechners  Unterscheidung  des  direkten  nnd 
assoeiativen  Faktors.  Zur  Kritik  Fechners.  Begriff  des  ästhetischen  Eindrucks. 
Entstehung  des  assoeiativen  Faktors.    Seine  ästhetische  Bedeutung. 


Seit  den  ersten  Anfängen  des  ästhetischen  Nachdenkens 
pflegt  man  zwischen  zwei  Quellen  und  ihnen  entsprechenden 
Wirkungen  ästhetischer  Art  zu  unterscheiden.  Die  Schönheit 
des  Körpers,  sagt  Demokrit,  ist  tierisch,  wenn  ihr  nicht  Geist 
zu  Grunde  liegt,  und  die  Bilder  der  Sinneswahmehmung  sind 
zwar  durch  ihre  Schönheit  zur  Betrachtung  geeignet,  aber 
seelenlos.^  Ebenso  unterscheidet  Platon  eine  körperliche 
und  eine  seelische  oder  innere  Schönheit,  die  einander  im 
Menschen  entsprechen  sollen,  auf  dafs  der  Körper  der  Seele, 
der  er  dient,  ähnlich  sei  und  Ebenmafs  zwischen  ihnen  herrsche. 
Als  Inhalte  der  Sinneswahmehmung  sind  die  glänzenden  Farben, 
die  reinen  Töne,  die  symmetrischen  Gestalten  nur  ein  Schein, 
aber  in  ihnen  spiegelt  sich  die  Idee  der  Schönheit  in  besonders 
klarer  Form.    Auch  giebt  es  nach  Platon  ein  Schönes  im 

^)  Diese  im  Anschlurs  an  einen  akademischen  Vortrag  entstandene 
Abhandlung  war  bereits  fertig,  als  die  wertvolle  Arbeit  von  P.  Stern: 
Einfühlung  und  Association  1898  erschien.  Ich  behalte  mir  vor,  an  einer 
anderen  Stelle  mich  mit  ihr  auseinanderzusetzen. 

ä)  Mullach,  fr.  mor.  129,  18;  Natorp  (Ethica  des  Dbmokmtos) 
fr.  16,  172. 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXIII.  2.  10 


146  Oswald  Külpe: 

Sinne  eines  an  sich  Angenehmen  nnd  eines  NützKchen :  schleeht- 
tiri  und  an  sich  schön  sind  Farben  und  Töne,  an  denen  wir 
ein  von  aller  Begierde  und  dadurch  bedingten  Unlust  freies 
Gefallen  empfinden;  Körper  und  Gemälde  dagegen  sind  zu 
etwas  schön,  insofern  sie  zweckmäfsig  sind  für  ihre  Ver- 
richtungen oder  für  die  Darstellung  dessen,  was  sie  ausdrücken 
sollen.^)  Einer  ähnlichen  AuflEassung  begegnen  wir  femer 
bei  dem  Neuplatoniker  Plotin,  der  einer  sinnlichen  Schönheit 
eine  innere,  geistige  überordnet  und  als  eigentliche  und  erste 
Quelle  alles  Schönen  das  Gute  betrachtet.^) 

Was  hier  körperliche  und  geistige  oder  äufsere  und 
innere  Schönheit  heifst,  tritt  in  der  Ästhetik  des  18.  Jahr- 
hunderts unter  anderen  Namen  auf.  So  redet  Hutcheson 
von  einer  absoluten  und  einer  relativen  Schönheit.  Jene  kommt 
einem  Gegenstande  an  sich  zu  und  beruht  auf  der  Verbindung 
einer  einheitlichen  Form  mit  einer  Mannigfaltigkeit  von  Ob- 
jekten. Die  relative  Schönheit  aber  findet  Hutcheson  in  der 
Übereinstimmung  zwischen  Vorbild  und  Nachahmung:  das 
Kunstwerk  ist  die  Darstellung  eines  Gegenstandes,  der  in  der 
Natur  oder  in  der  Vorstellung  gegeben  sein  kann.  ^  Sicherlich 
ist  dieser  Begriff  ein  weit  engerer,  als  der  der  geistigen 
Schönheit,  aber  er  fällt  vom  Standpunkt  des  Beobachters  in 
die  nämliche  Sphäre.  Ahnlich  ist  die  Unterscheidung  von 
Home  zwischen  einer  eigenen,  intrinsic,  und  einer  Schönheit 
des  Verhältnisses,  relative  beauty.  Jene  wird  bloüs  durch  die 
Sinne  empfunden:  die  Schönheit  einer  schattigen  Eiche  oder 
eines  flieJ^enden  Baches  kann  durch  einen  blolsen  Akt  des 
Sehens  erfalst  werden.  Zu  der  EmpfijDLdung  der  anderen 
Schönheit  dagegen  wird  Betrachtung  und  Nachdenken  erfordert, 
denn  sie  liegt  in  den  Dingen  nur,  sofern  sie  als  Mittel  zu 
ii^end  einem  guten  Zwecke  oder  Vorsatz  angesehen  werden. 


1)  Vergl.  besonders  PhIdeits,  279  BC,  250  D;  Timäus,  87  CD;  Ke- 
pabl.  m,  402  C,   X,  601  D;  Philbbus,  51  C;  Gobgias,  474  D. 

3)  Ennsas.  V,  9,  2;  II,  9,  17;  I,  6,  9. 

')  Untersuchung  unserer  Begriffe  Ton  Schönheit  und  Tugend,  1762, 
S.  17  f. 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       147 

Ein  alter  gotischer  Turm,   der  keine  eigene  Schönheit  hat, 
wird  von  uns  dennoch  schön  genannt,  wenn  wir  ihn  als  eine 
gute  Schutzwehr  gegen  einen  Feind  betrachten.  Ein  Wohnhaus, 
dem  alle  Regelmäfsigkeit  fehlt,  ist  gleichwohl  hinsichtlich  seiner 
Bequemlichkeit  schön.    Wenn  beide  Arten  von  Schönheiten  an 
einem  und  demselben  Gegenstande  verbunden  vorkommen,  so 
wirkt  er  sehr  ergötzlich ;  so  gefölllt  der  schlanke  Wuchs  eines 
Pferdes,    das   zum  Laufen   bestimmt  ist,,  jedem  Auge,   teils 
wegen  der  Symmetrie,  teils  auch  wegen  der  Nützlichkeit.^) 
Schon  vor  diesem  bedeutendsten  Vertreter  einer  empirisch- 
psychologischen   Ästhetik    im    18.    Jahrhundert    hat    Moses 
Mendelssohn  von  einer  Schönheit  der  Form  und  einer  solchen 
des  Ausdrucks  gesprochen.    Durch  Gestalt,  Farbe,  Bewegung 
kann  eine  „Naturmaschine"  an  sich  reizvoll  sein,   eine  „tote 
Schönheit"  darsteUen,  oder  sie  kann  gute  und  böse  Eigen- 
schaften, Vollkommenheiten  und  Mängel  sichtbar  machen  und 
insofern  gefallen  oder  mifsfallen.    Zugleich  hat  er  sich  ein- 
gehend um  eine  allgemeine  Theorie  der  Zeichen  bemüht  und 
mit  ihrer  Hilfe  eine  Scheidung  der  Künste  vollzogen.  Während 
sich  Poesie  und  Beredsamkeit,  die  schönen  Wissenschaften, 
der  Worte,   d.  h.    der   willkürlichen   Zeichen   bedienen,   um 
Empfindungen   oder   Handlungen   auszudrücken,    stehen    der 
Musik,   der  Architektur,   Malerei  und  Skulptur,    den  schönen 
Künsten,  natürliche  Zeichen,  die  Töne,  Farben  und  Formen, 
zur  Verfügung.  2)    Auch   in   diesen  Betrachtungen   erkennen 
wir  unschwer  den  alten  Gegensatz  des  Äufseren  und  Inneren 
wieder.    Winckelmann,  der  Verehrer  des  griechischen  Schön- 
heitsideals,  erhebt .  ebenfalls  die  Forderung  einer  ausdrucks- 
vollen Schönheit,  die  sich  in  der  edlen  Einfalt  und  der  stillen 
Gröfse  vollendet,  und  nennt  die  ausdruckslose,  blofs  „linearische" 
Schönheit  unbedeutend.  ^)    Demselben  Zusammenhange  gehört 
auch  Lessing  an,  welcher  der  Kunst  ein  Ideal  der  Form  und 


1)  Grundsätze  der  Kritik,  1772,  I,  S.  262  ff. 

3)  Gesammelte  Schriften  1844,  IV,  1.  Abtl.,    S.  47;   Philosophische 
Schriften  1783,  II,  S.  118  ff. 

8)  Sämtliche  Werke  1825,  I,  S.  30;  IV,  S.  189;  VH,  S.  119. 

10* 


^    i 


148  Oswald  Eülpe: 

daneben  ein  Ideal  des  pennanenten,  nicht  des  transitorisclien 
Ausdrucks  empfiehlt,^)  und  Hebdeb,  nach  dem  die  Schönheit 
der  Dinge  nicht  sowohl  auf  dem. beruht,  was  sie  sind,  als 
vielmehr  auf  dem,  woran  sie  erinnern  oder  was  sie  ausdrücken.  ^) 
Was  endlich  Kant  über  die  freie  und  die  anhängende  Schön- 
Jieit  ausfuhrt,  fällt  im  wesentlichen  mit  Homds  Unterscheidung 
einer  inneren  und  einer  Schönheit  des  Verhältnisses  zusammen. 
So  wenig  nun  auch  Kant  geneigt  ist,  der  letzteren  eine  er- 
hebliche ästhetische  Bedeutung  beizumessen,  so  wird  doch 
auch  nach  ihm  dem  Schönen  erst  durch  seine  Beziehung  zum 
Guten  seine  volle  Würde  gesichert.  Das  Schöne,  sagt  Kant^ 
ist  das  Symbol  des  Sittlich-Guten,  und  nur  in  dieser  Rücksicht 
gefällt  es  mit  einem  Anspruch  auf  allgemeine  Zustimmung.^) 

An  diese  neue  Prägung  der  Begriffe  knüpft  der  im  19. 
Jahrhundert  entbrannte  Streit  zwischen  den  Form-  und  den 
Gehaltsästhetikem  an.  Alle  Schönheit,  behaupten  jene,  deren 
Meister  Herbaet  ist,  beruht  auf  der  Harmonie  der  Farben 
und  Töne,  dem  Ebenmafs  und  der  Symmetrie  von  Gestalten 
und  Zeitfolgen.  Die  Materie,  der  geformte  Inhalt,  ist  für  das 
ästhetische  Urteil  gleichgültig,  mag  man  darin  eine  Sinnes- 
qualität oder  eine  Idee  sehen.  In  diesem  Sinne  ist  z.  B.  von 
Hanslick  alles  Gefallen  an  der  Musik  auf  tönende  Formen^ 
auf  Melodie,  Harmonie  und  Rhythmus  zurückgeführt  worden. 
Jeder  Ausdruck  von  Gemütsbewegungen  oder  gar  bestimmten 
Vorstellungen  ist  illusorisch,  pathologisch,  jedenfalls  unästhe- 
tisch. Dagegen  erklärt  Schelling,  eines  der  Häupter  der 
gehaltsästhetischen  Schule,  dafs  die  Form  zwar  das  Erste  an 
der  Schönheit  sei,  dafs  sie  jedoch  durchaus  als  symbolisch^ 
als  Ausdruck  eines  Inhalts  gedacht  werden  müsse.  Noch  be- 
stimmter äufsert  sich  Hegel:  das  Schöne  ist  ein  Ruf  an  die 
Gemüter  und  Geister,  die  es  vermöge  seines  idealen  Gehalts 
zum  seligsten  Genufs  erhebt.  Nur  als  Ausdrucksmittel  eines 
geistigen  Inhalts   ist  die  formale  Schönheit  von  Bedeutung^ 


^)  Ausg.  Hbmpel,  vi  (Laokoon  Anhang),  S.  264  f. 

2)  Ausg.  SüPHAN,  XXII,  S.  74  ff. 

»)  Krit.  d.  Urteilskr.,  Ausg.  Kehrbach,  S.  76  ff.,  228  ff. 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       149 

und  berechtigt.  Wo  der  sinnliche  Stoflf  aufhört  ein  adäquater 
Ausdruck  der  Idee  zu  sein,  da  entfaltet  sich  die  höchste 
Kunstform,  die  romantische,  und  die  Dreiheit  wertvollster 
Künste,  Malerei,  Musik  und  Poesie.^)  Auch  Schopenhauer, 
sonst  der  eingeschworene  Feind  der  beiden  eben  genannten 
Philosophen,  steht  hier  mit  ihnen  auf  gleichem  Boden.  Die 
Kunst  ist  Wiederholung  der  durch  reine  Kontemplation  auf- 
gefafsten  ewigen  Ideen,  der  Willensobjektivationen,  und  die 
Musik  ist  gar  ein  Abbild  des  Willens  selbst,  der  Weltrealität.^) 
Diesen  die  ganze  Geschichte  der  Ästhetik  durchziehenden 
Gegensatz  zwischen  äufserer  und  innerer,  absoluter  und  rela- 
tiver, freier  und  anhängender,  formaler  und  idealer  Schönheit 
hat  Fechner,  der  grofse  Bahnbrecher  für  die  moderne  Psycho- 
logie und  Ästhetik,  auf  einen  einfachen  psychologischen  Aus- 
druck gebracht,  indem  er  das  ästhetische  Gefallen  von  zwei 
Faktoren,  einem  direkten  und  einem  associativen  Faktor,  ab- 
hängig machte.  Der  Genufs  eines  Kunstwerks  wird  damit 
zu  einer  Funktion  zweier  Variablen,  der  äufseren,  durch  die 
sinnlälligen  Eigenschaften  bestimmten  Erscheinung,  und  alles 
dessen,  was  unsere  Erfahrung,  unsere  Einbildungskraft  ge- 
schäftig hinzubringt.  Sonach  kann  von  einer  Vorstellung  eine 
doppelte  ästhetische  Wirkung  ausgehen,  eine  unmittelbare  und 
eine  mittelbare.  Was  die  älteren  Ästhetiker  als  Ebenmafs, 
Farben-  und  Tonharmonie,  als  rhythmische  Bestimmtheit  be- 
schrieben haben,  fällt  in  das  Gebiet  der  unmittelbaren  ästhe- 
tischen Wirkung,  weil  all  das  in  dem  Sinneseindruck  selbst 
gegeben  ist  und  für  jeden,  der  unter  den  gleichen  Bedingungen 
der  Perzeption  steht,  in  derselben  Form  vorhanden  sein  mufs. 
Was  sie  aber  Ausdruck  oder  inneres  Leben,  Beseelung  des 
toten  Stoffes  oder  Nachempfindung  genannt  haben,  gehört  zur 
mittelbaren  Wirkung,  die  nur  in  einem  durch  Erfahrung  be- 
lehrten und  mit  williger  Phantasie  begabten  Geiste  zustande 
kommen  kann,  in  einem  Geiste,  der  eine  Vorstellung  als  Zeichen, 
Symbol,  Ausdrucksmittel  für  andere  zu  begreifen  und  zu  ge- 

1)  W.  W.  X,  1.  Abtl.,  S.  93  ff. 

2)  Ausg.  FbaubnstXdt,  II,  S.  217  f.,  302  ff. 


150  Oswald  Külpe: 

brauchen  weifs,  und  der  auch  das  niemals  vorher  Erfahrene 
nach  Mafsgabe  seiner  Analogien  mit  dem  Bekannten  zu  deuten 
oder  nachzubilden  vermag.  Hier,  auf  dem  Boden  der  von  dem 
associativen  Faktor  abhängigen  ästhetischen  Auffassung  und 
Würdigung  einer  Vorstellung,  erschliefst  sich  das  Persönliche, 
Willkürliche  und  Zufällige  des  Geschmacks,  das  ihm  von 
alters  her  anhaftet  und  ihm  das  Merkmal  des  Unbestreitbaren, 
Unwiderleglichen  aufgeprägt  hat.^) 

Man  hätte  denken  sollen,  dafs  die  neue  Terminologie 
Fechnees  nicht  nur  m  ihrem  Zusammenhange  mit  den  älteren 
Begriffen  Erscheinung  und  Idee,  Form  und  Gehalt  u.  dergl., 
sondern  auch  als  eine  fruchtbare  psychologische  Analyse  des 
ästhetischen  Eindrucks  überhaupt  aufgefafst  worden  wäre. 
Keines  von  beiden  ist  wirklich  geschehen.  Als  Fechner 
einen  Vortrag,  den  er  in  Leipzig  über  „das  Associationsprinzip" 
gehalten  hatte,  in  Lützows  Zeitschr.  f.  bild.  Kunst  1866  er- 
scheinen liefs,  versah  ihn  der  Herausgeber  mit  der  charak- 
teristischen Anmerkung,  er  habe  geglaubt,  „diesem  originellen 
Versuch  »eine  neue  Gottheit  in  die  Ästhetik  einzuführen«  im 
Interesse  der  Leser  bereitwillig  Raum  bieten  zu  sollen".  Dafs 
die  Sache  selbst  so  alt  ist,  wie  die  Ästhetik,  davon  hatte 
demnach  der  verdiente  Kunsthistoriker  v.  Lützow  keine 
Ahnung.  Andererseits  hat  Ed.  v.  Habtmann  zwar  erkannt, 
dafs  die  Unterscheidung  des  direkten  und  des  associativen 
Faktors  mit  dem  Gegensatz  der  Form-  und  der  Gehaltsästhetik 
auf  das  Engste  zusammenhänge,  aber  die  jenen  innewohnende 
Fruchtbarkeit,  die  durch  ihre  Einführung  bewerkstelligte  Re- 
duktion unerklärter  ästhetischer  Thatsachen  auf  allgemein 
bekannte  psychologische  ist  ihm  nicht  zum  Bewufstsein  ge- 
kommen. Er  verharrt  lieber  auf  dem  alten  Standpunkte, 
unklare,  abgegriffene  metaphysische  Schlagworte  wie  Idee  und 


^)  Von  den  älteren  Ästhetikern  hat  diesen  Unterschied  wohl  am. 
dentlichsten  bezeichnet  der  seit  A.  W.  Schlegels  billigem  Witz  so  stark 
verunglimpfte  E.  Bubkb.  Vergl.  seinen  Philos.  Inquiry,  1842,  S.  165  f. 
Aufserdem  ist  das  Associationsprinzip  im  Anschlufs  an  Hctme  (Treatise  on 
Human  Natnre,  Bd.  II,  P.  3,  Sect.  8)  mit  voller  Bestimmtheit  von  A.  Gebabd 
in  seinem  Essay  on  Taste  1759,  S.  20,  ausgesprochen  worden. 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetiBchen  Eindrucks.       151 

Erscheinung  der  wissenschaftlichen  Eindeutigkeit  einer  psycho* 
logischen  Bestimmung  vorzuziehen.  Volkelt  dagegen  ist  der 
Meinung,  dafs  der  Ausdruck  Association  auf  den  hier  vor- 
liegenden Thatbestand  überhaupt  nicht  angewandt  werden 
dürfe.  Es  handle  sich  um  eine  intuitive  Beseelung  des  Objekts 
durch  die  Phantasie,  nicht  um  associative  Ergänzung;  die 
Association  sei  eine  äufserliche  Form,  aus  der  sich  die  ästhe- 
tische Anschauung  nicht  ableiten  lasse.  Aber  äufserhch  ist 
die  Association  doch  nur  für  den,  der  sie  so  auffafst,  und  in 
der  modernen  Psychologie  wird  sich  dazu  schwerlich  eine 
Berechtigung  nachweisen  lassen.  Wem  das  Konvexe  den 
Eindruck  des  Zurückdrängenden,  Niederhaltenden,  das  Konkave 
den  des  Hineinziehenden,  Emporhebenden  macht,  gewinnt 
diesen  Eindruck  trotz  aller  seiner  Innerlichkeit  nur  auf  Grund 
von  Koproduktionen.  Statt  dessen  von  einer  intuitiven  Funktion 
der  Phantasie,  von  Einfühlen  oder  Verschmelzung  zu  reden, 
bedeutet  doch  wohl  das  Aufgeben  durchsichtiger,  präcis  defi- 
nierter Begriffe  zu  Gunsten  einer  unklareren  Bestimmung. 
Schon  der  HEBSAET'sche  Begriff  der  Apperception  wies  auf 
eine  umfassendere  Bedeutung  von  Association  und  Reproduktion 
hin,  die  es  erlaubt,  auch  die  allerfestesten,  innigsten  Zusammen- 
hänge auf  diesem  Wege  zu  erklären.  ^)  Das  lockere  Nebenein- 
ander verschiedener  Vorstellungen  ist  ja  nur  eine  der  mög- 
lichen Formen  von  associativ  bedingten  Reproduktionen. 

So  ist  es  denn  gekommen,  dafs  sich  nur  in  den  annoch 
spärlichen  Versuchen  einer  experimentellen  Ästhetik  die 
FECHNER'sche  Terminologie  eingebürgert  und  bewährt  hat. 
Hier,  wo  es  sich  um  die  gefallenden  räumlichen,  zeitlichen, 
farbigen  Elementarphänomene,  also  um  den  direkten  Faktor 
handelt,  hat  gerade  die  genauere  Scheidung  der  beiden  Fak- 
toren voneinander,  die  prinzipiell  so  leicht  ist,  grofse  Schwierig- 
keiten bereitet.  Selbst  die  einfachsten  Farbenverbindungen, 
linearen  Motive,  rhythmischen  Formen  haben  bereits  eine  aus- 
gesprochene Reproduktionstendenz   und   lassen   daher  neben 


>)  Vergl.  Lipps,  Grundtats.  d.  Seelenleb.,  S.  408-409. 


I 


152  OswaJd  Külpe: 

dem  direkten  den  associativen  Faktor  auf  den  ästhetischen 
Gesamteindruck  Einflufs  gewinnen.  Aber  innerhalb  der  ex- 
perimentellen Ästhetik  hat  dieser  EinfluTs  bisher  nur  die  Rolle 
eines  die  Reinheit  der  Versuchsumstände  beeinträchtigenden 
Fehlers  gespielt.  Man  wollte  über  die  Gesetze,  welche  das 
Gefallen  am  direkten  Faktor  beherrschen,  ins  Klare  kommen, 
und  strebte  deshalb  nach  einer  Elimination  des  associativen 
oder  wenigstens  der  von  ihm  abhängigen  Wirkungen.  In 
seiner  positiven  Bedeutung  ist  er  somit  auch  hier  noch  nicht 
zur  Geltung  gelangt,  und  die  an  der  Hand  der  experimentellen 
Methoden  ermöglichte  Feinheit  und  Genauigkeit  der  psycho- 
logischen Analyse  ist  dem  associativen  Faktor  noch  nicht, 
sondern  nur  dem  direkten  zu  gute  gekommen. 

An  dieser  Vernachlässigung  des  wichtigen  Begriffs  trägt 
nun  aber  auch  Fechnee  selbst  unverkennbar  eine  gewisse 
Schuld.  Erstlich  redet  er  bei  der  Einführung  desselben  von 
einem  Associationsprinzip,  das  er  so  formuliert:  Nach  Mafs- 
gabe  als  uns  das  gefällt  oder  mifsfäUt,  woran  wir  uns  bei 
einer  Sache  erinnern,  trägt  auch  die  Erinnerung  ein  Moment 
des  Gefallens  oder  Mifsfallens  zum  ästhetischen  Eindruck  der 
Sache  bei  —  und  stellt  dies  Prinzip  mit  vielen  anderen,  dem 
der  Übereinstimmung,  der  Abstumpfung,  des  Kontrastes  etc. 
auf  eine  Stufe.  Dadurch  wird  eine  ganz  falsche  Vorstellung 
erweckt,  nämlich  die  Meinung,  dafs  es  sich  lediglich  um  eine 
gelegentlich  mitwirkende  Bedingung  für  das  Gefallen  oder 
Mifsfallen  handle,  die  auch  fehlen  oder  durch  den  Einflufs 
einer  anderen  kompensiert  werden  könne.  Daneben  aber  stellt 
Fechneb  richtig  dem  direkten  Faktor  den  associativen  als 
einen  unentbehrlichen  Bestandteil  des  ästhetischen  Eindrucks 
gegenüber  und  läfst  seine  sonstigen  Prinzipien  sämtlich  für 
beide  gelten.  Nun  läfst  sich  offenbar  nur  die  eine  von  diesen 
Auffassungen  in  einer  konsequenten  Ästhetik  durchführen. 
Der  Widerspruch,  in  den  sich  Fechneb  dadurch  verwickelt, 
dafs  er  sowohl  von  einem  Associationsprinzip,  als  auch  von 
einem  associativen  Faktor  redet,  hat  zu  einer  begrifflichen 
Unklarheit  geführt,  die  das  richtige  Verständnis  und  damit 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       X53 

auch  den  jBuchtbaren  Gebrauch  des  neuen  Terminus  wesentlich 
gehemmt  hat.  Insbesondere  hat  gerade  sie  es  bisher  kaum 
erkennen  lassen,  in  welch  engem  Zusammenhange  derselbe 
mit  den  älteren  Begriffen  einer  inneren,  relativen,  idealen 
Schönheit  eigentlich  steht. 

Aber  noch  in  einem  zweiten  Sinne  haben  Fechnebs 
eigene  Auseinandersetzungen  die  Anerkennung  seines  Gedankens 
beeinträchtigt.  Sein  Associationsprinzip  ebenso  wie  die  Bei- 
spiele, welche  die  Grundlage  für  dessen  Aufetellung  bilden, 
gehen  über  den  engeren  Bereich  des  zum  ästhetischen  Eindruck 
Gehörigen  mehr  oder  weniger  weit  hinaus.  Denn  nicht  jede 
beliebige  angenehme  oder  unangenehme  Erinnerung  ist  geeignet, 
zu  dem  ästhetischen  Eindruck  eines  Gegenstandes  einen  Beitrag 
zu  liefern.  Wenn  ein  Landwirt  Fechneb  gestand,  „dafs  es 
ihm  ein  eigentümlich  angenehmes  Gefühl  erwecke,  in  einen 
Viehstall  zu  treten  und  den  Geruch  des  Mistes,  wenn  er  eben 
au%eräumt  oder  aufgerührt  sei,  zu  verspüren,  indem  der 
Eindruck"  der  durch  den  Dünger  erzeugten  Fruchtbarkeit 
dadurch  besonders  lebhaft  in  ihm  angeregt  werde,  so  wird  er 
selbst  schwerlich  gemeint  haben,  dafs  er  damit  einen  ästhe- 
tischen Genufs  geschildert  habe.  Wenn  wir  nach  Fechner 
vor  einer  Goldkugel  mit  einer  Art  kalifornischer  Hochachtung 
stehen,  weil  sich  ganze  Paläste,  Kutsche  und  Pferde,  Bediente 
in  Livree,  schöne  Reisen  daraus  zu  entwickeln  scheinen,  so 
hat  all  das  mit  dem  ästhetischen  Werte,  den  wir  der  Gold- 
kugel etwa  beilegen,  an  sich  nichts  zu  thun,  da  die  Form 
des  Objekts  hierfür  völlig  gleichgültig  ist  und  der  häfslichste 
Klumpen  denselben  Dienst  erweist.  Hieraus  erwächst  dem 
Ästhetiker  die  wichtige  Aufgabe,  innerhalb  des  associativen 
Faktors  in  Fechnebs  Sinne  eine  engere  Provinz  abzustecken, 
welche  seiner  Bedeutung  für  den  Geschmack,  das  Gefallen 
oder  Mifsfallen  entspricht.  In  welcher  Richtung  eine  solche 
Verengerung  des  Begriffsumfangs  stattzufinden  hat,  darüber 
geben  die  Untersuchungen  älterer  Ästhetiker,  namentlich  die 
Verwendung  des  Symbol-  und  Einfühlungsbegriffs,  einen  ge- 
wissen Aufschlufs.    Die  folgenden  Mitteilungen  sind  dazu  be- 


154  Oswald  Ktilpe: 

stimmt,  der  Lehre  vom  associativen  Faktor,  soweit  es  im 
Rahmen  einer  mehr  ein  Programm,  als  eine  erschöpfende 
Untersuchung  bildenden  Skizze  geschehen  kann,  die  erforder- 
liche schärfere  und  bestimmtere  Fassung  im  Interesse  der 
Ästhetik  zu  verleihen. 


Penken  wir  uns  gewisse  allgemein  anerkannte  ästhetische 
Eindrücke,  etwa  das  herrliche  Landschaftsbild  von  Berchtes- 
gaden,  Beethovens  5.  Symphonie,  Goethes  Werther,  den  Apoll 
von  Belvedere,  Raphaels  Schule  von  Athen  und  das  Wiener 
Rathaus !  Was  ist,  so  frage  ich  dann,  allen  diesen  Eindrücken 
gemeinsam?  Oder,  was  auf  dasselbe  hinauskommt,  worin  be- 
stehen die  Merkmale  des  auf  sie  alle  nach  dem  Sprachgebrauch 
angewandten  Begriffs  eines  ästhetischen  Eindrucks? 
Der  besondere  Vorstellungsinhalt  als  solcher  kann  offenbar  nicht 
dazu  gehören,  denn  dieser  weist  schon  insofern  die  erheblich- 
sten Abweichungen  auf,  als  er  hier  von  akustischer,  dort  von 
optischer  Beschaffenheit  ist.  Aber  auch  innerhalb  der  auf  den 
Gesichtssinn  z.  B.  wirkenden  Gruppe  von  Gegenständen  treten 
uns  sehr  beträchtliche  Unterschiede  entgegen,  was  hat  der 
Apoll  mit  dem  Rathaus  oder  der  Landschaft  gemein?  Natürlich 
alles,  was  überhaupt  den  Gesichtsvorstellungen  zukommt,  wie 
Farben,  Helligkeiten,  Räumliche  Formen,  aber  sonst  nichts. 
Die  nämliche  Ungleichartigkeit  finden  wir  in  den  Reproduk- 
tionen, die  durch  die  Sinneseindrücke  angeregt  werden,  ja, 
die  mögliche  Mannigfaltigkeit  in  Erinnerungs-  und  Phantasie- 
bildem  ist  noch  gröfser,  weil  eine  Fülle  individueller  Differenzen 
hinzukommt.  Ebensowenig  können  wir  das  Gemeinsame  dieser 
Eindrücke  in  der  Art  ihrer  Entstehung  entdecken,  denn  selbst 
abgesehen  von  dem  hier  obwaltenden  Gegensatz  zwischen 
Natur  und  Kunst  ist  auch  das  künstlerische  Schaffen  bei  dem 
Komponisten  ein  wesentlich  anderes,  als  bei  dem  Architekten 
oder  Maler.  Nicht  minder  versagen  die  Gesichtspunkte  der 
Zweckmäfsigkeit  und  Nützlichkeit.  Bei  einem  Kunstbau,  wie 
dem  Rathause,  läfst  sich  zwar  allenfalls  vom  Nutzen  sprechen, 
insofern   er  nicht  nur   als  ästhetischer  Eindruck   fungiert, 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       155 

aber  bei  den  anderen  Beispielen  dürfte  davon  gar  nicht  geredet 
w^den. 

Ich  will  den  Leser  nicht  durch  ein  weiter  fortgesetztes 
Verfahren  per  exclusionem  ermüden,  sondern  sofort  das  Eesultat 
mitteilen.  Gemeinsam  ist  allen  den  genannten  Objekten  oder 
Vorstellungen  eine  Wirkung  auf  den  Zuschauer  oder  Zuhörer 
oder  Leser,  nämlich  zu  gefallen,  Lust  zu  erregen.  Aber  Lust 
wird  auch  durch  mancherlei  andere  Gegenstände  geweckt, 
durch  erfolgreiche  Forschung,  durch  Sinnesreize  von  einer 
gewissen  Intensität,  durch  vorteilhafte  Geschäfte.  Darum  mufs 
die  von  den  ästhetischen  Eindrücken  ausgehende  Gefühlswirkung 
noch  etwas  Eigentümliches  haben,  und  dieses  besteht  in 
ihrer  Beziehung  auf  einen  Vorstellungsinhalt  nach 
seiner  blofsen  Beschaffenheit.  Bei  den  sinnlichen  Ge- 
fühlen der  Lust  und  Unlust  kommt  es  gar  nicht  darauf  an, 
wie  uns  der  erregende  Reiz  erscheint,  welche  Empfindung  er 
hervorruft,  sondern  nur  auf  die  Art  seines  Eingriffs  in  den 
Organismus.  Das  allgemeine  Gesetz  für  ihren  Verlauf  besagt, 
dafs  schwache  bis  mäfsig  starke  Reize  Lust,  darüber  hinaus 
gesteigerte  Unlust  erwecken.  Ob  wir  dabei  eine  richtige  oder 
unrichtige  Auffassung  von  der  Intensität  haben,  thut  nichts 
zur  Sache.  Ein  blendendes  Licht  wirkt  schmerzhaft,  mögen 
wir  es  nun  dafür  halten  oder  nicht.  Ein  langes  Hinstarren  auf 
ein  Objekt  ermüdet  und  hat  ein  Unlustgefühl  zur  Folge,  auch 
wenn  uns  die  Intensität  der  dabei  aufgewandten  Spannung 
unserer  Augenmuskeln  gar  nicht  zum  Bewufstsein  kommt. 
Die  ästhetischen  Gelühle  dagegen  hängen  gänzlich  von  der 
Beschaffenheit  des  Eindrucks,  so  wie  wir  sie  merken  und 
auffassen,  ab.  Falscher  Gesang  in  einem  Konzert,  Verzeich- 
nungen in  einem  Gemälde,  unpassendes  Pathos  bei  einem 
Vortrag  stören  den  ästhetischen  Genufs  nur  insofern,  als  sie 
auffallen,  empfunden  werden.  Als  Reiz  kann  eine  kleine  Se- 
kunde genau  die  gleiche  Bedeutung  für  unseren  Organismus 
haben,  wie  die  grofse  Terz,  und  doch  welch  ein  beträchtlicher 
Unterschied  zwischen  beiden  hinsichtlich  ihrer  ästhetischen 
Wirkung!    Darum  kommt  es  hier  auch  nicht  auf  die  objektive 


156  Oswald  Külpe: 

Natur  eines  Reizes  an,  sondern  nur  auf  die  Vorstellung,  die 
wir  von  ihm  haben.  Ein  objektiv  richtig  gezeichnetes 
Quadrat  mifsfällt,  wie  zahlreiche  Versuche  gelehrt  haben, 
weil  es  infolge  einer  bekannten  optischen  Täuschung  nicht 
als  Quadrat  angesehen  wird,  in  der  Vorstellung  als  ein  Recht- 
eck mit  ungleicher  Seitenlänge  erscheint. 

Derselbe  Gesichtspunkt  leitet  uns  auch  bei  der  Unter- 
scheidung der  ästhetischen  Gefühle  von  anderen  als  den  sinn- 
lichen. Die  Befriedigung,  die  der  wissenschaftlich  Arbeitende 
erlebt,  wenn  es  ihm  gelingt,  durch  eine  neue  Erkenntnis  in 
einen  bisher  dunklen  Komplex  von  Thatsachen  Licht  und 
inneren  Zusammenhang  zu  bringen,  wird  nicht  diesem  neuen 
Vorstellungsinhalt  als  solchem  verdankt,  sondern  der  Beziehung, 
in  der  er  zu  einer  ganzen  Gruppe  anderer  Thatsachen  steht, 
der  logischen  Leistung,  die  er  vollbringt.  Das  Nützliche, 
Zweckmäfsige  ist  erfreulich  nur  mit  Rücksicht  auf  dasjenige, 
dem  es  dient,  wozu  es  taugt  oder  sich  brauchbar  erweist. 
An  sich  kann  es  gleichgültig  oder  gar  unangenehm  sein. 
Selbst  die  sittliche  Billigung,  die  wir  einer  barmherzigen 
Handlung  oder  einer  wahrhaftigen  Gesinnung  spenden,  ein 
Verhalten,  dessen  Verwandtschaft  mit  dem  ästhetischen  mehr- 
fach  hervorgehoben  worden  ist,  gründet  sich  nicht  auf  ein 
ursprüngliches  Gefallen  an  solcher  Handlung  oder  Gesinnung  — 
ist  doch  deren  Erscheinungsform  als  solche  für  das  sittliche 
Urteil  belanglos  — ,  sondern  auf  eine  vorausgehende  Aner- 
kennung des  Zweckes,  den  sie  erfüllen,  oder  des  Gesetzes, 
in  dessen  Sinn  sie  erfolgen.  Eben  darum  kann  sehr  wohl 
das  Gute  ein  ästhetisches  Mifsfallen  und  das  Schöne  eine 
ethische  Unlust  erregen.  Wenn  es  anders  wäre,  so  würde 
die  grofse  Rolle,  welche  das  Unsittliche  innerhalb  ästhetischer 
Darstellung  spielt,  unbegreiflich  sein.  Ein  Prahler,  wie  Fal- 
STAFF,  ein  Bösewicht,  wie  Richard  HI.,  ein  gemeiner  Feigling, 
wie  Franz  Moor,  sie  könnten  uns  keinen  ästhetischen  Genufs 
gewähren,  wenn  die  ethische  Verurteilung  auf  ein  Mifsfallen 
an  den  betreffenden  Vorstellungen  als  solchen  gegründet  wäre. 
Nennen  wir  alle  Gefühle  dieser  Gruppe  Beziehungsgefühle, 


Über  den  associatiTen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       157 

weil  sie  nur  auf  Grund  einer  Relation  zu  anderen  Inhalten 
entstellen  und  sich  nach  dieser  richten,  bezeichnen  wir  die 
sinnlichen  Gefühle  als  Reizgefühle,  weil  die  objektive  Be- 
schaffenheit des  Reizes  für  sie  mafsgebend  ist,  so  werden  wir 
den  ästhetischen  Gefühlen  den  Namen  von  Inhalts-  oder 
Vorstellungsgefühlen  beilegen  dürfen,  da  sie  lediglich  die 
angenehme  oder  unangenehme  Wirkung  eines  Vorstellungs- 
inhalts bedeuten.  Wir  können  hiemach  den  ästhetischen 
Eindruck  als  einen  solchen  definieren,  der  Inhalts-  oder  Vor- 
stellungsgefuhle  hervorruft. 

Von  allen  Erscheinungen,  die  ein  Lustgefühl  erregen 
oder  zu  erregen  erfahrungsgemäfs  fähig  bezw.  geeignet  sind, 
sagen  wir,  dafs  sie  einen  Wert  haben.  Hiemach  giebt  es 
sinnliche,  sittliche  etc.  Werte.  Verstehen  wir  nun  unter 
Kontemplation  einen  Zustand,  in  dem  man  sich  befindet, 
wenn  man  eine  Vorstellung  durch  ihren  blofsen  Inhalt  auf  das 
Gemüt  wirken  läfst,  so  werden  wir  die  ästhetischen  Eindrücke, 
die  uns  derartige  Gefühle  vermitteln,  auch  als  Kontem- 
plationswerte bezeichnen  können.  Damit  haben  wir  eine 
Anzahl  wohldefinierter  Begriffe  gewonnen,  mit  denen  wir  im 
folgenden  bequemer  zu  operieren  imstande  sind. 

Nach  diesen  Ausfuhrungen  über  die  Natur  der  ästhetischen 
Eindrücke  ist  es  für  sie  belanglos,  welche  Beziehung  zur  Wirk- 
lichkeit sie  haben  mögen.  Ob  etwas  existiert,  worauf  eine  uns 
Inhaltsgefühle  vermittelnde  Vorstellung  kausal  zurückgeführt 
werden  kann,  ob  sie  durch  reale  Gegenstände  oder  diese  vor- 
täuschende Zeichen  hervorgebracht  wird,  ist  für  die  ästhetische 
Wirkung  selbst  gleichgültig.  Genauer  gesprochen  bedingt  die 
Relation  zu  irgend  welchen  äufseren,  in  der  Natur,  der  Aufsen- 
welt  gegebenenErscheinungen  erstKch  nurinsofem  den  Charakter 
des  ästhetischen  Zustandes,  als  sie  auf  die  Vorstellung  selbst 
von  EinfluTs  ist.  Die  wirkliche  Landschaft  ist  thatsächlich 
nach  Helligkeit,  Farbenfülle,  Umfang  etc.  eine  andere  Vor- 
stellung zu  erzeugen  fähig,  als  die  gemalte.  Ferner  weckt 
die  Realität  der  Dinge  ein  anderes  Verhalten,  unser  Wollen 
und  Handeln  wird  durch  sie  herausgefordert,  wissenschaftliche 


158  Oswald  Külpe: 

und  ethische  Betrachtungsweisen  treten  in  den  Vordergrund. 
Eine  natürliche  Folge  davon  ist  die  Beeinträchtigung  oder 
Verdrängung  des  ästhetischen  Zustandes.  Wie  ganz  anders 
berührt  uns  derselbe  Vorgang  auf  der  Bühne  und  als  wirk- 
liches Erlebnis !  Endlich  mischen  sich  Erinnerungen  an  reale 
(Gegenstände  oder  Ereignisse  unwillkürlich  in  die  Anschauung, 
die  uns  durch  ihre  Darstellung  in  Wort  oder  Bild  erzeugt 
wird,  und  ein  Widerstreit  zwischen  dem  Inhalt  der  Schilderung 
und  dem  bekannten  Original  kann  ablenkend,  hemmend,  ver- 
nichtend auf  den  Genufs  eines  Kunstwerks  einwirken.  Aber 
alle  diese  Fälle  einer  Beeinflussung  des  ästhetischen  Zustandes 
durch  die  Wirklichkeit  heben  die  allgemeine  Behauptung  von 
ihrer  Bedeutungslosigkeit  für  denselben  keineswegs  auf.  Denn 
von  einer  positiven  Bedingung  der  Inhaltsgefühle  dürfte  man 
bei  der  Realität  nur  dann  sprechen,  wenn  sie  unter  sonst 
gleichen  Umständen  den  ästhetischen  Zustand  als  solchen 
zu  alterieren,  regelmäfsig  nach  gewissen  Richtungen  umzu- 
gestalten vermöchte.  Das  ist  aber  keineswegs  der  Fall,  viel- 
mehr verschwinden  alle  Unterschiede,  sobald  die  Neben- 
wirkungen der  Realität  einerseits  und  jede  merkliche  Ab- 
weichung zwischen  ihr  und  der  künstlerischen  Darstellung 
andererseits  vermieden  sind. 

Haftet  der  ästhetisch  Geniefsende  an  der  Beschaffenheit 
einer  Vorstellung,  wie  sie  nun  einmal  ist,  so  versteht  es  sich 
von  selbst,  dafs  er  durch  deren  Beziehung  auf  wirkliche 
Gegenstände  weder  gewinnen  noch  verlieren  kann.  Farbige 
Flächen,  Melodien,  Rhythmen  etc.  bleiben  als  Vorstellungs- 
inhalte genau  dieselben,  mag  man  sie  nun  auf  objektive  Ein- 
flüsse, auf  räumlich  und  zeitlich  gegliederte  Luft-  oder  Äther- 
schwingungen zurückbeziehen  können  oder  nicht.  In  dem 
blofsen  Interesse  für  den  Vorstellungsinhalt  kehren  wir  zu 
jener  ursprünglichen  Stellung  zurück,  die  wir  alle  den  Objekten 
gegenüber  einmal  eingenommen  haben.  Was  weifs  das  am 
Beginn  seiner  geistigen  Entwicklung  stehende  Kind  von  einer 
Aufsenwelt,  welche  auf  seinen  Organismus  einwirkt,  und  von 
einem  Ich,  einem  erkennenden  und  handelnden  Subjekt,  das 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       159 

auf  die  andringenden  Reize  irgendwie  reagiert?  In  der 
Mannigfaltigkeit  seiner  Vorstellungen  und  Gefühle  ist  seine 
ganze  Welt  beschlossen,  erst  allmählich  gruppieren  sie  sich, 
verbinden  und  trennen  sie  sich,  bilden  sich  Unterschiede  aus 
zwischen  dem  Verhalten  gegenüber  objektiven  und  gegenüber 
subjektiven  Vorgängen,  und  empfangen  diese  Unterschiede 
ihre  begriffliche  Prägung.  Die  ursprüngliche  Einheit  aller 
Erfährung  erneuert  sich  bei  jeder  Versenkung  in  das  Schöne. 
Wem  diese  Fähigkeit  zur  unbefangenen,  naiven  Hingebung  an 
die  Vorstellungsinhalte  durch  die  unablässige  Reflexion  auf 
Äufseres  und  Inneres,  Objekt  und  Subjekt  erdrückt  wird, 
dessen  Empfänglichkeit  für  ästhetische  Eindrücke  ist  gering. 

Daraus  ergeben  sich  wichtige  Folgerungen.  Zunächst 
beruht  auf  dem  geschilderten  Verhalten  die  prinzipielle  ästhe- 
tische Gleichwertigkeit  der  Wahrnehmungen,  Erinnerungs- 
nnd  Phantasievorstellungen,  sowie  innerhalb  der  Wahr- 
nehmungen dessen,  was  durch  entsprechende  Objekte,  und 
dessen,  was  durch  ihre  Stelle  vertretende,  sie  repräsentierende 
Zeichen  hervorgerufen  wird.  Unterschiede  in  der  ästhetischen 
Würdigung  sind  in  aUen  diesen  Fällen  nur  durch  die  Be- 
schaffenheit der  Wahrnehmungen  oder  Vorstellungen  selbst, 
nicht  aber  dadurch  bedingt,  dafs  die  einen  eine  objektive 
Grundlage  haben,  die  den  anderen  fehlt.  Darum  sind  z.  B. 
Natur  und  Kunst  ästhetisch  einander  gleichgestellt,  ebenso 
Malerei  und  Poesie,  und  innerhalb  der  Künste  die  Darstellung 
wirklicher  derjenigen  erdichteter  Ereignisse.  Darum  ist  die 
alte  Definition  der  Kunst  als  einer  Nachahmung  der  Natur 
völlig  schief,  weil  sie  zwischen  beiden  Potenzen  eine  Be- 
ziehung herstellt,  die  für  ihre  ästhetische  Bedeutung  gleich- 
gültig ist  und  das  Stoffgebiet  der  Kunst  unzweckmäfsigerweise 
einzuschränken  droht.  Der  Naturalismus,  der  den  engen  An- 
schlufs  an  die  gegebene  Realität  fordert,  ist  von  diesem  Ge- 
sichtspunkt aus  betrachtet  überhaupt  keine  ästhetische  Richtung. 
Somit  ist  der  schaffende  Künstler  frei  in  seinen  Konzeptionen 
und  Entwürfen,  nur  den  Gesetzen  unterworfen,  welche  die 
lebensvolle  Gestaltung  eines  gewählten  Stoffes  ermöglichen. 


160  Oswald  Külpe: 

Aufserdem  können  wir  noch  die  kritische  Folgerung* 
geltend  machen,  dafs  eine  in  der  modernen  Ästhetik  mit  Vor- 
liebe ausgebildete  Lehre,  nämlich  die  Theorie  vom  schönen 
Schein,  von  der  ästhetischen  Illusion,  der  bewufsten  Selbst- 
täuschung hinsichtlich  der  realen  Natur  des  genossenen  Objekts 
u.  dergl.  die  ästhetischen  Thatsachen  in  einer  mindestens 
irreführenden  Weise  schüdert.  Da  wird  uns  gesagt,  es  müsse 
sich  ein  Bild  vom  Gegenstande  ablösen,  man  müsse  das  äufser- 
lich  Gegebene  in  innerer  Nachahmung  spielend  nacherzeugen, 
der  künstlerische  Genufs  bestehe  seinem  Wesen  nach  in  einer 
absichtlich  hergestellten  und  festgehaltenen  Illusion,  die  das 
für  wirklich  nimmt,  was  doch  nur  Kunst  sei.  Alle  solche 
Versuche,  den  Kern  des  ästhetischen  Verhaltens  aufzudecken, 
beruhen  auf  einer  Sonderung  dessen,  was  darin  gar  nicht  ge- 
sondert ist,  des  Äufseren  und  Inneren,  des  Objektiven  und 
Subjektiven,  des  Wirklichen  und  des  Scheins.  Wir  nehmen 
nicht  in  einer  bewufsten  Selbsttäuschung  das  irreale  Produkt 
des  Künstlers  für  eine  Realität,  sondern  wir  erheben  uns 
gänzlich  über  diesen  Gegensatz  in  die  Sphäre  konkreter  Ein- 
heit der  Erfahrung.  Wir  bilden  nicht  innerlich  nach,  was 
uns  an  architektonischer  Form  an  einem  Gegenstande  der 
Aufsenwelt  entgegentritt,  sondern  wir  überlassen  uns  willig 
den  Vorstellungsinhalten  und  dem  Spiel  von  Reproduktionen^ 
das  sie  anregen.  Das  Bild  ist  uns  kein  Augenschein,  dem 
wir  die  Natur  der  Dinge  gegenüberstellten,  das  Musikwerk 
kein  Ohrenschein,  dem  wir  die  Prädikate  der  Wirklichkeit 
abzuerkennen  hätten,  sondern  beide  sind  Vorstellungen,  deren 
Beschaffenheit  uns  ganz  unabhängig  von  ihrer  sonstigen  Be- 
deutung für  Welt  und  Leben  fesselt  und  gefallt.  Es  ist  zu 
wünschen,  dafs  die  Ästhetik  mit  diesen  ganz  unpsychologischen, 
der  Erkenntnistheorie  entnommenen  Beschreibungen  des  ästhe- 
tischen Verhaltens  ^)  aufräume  und  Begriffe  beseitige,  die  seiner 
Eigentümlichkeit  nicht  gerecht  zu  werden  imstande  sind. 


^)  An  dieser  Subsumtion  der  ästhetischen  Thatsachen  unter  logische 
und  erkenntnistheoretische  Begriffe  hat  die  deutsche  Ästhetik  im  Gegensatz 
zur  englischen  von  Anfang  an  gelitten. 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       Ißl 

Jeder  ästhetische  Eindruck  setzt  sich  normalerweise  für 
das  entwickelte  BewuTstsein  aus  zwei  Bestandteilen  zusammen, 
einem  percipierten,  der  Sinnesthätigkeit  als  solcher  entspringen- 
den, und  einer  durch  die  Erfahrung  vermittelten  Ergänzung 
oder  Modifikation  des  ersteren.  Farbige  Flächen  von  einer 
gewissen  Helligkeit  haben  für  das  neugeborene  Kind  nur  die 
Bedeutung  farbiger  Flächen,  und  werden  von  dem  Blind- 
geborenen, der  nach  erfolgreicher  Operation  zuerst  seinen 
Blick  ihnen  zuwendet,  nur  nach  Mafsgabe  der  seinen  anderen 
Sinnen  entstammenden  Erfahrung  zu  interpretieren  versucht  — 
in  äu&erst  willkürlicher,  von  zufälligen  Analogien  geleiteter 
Form.  Für  uns,  denen  lange  Übung  im  Sehen  einen  grofsen 
Schatz  optischer  Bilder  hat  erwerben  helfen,  werden  die 
farbigen  Flächen  bald  Tische  oder  Teiche,  Häuser  oder  Bäume. 
Jeder  neue  Eindruck  verbindet  sich  mit  reproduzierten  und 
verschmilzt  mit  ihnen  zu  einer  Einheit,  die  wir  Wahrnehmung 
nennen.  Den  von  der  blofsen  Perception  abhängigen  Bestand- 
teil des  Kontemplationswertes  bezeichnen  wir  als  seinen 
direkten,  den  durch  die  Eeproduktionsthätigkeit  bedingten 
als  den  associativen  Faktor.  Soweit  demnach  die  ästhe- 
tischen Eindrücke  Wahrnehmungen  sind,  soweit  enthalten  sie 
auch  diese  beiden  Faktoren.  Wahrnehmungen  aber  sind  sie 
zweifellos  zum  allergröfsten  Teil. 

Gegen  diese  Unterscheidung  der  beiden  Faktoren  könnte 
der  Einwand  ins  Feld  geführt  werden,  dafs  wir  beim  Lesen 
eines  Gedichts  oder  einer  musikalischen  Komposition,  falls 
wir  die  gedruckten  Zeichen  nicht  in  die  ihnen  entsprechenden 
Klänge  oder  Laute,  wenn  auch  nur  andeutungsweise,  umsetzen, 
des  direkten  Faktors  ganz  entbehren.  Denn  daran,  dafs  dieser 
bei  der  Poesie  (abgesehen  vom  Drama)  so  gut  wie  bei  der 
Musik  im  Gebiet  des  Gehörssinns  gesucht  werden  mufs,  kann 
nicht  wohl  gezweifelt  werden.  Keim,  Ehythmus,  Wohlklang 
der  Worte,  Strophenbau,  kurz  alle  Bestandteile  des  direkten 
Faktors  einer  Dichtung,  sie  können  auf  uns  einen  Eindruck 
nur  hervorrufen,  wenn  wir  hören  oder  Gehörsvorstellungen 
uns  zu  bilden  vermögen.    Aber  beim  Lesen  werden  eben  doch 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXIII.  2.  11 


1 


162  Oswald  Külpe: 

diese  Bestandteile  des  direkten  Faktors  eines  poetischen  Werkes 
nicht  percipiert,  nicht  sinnlich  wahrgenommen,  sondern  auch 
bereits  reproduziert,  aus  unserer  Erfahrung  hinzugethan.  Und 
damit  scheint  dasjenige,  worin  die  ästhetische  Bedeutung  jener 
Bestandteile  beim  tönenden,  klingenden  Vortrag  wurzelt,  selbst 
erst  durch  Association  vermittelt,  also  in  den  associativen 
Faktor  hinübergewandert  zu  sein.  Ja,  nicht  nur  dies  kann 
stattfinden,  es  läfst  sich  auch  der  Fall  denken,  dafs  infolge 
der  sehr  geläufigen  Association  zwischen  den  Schriftzeichen 
und  den  zugehörigen  Bedeutungen,  die  es  ja  auch  dem  Taub- 
stummen ermöglicht  Gelesenes  zu  verstehen,  gelegentlich  auch 
die  reproduzierten  Gehörsvorstellungen  fehlen  werden.  Dann 
würde  der  Genufs  eines  poetischen  Werkes  lediglich  eine 
Funktion  des  associativen  Faktors  werden,  da  die  gesehenen 
Worte  keine  Träger  einer  hier  in  Betracht  zu  ziehenden 
ästhetischen  Wirkung  sein  können. 

Dazu  kommt  ein  anderes,  in  der  nämlichen  Kichtung 
wirkendes  Moment.  Die  sprachlichen  Laute  und  Schriftzeichen 
sind  nur  konventionelle  Repräsentanten  einer  Bedeutung,  will- 
kürliche oder  künstliche  Hinweise  auf  Vorstellungen  oder 
Begriffe.  Das,  was  sie  ausdrücken,  kann  man  ihnen  weder 
ansehen  noch  anhören,  wie  schon  die  Verschiedenheit  der 
Sprachen  und  der  dem  nämlichen  Begriff  dienenden  Wörter 
innerhalb  derselben  Sprache,  der  Synomyma,  zeigt.  Darum 
kann  der  nämliche  associative  Faktor  an  sehr  abweichenden 
direkten  hängen,  derselbe  Sinn  in  wesentlich  anders  lautenden 
Formen  wiedergegeben  werden.  Selbstverständlich  trägt  auch 
dieser  Mangel  einer  eiadeutigen  Korrespondenz  zwischen 
Sprache  und  Bedeutung  dazu  bei,  das  Gewicht  des  direkten 
Faktors  in  der  Poesie  zu  verringern  und  den  Zusammenhang 
zwischen  beiden  Faktoren  erheblich  zu  lockern.  Endlich  ist 
hiertür  auch  der  Umstand  verhängnisvoll  geworden,  dafs  die 
gleichen  willkürlichen  Zeichen  zur  Mitteilung,  zur  Darstellung 
im  gewöhnlichen  Leben,  in  der  Wissenschaft  Verwendung  finden, 
wo  sie  nur  oder  fast  ausschliefslich  ihrer  Bedeutung  nach  ge- 
schätzt und  behandelt  werden.    Sie  gleichen  damit  einer  abge- 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       163 

griffenen  Münze,  deren  Wert  nicht  nach  ihrem  zufälligen  Aus- 
sehen, sondern  nur  nach  der  Prägung  beurteilt  wird,  die  sie  ein  für 
allemal  erfahren  hat.  So  haben  wir  uns  gewöhnt  —  und  die 
moderne  Prosadichtung  hat  dem  gleichialls  Vorschub  geleistet  — , 
beim  Lesen  von  dem  zu  abstrahieren,  was  das  Gelesene  für 
unser  Gehör  in  ästhetischer  Beziehung  bedeutet,  obwohl  hier 
noch  grofse  individuelle  Unterschiede  bestehen  geblieben  sind. 

So  zweifellos  hiemach  die  Poesie  am  meisten  auf  die 
besondere  Wirkung  des  direkten  Faktors  verzichtet,  so  sicher 
ist  doch  zugleich,  dafs  er  auch  in  ihr  noch  immer  eine  un- 
verächtliche EoUe  spielt.  Man  braucht  nur  den  Eindruck 
eines  gelesenen  mit  dem  eines  gut  vorgetragenen  Gedichts  zu 
vergleichen,  um  den  Beitrag  würdigen  zu  lernen,  den  der 
direkte  Faktor  zum  ästhetischen  Gesamteindruck  liefert.  Dafs 
eine  sinngetreue  Übersetzung  einer  Erzählung  in  eine  fremde 
Sprache  möglich  ist,  bezweifelt  man  nicht ;  wenn  dennoch  das 
Original  eine  andere  ästhetische  Wirkung  hervorbringt,  so  liegt 
das  vorzugsweise  an  den  Eigentümlichkeiten  des  direktenFaktors. 

Mein  Lehrer  im  Russischen  war  so  kühn,  die  Übertragungen  deut- 
scher Dichtungen  von  Schuko wski  oder  Lebmontow  „schöner"  zu  finden, 
als  die  ihnen  zu  Grunde  liegenden  ScHiLLER'schen  oder  GoETHB'schen 
Originale.  Er  hatte  von  seinem  Gefühl  aus  offenbar  recht,  da  ihm  Klang- 
und  Lautverbindung  in  der  russischen  Sprache  vertrauter,  sympathischer 
waren,  als  die  entsprechenden  Momente  im  Deutschen. 

Wenn  femer  auch  die  wissenschaftliche  Darstellung  die 
häufige  Wiederholung  der  nämlichen  Ausdrücke,  derselben 
Satzkonstruktionen  zu  vermeiden  trachtet,  so  beruht  das  nur 
auf  der  Berücksichtigung  des  direkten  Faktors  und  seiner 
ästhetischen  Wirkung.  Sodann  aber  darf  nicht  übersehen 
werden,  dafs  an  den  Lauten,  an  den  nur  für  das  Gehör  be- 
stehenden Unterschieden  der  Tonhöhe,  Klangstärke,  der  Ge- 
schwindigkeit u.  dergl.,  abgesehen  von  dem  konventionellen 
Begriff,  auch  noch  ein  natürlicher  Ausdruck  haftet,  der  näm- 
liche, den  wir  auch  in  der  Musik  antreffen.  Dafs  rascheres 
Sprechen  eine  gröfsere  Lebhaftigkeit,  Unruhe,  Erregung  be- 
deutet, die  Verstärkung  des  Klanges  dem  Gesprochenen  einen 
besonderen  Nachdruck  verleiht,    dafs  Erhebung   der  Stimme 

11* 


164  Oewald  Ktilpe: 

am  Schlüsse  eines  Satzes  eine  Frage  oder  einen  Zweifel  laut 
werden  läfst  —  das  alles  sind  Zusammenhänge,  die  nur.  dem 
Hörenden  verständlich  und  geläufig  sind,  und  die  völlig  ver- 
schwinden würden,  wenn  wir  auf  den  besonderen  akustischen 
Faktor  bei  der  Poesie  Verzicht  leisten  sollten.    Auch  der 
Lesende  vergegenwärtigt  sich  diese  Eigentümlichkeiten  der 
hörbaren  Sprache  unwillkürlich.    Endlich  möchte  ich  einen 
Gedanken  aufiiehmen,  den  Btibke  ^)  entwickelt  hat.    Er  weist 
darauf  hin,   dafs  die  Wörter  in  der  Regel  keine  Bilder  der 
von  ihnen  bezeichneten  Gegenstände  hervorrufen,  wie  er  durch 
sorgfältige  Beobachtung,  die  er  an  sich  -selbst  und   andere 
auf  seine  Aufforderung  hin  angestellt  hatten,  bezeugen  kann. 
Trotzdem  wirken  sie  ähnlich,  ja  unter  Umständen  tiefer,  als 
die  Dinge,   von  denen  sie  berichten.    Das  Verständnis  der 
Wörter  hängt  also  nicht  an  den  Erinnerungs-  oder  Phantasie- 
bildern,  die  sie  reproduzieren,  sondern  an  den  gleichartigen 
Beziehungen  zur  Geistes-  und  Gemütsthätigkeit,  die  sie  ver- 
möge der  associativen  Verknüpfung  mit  jenen  Vorstellungen, 
als  deren  Substitute,  in  Kraft  treten  lassen.    Somit  kann  von 
dem  gelesenen  Worte  auch  eine  ganz  ähnliche  Wirkung  aus- 
gehen,  wie  von  dem  gehörten,   ohne   dafs   die  akustischen 
Bilder  im  Bewufstsein  deutlich  zu  werden  brauchen.    Freilich 
nicht  die  optische  Beschaffenheit,  sondern  die  durch  sie  ver- 
tretene hörbare   hat  diese  Wirkung   ursprünglich   entstehen 
lassen.    Aber  im  Bewufstsein  würde  dann  das  gesehene  Wort 
den  direkten  Faktor  repräsentieren. 

Somit  glaube  ich,  dafs  der  direkte  Faktor  auch  in  der 
Poesie  eine  erhebliche  Leistung  vollbringt.  Dafs  er  sich  nun 
in  unserem  lesenden  Zeitalter  selbst  so  oft  in  das  Gebiet  der 
Reproduktionen,  der  Erinnerungs-  und  Phantasievorstellungen 
zurückzieht,  mufs  uns  freilich  veranlassen,  den  Begriff  des 
direkten  Faktors  nicht  lediglich  auf  das  in  der  Sinneswahr- 
nehmung als  solcher  Gegebene  zu  beschränken.  Immerhin 
bildet  dieser  Fall  nur  einen  schwachen,  unvollkommenen  Ersatz 

^)  A.  a.  0.  S.  216  ff.  Vergl.  auch  H.  Roetteken:  Über  ästhetische 
Kritik  bei  Dichtungen,  Würzburg  1897,  S.  10. 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       165 

für  die  sinnliche  Eepräsentation.  Ungleich  stärker,  eindrucks- 
voller kommt  der  direkte  Faktor  zur  Geltung,  wenn  wir  das 
Gedicht  laut  lesen  oder  vortragen  hören.  So  wenig  dem 
Komponisten  das  Studium  der  Partitur  die  volle,  genügende 
Vorstellung  des  musikalischen  Kunstwerks  vermitteln  kann, 
so  wenig  hat  sie  der  still  Lesende  von  dem  poetischen.  Wie 
oft  täuschen  sich  Komponisten  und  Dramatiker  über  die 
Wirkung  der  von  ihnen  geschriebenen  Stücke! 

Als  Haydn  zum  erstenmal  der  Auflführung  seiner  „Schöpfung" 
beiwohnte,  da  wurde  er  von  der  berühmten  Stelle  „es  ward  Licht"  selbst 
80  sehr  ergriffen,  dafs  er  Gott  dankte,  der  ihn  so  Schönes  habe  schaffen 
lassen.  Und  doch  war  ihm  die  Komposition  auch  vorher  völlig  bekannt 
gewesen. 

Es  handelt  sich  also  bei  solcher  Versetzung  des  direkten 
Faktors  in  den  Bereich  der  Reproduktionen  um  diejenige  Ab- 
schwächung,  die  den  Erinnerungsvorstellungen  in  der  Eegel 
gegenüber  den  Wahrnehmungen  zukommt.  Wir  haben  es  mit 
einem  Surrogat  zu  thun,  aber  mit  keinem  Ersatz.  Und  da 
nach  allgemeinen  psychologischen  Gesetzen  die  Lebhaftigkeit 
und  Energie  der  reproduzierten  Empfindungen  von  derjenigen 
der  reproduzierenden  abhängig  sind,  so  pflegt  bei  diesem 
Surrogat  nicht  nur  die  Wirkung  des  direkten,  sondern  auch 
die  des  associativen  Faktors  Schaden  zu  leiden. 

Der  Name  „associativer  Faktor"  ist  nicht  glücklich  ge- 
wählt. Er  entstammt  einem  laxen  Sprachgebrauch,  der  das 
Wort  Association,  wie  so  manchen  anderen  Ausdruck  in  der 
psychologischen  Terminologie,  betroffen  hat.  Zunächst  aus- 
schliefslich  dazu  bestimmt,  denjenigen  engen  Zusammenhang 
zweier  Empfindungen  oder  Vorstellungen  zu  bezeichnen,  ver- 
möge dessen  das  Auftauchen  der  einen  im  Bewufstsein  auch 
die  Reproduktion  der  anderen  nach  sich  zieht,  ist  der  Begriff 
der  Association  allmählich  dahin  erweitert  worden,  jede  be- 
liebige Reproduktion  aus  Anlafs  eines  gegebenen  geistigen 
Vorgangs  zu  bedeuten.  Nur  in  diesem  weiteren  Sinne  ist  er 
zu  nehmen,  wenn  von  einem  associativen  Faktor  schlechthin 
die  Rede  ist.  Man  thäte  also  eigentlich  besser,  diesen  That- 
bestand,  um  Mifsverständnisse  zu  vermeiden,  etwa  „reproduk- 


166  Oswald  Külpe: 

tiven"  Faktor  zu  nennen,  oder  im  Geiste  des  HEBBAET'schen 
Apperceptionsbegriffs  von  einer  Apperceptionsmasse  zu  sprechen. 
Denn  bei  den  ästhetischen  Eindrücken  spielt  die  Association 
im  strengeren  und  engeren  Wortgebrauch  keine  entscheidende 
KoUe,  weil  wir  hier  sehr  oft  auf  neue  Vorstellungen  direkter 
Art  stofsen,  die  noch  nicht  einen  eingeübten  Zusammenhang 
mit  anderen  durch  sie  reproduzierbaren  eingegangen  sind. 
Wer  zum  erstenmal  durch  ein  ihm  fremdes  Museum  wandert, 
hat  auf  Schritt  und  Tritt  direkte  Faktoren  vor  sich,  deren 
reproduzierende  Kraft  oder  Tendenz  durch  keine  Association 
unterstützt  wird.^)  Bezeichnen  wir  solche  unmittelbar  ange- 
regten Vorstellungen  als  freie  Reproduktionen  im  Gegensatz 
zu  den  anderen  auf  Grund  früherer  Verknüpfung  im  Bewufst- 
sein  gebundenen,  so  erhellt,  dafs  wir  in  der  Welt  der  Kon- 
templationswerte mit  jenen  in  hervorragendem  Mafse  zu  rechnen 
haben.  Sie  sind  es,  welche '  den  freien  Flug  der  Phantasie 
über  den  geschlossenen  Kreis  des  Gedächtnisses  hinaus  be- 
gründen und  in  unerschöpflich  neuen  Kombinationen  unsere 
geistige  Regsamkeit  bekunden.  Sie  sind  es  hauptsächlich, 
die  den  Geschmacksurteilen,  der  ganzen  Auffassung  eines 
Eindrucks  jene  überraschende  Mannigfaltigkeit  individueller 
Unterschiede  verleihen,  die  vielen  als  das  einzig  allgemein- 
gültige Faktum  der  ganzen  Ästhetik  erscheint.  Sie  sind  es 
zugleich,  denen  wir  die  befriedigende  Gewifsheit  verdanken, 
dafs  wir  den  unversiegbaren  Quellen  des  Schönen  mit  gleich- 
wertigem Reichtum  gegenüberstehen,  der  frischen  TJrsprüng- 
lichkeit  eines  genialen  Künstlers  nicht  minder  gewachsen, 
wie  den  eigenartigsten  Bildungen  der  Natur. 

Aber  gesetzlos,  blindem  Zufall  anheimgegeben  ist  doch 
auch  diese  Reproduktionsthätigkeit  nicht,  wir  sind  vielmehr 
in  der  Lage,  die  für  sie  bestehende  Abhängigkeit  von  dem 
direkten  Faktor  auf  eine  recht  einfache  Formel  zu  bringen. 
Ist   eine   Vorstellung  a  —  so  können   wir   sagen  —  einer 


^)  Vorausgesetzt  ist  hierbei  natürlich,  dafs  die  eigenartigen  Gesamt- 
eindrücke als  solche  reproduzierend  wirken. 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       167 

anderen  b  ähnlich,  die  in  associativer  Verknüpfung  mit  einer 
dritten  r  steht,  so  vermag  auch  a  diese  letztere  oder  eine 
derselben  ähnliche  zu  reproduzieren.  Alle  Wälder  und  Wiesen, 
Berge  und  Thäler,  Menschen  und  Tiere,  die  wir  noch  nicht 
kannten,  wecken  die  nämlichen  oder  ihnen  verwandte  Vor- 
stellungen und  Gemütsbewegungen  in  uns,  wie  früher  erlebte 
und  gedeutete  derselben  Art.  Dem  Kinde  wird  jedes  neue 
männliche  Wesen,  mit  dem  es  in  Berührung  kommt,  zum  Onkel 
und  jedes  weibliche  zur  Tante.  Der  Entdecker,  dem  es  ge- 
lingt, einen  bisher  unbekannten  Thatbestand  aufzufinden,  be- 
nennt und  interpretiert  ihn  zunächst  in  Anlehnung  an  die 
Zeichen  und  Erklärungen,  die  flir  andere  bereits  erforschte 
und  ihm  gleichende  Erscheinungen  gelten.  So  setzen  alle 
freien  Reproduktionen  allerdings  das  Bestehen  von  Associa- 
tionen voraus  uiid  werden  selbst  wieder  zu  Gliedern  von 
solchen  —  aber  so  mannigfaltig  die  Grade  der  Ähnlichkeit 
zwischen  den  Vorstellungen  sind,  so  zahlreich  sind  die  Anlässe 
zu  immer  neuen  Bildungen  dieses  Charakters.  ^)  Und  wenn  es 
richtig  ist,  dafs  uns  das  wahrhaft  Schöne,  im  Gegensatz  zur 
vergänglichen  Liebhaberei  des  Zeitgeschmacks,  bei  wieder- 
holter Betrachtung -Quellen  des  Gefallens  aufschliefst,  die  uns 
vorher  noch  nicht  geflossen  waren,  so  werden  wir  dieses 
Merkmal  unzerstörbarer  Frische  auf  die  vielseitige  Repro- 
duktionstendenz solcher  edelsten  Kunstwerke  nach  den  an- 
gestellten Erwägungen  zurückführen  dürfen.  Nicht  der  direkte 
Faktor  an  sich  hat  ein  neues  Gepräge  erhalten,  wir  selbst 
sind  mit  der  Zeit  Andere,  Reichere,  Tiefere  geworden.  Indem 
jedoch  ein  ästhetischer  Eindruck  sich  fähig  erweist,  allen 
diesen  Wandlungen  unserer  Natur  zu  folgen  und  auch  die 
später  erworbenen  Schätze  unseres  Wesens  zu  heben,  wird 
er  selbst  vermöge  der  neuen  Beziehungen,  in  die  er  mit 
unserem  Denken  und  Sinnen  und  Fühlen  gerät,  für  uns  ein 
vielgestaltiger  Proteus.  So  geleiten  uns  die  klassischen  Zeugen 
echter  künstlerischer  Schaffenskraft  durch  das  ganze  Leben. 


^)  Vergl.  meinen  Gnindrifs  der  Psychologie,  S.  206  ff. 


168  Oswald  Külpe: 

Dem  feurigen  Jüngling,  dem  besonnenen  Manne,  dem  lebens- 
müden Greise  werden  sie  zu  ausdrucksvollen  Bildern  ihres 
Stürmens,  Handelns  und  Sehnens.  Nie  sinken  sie  zu  Gliedern 
eines  associativen  Mechanismus  herab,  mit  dessen  zunehmender 
Festigkeit  sich  ihre  Bedeutung  für  das  Bewufstsein  abstumpfte, 
nie  wird  ihre  Sprache  zu  einer  toten  Formel,  die  sich  zwar 
unverlierbar  ins  Gedächtnis  eingegraben,  aber  keine  selb- 
ständige Wirkung  mehr  zurückbehalten  hätte.  Diese  bleibende 
Kraft  inneren  Widerstandes  gegen  die  Mächte  der  Abstumpfung 
und  der  Gewohnheit  verdanken  sie  aber  nicht  einer  bizarren 
Seltsamkeit,  einem  noch  nie  dagewesenen  Einfall,  sondern 
vielmehr  den  zahllosen  Beziehungen  der  Ähnlichkeit,  die  sie 
mit  dem,  was  wir  erleben,  verknüpfen. 

Damit  soll  nicht  geleugnet  werden,  dafs  es  auch  asso- 
ciativ  bedingte  Eeproduktionen  giebt,  die  durch  die  überragende 
Bedeutung,  die  sie  für  unser  Leben  besitzen,  ein  ungeschwächtes 
Interesse  beanspruchen  und  finden.  Gesundheit,  Krankheit 
und  Tod,  Sittlichkeit,  Liebe  und  Gemeinschaft  gehören  hierher. 
Die  Teilnahme  an  solchen  und  ähnlichen  Formen  des  asso- 
ciativen Faktors  kann  nicht  verblassen  und  schwinden,  so- 
lange die  natürlichen  Zusammenhänge  unseres  Daseins  einen 
Bestand  haben  und  jene  Erscheinungen  in  immer  wieder  sich 
erneuernden  Trieben  und  Erfahrungen  unsere  Entwicklung 
durchsetzen.  Hat  es  ein  Künstler  verstanden,  den  lebhaften 
Eindruck  dieser  Mächte  zu  erwecken,  so  kann  sein  Werk 
nicht  veralten,  weil  die  Erinnerung  an  sie  niemals  den  fesseln- 
den Reiz  einzubüfsen  vermag,  der  dem  Allgemeinmenschlichen 
eignet. 

Das  Verhältnis  zwischen  dem  direkten  und  dem  asso- 
ciativen Faktor  eines  Kontemplationswertes  ist  somit  überall 
dieses,  dafs  jener  das  Motiv  für  das  Auftreten  der  zu  diesem 
gehörigen  Reproduktionen  abgiebt.  Der  direkte  Faktor  ist 
also  zwar  nicht  die  einzige,  aber  wenigstens  die  veranlassende 
Bedingung  für  den  associativen.  Es  ist  hiemach  ohne  weiteres 
klar,  dafs  der  letztere  mehr  oder  weniger  leicht  und  stark 
durch  den  ersteren  angeregt  werden  kann.    Mag  man  sich 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       IgQ 

eine  Phantasie  noch  so  wilKg  denken,  den  Beizen  zn  folgen, 
die  von  aufsen  an  sie  herantreten,  so  kann  sie  sich  doch 
immer  nnr  in  den  Bahnen  bewegen,  die  ihr  durch  entsprechende 
Grundrisse  in  der  Perception  vorgezeichnet  werden,  und  je 
unzweideutiger  diese  Grundrisse  sind,  um  so  klarer  und  ein- 
heitlicher wird  auch  das  Bild  ausfallen,  das  sie  aufiiehmen 
sollen.  Aus  diesem  Zusammenhange  ergiebt  sich,  dafs  der 
direkte  Faktor,  die  Laute,  Töne,  Farben,  die  Gestalten  und 
Rhythmen,  eine  fundamentale  Bedeutung  für  den  ästhetischen 
Eindruck  haben ;  sie  sind  die  Zeichen,  aus  deren  Beschaffenheit 
und  Kombination  wir  ihren  Sinn  erschliefsen,  die  Ausdrucks- 
oder Darstellungsmittel,  die  uns  bestimmte  Gegenstände  oder 
Vorgänge,  Stimmungen  oder  Handlungen  andeuten.  Beides 
im  Verein  aber  bildet  den  ästhetischen  Eindruck,  die  Vor- 
stellung, die  uns  durch  ihre  blofse  Beschaffenheit  gefällt  oder 
mifsfallt.  So  darf  es  uns  denn  auch  nicht  wundem,  dafs  das 
Verhältnis  zwischen  beiden  Faktoren  ein  besonderes  Objekt 
des  ästhetischen  Urteils  zu  sein  pflegt.  Wir  mifsbilligen  ein 
Kunstwerk,  bei  dem  Idee  und  Erscheinung  sich  nicht  gegen- 
seitig fordern  oder  wo  sich  ein  Zwiespalt  zwischen  beiden 
aufthut.  Wir  erheben  unwillkürlich  die  kritische  Frage,  ob 
die  Absicht  und  die  Ausführung  des  Meisters  im  Einklang 
miteinander  stehen,  oder  ob  die  letztere  hinter  der  ersteren 
zurückbleibt.  Selbst  ganz  naive,  in  künstlerischen  Dingen 
unerfahrene  Personen  bringen  diese  Prüfung  ungescheut  zur 
Anwendung  und  vermessen  sich  wohl  gar  zu  sagen,  wie  sie 
verfahren  wären,  wenn  sie  dies  Bild  zu  malen,  jenes  Haus 
zu  bauen  gehabt  hätten.  Und  nicht  nur  die  Leistung  der 
Kunst,  bei  der  ja  menschliche  Unvollkommenheit  gefehlt  haben 
kann,  sondern  auch  die  Natur  mufs  sich  zuweilen  solchen 
Einspruch  und  Vorwurf  gefallen  lassen. 


Die  zuletzt  angestellten  Betrachtungen  leiten  uns  bereits 
zu  der  zweiten  Aufgabe  hinüber,  der  wir  uns  nach  der  ge- 
naueren Feststellung  der  Begriffe  eines  ästhetischen  Eindrucks 
und  seiner  Faktoren  noch  zu  unterziehen  haben,   nämlich  zu 


170  Oswald  Külpe: 

der  Würdigung  der  ästhetischen  Bedeutung,  welche  dem  asso- 
ciativen  Faktor  zukommt,  und  zu  der  dadurch  geforderten 
Verengerung  seines  Begriffs.  Nicht  jede  Reproduktion  — 
das  lehrten  uns  schon  die  oben  erwähnten  Beispiele  Fechners  — 
genügt  dem  hiermit  eingeführten  Gesichtspunkte ;  wir  werden 
vielmehr  drei  einander  ergänzende  Bestimmungen  treffen  können, 
denen  ein  associativer  Faktor  entsprechen  mufs,  wenn  anders 
er  als  Bestandteil  eines  ästhetischen  Eindrucks  soll  gelten 
dürfen.  Erstlich  mufs  er  mit  dem  zugehörigen  direkten  Faktor 
eine  Einheit,  eine  Gesamtvorstellung  bilden,  zweitens 
mufs  er  selbst  einen  Kontemplationswert  darstellen  und 
drittens  in  einem  notwendigen  und  eindeutigen  Zu- 
sammenhange mit  dem  direkten  stehen.  Indem  wir  daran 
gehen, .  diese  Bestimmungen  zu  erläutern  und  zu  begründen, 
glauben  wir  damit  im  Prinzip,  d.  h.  in  den  allgemeinsten 
Zügen  die  Lehre  vom  associativen  Faktor  für  die  Ästhetik 
zu  einem  befriedigenden  Abschlufs  zu  bringen. 

Vorbedingung  dafür,  dafs  ein  Gefallen  oder  Mifsfallen 
zustande  kommt,  ist  nach  unseren  früheren  Ausfuhrungen  über 
die  Natur  des  ästhetischen  Eindrucks  die  Beteiligung  der  Auf- 
merksamkeit an  seinem  Inhalt.  Sowie  nur  die  Verzeichnungen 
oder  Verstimmungen,  die  uns  zum  Bewufstsein  kommen,  ein 
Mifsfallen  erwecken  können,  so  mufs  auch  natürlich  die  Har- 
monie und  Reinheit  der  Töne  oder  Farben  aufgefafst,  wahr- 
genommen werden,  wenn  sie  imstande  sein  soll,  unser  Gefallen 
zu  erregen.  Man  darf  das  so  ausdrücken,  dafs  man  das 
Interesse  an  einer  Vorstellung  als  die  conditio  sine  qua  non 
für  den  Eintritt  eines  sich  auf  sie  beziehenden  ästhetischen 
Verhaltens  bezeichnet.  Von  der  Energie  oder  Lebhaftigkeit 
dieses  Interesses  ist  nun  auch  die  Intensität  der  Inhaltsgefühle 
abhängig.  Das  Häfsliche  erscheint  uns  um  so  garstiger,  das 
Schöne  um  so  erfreulicher,  je  ausschliefslicher  und  stärker 
wir  uns  seinem  Eindruck  hingegeben  haben.  Wo  mehrere 
voneinander  unabhängige  Gegenstände  gleichzeitigen  Anspruch 
auf  Beachtung  erheben,  da  wird  vermöge  der  natürlichen  Enge 
der  Aufmerksamkeit  entweder  der  eine  auf  Kosten  der  anderen 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       171 

bevorzugt  oder  allen  ein  verhältnismäfsig  geringes  Interesse 
zuteil.  Darum  ist  Einheit  des  Interesses  eine  notwendige 
Bedingung  für  das  Zustandekommen  eines  lebhaften  ästhe- 
tischen Verhaltens.  Da  es  sich  nun  bei  den  gefallenden  oder 
mifsfallenden  Objekten  in  der  Natur  und  in  der  Kunst  regel- 
mäXsig  um  eine  Vielheit  von  Bestandteilen  handelt,  so  ist  es 
als  ein  Grundgesetz  ihrer  ästhetischen  Wirkung  zu  bezeichnen, 
dafs  das  Interesse  an  ihnen  ein  einheitliches  sei.  Hier  haben 
wir  nach  einer  Richtung  den  tieferen  Sinn,  den  psycho- 
logischen Kern  des  in  der  Geschichte  der  Ästhetik  so  oft 
hervorgetretenen,  zwei  wesentlich  verschiedene  Gesichts- 
punkte in  sich  bergenden  Prinzips  der  Einheit  in  der  Mannig- 
faltigkeit. 

Eine  solche  Einheit  ist  bei  der  geschilderten  Enge  der 
Aufmerksamkeit  aber  nur  in  der  Form  ohne  Schaden  für  die 
Energie  des  ästhetischen  Verhaltens  möglich,  dafs  alle  Be- 
standteile einem  einzigen  Interesse,  dem  Hauptinteresse,  in 
letztem  Grunde  dienen  und  dadurch  einen  engeren  Zusammen- 
hang untereinander  aufweisen,  als  mit  aufserhalb  befindlichen 
Gegenständen.  Jedes  Kunstwerk  pflegt  sich  von  seiner  Um- 
gebung abzuheben,  ein  Konzert  oder  ein  Vortrag  durch  die 
sonst  herrschende  Stüle,  ein  Schauspiel  aufserdem  durch  die 
Bühne,  ein  Gemälde  durch  seinen  Rahmen,  eine  Skulptur 
durch  ihren  Sockel.  Und  innerhalb  dieser  Grenzen  bietet 
sich  dem  Auge  und  Ohr  ein  wohlgegliedertes  Gefiige,  das 
sich  von  dem  in  Rede  stehenden  Gesichtspunkte  aus  als  ein 
Stufenreich  der  Interessen  darstellt.  Was  in  diesem 
Reiche  die  Hauptsache  ist,  der  sich  alles  andere  unterzuordnen 
hat,  darüber  werden  wir,  wo  es  sich  nicht  von  selbst  versteht, 
durch  allerlei  deutliche  Winke  von  dem  Künstler  belehrt. 
Das  Drama  und  der  Roman  haben  ihre  Hauptpersonen,  das 
Musikstück  sein  Hauptthema,  und  eine  Menge  von  Hilfsmitteln 
einfacherer  und  verwickelterer,  feinerer  und  gröberer  Art 
stehen  dem  Meister  zur  Verfügung,  um  uns  die  ausgezeich- 
neten Gegenstände  in  solchen  Werken  mühelos  und  sicher 
erkennen  zu  lassen.    Hier  giebt  der  Maler  dem  wichtigsten 


172  Oswald  Külpe: 

Bestandteil  seines  Bildes  eine  bevorzugte  Stellung  oder  rückt 
ihn  in  die  hellste  Beleuchtung,  dort  wiederholt  und  variiert 
der  Musiker  seine  Hauptmotive  und  -themen  am  häufigsten 
und  eingehendsten  und  berichtet  uns  der  Dichter  über  seinen 
Helden  am  ausführlichsten.  Die  Mannigfaltigkeit  der  mög- 
lichen Versuche,  das  Interesse  des  Sehenden  oder  Hörenden 
in  die  richtigen  Bahnen  zu  lenken,  spottet  jeder  Aufzählung, 
doch  werden  schon  die  wenigen  Beispiele  ausreichen,  um  die 
allgemeine  Bedeutung  dieses  ästhetischen  Fundamentalprinzips 
aufser  Frage  zu  stellen. 

Ziehen  wir  daraus  einen  Schlufs  flir  unseren  Fall,  so 
werden  wir  zu  fordern  haben,  dafs  der  associative  Faktor 
sich  mit  dem  direkten  zu  einer  Einheit  verbinde.  Erinnert 
mich  ein  Bild,  das  ich  sehe,  an  ein  anderes  ihm  ähnliches, 
oder  an  den  Ort,  wo  ich  es  zuerst  kennen  gelernt  habe,  so 
wird  das  Interesse  geteilt  oder  von  seinem  ursprünglichen 
Gegenstande  ganz  abgelenkt.  Eeproduziert  eine  Symphonie, 
die  ich  höre,  die  Vorstellung  von  einer  landschaftlichen  Scenerie 
oder  einem  kriegerischen  Schauspiel,  so  wird  die  Energie, 
mit  welcher  ich  ihrer  musikalischen  Entwicklung  folge,  gleich- 
falls bedroht  sein  oder  leiden.  Der  associative  Faktor  wird 
also  nur  dann  die  ästhetische  Bedeutung  des  Gesamteindrucks 
unterstützen  oder  zu  ihr  einen  wertvollen  Beitrag  liefern, 
wenn  er  sich  dem  Hauptinteresse  des  Ganzen  unterordnet. 
Es  ist  ohne  weiteres  klar,  dafs  nicht  alle  Reproduktionen 
dieser  Forderung  genügen,  und  dafs  somit  schon  durch  das 
Gesetz  der  Einheit  eine  beträchtliche  Einschränkung  der 
möglichen  Formen  des  associativen  Faktors  bewirkt  wird. 
Hier  eröffnet  sich  ein  weites  und  fruchtbares  Feld  für  die 
Specialuntersuchung.  Da  handelt  es  sich  z.  B.  darum,  zu 
erwägen,  welche  Empfindungen  mit  welchen  anderen  sich  zu 
einer  in  sich  geschlossenen  Vorstellung  verknüpfen  lassen. 
Da  wird  man  ferner  auf  die  individuellen  Unterschiede  ein- 
zugehen haben,  die  für  solche  Verbindungen  zweifellos  be- 
stehen.  Der  Ästhetik  wird  es  sicherlich  nicht  zum  Schaden 
gereichen,  wenn  sie  diesen  besonderen  Aufgaben,  die  uns  durch 


über  den  associatiYen  Faktor  des  ästhetischen  Eindracks.       173 

Fechners  induktive  Betrachtungen  nahe  gelegt  werden,  sorg- 
fältig und  umsichtig  nachgeht.  Und  der  innige  Zusammen- 
hang, in  den  sie  dadurch  sowohl  mit  dem  künstlerischen 
Schaffen,  wie  mit  der  allgemeineren  Gesetzmäfsigkeit  des 
ästhetischen  Verhaltens  gerät,  mag  und  mufs  sie  für  das 
damit  verbundene  Herabsteigen  von  den  luftigen  Höhen  der 
Spekulation  in  die  Niederung  des  Kleinbetriebs  reichlich  ent- 
schädigen. 

Eine  zweite  beschränkende  Bestimmung  erfährt  der 
Begrijff  des  associativen  Faktors  durch  die  einer  näheren  Be- 
gründung kaum  bedürftige  Angabe,  dafs  er  selbst  einen  Kon- 
templationswert bilden  oder  als  Glied  eines  solchen  müsse 
aufgefafst  werden  können.  Wer  vor  einem  Kunstbau  die 
lustbetonte  Vorstellung  bequemen  Wohnens  in  solchen  Räumen 
zur  Herrschaft  gelangen  läfst,  oder  wer  den  Wert  eines 
Musikwerks  darnach  bemifst,  welche  anregende  Kraft  zu 
geistiger  Arbeit  von  ihm  ausgehe,  der  verknüpft  mit  dem 
direkten  Faktor  einen  associativen,  dem  eine  ästhetische  Be- 
deutung abgesprochen  werden  darf.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  dafs  nicht  jede  Erinnerung,  jede  Leistung  ergänzender 
oder  deutender  Phantasie  einen  Kontemplationswert  darstellt, 
und  es  ist  fast  eine  Tautologie,  zu  behaupten,  dafs  nur  ein 
solcher  einen  associativen  Faktor  befähige,  der  Bestandteil 
eines  ästhetischen  Eindrucks  zu  werden.  Und  dennoch  wird 
wohl  gegen  keine  Eegel  häufiger  verstofsen,  als  gerade  gegen 
diese,  nicht  nur  vom  Laien,  sondern  auch  vom  Künstler  und 
vom  Ästhetiker.  Man  ist  nur  zu  gern  bereit,  das  Gefallen 
an  beliebigen  Eindrücken  durch  jedwede  angenehme  und  das 
Mifsfallen  durch  jegliche  unerfreuliche  Vorstellung,  die  er  re- 
produziert, gewinnen  zu  lassen.  Und  so  triumphiert  denn  in 
den  meisten  Dramen  das  Gute  über  das  Böse,  rühmt  der 
Kritiker  die  gesunde  Tendenz  eines  Kunstwerks,  ergötzt  sich 
der  Geniefsende  an  der  Vornehmheit  und  den  irdischen  Glücks- 
gütem  eines  Romanhelden.  Aufserästhetische  Gesichtspunkte 
werden  dem  direkten  Faktor  gegenüber  nicht  leicht  in  An- 
wendung gebracht,  weil  die  sinnlichen  Gefühle,  die  hier  allein 


174  Oswald  Ktilpe: 

mit  den  ästhetischen  in  Konkurrenz  treten  können,  bei  den 
Tönen,  Farben  und  Helligkeiten  der  Kunst  keine  erhebliche 
EoUe  spielen.  Eine  um  so  gewichtigere  wird  den  sonstigen 
Wertprädikaten  beim  associativen  Faktor  praktisch  und  theo- 
retisch zugestanden  und  damit  der  gröfsten  Willkür  unbe- 
denklich Thür  und  Thor  geöffnet* 

Der  Grund  dieser  Erscheinung  ist  nicht  schwer  zu  finden. 
Wären  die  einzelnen  Gefühle  der  Lust,  die  wir  verschiedenen 
Anlässen  verdanken,  auch  nur  annähernd  so  mannigfaltig, 
wie  die  Empfindungen  der  roten  und  der  blauen  Farbe  oder 
des  eingestrichenen  C  und  des  D  der  höheren  Oktave,  so 
würde  sich  auch  bei  gleichzeitiger  Einwirkung  der  ihnen  ent- 
sprechenden Ursachen  verhältnismäfsig  leicht  erkennen  lassen, 
mit  welcher  Art  von  Annehmlichkeit  man  es  eigentlich  zu 
thun  habe.  Aber  aus  der  blofsen  Lust  heraus  würde  es  niemand 
gelingen  zu  erraten,  ob  er  sie  einem  erfrischenden  Bade  oder 
einer  wohlschmeckenden  Speise  oder  einer  anregenden  Unter- 
haltung verdanke.  So  zahllos  die  Differenzen  sind,  die  zwischen 
den  möglichen  Gefühls  anlassen  für  die  unmittelbare  Auffassung 
eines  jeden  normal  beanlagten  und  entwickelten  Individuums 
bestehen,  so  einförmig  ist  der  Lust-  oder  Unlust  erfolg,  den 
sie  hervorrufen.  Selbst  von  denjenigen  Psychologen,  die  an 
einer  qualitativen  Verschiedenheit,  also  an  Arten  der  Annehm- 
lichkeit und  der  Unannehmlichkeit  festhalten  zu  sollen  glauben, 
wird  doch  zugegeben,  dafs  sich  die  einzelnen  Formen  der 
Lust  bei  gleichzeitigem  Zusammentreffen  zu  einer  unanalysier- 
baren Einheit  verbinden.  Wir  sind  daher  aufser  stände,  die 
sittlichen,  sinnlichen,  ästhetischen  Werte  nach  ihrer  blofsen 
Bedeutung  für  das  Gefühl  voneinander  zu  sondern.  Ja, 
noch  mehr,  wir  erfahren  eine  einfache  Lustverminderung, 
wenn  ein  Wert  der  einen  Art  sich  mit  einem  Unwert  der 
anderen  vereinigt,  und  eine  merkliche  Lustverstärkung,  wenn 
zu  einem  bestimmten  Wert  ein  zweiter  von  anderer  Herkunft 
hinzutritt.  Jedermann  weifs,  dafs  der  Genufs  der  effekt- 
vollsten Komödie  durch  Kopfschmerzen  oder  verstimmende 
Erinnerungen  getrübt  wird,  und  dafs  man  gegen  die  künst- 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       175 

lerische  Bedeutung  einer  Dichtung  leicht  ungerecht  wird, 
wenn  die  Tendenz  derselben  abstufst.  Diesen  Thatsachen 
wird  durch  die  Vernachlässigung  der  Bestimmung  Rechnung 
getragen,  die  vom  associativen  Faktor  eines  ästhetischen 
Eindrucks  verlangt,  dafs  er  selbst  ausschliefslich  als  Kontem- 
plationswert wirke. 

Allerdings  kann  man  es  einem  Künstler  nicht  verdenken, 
dafs  er  das  Gefallen  an  seinem  Werke  nicht  durch  die  Ein- 
führung sonstiger  Unwerte  in  Frage  gestellt  sehen  möchte, 
dafs  er  somit  Stoffe  wählt,  deren  Natur  es  ihm  erlaubt,  auch 
die  ethischen  Bedürfnisse  zu  befriedigen.  Aber  die  ästhetische 
Bedeutung  braucht  diesem  Gesichtspunkte  wahrlich  nicht  ge- 
opfert zu  werden.  Nebenwirkungen  unmöglich  zu  machen, 
dazu  sind  wir  bei  der  komplexen  Natur  der  dem  Geschmacks- 
urteil unterliegenden  Gegenstände  meist  aufser  stände;  auch 
ungewollt  drängen  sie  sich  auf  und  fordern  ihr  Recht.  Der 
Maler  und  Büdhauer,  die  das  Nackte  darstellen,  können  es 
ebenso  wenig  verhindern,  dafs  solche  Gestalten  die  sinnliche 
Einbildungskraft  reizen,  wie  der  Dichter  historischer  Dramen 
ihre  Prüfung  auf  die  geschichtliche  Treue  auszuschliefsen 
vermag.  Aber  der  ästhetische  Zusammenhang  kann  trotz 
alledem  ein  in  sich  geschlossener  sein  und  dadurch  wenigstens 
alle  diejenigen  befriedigen,  die  ihm  allein  ihre  Aufmerksamkeit 
zuwenden.  Findet  ein  Werk  auf  Grund  solcher  Nebenwirkungen 
bei  den  Zeitgenossen  nicht  die  gebührende  Anerkennung  und 
das  unbefangene  Verständnis,  so  kann  beides  ihm  in  der  Zu- 
kunft erblühen,  und  umgekehrt  pflegt  der  lebhafteste  Beifall, 
den  sich  ein  Künstler  bei  Lebzeiten  durch  die  Berücksichtigung 
aufserästhetischer  Gesichtspunkte  erwirbt,  ihn  vor  Verurteilung 
und  Vergessenheit  in  späteren  Epochen  nicht  zu  schützen. 
Aus  den  zahlreichen  religiösen  Bildern  des  Mittelalters  haben 
sich  einen  dauernden  Ruhm  doch  nur  diejenigen  erhalten,  die 
neben  ihrer  Wirkung  auf  andächtige  Gemüter  eine  reine  und 
kräftige  ästhetische  Bedeutung  aufzuweisen  haben,  und  von 
den  vielen  politischen  Satiren,  die  im  Laufe  der  Zeiten  ent- 
standen, sind  die  meisten  verdientermafsen  verschollen,  weü 


176  Oswald  Külpe: 

ihr  Genufs  von  der  zufälligen  Konstellation  der  staatlichen 
oder  socialen  Verhältnisse  gänzlich  abhängig  war,  zu  deren 
Dlustration  oder  Geifselung  sie  dienen  sollten. 

Künstlerisches  kann  auf  die  Dauer  eben  doch  nur  durch 
künstlerische  Qualitäten  fesseln  und  befriedigen.  Aber  in 
unserer  Aufmerksamkeit  besitzen  wir,  die  empfänglichen  Zu- 
schauer und  Zuhörer,  zugleich  eine  Fähigkeit,  die  es  uns 
gestattet,  von  den  unvermeidlichen  Nebenwirkungen  eines 
ästhetischen  Eindrucks  zu  abstrahieren.  Wir  können  uns 
streng  an  die  Kontemplationswerte  halten  und  diejenigen 
Apperceptionsmassen  in  Bereitschaft  setzen,  welche  mit  ihnen 
in  Verbindung  stehen.  Durch  solche  absichtsvolle  Vorbereitung 
und  „Einstellung"  geht  jene  passive  Versenkung,  die  für  die 
ästhetische  Beschaulichkeit  so  charakteristisch  ist,  keineswegs 
verloren,  sie  wird  vielmehr  durch  die  wachsame  Hemmung 
störender  anderweitiger  Reizwirkungen  noch  intensiver.  Somit 
läfst  unsere  Forderung,  dafs  der  associative  Faktor  selbst  ein 
Kontemplationswert  sei  oder  als  Glied  eines  solchen  erscheine, 
auch  allen  sittlichen,  sinnlichen  oder  sonstigen  Werten,  die 
ihm  beigelegt  werden  können,  zum  Trotz  eine  klare  und  ein- 
heitliche Durchführung  zu.  Der  Künstler  kann  und  soll,  wenn 
anders  es  ihm  darauf  ankommt,  ein  ästhetischen  Ansprüchen 
vollauf  genügendes  Werk  zu  schaffen,  seine  Darstellung  aus- 
schliefslich  auf  die  Erregung  der  Inhaltsgefuhle  anlegen.  Die 
innere  Gesetzmäfsigkeit  des  Ganzen,  die  seinen  Aufbau  und 
die  Wechselwirkung  seiner  Teile  nur  unter  ästhetischen  Ge- 
sichtspunkten begreifen  läfst,  wird  sodann  den  auf  sie  einge- 
stellten Betrachter  alsbald  das  erfreuliche  oder  unbefriedigende 
Beiwerk  abscheiden  lassen,  das  sich  gleich  einer  das  Leben 
des  Stammes  gefährdenden  Schlingpflanze  um  einen  kraftvollen 
Baum  rankt. 

Und  nun  noch  zu  der  letzten  Bestimmung,  welche 
verlangt,  dafs  der  associative  Faktor  mit  dem  direkten  in 
einem  eindeutigen  und  notwendigen  Zusammenhange  stehe. 
Hier  laufen  alle  Fäden  unserer  bisherigen  Untersuchung  zu- 
sammen.  Denn  nichts  anderes  ist  es  bei  genauerer  Betrachtung, 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       177 

als  was  die  ältere  Ästhetik  durch  die  Forderung  ausdrückte, 
dafs  die  Idee  sich  in  der  Erscheinung  dargestellt  oder  sym- 
bolisiert finden  solle.  Zugleich  erhalten  unsere  Bemühungen 
um  eine  engere  Begrenzung  des  Begriflfs  vom  associativen 
Faktor  durch  diese  Festsetzung  ihre  letzte  und  entscheidende 
Unterstützung.  Wenn  wir  zuerst  verlangten,  dafs  die  beiden 
Bestandteile  eines  ästhetischen  Eindrucks  zu  der  einheitlichen 
Form  einer  Gesamtvorstellung  zusammentreten  müfsten,  so 
wird  jetzt  die  Art  derselben  näher  bezeichnet.  Wenn  wir 
femer  die  ästhetische  Bedeutung  einer  Reproduktion  nach  dem 
Mafse  bestimmten,  iu  welchem  sie  selbst  einen  Kontemplations- 
wert büde  oder  an  demjenigen  des  Gesamteindrucks  teilnehme, 
so  werden  wir  nunmehr  mit  der  Bedingung  bekannt,  unter 
der  die  Verwirklichung  dieses  Postulats  steht  und  sich  voll- 
zieht. Indem  sonach  diese  dritte  Einschränkung  den  anderen 
beiden  die  erforderliche  Specialisierung  liefert,  wird  ihre  Be- 
gründung von  der  dort  entwickelten  abhängig.  Auch  für  die 
besondere  Art  der  Verknüpfung,  in  die  wir  jetzt  den  asso- 
ciativen Faktor  mit  dem  direkten  setzen,  läfst  sich  aus  der 
allgemeinen  Ästhetik  zunächst  der  Grund  beibringen,  dafs 
ein  ungeteiltes,  lebhaftes  Interesse  nur  aus  wechselseitiger 
Durchdringung  derselben  entspringen  könne.  Sodann  wird 
der  ästhetische  Charakter  einer  Reproduktion  durch  den  ein- 
deutigen Zusammenhang  mit  einer  der  gleichen  Eigenschaft 
sich  erfreuenden  Perception  ohne  Zweifel  am  besten  gewähr- 
leistet. Aber  zu  der  damit  aufgezeigten  Abhängigkeit  des 
neuen  Prinzips  von  den  Grundsätzen,  die  uns  die  Aufstellung 
der  anderen  allgemeineren  Bestimmungen  haben  rechtfertigen 
helfen,  tritt  doch  noch  eüie  seiner  specielleren  Fassung  ent- 
sprechende Ableitung  aus  ästhetischen  Voraussetzungen  un- 
abweisbar hinzu. 

Die  moderne  Entwicklung  der  Oper  und  der  mit  Kom- 
mentaren versehenen  symphonischen  Dichtungen  hat  die 
Meinung  erweckt,  als  handle  es  sich  bei  der  Verbindung  eines 
bestimmten  musikalischen  Motivs  mit  gewissen  Worten  des 
Textes  nicht  etwa  um  eine  zufällige  Zusammenstellung,  ver- 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXTTL  2.  12 


1 


178  Oswald  Külpe: 

mittelt  durch  die  Verwandtschaft  des  Stimmungsgehalts, 
sondern  um  eine  eindeutige  Interpretation  des  einen  durch 
das  andere.  Die  enge  Association,  welche  zwischen  den 
gleichzeitig  gegebenen  Bestandteilen  zweier  Künste  nach  ein- 
fachen psychologischen  Gesetzen  entsteht,  verleitet  zu  der 
irrigen  Annahme,  dieses  Motiv  könne  überhaupt  und  an  sich 
nur  die  in  den  begleitenden  Worten  niedergelegte  Bedeutung 
haben,  oder  diese  Strophe  lasse  nur  die  in  dem  nebenher  er- 
tönenden Thema  gebotene  musikalische  Darstellung  zu.  Da- 
durch werden  die  Grenzen  zwischen  dem  naturwüchsigen  und 
dem  durch  individuelle  Wülkür  geschaffenen  Ausdruck  eines 
direkten  Faktors  in  unzweckmäfsiger  Weise  verwischt.  Denn 
es  ist  ein  grofser  Unterschied,  ob  in  diesem  oder  jenem  In- 
dividuum infolge  einer  nur  für  sie  geltenden  associativen 
Verknüpfung  eine  Perception  sofort  eine  dieser  entsprechende 
Reproduktion  auslöst  oder  ob  ein  jedes  unter  normalen  Ent- 
wicklungsbedingungen der  Erfahrung  gebildete  Subjekt  eine 
Gruppe  von  Empfindungen  als  natürliches  Zeichen  für  be- 
stimmte Gegenstände,  Vorgänge,  Beziehungen  ansieht  und 
verwendet.  Solange  es  wünschenswert  bleibt,  der  Kunst  eine 
allgemeine  und  gleichförmige  Wirkung  zu  sichern,  solange 
ist  es  unumgänglich,  den  ästhetischen  Eindruck  von  der  Mit- 
wirkung zufälliger  und  individueller  Reproduktionen  unabhängig 
zu  machen.  Ein  historisches  Drama  mufs  auch  von  dem  be- 
griffen und  genossen  werden  können,  der  die  geschichtlichen 
Vorgänge,  die  seinen  Stoff  oder  seine  Grundlage  bilden,  nicht 
kennt.  Aus  sich  selbst  heraus  mufs  sich  der  Aufbau  einer 
malerischen  oder  musikalischen  Komposition  rechtfertigen, 
nicht  durch  die  Anlehnung  an  Erinnerungen  oder  Kenntnisse, 
die  nicht  zum  Gemeingut  der  Geniefsenden  gerechnet  werden 
können.  Nur  wenn  der  associative  Faktor  wie  etwas  Selbst- 
verständliches, jedem  Geläufiges  aus  dem  direkten  hervorwächst, 
nur  des  letzteren  natürlichen  Ausdruck  bildet,  genügt  er  diesem 
angestammten  Bedürfnis  einer  Kunst,  die  keinen  Sonder- 
interessen dienen,  kein  Specialwissen  voraussetzen  will.  Das 
ist  die  eine  Wurzel  unserer  Forderung  eindeutigen  Zusammen- 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       179 

hanges  zwischen  beiden  Faktoren  eines  ästhetischen  Eindrucks. 
Eine  andere  finden  wir  in  einem  zweifellosen  Interesse  der 
Ästhetik.  Soll  diese  eine  Wissenschaft  sein  können,  die  sich 
über  die  Danaidenarbeit  einer  erschöpfenden  Beschreibung 
aller  Einzelthatsachen  zu  Allgemeinbegriffen,  zu  Gesetzen  er- 
hebt, so  darf  die  ästhetische  Bedeutung  einer  Vorstellung 
nicht  an  die  unfafs];)are,  unberechenbare  Vielgestaltigkeit  indi- 
yiduell  geformter  Erinnerungen  oder  Phantasiebilder  preis- 
gegeben werden.  Wissenschaftlich  zu  bewältigen  ist  der 
associative  Faktor  nur  dann,  wenn  er  in  dem  hier  geforderten 
Verhältnis  zu  dem  direkten  steht. 

Endlich  aber  und  hauptsächlich  kann  es  nur  durch  die 
Erfüllung  dieser  Forderung  verhütet  werden,  dafs  beliebige, 
zu  verschiedenen  direkten  Faktoren  gleich  gut  passende  Re- 
produktionen bei  der  ästhetischen  Würdigung  des  Gesamt- 
eindrucks mitwirken.  Erinnern  wir  uns  an  I^chnebs  Beispiel 
von  der  Goldkugel!  Die  kalifornische  Hochachtung,  die  wir 
ihr  zollen,  und  aus  der  heraus  Bilder  von  Kutschen,  Palästen 
und  anderen  schönen  Dingen  entstehen,  hat  mit  der  indivi- 
duellen Vorstellung  des  runden  Objekts  nichts  zu  thun,  sondern 
knüpft  sich  lediglich  an  das  Wissen  um  seine  materielle  Be- 
schaffenheit. Damit  wäre  aber  gerade  die  anschauliche  Form 
zu  einer  unwichtigen,  gleichgültigen  Potenz  herabgedrückt, 
was  sie  offenbar,  sofern  es  sich  um  ästhetische  Auffassung 
handelt,  nicht  ist  und  sein  kann.  Unsere  dritte  den  asso- 
ciativen Faktor  einschränkende  Bestimmung  beruht  hiernach 
auf  der  Einsicht,  dafs  nur  bei  ihrer  Berücksichtigung  ein 
individuelles  Verhältnis  zwischen  beiden  Faktoren  möglich 
Avird,  durch  das  der  Eigentümlichkeit  der  äufseren  Erscheinung 
eine  genau  entsprechende  Eigentümlichkeit  ihrer  Bedeutung, 
ihres  Gehalts,  ihrer  Idee  zugeordnet  wird.  Auch  in  dem 
Reiche  des  Gefallens  und  Mifsfallens  herrscht  ein  Gesetz  der 
Ökonomie,  dem  zufolge  aller  Überflufs,  alles,  was  den  Interessen 
und  Absichten  des  Ganzen  nicht  dient,  auszuscheiden  ist. 
Das  gilt  nicht  nur  für  den  Künstler,  der  sich  um  die  Ge- 
staltung  eines   einheitlichen   ästhetischen   Gebildes   bemüht, 

12* 


180  Oswald  Külpe. 

auch  für  den  Geniefsenden,  sofern  er  sich  nicht  in  schranken- 
losem Spiel  der  Phantasie  von  dem  Gegenstande  seines  Ge- 
nusses beliebig  weit  entfernen  will.  Diese  innere  Gesetz- 
mäfsigkeit  des  Zusammenhangs,  eine  Art  ästhetischer  Logik, 
verknüpft  vor  allem  den  direkten  und  den  associativen  Faktor 
miteinander,  nur  durch  sie  findet  der  eine  im  anderen  seine 
notwendige  Ergänzung,  halten  und  tragen  i^e  sich  gegenseitig, 
bleiben  sie  aufeinander  angewiesen,  wie  das  Ding  und  seine 
^  Eigenschaften,  Ursache  und  Wirkung,  Mittel  und  Zweck,  das 
Ganze  und  seine  Teile. 

Aber  läfst  sich  dieser  Unterschied  zwischen  Notwendigem 
und  Zufälligem,  Eindeutigem  und  Vieldeutigem  überhaupt  in 
dem  Gebiet  der  ästhetischen  Eindrücke  machen?  Der  Dichter 
pflegt  ja  doch  die  Begriffe,  mit  denen  er  operiert,  nicht  zu 
definieren,  und  der  kurze  Titel,  den  der  Musiker,  Maler  oder 
Bildhauer  ihrem  Werke  geben,  läfst  in  der  Kegel  auch  der 
gefafstesten  Einbildungskraft  einen  bedeutenden  Spielraum. 
Wodurch  verrät  uns  vollends  die  weite  und  wechselnde  Natur^ 
wie  allein  sie  betrachtet  und  genossen  sein  will?  Gewifs 
beruht  die  Eindeutigkeit  hier  nicht  auf  dem  Zwange  der  Logik, 
der  in  der  wissenschaftlichen  Darstellung  den  Gebrauch  der 
Wörter  von  den  Definitionen  ihrer  Begriffe  abhängig  macht. 
Sie  gründet  sich  vielmehr  lediglich  auf  die  allgemeine,  ge- 
wöhnliche, durch  langen  Verkehr  und  wiederholtes  Mitteilungs- 
bedürfnis fest  und  sicher  gewordene  Kenntnis  der  Sprache 
und  bedarf  keiner  gröfseren  Genauigkeit,  als  der  auf  diesem 
Wege  vermittelten.  Es  ist  Sache  des  Dichters,  keine  Mifs- 
verständnisse  aufkommen  zu  lassen,  seine  Schilderung  so  ein- 
zurichten, dafs  sie  ohne  weitere  Voraussetzungen  begriffen 
und  in  die  der  Intention  des  Künstlers  entsprechenden  Vor- 
stellungen umgesetzt  werden  kann.  Was  bei  den  „künstlichen'^ 
Zeichen,  den  Worten,  infolge  der  den  Sinn  einengenden  Zu- 
sammenfassung jedes  einzelnen  mit  einer  ganzen  Anzahl  anderer 
möglich  ist,  wird  natürlich  um  so  leichter  bei  denjenigen  Zeichen 
verwirklicht,  die  durch  ihre  sinnliche  Ähnlichkeit  mit  dem 
Dargestellten  einen  unmittelbaren  Hinweis  auf  dasselbe  ent- 


über  den  associativen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       Igl 

halten.  Was  die  Farben  und  Formen  der  bildenden  Kunst 
oder  der  Natur  bedeuten,  wenn  sie  in  bestimmter  Anordnung 
sich  zu  einer  Landschaft  oder  einer  Genrescene  vereinigen, 
das  pflegt  demjenigen,  der  die  Augen  Jahre  hindurch  der  ihn 
umgebenden  Welt  geöflhet  hat,  auch  ohne  jede  Besonderheit 
der  Erfahrung  und  des  Wissens  vertraut  zu  sein. 

Es  kann  somit  kaum  einem  Zweifel  unterliegen,  dafs 
-der  direkte  Faktor  eines  ästhetischen  Eindrucks  eindeutig 
sein  oder,  was  dasselbe  ist,  einen  ganz  bestimmten  associativen 
Faktor  repräsentieren  oder  symbolisieren  kann.  Aber  nicht 
nur  in  der  einfachen  Form,  wie  sie  die  bisherigen  Ausführungen 
zeigen,  auch  in  den  verwickeiteren  Fällen  allegorischer  Schil- 
derung ist  ein  solches  Verhältnis  beider  Faktoren  zu  einander 
möglich.  Dafs  ein  mit  der  Sense  bewaflöietes  Skelett  den  Tod, 
die  zum  Kriege  gerüstete  Frauengestalt  auf  unseren  Sieges- 
denkmälem  Deutschland  bedeutet,  ist  ohne  besondere  Über- 
legung sicher  und  leicht  zu  erkennen. 

Eine  der  wirkungsvollsten  Radierungen  yon  Eunobb  zeigt  uns  einen 
Torn  offenen,  nach  der  Tiefe  des  Bildes  zu  sich  erstreckenden  Engpafs, 
Yon  steil  aufragenden  hohen  Felswänden  eingeschlossen,  und  in  ihm  eine 
gewaltige  Tigerin,  das  Haupt  drohend  gegen  den  Beschauer  gekehrt. 
Hier  giebt  es  kein  Entrinnen  —  das  ist  der  unmittelbare  Eindruck,  der 
sich  bei  dieser  Scene  dem  Betrachtenden  aufdrängt.  Sie  ist  eindeutig  und 
verständlich  auch  ohne  jede  allegorische  Beziehung.  Diese  wird  durch 
den  Titel  „die  sociale  Frage"  hineingetragen.  Dadurch  wird  an  der  Sach- 
lage nichts  Wesentliches  geändert.  Denn  der  an  sich  zufällige  Zusammen- 
hang jenes  Bildes  mit  dem,  was  wir  alle  als  sociale  Frage  kennen  und 
farchten,  kann  nur  insofern  eine  ästhetische  Bedeutung  beanspruchen,  als 
die  bildliche  Erscheinung  Trägerin  der  ihr  beigegebenen  Idee  ist.  Nur 
was  yon  der  socialen  Frage  eine  Stimmung  in  uns  weckt,  derjenigen 
gleichend,  die  wir  empfänden,  wenn  wir  im  geschlossenen  EngpaTs  uns 
einer  wilden  Tigerin  gegenüber  befänden,  hat  in  dem  associativen  Faktor 
dieses  ästhetischen  Eindrucks  eine  Rolle  zu  spielen.  Alles  übrige  —  und 
es  giebt  ja  der  Gedanken  und  Vorstellungen,  die  der  Titel  in  uns  wecken 
kann,  nicht  wenige  —  gehört  nicht  dazu,  überschreitet  die  Grenzen  ein- 
deutigen Zusammenhangs. 

Damit  sind  wir  bereits  stillschweigend  einem  Einwände 
entgegengetreten,  der  sich  an  die  Forderung  der  Eindeutig- 
keit vielleicht  geheftet  hat.  Nicht  den  Hinweis  auf  ein  Ein- 
zelnes, Konkretes  schlechthin  verstehen  wir  darunter,  sondern 
nur  die  Ansicht,  dafs  Gehalt  und  Form  einander  decken  müssen, 


182  Oswald  Külpe: 

wenn  jener  zu  dem  Gesamteindruck  einen  ästhetisch  zu  wür- 
digenden Beitrag  liefern  soll.  Der  associative  Faktor  kann 
somit  sehr  wohl  etwas  Allgemeines,  ja  auch  wohl  etwas 
Wechselndes  sein,  wenn  der  direkte  keine  gröfsere  Bestimmt- 
heit des  Ausdrucks  besitzt.  Auch  das  Wortspiel  genügt 
unserer  Forderung,  obwohl  es  die  Eindeutigkeit  im  logischen 
Sinn  ausschliefst.  Unser  ästhetisches  Postulat  schränkt  nicht 
den  Sinn  eines  Zeichens  überhaupt  ein,  es  stellt  die  Repro- 
duktionsthätigkeit  nur  unter  die  Bedingung,  durchweg  und 
unmittelbar  blofs  durch  den  allen  zugänglichen  direkten  Faktor 
als  solchen  und  nicht  durch  Nebengedanken,  eigentümliche 
Erfahrungen  und  sonstige  von  seiner  Natur  nicht  wesentlich 
abhängende  Umstände  bestimmt  zu  werden. 

Ich  bin  am  Ende.  Durch  die  genauere  Begrenzung, 
die  wir  im  Interesse  der  Ästhetik  dem  Begriff  des  associativen 
Faktors  gegeben  haben,  ist  die  allgemeine  Aufgabe  gelöst. 
Folgerungen  und  Anwendungen  sehr  verschiedener  Art  hätten 
sich  anzuschliefsen.  Insbesondere  wäre  die  Frage  nach  dem 
animistischen  Verhalten,  das  wir  manchen  Ästhetikern  zufolge 
Eaumformen  gegenüber  einschlagen,  einer  Erörterung  wert.  ^) 
Auch  die  Untersuchung  der  einzelnen  Künste  und  Kunstweisen 
von  dem  hier  eingenommenen  Standpunkte  aus  würde  einigen 
Ertrag  versprechen.  Nicht  minder  scheint  uns  die  bisher  noch 
gar  nicht  aufgeworfene  Frage  nach  der  Möglichkeit  von  Super- 
Positionen  der  Reproduktion,  die  besonders  bei  der  ästhetischen 
Wirkung  der  Poesie  eine  Rolle  spielen,  eine  Beantwortung 
zu  fordern  und  zu  verdienen.  Aber  solche  Erwägungen  hätten 
den  Rahmen  der  mir  in  diesem  Zusammenhange  möglichen 
Ausführungen  gesprengt  und  zur  Begründung  der  wichtigsten 
prinzipiellen  Aufstellungen  nichts  beigetragen.  Entbehrt  somit 
das,  was  ich  hier  habe  entwickeln  können,  vielleicht  des  an- 
schaulichen Reizes,    der   den   Anwendungen   eigen   zu   sein 


^)  ViscHBRs  Einfühlung  und  die  ähnliche  Ansicht  von  Lipps  fallen 
mit  den  hier  entwickelten  Einschränkungen  des  associativen  Faktors  nicht 
völlig  zusammen,  sondern  sind  teils  engere,  teils  weitere  Bestimmungen. 
Auch  auf  diese  Frage  gedenke  ich  später  ausführlich  einzugehen. 


über  den  associatiyen  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks.       183 

pflegt,  SO  wird  es  dafür  einen  tieferen  und  umfassenderen 
Blick  über  die  Bestrebungen  der  modernen  empirischen  Ästhetik 
vermittelt  haben.  Das  Ergebnis  der  Gedankenarbeit,  das  ich 
darzustellen  versuchte,  ist  durchaus  einer  psychologischen 
Betrachtung  der  ästhetischen  Thatsachen  entsprungen.  Indem 
ich  ein  Beispiel  fruchtbarer  Anwendung  der  Psychologie  auf 
die  Ästhetik  vorführte,  wollte  ich  zugleich  der  Überzeugung 
Ausdruck  geben,  dafs  nur  eine  psychologisch  betriebene  Ästhetik 
unserem  wissenschaftlichen  BedttrMs  genügt,  dafs  die  Ästhetik 
nur  ein  Zweig  der  angewandten  Psychologie  ist,  der  nach 
dem  Prinzip  der  Arbeitsteilung  zu  einer  besonderen  Wissen- 
schaft ausgewachsen  ist. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der 

Zeitvorstellung, 

Von  Eugen  Posch,  Budapest. 
(Zweiter  Artikel.) 


Inhalt. 

Die  Zukunft  blofser  Gedanke.  Sprachliche  Formen  der  Zukunftsvor Stellung. 
Sekundärer  Charakter  des  Grenzenprädikats  an  der  Gegenwartavorstellung.  Ob 
Gegenwart  ein  Zeitteil  seL  Sprachliche  Formen  des  Gegenwartsbegriffs  und  Ver- 
wertung derselben  für  begriffsgeschichtliche  Folgerungen.  Anheben  der  Gleich- 
zeitigkeitsvorstellung von  Gegenwärtig -Gleichzeitigem.  Zwei  Anwendungsfölle 
dieses  Begriffs  zu  scheiden:  überblickbares  und  nicht  überblickbares  Gleichzeitige. 


Verzeichnis  der  citierten  Bücher. 

(Fortsetzung.) 

Beekelet:  „Abhandlung  über  die  Prinzipien  der  mensch- 
lichen Erkenntnis."  Übers,  von  Überweg,  Berlin  1869.  (Hieraus 
Punkt  XCVn — Vin.)  —  BuDENz:  „Magyar-ugor  összehasonlitö 
szotär."  Budapest.  —  Cohen:  „Kants  Theorie  der  Erfahrung." 
n.  Aufl.,  Berlin  1885.  —  Cubtius:  „Grundzüge  der  griechischen 
Etymologie."  V.  Aufl.,  Leipzig  1879.  —  DtiHRiNG:  „Kursus 
der  Philosophie  ..."  Leipzig  1875.  —  Euler:  „R6flexions 
sur  l'espace  et  le  temps."  (In  „Histoire  de  TAcad^mie  royale 
des  sciences  et  helles  lettres".  Berlin  1748,  S.  324.)  — 
Fichte,  I.  H.:  „Beitr."  =  „Beiträge  zur  Charakteristik  der 
neueren  Philosophie  zu  Vermittelung  ihrer  Gegensätze." 
Sulzbach  1829.  (S.  63—170.)  —  Fick:  „Wörterbuch  der 
indogermanischen  Grundsprache."  Göttingen  1868.  —  Plato: 
„Timaeos  und  Kritias".  Griechisch  und  deutsch.  Leipzig  1853, 
Engelmann.  (Hieraus:  Timaeos,  cap.  10  und  11.)  —  Plotinus: 
„De  rebus  philosophicis  libri  LIV  in  enneades  sex  distributi." 


186  Eugen  Posch: 

Ed. :  MarsiliusFicinus.  Saligniaci  1540.  (Hieraus :  Enneadis  m 
über  VII:  „De  aeternitate  et  tempore".)  —  Schmitz-Dümont : 
„Zeit  und  Raum  ....  abgeleitet  aus  dem  Satze  des  Wider- 
spruchs." Leipzig  1875.  —  Spinoza:  „Eth."  =  „Ethica." 
Ed.:  Ginsberg.  Leipzig  1875.  —  „Ep."  =  „Opera,  quae  super- 
sunt  omnia."  Ed.:  Paulus.  Jena  1802.  (Hieraus:  Epistola 
XXIX.)  —  Stiedenboth:  „Psychologie  .  .  .  ."  Berlin  1824, 
Bd.  I.  —  Stumpf:  „Über  den  psychologischen  Ursprung  der 
Raum  Vorstellung."  Leipzig  1873.  —  Trendelenburg:  „Lo- 
gische Untersuchungen."  Leipzig  1862,  H.  Aufl.,  Bd.  I. 
(Abschnitte  V — VL)  —  Ulrici:  „Compendium  der  Logik." 
Leipzig  1860.  (§§  31—33.)  —  Wundt:  „M.  Th."  =  „Vor- 
lesungen  über  die  Menschen-  und  Thierseele. "  Bd.  I.  Leipzig  1863. 


n.  Die  Zukunft. 

Begebnisse,  welche  nach  bisheriger  Erfahrung  gewisse 
andere  nach  sich  zogen,  m.  a.  W.:  im  Entstehen  begriffene 
Eigenschaftsverbindungen  sind  der  reale  Sachverhalt,  der  den 
Vorstellungen  von  Zukunft  zu  Grunde  liegt.  Da  das  aufsen 
wirklich  Vorhandene  bei  dieser  Begriffsbildung  nur  als  „An- 
zeichen" flir  ein  anderes  Ereignis  gilt^)  und  der  eigentliche 
Zielpunkt  und  Gegenstand  der  Zukunftsvorstellung  jenes  er- 
wartete, 2)  folglich  ein  dem  thatsächlichen  Weltinhalte  nicht 
angehöriges,  ihm  auch  niemals  einverleibt  gewesenes  Ereignis 
ist :  so  läfst  sich  behaupten  (wurde  auch  bereits  in  sehr  klarer 
Form  von  Volkmann  S.  18),  dafs  die  Zukunft  nicht  einmal  so 
viel  Anwartschaft  auf  Realität,  „Nachklang  von  Wirklichkeit" 
(ibid.)  besitzt,  wie  die  Vergangenheit.^)  Sie  ist  mehr  Sache 
der  Vermutung,  als  des  Wissens,  und  da  sich  ihre  Vorstellung 
nur  aus  Erinnerungsbildern  von  Erlebtem  abheben  läfst,  dem 
sie  infolge  (übersehener)  Ungleichartigkeit  der  damals  und  der 
jetzt  vorwaltenden  Erzeugungsum stände  meistenteils  ziemlich 
unähnlich  ausfällt,  während  dieses  Erinnerungsbild  selber  dem 
wirklichen  Eindrucke  abgeborgt  und  bei  treuem  Gedächtnisse 
gut  bewahrt  werden  konnte:  so  ist  erklärlich,  wenn  die  Vor- 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeityorstellung.  Ig7 

Stellung  des  Zukünftigen  im  Vergleich  zu  der  des  Vergangenen 
ihrem  Gegenstande  in  der  objektiven  Welt  meist  weniger 
vollkommen  entspricht  und  an  und  für  sich  auch  ver- 
schwommener und  undeutlicher  Natur  ist. 

^)  Auf  dem  beständigen  Vorhandensein  gewisser  Zukunfts-Vorboten 
in  der  Gegenwart  beruht  wohl  der  LBiBNiz-HKGBL'sche  Ausspruch:  die 
Gegenwart  gehe  schwanger  mit  der  Zukunft. 

*)  Das  Erwarten  als  psychische  Grundbedingung  einer  Zukunfts- 
vorstellung ist  zuerst  hervorgehoben  bei  Augustinüb,  der  das  Vorhandensein 
eines  gegenwärtigen  Seelenzustandes  (wie  solcher  zur  Möglichkeit  von 
Zukunfts-  wie  von  Vergangenheitsvorstellungen  gleich  unerläfslich  ist) 
zuerst  bei  Aussprüchen  über  beabsichtigte,  d.  h.  seitens  des  Sprechenden 
zu  realisierende  Zukunft  nachwies  und  sehr  richtig  „Praemeditation"  be- 
nannte (cap.  18).  Auch  die  oben  erwähnten  „Anzeichen",  erforderlich  als 
Anknüpfungspunkte  für  die  „expectatio"  bei  jenen  rein  spekulativen  Zu- 
kunftsurteilen, die  ein  von  auswärts  erwartetes  Geschehen  ausdrücken, 
entgingen  seiner  Aufmerksamkeit  nicht.  („Cum  ergo  videri  dicuntur  futura, 
non  ipsa,  quae  nondum  sunt,  id  est  quae  futura  sunt,  sed  eorum  causae 
vel  Signa  forsitan  videntur,  quae  iam  sunt.  Ideo  non  futura,  sed  praesentia 
sunt  iam  videntibus,  ex  quibus  futura  praedicantur  animo  concepta:  quae 
rursus  conceptiones  iam  sunt  et  eas  praesentes  apud  se  intuentur,  qui  illa 
praedicunt."  Ib.)  —  Der  augustinische  Gedanke  findet  sich  auch  auf  un- 
günstigen HEOBL^schen  Boden  (§  259)  verpflanzt,  wo  er  freilich  gar  keine 
weiteren  Früchte  trug.  In  seiner  vollen  Tragweite  wurde  jener  Gedanke 
zuerst  in  der  HEBBABx'schen  Schule  erfafst  und  hier  am  klarsten  von  Waitz 
ausgesprochen,  der  den  Eeim  jeder  Zukunfts Vorstellung,  das  Noch-nicht, 
von  Erwartungsgefühlen  („Urteilen  gespannter  und  getäuschter  Erwartung") 
ableitete. 

Nach  Waitz  (S.  584)  entsteht  uns  das  Gefühl  der  Erwartung  — 
die  Grundbedingung  jeder  Zukunftsvorstellung  —  in  dem  Falle,  „wenn 
eine  zur  Evolution  kommende  Vorstellungsreihe  durch  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung darin  aufgehalten  wird,  indem  uns  diese  zu  einem  längeren 
Verweilen  bei  einzelnen  Gliedern  der  Reihe  nötigt,  als  das  psychologische, 
von  den  jedesmaligen  äufseren  Veränderungen  unabhängige  Gesetz  ihres 
Ablaufs  verlangf*.  Da  die  „Evolution  einer  Vorstellungsreihe"  nichts 
anderes  ist,  als  der  Akt,  wenn  sich  dem  Vorstellen  ein  entsprechender 
Sinneseindruck  unterschiebt,  und  die  „psychologischen  Gesetze  ihres  Ab- 
laufs" eigentlich  gar  keine  Gesetze  sind,  sondern  nur  die  höchst  individuelle 
Geschwindigkeit  des  Vorstelluugsverlaufs,  d.  h.  Gelassenheit  oder  Unruhe 
des  Temperaments  bedeuten,  so  läfst  sich  behaupten,  daTs  obige  Darstellung 
nichts  als  eine  überflüssige  AUegorisierung  jener  trivialen  Wahrheit  sei, 
wonach  Erwartung  immer  entsteht,  „wenn  wir's  nicht  erwarten  können", 
d.  h.  wenn  die  Geschwindigkeit  unseres  Vorstellungsverlaufs  die  des  Welt- 
gangs übertrifft.  Diese  Ungleichartigkeit  der  beiderseitigen  Geschwindig- 
keiten erzeugt  nun  nicht  blofs  das  an  die  anticipierte  Vorstellung  ge- 
knüpfte Gefühl  von  Ungeduld  und  Erwartung,  sondern  überzieht  auch  das 
Dargebotene,  jene  „Anzeichen"  bevorstehender  Erfüllung  eines  Erwünschten, 


188  Eugen  Posch: 

in  unseren  Augen  mit  dem  Schleier  des  Langweiligen,  aus  welchem  sich 
später  das  Prädikat  der  Dauer  entwickeln  kann.  All  dies,  samt  der  hieraus 
hervorgehenden  rein  suhjektiven  Bedeutung  der  erwähnten  Prädikate,  ist 
auch  von  Waitz  richtig  erfafst,  wenn  er  behauptet  (S.  697),  es  entstünde 
der  Begriff  des  Während,  „wenn  wir  in  der  Auffassung  einer  Ver- 
änderungsreihe, deren  Fortschrittsgesetz  uns  bekannt  ist,  durch  eine  andere 
Beihe  psychischer  Vorgänge  unterbrochen  werden,  später  aber  uns  zu  jener 
wieder  zurückgeführt  finden".  Es  erschienen  „Lücken  und  Kuhepunkte", 
welche  nämlich  durch  unser  hastiges  Denken  entstehen  und  durch  „Urteile 
gespannter  und  getäuschter  Erwartung"  (=  noch  nicht !)  ausgefüllt  werden, 
„anfangs  als  objektive  Pausen,  als  wirkliche  Absätze  der  ineinander  über- 
gehenden Veränderungen  selbst"  (da  nämlich  „die  von  der  gespannten 
Erwartung  anticipierte  Vorstellung  auf  die  gegenwärtige  sinnliche  Wahr- 
nehmung bezogen  wird"),  indem  sie  uns  „als  Unterbrechungen  unserer 
Beobachtung  der  Erscheinungen  unmittelbar  gar  nicht  bemerkbar  werden 
können,  weil  es  nicht  diese  selbst  ist,  welche  wieder  von  uns  beobachtet 
wird"  (S.  583—586). 

Laut  Volkmanns  noch  mehr  allegorischer  Schilderung  ginge  das 
Prädikat  „Noch-nicht",  ebenso  wie  das  „Nicht-mehr"  (s.  o.),  hervor  aus 
dem  vergeblichen  Anstreben  einer  reproduzierten  Vorstellung  C  um  den 
Klarheitsgrad  des  gegenwärtigen  B,  wobei  der  Verfasser  dem  lernenden 
Subjekte  kein  anderes  Unterscheidungsmerkmal  für  die  Auswahl  der  frag- 
lichen zwei  Zeitprädikate  darzubieten  vermag,  als  den  Umstand,  dafs, 
„während  A  [das  Vergangene],  von  B  verdrängt,  dem  B  widerstrebt,  C, 
indem  es  B  zu  verdrängen  strebt,  gegen  B  anstrebt,  d.  h.  während  A  sinkt, 
trotzdem  es  sich  zu  behaupten  strebt,  C  sein  Ziel  zu  erreichen  nicht  ver- 
mag, trotzdem  es  die  Tendenz  hat  zu  steigen".  Nicht-mehr  und  Noch- 
nicht  seien  beide  „Prätendenten,  von  denen  jener  die  Krone  (=den 
höheren  Klarheitsgrad),  die  er  besessen,  verloren;  dieser  um  eine  Krone 
wirbt,  die  er  noch  nicht  getragen  hat"  (S.  13—14).  Dies  heifst  m.  a.  W., 
der  Mensch  hätte  den  ihm  schon  so  frühzeitig  geläufigen  Unterschied 
zwischen  Vergangenem  und  Zukünftigem  durch  das  jedenfalls  schwierig  zu 
erlangende  Bewufstsein  erlernt,  dafs  die  thatsächliche  Dunkelheit  einer 
vorliegenden  Vorstellung  (A  oder  C)  in  einem  Falle  durch  Verlust  eines 
innegehabten  Klarheitsgrades  entstanden  sei,  während  sie  im  anderen  Falle 
aus  vergeblichem  Bestreben  um  Neuerwerb  hervorgehe.  Auch  liegt  in 
dieser  Darstellung  ein  unverkennbarer  Zirkel,  da  dem  Lernenden  zugemutet 
wird,  für  seine  Entscheidung  (ob  „vergangen"  oder  „zukünftig")  zu  er- 
wägen, ob  ein  gewesener  oder  ein  niemals  innegehabter  Klarheitsgrad 
vorliege. 

Dafs  die  erste  Zielhandlung,  die  erste  selbstthätige  Herbeischaffung 
eines  Linderungsmittels  meines  gegenwärtigen  Unbehagens  vorhergängige 
Erfahrungen  über  Zweckdienlichkeit  dieses  Mittels  erheische,  d.  h.  Fälle 
Toraussetze,  wo  uns  dasselbe  in  einem  ähnlichen  Zustande  ohnmächtigen 
Leidens  ohne  eigenes  Dazuthun  zufällig  zukam,  m.  a.  W.  dafs  die  erste 
Zukunft  uns  von  aufsen  zugeführt  wird,  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel ; 
doch  dürfte  dieser  Umstand  keineswegs  gegen  eine  Theorie  wie  die 
GüYAu'sche  gekehrt  werden,  deren  Sinn  ist,  dafs  die  erste  Hinlenkung 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  ZeitTorstellung.  Ig9 

der  Aufmerksamkeit  auf  ein  Zukünftiges,  d.  h.  das  Anspinnen  der 
ZukunftsTor  st  eilung,  bei  und  durch  Zielhandlungen  stattfinde.  („Le 
futur  k  l'origine,  ....  c'est  ce  que  je  n'ai  pas  et  ce  dont  j'ai  d6sir  ou 
besoin,  c'est  ce  que  je  trayaüle  ä  po8s6der  .  .  .  L'avenir  n'est  pas  ce  qui 
vient  vers  nous,  mais  ce  yers  quoi  nous  allons.**  S.  32 — 33.)  Güyaü  scheint 
vielmehr  dem  gewichtigen  Sachverhalte  gerecht  werden  zu  wollen,  dafs 
eine  Fixierung  der  Aufmerksamkeit  auf  successive  Darbietungen  eines  von 
uns  unabhängigen  Weltlaufs,  also  quasi  Naturbeobachtuug,  viel  entwickel- 
tere Geisteskräfte  erfordert,  als  die  Eonzentrierung  der  Gedanken  auf  ein 
durch  eigene  Arbeitsbeteiligung  verwirklichbares  Ziel.  Primitive  Zukunfts- 
urteile mit  wollen  (auch  bei  äufseren  Geschehnissen,  s.  u.)  mögen  diese 
Theorie  bekräftigen;  die  Ausdrücke  Zukunft,  avenir,  ungarisch  jövö  etc., 
hingegen,  wo  ausdrücklich  die  passive  Vorstellung  des  Kommens  unter- 
läuft, die  Vermutung  rechtfertigen,  dafs  entwickeltere  Zukunftsvor- 
stellungen aus  jener  kontemplativen  Betrachtung  des  Naturlaufs  entsprungen 
seien.  Diesem  gemäfs  möge  man  die  im  Texte  befindlichen  Ausdrücke 
„Erwartung"  etc.  in  entsprechend  weiterem  Sinne  nehmen,  d.  h.  auch  auf 
ein  „von  mir,  von  meiner  Körperkraft  Erwarten"  ausgedehnt  denken.  — 
Der  Umstand,  dafs  die  anorganische  Natur  seitens  des  naiven  Beschauers 
gleichfalls  als  „wollend,  strebend,  beabsichtigend"  angesehen  wird,  mag 
der  Übertragung  der  —  ursprünglich  nur  Zielvorstellungen  zukömmlichen  — 
Zukunftsprädikate  auf  blofs  abzuwartende  äufsere  Ereignisse  Vorschub 
geleistet  haben.  Gutau  (S.  47)  scheint  sich  diese  Übertragung  durch  die 
im  „d6sir"  keimhaft  enthaltene  „id6e  de  possibilitö"  (Möglichkeit  des  ge- 
schehen Sollenden)  zu  denken,  welche  „id^e"  sich  dann  zu  einem  „ant^c^- 
dent"  läutert,  d.  h.  zu  „quelque  chose  d'id6al  et  d'imagin6  (im  weitesten 
Sinne)  qui  pr6cede  Papparition  vive  du  r6el". 

^)  ScHELLiNO  nennt  sie  deshalb,  nämlich  weil  sie  die  Haupteigen- 
Bchaft  des  Zeitstromes,  seine  Irrealität,  am  deutlichsten  zur  Schau  trüge, 
„das  Zeitlichste  der  Zeit".  Seine  hier  wie  sonst  ziemlich  kraus  geratene 
Schilderung  lautet:  „Das  in  der  Zeit  eigentlich  Zeitliche  ist  die  Zukunft. 
Denn  die  Zukunft  ist  das,  wodurch  das  Bejahende  mit  seinem  Bejahten" 
(soll  vielleicht  heifsen:  Subjekt  mit  dem  Prädikat),  „die  Möglichkeit  mit 
ihrer  Wirklichkeit  verbunden  wird;  der  Begriff  derselben  beruht  also  am 
meisten  auf  dem  Gegensatz  dieser  beiden"  (Aph.  214).  Des  ferneren 
meint  er,  „da  .  .  .  die  Zukunft  lediglich  denkbar  und  offenbares  Produkt 
blofser  Imagination"  sei,  das  „einzig  Beeile"  an  ihr  in  einem  „Bande  des 
Bejahenden  mit  dem  Bejahten,  d.  h.  in  dem  Nichtzeitlichen"  (Aph.  215) 
entdeckt  zu  haben.  Ähnliche  Bänder  erblickte  er  auch  an  der  Vergangen- 
heit und  der  Gegenwart  (Aph.  220,  224),  von  denen  er  erstere  wegen  ihrer 
Nichtzeitlichkeit  und  seiner  äonensüchtigen  Theorie  zu  Liebe  geradewegs 
mit  Ewigkeit  identifizierte  (vergl.  S.  72  dies.  Zeitschr.). 

Aus  den  Entstehungsbedingungen  der  Zukunftsvorstellimg 
ergiebt  sich,  dafs  dieselbe  jedenfalls  erst  nach  der  des  Ver- 
gangenen kann  Wurzel  gefafst  haben,  ^)  und  zweitens,  dafs 
for  die  Bildung  derselben  die  betonten  Empfindungen,  als 
natürlichster   Gegenstand   der  Erwartung  und   Befürchtung, 


190  Eugen  Posch: 

des  Anstrebens  und  Vorbauens   von   höchstem   Belang   sein 
müssen  (ebenso  wie  bei  der  Vergangenheits Vorstellung). 

')  Laut  Waitz  (S.  585),  weil  der  Begriff  des  Noch-nicht  eine  „be- 
festigte Vorstellungsreihe"  erfordert. 

Um  Mifsverständnissen  vorzubeugen,  sei  hier  bemerkt, 
dafs  wir  die  Festlegung  zweier  so  grundverschiedener  Zeit- 
kategorien, wie  die  der  Vergangenheit  und  der  Zukunft, 
keineswegs  auf  den  allerdings  geringen  Unterschied  zwischen 
dem  blofsen  Quäle,  den  Tonförbungen  eines  Erwartungs-  und 
Mangelgelühls  (der  Mangel  Empfindende  hat  die  Fortsetzung 
des  entschwundenen  Angenehmen  doch  gewifs  erwartet,  vergl. 
Waitz  S.  589)  zurückführen,  sondern  den  ferneren  Verlauf 
der  beiderseitigen  Apperceptionen,  wenn  es  sich  um  Ver- 
gangenes und  wenn  um  Zukünftiges  handelt  (Bemerkung  von 
Anzeichen  in  einem  Falle,  und  Mangel  solcher  im  anderen), 
d.  h.  die  Entstehungsumstände  jener  Gefühle  verschieden 
genug  halten,  um  Verwechselung  der  beiden  Begriffe  seitens 
des  Sprechenden,  die  vielleicht  niemals  vorkommt,  hintanzu- 
halten.  Wo  es  fraglich  werden  sollte,  ob  das  Erwartete  nicht 
vielleicht  schon  gewesen  ist,  da  bieten  sich  dem  Zweifler 
genug  äufsere  Umstände  und  Fingerzeige  zur  Entscheidung 
dar  (z.  B.  Mangel  der  notwendigen  Folgen  des  Erwarteten, 
und  bei  geistig  Vorgeschritteneren:  die  Möglichkeit  einer 
Selbstbeobachtung,  nämlich  der  Besinnung  auf  die  bis  zum 
Eintritt  des  Zweifels  durchlaufenen  Seelenzustände). 

GüYAü  (S.  26)  behauptet  das  Gegenteil.  Seine  Berufung  auf  Vor- 
kommnisse bei  psychophysischen  Experimenten,  wo  ein  seitens  der  Ver- 
suchsperson gespannt  erwarteter  Eindruck  (==  Zukunft)  irrtümlich  als  be- 
reits eingetreten  («=  vergangen)  signalisiert  wird,  scheint  mir  jedoch  in 
der  gewünschten  Kichtung  nicht  beweiskräftig  zu  sein,  da  in  den  Fällen 
Vorzeitiger  Registrierung  stets  nur  eine  unrichtige  Ausdeutung  eines  dem 
erwarteten  Eindrucke  in  irgend  welcher  Beziehung  ähnlichen  oder  mit 
ihm  verknüpft  gedachten  Nebeneindruckes  vorliegt,  weshalb  diese 
Fälle  nur  jenen  gewöhnlichen  Begebenheiten  des  Alltagslebens  an  die 
Seite  zu  stellen  sind,  wenn  ich  ein  während  meiner  Erwartung  eines  be- 
stimmten Besuches  wahrgenommenes  Geräusch  irrtümlich  für  Ankunft 
jenes  gewissen  Freundes  ausdeute. 

Auch  sei  noch  erwähnt,  dafs  der  Bannkreis  der  Ver- 
gangenheitsvorstellung ein  bedeutend  weiterer  ist,  als  der  der 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeityorstellung.  191 

Zukunft,  da  eigentlicli  sämtliche  Vorstellungen,  die  unser  Ge- 
müt, unabhängig  von  äufserem  Gegebenen,  bewegen  (z.  B. 
Phantasiegebilde),  weil  füglich  —  ihren  Baustücken  nach  — 
sinnlichen  Ursprungs,  das  Beiwort  der  Vergangenheit  wohl 
verdienen,  wenn  auch  nicht  immer  fuhren;  wogegen  das  Prä- 
dikat des  Zukünftigen  nur  jenen  unserer  Vorstellungskomplexe 
gebührt,  an  die  sich  begründete  Erwartung  knüpft. 

Was  die  Formen  des  Zeitworts  in  Zukunftsurteilen 
anbelangt,  so  dürfen  wir  als  Ergebnis  indogermanischer  Sprach- 
wissenschaft hinstellen,  dafs  es  ureigentlich  Zukünftiges  be- 
zeichnende Exponenten  ebenso  wenig  giebt,  wie  solche  für 
Vergangenes.  Andererseits  läfst  sich  ein  geeignetes  Substrat 
für  den  Exponenten,  aufgefafst  als  Bezeichnungsmittel,  hier 
viel  leichter  ausfindig  machen,  als  bei  Vergangenheitsurteilen, 
da  nämlich  das  Futurum  in  den  indogermanischen  Sprachen, 
wo  nicht  durch  blofs  präsentiale  Formen  vertreten,  ^)  beinahe 
ausschlief slich  durch  Umschreibung  mit  Hilfszeitwörtern^)  ge- 
bildet wird,  welche,  wie  gehen,  werden,  anfangen,  wollen, 
haben  zu  .  .  .  etc.,  sehr  klar  die  äufsere,  dem  erwarteten 
Ereignis  vorhergängige  Sachlage  (s.  „werden")  oder  anderseits 
den  Seelenzustand  des  Wartenden^)  als  jenes  gesuchte  Substrat 
(Gegenstand  der  Bezeichnung  für  den  Futural-Exponenten) 
erkennen  lassen.  Die  Sprache  erfafst  das  Zukünftige,  ebenso 
wie  das  Vergangene,  an  seinen  in  die  Gegenwart  hereinreichen- 
den Fäden;  sie  läuft  ihm  nicht  nach,  noch  greift  sie  ihm 
vor,  —  ein  wichtiger  Fingerzeig  für  den  Zeitpsychologen, 
nicht  dem  entschwundenen  Eindrucke  nach,  noch  dem  Zu- 
künftigen entgegen  zu  spähen,  wenn  er  was  lernen  will, 
sondern  hineinzublicken  in  die  Seele  des  erinnerungs-  und 
erwartungsvollen  Menschen. 

^)  So  die  lateinischen  futura  auf  -bo,  falls  b  blofses  Hiatusfüllsel  ist. 

^  Als  solche  erscheint  auch  der  ursprünglich  modal-potentiale  [nicht 

temporal-futurale ^)]  Ausdruck  mit  -ao)  im  Griechischen,^)  entsprungen  aus 

^)  Vergl.  Tobleb:  „Die  Ansicht,  dafs  die  Tempora  (doch  wohl  das 
Präsens  ausgenommen)  aus  ursprünglichen  Modi  erwachsen  seien,  kann 
sich  am  ehesten  auf  das  Futurum  stützen,  welches  auch,  wo  es  in  relativ 
einfacher  Form  vorhanden  ist,  d.  h.  nicht  überhaupt  fehlt  oder  umschrieben 


192  Eugen  Posch: 

sanskr.    -syami  =  as   [verb.  subst.]  +  ya  [Potential -Exponent,  wo  ya 
vielleicht  =«=  y  „wünschen"  +  a,  ein  Bindevokal.    Bopp,  §  670 — 671]. 

^)  Je  parler-ai  =  j'ai  [nämlich:  le  dessein]  ä  parier;  offenbar  im 
Englischen:  I  shall  say,  he  will  say. 

Die  innigere  Verwandtschaft  der  beiden  Zeitkategorien  Vergangen- 
heit und  Zukunft  im  Vergleich  zur  Gegenwart  scheint  bereits  in 
jener  Platonischen  Gruppierung  ausgedrückt,  wonach  die  ersterwähnten 
Zwei  nichts  als  „abgeleitete  Formen"  der  Zeit  selbst  seien,  (to  r  ^v  xb 
T^axai  xQovov  yeyovdta  stöi],  cap.  10.)  Dafs  diese  Verwandtschaft  in 
Irrealität  derselben  bestehe,  ist  zuerst  bei  Aristoteles  ausgesprochen 
(vergl.  S.  53 — 54  dies.  Zeitsch.).  Noch  klarer  liegt  das  Bewufstsein  ihrer 
Zusammengehörigkeit  den  Forschungen  eines  Augustinus  („duo  .  .  .  illa 
tempora,  praeteritum  et  futurum  quomodo  sunt?"  —  cap.  14)  oder  Con- 
DiLLAC  nach  den  psychologischen  Entstehungsquellen  für  jene  beiden  Zeit- 
teile zu  Grunde.  Selbstverständlich  auch  denen  der  gesamten  HERBABT'schen 
Schule.  Vergl.  oben  in  den  Citaten  gewisse  Behauptungen,  die  gemeinsam 
auf  Zukunft  und  Vergangenheit  ausgedehnt  sind. 


ni.  Die  Gegenwart. 

Die  Lehre  vom  Entstehungsgang  unserer  Erkenntnis, 
die  ihre  Forschungen  naturgemäfs  bei  den  einfachsten  Be- 
griflfsgebilden  beginnen  mufs,  braucht  sich  durch  Nebenvor- 
stellungen von  Flüchtigkeit,  Punkt-  und  Grenzähnlichkeit  (wie 
solche  dem  hier  fraglichen  Begriffe  anhaften  und  u.  a.  von 
Leibniz,  N.  A.,  S.  131,  gegenüber  der  LocKE'schen  Definition 
des  Augenblicks  hervorgehoben  wurden  und  [vergl.  Guyau 
S.  30,  64]  jedenfalls  spätere  Hinzufügungen  sind)  nicht  be- 
irren zu  lassen,^)  und  mag  die  Gegenwart  getrost  mit  dem 
unbefangenen  Auge  des  Kindes  für  „jene  weite  Welt  der  Ge- 
nüsse und  Belehrung  da  draufsen"  ansehen,  welche  der  Auf- 
fassung gemächlich  stand  hält  und  in  der  Kinderseele  alles 
eher  als  (ScHOPENHAUEB'Sche  I,  S.  403)  Ideen  von  Vergäng- 
lichkeit (dafs  die  Gegenwart  „ein  stetes  Sterben,  ein  stetes 
Hinstürzen  in  die  tote  Vergangenheit"  sei)  erweckt.  Sie  ist 
also  auf  dieser  Stufe  mit  Objektivität,  Vorstellungssubstrat, 
Realität   (noch  nicht  mit  Dauer)   gleichbedeutend,   wie  sich 


wird,   sich  als  spätere  Bildung,   aus  dem  Konjunktiv   oder  Optativ   ent- 
nommen, zu  erkennen  gieht." 

2)  Inwiefern  das  ao)  ursprünglicher  Ausdruck  für  ,,Darauflosgehen*' 
sein  soll,  wie  Yolkuavs  (S.  18)  will,  ist  nicht  erfindlich. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  193 

denn  auch  an  Metaphysischem  nicht  viel  mehr  Ober  Gegenwart 
beibringen  läfst,  als  dafs  sie  der  einzig  rechtmäfsige  (zum 
mindesten  der  ursprünglichste)  Besitzer  und  —  in  ihrem 
Eindrucke  auf  uns  —  der  Entstehungsgrund  des  Realitäts- 
prädikates ist,  welches  von  ihr  und  nur  im  Hinblick  auf  sie 
auch  auf  vergangene  Eindrücke  übertragen  wurde.  ^) 

^)  AxiBTOTBun'  Einwendungen  wider  beide  der  gegenteiUgen  An- 
schauungsweisen des  Jetzt  (ähnlich  denen  des  Sextüb  Emfibicus  s.  u.) 
liegt  statt  Yermittlungstendenzen  nur  die  echt  skeptische  Absicht  zu 
Grunde,  an  der  angeblich  widerspruchsvollen  Natur  dieses  einen  Zeitteiles 
das  irreelle,  blofs  schattenhafte  {/lokig  xal  afAvSgmq,  IV,  cap.  10)  Wesen 
der  Zeit  selbst  darznthun.  Er  behauptet,  wohl  unter  Heranziehung  ge* 
wisser  ^^wxsgixol  Xoyoi  (ib.):  1.  Die  Dauerhaftigkeit  des  Jetzt  (dafs  es 
fv  xtd  tavxov  asl  öiafihei,  ib.)  sei  unmöglich,  weil  in  diesem  Falle  auch 
Ereignisse  der  nächst  zukünftigen  Jahrtausende  in  dasselbe  miteinbegriffen, 
d.  h.  Jetzt"  Torhanden  genannt  werden  dürften.  2.  Anderseits  sei  auch 
ein  fortwährender  Wechsel  (aXlo  xal  aXXo,  ib.)  der  Jetzt-e  ausgeschlossen, 
da  der  Zeitpunkt  des  unTermeidlichen  Verschwindens  dieser  Zeitprodukte 
unbestimmbar  sei,  indem  das  frühere  Jetzt  a)  weder  so  lange  es  gegen- 
wärtig ist,  b)  noch  in  dem  späteren  Jetzt-e  yerschwinden  könne,  weil  die 
letztere  Annahme  eine  der  Erfahrung  widerstreitende  punktmäfsige  (nicht 
stetige)  Anreihungsweise  der  Jetzt-e  ergäbe.  (?arce>  yccQ  aövvatov  ixof^'^^ff 
slvui  äXkijküfv  tä  vvv,  SaneQ  (ftiyfji^  atiyfi^g,  ib.)  —  Bei  1.  blieb  unbe- 
achtet, dafs  gröfsere  Zeiträume  doch  nur  auf  Grund  ihrer  inneren  Gleich- 
förmigkeit und  ihres  Gegensatzes  zu  einem  Vorherigen,  folglich  nur, 
wenn  sie  überblickt  werden  können  —  was  bei  Zeitabschnitten, 
die  aus  Gegenwärtigem  und  Zukünftigem  zusammengesetzt  gedacht  werden, 
offenbar  nicht  der  Fall  ist  — ,  den  Namen  „Gegenwart"  annehmen.  Man 
bedenke  den  Ausdruck  „heutzutage"  oder  Schopbnhauebs  gerügte  „Jetzt- 
zeit". Bei  2.  b)  ist  übersehen,  dafs  die  Augenblicke,  aus  denen  Dauer- 
eindrücke aufgebaut  scheinen,  keineswegs  durch  objektive  Taktstriche  an 
den  letzteren  bezeichnet  zu  sein  brauchen  (yergl.  Humb,  S.  139 — 140),  um 
angenommen  werden  zu  dürfen. 

Des  Sbxtüs  Ekpiricus  ähnliche  Einwendungen  —  hervorgegangen 
aus  einer  Yermengung  der  zwei  möglichen  Bedeutungen  des  Wortes 
„Gegenwart"  —  lauten:  1.  Die  Gegenwart  könne  nicht  teilbar  sein  und 
zwar,  weil  sie  in  diesem  Falle  a)  entweder  aus  lauter  kürzeren  Gegen- 
warten bestehen  müfste  (was  wegen  des  bekannten  Übergehens  jeglicher 
Gegenwart  in  Vergangenheit  ausgeschlossen  ist),  oder  aber  b)  aus  einem 
vergangenen  und  einem  zukünftigen  Teile  müTste  zusammengesetzt  sein, 
was  wegen  der  Nichtexistenz  dieser  Zeitstücke  wieder  unmöglich  ist,  be- 
ziehungsweise zur  Nichtexistenz  der  Gegenwart  selber  führen  würde. 
2.  Anderseits  sei  die  Gegenwart  auch  nicht  unteilbar,  da  in  ihr  doch  an- 
erkanntermafsen  verschiedene  Ereignisse  stattfinden  (z.  B.  Eisen  zum 
Schmelzen  kommt),  was  bei  blofs  punktueller  Ausdehnung  derselben  un- 
möglich wäre.  Aufserdem  könnte  sie,  wenn  unteilbar,  weder  Anfang, 
YlerteljahrsBchrift  f.  wlBsenschaftl.  Fhilosopliie.    XXIII.  2.  13 


294  Eugen  Posch: 

noch.  Ende,  noch  auch  eine  Mitte  hahen,  d.  h.  sie  würde  üherhaupt  nicht 
existieren  (Pyrrh.  144-146,  Phys.  198). 

Das  BewuTstsein  der  Zulässigkeit  zweier  verschiedener  Auffassungs- 
arten  der  Gegenwart  liegt  auch  der  Bemerkung  des  Apollodobus  und 
PosinoNiüs  (bei  Stobabus)  zu  Grunde,  welche  Philosophen  die  Benützung 
des  Ausdruckes  Jetzt  in  Fällen,  wo  nicht  Zeit  grenze  gemeint  ist,  als 
eine  blofse  Bedeutungserweiterung  („ampliori  comprehensione")  hinstellten 
und  verteidigten.  Desgleichen  erwiderte  Damasciüs  dem  Abistotbles: 
das  Jetzt  sei  teilbar,  sofern  es  als  Zeitbestandsstück  gilt,  hingegen  un- 
teilbar, wenn  als  blofse  Zeitgrenze  betrachtet,  (xov  xQovov  xä  fihv  atg 
Tcigaza  xa  vvv  ccfjisQrj  iaxi,  xä  Sh  dg  /jtsQtj  ovxhi,  Simpl.  183 — 184.  — 
Vergl.  letzteres  bei  Abistoteles:  als  Zeit  grenze  gefafst  könne  es  nicht 
zugleich  Zeit  sein.  IV,  cap.  11.  —  Ähnliches  verficht  Lbibniz  gegen  Locke 
betreffs  des  Augenblicks.    S.  o.) 

Hbgel  machte  sich  wenig  Skrupel  über  die  Frage,  ob  das  dauerhafte 
Jetzt  aus  dem  punktmäfsigen,  oder  dieses  aus  jenem  und  in  welcher 
Weise  es  hervorgehend  gedacht  werden  könne.  ,  Er  läfst  (§  259)  das 
flüchtige  Jetzt  einfach  „als  seiend  fixieren^,  um  „die  endliche  (Gegenwart" 
daraus  zu  erhalten.  Dafs  ihm  übrigens  das  punktmafsige  Jetzt  als  die 
ursprünglichere  der  beiden  Vorstellungen  gegolten  habe,  glaube  ich  aus 
folgender  Stelle  entnehmen  zu  können,  —  soweit  ich  nämlich  solches 
Deutsch  zu  verstehen  vermag:  „Das  unmittelbare  Verschwinden  dieser 
Unterschiede"  (nämlich  der  drei  „Dimensionen" :  Vergangenheit,  Gegenwart 
und  Zukunft)  „in  die  Einzelheit  ist  die  Gegenwart  als  Jetzt,  welches 
als  die  Einzelheit  ausschliefsend  und  zugleich  schlechthin  kontinu- 
ierlich in  die  anderen  Momente,  selbst  nur  dies  Verschwinden  seines 
Seins  in  Nichts  und  des  Nichts  in  sein  Sein  ist"  (ib.). 

2)  Diese  Auffassungsart  dürfte  wohl  jene  LiEBMAira'sche  (S.  90 — ^91) 
Gegenüberstellung  der  Gegenwart  mit  den  anderen  zwei  Zeitphasen  ver- 
anlafst  haben,  in  welcher  für  erstere  ungerechtfertigterweise  ein  Sein 
beansprucht  wird,  was  wohl  für  ihr  Substrat,  aber  keineswegs  für  sie 
selber  gilt,  die  doch  im  heutigen  Sinne,  d.  h.  mit  all  den  oben  (von  Leibniz) 
berührten  Nebenvorstellungen  ausgerüstet  gedacht  werden  mufs. 

Schopenhaubbs  Ausdruck:  Gegenwart  allein  sei  „die  Form  des 
Lebens  oder  der  Eealität"  (I,  S.  363)  ist  eine  durch  EANT'sche  Terminologie 
verundeutlichte  Fassung  jenes  wertvollen  positivistischen  Gedankens,  der 
in  voller  Klarheit  auf  Seite  365  des  Erstgenannten  erscheint:  „reale  Ob- 
jekte giebt  es  ...  .  nur  in  der  Gegenwart;  Vergangenheit  und  Zukunft 
enthalten  blofse  Begriffe  und  Phantasmen".  (Eine  vorhergängige  Er- 
klärung: „In  Wahrheit  ....  macht  ....  nur  der  Berührungspunkt  des 
Objekts,  dessen  Form  die  Zeit  ist,  mit  dem  Subjekt  ...  die  Gegenwart 
aus"  —  enthält  keine  Abschwächung  dieses  Gedankens,  wenn  sie  in  dem 
Sinne  genommen  wird:  nur  durch  die  erwähnte  Berührung  könnten  Gegen- 
wartsbegriffe entstehen.) 

Mit  dem  hier  beregten  Gedanken  hängt  wohl  die  Streit- 
frage zusammen,  ob  die  Gegenwart  ein  Zeitteil  sei  oder  keiner. 
Ihre  Lösung  lautet:    Das,   was  ursprünglich  blofs  Ursache 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  ^95 

der  Zeitvorstellung,  d.  h.  der  Ausbildung  einer  Zeitreihe  war 
(nämlich  die  thatsächliche  Empfindung,  als  notwendiges  Gegen- 
stück zum  Bewufstwerden  eines  Andenkens  als  solchen)^  wird 
später  bei  bereits  entwickelter  Zeitvorstellung  mit  in  dieselbe 
als  Bestandteil  der  Zeitreihe  aufgenommen. 

Aristotblb»  verficht  ein  gegenseitiges  AbhängigkeitsyerhältniH 
zwischen  Gegenwart  und  Zeit  und  vergleicht  es  mit  dem  zwischen  Be- 
wegtem und  Bewegung  (ro  (psQOfiBvov  und  ^  <poQa\  Einheit  (/lovag)  und 
Anzahl  (vergl.  seine  Zeitdefinition,  IV,  cap.  ll).  An  anderer  Stelle  (ib. 
cap.  10):  Gegenwart  sei  deshalb  kein  Zeitteil,  weil  die  Zeit  nicht  aus 
lauter  Gegenwarten  besteht. 

Die  Unhaltbarkeit  der  GuYAu'schen  Hypothese,  wonach  die  gesamte 
Zeitvorstellung,  nämlich  alle  drei  Phasen,  von  der  Thatsache  des  mensch- 
lichen Handelns  ausginge  („en  d^sirant  et  enagissant  dans  la  directiou 
de  nos  dßsirs,  nous  cr^ons  k  la  fois  l'espace  [!]  et  le  temps" ;  S.  46),  bekundet 
sich  am  besten  durch  die  Verlegenheit  ihres  Urhebers  bei  der  Gegenwarts- 
vorstellung, welche  gemäfs  seiner  Hypothese  aus  dem  Handeln  heraus 
zu  erklären  seinem  besseren  Bewufstsein  widerstrebte,  demzufolge  zur 
Möglichkeit  der  Gegenwartsvorstellung  schon  die  thatsächliche  Em- 
pfindung eines  irgendwie  Gegebenen  (der  „contuitus",  bereits  bei  Au- 
ousTiKüs  cap.  20)  Ausreicht,  das  so  Empfundene  also  getrost  von  uns  un- 
abhängiger, z.  B.  gegenständlicher  Natur  sein  könne,  und  keineswegs  eine 
unserer  selbstbeobachteten  Handlungen  zu  sein  braucht.  Aus  dieser  Klemme 
trachtet  nun  der  Verfasser  mit  Hilfe  der  Etymologie  herauszukommen, 
welche  ihm  zum  Glücke  gewährleistet,  dafs  „actualit6"  [d.  h.  das  wirklich 
Empfundene]  von  ,,action"  herstammt  (s.  die  Zusammenstellung  dieser 
beiden  Worte  in  der  Stelle  S.  29 :  „tout  d'abord,  sous  l'id^e  de  präsent,  se 
trouve  Celle  d'actualit6,  d'action  .  .  .**),  womit  die  Hypothese  von  einem 
Mitobwalten  der  „action"  bei  dem  Gegen wartsbegriife  gerettet  —  sein  möchte. 

Herbarts  treffender  Ausspruch,  dafs  die  Succession  im 
Vorstellen  noch  keine  vorgestellte  Succession  sei  (Lehrb.  174), 
mit  dem  er  die  Blicke  auf  die  Bedingungen  und  Umstände 
der  Auffassung  des  faktisch  in  der  Zeit  Gegebenen  hinlenken 
wollte,  erscheint  besonders  bei  dem  Gegenwartsbegriffe  ge- 
rechtfertigt, da  es  hier  klar  am  Tage  liegt,  dafs  durch  blofses 
„Vorlegen"  nichts  erklärt  wird,  indem  thatsächliches  Gegeben- 
sein eines  Objektiven,  die  blofse  Betrachtung  (contuitus)  des- 
selben, noch  keineswegs  den  Begriff,  das  Bewufstsein  der 
Verschiedenheit  dieses  Eindrucks  von  Vergangenem  und  Zu- 
künftigem, d.  h.  jene  Vorstellungen  erzeugen  kann,  die  einem 
seines  Namens  werten  Begriffe  von  Gegenwart  auch  für  den 
Laien  untrennbar  anhaften. 

13* 


196  Eugen  Posch: 

ScHSLUKG  nennt  die  Gegenwart  yielleicht  deshalb,  d.  h.  weil  ihr 
Begriff  nur  durch  Yergleichung  des  Empfundenen  mit  Erinnerlichem  und 
Erwartetenl  entstehen  konnte,  die  „Einheit  von  Vergangenheit  und  Zu- 
kunft". Hieran  knüpft  sich  ihm  die  Folgerung,  es  könne  „das  wahrhafte 
Lebendige  in  der  Zeit"  nur  in  der  Gegenwart  herrortreten,  „wie  das 
eigentümliche  Keale  im  Kaume  nur  die  dritte  Dimension,  als  die  Synthese 
der  beiden  ersten  ist"  (Aph.  219).    Worte,  Worte! 

DaXs  das  Unterscheidungsmerkmal,  dessen  Erfassung  für 
das  Festwerden  eines  —  gleichwohl  nur  rudimentären  — 
Gegenwartsbegriflfes  ausschlaggebend  ist,  durch  das  Gewahr- 
werden jenes  „Gefühles  organischen  ErgriflFenseins"  (Hob- 
wicz)  —  jenes  andersartigen  Gefuhlstones  beim  Empfinden^ 
als  bei  blofsem  Vorstellen  —  beigebracht  werde,  ist  bereits 
oben  erwähnt  (vergl.  S.  62—65). 

Wenn  das  Vorkommen  gewisser  perfektiver  und  futuraler 
Formelemente  am  Zeitworte  noch  nicht  als  Beweis  fiar  eine 
bei  dem  Sprecher  erfolgte  Ausbildung  der  betreffenden  Zeit- 
kat^gorien  im  heutigen  Sinne  dienen  konnte,  wie  viel  weniger 
kann  die  thatsächliche  Verwendung  von  Präsentialformen,  die 
sich  bekanntlich  durch  Mangel  jedwedes  Zeitexponenten  aus- 
zeichnen, ^)  als  Anzeichen  eines  errungenen  Gegenwartsbegriffs 
gelten!  Der  Umstand,  dafs  der  blofse  Verbalstamm,  das 
sprachliche  Äquivalent  des  blofsen  Empfindungsquales,  zugleich 
Präsens  ist,  beweist  zur  Genüge,  dafs  diese  Form  einer  Sprach- 
bildungsepoche  entstammt,  wo  der  gegenwärtige  Eindruck  nur 
zur  Benennung  seines  qualitativen  Inhalts  anregte  und  das 
zeitliche  Moment,  nämlich  Vergänglichkeit  oder  Dauer  des 
Gegebenen  —  auch  für  den  heutigen  Zuschauer  mehr  oder 
weniger  zurückgedrängt  — ,  nicht  zum  Bewufstsein  gelangte. 

Jedenfalls  darf  man  mit  einfachem  Hinweis  auf  den 
Umstand,  dafs  bei  Vorbehalt  des  exponentenlosen  Ausdrucks 
für  eine  einzige  Zeitform  ein  Mifsverständnis  ausgeschlossen,, 
ein  Präsentialexponent  somit  „überflüssig"  sei,  über  den  be- 
regten Sachverhalt  nicht  hinwegeilen,  da  für  den  Psychologen 


^)  Ausnahmefälle,  wie  die  erweiterten  Stämme  auf  -sc,  -n  und  -io 
im  Lateinischen  nascor,  tango,  capio  (Wurzel:  nat-,  tag-,  cap-), 
sind  kein  Einwurf,  da  ihr  Auftreten  im  Imperfektum  den  angehlichea 
Präsentialwert  dieser  Bildungssilben  zweifelhaft  erscheinen  läfst. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.         197 

eben  das  interessant  ist,  warum  gerade  die  Gegenwart  von 
den  drei  Zeitphasen  für  eine  solche  indirekte  Bezeichnungsart 
auserkoren  wurde.  Hierauf  läfst  sich  nur  antworten:  weil  bei 
dem  Gegenwartsurteil  jenes  hinzukömmliche  Moment  bei  Apper- 
ception  des  prädikativen  Ereignisses  fehlt,  dem  zuliebe  der 
Verbalstamm  bei  den  anderen  zwei  Zeitphasen  in  irgend 
welcher  Weise  abgeändert  werden  mufste :  nämlich  das  Gefühl 
des  Mangels  und  der  Erwartung.  Der  blofse  Verbalstamm 
ist  —  als  Interjektion  aufgefafst  —  Gefühlsäquivalent  des 
rein  qualitativen  Eindrucks,  gilt  folglich  nur  einem  Zuhörer 
mit  voll  ausgebildeter  Zeitvorstellung  und  nicht  dem  naiven 
Sprecher  selbst  für  gleichzeitigen  Ausdruck  eines  Jetzt;  die 
Momentan-  (Perfektiv-)  Form  ist  einheitliche  Empfindungs- 
äufserung -für  qualitativen  Eindruck  plus  Mangelgeflihl,  ebenso 
wie  die  Futural-Form  für  qualitativen  Eindruck  plus  Er- 
wartung. Wenn  somit  das  Gegenwartsurteil  um  eine  Apper- 
ception  ärmer  ist,  als  die  zwei  anderen,  so  läfst  sich  behaupten, 
was  an  und  für  sich  schon  plausibel  klingt,  dafs  es  im  Ver- 
gleiche zu  letzteren  älteren  Ursprungs  ist,  was  selbst  bei 
Veranschlagung  der  (nicht  bis  zu  einheitlichem  Ausdruck  ge- 
diehenen) chinesischen  Perfekt-  und  Futurumbildungen  (uo 
hio-kuo  =  ich  habe  gelernt,  s.  o.S.64;  uo  jao-hios*»  ich  werde 
[=  will]  lernen)  wahrscheinlich  bleibt,  da  kürzere  Apper- 
ceptionsprozesse  früher  entstanden  sein  müssen,   als  längere. 


IV.  Die  Gleichzeitigkeit. 

ScHOPENHAUEBs  Behauptung,  wonach  die  Gleichzeitigkeit 
nicht  Zeit-,  sondern  wenigstens  zur  Hälfte  Eaumkategorie  sei, 
ist  besserer  Unterstützung  bedürftig  und  auch  fähig  (hierüber 
w.  u.),  als  diejenige  ihres  Verfechters  war  („sind  zwei  Dinge 
zugleich  und  doch  nicht  eins,  so  sind  sie  durch  den  Raum 
verschieden;  sind  zwei  Zustände  eines  Dinges  zugleich  — 
z.  B.  das  Leuchten  und  die  Hitze  des  Eisens  — ,  so  sind  sie 
zwei  gleichzeitige  Wirkungen  eines  Dinges,  setzen  daher  die 
Materie  und  diese  den  Eaum  voraus,"  I,  S.  601),  welche  unter 
Hinweis    auf    gleichzeitiges    Vorkommen    rein    qualitativer 


198  Eugen  Posch; 

Empfindungen  (z.  B.  Kopf-  und  Zahnschmerz)  u.  a.  auch 
seitens  Etpfebths  (S.  49)  begründete  Mifsbilligung  fand. 
Vorderhand  möge  sie  jedoch  im  Hinblick  auf  ihre  Benennung 
als  Zeitkategorie  behandelt  werden. 

Die  Ausbeute  an  metaphysischem  Material,  welche  sie 
gewährt,  ist,  wie  übrigens  auch  bei  den  bisherigen  Zeitkate- 
gorien, eine  ziemlich  spärliche.  Die  objektive  Thatsache 
nämlich,  die  hier  zu  Grunde  liegt  (dafs  stets  mehr  als  eine 
Verbindung  —  Komplexion  —  in  den  Sinneshorizont  des  Em- 
pfindenden ein-  und  aus  selbem  austreten  könne),  kann  be- 
züglich ihres  Warum  oder  der  Anzahl  und  Umstände  solcher 
eintrittsfähiger  Komplexionen,  worauf  vielleicht  jemand  begierig 
sein  dürfte,  hier  ebenso  wenig  erörtert  werden,  als  uns  der- 
gleichen an  den  bisher  (Abschn.  I — IH)  angeführten  Welt- 
thatsachen  beschäftigen  konnte,  indem  nur  der  Physik  (das 
Wort  im  weitesten  Sinne  genommen)  eine  Kompetenz  flir 
ähnliche  Entscheidungen  zusteht. 

