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Vierteljahrsschrift
für
gerichtliche nnd Öffentliche
Medicin.^
Unter Mitwirkung
der
Königlichen wissenschaftlichen Deputation
für das Medicinalwesen im Ministerium der geistlichen, Unter
richts- und Medicinal- Angelegenheiten
herausgegeben
TOB
Johann liudwigr €asper.
Zweliindiwansigster Band.
Berlin, 1862.
Verlag ▼•■ Aagast lirsckwaMi
UBt«r d«a LlndM No* 68.
Inhalt
SeiU
1. Hexenwahn. Ober-Gatachten der medicinischen Faeul-
tät in BerÜD. Erster Referent: Gasper 1
2. Vergiftung mit weissem Arsenik. Vom Dr. Dorien zu Lyck.
Mit einem Gutachten des KönigL Medicinal -Coilegii
für die Provinz Prenssen 16
3. Die Stellung nnd Wirksamkeit der Sachverständigen im Straf-
verfahren. Vom Kreis-Physicos Dr. Walt her in Labiau. . 48
4. Angeborner Mangel der Gebärmutter. Vom Dr. Lissner in
Pleschen 79
5. Die Sterblichkeit der Kinder im ersten Leben^ahre in Stettin.
Vom Kreis-Wundarzt Dr. HermannWasserfuhr in Stettin 88
6. Superarbitrium über die Zurechnungsfähigkeit des wegen
vorsätzlicher Brandstiftung detinirten taubstummen W.
Franke aus Harzgerode. Vom Regierungs- und Medicinal-
Rathe Dr. Behr in Bernburg 136
7. Die Ueberfruchtung gerichtlich- medicinisch betrachtet. Vom
Stabs- und Bataillons-Arzt Dr. Seydeler in Luxemburg . 144
8. Drei Schwurgerichtsfälle. 1. unerhörte Verletzung der weib-
lichen Genitalien. Zeugungs -Unfähigkeit? — 2. Vierfacher
Verwandtenmord. Zurechnungsfähigkeit? — 3. Nothzucht im
Schlafe. Vom Ober-Stabs- und Regiments-Arzt Dr. Mets ch
in Torgau 165
9. Tod durch Ertränken nach vorausgegangener Einverleibung
grosser Gaben Arsenik. — Experimente an Thieren. Vom
Kreis-Physicus Dr. Walther in Labiau 185
10. Ueber Vergiftung durch giftige Püze. Vom Dr. Roquette
zu Rheden 199
11. Luftblasen im Blute eines Erhängten. Vom Dr. Iwersen,
auf der Insel Pellworm in Schleswig 226
12. Zur Vergiftung durch Terpentindunst. (Terpentinanstrich.)
Vom Dr. L. W. Liersch in Gottbus 232
13. Beiträge zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Fälle, wo
absichtliehe Entziehung von Nahrungsmitteln den Tod zur
Folge hatte. Vom Dr. Wagner, Kreis-Wundarzt in Torgau 247
14. Zur Reform der preussischen Medicinal-Taxe von 1815. Vom
Dr. Dvrenfurth in Crossen 264
15. Unheilbare Luxation. Aerztlicher Kunstfehler. Gerichtsärzt-
liches Gutachten. Mitgetheilt vom KönigL Bezirks- und Ge-
richtsarzt Dr. KönigadOrfer, in Oschatz im Königreich
Sachsen 274
16. Einige Bemerkungen, betreffend die Geisteskrankheiten der
Gefangenen. Vom Kreis-Physicus, Sanltätsrath Dr. Moriz,
Strafanstalts-Arzt in Graudenz 297
S«ite
17. Gerichtsärztliche Mittheilungen. Vom Prof. Dr. Maschka
in Prag.
1. Kopfverietaang. — Hydrocephalu» aeutu*. — Nicht bestimmt naeh-
weiabarer Zosammenhaog. — Schwere Verietsang 319
S. Im Walde aafgefandene Leiche. — Straogfurche am Halae. — Bestim-
mung der Todesart SSO
3. Zeichen des Stickflusses bei einer im Bette todt vorgefundenen, mit
Epilepsie behaftet gewesenen Person. — Gewaltsame oder naturliche
Todesartr 397
18. Ob Kindermord oder MordV Nebst einigen Bemerkungen
zum Regulativ. Mitgetheilt vom Kreis-Wundarzt Dr. Fr a e n -
kel zu Neustadt O./S : 338
19. War der Bauer W. b«i der am 18. März 18ßl abgeschlos-
senen Punctation, den Verkauf seines Bauergntes betreffend,
dispositionsföhig? Vom Dr. Pincus in Glogau 348
20. Vermischtes :
Begriff des Unternehmens einer Hellung. Behandlung von Kranken
durch conoessionirte Besitzer einer Wasser • Heilanstalt ausserhalb
derselben ohne sonstige ärztliche Approbation. (§. 199. des Straf-
gesetcbuehs.) 174
21. Amtliche Verfügungen:
betreffisnd die Anwendbarkeit der f&r den Uilxbrand bestehenden
gesetzlichen Bestimmungen auf die Blatseuohe der
Schaafe 176
den Handel m<t ehlrurgisehen Instrumenten und Ban-
dagen 180
den HandTcrkanf von Bandwurmmitteln durch die
Apotheker 189
das Reinigen ftbersehwemmt gewesener Wohnungen Tor
deren Wiederbeziehen 189
Qebtthren der Apotheker för Herstellung von erforder-
lichen Keagentien bei den ihnen fibertragenen gericht-
lich-chemischen Untersuchungen 360
die Anwendung der Taxe der Gteburtshelfer Seitens
der Hebammen .^61
die Curen mittelst des elektrischen Inductions- Ap-
parats 361
die Kosten fiir Untersuchung der ersten FäUe anstek-
kender. Krankheiten 369
die halbj&hrlichen r»p. rierte^ihrlichen Berichte der
Yeterlnair-Beamten 363
die Verordnung ron Arzeneien und den Gebrauch von
ArzeneigefSssen für aus Öffentlichen Mitteln behandelte
Kranke 363
denselben Gegenstand 364
bleihaltiges Email gnsseisemer Kochgeschirre . . . 365
die Blutseuche (Blutstaupe u. s. w.) der Schaafe . . 365
22. Kritischer Anzeiger 367
Th. Husemann nnd A. Husemann, Handbuch der Toxicolo-
gie. — Lfibstorff, Beitrage zur Kenntniss des Gesundbeitzn-
standes der Stadt Lfibeck. — Q. Tour des, De Vetueignement
de la midecine legale ä la faeulti de medecine de ßtrcusbourg,
— Brosius, Psychiatrische Abhandlungen. — Spengler und
Löschner, Archiv für Balneologie. I. Bd. 1. Heft. — A. Tar-
dieu, Etüde* mSdico- legale* »ur lea attentate aux moeura,
4. 4d. — M. VernoiSf De la main de* ouvrier» et de» arti-
»an* au point de tue de VHygiine et de la midecine Ugaie. —
Hoffert, Ueber Noth- und Hausapotheken preussischer Aerste.
— Brandes, Der Idiotismus und die Idioten -Anstalten» mit
Rfleksicht auif die Verhältnisse im Königreich Hannover. —
P. Betti, Studi di medicina pubblica. — J. M alr, Juristisch-
medidatseher Commentar der neuen bayersöhen« preussisohen
nnd Österreichischen Strafgesetsgebung. — A. 8. Taylor, Die
Gifte in gerichtUch-medicinischer Beziehung.
1.
Hexenwahn.
Ober- Gutachten der medicinischen Facaltät in Berlin.
Erster Referent> Caii|ier*
GescliichtserzäUiug
des Falles. Am 6. November 1860 wurde die Wittwe S.
im Hause des Aageschuldigten mit unzweifelhaften Spuren
einer gewaltsamen T5dtung entseelt aufgefunden. Der Ver-
dacht einer absichtlichen Tödtung lenkte sich sogleich auf
die angeschuldigten Eheleute, namentlich auf den Ehemann,
den 45 Jahre alten Zimmermann N,^ der auch alsbald im
ersten gerichtlichen Verhör nach seiner, noch weiter zu be-
leuchtenden Art und Weise, ein halbes Geständniss seiner
Thätersohaft ablegte. Er sei, deponirte er, durch die unaus-
gesetzten Zauberkünste der Wittwe &, krank gemacht worden,
habe ganz furchterHch aushalten müssen, Stiche im Herzen
gehabt und sei taumlich und ohnmächtig geworden. Die
Aerzte hätten ihm gesagt, sein Blut sei durch die Sympa-
thieen der & ganz yerdorben und in Schaum verwandelt.
Nachdem er durch Sympathie geheilt worden, habe die &.
aus ihrer gegenüberliegenden Wohnung ihn immer starr an-
gesebn und darauf sei er wieder krank geworden. Er habe
Heine Frau dann veranlasst, beim Gericht Hfilfe gegen die
CiUf^t VjBchrft. f. ger. Med. XXU. 1. i
2 Hexenwahn.
bösen Künste der S. nachznsachen, dies sei aber nicht ge-
lungen, und nun sei es ihm klar geworden, dass er nicht
Ruhe bekommen werde, als bis die S, ans der Welt wäre^
wobei es ihm jedoch nieht einge&Ilen, dass er sie aus der
Welt schaffen wolle. Kurze Zeit vor der That sei ihm wie-
der so schlimm geworden, dass er sein Ende nahe geglaubt,
' weshalb er seine Frau beauftragte, der £>., um sie zu ver-
söhnen und damit sie von ihren Zaubereien ablasse, einen
Korb mit Aepfeln anzubieten. Zwei Tage später besuchte
ihn die S. Im Gespräche mit ihr habe er plötzlidi wieder
seine Schmerzen in der Herzgegend und den Schwindel im
höchsten Grade wieder bekommen. In der Aufregung und
höchsten Gereiztheit sei er ihr, nachdem sie sich ans dem
Zimmer entfernt, nachgegangen, und habe sie „in seiner
Wuth nicht sachte bei der Kehle gepackt und hingeworfen^.
Wir bemerken hier, dass die Sachverständigen an der Leiche
der S. Erwurgungsspnren und als Todesursache einen Bruch
„zwischen dem 5ten und 6ten Halswirbel^ aufgefunden
haben.
Gans anders äussert sich der Angeschuldigte im xwei-
ten Verhör vom ISten ej. Am Tage vor dem Tode der &,
deponirt er^ habe er gegen seine Frau geäussert, es werde
ihm nichts Anderes übrig bleiben, wenn ihm noch geholfen
werden sollte, als der S. das Leben zu nehmen, was ihm
seine Frau ausgeredet Am folgenden Tage seien seine
Schmerzen wieder so aig geworden, dass seine Frau die
8. geholt habe, um Versuche zu machen, ihren bösen Wil-^
len zu beschwichtigen. Er schilderte nun, abweichend von
seiner frühem Deposition, dass bei der Unterredung mit der
& über ihre Zauberkünste und ihren frühem gegen ihn ver-
übten Diebstahl ihn „die Wuth er&sst'^, und er sie an den
Schultern gefasst und unter Schüttdn zur Rede gestellt
habe, nicht aber habe er sie am Halse geJEUsst und die
%.
Treppe hiauntergeworfen, vielmehr sei es seine Ehefrau ge-
wesen, welche die S. im Hausflur erwürgt, ihr den Hals
abgedreht und sie dann die Treppe hinuntergeworfen habe,
damit sie sagen könne, dass der Fall von der Treppe die
S. getödtet habe. Am 24. December erklärt Inculpat wie-
der, er habe die S. umgebracht, sie erwürgt und hingewor-
fen, nimmt aber schon an demselben Tage dies Geständniss
wieder zurück, mit der Aeusserung, dass er am Gehirn
leide. Alsbald aber räumt er nach gehörigem Vorhalt die
Thäterschaft wieder ein, während er drei Tage später wie-
der Alles zurücknimmt, immer aber die Angaben von den
Zauberkünsten der 8. festhaltend. Ein gleiches Verfahren
hat N. fortgesetzt und bis zum jetzigen Stadium der Unter-
suchung in den ungemein zahlreichen Verhören beobachtet.
Es würde überflüssig sein, dies durch alle diese Verhöre
hier zu verfolgen, und wollen wir als characteristisch nur
hervorheben, dass es vorgekommen, dass er in einem und
demselben Verhör bekannt, widerrufen und abermals be-
kannt und widerrufen hat. Auf Vorhalten dieses ganz un-
gewöhnlichen Benehmens bezog er sich wiederholt auf sei-
nen „Gram, Schmerzen, Empfindungen und Angst^ als Ent-
schuldigung und Entlastung. Dem entsprechend ist auch
ein anderes Geständniss, dahin gehend, dass er die von ihm
begangene That nicht als ein strafbares Verbrechen be^
trachtet habe; er sei nur seines Lebens vor den Zauber-
künsten nicht sicher gewesen und habe sich schützen müs-
sen. Doch hat er später eingeräumt, dass er nach der That
gewusst, dass dieselbe bestraft werden könne, und wieder-
holt gegen seine Frau den Wunsch ausgesprochen, dass die
That ungeschehen geblieben sein möchte.
Was den körperlichen und den Gemüthszustand des
Angeschuldigten betriflt, so liegen darüber zahlreiche De-
poBitionen in den Acten vor. Der Untersuchungsrichter
4 Herenwahn.
registrirt, dasfi von demselben in allen Verhören zusammen-
h&ngende Antworten nicht zu erlangen gewesen, dass er
diese Antworten stets nur halb murmelnd abgegeben habe,
und dass er hin und her spreche. Nachdem er schon zehn
Wochen in EsSt gewesen, erkUlrte N., die Zauberkünste der
S, seien immer noch nicht zu Ende und wahrscheinlich übe
sie jetzt nach ihrem Tode Jemand aus ihrer Familie aus,
weshalb er auch immer Amulette an sich trage — derglei-
chen wirklich später Eines bei ihm am Leibe aufgefunden
worden. Ein andermal bat er den Richter, ihm die An-
wendung von Sympathie zu gestatten. Auch der Gefangen-
wärter bestätigt diesen bei ihm fortdauernden Glauben, der
ihm gar nicht auszureden sei. Ein andermal äusserte N.
seine Ueberzeugung, dass seine Frau todt sei, denn er habe
über seinem Geföngqiss, wo seine Frau sitze. Nachts einen
schweren Fall und ein heftiges Geschrei gehört. Es sass
aber damals Niemand in der Gefangenzelle über ihm.
Seine Ehefrau deponirt, dass er bereits seit sechs Jah-
ren sehr krank gewesen, so dass er Nachts oft keine Vier-
telstunde habe schlafen können, und sie bestätigt Alles, was
ihr Mann über die Zauberkünste der S. gerichtlich ausgesagt
hatte. Auch seine Schwester erklärt, von dieser Ueberzeugung
des Angeschuldigten Kenntniss gehabt zu haben, die in ihm um
so fester gewurzelt habe, als seine Frau und ganze Familie sie
getheilt gehabt, ja in ganz F. man ziemlich allgemein
der S. dergleichen Kunststücke zugetraut hatte.
Wiederholt, zuletzt noch acht Tage vor der That, hatte er
diese seine Schwester gebeten, bei dem Bürgermeister eine
Gefängnissstrafe gegen die S. zu beantragen, wovon er sich
Hülfe gegen sein Leiden versprach. Viele andere Zeugen
bestätigen übereinstimmend, wie überzeugt der Angeschul-
digte, und auch seine Ehefrau, von der Behexung durch die
8. gewesen sei. Des Pastors M* Ermahnungen, diesen
Aberglauben fahren zu lassen, waren vergebens. Wenige
Tage vor dem Tode der S. hat dieser Zeuge den Ange-
schuldigten krank, bettlägerig und jammernd darüber ange-
troffen, dass jetzt auch sein Kind an derselben Erankheü;
leide und dass er seine Quaalen nicht länger ertragen könne.
Wichtig sind die Depbsitionen der behandelnden Aerzte,
zunächst des Dr. (?., der beide Eheleute seit Jahren ge-
kannt und ärztlich behandelt hat, die er f&r rechtschaffen
und fleissig hält Vor anderthalb Jahren (vor der That)
litt der Angeschuldigte an Beklemmungen, Beängstigungen,
Congestionen nach der Brust, ein Zustand, den ein zweiter
behandelnder Arzt „Hypochondrie^ nennt, welche Ansicht
der Dr. R. und der Dr. /. theilt, der den N. zwei Jahre
vor der That mit abdominellem Leiden, geschwollener Milz,
Nachtschweissen und einer Neigung zur Melancholie gefun-
den hat.
Der Character des Angeschuldigten wird von allen ver-
nommenen Zeugen, namentlich in Beziehung auf die Sitt-
lichkeit, nichts weniger als ungünstig geschildert. Sein
Schwager hält ihn ffir einen sonst braven^ aber feigen Men-
schen, der nicht dabei sein möge, wenn ein Schwein ge-
schlachtet wird. Eine Schwägerin hält beide ^.'sche Ehe-
leute für brave, rechtschaffene Menschen, die sie nicht far
fähig hält, gewaltthätige Handlungen gegen einen Menschen
zu unternehmen. Sein ehemaliger Meister characterisirt ihn
als einen friedliebenden, dabei feigen Menschen, dem er
übrigens nur ein günstiges Zeugniss geben könne, welches
Urtheil ein anderer Meister theilt. Dem Pastor M, machte
N.^ den er sittlich nennt, den Eindruck grösserer geistiger
Beschränktheit, als die Ehefrau ; er bezeichnet ihn als sicht-
lich schlaff, energielos, träge und ganz unter der Herrschaft
seines körperlichen Leidens stehend.
Schliesslich erwähnen wir das Urtheil des interimisti-
6 Sfxenwafan.
sehen Physieus Dr. £ und dessen ausfahrlioh nnd grüad-
lieh motivirtes Gutachten vom 11. December 1860, welches
der Ankläger angefochten und dadurch Veranlassung zur
Einholung dieses unseres Ober -- Gutachtens gegeben hat.
Dr. £• schildert Inculpaten als einen grossen, magern Mann
von starkem Knochenbau, fahler Gesichtsfarbe, mattem,
düsterm Blick, trauriger Miene, schlechter, gebückter Hal-
tung und schleppendem Gang. Die Hände hält er fortwäh-
rend vor A&a Leib, über den er beständig klagt. £r un-
terbricht seine langsamen Antworten durch häufiges Stöhnen
und Bewegungen des Schmer:&es. Häufig tretw Gongestio-
nen zu Kopf und Brust ein. Ein Herzfehler ist nicht, wohl
aber tuberculöse Entartung der Lungen vorhanden. Doch
ist bei alledem sein Organismus noch nicht ßo zerrüttet,
wie er als Hypochonder glaubt, und kommt „der grösste
Theil seiner vermeintlichen Leiden auf Rechnung der mit
Melancholie verbundenen Hypochondrie**. Hiernach und
nach den Resultaten seiner vielfachen Besuche bei dem N.,
bei welchen wiederholt diese ewigen Klagen, so wie die
Beschwerden über die oft genannten Zauberkünste, die
Bitte um Freilassung, imi Gewährung von sympathetischen
Guren u. dgl. zum Vorschein kamen, entwickelt der Dr. K.
der Sache und der ärztlichen Er&hrung gemäss sein ür-
theil, das er schliesshch dahin formulirt: „dass des N.
Geistes- und Gemüthsleiden, die Melancholie, mit seinem
körperlichen Krankheitszustand, der Hypochondrie, in engster
Verbindung stehe, und mit der Zunahme der letztern eine
solche Höhe erreicht hat, auf welcher der Kranke für
Handlungen, welclie aus einer, durch die Melancholie er-
zeugten fixen Idee entspringen, nicht mehr verantwortlich
gemacht werden kann.^ — Es liegt uns nun nach dem
oben gedachten Requisitionsschreiben ob: zu prüfen, in wie
weit das ürtheil des Dr. K. für begründet zu erachten,
Hteenwahn. 7
dem wir am zweckmässigsten zu genügen yermeinen, wenn
wir im Nachfolgenden unser eigenes wohlerwogenes
Gutachten
erstatten.
Der vorliegende Fall gehört zu den so wenig seltenen,
dass, wenn der Yertheidiger aus der Literatur zwei Analoga
daför beigebraeht hat, wir unsererseits aus unserer eigenen,
wie aus der allgemeinen wissenschaftlichen Erfahrung viel-
mehr eine ganze Reihe durchaus ähnlicher mittheilen könn-
ten, wenn es dessen bedürfte. Bei so zahlreichen Beob-
achtungen hat sich denn auch das wissenschaftliche ürtheil
über diese Fälle längst festgestellt, namentlich in Beziehung
auf die Zurechnungslehre, wenn auch die rein theoretisch-
wissenschaäüche Deutung nach den verschiedenen psycho-
logischen Systemen eine verschiedene gewesen ist, worauf
es hier nicht ankommt. Die Angrifie, welche der Unter-
suchungsrichter gegen das Physicats-Gutachten gerichtet hat,
haben, worauf wir zunächst als auf den Ausgangspunkt un-
serer Beurtheilung aufmerksam machen müssen, so weit
nicht gehn können, zu bestreiten, was vier ärztliche Be-
richte CjOnstatirt haben, dass N. ein tief körperlich erkrank-
ter Mensch ist, und bereits seit langer Zeit gewesen ist.
Wir haben so eben das Bild des fahlen, matt, gebückt ein-
herschleichenden y mit häufigen Cnngestionen zu Brust und
Kopf, Beklemmungen, Beängstiguugen, Milzanschwellung,
„abdominellem Leiden^, ausserdem noch mit Lungentuber-
culose behafteten Angeschuldigten nach den Acten wieder-
gegeben, die in ihrem Zusammenhange eine so klare Dar-
stellung des bedeutenden und allen Aerzten wohlbekannten
Krankheifiszustandes liefern, dass sogar der gewissenhafteste
Arzt nach einer blossen derartigen Relation und aus der
8 Hexenwaho.
Ferne kaum anstehn wurde, erforderlicheiiiaUs ein aUgemei-
nes HeiWerfabr^ für den betreffenden Kranken iHizuordnen.
Die alte, anch Ton den hier betheiligten Aerzten gebrauchte
Erankheitsbenennung : „materielle Hypochondrie^ bezeichnet
diesen Zustand allgemehiTerständlich. Eben so allgemein
aber ist den Aerzten auch die Rückwirkung bekannt, welche
dieser Erankheitszustand in den verschiedensten Abstufen-
gen auf das geistige Leben solcher Eranken ausübt. Die
allergewühnlichste und geringste ist noch die, dass sie, reiz-
bar und erregt geworden, ihre wirklichen krankhaften Empfin«-
dungen übertreiben und überschätzen und eine Quaal für sieh
und Andere werden, jeden Augenblick zu sterben wihnen,
u. s. w. Wie sehr dies ^.'s Fall, der auch sein Blut in
Schäum und XJnrath verwandelt glaubt und unaufhörlich
äussert, dass er seine Quaalen nicht ertragen könne, ist oben
angef&hrt. Eine Cbaractereigenthümlichkeit, die aus solchem
Zustande, der schon einen gewissen Grad von geistig-krank-
hafter Verstimmung darstellt, nothwendig und sd^r erklär-
lich folgt, und die man täglich bei derartigen Eranken wie-
derfindet, ist ein, oft rücksichtsloser Egoismus, der die Be-
haglichkeit des eigenen Lebens und jedes Augenblicks, so
weit sie das körperliche Wohlbefinden befördern kaqn, allen
andern Rücksichten voranstellt. Wenn der Untersuchungs-
richter in seiner psychologischen Beurtheilung des Ange^
schuldigten bei Erwähnung von Thatsachen, wie die, dass
N. bei der „herzergreifenden Scene** der Gonfrontation mä;
seiner Ehefrau auf Verbesserung seiner Gefängnisskost durch
Weissbrod u. s. w. überspringt, zu dem Ausspruch kommt, dass
er „ein berechnender, kalter, gefühlloser Egoist sei, der nur
Ekel und Verachtung verdiene^, so würde derselbe ^s Arzt
zweifellos, durch Erfahrung belehrt, ein weniger hartes ür-
theil geß^llt upd dem Verlangen nach Weissbrod u. s. w. eine
HexeBwalm. 9
ganE andere Deutung gegeben haben, abges^n daton, daes
8ol(äie Aeusserungen des Ineulpsten noch einen ganz andern
ScUttss bedingen, worsaf wir noch zurfidckommen. Allseitig
wird N. yyfeige^ genannt. Es geht aus den Acten hervor,
dass derselbe wahrscheinlich von je an diesen Character ge-
zeigt habe. Gewiss aber ist, dass die Depres^on des Ner-
Tensystems, die sich bei Hypochondrien mit eingewurzel-
tem abdominellen Leiden, wie Angeschuldigter, stets ein**
stellt, auch einen mutibigem, ibstern Gharacter niederdrfickt
und, mn so mehr dnen von Hause aus schwachem Men-
fidien, zum Feigimg stempelt.^ Eben dieser Mangel an Energie,
diese Unmöglichkeit, sich zusammenzuraffen und der peini-
genden EörperempfiBdungen wenigstens einigermaassen Mei^
ster zu werdai, dieses feige Insichversinken macht derglei-
chen Kranke so unglü^lich und treibt sie so häufig zum
feigen Selbstmorde« N* n^ählte ^einen andern Ausweg. Er,
der Feige, von dem gesagt wird, dass er kein Schwein
sehlachten sehn kann, erschlägt einen Menschen. Aber
mehrl Er, der allseitig als „brav und sittUch^ geschildert
wird, begeht auf anscheinend rohe und gefthllose Weise
eine Tddtung, eine That, zu welcher man sich gewiss, wie
auch mehrere Zeugen richtig bekundet halben, bei einem
solchen Menschen nicht „versehn^ konnte. Hier also zeigt
sieh eine psychologische anscheinende Lücke, die einzig und
allein nur ausgeiftllt werden kann durch die Annahme einer
wirklichen Geisteskrankheit, die Beherrscherin wurde des
ganzen Tboiis und Treibens des Menschen. Wir braudien
aber eine solche Krankheit .nicht etwa bloss v(»rauszusetzeii ;
Erfahrung und die vorliegenden Acten über den concretra
Fall geben die siebarsten Beweise f&r das thatsächliche Vor-
handensein derselben. Jene oben bereits erwähnte krank-
hafte Verstimmung der erheblicher abdominell Erkrankteif
10 Sexeowahit.
0te%ert sich hftiifig gen&g bei längerer Fortdauer der Hypo-
^oiidrie und weiterer Steigerung der körperliehen Krank-
heit SU wirklicher Geistesstörung, zum fixen, zum allgemei*
neu, zum Schwermuthswahn. Die „Pr&eordialangst^, wie
man gut bezeichnend sagt, giebt zuletzt oft dem Kranken
die üeberzeugungi dass seine vermeintlich ganz unerhörten
und ^dematurlichen körperlichen Quaalen nur eben so un-
erhörten und widernatfirhchen Ursachen ihre Entstehung
verdanken könnten; es bildet sich mehr und mohr in ihnon
die UeberzeugUng aus, 4as8 sie Schlangen u. dgl. in ihrem
Leibe beherbergen; Andere, und welcher erfahrene Irren-
und Gerichtsarzt kennt nicht vielfiBkche derartige Kranke,
vermeinen durch fortdauernde geheime mi^netische oder
electrische Einwirkungen von unsichtbarer Hand in den be-
lästigenden Zustand versetzt zu sein und darin erhatten zu
werden, Dass dies gerade NJ^b Fall, der die, weiter von
ihm nicht näher characterisirten „Zauberkünste^ d^ S. als
fonzige Veranlassung seiner körperlichen Leiden ansieht,
wovon ihn die wiederholten Vorhaltungen seiner Aerzte
nichtr abzubringen vermögen, ist oft erwähnt. Von diesem
wahngl&ubigen Standpunkt aus ist es als eine gewisse Logik
anzuerkennen, wie sie häufig genug in ähnlichen Fällen be-
obachtet wird, wenn derselbe, nach dem actenmässig erwie-
senen längeren Kampfe mit sich, endlich zu der üeberzeu-
gttBg gelangt, nachdem die Curen der befragten Quacksalber
ihm so wenig Erleichterung versdiaift hatten, als die von
vier oonsultirten Aerzten, dass nur allein mit dem Aufhören
der krankmachenden Ursache die Wirkung aufhören werde,
ia wdidier üeberzeugung er die Tödtung der S. beschliessf.
Hieriuu^h verliert auch der Einwand seinen Werth, dass die
That der psyehologisehen Unterlage einer cdusa fadnorü
nicht ermangle^ e» Einwand^ den wir an sich als von hohem
Hex^Awafaii. 11
Werthe in allen Fällen von. zweifelhafter ZoxeehnttaKsfähig-
keit ^aobten, da, wie gesagt, diese That hier lediglich ans
Hass und Rachsucht gegen die Feindin, und um endlich sieb
Bube vor ihr zu verschaffißn, entsprungen und ausgeffihrt
worden. Denn, wie in so yielen ähnlichen Fällen, so war
auch hier das Motiv zur That an und för sicdi ja ein irr*
sinniges, und iV.'s Logik die Logik eines Wahnsinnigen. Deir
Herr Untersuchungsrichter erhebt sich gegen diese Ansicht
in seiner Kritik des Aehnliches a\isfuhrenden Physieats*Gut*
achtens. „Wenn'*, sagt Derselbe, „die Verblendung iV.'s
wegen der Zauberkünste der 8. seinen Verstand geiräbt
haben sollte, so müsste dasselbe auch von seiner Ehefrau
gelten, die in demselben Wahn befangen war.^ Aber, ab*
gesehn davon, dass es nicht unsere Aufgabe ist, den Ge*
müthszostand dieser Mitangeschuldigten zu prüfen, dessen
Beschaffenheit wir dahingestellt sein lassen, so ist doch d^
wesentliche Unterschied zwischen beiden Eheleuten nicht zu
verkennen. Die Frau war und ist nicht tief und unheilbar
körperlich krank, wie der angeschuldigte Mann, und es v^rd
nirgends von ihr ausgesagt, vrie von Letzterm, dass sie an
Sinnestäuschungen , sogenannten Hallucinationen , gelitten
habe, wie dieser. Wenn N. im Gefängniss in der, vm
nachgewiesen, ganz imbewohnten Zelle über sich, seine Frau
heftig schreien und niederstürzen hört und sie deshalb ge*
sterben wähnt, so beweist er damit, dass er Hallttcinationen
hat, ein neuer und sdrlagender Beweis ffir das Vorhanden-
sein wirklichen Wahnsinns bei ihm. Je länger dersdbe an*
dauert, desto tiefer vmr^elt er. in ihm,, und es ist erfahr
rungsgemäss nicht zu verwundern, wenn N.^ nachdem die
vermeinte Urheberin seiner Leiden beseitigt, diese sdbst
natürlich ihn aber nun doch nicht verkssen haben, jetet
die Verwandten der Feindin beschuldigt, jene Zauberkünste
noch immer fortzusetzen.
12 Hezeswahn.
Ist nadi alle diesem ffir uns das Bestehen einer wahn-
Btnikigen GeisteSTerwimmg bei drai Angeschuldigten zweifei*
los, so ist auch damit die, hier schon oben berührte psy-
chologische Lacke ausgefüllt, die der Vergleich des Characters
i^/s, wie ihn übereinstimmend alle Zeugen schildern, mit
der angeschuldigten Tbat darbietet. Wenn es schon sdir
selten yorkommt, dass sittliche Menschen — und als ein
solehar galt d^ Angeschuldigte allgemein — ^ im Vollbesitz
äirer geistigen Er&fte urplötzlich durch irgend eine psycho-
logische Veranlassung zu gesetzwidrigen Handlungen hin-
gerissen werden, so war dies bei Inculpaten gewiss nicht
der Fall, der vielmehr lais^e genug mit sich und seiner Fr^
ü)»er 4ie That zu Ratbe gegangen ist Die RechÜichkeit
und Sittlichkeit seines Characters im Allgemeinen steht
ausser Frage; eben so sehr aber auch seine Thäterschaft
und das Entsetzliehe seiner That. Diese trägt sonach ganz
«nzweifelhafk den Stempel der in seinem Gemüthe ganz
iseüirt däiktehenden That, d. h. einer That, zu der Niemand
bei einem solchen Menschen von Haus aus sich hätte „ver-
sehn^ können, ein McHnent, auf welches mit Recht zu allen
^ten der höchste Werth Ar die Beurtheflung der Zurech-
aungsfthigkeit von Individuen mit zweifelhafter Gemüths-
verfiussnng zur Zeit des Begehens gesetzwidriger Handlungen
l^egt wordw ist.
Wir können uns indess, so sehr schon das Bisherige
die Frage zu ^schöpfen scheint, der Prüfung einiger, von
dem Untersuchungsrichter wie von der Anklage anscheinend
mit Re<^t erhobenen Bedenken nicht entziejm. Wir mei-
nen den Einwand, dass die „Vernunft und üeberlegung,
welche Inculpat in mehrfacher Weise gezeigt, die Annahme
sanier Impntabilität rechtfertige^, dass derselbe „actenmässig
mit dem klaren Bewusstsem seiner StrafftUigkeit gehandelt
Helenwahn. 18
habe^9 wie dies namentlich auch der wiederholte Widerrof
seiner die Thätersehaft einräumenden Geständnisse beweisra
soll. Die „Ueberlegung*' aber haben wir bereits ob« atta-
reichend gewürdigt, indem wir die Genesis des Eatsohlnsses
zur That dargelegt und den krankhaften Boden gezeigt hab^
auf welchem diese Ueberlegung hervorgewachsen war* Wie-
der müssen wir hierbei auf den sichersten Leitstern bei die*
sen Untersuchungen, auf die criminalpsychologische E^fs^rung^
verweisen, die es in ungemein vielen Fällen nachgewiesen
hat, dass auch in der tiefsten Gemüthszerrüttung des Wabn^
Sinns, namentlich in der hier vorliegenden Form des Schwer"
nmthswahns, die Kranken in mehr oder weniger ungestör-
tem Combinationsvermögeii sehr wohl im Stande siad, den
Plan, zu welchem sie durch ihre Wahnvorstellungen gelangt
sind und über welchen sie unausgesetzt brüten ^ mit den
zweckmässigsten Mitteln, oft genug sogar mit Aufwand voo
List und Verschlagenheit, der Ausföhrnng entgegen zu bria'<-
gen, wie es nicht einmal in dem Maasse bei N. der Fall
gewesen, der endlich, allerdings nach längerer „Ueberlegungf ,
plötzlich, weil ihn, wie er sagte, die „Wuth" erfasst, Mir
That schreitet. Dieselbe Erfahrung aber belehrt uns soieh
in Betreff des „Bev^sstseins der StrafiäUigkeit^. Das Ua--
terscheidungsvermögeo , die Erkenntniss des Unterschiedes
zwischen Gut und Böse, wurzelt so tief im Menschen, und
ist so unabhängig von dem Bereiche der blossen Intelligenz,
dass diese Erkenntniss auch b^ der weit vorgeschrittensten
geistigen Verwirrung und Zerrüttung keinesweges immer ver-
loren geht, mit ihr natürlich dann auch nicht das, (^ aller-
dings nur noch unklar empfundene Bewusstsein der Straf-
fälligkeit der unsittlichen That, und geht diese Erkenntniss
vielmehr erst ganz und vollkommen bei geistigen Zuständen
verloren, die eine völlige Negation aller geistigen Vermögen
14 Hidxeiiwatiii.
bedingen, s. B. im ächten Blödsinn, im Anfall des Tobsuchts-
tmhns. Darum hat man oft genug anch andere geisteskranke
Uebelthäter, als N.^ die ansgeftihrte gesetzwidrige That noch
I&ugnen oder entschuldigen und beschönigen gesehn, und des
Angeschuldigten desfallsiges Benehmen ist in keiner Weise
auf%kllend. Was nun aber dies Benehmen insbesondere in
Beziehung auf seine Geständnisse vor dem Richter betrifil, so
ist die Art und Weise, wie er gerade diese Geständnisse
abgelegt hat, ihrerseits fftr uns ein neuer Beweis der krank-
haften Verdunkelung und Verwirrung seines Geistes. Nichts
allerdings ist häufiger vorkommend bei zurechnungsfähigen
Verbrechern sowohl, wie bei geisteskranken Gesetzfibertre-
tem, als ein Widerrufen einmal abgelegter Bekenntnisse der
Thäterschaft. Es ist auch wohl vorgekommen, dass ein sol-
cher Widerruf in längerer Voruntersuchung seinerseits zu-
rückgenommen und ein abermaliges Bekenntniss abgelegt
wurde. Wir glauben aber mit Sicherheit behaupten zu dür-
fen, dass ein so ganz zweckloses Spiel mit Bekenntniss und
Widerruf, wie es diese Acten aufweisen, in welchen dar-
gethan, dass der Angeschuldigte sogar in denselben Ver-
hören gestanden und geläugnet, und dann wieder bekannt
und abermals widerrufen hat, dass ein solches Verfahren
eines Angeschuldigten, zumal eines etwa nicht geistes-
gestörten Menschen, ohne analoges Beispiel dasteht. So
vereinigt sich Alles, was wir im Vorstehenden beleuchtet
haben: körperlicher Gesundheitszustand, Gharacter, Beneh-
men nach der That und allgemeines geistiges Gebahren des
Angeschuldigten, um das ürtheil zu rechtfertigen, das wir
schliesslich mit Bezug auf obige Ausfahrungen dahin ab-
geben:
dass der Angeschuldigte, Zimmermann N. aus F.,
sowohl vor der Tödtung der Wittwe S., wie jetzt,
Hexenwahn. 15
Yon Schwermuthswahnsiün befallen, und för zurech-
nungsfähig nicht zu erachten gewesen und es auch
gegenwärtig nicht ist.