Für  die  psychologische  Seite  der  Frage,  nämlich  die, 
welche  sich  auf  die  Ursache  des  Entstehens  der  Gleichzeitig- 
keits  vor  Stellung  zuspitzt,  mufs  im  Sinne  des  auf  Seite  72 
dieser  Zeitschrift  erwähnten  HEBBABT'schen  Ausspruches  das 
Prinzip  vor  Augen  behalten  werden,  dafs  die  Thatsache  des 
Gegebenseins  gleichzeitiger  Sinneseindrücke  zu  erwähntem 
Behufe  erst  bei  Kenntnis  ihrer  Aufiassungsweise  seitens  des 
Betroffenen  von  Wert  sei.  Eine  gewisse  Arbeitserleichterung 
wird  durch  Erwägung  des  Umstandes  erzielt  werden  können, 
dafs  die  Vorstellung  vergangener  und  zukünftiger  Gleichzeitig- 
keiten an  und  durch  gegenwärtige  entstanden  ist,  folglich 
nur  letztere  eigentlich  untersucht  zu  werden  brauchen,  insofern 
nämlich  vergangene  Ereignisse  stets  dann  und  deshalb  als 
gleichzeitig  gedacht  werden,  wenn  und  weil  sie  zu  Zeiten 
ihrer  Gegenwärtigkeit  als  gleichzeitig  erfafsbar  gedacht  wurden. 

Da  nun  eine  Vielheit  von  Gegenwärtigem  nicht  nur  in 
dem  Falle  für  gleichzeitig  gilt,  1.)  wenn  sie  bei  entsprechender 
Gruppierung  mit  einem  einzigen  Blicke  übersehen  wird,  d.  h. 
wenn  sämtliche  Teile  gleich  regen  Sinneseindruck  verursachen 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeityorstellung.  199 

(^wobei  die  Aufmerksamkeit  möglichst  gleichmäfsig  auf  sämt- 
liche Eindrücke  gerichtet  ist",  Wundt,  Ph.  Ps.,  ü,  S.  332), 
sondern  auch  2.)  wenn  letzteres  infolge  räumlicher  Auseinander-r 
ruckung  nicht  stattfindet:  so  ergeben  sich  für  die  psycho* 
logische  Untersuchung  naturgemäfs  zwei  Fälle,  die  gesondert 
behandelt  werden  wollen. 

Die  nächstgelegene  Frage,  die  sich  bei  Fall  1.)  aufwirft, 
nämlich  „warum  der  Sehende  das  Linienstück  B,  das  er  mit 
dem  Stücke  A  auf  einen  Blick  übersieht,  auch  gegenwärtig 
nennt?"  erledigt  sich  einfach  durch  Hinweis  auf  gehörige 
Konsequenz  des  Sehenden,  welcher  gleiche  Lebhaftigkeitsgrade 
des  Vorstellens  mit  gleichen  Zeitprädikaten  belegen  wird. 
Jene  tiefergehende  Nachforschung,  weshalb  er  das  einheitlich 
Überblickte  und  als  gegenwärtig  Aufgefafste  in  Teile  scheidet, 
d.  h.  für  eine  zufallige  Gruppierung  selbständiger  Individuen 
ansieht  —  eine  begreiflicherweise  notwendige  Vorbedingung 
zur  Anwendung  des  Gleichzeitigkeitsbegriffes  („auch  B  ist 
jetzt  da")  — ,  diese  Frage,  meine  ich,  ist  nicht  zeitpsycho- 
logischer Natur  und  braucht  uns  deshalb  um  so  weniger  zu 
beschäftigen,  als  sie  unter  Hinweis  auf  Erfahrungen  über 
Verschiebbarkeit,  Beweglichkeit  etc.  der  gegebenen  Teile, 
wodurch  diese  sich  erst  als  Individuen  kundgeben,  schon 
mehrfach  erledigt  wurde. 

CoNDiLLACs  Statue  vermag  die  gleichzeitig  einwirkenden  Geruchs- 
und  Tonempfindungen  nur  durch  die  Erinnerung  an  vorherigen  successiven 
Eintritt  solcher  Empfindungen  zu  scheiden  [I,  chap.  9,  §  3].  Spenobr  er- 
klärt das  Vorhandensein  gesonderter  Aufnahmsnerven  und  das  Bewufstsein 
der  räumlichen  Entfernung  der  Eindrucksstellen  für  die  Vorhedingung  der 
Erkenntnis,  daüs  der  empfangene  Gesichtseindruck  von  mehr  als  einem 
Gegenstande  herrührt  (§  366).  Sein  hieraus  gezogener  Bückschlufs,  dafs 
zur  Entstehung  des  Begriffs  „Eo Existenz"  stets  die  Hilfsvorstellungen 
räumlicher  Entfernung  notwendig  seien,  mag  bezüglich  dieses  Begriffs 
wohl  seine  Bichtigkeit  haben,  liefse  sich  jedoch  auf  unseren  weiteren  von 
Gleichzeitigkeit  nicht  anwenden. 

Die  Entwicklung  des  in  Rede  stehenden  Begriffs  ist  also 
im  Falle  1.)  ein  Leichtes  und  würde  sich  augenscheinlich  auch 
dann  nicht  schwieriger  gestalten,  wenn  sich  durch  entwick- 
lungsgeschichtliche Ergebnisse  herausstellen  sollte,  dafs  bei 
dem   Menschen   jene   unterscheidungsunfilhige   Anschauungs- 


200  Eugen  Posch: 

weise  —  wo  ihm  nämlich  das  möblierte  Zimmer  einem  Haat- 
relief  gleichkam,  d.  h.  er  die  Möbel  für  Wandauswüchse  an- 
sah —  ein  läaigst  überwundener  Standpunkt  und  das  BewuJst- 
sein  getrennter  und  nur  zusammengerückter  Objekte  bereits 
lange  vorher  eingetreten  sei,  wenn  sich  ihm  das  Gegebene 
als  in  strengem  Sinne  gegenwärtig  darstellt.  In  diesem  Falle 
liejGse  sich  das  Entstehen  des  Gleichzeitigkeitsbegriffs  allerdings 
nicht  einfach  durch  erfolgte  Verteilung  des  dem  „teillosen" 
Komplexe  beigelegten  Gegenwartsprädikats  auf  die  nun  er- 
sichtlich gewordene  Vielheit  von  Eindrücken  erklären,  wie 
oben;  es  bliebe  jedoch  der  bereits  erwähnte  Ausweg  der 
„Konsequenz"  übrig,  und  die  Antwort  auf  unsere  Frage :  „wie 
entsteht  die  Vorstellung  eines  gleichzeitig  Gegenwärtigen?" 
würde  lauten:  „dadurch,  dafs  das  Individuum  von  selten  eines 
zweiten  Sinnesinhalts,  welcher  sich  mit  dem  ersten  zu  einer 
Gesamtempftndung  verbinden  läfst,  den  nämlichen  Lebhaftig- 
keitsgrad empfindet,  dem  zuliebe  es  den  ersten  Sinnesinhalt 
f&r  gegenwärtig  erklärt  hat". 

Wenn  die  Daten  A  und  B  nicht  auf  einmal,  durch  einen 
einzigen  Blick  erfafst  werden  können  (=  Fall  2),  so  mufs 
hervorgehoben  werden,  dafs  ihre  Gleichzeitigkeit  stets  er- 
schlossen und  nicht  unmittelbar  bemerkt  wird,  selbst  in  dem 
Falle,  wenn  B  durch  einfache  Augenwendung  von  A  aus  er- 
reichbar wäre.  Es  darf  nämlich  die,  wenn  auch  blofs  logische 
Möglichkeit  einer  Unterschiebung  eines  dem  A  in  allen  Stücken 
ähnlichen  A'  während  der  Hinwendung  des  Blickes  nach  B 
nicht  übersehen  werden,  —  ein  Fall,  durch  welchen  die  Be- 
hauptung, A  und  B  seien  gleichzeitig,  illusorisch  gemacht 
werden  könnte,  da  A  längst  zu  Grunde  gegangen  sein  mag, 
wenn  der  zurückkehrende  Blick,  durch  die  Ähnlichkeit  ge- 
täuscht, jenes  zweite  Bild  (A')  von  .der  Stelle  des  A,  dem 
nämlichen  Objekte  A  zuschreibt. 

Dem  bei  Spenceb  (§  366)  betonten,  im  Grunde  HsBBABT'schen  Ge- 
danken, wonach  sich  bei  unserer  Unfähigkeit,  mehr  als  einen  Baumpunkt 
mit  YoUer  Aufmerksamkeit  zu  erfassen,  der  Begriff  „Gleichzeitigkeit" 
(Koexistenz)  stets  nur  durch  hin  und  her  (von  A  nach  B  und  dann  von 
B  nach  A)  laufende   Vorstellungsreihen  bilden   könne   (§  365)  —  dieser 


\ 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.         201 

Ansicht  halte  ich  die  STUMFF'sche  Bemerkung  entgegen:  „es  wird  nicht 
snerst  durch  Bewegung  des  Auges  ein  Teilchen  nach  dem  anderen  und 
ohne  es  wahrgenommen,  sondern  ohne  Bewegung  das  ganze  Gesichts- 
feld« (S.  69). 

Wo  folglich  die  Behauptung  von  Gleichzeitigkeit  recht- 
mäfsig  sein  soll,  da  müssen  Fährlichkeiten,  wie  die  oben  er- 
wähnten Unterschiebungen,  ausgeschlossen  und  der  Sprechende 
sich  dieses  Umstandes  bewuTst  sein,  wozu  er  im  Vertrauen  auf 
sein  Gehör  —  wenn  A  und  B  Gegenstände  sind  — ,  welches 
ihm  dergleichen  Vorgänge  wohl  verraten  würde,  auch  be- 
rechtigt ist.  Hiermit  will  nicht  behauptet  sein,  man  hielte 
die  Möglichkeit  erfolgter  Unterschiebung  stets  vor  Augen, 
wenn  man  auf  Grund  hin  und  her  eilenden  Schauens  die 
Möbel  im  Zimmer  für  gleichzeitig  vorhanden  erklärt.  Nur 
das  soll  betont  werden,  dafs  man  gemeiniglich  viel  mehr  un- 
mittelbar zu  sehen  vermeint,  als  was  man  wirklich  sieht 
j(gegeben  ist  mir  bei  dem  zweiten  Hinblicke  doch  nur  ein 
dem  ersten  Bilde  A  ähnlicher  Eindruck;  dafs  derselbe  vom 
nämlichen  Gegenstande  herrührt,  kann  ich  unmöglich  sehen, 
sondern  nur  folgern)  —  ein  Punkt,  über  welchen  sich  sehr 
interessante  Ausfuhrungen  in  Helmholtz's  physiologischer 
Optik  vorfinden. 

Viel  klarer  liegt  das  Mitobwalten  einer  Schlulskette  am 
Tage  bei  Urteilen  über  unübersehbares  Gleichzeitige,  d.  h. 
wo  sichs  um  die  Mitgegenwart  eines  vom  Standpunkte  A 
unbemerkbaren  B  (z.  B,  die  Chinas  von  Mitteleuropa,  der 
Tragbalken  im  Zimmer  etc.)  handelt.  Denn  erstens  gründen 
sich  derlei  Urteile  auf  gewisse,  im  Bereiche  A's  wahrnehmbare 
Umstände  (kausale  Konsequenzen  —  die  Zimmerdecke  hält 
fortan  fest  —  eventuell  blofses  Vertrauen  auf  Gewährsmänner), 
aus  welchen  auf  gleichzeitiges  Fortbestehen  des  angeb- 
lichen B's  als  Ursache  geschlossen  wird;  und  zweitens  mufs 
biehufs  Umwandlung  des  Prädikats  „Fortbestehen"  in  das  von 
„Gegenwärtigkeit"  miterwogen  werden,  dafs  der  zu  dem 
letzteren  nötige  Lebhaftigkeitsgrad  des  fraglichen  B  uns  blofs 
durch  Hindemisse  (eine  Scheidewand  zwischen  dem  Beschauer 
und  B,  z.  B.  gro&e  Entfernung)  verkümmert  ist. 


202  Eugen  Posch; 

Spbnceb  ist  eich  yollkommen  konsequent,  wenn  er  behauptet:  für 
gleichzeitig  gelte,  was  wir  überzeugt  sind,  in.  beliebiger  Reihenfolge  gleich 
leicht  erfassen  zu  können  (§366). 

Die  Thatsache,  dafs  der  Gleichzeitigkeitsbegriff  im  Falle 
1.)  nach  Eintritt  der  oben  erwähnten  Unterscheidnngsfähigkeit 
sozusagen  eo  ipso,  und  im  Falle  2.)  durch  Schlufsfolgerungen 
rein  physikalischer  Natur  entsteht,  ist  wohl  der  einzige  — 
unstreitig  etwas  fragliche  —  Eechtstitel,  besagten  Begriff  aus 
der  Eeihe  der  Zeitkategorien  zu  streichen.  Noch  mag  her- 
vorgehoben werden,  dafs  die  zu  demselben  erforderlichen 
Denkprozesse  keineswegs  einen  vollwertig  ausgebildeten  Gegen- 
wartsbegriff erheischen,  wie  sichs  denn  in  dieser  Untersuchung 
nur  darum  handeln  konnte,  nachzuweisen,  wodurch  der  mensch- 
liche Verstand  zu  einer  Ausdehnung  des  nämlichen  Zeit- 
prädikats (gleichviel  welches  es  sei,  und  ob  bereits  ausge- 
bildet oder  nicht)  auf  mehrere  Sinnesinhalte  bewogen  wird  — 
ein  Punkt,  der  sich  offenbar  ganz  gut  auch  ohne  Miteinbe- 
ziehung der  Natur  dieses  Zeitprädikats  selber  erörtern  lälst. 

Der  Sprachausdruck,  in  welchem  sich  eine  keimende 
Gleichzeitigkeitsvorstellung  am  ehesten  ausprägt,  dürften  die 
Sätze  sein  mit  „und"  („der  Mond  und  die  Sterne  leuchten"), 
welche  sichtlich  ohne  jegliches  Zeitbewufstsein  möglich  sind, 
und,  wenn  zeitlich  gedacht,  die  hier  erforderliche  Verteilung 
des  nämlichen  Zeitprädikats  auf  mehrere  Subjekte  in  einfach- 
ster Weise  zum  Ausdruck  bringen.  Dafs  auch  vergangene 
Gleichzeitigkeit  ohne  eigentliches  Zeitbewufstsein  ausgedrückt 
werden  könne,  beweist  schon  die  nichtzeitliche  Stammbedeutung 
der  hierbei  gebräuchlichen  Umstandswörter,  wie  „als"  (=  all' 
so:  „als  der  Feind  abzog,  erschien  .  .  ."),  lateinisch:  „quum" 
(=  cum)  etc. 

DaTs  völlig  gegensatzlos  zu  denkende  Zustände  der  Dinge 
auch  gleichzeitig  vorhanden  gedacht  werden  müfsten,  wie  Leibniz  be- 
hauptet (erwähnt  bei  Baumann,  II,  S.  93),  indem  nämlich  bei  Verlegung 
derselben  auf  verschiedene  Zeitpunkte  schon  ein  Gegensatz  entstünde,  ist 
wohl  wahr,  jedoch  eine  Aufstellung  von  rein  akademischem  Werte,  da  der 
erwähnte  Sachverhalt  für  eine  Konstruktion  des  GleichzeitigkeitsbegriffeSf 
welcher  sehr  wohl  auch  an  qualitativ  gegensätzlichen  Daten  entsteht, 
nicht  verwertet  werden  kann.  Ebensolcher  Natur  ist  die  Äufserung 
Schopenhauers:    „Streng  genommen   ist  das  Zugleich  eine  negative  Be- 


AuBgangspiii]s;te  zu  einer  Theorie  der  ZeitvorsteHujig.         203 

Stimmung,  die  blofs  enthält,  dafs  zwei  Dinge  oder  Zustände  nicht  durch 
die  Zeit  yerschieden  sind"  (1,  S»  601),  da  nämlich  durch  die  blosse  Be- 
tonung, zwei  Daten  fieien  nicht  als  successiv  zu  denken,  nur  dengenigen 
das  BewnJTstsein  ihrer  Gleichzeitigkeit  entstehen  kann,  der  diesen  Begriff 
schon  fest  gefafst  hat,  —  ein  umstand,  dem  bereits  Kant  gerecht  wurde 
(„Simultanea  non  sunt  ideo  talia,  quia  sibi  non  succedunt.  Nam.  remota 
successione  tollitur  quidem  eoniunotio  aliqua,  quae  erat  per  seriem  tem* 
poris,  sed  inde  non  statim  oritur  alia  yera  relatio,  qualis  est  coniunctio 
omnium  in  momento  eodem.''    M.  P.,  S.  102). 

Eypfbbths  Weitschweifigkeiten  ist  wohl  das  Verdienst  nicht  abzu- 
sprechen, dieses  stark  vernachlässigte  Zeityerhältnis  in  den  Vordergrund 
gerückt  zu  haben,  doch  wäre  uns  statt  der  platten  Versicherungen  Yon 
ohnedies  nirgends  angezweifelter  Unentbehrlichkeit  einer  Gleichzeitig- 
keit, sowie  statt  Hinstellung  derselben  als  zweiter  Zeitdimension  („Zeit- 
breite'') eine  Erklärung  der  Entstehungsweise  dieses  Begriffes,  sowie  einige 
Rechtfertigung  der  Dimensionsvergleiche  viel  erwünschter:  Die  Behaup- 
tung, es  werde  mit  vorschreitender  Kultur  jene  zweite  Zeitdimension, 
d.  h.  die  Summe  des  gleichzeitig  Vorhandenen,  immer  gröfser,  ist  hinfällig, 
indem  nämlich  das  angebliche  Plus,  welches  heute  zum  Vorschein  kommt 
(die  reichhaltigeren  Einrichtungen  und  gröfsere  Betriebsamkeit  unserer 
modernen  Gesellschaft),  nichts  als  veränderte  Ausgaben  längst  vorhandener 
und  in  damaliger  Gestalt  des  Erwähnens  unwerter  Sachverhalte,  beziehungs- 
weise Elemente  sind.  Wo  jetzt  viel  gleichzeitige  Handlungen  sind, 
war  früher  zum  mindesten  viel  gleichzeitige  Buhe,  welch  letztere  bei 
einer  Frage  nach  der  Menge  des  Zeitinhaltes  nicht  ignoriert  werden  darf, 
da  sie  dem  Handeln  in  dieser  Beziehung  gleichwertig  ist.  Durch  Kultur 
ist  nur  eine  Stellvertretung  unerheblicher  Zeitinhalte  durch  bedeutungsvolle 
(Arbeit  statt  Zerstreuung)  bewirkt  worden.  Schliefslich  ist  nicht  erfind- 
lich, auf  welche  Weise  jene  „Gleichwertigkeit  der  Thätigkeiten  desselben 
Subjekts"  eingesehen  werden  solle  und  in  welcher  Hinsicht  eine  solche 
bestehe,  aus  welcher  Thätigkeiten  Verknüpfung  der  Begriff  von  Gleich- 
zeitigkeit angeblich  hervorgehen  soll  (S.  18 — 19,  46 — 58). 

Die  Verwendung  der  Gleichzeitigkeit  für  Mitteilung  des  Zeitpunktes 
vergangener  Ereignisse  ist  wohl  sehr  beliebt  (auch  von  Hebbabt,  V,  S.  496, 
IV,  §  297,  und  Horwioz,  I.  H.,  S.  136  bemerkt),  doch  braucht  kaum  be- 
tont zu  werden,  dafs  die  Erwähnung  jenes  Ereignisses  (B),  mit  welchem 
das  Fragliche  (A)  gleichzeitig  stattgefunden  hat,  für  die  Erfassung  des 
Zeitpunktes  A  doch  nur  in  dem  Falle  wirklich  förderlich  ist,  wenn  der 
Abstand  des  B  von  der  Gegenwart  0  (d.  h.  die  Gröfse  der  zwischen  0 
und  B  begriffenen  successiven  Ereignismenge)  richtig  vorgestellt  werden 
kann,  was  in  Fällen,  wo  die  Distanz  0 — B  diejenige  meines  Lebens  über- 
schreitet, unmöglich  ist,  indem  die  Anwendung  was  immer  für  welcher 
Vorstellungsbehelfe  mich  doch  nie  in  den  Stand  setzen  kann,  die  auf 
solche  Weise  erzeugten  Längen  —  z.  B.  auch  nur  das  Doppelte  meiner 
Lebenslänge  —  wirklich  zu  überblicken.  Eben  deshalb  kommt  eine  der- 
artige Zeitpunktserklärung  in  den  meisten  Fällen  den  Ausdrücken  einer 
Unbekannten  durch  eine  andere  in  der  Mathematik  gleich  [y  =  f(x)]. 
Die  Hervorhebung  synchronistischer  Ereignisgruppen  bleibt  trotzdem  eine 


204    Eugen  Posch:  Ausgangspunkte  z.  e.  Theorie  d.  Zeitrorstellang. 

wertvolle  Methode  für  den  Geschichtsunterricht,  weil  gleichzeitiges  Sein 
unter  allen  Umständen,  so  weit  abseits  yom  Heute  es  auch  liegen  möge, 
klar  Yorgestellt  werden  kann,  und  weil  die  Kenntnis  zusammengehöriger 
Ereignisgruppen  auch  dann  yon  Wert  ist,  wenn  die  Abstände  der  meisten 
Tom  Jetzt  und  untereinander  nicht  klar  zum  Bewufstsein  gebracht  werden 
können.  —  Ein  Specialfall  des  Obigen  ist  wohl  der  yon  Volkmann  (S.  19) 
erwähnte,  wo  sichs  um  die  Frage  handelt,  „ob  wir  eine  Vorstellung 
(«-oben  A)  schon  lange  und  wie  l^nge  wir  sie  besitzen'^.  Ihre  Be- 
antwortung ist  ermöglicht  „dadurch,  dafs  wir  die  einzelnen  Vorstellungen 
in  die  Zeitreihe  unseres  Lebens  einstellen",  und  erfolgt,  „indem  wir  uns 
dabei  der  Zeitreihe  zwischen  der  Gegenwart  und  jener  Vergangenheit, 
die  durch  die  betreffende  Vorstellung  mitbestimmt  (»^  oben  B)  wurde,  als 
Mafsstab  bedienen ''. 


Die  empiristisehe  Willenspsyehologie  und  das 
Gesetz  der  relativen  Gltteksförderung. 

Von  Hennanii  Scbwarx,  Halle  a.  S. 


Inhalt* 

NativistiBche  und  empiilstiBche  Willenspsyehologie.  Erste Fonn  des  extremen 
Elmplrismns:  die  WlUensregnngen  seien  Komplexe  ans  Gefühlen  nnd  Vorstellungen. 
Irr&keit  dieser  Anifassnng;  sie  erklärt  weder  den  Thatbestand  beim  mittelbaren 
Wollen,  noch  beim  Widerstreben.  Zweite  Form  des  extremen  Empirismns:  die 
Willensres^nngen  seien  blofse  Vorstellnngen,  die  mit  einer  gewissen  maximalen  Stärke 
im  Bewnlstsein  hafteten,  v.  Ehrenfels'  hierher  gehöriges  Gresetz  der  relativen 
Glücksförderung  nnd  die  vier  möglichen  Interpretationen  desselben.  Abweisung 
sowohl  der  genannten  Willensdefinition,  wie  des  Hotivgesetzes,  auf  dem  sie  beruhC 


1.  In  der  letzten  Zeit  sind,  veranlafst  besonders  dnrch 
die  eindringenden  Arbeiten  von  Meinung,  „Psychologiscb- 
ethische  Untersuchungen  zur  Werttheorie"  1894,  und  von 
Ehbenfels,  „System  der  Werttheorie,  I.  Bd.,  Allgemeine 
Werttheorie,  Psychologie  des  Begehrens"  1897,  die  Fragen 
der  Willenspsychologie  in  regen  Flufs  gekommen.  Auch  der 
Verfasser  dieses  Aufsatzes  gedenkt  in  kurzem  mit  einer  Ver- 
öfifentlichung  hervorzutreten,  in  der,  wie  er  glaubt,  dem  alten 
Problem  einige  neue  Gesichtspunkte  abgewonnen  sind.  Bei 
der  Auseinandersetzung  mit  der  bisherigen  Willenspsychologie 
erwies  es  sich  ihm  als  nützlich,  zwei  Eichtungen  der  letzteren 
zu  unterscheiden.  Nach  der  einen  nativistischen  haben 
die  Willensregungen  ihre  selbständige  Wurzel  in  den  soge- 
nannten „Trieben".  Diese  Auffassung  lehnt  der  Verfasser  ab, 
um  sich  seinerseits  auf  einen  neuen  nativistischen  Standpunkt 
zu  stellen.  Nach  der  zweiten  empiristischen  Anschauung 
sind  die  Willensregungen  gar  nichts  Ursprüngliches,  sondern 
ihrem  psychologischen  Wesen   nach   mehr  oder  minder  un- 


206  Hermann  Schwarz: 

selbständig.  Nach  dem  gemäfsigten  Empirismus  Beentano's 
(Psychologie  vom  empirischen  Standpunkte  1874;  Vom  Ur- 
sprünge sittlicher  Erkenntnis  1889)  besitzen  die  Willens- 
regungen noch  immer  eine  gewisse  Eigenart.  Sie  gelten  ihm 
mit  keinem  der  übrigen  geistigen  Vorgänge  identisch;  nur  für 
nahe  verwandt  hält  er  sie  mit  den  Gefühlen,  deren  Gattungs- 
charakter sie  teilen  sollen.  Weit  schroffer  die  zweite  empi- 
ristische Wendung!  Ihr  sind  die  Wülensregungen  über- 
haupt nichts  Eigenes.  Sie  seien  Gesamtvorgänge,  die  sich 
in  Gefühle  und  Vorstellungen  auflösen  liefsen;  ja,  manche 
sehen  im  Wünschen,  Widerstreben,  Wollen  nichts  als  ein 
Vorstellen. 

Es  sei  gestattet,  diesem  extremen  willenspsychologischen 
Empirismus  im  folgenden  nachzugehen,  womit  ich  der  erwähnten 
Veröffentlichung  nur  teilweise  vorgreife* 

2.  In  der  Behauptung,  dafs  sich  Vorstellungen  und  Ge- 
fühle zu  den  Wülensregungen  verbänden,  liegt  etwas,  was 
bestechen  und  verwirren  könnte!  Dafs  unser  Wünschen  und 
Wollen  etwas  Anderes  sei,  als  das  blofse  Vorstellen,  das 
hat  jeder  erlebt.  Tausendmal  hat  er  vorgestellt,  ohne  zu 
wollen  oder  zu  wünschen.  Ebenso  ist  es  jedermann  geläufig, 
dafs  sich  Wunsch  und  Wille  von  den  blofsen  Gefühlen 
unterscheiden.  Zu  deutlich  erinnern  wir  uns,  manches  Mal 
gefühlt  zu  haben,  ohne  zu  wünschen  und  zu  wollen!  So 
drängt  es  sich  schlagend  genug  auf,  wie  himmelweit  alle 
Willensregungen  vom  Vorstellen  einzeln  und  vom  Fühlen 
einzeln  verschieden  sind.  Aber  bei  aller  Klarheit,  mit  der 
das  naive  Bewufstsein  jene  Aufstellungen  einzeln  zurückweisen 
würde,  ihrer  Vereinigung  erwehrt  es  sich  nicht  mit  der 
gleichen  Sicherheit.  Findet  es  sich  doch  aUe  Augenblicke 
voll  von  Gesamtvorgängen,  die  es  schlecht  zergliedert!  Es 
wird  ihm  schwer,  die  feineren  Grenzen  zu  finden,  welche  Teil 
von  Teil  scheiden;  leichter  bemerkt  es,  dafs  und  wann  etwas 
ausgefallen  ist,  als  dafs  es  zu  trennen  wüfste,  was  da  ist. 
Und  so  steht  es  staunend  zwar,  aber  hilflos  gegen  die  Be- 
hauptung,  dafs  auch  das  Wünschen,    auch  das  Wollen  ein 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  207 

Gesamtvorgang^  sei,  dea  es  unaufgelöst  gelassen  habe,  und 
der  restlos  ans  Fühlen  nnd  Vorstellen  bestehe.  Es  nützt 
nichts,  sich  hiergegen  anf  das  Zeugnis  der  unmittelbaren  Er- 
fahrung zu  berufen.  Täuscht  diese  z.  B.  doch  auch  einen 
Klang  mit  einer  Selbständigkeit  vor,  die  sich  verflüchtigt, 
sobald  man  ihn  in  seine  Partialtöne  auflöst!  So  mufs  das 
wissenschaftliche  pro  und  contra  beginnen. 

Unsere  Willensregungen,  sagt  man,  setzten  sich  aus 
Gefühlen  und  Vorstellungen  zusammen?  Nun  wohl,  mit 
welchem  Anteil  geht  das  Vorstellen  und  mit  welchem  das 
Fühlen  in  den  Gesamtvorgang  ein?  Dazu,  um  dies  auszu- 
machen, gilt  es,  die  wesentlichen  Merkmale  der  Willensregungen 
ins  Auge  zu  fassen. 

3.  a)  Es  giebt  ein  solches,  durch  das  sich  die  letzteren 
auf  den  ersten  Blick  von  allen  blofsen  Gefühlen  unterscheiden. 
Die  Gefühle  sind  Vorgänge,  die  ganz  in  sich  beschlossen  sind 
und  in  keiner  Weise  über  sich  hinausgehen.  Nichts,  was 
darin  ein  inneres  Thun  oder  eine  Eichtung  anzeigte!  Wohl 
aber  kommt  den  WiUensregungen  solche  Eichtung  zu.  Sie 
beziehen  sich  auf  irgendwelche  Gegenstände,  die  dadurch  zu 
Werten  oder  Unwerten  werden.  Derartige  Gegenstände  können 
z.  B.  auch  unsere  Lust-  und  Unlustgefühle  selber  sein.  Von 
jenen  können  wir  wünschen,  dafs  sie  wachsen,  fortdauern, 
wiederkehren,  diesen  widerstreben  wir  und  wünschen  sie  fort. 
Sicher  kann  das  Wollen,  Wünschen,  Widerstreben,  was  sich 
dergestalt  auf  Gefühle  bezieht,  nicht  wieder  Gefühl  sein; 
solche  könnten  sich  zwar  associieren,  aber  nicht  zu  jenem 
inneren,  gleichsam  logischen  Verhältnis  verknüpfen,  wonach 
eines  das  Objekt  des  anderen  wäre.  —  Indessen,  hier  setzt 
die  empiristische  Antwort  ein,  was  den  Gefühlen  unmöglich 
sei,  das  vermöchten  Vorstellungen!  Deren  eigenstes  Wesen 
sei  es  gerade,  sich  auf  Gegenstände  aller  Art  zu  richten.  So 
auch  in  unserem  Falle:  dafs  sich  das  Wünschen,  Wider- 
streben, Wollen  auf  Gegenstände  aller  Art  beziehe,  dürfe 
nicht  als  Leistung  eines  eigenen  Willensaktes  gelten,  sondern 
es  sei  der  Anteil,  mit  dem  das  Vorstellen  in  dem  Gesamt- 


208  Hermann  Schwarz: 

Yorgange  auftrete,  der  Wollen,  Wünschen,  Widerstreben  hei&e 
und  aus  Fühlen  und  Vorstellen  bestehe. 

Man  hat  seit  alters  die  Beziehung,  welche  jedes  Wahri- 
nehmen.  Vorstellen,  Urteilen  auf  seinen  Gegenstand  hat,  als 
intentionale  bezeichnet  Das  soll  heifsen:  Wir  vergegen- 
wärtigen alle  möglichen  Gegenstände  durch  jene  Vorgänge, 
ohne  sie  jemals  in  ihnen  zu  haben.  —  Um  das  kurz  zu  er- 
läutern: Was  wir  haben,  sind,  im  metaphysischen  Sinne, 
immer  nur  unsere  eigenen  Zustände  und  Vorgänge,  ein- 
schliefslich  der  Akte  des  Wahmehmens,  Vorstellens,  Urteilei^s 
selber.  Die  Gegenstände  aber,  die  wir  durch  diese  Akte 
vergegenwärtigen,  sind  von  uns  und  allen  unseren  Vorgängen, 
auch  von  den  Vergegenwärtigungsakten,  sehr  verschieden; 
hier  sind  sie  etwas  Äufseres  (die  Sonne,  die  wir  am  Himmel 
sehen),  dort  etwas  Abstraktes  (die  Lehrsätze  vom  Dreieck, 
die  wir  beweisen),  in  anderen  Fällen  etwas  Imaginäres  (das 
Gespenst,  das  wir  uns  einbilden);  nur  in  der  sogenannten 
inneren  Wahrnehmung  sind  es  unsere  eigenen  Zustände  und 
Vorgänge  selbst  (die  Sehnsucht,  die  ich  spüre).  Von  allen 
diesen  Gegenständen  wissen  wir  nur  durch  das  Wahrnehmen, 
Vorstellen,  Urteilen,  das  sie  vergegenwärtigt,  und  haben  sie 
nicht  darin.  Dies  nicht  einmal  in  der  inneren  Wahrnehmung; 
denn  auch  von  ihr  bleibt  das  eigene  Wollen,  Fühlen,  Urteilen, 
das  sie  vergegenwärtigt,  ^  ewig  verschieden.  Nicht  sie  ist  es, 
die  sie  hat,  sondern  die  Person,  welche  innerUch  wahrnimmt. 
Die  äufseren,  die  abstrakten,  die  imaginären  Gegenstände  hat 
auch  die  Person  nicht.  Sie  sind  nur  oder  sind  nicht.  ^)  — 
Diesem  eigentümlichen  Kennen,  Vergegenwärtigen,  das  alle 
Wissensvorgänge  auszeichnet,  gebührt  mit  Eecht  ein  be- 
sonderer Name.  Es  ist  eben  das,  was  man  die  intentionale 
Beziehung  des  Wahrnehmens,  Vorstellens,  Urteilens  auf  seine 
Gegenstände  genannt  hat.  —  Führen  wir  den  Ausdruck  hier 
ein,   so  muTs  man  im  Sinne  der  empiristischen  Lehre  sagen; 

^)  Man  yergl.  meine  „Umwälzung  der  Wahmehmungshypothesen 
durch  die  mechanische  Methode.  Nebst  einem  Anhange  über  die  Grenzen 
der  physiologischen  Psychologie".  II,  S.  155  Anm.  und  im  Register  unter 
„Erkenntnis  des  Seienden'\    Leipzig,  Duncker  &  Humblot,  1895. 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  209 

Alles  Wünschen,  Widerstreben,  Wollen  beziehe 
sich  intentional  auf  das,  was  gewünscht,  verab- 
scheut, gewollt  werde.  Letzteres  werde  dadurch 
zum  Ziel,  Gegenstand,  Zweck  des  ersteren.  Diese 
intentionale  Beziehung  wohne  aber  keinem  selb- 
ständigen Willenselemente  ein,  solches  gebe  es  nicht. 
Sondern  Vorstellungen  stellten  sie  her  und  erwiesen 
sich  so  als  der  eine  Bestandteil  aller  Willens- 
regungen. 

b)  Das  Vorstellen  soll  unseren  Willensregungen  die 
Richtung  geben.  Und  der  Beitrag  der  Gefühle,  des  anderen 
Bestandteils,  der  helfen  soll,  die  Willensregungen  zu  bilden? 
Sie  müfsten  ihnen  nach  der  empiristischen  Lehre  die  Inten- 
sität liefern!  —  Kein  Zweifel,  dafs  dem  Wünschen,  Wollen, 
Widerstreben  solche  in  den  wechselndsten  Graden  zukommt. 
Sie  können  bald  stärker,  bald  schwächer  sein.  Schwach  erst 
war  z.  B.  im  Anfange  die  Sehnsucht  jenes,  welcher  der  Heimat 
fem  war.  Mit  der  Dauer  wuchs  sie  so,  dafs  er  es  zuletzt 
vor  Heimweh  kaum  aushielt.  Ein  anderer  will  arbeiten;  sein 
Wollen  ist  stark,  wenn  er  dabei  bleibt,  welche  Verlockungen 
und  Hindemisse  auch  hinzutreten.  Es  ist  schwach,  wenn  er 
denselben  nachgiebt,  um  so  schwächer,  je  leichter  es  geschieht. 
Jedermann  endlich  widerstrebt  einer  Gefahr  um  so  stärker, 
je  näher  er  sie  glaubt.  —  Woher  diese  Intensitätsabstufungen 
der  WiUensregungen,  wenn  sie  nichts  Selbständiges,  sondern 
aus  Vorstellungen  und  Gefühlen  gemischt  sind?  Dieselben 
können  ihnen  nicht  von  ihren  gedanklichen  Bestandteilen  zu- 
fliefsen;  denn  Vorstellungen  unterscheiden  sich  nicht  durch 
Stärke.  Die  Vorstellung  eines  Donners  z.  B.  ist  nicht  stärker, 
als  die  vom  Ticktack  einer  Taschenuhr.  ^)  Wohl  aber  wechseln 
die  Gefühle  ihre  Stärke.  Die  sinnliche  Lust  und  Unlust, 
Furcht,  Traurigkeit,  Staunen,  das  Mitgefühl  u.  dergl.,  das 
alles  kann  gröfser  oder  geringer,  stärker  oder  schwächer  sein. 


^)  Vergl.  meine  „Umwälzung  u.  s.  w.",  II,  S.  158,  und  meinen  Aufsatz 
im  Archiv  für  systematische  Philosophie,  Bd.  III,  Heft  3:  „Uphues'  Lehre 
vom  Inhalt  und  Gegenstand  des  Erkennens",  S.  369. 

YierteljahrBBchrift  f.  Wissenschaft!.  Philosophie.    XXIII.  2.  14 


210  Hermann  Schwarzz 

Was  folgt  daraus  im  Sinne  der  empiristisclien  Lehre?  Von 
den  Vorstellungen  sollten  die  Willensregungen  ihre  Richtung 
borgen.  Den  Grad  ihrer  Stärke  müssen  sie  ihren 
gefühlsmäfsigen  Bestandteilen  schulden. 

c)  Aber  die  Willensregungen  unterscheiden  sich  auch 
in  ihrer  Qualität.  Sie  wandeln  sich  aus  einem  wunschlosen 
Werthalten  ^)  ins  Wünschen  und  Wollen,  sie  zeigen  den  Gegen- 
satz von  Wünschen  und  Verabscheuen,  Begehren  und  Wider- 
streben. —  Woher  erstens  der  Wandel  des  wunschlosen  Wert- 
haltens ins  Wünschen  und  Wollen?  Hier  wäre  auf  die  gedank- 
lichen Bestandteile  hinzuweisen,  die  nach  der  empiristischen 
Lehre  in  den  Willensregungen  steckten.  Werte,  die  wir 
schlechtweg  vorstellten,  hielten  wir  ohne  Wunsch  wert;  be- 
sännen wir  uns,  dafs  sie  unwirklich  seien,  so  wünschten  wir; 
stellten  wir  gleichzeitig  das  Mittel  vor,  sie  zu  erreichen,  so 
wollten  wir.  —  Woher  zweitens  der  Gegensatz  von  Begehren 
und  Widerstreben,  Wünschen  und  Verabscheuen?  Dieser 
müfste  von  den  gefühlsmäfsigen  Bestandteilen  herkommen; 
er  wäre  im  Sinne  der  empiristischen  WiUenslehre  mit  dem 
von  Lust  und  Unlust  identisch.  Die  letztere  Auskunft  wäre 
freilich  noch  zu  allgemein.  Lust  und  Unlust  sind  blofse  Ab- 
strakta.^)  Wir  müssen  vielmehr  fragen,  welche  bestimmte 
einzelne  Lust  und  Unlust  den  Willensregungen  zu  Grunde  liege? 
Darauf  könnte  die  Antwort  nur  lauten,  dafs  das  eine  besondere 
Vorstellungslust  und  -Unlust  sei;  sie  gäbe  den  Vorstellungen, 
welche  die  Willensziele  vergegenwärtigten,  einen  ganz  eigenen 


^)  Vergl.  Mbinono,  „Psychologisch-ethische  Untersuchungen  zur 
W^ertteorie",  1894,  S.  15—16,  97. 

2)  Es  sei  darauf  hingewiesen,  dafs  viele  Psychologen  der  Gegenwart 
Lust  und  Unlust  als  solche  schon  Gefühle  nennen  und  darin  geradezu 
das  Wesen  der  letzteren  sehen.  Man  würde  vielleicht  anderer  Meinung 
werden,  wenn  man  sich  mehr  als  bisher  vorhielte,  dafs  sich  durch  Lust 
und  Unlust  nach  einer  bekannten  logischen  Regel  nicht  das  Wesen  der 
Gefühle  definieren  lassen  kann,  sondern  dafs  dies  blofse  Artmerkmale 
derselben  sind,  durch  die  wir  sie  einteilen.  Man  sehe  die  vorzügliche 
Auseinandersetzung  bei  Mabtinbau,  Types  of  Ethical  Theory,  1.  Aufl.,  11, 
S.  299,  der  die  specifische  Verschiedenheit  der  mannigfaltigsten  Lust-  und 
Unlustgefühle  scharf  betont. 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  211 

Lustton  oder  Unlustton.  Das  lustbetonte  Vorstellen 
einiger  Gegenstände,  das  unlustbetonte  anderer,  das 
eben  sei  unser  Wollen  und  Widerstreben. 

4.  Damit  rühren  wir  schon  an  die  Beurteilung  der  em- 
piristischen Lehre,  während  sich  uns  ihr  Bild  noch  entrollt. 
Sie  gleicht  einem  Gebäude,  dessen  Balken  zusammenbrechen, 
kaum,  dafs  es  gefugt  ist.  Nicht  ein  Balken  trägt.  Wie? 
Die  Vorstellungen  sollten  den  Willensregungen  ihre  Richtung 
leihen?  Aber  manchmal  stellen  wir  uns  überhaupt  kein  Ziel 
vor,  während  wir  wollen,^)  und  manchmal  ist  das,  was  uns 
vorschwebt,  gerade  nicht  das  Willensziel.  2)  Weiter!  Die 
Gefühle  sollten  den  Willensregungen  ihre  Stärke  schenken? 
Aber  oft  genug  wollen  wir  stark  ohne  stark  zu  fühlen,  ja, 
wir  brauchen  dabei  gar  nichts  zu  fühlen.  Die  beiden  Inten- 
sitäten, statt  identisch  zu  sein,  stehen  nicht  einmal  in  regel- 
mäfsigem  Verhältnis.^)  Endlich,  der  Gegensatz  der  Willens- 
regungen sollte  der  von  Lust  und  Unlust  sein?  Schwer  zu 
begreifen  aber,  welcher  Qualität  dieser  Lust-  oder  Unlustton 
sei,  und  warum  er  einigen  Vorstellungen  zukomme,  anderen 
nicht.  Zudem  giebt  es  ein  Wünschen  und  Wollen,  bei  dem 
wir  keine  Spur  von  Lust  und  Unlust  erleben. 

Das  alles  wird  im  einzelnen  deutlich,  wenn  man  insbe- 
sondere an  die  Fälle  des  mittelbaren  WoUens  und  des  Wider- 
strebens denkt. 

a)  Das  mittelbare  Wollen.  Es  ist  bekannt,  dafs  wir 
mittelbar  wollen  können;  so  wollen  wir  z.  B.  die  Mittel  zu 
Zwecken,  etwa  eine  Operation  um  willen  der  Gesundheit; 
oder  wir  wollen  auch  darum  mittelbar,  weil  wir  etwas  anderem 
widerstreben;  der  Selbstmörder  will  mittelbar  den  Tod,  weil 
er  nicht  in  Schande  leben  mag ;  der  Furchtsame  will  mittelbar 
die  Nähe  eines  Menschen,  der  ihm  sonst  unsympathisch  ist, 
weil  er  nicht  allein  bleiben  möchte.    Ebenso  erleben  wir  ein 


^)  Vergl.  WuNDT,   Phys.  Psychol.,   3.  Aufl.,   II,  S.  411  ff.;    Ethik, 
2.  Aufl.,  S.  446. 

2)  Vergl.  Meinung,  a.  a.  0.  S.  35. 

^)  Dies  hebt  sehr  gut  v.  Ehbenpels,  a.  a.  0.  S.  15  ff.,  hervor. 

14* 


212  Hermann  Schwarz: 

mittelbares  Widerstreben,  z.  B.  dagegen,  etwas  zu  essen,  was 
uns  zwar  schmeckt,  aber  nicht  bekommt.  Nicht  immer  ist 
das  mittelbare  Wollen  so  lustvoll,  wie  z.  B.  bei  dem,  der  die 
Vorbereitungen  zu  einer  schönen  Keise  trifft.  Es  kann  auch 
sehr  unlustvoll  sein.  Der  Selbstmörder,  von  dem  wir  sprachen, 
sucht  gewifs  nicht  gerne  den  Tod;  viel  lieber  möchte  er 
weiter  leben,  wenn  es  ohne  Schande  geschehen  könnte.  Noch 
häufiger  ist  das  mittelbare  Wollen  weder  lustvoll,  noch  un- 
lustvoll. Dies  vielfach  dann,  wenn  wir  uns  nicht  der  Zwecke 
erinnern,  wegen  deren  wir  etwas  wollen.  Dann  haben  wir 
nur  den  Eindruck,  das,  was  wir  vorhaben,  sei  irgendwie  und 
irgendwarum  wichtig,  einen  Eindruck,  in  dem  sich  das  Werthalten 
ganz  rein  kundgiebt,  ohne  dafs  es  Lust-  oder  ünlustgefuhle 
begleiteten.  Jemand  habe  z.  B.  gelesen,  und  nun  nahe  ihm 
die  Zeit,  einen  Gegenbesuch  zu  machen.  Er  blickt  auf  die 
Uhr,  sieht,  dafs  es  spät  ist,  springt  auf  und  eilt  zum  Kleider- 
schranke, um  den  Rock  zu  wechseln.  Warum  das?  Das 
weifs  er  schwerlich  in  dem  Augenblicke,  wo  er  es  thut.  Nur 
jenen  Eindruck,  es  sei  irgendwie  und  irgendwarum  wichtig, 
erlebt  er.  Vielleicht  hatte  er  denselben  Eindruck  schon  vor- 
her, als  er  aufsprang,  zum  Kleiderschrank  eilte,  den  Schlüssel 
umdrehte.  Das  alles  thut  er  nicht,  um  den  Besuch  zu  machen. 
Dazu  brauchte  er  nur  den  Hut  zu  ergreifen  und  so,  wie  er 
ist,  hinauszueilen.  Sondern  er  thut  es,  weil  er  etwas  anderem 
widerstrebt,  ohne  dafs  er  das  Ziel  dieses  Widerstrebens  ver- 
gegenwärtigt. Der  Mifsachtung  widerstrebt  er,  in  die  er  ge- 
riete, wenn  er  seinen  Besuch  im  Hausrocke  machte.  —  Dies 
die  Thatbestände  beim  mittelbaren  Wollen.  Wie  vertragen 
sie  sich  mit  den  Annahmen  des  willenspsychologischen  Em- 
pirismus ? 

Hätte  derselbe  Recht,  so  dürfte  es  kein  Wollen  geben^ 
das  nicht  lustbetonte  Vorstellung  seines  Gegenstandes  wäre. 
Auch  alles  mittelbare  Wollen  müfste  dieser  Regel  folgen. 
LustvoU  müfste  das  Wollen  jenes  Selbstmörders  sein,  der  den 
Tod  der  Schande  vorzieht.  Lustvoll  wären  die  Vorstellungen 
des  Ausgehenden,   zum   Schranke   zu   gehen,    den   Rock   zu 


\ 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  213 

wechseln.  Er  giebt  den  Befehl,  man  möge  die  Personen 
warten  lassen,  die  während  seiner  Abwesenheit  vorsprechen. 
Das  müfste  wieder  eine  lustbetonte  Vorstellung  sein!  Davon 
zeigt  die  Erfahrung  nichts!  —  Der  verzweifelten  Stimmung 
des  Selbstmörders  giebt  vielmehr  eine  hohe  Unlust  den  Ton. 
Es  ist  wah;*,  er  zieht  den  Tod  der  Schande  vor.  Aber  wählen 
wir  darum  das  Mifsfällige  gern,  weil  das,  was  übrig  bleibt, 
noch  mifsfäUiger  ist?  Keineswegs,  und  so  klaffen  hier 
die  positive  Qualität. des  Wollens  und  die  negative 
Gefühlsbetonung  des  begleitenden  Vorstellens  un- 
heilbar auseinander!  —  Eine  Fabel  femer,  dafs  die  Vor- 
stellungen dessen,  der  ausgeht,  überhaupt  irgend  lust-  oder 
unlustbetont  wären!  Auch  wäre  es  nicht  möglich,  hier  von 
unmerklichen  Gefühlen  zu  sprechen.  Das  Wollen  ist  doch 
merklich;  so  merklich,  wie  es  selber,  müfste  auch  das  Grefuhl 
sein,  dessen  Stärke  seine  eigene  sein  soll.  Das  ist  eben  nicht 
der  Fall.  Möge  man  die  Qualität  des  Wollens  hypothetisch 
als  Lust  deuten,  seine  Stärke  stimmt  mit  der  dieses 
Lustgefühls  gewifs  nicht  überein.  Woher  kommt  die- 
selbe aber  denn?  Von  der  Vorstellung,  die  aufserdem  noch 
im  Wollen  stecken  soll?  Sie  könnte  ihm  überhaupt  keine 
Grade  der  Intensität  leihen!  Und  so  sehen  wir  hier  zum 
zweiten  Male  die  empiristische  Lehre  scheitern. 

Fanden  wir  nicht  endlich,  derselbe  Ausgehende  wisse 
gar  nicht  einmal,  warum  er  den  Eock  wechsle?  Nur  den 
Eindruck  habe  er,  es  sei  das  irgendwie  und  irgendwarum 
wichtig;  der  letzte  Gegenstand  des  verborgenen  Widerstrebens, 
das  dabei  mitspiele,  schwebe  seinem  Vorstellen  nicht  vor?  So 
fanden  wir  es  in  diesem  Falle,  so  finden  wir  es  in  hunderten, 
die  ähnlich  sind :  Der  Richter  wünscht  zu  wissen,  wie  alt  der 
Angeklagte  und  ob  er  vorbestraft  ist.  Das  Dienstmädchen 
geht  zur  Herrschaft,  ihr  einen  Besuch  zu  melden.  Der  Arzt 
untersucht  berufsmäfsig  einen  Patienten  nach  dem  anderen. 
Der  Schmied  schickt  sich  an,  ein  Pferd  zu  beschlagen.  Alle 
diese  Personen  wollen  und  zwar  mittelbar.  Ihnen  allen  kommt 
es  auf  das,   was   ihnen   zunächst   vorschwebt,   gar  nicht  un- 


214  Hermann  Schwarz: 

mittelbar  an.  Auch  sie  haben  dabei  nur  den  Eindruck,  es 
sei  ihnen  aus  irgend  einem  Grunde  wichtig.  Aber  aus  welchem, 
das  vergegenwärtigen  sie  nicht,  und  darum  läfst  es  sie  ohne 
Geflihlsbewegung.  Der  Eichter  vergegenwärtigt  nicht,  dafe 
ihn  sein  Gerechtigkeitssinn  treibt  (den  Jugendlichen  trifft 
mildere,  den  Vorbestraften  härtere  Strafe),  der  Arzt  nicht, 
dafs  er  einer  Nächstenpflicht  gehorcht,  der  Schmied  nicht, 
dafs  er  Lohn  gewinnen  will,  das  Dienstmädchen  nicht,  dafs 
es  einem  gegebenen  Befehle  folgt  (und  dies  wieder  nur  mittel- 
bar). —  Dürfte  das  sein,  wäre  das  Vorstellen  für  alles  Vor- 
stellen wesentlich?  Nein!  Was  wir  wollten,  müisten  wir 
dann  auch  ausnahmslos  vorstellen,  und  was  wir  mit  Lustbe- 
tonung vorstellten,  müfsten  wir  wollen.  Statt  dessen  fehlt 
hier  jegliches  Vorstellen,  das  in  den  verborgenen 
unmittelbaren  Willensregungen  als  Fackel  leuchtete; 
es  fehlt  ebenso,  wie  zu  dem  mittelbaren  Wollen,  das  aus  ihm 
entspringt,  jegliches  Fühlen  fehlt.  Zum  dritten  Male  versagt 
damit,  an  ein  und  demselben  Beispiele,  die  empiristische  An- 
nahme, dafs  sich  alles  Wollen  aus  Vorstellen  und  Fühlen  zu- 
sammensetze. 

b)  Das  Widerstreben.  Derselbe  allgemeine  Zusammen- 
bruch des  willenspsychologischen  Empirismus  in  allen  seinen 
Teilbehauptungen,  wenn  wir  auf  das  Widerstreben  blicken! 
Dies  müfste  nach  der  empiristischen  Lehre  Unlustqualität  haben. 
Es  müfste  um  so  energischer  auftreten,  je  gröfser  die  Unlust 
wäre,  in  der  es  bestände,  und  sein  Ziel  müsse  in  einer  Zweck- 
vorstellung klar  vorliegen. 

Aber  die  Qualität  keines  Widerstrebens  läfst  sich  je  auf 
Lust  oder  Unlust  zurückfuhren.  Nicht  auf  Unlust;  dehn  suchen 
wir  nach  öiaer  Vorstellung,  die  sich  mit  dem  Widerstreben 
möglichst  deckt,  so  scheint  es  die  zu  sein,  dafs  uns  dies  oder 
jenes  Mifsfällige  erspart  bleibe.  Wem  z.  B.  der  Gedanke 
widerstrebt,  Kicinusöl  einzunehmen,  der  wünscht  sich  die 
Unlust  vom  Halse,  die  ihm  droht.  Er  verwünscht  die  Medizin 
und  den  Zustand,  der  ihn  zwingt,  sie  zu  gebrauchen.  Das 
um  so  mehr,  je  mifsfälliger  ihm  die  erstere  ist.    Wie  könnte 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  215 

eine  Vorstellung  selber  unlustvoll  sein,  die  gerade  gegen 
Unlust  geht?  —  Doch  auch  lustbetont  kann  die  Vorstellung 
nicht  sein,  in  der  nach  der  empiristischen  Lehre  das  Wider- 
streben wurzelt.  Man  frage  den  Verbrecher,  wie  ihm  zu  Mute 
ist,  während  er  zum  Richtblock  geschleppt  wird.  Mit  allen 
Fasern  seines  Wesens  widerstrebt  er  dem  Schicksal,  dem  er 
entgegengeht.  Sein  Wille  richtet  sich  um  so  energischer  gegen 
das  Schreckliche,  je  näher  es  bevorsteht.  Und  ihm  sollte  er 
mit  Lust  widerstreben,  mit  um  so  gröfserer,  je  näher  es 
kommt?  Nein.  Wer  widerstrebt,  den  freut  beileibe  sein 
Widerstreben  nicht.  Es  richtet  sich  zwar  gegen  ein  Objekt, 
das  mifsfällt,  aber  darum  noch  lange  nicht  auf  ein  solches, 
das  gefSJlt! 

Dringen  wir  tiefer,  so  stofsen  wir  hier  auf  ein  eigen- 
tümliches Dilemna,  um  es  bei  allem  Widerstreben  wieder  zu 
finden.  Zweierlei  nämlich  pflegt  uns  vorzuschweben,  während 
wir  widerstreben.  Einmal  stellen  wir  den  mifsfälligen  Gegen- 
stand selber  vor  und  dafs  er  bevorstehe ;  andererseits  vergegen- 
wärtigen wir  sein  Aufhören.  Die  erstere  Vorstellung  kann 
nur  unlustvoll,  die  andere  nur  lustvoll  sein.  Hat  der  Empi- 
rismus Eecht,  so  mufs  sich  das  Widerstreben  mit  einer  von 
beiden  decken.  Aber  mit  welcher?  Man  versuche  es,  wie 
man  will;  immer  stimmt  entweder  die  Qualität  oder 
die  Richtung  nicht.  Unlustvoll  ist  es,  an  den  mifsfälligen 
Gegenstand  und  sein  Bevorstehen  zu  denken;  in  unseren  Bei- 
spielen wäre  das  die  Vorstellung  des  Patienten,  Ricinusöl  ein- 
nehmen, des  Verbrechers,  sterben  zu  müssen.  Sofern  ihre 
Qualität  negativ  ist,  wie  die  des  Widerstrebens,  deckt  sie 
sich  also  mit  diesem.  Allein  das  letztere  ist  keine  blofse 
Trauer,  die  wir  hätten,  indem  wir  Mifsfalliges  vorstellten. 
Nein,  es  richtet  sich  dagegen,  es  wendet  sich  von  dem  mifs- 
fölligen  Gegenstande  ebenso  ab,^)  wie  die  Vorstellung  auf 
ihn  geht.     So  klaffen  beide,  jene  Vorstellung  und  das  Wider- 


1)  Vergl.  WüHDT,  Ethik,  2.  Aufl.,  S.  30:  „Der  ünlusteffekt  wendet 
sich  ab  von  dem  schmerzerregenden  Gegenstand,  so  wie  die  Verneinung 
eine  als  möglich  yorgestellte  Behauptung  zurückweist". 


216  Hermann  Schwarz: 

streben,  in  der  Richtung  erst  recht  auseinander.  Der  Glaube, 
Mifsfälliges  sei  nahe,  bewirkt  viehnehr  das  Widerstreben, 
statt  einen  Bestandteil  desselben  zu  bildeuL  Femer  viel  eher 
möchten  wir  den  unlieben  Gegenstand  haben.  —  Um  so  ein- 
stimmiger scheint  das  Widerstreben  mit  der  anderen  Vor- 
stellung gerichtet,  die  noch  übrig  bleibt;  mit  der,  dafs  das 
Mifsfällige  aufhöre  oder  uns  erspart  bleibe.  So  wünscht  jener 
Patient,  dafs  er  kein  Ricinusöl  zu  nehmen  brauche,  der  Ver- 
brecher, dafs  man  ihn  leben  lasse.  Unmöglich  indessen,  auch 
diese  Vorstellung  ins  Widerstreben  hineinzusehen,  denn  sie 
pafst  wieder  nicht  in  der  Qualität  zu  letzterem !  Sie  ist  lust- 
voll, positiv  ihre  Geflihlsbetonung,  dem  Widerstreben  eignet 
negative  Qualität. 

Oder  schiene  das  nur  so?  Wie,  wenn  das  Widerstreben 
auch  seinerseits  positive  Qualität  hätte?  Damit  versuchten 
wir  es  im  Änfangsbeispiele  vom  Ricinusöle.  Ein  inneres  Ver- 
halten, das  gegen  die  Unlust  gehe,  könne,  sagten  wir  dort, 
unmöglich  selber  unlustvoll  sein.  Trotzdem  ist  das  Wider- 
streben ganz  bestimmt  nicht  lustvoll.  Die  Intensitäts- 
thatsachen  verbieten  es,  das  anzunehmen.  Das  sehen 
wir  deutlich  im  zweiten  Beispiele.  Nicht  mit  der  Lust,  gerade 
mit  der  Unlust  wuchs  das  Widerstreben  des  Verbrechers. 
Kurz,  wer  immer  mit  dem  Empirismus  nach  einer  Vorstellung 
sucht,  die  sich  sowohl  in  der  Richtung  wie  im  Gefiihlston 
mit  dem  Widerstreben  deckt,  der  gerät  so  oder  so  ins 
Dilemna.  Das  ist  kein  Wunder!  Denn  es  giebt  über- 
haupt keinen  Vorstellungsgegenstand,  der  das 
Ziel  des  Widerstrebens  ausreichend  wiedergäbe! 
Immer  nur,  dafs  etwas  nicht  sei,  liefse  sich  bestenfalls  als 
solches  Ziel  angeben.  Aber  es  ist  doch  etwas  ganz  anderes, 
gegen  ein  Objekt  gerichtet  zu  sein,  als  auf  sein  Nichtsein. 
Nur   das   erstere   ist  reines   Widerstreben,^)   letzteres   wäre 


^)  Da  das  Widerstreben  gegen  sein  Objekt  geht,  nicht  auf  das 
Aufhören  desselben,  so  erklärt  es  sich,  dafs  uns  auch  Vergangenes  wider- 
streben kann,  z.  B.  die  einstigen  Sexenprozesse,  oder  in  der  „Ereue'*  die 
eigene  frühere  Schlechtigkeit. 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  217 

schon  ein  Wünschen.  Auch  ist  die  Vorstellung,  dafs  etwas 
nicht  sei,  ungemein  abstrakt;  ein  Kind  hat  sie  gewifs  nicht, 
und  doch  vermag  es  unzweideutig  zu  widerstreben.  So  mufs 
es  sich  gerade  umgekehrt  verhalten,  als  es  der  Empirismus 
vermutet.  Wir  widerstreben  nicht,  indem  wir  lustvoll  oder 
unlustvoll  vorstellten;  nein,  wir  widerstreben  Gegenständen, 
die  uns  mifsfallen,  in  einer  Weise,  die  man  überhaupt  nicht 
entsprechend  in  Vorstellungen  fassen  kann.  Erst  nachdem 
das  öfter  geschehen  ist,  stellt  sich  mit  dem  Erfolge  des  Wider- 
strebens der  Wunsch  oder  die  Vorstellung  ein,  dafs  Gegen- 
stande nicht  seien.  Statt  dafs  sie  das  Widerstreben  bedingte 
oder  gar  bildete,  bedingt  dieses  sie.  ^)  Das  Denken  borgt  hier 
vom  Wollen,  das  theoretische  vom  praktischen  Bewufstsein, 
nicht  aber  borgt  das  praktische  Bewufstsein  vom  theoretischen. 
5.  Eine  umfassende  Probe,  an  deren  Ende  wir  stehen! 
Es  galt  die  extrem-empiristische  Willenslehre  zu  wägen.  Wir 
haben  es  gethan  und  sie  zu  leicht  befunden.  Alle  ihre  An- 
nahmen versagten.  Nichts,  worüber  sie  ausreichende  Rechen- 
schaft geben  könnte,  weder  über  die  Stärke,  noch  über  die 
Qualität,  noch  über  die  Richtung  der  WiUeusregungen.  Am 
Ende  der  empiristischen  Willenslehre  selber  stehen  wir  trotz- 
dem nicht.  Erst  jüngst  ist  ein  neues  empiristisches  System 
aufgekommen,  das  eine  Reformation  der  älteren  empiristischen 
Lehre  an  Haupt  und  Gliedern  bringen  will.  Es  meidet  ihre 
Schwächen;  aber  nur,  um  an  dem  Prinzip,  die  Willensregungen 
seien  nichts  Selbständiges,  um  so  zäher  festzuhalten  und  es 
unter  der  Hülle  eines  psychologischen  Gesetzes  erst  recht  auf 
den  Schild  zu  heben. 

V.  Ehbenfels^)  hat  diesen  Versuch  unternommen.  Ihm 
gilt  alles  Wünschen,  Streben,  Wollen  nicht  erst  für  eine  Ver- 

*)  Die  Vorstellungen  des  Seins  und  Nichtseins  Yon  Gegenständen 
haben  ganz  sicher  eine,  vielleicht  ihre  kräftigste,  Wurzel  i^  den  Er- 
fahrungen des  Willenslebens.  Das  hat  mit  Recht  Dilthbt  betont.  „Bei- 
träge zur  Lösung  der  Frage  yom  Ursprünge  unseres  Glaubens  an  die 
Realität  der  Aufsenwelt."    Sitzungsberichte  der  Berliner  Akademie  1890. 

*)  V.  Ehbbnfsls,  System  der  Werttheorie,  I.  Bd.  Allgemeine  Wert- 
theorie.   Psychologie  des  Begehrens,  1897. 


218  Hermann  Schwarz: 

biüdmig  von  Gefühlen  und  Vorstellungen,  sondern  schlechtweg 
für  ein  Vorstellen,  das  sich  auf  unsere  Gefühlslage  beziehe. 
Nicht,  als  ob  es  diese  zum  Gegenstande  hätte,  von  sich  aus 
darauf  Beziehung  nähme!  Das  wäre  der  Irrtum  des  Hedo- 
nismus.  Nein,  es  sei  keine  Zweckvorstellung  von  derselben. 
Wohl  aber  stehe  es  mit  unserer  Gefuhlslage  in  einem  that- 
sächUchen  Zusammenhange.  Nicht  einfach  in  dem,  dafs  es 
lustbetontes  Vorstellen  sei.  Hier  liege  ein  anderer  Irrtum, 
der  des  älteren  Empirismus  (Aktualitätstheorie).  Gebe  es 
doch  Willensregungen,  ohne  dafs  die  geringste  Lust  beiträte, 
ja,  ohne  dafs  überhaupt  Gefühle  mit  ihnen  zusammen  zu  er- 
wachen brauchten!  Was  mag  aber  dann  fiir  die  Vorstellung 
noch  übrig  bleiben,  die  nach  v.  Eheenfels  Willensregung 
sein  soll?  Sie  soll  sich  nicht  auf  unsere  Gefuhlslage  richten, 
es  soll  nicht  notwendig  sein,  dafs  sich  ihr  überhaupt  positiv 
gefühlte  Lust  gesellt?  Sie  hänge,  lautet  die  Antwort,  in  einer 
ganz  bestimmten  verborgenen  Weise  von  unserer  ganzen  Ge- 
fühlslage ab.  Das  nämlich,  was  wir  Willensregung 
nennen,  sei  die  Vorstellung  eines  Gegenstandes,  den 
wir  erreicht  oder  vermieden  denken.  Diese  Vor- 
stellung müsse,  daraufkomme  es  an,  im  Augenblicke, 
wo  sie  auftrete,  die  relativ  angenehmste  sein.  Sie 
brauche  nicht  gerade  positiv  lustvoll  zu  sein,  müsse 
aber  einen  höheren  Glückszuwachs  zur  bisherigen 
Gemütslage  herbeiführen,  als  jede  andere,  die  gleich- 
zeitig möglich  sei.  Die  Stärke  des  Strebens  und 
Wollens  sei  der  Gröfse  jenes  Glückszuwachses  gleich. 
Man  kann  dasselbe  auch  so  ausdrücken:  Ein  besonderes  psy- 
chisches Grundelement,  Begehren  giebt  es  nach  v.  Ehbenfels 
nicht.  Das,  was  wir  so  nennen,  ist  eine  Vorstellung,  durch 
die  wir  einen  Gegenstand  vermieden  oder  erreicht  denken. 
Eine  solche  nämlich,  die  durch  ihren  Eintritt  den  Gefuhls- 
stand  so  verändert,  dafs  derselbe  zu  einem  Lustmaximum 
oder  Unlustminimum  aufrückt.  Natürlich  kann  das  letztere 
auch  manchmal  der  Null  gleich  sein.  Alsdann  stellen  wir 
jenen   Gegenstand  blofs   vor,   ohne  irgend   etwas  dabei    zu 


\ 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  219 

fühlen,^)  und  wollen  ihn  doch.  Derselbe  Gedanke  in  aller- 
kürzester Fassung :  Wille  ist  ein  Maximum  sich  verringernder 
Unlust,  welches  zusammen  mit  der  Vorstellung  eintritt,  dafs 
ein  Gregenstand  sei  oder  nicht  sei.^  Das  ist  die  Form  einer 
Definition.  Um  ihr  die  Form  eines  Gesetzes  zu  verleihen: 
Wir  können  nicht  wünschen  und  streben,  ohne  dafs 
uns  wenigstens  für  die  Anfangszeit  (warum  nicht  auch 
für  die  Dauer?  d.  Verf.)  des  Wünschens  und  Strebens 
mehr  Glück  erwachse,  als  wenn  jene  Akte  unter- 
blieben wären,  v.  Eheenfels  hat  dies  das  Gesetz  der 
relativen  Glücksförderung  für  den  Anfang  des  Wünschens  und 
Wollens  genannt.^) 

6.  Allein  dies  Gesetz  und  diese  Definition  sind  nicht  so 
einfach,  wie  sie  aussehen.  Es  fällt  sogar  recht  schwer,  sie 
im  einzelnen  klar  auseinanderzulegen. 

a)  Man  könnte  beides  z.  B.  nicht  einfach  am  Beispiele 
des  sogenannten  Motivenkampfes  erläutern  und  etwa  behaupten: 
„Wer  sich  nach  längerem  Schwanken  strebend  oder  wollend 
nach  einer  bestinunten  Richtung  hin  entscheidet,  mufs  bei 
redlichem  Nachdenken  die  Überzeugung  gewinnen,  er  habe 
denjenigen  Teil  erwählt,  aus  welchem  ihm  zum  mindesten  für 
die  Anfangszeit  des  Strebens-  oder  Willensaktes  mehr  (eigenes) 
Glück  erwachse,  als  wenn  jene  Akte  unterblieben  wären".*) 
Das  hiefse  unterstellen,  das,  was  wir  für  mehr  des  eigenen 
Glücks  hielten,  sei  unser  Willensziel,  unterstellen,  dafs  wir 
stets  glauben  müfsten,  das  Lustvollere  gegenüber  dem  Un- 
lustvolleren gewählt  zu  haben.    Damit  stimmen   weder   alle 


^)  Da  V.  Ehreittels  neutrale  Gefühle  nicht  annimmt,  und  nach 
seiner  physiologischen  Theorie  nicht  annehmen  darf.  Unter  Glück  versteht 
derselbe  Autor  immer  ein  Mehr  von  Lust  oder  Weniger  von  Schmerz. 

*)  CoRNBLiDS,  Psychologie  als  Erfahrungswissenschaft,  S.  342,  giebt 
dafür  die  Formel:  G(Ba)<G(A),  wo  A  der  Gegenstand  der  Strebungs- 
vorstellung, a  diese  selbst,  B  die  übrigen  BewuTstseinsinhalte  und  G  die 
Gefühlsbetonung  bezeichnet. 

8)  A.  a.  0.  S.  31. 

^)  So  drückt  es  einmal  v.  Ehrbnfels  selbst  aus,  ohne  die  im  Texte 
gerügte  Unterstellung  mitmachen  zu  wollen.  S.  31.  Vergl.  auch  a.  a.  0. 
S.  234—235. 


220  Hermann  Schwarz: 

Thatsachen:  denn  wer  nach  schwerem  Seelenkampfe  einen 
heifsgeliebten  Freund  dem  Staatsanwalt  übergiebt,  hat  sich 
ganz  gewifs  nicht  für  das  entschieden,  was  ihm  selber  ange- 
nehm wäre.  Noch  vergleichen  wir,  wo  wir  eine  solche  hedo- 
nistische Entscheidung  treffen,  den  künftigen  lustvolleren  Zu- 
stand, auf  den  wir  es  abzwecken,  mit  unserem  gegen- 
wärtigen, wie  er  einträte,  wenn  jegliches  Wollen  ausbliebe; 
daran  denkt  überhaupt  kein  Sterblicher.  Sondern  wir  ver- 
gleichen ihn  während  des  Motivenkampfes  mit  einem  zweiten 
künftigen  Zustande,  demjenigen,  der  auf  ein  anderes 
Wollen  folgte.  Wir  rechnen  das  aus,  was  wir  an  Lust  und 
Unlust  erleben  werden,  wenn  wir  nach  dem  einen  Wollen 
thun  und  von  dem  anderen  abstehen. 

b)  Besser  erscheint  eine  andere  Erläuterung.  Soll,  wie 
es  offenbar  gemeint  ist,  durch  die  Willensregungen  unser 
gegenwärtiger  Zustand  zu  einem  Unlustminimum  an- 
schwellen, wie  kann  das  nur  zugehen?  So,  dafs  die  Vor- 
stellungen, in  denen  sie  stecken  sollen,  stets  lustbetont  ^)  sind. 
Nur  aus  der  ausnahmslosen  Lustmitgift  jener  Vorstellungen 
könnte  die  angebliche  Thatsache  erklärt  werden,  dafs  sich 
ausnahmslos  mit  jeder  Willensregung  die  vorhandene  Lust 
vergröfserte,  die  vorhandene  Unlust  verminderte,  v.  Ehefn- 
FELS  kommt  selber  an  einer  Stelle  dieser  Deutung  nahe:  Er 
spricht  von  der  ausnahmslos  beobachteten  relativen  Glücks- 
zunahme bei  jedem  Akte  des  Wünschens,  Strebens,  WoUens 
(S.  33).  Wie  könnten  wir  solche  Glückszunahme,  solche  Ver- 
besserung unseres  Gefühlszustandes  (nach  S.  30  eine  bekannte 
Thatsache  beim  Streben  und  Wollen)  beobachten,  aufser  wenn 
die  Vorstellungen  geradezu  lustvoll  wären,  in  welchen  die 
Willensregungen  beständen!  Wären  sie  unlustvoll,  und  sei  es ' 
noch  so  wenig,  so  würden  sie  im  Gegenteil  die  schon  vor- 
handene Unlust  noch  vermehren;  denn  Unlust  zu  Unlust  hin- 
zugefügt, gäbe  ja  niemals  eine  Abnahme,  sondern  immer  eine 


^)  V.  Ehbbnfbls  deutet  einen  brieflichen,  hierauf  fufsenden  Einwand 
von  C.  Stumpf  an. 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  221 

Zunahme  von  Lust!  —  Das  wäre  dann  so  ziemlich  dasselbe, 
wie  die  ältere  empiristische  Lehre.  Nur,  dafs  etwas  ausge- 
strichen würde,  was  diese  noch  zuliefs:  dafs  niemals  unlust- 
betonte Vorstellungen  den  Grundstock  von  Willensregungen 
abgeben  könnten.  Und  dafs  etwas  hinzugefügt  würde,  was 
diese  nicht  enthielt:  die  Lustmitgift  jeder  Vorstellung,  die 
Willensregung  sei,  müsse  eine  gewisse  maximale  Höhe  haben. 
Allein  auch  diese  Deutung  widerstreitet,  soweit  es  die 
negativen  Willensregungen  angeht,  allen  Thatsachen.  Von 
der  ausnahmslosen  Lustbetonung  der  Vorstellungen,  die 
Willensregungen  sein  sollten,  müfsten  wir  doch  auch  regelmäfsig 
etwas  merken,  selbst  wenn  ein  Meer  von  Unlust  diese  Lust 
gleich  wieder  verschlänge!  Das  Widerstreben  ist  aber  nicht 
lustbetont!  Unmöglich,  dies  zu  verkennen!  Nur  der  kommt 
zur  Annahme  lustbetonten  Vorstellens  bei  allem  Wollen,  wer 
fölschlich  die  negativen  Willensregungen  nicht  gegen  das 
Dasein  ihrer  Objekte,  sondern  auf  die  Aufhebung  oder  Ver- 
nichtung-derselben  gehen  läfst.^)  Würde  der  letzteren  aber 
noch  widerstrebt?  Nein,  sie  wird  gerade  gewünscht  oder 
begehrt.  Der  ältere  Empirismus  konnte  die  entgegengesetzte 
Qualität  der  beiden  Arten  von  Willensregungen  doch  anerkennen 
und  den  Versuch  wagen,  sie  wieder  aus  einem  Gegensatze, 
dem  von  Lust  und  Unlust,  zu  erklären.  Die  neue  Lehre  in 
dieser  zweiten  Interpretation  dürfte  jenen  Gegensatz  der  Willens- 
regungen nicht  einmal  zugeben.  Sie  stände  in  diesem  Punkte 
noch  hinter  der  älteren  empiristischen  Anschauung  zurück, 
während  alle  Blöfsen  der  letzteren  auf  sie  mit  übergingen. 


^)  So  y.  Ehrenfels  selbst  S.  6,  18,  240  ff.  Dagegen  findet  sieb 
S.  218  die  richtige  Bescbreibung :  „Analog  werden  mit  dem  verabsebeuen- 
den  Begehren  die  Objekte  in  den  Vorstellungen  gleichsam  abgestofsen 
oder  zurückgewiesen**.  Dieses  „verabscheuende  Begehren^'  ist  genau  das, 
was  wir  Widerstreben  nannten.  Da  es  gegen  sein  Objekt  geht,  nicht 
auf  das  Aufhören  desselben,  so  erklärt  es  sich,  dafs  wir  auch  Vergangenes 
verabscheuen  können,  z.  B.  Hexenprozesse  (S.  27  von  v.  Ehbenfels  nicht 
richtig  erklärt).  Auch  eigene  frühere  Schlechtigkeit  können  wir  verab- 
scheuen und  nennen  solchen  Abscheu  ,3eue^*.  Die  letztere  ist  also 
keineswegs,  wie  unser  Autor  S.  236  meint,  ein  auf  Unerfüllbares  sich 
richtender  Wunsch. 


222  Hermann  Schwarz: 

c)  Unser  Autor  zeigt  auf  eine  dritte  Deutung  (S.  37). 
Lustgefühle,  meint  er,  begleiteten  keineswegs  ausnahmslos 
alle  Akte  des  Strebens,  sondern  nur  die,  deren  Objekte  wir 
zuversichtlich  zu  erreichen  glaubten.  Selbst  aber,  wenn  das 
erstere  ausnahmslos  geschehe,  brauchte  es  darum  doch  nicht 
gerade  durch  sie,  durch  den  Zuschufs  der  positiven  Strebens- 
oder  Willenslust,  zu  einer  relativen  Glücksförderung, 
zu  einem  Minimum  von  Unlust  zu  kommen.  Denn  das  Streben 
und  Wollen,  bezw.  die  lustbetonte  Vorstellung,  in  der  es  sich 
verkörperte,  seien  nur  sehr  schwache  Gefühlsquellen.  Viel 
stärkere  seien  die  Hoffiiung  auf  das  Eintreten,  die  Furcht  vor 
dem  Ausbleiben  des  Begehrten.  Durch  eine  Unlust  aus  der 
letzteren  Quelle  könnte  die  specifische  Strebens-  oder  Willens- 
lust mehr  als  aufgehoben  werden,  wenn  ihr  nicht  eine  ent- 
sprechende Lust  aus  der  nämlichen  Quelle,  die  Hoffiiungslust, 
zu  Hilfe  käme  und  das  Streben  und  Wollen  bedingte  (vergl. 
auch  S.  190).  —  Eine  Deutung,  welche  zwar  die  Schatten 
der  älteren  empiristischen  Lehre  nicht  mehr  heraufbeschwört, 
ihrerseits  aber  sichtlich  auf  den  ersten  Blick  nicht  genügt. 
Denn  nun  gehörte  es  gar  nicht  mehr  zum  Charakter  der 
WoUens-  und  Strebensvorstellung  selber,  dafs  sie  mit  maximaler 
Lustbetonung  begabt  wäre.  Schon  ehe  sie  aufträte,  hätte 
sich,  indem  entsprechende  Hoffnungsgefuhle  gespielt  hätten, 
der  Gefühlsstand  auf  das  Minimum  von  Unlust  eingestellt,  und 
aus  diesem  Gefühlsstand  heraus  wäre  sie  erst  geboren.  Sie 
wäre  nur  das  Zeichen,  dafs  er  andauerte.  Auf  die  Natur  ihrer 
Ursache,  auf  jene  Hoffnungslust  im  Verhältnis  zu  anderen 
gleichzeitigen  Unlustquellen,  käme  alles  an,  auf  sie  selber, 
trotzdem  sie  das  Wünschen  oder  Wollen  verkörperte,  nichts. 
Sie  wäre  irgend  eine  ganz  gewöhnliche  Vorstellung  mit  irgend 
einer  ganz  gewöhnlichen  Gefühlsbetonung,  ob  von  Lust  oder 
Unlust,  das  auszumachen  gehörte  gar  nicht  in  die  Willens- 
psychologie. Denn  die  Qualität  des  Wollens  wäre  dann 
sichtlich  keine  andere  als  die  des  Vorstellens,  da  wir  ja 
auch  bei  ganz  neutralem  Gefühlsstand  noch  wollen  können. 
Damit  würde  abermals  der  Gegensatz  der  Willensregungen 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  223 

hinweggefegt,  der  sich  nun  einmal  nicht  ableugnen  läfst.  — 
Zudem  dürfte  man  jetzt  nicht  mehr  behaupten,  dafs  beim 
wollenden  Verhalten  der  Gefühlsstand  besser  sei,  als  beim 
nichtwoUenden.  Die  relativ  beste  Gefuhlslage  ist  ja  bereits 
verwirklicht,  ehe  wir  wünschen  oder  wollen,  verabscheuen 
oder  widerstreben.  Ist  sie  doch  die  Ursache  davon,  dafs  diese 
Akte  auftreten.  Man  denke  sich  die  Vorstellung  fort,  in  der 
das  Wünschen,  Wollen,  Verabscheuen,  Widerstreben  besteht, 
lasse  sie,  etwa  infolge  von  Keproduktionsschwierigkeiten  oder 
abgelenkter  Aufmerksamkeit,  nicht  auftreten,  dann  haben  wir 
den  Zustand  des  Nichtwollens,  und  nichts  wird  sich  an  der 
Gefühlslage  ändern,  aus  der  sonst  die  angebliche  Willens- 
vorstellung entsprossen  wäre ;  so  wenig,  wie  sich  an  der  Sonne 
etwas  änderte,  wenn  man  die  Wärme  des  Steins  fortnähme,  auf 
den  sie  scheint.  Der  Glückszustand  beim  Wollen  und  beim 
Nichtwollen  bliebe  ganz  gleich. 

d)  Indessen  die  genannte  Deutung  läfst  sich  verbessern. 
Setzen  nicht  die  Hoflfnung  auf  das  Eintreten,  die  Furcht  vor 
dem  Ausbleiben  eines  Gegenstandes  die  Vorstellung  schon 
voraus,  deren  „Haften  im  Bewufstsein"  unter  dem  Namen 
eines  „Begehrens"  diese  starken  Gefühlsquellen  allererst  be- 
dingen sollten?  Und  ist  nicht  die  Hofl&iung  selber  bereits 
ein  Begehren?  (S.  21:  Hoflhung  ist  ein  zuversichtlich  freudiger 
Wunsch.)  Das  vei^öfsert  zunächst  die  Schwierigkeiten, 
treibt  aber  auch  mit  innerer  Notwendigkeit  zu  einem  Lösungs- 
versuch, der  die  Verbesserung  bringt.  Beides,  jene  Schwierig- 
keiten und  ihre  Lösung,  spiegelt  sich  in  der  endgültigen 
Formulierung,  die  v.  Ehbenfels  S.  41  giebt:  „Alle  Akte  des 
Begehrens  werden  in  ihren  Zielen  sowohl  wie  in  ihrer  Stärke 
von  der  relativen  Glücksforderung  bedingt,  welche  sie  gemäfs 
den  Gefühlsdispositionen  des  betreffenden  Individuums  bei 
ihrem  Eintritte  ins  Bewufstsein  und  während  ihrer  Dauer 
in  demselben  mit  sich  bringen/' 

Wie?  Die  Akte  des  Begehrens  von  einer  Glücksforderung 
bedingt,  welche  sie  bei  ihrem  Eintritt  ins  Bewufstsein  erst 
mit   sich  bringen?    Welche  Wirkung  könnte  die  Ursache 


224  Hermann  Schwarz: 

schon  vorher  herbeiführen,  aus  der  sie  ihrerseits  erst  nachher 
flösse?  Dies  die  Anerkennung  der  Schwierigkeit!  Der  Ver- 
such, dieselbe  zu  lösen,  liegt  in  dem  Worte  von  den  Gefühls- 
dispositionen.  Das  heilst,  soviel  ich  sehe:  nicht  allein  auf 
die  Hoflöiung  oder  Furcht^)  komme  es  an,  welche  dem  ersten 
Auftreten  der  Vorstellung  folge,  die  hernach  als  Begehren  im 
Bewufstsein  hafte,  sondern  auch  auf  die  Hoffnung  oder 
Furcht,  welche  anderen  Vorstellungen  folgen  würde,  wenn 
diese  ins  Bewufstsein  träten.  Man  müsse  sich  denken,  dafs 
jede  dieser  Vorstellungen,  die,  welche  wirklich  auftrete,  und 
die,  welche  aufserdem  auch  auftreten  könnten,  gleichsam  einen 
Geflihlssturm  entfesseln  oder  entfesseln  würden.  Zum  Be- 
gehren komme  es  dann  und  nur  dann,  wenn  der  Gefühlssturm, 
den  die  erste  Vorstellung  wirklich  entfache,  mit  weniger  Unlust 
abschliefse,  als  die  anderen  möglichen  Gefuhlsstfirme,  welche 
die  übrigen  Vorstellungen  entfachen  würden.  Und  zwar  sei 
das  Begehren  um  so  stärker,  je  mehr  Unlust  im  ersten,  gegen- 
über dem  zweiten  Falle  gespart  werde. 

Unser  Autor  glaubt  hier  sogar  einem  ganz  allge- 
meinen Gesetze  auf  die  Spur  gekommen  zu  sein,  das  nicht 
nur  für  die  Begehrungsvorstellungen,  sondern  für  alle  mög- 
lichen gelte,  und  die  Stärke  ihres  Haftens  im  Bewufstsein  be- 
stimme: S.  191  „Die  Differenz  der  Gefühlszustände,  welche 
sich  an  zwei  beliebige  Vorstellungen  knüpfen  würden  (und 
nicht  etwa  positive  Gefühle  oder  eine  stete  Glückszunahme), 
giebt  den  Grund  ab,  weshalb  immer  die  angenehmere  in  Bezug 
auf  die  unangenehmere  einen  Zuschufs  zu  der  ihr  aus  ander- 
weitigen Umständen  zukommenden  Kraft  erhält,  so  dafs  ein 
solcher  Zuschufs  selbst  bei  einem  auf  dem  Indifferenzpunkt 
zwischen  Lust  und  Unlust  verbleibenden,  ja,  bei  einem  stetig 
sich  verschlechternden  Gefühlszustände  immer  noch  bestehen 
kann.  Die  Höhe  des  Kraftzuschusses  ist  nicht  proportional 
der  Höhe  des  Glückszustandes,  auch  nicht  der  Gröfse  einer 
etwaigen  Glückssteigerung,   sondern  er  ist  proportional  dem 


^)  Besser  „Befürchtung".  Befürchtung  ist  eine  Unlust,  die  an  das  Vor- 
handensein eines  GewoHten  geknüpft  ist.  Furcht,  Grauen  ist  etwas  anderes. 


Die  empiristUche  Willenspsychologie  etc.  225 

Unterschiede  im  Glückszustande,  welcher  sich  an  die  betreffen- 
den Vorstellungen  knüpfen  würde.  Je  mehr  sich  mit  dem 
Verdrängtwerden  einer  Vorstellung  A  durch  eine  Vorstellung  B 
der  Grefiihlszustand  (gleichgültig,  ob  er  ein  lust-  oder  schmerz- 
voller ist)  verschlimmem  würde,  eine  desto  gröfsere  Kraft 
setzt  A  diesem  Verdrängtwerden  entgegen".  An  diesem  Ge- 
setze nähmen  auch  die  Begehrungsvorstellungen  teil.  Die 
Stärke  des  Begehrens  werde  geradezu  durch  die  relative 
Kraft  ihres  Haftens  im  Bewufstsein  gemessen;  nur  dafs  bei 
ihnen  noch  der  Nebengedanke  von  der  Erreichbarkeit  oder  Ver- 
meidbarkeit des  Gegenstandes,  auf  den  sie  gingen,  ausdrück- 
lich hinzutreten  müsse  (S.  248 — 249). 

Man  sieht,  hier  erst  kommt  das  wahre  Gesicht  des 
V.  Eheenfels' sehen  Reformationsversuches  zum  Vorschein! 
Hier  in  der  That  ein  entschiedenes  Hinausschreiten  über  die 
ältere  empiristische  Lehre!  Nach  wie  vor  gilt  noch  das  Be- 
gehren als  eine  Vorstellung,  aber  ihre  aktuelle  Gefuhlsbe- 
tonung  rückt  nach  der  neuen  Auffassung  zu  etwas  Unwesent- 
lichem herab.  Keine  Rede  mehr  davon,  aus  ihr  die  Stärke 
der  Willensregungen  zu  erklären.  Vielmehr  die  Stärke,  mit 
der  die  genannte  Vorstellung  im  Bewufstsein  haftet,  die  soll 
jetzt  die  Stärke  der  Willensregung  sein.  Begehren,  das 
sei  eben  die  Vorstellung,  die  am  stärksten  im  Be- 
wufstsein hafte,  soweit  es  nicht  auf  die  Associationsgesetze, 
sondern  auf  den  Stand  des  Gefühls  ankomme.  ^)  Das  Maximum 
relativer  Glückshöhe  oder,  was  dasselbe  ist,  ersparter  Unlust 
soll  sie  gleichsam  anziehen  und  festhalten.  Dies  über  die 
Stärke  der  Willensregungen.  Und  welches  ist,  im  Sinne 
von  V.  Ehrenfels,  ihre  Qualität?  Nicht  der  Lust-  oder 
Unlustton  der  Begehrensvorstellung,  da  es  auf  diesen  ja  gar 
nicht    ankomme;    sei    sie    doch    gelegentlich    ganz   neutral! 


^)  Nach  Hbbbabt  ist  bekanntlich  das  Begehren  ein  Aufstreben  der 
Vorstellung,  deren  Inhalt  begehrt  wird,  gegen  Hindernisse.  Es  sei  aber 
hier  von  aller  Analogie  mit  älteren  Lehren  abgesehen.  Eine  gute  Über- 
sicht derselben  bei  Külpe:  „Die  Lehre  vom  Willen  in  der  neueren  Psycho- 
logie'*, in  WuNDTS  „Philosophischen  Studien"  V,  2. 

Yierteljahrssclirift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXIII.  2.  15 


226  Hermann  Schwarz! 

Sondern  er  fällt  mit  der  Qualität  des  Vorstellens  zu- 
sammen. Woher  weiter  der  qualitative  Gegensatz  der 
Willensregungen?  Dieser  soll  dadurch  herauskommen,  dafs 
wir  uns  im  Streben,  Wünschen,  Wollen  vorstellen,  der  Gegen- 
stand sei  erreicht,  im  Widerstreben,  er  sei  vermieden.  Selbst- 
verständlich decke  sich  dabei  auch  die  Richtung  des  Be- 
gehrens stets  mit  jener  des  Vorstellens. 

7.  Unstreitig  haben  wir  hier  den  willenspsychologischen 
Empirismus  in  seiner  feinsten  und  geistigsten  Gestalt!  In- 
dessen unüberwindliche  Schwierigkeiten  auch  hier! 

a)  Die  Willensregungen  sollten  blofse  Vorstellungen  sein, 
die  sich  mit  einer  gewissen  maximalen  Stärke  im  Bewufstsein 
behaupteten?  Dawider  steht  unerschütterlich  der  Nachweis, 
dafs  wir  zu  manchen  Willensregungen  überhaupt  keine  Gegen- 
stände vorstellen  könnten,  die  ihnen  entsprächen,  so  z.  B. 
wenn  wir  widerstreben;  dafs  wir  femer  zu  manchen  anderen 
die  Ziele  gewifs  nicht  vergegenwärtigen,  die  zu  ihnen  gehören, 
so  z.  B.  nicht  die  letzten  Zwecke  vieler  mittelbarer  Wollungen. 
Selbst  wenn  jene  Ziele  in  einem  unbewufsten  Denken  vor- 
lägen, ^)  so  fiele  doch  noch  immer  der  Nebengedanke  aus,  sie 
könnten  erreicht  oder  vermieden  werden.  Ohne  diesen  aber 
giebt  es  nach  v.  Eheenjpels  kein  Wollen,  und  so  fehlte  hier 
gerade  der  Wille,  der  das  mittelbare  Wollen  allererst  zu  dem 
machte,  was  es  ist.  Der  letzte  mafsgebende  unmittelbare 
Wille  fehlte,  ohne  den  wir  bei  den  Gegenständen  des  mittel- 
baren Wollens,  die  uns  für  sich  selber  gleichgültig  liefsen, 
nimmermehr  den  Eindruck  hätten,  sie  seien  irgendwie  und 
irgendwozu  wichtig.  Die  Erfahrungen,  welche  die  Eichtung  der 
Willensregungen  angehen,  widersprechen  also  allem  und  jedem 
Empirismus.  —  Nicht  minder  das,  was  wir  von  ihrer  Qualität 
wissen.  Ist  es  ausnahmslos  eine  maximale  Glücksförderung, 
durch  welche  sich  die  Begehrungsvorstellungen  im  Bewufstsein 
behaupten,  woher  sollte  ihnen  jemals  der  Gegensatz  von  Be- 

^)  Gegen  die  Annahme  unbewufsten  Vorstellens  vergl.  meine  „Um- 
wälzung der  Wahmehmungshypothesen"  an  den  im  Register  unter  „un- 
bewulst"  angeführten  Stellen. 


Die  empiristische  WiUenspsyctologie  etc.  02? 

gehren  und  Widerstreben  anfliegen?  Unser  Autor  deutet 
ihn  nicht  eben  glücklich  hinweg,  indem  er  allen  Willens- 
regungen blofse  Vorstellungsqualität  giebt  und  dabei  das 
Widerstreben  gleich  eiaem  Wünschen  setzt,  welches  aufs 
Aufhören  seines  Gegenstandes  ziele!  Das  sind  Bedenken, 
von  denen  bereits  die  Rede  war,  wider  deren  Stachel  auch 
die  neue  Lehre  nicht  zu  locken  vermag.  Die  Willens- 
regungen sind  eben  und  bleiben  in  ihrem  Wesen  durchaus 
selbständig ;  in  keine  Vorstellungen  oder  Gefühle,  in  keine 
Gesamtheiten  von  Vorstellungen  und  Gefühlen,  in  keine  Be- 
ziehungen der  Vorstellungen  zu  Gefühlsdispositionen  lassen 
sie  sich  je  auflösen. 

b)  Wir  wollen  darum  lieber  gleich  das  Gesetz  der  rela^ 
tiven  Glücksförderung  als  das  behandeln,  was  es  ist.  Nicht 
so  sehr,  was  die  Willensregungen  sind,  will  es  im  letzten 
Grunde  aussagen,  sondern  was  sie  verursacht.  Es  ist  seiner 
Absicht  nach  als  ein  Motivgesetz  des  Willens  gedacht. 
Wie  immer  sich  jede  Strebung  ihrem  Wesen  nach  zu  der 
Vorstellung  verhalte,  die  gerade  am  stärksten  im  Bewufstsein 
hafte,  stets  sei  sie  von  ihr  abhängig;  sie  habe  entweder  diese, 
die  Zielvorstellung,  selbst  zur  Ursache,  oder  doch  mit  ihr 
zusammen  in  unseren  Gefühlsdispositionen  die  gleiche  Ursache ; 
und  so  trete  sie  stets  mit  einem  Stärkegrade  auf,  welcher 
der  Festigkeit  proportional  oder  gleich  sei,  mit  der  jene  Vor- 
stellung im  Bewufstsein  hafte,  habe  dazu  mit  ihr  die  gleiche 
Dauer. 

8.  Die  Willensregungen  sollen  hiernach,  was  sie  auch 
selber  seien,  von  dem  Maximum  relativen  Glückszuwachses, 
das  eine  Vorstellung  mit  sich  bringt,  unbedingt  abhängig 
sein! 

a)  Blicken  wir,  um  das  zu  prüfen,  jetzt  auf  ihre  Dauer 
und  Stärke,  wie  wir  vorhin  auf  ihre  Qualität  und  ihre 
Eichtung  geblickt  hatten!  —  Gälte  jenes  Motivgesetz,  so 
könnten  unsere  Willensregungen  nur  unter  einer  Bedingung 
länger  anhalten  und  gleich  stark  bleiben:  die  Zielvorstellung 
müfste  unausgesetzt,  -wie  sich  auch  der  Gefühlsstand  änderte, 

15* 


228  Hermann  Schwarz: 

mehr  Glück  bringen,  als  alle  anderen  Vorstellungen,^)  und 
wir  müfsten  bei  ihr,  diesen  anderen  gegenüber,  stets  gleich 
viel  Unlust  ersparen.  Verringerte  oder  vergröfserte  sich  die 
ersparte  Unlust,  so  müfste  auch  die  Stärke  der  Begehrung 
sinken  oder  wachsen.  —  Bleibt  nun  nicht  aber  z.  B.  der 
Wille  eines  Schachspielers,  den  feindlichen  König  mat  zu 
setzen,  während  der  ganzen  Partie  gleich?  Von  Anfang  bis 
zu  Ende  erstrebt  er  es  mit  gleicher  Stärke.  Und  doch! 
Welche  Fülle  von  Gefühlen  strömt  schon  allein  mit  dem 
wechselnden  Gange  des  Spieles  auf  ihn  ein!  Hier  HoflBaung, 
dort  Furcht,  hier  Freude  über  eine  gelungene  List,  dort 
Ärger  über  den  eigenen  Fehler;  hier  der  geistige  Genufs  an 
einer  spannenden  Stellung,  dort  Langeweile  über  den  ein- 
tönigen Verlauf!  Von  den  äufseren  Einflüssen  zu  schweigen, 
die  den  Gefühlsstand  verändern.  Die  Art,  wie  sich  der 
Gegner  im  Spiele  benimmt,  kann  uns  sympathisch  oder  un- 
sympathisch berühren,  aus  der  Umgebung  kommen  Geräusche, 
welche  stören,  angenehme  Sinneseindrücke  (z.  B.  durch  das 
Rauchen  einer  Zigarre),  die  den  Geflihlsstand  heben  u.  s.  w. 
Wie  sollte  bei  so  wechselnder  Gefühlslage  der  Wille  zu  ge- 
winnen wandellos  fortdauern,  wenn  anders  seine  Stärke  von 
dem  Grade  abhinge,  in  dem  seine  Zielvorstellung  glücksfördem- 
der  als  andere  wäre  ?  Er  müfste  vielmehr  sinken,  während  wir 
z.  B.  der  starken  Versuchung  widerstehen,  einen  Zug  zu  thun, 
der  zwar  glänzend,  aber  in  seinem  Erfolge  fraglich  ist.  Oder 
wenn  wir  uns  über  das  Benehmen  unseres  Gegners  ärgern. 
Beidemal  bliebe  in  der  Vorstellung  des  künftigen  XJewinns 
der  Stachel  einer  Unlust  zurück  und  verringerte  ihren  Glücks- 
unterschied gegenüber  anderen  Vorstellungen,  gegenüber  der, 
möglichst  glänzend  zu  spielen,  oder  der,  einen  genehmeren 
Partner  zu  haben.  Statt  dessen  ändert  sich  nicht  das  Ge- 
ringste in  unserem  Willen  zu  gewinnen,  sofern  er  überhaupt 
fortbesteht.  Wir  müssen  uns  vielleicht  erst  ausdrücklich  dazu 
entschliefsen,  mit  dem  unlieben  Genossen   das  Spiel  fortzu- 


')  Da  „sich  durch  das  Begehren  stets  der  jeweilig  heste  der  mög- 
lichen Gefühlszustände  verwirklicht*^  v.  Ehbbnfels  (a.  a.  O.  S.  41). 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  229 

setzen.  Dann  thnn  wir  es  aber  auch  mit  der  gleich  starken 
Absicht  anf  Gewinn.  Wir  woUen  erst  gewinnen,  und  das  so 
fest  wie  vorher,  dann  aufhören. 

.Man  könnte  entgegnen,  dann  sei  es  eben  jenes  Doppelte, 
erst  gewinnen,  dann  aufhören,  was  wir  wollen ;  dieses  Wollen 
entspreche  genau  dem  relativen  Gliicksmaximum  aus  unserer 
gesamten  nunmehrigen  Geffthlslage,  wie  sie  sich  dadurch  ge- 
staltet habe,  dafs  obiges  Mifsfallen  neu  eingetreten  sei.  Allein 
das  erklärte  nach  wie  vor  nicht,  warum  das  Wollen,  das 
schon  vorher  bestand,  nämlich  zu  gewinnen,  so  stark  bleibt, 
wie  es  war.  Das  neue  relative  Glücksmaximum  ist  doch  ge- 
rade ein  anderes  geworden,  seüi  Unlustbetrag  ist  gegen  das 
vorige  heraufgegangen!  Zudem  wird  hier  eine  neue  Schwierig- 
keit sichtbar! 

b)  Um  sie  zu  kennzeichnen,  sei  einmal  eine  positive 
Bemerkung  gestattet.  Nicht  so  sehr  der  wechselnde  Stand 
der  relativen  Glückshöhe  beeinflufst  die  Willensregungen,  als 
dafs  vielmehr  der  umgekehrte  Einflufs  besteht.  Sind  Willens- 
regungen schon  da,  so  scharen  sich  Vorstellungen  oder  Ge- 
fühle um  sie  in  einer  Weise,  an  die  v.  Ehbenfels  mit  seinem 
Gesetze  sichtlich  gerührt  hat.  Hängt  es  nun  von  den  Willens- 
regungen ab,  dafs  sie  glücksfördemde  Vorstellungen  um  sich 
scharen,  so  kann  das  ganz  gut  in  so  vielen  verschiedenen 
Kreisen  geschehen,  als  es  Willensregungen  giebt.  So  be- 
fiiedigt  sich  z.  B.  jeder  Bergsteiger  gleichzeitig  im  Gefallen 
an  der  körperlichen  Bewegung,  im  Genufs  der  schönen  Gegend, 
im  gehobenen  Gefühl  der  Persönlichkeit.  Das  alles  triflPt 
ebenso  viele  Seiten  seines  Willens,  die  gleichzeitig  rege  werden. 
Seine  Vorstellungen  und  Glücksgeflihle  gehen  dann  um  alle 
drei  Centren,  bald  mehr  um  dieses,  bald  mehr  um  jenes.  So 
kann  auch  jener  Schachspieler  ohne  weiteres  Entschlüsse 
fassen,  an  denen  sich  gleichzeitig  mehrere  Wünsche  und 
Widferstrebungen  beteiligen.  Anders,  wenn  man  die  Vor- 
stellungsbewegung und  die  Glücksförderung  nicht  von  Willens- 
regungen abhängen  läfst,  die  schon  vorhanden  sind,  sondern 
das  Verhältnis  umkehrt,  wie  es  v.  Ehbenfels  thut,  der  vom 


230  .  Hermann  Schwarz:  _ 

Geföhlsstaude  ausgeht,  diesen  als  ein  kompaktes  Ganzes 
nimmt  und  aus  seiner  jeweiligen  höchstmöglichen  Gesamt- 
erhebung das  Begehren  entstehen  läfst.  Danach  könnte  es 
in  jedem  Augenblicke  nur  ein  einziges  mögliches  Glücks- 
maximum geben,  und  da  dieses  das  Begehren  bestimmen  soll, 
so  müfste  es  in  jedem  Augenblicke  auch  nur  ein  einziges 
Begehren  geben. 

Dagegen  predigt  mit  tausend  Zungen  die  Erfahrung 
z.  B.  jenes  Schachspielers.  Auch  schon  alles  mittelbare  Wollen 
(vergl.  V.  Ehrenfels  S.  233)  erweist  das  Gegenteil.  Wenn 
wir  einen  Zweck  und  die  Mittel  dazu  wollen,  dann  wollen 
wir  beides,  den  Zweck  und  das  Mittel,  streng  gleichzeitig. 
Und  doch  ist  das  nicht  ein  Wollen,  sondern  es  sind  zwei 
Willensregungen,  die  sich  deutlich  unterscheiden,  besonders 
wenn  wir  den  Zweck  gerne,  das  Mittel  minder  gerne  wollen.  — 
Man  denke  femer  daran,  wie  verschieden  sich  der  geübte 
Schwimmer  und  der  unkundige  Anfänger  im  Wasser  benehmen.^) 
Beide  wollen  sich  mit  gleich  starkem  Willen  über  Wasser 
halten.  Aber  der  unkundige  Schwimmer  glaubt  sich  aufser- 
dem  jeden  Augenblick  in  Gefahr,  und  so  erlebt  auch  er  zwei 
Willensregungen,  nämlich  aufser  dem  Wollen  zu  schwimmen 
bezw.  schwimmen  zu  lernen,  noch  ein  Widerstreben.  Der  Ge- 
fahr widerstrebt  er  unter  Angstgefühlen,  die  nicht  besteht, 
die  er  aber  nahe  glaubt.  Das  alles  sind  einfache  Thatsachen, 
aber  sie  werden  unverständlich,  wenn  man  den  Willen  aus 
der  relativen  Glücksforderung  ableitet,  statt  ihn  ihr  voran- 
gehen zu  lassen. 

9.  Unser  erstes  Ergebnis  war:  die  Willensregungen  seien 
und  blieben  ihrem  Wesen  nach  selbständige  Erlebnisse,  auch 
wenn  das  Gesetz  der  relativen  Glücksförderung  so  gälte,  wie 
es  V.  Ehbeneels  formuliert  habe.  Die  Eigenheiten  ihrer 
Qualität,  Intensität,  Eichtung  wiesen  sie  in  eine  besondere 
Klasse.  Unter  keinen  Umständen  könne  man  sie  als  Vor- 
stellungen erklären,  wie  immer  man  diese  auf  Gefühle  beziehe. 


^)  Dies  Beispiel  behandelt  v.  Ehsenfels  a.  a.  0.  S.  16,  35,  -38,  39. 


\ 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  231 

Die  Willensdefinition  unseres  Autors  sei  nnannehmbar. 
Wir  fanden  zweitens  eben  jetzt,  dafs  auch  sein  Motivgesetz 
versage,  dafs  ein  etwaiges  Maximum  relativer  Glückshöhe 
nicht  einmal  auf  den  Willen  wirke*  Viel  eher  möchten  von 
den  Willensregungen  gewisse  Einflüsse  allererst  ausgehen,  an 
die  man  bei  jenem  Begriffe  der  relativen  GlticksfÖrderung 
denken  könne.    Dazu  kommt  ein  Drittes. 

a)  Die  ganze  Anschauung  ist  unvollziehbar,  auf  der  sich 
das  „Gesetz"  v.  EHBEinPELs'  aufbaut.  Die  relative  Glücks- 
förderung ist  ja  gar  nichts  psychisch  Aktuelles,  sondern  sie 
ist  nur  die  Differenz  zwischen  einem  aktuellen  und  einem 
möglichen  Gefühlszustande.  Wie  könnte  jene  Differenz,  die 
gar  nicht  real  existierte,  jemals  dazu  kommen,  zu  wirken, 
zur  Beharrungstendenz  einer  gegenwärtigen  Vorstellung  etwas 
zuzuschiefsen,  eine  Willensregung  herbeizufuhren?  Unser 
Autor  erwähnt  selber  die  Schwierigkeit.  Um  sie  zu  heben, 
bezieht  er  sich  auf  die  physiologischen  Grundlagen  (S.  246, 
199).  Die  streitenden  Vorstellungen,  die  eine,  zu  welcher  der 
wirkliche,  und  die  andere,  zu  welcher  der  mögliche  Gefühls- 
zustand gehört,  sollen  auf  nervösen  Erregungen  beruhen,  die 
sich  in  den  Eindenbahnen  des  Grofshirns  mit  verschiedener 
Leichtigkeit  ausbreiten.  So  komme  die  eine  eher  dazu,  als 
die  andere,  Partien  des  Gehirns  zu  ergreifen,  in  denen  nervöse 
Energie  genug  aufgestapelt  sei,  um  die  Nervenerregung,  die 
zu  ihr  dringe,  rückwärts  fort  und  fort  zu  unterhalten. 

Allein  was  hätten  diese  Verhältnisse  mit  einer  Differenz 
zu  thun  und  gar  mit  der  eines  wirkUchen  und  eines  mögUchen 
Gefühlszustandes?  Soll  man  denken,  die  anderen  nervösen 
Erregungen,  die  den  gehemmten  Vorstellungen  entsprächen, 
drängen  ihrerseits  zu  anderen  Stapelorten  nervösen  Kraft- 
vorrats  vor;  von  da  aus  bezögen  sie  rückwirkende  Kräfte 
gegen  die  erste;  so  käme  es  dann,  dafs  sich  der  Nerven- 
prozefs,  welcher  der  Begehrungsvorstellung  entspreche,  nicht 
in  voller  Stärke  erhielte,  sondern  um  ebenso  viel  geschwächt 
würde,  als  jene  Gegenwirkungen  ihn  nähmen?  Und  der  Betrag 
der  letzteren,  das  sei  deshalb  gerade   der  gesuchte  Subtra- 


232  Hermann  Schwarz: 

hendus  und  mit  der  „möglichen"  Glückshöhe  beim  Ausbleiben 
der  Begehrungsvorstellung  einerlei?  Mag  man  diese  Inter- 
pretation gelten  lassen,  solche  Thatsachen  giebt  es  nicht. 
Denn  nach  allem,  was  man  weifs,  würden  die  anderen  Er- 
regungen längst  schon  vorher  gehemmt  sein  und  kämen  gar 
nicht  erst  dazu,  den  Weg  zu  solchen  Kraftquellen  zu  finden. 
Auch  drohen  noch  andere  Übelstände  diesem  Versuche,  psycho- 
logische Hypothesen  durch  neue  physiologische  zu  stützen.  — 
In  ihn  hat  sich  die  Voraussetzung  eingeschlichen,  jeder  Vor- 
stellung entspräche  ein  genau  umschriebener  Kreis  von  Nerven- 
bahnen und  verschiedenen  Vorstellungen  entsprächen  ver- 
schiedene solche  Kreise.  Das  Rätsel  mü&te  aber  erst  gelöst 
sein,  für  die  Nervenprozesse,  welche  etwa  den  Eitelkeits- 
vorstellungen oder  der  Erreichbarkeit  oder  Vermeidbarkeit 
beliebiger  Werte  entsprechen,  wohl  umschriebene  Bahnen 
auch  nur  auszudenken!^)  —  So  ist  es  denn  vergeblich,  in 
dieser  ganzen  Sache  bei  der  Physiologie  Zuflucht  zu  suchen. 
Sie  schafft  jenem  ersten  Bedenken  logischer  Art  keine  Ab- 
hilfe, von  dem  wir  ausgingen.  —  Es  bleibt  nicht  allein. 

b)  Ein  zweites  Bedenken  gleicher  Art  gesellt  sich 
hinzu.  Die  Differenz,  die  zwischen  einem  wirklichen  und 
einem  möglichen  Glückszustande  bestehen  soll,  das  ist  gar 
kein  scharf  umschriebener  Begriff!  Denn  der  Umkreis  des 
Möglichen  ist  unendlich  grofs,  grofs  noch  der  Kreis  auch  nur 
der  Vorstellungen,  die  nach  psychologischer  Wahrscheinlichkeit 
mit  einer  gegebenen  rivalisieren  könnten.  Demgemäfs  giebt 
es  viele  mögliche  Gefiihlszustände,  von  denen  der  gegenwärtige 
der  „jeweilig  beste"  wäre.^    Und  entsprechend  Terschieden 


^)  Um  von  der  anderen  Voraussetzung  abzusehen,  als  beruhten  alle 
Gefühle  auf  Assünilations-  und  Dissimilationsprozessen.  Das  gilt  allenfalls 
von  den  Lustgefühlen  frischer,  den  ünlustgefühlen  ermüdender  Thätigkeit. 
Wie  es  von  der  geistigen  Unlust  der  Beue,  oder  auch  nur  von  der  spe- 
cifischen  leiblichen  Unlust  des  Hungers  gelten  sollte,  ist  nicht  abzusehen. 
S.  22  spricht  unser  Autor  von  Lust  und  Unlust  des  befriedigten  oder  un- 
befriedigten Strebens.    Wie  steht  es  wohl  damit  physiologisch? 

^)  A.  a.  0.  S.  41 :  ,,Im  Begehren  verwirklicht  sich  stets  der  jeweilig 
beste  der  möglichen  Gefühlszustände".    Yergl.  S.  48—49. 


Die  empiristische  Willenspsychologie  etc.  233 

wäre  auch  der  Unterschied  des  gegenwärtigen  und  der  mög- 
lichen Gefiihlszustände,  je  nachdem,  mit  welchem  der  letzteren 
man  ihn  vergleicht.  Da  es  gar  keinen  Anhalt  gäbe,  den 
Vergleich  lieber  mit  dem  einen,  als  mit  dem  anderen  der 
möglichen  Glückszustände  zu  vollziehen,  so  bliebe  die  relative 
Glückshöhe  des  gegenwärtigen  ihrer  Natur  nach  ganz  unbe- 
stimmt. Deshalb  könnte  auch  die  Kraft,  mit  der  sie  die 
siegende  Vorstellung  oder  Strebung  im  Bewufstsein  festhalten 
soll,  überhaupt  mit  keiner  bestimmten  Stärke  einsetzen,  selbst 
wenn  reale  Wirkungen  eines  solchen  Potentiellen  denkbar  wären! 
Diese  Unbestimmtheit  in  ihrem  blofsen  Begriff  bliebe,  auch 
wenn  man  sich  begnügte,  nur  den  Glückszustand  beim  Wollen 
und  beim  ausbleibenden  Wollen  zu  vergleichen.  Denn  wiederum 
hinge  es  ja  von  den  übrigen,  noch  möglichen  Vorstellungen 
ab,  wie  grofs  der  Glückszustand  beim  Nichtwollen  wäre.  Er 
schwölle  an  oder  sänke,  je  nach  den  anderen  Vorstellungen, 
welche  durch  Geföhlslage,  Associationsdrang,  Urteilszwang 
gerade  aufsteigen.^) 

c)  Mit  dem  allem  zerbricht  das  Gesetz  der  relativen 
Glücksförderung  und  der  geistvolle  empiristische  Versuch,  der 
sich  darauf  stützte.  Es  ist  zweifellos  v.  Eheenfels'  Verdienst, 
mit  der  Konzeption  dieses  Gesetzes  auf  eine  Lücke  hinge- 
wiesen zu  haben,  die  in  der  Vorstellungspsychologie  bestand. 
Unstreitig  giebt  es  noch  andere  Einflüsse  auf  unser  Vorstellen, 
als  Associationsdrang  und  logischen  Zwang.  Der  genannte 
Autor  versah  es  aber  damit,  dafs  er  mit  seiner  Konzeption 
die  Gedanken  der  empiristischen  Willenspsychologie  verband, 
und  darum  das  ganze  Problem,  das  ihn  beschäftigte,  auf  das 
Geflihlsleben  hinausspielte.  Sonst  wäre  er  vielleicht  darauf 
auflnerksam  geworden,  dafs  die  Einflüsse,  denen  er  so  scharf- 
sinnig nachspürte,   keine  anderen  seien,  als  die  des  Willens, 


^)  In  obiger  physiologischer  Hypothese  kommt  es  eben  gar  nicht 
zum  Ausdruck,  dafs  doch  auch  die  übrigen  Vorstellungen  bezw.  ihre  ner- 
vösen Korrelate  wieder  gegenseitig  in  Hemmungs-  und  Bahnungsver- 
hältnissen stehen.  Sie  sind  keine  blofse  Summe,  die  eintritt,  wenn  die 
Begehrungsvorstellung  ausbleibt,  sondern  wieder  einzelne,  die  auch  mit 
einander  streiten. 


234     Hermann  Schwarz:  Die  empiristische  Willenspsychologie  etc. 

der  auf  Vorstellungen  und  Gefühle   zurückwirkt,   wie   diese 
auf  ihn  einwirken. 

Die  Genesis  der  geschilderten  Schwierigkeiten  läfst  unser 
Philosoph  selbst  erkennen.  Der  verdienstvolle  Meinong  hatte 
den  Wert  eines  Objekts  0  der  Summe  der  Intensitäten  des 
Lust-  und  Unlustgefuhls  gleich  gesetzt,  welche  durch  die 
beiden  Urteile  „0  existiert"  und  „0  existiert  nicht"  aus- 
gelöst werden.  Ganz  richtig  ersetzt  v.  Ehbeneels  in  dieser 
Definition  S.  55  die  absoluten  Summen  der  Gefiihlsintensi- 
täten  durch  den  weiteren  Begriff  ihrer  algebraischen  Diffe- 
renz, die  ürteilsakte  durch  Akte  anschaulichen  Vorstellens. 
Dann  aber  identifiziert  er  jene  Differenz  mit  der  relativen 
Glücksförderung,  welcher  wir  nach  dem  Objekt  strebend  gegen- 
über dem  NichtStreben  (bezw.  dem  Nichtexistenzgefühl  ib.) 
teilhaftig  werden  können.  Dieser  Zustand  des  Nichtstrebens 
ist  natürlich  etwas  viel  Unbestimmteres,  als  der,  welcher  bei 
der  Vorstellung  „0  existiert  nicht"  eintritt,  vorausgesetzt, 
dafs  alles  andere  ebenso  bleibt.  Bei  Meinung  femer  hatte 
es  sich  um  die  Differenz  zweier  realer  psychischer  Zustände 
gehandelt.  Bei  unserem  Autor  wird  daraus,  da  das  Nicht- 
streben  faktisch  nicht  eintritt,  die  Differenz  eines  realen  und 
eines  blofs  möglichen  Gefühlsstandes,  die  natürlich  niemals 
ein  real  wirksamer  Faktor  sein  kann. 


Berichtigungen  zum  i.  Hefte. 


S.  92  Z.  10  von  oben  ist  ^  zu  streichen.    Was  unter  dem  Text 
zu  2)  gehört,  ist  nur  Fortsetzung  von  '). 

S.  101  Z.  14  von  oben  ist  zu  lesen  ihnen  (nicht  ihm). 


irnilllllllMIflll'Mlnillill  llllllllMMlllllMIK 


Berichterstattung. 


I. 


Besprechungen. 


Lipps^  Theodor,  Komik  und  Humor.  (Beiträge  zur  Ästhetik. 
Herausgegeben  von  Th.  Lipps  und  E.  M.  Werner.)  Hamburg 
und  Leipzig,  Vofs,  1898.     264  S. 

Vor  einer  Beihe  von  Jahren  hat  Lepps  in  den  Philosophischen  Monats- 
heften eine  psychologische  Theorie  der  Komik  veröffentlicht.  Wer  jene 
Aufsätze  kannte,  mufste  wünschen,  ihr  höchst  bedeutsamer  Hauptgedanke 
möchte  noch  einmal  eine  zusammenfassende  Darstellung  und  die  vielseitige 
psychologische  Begründung  erfahren,  deren  er  fähig  ist.  Solche  Wünsche 
hat  Lipps  jetzt  reichlich  erfüllt.  Seine  neue  „psychologisch-ästhetische 
Untersuchung  der  Komik  und  des  Humors"  behandelt  die  oft  erörterten 
Probleme  unvergleichlich  gründlicher  und  erschöpfender  als  alle  früheren. 
Mancher  wird  geneigt  sein,  von  den  zahlreichen  wertvollen  Leistungen  des 
Münchener  Psychologen  diese  wissenschaftlich  am  höchsten  zu  bewerten. 

Ausführlicher  als  sonst  geht  Lipps  zunächst  kritisch  auf  die  um- 
fängliche Litteratur  von  Vorarbeitern  ein.  Am  eingehendsten  setzt  er 
sich  mit  Heckeb,  Gboos,  K&Ipbun,  Wukdt  und  Hethans,  hinsichtlich  des 
Humors  mit  Lazabüb  auseinander.  Gelegentlich  werden  neben  anderen 
noch  Jean  Paül,  Schopenhaüeb,  Vischeb,  Spenceb,  Ziegleb  und  die  neuesten 
Arbeiten  von  Lilly,  MIslinaüd,  Hebkenbath  erwähnt.  Mit  glänzender 
Dialektik  hebt  der  Verf.  die  schwachen  Punkte  aller  dieser  Theorien  oder 
Definitionen  und  ihrer  Konsequenzen  hervor.  Im  U.  Abschnitt  wird  aus 
einer  eindringenden  Analyse  der  verschiedensten  Fälle  und  einfachen  Bei- 
spiele die  allgemeine  Definition  der  Komik  gewonnen:  Das  Gefühl  der 
Komik  „entsteht  überall,  indem  der  Inhalt  einer  Wahrnehmung,  einer  Vor- 
stellung, eines  Gedankens  den  Anspruch  auf  eine  gewisse  Erhabenheit 
macht  oder  zu  machen  scheint,  und  doch  zugleich  eben  diesen  Anspruch 
nicht  machen  kann  oder  nicht  scheint  machen  zu  können"  (S.  99 — 100). 
Drei  Hauptgattungen  des  Komischen  unterscheidet  Lipps:  Objektiv 
komisch  sind  alle  Dinge,  Personen,  Begebenheiten,  kurz  faktischen 
Thatbestände,  an  denen  wir  (und  soweit  wir  an  ihnen)  den  angedeuteten 
Gegensatz  des  in  irgend  einem  Sinne  Grofsen,  Wichtigen,  Eindrucksvollen 
und  de&  relativ  Kleinen,  Bedeutungslosen  oder  Nichtigen  erleben.    Sub- 


236  Felix  Krueger: 

jektiy  komisch  oder  witzig  ist  immer  nur  eine  Bethätigung  oder 
Aktivität  der  Persönlichkeit.  Den  Witz  macht  man;  er  haftet  an  den 
menschlichen  Worten,  Handlungen  oder  Gehärden,  in  denen  irgend  ein 
Sinn,  eine  Bedeutung  liegt  oder  zu  liegen  scheint;  genauer:  witzig  ist 
eine  solche  ÄuTserung,  „wenn  wir  ihr  eine  Bedeutung  mit  psychologischer 
Notwendigkeit  zuschreiben,  und  indem  wir  sie  ihr  zuschreiben,  sofort  auch 
wiederum  absprechen^.  Die  naive  Komik  endlich  ist  nach  Lifps  objektiv 
und  subjektiv  zugleich.  Sie  enthält  stets  einen  Gegensatz  zweier  Stand- 
punkte, nämlich  deijenigen  des  Urteilenden  und  des  als  naiv  komisch  Be- 
urteilten. Alle  naive  Komik  „schliefst  dies  in  sich,  dafs  die  Äufserungen 
oder  Handlungen  wahr,  klug,  vernünftig,  kurz  irgendwie  positiv  bedeutsam 
erscheinen  vom  Standpunkte  des  naiven  Subjektes  aus,  und  dann  doch 
wiederum  nicht  so  erscheinen  von  unserem  Standpunkte  aus^.  Dafs  bei 
aller  Komik  ein  „Kontrast^,  ein  Gegensatz  zwischen  einem  Positiven  und 
einem  Negativen  vorliege,  ist  schon  vor  Lifps  vielfach  betont  worden,  so 
von  Kant,  Sghopenhaubb,  Jean  Paul,  neuerdings  von  Wunbt  und  KaI- 
PELIN.  Aber  die  psychologische  Natur  dieses  Kontrastes  ist  niemals  vorher 
zureichend  bestimmt  worden.  Lipps  weist  überzeugend  nach,  dafs  es  nicht 
um  einen  blofs  vorgestellten,  sondern  einen  unmittelbar  erlebten,  nicht 
um  einen  „Vorstellungs-",  sondern  um  einen  „Bedeutungskontrast"  sich 
handelt.  Der  Vorzug  und  der  reiche  Erfolg  der  LiPPs'schen  Untersuchung 
beruht  in  erster  Linie  darauf,  dals  sie  rein  psychologisch  von  den  vorge- 
fundenen Inhalten  ausgeht  und  allen  vorzeitigen  Objektivismus  zu  ver- 
meiden strebt:  nicht  etwas  „an  sich''  Bedeutsames,  Sinnvolles,  Wichtiges, 
sondern  ein  für  uns  und  im  Augenblicke  Eindrucksvolles,  die  Erwartung 
Spannendes,  ein  rein  psychologisch  Gewichtiges  (und  sein  Gegensatz)  steht 
in  Frage.  Lipps  sucht  die  komischen  Objekte  überall  in  ihrem  psycho- 
logischen Zusammenhang  zu  erfassen,  das  Komische  nicht  in  abstrakter 
Isolierung,  sondern  aus  dem  Gesamtzustand  des  Bewufstseins  einschließlich 
der  psychologischen  Vorbereitung  zu  begreifen.  —  Der  HI.  Abschnitt  be- 
handelt die  Psychologie  der  Komik  in  mehr  systematischer  Weise  und 
verknüpft  die  Theorie  mit  des  Verfassers  allgemeinen  psychologischen 
Anschauungen.  Das  Gefühl  der  Komik  ist  nicht  ein  „gemischtes'^  oder 
zwischen  Lust  und  Unlust  „wechselndes'^,  sondern  ein  specifisches  Gefühl 
des  „Heiteren'^,  das  freilich  stets  in  irgend  einem  Grade  zugleich  lustge- 
färbt ist.  Die  Gründe  dieser  Lustfärbung  und  das  Gemeinsame  aller 
Gefühle  des  Heiteren,  Leichten,  Spielenden,  das  Eigenartige  der  komischen 
Spannung  und  ihrer  Lösung,  die  Steigerungen  und  Hemmungen,  der 
komischen  Wirkung  —  dies  alles  führt  Lipps  auf  die  bekannten,  leider 
noch  zu  selten  diskutierten  Begriffe  seiner  Psychologie  zurück:  die  Be- 
griffe der  Association  im  erweiterten  Sinne  des  Wortes,  der  den  be- 
wufsten  Inhalten  „zu  Grunde  liegenden'^  unbewufst  psychischen  Vorgänge, 
der  psychischen  Kraft  und  ihrer  Begrenztheit,  der  psychischen  Energie 
u.  s.  w.  Auf  diese  prinzipiellen  Fragen  einzugehen,  ist  hier  unmöglich.  — 
Der  rV.  Abschnitt,  über  die  Unterarten  des  Komischen,  giebt  Gelegenheit, 
die  Hauptergebnisse  der  Untersuchung  an  einem  sehr  mannigfaltigen 
Thatsachenmaterial  von  neuem  zu  erproben.  Die  zahlreichen  Einteilungen 
und  Untereinteilungen  namentlich  des  Witzes  sind  natürlich  nicht  alle  gleich 


Lipps,  „Komik  und  Humor".  237 

wertyolL  —  Die  Ausführungen  des  letzten  Abschnitts  über  den  Humor 
(und  Über  die  ästhetische  Bedeutung  des  Komischen)  enthalten  im  Vergleich 
zu  den  früheren  Veröffentlichungen  des  Verf.  am  meisten  Neues.  Sie 
werden  namentlich  der  Kunstwissenschaft  hoch  willkommen  sein.  Mehr 
noch  als  das  des  Komischen  lag  ja  das  schwierigere  Problem  des  Humors 
bisher  im  Argen.  Als  das  Wesen  des  Humors  ergiebt  sich  eine  gewisse 
„Erhabenheit"  in  der  Komik  und  durch  sie.  Menschlich  Wertvolles  wird 
durch  den  Humor  komisch  negiert  und  dadurch  in  seinem  Werte  um 
so  fühlbarer.  Die  ästhetische  Bedeutung  der  (humoristischen)  Komik 
besteht  darin,  dafs  sie  das  Erhabene  in  einzigartiger  Weise  uns  nahe  bringt, 
seiner  Strenge  entkleidet.  Zugleich  ist  sie  das  beste  künstlerische  Mittel, 
sittliche  Tüchtigkeit  und  Gröfse  uns  auch  in  unscheinbarer  Gestalt 
yerehrend  fühlen  zn  lassen.  Die  vielfach  schon  von  früheren  Philosophen 
hervorgehobene  Analogie  des  Tragischen  wird  von  Lipps  ausführlich 
erörtert.  In  diesem  Zusammenhange  finden  sich  auch  tiefgreifende  Be- 
merkungen über  Kunst  und  ästhetischen  Wert  überhaupt.  Mehr  und  mehr 
drangen  sich  dem  Verf.  neuerdings  die  Probleme  des  Wertes  in  ihrer 
grundlegenden  Bedeutung  für  die  Ethik,  Logik  und  Ästhetik  auf.  Das 
vorliegende  Werk  enthält  in  dieser  Hinsicht  manche  wichtige  Anregung. 
Freilich  —  und  damit  gehe  ich  zu  einigen  von  den  Bedenken  und 
Wünschen  über,  die  mir  nach  dem  Studium  des  lehrreichen  Buches  noch 
geblieben  sind — :  eine  klare  und  einheitliche  Anschauung  vom  Wesen  des 
Wertes  suchte  ich  vergebens.  Wo  der  Verf.  dieser  fundamentalen  Frage 
sich  nähert,  tritt  uns  sehr  häufig  die  in  ihrer  Vieldeutigkeit  geradezu 
verhängnisvolle  Gegenüberstellung  des  Subjektiven  und  Objektiven,  des 
subjektiv  und  des  objektiv  Bedingten  entgegen.  Schon  die  Bezeichnung 
der  Anschauungs-,  Situatiöns-  und  Charakterkomik  als  objektiver,  des 
Witzes  als  subjektiver  Komik  scheint  mir  unglücklich  und  ungerechtfertigt 
zu  sein.  Der  Gegensatz  des  Könnens  und  Nichtkönnens  soll  ein  objektiver, 
der  dem  Witz  zu  Grunde  liegende  von  Sinn  und  Unsinn  ein  subjektiver  sein 
(S.  101).  Die  Beurteilung  unserer  Leistungen  wird  eine  objektive  ge- 
nannt, im  Gegensatz  zur  logischen  als  der  subjektiven  (S.  104).  Eine  nahezu 
entgegengesetzte  Bedeutung  gewinnen  die  Begriffe  subjektiv  und  objektiv, 
wenn  der  Verf.  das  Erkennen  oder  logische  Verhalten  als  den  „objektiv 
bedingten"  Vorstellungsverlauf  dem  Gemütsleben  als  dem  „subjektiv  be- 
dingten" gegenüberstellt  (S.  203  ff.).  Beide  Bethätigungen  sollen  in 
„fundamentalem  Gegensatz"  zu  einander  stehen  und  „vollkommen  unab- 
hängig von  einander  sich  vollziehen  können"  (?).  —  In  ethischen  Zu- 
sammenhängen unterliegt  Lipps  nicht  selten  einem  erkenntnistheoretisch 
bedenklichen  Objektivismus.  Das  „nichtssagende  Abstraktum"  Idee  (S.  236) 
und  einige  ihm  nahe  verwandte  Allgemeinbegriffe  erfahren  im  letzten  Teil 
des  Buches  eine  überraschend  häufige  Verwendung.  Der  empirische  Begriff 
des  psychologisch  Bedeutsamen,  Eindrucksvollen,  Gewichtigen  wird  im 
Verlauf  der  Untersuchung  doch  mehr  und  mehr  durch  den  des  schlechthin 
oder  objektiv  Wertvollen,  Erhabenen  verdrängt.  Aus  diesem  Grunde  mufs 
der  Verf.  z.  B.  das  „Gesetz"  des  quantitativen  Kontrastes  (S.  154  ff.), 
kaum  dafs  er  es  aufgestellt  hat,  bis  zur  Unkenntlichkeit  einschränken. 
Die  Scheidung  zwischen  der  Energie  oder  psychologischen  Bedeutung,  die 


238  Felix  Krueger: 

einem  Inhalt  oder  Komplex  von  Inhalten   „an  sich"   (S.  132  nnd  sonst) 
zukommt   („abgesehen  von  dem  Vorstellungszusammenhang",    in  dem   er 
steht  [S.  157])  —  und  deren  faktischer  Bedeutung  oder  Wirkungsfähigkeit, 
die   ganze   Unterscheidung   objektiv   bedingter   von   subjektiv   bedingten 
Wirkungen  eines  psychischen  Thatbestandes  (S.  231  ff.)  kann  m.  E.  nur 
verwirrend  wirken.    Um  so  mehr,  als  Lipps  auch  hier  wieder  sonderbarer- 
weise den  Gefühlen  jede  „psychomotorische  Bedeutung"  (S.  10)  abspricht. 
Ein  Gefühl  der  Spannung  ist  notwendige  Bedingung  für  den  Eintritt 
jedes  komischen  Effekts;  und  doch  soll  dieses  Gefühl  „nicht  mitwirksamer 
Faktor"  sein  (S.  55).  —  Im  Gegensatz  zur  naiven  Komik  wird  der  Witz 
einmal  in  feinsinniger  Weise  (S.  111)  als  „gänzlich  unpersönlich"  charak- 
terisiert.   Warum  behält  er  trotzdem  den   schillernden  Namen  des   sub- 
jektiv Komischen?    Der  Verf.  hat  hierfür  noch  einen   anderen   Grund, 
und  damit  kommen  wir  zu  einer  völlig  neuen  Bedeutung  der  Worte  sub- 
jektiv und  objektiv.    Die   subjektive  Komik  oder  der  Witz  haftet,   wie 
schon  erwähnt,   stets  an  einer   „Aktivität  oder  Bethätigung"  der  Persön- 
lichkeit;  und   zwar   soll   nicht  jede   logisch-unlogische   Äufserung  eines 
Menschen  —  sie  stofse  ihm  etwa  unfreiwillig  zu  — ,  sondern  nur  diejenige 
Bethätigung  subjektiv  komisch  oder  witzig  heiXsen,   deren  Komik   ich 
mache.    Die  subjektive  Komik  hafte  an  der  Aktivität  (S.  79  f.).    Diese 
Begriffsbestimmung  wird  aber  zuweilen  über  der  anderen,   wonach  jede 
sinnlose  und  doch  wieder  sinnvolle  Äuferung  witzig  oder  subjektiv  komisch 
sei,  vergessen.    So  z.  B.  wenn  die  Verdrehungen  von  Fremdwörtern,  die 
Eeuters  Onkel  Bräsig   „völlig  unbewufst"   (S.  238)  und  „wider  Willen" 
begegnen,  dem   subjektiv  Komischen  untergeordnet  und  als  witzig  be- 
zeichnet werden  (S.  172,  173 — 174);   wenn  es  heilst,   dafs  ein  uns  ver- 
ständlicher,  aber  ungewöhnlicher  Jargon  uns   einen  witzigen  Eindruck 
mache  (S.  183).    Andererseits  handelt  der   Verf.    ausführlich  (S.  166  ff.) 
von  einer  gewollten  Komik  (komischen  Darstellung),  die  nicht  subjektiv 
oder  witzig  sei.  —  Nach  der  zuletzt  erwähnten  Definition   des  Witzes, 
die  mir  dem  Sprachgebrauch  am  besten  zu  entsprechen  scheint,  ist  jede 
gewollt   komische  Darstellung  witzig;   BrIsiqs  Wortverdrehungen   sind 
komisch  in  jedem  Falle;  aber  witzig  sind  sie  nur  vom  Standpunkte  des 
darüberstehenden  Dichters,  der  die  Komik  will.    Der  Standpunkt  des 
Künstlers  und  der  seiner  Personen  werden  von  Lipps  nicht  streng  genug 
auseinander  gehalten.    Auch  nicht  hinsichtlich  des  Humors.    Die  Putten 
in  Eafaels  Madonna  di  San  Sisto   (S.  237)   sind  ihrerseits  naiv  komisch; 
humoristisch  ist  nur  Eafael  und  seine  Art  sich  künstlerisch  auszusprechen. 
Mit  gutem  Grunde  unterscheidet  Lipps   den  Witz,   den  man  macht,   oder 
das  „humoristische  Thun"  von  dem  Witz  oder  dem  Humor,  den  man  hat. 
Aber  es  ist  zu  bedauern,  dafs  er  das  zweite  wichtige  Problem  prinzipiell 
aufser  Betracht  läfst  (S.  78,  235).    Die  Beziehung  zwischen  dem  Humor 
als  psychischer  Disposition  und  der  Empfänglichkeit  für  den  Witz  wird 
einmal  (S.  156),  allzu  kurz,  berührt.    Das  Wesen  des  Humors  liefse  sich 
überhaupt  nicht  erschöpfend  beschreiben,  wollte  man  von  der  humoristischen 
Gesinnung   oder   Geistesbeschaffenheit  absehen.     Der  Verf.  trägt  dieser 
Thatsache  Eechnung,  ohne  doch  klar  genug  erkennen  zu  lassen,  wo  vom 
dispositionellen,  wo  von  blofs  aktuellem  Humor  die  Rede  ist.    Die  erste 


\ 


Lipps,  „Komik  und  Humor".  239 

„Däseinsweise"  des  Humors,  die  er  unterscheidet,  der  Humor  als  Stimmung 
oder  Weltbetrachtung  (S.  242  ff.),  auch  „subjektiver"  Humor  genannt,  ist 
offenbar  von  der  ersten  Art.  Daneben  stellt  er  den  Humor  der  Darstellung 
und  den  „objektiven"  Humor.  Diese  in  erster  Linie  vollzogene  Einteilung 
ermangelt  jedes  tieferen  einheitlichen  Grundes.  „Objektiviert"  in  der  hier 
gemeinten  Bedeutung  des  Wortes  ist  natürlich  stets  auch  der  lyrische  Humor. 
Und  der  Humor  in  Epos  und  Drama  ist  immer  doch  Humor  der  Darstellung. 
Wo  bleibt  femer  der  Humor  in  anderen  Künsten,  etwa  in  der  Musik,  z.  B. 
der  höchst  verschiedenartige  Humor  BBBTHOVEN'scher  Scherzi?  Die  wichtigen 
Bemerkungen  über  den  satirischen  Humor  (besonders  S.  256 — 57,  wonach 
selbst  solche  Kunstwerke  zum  „objektiven"  Humor  gerechnet  werden,  deren 
„Held"  die  „Idee"  ist,)  beweisen  von  neuem,  dafs  die  Gegenüberstellung  von 
objektivem  Humor  und  Humor  der  Darstellung  unhaltbar  ist;  ebenso  un- 
haltbar wie  die  der  „Schicksals-"  und  der  „Charakterkomödie".  Ungleich 
wertvoller  und  tiefer  begründet  ist  die  Einteilung  des  Humors  in  die  drei 
„Stufen"  des  unentzweiten,  des  satirischen  und  des  ironischen  Humors. 

Es  braucht  wohl  nicht  besonders  hervorgehoben  zu  werden,  dafs  durch 
die  soeben  angedeuteten  Einwände  gegen  gewisse  Seiten  der  Lipps'schen 
Arbeit  deren  unverlierbarer  und  fruchtbarer  Grundgedanke  unberührt  bleibt 

Leipzig.  Felix  Kbubgbr. 

Erdmann^  Benno^  und  Dodge,  Raymond^  Psychologische 
Untersuchungen  über  das  Lesen.  Auf  experimenteller 
Grundlage.    Halle,  Niemeyer,  1898.     360  S. 

Die  mannigfach  zusammengesetzten  psychophysischen  Vorgänge  beim 
Lesen  schliefsen  eine  Fülle  psychologischer  Fragen  in  sich.  Gelegentliche 
Beobachtungen  von  Valentin,  Adbebt,  Donders,  Helmholtz,  Baxt  waren 
wesentlich  vom  physiologischen  Interesse  beherrscht  und  erstreckten  sich 
fast  ausschliefslich  auf  das  Erkennen  und  Aussprechen  zusammenhangloser 
Buchstaben.  In  den  80er  Jahren  veröffentlichte  Cattell  die  Ergebnisse 
seiner  in  Wundts  Laboratorium  angestellten  umfassenden  Eeaktionsversuche. 
Neuerdings  sind  nach  dem  Vorgange  Gbasheys  die  Probleme  des  Lesens 
in  der  psychopathologischen  Litteratur  vielfach  erörtert  worden  Aber  erst 
GoLDscHEiDEK,  iu  Gemeinschaft  mit  B.  Fb.  MOlleb,  berücksichtigte  neben 
den  Bemühungen  der  Mediziner  in  gebührender  Weise  die  psychologischen 
Fragestellungen  und  Beobachtungen;  er  überwand  z.  T.  die  in  den  natur- 
wissenschaftlichen Arbeiten  dogmatisch  festgehaltenen  Annahmen;  aber 
seine  Fragestellung  blieb  noch  unklar,  seine  psychologische  Analyse  war 
durchaus  unzureichend.  —  Ebdmann  und  sein  Schüler  Dodge  haben  vielfach 
auf  dem  von  anderen,  besonders  von  Cattell  vorbereiteten  Grunde  weiter- 
gearbeitet. Ihre  grofszügig  angelegte  Untersuchung  zeichnet  sich  aus 
durch  die  Mannigfaltigkeit  und  Tragweite  der  scharf  gefaTsten  Probleme, 
durch  eine  auf  diesem  Gebiete  bisher  unerreicht  gewesene  Feinheit  der 
Methoden  und  durch  ebenso  vorsichtige  wie  geistvolle  theoretische  Ver- 
wertung der  Versuchsergebnisse.  Ihre  eindringende  Analyse  des  verständ- 
nisvollen Lesens  zerfällt  in  zwei  Hauptteile:  sie  betrifft  1.  die  optische 


240  Felix  Krueger: 

Wahmeiunung  und  das  Erkennen  gedruckter  Schriftzeichen,  2.  die  „Re- 
produktion^ der  entsprechenden  Lautzeichen.  —  Zunächst  stellte  sich 
heraus,  dafs  hei  allem  Lesen  in  unyerrückter  Kopfhaltung  ein  „regel- 
mäTsiger  Wechsel  zwischen  Buhepausen  und  Bewegungen  der  Augen^ 
stattfindet.  Zahl  und  Zeityerhältnis  dieser  heiden  Phasen  wurden  unter 
verschiedenartigen  Bedingungen  näher  untersucht.  Die  Spiegelheohachtung 
des  Lesenden  geschah  leider  fast  durchweg  mit  hlofsem  Auge,  ohne  Fem- 
rohr, so  dafs  es  zuweilen  (z.  B.  S.  64,  69)  fraglich  bleibt,  ob  nicht  sehr 
kleine  Augenbewegungen  dem  Beobachter  entgangen  sind.  Das  wtLrde 
viele  von  den  ermittelten  Zahlen  wesentlich  modifizieren,  ünerschüttert 
bliebe  jedoch  das  wichtigste  Ergebnis  des  I.  Kapitels:  „Das  optische  Er- 
kennen der  Schriftzeichen  beim  Lesen  erfolgt  ausschliefslich  während  der 
Buhepausen  des  Auges".  Der  Vergleich  der  Lesezeiten  f&r  geläufige  und 
für  ungeläufige  Texte  fällt  natürlich  zu  Gunsten  der  geläufigen  aus.  Die 
Versuche  an  fremdsprachlichen  Texten  hätten  bessere  Vergleichszahlen 
ergeben,  wenn  für  beide  Sprachen  durchweg  Texte  gleichen  Satzes  und 
gleicher  Zeilenlänge  wären  verwendet  worden.  Einfache  Versuche  über 
den  Umfang  des  „in  allen  seinen  wesentlichen  Bestandteilen"  simultan 
deutlich  wahrnehmbaren  Gebiets  einer  Druckzeile  (Käp.  II)  gestatteten 
den  Schlufs,  dafs  „die  Felder  simultanen  Er  kenne  ns  beim  Lesen"  gröfser 
sind  „als  die  Gebiete  möglichen  deutlichen  Wahrnehmens  der  einzelnen 
in  ihnen  enthaltenen  Schriftzeichen".  Die  durchschnittliche  Gröfse  jener 
„Lesefelder"  wurde  aus  der  Zahl  der  Buhepausen  und  der  Zeilenlänge 
berechnet.  Durch  genaue  Beobachtungen  eines  lesenden  Auges  wurde 
femer  festgestellt,  dafs  der  erste  Fixationspunkt  jeder  Zeile  um  etwa  ein 
halbes  Gebiet  deutlichen  Wahmehmens  vom  Zeilenanfang  nach  rechts,  der 
letzte  noch  weiter  vom  Zeilenende  nach  links  entfemt  zu  liegen  pflegt 
(Bedeutung  des  indirekten  Sehens  und  der  von  Fall  zu  Fall  verschiedenen 
„apperzeptiven"  Bedingungen).  Nachbildversuche  dienten  einer  genaueren 
Bestimmung  der  Orte  direkter  Fixation.  Kap.  III  enthält  die  Beschreibung 
eines  Apparats  zur  experimentellen  Isoliemng  der  Lesepausen  und  -Felder. 
Dieser  für  binokulare  Wahrnehmung  eingerichtete  Projektionsapparat 
gestattet,  was  Gattbll  nicht  genügend  berücksichtigt  hatte,  scharfe  Ein- 
stellung der  Augen  vor  Beginn  jeder  Exposition  und  eine  simultane 
Exposition  der.  zu  lesenden  Schriftbilder.  Diese  zweite  Möglichkeit,  die 
den  Apparat  über  alle  seine  Vorgänger  weit  erhebt,  wird  durch  die 
Öffnung  und  Schliefsung  einer  Linsen  spalte  erreicht;  sie  bedeutet 
zweifellos  den  wesentlichsten  Vorzug  der  —  anschaulich  geschilderten  — 
Versuchsanordnung,  weil  dadurch  das  Lesen  der  dargebotenen  Schriftbilder 
dem  gewöhnlichen  Lesen  ähnlicher  wird,  als  bei  allen  früher  gebrauchten 
Instrumenten.  Im  Gegensatz  zu  der  Mehrzahl  ihrer  Vorgänger  waren  die 
Verf.  darauf  bedacht,  jede  Augenbewegung  im  Verlauf  einer  Exposition 
auszuschliefsen.  Nun  führte  eine  besondere  Versuchsreihe  (rascher  Wechsel 
zwischen  zwei  Fixationspunkten,  von  denen  der  zweite  bei  der  Fixation 
des  ersten  eben  im  blinden  Fleck  verschwand),  zu  dem  Ergebnis:  „Eine 
für  das  Weiterlesen  auf  Grund  einer  neuen  Fixation  erfolgreiche  reagierende 
Blickbewegung  ist  bei  einer  Expositionszeit  von  0,188^^  vollständig  aus- 
geschlossen".   Zur  Sicherheit  wurde  für  die  entscheidenden  Versuche  eine 


Erdmann-Dodge,  „Psychologische  Untersuchungen  über  das  Lesen".    241 

noch  kürzere  Expositionsdauer:  0,1"  gewählt.  Es  zeigte  sich,  dafs  wir 
^unter  den  gleichen  Expositionsbedingungen  4 — 5  mal  so  viel  Buchstaben 
im  Wortzusammenhang,  als  solche  ohne  Wortzusammenhang^  laut 
lesen  können;  und  zwar  werden  von  den  zusammenhanglosen  Buchstaben 
fast  durchgängig  die  am  weitesten  rechts  stehenden,  also  später  auszu- 
sprechenden mangelhafter  gelesen.  Sicherlich  stehen  diese  Buchstaben, 
auch  wenn  sie  deutlich  erkannt  werden,  unter  relativ  ungünstigen  Be- 
dingungen der  (successiven !)  „lautsprachlichen  Reproduktion".  Nebenbei 
scheint  es  mir,  namentlich  da,  wo  die  Beobachter  nur  die  ungefähren 
Mitten  einer  Buchstabengruppe  fixiert  zu  haben  angeben,  nicht  ausge- 
schlossen, dafs  schon  die  Fixationspunkte,  alter  Lesegewohnheit  entsprechend* 
etwas  nach  links  verschoben  waren.  Die  grofsen  Unterschiede  zwischen 
dem  Lesen  von  Wörtern  und  dem  von  blofsen  Buchstabengruppen  werden 
dadurch  nicht  gemindert.  Mit  Recht  weisen  die  Verf.  besonders  auf  die 
„feste  associative  Fügung  der  Laut  ganzen '^  hin,  die  durch  die  erkannten 
Wörter  erregt  werden.  Noch  entscheidender  dürfte  der  Einflufs  eines 
zweiten,  von  ihnen  hervorgehobenen  Faktors  sein:  der  Qesamtform  des 
Wortes,  als  eines  optischen  Ganzen.  Zwei  interessante  Versuchsreihen 
mit  stark  verkleinerter  Buchstabengröfse  beweisen,  dafs  wir  „uns  optisch 
geläufige  Schriftwörter  unter  Bedingungen  erkennen,  die  jedes  Erkennen 
der  einzelnen  Buchstaben  ausschliefsen".  Die  Bedeutung  der  optischen 
Gesamtformen  für  das  Lesen  hat  schon  Cattell  durch  die  allgemeine  Be- 
merkung gewürdigt,  dafs  die  Worte  „als  Ganze"  gelesen  würden;  die 
Kritik,  die  diese  Bemerkung  von  Seiten  der  Verf.  erfährt,  scheint  mir  ein 
wenig  über  das  Ziel  hinauszuschiefsen,  ebenso  wie  die  Kritik  der  Gold- 
scHBiDBB-MOLLBR'schen  Hypothese  „determinierender  Buchstaben".  Aber 
gewifs  ist  jene  Bemerkung  viel  zu  allgemein  und  diese  Hypothese  einseitig. 
Ebdhann  undDoDOE  geben  eine  gründliche  Analyse  der  psychologischen 
Wirkung,  die  den  optischen  Gesamtbildern  namentlich  auch  für  das  zu- 
sammenhängende Lesen  zukommt.  Prinzipiell  wichtig  sind  die  Aus* 
führungen  über  die  Nachwirkungen  früherer  Leseerfahrungen  auf  das  Lesen 
jedes  Geübten,  die  als  „apperzeptive  Verschmelzungen"  im  Gegensatz  zur 
Association  durch  selbständige  Erinnerungsbilder  charakterisiert  werden. 
Die  Mehrzahl  der  bisher  angedeuteten  Überlegungen  mündet  in  der  Er- 
kenntnis, dafs  die  Schriftzeichen  beim  normalen  Lesen  niemals  Buchstabe 
für  Buchstabe  aufgefafst  werden.  Ein  im  optischen  Sinne  buchstabierendes 
Lesen  wird  nur  dann  versucht,  „wenn  sowohl  die  Gesamtform  des  Wortes, 
als  auch  die  einzelnen  Buchstabenformen"  undeutlich  und'  aus  dem  Be- 
deutungszusammenhang nicht  erratbar  sind.  Durch  die  zahlreichen  Beweise 
für  diese  Anschauung  dürfte  ein  altes  Vorurteil  der  psychologisierenden 
Naturwissenschaft  endgültig  widerlegt  sein.  Die  angedeutete  Position 
wird  gefestigt  und  erweitert  durch  die  Erörterungen  über  Laut-  und 
Schriftwörter,  über  die  Art,  wie  beide  einander  psychologisch  entsprechen» 
Daraus  folgt  die  Unhaltbarkeit  der  namentlich  von  Goldsoheideb  ver- 
tretenen Theorie  des  buchstabierenden  Sprechens.  —  Die  Reaktionsversuche, 
von  denen  die  beiden  letzten  Kapitel  berichten,  bestätigen  die  Ergebnisse 
der  theoretischen  Diskussion.  Eingeleitet  wird  dieser  Bericht  von  einer 
sehr  ausführlichen  Kritik  der  Voraussetzungen,  unter  denen  Cattbll  psy- 

YierteljahrsBclirift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXm.  2.  16 


242^©lixErüeget:  Erdmann-Dodge  „Psycholog.  Untersuchungen  etc." 

chische  Zeiten  für  die  Vorgänge  beim  Lesen  aus  seinen  Beaktionsrersuchen 
abzuleiten  unternahm.  Manche  von  den  hier  zu  Tage  tretenden  Differenzen 
sind  wohl  nur  terminologischer  Natur.  Aber  zweifellos  sind  die  Wukdt- 
ÜATTELL'schen  Begriffe  der  Unterscheidung,  des  Erkennens,  der  Wahl  und 
Benennung  nicht  frei  yon  Dunkelheiten;  und  die  experimentelle  Psychologie 
ist  den  Verf.  Dank  schuldig  für  die  sorgfältige  Analyse,  der  sie  diese  für 
alle  Beaktions versuche  bestimmend  gewordenen  Begriffe  unterwerfen. 
Auch  die  rechnerische  Verwertung  der  ÜATTBLL'schen  Zahlen,  hinter  der 
Oattbll  selbst  ihre  psychologische  Deutung  hatte  zurücktreten  lassen, 
wird  von  Erdmann-Dodgb  eingehend  geprüft.  Die  von  ihnen  selbst  unter- 
suchten Lautreaktionen,  bei  denen  sie  sich  des  ÜATTELL'schen  Schall- 
schlüssels bedienten,  erhärten  und  ergänzen  vielfach  die  früher  gewonnenen 
Besultate.  „Die  Zeiten  für  die  adäquaten  .  .  Lautreaktionen  auf  je  eins 
von  26  eingeprägten  .  .  Schriftzeichen  sind  beträchtlich  gröfser,  als  die 
Zeiten  für  die  inadäquate,  aber  gleichförmige  Lautreaktion  auf  eine  helle 
Fläche  in  Buchstabengröfse  .  ."  „Die  Zeiten  für  die  adäquaten  Laut- 
reaktionen auf  je  eins  von  26  eingeprägten,  in  willkürlicher  Folge  ex- 
ponierten 4-buchstabigen  Wörtern  sind  etwas  kürzer,  als  die  Zeiten 
für  die  entsprechenden  Beaktionen  auf  Buchstaben."  Mit  der  Zahl  der 
Buchstaben  wachsen  die  Zeiten  der  Wortreaktionen  um  ein  Geringes  an. 
Von  den  zahlreichen  mittelbaren  Ergebnissen  dieser  Versuche  sei  nur  her- 
vorgehoben, dafs  die  Lichtreaktionen  von  den  Verf.  als  reflektorische,  die 
Schriftreaktionen  als  central,  aber  „direkt  sensorisch"  ausgelöste  gedeutet 
werden.  Schliefslich  werden  die  beobachteten  Zeitverkürzungen  und  -Ver- 
längerungen hypothetisch  auf  die  sensorische  und  die  motorische  Kompo- 
nente der  gemesseneu  Vorgänge  verteilt,  und  wird  die  „Bewul^tseins- 
deutung"  der  beiden  Komponenten  mit  Zuhilfenahme  der  Selbstbeobachtung 
versucht.  Die  Auffassung  der  Schriftreaktionen  als  direkt  sensorischer 
scheint  mir  nicht  völlig  einwandfrei.  Die  „Bedeutungsresiduen"  der  ein- 
geprägten Wörter  sollen  nirgends  „Bedingungen",  sondern  stets  nur  Be- 
gleitvorgänge der  Beaktion  gewesen  sein,  aus  dem  einzigen  Grunde,  weil 
ihre  „Beproduktionszeit"  aus  den  gemessenen  Zeiten  herausfällt.  Sollte 
nicht  die  Bekanntheit  oder  Geläufigkeit  der  Bedeutung  eines  gelesenen 
Wortes  ebenso  zeit  verkürzend  wirken  können,  wie  die  seines  Schrift- 
bildes oder  Lautkomplexes?  Die  Verf.  selbst  setzen  einen  solchen  Einflufs 
der  „Bedeutungsresiduen"  zuweilen  (z.  B.  S.  320)  implicite  voraus.  Sie 
wollten  von  diesem  für  das  zusammenhängende  Lesen  ganz  besonders  wich- 
tigen Faktor  bei  ihren  Versuchen  im  allgemeinen  abstrahieren.  Aber  das 
wird  auch  bei  der  Exposition  isolierter  Wörter  immer  nur  in  beschränktem 
Mafse  gelingen.  Bei  der  Literpretation  der  Verlesungen  (man  vergleiche 
S.  183,  wo  es  sich  z  T.  um  völlig  sinnlose  Wörter  handelt)  und  des  Lesens 
fremdsprachlicher  Texte  hätte  die  verschiedene  Geläufigkeit  (Bereitschaft) 
des  Sinnes  stärker  müssen  betont  werden.  —  Ein  Anhang  berichtet  über 
Nachbildversuche  Donass  zur  Messung  der  Winkelgeschwindigkeit  der 
Blickbewegungen.  Die  an  Helmholtz-Lamanskt  sich  anlehnende  Methode 
ist  durch  eine  kleine  Verbesserung  des  Apparats  und  durch  eine  wesentr 
liehe  Vereinfachung  der  Fixationsbedingungen  ausgezeichnet. 

Leipzig.  Felix  Kbueoeb. 


Karl  Marbe:  Ziehen,  „Psychophysiologische  Erkenntnistheorie**.     243 

Ziehen^  Th.,  Psychophysiologische  Erkenntnistheorie. 
Jena,  1898.    V,  105  S. 

Die  Existenz  der  Aufsenwelt  läfst  sich  nicht  beweisen.  Die  Ver- 
suche, welche  neuerdings  Bibhl  gemacht  hat  (Philosoph.  Eriticismus  II, 
2,  S.  128  ff.)}  einen  solchen  Nachweis  zu  erbringen,  sind  ebenso  wenig 
überzeugend,  als  die  bekannten  Ausführungen  des  Cabtssius  über  diesen 
Gegenstand.  Der  Idealismus  und  auch  der  Solipsismus  sind  Standpunkte, 
deren  Haltlosigkeit  sich  nicht  demonstrieren  läfst.  Die  Annahme,  dafs 
die  ganze  Welt  nur  in  meiner  Vorstellung  oder  in  den  Vorstellungen  von 
mir  und  einigen  anderen  Subjekten  existiert,  ist  nicht  widerlegbar. 

Etwas  anderes  ist  die  ünwiderlegbarkeit,  etwas  anderes  die  Richtig- 
keit eines  Satzes.  Es  ist  ein  leichtes,  in  unbeschränkter  Zahl  Sätze  zu 
nennen,  die  alle  Gelehrten  der  Welt  nicht  widerlegen  können,  ohne  dafs 
sie  deshalb  im  mindesten  richtig  zu  sein  brauchen.  Daraus,  dafs  ein  Satz 
nicht  widerlegbar  ist,  folgt  für  seine  Wahrheit  nicht  das  allermindeste. 
Ist  deshalb  der  Satz,  dafs  die  ganze  Welt  nur  in  meiner  Vorstellung 
existiere,  auch  nicht  widerlegbar,  so  braucht  er  doch  nichtsdestoweniger 
richtig  zu  sein. 

Richtig  sind  erstens  diejenigen  Sätze,  welche  unmittelbar  einleuch- 
tend sind,  wie  der  Satz  „zwei  und  zwei  sind  vier";  zweitens  alle  die- 
jenigen, welche  entweder  in  der  äufseren  oder  in  der  inneren  Wahrnehmung 
ihre  direkte  Stütze  finden,  z.  B.  der  Satz  „die  Wärme  dehnt  das  Eisen 
aus'',  oder  der  Satz  „die  Beproduktionsvorstellungen  entstehen  auf  Grund 
von  Wahrnehmungen".  (Zu  dem  Nachweis,  dafs  ein  Satz  thatsächlich  in 
der  inneren  oder  äufseren  Wahrnehmung  seine  Stütze  finde,  bedarf  es 
vielfach  komplicierter  Methoden,  deren  Gesamtheit  Gegenstand  der  Methoden- 
lehre ist.)  Aufser  den  unter  eins  und  zwei  genannten  Sätzen  sind  drittens 
alle  diejenigen  richtig,  welche  sich  auf  jene  auf  rein  logischem  Wege 
zurückführen  lassen.  Diese  Zurückführung  von  Sätzen  auf  solche  der 
ersten  und  zweiten  Klasse  bezw.  die  Ableitung  eines  Satzes  aus  Sätzen 
der  ersten  und  zweiten  Klasse  heifst  Beweis.  Mit  den  hier  erwähnten 
richtigen  Sätzen  ist  ihre  Gesamtheit  erschöpft:  es  giebt  keine  richtigen 
Sätze,  welche  sich  nicht  in  eine  dieser  Klassen  einordnen  liefsen. 

Man  behandelt  nun  trotzdem  in  der  Wissenschaft  vielfach  Sätze  als 
richtig,  welche  offenbar  nicht  zur  ersten  und  zweiten  der  obigen  Klassen 
gehören  und  deren  Zugehörigkeit  zur  dritten  Klasse  sich  nicht  erweisen 
läfst.  In  diesem  Falle  nimmt  man  an,  dafs  die  betreffenden  Sätze  allerdings 
der  dritten  Klasse  angehören,  dafs  aber  unsere  wissenschaftlichen  Kenntnisse 
uns  z.  Z.  nicht  gestatten,  den  Nachweis  dieser  Zugehörigkeit  zu  erbringen. 
Alle  Wissenschaften  mit  Ausnahme  der  mathematischen  Disciplinen  ent- 
halten derlei  Sätze,  die  man  Hypothesen  nennt,  in  grofser  Menge.  —  Der 
Wert  einer  Hypothese  hängt  nun  offenbar  davon  ab,  wie  sie  sich  in  das 
System  der  Wissenschaft,  welcher  sie  angehört,  einreiht.  Eine  Hypothese, 
die  entweder  direkt  oder  indirekt  mit  als  richtig  bekannten  Sätzen  der 
fraglichen  Wissenschaft  im  Widerspruch  steht,  wird  als  falsch  abgelehnt. 
Eine  solche,  deren  Inhalt  mit  den  Sätzen  der  betreffenden  Wissenschaft 
nicht  genügend  zusammenhängt,  wird  als  überflüssig  verworfen. 

16* 


244  Karl  Marbe: 

Zu  den  Hypothesen  gehört  nun  offenbar  auch  die  Behauptung  des 
Idealismus,  mag  sie  in  der  Form  des  Solipsismus  oder  in  irgend  einer 
anderen  Form  auftreten.  Beweisbar  ist  der  Satz,  dafs  die  Welt  nur  als 
Vorstellung  existiert,  ganz  und  gar  nicht,  wenngleich  oben  eingeräumt 
werden  mufste,  dafs  er  nicht  widerlegbar  ist. 

Die  Hypothese  des  Idealismus  ist  nun  aber  zu  verwerfen,  weil  sie 
mit  unserer  Naturwissenschaft  im  schroffsten  Widerspruch  steht.  Die 
Physik  und  die  Chemie  setzen  voraus,  dafs  die  Gegenstände,  auf  welche 
sie  sich  beziehen,  auch  existieren,  wenn  sie  durch  kein  Subjekt  wahrge- 
nommen werden.  Der  Mond  würde  sich  in  der  von  der  Astronomie  fixierten 
Weise  weiter  bewegen,  auch  wenn  alle  Menschen  geblendet  wären,  das 
Wachsen  der  Pflanzen  erfolgt  stetig,  ob  sie  beobachtet  werden  oder  nicht 
u.  s.  w.  u.  s.  w.  Der  Idealismus  steht  aber  nicht  nur  mit  der  wirklichen 
Naturwissenschaft  im  Widerspruch,  es  ist  auch  ganz  unmöglich,  irgend 
eine  andere  Wissenschaft  von  der  Natur  ,,auf  den  Idealismus  zu  gründen. 
In  der  Welt  des  Idealismus,  d.  h.  in  der  Welt,  welche  wir  unmittelbar 
erleben,  giebt  es  keine  lückenlose  Kausalität;  die  Annahme  einer  unter- 
brochenen Kausalität  innerhalb  der  Sinnenwelt  ist  aber  für  den  mensch- 
lichen Geist  und  daher  für  die  Wissenschaft  unmöglich. 

So  fällt  denn  dier  Idealismus  mit  seiner  Identifikation  von  Existieren 
und  vorgestellt  werden,  —  nicht  weil  er  widerlegt,  sondern  weil  er  eine 
unzweckmäfsige  Hypothese  ist.  Die  Wissenschaft  von  der  Natur  im 
denkbar  weitesten  Sinne  des  Wortes  steht  hinsichtlich  des  Problemes  der 
Aufsenwelt  auf  dem  Standpunkt  des  ganz  gewöhnlichen  gesunden  Menschen- 
verstandes, der  gewissen  Gegenständen  eine  Existenz  zuspricht,  abgesehen 
davon,  ob  sie  vorgestellt  werden  oder  nicht.  Dieser  Standpunkt  ist  freilich 
auch  nur  eine  Hypothese,  aber  er  bildet  ein  wesentliches  Moment 
unserer  Wissenschaft,  er  ist  wissenschaftlich  zweckmäfsig  und  deshalb  — 
vorläufig  wenigstens  —  unbedingt  festzuhalten.  Den  Begriff  der  Existenz 
aber  scheint  man  mir  im  Sinne  des  Lebens  und  der  Wissenschaft  am 
besten  zu  fixieren,  wenn  man  sagt,  dafs  allen  Gegenstäiden  Existenz  zu- 
kommt, die  entweder  direkt  oder  indirekt  auf  die  innere  oder  äufsere 
Wahrnehmung  des  Menschen  einen  Einflufs  auszuüben  ihrer  Natur  nach 
geeignet  sind,  gleichgültig,  ob  diese  Einwirkung  stattfindet  und  ob  Sub- 
jekte vorhanden  sind  oder  nicht.') 


Das  im  Titel  dieses  Artikels  genannte  Buch  von  Ziehen  steht  zu 
meinen  Ansichten,  die  freilich  hier,  im  Eahmen  einer  Recension,  nur  ober- 
flächlich skizziert  und  nicht  ausführlich  begründet  werden  konnten,  im 
schroffsten  Gegensatz.  Der  Idealismus  ist  für  Ziehen  nicht  eine  Hypothese, 
sondern  eine  ausgemachte  Thatsache,  obgleich  der  Verf.  für  den  Idealismus 
nur  den  Umstand  namhaft  zu  machen  weifs,  dafs  alles,  was  gegeben  ist, 
entweder  Empfindung  oder  Vorstellung  ist.  Hieraus  aber  folgt  natürlich 
für  oder  gegen  die  Existenz  der  Aufsenwelt  gar  nichts,  wofern  man  nur 


^)  Eine  ähnliche  Auffassung  der  Existenz  findet  sich  bei  Biehl  im 
„Philosophischen  Kriticismus." 


Ziehen,  „Psychophysiologische  Erkenntnistheorie".  245 

den  Begriff  der  Existenz  in  dem  oben  präcisierten  Sinne  faTst.  Für  Zibhen 
freilich  ist  psychisch,  bewuTst  und  existierend  dasselbe;  aber  diese  auf 
dem  Boden  des  Idealismus  gehaltene  Definition  steht,  wie  sich  aus  unseren 
obigen  Darlegunen  ergiebt,  mit  der  Wissenschaft  von  der  Natur  im 
Widerspruch:  sie  macht  dieselbe  unmöglich. 

Der  wesentliche  Inhalt  der  ZiBHEN'schen  Schrift  ist  nun  der  Versuch, 
die  Thatsachen  der  physiologischen  Psychologie  yom  idealistischen  Stand- 
punkte aus  zu  beleuchten,  ohne  dafs  Verf.  dabei  die  Behandlung  des  Zu- 
sammenhangs der  psychologischen  Probleme  mit  allgemein  philosophischen 
Fragen  vermeidet.  Ein  derartiges  Unternehmen  mufs  natürlich  auch  die 
wissenschaftliche  Behandlung  der  Eörperwelt  im  weitesten  Umfang  be- 
rücksichtigen. Eben  deshalb  mufs  es  notwendig  scheitern;  denn  der 
Idealismus  kann  der  Naturwissenschaft  nicht  gerecht  werden.  Im  folgenden 
mag  nun  zunächst  der  Inhalt  des  ZiBHEiv'schen  Buches  wiedergegeben  werden. 

Alles,  was  ist  oder  gegeben  ist,  sagt  unser  Verf.,  ist  entweder 
Empfindung  oder  Vorstellung.  Unter  Empfindungen  versteht  er  die  Qegen- 
stände  unserer  Wahrnehmung,  mögen  sie  einfach  oder  zusammengesetzt  sein. 
Unter  Vorstellungen  versteht  er  die  Erinnerungsbilder  der  Empfindungen. 

Die  Empfindungen  zerfallen  in  zwei  Teile,  in  einen  Beduktions- 
bestandteil  und  in  einen  Bestbestandteil.  Die  Beduktionsbestandteile  der 
Empfindungen  sind  nichts  anderes,  als  diejenigen  Objekte  und  Vorgänge, 
welche  von  der  Naturwissenschaft  (exklusive  der  Psychologie)  behandelt 
werden.  Sie  stehen  miteinander  in  Wechselwirkungen,  welche  durch  all- 
gemeine Gesetze  ausgedrückt  werden  können,  deren  Gesamtheit  Ziehen 
als  Kausalformel  bezeichnet. 

Zu  den  Empfindungen  gehören  auch  unsere  Sinnesorgane,  die  wir 
namentlich  durch  Gefühl  und  Gesicht  kennen  lernen.  Die  Empfindungen 
des  gesamten  Sinnesapparates  bis  zur  Hirnrinde  inklusive  bezeichnet  Ziehen 
als  v-Empfindungen.  Auch  die  Beduktionsbestandteile  dieser  v-Empfindungen 
stehen  zu  den  Beduktionsbestandteilen  der  anderen  Empfindungen  in 
Wechselwirkungen,  welche  durch  die  Kausalformel  ausdrückbar  sind.  Die 
Thatsache  des  Wahmehmens  drückt  Ziehen  nun  dahin  aus,  dafs  er  sagt, 
die  v-Empfindungen  wirkten,  wenn  sie  durch  die  Beduktionsbestandteile 
anderer  Empfindungen  verändert  würden,  auf  diese  zurück.  Die  Thatsache 
des  psychophysischen  Parallelismus  wird  durch  die  Behauptung  paraphrasiert, 
dafs  die  Bückwirkungen  und  die  ihnen  korrespondierenden  Veränderungen 
der  v-Empfindungen  nicht  in  kausalem  Verhältnis  stehen,  sondern  dafs  sie 
sich  vielmehr  in  ihrer  Gesamtheit  anderen  Gesetzmäfsigkeiten  unterordnen 
lassen.  Die  Gesamtheit  dieser  gesetzmäTsigen  Zuordnungen  bezeichnet 
Ziehen  als  Parallelformel. 

Es  mag  nicht  unangebracht  sein,  diese  im  Original  vielleicht  nicht 
gerade  sehr  übersichtlich  dargestellte  Auffassung  durch  ein  Beispiel  zu 
erläutern.  Wenn  ich  einen  roten  Würfel  betrachte,  so  wirkt  derselbe, 
sofern  er  Gegenstand  der  Naturwissenschaften  ist  (d.  h.  sofern  er  eine 
bestimmte  Gröfse  hat,  sofern  er  Licht  von  einer  bestimmten  Wellenlänge 
aussendet  u.  s.  f.),  auf  mein  Auge  und  daran  anschliefsend  auf  meine 
Hirnrinde.  Der  Würfel,  sofern  er  Gegenstand  der  Naturwissenschaften  ist, 
ist  eine  reduzierte  Empfindung  im  Sinne  Ziehens,  er  macht  den  Beduktions- 


246  Karl  Marbe: 

bestandteil  der  Würfelempfindung  au8.    Die  Wirkung  dieses  Beduktions 
bestandteils   auf  mein   Auge   und  die   sich  daran   anschliefsenden    Ver- 
änderungen im  y-Eomplex  verlaufen  durchaus  kausal.    Nun  treten  aber 
mit  den  Veränderungen  im  Nervensystem   auch  psychische  .Prozesse  im 
herkömmlichen  engeren  Sinne  des  Wortes  auf:  der  Würfel  wird  als  roter 
Würfel  von  bestimmter  Beschaffenheit  bewufst.    Dieser  Würfel  ist  aller- 
dings abhängig  von  den  Veränderungen,  welche  die  ^-Empfindungen  durch 
die  reduzierte  Würfelempfindung  erfahren;   er  ist  aber  nicht  durch  sie 
verursacht,   sondern  geht  ihnen  vielmehr  parallel.    Die  im  Sinne  der  Pa- 
rallelformel von  den  v-Empfindungen  abhängigen  Veränderungen  machen 
nach  Ziehen  eben  die  Bestempfindungen  aus,   von   denen  oben  die  Bede 
war.    Jede  Empfindung  zerfällt  in  eine  solche  Bestempfindung  oder  (wie 
Ziehen  auch  sagt)  in  eine  v-Komponente  und  in  den  Beduktionsbestandteil. 
Als  das  tiefste  und  schwerste  Problem  für  das  menschliche  Denken 
bezeichnet  Ziehen  den  Widerspruch  zwischen  der  Eausal-  und  der  Parallel- 
formel.   Er  glaubt  diesen  Widerspruch  zu  lösen:  Das  Kausalgesetz  ergiebt 
sich  erst,  nachdem  die  v-Eomponenten  der  Empfindungen  eliminiert  sind.  Man 
kann  daher  nicht  verlangen,  dafs  es  auch  für  die  v-Eomponenten  selbst  gelte. 
Alle  Empfindungen  gehören  einem  bestimmten  Individuum  an.    Sie 
enthalten  r-Eomponenten,  die  einem  bestimmten  Nervensystem  oder,  was 
dasselbe  bedeutet,  einem  bestimmten  Eomplex  von  v-Empfindungen  zuge- 
hören.   Ganz  anders  die  Beduktionsbestandteile  der  Empfindungen.   Wenn 
ich  ein  Objekt  mit  den  Augen  betrachte  und  dann   die  Augen  schlief se, 
so  fällt  die  v-Komponente  der  Empfindungen  zwar  weg,  ihr  Beduktions- 
bestandteil bleibt   aber  bestehen.    Die   Beduktionsbestandteile  der  Em- 
pfindungen bestehen  überhaupt  unabhängig  von  den  Nervensystemen,  und 
sie  würden  bestehen,  wenn  es  gar  keine  Nervensysteme  gebe.  Ihre  Existenz 
wird  von  Ziehen  nichtsdestoweniger  als  eine  psychische  bezeichnet.  Freilich 
existieren  sie  nicht  individuell  psychisch  und  auch  nicht  unbewurst,  sondern 
„allgemein  bewufst''.    „„Unbewufste  Empfindungen"  sind  eine  inhaltslose 
Wortkombination'',   „allgemein  bewufste  Empfindungen''  eine  notwendige 
Beduktionsvorstellung,   welcher  man  nur  widerstrebt,   so  lange  man  sich 
nicht  von  der  Vorstellung   einer  von  der  Materie  hervorgerufenen  Em- 
pfindung   frei  gemacht  hat.''    Diese  allgemein  bewufsten  Beduk- 
tionsbestandteile der  Empfindungen  verwandeln  sich  so   oft  in  Objekt- 
empfindungen,  sie  verbinden  sich  so  oft  mit  f>-Eomponenten,   als  sie  auf 
v-Empfindungskomplexe  einwirken  und  Bückwirkungen  von  diesen  erfahren. 
Die  Trennung  der  Beduktionsbestandteile  und  der  1^■Eomponenten 
bildet  eine  Hauptaufgabe  der  Wissenschaft.  Verf.  gelangt  zu  dem  Besultat, 
dafs  räumliche  und  zeitliche  Anordnung  der  Empfindungen  ebensowohl  als 
Qualität   und   Intensität  bereits   den   Beduktionsbestandteilen   der   Em- 
pfindungen zukomme.    Einen  eigenen  Gefühlston  haben  die  Beduktions- 
bestandteile nicht.    Trotzdem  lehrt  Ziehen,   dafs   der  Gefühlston   aufser 
von  den  v-Empfindungen  auch  von  den  übrigen  Eigenschaften  der  Beduk- 
tionsbestandteile abhänge. 

Die  Gehimprozesse,  welche  den  Empfindungen  entsprechen,  lassen 
nach  dem  Aufhören  der  Empfindungen  irgendwelche  Spuren  im  G«him 
zurück.    Wenn  der  Beduktionsbestandteil  einer  Empfindung  aufhört,  sagt 


V 


Ziehen,  „Psychophysiologische  Erkenntnistheorie".  247 

Ziehen  hierfür,  in  dem  Grade  yerändemd  auf  einen  1^-EoInplex  zu  wirken, 
datfi  die  Parallelrückwirkung  zustande  kommt,  so  bleiht  doch  innerhalb 
des  v-Komplexes  eine  Veränderung  zurück.  Diese  Veränderung  nennt 
Ziehen  t^Disposition.  Die  genannten  physiologischen  Nachwirkungen  der 
Empfindungen  erzeugen,  wenn  sie  in  günstiger  Weise  durch  andere  Pro- 
zesse im  Nervensystem  beeinfiufst  werden,  Vorgänge,  mit  welchen  Vor- 
stellungen parallel  gehen.  Diese  Thatsache  drückt  Ziehen  so  aus:  Wenn 
die  ihDispositionen  eine  geeignete  innerhalb  des  v-Eomplexes  fortschreitende 
Veränderung  erfahren,  so  erzeugen  sie  durch  Parallelwirkungen  Erinnerungs- 
bilder oder  Vorstellungen  der  ihnen  korrespondierenden  Empfindungen. 

Unter  den  Vorstellungen,  welche,  wie  übrigens  auch  die  Em- 
pfindungen, mancherlei  Eomplexionen  erfahren  können,  spielen  die  Be- 
duktionsTorstellungen,  d.  h.  die  Vorstellungen  der  Beduktionsbestandteile 
der  Empfindungen,  eine  besondere  Bolle  für  die  Erkenntnistheorie.  Nur 
in  der  Vorstellung  lernen  wir  übrigens  jene  Reduktionsbestandteile  kennen, 
wenngleich  sie  im  Verein  mit  den  v-Eomponenten  die  reale  Empfindung 
ausmachen.  Die  richtig  gebildeten  Eeduktionsvorstellungen  sind  die  all- 
gemeinsten Vorstellungen  der  Empfindungen  und  Empfindungsbeziehungen. 
Sie  dürfen  zu  keiner  unserer  Empfindungen  im  Widerspruch  stehen,  und 
sie  müssen  thatsächlich  aus  den  Empfindungen  abstrahiert  sein:  als  Grund- 
lage für  die  BeduktionsTorstellungen  dürfen  nur  Empfindungen  selbst 
dienen.  Solche  BeduktionsTorstellungen  geben  uns  eine  richtige  Vorstellung 
Yon  der  sogenannten  Welt.  Verf.  verwirft  die  üblichen  Reduktionen  der 
Objektempfindungen,  d.  h.  der  Empfindungen  von  Objekten:  Der  Begriff 
der  Materie  setzt  nicht<-psychische  Objekte  voraus,  d.  h.  Gegenstände, 
welche  nicht  existieren. 

Eine  besondere  Gruppe  von  Vorstellungen,  welche  Verf.  gleichfalls 
ausführlich  behandelt,  bilden  auch  die  Beziehungsvorstellungen.  Sie  ent- 
stehen aus  den  Empfindungen  durch  Weglassung  bestimmter  Merkmale 
der  Empfindungen.  Die  Vorstellungen  der  Gleichheit,  der  Ähnlichkeit 
und  Verschiedenheit,  des  Gleichbleibens,  der  Veränderung  und  des  Wechsels 
und  vor  allem  die  der  Eausalität  sind  besonders  wichtige  Beziehungs- 
vorstellungen. Übrigens  können  derlei  Beziehungsvorstellungen  gelegent- 
lich auch  aus  Vorstellungen  entspringen. 

Die  Thatsache  der  tierischen  Bewegungen  wird  von  Ziehen  dahin 
„reduziert",  dafs  die  kausalen  Veränderungen  innerhalb  der  v-Eomplexe 
sich  oft  auf  die  Beduktionsbestandteile  von  Empfindungen  fortpflanzen, 
welche  mit  den  v-Eomplexen  räumlich  aufs  engste  zusammenhängen. 
Diese  Beduktionsbestandteile,  deren  Gesamtheit  Ziehen  als  /c^-Empfindungen 
bezeichnet,  bilden  das  sogenannte  motorische  System  des  Eörpers.  Die 
Vorgänge  in  den  /[/-Eomplexen  wirken  nach  der  Eausalformel  wieder  auf 
die  Beduktionsbestandteile  der  Objektempfindungen  zurück. 


Dies  ist  der  wesentliche  Inhalt  der  ZisHEN'schen  Schrift.  Die  Zer* 
legung  der  Empfindungen  in  einen  Beduktionsbestandteil  und  einen  Best- 
bestandteil ist  psychologisch  vollständig  unmotiviert.  Eeiner  psychologischen 
Analyse  ist  es  bis  jetzt  gelungen,  in  der  Empfindung  einer  roten  Fläche 


248  Karl  Marbe: 

eine  Komponente  zu  entdecken,  welche  Gegenstand  der  Naturwissenschaften 
wäre.  Wir  wissen  allerdings,  dafs  die  fragliche  Empfindung  dann  entsteht, 
wenn  eine  Fläche  Licht  von  einer  bestimmten  Wellenlänge  auf  das  normale 
menschliche  Auge  ausstrahlt.  Aber  dieser  Beiz  ist  in  der  Empfindung 
nicht  im  mindesten  enthalten.  Der  ZiEHEiv'sche  Eeduktionsbestandteil  der 
Empfindung  ist  vielmehr  ein  Begriff,  welcher  in  einer  für  die  Psychologie 
höchst  unzweckmäfsigen  Vermengung  von  Reiz  und  Empfindung  seine 
Wurzel  hat,  einer  Behandlung  des  Empfindungsbegriffs,  die  sich  schon  in 
Ziehens  Leitfaden  der  Psychologie  konstatieren  läfst.  Dafs  die  Eeduktions- 
bestandteile  der  Empfindungen  in  den  Empfindungen  gar  nicht  enthalten 
sind  und  dafs  sie  demnach  auch  nicht  durch  Analyse  aus  den  Empfindungen 
entwickelt  werden  können,  folgt  übrigens  auch  aus  Ziehens  eigenen  Dar- 
legungen. Nur  in  der  Vorstellung  lernen  wir  ja  jene  Brcduktionsbestand- 
teile  der  Empfindungen  kennen;  das  heifst  doch  wohl,  wir  empfinden  sie 
nicht,  sie  sind  keine  Komponenten  der  Empfindung.  Das  Problematischste 
dieser  Eeduktionsbestandteile  der  Empfindungen  ist  aber  ihre  Eigenschaft, 
vorhanden  zu  sein,  ohne  dafs  Empfindungen  vorhanden  sind.  Wenn  es 
keine  Nervensysteme  gäbe,  sagt  ja  Ziehen,  so  gäbe  es  doch  Beduktions- 
bestandteile  der  Empfindungen.  Man  könnte  glauben,  Ziehen  habe  seinen 
idealistischen  Standpunkt  des  Esse  gleich  Pebcifi  aufgegeben  und  fasse 
den  Begriff  der  Existenz  in  ähnlicher  Weise,  wie  ihn  der  Referent  oben 
fixiert  hat.  Aber  nein!  Die  Existenz  der  Beduktionsbestandteile  ist  für 
Ziehen  nichtsdestoweniger  eine  psychische.  Das  aber  begreife,  wer  kann! 
Freilich  sucht  uns  Ziehen  die  Faisbarkeit  des  UnfaXsbaren  dadurch  zu 
erleichtem,  dafs  er  die  Eeduktionsbestandteile  der  Empfindungen  „allge- 
mein bewufst"  nennt.  Aber  Ziehen  versäumt  es,  uns  den  Begriff  des 
„allgemein  bewufsten"  klar  zu  machen,  und  man  kann  ihn  auch  nicht 
klar  machen.    AUgemeinbewufst  ist  ein  leeres  Wort. 

Alle  diese  Ungereimtheiten  haben  offenbar  ihre  Wurzel  in  dem 
Versuch,  den  Idealismus  mit  der  Naturwissenschaft,  welche  die  Existenz 
der  Dinge  aufser  uns  fordert,  vereinen  zu  wollen.  Dieser  Versuch  ist 
notwendig  resultatlos.  Entweder  läfst  man  nur  Vorstellungen  im  allge- 
meinen erkenntnistheoretischen  Sinne  des  Wortes  existieren.  Dann  sind 
die  Beduktionsbestandteile  der  Empfindungen  Worte,  denen  alle  Prädikate 
von  AUgemeinbewufstheit  und  dergL  keinen  Inhalt  verleihen  können. 
Oder  man  folgt  der  anderen  Hypothese;  man  läfst  die  AuXsenwelt  in  dem 
oben  skizzierten  Sinne  des  Lebens  und  der  Wissenschaft  existieren.  Dann 
kann  man  die  Eeduktionsbestandteile  der  Empfindungen  beibehalten,  — 
freilich  nicht  als  Produkte  einer  fingierten  psychologischen  Analyse,  wie 
Ziehen  will:  die  sogenannten  Eeduktionsbestandteile  der  Empfindungen 
sind  dann  nichts  anderes  als  die  Materie  der  Naturwissenschaften.  Wenn 
somit  Ziehens  Versuch,  den  Idealismus  für  die  Betrachtung  der  Aufsenwelt 
fruchthar  zu  machen,  gescheitert  ist,  so  hat  sich  nur  dasselbe  Schauspiel 
wiederholt,  das  uns  alle  idealistischen  Philosophen  geboten  haben,  welche 
sich  überhaupt  bemühten,  den  Idealismus  im  einzelnen  durchzuführen. 

Ebenso  wenig  auch  wie  seinen  Vorgängern  ist  es  Ziehen  gelungen, 
den  Solipsismus  zu  widerlegen.  Er  glaubt  zwar  diese  Ansicht  dadurch  zu 
^beseitigen,   dafs  er  nachweist,  dafs  nicht  das  eigene  Ich  primär  gegeben 


Ziehen,  „Psychophysiologische  Erkenntnistheorie".  249 

sei  (wie  der  Solipsismus  annehme),  sondern  lediglich  die  eigenen  Em- 
pfindungen und  Vorstellungen.  Aher  seit  wann  ist  denn  die  Annahme  der 
primären  und  ausschliefslichen  Existenz  des  eigenen  Ich  für  den  Solipsismus 
wesentlich?  Versteht  man  denn  unter  Solipsismus  nicht  die  Ansicht,  dals  ledig- 
lich das  eigene  Seelenleben  primär  gegeben  sei  und  daher  ausschlierslich 
existiere,  ganz  abgesehen  davon,  ob  man  als  dessen  Wesen  ein  „Ich"  oder 
Empfindungen  und  Vorstellungen  oder  sonst  etwas  auffafst?  Dieser  Solip- 
sismus läfst  sich  ebenso  wenig  widerlegen  oder  beweisen,  als  die  Existenz 
der  Au&enwelt.  Er  ist  eine  Hypothese  und  zwar  Ton  allen  Versionen  des 
Idealismus  die  unfruchtbarste  Hypothese.    Und  deshalb  ist  er  abzuweisen. 

Nachdem  bis  jetzt  der  Versuch  gemacht  wurde,  zu  zeigen,  dafs  die 
Grundanschauungen  der  ZnsHEN'schen  Schrift  durchaus  verfehlt  sind,  sollen 
unter  den  meiner  Meinung  nach  unrichtigen  mehr  nebensächlichen  Aus- 
führungen nur  noch  zwei  Punkte  besonders  kritisiert  werden. 

ZiEBBNs  Lösung  des  Widerspruchs  zwischen  der  „Kausalformel" 
und  der  „Parallelformel"  (vergl.  diese  Becension  S.  246)  setzt  voraus,  dafs 
das  Kausalitätsgesetz  aus  der  Betrachtung  der  Welt  nach  Elimination  der 
v-Komponenten  empirisch  gewonnen  werde.  Das  ist  freilich  sehr  einfach! 
Es  ist  nur  schade,  dafs  Ziehen  diede  allerdings  etwas  paraphrasierte  Be- 
hauptung nicht  näher  begründet  hat. 

Steht  Ziehen  hinsichtlich  der  Eausalitätsfrage  im  Widerspruch  zu 
ScHOPENHAUEB,  der  sonst  auf  ihn  den  gröfsten  EinfluTs  ausgeübt  hat,  so 
steht  er  hinsichtlich  der  Lehre  von  den  Allgemeinvorstellungen  im  Gegen- 
satz zu  einem  Philosophen,  von  dem  er  im  übrigen  nächst  Schopenhauer 
am  meisten  abhängig  ist.  Während  Bbbkeley  die  Existenz  der  Allgemein- 
vorstellungen durchaus  abgelehnt  hatte,  werden  sie  von  Ziehen  im  weitesten 
Umfang  aufrecht  erhalten.  Gehört  ja  selbst  die  Kausalität  zu  den  oben 
erwähnten  Beziehungs Vorstellungen!  Eef.  ist  nicht  imstande,  allge- 
meine Vorstellungen  im  Sinne  der  ZiEHEN'schen  Ausführungen  zu  bilden. 
Ich  vermag  mir  gleiche,  verschiedene,  gleichbleibende,  wechselnde  Gegen- 
stände und  Vorgänge  vorzustellen.  Ebenso  kann  ich  Veränderungen  und 
speciell  kausal  bedingte  Veränderungen  vorstellen,  nicht  aber  Gleichheit, 
Verschiedenheit  u.  s.  w.  In  diesen  Ausdrücken  sehe  ich  vielmehr  blofs 
Zeichen  für  Begriffe,  deren  Inhalt  zwar  definiert,  aber  durch  eine  Vor- 
stellung so  wenig  repräsentiert  werden  kann,  wie  der  Inhalt  des  Begriffes 
des  mathematischen  Punktes  oder  der  Linie. 

Mit  Recht  erwähnt  Ziehen  im  Vorwort,  dafs  seine  Darlegungen  mit  den- 
jenigen von  Mach,  Avenabiüs,  Schuppe  u.  a.  verwandt  sind.  Die  Ausführ- 
ungen dieser  Autoren,  mit  denen  Eef.  sich  freilich  gleichfalls  nicht  einverstanden 
erklären  kann,  sind  z.  T.  unverhältnismäfsig  bedeutender  als  die  Ziehens. 

Würzburg.  Kabl  Mause. 

Batzel^  Fr.,  Politische  Geographie.  Mit  33  in  den  Text 
gedrückten  Abbildungen.  München  und  Leipzig,  E.  Olden- 
bourg,  1897.    XX  und  715  S. 

Batzels  „Politische  Geographie"  bildet  eigentlich  nur  eine  breitere 
Ausführung  eines . Teiles  seiner.  ,,Anthropogeographie",   nämlich  der  .Be- 


250  P.  Barth: 

Ziehungen  des  staatlichen  Lebens  zur  Gestalt  der  Länder,  während  die 
Anthropogeographie  die  Beziehungen  des  ganzen  Lebens  zu  ihr  behandelt 
Das  staatliche  Leben  ist  ja  von  allen  Funktionen  der  Gesellschaft  das 
sichtbarste,  konkreteste ;  seine  Veränderungen  prägen  sich  auch  äuTserlich 
deutlich  aus  und  werden  in  sehr  wahrnehmbarer  Weise  durch  die  geo- 
graphischen Verhältnisse  bedingt.  Diese  bilden  einen  wichtigen  Teil  der 
bestimmenden  Momente,  aber  neben  ihnen  wird  das  innere  Leben,  die 
Macht  der  Ideen  sicherlich,  je  weiter  die  Geschichte  fortschreitet,  immer 
mehr  mitbestimmend.  Sowohl  für  die  erstere  Wahrheit,  als  auch  für  ihre 
Ergänzung  durch  die  letztere  bietet  Eatzels  Buch  eine  gute  Sammlung 
Ton  Beispielen,  eine  imponierende  Fülle  gut  gesichteten  und  geordneten 
Materials,  das  auch  für  den  philosophischen  Betrachter  der  Geschichte 
mannigfaltiges  Interesse  hat.  Insbesondere  sind  es  2  Fragen,  auf  die  hier 
neues  Licht  fällt.  1.  Wie  weit  ist  der  Geist  der  Natur  (hier  den  geo- 
graphischen Momenten)  überlegen,  selbständig  gestaltend?  2.  Wie  weit 
sind  Politik  und  Verkehr  voneinander  abhängig,  und  welche  yon  beiden 
Mächten  ist  die  führende,  wegweisende?  Die  erste  Frage  kann  man  nach 
Batzels  Dokumenten  von  neuem  dahin  beantworten,  dafs  die  Macht  des 
Geistes  wächst.  Der  Staat  ist  ihm  mit  Eecht  „eine  fortschreitende  Organi- 
sation des  Bodens  durch  immer  engere  Verbindung  mit  dem  Volke"  (S.  6). 
Organisation  aber  bedeutet  in  diesem  Zusammenhange  Aufnahme  in  das 
Lebendige,  also  auch  in  das  geistige  Thun  des  Volkes.  Und  noch  bedeut- 
samer für  die  wachsende  Macht  des  Geistes  sind  manche  einzelne  That- 
sachen,  die  Eatzel  anführt.  Z.  B.  S.  38:  „Selbst  die  Wüsten  können 
nicht  mehr  als  leere  Bäume  aufgefafst,  d.  h.  unbeachtet  gelassen  werden. 
Seit  Jahren  sehen  wir  die  Franzosen  um  die  Herrschaft  in  der  menschen- 
armen Sahara  der  Tuareg  zwischen  Algerien  und  der  Gebirgsoase  von  Air 
ringen,  und  Eufsland  hat  durch  die  Wüste  von  Turan  eine  strategische 
Bahn  gelegt. '^  Ähnlich  S.  349,  wo  bewiesen  wird,  dafs  die  Aufgabe  der 
Verwaltung  und  der  Unterhaltung  regelmäfsigen  Verkehrs  den  Staat  oft 
zum  Wachstum  auch  an  solchen  Stellen  zwingt,  „wo  es  aus  anderen 
Gründen  nicht  angestrebt  würde",  wo  also  die  Natur  nicht  einladend  ist, 
der  Geist  aber  trotzdem  Werte  erkannt  und  in  Besitz  genommen  hat. 
Auf  die  zweite  Frage,  die  nach  dem  Verhältnis  der  Politik  zum  Verkehr, 
giebt  Batzel  die  Antwort,  dafs  anfänglich  meist  der  politische  Herrscher 
die  Wege  in  seinem  Interesse  bahnt,  der  Verkehr  aber  ihm  nachfolgt 
(S.  335,  409),  später  jedoch  das  Verhältnis  sehr  oft  sich  umkehrt,  der 
Verkehr  die  Schranken  der  Politik  überschreitet  und  diese  nach  sich  zieht 
(S.  403,  418). 

Auch  für  andere  sociologische  Fragen  wird  von  Batzbl  neues 
Material  gebracht,  so  für  die  von  Mobgan  angeregte,  warum  die  patri- 
archalischen Herrscher  sich  nach  dem  Volke,  die  späteren  aber  nach  dem 
Lande  nennen  (Bex  Numidarum,  roi  de  France).  Wenn  auch  Mobga^s 
Unterscheidung  der  societas  (als  auf  Blutsverwandtschaft  beruhend)  von 
der  civitas  (als  auf  Bodenbesitz  gegründet)  falsch  ist,  soweit  er  damit  der 
alten  societas  das  staatliche  Element  absprechen  will,  so  wird  er  soweit 
wohl  Becht  behalten,  dafs  die  ackerbauenden  Völker  ein  engeres  Verhältnis 
zum  Boden  haben,  als  die  Nomaden,  und  dies  allmählidi  auch  in  der  Be- 


Ratzel,  „Politische  Geographie".  251 

Zeichnung  der  Herrscher  nach  dem  Lande  zum  Ausdrucke  kommt.  Und 
wie  eine  philosophische  Betrachtung  des  Ausblicks  in  die  Zukunft  nicht 
entbehren  kann,  so  finden  wir  auch  dafür  bei  Ratzbl  Anregungen.  Sehr 
verbreitet  ist  die  Schwärmerei  für  die  allgemeine  Gleichmachung  der 
Völker  und  Staaten  durch  Weltsprache,  Weltverkehr,  Weltrecht,  schliefs- 
lich  Weltstaat.  Sie  entspringt  einer  oberflächlichen  Betrachtung,  die 
übersieht,  dafs  nach  einer  richtigen  Fassung  der  Formel  der  Entwicklung 
mit  der  Integration  auch  die  Differenzierung  der  Teile  wächst.  Batzel 
entzieht  jener  Schwärmerei  jeden  sicheren  Grund,  indem  er  sagt :  „Die 
Geschichte  wird  mit  jeder  Generation  geographischer  und  territorialer". 
Kann  denn  diese.  Tendenz  zur  Vertiefang  der  Geschichte  in  die  territorialen 
Antriebe  und  Aufgaben  auf  einmal  plötzlich  abbrechen,  die  Menschheit 
sich  in  einen  Allerweltsbrei  auflösen?  So  ist  Batzbls  Buch  nach  vielen 
Seiten  hin  ein  auf  Thatsachen,  nicht  auf  Konstruktionen  beruhender, 
wertvoller  Beitrag  zur  Philosophie  der  Geschichte. 

Leipzig.  P.  Babth. 


Selbstanzeige. 


Philipp,  S.,   Vier  skeptische   Thesen.     Leipzig,   0.  R. 
Reisland,  1898. 

Es  giebt  mehrere  Methoden  der  Erkenntniskritik.  Zunächst  die 
skeptisch-sophistische  Methode,  die  sich  einfach  an  die  Thatsache  hält, 
dafs  die  Erkenntnisse  der  Menschen  mit  Widersprüchen  behaftet  sind  und 
die  Meinungen  einander  widersprechen.  Sie  führt  sehr  viele  Belege  für 
diese  Thatsache  vor,  ohne  nach  dem  Warum  dafür  zu  fragen.  Andere 
Methoden  füllen  diese  Lücke  aus.  Die  eine  stellt  den  Menschen  als  reines 
Individuum  hin  und  fafst  den  Geist  auf  als  eine  Sunmie  von  Vermögen, 
Kräften,  Fähigkeiten,  Funktionen.  Sie  zeigt  nun,  dafs  es  eines  bestimmten 
Zusammenwirkens  dieser  Vermögen  und  Funktionen  bedarf,  um  Erkennt- 
nisse hervorzubringen,  sie  knüpft  also  die  Erkenntnisfähigkeit  an  gewisse 
technische  Bedingungen  und  schränkt  durch  diese  Bedingtheit  das  Gebiet 
des  Erkennbaren  ein.  Die  Methode  führt  daher  von  selbst  jene  gemäfsigte 
Skepsis  mit  sich,  wie  wir  sie  bei  Kamt,  dem  Erfinder  dieser  individualistisch- 
technischen Methode,  sehen.  Dieser  Methode  kann  man  eine  andere  gegen- 
überstellen, die  social-genetische,  welche  sich  nicht  auf  jene  anatomische 
Untersuchung  des  einzelnen  Menschengeistes  einläfst,  sondern  den  Menschen 
als  sociales  Glied  und  den  Menschengeist  als  ein  aus  den  winzigen  An- 
fängen urzeitlich  tierischer  Zustände  heraus  entwickeltes  Gebilde  auffafst, 
und  nun  zu  ermitteln  sucht,   welche   Schranken   diese   seine  Natur  und 


252  SelbstaDzeige. 

Entwicklung  dem  scheinbar  schrankenlosen  Menschengeiste  zieht.  Zwar 
an  Untersuchungen  über  den  Ursprung  von  Vernunft  und  Sprache  ist  kein 
Mangel,  aber  dafs  der  so  entstandene  Menschengeist  nur  ein  beschränktes, 
von  den  Bedingungen  seines  Ursprungs  nicht  zu  erlösendes  Gebilde  sein 
kann,  und  welches  die  hieraus  erwachsenden  Schranken  seiner  Befähigung 
sind,  das  bedurfte  einer  besonderen  Untersuchung. 

Hierin  besteht  die  Aufgabe  der  vorliegenden  Schrift.  Bei  der 
Durchführung  seiner  Aufgabe  konnte  der  Verfasser  Auseinandersetzungen 
und  Polemik  vermeiden  gegenüber  anderen  Wegen  der  Erkenntniskritik 
und  Erkenntnistheorie,  da  sie  ihm  als  ebenso  löblich  und  gangbar  er- 
scheinen, wie  sein  eigener  Weg.  So  geziemt  es  dem  Skeptiker.  Die 
Unterschiede  liegen  in  den  verschiedenen  Methoden  begründet,  und  eine 
allein  richtige  Methode  giebt  es  nicht.  Wohl  aber  kann  eine  Methode 
zeitgemäfser  sein,  als  die  andere,  und  wenn  heutzutage  das  Denken  der 
Menschen  überall  auf  das  Genetische  gerichtet  ist,  so  wird  der  Erkenntnis- 
kritiker hier  den  Hebel  ansetzen  und  zeigen  müssen,  welche  Konsequenzen 
sich  aus  dieser  Denkweise  und  ihren  wissenschaftlichen  Grundlagen  ergeben 
bezüglich  der  Frage,  wie  weit  die  Erkenntnisfähigkeit  des  Menschen  reicht. 

Das  Ergebnis  ist  eine  noch  stärkere  Einschränkung  der  Prätensionen 
der  menschlichen  Vernunft,  als  bei  Kant,  und  darum  nennt  der  Verfasser 
seine  Ergebnisse  einfach  skeptische,  obwohl  ihm  jenes  grundsätzliche 
Zweifeln  fem  ist,  das  manche  für  die  Signatur  der  wahren  Skepsis  halten. 
Man  braucht  nicht  ein  Übertreiber  zu  sein,  um  die  Befugnis  zu  erlangen, 
sich  einen  Skeptiker  zu  nennen.  Da  der  Skeptiker  die  Ansprüche  des 
Menschengeistes  widerlegen  und  einschränken  will,  so  mufs  er  der  Ver- 
nunft, mit  deren  Hilfe  er  dies  unternimmt,  zum  mindesten  die  Fähigkeit 
zu  allgemeingültigen  Widerlegungen  lassen.  Der  Nachweis,  dafs  die 
Vernunft  im  wesentlichen  nur  diese  widerlegende,  einschränkende,  ne- 
gierende Macht  besitzt,  ist  dem  Verfasser  durch  eine  neue  Auffassung  der 
Logik  gelungen«  Die  Vernunft  auf  dem  Erkenntnisgebiete  erweist  sieh 
dadurch  als  ganz  dieselbe,  die  auf  dem  Willens-  und  Gefühlsgebiete  wirk- 
sam ist,  wo  sie  gleichfalls  nur  zurückhalten  und  eindämmen  kann.  Das 
Positive  in  unseren  Meinungen  entspriefst  anderen  Wurzeln,  nicht  der 
Vernunft;  es  läfst  sich  nicht  vollständig  rationalisieren,  es  hat  einen  be- 
stimmten Charakter,  ist  also  stets  einseitig,  und  daher  läfst  sich  in  jeder 
positiven  Meinung  eine  Unvollständigkeit  und  Lückenhaftigkeit  nachweisen, 
die,  wenigstens  vom  Standpunkte  der  Vernunft  aus  betrachtet,  als  fehler- 
haft erscheint. 


n. 
Philosophische  Zeitschriften. 


Arehiy  für  Gescliiclite  der  Philosopliie  (Berlin,  Beimer). 

Bd.  12,  Heft  2. 

A.  Patin,  Apollonins ,  Martyr,  der  Skoteinologe.    Ein  Beitrag  zu   Heraklit  und 

Enemems. 
P.  Natorp,  üntersnchungen  über  Flatos  Phaedms  und  Theaetet 
Wilh.  Wintzer,  Die  ethischen  üntersuchuugen  Ludwig  Feuerbachs. 
G.  Lacour-Orayet,  Les  traducti ons fran9ai8es  de Hobbes  sous  le r^gne  de  Louis Xiy. 
W.  Handt,  Jahresbericht  über  indische  Philosophie  1894—1897. 

E.  Zell  er,  Die  deutsche  Litteratur  über  die  sokratische,  platonische  und  aristote- 
lische Philosophie.    1896.  —  Neueste  Erscheinungen. 

Kantstudien  (Hamburg  und  Leipzig,  Vofs). 

Bd.  III,  Heft  3.  , 

F.  Medicus,  Kants  transcendentale  Ästhetik  und  die  nichteuklidische  Geometrie. 
W.  B.  Waterman,  Kants  lectures  on  the  philosophical  theory  of  religion. 

K.  Vorländer,  Neue  Zeugnisse,  Goethes  Verhältnis  zu  Kant  betreffend. 

F.  Medicus,  Zwei.Thomisten  contra  Kant. 

H.  Yai hinger,  Über  eine  Entdeckung,  nach  der  alle  neuen  Kommentare  zu  Kants 
Kr.  d.  r.  vT  und  insbesondere  mein  eigener  durch  ein  älteres  Werk  entbehrlich 
gemacht  werden  sollen.  —  Recensionen.  —  Litteraturbericht  —  Selbstanzeigen.  — 
Bibliographische  Notizen.  —  Mitteilungen.  —  Varia. 

Phllosophlsehe  Studien  (Leipzig,  Engelmann). 
Bd.  15,  Heft  1. 

E.  Buch,  Über  die  «Verschmelzung'^  von  Empfindungen,  besonders  bei  Klang- 
eindrücken. 

E.  M.  Weyer,  Die  Zeitschwellen  gleichartiger  und  disparater  Sinneseindrücke. 
Mit  Figur  8—10  im  Text.   (Schlufsl) 

Chr.  D.  Pelaum,  Neue  Untersuchungen  über  die  Zeitverhältnisse  der  Apperceptlon 
einfacher  Sinneseindrücke  am  Komplikationspendel. 

Zeitselirift    für    Psjehologie    und    Physiologie    der    Sinnesorgane 

(Leipzig,  Ambros.  Barth). 

Bd.  19,  Heft  4.    (Heft  3  ist  mit  2  vereinigt.) 

Kristian  B.  R.  Aars,  Über  die  Beziehung  zwischen  apriorischem  Kausalgesetz 
und  der  Thatsache  der  Reizhöhe. 

G.  J.  Seh  oute,. .Wahrnehmungen  mit  einem  einzelnen  Zapfen  der  Netzhaut. 
O.Polimanti,  Über  die  sogenannte  Flimmer -Photometrie.  — ^^  Besprechung  über 

H.  Grofs,  Kriminalpsychologie.  —  Litteraturbericht. 

Bd.  19,  Heft  5  n.  6. 

Titchener,  Zur  Kritik  der  Wundt'schen  Gefühlslehre.  —  Litteraturbericht.  — 
Bibliographie  der  nsycho- physiologischen  Idtteratur  des  Jahres  1897.  —  Alpha- 
betisches Verzeichnis  der  Automamen  der  Bibliographie.  —  Namenregister. 


254  Philosophisclie  Zeitschriften. 

Bd.  20,  Heft  1. 

B.  Hanse  mann,  Über  das  Gehirn  von  Hermann  v.  Helmholtz. 

M.  Meyer,  Über  Benrtellnng  zusammengesetzter  Klänge.  —  Litteraturberlcht. 

Bd.  20,  Heft  2  n.  8. 

W.  V.  Zehender.  Über  geometrisch-optische  Tänschnng. 

A.  Samojloff,  znr  Kenntnis  der  nachlaufenden  Bilder. 

M.  V.  Freyn.  F.  Kiesow,    Über  die  Funktion  der  Tastkörperchen. 

G.  Heymansi  Zur  Psychologie  der  Komik.  —  Litteraturberlcht. 

Zeitschrift  für  Pliilosopliie  und  Pädagogilt  (Langensalza,  Beyer  &  Söhne). 
TL  Jalirg«,  Heft  1. 

E.  Schnitze,. .Über  die  Umwandlung  'willkürlicher  Bewegungen  In  unwillkürliche. 
M.  Lobsien,  Über  den  Ursprung  der  Sprache.    (Fortsetzung.) 
Jos.  Geyser,  Die  psychologischen  Grundlagen  des  Lehrens. 
H.  Schreiber,  Gegen  Früfmigen  und  Noten.  —  Mitteilungen.  —  Besprechungen.  — 
Aus  der  Fachpresse. 

The  Monist  (Chicago  and  London,  The  Open  Court  Publishing  &  Co.). 

Vol.  9,  No.  2. 

W.  Jackson,  Ormazd,  or  the  Ancient  Persian  Idea  of  God. 

C.  Lloyd  Morgan,  Yitalism. 

Alfr.  H.  Lloyd,  Evolution  Evolved.    A  Philosophical  Criticism. 

Oliver  H.  P.  Smith,  Evolution  and  Consdousness. 

Editor,  A  Few  Hints  on  the  Treatment  of  Children. 

Literary  Correspondence :  F.  Jodl,  Phllosophy  iuGermany  and  Austria.  — Luden 

Arreat,  France.    —    Editor,   Phllosophy  in  Japan.    —    Critlcisms  and  Bis- 

cussions.  —  Book  reviews. 

Tlie  Pliilosophical   Review    (New  York  and  London,  The  Macmillan 
Company). 

Vol.  vm,  No.  1. 

J.  G.  Schurman,  Kants  Theory  of  the  A  Priori  Forms  of  Sense. 

D.  H.  Blanchard,  Some  Deterministlc  Implicatlons  of  the  Psychology  of  Attention. 
A.  H.  Lloyd,  Time  as  a  Datum  of  Hlstory.  —  Reviews  of  Books.  —  Summaries 

of  Artlcles.  —  Notices  of  New  Books.  —  Notes. 

Yol.  VIII,  No.  2. 

J.  G.  Schurman,  Kants  Theory  of  the  A  Priori  Forms  of  Sense,    (ü.) 

A.  Lefevre,  The  Signiflcance  of  Butlers  View  of  Human  Nature. 

L.M.  Solomons,    The  Alleged  Pi'oof  of  Parallellsm  from  the  Conservation  of 

Energy.  —  Discusslons.  —  Reviews  of  Books.  —  Summaries  of  Artlcles.  —  Notices 

of  New  Books.  —  Notes. 

Tlie  Psycbological  Beyiew    (New  York  and  London,  The  Macmillan 
Company). 

Vol.  VI,  No.  2. 

G.  TrumhullLadd,   On  Certain  Hlndrances  to  the  Progress  of  Psychology  in 

America 
H.  Ellis,  The  Evolution  of  Modesty. 
Proceedings  of  the    Seventh  Annual   Meeting    of   the    American   Psychological 

Assclation,  New  York,  Becemher  1898.  ~  Discusslons.  —  Literature.  —   New 

Books.  —  Correspondence  And  Notes. 
Hierzu  gehört:  The  Psyeholo^eal  Index  No.  5  (1898),  a  blbliography  of  the  literature 


of  psychology  and  cognate  subjects  for  1898,  compiled  by  Howard  C.  Warren 

Pnnceton  Univferslty),   assisted  by  Robert  S.  Woodworth  (Columbia  Uni- 

verslty),  with  the   Cooperation  of  N.  Yaschide  (Paris)   and  B.  3orchardt 


(J 
v 
(Beruh). 


Philosophische  Zeitschriften.  255 

The  Amerlean  Jonmal  of  Psjcliology  (Worcester,  Mass.  Orpha). 
Yol.  X,  No.  2. 

F.  K  Bolton,  Hydro-Psychoses. 

F.  W.  Colegrove,  Indivldual  MemoileB. 

li.  W.  Kl  Ine,  Methods  in  Anlmal  Psvchology. 

Minor  Studies  trom  the  Fsychological  Laboratoiy  of  Clark  Ünlverslty.    Comm.  by 

Edm.  C.  Sanford. 
6.  M.  Whipple,  XIL  On  Nearly  Sinmltaneons  Cllcks  and  Flasbes. 

F.  W.  Colegrove,  Xm.  The  Time  Beqnired  for  Becognition.  XIV.  Notes  on  Mental 
Standards  of  Length. 

£.  Flood,  Notes  on  the  Castratton  of  Idiot  Chüdren. 

A.  F.  Chamberlain,  On  the  Words  for  „Fear'  in  Certain  Langnages.    A.  Study 
in  Lingnistic  Paychology.  —  Book  Notes.  —  Notes  and  News.  —  Books  Received. 

Reyne  Philosophiqne,  F^fier  1899  (Paris,  Alcan). 

J.  J.  vanBiervliet,  L'homme  droit  et  Thomme  gauche  (1.  article). 
Th.  Flournoy,  Genese  de  qnelques  prätendns  messages  spirltes. 
P.  Tannery,  Jüa  stylom^trie,  ses  origines  et  son  präsent. 

Revue  g^nörale:  V.  Henri,  Les  travauz  r^cents  de  psychophysiqae  (1.  article).  — 
Analyses  et  comptes  rendus.  —  Bevne  des  p^riodiqnes  ötrangers. 

Mars  1899. 

H.  Bois,  La  conservation  de  la  foi  (1.  article). 
A.  Fonill^e,  La  psychologie  religiense  dans  Michelet. 
J.  J.  van  Biervliet,  L^homme  droit  et  Thomme  ganohe  (2.  article). 
Revue  generale:    V.  Henri,   lies  travaux  rdcents   de  psychophysique.    (fln.)  — 
Analyses  et  comptes  rendus.  —  Revue  des  p^riodiques  etrangers. 

BeTue  de  M^taphysiqüe  et  de  Morale  (Paris,  Colin  &  Co.). 
7.  Jahrg.,  No.  1. 

H.  Bouasse,  De  Tapplication  des  sciences  math^matiques  aus  sciences  exp^ri- 

mentales. 
£.  Chartier,  Sur  la  memoire. 
Lamennais,  ün  fragment  inädit  de  FvEsquisse  d*nne  Philosophie*^  publiö  par 

Chr.  Marechal.    (Suite  et  fln.) 
H.  Havard,  Applications  morales  et  sociales  de  la  theorie  du  developpement  mental. 

G.  Vailati,  La  loeique  mathömatique  et  sa  nouvelle  phase  de  developpement  dans 
les  öcrits  de  M.  J.  reano. 

P.  Lapie,  L^arbitrage  politique.  —  Supplement:  Livres  nouveaux.  —  Revues  et 
p^rlodiques. 

Rerue  N^y-Seolastique  (LouTain,  Institut  sup^rieur  de  Philosophie). 
6.  Jahrg.,  No.  1. 

Avis  ä  nos  lecteurs. 

D.  Mercier,  Le  Positivisme  et  les  verit^s  necessaires  des  math^matiques. 
Dr.  V.  Ermoni,  Le  Phänomene  de  Vassociation. 
M.  de  Wulf,  La  Synthese  scolastique. 

M^langes  A  Documents:  La  terminologie  fran9ai8e  de  la  scolastique.  —  H.  Lebrun.— - 
La  Seproduction.  —  Bulletins.  —  Comptes  rendus. 

RiTista  Italiana  di  Filosofla  (Borna,  Balhi). 

Anno  XIII,  Yol«  II.    Noyemhre-Dicemhre. 

C.  Cantoni,  Sulla  Morale. 

G.  Zuccante,  Intomo  all'  Utilitarismo  dello  Stuart  MÜL 

L.  Ambrosi,  Che  cos'  ö  la  materla. 

A.  Bartolomei.  I  principii  fondamentali  dell'  Etica  di  Roberto  Ardigö  e  le 

dottrine  della  nlosona  sclentifica. 
G.  Marchesini.Il  valore  del  giudizio  negativo. 
G.  M.  Ferrari,  L'Uomo  prlmitivo. 
y.  Alemanni,  Le  dottrine  estetiche  di  Pietro  Ceretti.  —  BoUettino  pedagogico 

e  fllosoflco.  —  Recenti  pubblicazioni. 


256  PhüoBophisclie  Zeitschriften. 

BlTlsto  FiloBOfloa  (Paria,  Faei).     (PorteetzDUg  der  vorigen  Zeitschrift.^ 
Anno  I  (XIV),  ToL  I.    GeDnaio-Felibraio. 

C.  Cantonl.  AI  lettorl  della  Blvteta  FUosaflCB. 

A.  Chlappelll,  Lii  funztone  preeente  della  filoBoS»  crltics. 

F.  TaccD,  1  prlnclpll  metAflBicl  deUa  aclenza  e  della  natnra  dj  K  Kant. 

B.  Labsnoa,  Geaü  dl  Nazai'eth  In  recentl  pnbblicszloQl  franceal. 
A.  Plazzl,  Llbertä  o  Unlfonoltä  nelle  scnole  medle? 
Boasegna  BlbUogi:aHca  etc. 

The  Hetaphrsleal  Magazine  (New  York,  Tlie  Metaphyeical  PnbliBhing: 

Companj). 

Toi.  IX,  No.  i. 

A.  Wilder,  The  cerebellom  or  Bnbjectlve  brain. 

B.  F.  Hills,  Tbe  EermH  ot  s  greater  rellglon. 
St.  K.  DavtB,  The  Ideal  ot  cultnre. 
"   "    T-ray,  Klamflt  (Poam). 


RiTista   qnlndioinale    dl    Paleologla,    FaiehUtrla,    NeDropatolo^Ia 

(Roma,  Fratetli  Capaccini). 

Fase.  11—12.    (15.  Octobre.) 
Tramonti,  La  toBeielti  delle  nrlne  nelle  eqnlvalentl  epllettieL 
S.  de  Sanctia  et  A.  Mattoll,  PTtmo  oontilbuto  alla  conoecenza  della  Bvolnzlone 

del  dellrl  In  rapporto  Bpeclumente  agü  Indebolimentl  palchlcl   consecutlTL  — 

BecenBloal. 

Fase,  13.    (1.  NoTBmbre.) 
8.  de  Sanctls  et  A.  Mattoll,  Fiima  conttibato  alla  conoBcenza  della  evolozlene 
del  dellrl  etc.  (contlnnazlone  e  fiae).  —  Recensloni. 

Fase.  14. 
H.  Olaonelli,  Un  casa  dl  parallal  progieBslon  la  nn  bamblno  e  tabo  parallal.  — 


ocefale.  —  BeceuBlonl. 


m. 
Bibliographie. 

(Bis  Ende  Mäjz  1899.) 

I.    Geschichte  der  Philosophie« 

Bnonamici,  O.y  Biccardo  da  S.  Vittore:  Saggio  dl  studi  sulla  filosofia 
mistica  del  secolo.    (XII,  182  p.)    Alatri.    M.  3, — . 

Falckenbergr,  Bieli.,  Hilfsbuch  zur  Geschichte  der  Philosophie  seit  Kant.) 

(Vin,  68  S.)    Leipzig,  Veit  &  Co.    M.  1,40. 

Glofsner,  Br.  M«,  Sayonarola  als  Apologet  und  Philosoph.  Eine  philo- 
sophie-geschichtl.  Studie.    (124  S.)    Paderborn,  Schöningh.    M.  2,60. 

Qrzymiseh,  Slegfr.,  Spinozas  Lehren  von  der  Ewigkeit  und  Unsterblich- 
keit.   (V,  59  S.)    Breslau,  Calyary  &  Co.    M.  1,60. 

Kronenbergr,  M«,  Moderne  Philosophen.  Portraits  und  Charakteristiken. 
(Hermann  Lotze  —  F.  Alb.  Lange  —  Victor  Cousin  —  Ludwig  Feuer- 
bach —  Max  Stimer.)  (XI,  221  S.)  München,  Beck.  M.  4,60;  geb.  M.  6,50. 

LeibnltZ)  Gottfir*  Wilh.,  Briefwechsel  m.  Mathematikern.  Herausg.  von 
E.  J.  Gerhardt.  1.  Bd.  Mit  e.  photogr.  Fcsm.  (XXVIII,  761  S.  mit 
Fig.)    Berlin,  Mayer  &  Müller.    M.  28,—. 

Louis,  Bad»,  Die  Weltanschauung  Richard  Wagners.  (VH,  193S.)  Leipzig, 
Breitkopf  &  Häxtel.    M.  3,—. 

Nettleshlp,  Blchard  Lewis,  Lectures  on  the  Bepublic  of  Plato.  Edited 
by  G.  B.  Benson.    (372  p.)    London,  Macmillan.    8  sh.  6  d. 

Oder,  Eng.,  Ein  angebliches  Bruchstück  Democrits  über  die  Entdeckung 
unterirdischer  Quellen.    (158  S.)    Leipzig,  Dieterich.    M.  4,50. 

Beieke,  Bnd.,  Lose  Blätter  aus  Kants  Nachlafs.  3.  Heft.  (IV,  93  S.) 
Königsberg,  Beyer.    M.  2,40. 

Studien,  Bemer,  Zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.  Herausg.  yon 
Ludw.  Stein.  XIII.  Bd.:  Gramzow,  Otto:  Friedrich  Eduard  Benekes 
Leben  und  Philosophie.  Auf  Grund  neuer  Quellen  kritisch  dargestellt. 
(VII,  284  S.)    Bern,  Steiger  &  Co.    M.  2,60. 

Willareth,  Otto,  Die  Lehre  yom  Übel  bei  Leibniz,  seiner  Schule  in 
Deutschland  und  bei  Kant.    (V,  149  S.)    Strafsburg,  Schmidt.   M.  3, — . 

II.    Logik  und  Erkenntnistheorie. 

Martin,  J.,  La  Demonstration  philosophique.    Paris.    M.  3,60. 

Meyer,  Job.  Oeo«,  Das  natürliche  System  der  Wissenschaften.  Eine  Ein- 
leitung in  die  Wissenschaftslehre.    (33  S.)  Strafsburg,  Heitz.    M.  1, — . 

Powell,  J.  W«,  Truth  and  Error;  or,  The  Science  of  Intellection.  London, 
Trübner  and  Co.    7  sh.  6  d. 

Bickert,  Heinr.,  Kulturwissenschaft  und  Naturwissenschaft.  Ein  Vortrag. 
(71  S.)    Freiburg  i.  B.,  Mohr.    M.  1,40. 
VierteljahrsBchrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXIII.  2.  17 


258  Bibliographie. 

III.    Allgemeine  Philosophie  und  Metaphysik. 

Berr,  M»,   L'Avenir  de  la  philosophie.    (XXI,   510  p.)    Paris,   Hachette 

et  Cie.    7  fr.  50  c. 
Bonr,  Der  Weg  zur  Erkenntnis.    Für  Gläubige  und  Ungläubige.    (88  S.) 

Berlin,  Bermühler.    M.  2,-. 
Driscoll)  Ber.  J*  T«,  Christian  philosophy:  a  treatise  on  the  human  soul. 

New  York,  Benziger  Bros.    1  Doli.  25  c. 
Eisler,  Rad«,   Wörterbuch   der  philosophischen  Begriffe  und  Ausdrücke, 

quellenmäfsig  bearbeitet.     (In  8  Lfgn.)     1.  Lfg.     (VI  und  S.  1—96.) 

Berlin,  Mittler  &  Sohn.    M.  2,—. 
Felsch,  Erläuterungen  zu  Herbarts  Ethik  mit  Berücksichtigung  der  gegen 

sie  erhobenen  Einwendungen.  (XIV,  146  S.)  Langensalza,  Beyer  &  Söhne. 

M.  2,50. 
Müller,    Friedr.    Max,    Das    Pferdebürla.      Tagesfragen,    beantwortet. 

(267  S.)    Berlin,  Paetel.    M.  6,—  ;  geb.  M.  6,50. 
Beinhardt,  L«,  V.  D.  M. :  Die  einheitliche  Lebensauffassung  als  Grundlage 

für  die  sociale  Neugeburt.   (VIII,  424  S.)    Strafsburg,  Beust.    M.  3,60. 
Beinke,  J.,   Die  Welt  als  That.    Umrisse  einer  Weltansicht  auf  natur- 

wissenschaftl.   Grundlage.     (IV,   483   S.)     Berlin,   Paetel.     M.  10, — ; 

geb.  M.  12,—. 
Schenk,  Jos.,  Schönheit  und  Liebe.    Ein  philosophischer  Versuch.    (82  S.) 

Meran,  Ellmenreich.    M.  1,40. 
Stoppani«  Ft.,  LUmmortalitä  delP  anima.    (110  p.)    Roma.    M.  2, — . 
Talbot,  B«,  Les  Etapes  d^un  sceptique.    Paris.    M.  3,50. 
Tolstoj,  Leo,  Reife  Ähren.    Betrachtungen,  Gedanken  und  Bekenntnisse 

aus  den  Schriften  und  Briefen.    Gesammelt,  übersetzt  und  herausg.  von 

Wilh.  Henckel.    (VUI,  188  S.)    Zürich,  Henckell  &  Co.    M.  1,60. 

IV.    Psychologie  und  Sprachwissenschaft. 

Barekhardt,  Ferd.,  Psychologische  Skizzen  zur  Einführung  in  die  Psycho- 
logie.   3.  Aufl.    (VI,  319  S.)    Löbau,  Walde.    M.  3,50;  geb.  M.  4,20. 

Oroos,  Karl,  Die  Spiele  der  Menschen.  (VI,  538  S.)  Jena,  Fischer. 
M.  10,—  ;  geb.  M.  11,—. 

Heinrieb«  W.,  Zur  Prinzipienfrage  der  Psychologie.  (V,  74  S.)  Zürich, 
Speidel.    M.  2, — . 

Marshall,  H.  Butgers,  Instinct  and  reason:  an  essay  conceming  the 
relation  of  instinct  to  reason ;  with  some  special  study  of  the  nature  of 
religion.    (514  p.)    New  York,  Macmillan.    3  Doli.  50  c. 

Messer,  Max^  Die  moderne  Seele.   (VII,  123  S.)  Leipzig,  Hadcke.    M.  2,50. 

Müller,  Max  F.,  The  Science  of  Language.  Founded  on  lectures  deli- 
yered  at  the  Royal  Institution  in  1861  and  1863.  In  2  yols.  Re.-issue. 
(628  and  572  p.)    London,  Longmans.  -  10  sh. 

Schöpff,  Wilh.,  Das  Büchlein  von  der  Freude.  (VIII,  156  S.)  Gütersloh, 
Bertelsmann.    M.  2, — ;  geb.  M.  2,50. 

Yietor,  Wilh.,  Elemente  der  Phonetik  des  Deutschen,  Englischen  und 
Französischen.  4.  Aufl.  Mit  e.  Titelbild  u.  35  Fig.  im  Text.  (XV, 
372  S.)    Leipzig,  Reisland.    M.  7, — ;  geb.  M.  8, — . 


Bibliographie.  259 

V.    Ethik  und  Rechtsphilosophie. 

Cathrein,  Yiet»,  Moralphilosophie.    Eine  wissenschaftliche  Darlegung  der 

sittl.y   einschlielslich  der  rechtl.  Ordnung.    3.  Aufl.    2  Bde.:   1.  Allge- 
meine Moralphilosophie.    (XX,  613  S.)  —  2.  Besondere  Moralphilosophie. 

(XV,  728  S.)    Freiburg  i.  B.,  Herder.    M.  16,—  ;  geb.  M.  20,—. 
Elentheropulos,  Abr«,  Das  kritische  System  der  Philosophie.  Grundlegung 

einer  Sittenlehre  (Ethik),   die  als  Wissenschaft  wird  auftreten  können. 

2.  Abtlg.:  Die  Sittlichkeit  und  der  philosoph.  Sittlichkeitswahn.    (VIII, 

13Ö  S.)    Berlin,  Hofmann  &  Co.    M.  3,25. 
Ferrari,  €•,  La  libertä  politica  e  il  diritto  iutemazionale.    (340  p.)    To- 

rino.    M.  4,—. 
Krieg)  Max,  Der  Wille  und  die  Freiheit  in  der  neueren  Philosophie.    Eine 

philosophische  Studie.    (VII,  40  S.)    Freiburg  i.  B.,  Herder.    M.  1,50. 
Lipps,  Tlidr.,  Die  ethischen  Grundfragen.    10  Vorträge.    Teilweise  geh. 

im  Volkshochschulyerein   zu   München.    (III,  308  S.)    Hamburg,   Vofs. 

M.  5, — ;  geb.  M.  6, — . 
Lots,  Bad»,   Ormuzd  und  Ahriman.    Die  ethische  Frage   im  Lichte   der 

dualistisch-idealist.  Weltanschauung.    (IV,  339  S.)   Athen,  Barth  &  von 

Hirst.    M.  5, — . 
Miolielet,  J.,  La  Bible  de  PHumanit^,  avec  une  6tude  par  SuUj-Prudhomme, 

Paris,  Levy.    3  fr.  60  c. 
Spielberg,  Otto,  Die  Moral  der  freien  Mannesart.    (III,  316  S.)    Zürich, 

Speidel.    M.  3,20. 
SalliTan,  W.  B«  Waghingrton,   Morality  as  a  religion:   an  exposition  of 

some  first  principles.    (296  S.)    New  York,  Macmillan.    2  Doli. 
Trojano,  P.   B«,   Etica.    Questioni  preliminari.     I.  Dell'  etica,   Napoli. 

M.  3,60. 
Tidal^  V«,   L'Art  d'etre  heureux.    Etudes  morales.    (VH,  366  p.)    Paris, 

Lahure.    3  fr.  60  c. 
Wallaoe,  William,  Lectures  and  Essays  on  Natural  Theology  and  Ethics. 

Edited  with   a  Biographical  Introduction  by  Edward  Caird.    With  a 

Portrait.    (406  p.)    London,  Clarendon  Press.    12  sh.  6  d. 
Zocooli,  0.  E«,  Di  due  opere  minori  di  Arturo  Schopenhauer.    I.  Über 

die  Freiheit  des  menschlichen  Willens.    IL  Über  das  Fundament  der 

Moral.    (260  p.)    Modena.    M.  6,—. 

VI.    Ästhetik. 

Henderson,   W.  J«,  How  Music  developed.    A  critical  and  explanatory 

account  of  the  growth  of  modern  music.    (VIII,  413  p.)    New  York, 

Stokes.    1  Doli.  26  c. 
Marsop,  Paul,  Musikalische  Essays.    (VIII,  287  S.)   Berlin,  Hofmann  &  Co. 

M.  4,60;  geb.  M.  6,20. 
Mmitz,  Eugene,   Leonardo  da  Vinci,  artist,  thinker,  and  man  of  science, 

from  the  French.    New  York,  Scribner.    16  Doli. 
Mniitz,  E.,  Leonard  de  Vinci.    (IV,  664  p.)    Paris,  Hachette  et  Cie.    40  fr. 
Pfordten,  Herrn.  Frhr.  y.  der.  Musikalische  Essays.    Neue  Folge.    (V, 

263  S.)    München,  Beck.    M.  4,50;  geb.  M.  6,60. 

17* 


260  Bibliographie. 

VII.    Philosophie  der  Gesellschaft  und  der.  Geschichte. 

Chiron!,  0*  B.,   L'individualismo  e  la  funzione  sociale.    (20  p.)    Torino. 

M.  1,—. 
Crowell,   J*  F.,    The  logical  Process   of  social   Development.    (358  p.) 

New  Vork.    M.  8,76. 
Balla  Yalle,  M.,  La  societä.    Ideali  della  riyoluzione.    (381  p.)    Vicenze. 

M.  2,—. 
Flttgel,  OttOy  Idealismus  und  Materialismus  der  Geschichte.    [Aus :  „Zeit- 
schrift f.  Philosophie  u.  Pädagogik".]    (V,  221  S.)   Langensalza,  Beyer 

&  Söhne.    M.  3,—. 
Freson,  J.  G«,  Progr^s  moral  et  social,  un  simple  essay  sur  Pam61ioration 

de  la  condition  des  peuples.    (XIX,  85  p.)    Paris,  Fischbacher.    2  fr. 
Gnmplowicz,    Ludw.,    Sociologische   Essays.     (V,    174  S.)     Innsbruck, 

Wagner.    M.  5, — . 
Helle,   M.9    Übermenschentum   und  Zuchtstaat.     Ein   Anarchistenideal. 

(63  S.)    Mainz,  Mainzer  Verlags-Anstalt.    M.  —,75. 
Hobson,  J«,   Atkinson,  John  Euskin,   social  reformer.    (357  p.)    Boston, 

Dana  Estes  &  Co.    1  Doli.  50  c. 
Hyslop,  Ja.  Hervey,  Democracy :  a  study  of  govemment.   (300  p.)   London, 

Scribners  Sons.    1  Doli.  60  c. 
Merkel,  Adf.,  Hinterlassene  Fragmente  und  gesammelte  Abhandlungen. 

1.  Tl.:  Fragmente  zur  Social  Wissenschaft.    Mit  e.  Bildnis  des  Verfassers. 

(Vn,  354  S.)    Strafsburg,  Trübner.    M.  9,—. 
Saeher,  E«,  Die  Gesellschaftskunde  als  Naturwissenschaft.    (Vm,  358  S.) 

Dresden,  Pierson.    M.  4,—. 
Speneer,  Baldwin,   and    Gillen,  F.  J.,   The  natiye   tribes  of  Central 

Australia.    (692  p.)    London,  Macmillan.    21  sh. 
Treltschke,  Heinrich  t.,  Politik.    Vorlesungen,  geh.  an  der  üniyersität 

zu  Berlin.    Herausg.  von  Max  Comicelius.    2.  (Schlufe-)  Bd.    (V,  576  S.) 

Leipzig,  Hirzel.    M.  12, — ;  geb.  M.  14, — . 
Yorträge,  philosophische,   herausg.  von  der  philosophischen  Gesellschaft 

zu  Berlin.    III.  Folge.    7.  Heft:   Wenzel,  Dr.  Alfr.,  Gemeinschaft  und 

Persönlichkeit  im  Zusammenhange  mit  den  Grundzügen  geistigen  Lebens. 

Ethische  u.  psycholog.  Studien.    (III,  141  S.)    Berlin,  Gärtner.    M.  2,80. 
Walter,  Frz.,   Socialpolitik  und  Moral.    Eine  Darstellung  ihres  Verhält- 
nisses mit  besonderer  Bezugnahme  auf  die  von  Prof.  Werner  Sombart 

neuestens  geforderte  Unabhängigkeit  der  Socialpolitik  von   der  Moral. 

(XV,  346  S.)    Freiburg  i.  B.,  Herder.    M.  3,60. 


Die  noch  fehlenden  Abteilungen  VHI,   IX,  X   der  Bibliographie 
werden  im  nächsten  Hefte  nachgetragen  werden. 


.iiiiiiiiiiiMiiiHiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiruiiiMMiiii 


■M^iC 


tiiMiiiiriiuiiiiriiiiiiiiiiiiiimiiitiitiririliiiiiiiiii 


Abhandlungen. 


iiiHiiiiiMiitniiiiHinniiiiiiiiiiiiuiiiiiiiiiKiiii 


UllllllllllimillllllllHIlKIIIIIIMIIIIIIIIIIIIIMIIIl 


Entgegnung 

auf 

H.  Schwarz'  Kritik  der  empiristischen  Willens- 
psychologie und  des  Gesetzes  der  relativen 

Glücksförderung. 

Von  Christian  v.  Eiirenfels,  Prag. 


Inhalt. 

Erklärrmg  der  dem  (besetze  der  relativen  Glücksfördening  zu  Gnmde  Ueeen- 
den  realen  Faktoren.  Die  nStärke**  des  Wollene  Ist  kein  aktuelles  BewnJJBtseinB- 
element.  Das  Widerstreiten  ist  ein  auf  ein  Nichtsein  gerichtetes  Begehren.  Kein 
Begehren  ohne  Zielvorstellung.    Andere  Differenzpnnkte. 


H.  ScHWABz  hat  im  letzten  Hefte  dieser  Zeitschrift  einen 
Aulsatz  veröffentiicht,  in  welchem  er  die  von  ihm  treffend 
sogenannte  „empiristische"  Willenspsychologie  —  die  Auf- 
fassung des  Willens,  und  des  Begehrens  überhaupt,  nicht  als 
eines  letzten  Urphänomenes,  sondern  als  eines  Komplexes 
anderweitig  bekannter  psychischer  Elemente  —  einer  dankens- 
werten, eingehenden  Kritik  unterzieht.  Hierbei  nimmt  er 
hauptsächlich  auf  meinen  Versuch  der  Analyse  des  Begehrens 
und  der  Aufstellung  eines  Motivationsgesetzes  Bezug,  um  zu 
einer  Ablehnung  sowohl  dieses,  wie  jener  zu  gelangen.  Die 
vorgebrachten  Argumente  vermochten  mich,  obgleich  ich  ihre 
subjektive  Berechtigung  recht  gut  nachzuempfinden  vermag, 
nicht  zu  überzeugen;  wohl  aber  begrüfse  ich  in  ihnen  einen 
willkommenen  Anlafs  zur  weiteren  Klärung  meiner  Theorie, 
den  ich  anderen  und  mir  selbst  am  besten  dadurch  zu  nutze 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXTTT.  3.  18 


262  Christian  y.  Ehrenfels: 

zn  machen  glanbe,  dafs  ich  hier  möglichst  kurz  und  bändig 
zusammenfasse,  was  ich  auf  die  Einwürfe  meines  Kritikers 
zu  entgegnen  habe.  —  Ich  glaube  am  zweckentsprechendsten 
zu  verfahren,  indem  ich  die  verschiedenen  Einwürfe  nach 
sachlichen  Gesichtspunkten,  und  vornehmlich  nach  dem  Mafs 
ihrer  Tragweite  ordne,  um  mit  den  weitestreichenden  und 
tiefstgehenden  zu  beginnen,  denen  Schwaez  ihre  Stelle  erst 
gegen  Schlufs  seiner  Ausführungen  angewiesen  hat. 

Meine  Theorie  besteht  aus  der  Aufstellung  eines  Mo- 
tivationsgesetzes und  der  sich  hieran  schliejjsenden  weiteren 
einer  Analyse  des  Begehrens.  Diese  letztere  steht  und 
föllt  mit  dem  ersteren,  jenes  aber  keineswegs  mit  dieser; 
vielmehr  wäre  die  Annahme  meines  Motivationsgesetzes  mit 
einer  „nativistischen"  Auffassung  von  der  Natur  des  Begehrens 
logisch  verträglich.  Ich  setze  daher  an  erste  Stelle  die  Er- 
wägung der  Argumente  gegen  mein  Motivationsgesetz  der 
relativen  Glücksförderung,  und  unter  diesen  wieder  zuvörderst 
die  Erwägung  jenes  Argumentes,  mit  welchem  Schwabz  das 
besagte  Gesetz  als  eine  ündenkbarkeit  oder  Unmöglichkeit 
von  vornherein  darzustellen  sucht. 

SoHWABz  geht  hierbei  von  meiner  eigenen  Bemerkung 
aus,  dafs  die  relative  Glücksförderung  —  die  Differenz  zwischen 
einem  thatsächlichen  und  einem  nur  möglichen  Gefuhlszu- 
stande  —  ja  selbst  gar  nichts  Aktuelles^)  sei,  so  dafe  ihr 
keinerlei  reale  Wirksamkeit  (also  auch  nicht  die  Erhöhung 
der  Beharrungstendenz  einer  Vorstellung)  zugeschrieben  werden 


^)  Wenn  hier  und  im  folgenden  yon  aktuellen  psychischen  Phä- 
nomenen oder  BewuTstseinszuständen  die  Rede  ist,  so  sind  hierunter  nur 
die  thatsächlichen,  gegenwärtig  vorhandenen  Bewurstseinszustände  gemeint, 
im  Gegensatz  zu  den  blofs  virtuellen,  für  welche  gegenwärtig  nur  die 
Disposition  vorliegt.  Psychisches,  welches  nicht  aktuell  ist,  kann  nie 
wirksam  werden.  Nicht  aber  hat  man  unter  dem  psychisch  Aktuellen  als 
solchem  schon  psychisch  Wirksames  zu  verstehen.  Es  kann  psychisch 
Aktuelles  geben,  dem  doch  alle  Wirksamkeit  fehlt.  Nach  der  mecha- 
nistischen Auffassung  der  psychophysischen  Beziehungen  z.  B.  kann  man 
allem  Psychischen  Wirksamkeit  absprechen  —  nicht  aber  Aktualität, 
d.  h.  Vorhandensein  im  Bewufstsein. 


Entgegnung  auf  H.  Schwarz^  Kritik  d.  empirist.  Willenspsychol.  etc.    263 

könne.  —  Dies  ist  unzweifelhaft  richtig  und,  wie  gesagt,  von 
mir  selbst  ausdrücklich  anerkannt  worden.  Ich  habe  auch 
niemals  behauptet,  dafs  die  relative  Glücksförderung,  welche 
sich  mit  einer  Vorstellung  einstellt,  das  Agens  sei,  welches 
diese  Vorstellung  im  BewuTstsein  festhalte,  sondern  nur, 
dafs  relative  Glücksförderung  immer  mit  gröfserer  Beharrungs- 
tendenz der  Vorstellung  zusammenfalle.  Wie  man  sich 
dieses  Zusammenfallen  etwa  zu  erklären  haben  möchte,  dafür 
suchte  ich  in  einer  physiologischen  Deutungshypothese,  für 
welche  mancherlei  Anzeichen  sprechen,  ein  Beispiel  zu  geben, 
dessen  Darlegung  ich  jedoch  mit  der  Bemerkung  beschliefse, 
dafe  „die  Anerkennung  des  —  empirisch  begründeten  —  Ge- 
setzes von  der  relativen  Glücksförderung,  wie  sich  von  selbst 
versteht,  von  der  Anerkennung  oder  Verwerfung  dieses  physio- 
logischen  Deutungsversuches  unabhängig  bleiben  müsse" 
(„System  der  Werttheorie",  I.  Bd.,  S.  200).  Ich  hätte,  um 
mich  ganz  klar  auszudrücken,  wohl  noch  hinzufügen  sollen, 
daJs  die  Anerkennung  des  Gesetzes  der  relativen  Glücks- 
förderung von  derjenigen  des  speciellen  physiologischen 
Deutungsversuches  besonders  darum  auch  unabhängig  bleiben 
dürfe,  weü  der  letztere,  wenn  er  selbst  im  einzelnen  verfehlt 
sein  sollte,  doch  jedenfalls  das  Prinzip  angiebt,  wie  man 
sich  von  jedem  monistischen  (resp.  mechanistischen),  ja  selbst 
von  jedem  dualistischen  Standpunkte  aus  das  Zusammenfallen 
von  relativer  Glücksförderung  und  Beharrungstendenz  erklären 
könnte.  Diese  Unterlassung  meinerseits  ist,  wie  es  scheint, 
meiner  Theorie  in  Schwabz'  Beurteilung  verhängnisvoll  ge- 
worden. Er  scheint  anzunehmen,  dafs  die  Möglichkeit  einer 
Erklärung  des  Gesetzes  der  relativen  Glücksförderung  streng 
an  die  Richtigkeit  meines  physiologischen  Deutungsversuches 
gebunden  sei;  und  da  er  entscheidende  Gründe  gegen  diesen 
letzteren  zu  besitzen  glaubt,  meint  er  auch  jenes  „Gesetz", 
als  auf  einer  „unvollziehbaren  Anschauung"  (S.  230)  beruhend, 
abweisen  zu  dürfen.  —  Allein  die  vorgebrachten  Gründe 
scheinen  mir  nicht  einmal  die  Unhaltbarkeit  des  speciellen 
physiologischen  Deutungsversuches  darzuthun,  und  noch  viel 

18* 


264  Christian  y.  Ehrenfels: 

weniger  die  Unübertragbarkeit  seines  Prinzips  auf  eine  andere 
Auffassung  von  dem  psychophysischen  Kausalnexus. 

Da  ScHWAEz,  wie  mir  dünkt,  das  Prinzip  meiner  physio- 
logischen Deutungshypothese  nicht  ganz  so  aufgefafst  hat, 
wie  es  gemeint  war,  wiU  ich  dasselbe  zunächst  auf  einem 
ganz  neutralen  Boden  schematisch  darzustellen  versuchen.  — 
Man  denke  sich  zu  diesem  Behufe  aus  irgend  einem  festen 
Stoflf,  z.  B.  aus  Stein,  ein  Gebirgsrelief  mit  mannigfachen 
Faltungen,  Einbuchtungen,  Thälem,  Kesseln  u.  s.  w.  gebildet, 
und  nehme  an,  es  werde  auf  eine  bestimmte  Stelle  des  höchsten 
Gipfels  durch  eine  bestimmte  Zeit  hindurch  ein  Wasserstrahl 
von  bestimmter  Form,  Eichtung,  Mächtigkeit  und  Geschwindig- 
keit fallen  gelassen.  Das  Wasser  wird  nun,  entsprechend  den 
Faltungen  des  Reliefs,  seiner  eigenen  Geschwindigkeit  und 
dem  Gesetze  der  Schwere,  vielleicht  viel  verschlungene  Bahnen 
zurücklegen,  und  sich  zuletzt  in  einem  oder  in  mehreren 
Kesseln  des  Reliefs  ansammeln,  wo  es  zum  Stillstand  gelangt, 
oder  es  wird  ganz  oder  teilweise  aus  irgendwelchen  Thälem 
des  Reliefs  auf  noch  tiefer  gelegene  Teile  der  Umgebung  aus- 
strömen. Der  Weg  des  Wassers  läfst  sich,  wenn  alle  Vor- 
aussetzungen genau  bekannt  sind,  vollkommen  bestimmt  vor- 
aussagen. Die  Abänderung  der  Bewegungsrichtung  und  -ge- 
schwindigkeit  eines  jeden  Wasserteilchens  ist  an  jedem  Punkt 
im  wesentlichen  die  Resultierende  dreier  zusammenwirkender 
Faktoren,  nämlich  1.  des  Trägheitsmomentes,  mit  welchem 
das  Wasserteilchen  ankommt,  2.  der  Schwerkraft,  und  3.  der 
Neigung  des  Gebirgsreliefs  an  der  bestimmten  Stelle.  —  In 
diesem  Schema  bedeutet  nun  der  Wasserstrom  den  psycho- 
physischen Reizungsprozefs,  gleichgültig,  ob  man  ihn  monistisch 
als  einen  durchaus  physisch,  oder  dualistisch  als  einen  durch 
Zusammenwirken  von  physischen  und  rein  psychischen  Reali- 
täten gebildeten  denken  mag;  die  Trägheitsmomente  der  Wasser- 
teilchen an  den  verschiedenen  Punkten  bedeuten  die  rein 
associativen  Vorstellungstendenzen;  das  Gebirgsrelief  bedeutet 
die  psychischen  Dispositionen,  wieder  unabhängig  davon,  ob 
man  sie  sich  als  rein  physiologisch,  oder  als  teilweise  in  der 


Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  d.  empirist.  Willenspsychol.  etc.     265 

Nerven-,  teilweise  in  einer  rein  psychischen  Substanz  fundiert 
vorstellen  möge ;  das  Benetztwerden  der  einzelnen  Stellen  des 
Gebirgsreliefs  durch  den  Wasserstrom  bedeutet  das  Entstehen 
der  betreffenden  aktuellen  psychischen  Phänomene;  das  all- 
mähliche raschere  oder  langsamere  Hinabsinken  des  Wassers 
bedeutet  die  mit  den  einzelnen  aktuellen  Phänomenen  sich 
einstellende  positive  Glücksverbesserung  (Zunahme  von  Lust 
oder  Abnahme  von  Schmerz);  die  Schwerkraft  bedeutet  die 
Beharrungstendenz,  welche  den  Vorstellungen  nicht  durch, 
wohl  aber  mit  der  relativen  Glücksförderung  zukommt;  der 
Höhenabstand  endlich  zwischen  zwei  benachbarten  Stellen 
des  Reliefs,  von  denen  die  eine  benetzt  wird,  die  andere  un- 
benetzt  bleibt,  bedeutet  die  relative  Glücksförderung.  Das 
Bild  hält  dem  Vergleich  mit  dem  psychophysischen  Vorgang, 
wie  ich  ihn  mir  beim  Begehren  denke,  nicht  in  jeder  Beziehung 
stand,  wohl  aber  in  den  wichtigsten  Punkten.  Es  erklärt 
vornehmlich,  auf  welche  Art  wir  es  zu  denken  haben,  dals, 
entsprechend  der  Tendenz  des  Wassers,  unter  übrigens  gleichen 
Umständen  immer  die  abschüssigsten  Bahnen  zu  wählen,  sich 
immer  der  von  der  gröfsten  relativen  Glücksförderung  be- 
gleitete Prozefs  einstellt.  Das  Wirkende  ist  hier  ebenso  wenig 
die  relative  Glücksförderung  selbst,  wie  bei  jenem  Schema  die 
Höhendifferenz  zwischen  den  benetzten  und  den  unbenetzten 
Teilen  des  Reliefs;  das  Wirkende  sind  hier  ebenso  wenig  die 
nichtaktualisierten,  blofs  möglichen  Vorstellungen,  wie  dort 
die  nur  mögliche  Benetzung  der  thatsächlich  unbenetzten  Teile 
des  Reliefs.  Das  Wirkende  sind  vielmehr  hier  die  psychischen 
Dispositionen  (welches  Wort  ja  nichts  anderes  bedeutet,  als 
„Aktualisierungsfähigkeiten  oder  -kräfte"),  wie  dort  das  Ge- 
birgsrelief  mit  seinen  Widerstandskräften  gegen  den  Druck 
des  strömenden  Wassers,  hier  die  Associationstendenzen  der 
Vorstellungen,  wie  dort  die  Trägheitsmomente  der  Wasser- 
teilchen, und  endlich  sowie  dort  die  Schwerkraft,  hier  jene 
psychophysische  Tendenz,  welche  durch  das  Gesetz  der 
relativen  Glücksförderung  nicht  ihrem  Wesen,  sondern  ihrem 
Effekt  nach  charakterisiert  werden  soll.  —  Ich  wüfste  nicht, 


266  Christian  v.  Ehrenfels: 

was  selbst  der  überzeugteste  Dualist  und  Vertreter  unräum- 
licher  Seelensubstanzen,  die  mit  dem  funktionierenden  Grofe- 
him  in  echte  und  rechte  Wechselwirkung  träten,  gegen  die 
prinzipielle  Zulässigkeit  eüies  derartigen  Wirkungsschemas 
einzuwenden  haben  sollte.  Im  Gegenteil  wird  er,  um  auch 
nur  die  altbekannten  Associationsgesetze  als  Wirkungsmöglich- 
keiten zu  begreifen,  zu  ganz  ähnlichen  Schemen  seine  Zuflucht 
nehmen  müssen.  Und  somit  mufs  ich  auf  das  Entschiedenste 
dem  Einwände  entgegentreten,  als  beruhe  die  Conception  des 
Gesetzes  der  relativen  Glücksforderung  von  vornherein  auf 
einer  „unvollziehbaren  Anschauung". 

Sollte  man  aber  statt  des  anschaulichen  Bildes  den  ab- 
strakten Gedanken  verlangen,  so  läfst  sich  dieser  ohne 
Schwierigkeit  klar  aussprechen.  Das  Gesetz  der  relativen 
Glücksförderung  fordert  nicht  mehr,  als  ein  funktionelles 
Verhältnis  zwischen  derLeichtigkeit  der  Aktualisierung 
der  Vorstellungsdispositionen  und  der  Annehmlichkeit  (im 
Sinne  des  Gefühls  verstanden)  der  aktualisierten  Vor- 
stellungen; —  und  zwar  ein  funktionelles  Verhältnis  der 
einfachsten  Art,  so  dafs  mit  dem  Anwachsen  der  einen 
Gröfse  auch  die  zweite  zunimmt.  Und  es  ist  in  keiner  Weise 
abzusehen,  weshalb  diese  Forderung  nicht  sollte  erfüllt  werden 
können  —  mögen  nun  die  Vorstellungsdispositionen 
ausschliefslich  an  physischen  oder  zum  Teil  an  rein 
psychischen  Kealitäten  haften. 

Aber  auch  die  Einwände,  welche  Schwarz  gegen  meinen 
speciellen  physiologischen  Deutungsversuch  vorbringt,  scheinen 
mir  keineswegs  zwingend  zu  seiQ.  Er  referiert  zunächst  voll- 
kommen in  meinem  Sinne:  „Die  streitenden  Vorstellungen, 
die  eine,  zu  welcher  der  wirkliche,  und  die  andere,  zu  welcher 
der  mögliche  Gefühlszustand  gehört,  sollen  auf  nervösen  Er- 
regungen beruhen,  die  sich  in  den  Eindenbahnen  des  Grofs- 
hims  mit  verschiedener  Leichtigkeit  ausbreiten.  So  komme 
die  eine  eher  dazu,  als  die  andere,  Partien  des  Gehirns  zu 
ergreifen,   in  denen  nervöse  Energie  genug  aufgestapelt  sei, 


Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  d.  empirist.  Willenspsychol.  etc.     267 

um  die  Nervenerregimg,  die  zu  ihr  dringe,  rückwärts  fort  und 
fort  zu  unterhalten."  (S.  231.)  —  und  fragt  hierauf:  — 
^Allein  was  hätten  diese  Verhältnisse  mit  einer  Differenz  zu 
thun,  und  gar  mit  der  eines  wirkUchen  und  eines  mögUchen 
öefühlszustandes?"  —  Die  Antwort  ist  nach  dem  Gesagten 
unschwer  zu  finden.  Der  Grad  der  Annehmlichkeit  eines 
durch  die  Beizung  einer  bestimmten  Stelle  des  Gro&hims 
aktualisierten  BewuTstseinszustandes  wird  eben  als  Funktion 
des  „mit  potentieller  Energie  Geladenseins"  jener  Partie  be- 
trachtet, wovon  wieder  die  Leichtigkeit  ihrer  Erregung  ab- 
hängt. Die  psychophysische  Reizwelle  nun  wird  sich  not- 
wendigerweise auf  diejenigen  Partien  fortpflanzen,  welche  sie 
mit  gröfster  Leichtigkeit  au&ehmen  und  fortführen  (ebenso 
wie  das  Wasser  auf  dem  G^birgsrelief  stets  den  Weg  nach 
abwärts  sucht),  und  sie  wird  diese  Bahnen  mit  um  so  größerer 
Beharrlichkeit  festhalten,  je  gröfseren  Widerstand  die  benach- 
barten Partien  ihrem  Vorwärtsdringen  entgegensetzen,  d.  h. 
also,  je  gröfser  die  Differenz  der  Leichtigkeit  ist,  mit 
welcher  die  benachbarten  Partien  in  Erregung  versetzt  werden 
können.  Nun  steht  aber,  wie  vorausgesetzt,  der  Grad  der 
Annehmlichkeit  (im  Sinne  einer  höheren  Lust  oder  geringeren 
Unlust)  der  Bewnüstseinszustände,  welche  durch  Beizung  ein- 
zelner Himparüen  entstehen  oder  entstehen  würden,  in  pro- 
portionalem Verhältnis  zu  jenem  Grade  der  Leichtigkeit  — 
woraus  sich  direkt  erklärt,  dafs  die  Beharrlichkeit,  mit  welcher 
die  BeizweUe  bestimmte  Bahnen  im  Hirn,  und  mithin  das 
Bewufstsein  bestimmte  Vorstellungen  festhält,  gemessen  werden 
kann  durch  die  Diflferenz  zwischen  einem  nur  möglichen  und 
einem  aktuaKsierten  Gefühlszustand  —  die  relative  Glücks- 
förderung. 

ScHWABz  selbst  fahrt  an  der  Hand  eines,  mir  übrigens 
nicht  ganz  klaren  physiologischen  Hinweises  einen  ähnlichen 
Gedanken  aus,  um  jedoch  hierauf  einzuwenden,  dafs  es,  nach 
allem,  was  wir  wissen,  solche  Thatsachen  in  den  physiologischen 
Himfunktionen  nicht  gebe.  Hieran  schliefsen  sich  Bedenken 
gegen  die  Voraussetzung,  als  entspräche  jeder  Vorstellung  ein 


268  Christian  v.  Ehrenfels: 

genau  umschriebener  Kreis  von  Nervenbahnen,  die  Aufforderung, 
etwa  für  Eitelkeitsvorstellungen  oder  Vorstellungen  der  Er- 
reichbarkeit oder  Vermeidbarkeit  beliebiger  Werte  solche 
Bahnen  „auch  nur  auszudenken",  eine  ähnliche  Frage,  welches 
wohl  die  dem  Gefühl  der  Reue,  der  Lust  und  Unlust  des  be- 
friedigten oder  unbefriedigten  Strebens  zugrunde  liegenden 
Assimilations-  oder  Dissimilationsprozesse  sein  sollten,  endlich 
der  Hinweis  auf  die  Vergeblichkeit,  „in  dieser  ganzen  Sache 
bei  der  Physiologie  Zuflucht  zu  suchen".  Sie  schaffe  Jenem 
ersten  Bedenken  logischer  Art"  (dafs  nämlich  die  relative 
Glücksförderung  als  blofse  Differenz  zwischen  einem  wirklichen 
und  einem  möglichen  Zustand  nicht  wirken  könne)  keine  Ab- 
hilfe.    (S.  232.) 

Was  zunächst  den  letzten  Einwurf  betrifft,  so  wurde  er, 
wie  mir  dünkt,  durch  das  Vorausgehende  schon  zurückgewiesen. 
Nicht  um  eine  Zuflucht  bei  der  Physiologie  handelt  es  sich, 
in  einer  Sache,  in  der  etwa  die  Psychologie  sich  nicht  mehr 
Rats  wüfste,  sondern  darum,  sich  ein  empirisch  gefundenes 
Gesetz  durch  Anwendung  des  einfachen  Dispositions- 
gedankens erklärlich  zumachen,  —  des  Dispositionsgedankens, 
dessen  der  Psychologe  keinen  Schritt  weit  entraten  kann, 
selbst  nicht  bei  der  Erklärung  von  Thatsachen  wie  die  Ent- 
stehung einer  Sinnesempflndung,  oder  wie  das  Abreifsen  des 
Bewufstseinsfadens  im  Schlafe  und  das  Wiederanheben  des- 
selben beim  Erwachen. 

Wenn  aber  Schwarz  in  dem  „Ausdenken"  von  Nerven- 
prozessen für  die  feineren  psychischen  Regungen  unüberwind- 
liche Schwierigkeiten  erblickt,  so  kann  dies  einen  doppelten 
Sinn  haben.  Entweder  er  meint,  dafs  unsere  Kenntnisse  noch 
nicht  genug  weit  vorgeschritten  sind,  als  dafs  wir  über  die 
Besonderheit  jener  Prozesse  berechtigte  Hypothesen  aufzu- 
stellen vermöchten  —  oder  er  hält  die  Differenzierungsmög- 
lichkeiten physiologischer  Prozesse,  welche  das  Grofshim, 
überhaupt  oder  speciell  nach  der  in  Anspruch  genommenen 
Richtung,  bietet,  für  zu  gering,  um  die  Mannigfaltigkeit  des 
psychischen  Geschehens  zu  erklären.  —  Ersteres  mufs  ohne 


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Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  d.  empirist.Willenspsychol.  etc.     269 

weiteres  zugestanden  werden  —  woraus  aber  keineswegs  ein 
Verbot  gegen  die  Annahme  irgend  welcher  besonderer  Prozesse 
auch  für  die  feineren  und  feinsten  Bewufstseinszustände  ab- 
geleitet werden  kann.  Diese  Zustände  müssen  ja  doch 
irgendwo  ihre  Ursache  haben,  entweder  in  einem  physio- 
logischen Vorgang  allein,  oder  in  einem  solchen,  verbunden 
mit  einem  an  einer  unräumlichen  Seelensubstanz  sich  ab- 
spielenden Prosefs,  den  wir  jedenfalls  noch  viel  weniger  „auch 
nur  auszudenken"  vermögen,  als  jenen.  Wir  können  also  hier 
der  Annahme  dunkler  und  rätselhafter  Prozesse  auf  keinen 
Fall  entgehen.  Bleibt  also  nur  die  letztere  Deutung  in  Kraft.  — 
Zu  ihrer  Beurteilung  erwäge  man  folgendes :  Wir  wissen,  dafs 
die  physiologischen  Eigenschaften  des  tierischen  oder  mensch- 
lichen Vaters  auf  die  Nachkommen  allein  durch  Vermittlung 
eines  einzigen  Spermatozoons  übertragen  werden.  Dieses 
wunderbare,  mikroskopisch  kleine  organische  Gebilde  enthält 
also  eine  Differenzierung  des  Baues,  aus  welchem  sich  beim 
entwickelten  Individuum  Details  wie  ein  vom  Vater  ererbter 
Haarwirbel  im  linken  Stirnwinkel,  ein  Grübchen  in  der  rechten 
Wange,  oder  eine  abweichende  Form  des  Nagels  der  kleinen 
Zehen  entwickeln.  Nun  übertrifft  aber  unser  Grofshim  ein 
einzelnes  Spermatozoon  an  organischer  Substanz  um  ein  Viel- 
millionenfaches und  ist,  so  weit  wir  es  kennen,  nicht  gröber 
organisiert  als  dieses.  Hat  da  die  Behauptung  irgend  eine 
haltbare  Unterlage,  es  können  die  physiologischen  Prozesse 
dieses  Organes  an  die  Differenziertheit  der  Bewufstseins- 
zustände nicht  heranreichen,  so  dafs  man  zur  Erklärung  der 
letzteren  die  Einwirkungen  einer  unräumlichen  Seelensubstanz 
oder  -realität  hereinzuziehen  gezwungen  sei?  —  Eine  solche 
Behauptung  mufs  zum  mindesten  als  voreilig  bezeichnet 
werden.  —  Vielleicht  hat  jedoch  Schwabz  Anderes  im  Sinne. 
Nicht  die  möglichen  physiologischen  Prozesse  des  Grofshiras 
überhaupt  hält  er  für  unzureichend  gegenüber  der  Mannig- 
faltigkeit des  psychischen  Geschehens,  sondern  nur  die  von 
mir  zu  dem  physiologischen  Deutungsversuch  speciell  heran- 
gezogenen.   Nicht  dagegen  wendet  er  sich,   dafs  jeder  Vor- 


270  Christian  v.  Ehrenfels: 

Stellung  ein  besonderer  physiologischer  Prozefs  zugeordnet 
werde,  sondern  dagegen,  daXs  jeder  Vorstellung  ein  „genau 
umschriebener  Kreis  von  Nervenbahnen"  entspreche,  und  iaSs 
somit  die  Unterscheidungen  jener  einzelnen  Prozesse  lediglich 
in  ihre  verschiedenen  Lokalisationen  verlegt  werden.  —  Selbst 
unter  dieser  Voraussetzung  scheint  mir  die  Behauptung  gewagt, 
es  könne  das  Grofshim  die  nötige  Mannigfaltigkeit  an  Pro- 
zessen ffir  den  Reichtum  des  psychischen  Lebens  nicht  auf- 
bieten; wichtiger  aber  ist,  dafs  mein  physiologischer  Deutungs- 
versuch zwar  zunächst  auf  die  Annahme  eines  homogenen 
physiologischen  Prozesses  in  allen  Himpartien  Rücksicht  nimmt, 
keineswegs  aber  sie  notwendig  voraussetzt,  sondern  anstands- 
los auf  die  —  vorgängig  wahrscheinlichere  —  Annahme  quali- 
tativer Verschiedenheiten  des  Reizungsprozesses  bei  der  Ak- 
tualisierung verschiedener  Grundklassen  von  psychischen  Ele- 
menten übertragen  werden  kann.  Die  möglichen  qualitativ 
verschiedenen  Reizungen  ein  und  derselben  Himpartie  sind 
dann  mit  den  qualitativ  gleichartigen  Reizungen  verschiedener 
Himpartien  auf  eine  Stufe  zu  stellen.  Die  Bahnen  der  psycho- 
physischen  Reizwelle  differenzieren  sich  dann  nicht  nur  lokal 
an  verschiedenen,  sondern  auch  qualitativ  an  identischen  Stellen. 
Die  Leichtigkeit,  mit  welcher  eine  Nervenzelle  z^  sich  nach 
der  qualitativen  Besonderheit  q^  reizen  läfst,  kann  sich  von 
der  Leichtigkeit,  mit  welcher  sie  sich  nach  q^  reizen  läfst, 
resp.  dem  Widerstand,  den  sie  dieser  speciflschen  Reizung 
entgegensetzt,  ebenso  sehr  unterscheiden,  wie  sie  sich  von 
der  Leichtigkeit  der  Reizung  einer  zweiten  Nervenzelle  z* 
nach  der  gleichen  Art  q^  unterscheiden  kann,  und  die  „An- 
nehmlichkeit" des  betreffenden  aktualisierten  BewuJjstseins- 
zustandes  kann  hier  wie  dort  eine  einfache  Funktion  dieser 
Leichtigkeit  sein.  —  So  entschwindet  meines  Erachtens  auch 
das  letzte  Bedenken  gegen  die  Möglichkeit  einer  physiologischen 
Deutung  des  Gesetzes  der  relativen  Glücksförderung. 

Dennoch  mufs  ich  anerkennen,  dafs  die  besprochenen 
Argumente  mich  auf  Mängel  und  Lücken,  zwar  nicht  in  meiner 
Theorie,  wohl  aber  in  der  Darstellung  derselben,  aufinerksam 


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Entgegnung  auf  H.  Schwaxz'  Kritik  d.  empirißt.  Willenspsychol.  etc.    271 

gemacht  haben,  so  dafs  es  mich  gar  nicht  wundem  könnte, 
wenn  etwa  Schwarz  erwidern  würde :  „Hätte  Ehbenfels  seinen 
Gedanken  über  das  Gesetz  der  relativen  Glücksforderung  von 
Anbeginn  solchen  Ausdruck  verliehen,  so  wäre  mindestens 
dieser  Teil  der  Kontroverse  überflüssig  geworden". 

Folgerichtig  habe  ich  an  nächster  Stelle  eine  Zwischen- 
frage zu  beantworten,  welche  mir  Schwaez  einwirft,  und  die 
von  der  Konsequenz  seines  Denkens  Zeugnis  giebt.  Der  Ein- 
wurf erfolgt  gelegentlich  seiner  Formulierung  des  Gesetzes  der 
relativ^i  Glücksforderung.  Die  ganze  Stelle  lautet:  „Wir 
können  nicht  wünschen  und  streben,  ohne  dafs  uns  wenigstens 
ftr  die  Anfangszeit  (warum  nicht  auch  für  die  Dauer?)  des 
Wünschens  und  Strebens  mehr  Glück  erwachse,  als  wenn  jene 
Akte  unterblieben  wären".  (S.  219.)  Die  Frage  „warum 
nicht  auch  für  die  Dauer?"  weist  wirklich  auf  eine  scheinbare 
Halbheit  oder  Inkonsequenz  meiner  Theorie  hin,  —  aber  auch 
nur  auf  eine  scheinbare.  Kehren  wir  zum  Schema  vom  Ge- 
birgsrelief  zurück!  —  Sicher  kann  behauptet  werden,  das 
Wasser  wähle,  insofern  es  nicht  durch  das  Trägheitsmoment 
beeinflufst  wird,  immer  diejenige  unmittelbare  Fortsetzung 
seiner  Bahn,  welche  es  am  meisten  zur  Tiefe  fuhrt,  oder  mit 
anderen  Worten  den  Weg,  der  ihm  für  den  Anfang  die 
abschüssigste  Bahn  bietet.  Keineswegs  aber  folgt  daraus, 
dafs  der  auf  den  höchsten  Gipfel  niederfallende  Wasserstrahl 
gleichsam  in  Voraussicht  und  mit  vorgängiger  Kenntnis  des 
Reliefs  diejenige  Bahn  erwähle,  welche,  obgleich  im  Anfang 
ansteigend  oder  minder  abschüssig,  doch  später  die  günstigsten 
Chancen  zum  Fall  in  die  Tiefe  eröflhet.  Vielmehr  ist  es 
möglich,  dafs  das  Wasser,  immer  unter  dem  Gesetz  der  Schwere, 
sich  in  Sackgassen,  in  hochgelegene  Gebirgskessel  verlaufe, 
welche  nur  durch  relativ  niedere  und  schwache  Dämme  von 
tiefen  Thälem  abgeschlossen  sind,  in  die  das  Wasser  doch 
niemals  hinabgelangen  kann,  weil  es  eben  an  die  tiefsten 
Stellen  nicht  im  grofsen  Ganzen,  sondern  für  den  An- 
fang der  jeweiligen  Fortsetzung  seiner  Bahn  gebunden  ist.  — 


272  Christian  v.  Ehrenfels: 

Auf  gleiche  Weise  können  im  Hirn  Herde  aufgestapelter 
potentieller  Energie  oder  grofser  ßeizungsleichtigkeit  durch 
eine  abschliefsende  Wand  von  Reizungswiderständen  umgeben 
sein,  so  dafs  die  Reizwelle  nicht  zu  ihnen  dringen  kann,  ob- 
gleich hier  ein  viel  höherer  Lusteffekt  zu  gewinnen  wäre, 
als  auf  ihrer  thatsächlich  eingeschlagenen  Bahn.  Die  Reiz- 
welle wendet  sich  nämlich,  wie  dort  das  Wasser,  stets  nach 
der  Richtung  des  geringsten  Widerstandes,  nicht  für  den 
weiteren  Verlauf,  sondern  für  den  Anfang  der  jeweiligen 
Fortsetzung  ihrer  Bahn*  Auch  wenn  man  rein  psychische 
Dispositionen  annimmt,  eröffnen  sich  gleiche  Möglichkeiten.  So 
kann  also  nach  dem  Gesetz  der  relativen  Glücksfbrderung 
von  einem  Begehrenden  auch  nur  behauptet  werden,  sein  Gre- 
fühlszustand  müsse  für  den  Anfang,  für  das  Entstehen  des 
Begehrens  ein  günstigerer  gewesen  sein,  als  er  ohne  das  Be- 
gehren gewesen  wäre.  Man  kann  weiter  auch  behaupten,  es 
müsse  für  jedes»  spätere  Zeitdifferential,  in  welchem  das  Be- 
gehren noch  andauert,  der  Geflihlszustand  ein  günstigerer  sein, 
als  wie  wenn  das  Begehren  dann,  nämlich  mit  diesem  Zeit- 
differential, aufgegeben  würde.  Es  darf  aber  nicht  behauptet 
werden,  dafs  jedes  Begehren  in  seiner  vollen  Dauer  einen 
günstigeren  Gefühlszustand  bedinge,  als  er  eingetreten  wäre, 
wenn  das  Begehren  von  allem  Anfang  an  unterblieben  sein  würde. 

In  einem  weiteren  Einwand  (S.  220)  wirft  mir  Schwabz 
einen  Widerspruch  gegen  meine  eigene  Behauptung  vor.  Ich 
habe  konstatiert,  dafs  es  Willensregungen  ohne  jegliches  ak- 
tuelles Lustgefühl,  ja  oft  nur  von  Unlustgefühlen  begleitet, 
giebt  Schwabz  meint,  dies  lasse  sich  mit  einer  relativen 
Glückszunahme  bei  jedem  Akte  des  Begehrens  nicht  vereinen, 
da  ja  dann  die  Vorstellungen,  auf  deren  Hinzutreten  das  Be- 
gehren beruhe,  geradezu  lustvoll  sein  müfsten.  Er  übersieht 
jedoch  erstens,  dafs  sich  der  Zustand  des  Begehrens  gegen- 
über demjenigen  des  Nichtbegehrens,  besonders  wenn  ein 
Streben  oder  Wollen  vorliegt,  nicht  nur  durch  ein  Mehr  an 
lustvollen,  sondern  ebenso  durch  ein  Minder  an  unlustvollen 
Vorstellungen  unterscheiden  kann»    (So  werden  dadurch,  dafs 


\ 


Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  d*  empirist.  Willenspsychol.  etc.     273 

wir  uns  strebend  oder  wollend  gegen  eine  drohende  Gefahr 
wenden,  die  beängstigenden  Vorstellungen,  die  uns  im  Zu- 
stande des  Nichtstrebens  gleichsam  an  den  Leib  rücken  würden, 
geradezu  unterdrückt  oder  doch  mindestens  bedeutend  abge- 
schwächt.) Zweitens  aber  kann  sich  die  positive  Gefuhlstendenz 
einer  Vorstellung  nicht  nur  durch  die  Schaffung  einer  aktuellen 
Lust,  sondern  auch  durch  die  Herabminderung  einer  bereits 
bestehenden  aktuellen  Unlust  bethätigen. 

Auf  einem  Versehen  beruht  es  wohl,  wenn  Schwaez  mir 
(S.  229)  vorwirft,  meine  Theorie  könne  der  —  empirisch 
allerdings  unzweifelhaften  —  Thatsache  des  gleichzeitigen 
Vorhandenseins  mehrerer  Begehrungen  im  Bewufstsein  nicht 
gerecht  werden-  Ich  behaupte  wohl,  dafs  jeweilig  glücks- 
fordemde  Vorstellungen  das  Begehren  ausmachen,  keineswegs 
aber,  dafs  diese  jeweilig  glücksfördemden  Vorstellungen  immer 
nur  —  eine  Vorstellung  —  sein  müfsten.  Auch  läfst  sich 
ein  solcher  Schlufs  in  keiner  Weise  aus  dem  Gesetz  der  rela- 
tiven Glücksförderung  begründen.  Gerade  so,  wie  auf  dem 
Gebirgsrelief  das  Wasser,  seinem  Zug  nach  abwärts  folgend, 
sich  gleichzeitig  in  verschiedene  Adern  verzweigen  kann,  so 
kann  mir  auch  die  psychophysische  Reizwelle,  der  Eichtung 
des  geringsten  Widerstandes  folgend,  gleichzeitig  die  ver- 
schiedensten glückfördemden  Vorstellungen  von  Verwirk- 
lichungen vorführen,  z.  B.  die  Vorstellungen  eines  auszu- 
führenden Spazierganges,  einer  Kahnfahrt,  eines  Theaterbe- 
suches. So  lange  die  Zeit  der  Verwirklichung  eines  dieser 
Wünsche  nicht  gekommen  ist,  braucht  selbst  die  Unverträg* 
lichkeit  ihrer  Objekte  ihr  Beisammensein  im  Bewufstsein  nicht 
zu  stören,  und  selbst  während  der  Wahl  und  Ausführung 
eines  von  ümen  können  sich  mit  den  Vorstellungen  der  be- 
treffenden Ziele  die  anderen  zeitweise  einfinden. 

Dieser  Einwand  leitet  zu  anderen  hinüber,   welche  das 

deskriptive  Moment  des  Vorhandenseins  oder  Fehlens  von 

aktuellen  Akten  des  Wünschens,  Strebens  und  Wollens  mit 
berücksichtigen. 


274  Christian  y.  Ehrenfels: 

S.  227  ff.  weist  Schwabz  vollkommen  richtig  nach,  dafs 
die  Geltung  meines  Motivationsgesetzes  einen  häufigen  Wandel 
in  der  Stärke  des  Begehrens  bedingen  würde,  von  welchem 
die  innere  Erfahrung  uns  nichts  zu  erkennen  gebe. 

Ich  kann  dies  nur  vollinhaltlich  bestätigen,  muTs  jedoch 
hinzufügen,  dafs  es  gegen  mein  Motivationsgesetz  nur  etwas 
beweisen  würde,  falls  man  dieses  mit  einer  deskriptiven  Auf- 
fassung von  der  Natur  der  Begehrungsphänomene  verbinden 
wollte,  welche  der  meinigen  widerstreitet;  —  mit  der  Auf- 
fassung nämlich,  dafs  dasjenige,  was  wir  Stärke  des  Be- 
gehrens, speciell  des  Wollens  nennen,  sich  uns  innerlich  in 
der  hohen  Intensität  eines  aktuellen  Phänomenes  kundgebe. 
Wäre  dies  der  Fall,  dann  müfste  allerdings  der  von  Schwarz 
als  Beispiel  herangezogene  Schachspieler  bei  Gültigkeit  meines 
Motivationsgesetzes  ein  stetes  An-  und  Abschwellen  eines 
intensiven  Willenselementes  in  sich  beobachten  können  — 
wovon  (wie  ich  willig  zugebe)  die  Erfahrung  nichts  erkennen 
läfst.  —  Aber  wie  steht  es  mit  jener  Voraussetzung?  — 
Spiegelt  sich  wirklich  die  Stärke  unseres  Wollens  in  der 
Intensität  eines  aktuellen  Phänomenes  ab,  das  wir,  so  lange 
wir  wollen,  in  uns  herumtragen?  —  Ich  erinnere  hierbei  an 
mein  Beispiel  von  dem  geübten  und  dem  ungeübten  Schwimmer, 
von  denen  beide  mit  dem  gleich  starken  Willen,  nicht  unter- 
zusinken, sich  über  Wasser  halten,  der  erste  in  vollständiger 
Gemütsruhe  und  ohne  irgend  welche  merkliche  Gefühlser- 
regung, —  der  zweite,  obgleich  nicht  stärker  wollend  als 
jener,  von  den  intensivsten  Gefuhlsschwankungen  der  Be- 
fürchtung,^) unterzusinken,  und  der  Hoflhung,  über  Wasser 
zu  bleiben,  hin-  und  hergeworfen!  —  Schwabz  selbst  erklärt 
sich  mit  diesen  und  ähnUchen  Beispielen  einverstanden 
(S.  212)  —  allerdings  bezüglich  eines  anderen  Punktes,  als 
des  hier  in  Frage  stehenden,  nämlich  bezüglich  des  Fehlens 
eines  Parallelismus  zwischen  der  Stärke  des  Wollens  und  der 
Intensität  aktueller  Gefühle,    während  es  sich  nun  um  das 


^)  Ich  acceptiere  die  Bemerkung  von  Schwabz  (S.  224),   dafs  „Be- 
fürchtung" in  ähnlichen  Fällen  der  angemessenere,  weil  weitere  Terminus  sei. 


Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  d.  empirist.  Willenspsychol.  etc.     275 

Verhältnis  zwischen  der  Stärke  des  WoUens  und  der  Intensität 
eines  behaupteten  aktuellen  Willensaktes  handelt.  —  Aber 
man  betrachte  nur  dasselbe  Beispiel  unter  diesem  Gesichts- 
punkt! —  Trägt  der  furchtlose,  geübte  Schwimmer,  welcher 
mit  dem  denkbar  stärksten  Willen,  nicht  unterzusinken,  dennoch 
in  vollkommener  Gemütsruhe  die  Wellen  teilt,  überhaupt  irgend 
ein  Bewufstseinselement  in  sich,  welches  ein  empirisches 
Maximum  von  Intensität  aufwiese,  —  etwas,  das  sich  mit 
einer  himmelstürmenden  Freude,  mit  einem  rasenden  Schmerz, 
mit  einem  dröhnenden  Schall,  einem  blendenden  Licht  auch 
nur  entfernt  vergleichen  liefse?  —  Ich  denke,  die  Antwort 
kann  für  den  unbefangenen  Beobachter  nur  negativ  ausfallen. 
Die  Stärke  des  Willens  ist  ein  dispositioneller  oder  potentieller, 
kein  psychologisch  aktueller  Begriff.  Ein  stärkerer  Wille  ist 
derjenige,  welcher  schwerer  zum  Wanken  gebracht  und  besiegt 
werden  kann,  derjenige,  welcher  gröfsere  Unlustopfer  auf  sich 
zu  nehmen  fähig  ist,  ohne  aufgehoben  zu  werden.  Die  Stärke 
unseres  Willens  können  wir  durch  das  Experiment  —  durch 
das  thatsächlich  oder  in  der  Phantasie  ausgeführte  —  er- 
forschen, wir  können  sie  aber  nicht  wie  an  einem  Ziffem- 
blatt  an  der  Intensität  eines  aktuellen  BewuTstseinselementes 
ablesen.  Auch  die  „nativistische"  Willenstheorie  darf,  wenn 
sie  mit  noch  so  grofser  Bestimmtheit  die  Existenz  eines  letzten 
psychischen  Elementes  „Begehrungs-,  speciell  Wülensakt" 
behauptet,  diesem  Element  doch  keine  Intensität  zuschreiben  — 
mindestens  keine,  welche  derjenigen  Gröfse  entspräche  oder 
proportional  wäre,  die  wir  „Stärke  des  Begehrens"  nennen.^)  — 
Und  somit  braucht  jener  von  Schwaez  als  Beispiel  angeführte 
Schachspieler  auch  kein  An-  oder  Abschwellen  in  sich  zu  er- 
fahren, obgleich  die  Stärke  seines  Wollens  in  dem  oben  er- 
klärten Sinne  einem  beständigen  Wechsel  thatsächlich  unter- 
worfen ist.    Niemand  wird  nämlich  angesichts  des  Sachver- 

*)  Vergl.  Fbanz  Brentano,  „Zur  Lehre  von  der  Empfindung", 
Bericht  des  dritten  internationalen  Kongresses  für  Psychologie  in  München 
1896,  namentlich  S.  124,  sowie  meine  Entgegnung  „Die  Intensität  der 
Gefühle",  Zeitschrift  für  Psych,  und  Phys.  der  Sinnesorgane,  Bd.  XVI, 
namentlich  S.  53. 


276  Christian  v.  Ehrenfelß: 

haltes  leugnen  können,  dafs  die  Festigkeit  oder  Opferfähigkeit 
des  auf  die  Fortführung  der  Partie  zum  Zwecke  des  endlichen 
Sieges  gerichteten  Willens  durch  die  angenommenen  Gefühls- 
schwankungen sehr  beträchtlich  modificiert  werden  würde.  So 
bedürfte  es  etwa  in  einem  Momente,  in  welchem  sich  der 
Schachspieler  über  seinen  Gegner  ärgert,  einer  viel  geringeren 
Versuchung,  um  ihn  zum  Aufgeben  der  ganzen  Partie  zu  be- 
wegen, als  in  einem  Moment,  in  welchem  ihm  das  Spiel  hohe 
Lust  bereitet. 

Diese  Erwägungen  beantworten  auch  den  weiteren  Ein- 
wand, dafs  nach  meinem  Motivationsgesetz  die  Willensstärke 
etwas  Relatives  sei  (S.  232).  Ganz  gewifs  ist  sie  das;  hieran 
wird  aber  nach  allem  Gesagten  nur  derjenige  Anstofs  nehmen , 
der  sie  dennoch,  im  Gegensatz  zu  meiner  Auffassung,  der 
Intensität  eines  aktuellen  psychischen  Elementes  gleichsetzt. 

Hiermit  gelangen  wir  zur  zweiten  Gruppe  der  Einwände, 
die  sich  gegen  den  deskriptiven  Teil  meiner  Theorie 
richtet  —  den  Teil,  der  naturgemäfs  zur  Kritik  und  zum 
Widerspruch  weit  mehr  Anlafs  giebt,  als  das  Motivationsgesetz. 
Ich  gestatte  mir  daher  einige  Andeutungen  über  die  sachlichen 
Beziehungen  dieses  zu  jenem.  —  Die  Annahme  meines  Moti- 
vationsgesetzes ist  mit  der  Annahme  eines  psychischen  Grund- 
elementes „Begehren"  verträglich,  vorausgesetzt,  dafs  man 
nicht  diesem  Element  eine  der  „Stärke"  des  Begehrens  pro- 
portionale Intensität  zuschreibe.  Dennoch  kann  dem  Moti- 
vationsgesetz für  sich  eine  gewisse  Tendenz  zur  Leugnung 
eines  solchen  Grundelementes  nicht  abgesprochen  werden; 
denn  wenn  das  Gesetz  richtig  ist,  so  darf  man  einem  Grund- 
Clement  „Begehren",  selbst  wenn  man  es  vom  deskriptiven 
Standpunkt  aus  anerkennt,  dennoch  keine  andere  als  die  Rolle 
einer  wirkungslosen  Begleiterscheinung  im  psychischen  Leben 
zuschreiben,  die  Rolle  eines  Phänomenes,  welches  uns  durch 
sein  Auftauchen  gewisse  Kräftebeziehungen  im  Wechselspiel 
unseres  Bewufstseinslebens  anzeigt,  ohne  dieses  im  geringsten 
zu    beeinflussen.     Mein   Motivationsgesetz    läfst   für   ein 


Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  d.  empirist.  Willenspsychol.  etc.     277 

Grundelement  „Begehren"  im  psychischen  Kansalgetriebe  keinen 
andern  Platz  oflfen,  als  etwa  die  rein  mechanistische  Auffassung 
der  psychophysischen  Prozesse  überhaupt  für  sämtliche 
psychischen  Phänomene  offen  läfst.  So  wie  nun  jener  mecha- 
nistischen Auffassung  eine  Tendenz  innewohnt,  die  Existenz 
des  Psychischen  zu  bestreiten,  dessen  Wirksamkeit  sie  leugnet 
(eine  Tendenz,  die  allerdings  hier  sofort  ins  Absurde  fuhrt), 
so  erweckt  auch  mein  Motivationsgesetz  die  Neigung  zur 
Leugnung  eines  Grundelementes  „Begehren",  nachdem  dasselbe 
aus  der  Reihe  der  psychischen  Kräfte  gestrichen  worden.^) 

Den  Diskussionen  über  Sein  oder  Nichtsein  psychischer 
Grundelemente  ist  ihrer  Natur  nach  stets  eine  sehr  enge  Grenze 
gezogen.  Über  den  Hauptpunkt,  auf  den  hier  alles  ankommt  — 
dafs  dem  einen  die  innere  Erfahrung  mit  Evidenz  zu  zeigen 
scheint,  was  der  andere  mit  gleicher  Berufung  bestreitet, 
läfst  sich  nämlich  nicht  diskutieren.  Nur  die  Argumente 
können  hier  abgewogen  werden,  welche  auf  Umwegen  ihrem 
Ziele  zustreben,  oder  aber  auf  besonders  auffallige  Beispiele 
verweisen,  an  denen  vielleicht  die  Evidenz  der  Anerkennung 
leichter  zu  gewinnen  ist,  als  anderswo.  Namentlich  wird  die 
Leugnung  eines  letzten  psychischen  Elementes  auf  Grund 
einer  versuchten  Analyse  der  betreffenden  Phänomene  am 
ehesten  dadurch  zu  widerlegen  sein,  dafs  Beispiele  aufgedeckt 
werden,  in  denen  die  von  der  Analyse  behaupteten  Bestand- 
teile nicht,  oder  nicht  vollständig  vorhanden  sind,  und  die  wir 
doch  als  Phänomene  der  betreffenden  Kategorie  deutlich  er- 
kennen. 

ScHWAEz  ist  sich  —  wie  schon  seine  einleitenden  Worte 
beweisen  —  dieser  Verhältnisse  vollkommen  bewufst;  er  er- 
schöpft sich  daher  nicht  in  allgemeinen  Beteuerungen,  dafs 
meine  Analyse  dem  Thatbestande  der  inneren  Erfahrung  nicht 
gerecht  werde,   sondern   sucht  nach   besonderen  Fällen   der 

^)  Die  aUenthalben  in  der  Natur  beobachtete  Sparsamkeit  der  Mittel 
ist  ea,  aus  der  wir  auf  die  Unwahrscheinlichkeit  von  aktuellen  und  doch 
wirkungslosen  Bewurstseinszuständen  schliefsen.  Dies  deutet  C.  Stumpf 
an,  „EröflEnungsrede",  Bericht  des  dritten  internationalen  Kongresses  für 
Psychologie  1896,  S.  10  ff. 

Yierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXTTT.  3.  19 


278  Christian  v.  Ehrenfels: 

charakterisierten  Art.  Solche  glaubt  er  nun  hauptsächlich 
in  dem  Widerstreben  gefunden  zu  haben.  —  Ich  betrachte 
das  Widerstreben  als  identisch  —  und  zwar  nicht  etwa  nur 
„gleichwertig",  sondern  im  eigentlichsten  Sinne  „identisch"  — 
mit  einem  auf  ein  Vergehen  oder  Nichtsein  gerichteten  Streben. 
Ein  solches  Streben  nach  Vergehen  oder  Nichtsein  setzt  na- 
türlich die  Vorstellung  des  Vergehens  oder  Nichtseins  voraus, 
welche  wir  aus  dem  Vorstellungs-  und  TJrteilsgebiete  (dem 
„Denken"  oder  theoretischen  „Bewufstsein")  bereits  gewonnen 
haben  müssen,  damit  ein  Widerstreben  auch  nur  möglich  werde. 
ScHWABz  glaubt  hiergegen  geltend  machen  zu  können,  dafs 
ein  auf  ein  Nichtsein  gerichtetes  Begehren  etwas  anderes  sei, 
als  ein  Widerstreben,  dafs  das  Widerstreben  überhaupt  gar 
keine  Vorstellung  eines  Nichtseins  enthalte  oder  doch  zu 
enthalten  brauche,  dafs  es  beim  Kinde  sich  viel  früher  ein- 
stelle, ehe  diesem  die  abstrakte  Vorstellung  des  Nichtseins 
noch  zugeschrieben  werden  könne,  dafs  die  Vorstellung  des 
Nichtseins,  statt  dem  Widerstreben  voranzugehen,  vielmehr  in 
diesem  „eine,  vielleicht  ihre  kräftigste  Wurzel"  besitze;  „das 
Denken  borgt  hier  vom  Wollen,  das  theoretische  vom  prak- 
tischen Bewufstsein,  nicht  aber  borgt  das  praktische  Bewufst- 
sein vom  theoretischen".  Ja,  er  glaubt  so,  und  —  wie  aus 
dem  Zusammenhang  hervorgeht  —  nur  so  die  Thatsache  er- 
klären zu  können,  dafs  wir  auch  Vergangenem  widerstreben 
(S.  216  ff.). 

Die  letzte  Behauptung  geht  nun  wohl  ganz  entschieden 
zu  weit,  da  man  ja  auch  das  Nichtsein  vergangener  Dinge 
vorstellen  kann;  im  übrigen  aber  enthalten  diese  Hinweise 
manches,  welches  dem  Vertreter  meiner  Auffassung  Bedenken 
einzuflöfsen  vermöchte ;  am  meisten  wohl  der  Hinweis  auf  das 
Widerstreben  beim  Kinde,  das  die  Vorstellung  des  Nichtseins 
oder  Vergehens  noch  nicht  zu  fassen  vermag. 

Allein  dieser  Einwand  bringt  nichts  Neues,  —  nichts, 
das  ich  bei  der  Abfassung  meiner  Arbeit  unberücksichtigt 
gelassen  hätte.  Er  bezieht  sich  auch  nicht  lediglich  auf  das 
Widerstreben,  da  ich  mich  ja  auch  für  das  positive  Begehren 


Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  d.  empirist.  Willenspsychol.  etc.     279 

keineswegs  mit  der  Vorstellung  seines  Objektes  schlechthin 
begnüge,  sondern  die  Vorstellung  eines  Entstehens  oder  Da- 
seins verlange,  welche  nicht  leichter  zu  gewinnen  sein  dürfte, 
als  diejenige  des  Vergehens  oder  Nichtseins.  Ich  habe  unter 
diesem  Gesichtspunkte  das  Begehren  (und  Widerstreben)  der 
Tiere  und  Kinder  ausdrücklich  behandelt  (S.  256  f.),  und  habe 
meinen  Darlegungen  hier  nichts  weiter  hinzuzufügen. 

Die  Frage,  ob  die  Vorstellung  des  Nichtseins  in  dem 
Widerstreben  eine,  vielleicht  ihre  kräftigste  Wurzel  besitze, 
tmrde  hier  zu  weit  führen.  Jedenfalls  behauptet  auch  Schwaez 
nicht,  dafs  die  Vorstellungen  von  Sein  und  Nichtsein,  von 
Werden  und  Vergehen  im  Streben  und  Widerstreben  die 
einzigen  Wurzeln  besitzen;  und  so  dürfte  —  bei  der  Strittig- 
keit der  Begriffe  von  Sein  und  Werden  —  diesem  Argument 
wohl  kaum  die  Entscheidung  des  Streitfalles  zu  entnehmen  sein. 

Es  bleibt  hier  also  nur  noch  die  Behauptung  zur  Dis- 
kussion übrig,  dafs  Fälle  von  Widerstreben  zu  beobachten 
Seien,  bei  welchen  nicht  Vergehen  oder  Nichtsein  des  Gegen- 
standes, dem  wir  widerstreben,  vorgestellt  werde,  sondern  eben 
nur  dieser  Gegenstand  selbst.  —  Ich  leugne  nun  nicht,  dafs 
es  Fälle  der  beschriebenen  Art  giebt,  in  denen  der  Sprach- 
gebrauch ein  Widerstreben  zu  konstatieren  pflegt;  ich  be- 
haupte  jedoch,  dafs  dies  auf  Gnmd  einer  jener  dem  Psycho- 
logen  so  wohl  bekannten  Äquivokationen  geschieht,  welche 
schon  zu  vielen  Irrtümern  geführt  haben.  Die  mit  dem  Aus- 
druck „Streben"  (und  daher  auch  „Widerstreben")  verbundenen 
Äquivokationen  zählen  zu  den  verbreitetsten  und  gefährlichsten. 
Sie  wurden  in  meinem  Werke  ausführlich  behandelt  (S.  226  ff.), 
so  dafs  hier  nur  der  Hinweis  darauf  nachzutragen  bleibt,  dafs 
wir  äquivok  von  einem  Streben  oder  Widerstreben  nicht  blofs 
dann  sprechen,  wenn  ein  äufseres  Handeln  ohne  Begehren 
gegeben  ist,  sondern  oft  auch  in  Fällen,  in  denen  weder  ein 
Handehi,  noch  ein  Begehren  gegeben  ist,  sondern  nur  ein 
Lust-  oder  Unlustgefühl  mit  gewissen  charakteristischen  Vital - 
empfindungen.    Wenn  mir  ein  Gegenstand  Unlust  erweckt, 

so  kann  ich,   noch  lange,   ehe   es   zum   eigentlichen   wider- 

19* 


280  Christian  v,  Ehrenfels: 

strebenden  Begehren  kommt,  eigentümliche  physische,  lokali- 
sierte Phänomene  an  mir  beobachten,  welche  auch  das  eigent- 
liche Widerstreben  begleiten  und  daher  leicht  mit  diesem  zu 
verwechseln  sind.  Es  sind  krampföhnliche,  im  Innern  des 
Leibes,  am  merklichsten  in  der  Gegend  des  Zwerchfelles 
lokalisierte  Empfindungen,  häufig  vereint  mit  dunklen  Vor- 
stellungen einer  Bewegung  gegen  den  Gegenstand  hin,  eines 
Fort-  oder  Abstofsens  desselben.  Diese  rein  physischen 
Phänomene,  welche  zu  dem  echten  psychischen  Widerstreben 
eine  gewisse  Analogie  zeigen  und  aufserdem  mit  ihm  in  gene- 
tischem Zusammenhang  stehen,  verlangen  natürlich  keinerlei 
Vorstellung  von  Nichtsein  oder  Vergehen  des  die  Unlust  er- 
weckenden Gegenstandes;  und  sie  dürfte  auch  Schwabz  mit 
dem  eigentlichen  Widerstreben  verwechselt  haben.  Wo  dieses 
selbst,  das  psychische  Phänomen,  unzweifelhaft  vorliegt,  dort 
glaube  ich  auch  überall  die  Vorstellung  des  Vergehens  oder 
Nichtseins  konstatieren  zu  können  —  und  ebenso  beim  posi- 
tiven Begehren  die  Vorstellung  des  Werdens  oder  Seins  seines 
Gegenstandes. 

Übrigens  läfst  sich  die  Undurchführbarkeit  von  Schwabz^ 
Auffassung  des  Widerstrebens  auch  direkt  nachweisen.  Er 
selbst  gesteht  zu  (S.  216),  dafs  es  ein  auf  Nichtsein  oder 
Vergehen  gerichtetes  Wünschen,  also  auch  Streben  und  Wollen 
gebe;  und  dafs  dieses  sprachüblich  als  „Widerstreben"  be- 
zeichnet wird,  dürfte  er  wohl  schwerlich  leugnen.  Unter  den 
Akten,  die  wir  Widerstreben  nennen,  wären  also  nach  Schwarz 
zwei  Kategorien  zu  unterscheiden,  nämlich  positive  Begehrungs- 
akte, welche  auf  ein  Nichtsein  oder  Vergehen,  und  negative 
Begehrungsakte,  welche  schlechthin  auf  —  oder  gegen  —  ihren 
Gegenstand  gerichtet  seien.  Nun  ist  weiter  klar,  dafs  min- 
destens alles  Widerstreben,  in  welchem  wir  Mittel  zum  Zwecke 
begehren  (wie  etwa,  wenn  wir  ein  Medikament  zu  erlangen 
trachten,  um  eine  Krankheit,  der  wir  widerstreben,  zu  be- 
seitigen), der  ersten  Kategorie  angehören.  Denn  wie  sollten 
wir  die  Mittel  ausfindig  machen  und  wünschen  können,  ohne 
den  Zweck,   welchen   sie  bewirken  sollen  —  das  Nichtsein 


Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  d.  empirist.  Willenspsychol.  etc.     281 

resp.  Aufhören  des  betreffenden  Objektes  —  vorzustellen  und 
zu  wünschen?  —  Wäre  also  das  Widerstreben  auch  anfangs 
nicht  auf  Nichtsein,  sondern  schlechthin  gegen  ein  Objekt 
gerichtet,  so  miifste  es  doch,  sobald  es  dazu  gelangt,  Mittel 
zu  seinem  Zwecke  zu  wünschen,  plötzlich  in  den  entgegen- 
gesetzten Akt  des  Anstrebens  eines  Nichtseins  oder  Vergehens 
umschlagen;  und  dieses  plötzliche  Umschlagen  in  einen  Akt 
mit  verändertem  Objekt  und  konträrer  Qualität  könnte  uns 
unmöglich  verborgen  bleiben.  —  Dafs  wir  aber  von  alledem 
nichts  beobachten  können,  ist  geradezu  ein  Beweis  dafür,  dafs 
es  dem  Anstreben  konträre  Akte  des  Widerstrebens  nicht  giebt, 
und  dafs  alles,  was  wir  so  nennen,  nichts  anderes  ist,  als 
Anstreben  des  Nichtseins  oder  Vergehens.^) 

ScHWABZ  greift  den  deskriptiven  Teil  meiner  Theorie 
jedoch  auch  noch  an  anderen  Punkten  an.  Ich  habe  (S.  226 
bis  230)  ausführlich  zu  zeigen  gesucht,  dafs  alle  Fälle,  in 
denen  es  den  Anschein  haben  könnte,  als  gäbe  es  ein  Wollen, 
allgemein  ein  Begehren,  welches  nur  auf  ein  Mittel  zum  Zweck 
und  nicht  zu  gleicher  Zeit  auf  diesen  Zweck  selbst  gerichtet 
sei,  auf  Täuschung  beruhen.  Schwaez  dagegen  behauptet 
mehrmals  auf  das  entschiedenste,  dafs  das  Wollen  des  Zweckes 
und  das  Wollen  des  Mittels  zwei  verschiedene  „Willens- 
regungen" Seien  (S.  230),  von  denen  auch  die  letztere  ohne 
die  erstere  vorkommen  könne  (S.  226).  —  Er  führt  indessen 
zur  Begründung  seiner  Behauptung  nichts  an,  was  ich  nicht 
(a.  a.  0.)  schon  berücksichtigt  und  m.  E.  widerlegt  hätte; 
ja,  er  thut  meiner  hierauf  bezüglichen  Ausführungen  nicht 
einmal  Erwähnung,  weshalb  mir  hier  nichts  weiter  obliegt, 
als  den  Leser  darauf  hinzuweisen. 


^)  Selbst  die  Schule  Bbsntanos,  der  bekanntlich  die  Gefühle  und 
Begehrungen  als  specielle  Fälle  der  umfassenden  Grundklasse  des  „Liebens 
und  Hassens*'  betrachtet,  erblickt  im  Widerstreben  niemals  ein  „Hassen'^, 
sondern  immer  nur  ein  „Lieben"  des  Nichtseins  oder  Vergehens.  —  Aller- 
dings scheint  mir  durch  diese  richtige  Auffassung  zugleich  die  Analogie 
preisgegeben  zu  sein,  auf  Grund  welcher  die  Zusammenfassung  des  Fühlens 
(Lust  und  Unlust)  und  Begehrens  (Anstrebens  und  Widerstrebens)  unter 
jene  behauptete  gemeinsame  Klasse  etwas  Verführerisches  besitzt. 


282  Christian  v.  Ehrenfels: 

In  den  allerschärfsten  Widerspruch  zu  dem  deskriptivea 
Teil  meiner  Theorie  tritt  endlich  Schwaez  mit  den  Be- 
hauptungen, dafs  wir  manchmal  uns  überhaupt  gar  kein  Ziel 
vorstellen,  während  wir  wollen,  und  manchmal  das,  was  uns 
während  des  Wollens  vorschwebt,  etwas  anderes  sei,  als  das 
WiUensziel  (S.  211).  —  Dies  wäre  nun  allerdings  für  meine 
Theorie  schlimm  genug.  Denn  da  ich  einen  eigenen  Wille^s- 
akt  nicht  gelten  lasse  und  der  Ansicht  bin,  das  psychisch 
Bewufste  am  Begehren  bestehe  oft  nur  in  Vorstellungen,  und 
zwar  in  Vorstellungen  dessen,  was  wir  Begehrungsziel  nennen, 
so  bliebe  für  ziellose  Begehrungen  nun  überhaupt  gar  kein 
Bewufstseinsinhalt  mehr  übrig;  sie  würden  sich  nach  meiner 
Theorie  in  Nichts  auflösen;  höchstens  das  Vorhandensein  einer 
äquivok  als  Willen  bezeichneten  Willens-  oder  Geflihlsdispo- 
sition  könnte  zugegeben  werden.  —  Allein  mir  dünkt,  dieser 
befremdliche  Schlufs  kommt  der  Wahrheit  sehr  nahe,  und  die 
ziellosen  Willensakte  dürften  sich  allen  Ernstes  bei  näherem 
Zusehen  dem  empirischen  Psychologen  geradeso  in  ein  Nichts 
auflösen,  wie  meine  Theorie  es  verlangt,  —  Schwabz  beruft 
sich  bei  seinen  Behauptungen  auf  Autoritäten,  und  zwar  be- 
züglich der  ersten  auf  diejenige  Wundts,  bezüglich  der  zweiten 
auf  Mbinong.  Was  nun  den  letzten  betrifft,  so  mufs  hier 
wohl  hervorgehoben  werden,  dafs  er  an  der  von  Schwabz 
bezeichneten  Stelle  („Psychologisch-ethische  Untersuchungen 
zur  Werttheorie",  S.  36)  nicht  von  Willensakten,  überhaupt 
gar  nicht  vom  Begehren,  sondern  von  Gefühlen  spricht, 
welche  wir  unter  Umständen  mit  Scheininhalten  versehen. 
Dieses  Verhältnis  wird  von  Meinung  (a.  a.  0.  S.  36)  so  ge- 
deutet, dafs  der  wirkliche  und  eigentliche,  im  Bewufstsein 
vorhandene  Inhalt  des  Gefühles  unserer  Aufinerksamkeit  ent- 
gehe, während  wir  falschlich  dem  Gefühl  irgend  ein  Objekt 
zuschrieben,  auf  das  es  thatsächlich  nicht  gerichtet  sei.  — 
Ein  solches  Phänomen  weicht  aber  von  einer  „Willensregung", 
bei  welcher  „das,  was  uns  vorschwebt,  gerade  nicht  das 
Willensziel"  ist,  doch  beträchtlich  ab.  Keinesfalls  kann 
Meinong  die  Ansicht  imputiert  werden,  dafs  mitunter  Willens- 


Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  <L  empirist.  Willenspsychol.  etc.     283 

akte  oder  Gefülile  ihre  wahren  Inhalte  mit  falschen  auszu- 
tauschen vermöchten;  der  Austausch  vollzieht  sich  nach 
Meinong  immer  in  unserem  irrenden  Urteil,  während  die 
Phänomene  selbst,  wie  ja  auch  gar  nicht  anders  denkbar, 
ihre  eigentKchen  Inhalte  behalten.  Meinongs  Ansicht  stellt 
daher  nicht  die  geringste  Annäherung  zu  der  Annahme  von 
Willensakten  dar,  deren  Ziel  nicht  vorgestellt  würde.  Auch 
gegen  meine  Theorie  verstöfst  die  Thatsache  des  Irrtums  über 
das  eigentliche  Willensziel  nicht  im  mindesten;  sie  erscheint 
vielmehr  als  ein  Argument  für  dieselbe,  da  sie  unter  der 
Voraussetzung  eines  Grrundelementes  „Begehrungsakt"  viel 
schwerer  erklärt  werden  kann,  als  ohne  dieselbe  (System  der 
Werttheorie,  I.  B.,  S.  252). 

Auf  die  Willenstheorie  Wundts  hier  näher  einzugehen, 
um  die  Frage  des  Willens  ohne  vorgestelltes  Ziel  zu  erörtern, 
würde  zu  weit  führen ;  ^)  auch  bleibt  abzuwarten,  ob  Schwabz, 
der  ja  nach  seiner  kritischen  Studie  binnen  kurzem  mit  einer 
Veröffentlichung  über  Willenspsychologie  hervorzutreten  be- 
absichtigt, sich  mit  dieser  Theorie  identifizieren  wird.  Ich 
kann  mir  die  Behauptung,  es  sei  ein  Wille  ohne  vorgestelltes 
Ziel  denkbar,  nicht  anders  als  durch  Vermittlung  einer  einfachen 
Aquivokation  zustande  gekommen  denken.  Was  man  unter 
„Willen"  versteht,  wenn  man  dies  behauptet,  ist  etwas  anderes, 
als  was  man  sonst  mit  diesem  Worte  bezeichnet:  entweder 
die  psychische  Seite  eines  Handelns,  welches  zu  Willens- 
handlungen äufsere  Analogie  zeigt,  thatsächlich  aber  auf  ge- 
wohnheitsmäfsig  erworbenen  oder  angeborenen  Mechanismen 
beruht,  —  oder  ein  gewisser  Komplex  von  Vitalempflndungen 
mit  dunklen  Bewegungsvorstellungen  (vergl.  S.  279  f  dieses 
Aufsatzes);  —  oder  gar  nichts  psychisch  Aktuelles,  sondern 
eine  Willens-,  eine  Gefühls-,  ja  selbst  nur  eine  Disposition 
zu    mechanisierten    Bewegungen.      Ein    psychisch    aktuelles 


^)  Ich  habe  Wundts  hierhergehörige  Lehren  in  der  ersten  Publi- 
kation meiner  Willenstheorie  „Über  Fühlen  und  Wollen",  Sitzungsberichte 
der  philos.  histor.  Klasse  der  kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften,  Wien 
1887,  einer  kurzen  Kritik  unterzogen. 


284     Christian  v.  Ehren fels:  Entgegnung  auf  H.  Schwarz'  Kritik  etc. 

Wollen  ohne  vorgestelltes  Ziel  ist  ein  Unding,   nicht  minder 
als  eine  Vorstellung  ohne  Objekt. 

Nach  der  hiermit  beendeten  Besprechung  der  sachlichen 
Argumente  sei  es  mir  noch  gestattet,  auf  eine  persönliche 
Bemerkung  Schwaez'  zurückzukommen.  Er  glaubt  die  Genesis 
meiner  Willenstheorie  aus  der  Wertdeflnition  Meinongs  ver- 
folgen zu  können  (S.  234),  während  umgekehrt  diese  durch 
jene  beeinflufst  wurde.  Ich  habe  meine  Willenstheorie  schon 
1887  veröffentlicht;^)  1894  erschien  die  Arbeit  Meinongs,  und 
erst  1895  modifizierte  dieser  in  einem  Supplement'^)  seine 
Wertdefinition  zu  ihrer  gegenwärtigen  Gestalt.  —  Ich  erwähne 
dies  jedoch  nur,  indem  ich  zugleich  hier  —  wie  anderwärts  — 
dankend  der  Förderung  gedenke,  die  meine  psychologische 
Bildung  im  allgemeinen  durch  Meinung  erfuhr. 

Zum  Schlufs  wiederhole  ich  auch  Schwabz  meinen  Dank 
für  seine  eingehende  Kritik,  durch  die  er  mich  zur  näheren 
Erläuterung  und  Ausführung  mancher  klärungsbedürftigen 
Partien  meiner  Willenstheorie  veranlafst  hat. 


^)  Vergl.  die  letzte  Anmerkung. 

2)  „Über  Werthaltung  und  Wert",  Archiv  für  system.  Philosophie, 
Bd.  I,  H.  3. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der 

Zeitvorstellung. 

Von  Eugen.  Posch,  Budapest. 
(Dritter  Artikel.) 


Inhalt* 

Dauern  ist  nichts,  als  mit  zeitlichen  Begriffen  belegtes  Sein.  Zwei  Ent- 
stehungsarten  des  Dauerbegriffs.  Das  Messen  ist  ein  konstitutives  Element  dieses 
Begriffs.  Eigentlicher  Sinn  der  „unwiederbringlichen  Vergangenheit".  Räumliche 
Nebengedanken  bei  zeitlichen  Vorstellungen. 


V.  Die  Dauer. 

Da  unser  Standpunkt  —  wonach  Zeit  nicht  objektive 
Weltingredienz  oder  zwischen  Objektivem  und  Subjektivem  in 
der  Mitte  schwebende  „Form"  (res  sui  generis)  sei  —  uns 
auferlegt,  bei  Bezeichnung  jener  Weltthatsache,  die  den  Dauer- 
vorstellungen zu  Grunde  liegt,  die  nächstliegende  Benennung 
(dafs  nämlich  Gegebenes  wirklich  verschieden  lange  andauere) 
zu  meiden,  indem  durch  eine  solche  Ausdruckswahl  Zeitliches 
als  objektiv  vorhanden  hingestellt  würde,  so  wolle  man  sich 
zur  Bezeichnung  der  fraglichen  Weltthatsache  mit  dem  nega- 
tiven Ausdruck  begnügen:  „was  in  den  Sinneshorizont  des 
Beschauers  vereint  (nämlich  gleichzeitig)  eingetreten  ist,  tritt 
nicht  immer  vereint  aus".  Man  mufs  hier  vor  Augen  be- 
halten, dafs  sich  der  Weltlauf  bezüglich  der  Abberufung  seiner 
Darbietungen  an  die  rein  menschlich  ästhetischen  Ansprüche 
von  Symmetrie  und  Rhythmus  nicht  kehrt,  insofern  sich  weder 
ständige  Gleichzeitigkeit,  noch  ein  in  regelmäfsigen  Absätzen 
oder  Gruppen  erfolgender  Abzug  für  zusammen  eingetretene 
Gestaltungen  behaupten  läfst,  und  auch  bezüglich  des  Wann? 


286  Eugen  Posch: 

dieses  Abgangs  überhaupt  gar  keine  andere  Eegel  anzugeben 
bleibt,  als  diejenige:  „jede  Komplexion  (eine  Kräfteresultante) 
hört  auf,  wenn  der  Weltlauf  die  zu  ihrer  Aufhebung  hin- 
reichenden Bedingungen  (eine  entsprechende  Gegenkraft)  zu- 
stande gebracht  hat". 

Bei  Untersuchung  der  Entstehungsbedingungen  unseres 
Begriffs  von  Dauer  mufs,  wie  bei  dem  vorhergängigen,  er- 
wogen werden,  dafs  derselbe  bei  der  Betrachtung  des  Gegen- 
wärtigen anhebt,  d.  h.  dafs  die  Thatsache  der  Auffassung 
vergangener  Eindrücke  als  dauernd  durch  den  Umstand  einer 
ähnlichen  Auffassung  derselben,  so  lange  sie  gegenwärtig 
waren,  hinlänglich  erklärt  ist. 

Waitz  sieht  in  dieser  Übertragung  der  DauervorsteUungen  auf 
Vergangenes,  entstanden  einfach  durch  Mitreproduktion  des  Dauerprädikats 
bei  Auftauchen  des  betreffenden  rein  qualitativen  Erinnerungsbildes 
(S.  595 — 596),  die  erste  Phase  einer  Weiterausbildung  der  Zeitvorstellung. 

Wie  sehr  diese  Zeitkategorie  an  Gegenwärtiges  geknüpft 
sei,  beweisen  u.  a.  diverse  Spracherscheinungen,  wonach  näm- 
lich Gegenwärtigkeit  der  Handlung,  wo  auszuprägen  nötig, 
durch  dem  Zeitworte  angehängte  Bildungssüben,  welche  eigent- 
lich And  au  er  bedeuten  (so  -sz  in  den  ungarischen  Zeitwörtern 
lesz,  tesz,  hisz,  visz,  mit  Wurzel  auf -v),  bezeichnet  wird. 

Die  WAiTz'sche  Behauptung  jedoch,  dafs  der  Begriff  „Gegenwart" 
geradezu  aus  dem  von  Dauer  entstanden  sei,  scheint  mir  nur  als  Kund- 
gebung einer  innigen  Herausfühlung  der  Zusammengehörigkeit  beider 
Zeitkategorien  von  Wert  zu  sein. 

Der  erste  Keim  des  Dauerbegriffs  scheint  in  der  Vor' 
Stellung  eines  „trotzdem  Vorhanden'* -en  zu  liegen,  die  sich 
am  leichtesten  durch  Erfahrungen  von  Unzulänglichkeit  jener  — 
anfangs  nur  reflektorischen  —  Bewegungen  behufs  Verr 
scheuchuug  unangenehmer  Eindrücke  gewinnen  läfst,  welche 
Bewegungen  sich  in  bisherigen  Fällen  zweckdienlich  erwiesen 
haben.  Hiermit  ist  gesagt  —  und  wir  wollen  es  hervorheben  — , 
dafs  1.)  zur  Entstehung  der  Dauervorstellung  das  Hervortreten 
eines  einheitlichen,  gleichbleibenden  oder  wenigstens  -gel- 
tenden Eindrucks  A  erforderlich  ist,  weü  hier  nebst  der  Er-» 
Wartung  des  endlichen  Aufhörens  eine  fortwährende  (nur  durch 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  287 

Rückerini^i^rung  ermöglichte)  Vergleichung  der  vergangenen 
Phasen  von  A  und  Identifikation  derselben  mit  den  gegen- 
wärtigen Eindrücken  (sonst  könnte  man  ja  nicht  sagen:  A  sei 
noch  da!)  stattfinden  mufs;  2.)  dafs  zur  Entstehung  der  frag- 
lichen Vorstellung,  speciell  der  unterscheidbarer  Phasen,  das 
uns  bewufste  Mitwirken  einer  parallel  ablaufenden  Reihe  von 
anderweitigen  Eindrücken  nötig  ist,  als  solche  sich  am  ehesten 
die  Empfindungen  jener  eigenen  Einmischungen  (a,  b,  c,  z.  B. 
Zählen  oder  Kraftäufserungen  behufs  Verjagung)  darbieten, 
zu  welchen  uns  die  Ungeduld  hindrängt;  und  3.)  dafs  die 
Hauptvorstellung  A  betonter  und  zwar  unangenehm  betonter 
Natur  sein  mufs  —  eine  Annahme,  die  schon  wegen  der  Ana- 
logie mit  den  bisherigen  Zeitbegriffen,  wo  Betontes  sich  so 
wichtig  erwies,  und  anderseits  auch  durch  die  Thatsache 
nahegelegt  ist,  dafs  die  „Zeit",  nämlich  was  man  dafür  hält, 
besonders  bei  langweiligen  Eindrücken  fühlbar  wird. 

Dafs  der  blofse  Anblick  eines  thatsächlich  dauerhaften  Eindruckes 
zur  Erzeugung  der  Dauervorstellung  ungenügend  ist,  wird  jeder  Anhänger 
des  bereits  öfter  erwähnten  HERBABT'schen  Prinzips  (s.  o.)  zugeben  (vergl. 
auch  Volkmann,  S.  21).  Dies  wurde  schon  von  Condillac  sehr  klar  ein- 
gesehen („La  Statue  n'aurait  Jamals  connu  qu'un  instant,  si  le  premier  corps 
odorif^rant  eüt  agi  sur  eile  d'une  mani^re  uniforme,  pendant  une  heure 
un  jour  ou  dayantage  .  .  .  Si  eile  ne  distingue  pas  des  instauts,  comment 
apercevra-t-elle  la  dur6e?"  I.  chap.  4,  §  17).  Für  letzten  Satz  vergl.  Her- 
babt: „Wird  inmitten  einer  sehr  vollstimmigen  Musik  .  .  .  auf  einmal 
nur  eine  Stimme  hörbar,  welche  eine  lange  Note  aushält  .  .  .,  so  wird 
dieser  Ton  als  dauernd  wahrgenommen;  warum?  weil  auf  ihn  die  Töne 
der  anderen  Instrumente,  welche  man  erwartet,  .  .  .  übertragen  werden^. 
(VI,  S.  144.)  —  Ähnlich  DOubino:  „Dauer  ist  eine  Häufung  von  Elementen, 
und  woher  soll  in  dem  Ununterschiedenen  eine  solche  Häufung  kommen? . . . 
Leere  Dauer  hat  nur  dann  einen  Sinn,  wenn  ihr  eine  von  Veränderungen 
erfüllte  Dauer  als  Mafs  gegenübersteht"  (S.  69—70). 

Unsere  ersten  beiden  Voraussetzungen  für  die  Entstehung  der 
Dauervorstellung  finden  sich  bereits  bei  Hume  vor  —  statt  der  zweiten 
wohl  nur  eine  während  der  Betrachtung  A's  in  uns  unwillkürlich  ab- 
laufende Vorstellungsreihe  (8.  139 — 140)  — ,  deren  Vorwalten  Humb  als 
einzigen  Bechtfertigungsgrund  für  die  Anwendung  zeitlicher  Vorstellungen 
auf  „unveränderliche  Objekte"  (mit  denen  jene  Vorstellungen  wegen  ihres 
Ursprungs  aus  successiven  Beihen  nichts  gemein  haben  dürften)  hinstellt, 
da  zwei  Anblicke  eines  solchen  Objekts  ohne  Einschaltung  irgend  welcher 
Successionsreihe  nicht  djstant,  d.  h.  in  zeitlichem  Abstände  voneinander 
gedacht  werden  könnten.    (Ib.)    Die  nur  mittelbare  Anwendbarkeit  zeit- 


288  Eugen  Posch: 

lieber  Prädikate  auf  Beharrliches  giebt  auch  Dühbin»  zu:  „Allerdings  ist 
die  Zeit  auch  die  Form  des  Beharrens,  aber  sie  ist  dies  nur  vermöge  des 
Gegensatzes,  in  welchem  das  Bleibende  nur  unter  Begleitung  von  Ver- 
änderungen als  solches  wahrnehmbar  wird"  (S.  69 — 70,  vergl.  Abistoteles, 
S.  58  dies.  Zeitschr.).  Der  hier  ausgesprochenen  Ansicht  huldigt  in  obiger 
Stelle  offenbar  auch  Herbart.  —  Die  CoNDiLLAc'sche  Veranstaltung  für 
Erzeugung  des  Dauerbegriffs  unterscheidet  sich  von  der  unsrigen  nur  darin, 
dafs  der  französische  Denker  A  ein  Gedankenbild  sein  läfst,  während  die 
parallel  ablaufende  Successionsreihe  aus  Sinneseindrücken  besteht  (I,  chap.  4). 
Jedenfalls  ist  es  am  natürlichsten,  beide  Faktoren  Sinneseindrücke  sein  zu 
lassen,  da  sich  der  Dauerbegriff  gewifs  eher  am  Sichtbaren  und  Fühlbaren, 
als  an  blofsen  Einbildungsvorstellungen  festgesetzt  hat,  und  Eindrücke 
auch  leichter  erfafsbare  Phasen  abgeben,  als  blofse  Vorstellungsbilder. 

Die  Keime  all  dieser  Anschauungsweisen  liegen  in  der  LocEE'schen 
Stelle:  „wir  nennen  unser  Dasein  oder  den  Fortgang  unseres  Daseins  oder 
eines  anderen  Dinges  nach  dem  Mafse  der  Folge  der  Vorstellungen  in 
unserer  Seele  die  Dauer  von  uns  oder  von  einem  anderen  Dinge,  was  mit 
unserem  Denken  gleichzeitig  da  ist"  (S.  188).  —  Diese  Stelle  mag  auch 
als  Ausgangsgunkt  für  die  BAUMANN'sche  (II,  S.  569 — ^560)  Bestreitung 
der  HüMB'schen  Anschauungsweise  gedient  haben,  derzufolge  zeitliche 
Prädikate  auf  Beharrliches  schon  deshalb  unmittelbar  und  nicht,  wie  Hume 
will,  nur  indirekt  anwendbar  wären,  weil  die  Zeitvorstellung  selber  durch 
Beharrliches,  ein  über  die  Wandlungen  seiner  Zustände  erhabenes  Ich, 
entstanden  sei.  Dieser  Gedankß  findet  sich  näher  und  schärfer  ausgeführt 
bei  A.  EiEHL^)  wieder  (hierüber  w.  u.). 

Der  WAiTz'schen  Ansicht  (S.  593),  wonach  die  für  Dauer  nötige 
Vorstellung  eines  Identischen  mit  Einschnitten  (Phasen)  durch 
„Zusammenfassung"  (nicht  völlige  Verschmelzung)  jener  Gefühlsäufserungen 
entsprungen  wäre,  welche  uns  das  stetig  anwachsende  Gefühl  des  Unbe- 
hagens bei  einer  langweiligen  Gegenwart  abringt  —  dieser  Ansicht,  sage 
ich,  mufs  aufser  Unklarheit  dieses  Verschmelzungsprozesses  entgegen- 
gehalten werden,  dafs  die  blofse  Steigerung  eines  Gefühls  (der  Langweile), 
wie  sie  hier  angesprochen  wird,  zur  Erzeugung  neuer  Vorstellungen  niemals 
tauglich  ist.  Denn  entweder  ist  die  erste  Anwandlung  von  Überdrufs 
schon  geeignet,  die  Vorstellung  eines  „zu  lang"-en  zu  erwecken,  in  welchem 
Falle  alle  ferneren  Grade,  als  höchstens  den  Begriff  eines  „noch  länger"-en 
bewirkend,  für  unseren  Zweck  überflüssig  sind;  oder  jene  erste  Anwandlung 
ist  zu  erwähntem  Behufe  nicht  geeignet.  Die  Steigerung  eines  zur  Ge- 
winnung neuer  Kenntnisse  ungeeigneten  Gefühles  wird  aber  höchstens 
quälen  und  nicht  unterrichten.  Bei  Volkmann  entsteht  uns  die  Dauer- 
vorstellung im  Zustande  des  Erwartens,  wenn  sich  unsere  Aufmerksamkeit 
nicht  dem  Vorstellungsbilde  zuwendet  —  solches  würde  Zukunftsvor- 
stellungen erzeugen  — ,  sondern  sich  dem  vorhandenen  Sinnesinhalt  zu- 
kehrt („aus  dem  Nochnichtda  der  Zukunft  wird  das  bewuTste  Nochda  der 


^)  Der  philosophische  Kriticismus,   II.  Bd.,   1.  Teil,   Leipzig  1879, 
S.  123  ff. 


V 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  289 

Gegenwart  dadurch,  dafs  die  Erwartung  auf  die  Gegenwart  gleichsam 
reflektiert  wird:  die  Gegenwart  dauert,  wenn  sie  die  Erwartung  der  Zu- 
kunft Lügen  straft",  S.  21).  Zu  bemerken  ist,  dafs  bei  Volkmann  das 
öftere  Hervortreten  unserer  Ungeduld  nicht  zur  eigentlichen  Beschaffung, 
sondern  blofs  zur  reihenhaften  Ausbreitung  der  Dauervorstellung  dient. 
Dies  scheint  sieh  aus  folgender,  freilich  wieder  etwas  zu  poetisch  geratener 
Schilderung  entnehmen  zu  lassen:  „Jeder  Versuch  des  [erwarteten]  B,  zu 
steigen,  stöfst  auf  das  festgehaltene  [gegenwärtige]  A  und  führt  zu  einer 
Hemmung  .  .  .  Jede  dieser  Hemmungen  schlägt  wie  eine  Welle  an  A  an 
und  markiert  sich  an  ihm,  A  bestätigt  sich  gegen  jeden  Angriff,  setzt 
sich  selbst  jedesmal  gleichsam  aufs  Neue,  zerlegt  sich  in  eine  Mehrheit 
und  dehnt  sich  in  eine  Reihe  aus,  denn  die  Erwartungen  tragen  die  Dauer, 
die  sie  abweist,  mit  sich  in  die  Succession  fort.  Durch  den  Andrang  der 
Zukunft  wird  die  Gegenwart  eine  Zeit  und  durch  den  gegliederten  Andrang 
eine  gegliederte,  gemessene  Zeit".  (Ib.)  —  Der  HBGBL'schen  ÄuXserung 
(§  258),  die  Dauer  sei  „das  Allgemeine  dieses  Jetzts  und  jenes  Jetzts" 
(d.  h.  ein  durch  Vergleichung  verschiedener  Momente  erhältliches  Ab- 
straktum),  liegt  die  geradezu  erstaunliche  Meinung  zu  Grunde,  die  augen- 
scheinliche Verwischung  (Undeutlichkeit)  der  Scheidelinien  am  Dauerhaften 
und  das  Verschwinden  der  individuellen  Unterschiede  vor  dem  Allgemeinen 
(jener  bei  Bildung  abstrakter  Begriffe  eintretende  Vorgang)  seien  durch 
die  nämliche  Ursache  bedingt. 

Der  rein  subjektive  Charakter,  wie  solcher  sich  für  das 
Prädikat  „Dauer"  aus  dessen  Entstehungsbedingungen  ergiebt — 
erscheint  sie  doch  als  blofse,  auf  Objektives  gemünzte  Unge- 
duld! — ,  wird  nicht  getrübt,  wenn  man  als  zweite  ürsprungs- 
quelle  dieses  Zeitprädikats  noch  eine  andere,  offenbar  ebenso 
naheliegende  Situation  zuläfst,  bei  der  wohl  jenes  „unange- 
nehme" A  fortfällt,  jedoch  als  Ersatz  ein  anderes  subjektives 
Element,  nämlich  Vergleichung,  ein  rein  willkürlicher  Ge- 
dankenprozefs,  vorwaltet.  Ich  denke  nämlich,  dafs  der  Anblick 
eines  Untergehenden  (AO  neben  Verbleibendem  derselben  Art 
(A)  recht  frühzeitig  zu  Vergleichungen  anzuregen  vermag, 
welche,  wenn  sie  zufälligerweise  gleichzeitig  Eingetretenes 
betrafen,  ganz  gut  zum  Ausgangspunkt  von  Dauerprädikaten 
für  A  und  A'  dienen  können.  Ist  nun  seit  Eintritt  des  A 
nicht  nur  jenes  mit  ihm  gleichzeitig  erschienene  A'  vergangen, 
sondern  auch  ein  das  A'  unmittelbar  ablösendes  A",  und  zwar 
letzteres  gleichzeitig  mit  dem  nun  ebenfalls  verschwindenden 
A,  so  bieten  sich  schon  naturgemäfs  zwei  Phasen,  eine  zwei- 
gliedrige Parallelreihe,  für  die  Beurteilung  der  Dauer  von  A^ 


290  Eugen  Posch: 

welch  letzteres  dem  Anfänger  nun  für  ebenso  „bleibens- 
bestrebt" ^)  gelten  wird,  wie  A'  und  A"  zusammen.  Dafs 
Kückerinnerung  (an  frühere  Phasen  des  A)  auch  bei  dieser 
Entstehungsart  eine  Rolle  spielt,  liegt  auf  der  Hand,  sowie 
dafs  auch  im  früheren  Falle  Vergleichung  vorkommt,  dort 
nämlich,  wo  das  Subjekt  die  gegenwärtige  Unzulänglichkeit 
seiner  sonst  zweckdienlichen  Kraftäufserungen  einzusehen 
bekam. 

Vergl.  ÜLWci  (§  31):  Die  Vorstellung  der  Dauer  bildet  sich  erst 
durch  Unterscheidung  eines  unmittelbaren  Nacheinander  von  einem  durch 
Zwischenglieder  vermittelten,  d.  h.  infolge  der  Bemerkung,  dafs  die  eine 
Erscheinung  unverändert  bestehen  bleibt,  während  andere  sich  ändern  oder 
vergehen. 

Wenn  jedoch  hieraus  geschlossen  wird,  die  Vorstellung  von  Dauer, 
eines  Andauernden,  sei  die  notwendige  Prämisse  zur  Möglichkeit  des 
Successionsbegriffes,  somit  „die  Vorstellung  der  Dauer  die  eigentliche  Zeit- 
vorstellung" (A.  EiBHL,  a.  a.  0.  S.  118),  so  waltet  hier  jene  auch  im  Texte 
gerügte  Verwechslung  eines  als  dauernd  Erfafsten  mit  einem  blofs  Seienden 
ob.  Nicht  das  ist  nötig,  dafs  mir  ein  unveränderliches  Sein  als  andauernd 
bewufst  sei  —  denn  da  ist  es  schon  zeitlich  gedacht  — ,  um  ein  mit  ihm 
verglichenes  Verschwinden  mir  als  solches  zum  Bewufstsein  zu  bringen, 
sondern  nur,  dafs  ich  an  A  ein  Sein  bemerke,  während  das  mit  ihm  ver- 
eint eingetretene  B  zu  Grunde  geht.  Dauer  hat  ebenso  ein  rein  qualita- 
tives, von  menschlichen  Zu thaten  unabhängiges  Grundelement,  wie  Succession; 
es  h«ifst  Sein,  so  wie  das  Grundphänomen  von  Succession  Verschwinden, 
Vernichtetwerden  heifst. 

Ich  betone,  dafs  der  Unterschied,  den  die  Versuchs- 
person an  den  Objekten  seiner  Vergleichung  notwendigerweise 
bemerken  mufs  —  da  bei  völligem  Fortfall  eines  solchen 
(d.  h.  wenn  alles  gleichzeitig  Eingetretene  stets  auch  gleich- 
zeitig verschwände)  eine  Vorstellung  von  Dauer  ebenso  wenig 
entstehen  könnte,  wie  eine  des  Eoten,  wenn  alles  rot  wäre  — , 
dafs  dieser  Unterschied,  sage  ich,  ein  rein  qualitatives  und 
nicht  zeitliches  Moment  betrifft,  insofern  vorderhand  nicht 
verschiedene  Länge  oder  Dauer  der  Darbietungen  kon- 
statiert wird,  sondern  nur  ein  Sein  (Bleiben,  bei  A)  und  ein 
Nichtbleiben  (bei  A'  und  A").    Es  wird  eben  das  unmittelbare 


')  Sit  venia  verbo!  Ich  bedurfte  hier  eines  Ausdrucks  zur  Schil- 
derung jener  Vorstellung,  welche  bei  einer  noch  nicht  zeitgewandten 
Intelligenz  unseren  zeitlichen  Begriff  des  „Andauern  "-s  vertritt. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  291 

Erträgnis  all  dieser  Beobachtungen  des  kindlichen  Zuschauers 
noch  immer  keine  im  heutigen  Sinne  verstandene  Dauervor- 
stellung sein,  sondern  es  werden  sich  vorläufig  nur  Prädikate, 
wie  „dennoch",  „hartnäckig",  „bleibensbestrebt"  etc.  ent- 
wickeln, wertvolle  Anknüpfungspunkte  für  jenen  Läuterungs- 
prozefs,  welcher  in  späteren  Jahren  mit  Herausbildung  einer 
rein  abstrakt  zeitlichen  Dauervorstellung  abschliefst,  da  die 
letztere  sich  u.  a.  auch  von  dem  sinnverwandten  Begriffe 
physischer  Dauerhaftigkeit  (Kohäsionskraft)  ablösen  mufs, 
von  welcher  sie  wegen  Abstammung  des  Wortes  duratio 
von  durus  bereits  Locke  (S.  206)  ableitete. 

Die  in  der  Sprache  selbst  enthaltenen  Fingerzeige  zur  Klarlegung 
jener  räumlich-konkreten  Vorstellungen,  wie  solche  jeglichem  Zeitbegriffe 
ursprünglich  anhaften,  führen  jedenfalls  sicherer  zum  Ziele,  als  selbstge- 
wahlte  Pfade,  wie  z.  B.  bei  Qütaü  (S.  74),  wo  zum  Nachweise  des  ur- 
sprünglich räumlichen  Charakters  aller  Dauervorstellung  der  Umstand 
herangezogen  wird,  dafs  wir  bei  „Dauer"  stets  an  ein  irgendwo  („dans 
tel  milieu")  Dauerndes  und  Geschehendes  zu  denken  pflegen. 

Die  Parallelreihen,  zufällig  erfafste  Miteindrucke  des  A 
und  von  ganz  ungleicher  Dauer,  stellen  Zeitmafse  dar  (wohl 
nur  deren  primitivste  Ansätze),  da  ihre  Glieder  zu  Eekon- 
struktion  eines  einheitlichen  Gröfseren  aus  diversem  Kleineren 
(zur  Gleichstellung  von  A  und  [A'+A"+A'"+ . . .  A^])  dienen, 
ein  Prozefs,  wie  solcher  jeder  Messung  zu  Grunde  liegt, 
für  welch  letztere  eine  Gleichheit  (Identität)  der  Mafseinheiten 
bekanntlich  kein  wesentliches  Erfordernis,  sondern  nur  ein 
Erleichterungsmittel  ist.  Auch  das  ist  gemessen,  dessen 
Länge  ich  nicht  anders  auszudrücken  vermag,  als  „es  ist  so 
lang,  wie  ein  Meter,  eine  Elle  und  ein  Fufs  zusammen". 

Dafs  der  Sinn  für  derlei  Mefsbethätigungen  sich  ziemlich 
ftiihzeitig  entwickeln  dürfte,  wird  zugeben,  wer  bedenkt,  dafs 
es  sich  hier  wesentlich  nur  um  ein  Bemerken  und  Herausheben 
jener  an  und  für  sich  schon  fesselnden  Fälle  handelt,  wo 
eines  (A)  sich  „gerade  so"  verhält  (nämlich  bleibt),  wie 
vieles  (A',  A"  etc.)  andere.  Entdeckte  Gleichheiten  an  Ver- 
schiedenem, bekanntlich  auch  der  Grund  des  Wohlgefallens 
am  Rhythmischen  und  Symmetrischen,  verursachen  bereits 
dem  Kinde  Freude. 


292  Eugen  Posch: 

Noch  sei  bemerkt,  dafs  das  Messen  nicht  als  accessorischer 
Prozefs  neben  dem  Begriffe  von  Dauer  aufzufassen  ist,  als 
was  er  sich  heutigen  Tages  nach  erfolgter  Ausbildung  des 
Dauerbegriffs  und  Feststellung  der  Mafsiaethoden  darstellt 
(die  Dauer  gilt  uns  heute  nur  als  mefsbar),  sondern  ein 
wesentlich  konstitutives  Element  dieses  Dauerbegriffs  selbst 
ist,  da  derselbe  niemals  ohne  jene  Begleit-  und  Mafsreihe 
würde  entstanden  sein. 

Das  BewuTstsein  des  innigen  Zusammenhanges  zwischen  Zeit  und 
Veränderung  einerseits  —  wie  solches  hereits  die  merkwürdige  Abktotblbs- 
sche  Stelle  „(pavsQÖv  oxi  ovx  ^arcv  avsv  xcvr^iJsojg  xal  fjistaßoXTJg  XQovoct*^ 
(cap.  11)  ausdrückt  —  und  die  Nichtbeachtung  jener  von  Hume  so  klar 
erblickten  Vermittlungsglieder  anderseits,  durch  welche  eine  Übertragung 
zeitlicher  Vorstellungen  auf  Unveränderliches  möglich  wird,  hatte  zur 
Folge,  dafs  die  Dauervorstellung  aus  der  Eeihe  der  zeitlichen  ausge- 
schlossen, beziehungsweise  die  Dauer  selbst  für  etwas  der  Zeit  (das  Dauer* 
hafte  dem  Zeitlichen)  Entgegengesetztes  hingestellt  wurde.  Die  Vertreter 
dieses  Gedankens  (welcher  bereits  in  dem  ahnungsvollen  platonischen 
Ausspruche  von  der  unzeitlichen  atSioq  ovala  [s.  o.]  anklingt  und  von 
DssCABTEs  verdiente  Küge  fand :  „wir  bemerken  fürwahr  in  der  Bewegung 
keine  andere  Dauer,  als  in  den  nicht  bewegten  Dingen  ..."  Pr.  I,  57), 
sind  dieNeuplatoniker,  wo  Ungeheuerlichkeiten,  wie  der  Aeon,  jene 
nicht-successive  Zeitspecialität  (richtiger  Seinsform)  für  Götter  und  Welt- 
seelen, und  eine  unschädlichere  Ausgabe  desselben,  nämlich  ein  hoxmq  oder 
TtQOfTog  XQ^'^^^  (Damascius  bei  Simpl.,  184 — 185)  für  irdisches  Beharr- 
liche, als  Mitteldinge  zwischen  Zeit  und  Ewigkeit  zu  Tage  traten.  (Das 
„kardcf'  übrigens  fand  bereits  innerhalb  der  Schule  —  in  Simplicius,  [184]  — 
einen  Bekämpfer.) 

Auch  Spinoza  scheidet  Dauer  und  Zeit  zu  scharf  voneinander,  wenn 
er  behauptet  (Ep.  XXIX),  erstere  dürfe,  im  Gegensatz  zu  letzterer,  nicht 
aus  Momenten,  ja  überhaupt  nicht  aus  Teilen  bestehend  gedacht  werden. 
(Siehe  besonders:  „idem  .  .  .  est  durationem  ex  momentis  componere,  quam 
numerum  ex  sola  nullitatum  additione".  Ib.  —  Es  läuft  hier  wohl  auch 
die  unten  erwähnte  Verwirrung  von  Dauer  und  Sein  mit  unter.)  Warum 
femer  diese  landläufige  Vorstellungsart  der  Dauer  alle  Erklärungsversuche, 
in  welcher  Weise  („qua  ratione")  einheitliche  Zeitintervalle  vergingen, 
vereiteln  sollte,  und  ihren  Anhänger  in  die  bekannte  zenonische  Verlegen- 
heit (Achilles  und  die  Schildkröte)  bringen  müTste,  wie  Spinoza  meint, 
ist  nicht  einzusehen.  —  Die  Scheidelinie  zwischen  „Dauern"  und  „Sein", 
die  den  Neuplatonikem  noch  so  wenig  bewufst  war,  indem  dort  als  Welt- 
substanz stets  ein  Dauerhaftes  und  nicht  ein  einfach  Seiendes  auftritt, 
scheint  auch  noch  bei  Descabtes,  Spinoza  und  Leibniz  nicht  klar  genug 
erfafst.  Ersterer  behauptet,  die  beiden  Prozesse  (sogar  Substanz  und 
Dauer)  seien  eigentlich  gleich,  weil  jede  Substanz,  wenn  sie  zu  dauern 
aufhört,  auch  zu  sein  aufhört"  (Pr.  I,  62).  Sie  würden  „nur  in  dem 
Denken"  voneinander  unterschieden.    Und  Leibniz  (erwähnt  bei  Bauhann» 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  ZeitYorstellung.  293 

II,  S.  91):  Dauer  und  Zeit  unterscheiden  sich  dadurch,  dafs  Dauer  ein 
objektives  Attribut  der  Dinge  ist  (sie!),  Zeit  hingegen  nur  bestimmt,  das- 
selbe zu  messen.  (Recte:  „Sein"  ist  ein  Prädikat,  entsprungen  aus  der 
rein  qualitativen  Thatsache  eines  Ergriffenseins  der  Sinne;  „Dauer"  hin- 
gegen ist  ein  Sein,  welchem  Abschnitte  hinzugedacht  sind.  Sohbllino 
drückt  dies  folgendermafsen  aus:  „die  abstrakte  Existenz,  die  unbeschadet 
des  Begriffs  als  grOfser  oder  kleiner  bestinmit  werden  kann,  heifst  Dauer" 
[Aph.  231],  wobei  jedoch  das  Wie  einer  solchen  Anwendung  von  Gröfsen- 
begriffen  auf  die  Existenz,  sowie  dessen  Möglichkeit  nicht  näher  erklärt 
wird.)  Dbscabtbs'  Definition:  Dauer  sei  ein  Prädikat  („Zustand"),  ver- 
mittelst dessen  wir  „die  Dauer  eines  Dinges  nur  als  den  Zustand  nehmei, 
unter  dem  wir  die  Sache,  sofern  sie  zu  sein  fortfährt,  vorstellen"  (Pr.  I, 
55):  dieser  Definition,  denke  ich,  gebricht's  bei  „fortfährt",  einem  Aus- 
drucke, der  den  objektiv  zu  Grunde  liegenden  Sachverhalt  bezeichnen  will, 
wobei  tibersehen  wurde,  dafs  der  Begriff  „fortfahren"  sich  nur  durch 
Scheidungslinien  und  Identifikation  mehrerer  geschieden  gedachter  Teile 
gewinnen  läfst,  folglich  bereits  zeitlicher  Natur  und  dem  Worte  „Dauer" 
sinnverwandt  sei.  Bei  Spinoza  findet  sich  wenigstens  neben  der  „indefi- 
nita  existendi  continuatio"  (Eth.  II,  def.  5  )  der  richtigere  Ausdruck:  „du- 
ratio,  hoc  est  existentia,  quatenus  .  .  .  tamquam  quaedam  quantitatis 
species  concipitur"  (ib.  prop.  45)  —  wie  es  denn  auch  ein  Verdienst  des 
berühmten  Pantheisten  ist,  den  Begriff  Existenz  von  seinen  im  Gemein- 
gebrauche entstandenen  Anlagerungsstoffen  gesäubert,  d.  h.  die  zeitlichen 
Nebenvorstellungen,  mit  denen  dieser  Begriff  im  Alltagsbewufstsein  schier 
unentwirrbar  verquickt  ist,  als  hinzugekommene  nachgewiesen  zu  haben 
(siehe  III,  prop.  6,  8,  IV.  praef.,  I.  def.  8). 

Der  HsGEL'sche  Ausspruch,  dafs  es  im  Falle  völliger  Bewegungs- 
losigkeit in  der  Aufsenwelt  und  in  unserem  Inneren  keine  Zeit,  sondern 
nur  Dauer  (recte:  nur  ein  Sein)  gäbe  (§  258),  bekandet  die  nämliche  Be- 
griffsverwechselung. (DOhbinob  [S.  69]  kritischer  Geist  hingegen  erkannte 
ganz  richtig,  dafs  in  einer  derartigen  Welt  „sich  .  . .  der  speciellere  Zeit- 
begriff in  die  allgemeinere  Idee  des  Seins  verwandeln  mtifste  .  .  .")  Eine 
ähnliche  Entgegensetzung  zwischen  der  „nicht  seienden"  Zeit  und  der  „ab- 
solut realen"  Dauer,  diesem  „beharrenden  und  im  Beharren  wandelnden  Sein, 
welches  an  seinen  unendlichen  Wandlungen  Zeit  und  Baum  selbst  ewig 
schafft  und  ausgebiert",  —  dieser  in  letzter  Analyse  plato-plotinische  Ge- 
danke findet  sich  auch  bei  dem  Anti-Eantianer  I.  H.  Fichte  (Beitr.  140 
bis  150).  —  Bemerkenswert  ist,  dafs  dieser  so  weit  in  die  Gegenwart  fort- 
gesponnene Irrtum  bereits  bei  Platos  grofsem  Antipoden  Abistotbles  ver- 
mieden ist,  insofern  sich  derselbe  sehr  klar  über  das  „in  der  Zeit  (sie!) 
begriffene  Ruhende"  ausspricht  und  auch  die  Möglichkeit  solcher  Vor- 
stellungsanwendung in  seiner  Art  („weil  Zeit,  als  blofse  Zahl  der  Be- 
wegung, selber  ja  gleichfalls  ruhend  sei",  cap.  12)  zu  erklären  unternimmt. 
Aus  dem  Altertum  bliebe  noch  Sextus  Empibicus  zu  erwähnen,  bei  dem 
sich  jedoch  nicht  mehr,  als  blofse  Ableugnung  aller  Dauer  vorfindet,  „da 
ihre  Grundbedingung,  die  Ruhe,  als  durch  gegensätzliche  Wirkungen 
erzeugt  (avvexsoS'ai  öoxel  vno  T(jv  tcsqI  avro,  Pyrrh.,  140)  selber  un- 
möglich, d.  h.  keine  eigentliche  Ruhe,  sondern  ein  Leiden  sei. 
VierteljahrsBclirift  f.  wissenscliaftl.  Philosophie.    XXni.  3.  20 


294  Eugen  Posch: 

Wie  wenig  ernst  es  Hebbabt  mit  seiner  Nichtigkeitserklärung  von 
Raum  und  Zeit  war  (s.  u.),  beweist  u.  a.  sein  Unternehmen,  objektive 
Dauer  konstruieren  zu  wollen  (IV,  §  287).  Dieselbe  soll  durch  „Multi- 
plikation" einer  intensiven  Gröfse  entstehen,  falls  nämlich  die  ferneren 
Grade  nicht  in  den  ursprünglich  vorhandenen  hineingesetzt  würden  (dies 
ergäbe  eine  hier  nicht  beabsichtigte  Steigerung  der  obwaltenden  Inten- 
sitätsgröfse),  sondern  bei  jeglicher  Neusetzung  der  bereits  vorhandene  Grad 
aufgehoben  würde.  (Der  schlichte  Haus  verstand,  der  da  meint,  es  könne 
somit  gar  nichts  übrig  bleiben,  wird  belehrt :  „die  Aufhebungen  oder  Ver- 
neinungen sollten  blofs  dazu  dienen,  die  Setzungen  gesondert  zu  halten, 
damit  sie  nicht  ineinander  fallen".  Es  dürften  daher  „nur  die  Setzungen 
gelten".)  Streicht  man  hier  den  gelehrt  klingenden  Auf  bausch  und  die 
absichtlichen  Verundeutlichungen,  so  bleibt  als  Kern  dieses  Philosophems 
eine  ganz  harmlose  Beschreibung  einer  (aber  auch  blofs  einer)  der  Arten, 
wie  „dauerhaft"  genannte  Eindrücke  zuwege  gebracht  werden  können: 
nämlich  durch  knappe  Aneinanderreihung  gleichartiger  kürzerer  Eindrücke, 
80  daTs  sich  die  Scheidelinien  verwischen.  (Ein  langgedehnter  Orgelton 
anderseits  entsteht  nicht  durch  schnell  folgendes  Angeben  kürzerer.)  Dafs 
die  Objektivität  jener  Kunstgriffe,  vermittelst  welcher  dauerhafte  Eindrücke 
(und  niemals  die  Dauer  selbst!)  erzeugt  werden  können,  für  die  Objekti- 
vität dieser  Dauer  selbst  gar  nichts  beweise,  indem  besagtes  Prädikat 
einfach  durch  menschliche  Auffassung  des  Erzeugnisses  entstanden  sein 
kann  (und  ist),  bedarf  wohl  nach  Bisherigem  keiner  weiteren  Versicherung. 
Die  EvFFEBTH'sche  ÄuTserung  (S.  20),  Dauer  wäre  eine  „Zeitfolge  gleicher 
Thätigkeiten"  desselben  Subjekts,  wo  unter  „Subjekt"  das  Ding  an  sich 
verstanden  wird,  ist  weiter  nichts,  als  die  HEBBABT^sche  Lehre,  verquickt 
mit  einer  an  solcher  Stelle  höchst  unpassenden  Anwendung  jener  KANT^schen 
Geistesausgeburt. 


VI.  Weiterausbildung  der  Zeitvorstellung. 

Bei  Inangriffnahme  der  hier  im  Titel  angedeuteten  Auf- 
gabe dürfen  wir  uns  deren  nur  ungenügende  Lösbarkeit  nicht 
verhehlen,  insofern  nämlich  die  Reihenfolge  der  Ent- 
wicklungsstufen, welche  der  menschliche  Verstand  von  den 
bisher  dargethanen  ersten  Keimen  eines  zeitlichen  Denkens 
bis  zur  heutigen  Ausbildung  desselben  durchwandeln  mufste, 
erst  nach  Einlauf  hinlänglicher  entwicklungsgeschichtlicher 
Beobachtungen  wird  festgestellt  werden  können.  Ferner  da 
es  bei  zeitpsychologischen,  sowie  bei  ähnlichen  Untersuchungen 
viel  leichter  ist,  sich  in  der  Phantasie  auf  den  Standpunkt 
des  noch  gänzlich  Unkundigen,  als  auf  den  des  halbwegs 
Eingeübten  zu  versetzen,   so  dürfte  selbst  die  genaue  Fest- 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  295 

legung  und  wahrheitsgetreue  Schilderung  besagter  Zwischen- 
stufen selber  kaum  gelingen.  Man  möge  deshalb  mit  einer 
Darstellung  vorlieb  nehmen,  die  sich  gestehen  mufs,  blofs 
heuristisch,  skizzenhaft  und  mutmafsungsvoU  zu  sein. 