Berlin, den 13. Februar 1862.
Die medicinische Facultät der Königl. Friedrich-
Wilhelms - Uniyersitäi
(Unterschriften.)
1«
. 2.
fergiftuDg mit wdssem Arsenik«
Dr. Itorleii zu Lyek.
lit einen fintachten des Kdoigl. MediciDal^Cotlegü für die ProTioz Preossen.
Das Terbrechea des Giftmordes fiberhaupt, und beson-
ders mit Arsenik, kommt leider immer noch häufig vor,
und ist derselbe, was seine Eigenthümlichkeiten betrifft,
bereits so gründlich erörtert, dass es fast überflässig er-
scheinen könnte, die Zahl solcher Fälle noch durch einen
zu vermehren. Auch bietet derselbe keine exquisite Seite
an und für sich dar, wie es z. B. der im XIY. Bd. 1. Heft
S. 80 ff. der Yierteljahrsschrift von Casper erzählte ist ; allein
derselbe dürfte insofern ein besonderes Interesse erregen,
als bei der schwurgerichtlichen Verhandlung des Falles sich
verschiedene, und zum Theil ganz entgegengesetzte, An-
sichten über Vergiftung mit Arsenik bei den dabei bethei-
ligten Sachverständigen geltend zu machen suchten. Diese
dissentirenden Ansichten waren aber vielleicht weniger durch
den concreten Fall selbst, als durch die abweichenden Mei-
nungen der Obducenten in ihrem ursprünglichen Gutachten
in faro provocirt worden, worüber weiter unten das Nähere
berichtet werden soll. — Der mitzutheilende Fall ist fol-
gender.
Ve^liftung mit weissem Arsenik. 17
Der Wirtill Johann i., einige 40 Jahre alt, von klüftiger
Eörperbeschafifenheit, lebte mit seiner dritten Ehefrau CAor-
htte^ geb. T., welche 15 Jahre jünger war als er, in einer
sehr ungläcklichen Ehe, wovon beide Eheleute die Schuld
trugen, weil sie dem Trünke sehr ergeben waren, und in
in diesem Zustande es häufig zu häuslichen Zwistigkeiten
und selbst groben Thätlichkeiten kam. Dazu kam nun
noch, dass die Frau /., als eine im Vergleich zu ihrem Ehe-
mann noch junge Person, mehr um der äussern günstigen
Verhältnisse wegen, als um inniger Liebe und Zuneigung,
denselben geheirathet hatte ; dass sie als eine Frau von ge-
ringer Bildung und sittlicher Grundlage über kurz oder lang
es in Beobachtung ihrer ehelichen Pflichten gegen den Mann
nicht so genau nahm, vielmehr ihm notorisch untreu wurde.
Es war daher auch ganz natürlich, dass, da der Mann von
der Untreue seiner Frau genaue Eenntniss hatte, er sie auch
um so härter behandelte.
Wenngleich nun die Frau /. die üble Lage ihrem Manne
gegenüber grösstentheils sich selbst bereitet hatte, so mochte
sie dieselbe doch nicht länger ertragen, beschloss vielmehr,
derselben durch Giftmord an ihm sich zu entledigen. In
diesem ihrem furchtbaren Vorsatze wurde sie durch stete
Anreizung und thätige Mithülfe einer Hausfreundin, der Los-
frau Charlotte K.^ sowohl bestärkt als auch erhalten. Diese
Letztere trägt bei dem qu. Verbrechen unbedingt die grös-
sere Schuld, nicht sowohl durch Ertheilung von Rath und
That, sondern vorzüglich auch deshalb, weil ihr unversöhn-
licher Hass gegen den Mann ihrer Freundin gar nichtige
Motive hatte. Die K. war nämlich durch den /. deshalb
ernstlich aus seinem Hause verwiesen, weil sie mit seiner
Frau eine auffallende, geheimnissvolle Freundschaft pflegte,
und weil er es auch nicht leiden mochte, dass deren Kin-
der öfters in seinem Hause von seiner Frau Essen erhielten.
Casper, VJschrft. f. ger. Med. XXTI. 1. o
18 Vergiftang mit weiMem Anenik.
Dieser nichtige Umstand an und für sich hatte die Fraa K.
bestimmt, thätige Hand bei dessen Giftmord dansubieten! —
Nachdem auf den Ratb dieser Person die Frau L einen
vergeblichen Yersnch gemacht hatte, ihren Ehemann durch
Vitriolol in einem Glase Branntwein und später in einem
Eierkuchen zu vergiften, sannen beide Frauenzimmer ge*
meinschaftlich nach, wie sie sich zur Ausführung ihrer schwär--
zen That anderes Gift verschaffen könnten. Der Ausweg
war bald gefunden. Ein polnischer Jude, Namens L., der
in jener Gegend einen Kleinhandel trieb, &nd sich auf Er-
suchen der Frau /. bereit, Gift zu besorgen. Derselbe brachte
denn auch bald eine feste, graulich weisse Masse von der
Grösse einer kleinen Kartoffel, die von ihm als sicheres
Gift bezeichnet wurde, und — so fagte der Jude hinzu —
wenn man irgend an seiner Aussage zweifele, so möge man
zur Probe einem Hunde davon etwas geben, dann würde
man sich von der Richtigkeit seiner Angabe überzeugen. —
Nun schritten die beiden genannten Personen schnell zu
dem scheusslichen Verbrechen, wie? — darüber ergiebt der
actenmässige Thatbestand Folgendes.
Die Louüe L sagt : Mein Vater klagte ungefiLhr vier-
zehn Tage vor seinem Tode, wie früher, über Leibsduner-
zen; nach Aussage der Angeklagten häufig an Leibschmer*
zen und vierzehn Tage vor seinem Tode an Blutspeien. Die
Zeugin Marie S. aber bekundet, dass der verstorbene Wirth
J. nur im letzten Winter einige Male an Kolik gelitten habe.
Nach dem Geständniss der Angeklagten am Tage vor sei-
nem Tode, den 23. April 1855, als /. wieder über Leib-
schmerzen klagte, erhielt er zuerst einen Schnaps mit 2 bis
3 Tropfen Tabakssaft, und einen Theil der vorher gepul-
verten Masse, welche auf Verlangen der Angeklagten ihr
der Jude L. als Gift gegeben hatte. Wie die K. bezeugt,
hat die /. zwei Tage vor dem Tode ihres Mannes dem
Yergiffcong mit weissem Arsenik. 19
Jaden L. auf die Frage: „ob sie ihrem Manne schon das
Gift gegeben habe^, erwiedert: ^a, etwas, aber nicht viel*,
und nach Aassage der Kw. gestand ihr die Angeklagte, dass
sie ihrem Manne am Sonntage, also zwei Tage vor seinem
Tode, Gift gegeben habe. Das Geständniss, ihrem Manne
Gift gegeben za haben, macht sie auch der Ks. Am Tage
vor seinem Tode kam /. zur Kw. und klagte, den Leib mit
der Hand haltend, heftig über Leibschmerzen, üeber das
Verhalten des /. einige Tage vor seinem Tode, über die
Krankheitserscheinungen, welche vor und nach dem Genüsse
des dargereichten Giftes wahrgenommen wurden, und über
welche der Verstorbene selbst klagte, enthalten die Acten
die ungenauen Aussagen der Angeklagten. Nach denselben
kam/. Sonnabend, den 21. April 1855, über Leibschmerzen
klagend vom Felde nach Hause. Am Sonntage, den 22. April,
war er aus dem Bett aufgestanden, hielt sich den Bauch
und klagte fortwährend über Leibschmerzen, welche auch
die Nacht anhielten. Am 22sten Mittags genoss er Fleisch
mit Kartoffeln, Abends Milch mit Brod und am 23sten Mit-
tags nur Erbsen. Am 2ästen Nachmittags, nach dem Aus-
trinken eines Glases Schnaps, dem das Gift beigemischt war,
trat keine Veränderung der bisherigen Krankheitserschemun-
gen ein, die Schmerzen kamen nach wie vor pausenweise,
jedoch bekam er Leibesöffiiung und musste einige Male zu
Stuhle gehen. Derselbe Zustand fand am Dienstage, den
24. April, Statt, und er verlangte eine Flasche Bier, die er
austrank. An diesem Tage hatte er keine Leibesoifiiung,
klagte jedoch über vermehrte Schmerzen und Krämpfe in
Händen und Füssen. Er befriedigte seine natürlichen Be-
dürfnisse auf dem Hofe, ging am 2 4:Sten Morgens in die
Dorfversammlung, von der er bald nach Hause zurück-
kehrte, und sprach die Befürchtung seines Todes aus. lieber
Brennen im Halse hat er nicht geklagt. Ob er in den
2*
90 Yergtftang mit weissem Arsenik.
leläßtesL Tagen seines Lebens kalt oder wann gewesen, ob
er starken Durst gehabt, kann die Angeklagte sieh nicht
besinnen. Er starb zur Mittagszeit den 24. April, nach der
Aussage der Angeklagten ohne alle Zuckungen, nadi der
Angabe der Kw.^ welche bei seinem Tode zugegen war, unter
heftigen Schmerzen und Zuckungen. Nach dem Zeugnisse der
Ma/rie S. fing der Verstorbene am Sonntage, den 22. April,
über Leibschmerzen zu klagen an, welche am folgenden Tage
immer heftiger wurden und von Stunde zu Stunde zunah-
men, bis .er am Dienstage unter heftigen Schmerzen und
Zuckungen verschied. Er hat kein Erbrechen gehabt, son-
dern nur offenen Leib.
unmittelbar nach dem Tode des Wirths Johann I. lief
die Anzeige an das Ereisgericht zu M. über den plötzlichen
Tod des kräftigen Mannes ein mit dem Beifügen: es gehe
das Gerücht herum in dem Orte, dass L vergiftet sei. In
Folge dessen wurde die gerichtliche Leichensection und
Obduction des J. fünf Tage nach seinem Tode von den
DD. Th. und B. aus M. vorgenommen, welche folgende,
zur Beurtheilung des Todesfalls wesentliche Momente darbot.
1) Die äussere Besichtigung zeigt einen männlichen
Leichnam von 5 Fuss 6 Zoll GrOsse, von kräftigem, ziem-
lich beleibtem EOrpe^bau, im Alter von 40 und einigen
Jahren. Die Faibe des L^chnams ist die gewöhnliche
blasse Leichen&rbe.
2) Die Augäpfel sind trübe, nicht einge&llen, die Ober-
haut überall fest, kein Leichengeruch vorhanden, demnach
aAch keine Fäulniss.
8) Die Gefässe der Schädelhaut zeigen etwas viel
Blut.
9) Nach Abnahme des Schädelgewölbes zeigt sich die
Yergiftang mit weissem Arsenikw 21
harte Hirnhaut in normaler bläulich-weisser Farbe ; ihre Ge-
fässe enthalten viel Blut.
10) Die Gefässe der weichen Hirnhaut und Spinnwebe-
haut (?) sind ebenfalls stark mit Blut überfüllt, und zwischen
beiden Hirnhäuten eine Ausschwitzung von ungefähr einer
Drachme Serum.
11) Die Oberfläche des Gehirns ist, wie die Häute,
blutreich, auch im grossen sowohl, wie im kleinen Gehirn
beim Durchschneiden reichliche Blutpunkte. Die Himhöhlen
sind normal und enthalten die regelmässigen Gebilde.
13) Die Schädelbasis zeigt die in ihr befindlichen Ge-
fässe und Blutleiter reichlich gefüllt, ist sonst ganz normal.
14) Beide Lungen zeigen sich in ihrer Lage normal,
die vordere Fläche ist gesund gefärbt, ohne Knoten und
mit Luft gefüllt. Die hintere Partie ist stark mit Blut über-
füllt, auch in der Substanz theilweise fast leberartig entartet
(hepatisirt), was als Folge längerer oder kürzerer Brust-
beschwerden eintreten kann.
16) Der Herzbeutel ist normal, in demselben etwa eine
Drachme Serum.
17) Das Herz etwas grösser als gewöhnlich, sehr fett.
In den Höhlen desselben wenig, ganz flüssiges Blut. Eben
so ist auch das Blut in den grossen Gefassen ganz flüssig,
ohne Faserstofigerinnsel.
18) Die Luftröhre ist regelmässig.
20) In der Bauchhöhle fand sich eine ziemliche Quan-
tität Wasser vor, etwa 10 bis 12 Unzen.
21) Das Netz und die Leber sind völlig normal, auch
die Substanz der Leber beim Einschneiden gesund.
22) Die Milz ist klein, normal gefärbt, in ihrer Sub-
stanz sehr mürbe.
23) Der Magen und die Därme werden vorsohrifits-
mässig unterbunden, herausgeschnitten und aufbewahrt. Die
22 VergiftHng mit weisaem Arsenik.
äussere Beschaffenheit Hess in Farbe nnd Stmctur nichts Auf-
fallendes bemerken. Ebenso waren alle übrigen Organe des
Unterleibes normal.
29) Die aufgeschnittene Speiseröhre enthielt ausgekante
Nahrungsmittel, Schleim und Grütze ; die Substanz selbst war
normal, keine Entzündung vorhanden, das Epithelinm war
leicht ablösbar.
30) Der Magen war ungewöhnlich gross und enthielt
3 Quart Flüssigkeit, war übrigens mit Luft ausgefüllt ; femer
fanden sich darin 1| Quart Speisebrei, der etwas sauer
reagirte. Seine äussere Fläche ist normal, die innere Fläche
fast ganz gesund, nur an einzelnen Stellen fanden «ich
einige geröthete Punkte; die Schleimhaut des Magens war
tinyersehrt.
31) Die äussere Fläche des Magens zeigte weder Ent-
zündung, noch Reizung, noch irgend eine andere krankhafte
Beschaffenheit ; die innere Fläche bot ebenfalls nichts Krank-
haftes dar.
32) Ebenso bot der Darmcanal nichts Krankhaftes dar.
Das vorläufige Gutachten der Obducenten lautete
dahin :
„dass keine geeignete Todesursache und überhaupt
kein bedeutendes organisches Kranksein aufgefunden
werden könne; dass überhaupt kein Gutachten über
den vorliegenden Fall sie abzugeben vermögen, be-
vor die Eingeweide chemisch untersucht wären.*
In Folge dessen wurde das Königl. Medicinal-CoUegium
der Provinz von dem Kreisgerichte zu M. aufgefordert, die
chemische Untersuchung der eingesandten Eingeweide, und
zwar der Speiseröhre, des Magens, des Darmcanals und
einer Flüssigkeit, welche aber zum grössten Theile aus dem
unterweges zerbrochenen Glasgefässe ausgeflossen war und
den Darminhalt vorstellen sollte, vorzunehmen.
Vergiftung mit weissem Arsenik. 33
Da die ehemische Procedor, in ihrer Vollständigkeit
mitgethdlt, viel zu viel Raum einnehmen würde, so mOgen
nur folgende Punkte hier Platz greifen.
1) Es wurde zuerst der Inhalt des Magens, welcher auf
Laemuspapier stark sauer reagirte, genau durchsucht. Es
fand sich in demselben eine Quantität kleiner und weisser
fester Körnchen vor, welche theils durch Aufnehmen, theils
durch Schlämmen gesammelt wurden und an Gewicht fünf
Gran betrugen.
2) Der Magen und Darmcanal wurden ebenfalls durch-
sucht und von der innem Magenfläche eine Anzahl kleiner
weisser Körnchen, im Gewicht von f Gran, aufge-
nommen.
Yon diesen aus dem Inhalte des Magens und von dem
Magen selbst aufgenommenen Körnchen wurden ein paar
auf einem Platinblech erhitzt; sie verflüchtigten sich mit
weissem Bauche und deutlich wahrnehmbarem knoblaucb-
artigen Geruch und gaben sich schon so als weissen Arsenik
(arsenige Säure) zu erkennen. — Um nun aber genau und
sicher festzustellen, dass diese Körnchen wirklich Arsenik
seien, wurden sie auf die bekannte Weise zu Arsenikmetall
redttcirt und in Form eines glänzenden Metallspiegels dar-
gestellt. — Einige dieser Körnchen wurden auch mit den
wichtigsten Beagentien auf Arsenik geprüft, und zwar a) mit
salpetersaurem Silberoxyd — man erhielt einen gel-
ben Niederschlag oder arsenigsaures Silberoxyd; b) mit
schwefelsaurem Kupferoxyd, wodurch man einen
zeisiggrünen Niederschlag von arsenigsaurem Kupferoxyd
(ScheeVsGheB Grün) erhielt; c) mit Schwefelwasser-
stoffwasser — es zeigte sich ein reichlicher gelber Nie-
derschlag von gelbem Schwefelarsenik; d) mit Kochen
von Salpetersäure, Fällung der Kochung mit Ammoniak
und Zusatz von salpetersaurem Silberoxyd — es zeigte sich
24 Vergiftung mit weifis^m Anemk.
ein braani^r Niederschlag von baAiQch-salpuleroaQrem Silber-
oxyd.