Baümann  (II,  S.  662  ff.)  unterscheidet  drei  Entwicklungsstufen  an 
der  Zeitvorstellung:  1.)  die  Periode  einer  „psychologischen  Zeit",  entstanden 
durch  „Beziehung"  der  Vorstellungssuccession  „auf  die  Dauer  unseres  Ich", 
innerhalb  welcher  Zeitform  sich  bereits  die  Prädikate  von  Successivität, 
Unwiederbringlichkeit,  Linienähnlichkeit  und  Notwendigkeit  ergeben  sollen; 
2.)  die  „allgemeine  praktische"  Zeit,  welche  Form  durch  Verwendung  eines 
während  der  Beobachtung  gleichförmiger  (Himmels-)  Bewegungen  regu- 
lierten Gedankenlaufes  —  statt  des  unwillkürlichen  —  entstanden  ist. 
Auf  dieser  Stufe  sollen  die  Prädikate  von  Unendlichkeit,  unendlicher  Teil- 
barkeit, GleichmäTsigkeit,  Ubiquität  und  auch  der  Kealitätsglaube  sich 
entwickelt  haben.  3.)  Eine  astronomische  Zeit  (s.  die  Newtons  u.),  welche 
nichts  anderes  ist,  als  eine  durch  physikalische  Errungenschaften  erzielte 
Vervollkommnung  der  allgemeinen  praktischen.  —  Volkmann  sagt:  „Jede 
Zeitreihe  hat  ihren  bestimmten  Inhalt,  ihre  Länge  und  ihre  Beziehung 
auf  das  vorstellende  Subjekt.  Die  Weiterentwicklung  des  Zeitvorsteilens 
besteht  darin,  dafs  die  Zeitreihe  sich  von  diesen  Bestimmungen  successiv 
befreit.  Die  erste  Stufe  wird  dadurch  erreicht,  dafs  die  volle  Zeitreihe 
zur  leeren  .  .  .  wird".  Sodann  kommt  „die  Fortführung  dieser  letzteren 
über  alle  Grenzen  hinaus"  (Unendlichkeitsprädikat),  und  schliefslich  die 
Stufe  einer  „Zeit  an  sich",  einer  für  objektiv  geltenden  Zeit,  wo  „was 
unser  Geschöpf  ist,  unser  Beherrscher"  wurde  (S.  27 — 32).  —  Ich  glaube 
mich  meines  Beitritts  zu  einer  dieser  beiden  Aufstellungen  eben  deshalb 
enthalten  zu  müssen,  weil  sie  mir  beide  (und  gewifs  noch  viele  unter 
sich  mehr  verschiedene  andere,  die  sich  beibringen  liefsen)  gleich  wahr 
scheinlich  vorkommen.  So  unschwer  sich  Zusammenstellungen  von  beiläufig 
gleich  schwierigen  Kenntnissen  zu  einheitlichen  Bildungsstufen  und  auf- 
steigende Skalen  solcher  Stufen  selbst  anfertigen  lassen,  so  gewifs  sind 
dergleichen  Geistesprodukte  doch  nur  dann  von  Wert,  wenn  sie  den  that- 
sächlichen  Bildungsgang  der  Menschheit  wiederspiegeln,  wie  solcher  einzig 
und  allein  durch  geschichtliche  Forschung  ermittelt  werden  könnte. 

X.  Urteilsformen. 

a)  Da  das  Perfektum  (eigentlich  Intensivuin)  sich  als 
sprachlicher  Reflex  (also  quasi  Benennung)  jenes  Uber- 
raschungs-  oder  Mangelgefiihls  darstellt,  welches  infolge  Ent- 
ziehung resp.  Abwesenheit  des  Eindrucks  bei  Vorhandensein 
seines  Andenkens  entstehen  mufste,  so  läfst  sich  mit  ziemlicher 
Wahrscheinlichkeit  behaupten,  dafs  Perfektivurteile  auch  für 
den  Sprechenden  ursprünglich  präsentialen  Charakter  hatten 
(vergl.  S.  63 — 64  dies.  Zeitschr.),  wenigstens  noch  ohne  Hin- 

20* 


296  Eugen  Posch: 

zudenken  des  typischen  Begriffs  einer  Vergangenheit,  als 
das  entschwundene  Ereignis  enthaltend,  verstanden  wurden. 
Diese  Stufe  dürfte  nun  infolge  starker  Hinlenkung  der  Auf- 
merksamkeit auf  jenes  Erinnerungsbild,  besonders  bei  lebhaft 
betonten  und  jüngst  vergangenen  Darbietungen,  bald  über- 
wunden worden  sein  und  sich  eine  Deutungsart  besagter  Ur- 
teile herausgebildet  haben,  wonach  das  perfektive  Zeitwort 
nichts  anderes,  als  die  normative  Benennung  des  vergangenen 
Eindruckes  selber  sei.  Dem  die  fertige  Sprache  Erlernenden 
gilt  auch  wirklich  der  Ausdruck  „schwamm"  z.  B.  als  fest- 
gesetzte Benennung  eines  verschwundenen  Schwimmens,  so 
wie  „schwimmt"  für  die  eines  vorhandenen,  und  es  gewinnt 
selbst  für  den  Psychologen  leicht  den  Anschein,  als  sei  die 
Präsentialform  eine  für  die  empfundene  und  die  perfektivische 
eine  für  die  blofs  gedachte  Handlung ersonnene Bezeichnung — 
eine  Meinung,  die  sich  angesichts  der  Unmöglichkeit,  ein  blofses 
Andenken  zu  benamsen,  von  selbst  widerlegt.  Die  starre 
Anheftung  der  Aufmerksamkeit  an  den  rein  qualitativen  Inhalt 
des  (und  besonders  des  wertvollen)  Andenkens  dürfte  dann 
sehr  bald,  neben  der  festwurzelnden  Überzeugung  vom  Fort- 
bestehen dieses  Vergangenen,  gewisse  Grübeleien  über  die 
Art  und  Weise  eines  solchen  eigentümlichen  Seins  und  als 
deren  Ergebnis  die  naturwüchsige  Erklärung  veranlafst  haben: 
„was  besteht  und  unsichtbar  ist,  hat  sich  nur  verborgen"  — 
eine  Idee,  der  sichtlich  die  Überzeugung  zu  Grunde  liegt, 
alles  sinnlich  Eindrucksfähige  sei  räumlicher  Natur,  und  ein 
Raum  als  Aufiiahmsstelle  für  das  Entschwundene  auch  hinter 
unserer  Sinnesfläche  vorhanden. 

Herbabt  (VI,  S.  143)  behauptet,  „die  Negation  in  dem  Begriffe  des 
Aufhörens"  könne,  so  lange  die  Zeitvorstellung  blofse  Anschauung  bleibt 
und  noch  nicht  zum  Begriffe  gediehen  ist,  nicht  zum  BewuXstsein  gelangen, 
darum,  weil  sich  blofse  Negationen,  wie  das  Nichtsein,  niemals  anschauen, 
sondern  nur  denken  liefsen.  So  wahrscheinlich  die  hierin  ausgedrückte 
Hypothese  von  einem  stets  für  naivere  Stufen  des  Zeitvorstellens  charak- 
teristischen Eealitätsglauben  in  Bezug  auf  das  Vergangene  auch  sein  mag 
und  so  gut  diese  Ansicht  zu  unserer  obigen  Darstellung  paTst,  so  können 
wir  doch  anderseits  in  dem  Umstände,  dafs  das  Zeitvorstellen  vor  der  be- 
grifflichen eine  anschauliche  Stufe  durchzumachen  hat,  noch  gar  keinen 
Bechtstitel   für   die  HERBAHi'sche  Aufstellung   erblicken,   indem  nämlich 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  297 

auch  auf  jener  primitiven  Stufe  doch  niemals  ein  wirkliches  Zeit  anschauen 
!  stattfindet  und  das   Wort   „Anschauung"    hier   ehen   nur   eine   ziemlich 

schlecht   gewählte   Bezeichnung   für   eine   der   exakteren  yorhergängige 
Bildungsstufe   ist.      Nur  wenn  je   wirkliches   Zeitanschauen   stattfände, 
könnte  man  sagen,  dafs  alles  Nichtanschauliche  an  ihr  so  lange  unhewufst 
I  bleiben  müsse,  als  dieser  Zustand  anhält. 

I  Dafs  die  Folgerungsweise   „das  Seiende  sei  stets  im  Baume"  auch 

I  bei  Gegenwartsurteilen  Anlafs  zur  Bethätigung  findet,   und  hier  um  so 

mehr,  als  prädikatives  Geschehen,  selbst  wenn  abstrakter  Natur,  dennoch 
die  Vorstellung  eines  dasselbe  umfassenden  realen  Baumteiles  mit  sich 
führt  (desjenigen  nämlich,  mit  welchem  es  durch  sein  Subjekt  oder  sonst 
irgendwie  verknüpft  ist'):  all  dies  ist  eine  richtige  Beobachtung  Guyaus 
(S.  39 — 40,  70 — 75),  aus  welcher  sich  ihm  ergab,  dafs  der  Vergangenheits- 
ramn  nichts  als  ein  hinter  uns  befindlich  gedachter  Gegenwartsraum 
(der  reale)  sei.  Das  Vergehende  würde  also  quasi  seinen  ihm  schon  in 
der  Gegenwart  anhaftenden  Baum  in  die  Vergangenheit  mit  sich  fortnehmen. 
(„Le  temps  pass6  est  un  fragment  de  l'espace  transportö  en  nous",  S.  39.) 

Das  Prädikat  von  ünwiederbringlichkeit,  augenfällig  aus 
diesem  Glauben  an  eine  räumlich  beschaffene  Vergangenheit 
hervorgegangen,  bringt  für  den  Subjektivisten  nichts  anderes, 
als  den  Umstand  zum  Ausdruck  und  zwar  in  naiv  volkstüm- 
licher Fassung,  dafs  Erinnerungen  unverlöschbar  sind.  Denn 
dies  ist  der  einzige  Grund,  warum  ein  dem  A  in  jeder  Hin- 
sicht ähnliches  zweites  Ereignis  (AO  als  zweites  gelten  mufs ; 
m.  a.  W.,  dafs  sich  nichts  Gethane  ungeschehen  machen  läfst. 

Wem  nämlich  die  Vergangenheit  ein  hinter  unserer 
Sinnesfläche  befindlicher  geheimnisvoller  Raum  und  das  Ver- 
gangene ein  Seiendes  ist,  der  thut  ganz  recht,  wenn  er  den 
Umstand,  welcher  der  Unwiederbringlichkeits-Hypothese  zum 
Ausgangspunkt  diente  (dafs  nämUch  bei  noch  so  peinHch  ge- 
nauer Wiedergabe  [=  A']  einer  vergangenen  Handlung  [=  A] 
sich  die  letztgenannte  nicht  ungeschehen  machen  läfst),  in  der 
Weise  schildert:  „was  einmal  in  den  Vergangenheitsraum 
hineingeraten  ist,   läfst  sich  nicht  mehr  hervorholen";   denn 


^)  Selbst  aus  lauter  Abstraktis  aufgebauten  Sätzen  (z.  B.  „diese 
Schlulsfolgerung  ist  unrichtig")  gesellt  sich  die  Vorstellung  eines  Wo 
hinzu:  desjenigen  Baumes  nämlich,  welcher  mir  Gelegenheit  zu  dem  be- 
treffenden Satze  geboten  hat  und  folglich  als  „die  konstatierte  Thatsache 
enthaltend"  kann  angesehen  werden.  Es  ist  dies  für  unser  Beispiel 
derjenige  Baum,  wo  (=s  in  oder  an  welchem)  ich  jene  „unrichtige  Schlufs- 
folgerung"  las  oder  hörte.    Dieselbe  ist  mir  dort,  wo  ich  sie  bemerkte. 


298  Eugen  Posch: 

wenn  ihm  eine  derartige  Entleerung  dieses  Raumes  gelänge, 
wäre  sein  Bestreben,  A'  als  erste  und  einzige  Handlung  an- 
erkannt zu  sehen,  erreicht.  Ist  hingegen  Vergangenheit 
nichts  als  ein  Gedankenprodukt,  ein  Abstraktum,  und  das 
Vergangene  blofs  ein  durch  unser  Erinnerungsvermögen  er- 
zieltes, gänzlich  wesenloses  Gedankenbild,  so  mufs  für  den 
soeben  erwähnten  „Umstand"  jene  andere  Erklärungsart  her- 
beigezogen werden:  „Erinnerungen  sind  nicht  verlöschbar"; 
denn  nur,  wenn  sie  es  wären,  d.  h.  wenn  niemandem  in  der 
Welt  eine  Erinnerung  an  A  bliebe  (ähnlich  Guyau,  S.  119), 
auch  sich  der  Mangel  einer  solchen  (etwa  angesichts  gewisser, 
in  der  Gegenwart  nachweisbarer  Konsequenzen  und  Anzeichen 
eines  gewesenen  A)  nicht  als  blofser  Zufall  resp.  Verhinderung 
darstellte,  würde  und  miifste  A'  als  erste  Handlung  gelten 
(„les  deux  actes  .  .  .  se  fondront  dans  le  meme  tout"    sagt 

GUTAU). 

Zu  bemerken,  dafs  dieses  volkstümliche  Zeitphilosophem 
auch  deshalb  besondere  Beachtung  verdient,  weil  eine  hin- 
länglich grelle  Herausschattierung  der  eben  in  ihm  so  reich- 
lich enthaltenen  Überreste  einer  lebhaft  bildlichen  An- 
schauungsweise uns  den  hauptsächlichsten  Behelf  liefert  für 
Festlegung  einer  Zwischenstufe  des  Zeitvorsteilens,  welche 
zwischen  der  keimhaften  ersten  und  der  weiter  unten  zu 
schildernden  heutigen  in  der  Mitte  lag. 

Mit  der  Ausbildung  des  erinnerungsweise  Festgehaltenen 
zu  dem  eines  Vergangenen  geht  dann  die  sprachliche  Los- 
lösung der  Perfektivform  vom  Intensivum  Hand  in  Hand, 
welcher  Vorgang,  besonders  wo  er  bis  zu  Festsetzung  unter- 
schiedlicher Wortgestalten  für  beide  Verbalformen  vorge- 
schritten ist,  den  Ursprung  des  Perfektausdrucks  gänzlich 
vergessen  macht.  Dem  Sprechenden  bedeutet  das  Urteil  Typus 
„A  fuit  B"  nun  nicht  mehr:  „zu  A  gehört  ein  Prädikat  B, 
ähnlich  denen  von  intensiver  Art",  sondern  „zu  A  gehört  ein 
Prädikat  B  und  zwar  ein  verborgen,  im  Hintergrunde  exi- 
stierendes". Auch  in  den  Umschreibungen  mit  haben  (im 
Germanischen  und  Sanskrit)  mufs  nun  letzteres  Verbum  seine 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  299 

ursprüngliche  Bedeutung  einbüfsen,  zum  blofsen  Hilfszeitwort 
herabsinken  und  sich  der  metaphorische  Charakter  solcher 
Perfektsausdrücke  verlöschen. 

Der  Bopp-PoTT'schen  Ansicht  (§  515,  vergl.  oben  S.  63 
bis  64)  —  wonach  das  Intensivum  schon  ursprünglich  als 
Vertreter  eines  gesteigerten  Seins  gegolten  habe  und  zum 
Perfektum  nur  infolge  Ähnlichkeit  des  Vergangenen  mit  der- 
artigem Sein  geworden  wäre  —  möge  an  dieser  Stelle  ent- 
gegengehalten werden,  dafs  der  Begriif  eines  gesteigerten 
Seins  für  „ursprünglich"  jedenfalls  zu  kunstgerecht  erscheint, 
und  es  viel  natürlicher  ist,  den  thatsächlichen  Unterschied 
zwischen  vergangener  und  gegenwärtiger  Handlung  (das 
Mangelgefühl)  als  ersten  Vorwurf  bei  Benennung  des  Ver- 
gangenen anzunehmen,  um  so  mehr,  als  jenes  metaphysisch 
geartete  Seinsprädikat  nur  durch  Weiterverfolgung  des  eben 
durch  das  Mangelgeflihl  angeregten,  d.  h.  in  die  Richtung 
abstrakter  Gedankenbildungen  hingelenkten  Denkens  zustande 
kommen  konnte. 

Die  geschilderte  Fortschrittsstufe  ist  noch  nicht  die  letzte. 
Der  Gebildete,  der  sich  heute,  eines  Vergangenheitsurteils  be- 
dient, denkt  gewifs  keine  Wohnräume  für  das  „vergangen" 
erklärte  Ereignis  hinzu  und  macht  sich  überhaupt  keine  Skrupel 
über  dessen  Wosein,  sondern  will  seinen  Ausspruch  einfach 
in  dem  Sinne  aufgefafst  wissen,  das  Behauptete  gehöre  in  den 
Bereich  der  Wahrheit,  sei  Mitglied  des  Weltlaufs  und  nicht 
blofse  Phantasie.  Man  bedenke,  was  betont  sein  will,  wenn 
es  heifst:  „Es  war  soeben  mein  Freund  N.  hier".  — 

b)  Betreffs  der  Zukunftsurteile  mufs  bemerkt  werden, 
dafs  bei  ihnen  jene  Ursache  eines  Eaumhinzudenkens,  welche 
bei  den  Urteilen  über  Vergangenes  vorlag  (nämlich  das  Be- 
streben nach  Erklärung  des  betreffenden  objektiven  Hergangs, 
=  Verschwinden),  nicht  besteht,  da  Zukunftsurteilen  kein  ob- 
jektives Geschehen  zu  Grunde  liegt,  sondern  sie  blofse  Mög- 
lichkeiten ausdrücken.  Den  individuellen  Neigungen  bleibt 
also  hier  betreffs  der  Hinzudichtungen  freier  Spielraum,  und 
sie  dürften  nur  durch  den  Umstand  einige  Zügelung  erfahren 


300  Eugen  Posch: 

und  zur  Annahme  des  reellen,  statt  eineis  eingebildeten  Aus- 
gangsraumes für  das  Zukünftige  hingelenkt  werden,  daüs  letz- 
teres thatsächlich  von  gewissen  reellen  Raumteilen  ausgeht, 
sich  irgendwie  und  -wo  in  solchen  vorbereitet  oder  mit  ihnen 
zusammenhängt;  weshalb  ein  Hinzudenken  dieser  Räumlich- 
keiten statt  eines  geheimnisvollen  Aufbewahrungsortes, 
„Schofses"  der  Zukunft,  empfehlenswerter  erscheint.  Jeden- 
falls bleibt  die  schon  oben  erwähnte  Regel  auch  hier  bestehen, 
dafs  die  Ausmalung  des  blofs  Vorgestellten  als  eines  Räum- 
lichen und  Körperlichen  mit  lebhafter,  detaillierter  Yergegen- 
wärtigung  desselben  Hand  in  Hand  geht,  »und  da  dies  bei 
Erinnerüchem  ganz  natürUch,  bei  Erwartetem  jedoch  nur  in 
aufi-egungsvoUen  Seelenlagen  der  Fall  ist,  so  sieht  man,  wie 
wenig  Anlafs  übrig  bleibt,  Raumvorstellungen  an  zukünftige 
Ereignisse  zu  knüpfen. 

Die  Verblassung  der  Hilfszeitwörter,  die  so  weit  vor- 
schritt, dafs  in  Fällen,  wo  dieselben  in  voller  ursprünglicher 
Bedeutung  genommen  werden  sollen,  andere  Redewendungen 
nötig  wurden,^)  diese  Verblassung,  sage  ich,  gilt  wie  oben 
als  Anzeichen  vorgeschrittener  Entwicklung  der  betreffenden 
Urteilsform  und  deren  zu  Grunde  liegender  Apperceptions- 
prozesse. 

*)  Z.  B.  je  parlerai  bedeutet  eigentlich  „ich  habe  zu  («soll) 
sprechen",  heute  jedoch  so  ausschliefslich  „ich  werde  sprechen",  dafs, 
wenn  ersterer  Sinn  beabsichtigt  wird,  es  heifsen  mufs:  j'ai  ä  parier. 

c)  Das  Gegenwartsurteil,  bekanntlich  das  älteste  von 
allen,  ist  heute  nach  erfolgter  Ausbildung  der  andern  beiden 
Urteilsformen  auch  nicht  mehr  jener  unmittelbare  Sprachreflex 
interessanter  Darbietungen,  der  es  war,  sondern  Sache  der 
Auswahl  (wohl  einer  längst  eingeübten),  da  nunmehr  die 
Möglichkeit  einer  irrtümlichen  Anwendung  zweier  anderer 
Urteile  vorliegt,  wenn  auch  nicht  die  Wahrscheinlichkeit 
einer  solchen  Verwechslung  (wegen  errungener  Sprachgewandt- 
heit und  des  grofsen  Unterschieds  zwischen  Empfundenem 
und  Vorgestelltem). 

Der  Unterschied  zwischen  der  Geftihlsbetonung  des  blofsen  Vor- 
stellens  und  des  wirklichen  Empfindens  scheint  mir  zu  deutlich,   als  dafs 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  301 

ich  mit  Waitz  (S.  590)  die  Verwertung  dieses  Kriteriums  bei  Auswahl 
eines  der  drei  Zeitprädikate  für  den  Lernenden  zu  schwierig  halten  sollte 
und  zugäbe,  der  Gegenwartsbegriff  bedürfe  zu  seiner  Festsetzung  der 
Dauervorstellung. 

Charakteristisch  in  ihrer  Unrichtigkeit  ist  die  laienhafte 
Antwort  auf  die  wohl  als  komisch  empfundene  Frage;  „warum 
man  Gegenwärtiges  nicht  vergangen  nennt?"  nämlich:  „ich 
sehe  ja,  dafs  es  ist  und  nicht  war"  —  ein  Umstand,  der 
sich  doch  gewifs  nicht  sehen  läfst! 

Bei  aller  „Auswahl"  bleibt  jedoch  das  zeitliche  Gepräge 
des  Gegenwartsurteils  auch  heute  noch  ein  geringes,  eben 
weü  dieses  Urteil  naturgemäfs  bei  interessanten  Erscheinungen 
Platz  findet,  aUwo  das  Hineinversenken  in  den  qualitativen 
Teil  des  Dargebotenen  die  Mitvorstellung  eines  Jetzt  oder 
gar  der  Dauer  nicht  recht  aufkommen  läfst. 

Mit  dem  Umstände,  dafs  ein  geistiges  Vertieftsein  dem  Auftauchen 
zeitlicher  Vorstellungen  ungünstig  ist,  hängt  wohl  auch  jene  yon  Locke 
(S.  189)  bemerkte  und  für  seine  Theorie  ausgebeutete  Thatsache  zusammen, 
dafs  in  Vertiefung,  d.  h.  mit  Festhalten  einer  Vorstellung  verbrachte 
Zeitabschnitte  uns  gemeiniglich  kürzer  vorkommen,  als  sie  sind.  Das- 
selbe findet  sich  auch  bei  Herbart  (VI,  S.  14ö — 146),  Eyfferth  (S.  81) 
u.  a.  erwähnt  und  je  nach  ihrer  Zeittheorie  verschiedenartig  erklärt. 
Waitz'  Beanspruchung  des  Langweilegefühls  für  die  Erzeugung  von  Zeit- 
vorstellungen läfst  einen  ähnlichen  Gedanken  erkennen. 

Vergangenes  fesselt  im  allgemeinen  weniger,  ist  also  der 
Annahme  zeitlicher  Prädikate  günstiger,    als  die  Gegenwart. 

Dafs  übrigens  auch  reproduzierte  Vorstellungsreihen  ihren  zeitlichen 
Charakter,  wenigstens  den  Anschein  ihrer  Successivität  einzubüfsen  ver- 
mögen, belegte  Volkmann  mit  dem  Beispiele  der  „römischen  Könige^ 
(S.  16),  bei  deren  memorierter  Keihenfolge  die  einzelnen  Glieder  nicht  durch 
die  entsprechenden  Zeitintervalle  gesondert  vorgestellt  werden.  (Dies  hat 
wohl  seinen  Grund  an  den  mangelhaften  Schulbüchern,  die  dem  Schüler 
ihre  eigene  Skizzenhaftigkeit,  d.  h.  dafs  es  in  den  geschilderten  Zeiträumen 
noch  viel  mehr  Ereignisse  gab,  nicht  gehörig  zum  Bewufstsein  bringen.) 
Spinoza  erklärt  sich  diesen  Umstand  ganz  richtig  aus  unserer  Unfähigkeit, 
Intervallengröfsen  über  ein  gewisses  Mafs  hinaus  zu  erfassen.  („ —  tem- 
poris  distantiam  non  nisi  usque  ad  certum  quendam  limitem  possumus 
diatincte  imaginari :  hoc  est . . .  objecta,  quorum  existendi  tempus  longiore 
a  praesenti  intervallo  abesse  imaginamur,  quam  quod  distincte  imaginari 
solemus,  omnia  aeque  longo  a  praesenti  dlstare  imaginamur  et  ad  unum 
quasi  temporis  momentum  referimus."  —  Eth.  IV,  def.  6.) 

Die  Ursache  der  gewifs  schon  mehrerseits  bemerkten 
Thatsache,  dafs  man  weniger  geneigt  ist,  Gegenwartsnrteilen 


302  Eugen  Posch: 

das  Wort  und  die  Vorstellung  „Jetzt"  miteinzuverflechten, 
als  Vergangenheitsurteile  mit  „einst",  „damals"  etc.  zu  be- 
gleiten, mag  unter  anderem  auch  in  dem  liegen,  dafs  die 
punkthafte  Gegenwart  im  Verß:leiclie  zur  linienähnliclien  Ver- 
gangenheit eine  nähere  Bezeichnung  des  Wann  der  behaup- 
teten Handlung  überflüssig  erscheinen  läXst.  Die  Ansicht, 
man  begleite  alle  seine  Vorstellungen  mit  der  der  Zeit,  ist 
mehrerseits  mit  Recht  bestritten  worden,  und  beruht  auf  einer 
Verwechslung  mit  dem  Umstände,  dafs  alle  Vorstellungen  in 
der  Zeit  sind,  wenigstens  als  solche  gelten  müssen.  Nur  die 
Fähigkeit,  Zeit  überall  hinzuzudenken,  kann  dem  Gebildeten 
nicht  abgestritten  werden,  läfst  ihn  jedoch  in  Fällen  der  Auf- 
regung und  Vertiefung  oft  genug  im  Stich. 

Auf  den  FortfaU  aUes  ZeitbewuTstseins  im  Schlafe  und  wenn  man 
„keine  Acht  hat  auf  die  seine  Seele  durchziehenden  Vorstellungen"  (Locke, 
S.  Ib9)  hat  bereits  Aristoteles  (IV,  cap.  11)  hingewiesen.  Dafs  gewisse 
Dinge  nicht  zeitlich  vorgestellt  werden,  findet  sich  bei  ihm  in  der 
Fassung,  dieselben  „seien  nicht  in  der  Zeit"  (cap.  12).  Solche  wären 
diejenigen,  welchen  „weder  Bewegung  noch  Ruhe  zukommt"  (man  bedenke, 
dafs  bei  ihm  XQ(>^<>?i  ^^^  xivr^osufg  ti  nad-oq  rj  h'^ig  aQi^fioq  ys  uv  (cap.  14) 
nur  auf  Bewegbares,  d.  h.  auf  alles  Eäumliche  geht),  also  erstens  gewisse 
abstrakte  Prinzipien,  sogen,  ewige  Wahrheiten,  wie  solche  als  „sub  specie 
aeternitatis"  (SimpL,  184:  „im  Aeon  befindlich")  aufzufassend,  auch 
Spinoza  (Eth.  II,  prop.  44)  unter  das  Zeitlose  rechnete,  Damasciüs  hin- 
gegen, als  nayxQovia  [=«*  ewig  -«s  durch  alle  Zeiten  hindurch  bestehend], 
folglich  noXvxQovitläxaxa  (in  der  allermeisten  Zeit  seiend),  jedenfalls  für 
eyxQova  (SimpL,  ib.)  anerkannt  wissen  wollte.  Zweitens  sei  unzeitlich 
laut  Aristoteles  dasjenige,  „dessen  Gegenteil  immer  ist"  (cap.  12),  näm- 
lich das  Absurde,  „z.  B.  eine  Quadratdiagonale  («  V^)»  die  mit  der 
Seite  (=  1)  dieses  Quadrats  commensurabel  wäre".  Die  Begründung  des 
Stagiriten  („Ewiges  wie  Absurdes  seien  deshalb  aufser  der  Zeit,  weil  selbe 
die  ersteren  nicht  zu  umfassen  vermöge")  klingt  doch  wenigstens  ernst- 
hafter, so  schwächlich  sie  ist,  als  die  Phantasmagorien  Heoels,  wonach 
die  Aufserzeitlichkeit  des  „frei  für  sich  existierenden  abstrakten  Begriffs 
Ich  «s  Ich"  von  seiner  „absoluten  Negativität  und  Freiheit",  d.  h.  von  seiner 
Anpassung  an  die  ebenfalls  „negative"  Natur  aller  Zeit  herrühren  soll, 
welch  letztere  dem  Begriffe  deshalb  nichts  anhaben  (nicht  seine  „Macht" 
werden,  ihn  nicht  vergehen  lassen)  könne  (§  258).  —  Taines  Kollektiv- 
bezeichnung für  alles  unzeitlich  Gedachte:  nämlich  „Produkte  unserer 
Phantasie"  (S.  57)  begreift  auch  die  von  Aristoteles  erwähnten  Gebiete 
in  sich  (jedes  wissenschaftliche  Grundprinzip  ist  ein  —  rechtfertigungs- 
fähiges —  Phantasieprodukt)  und  ist  obendrein  erschöpfender.  —  Eine 
gegenteilige  Ansicht  scheint  in  J.  H.  Fichte  ihren  Vertreter  gefunden  zu 
haben,   indem  er  im  Anschlufs  an  Kants  unaufhebbare  Zeit  (s.  w.  u.)  be- 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  303 

hauptete,  „ein  raumzeitliches  und  zugleich  bewufstes  Wesen  könne  gar 
nicht  umhin,  auch  das  Bild  seiner  Baumzeitlichkeit  stetig  vor  sich  zu 
haben ;  diese  Bilder  seien  unserem  Bewulstsein  unauflöslich  und  unwider- 
stehlich angeheftet"  (Psych.,  152)  —  eine  Äufserung,  die  gleichzeitig 
gegen  die  zeitgenetischen  Theorien  gerichtet  sein  will. 

2.  Der  Begriff  des  Nacheinander. 

Nacheinander  erlangte  Eindrücke  speichern  sich  in  dem 
imaginären  Vergangenheitsranme  nicht  einfach  auf,  sondern 
werden   in    ihm    geordnet    als   Nacheinander    vorgestellt. 

Behufs  Erklärung  der  Entstehungsart  dieser  Vorstellung 
mufs  man  von  der  einfachsten  Sachlage  ausgehen,  bezw.  die 
möglichst  leichteste  ürteilsform  auswählen,  in  die  das  erwähnte 
Zeitprädikat  eingeht.  Als  solche  bietet  sich  der  Ausspruch 
dar:  „A  war  vor  B",  oder:  „B  ist  nach  A",  wo  B  als  gegen- 
wärtig gelten  möge,  —  ein  Umstand,  der  psychologisch  aus- 
gedrückt lautet:  „der  Zuschauer  empßlngt  die  Empfindung  B 
und  erinnert  sich  hierbei  an  eine  vergangene  Empfindung  A". 
Es  ist  dies,  wie  ersichtlich,  genau  die  nämliche  Situation, 
aus  welcher  auf  früherem  Bildungsgrade  das  einfache  Ver- 
gangenheitsurteil „es  war  ein  A"  entsprungen  ist,  und  welche 
nun  von  der  höher  entwickelten  Versuchsperson  einem  anderen 
Menschen  mitgeteilt  werden  soll.  Dafs  unser  Gewährsmann, 
eine  Person  von  jedenfalls  noch  sehr  primitivem  Bildungsgrad, 
sich  hierbei  der  einzig  exakten  Darstellungsweise  für  die  mit- 
zuteilende Sachlage,  nämlich  der  psychologischen  Beschreibung 
(„stelle  Dir  vor,  ich  besitze  A  nur  als  Andenken,  B  hingegen 
als  Empfindung"),  nicht  bedient,  und  anderseits,  dafs  er  die 
rein  räumliche  Vorstellung  eines  vor  und  nach  (=nahe)^) 
seiner  Erzählung  de  facto  einverflicht,  kann  niemanden  be- 
fremden ;  ersteres,  weil  unserem  Versuchsmedium  eine  psycho- 
logische Betrachtungsart  doch  gewifs  noch  ferne  liegt,  und 
auch  das  zweite  nicht,  weil  ein  Hang  zu  räumlicher  Auffassung 
des  Vergangenen  —  soviel  wenigstens  —  bei  ihm  schon  früher 
beansprucht  wurde. 

^)  Dafs  das  vor  und  nach  ursprünglich  räumliche  Prädikate  sind, 
liest  man  bereits  bei  Aristoteles  (to  öh  örj  tiqoxsqov  xal  vaxsQov  iv  xotico 
nQ:öxbv  iaxiv,  IV,  cap.  11),  und  dafs  sie  aufser  der  räumlichen  und  zeit- 


304  Engten  Posch: 

liehen  nieht  noeh  eine  dritte  Bedeutung  („connexum  tempori")  haben,  be- 
tonte Plotin  („aut  enim  prius  posteriusque  secundum  locum  quis  accipit  aut 
certe  non  locale,  .  .  .  sed  temporale  accipiendum*',  cap.  8),  welch'  letzterer 
anderseits  das  „prius  posteriusque  habere"  für  etwas  Höheres  zu  halten 
scheint,  als  das  ,,in  tempore  yersari",  indem  er  ersteres  dem  „motus 
intelligibilis'*  zuerkennt,  letzteres  hingegen  abstreitet  (cap.  12). 

Das  Vorkommen  des  gegenwärtigen  B  im  Ausspruche 
„A  war  vor  B"  und  Nichtvorkommen  desselben  in  dem  ein- 
fachen Vergangenheitsurteil  „A  war"  kann  zur  Erläuterung 
jenes  vor  dienen  und  widerlegt  gleichzeitig  die  nahe  liegende 
Deutungsart,  dieses  Umstandswort  sei  dort,  oder  in  elliptischen 
Ausdrücken,  wie  vordem,  vormals,  vorher,  im  Sinne  eines 
vor  mir,  vor  meinen  Augen  zu  verstehen,  als  bedeute 
beispielsweise  der  Satz  „vorher  war  A"  etwa  „vor  Augen 
hatte  ich  A"  —  ein  Sinn,  der  den  zu  schildernden  Sachverhalt 
immerhin  recht  gut  wiedergeben  würde.  Auch  werden  dann 
leicht  eventuelle  Bedenklichkeiten  behoben,  wie  das  Ver- 
gangene (A),  sonst  nachweislich  „hinter  mir  seiend"  vorge- 
stellt, nun  auf  einmal  „vorne  befindlich"  (=  vor)  gedacht 
werden  könne.  Die  Worte  „war  vor  B"  beweisen  nämlich 
ganz  deutlich,  dafs  die  Ortsbestimmung  des  A,  um  die  sich's 
im  besprochenen  Ausdrucke  handelt,  von  dem  Punkte  B,  dem 
Gegenwartsinhalt,  ausgehe,  welcher  bei  obigem  „vorher"  nur 
weggelassen  ist,  und  die  Perfektivform  „war"  (nicht  „ist") 
zeigt  speciell,  dafs  nicht  der  gegenwärtige  Aufenthaltsort  dieser 
Erinnerungsvorstellung  A,  sondern  der  Ort  der  ent- 
sprechenden Empfindung  A  angegeben  werden  wollte.  Aus 
all  dem  läfst  sich  entnehmen,  dafs  den  eingangs  fixierten 
beiden  Aussprüchen  die  phantastische  Vorstellung  einer  Lauf- 
bahn zu  Grunde  liegt,  auf  welcher  die  Eindrücke,  quasi  be- 
wegliche Körper,  räumlich  hintereinander  geordnet  an  unsere 
Sinnesfläche  herangefahren  kämen,  um  in  den  hinter  derselben 
angenommenen  Vergangenheitsraum  zu  gelangen.  Alle  ver- 
tünchten Nebengedanken  recht  grell  herausschattiert,  ^ird 
speciell  das  erste  Urteil  („A  war  vor  B")  lauten:  „A  befindet 
sich  jetzt  an  der  Stelle,  die  sich  für  selbes  natürlicherweise 
ergiebt,  wenn  ihr  bedenkt,  dafs  es  auf  der  Einlaufsbahn  mit 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  ZeitToretellung.  305 

einem  Vorspninge  vor  dem  B  dahertrieb".  Da  es  vor  B  war, 
so  ist  es  jetzt  bereits  am  Zielpunkte,  im  Hinterraum.  —  Es 
ist  dies  eine  Leseart,  die  erstlich  dem  Umstände  Rechnung 
tragen  will,  dafs  jenes  vor  (ein  rein  räumliches  Verhältnis- 
wort) nur  durch  metaphorische  Deutung  zu  zeitlichem  Sinne 
gelangt  sei,  und  anderseits  den  Zweck  des  fraglichen  Aus- 
spruchs vor  Augen  behält,  bestehend  darin,  den  rein  psychischen 
Sachverhalt  gleichzeitig  erfolgter  Apperception  von  Empfindung 
und  Erinnerungsbild  mitzuteilen. 

Nun  liegt  wohl  klar  am  Tage,  dafs  die  hierzu  erwählte 
Ausdrucksweise,  ebenso  wie  die  andere:  „B  befinde  sich  nahe 
bei  (=  nach)  A"  ein  wenn  auch  scharfsinniger,  doch  gänzlich 
niifslungener  Nachbildungsversuch  des  obwaltenden  Sachver- 
haltes ist.  Der  Sprecher  mag  räumliche  Ordnungen  drehen 
und  wenden,  wie  er  will,  sie  werden  sich  doch  niemals  zu 
zeitlichen  Verhältnissen  umwandeln,  und  niemals  wird  sich 
durch  Schilderung  äufserer  Verhältnisse  ein  seelischer  Zustand 
wiedergeben  lassen,  dessen  Bild  sich  im  gegenwärtigen  Falle 
bei  dem  Angesprochenen  ja  auch  nur  dadurch  wiedererzeugt, 
dafs  er  die  Thatsache  seines  Zusehens  bei  einem  solchen 
I  Wettlaufe  mit  hinzudenkt. 

Tainbs  Erklärungsweise  (S.  53,  233)  des  „rejet  en  arriere"  mit  ilirem 
stark  physikalischen  Zuschnitt,  wonach  die  fragliche  „r^pulsion*'  (ein  „total 
de  r^pulsions'^,  also  quasi  Eräfteresultante)  aus  dem  Gegensatze  („con 
tradiction")  zwischen  Sinneseindruck  und  Erinnerungsbild  hervorgegangen 
wäre  —  einem  Gegensatze,  der  am  Berührungspunkt  des  Vergangenen 
mit  der  Gegenwart  am  geringsten  und  an  den  anderen  beiden  Endpunkten 
am  gröfsten  sei  —  diese  nicht  einmal  gehörig  durchgeführte  Darstellung, 
bei  welcher  wohl  nur  die  Richtungswahl  für  die  Verlegung  des  Erinnerungs- 
bildes (wann  „vor"  und  wann  „nach"  gesagt  wird)  das  Haupterklänmgs- 
ziel  gebildet  hat,  verrät  deutlich,  dafs  der  Verfasser  die  zeitliche  Bedeutung 
der  Worte  vor  und  nach  nicht  als  eine  blofse  metaphorische  Verwendungs- 
weise dieser  Worte  ansah.  Ähnliches,  nämlich  die  vergangenen  Eindrücke 
wirklich  irgendwo,  in  gewissen  Lagen  zueinander  befindlich  vorgestellt 
zu  haben,  läfst  sich  auch  aus  Spencers  Definition  („eine  bestimmte  Zeit  ist 
nichts  anderes,  als  eine  Lagebeziehung  zwischen  zwei  bestimmten  Zuständen 
in  der  Beihe  der  Bewufstseinszustände",  femer :  „Zeit  im  allgemeinen  . . . 
ist  das  Abstraktum  aus  allen  Beziehungen  der  Lage  zwischen  aufeinander 
folgenden  Bewufstseinszuständen",  §  337)  entnehmen,  und  liegt  klar  am 
Tage  bei  seinem  Landsmann  Locke,  der  „den  Abstand  (sie!)  zwischen  . .  . 
der  Erscheinung  zweier  Vorstellungen  in  der  Seele  „Dauer"  nennt  (S.  188). 


306  Eugen  Posch: 

Wir  wollen  nun  auch  B  entschwunden  sein  lassen,  d.  h. 
an  die  Frage  herantreten,  aufweiche  Weise  der  Mensch  zwei 
vergangene  Eindrücke  in  die  Ordnung  eines  Nacheinander 
einzustellen  erlernt  —  eine  Errungenschaft,  deren  selbstver- 
ständlichste Vorbedingung  sein  wird:  fähig  zu  sein,  das  Ver- 
gangene als  ein  vor,  vor  dem,  d.  h.  vermittelst  des  oben- 
erwähnten Bahn-Phantasmas  vorzustellen.  Ein  naheliegender 
(u.  a.  von  Eyffebth,  S.  14,  acceptierter)  Lösungsvorschlag 
wäre  folgender:  Dafs  A  vor  dem  B  war,  weifs  ich  dadurch, 
dafs  ich  mich  nicht  nur  an  die  zwei  Eindrücke  selbst,  sondern 
auch  an  den  Nebenumstand  erinnere,  B  in  dem  Seelenzustande 
eines  Kückerinnems  an  A  empfangen  zu  haben.  M.  a.  W.: 
Man  erlernt  zwei  nacheinander  erhaltene  vergangene  Eindrücke 
als  solche  vorzustellen,  indem  man  sich  der  Art  und  Weise 
ihrer  Erfassung  durch  uns  selbst  erinnert,  und  nennt  dann 
immer  denjenigen  Eindruck  den  späteren,  bei  dessen  Ankunft 
man  den  anderen  nur  als  Erinnerungsbild  weifs  gehabt  zu 
haben.  —  Hierauf  sei  erwidert:  Das  Erinnern  an  stattgehabtes 
Erinnern,  wie  es  hier  beansprucht  wird,  ist  ein  viel  zu 
schwieriger  Gedankenprozefs  für  das  junge  Kind,  welches  doch 
auch  schon  fähig  ist,  die  Keihenfolge  zweier  Eindrücke  richtig 
wiederzugeben.  Anderseits  freilich  ist  dieser  Gedankenprozefs 
bedeutend  erleichtert,  wenn  das  Zurückdenken  an  A  in  einem 
Vergangenheitsurteil  („A  war  vor  B")  bei  Eintritt  und  in 
Gegenwart  des  B  ausgesprochen  wurde,  da  hiermit  der 
nachherigen  Rückerinnerung  statt  eines  ungreifbaren  Seelen- 
zustandes  ein  reeller  Gehörseindruck  als  Gegenstand  darge- 
boten wäre.  Die  gesuchte  Einordnung  der  vergangenen  Ein- 
drücke A  und  B  entstünde  nun  sozusagen  von  selber,  da  man 
nur  vorauszusetzen  braucht,  die  Versuchsperson  behalte  ihr 
Urteil  „A  war  vor  diesem  B"  noch  aufrecht  nach  Verschwinden 
des  B,  was  nur  natürlich  ist,  da  dieses  Verschwinden  der 
Wahrheit  jenes  Urteils  keinen  Abbruch  thun  kann. 

Eine  zweite  Erklärungsart  lautet:  Die  Klarheitsgrade 
unserer  Erinnerungsbilder  richten  sich  nach  deren  Alter,  d.  h. 
ergeben  eine  Reihe,   welche  mit  dem  geringsten  Grade,  dem 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  307 

des  Mhest  erworbenen,  also  zeitlich  ältesten  Erinnerungsbildes 
anhebt  und  dem  höchsten  Ausmafse  von  Klarheit  —  der 
Jüngstvergangenheit  —  endigt.  Man  braucht  also  blof s  die 
betreffenden  Klarheitsgrade  miteinander  zu  vergleichen,  wenn 
man  um  die  Reihenfolge  zweier  vergangener  Vorstellungen, 
M  und  N,  befragt  wird.  —  Dieser  Ansicht  (aus  HEBBAET'schen 
Angaben  [VI,  S.  124]  zusammengestellt)  ^)  läfst  sich  vor  allem 
die  Bemerkung  Spinozas  (s.  o.)  entgegenhalten,  dafs  über  einen 
gewissen  Punkt  hinaus  alle  Erinnerungsbilder,  die  unserer 
frühesten  Kindheit  und  vollends  das  nicht  Erlebte,  z.  B.  die 
römischen  Könige  (s.  o.),  gleich  dunkel  erscheinen;  die  an- 
gebliche Gradabstufung  sich  somit  nur  auf  ein  gewisses,  be- 
züglich seiner  Ausdehnung  nicht  näher  bestimmbares,  jeden- 
falls aber  neueres  Vorstellungsgebiet  beschränkt.  Sodann 
ist  nicht  zu  übersehen,  dafs  die  Klarheitsunterschiede  unserer 
Vorstellungen  keineswegs  blofs  durch  deren  Alter,  sondern 
auch  durch  die  Auflnerksamkeit  bedingt  ist,  mit  der  sie  seiner- 
zeit (als  Empfindungsdata)  erfafst  wurden,  —  so  zwar,  dafs 
ihre  ursprüngliche  Klarheitsabstufung  durch  diesen  zweiten 
Faktor  ins  gerade  Gegenteil  kann  verkehrt  werden.  Es  müfste 
deshalb  die  verlangte  Einstellung  in  das  zeitliche  Nacheinander 
stets  falsch  ausfallen,  sobald  sichs  um  die  einer  uninteressanten 
neueren  Vorstellung  (B)  nebst  einer  interessanten  älteren  (A) 
handelt,  —  eine  Verirrung,  die  als  stabil  doch  nirgends  nach- 
gewiesen ist.  Hierzu  kommt  noch,  dafs  durch  die  erwähnte 
„Vergleichung"  (ein  wegen  qualitativer  Verschiedenartigkeit 
der  betreffenden  Vorstellungen  A  und  B  an  und  für  sich  schon 
sehr  prekäres  Unternehmen)  das  ursprüngliche  Klarheitsver- 
hältnis der  fraglichen  Erinnerungsbilder  erheblich  gestört  würde, 
da  während  dieses  Denkaktes  stets  die  jeweilig  im  Blickpunkte 
des  Bewufstseins  verweilende  der  zwei  Vorstellungen  klarer 
erscheinen  müfste. 


^)  Vorgebildet  bereits  bei  Spinoza:  „imago  rei  futurae  vel  praeter- 
itae . . .  caeteris  paribus  debilior  est  imagine  rei  praeseutis"  (Eth.  IV,  prop.  9). 
Auch  heilst  es  hier,  es  wäre  Jüngstvergangenes  und  Nächstzukünftiges  darum 
interessanter,  als  Entfernteres,  weil  dieselben  eben  der  Gegenwart  ähnlicher 
seien  („aliquid  imaginamur,  quodrei  praesentiam  minus  secludit",  IV,  prop.  10). 


308  Eugen  Posch: 

Tadoes  Behauptung,  die  n-te  Vorstellung  würde,  wenn  sie  uns  in 
Begleitung  der  (n  —  l)-ten  und  der  (n-t-l}-ten  im  Gedanken  auftaucht, 
deshalb  zwischen  die  beiden  letzteren  verlegt,  weil  sie  durch  dengröfseren 
Druck  („eile  est  refoul6e  par^  .  .  .,  S.  233)  der  (n  +  l)-ten  an  deren  An- 
fangspunkt und  durch  die  geringere  Strebung  der  (n  —  l)-ten  an  deren 
Endpunkt  geheftet  würde  —  diese  Erklärung  ist  eine  ziemlich  oberfläch- 
liche Anwendungsart  der  bereits  entsprechend  diskreditierten  vorstellungs- 
mecbanischen  Theorie  Hesbarts. 

Hbsbabts  eigene  Ansicht,  die  Vorstellung  des  Zwischen  (Lehrb., 
75,  des  Mittleren,  VI,  S.  262),  wie  solche  bei  jeglichem  der  vier 
(nicht  zwei,  wie  Kant!)  parallelen  Eontinua:  Raum,  Zeit,  Zahl  und  Grad 
in  Anwendung  kommt,  könne  an  jedem  derselben  infolge  der  abgestuften 
Ordnung,  in  welcher  die  Reihenelemente  der  betreffenden  Kontinua  er- 
scheinen, selbständig  entstanden  sein  (d.  h.  dieses  Zwischen  sei  bei  den 
letzteren  drei  Eontinua  nicht  blofs  raum-metaphorischer  Natur) :  diese  An- 
sicht ist  jedenfalls  etwas  bedenklich,  da  das  fragliche  Dazwischensein  nur 
bei  der  Raumform  von  anschaulicher  Natur  ist,  bei  den  anderen  Reihen 
hingegen  abstrakt  gedanklicher  Art  (bestehend  in  „dem  Umstände",  dals 
das  Element  [n  +  2]  von  n  aus  nur  durch  [n  -{- 1]  erreichbar  sei),  so  dafs 
es  sehr  unwahrscheinlich  klingt,  es  hätte  den  sprachbildenden  Menschengeist 
ein  so  luftig  unfafsbarer  „Umstand'^  je  mit  solcher  Lebhaftigkeit  ergreifen 
können,  als  zur  Erschaffung  von  Benennungen  nötig  ist.  Diese  Hebbabt- 
sche  Meinung  hängt  übrigens  innigst  mit  seiner  Zeit-Linientheorie  (s.  u.) 
zusammen. 

Eine  dritte,  u.  a.  von  Leibniz  (bei  Baümann,  ü,  S.  93) 
befürwortete  Ansicht  wäre  die,  welche  unser  Bewufstsein  von 
kausaler  Zusammengehörigkeit  der  vorliegenden  zwei  Vor- 
stellungen für  ihre  Einordnung  in  das  Nacheinander  zu  ver- 
werten suchte  („vor  nennt  man,  was  als  Ursache,  nach,  was 
als  Wirkung  sich  darstellt")  —  welche  Behauptung  sich  auf 
die  thatsächlich  vorhandene,  wenn  auch  unhaltbare  Meinung 
stützt,  dafs  die  Ursache  ihrer  Wirkung  stets  vorhergehe, 
d.  h.  dafs  eine  „Ursache  ohne  Wirkung"  (Heebaht,  IV,  §  299) 
auch  nur  einen  Augenblick  lang  möglich  sei. 

Kant  läfst  im  Gegenteil  die  ZeityorsteUung  die  Lehrmeisterin  fOr 
das  Verhältnis  von  Kausalität  sein  („nonnisi  temporis  respectu  opitulante, 
quid  sit  prius,  quidnam  posterius,  sive  causatum,  edoceri  mens  potest", 
M.  P.,  S.  107). 

Diese  Erklärungsweise  erhält  eine  schätzenswerte  Unter- 
stützung an  der  Thatsache,  dafs  die  richtige  Einordnung  bei 
Daten,  die  sich  als  kausal  zusammenhängend  erkennen  lassen, 
leichter  gelingt,  als  bei  unzusammenhängenden.  (Die  Reihen- 
folge weltgeschichtlicher  Begebenheiten  prägt  sich  dem  Ge- 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeityorstellung.  309 

dächtnisse  eher  ein,  als  die  gesehener  Nebelbilder  im  Pano- 
rama.) Bei  Annahme  dieser  Ansicht  müfste  man  jedoch  die 
gänzlich  unwahrscheinliche  Behauptung  wagen,  dafs  die  rich- 
tige Einfliguug  zweier  Erinnerungsbilder  -nicht  eher,  als  nach 
Erkenntnis  der  kausalen  Zusammengehörigkeit  der  entsprechen- 
den Empfindungsdata,  sowie  nach  Aneignung  der  oben  ge- 
rügten Kausälitätstheorie  erfolgen  könne,  —  eine  Erkenntnis, 
die,  beiläufig  bemerkt,  wieder  auf  gar  keine  andere  Weise, 
als  durch  öftere  Erfahrung  des  betreflfenden  Nacheinander- 
Auftretens  konnte  erlangt  werden.  (Bekanntes  HuME'sches 
Prinzip,  prägnant  bei  Volkmann:  „Jede  Kausalreihe  war  ur- 
sprünglich Zeitreihe,  jede  Zeitreihe  kann  Kausalreihe  werden". 
S.  32.)  Der  naheliegende  Vorwurf  eines  Zirkels  („wie  könne 
der  Begriff  von  Kausalität  einen  Lehrbehelf  für  das  Nach- 
einander abgeben,  wenn  er  selber  nur  aus  dem  Nacheinander 
gebildet  wurde?")  ist  ungerechtfertigt,  da  die  zwei  BegriflFe 
Kausalität  und  Nacheinander  sich  in  späteren  Lebensjahren 
voneinander  straff  abscheiden,  indem  der  Ursprung  des  ersteren 
gänzlich  in  Vergessenheit  gerät,  weshalb  die  Möglichkeit,  aus 
erkannter'  Kausalität  irgendwo  auf  das  Nacheinander  zu 
schliefsen,  nicht  bestritten  werden  darf. 

Dafs  die  Auswahl  der  Prädikate  „vergangen"  und  „gegenwärtig" 
für  irgend  eine  Erscheinung  (sinnverwandt  mit  den  Worten  vor  und  nach) 
nicht  durch  Veranschlagung  der  Rangstufe  dieser  Erscheinung  in  der 
Kausalreihe  (ob  sie  Ursache  oder  Wirkung  ist?)  sich  vollziehe,  sondern 
diese  Auswahl  sich  lediglich  nach  Mafsgabe  der  Wirkungsweise  dieser 
Erscheinung  auf  unser  Erfassungsvermögen  (ob  gefühlt  oder  blofs  vorge- 
stellt wird?)  entscheide,  hat  u.  a.  Lotzb  (150 — 151)  treffend  nachge- 
wiesen. —  Die  Verwandtschaft  von  Eausalitäts-  und  Zeitvorstellung,  sowie 
jene  üngleichzeitigkeit  von  Ursache  und  Wirkung  liegt  in  der  Schopen- 
HAUBE'schen  Stelle  (III,  S.  167  u,  a.)  ausgesprochen:  Zeit  sei  „das  einfache, 
hur  das  Wesentliche  enthaltende  Schema  . .  .  des  Satzes  vom  zureichenden 
Grunde",  —  d.  h.  von  der  Kausalreihe  nur  durch  Mangel  aller  Erzeugungs- 
kraft zwischen  ihren  Gliedern  verschieden.  Viel  zutreffender  ist  die 
WüKDT'sche  Vergleichung:  „Die  Zeitanschauung  erfafst  die  Regelmäfsigkeit 
des  Geschehens  von  ihrer  Aufsenseite,  indem  sie  die  Gegenstände  unseres 
Erkennens  in  einer  bestimmten  Ordnung  aufzeigt  .  .  .  Der  Substanz-  und 
der  Kausalbegriff  wollen  beide  aus  dem  inneren  Wesen  der  Dinge  die 
nämliche  Regelmäfsigkeit  des  Geschehens  begreiflich  machen".  (Log.  I, 
S.  437.) 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.   XXin.  3.  21 


310  Eugen  Posch: 

Bei  GuYAu  (S.  36)  findet  sich  die  durch  seine  zeitgenetische  Grund- 
anschauung (s.  0.)  nahegelegte  Ahart  der  ohigen  (dritten)  Eausalitäts- 
hypothese,  dafs  für  Bestimmung  der  Beihenfolge  vergangener  Handlungen 
der  Umstand  mafsgehend  sei,  oh  sie  sich  als  Zweck  oder  als  Mittel  dar- 
stellen. Was  Mittel  ist»  müsse  stets  früher  stattgefunden  haben,  als  wozu 
es  das  Mittel  ist,  —  ein  Sachverhalt,  welcher  sich  als  innere  Logik 
der  Thatsachen  hinstellen  lasse  und,  wenn  richtig  erfaTst,  den  besten 
Leitfaden  zu  jener  angestrebten  Einordnung  abgebe.  (,.11  y  a  dans  la  vie 
une  certaine  logique,  et  c'est  cette  logique  qui  pennet  le  souvenir.") 
Die  anthropomorphistische  Urgestalt  des  Begriffspaares  Ursache  und 
Wirkung  (Ursache  =  anfangs  nur  „la  force  musculaire",  Wirkung  =  r^^ui- 
tention",  S.  33)  und  die  Thatsache,  dafs  die  Erkenntnis  von  dessen  inner- 
stem Wesen,  als  einer  blofsen  „gewohnten"  Succession,  späteren  wissen- 
schaftlichen Analysen  entstammt  (S.  34),  enthält  allerdings  gute  Wider- 
legungsgründe wider  die  mehr  oder  weniger  nativistisch  gefärbten  Be- 
anspruchungen des  Zeitbegriffs  als  fundamentalster  („constitutif")  Vor- 
stellung, —  berechtigt  jedoch  keineswegs  zu  der  umgekehrten  Behauptung 
des  französischen  Verfassers,  wonach  nämlich  die  Zeitvorstellung  geradezu 
aus  jenem  anthropomorphistisch  gefafsten  Kausalitätsgedanken  hervor- 
gegangen wäre.  Nur  soviel  ist  durch  seine  verdienstlichen  Klarlegungen 
erwiesen,  als  wir  im  Texte  betonten,  dafs  nämlich  die  Kausalitätsvorstellung 
von  der  der  Zeit  thatsächlich  strenge  genug  geschieden  ist,  um  sie  vor- 
wurfsfrei als  Leitfaden  für  zeitliche  Einordnungen  in  Beschlag  nehmen 
zu  dürfen.  —  Auch  findet  sich  in  seiner  mehr  geistreich  essayhaften,  als 
wissenschaftlich  systematischen  Darstellung  das  Lokalisationsproblem,  wie 
solches  uns  hier  beschäftigt,  von  dem  allgemeineren  einer  Zeitvorstellungs- 
genese nicht  streng  genug  geschieden,  und  in  einem  Atem  nebst  den 
eigentlichen  Lokalisationshilfen  noch  ein  paar  Erfordernisse  erwähnt 
(nämlich  gehörige  Ähnlichkeit  und  Verschiedenartigkeit  der  Eindrücke, 
ferner  deren  Anschlufs  an  irgendwelche  objektive  Kaumteile),  die  unter  den 
„conditions  de  la  memoire  et  de  Pid^e  du  temps"  (S.  47)  immerhin  ihre 
richtige  Stelle  dürften  gefunden  haben,  für  das  eigentliche  Lokalisations- 
problem jedoch  entschieden  unerheblich  sind. 

Als  Endergebnis  all  dieser  Erwägungen  wollen  wir  den 
Satz  hinstellen:  wo  sich  mehrere  Wege  zur  Erlangung  einer 
Kenntnis  eröffiien,  wie  hier,  läfst  der  menschliche  Verstand 
höchst  wahrscheinlich  keinen  unbenutzt.  Demgemäfs  müssen 
wir  die  Ansprüche  auf  Ausschliefslichkeit,  wie  sie  obigen  Er- 
klärungsvorschlägen zu  Grunde  lagen,  zurückweisen.  Für  jede 
der  erwähnten  drei  Methoden  lassen  sich  Fälle  anfuhren,  wo 
sie  unanwendbar  wird,  weshalb  der  Lernende  in  solchen  mit 
Erfolg  zu  einer  der  beiden  anderen  greifen  mag.  Augen- 
scheinlich dürfte  übrigens  der  erste  der  drei  Lokalisations- 
behelfe    (mit   der  angeführten  Modifikation)    auf  weitestem 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  311 

Gebiete  brauchbar  sein,  weshalb  ich  für  wahrscheinlich  halte, 
dafs  die  meisten  unserer  Einordnungen  ins  Nacheinander  in 
der  Weise  entstanden  sind,  dafs  B,  solange  es  noch  Empfindung, 
d.  h.  gegenwärtig  war,  mit  dem  Prädikate  „Nach  A"  belegt 
wurde,  welches  ihm  dann  auch  als  Vorstellung,  d.  h.  nachdem 
es  zur  Vergangenheit  wurde,  belassen  blieb.  Noch  mag  nach- 
holend erwähnt  werden,  dafs  auch  die  Vorstellung  von  Gleich- 
zeitigkeit dem  Lernenden  hier  zu  statten  kommt,  in  Fällen 
nämlich,  wo  er  das  Nacheinander  der  Data  A  und  B  aus  dem 
ihm  schon  geläufigen  Nacheinander  A  und  C  vermittelst  der 
gleichfalls  bewufsten  Gleichzeitigkeit  zwischen  B  und  C  er- 
schliefst. Z.  B. :  Angenommen,  ich  habe  die  Reihenfolge  zweier 
deutscher  Reichstage  zur  Zeit  der  Reformation  vergessen, 
wisse  jedoch,  dafs  auf  dem,  wo  die  Augsburgische  Konfession 
tiberreicht  wurde  (=  B  =  1530,  den  24.  Juni),  Lutheb  als 
Geächteter  abwesend  war  (=  C),  so  ergiebt  sich  mir,  dafs 
ein  Reichstag,  wo  die  Achterklärung  erfolgte  (der  von 
Worms  =  A  =  1621,  den  26.  Mai),  früher  mufs  stattgefunden 
haben.  —  Die  Thatsache,  dafs  Erwachsene  auch  die  Reihen- 
folge längst  erlebter  unzusammenhängender  Eindrücke,  z.  B. 
Nebelbilder,  richtig  anzugeben  wissen  —  ein  Problem,  welches 
augenscheinlich  aufserhalb  des  Anwendungsgebietes  der  drei 
erwähnten  Methoden  liegt  — ,  beweist  noch  nicht  für  die 
Mangelhaftigkeit  unserer  Anfuhrungen.  Denn  die  (erste) 
Lösung  der  erwähnten  Aufgabe  erfordert  bekanntlich  einiges 
Nachsinnen,  und  es  fragt  sich  nur,  was  derjenige  eigentlich 
denke,  der  über  die  Frage  dahinbrütet  und  im  Buche  seiner 
Erinnerungen  blättert.  Es  läfst  sich  kaum  was  anderes  ant- 
worten, als:  er  sucht  kausale  Zusammenhänge  auf,  die  ihn 
vermittelst  erinnerlicher  Gleichzeitigkeiten  (begleitende  Neben- 
umstände der  Schaustellung)  zum  Ziele  fuhren  mögen, 

Unsere  „NebeDumstände"  sind  wesentlich  nichts  anderes,  als  die 
GuTAU  (S.  66 — 67)  -RiBOT'schen  „points  de  repöre",  worunter  ein  bezüg- 
lich seines  Abstandes  von  der  Gegenwart  bekanntes  „6venement"  oder 
„6tat  de  conscience"  zu  verstehen  ist,  welch  beide  für  Lokalisation 
eines  mit  ihnen  verknüpften  anderweitigen  Ereignisses  zum  Ausgangs- 
punkt dienen.  Laut  Güyau  eignen  sich  zu  diesem  Behufe  nur  räumliche 
Bilder. 

21* 


312  Eugen  Posch: 

Meiner  Ansicht  nach  ist  das  Nacheinander  ein  rein 
psychologisches  nnd  kein  metaphysisches  Problem,  da  sich 
nämlich  über  die  Thatsache,  dafs  die  Darbietungen  des  Welt- 
laufs einander  ablösen,  gar  nicht  weiter  philosophieren  (vergl. 
Spencee,  §  374:  „das  Verhältnis  der  Folge  .  .  .  übersteigt 
jede  Analyse"),  ja  sich  diesbezüglich  nicht  einmal  eine  in 
Philosophie  einschlägige  Frage  erfinden  läfst  (warum  und 
wann  gegebene  Komplexionen  zunichte  werden,  geht  bekannt- 
lich die  Physik  an).  Wohl  aber  kann  gefragt  und  auch  zu- 
friedenstellend beantwortet  werden,  in  welcher  Weise  der 
menschliche  Verstand  zur  Vorstellung  eines  Nacheinander 
gelange,  —  ein  zum  mindesten  ebenso  erheblicher  Punkt,  wie 
jene  Einteilung  der  „Folgen",  die  Spencer  (ib.)  als  hier 
einzig  mögliche  Geistesarbeit  zulassen  wollte  und  versuchte. 
Das  Wesen  des  fraglichen  Problems  ist  gelöst,  wenn  die  Ent- 
stehung eines  zweigliedrigen  Nacheinanders  beleuchtet  wurde,  da 
das  mehrgliedrige  einfach  durch  erfolgte  Hinzufügungen  bei  Fort- 
setzung der  bereits  begonnenen  VorsteUungsweise  erklärlich  ist. 

Anläufe,  die  unbestimmte  Dunkelheit  des  Nacheinander, 
wie  sie  dem  zu  konkreter  Fragestellung  noch  nicht  gelangten 
Laien  vorschwebt,  durch  metaphysische  Erörterungen  zu  be- 
heben, an  denen  es  in  der  Philosophie  niemals  gefehlt  hat, 
erachte  ich  auch,  abgesehen  von  der  Hinfälligkeit  der  hierbei 
zu  Tage  geförderten  Eesultate  (nichtssagende  Ausdrücke, 
wie  „Zeit  ist  eine  Ordnung,  Form,  etwas  sui  generis"  etc.), 
für  ein  verfehltes  Unternehmen. 

3.  Die  VervoUkommnung  der  Zeitmessung. 

Der  Bildungstrieb,  den  der  Mensch  bei  der  Vervoll- 
kommnung einiger  Zeitkategorien  bethätigt  hatte,  bleibt  gewifs 
auch  gegenüber  anderen  Bestandstücken  dieses  Vorstellungs- 
komplexes nicht  müfsig,  weshalb  wir  einen  so  ziemlich  gleich- 
mäfsig  in  allen  Teilen  weiterschreitenden  Ausbildungsgang 
der  Zeitvorstellung  als  wahrscheinlich  annehmen,  von  dem  der 
Messungsprozefs  natürlich  nicht  ausgeschlossen  bleiben  konnte. 

Zu  besserem  Verständnis  der  nachfolgenden  Schilderungen 
und  zur  Kennzeichnung  des  Standpunktes,  von  welchen^  aus 


\ 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  313 

wir  das  Zeitmessen  betrachten,  sei  hier  folgendes  erwähnt: 
Zeitmessung  ist  Arbeit,  zu  der  sich  der  Mensch  aus  wirk- 
sameren Bestimmungsgründen  dürfte  entschlossen  haben,  als 
beispielsweise  die  Aussicht  wäre,  hierdurch  ein  an  und  für 
sich  ja  höchst  uninteressantes  Wie  viel?  der  verflossenen 
Momente  zu  erkunden.  Und  die  Frage,  was  den  naiven 
Menschen  bestimmen  konnte,  die  Zeit  zu  messen,  erscheint 
um  so  schwieriger,  als  der  natürlichste  Zweck  aller  Eaum- 
messungen  —  für  bevorstehende  Arbeitsleistungen  dessen 
Gröfse  zu  ermitteln  —  hierher  nicht  pafst,  da  nur  ein  bereits 
unverwertbarer  Teil  der  Zeit,  die  Vergangenheit,  gemessen 
werden  kann.  Wer  meint,  es  wäre  der  gesuchte  Bestimmungs- 
grund in  dem  unserer  alltäglichen  Erkundigungen  nach  der 
Uhr  (wie  viel  Uhr  es  ist?)  enthalten,  folglich  durch  Lösung 
der  Frage,  warum  wir  die  Uhr  zu  wissen  wünschen  ?  zu  ent- 
ziffern: der  möge  bedenken,  dafs  selbst  der  nächstKegende, 
im  Gebiete  des  Praktischen  zu  suchende  Zweck  solcher  Er- 
kundigungen -  nämlich  behufs  Überschlags  über  noch  aus- 
fuhrbare  Leistungen  den  Abstand  des  gegenwärtigen  Zeit- 
punktes von  irgendwelchem  Termin  zu  erfahren  —  eine  be- 
reits vorgeschrittenere,  an  Zeitmessung  gewöhnte,  mit  dem 
durchschnittlichen  Zeitbedarf  seiner  Leistungen  vertraute  Indi- 
vidualität voraussetzt,  woraus  folgt,  dafs  diese  ganze  Sache 
für  unsere  Angelegenheit  völlig  wertlos  ist. 

Der  primitivste  Beweggrund  des  Zeitmessens  ergiebt 
sich  jedoch  von  selber,  wenn  man  bedenkt,  dafs  die  Definition 
alles  Messens,  nämlich  „Nachbildung  eines  stetigen  Ganzen 
aus  diskreten  Teilen"  zu  sein,  auch  auf  Zeitmessung  passen 
mufs.  Denn  hieraus  ist  ersichtlich,  dafs  1.)  der  ursprüngliche 
Gegenstand  dieser  Verrichtung  nur  ein  dauerhafter  Eindruck 
(A)  sein  konnte,  und  das  Mafsmittel  eine  zufällig  mit  diesem 
gleichzeitig  ablaufende  diskrete  Eindrucksreihe  (a,  b,  c  .  .  .),^) 


^)  Dieser  Umstand  enthält  wohl  die  beste  Abweisung  für  das  oft 
gehörte  Vexirwort,  Zeit  sei  überhaupt  unmefsbar,  da  Vergangenheit  und 
Zukunft  nicht  zu  erreichen  [Aügüstinits  :  „nicht  existierend",  cap.  16,  21] 
und  die  Gegenwart  ein  blofser  Augenblick  sei. 


314  EugcD  Posch: 

und  2.)  dafs  der  Zweck  auch  dieses  Messens  kein  anderer  ist, 
als  die  Aufstellung  einer  Gleichung  [A  =  a  +  b  +  c  + . . .  +  m], 
sein  Beweggrund  somit  nur:  Bestrebnis  nach  jenem  rein 
ästhetischen  Wohlgefallen,  welches  uns  bemerkte  Gleichjförmig- 
keiten  an  sonst  Verschiedentlichem  gewähren. 

Die  augastinische  Bemerkung  (cap.  27)  —  auch  eine  „dahin- 
schwindende Gegenwart"  (was  schliefslich  auf  unseren  dauerhaften  Eindruck 
herauskommt)  sei  unmefshar,  da  sich  ihre  Länge  doch  erst  hei  Eintritt 
ihres  Endpunktes  angehen  läfst,  und  sie  sich  dann,  weil  zum  Vergangenen 
(=»  Nichtexistierenden)  geworden,  erst  recht  nicht  messen  lasse  —  diese 
Bemerkung  yergifst,  dafs  der  Mefsprozefs  doch  ganz  gut  ohne  vorhergängige 
Kenntnis  seines  Ergehnisses  (wozu  denn  dann  messen?!)  gleichzeitig  mit 
Eintritt  des  A  hegonnen  werden  kann  und  das  Resultat  sich  gleichzeitig 
mit  dem  Aufhören  A's  aussprechen  läüst.  Die  fernere  Behauptung  (ih.), 
es  werde  niemals  der  Eindruck  selber,  sondern  nur  das  stets  gegenwärtige 
Andenken  eines  Vergangenen  gemessen  (hierzu  der  Beleg:  eine  Pause  lasse 
sich  mit  dem  vorhergegangenen  Klange  nur  dadurch  gleichlang  schätzen, 
weil  letzterer  während  der  Pause  aus  dem  Gedächtnisse  nachgesungen 
wurde),  dieser  nicht  einmal  eingehend  durchgeführte  Einfall  scheint  dem 
Verfasser  durch  Analogie  entstanden  zu  sein,  nämlich  im  Vertrauen  auf 
psychische  Momente,  deren  Herbeiziehung  ihm  bereits  aus  anderen  Ver- 
legenheiten (z.  B.  wo  das  Vergangene  zu  suchen  sei)  geholfen  hat.  —  Dafs 
ein  Sbxtds  Empibicüs  sich  die  gute  Gelegenheit  einer  Ausbeute  der  hier 
obwaltenden  Schwierigkeiten  im  Sinne  seines  Nihilismus  nicht  entgehen 
lassen  konnte,  ist  selbstverständlich.  Er  behauptet  (Pyrrh.  ni):  Die  Zeit 
sei  weder  unteilbar,  da  sie  doch  in  3  Teile  (Vergangenheit,  Gegenwart, 
Zukunft)  zerlegt  wird,  noch  teilbar,  weil  sie  nicht  wie  sonstiges  Teilbare 
(otav  SaxTvXip  TCrfxvv  (lexQ'^fisv)  durch  mehrmalige  Auftragung  eines  Teiles 
zwischen  ihre  beiden  Grenzen  abgemessen  werden  könne.  —  Die  Descartes- 
SpiNozA'sche  Bezeichnung  der  Zeit  als  „auxilium  imaginationis'',  welches 
„oritur  ad  durationem  .  .  .  determinandam,  ut  quoad  fieri  potest,  eam 
facile  imaginemur'^  (Spinoza,  Ep.,  ähnlich  Descabtes,  Pr.  I,  55),  sowie 
die  Behauptung  Etffbbths  („was  ...  an  der  Zeit  gemessen  wird,  das 
ist  nur  Dauer  oder  Intensität",  S.  103)  verraten  eine  der  unserigen  ähn- 
liche Ansicht  über  das  ursprüngliche  Zeitmessungsobjekt,  während  Locke 
(§  17)  die  successive  Eindrucksreihe  selber  für  den  ursprünglichen  Mefs- 
gegenstand  gehalten  haben  dürfte.  Die  oben  betonte  Gleichzeitigkeit 
zwischen  Messungsobjekt  und  Mafs,  sowie  dafs  letzteres  ein  ganzer  Pro- 
zefs  sein  müsse,  ist  hinwiederum  auch  von  ihm  anerkannt.  („Es  kann 
.  .  .  nur  ein  solches  Mafs  für  die  Zeit  gebraucht  werden,  was  die  ganze 
Länge  ihrer  Dauer  durch  wiederkehrende  feste  Perioden  in  gleiche  Teile 
teilt."  Ib.  Ähnlich  Eyffbbth,  S.  102.)  Bei  Waitz  (S.  595—598)  findet 
sich  dasselbe  in  umhüUter  Weise  ausgesprochen,  dort,  wo  der  Verfasser 
auf  die  Gleichartigkeit  der  Entstehungsbedingungen  von  Zeitmessung  mit 
denen  des  Begriffs  „während"  hinweist. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  315 

Bafs  Zeitmessung  zunächst  entstünde,  „wenn  das  erwartete  Quantum 
einer  Wahrnehmung  dem  sinnlich  gegebenen  nicht  entspricht,  sondern  ein 
beträchtliches  Mifsverhältnis  zwischen  beiden  sich  findet"  (Waitz,  S.  596), 
kann  schon  darum  nicht  richtig  sein,  weil  der  Eindruck  doch  erst  durch 
stattgehabte  Messung  den  Charakter  eines  Quantums  annimmt.  Die  Wündt- 
sche  Behauptung:  „Wenn  ...  es  Zeit  gab,  so  mufste  doch  diese  Zeit  auf 
irgend  eine  Weise  gemessen  werden.  Eine  Zeit  ohne  Mafs  ist  ebenso 
undenkbar,  wie  ein  Raum  ohne  Ausdehnung"  (M.  Th.,  S.  28)  enthält  ebenso- 
wenig eine  Darlegung  der  Beweggründe  des  Zeitmessens,  wie  die  geistr 
vollen  Ausführungen  Guyaus  (S.  70  ff.)  und  die  sehr  summarisch  gehaltenen 
Hekbabts  (VI,  S.  310)  und  Volkmanns  (S.  29)  über  diesen  Gegenstand. 

Die  Parallele  zwischen  Raum-  und  Zeitmessung  ist  im 
Sinne  jenes  mathematischen  Grundgesetzes,  wonach  Flächen 
nur  durch  Flächen,  Körper  durch  Körper  etc. .  mefsbar  sind, 
soweit  durchzuführen,  dafs  die  erwähnte  Mafsreihe  (a,  b,  c,  d) 
als  Summe  kleiner  Dauerstticke  (von  a  bis  b,  b  bis  c  etc.) 
gelten  mufs  und  nicht  als  blofser  Inbegriff  vieler  punkthafter 
Augenblicke.  Anderseits  besteht  ein  augenfälliger  und  höchst 
wesentlicher  Unterschied  zwischen  Raum-  und  Zeitmessung 
darin,  dafs  erstere  vermittelst  einer  einzigen,  nur  mehrmals 
aufeutragenden  Mafseinheit  auslührbar  ist,  während  bei  letz- 
terer die  nochmalige  Benützung  des  selbigen  Mafsstückes  a 
ausgeschlossen  bleibt. 

Aus  Besagtem  ergiebt  sich  als  primitivste  Uhr  ein 
Musikinstrument,  vermittelst  dessen  eine  Eindrucksreihe  a,  b,  c, 
wenn  mit  dem  Eintritte  A's  nicht  ohnedies  schon  mitgegeben, 
dargestellt  werden  kann.  Die  Unbequemlichkeit  einer  solchen 
Mafsmethode,  wo  nämlich  die  Einheiten  nur  aus  dem  Gedächt- 
nisse addiert  werden  konnten,  ist  zu  fühlbar,  als  dafs  sich 
ihre  Anwendung  über  die  natürliche  Dauer  einer  Vorstufe  zu 
vollkommenerer  Auswahl  dürfte  ausgedehnt  haben. 

Dafs  Bewegung  nur  eines  der  vielen  möglichen  Zeitmafse  sei,  da 
„ein  beständiges  periodisches  Auftreten  oder  ein  Wechseln  in  den  Vor- 
stellungen in  anscheinend  gleichen  Zeitabständen,  wenn  sie  beständig  und 
allgemein  zu  beobachten  wären,  ebensogut  die  Zeitabschnitte  erkennbar 
gemacht  haben  würden,  als  die  jetzt  gebräuchlichen  Mafse",  wufste  schon 
Locke  (S.  195). 

Der  Bestimmungsgrund  unserer  Entscheidung  für  Be- 
wegungsprozesse zu  fraglichem  Behufe  dürfte  nicht  einfach  in 
der  allwärtigen  Augenfälligkeit  dieser  Prozesse,   speciell   der 


316  Eugen  Posch: 

Himmelsbewegungen,  zu  suchen  sein  (wie  Condillac,  m, 
chap.  7,  §  3,  haben  wollte),  sondern  nicht  am  geringsten 
auch  in  der  Entdeckung,  dafs  sich  bei  Anwendung  dieses 
Mafsmittels  eine  augenscheinliche  Gleichheit  der  Mafs- 
einheiten  (eine  wesentliche  und  als  Abkürzung  jedenfalls 
später  entstandene  Erleichterung  für  den  Apperceptionsprozefs, 
da  A  =  n .  a  das  Unbekannte  [A]  auf  ein  einziges  Bekannte  [a] 
zurückführt,  während  A  =  a  +  b  +  c  +  ...m  deren  mehrere 
beansprucht)  viel  leichter  erzielen,  d.  h.  gleichen  Zeitteilen 
entsprechende  Stücke  sich  abheben  lassen,  als  bei  der  vorher 
erwähnten  Mefsweise. 

Die  ausschliefsliche  Bevorzugung  gleichmäfsiger  Be- 
wegungen zum  Zwecke  des  Zeitmessens  wurde  in  der  Weise 
erklärt,  dafs  man  eine  durch  Zeitsinn  (s.  u.)  bewirkte  Kenntnis 
gleicher  Zeitintervalle  bei  der  Menschheit  vorhergehen  liefs 
und  dann  annahm,  man  habe  sich  für  jene  Bewegungssorte 
auf  Grund  des  Befundes  entschieden,  dafs  bei  ihr  auf  die 
gleichen  Zeitabstände  überall  gleiche  Wegstrecken  fallen. 
Diese  Ansicht,^)  von  Wundt  mit  dem  Bemerken  unterstützt: 
„ohne  das  unmittelbare  Erkennen  gleicher  Zeitteile  wären  wir 
niemals  imstande  gewesen,  objektive  Zeitmafse  zu  schaflfen, 
denn  jeder  Antrieb,  nach  solchen  zu  suchen,  hätte  gefehlt" 
(Log.,  S.  437),  vereint  sich  mir  schwer  mit  dem  schier  grenzen- 
losen Uralter  der  Bewegungsverwertung  für  Zeitmessung  neben 
dem  schwierigen,  also  jedenfalls  späteren  Entstehen  eines 
halbwegs  zuverlässigen  Zeitsinnes.  Die  Verlegenheit  des 
Psychologen,  die  bei  freien  Intervallschätzungen  mitwirkenden 
subjektiven  Behelfe  des  Individuums  zu  ermitteln  (s.  u.)  deckt 
sich  in  diesem  Falle  mit  einer  ähnlichen  Schwierigkeit  für 
das  Individuum  selber,  sich  solche  zu  erfinden.  Kaum  dürfte 
im  nächsten  Bereiche  liegen  und  schon  dem  naiven  Menschen 
erreichbar  sein,  was  der  Seelenforseher  nur  so  schwer  zu 
entziffern  vermag. 

^)  Sie  ist  Ton  Locke  ausgegangen,  der  behauptete,  die  Gleichheit 
successiver  Interyalle  sei  anfänglich  „nach  dem  Zug  der  Gedanken"  be- 
urteilt worden,  der  in  dem  fraglichen  Abschnitt  die  Seele  durchlaufen  hatte. 
(S.  197.    Siehe   hierüber  bei   „Zeitsinn«.)    Hobwicz   (II,  2.  Th.,  S.  139) 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeit  Vorstellung.  317 

meint  im  Rhythmus  das  erste  und  natürlichste  Zeitmafs  gefunden  zu 
haben,  da  derselbe  jenes  „mittlere  Mafs  von  Wechsel  und  Eegelmäfsigkeit" 
enthalte,  welches  „zur  Ermöglichung  einer  Vergleichung",  wie  das  Zeit- 
messen eine  ist,  notwendig  sei.  Aus  dem  Umstände  jedoch,  dafs  der 
Bhythmus  jene  Eintrittsbedingungen  eines  Zeitmessens  enthält,  wie  auch 
wir  sie  mit  anderen  Worten  festsetzten,  indem  er  zu  einer  Identifikation 
seiner  gröfseren  Intervalle  mit  der  Summe  seiner  kleineren  Anlafs  bietet 
(ein  Umstand,  welchen  Volkmann  [S.  34]  mit  dem  geistvollen  Ausdrucke 
wiedergab:  der  Bhythmus  sei  sein  eigenes  Zeitmafs)  —  aus  diesem  Um- 
stände, sage  ich,  folgt  blofs,  dafs  der  Bhythmus  der  natürlichste  Gegen^ 
stand  eines  Zeitmessens  sei,  und  keineswegs,  dafs  er  das  ursprünglichste 
Mafs  mittel  wäre.  Die  „natürlichen  Bhythmen  des  Herzschlags, ...  die 
regelmäfsige  Pendelbewegung  des  Gehens,  .  .  .  der  Wechsel  von  Wachen 
und  Schlaf,  femer  das  stetige  leise  Sausen  und  Bauschen  im  Ohr"  (ähnlich 
bei  Spencbb,  §  91)  —  all  diese  „dem  Naturmenschen  sich  aufdrängenden 
Bhythmen",  ohne  die  er  „niemals  jene  gröfseren  ZeitmaTse  zu  handhaben 
würde  gelernt  haben",  sind  eben  nur  als  Vorstufe  jener  schwierigeren 
„Handhabung"  notwendig,  indem  sie  unmittelbarere  Bethätigungsobjekte 
seiner  Mefslust  sind. 

Wer  bedenkt,  dafs  sich  gröbere  Abweicliungeii  von  der 
Gleichmäfsigkeit  schon  dem  blofsen  aufmerksamen  Zusehen 
durch  Veränderungen  des  Bewegungsbüdes  zu  erkennen  gehen 
(Zusammenfliefsen  bei  sehr  schneller  Bewegung,  zitternde 
Punkte  und  Linien  beim  Langsamerwerden),  so  dafs  der  Fort- 
fall all  solcher  Nebenerscheinungen  und  ein  stetes  Gleichbleiben 
des  Bewegungsbüdes  zwischen  gewissen  Grenzen  für  eine 
Gewährleistung  der  objektiven  Gleichmäfsigkeit  der  Bewegung 
angesehen  werden  kann,  der  wird  unserer  Vermutung  Raum 
geben,  dafs  gerade  dieses  im  Vergleiche  zum  WuNDT^schen 
bedeutend  leichter  zu  erringende  Kriterium  bei  Ausscheidung 
der  ungeeigneten  Bewegungssorten  zur  Verwendung  kam<. 
Dafs  sich  nun  unsere  Auswahl  für  eine  Bewegung  (die  schein- 
bare der  Sonne  um  die  Erde)  entschied,  an  der  selbst  die 
genaueste  wissenschaftliche  Kontrolle  kaum  einige  üngleich- 
mäfsigkeit  zu  entdecken  vermochte,  erklärt  sich  jedenfalls 
durch  die  Auffälligkeit  dieser  Bewegung  (s.  o.)  —  ein  für  die 
Menschheit  glücklicher  Umstand,  da  ihr  nur  für  gröbere  Ge- 
schwindigkeitsänderungen empfilnglicher  „Zeitsinn**  sich  leicht 
mit  minder  gleichmäfsigen  Bewegungsarten,  als  die  Erdachsen- 
drehung eine  ist,  hätte  begnügen  können.  Jedenfalls  war  es 
nicht  die  Kenntnis  der  Gleichmäfsigkeit  jener  Erdbewegung, 


318  Eugen  Posch: 

sondern  nur  deren  Anschein  nebst  ihrer  Augenfälligkeit,  was 
die  Menschheit  zur  Auswahl  derselben  bestimmte,  —  ein 
Punkt,  auf  den  (nebst  der  Unmöglichkeit,  die  Gleichheit 
successiver  Intervalle  streng  zu  beweisen,  „da  zwei  Zeitfolgen 
nie  aufeinander  gelegt  werden  könnten"^))  zuerst  Locke 
(S.  196—198)  hinwies. 

Ähnliches  bei  Hbbbart  (VI,  S.  310).  Auch  VoLKniAiny  sagt,  es  seien 
Erscheinungen  zu  Zeitmafsen  auserkoren  worden,  „welche  uns  eine  strenge 
Gleichmäfsigkeit  in  der  Aufeinanderfolge  der  Empfindungen  erwarten 
lassen"  (S.  29).  Laut  Wundt  war  es  „unser  Vertrauen  in  die  Gesetz- 
mäfsigkeit  der  Naturerscheinungen"  (Log.,  S.  437),  was  uns  zur  Annahme 
objektiver  Zeitmafse  bewog. 

EiBHL  (Der  philosophische  Eiiticismus,  II,  1)  hat  den  in  Ermangelung 
eines  exakten  Mafsstabes  blofs  voraussetzungshaften  Charakter  des  abso- 
luten  Gleichförmigkeitsprädikates  („Homogeneität*')  der  Zeit  gleichfalls 
eingesehen.  Wenn  er  jedoch  meint,  den  Entstehungsgrund  für  diese  Vor- 
aussetzung in  unserer  „Reflexion  auf  die  Identität  der  Bewurstseinsform 
in  der  Zeit"  (S.  125)  gefunden  zu  haben,  so  liegt  hierin  sein  bereits  oben 
(S.  290)  besprochener  Irrtum  zu  Grunde  vom  Dauerbegriflf  als  Grundlage 
des  Successionsbegriffes.  Auch  hat  Biehl  es  unterlassen,  das  Sprunghafte 
der  dem  Zeitlemenden  zugemuteten  Folgerung:  „mein  Bewufstsein  ist 
gleichförmig,  folglich  ist  es  auch  die  Zeit"  (die  belangreichste  Stelle  des 
Verfassers  lautet:  „Die  Beflexion  auf  das  Moment  [s=  der  Gleichförmigkeit] 
des  Bewufstseins  in  der  Zeit,  das  Denken  der  Zeit  also,  bringt  in  die 
Kontinuität  absolute  Gleichförmigkeit  hinein",  ib.)  durch  Angabe  von 
Vermittlungsgliedem  glaubhafter  zu  machen. 

1)  GuYAU  (S.  73)  und  Liebmann  (S.  93)  nennen  die  Messung  der 
Zeit  deshalb  eine  indirekte.  Da  femer  diese  Unmöglichkeit  genau  dieselbe 
bleibt,  ob  man  nun  die  mathematische  Zeit  Newtons,  wie  Eulbb  (S.  332) 
will,  für  wirklich  vorhanden  hinnimmt,  oder  aber  die  Zeitvorstellung  mit 
dem  Subjektivisten  durch  den  Anblick  der  „changements"  von  Körpern 
entstanden  sein  läfst,  so  erscheint  der  Wert  jener  „exakteren"  Definition 
von  der  Gleichheit  zweier  Zeiten  —  wie  solche  sich  bei  ersterer  Annahme 
angeblich  erzielen  läfst  und  bei  letzterer  wegen  Unbestimmbarkeit  eines 
Körpers  mit  wirklich  gleichmäfsigem  Veränderungsablauf  unmöglich  werden 
soll  —  zum  mindesten  etwas  fraglich,  ebenso  wie  die  Empfehlung,  die 
dem  EüLEB'schen  Objektivismus  aus  dieser  Definitionsüberlegenheit  angeb- 
lich erwächst. 

Auch  war  der  Umstand,  dafs  die  Erdachsendrehimg 
nicht  eine  blofse,  jedermann  leicht  bemerkbare  Begleiter- 
scheinung unserer  Handlungen  ist,  sondern — als  Ursache  unseres 
Wachseins  und  Schlafens  - —  geradezu  die  Vorbedingung  all 
unseres  Handelns  abgiebt,  mit  diesem  also  objektiv  und  aufs 
Innigste  verknüpft  ist,  gewifs  mit  ein  Bestimmungsgrund  bei 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  319 

der  erwähnten  Auswahl,  ebenso  wie  auch  deren- Unzugäng- 
lichkeit für  menschliche  Störungen  (Etpfeeth,  S.  103).  Hier- 
bei kommt  noch  zu  bemerken,  dafs  Bewegung,  weil  zum 
Zeitmessen  geeignet,  doch  nicht  ausschüefslich  wegen  des- 
selben, d.  h.  um  gleiche  Dauerstücke  am  bequemsten  abheben 
zu  können,  braucht  auserkoren  worden  zu  sein.  Sie  ist  viel- 
mehr als  ein,  und  zwar  als  der  bequemst  darstellbare  Fall 
jener  Succession  von  Eindrücken  (solche  sind  hier  die  je- 
weiligen Positionen  des  Beweglichen,  ebensoviele  Bilder,  cha- 
rakterisiert durch  Deckung  verschiedener  Hintergrundstücke) 
anzusehen,  welche  zur  Anwendung  zeitlicher  Begriffe  — 
und  ein  solches  ist  doch  das  Messen  —  ebenso  notwendig 
sind,  wie  zu  deren  Entstehen  (vergl.  Wundt,  Log.,  S.  435). 
Nur  die  Ausschliefsung  aller  ungleichmäfsigen  Bewegungen 
mufs  direkt  aus  Mefszwecken  erfolgt  sein,  da  sich  hierfür 
kein  anderer  Grund  ausfindig  machen  läfst,  als  die  Bestrebnis, 
gleiche  Ereignismengen  (in  der  Sprache  des  Entwickelten: 
„gleiche  Zeitstücke")  vermittelst  gleich  langer  Wegstücke 
auszudrücken. 

Die  Thatsache,  dafs  Zeit  durch  Bewegung  gemessen  wird,  darf 
keineswegs  gegen  jene  Behauptung  gekehrt  werden,  auch  Bewegung, 
wenigstens  eine  Seite  derselben,  würde  mit  der  Zeit  gemessen,  wie  dies 
unter  Bestreitung  einer  angeblich  stratonischen  Behauptung  von  Seiten 
des  Sextus  Empibigus  geschah.  Dieses  gegenseitige  Mafsyerhältnis  zwischen 
Zeit  und  Bewegung  (von  Aristoteles  als  Beleg  für  seine  Definition 
„Zeit SB  Zahl'^  angesprochen,  „indem  bei  der  Zahl  und  dem  Zählbaren 
eine  ähnliche  Gegenseitigkeit  vorliege"  [cap.  12])  wurde  speciell  von  Locke 
(XIV,  §  22)  recht  ungerechtfertigterweise  (s.  Leibniz'  Kritik)  bestritten, 
weil  „sich  ein  richtiges  Mafs  der  Bewegung  auch  auf  deren  Baum  und 
die  Mafse  des  Beweglichen  erstrecken  müsse".  Des  Sextus'  Einwurf  ist 
besser  und  lautet:  „es  diene  bewufstermarsen  stets  das  Anschaulichere 
(folglich  Bewegung  und  Buhe)  als  Erfassungsmittel  für  das  minder  An- 
schauliche (die  Zeit)  und  nicht  das  letztere  für  jenes"  (}.tj<p9^slij  6*av  ovx 
ex  xov  SvoS'sat^^Tov  rb  evd'sdQfjrov  ak)*  avanaXiv,  177 — 180).  —  Ebenso 
wenig  darf  anderseits  die  letzterwähnte  Rolle  der  Zeit,  nämlich  „motus 
leges  secundum  temporis  mensuram  .  .  .  determinare",  gegenüber  unserer 
Hypothese  vom  Abstammen  der  Zeit  aus  Bewegungsvorgängen  geltend 
gemacht  werden,  wie  dies  von  Kant  geschah  (M.  P.,  S.  102),  da  eine 
Vorstellung  uns  recht  gut  durch  eine  Erscheinung  kann  zugekommen  sein, 
deren  exakte  Auffassung  erst  mit  Hilfe  dieser  Vorstellung  möglich  ist. 
Aristoteles  hat  den  Umstand,  dafs  die  Vorstellung  der  Bewegungseigen- 
schaften „schnell"  und  „langsam"  die  der  Zeit  voraussetze  (ro  . . .  ßgaSv 


320  Eugen  Posch: 

xal  xaxv  XQ^^V  ^Qi^oxaiy  cap.  10),  blofs  gegen  IdentifizienmgsTersuche 
der  Zeit  mit  Bewegung  (Definitionen,  wie  „Zeit  =  Bewegung")  in "  die 
Wagschale  geworfen. 

Wenn  schon  Zeit  und  Bewegung,  so  dürfen  wohl  auch  Zeit  und 
Baum  für  ihr  gegenseitiges  Mafs  erklärt  werden,  insofern  einesteils  die 
Stunde  durch  ein  gewisses,  vom  Uhrzeiger  durchlaufenes  Baumstück  ge- 
messen wird,  und  anderseits,  wie  Spbnceb  (§  336)  bemerkte,  die  räumliche 
Entfernung  zweier  Orte  in  Stunden  (nämlich  Marsches,  ein  gewöhnliches 
Längenmafs  der  schweizer  Bergführer)  kann  ausgedrückt  werden.  Das 
Vorkommen  der  letzteren  Mafsmethode  bei  den  „anciens  H^breux"  und 
bei  wilden  Völkern  berechtigt  keineswegs  zu  der  Annahme,  es  sei  dieselbe 
noch  vor  der  heute  viel  gebräuchlicheren  umgekehrten  Mefsweise  (der 
Zeit  vermittelst  des  Baumes)  entstanden,  —  eine  Annahme  Spbncers, 
welcher  Gütau  (S.  72 — 73)  sehr  treffend  den  Umstand  entgegenhält,  dafs 
die  ursprüngliche  Bedeutung  der  Dauerbezeichnungen  in  den  Sprachen 
eine  rein  räumliche  sei  (s.  u.)  und  deshalb  nicht  sowohl  die  Baummessung 
und  -Vorstellung  aus  der  zeitlichen,  sondern  vielmehr  diese  letztere  aus 
jener  hervorgegangen  sei.  (Dafs  Spenceb  hier  und  auch  sonst  gemeint 
hätte:  „que  la  notion  du  temps  [»»die  gesamte  Zeitvorstellung]  ait 
vraiment  pr6c6d6  celle  de  l'espace",  wogegen  Guy  au  mehreren  Ortes  leb- 
haft ankämpft,  beruht  auf  einem  Mifsverständnisse.) 

Trotzdem  das  Prinzip,  die  Zeit  vermittelst  diskreter 
successiver  Eindrücke  zn  messen,  auch  bei  der  Messung  mittelst 
Erdachsendrehung  gewahrt  bleibt,  insofern  auch  hierbei  nur 
die  einzelnen  Positionen  des  Beweglichen  das  eigentlich 
Messende  abgeben,^)  so  ist  die  Überlegenheit  dieser  Mafs- 
methode über  die  früher  (s.  o.)  erwähnte  doch  offenbar,  da 
nun  die  höchst  unbequeme  Bemüfsigung,  die  abgelaufene  An- 
zahl der  Mafseindrücke  im  Gedächtnis  zu  behalten,  bezw. 
dieselben  stetig  zu  verfolgen,  umgangen  ist,  und  anderseits 
der  Zeitunterscheidung  an  der  verwendeten  Mafsreihe  keine 
Grenzen  gesetzt  sind,  indem  sich  die  Bewegungsreihe  durch 
blofse  Geistesanstrengung  interpolieren  (innerhalb  zweier 
Situationen  mehrere  einschalten,  unterscheiden)  läfst,  wodurch 
nun  auch  kleinere  Dauerstücke  mefsbar  werden. 

*)  Plotins  naive  Bemerkung,  Zeit  würde  deshalb  mittelst  Bewegung 
und  nicht  mittelst  dauerhafter  Eindrücke  gemessen,  weil  es  leichter  an- 
zugeben sei,  wie  lange  sich  ein  Körper  bewegt  habe,  als  wie  lange  er 
ruhte  („planius  patere  potest,  quantum  aliquid  motum  fuerit,  quam 
quantum  steterit",  cap.  12),  wird  sich  im  Sinne  des  Obigen  leicht  be- 
richtigen lassen. 


Aufigangspunkte  zu  einer  Theorie  der  ZeitTorstelluug.         321 

Auch  wird  durch  die  nunmehrige  Mafsmethode  ermög- 
licht, die  Frage  nach  dem  Wie  lang?  eines  Eindruckes  in 
sehr  bequemer  Weise,  nämlich  durch  Benennung  des  mittler- 
weilen abgelaufenen  scheinbaren  Sonnenwegssttickes  zu  beant- 
worten, eine  Antwort,  welche  die  Anzahl  der  innerhalb  der 
angegebenen  Grenzen  zu  unterscheidenden  Zwischenpositionen, 
sowie  überhaupt  die  Herausgreifung  solcher  dem  Gutdünken 
des  Fragenden  anheimstellt.  Bei  Bestimmung  der  Abschnitts- 
längen dieser  zeitmessenden  Erdbewegung  war  ihre  Kreis- 
ähnlichkeit mafsgebend,  infolge  deren  sich  als  erstes  und 
natürlichstes  Teilungsprodukt  Wegstücke  von  der  Länge  einer 
ganzen  Umdrehung  (der  Tag)  ergaben. 

Dafs  die  Ereisähnlichkeit  der  erwählten  Bewegung  nur  einfach 
mit  in  den  Kauf  genommen  und  —  weil  zur  Tauglichkeit  eines  Zeitmafses 
keineswegs  erforderlich  —  bei  der  Auswahl  nicht  angestrebt  wurde,  hat 
Abistoteles  nicht  zugegeben,  indem  er  für  die  Festsetzung  jenes  kreis- 
förmigen Mafsmittels  die  recht  dürftige  Erklärung  beibrachte:  „eine  der- 
.  artige  Bewegung  lasse  ihre  Zahl  (<»  die  Zeit)  besser,  als  jede  sonstige, 
hervortreten"  {ozi  6  a^id-fibg  o  zavtijg,  nämlich  xvxXo^oQlaq,  yviaQifidtaxoq, 
cap.  14).  Die  lebhaften  Betonungen  des  „Periodischen"  der  Mafsbewegung 
bei  Locke  (§  18—21),  Horwicz  (II,  2.  T.,  S.  139  ff.)  und  Wündt  (Log., 
S.  435)  scheinen  auf  eine  ähnliche  Wertschätzung  jener  Kreisförmigkeit 
hinzudeuten. 

Bei  der  Weitereinteilung  scheint  die  geometrische  Form 
besagter  Abschnitte  aufser  Betracht  gebKeben  zu  sein,  infolge 
der  wohlbegründeten  Bestrebnis,  sich  einer  fortwährenden, 
nicht  einmal  ausfuhrbaren  Sonnenbeobachtung  zu  entziehen, 
weshalb  neue  Bewegungsarten  auserwählt  resp.  dargestellt 
werden  mufsten,  deren  ürsprungsquelle  nunmehr  für  die  Länge 
eines  Abschnittes  innerhalb  des  „Tag" -es  mafsgebend  wurde. 
(Weder  der  10-,  noch  der  12-,  noch  der  24  stündige  Tag  be- 
ruht auf  dem  Prinzipe  der  Kreisteilung,  denn  die  Stundenlänge 
hängt  einfach  nur  mit  den  Herstellungsbedingungen  der  ver- 
wendeten Uhren  —  ob  Klepsydra-,  Sand-  oder  Pendeluhr  — 
zusammen.  Anderseits  mufsten  nun  absichtlich  kreisförmige 
Bewegungen  geschaffen  werden,  weil  andernfalls  das  Ziffer- 
blatt unendlich  lang  sein  müfste.)  Dafs  darum  der  Gebrauch 
von  Uhren  noch  keine  Emancipation  des  Menschen  von  der 


322      Eugen  Posch:  Ausgangspunkte  z.  e.  Theorie  d»  Zeitvorstellung. 

lebensregelnden  Himmelsbewegung  bedeutet,  sondern  nur  etwa 
einem  Vorgange,  wie  Einführung  der  Scheidemünze  zur  üm- 
wechslung  gröfseren  und  eigentlichen  Geldes  gleichkommt, 
liegt  klar,  wenn  man  bedenkt,  dafs  das  schliefsliche  Eegulativ 
unserer  Zeitmessungen  die  Sonnenuhr  ist,  und  anderseits, 
dafs  alle  den  „Tag"  übersteigenden  gröfseren  Zeitstücke 
(Wochen,  Monate,  Jahre)  wiederum  Himmelsbewegungsab- 
schnitte vorstellen.  Dafs  letztere,  nämlich  die  Mond-  sowie 
die  Erdumlaufszeit,  unter  sich  und  mit  der  Dauer  einer  Erd- 
achsendrehung inkommensurabel  sind,  ist  bekannt. 


\ 


Fragen  der  Gesehiehtswissensehaft. 

L    Darstellende  und  begriffliche  Geschichte. 
Von  Paul  Barth,  Leipzig. 

Inhalt. 

Below  über  das  Verhältnis  der  Geschichte  zur  Systematik  und  zur  Kau- 
salität. Die  Kausalkette  in  der  Darstellung  der  Ereignisse  oft  unterbrochen,  wie 
in  der  Kunst.  Diese  Unterbrechung  beruht  nur  auf  mangelhafter  Kenntnis. 
Stammlers  Dualismus  ist  nicht  kantiscn.  Die  Geschichte,  wie  sie  Below  meint,  ist 
.darstellende**  Geschichte.  —  Das  Allgemeine  zeigt  empirische  Gleichförmigkeiten. 
Diese  sind  auf  kausale  Gesetze  zurückfUhrbar,  und  zwar  auf  psychologische.  Eine 
besondere  „historische**  Psychologie  giebt  es  nicht.  Lamprecht  meint  mit  seiner 
Art  der  Geschichte  dieses  Streben  nach  Gleichförmigkeiten  und  Gesetzen.  Ihr 
bester  Name  ist  «begriffliche**  Geschichte.    Beide  Arten  sind  unentbehrlich. 


An  das  Erscheinen  der  ersten  5  Bände  der  „Deutschen 
Geschichte"  von  K.  Lampbecht,  eines  Werkes,  das  manche 
bisher  im  Hintergrunde  gewesene  Seiten  der  Vergangenheit 
in  den  Vordergrund  zu  stellen  sucht,  hat  sich  zwischen 
Lampbecht  und  einigen  anderen  Historikern  eine  lebhafte 
Polemik  angeschlossen,  die  zuerst  allerlei  Einzelheiten  der 
Darstellung  Lampbechts  zum  Gegenstande  hatte,  später  aber 
sich  zu  einer  allgemeinen  Erörterung  der  Aufgaben  und  Me- 
thoden der  Geschichtswissenschaft  erweitert  hat.  Über  die 
erste  Phase  des  Streites,  die  die  Einzelheiten  betriflPt,  steht 
mir  kein  Urteil  zu,  auch  nicht  über  die  Grunde  der  persön- 
lichen Gereiztheit,  mit  welcher  der  Streit  geführt  wird.  Nur 
an  die  zweite  Phase,  die  Behandlung  der  prinzipiellen  Fragen, 
die  ja  zugleich  Fragen  der  Erkenntnistheorie  sind,  möchte 
ich  im  folgenden  anknüpfen. 

Als  die  letzten  Zusammenfassungen  der  beiderseitigen 
Anschauungen  liegen  zwei  Abhandlungen  vor,^)   von  denen 

^)  G.  VON  Below,  Die  neue  historische  Methode.  In  der  Histo- 
rischen  Zeitschrift  (begründet  von  H.  von   Stbel).     Bd.  81    (neue 


324  Paul  Barth: 

ich  zunächst   diejenige  Belows,   des   Gegners  Lampbechts, 
beleuchten  will.    Ihre  wesentlichen  Sätze  sind  die  folgenden: 

1.  Über  das  Verhältnis  der  Geschichtswissenschaft  zur 
Systematik  im  allgemeinen  und  im  besonderen  zur  „natur- 
wissenschaftlichen Systematik":  „Die  Geschichtswissenschaft 
bestreitet  immer  die  Allgemeingültigkeit  der  Systeme,  der 
Begriffe"  (S.  241).  [Die  Geschichte  lehrt,]  „dafs  es  unzulässig 
ist,  flir  die  menschliche  Entwicklung  feste  Naturgesetze  zu 
dekretieren"  (S.  242).  „Der  Historiker  darf,  wenn  er  richtig 
sehen  will,  sich  nicht  der  Brille  des  Naturforschers  bedienen; 
er  hat  ja  seine  eigenen  Augen  (dasselbe  Gleichnis  auf  S.  248, 
wo  nur  zum  Naturforscher  noch  der  Philosoph  hinzugefügt 
wird).  Und  sein  Beruf  wird  es  eben  voraussichtlich  immer 
bleiben,  gegen  die  Konstruktionen  der  Systematiker  Einspruch 
zu  erheben"  (S.  243).  „Wer  einem  socialen  Ideal,  wer  über- 
haupt einem  Ideal  huldigt,  der  protestiert  gegen  den  lähmenden 
Gedanken  einer  rein  gesetzmäfsigen  Entwicklung"    (S.  245). 

2.  Über  die  Geltung  der  Kausalität:  „Dieser  Glaube 
[an  die  unbedingte  Gültigkeit  des  Kausalitätsgesetzes]  wird 
stark  angefochten"  (S.  246).  „Wir  brauchen  uns  indessen  als 
Historiker  mit  der  Frage  der  Geltung  des  Kausalitätsgesetzes 
nicht  aufzuhalten.  Denn  es  ist  noch  nie  gelungen,  seine 
ausnahmslose  Geltung  auf  dem  Gebiete  der  Geisteswissen- 
schaften nachzuweisen,  und  es  wird  auch  nie  gelingen,  das 
Kausalitätsgesetz  hier  selbst  nur  in  annähernder  Reinheit 
durchzuführen,  am  wenigsten  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte" 
(S.  246 — 247).  „Dafs  die  Historiker  gut  thun,  ihre  Methode 
von  der  naturgesetzlich  begründeten  Psychologie  frei  zu  halten, 
heben  auch  die  Philosophen  Windelband  und  Delthet  hervor" 
(S.  248,  Anm.  1).  „Wir  gestehen  gern,  dafs  wir  nicht  alles 
erklären  können.  Wir  beanspruchen  es  gar  nicht.  Es  er- 
scheint uns  im  Gegenteil  von  der  höchsten  Wichtigkeit,  dafs 
wir  die  Unerklärbarkeit  konstatieren  müssen.    Die  Persönlich- 


Folge  45),  Heft  2,  München  und  Leipzig  1898,  S.  193—273.  Dagegen: 
£.  Lampbecht,  Die  historische  Methode  des  Herrn  von  Bblow,  eine  Kritik. 
Berlin,  R.  Gärtnbb  (H.  Hbyfbldbr)  1899,  50  S. 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  325 

keit  ist  in  der  That  ein  EUtsel"  (S.  249).  Und  S.  265  wird 
Stammlers  Spott  über  die  „magische  Kraft"  des  Kausalitäts- 
gesetzes mit  Zustimmung  erwähnt.  (In  dem  Abschnitte  des 
Buches  von  Stammleb,  aus  dem  das  Citat  stammt,  wird  der 
Beweis  versucht,  dafs  das  Kausalitätsgesetz  auf  menschliche 
Zwecke,  die  durch  Wahlhandlungen  erreicht  werden,  keine 
Anwendung  finde.) 

Es  ist  offenbar,  dafs  Below  mit  dieser  Methodologie 
das  Gebiet  der  Wissenschaft  zum  Teile  verläfst.  Wer  darauf 
verzichtet,  die  Kausalität  tiberall  nachzuweisen,  wer  die  Per- 
sönlichkeit flir  ein  Rätsel  hält,  der  unterbricht  das  wissen- 
schaftliche Denken,  der  betrachtet  die  Dinge,  mit  Schopen- 
HAUEB  zu  reden,  unabhängig  vom  Satze  des  Grundes,  er  be- 
trachtet sie  ähnlich  wie  der  Ktinstler  und  der  Beschauer  eines 
Kunstwerks.  Die  ästhetische  Betrachtung  geht  auf  den  Inhalt 
der  Vorstellungen,  nicht  auf  ihre  rationale  Verknüpfung.  Die 
Wissenschaft  wird  immer  der -Schwerkraft  und  alles  dessen, 
was  daraus  folgt,  eingedenk  sein,  der  Künstler  aber  und  der 
ästhetische  Betrachter  nehmen  keinen  Anstofs  daran,  dafs  die 
Sixtinische  Madonna  über  den  Wolken  schwebt.  Und  wie 
die  Kunst  nicht  das  einzelne  Ereignis  unter  die  allgemeine 
Formel,  das  Gesetz,  zu  bringen  braucht,  so  braucht  sie  auch 
nicht  das  einzebie  Objekt  blofs  nach  seinen  aUgemeinen,  der 
ganzen  Gattung  gemeinsamen  Merkmalen  darzustellen,  sie 
kann  nicht  blofs,  sie  mufs  sogar  auch  die  individuellen 
Merkmale  als  solche  betrachten  und  hat  nicht  nötig,  zu  er- 
klären, warum  sie  in  diesem  besonderen  Falle  so  und  nicht 
anders  sich  verhalten. 

Ursprünglich  ist  alle  Geschichte  Kunst  gewesen.  Denn 
sie  ist  ursprüngHch  identisch  mit  der  Sage  und-  dem  volks- 
tümlichen Epos.  In  diesen  beiden  Urformen  .  der  Geschichte 
ist  die  Wirklichkeit  noch  vermischt  mit  demjenigen,  was  die 
Phantasie  hinzufügt.  Allmählich  tritt,  wenigstens  bei  den 
Griechen,  eine  Trennung  ein,  die  Wirklichkeit  wird  Gegenstand 
der  erzählenden  Prosa,  des  Logos  (bei  den  Logographen), 
wofür  später  der  Name  „Historie"  aufkommt,  was  hingegen  die 

Vierteljahrssclirift  f.  wiftsenschaftl.  PhUoiophle.   XXm.  3.  22 


326  Paiil  Barth: 

Phantasie  hinzufügt,  fallt  der  Dichtung  (noii^aig)  anheim. 
Doch  ist  wohl  im  Bewufstsein  der  Alten  —  Polybios  vielleicht 
ausgenommen  —  die  Geschichte  niemals  toto  genere  von  der 
Kunst  getrennt  worden.  Aristoteles  unterscheidet  zwar  in 
seiner  „Poetik"  die  Geschichte  von  der  Dichtkunst,  aber  gerade 
diese  Gegenüberstellung  zeigt,  dafs  sie  ihm,  wenn  auch  ent- 
gegengesetzt, doch  wohl  zu  einer  und  derselben  Gattung  ge- 
hören. Diese  Gattung  dürfte  wohl  die  Kunst  sein.  In  seinem 
Systeme  der  Wissenschaften  wenigstens  findet  die  Geschichte 
keine  Erwähnung.  Wenn  er  in  seiner  Politik  (2.  Buch,  2.  Kap.) 
sagt,  dafs  man  auch  auf  die  lange  Zeit  und  die  vielen  Jahre 
[der  Vergangenheit]  achten  müsse,  so  meint  er  hier  nach  dem 
Zusammenhange  nicht  die  Geschichte  der  Ereignisse,  sondern 
der  Verfassungen.  Und  fast  alle  Geschichtsschreiber  des 
Altertums  haben  in  ihre  Werke  kunstvolle  Reden  eingeflochten, 
die  nicht  gehalten  worden  sind,  sondern  nur  in  dem  Zusammen- 
hange der  Dinge,  in  dem  sie  stehen,  hätten  gehalten  werden 
können,  die  also  nicht  das  Wirkliche,  sondern  das  nur  Mög- 
liche, aber  zugleich  ästhetisch  Wertvolle  darstellen. 

Erst  in  der  Renaissance  beginnt  man  die  Geschichte  zu 
den  Wissenschaften  zu  rechnen.  Bacon  ist  wohl  unter  den 
Philosophen  der  erste,  der  die  Geschichte  scharf  von  der 
Kunst  scheidet,  indem  er  drei  verschiedene  Weltbilder  annimmt: 
ein  gedächtnismäfsiges  (historia),  ein  phantasiemäfsiges  (poesis), 
ein  vernunftmäfsiges  (philosophia).  ^)  Die  historia  aber  um- 
fafst  viel  mehr  als  heute.  Sie  ist  sowohl  historia  naturalis 
als  auch  civilis.  Bei  Bacon  also  steht  die  Menschengeschichte 
auf  gleicher  Stufe  mit  der  beschreibenden  Naturwissenschaft. 
Sie  ist  endgültig  von  der  Kunst  getrennt,  kaum  ein  Philosoph  — 
wenn  man  von  der  Gegenwart  absieht  —  hat  sie  wieder  unter 
den  Begriff  der  Kunst  zurückgebracht,  nur  innerhalb  der 
Wissenschaft  wechselt  sie  ihre  Stellung,  bis  endlich  nach 
mancherlei  Anregungen  von  Hume  und  Condobcet  Saint-Simon 


^)  Vergl.   E.  Mayb,    Die   philosophische   Geschichtsauffassung    der 
Neuzeit,  I,  Wien  1877,  S.  93. 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  327 

sie,   ebenso  wie  die  Politik,   der  Wissenschaft,   die  er  allein 
als  solche  anerkennt,  der  Physik,  nahezubringen  fordert.^) 

Indessen  eine  Auffassung  und  Behandlung  der  Geschichte, 
die  sie  der  Kunst  nähert,  hat  auch  heilte  noch  zweifellos  ihre 
Berechtigung.  Die  Wissenschaft  geht  auf  das  Allgemeine, 
ihre  Ziele  sind  der  Begriff  und  das  Gesetz,  die  viel  weniger 
enthalten,  als  das  Konkrete,  Einzelne.  Das  Ziel  der  Kunst 
aber  ist  gerade  das  Konkrete,  Einzelne,  in  dem  das  Allgemeine 
auch  enthalten,  aber  um  das  Besondere  vermehrt  ist.  Darum 
sagt  z.  B.  der  römische  Dichter  lieber  „Falemum"  statt  des 
allgemeineren  „vinum",  spricht  Schiller  nicht  blofs  abstrakt  von 
der  „Menschheit  Leiden",  sondern  fügt  sofort  Laokoon  als 
einen  der  Leidenden  hinzu,  darum  sind  in  der  bildenden  Kunst 
Allegorien,  d.  h.  Gestalten,  die  nicht  ein  Einzelwesen,  sondern 
einen  allgemeinen  Begriff  bedeuten,  kalt,  soweit  sie  nicht  zu- 
gleich persönliche  Eigenschaften  haben,  ohne  Wirkung,  sie  ge- 
hören nicht  zu  den  Objekten,  die  die  Kunst  zu  schaffen  hat. 
Der  Unterschied  zwischen  den  Künsten  und  der  Geschichte 
ist  nur  der,  dafs  die  Künste  ein  mögliches  Konkretum  dar- 
stellen dürfen,  die  Geschichte  aber  ein  wirklich  gewesenes, 
und  zwar  so,  wie  es  wirklich  gewesen  ist.  Auch  in  ihrem 
Konkretum  darf  das  Allgemeine,  das  ihm  mit  anderen  gleich- 
artigen Konkretis  gemeinsam  ist,  nicht  fehlen,  aber  es  darf 
nicht  isoliert  hervortreten,  es  mufs  mit  dem  Besonderen  ver- 
bunden sein. 

Mit  Kecht  hat  B.  Cboce*^)  auf  dieses  Streben  der  Ge- 
schichte nach  der  Darstellung  des  Einzelnen  aufmerksam  ge- 
macht. Mit  Recht  hat  er  femer  hervorgehoben,  dafs  es  auch 
andere  Objekte  gebe,  die  eine  künstlerische,  das  Einzelne 
treu  wiedergebende  Darstellung  verlangen,  z.  B.  die  Land- 
schaft, so  dafs  der  Geograph  zuerst  ein  Künstler  sein  müsse, 
ehe  er  wissenschaftlich  arbeite,   viele,   wie  Alexandee  von 


1)  Vergl.    meine    „Philosophie   der   Geschichte   als   Sociologie",   I, 
Leipzig  1897,  S.  18  ff. 

2)  II  concetto  della  storia  ridotto   sul  concetto  generale  dell'  arte, 
2.  edizione,  Borna  1896. 

22* 


328  Paul  Barth: 

Humboldt^  auch  wirklich  Künstler  gewesen  seien.^)  (Ceocb 
hätte  hinzufügen  können,  daXs  es  sich  beim  Geologen  umge- 
kehrt verhält,  dafs  er  zuerst  das  allgemeine  Aussehen  einer 
Landschaft  einer  vergangenen  geologischen  Periode  erschliefsen 
mufs,  dann  aber  eine  individuelle  Landschaft  künstlerisch 
darstellen  kann.)  Wenn  E.  Bebnheim^  gegen  diese  Gleich- 
stellung der  geschichtlichen  mit  der  künstlerischen  Darstellung 
einwendet,  die  Geschichte  habe  ein  Anrecht  auf  den  vollen 
Titel  einer  Wissenschaft,  da  „sie  uns  ein  in  sich  zusammen- 
hängendes, einheitliches  und  gesichertes  Wissen  vermittelt", 
so  treffen  eben  zwei  der  von  Bernheim  ihr  gegebenen  Prädi- 
kate auf  die  geschichtliche  Darstellung,  wie  sie  Ceoce  meint 
und  wie  sie  in  den  weitaus  meisten  Fällen  wirklich  ist,  nicht 
zu.  Diese  Darstellung  kann  wohl  ein  gesichertes  Wissen 
geben,  vorausgesetzt,  dafs  die  Zeugnisse  für  das  Dargestellte 
in  genügender  Anzahl  vorhanden  und  nach  allen  Regeln  der 
Kritik  gesichtet  und  verwertet  worden  sind.  In  sich  zu- 
sammenhängend und  einheitlich  aber  wird  es  nur  in  be- 
schränktem Mafse,  fast  nie  in  seinem  ganzen  Umfange  sein. 
Denn  einheitlich  und  zusammenhängend  wird  eine  Summe  von 
Wahrnehmungen  nur  durch  stetige  strenge  Anwendung  der 
Kategorien  des  Verstandes,  und  zwar,  wo  es  sich,  wie  in  der 
Geschichte,  um  Zustände  und  Ereignisse  handelt,  durch  den 
Gebrauch  der  Kategorie  der  Kausalität.  Nur  dadurch  werden, 
mit  Kant  zu  reden,  Wahmehmungsurteile  zu  Erfahrungsurteilen, 
d.  h.  zu  Bestandteilen  eines  einheitlichen,  zusammenhängenden 
Systems.  Und  nur  die  Erfahrung  in  diesem  Sinne  ist  Wissen- 
schaft. 

Und  in  diesem  strengen  Sinne  ist  die  allgemein  übliche 
geschichtliche  Darstellung  keine  Wissenschaft.  Denn  sie  kann 
gar  keinen  ganz  einheitlichen,  fortlaufenden  Zusammenhang 
geben.  Da  sie  auf  Einzelnes  geht,  so  mufs  sie  fortwährend 
neue  Momente  einführen,  die  im  Vorausgegangenen,  im  Vorher- 


1)  A.  a.  0.  S.  89. 

2)  Lehrbuch  der  historischen  Methode,  2.  Aufl.,  Leipzig  1894,  S.  111 
und  599. 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  329 

erzählten  nicht  ihre  Ursache  haben.  Aus  einem  dunklen, 
unerkennbaren  Hintergrunde  treten  ihr  die  neuen  Ereignisse 
hervor;  das  Auftreten  Napoleons  z.  B.  ist  doch  ein  Moment, 
das  in  den  vorausgegangenen  Ereignissen  nicht  begründet  ist. 
Die  Verhältnisse,  wie  sie  nach  der  Eeaktion  des  Thermidor 
in  Paris  lagen,  sind  nicht  die  Ursache,  dafs  er  ein  energischer 
Mann  war.  Sie  sind  nur  die  Ursache,  dafs  er  seinen  ener- 
gischen Willen  entfalten  konnte.  Dieser  Wille  selbst  ist  das 
Ergebnis  der  Natur  seiner  Heimat,  des  Charakters  seines 
Volkes,  des  Charakters  und  der  Lebensführung  einer  langen 
ihm  voraufgehenden  Ahnenreihe,  wie  sie  Taine,  der  eben 
eine  neue,  möglichst  kausale  Betrachtung  einführen  wollte, 
zum  Teüe  verfolgt  hat,  wie  sie  aber  der  Historiker  im  Sinne 
Belows  meist  gar  nicht  verfolgen  will.  Der  letztere  wird 
einfach  Napoleons  starken  Willen  als  ein  neues,  nicht  weiter 
erklärbares,  aber  fortan  wirkendes  Stück  zu  den  bisherigen 
Bestandteilen  der  Wirklichkeit  hinzunehmen.  Ähnlich  verhält 
es  sich  für  diese  Art  der  Geschichtsdarstellung  mit  dem 
Hunneneinfall,  mit  dem  Wirken  Karls  des  Grossen  und  über- 
haupt mit  unzähligen  Ereignissen  und  Persönlichkeiten,  die 
sich  nicht  aus  dem  Vorausgegangenen  ableiten  lassen,  wie 
ja  auch  Below  erklärt;    „die  Persönlichkeit  ist  ein  Kätsel!" 

Diese  Ereignisse  und  Persönlichkeiten  treten  also  in  die 
Welt  so  unberechenbar  ein,  wie  der  Eingriff  des  Schicksals 
in  der  Schicksalstragödie,  der  ebenfalls  aufserhalb  des  kausalen 
Zusammenhanges  der  irdischen  Handlungen  steht,  der  sich 
diesen  Zusammenhang  nur  unterwirft,  aber  nicht,  wie  jedes 
irdische  Geschehen,  selbst  ihm  unterworfen  ist.  Die  Wissen- 
schaft jedoch  kennt  kein  aus  reiner,  überirdischer  Höhe  ein- 
greifendes Schicksal,  sie  kennt  nur  Ereignisse,  deren  Ursachen 
genau  so  wie  die  Ursachen  der  erklärten  Ereignisse  vorhanden, 
aber  aus  irgend  einem  Grunde  unserem  unvollkommenen  Wissen 
noch  verborgen  sind.  Sie  kennt  nur  unerklärte,  nicht  uner- 
klärbare Ereignisse.  „In  mundo  non  datur  fatum"  ist  nach 
Kant  eine  ebenso  fundamentale  Wahrheit  für  jede  Wissen- 
schaft (nicht  blofs  für  die  Naturwissenschaft),   wie   die   drei 


330  Paul  Barth: 

anderen:  in  mundo  [nicht  blofs  in  natura!]  non  datur  hiatus, 
non  datur  saltus,  non  datur  casus.  ^)  Und  insofern,  als  die 
geschichtliche  Darstellung  die  Unterbrechung  der  Kausalreihe 
zuläfst,  weil  sie  jeden  Augenblick  neue  Wirkungsweisen  alter 
Kräfte  und  neue  Kräfte  annehmen  mufs  und  darf,  ist  ihre 
Methode  gleich  der  der  Kunst. 

Sie  unterscheidet  sich  freilich  von  der  Kunst  insofern, 
als  sie  sich  nur  auf  eine  wirkliche,  nicht  auf  eine  mögliche 
Vergangenheit  richtet,  auch  nicht,  wie  die  Kunst,  ihre  Gebilde 
überhaupt  ohne  zeitliches  und  örtliches  Datum  hinstellen  darf. 
Aber  für  die  erkenntnistheoretische  Struktur  ihres  Verfahrens 
macht  dies  keinen  prinzipiellen  Unterschied,  ebenso  wie  die 
Mathematik  ihr  prinzipielles  Verfahren  beibehält,  gleichviel, 
ob  sie  eine  in  der  Natur  vorkommende  Kurve  (etwa  die  Pa- 
rabel) oder  eine  rein  konstruierte,  bisher  weder  in  der  Natur, 
noch  im  Laboratorium  geschaute  behandelt. 

Es  kommt  hier  eben  in  erster  Linie  auf  den  erkenntnis- 
theoretischen Typus  an.  Und  dieser  ist,  in  der  Kunst  sowohl 
wie  in  der  blofs  darstellenden  Geschichte,  nicht  das  Streben 
nach  einem  streng  geschlossenen  Systeme,  sondern  die  mög- 
lichste Annäherung  an  ein  Maximum.  Für  die  Geschichte  heifst 
dieses  Maximum  die  vergangene  Wirklichkeit  schlechthin, 
für  die  Kunst,  wenn  sie  naturalistisch  ist,  die  gegenwärtige 
oder  vergangene  typische  Möglichkeit,  wenn  sie  idealistisch 
ist,  die  nach  irgendwelchen  ästhetischen  oder  ethischen 
Forderungen  gesteigerte  Wirklichkeit.  Und  beide,  die 
Wissenschaft  wie  die  Kunst,  können  sich  ihrem  Ziele  nur 
annähern,  nie  es  ganz  erreichen.  Von  der  Kunst  ist  es  wohl  an- 
erkannt, dafs  sie  ein  unendliches  Streben  darstellt,  der  Idealis- 
mus nach  dem  Schönen,  der  Naturalismus  nach  der  voll- 
kommenen Treue  der  Wiedergabe  des  Typischen.  Aber  auch 
die  Geschichte  kann  sich  der  Treue  der  Wiedergabe  des 
Wirklichen  nur  nähern.  Auch  das  Wirkliche  ist  nach  Wundt^) 
ein  Grenzbegriff. 


^)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  herausg.  von  Kehbbach,  S.  213. 
2)  System  der  Philosophie,  1.  Aufl.,  S.  161,  2.  Aufl.,  S.  154. 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  331 

Was  Beenheim  zur  wissenschaftlichen  Thätigkeit  der 
Geschichte  rechnet,  die  Kritik  und  die  Hermeneutik,  das 
wäre  —  in  einem  System  der  Wissenschaften  —  nicht  zur 
Geschichtswissenschaft,  sondern  zur  Erkenntnistheorie  und 
zwar  zur  Methodenlehre  zu  rechnen,  die  für  alle  Gebiete,  fiir 
die  Naturwissenschaften,  die  Geschichte,  auch  für  die  Kunst, 
gleichviel  ob  sie  das  Typische  oder  das  Ideale  will,  die  Ver- 
fahrungsweisen  zu  bestimmen  hat.  Dafs  dies  Verfahren  der  Kunst, 
ihre  Technik,  noch  nicht  zur  Methodenlehre  gerechnet  wird, 
ist  ein  Mangel ;  sie  gehört  prinzipiell  unter  sie ;  wie  sicherlich 
auch  die  Methodenlehre  der  auf  die  Naturwissenschaft  ge- 
gründeten Technik,  wie  sie  Keuleaux^)  versucht  hat,  unter 
die  Methodenlehre  zu  rechnen  ist.  Die  Erkenntnistheorie 
sollte  sich  nicht  allein  auf  die  Erkenntnis  des  Wirklichen, 
sondern  mehr  als  bisher  auch  auf  die  Erkenntnis  des  Mög- 
lichen richten.  Und  wenn  die  Kritik  und  die  Hermeneutik 
ihr  Werk  gethan  haben,  so  ist  noch  nichts  weiter  vorhanden, 
als  einzelne  Thatsachen,  von  innerem  Zusammenhange  ist  in 
jene  Thatsachen  selbst  nichts  eingegangen.  Der  Historiker 
ist  dann  erst  da  angelangt,  wo  der  Naturforscher  und  der 
Geograph  oft  (wenn  auch  keineswegs  immer)  ohne  wissen- 
schaftliche Vorarbeit  schon  von  Anfang  an  sind,  nämlich  bei 
seinem  Materiale.  Dieses  Material  besteht  nicht  in  den  Ur- 
kunden, Büchern,  Inschriften,  überhaupt  in  den  Zeugnissen 
der  Vergangenheit,  sondern  in  den  auf  Grund  der  Zeugnisse 
erschlossenen  Thatsachen.  Und  erst  an  diesen  beginnt  nun 
die  specifische  Arbeit  des  Geschichtsschreibers,  sei  es,  dafs  er 
sie  blofs  im  Zusammenhange  darstellen,  sei  es,  dafs  er  aus  ihnen 
weitere,  allgemeinere  Wahrheiten  erschliefsen  will.  Ge- 
schichtsforschung ist  doch  nur  die  Vorstufe  der  Geschichts- 
schreibung, nicht  diese  selbst,  so  wenig  wie  die  Erlernung 
des  Mikroskopierens  oder  die  Anwendung  der  Mikroskopier- 
kunst, wie  fein  und  gewandt  sie  auch  sei,  schon  Darstellung 
des  Baues  einer  Pflanze  oder  eines  Tieres  ist. 


')  Theoretische  Kinematik,  Braunschweig  1875. 


332  Paul  Barth: 

Aber  wenn  so  der  darstellende  Historiker  wie  der 
Künstler  die  durch  alle  Ereignisse  der  Welt  durchgehende 
Kausalität  ignorieren  darf,  so  darf  er  nicht  behaupten,  dass 
sie  nicht  existiere.  Und  hierin  scheint  Below  zu  irren.  Er 
scheint  die  Kausalität  als  eine  Färbung  der  Dinge  zu  be- 
trachten, die  nur  dem  Philosophen  und  dem  Naturforscher 
infolge  ihrer  besonderen  „Brille"  erscheine,  dem  Historiker 
aber  gar  nicht  notwendig  zu  erscheinen  brauche.  Indessen 
die  Kausalität  ist  nicht  ein  künstliches  Werkzeug,  wie  die 
Brille,  sie  bleibt  jedem  Menschen  fremd,  wenn  er  bloss  an- 
schaut, auch  dem  Naturforscher  und  dem  Philosophen,  und 
sie  drängt  sich  jedem,  auch  dem  Historiker  notwendig  auf, 
wenn  er  denkt.  Sie  ist  auch  nicht  ein  „Glaube",  sondern 
die  notwendige  Voraussetzung  des  Denkens,  sie  gehört  bei 
vielen  Philosophen  zu  den  „logischen  Axiomen".  Sobald  der 
Historiker  denkt,  sobald  er  Wissenschaft  treiben  will,  muss 
er  alles  in  strenger  kausaler  Verknüpfung  sehen,  oder  wo 
diese  Verknüpfung  eine  Lücke  hat,  eiuen  Mangel  der  Wissen- 
schaft zugeben. 

Wenn  Stammler  i)  meinte  das  Gesetz  der  Kausalität  gelte  nur  für 
Erscheinungen,  „vorliegende",  also  schon  vergangene  Handlungen,  „woraus 
sich  als  sicher  ergiebt,  dafs  unser  Gesetz  auf  die  Vorstellung  von  künftigen 
nur  möglichen  Handlungen  und  auf  den  Gedanken  einer  Wahl  zwischen 
ihnen  überhaupt  noch  keine  Anwendung  finden  kann",  und  wenn  er,  von 
dem  Subjektiven  zum  Objektiven  übergehend,  hinzufügt :  „Der  Inhalt  dieser 
eben  genannten  Vorstellungen  bedeutet  das  grade  Gegenteil  von  dem 
Inhalt  derjenigen,  den  [soll  heissen:  die]  wir  als  Erscheinungen  fassen 
können",  so  ist  das  seine,  aber  keineswegs  wie  er  meint,  indem  er  sich 
streng  an  Kant  halten  will,  Kants  Ansicht.  Er  giebt  keine  Stelle  an, 
wo  Kant  dergleichen  gelehrt  habe,  und  er  wird  auch  nirgends  eine  finden. 
Nur  als  sittlich  wollendes  Wesen  ist  der  Mensch  frei  von  der  allgemein 
herrschenden  Kausalität,  nicht  einmal  als  wollendes  Wesen  schlechthin; 
denn  Akte  der  Willkür  oder  des  Begehrungsvermögens,  die  blofs  natürlich, 
nicht  vernünftig  sind,  unterliegen  ihr  nach  Kant  ebenso,  wie  jedes  Natur- 
ereignis. Als  denkendes  Wesen  aber  muss  der  Mensch  nach  Kant  alles. 
Vergangenes,  Gegenwärtiges  und  Zukünftiges,  auch  seine  und  seiner  Mit- 
menschen Handlungen  nach  dem  Gesetze  der  Kausalität  zusammenfassen, 
er  kann  ihm  im  Denken  nicht  entgehen,  so  wenig,  als  er  über  seinen 
Schatten  springen  kann.    Wenn  vor  der  Zukunft,  so  wie  es  sich  Stammleb 

^)  Wirtschaft  und  Recht  nach  der  materialistischen  Geschichts- 
auffassung, Leipzig  1896,  S.  363. 


k. 
V 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  333 

Torstellt,  die  Kette  der  Kausalität  abbräche,  wie  könnte  Kant  da  die 
oben  angeführten  Gesetze  aussprechen:  ^in  mundo  non  datur  saltus,  non 
datur  hiatus,  non  datur  casus?"  Kant  sagt  vielmehr  ausdrücklich:^)  „der 
Verstand  kann  von  dieser  [der  Natur]  nur  erkennen,  was  da  ist  oder  ge- 
wesen ist,  oder  sein  wird  [nicht  was  sein  soll]",  ordnet  also  den  Ge- 
setzen des  Verstandes  die  Zukunft  nicht  minder  als  die  Gegenwart  und 
die  Vergangenheit  unter. 

Stammlebs  Dualismus  ist  ein  ganz  anderer  als  der,  den 
Kant  lehrt.  Und  zwar  ist  der  erstere  ein  solcher,  dafs  er 
jede  Geisteswissenschaft  unmöglich  macht.  Wenn  die  Kausa- 
lität für  die  Natur  gilt,  aber  nicht  für  die  menschlichen  Hand- 
lungen, so  sind  eben  die  letzteren  frei,  es  giebt  keine  Er- 
klärung einer  That  im  Sinne  einer  Subsumtion  unter  eine 
allgemeine  Regel,  es  ist  vielmehr  dann  alles  regellos,  es  giebt 
dann  aber  auch  keine  Pädagogik  und  keine  Politik,  die  beide 
auf  eine  Technik  der  Lenkung  des  Willens  ausgehen  und  wie 
jede  Technik,  ein  gesetzmäfsiges  Verhalten  ihres  Materials 
wie  ihrer  Werkzeuge  voraussetzen.  Einen  solchen,  Geistes- 
wissenschaft und  Geistesfuhrung  zerstörenden  Dualismus  hat 
Kant  nie  gelehrt.  Der  betrachtende  Mensch  kann  nie  von 
der  Denkform  der  Kausalität  sich  befreien,  der  sittlich  wollende 
freilich  kann  die  Kausalreihe  durchbrechen. 

Jeder  hat  nach  Kant  seinen  intelligiblen  und  seinen  empirischen 
Charakter.  Der  letztere  ist  Erscheinung,  als  solche  für  den  denkenden 
Zuschauer  —  sowohl  für  einen  Fremden,  als  für  den  Träger  des  Charakters, 
so  weit  er  sich  selbst  betrachtet  —  den  Naturgesetzen  unterworfen,  die 
häufig  gar  keine  Unterbrechung  erleiden,  bisweilen  aber  durch  die  Eigen- 
schaft des  intelligiblen  Charakters,  selbst  Anfang  einer  Beihe  von 
Wirkungen  zu  sein,  die  in  der  äusseren  und  der  inneren  Natur  nicht  ver- 
ursacht sind,  einer  gewissen  Störung  ausgesetzt  sind.  Der  denkende 
Beobachter  mufs  dann  eben  das  Sittengesetz  als  einen  besonderen  Modus 
der  Verursachung  von  Handlungen  anerkennen,  und  wenn  er  nach  Kant 
dieses  selbst  auch  nicht  erklären,  aus  irgend  welchen  Bedingungen  ab- 
leiten kann,  es  doch  als  eine  unter  gewissen  Voraussetzungen  wirkende  Kraft 
in  seine  Eechnung  aufnehmen.  Ähnlich,  wie  etwa  ein  Physiker  elektrische 
Experimente  macht,  die  durch  einen  in  der  Nähe  befindlichen  Magneten 
modifiziert  werden. 

Auch  dies  freilich  ist  ein  Dualismus,  und  ihn  mufs  die 
von  Kant  ausgehende,  aber  nicht  bei  ihm  stehen  bleibende 
Wissenschaft   zu  tiberwinden  suchen,   anstatt  da,   wo  Kant 


*). Kritik  der  reinen  Vernunft,  herausg.  von  Kehbbach,  S.  438. 


334  Paul  Barth: 

schon  Einheit  und  Konsequenz  erreicht  hatte,  einen  neuen 
Dualismus  zu  schaffen.  Wenn  Kant  den  wollenden  Menschen 
so  sehr  von  allen  anderen  Erscheinungen  trennt,  dafs  er  von 
ihm  sagt,  er  könne  Ursache  werden,  ohne  Wirkung  gewesen 
zu  sein,  er  könne  eine  Kausalreihe  selbständig  beginnen,  so 
müssen  freilich  starke  Thatsachen  vorliegen,  um  diesen  be- 
sonnenen Denker  zur  Annahme  einer  solchen  Diskontinuität 
zu  bringen.  Und  diese  Thatsachen  sind  die  der  eigentümlichen 
Natur  der  psychischen  Kausalität.  Schopenhaueb  hat  mit 
Recht  darauf  hingewiesen,  dafs  in  der  unbelebten  Natur  der 
Satz  gilt:  „der  Grad  der  Wirkung  ist  gleich  dem  Grade  der 
Ursache",  oder  wie  man  es  jetzt  ausdrückt:  „die  Wirkung 
ist  der  Ursache  äquivalent".  In  der  belebten  Welt,  in  der 
Physiologie  fand  er  diese  Äquivalenz  nicht.  Der  Begriff  der 
Auslösung  hat  nach  ihm  es  ermöglicht,  sie  auch  darin  noch 
durchzuführen.  Am  allerentferntesten  von  der  Äquivalenz 
schien  ihm  die  Kausalität  des  menschlichen  Handelns.  Und 
darin  hat  er  für  alle  Ewigkeit  recht. 

Das  menschliche  Handeln  ist  Ton  so  komplicierten  Bedingungen 
abhängig,  dafs  an  eine  Yergleichbarkeit  eines  Willensaktes  des  Menschen 
mit  dem  äu/seren  Beize,  der  auf  ihn  eindringt,  selten  noch  zu  denken  ist, 
die  Beziehung  zwischen  Beiz  und  Handlung  oder  —  allgemeiner  ausge- 
drückt —  zwischen  Beiz  und  Beaktion  sich  vielmehr  desto  weiter  von 
der  Äquivalenz  entfernt,  je  mehr  bewufste  Wahl  auf  den  Beiz  folgt.  Am 
nächsten  werden  jener  Äquivalenz  noch  die  Triebhandlungen  sein,  wenn 
man  sie  mit  Hilfe  des  Begriffs  der  Auslösung  deutet,  am  entferntesten 
aber  diejenigen,  die  auf  einem  bestimmten,  erworbenen  Charakter  beruhen. 
Die  Triebhandlungen  beruhen  auf  Beizen,  auf  einzelnen  Empfindungen 
oder  Vorstellungen,  z.  B.  das  Tanzen  auf  der  erregenden  Kraft  gewisser 
Gehörsempfindungen,  die  Charakterhandlungen  aber  auf  abstrakten  Grund- 
sätzen. Empfindungen  jedoch  und  Vorstellungen  unterliegen  dem  Gesetze 
der  Ermüdung,  sie  können  im  Laufe  der  Zeit  sich  abstumpfen  und  ihren 
Einflufe  auf  den  Willen  verlieren.  Grundsätze  hingegen,  z.  B.  der  Vorsatz, 
nie  Böses  mit  Bösem  zu  vergelten,  steigern  durch  Wiederholung  ihren 
Einflufs,  die  Gewöhnung  befestigt  ihre  Kraft,  anstatt  sie  zu  vermindern, 
so  dafs  sie  allerdings  ein  ganz  anderes  Verhältnis  zum  menschlichen  Willen 
zeigen,  als  der  Beiz  der  Empfindungen  und  der  Vorstellungen.  Auch  bei 
den  Grundsätzen  ist  die  Mitwirkung  des  Gefühls  (besonders  bei  erhabenen, 
„grofsen"  Geboten)  nicht  ganz  ausgeschlossen,  aber  sie  tritt  doch  hinter 
der  Macht  der  Gewöhnung  und  der  logischen  Konsequenz  so  sehr  zurück, 
dafs  es  schliefslich  verständlich  ist,  warum  Kant  die  sittlichen  Grundsätze 
aus  dem  Naturzusammenhange  heraushob.  Nur  hätte  er  diese  Heraushebung 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  335 

lediglich  auf  die  specifische  Art  der  Wirkung  der  Grundsätze  des  Cha- 
rakters gründen  sollen,  nicht  auf  eine  vermeintliche  völlige  Zusammen- 
hangslosigkeit  mit  dem  ührigen  Seelenleben,  aus  dem  doch  der  Charakter 
Bchliefslich  sich  aufgebaut  hat. 

Aber  wenn  anch  die  Gleichheit  von  Ursache  und  Wirkung 
im  Gebiete  der  menschlichen  Handlungen  aufhört,  so  hört 
doch  damit  nicht  die  Kausalität  selbst  auf.  Nur  die  natur- 
wissenschaftliche Kausalität  endet  hier;  und,  soweit  in  seiner 
Betonung  des  Unterschieds  der  Geschichte  von  den  Natur- 
wissenschaften Below  dies  meint,  ist  er  im  Rechte.  Auf  der 
Gleichheit  von  Ursache  und  Wirkung  und  auf  der  Mefsbarkeit 
der  Erscheinungen  beruht  die  Fälligkeit  der  Naturwissen- 
schaften, in  vielen  Gebieten  den  Eintritt  gewisser  Veränderungen 
auf  Tag  und  Stunde,  in  manchen  sogar  auf  Minute  und  Sekunde 
vorauszusagen,  und  die  Möglichkeit,  die  Gröfse  dieser  Ver- 
änderungen genau  zu  bestimmen,  kurz  die  sogenannte  „Exakt- 
heit", die  man  nach  gewöhnlichem,  aber  unberechtigtem 
Sprachgebrauche  nur  da  findet,  wo  es  quantitative,  nicht  blofs 
qualitative  Gesetze  giebt. 

Dieser  Grad  wissenschaftlicher  Erkenntnis  ist  nun  jfreilich 
für  die  Handlungen  Einzelner  oder  ganzer  Gruppen  von  Menschen, 
die  nach  Below  und  nach  der  bisher  vorwiegenden  Richtung 
den  Gegenstand  der  Geschichte  bilden,  ganz  unerreichbar. 
Die  besondere  Beschaffenheit  der  psychischen  Kausalität  läfst, 
wie  wir  gesehen  haben,  keine  Vorausberechnung  auf  Tag  und 
Stunde  zu,  so  dafs  wir  z.  B.  nicht  wissen,  ob  und  wann  das 
christliche  Kreuz  wieder  über  der  Hagia  Sophia  in  Kon- 
stantinopel sich  erheben  wird,  und  ebensowenig  erklären  können, 
warum  ein  bestimmtes  Ereignis,  z.  B.  die  Ermordung  Wallen- 
steins,  gerade  an  diesem  bestimmten  Tage,  dem  25.  Februar 
1634,  eintrat.  So  können  wir  niemals  die  Glieder  einer  ge- 
schichtlichen Kausalreihe  quantitativ  genau  bestimmen.  Oft 
aber  fehlt  uns  die  stetige  Kausalreihe  überhaupt.  Von  mancher 
Handlung  wissen  wir  die  Ursache,  die  Summe  der  Motive 
gar  nicht.  Und  wenn  wir  sie  erschliefsen  wollen,  so  machen 
wir  den  Schlufs  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache,  der  nach 
einer  sehr  alten  logischen  Regel  sehr  unsicher  ist.    Denn  eine 


336  Paul  Barth: 

Ursache  kann  nur  eine  bestimmte  Wirkung  haben,  aber  eine 
Wirkung,  ein  Ereignis,  kann  sehr  verschiedenen  Ursachen 
entsprungen  sein.  Das  Herzklopfen  z.  B.  ist  ein  Symptom, 
eine  Wirkung,  die  aus  sehr  verschiedenen  Ursachen,  sehr 
verschiedenen  pathologischen  Zuständen  entstanden  sein  kann. 
Es  kann  in  konstanter  Nervosität,  in  vorübergehender  Er- 
regung, in  einer  Vergiftung,  in  einem  Herzklappenfehler  oder 
in  anderen  Verhältnissen  seinen  Ursprung  haben. 

Immer  also,  wenn  es  sich  um  Darstellung  geschichtlicher 
Ereignisse,  die  doch  schliefslich  nur  menschliche  Thaten  sind, 
handelt,  wird  man  sich  mit  einer  ähnlichen  Darstellung  be- 
gnügen müssen,  wie  die  Kunst:  mit  einer  Wiedergabe  des 
Einzelnen,  in  der  die  Kausalkette  oft  abbricht,  oder  nur  nach 
unsicheren  Analogien  fortgeflQirt  wird,  die  femer  mit  allge- 
meinen Begriffen  an  ihren  Gegenstand  herantritt,  aber  die 
besonderen  Züge  desselben  der  Anschaulichkeit  wegen  sorg- 
fältig verzeichnet,  ohne  dafs  sie  nötig  hat  bei  jedem  dieser 
Züge  das  Warum  seines  Erscheinens  zu  erklären.  Als  ein 
mustergiltiges  Beispiel  dieser  Art  anschaulicher  geschicht- 
licher Darstellung  sei  etwa  die  „französische  Revolution" 
Carlyles  genannt. 

Da  indessen  die  Geschichte,  wie  oben  bemerkt,  ein 
anderes  Maximum  hat,  dem  sie  sich  zu  nähern  strebt,  als  die 
Kunst,  nämlich  die  Wirklichkeit  schlechthin,  während  die 
naturalistische  Kunst  dem  möglichen,  durchschnittlichen,  die 
idealistische  dem  möglichen,  aber  qualitativ  gesteigerten  Leben 
nachstrebt,  so  ist  es  verständlich,  wenn  Bernheim  ^)  die  Ge- 
schichte mit  der  Kunst  nicht  vermengt  wissen  will.  Sie  fallen 
zwar  in  der  Erkenntnistheorie  unter  dieselbe  Gattung,  die 
Geisteserzeugnisse,  die  nur  teilweise  den  BegriflF^der  Kausalität 
anwenden,  aber  sie  sind  speciflsch  verschieden.  Die  Geschichte 
darf  nichts  verrücken,  weder  Inneres  noch  Äusseres,  die 
Kunst  darf  Äufseres  ändern,  sie  kann  Namen,  Orte,  Datierung 
verändern,   wenn  nur  die  innere  Wahrheit   erhalten  bleibt. 


^)  Lehrbuch   der   historischen    Methode,    2.   Aufl.,   Leipzig   1894, 
S.  100  ff. 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  337 

Darum  ist  es  wohl  besser,  die  Geschichte,  wie  sie  Below  im 
Auge  hat,  und  die  grofse  Mehrzahl  der  geschichtlichen  Werke 
sie  geben,  „darstellende  Geschichte"  zu  nennen.  Ähnlich 
wie  Herbart  ^)  denjenigen  Vortrag  des  Lehrers,  der  weiter 
nichts  bezweckt  als  die  sinnliche  Anschauung  zu  ersetzen, 
so  zu  sprechen,  dafs  der  Schüler  das  Beschriebene  zu  sehen 
und  zu  hören  glaube,  den  blofs  darstellenden  Unterricht 
nennt,  von  dem  er  den  an  das  Denken  sich  wendenden  als 
analytischen  oder  synthetischen  unterscheidet. 

Ohne  Zweifel  hat  die  „darstellende"  Geschichte  Vorzüge. 
Sie  befriedigt,  so  weit  es  möglich  ist,  das  Bedürfnis  nach 
Anschauung,  das  nicht  blofs  bei  dem  naiven,  sondern  auch 
bei  dem  entwickelten  Menschen  ein  sehr  hohes  ist.  Wir 
möchten  alle  gerne  Zuschauer  der  bedeutungsvollen  Thaten 
und  Ereignisse  der  Vergangenheit  sein.  Aufserdem  ist  die 
Darstellung  grofser  Persönlichkeiten  von  pädagogischem  Werte 
und  desto  wirksamer,  je  mehr  anschauliche  Einzelheiten  sie 
einfügt. 

Aber  für  das  Denken  ist  die  Geschichte  als  blofse,  wenn 
auch  noch  so  künstlerische  Darstellung  immer  und  ewig  un- 
genügend. Wer  denkt,  wiU  im  Wechsel  das  Beständige  sehen, 
den  „ruhenden  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht",  also  das 
den  Erscheinungen  Gemeinsame,  die  allgemeinen  Wahrheiten. 
Solcher  bedarf  auch  der  Politiker,  nicht  einer  Thatsache  von 
beschränkter  Dauer,  sondern  stets  gültiger,  allgemeiner  Sätze, 
mit  deren  Hilfe  er  aus  der  Gegenwart  seine  Schlüsse  auf  die 
Zukunft  ziehen  kann.  Und  auch  Below  kann  sich  dieses 
Verlangens  nicht  entschlagen.  Er  meint,  der  Nutzen  der 
historischen  Betrachtung  sei  sehr  positiver  Natur  (S.  243), 
und  führt  als  positiv,  nützlich  zwei  „allgemeine  Wahrheiten" 
an:  1.  den  Gedanken  der  historischen  Rechtsschule,  dafs  das 
Recht  Produkt  des  Volksgeistes  sei,  der  aber  seine  Ein- 
schränkung finde  durch  „die  RANKE'sche  Entdeckung  von  dem 
Einflufs  der  auswärtigen  Verhältnisse  auf  die  inneren  Vorgänge 


^)  Allgemeine  Pädagogik,  2.  Buch,  5.  Kap.,  I.  UmriXs  pädagogischer 
Vorlesungen,  §  107  ff. 


338  Paul  Barth: 

der  Staaten";  2.  „die  Anschauung  von  der  tiefgreifenden  Be- 
deutung der  Persönlichkeit",  die  ebenfalls  der  von  der  histo- 
rischen Eechtsschule  und  der  Komantik  ausgegangenen  Hoch- 
schätzung   des   Volksgeistes    zur    Einschränkung  diene. 

Schon  Lampeecht  hat  in  seiner  Gegenschrift  (S.  24) 
mit  Recht  bemerkt,  dafs  mit  diesen  „allgemeinen  Wahrheiten" 
das  Gebiet  der  Geschichte  der  Thaten  und  Ereignisse  über- 
schritten sei.  Below  wird  darauf  vielleicht  einwenden,  dafs 
er  blofs  von  allgemeinen  Wahrheiten  als  Zusammenfassungen 
dessen,  was  vielen  Einzelerscheinungen  gemeinsam  sei,  nicht 
von  Gesetzen  gesprochen  habe.  Und  nur  wo  Gesetze  gelten, 
da  sei  auch  Kausalität. 

Indessen  dieser  Einwand  ist  nicht  stichhaltig.  Wenn 
Below  den  RANKE'schen  Satz  anerkennt,  dafs  die  auswärtigen 
Verhältnisse  Einflufs  auf  die  inneren  Vorgänge  der  Staaten 
haben,  so  giebt  er  zu,  dafs  hier  gewisse  Ursachen  immer 
und  notwendig  gewisse  Wirkungen  haben,  d.  h.  die  Kau- 
salität in  ihren  beiden  specifischen  erkenntnistheoretischen 
Merkmalen,  der  Allgemeinheit  und  der  Notwendigkeit,  vor- 
handen ist.  Damit  ist  nicht  gesagt,  dafs  die  Wirkungen  jener 
Ursachen  immer  sichtbar  werden  müssen,  sie  können  ja  durch 
irgendwelche  anderen  Mächte  dieser  Sichtbarkeit  beraubt 
werden  und  im  Zustande  blofser  Spannkräfte  bleiben.  Vor- 
handen müssen  sie  aber  jedenfalls  sein,  sonst  wäre  eben  jene 
Wahrheit  vom  Einflüsse  der  auswärtigen  Verhältnisse  keine 
„allgemeine"  und  flir  Folgerungen,  für  „positiven  Nutzen" 
nichts  mit  ihr  anzufangen.  Und  ebenso  wenig  hätte  sie  irgend- 
welche logische  Kraft,  wenn  sie  nicht  auf  Notwendigkeit  be- 
ruhte. 

Nun  ist  es  aber  unmöglich,  auf  einem  Gebiete,  wie  es 
die  Geschichte  ist,  das  erfahrungsgemäfs  in  allen  seinen  Teilen 
zusammenhängt,  hier  die  Kausalität  gelten,  dort  aber  nicht 
gelten  lassen  zu  wollen.  Denn  in  einem  so  zusammenhängen- 
den Gebiete  steht  alles  schliefslich  in  Wechselwirkung.  Diese 
ist,  sobald  man  die  Kausalität  anerkennt  und,  wie  die  Wissen- 
schaft es  notwendig  thun  mufs,  für  die  Welt  der  Erfahrung, 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  339 

sowohl  die  physische  als  auch  die  geistige,  die  Endlichkeit 
annimmt,  eine  notwendige  Folgerung.  Sie  ist  bei  Kant  ein 
wesentliches  Element  der  Wirklichkeit,  wobei  er  nur  darin 
irrt,  dafs  er  sie  nicht  aus  der  Kausalität  ableitet,  sondern  als 
selbständige,  neue  Kategorie  neben  sie  stellt.  Und  sie  ist 
bei  einem  nur  von  der  Erfahrung  ausgehenden  Denker,  wie 
Spencee,  sogar  eine  in  stetem  Wachstum  begriffene  Erscheinung. 
Denn  zu  seinem  Begriffe  der  Evolution  gehört  auch  die  stetig 
zunehmende  Abhängigkeit  aller  Elemente  des  Seienden  von- 
einander und  ihre  zunehmende  Wirkung  aufeinander.  Jedes 
kleine  oder  grofse  Moment  der  Geschichte  mufs  also,  da  es 
sich  nicht  in  eine  Unendlichkeit  zerstreuen  kann,  in  seiner 
zeitlichen  und  räumlichen  kausalen  Fortwirkung  schliefslich 
mit  jedem  anderen  Momente  einmal  zusammenkommen,  mit 
ihm  sich  vereinigen  oder  interferieren.  Ist  also  die  Kausalität 
an  einem  Punkte  aufgehoben,  so  giebt  es  auch  keine  Sicher- 
heit ihrer  Geltung  für  alle  anderen  Punkte.  Herrscht  in  den 
übrigen  Beziehungen  der  Geschichte  keine  regelmäfsige  Kau- 
salität, so  ist  es  auch  notwendig,  dafs  diese  Unregelmäfsigkeit 
in  die  Beziehung  der  äufseren  zu  den  inneren  Verhältnissen 
der  Staaten  übergreife  und  die  nach  Ranke  vorhandene  Regel- 
mäfsigkeit  dieser  Beziehung  vernichte.  Nun  scheint  ja  auch 
BEiiOw  nur  zu  sagen,  die  Kausalität  sei  vielleicht  vorhanden, 
aber  nicht  erkennbar.  Wenigstens  S.  239,  Anm.  erklärt 
er,  er  leugne  nur,  dafs  es  wahrnehmbare  Gesetze  der  Ge- 
schichte gebe.  „Denn  es  läfst  sich  ja  nicht  beweisen,  dafs 
der  Charakter  der  Notwendigkeit  bei  den  geschichtlichen  Er- 
eignissen absolut  ausgeschlossen  ist."  Aber  anderswo  scheint 
ihm  wieder  der  Ausschlufs  dieser  Notwendigkeit  als  das 
Richtige.  So  S.  245:  „Wer  einem  ,socialen  Ideal*,  wer  über- 
haupt einem  Ideal  huldigt,  der  protestiert  gegen  den  lähmenden 
Gedanken  einer  rein  gesetzmäfsigen  Entwicklung".  Es  ist 
wohl  der  SiAMMLEB'sche  Dualismus,  der  hier  zu  Grunde  liegt, 
von  dem  oben  nachgewiesen  wurde,  dafs  er  ein  anderer  als 
der  KANT'sche  ist,  aber  er  ist  logisch  unhaltbar.  Wird  die 
Kausalität  in  einem  Teile  der  Geschichte  aufgegeben,    so  ist 


340  Paul  Barth: 

sie  auch  in  den  übrigen  Teilen  zerstört.  Giebt  es,  mit  Kä.nt 
zu  reden,  einen  „Hiatus",  eine  Lücke  im  Zusammenhange  der 
Welt,  so  giebt  es  keine  Kausalität.  Und  es  wäre  sehr  leicht 
an  Kant  anknüpfend  nachzuweisen,  dafs  ohne  Kausalität  nicht 
blofs  die  Ordnung  der  objektiven  Welt,  sondern  auch  die  des 
Denkens  aufhören  würde,  dafs  schon  in  der  Anerkennung 
der  Gesetze  der  Association  der  Vorstellungen  die  Kausalität 
vorausgesetzt  wird,  dafs  ohne  sie  eine  sehr  einfache  Leistung 
des  Denkens,  die  Erwartung,  also  erst  recht  jedes  kunstmäfsige 
Denken  unmöglich  wäre,  dafs  die  Kausalität  also  im  Wesen 
des  Denkens  (der  Synthesis  des  Bewufstseins  oder  der  syn- 
thetischen Einheit  des  Bewufstseins,  wie  Kant  sagt)  begründet 
ist.     und  sie  läfst  darum  keinen  Hiatus  zu. 

Und  gerade,  wer  „einem  Ideal  huldigt",  der  bedarf  für 
seinen  Glauben  einer  durchgehenden  Kausalität,  also  auch 
durchgehender  Gesetzmäfsigkeit,  ähnlich  wie  oben  erinnert 
wurde,  dafs  der  Pädagog  und  der  Politiker  den  Determinismus 
des  WiQens  voraussetzen.  Denn  wenn  in  der  Geschichte  die 
Kausalkette  jeden  Augenblick  abbrechen  kann,  dann  ist  es, 
wie  streng  auch  ihr  bisheriger  Verlauf  die  Eichtung  auf  den 
Idealzustand  innegehalten  habe,  doch  nicht  sicher,  dafs  sie 
schliefslich  zu  diesem  führe.  Die  Eichtung  kann  ja  jeden 
Augenblick  umschlagen.  Dann  ist  auch  keiner  sicher,  dafs  seine 
eigene  Thätigkeit  zur  Erreichung  des  Idealzustandes  irgend 
etwas  beitragen  könne.  Denn  ihre  Nachwirkung  kann  ja  in 
dem  allgemeinen,  teils  vorwärts,  teils  rückwärts  wogenden 
Chaos  untergehen.  Wer  aber  mit  vielen  Denkern,  Philosophen 
wie  Historikern,  glaubt  und  mit  dem  Dichter  Tennyson^)  sagt: 

„Yet  I  doubt  not,  through  the  ages  one  increasing  purpose  runs, 
And  the  thoughts  of  men  are  widened  with  the  process  of  the  suns*', 

und  wer  mit  Goethe  denkt:  „Die  vernünftige  Welt  ist  als 
ein  grofses  unsterbliches  Individuum  zu  betrachten,  welches 
unaufhaltsam  das  Notwendige  bewirkt  und  dadurch  sich 
sogar  über  das  Zufällige  zum  Herrn  erhebt",^  der  ist  Idealist, 


^)  In  Locksley  Hall. 

^)  Dieser  an  einen  bekannten  Ausspruch  Aügubtotb   und  Pascals 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  341 

weil  er  die  Überzeugung  hat,  dafs  sein  eigenes  Thun  sich  in 
einen  grofsen  forttragenden  Strom  einordnet,  nicht  in  irgend- 
welchen gesetzlosen  Zufälligkeiten  versandet. 

Und  so  weist  alles  darauf  hin:  Wer  einmal  einige  all- 
gemeine Wahrheiten  erkannt  und  anerkannt  hat,  der  wird 
auch  weiter  suchen  und  suchen  müssen,  der  setzt  damit  die 
allgemein  gültige  Kausalität  und  die  gesetzmäfsige  Entwicklung 
voraus,  der  ergiebt  sich  —  nach  Belows  Ausdrucke  —  der 
„naturwissenschaftUchen  Auflfassung"  der  Geschichte. 

Es  ist  eine  sehr  einleuchtende  Wahrheit,  an  die  Below 
(S.  232)  mit  Simmbl  erinnert,  dafs  es  wegen  der  Komplexität 
aller  geschichtlichen  Erscheinungen  keine  einheitliche  Formel 
für  die  gesamte  geschichtliche  Entwicklung  geben  kann.  Nicht 
einmal  Comte  hat  dies  angenommen,^)  obgleich  bei  ihm,  der 
von  den  Naturwissenschaften  herkam,  dies  erklärlich  gewesen 
wäre.  Der  denkende  Betrachter  der  Geschichte  wird  noch 
mehr  zugeben,  er  wird  sogar  einräumen,  dafs  man  zunächst  — 
eben  wegen  der  Vielfältigkeit  der  überall  mitwirkenden  Ur- 
sachen —  von  eigentlich  kausalen  Gesetzen  absehen,  dafs 
man  aber  die  von  J.  St.  Mill^  und  allen  Philosophen  nach 
ihm  sogenannten  empirischen  Gesetze  oder  noch  besser  em- 
pirischen Gleichförmigkeiten  zu  finden  streben  müsse. 

Wo  aber  sind  diese  Gleichförmigkeiten  zu  suchen?  — 
Die  an  die  Sociologie  anknüpfenden  Historiker  haben  mit 
Recht  gefunden,  dafs  der  einzelne  Mensch  nur  zum  Teile 
individuell  ist,  dafs  die  Elemente  seines  Bewufstseins  zum 
andern  Teile  in  der  herrschenden  Weltanschauung,  in  der  er 
lebt,  begründet  sind.  So  unterscheidet  Lacombb^)  am  Menschen 
dreierlei:  1.  den  allgemeinen  Menschen,  den  Menschen  als 
Naturwesen,  d.  h.  alle  diejenigen  Merkmale,  die  Sache  der 
allgemeinen  Biologie  (der  Anthropologie  und  Psychologie)  sind ; 


ankliDgende  Satz  Goethes  ist  citiert  bei  W.  Dilthet,   Einleitung  in  die 
Geisteswissenschaften,  I,  Leipzig  1883,  S.  66. 

^)  Yergl.  mein  oben  genanntes  Buch,  S.  33  £f. 

^  Logik,  Buch  III,  5.  Kap.,  §  8  und  22.  Kap. 

^)  L'histoire  comme  science,   Paris  1894.     Vergl.   mein   oben  ge- 
nanntes Buch,  S.  79  ff. 

Yierteljahrsschrift  f.  wisBenschaftl.  Philosophie.   XXm.  3.  28 


342  Paul  Barth: 

2.  den  singulären  Menschen,  der  bestimmte  individuelle  Merk- 
male trägt;  3.  den  temporären  oder  historischen  Menschen, 
der  nicht  nur  allgemein  menschliche,  ewige,  auch  nicht  nur 
singulare,  nur  einmal  vorhandene  Züge  aufweist,  sondern  solche, 
die  den  Menschen  eines  bestimmten  Gebiets  und  einer  be- 
stimmten Epoche  gemeinsam,  die  lür  ihren  Zeitabschnitt  typisch 
sind.  Und  dieselbe  Dreiheit  der  Merkmale  unterscheidet  er 
an  jeder  einzigen  menschlichen  Handlung  und  an  jedem  ge- 
schichtlichen Ereignis,  das  ja  aus  einer  oder  aus  mehreren 
menschlichen  Handlungen  besteht. 

Es  ist  nun  offenbar,  dafs  das  Singulare,  bei  jedem  Ver- 
schiedene, beständig  Wechselnde  nicht  auf  einer  beständigen 
Ursache,  sondern  auf  einem  beständig  veränderlichen  Zusammen- 
wirken vieler  Ursachen  beruht,  dafe  dieses  Zusammenwirken 
so  mannigfaltig  wie  die  Individuen  selbst  ist  und  wegen  der 
oben  erwähnten  Komplikation  der  psychischen  Kausalität,  von 
sehr  wenigen  genau  bekannten  Persönlichkeiten  abgesehen,  sich 
unserer-  Erkenntnis  entzieht,  dafs  aber  dasjenige,  was  an 
Personen  und  an  Ereignissen  typisch  ist,  was  sich  an  aUen 
oder  den  meisten  Personen  eines  Landes  eine  geschichtliche 
Periode  hindurch  wiederholt,  auf  einer  alle  betreffenden  und 
zugleich  dauernden  und,  weil  so  oft  und  in  so  vielen  wirksam, 
nicht  verborgen  bleibenden  Ursache  beruht,  nämlich  auf  einer 
bestimmten,  allgemein  verbreiteten  Weltanschauung  oder  einer 
Einrichtung,  die  teils  aus  dieser  Weltanschauung,  teils  aus 
den  einer  bestimmten  Klasse  oder  einem  ganzen  Volke  gemein- 
samen Bedürfhissen  hervorgegangen  ist.  —  Solche  Weltan- 
schauungen und  Einrichtungen  sind,  weil  Ursachen  so  vieler 
Handlungen,  auch  besonders  wichtig.  Der  denkende  Betrachter 
der  Geschichte  wird  sie  darum  herausheben  und  in  möglichst 
bestimmten  Ausdrücken  definieren.  Wenn  er  bei  anderen 
Völkern  in  gewissen  Epochen  ähnliche  Einrichtungen  und 
ähnliche  Weltanschauungen  findet,  so  wird  er  eine  Gleich- 
förmigkeit, d.  h.  ein  empirisches  Gesetz  aufstellen  können, 
dafs  in  dieser  und  jener  Periode  der  Geschichte  eines  Volkes 
sich  dieser  oder  jener  Inhalt  der  Religion  und  diese  oder  jene 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  343 

Einrichtung  findet.  Es  ist  dies,  wie  gesagt,  zunächst  nur  ein 
empirisches  Gesetz,  eine  Gleichförmigkeit,  aber  keineswegs 
wertlos,  da  es  zur  Vereinheitlichung  des  Wissens  dient.  Je 
gröfser  die  Zahl  der  Stufen  des  Völkerlebens  ist,  durch  die 
hindurch  sich  die  Gleichförmigkeit  der  Entwicklung  nach- 
weisen läfst,  desto  mehr  dient  sie  der  Vereinheitlichung  des 
Wissens,  desto  mehr  erlaubt  sie  auch  Analogieschlüsse  von 
der  Entwicklung  eines  vorausgeeilten  Volkes  auf  ein  anderes, 
das  langsamer  gegangen  ist,  Analogieschlüsse,  die  desto 
richtiger  sein  werden,  wenn  sie  neben  den  Gleichheiten  auch 
die  Verschiedenheiten  der  jedesmaligen  Lagen  in  Eechnung 
ziehen,  desto  mehr  giebt  die  Gleichförmigkeit  den  „positiven 
Nutzen",    den  Below  erwähnt  und  sehr  betont. 

Nach  Windelband,  ^)  dem  Below  (S.  239)  beistimmt, 
sind  es  freilich  „nur  ein  paar  triviale  Allgemeinheiten,  die 
sich  nur  mit  der  sorgfältigen  Zergliederung  ihrer  zahlreichen 
Ausnahmen  entschuldigen  lassen",  was  bei  solchem  Streben 
herauskommt.  Aus  dem  Zusammenhange,  in  dem  diese  Worte 
stehen,  geht  hervor,  dafs  Windelband  dabei  an  die  „soge- 
nannte Geschichtsphilosophie  des  Positivismus",  also  an  Comte 
gedacht  hat.  Ich  will  hier  nicht  über  den  Wert  dieser  Ge- 
schichtsphilosophie rechten,  weil  es,  wie  hoch  oder  wie  niedrig 
dieser  sei,  nicht  billig  ist,  die  Sociologie,  die  bei  Comte  mit 
der  Geschichtsphilosophie  identisch  ist,  endgültig  nach  ihren 
ersten  Anfängen  zu  beurteilen.  Hätte  Windelband  an  die 
allgemeinen  Wahrheiten  gedacht,  die,  durch  Comte  angeregt, 
die  späteren  Sociologen  von  ihm  bis  zur  Gegenwart,  etwa 
bis  B.  KiDD,  nach  sehr  breiter  Induktion  teils  gefiinden  haben, 
teils  aus  den  Thatsachen  hätten  entnehmen  können,  z.  B.  an 
die  extensiv  und  intensiv  wachsende  Autonomie  der  Persön- 
lichkeit, wie  sie  in  unserem  ganzen  Kulturkreise  seit  dem 
Erwachen  der  Persönlichkeit,  d.  h.  seit  dem  Ende  der  Gentil- 
verfassung,  sich  in  der  Rechtsgeschichte  deutlich  offenbart,^) 

^)  Geschichte  u.  Naturwissenschaft,  Eektoratsrede,  Strafsburg  1894,  S.  21 . 

^)  Vergl.  H.  S.  Maine,  Ancient  Law,  am  Ende  des  5.  Kap.  Auch 
meine  Abhandlung:  Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit, 
in  der  Viertetjahrsschrift  für  wissenschaftl.  Philosophie,   XXIII,   S.  82  ff. 

23* 


344  I'aal  Barth: 

an  den  überall  bei  den  geschichtlichen  Völkern  nachweisbaren 
oder  erschliefsbaren  Gang  der  Religion  vom  Geisterglauben 
dnrch  den  Animismus,  den  naturalistischen  Polytheismus,  die 
Gesetzesreligion  bis  zur  Religion  der  Gesinnung,  an  die  nach- 
weisbare stetige  Zunahme  des  Mitleids,  die  wahrscheinlich 
auch  die  Zunahme  der  Mitfreude  einschliefst,  ^)  an  die  steigende 
Vergeistigung  und  VerinnerUchung  des  künstlerischen  Schaffens, 
wie  sie  trotz  vielen  vorübergehenden  Rückfällen  in  der  Kunst- 
geschichte sich  darstellt  und  schon  der  HEOEL'schen  Unter- 
scheidung der  symbolischen,  der  klassischen  und  der  ro- 
mantischen Kunst  als  Thatsachenkem  zu  Grunde  liegt,  — 
wenn  Windelband  alle  diese  Entwicklungstendenzen  und  so 
manches  andere,  was  die  nicht  blofe  in  den  Naturwissen- 
schaften, etwa  in  der  vergleichenden  Anatomie,  sondern  auch 
in  der  Geschichte  sehr  mächtige  vergleichende  Methode  ge- 
funden hat,  seiner  Beachtung  gewürdigt  hätte,  so  wäre  sein 
Urteil  über  die  von  der  Sociologie  ermöglichten  Allgemein- 
heiten sicherlich  anders  ausgefallen.  Wer  die  angeführten 
geschichtlichen  Bewegungsrichtungen  unbefangen  betrachtet, 
wird  ihre  Auffindung  nicht  für  trivial  halten.  Auch  nicht  für 
praktisch  bedeutungslos.  Sie  ist  nach  beiden  Seiten,  nach 
der  praktischen  wie  nach  der  theoretischen,  mindestens  ebenso 
wichtig,  wie  jene  obenerwähnte  „wissenschaftliche  Entdeckung 
allerersten  Ranges"  von  Ranke  (über  den  Einflufs  der  aus- 
wärtigen Verhältnisse  auf  die  inneren  Vorgänge  der  Staaten), 
die  nach  Below  „alle  Entdeckungen  der  Nationalökonomen  und 
Sociologen,  von  den  modernen  Geschichtsklitterem  gar  nicht 
zu  reden,  bei  weitem  hinter  sich  läfst"  (S.  240). 