Obschon hieroach die Anwesenheit von Arsenik in deft
nntersuehten Substanzen erwiesen war, so. wurde doch noch
ein Xbeil des Mageninhaltes der 4far«A's0hen Probe unter-
worfen, wodurch eine grosse Anzahl von Metallspiegeln -^
redueirtero Arsenik — erbalten wurde.
Aus dieser Untersachnng ging mit Evidenz hervor, dass
die aus dem Inhalte des Magens und von der innern Ma^
genfläche abgesonderten Körnchen weisser Arsenik waren,
und dass „die au%efundene Quantität viel grösser sei, aU
zur Tödtuttg eines Menschen erforderlich wäre^.
Nadideni also der Nachweis geführt worden war, dass
in dem Magen des Wirtbes Johann L „mehr als eine tödt*
liehe Menge Arsenik^ vorhanden war, gaben die Obducen-
ten Dr. Th- und Dr. B, ihr motivirtes Gutachten dahin ab,
dass der Tod desselben ohne Zweifel durch Arsenik- Vergif-
tung erfolgt sei. Sie gründen da^elbe auf folgende Momente
(grösstentheils Leichenerscheinungen) :
„1) Auf die Gongestionen nach dem Gehirn und die
wässrigen Ausschwitzungen zwischen den Gehirnhäuten (Sect.-
Prot. 9., 11., 13.), welche bei Arsenik - Vergiftungen cha-
racteristisch wären. (Jl/arct^, Handb. der gerichtl. Arz-
neiwissenseh. 2. Bd. §. 1790 — 2) Auf die starke üeber-
fuUung der hintern Lungenpartie mit Blut, so dass di^er
Theil fast hepatisirt erschien (14.). — 3) Auf das Flüssig-
sein des Blutes in den Gefassen und den Herzhöhlen (17.),
was far ein characteristisches Kennzeichen einer
Vergiftung mit Arsenik von allen (?) Autoren gehalten
werde. {Marcus -Conabruck^ Staatsarznejiwissensch. Bd. 2*
S. 44, — Henke, gerichtl. Medic. §, 637.) — 4) Auf den
V«¥giflttng mit weksem Arsesä. 25
ümstond, dass in d«r Banehhöhle 10 — 12 Unzen Wasset
sich vorfimden (20.)« Auf dieses Mcmient legen die Obducen-
ten ein besonderes Gewicht, indem ^nestheils es &ich da-
durch erklären lasse, wari^m der Arsenik seine corrosive
Wirkung auf die Magenwände nicht habe entfalten könneo,
andemtbeils aber auch die lange Krankheit des /. dadurch
zu erklären sei und das Vorwalten der secundären Vergif-
tungssymptome eben darin zu suchen wäre. Die Menge
von, 10 — 12 Unzen wässriger Flüssigkeit in dem Magen sei
nur durch den Arsenikreiz erzeugt; denn etwa ein wasser-
süchtiger Zustand wäre bei dem kräftigen, wohlgenährten
Aussehen des Verstorbenen nicht zu statuiren. — b!) Auf
das Nichteingetretensein Ton Fäulniss der Leiche 5 Tage
nach dem Tode des Verstorbenen (Sect.-Prot. 2.), — 6) Auf
die Zeugen-Aussagen, nach denen es feststehe, dass der Ver-
storbene am Sonntage, den 22. April 1855, heftige Leib-
schmerzen bekommen habe, welche ihn bis zu seinem Ende
nicht verliessen, und dass er den 24sten Mittags unter
Zuckungen seinen Geist aufgab. Heftige Leibschmerzen
während des Lebens ständen aber bei einer acuten Arsenik-
Vergiftung obenan; und Zuckungen während des Krankseins
und der Tod unter Zuckungen seien ebenfalls ein bekann-
tes und von allen Schriftstellern beglaubigtes Zeichen einer
Arsenik^Vergiftung."
In Folge dieses Gutachtens der Obducenten vom 4. No-
vember 1855 wurde von der hiesigen Königl. Staatsanwalt-
schaft die Anklage wegen vorsätzlichen und mit Ueberlegung
vollbrachten Giftmordes an dem Wirth /. durch seine Ehe-
frau in Gemeinschaft mit der Losfrau K. erhoben und die
beiden Verbrecherinnen vor das Schwurgericht gestellt. —
Bei der schwurgerichtlichen Verhandlung am 14. Januar 1856
gab Dr. TL sein Gutachten im Wesentlichen so ab, wie es
in dem oben mitgetheilten genauen Resumö niedergelegt ist
26 Vergiftung mit weissem Arseoik.
Dr. B, jedoch, der dasselbe als zweiter Obducent mitunter-
schrieben hatte, erklärte, dass, nachdem er von den Zeu-
gen einige ihm frfiher unbekannt gewesene Thatsachen m
foro gehört habe, er sein ürtheil ober den Torliegenden
Vergiftungsiall Andern müsse, und könne er dasselbe jetzt
nur dahin abgeben, dass der Tod des /. „höchst wahr-
scheinlich^ durch Arsenik erfolgt sei. — Er glaubt sieh
zur Aenderung seiner ursprünglichen Ansicht dadurch be-
stimmt, dass er in dem Audienz - Termine Erscheinungen
über die letzte Krankheit des /. erfuhr, welche nicht mit
den gewöhnlichen Bildern solcher Vergiftungen congruiren,
dass namentlich die localen Erscheinungen an der Leiche,
als auch insbesondere die zu Lebzeiten des /. nicht der Art
wären, welche iur eine Aufnahme des Arseniks ins Blut
sprächen; — es fehlten namentlich alle und jede sensoriel-
len Erscheinungen, die doch unbedingt durch eine Blutver-
giftung hervorgerufen werden müssten. Der Kranke sei
vielmehr völlig bei Bewusstsein gewesen, Lähmungen oder
Krämpfe hätten sich nicht gezeigt; denn er wäre stets im
Stande gewesen, zur Befriedigung der natürlichen Bedürf-
nisse, das Bett zu verlassen, und endlich sich seines Endes
bevnisst gewesen, indem er bis auf den letzten Augenblick
mit seiner Frau gesprochen habe. — Schliesslich müsse er
noch bemerken, dass, wenn die chemische Untersuchung
der grössern parenchymatösen Organe des Unterleibs oder
des Gehirns und der Lungen die Anwesenheit i^ii Arsenik
nachweisen sollte, dann auch ihm die Tödtung durch Arsenik
unzweifelhaft wäre. Diesen Widerspruch des einen Sach-
verständigen in foro mit dem ursprünglichen Obductions-
ProtocoUe benutzte natürlich die Vertheidigung dahin, dass
sie den Antrag an den Schwurgerichtshof stellte, es möchten
noch zwei andere Sachverständige in dieser so ernsten Sache
zugezogen werden. — Demgemäss wurden wir, Dr. K. und
Vergiftung mit weissem Arsenik. 27
ich, zur schwurgerichtlichen Verhandlung geladen. Zuvör-
derst beantragten wir die Verlesung des Sections- und Ob-
ductions-ProtocoUs, und des auf dieses gestützten motivirten
Gutachtens der Obdncenten, femer des Berichts des Eönigl.
Medicinal-CoUegiums über den chemischen Befund der Ein-
geweide des Verstorbenen. — Nachdem diesem unsern An-
trage entsprochen war, gab Dr. K, ein beiden Obducenten
vollständig entgegengesetztes Gutachten ab, indem er aus-
zufahren suchte, dass zwar der Giftmord versucht, dass aber
höchst wahrscheinlich der Tod in dem vorliegenden Falle
durch Schlagfluss erfolgt sei. Er motivirt dieses sein Gut-
achten im Wesentlichen folgendermaassen :
„Der Wirth /. sei notorisch ein entschiedener Säufer
gewesen, und habe dieses Laster störend auf seinen Gesund^
heitszustand eingewirkt, namentlich hätte es gastrische Be-
schwerden und Kolikschmerzen erzeugt. Durch den über-
mässigen Genuss von Spirituosen wäre denn auch bald das
eheliche Verhältniss locker geworden und es zwischen den
Eheleuten zu Streit und Zank gekommen, der leider auch
zu oft in Schlägerei ausartete. Die Losfrau JT., welche mit
der Frau /. auf vertrautem Fusse lebte und deren Manne
feindlich gesinnt war, kam mit Letzterer überein, den /. zu
vergiften, wozu ihnen ein Jude durch Beschafiung einer gif-
tigen Substanz behülflich war. Am 21. April 1855 kam /.
mit Leibschmerzen nach Hause, welche periodisch auftraten
und mit Diarrhöe verbunden waren. — Er sei nun zwar in
diesem Erankheitszustande zu Bette geblieben, habe jedoch
immer aufstehen können, und zwar ohne Beschwerden, um
sein Bedürfiiiss zu verrichten. Dazu habe er, wie er es
sonst zu thun pflegte, reichlich Schnaps getrunken und, da
dies gegen seine Beschwerden nichts habe helfen wollen,
am 22. April einen Schnaps mit Pfefl^er und Tabakssaft ver-
setzt. Dabei hätte er noch am selbigen Tage zu Mittag
28 Vergiftung mit weissem Anenik.
FleiBch und Kartoffeln gegessen, Abends Milch und Brod,
und am 23. April Mittags grane Erbsen. An diesem Tage —
also etwa 24 Standen vor seinem Tode — bekam er von
seiner Frau einen Schnaps, welchem eine Prise von einer
giftigen Substanz zugesetzt war, nach deren Genüsse sich
aber die Krankheitserscheinungen weder veränderten, noch
verschlimmerten, die Schmerzen wären nach wie vor pan-
senweise gekommen und hätten die nächtliche Ruhe gänz-
lich gestört. Er sei jedoch bei völliger Besinnung geblieben,
habe die Befürchtung seines Todes ausgesprochen, verlangte
und leerte am 24. April Morgens eine Flasche Bier und
ging nach wie vor zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auf
den Hof, — besuchte an dem Vormittage die Dorfversamm-
lung, kehrte jedoch sehr bald zurück und starb bald darauf
unter den bisherigen Krankheitserscheinungen in den Armen
seiner Ehefrau zur Mittagszeit. Ein Zeuge sagt, er sei unter
Krämpfen oder vielmehr Zuckungen gestorben, und ein an-
derer hätte sogar noch beim Abwaschen der Leiche Zuckun-
gen im Gesicht bemerkt üeber die Zahl der Darmauslee«-
rungen und Beschaffenheit derselben konnte nichts ermittelt
werden. — Nachdem Dr. K. diese Vorbemerkungen und die
Sections - Resultate voraufgeschickt hat, wendet er sich zur
Kritik des Falles selbst. Er beleuchtet zunächst die Krank-
heitserscheinungen des Verstorbenen, findet darin die Zeidien
einer acuten und chronischen Arsenik- Vergiftung nicht,, son-
dern vielmehr das Bild einer ausgeprägten Kolik, wozu /.
als Säufer entschieden disponirt wäre, und auch nach Aus-
sage der Zeugen daran gelitten habe. Zur Bekämpfung
dieser Krankheit habe er geradezu schädliche Mittel, wie
Schnaps mit Pfeffer und Tabakssaft vermischt, angewandt,
die natürlich seinen Zustand ungleich bedenklich machten. —
Er habe ausserdem an Diarrhöe gelitten, die jedoch nicht
heftig gewesen zu sein scheint, weil der Kranke davon nie
Vergiftmig mit weissem Arsenik. 28
im Bette überrascht worden, 'Sondern das Bedftrfniss dratiSBen
befriedigte; sie kaan also aaeh nicht gefährlich, viel weniger als
Folge einer Arsenik- Vergiftung angesehen werden. — Etwa
24 Stunden vor seinem Tode erhielt der Kranke eine Prise
Arsenik, wonach sich aber sein Zustand nicht verändert
habe, es blieben vielmehr die wesentlichen Symptome Ms,
welche man von einer Arsenik -Vergiftung theoretisch und
erfahrungsgemäss zu erwarten berechtigt ist, wie Corrosionen
der Schleimhäute der Mundhöhle, Speiseröhre u. s. w» Auch
die Wirkung des Arseniks auf das Nervensystem vermisse
er hier gänzlich : Angst, Zittern der Glieder, heftige Krämpfe,
selbst Starrkrämpfe, Besinnungslosigkeit u. dgl., welche doch
bei einer acuten Arsenik -Vergiftung, wie im vorliegenden
Falle, nicht ausbleiben könnten. — Auf die Aussage einiger
Zeugen, dass /. unter Zuckungen gestorben wäre, sei nichts
zu geben, da dieselben unzuverlässig seien; überdies ent-
hielten diese Behauptungen gerade einen Widerspruch, da
man im Gegentheü Lähmung des ganzen Nervensystems er-
warten müsse. Ausserdem wäre denn doch zu bedenken,
dass Krämpfe im Todeskampfe auch ohne Mitwirkung von
Arsenik auftreten!
Was nun die Sections-Resultate betrifft;, so hätten diese
eben so wenig eine Arsenik- Vergiftung constatiren können:
der ganze Darmcanal vom Munde bis zum After wäre nor-
mal gefunden (4.), die leichte Ablösbarkeit des Epitheliums,
die Färbung einiger kleiner Blutgefässe in der Schleimhaat
der Speiseröhre (12.), die einzelnen gerötheten Punkte in
der Schleimhaut des Magens (15.) seien ganz unwesentlich
und mit dem Tode in keinem ursächlichen Gonnex stehende
Erscheinungen. Die Wirkung des Arseniks sei chemisch
und dynamisch zugleich. Es zeigen sieh aber in ersterer
Hinsicht namentlich keine Corrosionen, Verdickung der
Schleimhaut, Ecchymosen u. s. w. Die grosse Ausdehnung
90 Vergiftung mit weissem Arsenik.
des Magens darch Gas und Speisebrei könne diese Wir-
kung nicht verhindern, höchstens die Wirkung des Arseniks
schwächen, wogegen sowohl die primären wie secundären
Sectionserscheinungen völlig bedeutungslos seien; nur der
grosse Gongestivzustand der Geftsse des Kopfes und Gehirns
und das seröse Exsudat auf der Gehirnoberfläche (6., 7.,
8., 9.) wären von hoher Bedeutung und die nächste Ur-
sache des Todes — seien Erscheinungen des Schlagflusses,
der jedoch nicht als Wirkung des in den Magen ingerirten
Arseniks, die nur unter sehr günstigen Umständen und bei
sehr grossen Gaben eintreten könnte, zu betrachten wäre.
Dann zeigten sich auch stürmische Erscheinungen im Ner-
vensystem, wovon im vorliegenden Falle nichts bekannt
geworden. — Das Symptom des mangelnden Leichen-
geruchs (3.), nach Angabe der Obducenten, hätte kein be-
sonderes Gewicht, da im Gegentheil die Trübung der Horn-
häute der Augen den Fäulnissprocess verkündigten, und
Hüne/M gerade die Leichen der, durch Arsenik Vergifteten
rasch in Fäulniss fibergehen sah, die erst später durch die
Schimmelbildung und Mumificirung eingeschränkt werde. —
Femer hätte ein erheblicher Congestionszustand nach den
Bmstorganen (10.) und denen des Unterleibes (16.) nicht
stattgefunden, weshalb die flüssige Beschaffenheit des Bluts
in der Brusthöhle auch andern Krankheiten zugeschrieben
werden könne. — Dagegen vermisse er die constantem
Merkmale einer Arsenik- Vergiftung, namentlich Ecchymosen
an der äussern Haut, namentlich den Geschlechtstheilen,
Steifigkeit und Verkrümmung der Extremitäten, starke
meteoristische Auftreibung des Unterleibs, Lockerwerden
der Haare und heitere Gesichtszüge. Was die aufgefundene
Quantität Arsenik von 5| Gran in dem Magen betriflt, so
statuire er wohl dieselbe, beanstande jedoch die Behandlung
des 3 Pfund enthaltenden Mageninhaltes nach der Marah-
Verjüng mit weissem Arsenik. 31
Bchen Methode, weil ihr Verfahren, welches viele Gautelen
erfordere, nicht angegebea sei. Namentlich yermisse er die
Beweisführung, dass die gewonnenen Metallspiegel durch
Arsenikd&mpfe gebildet seien, indem auch Antimon, Eisen,
Phosphor, Schwefel, Jod, Brom, selbst animalische Stoffe,
dergleichen Flecke erzeugen. — Aber auch angenommen,
flüirt Dr. K. fort, dass der Verstorbene 5f Gran weissen
Arsenik etwa 20 Stunden vor seinem Tode genossen habe,
so ist die Menge zwar hinreichend, unter gewissen ümstän^
den und in d^ angegebenen Frist einen Menschen zu tödten,
doch ist dies noch nicht eine absolut genägende Menge;
Alter, Organisation, vitale Stimmung im Allgemeinen und
insbesondere des Magens, chemische Beschaffenheit und
Quantität des Mageninhaltes und andere ümst&nde seien
•
hier von entschiedenem Einflüsse. Die meisten Aerzte neh-
men eine ungleich grössere Menge als 5| Gran zur Tödtung
eines Menschen als genügend an. In dem vorliegenden
Falle aber sei der Magen zur Wirkung des Arseniks nicht
günstig gewesen; denn derselbe wäre mit einem dicklichen
Speisebrei gefüllt und hätte /. das Gift mit Branntwein
genommen und vorher und nachher reichlich Branntwein
und Bier getrunken« Diese Umstände mussten die ener-
gische Wirkung des Arseniks sehr hemmen; femer musste
auch das Geschlecht, Alter und die Constitution des Ver-
storbenen die geringe Quantität Gift nicht zur tödtlichen
Wirkung gelangen lassen, besonders da nach Artus in Jena
dieselbe weder durch Salpetersäure noch salpetersaure Salze
begünstigt wäre. (?I)
Nach allen diesen Betrachtungen könne er den Tod des
/. nicht fiir unbedingt vom Arsenik ableiten, sondern der-
selbe sei höchst wahrscheinlich durch Schlagfluss erfolgt,
als eine Folge der beabsichtigten Vergiftung, wozu
dann noch die Trunksucht durch Unterhaltung eines Con-
SS Yerc^ftang mit weissem Anenik.
gestiTXästaAdes naeh dem Gehirn, ferner das iinvor8ich(%e
Verhaltea des Kranken selbst vier Tage vor seinem Tode
durch die G&nge aus dem Bette in die freie Luft — sogar
noch einige Stunden vor seinem Tode — gan« hinreichende
Veranlassung gegeben hätten.^ ^)
So wie die Sachlage bis jetzt stand, war der vorlie-
gende TergiftungsfaU nicht allein nicht aufgehellt den Ge*
schwornen gegenüber, sondern in der That verdunkelt; denn
es standen sich gerade zwei Ansichten — die des Dr. Th.
und Dr. K. — schnurstracks entgegen ; die dritte hatte den
Mittelweg eingeschlagen, näherte sich aber der erstem sehr,
streifte also eigentlich an die Wahrheit — Wegen dieser
Differenz musste schon immer eine höhere Instanz zur de-
finitiven Entscheidung des Falles angetreten werden, und
kam es nur darauf an, ob die Wissenschaft denn auch wirk-
lich im Stande wäre, den Vergiftungsfall so aufzuhellen, dass
er gerade den Geschwor nen unzweifelhaft erschien. —
Ich schloss mich daher in meinem Gutachten dem des Dr. R
an und versuchte nachzuweisen, „dass alle diejenigen Mo-
mente, welche bei einer Arsenik- Vergiftung in Betracht kom-
men, und zwar 1) die dem Tode des Vergifteten voraus-
gegangenen Symptome, 2) die Veiftnderungen und Abnor-
mittten im Innern der Leiche, 3) die äussern Erscheinungen
an derselben — in dem gegenwärtigen Falle nicht mit
Sicherheit auf eine solche schliessen liessen, dass dagegen
zwei andere sehr wichtige Umstände allerdings ein bedeu-
tendes Gewicht in die Waagschale legen müssten, nämlich:
4) die Abwesenheit aller Anzeichen einer andern Todesart
und 5) die chemische Nachweisung des im Magen gefimde-
1) Bin sehr eigeuthfimliches Gutachten!! (7.