Und  ärmlich  dürfen  ja  die  Allgemeinheiten  nicht  sein, 
denn  sie  sind  es  ja,  von  denen  Below  „positiven  Nutzen** 
erwartet.  Sie  sind  in  der  That  diejenigen  Ergebnisse  der 
Geschichte,  aus  denen  der  Politiker  seine  Schlüsse  auf  die 
Zukunft  ziehen  kann.  Solche  Schlüsse  sind,  wie  oben  bemerkt, 
solange  es  sich  um  empirische  Gesetze  handelt,  blofs  Analogie- 
schlüsse, aber  auch  solche  sind  für  das. Leben  wertvoll. 

^)  Vergl.  meine  vorstehend  genannte  Abhandlung  S.  96 — 99. 


\ 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  345 

Z.  B.  „Ich  werde  sterben'',  dieser  Schlufs  ist,  wenn  man  die  Er- 
fahrung der  Menschheit  in  Bechnung  zieht,  ein  Induktionsschlufs,  beruhend 
auf  der  seit  Jahrtausenden  gemachten  Beobachtung,  dafs  die  Menschen  ge- 
storben sind.  Dem  Obersatz  dieses  Induktionsschlusses  hat  man  sogar 
ganz  allgemeine  Form  gegeben:  „Alle  Menschen  sind  sterblich'',  obgleich 
er  nur  ein  empirisches,  nicht  ein  Kausalgesetz  ist.  Denn  die  chemischen 
Ursachen  der  Sterblichkeit  sind  unbekannt.  Wir  haben  für  jenen  Obersatz 
nur  einen  Erkenntnis-,  nicht  einen  Bealgrund.  Für  des  Einzelnen  Beobachtung 
aber,  wenn  man  unmittelbare  Wahrnehmung  verlangt,  ist  der  Schlufs  „ich 
werde  sterben''  nur  ein  Analogieschlufs.  Denn  aus  unmittelbarer  Wahr- 
nehmung kennt  jeder  nur  wenige  Todesfalle.  Was  man  aber  aus  nur 
wenigen  Fällen  schliefst,  ist  ein  Analogieschlufs.  Und  so  liegen  überhaupt 
unserem  privaten  Thun  und  Lassen  neben  anderen  Arten  der  Folgerung 
auch  unzählige  Analogieschlüsse  zu  Grunde.  Es  sind  also  auch  blofse 
Analogieschlüsse  keineswegs  zu  verachten. 

Aber  freilich  noch  wertvoller  als  empirische  Gesetze 
sind  die  Kausalgesetze.  Sie  geben  eben  die  konstant  wirken- 
den Ursachen,  die  hinter  den  Erscheinungen  hegen,  sie  geben 
ihren  Wirkungsmodus,  einige  wenige  einfache  Momente,  aus 
deren  Zusammenwirken  die  komplizierteren  empirischen  Ge- 
setze abzuleiten  sind.  Und  so  wird  auch  die  Geschichte  nach 
den  Ursachen  ihrer  empirisch  festgestellten  Gleichförmigkeiten 
suchen.  Die  Ursachen  aber  der  menschlichen  Handlungen 
sind  die  Zustände  und  die  Vorgänge  in  den  menschUchen 
Seelen.  Und  so  mufs  die  Geschichte,  die  nach  Gesetzen 
sucht,  notwendig  die  Psychologie  zur  Hilfswissenschaft  nehmen. 

Hier  tritt  uns  nun  die  oft  wiederholte  Behauptung  ent- 
gegen, auch  so,  wenn  sie  Zustände  psychologisch  erklären 
wolle,  komme  die  Geschichte  doch  zu  keinem  „naturwissen- 
schaftUchen  Verfahren",  denn  sie  könne  die  jetzt  herrschende 
„naturwissenschaftlich  begründete"  Psychologie  nicht  brauchen, 
sie  bedürfe  vielmehr  einer  besonderen  „historischen"  Psychologie. 

Diese  Ansicht  ist  mit  dem  Versuche  einer  Beweisführung 
von  W.  DiLTHBY^)  aufgestellt,  von  anderen  als  blofse  Be- 
hauptung ausgesprochen  worden.  Aber  was  Dilthet  gegen 
die  „erklärende"  Psychologie  einwendet,  die  bei  ihm  mit  der 


1)  In  dem  ohen  angeführten  Werke  S.  40  ff.  Auch  in  einer  Ab- 
handlung in  den  Berichten  der  Berliner  Akademie  der  Wissen- 
schaften 1894,  II,  S.  1313  ff.:  Ideen  über  eine  beschreibende  und  zer- 
gliedernde Psychologie. 


346  Paul  Barth: 

„naturwissenschaftlichen"  gleichbedeutend  ist,  das  wird  teils 
ohne  weiteres  von  dieser  anerkannt,^)  giebt  also  keinen  Grund 
für  eine  neue  Wissenschaft  ab,  teils  ist  es  unzutreffend.  Wenn 
DiLTHEY  durch  die  seiner  „historischen"  Psychologie  gegebenen 
Beiwörter  „beschreibend  und  zergliedernd"  den  komplexen 
Charakter  jeder  geschichtlichen  Erscheinung  bezeichnen  wül, 
der  die  in  den  Naturwissenschaften  bisweilen  mögliche  Er- 
klärung aus  einem  einzigen  Prinzip  nicht  zulasse,  so  wird 
die  heutige  „naturwissenschaftliche"  Psychologie  dies  ohne 
weiteres  zugeben.  Was  aber  den  von  Dilthey  gegen  sie 
gleichfalls  behaupteten  Gebrauch  allzu  vieler  Hypothesen  be- 
trifft, so  hat  H.  Ebbinghaus  ^  diesen  Vorwurf  genügend  ent- 
kräftet. Die  gegenwärtige  induktiv  und,  so  weit  möglich, 
experimentell  arbeitende  Psychologie  hat  weniger  Hypothesen, 
als  die  psychologischen  Systeme  der  Vergangenheit,  deren 
einem  ihre  Gegner  doch  anhängen  müssen. 

Was  man  mit  Recht  historische  Psychologie  nennt,  unter- 
scheidet sich  von  der  allgemeinen  wissenschaftlichen  Psycho- 
logie nicht  anders,  als  die  Meteorologie  von  der  Physik.  Es 
ist  einfach  eine  Anwendung  der  allgemeinen  Wissenschaft, 
um  aus  ihren  Gesetzen  komplexe  Erscheinungen  zu  erklären. 
Wie  es  aber  niemandem  einfallen  wird,  aus  einer  Anwendung 
der  Physik,  der  Meteorologie,  eine  besondere  Art  der  Physik 
zu  machen,  so  sollte  auch  niemand  aus  einer  Anwendung  der 
Psychologie  eine  besondere  Art  der  Psychologie  machen  wollen. 

Nicht  dafs  man  ohne  weiteres  die  physikalischen  Gesetze 
auf  die  Erscheinungen  des  Wetters  übertragen  könnte.  Auch 
hier  bedarf  es  neuer  Induktion,  vielleicht  neuer,  im  Labora- 
torium nicht  vorkommender  üntersuchungsarbeiten.  Das 
DovE'sche  Gesetz  der  Winddrehung  ist  nicht  durch  Deduktion 
aus  bekannten  physikalischen  Gesetzen,  sondern  aus  den  be- 
obachteten Thatsachen  gefunden  worden.  Aber  es  ist,  nach- 
dem es  als  empirisches  Gesetz  gefunden  war,   nach  den  all- 


*)  Vergl.   Zeitschrift  für  Psychologie  uod  Physiologie  der  Sinnes- 
organe, Bd.  IX,  S.  180—184. 
a)  A.  a.  0.  S.  201  if. 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  347 

gemeineren  Gesetzen  der  Physik  aus  der  Mechanik  der  Luft- 
strömungen und  der  Erddrehung  erklärt  worden.  Kein  Meteoro- 
loge wird  sich  seine  besondere  „Physik"  machen,  sondern 
sich  durch  das  Studium  der  allgemeinen  Physik  für  sein  be- 
sonderes Fach  vorbereiten. 

Und  genau  so  verhält  es  sich  mit  der  Anwendung  der 
Psychologie  auf  die  Geschichte.  Der  künftige  wissenschaft- 
liche Historiker  wird  Psychologie  studieren,  und  zwar  die 
einzige,  die  es  giebt,  nicht  eine  vermeintliche  „historische", 
von  der  immerfort  gesprochen  wird,  aus  der  aber  noch  keiner 
ihrer  Sachwalter  eine  etwa  der  wissenschaftlichen  Psychologie 
nicht  bekannte  oder  nicht  zugängliche  Wahrheit  gelehrt  hat. 

Der  Psychologe  wird  natürlich  —  und  das  ist  einer  der 
den  Anwälten  der  „historischen  Psychologie"  vorschwebenden 
Unterschiede,  ihr  logischer  Beweggrund  —  nicht  vergessen, 
dafs  die  seelischen  Vorgänge  einen  anderen  Charakter  an- 
nehmen, wenn  sie  nicht  mehr  individuell,  sondern  einer  Menge, 
vielleicht  einer  bestimmt  abgegrenzten  Menge,  einem  Volke 
oder  einer  Staatsgemeinde  innerhalb  eines  Volkes,  oder  einem 
anderen  gröfseren  Kreise  gemeinsam  sind.  E.  de  Robebty  ^) 
hat,  um  die  Annahme  eines  besonderen  socialen  „Psychismus" 
im  Gegensatze  zum  seelischen  Einzelleben  zu  Stützen,  darauf 
aufmerksam  gemacht,  dafs  ein  Wassertropfen  ein  anderes  physi- 
kalisches Verhalten  aufweist  als  eine  Wassermasse;  er  hätte 
mit  noch  gröfserem  Rechte  darauf  hinweisen  können,  dafs 
Wasser  in  feinen  Röhren,  sogenannten  Kapillarröhren,  sogar 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  von  der  Schwerkraft  unabhängig 
ist  und  Eigenschaften  zeigt,  die  es  in  weiteren  Röhren  durch- 
aus nicht  hat.  Aber  die  auffallige  Thatsache  der  Kapillar- 
attraktion begründet  durchaus  keine  besondere  Art  der 
Physik,  sondern  sie  wird  schliefslich  den  allgemein  aner- 
kannten physikalischen  Begriffen  und  Gesetzen  untergeordnet. 

Ebenso  zeigen  seelische  Prozesse  und  Zustände,  die  der 
Menge  gemeinsam  sind,  andere  Erscheinungen  als  diejenigen, 


1)  L'id6e  de  P6volution  et  l'hypothese  du  psychisme  social  in  der 
Eevue  philoaophique,  Vol.  46  (1898),  No.  7,  S.  1—18. 


348  Paul  Barth: 

die  auf  den  Einzelnen  beschränkt  sind.  Sind  es  Vorstellungen 
über  objektive  oder  sittliche  Verhältnisse,  so  haben  sie  eben 
dadurch,  dafs  sie  vielen  gemeinsam  sind,  schon  eine  gröisere 
Überzeugungskraft,  die  der  Vorstellung  eines  Individuums 
fehlt.  Führen  die  gemeinsamen  Vorstellungen  zu  Handlungen, 
so  haben  diese  Handlungen  eine  viel  stärkere  Suggestions- 
kraft, weil  sie  öfter  wiederholt  werden,  als  die  eines  Einzelnen; 
sie  werden,  solange  nicht  die  allmählich  gegen  den  Reiz  sich 
geltend  machende  Ermüdung  und  Abstumpfung  wirkt,  viel 
kräftiger  zur  Nachahmung  anregen,  als  was  nur  von  Einem 
geschieht.  Sie  sind  darum  die  Handlungen,  die  Macht  ge- 
winnen, die  das  Leben  des  Volkes  ausmachen  und  gestalten, 
die  „historischen"  Handlungen.  Und  jede  Vorstellung  eines 
Einzelnen  ist  nur  so  weit  historisch,  als  sie  allgemeine  An- 
erkennung findet  und  dadurch  nicht  blofs  seine,  sondern  auch 
der  anderen  Handlungen  bestimmt.  Freilich  streben  alle  Vor- 
stellungen, alle  Ideen  danach,  sich  zu  jener  allgemeinen  An- 
erkennung durchzusetzen;  es  giebt  einen  Kampf  der  Ideen 
ums  Dasein,  d.  h.  um  Anerkennung,  aber  nur  wenige  siegen, 
und  nur  diese  erwerben  den  auszeichnenden  Charakter,  Ge- 
schichte zu  machen,  geschichtlich  zu  sein.  Diejenigen  Vor- 
stellungen, die  im  Privatgebrauche  bleiben,  sind  nicht  ge- 
schichtlich, sie  können  ja  vielleicht  später  dazu  gelangen ;  so- 
lange sie  aber  nur  in  einem  Einzelnen  leben,  gehören  sie  nicht 
in  die  Geschichte,  sondern  in  die  allgemeine  Psychologie,  und 
zwar  in  denjenigen  Teil,  der  die  Möglichkeiten  individueller 
Kombination  der  Seelenvorgänge  untersucht.  Und  ebenso  wie 
mit  den  Vorstellungen  verhält  es  sich  mit  den  Gefühlen  und 
Willensakten. 

Aber  die  Thatsache,  dafs  es  eine  besondere,  ausgezeichnete 
Art  von  Vorstellungen  und  Gefühlen  giebt,  die  geschicht- 
lichen, begründet  keine  besondere  Psychologie.  Es  läfst  sich 
ja  der  besondere  Charakter  der  geschichtlichen  Vorstellungen 
und  Gefühle  durchaus  mit  den  Mitteln  der  am  Individuum  be- 
obachtenden wissenschaftlichen  Psychologie  analysieren  und 
begreifen.     Die  Begriffe   der  Suggestion,  der   Abhängigkeit 


Fragen  der  GeBchichtswissenschaft.  349 

der  Empfindung  und  des  Gefühls  von  der  Dauer,  ^)  die  Begriffe 
der  Übung,  der  Ermüdung  und  Abstumpfting,  alle  diese  und 
andere  genügen  eine  geschichtliche  Bewegung  zu  erklären,  wie 
die  im  kleinen  Laboratorium  gewonnenen  Ergebnisse  genügen, 
um  die  grofse  Naturerscheinung  eines  Grewitters  zu  begreifen. 
Wer  einmal  psychologisch  gründlich  gearbeitet  hat,  der 
hat  damit  auch  eine  Vorbildung  für  die  Erkenntnis  grofser 
geschichtlicher  Erscheinungen  gewonnen.  Und  umgekehrt, 
wer  geschichtliche  Erscheinungen  beobachtet  hat,  der  wird 
gewisse  Gleichförmigkeiten,  empirische  Gesetze  finden,  deren 
letzte  Erklärung  ihm  nur  die  Psychologie  giebt.  Betrachten 
wir  ein  Beispiel  des  letzten  Falles. 

Jedem  denkenden  Historiker  ist  gewifs  oft  genug  die 
Thatsache  aufgefallen,  dafs  zum  Teil  die  Erscheinungen  des 
äufseren  Lebens,  die  Politik  und  die  Wirtschaft,  noch  mehr 
aber,  sogar  fast  ausnahmslos  diejenigen  des  inneren  Lebens, 
der  Philosophie,  der  Künste,  der  Wissenschaft,  auch  der  Religion 
—  innerhalb  eines  bestimmten  Kulturkreises  —  in  ihrer  Ab- 
folge sich  in  Kontrasten  bewegen,  dafs  eine  Richtung  herrscht, 
eine  ihr  entgegengesetzte  auftritt,  zuerst  unbeachtet  bleibt, 
aber  gerade  durch  ihren  Gegensatz  bei  Einigen  desto  stärkeren 
Eindruck  macht,  bis  sie  allmählich  alle  gewinnt  und  der  alten 
Richtung  gegenüber  sich  durchsetzt,  um  ihrerseits  zu  herrschen. 
Dies  ist  zunächst  ein  empirisches  Gesetz,  eine  blofse  Gleich- 
förmigkeit. Indem  aber  W.  Wundt  die  wirkende  Ursache, 
die  auch  in  der  individuellen  Psychologie  wirkende  „Kontrast- 
verstärkung" aufwies,*^)  war  er  berechtigt,  dieses  „Gesetz 
der  historischen  Kontraste"  als  ein  kausales  zu  betrachten 
und  es  den  andern  beiden  von  ihm  formulierten  historischen 
Gesetzen,  dem  der  historischen  Resultanten  und  dem  der 
historischen  Relationen,  an  die  Seite  zu  stellen.  Nebenbei 
bemerkt,  —  diese  „historischen   Gesetze"   Wundts   sind   so 


')  Vergl.  W.  WuHDT,  Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie, 
4.  Aufl.,  Leipzig  1893,  I,  S.  676.  0.  Külpb,  Grundrifs  der  Psychologie, 
Leipzig  1893,  S.  236. 

«)  Logik,  2.  Aufl.,  II,  2,  S.  282  ff.  und  413  ff. 


350  Paul  Barth: 

allgemein,  so  sehr  psychologisch  zugleich,  weil  sie  eben  kausale, 
nicht  empirische  Gesetze  sein  wollen  und  darum,  wie  oben 
erwähnt,  auf  die  konstante  Ursache  aller  Geschichte,  auf  die 
menschliche  Seele  zurückgehen  müssen. 

Man  kann  ja  nun  das  Gesetz  (oder  Prinzip)  der  Kon- 
trastverstärkung alltäglich  an  seiner  eigenen  Seele  erfahren. 
Eine  niedrige  Temperatur,  in  die  wir  plötzlich  eintreten,  wird 
sehr  lebhaft  gefühlt,  wenn  wir  aus  einer  höheren  kommen, 
während  sie  nach  einiger  Übergangszeit  ganz  indifferent  ist. 
Jede  Süfsigkeit  wirkt  um  so  mehr,  je  bitterer  der  vorher 
gekostete  Gegenstand  war.  Aber  noch  intimer,  noch  viel 
anschaulicher  wird  derjenige  das  Gesetz  der  Kontrastver- 
stärkung kennen  lernen,  der  es  im  Laboratorium  studiert. 
Er  wird  die  eigentümliche  Wirkung  des  Kontrastes  alltäglich 
auf  allen  Sinnesgebieten,  bei  den  Farben,  von  denen  die  kon- 
trastierenden sich  gegenseitig  heben,  bei  den  Tönen,  sowohl 
wenn  es  sich  um  Schallstärken  als  auch  wenn  es  sich  um 
Beurteilung  der  Tonhöhe  handelt,  beim  Geschmacke,  beim 
Gerüche,  beim  Tastsinne,  beim  Zeitsinne  und  ebenso  wie  bei 
den  Empfindungen  auch  bei  den  Gefühlen  erfahren  und  von 
der  Wichtigkeit  des  Kontrastes  ein  noch  viel  lebendigeres 
Bild  als  der  blofse  Gelegenheitspsychologe  erlangen. 

Und  so  wird  der  experimentelle  Psychologe  im  Mikro- 
kosmos seiner  Werkstatt  ausgerüstet  für  das  Verständnis  des 
Makrokosmos  der  Geschichte.  Denn  das  Gesetz  der  Kon- 
trastverstärkung spielt  in  diesem  eine  grofse  Rolle.  Es  er- 
klärt uns  allerlei  Abweichungen  von  der  zu  erwartenden, 
weil  schliesslich  allein  dauerhaften,  richtigen  Mitte,  wie  sie 
in  der  Geschichte  infolge  der  Ablenkung  des  sachlichen 
Denkens  durch  das  Gefühl  regelmäfsig  vorkommen,  sich  in 
der  Wissenschaft  in  Zukunft  vielleicht  vermindern,  im  Leben 
aber  (trotz  Spencers  Ideal  eines  Gleichgewichtszustandes) 
ihren  Schauplatz  nur  von  der  äufseren  Welt  mehr  in  die 
innere  verlegen  werden. 

In  der  griechischen  Philosophie  z.  B.  ist  der  Kynismus  allein  ans 
dem  psychologischen  Gegensatze  gegen  den  Eudämonismus  des  Sokhates 
und  Plato  und  den  Hedonimus  der  Kyrenaiker  zu  erklären.    Und  zwar  war 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  351 

es  eben  mehr  die  psychologische  Wirkung,  die  der  Begriff  der  Bedürfnis- 
losigkeit hervorrief,  als  die  äufsere  Lage,  was  viele  zum  Kynismus  trieb. 
Die  Eyniker  sind  keineswegs  alle  arm,  sondern  manche  sehr  wohlhabend.  ^) 
Noch  wichtiger  aber  ist  das  Prinzip  der  verstärkenden  Kontrastwirkung 
für  die  Erklärung  der  intensivsten  geistigen  Bewegung,  die  es  bisher 
gegeben  hat,  der  Ausbreitung  des  Christentums.  Der  tiefe  Eindruck,  den 
es  auf  die  Menschen  der  römischen  Eaiserzeit  machte,  ist  nur  zu  ver- 
stehen aus  dem  vollen  Gegensatze,  in  den  es  zu  ihrer  Weltanschauung 
trat.  Dem  orthodoxen  Judentume  gegenüber  setzte  es  eine  Bewegung 
fort,  die  schon  lange  bestand,  die  dem  Gesetze  und  dem  Opfer  die  Tugend 
und  zwar  besonders  die  Gerechtigkeit  entgegen  stellte.  Die  Lehre  der 
Evangelien  und  des  Paulus  betont  dem  Gesetze  gegenüber  die  Gesinnung. 
Noch  mehr  aber  als  zum  Judentume  tritt  sie  zum  Kömertume  in  Wider- 
spruch. Gegen  das  „regere  imperio  populos"  und  „debellare  superbos", 
das  ViBftiL  als  Mission  der  Römer  preist,  heilst  es :  „Selig  sind  iie  Sanfte 
mutigen,  denn  sie  werden  das  Erdreich  besitzen".  Gegen  den  Kaiser 
Caligula,  der  sich  Jupiter  Latiaris  nannte,  und  die  anderen  Cäsaren,  die 
nach  ihrem  Tode  göttlich  verehrt  wurden:  „Selig  sind  die  Friedfertigen, 
denn  sie  werden  Gottes  Kinder  heifsen."  Gegen  den  Materialismus  und 
die  Genufssucht  des  Römertums,  gegen  sein  „rem  augere" :  „Sammelt  euch 
Schätze,  die  weder  Motten  noch  Rost  fressen,"  und  Empfehlung  der  Askese 
(Matthäus  19,  12).  Gegen  die  Verachtung  des  Armen,  der  nach  römischer 
Anschauung  immer  ruchlos  sein  mufs,  nie  z.  B.  die  Wahrheit  schwur  2): 
„Es  ist  leichter,  dafs  ein  Kamel  durch  ein  Nadelöhr  gehe,  als  dafs  ein 
Reicher  ins  Reich  Gottes  komme."  Vergl.  auch  1.  Kor.  1,  28:  „Das  Un- 
edle vor  der  Welt  und  das  Verachtete  hat  Gott  erwählt."  Gegen  die 
hellenische  Hochschätzung  desForschens  und  Wissens  (Aristoteles:  ^  d^emgla 
zb  riÖLCTov  xal  aQioxov):  „Was  thöricht  ist  vor  der  Welt,  das  hat  Gott 
erwählt,  dafs  er  die  Weisen  zu  Schanden  mache"  (1.  Kor.  1,  27).  Vergl. 
auch  1.  Kor.  3,  19.  Auch  gegen  die  Geringschätzung  der  Kinder,  wie 
sie  sich  in  der  von  Augustus  vergeblich  bekämpften  römischen  Neigung 
zur  Ehelosigkeit  offenbart,  nicht  minder  in  der  unbeschränkten  patria 
potestas,  die  dem  Vater  erlaubt,  das  Kind  auszusetzen,  zu  töten  oder 
dreimal  zu  verkaufen,  die  Hochschätzung  der  Kinder,  wie  sie  Matthäus  19, 14, 
Marcus  10,  14—16  und  Lucas  18,  16  u.  17  ausgesprochen  wird.  Gegen 
die  römische  Todesfurcht,  wie  sie  uns  z.  B.  bei  Horaz  entgegentritt: 
„Tod,  wo  ist  dein  Stachel,  Hölle,  wo  ist  dein  Sieg!"  Gegen  den  römischen 
Kultus  der  Gewalt,  die  auch  vor  der  religiösen  Überzeugung  der  Unter- 
worfenen nicht  Halt  machte,  der  Glaube  an  die  Macht  der  Ideen,  Ab- 
neigung sogar  gegen  diejenige  Gewalt,  die  nicht  das  Gute,  sondern  das 
Schlechte  unterdrücken  will:  „Widerstrebet  nicht  dem  Übel!"  „Was 
schwach  ist  vor  der  Welt,  das  hat  Gott  erwählt,  dafs  er  zu  Schanden 
mache,  was  stark  ist"  (1.  Kor.  1,  27).  So  also  eine  völlige  „Umwertung 
aller  Werte",  wie  Nietzsche  mit  Recht  sagt,  aber  zugleich  durch  den 


1)  Vergl.  E.  Zeller,  Die  Philosophie  der  Griechen,  4.  Aufl.,  II,  1, 
Leipzig  1889,  S.  317. 

^)  Vergl.  JuvEMALis,  Satirae  III,  144  ff. 


352  Paul  Barth: 

Widersprach  eiidrucksvoll.  Wenn  man  die  verstärkende  Kontrastwirkung 
nicht  in  Rechnung  zieht,  so  steht  man  vor  der  Geschichte  der  ersten 
christlichen  Jahrhunderte  wie  vor  einem  Batsei. 

Und  so  wie  hier  das  Prinzip  der  verstärkenden  Kontrast- 
wirkung, so  wird  die  vnssenschaftliche  Geschichte  auch  andere 
psychologische  Gesetze,  z.  B.  das  Gesetz  der  schöpferischen 
Synthese  und  das  des  Wachstums  der  psychischen  Energie^) 
heranziehen,  um  die  durch  Induktion  gefundenen,  blofs  em- 
pirischen Gesetze  in  kausale  zu  verwandeln.  Es  giebt  also 
neben  der  darstellenden  noch  eine  zweite  Geschichtsschreibung, 
die  nicht  das  Einzelne,  Vorübergehende,  sondern  das  Allge- 
meine, Zuständliche  im  Auge  hat,  seine  Ähnlichkeiten  und 
Verschiedenheiten  im  Wechsel  der  Zeiten  und  der  Völker  be- 
stimmt und  möglichst  kausal  zu  verknüpfen  sucht.  Wie  die 
darstellende  Geschichte  der  Kunst,  so  ist  diese  zweite  in 
ihrer  erkenntnistheoretischen  Struktur  der  beschreibenden 
und  erklärenden  Wissenschaft  gleich.  Indessen  wäre  es  zu 
ihrer  Kennzeichnung  ungenügend,  diese  zweite  Art  beschreibend 
und  erklärend  zu  nennen.  Denn  die  darstellende  Geschichte 
beschreibt  und  erklärt  auch,  nämlich  die  einzelnen  Er- 
eignisse und  die  geschichtlichen  Thaten.  Auch  „wissen- 
schaftliche Geschichte"  ist  kein  empfehlenswerter  Name,  da 
er  auf  die  darstellende  den  Schein  werfen  könnte,  dafs  sie 
unwissenschaftlich  sei.  So  ist  es  am  besten,  sie  „begriffliche 
Geschichte"  zu  nennen.  In  dem  Beiwort  „begrifflich"  liegt 
beides:  dafs  sie  auf  das  Allgemeine,  nicht  auf  das  Einzelne 
ausgeht,  und  dafs  sie  nach  Möglichkeit  eine  Verbindung  unter 
den  Begriffen,  ein  System  zu  geben  sucht.  Da  es  bei  ihr 
sich  immer  um  die  Formen  der  Gesellschaft  und  die  ver- 
schiedenen Seiten  des  socialen  Lebens  handehi  wird,  so  wäre 
es  sachlich  noch  treffender,  sie  „sociologische  Geschichte"  zu 
nennen.  Indessen  der  erkenntnistheoretische  Gegensatz  zu 
der  anderen  Art,  der  doch  vrichtig  ist,  wird  durch  das  Bei- 
wort „begrifflich"  besser  bezeichnet. 


J)  Vergl.  W.  WüNDT,   Logik,  2.  Aufl.,  II,  2,  S.  267  ff.  und  276  ff. 


Fragen  der  GeBchichtswisBenschaft.  353 

Diese  begriffUche  Geschichte  ist  es,  die  Lampbecht  in 
seinen  programmatischen  Schriften  immer  im  Auge  hat.  Er 
stellt  sie  (S.  48  ff.)  als  Wissenschaft  schlechthin  der  anderen 
Art  der  Geschichte,  als  der  Kunst  gegenüber.  Sein  Programm 
ist  zweifellos  so  berechtigt,  wie  das  menschliche  Denken 
überhaupt.  Mit  Recht  gründet  er  es  auf  die  Natur  des  Ur- 
teils. Denn  wenn  wir  auch  Einzelurteile  fällen,  von  wissen- 
schaftlichem Werte  sind  nur  die  allgemeinen,  so  dafs  es  einen 
Logiker  giebt,  K.  Keoman,^)  der  die  Einzelurteile  aus  der 
Wissenschaft  überhaupt  ausschliefst. 

Nur  eine  Ergänzung  ist  zu  Lampeechts  Ausführungen 
nötig.  Er  unterscheidet  nicht  genügend  zwischen  empirischen 
und  kausalen  Gesetzen.  Dieser  Unterschied  schwebt  ihm  nur 
unbestimmt  vor,  wenn  er  meint  (S.  19),  dafs  „von  dem  schlecht- 
hin Individuellen  eine  unendliche  kontinuierliche  Stufenfolge 
hinaufflihrt  zu  dem  erfahrungsmäfsig  ausnahmslos  GenereUen". 
Die  empirischen  Gesetze  bilden  eben  für  die  Erkenntnis  die 
Mittelglieder  zwischen  den  Einzelthatsachen  und  den  Kausal- 
gesetzen. Mit  dieser  Unterscheidung  der  empirischen  und 
der  kausalen  Gesetze  erledigt  sich  auch  die  Frage  der  Differenz 
zwischen  „Entwickelung  und  gesetzmäfsiger  Entwickelung", 
die  Lampbecht  (S.  26  ff.)  berührt.  Beruht  eine  Entwickelung 
auf  einem  empirischen  Gesetze,  ist  sie  blofs  ein  bei  mehreren 
Völkern  nachgewiesenes  Nacheinander,  dann  ist  sie  weniger 
gewifs  als  eine  solche,  die  auf  ein  psychologisches  kausales 
Gesetz  zurückgeführt  ist.  Nur  die  letztere  ist  eine  gesetz- 
mäfsige  im  strengsten  Sinne. 

Wie  Lampbecht  in  der  „Deutschen  Geschichte"  sein 
Programm  ausgefiihrt  hat,  ist  hier  nicht  die  Frage  und  müfste 
aufser  Betracht  bleiben,  selbst  wenn  es  nicht  über  meine  Zu- 
ständigkeit hinausginge.  In  der  Konstruktion  seines  Ideals 
der  Geschichtsschreibung  ist  er  einheitlicher  und  folgerichtiger 
als  Below.  Auch  Below  wäre  folgerichtig  und  unanfechtbar, 
wenn  er  das  Wesen  der  Kausalität  schärfer  erfafst  und  an 


')  Kurzgefafste  Logik  und  Psychologie,  deutsch  von  F.  Bbndixkk, 
Leipzig  1890,  S.  1. 


354  Paul  Barth: 

der  darstellenden  Geschichte  mit  bewufster  Beschränkung  fest- 
gehalten hätte.  Indem  er  aber  durch  die  „allgemeinen  Wahr- 
heiten" von  „sehr  positivem  Nutzen"  der  anderen  Eichtung  Zu- 
geständnisse macht,  gerät  er  ins  Schwanken.  Dieses  Schwanken 
zeigt,  dafs  man  die  darstellende  Geschichte  als  sein  Ideal 
anerkennen,  der  begrifflichen  aber  doch  nicht  entbehren  kann. 

Vielmehr  sind  beide  Arten  der  Geschichte,  sowohl  die 
darstellende  wie  die  begriffliche,  gleich  notwendig.  Sie  er- 
gänzen sich  genau  so  wie  Anschauung  und  Denken.  Und 
wie  nach  Kant  Anschauungen  ohne  Begriffe  blind,  Begriffe 
ohne  Anschauungen  leer  sind,  so  ergeben  erst  beide  Arten 
zusammen  die  Erkenntnis  der  Vergangenheit.  Das  Verhältnis 
ist  nicht  gleich,  aber  ähnlich,  wie  das  zwischen  den  be- 
schreibenden und  den  erklärenden  Naturwissenschaften.  Der 
beschreibende  Naturforscher  richtet  sich,  wie  der  darstellende 
Historiker,  zunächst  auf  die  Thatsachen  und  möchte  nichts 
als  ihr  reiner  Spiegel  oder,  wenn  notwendig,  ihr  Mikroskop 
mit  achromatischer  Linse  sein.  Aber  dazu  wäre  nur  ein  Gott 
imstande;  der  Mensch  mufs  mit  Begriffen  an  die  Dinge 
herangehen,  nach  denen  er  einzelne  Merkmale  als  wichtigere 
vor  der  Fülle  der  anderen,  als  der  weniger  wichtigen,  bevor- 
zugt. Wer  etwa  die  Pflanzen  beschreiben  will,  der  mufs  ge- 
wisse bei  allen  in  abgestufter  Mannigfaltigkeit  vorkommende 
Merkmale  zu  Grunde  legen  und  nach  ihnen  eine  Systematik 
aufstellen,  mit  der  er  die  unbegrenzte  Menge  der  Erschei- 
nungen bewältigt,  wie  z.  B.  Linnä  die  Zahl  und  die  Form 
der  Staubgefäfse  und  die  Gestalt  des  Stempels  zu  Grundlagen 
seiner  Systematik  gewählt  hat.  Diese  Auswahl  jedoch  der 
wesentlichen  Merkmale  kann  nicht  geschehen  ohne  Rücksicht 
auf  ihren  physiologischen  Wert,  bedeutet  also  eine  Anleihe 
bei  einer  erklärenden  Naturwissenschaft,  der  Pflanzenphysio- 
logie. Und  umgekehrt  wird  natürlich  diese  den  Ergebnissen 
der  beschreibenden  Wissenschaft  volle  Beachtung  schenken,  da 
sie  ihr  Material  liefern  und  Fragen  stellen. 

So  sind  beide  Arten  der  Geschichte  jedem  Forscher  un- 
entbehrlich.   Ein  Rangstreit  zwischen  ihnen  wäre  ebenso  ver- 


Fragen  der  GeschichtswisBenschaft.  355 

kehrt  und  ebenso  überflüssig,  wie  etwa  ein  Rangstreit  zwischen 
Kunst  und  Wissenschaft.  Freilich  der  Philosophie  als  dem 
Streben  nach  allgemeiner,  darum  begrifflicher  Erkenntnis,  wird 
die  begriffliche  Geschichte  näher  sein  als  die  darstellende.  In 
diesem  Sinne  schrieb  ich  in  einem  der  Philosophie  (!)  der  Ge- 
schichte gewidmeten  Buche:  „Lamprechts  Ansicht  hat  so 
sehr  die  Kraft  der  Wahrheit  flir  sich,  dafs  ihre  Gegner  kaum 
noch  sich  zu  verteidigen  vermögen,  dagegen  Annäherungen 
an  sie  sich  unwillkürlich  aufdrängen*'.  Unter  den  Gegnern 
meinte  ich  diejenigen,  die  nur  die  darstellende  Geschichte 
anerkennen  wollen.  Dafs  diese  unwillkürlich  bei  Gelegenheit 
in  die  andere  Art  übergehen,  hat  Below  selbst  in  seiner 
Abhandlung,  vielleicht  wider  Willen,  bewiesen. 

Below  meint  (S.  245):  „Eine  wahre  Verflachung  der 
historischen  Betrachtung  bewirkt  die  naturwissenschaftliche 
Auffassung".  Die  naturwissenschaftliche,  die  mit  dem  natur- 
wissenschaftlichen Kausalbegriffe  arbeitet,  ganz  gewifs,  da  er 
hier  unberechtigt  ist,  wie  oben  erwiesen  wurde.  Und  selbst  die 
wissenschaftliche  Auffassung,  deren  Notwendigkeit  ich  zu  er- 
härten suchte,  kann  zur  Verflachung  fuhren.  Die  Verallge- 
meinerung ist  ein  Velociped  des  Erkennens,  das  auf  rauhem, 
zackigem,  mannigfach  gestaltetem  oder  auf  schlüpMgem  Boden 
leicht  zu  Unfällen  führt.  Aber  genau  ebenso  kann  die  Auffassung, 
die  Below  verteidigt,  zur  Verflachuug  führen,  zu  gedankenloser 
und  nutzloser  Anhäufung  von  Einzelheiten. 

Überhaupt,  die  begriffliche  Art  der  Geschichte  „natur- 
wissenschaftlich" zu  nennen,  ist  falsch.  Ihre  Methoden  sind  aller- 
dings naturwissenschaftlich,  wie  diejenigen  jeder  Wissenschaft. 
Aber  ihre  Begriffe  sind  nicht  naturwissenschaftlich,  wenigstens 
bei  keinem  Forscher,  der  sich  an  die  moderne  Psychologie 
hält.  Diese  weifs  wohl,  dafs  für  die  Welt  des  Geistes,  der 
sich  in  der  Geschichte  offenbart,  vor  allem  nicht  derselbe 
Begriff  der  Kausalität  gilt,  den  die  Naturwissenschaft  teils 
als  gültig  nachgewiesen  hat,  teils,  wo  es  noch  nicht  gelungen 
ist,  doch  —  bei  aller  Anerkennung  der  Ungleichheit  der 
Qualität  der  Vorgänge  fltr  die  Anschauung  —  als  gültig  nach- 


356  Paul  Barth: 

zuweisen  strebt,  nämlich  den,  der  die  quantitative  Gleichheit 
von  Ursache  und  Wirkung  einschliefst,  dafs  auch  andere 
Begriffe  der  Naturwissenschaft  nur  für  die  untermenschHche 
Welt  gelten,  z.  B.  der  Kampf  ums  Dasein  mit  rein  physischen 
Mitteln,  Fortschritt  durch  natlirliche  Zuchtwahl  allein,  All- 
macht der  physischen  Umgebung  u.  s.  w.  Wenn  man  also 
nicht  etwa  jede  Wissenschaft  überhaupt  Naturwissenschaft 
nennen  will,  so  hat  es  keinen  Sinn,  die  begriffliche  Geschichte 
so  zu  nennen.  ^)  Sie  hat  ja  ein  anderes  Stoffgebiet,  als  die 
Naturwissenschaft,  und  das  macht  die  Selbständigkeit  der 
Geschichte  aus,  für  die  Below  fürchtet,  nicht  die  Methode, 
die  ihr  mit  anderen  Wissenschaften  gemeinsam  sein  mufs. 
Ein  Muster  der  begrifflichen  Geschichte  hat  H.  Taine  in 
seinen  Origines  de  la  France  contemporaine  gegeben.  Nichts 
beleuchtet  den  Gegensatz  beider  Arten  der  Geschichts- 
schreibung besser,  als  sein  Verhältnis  zu  Cablyle.  Dieser 
giebt  beides,  die  alte  Regierung  wie  die  Revolution,  in  Einzel- 
bildern: Krankheit  und  Tod  Ludwigs  XV.,  Aufsteigen  der 
Montgolfifere,  die  Petition  in  Hieroglyphen  vom  Jahre  1775 
u.  s.  w.  Taine  hingegen  giebt  begriffliche  Darstellung 
der  Zustände,  der  Sitten,  der  Art  der  Regierung,  der 
Lebensansichten  mit  Statistik  und  Psychologie,  Eigen- 
namen und  Einzelfälle  aber  nur  zur  gelegentlichen  Ver- 
anschaulichung des  Allgemeinen.  Dafs  Taine  eine  „Ver- 
flachung der  historischen  Betrachtung"  bewirkt  habe,  kann 
ich  durchaus  nicht  finden.  Wer  es  behauptet,  der  nenne  erst 
einen  Geschichtsschreiber,  der  das  ancien  regime  so  vor  Augen 
fuhrt,  wie  Taine.     Toqueville  hat  nur  Vorarbeiten  geliefert 

Kaum  einem  bedeutenden  Geschichtsschreiber  ist  jemals 
die  begriffliche  Geschichte,  die  wie  jedes  System  von  BegriflFen 
notwendig  zu  einer  Geschichtsphilosophie  führt,  fremd  ge- 
wesen. Jeder  ist  mit  einer  geschichtsphilosophischen  An- 
schauung an  die  Erscheinungen  herangetreten  und  hat  —  oft 


')  Vergl.  über  die  schliersliche  Identität  wissenschaftlicher  und 
naturwissenschaftlicher  Methoden  (nicht  Begriffe!)  auch  F.  Bbbntjlno, 
Die  Zukunft  der  Philosophie,  Wien  1893,  S.  24  ff. 


Fragen  der  Geschichtswiesenschaft.  357 

mehr  instinktiv  als  bewufst  —  das  ausgewählt,  was  im  Lichte 
seiner  Anschauung  bedeutend  war.  Ja,  wie  oben  bemerkt, 
eine  reine  Beschreibung  ohne  zu  Grunde  liegendes  Begriffs- 
system ist  unmöglich.  Die  Anwälte  der  begrifflichen  Ge- 
schichte —  zu  denen,  weil  sie  allein  nicht  blofse  Kenntnisse, 
sondern  Erkenntnisse  giebt,  die  Philosophen  notwendiger- 
weise immer  gehören  müssen,  ohne  die  Unentbehrlichkeit  der 
darstellenden  leugnen  zu  wollen  —  wünschen  schliefslich  nur, 
dafs  das,  was  bisher  mehr  unbewufst  geschehen  ist,  künftig 
mit  mehr  Bewufstsein,  mit  mehr  philosophischer  Besinnung 
geschehe.  Und  wie  die  philosophische  Besinnung,  nach  langer 
Verachtung  der  Philosophie,  durch  Helmholtz  wieder  zu 
Ehren  gebracht,  der  deutschen  Naturwissenschaft  nichts  ge- 
schadet hat,  so  wird  sie  auch  sicherlich  der  deutschen  Ge- 
schichtsforschung und  Geschichtsschreibung  keineswegs  zum 
Schaden  gereichen. 

Die  instinktive  Eücksicht  auf  die  Forderungen  der  begrifflichen 
Geschichte,  die  die  bisherige  Geschichtsschreibung  genommen  hat,  habe 
ich  auch  in  meinem  oben  angeführten  Buche  genügend  anerkannt.  Es 
heilst  dort  S.  217:  „Der  Einzelne  als  solcher  ist  nicht  Gegenstand  der 
Geschichte,  sondern  der  Naturgeschichte.  Thatsächlich  hat  die  bisherige 
Geschichtsschreibung  auch  instinktiv  dies  erkannt.  Denn  ein  Individuum, 
das  weder  typisch  noch  führend  war,  ist  ihr  nie  ein  würdiger  Gegenstand 
gewesen".  Wenn  Bblow  (a.  a.  0.  S.  223  in  der  Anmerkung)  mir  zum 
Vorwurfe  macht,  dafs  ich  M.  Lehmanns  Ansichten  von  der  Bedeutung  des 
Einzelnen  nach  dem  in  der  Zeitschrift  für  Kulturgeschichte,  1894,  er- 
schienenen Referate  wiedergebe,  so  kann  ich  diesen  Vorwurf  durchaus 
nicht  als  berechtigt  anerkennen.  Woher  soll  ich  denn  wissen,  dafs 
M.  Lehmann  jenes  Referat  nicht  anerkennt?  Wenn  es  falsch  ist,  so  hatte 
er  doch  vom  Jahre  1894,  wo  es  erschien,  bis  zum  Jahre  1897,  wo  ich  es 
benutzt  habe,  Zeit,  es  zu  berichtigen.  Dies  ist  aber  sogar  bis  zum  Sommer 
1898  nicht  geschehen,  obgleich  Lampbbcht  in  der  „Zukunft"  vom  7.  No- 
vember 1896  und  zum  zweitenmale  in  der  vom  5.  März  1898  es  in  die 
öffentliche  Diskussion  gezogen  hatte.  Denn  auch  Bblow  sagt  von  jenem 
Referate  blofs  (S.  221):  „Ob  es  zuverlässig  ist,  mufs  dahingestellt  bleiben". 
Was  würde  wohl  Below  einem  Blritiker  antworten,  der  ihm  mit  dergleichen 
Vorhaltungen  käme?  Aufserdem  ist  Lehmann  nicht  der  einzige  „Indivi- 
dualist", es  kommen  noch  diejenigen  hinzu,  die  von  Bouedbau  angeführt 
werden.  S.  201,  Anm.  1,  habe  ich  auf  ihn  verwiesen.  Wenn  femer  Below 
in  meinem  Buche  Savignt,  überhaupt  die  historische  Rechtsschule,  die 
romantische  Schule,  von  neueren  Meekbl,  Schmolleb,  Ed.  Meteb,  Hinne- 
BEBG,  BucHHOLz  vemüfst,  auch  Sybel  und  Dboysen  nicht  gewürdigt  findet, 
so  erlaube  ich  mir,  ihn  auf  mein  Vorwort  hinzuweisen,  in  dem  es  heifst: 
VierteljahrBBchrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXTTT.  3.  24 


358  Paul  Barth: 

„In  der  Geschichtsphilosophie,  die  gemäfs  ihrer  hisherigen  Trennung  von 
der  Sociolögie  meist  einseitige  Ansichten  der  Geschichte  hervorgebracht 
hat,  habe  ich  nur  die  letzten  Theorien,  die  heute  noch  lebendig  sind,  zu- 
sanunengestellt".  Also  Sabiont  und  die  historische  Bechtsschule,  selbst 
wenn  sie  eine  eigene  tiefere  G^schichtsphilosophie  darstellten,  was  nicht 
der  Fall  ist,  zu  behandeln,  war  gar  nicht  meine  Aufgabe.  Denn  ich 
wollte  mich  ja  auf  die  Gegenwart  beschränken.  Woraus  erschliefst  also 
Below  meine  Unkenntnis  Savignts?  Ebenso  wenig  war  es  meine  Aufgabe, 
die  anderen  genannten  Autoren  alle  durchzugehen,  da  sie  keine  ausgeführte 
einseitige  Geschichtsphilosophie,  wie  sie  allein  in  mein  Thema  fiel,  ver- 
treten. Dafs  sie  hier  und  da  eine  geschichtsphilosophische  Bemerkung 
machen,  mag  sein;  der  Vollständigkeit  wegen  werde  ich,  wenn  ich  die 
Frage  der  individualistischen  oder  kollektivistischen  Aufgabe  der  Geschichte 
noch  einmal  bespreche,  auch  ihre  etwaigen  Beiträge  dazu  heranziehen. 
Dafs  ich  etwas  Wesentliches  übersehen  habe,  bestreite  ich.  Der  Streit 
ScHlFBBs  und  Gk)THEnis  z.  B.,  der  die  wesentlichste  Divergenz  der  deut- 
schen Geschichtsschreiber  darstellt,  ist  genau  berichtet.  Dbotsen  will  in 
seiner  „Historik"  gar  keine  Geschichtsphilosophie,  sondern  eine  „Methodo- 
logie" geben.  Bankes  Ideen  werden  nicht  blofs  nach  „Lampbechts  Bezept" 
dargestellt,  sondern  ebenso  sehr  nach  dem  von  0.  Lobenz,  was  Below  über- 
sehen zu  haben  scheint.  Lobenz  ist  dreimal  citiert.  Übrigens  habe  ich 
einen  Unterschied  in  den  beiden  Darstellungen  nicht  entdecken  können. 
Es  scheint  also,  als  ob  auch  Lobenz  bei  Bänke  über  die  „Ideen^^  nicht 
das  gefunden  habe,  was  nach  Below  seine  wahre  Meinung  ist.  Und  so 
werde  ich  allerdings  künftig  bei  Bänke  selbst  Belehrung  suchen. 

Wenn  übrigens  Below  fragt:  „Wie  kann  nur  ein  Philosoph  bei 
Lampbecht  in  die  Schule  gehen?''  so  ist  dies  eine  arge  petitio  principii. 
Denn  woher  weifs  denn  Below,  dafs  ich  bei  Lampbecht  in  die  Schule 
gegangen  bin?  Meine  Ansicht  über  die  Aufgaben  der  Geschichte  habe 
ich  schon  im  Herbste  1893  vorgetragen,  ehe  ich  mit  Lampbecht  ein  Wort 
gesprochen  und  etwas  anderes  als  sein  „Deutsches  Wirtschaftsleben  im 
Mittelalter"  gelesen  hatte.  Ich  bin  also  genau  ebenso  bei  Lampbecht  in 
die  Schule  gegangen,  wie  Below  selbst,  der  (vergl.  S.  269)  dieses  Werk 
ebenfalls  studiert  hat  und  sich  teilweise  anerkennend  darüber  ausspricht. 
Lampbecht  ist  in  demselben  Mafse  mein  Mentor  gewesen,  wie  seiner,  und 
wie  ich  Below  selbst  (in  Bezug  auf  seine  von  Lampbecht  abweichende 
Ansicht  über  die  Frage  der  Entstehung  der  Landesherrschaft)  künftig 
gerne  zum  Mentor  nehmen,  d.  h.  zur  Belehrung  über  jene  Frage  berück- 
sichtigen werde.  Meine  Übereinstimmung  mit  Lampbecht  über  die  Auf- 
gabe der  begrifflichen  Geschichte  ist  durchaus  das  Ergebnis  meines  eigenen 
Nachdenkens  und  der  logischen  Notwendigkeit  des  von  Lampbecht  kon- 
struierten Ideals  der  Geschichtsschreibung.  In  manchen  Einzelfragen, 
z.  B.  in  der  Auffassung  des  Begriffes  „Kultur",  weiche  ich  von  ihm  ab 
(vergl.  S.  254  ff.  meines  Buches).  Ebenso  wenig  habe  ich  mich  seiner 
Annahme  eines  strengen  Parallelisn^us  der  Veränderungen  der  geistigen 
und  der  materiellen  Kultur,  den  er  anscheinend  für  allgemein  hält,  irgendwo 
angeschlossen. 


\ 


Fragen  der  Geschichtswissenschaft.  359 

Wenn  endlich  Bblow  (S.  228)  sagt :  „Die  Art,  wie  Babth  a.  a.  0. 
S.  216  ff.  die  indiyidualistische  Geschichtsauffassung  bekämpft,  wird  ihm 
und  Lamprecht  wenig  Anhänger  gewinnen.  Interessant  ist  es,  daüs  er 
sich  yeranlafst  sieht,  mehr  für  als  gegen  die  Bedeutung  der  Persönlichkeit 
im  geschichtlichen  Verlaufe  zu  sprechen^',  so  klingt  dies,  als  ob  in  meinen 
Ausführungen  ein  Widerspruch  enthalten  wäre,  und  ich,  unachtsam  genug, 
gar  nicht  merkte,  dafs  ich  mich  selbst  erwürge.  Indessen  meine  Auf- 
fassung ist  durchaus  ohne  Widerspruch.  Aufgabe  der  geschichtlichen 
Wissenschaft  sind  die  Thaten,  Leiden  und  Ideen  der  Massen.  Wie  viel 
aber  dayon  der  „grofse  Mann''  yerursacht,  das  ist  die  Frage.  Lahpbecht, 
wie  Tainb  und  andere,  nahm  blofs  seine  graduelle  Verschiedenheit  yon 
den  anderen  an;  ich  suchte  zu  erweisen,  dafs  diese  notwendig  auch  zur 
qualitatiyen  Verschiedenheit  führe.  Damit  ist  noch  nicht  gesagt,  dafs 
die  grolsen  Männer  als  Einzelne  Gegenstand  der  Geschichte  werden.  Denn 
die  Aufgaben  werden  ihnen  yon  dem  Leben  der  Massen,  der  Gesellschaft 
gestellt,  sie  können,  wie  £.  Meter  bei  Below  (S.  221)  sagt,  nur  „erfassen, 
was  in  den  gegebenen  Verhältnissen  erreichbar  ist".  Also  um  die  Aus- 
gangspunkte ihres  Wirkens  zu  erkennen,  mufs  man  jedenfalls  die  allge- 
meinen Zustände  ins  Auge  fassen.  Mithin  ordnet  sich  das  Wirken  selbst 
des  Gröfsten  in  den  ganzen  geschichtlichen  Verlauf  ein,  und  die  Keihe, 
die  er  yorfindet,  die  Ergebnisse  der  Arbeit  yon  hunderten  yon  Generationen, 
ist  jedenfalls  länger,  als  das  Stück,  das  er,  mag  er  noch  so  genial  sein, 
in  der  kurzen  Zeit  seines  Lebens  hinzufügen  kann.  —  Also  yon  einem 
Widerspruche  ist  gar  keine  Eede.  Indessen  mufs  ich  anerkennen,  dafs 
Below  meine  Bemerkungen,  die  sich  auf  das  Verhältnis  des  „grofsen 
Mannes"  zu  seiner  Umgebung  beziehen,  gelesen  hat,  während  L.  Stein  i) 
sie  nicht  gelesen  hat  und  infolgedessen  schreibt:  „Die  Rolle  der  ästhe- 
tischen Anschauung,  auf  welche  Paul  Barth  das  geschichtliche  Indi- 
yiduum  beschränken  möchte,  wird  seiner  Bedeutung  nicht  entfernt  gerecht". 
Wenn  man  ihn  wörtlich  yersteht,  so  habe  ich  behauptet,  dafs  das  Indiyi- 
duum  nichts  weiter  zu  thun  habe,  als  ästhetisch  anzuschauen,  die  Welt- 
geschichte also  ein  mit  Liebhabern  angefüllter  Kunstsalon  sei.  Aber  dies 
ist  nur  falsches  Deutsch  yon  Stein.  Er  meint  offenbar,  nur  für  die  ästhe- 
tische Betrachtung  habe  nach  meiner  Ansicht  der  Einzelmensch,  auch 
der  „grofse  Mann**,  eine  Bedeutung.  Das  habe  ich  nirgends  gesagt, 
auch  nicht  S.  6,  die  er  anführt.  Stein  lese  gefälligst  S.  2  und  S.  217  ff. 
Dann  wird  sich  etwas  anderes  ergeben. 


')  Wesen  und  Aufgabe  der  Sociologie,  Berlin  1898,  S.  22. 


24* 


Berichterstattung. 


IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIMMI.IIIIllll  II 


I. 

Besprechungen. 


Schulze^  Johann,  weil.  kgl.  preufs.  Hofprediger  in  Königsberg, 
Erläuterungen  zu  Kants  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft. Im  Gewände  der  Gegenwart  herausg.  von  Rob. 
C.  Hafferberg.  Jena  und  Leipzig,  0.  Rafsmann,  1898.   223  8. 

Die  neue  Herausgabe  der  im  Buchhandel  selten  gewordenen  „Er- 
läuterungen" mufs  der  Kantforschung  eine  willkommene  Gabe  sein. 
JoH.  ScHüLZB  war  ein  guter  Bekannter  Kants  und  wurde  von  diesem 
selbst  wiederholt  zu  der  Abfassung  eines  Kommentars  der  Vemunftkritik 
ermuntert.  Über  die  ursprünglich  als  Recension  geplante  und  später  zur 
vorliegenden  Schrift  erweiterte  Inhaltsangabe  der  Kr.  d.  r.  V.  urteilte 
Kant  in  einem  Briefe  an  den  befreundeten  Prediger  wie  folgt:  „Es  macht 
mir  ungemein  viel  Vergnügen,  Sie  an  meinem  Versuche  mit  Hand  anlegen 
zu  sehen,  vornehmlich  aber  die  Allgemeinheit  der  Übersicht,  mit  der  Sie 
allenthalben  das  Wichtigste  und  Zweckmäfsigste  auszuheben  und  die 
Richtigkeit,  mit  welcher  Sie  meinen  Sinn  zu  treffen  gewufst. 
Dieses  letztere  tröstet  mich  vorzüglich  für  die  Kränkung,  fast  von  niemand 
verstanden  worden  zu  sein"  u.  r.  w.  Der  Wert  der  Schrift  ist  also  durch 
keinen  Geringeren  als  Kant  selber  verbürgt,  und  das  allein  macht  es 
nicht  nur  zum  Bedürfnis,  sondern  geradezu  zur  Pflicht,  dieselbe  den 
Porschem  leicht  zugänglich  zu  machen. 

ScHULZBs  „Erläuterungen"  sind  der  Sache  nach  durchaus  nicht  ver- 
altet oder  durch  neuere  Darstellungen  in  gleichem  Rahmen  Überholt. 
Der  erste  Abschnitt  „Versuch  einer  deutlichen  Anzeige  des  Inhalts 
der  Kr.  d.  r.  V."  leistet  mustergiltig,  was  der  Verf.  bezweckt,  nämlich 
den  wesentlichen  Gedankengang  der  Kritik,  welchen  Kants  dunkle  und 
schwierige  Ausdrucksweise  für  so  viele  Leser  der  damaligen  wie  der  heutigen 
Zeit  bis  zur  Unkenntlichkeit  beschattete,  durch  möglichste  Sparsamkeit 
im  Gebrauch  der  termini  technici  fliefsend  und  fafslich  vorzutragen.  Und 
das  ist  keine  Kleinigkeit!  Selbst  die  schwierigsten  Partien  des  Werkes 
gewinnen  durch  die  glatte,  durchsichtige  und  dabei  niemals  oberflächliche 
Darstellung  Schulzes  an  Verständlichkeit.    So  ist   ganz   meisterhaft  die 


362      Raoul  Richter:  Schulze,  „Erläuterungen  zu  Kai^ts  Kritik  etc.". 

knappe  und  klare  Wiedergabe  der  sogen,  subjektiven  Deduktion  der  Kate- 
gorien (S.  34  ff.),  der  verzwickten  Beweise  für  die  Analogien  der  Erfahrung 
(S.  53  ff.),  der  Unterscheidung  der  Dinge  in  Phänomene  und  Noumene 
(S.  66  ff.),  der  schwierigen  Lösung  der  dritten  Antinomie  (S.  121  ff.); 
auch  die  Zusammenfassung  der  Endergebnisse  der  gesamten  Kritik  ist  in 
ihrer  Kürze  vortrefflich.  Eine  wesentliche  Aussetzung  wüfste  ich  nur  bei 
der  Reproduktion  der  kritischen  Raum-  und  Zeitlehre  zu  machen,  in 
welcher  die  Apodikticität  der  mathematischen  Sätze  mit  unter  den  Beweisen 
für  die  Apriorität,  der  synthetische  Charakter  derselben  aber  unter  den 
Beweisen  für  die  Anschaulichkeit  von  Raum  und  Zeit  fungieren.  Das 
aber  ist  ganz  unkantisch.  Die  Apodikticität  der  Mathematik  ist  nicht 
Voraussetzung,  sondern  Ergebnis  der  Apriorität  von  Zeit  und  Raum,  kann 
also  nicht  zum  Beweise  dieser  Apriorität  in  der  transcendentalen  Ästhetik 
herangezogen  werden.  Den  synthetischen  Charakter  der  mathematischen 
Urteile  teilen  aber  nach  Kant  auch  die  Grundsätze  der  reinen  Natur- 
wissenschaft, deren  Medium  die  Stammbegriffe  des  Verstandes  sind.  Die 
Synthese  kann  also  ebenso  wenig  als  Argument  für  die  Anschaulichkeit^ 
wie  die  Apodikticität  für  die  Apriorität  von  Raum  und  Zeit  im  Sinne 
Kants  verwendet  werden.  Von  den  „Winken  zur  näheren  Prüfung"  der 
Kr.  d.  r.  V.,  welche  der  zweite  Abschnitt  des  Werkes  giebt,  ist  gar 
mancher  auch  heute  noch  beherzigenswert.  Am  erfreulichsten  aber  ist 
mir  an  der  Schrift  die  ganz  untendenziöse  Darstellung  gewesen ;  sie  sucht 
wirklich  nur  Kants  Meinung  zu  geben,  ohne  Bevorzugung  irgend  eines 
der  in  der  Kr.  d.  r.  V.  (zur  Einheit,  wie  ihre  Freunde,  zum  Chaos,  wie 
ihre  Feinde  meinen)  zusammenlaufenden  Fäden.  Ein  Muster  dieser  Partei- 
losigkeit  ist  die  sonst  sich  selten  dieses  Vorzugs  erfreuende  Darstellung 
der  KANT'schen  Lehre  vom  Ding  an  sich. 

Nach  alledem  bedeutet  die  neue  Herausgabe  der  ScHULZE^schen  „Er- 
läuterungen" eine  verdienstvolle  That  für  die  Wissenschaft.  Das  „neue 
Gewand",  in  dem  H.  sie  hat  erscheinen  lassen,  besteht  (Selbstanzeige  des 
Werks,  Kantstudien,  Bd.  IH,  Heft  I,  II,  S.  205)  in  der  Modernisierung 
der  Orthographie,  einiger  veralteter  Ausdrücke  und  dem  am  Schlüsse  bei- 
gegebenen Inhaltsverzeichnisse. 

Leipzig.  Raoul  Richtbb. 

Willarethy  Otto,  Die  Lehre  vom  Übel  bei  Leibniz, 
seiner  Schule  in  Deutschland,  und  bei  Kant.  Strafs- 
burg, C.  J.  Goeller.     149  S. 

Die  historisch-kritische  Skizze  gliedert  sich  in  zwei  Hauptabschnitte; 
der  erste  Teil  (S.  3—92)  handelt  von  der  Lehre  vom  Übel  und  den 
Problemen  der  Theodicee  bei  Lbibniz,  Wolff,  den  genuinen  Leibniz- 
Wolffianern,  deren  Gegnern,  bei  Lessing  und  Hbbdbr,  der  zweite 
Teil  (S.  93 — 143)  ist  einzig  der  Darstellung  und  Weiterbildung  der  be- 
treffenden Lehren  bei  Kant  gewidmet. 

Nach  einer  kurzen  Erörterung  des  Standes  der  Frage  vor  Leibniz 
prüft  Verf.  die  Theodicee  und  die  Erklärung  des  Übels  im  LsiBNiz'schen 
Systeme  und  gelangt  zu  dem  Ergebnis,  dafs  sich  Leibniz  durch  den  dog- 


Wiixttrqrl»,-,.j'ir  Lehre  vom  Übel  bei  Leibniz,  etc.".  363 

matiscben  Oiit-  loiri^rmi^'  \d  die  Befolgung  der  rein  deduktiven  Methode 
den  Weg  zu  einer  enoigreichen  Theodicee  selbst  versperrt  habe:  „mehr 
als  einmal  hat  er  sich  ins  unkontrollierbare,  Übersinnliche  zurückziehen 
müssen,  wohin  ihm  sein  Gegner  mit  seinen  Einwendungen  nicht  folgen 
kann,  ohne  selbst  die  Basis  exakter  Beweisführung  zu  verlassen,  aber  in 
den  transcendenten  Aufstellungen  von  Lbibniz  können  wir  jedenfalls  nur 
geistreiche  Hypothesen,  keine  Lösungen  sehen"  (S.  29).  Das  nämliche 
Urteil  trifft  auch  Wolpp  und  die  genuinen  Leibniz-Wolffianer:  „sie  zehren 
'  allesamt  von  der  Theodicee  und  es  dürfte  schwer  halten,  wenigstens  in 
unserem  Problem,  neue  originale  Gedanken  nachzuweisen"  (S.  30).  Wolfps 
Ansichten  werden  erörtert,  sowie  die  der  Wolffianer  Thüming,  Bilfikgeb, 
Baumgabten,  Rbimabüs,  Meieb  und  Mendelssohn,  und  die  Ansichten  von 
der  Lockerung  der  apriorischen  ontologischen  Fundamente  in  der  Wolff- 
schen  Schule  betont.  Die  Einsicht,  dafs  eine  Theodicee  nur  auf  moralischer 
(nicht  auf  metaphysischer)  Basis  möglich  sei,  beginnt  zu  dämmern  (S.  53). 
Darauf  werden  bei  den  Gegnern  des  Wolffianismus,  unter  denen  in  dankens- 
werter Weise  auch  die  weniger  bekannten  herangezogen  werden  (aufser 
Buddbus,  Eidigeb,  Cbusius  auch  Männer  wie  Pfaff,  Jebusalem,  Werder- 
mann u.  a.),  diese  Hindeutungen  auf  Kant  weiter  verfolgt,  aber  im  ganzen 
doch  das  Urteil  gefallt,  dafs  sie  nur  gegen  die  Ergebnisse  des  Leibniz- 
schen  Systems  sich  wandten,  dagegen  die  Prinzipien  als  richtig  stehen 
liefsen  (S.  56).  Der  Besprechung  von  Lbssings  und  Hebdebs  Ansichten 
ist  ein  besonderer  Abschnitt  gewidmet.  Lessing  ersetzt  die  mifslungene 
metaphysische  Theodicee  des  Leibniz  durch  die  historisch-philosophische 
der  Entwicklung  und  Erziehung.  Aber  auch  er  führt  den  Nachweis  nicht 
induktiv,  sondern  dogmatisch  und  deduktiv  (S.  82  ff.);  und  Hebdeb,  obwohl 
Kants  Schüler,  ist  gleichfalls  auf  dem  vorkritischen  Standpunkt  stehen 
geblieben. 

Erst.  Kant  durchschaut  völlig  die  prinzipiellen  Ursachen  von  dem 
Mifslingen  aller  bisherigen  Versuche  einer  Theodicee.  Verf.  pflichtet  nun 
Kant  in  all  den  negativen  Ergebnissen  bei,  zu  denen  dessen  Schüft  „über 
das  Mifslingen  aller  philosophischen  Versuche  in  der  Theodicee"  gelangte 
Auch  in  dem  positiven  Ergebnisse  steht  der  Verf.  zu  Kant,  dafs  das  Übel 
nur  ethisch  zu  rechtfertigen  sei  (nachdem  er  das  malum  metaphysicum 
und  physicum  aus  einer  konsequenten  Weltanschauung  ausgeschieden, 
so  dafs  nur  das  malum  morale  übrig  bleibt,  cf.  die  interessanten  Ausein- 
andersetzungen S.  113 — 116).  Das  Übel  ist  demnach  eine  Aufgabe  für 
den  Menschen,  das  Sittliche  gegen  das  Natürliche,  reine  Vemunftgesetze 
gegen  die  natürlichen  Triebe  durchzusetzen.  Diese  kritisch-moralische 
Theodicee,  deren  Grundlagen  Kant  aber  in  allzu  abgeschlossener  und 
starrer  Form  entwickelt,  soll  ihre  Ergänzung  erfahren  durch  die  von 
Lessing  und  Herdeb  inaugurierte  historische  Theodicee,  deren  induktive 
Bestätigung  der  Zukunft  als  Aufgabe  überlassen  bleibt. 

Die  Schrift  Willabbths  ist  anregend  geschrieben  und  bringt  (haupt- 
sächlich im  I.  Hauptteil)  manch  interessantes  Material.  Mit  den  Ansichten 
des  Verf.  sich  auseinanderzusetzen  (der  allzuviel  Standpunkte  vereinigen 
möchte)  würde  den  Umfang  eines  Referats  überschreiten. 

Leipzig.  Raoul  Richter. 


364     Raoul  Richter:  Menzel,  „Wandlungen  i.  d.  Staatslehre  Spinozas". 

Menzel,  Adolph^  Wandlungen  in  der  Staatslehre 
Spinozas.    Stuttgart,  Cotta,  1898.     38  S. 

Die  Schrift  macht  es  sich  zur  Aufgabe,  die  bisher  so  gut  wie  un- 
beachtet gebliebenen  Entwicklungsstadien  in  Spinozas  Ansichten  vom 
Staate  zu  beleuchten.  Die  Hauptquellen  für  die  Kenntnis  der  Spinoza- 
schen  Staatslehre  sind  bekanntlich  der  Tr.  theol.-pol.  und  der  Tr.  politicüs 
des  Philosophen.  Letzterer  ist  um  mindestens  zwölf  Jahre  später  abgefafst, 
als  jener.  Menzel  möchte  nun  die  Wandlungen  zeigen,  welche  sich  in 
einigen  staatsphilosophischen  Ansichten  Spinozas  zwischen  den  beiden 
Hauptdarstellungen  der  Staatslehre  vollzogen  haben,  und  ihre  Ursachen 
erforschen.  Das  Ergebnis  ist  kurz  folgendes :  Über  die  Entstehung  des 
Staates  lehrt  der  tr.  theol.-pol.,  dafs  der  Staat  einem  Vertrage  seine  Ent- 
stehung verdanke ;  dafs  er  den  Sieg  der  Vernunft  über  die  Affekte  bedeute. 
Im  tr.  pol.  führt  dagegen  der  Naturtrieb  und  der  Affekt  zur  Staatenbildung, 
das  juristisch-tonstruktive  Element  der  Vertragstheorie  tritt  hinter 
das  realistisch  -  psychologische  Element  zurück  (S.  9).  In  der 
früheren  Abhandlung  ist  die  Demokratie  der  Musterstaat;  in  der  späteren, 
allerdings  auf  diesem  Punkte  unvollendeten,  zeigt  Spinoza  eine  Vorliebe 
für  die  Aristokratie.  Die  rechtsphilosophischen  Argumente  werden 
durch  rein  politische  ersetzt  (S.  12).  Auch  die  Grenzen  der  Freiheitsrechte 
des  Einzelnen  (religiöse  Ansichten)  sind  im  politischen  Tr.  enger  gezogen, 
als  im  theol.-politischen.  Nachdem  der  Verf.  in  einem  besonderen  Ab- 
schnitte: „Spinoza  und  Rousseau"  die  religion  civile  des  letzteren  als  in 
Spinozas  politischem  Tr.  vorgebildet  nachzuweisen  gesucht  hat,  geht  er 
an  die  innere  Begründung  der  Wandlungen  in  Spinozas  Staatslehre:  Der 
theol.-pol.  Tr.  atmet  den  Geist  des  Milieus  der  KoUegianten  und  Menno- 
niten,  in  deren  Kreisen  Spinoza  ja  viel  verkehrte  (S.  32).  Die  Bekannt^ 
Schaft  mit  Jan  de  Witt  und  besonders  die  Katastrophe  von  dessen  Er- 
mordung sollen  in  Spinozas  Staatslehre  die  realistische  Wendung  bewirkt 
haben  (S.  37).    Dies  der  Inhalt  der  anregenden  kleinen  Schrift. 

Leipzig.  Eaoul  Richteb. 

Wagner,  Dr.  Friedrieh,  Freiheit  und  Gesetzmäfsigkeit 
in  den  menschliclien  Willensakten.  Eine  philosophische 
Abhandlung.     Tübingen,  H.  Laupp,  1898.     115  S. 

Das  Problem,  welches  der  Schrift  zu  Grunde  liegt,  soll  nicht  die 
Frage  sein,  ob  der  menschliche  Wille  frei  ist  oder  nicht,  sondern  diese: 
„wie  der  Mensch  die  Welt  ansieht,  wenn  er  sich  frei  glaubt,  und  wie  er 
sie  auffafst,  wenn  er  sich  die  Freiheit  abspricht"  (S.  1).  Dadurch  aber, 
dafs  der  Verf.  auf  die  letztere  alles  Licht,  auf  erstere  allen  Schatten  fallen 
läfst,  wird  der  parteilose  Standpunkt  zu  Gunsten  einer  Apologie  des  De- 
terminismus aufgegeben.  Auch  für  den  Deterministen  giebt  es  eine  Frei- 
heit, wenn  auch  nur  eine  relative ;  dieThätigkeitstriebe  im  Menschen 
sind  die  Basis  dieser  Freiheit,  wie  allen  sittlichen  Wertes.  Denn  bei 
ihnen  wirkt  nicht,  wie  bei  den  „Genufstrieben",  ein  Lustgefühl  als  Motiv 
(dieses   tritt   nur  als  accidentielle  Wirkung  hinzu),   sie   sind  nichts   als 


Wagner,  „Freiheit  u.  (n'^ctzmäfsigkeit  i.  d.  menschl.  WillcDsakten".     365 

„reiner  zweckl.)ser  Draüg  (S.  76),  Thätigkeit  ist  ihr  Selbstzweck.  Die 
höchste  Kraftäuüserung  aber  des  Thätigkeitstriebes  ist  die  Begeisterung, 
bei  welcher  der  Wille  „in  der  Erregung  selbst  unmittelbar  seine  gröfste 
Befriedigung  hat"  (S.  30).  Daher  beruht  die  Sittlichkeit  für  den  Deter- 
ministen nicht  in  der  Unterdrückung  oder  Überwindung  des  natürlichen 
Trieblebens,  sondern  in  der  prinzipiellen  Bevorzugung  der  schöpferischen 
Affekte.  Von  diesem  Standpunkte  aus  wird  dann  die  Übliche  Polemik 
eröffnet  gegen  Kants  scharfe  Scheidung  yon  Sinnlichkeit  und  Sittlichkeit, 
FiCHTEs  Steigerung  dieser  Lehre,  Schopbnhaüebs  Mitleidsmoral,  die  christ- 
liche Askese,  Augustins  Lehre  von  der  Gnade  (Kap.  HI).  Endlich  am 
Schlufs  der  Schrift  wird  noch  einmal  die  „positive"  Moral  auf  Kosten  der 
lebensfeindlichen,  negativen  in  allen  Tonarten  herausgestrichen,  und  dieser 
nur  das  etwas  gezwungen  klingende  Verdienst  gelassen,  „den  verschütteten 
Born  der  edelsten  Naturtriebe,  nämlich  der  begeisterungsfähigen  Thatkraft, 
in  versunkenen  Menschen  und  Greschlechtern  wieder  zu  öffnen"  (Kap.  IV). 
Die  Schrift  bringt  nichts,  was  nicht  von  originalen  Denkern  mit  gröfserer 
Wucht  und  Bestimmtheit  bereits  gesagt  wäre.  Denn  dafs  bei  der  Auf- 
stellung des  Thätigkeitstriebes,  bei  welchem  die  Lust  nicht  Selbstzweck 
ist,  des  Abistotbles  Lehre  von  der  ivsQysia  und  der  tjSovtj  dg  iniyiyvo' 
fisvov  Ti  xsXoq  nicht  mit  einem  Worte  gedacht  wird,  dafs  bei  der  Wertung 
der  Begeisterung  als  des  obersten  Affektes  der  admiratio  Desgabtes',  bei 
der  Förderung  der  aktiven  Triebe  der  actiones  Spinozas  keine  Erwähnung 
geschieht,  macht  diese  Gedanken  noch  nicht  zur  originalen  Entdeckung 
des  Verfassers. 

Leipzig.  Eaoul  Bichter. 

Giefsler,    C.   M.,    Die    Atmung   im    Dienste    der   vor- 
stellenden Thätigkeit.    Leipzig,  Pfeffer,  1898.     32  S. 

Das  allein  Wertvolle  in  dieser  kleinen  Abhandlung  ist  der  Hinweis 
darauf,  dafs  im  allgemeinen  bei  sinnlicher  Aufiuerksamkeit  die  Zeit  der 
Inspiration  eine  gröfsere  Klarheit,  die  Zeit  der  Exspiration  eine  ent- 
schiedenere Deutlichkeit  des  Objektes  darzustellen  scheint.  Ob  dieses  in 
der  That  in  genügender  Weise  der  Fall  ist,  müTste  durch  multiple  pneu- 
matographische  Eegistrierung  und  momentane  oder  kontinuierliche  Re- 
gistrierung sorgfältiger  untersucht  werden.  Sollte  sich  dies  einigermafsen 
bestätigen,  so  würde  man  in  der  Anstrengung  der  Innervation  bei  der 
Inspiration  und  ihren  entsprechenden  Folgeempfindungen  die  Ursache  einer 
Verteilung  der  Aufmerksamkeit  während  der  Inspiration  sehen,  während 
die  normale,  relativ  leichtere  Exspiration  als  blofses  Nachlassen  der  Muskeln 
keine  solche  Verteilung  der  sinnlichen  Aufmerksamkeit  mit  sich  führte. 
Freilich  müfsten  dann  bei  entsprechender  Modifikation  der  Atmung,  z.  B. 
langsamerer,  schnellerer,  vor  allem  aber  tieferer  Atmung  sich  auch  ent- 
sprechende Folgeerscheinungen  im  Sinne  dieser  Auffassung  zeigen.  Aufser- 
dem  wäre  gerade  die  multiple  Atmungsregistrierung  erforderlich,  um  sich 
über  die  sämtlichen  Änderungen  auf  dem  Laufenden  zu  erhalten,  und  die 
Erscheinungen  müfsten  auch  individuell  variieren,  also  bei  bedeutender 
vitaler  Kapacität  sich  erheblich  in  ihrem  Einflüsse  verringern. 


366  P-  Mentz: 

Wenn  Verf.  diese  Beobachtung  jedoch  mit  den  Aufmerksamkeits- 
Bchwankungen  überhaupt  zusammenbringt,  so  ist  er  hierin  weniger  glücklich. 
Da  bei  der  Untersuchung  derselben  noch  niemals  genügend  der  Einfluls 
der  Abstumpfung  als  wachsende  und  zunächst  nur  durch  Vermehrung  der 
Intensität  der  Aufmerksamkeit  einigermalsen  zu  kompensierende,  vielleicht 
auch  durch  völligen  Nachlafs  der  Aufmerksamkeit  wieder  mehr  oder  weniger 
zu  vermindernde  Herabsetzung  berücksichtigt  wurde,  femer  nicht  der 
Einflufs  der  Langeweile  und  Unlust  infolge  der  Monotonie  des  Beizes  und 
das  Herandrängen  und  Wirken  lustvollerer,  komplexerer  Vorstellungen, 
ja  bereits  der  blofsen  Associationen  aus  irgendwelchen  Gründen  unter- 
schieden wurde,  schliefslich  lediglich  in  einer  der  zahlreichen  hierauf  be- 
züglichen Arbeiten  (und  nicht  analytisch  und  kritisch  genug)  die  gleich- 
zeitigen Änderungen  der  Atmung,  und  noch  niemals  diejenigen  des  Blut- 
druckes registriert  wurden,  kann  man  über  die  Ursachen  derselben  noch 
sehr  zweifelhaft  sein.  Die  im  einzelnen  Falle  sehr  komplicierten  Verhält- 
nisse der  Atmungsinnervationen  mit  den  durch  sie  verursachten  Änderungen 
der  Muskelempfindungen,  um  es  kurz  so  auszudrücken,  und  der  Gemein- 
empfindungen (was  hier  ebenfalls  nur  eine  Abkürzung  des  Ausdrucks  sein 
soll)  geben  sehr  wahrscheinlich  zu  einem  erheblichen  Teile  die  Möglichkeit 
der  Ablenkung  und  somit  zur  Abschwächung  der  Vorstellung  bezw. 
Empfindung  her.  Die  aus  den  Tabellen  einiger  Versuche  z.  B.  bei  Marbb 
sich  ergebenden  gröfseren  Schwankungsperioden  hinsichtlich  der  Zeiten 
des  Beibleibeus  mögen  vielleicht  auch  mit  den  TnAUBE-HERiNo^schen 
Schwankungen  zusammenhängen,  doch  ist  ohne  genauere  Untersuchung 
schon  hier  keineswegs  zu  entscheiden,  ob  stärkerer  Blutdruck  das  Bei- 
behalten der  Vorstellung  begünstigen  würde  oder  gerade  umgekehrt  durch 
Begünstigung  von  Association  dasselbe  stören  würde.  Noch  unsicherer 
liegen  die  Verhältnisse  hinsichtlich  der  Änderungen  innerhalb  der  einzelnen 
Atmungsperioden,  die  Verf.,  wie  seiner  Zeit  Lehmann,  in  einseitiger  Weise 
allein  für  die  Schwankungen  verantwortlich  machen  will.  Ob  hier  die 
Änderung  der  Vasokonstriktion  der  Einatmung  und  die  zunehmende  Dila- 
tation der  Ausatmung  entsprechende  Wirkungen  haben  können,  mufs 
dahingestellt  bleiben.  Bei  geringerer  Blutfülle  des  Gehirns  müfste  sich 
dies  einigermafsen  bestimmt  zeigen,  ebenso  aber  bei  nur  physiologischer 
Beeinflussung  der  Kreislaufverhältnisse.  Wenn  Verf.  nun  gar  eindeutige 
Erklärungen  des  Eintrittes  verschiedener  Atemtypen,  als  Verflachung, 
Beschleunigung,  Verlangsamung,  Vertiefung,  geben  will  und  in  ihnen  be- 
stimmte Zweckmäfsigkeiten  sieht,  so  setzt  dies  natürlich  den  sicheren 
Eintritt  derselben  in  Wirklichkeit  voraus.  In  Wirklichkeit  hat  man  aber 
augenscheinlich  folgende  fünf  Ursachen  der  Atemänderung  als  wirksam 
anzusehen:  erstens  irradiatorische,  also  gegenüber  bestimmten  Zwecken 
sozusagen  zufällige,  d.  h.  disparate  Ursachen,  zweitens  kompensierende, 
also  rein  physiologisch  zu  starke  Wirkungen  herabsetzende  Ursachen, 
drittens  im  Sinne  unmittelbarer  psychischer  Zwecke,  z.  B.  für  die  Absicht 
des  Lauschens  günstige  Wirkungen,  viertens  willkürliche  und  nur  zum 
Teil  unwillkürliche  reaktorische  Wirkungen,  z.  B.  tiefe  Ausatmung  nach 
langem  Lauschen,  also  nur  sehr  mittelbar  anderweitige  Wirkungen  kom- 
pensierende und   daher  nicht   unmittelbar  zweckmäfsige  Erscheinungen, 


GiefslcK    T']-   Atinuiv!  vd  J/iei-ste  der  yorstellenden  Thätigkeit".        367 

fünftens  reproduktive  Wirkungen,  welche,  wie  überhaupt  die  verschiedenen 
Fälle,  im  Hinblick  auf  das  unmittelbar  Beabsichtigte  schädlich  sein  können 
und  gegebene  Zwecke  vereiteln  mögen,  also  z.  B.  aus  blofser  Irradiation 
heraus  oder  als  Eompensierung  in  irgendwelcher  Hinsicht,  aber  bei  den 
primären  Fällen  Wirkungen  erzielend,  die  in  dem  gegebenen  Falle  mög- 
licherweise nicht  in  Betracht  kommen  oder  den  Erfolg  geradezu  aufheben. 
Dieser  Erfolg  kann  natürlich  ein  unmittelbarer  oder  aber  ein  aufserdem 
gewünschter  sein.  Ähnliches  gilt  von  den  Änderungen  im  Kreislaufsystem 
selbst,  dessen  Verhältnisse  aber  ebenfalls  bei  der  Atmung  in  Betracht 
kommen.  Hier,  wie  man  nur  zu  leicht  geneigt  ist,  Zweckmäfsigkeiten 
anzunehmen,  oder,  um  eine  andere  Einseitigkeit  der  Auffassung  anzugeben, 
hier,  wie  kürzlich  R.  Anobll  und  Thompson,  lediglich  Wirkungen  und 
Gegenwirkungen  als  Ausgleichungen  anzunehmen,  ist  in  gleicher  Weise 
durchaus  einseitig.  In  Wirklichkeit  liegt  die  Sachlage  viel  verwickelter, 
zumal  da  hier  umgekehrt  die  Beziehung  zur  Atmung  ihre  Geltung  hat 
oder  doch  möglicherweise  haben  kann.  Immerhin  ist  die  Untersuchung 
gerade  an  den  Aufmerksamkeits Verhältnissen  hier  insofern  noch  am 
günstigsten,  als  bei  Einwirkung  anderer  Reize  die  Aussagen  und  daher 
auch  die  Analyse  der  Verhältnisse  besonders  erschwert  sind,  und  sonst 
auch  leicht  andere  Faktoren,  sachlich  sekundärer  Art,  eher  hinzutreten 
und  sogar  in  den  Vordergrund  treten  können.  Daher  sind  Untersuchungen 
gerade  dieser  Verhältnisse  zunächst  noch  am  wünschenswertesten.  Haupt- 
sache ist  aber,  wie  überhaupt  bei  jeder  Untersuchung  der  Aufmerksamkeits- 
verhältnisse, besoaders  tüchtige  und  geschulte  Versuchspersonen  und  um- 
sichtige Analyse  der  besonderen  Verhältnisse,  soweit  dies  natürlich  überhaupt 
möglich  ist.  In  dieser  Weise  mögen  auch  die  hier  vom  Verf.  berührten 
und  stark  vergewaltigten  Fragen  einmal  gründlich  experimentell  unter- 
sucht werden. 

Leipzig.  P.  Mentz. 

Dwelshanvers,  G,,  Nouvelles  Notes  de  Psychologie 
Experimentale.  Extrait  de  Revue  de  rUniversite  de 
Bruxelles.   1898—1899,  Tome  IV.    Bnixelles,  1898.    295  S. 

Erste  Versuchsgruppe:  Die  Beaktionsversuche  des  Verf.  leiden  an 
irrtümlicher  Auffassung  der  beiden  Hauptarten  der  Beaktion  und  sind 
daher  auch  in  ihrer  Polemik  unnütz.  Ebenso  wie  die  bezüglichen  Versuche 
von  Cattell,  Floürnoy,  Baldwin,  Angell  und  Moore  stehen  auch  sie 
nicht  einer  prinzipiellen  Unterscheidung  von  mehr  reflektorischer  und  mehr 
apperceptorischer  Beaktionsart  inhaltlich  entgegen.  Sie  stellen  vielmehr 
nach  den  Erfahrungen  des  Beferenten  lediglich  Sonderfälle  besonderer 
Verteilung  der  Aufmerksamkeit  bezw.  individueller  Einübung  dar.  Als 
letztere  haben  sie  ein  gewisses,  aber  natürlich  beschränktes  Becht.  Es 
ist  auch  dem  Beferenten  kaum  zweifelhaft,  dafs  sie  sich  je  nach  den  Be- 
dingungen gegenseitig  ineinander  überführen  lassen,  vorausgesetzt,  dafs 
die  Anweisung  dazu  genau  genug  und  die  betreffenden  Versuchspersonen 
auch  psychologisch  geschickt  genug  dazu  sind. 


368  P-  Mentz: 

Zweite  Versuchsgnippe :  Mittelst  chronographischer  Registrierung 
wurden  die  Wechsel  der  Auffassung  der  perspektivisch  doppeldeutigen 
Figuren,  wie  Schema  des  aufgeschlagenen  Buches,  Tetraeder  u.  s.  w., 
bei  andauernder  Fixation  festgestellt  und  gemessen.  Die  Perioden  des 
Gleichbleibens  waren  durchschnittlich  länger  bei  Anwendung  intensiverer 
Aufmerksamkeit  oder  bei  gleichzeitigem  Klopfen  eines  Rhythmus  (mit 
dem  Telegraphentaster)  von  0,5  bis  0,7  Sekunden  Zwischenzeit.  Hierbei 
wurden  freilich  auch  die  mittleren  Variationen  länger.  Die  Intensität 
des  begünstigenden  Klopfrhythmus  ist  vom  Verf.  leider  nicht  gemessen 
worden.  In  derselben  Weise  wurden  das  Wiederauftauchen  und  Ver- 
schwinden bei  möglichst  andauernder  Reproduktion  einer  abgestumpften 
Pyramide  und  des  Erinnerungsbildes  der  Venus  von  Milo  untersucht. 
Eine  Unterscheidung  zwischen  visuellen,  taktilen  und  motorischen  Elementen 
der  Reproduktion  wurde  hierbei  nicht  versucht.  Es  hätte  sich  dies  auch 
registrieren  lassen.  Auch  die  gleichzeitigen  Atmungs-  und  Blutdruck- 
perioden wurden  nicht  registriert,  was  immerhin  wichtig  gewesen  wäre,  da 
Versuche  an  den  vorliegenden  Aufgaben  bisher  nicht  angestellt  worden  sind. 

Dritte  Versuchsgruppe :  Möglichst  schnelles  Zählen  bezw.  Benennen 
der  fortlaufenden  Buchstaben  eines  Textes  in  normaler  bezw.  umgekehrter 
Lage  ergab  bei  chronographischer  Registrierung  der  Vollendung  je  einer 
Gruppe  zu  zehn  als  durchschnittliche  Reaktionszeit  für  den  einzelnen 
Buchstaben  nach  der  Berechnungsweise  des  Verf.  0,3  bis  0.4  Sekunden. 
Im  Ganzen  lagen  die  Werte  zwischen  0,2  und  0,8  Sekunden.  Die  Reaktion 
des  Abschliefsens  einer  Gruppe  hat  aber  jedenfalls  irgendwie  mitgewirkt. 
Aufser  der  Forderung  richtigen  Abschlusses  und  der  involvierten,  keinen 
Buchstaben  zu  vergessen,  haben  möglicherweise  auch  der  Sinn  der  Worte 
und  die  Neigung  zu  Reproduktionen  hemmend  mitgewirkt.  Auf  alle  Fälle 
hat  man  diese  Reaktionen  mehr  oder  minder  als  apperceptorische  anzusehen. 
Da  aufser  den  genannten  hemmenden  Momenten  auch  wie  bei  jeder  Häufung 
von  Reaktionen  zu  Reaktionsketten  fortschreitende  Übung  und  Automatismus 
und  andererseits  Abstumpfung,  Nachlafs  der  Reproduktionen  und  Ermüdung 
sich  geltend  machen  können,  so  wäre  die  Scheidung  der  erhaltenen  Zahlen 
nach  der  Zeitfolge  wichtig  gewesen,  sowie  die  weitere  Fortführung  der 
Reihen.  Naheliegend  ist  auch,  dafs  Versuche  mit  kleineren  oder  gröfseren 
Gruppen  des  Abschlusses  etwas  andere  Werte  ergeben.  Entsprechende 
Versuche  hätten  über  die  Art  des  Zusammenfassens  und  Reagierens  nähere 
Auskunft  geben  können,  ünerläfslich  aber  vor  allem  wäre  es  gewesen, 
die  Reproduktion  möglichst  auszuschalten  und  auch  Versuche  mit  sinnlosen 
Buchstabenreihen  zu  machen.    Ein  Hinweis  hierauf  fehlt  völlig. 

Vierte  Versuchsgruppe:  Leere  und  ausgefüllte  Intervalle  zwischen 
2  und  5  Sekunden,  geklopft  mittelst  des  Telegraphentasters,  ergaben  bei 
Reproduktion  in  derselben  Art  (auf  ein  gegebenes  Signal  hin)  ausnahmslos 
zu  grofse  Längen.  Zunächst  könnte  man  geneigt  sein,  die  bekannte 
Überschätzung  sehr  kurzer  Intervalle  als  die  Ursache  hiervon  anzusehen. 
Würde  man  die  Thätigkeit  der  Reproduktion  selbst  als  Mitbedingung  der 
Zeitschätzung  ansehen,  so  würde  (nach  den  bisherigen  Versuchen  wenigstens) 
das  Entgegengesetzte  zu  erwarten  sein.  Indessen  ist  eine  Verzögerung 
sehr  wahrscheinlich   durch   die   Forderung  der  Richtigkeit   und  der  Re- 


Dwelsha/  »'!>,  ..Nyn\»    t'>  Notes  de  Psychologie  Exp6rimentale".      369 

Produktion  überhaupt  veranlafst  worden.  Augenscheinlich  kam  es  der 
Versuchsperson  darauf  an,  vor  allem  richtige  Relativität  zu  erzielen,  also 
eine  proportionale  Wiedergabe  des  Gegebenen  zu  liefern,  denn  die  Forderung 
des  Rhythmus  schliefst  eine  Beziehung  in  sich.  Daher  wäre  es  notwendig 
gewesen,  einmal  Reproduktionen  zu  fordern  mit  möglichst  richtigem  Ge- 
samttempo, ungeachtet  der  Zahl  der  Einzelfehler,  sodann  solche  mit  mög- 
lichster Richtigkeit  in  den  Einzelheiten  und  nur  proportionalem  Gesamt- 
tempo, schliefslich  solche  mit  ebenfalls  möglichst  umfangreicher  Richtigkeit 
in  den  Einzelheiten,  jedoch  diesmal  unbekümmert  um  gelegentliche  Ver- 
zögerung durch  Besinnen  oder  gelegentliche  Unrichtigkeit  dieser  oder 
jener  Einzelheit.  Will  man  überhaupt  die  Forderung  der  Gesamtrichtigkeit 
und  der  Eiuzelrichtigkeit  zugleich  erfüllen,  so  wird  es  doch  meist  nur 
ein  Mischergebnis  unbestimmter  Herkunft  und  unsicherer  psychologischer 
Beurteilung  geben.  Daher  ist  hier  eben  die  weitere  Scheidung  und  weitere 
Untersuchung  unerläfslich,  und  man  sollte  hier  den  Einzelheiten  noch 
genauer  nachgehen.  Hinsichtlich  der  Versuche  der  Reproduktion  der  ge- 
klopften Rhythmen  von  vokalen  und  instrumentalen  Musikstücken  ist  nur 
noch  zu  bemerken,  dafs  sich,  anscheinend  mit  zunehmender  Schwierigkeit, 
eine  zunehmende  Anähnlichung  der  reproduzierten  Elemente  zeigte,  zu- 
nehmend mit  der  Zahl  der  Wiederholungen.  Auch  die  Unter-  bezw.  Über- 
schätzung der  Zahl  und  der  Zeitdauer  der  Bestandteile  erhöhte  sich  durch- 
schnittlich bei  erneuter  Reproduktion.  Um  jedoch  über  deren  primäre  Ursachen 
etwas  aussagen  zu  können,  dazu  sind  die  Versuche  zu  wenig  zahlreich  gewesen. 

Fünfte  Versuchsgruppe :  Versuche  der  Reproduktion  des  20  Sekunden 
lang  exponierten  Kupferstiches  „Melancholie"  von  DObbb  durch  Beschreibung 
zeigten  als  Hauptgruppen  der  Art  der  Auffassung  bezw.  der  Individuen: 
erstens  Zusammenhangslosigkeit  und  Langsamkeit  der  Auffassung,  beides 
hier  augenscheinlich  in  bestinmitem  Zusammenhange,  zweitens  objektives 
Erfassen  der  Einzelheiten  bis  zu  gewissen  Grenzen  hin,  drittens  Streben 
nach  Vereinheitlichung  und  Gruppieren  in  der  Auffassung.  Zweckmäfsiger 
hätte  man  zuerst  nur  eine  geringe  Zeit  gegeben  und  sofort  die  Beschreibung 
liefern  lassen,  dann  eine  vielleicht  gleiche  Zeit  gegeben  (als  Sunmiation 
der  Exposition)  und  wiederum  die  Beschreibung  fordern  sollen,  dann  eben- 
falls eine  blofse  Zusatzzeit  und  so  fort,  um  sich  über  den  Verlauf  des 
Erfassens  genauer  zu  orientieren.  Die  Wiederholung  der  Reproduktion 
(nur  als  Beschreibung,  man  hätte  auch  die  MaTsverhältnisse  berücksichtigen 
können  u.  dergl.)  nach  8  Tagen  ohne  erneute  Exposition  zeigte  häufigen, 
äufserlich  geradezu  auffallenden  Gebrauch  der  früheren  Wortverbindungen, 
aufserdem  aber,  was  psychologisch  bedeutend  wichtiger  ist,  eine  zweifellose 
Zunahme  der  subjektiven  Sicherheit  des  Behauptens,  auch  hinsichtlich 
gerade  der  nur  teilweise  und  der  völlig  irrig  erfafsten  oder  wiedergegebenen 
Einzelheiten.  Dafs  diese  auch  anderweitig  aus  extremeren  Fällen  des 
Lebens  bekannte  Thatsache  von  bedeutender  Wichtigkeit  ist  für  die  Be- 
urteilung von  Zeugenaussagen  in  den  verschiedenen  Stadien  von  Prozessen, 
hebt  Verf.  zu  Recht  hervor.  Im  Ganzen  läfst,  trotz  der  vielfach  sehr 
sinnreichen  Versuchsaufgaben,  wie  oben  gezeigt,  die  theoretische  Ver- 
arbeitung erheblich  zu  wünschen  übrig. 

Leipzig.  P.  Mentz. 


370  P-  Mentz: 

Sommer,  B.,  Lehrbuch  der  psycho-pathologischen 
Untersuchungs -Methoden.  Berlin  und  Wien,  ürban 
und  Schwarzenberg,   1899.    399  S.    Mit  86  Abbüdungen. 

Es  ist  selbstverständlich,  daTs  mau  iu  der  Praxis  die  theoretische 
und  die  praktische  Aufgabe  der  Psychiatrie  nicht  immer  in  gleichem  Malse 
berücksichtigen  kann.  Nichtsdestoweniger  ist  ein  stärkeres  Auseinander- 
fallen, eine  erhebliche  Trennung  beider  aus  naheliegenden  Gründen  doch 
nach  Möglichkeit  zu  y ermeiden.  Es  ist  daher  immerhin  zweckentsprechend, 
wenn  Verf.  diese  naturgemäTse  Doppelaufgabe  der  Psychiatrie,  soweit  als 
es  irgend  angängig  ist,  also  bis  zu  gewissen  Grenzen  hin,  möglichst  zu- 
gleich erfüllt  wissen  will.  Dies  kann  einigermafsen  erreicht  werden  durch 
systematische  Anwendung  erprobter  gleicher  Beize,  Fragestellungen  und 
Versuchsanordnungen  in  möglichst  praktischer  und  auch  theoretisch  wichtiger 
Auswahl.  Bei  vielen  Gelegenheiten  wird  sich  diese  systematische  und 
zugleich  praktisch  beschränkte  Anwendung  der  Methode  der  ,.gleichen 
Beize"  in  erster  Linie  durch  die  schnelle  und  sichere  Fixierung  des  Pro- 
tokolls mit  Hilfe  eines  Vordrucks  augenscheinlich  als  nützlich  erweisen. 
Sie  gestattet  durch  Anwendung  auf  dasselbe  Individuum  zu  verschiedenen 
Zeiten  und  aufserdem  auf  die  allerverschiedensten  Fälle  und  Krankheits- 
typen einerseits  eine  bequeme  Vergleichbarkeit,  andererseits  das  Verfolgen 
der  verschiedenen  Stadien  der  Erkrankung  und  daher  auch  unter  der 
Voraussetzung  der  Lösung  der  theoretischen  oder  der  Deutbarkeit  der 
praktischen  Einzelheiten  eine  frühzeitige  und  sichere  Prognose. 

Die  Anwendung  dieser  planmäfsig  fixierten  Untersuchungsweise, 
so  sehr  sie  ihre  naturgemäfsen  Schranken  besitzt,  giebt  in  der  That  häufig 
wertvolle  Winke  und  Handhaben  für  die  Prognose  und  Diagnose,  voraus- 
gesetzt, daTs  die  Sachlage  auch  hier  niemals  zu  leicht  genommen  wird. 
Eine  verhältnismäfsig  beschränkte  Anzahl  zweckmäfsig  ausgewählter 
Fragen,  wie  sie  z.  B.  Verf.  nach  seiner  Erfahrung  giebt,  kann  nicht  nur 
sofortige  Auskunft  über  die  Verhältnisse  der  Orientiertheit  des  Kranken 
in  gewissem  Umfange  geben,  sondern  häufig  auch  bereits  Materialien  zur 
Beurteilung  der  Stimmungen,  der  Beproduktionsfähigkeit,  der  Sinnes- 
täuschungen und  der  Dlusionen  als  häufig  ganz  brauchbaren  Nebenerfolg. 
Diese  weiteren  Untersuchungsrichtungen  lassen  sich  wieder  in  paralleler 
Weise  genauer  in  Angriff  nehmen,  bei  Sprachstörungen  wird  man  z.  B. 
zu  dem  ausführlichen  Untersuchungsschema  von  Biegeb  in  Würzburg 
greifen,  und  so  erhält  man  im  analytischen  Fortschreiten  das  zur  Beur- 
teilung notwendige  Material.  In  zahlreichen  Fällen  wird  sich  diese  Methode 
zweifellos  in  eine  Fülle  theoretischer  Einzeluntersuchungen  auflösen.  Bei 
Gelegenheit  der  Illusionen  hebt  übrigens  Verf.  mit  Becht  hervor,  dafs  in 
Theorie  und  Praxis  häufig  Hallucinationen  der  Patienten  angenommen 
werden,  wo  es  sich  in  Wirklichkeit  nur  um  Illusionen  durch  Überwiegen 
der  Assimilation  und  äufserlich  vorhandene  Beize  oder  schliefslich,  wie 
man  hinzufügen  mag,  um  besondere  Labilität  gewisser  Beproduktionen 
oder  aus  verschiedenen  Ursachen  heraus  übertriebene  Ausdrucksweise  der 
Kranken  handelt. 


Somiuir,   ^Lehrbuch  d  r  jk.v.  :  >  patholog.  üntereuchungB-Methoden".     371 

Was  die  Dot-ve-  lii,  .  n  versuch sanordnungen  betrifft,  sogiebtVerf. 
z.  B.  einen  durchaus  zweckmäXsig  zusammengestellten  Apparat  zur  Unter- 
suchung der  Pupillenform  und  -weite  bei  genauer  Variierung  der  Licht- 
stärke als  Keiz  des  einfallenden  Lichtes.  Die  Verwendung  zu  yerschiedenen 
Zeiten  liegt  nahe.  Durch  einen  Apparat  mit  Äquilibrierung  des  Unter- 
schenkels erhält  man  femer  eine  in  diesem  Umfange  noch  nicht  gekannte 
Fülle  von  Arten  des  Eniesehnenreflexes,  welcher  hier  durch  die  Äquili- 
brierung künstlich  modifiziert  und  in  erster  Linie  in  seiner  Wirkung 
yerlängert  ist  und  je  nach  Zeitpunkt  und  Art  des  Eingreifens  nahe  liegen- 
der, hemmender  oder  verstärkender  Innervationen  zu  verschiedenen  Zeiten 
oder  bei  verschiedenen  Individuen  verschiedene  Kurven  giebt.  In  ganz 
ähnlicher  Weise  wie  Eniesehnenreflex  mögen  Fufsklonus  und  Zitterbewegung 
(letztere  z.  B.  bei  Epileptischen,  Hysterischen,  Alkohollsten)  durch  drei- 
dimensionale Begistrierung  aufgenommen  werden,  und  zwar  zunächst  für 
den  Fufs  oder  auch  für  den  Arm.  Zur  Messung  klinischer  Beaktionszeiten 
wird  eine  weitere,  in  den  Einzelheiten  bereits  bekannte  Apparatzusammen- 
stellung  gegeben.  Die  Kontrollen  des  Chronoskopes  von  Hipp  sind  freilich 
insoweit  hier  nicht  exakt,  als  der  Fallapparat  nur  Öffnung  bis  Schlufs 
mifst,  während  sämtliche  gegebenen  Anordnungen  das  Gegenteil  erfordern. 
Daher  ist  hier  Anwendung  des  Kontrollhammers  oder  eine  entsprechende 
Abänderung  des  Fallapparates  unerläfslich.  Kraepelin  hat  das  letztere 
mit  Erfolg  angewendet.  Nebenschaltung  würde  das  störende  Hinzutreten 
bezw.  Wegfallen  eines  zweiten  Stromkreises  nach  sich  ziehen  und  auTser- 
dem  etwas  gröfsere  Schwierigkeit  der  Versuche  bewirken. 

Zum  Photographieren  des  Gesichtsausdruckes,  der  Haltung,  der 
Gesten  der  Kranken  wendet  Verf.  Tageslicht,  vermehrt  um  den  erforder- 
lichen Betrag  von  hinzukommendem  Magnesiumlicht,  an.  Die  Abwesenheit 
besonderer  Lenkung,  Künstlichkeit,  Ortsänderung  ist  ja  sachlich  notwendig. 
Besonderes  Augenmerk  ist  der  begrifflich  noch  immer  schwankenden  und 
in  der  That  nur  einen  vorläufigen  Sammelbegriff  darstellenden  Gruppe 
der  katatonischen  Erscheinungen  zugewendet.  Durch  die  gegebenen  Me- 
thoden ist  in  der  That  zu  erwarten,  dafs  gerade  hier  wie  in  anderen 
zweifelhaften  Fällen  der  Deutung  Theorie  und  Praxis  vielfach  gefördert 
werden  können.  Wenn  auch  das  vom  Verf.  Dargebotene,  wie  aus  diesen 
wenigen  Proben  bereits  ersichtlich  ist,  bei  weitem  noch  kein  eigentliches 
„Lehrbuch"  darstellt,  obgleich  dies  der  Titel  verspricht  —  denn  dazu  ist  es 
vielfach  noch  zu  individuell  ausgewählt,  noch  nicht  allseitig  praktisch 
durchgeprüft,  auch  hinsichtlich  der  Mitteilung  anderweitiger  Methoden 
viel  zu  beschränkt  — ,  so  werden  doch  sowohl  Psychiater  als  praktische  und 
theoretische  Psychologen,  letztere  insbesondere  aus  dem  Thatsachenmaterial 
der  letzten  hundert  Seiten  (Associationen  u.  s.  w.),  manche  Anregung 
erhalten  können.  Hemmend  ist  natürlich  auch,  dafs  sich  in  Wirklichkeit 
theoretische  Interessen  und  klinische  Erfordernisse  nie  werden  völlig 
unter  einen  Hut  bringen  lassen. 

Leipzig.  P.  Mentz. 


372  A.  Vierkandt: 

Oroos^  Karl,   Die  Spiele  der  Menschen.     Jena,   Verlag 
von  Gustav  Fischer,  1899.    IV  und  538  S. 

Schon  das  vor  drei  Jahren  veröflfentlichte  Werk  des  Verfassers  über 
die  Spiele  der  Tiere  erwies  sich  als  glücklicher  Griff,  der  eine  bislang 
wenig  beachtete  und  doch  der  Beachtung  werte  Reihe  von  Erscheinungen 
unserem  Verständnis  näher  rückte.  Welche  Goldader  aber  Karl  Gboos 
bei  der  Untersuchung  der  Welt  der  Spiele  angeschlagen  hat,  zeigt  erst 
das  vorliegende  Buch,  das  naturgemäfs  einen  ungleich  weiteren  Gesichts- 
und Interessenkreis  umspannt  als  sein  Vorgänger  und  auf  bleibende  Be- 
deutung Anspruch  hat.  Seinen  Inhalt  bildet  eine  psychologische  Be- 
schreibung der  wichtigsten  menschlichen  Spiele,  an  die  sich  eine  Reihe 
theoretischer  Erörterungen  anknüpft.  Das  Spiel  wird  dabei  kontrastiert 
mit  der  „ernsthaften"  Bethätigung  eines  Triebes,  ohne  dafs  jedoch  diese 
ihrerseits  definiert  wird.  Andererseits  definiert  Groos  (S.  7  u.  493)  das 
Spiel  als  eine  Beschäftigung,  die  lediglich  um  ihrer  selbst  willen,  wegen 
der  damit  verknüpften  Lust,  ausgeübt  wird  —  eine  Definition,  mit  der 
es  sich  freilich  kaum  vereinigen  läfst,  wenn  er  auch  für  den  sexuellen 
Trieb  zwischen  einer  spielenden  und  ernsthaften  Bethätigung  unterscheidet, 
da  auch  für  die  letztere  das  Kriterium  des  ausschliefslichen  Selbstzweckes 
wenigstens  vielfach  zutrifft.  Ein  allgemein  gültiges  Unterscheidungs- 
merkmal läfst  sich  vielleicht  überhaupt  nur  auf  objektivem  Boden  an- 
geben, sofern  nämlich  bleibende  Wirkungen  in  direkter  Form  nur  von 
der  ernsthaften  Thätigkeit  ausgehen  oder  ausgehen  können,  von  der 
spielenden  aber"  nur  in  indirekter  Form,  in  dieser  freilich,  da  das  Spiel 
meist  erziehend  wirkt,  häufig  in  hohem  Mafse. 

Die  Spiele  in  diesem  Sinne  sind  nicht  auf  die  Kindheit  beschränkt, 
sondern  es  gehören  zu  ihnen  auch  manche  Thätigkeiten  der  Erwachsenen, 
sowohl  bei  den  Naturvölkern  wie  bei  uns.  Auch  die  Befriedigung  der 
elementaren  ästhetischen  Anlagen  gehört  hierher,  der  Genufs  an  denjenigen 
ästhetischen  Erscheinungen,  welche,  wie  z.  B.  der  Rhythmus  oder  die 
einfachsten  optischen  Formen  und  Gestalten,  zu  ihrer  Erzeugung  keine 
besonderen  künstlerischen  Leistungen  erfordern.  Spiel  in  diesem  Sinne 
ist  die  Befriedigung  jedes  menschlichen  Instinktes  oder  ursprünglichen 
menschlichen  Bedürfnisses  —  der  Verf.  zieht  den  letzteren  Ausdruck  vor, 
weil  die  hier  in  Betracht  kommenden  Willensregungen  von  viel  generellerem 
und  veränderlicherem  Inhalte  sind  als  die  an  bestimmte  Reize  gebundenen 
Äufserungen  der  mit  der  körperlichen  Organisation  eng  verknüpften 
tierischen  Triebe  — .  Das  Buch  bildet  demnach  einen  Beitrag  zur  Psycho- 
logie des  menschlichen  Wollens.  Es  stellt  ein  reiches  Material 
von  —  zumeist  fremden,  gelegentlich  auch  eigenen  —  Beobachtungen  und 
Thatsachen  aus  der  Psychologie  des  Kindes,  der  Naturvölker,  des  täglichen 
Lebens  und  gelegentlich  auch  aus  derjenigen  der  Tiere  und  der  experi- 
mentellen Psychologie  zusammen  —  die  Hilfsmittel  dieser  letzteren  könnten 
beiläufig  wohl  für  manche  hier  behandelten  Probleme  noch  verwertet 
werden  —  und  ordnet  sie  nach  ihrer  inneren  Verwandtschaft.  Es  ist 
also  eine  Inventarisierung  der  gesamten  ursprünglichen  Bedürfnisse, 
welche  der  Verf.  unternimmt.    Dafs  die  Klassifikation  der  letzteren,  wie 


r(j(K%  ^I>ii'  Spiele  der  Menschen".  373 

sie  Gboob  vornimmt,  wohl  nur  als  eine  vorläufige  gelten  kann,  thut  der 
Bedeutung  des  Buches  keinen  Abbruch.  Auch  im  einzelnen  wird  man  ihr 
gegenüber  öfter  zu  prüfen  haben,  ob  alle  hier  unterschiedenen  Bedürfhisse 
wirklich  primär  sind.  Es  ist  z.  B.  eine  sehr  wichtige,  noch  der  Unter- 
suchung bedürftige  Frage,  ob  der  von  Gboos  neben  dem  Geselligkeits- 
und dem  Mitteilungstrieb  als  dritter  unterschiedene  sociale  Trieb  der  Ein- 
fügung und  Unterordnung  unter  die  Normen  einer  Gemeinsamkeit  wirklich 
ein  Anrecht  auf  eine  selbständige  Zählung  hat  oder  ob  es  sich  hier  etwa 
nur  einerseits  um  eine  den  allgemeinen  Zusammenhang  zwischen  Be- 
wegungsYorstellung  und  Bewegung  verstärkende  Verengung  des  Bewufst- 
seins  handelt,  wie  sie  der  Einflufs  der  leitenden  imponierenden  Persönlich- 
keit zuwege  bringt,  und  andererseits  um  B«gungen  des  Selbstgefühles 
und  der  Eitelkeit,  welche  durch  die  freiwillige  Unterordnung  Anerkennung 
zu  finden  hoffen. 

Aus  der  Fülle  der  Einzelbetrachtungen  erwähnen  wir  nur  zwei 
Punkte.  Die  Betrachtung  der  Spiele,  welche  sich  um  Sinneseindrücke 
drehen,  führt  den  Verf.  zu  dem  allgemeinen  Satz  (S.  495),  dafs  erstens 
jeder  Sinnesreiz  schlechtweg,  zweitens  jeder  starke  und  drittens  jeder 
angenehme  Sinnesreiz  gefällt.  Und  die  Nachahmung  erklärt  er  für 
eine  gemischte  Erscheinung,  bei  der  eine  Reihe  angeborener  Bedürfnisse 
sowie  Belehrungen  durch  die  Erfahrung  mit  dem  ursprünglichen  Zu- 
sammenhang zwischen  sensorischen  und  motorischen  Vorgängen,  genauer 
zwischen  Bewegungsvorstellungen  und  Bewegungen,  zusammenwirken  — 
ein  Problem,  für  dessen  Aufhellung  vielleicht  experimentelle  Unter- 
suchungen von  Nutzen  wären. 

Der  allgemeine  Gewinn  der  Arbeit  entspringt  der  Methode  der 
Vergleichung,  welche  sich  bei  dem  Verfahren  des  Verf.  von  selbst 
ergiebt.  Er  kann  nicht  überall  blank  und  haar  aufgezählt  werden,  sondern 
vielfach  handelt  es  sich  nur  um  Anregungen,  welche  der  selbständige  Leser 
aus  dem  reichen  Material  und  seiner  Zusammenstellung  schöpfen  wird. 
Es  kommen  dabei  nicht  nur  dem  Umkreis  der  menschlichen  Spiele  selbst 
angehörende  Vorgänge  in  Betracht,  sondern  auch  gewisse  andere  Er- 
scheinungen, zu  denen  die  menschlichen  Spiele  im  Verhältnis  primitiver 
Vorläufer  oder  besonders  einfacher  Beispiele  stehen.  Allerdings  mufs  man 
dabei  äufsere  ÄhnUchkeit  und  innere  Übereinstimmung,  sowie  Vergleichung 
und  Erklärung  auseinanderhalten.  In  dieser  Beziehung  scheinen  uns  z.  B. 
die  Versuche  des  Verf.,  das  ästhetische  Problem  durch  eine  Wanderung 
durch  die  Welt  der  Spiele  aufzuhellen  —  ursprünglich  das  Hauptmotiv 
für  die  Abfassung  des  Werkes  — ,  verschieden  beurteilt  werden  zu  müssen. 
Die  Zurückverfolgung  der  ästhetischen  Elementarvorgänge,  der  Freude 
am  Bhythmus  und  den  einfachsten  Farben  und  Formen  bis  zum  kindlichen 
Spiel  ist  gewifs  lehrreich,  wennschon  auch  hier  die  Frage  nicht  ganz  ab- 
zuweisen wäre,  ob  es  sich  in  beiden  Fällen  auch  wirklich  um  dieselben 
Bewufstseinsvorgänge  handelt.  Besonders  beachtenswert  erscheint  uns 
hier  der  Hinweis  des  Verf.  auf  die  bewuTstseinsverengende,  hypnotische 
Wirkung  des  Bhythmus,  wodurch  er  einen  günstigen  Boden  schafft  für 
die  intensivere  Gefühlswirkung  anderweitiger  Reize.  Wer  aus  der  ethno- 
graphischen Litteratur  weifs,  wie  allgemein  der  Rhythmus  von  den  Priestern 
YlerteljahrBBchrift  f.  wiBsenBchaftL  FhiloBopMe.    XXIII.  3.  25 


374  A..  Vierkandt:  Groos,  „Die  Spiele  der  Menschen". 

der  Naturvölker  benutzt  wird,  um  sich  in  einen  Zustand  der  Hypnose  und 
Ekstase  zu  versetzen,  dem  wird  diese  Auffassung  besonders  einleuchten. 
Wenn  dagegen  Gboos  den  Vorgang  der  Einfühlung  oder  inneren  Nach- 
ahmung durch  eine  yoraufgehende  Erörterung  der  Spiele  der  äufseren 
Nachahmung  unserem  Verständnis  näher  zu  rücken  hofft,  so  würden  dazu 
angesichts  der  tiefen  Kluft,  die  beide  Beihen  von  Vorgängen  voneinander 
trennt,  doch  wohl  erst  weitere  Untersuchungen  nötig  sein.  Und  wenn 
der  Verf.  die  Illusion  beim  künstlerischen  Gfinufs  durch  diejenige  des 
Kindes  bei  seinem  Spiel  aufzuhellen  versucht,  so  ist  —  ganz  abgesehen 
von  der  Frage,  ob  beide  Vorgänge  wirklich  wesensgleich  sind  —  doch 
auch  die  kindliche  Illusion  ein  viel  zu  komplexer  und  selbst  der  Zer- 
gliederung und  Aufklärung  bedürftiger  Vorgang,  als  dafs  unser  Verständnis 
durch  diese  Zusammenstellung  erheblich  gefördert  würde. 

Sehr  beachtenswert  erscheinen  uns  dagegen  gewisse  Folgerungen, 
die  der  Verf.  mehrfach  (S.  57,  112,  386,  402,  406,  455)  für  die  Ent- 
stehung von  Kulturgütern  zieht.  So  sehr  man  nämlich  im  allgemeinen 
für  sie  angesichts  der  trägen,  indolenten  Natur  des  primitiven  Menschen 
nach  praktischen,  naheliegenden  (z.  B.  mythologischen)  Beweggründen 
sich  umzusehen  Anlafs  hat,  so  ist  doch  nach  dem  hier  beigebrachten  Ma- 
terial auch  die  Heranziehung  des  einfachen  Spieltriebes  nicht  überall  ab- 
zuweisen. 

Zum  Schlufs  ein  Wort  über  einen  allgemeinen  Eindruck,  den 
uns  eine  Wanderung  durch  die  Welt  der  Spiele  hinterläüst.  Zeugen  schon 
die  „Spiele  der  Tiere"  von  einem  Beichtum  an  Lebensäufserungen,  hinter 
dem  der  Emstgehalt  ihres  Lebens  im  allgemeinen  zurücksteht,  so  erhalten 
wir  für  den  Menschen  mit  doppelter  Stärke  denselben  Eindruck  eines 
Mifsverhältnisses  zwischen  Blüte  und  Frucht,  zwischen  dem  Beichtum  der 
ursprünglichen  Anlage  und  der  Armut  des  eigentlichen  Kulturbesitzes. 
Zu  einem  Teil  erklärt  sich  dies  MifsverhältniTs  offenbar  aus  der  indolenten, 
sich  schwer  zum  systematischen  Ernst  aufraffenden  Natur  des  Menschen, 
zum  andern  aber  aus  dem  harten  Wesen  der  menschlichen  Kultur,  welche 
dem  Beichtum  des  menschlichen  Geistes  nur  eine  beschränkte  Zahl  fester 
Formen  zur  Verfügung  stellt  und  alles,  was  sich  nicht  in  sie  hineinpressen 
läTst,  unbarmherzig  opfert. 

Berlin.  A.  Viebkandt. 

Gomperz^  Dr.  H.,   Zur  Kritik  des  Hedonismus.    Wien, 
1898.     121  S. 

In  dieser  äufserst  lesenswerten  und  gedankenreichen  kleinen  Schrift 
wird  Schritt  für  Schritt  der  Hedonismus  in  allen  seinen  Formen  besprochen. 
Man  sieht,  dafs  er  ein  Standpunkt  ist,  dem  der  Verf.  die  eingehendste 
Betrachtung  geschenkt,  dem  er  selbst  vielleicht  angehört  hat.  Wenn  die 
letztere  Vermutung  richtig  sein  sollte,  so  haben  wir  hier  ein  Absage- 
schreiben vor  uns.  Zunächst  wird  die  Frage  rein  psychologisch  gestellt: 
ist  es  richtig,  daXs  unsere  Handlungen  durch  Lust  oder  Vermeidung  von 
Unlust  motiviert  sind?  Dabei  stellt  es  sich  heraus,  dafs  zwar  die  Lust- 
und  Unlustgefühle  als  die  zeitlich  frühesten  beim  Individuum  zu  fassen 


P.  P    11-=  mperz,  „Zur  Kritik  des  Hedonismus".  375 

sind  (es  wäre  hier  yielleicht  auf  Zieglbb  „Das  Gefühl'^  zu  verweisen  ge- 
wesen), dafs  aber  jeder  weitere  Schritt  im  Seelenleben  des  Menschen  ihn 
über  diese  erste  Stufe  hinausführt  und  dafs  die  einzelnen  fein  skizzierten 
Entwicklungsstufen  nicht  nur  keinen  Zuwachs  an  dieser  Gefühlsqualität 
bringen,  sondern  diese  sogar  dauernd  in  den  Hintergrund  drängen,  bis  die 
Eücksicht  auf  Lust  oder  Unlust  sich  als  ein  ganz  verschwindendes  Element 
in  dem  psychologischen  Gesamtbild  darstellt.  Gern  hätte  Bef.  dem  Verf. 
den  Beweisgang,  dafs  auch  hier  die  Ontogenese  der  Phylogenese  entspricht, 
erlassen.  Wir  können  derartige  psychologische  Beobachtungen  bei  niedriger 
stehenden  Menschen  und  vollends  bei  Tieren  nur  mit  Hilfe  einer  in  rück- 
schreitender Richtung  immer  gewagteren  Analogie  anstellen,  und  die  voll- 
ständig richtigen  Beobachtungen  beim  Menschen  sichern  diesem  Teil  auch 
ohne  die  entwicklungstheoretischen  Excurse  volle  Zustimmung. 

Mit  dieser  Feststellung  aber  ist  die  Entscheidung  über  den  ethischen 
Hedonismus  noch  durchaus  nicht  gefallen.  Es  könnte  ganz  gut  sein,  dafs 
Lust  nicht  immer  erstrebt  wird,  wohl  aber  erstrebt  werden  soll,  und  dafs 
also  der  ethische  Hedonismus  trotz  mangelnder  psychologischer  Legitimation 
durchaus  berechtigt  ist,  als  ethische*  Werttheorie  aufzutreten.  Dies  kann 
der  Hedonismus  in  zwei  Formen  thun.  Als  individueller  Hedonismus,  der 
das  Wohl  des  einzelnen  Individuums  in  dem  Maximum  von  Lust,  dem 
Minimum  von  Unlust  sieht.  Dieser  aber  sieht  sich  dazu  gedrängt,  syste 
matisch  jeden  Fortschritt  des  Individuums,  der  nur  durch  Aufsuchen  und 
Überwinden  von  Leid  möglich  ist,  zu  negieren,  und  ist  also  als  durchweg 
entwicklungsfeiudlich  aufzufassen.  Und  zwar  mufs  ihm  folgerichtig 
jeder  Schritt  auf  der  Lebensbahn  als  eine  Abkehr  von  der  Lust,  mithin 
als  Irrweg  erscheinen,  wie  denn  auch  Hbobsias  im  Altertum  aus  der 
Schule  des  Aristippos  hervorging. 

Die  andere  Form,  in  der  der  Hedonismus  als  ethische  Theorie  auf- 
treten kann,  ist  der  Utilitarismus,  der  nicht  das  Glück  des  Einzelnen, 
sondern  „das  gröfste  Glück  der  gröfsten  Anzahl"  als  Richtschnur  des 
Handelns  aufstellt.  Mit  der  begeisterten  Schilderung  der  Persönlichkeit 
und  der  Lehre  Bbnthams,  die  diesen  Abschnitt  eröffnet,  kann  ich  mich 
vollständig  einverstanden  erklären.  Nur  hätte  doch  mit  einigen  Worten 
darauf  hingewiesen  werden  müssen,  dafs  auch  für  Bjcntham  die  Basis  des 
Utilitarismus  der  Hedonismus  war.  Wenn  bei  der  Beförderung  des  Wohls 
Aller  das  Individuum  etwa  leer  ausgehen  sollte  [freilich  nach  Bbntham 
ein  casus  Irrealis],  so  hätte  das  Individuum  gar  keine  Veranlassung,  dieses 
Wohl  zu  befördern.  Diesen  Schritt  zur  Annahme  einer  Lust  aus  Menschen- 
liebe selbst  hat  erst  Mill  gemacht,  und  somit  richtet  sich  auch  die  fein- 
sinnige Kritik  des  Verf.,  worin  er  zeigt,  dafs  die  Menschenliebe  in  keiner 
der  drei  von  ihm  angenommenen  Formen  sich  utilitarisch  werten  läfst, 
mehr  gegen  Mill  als  gegen  Bekthah.  Endlich  folgt  eine  gleichfalls  sehr 
treffende  Zurückweisung  von  Spencers  Verquickung  des  Evolutionismus 
und  Utilitarismus,  die  in  der  richtigen,  aber  manche  Ausführung  des  Verf. 
selbst  treffenden  Auseinandersetzung  gipfelt,  dafs  wir  aus  der  Entwicklung 
einer  Erscheinung  durchaus  nicht  auf  ihren  Wert  schliefsen  dürfen,  das 
heifst  also,  dafs  der  Evolutionismus  nie  eine  Basis  für  den  Utilitarismus 
abgeben  kann. 

25* 


376  ^'  Hensel:  Gompenz,  „Zur  Kritik  des  Hedonismus". 

Auch  die  bei  Bbnthah  so  stark  herrortretende  Anwendung  des 
Utilitarismus  auf  juristische  und  sociale  Fragen  wird  als  nicht  zutreffend 
nachgewiesen.  Nicht,  weil  eine  Körperverletzung  Unlust  bringt,  wird  sie 
bestraft,  sondern  weil  die  Staatsgemeinschaft  nicht  will,  dafis  sie  geschehe  — 
und  sie  kann  gelegentlich  Dinge  wollen,  die  Unlust  bringen,  Dinge  nicht 
wollen,  die  Lust  bringen.  Die  Zwecke  der  Gesellschaft  sind  utilitarisch 
nicht  zu  ergründen,  ihre  Prinzipien  liegen  zum  grofsen  Teil  auf  ganz 
anderem  Gebiet. 

Darf  Eef.  einen  Wunsch  äuTsem,  so  wäre  es  der,  dafs  manche  ge- 
wagte Terminologien  unterblieben  wären.  Das  Streben  nach  Herrschaft 
über  die  Natur  „physiokratisch*'  zu  nennen,  geht  doch  wohl  etymologisch 
wie  historisch  nicht  an.  Und  wenn  das  Streben  nach  der  Wissenschaft, 
nach  Bethätigung  im  Staat,  Lösung  socialer  Aufgaben  unter  dem  Namen 
der  „ästhetischen^  Zwecke  zusammengefalst  wird,  so  ist  dies  auch  nicht 
als  glücklich  zu  bezeichnen.  Störend  wirkt  auch  als  Substantiv  „das 
Nachhinein". 

Das  soll  uns  aber  die  Freude  an  der  schönen  kleinen  Schrift  nicht 
verderben.  Vorzüglich  wird  ihre  Tendenz  in  dem  Motto  zusammengefafst, 
das  an  Angblüs  Silesius  anklingt,  das  aber  Ref.  nicht  zu  identifizieren 
vermochte : 

„Wollt'  ich  dem  Leid  entrinnen, 

Wie  sollt'  ich  Lust  gewinnen? 

Gott  lenkt  durch  Lust  und  Leid 

Die  Welt  in  Ewigkeit." 

Heidelberg.  P.  Hensbl. 


n. 
Philosophische  Zeitschriften. 


Arcliiy  für  Geschichte  der  Philosophie  (BerÜD,  Reimer). 
Bd.  12,  Heft  8. 

Anna  Tnmarkin,  Das  Associationsprinzip  in  der  Gtescliichte  der  Ästhetik. 

Job.  Zmavc,  Die  Prinzipien  der  Moral  bei  Tbomas  von  Aquin. 

K.  Praecbter,  Zu  Kleantbes  Frgm.    91  Fears. 

6.  L.  Dnprat,  La  Tbeorie  dn  nvsvfia  cbez  Aristote.     Jabresbericbt  über  die 

nacbkantiscbe  Philosopbie  von  W.  Diltbey,  A.  Henbanm  nnd  A.  Scbmekel  (SchlnTs). 

m  von  W.  Diltbey,  Fv  von  A.  Henbanm.  —  Neueste  Erscheinungen. 

Kantstudien  (Hamburg  und  Leipzig,  VofB). 
Bd.  in,  Heft  4. 

£.  EönigjDie  ünterscbeldnne  von  reiner  nnd  angewandter  Mathematik  bei  Kant. 

Van  der  Wyck,  Kant  in  Hofland.    I.  Dn  Marchie  van  Voorthnvsen's  Kant 

W.  B.  Waterman,   The  Ethics  of  Kants   Lectnres  on  the  Phllosophical  Theory 

of  Religion. 
R.  Weinmann,  Wnndt  über  naiven  nnd  kritischen  Realismus. 
F.  Sommerland,  Mainländers  Kantkritik.  —  Litteraturbericht.  —  Recenslonen.  — 

Selbstanzeigen.  —  Bibliographische  Notizen.  —  Zeitschriftenschau.  —  Sonstige 

neu  eingegangene  Schriften.  —  Mitteilungen.  —  Varia. 

Bd.  lY,  Heft  1.    (Von  nun  an  Berlin,  Eeutber  und  Beichard.) 

F.  Paulsen,  Kant  der  Philosoph  des  Protestantismus. 

M.  Wentscher,  War  Kant  Pessimist?    I. 

H.  Valhinger,  Eine  französische  Kontroverse  über  Kants  Ansicht  vom  Kriege. 

F.  Medicus,  Zu  Kants  Philosophie  der  Geschichte  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
K.  Lamprecht. 

A.  Neumann,  Lichtenberg  als  Philosoph  und  seine  Beziehungen  zu  Kant. 

A.  Döring,  Kants  Lehre  vom  höchsten  Gut 

P.  V.  Lind,  Das  Kantbild  des  Fürsten  von  Plefs.  —  Recenslonen.  —  Selbstanzeigen.  — 
Litteraturbericht.  —  Bibliographische  Notizen.  —  Zeitschriftenschau.  —  Mit- 
teilungen. —  Varia. 

Zeitschrift;  fttr  Philosophie  nnd  philosophische  Kritik  (Leipzig,  Pfeffer). 
Bd.  113,  Heft  2. 

J.  Volkelt,  Zur  Psychologie  der  äBthetischen  Beseelung. 

R.  Falckenbere,  H.  Lotzes  Brief  an  Eduard  Zeller. 

Fr.  Jodl,  J.  G.  Fichte  als  Soclalpolitiker. 

£.  Adickes,  Philosophie,  Metaphysik  und  Einzelwissenschaften  (im  AnschluTs  an 

WundtB  „System  der  Philosophie^* 
E.  König,  Hartmanns  Kategorienlehre. 
Koppelmann,  Erwiderung.   -^  Recenslonen.   —  Notizen.  —  Neu  eingegangene 

Schriften.  —  Aus  Zeitschnften. 


378  Philosophische  Zeitschriften. 

Bd.  114,  Heft  1. 

L.  Bnase,  Leib  und  Seele. 
H.  Broms e,  Die  Realität  der  Zeit 

W.  LntoelawBki,  über  Lotzes  Begriff  der  metaphysischen  Einheit  aller  Dinge. 
K  König,  £d.  von  Hartmanns  Kategorienlehre.  (Schlnb.)  —  Notizen.  —  Neu  ein- 
gegangene Schriften.  —  Bibliographie.  —  Ans  Zeitschriften. 

Zeitsehrift    für    Psyeholofrio    und    Physiologpi^    der    Sinnesonrmne 

(Leipzig,  J.  A.  Barth). 

Bd.  20,  Heft  4  n.  5. 

K.Zindler,  Über  räumliche  Abbildungen  des  Kontinuums  der  Farbenempflndungen 

und  seine  mathematische  Behandlung. 
W.  Thorner,  Ein  neuer  stabiler  Augensuieeei  mit  reflexlosem  Bilde. 
Chas.  B.  Morrey,  Die  Präcision  der  Buckoewegung  und  der  Lokalisation  an  der 

Netzhautperipheiie. 
W.  ühthoif,  Ein  Beitrag  zur  kongenitalen  Farbenblindheit. 
W.  V.  Zehender,  Die  Form  des  mmmelsgewölbes  und  das  Grö&ererscheinen  der 

Gestirne  am  Horizont.  —  Besprechungen. 

Zeitschrift  fOr  Philosophie  and  Pädagogik  (Langensalza,  Beyer  &  Söhne). 
Tl.  Jahrg.,  Heft  2. 

M.  Lobsien.  Über  den  Ursprung  der  Sprache. 

Prof.  O.  Willmann,  Der  Neukantianismus  g^gen  Herbarts  Pädagogik. 
Jos.  Geyser,  Die  psychologischen  Grundl^en  des  Lehrens.    (Scnlufs.)  —  Mit- 
teilungen. —  Besprechungen.  —  Aus  der  Fachpresse. 

TL  Jahrg.,  Heft  8. 

M.  Lobsien,  Über  den  Ursprung  der  Sprache.    (Schluljs.) 
Susanna  Bubinstein,  Ed.  von  Hartmanns  Schöpfongslehre. 
F.  Hollkamm,  Einige  Bemerkungen  zu  Hiltys  jGmck^ 

C.  Ziea^ler,  Das  Würzburger  Schuldrama.  —  Mitteilungen.  —  Besprechungen.  — 
Aus  aer  Fachpresse. 

Tl.  Jahrg.,  Heft  4. 

Herbart,  Pestalozzi  und  —  Herr  Professor  Paul  Natorp. 
L  O.  Flügel,  Zur  Psychologie, 
n.  K.  Just,  Zur  Ethik. 

in.  W.  Rein,  Zur  Pädagogik.  —  Mitteilungen.  ^-  Besprechungen.  —  Aus  der 
Fachpresse. 

The  Philosophical  Beriew    (New   York  and  London,    The   Macmillan 
Company). 

Toi.  VIII,  No.  8. 

J.  G.  Schurman,  Kants  A  Priori  Elements  of  Understanding. 
Is.  O.  Winslow,  A  Defenee  of  Beallsm. 
HiralalHaldar,  The  Coneeption  of  the  Absolute. 

E.  Adickes,  German  Philosophical  Literature  (1896—1898),  I.  —  Discusslons.  — 
Reviews  or  Books.  —  Summaries  of  Artides.  —  Notices  of  New  Books.  —  Notes. 

The  Psjchologrieal   Beyiew    (New   York   and  London,  The   Macmillan 
Company). 

Yol.  VI,  No.  8. 

Ch.  H.  Judd.  A  Study  of  Geometrlcal  Illusions. 

Wesley  Mills,  The  Nature  of  Anlmal  Litelligence  and  the  Methods  of  Liveeti- 

gating  St. 
E.  A.  Kirkpatrick,  The  Development  of  Yoluntary  Movement. 
Edw.  Thorndike,  The  Instinctive  Beaction  of  Toung  Chicks.  ~  Discussions.  ~ 

Psychological  Literature.  —  New  Books. 

Hierzu  gehörig: 

Series  of  Monograph  Supplements. 
Vol.  II,  No.  5. 

The  Emotion  of  Joy  by  George  van  Ness  Dearborn,  A.  M.,  M.  D. 


"^ 


Philosophische  Zeitschriften.  379 

The  American  v>'  i.aal  of  Psyehology  (Worcester,  Mass.  Orpha). 
Yol.  X,  No.  1. 

Kline.  The  Migratory  Impulse  vs.  Love  of  Home. 
Gamble,  The  Applioability  of  Webers  Law  to  Smell. 

Major,  Minor  Stadles  f^om  the  Psychological Laboratory  of  Comell ünlversitv.  — 
Psychological  Literatare.  —  Gorrespoüdence.  —  Notes  and  News.  —  Books  Reoefved. 

Beme  N^o-Seolastiqae  (Louvain,  Institut  sup^rieur  de  Philosophie). 
6.  Jahrg.,  No.  2. 

J.  Hallenx,  Le  problöme  philosophlque  de  Tordre  sodaL 

C.  Plat,  La  yalenr  morale  de  la  sclence  d^aprös  Socrate. 

L.  NoSl,  La  consoience  de  Vacte  libre  et  les  objections  de  M.  Fooillee. 

D.  Mercier,  JBcco  rallarme^  ün  cri  d*alarme. 

M.  de  Wulf,  La  Synthese  scolastique  (suite  et  fln).  —  Melanges  et  Docnments.  — 
Bulletins  Blbllographlques.  —  Comptes  rendns.  —  Bevue  des  Periodiqaes. 

The  Metaphyglcal  Magazine  (New  York,  The  Metaphysical  Publishing 
Company). 

YoL  IX,  No.  5. 

A.  Wilder,  Life  EtemaL 

Wake,  C.  Staniland.  The  Phllosophy  of  Edncation. 
Viola,  Thlne  own  shall  come  to  Theo.    (Poem.) 

B.  Winchester,  The  Stndy  of  Metaphysics. 
H.  £.  0 reut t,  Is  the  Devll  dead?    (Concluded.) 
H.  S.  Bogardus,  The  Evolution  of  Consdousness. 
Eva  Best,  ChUdren  of  the  King.    (An  Allegory.)    II. 

E.  A.  Pitt  8  ine  er,  Come  into  the  Heavemy  Silence.    (Poem.)  —  The  World  of 
Thought,  with  Edltorial  Comment.  —  Notlces. 

Yol.  IX,  No.  6. 

Quaestor  Yitae,  The  dual  unity  of  mind. 

B.  F.  Mills,  The  doctrine  of  election. 

P.  Avenel,  A  technlcal  analysis  of  thought  and  its  faculties. 

A.  Wilder,  Life  etemal. 

H.  N.  Bullard,  <3tonlus. 

J.  A.  Edgerton,  Only  dreamlng. 

E.  Best,  Children  of  the  King.  —  The  world  of  thought,  with  Edltorial  Comment. 


m. 
Bibliographie. 


I.    Geschichte  der  Philosophie« 

Abhandlangren  zur  Philosophie  u.  ihrer  Geschichte.  Herausg.  Ton  B.  Erd- 
mann.  10.  Heft:  Freytag,  W.,  Die  Substanzenlehre  Lockes.  (VII,  74  S.) 
Halle,  Niemeyer.    M.  2, — . 

Bender,  Wilh.,  Mythologie  und  Metaphysik.  Grundlinien  einer  Geschichte 
der  Weltanschauungen.  1.  Bd.  Die  Entstehungen  der  Weltanschauungen 
im  griech.  Altertum.    (VII,  288  S.)    Stuttgart,  Frommann.    M.  4, — . 

Hartmann,  Ed.  t,,  Ausgewählte  Werke.  XI.  Bd.  Geschichte  der  Meta- 
physik.   1.  Tl.    Bis  Kant.    (XIV,  588  S.)    Berlin,  Haacke.    M.  12,—. 

Keller,  Lndw.,  Die  Akademien  der  Platoniker  im  Altertum.  Nebst  Bei- 
trägen zur  Geschichte  des  Piatonismus  in  den  christlichen  Zeiten.  (25  S.) 
Berlin,  Gärtner.    M.  —,75. 

Schaefer,  Frdr.,  Georg  Christoph  Lichtenberg  als  Psychologe  u.  Menschen- 
kenner. Eine  krit.  Untersuchung  u.  ein  Versuch  zur  Grundlegung  einer 
„Empirischen  Charakterpsychologie".  (52  S.  mit  3  Tafeln.)  Leipzig, 
Dieterich.    M.  1, — . 

Schaltze^  Fritz,  Stammbaum  der  Philosophie.  Tabellarisch-schematischer 
Grundrifs  der  Geschichte  der  Philosophie  von  den  Griechen  bis  zur  Gegen- 
wart. 2.  Aufl.  (30  Taf.  mit  XVI  S.  Text.)  Leipzig,  Haacke.  M.  8,—; 
geb.  M.  10,—. 

Wartenberg,  M.,  Kants  Theorie  der  Kausalität,  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  Grundprinzipien  seiner  Theorie  der  Erfahrung.  Eine 
historisch-krit.  Untersuchung  zur  Erkenntnistheorie.  (VIII,  294  S.) 
Leipzig,  Haacke.    M.  6, — . 

Windelband,  W.,  Die  Geschichte  der  neueren  Philosophie  in  ihrem  Zu- 
sammenhange mit  der  allgem.  Kultur  u.  den  besonderen  Wissenschaften 
dargestellt.  2  Bde.  2.  Aufl.  1.  Von  der  Benaissance  bis  Kant.  (Vill, 
591  S.)  —  2.  Von  Kant  bis  Hegel  und  Herbart.  (Die  Blütezeit  der 
deutschen  Philosophie.)  (VII,  408  S.)  Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel. 
ä  M.  9,—  ;  geb.  M.  10,50. 

II.    LrOgik  und  Erkenntnistheorie« 

Frimmel,  Thdr.  y.,  Philosophische  Schriften.  I.  Zur  Erkenntnistheorie. 
(36  S.)    Wien,  Gerold  &  Co.    M.  1,—. 


Bibliographie.  381 

Ontberlet,  Con>t.,  ^.ebrbuch  der  Philosophie.  4.  Bd.  Logik  und  £r- 
kenntnisthcMic.    li'    Autl.    (XII,  314  S.)   Münster,  Theirsiog.    M.  3,60. 

III.   Allgemeine  Philosophie  und  Metaphysik. 

Benz,  Frdr«,  Ewig  oder  zeitlich?    Bine  philosoph.  Abhandlung.    2.  Aufl. 

(47  S.)    Zürich,  Schmidt.    M.  —,60. 
OonzAles,  de  Arintero,  F.  J«  T^  La  evoluciön  y  la  filosofia.    (195  p.) 

Madrid.    M.  4, — . 
Henne  am  Bbyn,   Otto,    Anti-Zarathustra.      Gedanken  über  Friedrich 

Nietzsches  Hauptwerke.    (XV,  160  S.)    Altenburg,  Tittel.    M.  3,—. 
Hofmann,  Karl,  Das  Bätsei  des  Lebens  und  die  Versuche,  es  zu  deuten. 

Bede.    (44  S.)    Graz,  Leuschner  &  Lubensky.    M.  1,60. 
James,  Wilh«,  Der  Wille  zum  Glauben  und  andere  populärphilosophische 

Essays.  Deutsch  von  Th.  Lorenz.    Mit  einem  Geleitwort  von  Fr.  Paulsen. 

(XX,  196  S.)    Stuttgart,  Frommann.    M.  3,—. 
Kfihnemann,   Eng«,   Grundlehren   der  Philosophie.     Studien   Über  Vor- 

sokratiker,  Sokrates  und  Plato.   (XIII,  478  S.)  Berlin,  Spemann.   M.  7,—. 
Liehtenberger,  Henri,  Die  Philosophie  Friedbrich  Nietzsches.    Eingeleitet 

und  übers,  von  Elisab.  Förster  -  Nietzsche.     (LXIX,  216  S.)     Dresden, 

Reifsner.    M.  4, — ;  geb.  M.  4,70. 
Lntoslawski,  Wlncenty,  Seelenmacht.    Abrifs  einer  zeitgemäfsen  Welt- 
anschauung. (XVI,  301  S.)  Leipzig,  Engelmann.    M.  9,— ;  geb.  M.  10, — . 

IV.    Psychologie  und  Sprachwissenschaft. 

Braunschweiger,  D.,  Die  Lehre  von  der  Aufmerksamkeit  in  der  Psycho- 
logie des  18.  Jahrhunderts.    (VIII,  176  S.)    Leipzig,  Haacke.    M.  3,60. 

Faller,  H.  H«,  The  art  of  memory:  being  a  comprehensive  and  practical 
System  of  memory  culture.  (481  p.)  St.  Paul,  Minn.  National  Publish- 
ing Co.    Doli.  3,—. 

Ontberlet,  Const«,  Der  Kampf  um  die  Seele.  Vorträge  über  die  brennen- 
den Fragen  der  modernen  Psychologie.  (VIII,  601  S.)  Mainz,  Kirch- 
heim.   M.  7,—  ;  geb.  M.  8,50. 

Martin,  Lillle,  J.  und  Mttller,  G«,  Zur  Analyse  der  Unterschiedsempfind- 
lichkeit. Experimentelle  Beiträge.    (VI,  233  S.)  Leipzig,  Barth.   M.  7,&0. 

Henanlt,  I«.,  L'Intelligence  des  animaux.  (234  p.)  Paris,  Hachette  et  Oie. 
fr.  2,—. 

Höbins,  P«  J«,  Über  Schopenhauer.  (III,  264  S.  mit  12  Bildnissen.) 
Leipzig,  Barth.    M.  4,50;  geb.  bar  M.  5,50. 

Szezepanski,  C.  r«.  Das  Gemütsleben  und  seine  Pflege.  Vortrag.  (20  S.) 
Darmstadt,  Bergstraesser.    M.  —,25. 

V.    Ethik  und  Rechtsphilosophie. 

Haring,  Job«,  Der  Bechts-  und  Gesetzesbegriff  in  der  katholischen  Ethik 
und  modernen  Jurisprudenz.    (VII,  111  S.)    Graz,  Moser.    M.  1,80. 

Lfihr,  Karl,  Untersuchung  der  Zeitfrage:  Ist  eine  religionslose  Moral 
möglich?    (III,  61  S.)    Berlin,  Schwetschke  &  Sohn.    M.  1,—. 


382  Bibliographie. 

Marens,  Ernst,  Die  exakte  Aufdeckung  des  Fundaments  der  Sittlichkeit 
und  Beligion  und  die  Konstruktion  der  Welt  aus  den  Elementen  des 
Kant.  Eine  Erhebung  der  Kritik  der  reinen  und  prakt.  Vernunft  zum 
Bange  der  Naturwissenschaft.  (XXXI,  240  u.  161  S.)  Leipzig,  Haacke. 
M.  8,—. 

VI.    Ästhetik. 

Azbel,  L'esth^tique  nouvelle  (althöique).    Le  Beau  et  sa  Loi.    80  figures 

d'idee.    (352  p.)    Paris,  Robert  et  Cie.    fr.  7,50. 
Haeckel,  Ernst,  Kunst -Formen  in  der  Natur.     (In  5  Lfgn.)     1.  Lfg. 

(3  S.  u.  10  z.  T.  färb.  Taf.  mit  je  1  Bl.  Text.)     Leipzig,   Bibliograph. 

Institut.    M.  3, — . 
Uenderson,  W.  Ja«,  The  orchestra  and  orchestral  music.    (238  p.)    New 

York,  Scribners  Sons.    Doli.  1,25. 
Hnneker,  Ja«,  Mezzotints  in  modern  music:  Brahms,  Tschaikowsky,  Chopin, 

Eichard  Straufs,  Liszt  and  Wagner.    (318  p.)    New  York,  Scribners  Sons. 

Doli.  1,50. 

VII.  Philosophie  der  Gesellschaft  und  der  Geschichte. 

Bernstein,  Ed.,  Die  Voraussetzungen  des  Socialismus  und  die  Aufgaben 
der  Socialdemokratie.    (X,  188  S.)    Stuttgart,  Dietz  Nachf.    M.  2, — . 

Chamberlain,  Houston  Stewart,  Die  Grundlagen  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts. (Das  XIX.  Jahrhundert,  Bd.  1.)  Erste  Lfg.  (320  S.)  München, 
Verlagsanstalt  Bruckmann.    M.  6, — . 

Coste,  A«,  Les  Principes  d'une  sociologie  objective.  (245  p.)  Paris,  Alcan. 
fr.  3,75. 

Jentseh,  Karl,  Bodbertus.  (259  S.)  Stuttgart,  Frommann.  M.  3,—  ; 
geb.  M.  3,80. 

Le  Bon,  C^nstare,  Psychologie  du  Socialisme.  (X,  496  p.)  Paris,  Alcan. 
fr.  7,50. 

Liszt,  Frz«  T«,  Das  Verbrechen  als  social  -  pathologische  Erscheinung. 
Vortrag.    (27  S.)    Dresden,  von  Zahn  &  Jaensch.    M.  1,—. 

Nandet,  Notre  Devoir  social.    (XV,  295  p.)    Paris,  Flammarion,    fr.  3,50. 

Patten,  Simon,  Nelson,  The  development  of  English  thought:  a  study 
in  economic  Interpretation  of  history.  (415  p.')  New  York,  Macmillan  Co. 
Doli.  3,—". 

VIII.    Religionsphilosophie  und  Theosophie. 

Besant,  Annie,   Karma.     Übersetzung.     (III,  82  S.)     Leipzig,   Grieben. 

M.  1,20;  geb.  M.  1,80. 
Cnrtin,  Jeremiah,  Creation  myths  of  primitive  America  in  relation  to  the 

religious  history  and  mental  development  of  mankind.    (532  p.)   Boston, 

Little,  Brown  &  Co.    2  Doli.  50  c. 
Didlo,  Ch«,  Der  sittliche  Gottesbeweis.   (XVIII,  230  S.)  Würzburg,  Göbel. 

M.  2,30. 
Foerster,  Erich,  Das  Christentum  der  Zeitgenossen.    Eine  Studie.    [Aus: 

„Zeitschrift  für  Theologie  und  Kirche".]    (96  S.)    Freiburg  i.  B.,  Mohr. 

M.  1,50. 


\ 


; 


Bibliographie.  383 

Köbler,  Herrn«,  Socialistische  Irrlehren  von  der  Entstehung  des  Christen- 
tums u.  ihre  Widerlegung.  (IV,  272  S.)  Leipzig,  Hinrichs.  M.  4,40; 
geb.  M.  6,40. 

Loiimer,  George  €.,  Christianity  and  the  Social  State.  (508  p.)  London, 
Baptist  Tract  and  Book  Sog.    7  sh.  6  d. 

Lfidemann,  H.,  Die  Vorherrschaft  des  Geistes.  Beligionsphilosophische 
u.  efkenntnistheoret.  Apercus.    (VII,  96  S.)    Berlin,  Eichblatt.    M.  2,—. 

Mal  wert,  Science  et  religion,  ayec  156  fig.  (230  p.)  Paris,  Soci6t^ 
d'Editions.    2  fr.  60  c. 

Hikalowitcta,  Nikolai,  Die  Gottwerdung  des  Menschen.  Ein  Beitrag  zur 
Entwicklungsgeschichte   der  Menschheit.     (116  S.)    Chicago.    M.  2, — . 

Sinnet,  A«  F.,  Die  esoterische  Lehre  oder  Geheimbuddhismus.  Aus  dem 
Engl.  2.  Aufl.  (XXVII,  295  S.)  Leipzig,  Grieben.    M.  4,—  ;  geb.  M.  5,—. 

Wagrner,  G.,  Die  heidnischen  Kulturreligionen  u.  der  Fetischismus.  Ein 
Beitrag  zur  vergleichenden  Beligionsgeschichte.  (VII,  127  S.)  Heidel- 
berg, Winter.    M.  2,40. 

Weerts,  Joh.  Heinr.  Tlidr«,  Vergleichende  Untersuchung  der  Beligions- 
philosophie  Kants  und  Fichtes.    (32  S.)    Norden.    M.  1,—. 

IX.    Naturphilosophie. 

Allen,  Grant,  Flashlights  on  nature.  With  150  Illust.  by  Frederick 
Enock.    (320  p.)    London,  Newnes.    6  sh. 

Braun,  Ferd«,  Über  physikalische  Forschungsart.  Bede.  (31  S.)  Strafs- 
burg,  Heitz.    M.  —,80. 

Fechner,  Gnst.  Tlidr«,  Nanna  oder  Über  das  Seelenleben  der  Pflanzen. 
2.  Aufl.  Mit  einer  Einleitung  y.  Kurt  LaTswitz.  (XIX,  301  S.)  Ham- 
burg, Vofs.    Geb.  M.  6,—. 

Frommel,  Otto,  Das  Verhältnis  von  mechanischer  und  teleologischer  Natur- 
erklärung bei  Kant  und  Lotze.    (68  S.)    Erlangen,  Bläsing.    M.  1,20. 

Haeekel,  Ernst,  The  Last  Link.  Our  Present  Knowledge  of  the  Descent 
of  Man.  With  Notes  and  Biographical  Sketches  by  Hans  Gadow. 
(164  p.)    London,  Black.    2  sh.  6  d. 

—  DerMonismuB  als  Band  zwischen  Beligion  und  Wissenschaft.  Glaubens- 
bekenntnis e.  Naturforschers.  Vortrag.  8.  Aufl.  (46  S.)  Bonn,  Straufs. 
M.  1,60. 

Prel,  Carl  dn,  Die  Magie  als  Naturwissenschaft.  1.  Tl.  Die  magische 
Physik.    (XII,  201  S.)    Jena,  Costenoble.    M.  5,—  ;  geb.  M.  6,50. 

Prenfs,  Wilh.  H«,  Geist  und  Stoff.  Erläuterungen  des  Verhältnisses 
zwischen  Welt  und  Mensch  nach  dem  Zeugnis  der  Organismen.  2.  Aufl. 
(Vn,  302  S.)    Oldenburg,  Schulze.    M.  4,—. 

Sterne,  Carne,  Werden  und  Vergehen.  Eine  Entwicklungsgeschichte  des 
Naturganzen  in  gemeinverständl.  Fassung.  4.  Aufl.  (In  20  Heften.) 
1.  Heft.    (S.  1-64  m.  Abbild,  u.  3  Taf.)    Berlin,  Bomtraeger.    M.  1,~. 

Stögermayr,  F.  Ph«,  Materialistisch-hypothetische  Sätze  und  Erklärung 
des  Wesens  und  der  KraftäuTserungen  des  elektrischen  Fluidums.  2  Bde. 
Mit  88  Abbild.  (XII,  200  u.  VI,  231  S.)  Wien,  Hartleben.  M.  3,-; 
geb.  M.  4,—. 


384  Bibliographie. 

Staub)  J«  B«9  Die  thatsächliche  Widerlegung  der  !N'iwton  Bciien  Hypothese 
yon  der  allgem.  Anziehungskraft  durch  den  naturgemäfsen  Ersatz  der- 
selben als  Grundlage  e.  neuen  monistischen  Weltanschauung.  (20  S.) 
Leipzig,  Gracklauer.    M.  — ,75. 

Thomsoiiy  J«  Arthur,  The  Science  of  Life.  An  Outline  of  the  History 
of  Biology  and  its  Becent  Advances.  (X,  246  p.)  London,  Blackie.  2  sh.  6  d. 

X.    Allgemeine  Pädagogik. 

BI0W9  Susan  £•,  Letters  to  a  mother  or  the  philosophy  of  Froebel.   (311  p.) 

New  York,  Appleton.    Doli.  1,50. 
Eslander,  J«,  L'Education  au  point  de  vue  sociologique.   (336  p.)   Paris, 

Le  Sondier.    5  fr. 
Nerrlichy  Paiü,  Ein  Nachwort  zum  Dogma  vom  klassischen  Altertum. 

9  Briefe  an  Julius  Schvarcz.    (76  S.)    Leipzig,  Hirschfeld.    M.  2,^. 
Pöhnert,  Karl,  Job.  Matth.  Gesner  und  sein  Verhältnis  zum  Philantropi- 

nismus  und  Neuhumanismus.    Ein  Beitrag  zur  Geschichtie  der  Pädagogik 

im  XVm.  Jahrb.    (VI,  129  S.)    Leipzig,  Gräfe.    M.  2,—. 


iiilllllillliillllliiiliiililiilliriiliiiliiiiiiiühiiili 


luiiiiiiiiiiMiiimiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiii 


Abhandlungen. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der 

Zeitvorstellung. 

Von  Eugen  Posch,  Budapest. 
(Vierter  Artikel.) 


Inhalt. 

Entstehuiig  und  Bedeatnng  der  „leeren*^  Zeit.  Ansdehnnnffsgebiet  der  Zeit- 
vorBtellimg.  Warum  man  die  Dinee  in  der  Zeit  befindlich  vorstellt,  nnd  warum 
man  nur  an  eine  Zeitreihe  glaubt.  Bas  Liniensymbol.  Das  Stetigkeitsprädikat. 
Die  unendliche  Zeit.  Der  Begriff  „Zeif*  ist  Schlufsleistung  und  nicht  Anfangspunkt 
des  Zeitkategorien  ersinnenden  Denkens.  —  Sprachliche  Belege  für  die  empiristische 
Theorie. 


4.  Der  Begriff  „Zeit**  und  seine  Prädikate. 

Zur  Einsicht  der  Entstehungsumstände  des  Begriffs 
„Zeit",  einer  Kette,  wird  uns  das  Verständnis  ihrer  Glieder, 
der  Intervalle,  hinüberleiten.  Etymologisch  würde  „Intervall" 
irgend  ein  dazwischen  liegendes  Leeres,  folglich  „leere 
Zeit"  bedeuten  und  wäre  ein  rein  empirischer,  d.  h.  durch 
stattgehabtes  „Ablesen  vom  Gegebenen"  erklärbarer  Begriff, 
falls  nur  leere  Zeit  überhaupt  vorhanden  und  die  Zeit  nicht 
stets  mit  irgendwelchen,  wenn  auch  unbemerkten,  Eindrücken 
erfüllt  wäre. 

DaTs  es  leere  Zeit  nicht  giebt  („les  instants  hors  des  choses  ne  sont 
rien")  und  falls  es  welche  gäbe,  unbemerkbar  bliebe,  findet  sich  bei  Lbibniz 
(Ep.  V,  27;  Ep.  III,  4 — 6,  an  Claekb),  jedoch  ohne  dafs  die  hieraus  zu 
Gunsten  des  Subjektivismus  erwachsende  Empfehlung  (die  des  Prinzips: 
Zeit  ist  blofser  Gedanke)  irgend  beherzigt  würde.  Ähnliche  Behauptungen 
bei  HuMB  (S.  90—91),  I.  H.  Pichte  (Beitr.  S.  141—142),  Dühring  (S.  69), 

LlBBMANN  (S.  90—110),  WUNDT  (Log.  S.  432)  u.  a. 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXIIL  4.  26 


386  Eugen  Posch: 

Da  nun  Begriffe  eines  nachweislich  Nichtvorhandenen 
niemals  im  obigen  Sinne  empirisch,  d.  h.  blofse  Wieder- 
spiegelungen empfangener  Eindrücke  sein  können,  so  müssen 
die  in  ihnen  enthaltenen  Umbildungen  —  im  gegebenen  Falle 
die  Leerheitsvorstellung  —  auf  ihre  Ursache  hin  erforscht 
werden.  Dieselbe  dürfte  in  der  Thatsache  zu  suchen  sein, 
dafs  die  Zeit  auch  viel  uninteressante,  wenigstens  uns  ad  hoc 
nicht  fesselnde  Erfüllungen  enthält,  folglich  nicht  nur  uns 
selbst  manchmal  leer  erscheint,  sondern  auch  anderen  gegen- 
über, deren  Aufmerksamkeit  von  dem  Inhalte  ab-  und  auf 
das  blofse  Gröfsenmoment  (bei  Dauervergleichungen)  hin- 
gelenkt werden  soll,  sehr  zweckmäfsig  als  „leer"  bezeichnet 
wird.  Das  Intervall  ist  also  ursprünglich  ein  als  nicht- 
vorhanden geltender  dauerhafter  Eindruck  oder  ein  diesem 
gleichwertiges  dauerhaftes  Geschehen,  und  die  Zeit  nichts 
anderes,  als  eine  Keihe  successiver  Intervalle. 

Die  HERBABT'sche  Erzeugungsweise  der  Leerheitsvorstellung  aus 
Pausen,  wie  solche  in  der  Rede  oder  Musik,  wenn  sie  ins  Stocken  geraten, 
vorkommen  (VI,  S.  143 — 144),  weicht  vom  Prinzipe  der  unserigen  nicht 
ab,  sondern  unterscheidet  sich  von  derselben  nur  in  betreff  des  hierbei 
übergangenen  thatsächlichen  Zeitinhalts,  als  welchen  Herbabt  jene  V^eiter- 
führungen  der  Rede  oder  Melodie  erwähnt,  wie  sie  dem  Zuhörer  während 
Stockungen  gemeiniglich  zu  entschlüpfen  pflegen.  Nun  ist  jedoch  die 
Vernachlässigung  eines  von  uns  selbst  beigesteuerten  Zeitinhalts  —  ein 
hierdurch  erfolgendes  „Verlöschen  der  Reproduktionen",  infolge  dessen 
„nichts,  als  die  Form  derselben,  das  Nacheinander  noch  merklich  bleibt"  — 
viel  weniger  wahrscheinlich,  als  die  Aufserachtlassung  eines  uninteressanten 
auswärts  Gegebenen,  wie  solches  an  den  zahlreichen  Gesichts-  und  sonstigen 
Eindrücken  vorliegt,  welche  uns  bei  Pausen  doch  von  allen  Seiten  zuströmen. 
Auch  beweisen  die  häufigen  Fälle  von  Langweile  („leerer  Zeit"),  welche 
ohne  Musik-  oder  Redestockungen  eingetreten  sind,  jedenfalls  gegen  die 
Unentbehrlichkeit  der  von  Hbrbart  für  die  Leerheitsvorstellung  bean- 
spruchten Vorkommnisse. 

Da  es  jedoch  für  Entstehung  der  Leerheitsvorstellung  nur  auf  jenes 
Vernachlässigen  des  thatsächlichen  Zeitinhaltes  ankommt,  so  mufs  man 
alle  Lebenslagen,  in  denen  dieses  eintreten  kann,  als  geeignete  Ausgangs- 
punkte für  die  fragliche  Vorstellung  anerkennen ;  denn  viele  Wege  führen 
nach  dem  Rom  der  menschlichen  Erkenntnis.  Dies  bezieht  sich  aufser  der 
HERBABT'schen  auch  auf  die  VoLKMANN'sche  Darstellung,  wo  ein  quantitativ 
gleiches  Gefühl  des  Überdrusses  zu  besagtem  Zwecke  herbeigezogen  wird, 
wie  solches  infolge  zu  langer  Dauer  bei  den  verschiedenartigsten,  anfangs 
gar  nicht  uninteressanten  Darbietungen   zu   entstehen  pflegt,   und   eine 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  387 

„Zusammenfassung  der  qualitativ  verschiedenen  Gegenwarten  in  denselben 
Gesamteindruck'',  sowie  „Hemmung  der  wechselnden  Qualitäten  unterein- 
ander" (S.  27)  bewirken  soll.  Dafs  Pausen  eigentlich  nur  durch  unser, 
mit  dem  Weltlaufe  nicht  schritthaltendes  Denken  (-«  Ungeduld)  zu  „Pausen", 
d.  h.  bemerkbar,  und  hiermit  zum  Ausgangspunkte  der  Zeitvorstellung 
wurden,  findet  sich  in  eleganter  Fassung  bei  Waitz  (S.  586). 

Die  Ähnlidikeit  der  „leeren  Zeit"  mit  der  Leerheit  der  mathematischen 
Formeln  und  sonstiger  Begriffsschemen  (vergl.  Wuvdt,  Log.  S.  432, 
Spsnceb,  §§  73  und  104),  allwo  doch  auch  nur  die  Zulässigkeit  was 
immer  für  welchen  Inhalts,  statt  eines  gewissen,  sich  unvermeidlich 
aufdrängenden  bezeichnet  werden  will,  und  keineswegs  der  Glaube  an 
faktische  Leerheit  erweckt  wird,  wenigstens  es  nicht  werden  soll  —  diese 
Ähnlichkeit  bringt  aufser  der  obigen  VoLKMANn'schen  und  der  nur  ganz 
andeutungsweisen  WuNDT'schen  noch  die  STiEDENBOXH^sche  Darstellung 
(S.  261)  zum  Ausdruck,  wo  die  „leere  Zeit",  d.  h.  die  Zufälligkeit  ihres 
eben  gegebenen  Inhalts  durch  die  Yergleichung  meines  Lebensabschnittes 
(A,  a,  b,  c,  B)  mit  einem  beliebigen  fremden  (A,  d,  c,  f,  B)  gewonnen  wird. 
Jedenfalls  ist  dies  nicht  die  bequeme  Heerstrafse,  sondern  ein  gewifs  nur 
selten  betretener  Seitenweg  zur  fraglichen  Vorstellung.  (Laut  Yolkmann 
[S.  33]  selbst  das  nicht.)  Die  HoBWicz'sche  Äufserung  (1.  Hälfte,  S.  141), 
„das  BewuTstsein  der  Zeit"  [so  allgemein!]  käme  „dadurch  zutande,  dafs 
zahlreiche  Empfindungsreihen  nebeneinander  ablaufen,  unter  denen  eine 
als  Hauptreihe  sich  mit  den  anderen  vergleicht"  —  halte  ich  nur  für  eine 
undeutlichere  Fassungsweise  des  STiBDBNBOTH'schen  Gedankens. 

Den  Begriff  des  Zeitraumes,  der  sich  von  dem  des  Intervalls 
doch  gewifs  in  Nichts  unterscheidet,  läfst  Hxbbabt  aus  Vorstellungsreihen 
hervorgehen,  die  man  sich  eingeübt  hat,  „mit  gleicher  Geläufigkeit  rück- 
wärts wie  vorwärts  zu  durchlaufen"  (Lehrb.  175).  Wem  bekannt  ist, 
dafs  solcherlei  Beihen  bei  Hebbabt  zur  Darstellung  der  Baumform  dienen, 
wird  zugeben,  dafs  er  hier,  in  Yerkennung  des  rein  metaphorischen  Cha- 
rakters der  fraglichen  Zeitbenennung,  meinte,  etwas  wie  Verschmelzung 
von  Zeit  und  Baum  vor  sich  zu  haben,  und  deshalb  glaubte,  auch  die  für 
die  letztere  Vorstellung  nötigen  Veranstaltungen  herbeiziehen  zu  müssen. 

Warum  das  Gefühl  der  leeren  Zeit  unangenehm  ist,  meint  der  letzt- 
erwähnte Denker  im  Sinne  seiner  vorstellungsmechanischen  Theorie  durch 
den  Umstand  erklärt  zu  haben,  dafs  dieses  Gefühl  „aus  Beproduktionen 
von  entgegengesetzter  Art  entsteht,  die  sich,  eben  .indem  sie  ins  Bewufst- 
sein  fortwährend  vordringen,  gegenseitig  Gewalt  anthun"  (VI,  S.  145). 
Ihm  hat  hier  sein  Bestreben  nach  allseitiger  Durchführung  seiner 
Spannungs-Hyi>othe8e  die  Einsicht  jener  ganz  nahe  gelegenen  Wahrheit 
verkümmert,  dafs  das  fragliche  Gefühl  hier  einfach  durch  Unzufriedenheit 
mit  dem  thatsächlich  dargebotenen  und  vom  erhofften  verschiedenen  Inhalte 
entsteht.  Die  Ledigkeit,  nämlich  erfolgte  Loslösung,  von  allem  bestimmten 
Inhalte  ist  für  den  Begriff  der  Zeit  jedenfalls  charakteristisch,  ein  Moment, 
welches  an  Begriffsbildungen,  wo  sie  mit  Erdumdrehungen  identifiziert 
wird,')  noch  nicht  klar  zu  Tage  tritt,  und  anderseits,  wo  fest  gewurzelt, 
leicht  zur  unhaltbaren  Voraussetzung  einer  frei  von  allem  Inhalte  vor- 
handenen Zeit  führen  kann. 

26* 


388  Eugen  Posch: 

')  Hierher  gehört  z.  B.  Plato  (cap.  10—11),  wo  der  ysvvriaaq  naxrjQ 
,piOisl"  (sie!)  die  Zeit,  indem  er  die  Planeten  in  ihre  gehörigen  Orte 
einstellt,  „iva  yevvfi^y  XQOvo^',  —  Ausdrücke,  die  eine  offenbare,  auch 
jetzt  noch  häufige  Verwechslung  der  Zeit  mit  ihrem  MaTse  erkennen  lassen, 
wie  solche  beispielsweise  von  Wowdt  (M.  Th.  S.  27)  gerügt  worden  ist. 
Eine  Gegenbemerkung  des  Abistoteles  s.  w.  u. 

Im  Eifer,  die  Zeit  leer  und  recht  abstrakt  zu  denken,  d.  h.  ein 
Über  alle  UnregelmäXsigkeiten  äulserer  Verläufe  erhabenes  Idealbild  yon 
Oleichmäfsigkeit  zu  entwerfen,  wird  die  Thatsache,  dafs  diese  Begriffs- 
bildung ein  blofses  Denkgebot  ist,  vergessen,  wodurch  dann  jenes  unab» 
hängig  zu  Denkende  zu  einem  unabhängig  Seienden  wird  („weil  ich 
sie  leer  denken  muTs,  so  ist  sie  gewifs  leer''),  d.  h.  es  entsteht  der  Glaube 
an  die  Existenz  des  geschilderten  Idealbildes.  So  bei  Eülsb  (s.  u.), 
auch  bei  Newton  (cit.  bei  Libbmakn  S.  87),  wo  das  Vorhandensein  eines 
„tempus  absolutum,  verum  et  mathematicum",  welches  „in  se  et  natura 
sua  absque  relatione  ad  extemum  quodvis  aequabiliter  fluit"  und  nur  vom 
„vulgus^  mit  den  —  stets  ungenauen  —  Zeitmafsmitteln  identifiziert  werde, 
betont  ist.    (Wurde  von  Clabkb  gegen  Leibniz  geltend  gemacht.) 

Der  LEiBNiz'sche  Hinweis  auf  die  Unregelmäfsigkeit  unseres  Ge- 
dankenverlaufs im  Vergleiche  zur  absolut  gleichmäfsig  dahinfliefsenden 
Zeit,  welch  letztere  Locke  aus  ersterem  abzuleiten  unternahm,  war  ange- 
sichts des  Mangels  jeder  Erklärung  bei  dem  englischen  Denker  für  das 
Zustandekommen  exakterer  Zeitformen  („Weiterausbildung  !^)  wohl  am 
Platze,  enthält  jedoch  keinen  Grund  für  Ablehnung  der  ganzen  LocKE'schen 
Hypothese.  Vollends  verraten  die  Bemerkungen,  Zeitvorstellung  würde 
durch  den  Gedankenlauf  höchstens  „erweckt",  keineswegs  „hervorgebracht** 
(femer,  „wenn  es  auch  nichts  Gleichmäfsiges  in  der  Natur  gäbe,  so  würde 
die  Zeit  dann  doch  bestimmt  sein''  ..«.,§  15),  einen  auch  bei  Lexbkiz 
festgewurzelten  Glauben  an  die  Bealität  des  leeren  Zeitschemas.  —  Die 
ähnliche  Meinung  liegt  dem  viel  umstrittenen  Ausspruche  Kants  zu  Grunde, 
man  könne  „in  Ansehung  der  Erscheinungen  überhaupt  die  Zeit  selbsten 
nicht  aufheben,  ob  man  zwar  ganz  wohl  die  Erscheinungen  aus  der  Zeit 
wegnehmen  kann^'  (Ej*.  S.  58,  ähnlich  Prol.  S.  33;  vergl.  auch  das  oft 
erwähnte  „Vorhergehen,  Zugrundeliegen''  der  Zeit)  —  ein  Umstand, 
welcher  nebst  anderen  (s.  u.)  von  dem  Eönigsberger  Philosophen  mit  Ver> 
kennung  des  lediglich  durch  Abstraktion  entstandenen  begrifflichen  Wesens 
dieser  „Leerheit"  für  ein  apriorisches  Vorhandensein  der  Zeitvorstellung 
und  gegen  den  „empirischen  Ursprung"  derselben  zu  Felde  geführt  wird 
(s.  w.  u.). 

Dieser  EANr'schen  Anschauungsweise  ist  die  Lotze  (156)  -Wunbt' 
(Log.  S.  432)  -sehe  Bemerkung  entgegenzuhalten,  dafs  die  leere  Zeit,  in 
welcher  „durch  den  Eintritt  bestimmter  Vorstellungen  einzelne  Punkte 
markiert  werden",  nichts  als  eine  durch  Vermittlung  der  Stetigkeits-  und 
Linienvorstellungen  erzielte  Fortbildungsstufe  des  zeitlichen  Vorstellens 
ist,  charakterisiert  dadurch,  dafs  das  Zeitbewufstsein  hier  eine  Umkehmng 
erfahren  hat,  indem  nunmehr  die  Inhaltsteile,  d.  h.  eben  dasjenige  den 
Anschein  einer  nachträglichen  Zuthat  annimmt,  was  zur  Erzeugung  der 
angeblich  a  priori  zu  Grunde  liegenden  Zeitform  selber  notwendig   war. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeityorstellung.  389 

folglich  eben  primärer  Natur  ist.  Dafs  bei  dem  Bestreben,  dem  oben  er- 
wähnten Denkgebote  nachzukommen,  uns  doch  immer  nur  „une  Image 
des  sensations  ä  l'etat  vague  et  confus''  entsteht,  hat  FoüiLLfiE  (S.  XXIY) 
bemerkt  und  für  die  Nachträglichkeit  dieses  „leeren"  Zeitbildes  der  Eant- 
schen  Theorie  gegenüber  geltend  gemacht. 

Dafs  Zeit  so  gut  wie  ihr  Element,  das  Intervall,  soweit 
es  sich  um  die  populäre  Vorstellung  handelt,  ein  blofses  Phan- 
tasiegebilde ist,  immerhin  ein  nützliches,  selbst  unentbehr- 
liches, braucht  wohl  dem  flir  Geisterspuk  unempfänglichen 
Sohne  des  XIX.  Jahrhunderts  nicht  erst  beteuert  zu  werden. 

Der  Vorschlag  des  Dahasciüs,  zweierlei  Arten  des  Seins  anzunehmen 
und  der  Zeit,  sowie  auch  der  Bewegung  (statt  ihnen  jegliche  Bealität 
abzustreiten)  jene  Seinsweise  zuzuerkennen,  welche  durch  fortwährendes 
Entstehen  und  Vergehen  gekennzeichnet  sei  (^  xlnjaig  xal  o  xQovog  ovx 
Motiv  awitbaraza,  aX^  iv  t^  ylvscS-ai  rb  slvai  ^x^i*  zb  ös  ylveoS-ai  ov  tb 
firj  sivai  anXmq  itniv,  aXXcc  rb  aXXoxe  iv  aXXio  (jl^qsi  rov  sivai  vtplaraod'txi, 
Simpl.  184)  —  dieser  Vorschlag,  sage  ich,  liefse  sich  wohl  betreffs  der 
Bewegung  annehmen,  deren  Realität  durch  ein  nachweisliches  Subjekt 
dieses  Prozesses  selbst  (der  bewegte  Körper)  gewährleistet  ist,  aber  nicht 
in  Bezug  auf  die  Zeit,  wo  ein  ähnlich  reales  Subjekt  für  das  Prädikat 
des  Verfliefsens  nicht  yorliegt. 

Auch  wird  die  Bemüfsigung,  die  Zeit  als  vollkommen 
inhaltsleer,  „absolut  gleichmäfsig  fliefsend"  vorzustellen,  uns 
nach  obigen  Ausführungen  über  das  Intervall  keineswegs  mehr 
zu  Forschungen  nach  einer  der  exakten  Zeitvorstellung  genau 
entsprechenden  Weltthatsache,  deren  Abbild  sie  wäre,  anregen, 
sondern  höchstens  eine  ausführUchere  Untersuchung  über  den 
Entstehungsgang  besagter  Vorstellung  und  deren  verschiedene 
Prädikate  wünschenswert  erscheinen  lassen. 

Zeit  ist  kein  absichtlich  gebildeter  technischer  Begriff, 
sondern  ein  natürliches  Ergebnis,  quasi  ein  Niederschlag  der 
auch  nichtwissenschaftlichen  Denkthätigkeit,  allerdings  präciser 
gefafst  und  strenger  durchgebildet  im  Kopfe  des  geschulten 
Mathematikers  (vergl.  die  Ausführungen  Newtons  oben).  Dafs 
Vergleichungen  verschieden  dauerhafter,  nämlich  zusammen 
ein-,  aber  nicht  zusammen  austretender  Eindrücke  der  Ur- 
sprungsquell ihrer  Erzeugung  waren,  braucht  nach  obigem 
vielleicht  nicht  besonders  betont  zu  werden;^)  wohl  aber  mag 
hervorgehoben  sein,  dafs  das  Bewufstwerden  des  (auch  inner- 
halb des  Intervalles  stattfindenden)  Vergehens  der  natürlichste 


390  Eugen  Posch: 

AnlaXs  zur  Ausgestaltung  einer  Vorstellung  gewesen  sein 
mufste,  die  eben  nicht  nur  „leer"  ist,  sondern  auch  das  Prä- 
dikat der  Successivität  enthält. 

1)  LocKB  bemerkt  wohl  an  einer  Stelle,  der  Gedankenzug,  „aus 
dessen  Selbstwahmehmung  unser  Begriff  von  Dauer  und  Zeit  herkommt^ 
(§§  ^9  ^)  ^e^gl*  Dbscabtbs,  Ep.  6:^  „prius  .  .  et  posterius  durationis 
cuiuscunque  mihi  innotescit  per  prius  et  posterius  durationis  successivae, 
quam  in  cogitatione  mea,  cui  res  aUae  coexistunt,  deprehendo''),  werde 
u.  a.  auch  „durch  äulsere  Gegenstände  veranlafst,  welche  die  Sinne  er- 
regen" (XIV,  §  27),  —  scheint  jedoch  so  wenig,  wie  sein  berühmter  Vor- 
gänger, die  UnWahrscheinlichkeit  einer  Zeitausbildung  aus  blofs  innerlichen 
Phantasiebildem  erkannt  zu  haben.  Huhe  läCst  den  Begriff  der  Zeit 
wenigstens  „Ton  der  Succession  unserer  Vorstellungen  aller  Art  abgeleitet^ 
sein,  „von  Begriffen  sowohl,  als  von  Impressionen,  und  zwar  von  letzteren, 
sie  mögen  durch  Sinne  oder  durch  Beflexion  entstanden  sein"  (S.  82), 
wohingegen  Condillac  schon  klar  erkennt,  die  „id6e  de  la  dur^e'^  sei 
„d'abord  produite  par  la  succession  des  impressions"  (I,  chap.  4,  §  16)  — 
eine  Ansicht,  die  den  HBBBABx'schen  und  ähnlichen  Darstellungen  still- 
schweigend zu  Grunde  liegt  und  bei  Spenceb  ausdrücklich  befürwortet 
wird,  da  sich  die  Zeit  von  äuTseren  Eindrücken  leichter  „dissociiere"  (§  91), 
als  von  inneren,  somit  auf  ersterem  Wege  eher  gewonnen  werden  könne. 

Der  Umstand,  dafs  Zeit,  dieses  blofse  Schema  (der  all- 
gemeine Begriflf)  jener  tausendfältigen,  durch  Vergehen  ge- 
kennzeichneten Weltvorgänge,  einen  Namen  erhalten  hat, 
während  sonstige  Eindrucksniederschläge,  jene  aQgemeinen 
Schemen,  wie  sie  die  äufseren  Objekte  in  uns  hinterliefsen, 
unbenannt  bleiben,  erklärt  sich  durch  die  ursprünglich  konkrete 
Grundbedeutung  der  verschiedenen  Sprachausdrücke  für  Zeit, 
welche  Grundbedeutung  einesteils  ein  interessantes  Streiflicht 
auf  die  Entstehungsweise  dieser  Vorstellung  wirft  und  deren 
allmähUch  erfolgte  Abklärung  von  materialem  Zubehör  darthut, 
anderseits  erkennen  läfst,  dafs  hier  keineswegs  die  befremd- 
liche Thatsache  einer  volkstümlich  gewordenen  Benennung 
blofser  Gedankenschemen  vorliegt.  Die  Ursache  des  Glaubens 
an  die  Realität  der  Zeit,  beziehungsweise  der  Grund  der 
Unbeliebtheit  unserer  gegenteiligen  Ansicht,  wird  wohl  am 
ehesten  in  jener  für  ein  mangelhaftes  Abstraktionsvermögen 
charakteristischen  Begriffsbildung  zu  suchen  sein,  wo  nämlich 


1)  „E.  D.  Epistolae  omnes.''     Ed.  Knoch,   Frankfurt  a.  M.   1692 
(s.  Pars  II;  ep.  4  u.  6). 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  ZeitTorstellung.  391 

der  Begriff  „Zeit"  noch  nicht  streng  genug  von  den  ihm 
associierten  wirklich  realen  Messungsvorgängen  und  all  deren 
materialem  Zubehör  (bewegter  Körper,  zurückgelegte  Weg- 
strecke) losgetrennt  ist,  weshalb  eine  Leugnung  der  Zeitrealität 
als  Anzweiflung  jener,  der  Zeit  selbst  untergeschobenen 
Vorgänge  gefühlt  wird. 

Dies  läTst  sich,  abgesehen  von  den  Bestimmungsgründen  des  Plato- 
PLOTiN^schen  Standpunktes,  für  die  Haltung  des  nach-kantischen  Idealismus 
behaupten.  Wenn  Hbgbl  gegenüber  den  EANr'schen  Fixierungen  einer 
leeren  Zeit  versichert,  die  Zeit  sei  „selbst  das  Werden,  Entstehen  und 
Vergehen,  das  seiende  Abstrahieren,  der  alles  gebärende  und  seine 
Geburten  zerstörende  Kronos^^  (§  258),  so  enthält  dies  neben  der  richtigen 
Ansicht  von  Nachträglichkeit  der  Leerheitsvorstellung  eine  höchst  unge- 
rechtfertigterweise gegen  den  Subjektivismus  gemünzte  Gleichstellung  von 
Zeit  mit  den  ihr  zu  Grunde  liegenden  physischen  Prozessen.  Die  Tben- 
DELENBüBG^Bchen  „bestimmten  Stadien  des  Ablaufs* \  an  welche  sich  an- 
geblich alles  organische  Leben  bindet  und  welche  die  objektive  Bealität 
der  Zeit  beweisen  sollen  (S.  164),  sind  wohl  auch  nichts  anderes,  als 
Reihen  gewisser  Ereignisse  (Metamorphosen),  welche  der  Organismus  zu 
durchwandeln  hat,  um  zu  einer  gewissen  Existenzform  zu  gelangen.  Eine 
ähnliche  Begriffsverwirrung  liegt  in  dem  oben  citierten  Ausspruche 
I.  H.  FiCHTBs  und  in  den  weiter  unten  anzuführenden  Stellen  Ulbicis, 
Hartmanns  und  Lotzes. 

Diese  Verwechslung  der  Zeit  mit  ihrem  Inhalte  scheint 
auch  den  gemeintiblichen  Übertragungen  der  Prädikate  „gegen- 
wärtig, vergangen  und  zukünftig"  von  Ereignissen  auf  die 
Zeit  selber  (d.  h.  Ausdrücken  wie  „gegenwärtige,  vergangene 
und  zukünftige  Zeit")  zu  Grunde  zu  liegen. 

Ähnlich  denkt  Hbebart  (IV,  §  288).  Was  jedoch  das  der  Zeit  bei- 
gelegte Fliefsen  anbelangt,  welches  der  letztere  gleichfalls  vom  Zeit- 
inhalte herzuleiten  scheint,  so  dürfte  dieses  Prädikat,  zumal  es  doch  nur 
bei  einer  sehr  eng  begrenzten  Klasse  von  Zeitinhalten  in  eigentlichem 
Sinne  benutzt  werden  konnte,  viel  eher  infolge  jener  Ausbreitungs-  und 
Stromesvorstellung  entstanden  sein,  von  welcher  w.  u.  (Eine  Handlung, 
die  nicht  in  Fortbewegung  von  Flüssigkeiten  besteht,  „fliefsend"  zu 
nennen,  ist  nicht  weniger  eine  Metapher,  als  der  Ausdruck  „fliefsende  Zeit^'.) 
Femer  Dohbiho:  „Das  sogenannte  Fliefsen  der  Zeit  läfst  sich  nur  als 
Grundgestalt  von  realen  Unterschiedssetzungen  in  der  Beschafifenheit  der 
Vorgänge  denken'*  (S.  69).  Auch  I.  H.  Fichtb:  „Jene  endlos  sich  auf- 
hebenden Jetzt  .  .  .  sind  nichts  an  sich,  sie  sind  nur  die  .  .  .  Momente 
des  Verharrens  der  absoluten  Wirklichkeit,  ...  die  Abschattung  der  ab- 
soluten Realität"  (Beitr.  S.  141—142  und  170). 

Die  Thatsache,  dafs  1.)  alles  in  der  Zeit  befindlich  vor- 
gestellt wird,  beruht  auf  der  Fähigkeit  des  Erwachsenen,  den 


392  Eugen  Posch: 

allermeisten  Erscheinungen  der  Aufsenwelt  und  später  auch 
denen  seines  Inneren  einen  Zeitlauf  hinzuzudenken,  —  einer 
Fähigkeit,  die  dort,  wo  sie  uns  im  Stiche  läfst  (Fälle  grofser 
Aufregung  oder  Vertiefung),  durch  das  Gefühl  der  Ähnlich- 
keit jener  aufregenden  Ereignisse  mit  zeitlich  vorgestellten 
ersetzt  wird. 

Abistoteles  meint  den  Umstand,  dafs  die  Zeit  iv  navxl  öoxsX  s'ivai 
(IV,  cap.  14)  aus  der  Bewegbarkeit  sämtlicher  Dinge,  ihrer  Eignung  und 
Bezüglichkeit  zur  Bewegung,  deren  naS'og  tj  k'Sig  {aQid-fiog  ys  wv)  die 
Zeit  sei,  erklärt  zu  haben.  Plotins  Antwort  auf  die  Frage:  „quomodo 
tempus  est  ubique?*^  lautet:  weil  „anima,  yita  illa  (<=die  den  ZeitfluTs 
gebärende  Weltseele)  a  nuUo  .  .  .  abest'^,  cap.  12.  (Könnte  mit  der 
Änderung  von  illa  in  haec  [««das  menschliche  Denkvermögen]  unter- 
schrieben werden.)  Looks  scheint  die  blofse  Thatsache  der  Gleichzeitigkeit 
äufserer  Dinge  mit  unserem  zeiterzeugenden  Gedankenprozesse  für  einen 
hinlänglichen  Erklärungsgrund  unserer  Ausbreitung  der  Zeitvorstellung  auf 
alles  Aufsere  gehalten  zu  haben.  (S.:  „Wir  nennen  unser  Dasein  oder 
den  Fortgang  unseres  Daseins  oder  eines  anderen  Dinges  nach  dem  Mafse 
der  Folge  der  Vorstellungen  in  unserer  Seele  die  Dauer  von  uns  oder  von 
einem  anderen  Dinge,  was  mit  unserem  Denken  gleichzeitig  da  ist.'^ 
XIY,  §  3.)  Seine  Bemerkung,  dafs  die  Zeitvorstellung,  wenn  einmal  durch 
die  „Wahrnehmung  der  Folge  und  Zahl  unserer  eigenen  Gedanken^'  er- 
langt, dann  auch  „auf  Dinge  anwendbar  sei,  die  bestehen,  während  man 
nicht  denkt'',  eventuell  auch  schläft  (XIY,  §  5),  wurde  von  Bebkblxts 
Übersetzer  übbbbweo  treffend  gegen  des  letzteren  Schlufsfolgerung  (XCVHI) 
geltend  gemacht,  die  Seele  müfste  „immer  denken^',  „wenn  die  Dauer  eines 
endlichen  Geistes  nach  der  Zahl  der  Ideen  oder  der  Handlungen  abge- 
schätzt werden  mufs,  die  einander  in  eben  diesem  Geiste  oder  Gemüte 
folgen"  (ib.). 

Kant  vergleicht  in  „M.  P."  das  Sichausdehnen  der  Zeit  auf  alles 
Gegebene  mit  der  vielseitigen  Gültigkeit  allgemeiner  Begriffe  (sie  soll 
hierdurch  „universali  atque  rationali  conceptui  magis  appropinquare'^  als 
der  Baum  [S.  107];  ähnlich  Lbibniz),  während  in  der  „Kr."  (S.  61)  dieser 
Punkt  einfach  mit  der  Bemerkung  abgethan  ist:  die  Zeit  sei  „die  un- 
mittelbare Bedingung  der  inneren  Erscheinungen  (unserer  Seele)  und  eben 
dadurch  mittelbar  auch  der  äulseren  Erscheinungen",  folglich  von  ausge- 
dehnterer Anwendbarkeit,  als  der  Baum,  welcher  nur  auf  äufsere  Er- 
scheinungen geht.  Das  Wort  „mittelbar**  will  hier  wohl  nur  die  Gleich- 
wertigkeit des  Empfundenen  mit  dem  blofs  Vorgestellten,  d.  h.  den  Vor- 
stellungscharakter des  ersteren  kennzeichnen.  Hobwicz  läfst  die  Zeit- 
vorstellung zuerst  nur  „auf  das  eigene  Ich",  aus  welchem  er  sie  ableitete, 
„gerichtet  und  beschränkt"  sein,  und  wagt  die  unbewiesene  Behauptung, 
sie  werde  von  hier  zunächst  auf  unsere  Beflexbewegungen,  sonach  auf  die 
beweglichen  Körperteile,  und  schliefslich  „in  dem  Entwicklungsstadium, 
das  wir  Projektion  nennen",  auf  äufsere  Gegenstände  übertragen  (S.  136). 
Spbhcbbs   gegenteilige  Ansicht  bezüglich  des  Ausgangspunktes    unserer 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  393 

Zeitvorstellungs.  o.  (S.  390).  Yolkmaw  erklärt  sich  die  Übertragung  derselben 
auf  Gedankengebilde  durch  die  Beleuchtungskraft  fixierender  Aufmerksam- 
keit, welche  (ähnlich  wie  das  Empfinden  im  Vergleiche  zu  blofsem  Er- 
innern) den  Klarheitsgrad  ihres  Gegenstandes  —  der  fixierten  Vorstellung  — 
zu  steigern  und  dieselbe  hierdurch  zum  Beziehungspunkt  für  dunklere, 
d.  h.  zum  Gegenwärtigen  zu  stempeln  vermöge.  (Ähnlich  Güyaü 
[S.  44] :  „Pourquoi,  si  ce  n'est  par  ce  que  le  sentiment  du  pass^  nous  est 
donn6  par  Peffacement  des  Souvenirs?^)  Der  Umstand,  dafs  nun  einem 
Erinnerungsbilde  Gegenwärtigkeit  beigemessen  wird,  soll  den  „Anschein*^ 
erzeugen,  „als  wäre  die  Vorstellung  eine  gegenwärtige  und  vergangene 
zugleich*^  (S.  16),  und  aus  diesem  Konflikte  uns  die  Betrachtung  heraus- 
führen, es  sei  doch  nur  „in  der  Reproduktion  gegenwärtig,  was  als  Em- 
pfindung vergangen  ist*^  Auf  diese  Weise  kämen  wir  dazu,  „das  Nach- 
einander von  den  Vorstellungen  auf  das  Vorstellen  zu  übertragen*^  Ich 
denke,  der  besagte  „Anschein"  entstehe  in  Wirklichkeit  niemals  —  höch- 
stens im  Gehirne  des  über  die  Zeit  nachgrübelnden  Psychologen.  Auch 
halte  ich  jene  Beleuchtungskraft  der  Fixierung  nicht  stark  genug,  um 
eine  Ähnlichkeit  ihres  Gegenstandes  mit  Empfundenem  wahrnehmen  zu 
lassen,  und  meine  deshalb,  nicht  das  mit  Aufmerksamkeit  Ergriffene  über- 
haupt sei  das  nächste  Anwendungsgebiet  der  Zeitvorstellung  im  Bereiche 
des  Gedanklichen,  sondern  die  Ausdrücke  für  geistiges  Thun  und  Lassen 
unseres  Ichs  (ich  denke,  glaube,  befürchte,  bezweifle,  will  etc.),  und  zwar, 
weil  dieselben  den  äufseren  ähnlich  reelle  Thatsachen  zu  bezeichnen 
scheinen;  —  wohingegen  impersonelle  Gedankengebilde,  d.  h.  Beproduk- 
tionen  objektiver  Verhältnisse,  wie  solche  den  Forscher  beschäftigen,  bei 
hallucinationsfreien  Köpfen  niemals  Gegenwärtigkeitsglauben  erzeugen. 
Die  auch  von  Volkmank  zugestandene  Ledigkeit  wissenschaftlicher  Prin- 
zipien von  zeitlichen  Nebengedanken  (s.  o.  S.  302)  mag  als  Beleg  hierfür 
gelten. 

Dafs  alles  2.)  in  (nicM  unter,  mit,  neben)  der  Zeit 
vorgestellt  wird  —  eine  Thatsache,  die,  beiläufig  bemerkt,  auf 
die  KANT'sche  Begriffsbildung  einer  alles  befassenden  „Form" 
von  Einflufs  gewesen  sein  mag  — ,  beruht  wohl  auf  der  all- 
verbreiteten Identifizierung  der  Zeit  mit  einem  die  Welt 
durchfliefsenden  Strome;  eine  Metapher,  die  den  soeben  er- 
wähnten Umstand,  dafs  ihrer  Berührung  nichts  entgeht,  sehr 
geschickt  zum  Ausdruck  bringt. 

Abistotblbs'  schwankende  Ausdrucksweise  lälst  seine  Meinung,  ob 
das  Verhältnis  des  in  der  Zeit  Seins  konkret  (wörtlich)  oder  blofs  abstrakt 
(metaphorisch)  zu  denken  sei,  nicht  klar  erkennen.  Zuerst  heifst  es  (IV, 
cap.  12):  ro  iv  XQ<>^V  elvai  sei  nichts  als  ro  fiexQeXaQ'ai  z^  Xq'ov<o,  und 
das  fragliche  Verhältnis  dem  Inbegriffensein  (auch  Tts^Uxecv)  des  Paaren, 
ünpaaren  und  der  Einheit  in  der  Zahl  gleichzustellen.  Später  jedoch 
verleitet  ihn  die  Erwägung,  dafs  in  jener  Bedensart  doch  mehr  als  blofses 
Zugleichsein  der  Zeit  mit  den  Dingen  ausgedrückt  ist  ((pccvsQov  .  .  .  on 


394  Eugen  Posch: 

ovx  €cri  xo  iv  XQ^^V  ^'f-vfti-  xo  elvai  oxs  6  xQovog  iozlv),  zu  Zugeständ- 
nissen in  der  Bichtung  des  Objektivismus,  indem  er  nun  behauptet,  es 
finde  wirkliches  tcsqLsx^I'V  statt,  welches  wohl  auch  seine  Bückwirkungen 
auf  das  umfangene  ausübe  {xal  Ttaaxsi  Sr^  ti  imb  tov  xQovov,  nämlich 
das  iv  XQ^^V  ^^X  ^^^  ^^^  ^^^^  zerstörende  (im  Sinne  des  „tempus  edax 
rerum"),  wie  dies  aus  dem  Zusammenhange  der  Zeit  mit  der  Bewegung^ 
(einem  Prozesse,  welcher  bekanntlich  das  Bestehende  hinwegfegt,  17  .  .  • 
xlvrjaig  iSlaxtjoi  xo  vnaQxov)  erklärlich  sei.  Der  moderne  Psychologe 
wird,  statt  anderweitiger  Beispiele  für  das  fragliche  halb  abstrakte 
Verhältnis,  lieber  Erklärungsgründe  suchen  für  das  Entstehen  jener 
urwüchsigen  Vorstellung  von  wirklich  konkreter  Darinnenbefindllchkeity 
wie  dieselbe  betreffe  des  Zeit-„inhalt"-es  (sie!)  im  stets  objektivistisch  ge- 
sinnten Laienbewufstsein  vorhanden  ist. 

Ulrici  sagt:  „Sofern  das  allgemeine  Nacheinander  der  Dinge  jeden 
einzelnen  Zeitpunkt  und  damit  alle  einzelnen  Dinge  in  sich  befafst,  kann 
man  ....  sagen,  dafe  alle  einzelnen  Dinge  in  der  Zeit  seien"  (§  31). 
Zugegeben,  was  Eakt  mit  gutem  Grunde  bestritt  und  hier  in  verhüllter 
Weise  behauptet  wird,  dafs  das  Enthaltensein  der  einzelnen  Augenblicke 
im  gesamten  Zeitflufs  dem  Inbegriffensein  des  Individuellen  im  allgemeinen 
gleichzustellen  und  hieraus  zu  verstehen  sei,  so  entbehrt  man  noch  immer 
einer  Erklärung  für  den  ferneren  Umstand,  dafs  die  „einzelnen  Dinge" 
gleichfalls  in  (und  nicht  auf,  bei,  unter)  den  einzelnen  Zeitpunkten 
befindlich  gedacht  werden.  Die  BAUMANN^sche  Darlegung,  es  entstünde 
„der  Anschein,  als  ob  alles  in  der  Zeit  sei"  (11,  S.  666),  dadurch,  dafs 
alles,  was  überhaupt  einer  Zeitvorstellung  unterliegt,  „mit  ihr  verglichen 
oder  nach  ihr  und  mit  ihr  bestimmt  werden  kann",  erklärt  das  Zustande- 
kommen der  charakteristischen  Vorstellung  dieses  darinnen  sichtlich 
nicht,  und  wäre  höchstens  dann  befriedigend,  wenn  die  fragliche  Bedensart 
lautete:  „die  Dinge  sind  mit  der  Zeit"  (vergl.  Aristoteles  oben).  Eine 
lebhafte  Schilderung  der  Stromvorstellung  samt  aller  Ungereimtheiten, 
die  sich  bei  folgerichtiger  Festhaltung  und  Durchführung  derselben  ergeben, 
findet  man  bei  Lotze  (138 — 140). 

Cohens  verständnisvoll  erwählte  Anführungen  wider  die  Hebbart 
(V,  S.  505—507)  -TRBNDBLENBüBG'sche  (I,  S.  166)  Gleichstellung  der  Kaht- 
schen  „Form"  (aus  der  Definition:  „die  Zeit  ist  nichts  anderes,  als  die 
Form  des  inneren  Sinnes,  d.  i.  des  Anschauens  unserer  selbst  und  unseres 
inneren  Zustandes",  Er.  S.  60)  mit  einem  „Gefafse  aus  starrem  Gufs,  in 
welches  die  Sinne  ihren  Inhalt  hineinschütten",  beweisen  nur,  Kant  habe 
die  Zeit  nicht  „als  eine  Sache"  behandeln  wollen,  aber  keineswegs,  was 
der  Zielpunkt  der  CoHEN'schen  Widerlegungen  (S.  147 — 156)  ist,  Kant  sei 
von  der  irrtümlichen  Voraussetzung  frei  geblieben,  es  wäre  das  Verhalten 
der  Zeitvorstellung  zu  den  sinnlichen  Daten  ähnlich  dem  eines  G^fäTses 
zu  seinem  Inhalte.  Schon  der  Ausdruck  „worinnen"  in  dem  auch  von 
Cohen  citierten  Satze  Kants:  „da  das,  worinnen  sich  die  Empfindungen 
allein  ordnen  und  in  gewisse  Form  gestellt  werden  können,  nicht  selbst 
wiederum  Empfindung  sein  kann^'  etc.  (Kr.  S.  49),  macht  das  Vorwalten 
jenes  Bildes  bei  Kant  wahrscheinlich,  und  noch  viel  mehr  der  Umstand, 
dafs  sich  dieser  Vergleich   für   das   fragliche   Verhalten   dem  Leser   der 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  395 

KANT'schen  aprioristischen  Zeittheorie  sozusagen  von  seiher  aufdrängt. 
Auch  YoLKMANN  (S.  29)  sieht  Kant  vom  „Scheine'^  hefangen,  „als  wäre 
die  leere  Zeit  das  prius  der  yoUen^^,  und  ist  geneigt,  sich  die  EAKr'sche 
Lehrmeinung  aus  dessen  einseitiger  Veranschlagung  des  Umstands  zu  er- 
klären, dafs  „bei  ausgebildetem  Zeitvorstellen  die  volle  Zeitreihe  mit 
der  leeren  gemessen,  diese  also  jener  entgegengebracht  wird". 

Das  dritte  Moment,  dafs  alles  3.)  in  der  Zeit  (d.  h.  in 
einem  einzigen  Zeitflusse)  befindlich  gedacht  und  für  die  vielen 
gleichzeitigen  VS^eltbegebenheiten  nicht  parallele  Zeitreihen 
angenommen  werden,  erklärt  sich  aus  dem  fest  gewordenen 
Begriffe  der  Gleichzeitigkeit,  d.  h.  aus  dem  Vermögen,  die 
qualitativ  verschiedensten  gleichzeitigen  Erscheinungen,  qua 
wirklich  empfunden,  unter  dem  gemeinschaftlichen  Prädikate 
der  Gegenwärtigkeit  „verwandt"  aufzufassen.  Die  letztere 
Erwägung  scheint  mir  leichter  zu  sein,  folglich  auch  eher 
unternommen,  als  die  Ausbildung  einer  abstrakten  Zeitreihe, 
weshalb  ich  für  unwahrscheinlich  halte,  es  habe  vor  Fest- 
setzung unserer  einheitlichen  Zeitreihe  ein  Zustand  stattge- 
funden, da  an  mehrere,  parallel  nebeneinander  herlaufende 
Zeiten  geglaubt  wurde. 

Letztere  Annahme  findet  sich  bei  Schklling,  verquickt  mit  einer 
eigentümlichen  Deutungsweise  des  Ausdrucks  „alle  Zeit  ist  subjektiv", 
nämlich:  sie  sei  „eine  innere,  die  jedes  Ding  in  sich  selbst  hat,  nicht 
aufser  sich'*.  Weil  aber  jedes  eiuzelne  Ding  andere  Dinge  vor  und  aufser 
sich  habe,  so  könne  alsdann  seine  Zeit  mit  der  Zeit  anderer  Dinge  ver- 
glichen werden,  da  es  doch  nur  eine  eigene  subjektive  Zeit  hat.  Dadurch 
entstünde  dann  das  Abstraktum  Zeit  (Stuttg.  Priv.  S.  431).  Bei  Etfferth 
(S.  113  u.  a.)  finden  sich  soviel  „subjektive"  Parallelzeiten,  als  es  Bewufst- 
seine  zu  deren  Ausgestaltung  giebt  (obzwar  die  doch  alle  dasselbe  ausge- 
stalten, wenigstens  sollen!),  und  soviele  objektive  Zeitreihen,  als  es  Träger 
zusammenhängender  Erscheinungsreihen,  nämlich  Dinge  an  sich  giebt. 
(Über  die  „objektive  Zeit"  w.  u.)  Die  Verschmelzung  der  vielen  objektiven 
zu  einer  gemeinsamen  Zeit  geschähe,  falls  sich  ein  gemeinsamer  Grund 
für  alle  Dinge  an  sich  ergäbe  (=»Gott);  und  die  Verschmelzung  der  sub- 
jektiven, falls  ein  „aUwissendes  Subjekt"  (wieder  =  Gott)  alle  individuellen 
Zeiten  in  sich  vereinige  (S.  111 — 114). 

Eine  vom  Gesichtspunkte  systematischen  Denkens  jedenfalls  löbliche 
Zugabe  Ribhls  zu  der  von  ihm  vertretenen  BAUMANN'schen  Zeitkonstruk- 
tionsweise (s.  0.  S.  288)  aus  der  Bewufstseinskonstanz  ist  das  Unternehmen, 
die  Zeiteigentümlichkeiten  sämtlich  aus  (sogar  für)  Bewufstseinseigen- 
schaften  zu  erklären.  So  wird  beispielsweise  die  Einheit  des  Bewulstseins 
herangezogen,  um  die  erfolgte  Verschmelzung  parallel  ablaufend  gedachter 
Zeitreihen  in   eine   Zeit  begreiflich  zu  machen.    („Da  wir  . ,.  .  die  Vor- 


396  Eugen  Posch: 

Stellung  dieser  Zelten  notwendig  zur  Einheit  des  Bewufstseins  bringen 
müssen,  so  würden  die  Zeiten  subjektiv  doch  nur  Eine  Zeit  bilden/^  S.  126.) 
BiEHL,  der  früher  (s.  o.  S.  318)  gewisse  Zeiteigentümlichkeiten  aus  dem 
Zeitlemenden  selbst  als  bekannt  vorausgesetzten  Eigenschaften  seines 
Bewufstseins  erklärt  hatte,  scheint  hier  die  blofse,  dem  Lernenden  nicht 
notwendigerweise  bewuTste  Thatsache  der  Einheit  seines  Selbstbewufst- 
seins  für  Ausgestaltung  des  fraglichen  Zeitprädikates  hinreichend  zu  halten. 
Nun  ist  es  jedoch  vom  Standpunkte  der  Erfahrung  aus  eine  sehr  gewagte 
Voraussetzung,  es  werde  eine  thatsächliche  Einrichtung  meines  psychischen 
Vermögens  mir  irgend  ein  besonderes  Prädikat  für  eine  Ausgeburt  des- 
selben in  den  Mund  legen,  und  noch  dazu  ein  solches,  welches  mit  einer 
wissenschaftlichen  Schilderung  dieser  Einrichtung  gerade  gleich  lautet« 
Die  Erklärungsart  Bibhls  scheint  mir  ähnlich,  als  wenn  jemand  die  Ur- 
sache derEreisförmigkeit  des  Horizonts  nicht  in  der  Kreisbewegung,  sondern 
in  der  Eugelform  unserer  Augen  meinte  gefunden  zu  haben. 

Volkmanns  sinnige  Bemerkung,  dafs  „mein  Leben,  meine  Zeit  alle 
dem,  was  ich  eine  Zeit  nannte,  den  Anknüpfungspunkt  darbietet'^  (S.  17), 
ist  gewifs  wahr;  dafs  jedoch  dieser  Anknüpfungspunkt  nicht  allsogleich 
aufgesucht  und  gefunden  würde,  sobald  unerlebte  Vorstellungsreihen 
(a  .  .  .  z),  die  sich  dem  Überdenken  darbieten,  als  Zeitreihen,  folglich 
der  erlebten  Beihe  A  .  .  .  Z  ähnlich  gedacht  werden,  und  dafs  die  ver- 
schiedenen „Zeitreihen^^  anfangs  „untereinander  aufser  aller  Beziehung 
stünden,  miteinander  nichts  gemein'*  hätten  (S.  16),  scheint  mir  um  so 
unwahrscheinlicher,  als  dieses  wohl  bedeutete,  etwas  in  der  Zeit  abgelaufen 
zu  denken,  ohne  vor  Augen  zu  haben,  dafs  es  entweder  gleichzeitig  mit 
oder  vor,   eventuell  nach  meiner  Beihe  A  .  .  .  Z  abgelaufen  sein  mufs. 

Ein  mehr  im  wissenschafüichen,  als  im  alltäglichen 
Verstandesgebrauch  eingebürgertes  Symbol  der  Zeit  ist  die 
gerade  Linie,  passend  für  Bezeichnung  derselben  wegen 
des  beiden  Gebilden  gemeinschaftlichen  Momentes  der  Stetig- 
keit und  der  einzigen,  nämUch  Längendimension,  unpassend 
jedoch  wegen  der  zur  Ausdrückung  der  Successivität  unfähigen, 
räumlich-simultanen  Natur  der  Linie.  Die  Frage,  ob  die  er- 
wähnten Linienprädikate  der  Zeit  im  eigentlichen  oder  nur 
im  übertragenen  Sinne  gebühren,  entscheidet  sich  für  das 
Längenprädikat  in  letzterem  Sinne,  da  dasselbe  den  körper- 
lichen Dingen  als  ureigentümlich  zugesprochen  werden  mufs, 
falls  die  gerade  Linie,  dieses  irrtümlicherweise  objektiv 
gegeben  geltende  Abstraktum,  eigentlich  ein  seiner  übrigen 
Dimensionen  verlustig  gedachter  Körper  ist  (d.  h.  durch 
Abscheidung  der  übrigen  zwei  Dimensionen  von  einem  geraden 
Körper,  z.  B.  Stange,  entstanden),   und   daher   dem  Sprach- 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  397 

gebrauch  entgegen  nicht  Eigner  des  Längenprädikates  ist 
(„die  Linie  hat  Länge,  ist  lang"),  sondern  nur  dessen  andere 
Benennungsweise.  (Man  bedenke,  dafs  die  festgehaltene  einzige 
Dimension  st^ts  Länge  heilst  und  niemals  Breite  oder  Tiefe. 
Nur  breite  oder  nur  tiefe  Gebilde  kennt  die  Geometrie  nicht, 
wohl  aber  nur  lange.)  Die  Übertragung  des  Längenprädikats 
oder,  was  hiemach  dasselbe  ist,  des  Linienbildes  auf  die  Zeit 
erscheint  insofern  zulässig,  als  Länge  oder  Linie  durch  „An- 
reihung von  Punkten  in  stets  der  nämlichen  Weise"  entstanden 
gedacht  (wohl  mehr  phantasiert,  als  gedacht!)  werden  kann,  — 
und  die  Zeit,  wo  gruppiert  auftretende  Darbietungen  stets  in 
einen  Zeitmoment  einbegriflfen  werden,  auch  aus  einartiger 
Anreihung  ausdehnungsloser,  somit  punktähnlicher  Eindrücke 
zustande  gekommen  ist.  Ob  jedoch  für  die  Ausbildung  des 
Liniensymbols  für  die  Zeit  wirklich  dieses,  aus  der  Ent- 
stehungsweise beider  Gebilde  hervorgängige  Moment  bestimmend 
war,  und  nicht  vielmehr  die  stete  Verwendung  von  Weglängen 
bei  Zeitmessung  jenes  Vergleichungsbild  befestigte  und  eine 
irrtümliche  Übertragung  des  Längenprädikates  vom  Mafse 
(dem  Sonnenwege)  auf  das  Gemessene  (die  Zeit)  veranlafst 
habe,  bleibt  dahingestellt. 

Zur  letzteren  Annahme  scheint  sich  Guyau  zu  bekennen,  wenn  er 
behauptet,  die  fragliche  Linie  „repr^sente  au  fond  la  ligne  suiyie  par  le 
soleil  et  les  astres  dans  leur  perp6tuelle  evolution'^  (S.  72). 

Der  ETFFBBTH'sche  Gedanke  von  der  Zeitbreite  (s.  o.  S.  203)  findet 
sich  bereits  bei  Kant  (M.  P.  S.  102),  wo  gegenüber  der  Linie  die  Fläche 
als  Zeitsymbol  bevorzugt  wird,  indem  sie  auch  die  NfiWTON'sche  „Ubiquität" 
der  Zeit  (die  Ausdehnbarkeit  des  nämlichen  Augenblicks  auf  eine  Vielheit 
von  Darbietungen)  zum  Ausdruck  bringe.  Kants  aus  dem  Liniensymbol 
gezogene  Schlüsse  s.  o.  (S.  70).  —  Hbrbart  (IV,  §§  247—249,  289)  hat  die 
Ahnlichkeitspunkte  zwischen  der  Zeit  und  der  geometrischen  Linie  scharf 
hervorgehoben  zum  Beweise  seiner  paradoxen  Ansicht,  die  Zeit  sei  eigent- 
lich und  nicht  eine  blofs  im  übertragenen  Sinne  sogenannte  Linie  (IV, 
§  141).  Wenn  er  jedoch  meint,  die  Zeitelemente  wären,  weil  ausdehnungs- 
los, wirkliche  Punkte,  reihten  sich  wahrhaftig  an-  und  nebeneinander,  so 
dafs  ein  wirkliches  „Zwischen^^  entstünde,  wodurch  dann  jedes  Element 
„Ort  und  Stelle"  erhalte,  ja  durch  die  gleichartige  Anreihungsweise  der 
Zeitpunkte  sogar  wirkliche  Geradheit  der  Zeitlinie  entstehe,  und  sie  sich 
von  der  geometrischen  nur  durch  ihren  Mangel  an  Stetigkeit  (daher  „Starr- 
heit", weil  ursprünglich  diskret)  unterscheide,  so  weisen  wir  dem 
gegenüber  auf  die  Thatsache  hin,  dafs  eine  Gleichstellung,  wie  deren  die 


398  Eugen  Posch: 

Sprache  so  yiele  enthält,  dem  unbefangenen  Menschenverstände  stets  für 
metaphorisch  gilt,  sobald  sich  die  Ähnlichkeit  zwischen  den  Yergleichungs- 
gliedern  auf  minder  anschauliche  Punkte  erstreckt,  als  die  ünähnlichkeit. 
Der  Mangel  an  Räumlichkeit  aber,  wie  solcher  bei  dem  einen  Teile  der 
hier  gegenübergestellten  Dinge  vorliegt,  wird  jedenfalls  als  ein  viel  zu 
wesentliches  Moment  gefühlt,  als  dafs  man  drüber  hinwegsehen  und  sich 
entschliefsen  könnte,  einer  so  ^unnatürlichen  Gleichstellung:  „Zeit  =  Linie", 
wenn  nicht  allegorisch  zu  nehmend,  beizupflichten. 

Laut  WüNDT  (Log.  S.  432)  entsteht  das  Liniensymbol,  diese  „Ver- 
äinnlichung  einer  .  .  .  leeren  Zeit",  nach  erfolgter  Festsetzung  des  Be- 
griffs ihrer  Stetigkeit,  und  bei  Lotze  ist  die  linienförmige  Zeit,  „als  un- 
endliches Ganze  mit  ihren  beiden  entgegengesetzten  Ausdehnungen  gefafst, 
ein  Versuch,  durch  Bilder,  welche  vom  Eaume  entlehnt  sind,  einem  Ge- 
danken Anschaulichkeit  zu  geben,  welchen  wir  über  die  innere  Abhängig- 
keit der  einzelnen  Inhaltsteile  des  Geschehens  («»  Kausalität  s.  u.)  hegen" 
(149).  Diese  Entlehnung,  d.  h.  die  Thatsache,  dals  unsere  Zeitvor- 
stellungen auch  sonst  reichlich  mit  räumlichen  durchzogen  sind  und  durch 
solche  vertreten  werden  (man  denke  an  die  Redensart  „eine  Tagereise 
weit",  wo  Zeitliches  räumlich  ausgedrückt  wird),  ist  laut  Spbngbu  nichts 
als  eine  Äufserung  jener  auch  von  anderwärts  her  bekannten  menschlichen 
Fähigkeit,  successiv  Erhaltenes  zu  verschmelzen  und  als  Einheit  zu  repro- 
duzieren. „Wir  sehen  ....(§  336),  dafs  die  Reihe  von  Bewufstseins- 
zuständen,  welche  durch  ,eine  Tagereise^  angedeutet  wird,  sich  zu  einem 
Bewufstsein  von  den  durchmessenen  koexistierenden  Lagen  zusammenzu- 
ordnen vermag,  ....  ein  thatsächlich  einfacher  Bewufstseinszustand, 
welcher  im  Denken  und  Sprechen  die  ganze  Reihe  der  durch  ihn  reprä- 
sentierten Zustände  verdrängt  hat".  Da  sichs  hier  um  Unterschiebung 
einer  fremdartigen  Reihe  für  die  zeitliche,  folglich  um  ein  Verlöschen  des 
eigentümlichen  Charakters  der  letzteren  handelt,  und  keineswegs  blofs 
schnellere,  vielleicht  simultane  Reproduktion  des  successiv  Erhaltenen 
vorliegt,  wie  solches  durch  das  hier  angesprochene  Phänomen  der  Übung 
allerdings  erzielt  werden  kann,  so  wird  man  zugeben,  dafs  die  obige  Er- 
klärung für  das  Zustandekommen  solcher  Zeitverräumlichung  ungenügend 
und  dieselbe  kein  blofses  Übungsphänomen,  sondern  eben  Ideenassociation 
ist,  zumal  jene  Zugesellung  räumlicher  Vorstellungen  nicht  ausschliefslich 
bei  Reproduktionen  von  Reihen,  sondern  auch  bei  Erfassung  einheitlicher 
Erinnerungsbilder  (s.  o.  „Vergangenheitsraum")  vorkommt. 

GuYAü  würde  sagen,  Zeit  wird  deshalb  räumlich  ausgedrückt,  weil 
sie  uns  ursprünglich  mit  dem  Räume  verschmolzen,  nämlich  nur  quasi  die 
vierte  Dimension  (S.  71)  desselben  war.  Heobls  (§  259)  dreidimensionale 
Zeit  mit  den  drei  Zeitphasen  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  als 
„Dimensionen"  ist  nichts  als  eine  höchst  plumpe  Zusammenwürfelung 
jzweier  Dinge,  die,  wie  Raumdimensionen  und  Zeitphasen,  wahrhaftig  gar 
nichts,  als  ihre  zufällige  Dreifältigkeit,  miteinander  gemein  haben.  Gegen 
Anwendung  des  Begriffs  „Dimension"  auf  die  Zeit  hat  sich  u.  a.  auch 
ScHMiTz-DüMONT  (S.  17 — 18)  in  seiner  (bezüglich  der  Zeit  sehr  wortkargen) 
Schrift  erklärt. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  399 

Dafe  auch  das  Prädikat  von  Stetigkeit  eines  derjenigen 
ist,  welches  die  Zeitvorstellung  erst  in  vorgeschritteneren 
Stadien  ihrer  Ausbildung  annimmt,  und  keineswegs  an  und 
für  sich  mit  derselben  einhergehe,  ist  eine  Errungenschaft 
der  HEBBABT'schen  Forschung  (HI,  §  140—142,  IV,  §  243, 
VI,  S.  129)^)  gegenüber  den  Kant' sehen  Aufstellungen,  wichtig 
durch  die  wesentliche  Förderung,  die  sie  der  psychogenetischen 
Einsicht  angedeihen  liefs  durch  die  nunmehr  erschlossene 
Möglichkeit,  eine  Zeiteigenschaft  vorläufig  zu  ignorieren, 
welche  der  Hypothese  von  agglomerativer  Entstehungsweise 
der  Zeitvorstellung  stets  hinderlich  entgegenstand. 

^)  Eine  annähernde  Erkenntnis  dieses  IJmstandes  ist  auch,  auTser 
in  den  LocKs^schen  und  HuMs'schen  Ausführungen,  in  der  CoNDiLLAc'schen 
Stelle  enthalten,  die  Zeitreihe  sei  ursprünglich  nur  so  lang,  wie  die  Summe 
ihrer  Elemente,  der  successiyen  Empfindungen.  („Si  l'on  suppose,  que  la 
m6moire  peut  rappeler  k  la  statue  distinctement  jusqu'ä  quatre,  cinq, 
six  mani^res  d'etre,  eile  distinguera  en  cons^quence  quatre,  cinq,  six 
instants  dans  sa  duree.^    I,  chap.  4,  §  11.) 

Für  die  Thatsache  ursprüngUcher  DiskontinuierUchkeit 
der  Zeitreihe  spricht  der  Umstand,  dafs  ihre  einander  ab- 
lösenden Inhaltsteile  anfangs  nicht  für  dauerhaft  (ausgedehnt), 
sondern  nur  für  seiend  (vorhanden)  gelten,  woraus  sich  als 
primitivste  Zeitvorstellung  eine  Reihe  einander  ablösender 
Empfindungskomplexe  ergiebt,  deren  jedes  Element,  weil  von 
dem  Beteiligten  nur  als  Position  eines  bestimmten  Quales 
aufgefafst,  von  selten  eines  geometrie-gewandten  Beurteilers 
solcher  Auffassung  durch  blofse  Punkte  ausgedrückt  werden 
müfste.  Dies  soll  demnach  keineswegs  bedeuten,  es  würde 
ein  bis  zu  der  erwähnten  Stufe  zeitlicher  Vorstellungen  ge- 
langtes Kind  sich  denken  können:  „meine  Zeit  ist  diskret", 
sondern  nur,  dafs  es  eine  denkt,  die  faktisch  diskret  ist. 
Nachträglichkeit  des  Stetigkeitsprädikats  bedeutet  keineswegs, 
dafs  vorher  je  sein  Entgegengesetztes  wäre  verfochten  worden. 

Waitz'  treffender  Bemerkung,  es  könne  „die  Frage,  ob  sich  zwischen 
die  Zeitpunkte  etwas  einschieben  lasse  oder  nicht,  .  .  .  von  dem  Kinde 
noch  gar  nicht  aufgeworfen  werden"  (S.  587),  und  die  Zeit  würde  deshalb 
zu  Anfang  weder  kontinuierlich,  noch  diskontinuierlich  vorgestellt,  schliefsen 
wir  uns  yollinhaltlich  an. 


400  Eugen  Posch: 

Erst  mit  Eintritt  der  Fälligkeit,  das  einheitlich  Dar- 
gebotene durch  gedankliche  Entgegenstellungen  in  Abschnitte 
zu  zerlegen,  kann  die  Voraussetzung  der  Teilbarkeit  der  durch 
gelegentliche  Teilung  erhaltenen  Stücke  Platz  gegriffen  haben,  — 
einer  Eigenschaft,  die  für  das  Prädikat  der  Stetigkeit  wohl 
wesentlich  ist,  deren  Vorstellung  jedoch  bezüglich  ihres  Ent- 
stehungsganges ziemlich  schwer  zu  erklären  ist.  Dafs  das 
fragliche  Prädikat  nicht  auf  empirischem  Wege,  d.  h.  durch 
die  Wahrnehmung  stets  unbehinderter  Teilung  entstanden 
sein  kann,  beweist  schon  die  gerade  gegenteilige  Thatsache 
eines  Zeitminimums,  laut  welcher  der  Mensch  unfähig  ist, 
bei  Intervallen  unter  0,002^^,  eventuell  selbst  0,16°  (Wundt, 
Ph.  Ps.  S.  331— 332;  1)  Heebaet  [VI,  S.  309]  nimmt  aufe 
Geratewohl  1 — 60^^  an)  ein  „Früher"  von  einem  „Später"  zu 
unterscheiden.  Es  liegt  also  hier  eine  Anhänglichkeit  des 
Menschenverstandes  an  ein  Zeitprädikat  vor,  dem  die  Erfahrung 
widerstreitet,  und  welches  sich  bei  seiner  allseitigen  Ver- 
breitung gleichwohl  kaum  als  Hirngespinst  aburteilen  läfst.  — 
Die  Erkenntnis,  dafs  sich  unser  beschränktes  Teilungsvermögen 
vermittelst  geeigneter  Vorrichtungen  (wie  der  Schxtlz-Lissajous- 
sche  Apparat,  durch  den  die  Zeitsekunde  in  400000  Teile 
zerlegt  werden  kann)  erweitem  lasse,  darf  wohl  auch  nicht 
als  Entstehungsursache  des  Glaubens  an  endlose  Teilbarkeit 
der  Zeit  angeführt  werden,  zumal  dergleichen  Vorrichtungen 
dem  griechischen  Zeitalter,  wo  jener  Glaube  sich  bereits  nach- 
weisen läfst,  noch  unbekannt  waren,  und  anderseits,  weil  ja 
selbst  die  vollkommenste  Teilungsmaschine  Grenzen  ihrer 
Leistungsfähigkeit  hat. 

Dafs  die  subjektive  Eignung  zur  Trennung  kleiner  Zeiträume  mit 
der  Stärke  des  Beproduktionsyermögens  zunehme,  läfst  sich  ohne  die  weit- 
schweifigen, vorstellungsmechanischen  Nachweise  Hbbbabts  (VI,  S.146 — 147) 
einfach  schon  daraus  erschliefsen,  dafs  zu  beiden  eine  Fähigkeit  zu 
schneller,   scharfer  Auffassung  und  zu  Selbstanstrengung  erforderlich  ist. 


^)  Hier  hat  sich  die  bemerkenswerte  Thatsache  ergeben,  dafs  für 
Eindrücke,  die  alle  dem  nämlichen  Sinnesorgane  gelten,  das  Scheidungs- 
intervall  ohne  Gefahr  des  Verschwimmens  viel  kleiner  gewählt  werden 
kann,  als  wenn  die  Eindrücke  alternativ  zwei  Sinneswerkzeuge  beschäftigen. 


V 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  401 

Die  Ausflucht,  als  wäre  das  in  Rede  stehende  Prädikat 
von  dem  Symbole  der  Zeit,  der  geraden  Linie,  auf  sie  selber 
übertragen  worden  und  bei  letzterer  nur  in  ähnlichem  Sinne, 
wie  für  die  Linie,  aufrechterhalten  (nicht  in  jenem  exakteren, 
dafs  in  allen  Zeitintervallen  eine  Ausscheidung  vergangener, 
gegenwärtiger  und  zukünftiger  Teile  möglich  sei),  eine  solche 
Ausflucht,  sage  ich,  löst  keine  der  obwaltenden  Schwierigkeiten, 
sondern  wälzt  sie  nur  auf  ein  anderes  Feld  ab,  wo  sie  ebenso 
bestehen. 

Je  gewisser  es  erscheint,  dafs  nicht  die  Einsicht  in  un- 
endliche Teilbarkeit  der  Zeit  die  Entstehungsursache  des 
Stetigkeitsprädikats  gewesen  ist,  um  so  notwendiger  wird  es, 
uns  nach  einer  anderen  Eigenschaft  stetiger  Gebilde  umzu- 
sehen, deren  Erfassung  vielleicht  zum  Ausgangspunkt  des 
fraglichen  Prädikats  wfrd  dienen  können.  Als  solche  bietet 
sich  die  Thatsache  dar,  dafs  stetige  Gebilde  nicht  aus  ander- 
wärtigen  Elementen,  sondern  sozusagen  nur  aus  sich  selber 
bestehen,  d.  h.  selbst  elementarer  Natur  sind.  Dem  laienhaften 
Bewxifstsein,  das  den  inneren  Aufbau  der  Zeitreihe  durch 
Anreihung  erinnerlicher  Sinneseindrücke  nicht  kennt,  gilt  die- 
selbe nur  „aus  sich  selber,  aus  lauter  Zeit"  bestehend,  und 
es  verwandelt  sich  die  Unkenntnis  ihrer  Elemente  in  den 
positiven  Ausdruck,  dafs  es  hier  Baustücke,  vom  Ganzen  ver- 
schieden benannte,  überhaupt  nicht  giebt.  An  diese  Voraus- 
setzung kann  sich  nun  sehr  leicht  die  blofse  Schlufs- 
folgerung  geknüpft  haben,  dafs  die  Zeit,  als  ein  nicht  zu- 
sammengesetztes, folglich  stetiges  Gebilde,  auch  jene  andere 
Eigenschaft  stetiger  Dinge  besitze,  welche  mit  denselben 
bewufstermafsen  verknüpft  ist,  nämlich  die  unendliche 
Teilbarkeit.  Der  Umstand,  dafs  die  Zeitreihe  für  den  ihres 
Aufbaues  kundigen  Psychologen  das  Stetigkeitsprädikat  mehr 
oder  weniger  einbüfst  und  ihm  mehr  nur  in  Gestalt  eines 
Bewufstseins,  sie  für  stetig  hinnehmen  zu  sollen,  vorschwebt, 
mag  als  Beleg  unserer  Ansicht  dienen.  Nach  all  diesem  er- 
ledigt sich  die  oben  beregte  Frage,  betreffend  den  eigent- 
lichen oder  übertragenen  Sinn  des  Beiwortes  „stetig"  für 

Vierteljahrsschi-ift  f.  wJssenschaftl.  PhUosopliie.    XXm.  4.  27 


402  Engen  Posch: 

die  Zeitreihe,  in  der  Richtung,  dafs  selbes  allerdings  im 
eigentlichen  Sinne  der  Zeit  beigelegt  wurde,  falls  „stetig" 
nichts  anderes  bedeutet,  als  „nicht  zusammengesetzt",  bei 
welcher  Entscheidung  der  Umstand,  dafs  sichs  hier  um  ein 
unräumliches  Gebilde  handelt,  unberücksichtigt  bleiben  konnte. 

Das  die  Zeit  der  Zahl  gegenüber  charakterisierende  Merkmal  von 
Stetigkeit  wurde  zuerst  von  Strato  wider  die  AsisTOTELRs'sche  Zeitdefinition 
geltend  gemacht:  6  fihv  aQi^fibq  SiwQia/jiivov  nooov,  ij  Sh  xlvijaig  xal 
6  xQovog  ovv6xv<S  (Simpl.  187).  —  Locke  war  sich  klar  bewufet,  dafs 
die  Thatsache  eine»  Zeitminimums  (»  „Augenblick"),  nämlich  dafs  es  einen 
Zeitteil  giebt,  „in  dem  man  keine  Folge  bemerkt",  weil  „die  Seele  in 
solchen  nur  eine  Vorstellung  aulninmit  und  keine  weiter"  (XIV,  §  10), 
noch  keineswegs  für  die  (später  von  Hümb  so  sehr  befürwortete)  zeit- 
atomistische  Ansicht  beweise,  als  wären  nämlich  „die  gröfseren  Vor- 
stellungen von  .  .  .  Dauer"  einfach  durch  „Wiederholung"  jener  „unteil- 
baren Einheit  oder  Vorstellung"  entstanden,  zumal  man  ja  überhaupt 
„keine  solche  unteilbare  Vorstellung  gewinnen"  könne  (XV,  §  9).  Hiermit 
sind  die  physische  und  die  blofs  logische  Möglichkeit  der  Teilung  vonein- 
ander scharf  geschieden  und  klar  erkannt,  dafs  die  Hypothese  einer  den 
Körpern  gleich  aus  Atomen  (unteilbaren  Zeitstücken)  aufgebauten  Zeit 
besserer  Unterstützungen  bedürfte,  als  die  Thatsache  unserer  Unfähigkeit 
eine  ist,  über  gewisse  Grenzen  hinaus  weiterzuteilen.  Humbs  Ausführungen 
enthalten  solche  Unterstützungen  nicht.  Denn :  1.)  dafs  bei  Leugnung  von 
Zeitatomen  das  Vorhandensein  einer  unendlichen  Menge  Teile  in  einem 
Zeitstücke  von  endlicher  Länge  zugegeben  werden  müfste  (S.  72 — 76), 
gilt  insofern  nicht,  als  zur  Möglichkeit  einer  Teilung  keineswegs  ein 
der  Trennung  vorhergängiges  Bestehen,  Bereitliegen  jener  Teile 
notwendig  ist,  dieselben  vielmehr  erst  durch  die  Scheidung  zu  individueller 
Existenz  gelangend  gedacht  werden  können.  Nicht  nur  aus  drei  Stücken 
Aufgebautes,  sondern  jedes  individuelle  Ganze  läfst  sich  in  drei  Teile 
zerschneiden.  2.)  Dafs  alles  Vorhandene  der  Zahl  ähnlich,  somit  infolge 
der  Wirklichkeit  seiner  Einheiten  bestehend  sei,  welch  letztere  bei  Be- 
hauptung ihrer  Teilbarkeit  illusorisch  würden,  d.  h.  sie  zu  blofsen  Eom- 
plexionen  herabsänken,  —  diese  Anschauung  läfst  sich  auf  die  Zeit  schon 
wegen  ihrer  Unwirklichkeit  nicht  anwenden  und  ist  auch  sonst  unrichtig, 
weil  Einheiten  niemals  durch  blofse  Teilbarkeit,  sondern  nur  durch  fak- 
tische Geteiltheit  zu  Komplexionen  werden.  ^)  3.)  Des  weiteren  heifst  es : 
wer  die  kleinen,  successiven  Zeitteile  „Augenblicke"  und  diese  doch  teil- 
bar nennt,  müsse  deren  Teilungsprodukte  wider  alle  Natur  der  Zeit  für 
gleichzeitig  erklären,  da  er  sie  andernfalls,  seinem  Sprachgebrauche  gemäfs, 
selber  „Augenblicke"   heifsen  müfste.    Wir   antworten:   kleinst   geltende 


^)  Diese  beiden  Argumente,  von  Hümb  eigentlich  zur  Unterstützung 
der  raumatomistischen  Lehre  hingestellt,  sind  auf  Grund  seiner  Bemerkung 
(S.  75),  sie  könnten  auch  auf  die  Zeit  ausgedehnt  werden,  von  mir  auf 
diese  übertragen  worden. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  403 

Zeitteile  für  geteilt,  d.  h.  aus  Teilen  bestehend  zu  erklären,  ist  ein  Wider- 
spruch; sie  teilbar  zu  nennen  jedoch  schon  deshalb  erlaubt,  weil  uns 
technische  Errungenschaften  (Chronoskop)  unsere  bishin  „kleinst  möglichen" 
Zeitstücke  schon  öfter  als  noch  weiter  zerlegbar  erwiesen  haben.  4.)  Die 
Gleichheit  zweier  Zeiten  —  heifst  es  weiter  zur  Empfehlung  der  benannten 
Hypothese  —  läfst  sich  nur  bei  Annahme  einer  endlichen  Menge  in  ihnen 
enthaltener  Teile  befriedigend  definieren;  nämlich:  „gleich  sind  zwei  Zeiten, 
die  die  gleiche  Menge  Augenblicke  enthalten"^)  (S.  102 — 108).  Wir  er- 
widern: Mit  dieser  Definition  wäre  nur  dann  etwas  gewonnen,  wenn  sich 
gemäfs  der  ihr  zu  Grunde  liegenden  Zeitanschauung  wirklich  stets  eine 
unumstöfsliche  Anzahl  in  einem  Stücke  enthaltener  Zeitteile  nachweisen 
liefse.  ö.)  „Die  Yorstellungsfähigkeit  ist  nicht  unendlich;  folglich  kann 
kein  Begriff  .  .  .  der  Dauer  aus  einer  unendlichen  Anzahl  yon  Teilen  oder 
kleineren  Begriffen  bestehen,  sondern  er  mufs  aus  einer  endlichen  Anzahl, 
und  zwar  einfacher,  unteilbarer  Teile  zusammengesetzt  sein:  Es  ist  also 
möglich,  dafs  .  .  .  Zeit  diesem  Begriffe  gemäfs  existiere^  (S.  91).  „Mög- 
lich" wohl,  aber  der  Behauptung,  dafs  jedes  meiner  thatsächlich  als  Einheit 
erfafsten  Zeitbaustücke  geteilt  werden  könne,  liegt  nichts  im  Wege. 

Eine  scharfe  Unterscheidung  yon  Teilbarkeit  und  Geteiltheit,  wie 
solche  bei  Humb  yemachlässigt  erscheint,  versetzte  Dohring  in  die  Lage, 
das  Prädikat  unendlicher  Teilbarkeit  der  Zeit  mit  der  Ansicht  zu  vereinen, 
iafs  „für  die  getrennten  Realitäten,  welche  in  der  Zeit  als  unterscheidbare 
Akte  aufeinanderfolgen,  ...  die  Bestimmtheit  der  Zahl  das  durch  blofse 
logische  Einsicht  gesicherte  Naturgesetz"  (S.  64)  sei.  —  Hebbabts  Ansicht 
über  die  Entstehungsbedingungen  des  Stetigkeitsprädikates,  beziehungsweise 
über  die  Bedingungen  des  Zurücktretens  einer  punktreihenhaften  Zeitr 
anschauung  lautet:  man  müsse  vorher  die  Inkongruenz  jener  Linien  be- 
merkt haben,  welche  bei  Anblick  verschiedener  Bewegungsgeschwindig- 
keiten als  deren  Abbild  in  unserem  Kopfe  zurückbleiben  (lY,  §  291).  Dies 
scheint  mir  ein  zu  schwieriger  Lehrbehelf  für  ein  so  gangbares  Prädikat.  — 
Bei  YoLKMAKN  (S.  34)  ist  die  Stetigkeit  ein  Prädikat  der  in  späteren 
Entwicklungsstufen  für  objektiv  geltenden  Zeit,  und  entsteht  durch  den 
Glauben  an  ein  Weiterfliefsen  der  letzteren,  auch  während  unser  zeit- 
messendes Denken  aussetzt,  indem  nämlich  die  hierdurch  entstandenen 
Pausen  stets  mit  dem  leeren  Zeitflusse  erfüllt  gedacht  werden.  Ich  glaube, 
ein  Weiterfliefsen  während  gewisser  Pausen  genügt  für  die  Stetigkeit 
noch  keineswegs,  da  dies  Prädikat  vielmehr  einen  Mangel  jedweder 
Unterbrechung  ausdrückt.  —  Wündts  Ansicht,  das  fragliche  Prädikat  sei 
aus  der  Erwägung  hervorgegangen,  dafs  ein  gegebenes  Intervall  durch 
Jeden  beliebigen  anderen  und  anders  verteilten  Yerlauf  von  Yorstellungen" 
(Log.  S.  432)  hätte  erfüllt  sein  können,  läuft  sichtlich  auf  die  Hebbabt- 
sche  hinaus.  Zu  bemerken  wäre,  dafs  das  Bewufstsein,  es  hätte  die  Stelle 
der  in  einem  gegebenen  Yerlaufe  vorwaltenden  Pausen  bei  einem  anderen 


^)  Ist  von  HüME  gleichfalls  nur  bezüglich  des  Baumes  und  der  Linie 
behauptet  und  wurde  von  mir,  wegen  einer  Anspielung  auf  die  Zeit  (S.  107) 
und  weil  er  letztere  sicherlich  auch  für  eine  Linie  hielt,  auf  die  Zeit 
übertragen. 

27* 


404  Eugen  Posch: 

Verlaufe  getrost  durch  Inhaltliches  erfüllt  sein  können,  und  vice  versa, 
nur  mit  Hilfe  jenes  Zwischengedankens  zum  Stetigkeitsprädikate  hinführt, 
es  lasse  sich  zu  jedem  Intervalle  ein  Divisor  finden,  insofern  das  Mais- 
intervall  unbeschadet  seines  zeitlichen  Charakters  nach  Bedarf  verkleinert 
werden  könne.  —  Batjmanms  Äufserung:  „wenn  irgendwo,  so  ist  bei  der 
Zeit  das  Kontinuierliche  ein  Wesentliches  in  ihrem  Begrifft  (II,  S.  666),  zu- 
sammengehalten mit  seiner  Versäumnis  einer  Erörterung  der  Begriffe 
Gregenwart,  Vergangenheit  und  Zukunft,  deren  genaue  Geschiedenheit  im 
Bewulstsein  eben  einen  Hbrbabt  (IV,  §  243)  zur  Annahme  ursprünglicher 
Diskontinuierlichkeit  der  Zeitreihe  veranla&t  hat,  —  dieses  alles  scheint 
mir  auf  eine  der  HsBSABT'schen  Grundanschauung  entgegengesetzte  An- 
sicht des  erwähnten  Verfassers  hinzudeuten. 

RiEHL  behauptet  konsequenterweise,  dafs  „die  Vorstellung  der 
Stetigkeit  .  .  .  aus  der  Permanenz  des  Bewufstseins  in  der  Auffassung' 
des  Nacheinander  abzuleiten"  sei  (S.  124).  Der  Verfasser  scheint  Kon- 
tinuität und  unendliche  Teilbarkeit  der  Zeit  für  zwei  verschiedene  Dinge 
zu  halten,  da  uns  nämlich  die  nähere  Erklärung  dessen,  wie  und  weshalb 
diese  Übertragung  einer  BewuTstseinseigenschaft  auf  die  Zeit  stattfinde, 
an  anderer  Stelle  (S.  12ö)  geboten  wird.  Unendliche  Teilbarkeit  solle 
eingesehen  werden,  weil  „zwischen  zwei  so  nahe  als  man  will  gedachten 
Vorgängen  immer  noch  die  Einheit  des  Bewufstseins  interpoliert  werden 
kann  und  mufs'^  Von  allem  anderen  (ähnlichen  Einwänden,  wie  w.  u.) 
abgesehen,  steht  nun  ganz  fest,  dafs,  wer  den  fraglichen  Begriff  durch 
fortgesetzte  Interpolation  zu  erlangen  unternimmt,  nicht  die  „Einheit 
seines  Bewufstseins",  sondern  irgend  einen  vorgestellten  Eindruck,  eventuell 
blofsen  Taktstrich  in  den  ungeteilt  vorliegenden  Zeitflufs  einschiebt. 

Eyffbbths  langatmige  Ausführungen,  in  denen  gelegentlich  auch 
der  HBBBABT'sche  Gedanke,  Kontinuierlichkeit  sei  kein  „konstituierendes 
Merkmal"  (S.  32)  der  Zeit,  eine  Stelle  findet,  bieten  statt  einer  Erklärung 
der  Entstehungsart  dieses  Prädikates  nur  recht  überflüssige  Empfehlungen, 
die  Zeit  nur  ja  gewifs  für  kontinuierlich  hinzunehmen.  Die  Beanspruchung 
von  Dingen  an  sich,  welche  durch  ihr  freundliches  „Zusammenhalten  der 
sonst  unvermeidlich  auseinanderfallenden  Erscheinungen"  Kontinuierlicbkeit 
(fragt  nur  nicht  wie?)  erzeugen  sollen,  ist  ein  erbarmenswerter  Hilferuf 
an  den  Dens  ex  machina  und  obendrein  eine  Bekundung  höchst  herbarts- 
widrig  objektivistischer  Denkungsart;  die  Versicherung  (S.  36)  wiederum, 
auch  die  menschliche  „Auffassung"  bringe  die  fragliche  Kontinuität  zu- 
stande, ist  eine  ganz  unbefriedigende  Abfertigung  unserer  eben  auf  das 
Wie  dieses  Zustandebringens  gerichteten  Frage.  Etwas  ganz  Barockes 
in  diesem  Genre  hat  aber  Hsoel  geboten,  wo  die  Stetigkeit  der  Zeit  (im 
Sinne  von  Gleichartigkeit  der  kleinsten  Teile  mit  dem  Ganzen)  der  un- 
differenzierten Verfassung  organischer  Keime  gleichgestellt,  d.  h.  von  einer 
angeblich  keimhaften  Natur  der  Zeit  hergeleitet  wird,  bestehend  darin, 
dafs  sie  als  „abstrakt  sich  auf  sich  beziehende  Negativität"  in  dieser  Ab- 
straktion „noch  keinen  reellen  Unterschied"  (§  258)  aufweist. 

Dafs  die  Punktmäfsigkeit  der  Gegenwart  eine  mit  Hilfe 
des  soeben  besprochenen  Teilungsvorgangs  entstandene  Vor- 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  405 

Stellung  sei,  braucht  wohl  kaum  versichert  zu  werden.  Da 
Teilung  so  lange  stattfinden  kann,  als  überhaupt  Ausgedehntes 
vorliegt,  so  folgt,  dafs  jedwedes,  wie  immer  kurzes  Dauersttick 
in  eine  Eeihe  succedierender  Intervalle  aufgelöst  werden  kann, 
wodurch  dann  der  Begriflf  „Gegenwart"  seiner  ursprünglichen 
Bedeutung  entrückt  wird,  indem  nun  nach  erfolgter  Auflösung 
ein  beträchtlich  kürzeres  Dauerstück  für  ihn  eintreten  mufs. 
Das  Bewufstsein  nun,  dafs  jedwede,  wie  immer  kurze  Aus- 
dehnung, die  man  der  Gegenwart  beilegen  mag,  eine  dergleichen 
Selbstwiderlegung  (Zurücknahme  der  ursprünglichen  Gegen- 
wartsbenennung und  Übertragung  derselben  auf  noch  kürzeres) 
zur  Folge  haben  müfste  —  m.  a.  W.  die  Überzeugung,  dafs 
Gegenwart  eigentlich  nie  kurz  genug  angenommen  werden 
könne  — ,  führt  zu  dem  Entschlüsse,  ihr  überhaupt  jedwede 
Ausdehnung  abzusprechen,  was  —  mit  Bezug  auf  ihre  Zuge- 
hörigkeit zur  linienhaften  Zeit  —  in  Gestalt  jener  Ver- 
sicherung geschieht,  sie  sei  ein  „Punkt". 

VoLKKANN  (S.  34)  läTst  dieses  Punkt-Prädikat  in  ähnlicher  Weise 
entstehen,  durch  das  BewuTstsein  nämlich,  dafs  die  Zeit,  wenn  bereits  als 
objektiv  gedacht,  „in  jenen  Pausen  nicht  stille  steht,  während  welcher 
unser  Zeitvorstellen"  aussetzt.    VergL  noch  oben  (S.  192)  Leibniz. 

Die  Unendlichkeit  ergiebt  sich  gleichfalls  als  ein  später 
hinzugekommenes  Prädikat,  wenn  man  den  Hervorgang  der 
Zeit  aus  erlebten  Eindrucksreihen  nicht  vergüst.  Streng 
gefafst  bedeutet  Unendlichkeit  nichts  anderes,  als  dafs  die 
Anzahl  der  gegebenen  Momente  für  die  Ausflihrbarkeit  fernerer 
Hinzufügungen  gleichgültig  ist.  Die  Möglichkeit,  einem  ge- 
gebenen Zeitmomente  zwei  andere,  ein  vorhergängiges  und 
ein  nachfolgendes,  hinzuzudenken,  bleibt  ungeschmälert,  wenn 
nicht  ein,  sondern  Millionen  Momente  vorliegen.  Aus  dem 
jedenfalls  betonungswerten  rein  mathematischen  Charakter  des 
Unendlichkeitsbegriffes  folgt,  dafs  der  letztere,  mit  erschlossener 
Einsicht  in  das  mathematische  Ariom  vom  unbehinderten 
Addieren,  auch  bei  der  Zeit  erstehen  mufste,  falls  nur  deren 
Ausbildung  bis  zur  Erkenntnis  des  Einheitencharakters  ihrer 
Momente  vorgeschritten  ist.  Die  Begriffsverwirrung,  als  be- 
deute die  thatsächliche  Unendlichkeit  der  Zeitreihe  eine  ahn- 


406  Eugen  Posch: 

liehe  Eigentümlichkeit  des  Weltlaufe  —  ein  auch  von  Düh- 
BiNG  (S.  27 — 28)  gerügter  Irrtum,  entstanden  durch  Nicht- 
berücksichtigung auch  leer  hinzudenkbarer  Zeitmomente  — 
ist  wohl  mit  an  jenem  Heiligenschein  samt  Weihrauchwolke 
schuld,  mit  denen  dieses  höchst  harmlose,  trocken  mathematische 
Zeitprädikat  von  selten  erbauungsbedürftiger  Gemüter  stets 
umgeben  und  zu  religiösen  Anknüpfungen  ausgebeutet  wurde. 
Der  übrigens  unleugbaren  Empfindung  eines  Unterschieds 
zwischen  Unendlichkeit  der  Zeit-  und  der  der  Zahlenreihe 
(wonach  erstere  von  selber  weiter  fliefeen,  letztere  hingegen 
nur  beUebig  fortsetzbar  sein  soll)  liegt  Verkennung  des  rein 
menschlichen  Gemachtseins  der  Zeit  und  ihrer  hieraus  hervor- 
gängigen Ähnlichkeit  mit  der  Zahlenreihe  zu  Grunde. 

Noch  ist  erwähnenswert,  dafs  vom  Standpunkte  unseres 
Subjektivismus,  dem  die  Zeit  keine  objektive  Weltingredienz, 
sondern  nur  menschliches  Vorstellungsgebilde  ist,  selbst  eine 
Bestreitung  von  deren  Unendlichkeit  —  in  dem  Sinne  nämlich, 
als  wäre  eine  Zeit  immer  gewesen  und  werde  stets  sein  — 
durchführbar  ist,  indem  behauptet  werden  darf,  dafs  Zeit, 
als  aufsen  nirgends  und  niemals  vorhanden,  nur  so  alt 
wie  ihre  Vorstellung  ist,  folglich  mit  dem  ersten  Erscheinen 
zeitlicher  Begriffe  im  Gehirne  irgendwelcher  Urmenschen  be- 
gonnen habe  und  mit  Untergang  des  letzten  solcher  Begriffe 
fähigen  Gehirnes  aufhören  werde.  Eine  Vorstellung,  die  bei 
exakter  Ausgestaltung  das  Prädikat  von  Unendlichkeit  an- 
nimmt, uns  somit  zu  Einverleibung  auch  jener  Kindheitsperioden 
in  sie  selber  (den  Zeitflufs)  befähigt,  welche  Perioden  wir, 
solange  sie  gegenwärtig,  d.  h.  wir  Kinder  waren,  keineswegs 
„in  der  Zeit  befindlich"  denken  konnten:  eine  solche  Vor- 
stellung braucht,  wie  leicht  ersichtlich,  keineswegs  von  un- 
endlichem Alter  zu  sein. 

Yergl.  RiBHL  (S.  126):  „Es  ist  .  .  .  .  nicht  denknotwendig  .  .  .  ., 
auch  vor  irgend  einen  Anfangsznstand,  sondern  nur  mit  ihm  zugleich 
die  Einheit  des  Bewufstseins  zu  setzen.  Nachdem  aber  einmal  der  Anfangs- 
zustand in  Bücksicht  auf  einen  folgenden  als  Anfang  appercipiert,  d.  i. 
die  Vorstellung  der  Folge  erzeugt  worden  ist,  kann  die  blofse  Zeitform 
allerdings  in  Gedanken  auch  über  den  Anfangspunkt  hinaus  erstreckt  werden''. 


\ 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  407 

Das  Bewußtsein  der  Unendlichkeit  der  Zeit,  wenigstens  a  parte 
post,    liegt  bereits  der  platonischen  Stelle  zu  Grunde,   sie   sei   ein  xa-i 
agi&fjibv  lovaa  aidviog  eixtiv  (cap.  10 -^  Abbild  der  Ewigkeit).    Gegen 
die  „Tcreinzelte''  Ansicht  Platos,   sie  sei  erst   &fia  .  .  .  r^  ovQavd^  ent- 
standen, machte  Abistotelbs  geltend,  der  Anfangsmoment  einer  a  parte 
ante    endlich  gedachten  Zeit  sei  doch  auch  ein  Jetzt  (to  .  .  .  la/aro^' 
xov  .  .  .  xQ^^ov  Iv  xivi  tdv  vvv  ta%aiy  VIII,  cap.  1),  folglich  eine  fisoottj^ 
TIC,   mit  welch  einer  stets  ein   vor   und   nach   yerbunden   sein   müsse. 
Sbxtus  Empibicus  hat,  gemäfis  seinem  Grundsatze  absolutester  AUesleugnung, 
der  Zeit  nicht  nur  die  Unendlichkeit,   sondern  auch  deren  Gegenteil,  die 
Endlichkeit,  abgestritten,  indem  er  behauptete:  1.)  die  Zeit  könne  weder 
unendlich  lang  sein,  da  zwei  ihrer  Bestandteile  (Vergangenheit,  Zukunft) 
gar  nicht  existieren  und  der  dritte,  die  Gegenwart,  punkthaft,  folglich 
ausdehnungslos  sei  (ähnliches  bei  Augustinus,  cap.  15);  auch  sei  sie  nicht 
endlich  lang,  da  dies  zur  widerspruchsvollen  Annahme  einer  Zeit  führte, 
wo  es  noch  keine  Zeit  gab,  und  zu  einer,  wo  es  schon  keine  mehr  geben 
werde;  2.)  sie  sei  nicht  entstanden  und  vergänglich  {ysvvrjtog  .  .  . 
xal  (pd'ccQtog),  da  sich  für  sie  keine  wirklich  seiende  Ursprungsquelle  an- 
geben lasse,   insofern  die  Zukunft,   aus  deren  allmählichem  Eintritt  und 
Vergehen  sie  angeblich  entstünde,   selber  nicht  existiert,   und   anderseits 
die  gegenwärtige  Zeit  in  der  Zukunft  oder  eventuell  in  der  Vergangenheit 
nur  bei  Inbegriffenheit  derselben  in  einer  der  letztbenannten  beiden,  also 
wenn  Gegenwart  selbst  zu  Zukunft  oder  Vergangenheit  würde,  entstehen 
könnte.    Auch  sei  die  Zeit  nicht  ewig  und  unverwüstlich  (ayivvTjrog 
xal  atpd^aQtog),  zumal  ja  einer  ihrer  Teile  bereits  vernichtet  und  der  andere 
noch  nicht  vorhanden  sei.    (Der  grofse  Leugner  übersieht  hier  offenbar  die 
Identität  der  Zeitprädikate  1.  und  2.) 

Die  von  Plato  angebahnte  und  im  Neoplatonismus  kulminierende 
Entgegensetzung  von  Zeit  und  Ewigkeit  (eetoiv eigentlich  =  unendliche 
Dauer),  wobei  die  letztere  eine  zeitgebärende  Kraft  und  überhaupt  vor- 
nehmere (geradezu  himmlische)  Heimatszuständigkeit  zuerkannt  erhielt, 
hatte  dem  Unendlichkeitsprädikat  gewifs  mit  zu  seinem  selbst  in  neueren 
Darstellungen  bemerklichen  Schleier  von  Heiligkeit  verholfen,  der  erst 
von  LocKBs  mutigem  Finger  zerstreut  wurde.  So  hat  z.  B.  Spinoza  dem 
durch  spätere  Einwirkungen  nicht  gestörten  Einzelwesen  nur  „unbestimmte 
Dauer"  (indefinita  existendi  continuatio,  Eth.,  Pars  II,  def.  5)  beizulegen 
sich  entschlossen,  wo  doch  aus  dem  Trägheitsprinzipe  entschieden  ewige 
Dauer  desselben  folgt  —  offenbar,  weil  er  die  letztere  nur  dem  Welt- 
ganzen als  vornehmerem  Gegenstande  zukömmlich  hielt  (s.  auch:  „nee 
aetemitas  tempore  definiri,  nee  ullam  ad  tempus  relationem  habere  potest^*, 
Vni,  prop.  23),  wie  Baumann  (I,  S.  179)  richtig  bemerkte.  Anderseits 
hat  der  letztbenannte  Verfasser  Lockbs  Ausspruch  vom  naturgemäfsen, 
ohne  überirdische  Hilfe  (durch  „dieselben  Mittel  und  Quellen,  welche  zu 
der  Vorstellung  der  Zeit  [und  der  Unendlichkeit  der  Zahl,  §  30]  führen", 
nämlich  durch  „Hinzusetzung  einer  Zeitlänge  zur  anderen  im  Gedanken, 
so  oft  man  will",  XIV,  §  27;  ähnlich  Hbsrbart  V,  S.  506)  erfolgten  Ent- 
stehen der  Ewigkeitsvorstellung  auf  die  blofs  „astronomisch  gedachte" 
Ewigkeit   (so  wie  Condillac   auf  „une  dur^e  vague"    II,   chap.  8,   §  27) 


408  Eugen  Posch: 

beschränken  wollen,  und  behauptet,  „die  Ewigkeit  der  menschliched  Seele 
und  ToUends  die  Ewigkeit  Gk)ttes"  (sie!)  lasse  „sich  nur  vergleichsweise 
so  bestimmen'^  und  müsse  „aus  dem  Begriff  der  Bauer  als  der  Fortsetzung" 
der  Existenz  entwickelt  werden"  und  werde  „so  nach  der  verschiedenen 
Art  zu  existieren  je  ihr  eigentümliches  Gepräge  erhalten"  (I,  S.  399). 
Wenn  ein  Denker  vergifst,  dafs  die  evident  zeitliche  Natur  der  Ewigkeits- 
vorstellung durch  den  Gegenstand,  ^^uf  den  sie  angewandt  wird^  nicht 
alteriert  werden  kann,  so  ist  daran  wohl  jene  mittelalterliche  Neigung 
schuld,  gewisse  „heilige"  Dinge,  nachdem  man  ihnen  überhaupt  Baum  gab, 
mit  lauter  superlativischen,  „von  allem  Irdischen  verschieden"  sein  sollenden 
Eigenschaften  auszustatten,  —  was  freilich  nicht  zu  wundem  ist  bei  einem 
Schriftsteller,  der  es  in  seiner  pietistischen  Anhänglichkeit  bis  zu  Gefühls- 
schilderungen Gottes  (II,  S.  660)  brachte. 

Die  LEiBNiz'sche  Erwiderung  auf  die  Ausführungen  Lockes  (nämlich : 
„Um  den  Begriff  der  Ewigkeit"  zu  erhalten,  müsse  man  „bedenken, 
dafs  derselbe  Grund"  [d.  h.  ein  ewig  dauerndes  Gegebene]  „immer  bleibt, 
um  [in  der  Hinzufügung]  weiter  zu  gehen")  ist  wohl  gerechtfertigt  ange- 
sichts dessen,  dafs  letzterem  an  einer  (von  Leibniz  nicht  erwähnten)  Stelle 
(XIV,  §  31)  für  Entstehung  der  Ewigkeitsvorstellung  das  blofse  „Ver- 
mögen" genügte,  „Vorstellungen  von  Zeitlängen  .  .  .,  so  oft  man  will, 
in  Gedanken  zu  wiederholen  und  aneinanderzulegen".  Jedoch  ist  diese 
Erwiderung  gleichfalls  von  einigem  verkappten  Ingrimm  getragen  ob  der 
allzunatürlichen  Darstellungsweise  des  englischen  Denkers,  wie  aus  der 
von  Locke  ganz  unverdienten  Zurechtweisung  hervorgeht,  „die  Sinne 
allein"  könnten  „nicht  genügen,  um  die  Bildung  dieser  Begriffe  zu  be- 
werkstelligen" (XIV,  §  27),  und  auch  hervorguckt  aus  dem  Bestreben 
Lbibniz',  die  von  dem  Naturalisten  verunglimpfte  „Ewigkeit"  an  dieser 
Stelle  durch  die  Versicherung  zu  entschädigen,  sie  (»=  das  Absolute)  nähme 
in  der  Wirklichkeit  stets  die  erste  Stelle  ein  (=  Unbegrenztes  vor  der 
Grenze)  und  nur  im  menschlichen  Gehirne,  welches  stets  vom  Belativen 
auszugehen  gezwungen  ist,  die  zweite.  (Wurde  von  I.  H.  Fichte  [Beitr. 
S.  63 — 64]  noch  überboten.)  Ebenso  hat  auch  Kant  dem  Schrankenlosen 
Priorität  vor  dem  Beschränkten  im  menschlichen  Verstände  eingeräumt, 
wenn  er  sich  das  Unendlichkeitsprädikat,  unbekümmert  um  das  Verhalten 
des  kindlichen  Denkens  —  was  Hbbbabt  [VI,  S.  115  u.  307]  ihm  vorwarf  — , 
als  der  Zeit  ursprünglich  anhaftend  dachte  und  behauptete,  es  bedeute 
„nichts  weiter,  als  dafs  alle  bestimmte  Gröfse  der  Zeit  nur  durch  Ein- 
schränkungen einer  einigen  zum  Grunde  liegenden  Zeit  möglich  sei". 
(Kr.  59;  vergl.  oben  S.  69.)  Jenen  von  Lbibniz  geforderten  „Grund,  immer 
weiter  zu  gehen",  hat  Baumann  (II,  S.  666)  berücksichtigt,  der  die  „Unend- 
lichkeit a  parte  ante"  der  „allgemeinen  praktischen  Zeit"  von  dem  Bewufst- 
sein  herleitet,  dafs  die  ihr  zu  Grunde  liegenden  Himmelsbewegungen  schon 
vor  unserer  Geburt  und  der  unserer  Vorfahren  in  infinitum  bestanden  hätten. 

Eypfbbth,  der  an  dem  orthodoxen  Welterschaffungs-  und  -Ver- 
nichtungsglauben festzuhalten  scheint  und  anderseits  den  objektiven  Weltlauf 
mit  der  Zeit  verwechselt,  spricht  letzterer  die  Unendlichkeit  im  gewohnten 
Sinne  ab,  da  „die  Zeit  mit  der  Welt  und  zwar  zugleich  mit  der  letzten 
Thätigkeit  ende"  (S.  43).    Das  fragliche  Prädikat  gebühre  ihr  nur  insofern, 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeityorstellung.  409 

als  ihre  kleinsten  Teile  stetiger  Natur,  d.  h.  nur  mefsbar,  aber  nicht 
zählbar,  folglich  (sie!)  zahllos,  d.  h.  unendlich  seien  (S.  39 — 41).  Dafs 
die  Beschränktheit  der  —  EYFPEETH'schen  —  Weltthätigkeiten  einer 
„Häufung  der  Zeitgröfsen**,  wie  sie  zur  ünendlichkeitsvorstellung  nötig 
ist,  um  so  weniger  im  Wege  stehen  kann,  als  eine  „beharrliche,  sich  selbst 
gleiche  Wirklichkeit"  doch  ewig  vorhanden  war  und  bleibt,  hat  Dühbing 
(S.  28)  eingesehen. 

Sjbhls  einschlägige,  wortkarge  Stelle  (sie  lautet  wörtlich:  wir 
müssen  „zweien  zeitlich  noch  so  entfernt  gedachten  Vorgängen  in  (be- 
danken die  Einheit  des  Bewufstseins,  die  Bedingung  ihrer  Vorstellbarkeit 
als  zeitlicher  Ereignisse,  voraussetzen.  Die  Zeit  ist  der  Idee  nach  ins 
Unendliche  fortsetzbar",  S.  125->126)  ist  mir  nicht  deutlich  genug, 
um  mich  an  eine  Kritik  derselben  zu  wagen,  zumal  der  einzige,  mir  er- 
findliche Sinn  derselben  unhaltbar  scheint,  nämlich:  es  lasse  sich  das  Unend- 
lichkeitsprädikat aus  unserer  Einsicht  gewinnen,  daüs  der  Abstand  zweier 
Ereignisse  unbeschadet  der  Einheit  unseres  Bewufstseins  in  Gedanken 
beliebig  erweitert  werden  könne. 

YoLKMAVJx  hat  mehr  nach  einem  Beweggrund,  als  nach  einem  Grund 
(im  LsiBNiz'schen  Sinne)  zum  Weitergehen  geforscht,  und  einen  solchen 
in  der  gewohnheitsmäfsigen  „Verwendung  der  leeren  Zeitreihe  als  Mafs- 
stab"  zu  finden  gemeint,  da  nunmehr  „die  blofse  Setzung  eines  Punktes 
als  Zeitpunkt,  die  leise  Accentuierung  einer  dunklen  Vorstellung  als 
Gegenwart  genügt,  um  sie  sofort  zum  Ausgangspunkt  einer  leeren  Zeit- 
reihe** [d.  h.  der  Frage:  und  dann?]  „zu  machen'*  (S.  29).  Dafs  erfüllte 
und  zwar  mit  befriedigendem  Inhalte  erfüllte  Zeitreihen  der  Nachfrage 
um  Fortsetzung  weniger  günstig  sind,  als  uninteressant  erfüllte,  ist  That- 
sache.  Den  Umstand,  dafs  die  Unendlichkeit  der  Zeit  nicht  durch  Er- 
probung gefunden  worden  und  die  Möglichkeit  des  steten  Weiterschreitens 
eine  recht  eigentliche  Behauptung  a  priori  sei,  drückt  Volkmanks 
folgende  Stelle  (S.  30)  aus:  „Der  Prozefs,  durch  welchen  wir  zu  dem 
Vorstellen  der  unendlichen  Zeitreihe  gelangen,  ist  selbst  kein  unendlicher; 
. .  .  uns  genügt  es  bei  dem  Versuche,  ihn  einzuleiten,  ...  die  Vorstellung 
des  infinitum  durch  ein  Vorstellen  vorzustellen,  das  ein  indefinit  um 
ist**.  Die  „nach  beiden  Seiten  hin  über  jede  Grenze  hinaus  konstruierte 
leere  Zeitreihe"  («die  Ewigkeit)  nennt  derselbe  Verfasser  (ib.)  „keine 
Vorstellung",  sondern  „das  Vorstellen  eines  Vorstellens,  d.  h.  ein  Gefühl", 
da  es  der  Versuch  sei,  den  Begriff  der  Zeit,  das  Nacheinander,  „in  einer 
Anschauung  darzustellen".  Des  ferneren  werden  drei  verschiedene  Vor- 
stellungsweisen der  Ewigkeit  (als  aeon  =»  nunc  stans,  als  „leere  unendliche 
Zeitfolge"  und  als  „endliche  volle,  aber  unendlich  rekurrente  Zeitreihe") 
durch  hier  (S.  33)  wie  durchgehends  reichhaltige  litterarische  Belege  nach- 
gewiesen. 

Um  mit  Hebbaet  die  von  Kant  bestrittene  Möglichkeit 
einer  noch  vor  Ausbildung  des  Begriffs  „Zeit"  stattfindenden 
Benutzung  zeitlicher  Begriffe  und  selbst  des  Zeitmessens  ein- 
zusehen,   ist  es  nötig,    sich   die   rein  abstrakte  und  von  so 


410  Eugen  Posch: 

mancherlei  Prädikaten  umschriebene  Natur  dieses  Begriffs  zu 
vergegenwärtigen  (Heebabt  VI,  S.  116)  und  anderseits  zu 
bedenken,  dafs  schwierigere,  mehr  Verstandesthätigkeit  er- 
fordernde Erzeugnisse  stets  spätere  Geisteserscheinungen  sind. 
Die  Thatsache,  dafs  sich  dem  Erwachsenen  verschiedene  zeit- 
liche ürteilsf  ormen  des  Kindes  vom  Standpunkte  einer  bereits 
voll  ausgebildeten  Zeitvorstellung  als  Verwertungen  des  Be- 
griffs „Zeit"  darstellen,  bedeutet  keineswegs,  dafs  sie  auch 
dem  Kinde  Anwendungsarten  dieses  Begriffs  sind.  Giebt  man 
nach  all  diesem  zu,  dafs  der  Begriff  „Zeit"  die  so  ziemUch 
späteste  Frucht  der  einschlägigen  Gedankenbildung  sei,  so 
kommt  noch  zu  bedenken  —  wie  schon  oben  angedeutet  — , 
dafs  auch  innerhalb  dieses  Begriffs  ein  Entwicklungsgang 
mufs  stattgefunden  haben,  indem  ein  plötzliches  Hervortreten 
seiner  heute  gangbaren  abstrakten  Fassungsweise,  oder  gar 
gleichzeitiges  Entstehen  seiner  bisher  erwähnten  Prädikate 
höchst  unwahrscheinlich  ist.  Die  entwicklungsgeschichtliche 
Reihenfolge  dieser  letzteren  läfst  sich  freilich  in  Ermangelung 
entsprechender  Beobachtungen  nicht  bestimmen. 

Waitz  läXst  den  typischen  Zeit-Begriff  ganz  nach  Art  sonstiger 
Abstrakta  hervorgehen,  und  zwar  durch  Abscheidung  der  „specifischen 
Bestimmtheiten"  zeitmessender  Prozesse  von  deren  „gemeinsamem  Wesen", 
nämlich  der  „regehnäfsigen  Wiederkehr  eines  Wechsels,  durch  welche  man 
in  den  Stand  gesetzt  wird,  sich  über  den  Verlauf  aller  anderen  Ver- 
änderungsreihen  zu  orientieren"  (S.  598).  Ähnlich  Volkmann  (s.  o.). 
Bei  Spkncbb,  wo  „eine  bestimmte  Zeit  nichts  anderes  ist,  als  eine  Lage- 
beziehung zwischen  zwei  bestimmten  Zuständen  in  der  Beihe  der  BewuTst- 
seinszustände",  ist  „Zeit  im  allgemeinen  ...  das  Abstraktum  aus  allen 
Beziehungen  der  Lage  zwischen  aufeinander  folgenden  Bewufstseinszu- 
ständen"  (§  337).  Abgesehen  davon,  dafs  der  Begriff  „Zeit",  der  eines 
Flusses,  viel  eher  aus  dem  Vergleiche  von  Prozessen,  als  aus  dem  ruhender 
Entfernungen  hervorgehen  dürfte,  scheint  hier  noch  in  der  Schilderung 
eines  gewissen  Zeitverhältnisses  vermittelst  einer  rein  räumlichen  Metapher 
(des  Wortes  „Lage"),  ohne  die  ausdrückliche  Erklärung,  dafs  es  eine 
Metapher  sein  will,  ein  Best  objektivistischer  Vorstellungsneigungen  mit 
unterzulaufen.  Bei  Wundt  ist  „die  abstrakte  Zeit  eben  jene  leere  Zeit, 
der  keine  Wirklichkeit  zukommt,  zu  deren  Abstraktion  wir  aber  gleich- 
wohl genötigt  werden".  Sie  stehe  „in  dieser  Beziehung  auf  einer  Linie 
mit  den  allgemeinen  Begriffen,  denen  ebenfalls  keine  Gegenstände  ent- 
sprechen, welche  aber  die  allgemeinen  Denkformen  darstellen,  in  die  von 
uns  die  Gegenstände  und  ihre  Beziehungen  gebracht  werden  müssen" 
(Log.  S.  432 — 433).    Ähnlich  bei  Libbmann  (S.  110),  wo  die  NBwroH'sche 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeityorstellung.  411 

Zeit  ein  durch  Abstraktion  gewonnener  mathematischer  Hilfsbegriff  ist, 
ähnlich  dem  der  geometrischen  „Linie^,  dessen  Unentbehrlichkeit  für  die 
Naturwissenschaft  und  hier  statthafte  Hypostasierung  desselben  niemals 
einen  Beweis  seiner  objektiven  Bealität  abgeben  kOnne. 

Die  begriffähnliche  Natur  der  Vorstellung  „Zeit'^  ist  bereits  bei 
Leibniz  (Opp.  n,  S.  91)  ausgesprochen,  wo  die  Zeit  mit  den  Zahlen  [und,  in 
N.  A.  XIV,  §  26,  mit  den  ewigen  Wahrheiten]  verglichen  wird,  weil 
sie  ähnlich,  wie  jene  beiden,  auch  blofse  Möglichkeiten  (possibilit^s)  aus- 
zudrücken vermöge,  d.  h.  nicht  nur  auf  das  thatsächlich  Vorhandene  an- 
wendbar sein  soll  (.  .  .  „quadre  non  seulement  k  ce  qui  est  actuellement, 
mais  encore  ä  ce,  qui  pourrait  Stre  mis  k  la  place,  comme  les  nombres 
sont  indifferente  k  tont  ce  qui  peut  §tre  res  numerata").  Noch  bliebe 
Ulbici  zu  erwähnen,  wo  gleichfalls  ein  „Begriff  der  Zeit"  der  „Zeit- 
anschauung"  gegenübergestellt  und  verfochten  wird,  das  „blofse  Ab- 
strahieren von  der  Bestimmtheit  der  einander  folgenden  Erscheinungen' ' 
genüge  höchstens  für  Erzeugung  einer  Zeitanschauung,  indem  für  den 
„Begriff"  vielmehr  ein  „Unterscheiden  des  Nacheinanders  der  Dinge  rein 
als  solchen  von  ihrem  ruhigen  Nebeneinander"  (§  31)  nötig  wäre.  Als 
wenn  vom  laienhaften  Menschenverstände  jene  dem  Philosophen  geläufige 
Gegenüberstellung  von  „Nacheinander"  und  „Nebeneinander**  zu  ge- 
wärtigen wäre! 

5.  Wörter  von  seitlicher  Bedeutung. 

Die  Ergebnisse  vergleichender  Sprachwissenschaft,  welche 
im  Bereiche  des  Ugromagy arischen  ebenso,  wie  in  dem  des 
Indogermanischen  und  sicherlich  auch  auf  anderen  Sprach- 
gebieten eine  ursprünglich  konkret-qualitative  Bedeutung  der 
allermeisten,  heute  abstrakt  zeitlichen  Ausdrücke  (d.  h.  Hin- 
zukömmlichkeit  ihres  heutigen  Sinnes)  darthun  und  Ur- 
sprünglichkeit desselben  wenigstens  nirgends  nachweisen,  — 
diese  Ergebnisse  sind  ein  vorzüglicher  Beleg  Sir  unsere  Hypo- 
these, wonach  Zeitvorstellungen  der  Menschheit  nicht  an- 
geboren, sondern  allmählich  erworben  sind,  und  sich  nicht 
als  „Anschauungen"  dem  menschlichen  Verstände  darstellen 
(denn  da  gäb's  doch  einige  direkte  Bezeichnungen  für  sie), 
sondern  rein  gedanklicher  Natur  sind,  gleich  den  nomina  ab- 
stracta.  Wenn  auch  die  einzelnen  Entwicklungsphasen  unserer 
zeitlichen  Vorstellungen  sich  bei  heutigem  Stande  semasio- 
logischer  Forschungen  aus  dem  dargebotenen  Materiale  noch 
nicht  entnehmen  lassen,  so  ist  durch  Aufdeckung  des  Aus- 
gangspunktes der  jetzigen  Zeitbedeutungen  doch  ein  wichtiger 
Fingerzeig  gewonnen  für  Schlufsfolgerungen  (wenn  man  will, 


412  Eugen  Posch: 

nur  für  MutmaXsungen)  über  den  Verlauf  des  betreffenden 
Bildungsganges.  Der  unleugbar  oft  hypothetische  Charakter 
etymologischer  Aufstellungen  ist  freilich  nicht  geeignet,  die 
Sprachwissenschaft  als  Beweismittel  unserer  Zeittheorie  ins 
Feld  zu  stellen;  doch  beansprucht  ja  auch  die  letztere  nicht 
mehr,  als  den  Bang  einer  Hypothese,  welche  sich  jedoch 
durch  ihre  Harmonie  mit  Voraussetzungen  fremder  Gebiets- 
bearbeiter nicht  wenig  gefördert  fühlt. 

In  folgendem  sind  einige  Beispiele  aus  dem  Bereiche 
des  Indogermanischen  und  des  Ugromagyarischen  zusammen- 
gestellt. 

1.)  Das  griech.  alsl,  lat.  aevuni,  got.  aivs  («Zeit,  Ewigkeit), 
alt-ir.  und  kymbr.  ois,  ais  («=tempas,  aetas,  saeculum)  entstammen  dem 
sanskr.  äyu  («■  „Lebenszeit",  aber  auch  rein  qualitativ  „Leben")  entweder 
unmittelbar,  oder  —  nach  Cubtius  (S.  385)  —  durch  Vermitthmg  des  Wortes 
evas,  eines  „Gang,  Wandel"  bedeutenden,  also  gleichfalls  rein  qualitativen 
(eyentuell  von  i »»  „gehen"  abstammenden)  Ausdrucks. 

2.)  Das  griech.  XQ^'*'^^  ^^^  ^^  ^^^  \Aoh  räumlichen  x^Q^  (Tanz- 
platz) und  lat.  hortus  verwandt,  und  stammt,  wie  das  zend.  zrvana 
(«»Alter,  Zeit),  von  der  Wurzel  ghar  («umfassen,  nehmen),  weshalb 
XQOvoq  „umfassende  Zeitgrenze"  (Cübtius  S.  200),  anfangs  also  „Kreislauf* 
(der  Sonne)  bedeutet  haben  mufs,  —  ähnlich  dem  ungarischen  idö  (heute 
=^  Zeit),  welches  infolge  seiner  Verwandtschaft  mit  wogulisch  und  ostjakisch 
entep,  endep  («Gürtel)  auch  nur  irgendwelchen  „ambitus,  circuitus" 
(BuDBNz  S.  809),  somit  etwas  Nichtzeitliches  bezeichnet  haben  dürfte.  (Auch 
das  mordwinische  pingä  [«sEeif,  Tonnenband]  bedeutet  gleichzeitig 
,,Zeit,  Stunde";  siehe  noch  lat.  annus  und  annulus.)  Die  Abstammung 
eines  abstrakt  „Zeit"  bedeutenden  Wortes  von  einer  Wurzel  „Kreislauf" 
spricht  für  jene  anfängliche  Verwirrung  der  Zeit  mit  ihrem  Mafsstabe, 
der  Sonnenbahn,  deren  wir  oben  erwähnten,  —  eine  Verwirrung,  die  gewifs 
so  lange  währte,  als  die  Herkunft  des  zeitbedeutenden  Wortes  von  jener 
Wurzel  klar  gefühlt  wurde. 

3.)  Das  griech.  ivöslexv^S,  ivSslixeia,  ivdeXex^fn  geht  auf  sanskr. 
dirghas  (lang),  und  letzteres  wahrscheinlich  auf  die  Wurzel  dhar  (halten, 
tragen,  stützen)  zurück  (Curtius  S.  191 — 192),  woraus,  wie  aus  der  bereits 
von  LocKB  bemerkten  Abstammung  des  Wortes  „duratio"  von  „durus" 
(s.  0.),  hervorgeht,  dafs  die  Vorstellung  der  Dauer  sich  von  der  der  phy- 
sischen Stärke,  Haltbarkeit  (s.  o.  „Hartnäckigkeit")  herleitet.  Im  un- 
garischen „tart6ssäg"  liegen  die  letzteren  beiden  Bedeutungen  auch  heute 
noch  friedlich  beisammen. 

4.)  Das  zend.  yäre,  griech.  ojQoq,  got.  jera,  ahd.  jär  (sämtlich 
e=  Jahr),  sowie  —  nach  Cubtius  S.  355  —  das  griech.  ^Qa,  tschech.  jaro 
(Frühling),  eventuell  das  lat.  hornus,  mhd.  hiure=»nhd.  heuer  ent- 
stammen der  Wurzel  ya  (gehen),   ähnlich  wie  das  ungar.  6v,   finn.  ikä. 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeitvorstellung.  413 

esth.  iga,  erza-mordw.  ie,  tscheremiss.  i,  läpp,  jake  (Budbnz  S.  803,  durch- 
gängig =  „Jahr")  einer  Wurzel  jög-  (fluere,  currere).  Bedeuten  also  diese 
Zeitbenennungen  ursprünglich  nicht  mehr  als  „Lauf"  (wir  meinen  Sonnen- 
lauf), so  liegt  hier  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  die  nämliche  Verwechslung 
der  Zeit  mit  ihrem  Mafsstabe,  d.  h.  Mangel  eines  abstrakten  Zeitbegriffs 
Tor,  wie  oben  unter  2.)  Die  Entwicklungsphasen  des  letzteren  scheinen 
zu  sein:  1.)  Umlauf,  2.)  dauerhafter  Umlauf,  3.)  Umlauf  er  füllte  Dauer, 
4.)  Dauer  yon  der  Länge  eines  Umlaufs. 

5.)  Das  sanskr.  dina  (Tag)  und  —  Cübtius  S.  236  —  diva,  auch 
dyaus  (Hinmiel,  Tag),  lat.  dies,  bi,  -tri  -duum,  interdiu;  nun-  (•=  novem) 
-dinus,  femer  lith.  dena  »»  kirchenslaw.  dini  «b  kymbr.  diw  =  altir. 
die  «  „Tag",  sowie  das  sanskr.  adja  =:  kymbr.  he diw«>  kirchenslaw. 
dinisis»  altir.  ind in  «3  „heute",  gehen  sämtlich  auf  di  (««  scheinen) 
zurück,  bedeuten  also  eigentlich  etwas  helles,  mit  der  Sonne  zusammen- 
hängendes, ähnlich  dem  ungar.  nap,  welches  „Tag"  und  „Sonne"  bezeichnet. 
Der  Sinn  „heute"  dürfte,  wie  im  lat.  ho  die  (»=»  hoc  die),  vermittelst  eines 
einverschmolzenen  Demonstrativpronomens  („diese  Sonne"  «=  mit  dieser 
Sonne,  diesen  Tag)  erzielt  worden  sein,  welches  im  ungar.  ma  (verwandt 
mit  m OS t  «jetzt,  majd  »>  dann,  Budenz  S.  606 — 607)  selbständig  auftritt. 

Hierher  gehört  auch  das  griech.  (xvgiov,  verwandt  mit  ^ql,  ^igioq, 
vom  sanskr.  us.-  (glänzen,  leuchten,  Cübtitjs  S.  400),  in  welchem,  sowie  im 
ungar.  holnap  (wo  hol  ursprünglich  <«  „lux,  splendor",  Budenz  S.  105), 
der  Sinn  „morgen"  durch  die  Wendung  „mit  erglänzender  Sonne"  wieder- 
gegeben erscheint. 

Eine  ähnliche  Zeitbenennung  ist  femer  zend.  zima  („Winter"  und  — 
als  pars  pro  toto,  Cübtius  S.  201  —  „Jahr"),  welches,  sowie  das  noch 
abstraktere  lat.  bi,  -(tri)-mus  (=bi,  -tri,  -himus),  des  ferneren  hiems, 
hibernus,  griech.  x^dv  (Schnee)  und  ;(f£^a>v  (Winter),  auf  das  sanskr. 
hima  (kalt,  Schnee,  Winter)  zurückgehen.  Die  Bedeutung  „Winter" 
wurde  somit  ursprünglich  etwa  durch  „Schneeigkeit"  ausgedrückt.  — 

Das  zend.  vanhra  (Frühling),  sanskr.  vasara  (Tag),  vasantas 
(Frühling),  ushasya  (morgend),  kirchenslaw.  vesna  (Frühling),  lith.  va- 
sara (Sommer),  griech.  &(>  (pro:  FiaaQ)  und  lat.  ver  (pro:  veser)  sollten  — 
CuRTiüs  S.  388  —  gemäfs  ihrer  Wurzel  vas  (aufleuchten),  anderseits  auch 
€a7t€Q0(;,  lat.  vesperB^lith.  vakaras  aus  diminutivem  vask  (etwas  auf- 
leuchten, bei  Fick),  eigentlich  „etwas  Leuchtendes"  bedeuten,  sowie  das 
ungar.  t a  v  as  z  (Frühling),  stammverwandt  (Budenz  S.  187  ff.)  mit  tscheremiss. 
sokso  (calidus),  eigentlich  „etwas  Warmes,  Wärme",  undhajnal  (Tages- 
anbruch) von  kogo  =  „leuchten"  (Budenz  S.  104),  „etwas  Leuchtendes, 
Licht"  bedeuten  sollten. 

Auch  y^()ae  =  sanskr.  gara  (Wurzel:  gar  ««„gebrechlich  machen, 
.  .  .  werden",  Cübtius  S.  176)  sollten  nur  „Gebrechlichkeit",  statt  „Alter 
=3  Zeitpunkt,  wo  man  hinfällig  wird",  bedeuten.  (Alter  durch  blofse 
„Gröfse"  ausgedrückt  findet  sich  —  Budenz  S.  37-38,  718  und  857  —  in 
rjkixla  von  rjklxog  [=  wie  grofs],  ungar.  kor  [akkor-a  =  so  grofs],  ös 
[«uralt,  verwandt  mit  finn.  iso,  mordw.  otschu=amagnus],  ungar.  agg 
[s.  finn.  aikas»„tempus"  und  magnus]  und  im  deutschen  alt,  von  lat. 
al-,  wachsen,  s.  altus.)    Hierher  gehört  auch  als  Bezeichnung  eines  Zeit- 


414  Eugen  Posch: 

Punktes  mittelst  eines  denselben  charakterisierenden  Ereignisses  der 
zend.  Ausdruck  für  ,,Mittag^':  arem-pitu,  eigentlich  ,,FertigBein  des 
Essens*',  —  eine  Zeitbenennung,  welche  fortentwickelt  gedacht  bis  zur 
Stufe:  „wenn  das  Essen  fertig  ist^*  sich  von  der  heute  üblichen  Mittag»- 
bezeichnung  („um  12  ühr^^,  wo  ein  an  sich  gänzlich  uninteressantes  und 
nur  zum  Zwecke  der  Zeitbezeichnung  wichtig  gewordenes  Ereignis,  näm- 
lich die  Ankunft  zweier  Uhrzeiger  auf  der  Ziffer  12,  zum  Anknüpfungs- 
punkt dient)  wesentlich  nur  durch  die  Auserwählung  eines  auch  an  und 
für  sich  interessanten  Ereignisses  unterscheidet. 

Aus  alle  dem  läfst  sich  entnehmen,  dafs  die  Namen  von  Zeitab- 
schnitten, welche  durch  gewisse,  sie  ausfüllende  Erscheinungen  charak- 
terisiert sind,  ursprünglich  nur  diese  Erscheinungen  selbst,  d.  h.  die  reinen 
Qualitäten  bezeichneten;  dann  später  dieselben  mit  dem  Nebenbegriffe 
ihrer  Dauerhaftigkeit,  welch  letzterer  schliefslich  aus  einem  blofsen  Epi- 
theton zur  Hauptsache  wurde  und  Verkümmerung  der  Urbedeutung  nach 
sich  zog.  Also  z.B.:  1.)  „Helles^  dann  2.)  „dauerhaftes  Helles'^,  schliefs- 
lich 3.)  „helle  (helligkeiterftillte)  Dauer"  «  Tag. 

6.)  Ein  Beispiel  für  die  oben  (S.  296,  304)  berührte  Yerraumlichung 
der  Zeit  liegt  im  lat.  antiquus,  welches  (Cübtiüs  S.  204),  vom  platt 
räumlichen  ante,  sanskr.  anti  („gegenüber,  vor,  angesichts'*) herstanmiend, 
eigentlich  „vorne  befindlich^'  bedeuten  sollte. 

Das  gleiche  gilt  von  ncc^og  (=»  früher,  vor),  welches  —  Cübtiüs 
S.  269  —  auf  sanskr.  puras  (-=vom,  vor)  zurückgeht;  femer  von  tiqIv 
(früher,  bevor),  7tQ(l>Tjv  (vordem,  vorgestern),  lat.  pristinus  undpriscus, 
got.  fruo  (früh)  und  altir.  riam  (»» antea)  angesichts  der  Bedeutung 
„vor,  fort"  ihrer  sanskr.  Wurzel  pra,  zend.  fra  (Cübtiüs  S.  283).  Vergl. 
hiermit  lat.  antea  aus  ante  ea. 

In  diese  Klasse  gehört  auch  das  griech.  ^v&a,  altpers.  ada,  welche 
Worte  neben  der  zeitlichen  Bedeutung  („dann,  damals*')  auch  noch  die 
rein  räumliche  („dort'')  ihres  sanskritischen  Stammwortes  adha  oder 
andha  bewahrt  haben.  (Letztere  Ausdrücke,  einschliefslich  des  deutschen 
damals,  dienen  zur  Bezeichnung  vergangener  Gleichzeitigkeit.  Zum 
Anheftungspunkt  für  das  in  Frage  stehende  Ereignis  dient  stets  jenes 
andere,  welches  bei  „damals''  hinzugedacht  wird.  Simul,  verwandt  mit 
similis  [Cübtiüs  S.  322]  sowie  cifia,  beide  vom  sanskr.  samas  [eben,  gleich] 
und  zend.  hama  [derselbe,  der  gleiche],  drücken  die  Gleichzeitigkeit  als 
Ähnlichkeit  des  zweiten  Ereignisses  mit  dem  vorher  erwähnten  ersten  aus.) 

Das  got.  aftra  (weiter,  abermals)  vom  altpers.  Komparativ  apa- 
tara  (der  fernere)  läfst  das  spätere  Ereignis  als  entfernter  erscheinen, 
während  es  das  griech.  vaxsQog,  -ov  (vom  Komparativ  uttaram  der  sanskr. 
Wurzel  ud  a«  auf,  hinauf)  eigentümlicherweise  als  in  vertikaler  Eichtung 
befindlich  hinstellt.  (Übrigens  übersetzt  Cübtiüs  [S.  228]  ud  auch  durch 
„auf,  aus".) 

Erwähnenswert  sind  hier  noch  die  griech.  Ausdrücke  ttotc  (wann), 
^vioxs  (manchmal,  bisweilen),  fihaC^  (hernach),  wo  die  Anhängung  einer  — 
übrigens  ganz  bedeutungslosen  —  Bildungssilbe  -xe,  -'Qe  an  Grundstämme 
von  räumlich-konkreter  Bedeutung  (tto  »»  sanskr.  ka  ist  ein  interrogativer 
Pronominalstamm  —  Cübtiüs  S.  466  — ,  iVtot  heifst  „manche"  und  (jLBxa 


Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeityorstellung.  415 

„mit,  unter,  nach^)  in  Fällen  zeitlicher  Anwendung  derselben  zweifellos 
auf  einen  bereits  entwickelteren  Zeitsinn  zurückschliefsen  läfst.^) 

7.)  Eine  andere  Bezeichnungsart  des  Sinnes  „antiquus,  priscus" 
liegt  im  Ungar,  r 6 gl,  6,  6cska,  avas,  welche  Ausdrücke  (Bcdbnz  S.  649 
und  831)  in  Anbetracht  ihrer  diversen  Stammverwandten  auf  den  Begriff 
„dunkel^  —  möglicherweise  die  dunkle  Farbe  alter  Gegenstände  —  zurück- 
gehen. 

Anderseits  ist  der  Sinn  „iam  pridem**  in  dem  Ausdrucke  „einst, 
einmal"  („es  war  einmal  ein  .  .  ."),  sowie  im  got.  suman  (verwandt 
mit  griech.  a(io,  •afzod'sv  «■  irgendwoher,  &/if»g  « irgendwie,  Cubtius  S.  393) 
und  Ungar,  egyszer  durch  blofse  Zahlbenennung  wiedergegeben. 

Auch  die  Gegenwart  und  Jüngstvergangenheit  findet  sich  von  ihrer 
rein  qualitativen  Seite,  nämlich  als  neu  aufgefafst  in  sanskr.  numan 
(jetzig,  sicherlich),  zend.  nü  (eben,  gerade),  griech.  vvv>*lat.  nunc 
»■  kirchenslaw.  nyne»»  ,Jetzt"  und  lat.  nudius,  nuper,  denuo,  sämt- 
liche vom  sanskr.  navas  („neu,  frisch,  jung",  woher  auch  griech.  vsog 
und  lat.  novus,  Gubtiüs  S.  315,  318).  Ahnlich  würde  das  ungar.  jelen 
(gegenwärtig)  —  verwandt  mit  osljjak.  jilip,  jidep,  wogul.  jälpel, 
tscheremiss.  jäl,  finn.  elpy-  (sämtlich«  „novus,  iuvenis",  Budsnz  S.  144 
bis  145)  —  gemäfs  seines  angeblich  verbiden  Grundstammes  jäl  oder  jil 
(glänzen)  eigentlich  nur  „neu,  glänzend"  bedeuten. 

8.)  Gleichfalls  ein  Komparativ  und  zwar  des  Demonstrativums  i 
(—der  andere)  ist  das  nunmehr  rein  zeitliche  iterum,  dessen  Eignung 
zum  Ausdrucke  von  Wiederholungen  von  dem  Umstände  herrührt,  dafs 
„das  andere"  stets  für  das  Gegenstück  des  „einen",  somit  für  ein  ihm 
irgendwie  Ähnliches  gebraucht  wird. 

Das  griech.  naXiv  von  naXkto  (schwingen,  schütteln)  bedeutet  eigent- 
lich —  CuBTiüs  S.  268  —  „im  Umschwung  zurück",  giebt  also  den  Begriff 
der  Wiederholung  durch  den  eines  vollendeten  Kreislaufs  wieder.  Das 
sinnverwandte  ungar.  megint  (pro:  meg6-nt)  bedeutet  ursprünglich 
zurück". 

9.)  Das  sanslcr.  acu  (gesteigert:  aciyams,  acistha),  griech.  üuevqy 
lat.  ocior  sollten  ihrer  Wurzel  (ak  «»  eindrmgen)  nach  „eindringungsfähig" 
bedeuten,  sowie  das  sinnverwandte  xaxv<;  und  d^ooq  (Wurzeln:  tak-  und 
^^.Qi  SB  laufen)  eigentlich  „laufend";  das  lat.  citus  (verwandt  mit  xl(a, 
xlwfiai,  xivito,  CüRTius  S.  149)  wäre  «=  „bewegt" ;  das  altir.  dian,  dene 
(-"  celeritas,  von  di==  fliegen,  Cubtius  S.  236)  „fliegend"  und  luath 
(s=  velox,  von  plu  im  griech.  niia},  Cubtius  S.  279)  „schwimmend",  ähnlich 
wie  das  ungar.  gyors  (ts  schnell,  verwandt  mit  wogul.  jar,  ostjak.  jur, 
züijän.  jör  — Kraft,  Budbuz  S.  162)  eigentlich  „kräftig".  —  Das  altir. 
mall  und  griech.  ßgadvq  gehen  (Cubtius  S.  230)  auf  sanskr.  mrdus  (weich, 
zart)  zurück,  sollten  also  schwächliche,  statt  „langsame"  Bewegung  be- 
deuten, sowie  das  sinnverwandte  ungar.  lassü  (laut  läpp,  lossed  — ■  gravis, 
BuDENz  S.  684)    eigentlich  „schwerfällig"  heifsen  sollte.    —    Wenn  dem 


n 


^)  Die  wahrscheinlichen  Produkte  eines  solchen,  wie  z.  B.  sanskr. 
tan  (tempus),  griech.  fir^v  (Monat)  etc.  —  s.  Cubtius  — ,  sind,  weil  zur 
Bestätigung  unserer  Hypothese  unbrauchbar,  hier  übergangen  worden. 


416      Eugen  Posch:  Ausgangspunkte  z.  e.  Theorie  d.  Zeitvorstellung. 

Menschenverstände  sich  „schnell^  ursprünglich  nur  als  „kräftig'^  und 
„langsam'^  als  „schwächlich^  darstellte,  so  verrät  sich  hierin  offenbar,  daTs 
diese  Bewegungsbezeichnungen  von  der  menschlichen  und  tierischen  Be- 
wegung ausgegangen  und  von  dieser  auf  andere  übertragen  worden  sind. 
(Ähnliches  bei  Cubtius  S.  113.) 

Ein  bemerkenswerter  Umstand  ist  femer  der  Mangel  jedweder  Be- 
zugnahme auf  den  Zeitlauf  in  den  obigen,  offenbar  rein  qualitativen  Be- 
nennungen einer  Bewegungseigenschaft;  deren  Vorstellung  heute  mit 
zeitlichen  Nebengedanken  auf  das  innigste  verwoben  ist. 

Zur  Überleitung  auf  das  Folgende  möge  hier  noch  das  sanskr.  Ad- 
verbium anjasa  (stracks,  bald)  und  got.  anaks  (sogleich)  von  ang 
(a«  salben,  bestreichen,  glatt  machen)  erwähnt  werden,  in  welchen  die 
Baschheit  durch  deren  häufige  Ursache  (Geschmiertsein,  also:  „wie  ge- 
ölt''), d.  h.  gleichfalls  rein  qualitativ  bezeichnet  ist. 

10.)  Das  got.  galeiks  und  sinnverwandte  nhd.  gleich  (von  sanskr. 
arju-Bsich  streckend,  gerade),  sowie  das  ungar.  6p  en  (im  Sinne  „soeben, 
sofort*',  von  6p  =»  ganz,  unversehrt)  drücken  die  Kürze  des  zeitlichen  Ab- 
Standes  mittelst  der  Vorstellung  von  Geradheit  einer  dazwischengedachten 
Linie  aus. 

Denselben  Sinn  wiedergiebt  mox «»  sanskr.  ma(n)kshu  -«  „bereit*' 
und  „alsbald"  (von  mangh  >»  „begaben,  begabt  sein,  fördern")  durch  „fertig 
zu  etwas",  weil  eine  Handlung  stets  „bald"  eintritt,  wenn  sie,  oder  man 
zu  ihr,  „bereit"  (fertig)  ist. 

Das  lat.  repente  ist  ein  Lokativ  des  Participiums  vom  Zeitworte 
Qhco)  («»  sich  neigen ;  hiervon  ^ott?/ =^  Neigung,  Ausschlag,  momentum; 
CüBTius  S.  3öl),  bedeutet  also  eigentlich  „ausschlaggebend". 

S  tat  im  konmit  von  sto  (Cürtius  S.  212),  hiefse  also  „auf  der  Stelle, 
in  ea  statione",  ähnlich  dem  ungar.  azonnal  (pro:  azon  helyt),  —  eine 
ebenso  räumliche  Bezeichnung  geringer  Zeitabstände,  wie  noch  illico 
aus  in  loco. 

11.)  Das  lat.  mane  (zu  guter  Stunde),  eine  adverbiale  Bildung  vom 
altlat.  man  US  (Cuetius  S.  328),  bedeutet  eigentlich  nur  „gut". 

12.)  Eine,  wie  bei  Punkt  9.),  rein  qualitative  und  wohl  etwas 
poetische  Benennung  des  entsprechenden  Zeitraumes  liegt  im  sanskr.  nak 
=s  griech.  vv|  =  lat.  nox  «=»  got.  nahts  •=  lith.  naktis  =  nhd.  Nacht, 
insofern  deren  Wurzel  nac  (verderben,  zerstören)  die  Nacht,  welche 
(CüRTiüs  S.  162—163)  „keines  Menschen  Freund  ist",  als  ein  „Verderben- 
bringendes, Unheilvolles"  hinstellt. 


Fortsetzung  und  Schlufs  folgt  im  nächsten  Jahrgange. 


Die  Zelle  als  Individunm. 

Eine  psychophysische  Studie  von  August  Dfinges,  Cleve. 


Inhalt. 

Begriff  des  IndividuTuns.  Kennzeichen  der  Individualität.  Die  ..Zelle  als 
selbBtändlges  Lebewesen.  Selbständigkeit  der  Funktion  der  Zelle.  Über  das 
Vorhandensein  einer  Zellpsyche. 


§  1.   Begriff  des  Individuums. 

Unter  Individuum  verstehen  wir  ein  Wesen,  das  sich 
gegenüber  der  Aufsenwelt,  vor  allem  gegenüber  den  Wesen 
derselben  Art,  als  ein  davon  zu  unterscheidendes  besonderes 
Ich  auffafst.  Dieses  Bewufstsein  vom  eigenen  Ich  ist,  wie 
überhaupt  alles  Bewufstsein,  bei  verschiedenen  Wesen,  aber 
auch  bei  ein  und  demselben  Wesen  zu  verschiedenen  Zeiten, 
in  verschieden  hohem  Grade  vorhanden.  Nicht  selten  entstehen 
Zweifel,  ob  man  einem  Wesen  die  Individualität  in  dem  hier 
gefafsten  Sinne  (=  Ichheit)  zusprechen  darf.  Jedoch  hat  die 
hier  gewählte  Begriffsbestimmung  den  Vorzug,  dafs  sie,  auf 
die  freilich  zunächst  nur  in  der  Auffassung  des  Subjektes  be- 
stehende Einheit  und  Unteilbarkeit  des  Ich  begründet,  dem 
Sinne  des  Wortes  Individualität  auf  das  Genaueste  gerecht  wird. 

Im  folgenden  soll  nun  untersucht  werden,  ob  und  in- 
wieweit es  möglich  ist,  der  Körperzelle  die  Eigenschaft  der 
Individualität  in  dem  hier  gemeinten  Sinne  zuzusprechen. 

§  2.    Kennzeichen  der  Individualität. 

Zur  Lösung  dieser  Aufgabe  ist  es  notwendig,  festzustellen, 
woran  das  Vorhandensein  der  Individualität  zu  erkennen  sei. 
Dabei  ergiebt  sich  von  vornherein  die  Schwierigkeit,  dafs  das 

Vierteljahrsschrift  f.  wlssenschaftl.  Philosophie.    XXIII.  4.  28 


418  August  Dunges: 

wesentlichste  Merkmal  der  Ichheit  eben  jene  subjektive  Auf- 
fassung des  eigenen  Ich  darstellt,  welche  als  solche  andern 
nicht  mitgeteilt  werden  kann.  Doch  schliefst  das  nicht  aus, 
dafs  auch  objektive  Kennzeichen  existieren.  Zur  Auffindung 
derselben  wollen  wir  uns  vergegenwärtigen,  welchen  Wesen 
wir  ohne  weiteres  den  Besitz  der  Ichheit  zuerkennen.  Dies 
sind  in  erster  Linie  unsere  Mitmenschen,  sodann  vielleicht  die 
Tiere,  weiter  können  wir  nicht  gehen.  Warum  aber  nehmen 
wir  ohne  weiteres  an,  dafs  unsere  Mitmenschen  im  Besitze 
der  Ichheit  sind?  Es  bedarf  keiner  grofsen  Überlegung,  um 
sich  darüber  klar  zu  werden,  dafs  die  Thätigkeit  es  ist,  und 
zwar  im  Gegensatz  zur  Maschine  die  Thätigkeit  aus  eigenem 
Antriebe,  welche  uns  vor  allem  veranlafst,  in  dem  Mitmenschen 
ein  besonderes  Ich  zu  sehen,  in  derselben  Weise,  wie  wir 
uns  selbst  als  ein  solches  auffassen.  Diese  Thätigkeit  aus 
eigenem  Antriebe,  dieses  spontane,  selbständige  Handeln  setzt, 
wie  einen  jeden  die  Erfahrung  von  sich  selbst  belehrt,  Be- 
wufstsein  und  WiUen  voraus  und  damit  auch  das  Vorhandensein 
der  Ichheit.  Freilich  ist  es  nicht  immer  leicht,  festzustellen, 
ob  die  Thätigkeit,  die  wir  an  irgend  einem  Wesen  wahrnehmen, 
als  eine  spontan  erfolgende  anzusehen  ist.  Anderseits  darf 
aus  dem  Umstände,  dafs  eine  spontane  Thätigkeit  nicht  wahr- 
genommen werden  kann,  nicht  ohne  weiteres  auf  den  Mangel 
der  Individualität  geschlossen  werden.  Jedoch  giebt  es  sonst 
kein  zuverlässiges  Kennzeichen,  es  sei  denn,  dafs  besondere 
Leistungen  ihre  Spontaneität  durch  ihren  psychischen  Charakter 
besonders  deutlich  offenbaren.  Darum  werden  zuweilen  Be- 
weisgründe anderer  Art  die  Beobachtung  stützen  oder  selbst 
ersetzen  müssen. 

Um  also  die  psychische  Individualität  der  Körperzelle 
darzuthun,  wird  es  nötig  sein,  zu  zeigen,  dafs  dieselbe  ein 
selbständiges,  zur  Thätigkeit  aus  eigenem  Antriebe  befilhigtes 
Wesen  darstellt.  Sollte  es  aufserdem  gelingen,  direkte  Belege 
für  ein  Erkennen  und  Wollen  auch  nur  niedrigsten  Grades 
beizubringen,  so  würden  dieselben  für  unseren  Beweis  von 
besonderem  Werte  sein.    Aber   auch   dann   dürfen   bei   der 


Die  Zelle  als  Individuum.  419 

Schwierigkeit  der  hier  zu  leistenden  Beweisführung  indirekte, 
auf  dem  Wege  der  Kombination  gewonnene  Gründe  nicht 
verschmäht  werden.  Ob  es  damit  gelingt,  alle  hinsichtlich 
der  Ichheit  der  Zelle  auftauchenden  Zweifel  zu  überwinden 
und  vor  allem,  ob  es  mit  dem  zur  Zeit  vorliegenden  Wissens- 
materiale  schon  gelingen  kann,  das  lasse  ich  dahingestellt. 
Jedenfalls  aber  verlohnt  es  sich,  diese  Frage  einer  Untersuchung 
zu  unterwerfen  und  alle  Gründe,  welche  die  psychische 
Selbständigkeit  jener  kleinen  Lebewesen  wahrscheinlich  machen, 
zusammenzutragen. 

§  3.   Die  Zelle  als  selbständiges  Lebewesen. 
(Individualität  im  biologischen  Sinne.) 

Bereits  in  der  Cellularpathologie  von  R.  Vibchow  ^)  findet 
sich  der  bedeutsame  Satz:  „Jedes  Tier  erscheint  als  eüie 
Summe  vitaler  Einheiten,  von  denen  jede  den  vollen  Charakter 
des  Lebens  an  sich  trägt".  Diese  biologische  Selbständigkeit 
der  Körperzellen  ist  nun  sowohl  für  ihren  Zusammenhang 
untereinander,  als  auch  für  denjenigen  mit  dem  Gesamt- 
organismus, zu  erweisen.  In  ersterer  Hinsicht  sind  die  histo- 
logischen Untersuchungen  der  neueren  Zeit  über  das  Nerven- 
system insofern  von  grofser  Tragweite,  als  daraus  hervorgeht, 
dafs  die  Nervenzellen  nicht,  wie  man  früher  annahm,  mit- 
einander in  einer  organischen  Verbindung  stehen  und  gleich- 
sam ein  grofses  in  sich  zusammenhängendes  Netz  darstellen, 
sondern  dafs  sie  nur  mittels  ihrer  vielfach  verästelten  Aus- 
läufer (Dendrone)  eine  allerdings  innige  und  umfangreiche 
Berührung  eingehen.  Für  manche  andere  Zellenarten  des 
Tier-  und  Pflanzenkörpers  werden  Verbindungen  durch  Proto- 
plasmafäden (Intercellularbrücken)  angenommen,^  jedoch  dürfte 
die  mit  den  Nervenzellen  gemachte  Erfahrung  auch  hier  zu 
der  Vorsicht  mahnen,  die  Entscheidung  darüber,  ob  es  sich 
um  einen  organischen,  die  Wesenseinheit  der  Zelle  in  Frage 
stellenden  Zusammenhang  handelt,  einer  mit  vollkommeneren 


1)  R.  ViRCHOw,  Die  Cellularpathologie,  2.  Aufl.  1859,  S.  12. 

3)  0.  Hbrtwig,  Die  Zelle  und  die  Gewebe,  1898,  II.  Buch,  S.  34. 

28* 


420  August  Dunges: 

Untersuchimgsmitteln  ausgerüsteten  Zukunft  zu  überlassen« 
Wichtiger  ist  für  unseren  Beweis  die  Thatsache,  dafs  die 
meisten  Zellen  imstande  sind,  aufserhalb  ihres  Zusammenhanges 
mit  dem  Gesamtorganismus  kürzere  oder  längere  Zeit  weiter- 
zuleben. Die  Lymphoidzellen  zeigen  auf  warmem  Objektträger 
ihre  Bewegungen  2 — 3  Stunden  lang.  Die  Samenfaden  bleiben, 
auf  den  weiblichen  Organismus  übertragen,  viele  Tage  lang 
lebens-  und  ftmktionsfähig,  auch  in  geeigneten  Lösungen  sind 
sie  haltbar.  Die  Samenfäden  des  Frosches  können  viermal 
nacheinander  ohne  Nachteil  einfrieren,  sie  leben  nach  Mante- 
6AZZA  in  den  in  die  Bauchhöhle  anderer  Frösche  überpflanzten 
Hoden  bis  70  Tage.^)  Schneidet  man  aus  der  Kachen- 
schleimhaut  eines  Frosches  ein  Stück  heraus  und  spannt  es 
auf  einen  Korkrahmen,  so  kann  man,  wenn  es  nur  vor  Ver- 
trocknung  geschützt  wird,  tagelang  die  Flimmerbewegung 
beobachten.  ''^  Das  aus  einem  lebenden  Tiere  herausgeschnittene 
Herz  ist  noch  stundenlang  thätig,  Skelettmuskeln,  vom  Körper 
getrennt,  können  noch  längere  Zeit  nachher  zur  Kontraktion 
erregt  werden.  Freilich  handelt  es  sich  hier  um  eine  Gruppe 
von  Zellen,  doch  darf  man  wohl  annehmen,  dafs  auch  die 
einzelne  Zelle,  falls  ihre  Isolierung  gelänge,  eine  gewisse, 
wenn  auch  kurze  Zeit  am  Leben  bliebe.  Besonders  interessant 
sind  die  Beobachtungen,  welche  bei  der  Transplantation  ge- 
macht werden.  Liunggeeen  ist  es  gelungen,  Epithelstückchen 
in  sterilem,  flüssigem  Serum  6  Monate  (!)  lang  lebensfähig  zu 
erhalten  und  teilweise  mit  Erfolg  zu  verpflanzen.^)  Beet 
konnte  enthäutete  Schwänze  und  Füfse  von  Ratten  noch  drei 
Tage,  nachdem  sie  abgeschnitten  waren,  unter  die  Rückenhaut 
einheilen.  Dieselben  wuchsen  sogar  in  ihren  knöchernen 
Partien.*)  Man  hat  Kaninchen  die  Ovarien  exstirpiert  und 
an  eine  andere  Stelle  des  Peritoneums  übertragen  mit  dem 
Erfolge,   dafs  trotzdem  Gravidität  und  Geburt  am  normalen 


^)  LAin>ois,  Lehrbuch  der  Physiologie,  3.  Aufl.  1883,  S.  951. 
2)  Vbrworn,  Allgemeine  Physiologie,   2.  Aufl.,  Jena  1897,  S.  398. 
2)  Nach  J.  Wbntschbr,  Centralblatt  für  Chirurgie  1898,  No.  1. 
*)  Landois,  a,  a.  0.  S.  688. 


Die  Zelle  als  Indiyidaum.  421 

Ende  der  Schwangerschaft  eintrat.^)  Selbst  vom  Tier  auf 
den  Menschen  wurden  Überpflanzungen  erfolgreich  vorge- 
nommen.^) Am  deutlichsten  aber  erweist  sich  die  Fähigkeit 
der  Zelle,  unabhängig  vom  Gesamtorganismus  eine  Zeit  lang 
weiter  zu  leben,  im  Tode.  Derselbe  ist  nicht  Sache  eines 
Augenblickes,  sondern  die  Zellen  sterben  nach  und  nach  inner- 
halb eines  beträchtlichen  Zeitraumes.  Angenommen,  die  Todes- 
ursache sei  ein  Erlahmen  der  Herzkraft,  so  ist  die  erste  Folge 
das  Aufhören  der  Blutcirkulation.  Nun  wird  also  den  Organen 
keine  neue  Nährflüssigkeit  und  kein  frischer  Sauerstoff  mehr 
zugeführt.  Dadurch  müssen  sie  verhungern  und  ersticken. 
Aufserdem  werden  die  durch  die  Lebensthätigkeit  entstehenden 
Stoffwechselprodukte  nicht  weggeschafft,  so  dafs  eine  Art 
innerer  Vergiftung  den  Tod  beschleunigt.  Trotzdem  leben 
manche  Zellen  noch  viele  Stunden  lang.  Sehr  bald  stirbt  das 
Gehirn,  etwas  später  das  Rückenmark,  noch  später  die  Nerven- 
stämme. Am  längsten  behalten  die  sympathischen  Fasern 
ihre  Reizbarkeit,  so  am  Darm  bis  10  Stunden.  Die  ver- 
schiedenen Muskeln  bewahren  ihre  Erregungsfähigkeit  ver- 
schieden lange  Zeit,  z.  B.  die  Gesichts-  und  Zungenmuskeln 
bis  zu  drei,  die  Stammmuskehi  bis  zu  sechs  Stunden  p.  m.^) 
Die  Flimmerepithelien  der  Luftwege  können  durch  Neutralisation 
lähmender  Säuren  noch  24  Stunden  nach  dem  Tode  des  Körpers 
zu  erneuter  Flimmerthätigkeit  erweckt  werden  (Vibchow). 
Auf  Grund  derartiger  und  vieler  anderer  Beobachtungen 
wird  man  sich  unschwer  entschliefsen,  die  Körperzelle  als 
ein  besonderes  Lebewesen,  als  eine  Individualität  im  biologischen 
Sinne  anzusehen. 

§  4.   Selbständigkeit  der  Funktion  der  Zelle, 
a)  Die  Funktion  der  Zelle  im  Verhältnis  zu  der  des  Gesamt- 
organismus. 
Das  ganze  Getriel)e  des  Organismus   steht   unter   dem 
Einflüsse  des  Nervensystems.    Jedoch  erstreckt  sich  derselbe 

1)  E.  Knaukb,  Centralblatt  für  Gynäkologie  1898,  No.  8. 
')  LAin>ois,  a.  a.  0.  S.  469. 
>)  Ebendaselbst  S.  572. 


422  August  Dunges: 

vor  allem  auf  die  Organe  und  Organteile ;  die  Zelle  als  solche 
unterliegt  ihm  zwar  auch  in  der  Regel,  aber  nicht  unbedingt 
und  immer.  Schon  für  das  Nervensystem  selber  besteht  die 
Möglichkeit,  dafs  Teile  desselben  aus  dem  übrigen  Zusammen- 
hange losgelöst  für  sich  funktionieren  (Ganglienzellen  des 
herausgeschnittenen  Herzens;  Bückenmark  nach  Entfernung 
des  Gehirns).  Vom  Rückenmark  wurde  bei  einem  Hunde  der 
Brust-  und  Lendenteil  entfernt,  gleichwohl  gingen  in  dem 
rückenmarkslosen  Eörperabschnitte  alle  für  die  Erhaltung  des 
Lebens  unentbehrlichen  Punktionen  in  ausreichendem  Mafse 
von  statten.^)  Gänzlich  unabhängig  von  nervösen  Impulsen 
ist  die  amöboide  Bewegung  und  Diapedese  der  Blutkörperchen, 
die  Fortbewegung  des  Samens  in  der  Vagina,  wahrscheinlich 
auch  die  Wanderung  des  Eies  nach  dem  Uterus.  Durch  die 
Schnittversuche  Engelmanns  am  ausgeschnittenen  Herzen  ist 
erwiesen,  dafs  die  Erregung,  welche  die  fortschreitende  Kon- 
traktion zur  Folge  hat,  nicht  durch  Nervenbahnen,  sondern 
durch  die  kontraktile  Masse  selber  fortgeleitet  wird.^  Das- 
selbe nimmt  Engelmann  auch  für  die  Darm-  und  üreteren- 
muskulatur  an.  Die  „paralytische  Speichelsekretion"  erfolgt 
nach  Durchschneidung  aller  die  Drüse  versorgenden  Nerven. 
Viele  Zellen  funktionieren  auch  noch  nach  gänzlicher  Los- 
trennung vom  Körper  (Lymph-,  Samenkörperchen,  Flimmer- 
epithelien). 

b)  Die  Veränderlichkeit  der  Zellfunktion. 

Die  Zelle  kann  durch  Übung  und  vermehrte  Blutzufuhr 
eine  quantitative  Änderung  ihrer  Leistungsfähigkeit  erfahren, 
so  dafs  sie  unter  besonderen  Umständen  geeignet  wird,  die 
Funktion  zu  Grunde  gegangener  gleichartiger  Zellen  mit  zu 
übernehmen  („vikariierende  Thätigkeit").  Aufserdem  ist  aber 
auch  eine  qualitative  Änderung  der  Zellfunktion  möglich. 
Wenn  die  Hydra,    ein  Süfswasserpolyp,    der   annähernd  die 


1)  PplPgers  Archiv,  Band  63:  F.  Goltz  u.  J.  R.  Ewald,  Der  Hund 
mit  Terklirztem  Bückenmark. 

^)  Landois,  a.  a.  0.  S.  104. 


J 


Die  Zelle  als  Individuum.  423 

Form  eines  Handschuhfingers  hat,  von  innen  nach  aufsen 
gestülpt  wird,  so  atmen  die  nach  anfsen  gekehrten  Verdauungs- 
zellen, während  die  Atmungszellen  die  Verdauung  übernehmen.  ^) 
Unter  den  Fischen  zeigen  die  Schlammpitzger,  zumal  wenn 
es  ihnen  an  Wasser  gebricht  und  sie  sich  im  Schlamm  ein- 
wühlen, eine  Darmatmung,  indem  sie  an  der  Oberfläche  des 
Wassers  Luft  verschlucken,  im  Darm  daraus  den  Sauerstoff 
entnehmen  und  sie  schliefslich  kohlensäurereich  durch  den 
After  wieder  entleeren.^  Die  Protospongia  Haeckelii,  eine 
Kolonie  von  Geifselinfusorien,  welche  durch  eine  gallertige 
Masse  zusammengehalten  werden,  hat  inmitten  der  Gallertmasse 
amöboide,  am  Rande  Wimperzellen  („Kragengeifselzellen")- 
Die  amöboiden  Zellen  haben  nun  die  Fähigkeit,  an  die  Ober- 
fläche zu  wandern,  und  entwickeln  sich  dann  ebenfalls  zu 
Kragengeifselzellen.  ^  Es  ist  natürlich,  dafs  bei  den  höheren 
Organismen  schon  der  eigenartige  Bau  der  Organe  einer  weit- 
gehenden funktionellen  Änderung  im  Wege  steht;  gleichwohl 
ist  auch  hier  die  Zelle  nicht  streng  an  ihre  specifische  Thätig- 
keit  gebunden.  So  sei  nur  an  die  vielfachen  Metamorphosen, 
welche  das  Bindegewebe  eingehen  kann,  erinnert.  *)  Bezüglich 
der  Sinnesorgane  hat  sich  jetzt  als  herrschende  Ansicht  die 
herausgebildet,  dafs  nur  der  eigenartige  Bau  des  Aufiiahme- 
organes  und  die  im  Gehirn  während  des  Lebens  durch  Übung 
entstandene  ftinktionelle  Anpassung  an  den  durch  das  be- 
treffende Sinnesorgan  übermittelten  und  modifizierten  Reiz  die 
Ursachen  für  den  verschiedenartigen  Sinneseindruck  darstellen. 
Also  nicht  eine  Verschiedenartigkeit  der  Zellen  selbst,  sondern 
nur  eine  verschiedene  Anordnung  von  Zellen  ist  hier  das 
Entscheidende.  Wir  sehen  nur  deshalb  nicht  mit  dem  Ohre, 
weil  Trommelfell  und  Gehörknöchelchen  nicht  imstande  sind, 
die  Ätherwellen  in  gehöriger  Litensität  fortzuleiten.    Wären 


^)  Nach  Dabwin,  Entstehung  der  Arten.  Deutsch  von  Hask,  Leipzig, 
Eeclam,  S.  243. 

2)  Lanüois,  a.  a.  0.  S.  265. 

8)  Vbbworw,  a.  a.  0.  S.  582. 

*)  Ausführliches  siehe  bei  0.  Hebtwig,  Die  Zelle  und  die  Gewebe, 
II,  S.  200  ff. 


424  August  Dunges: 

sie  es  imstande,  so  würde  sich  das  Endorgan  der  Nerven  im 
Gehirn  dem  Eeize  angepafst  haben  and  dafür  aufnahmefähig 
geworden  sein.  Überhaupt  kommt  Wundt^)  hinsichtlich  der 
centralen  Funktion  zu  folgenden  wichtigen  Sätzen;  „Kein 
Element  vollbringt  specifische  Leistungen,  sondern  die  Form 
seiner  Funktion  ist  von  seinen  Verbindungen  und  Beziehungen 
abhängig."  „Für  Elemente,  deren  Funktion  gehemmt  oder 
aufgehoben  ist,  können  andere  die  Stellvertretung  übernehmen, 
sofern  sich  dieselben  in  den  geeigneten  Verbindungen  befinden." 
Sprechen  somit  bedeutsame  Gründe  dafiir,  dafs  die  Zellen 
überhaupt  befähigt  sind,  im  Laufe  ihres  Daseins  die  ihnen 
eigentümliche  Funktion  mit  einer  anderen  zu  vertauschen  und 
damit  selbstverständlich  auch  die  der  neuen  Funktion  ent- 
sprechende Organisation  anzunehmen,  so  liegt  anderseits  auch 
die  merkwürdige  Beobachtung  vor,  dafs  Zellen  unter  Um- 
ständen zur  embryonalen  Beschaffenheit  und  Funktion  sich 
zurückverwandeln.  So  äufsert  sich  Paul  Grawitz  über  die 
Gewebsveränderung  bei  der  Entzündung  etwa  folgendermafsen :  ^ 
„In  der  Grundsubstanz  der  Gewebe  sind  zellenwertige  Elemente 
enthalten,  da  bei  der  embryonalen  Entwicklung  Zellen  unter 
Aufgabe  ihrer  Gestalt  und  der  chemischen  Eigenschaften  ihres 
Kernes,  aber  unter  Beibehaltung  ihrer  Lebensfähigkeit  und 
der  Möglichkeit,  wieder  in  den  zelligen  Zustand  zurückzukehren, 
in  dieselbe  übergehen."  ....  „Es  bewährt  sich  somit  als 
durchgehendes  Gesetz,  dafs  die  fertigen  Gewebe  eine  Umkehr 
durchmachen,  welche  sie  mehr  oder  minder  weit  in  einen 
zelligen  Zustand  zurückführt,  ähnlich  demjenigen,  aus  welchem 
sie  in  früher  Zeit  der  Entwicklung  einmal  hervorgegangen 
sind."  Auch  Ranviee^)  kommt  zu  dem  Schlüsse,  dafe  die 
Entzündung  die  Gewebe  wieder  in  den  embryonalen  Zustand 
versetzt.  Wenn  man  sich  dieser  Auffassung  der  Entzündungs- 
vorgänge anschliefst,  so  erscheint  auch  die  Beobachtung,  dafs 
gewisse  Geschwülste,    zumal  die  entzündlichen  Granulations- 


^)  Grundztige  I,  S.  235. 

2)  Archiv  für  klinische  Chirurgie,  Bd.  XLIV,  S.  502. 

3)  Münchener  medizinische  Wochenschrift  1896. 


Die  Zelle  als  Individuum.  425 

geschwülste,  embryonalen  Bau  besitzen,  in  einem  besonderen 
Lichte.  Es  gewinnt  den  Anschein,  als  ob  die  Zellen,  sobald 
sie  infolge  irgend  einer  Störung  eine  besondere  Funktion  für 
den  Organismus  nicht  mehr  zu  erfüllen  haben  oder,  aus  dem 
Zusammenhange  mit  dem  Ganzen  losgerissen,  nicht  mehr  er- 
füllen können,  zu  der  rein  in  Wachstum  und  Vermehrung 
bestehenden  ursprünglichsten  embryonalen  Funktion  zurück- 
kehren. —  Nach  alledem  müssen  wir  uns  schliefslich  dahin 
entscheiden,  den  sämtlichen  Zellen  eines  Organismus  gemäfs 
ihrer  Abstammung  von  ein  und  derselben  Urzelle  eine  prin- 
zipielle Gleichwertigkeit  zuzuerkennen.  Den  Grundtypus  bildet 
die  amöboide  Zelle.  Das  Eikörperchen  hat  amöboiden  Cha- 
rakter, am  Cylinderepithel  der  Darmzotten  befinden  sich 
Protoplasmafortsätze,  welche,  den  Pseudopodien  der  Amöbe 
vergleichbar,  das  feinkörnige  Fett  erfassen  und  in  den  Zellen- 
leib hineinziehen.  Eine  Ähnlichkeit  und  auch  wohl  innere 
Verwandtschaft  mit  diesen  Protoplasmafortsätzen  haben  die 
Härchen  der  Flimmerepithelien,  der  Schwanz  des  Samenfadens, 
die  Fortsätze  mancher  Bindegewebszellen  (die  sternförmigen 
Pigmentzellen  mancher  niederen  Wirbeltiere  zeigen  ein  zwar 
langsames,  aber  unverkennbares  lebendiges  Zusammenziehungs- 
vermögen),^)  vielleicht  auch  die  Zahnung  der  Riffzellen  im 
Stratum  Malpighii  der  Haut  und  —  die  Fortsätze  der  Nerven- 
zellen. LUPINE  und  DuvAL  haben  die  Hypothese  aufgestellt, 
„dafs  die  Neurone  im  Zustande  funktioneller  Thätigkeit  sich 
ausdehnen,  um  in  physiologische  Berührung  mit  solchen  anderen 
Neuronen  zu  kommen,  die  wesentlich  an  einer  besonderen 
Funktion  Anteil  haben". ^)  In  der  That  konnte  Demoob  an 
Nervenzellen  deutliche  Kontraktionserscheinungen  entsprechend 
den  an  den  Pseudopodien  von  Rhizopoden  zu  beobachtenden 
direkt  nachweisen.  ^)  Die  Amöbe  selbst  hat  eine  proteusartige 
VerWandlungsfähigkeit,  so  „dafs  die  verschiedenen  Amöben- 
formen, die  man  nach  der  Gestalt  der  Pseudopodien  zu  unter- 


^)  Nach  Frey,  Grundzüge  der  Histologie,  1.  Aufl.,  S.  59. 

2)  Centralblatt  für  Nervenheilkunde  und  Psychiatrie  1897,  No.  XII. 


I  3)  Vebwokn,  a.  a.  0.  S.  383. 


426  AugnBt  Dunges: 

scheiden  pflegt,  durchaus  nicht  immer  als  besondere  Arten  im 
Sinne  der  Systematik  aufgefafst  werden  dürfen".^)  Da  es 
auch  Pflanzenzellen  giebt,  welche  amöboide  Bewegung  besitzen, 
so  scheint  im  Pflanzenreiche  ebenfalls  die  Amöbe  den  Grundtypus 
der  Zelle  darzustellen.  Wir  kommen  schliefslich  dazu,  in  allen 
Zellen  aller  Wesen  einander  verwandte  Gebüde  zu  sehen, 
eüie  Auffassung,  welche  mit  der  Evolutionstheorie  von  Lamabck- 
Darwin  aufs  beste  übereinstimmt.  Die  Punktion  und  die  ihr 
entsprechende  Organisation  aber  halten  wir  nicht  für  etwas, 
was  der  Zelle  ein  für  allemal  unabänderlich  aufgeprägt  ist, 
sondern  wir  halten  beides  für  veränderlich.  Die  Zelle  nimmt 
diejenige  Funktion  an,  welche  ihr  im  Zellenstaate  nach  dem 
Prinzip  der  ArbeitsteUung  zugewiesen  wird.  Die  Arbeitsteüung 
aber  ergiebt  sich  mit  Notwendigkeit  aus  der  Staatenbildung 
von  selbst. 

Die  ursprüngliche  Funktion  der  aus  der  Sameneizelle  hervor- 
gegangenen Zellen  ist  die  Vermehrung  unter  gleichzeitiger  Beibehaltung 
des  Zusammenhangs.  In  einem  gewissen  Stadium  dieser  fortschreitenden 
Vermehrung  ist  die  Morulaform  am  günstigsten,  weil  dabei  alle  Zellen 
aus  dem  sie  umgebenden  Nahrungsdotter  ihre  Nahrung  entnehmen  können. 
Aber  weiterhin  genügt  diese  Art  der  Gruppierung  nicht  mehr.  Es  sind 
im  Innern  Zellen  entstanden,  welche  mit  der  Oberfläche  keine  direkte  Be- 
rührung mehr  haben,  und,  damit  auch  sie  mit  Nahrung  versorgt  werden 
können,  mufs  das  Ganze  sich  schlauchförmig  gestalten  („Gastrula").  Natur- 
gemäfs  werden  sich  aus  dem  mit  der  AuTsenwelt  in  Berührung  stehenden 
Ektoderm  die  Sinnesorgane  herausbUden,  während  das  Entoderm  die  Funktion 
d^r  Ernährung  behält  und  nachträglich  Organe  aus  sich  entstehen  läfst, 
deren  Aufgabe  es  ist,  die  festflüssige  und  luftförmige  Nahrung  aufzunehmen, 
in  eine  geeignete  Form  umzuwandeln  und  sie  dem  Organe  der  inneren 
Ernährung,  dem  Blutgefäfssystem,  zuzuführen.  Dieses  letztere  geht  aus 
dem  Mesoderm  hervor,  indem  die  infolge  weiterer  Vermehrung  zwischen 
jenen  beiden  Keimblättern  entstandenen  Zellen  ihre  Nahrung  nicht  mehr 
direkt  empfangen  können  und  deshalb  Lücken  lassen,  durch  welche  der 
Nährsaft  hindurchfliefsen  kann.  Jedoch  kommen  neben  dem  durch  die 
Notwendigkeit  der  Arbeitsteilung  geübten  Zwange  noch  andere  Faktoren 
bei  der  Entstehung  des  Organismus  und  der  Ausbildung  der  Funktionen 
in  Betracht.    Ihre  Erörterung  kann  erst  später  erfolgen. 

Jede  Zelle  hat  ihre  besondere  Lebensgeschichte,  welche 
allerdings  mit  der  des  Gesamtorganismus  in  einem  gewissen 
Zusammenhange   steht.    Die  Entwicklung   der  Funktion   ist 


^)  Verwohn,  a.  a.  0.  S.  189. 


Die  Zelle  als  IndiTiduum.  427 

wesentlich  eine  Folge  der  an  die  Zelle  mit  fortschreitender 
Entwicklung  des  Organismus  herantretenden  Aufgaben. 

Diese  Auffassung  steht  in  einem  Gegensatze  zu  der  von  Wbismann 
u.  a.  ausgebildeten  sogenannten  Mosaiktheorie  und  schliefst  sich  der  Theorie 
der  Biogenesis  von  Hebtwio  anJ)  Nach  Wbishann  mufs  die  Funktion 
der  Zellen  als  eine  schon  in  der  Sameneizelle  prädestinierte  angesehen 
werden,  während  die  Lehre  Hebtwigs  den  Lebensschicksalen  der  Zelle 
einen  Einflufs  auf  die  Gestaltung  ihrer  Funktion  einräumt.  Es  würde  zu 
weit  führen,  hier  die  Gründe  zu  entwickeln,  welche  gegen  die  Mosaik- 
theorie sprechen,  und  darf  wohl  dieserhalb  auf  das  Buch  von  Oskak  Hebtwio, 
„Die  Zelle  und  die  Gewebe",  verwiesen  werden.  Nur  möchte  ich  ausserdem 
noch  hervorheben,  dafs  auch  die  Fähigkeit  der  Eegeneration  mit  der 
Mosaiktheorie  unvereinbar  erscheint.  Wie  will  man  sich  die  Wiederer- 
neuerung ganzer  Gliedmafsen  und  selbst  der  Augen  bei  Schnecken  und 
Salamandern  erklären,  wenn  man  annimmt,  dafs  diese  Körperabschnitte 
aus  ganz  bestimmten  Teilen  der  Urzelle  hervorgegangen  sind?  Jene  Ur- 
zellenteile  würden  doch  sicher  in  dem  fertigen  Organ  oder  Körperteil  völlig 
aufgegangen  und  mit  seinem  Verluste  auf  immer  verloren  sein.  Es  ist 
auch  gar  nicht  notwendig,  mit  Nussbaum^)  anzunehmen,  dafs  die  Zellen, 
welche  Geschlechtszellen  werden,  sich  sehr  früh  von  den  übrigen  absondern. 
Sogar  die  Möglichkeit  mufs  zugegeben  werden,  dafs  Zellen,  die  schon  eine 
Zeit  lang  anders,  etwa  als  Epithel  oder  Neuron,  fungiert  haben,  sich 
nachher  in  Geschlechtszellen  umwandeln,  wenn  es  auch  thatsächlich  nur 
bei  niederen  Tieren  vorkommen  mag.  So  sind  die  Zellen,  aus  denen  bei 
der  Knospung  das  neue  Individuum  hervorgeht,  ursprünglich  gar  nicht 
Geschlechtszellen,  und  doch  läfst  sich  das  Erzeugnis  der  Knospe  von  dem 
aus  dem  Ei  hervorgegangenen  desselben  Tieres  in  keiner  Weise  unterscheiden. 

c)  Die  Ursachen  der  Zellfunktion. 
Die  Thätigkeit  der  Zelle  wird  gern  mit  der  Energie- 
entwicklnng  eines  zur  Explosion  gebrachten  chemischen  Körpers 
oder  Gemisches  (Nitroglycerin,^)  Pulver)  verglichen.  Doch 
besteht  ein  wesentlicher  Unterschied  darin,  dafs  die  Zelle  auf 
den  äufseren  Anstofs  hin  nicht  ihre  ganze  Kraft  auf  einmal 
in  Aktion  setzt,  vielmehr  genug  übrig  behält,  um  ein  zweites 
Mal  und  noch  öfter  in  Thätigkeit  zu  treten.  Die  Zelle  hemmt 
sich  offenbar  selbst,  bevor  es  zum  völligen  Kraftverbrauche 
kommt.  Gegen  empfindliche  oder  rasch  aufeinander  folgende 
Reize  nimmt  sie  diejenige  Form  an,  welche  weiteren  Angriffen 
die  geringste  Fläche  darbietet.    Die  Lymphkörperchen  nehmen 

1)  0.  Hbetwig,  Die  Zelle  und  die  Gewebe,  II,  S.  91  ff. 

3)  Vergl.  Weismawn,  Aufsätze  über  Vererbung,  Jena  1892,  S.  235. 

3)  M.  Vbrworn,  a.  a.  0.  S.  127. 


428  August  Dunges: 

Kugelform  an,  die  Samenzelle  rollt  sich  auf,  der  Muskel  ver- 
fällt in  Tetanus.  Man  möchte  fast  den  Vergleich  ziehen  mit 
dem  Igel,  der  sich  zusammenrollt,  oder  dem  Hunde,  der  vor 
seinem  Bedroher  sich  kauert.  In  anderen  Fällen  sehen  wir 
jedoch,  dafs  die  äufsere  Einwirkung  eine  gesteigerte  Thätig- 
keit  zur  Folge  hat.  So  wird  die  Thätigkeit  der  Flimmerhaare 
durch  den  galvanischen  Strom  zu  gröfserer  Geschwindigkeit 
gesteigert  (Engelmann),  ^)  indem  besonders  die  Frequenz  und 
die  Amplitude  des  Wimperschlages  und  damit  der  Nutzeffekt 
beeinflufst  wird.  Wie  für  die  amöboiden  Zellen  die  Kugelform, 
so  ist  für  die  Flimmerzellen  gesteigerte  Flimmerthätigkeit  die 
beste  Art  der  Abwehr.  Femer  reagiert  die  Zelle  nicht  einfach 
mechanisch  auf  veränderte  äufsere  Bedingungen  mit  ihrer  ge- 
wohnten Thätigkeit,  sondern  sie  ist,  wie  die  Veränderlichkeit 
der  Funktion  beweist,  imstande,  sich  diesen  anzupassen,  um 
auch  unter  ungünstigen  Verhältnissen  weiter  existieren  zu 
können.  Sie  dient  getreu  dem  Organismus,  der  ihr  in  der 
Blutbahn  die  nötigen  Existenzmittel  bietet,  und  sie  erfüllt  die 
ihr  anerzogene  Funktion  so  lange,  als  die  Befehle  des  Or- 
ganismus sie  dazu  anspornen.  Aber  die  Zelle  will  vor  allem 
leben  und  sich  fortpflanzen,  auch  bei  ihr  sind  schon  Hunger 
und  Liebe  die  mächtigsten  Triebfedern  ihres  Thuns,  und  so 
geht  sie  unter  veränderten  äufseren  Bedingungen  wenn  mögUch 
zu  einer  anderen  Funktion  über.  (Dies  Vermögen  der  An- 
passung ist  für  die  ganze  organische  Welt  von  der  gröüsten 
Bedeutung.  Acclimatisation  und  Immunität  beruhen  wenigstens 
zum  Teil  darauf,  und  auch  die  Überwindung  von  Krankheiten 
ist  wohl  nur  dadurch  möglich,  dafs  die  Zellen  Veränderungen 
eingehen,  welche  ihnen  entweder  eine  bessere  Abwehr  oder 
eine  schnellere  Ausscheidung  der  Giftstoffe  [Toxine]  ermög- 
lichen. Auch  an  arzneiliche  Gifte  kann  mit  der  Zeit  eine 
Gewöhnung  eintreten,  welche  direkt  zu  der  Annahme  zwingt, 
dafs  in  den  Zellen  selbst  ihre  Ursache  gelegen  ist.)  Diese 
Fähigkeit  der  Zelle,  unter  dem  Drucke  neuer  Verhältnisse 
Veränderungen  einzugehen,   ist  nicht  nur  für  die  Erhaltung 

^)  M.  Vebworn,  a.  a.  0.  S.  428. 


Die  Zelle  als  IndlYiduum.  429 

des  Individuums,  sondern  auch  für  die  Entstehung  neuer  Arten 
von  grofser  Bedeutung.  Der  Selbsterhaltungstrieb  der  Zellen, 
auf  diese  Weise  begünstigt,  wird  zu  einem  wesentlichen  Faktor 
für  die  Entwicklung  der  organischen  Welt,  und  die  Zweck- 
mäfsigkeit  der  Naturbildungen  gewinnt  dadurch,  dafs  sie  mit 
der  Anpassung  von  Mikroorganismen  in  Zusammenhang  ge- 
bracht wird,  eine  brauchbarere  Erklärung,  als  sie  unter  der 
Bezeichnung  der  „Teleologie"  gegeben  zu  werden  pflegt. 

Bei  gewissen  Formen  von  Zellthätigkeit  läfst  sich  nun 
aber  mehr  oder  weniger  deutlich  nachweisen,  dafs  die  An- 
regung dazu  nicht  von  aufsen  erfolgt,  sondern  aus  der  Zelle 
selbst  hervorgeht.  Die  Ernährung  könnte  als  ein  chemisch-, 
physikalischer  Vorgang  angesehen  werden,  und  dafs  solche 
Vorgänge  bei  der  Assimilation,  d.  h.  der  Umwandlung  der 
Nährstoffe  in  Körpersubstanz,  beteiligt  sind,  ist  unzweifelhaft. 
Aber  das  schliefst  nicht  aus,  dafs  bei  der  Aufiiahme  der 
Nahrung  die  Zelle  aktiv  bethätigt  sei.  Die  amöboiden  Be- 
wegungen der  Lymphzellen  haben  doch  wohl  vorwiegend  den 
Zweck,  Nahrung  zu  suchen  und  dem  Körper  einzuverleiben 
(vergl.  Phagocytose),  und  wenn  bei  der  Mehrzahl  der  Zellen 
ein  entsprechender  Vorgang  nicht  zur  Beobachtung  gelangt, 
so  liegt  es  daran,  dafs  ihnen  durch  die  Einrichtung  des  Blut- 
kreislaufes die  Gewinnung  der  Nahrung  höchst  bequem  ge- 
macht ist  und  dieselbe  auch  eine  Beschaffenheit  besitzt,  welche 
besondere  Bewegungen  zur  Einverleibung  (etwa  ein  Umfliefsen 
nach  Art  mancher  Infusorien)  erübrigt.  Aber  auch  so  läfst 
sich  eine  aktive  Beteiligung  der  Zelle  wenigstens  insofern 
annehmen,  als  sie  befähigt  ist,  aus  der  dargebotenen  Nähr- 
lösung das  für  sie  Passende  auszuwählen.  Wäre  diese  Aus- 
wahl ein  passiv-chemischer  Vorgang,  so  müfste  man  erwarten, 
dafs  die  Art  der  aufgenommenen  und  ausgeschiedenen  Sub- 
stanzen immer  dieselbe  bliebe,  wodurch  die  Möglichkeit  einer 
Funktionsänderung,  welche  auch  eine  Emährungsänderung  in 
der  Regel  bedingen  wird,  fast  als  ausgeschlossen  zu  betrachten 
wäre.  Vor  allem  spricht  aber  auch  gegen  jene  Annahme  die 
Anpassungsfähigkeit   der  Zelle   gegenüber   giftigen  Körpern, 


430  August  Dunges: 

wobei  der  Selbsterhaltungstrieb  wieder  zur  Geltung  kommt. 
Ist  es  nun  für  die  Wanderzellen,  deren  Thätigkeit  ein  Autor  ^) 
in  die  Worte  kleidet  „sie  fressen  und  marschieren",  so  gut 
wie  sicher,  dafs  sie  ihre  Nahrung  aktiv  ergreifen,  für  die 
anderen  Zellen  wenigstens  in  gewissem  Sinne  wahrscheinlich 
und  um  so  wahrscheinlicher,  wenn  man  auf  die  gemeinsame 
Abstammung  der  Zellen  Rücksicht  nimmt  und  dabei  die  An- 
nahme gelten  läfst,  dafs  fixe  Zellen  unter  gewissen  Umständen 
zu  Wanderzellen  werden  können,  so  besteht  immer  noch  die 
Möglichkeit,  dafs  der  Emährungs Vorgang  insofern  einer  äufseren 
Einwirkung  zuzuschreiben  ist,  als  eine  Reizwirkung  dabei 
stattfindet.  Jedoch  kommt  ein  Reiz  offenbar  nur  dann  zustande, 
wenn  eine  Änderung  der  normalen  Verhältnisse  eintritt.  Den 
Sauerstoff  der  Luft,  den  wir  16 — 20  mal  in  der  Minute  ein- 
ziehen, können  wir  nicht  als  ein  Reizmittel  betrachten ;  wenn 
aber  bestimmte  Veränderungen  in  der  Zusammensetzung  der 
Luft  vorliegen  (stärkerer  Ozonreichtum,  Ammoniakgehalt  etc.), 
so  wirken  diese  als  Reiz.  Darum  mögen  wohl  für  die  ZeUe 
veränderte  Ernährungsbedingungen,  z.  B.  Gifte  oder  auch  ein 
verstärkter  Blutzuflufs,  als  Reiz  zur  Geltung  kommen,  aber 
für  die  regelmäfsige  Zellemährung  ist  bei  der  sich  im  grofsen 
und  ganzen  gleich  bleibenden  Beschaffenheit  der  Nährlösung 
eine  Reizwirkung  nicht  anzunehmen. 

Wie  die  Ernährung,  so  hängen  auch  Wachstum  und 
Vermehrung  der  Zelle  in  erst^  Linie  von  der  Blutzufuhr  ab, 
und  insofern  ist  die  Zelle  passiv  beteiligt.  Jedoch  kann  auch 
die  Blutzufuhr  von  den  Zellen  beeinfluist  werden,  indem  ge- 
steigertes Wachstum  eines  Organes  stärkere  Nahrungszufuhr 
nach  sich  zieht.  Jedenfalls  spricht  die  ganze  Natur  der  bei 
der  Zellteilung  sich  abspielenden  Vorgänge,  wobei  sich  zudem 
viele  Analogien  zwischen  Körperzellen  und  einzelligen  Wesen 
finden,  dafür,  dafs  die  Anregung  dazu  aus  der  Zelle  selbst 
hervorgeht.  Aufsere  Reize  können  wohl  einen  fördernden  oder 
hemmenden  Einflufs  ausüben.  So  kann  man  in  der  erhöhten 
Inanspruchnahme  eines  Organes   oder  in  der  stimuUerenden 

*)  Vergl.  H.  Frey,  Grundzüge  der  Histologie,  Leipzig  1875,  S.  10. 


Die  Zelle  als  Individuum.  431 

Wirkung  von  Giften,   in  der  reichlicheren  Zufuhr  von  Stoff- 
wechselprodukten (bei  der  vikariierenden  Thätigkeit)  „Wachs- 
tumsreize"   erkennen.    Aber   derartige   Einflüsse   sind  nicht 
unerläfsliche  Vorbedingung  der  Zellvermehrung.    Am  wichtig- 
sten ist  die  Höhe  der  Temperatur,   wobei   man   freilich   im 
Zweifel  sein  kann,  ob  man  eine  Eeizwirkung  der  Wärme  an- 
ztmehmen  oder  in  den  ungünstigen  Temperaturgraden  wachs- 
tumshemmende Reize  zu  sehen  habe.    Wenn   man  bedenkt, 
wie  sich  Organismen  und  Zellen  auch  der  Kälte  allmählich 
anzupassen  und  trotz  derselben  zu  wachsen  und  sich  zu  ver- 
mehren  vermögen,   wie   es   die   eigenartige  Vegetation   der 
Gletscher  beweist,   wenn  man  femer  in  Betracht  zieht,   dafs 
die  günstigste  Temperatur  für  das  Wachstum  eine  individuell 
verschiedene  ist,   so  wird  man  eine  gewisse  Selbständigkeit 
der  Zelle  gegenüber  den  Temperatureinflüssen  zugeben  müssen. 
Dafs  ein  bestimmter  Wärmegrad  am  günstigsten  ist.  Hegt  wohl 
daran,  dafs  der  zur  Assimilation  notwendige  Chemismus  sich 
dabei  am  leichtesten  vollzieht.    Nicht  ausgeschlossen  ist  aber 
auch  die  Möglichkeit,   dafs   die  Zelle,   um  jedesmal   diesen 
günstigsten  Grad  herbeizuführen,  in  den  ungünstigeren  Fällen 
eine   innere   Arbeit  leistet,    welche    einen    den   Stoffansatz 
schädigenden  Stoff-  und  Kraftverbrauch  bedingt.    Wir  kämen 
damit  zu  der  Ansicht,   dafs  der  Trieb,  zu  wachsen  und  sich 
zu  vermehren,  in  der  Zelle  zu  jeder  Zeit  vorhanden  ist,  und 
nur   die  Möglichkeit   seiner   stärkeren   oder  geringeren   Be- 
friedigung von  äufseren  Umständen  abhängt. 

Aber  nicht  blofs  Ernährung  und  Wachstum,  auch  sonstige 
Zellthätigkeit  dürfte  unabhängig  von  Reizen,  also  spontan, 
erfolgen  können.  Läfst  man  auf  Lymphzellen  Induktions- 
schläge einwirken,  so  werden  sie  durch  Einziehung  aller 
Fortsätze  rund;  sobald  der  elektrische  Schlag  vorbei  ist,  fangen 
sie  wieder  mit  ihren  amöboiden  Bewegungen  an.  ^)  Sie  funk- 
tionieren also,  ehe  der  Reiz  eintritt  und  nach  demselben,  auf 
den  Reiz  selbst  stellen  sie  ihre  Funktion  ein.  Es  ist  nicht 
anzunehmen,   dafs  sie  vor-  und  nachher  ebenfalls  unter  der 

^)  Landois,  a.  a.  0.  S.  33. 


432  August  Dunges: 

Einwirkung  eines  Reizes  stehen,  wenig:stens  sollte  man  denken, 
dafs  sie  gegen  alle  äufseren  Beize  sich  gleichmäfsig  verhalten 
würden.  Das  einzige,  woraus  sich  diese  amöboiden  Bewegungen 
erklären  lassen,  ist  die  Annahme  eines  inneren  Antriebes,  dem 
nun  Hunger  oder  das  Verlangen  nach  Orientierung  zu  Grunde 
liegen  mag.  Auch  in  anderen  Fällen  sehen  wir,  dafs  die 
Zellbewegung  dann  eintritt,  wenn  hemmende  Beize  beseitigt 
werden,  so  bei  den  Samenkörperchen  und  den  Flimmerepithelien, 
welche,  in  verdünnte  alkalische  Lösungen  gebracht,  durch 
Neutralisation  lähmender  Säuren  wieder  bewegungsfähig  werden. 
Die  Thätigkeit  des  herausgeschnittenen  Herzens  mufs  als  eine 
spontane  angesehen  werden.  Wenn  Beize  darauf  einwirken, 
so  schlägt  es  zwar  energischer,  kommt  aber  auch  früher  zur 
Buhe.  Am  wichtigsten  ist  für  seine  Thätigkeit  eine  genügende 
Ernährung.  Daher  schlägt  es  länger  in  Nährlösungen,  z.  B. 
Milch,  Serum,  als  in  indifferenter  Kochsalzlösung,  länger  in 
sauerstoffhaltiger  Luft,  als  in  anderen  Gasen.  ^) 

§  5.   Über  das  Vorhandensein  einer  Zellpsyche. 

Nachdem  nunmehr  gewichtige  Gründe  beigebracht  wurden, 
um  eine  aus  eigenem  Antriebe  erfolgende  Thätigkeit  der 
Körperzelle  zu  erweisen,  wenden  wir  uns  demjenigen  Teile 
der  Untersuchung  zu,  welcher  die  für  die  Annahme  einer 
Zellpsyche  direkt  zu  verwertenden  Schlüsse  und  Beobachtungen 
umfafst.    Hierzu  dienen  als  Grundlage: 

a)  die  vergleichende  Psychologie, 

b)  die  psychogenetische  Wissenschaft, 

c)  direkte  Beobachtungen  von  psychischer  Thätigkeit  an 

Zellen  oder  Zellgruppen. 

a)  Die  Frage,  ob  das  Tier  im  allgemeinen  ein  mit  Ich- 
bewufstsein  begabtes  Wesen  ist,  werden  wir  getrost  bejahen 
dürfen.  Man  ist  zwar  in  der  Zeit  vor  Dabwin  vielfach  anderer 
Ansicht  gewesen  (vergl.  Kant,  Anthropologie,  §  1),  jedoch 
wird  man  jetzt  auf  Grund   der   durch  die  Evolutionstheorie 


1)  Landois,  a.  a.  0.  S.  107. 