Vergiftttng mit weissem Arsenik. 33
nen Arseniks. Diese beiden Momente gemeinschaftlicli, und
selbst das letztere allein, sind wohl im Stande, eine Arsenik -
Vergiftung zu begründen, jedoch nicht ohne allen Zweifel,
da dem Arsenik zwei ganz verschiedene Wirkungsweisen
zukämen, nämlich eine rein chemische und eine dynamische.
Im erstem Falle wirke er als ätzendes, corrodirendes Gift,
errege Entzündung und deren Ausgänge in brandige Zer-
störung des Magens und Darmcanals, im letztern durch
Blutvergiftung und Lähmung des Centralnervenlebens und
namentlich des MeduUarsystems. Da die erste Wirksamkeit
weder an dem Lebenden noch in der Leiche nachgewiesen
ist, so muss die zweite in unserm Falle stattgefunden haben,
und es ist rein Sache der chemischen Untersuchung, den
Nachweis davon zu Hefern. Eine chemische Untersuchung
aber, wie sie in dem vorliegenden Falle gefuhrt worden ist,
dürfte nach dem heutigen Standpunkte der Toxikologie nicht
mehr genügen, weil gerade ein blutreiches Eingeweide, wie
die Leber, Lungen u. s. w., nicht untersucht worden ist. —
Wurde doch in einem von Legrotix^ Arzte am Hospitale
Beaujon in Paris, beobachteten Falle von Arsenik- Vergiftung
der Arsenik in dem Serum einer durch ein Vesicans er-
zeugten Blase aufgefunden ; wie viel leichter müsste er dann
nicht im Blute, wohin er durch seine chemisch-dynamische
Kraft und mittelst der Absorption gelangt sein müsste, auf-
gefunden werden können I — Würde daher die chemische
Untersuchung den Arsenik als auch ins Blutleben überge-
treten nachweisen, dann wäre es ausser allem und je-
den Zweifel gesetzt, dass der Wirth /. den Tod durch
Vergiftung mit Arsenik und zwar durch Lähmung des Blut-
und Nervenlebens gefunden habe. — Die im Magen und
Mageninhalte aufgefundene Menge Arsens von b\ Gran ist
meiner Ansicht nach gewiss grösser als hinreichend, um
einen Menschen zu vergiften, da nach der Ansicht bewähr-
Catper, Vjachrft. f. ger.MecL XXII. 1. 3
34 Yergiftang mit weiflMm Anenik.
ter Autorit&tea man annehmen dfirfe, dass j bis 1^ Craa
arseniger Säure als die kleinste Dosis angesehen werdea
könne, die bei erwachsenen Personen noch den Tod naeb
sich zu ziehen vermöge.^
In Folge dessen wurde die schwurgerichtliche Verhand-
lung ausgesetzt und die Ausgrabung der Leiche vom KönigU
Ereisgericht zu L. angeordnet. Dieselbe fand am 18. Ja-
nuar 1856 Statt, und nachdem die Identit&t derselben als
die dem Wirth /. angehörige gehörig festgestellt war, wurde
dieselbe von den Obducenten besichtigt und dabei in den
Acten bemerkt: ,,Der Leichengeruch ist im Allgemeinen
nicht stark und die Verwesung des Körpers in Betracht zu
der Zeit, durch welche er in der Erde gelegen hat (beinahe
f Jahre) nur massig vorgeschritten. Das Gesicht eingeiallen,
die Hautfarbe braun, die Haut hart, die Augäpfel ganz zer-
flossen, die Kopfhaut weicher und die Haare leicht auszu-
ziehen. Das Gehirn auf den dritten Theil reducirt und seine
Substanz aufiallend fest. Die Haut des Körpers braun, fest
und beinahe pergamentartig trocken.^ — £s wurden nun
dem Leichnam folgende Eingeweide zu einer zweiten chemi-*
sehen Untersuchung entnommen : das Herz, die Leber, N^-^
ren und das Gehirn; die Milz war nicht mehr zu finden.
Die qu. Untersuchung erstreckte sich ausschliesslich auf diese
Eingeweide, und es wurden dabei die drei besten Prüfungs-
methoden in Anwendung gezogen, und zwar nach Mar eh
durch Reduction des Arsenikmetalls aus erhaltenem Arsen-
wasserstoifgas in dem bekannten Apparate ; nach PreaemuB
durch Darstellung von Schwefelarsen und Reduction dessel-
ben mittelst Cyankalium, wodurch gleichzeitig die Abwesen-
heit von dem in vieler Beziehung mit dem Arsenikmetall
ähnlichen und leicht zu verwechselnden Antimonmetall dar-
gethan wird, und endlich nach einer erst neuerdings bekannt
gewordenen Methode yovL Schneider in Wien durch Bil-
Vergiftung mit weisdem Arsenik. 35
düng Yoa Arsenchlorid bei Destillation der zu untersuchen-
den Substanz bei Zusatz von Kochsalz und Schwefelsäure
und Reduction des Destillats im Mir^Ä'schen Apparat. —
In allen genannten Eingeweiden hatte das Königl. Medicinal-
Collegium die bekannten Arsenmetallspiegel gefunden. Die
Menge des anwesenden Arseniks betrag 17| Gran, so dass
die Gesammtmasse desselben mit den im Magen und Ma-
göniahalte ia dem verflossenen Jahre gefundenen 5| Gran
23yV Gran betrug. — Gleichzeitig mit dem Ansuchen: die
chemische Untersuchung mit den genannten Eingeweiden
und Organen vorzunehmen, war auch das Königl. Medicinal-
Collegium der Provinz ersucht, auf Grund der eingeschickten
Untersuchungs - Acten und der in diesen niedergelegten vier
Gutachten der Sachverständigen über die Todesart des Wirths
Johann L das
Sn^rarbitriui
abzugeben.
Nachdem dasselbe im Eingange die Wirksamkeit des
Arseniks auseinandergesetzt und mehrere Beispiele angeführt
bat, dass bei dem noch Lebenden die bekannten Krankheits-
symptome fehlen könnten, und bei dem Leichname des Ver-
gifteten die Sections-Resultate entweder gar keine Andeutung
oder doch nur sehr geringfügige bei Vergiftungen mit Ar-
senik zeigen, wie dies namentlich Christison, Chaussier^
MeUge^' und EttmüUer beobachtet hätten, fährt das Ober-
Gutachten der genannten Behörde wörtlich also fort:
„Der objective Thatbestand einer Arsenik- Vergiftung wird
ermittelt: 1) aus den Krankheitserscheinungen, welche an
der angeblich vergifteten Person während des Verlaufs des
durch die angebliche Vergiftung herbeigeführten Krankheics-
processes beobachtet werden; 2) aus den pathologischen
Zuat&nden in der Leiche, und 3) aus der chemischen Un-
tersuchung der im Körper befindlichen Substanzen.
36 Yergiftnng mit weissem Arsenik.
„Diese Beweismittel haben jedoch nicht eine gleiche
Beweiskraft. Die Krankheitserscheinungen an dem Leben-
den und die Ergebnisse der Section sind, wie wir oben
nachgewiesen haben, häufig nicht so vollständig und cha-
rakteristisch, dass man aus ihnen auch nur mit einiger
Sicherheit auf eine Arsenik - Vergiftung schliessen kannte,
ja, sie fehlen bisweilen sogar fast gänzlich, und es werden
nicht selten Krankheitserscheinungen während des Lebens
und in der Leiche wahrgenommen, welche mit den durch
die Arsenik - Vergiftung bewirkten die grösste Aehnlichkeit
haben. Die Auffindung des Arseniks in der Leiche und die
Ausscheidung dieses Giftes in einer Quantität, welche er-
Mrungsmässig den Tod herbeifahrt, giebt allein einen sichern
Beweis f&r die stattgefundene Vergiftung; die Krankheits-
erscheinungen und das Besultat der Section begründen nur
den Verdacht derselben. Nach diesen Bemerkungen über
die Wirkung des Arseniks und über die Beweismittel des
objectiven Thatbestandes der Vergiftung durch Arsenik wen-
den wir uns zur Beurtheilung des vorliegenden Falles. —
„/., ein MaAn von einigen 40 Jahren und von kräfti*
ger Körperconstitution, ein notorischer Säufer, klagte Sonn-
abend, den 21. April 1855, über Leibschmerzen, an welchen,
nicht selten bei Säufern, er auch in dem verflossenen Winter
bisweilen gelitten haben soll. Diese Schmerzen hielten auch
am Sonntage und die Nacht zum Montage an. Am Mon-
tage, den 23. April, nach dem Verschlucken des angeblichen
Giftes, stellten sich diese Schmerzen nach der Aussage der
Angeklagten vor wie nach pausenweise ein, nach Aussage
der Zeugin S. steigerten sie sich bis zu seinem Tode von
Stunde zu Stunde, er bekam Leibesöfihuüg und ging einige
Male zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auf den Hof. Am
Dienstage Morgens, den 24. April, scheint er heftigen Durst
gehabt zu haben; denn er trank eine ganze Flasche Bier
Vergiftung mit weissem Arsenik. 37
aus. An diesem Tage war keioe Leibesöffaung, jedoch ver-
mehrte Schmerzen, Krämpfe in Händen und Füssen, Todes*
furcht. Er starb gegen 'Mittag, nach der Aussage zweier
Zeugen unter heftigen Schmerzen und Zuckungen. — Wenn
nun ein gesunder, kräftiger Mensch nach dem Verschlucken
einer giftigen Substanz, ohne sonstige nachweisbare Ursache,
von heftigen Leibschmerzen befallen wird, welche sich zwei
Tage hindiurch, bis zu seinem Tode, von Stunde zu Stunde
steigern; wenn sich zu diesen Schmerzen Durchfall, Durst
und Krämpfe an Händen und Füssen hinzugesellen, und er
nach Verlauf von zwei Tagen unter Zuckungen verscheidet,
80 ist der Verdacht, dass er an Arsenik-Vergiftung verstor-
ben sein könne, unbezweifelt begründet. — Dieser Verdacht
wird durch die Ergebnisse der Section bestätigt. Man fand
bei der fünf Tage nach dem Tode angestellten gerichtlichen
Section keinen Leichengeruch und keine Fäulniss, bei der
am 18. Januar 18&6, also beinahe neun Monate nach dem
Tode, vorgenommenen Ausgrabung keinen starken Leichen-
geruch, die Verwesung nur massig vorgeschritten, das Ge-
sicht eingefallen, die Farbe der Haut und die Muskeln des
Brustkastens braun ^ hart und ^t pergamentartig, das Ge-
hirn ungefähr auf den dritten Their reducirt und die Sub-
stanz auf&llend fest. Obgleich es zu bedauern ist, dass der
Unterleib und die Extremitäten in Bezug auf den Grad ihrer
Fäulniss nicht untersucht worden sind, so spricht dennoch die
eben angeführte Beschaffenheit des Leichnams für die Ge-
genwart von Arsenik, welcher bekanntlich die Kraft besitzt,
die Fäulniss «uifzuhalten und allmähUg ein Eintrocknen, Mu-
mificiren, der I/eiche zu bewirken. Daraus, dass der Ar-
senik seiiie fäulnisswidrige Kraft nach Herausnahme des
Magens, in welchem 23^^, Gran dieses Giftes vorgefunden
wurden, noch neun Monate nach dem Tode bewahrte, lässt
auf eine bedeutende Quantität Arsenik sehliessen, welche
38 Vergiftong mit weissem Araeiiik.
noch in der Leiche znrfickgeblieben sein musste. Blotreieb*
thnm der Hirnhäute, des grossen und kleinen Gehirns, der
Ge&sse and Blutleiter, Flüssigkeit des Blntes in den Höh-
len und grossen Gefitosen des Herzens — das Blnt in den
grossen GeßU$sen des Unterleibes ist nicht untersncht wor-
den — seröse Ausschwitzangen in Folge dieser Congestio-
nen, leichte Ablösbarkeit der Schleimhaut der Speiseröhre^
wie sie in der Leiche des /. gefunden wurde, trifft man
h&uiig in Arsenik«Vergiftungen an. Auf die Blutfiberf&Uung
der hintern Fläche der Lungen legen wir in diagnostischer
Beziehung keinen Werth, da sie, auf diesen Theil der Lun-
gen beschränkt, nur durch die Senkung des Bluts nach dem
Tode in die am niedrigst gelegenen Theile (Leichenhypo-
stase) entstanden sein kann ; die fast leberartige Beschaffen-
heit dieses Organs aber (Hepatisation) müssen wir in Ab-
rede stellen. Sie wird durch eine Lungenentzündung be-
wirkt, deren Symptome während des Lebens des /. ni<^t
wahrgenommen wurden, und die, wenn wir ihre Gegenwart
nicht bezweifeln sollen, wenigstens anatomisch genau hätte
beschrieben werden müssen. Es fanden sich mithin in der
fieiche keine abnormen Zustände, welche nicht auf Arsenik-
Vergiftung bezogen werden können. Irgend ein anderer
Krankheitszustand, welcher den Tod veranlasst haben könnte,
wird durch sie nicht nachgewiesen. Wenn nun auch nicht
geläugnet werden kann, dass die Krankheitserscheinungen
bei dem /. in Bezug auf ihre Mannigfaltigkeit nicht den
Zufällen entsprechen, welche man in der Mehrzahl der FäUe
tödtlicher Arsenik- Vergiftung beobachtet hat, wenn nämltek
die Resultate der Section f&r sich allein wenig Werth f&r
die Diagnose haben, so darf man doch nicht tberseheo,
dass fast allein die unglaubwürdigen Aussagen der Ange-
klagten, in deren Interesse es liegt, die Krankheit ihres
Mannes so unvollkommen und so unbedeutend als möglich
Vergiftung mit weissem Arsenik. 39
darzustellen^ über die Erankheitserscheinungea Auskunft
geben, und dass weder die Frau /., noch die Maria S. in
den Verhören ober die einzelnen Krankheitserscheinungen,
welche meistentheils die Arsenik - Vergiftung manifestiren,
speciell und ausfuhrlich vernommen, sondern nur in den
Schwurgerichts-Sitzungen über die etwaige Gegenwart eini-
ger Symptome speciell befragt wurden. Man muss ferner
wohl beachten, dass, wie wir nachgewieseir und durch Bei-
spiele belegt haben, die constantesten , ja selbst fast alle
Zeichen der Arsenik -Vergiftung bei den Lebenden und in
den Leichen, in der letztern alle krankhaften AflFectionen
des Nahrungscanais in den Fällen vermisst werden, in wel-
chen nach grossen Gaben des Arseniks der Tod nicht mit-
telbar durch Magen- und Darmentzündung und deren Aus-
gang in Brand, sondern unmittelbar durch Lähmung des
Blut- und Nervenlebens herbeigeführt wurde. Endlich müs-
sen wir noch darauf aufmerksam machen, dass in dem vor-
liegenden Falle die corrosive Wirkung des Arseniks auf den
Magen durch die Menge des in demselben vorgefundenen
Speisebreies, namentlich der schleimigen Grütze, verhindert
wurde.
^Die chemische Untersuchung des Herzens, der Lungen,
der Leber, der Nieren, des Gehirns und des Magens hat
nnzwetfelhaft Arsenik nachgewiesen, in dem letztem allein
eine bedeutende Quantität, und die Gegenwart des Giftes
in den genannten Organen beweist eben so unzweifelhaft,
dass ein materieller Uebergang desselben in die Blutmasse
stattgefunden hat, welcher nur während des Lebens möglich
ist, dass also der Arsenik in sehr bedeutender Menge dem
Lebenden einverleibt wurde. Der Tod musste unter diesen
Umständen einteeten, und ist bei dem sonst gesunden Manne
lediglich durch den Arsenik herbeigeführt.
„Wenn wir die grosse Menge d^s in dem Körper vor-
40 Vergiftung mit weiasem AfBenik.
gefundenen Arseniks und seine Aufnahme in iast alle Haupt-
organe des Körpers, selbst in das Gehirn, und das entschie-
dene Auftreten der Krankheitserscheinungen bereits am
Sonntage ins Auge fassen, so scheint es höchst wahrschein»
lieh, dass der /., gegen die Aussage der Angeklagten, das
Gift nicht erst am Montage, den 23sten, sondern wenigsteu
bereits am Sonntage, den 22sten April, erhielt.
„Schliesslich widerlegen wir noch die Einwurfe, welche
Dr. B. und Dr. 2>. in ihrem Gutachten vom 15. Februiur
und Dr. iT. in seinem Gutachten vom 10. März d. J. gegen
die Arsenik - Vergiftung in diesem Falle erhoben haben.