Die  Zelle  als  Individuum.  433 

gewonnenen  Erkenntnis  zwischen  der  tierischen  und  mensch- 
lichen Psyche  nur  einen  gradweisen  Unterschied  anzunehmen 
berechtigt  sein.  Ein  Bewufstsein  ohne  Selbstbewufstsein,  wie 
man  es  den  Tieren  zusprechen  wollte,  ist  etwas,  was  wir  aus 
der  Erfahrung  überhaupt  nicht  kennen.  Denn  das  uns  aus 
der  Erfahrung  bekannte  eigene  Bewufstsein  enthält  eben  auch 
ein  Selbstbewufstsein.  Jene  des  letzteren  entbehrende  Art 
von  Bewufstsein  kann  also  nur  auf  Grund  einer  theoretischen 
Konstruktion  angenommen  werden.  Es  ist  aber  viel  wahr- 
scheinlicher, dafs  ein  qualitativer  Unterschied  im  Bewufstsein 
verschiedener  Wesen  überhaupt  nicht  existiert,  sondern  nur 
ein  quantitativer,  auf  den  Umfang  des  jeweils  vorliegenden 
Erfahrungsmateriales  sich  gründender.  Die  Einheitlichkeit 
unseres  Bewufstseins  ist  gerade  darin  begründet,  dafs  unsere 
sämtlichen  Erfahrungen  subjektiver  Natur  sind,  dafs  sie  in 
dem  Ich  ihren  Konzentrationspunkt  besitzen  und  dafs  die 
jeweilig  im  Bewufstsein  herrschenden  Vorstellungen  mit  dem 
Ich  in  irgend  einem  Zusammenhange  stehen.  Die  Auj&nerk- 
samkeit  vermag  nicht  lange  bei  einem  jBremden  Gegenstande 
zu  verweilen,  ohne  immer  wieder  auf  das  eigene  Ich  zurück- 
zukommen. Wenn  man  überhaupt  das  Bewufstsein  als  „inneres 
Sehen"  zu  dem  äufseren  Sehen  in  Gegensatz  und  Vergleich 
stellen  und  von  einem  Blickfelde  desselben  sprechen  darf,  so 
ist  es  wohl  gerechtfertigt,  zu  behaupten,  dafs  das  eigene  Ich 
immer  in  diesem  Blickfelde  sich  befindet,  auch  wenn  den 
Blickpunkt  ein  äufserer  Gegenstand  einnimmt.  Wir  werden 
bei  jeder  neuen  Erfahrung  uns  über  die  Bedeutung  derselben 
für  das  eigene  Ich  klar  zu  werden  suchen,  und  je  gröfser 
diese  Bedeutung  uns  vorkommt,  um  so  mehr  unsere  Aufinerk- 
samkeit  anspannen,  die  Erfahrung  desto  inniger  mit  unserem 
Ich  verbinden  und  sozusagen  in  uns  einverleiben.  Daher  unser 
Ich  uns  am  lebhaftesten  gegenwärtig  wird,  das  Selbstbewufst- 
sein am  stärksten  in  die  Erscheinung  tritt,  wenn  Vorteil  oder 
Schaden  für  das  Ich  in  Frage  steht  und  dadurch  Lust-  oder 
Unlustgefühle  erweckt  werden.  Alles  dies  wird,  wenn  auch, 
dem  geringeren  Helligkeitsgrade  des  Bewufstseins  gemäfs,  in 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXIU.  4.  29 


434  August  Dunges: 

vermindertem  Grade,  für  das  Tier  Geltung  haben.  Auch  das 
Tier  ist  ein  egoistisches  Wesen,  und  neue  Erfahrungen  werden 
sich  bei  ihm  im  allgemeinen  um  so  besser  einprägen,  je  mehr 
sie  zu  dem  eigenen  Ich  in  Beziehung  stehen.  Auch  beim 
Tiere  beobachten  wir  Freude  und  Trauer.  An  Hunden  sehen 
wir  deutlich  genug,  dafs  sie  empfangene  Wohlthaten  und 
Milshandlungen  im  Gedächtnis  au&ubewahren,  also  Erfahrung 
zu  sammeln  befähigt  sind.  Sie  unterscheiden  ihre  Wohlthäter 
von  ihren  Feinden  und  treffen  überhaupt  unter  Menschen  und 
Tieren  eine  Wahl,  aus  der  die  Befähigung  zu  individualisieren 
klar  hervorgeht.  Aus  diesen  Gründen  wird  man  das  Vor- 
handensein eines  wie  auch  immer  besthaflfenen  Ichbewufstseins 
bei  den  Tieren  überhaupt  anzunehmen  nicht  umhin  können. 

Etwas  anderes  ist  es  mit  der  Frage,  ob  es  innerhalb 
des  Tierreiches  eine  Grenze  giebt,  unterhalb  welcher  wohl 
noch  Leben,  aber  keine  Psyche  mehr  existiere,  und  femer, 
ob  die  Pflanzen  als  beseelte  Wesen  anzusehen  sind.  Tanzi^) 
stellt  die  Behauptung  auf,  in  der  Tierreihe  beginne  das  Be- 
wufstsein  mit  der  Umwandlung  der  gangliös-reflektorischen 
Organisation  in  die  centralistisch-individualistische.  Das 
Echinoderm  z.  B.  habe  kein  Bewufstsein.  Diese  Behauptung 
ist  an  sich  recht  willkürlich.  Zudem  müfste  nach  dem  hier 
aufgestellten  Prinzip  den  einzelligen  Wesen,  die  ja  auch  eine 
„centralistisch-individualistische  Organisation"  besitzen,  wieder 
ein  Bewufstsein  zugesprochen  werden,  was  doch  nicht  angeht, 
wenn  man  es  höher  organisierten  Tieren  abspricht.  In  der 
That  dürfte  ein  triftiger  Grund  für  die  Annahme  einer  solchen 
Grenze  nicht  vorliegen.  Wundt^)  kommt  zu  der  Schlufs- 
folgerung:  „Die  Lebensäufserungen  schon  der  niedersten 
Protozoen  sind  nur  unter  der  Voraussetzung  erklärlich,  dafs 
ihnen  ein  Bewufstsein  zu  Grunde  liegt,  welches  allein  in  dem 
Grade  seiner  Entwicklung  von  unserem  eigenen  verschieden 
ist",  und  an  einer  anderen  Stelle  äufsert  derselbe  Autor  sich 


')  Grenzen  der  Psychologie.    Centralblatt  fttr  Nervenheilkunde  und 
Psychiatrie  1898,  No.  2. 

2)  Grundzüge  I,  S.  23. 


Die  Zelle  als  Individuum.  435 

dahin :  ^)  „Das  Selbstbewufstsein  in  den  Anfängen  seiner  Ent- 
wicklung ist  ein  durchaus  sinnliches.  Es  besteht  aus  einer 
Reihe  sinnHcher  Vorstellungen,  die  nur  durch  ihre  Permanenz 
und  ihre  teilweise  Abhängigkeit  vom  Willen  sich  vor  anderen 
auszeichnen,  während  lebhafte  Grefühle,  namentlich  Gemein- 
geflihle,  ihre  Wirkung  verstärken.  Schon  bei  den  niedersten 
Tieren  sind  alle  Bedingungen  zur  Ausbildung  eines  solchen 
einfachen  Selbstbewufstseins  vorhanden".  Es  ist  auch  vom 
Standpunkte  der  Entwicklungstheorie  aus  nicht  recht  zu  ver- 
stehen, dafs,  nachdem  sich  schon  eine  Menge  verschieden- 
artiger, selbständiger  Wesen  aus  den  niedrigsten  nach  und 
nach  entwickelt  hatten,  nun  auf  einmal  auf  einer  bestimmten 
Stufe  als  etwas  ganz  neues  das  Ichbewufstsein  hinzugekommen  sei. 
Auch  fttr  die  Pflanze  wird  man  von  diesem  Gesichts- 
punkte aus  ein,  sei  es  auch  noch  so  dunkles,  Ichbewufstsein 
annehmen.  Tiere  und  Pflanzen  müssen  nach  der  Evolutions- 
theorie denselben  Ahnen  haben,  und  wenn  die  Ichheit  allen 
Gliedern  der  ganzen  Entwicklungsreihe  zugesprochen  wird, 
so  mufs  auch  jener  gemeinschaftliche  Ahne  dieselbe  besessen 
haben  und  sie  mufs  von  ihm  auf  die  Pflanzen  übergegangen 
sein.  Sehen  doch  auch  hervorragende  Physiologen  in  den 
Pflanzen  nichts  weiter  als  einseitig  entwickelte  Tiere.  Be- 
kanntlich sind  auf  den  niedrigen  Stufen  der  Wesenreihe  die 
Unterschiede  zwischen  Tier  und  Pflanze  vielfach  verwischt, 
so  dafs  wir  Eigenschaften,  die  für  jenes  als  charakteristisch 
angesehen  werden,  bei  di^ii^r  wiederfinden  und  umgekehrt. 
Auch  der  Mangel  eines  Nervensyst^aa^^i  der  Pflanze  bedeutet 
keinen  tiefgreifenden  Gegensatz.  Dennw^s^  auch  die  wesent- 
liche Funktion  desselben,  die  Übertragung  vöb^^eizen  an  eine 
Centralstelle,  wohl  kaum  im  Pflanzenreiche  verkneten  sein 
dürfte,  so  ist  die  Vorbedingung  dieser  Funktion,  die  Reizlö^tf^ 
keit,  auch  an  der  pflanzlichen  Zelle  vorhanden.  Man  kann  ^ 
wohl  sagen,  dafs  die  Zellen  der  Pflanzen  im  allgemeinen  die 
doppelte  Funktion  von  Nerven-  und  Drüsenzellen  behalten 
haben,  indem  sich  eine  Arbeitsteilung  nach  dieser  Richtung 

1)  A.  a.  0.  n,  S.  303. 

29* 


436  August  Dunges: 

nicht  als  notwendig  erwiesen  hat.  Die  Pflanze  wird  von  ihren 
Lebensreizen  in  der  Regel  nicht  an  bestimmten  Stellen,  sondern 
an  ihfer  ganzen  Oberfläche  beeinflufst,  denn  Luft,  Licht, 
Wärme  sind  um  sie  tiberall  verbreitet,  und  sie  benötigt  nicht 
in  dem  Mafse  wie  das  Tier  besonderer  Organe,  um  die  Nahrung 
zu  wittern  und  sich  zu  schützen  im  Kampfe  mit  ihren  Feinden. 
Auch  würden  ihr,  da  sie  nicht  fliehen  kann,  Sinnesorgane  zur 
Entdeckung  des  Feindes  wenig  nützen.  Wenn  wir  demnach 
mit  einem  gewissen  Rechte  allem,  was  Zelle  heilst,  eine  innere 
Wesensgleichheit  zugestehen,  so  ist  es  folgerichtig,  ebenso 
wie  in  Moneren  und  Amöben,  auch  in  den  zu  einem  gröfseren 
Organismus  zusammengefügten  Zellen  mit  Ichheit  begabte 
Wesen  zu  erkennen. 

b)  Für  die  Reihe  derjenigen  Wesen,  aus  denen  sich 
nach  der  Evolutionstheorie  endlich  der  Mensch  entwickelt  hat, 
glaubten  wir  einen  Unterschied  zwischen  solchen,  die  im  Be- 
sitze der  Ichheit  wären,  und  solchen,  die  derselben  entbehrten, 
nicht  machen  zu  dürfen.  Eine  Rekapitulation  dieser  Wesen- 
reihe flnden  wir  in  der  embryonalen  Entwicklung  (Haeckelu.  a.). 
Daher  wird  man  es  von  vornherein  als  wahrscheinüch  ansehen 
müssen,  dafs  die  Ichheit,  welche  dem  extrauterinen  Tiere  und 
Menschen  eigen  ist,  schon  in  allen  Stadien  des  embryonalen 
Daseins  von  den  Wesen  besessen  werde.  Was  insbesondere 
die  am  Anfang  dieser  Stadien  befindliche  Sameneizelle  betrifft, 
so  läfst  sich  die  Annahme  einer  psychischen  Individualität  der- 
selben mit  triftigen  Gründen  belegen.  Die  Eikörperchen  haben 
alle  charakteristischen  Eigenschaften  einer  Amöbe.  Pkeyeb 
(a.  a.  0.  2.  Vorwort)  sagt  darüber:  „Sie  wachsen  und  bewegen 
sich  durch  Aussenden  und  Einziehen  von  Scheinfttfsen,  nehmen 
Nahrung  in  sich  auf .  .  .  verhalten  sich  überhaupt  wie  Amöben 
oder  andere  einfache  lebende  Wesen".  „Einigen  Teilen  des 
Eünhaltes  kommen  unzweifelhaft  geistige  Eigenschaften  po- 
tentiell zu,  wenigstens  Empfindungsvermögen."  Die  Samen- 
körperchen  hält  Stbassbubgee  für  wesentlich  gleichartige 
Gebilde  wie  die  Eizellen.  Die  Unterschiede  in  der  äufseren 
Form  betreffen  nur  unwesentliche  Teile  und  sind  durch  die 


Die  Zelle  als  Individuum.  437 

verschiedenartige  Funktion  bedingt.  Wenn  man  also  der  Ei- 
zelle psychische  Eigenschaften  zugesteht,  so  wird  man  nicht 
umhin  können,  sie  auch  für  das  Samenkörperchen  gelten  zu 
lassen.  Massabt  ^)  hat  Versuche  angestellt  über  das  Ein- 
dringen der  Spermatozoen  des  Frosches  in  quellende  Sub- 
stanzen (Gelatine,  Quittesamen,  Froscheischleim  u.  a.).  Er 
sagt:  „Die  Spermatozoen  dringen  in  die  quellende  Substanz 
infolge  einer  besonderen  Empfindlichkeit  für  Berührung;  sie 
empfinden  dabei  einen  wachsenden  Genufs  (!)  und  dringen 
deshalb  weiter  zum  Ei  vor".  Es  erhebt  sich  nun  die  Frage, 
ob  auch  das  durch  die  Kopulation  von  Samen-  und  Eizelle  ent- 
stehende Verschmelzungsprodukt  eine  Ichheit  darstelle.  Dies 
ist  schon  deshalb  vorauszusetzen,  weil  man  nicht  annehmen 
kann,  dafs  bereits  vorhandene  psychische  Qualitäten  bei  Fort- 
bestehen des  Lebens  untergehen  sollten.  Zudem  ist  bei  dem 
Vorbilde  jener  Verschmelzung,  bei  der  Konjugation  von  In- 
fusorien, das  Gegenteil  der  Fall.  Eine  weitere  Frage  ist  die, 
ob  beide  Zellen  nach  der  Kopulation  zu  einer  einzigen  Ichheit 
verschmelzen  oder  ihre  eigene  Ichheit  bewahren.  Die  Be- 
obachtung unter  dem  Mikroskop,  wonach  beide  Zellen  nach 
Ausstofsung  des  „Richtungskörperchens"  eine  einzige  neue 
Zelle  darzustellen  scheinen,  spricht  wohl  für  erstere  Annahme. 
Eine  Hypothese  von  Kbeidmann,^  welche  das  Getrenntbleiben 
der  Ichheiten  verständlich  machen  könnte,  soll  hier  wenigstens 
erwähnt  werden.  Danach  wächst  gewissermafsen  jede  der 
beiden  ZeUen  zu  einem  vollständigen  Organismus  aus,  aber 
so,  dafs  deqenige  der  einen  Zelle  vollwertige,  der  der  anderen 
nur  rudimentäre  Organe  repräsentiert.  Hinsichtlich  der  Ge- 
schlechtsorgane ist  ja  dieses  doppelte  Vorkommen  längst  be- 
kannt. Aber  auch  für  alle  anderen  Organe  glaubt  Kbeidmann 
das  entsprechende,  vom  zweiten  Teile  des  Eltempaares  her- 
rührende, rudimentär  gebliebene  angeben  zu  können,  wobei  er 
freilich    vielfach    mit    anderweitigen    nicht    unbegründeten 


^)  Mass  ABT,   Sur  la  Penetration  des  spermatozoides  dans  Poeuf  de 
la  grenouille.  BuUetin  de  PAcademie  des  Sciences  de  Beige  XYIU,  8,  p.  215. 
3)  Ärztliche  Rundschau  1896. 


438  August  Dunges: 

Deutungen  in  Widerspruch  geraten  dürfte.  Danach  würden 
also  die  Samen-  und  die  Eizelle  nach  der  Kopulation  ihre 
Individualität  behalten  und  doch  zugleich  in  ihrer  Verbindung 
eine  neue  Ichheit  darstellen.  Es  bestünde  dann  für  die  zwei 
Zellen  dasselbe  Verhältois,  welches  wir  fiir  die  Billionen  Zellen 
des  fertigen  Organismus  annehmen  und  erwdfi^i  möGhten. 
Doch  es  ist  hier  nicht  der  Ort,  um  über  diese  bisher  wenig 
beachtete  Hypothese  zu  entscheiden.  Halten  wir  uns  also 
an  die  landläufige  Annahme  der  Verschmelzung  von  Samen- 
faden und  Ei  zu  einem  Individuum,  so  haben  wir  darin  die 
Stammmutter  aller  Zellen  des  Organismus  vor  uns,  und  wenn 
dieser  der  Besitz  der  Ichheit  zugestanden  wird,  so  folgt  daraus, 
dafs  auch  ihfe  Abkömmlinge,  die  Körperzellen,  als  Ichheiten 
angesehen  werden  müssen.  Wenigstens  ist  von  vornherein 
anzunehmen,  dafs  die  Ichheit,  wenn  sie  einmal  vorhanden  ist, 
höchstens  mit  dem  Leben  selbst  wieder  verloren  gehen  kann, 
und  dafs  sie,  wenn  eine  Zelle  sich  in  zwei  neue  teilt,  auf 
beide  zugleich  übergeht.  Oder  sollte  man  glauben,  dafs  nur 
die  eine  der  Tochterzellen  in  den  Besitz  der  Ichheit  gelangte 
und  bei  deren  Teilung  auch  wieder  nur  eine  u.  s.  f.,  so  dafs 
also  immer  nur  eine  Zelle  des  ganzen  Organismus  Trägerin 
der  Ichheit  wäre?  Dem  widerspricht  die  Thatsache,  dafs  man 
bei  gewissen  Tieren  und  Pflanzen  aus  einem  beliebigen  Teile 
ein  neues  Individuum  erzielen  kann.  Sehen  wir  also  mit 
gutem  Grunde  in  der  Sameneizelle  ein  mit  Ichheit  begabtes 
Wesen,  so  macht  dies  die  Individualität  der  Körperzellen 
überhaupt  in  hohem  Mafse  wahrscheinlich. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  aber  flir  die  Erledigung 
dieser  Frage  sowohl  als  fiir  die  psychogenetische  Forschung 
überhaupt  sind  die  Vorgänge  der  Vererbung.  Um  dieselben 
flir  die  vorliegende  Auseinandersetzung  verwerten  zu  können, 
dünkt  es  mich  am  praktischsten,  zwei  Theorien  einander  gegen- 
überzustellen und  gegeneinander  abzuwägen,  nämlich  eine 
solche,  welche  den  Begriff  der  Zelle  rein  stofflich  fafst,  und 
zweitens  eine  solche,  welche  der  Zelle  auch  eine  Psyche 
beilegt. 


Die  Zelle  als  Individuuin.  439 

In  ersterem  Sinne  lälst  sich  .die  bekannte  von  Wbisicanh^)  aufge- 
stellte Theorie  deuten,  welche  annimmt,  der  Zellkern  enthalte  die  „Ver- 
erbungssubstanz'^,  indem  die  Kernfäden  aus  einer  grofsen  Menge  von 
„Biophoren"  bestünden,  deren  jedes  bestimmten  Eigenschaften  einer  späteren 
Körperzelle  entspräche.  Danach  müfste  die  Summe  der  Biophoren  in  der 
Sameneizelle  gleich  sein  der  Summe  aller  Zellen  im  fertigen  Organismus. 
Durch  die  jeweils  verschiedenartige  Mischung  der  Biophoren  des  Samen- 
körperchens  und  des  Eichens  während  der  Kopulation  und  Ausstofsung 
der  überflüssigen  Biophoren  in  Eichtungskörperchen  entsteht  nach  Weis- 
HANN  die  Variation  der  Individuen.  Aus  diesen  werden  durch  Zuchtwahl 
die  tüchtigsten  ausgelesen  und,  indem  sie  ihre  durch  die  zufällige  Variante 
empfangene  Tüchtigkeit  weiter  vererben,  immer  vollkommenere  Arten 
herangebildet.  Die  Vererbung  erworbener  Eigenschaften  wird  von  Weis- 
MA.NN  bestritten. 

Eine  Theorie,  welche  eine  psychische  Beschaffenheit  der  Zelle  mit 
io  Betracht  z6ge,  würde  etwa  folgendermafsen  lauten:  Die  Zelle  wird 
von  den  Lebenserfahrungen  des  Gesamtorganismus  beeinflufst  und  unter 
allen  Zellen  besonders  diejenigen,  welche,  frei  von  einer  speciellen  Funktion, 
am  besten  befähigt  sind,  einen  Gesamteindruck  von  der  jedesmaligen  Lage 
und  Beschaffenheit  des  Organismus  auf  sich  wirken  zu  lassen.  So  ist 
dem  die  Erfahrung  der  Jahrmillionen,  welche  die  gesamte  Organismenwelt 
bis  zu  ihrer  heutigen  Entwicklung  gebraucht  hat,  in  den  Zellen  und  be- 
sonders in  denen  des  Generationssystems  ausgeprägt.  Die  Fähigkeit,  Er- 
fahrung aufzuspeichern,  heilst  Gedächtnis,  die  Reproduktion  der  Erfahrung 
Erinnerung.  Je  häufiger  sich  eine  Erfahrung  wiederholt,  desto  tiefer 
prägt  sie  sich  dem  Gedächtnisse  ein.  Die  Tochterzelle  empfängt  von  der 
Mutterzelle  mit  der  gleichen  Beschaffenheit  auch  das  ganze  Erfahrungs- 
material derselben.  Wie  das  möglich  ist,  darüber  läfst  sich  eine  bestimmte 
Vorstellung  noch  nicht  bilden.  Am  besten  ist  es,  sich  hier  auf  den  all- 
gemeinen psychophysischen  Standpunkt  zurückzuziehen,  wonach  jede 
psychische  Erscheinung  im  physischen  ihr  Äquivalent  besitzt. ''*)  So  mögen 
wir  denn  denken,  dafs  der  Substanz  die  Fähigkeit  innewohnt,  die  in  ihr 
(und  durch  sie)  ausgeprägte  Erfahrung  durch  die  eigene  Verdoppelung  zu 
verdoppeln,  so  dafs  also  aus  der  Mutterzelle  zwei  Tochterzellen  entstehen, 
welche  mit  gleichem  Erfahrungsinhalte  begabt  sind  und  deren  Tochter- 
zellen wieder  mit  dem  gleichen  u.  s.  f.  Schliefslich  sehen  wir  in  allen 
Zellen  des  Organismus  Wesen,  welche  ursprünglich  dasselbe  Erfahrungs- 
material in  sich  aufgespeichert  enthalten.  Wie  entsteht  nun  die  besondere 
Funktion?  Damit  aufgespeicherte,  also  gleichsam  latente  Erfahrung  aktiv, 
d.  i.  Erinnerung  werde,  mufs  ein  äufseres  Moment  hinzukommen.  Dies 
wird  beim  Embryo  durch  die  gegenseitige  Lage  der  Zellen  und  die  mit 
dem  Wachstum  sich  ergebende  Notwendigkeit  der  Arbeitsteilung  dargestellt. 
Wie  die  uralten  Vorfahren  der  Sameneizelle,  die  Amöben,  alle  Funktionen 
mit  einer  einzigen  Zelle  ausüben,  so  sind  auch  die  Körperzellen  von  vom- 


^)  A.  Weismann,  Aufsätze  über  Vererbung,  Jena  1892. 
^)  WuNDT,  Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie,  4.  Aufl.  1893, 
ir,  S.  644. 


440  August  Dunges: 

herein  zu  allen  Funktionen  fähig,  und  erst  durch  die  besonderen  Verhält- 
nisse wird  eine  bestinunte  Funktion  vorwiegend  übernommen  und  geübt. 
Jedoch  mufs  in  den  Zellen  noch  eine  besondere  Eigenschaft  vorhanden 
sein,  welche  es  ihnen  ermöglicht,  sich  gerade  zu  dem  besonders  gearteten 
Organismus  auszuwachsen,  das  eine  Mal  ein  Insekt,  das  andere  Mal  ein 
Säugetier  u.  s.  w.  zu  werden.  Diese  Befähigung  setzt  voraus,  dafs  die 
Geschlechtszellen  das  Leben  des  Gesamtorganismus  in  gewisser  Weise  mit- 
zuerleben und  an  den  Wandlungen  desselben  teilzunehmen  imstande  seien. 
Da  aber  diese  Wandlungen  vielfach  durch  Zuchtwahl  bestimmt  sind,  s« 
kommt  eine  solche  auch  für  die  Gestaltungsfähigkeit  der  Geschlechtszellei 
in  Betracht.  Überhaupt  könnte  die  Fähigkeit  der  Zellen,  aus  sich  der 
Gesamtorganismus  zu  reproduzieren,  durch  Zuchtwahl  sich  ausgebildet 
haben.  Nachdem  im  Laufe  der  Evolution  einmal  die  Fähigkeit  gefunden 
war,  auf  bestimmte  Zellen  die  Bildung  neuer  Organismen  zu  übertraget, 
wurde  dies  nach  und  nach  zur  Gewohnheit,  und  Gewohnheit  ist  auch 
nichts  weiter  als  aufgespeicherte  Erfahrung.  So  erklärt  sich  auch  die 
embryonale  Entstehung  von  Organen,  welche  erst  im  postembryonalen 
Leben  in  Funktion  treten,  nur  als  Akt  der  Gewohnheit.  Die  Zellen  bauen 
den  Organismus  aus  sich  auf,  nicht  etwa,  wie  wenn  sie  eine  bestimmte 
Vorstellung  von  ihrem  Enderzeugnis  hätten,  sondern  gelenkt  durch  iie 
stereotyp  gewordene  Erfahrung  der  Jahrmillionen,  wie  auch  der  Voa^el 
zum  erstenmal  ein  Nest  errichtet  oder  Bienen  und  Ameisen  eine  kunstvolle 
Wohnung  herstellen,  ohne  bewufste  Vorstellung  von  ihrem  Werke,  nur 
geleitet  durch  den  Instinkt  oder  sagen  wir  besser  die  aufgespeicherte 
Erfahrung  von  vielen  Tausenden  von  Generationen.  (Eine  ausführKche 
Theorie  über  die  Vererbung  erworbener  Eigenschaften  ist  bekanntlich 
von  Hebbebt  Spenceb  ausgebildet  worden.) 

Wägen  wir  nun  die  beiden  Theorien  gegeneinander: 
Bei  einer  rein  materiellen  Auffassung  des  Vererbungsvorganges 
ist  es  nicht  zu  verstehen,  wie  nach  Verlust  einer  von  einer 
bestimmten  Menge  von  Vererbungssubstanz  sich  herleitenden 
Zell-  oder  Organgruppe  Regeneration  eintreten  kann,  und  doch 
sehen  wir,  dafs  bei  manchen  Tieren  Extremitäten  und  sogar 
Augen  regeneriert  werden  können.  Man  kann  femer  nach 
jener  Theorie  nicht  begreifen,  inwiefern  bei  manchen  Pflanzen 
und  Tieren  auch  Zellen  oder  Zellgruppen,  welche  mit  dem 
Sexualsystem  nichts  zu  thun  haben,  ein  vollkommen  neues 
Individuum  erzeugen,  wie  denn  überhaupt  eine  Änderung  der 
Funktion  bei  Zellen,  welche  schon  in  der  Anlage  zu  einer 
bestimmten  Thätigkeit  vorherbestimmt  sind,  nicht  vorausgesetzt 
werden  kann.  Nach  der  WEisMANN'schen  Theorie  läfst  sich 
auch  datür,  warum  der  Embryo  durch  die  Formen  der  Vor- 
fahren sich  hindurchentwickeln  mufs,   eine  beMedigende  Er- 


Die  Zelle  als  iDdividuum.  441 

klärung  nicht  geben.  Wenn  in  der  Zelle  die  stoffliche  Be- 
schaffenheit des  fertigen  Organismus  in  irgend  einer  Weise 
vorgebildet  daliegt,  so  mufs  man  erwarten,  dafs  die  Ent- 
wicklung ohne  Umweg  sofort  der  Form  des  Gesamtorganismus 
zustrebt.  Der  Begriff  des  Mosaiks,  wie  die  rein  stoffliche  Auf- 
fassung überhaupt,  giebt  eine  zu  einseitig  räumliche  Vorstellung. 

Sehen  wir  in  der  embryonalen  Formenwandlung  eine 
Wiedererinnerung,  so  entsteht  dabei  allerdings  insofern  eine 
Schwierigkeit,  als  die  Vorfahren  der  Samen-  und  Eizelle  immer 
nur  Zellen  gewesen  sind  und  nie  ein  vollständiger  Organismus. 
Hier  mufs  die  Hypothese  aushelfen,  dafs  die  Greschlechtszellen, 
frei  von  jeder  Funktion,  an  den  Geschicken  und  Erfahrungen 
des  Gesamtorganismus  Anteil  nehmen.  Die  Möglichkeit  einer 
solchen  Anteilnahme  liegt  um  so  näher,  als  bei  niederen  Or- 
ganismen, wo  die  Funktionen  noch  nicht  erheblich  differenziert 
sind,  auch  aus  anderen  als  Geschlechtszellen  sich  ein  ganzer 
Organismus  entwickeln  kann.  Die  Vererbung  erworbener 
Eigenschaften  wird  in  der  Eegel  mit  solchen  Beispielen  zu 
widerlegen  gesucht,  bei  denen  es  sich  gar  nicht  um  er- 
worbene Veränderungen  im  wahren  Sinne  des  Wortes  handelt, 
sondern  um  solche,  welche  die  Vorfahren  absichtslos  erlangten 
(Beschneidung,  Schädelkompression  der  Indianer  u.  s.  w.). 
Ob  solche  Eigenschaften,  welche  durch  heifses  Streben  errungen 
und  durch  Generationen  hindurch  immer  wieder  angestrebt 
werden,  femer  ob  die  durch  Anpassung  erworbenen  vererbbar 
sind  oder  nicht,  darüber  dürfte  ein  endgültiges  Urteil  noch 
nicht  gefällt  sein.  Räumen  wir  daher  die  Möglichkeit  ein, 
dafs  die  Erfahrungen  des  Gesamtorganismus  sich  in  irgend 
einer  Weise  den  Geschlechtszellen  mitteilen  und  sich  in  ihnen 
als  Erfahrungsmaterial  niederschlagen,  so  ist  es  nicht  schwer, 
die  embryonale  Formenskala  auf  Erinnerung  im  weitesten  Sinne 
zurückzufuhren.  Es  braucht  sich  dabei  nicht  um  bewufste 
Erinnerung  zu  handeln,  auch  jene  unbewufste  Erinnerung, 
die  wir  als  Gewohnheit  bezeichnen,  mag  vorliegen.  Das 
ganze  Embryonalleben  ist  eine  Eekapitulation  des  Lebens 
der  ganzen  Ahnenreihe.    Es  handelt  sich  um  Wiedererinnerung 


442  August  Dunges: 

an  räumliche  und  zeitliche  Verhältnisse.  Auszudenken,  wie 
sich  dabei  im  einzelnen  die  Vorgänge  gestalten  mögen,  darauf 
wird  man  wohl  vorläufig  noch  verzichten,  ein  thatsächlicher 
Gewinn  ist  dabei  nicht  abzusehen.  Nur  auf  die  Regelmäfsig- 
keit,  mit  welcher  gerade  in  zeitlicher  Beziehung  die  embryo- 
nale Entwicklung  vor  sich  geht  (vorausgesetzt,  dafs  sie  nicht 
künstlich  gehemmt  wird),  sei  hier  kurz  hingewiesen.  Mag 
auch  die  psychocellulare  Theorie  ihre  Schwierigkeiten  haben, 
direkte  Bedenken  stehen  ihr  m.  E.  nicht  entgegen,  und  inso- 
fern dürfte  sie  vor  der  rein  materiellen  den  Vorzug  verdienen  — 
ein  Grund  mehr,  die  Ichheit  der  Samenzelle  und  der  Körper- 
zellen überhaupt  anzunehmen. 

Anmerkung  1.  Im  Anfang  dieses  Kapitels  wurde  der  Satz  aufge- 
stellt, dafs  die  Ichheit  dem  Embryo  in  allen  Stadien  seiner  Entwicklung 
zukäme,  eine  Ansicht,  die  schon  aus  dem  Grunde  einer  eingehenden  Er- 
örterung bedarf,  weil  heryorragende  Autoren  sie  nicht  zu  teilen  scheinen. 
So  sagt  Wündt:')  „Das  Ich  fällt  nicht  mit  dem  Individuum  zusammen. 
Die  unbewufsten  Seelenyorgänge  haben  mit  dem  Ich  nichts  zu  schaffen, 
denn  das  Ich  ist  ja  das  Produkt  des  Bewufstseins".  Nach  Preteb')  gehört 
zum  Zustandekommen  des  „Ichgefühls'',  dafs  das  Kind  seine  ihm  selbst 
fühlbaren  und  sichtbaren  Körperteile  als  ihm  gehörig  erkennt,  und  dazu 
kommt  es  erst  durch  eine  Reihe  von  Erfahrungen,  besonders  durch  die 
Schmerzempfindung  beim  Stofsen  u.  s.  w.  Offenbar  handelt  es  sich  hier 
um  jene  schon  hochentwickelte  Form  der  Ichvorstellung,  welche  voraus- 
setzt, dafs  das  Individuum  sich  über  sein  Verhältnis  zur  AuTsenwelt  und 
über  seine  Stellung  in  der  Welt  überhaupt  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
klar  geworden  ist.  Dazu  mufs  aber  eine  ganze  Reihe  von  Erfahrungen 
vorhergehen,  und  eigentlich  ist  jede  neue  Erfahrung  eine  Bereicherung 
dieses  Wissens  vom  eigenen  Ich,  dieses  durch  Abgrenzung  gegen  die 
Aufsenwelt,  also  indirekt  und  empirisch  gewonnenen  Ichbewufstseins. 
Das  macht  es  aber  wahrscheinlich,  dafs  in  den  frühesten  Erfahrungen, 
die  ein  Wesen  überhaupt  gewinnt,  auch  die  Anfänge  zur  Ausbildung  eines 
Ichbewufstseins  zu  sehen  sind.  Immerhin  ist  dieses  nicht  die  Voraussetzung 
für  das  Vorhandensein  der  Ichheit  überhaupt;  denn  das  Ichbewufstsein 
ist  das  empirische  Ich,  welches  erst  auf  dem  Wege  der  Erfahrung  ge- 
wonnen wird.  Voraussetzung  aller  Erfahrung  aber  ist  das  Vorhandensein 
der  Ichheit.  Jedoch  in  Wirklichkeit  ist  auch  ein  Ich  ohne  Erfahrung 
nicht  denkbar,  ohne  etwas  aulser  ihm  Befindliches  kann  das  Ich  keine 
Erfahrung  machen.    Es  giebt  kein  Subjekt  ohne  Objekt  und  umgekehrt.') 

')  WuNDT,  Vorlesungen  ü.  d.  Menschen-  u.  Tierseele,  I.  Aufl.,  I,  S.  313. 
2)  W.  Prbyee,  Die  Seele  des  Kindes,  3.  Aufl.,  S.  456. 
')  Vergl.  ScHOPENHAUEB,  Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  1859, 
n.  Bd.,  Kap.  1. 


Die  Zelle  als  Individuum.  443 

Erfahrung  ist  die  Vereinigung  von  Subjekt  und  Objekt.  Diese  Vereinigung 
von  Subjekt  und  Objekt  in  der  Erfahrung  ist  Leben,  ist  Wirklichkeit. 
Jede  Erfahrung  hinterläfst  Erinnerung,  diese  bleibt  so  lange,  bia  eine 
andere  Erfahrung  sie  verdrängt,  doch  geht  sie  nicht  Tcrloren,  sondern 
tritt  aus  dem  Bewufstsein  so  lange  hexaiu.  Ins  sie  durch  eine  entsprechende 
Erfahrung  wieder  gew«ckt  wird.  So  wird  die  Erfahrung  in  Form  von 
v.riifciMWTH^  Istent.  Ein  lebendes  Wesen  kann  als  Wesenseinheit,  als  Ich, 
nur  eine  Erfahrung  gleichzeitig  machen.  Dieselbe  Erfahrung,  immerund 
immer  wiederholt,  kann  eine  Gewohnheit  herbeiführen  und  als  solche  ver- 
erbt werden.  So  erklärt  sich  die  Vererbung  der  Instinkte.  Es  ist  nun 
nicht  wahrscheinlich,  dafs  die  Zelle  und  der  embryonale  Organismus  die 
Fähigkeit  der  Übertragung  von  latenter  Erfahrung  besäfse,  ohne  zur  Auf- 
nahme von  Erfahrung  befähigt  und  demgemäfs  im  Besitze  der  Ichheit  zu 
sein.  Der  Embryo  befindet  sich  in  einem  schlafartigen  Zustande,  und  es 
fragt  sich,  ob  in  einem  solchen  die  Möglichkeit,  Erfahrung  zu  machen, 
besteht.  Jedenfalls  ist  der  Traum,  bei  dem  es  sich  im  wesentlichen  um 
Wiedererinnerung  handelt,  eine  innere  Erfahrung.  An  viele  Träume  er- 
innern wir  uns  im  wachen  Zustande  nicht  mehr.  Vielleicht  giebt  es  gar 
keinen  traumlosen  Schlaf,  vielleicht  sind  wir  um  so  intensiver  mit  inneren 
Erfahrungen  beschäftigt,  je  mehr  uns  Einwirkungen  der  Aufsenwelt  fern- 
bleiben. Ein  halbseitig  des  Gefühls-  und  Gehörsinnes  beraubter  Mann  mit 
totaler  Anästhesie,  den  Stbümpell*)  beobachtete,  versank  jedesmal  in 
Schlaf,  wenn  ihm  das  noch  funktionierende  Auge  und  Ohr  geschlossen 
wurden.  Darnach  ist  der  Schlaf  vorwiegend  durch  den  Mangel  äufserer 
Einwirkungen  und  Erfahrungen  charakterisiert.  Jedoch  bin  ich  selbst  im 
tiefsten  Schlafe  befähigt,  äufsere  Erfahrung  aufzunehmen.  Ich  mag  die- 
selbe vielleicht  falsch  deuten  und  zu  einem  wirren  Traumbilde  verweben, 
aber  das  geschieht  auch  mit  mancher  Erfahrung  im  wachen  Zustande. 
Macht  nun  der  Embryo  in  dem  schlafartigen  Zustande,  in  dem  er  sich 
befindet,  innere  Erfahrung?  Man  sollte  meinen,  dafs  die  grofsen  Um- 
änderungen, welche  sich  an  diesem  kleinen  Organismus  aufs  schnellste 
vollziehen,  eine  äufserst  lebhafte  innere  Erfahrung  bedeuteten,  die  als 
Wiedererinnerung  sich  um  so  genauer  und  vollkommener  abspielen  kann, 
weil  die  Natur  für  Fernhaltung  äufserer  Einwirkungen  aufs  beste  gesorgt 
hat.  Aber  auch  äufsere  Erfahrung  ist  der  Embryo  wenigstens  in  den 
späteren  Monaten  seines  Daseins  aufzunehmen  befähigt.  „Einzelne  um 
2  Monate  zu  früh  geborene  Kinder  verhalten  sich  fast  wie  ausgetragene" 
(Pbeybb).  Ein  im  6.  Monat  zur  Welt  gekommenes  Kind  macht  Inspira- 
tionsbewegungen und  rührt  die  Glieder.  Lutaud^)  berichtet  über  einen 
Fall,  in  dem  ein  Chirurg  in  Paris  irrtümlich  unter  Annahme  einer  patho- 
logischen Geschwulst  den  schwangeren  Uterus  exstirpierte.  In  seiner 
Höhle  lag  ein  4  Monate  alter  Fötus.  Es  wurde  angenommen,  dafs  er 
maceriert  sei.  Man  legte  ihn  in  Alkohol  und  erstaunte  über  die  kräftigen 
Bewegungen,  die  er  in  dieser  Flüssigkeit  machte.  —  Jedoch  auch  ohnedies 


1)  Strümpell,  Lehrbuch  der  speciellen  Pathol.  u.  Therapie,  6.  Aufl. 
1889,  Bd.  II,  S.  17. 

2)  Revue  pratique  d'obst^trique  et  de  gynaecologie  1897. 


444  August  Dunges: 

geht  das  Vorhandensein  der  Ichheit  beim  Embryo  schon  aus  der  Über- 
tragung latenter  Erfahrung,  z.  B.  in  den  Instinkten,  hervor;  denn  eine 
Erfahrung  irgendwelcher  Art  ist  ohne  ein  Ich  nicht  denkbar. 

Anmerkung  2.  Von  vielen  Forschem  wird  der  Zellkern  allein  als 
der  Träger  der  Vererbungsmasse  angesehen  (s.  bei  A.  Weismann  a.  a.  0.). 
Diese  Auffassung  bedingt  für  die  Annahme  der  psychischen  Individualität 
der  mehrkemigen  Zelle  eine  gewisse  Schwierigkeit,  welche  am  besten 
dadurch  gelöst  werden  kann,  dafs  Protoplasma  und  Zellkern  als  Gebilde 
angesehen  werden,  deren  jedes  eine  besondere  Individualität  darstellt  und 
die  zusammenwirken  nach  Art  einer  Symbiose,  ähnlich  etwa  wie  sich  in 
den  Flechten  Alge  und  Schlauchpilz  zu  einer  Symbiose  zusammengefunden 
haben.  Stützpunkte  für  diese  mit  aller  Beserve  ausgesprochene  Hypothese 
giebt  es  mehr  als  einen.  Dafs  es  kernloses  Protoplasma  und  protoplasma- 
lose Kerne  gebe,  ist  zwar  oft  genug  in  Zweifel  gezogen,  aber  noch  nicht 
endgültig  widerlegt  worden.  Eine  gewisse  Unabhängigkeit  zwischen  Kern 
und  Protoplasma  beweist  schon  der  Umstand,  dafs  bei  der  Zellvermehrung 
die  Teilung  des  Kernes  in  der  Begel  zuerst  erfolgt.  In  manchen  Fällen 
teilt  sich  auch  nur  der  Kern  allein,  während  das  Protoplasma  allenfalls 
an  Gröfse  zunimmt,  ohne  sich  einzuschnüren.  Kernlose  Zellen  oder  Teil- 
stücke von  solchen  können  eine  Zeit  lang  weiter  leben.')  Nach  Balbian 
bleiben  kernlose  Teilstücke  von  Infusorien  noch  viele  Tage  lang  mit  völlig 
unveränderten  Bewegungen  am  Leben.  Dafs  schliefslich  das  des  Kernes 
beraubte  Protoplasma  nicht  mehr  allein  am  Leben  bleiben  kann,  ist  bei 
einem  symbiotischen  Verhältnisse  leicht  verständlich.  Die  beiden  Teile 
werden  mit  der  Zeit  eine  Arbeitsteilung  eingegangen  sein,  welche  das 
eine  von  der  Funktion  des  anderen  abhängig  macht.  Sehen  wir  doch 
etwas  ähnliches  bei  gewissen  Ameisenarten,  die  sich  andere  Ameisen  zu 
Sklaven  machen  und  deren  Dienstleistungen  zuletzt  so  wenig  entbehren 
können,  dafs  sie  ohne  deren  Hilfe  verhungern  müssen.  Dbmoor  konnte 
mit  Chloroform  das  Protoplasma  von  Leucocyten  lähmen  —  und  doch  setzte 
der  Kern  seine  amöboiden  Bewegungen  fort.*) 

c)  Wenn  man  eine  Zellpsyche  aus  direkten  Beobachtungen 
nachweisen  will,  darf  man  nicht  mit  übertriebenen  oder  gar 
unrichtigen  Vorstellungen  von  den  seelischen  Fähigkeiten  eines 
so  niedrig  stehenden  Wesens  an  diese  Aufgabe  herantreten. 
Zunächst  ist  daran  zu  denken,  dafs  sich  in  einem  so  kleinen 
Gebilde  das  Seelenleben  schon  zeitlich  ganz  anders  abspielen 
mufs,  als  bei  einem  komplizierteren  Organismus.  Man  hat 
bei  höheren  Tieren  und  beim  Menschen  nachgewiesen,  dafs 
ein  Reiz,  um  sich  durch  einen  Nerven  fortzupflanzen,  Zeit 
braucht,    die   gemessen  werden  kann   (beim  Menschen  nach 


')  S.  b.  M.  Vbrwobn  a.  a.  0.  S.  512. 
2)  M.  Vbrworn  a.  a.  0. 


Die  Zelle  als  Individuum.  445 

Helmholtz  für  einen  Meter  Nervenlänge  ungefähr  V34  Sekunde). 
Die  Zeit,  welche  verfliefst  zwischen  dem  Moment,  wo  ein 
Sinneseindruck  stattfindet,  und  demjenigen,  in  welchem  die 
Apperception  dieses  Eindrucks  an  einer  Vorrichtung  registriert 
wird,  übersteigt  in  der  Regel  0,2  Sekunden.  („Reaktionszeit." 
Es  ist  die  Art  der  Messung  vorausgesetzt,  wobei  die  Auf- 
merksamkeit auf  den  Sinneseindruck  selbst  gerichtet  ist.)^) 
Wenn  also  die  psychischen  Leistungen  des  Gesamtorganismus 
Zeit  brauchen,  so  wird  es  auch  mit  denen  der  Zelle  der  Fall 
sein,  nur  ist  zu  erwarten,  dafs  diese  Zeit  von  der  des  Orga- 
nismus ganz  verschieden  ist.  Und  dasselbe  mufs  auch  be- 
züglich der  räumlichen  Vorstellungen  angenommen  werden. 
Überhaupt  werden  sich  alle  psychischen  Regungen,  wenn  ich 
so  sagen  darf,  in  mikroskopischer  Breite  bewegen.  Die  Sinnes- 
empfindungen beschränken  sich  vermutlich  im  allgemeinen 
wie  bei  der  Amöbe  auf  Tastempfindungen.  Jedoch  ist  es 
durchaus  nicht  sicher,  ob  nicht  auch  Erschütterungen  fester 
Körper  oder  eines  flüssigen  oder  luftförmigen  Mediums  und 
selbst  die  des  Äthers  empfunden  werden.  Die  Empfindung 
wird  sich  in  einer  für  uns  unermefslich  kleinen  Zeit  in  Vor- 
stellung umwandeln,  die  Vorstellungen  selbst  aber  werden  bei 
der  Einförmigkeit  der  äufseren  Eindrücke  nur  einen  äufserst 
bescheidenen  Grad  von  Abwechslung  darbieten.  Auch  die  in 
der  Zelle  aufgespeicherte  latente  Erfahrung  kann  sich  natür- 
lich nur  in  den  Grenzen  der  diesen  kleinen  Lebewesen  eigenen 
Fähigkeiten  bewegen.  Wenn  also  Eigenschaften  vererbt 
werden,  so  darf  man  nicht  annehmen,  dafs  die  denselben  ent- 
sprechenden Vorstellungen  in  der  Keimzelle  vorhanden  wären, 
zumal  es  sich  in  der  Regel  um  Vorstellungen  handelt,  zu 
deren  Zustandekommen  im  Gesamtorganismus  eine  grofse  Menge 
von  Zellen  associativ  zusammenwirken  wird.  Vielmehr  nur 
diese  Fähigkeit,  unter  gleichen  Bedingungen  mit  gleichartigen 
Zellen  zusammen  wieder  die  betreffende  Vorstellung  zu  er- 
zeugen, wird  vermutlich  vererbt  werden.  Ist  aber  der  Zu- 
sammenhang der  betreffenden  Zellen  im  Laufe  der  Entwicklung 

»)  W,  WuNDT,  Grundztige  II,  S.  310  ff. 


446  August  Dunges: 

des  neuen  Organismus  hergestellt,  so  bedarf  es  nur  einer 
entsprechenden  Anregung,  um  die  Vorstellung  wachzurufen. 
Hühnchen,  die  Allen  Thomson  auf  einen  Teppich  ausschlüpfen 
und  einige  Tage  darauf  verweilen  liefs,  zeigten  keine  Neigung 
zu  scharren,  begannen  aber  gleich  damit,  sobald  ein  wenig 
Kies  auf  den  Teppich  gestreut  wurde.  ^) 

Gehen  wir  nun  mit  den  bescheidensten  Ansprüchen  an 
die  Erforschung  psychischer  Regungen  des  Zellorganismus 
heran,  so  werden  wir  auch  den  primitivsten  Äufserungen  eines 
Seelenlebens  Wert  beilegen  dürfen.  Hierhin  gehören  zunächst 
die  aus  innerem  Antriebe  erfolgenden  Bewegungen,  über  welche 
schon  abgehandelt  wurde.  Femer  dürften  die  rhythmischen 
Bewegungen  unsere  Aufmerksamkeit  verdienen.  Ein  lebendes 
Wesen,  welches  rhythmisch  thätig  ist,  mufs  eine  irgendwie 
geartete  Zeitvorstellung  besitzen.  Von  hohem  Interesse  sind 
dieserhalb  die  Studien,  welche  Veewoen  an  Wimperzellen 
angestellt  hat.  „Bei  einer  Wimpelreihe,  die  in  der  Mitte 
durch  einen  Einschnitt  in  zwei  Hälften  getrennt  ist,  schlägt 
jede  Hälfte  in  eigenem  Rhythmus."^)  Jedes  Haar,  aus  dem 
Konnex  mit  den  anderen  getrennt,  zeigt  vollkommene  Selb- 
ständigkeit der  Bewegung.  Die  Ausbildung  einer  rhythmischen 
Thätigkeit,  welche  zudem  Schnelligkeit  und  Rhythmus  ändern 
kann,  ist  wohl  bei  einem  lebenden  Wesen  nur  möglich,  wenn 
es  die  Fähigkeit  besitzt,  Zeitintervalle  abzumessen,  und  diese 
Fähigkeit  wird  man  nur  als  eine  psychische  auffassen  können. 
Auch  die  Reizbarkeit  findet  sich  vielleicht  allein  bei  Wesen, 
welche  im  Besitze  der  Ichheit  sind,  und  würde  demnach  als 
ein  Merkmal  derselben  aufzufassen  sein.  Schon  oben  wurde 
angedeutet,  dafs  die  auf  starke  Reize  erfolgende  Bewegung 
möglicherweise  als  Abwehr  aufzufassen  sei,  wie  man  ja  auch 
in  den  Sehnen-,  Lid-  und  Hautreflexen  stereotyp  gewordene 
Abwehrbewegungen  sieht,  während  schwache  Reize  in  der 
Regel  die  gewohnte  Funktion  der  Zelle  auslösen.  Man  könnte 
in  dem  Reiz  ein  Mittel  sehen,  durch  welches  latente  Erfahrung 


')  W.  Päeyer,  Die  Seele  des  Kindes,  3.  Aufl.,  S.  185. 
2)  A.  a.  0.  S.  578. 


Die  Zelle  als  Indiyiduuin.  447 

in  aktive  umgesetzt  oder  Erfahrung  überhaupt  gewonnen  wird. 
Vielleicht  bewirken  schwache  Reize  ein  Lust-,  starke  ein 
Unlustgefiihl.  Erstere  erhöhen  die  vitale  Energie  der  Zelle, 
letztere  wirken  eher  lähmend.  Endlich  müssen  wir  noch  die- 
jenige Zellthätigkeit  in  Betracht  ziehen,  welche  den  Charakter 
des  Zweckmäfsigen  an  sich  trägt.  Es  ist  das  diejenige 
Änderung  der  Funktion  und  überhaupt  der  ganzen  Beschaffen- 
heit, welche  sich  in  der  Zelle  vollzieht,  um  widrigen  Ein- 
flüssen gegenüber  ihr  Dasein  behaupten  zu  können.  Die  An- 
passungsfähigkeit setzt  eine  Psyche  voraus ;  denn  sie  verlangt, 
dafs  in  der  Zelle  ein  Trieb  vorhanden  ist  zur  Verfolgung 
eigener  Zwecke.  Sind  diese  Zwecke  auch  nur  auf  Erhaltung 
des  Lebens  gerichtet,  so  ist  doch  ohne  eine  Ichempfindung 
eine  solche  oder  überhaupt  eine  .Zwecksetzung  nicht  wohl 
denkbar. 

Aufser  diesen  Beobachtungen  an  der  Einzelzelle  giebt 
es  auch  solche,  wo  Zellgruppen  unabhängig  vom  Gesamt- 
organismus eine  Art  von  psychischer  Thätigkeit  aufweisen. 
Bekannt  sind  die  Vorgänge^  welche  man  an  enthimten  oder 
geköpften  Tieren  beobachtet  und  die  psychischen  Leistungen 
so  genau  entsprechen,  dafs  Pflügeb  daraufhin  eine  besondere 
„Rückenmarksseele"  angenommen  hat.  Das  herausgeschnittene 
Herz  schlägt  rhythmisch  weiter,  der  Rhythmus  kann  sein 
Tempo  verändern,  er  kann  (z.  B.  bei  starker  Kompression 
des  Organs  zwischen  den  Fingern)  in  ein  ungeordnetes  Gewoge 
übergehen.^)  Das  Organ  hat  also  gleichsam  in  sich  einen 
Zeitsinn.  Die  Reflexe  können  unabhängig  vom  Gehirn  zu- 
stande kommen.  Wundt^)  sieht  in  ihnen  mechanisch  ge- 
wordene Willenshandlungen.  Dieselbe  Auffassung  verdient 
auch  die  Rhythmik  des  Herzens  und  der  Atmung,  verdienen 
überhaupt  alle  an  hirnlosen  Tieren  zu  beobachtenden  zweck- 
mäfsigen Handlungen.  Sie  liegen  alle  für  den  Gesamtorganismus 
im  Bereiche  des  Unbewufsten,  sind  aber  vorher  so  oft  mit 
Bewufstsein  ausgeflihrt  und  eingeübt  worden,  dafs  ihr  psychischer 


*)  Lakdois,  Lehrbuch  d.  Physiologie,  S.  110. 

2)  WuNDT,  Grundzüge  d.  physiolog.  Psychologie,  4.  Aufl.,  Bd.  II,  S.  591. 


448  August  Dunges: 

Ursprung  deutKch  auf  der  Hand  liegt.  Sie  werden  in  gleicher 
Weise  unbewufst  vollzogen,  wie  wir  ohne  besondere  Aufmerk- 
samkeit und  Willensanstrengung  manche  schwierigen  koordi- 
nierten Bewegungen  zu  vollflihren  vermögen.  Wir  können 
gehen,  ohne  dabei  an  das  Gehen  zu  denken;  die  Fingerhaltung 
beim  Klavierspiel,  anfangs  mit  grofser  Mühe  eingeübt,  gelingt 
schliefslich  unbewufst.  Vielfach  werden  wohl  auch  die  von 
ganzen  Generationen  immer  und  immer  wieder  eingeübten 
Handlungen  vererbt.  Alle  diese  Erscheinungen  sind  mit  der 
des  Gedächtnisses  auf  eine  Stufe  zu  stellen.  Es  handelt  sich 
um  latent  gewordene  Erfahrung,  welche  bei  einer  entsprechen- 
den Anregung  ausgelöst,  also  aktiv  wird.  Willenshandlungen 
sind  innere  Erfahrungen,  insoweit  sie  sich  auf  den  Willen, 
und  äufsere,  insoweit  sie  sich  auf  die  Ausfuhrung  beziehen.  ^) 
Der  Organismus  kann  auch  Erfahrungen  machen,  welche  ihm 
niemals  zum  Bewufstsein  kommen  oder  vielleicht  erst  in  ihren 
Polgen.  So  werden  Infektionskrankheiten  während  des  In- 
kubationsstadiums tagelang  unbewufst  herumgetragen,  so  voll- 
zieht sich  die  Einübung  des  Gehens,  des  Musizierens,  ohne 
dafs  die  dazu  notwendigen  Muskelbewegungen  zum  Bewufstsein 
zu  kommen  brauchen.  Mann  kann  sich  gewöhnen,  zu  einer 
bestimmten  Zeit  morgens  aufzuwachen,  ohne  zu  wissen,  wie 
diese  Gewohnheit  erlangt  wird.  Eine  vom  Hypnotiseur  er- 
teilte Suggestion  ist  nach  dem  Erwachen  aus  der  Hypnose 
vergessen  und  tritt  genau  zu  der  angegebenen  Zeit  ins  Be- 
wufstsein. Wir  müssen  demnach  bewufste  und  unbewufste 
Erfahrung  unterscheiden.  Zum  Bewufstsein  gelangt  eine  Er- 
fahrung nur,  wenn  sie  stark  genug  ist,  um  die  gerade  darin 
befindliche  zu  verdrängen.  Den  Vorzug  verdienen  dabei  die- 
jenigen Erfahrungen,  welche  für  die  Zwecke  des  Ganzen 
wichtig  sind.  Von  mehreren  gleichzeitig  eindringenden  Er- 
fahrungen bleiben  die  weniger  wichtigen  so  lange  im  Unbe- 
wufsten,  bis  für  die  wichtigeren  das  Interesse  erlahmt  ist. 
Obwohl  diese  Darlegungen  ihren  Gegenstand  bei  weitem  nicht 
erschöpfen,   so  geht  aus  ihnen  doch  hervor,  dafs  der  Begriff 

^)  WuNDT,  Grundztige  etc.,  II.  Bd.,  S.  564  ff. 


Die  Zelle  als  Individuum.  449 

des  Unbewufsten  nicht  entbehrt  werden  kann.  Man  glaubte 
wohl  über  die  durch  das  Widersinnige  dieses  Begriffes  ge- 
schaffene Schwierigkeit  dadurch  hinwegzukommen,  dafs  man 
ein  Unterbewufstsein  annahm.  Aber  es  ist  nur  zweierlei 
möglich :  entweder  ist  das  Bewufstsein  zu  verschiedenen  Zeiten 
verschieden  stark  und  man  bezeichnet  verhältnismäfsig  schwache 
Grade  als  UnterbewuTstsein,  oder  die  psychischen  Voi^änge, 
welche  ins  „Unbewufste"  verlegt  werden,  gehören  einer  anderen 
Psyche,  einem  anderen  Bewufstsein  an  als  dem  des  Gesamt- 
organismus. Jede  Ichheit  ist  eine  Einheit,  die  nur  ein  Be- 
wufstsein haben,  immer  nur  eine  Erfahrung  zugleich  machen 
kann.  Das  Unbewufste  aber  ist  nur  ein  Begriff,  der  durch 
Negation  des  aus  der  Erfahrung  gewonnenen  Begriffes  Be- 
wufstsein entstanden  ist,  und  entbehrt  demgemäfs  wie  alle 
derartigen  Negationsbegriffe  der  BrCalität.  Wir  sehen  uns  also 
genötigt,  im  Organismus  das  Vorhandensein  einer  zweiten 
Ichheit  oder  überhaupt  anderer  Ichheit  neben  dem  Gesamt-Ich 
anzunehmen.  Die  Annahme  einer  zweiten  Ichheit,  welche 
doch  wohl  in  das  Rückenmark  zu  verlegen  wäre,  genügt  aber 
auch  nicht.  Denn  bekanntlich  können  verschiedene  Teile 
desselben  für  sich  allein  Lebensäufserungen  von  sich  geben, 
die  als  Auslösung  latenter  Erfahrung  angesehen  werden  müssen. 
(Umklammerungsversuch  von  Goltz,  wobei  nur  das  zu  den 
vorderen  Extremitäten  gehörige  Stück  Rückenmark  erhalten 
zu  sein  braucht.)  Also  sind  im  Rückenmark  selber  verschiedene 
Ichs  anzunehmen.  Am  natürlichsten  aber  ist  es,  so  viele 
Ichheiten  neben  dem  Gesamt-Ich  gelten  zu  lassen,  als  Zellen 
da  sind  oder,  mit  anderen  Worten,  in  der  Individualität  der 
Zelle  die  Ursache  für  die  Möglichkeit  unbewufster,  nicht  in 
das  Bewufstsein  des  Gesamtorganismus  gelangender  Er- 
fahrungen zu  erkennen.  Dem  enthirnten  Tiere  noch  eine 
Ichheit  im  ganzen  zuzusprechen,  dazu  Uegt  kein  zwingender 
Grund  vor,  auch  wird  diese  Annahme  entbehrlich,  wenn  man 
die  Zellen  als  Ichheiten  ansieht.  Allerdings  ist  sogar  der 
hirnlose  Frosch  imstande,  neue  Erfahrung  aufzunehmen  und 
in  seinen  Bewegungen  geschickter  und  regsamer  zu  werden, 

VlerteljahrsBchrift  f.  wlssenschaftl.  Fhilosophie.    XXTTT.  4.  30 


450  August  Dunges: 

falls  er  lange  genug  am  Leben  bleibt.  Daher  glaubt  Wttndt,  ^) 
dafe  das  enthimte  Tier  schliefslich  noch  eine  Art  Bewu&tsein 
in  sich  ausbilden  könne,  obwohl  er  niemals  Bewegungen  be- 
obachtet hat,  die  in  der  Weise  von  äuiseren  Anregungen  un- 
abhängig würden,  wie  die  willkürlichen  Bewegungen  sämtlicher 
Tiere  es  sind.  Aber  es  genügt  zur  Erklärung  jener  Beob- 
achtungen die  Voraussetzung,  dafs  die  Fähigkeit  der  Einzel- 
zellen, associativ  zu  psychischen  Leistungen  sich  zu  vereinigen, 
erhalten  geblieben  ist,  und  dafs  diese  Associationen  in  Er- 
mangelung anderer  Sinnesorgane  nur  noch  durch  die  Thätig- 
keit  des  Hautsinnes  angeregt  werden.  Jene  associative 
Fälligkeit  der  Zellen  ist  es  ja,  worauf  ihre  Zusammenfiigung 
zu  Organismen  beruht,  und  so  gut  wie  sich  auf  Grund  der- 
selben  vor  Jahrmillionen  aus  einem  locker  gefugten  Zellen- 
haufen eine  mehrzellige  psychische  Einheit  entwickelte,  ist 
sie  auch  notwendig,  damit  die  Tochterzellen  der  Sameneizelle 
sich  zu  einer  Ichheit  vereinigen  und  diese  Einheit  auch  auf 
ihre  Abkömmlinge  übertragen. 

Man  könnte  nun  gerade  die  Beobachtungen  an  gehim- 
losen  Tieren  dazu  verwerten,  um  alles  psychische  Dasein  zu 
leugnen  und  jegliche  Lebensthätigkeit  der  Organismen  aus 
physikalischen  und  chemischen  Prozessen  zu  erklären.  Dem- 
gegenüber ist  zu  betonen,  dafs  das  Vorhandensein  der  Ichheit 
ebenso  gut  eine  Erfahrungsthatsache  ist,  wie  jede  noch  so 
gut  beobachtete  physikalische  oder  chemische  Erscheinung, 
und  dafs  alle  Versuche,  dieses  Ich  aus  der  Organismenwelt 
zu  eliminieren,  einfach  daran  scheitern  müssen,  dafs  das  eigene 
Ich  des  Beobachters  bei  jeder  Beobachtung  und  Erfahrung 
dabei  und  ohne  dasselbe  die  Erfahrung  gar  nicht  möglich  ist. 
Wenn  ich  von  irgend  einem  Dinge  etwas  aussage,  so  geschieht 
es  nur  im  Sinne  einer  von  mir  oder  einem  Wesen  derselben 
Gattung  (also  Mitmenschen)  gemachten  Erfahrung.  Ich  kenne 
daher  kein  Ding,  welches  nicht  auf  Grund  subjektiver  Be- 
trachtung zu  meiner  Erkenntnis  gelangt  wäre.    So  kann  ich 


^)  W.  WuNDT,    Vorlesungen    über    die    Menschen-   und  Tierseele, 
1.  Aufl.  1863,  S.  734  ff. 


\ 


Die  Zelle  als  Individuum.  451 

also  auch  bei  der  Betrachtung  des  menschlichen  und  tierischen 
Organismas  meine  Ichheit  nicht  loswerden.  Es  giebt  eben 
keine  Erfahrung  ohne  ein  Ich,  welches  sie  macht,  so  gut  wie 
es  kein  Ich  giebt  ohne  einen  Erfahmngsinhalt.  Die  physi« 
kalischen  und  chemischen  Kräfte  sind  Gegenstand  der  Er- 
fahrung, nicht  Subjekt  derselben.  Sie  können  wohl  im  Momente 
der  Erfahrung  mit  dem  Ich  zu  einer  Erfahrung  verschmelzen, 
aber  das  nur  so  lange,  bis  ein  neuer  Eindruck  sie  ablöst. 
LoTZE  sagt  im  Mikrokosmos  (Bd.  I,  S.  161):  „Wie  weit  wir 
auch  den  eindringenden  Sinnesreiz  durch  den  Nerven  verfolgen, 
wie  vielfach  wir  ihn  seine  Form  ändern  und  sich  in  immer 
feinere  und  zartere  Bewegungen  umgestalten  lassen,  nie  werden 
wir  nachweisen  können,  dafs  es  von  selbst  in  der  Natur  irgend 
einer  so  erzeugten  Bewegung  liege,  als  Bewegung  aufzuhören 
und  als  leuchtender  Glanz,  als  Ton,  als  Süfsigkeit  des  Ge* 
schmacks  wieder  geboren  zu  werden".  In  seinem  Entwürfe 
zu  einer  physiologischen  Erklärung  der  psychischen  Er- 
scheinungen betrachtet  es  Exneb  als  seine  Aufgabe,  „die 
wichtigsten  psychischen  Erscheinungen  auf  die  Abstufung  von 
Erregungszuständen  der  Nerven  und  Nervencentren,  demnach 
alles,  was  im  BewuTstsein  als  Mannigfaltigkeit  erscheint,  auf 
quantitative  Verhältnisse  und  auf  die  Verschiedenheit  der 
centralen  Verbindungen  von  sonst  wesentlich  gleichartigen 
Nerven  und  Centren  zurückzuführen".^)  Ich  kann  es  nicht 
für  erwiesen  halten,  dafs  damit  eine  rein  physiologische  Er- 
klärung gegeben,  der  psychische  Faktor  völlig  eliminiert  ist, 
denn  es  mufs  wenigstens  die  Möglichkeit  zuzugeben  werden, 
dafs  die  „Erregungszustände"  sich  auf  psychischem  Gebiete 
abspielen.  Wenn  Exneb  dann  weiter  sagt,  die  Lebensäufserungen 
des  tierischen  Organismus  würden  so  reguliert,  dafs  sie  im 
Sinne  der  Erhaltung  des  Individuums,  der  Nachkommenschaft 
und  der  Genossenschaft  zweckmäfsige  sind,  so  ist  auch 
darin  der  Hinweis  auf  das  Subjekt  der  Erfahrung  deutlich 
genug  enthalten. 


^)  S.  ExNSB,    Entwurf   zu    einer   physiologischen   Erklärung   der 
psychischen  Erscheinungen,  I.  Teil,  Wien  1894,  S.  3. 

30* 


452  August  Dunges: 

Nach  dieser  Abschweifung  kehren  wir  zu  unserer  Absicht 
zurück,  für  eine  vom  Gesamtorganismus  unabhängige  psychische 
Thätigkeit  von  Zellengruppen  Belege  beizubringen.  Eines 
der  wunderbarsten  Beispiele  hierfür  erhält  man,  wenn  man 
einen  Regenwurm  durchschneidet,  indem  jeder  Abschnitt  flir 
sich  weiter  lebt  und  sich  in  jeder  Beziehung  so  verhält,  dafs 
er  als  ein  besonderes  Ich  aufgefafst  werden  mufs.  Dieser 
Vorgang  läfst  sich  am  besten  erklären  durch  die  schon  früher 
erwähnte  Fähigkeit  der  Zellen,  sich  zu  einer  psychischen 
Einheit  höherer  Ordnung  zu  associieren.  Je  einfacher  ein 
Wesen  organisiert  ist,  um  so  leichter  und  schneller  wird  diese 
Association  sich  vollziehen.  Besonders  leicht  kommt  sie  in 
der  Pflanzenwelt  zustande,  wo  ein  Zweig  oder  ein  Blatt  ge- 
nügt, um  ein  neues  Individuum  entstehen  zu  lassen.  Wenn 
aber  Agassiz^)  sagt:  „Die  Botaniker  haben  nie  den  Baum 
einfach  als  ein  Individuum  angesehen,  sondern  als  ein  Aggreat 
von  Einzelwesen,  die  auf  derselben  Grundlage  gewachsen  und 
an  den  Mutterstamm  gefesselt  auch  bei  ihm  verbleiben'^,  so 
kann  ich,  so  sehr  auch  diese  ÄuTserung  für  die  Individualität 
der  Zelle  sich  verwerten  läM,  nicht  einsehen,  dafs  die  Sonder- 
wesenheit der  Teile  einen  Gegenbeweis  gegen  die  Ichheit  des 
Ganzen  darstellen  solle. 

Jedenfalls  aber  wird  durch  derartige  Beispiele  gezeigt^ 
daüs  ein  Organismus  mehrere  psychische  Dignitäten  in  sich 
vereinigen  kann,  eine  Thatsache,  welche  geeignet  ist,  die 
Individualität  der  Zelle  verständlicher  zu  machen. 

Zum  Schlüsse  sei  unsere  Betrachtung  noch  gewissen 
pathologischen  Zellbildungen  gewidmet,  den  Geschwülsten 
und  den  Mifsbildungen.  Die  Geschwülste  sind  Zellgruppen, 
welche  nicht  nur  an  den  Zwecken  des  Gesamtoi^anismus 
sich  nicht  beteiligen,  sondern  denselben  oft  genug  feindlich 
entgegentreten.  Sie  verdanken  zum  Teil  Bakterien  oder 
sonstigen  Parasiten  ihren  Ursprung,  für  andere  aber  ist  bis 
jetzt  eine  solche  Ursache  nicht  erwiesen,   vielmehr  scheint 


')  AoAssiz,   Der  Schöpfuugsplan,   deutsch  von  E.  Gibbbl,   Leipzig 
1875,  S.  122. 


Die  Zelle  als  Individuum.  453 

hier  die  CoHNHEiM'sche  Ansicht,  dafs  sie  aus  persistierenden 
embryonalen  Keimanlagen  hervorgehen,  sich  zu  behaupten. 
Wie  hier  embryonales,  so  kann  auch  ausgewachsenes,  ureigenes 
Gewebe  des  Organismus  diesem  verderblich  werden,  z.  B. 
Metastasen  des  Schilddrüsen-,  des  Placentargewebes.  Gewisse 
Geschwülste  stammen  nachweislich  von  einer  anderen  Indivi- 
dualität her,  als  der  des  Organismus,  nämlich  die  Teratome, 
von  denen  manche  als  rudimentäre  Doppelmifsbildungen,  als 
das  Überbleibsel  eines  nicht  zur  vollen  Entwicklung  gelangten 
zweiten  Zwillings  angesehen  werden  müssen.  Endlich  ver- 
dienen die  Doppelmifsbildungen  selber  die  gröfste  Beachtung. 
Sie  betreffen  in  der  Regel  zwei  deutlich  unterscheidbare  Indi- 
viduen, welche  so  miteinander  verwachsen  sind,  dafs  sie  ge- 
wisse Organe  gemeinsam  haben.  Nicht  blofs  der  Eumpf, 
auch  die  Köpfe,  ja  beides  zugleich  können  vereinigt  sein.^) 
Bei  Tieren  sind  Mifsbildungen  künstlich  erzeugt  vorden.^) 
Besonders  interessant  sind  die  Verwachsungsversuche,  welche 
BoRN^  mit  Amphibienlarven  anstellte,  bei  denen  nicht  blofs 
eine  anatomische,  sondern  auch  eine  funktionelle  Vereinigung 
erzielt  wurde.  Fehlt  dem  einen  Partner  das  Herz,  so  wachsen 
in  ihn  Gefäfse  aus  dem  anderen  hinein,  verbinden  sich  mit 
den  an  Ort  und  Stelle  entstandenen  und  stellen  eine  aus- 
reichende Cirkulation  her.  Auch  gemeinsame  Darmabschnitte 
können  entstehen.  In  anderen  Fällen  wurde  ein  ganzes 
Körperende  mit  allen  seinen  Organen  durch  Anfügung  der 
entsprechenden  Teile  eines  zweiten  Tieres  ersetzt  oder  ver- 
längert oder  verdoppelt.  Die  Organe  des  Hinterstückes  und 
des  Vorderstückes  arbeiteten  dann  so  zusammen,  wie  die  zu- 
sammengehörenden Teile  eines  Exemplares.  Für  alle  diese 
recht  staunenswerten  Bildungen  läfst  sich  am  ehesten  oder 
vielleicht  überhaupt  nur  dann  ein  Verständnis  gewinnen,  wenn 
man  die  Zellen  als  Wesen  auffafst,  welche  eine  vom  Gesamt- 


1)  ZiBGLEB,  Lehrbuch  der  pathol.  Anatomie  1887,  S.  279. 

2)  0.  Hertwio,  a.  a.  0.  11,  S.  125. 

8)  BoBN,  Über  Verwachsungsversuche  mit  Amphibienlarven.    Archiv 
für  Entwicklungsmechanik  1897,  Bd.  IV,  Heft  3  u.  4. 


454  August  Dunges:  Die  Zelle  als  Individuum. 

Organismus  unabhängige  Psyche  besitzen  (eine  in  sich  abge- 
schlossene Bewufstseinseinheit  darstellen),  dabei  aber  mit  der 
Fähigkeit  ausgestattet  sind,  sich  mit  anderen  Zellen  zu  einem 
höheren  Organismus  zu  associieren.  — 

Wie  ein  Krystall  aus  vielen  kleineren,  ebenso  beschaffenen 
Krystallen  entsteht,  so  baut  sich  der  Organismus  auf  aus  vielen 
ursprünglich  gleichartigen  Zellen,  welche,  veränderten  Zwecken 
und  Lebensbedingungen  sich  anpassend,  zugleich  dem  Ganzen 
dienen  und  sich  selber.  Wie  in  einem  Sonnensystem  jeder 
Himmelskörper  für  sich  da  ist,  aber  durch  eine  besondere 
Kraftrichtung  auch  mit  dem  Ganzen  zusammenhängt,  so  unter- 
werfen sich  jene  Ichheiten,  jene  Körperchen  des  Körpers,  jene 
Seelchen  der  Seele  einer  höheren  Idee,  einem  allgemeinen 
Gesetze.  Die  Zwecke  der  Teile  und  des  Ganzen  sind  gleich- 
gerichtet, wie  die  Eisenmolektile  eines  Magnetes,  und  erst 
Krankheit  oder  Tod  heben  die  Richtung  auf,  so  dafs  nur  die 
eigene  Individualität  der  Zelle  eine  Zeit  lang  noch  übrig  bleibt. 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortsehritts 

der  Menschheit. 

Von  A.  Yierkandt,  Braunschweig. 


Inhalt. 

1.  FragesteUang.  2.  Das  Wesen  der  Eultnr.  3.  Die  Mehrung  nnd  Erhaltung 
der  Kulturgüter.  4.  Folgerungen  aus  den  vorigen  Erörterungen  für  unser  Pi'oblem. 
5.  Wirkungen  der  Eulturentwicklung  auf  das  Individuum:  Steigerune  der  Intelligenz, 
der  Willensstärke  und  der  Objektivität.  6.  Der  Fortschritt  der  Normen.  ^.  Der 
Fortschritt  der  sittlichen  Leistungen.  8.  Der  Fortschritt  der  sittlichen  Handlungen. 
9.  Der  Fortschritt  der  Gesinnung.    10.    Die  Verschiebung  der  Interessenkreise. 


1.  Zu  der  Frage  nach  dem  sittlichen  Fortschritt  der 
Menschheit,  wie  sie  von  dem  Herausgeber  dieser  Zeitschrift 
in  ihr  an  einer  anderen  Stelle  erörtert  worden  ist,^)  beab- 
sichtigen die  folgenden  Zeilen  einen  Beitrag  zu  liefern,  der 
von  der  vorigen  Arbeit  hauptsächlich  in  zwei  Richtungen 
abweicht,  nämlich  erstens  hinsichtlich  der  zum  Vergleich  mit- 
einander herangezogenen  Kulturkreise  und  zweitens  hinsicht- 
lich der  Fragestellung.  2)  In  ersterer  Beziehung  machen  die 
Betrachtungen  über  den  in  Rede  stehenden  Gegenstand  sich 
nicht  selten  einer  Vermengung  heterogener  Dinge  schuldig. 
Sie  legen  ihren  Erwägungen  meist  denjenigen  etwas  buntge- 
mischten  Kreis  von  Völkern  und  Kulturen  zu  Grunde,  den 
man  herkömmlich  als  das  Gebiet  des  geschichtlichen  Lebens 
zu  bezeichnen  pflegt,  nämlich  die  orientalischen  Völker  der 
letzten  Jahrtausende  v.  Chr.  G.,  das  klassische  Altertum  und 
die  westeuropäischen  Völker  während  des  Mittelalters  und  der 

1)  Vergl.  P.  Barth,  Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der 
Menschheit,  S.  75 — 116  dieses  Bandes. 

2)  Gegenbemerkungen  zur  vorliegenden  Abhandlung,  der  ich  in 
wesentlichen  Thesen  nicht  zustimme,  behalte  ich  mir  vor.      P.  Barth. 


456  A.  Vierkandt: 

Neuzeit.  Mit  zwei  Ubelständen  ist  diese  Zusammenstelluiig 
behaftet.  Erstens  ist  der  Standpunkt  der  Betrachtung  zu 
niedrig,  der  Gesichtskreis  nicht  weit  genug  gewählt,  um 
zwischen  zufälligen  Erscheinungen  und  wesentlichen  Zügen 
der  Entwicklung,  zwischen  vorübergehenden  Schwankungen 
und  einer  bleibenden  Entwicklungstendenz  mit  Sicherheit 
unterscheiden  zu  können.  Zweitens  ist  der  Stoff  nach  zu- 
fälligen statt  nach  wesentlichen,  nämlich  nach  räumlichen 
und  zeitlichen  statt  nach  kulturellen  Gesichtspunkten  ausge- 
wählt. In  Wirklichkeit  bezieht  sich  unser  Problem  doch  auf 
den  Zusammenhang  zwischen  Kultur  und  Sittlichkeit,  zwischen 
dem  Fortschritt  auf  dem  einen  und  demjenigen  auf  dem  anderen 
Gebiete;  es  erfordert  demgemäfs  eine  Gegenüberstellung  von 
Völkern  oder  Völkergruppen  mit  ausgeprägt  distinkter  Kultur- 
höhe, gleichviel  ob  diese  Massen  simultane  oder  successive 
Erscheinungen  bilden.  Aus  rein  praktischen  Gründen  wollen 
wir  uns  im  folgenden  für  das  Erstere  entscheiden,  nämlich 
die  Zustände  der  heutigen  Naturvölker,  wie  Indianer,  Neger, 
Polynesier  u.  s.  w.,  mit  denjenigen  der  modernen  europäischen 
Völker,  unter  gelegentlicher  Berücksichtigung  ihrer  Verhält- 
nisse auch  während  der  letzten  voraufgegangenen  Jahrhunderte 
und  der  wesensverwandten  alten  griechischen  Kultur,  ver- 
gleichen. Die  Zustände  der  heutigen  Naturvölker  bei  der 
Betrachtung  an  die  Stelle  derjenigen  der  alten  Germanen  und 
der  ihnen  verwandten  Stämme  treten  zu  lassen,  die  übrigens 
in  den  wesentlichen,  hier  in  Betracht  kommenden  Punkten 
mit  ihnen  als  gleich  vorauszusetzen  kaum  einem  berechtigten 
Einwand  unterliegen  dürfte,  empfiehlt  sich  deswegen,  weil  sie 
uns  nach  ihrer  äufseren  wie  nach  ihrer  inneren  Seite  besser 
bekannt  sind.  Vor  der  Gefahr  der  Vermengung  des  Wesent- 
lichen und  Unwesentlichen  sind  wir  bei  dem  einen  Gliede 
des  Vergleiches  allerdings  nicht  völlig  sicher;  dazu  enthalten 
die  modernen  Verhältnisse  der  westeuropäischen  Völker  be- 
sonders auf  dem  wirtschaftlichen  Gebiet  zu  viel  Einzigartiges, 
zu  dem  wir  in  dem  übrigen  Bereich  der  Vollkultur  kein 
Seitenstück  finden.    Allein  einerseits  scheint  die  Entwicklung 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     457 

9 

dieser  ganzen  Zustände  mit  einer  gewissen  psychologischen 
Notwendigkeit  aus  dem  Wesen  der  Vollkultur  hervorzugehen, 
andererseits  besitzen  gerade  unsere  modernen  Zustände  in 
praktischer  Beziehung  eine  so  überragende  Wichtigkeit,  dafs 
es,  selbst  wenn  ihr  singulärer  oder  exceptioneller  Charakter 
festgestellt  wäre,  von  hohem  Interesse  für  uns  sein  würde, 
sie  zum  Gegenstande  eines  Vergleiches  mit  den  sittlichen 
Verhältnissen  der  Naturvölker  zu  machen. 

In  der  Fragestellung  weichen  wir  von  der  vorigen 
Arbeit  insofern  ab,  als  wir  nicht  blofs  nach  der  Thatsache 
des  sittlichen  Fortschritts  fragen,  sondern  auch  nach  dem  qua- 
litativen Charakter,  nach  dem  inneren  Werte  oder  Gehalte 
eines  solchen  etwaigen  Fortschritts.  Auch  in  dieser  Beziehung 
sind  die  meisten  älteren  Betrachtungen  mit  einem  erheblichen 
Ubelstande  behaftet,  welcher  sich  aus  ihrem  Mangel  einer 
ausreichenden  Analyse  des  äufserst  komplexen  Thatsachen- 
bestandes  ergiebt.  Allerdings  stellen  sich  einer  solchen  Zer- 
gliederung erhebliche  und  fast  unüberwindliche  Schwierigkeiten 
entgegen,  welche  teils  in  der  Sache  liegen,  teils  sich  auf  die 
sprachliche  Unterscheidung  und  Verständigung  beziehen. 
Zunächst  freilich  ergiebt  sich  ohne  weiteres,  dafs  man  bei 
einer  Betrachtung  des  sittlichen  Lebens  eines  Volkes  zu 
unterscheiden  hat  zwischen  den  sittlichen  Normen,  wie  sie 
sich  teils  in  dem  öffentlichen  Bewufstsein  und  den  ihm  ent- 
sprechenden socialen  Normen,  teils  in  dem  Gewissen  des  Ein- 
zelnen bekunden,  als  dem  theoretischen  Teile  der  Sittlichkeit 
eines  Volkes  und  ihrem  praktischen  Teile,  bei  dem  wir  wieder 
die  äufsere  und  innere  Seite  der  sittlichen  Handlungen,  ihre 
Wirkungen  und  ihre  Motive,  oder,  wie  wir  in  der  Folge  sagen 
wollen,  die  sittlichen  Leistungen  und  die  sittlichen  Handlungen 
zu  trennen  haben.  In  dieser  Beziehung  folgt  aus  dem  Wesen 
des  ganzen  Kulturmechanismus  unmittelbar  der  Satz,  dafs  der 
Fortschritt  der  sittlichen  Normen  gröfser  als  derjenige  der 
sittlichen  Leistungen  und  dieser  wieder  gröfser  als  derjenige 
der  sittlichen  Handlungen  ist,  während  es  mit  dem  inneren 
Werte   dieser   drei  Gruppen  von  Thatsachen   sich   offenbar 


458  A.  Vierkandt: 

umgekehrt  verhält.  Auf  grofse  Schwierigkeiten  hingegen 
stofsen  wir  bei  dem  Versuche  der  Klassifikation  und  Ab- 
grenzung sowohl  der  sittlichen  Motive  wie  der  sittlichen 
Handlungen.  Hinsichtlich  der  ersteren  bereiten  alle  ge- 
wohnheitsmäfsigen  Handlungen,  soweit  sie  für  unseren  Zweck 
in  Betracht  kommen,  Schwierigkeiten,  d.  h.  alle  diejenigen, 
bei  denen  die  Macht  der  Gewohnheit  als  ein  innerer  Zwang 
wirkt,  während  gleichzeitig  die  begleitenden  Gefühle  vermöge 
des  Prozesses  der  Mechanisation  sich  auf  ein  Minimum  redu- 
ziert haben  oder  völlig  geschwunden  sind.  Ein  schematisches 
sich  Bewegen  in  festen  Geleisen  ist  die  notwendige  und  hin- 
reichende Bedingung  für  diesen  Prozefs,  und  demgemäfs  gehört 
das  Tagewerk  der  meisten  Menschen  hierher.  Soweit  solche 
Leistungen  überhaupt  direkt  oder  irgendwie  indirekt  sittliche 
Werte  erzeugen  helfen,  können  ihre  ursprünglichen  Motive 
sowohl  sittlicher  wie  aufsersittlicher  Natur  sein,  können  sie 
sowohl  dem  Bereich  des  Mitgeflihls,  des  Selbstgefühls,  der  Liebe 
zur  Sache  oder  irgendwelcher  imperativer  Vorstellungen  an- 
gehören als  in  der  Eitelkeit  oder  der  Eücksicht  auf  sociale 
oder  wirtschaftliche  Vorteile  bestehen.  In  ihrer  definitiven 
Gestalt  aber  müssen  alle  diese  Erscheinungen  offenbar  einem 
Grenzgebiet,  einer  sittlichen  Indifferenzzone  überwiesen  werden. 
Auf  eine  ähnliche  Zone  stofsen  wir  bei  der  Begrenzung  der 
sittlichen  Handlungen.  Nach  ihrem  Ziel  können  wir  alle 
menschlichen,  noch  nicht  mechanisierten  Handlungen  in  drei 
Klassen  einteilen,  je  nachdem  dieses  sich  auf  das  eigene  Ich 
oder  ein  fremdes  Ich  bezieht  oder  in  einem  objektiven,  un- 
persönlichen Sachverhalt  als  solchem  besteht.  Die  mittlere 
Klasse  fällt  offenbar  restlos  unter  den  Begriff  der  altruistischen 
Handlungen.  Bei  der  ersten  aber  hat  man  jedenfalls  zwischen 
niederen  und  höheren  oder  zwischen  egoistischen  oder  in- 
differenten und  perfektionistischen  Bestrebungen  zu  unter- 
scheiden, während  der  Versuch  einer  genauen  Abgrenzung 
beider  als  aussichtslos  erscheint.  Bestrebungen  objektiven 
Inhaltes  aber  können  entweder  mehr  imperativen  Motiven 
entspringen,  wie  dem  Ehrgefühl  und  der  Pflichttreue,  insbe- 


\ 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     459 

sondere  der  Berufstreue,  oder  es  kann  die  Freude  an  dem 
individuellen  Sachverhalt  der  Schöpfer  der  einzelnen  Leistung 
sein.  Im  letzteren  Falle  wird  man  geneigt  sein,  die  Wert- 
beurteilung nach  dem  objektiven  Werte  der  Leistung  zu  be- 
messen, also  z.  B.  bei  Leistungen  von  künstlerischem  oder 
wissenschaftlichem  Gehalte  oder  bei  solchen  von  socialer  Be- 
deutung jene  impulsiven  Eegungen  für  sittlich  wertvoll  zu 
erklären,  in  den  anderen  Fällen  dagegen  sie  ebenfalls  einer 
Indifferenzzone  zu  überweisen.  Immerhin  geht  auch  in  dem 
letzten  Falle,  z.  B.  bei  der  Bemühung  eines  Handwerkers  um 
eine  sorgfaltige  Leistung  oder  bei  der  Pflege,  die  etwa  ein 
Eentner  seinem  Garten  erweist,  von  solchen  objektiven  Hand- 
lungen eine  wertvolle  sittliche  Rückwirkung  aus,  indem  einer- 
seits die  Fähigkeit  des  objektiven  Interesses  überhaupt  eine 
Vorbedingung  für  viele  sittliche  Handlungen,  namentlich  solche 
altruistischen  Inhalts  bildet,  andererseits  jede  Arbeit  eine 
Schule  der  Selbstüberwindung  und  somit  ein  Erziehungsmittel  ist. 

Aber  auch  innerhalb  der  so  unterschiedenen  einzelnen 
Provinzen  des  sittlichen  Lebens  verlangen  die  Erscheinungen 
noch  eine  weitere  Zergliederung;  denn  eine  solche  gewährt 
eine  bessere  Einsicht  als  die  einfache  Bejahung  oder  Ver- 
neinung der  Frage  nach  dem  Fortschritt,  weil  wir  so  vielfach 
im  einzelnen  beide  Erscheinungen  nebeneinander  finden.  Nur 
eine  derartige  Zergliederung  der  Erscheinungen  sowohl  in 
der  einen  wie  in  der  anderen  Hinsicht  eröfl&iet  uns  ein  wirk- 
liches Verständnis  jener  pessimistischen  Beurteilung  der 
menschlichen  Kultur,  welche  uns  schon  im  Aufklärungszeit- 
alter als  eine  so  nachdrückliche  Unterströmung  entgegentritt. 
Schon  ihre  Hartnäckigkeit  und  die  Thatsache,  dafs  ihre  Ver- 
treter teilweise  mitten  im  Leben  stehende  Männer  sind,  macht 
es  wahrscheinlich,  dafs  ihr  ein  gewisser  Wahrheitsgehalt  nicht 
abgeht.  In  der  That  ist  ein  solcher  in  zweierlei  Art  bei  ihr 
vorhanden.  Erstens  finden  wir,  wie  erwähnt,  im  einzelnen 
neben  Fortschritten  häufig  Rückschritte  von  demselben,  ja 
stellenweise  sogar  von  gröfserem  Belang.  Zweitens  aber  sehen 
wir  das  sittliche  Element  in  dem  gesamten  Mechanismus  der 


460  A.  Yierkandt: 

Eultur  keineswegs  eine  dominierende  nnd  fuhrende  Eolle 
spielen,  und  demgemäfs  erscheint  der  sittliche  Fortschritt 
auch  weniger  als  Ursache  denn  als  eine  unbeabsichtigte  und 
darum  gelegentlich  teilweise  oder  ganz  ausbleibende  Folge 
des  Kulturfortschritts. 

Dieses  vorausgeschickt,  wenden  wir  uns  unserem  eigent- 
lichen Thema  zu.  Bei  einem  Vergleich  der  Naturvölker  mit 
der  modernen  Kultur  glauben  wir  im  grofsen  und  ganzen  die 
Thatsache  des  sittlichen  Fortschritts  nach  den  drei  Seiten 
der  Normen,  der  Leistungen  und  der  Handlungen  als  festge- 
stellt voraussetzen  zu  dürfen.  Unsere  Bemühung  gut  dem- 
gemäfs der  Zergliederung  dieses  Fortschritts  und  dem  Versuch, 
ihn  nach  seinem  inneren  Wesen  und  Gehalt  gebührend  zu 
begrenzen.  Dabei  betrachten  wir  der  Reihe  nach  die  Normen, 
die  Leistungen  und  die  Handlungen.  Voraus  schicken  wir 
angesichts  des  naheUegenden  kausalen  Zusammenhanges  eine 
kurze  Erörterung  über  das  Wesen  der  Kultur  und  die  Art 
ihrer  Erhaltung  und  ihres  Wachstums. 

2.  Das  Wesen  der  menschlichen  Kultur,  d.  h.  ihre 
sowohl  an  sich  wie  insbesondere  auch  für  die  vorliegende 
Betrachtung  wichtigste  Eigenschaft,  erblicken  wir  in  der 
Existenz  fester  Formen,  welche  alles  menschliche  Geschehen 
und  Handeln  im  Gegensatze  zu  dem  rein  impulsiven  Verlaufe 
der  aufserhalb  des  Bereiches  der  Kulturformen  sich  abspielen- 
den psychischen  und  körperlichen  Vorgänge  von  aufsen  her 
beeinflussen  und  ihm  eine  feste  Fassung  aufiiötigen.  Für  das 
Bereich  der  Sprache,  der  Sitte  und  des  Rechts  bedarf  die 
Existenz  und  Bedeutung  solcher  fester  Formen  keines  Wortes. 
Aber  auch  für  die  Erscheinungen  des  wirtschaftlichen,  reli- 
giösen, politischen  und  geistigen  Lebens  zeigt  eine  einfache 
Besinnung  sowie  die  Beobachtung  des  täglichen  Lebens,  dafs 
alle  über  die  Existenz  des  einzelnen  Individuums  hinaus- 
greifenden und  zu  dem  Range  einer  dauernden  Kulturleistung 
sich  erhebenden  Vorgänge  feste  Formen  schaffen,  innerhalb 
deren  sich  der  Lauf  der  Dinge  immer  wieder  in  derselben 
Weise   abspielt.     Daraus   ergiebt   sich   sofort   als   eine   der 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     461 

wichtigsten  Eigenschaften,  welche  die  menschliche  Kultur  in 
kausaler  Beziehung  dem  einzelnen  Individuum  gegenüber  her 
sitzt,  ihre  Objektivität:  dem  Einzelnen  mit  seinen  Bedürf- 
nissen, Wünschen  und  individuellen  Anlagen  tritt  die  Kultur 
als  eine  Reihe  fest  gegebener  Zustände  gegenüber,  welche  auf 
ihn  überall  zwingende  Einflüsse  ausübt  und  ihn  demgemäfs 
viel  stärker  kausal  bestimmt,  als  er  seinerseits  im  allgemeinen 
auf  sie  zurückzuwirken  vermag.  Das  ganze  tägliche  Thun 
und  Lassen  des  Individuums  z.  B.  wird  durch  die  Sitte  und 
die  öffentliche  Meinung,  sein  wirtschaftliches  Leben  und  seine 
Erwerbsthätigkeit  durch  die  auf  diesen  Gebieten  ausgebildeten 
Überlieferungen  und  festen  Formen,  seine  Anschauungen  über 
das  Leben,  das  Dasein,  die  Ursachen  der  Dinge  u.  s.  w. 
durch  feststehende  religiöse,  mythologische,  philosophische 
und  wissenschaftliche  Ideen  seiner  Zeit  bestimmt.  Gleich 
wie  das  physische  Leben  eines  jeden  Organismus  durch  seine 
Umgebung  in  der  stärksten  Weise  beeinfluTst  wird,  so  stellt 
die  Gesamtheit  aller  Einrichtungen  der  Kultur  eine  Eeihe  von 
Beizen  dar,  welche  neben  der  besonderen  Anlage  jedes  Ein- 
zelnen den  Verlauf  seines  Lebens  bestimmen.  Diese  Eeize 
treten  als  eine  zweite  Art  der  Kausalität  neben  diejenigen, 
welche  die  umgebende  physische  Natur  auch  bei  den  Menschen 
noch  ausübt;  während  diese  aber  bei  den  Tieren  allein  oder 
bei  den  gesellig  lebenden  fast  ausschliefslich  deren  Lebenslauf 
bestimmt,  tritt  hier  ihre  Bedeutung  mit  der  wachsenden  Kultur 
gegenüber  deijenigen  der  socialen  Kausalität  immer  mehr 
zurück.  Das  natürliche  Milieu  verliert  an  Ba^um  fortwährend 
zu  Gunsten  des  socialen.  Auf  wirtschaftlichem  Gebiete  z.  B. 
wirken  bei  den  Naturvölkern  der  Ernährung  ungünstige  Natur- 
einflüsse, welche  etwa  die  Ausbeute  der  Jagd  vermindern  oder 
den  Ertrag  der  Bodenbestellung  beeinträchtigen,  angesichts  der 
hier  herrschenden  Naturalwirtschaft  noch  auf  jeden  Einzelnen 
direkt  ein,  während  bei  uns  von  solchen  Ereignissen,  ganz 
abgesehen  von  der  Verminderung  ihrer  Tragweite,  wie  sie 
sich  aus  den  vielen  Vorbeugungsmafsregeln  einer  höheren 
Kultur  ergiebt,   nur  noch  einzelne  Berufsklassen  direkt,   alle 


462  A.  Vierkandt: 

Übrigen  aber  nur  indirekt  vennöge  der  socialen  Beziehungen, 
welche  sie  mit  jenen  verknüpfen,  also  nur  durch  Vermittelung 
des  socialen  Milieus  betroffen  werden.  Freilich  wird  die  gesamte 
Abhängigkeit  des  Menschen  von  der  Natur  dadurch  nicht 
verringert,  sondern  eher  erhöht  angesichts  der  gröfseren 
Enei^e,  Besonnenheit  und  Planmäfsigkeit,  mit  der  die  Natur- 
kräfte den  menschlichen  Interessen  dienstbar  gemacht  werden. 
Allein  die  Abhängigkeit  wird  besonders  infolge  der  gesteigerten 
Arbeitsteilung  aus  einer  direkten  immer  mehr  zu  einer  in- 
direkten, bei  der  zwischen  dem  Naturreiz  als  dem  Anfangs* 
und  der  menschlichen  Handlung  als  dem  Endglied  der  kausalen 
Kette  eine  Reihe  von  Handlungen  und  Überlegungen  teils 
derselben,  teils  anderer  Individuen  eingeschaltet  sind.  Die 
physische  Kausalität  wird  m.  a.  W.  immer  mehr  zu  Gunsten 
der  socialen  zurückgedrängt. 

3.  Wir  knüpfen  hieran  die  Frage  nach  dem  Mechanismus 
der  Erhaltung  und  Mehrung  der  Kulturgüter.  Die 
populäre  Auffassung,  welche  die  Kultur  im  allgemeinen  mit 
der  Summe  der  sittlichen  Lebensgüter  identifiziert,  erblickt, 
indem  sie  eine  Adäquatheit  von  Wirkung  und  Ursache  vor- 
aussetzt, die  Gründe  für  die  Erhaltung  und  das  Wachstum 
der  Kultur  vorwiegend  in  Vorgängen  sittlicher  Natur.  Auch 
die  Aufklärung  teilte  in  der  Hauptsache  diesen  Standpunkt, 
obschon  es  ihr  bekanntlich  an  einer  ganz  entgegengesetzten, 
pessimistischen  Nebenströmung  nicht  fehlte,  die  sich  bis  auf 
die  Gegenwart  fortgesetzt  hat.  Beide  Voraussetzungen  jenes 
Standpunktes  erweisen  sich  indessen  als  nicht  stichhaltig. 
Erstens  bedeutet  durchaus  nicht  jeder  Fortschritt  der  Kultur 
auch  einen  solchen  auf  sittlichem  Gebiet,  und  zweitens  ist 
das  geistige  Leben  bekanntlich  überall  durch  ein  quantitatives 
wie  qualitatives  Mifsverhältnis  von  Ursache  und  Wirkung 
charakterisiert.  Und  in  der  That  wird  auch  die  pessimistische 
Auffassung  dem  Sachverhalte  viel  mehr  gerecht.  Wir  erörtern 
das  zunächst  für  die  Erscheinungen  der  Mehrung  und  Wandelung 
der  Kulturgüter.  Dabei  ist  zwischen  solchen  von  mehr  socialem 
Ursprung,   wie   Sitte   und  Sprache,    und  solchen   von   mehr 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     463 

individuellem  Ursprung,  wie  den  technischen  und  politischen 
Vervollkommnungen,  zu  unterscheiden.  Die  Entstehung  der 
letzteren  ist  der  Beobachtung  und  dem  Verständnis  leichter 
zugänglich,  obschon  sie  bis  jetzt  keine  einheitliche  Behandlung 
erfahren  hat;  diejenige  der  ersteren  hat  man  sich  meist  be- 
gnügt auf  die  Thätigkeit  eines  Volksgeistes  zurückzufahren, 
während  zu  einer  Analyse  ihres  Mechanismus  bis  jetzt  nur 
vereinzelte  Anläufe  vorliegen.  Eine  solche  ergiebt  natürlich, 
dafs  erstens  der  Begriff  des  Volksgeistes  lediglich  im  aktuellen 
Sinne  zu  verstehen  ist,  und  dafs  zweitens  diejenigen  Bewufst- 
seinsvorgänge  des  Einzelnen,  in  Gestalt  deren  sich  seine 
Leistungen  vollziehen,  von  ihren  übrigen  psychischen  Prozessen, 
welche  lediglich  individuellen  Interessen  dienen  und  lediglich 
individuelle  Tragweite  besitzen,  sich  nur  unter  dem  Gesichts- 
punkt ihrer  Wirkung,  nicht  unter  dem  ihrer  Ursache,  unter- 
scheiden. Ob  angesichts  dieser  Thatsache  die  Beibehaltung 
des  Sammelbegriffs  „Volksgeist"  sich  überhaupt  noch  empfiehlt, 
kann  zweifelhaft  erscheinen.  Es  liegt  nämlich  die  Gefahr 
nahe,  dafs  man  die  durch  ihn  ausgedrückte  Einheitlichkeit 
der  Bewufstseinsvorgänge  verschiedener  Individuen  im  Süme 
einer  altruistischen,  socialen  Gesinnung  versteht,  dafs  man 
m.  a.  W.  zwei  Arten  der  Übereinstimmung  des  Willens  ver- 
schiedener Individuen  verwechselt:  eine  solche,  bei  der  es 
sich  um  eine  Reihe  egoistischer,  nur  zufällig  auf  dasselbe 
äufsere  Ziel  gerichteter  Bestrebungen  handelt  (wie  z.  B.  das 
Bestreben  einer  Anzahl  Kaufleute,  dasselbe  Geschäft  abzu- 
schliefsen),  und  eine  solche,  bei  der  es  sich  um  die  solidarische 
Verfolgung  desselben  Zieles  handelt  (wie  z.  B.  das  Bestreben 
eines  Regiments  in  einer  Schlacht,  eine  bestimmte  Position 
zu  erobern).  Für  die  Leistungen  des  Volksgeistes  kommt 
natürlich  nur  die  erstere  Art  von  Übereinstimmung  in  Betracht. 
Bei  der  Schaffung  oder  Umwandlung  eines  Kulturgutes  durch 
ihn  kann  man  zwei  Stadien  unterscheiden:  die  eigentliche 
Neuerung,  die  durch  einzelne  —  ein  oder  mehrere  oder  viele 
Individuen  —  vollzogen  wird,  und  ihre  Aneignung  durch  die 
Gesamtheit  auf  dem  Wege  der  Nachahmung.     Der  erstere 


464  -^-  Vicrkandt: 

Schritt  beruht  fast  immer  entweder  auf  halb  unbewufsten 
Zufälligkeiten  —  so  meistens  bei  der  Sprache  —  oder,  wie 
2.  B.  bei  dem  Brechen  mit  einer  lästig  gewordenen  Sitte  oder 
bei  der  durch  die  Eitelkeit  veranlafsten  NachäflFung  gewisser 
Äufserlichkeiten  einer  fremden,  überlegenen  Kultur,  auf  aus- 
geprägt egoistischen  Regungen.  Bei  dem  zweiten  Schritt 
über  liegt  das  Hauptmotiv,  abgesehen  von  der  Lust  am  Neuen 
und  der  Befriedigung  des  allgemeinen  Thätigkeitstriebes,  in 
den  Regungen  des  Selbstgefühles  und  der  Eitelkeit  und  der 
daraus  hervorgehenden  Rücksicht  auf  die  öflfentliche  Meinung: 
sobald  nämlich  eine  Neuerung  erst  bei  einigen  social  ange^» 
sehenen  Personen  Fufs  gefafst  hat,  erhöht  jeder,  wie  das 
Beispiel  der  Mode  am  besten  lehrt,  sein  Ansehen  durch  ihre 
Aneignung. 

Den  Mechanismus  der  Erhaltung  der  Kultur  macht 
man  sich  am  besten  durch  einen  Blick  auf  die  Aneignung 
der  bestehenden  Kultur  durch  die  aufwachsenden  Grenerationen 
klar.  Die  dabei  mafsgebenden  Thatsachen  und  Motive  sprechen 
übrigens  auch  bei  der  eben  betrachteten  Neuschaffimg  von 
Kulturgütern  vielfach  mit.  Zu  ihnen  zählt  in  erster  Linie 
einerseits  das  Geselligkeits-  und  Mitteilungsbedürfris,  anderer* 
seits  der  allgemeine  Thätigkeitstrieb,  die  Freude  zunächst 
am  einfachen  Thun,  sodann  am  Können  und  vorzüglich  am 
Besserkönnen,  femer  die  Bedeutung  der  Übung,  welche  der 
durch  sie  bewirkten  Erleichterung  und  dem  Mangel  der 
menschlichen  Natur  an  Spontaneität,  d.  h.  an  Fähigkeit  zu 
eigentlich  schöpferischen  Leistungen  entspringt,  und  welche 
daher  dem  Einzelnen  die  gewohnten  Geleise  vor  neuen  Bahnen 
bevorzugen  läfst,  endlich  das  Selbstgefühl  in  edlerer  wie  in 
niedrerer  Form,  welches  sich  in  der  Freude  an  jedem  Können, 
insbesondere  aber  in  der  Befriedigung  über  den  Beifall  der 
Gesamtheit  bethätigt,  wie  er  positiv  oder  negativ  durch  jede 
ihren  Erwartungen  und  Gewohnheiten  entsprechende,  in  den 
ausgeschliffenen  Geleisen  sich  bewegende  Leistung  erworben 
wird.  Eine  wichtige  Rolle  spielt  endlich  ein  allgemeiner  Trieb 
der  Unterordnung,  der  Einfügung  in  eine  bestehende  Ordnung, 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     465 

wie  er  sich  z.  B.  schon  früh  in  den  Spielen  vorzüglich  der 
männlichen  Jugend,  femer  in  der  inneren  Anerkennung  und 
Billigung  jeder  verdienten  Strafe  von  selten  der  Jugend  wie 
tiefer  stehender  Stämme  oder  in  jedem  Vereinsleben  bekundet. 
Dazu  kommen  beim  Erwachsenen  last  not  least  wirtschaft- 
liche Kücksichten,  um  ihn  vor  einem  Ausbrechen  aus  den 
überkommenen  Geleisen  zu  bewahren. 

4.  Aus  der  vorstehenden  Betrachtung  ziehen  wir  für 
den  Gegenstand  unserer  Erörterung  den  Schlufs,  dafs  der 
Fortschritt  und  die  Erhaltung  der  Kultur  sich  viel  weniger 
auf  sittlichen  als  auf  indifferenten  oder  egoistischen  Motiven 
aufbaut.  Von  den  ersteren  kommen  eher  noch  Eegungen  des 
Selbstgefühls  als  solche  des  Mitgefühls  in  Betracht;  denn 
eine  so  grofse  Rolle  auch  altruistische  Regungen  für  das 
Familienleben  und  damit  für  die  Erhaltung  der  menschlichen 
Gesellschaft  spielen,  so  baut  sich  doch  die  eigentliche  Kultur 
direkt  viel  mehr,  abgesehen  von  der  rein  passiven  Annahme 
ihrer  Formen,  teüs  auf  wirtschaftlichen  Reizen,  teils  auf 
Regungen  der  Eitelkeit  und  etwa  noch  einigen  edleren  Formen 
des  Selbstgefühls,  wie  der  Freude  am  Können,  auf.  Vorzüg- 
lich auf  diese  Thatsache  des  geringen  Anteils  sittlicher  Ele- 
mente an  dem  Fortschritte  der  Kultur  stützt  sich  die  pessi- 
mistische Auffassung  von  dem  sittlichen  Fortschritte.  Vermögen 
wir  ihr  auch  schon  deswegen  nicht  beizustimmen,  weil  sie 
jene  bereits  mehrfach  erwähnte  Inadäquatheit  von  Ursache 
und  Wirkung  im  geistigen  Leben  aufser  acht  läfst,  so  mufs 
uns  doch  die  hier  festgestellte  Thatsache  nachdenklich  stimmen. 
Erscheint  uns  auch  ein  sittlicher  Fortschritt  unbestreitbar, 
so  darf  er  doch  nur  als  ein  unbeabsichtigtes  Nebenprodukt 
der  Kulturentwicklung  aufgefafst  werden  —  ein  Umstand,  der 
eine  direkte  empirische  Bestätigung  in  der  bekannten  Er- 
scheinung erhält,  dafs  in  gewissen  Zeitaltem  ein  Sinken  der 
Sittlichkeit  mit  einem  Steigen  oder  wenigstens  Beharren  des 
Kultumiveaus  Hand  in  Hand  geht.  Die  Lockerheit  des  Zu- 
sammenhanges zwischen  sittlichem  und  kulturellem  Fortschritt 
mufs  uns  von  vornherein  die  in  der  That  der  Wirklichkeit 

VierteljahrsBclirift  f.  wissenschafÜ.  Philosophie.    XXIII.  4.  31 


466  A.  Vierkandt: 

entsprechende  Vermutung  nahelegen,  dafs  der  sittliche  Fort- 
schritt kein  durchgängiger  auf  allen  Gebieten  zu  sein  braucht, 
dafs  er  einen  Stillstand,  ja  einen  Rückgang  auf  einzelnen 
Gebieten  und  zwar  nicht  blofs  für  einzelne  vorübergehende 
Perioden,  sondern  ganz  allgemein  nicht  ausschliefst. 

Zur  Aufdeckung  jenes  indirekten  Zusammenhanges 
zwischen  sittlichem  und  kulturellem  Fortschritt  gehen  wir 
von  den  Wirkungen  aus,  welche  die  Kultur  auf  das  ihren 
Einflüssen  unterworfene  Einzelwesen  ausübt.  Vorher  möchten 
wir  jedoch  die  Hochgradigkeit  der  Abhängigkeit  betonen, 
in  der  sich  das  Individuum  seinem  kulturellen  Milieu  gegen- 
über befindet.  Die  Handlungen  eines  jeden  Wesens  werden 
bekanntlich  einerseits  durch  seine  eigene  Natur,  andererseits 
durch  diejenige  seiner  Umgebung  bestimmt.  Hinsichtlich  des 
ersteren  Punktes  befinden  wir  uns  für  den  vorliegenden  Fall 
leider  in  einer  beklagenswerten  Unkenntnis.  Denn  die  Frage 
der  Rassenbegabung  gehört  zu  den  vielen  ungelösten,  vielleicht 
zu  den  hofl&iungslosen  Problemen  einer  Völkerpsychologie. 
Nehmen  wir  sie  aber  selbst  als  im  bejahenden  Sinne  ent- 
schieden an,  so  sehen  wir  doch  eng  verwandte  Völker,  wie 
z.  B.  verschiedene  Völker  der  indogermanischen  Gruppe,  auf 
den  verschiedensten  Kulturstufen  sich  befinden.  Eine  über- 
legene Gesittung  setzt  also  nicht  mit  Notwendigkeit  ein  von 
Haus  aus  für  sie  empfänglicheres  Substrat  voraus.  Könnte 
sie  aber  nicht  nachträglich  das  Wesen  ihrer  Träger,  d.  h. 
deren  innere  Beanlagung  modifizieren?  Die  Erfahrung,  dafs 
Angehörige  tiefer  stehender  Stämme,  wenn  sie  im  jugendlichen 
Alter  den  Kreisen  der  europäischen  Kultur  überwiesen  wurden, 
auf  die  Dauer  ihre  inferiore  Natur  nicht  zu  verleugnen  ver- 
mochten, kann,  da  es  sich  hier  niemals  um  eine  Versetzung 
unmittelbar  nach  der  Geburt  unter  Ausschliefsung  aller  er- 
wachsenen Elemente  der  fremden  Rasse  handelte,  für  die 
Beantwortung  dieser  Frage  nicht  entscheidend  sein.  Die 
Möglichkeit,  dafs  sie  bei  genügender  Sachkenntnis  einmal  im 
verneinenden  Sinne  beantwortet  werden  kann,  ergiebt  sich 
aber  aus  dem  der  menschlichen  Natur   eigenen   Mangel   an 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     467 

Spontaneität,  d.  h.  an  der  Fälligkeit,  selbständig  von  innen 
herans  zu  handeln  und  zu  urteilen.  Die  tägliche  Erfahrung 
lehrt  uns  ja  überall,  dafs  selbst  ein  einfacher  sinnlicher  Reiz 
im  allgemeinen  viel  stärker  als  die  verwickeltsten  Überlegungen 
und  die  besten  theoretischen  Gründe  den  Menschen  bestimmen, 
und  dafs  eine  jede  Berufsthätigkeit,  die  den  Charakter  einer 
Eeihe  von  Reaktionen  besitzt,  welche  durch  äufsere  Reize 
erzwungen  werden,  dem  Menschen  viel  leichter  fallt  als  eine 
solche,  welche,  wie  z.  B.  eine  rein  wissenschaftliche  oder 
künstlerische  Thätigkeit,  ohne  feste  äufsere  Formen  und  äufseren 
Zwang  seine  Leistungen  lediglich  von  spontanen  Regungen 
abhängig  macht.  Dieser  Mangel  an  Spontaneität  lälst  es  uns 
als  möglich  erscheinen,  dafs  die  Verschiedenheiten  des  durch- 
schnittlichen menschlichen  Typus  in  den  verschiedenen  Kultur- 
kreisen lediglich  auf  Rechnung  der  Verschiedenheit  des  Milieus 
zu  setzen  sind,  dafs  aber  die  durchschnittliche  angeborene 
Veranlagung  und  das  innere  Wesen  des  Einzelnen  auf  allen 
Kulturstufen  unverändert  bleibt,  dafs  also  m.  a.  W.  ein  neu- 
geborenes Kind  sich  bei  sofortiger  Verpflanzung  einem  fremden 
Kulturkreise  widerstandslos  einfügen  würde.  Diese  Vorstellung 
ist  natürlich  nur  eine  Hypothese ;  allein  dafs  die  uns  bekannten 
Thatsachen  sie  überhaupt  gestatten,  wirft  ein  bezeichnendes 
Licht  auf  die  Dinge.  Im  besonderen  ist  es  demgemäfs  auch 
eine  hypothetisch  zulässige  Vorstellung,  dafs  die  eigentliche 
sittliche  Substanz  des  Menschen  von  dem  Wachstum  der 
Kultur  und  dem  Fortschritt  der  Sittlichkeit  unberührt  bleibt, 
d.  h.  dafs  die  sittliche  Überlegenheit  des  durchschnittlichen 
modernen  Westeuropäers  gegenüber  den  alten  Germanen 
lediglich  auf  der  Verschiedenheit  der  einwirkenden  kulturellen 
Reize  beruht.  Die  Einwendungen,  welche  man  gegen  die 
Lehre  vom  sittlichen  Fortschritt  erhoben  hat,  haben  teilweise 
diesen  Punkt  nachdrücklich  betont,  allein  ganz  abgesehen 
davon,  dafs  es  sich  bei  ihm  nur  um  eine  Hypothese  handelt, 
schliefst  eine  solche  Konstanz  der  eigentlichen  sittlichen 
Substanz   doch  einen  Fortschritt  der  Leistungen   nicht   aus. 

Immerhin  wird  aber  auch  diese  Erwägung  uns  veranlassen, 

31* 


468  A.  Vierkandt: 

unsere  Erwartungen  über  den  sittKchen  Fortschritt  nicht  zu 
hoch  zu  spannen. 

6.  Die  Wirkungen  des  kulturellen  Milieus  auf  den 
Einzelnen  liegen  teils  auf  dem  Gebiet  des  Intellektes,  teils 
auf  demjenigen  des  Charakters  und  Gefühls.  In  ersterer 
Hinsicht  bedarf  es  keines  Wortes,  dafs  die  Intelligenz  sowohl 
substantiell  wie  aktuell  mit  der  Kultur  gewachsen  ist:  ent- 
sprechend der  Zurückdrängung  der  mythologischen  durch  die 
wissenschaftliche  Denkweise  besitzt  der  moderne  Mensch 
verglichen  mit  dem  primitiven  sowohl  richtigere  Vorstellungen 
und  reichere  Kenntnisse  als  eine  entwickeltere  Urteilskraft. 
Freilich  darf  man  diesen  Vorzug  nicht  überschätzen:  die 
wissenschaftliche  Denkweise  herrscht  selbst  innerhalb  der 
Wissenschaft  nicht  uneingeschränkt,  aufserhalb  ihrer  aber 
wird  sie  besonders  im  Bereich  der  Fragen  des  geistigen, 
socialen  und  politischen  Lebens  durch  eine  laxere,  gleichsam 
vorwissenschaftliche  Denkweise  ersetzt,  welche  zwischen  der 
wissenschaftlichen  und  mythologischen  etwa  die  Mitte  erhält. 

Im  Bereich  des  Charakters  und  Gefühls  drängen  sich 
uns  vor  allem  zwei  Wirkungen  der  entwickelteren  Kultur  auf: 
die  Erhöhung  der  Selbstbeherrschung  und  diejenige  der 
Objektivität  im  Denken  und  Handeln.  Das  Verständnis  des 
ersteren  Momentes  erschliefst  uns  am  leichtesten  ein  Blick 
auf  den  bekannten  Schiffbruch,  den  so  viele  tiefer  stehenden 
Stämme  bei  der  Berührung  mit  der  europäischen  Kultur  er- 
fahren haben:  nicht  nur  die  Entwurzelung  der  religiösen 
Vorsteliungskreise  und  die  Zersetzung  der  überlieferten  Sitten 
mit  ihrer  zähmenden  Gewalt  ist  daran  schuld,  sondern  ebenso 
die  geringere  Entwicklung  der  Willenskraft,  welche  den  neuen 
Versuchungen  und  erhöhten  Anforderungen  nicht  gewachsen 
ist.  Alle  Kultur  bedeutet  nämlich  an  Stelle  der  unmittelbaren 
Befriedigung  der  auftauchenden  Bedürfiiisse,  wie  sie  beim  Tiere 
die  Regel  ist,  eine  mittelbare  BeMedigung  derselben,  d.  h. 
eine  solche,  bei  der  zwischen  dem  Anfangs-  und  Endglied 
der  Kette  eine  Reihe  anderer  Glieder  teils  in  Gestalt  natür- 
licher oder  technischer  Prozesse,  teils  in  Gestalt  der  Benutzung 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     469 

Ton  Werkzeugen  lebloser  oder  belebter  Art  eingesclialtet  wird. 
Vermöge  des  mit  dem  Kultnrfortschritt  verknüpiPben  Strebens 
nach  einer  Vervollkommnung  der  Befriedigung  der  Bedürfiiisse 
wird  mit  steigender  Kultur  der  räumliche  und  zeitliche  Betrag 
jener  Mittelglieder  oder  der  zeitliche  und  räumliche  Abstand 
zwischen  dem  ersten  und  letzten  Glied  jener  Reihe  im  Durch- 
schnitt erhöht,  wie  es  uns  z.  B.  ein  Vergleich  der  nur  für 
den  Nahkampf  geeigneten  Waffen  primitiver  Stämme  mit  den 
modernen  Geschützen  und  Torpedos  zeigt.  Eine  Vergröfserung 
jener  Distanz  bedeutet  aber  auch  eine  Steigerung  des  Dualis- 
mus von  Mittel  und  Zweck,  welcher  daher  das  menschliche 
Leben  bei  uns  viel  stärker  als  bei  den  Naturvölkern  beherrscht. 
Jeder  solcher  Dualismus  bedeutet  aber  wieder  einen  Zwang 
zur  Überwindung  von  Unlustgefühlen  und  eine  Verminderung 
der  sinnlichen  Behaglichkeit  des  Lebens,  womit  beiläufig  die 
Thatsache  zusammenhängt,  dafs  die  durchschnittliche  Lebens- 
stimmung bei  den  Naturvölkern  so  viel  heiterer  ist  als  bei  uns. 
Im  gleichen  Sinne  wirken  auch  die  die  Lebensführung  regelnden 
äufseren  Normen:  mit  wachsender  Kultur  werden  sie,  wie 
z.  B.  das  Polizeigebot  und  geschriebene  Recht  gegenüber  dem 
Gewohnheitsrecht  und  dieses  gegenüber  der  Sitte  zeigt,  immer 
objektiver,  treten  immer  selbständiger  und  anspruchsvoller 
dem  Individuum  gegenüber,  von  dem  sie  daher  ein  steigendes 
Mafs  von  Selbstbeherrschung  verlangen.  Die  Fähigkeit  das 
sinnliche  Begehren  zurückzudrängen  und  sich  zu  überwinden 
mufs  daher  auf  höheren  Kulturstufen  viel  stärker  entwickelt 
sein.  Unsere  Gewehre  z.  B.  vermag  der  Neger  gar  nicht  als 
Femwaffen  zu  verwenden,  weil  es  ihm  dazu  an  der  nötigen 
Ruhe  und  Besonnenheit  fehlt,  und  an  der  regelrechten  Ver- 
wendung unserer  Geschütze  hindert  ihn  gelegentlich  schon  die 
unüberwindliche  Scheu  vor  ihrem  Rückstofs. 

Das  Zunehmen  der  Objektivität  im  Denken  und 
Handeln  mit  dem  Wachsen  der  Kultur  beruht  auf  denselben 
Faktoren.  Einerseits  drängen  die  gehäuften  äufseren  Normen 
sich  dem  Bewufstsein  wegen  ihrer  Wichtigkeit  auf  und  erfüllen 
es  mit  Bildern  einer  objektiven  Ordnung.    Andererseits  ver- 


470  A.  Vierkandt: 

langt  jeder  Vorgang  oder  Gegenstand,  der  ein  Mittel  zur 
Befriedigung  menschlicher  Bedürfiiisse  bildet,  eine  mehr  oder 
minder  selbständige  Betrachtung  und  Behandlung.  Je  kom- 
plizierter dieses  Reich  der  Mittel  wird,  desto  gröfser  sind 
die  Ansprüche,  die  es  an  den  Intellekt  und  den  Willen  stellt. 
Bei  den  Naturvölkern  finden  wir  eine  solche  ObjektiAdtät  in. 
stärkerem  Mafse  nur  auf  zwei  Gebieten  ausgebildet:  erstens 
vorzüglich  bei  Jägerstämmen  gegenüber  den  Tieren,  welche 
ob  ihrer  hervorragenden  Bedeutung  für  ihren  Nahrungserwerb, 
wie  teilweise  auch  für  ihre  ganze  Lebensführung,  ein  sehr 
starkes  Interesse  erregen,  wie  es  in  den  mythologischen 
Leistungen  dieser  Stämme  objektiviert  ist,  und  zweitens  in 
der  künstlerischen  Verzierung  der  Geräte  des  tägUchen  Lebens, 
der  Schmuckgegenstände  und  des  Kultusapparates  —  eine 
Verzierung,  die  angesichts  der  Sprödigkeit  des  Materials  und 
der  geringen  Entwicklung  technischer  Hilfsmittel  oft  erst  ein 
Ergebnis  jahrelanger  mühevoller  Arbeit  ist  und  mit  Recht  oft 
das  Erstaunen  der  Reisenden  erregt  hat.  Auf  der  Stufe  unserer 
Kultur  kommt,  ganz  abgesehen  von  der  Entfaltung  der  Wissen- 
schaft und  der  höheren  Entwicklung  der  Kunst,  vorzüglich 
die  veränderte  Gestaltung  des  Erwerbs-  und  Berufslebens  als 
ein  die  Objektivität  vermehrender  Umstand  in  Betracht.  Schon 
das  einfache  Erwerbsleben  nötigt,  zumal  wo  infolge  des  Wett- 
bewerbes die  Anforderungen  erhöht  sind,  zu  einer  aufser- 
ordentKchen  Sorgfalt,  welche  ohne  eine  starke  Objektivität 
wenigstens  auf  intellektuellem  Gebiete  nicht  möglich  ist,  häufig 
aber  auch  hier  schon  wohlthätige  Rückwirkungen  auf  das  Gemüt 
und  den  Charakter  ausübt.  Um  wieviel  ist  z.  B.  in  dieser  Be- 
ziehung unser  Handwerker  dem  Angehörigen  der  Naturvölker 
überlegen,  welcher  alle  Gewerbe  in  einer  Person  oder  vielmehr  in 
einer  Familie  vereinigt  und  lediglich  für  den  Bedarf  seines  eigenen 
Haushaltes  produziert.  Noch  günstiger  aber  wirken  die  höheren 
Berufearten,  weil  bei  ihnen  zu  dem  Nahrungserwerbe  als  weiteres 
Motiv  die  Liebe  zur  Sache  selbst  hinzutritt  und  die  Objektivität 
sich  hier  demgemäfs  im  Bereiche  des  Fühlens  und  Wollens 
fast  ebenso  stark  wie  in  demjenigen  der  Intelligenz  entfaltet. 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     471 

6.  Wir  wenden  uns  jetzt  demjenigen  Faktor  des  sitt- 
lichen Lebens  zu,  der  durch  die  sittlichen  Normen  der 
Gesamtheit  repräsentiert  wird.  Sie  stellen  sich  uns  teils  als 
reine  Gebote,  teils  als  eine  Verkörperung  solcher  in  socialen 
Institutionen,  teils  als  eine  Verbindung  beider  dar:  die  öffent- 
liche Meinung,  Sitte  und  Kecht,  die  religiösen  Gebote  und 
so  viele  Einrichtungen  des  Staates,  der  Kirche  und  der  Ge- 
sellschaft, die  der  öffentlichen  Wohlfahrt  und  geistigen  Inter- 
essen dienen,  gehören  mehr  oder  weniger  hierher.  Für  die 
sittliche  Beurteilung  eines  Volkes  fallen  sie  teüs  unmittelbar 
in  die  Wagschale,  indem  sie  einerseits  die  sittlichen  An- 
schauungen des  Volksgeistes  repräsentieren,  andererseits  ein 
System  objektiver  sittlicher  Leistungen  darstellen,  teils  beein- 
flussen sie  mittelbar  das  Verhalten  des  Einzelnen  auf  das  stärkste, 
indem  sie  auf  dem  Wege  der  Erziehung  und  Belehrung  und 
durch  das  Beispiel  auf  tausend  Wegen  in  die  Seele  eindringen 
und  sich  in  ihr  so  festsetzen,  dafs  sie  häufig  alle  Spuren  ihres 
Ursprunges  hinter  sich  verlöschen  und  dem  Theologen  und 
Philosophen  immer  wieder  als  Gebote  des  Gewissens  Anlafs 
zum  Staunen  geben  konnten.  Dafs  die  Fülle  und  der  Reichtum 
dieser  Normen  mit  wachsender  Kultur  steigt,  wird  kaum  be- 
stritten werden.  Verschieden  von  diesem  äufseren  Fortschritte 
ist  die  Frage  nach  seiner  inneren  Bedeutung.  Zu  ihrer  Ent- 
scheidung müssen  wir  einerseits  den  Ursprung  dieser  Normen 
und  Institutionen,  andererseits  die  Art  ihrer  Bethätigung 
näher  betrachten. 

Ihren  Ursprung  hat  man  mit  Vorliebe  aus  ihrem  socialen 
Nutzen  abzuleiten  gesucht.  Selbst  wenn  man  den  Begriff  des 
Nutzens  dabei  im  weiteren  Sinne,  nämUch  nicht  blofs  im 
objektiven,  sondern  auch  im  subjektiven  Sinne  versteht,  also 
auch  z.  B.  den  imaginären  Wert  darin  einbegreift,  welchen 
die  Befriedigung  mythologisch  begründeter  Bedürfnisse  dem 
gläubigen  Gemüte  gewährt,  so  lassen  sich  mit  dieser  Auf- 
fassung nicht  alle  Erscheinungen  in  Übereinstimmung  bringen. 
Bei  einem  Teile  von  ihnen  allerdings  ist  ein  aufsersittlicher 
Ursprung  aufser  Zweifel.    Ihr  späterer  sittlicher   Charakter 


472  A.  Vierkandt: 

erklärt  sich  ungezwungen  aus  jener  mehrfach  betonten  häufigen 
Heterogenie  von  Ursache  und  Wirkung  im  socialen  Leben. 
Insbesondere  haben  mythologische  BedürMsse  manche  Er- 
scheinungen von  sittHchem  Charakter  ins  Leben  gerufen,  wie 
z.  B.  die  Tugend  der  Gastfreundschaft  bei  den  Naturvölkern 
hierher  zu  rechnen  ist.  Bei  vielen  von  ihnen  aber  haben 
schon  von  Anfang  sittliche  Motive  mitgewirkt.  Dahin  gehören 
so  viele  humane  Einrichtungen  der  Gegenwart,  dahin  müssen 
auch  alle  religiösen  Gebote  sittlichen  Inhalts  gerechnet  werden, 
da  ja  in  den  Augen  des  Gläubigen  den  Göttern  nur  solche 
Handlungen  für  wertvoll  gelten  können,  die  ihm  selbst  bereits 
als  solche  erscheinen.  Etwas  ähnliches  gilt  wahrscheinlich 
auch  von  der  Entwicklung  der  Strafe,  die  man  schwerlich 
ohne  Zuhilfenahme  sittlicher  Regungen  aus  der  Rache  abzu- 
leiten vermag.  In  allen  diesen  Fällen  ist  jfreilich  die  Regung 
sittlicher  Momente  allein  nicht  ausreichend  zur  Schaffiing 
ihnen  entsprechender  socialer  Institutionen.  Es  mufs  vielmehr, 
um  sie  für  die  Masse  annehmbar  erscheinen  zu  lassen,  ent- 
weder ihre  Nützlichkeit,  oder  es  müssen  Regungen  der  Eitel- 
keit, der  Freude  am  Können  und  ähnliche  Motive  hinzutreten, 
um  einer  sittlichen  Bestrebung  einzelner  besonders  veranlagter 
Individuen  zu  einer  allgemeinen  Tragweite  zu  verhelfen.  Der 
Idealismus  Einzelner  mufs  m.  a.  W.  sich  erst  mit  gröberen 
Motiven  amalgamieren,  um  eine  sociale  Wirksamkeit  zu  er- 
langen, um  objektive  Kulturgüter  ins  Leben  rufen  zu  können, 
eine  Thatsache,  die  ganz  der  oben  betonten  Art  der  Ent- 
wicklung der  menschlichen  Kultur  entspricht,  die  sich  weniger 
auf  edle  als  auf  indifferente  oder  egoistische  Motive  stützt. 
Innerlich  sind  also  demgemäfs  alle  jene  Institutionen  von 
sittlichem  Inhalte  gekennzeichnet  durch  ein  Milsverhältnis 
zwischen  ihrem  hohen  objektiven  Werte  und  dem  geringeren 
subjektiven  sittlichen  Gehalte,  der  sie  ins  Leben  rief,  während 
dieses  selbe  Milsverhältnis  äufserlich  betrachtet  als  einer  jener 
Fälle  erscheint,  in  denen  der  Mechanismus  der  menschlichen 
Kultur  sich  von  der  äufsersten  Zweckmäfsigkeit  zeigt,  sofern 
er  sittlichen  Kräften  von  ursprünglich  verhältnismäfsig  geringer. 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     473 

weil  auf  wenige  Individuen  beschränkter  Wirksamkeit  durch 
Erregung  anderweitiger  Interessen  zu  einer  verhältnismäfsig 
hohen  Tragweite  zu  verhelfen  vermag. 

Der  sittliche  Gehalt,  welcher  sich  in  der  Wirksamkeit 
der  in  Rede  stehenden  Normen  und  Institutionen  äufsert,  darf 
nicht  tiberschätzt  werden.  Erstens  kann  die  objektive  Be- 
thätigung  aller  jener  sittlichen  Institutionen  sich  ohne  eine 
entsprechende  subjektive  Gesinnung  vollziehen,  sofern  alle 
diejenigen,  welche  durch  den  Mechanismus  des  gesellschaft- 
lichen Lebens  an  die  betreflfende  Stelle  gestellt  werden,  schon 
aus  aufsersittlichen  Motiven  zu  einer  entsprechenden  Thätig- 
keit  genötigt  werden.  Dafs  sich  mit  ihr  auf  die  Dauer  ent- 
sprechende altruistische  oder  überhaupt  sittliche  Regungen 
im  allgemeinen  verbinden,  ist  sicher  unzweifelhaft,  ebenso 
sicher  aber  auch,  dafs  sie  in  den  meisten  Fällen  nicht  das 
stärkste  Element  in  der  Gesamtheit  der  dabei  in  Betracht 
kommenden  Motive  darstellen.  Auf  den  Einzelnen  aber  tiben 
jene  sittlichen  Normen  teils  in  Gestalt  der  Forderungen  der 
Sitte,  des  Herkommens,  der  öffentlichen  Meinung,  der  Götter 
u.  s.  w.,  teils  auch  in  Gestalt  der  mystischen  Stimme  des 
Gewissens  vorzüglich  aus  zwei  Gründen  eine  beschränkte 
Wirksamkeit  aus.  Erstens  sind  sie  mehr  genereller  und  daher 
gröberer  Natur  und  für  die  Feinheiten  des  einzelnen  kompli- 
zierten Falles  nicht  specialisiert  genug,  zweitens  aber  gehen 
sie  mehr  auf  das  äufsere  Verhalten  als  auf  die  innere  Ge- 
sinnung. Ihre  Früchte  Kegen  daher  im  allgemeinen  mehr  im 
Bereiche  der  Legalität  als  in  demjenigen  der  Moralität. 
Selbst  für  die  Wirkung  des  Gewissens  müssen  wir  diese 
Behauptung  innerhalb  gewisser  Grenzen  aufrecht  erhalten. 
Hat  doch  den  überzeugten  Anhänger  der  christlichen 
Sittenlehre  diese  in  früheren  Zeiten  nicht  verhindert,  den 
Andersgläubigen  zu  verbrennen  oder  in  jedem  beliebigen 
Raubkriege  seinen  Nächsten  ums  Leben  zu  bringen  oder 
seine  farbigen  Mitmenschen  als  Sklaven  zu  verwenden, 
und  haben  doch  alle  Gebote  der  christlichen  Mildthätigkeit 
selbst  in   dem  hochkirchlichen  England   die  Entfaltung  der 


474  A.'  Vierkandt: 

schlimmsten  Gräuel  des  Fabrikarbeiterelends  nicht  zu  hemmen 
vermocht. 

7.  Der  Fortschritt  der  sittlichen  Leistungen  bleibt 
hinter  demjenigen  der  sittlichen  Normen  erheblich  zurück. 
Soweit  ihre  Motive  sittlicher  Natur  sind,  werden  wir  sie  unter 
dem  Begriffe  der  sittlichen  Handlungen  im  folgenden  Abschnitte 
erörtern.  Hier  beschränken  wir  uns  auf  die  Betrachtung 
derjenigen  Leistungen,  welche  aufsersittlichen  Motiven  ent- 
springen. Diese  bestehen  vorzüglich,  abgesehen  von  der  auf 
der  Grenze  stehenden  Macht  der  Gewohnheit,  teils  in  der 
Rücksicht  auf  die  öffentliche  Meinung  und  die  göttlichen 
Gebote,  teils  in  der  Freude  am  Können  und  Besserkönnen, 
teils  in  dem  Hinblick  auf  den  wirtschaftlichen  und  socialen 
Vorteil.  An  Stärke  haben  diese  Motive  mit  der  wachsenden 
Kultur  kaum  zugenommen,  wohl  aber  an  Häufigkeit  ihrer 
Wirksamkeit.  Für  das  altruistische  und  das  objektive  Gebiet, 
soweit  man  das  letztere  hierher  zu  rechnen  geneigt  ist,  ergiebt 
sich  diese  Zunahme  als  eine  unmittelbare  Folge  der  mit  der 
wachsenden  Kultur  verknüpften  Arbeitsteilung  und  Vermehrung 
solcher  Berufearten,  welche  direkt  oder  indirekt  sittliche  Güter 
fördern.  Ähnlich  beruhen  die  Vorzüge  der  gröfseren  Willens- 
stärke, der  weiter  ausholenden  Energie,  der  Besonnenheit, 
Fürsorge  und  Voraussicht,  welche  der  Kulturmensch  gegenüber 
dem  Naturmenschen  besitzt,  auf  einer  fortgesetzten  Wieder- 
holung von  Handlungen,  die  vorzüglich  aufsersittlichen  Motiven 
entspringen.  Und  diesem  indifferenten  Ursprünge  entsprechen 
auch  völlig  die  Wirkungen,  die  von  ihnen  ausgehen  können, 
die  sowohl  sittlicher  wie  indifferenter  und  egoistischer  Natur 
sein  können,  und  die  durch  die  Vermittelung  des  Kultur- 
mechanismus den  gesamten  sittlichen  Gehalt  einer  Kultur 
nicht  blofs  fördern,  sondern  auch  schädigen  können.  Auch  der 
Erwerb  der  gesamten  Bildung  einer  Zeit  gehört  zum  grofeen 
Teile  hierher,  vom  ersten  Schulzwange  an  bis  auf  die  für  viele 
stets  mafsgebend  bleibende  Rücksicht  auf  das  Urteil  anderer.  0 

*)  Dafs  auch  die  Abnahme  der  Verbrechen  zum  grofsen  Teil  auf 
derartigen  auffiersittlichen  Motiven  beruht,  führt  sehr  schön  Tarde  aus 
in  seinem  Buch:  La  criminalit6  compar^e,  3.  6d.,  p.  180 — 193. 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     475 

Da  auch  eine  mögKclist  harmonische  Ausbildung  und  Ent- 
faltung der  gesamten  Persönlichkeit  zu  den  sittlichen  Lebens- 
gutem  zählt,  deren  Erwerb  vorzugsweise  auf  inadäquaten 
Ursachen  beruht,  so  haben  wir  ein  Kecht,  auch  sie  hier  in 
diesem  Zusammenhange  zu  betrachten.  Neben  den  unmittelbar 
einleuchtenden  Vorzügen  einer  höheren  Kultur  stofsen  wir 
dabei  auch  hier  auf  schwere  Schatten.  Schon  an  sich  bedeutet 
ja  die  Arbeitsteilung,  welche  bei  uns  an  die  Stelle  der  ge- 
schlossenen Hauswirtschaft  getreten  ist,  vermöge  der  mit  ihr 
verknüpften  Vereinseitigung  einen  Rückschritt.  Doppelt  fühlbar 
macht  sich  dieser  da,  wo  der  Beruf  keine  Grelegenheit  zur 
Entfaltung  der  ganzen  Persönlichkeit  oder  wenigstens  einer 
gröfseren  Reihe  ihrer  wesentlichen  Eigenschaften  bietet,  sondern 
den  Menschen  mehr  oder  weniger  zur  Maschine  erniedrigt. 
Verglichen  mit  dem  Neger  oder  Indianer,  der  eine  ganze 
Reihe  wichtiger  wirtschaftlicher  und  socialer  Thätigkeiten, 
wie  das  Jagen  und  Fischen,  die  Herstellung  d^r  Waffen  imd 
Geräte  für  den  Nahrungserwerb  und  die  eifrige  Beschäftigung 
mit  den  Interessen  des  ganzen  Stammes,  in  einer  Person  ver- 
einigt, erscheint  der  moderne  Fabrikarbeiter  fast  als  ein  patho- 
logisches Gebilde,  und  den  Helden  der  Odyssee  gegenüber, 
die  nicht  blofs  zu  herrschen  und  zu  kämpfen,  sondern  auch 
Schiffe  zu  bauen  und  Waffen  zu  schmieden  verstehen,  kann 
selbst  ein  hoch  gestiegener  modemer  Mensch  sich  eines  leisen 
Gefühls  der  Wehmut  kaum  erwehren.  Insbesondere  sind  die 
Folgen,  welche  der  entwickelte  Industrialismus,  wie  wir  ihn 
besonders  in  England  und  in  seinen  Kolonien  beobachten 
können,  auf  die  gesamte  Persönlichkeit  ausübt,  ein  lehrreiches 
Beispiel  für  den  an  sich  indifferenten  Charakter  des  Kultur- 
prozesses und  die  zwiespältigen  Wirkungen,  die  von  ihm 
ausgehen.  Bei  den  Gebildeten  fordert  der  Industrialismus 
wohl  die  Energie,  aber  doch  nur  eine  solche,  die  vorzüglich 
die  Ellbogen  in  ihrem  eigenen  Interesse  zu  rühren  versteht, 
er  befördert  wohl  die  Intelligenz,  aber  vorzüglich  nur,  soweit 
es  sich  unmittelbar  um  einen  naheliegenden  praktischen  Vor- 
teil handelt,  während  in  allen  weitergehenden  wirtschaftlichen 


476.  A.  VierkaDdt: 

Fragen  der  englischen  Industrie  eine  gewisse  Engherzigkeit 
und  Kurzsichtigkeit  vorgeworfen  wird.  Den  Arbeiter  aber 
vermag,  um  die  Worte  eines  guten  Beobachters  zu  wieder- 
holen, ^)  die  moderne  Maschinentechnik  gewifs  von  der  Plump- 
heit und  Schläfrigkeit  des  Lasttieres  zu  erlösen,  aber  sie 
macht  auch  seinen  Geist  flach,  unpersönlich,  farblos,  unfähig, 
sich  tiefer  für  sich  selbst  zu  interessieren. 

8.  Bei  der  Betrachtung  der  sittlichen  Handlungen 
unterscheiden  wir  zwischen  altruistischen,  perfektionistischen 
und  objektiven  Handlungen.  Beginnen  wir  mit  den  altru- 
istischen, so  haben  wir  es  sowohl  mit  Fortschritten  wie  mit 
Rückschritten  zu  thun.  Die  Fortschritte  haben  wiederum 
teils  einen  negativen,  teils  einen  positiven  Charakter.  Zu- 
nächst fallen  auf  der  Stufe  unserer  Kultur  gewisse  Hemmungen 
fort,  welche  teils  auf  dem  emotionalen,  teils  auf  dem  in- 
tellektuellen Gebiete  liegen.  In  ersterer  Beziehung  ist  die 
Thatsache  zu  beachten,  dafs  die  Naturvölker  vielmehr  von 
starken  Affekten  heimgesucht  werden,  vielmehr  den  Leiden- 
schaften unterworfen  sind  als  wir.  Insbesondere  haben  daher 
auch  alle  hierher  gehörigen  unsittlichen  Regungen,  wie  Hafs, 
Rachsucht,  Jähzorn  und  dergl.,  eine  viel  stärkere  Gewalt  über 
sie  und  reifsen  sie  leicht  zu  Greuelthaten  hin,  wie  sie  uns 
noch  aus  dem  Mittelalter  so  wohl  bekannt  sind.  In  intellektu- 
eller Hinsicht  kommt  die  Reinigung  des  modernen  Geistes 
von  einer  grofsen  Anzahl  von  Vorurteilen  in  Betracht,  welche 
insbesondere  auf  dem  Gebiete  des  Partei-  und  Sektenwesens, 
des  religiösen  und  politischen  Glaubens  liegen,  und  welche 
auf  tieferen  Stufen  in  einem  Gegner  auf  diesem  Gebiete  so 
leicht  zugleich  einen  Verworfenen  erblicken  lassen,  dem  gegen- 
über alle  Ausbrüche  des  Fanatismus  als  gerechtfertigt,  ja 
vielleicht  als  sittlich  oder  religiös  geboten  erscheinen. 

In  positiver  Weise  bethätigt  sich  der  Altruismus  bei 
uns  auf  manchen  Gebieten  stärker  sowohl  in  intensiver  wie 
in  extensiver  Hinsicht.  In  ersterer  Beziehung  erinnern  wir 
daran,  dafs  jede  Teilnahme  an  fremdem  Schicksal  die  Fähigkeit 

^)  Gustav  F.  Steffen,  Streifzüge  durch  Grofsbritannien,  S.  126. 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     477 

voraussetzt,  sich  in  das  fremde  Wesen  hinein  zu  versetzen, 
und  demgemäfs  von  einer  gewissen  Intelligenz  abhängig  ist, 
mit  dem  Wachsen  der  letzteren  also  auch  steigt.  Dafs  dem- 
gemäXs  im  allgemeinen  die  Feinfiihligkeit  und  das  Mitgefühl 
mit  fremdem  Wohl  und  Leid,  dafs  alles,  was  Takt,  Zartgefühl 
und  dergl.  heifst,  bei  uns  ceteris  paribus  —  wir  werden  die 
Bedeutung  dieser  Restriktion  sogleich  kennen  lernen  —  stärker 
entwickelt  ist,  bedarf  keines  Wortes.  Zur  Erläuterung  des 
extensiven  Fortschritts  des  Altruismus  gehen  wir  von  der 
Existenz  einer  dualistischen  Ethik  bei  allen  Naturvölkern 
aus,  d.  h.  von  der  Thatsache,  dafs  sie  zwischen  Freund  und 
Feind  den  stärksten  Unterschied  machen  —  ein  Gegensatz, 
der  im  allgemeinen  mit  demjenigen  von  Stammesangehörigen 
und  Stammesfremden  zusammenfällt.  Ein  Hinweis  auf  die 
Existenz  des  Krieges  auch  bei  uns  noch  nötigt  uns  zu  dem 
Zugeständnis,  dafs  diese  dualistische  Ethik,  für  die  übrigens 
auch  die  Behandlung  der  Naturvölker  durch  die  Europäer 
viele  Beläge  bietet,^)  auch  uns  noch  nicht  völlig  fremd  ge- 
worden ist.  Allein  seit  der  Aufrichtung  des  Römerreiches 
und  der  Herrschaft  des  Christentums  sind  die  Grenzen,  inner- 
halb deren  der  Begriff  gleichartiger  oder  befreundeter  Wesen 
Anwendung  findet,  aufserordentlich,  mindestens  über  den  ganzen 
westeuropäischen  Völkerkreis,  erweitert  worden.  Demgemäfs 
ist  die  durchschnittliche  Summe  täglicher  altruistischer 
Regungen  und  Handlungen  bei  einem  Individuum  bei  uns 
ceteris  paribus  viel  gröfeer  als  etwa  bei  einem  Buschmann, 
für  den  vielleicht  nur  zehn  bis  zwanzig  Personen  die  Nächsten 
im  Sinne  der  christlichen  Moral  bilden  —  ein  Fortschritt, 
der  wesentlich,  wie  jüngst  Tabde  mit  Recht  betont  hat,^ 
mit  den  Fortschritten  der  Technik  und  des  Verkehrs  zusammen- 


1)  AnläTslich  der  hekannten  Expedition  Jahbsons  gegen  Transvaal 
schriehen  englische  Zeitungen,  „dafs  man  zu  Hause  in  England  kaum 
imstande  sei,  eine  solche  Erscheinung  zu  heurteilen.  Es  ist  etwas  ganz 
anderes  drauTsen  in  Afrika  mit  seinem  unkonventionellen  Lehen.  Da 
kommt  es  so  leicht  vor,  dafs  man  nach  dem  Gebote  des  Herzens  handelt 
und  sich  um  kein  Völkerrecht  bekümmert".  Gustav  P.  Steppen,  England 
als  Weltmacht  und  Eulturstaat,  Stuttgart  1899,  S.  47. 

^)  Tabob,  La  criminalit6  compar^e,  3.  6d.,  p.  188. 


478  A.  Vierkandt: 

hängt  und  darum  einen  der  vielen  lehrreichen  Beläge  für  die 
Inadäquatheit  von  Ursache  und  Wirkung  auf  dem  geistigen 
Gebiete  bildet. 

Diesen  Fortschritten  treten  jedoch  eine  Eeihe  von  Eück- 
schritten  zur  Seite,  d.  h.  eine  Reihe  von  Erscheinungen, 
bei  denen  die  Wagschale  sich  zu  Gunsten  der  Naturvölker 
neigt.  Man  kann  sie  mit  dem  Namen  des  primitiven  Altru- 
ismus oder  allgemeiner  einer  primitiven  Sittlichkeit  bezeichnen — 
primitiv  deswegen,  weil  sie  weniger  auf  einer  positiven  Ent- 
wicklung der  sittlichen  Kräfte  als  auf  einem  Mangel  oder 
einem  geringeren  Grade  von  Versuchungen  beruhen.^)  Be- 
sonders drei  Gruppen  von  Erscheinungen  sind  es,  in  welchen 
sich  eine  solche  sittliche  Überlegenheit  der  Naturvölker  uns 
gegenüber  bekundet.  Erstens  finden  wir  vielfach  eine  viel 
gröfsere  Ehrlichkeit  und  Aufrichtigkeit  im  täglichen  Verkehr, 
wie  besonders  im  Handel  und  insbesondere  auch  eine  gröfsere 
Sicherheit  fremden  oder  verlorenen  Gutes  gegenüber  der  Gefahr 
des  Diebstahls.  Zweitens  sind  die  Sympathiegefiihle  in  ex- 
tensiver Hinsicht  bei  ihnen  vielfach  stärker  entwickelt  als 
bei  uns.  Diejenige  Zärtlichkeit  und  Teilnahme,  die  sich  bei 
uns  auf  die  Familie  beschränkt,  erstreckt  sich  vielfach 
über  den  ganzen  Stamm  und  gelegentlich  sogar  über  ihn 
hinaus,  z.  B.  in  Gestalt  des  gegenseitigen,  unentgeltlichen 
Leihens  von  Geräten,  des  oft  so  stark  ausgeprägten  Gastrechtes, 
der  unentgeltlichen  Speisung  und  Verpflegung  vorübergehender 
Stammesangehöriger  oder  Fremder  u.  s.  w.  Drittens  sind 
aber  auch  in  intensiver  Hinsicht  die  Naturvölker  uns  auf 
diesem  Gebiete  wenigstens  teilweise  überlegen.  Die  Kinder- 
liebe ist  in  der  Regel  sehr  stark,  die  Gattenliebe  durchaus 
nicht  immer  gering  entwickelt,  und  insbesondere  geniefst 
innerhalb  der  Grofsfamilie  die  ältere  Generation  oft  viel  Liebe 
und  Verehrung.  Die  Gründe  dieses  primitiven  Altruismus 
sind,  wie  schon  bemerkt,  mehr  negativer  als  positiver  Natur, 
und  zwar  teils  subjektiver,   teUs  objektiver  Art.    Einerseits 


^)  Ausführlich  hat  der  Verfasser  diese  Dinge  in  einem  in  der  Zeit- 
hrift  „Glohus"  Bd.  76,  S.  149—154,  veröffentlichten  Aufsatz  behandelt. 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     479 

liegt  dem  Naturmenschen  wegen  der  geringeren  Entwicklung 
seines  Willens  und  seiner  Intelligenz  die  Versuchung  eines 
planmäXsigen,  berechnenden  Egoismus  femer,  und  die  natür- 
lichen Regungen  der  Teilnahme  werden  daher  von  dieser  Seite 
bei  ihm  weniger  eingeengt.  Andererseits  spricht  die  anders- 
artige Gestaltung  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  erheblich 
mit,  sofern  die  hier  allgemein  herrschende  geschlossene  Haus- 
wirtschaft, d.  h.  die  Thatsache,  dafs  alle  wirtschaftlichen 
BedürMsse  innerhalb  der  Familie  oder  der  sie  ersetzenden 
Einheit  selbst  befriedigt,  alle  wirtschaftlichen  Erzeugnisse 
innerhalb  ihrer  selbst  verwendet  werden,  die  wirtschaftliche 
Konkurrenz  und  damit  ein  wichtiges  Hemmnis  der  Bethätigung 
altruistischer  Kegungen  ausschliefst.  Auch  der  hohe  Grad 
von  Öffentlichkeit,  die  allgemeine  Durchsichtigkeit  der  Ver- 
hältnisse ist  von  Belang,  sofern  sie  die  Versuchung  zur  Un- 
ehrlichkeit vermindert.  Endlich  darf  auch  die  auf  dieser  Stufe 
noch  stärker  als  bei  uns  wirkende  Kraft  der  Sitte  mit  ihren  zum 
Teil  altruistischen  Geboten  nicht  aufser  acht  gelassen  werden. 
Innerhalb  des  perfektionistischen  Gebietes  weisen 
wir  nur  auf  zwei  Punkte  hin,  auf  die  Entwicklung  des  Ehr- 
gefühls und  der  Wahrheitsliebe.  Das  Ehrgefühl  oder  all- 
gemeiner das  Selbstbewufstsein  ist  bei  vielen,  wie  es  scheiut, 
vorzüglich  bei  den  in  erster  Linie  von  der  Jagd  lebenden 
Naturvölkern,  wie  den  Indianern,  sehr  stark  entwickelt.  Die 
Berührung  mit  der  europäischen  Kultur  hat  auf  sie  mit  des- 
wegen so  verheerend  gewirkt,  weil  sie  ihr  Selbstgeflthl  auf 
das  äufserste  kränkte.  Die  Wirksamkeit  eines  solchen  Ehr- 
gefühls hält  sich  natürlich  in  den  durch  den  sittlichen  Gehalt 
ihrer  Kultur  bestimmten  Grenzen.  Sind  unsere  Verhältnisse 
denjenigen  der  Naturvölker  hierin  weit  überlegen,  so  fehlt 
doch  auch  ihnen  der  Schatten  nicht.  Die  zunehmende  Ob- 
jektivität und  Arbeitsteilung  einer  höheren  Kultur  bringt  eine 
wachsende  Abhängigkeit  flir  den  Einzelnen,  nicht  nur  für  den 
Kaufinann  und  Beamten,  sondern  für  fast  jeden,  der  sich  noch 
nicht  alles  Wünschens  begeben  hat,  mit  sich,  und  wie  sehr 
diese  die  Feinheit  des  Ehrgefühls  abstumpfen  mufs,  ist  klar. 


480  A..  Vierkandt: 

Ähnlich  zwiespaltig  verhält  es  sich  mit  der  Wahrheits- 
liebe. Die  Versuchungen  zur  Unwahrheit  nehmen  mit  dem 
Wachsen  der  Intelligenz  und  der  egoistischen  Fürsorge,  wie 
mit  der  Verwickeltheit  der  Verhältnisse,  die  eine  Täuschung 
weniger  leicht  durchschauen  lassen,  zu.  Gerade  den  am  tiefeten 
stehenden  Stämmen  wird  daher  vielfach  eine  AuMchtigkeit 
nachgerühmt,  die  wir  angesichts  des  Mangels  an  Versuchung 
unter  den  Begriff  der  primitiven  Tugenden  zu  subsumieren 
berechtigt  sind.  Viele  Natur-  und  Halbkulturvölker  zeichnen 
sich  im  Gegensatz  dazu  durch  eine  ausgesprochene  Lügen- 
haftigkeit aus.  Ist  diese  bei  uns  viel  geringer,  so  liegt  ein 
Hauptgrund  dafür  in  der  stärkeren  Ausbildung  einerseits  des 
Geistes  der  Kritik  beim  Publikum,  der  die  Aussichten  für  den 
Erfolg  der  Lüge  vermindert,  andererseits  der  indifferenten 
Eigenschaft  der  Vorsicht  bei  dem  Handelnden,  die  das  Reich 
der  Lüge  mehr  scheut.  Im  Gegensatz  dazu  ruft  übrigens  die 
Verwickeltheit  unserer  wirtschaftlichen,  politischen  und  gesell- 
schaftlichen Zustände  eine  Fülle  neuer  Antriebe  zur  Unwahr- 
haftigkeit  ins  Leben,  teils  zur  direkten  Lüge,  noch  mehr  aber 
zu  jener  halb  oder  ganz  unbewufsten  positiven  oder  negativen 
Entstellung  der  Wahrheit,  die  dem  dichterischen  Idealismus 
so  viel  Stoff  zur  Kritik  unserer  Gesellschaft  bietet.  Alles  in 
allem  darf  man  daher  schon  den  objektiven  Fortschritt  unserer 
Kultur  auf  diesem  Gebiet,  der  vielfach  nur  ein  solcher  vom 
Gröberen  zum  Feineren  ist,  nicht  überschätzen,  und  der  sub- 
jektive bleibt  hinter  ihm  noch  erheblich  zurück.^) 

Auch  auf  dem  objektiven  Gebiete  endlich  handelt  es 
sich  sowohl  um  einen  Gewinn  wie  um  einen  Verlust  mit 
steigender  Kultur.  Diese  Zwiespältigkeit  beruht  unmittelbar 
darauf,  dafs  die  letztere,  wie  oben  erörtert,  den  Dualismus 
von  Mittel  und  Zweck  erhöht:  einerseits  werden  dadurch 
immer  mehr  Vorgänge,  die  ursprünglich  nur  als  Mittel  Be- 
deutung hatten,  verselbständigt,  andererseits  aber  auch  Dinge 
von   eigener  Bedeutung   zu  blofsen  Mitteln    herabgedrückt. 


^)  Man  vergleiche  hierzu  die  Ausführungen  bei  Tabdb,  La  criminalit^ 
compar6e,  3.  M.,  p.  194 — 211. 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     481 

Indem  einerseits  mit  steigender  Kultur,  wie  oben  erörtert, 
die  Summe  fester  Formen  immer  gröfser  wird,  ist  auf  der 
Höhe  unserer  Kultur  an  die  Stelle  der  geschlossenen  Haus- 
wirtschaft der  Naturvölker  eine  unübersehbare  Fülle  von 
Erwerbs-  und  Berufsarten  getreten,  die  teils  dem  wirtschaft- 
lichen Leben,  teils  dem  Bereich  der  politischen,  kirchlichen 
und  gesellschaftlichen  Interessen  angehören.  Bei  der  Erfüllung 
der  hier  geforderten  Leistungen  spricht  aufser  aufsersittlichen 
Motiven  vielfach  als  ein  rein  sittliches  Motiv  auch  die  Lust 
an  der  Sache  um  ihrer  selbst  wülen  mit,  und  je  nachdem 
dies  im  Durchschnitt  bei  einer  bestimmten  Leistung  der  Fall 
ist  oder  nicht,  unterscheiden  wir  zwischen  Beruf  oder  Geschäft. 
Alle  höheren  Erwerbsarten  sind  wir  in  diesem  Sinne  berechtigt 
den  Berufen  zuzuzählen,  und  auch  bei  vielen  anderen,  insbe- 
sondere in  den  Kreisen  der  niederen  Beamtenwelt,  spielt  jenes 
Interesse  an  der  Sache  um  ihrer  selbst  willen  besonders  in 
Gestalt  des  freilich  oft  zur  Pedanterie  und  Kleinlichkeit  ent- 
arteten Pflichtgefühls  eine  grofse  Rolle.  Andererseits  freilich 
ist  gerade  gegenwärtig  der  Kreis  derjenigen  Thätigkeiten,  die 
vm  als  reine  Geschäftsthätigkeit  im  oben  angegebenen  Sinne 
bezeichnen  müssen,  im  Wachsen  begriffen.  Die  Gründe  daffir 
liegen  teils  in  der  Natur  der  in  Betracht  kommenden  Vorgänge 
selbst,  teils  in  der  Art  ihrer  Wirkungen.  Die  Art  der  Be- 
schäftigung, mag  sie  körperlicher  oder  geistiger  Art  sein, 
entbehrt  oft  zu  sehr  des  eigenen  Reizes,  indem  sie  entweder 
zu  mechanisch  ist,  oder  eine  fortdauernde  Anstrengung  er- 
fordert, ohne  sie  mit  einem  entsprechenden  sinnHchen  oder 
geistigen  Genüsse  zu  belohnen.  Ihre  Wirkungen  aber  sind 
entsprechend  der  oben  erörterten  wachsenden  Entfernung  von 
Ursache  und  Wirkung,  welche  jeder  höheren  Kultur  eigen  ist, 
durch  eine  zu  grofse  räumliche  oder  zeitliche  Entfernung  von 
dem  Vorgange  selber  getrennt.  Es  herrscht  m.  a.  W.  eine 
zu  grofse  Distanz  zwischen  dem  Produzenten  und  Konsumenten, 
diese  Begriffe  nicht  nur  im  wirtschaftlichen,  sondern  auch  im 
geistigen  Sinne  genommen,  als  dafs  der  Erfolg  der  Arbeit  in 
sinnlicher  Gestalt  dem  Arbeitenden  vor  die  Augen  treten  und 

VierteljahrsBchlift  f.  Wissenschaft!.  Philosophie.    XXIIL  4.  32 


482  ^'  Vierkandt: 

ihn  für  die  Mühe  einer  an  sich  wenig  reizvollen  Beschäftigung 
zu  entschädigen  vennöchte.  —  Blicken  wir  zurück,  so  sehen 
wir  also  an  die  Stelle  eines  mittleren  Zustandes,  wie  er  bei 
den  Naturvölkern  herrscht,  eine  Reihe  von  Abstufungen  treten, 
die  sich  teüs  nach  oben,  teils  nach  unten  von  jener  Mittellage 
entfernen.  Bei  den  Naturvölkern  nämlich  werden  die  meisten 
Arbeiten  nicht  blofs  aus  Rücksicht  auf  die  äufseren  Effekte 
und  aus  Gewohnheit,  sondern  angesichts  des  hohen  sinnlichen 
Reizes,  der  mit  ihnen  verknüpft  ist,  auch  um  ihrer  selbst 
wiUen  verrichtet  —  ein  Zustand,  der  hinter  der  berufsmäfsigen 
inneren  Hingabe  an  die  Sache  ebensoweit  zurückbleibt,  wie  er 
der  blofs  geschäftsmäfsigen  Thätigkeit  an  Wert  überlegen  ist. 

9.  Eine  neue  Beleuchtung  gewinnt  unser  Problem,  wenn 
wir  nach  dem  Verhältnis  der  sittlichen  zu  den  übrigen  Be- 
wufstseinselementen  und  nach  dem  Wandel  dieses  Verhältnisses 
fragen.  Drei  Punkte  kommen  dabei  in  Betracht.  Erstens 
ist  zwischen  einem  absoluten  und  einem  relativen  Fortschritt 
des  sittlichen  Lebens  zu  unterscheiden.  Nur  der  letztere  be- 
deutet eine  Verschiebung  des  Schwerpunktes  des  Bewufstseins 
nach  der  Seite  der  Sittlichkeit  hin,  während  bei  dem  ersteren 
das  Wachstum  des  sittlichen  Lebens  mit  demjenigen  des 
geistigen  überhaupt  im  besten  Falle  Schritt  hält.  Zweitens 
empfiehlt  es  sich,  die  quantitativen  Fortschritte  der  Sittlichkeit 
von  den  qualitativen,  von  der  Eroberung  neuer  Gebiete,  zu 
sondern.  Die  letzteren  fallen  natürlich  schwerer  als  die  ersteren 
in  die  Wagschale,  bedeuten  aber  auch  noch  nicht  immer  einen 
relativen  Fortschritt.  Endlich  kann  ein  zwiefaches  Verhältnis 
zwischen  der  Entwicklung  der  sittlichen  und  derjenigen  der 
gesamten  Bewufstseinsvorgänge  stattfinden.  Entweder  kann 
nämlich  die  Steigerung  des  sittlichen  Lebens  lediglich  eine 
Folge  der  Steigerung  der  gesamten  Intensität  des  Bewufstseins- 
verlaufes  sein  —  in  diesem  Falle  handelt  es  sich  meist  wohl 
um  einen  absoluten,  aber  nicht  um  einen  relativen  Fortschritt  — , 
oder  es  können  umgekehrt  die  sittlichen  Bewufstseinselemente 
eine  solche  dominierende  Stellung  einnehmen,  dafs  sie  auf  die 
gesamte  Lebensführung  und  den  gesamten  Bewufstseinsverlauf 


Semerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     483 

einen  bestimmenden  Einflufs  ausüben.  Wir  wollen  unter  diesem 
letzten  Gresichtspunkt,  indem  wir  dabei  gelegentlich  auch  auf 
die  beiden  anderen  eingehen,  hier  nochmals  einen  Blick  auf 
die  Entwicklung  des  sittlichen  Lebens  werfen,  Suchen  wir 
dabei  nach  einem  zusammenfassenden  Worte,  so  können  wir 
von  einer  Entwicklung  der  Gesinnung  sprechen,  indem  wir 
diese  durch  das  Verhältnis  des  sittlichen  zu  dem  übrigen 
geistigen  Leben  charakterisiert  denken. 

Im  allgemeinen  überwiegt  der  erstere  der  von  uns  unter- 
schiedenen Fälle  den  zweiten  bei  weitem.  Das  gilt  besonders 
von  allen  gewohnheitsmäfsigen  sittlichen  Leistungen,  von 
denen,  wie  oben  erwähnt,  die  meisten  überhaupt  durch  eine 
Mechanisierung  aufsersittlich,  nämlich  durch  die  Eücksicht 
auf  das  Herkommen,  die  öffentliche  Meinung  und  dergleichen 
motivierter  Handlungen,  sich  entwickelt  haben.  Aber  auch  da, 
wo  diese  Leistungen  an  die  Stelle  ursprünglich  sittlich  be- 
gründeter Handlungen  getreten  sind,  entfalten  doch  aufser- 
sittliche  Motive  derselben  Art  wie  im  vorigen  Falle  eine 
unterstützende  Wirksamkeit.  So  unverkennbar  grofs  daher 
das  Wachstum  der  gewohnheitsmäfsigen  sittlichen  Leistungen 
im  Bereiche  des  Familien-  und  Berufslebens  ist,  so  unleugenbar 
ist  es  doch,  dafs  der  letzte  entscheidende  Grund  dafür  in  dem 
gesamten  Mechanismus  der  Kultur  liegt,  in  der  Fülle  von 
neuen  Reizen,  denen  er  mit  dem  Wachstum  der  Kultur  ihr 
Substrat,  die  einzelnen  Menschen,  ausgesetzt  hat.  Nicht  ein 
Wandel  der  Gesinnung,  sondern  ein  Wandel  des  Milieus  ist 
hier  der  letzte  Grund  des  an  sich  unbestreitbaren  absoluten 
Fortschritts. 

Ahnliches  gilt  über  das  Wachstum  der  impulsiven 
sittlichen  Leistungen,  deren  ganze  Natur  ja  die  stärkste  Ab- 
hängigkeit vom  Milieu  und  den  auf  das  Individuum  eindringenden 
Reizen  mit  sich  bringt.  Bei  einer  Abwägung  der  einzelnen 
Leistungen  finden  wir  hier,  wie  früher  erörtert,  sowohl  Ge- 
winn wie  Verlust.  In  quantitativer  Hinsicht  ist  ein  ab- 
soluter Gewinn  gewifs  unbestreitbar  entsprechend  der  Be- 
reicherung und  Vertiefung  des  gesamten  Bewufstseins.   Freilich 

32* 


484  A.  Vierkandt: 

ist  selbst  dieser  Gewinn,  wie  wir  sahen,  weder  auf  dem  Ge- 
biete der  altruistischen,  noch  auf  demjenigen  der  perfektio- 
nistischen  und  objektiven  Leistungen  ohne  Einschränkungen. 
Das  moderne  Leben  bringt  nicht  überall  die  Menschen  mit- 
einander in  solche  engere  Beziehungen,   welche  Gelegenheit 
zur  Bethätigung  einer  wohlwollenden  Gesinnung  bieten,  sondern 
isoliert   und  stellt  die  Menschen  in  vielen  Fällen   geradezu 
feindlich  einander  gegenüber.    Und  ähnliches  gilt  hinsichtlich 
der  Entwicklung  des  Selbstgefühls  und  der  Objektivität.    Ob 
aber  auch  relativ   von   einem  Gewinn  unserer  Kultur  hier 
gesprochen  werden  kann,   ist  eine  Frage,   die   wir  nicht  zu 
entscheiden  wagen.    Prüfen  wir  jetzt  die  Veränderungen  auf 
dem  qualitativen  Gebiete,  so  ist  hier  zunächst  ein  Gewinn 
zu  verzeichnen,  der  im  Zusammenhange  steht  mit  einem  all- 
gemeinen Wandel  des  Gefühls-  und  Willenslebens,   den   die 
steigende  Kultur  mit  sich  bringt.    An  die  Stelle  starker,  rasch 
vorübergehender  Affekte  und  Willensimpulse  setzt  sie  schwächere, 
aber  andauerndere.  Namentlich  auf  dem  Gebiete  des  Altruismus 
kommt  die  immer  wiederholte  dauernde  Bethätigung  an  sich 
vielleicht  vielfach  schwächer  gewordener  Gefühle  als  ein  wohl- 
thätiger  Wandel  in  Betracht.    Können  wir  aber  auch  diesen. 
Fortschritt  nicht  als  einen  relativen  anerkennen,   so  ist  eiu 
solcher  doch  sicher  insofern  nicht  zu  bestreiten,  als  dem  im- 
pulsiven Handeln  eine  Reihe  neuer  Gebiete  mit  der  wachsen- 
den Kultur  erschlossen  sind.    Wir  meinen  damit  diejenigea 
Erscheinungen,  welche  sich  als  Bethätigungen  des  Zartgefühls, 
des  Taktes  und  auch  des  Selbstgefühls  darstellen.    Aber  auch 
hier  handelt  es  sich  mehr  um  eine  Folge,  als  um  eine  Ursache 
der  Änderung  des  gesamten  Zustandes  des  Bewulstseins,  dena 
aus  seiner  höheren  Entwicklung  fliefsen  alle  diese  Akte  als 
eine  notwendige  Folge,    ohne  demjenigen,  der  sie  vollbringt, 
erhebliche  Opfer  aufeulegen,   ohne  also  an  seine  imperative 
Sittlichkeit  Anforderungen  zu  stellen.    Namentlich  auf  dem 
altruistischen  Gebiete  handelt  es  sich  hier  um  Vorgänge,  die, 
so  sehr  sie  von  einer  Verfeinerung  des  Gemüts  zeugen,  ebenso 
gering   an  objektiver  Bedeutung    sind  und   den   Gang   der 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     485 

Kultur  selbst  da,  wo  ihre  Folgen  den  altruistischen  Interessen 
direkt  entgegengesetzt  sind,  nicht  aufzuhalten  vermögen. 
Denn  derselbe  Mann  z.  B.,  der  persönlich  jeder  Not  voller 
Teilnahme  gegenübersteht,  kann  doch  durch  seine  rege  Be- 
teiligung an  der  industriellen  Entwicklung  der  Gegenwart 
ohne  es  zu  wollen  zu  ihrer  Vermehrung  mitwirken.  Ebenso 
wenig  hoch  anzuschlagen  ist  von  unserem  Standpunkte  die 
nicht  abzuleugnende  Verminderung  der  Grausamkeiten,  welche 
uns  von  den  Zuständen  der  Naturvölker  oder  des  Mittelalters 
trennt.  Handelt  es  sich  doch  hier  nur  um  eine  Folge  der 
Steigerung  der  Intelligenz  und  der  damit  verbundenen  Fähig- 
keit der  Sympathie,  welche  von  einem  Einzelnen  keinerlei 
Opfer  verlangt. 

Anders  liegt  der  Sachverhalt,  soweit  imperative  sitt- 
liche Handlungen  in  Betracht  kommen,  d.  h.  solche,  deren 
Vollbringung  ohne  Rücksicht  auf  Neigung  und  äufsere  Ver- 
hältnisse entweder  nach'  der  populären  Ausdrucksweise  die 
Stimme  des  Gewissens,  oder  in  mehr  bewufster  Weise  das 
Ideal  einer  sittUchen  Lebensführung  fordert.  In  seinen  feineren 
Formen  das  seltene  Vorrecht  edler  Naturen  ist  dieses  sittliche 
Element  in  quantitativ  erheblichem  Mafse  nur  in  jener  gröberen 
Form  wirksam,  in  der  es  vorzüglich  im  Berufeleben  die  Be- 
obachtung gewisser  herkömmlicher  Formen  verlangt  und  einer 
raschen  Mechanisierung  ausgesetzt  ist.  An  Umfang  kann 
sich  dieses  sittliche  Handeln  mit  dem  impulsiven  und  gewohn- 
heitsmäfsigen  bei  weitem  nicht  messen.  Davon  abgesehen 
handelt  es  sich  jfreilich  hier,  da  ein  derartiges  Handeln  den 
Naturvölkern  überhaupt  fehlt,  um  einen  qualitativen  Gewinn 
der  höheren  Kultur,  um  einen  Fortschritt  auch  im  absoluten  Sinne. 