Dr. B. und Dr. D. geben nur die höchste Wahrscheinlich-
keit der Arsenik -Vergiftung zu, Dr. K. stellt selbst die
Möglichkeit derselben in Abrede, weil die Mehrzahl der
Krankheitserscheinungen, welche nach einer Arsenik -Ver-
giftung während des Lebens beobachtet und in der Leiche
vorgefunden werden, fehlten. Dr. B. vermisst namentlich
in diesem Falle, in welchem, wie er zugiebt, der Tod durch
Lähmung des Gentralorgans des Nervensystems eintrat, die
Zuckungen ausgenommen, die Symptome der Affectioa des
Nervensystems, Trübung der sensoriellen Thätigkeit, Läh-
mungen, Ohnmächten, grosse Hinfälligkeit. Diesen Einwarf
glauben wir bereits durch den oben gegebenen Nachweis
beseitigt zu haben, dass die constantesten Symptome, ja
fast alle, bei einer Arsenik -Vergiftung fehlen können, und
dass allein die Auffindung einer erfahrungsmässig tödtUchea
Quantität Arsenik in dem Körper des Verstorbenen eine un-
umstössliche Beweiskraft fär den Tod durch Arsenik hat*
„Wir finden uns noch veranlasst, zu bemerken» dass
Dr. EL in unserm Falle, in welchem der Tod durch Läh«
mung des Blut- und Nervenlebens eintrat, aus der Abwesen-
heit der Zeichen, welche die corrosive Einwirkung des Ar-
seniks auf Magen und Gedärme manifestiren, Grunde gegen
Yergiftvng mit weissem Arsenik. 41
die Arsenik-Vergiftung nicht entnehmen kann. Wenn Dr. £
ferner das Besultat, welches wir durch die Untersuchung dier
üfartfA'schen Melhode erhalten haben, in Zweifid zieht, weil
dieses Verfahren, welches viele Cautelen erfordert, nicht aus*
f&hrlich angegeben ist, und weil er die Beweisführung ver-
misst, dass die gewonnenen Metallspiegel durch Arsenik-»
dämpfe gebildet sind, so müssen wir entgegnen, dass die
Prüfung auf Arsenik durch die ik/ar«A^sche Methode allger
mein bekannt ist, und die Beschreibung derselben für den
Nichtsachverst&ndigen ungenügend, für den Sachverständigen
aber überflussig sein würde. Nach allen neuern Methoden sucht
mmk den Arsenik in metallischer Gestalt darzustellen ; denn
nur vorzüglich als Metall ist derselbe, selbst in den klein*
sten, fast unwSigbaren Mengen, leicht und sicher zu erken-
nen. Es ist dies jetzt audi so aligemein angenommen, dass
bei gerichtlich «-(Gemischen Untersuchungen man nur. dana
erst die Gegenwart de($ Arseniks sicher annimmt', wenn er
als metallischer Arsenik dargestellt ist. In allen andern
Formen und Verbindungen wird die Gegenwart des Arseniks
als ni^ht vollkommen bevriesen betrachtet. Das eben Ge*
sagte gilt far die gleiche Bemerkung auf S. 218 des Gut*
achtens vom 10. März d. J., und was die weitere Bemerkung:
„die Behandlung des sehr bedeutenden Mageninhalts von
beinahe 3 Pfund bürgerlichen Gewichts auf Arsenikgehalt^,
anbetrifft, so sind nach dem Gutachten vom 25. Mai v. J«
bei dieser ersten Untersuchung nur vier Unzen des Magen«
inhaltes auf Arsenik geprüft worden, wobei eine beträcht-
liche Anzahl bedeutender Metallspiegd von Arsenik erbalten
wurden, und von welchen drei in den GlasrOhrchen mit
Nr. 8» bezeichnet und Eines mit Nr. 9. bezeichnet, worin
der Arsenikspiegel dnrdi ErUtzea o;iydirt und in ar»^;iige
Sämre umgewandelt war, als Probe zu den Acten gegeben
sind. In Betreff der «vennisn^en Beweia&hrung, daas die
42 Vergiftung mit weissem Arsenik.
gewoAneneif Metallspiegel durch Arsenikdämpfe gebildet
sind^, ist auf das Gataefaten vom 25. Mai pr. a. ad 3. zu
verweisen, wonach der in dem Röhrchen Nr. 9. enthaltene
Metallspiegel oxydirt und in arsenige Säure verwandelt wor-
den war, und man sich bei einem andern von seiner leich-
ten und vollständigen Flficbtigkeit beim Erhitzen fiberzeugte.
Beides Proben, die das Arsen von dem ihm ähnlichen An-
timonmetall hinlänglich und für diesen Fall genügend unter-^
scheiden, indem ein Antimonspiegel nur schwer flfichtig beim
Erhitzen ist und sich nicht zu einem weissen Anfluge, wie
das Arsenmetall zu arseniger Säure, oxydiren lässt. Die aus
dem Mageninhalte und von den Magenwänden ausgesuchten
5f Gfan weisser Arsenik lassen fibrigens den Schlug« nüM
zu, dass diese die ganze Quantität des darin enthalten ge-
wesenen Giftes gewesen sind, und lassen, wie es die aus
dem Mageninhalte erhaltenen Metallspiegel beweisen, eine
gr5i9sere Menge von Arsenik in dem Mageninhalte mit Sicher«^
hMt annehmen, was die in diesem Jahre fortgesetzte ünter<-
snehnng auch bestätigt hat. Eisen, Phosphor, Schwefel, Jod,
Brom, animalische Stofle und, wie noch hinzugesetzt werden
mnss, Kohle geben zuweilen bei den Prfifungen auf Arsenik
zwar Anflüge, aber von dem Arsen- und Antimonmetall von
sehr verschiedener Att und Färbung, welche theilweise und
h&chetens nur von üngeObten nicht richtig erkannt werden
können, und welche sich von dem Arsen- und Antimon-
metall schon durch das Aussehen sehr wesentlich unter-
scheiden.
„Dass endlich die bei beiden im vorigen und in diesem
Jahre ausgeführten chemischen ünterimchungen, nach dieseiü
und dem Gutachten vom 25. Mai v. J. erhaltenen sämmt-
lichen Metallspiegel aus Arsenmetall bestehen, kann nach
den damit angestelitM Prfiftmgen und Reaeüonen nicht in
gesogen werden, so wie äit aus diesen Untersuchun-
Vergiftung mit weissem Arsenik. 4S
gen zu den Acten gegebenen Gläschen nnd Röhrchen mit
Arsenik, den Metallspiegeln u. s. w. den Einwand vollstän-
dig beseitigen, dass hier „aus unerheblichen Mengen von
ArsenSc, die als Beimischung zu den organischen Stoffen^
vorhanden T¥aren, um dergleichen Metalls{>iegel zu erzeugen,
die aufgefundenen und dem Gerichtshofe vorgelegten Quan*^
tttäten von Arsenik allein, welche durch eine Prüfung der
nicht untersuchten Theile einzelner Organe noch hätten ver*
mehrt werden können, zeugen von dem Gegentheil.
„Am Schlüsse des Gutachtens spricht Dr. K. sich dahfti
aus, dass der Tod des /. höchst wahrscheinlich durch Sehlag-
fluss (BlH«schlagfluJ9S ?) erfolgt sei, fahrt jedoch Ar diese
Ansicht keine positiven Gründe, Weder aus den Krankheits-
erscheinungen, noch ans den Ergebnissen der Leichen-
Seetton, an.
„Nach dem, was wir tber die Wirkung des Arseniks,
über die Krankheitserscheinungen und die Sections-Resultate
bemerkt haben, und nach Auffindung von '29yV Gran Arsenik
im Magen und Nachweis desselben in den Lungen, in dem
Herzen, der Leber, in beiden Nieren und in dem Gehirn
glauben wir einer ausführlichen Widerlegung dieser Ansidit
des Dr. K. überhoben zu sein.^
„Das Resultat unseres Gutachtens ist:
„„dass der in dem Körper des Johann L vorgefun-
dene Arsenik unzweifelhaft die alleinige Ursache sei-
nes Todes gewesen ist.***
Königsberg, den 9. Mai 1856.
Königl« Medicinal-CollegiaH).
(Unterschriften.)
44 Vergiftvng mit weiasem Aiseiiik.
Demgemtos wurde die Aoklage gegen die beiden Yer«
brecherinnea von der EOnigL Staatsanwaltschaft aofredit er-
balten and die Sache abermals vor dem hiesigen Schwär«-
gerichte am 2. Jani 1856 verhandelt. Im Laufe der Ver-
handlung gab die Frau /• zu, von dem Juden L. eia
Geheimmittel) weissen Fischbein (os 9ep%ae) genannt ^\
verlangt und erhalten zu haben, dessen sie sich nach dem
Bathe des Juden nur dazu bedient hätte, um die Liebe des
Mannes sich wieder zu erwerben. — D^^elbe soll ihr —
so Ittgt sie hinzu — ausdrficklich bei der Einhändigung des
Geheimmittels gesagt haben: ,,wenn Du Deinem Manne da-
von eingiebst, so wird er Dich nicht mehr schlagen, sondern
lieben.^ — Diese ihre Ausrede konnte naturlich als eiae
ungeschickte Erfindung der gegenwärtigen Sachlage gegen-
über keine Berücksichtigung finden. Der Dr. Th. bleibt bei
seinem ursprünglichen Gutachten stehen, erklärt jedoch auf
Befragen, dass der Arsenik auch im todten Körper durch
Ze^rsetzung in die dem Magen nahe liegenden Organe fiber-
gefilhrt werden kOnne, aber in einer solchen Menge, wie
dies bei /. der Fall gewesen, halte er es nicht för möglich,
und eben so erkläre er es fär unmöglich, dass die entfern-
tem Organe, wie namentlich das Herz und Gehini, durch
die Zersetzung des Arseniks davon erfüllt werden können.
Dr. B. schloss sich dem 2%.'sch6n Gutachten durchweg an,
auch in Bezug auf die Yerbreitungsweise des Arseniks im
todten Körper. — Ich erklärte, j^dass, da meiner Forderung
in meinem frühem Gutachten an die chemische Untersuchung
genügt wäre, ich es nun für unzweifelhaft halte, dass der
Tod des /. durch Vergiftung mit Arsenik erfolgt sei. In
Bezug auf die Verbreitung des Arseniks im Leichnam theile
1) Die ans kohlensaurem Kalke bestehende knöcherne Stütze einer
Mollnsken-Speeies •-» der Sepia officinalüj Tintenfisch. — Ist also
sehr nnschädlieh. D. Y.
Yergiftnng mit weissem Arsenik. 45
ieh die Ansicliten der Obducenten. — Dagegen erklftrt
Dr. K.\ „Es ist zwar wichtig, jetzt zu erfohren, dass eine
grössere Quantität Gift im Leichnam gefunden worden, allein
ich halte dafür, dass der grösste Theil des Arseniks
ohne Zweifel durch den chemischen Zersetzungs-
process auch im Tode durch den Körper sich ver-
breitet haben könne. Ich halte es nämlich nicht für
wahrscheinlich, dass, wenn der Arsenik in die allgemeine
Blutmasse übergegangen sein sollte, der Mensch noch Tage
oder Wochen lang leben könne. Durch die Ermittelung
von einer grössern Quantität Arsenik in dem Leichnam des
/. sei dessen Vergiftung zwar um Vieles wahrscheinlicher,
es wäre jedoch nach seiner Meinung dadurch die Vergiftung
nicht unzweifelhaft und apodictisch. — üebrigens —
erklärt noch Dr. K. — habe ich meinem Gutachten die An-
nahme zu Grunde gelegt, dass /. nur am Tage vor seinem
Tode eine Dosis Arsenik erhalten habe; würde es dagegen
bewiesen werden, dass er bereits in den letzten Tagen vor
seinem Tode, also vielleicht schon am Sonnabend und den
folgenden Tagen, mehrere Dosen Arsenik erhalten habe,
dann erkenne ich an, dass der Tod des 7. durch Arsenik
nach menschlicher Einsicht fax unzweifelhaft und gewiss zu
erachten sei. —
Der Medic.-Rath Dr. t?. T., als Vertreter des Medicinal-
Collegiums zu der mündlichen Verhandlung dieses Falles
hierher berufen, gab sein Gutachten so ab, wie solches oben
ausführlich mitgetheilt worden ist. Er bemerkte nur auf
die Mittheilung des Dr. £, „der Arsenik könne sich durch
den ZersetzungsproceSB auch nach dem Tode durch den
Körper verbreiten^, dass ihm dieselbe ganz neu wäre und
sich gewiss in keiner Weise begründen Hesse. Dr. JC. blieb
jedoch bei seiner Ansieht stehen und nannte dafür eine naja-
hafte Autorität in dem bekannten Naturforscher C, Vogt
^$ Y6r^ftun$ mit weissem Arsenik.
Nachdem d|e scbwargerichtliohe Yerhandluag beendigt
war, BpiEchea die Gescbworaen mit mebr als sieben Stirn*
men das ^Schuldig'^ aber beide Angeklagten — über diä
Frau /. auch in Bezug auf den erschwerenden Umstand des
Gattenmordes — aus, und wurden sie in Folge dessen am
27. Mai 1857 enthauptet.
Zum Schlüsse möchte ich nun noch die Frage aufwer«
fen: ob es nicht durchaus nothwendig wäre, dass in allen
solchen Fällen, in denen sowohl bei den Leichen-Sectionen,
als auch zu Lebzeiten eines Vergifteten alle und jede Spur
einer Reaction des Arseniks vermisst wird — wie in dem
vorstehenden Falle — , bei den chemischen Untersuchungen
mindestens ein blutreiches Organ mit zu untersuchen? Es
würde auf diese Weise gewiss aller etwanigen Oppositions-
Inst — wie solche sich in diesem Falle viell^cht gezeigt
hat — und der Unannehmlichkeit einer abermaligen gericht*
liehen Verhandlung, so wie einem bedeutenden Kostenpunkte
vorgebeugt werden! ') — Und ist es denn andererseits nicht
auch denkbar, dass ein Mensch, der bereits durch irgend*
welche Krankheit, die weder durch Zeugen (auf welche in
dieser Beziehung wenig oder gar nichts zu geben ist), 3ach-:
verständige, noch durch Sectionen nachgewiesen werden kann
— und wie viele tödtlich abgelaufene Krankheiten körnten
in der That durch Leichenöfinungen nicht constatirt wer-
den 1 — , dem Tode unwiderruflich verfallen, jetzt noch Arsenik
erhalten habe, entweder um denselben wirklich zu tödten, oder
aber den Verdacht einer Vergiftung auf eine dritte Person zu
1) Der Hr. Verf. scheint das neue Regulativ vom 15. November
1858 noch nicht zu kennen, in welchem im §. 15. das von ihm ge-
wftAsehte Verehren ausdrücklich vorgeschrieben ist. Oder, wie wahr-
scheinlich, der Aufsatz ist vor 1858 geschrieben. C
Vergiftung mit weissem Arsenik. A|
wälzen? — Soll man sich in solchem Falle, wo der Arse-
nik in der That za spät kam, also wo er weder seine
mechanische noch dynamische Wirkung zu entfalten ver-
mochte, begnfigen, in dem Magen und dessen Inhalte das
Gift gefunden zu haben, und darauf hin den bestimmten
Ausspruch thun : der Tod sei durch Vergiftung mit Arsenik
erfolgt? — Es wäre ein solcher apodictischer Ausspruch
ei)t^|;zlieh 1 — In eihem solchen Falle, selbst bei freiwilli-
gem Geständnisse des Angeklagten, dass er das Gift Jeman-
dem gereicht habe, könnte doch nur, falls dasselbe durch
die chemische Untersuchung afas nicht in das Blut überge-
treten nachgewiesen ist^ die Anklage wegen versuchten Mordes
erhoben werden. (§. 32. des neuen Str.-G.) — Allen diesen
Eventualitäten und Irrthümern entgehen aber die Obducenten,
wenn sie ausser dem Magen, Mageninhalte u. s. w. stets
noch wenigstens ein blutreiches Organ zur ehemischen Un-
ti^rsuchung mit einsenden; denn wenn das Gift auch in dem
Blute nachgewiesen ist, dann unterliegt es keinem Zweifel,
dass der Mensch noch einige Zeit gelebt haben müsse, uof,
dasselbe dorch die Circulation in alle Organe überzuführen^
und dass dessen Tod durch Blut- und Nervenlähmung er-
olgt sei.
4S
3.
Me Stellnog nod Wirksamkeit der Sacii'
Terstftndigen im Strafyerfaliren.
KreiB-Physicus Dr. MTalthep ia Labian.
M ersten Bande des Archivs für preussisches £itrafrecht
finden sich drei Beiträge vom Prof. Dr. Mittermaier fiber die
Stellang und Wirksamkeit der Sachverständigen im Straf-
verfahren , die gewiss zu vielfachen Bedenken, wenn auch
vielleicht nicht bei den Juristen, so doch jedenfalls bei den
Sachverständigen und vorzugsweise bei den ärztlichen Ver-
anlassung gegeben haben. Es dürfte daher vielleicht von
Interesse sein oder wenigstens gerechtfertigt erscheinen, wenn
derselbe Gegenstand auch von der andern Seite her einer
nähern Erörterung unterworfen wird. Wir wollen bei die-
sem Unternehmen uns möglichst an jene Beiträge des Herrn
Prof. Mittermaier halten, vorzugsweise aber nur die preussi-
scben Einrichtungen im Auge halten.
Der Hr. Verf. theilt zunächst das Historische über die
Stellung der Sachverständigen in den vernchiedenen deut-
schen Landen mit. Er hebt hervor, dass, während bei dem
bisherigen schriftlichen, geheimen Verfahren das Gutachten
als eine Beweisquelle in der Regel von dem Richter zu Grunde
gelegt und nur ausnahmsweise, wenn das vorliegende Gut-
Aerztliche Sachverständige. 49
achten uayoUständig war oder Bonst erhebliche Mängel hatte,
nach einer Art Instanzenzug das Ober-Gatachten des Medi*
cinal-Gollegii, resp. der höchsten wissenschaftlichen Medici-
nal- Behörde, eingeholt wurde, ein völlig neues Verhältniss
eingetreten sei durch das eingeführte öffentliche, mfindliche
Anklage* Verfahren, vorzfiglich durch das Schwurgericht. Er
f&hrt demnächst die gesetzlichen Bestimmungen an, welche
in Baden und Bayern sich auf die Stellung der Sachverstän-
digen beziehen, und bemerkt in Betreff Preussens, dass hier
die Criminal - Ordnung vom Jahre 1805, auch nachdem die
Verordnung vom 3. Jan. 1849 erschienen war, in Betreff der
Sachverständigen nach wie vor ihre Anwendung finde. Alle
diese gesetzlichen Bestimmungen Hessen indess, so fährt der
Verf. fort, so yiele Bedenken und Zweifel über die Stellung
der Sachverständigen zu, und namentlich über die Frage, ob
dieselben als Zeugen zu behandeln seien oder nicht, dass
dadurch einerseits von Seiten der Aerzte oft eine Gereizt-
heit und Unzufriedenheit mit dem neuen Verfahren zu Tage
trat, wenn es sie mit den Zeugen gleichmässig behandelte,
andererseits aber eine Menge von wissenschaftlichen Erörte-
rungen über ihre Stellung im Strafprocess und Vorschläge in
Bezug auf die Gesetzgebung und Rechtsübnng hervorgerufen
wurde, die alle wenigstens darin übereinstimmen, dass die
Sachverständigen nicht als Zeugen zu betrachten seien. Kurz,
es herrsche noch in der Auffassung des Verhältnisses der
Sachverständigen eine grosse Unklarheit, die namentlich in
fünf Umständen ihren Grund habe: 1) in der irrigen Auffas-
sung des Wesens der gerichtlichen Medicin ; 2) in dem Man-
gel der richtigen Erkenntniss der Aufgabe, der Pflichten und
der Eigenthümlichkeiten der Sachverständigen ; 8) in der un-
richtigen Auffassung des Beamten- Verhältnisses in der An-
wendung auf Gerichtsärzte und Mitglieder von Medicinal-
CoUegien, so wie in dem Misskennen der Beweiskraft der
Coiper, VJschrft. f. ger. Med. XXTI. 1. a
50 Aerztliche SachverstSodige.
Gutachten der Sachverständigen; 4) in der Weise, in welcher
man nicht selten bei der Behandlung einzelner Fragen aber
Beweis durch Sachverständige die verschiedenen Sachverstän-
digen (daher die wissenschaftlich gebildeten Aerzte und Che-
miker) mit andern Sachverständigen, bei denen es nicht auf
Wissenschaft ankommt, zusammenwirft; 5) in dem Mangel
an der Unterscheidung des Verhältnisses, in welchem Aerzte
über Fragen, die den Thatbestand betreffen, aussagen im
Gegensatz des Verhältnisses, wenn es auf Begutachtung der
^urechnungsfähigkeit ankommt.
Man kann in diesen Anfahrungen gewiss mit dem Verf.
übereinstimmen und zugeben, dass viel Unklarheit herrscht
über die Stellung der Sachverständigen zum Strafverfahren;
man wird auch zugeben können, dass die Unklarheit in den
fünf angefahrten Umständen wurzelt. Gleichwohl dürfte man
bei näherer Beleuchtung jener fünf Punkte zu einem andern
Resultat kommen, als der Verf., und finden, dass die Un-
klarheit nicht auf Seite der Sachverständigen, sondern der
Juristen liegt. In Betreff des ersten Punktes führt Verf. an,
dass die Auffassung der geTichtlichen Medicin als einer eige-
nen Wissenschaft zu einer Generalisirung der Angaben und
Erfahrungen der Aerzte geführt habe, die man wie aus einem
Gesetzbuche als wissenschaftlich anerkannte Sätze anführe,
wodurch der Nachtheil entstanden sei, dass gewisse stereotype
Behauptungen, mit Vernachlässigung der neuern Forschung
und Erfahrung in der Wissenschaft, aufgestellt und die In-
dividualisirung des Falles aus den Augen gelassen wurde.
Man kann vorläufig es dahingestellt sein lassen, inwiefern
der Verf. in Uebereinstimmung mit Beer^ v. WaWier, Zinmi
und Abegg Recht hat, wenn er es rügt, von einer gericht-
lichen Medicin als einer eigenen Wissenschaft zu sprechen,
man wird gewiss gern zugeben, dass die Chemie, Medicin
oder Geburtshfllfe dadurch keine Modificationen erleidet, wenn
Aerztliche Sachverständige. 51
sie zu gerichtlichen Zwecken benutzt wird; man kann es
ferner dahin gestellt sein lassen, inwiefern der Verf. Grand
zu dem Bedauern hat, dass die Juristen das Studium der
gerichtlichen Medicin (also sämmtlicher medicinischer Wis-
senschaften, da von einer eigenen gerichtlichen Medicin nicht
die Rede sein soll) in der Regel vernachlässigen. Man
möchte indess doch sehr zweifeln, ob, wenn dies Studium
nicht vernachlässigt würde, d. h. wenn die richterlichen Per-
sonen die sämmtlichen medicinischen Wissenschaften gründe
lieh studirten, also tüchtige (wenigstens theoretisch gebildete)
Aerzte wären, diese richterlichen Aerzte oder ärztlichen
Richter jenen Vorwurf sich nicht würden zu Schulden kom-
men lassen und rüstig den neuern Forschungen und Erfah-
rangen in den medicinischen Wissenschaften folgen würden,
was der Verf. an den Sachverständigen — ob mit Grund
oder Ungrund, lassen wir dahingestellt sein — so sehr ver-
misst. Es gehört in der That ein nicht geringer Grad von
Ueberschätzung dazu, wenn man, wie der Verf., behauptet,
es würden die mündlichen Verhandlungen besser geführt
werden, wenn die betheiligten richterlichen Personen mehr
mit den Forschungen der Naturwissenschaften bekannt wären.
Welchen niedern Begriff muss der Verf. entweder von dem
Studium jener Wissenschaften haben, wenn er glaubt, dass
sie so nebenbei zu erfassen sind, oder welchen hohen Be-
griff von den Juristen, welchen er zutraut, sie würden jenes
Studium besser verwerthen, als Männer, die dasselbe zu
ihrer Lebensäufgabe gemacht haben.
Wenn der Verf. weiter die häufig vorkommenden Ueber-
griffe der ärztlichen Sachverständigen bedauert, so können
wir in dies Bedauern nicht einstimmen, weil die Thatsache
als unmöglich bestritten werden muss. Der Sachverständige
tbut nichts weiter und hat nichts weiter zu thun, als schrift-
lich oder mündlich diejenigen Fragen zu beantworten, welche
4*
52 Aerztliche Sachverständige.
ihm vofl dem Gerichte zur Beantwortung vorgelegt werden ;
thut er ein Mehreres, geht er über diese Fragen hinaus, so
geschiebt dies dann im Interesse der Sache und wird oft
dankbar entgegengenommen, wenn es auf streng wissen-
schaftlicher Basis ruhte; entstand es aber aus einem fidsch
verstandenen Interesse oder fehlte die wissenschaftliehe Basis,
so wird dieser Theil des Gutachtens, wenit es ein schrift-
liches war, als nicht zur Sache gehörig, von dem Richter
•unberücksichtigt gelassen werden, oder wenn dergleichen
eigenmächtige, nicht zur Sache gehörige Deberschreitungen
in einer mündlichen Verhandlung versucht werden sollten —
was wohl etwas unglaublich — , so ist es dem Vorsitzenden
ein Leichtes, dem Sachverständigen das Wort zu entziehen.
Wenn dagegen den Sachverständigen Fragen vorgelegt wer-
den, die dieselbea nicht durch ihre Wissenschaft beantwor-
ten können, und so verleitet werden, „in das strafrechtliehe
Gebiet überzugreifen^, so liegt die Schuld davon wahrlich
mehr in der Unklarheit der fragestellenden Richter, als der
Sachverständigen. Wenn also in dem vom Verf. gewählten
Beispiele der Sachverständigen gefragt wird, ob eine Kör-
perverletzung nach §. 188. des preuss. Strafgesetzbuchs eine
schwere oder leichte sei, so wird ein verständiger Sachver-
ständiger, den Fragesteller rectificirend, sich darauf beschrän-
ken, die Verletzung genau zu beschreiben, ihre Folgen ge-
nau anzugeben und es der weitern Entscheidung der Ricb-
ter reep. der Geschwornen überlassen, ob sie danach die
Verletzung unter die schweren oder leichten subsumiren, da
es einen wissenschaftlichen Begriff von leichten und schwe-
ren Verletzungen nicht giebt. Eben so wird - um ein wei-
teres Beispiel anzufahren — der Sachverständige sich nicht
darauf einzulassen haben, die Frage zu entscheiden, ob eine
Verletzung eine Körperverstümmelung nach sich gezogen,
da es auch für diesen, im Strafgesetzbuch gewählten Aus*
Aerztliche Sachverständige. 53
druck keine wissenschaftliche Definition giebt und , wenn
es eine gäbe, diese vielleicht nicht mit der strafrechtlichen
übereinstimmen dürfte. Auch hier wird der Sachverständige
sich nur auf die genaue Beschreibung der Verletzung und
ihrer Folgen einzulassen haben. Ein drittes Beispiel einer
unrichtigen Fragestellung an die Sachverständigen betrifit
die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten, über die zu ent-
scheiden, vielleicht mit seltenen Ausnahmen, dem Sachver-
ständigen anheim gegeben wird. Streng genommen, steht
diese Entscheidung aber nicht dem Sachverständigen zu,
vielmehr hat derselbe nur die Pflicht, ein klares Bild des
Seelenzustandes zu entwerfen, während die Richter resp.
die Geschwornen dann erst zu entscheiden haben, ob der
Angeklagte die Folgen seiner Handlungen zu beurtheilen
im Stande war. Kurz, man wird zugestehen, dass selbst-
ständige Ueberschreitungen seitens der Sachverständigen
durch irrige Auffassung des Wesens der gerichtlichen Me-
dicin kaum vorkommen können.
Den zweiten Punkt der Unklarheit über die Stellung
der Sachverständigen findet der Verf. in dem Mangel der
richtigen Erkenntniss der Aufgabe, der Pflichten und Eigen-
thimlichkeiten der Sachverständigen, während er unerwähnt
lässt, auf wessen Seite er diesen Mangel findet, ob auf Sei-
ten der Sachverständigen oder der Juristen.
Der Verf. rubricirt die verschiedenen Fälle, in wel-
chen Sachyerständige vernommen werden, unter sieben
Nummern. Er sagt, sie würden 1) „häufig wie andere
Zeugen vernommen über die von ihnen gemachten Beob-
achtungen, die sie mit gesunden Sinnen machen konnten-
z. B., dass mao an den Kleidern des A. Blutflecken be,
merkte, dass der Verwundete gewisse Angaben gemacht
habe^ u. s. w. Abgesehen davon, dass bei der Angabe
über das Vorhandensein von Blutflecken nur die microsco-
54 Aerztliche Sachverständige.
pische Untersuchung, also ein auf technische Kenntniss gtt-
gründetes ürtheil, entscheiden kann, von einer gewöhn*
liehen Zeugenaussage also gar keine Rede ist, so ist es
allerdings möglich, ja sogar gewiss häufig, dass auch Per-
sonen des ärztlichen, wie jeden andern Standes als Zea*
gen vernommen werden; dann aber sind sie eben Zeugea
und nicht Sachverständige, und es kann also auch von ihnen
als solchen nicht die Rede sein.
In andern Fällen, sagt der Verf., finde 2) ein ge-
mischtes Verhältniss Statt; die Sachverständigen ßagten
zwar auch über Tbatsachen aus, allein über solche, die sie
nur durch Anwendung von Mitteln der Kunst oder mit
kunstgeübtem Auge beobachten konnten, z. B. der Geburts*
helfer über Zeichen der überstandenen Geburt seitens der
Angeklagten, oder über Sugillationen, oder über die Farbe
gewisser Verletzungen, oder über Tiefe einer Wunde. (I)
Es ist .nicht einzusehen, worin hier das gemischte Ver*
hältniss bestehen soll. Die Veränderungen der weibliehen
Geschlechtstheile sind, wie die pathologischen Veränderun-
gen, Mittel, auf welche der Sachverständige sein technisches
Urtheil gründet, ob eine Geburt Statt gehabt oder nicht.
Eben so ist die Angabe, ob Sugillationen vorhanden, ein
wissenschaftliches Urtheil, gegründet auf die Beschaffenheit
der Hautdecken. Will endlich der Richter weiter nichts
wissen, als die Farbe einer Verletzung oder die Tiefe einer
Wunde, so bedarf er hierzu keines Sachverständigen; will
aber der Richter wissen, was diese pathologischen Erschei-
nungen zu bedeuten haben — und das ist immer der Fall,
denn mit der Farbe einer Verletzung und mit der Tiefe-
angabe einer Wunde ist an sich nichts anzufangen — , dann
verlangt er ein wissenschaftliches Urtheil, und jene Angaben
bilden nur die nothwendigen Prämissen zu einem wissen-
schaftlichen Schluss, wie alle andern pathologischen Er-
AerzÜiche Sachverständige. 55
scheinuagen. Kurz, wenn der Verf. in Betreff dießer Fälle
sagt: die Sachverständigen seien hier zwar aueh Zeugen,
insofern sie über Beobachtungen aussagen; es trete hier
aber schon ein gemischtes Verhältniss ein, indem es dar-
auf ankomme, ob die Sachverständigen die rechten Mittel
zur Entdeckung einer Erscheinung anwendeten, z. B. bei
Auffindung des Giftes, ob sie die Mittel auf die rechte
Weise gebrauchten, z. B. in microscopischen Untersuchun-
gen hinreichende Uebung hatten, oder bei geburtshülflichea
Untersuchungen u. s. w., so kann wohl Niemand daraus^
dass diese nothwendigen Requisite zu einem sachverständi-
gen Urtheile allerdings unzweifelhaft vorhanden sein müs-
sen, den Schluss ziehen, dass die Stellung der Sachver-
ständigen dadurch eine gemischte zwischen der eines Zeu-
gen und eines Sachverständigen sei, vielmehr ist daraus nur
der Schluss zulässig, dass derjenige, welchem jene Requisite
fehlen, eben kein Sachverständiger sei.
In Betreff der übrigen fanf Fälle, in welchen der Verf.
das Verhältniss der Sachverständigen als ein reines, Urtheil
abgebendes smerkennt, und die wir leicht noch vermehren
konnten, sind wir völlig mit ihm einverstanden, so wie mit
dem bei dieser Gelegenheit gethanen Ausspruch, dass bei
jedem der Elemente, aus welchen ein sachverständiges Ur-
theil construirt wird, „sehr viel von der sorgiältigen Prü-
fung abhängt, dass in Bezug auf Erfahrungen viel darauf
ankommt, ob der, welcher die Erfahrungen machte, die Ei-
genschaften hatte, welche, zu treuen, Vertrauen erweckenden
Beobachtungen erforderlich sind, ob nicht zu viel generali-
sirt und aus wenigen, isolirten, vielleicht unter ausser-
ordentlichen Umständen vorgekommenen Beobachtungen
angeblich sichere Erfahrungen abgeleitet wurden^. Wenn
der Verf. aber fortfährt: „wir würden unsem Gescbworiien
ihr Geschäft sehr erleichtern und mehr selbstständige Wahr-
56 Aerztliche Sachverständige.
sprfiehe sichern, wenn Staatsanwälte und Yertheidiger nach
den bezeichneten Rficksichten in ihren Vorträgen die Glaub-
würdigkeit der Sachverständigen und die Elemente ihrer
Gutachten prfifen wfirden (ü)^, so staunt man in der Tbat
über diese beispiellose, hierin liegende Ueberschfttzung der
jnridischen Kräfte, denn es liegt hierin nichts Geringeres,
als das Verlangen, Staatsanwalt und Vertheidiger sollen
die Elemente eines medicinischen Gutachtens nach ihrem
materiellen (wissenschaftlichen) Inhalt prüfen und also nicht
nur mit den Sachverständigen auf gleicher wissenschaftlicher
Hdhe, sondern über ihnen stehen, um nöthigenfalls das Gut-
achten verwerfen und nachweisen zu können, dass der Sach-
verständige z. B* fremde Beobachtungen falsch benutzt hat
oder zu eigenen Beobachtungen , auf welche er sein Gut-
achten baute, nicht die nöthige, Vertrauen erweckende Be-
fähigung besitzt. Würde übrigens diesem Verlangen des
Verf. nachgegeben, so würden wir ein neues, höchst er-
götzliches Schauspiel haben, nämlich Staatsanwalt oder Ver-
theidiger in einer wissenschaftliche Discussion mit den Sach-
verständigen verwickelt zu sehen, vorausgesetzt, dass diese
sich darauf einliessen, mit einem Blinden über Farben zu
streiten. Sollte aber nur der Wunsch ausgesprochen wer-
den, dass die Gutachten der Sachverständigen nach ihrem
logischen Inhalt geprüft werden möchten, so zweifeln wir,
dass dieser Wunsch irgendwo unerfüllt bleibt, da diese Prü-
fung nicht bloss im Bereiche, sondern auch in der Pflicht
der Gerichte, der Staatsanwaltschaft, wie der Vertheidigung
liegt.