Wir  wenden  uns  jetzt  dem  entgegengesetzten,  zweiten 
Falle  zu,  in  dem  die  Entwicklung  der  sittlichen  Elemente 
des  Bewufstseins  eine  so  starke  ist,  dafs  sie  die  der  übrigen 
überflügelt  und  ihrerseits  die  Führerrolle  ergreift.  Ein  Blick 
auf  den  bekannten  Antagonismus  zwischen  der  sittlichen  Höhe 
der  Gesinnung  und  den  günstigsten  Bedingungen  für  den 
Erfolg  im  Leben  könnte  uns  zunächst  erwarten  lassen,    dafs 


486  A.  Vierkandt: 

dieser  Fall  eine  ausgedehnte  Verbreitung  hat.  BekanntKch 
gewährleisten  die  höchsten  sittlichen  Eigenschaften,  die  Lauter- 
keit und  Uneigennützigkeit  der  Gesinnung,  in  vielen  Fällen 
nicht  den  meisten  Erfolg  im  Leben  sowohl  der  Einzelnen, 
wie  der  Völker.  Wenn  gleichwohl  'im  ganzen  von  einem 
Fortschritt  des  sittlichen  Lebens  gesprochen  werden  kann, 
so  kann  dieser  letztere  demnach  nicht  als  ein  blofser  Neben- 
effekt der  allgemeinen  Kulturentwicklung  aufgefafst  werden, 
und  zu  seiner  Erklärung  hat  man  in  der  That  darauf  hinge- 
wiesen, dafs  die  sittlichen  Motive,  wenn  sie  erst  eine  gewisse 
Stärke  erlangt  haben,  ihrerseits  eine  führende  Stelle  im  Be- 
wufstsein  einzunehmen  bestrebt  sind.  Mufs  uns  schon  ein 
Blick  auf  das  praktische  Leben  in  empirischer  Hinsicht  an 
dieser  Erklärung  zweifeln  lassen,  so  enthüllt  sie  sich  uns 
a  priori  als  verfehlt  bei  einem  Blick  auf  den  mehrfach  er- 
örterten Mechanismus  der  Kulturentwicklung.  Es  genügt, 
wie  wir  oben  sahen,  ein  derartiges  Vorherrschen  der  sittlichen 
Elemente  bei  einzelnen  Individuen,  um  gelegentlich  vermittelst 
des  Mechanismus  des  socialen  Lebens  deren  Bestrebungen 
einen  über  die  unmittelbare  Tragweite  der  subjektiven  sitt- 
lichen Gesinnung  weit  hinausreichenden  Erfolg  zu  gewähren, 
der  bis  zu  ihrer  Verkörperung  in  objektiven  Kulturformen  fuhrt, 
denen  ein  sittlicher  Gehalt  wohl  nach  ihrer  Wirkung,  aber 
nur  wenig  oder  gar  nicht  nach  den  dabei  jedesmal  in  Betracht 
kommenden  Motiven  zukommt.  Der  ungeheure  sittliche  Fort- 
schritt, der  in  objektiver  Beziehung,  unter  dem  Gesichtspunkte 
fester  Institutionen  und  Normen  betrachtet,  unserer  Kultur 
sicherlich  gegenüber  den  Zuständen  der  Naturvölker  zukommt, 
darf,  wie  schon  früher  erörtert,  daher  nicht  verwechselt  werden 
mit  einem  entsprechenden  Fortschritte  der  Gesinnung.  Sicher- 
lich haben  in  vielen  Fällen  sittliche  Motive  zu  dem  Zustande- 
kommen dieses  Fortschritts  mitgewirkt,  sicherlich  sprechen 
sie  in  vielen  Fällen  bei  der  Bethätigung  dieser  Institutionen 
mit,  aber  dieser  Anteil  tritt  zurück  gegenüber  demjenigen 
aufsersittlicher  Motive.  Gerade  ein  Blick  auf  die  modernen 
Zustände,  auf  ihre  Schwierigkeiten  und  die  grofsen  Aufgaben, 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     487 

denen  unsere  Zeit  hilflos  gegenübersteht,  zeigt  uns,  wie  eng 
begrenzt  im  ganzen  doch  die  Kraft  rein  sittlicher  Motive  im 
Leben  der  Kultur  ist.  Die  nachträgliche  sittliche  Rationali- 
sierung der  durch  aufsersittliche  Motive  so  oft  ins  Leben  ge- 
rufenen Listitutionen,  an  der  frühere  Zeiten  mit  viel  weniger 
Bewufstsein  gearbeitet  haben,  stellt  sich  der  unsrigen  als  das 
grofse  Problem  dar,  das  sie  nicht  zu  lösen  vermag.  Die 
wirtschaftlichen,  socialen  und  rechtlichen  Grundlagen  unserer 
Kultur,  wie  die  Verschiedenheit  des  Besitzes  und  Standes, 
die  Arbeitsteilung  u.  s.  w.,  haben  vielfach  nicht  nur  unter 
der  Wirkung  auf  sersittlicher  Motive,  sondern  geradezu  durch 
unsittliche  Mächte,  durch  Raub  und  Gewalt,  ihre  Gestaltung 
gefunden.  Erst  nachträglich  geben  die  so  geschaffenen  Ver- 
hältnisse den  Anlafs  zu  einer  Fülle  sittlicher  Leistungen, 
welche  den  späteren  Betrachter  sich  mit  ihrem  Ursprung  aus- 
söhnen läfst,  indem  er  ihn  als  die  unumgängliche  Vorbedingung 
des  sittlichen  Fortschritts  anerkennen  mufs.  Dafs  eine  der- 
artige tiefgreifende  Rationalisierung,  eine  Umgestaltung  der 
durch  den  indifferenten  Kulturmechanismus  erzeugten  heutigen 
wirtschaftlichen  und  socialen  Verhältnisse  nach  sittlichen 
Gesichtspunkten  die  grofse  Aufgabe  der  Zeit  bildet,  ist  gewifs 
unbestreitbar,  ebenso  unbestreitbar,  dafs  es  für  ihre  Lösung, 
die  natürlich  nicht  als  ein  einmaliger  Akt,  sondern  als  eine 
fortgesetzt  kontinuierliche  Arbeit  zu  denken  ist,  fast  überall 
an  Wille  und  Einsicht  fehlt. 

Diesem  socialen  Mangel  entspricht  ein  individueller. 
Die  Herrschaft  des  sittlichen  Prinzips  über  die  Lebensführung 
bezeugt  sich  vor  allem  in  der  Fähigkeit,  Opfer  zu  bringen, 
sich  selbst  zu  bezwingen  in  immer  neuen  Formen.  Gerade 
dieser  Wechsel  der  Formen  ist  von  einschneidender  Bedeutung, 
denn  da,  wo  es  sich  um  einen  solchen  Prozefs  in  festen  Ge- 
leisen handelt,  wird  die  Schwierigkeit  und  das  Verdienst  der 
Selbstüberwindung  bald  durch  den  Vorgang  der  Mechanisierung 
und  die  Macht  der  Gewohnheit  vermindert.  Das  imperative 
Handeln  sinkt  dann  zu  einem  zwangs-  und  gewohnheitsmäfsigen 
herab  und  büfst  damit  an  Bedeutung  ein.    Fragen  wir  aber 


488  A.  Vierkandt: 

nach  der  Häufigkeit  eines  solchen  opferwilligen  Handelns,  nach 
der  Häufigkeit  derartiger  Naturen,  so  vermögen  wir  gerade 
in  diesem  Punkte,  wo  es  sich  um  das  innerste  Heiligtum  der 
Gesinnung  handelt,  der  pessimistischen  Auffassung  des  Lebens 
nicht  unrecht  zu  geben.  Der  Mensch  der  modernen  Kultur 
mag  an  Pflichtgefühl,  an  Hingabe  an  objektive  Interessen, 
die  sich  in  festen  Geleisen  bewegen,  an  unwillkürlicher  Be- 
thätigung  der  Teilnahme  anderen  gegenüber,  an  Zartgefühl 
und  Takt  den  Individuen  der  Naturvölker  weit  überlegen  sein. 
Wo  aber  aufserhalb  der  Bahnen  des  Herkommens  und  aufser- 
halb  des  Bereiches  rein  impulsiver  Motive  neue  schwere  sitt- 
liche Anforderungen  an  ihn  herantreten,  da  erweist  er  sich 
fast  als  ebenso  indifferent  und  ebenso  egoistisch  wie  auf 
tieferen  Kulturstufen.  Der  Fortschritt  des  sittlichen  Lebens 
liegt  mehr  in  der  Richtung  der  Verfeinerung  als  in  derjenigen 
der  Vertiefung.  Auch  der  Durchschnittsmensch  unserer  Kultur 
wird  vorwiegend  halb  von  der  Gewohnheit,  halb  vom  Egoismus 
geleitet  und  ist  geneigt,  alle,  gewisse  herkömmliche  feste  Formen 
überschreitenden  sittlichen  Interessen  nur  als  ein  dekoratives 
Beiwerk  des  Lebens  gelten  zu  lassen. 

10.  Denselben  Eindruck  eines  beschränkten,  mehr  auf  der 
Oberfläche  als  in  der  Tiefe  sich  abspielenden  Fortschritts 
erhalten  wir,  wenn  wir  zum  Schlufs  einen  vergleichenden  Blick 
auf  die  wichtigsten  Interessengebiete  des  menschlichen 
Lebens  werfen.  Wir  können  für  unseren  Zweck  ihrer  sechs 
unterscheiden,  von  denen  zwei  mehr  oder  weniger  sittlicher 
Natur  sind,  nämlich  die  altruistischen  und  die  objektiven  Be- 
strebungen, die  letzteren  einschliefslich  der  perfektionistischen. 
Die  übrigen  vier  Gebiete  sind  zunächst  dasjenige  der  körper- 
lichen Interessen,  worunter  wir  die  Sorge  für  die  Erhaltung 
des  Lebens,  für  die  Ernährung  und  für  die  Befriedigung  aller 
feineren  oder  gröberen  sinnlichen  Bedürfhisse  verstehen;  sodann 
zweitens  das  wirtschaftUche  Interessengebiet,  drittens  das 
sociale,  worunter  wir  alle  diejenigen  Bestrebungen  und  Hand- 
lungen begreifen,  welche  aus  der  Rücksicht  auf  die  öffentliche 
Meinung  und  das  Ansehen  des  handelnden  Individuums  in  den 


Bemerkungen  zur  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit.     489 

Augen  seiner  Mitmenschen  entspringen  und  die  Erhaltung 
oder  Vermehrung  dieses  Ansehens  zum  Ziele  haben,  und  end- 
lich viertens  das  Gebiet  der  mythologischen  Interessen.  Ver- 
gleichen wir  den  Raum,  den  jedes  dieser  Gebiete  im  Bewufst- 
sein  des  Individuums  bei  den  Naturvölkern  und  bei  uns  ein- 
nimmt, miteinander,  so  finden  wir  auf  drei  von  ihnen  erhebliche 
Wandlungen :  das  mythologische  Interessengebiet  hat  an  Umfang 
verloren  zu  Gunsten  des  wirtschaftlichen  und  objektiven. 
Von  dem  Eaum,  den  das  erstere  bei  den  Naturvölkern  ein- 
nimmt, kann  man  sich  kaum  übertriebene  Vorstellungen  machen. 
Seine  ^Gröfse  ist  die  notwendige  Folge  der  auf  serordentlichen 
EeaJität,  welche  die  übersinnliche  Welt  für  die  Naturvölker 
besitzt,  deren  Geister  nicht  nur  gelegentlich  direkt  in  mensch- 
licher Form  erscheinen  oder  vorübergehend  sich  Menschen 
als  Behausung  auswählen,  sondern  fortgesetzt  eine  Reihe  von 
Wirkungen  auf  die  Lebenden  ausüben,  welche  denjenigen  der 
natürlichen  Kräfte  an  Umfang  und  Bedeutung  mindestens  die 
Wagschale  halten.  Demgemäfs  ist  das  Zurückgehen  des  reli- 
giösen Interessenkreises  eine  notwendige  Folge  einer  jeden 
höheren  Kultur.  Mag  auch  in  der  Gegenwart  die  Kraft  reli- 
giöser Motive  ein  Minimum  erreicht  haben,  mag  unsere  Zeit 
zu  jenen  Ausnahmeperioden  gehören,  in  denen  eine  gewisse 
sociale  Zersetzung  ihre  unheilvolle  Kraft  entfaltet,  so  wird 
sich  doch  die  Wirksamkeit  des  religiösen  Vorstellungskreises 
eines  hochgestiegenen  Kulturvolkes  niemals  mit  demjenigen 
eines  Naturvolkes  messen  können,  weil  die  religiösen  Vor- 
stellungen bei  dem  ersteren  viel  zu  sehr  durchgeistigt,  viel 
zu  abstrakt  sind,  um  mit  der  robusteren  sinnlichen  Natur  der 
Geisterwelt  tieferer  Völker  wetteifern  zu  können. 

Die  so  entstandene  Lücke  wird  vor  allem  teils  durch 
objektive,  teils  durch  wirtschaftliche  Interessen  ausgefüllt. 
Auf  den  aufserordentlichen  Raum,  den  die  letzteren  in  der 
modernen  Kultur  einnehmen,  und  die  unheilvollen  Folgen,  die 
in  Gestalt  des  Industrialismus  und  Amerikanismus  von  ihm 
ausgehen,  weisen  wir  nur  hin.  Gerade  infolge  des  höheren 
Mafses   von  Voraussicht  und  Fürsorge,   gerade   infolge   der 


490     A.  Vierkandt:  Bemerkungen  z.  Frage  d.  (sittlichen  Fortschritts  etc. 

Stärkung  der  Intelligenz  und  des  Willens  ist  den  wirtschaft- 
lichen Interessen  ein  so  aufserordentlich  ausgedehntes  Gebiet 
bei  uns  erwachsen.  Sie  beziehen  sich  nicht  nur  auf  die  Be- 
friedigung gelegentlicher  Bedürfnisse,  sondern  in  einer  aus- 
geprägt und  anscheinend  immer  wachsend  systematischen  Weise 
einerseits  auf  die  Sicherung  des*  ganzen  Lebens,  andrerseits 
auf  seinen  möglichst  umfassenden  Genufs  im  Sinne  einer 
möglichsten  Ausdehnung  des  Komforts.  Da  aber  beide  Ziele 
ihrer  Natur  nach  unendlich,  die  zu  ihrer  Erreichung  dienenden 
Mittel  mithin  unbegrenzt  sind,  so  ergiebt  sich  daraus  mit 
Notwendigkeit  jene  absorbierende  Kraft  des  wirtschaftlichen 
Interesses,  die  auf  den  Charakter  des  Einzelnen  wie  die 
Kulturentwicklung  ganzer  Völker  einen  so  nachteiligen  Einflufs 
auszuüben  vermag. 

Die  objektiven  Interessen,  die  an  jenem  Gewinn  Anteil 
haben,  besitzen  nur  zum  Teil  einen  sittlichen  Inhalt,  da  alle 
niedrigen  Erwerbsarten,  vor  allem  fast  alle,  die  dem  wirt- 
schaftlichen Leben  angehören,  höchstens  sehr  indirekt  als 
Grundlage  für  höhere  Leistungen  eine  sittliche  Bedeutung 
beanspruchen  können.  Aber  auch  die  höheren  objektiven 
Interessen  bewegen  sich  noch  vielfach  an  der  Grenze  des 
eigentlichen  sittlichen  Lebens.  Die  Motive  der  in  Betracht 
kommenden  Handlungen  sind  vielfach  aufsersittlicher  Art, 
und  selbst  wo  sie  das  nicht  sind,  raubt  die  mit  der  Gewohn- 
heit verknüpfte  Mechanisierung  ihnen  bald  den  höheren  inneren 
Wert.  Es  sind  hier,  wie  bei  dem  wirtschaftlichen  Interessen- 
kreise, vorwiegend  indifferente  Leistungen,  die  an  die  Stelle 
der  Bethätigung  de§  mythologischen  Interessenkreises  treten. 
In  den  grofsen  Zügen  betrachtet  besteht  also  die  Hauptver- 
schiebung des  Interesses  darin,  dafs  an  Stelle  mehr  oder 
weniger  indifferenter  Interessen  andere  von  dem  nämlichen 
Charakter  getreten  sind. 


..uilillllllllIrllllllll.linilllliMilJllilil.lllll'i 


iiiiiiiiiiitriiilii'iiiiiiiiiiiliiiiiiiriiiiiiiiiiiiiiiiiii 


Berichterstattung. 


iiliii'ijii:n!i:>'i'iMiiMiiiJiniii'iiiiiii  •  m> 


I. 

Besprechungen. 


Heinrich,   W.,    Zur  Prinzipienfrage  der  Psychologie, 
Zürich,  E.  Speidel,  1899.     74  S. 

Der  Verf.  hat  es,  ,,nachdem  die  Frage  der  psychologischen  Prinzipien 
so  in  den  Vordergrund  getreten  ist",  „für  angemessen"  gehalten,  auch 
seinerseits  dazu  Stellung  zu  nehmen.  Thatsächlich  bringt  er  Jedoch  fflr 
die  Entscheidung  oder  Klärung  dieser  Frage  nichts  Neues  bei,  wenn  wir 
die  Anschauungen  berücksichtigen,  die  er  bereits  früher  in  seiner  Schrift 
über  „die  moderne  physiologische  Psychologie  in  Deutschland"  mitgeteilt 
hat.  Diese  Schrift  ist  gleichzeitig  in  zweiter  Auflage  erschienen,  wobei 
es  der  Verf.  für  angemessen  gehalten  hat,  die  gröfsere  Zahl  der  in  einer 
eingehenden  Kritik  der  ersten  Auflage  von  mir  gerügten  Fehler  einfach 
stehen  zu  lassen.^) 


J)  Vergl.  Zeitschrift  f.  Philos.  u.  philos.  Kritik  Bd.  110,  S.  9  ff. 
Wohlgemerkt,  von  Fehlern  und  nicht  von  Meinungsverschiedenheiten  ist 
die  Rede.  Die  Art,  wie  sich  H.  mit  dieser  Kritik  seines  Buches  in  dem 
Anhang  der  neuen  Auflage  abfindet,  sei  hier  nur  mit  einigen  Worten 
gekennzeichnet.  Er  behauptet,  meine  „vernichtende  Kritik"  sei  „der 
Hauptsache  nach"  eine  Zusammenstellung  von  Druckfehlem!  Dennoch 
glaubt  er  „auf  den  Vorwurf  historischer  Ungenauigkeit  reagieren  zu 
müssen".  Ich  hatte  von  H.'s  Angabe,  dafs  die  Phantasiebilder  nach 
Che.  Wolfp  durch  die  Abschwächung  der  Empfindungen  entstehen,  erklärt, 
dafs  man  diese  Ansicht  in  den  Schriften  Wolffs  vergeblich  suche.  Jetzt 
werde  ich  auf  die  Psychologia  empirica  §§  91 — 100  verwiesen.  Dadurch 
hat  H.  seine  Sache  nur  verschlimmert,  denn  es  geht  daraus  hervor,  dafs 
er  Wolffs  Ausführungen  an  der  genannten  Stelle  einfach  nicht  verständen 
hat.  Er  nenne  mir  doch  nur  einen  Satz,  in  dem  die  von  mir  beanstandete 
Aussage  eine  Stütze  findet!  Ferner  hatte  ich  einen  aus  Hebbabts  Ab- 
handlung De  attentionis  mensura  etc.  citierten  Satz :  Eeproductio  quodmodo 
dirigetur  attentione  res  est  a  nostro  proposito  allinea  als  offenbar  korrum- 
piert bezeichnet.  H.  erwidert,  die  korrumpierte  Form  bestehe  darin,  dafs 
statt  alliena  irrtümlich  allinea  gedruckt  stehe.    Diese  Erwiderung,   die, 


492  0.  Külpe: 

Nachdem  der  Verf.  in  den  Vorbemerkungen  wieder  einmal  die 
methodologische  Bedeutung  des  Prinzips  vom  psychophysischen  Parallelismus 
betont  hat,  wendet  er  sich  in  einem  Abschnitt  über  die  psychische  Kau- 
salität gegen  Wündts  Annahme  derselben  und  sucht  in  einem  weiteren 
Abschnitt  über  die  physische  Kausalität  zu  zeigen,  dafs  diese  „geschlossen^ 
ist,  also  durch  das  Eingreifen  psychischer  Energie  nicht  unterbrochen 
werden  darf.  Das  Prinzip  der  Erhaltung  der  Energie  sei  eben  nicht  das 
einzige  Kausalgesetz,  sondern  es  kämen  noch  andere  speciellere  hinzu, 
die  die  Verlaufsrichtung  des  physischen  Geschehens  in  jedem  einzelnen 
Falle  eindeutig  bestimmten.  Der  dritte  Abschnitt  über  die  mechanischen 
Begriffe  und  die  Erhaltung  der  Energie  bringt  längere  Ausführungen  über 
die  Entstehung  der  mechanischen  Grundbegriffe,  eine  Polemik  gegen  die 
Energetik  von  Ostwald  und  zum  Schlufs  die  Behauptung,  man  dürfe  den 
Begriff  der  Energie  nicht  auf  die  psychischen  Vorgänge  anwenden.  Die 
mechanischen  Begriffe  seien  von  vornherein  nur  zur  Darstellung  körper- 
licher Erscheinungen  und  Beziehungen  bestimmt  gewesen  und  liefsen  sich 
daher  nicht  auf  die  seelischen  Thatsachen  tibertragen.  Daran  schliefst 
sich  ein  längerer  Abschnitt  über  die  Monismusfrage,  in  dem  der  naive 
Bealismus  ebenso  wie  der  Idealismus  als  unrichtige  Standpunkte  gekenn- 
zeichnet und  die  Aufgabe  der  Psychologie  in  die  objektive  Untersuchung 
des  Mitmenschen  verlegt  werden.  Eine  eigentliche  Antwort  auf  die  Frage 
nach  dem  Psychischen  und  seinem  Verhältnis  zum  Physischen  wird  jedoch 
nicht  gegeben.  Der  letzte  Abschnitt  über  die  Methode  der  Psychologie 
wiederholt,  was  wir  schon  aus  der  früheren  Schrift  wissen.  Die  Psycho- 
logie soll  nicht  Bewufstseinserscheinungen  untersuchen,  sondern  objektiv, 
naturwissenschaftlich  das  Verhältnis  des  Mitmenschen  zu  seiner  Umgebung 
erforschen,  wobei  die  Aussagen  desselben  ebenso  als  ein  objektiver  That- 
bestand  aufzufassen  seien,  wie  die  Bewegungen  oder  die  Änderungen  der 
Umgebung.    Nun  haben  freilich  die  Aussagen   eine  Bedeutung,   sie  sind 

wie  man  sieht,  die  Korruption  des  Textes  nicht  völlig  beseitigt,  ist  ja  nur 
eine  Rechtfertigung  meiner  Behauptung.  Da  H.  jedoch  durch  den  Aus- 
druck „korrumpiert"  verletzt  zu  sein  scheint,  so  bemerke  ich  für  ihn,  dafö 
der  philologische  Sprachgebrauch  mit  dem  Begriff  der  Korruption  keines- 
wegs das  Merkmal  eines  dolus  verbindet.  Endlich  hatte  ich  die  Polemik 
gegen  Fechners  Ausführungen  über  die  Gültigkeit  des  Gesetzes  von  der 
Erhaltung  der  Energie  für  die  psychophysischen  Prozesse  unpassend  und 
die  Vorstellung,  die  H.  dem  Begründer  der  Psychophysik  unterzuschieben 
wage,  albern  genannt.  H.  macht  daraus,  dafs  ich  seine  Äufserung  über 
Fechners  Auffassung  für  albern  erklärt  habe,  und  citiert  zu  meiner  Wider- 
legung eine  ganze  Seite  der  Psychophysik.  Er  hat  demnach  seinen  Irrtum 
auch  jetzt  noch  nicht  eingesehen,  und  mir  fehlt  der  Baum,  um  auf  diesen 
Punkt  nochmals  zurückzukommen.  „Die  ganze  Reihe  weiterer  Ein- 
wendungen", heifst  es  zum  Schlufs,  „beantworte  ich  nicht".  Dennoch  hat 
H.  in  der  hier  besprochenen  Schrift  noch  einmal  auf  meine  Kritik  Bezug 
genommen.  Ich  soll  nach  S.  3  Anmerk.  die  praktische  Bedeutung  des 
psychophysischen  Parallelismus  mit  der  metaphysischen  verwechselt  haben. 
Diese  Behauptung  ist,  wie  ich  wohl  ohne  Übertreibung  sagen  darf,  völlig 
aus  der  Luft  gegriffen. 


Heinrich,  „Zur  Prinzipienfrage  der  Psychologie".  493 

Symbole,  und  das  soll  sogar  die  ganze  Untersuchung  erst  zu  einer  psycho- 
logischen machen.  Trotzdem  ist  diese  Bedeutung  nicht  das  Ziel  der 
Forschung,  sondern  nach  H.  offenbar  etwas  Nebensächliches.  Die  deskriptive 
Methode,  die  auch  in  den  Naturwissenschaften  immer  mehr  zur  Anerkennung 
gelangt,  fordert  femer,  dafs  man  die  Umgebung  hierbei  nicht  als  qualitäts- 
lose Summe  mechanischer  Vorgänge  betrachte,  sondern  sie  in  derjenigen 
qualitativen  Verschiedenheit  als  real  annehme,  in  der  sie  sich  der  unmittel- 
baren Auffassung  darbietet.  Wie  man  die  objektive,  naturwissenschaftliche 
Untersuchung  damit  vereinigen  soll,  hat  uns  der  Verf.  nicht  gezeigt. 
Die  Aufgabe  der  Psychologie  ist  nach  ihm  gelöst,  wenn  alle  Verhältnisse 
zwischen  dieser  Umgebung  und  den  Äulserungen  des  Menschen  unter  Be- 
rücksichtigung der  Änderungen  der  Sinnesorgane  und  des  Nervensystems 
festgestellt  sind.  Es  bleibe  dann  nur  noch  das  philosophische  Problem 
übrig,  wie  sich  der  Beschreibende  zu  dem  Vorgefundenen  verhalte. 

Wie  man  sieht,  gehen  die  Erörterungen  des  Verf.  nirgends  in  die 
Tiefe  und  führen  daher  auch  die  berührten,  nicht  behandelten  Probleme 
um  keinen  Schritt  weiter.  Wer  etwa  der  Ansicht  sein  sollte,  dafs  der 
Begriff  einer  psychischen  Energie  oder  psychischer  Energien  geeignet  sei, 
den  Konflikt  mit  dem  Erhaltungsprinzip  zu  schlichten,  wird  sich  durch 
die  Argumente  H.'s  darin  gewifs  nicht  irre  machen  lassen.  Als  Dsscartbs 
und  Lkibniz  von  einer  Erhaltung  der  Kraft  redeten,  da  verstanden  sie 
unter  Kraft  nur  die  kinetische  oder  Lageenergie,  nicht  die  elektrische  oder 
thermische  oder  chemische.  Man  hätte  daher  nach  H.'s  Anweisung  auch 
den  späteren  Versuchen  einer  Erweiterung  der  Begriffe  in  dieser  Eichtung 
entgegenhalten  können,  dafs  diese  ja  „nur  dazu  bestimmt"  gewesen  seien, 
die  mechanischen  Vorgänge  im  engeren  Sinne  des  Wortes  auszudrücken. 
Niemand  leugnet  femer,  dafs  physische  Kausalgesetze  eben  physische 
Kausalgesetze  sind  und  dafs  ein  physisches  Geschehen  sich  eindeutig  durch 
sie  bestimmen  läfst.  Aber  darin  liegt  doch  keine  Unmöglichkeit  psycho- 
physischer  Kausalbeziehungen  begründet.  Wer  da  behauptet,  dafs  es  solche 
gebe,  der  sucht  ja  fein  säuberlich  einen  Widerspruch  mit  den  physischen 
Kausalgesetzen  zu  vermeiden  oder  als  vermeidbar  hinzustellen.  Was 
endlich  H.'s  originale  Idee,  seine  psychologische  Methode,  anbelangt,  so 
verzichte  ich  auf  eine  Wiederholung  der  Einwände  und  Bedenken,  die  ich 
früher  bereits  gegen  sie  vorgebracht  habe.  Haben  sie,  wie  die  Abhandlung 
zeigt,  bisher  keine  Wirkung  ausgeübt,  so  darf  ich  mir  eine  solche  von  einer 
Reproduktion  derselben  wohl  auch  nicht  versprechen.  Immerhin,  einen 
Erfolg  scheinen  meine  damaligen  Ausführungen  doch  gehabt  zu  haben. 
Die  Solidarität  mit  Avenarius  hat  der  Verf.  aufgegeben,  wenn  die  Kritik, 
die  er  S.  66  an  ihm  übt,  auch  auf  diesen  Punkt  ausgedehnt  werden  darf. 

0.   KOLPB. 

Brannschweiger,  Dr.  D.,  Die  Lehre  von  der  Aufmerk- 
samkeit in  der  Psychologie  des  18.  Jahrhunderts. 
Leipzig,  H.  Haacke,  1899.  Vm  und  176  S.  8^.  Preis  3,60  M. 

Harry  Kohn  wirft  in  seiner  Dissertation  „Zur  Theorie  der  Auf- 
merksamkeit"  die  überraschende  Behauptung  auf,  erst  in  unserem  Jahr 


494  Max  Offner: 

hundert  sei  die  Frage  nach  Wert  und  Wesen  der  Aufmerksamkeit  in  ihrer 
Bedeutung  erkannt  worden.  Das  war  ein  bischen  gewagt,  und  wir  be- 
zweifeln, dals  er  das  behauptet  hätte,  wäre  ihm  die  psychologische  Litteratur 
des  vorigen  Jahrhunderts  in  ihrer  yerwirrenden  Fülle  näher  bekannt  ge- 
wesen. Denn  geradezu  ein  Lieblingsgegenstand  war  die  Aufmerksamkeit 
für  diese  Psychologen.  Das  nachzuweisen  hat  Bb.  in  vorliegender  Unter- 
suchung unternommen,  die  auf  eine  Anregung  von  Prof.  Kolpe  in  Würz- 
burg zurückgeht.  Es  war  keine  leichte  Aufgabe,  die  der  Verf.  sich  damit 
gestellt  hat.  Ist  doch  die  Aufmerksamkeit  eine  Erscheinung  in  unserem 
Seelenleben,  die  sich  wohl  schwerer  als  wie  jede  andere  aus  dem  Zusammen- 
hang des  übrigen  Seelenlebens  herauslösen  und  gesondert  betrachten  läfst. 
Das  haben  auch  jene  Psychologen  schon  klar  erkannt,  wenngleich  man 
ihnen  so  gern  den  Vorwurf  machte,  die  Seele  in  lauter  Vermögen  auf- 
gelöst zu  haben.  Schütz  z.  B.  betont  sehr  mit  Becht:  „Man  sollte  die 
sogen.  Seelenkräfte  nicht  blofs  jede  für  sich,  sondern  sie  insgesamt  mehr 
im  Zusammenhang  miteinander  beobachten". 

Aber  gerade  diese  Forderung  machte  eine  dennoch  klare  und  über- 
sichtliche Darstellung  sehr  schwer  —  freilich  auch  um  so  verdienstlicher. 

Verf.  steckt  nun  sein  Feld  ab,  indem  er  Lbibniz  und  Wolff  als 
die  eine,  Kant  als  die  andere  Grenze  nimmt.  Durch  Wolff  wurde  die 
Psychologie  in  gewissem  Sinne  hoffähig  gemacht,  indem  er  sie  in  den 
Kreis  der  philosophischen  Dlsciplinen  als  eigene  Wissenschaft  einführte, 
und  zwar  gleich  in  der  Doppelform  der  empirischen  und  der  rationalen 
Psychologie.  Durch  Eaitt  hingegen  wurde  ihr  klipp  und  klar  die  Zu- 
gehörigkeit zur  Philosophie,  ja  überhaupt  zur  Wissenschaft  abgesprochen 
(vergl.  A.  Heolbb,  Die  Psychologie  in  Kants  Ethik,  S.  59;  J.  B.  Mbteb, 
Kants  Psychologie,  S.  218  ff.). 

In  der  Zwischenperiode  aber  erfreute  sich  die  Psychologie  einer 
eifrigen  Pflege,  sie  wurde  vielfach  geradezu  als  Mittelpunkt  aller  Wissen- 
schaften, als  Grundlage  aller  philosophischen  Disciplinen  betrachtet,  eine 
Ehrenstellung,  die  auch  heute  wieder  von  vielen  ihrer  Vertreter  für  sie' — 
und  nicht  ohne  Erfolg  —  beansprucht  wird. 

Diese  lebhafte  Pflege  bedingte  selbstverständlich  einen  grofsen  Eeich- 
tum  von  verschiedenen  Meinungen,  nicht  selten  schon  in  den  grundlegen- 
den Fragen.  So  war  unter  anderen  ein  Streitpunkt,  der  die  damaligen 
Psychologen  sehr  beschäftigte,  die  Scheidung  der  sogen.  Seelenvermögen 
in  untere  und  obere,  sinnliche  und  intellektuelle.  Dementsprechend  wurde 
auch  die  Aufmerksamkeit  bald  als  sinnliches,  bald  als  intellektuelles  Ver- 
mögen angesprochen,  je  nach  den  Gegenständen,  denen  sie  sich  zuwendete. 

Unter  sinnlicher  oder  äufserlicher  Aufmerksamkeit  verstand 
man  ähnlich,  wie  gelegentlich  auch  heute,  die  Aufmerksamkeit  auf  äussere 
Objekte,  auf  äufsere  Impressionen,  Sinneseindrücke,  sinnliche  Vorstellungen, 
oder  wie  man  sonst  die  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  benannte. 
Ihr  Gegensatz  ist  die  innere  oder  geistige  Aufmerksamkeit,  auch 
intellektuelle  oder  vernünftige  (Platner)  genannt.  Sie  wendet  sich  auf 
Gegenstände  unseres  eigenen  Bewufstseins,  auch  auf  solche,  die  mit  Zu- 
hilfenahme der  Phantasie  oder  des  Gedächtnisses  zustande  kommen  (z.  B. 

GONDILLAC). 


Braunschweiger,  „Die  Lehre  von  der  Aufmerksamkeit  etc.".        495 

Das  Wesen  der  Aufmerksamkeit  wird  oft  nur  damit  bezeichnet,  dafs 
sie  ein  Vermögen  sei,  das  verschiedene  Funktionen  auszuüben  vermöge, 
und  zwar  zunächst  „ein  Objekt,  eine  Empfindung,  eine  Idee  aus  der  Summe 
der  uns  umgebenden  und  uns  offizierenden  herauszuheben,  dann  sie  durch 
Kenntlichmachung  der  Merkmale  aufzuklären,  ferner  sie  allein  in  unser 
Bewufstsein  treten  zu  lassen,  endlich  ihr  ausschliefslich  Klarheit  und  Deut- 
lichkeit zu  verleihen"  (S.  31). 

Nicht  mehr  als  blofses  Vermögen,  sondern  bereits  als  aktives  Be- 
streben, einen  Gegenstand  herauszuheben,  eine  Vorstellung  zur  Haupt- 
vorstellung zu  machen,  wird  sie  betrachtet  von  Tetbns,  Tikdemann,  Ibw^ino 
und  Kant. 

Und  ganz  modern  mutet  es  uns  an,  wenn  die  Aufmerksamkeit  als 
ein  Zustand  der  Seele  bezeichnet  wird,  als  eine  ausnahmsweise  Be- 
schäftigung der  Seele  mit  einer  einzigen  Idee,  einem  einzigen  Gegenstand 
(Bbown,  Homb,  Dbstutt  de  Tbacy,  Schmid).  Man  wird  erinnert  an  Eibots 
mono'id^sme  intellectuel,  an  Jaubs,  Hbbbart  und  Kolpe. 

Pbiestlby  fafst  sie  gar  nur  als  blofse  Perzeption,  wohl  aber  nur, 
so  dürfen  wir  seinen  Gedanken  vielleicht  ergänzen,  wenn  sie  auf  ein 
Objekt  sich  beschränkt.  Und  ihm  ähnlich  sieht  Condillac  in  der  Auf- 
merksamkeit eine  Sensation,  die  durch  den  Grad  der  Stärke  oder  durch 
andere  Ursachen  als  einzige  allein  noch  vorhanden  ist. 

An  der  Aufmerksamkeit  werden  nun  gewöhnlich  drei  Eigenschaften 
unterschieden,  die  Dauer,  deren  Gegensatz  die  Flüchtigkeit  ist,  die  Stärke 
oder  Intension,  welche  in  der  Geschicklichkeit  besteht,  einer  Vorstellung 
eine  besondere  Klarheit  zu  verschaffen,  endlich  der  Umfang  oder  die 
Extension.  Bonnbt  freilich  zögert,  den  Umfang  als  eine  besondere,  selb- 
ständige Eigenschaft  der  Aufmerksamkeit  gelten  zu  lassen,  bestimmt  durch 
die  bekannte  Beobachtung,  dafs  zwischen  Stärke  und  Dauer  einerseits  und 
Umfang  anderseits  ein  Abhängigkeitsverhältnis  besteht,  insofern  die  Zu- 
nahme der  einen  durch  eine  Abnahme  des  anderen  bedingt  ist  und  um- 
gekehrt. Darüber  aber  sind  alle  einig,  dafs  dieser  Umfang  sehr  gering 
ist.  Ja  manche,  wie  Hallbb,  Krügeb,  Sülzbb,  Beimabüs  und  Condillac, 
glauben  sogar,  dafs  man  in  einem  Moment  immer  nur  einer  einzigen  Vor- 
stellung wirklich  Aufmerksamkeit  zuwenden  könne.  Freilich  ob  sie  z.  B. 
einen  mehrfarbigen  Körper  für  eine  einzige  Vorstellung  oder  für  eine 
Summe  solcher  erklären  würden,  erfahren  wir  nicht.  Nur  Stewabt  scheint 
die  letzten  Bestandteile  noch  als  einzelne  Vorstellungen  zu  behandeln. 
Als  weitere  Eigenschaft  der  Aufmerksamkeit  wird  gelegentlich,  so  von 
Irwing,  Kiesewbtteb,  Stiebbitz,  Wolfp,  die  Geschmeidigkeit  erwähnt, 
die  Fähigkeit,  sich  auch  auf  unbedeutende  Objekte  richten  zu  können. 
Ihr  steht  gegenüber  die  Steifheit.  Diese  lasse  sich  aber  durch  Übung 
wohl  beheben,  „sonderlich,  wenn  man  si^h  vorstellt,  dafs  man  aus  allen 
Pingen  profitieren  kann",  wie  Stiebbitz  ermunternd  hinzufügt.  Die  Übung 
vermag  natürlich  auch  die  anderen  Eigenschaften  zu  vervollkommnen,  und 
jCs  ist  recht  bezeichnend  für  den  "praktischen  Geist  des  Aufklärungsjahr- 
hunderts, dafs  über  Verringerung,  Steigerung  und  Herabsetzung  der  Aufmerk- 
samkeit gerade  zu  rein  praktischen,  besonders  psychohygienischen  Zwecken 
imvergleichlich  mehr  geschrieben  worden  ist,  als  in  unserem  Jahrhundert. 


496  Max  Offner: 

Dagegen  liegen  auch  unserem  gegenwärtigen  Interesse  wieder  sehr 
nahe  die  Beobachtungen  über  die  Beize  der  Aufmerksamkeit.  Unter  Beiz 
verstand  man  die  Veranlassung,  welche  dazu  beiträgt,  dafs  die  Thätigkeit 
der  Seele  in  Wirksamkeit  tritt  (so  Ibwino).  Sie  sind  natürlich  verschieden. 
So  unterscheidet  Lossius  —  um  nur  einen  aus  vielen  zu  nennen  —  zu- 
nächst physikalische,  äufsere  oder  sinnliche  Beize,  deren  Wirksamkeit 
lediglich  abhängt  von  der  Heftigkeit  und  Lebhaftigkeit  der  Impression. 
Weiterhin  verursacht  erhöhte  Aufmerksamkeit  die  Klarheit  und  Deutlichkeit 
der  Perceptionen  wie  der  Vorstellungen,  unter  Umständen  auch  ihre  Dauer, 
ferner  die  begleitenden  Lust-  oder  Unlustgefühle.  Diesen  nach  physischen 
Gesetzen  wirkenden  Ursachen  stellt  Lossius  die  moralischen  Ursachen 
gegenüber,  welche  die  Aufmerksamkeit  nicht  unmittelbar,  sondern  erst 
durch  Vermittelung  anderer  Vorstellungen  wecken,  wie  etwa  ein  Wamungs- 
signal,  das  selbst  schwach  ist  und  doch  wegen  der  von  ihm  hervorgerufenen 
Vorstellung  der  Gefahr  unsere  ganze  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  nimmt 
(Tibdemann).  Hblvetius  bezeichnet  dieses  Verhältnis  als  Interesse  und 
gründet  dieses  selbst  wieder  auf  die  „Liebe  zu  unserer  Glückseligkeit". 
Es  könne  deshalb  nichts  anderes  als  eine  Wirkung  der  physischen  Empfind- 
lichkeit sein.  Damit  ist  implicite  schon  gesagt,  dafs  auch  unsere  Leiden- 
schaften, unsere  Gemütszustände,  uuser  Temperament  und  unsere  Thätigkeit 
bestimmend  sind  für  unser  Interesse.  Aber  auch  das  Neue  und  Unerwartete 
ruft  unsere  Aufmerksamkeit  wach,  wofür  Hoffbaubr  recht  ansprechend 
auch  als  Grund  angiebt,  dals  mit  einer  neuen  Vorstellung  noch  nicht  so 
viele  andere  Vorstellungen  vergesellschaftet  sind,  welche  unsere  Aufmerk- 
samkeit von  derselben  abziehen. 

Während  sich  so  die  Ansichten  der  Philosophen  über  die  Aufmerk- 
samkeit erzeugenden  Beize  decken  oder  wenigstens  ergänzen,  viri  in 
philosophorum  officina  bene  politi  iuter  se  pugnant,  utrum  attentio  a  sola 
voluntate  an  vero  ab  intellectu  an  ab  utroque  simul  pendeat  (Mollmann). 

Darüber  femer,  dafs  man  mit  Bücksicht  auf  die  Mitwirkung  des 
Willens  zwei  Arten  Aufmerksamkeit  unterscheiden  könne,  sind  sich  die 
Philosophen  noch  einig,  und  trennen  darum  die  natürliche,  unvorsätz- 
liche, passive  von  der  willkürlichen,  vorsätzlichen,  aktiven.  Um  so 
zwiespältiger  aber  sind  sie  über  MaXs  und  Art  der  Mitwirkung  des  Willens 
bei  der  zweiten  Art.  Das  im  einzelnen  hier  zu  verfolgen,  wollen  wir  uns 
schenken.  Dagegen  wollen  wir  mit  Freuden  —  oder  soll  ich  sagen  mit 
Beschämung?  —  konstatieren,  dafs,  was  heute  noch  immer  nur  als 
Forderung  vorhanden  ist,  schon  vor  mehr  als  hundert  Jahren  in  seinem 
Wert  erkannt  worden  ist,  ich  meine  das  Hand  in  Hand  gehen  der  Psycho- 
logie und  der  Medizin.  Krüger  schwärmt  von  dem  „schwesterlichen  Band 
der  Liebe  zwischen  Arzneigelehrtheit  und  Weltweisheit  und  Seelenlehre**, 
Schütz  preist  die  Medizin  als  die  „Schwester  der  Philosophie",  ja  Metzgeb 
sieht  in  der  medizinischen  Seelenlehre  das  einzige  Fundament  der  philo- 
sophischen Seelenlehre,  ohne  welches  diese  ein  schwaches,  unhaltbares  Ge- 
bäude sei.  NüDow  hingegen  klagt  über  „die  schnöde  Vernachlässigung 
und  Geringschätzung  der  Psychologie  besonders  von  Ärzten"  —  tont  comme 
ehez  nous  beim  III.  Internationalen  Kongrefs  für  Psychologie  in  München! 


Braunschweiger,  „Die  Lehre  von  der  Aufmerksamkeit  etc.".        497 

Dafs  bei  derartiger  Auffassung  das  Physiologische  auch  in  der 
Auhnerksamkeitslehre  breiten  Baum  einnimmt,  ist  nur  natürlich.  Der 
Gedanke  Bonitbts,  das  Materielle  der  Aufmerksamkeit  gründe  sich  auf 
gewisse  Beschaffenheit  der  Fibern,  gewisse  Anlage  des  Gehirnes,  kehrt  in 
verschiedenen  Variationen  wieder.  Freilich  laufen  dabei  manchmal  etwas 
wunderliche  Anschauungen  mit  unter.  So  meint  üngeb,  dafs  sich  infolge 
der  Aufmerksamkeit  (Erwartung)  der  Seele  die  Spitzen  deijenigen  Nerven 
aufrichten,  welche  zum  Ausführen  der  Handlung,  die  man  gerade  vorhat, 
nötig  sind,  so  z.  B.  erheben  sich  die  Nervenspitzen  in  den  Fingern,  wenn 
man  sich  anschickt,  etwas  genau  zu  befühlen,  die  Zungenwarzen,  wenn 
man  sich  in  die  Erwartung  setzt,  ein  Stück  Zucker  oder  Salz  zu  schmecken. 
Trefflich  ist  dagegen  Wolffs  Beobachtung  der  Innervationsempfindungen : 
Si  in  Phantasma  visibile  attentionem  dirigis  vel  eandem  in  eodem  conservas, 
in  casu  priore  oculum  eidem  directe  obvertere  conaris,  in  posteriore  eundem 
conatum  continuas. 

Die  bekannte  Thatsache,  dafs  bei  intensiver  Aufmerksamkeit  auf 
einen  Teil  des  Bewufstseinsinhaltes  der  übrige  zurücktritt  oder  ganz  ver- 
schwindet, damals  häufig  Abstraktion  genannt,  wird  von  Platnbb  nach 
BoNKSTS  und  FosHEYs  Vorgang  damit  erklärt,  dafs  fast  der  ganze  Nerven- 
geist sich  auf  den  einen  Gegenstand  hinziehe,  so  dafs  bei  den  übrigen 
Gegenständen,  wie  überhaupt  im  ganzen  Nervensystem,  die  Wirkung  des 
anderen,  restierenden  Nervengeistes  vermindert  und  geschwächt  wird.  Ist 
es  viel  mehr  als  ein  Wortunterschied,  wenn  unser  Hauptvertreter  der 
physiologischen  Psychologie,  Wundt,  schreibt:  „Ein  je  gröfserer  Teil  des 
Centralorganes  sich  in  einem  Zustand  funktioneller  Latenz  befindet,  um 
so  gröfser  wird  die  Reizbarkeit  des  funktionierenden  Restes"?  Übrigens 
ist  damit  die  Wirksamkeit  der  Aufmerksamkeit  nach  Ansicht  mancher 
noch  nicht  erschöpft.  Sie  nehmen  noch  an,  dafs  durch  sie  die  Seele  zu 
einer  Art  von  Rückwirkung,  von  Reaktion  auf  die  Organe,  die  Gehim- 
fibern  veranlafst  würde.  „Die  Aufmerksamkeit  verstärkt  die  Wirksamkeit 
der  Vorstellungsnerven  oder  verlängert  die  Dauer  davon,  je  nachdem  die 
Thätigkeit  der  Seele  hierbei  stark  und  erhaltend  ist"  (Irwing). 

Angesichts  aller  dieser  der  Aufmerksamkeit  zugeschriebenen 
Wirkungen  können  wir  es  begreifen,  wenn  sie  von  den  Psychologen  sehr 
hoch  geschätzt  wird.  Manche  preisen  sie  geradezu  Überschwenglich. 
CoNDiLLAc,  Meier,  Tbtbns  sehen  in  ihr  das  höchste  Erkenntnisvermögen, 
Hblvbtius  erkennt  in  allen  Äufserungen  des  Geistes  die  Wirkung  der 
Aufmerksamkeit  wieder;  als  „Mutter  der  Wissenschaft"  feiert  sie 
BoERHAAVE,  als  priucipc  de  nos  lumi^res  Croüsaz.  Doch  würde  es  uns 
zu  weit  führen,  den  bald  übereinstimmenden,  bald  sich  ergänzenden  Aus- 
führungen nachzugehen,  durch  welche  diese  und  andere  Lobredner  der 
Aufmerksamkeit  ihre  Begeisterung  begründen.  Übrigens  lassen  sie  es  bei 
blofs  platonischer  Liebe  nicht  bewenden.  Sie  suchen  auch  nach  Mitteln 
und  Methoden,  die  Aufmerksamkeit  zu  vervollkommnen  und  auszubilden. 
Meier,  der  alle  Geisteskräfte  verbessern  will,  Stiebbitz,  Sulzeb,  Clebicus 
(=  Jean  Leclbrc),  Hblvetius  geben  mehr  oder  weniger  eingehend  Regeln 
an,  durch  die  man  bei  sich  und  anderen  höhere  Aufmerksamkeit  erzielen 
kann.  Entsprechend  wird  dann  Wesen  und  Ursache  ihres  Gegenteils,  der 
Vlerteljahrsschiift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    XXIII.  4.  33 


498  Max  Offner: 

Zerstreutheit,  allseitig  beleuchtet  und  auf  ihren  psychologischen  Wert  und 
ihre  Gefahr  hin  gewürdigt. 

Damit  schliefst  die  mit  grofser  Sorgfalt  und  Übersichtlichkeit  durch- 
geführte, an  interessanten  Einzelheiten  reiche  Untersuchung.  Die  Angaben 
scheinen  nach  den  Proben,  die  Ref.  genommen  hat,  meist  genau  und  ver- 
lässig  zu  sein.  Nur  S.  154  liegen  ein  paar  Druck-  oder  Schreibfehler  Yor. 
Die  dort  angeführten  Schriften  Ch.  Bonhets  befinden  sich  nicht  in  Tome 
XVIII  und  XVn  der  CoUection  complete  des  oeuvres,  sondern  in  Tome  VIII. 
Ebendort  mufs  es  in  der  Anmerkung  statt  „Ausg.  des  Briefwechsels 
Mendelssohns  von  Brasch"  heifsen  „M.  Mendelssohns  Schriften  u.  s.  f.". 

Nicht  recht  befreunden  konnte  sich  Ref.  mit  der  Gewohnheit  des 
Verf.,  die  Schriften  der  Philosophen  nicht  durchweg  nach  den  Original- 
ausgaben zu  eitleren,  sondern  möglichst  immer  nach  den  deutschen  Über- 
setzungen. Das  ist  zu  sehr  geeignet,  über  die  Zeitfolge  der  Originalwerke 
irrezuführen.  Man  kann  billigerweise  nicht  verlangen,  dafs  der  Leser  die 
Erscheinungsjahre  der  einzelnen  Schriften  stets  parat  habe.  Aus  demselben 
Grunde  wäre  in  den  Anmerkungen  die  Aufzählung  der  citierten  Werke 
möglichst  chronologisch  durchzuführen  und  nicht  alphabetisch,  wie  in  dem 
angehängten  Quellen-  und  Litteraturverzeichnis.  Überhaupt  hat  Verf.  dem 
zeitlichen  Moment  zu  wenig  Rechnung  getragen,  das  uns  wenigstens 
einigen  Anhaltspunkt  geben  kann  über  die  Wandlung  und  Wanderung 
eines  Gedankens.  Gerade  die  Abhängigkeit  des  einen  Denkers  vom  anderen, 
ihre  dadurch  gekennzeichnete  gröfsere  oder  geringere  Selbständigkeit,  das 
Persönliche  der  einzelnen  Forscher  tritt  nach  Ansicht  des  Ref.  in  dem 
Buche  doch  nicht  genügend  hervor,  obwohl  Ref.  recht  wohl  weiTs,  dafs 
die  gestellte  Aufgabe  diesem  Persönlichen  schon  von  vornherein  geringen 
Raum  zugestehen  kann.  Indes  soll  uns  das  nicht  hindern,  das  aufser- 
ordentlich  fleifsige,  viel  entsagungsreiche  Arbeit  verratende  Buch  will- 
kommen zu  heifsen. 

München.  Max  Offnbb. 

Gutberlet,  Dr.  Constantin^  Der  Kampf  um  die  Seele. 
Vorträge  über  die  brennenden  Fragen  der  modernen  Psycho- 
logie. Mit  bischöflicher  Approbation.  Mainz,  Franz  Kirch- 
heira,  1899.     Vin  und  501  S.     8^. 

Verf.,  in  katholischen  Kreisen  durch  eine  Fülle  philosophischer 
Schriften,  besonders  Lehrbücher,  bekannt,  versucht  hier  die  Hauptprobleme 
der  modernen  Psychologie  für  solche  darzustellen,  welche  der  psychologischen 
Wissenschaft  femer  stehen.  Seine  Darstellung  ist  aber  meist  zu  einer 
Polemik  geworden;  denn  er  findet  in  der  neuesten  Psychologie  die  aus- 
gesprochene Tendenz,  eine  Seelenlehre  ohne  Seele,  eine  Religion  ohne  Gott 
zu  schaffen.  Das  klingt  freilich  etwas  sonderbar,  wenn  man  an  die 
psychologischen  Untersuchungen  der  WüNDT'schen  und  der  KBAEPELiN'schen 
Schule  denkt,  wenn  man  sich  der  Arbeiten  und  Lehrbücher  von  Ebbinghaus, 

EhBENFELS,     GkOOS,  '  HöFLBB,      MüLLEB,     SCHÜMANN,      LiPPS,      STUMPF,     VOn 

Baldwin,  Bain,  James,  Sully  u.  a.  erinnert. 


Gutberiet,  ^Der  Kampf  um  die  Seele".  499 

Und  was  Schlimmes  daran  sein  soll,  wenn  man  aus  einer  Erfahrungs- 
wissenschaft die  Metaphysik  ausschliefsen  will,  vermögen  wir  auch  nicht 
recht  zu  verstehen,  sintemalen  man  allgemein  zwischen  diesen  beiden 
einen  Gegensatz  findet,  also  eine  empirische  Psychologie  eo  ipso  keine 
metaphysische  sein  kann.  Und  mehr  als  empirisch  will  die  moderne 
Psychologie  gar  nicht  sein.  Diese  Bescheidenheit  sollte  man  ihr  doch 
nicht  übel  nehmen.  Indes  auch  darüber  wollen  wir  mit  dem  Verf.  nicht 
länger  rechten.  Contra  principia  negantem  non  est  disputandum  kommt 
uns  hier  unwillkürlich  in  den  Sinn. 

In  neun  Vorträgen  entledigt  sich  Verf.  seiner  Aufgabe.  Es  seien 
wenigstens  ihre  Titel  mitgeteilt:  Der  gegenwärtige  Stand  der  Psychologie, 
Ist  die  Seele  Thätigkeit  oder  Substanz?,  Das  „Ich",  Der  psychophysische 
Parallelismus,  Über  den  Sitz  der  Seele,  Neues  und  Altes  über  das  Gefühl, 
Psychologische  Religion,  Der  Spiritismus  ein  psychologisches  Problem, 
Der  Darwinismus  ein  materialistisches  pantheistisches  Vorurteil.  Verf. 
verfügt  übrigens  immerhin  über  ausreichende  Kenntnis  der  einschlägigen 
Litteratur,  freilich  ohne  sie  jeweils  zu  geschlossenen  Bildern  der  einzelnen 
Richtungen  zu  verarbeiten.  Man  erhält  dadurch  den  Eindruck,  als  ob  das 
von  vielen  Seiten  zusammengetragene  Material  nur  in  grofser  Hast  anein- 
andergereiht worden  sei.  Viele  Flüchtigkeiten  in  der  Darstellung  und 
die  zahlreichen  Druckfehler  sprechen  nicht  dagegen. 

München.  Max  Offnbb. 

Zehnder,  Ludwig,  Die  Entstehung  des  Lebens  aus 
mechanischen  Grundlagen  entwickelt.  I.  Teil.  Mo- 
neren. Zellen.  Protisten.  Mit  123  Abbildungen  im  Text. 
Freiburg  i.  B.,  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck),  1899.    256  S. 

In  dem  auf  drei  Bände  berechneten  Werke,  wovon  der  erste  Band 
bis  jetzt  Yorliegt,  wird  beabsichtigti  die  Entstehung  der  „in  der  organischen 
Welt"  zu  beobachtenden  Lebensvorgänge  einzig  aus  der  Schwerkraft  der 
Atome  herzuleiten.  Vorausgesetzt  wird,  dafs  die  Körperatome  Schwere, 
Volumen  und  eine  für  die  verschiedenen  Atomarten  verschiedene  Gestalt 
besitzen,  und  dafs  den  dazwischengelagerten  Ätheratomen  ebenfalls  eine 
wenn  auch  viel  geringere  Schwere  und  Ausdehnung  zukommt.  Alsdann 
werden  die  Körperatome  von  einer  Ätherhtille  umgeben  sein,  welche  dichter 
ist  als  der  Weltäther.  Die  Schwingungen  der  durch  die  Ätherhüllen  zu 
Molekeln  zusammengehaltenen  Atomgruppen  entsprechen  der  Wärme, 
diejenigen  von  Molekelkomplexeu  dem  Schalle  (Claüsiüs).  Ebenso  ist 
nach  Ansicht  des  Verf.  die  Elektricität  auf  die  Bewegungen  der  Äther- 
atome, das  Licht  auf  diejenigen  der  Ätherkomplexe  zurückzuführen.  Die 
Vereinigung  von  Atomen  zu  Molekeln,  womit  der  Anfang  zu  Wachstum 
und  Struktur  gegeben  ist,  wird  im  wesentlichen  darauf  zurückgeführt, 
dafs  die  Ätherhüllen atome  zweier  aneinanderprallender  Körperatome  dadurch, 
dafs  ihre  Schwingungsphase  von  der  der  letzteren  sich  unterscheidet,  sich 
zu  einer  einzigen  Hülle  vereinigen  und  dann  durch  den  auf  die  Körper- 
atome ausgeübten  Druck  diese  in  ihrem  Bestreben,  sich  nach  dem  An- 
einanderprallen  wieder  zu  trennen,  hindern.    Die  Gröfse  der  Affinität  hängt 

33* 


500  August  Dunges: 

ab  Ton  Temperatur,  Licht  und  Elektricität.  Aufserdem  aber  kommt  bei 
der  Molekelbildung  auch  die  von  den  Ätherhüllen  selbst  ausgehende 
Strahlung  in  Betracht,  denn  sie  ist  Ursache,  dafs  vermöge  der  Resonanz 
unter  einer  Auswahl  yon  vielen  Atomen  die  gleichartigen  bevorzugt  werden. 
Dc^er  sucht  jede  Molekel  die  ihren  Atomen  entsprechenden  an  sich  zu 
reilsen,  „es  kommt  dann  Assimilation  zustande,  wenn  die  passende  Nahrung 
vorhanden  ist".  Wie  die  gleichartigen,  so  werden  auch  die  gleichorientierten, 
d.  h.  diejenigen  Molekeln,  bei  denen  die  Atome  in  derselben  Bichtung 
gelagert  sind,  bei  der  Assimilation  bevorzugt.  Daraus  wird  der  erste 
biologische  Fundamentalsatz  hergeleitet:  „Die  Substanz  hat  das 
Bestreben,  sich  zu  vermehren".  Dieses  Bestreben  führt,  begünstigt  durch 
die  verschiedenartige  Gestalt  der  verschiedenen  Atome,  zu  einer  im  Grunde 
unendlichen  Mannigfaltigkeit  von  Gebilden,  unter  denen  die  im  Kampfe 
ums  Dasein  mit  den  vorteilhaftesten  Bedingungen  versehenen  überdauern 
und  wiederum  zu  neuen  Bildungen  Anlafs  geben.  So  kommen  also  schon 
für  diese  unterhalb  der  mikroskopischen  Sichtbarkeit  sich  abspielenden 
Vorgänge  die  Grundsätze  der  Evolutionslehre  zur  Anwendung.  Das  für 
den  Aufbau  der  Organismenwelt  wichtigste  Molekelaggregat  ist  die 
„Fistelle",  wobei  die  Molekeln  cylinderförmig  um  einen  Hohlraum  gelagert 
sind.  Indem  sich  Fistellen  infolge  der  durch  Strahlung  veranlagten  Assi- 
milation nebeneinander  lagern,  entsteht  die  Membran,  welche  imstande  ist, 
in  die  Fistellenhohlräume  Wassermolekeln  aufzunehmen  und  dadurch  zu 
quellen.  „Mit  der  Quellung  nahe  verwandt  sind  die  Eontraktionsvorgänge." 
„Aus  den  Fistellen  bildet  sich  demnach  kontraktile  Substanz"  (S.  61). 
Die  Fistellen  selbst  können  auXser  der  Cylinderform  noch  vielerlei  andere 
Formen  haben,  so  dafs  mannigfaltige  Gebilde  aus  ihnen  entstehen  können, 
so  „die  cylindrische  Membran"  und  „das  Ovoid".  Von  wesentlicher  Be- 
deutung für  die  Entstehung  solcher  Gebilde  ist  das  Vorhandensein  der 
passenden  „Nahrung".  Ist  dieselbe  nicht  in  genügender  Menge  gegeben, 
so  werden  schliefslich  unter  veränderten  Nahrungsbedingungen  neue 
Bildungen  entstehen  und  von  ihnen  diejenigen  im  Kampfe  ums  Dasein 
fortdauern,  welche  den  neuen  Verhältnissen  sich  anzupassen  imstande  sind. 
Daher  der  zweite  biologische  Fundamentalsatz:  „Die  Substanz  hat 
das  Bestreben,  sich  ihren  Daseinsbedingungen  anzupassen".  Die  wichtig- 
sten Fistellengebilde  sind:  Bläschen,  Kömchen,  Eöhrchen,  Fibrille  und 
Gastrula.  Die  Entstehung  der  Gastrula  wird  aus  Nahrungsmangel  her- 
geleitet, indem  die  Fistellenmembran,  welche  sich  zu  einem  kugelförmigen 
Gebilde  (Bläschen  oder  Kömchen)  zusammenschliefsen  will,  die  letzten, 
zum  Abschlufs  dienenden  Fistellen  zu  erzeugen  verhindert  ist,  und  das 
fertige  Gebilde  daher  eine  Öffnung  behält.  Besteht  die  Fibrille  aus  kon- 
traktiler Substanz,  so  treten  bei  Nahrungsaufnahme  Bewegungserscheinungen 
auf,  indem  auf  der  Seite,  auf  welcher  die  Nahmng  aufgenommen  wird, 
Quellung  stattfindet.  Die  Gastrula  wird  sich,  wenn  sie  ringsum  von 
Nahrung  umgeben  ist,  in  ihrer  Gesamtheit  ausdehnen,  und  sich  zusammen- 
ziehen, wenn  keine  Nahrung  da  ist.  „Sie  wird  dadurch  in  ihr  Inneres 
Nahrung  selbstthätig  einsaugen,  wenn  solche  in  ihrer  Umgebung  vorhanden 
ist,  sie  wird  nicht  nahrhafte  Flüssigkeit  wieder  ausstofsen.  Durch  solche 
Kontraktionen   und  Expansionen   kann   die   Gastrula   Ortsveränderungen 


Zehnder,  „Die  Entstehung  des  Lebens  etc.".  501 

Yomehmen,  wenn  die  ersteren  und  die  letzteren  Bewegungen  mit  ungleichen 
Geschwindigkeiten  ausgeführt  werden"  (S.  95).  Durch  Apposition  und 
Intussusception  neuer  Fistellen  yergröfsem  sich  die  Fistellengebilde,  die 
kugelförmige  Membran  der  Bläschen  wird  gespannt  (entweder  unter  Bei- 
behaltung der  Kugelform  oder  unter  Annahme  einer  elliptischen  Form) 
und  schliefslich  zum  Zerplatzen  gebracht.  Dann  sind  zwei  Membranen 
vorhanden,  die  sich  infolge  ihrer  natürlichen  Beschaffenheit  wieder  kugel- 
förmig krümmen  werden,  so  daTs  zwei  dem  ursprünglichen  Gebilde  gleich- 
artige Bläschen  entstehen.  Damit  hat  eine  Fortpflanzung  durch  äquale 
Teilung  stattgefunden.  Bei  inäqualer  Teilung  bezeichnet  man  den  analogen 
Vorgang  als  Enospung.  Auch  Körnchen  und  Gastrula  pflanzen  sich  in 
entsprechender  Weise  fort.  Zu  den  aus  Fistellen  sich  zusammensetzenden 
Gebilden  gehört  schliefslich  auch  die  Zellmembran.  Sie  ist  infolgedessen 
durchlässig  vor  allem  für  diejenigen  Stoffe,  welche  die  Zelle  erhalten. 
Sowohl  für  die  Zelle  als  auch  für  den  Zellkern  wird  die  Membran  als 
wesentlicher  Bestandteil  angesprochen,  der  auch  da  yorhanden  ist,  wo  ihn 
das  Mikroskop  noch  nicht  gezeigt  hat.  Kernlose  Zellen,  die  .  Moneren, 
müssen  entweder  noch  jetzt  in  der  Natur  bestehen,  oder  doch,  als  Vorfahren 
unserer  jetzigen  Generationen,  einmal  bestanden  haben,  und  es  müssen 
dieselben  durch  Urzeugung  entstanden  sein  (S.  129).  Die  Zelle  ist  im 
wesentlichen  zusammengesetzt  aus  Fistellengebilden  (Bläschen,  Kömchen, 
Eöhrchen  u.  s.  w.).  In  diesen  Gebilden  kämpfen  alle  Molekeln,  alle  Fistellen 
fortwährend  ihren  Kampf  ums  Dasein.  Die  beständigsten  siegen  und 
pflanzen  sich  fort.  Dadurch  wächst  die  Zelle.  Wird  die  Zellmembran 
durch  äufsere  Kräfte  mälsig  beansprucht,  ohne  dafs  dabei  ihre  kleinsten 
Teilchen  zerreifsen,  so  mufs  sie  stärker  assimilieren,  als  wenn  sie  nicht 
beansprucht  würde.  Ihre  Molekeln  strahlen  stärkere  Ätherwellenbewegungen, 
stärkeres  Eigenlicht  aus.  Die  Membran  „arbeitet".  Überhaupt  jede  Sub- 
stanz, welche  in  den  Grenzen  ihrer  Fähigkeit  arbeitet,  kräftigt  sich  selbst 
durch  verstärkte  Assimilation  vermöge  ihrer  verstärkten  Molekularbewegung. 
Dem  entspricht  der  dritte  biologische  Fundamentalsatz:  „Die 
Funktion  erhöht  das  Bestreben  der  Substanz,  sich  zu  vermehren".  Die 
Zellmembran  funktioniert  vor  allem  als  verdauendes  Organ  (S.  153),  indem 
sie  aus  einer  Nährflüssigkeit  für  sich  und  die  anderen  Zellsubstanzen  die 
nötigen  Stoffe  aufnimmt.  „Jede  von  diesen  Substanzen  sucht  nach  Mög- 
lichkeit zu  assimilieren,  sucht  sogar  die  anderen  Substanzen  in  die  mit 
ihr  gleichartige  zu  verwandeln,  und  nur  dann  verliert  ein  solches  Bestreben 
wesentlich  an  Stärke  oder  es  verschwindet  ganz,  wenn  die  sich  berührenden 
Substanzen  in  dem  entsprechenden  Gegenseitigkeitsverhältnisse  günstigster 
Besonanz  zu  einander  stehen.  Gebilde  des  Zellinnem,  welche  mit  eigenen 
Bewegungsorganoiden  begabt  sind,  können  sich  selbständig  im  Zellsaft 
bewegen  und  ihre  Nahrung  aufsuchen."  Aufser  der  verdauenden  Substanz 
enthält  jedes  Gebilde,  auch  das  kleinste  und  einfachste,  Stützsubstanz, 
transportierende,  secemierende,  kontraktile  und  nervöse  (reizleitende) 
Substanz.  „Besteht  dasselbe  nur  aus  einer  einzigen  Substanz,  so  mufs 
sie  allein  alle  diese  Funktionen  übernehmen"  (S.  165).  In  einem  kompli- 
zierten Gebilde,  wie  die  Zelle,  kommt  es  zur  Differenzierung,  indem  jede 
der  erwähnten  Funktionen   von   einer  besonderen  Substanz   übernommen 


502     August  Dunges:  Zehnder,  „Die  Entstehung  des  Lebens  etc.". 

wird.  Die  reizleitende  unterscheidet  sich  von  anderer  Substanz  durch 
ihre  gröfsere  chemische  ümsetzbarkeit,  die  von  ihr  übertragenen  Beize 
sind  wahrscheinlich  in  der  Kegel  chemischer  Natur  (S.  163).  Wirken 
Reize  anderer  Art  (thermische,  akustische,  elektrische  u.  a.)  auf  die  Zelle, 
80  können  sie  nach  dem  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie  in  chemische 
Beize  umgewandelt  werden.  Aber  nicht  blofs  eine  chemische,  auch  eine 
morphologische  Differenzierung  (S.  172)  findet  in  der  Zelle  statt,  so  dafs 
die  Substanzen  in  Bezug  auf  ihre  Gestaltung  und  den  Platz,  den  sie  ein- 
nehmen, den  Forderungen  der  ZweckmäXsigkeit  unterliegen.  Endlich 
kommt  auch  eine  Differenzierung  mehrerer  Zellen  zur  Ausbildung,  indem 
in  jeder  Zelle  gerade  die  Substanz,  welche  yermöge  einer  besonderen 
Funktion  besonders  in  Anspruch  genommen  wird,  am  stärksten  assimiliert. 
So  entstehen  Nervenzellen,  kontraktile  Zellen,  Stützzellen  u.  s.  w. 

Die  Fortpflanzung  kommt  zustande,  indem  jede  einzelne  Substanz, 
die  sich  in  der  Zelle  befindet,  sich  in  ihrer  Weise  vergröfsert  oder  ver- 
mehrt. „Sind  Bläschen,  Körnchen,  Böhrchen,  Fibrillen,  Gastrula  im  Zell- 
innem,  so  teilen  sie  sich  infolge  solchen  Wachstums  direkt  in  zwei  gleiche 
Teile,  oder  sie  knospen  und  lassen  schliefslich  indirekt  doch  zwei  gleich- 
artige Gebilde  entstehen,  oder  sie  vermehren  sich  durch  ganz  einfache 
Ablösung  von  Fistellen  oder  Molekeln."  Für  die  mikroskopisch  sichtbaren 
Vorgänge  der  Zellteilung  wird  eine  sehr  interessante  Theorie  entwickelt. 
Hier  sei  nur  erwähnt,  dafs  die  Kernspindel  als  die  nervöse  Substanz  an- 
gesehen wird,  welche  bei  der  die  Teilung  einleitenden  Vergröfserung  des 
Zellkerns  sich  vorerst  noch  nicht  vergröfsert,  so  dafs  ihre  in  dem  „Central- 
körperchen"  zusammenlaufenden  Fäden  gespannt  und  dadurch  sichtbar 
gemacht  werden.  Das  Central-  oder  Polkörperchen  wächst  dann  zuerst 
und  teilt  sich,  während  die  Fäden  vorerst  noch  angespannt  bleiben.  Dieses 
Körperchen  ist  überhaupt  die  Centralstelle,  von  der  aus  alle  Vorgänge  in 
der  Zelle  scheinbar  geleitet  werden  (S.  187). 

Der  letzte  Abschnitt  des  hervorragenden  Buches  bringt  zur  Be- 
festigung der  darin  entwickelten  Theorien  Belege  aus  der  Litteratur. 
Das  Erscheinen  der  beiden  anderen  Teile  des  Werkes  darf  mit  Spannung 
erwartet  werden. 

Gleve.  August  DOnoes. 

Spencer^  Baldwin,  and  Gillen,  F.  J.,  The  Native  Tribes  of 
Central  Australia.  London,  Macmillan  a.  Co.,  1899.  692  S. 

Das  vorliegende  Werk  gehört  zu  den  wenigen,  in  letzterer  Zeit 
glücklicherweise  etwas  häufiger  werdenden  wirklich  wissenschaftlichen 
Schilderungen  fremder  Völker,  die  sich  nicht  auf  ein  blofses  Begistrieren 
des  zufällig  Wahrgenommenen  und  Dargebotenen  beschränken,  sondern 
auf  Grund  eindringender  Fragestellungen  ihr  Material  selbständig  ver- 
arbeiten. Es  kann  in  dieser  Beziehung  mit  dem  bekannten  Buche  Kasls 
VON  DBN  Steinen  über  die  Schingustämme  verglichen  werden,  obschon  es 
diesem  an  Beichtum  der  psychologischen  Beflexion  nachsteht.  In  erst-er 
Linie  wirkt  es  statt  dessen  durch  die  Fülle  der  sorgsam  und  einheit- 
lich verarbeiteten  Thatsachen.    Sie  stellen  uns  nachdrücklich  die  wunder- 


A.  Vierkandt:  Spencer  and  Gillen,  „The  Native  Tribes  etc.".        503 

bare  Eigenart  der  Kultur  der  Australier  vor  Augen,  die  in  dem  Mifsver- 
hältnis  zwischen  der  geringen  Entwicklung  ihres  materiellen  Elementes 
und  der  reichen  Entfaltung  ihrer  geistigen  Seite  auf  dem  socialen,  mytho- 
logischen und  religiösen  Gebiete  besteht.  Der  letzteren  gilt  vorzüglich 
die  Darstellung,  aus  der  wir  hier  einige  wichtige  Punkte  erwähnen.  In 
den  verwickelten  Klassenorganisationen  der  Eingeborenen  und  den  vielen 
Formen  eines  freieren  Geschlechtsverkehrs  erblicken  die  Verf.  im  Gegensatz 
zu  anderen,  die  letzteren  nur  als  sekundäre  Eückbildungen  deutenden 
Auffassungen  die  Eudimente  einer  ehemaligen  Gruppenehe,  durch  die  als 
eine  ältere  Form  eine  einstige  noch  freiere  Kegelung  der  Geschlechts- 
beziehungen hindurchschimmert.  Völlig  unabhängig  von  dieser  Organisation 
ist  die  Totemgliederung,  die  einen  rein  örtlichen  Charakter  trägt.  Die 
Zugehörigkeit  eines  neugeborenen  Kindes  zu  einem  Totem  richtet  sich 
übrigens  nicht  nach  den  Eltern,  sondern  nach  der  Örtlichkeit,  wo  die 
Mutter  glaubt  es  empfangen  zu  haben;  denn  man  nimmt  an,  dafs  bei 
diesem  Akt  der  Geist  eines  Verstorbenen  seinen  Einzug  in  sie  gehalten 
habe,  und  glaubt,  dafs  diese  Geister  nach  ihrer  Totemzugehörigkeit  an 
bestimmten,  heilig  gehaltenen  Ortlichkeiten,  deren  es  in  jedem  Totembezirk 
je  eine  giebt,  hausen.  Sie  stehen  dabei  in  enger  Beziehung  zu  gewissen 
heiligen  Objekten,  Steinen  oder  Hölzern,  Alcheringa  genannt,  die  in  dem 
Stammesheiligtum  aufbewahrt  werden.  Jedem  Kinde  wird  demgemäfs  bald 
nach  seiner  Geburt  von  bestimmten  männlichen  Personen  ein  solches  Objekt 
zugewiesen,  das  entweder  vorher  aus  dem  Heiligtum  zu  diesem  Zweck 
herausgeholt  oder  künstlich  hergestellt  wird.  Zwischen  ihm  und  der  Seele 
des  Kindes  besteht  ein  gewisser  Zusammenhang,  der  gegenwärtig  nicht 
näher  bestimmt  ist,  während  man  früher  die  letztere  geradezu  in  jenem 
weilend  glaubte.  Die  meisten  Alcheringa  sind  übrigens  mit  Zeichnungen 
verziert,  welche  Menschen,  Tiere,  Pflanzen  u.  s.  w.  in  sehr  primitiver,  fast 
völlig  konventionalisierter  Weise  andeuten  (S.  146 — 150)  und  für  die 
Entwicklungsgeschichte  der  Ornamentik  nicht  ohne  Interesse  sind. 

Allgemein  lassen  die  Mitteilungen  über  das  religiöse  Leben  die 
aufserordentliche  Eealität  erkennen,  welche  die  übersinnliche  Welt  für  die 
Naturvölker  besitzt.  Die  Geister  werden,  wie  überall,  wie  leibliche  Menschen 
mit  körperlichen  Mitteln  angelockt,  bedroht,  vertrieben  u.  s.  w.,  und  wo 
sie  in  bestimmten  Gegenständen  lokalisiert  sind,  werden  sie  oder  ihre 
Zauberkräfte  in  grob  mechanischer  Weise  durch  Streichen,  Drücken, 
Saugen  u.  s.  w.  aus  ihnen  entfernt  und  anderen  Körpern  mitgeteilt.  Auch 
für  die  Kolle,  welche  die  Suggestion  bei  dem  Glauben  an  die  Geisterwelt 
spielt,  enthält  das  Werk  Belege.  Der  Eingeborene  stirbt  auch  an  einer 
leichten  Wunde,  die  ihm  ein  feindlicher  Speer  beigebracht  hat,  falls  er 
diesen  für  verzaubert  hält.  Eine  Klasse  von  Medizinmännern  behauptet, 
bei  der  Ausübung  ihres  Berufes  von  gewissen  Steinen  abhängig  zu  sein, 
die  die  Geister  in  sie  hineinpraktiziert  haben,  und  die  von  ihnen  wieder 
in  die  Kranken  hineingezaubert  werden.  Thatsächlich  erklären  sie  sich 
oft  für  unfähig  zur  Behandlung  Kranker,  weil  ihnen  der  Vorrat  ausgegangen 
sei.  Über  die  Frage  der  Mitwirkung  des  Betruges  bei  diesen  Dingen 
äufsem  die  Verf.  sich  dahin,  dafs  jüngere  Männer  wohl  oft,  um  anderen, 
an  deren  übernatürliche  Kräfte  sie  glauben,  in  den  Augen  des  Publikums 


504  Felix  Krueger: 

nicht  nachzustehen,  zum  Betrüge  greifen,  an  seine  Stelle  aber  später  meist 
die  Überzeugung  oder  wenigstens  die  gedankenlose  Gewohnheit  trete 
(S.  123,  Tergl.  S.  623)  —  also  auch  hier  eine  ähnliche  Verquickung  niederer 
und  höherer  Elemente,  wie  sie  bei  uns  die  Grundlage  so  vieler  sociider 
Institutionen  bildet. 

Für  die  Sorgsamkeit  der  Fragestellung  liefert  einen  glänzenden 
Beweis  die  Erörterung  eines  Problemes  (S.  12 — 14),  dessen  Behandlung 
man  überall  in  der  ethnographischen  Litteratur  schmerzlich  yermirst:  wir 
meinen  die  Frage  nach  dem  Mechanismus  der  Entstehung  und  Wandelung 
der  Sitten,  die  bei  dem  anscheinend  so  starren,  völlig  objektiven  Charakter 
der  Sitte  so  rätselhaft  erscheint.  Höchst  wahrscheinlich  gehen  die 
Änderungen  in  völlig  planvoller  Weise  von  einzelnen  Individuen 
aus,  nämlich  von  einzelnen  besonders  intelligenten  Stammeshäuptlingen, 
die  sie  bei  den  Versammlungen  benachbarter  Häuptlinge  in  Vorschlag 
bringen  und  eventuell  durchsetzen.  Von  ihrem  Ürsprungsgebiet  breiten 
sie  sich  dann  in  ähnlicher  Weise  weiter  aus. 

A.   ViERKANDT. 

Liebmann,  Otto,  Gedanken  und  Thatsachen.  Philo- 
sophische Abhandlungen,  Aphorismen  und  Studien.  I.  Bd. 
(In  3  Heften.)    Strafsburg,  Trübner,  1899.    X  und  470  S. 

Schwierige  Probleme  der  Wissenschaft  in  schöner,  auch  dem  denken- 
den Laien  zugänglicher  Form  zu  behandeln,  ist  eine  wichtige  Aufgabe 
des  Gelehrten,  der  zugleich  ein  stilistischer  Könner  ist.  Das  yorliegende 
Werk  ist  wohl  geeignet,  weitere  Kreise  zu  philosophischem  Denken  an- 
zuregen. Das  Moralproblem  und  die  Fragen  der  Ästhetik  werden  freilich 
nicht  berührt  in  diesen  philosophischen  Essays,  die  uns  von  der  Universität 
Schillers  und  Fichtbs  kommen.  Aber  die  Probleme  der  Erkenntnistheorie, 
Naturphilosophie  und  allgemeinen  Psychologie  bedürfen  ebenso  sehr  der 
leicht  verständlichen  und  zugleich  gründlichen  Darstellung.  Innerhalb 
dieser  Grenzen  bewegen  sich  die  acht  hier  vereinigten  Arbeiten  Libbmanns. 
Der  Grundton,  auf  den  sie  einheitlich  gestimmt  sind,  ist  Kants  trans- 
cendentaler  Idealismus,  wie  er  in  des  Verf.  Hauptwerk  „Zur  Analysis  der 
Wirklichkeit"  verstanden  wird. 

Das  erste  Heft  (121  S.)  ist  der  unveränderte  Abdruck  einer  im 
Jahre  1882  erschienenen  ersten  Ausgabe.  Die  an  der  Spitze  stehende 
Abhandlung  erörtert  in  streng  wissenschaftlicher  Form  und  in  systematischer 
Gliederung  die  Arten  der  Notwendigkeit.  Der  Unterschied  zwischen 
realer  und  intellektueller  Notwendigkeit  wird  sehr  einleuchtend  gemacht; 
innerhalb  der  intellektuellen  wird  hier,  wie  in  der  2.  Aufl.  der  „Analysis", 
von  der  logischen  noch  die  intuitive  oder  Anschauungs-Notwendigkeit 
bezw.  -Möglichkeit  unterschieden,  und  diese  Unterscheidung  wird  gegen 
mancherlei  Einwände  scharfsinnig  verteidigt.  Was  zur  Synthese  der  ver- 
schiedenen Begriffe  von  Notwendigkeit  gesagt  wird,  läuft  auf  eine  qnanti- 
tative  Über-  und  Unterordnung  hinaus  (mit  Bücksicht  auf  das  Geltungs- 
gebiet). Mir  scheint  noch  eine  innigere,  qualitative  Synthese  hier  möglich 
zu  sein,   und  zwar   auf  psychologischem  Wege.    Der  Aufsatz  endet  mit 


Liebmann,  „Gedanken  und  Thatsachen".  505 

einer  schematischen  Stufenordnung  der  deduktiven  Wissenschaften  nach 
Mafsgabe  ihrer  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit.  Die  prinzipielle  Ethik 
und  Psychologie  finden  leider  keine  Stelle  in  diesem  systematischen  Ent- 

\  wurf.  —  In  der  zweiten  Untersuchung  werden  weniger  Fragen  beantwortet, 

als  ungelöste  und  vielfach  übersehene  Bätsei  aufgezeigt.  Sie  handelt  von 
der  mechanischen  Naturerklärung,  ihren  Voraussetzungen  und  ihrem 
hypothetischen  Charakter.  Besonders  interessant  sind  die  historischen  und 
sachlichen  Bemerkungen  zum  Problem  der  actio  in  distans  und  der  be- 
schleunigenden Kraft.  —  Eine  dritte,  „rhapsodische  Betrachtung^  behandelt 
die  Begriffe  Idee  und  Entelechie  und  ihre  unverminderte  Bedeutung 
für  die  moderne  Naturauffassung.  Die  idiotypische,  mehr  individualistische 
Anschauung  des  Aristoteles  behält  schliefslich  ein  starkes  Übergewicht 
gegen  die  universalistische  (nomokratische)  des  Platon. 

Heft  n  (177  S.)  enthält  eine  zusammenhängende  Beihe  von  „Ge- 

\  danken   über  Natur  und  Naturerkenntnis**.    Ausgehend  von  er- 

kenntnistheoretischen und  allgemeinen  methodischen  Fragen  schreitet  die 

^  Untersuchung  durch   die   anorganische   zur   organischen  Natur  vorwärts. 

Wichtige  Theorien  und  Hypothesen  der  modernen  Physik,  Chemie  und 
Biologie  werden  in  ihrer  prinzipiellen  Bedeutung  beleuchtet.  Die  Um- 
wälzungen des  naturwissenschaftlichen  Denkens  durch  Galilei  und  Newton, 
Darwin  und  B.  Mater  werden  in  ihren  Voraussetzungen  wie  in  ihren 
Eonsequenzen  dargestellt.  Das  Problem  der  Teleologie  erscheint  in  engerem 
Zusammenhange  mit  Thatsachen  des  organischen  Lebens.  Ein  Grund- 
gedanke des  ganzen  Buches  ist  die  ünvermeidlichkeit  des  anthropo- 
centrischen  —  ja,  näher  noch:  psychocentrischen  —  Standpunkts  für  alle 
Naturbetrachtung. 

Der  Inhalt  des  dritten  Heftes  (170  S.)  ist  allgemein  psychologisch. 
Zunächst  werden  „die  Bilder  der  Phantasie**  in  ihrem  Verhältnis  zu 
den  Empfindungen,  Hallucinationen,  Illusionen  und  verwandten  Thatsachen 
beschrieben.  Die  (etwas  summarische)  Darstellung  der  pathologischen 
Erscheinungen  betont  wiederholt  den  von  der  Psychiatrie  zuweilen  ver- 
nachlässigten emotionalen  Faktor.  —  Es  folgt  eine  Analyse  des  Zeit- 
bewufstseins  mit  einer  kurzen  Besprechung  des  Unterschiedes  zwischen 
Erinnerung  und  Phantasie  und  einer  dialogischen  Erörterung  des  Para- 
doxons „Ich  bin  in  der  Zeit;  —  die  Zeit  ist  in  mir**,  wobei  der  Doppelsinn 
des  Wortes  „in**  mehr  hätte  herausgestellt  werden  können.  —  An  dritter 
Stelle  findet  sich  ein  „Versuch**  über  die  Sprachfähigkeit.  Er  verwertet 
interessante  Thatsachen  aus  dem  Gebiete  der  Tierpsychologie  und  findet 
den  wahren  inneren  Grund  der  menschlichen  Sprachfähigkeit  im  Mitteilungs- 
bedürfnis. Bedenkt  man  jedoch,  dafs  zahlreiche  höhere  Tiere  dieses  Be- 
dürfnis zweifellos  empfinden  können  und  doch  niemals  in  den  Besitz  einer 
Lautsprache  gelangen,  so  erscheint  dieser  einfache  Erklärungsversuch  von 
vornherein  als  unzureichend.  Ohne  jede  Bücksicht  auf  biologische  und 
physiologische  Thatsachen  wird  das  Problem  nicht  wesentlich  zu  fördern 
sein.  Bei  der  Behandlung  der  Urteile  ist,  wie  schon  an  einer  früheren 
Stelle,  die  notwendige  Unterscheidung  zwischen  dem  Standpunkt  des 
Sprechenden  und  dem  des  Hörenden  zu  vermissen.  —  Den  Schlufs  bilden 
psychologische  Aphorismen,  die  wenig  Neues  enthalten,  aber  vieles 


506  Eaoul  Bichter: 

Wichtige  treffend  bezeichnen.  Nach  einigen  kritischen  Bemerkungen  über 
Materialismus  und  psychologisierende  Gehirnphysiologie  geht  der  Verf.  zu 
einer  Kritik  des  WBBEB'schen  Gesetzes  über,  deren  Eesultat  ungefähr  mit 
WuNDTs  psychologischer  Auffassung  übereinstimmt.  Lehrreich  ist  femer 
die  mehrfache  Polemik  gegen  die  reine  Associationspsychologie  und  den 
psychologischen  Atomismus.  Daran  schliefsen  sich  geistyolle  Apergüs  über 
die  Enge  des  Bewufstseins,  das  Unbewufste,  den  Willen,  zuletzt  über  das 
früher  schon  zuweilen  gestreifte  Problem  des  Ich.  Der  Psychologe  wird 
an  diesem  letzten  Punkte  nicht  geneigt  sein,  das  Feld  so  rasch  dem 
„Transcendentalphilosophen^  zu  räumen,  wie  Libbman»  das  fordert.  Mit 
besonderer  Vorliebe  weist  der  Verf.  hier  und  allenthalben  auf  die  Grenzen 
wissenschaftlicher  Erkenntnis  hin.  Vielfach  jedoch  scheinen  mir  diese 
Grenzen  zu  eng  gezogen  und  der  Schritt  ins  Metaphysische  verfrüht.  Die 
gefährliche  Vieldeutigkeit  der  Begriffe  subjektiv  und  objektiv,  innen  und 
aufsen,  Schein,  Erscheinung,  Erfahrung  und  Eealität  erfordert  ein  strengeres 
Auseinanderhalten  ihrer  verschiedenen  Bedeutungen  und  genauere  empirische 
Definitionen,  als  das  bei  essayartiger  Behandlung  üblich  ist.  —  Ungemein 
wohlthuend  ist  der  wahrhaft  historische  Sinn,  mit  dem  Liebmann  überall 
die  Probleme  und  die  Versuche  ihrer  Lösung  weit  in  die  Geschichte  des 
menschlichen  Denkens  zurückverfolgt,  und  die  Achtung,  mit  der  er  den 
grofsen  Denkern  der  Vergangenheit  begegnet.  Es  giebt  so  viel  Gelehr- 
samkeit und  Scharfsinn  ohne  Vornehmheit;  ein  Zeichen  vornehmer  Geister 
ist,  dafs  sie  verehren  können. 

Eiel.  Felix  Kbüegeb. 


Desdouits^  Th.,  La  Eesponsabilite  Morale.  Examen  des 
doctrines  nouvelles,  ouvrage  couronnö  par  rAcad6mie  des 
Sciences  Morales  et  Politiques.  Paris,  Fontemoing,  1896. 
179  S. 

Fnlliqnet,  Georges,  Essai  sur  1' Obligation  Morale. 
Paris,  Alcan,  1898.     454  S. 

Nayille,  Ernest,  Le  Libre  Arbitre.  ü.  Edition.  Paris, 
Alcan,  1898.    311  S. 

Die  drei  Bücher  wollen  gemeinsam  besprochen  sein.  Ihre  Verf. 
(auch  der  Schweizer  Naville)  sind  Vertreter  der  französischen  Philosophie, 
die  behandelten  Gegenstände  gleiche  oder  ähnliche :  sittliche  Verantwortung, 
sittliche  Pflicht,  sittliche  Freiheit  mit  den  angrenzenden  metaphysischen 
und  psychologischen  Gebieten.  Aber  neben  dieser  mehr  äufseren  Überein- 
stinmiung  zwischen  den  untersuchenden  Subjekten  und  zwischen  den  unter- 
suchten Objekten  verbindet  die  Schriften  ein  innerlicheres  Gemeinsames: 
Grundanschauungen  und  Tendenzen,  die  für  gewisse  Erzeugnisse  der 
modernen  französischen  Philosophie  vielleicht  typisch  sind,  nicht  gerade 
zu  deren  Vorteil;  und  da  die  Autoren  sich  aus  der  unbedeutenden  Masse 
herauszuheben  scheinen  (Naville  pflegt  in  philosophiegeschichtlichen  Werken 


Desdonits,  Fulliquet  und  Nayille.  507 

als  einer  der  Erneuerer  des  Spiritualismus  genannt  zu  werden,  Desdottits' 
Arbeit  ist  eine  gekrönte  Preisschrift,  die  Fdlliqubts  zeugt  von  Kenntnissen 
und  Geist),  so  kann  man  an  ihren  Schriften  nicht  achtlos  yorttbergehen. 
Diesen  nun  ist  bis  auf  ihre  einzelnen  Teile  herab  eigentümlich:  Bück- 
ständigkeit  in  den  wissenschaftlichen  Grundanschauungen,  Zaghaftigkeit 
des  geistigen  Gewissens,  die  einmal  gewonnene  Überzeugung  auch  nur 
unzweideutig  klar  auszusprechen,  in  der  Begründung  eine  rein  begriffliche, 
fast  nur  sprachliche  Logik,  deren  Schärfe  mehr  glänzt  als  schneidet. 
Bückständig  will  ich  es  noch  nicht  einmal  nennen,  wenn  die  in  Rede 
stehenden  Verf.  sämtlich  die  Begründung  einer  Moral  ohne  Gott,  Freiheit 
und  Unsterblichkeit  für  unmöglich  halten,  wohl  aber  die  Art,  wie  sie 
dabei  zu  Werke  gehen:  als  ob  Kant  niemals  eine  transcendentale  Dialektik 
in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  geschrieben  hätte !  (Von  Kant  behagt 
ihnen  überhaupt  nur  der  zweite  Teil  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft 
mit  dem  Inhalt  der  drei  Postulate,  falls  die  Form  des  Postulats  dabei  zum 
Dogma  umgegossen  wird.)  Daher  sieht  man  all  das  Büstzeug  der  yor- 
kritischen  Philosophie  zum  Kampfe  für  die  genannten  religiös-metaphysischen 
Dogmen,  kaum  frisch  geputzt,  wieder  heryorgeholt;  über  den  Ursprung 
des  Bösen  werden,  wie  zu  Leibniz'  Zeiten,  subtile  Nachforschungen  an- 
gestellt (NAyiLLE  S.  267  ff.),  für  die  Bealität  einer  Seelensubstanz  mit 
den  alten  cartesianischen  Argumenten  eifrig  Lanzen  gebrochen  (Desdouits 
S.  71  ff.,  Navillb  S.  64  ff.,  79  ff.,  260  ff.).  Dafs  und  warum  kritische 
Erkenntnislehre  und  moderne  Psychologie  gerade  auf  diesem  Punkte  zu 
gleichem,  Desgabtbs'  Meinung  entgegengesetztem  Ergebnisse  gelangt 
sind,  wird  nicht  etwa  widerlegt,  sondern  einfach  ignoriert  (besonders 
deutlich  NAyiLLE  S.  67).  Natürlich,  dafs  auch  die  alte  Trennung  der 
„Vermögen",  yon  Sinnlichkeit  und  Vernunft,  höheren  und  niederen  Seelen- 
bestandteilen mit  der  üblichen  rationalistischen  Wertung  der  Sinnlichkeit 
als  der  Quelle  alles  Falschen  und  alles  Bösen  in  naiyster  Weise  wieder- 
kehrt (NAyiLLE  S.  70—71,  Fulliquet  S.  60  ff.).  Überhaupt  sehen  wir  die 
dualistische  Tendenz  Descartes'  sich  über  alles  ausdehnen:  Gott  und  Welt 
(Desooüits  S.  172),  Organisches  und  Anorganisches  (Fulliquet  S.  32  ff.), 
J  Leib  und  Seele,  Mensch  und  Tier  (NAyiixE  S.  70  ff.,  Fulliquet  S.  197  ff.). 
Jede  monistische  Weltanschauung  wird  geradezu  als  Todfeind  (insonderheit 
der  Moral)  betrachtet  („le  monisme  est  le  postulat  de  toute  doctrine  qui 
nie  la  responsabilit^  humaine",  Desdouits  S.  92,  Fulliquet  S.  243  ff.). 
Eine  solche  wird  yor  allem  in  der  Eyolutionstheorie  gewittert;  nicht 
biologisch,  sondern  logisch  sucht  man  diese  zu  widerlegen  —  in  erster 
Linie  aber  sollen  ihre  bösen  moralischen  Folgerungen,  besonders  der  un- 
sittliche Determinismus,  ihre  Irrtümlichkeit  erweisen  (Desdouits  S.  103  ff., 
Fulliquet  S.  248  ff.,  NAyiLLE  S.  21  ff.).  Dem  allen  liegt  die  grundfalsche 
Anschauung  unter,  als  ob  ohne  spiritualistische  Metaphysik  weder  Sittlich- 
keit noch  Sittenlehre  möglich  sei  —  man  sollte  denken,  nach  A.  Langes 
„Geschichte  des  Materialismus'^  ein  endgültig  überwundenes  Vorurteil. 

Über  die  Zaghaftigkeit  in  der  Eestauration  solch  alter  Anschauungen 
und  die  daraus  entspringende  Mattigkeit  im  Ausdruck  der  eigenen  Meinung 
will  sich  Ref.  nicht  yerbreiten;  jeder  Leser  dieser  Werke  wird  den  Mangel 
an  klarer,  reiner  Luft  yon  selbst  yerspüren. 


i 


508  Baoul  Bichter: 

Noch  ein  Wort  über  die  Methode,  die  Art  der  wissenschaftlichen 
Begründungsweise :  überall  macht  sich  der  Mangel  an  genauer  Beobachtung* 
der  Erfahrung,  besonnener  und  vorurteilsloser  Bearbeitung  des  Beobachteten 
geltend.  Dagegen  nehmen  die  ontologische  Beweismethode  (Nayille  S.  256  ff.) 
und  die  abgebrauchten  Kniffe  der  scholastischen  Dialektik  (ebenda  S.  234  ff., 
Desdouits  S.  57  ff.)  einen  um  so  breiteren  Baum  ein.  Alles  in  allem  ist 
in  den  drei,  zusammen  ca.  1000  Seiten  fassenden  Schriften  auch  kaum  eine 
These,  die  nicht  Schofenhaueb  in  seinen  beiden  ethischen  Abhandlungen 
(auf  ein  Viertel  des  Baumes)  klarer  präcisiert  und  begründet  oder  schlagen- 
der widerlegt  hätte.  Bef.  hat  diese  allgemeinen,  leider  einer  ganzen 
Klasse  französischer  Arbeiten  geltenden  Bemerkungen  nur  ungern  und 
mit  Widerstreben  niedergeschrieben;  es  schien  ihm  aber  Becht  und  Pflicht, 
weil  die  Verf.  typische  Vertreter  einer  gewissen  wissenschaftlichen  Bück- 
zugsarmee  sind,  weil  sie  sich  zudem  in  unbescheidenster  Weise  über  die 
gröfsten  wissenschaftlichen  Errungenschaften  der  Neuzeit  hinwegsetzen, 
weil  sie  endlich  durch  den  Glanz  einer  Fseudologik  den  Uneingeweihten 
zu  blenden  und  irre  zu  führen  geeignet  sind. 

Über  den  speciellen  Inhalt  der  einzelnen  Schriften  nur  wenige  Worte. 
Die  gekrönte  Preisschrift  Desdouits'  bringt  im  ersten  Teile  „Partie 
analytique"  (S.  9 — 46)  eine  —  durchaus  ungenügende  —  Darstellung  der 
hauptsächlichsten  neueren  Lehren  über  die  sittliche  Verantwortung:  der 
Moralphilosophie  St.  Mills,  der  italienischen  Schule  (Lombboso,  Garofalo), 
der  Eyolutionstheorie  (Spemceb,  Fouill£b,  Paulhan,  Tabdb),  der  Neo- 
kantianer  (Lävy-Lbbrun)  ;  im  zweiten  Teile  (S.  46 — 173),  der  „Partie 
critique",  die  Beurteilung  der  Grundlagen  und  Folgerungen  genannter 
Theorien.  Zunächst  gelangt  die  Widerlegung  des  Determinismus  zu  Gunsten 
einer  Willensfreiheit  ganz  im  Sinne  des  alten  liberum  arbitrium  in- 
differentiae  zu  folgendem  scholastischen  Ergebnis,  dessen  blofse  Wiedergabe 
jede  Kritik  überflüssig  macht:  „Le  d6terminisme  n'est  absolument  pas 
autre  chose  que  la  loi  d'inertie  elle-m§me  .  . .  le  döterminisme  tient  unique- 
ment  ä.  Fimpossibilit^  de  choisir.  Ainsi  le  d6tenninisme  n'est  qu'un  degr6 
inf6rieur  d'actiyit^.  II  s'explique  non  par  une  cause  efficiente,  mais  par 
une  cause  d6ficiente"  (S.  59).  Folgt  in  der  Prüfung  der  Grundlagen  die 
übliche  Bekämpfung  des  Monismus  (allein  schon  gerichtet  durch  S.  98  A.  1) 
und  die  Bettung  einer  „substance  spirituelle".  Die  zweite  Hälfte  des 
kritischen  Teiles  zählt  alle  die  bösen  Folgen  auf,  zu  denen  die  modernen 
Moral theorien  angeblich  führen  sollen;  auf  dem  Gebiete  der  Sittlichkeit 
liegen  die  schlimmsten  (S.  99 — 117),  aber  auch  Staat  und  Gesetzgebung 
(S.  118—127),  Kunst  (S.  128—144)  und  Erziehung  (S.  145—163)  werden 
schwer  geschädigt.  Es  verlohnt  nicht  der  Mühe,  die  oberflächlichen  Aus- 
einandersetzlingen hierüber  im  einzelnen  zu  referieren  oder  gar  zu  wider- 
legen ;  nur  das  eine,  wiederum  weil  es  typisch  ist,  sei  hervorgehoben :  der 
Fehlschlufs  des  Verf.  und  seiner  zahlreichen  Gesinnungsgenossen  von  der 
Bedauerlichkeit  der  Konsequenzen  auf  die  Irrtüpilichkeit  des  Prinzips. 

FüLLiQUBTs  Essai  sur  PObligation  Morale  zeugt  von  eingehenderen 
Kenntnissen  und  gründlicherem  Denken.  Die  Erklärung  der  Bedeutung 
der  sittlichen  Verpflichtung  will  die  Etüde  psychologique  (S.  9 — 196)  ge- 
leistet haben.    Auch  hier  wird  vor  allem  gegen  den  Determinismus  ange- 


Desdonits,  Fulliquet  and  Nayille.  509 

kämpft  und  die  sittliche  Freiheit  gerettet.  „Le  potentiel  Tital^  ist  der 
Bronn  dieser  Freiheit,  der  jedem  Lebewesen  fliefst :  Bubidans  Esel  würde 
nicht  verhungert  sein!  (S.  35  ff.)  Die  Freiheit  aber  ist  lediglich  Wahl- 
freiheit, „la  libert^  r^side  entierement  dans  le  choix,  mais  tout,  sauf  le 
choix,  est  rigoureusement  n^cessit^^  (S.  72).  Die  Freiheit  kennt  nur  ein 
Gesetz:  die  Pflicht  (S.  92).  Zur  Erklärung  des  Pflichtgefühls  wird  der 
Mensch  in  zwei  Hälften  gespalten:  ein  Bewnüstes  und  ein  Ünbewulstes. 
Im  Beiche  des  letzteren  wirkt  die  verpflichtende  Kraft,  das  Freiheits- 
bewufstsein  verspürt  nur  ihre  Wirkung  „Pobligation  est  Pinfluence  du  moi 
inconscient  sur  le  moi  conscient^  (S.  276).  Als  die  Eigentümlichkeit  der 
verpflichtenden  Kraft  wird  unter  Kants  Einflufs  angegeben,  dafs  sie  absolut 
und  nur  auf  das,  was  wir  für  gut  halten,  gerichtet  ist.  Auf  solch  bequeme 
Art  wird  dann  der  Gottesbeweis  geführt:  „qui  dit  saint  et  absolu,  dit 
Dieu"  (S.  105).  Gut  ist  nicht  ein  Etwas,  zu  dem  wir  verpflichtet  sind, 
sondern  wozu  wir  verpflichtet  sind  (besser :  uns  fühlen),  ist  gut  („Le  bien 
BS  ce  qui  est  obligatoire",  S.  130).  Die  einzelnen  moralischen  Imperative 
werden  durch  Umformung  psychologischer  Gesetze  gewonnen  (S.  133 — 158), 
die  bestgeschriebene  Partie  des  Buches.  Im  zweiten,  kritischen  Teil  zeigt 
F.  dann  das  Scheitern  aller  Moraltheorien,  welche  die  Pflicht  aus  den 
egoistischen  (Utilitarismus)  oder  den  altruistischen  Trieben  (Schopenhaubb), 
der  Vernunft  (Positivismus)  oder  dem  Ideal  (Fouill^b),  dem  Entwicklungs- 
gesetz oder  den  Forderungen  der  Gesellschaft  ableiten.  Eine  „Etüde 
historique",  welche  mit  Sachkenntnis  die  Sittenlehre  Kants,  Schopbnhauebs, 
Spbngbbs,  Bbnouvibbs,  S^cbetans,  Fouillües  und  Güyaus  bespricht,  be- 
schliefst das  Buch. 

Navillbs  Schrift  „Le  Libre  Arbitre''  mutet  sonderbar  mittelalterlich 
an.  Der  analytische  Teil  handelt  von  der  Idee  der  Freiheit  (S.  26—105), 
den  Zeichen  der  Freiheit  (S.  106—145),  den  Einwürfen  gegen  die  Freiheit 
(S.  146—195).  Von  den  70  Thesen  und  Beweisen,  welche  die  Existenz 
der  Wahlfreiheit  darthun  sollen,  wüfste  ich  nicht  eine,  die  es  der  Mühe 
lohnte,  herauszuheben.  Die  „Synthese"  bespricht  die  Verträglichkeit  der 
Freiheitsidee  mit  den  drei  Weltanschauungen  des  Materialismus,  Idealismus 
und  Spiritualismus  (eine  durch  nichts  gerechtfertigte  Dreiteilung)  und  ge- 
steht dem  Spiritualismus  als  dem  Better  in  allen  moralischen,  theologischen 
und  psychologischen  Nöten  den  Preis  zu.  Den  scholastischen  Geist  der 
Schrift  kennzeichnet  zur  Genüge  die  These  92  mit  ihrem  Beweise:  „Le 
spiritualisme  explique  Pexistence  de  la  libert6  par  la  doctrine  de  la  cr6ation". 

„Si  Pon  admet  que  la  libert6  est  le  degr6  le  plus  61ev6  de  P^tre, 
la  libertö  relative  de  Phomme  ne  peut  proc^der  que  de  la  libert6  supreme 
du  Cr^ateur.  Tout  autre  Systeme  ferait  provenir  la  libert6  de  quelque 
chose  qui  lui  serait  inf^rieur.  Or,  admettre  que  le  plus  proc^de  du  moins, 
non  pas  dans  le  d6veloppement  progressif  d'une  virtualit6  pr^existante, 
mais  dans  le  sens  absolu  des  termes,  c'est  admettre  des  ph^nom^nes  saus 
cause,  c'est  nier  les  bases  de  la  raison;  c'est  attribuer  un  pouvoir  pro- 
ducteur  au  n6ant,  ce  qui  constitue  un  jugement  contradictoire,  puisque  le 
n6ant  n'est  que  Pexpression  de  la  n^gation  pure,  du  non  §tre  dont  rien  ne 
saurait  sortir." 

Leipzig.  Baoul  Bichtbb. 


510     Raoul  Richter:  Boutroux,  „Etudes  d'Histoire  de  la  Philosophie". 

Bontroux,  Emile,  Etudes  d'Histoire  de  la  Philosophie. 
Paris,  Alcan,  1897.    443  S. 

Die  Schrift  steht  in  vorteilhaftem  Gegensatz  zu  den  eben  be- 
sprochenen Proben  der  französischen  Philosophie.  Philosophiegeschichtliche 
Skizzen,  aus  den  yerschiedensten  Anlässen  entstanden,  sind  hier  zu  einem 
ansehnlichen  Bande  vereinigt  worden.  Ihnen  liegt  eine  bescheidene  und 
für  die  Bearbeitung  einzelner  Gebiete  gewifs  auch  die  berechtigste 
Auffassung  von  der  Geschichte  der  Philosophie  zu  Grunde:  nicht  die 
Philosophen  „ala  mehr  oder  minder  gelehrige  Werkzeuge  einer  immanenten 
Weltvemunft"  zu  betrachten,  nicht  den  absoluten  Wahrheitsgehalt  ihrer 
Systeme  herauszuschälen  und  das  Vergängliche  fallen  zu  lassen,  vielmehr 
die  Lehren  der  Denker  im  Sinne  ihrer  Schöpfer  darzustellen  und  zu  er- 
klären. Durch  diesen  Standpunkt  gewinnen  die  einzelnen  Studien  eine 
erfreuliche  Parteilosigkeit,  welche  bei  höheren  Absichten  sich  nicht  immer 
einhalten  liefse.  Gleich  der  erste  Artikel  über  „Sokrates  als  Gründer  der 
Moralwissenschaft"  (S.  11—93)  möchte  untersuchen,  nicht  was  Sokrates 
dem  Plato  oder  Hegel,  sondern  was  er  in  seinen  eigenen  Augen  gewesen 
ist  (S.  16).  Darum  werden  die  objektiveren  Memorabilien  Xenophons  den 
gefärbteren  Darstellungen  des  Plato  und  Aristoteles  als  Quelle  vorge 
zogen  (S.  18).  In  feinen  Linien  wird  nuu  das  Gerüst  der  sokratischen 
Philosophie  gezeichnet,  gezeigt,  wie  es  nur  durch  die  Art  seiner  Funda- 
mente verständlich  werden  kann;  von  zwei  Seiten  her  hat  Sokrates  die 
Grundlage  seiner  Lehre  gewonnen:  von  der  griechischen  Physik,  deren 
Objekt,  die  Ergründung  der  Natur,  er  fallen  läfst,  deren  Form,  die  wissen- 
schaftliche Behandlungsweise,  er  beibehält,  und  von  der  Sophistik,  deren 
Objekt,  die  menschlichen  Angelegenheiten,  er  sich  zu  eigen  macht,  deren 
Form,  die  unwissenschaftliche  Routine,  er  verbannt  (S.  33).  So  vereinigt 
er  Praxis  und  Theorie,  rix^rj  und  iTticttj/irj :  „cette  id6e  d'une  r^union  de 
la  science  et  de  Part  est  le  germe  meme  de  la  philosophie  socratique^ 
(S.  34).  Aus  dieser  Befruchtung  aber  erblüht  die  bis  dahin  nicht  vor- 
handene Disziplin  einer  „science  morale".  Sehr  hübsch  wird  nun  gezeigt, 
wie  die  Bestimmung  der  Wissenschaft  als  der  Erkenntnis  des  Allgemeinen 
in  der  Bedeutung,  die  dieser  Begriff  in  des  Sokrates'  Geist  hatte  (darüber 
die  lichtvollen  Ausführungen  S.  44),  nur  auf  die  science  morale,  nicht  auf 
die  Wissenschaft  überhaupt  gerichtet  sein  könne,  und  wie  auch  die  Einzel- 
heiten der  sokratischen  Methode,  die  dialogische  Form,  die  Ironie,  die 
Maieutik,  die  Definition  und  Induktion  immer  nur  sinnvoll  sind  in  ihrer 
Anwendung  auf  sittliche  Probleme,  als  methodologische  Regeln  der  Physik 
oder  der  Metaphysik  dagegen  widerspruchsvoll  und  gezwungen  werden. 
Mit  einem  Hinweis  auf  die  Lebendigkeit  der  sokratischen  Ideen  gerade 
in  unseren  Zeiten  schliefst  der  Aufsatz,  der  alles  hält,  was  man  von  einem 
Manne  erwartet,  welcher  die  lohnende  Mühe  nicht  gescheut,  Zellers 
„Philosophie  der  Griechen"  für  seine  Landsleute  ins  Französische  zu  über- 
tragen. 

Von  den  übrigen  Skizzen  hat  Ref.  noch  die  Artikel  über  Descabtes 
und  über  Kant,  beide  mit  grofsem  Interesse,  gelesen.  Gewifs  zeugt  es 
von  berechtigter  Begeisterung,  wenn  Boutroux  sein  anläfslich  der  grofsen 


Baoul  Eichter:  Kronenberg,  „Moderne  Philosophen".         511 

Gesamtausgabe  der  Werke  Descabtes'  verfafstes  Gedenkblatt  (S.  289 — 299) 
mit  den  Worten  schliefst :  „Etudier  Descabtes  est  le  faire  connaitre,  c'est 
trayailler  ä  Paccomplissement  de  la  mission  scientifique  et  ciyilisatrice 
de  la  France".  Aber  man  darf  gerade  die  Gröfse  Descabtes'  nicht  auf 
allen  Gebieten  suchen.  So  kann  es  denn  auch  Boütboüx  nicht  gelingen, 
auf  den  mit  manch  feinsinnigen  Bemerkungen  durchflochtenen  Seiten, 
welche  von  „der  Beziehung  der  Moral  zur  Wissenschaft  in  der  Philosophie 
des  Descabtes"  handeln  (S.  299 — 316),  Descabtes'  ethischen  Bemerkungen 
einen  originalen  Charakter  abzugewinnen. 

Dagegen  mufs  man  sich  voll  und  ganz  mit  dem  in  der  „Grande 
Encyclop6die"  aufgenommenen  Aufsatz  über  Kant  (S.  317 — 411)  einver- 
standen erklären.  Konnte  die  Studie  sich  ihrer  Bestimmung  gemäfs  nicht 
auf  Tiefen  noch  Feinheiten  des  Kriticismus  einlassen,  so  leistet  sie  dafür 
an  Klarheit  und  Vollständigkeit  alles  Mögliche.  Selbst  bei  so  schwierigen 
Partien  wie  der  Deduktion  der  Kategorien  oder  dem  Schematismus  fliefst 
die  Darstellung  glatt  und  lichtvoll  weiter;  besonders  wird  auch  den  un- 
berühmteren Partien  der  KAKT'schen  Philosophie,  wie  der  vorkritischen 
Periode  (S.  337 — 346),  Kants  historischen,  anthropologischen,  pädagogischen 
Bemühungen  (S.  386 — 398)  gebührend  Rechnung  getragen. 

Angenehm  berührt  den  deutschen  Leser  in  allen  Artikeln  die  Ver- 
trautheit BouTBOux'  mit  der  deutschen  einschlägigen  Litteratur.  Aufeer 
den  erwähnten  enthält  das  Buch  Boütboux'  noch  Studien  über  Abistoteles 
(S.  95—209),  Jakob  Böhme  (S.  210—288)  und  „de  Pinfluence  de  la  Philo- 
sophie ^cossaise  sur  la  philosophie  francaise"  (S.  412 — 443). 

Leipzig.  Baoül  Bichteb. 

Kronenberg,   M.,   Moderne   Philosophen.     Porträts   und 
Charakteristiken.    München,  Beck,  1899.    221  S. 

Die  modernen  Philosophen  sind :  Lotze,  Lak»e,  Cousin,  Feüebbach, 
Stieneb.  Die  Zusammenstellung  rechtfertigt  der  Verf.  durch  die  Zusammen- 
gehörigkeit dieser  Männer  in  dem  grofsen  Streite  Ton  Eealismus  und 
Idealismus,  der  in  den  Jahren  zwischen  dem  Sturze  der  HEOEL^schen 
Philosophie  und  der  Herrschaft  des  Positivismus  die  wissenschaftlichen 
Gemüter  hewegte.  Die  Lebenshilder,  welche  Kef.  gelesen,  sind  glatt  und 
nicht  ohne  Schwung  geschrieben  und  wohl  geeignet,  das  Interesse  für  ihre 
Helden  in  weiteren  Kreisen  zu  wecken.  Zu  einer  wissenschaftlichen  Be- 
sprechung geben  sie  keine  Veranlassung. 

Leipzig.  Eaoül  Bichteb. 

Orzymischy  Siegfried,   Spinozas  Lehren  von  der  Ewig- 
keit nnd  Unsterblichkeit.   Breslau,  Calvary,  1898.  59  S. 

Verf.  verfolgt  zunächst  die  Entwicklung  des  Ewigkeitsbegriffs  und 
seine  Anwendung  auf  Gott  und  Welt  in  den  vor  der  „Ethik"  abgefafsten 
Schriften.  Im  kurzen  Trakt,  erscheint  die  Ewigkeit  noch  der  endlosen 
Dauer  gleichgesetzt,  der  in  dem  Hauptwerk  so  stark  betonte  Gegensatz 
von  unendlicher  Zeit  und  Ewigkeit  noch  nicht  angedeutet,  die  unendlichen 


512     Eaoul  Richter:  Grzymisch,  „Spinozas  Lehren  v.  d.  Ewigkeit  etc.". 

Modi  als  „vor  aller  Ewigkeit  von  Gott  geschaffen"  erklärt,  die  Unsterh- 
lichkeit  des  Menschen  als  eine  endlose  Dauer  des  Geistes  nach  der  Trennung 
von  seinem  Körper  gefaTst  (S.  3 — 9).  Im  Trakt,  de  intellectus  emendatione 
zeigen  sich  schon  deutliche  Spuren  einer  scharfen  Trennung  von  Dauer 
und  Ewigkeit ;  in  den  cogitata  metaphysica  bricht  die  endgültige  Definition 
der  Ewigkeit  als  das  zum  Wesen  gehörige  Dasein  „in  fertiger,  wenn  auch 
formell  unvollendeter  Ausgestaltung"  durch,  eine  Schöpfung  von  Ewigkeit 
her  wird  aufgegeben,  im  Anhang  II  zum  kurzen  Trakt,  die  Lehre  von 
der  Unsterblichkeit-  der  Seele  um  einen  Schritt  in  der  Bichtung  auf  die 
Ethik  hin  gefördert.  In  der  Ethik  endlich  (S.  17—29)  erlangt  die  Lehre 
von  der  Ewigkeit  und  Unsterblichkeit  ihre  völlige  Keife ;  von  Nachklängen 
aus  den  früheren  Zeiten  und  dadurch  entstehenden  Widersprüchen  ist  sie 
indes  nicht  frei:  den  strengen  Begriff  der  aetemitas  mit  Ausschliefsung 
jedes  zeitlichen  Momentes  gelingt  es  Spinoza  nur  für  die  Gottsubstanz 
und  ihre  Attribute,  nicht  aber  für  die  Ewigkeit  der  unendlichen  Modi, 
festzuhalten,  und  auch  in  der  Unsterblichkeitslehre  wird  der  psychophysische 
Parallelismus  zu  Gunsten  des  Geistes  durchbrochen.  —  Nach  Fbbüdbnthals 
Vorbild  werden  dann  auch  für  den  Ewigkeitsbegriff  scholastische  Vorbilder 
bei  Zeitgenossen  gesucht  und  gefunden  (S.  41 — 45) ;  etwas  künstlich  wirkt 
der  Nachweis  über  die  Abhängigkeit  von  Dbsoabtbs  in  den  Beweisen  für 
die  Ewigkeit  Gottes  (S.  46 — 48);  dafs  das  Wesen  des  Geistes  in  der  Er- 
kenntnis liege,  brauchte  Spinoza  aber  gewifs  nicht  von  jüdischen  und 
arabischen  Philosophen  (warum  übrigens  nicht  auch  ebensogut  von  jedem 
anderen  Bationalisten,  etwa  Plato  oder  Abistotblbs?)  zu  lernen  (S.  50); 
auch  für  solch  innerlichst  aus  dem  System  herausbrechende  Gefühle  wie 
die  selige  Stimmung  im  amor  dei  intellectualis  nach  äufseren  Anregungen 
zu  suchen,  beschattet  mehr  als  es  erleuchtet  das  Wachstum  grofszügiger 
Anschauungen.  Die  Schrift  G.'s  bietet  einen  wertvollen  Beitrag  zur 
specielleren  SpiNOZA-Forschung. 

Leipzig.  B.AOUL  Bichtbb. 


Berichtigungen  zum  3.  Hefte: 

S.  345  Z.  2  von  oben  ist  zu  lesen  statt   „ein  InduktionsschluTs'' : 
eine  Folgerung  aus  dem  Ergebnis  eines  Induktionsschlusses. 

Z.  4  von  oben  statt  „dieses  Induktionsschlusses" :  dieser  Folgerung. 


n. 
Philosophische  Zeitschriften. 


r 

Arohly  für  Geschichte  der  Philosophie  (Berlin,  Beimer). 
!  Bd.  12,  Heft  4. 

■  Ludwig  stein,  Die  Eontinnität  der  griechischen  Philosophie  in  der  Gedanken- 

welt der  Araber.    (Drittes  Stück.) 

r  Johann  Zmave,  Die  Wertteorie  hei  Aristoteles  und  Thomas  von  Aqnlno. 

[  Joh.  Zahlfieisch,  Einige  Gesichtspunkte  für  die  Auffassung  und  Beurteilung 

der  Aristotelischen  Metaphysik. 

r  R.  Steck,  Ein  Besuch  bei  Jacob!  im  Jahre  1797. 

£.  Thouverez,La  Familie  Descartes  d'apr^s  les  documents publies  par  les  Soci^t^s 
Savantes  de  Poitou^  la  Touraine  et  de  Bretagne.    Jahresbencht  über  die  Eirchen- 

l  Väter  und  ihr  Verhältnis  zur  Philosophie  1893—1896.   Von  H.  Lüdemann.  —  Neueste 

,  Erscheinungen. 


Philosophische  Studien  (Leipzig,  Engelmann). 

Bd.  15,  Heft  2. 

W.  Wundt,  Bemerkungen  zur  Theorie  der  Gefühle.    Mit  6  Fig.  im  Text. 
Einar  Buch,  Über  die  „Verschmelzung^  von  Empfindungen,  besonders  bei  Klang- 
eindrücken.   (SchluTs.)    Mit  6  Flg.  im  Text 
Jonas  Cohn,  Gefühlston  und  Sättigung  der  Farben. 

Bd.  15,  Heft  8. 

"W.  Wundt,  Zur  Kritik  tachistoskopischer  Versuche. 

Zwetan  Radoslawow-Hadjl-Denkow,  Untersuchungen  über  das  Gedächtnis 
für  räumliche  Distanzen   des  Gesichtssinnes.    Mit  6  Fig.  im  Text  und  Taf.  I— U. 

Zeitschrift  fQr  Philosophie  und  philosophische  Kritik  (Leipzig,  Pfeffer). 
Bd.  114,  Heft  2. 

M.  F.  Sc  hei  er,  Arbeit  und  Ethik. 

A.  Döring,  Zur  Kosmogonie  Anaximanders. 

K.  Vorländer,  Eine  „Socialpädagogik'^  auf  kantischer  Grundlage. 

O.  Liebert,  Über  die  Beziehung  des  Menschen  auf  die  Natur  und  das  Menschen- 
geschlecht. 
F.  He  man,  Paulsens  Kant. 
H.  Türk,  Erwiderung. 

E.  Kühnemann,  Antwort.  —  Recensionen.  —  Notizen.  —  Neu  eingegangene 
Schriften.  —  Bibliographie.  —  Aus  Zeitschriften. 

Bd.  115,  Heft  1. 

F.  Paulsen,  Noch  ein  Wort  zur  Theorie  des  Parallelismus. 
E.  V.  Hart  mann,  Zum  Begriff  der  Kartegorialfonktion. 

L.  Busse,  Jahresbericht  über  die  Erscheinungen  der  anglo-amcrikan.  Litteratur 
der  Jahre  1894/95.  (Carus,  Ribot-SneU,  Ladd,  Fräser,  Seth,  Fowler,  Douglas,  Jones, 
Veitch-Wenlev.  Baldwln.) 

E.  Neuendorff,  Lotzes  Kausalitätslehre.  —  Recensionen.  —  Neu  eingegangene 
Schriften.  —  Aus  Zeitschriften. 

Vierteljahrsschrift  f.  Wissenschaft].  Philosophie.    XXTTT.  4.  34 


514  Philosophische  Zeitschriften. 

Zeitschrift  fQr  Psyehologlo  und  Physiologie  der  Sinnesorgane  (Leipzig, 
Ambr.  Barth). 

Bd.  20,  Heft  6. 

W.  Stemberg,  Geschmack  und  ..Chemismus. 

0.  Abraham  und  W.  S  chäf  er,  Über  die  maximale  Geschwindigkeit  von  Tonfolgen. 
0.  Abraham,  Über  das  Abklingen  von  Tonempflndungen. 

A.  König,  Bemerkungen  über  angeborene  Farbenblindheit.  —  Litteraturbericht.  — 
Namenregister. 

Bd.  21,  Heft  1  n.  2. 

H.  G.  Hamaker,  Über  Nachbilder  nach  momentaner  Helligkeit. 
Ludwig  Helwig,  Über  die  Natur  des  Erinnerungsbildes. 
C.  Stumpf,  Über  den  Begriff  der  Gemütsbewegung. 

—  Beobacntungen  über  suDJektive  Töne  und  über  Doppeltöne.  —  Besprechungen.  — 
Litteraturbericht. 

Bd.  21,  Heft  8  u.  4. 

Karl  Schäfer,  Die  Bestimmung  der  untern  Hörgrenze. 

M.  Kelchner  und  P.  Rosenblum,  Zur  Frage  nach  der  Dualität  des  Tempera- 
tursinnes. 

A.  Meinong,  Über  Gegenstände  höherer  Ordnung  und  deren  Verhältnis  zur  inneren 
Wahrnehmung.  —  Litteraturbericht. 

Bd.  21,  Heft  5. 

G.  Hevmanns,  Untersuchungen  über  psychische  Hemmung. 
L.  William  Stern,  Die  Wahrnehmung  von  Tonveränderungen. 
Sigm.  Exner,  Notiz  über  die  Nachbilder  vorgetäuschter  Bewegungen.  —  Litteratur- 
bericht. 

The  Philosophical  Beriew  (New  York  and  London,  The  Macmillan  Comp.). 
Yol.  VIII,  No.  4. 

J.  G.  Schurmann,  Kants  A  Priori  Elements  of  Understanding.    II. 
X  Clark  Murray,  Rousseau. 
James  B.  Feterson,  The  Forms  of  the  Svllogism. 

Erich  Adickes,  German  Philosophical  Literature  (1896—1898).  IL  —  Beviews  of 
Books.  —  Summaries  of  Artlcles.  —  Notices  of  New  Books. 

Yol.  YIII,  No.  6. 

J.  G.  Schurmann,  Kants  A  Priori  Elements  of  understanding.    ni. 
W.  Caldwell,  Von  Hartmanns  Moral  and  Social  Philo  sophy.  L  The  Positive  Ethlc. 
J.  D.  Log  an,  The  Absolute  as  Ethical  Postulate. 

G.  A.  Co^swell,  The  Classification  of  the  Sciences.  —  Reviews  of  Books.  — 
Summaries  of  Artlcles.  —  Notices  of  New  Books. 

The  Fsyehologieal  Beriew  (New  York  and  London,  The  Macmillan  Comp.). 
Yol.  YI,  No.  4. 

W.  L.  Br}ran  and  Noble  Harter,   Studies  on  the  Telegraphic  Language;   The 

Acquisition  of  a  Hierarch^^  of  Habits. 
L.  M.  Solomons,  Communications  from  the  Psych  ological  Laboratory  of  Harvard 

Universitv.    Automatic  Reactions. 
George  V.  N.  Dearborn,  Recognition  under  Objective  Reversal.  —  Shorter 

Contributions  and  Discusslons.  —  Psychological  Literature.  —  New  Books.  — 

Notes. 

Yol.  YI,  No.  6. 

W.  P.  Montague,  A  Plea  for  Soul-Substance. 
Reymond  Dodge,  The  Reaction-Time  of  the  Eye. 

G.  A.  C  0  e ,  A  Study  in  the  Dvnamics  of  Personal  Religion.  —  Shorter  Contributions 
and  Discusslons.  —  Psychological  Literature.  —  New  Books.  —  Notes. 


Philosophische  Zeitschriften.  515 

BeTue  N^o-Soolastique  (Louvain,  Institut  Sup6rieur  de  Philosophie). 
6.  Jahrg.,  Heft  3. 

B.  Nys,  Etüde  sur  TEspace. 

P.  M.  De  Munnynck.  ij'Hypotliese  scientiflque. 

G.  De  Craene,  La  connaissance  de  TEsprit. 

N.  Kanfmann,   La  Flnallte   dans   TOrdre   moral.  —  Melanies  et  Documenta.  — 

Bulletin  de  L'Listitut  Superieur  de  Philosophie.  —  Comptes  Rendus.  —  Revue 

des  Periodiques. 

Przeglad  Vilozoficzny  (Warszawa,  ulica  Krucza  Nr.  46). 
Bok  II,  Zeszyt  I. 

P.  Chmielowski,  Filosoflczne  poglady  Mickiewicza. 

W.  Heinrich,  0  stosunku  pojec  i  zasad  flzycznych  do  fllozofji.  —  Autorreferaty.  — 
Eronika.  —  Krytyka  i  Sprawozdanla.  —  Irzeglad  Czasopism.  —  Notatki. 

Bok  II,  Zeszyt  IL 

L.  Gumplowlcz,  Socjologiczne  pojmowanie  histoiji. 
W.  Heinrich,  0  stosunku  nojec  i  zasad  flzycznych  do  fllozofji. 
"Wl.  M.  Kozlowskl,  Psychoiogiczne  zrodkanlektorych  prawprzyrody. —  Kronika. 
—  Autorreferaty.  —  Krytyka  i  Sprawozdanla.  —  Przeglad  Czasopism. 

Bok  II,  Zeszyt  III. 

M.  Kozlowskl,  Psychoiogiczne  zrodla  niektorych  praw  przyrody. 

Z.  Balicki,  Sopiologiczne  podstawy  uzytecznosci. 

St  Grabski,  Wstep  do  metodologji  ekonomji  polityczny. 

J.  Kodis,  Upadek  materjallsmu  w  nauce. 

M.  Karej  e w,  A.  Comte,  jako  zalozyciel  socjologji.  —  Kronika.  —  Autorreferaty.  — 

Krytyka  i  Sprawozdanla.   —  Przeglad  Czasopism.   —   Wiadomosci   biezace.  — 

Notatki. 

Bok  n,  Zeszyt  IT. 

M.  Kozlowskl,  Psychoiogiczne  zrodla  niektorych  praw  przyrody  (dokonczenie). 
St.  Grabski,  Wstep  do  metodologji  ekonomji  polityczny  (dokonczenie). 
Z.   Balicki,     Socjologiczne    podstawy    uzrtecznosci    (dokonczenie).    —    Autor- 
referaty. —  Krytyka  1  Sprawozdanla.  —  Bibljografja.  —  Polemika. 


34' 


m. 
Bibliographie. 


I.    Geschichte  der  Philosophie« 

Abhandliinsreii  zur  Philosopliie  und  ihrer  Geschichte.  Herausg.  von 
B.  Erdmann.  12.  Heft:  Powell,  E.,  Spinozas  Gottesbegriff.  (113  S.) 
Halle,  Niemeyer.    M.  3, — . 

Attensperger,  Alb.,  Jakob  Frohschammers  philosophisches  System  im 
Grundrifs.  Nach  Frohschammers  Vorlesgn  herausg.  (VII,  214  S.)  Zwei- 
brücken, Lehmann.    M.  3,50. 

Betzinger,  B.  A.,  Seneca- Album.  Weltfrohes  und  Weltfreies  aus  Senecas 
Philosoph.  Schriften.  Nebst  einem  Anhang:  „Seneca  und  das  Christentum. 
120.    (X,  224  S.)    Freiburg  i.  B.,  Herder.    M.  3,—  ;  geb.  M.  4,—. 

Bormann,  Walt.,  Der  Schotte  Home,  ein  physiopsychischer  Zeuge  des 
Transcendenten  im  19.  Jahrh.  (V,  92  S.  m.  1  Bildnis.)  Leipzig,  Mutze. 
M.  2,—  ;  geb.  M.  3,—. 

Brnimliofer,  H«,  Giordano  Brunos  Lehre  vom  Kleinsten  als  Quelle  der 
prästabilierten  Harmonie  des  Leibniz.  (63  S.)  Leipzig,  Dieter.  2.  (Titel) 
Aufl.    M.  1,20. 

Deter,  Ch.,  Job.,  Kurzer  Abrifs  der  Geschichte  der  Philosophie.  6.  Ausg. 
(VI,  152  S.)    Berlin,  Weber.    M.  3,—. 

Deufsen,  Panl,  Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Eeligionen.  1  Bd.,  2  Abtg.:  Die  Philosophie  der 
Upanishads.    (XtE,  368  S.)    Leipzig,  Brockhaus.    M.  9, — . 

Deutsohthttmler,  Wilb.,  Über  Schopenhauer  zu  Kant.  Ein  kleines  Ge- 
schichtsbild.   (136  S.)    Wien,  Dimböck.    M.  2,—. 

Dnboe,  Jul.,  100  Jahre  Zeitgeist  in  Deutschland.  Geschichte  und  Kritik. 
2.  Aufl.    (XVI,  322  S.)    Leipzig,  0.  Wigand.    M.  5,—. 

Enoken,  Bad.,  Die  Lebensanschauungen  der  grofsen  Denker.  Eine  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Lebensproblems  der  Menschheit  von  Plato  bis 
zur  Gegenwart.  3.  Aufl.  (XII,  492  S.)  Leipzig,  Veit.  &  Co.  M.  10,—; 
geb.  M.  12,—. 

Falkenfeld,  Max,  Marx  und  Nietzsche.  (29  S.)  Leipzig,  Friedrich.  M.  — ,60. 

Gomperz,  Th.,  Griechische  Denker.  8.  Lieferung.  (2.  Bd.  S.  193—288.) 
Leipzig,  Veit  &  Co.    M.  2, — . 

Görland,  Alb.,  Aristoteles  u.  die  Mathematik.  (VIII,  211  S.)  Marburg, 
Elwerts  Verl.    M.  4,50. 


Bibliographie.  517 

Keller,  L.,  Die  Akademien  der  Platoniker  im  Altertum.  Berlin,  Gärtner. 
M.  —,75. 

Knortz,  K.,  Ein  amerikanisclier  Diogenes  (Thoreau).  Vortrag.  Hamburg, 
Verlagsanstalt.    M.  — ,75. 

Kralik,  Rieb.,  Socrates.  Nach  den  Überlief ergn.  seiner  Schule  dargestellt. 
(XXIV,  617  S.)    Wien,  Konegen.    M.  7,50. 

Müller,  Max  F.,  The  six  Systems  of  Indian  philosophy.  (650  p.)  London, 
Longmans.    18  sh. 

Perlmutter,  A.,  Die  Kant'sche  Lehre  von  der  Kausalität.  (16  S.)  Leipzig, 
Mutze.    M.  0,40. 

PoUoek,  Sir  F.,  Spinoza:  his  life  and  philosophy.  (427  p.)  New  York, 
The  Macmillan  Co.    Doli.  3,—. 

Bappaport,  Sam.,  Spinoza  u.  Schopenhauer.  Eine  kritisch-histor.  Unter- 
suchung, mit  Berücksicht.  des  unedierten  Schopenhauer'schen  Nachlasses 
dargestellt.    (V,  148  S.)    Berlin,  Gärtner.    M.  3,—. 

Seitz,  Die  Willensfreiheit  in  der  Philosophie  des  Ch.  Aug.  Crusius. 
(VIII,  136  S.)    Würzburg,  Göbel.    M.  2,—. 

Sergryeenko,  P.  A.,  How  Count  L.  N.  Tolstoy  lives  and  works;  from  the 
Russian  by  Isabel  F.  Hapgood.  (100  p.)  New  York,  Crowell  &  Co. 
Doli.  1,25. 

Seyerlen,  Bnd.,  Die  gegenseitigen  Beziehungen  zwischen  abendländischer 
und  morgenländischer  Wissenschaft  mit  besond.  Eücksicht  auf  Salomon 
ihn  Gebirol  und  seine  philosophische  Bedeutung.  (41  S.)  Jena,  Neuen- 
hahn.   M.  2,40. 

Siebeck,  H.,  Aristoteles.    (142  S.)    Stuttgart,  Frommann.    M.  1,75. 

Stephens,  W.  W.,  Life  and  writings  of  Turgot,  Comp  troller-General  of 
France,  1774 — 1776.    London,  Longmans.    7  sh.  6  d. 

Studien,  Berner,  zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.  Herausg.  von 
Ldw.  Stein.  XIV.  Bd. :  Lefkovits,  Mor.,  Die  Staatslehre  auf  kantischer 
Grundlage.  (74  S.)  XV.  Bd.:  Zulawski,  J.,  Das  Problem  der  Kausalität 
bei  Spinoza.    (74  S.)    Bern,  Steiger  &  Co.    M.  1,75. 

Tessen-Wesierski,  Frz.  y.,  Die  Grundlagen  des  Wunderbegriffs  nach 
Thomas  von  Aquino.    (142  S.)    Paderborn,  Schöningh.    M.  3,—. 

Tolkmann,  F.,   Schillers  Philosophie.    (31  S.)    Berlin,  Rühe.    M.  —,60. 

Wiebreeht,  Die  Metaphysik  Schopenhauers.  (65  S.)  Diss.  Göttingen. 
M.  0,80. 

Wielengra,  Bastian,  Spinozas  „Cogitata  metaphysica'',  als  Anh.  zu  seiner 
Darstellung  der  cartesianischen  Prinzipienlehre.  (VIT,  59  S.)  Heidel- 
berg, Winter.    M.  1,20. 

II.    Logik  und  Erkenntnistheorie. 

Bonnel,   J«,  F.,  Les  atomes  et  hypotheses  dans  la  g6om6trie.     3.  4d. 

Avec  27  fig.  1899.    Paris,  Gauthier-Villars.    fr.  5,—. 
Glbler,  Paul,    Psychism;   analysis  of  things  existing:   essays.     (287  p.) 

New  York,  Bulletin  PubliBhing  Co.    Doli.  1,50. 
Gnelfse,   Karl,    Deduktion   und    Induktion.     Eine   Begriffsbestimmung 

(39  S.)    StraTsburg,  Heitz.    M.  1,20. 


518  Bibliographie. 

Gu^riiiy  Dr.  J.,  Les  di£f6rentes  manifestations  de  la  pens^.   Paris,  Alcan. 

fr.  5,—. 
Siegel,  C,  Entwicklung  der  Baumvorstellung.    (52  S.)    Wien,  Deuticke. 

M.  1,40. 

III.    Allgemeine  Philosophie  und  Metaphysik. 

Bartsehy  B.,  Worte  zur  Sache.   Philosophische  Erörterungen.    (V,  119  S.) 

Greifenberg  i.  Schi.,  Selbstverlag.    M,  1,60. 
Brodbeek,  Adf.,  Kraft  u.  Geist!    Eine  Streitschrift  gegen  den  unhaltbaren 

Schein-Monismus   Professor  Häckels  und   Genossen.     (32  S.)    Leipzig, 

Strauch.    M.  1, — . 
Brfigelmaiiu,  W.,  100  Aphorismen.    Ein  Vademekum  f.  denk.  Menschen. 

(Vn,  94  S.)    Frauenfeld,  Huber.    Geb.  M.  1,60. 
BnloTa«  J«  Ad.,  Die  Einheitslehre  (Monismus)  als  Religion.    Eine  Studie. 

2.  Aufl.    (XX,  136  S.)    Leipzig,  Schimmelwitz.    M.  2,--. 
Grimm,  E.,  Das  Problem  F.  Nietzsches.    (264  S.)    Berlin,   Schwetschke 

&  Sohn.     M.  4,—. 
Haeckel,  Ernst,  Die  Welträtsel.  Gemeinverständl.  Studien  über  monistische 

Philosophie.    (VIU,  473  S.)    Bonn,  Straufs.    M.  8,—;  geb.  M.  9,—. 
Hagen,  Edm«  Ton,  Aufsätze  zur  Einsicht  in  das  Wesen  der  freien  Mulse 

und  der  philosophischen  Kontemplation.    (85  S.)    Berlin,  Selbstverlag. 

M.  —,50. 
—  Die  Welt  als  Baum  u.  Materie.    Mit  e.  Einleitg.  über  die  Natur  des 

Urwesens.    (XXIV,  154  S.)    Berlin,  Selbstverlag.    M.  3,—. 
Hart,  Jal.,  Zukunftsland.  1.  Bd.  (VII,  350  S.)  Florenz,  Diederichs.  M.  5,—. 
Henne  am  Bhyn,  0.,  Anti-Zarathustra.    (XV,  100  S.)   Altenburg,  Tittel. 

M.  3,—. 
Hose,  Gnst.,  Das  Weltgesetz,  e.  kurzgefaTste  Abhandlung  des  gesamten 

Seins,  auf  streng  wissenschaftl.  Grundlagen  bearb.  f.  jedermann.    (32  S.) 

Dortmund,  Thomas.    M.  1, — . 
Jerusalem,  WUh«,  Einleitung  in  die  Philosophie.    (VIU,  189  S.)    Wien, 

Braumüller.    M.  3, — ;  geb.  M.  4, — . 
Ladd,  i}.  Trambull,  A  theory  of  reality;  an  essay  in  metaphisical  system 

upon  the  basis  of  human  cognitive  experience.    (556  p.)    New  York, 

Scribners  Sons.    Doli.  4, — . 
Liebmann,  Otto,  Gedanken  und  Thatsachen.    Philosophische  Abhandlgn., 

Aphorismen  u.  Studien.    2.  Heft :  Gedanken  üb.  Natur  u.  Naturerkennt- 

nils.    (XU,  S.  123—300.)    3.  Heft:   Die  Bilder  der  Phantasie.  —  Zeit- 

bewufstsein.  —  Sprachfähigkeit.  —  Psychol.  Aphorismen.    (S.  301—470.) 

Strafsburg,  Trübner.    M.  3,50  und  3,—. 
MaeterHnck,  M.,   Weisheit  und  Schicksal.    Deutsch  von  F.  v.  Oppeln- 

Bronilowski.    Leipzig,  Diederichs.    M.  4,50. 
Madden,  W.,  The  reaction  from  agnostic  science.    (160  S.)    Freiburg  i.  B., 

Herder.    M.  3,— . 
Os8ip-Louri4,  La  Philosophie  de  Tolstoi.    Paris,  Alcan.    Doli.  2,50. 
Ritschi,  Otto,  Nietzsches-Welt-  u.  Lebensanschauung  in  ihrer  Entstehung 

u.  Entwicklung,  dargestellt  u.  beurteilt.    2.  Aufl.    (III,  107  S.)    Frei- 
burg i.  B.,  Mohr.    M.  1,20. 


Bibliographie.  519 

Seheffler,  Herrn.,   Das  Wesen   des   Geistes.     (218  S.)     Braunschweig, 

Wagner.    M.  4, — . 
Schreiner,  Olire,   Träume.    Aus  dem  Engl,  von  Margarete  Jodl.    !^it 

e.  Einleitg.  von  Frdr.  Jodl.    2.  Aufl.    (VII,  99  S.)    Berlin,   Dümmlers 

Verlag.    M.  1,60;  geb.  M.  2,40. 
Sehwann^  Mathieii,   Sophia.    Sprossen  zu  einer  Philosophie  des  Lebens. 

(Xin,  216  S.)    Leipzig,  Naumann.    M.  4,—  ;  geb.  M.  5,50. 
TrollOy  E.,  U  misticismo  modemo.    (312  p.)    Torino.    M.  3, — . 
Tsehitsclierin,  B.,   Philosophische  Forschungen.    Aus  dem  Buss.  übers. 

Mit  e.  Vorwort  des  Verf.    (X,  536  S.)    Heidelberg,  Petters.    M.  8,—. 
Weifs,  A.  M.,  Lebensweisheit  in  der  Tasche.    7.  Aufl.    (XVUI,  504  S.) 

Preiburg  i.  'B.,  Herder.    M.  2;80. 
Werner,  0.,  Die  Menschheit.   (III,  260  S.)    Leipzig,  Haberland.    M.  3, — . 
Ziegler,  Theob«,   Glauben  und  Wissen.    Bektoratsrede    der  Universität 

Strafsburg  1899.    (31  S.)    Strafsburg,  Heitz.    M.  —,80. 

IV.    Psychologie  und  Sprachwissenschaft. 

Ament,  Wllh.,   Die  Entwicklung  von  Sprechen  und  Denken  beim  Kinde. 

Mit  5  Kurven  und  4  Kinderzeichnungen.     (VIII,   213  S.)     Leipzig, 

Wunderlich.    M.  2,40;  geb.  M.  2,80. 
BoyIo,  0.,  II  genio.   Un  capitolo  die  psicologia.   (275  p.)  Milanb.   M.  3, — . 
Flttgel,  0.,  Wille.   Langensalza,  Beyer  &  Söhne.   (16  S.)   S.  A.   M.  —,60. 
Franke,  C,   Sprachenentwicklung  der  Kinder  u.  der  Menschheit.    (Aus: 

„Encyklopäd.  Hdb.   d.  Päd.".)     (48  S.)     Langensalza,   Beyer  &  Söhne. 

M.  1,20. 
Orasserle,  B.  de  la,  De  la  psychologie  des  religions.  Paris,  Alcan.   fr.  5,—. 
Heinrieh,  W.,   Die  moderne  physiologische  Psychologie  in  Deutschland. 

Eine  histor.-krit.  Untersuchung  mit  besond.  Berücksicht.  des  Problems 

der  Aufmerksamkeit.    2.  Ausg.    (VII,  249  S.)    Zürich,  Speidel.    M.  4,—. 
James,  W.,  Talks  to  teachers  on  psychology,  and  to  students  on  some  of 

life's  Ideals.    (301  p.)    New  York,  Holt  &  Co.    Doli.  1,50. 
Llpps,  Th.,   Örundrifs  der  Psychophysik.    (Sammlung  Göschen,   Bd.  98.) 

(167  S.)    M.  —80. 
Lobslen,  Marx,   Über  den  Ursprung  der  Sprache.    (Aus:   „Zeitschr.  für 

Philos.  u.  Päd.".)    (80  S.)    Langensalza,  Beyer  &  Söhne.    M.  1,—. 
Mttnsterberg,  Hngo,   Psychology  and  life.    (286  p.)    Boston,  Houghton, 

Mifflin  &  Co.    Doli.  2,—. 
Behmke,  J»,  Trieb  und  Wille  im  menschlichen  Handeln.    (16  S.)   Langen- 
salza, Beyer  &  Söhne.    (S.  A.)    M.  0,60. 
Stampf,  E.  J«  O«,   Der  Traum  und  seine  Deutung.    (188  S.)    Leipzig, 

Mutze.    M.  4,— . 
Tttrek,   Herrn.,  Der  geniale  Mensch.    4.  Aufl.     (XI,   400  S.)     Berlin, 

Dümmlers  Verlag.    M.  4,50;  geb.  M.  5,60. 
Wasmann,  Erich,  Instinkt  und  Intelligenz  im  Tierreiche.    Ein  krit.  Bei- 
trag zur  modernen  Tierpsychologie.    2.  Aufl.    (VIII,  121  S.)    Freiburg, 

i.  B.,  Herder.    M.  1,60. 
Weber,   Das  Temperament.    (Aus  „Demokritos".)    Neue  Ausg.    Leipzig, 

Beclam.    M.  -—,20. 


520  Bibliographie. 

V.    Ethik  und  Rechtsphilosophie. 

Barth,  P.,  Welche  Beweggründe  giebt  es  zum  sittlicheD  Handeln?  (19  S.) 

Hochschul  vortrage  für  jedermann.    15.  Heft.    Leipzig,  Seele.    M.  — ,30. 
Besser,  L.,  Die  menschliche  Unsittlichkeit  als  sociales  Ergebnis  der  monist. 

Weltanschauung.    (106  S.)    Bonn,  Georgi.    M.  3, — . 
Biedermann,  Carl,   Zeit-  und  Lebensfragen  aus  dem  Gebiete  der  Moral. 

(135  S.)    Breslau,  Schles.  Buchdruckerei  etc.    M.  1,50;  geb.  M.  2,50. 
Caspar!,  Otto,   Das  Problem  über  die  Ehe!    Vom  philosophischen,  ge- 
schichtlichen und  socialen  Gesichtspunkte.    (VI,  126  S.)    Frankfurt  a.  M., 

Sauerländer.    M.  2,—. 
Egoismus,  Der.    Unter  Mitw.   von   Frau  Dr.  Lou-Andreas-Salom6,    Dr. 

W.  Bölsche  etc.    Herausg.  von  A.  Dix.    (VII,  410  S.)    Leipzig,  Freund 

u.  Wittig.    M.  8,60. 
Dubois,  J.,  Spencer  et  le  principe  de  la  morale.  Paris,  Fischbacher,  fr.  6,—. 
Uanspanl,  F.,  Die  Seelentheorie  u.  die  Gesetze  des  natürlichen  Egoismus 

u.  der  Anpassung.    (XVI,  292  S.)    Berlin,  Duncker.    M.  5, — . 
Hensinger,  Das  Geheimnis  des  Lebens  oder  die  Lehre  vom  Glück.    (36  S.) 

Leipzig,  Mutze.    M.  0,60. 
Hllty,  C,   Glück.     3.  Tl.     (HI,  283  S.)     Frauenfeld,  Huber.     M.  3,— ; 

geb.  M.  4, — . 
Kurnig,  Der  Pessimismus  der  Anderen.    (28  S.)  Leipzig,  Spohr.    M.  — ,60. 
Lintrade,  K.,   Der  Mensch   als   Welfcwesen  und  Erdenbürger.     (46  S.) 

Leipzig,  Elischer.    M.  — ,80. 
Lotze,  Herm.,  Grundzüge  der  prakt.  Philosophie.    Diktate  aus  den  Vor- 

lesgn.    3.  Aufl.    (97  S.)    Leipzig,  Hirzel.    M.  1,80. 
Lutosiawski,  Wineenty,  Über  die  Grundvoraussetzungen  u.  Konsequenzen 

der    individualistischen    Weltanschauung.      (III,   88   S.)      Helsingfors, 

Edlund.    M.  1,25. 
Mayer,  Glob.,  Die  Lehre  vom  Erlaubten  in  der  Geschichte  der  Ethik  seit 

Schleiermacher.    (VII,  70  S.)    Leipzig,  Deichert  Nachf.    M.  1,40. 
Moral  und  Leben.    Beitrag  zur  Eeligions-  und  Sittenlehre  von  einem 

Nichttheologen.    (60  S.)    Berlin,  Deubner.    M.  — ,80. 
Moral  und  persönliche  Freiheit.    Ein  Wort  zur  lex.  Heinze.    (21  S.) 

Hagen,  Eisel.    M.  0,50. 
Sciasoia,  P«,  La  psicogenesi  deir  istinto  e  della  morale  secondo  0.  Darwin. 

(190  p.)    Palermo.    M.  4,—. 
Standinger,  F.,  Ethik  u.  Politik.    (VI,  162  S.)   Berlin,  Dümmlers  Verlag. 

M.  2,40. 
Yidari,  G.,  Eosmini  e  Spencer,  Studio  espositivo-critico  di  filosofia  morale. 

(298  p.)    Milano.    M.  4,—. 

VI.    Ästhetik. 

Bornemann,  W«,  Die  Allegorie  in  Kunst,  Wissenschaft  und  Kirche. 
(55  S.)    Ereiburg  i.  B.,  Mohr.    M.  1,—. 

Broeard,  A.,  Ce  que  c'est  que  Part.    Paris,  Giard  et  Briöre.    fr.  1.—. 

Carwen,  John,  Musical  Statics.  An  attempt  to  show  the  bearing  of  the 
facts  of  acoustics  on  chords,  discords,  transitions,  modulations,  and  tuning, 
as  used  by  modern  musicians.  New.  ed.  (120  p.)  London,  Curwen.  3  sh.  6  d. 


4 

J 


Bibliographie.  521 

Hansliek,  Ed.,  Am  Ende  des  Jahrhunderts.  (1896 — 1899.)  (Der  „Modernen 
Oper"  Vm.  Teil.)  Musikalische  Kritiken  und  Schilderungen.  (VI,  452  S.) 
Berlin,  Verein  für  deutsche  Litt«ratur.    M.  6,—  ;  geb.  M.  7,60. 

Hayard,  H»,  Historie  et  Philosophie  des  styles.    Paris,  Schmid.    fr.  120, — . 

Jadassohn,  S«,  Das  Wesen  der  Melodie  in  der  Tonkunst.  (IV,  99  S.) 
Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel.    M.  2, — ;  geb.  M.  3,—. 

Llohtenbergrer,  Henri,  Bichard  Wagner,  der  Dichter  und  Denker.  Ein 
Handbuch  seines  Lebens  und  Schaffens.  Übers,  von  Frdr.  v.  Oppeln- 
Bronikowski.    (III,  571  S.)    Dresden,  Beifsner.    M.  9, — ;  geb.  M.  10, — . 

Ifaumann,  Gnst»,  Geschlecht  und  Kunst.  Prolegomena  zu  einer  physiolog. 
Ästhetik.    (V,  193  S.)    Leipzig,  Haessel.    M.  3, — ;  geb.  M.  4, — . 

Fortig,  A.,  Bichard  Wagner's  Musik-Dramen.  Ihre  Aufführ,  in  Bayreuth 
u.  ihr  Verhältnis  zum  Christentum.    (46  S.)    Bremen,  Halem.    M.  — ,80. 

Schamaelier,  Fritz,  Über  Kunst  der  Neuzeit.  1.  Heft.  Im  Kampfe  um 
die  Kunst,  Beiträge  zu  architekton.  Zeitfragen.  (144  S.)  Strafsburg, 
Heitz.    M.  2,—. 

VIL  Philosophie  der  Gesellschaft  und  der  Geschichte. 

Blackmann,  W.  F.,  The  making  of  Hawaii:  A  study  of  social  eyolution. 

London,  Macmillan.     7  sh.  6  d. 
Bosanqnet,  Bemard,  The  philosophical  theory  of  the   state.    (342  p.) 

New  York,  Macmillan  Co.    Doli.  3,50. 
Ciare,  Israel  Smith,  Library  of  universal  history :  containing  a  record  of 

the  human  race  from  the  earliest  historical  period  to  the  present  time. 

In  8  vols.    V.  1.    Ancient  oriental  nations.    New  York,  Peale  &  Hill. 

for  complete  work  Doli.  40, — . 
Dawson,  W.  H.,  German  socialism  and  Ferdinand  Lassalle :  a  biographical 

history  of  German  socialistic  movements  during  this  Century.    (300  p.) 

New  York,  Scribner's  Sons.    Doli.  1, — . 
Elchtlial,  £•  d',  Socialisme  et  problems  sociaux.    Paris,  Alcan.    fr.  2,50. 
Oroppali,  A«,  Saggi  di  sociologia.    (173  p.)    M.  4,-— 
Lassalle's,  Ferd«,   Gesamtwerke.    Herausgeg.  von  Erich  Blum.    1.  Bd. 

Politische  Reden  und  Schriften.    (VII,  583  S.)    Leipzig,  Pfau.    M.  3,—  ; 

geb.  M.  4, — . 
Lensse,  Comte  P.  de,  Etüde  d'histoire  ethnique.    2  Tomes.    StraTsburg, 

Noiriel.    M.  12,—. 
Malian,  A«  F.,  L'Influence  de  la  puissance  maritime  dans  Thistoire.    Paris, 

May.    fr.  10,—. 
Masaryk,  Tli.  G«,  Die  philosophischen  und  sociologischen  Grundlagen  des 

Marxismus.    Studien  zur  socialen  Frage  (XV,  600  S.)    Wien,  Konegen. 

M.  12,—. 
Nordau,  Max,  Die  conventionellen  Lügen  der  Eulturmenschheit.    17.  Aufl. 

(VIII,  350  S.)    Leipzig,  Elischer  Nachf.    M.  4,—;  geb.  M.  5,—. 
Batzel,  Frdr.,  Antropogeographie.    1.  Teil.    Grundzüge  der  Anwendung 

der  Erdkunde  auf  die  Geschichte.    2.  Aufl.    (XVIII,  604  S  )    Stuttgart, 

Engelhom.    M.  14, — . 
Schwendimann,  Joh«,  Der  Pulsschlag  der  Neuzeit.    Eine  kulturhistor. 

socialethische  Charakteristik.  (VIII,  219  S.)  Luzem,  Bäber  &  Co.  M.  2,40. 


522  Bibliographie. 

Slonimgki,  Lndw»,  Versuch  einer  Kritik  der  Karl  Marx'schen  ökonomischen 
Theorieen.  Aus  dem  Kuss.  von  Max  Schaprio.  (IV,  203  S.)  Berlin, 
Rade.    M.  2,50. 

Stein,  Lndw«,  Die  Philosophie  des  Friedens.  (46  S.)  Berlin,  Paetel.  M.  — ,60. 

Tarde,  G.,  Les  transformations  du  pouvoir.    Paris,  Alcan.    fr.  6, — . 

Weltmann,  L.,  Der  historische  Materialismus.  (430  S.)  Düsseldorf, 
Michels.    M.  4,50. 

VIII.    Religionsphilosophie  und  Theosophie. 

Beiire ,    Spiritisten,    Okkultisten,    Mystiker    und   Theosophen.     (85    S.) 

2.  (Titel)  Aufl.    Leipzig,  Dieter.    M.  1,50. 
Beiträge  zur  Grenzwissenschaft.    Ihrem  Ehrenpräsidenten  Carl  Freiherr 

du  Prel  gewidmet  von  der  „Gesellschaft  für  wissenschaftl.  Psychologie" 

in  München.    Mit  einem  Bildnis  Carl  du  Prel's.    (XI,  163  S.)    Jena, 

Costenohle.    M.  5,—. 
Besant,  A.,  Die  7  Principien  oder  Grundteile  des  Menschen  (Bibliothek 

esoterischer  Schriften  VI).    Neue  (Titel)  Ausg.    (VIII,  160  S.)    Leipzig, 

Friedrich.    M.  1,—. 
Blayatsky^  H,  P.,  Kurzgefafster  Grundrifs  der  Geheimlehre.    (VII,  190  S.) 

Leipzig,  Friedrich.    M.  3, — . 
Bleibtrea,  Karl,  Von  Eobespierre  zu  Buddha.    (III,  301  S.)    Leipzig, 

Friedrich.    M.  5,—  ;  geh.  M.  6, — . 
Bodhabhiksha,  Bramaeharlan,  Die  Geheim-Philosophie  der  Indier.    (VII, 

136  S.  mit  Bildnis.)    Leipzig,  Friedrich.    M.  2,—. 
Bttcherei,  metaptaysisehe,  Kritische  Bibliographie  aller  Länder  über  die 

Neuigkeiten  der  Philosophie,  Metaphysik,  Psychologie  und  den  Okkul- 
tismus.   Herausgeg.  von  Paul  Zillmann.    1.  Bd.  6  Hefte.    (1.  Heft  16  S.) 

Zehlendorf,  Zillmann.    M.  3, — . 
Carus,  Paul,  Buddhism  and  its  Christian  critics.    (316  p.)    Chicago,  The 

Open  Court  Publ.  Co.    Doli.  1,25. 
DuDkmann,   Karl,    Das   Problem   der  Freiheit   in    der   gegenwärtigen 

Philosophie   und   das   Postulat   der   Theologie.     (VIII,  92  S.)     Halle, 

Niemeyer.    M.  2, — . 
Dworzeckl-Bohdaiiowlcz,  B.,   Flueros,   eine  Vision.      (24  S.)     Braun- 
schweig, Settier.    M.  — ,80. 
Fischer,  B»,  Grundzüge  der  Philosophie  und  der  Theosophie.   (VIII,  220  S.) 

Leipzig,  Schäfer.    M.  4,50. 
Oeyser,  Jos.,   Das  philosophische  Gottesproblem   in   seinen  wichtigsten 

Auffassungen.    (VEH,  291  S.)    Bonn,  Hannstein.    M.  3,80. 
Grasserie,  B.  de  la,  Les  religions  compar^es  au  point  de  yue  sociologique. 

Paris,  Giard  et  Briere.    fr.  7, — . 
Hartmann,  Frz.,  Populäre  Vorträge  über  Geheimwissenschaft.    (122  S.) 

Leipzig,  Friedrich.    M.  1,80. 
Lafsberg-Lanzberg,  G.  y«,  Der  Weltorganismus.    Begründung  einer  auf 

astrophys.  Gesetzen  beruhenden  Vemunftreligion.    (III,  76  S.)    Leipzig, 

Haacke.    M.  2, — . 
Leben,  das,  jenseits   des  Grabes.    Von   einem   Geiste  geschildert.    Aus 

dem  Englischen  yon  K.  Friese.    (281  S.)    Leipzig,  Mutze.    M.  3, — . 


Bibliographie.  523 

MolinoS)  M.,  Der  geistliche  Führer,  gedruckt  im  Jahre  1699.  Aus  dem 
Englischen  von  G.  Priem.    (134  S.)    Leipzig,  Friedrich.    M.  2,—. 

Pape,  Geo»,  Lotze's  religiöse  Weltanschauung.  (94  S.)  Berlin,  Skopnik, 
M.  1,50. 

Prel,  C.  du,  Der  Tod,  das  Jenseits.   (119  S.)   München,  Mühlthaler.   M.  2,70. 

—  Die  Magie  als  Naturwissenschaft.  2.  Teil.  Die  magische  Psychologie. 
(VII,  340  S.)    Jena,  Costenoble.    M.  10,—. 

Belch,  Ed.,  Physiologie  des  Magischen.    (XIII,  354  S.)    2.  (Titel)  Aufl. 

Leipzig,  Dieter.    M.  10, — . 
Seheiehl,  Frz«,  Der  Buddhismus  und  die  Duldung.    Eine  Studie.    (32  S.) 

Linz,  Mareis.    M.  — ,80. 
Stentzel,  Arth.,  Weltschöpfung,  Sintflut  und  Gott.    Die  Überlieferungen 

auf  Grund  der  Naturwissenschaft.    2.  Aufl.    Mit  3  Taf.    (VII,  183  S.) 

Leipzig,  Dieter.    M.  4,50. 
Tolstoi,  Graf  Leo,  Die  christliche  Lehre.    Vom  Verf.  rev.,  deutsche  Ausg. 

Hrsg.  von  Eug.  Heinr.  Schmitt.     (165  S.)    Berlin,  Steinitz.    M.  2, — . 
Waagen,  Wilh.,  Das  Schöpfungsproblem.    [Aus:  „Natur  und  Offenbarung".] 

2.  Aufl.    (36  S.)    Münster,  Aschendorff.    M.  —,75. 
WoUny,  F.,  Das  dunkle  Phänomengebiet  der  Magie.     (18  S.)    Leipzig, 

Mutze.    M.  —,40. 

—  Die  Irrwege  der  Gegenwart.    (26  S.)    Leipzig,  Mutze.    M.  — ,60. 

—  Die  Stubenweisen  unserer  Zeit.    Aus  dem  Kussischen.    (21  S.)    M.  — ,30. 

—  Zukunftsphantasie  von  ehedem  und  heute.    (29  S.)    M.  —,60. 


IX.    Naturphilosophie. 

ATeling,  Edward,  Die  Darwin'sche  Theorie.    4.  Aufl.    (VI,  272  S.,  mit 

14  Fig.  und  1  Bildnis.)    Stuttgart,  Dietz  Nachf.    M.  1,50;  geb.  M.  2,—. 
Haeckel,  E.,  Die  Welträtsel.    (473  S.)    Bonn,  E.  Straufs.    M.  8,—. 
Jahr,   E.,   Die  ürkraft  oder  Gravitation,   Licht,  Wärme,  Magnetismus, 

Elektricität,  ehem.  Kraft  etc.  sind  sekundäre  Erscheingn.  der  ürkraft 

der  Welt.    (VI,  12  S.,  mit  7  Abbildgn.)    Berlin,  Enslin.    M.  2,—. 
K5rber,  F.,  K.  F.  Zöllner.    (123  S.)    (Sammlung  popul.  Sehr.  53)    Berlin, 

Paetel.    M.  2,90. 
Sauber,  A.,  Die  Medea  des  Euripides  im  Lichte  biologischer  Forschung. 

Mit  12  erläut.  Textfig.    (110  Fig.)    Leipzig,  Georgi.    M.  2,—. 
TyndaU,  John,  Fragmente  aus  den  Naturwissenschaften.     Vorlesungen 

und  Aufsätze.    2.  deutsche  Ausg.    Nach  der  8.  Aufl.  d.  engl.  Originals 

übers,   von  A.  v.  Helmholtz  und  E.  Du  Bois-Reymond.     (In  2  Bdn.) 

2.  Bd.     (V,  522  S.)     Braunschweig,  Vieweg  u.  Sohn.     M.  8,—;  geb. 

M.  9,50. 
ITagner,  Adf.,  Studien  und  Skizzen  aus  Naturwissenschaft  u.  Philosophie. 

II.  Zum  Problem  der  Willensfreiheit.     (61  S.)     Berlin,  Bomtraeger. 

Kart.  M.  1, — . 
Zehnder,  Lndw«,  Die  Entstehung  des  Lebens.    Aus  mechan.  Grundlagen 

entwickelt.     1.  Tl.  Moneren.     Zellen.     Protisten.    (VIII,  256  S.,  mit 

123  Abbildgn.)    Freiburg  i.  B.,  Mohr.    M.  6,-. 


524  Bibliographie. 

X.    Allgemeine  Pädagogik. 

Amieis,  £  de,  Herz.    Ein  Buch  für  die  Jugend.    Deutsch  von  B.  Müller. 

Basel,  Geering.    M.  2,80. 
Barnett,  P*  A»,  Common  sense  in  education  and  teaching:  an  introduction 

to  practice.    (321  p.)    New  York,  Longmans,  Green  &  Co.    Doli.  1,50. 
Dntton,  S.  T.,  Social  phases  of  education  in  the  school  and  the  home. 

(259  p.)    New  York,  Macmillan  Co.    5  sh. 
Kooistra,  L,  Sittliche  Erziehung.    Aus  dem  Niederländ.  nach  der  3.  Aufl. 

übers,  von  Ed.  Müller.    (VI,  100  S.)    Leipzig,  Wunderlich.    Mk.  1,60; 

geb.  2, — . 
Penzig,  Bad.,  Ernste  Antworten  auf  Einderfragen.    Ausgewählte  Kapitel 

aus   einer  prakt.  Pädagogik  fürs  Haus.     2.  Aufl.     (271  S.)     Berlin, 

Dümmlers  Verlag.    M.  2,80;  geb.  3,60. 


Druck  Ton  Friedrich  Stollberg  in  Henebnrg. 


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XXIII.  Jahrgang. 


IV.  Heft. 


Vierteljahrssehrift 


für 


wissenschaftliche  Philosophie 

gegründet  von 

Richard  Avenarius, 

in  Verbindung  mit 

Ernst  Mach  und  Alois  Riehl 

herausgegeben 

von  ' 

Paul  Barth. 


Inhalt: 


Eugen  Posch:  Ausgangspunkte  zu 
einer  Theorie  der  Zeitvorstellung. 
Vierter  Artikel. 

August  Dunges:  Die  Zelle  als  Indi- 
viduum. 

A.  Vierkandt :  Bemerkungen  zur  Frage 
des  sittlichen  Fortschritts  der 
Menschheit. 

Besprechungen  von: 

Heinrich,  Zur  Prinzipienfrage  derPsyclio- 

logie. 
Braunsehweiger,  Die  Lehre  von  der  Auf- 
-  merksamkeit  in  der  Psychologie  des 

18.  Jahrhunderts. 


Gutberiet,  Der  Kampf  um  die  Seele. 

Zehnder,  Die  Entstehung  des  Lebens. 

Speiticer  and   Oillen,   The  Natlve  Tribes 
of  Central  Australia, 

Liehmann,  Gedanken  und  Thatsachen. 

Desdouits,  La  Responsablllte  Morale. 

Fulliquet,  Essai  sur  l'Obligation  Morale. 

Naville,  Le  Libre  Arbitre. 

Boutroiix,  Etudes  d'Histoire  de  la  Philo- 
sophie. 

Kronenberg,  Moderne  Philosophen. 

Grzymiach,    Spinozas    Lehren   von 
Ewigkeit  und  Unsterblichkeit. 

Philosophische  Zeitschriften. 

Bibliographie. 


der 


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Leipzig. 

O.  R.  Reisland. 
1899. 


Ausofeüfeben  am  11.  November  1899. 


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Hierzu  als  Extraheft  (gegen  Berechnung):  Willy,  Krisls  in  der  Psychologie, 

s.  a.  S.  3  des  Umschlags. 


Bei  der  Redaktion  sind  eingegangen: 

AcheliSy  Th.,  Sociologie.    Leipzig,  G.  J.  Göschen.    (148  S.) 

AlbertSy   0«,    Aristotelische   Philosophie   in   der   türkischen   Litteratur   des 

11.  Jahrhunderts.    Halle  a.  S.,  C.  A.  Kämmerer  &  Co.    (20  S.) 
Amlirosi,  L,,   Che  cos'  e  la  Materia?    Roma,    Corso  angolo  del  Caravita,  6. 

(VII,  79  S.) 

—  La  Filosofia,  nel  gran  ciclo  delle  produzioni  umane.  Roma,  Corso  ang'olo 
del  Caravita,  6.    (30  S.) 

—  Libertä  o  necessitä,  nelP  azione  umana.  Roma,  Corso  angolo  del  Caravita, 
6.    (30  S.) 

£isler,  R«,  Wörterbuch  der  philosophischen  Begriffe  und  Ausdrücke.  Berlin, 
Ernst  S.  Mittler  &  Sohn.  Dritte,  Vierte  u.  fünfte  Lieferung.  (S.  193—288, 
289-384,  385-480.) 

Eck,  S.,  David  Friedrich  Straufs.    Stuttgart,  J.  G.  Cotta.    (VIII,  278  S.) 
Gneifse,  K.,  Deduktion  und  Induktion.    Eine  Begriffsbestimmung.  Strafsburg, 

Heitz  &  Mündel.    (39  S.) 
Kant,  Kritik  der  reinen  Vernunft.  Herausg.  von  K.  Vorländer.    Halle,  Hendel. 

(XLVIII,  839  S.) 
Kefsler,  B«,  Eine  Philosophie  für  das  XX.  Jahrhundert.    Berlin  NW.,  Conrad 

Skopnik.    (274  S.) 

Lipps,  G.  F.,  Grundrifs  der  Psychophysik.    Leipzig,  G.  J.  Göschen.    (167  S.) 

Masaryk,  Th.  6.,  Die  philosophischen  und  sociologischen  Grundlagen  des 
Marxismus.    Wien,  Carl  Konegen.    (XV,  600  S.) 

Nilsen,  M.,  Zur  Religion.  Ein  Wort  zur  Verständigung  an  die  Gebildeten, 
unter  ihren  Verehrern  und  Verächtern.  Stuttgart  u.  Hamburg,  Wilh.  Digel. 
(42  S.) 

Ormond,  A.  T.  (Princeton  Contributions  to  Philosophy),  The  History  of  the 
Principle  of  Sufficient  Reason :  Its  Metaphysical  and  Logical  Formulations. 


Prenfs,  W.  U.,   Geist  und  Stoff.    Erläuterungen  des  Verhältnisses  zwischen 
Welt  und  Mensch.     Oldenburg,  Schulze.     (IV,  302  S.) 

Rappaport,  S.,  Spinoza  und  Schopenhauer.    Eine  kritisch-historische  Unter- 
suchung.    Berlin,  R.  Gärtner.    (148  S.) 
Shinn,  W.    (University  of  California  Studies),  Notes  on  the  Development  of 

a   Child.     Parts   III    and   IV.      Berkele}^,   published  by   the   University. 

(S.  180—424.) 
Siegel,  C,  Entwicklung  der  Raumvorstellung  des  menschlichen  Bewufstseins, 

Leipzig  u.  Wien,  Deuticke.    (IV,  52  S.) 
Tienes,  A.,   Nietzsches  Stellung  zu   den  Grundfragen   der  Ethik   genetisch 

dargestellt.    (Bemer  Studien   zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.    Bd. 

XVII.    Heransg.  von  Dr.  L.  Stein.)    Bern,  C.  Sturzenegger.    (50  S.) 
Tschitscherin,  B.,   Philosophische  Forschungen.    Heidelberg,   Otto  Petters. 

(X,  536  S.) 

Ziegler,   Th.,    Glauben   und   Wissen.       Rektoratsrede.      Strafsburg,    Heitz 

&  Müudel.     (31  S.) 

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Princeton,  University.     (88  S.)  i 


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Adresse  der  Redaktion: 

Dr.  Paul  Barth,  a.  o.  Professor  an  der  Universität, 

Leipzig,  Grassistrafse  25^- 


Es  wird  gebeten,  alle  Buchsendungen,  die  für  die  Redaktion 
bestimmt  sind,  ausschliefslich  durch  Vermittlung  der  Verlags- 
buchhandlung O.  R.  Reisland,  Leipzig,  Hospitalstrafse  10,  ein- 
senden zu  wollen. 

Manuskriptsendungen  werden  nach  vorhergegangener  An- 
frage an  die  Redaktion  erbeten,  und  zwar  spätestens  acht  Wochen 
vor  Erscheinen  desjenigen  Heftes,  für  welches  sie  bestimmt  sind. 


Die    „Vierteljahrsschrift   für   wissei^schaftliche  Philosophie"    erscheint 
im  Januar,  April,  Juli  und  Oktober. 

Preis  des  Jahrgangs  von  mindestens  32  Bogen  M.  12. — . 
Einzelhefte  M.  4. — .    (Hierdurch  werden  frühere  Preisangaben  für  den  Bezug 

von  Einzelhefteh  aufgehoben.) 
Anzeigen,  im  Preis  von  20  Pf.   die  durchlaufende  Petitzeiie  Raum, 
werden  durch  die  Verlagsbuchhandlung  und  die  Annoncen-Expeditionen  an- 
genommen.   Beilagen  je  M.  12. — . 


An  die  Abonnenten! 

Soeben  erschien: 

Die  Krisis 
in  der  Psychologie 

von 

Rudolf  Wüly. 

Xri  u.  253  S.    Gr.  8^    Br.  M.  5,—. 

Nachdem  die  Abnehmer  der  „Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche 
Philosophie"  einen,  wenn  auch  kleinen  Teil  des  Buches  bereits  in  dieser 
(zuletzt  Vierteljahrsschrift  XXI,  3)  erhalten  haben,  liefere  ich  an  dieselben 
das  vollständige  Werk 

als  Extraheft 

zur  „Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie" 
zu/m  Preise  von  M.  5,60. 

Leipzig*,  November  1899. 

O.  R.  Reisland. 


!Für  Interessenten! 

««-^«    PHILOSOPHIE.   "IShS" 

Auf  Verlangen  gratis  und  franko, 

Jakob  Dirnboecks  Buchhandlung  &  Antiquariat  (Ed.  Beyer), 

Wien  I,  Herrengasse  12. 


Verlag  von  0.  R.  Reisland,  Leipzig. 


Die 

köriKrMen 

von  Dr.  Alfred  Lehmann, 

Direktor  des  psychophysischen  Laboratoriums  au  der  Universität  Kopenhagen. 

Übersetzt  von  F.  Bendixen. 

Erster  Teil:  Plethysmo^aphisehe  llntersuehnngen.    Text. 

1899.    Gr. -80.    XIV  und  218  S. 

Nebst  einem  Atlas  von  68  in  Zink  geätzten  Tafeln. 

Preis  des  kompletten  Werkes  M.  20, — .    Der  Text  apart  kostet  M.  6, — , 

der  Atlas  M,  14,—. 


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Verlag  von  Carl  Konegen  in  Wien. 

Socrates. 

Nach   den  Überlieferungen   seiner 

Schule  dargestellt 

von 

Richard  Kralik. 

1899,     Kl.-8<>.     XXIV,  617  Seiten. 
Preis  M.  7,50;  geh,  M.  9—, 

Inhalt: 

Vorrede.   —   Quellen.    —   Biographie  des  Socrates  469 — 399 
V.  Chr.    —   Die  socratische  Schule. 

Durch  alle  Buchhandlungen  zu  beziehen. 


Druck  von  Fri»;diit*h  Stollberg  in  Merseburg 


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