Nac^em nun der Verf. die Stellung der Sachverstän-
digen den verschiedenen Fällen gegenüber, in welchen sie
vernommen werden können, erörtert und auf die Wichtig-
keit der Elemente hingewiesen hat, aus welchen das tech-
nische Gutachten gebildet wird, fagt er hinzu, „dass sich
Aerztliehe Sachverständige. 57
ans der bisherigen Entwickeluag (?) ergebe, wie na6btbei]%
die Aufistellung eines allgemeinen Gesichtepnnktes werden
kann, unter welchem man gewöhnlich die Sachverständigen
betrachtet, z. B. als judicee facti oder Gehülfen des Rich-
ters oder als Zeugen, oder mit geistreichen S&tzen sich
hilft, z. B., dass der Sachverständige das Auge des Richters
oder der officiöse Vertreter i^t. Dieser Schluss dürfte wohl
Wenigen klar sein , vielmehr wird jeder Unbefangene es
gewiss für ganz gleichgültig halten, womit man die Sach*-
verständigen vergleicht, und überzeugt sein, dass ihre Stel-
lung durch einen Vergleich weder nachtheilig werden, noch
überhaupt sich ändern kann und wird. Die wirklichen
Sachverständigen, wenigstens die Kategorie, die wir vor-
zugsweise im Auge haben und die wir weiter unten be-
zeichnen werden, wissen sehr wohl, welche Stellung ^e
einzunehmen haben; sie wissen, dass sie weder auf der Seite
der Staatsanwaltschaft, noch auf der des Vertheidigers, son-
dern lediglich auf der der Wahrheit stehen, und dass es
nur ihre Aufgabe ist, diese, so weit ihre wissenschaftlichen
Mittel reichen, zu eruiren und, wo dies unmöglich, es offen
auszusprechen, unbekümmert, ob und wem ihr Ausspruch
zum Nutzen oder Schaden gereicht. Aus diesem Gesichts-
punkte betrachtet, kann man sich auch wohl nicht mit dem
Verf. einverstanden erklären, wenn er meint, die Sachver-
ständigen seien zwar nicht als Zeugen zu betrachten, indess
in Bezug auf die Erhebung ihrer Aussagen, vorbehaltlich
der nothwendigen Modificationen , mit den Zeugen zusam-
menzustellen (?). Der Sachverständige gehört nicht, wie
der Staatsanwalt und der Vertheidiger, einer Partei an, er
steht vollständig über den Parteien; es kann also nur von
Vortheil sein, wenn er den Verhandlungen vollständig bei-
wohnt, da er in Fällen, wo sein Urtheil nicht bereits di^roh
objeetive Wahrnehmung feststeht, aus den Zeugenaussagen
58 Aerztliche Sachverständige.
oft uhvorhergesebene Beweismittel fttr sein Ürtbeil gewin-
nen kann, wftbrend in jedem andern Falle sein Ürtbeil, abs
ein parteiloses, durcb die Verbandinngen nm so weniger
beirrt werden kann, als er dasselbe stets auf wissenscbaft-
liche Grfinde. stützen muss.
Der Verf. geht nun zur Beleuchtung der Gründe über,
auf welchen die Beweiskraft der Sachverständigen beruht,
und es wird ihm gewiss Jeder darin beistimmen, wenn er
diese 1) in der Persönlichkeit des Sachverständigen findet,
insofern er gesunden Verstand, logischen Sinn, Klarheit in
seinem Urtheil, Pflichttreue, Festigkeit des Charakters, mo-
ralische Kraft, so wie technische Tüchtigkeit, gehörige Fach-
kenntnisse, grosse Erfahrung und Gewandtheit in der An-
wendung der rechten Mittel besitzen muss; 2) in der gröss-
ten Genauigkeit und freien Unbefangenheit desselben; 3) in
der Genauigkeit der Erhebung von Thatsachen; 4) in dem
Vorhandensein aller Erfordernisse, um einem Zeugnisse
Glaubwürdigkeit zu sichern ; 5) in der Stichhaltigkeit der
angegebenen Gründe für das abgegebene Gutachten.
Es wird gewiss, wie gesagt. Niemand daran zweifeln,
dass die angegebenen Erfordernisse unerlässliche Bedingun-
gen seien, um ein genügendes Gutachten zu erzielen; wenn
aber der Verf. ad 4. und 5. sagt, es bezeichne das bis da-
bin Angeitohrte zugleich die Pflicht derjenigen, welche die
Untersuchung fuhren und welche die Interessen des Staats
oder des Angeklagten vertreten, so wie derjenigen, welche
das Urtbeil zu fUlen haben. Alles anzuwenden, nm die Ge-
wissheit zu erlangen, dass das technische Zeugniss auf den
besten Grundlagen ruht, so macht sich diese Forderung auf
dem Papiere besser, als in der Wirklichkeit, die darin
nichts weiter finden wird und kann, als ein pium deaiderium.
Wir wollen gern zugeben, dass es den oben angegebenen
richterlichen Kategorieen möglich sein wird, zu erkennen.
Aerztliche Sachverständige. 59
ob der Sachverständige gesunden Menschenverstand hat, ob
er logisch richtig denkt und schliesst ; ob er aber technische
Tüchtigkeit besitzt und Gewandtheit in der richtigen An-
wendung der Mittel, das zu beurtheilen sind die bezeichne-
ten Persönlichkeiten weder fähig noch berufen. Wie will
der Jurist — und ihm müssen wir noch mehr zutrauen, als
den Geschwornen — beurtheilen, ob der Sachverständige
ein tüchtiger, theoretisch und practisch gebildeter Arzt oder
Geburtshelfer oder Chirurg sei, ob er die nöthige Hebung
in microscopischen Untersuchungen habe, ob der Chemiker
seine Kunst verstehe oder nicht? Möge immerhin das ganze
Richter-CoUegium sich mit den Fortschritten aller einschlä-
gigen medicinischen Wissenschaften und den Naturwissen-
schaften im engern Sinne vertraut zu machen bestrebt sein
— abgesehen davon, dass, wer die Beschäftigung der practi-
schen Juristen kennt und weiss, wie sehr sie mit practischen
Arbeiten in der Regel überbürdet sind, wohl nicht glauben
wird, dass sich dieselben in einer Menge von Wissenschaf-
ten, die nur durch Autopsie zu verstehen und zu studiren
sind, genügende Kenntnisse erwerben können — , der Sach-
verständige wird und muss sie in theoretischer und practi-
scher Beziehung weit überragen, und es wäre wahrlich
traurig um jene Wissenschaften und ihre Jünger bestellt,
wenn dem anders wäre. Und sollte es wirklich unter dem
ärztlichen Personal Männer geben, die nicht auf der Höhe
ihrer Wissenschaft stehen — und das werden sie sehr wohl
am besten selbst wissen — , so werden sie sich wohl hüten,
als Sachverständige zu erscheinen, was ja in ihrer freien
Wahl liegt, wenn sie nicht vom Staate angestellte Sach-
verständige sind; unter diesen dürften aber sich wohl we-
nige finden, die mit den Fortschritten der Wissenschaft un-
bekannt blieben.
Wenn ferner ad 5. der Verf. sagt, es bescbleiche den
60 Aerztliche S»chTei^tändige.
Juristen ein eigenthumliches Gefahl, wenn zwischen den
Ansichten der Aerzte ober wichtige Punkte die, grösste
Verschiedenheit herrsche, so können wir dies Gefühl sehr
wohl würdigen, wenn der Jurist, der es nur mit positiven
Gesetzen zu thun hat und höchstens über deren Auslegung
in Zweifel geräth, über welche er aber durch bestimmte
Annahme dieser oder jener Erklärungsart hinwegkommen
muss, da, wo es ihm um Gewissheit zu thun ist, auf oft
nicht zu lösende Zweifel stösst. Es ist übrigens dies Ge-
fahl dasselbe, was den Juristen bei allen sich widerspre-
chenden Aussagen anerkannt glaubwürdiger Zeugen be-
schleichen muss. Wir erinnern an die bekannte Erzählung
von Walter Raleigh^ der, im Tower sitzend und mit der
Ausarbeitung seines Geschichtswerkes beschäftigt, Zeuge
eines Excesäes in dem Hofe des Tower wurde und bei sei-
ner Yemehmung das stricte Gegentheil von dem beobachtet
haben wollte, was ein anderer, ebenfalls glaubwürdiger
Zeuge gesehen zu haben behauptete, worauf er sein Ge-
schichtswerk den Flammen übergab.
Man kann gleichwohl hierauf weder gegen die Sach-
verständigen, noch gegen ihre Wissenschaft einen Vorwurf
gründen. Alle Wissenschaften, sie mögen auf Beobachtung
und Erfahrung beruhen oder speculativer Natur sein, haben
zu ihrem Endziel stets und überall die Aufiindung der
Wahrheit. Wo diese Wahrheit mit Gewissheit gefunden ist,
da ist die Wissenschaft zum Abschluss gekommen, z. B. in
einigen Zweigen der Mathematik, ein Erfolg, dessen sich
ausser der Mathematik keine andere Wissenschaft rühmen
kann; nächst dieser aber sind es gerade die Naturwissen-
schaften — und im weitern Sinne kann man die medici-
nischen Wissenschaften ebenfalls dahin zählen — , welche
eines so umfangreichen Wissens sich rühmen können, wie
keine andere. Eine grosse Masse von Naturgesetzen ist
Aerztliche Sachverständige. 61
gefundea worden, nach denen die Erscheinungen in der an-
organischen Natur erklärt werden können. Die practische
Anwendung der physikalischen Gesetze und der Gesetze der
anorganischen Chemie liefert den unumstössliehen Beweis
ihrer Richtigkeit; auch der organischen Natur die Gesetze
ihres Wirkens abzulauschen, ist der rastlos thätigen Wissen-
schaft in vielen Fällen bereits gelungen. Gleichwohl wol-
len wir nicht den Werth dieser Gesetze überschätzen und
bedenken, dass ein Naturgesetz nichts weiter enthält, als
die Bedingungen, unter welchen ein bestimmter Erfolg mit
Gewissheit eintritt und also im Voraus festgestellt werden
kann; allein die eigentliche, wirkende Kraft, welche die
Elemente zu ihrem Product verbindet, das Wie ? bleibt ewig
uns verschleiert. Wir wissen wohl, dass, wenn wir einen
zusammengesetzten Körper mit einem einfachen unter geeig-
neten Bedingungen zusammenbringen, der erste nach dem
Gesetz der sogenannten einlachen Wahlverwandtschaft zer-
setzt wird, und schreiben diese Zersetzung beim Zusammen-
tritt zweier Salze der sogenannten doppelten Wahlverwandt-
schaft zu, das Wie? bleibt uns verborgen. Und doch wäre
es ein unendlicher Fortschritt und Gewinn, wenn wir nur
annäherungsweise mit derselben Zuverlässigkeit die Gesetze
des organischen, namentlich des animalischen Lebens ge-
funden hätten, wie die des anorganischen. Gleichwohl hat
man zu allen Zeiten, je nach dem Stande der Wissenschstft,
auch die Erscheinungen des organischen Lebens zu erklä-
ren gesucht, d. h. nach den Gesetzen ihres Wirkens ge-
forscht, die man dann so lange far wahr gehalten hat, bis
die fortschreitende Wissenschaft durch neue Entdeckungen
jene Gesetze als solche modificirte oder ganz verwarf und
an ihre Stelle andere setzte, die dem Stande der Wissen-
schaft entsprachen. Diesen Hergang haben übrigens die
Wissenschaften, welche sich mit dem organischen Leben be-
62 Aerztlichc Sachverständige.
schMbigeii, nicht nur mit denen gemein, welche die im*
organische Natur zu ihrem Ziele genommen haben, sondera
mit allen Wissenschaften, vielleicht mit Ausnahme der rein
mathematischen, das heisst, alle Wissenschaften sind nur
berechtigt, nach dem jeweiligen Stande ihrer Entwicklung
ihre sogenannten Wahrheiten als solche hinzustellen. Wir
sehen dies deutlich in der Philosophie im Allgemeinen und
der Religipns - Philosophie im Besondern, in sämmtlichea
Naturwissenschaften, ja selbst in der Jurisprudenz. Ist es
etwa der Rechtswissenschaft gelungen, ein absolutes Becht
zvk finden, das für alle Zeiten und f&t alle Völker passt?
Der Mord, der heute mit dein Tode bestraft wird, ist za
Zeiten des Krieges Pflicht und eine verdienstliche Hand-
lung; Hexen, die in frühern Zeiten durch Bichterspruch
verbrannt wurden, kennt man heute nicht. Kurz, die Wis-
senschaft hat ihren derzeitigen Forderungen genügt, wenn
sie auf die an sie gestellten Fragen so antwortet, wie der
gegenwärtige Stand der Wissenschaft es erfordert. Es kann
daher vernünftigerweise weder bei den Bichtern, noch bei
den Geschwornen, wie der Verf. meint, deshalb ein Miss-
trauen gegen die Aussprüche der Sachverstandigen ent-
stehen, weil man das, was man vor dreissig Jahren lur
wahr hielt, gegenwärtig als unwahr verwirft, oder deshalb,
weil möglicherweise nach weitern dreissig Jahren die An«
sichten sich ändern können. Sehr wohl aber ist zu beden-
ken, das8 da, wo der Ausspruch eines Sachverständigen
zweifelhaft oder unbestimmt ausfällt, oder die Aussprüche
mehrerer Sachverständigen divergiren, die Ursache hiervon
nicht in der Mangelhaftigkeit der Wissenschaft, sondern in
der Unzulänglichkeit des Materials zu suchen ist. Man gebe
den Sachverständigen juridisch festgestellte Thatsachen, wie
sie sie zu einem positiven wissenschaftlichen Urtheile brau-
chen ^ und sie werden ein solches nicht schuldig bleibep.
AerztUche Sachverstandige. 63
Wo dasselbe anbestimmt bleibt, da haadett es sich meisteiis
darum, zu entscheiden, ob ein objectiv festgestellter Erfolg
Ton dieser oder jener möglichen Ursache abgeleitet werden
kann. Es versteht sich von selbst, dass da, wo mehrere
Ursachen concarriren können, die Atisichten aus einander
gehen müssen und es oft sehr fraglich bleiben moss, fiär
wessen Meinung die grösste Wahrscheinlichkeit spricht. Eine
absolute Gewissheit wird trotz alles Strebens oft nicht 2a
erzielen sein, und die Richter und resp. die Geschwornen
werden sich oft in der Lage befinden, nach der Wahrsehein**
lichkeit ihr Urtheil zu formiren.
Wenn es daher einerseits gewiss richtig ist, dass mm
strenge Forderungen an die Gutachten der Sachverständigen
zu stellen hat, und um so mehr, wenn sich dieselben auf
fremde Autoritäten berufen, so ist es andererseits wiederum
eine grosse Ueberschätzung, wenn der Vert verlangt, der
gewissenhafte Jurist habe zu prüfen: „ob jene Erfahrungen
auch Glauben verdienen und ob sie nicht durch entgegea*
gesetzte zweifelhaft gemacht sind, ob daher der jetzt begut-
achtende Sachverständige vollständig und umfassend genug
alle über den Gegenstand gemachten Erfahrungen sammelte,
ob er ihren Werth und Voraussetzungen desselben (? un-
verständlich) gehörig prüfte und richtige Folgerungen ab*
leitete." Diese Forderungen erkennt gewiss jeder Sachver-
ständige an, stellt sie an sich selbst und wird ihnen auf
das gewissenhafteste zu entsprechen suchen. Wenigstens ist
wahrlich der Richter weder berufen noch fähig, die etwaigen
wissenschaftlichen Mängel eines medicinischea Gutachtens zu
eruiren, wo jene Forderungen aus irgend einem Grande un«
erfüllt blieben.
Die beiden letzten Bedingungen, auf welchen nach des
Verf. Meinung die Beweiskraft der Gutachten der Sachver^
ständigen beruht, nämlich:
64 Aerztliclie Sachverst&ndige.
6) in der Hera&ziehuag mehrerer Sachverständigen, um
die Allseitigkeit der Benutzung aller Quellen der
Wahrheit zu sichern,
7) in dem persönlichen Auftreten der Sachverständigen
zar Begründung ihrer Behauptungen,
kann man mindestens als sehr gefährliche Mittel zur Aus-
mittelung der Wahrheit betrachten, vorausgesetzt, dass die
Heranziehung mehrerer Sachverständigen und ihr persOn-
Uehes Auftreten bei den öffentlichen Verhandlungen, nament-
lich bei den Schwurgerichts-Sitzungen, gemeint wird.
In erster Beziehung sagt Verf., es müsse dem Verthei-
diger die Beiziehung von Sachverständigen gestattet werden :
,,iim das begreifliche Misstrauen zu beseitigen, dass der
Staat durch die Beiziehung gewisser von ihm ausgewählter
Männer diesen ein im Reiche der Wissenschaft grundloses
Privilegium der Glauhwürdigkeit habe einräumen wollen.^
Zunächst können wir die Erfahrung nicht theilen, wo-
nach das Bichter-CoUegium und die Geschwornen gegen die-
jenigen Aerzte, welche vom Staate zu gerichtsärztlichen Ge-
schäften ausgewählt sind (Medicinal-Beamte), ein besonderes
Misstrauen hegen ; wenigstens findet dies in Preussen gewiss
nicht Statt. Allerdings kann nicht gelälignet werden, dass
in Ausnahmefällen dies Misstrauen besteht; indess dann gilt
es der einzelnen Person und zwar nicht vermöge deren An-
stellung, sondern wegen ihrer sonstigen erfahrungsmässigen
Unzttverlässigkeit. Wir können diesen Ausspruch des Verf.
übrigens nicht in Einklang bringen mit dem weiter unten
gemachten: „Deutschland besitzt eine Einrichtung, welche
unfehlbar eine weit bessere Bürgschaft für eine Vertrauen
erweckende Ausübung der gerichtlichen Medicin und für
grfindlicbe Gutachten liefert, als dies in andern Ländern
der Fall ist. Wir meinen das Institut der Gerichtsärzte. ^
Es wird hier der eigentliche Ort sein, an welchem wir
Aerztliche Sachverständige. 65
aas über die Stellung der ärztlichen, vom Staate angestell-
ten Gerichts&rzte auszasprechen haben, besonders in Bezie-
hung auf die Ansichten des Verfassers.
Derselbe ist der Meinung, dass, wenn auch durch die
vom Staate angestellten Gerichtsärzte im Allgemeinen die
Bfirgschaften verstärkt würden, dass tüchtig gebildete, mit
den Bedürfnissen der gerichtlichen Medicin vertraute, durch
gehörige üebung zu ihrem Amte befähigte und unpartheiiscbe
Männer zur Abgabe technischer Gutachten verwendet wer-
den, man doch zu weit gehen würde, wenn man den Satz
aufstellen wollte, dass der angestellte Gerichtsarzt oder
Chemiker far s^ne Aussprüche einen amtlichen Charakter
in Anspruch nehmen könne; vielmehr erscheine der vom
Staate als Gerichtsarzt oder als Mitglied des Medicinal-Col-
legii angestellte Arzt in Bezug auf die Beweiskraft seines
Gutachtens wie jeder andere Arzt. Was ferner das Ver-
hältniss der Gerichtsärzte zu den Mitgliedern des Medicinal-
Collegiums betrifft, so kann, meint der Verf., es nicht in Ab-
rede gestellt werden, dass die Letztern mehr Vertrauen ver-
dienen, „weil aus der Zahl der vorzüglich durch besondere
Kenntnisse und längere Erfahrung ausgezeichneten Aerzte
die Stellen höherer Medicinal - Beamten besetzt werden, so
dass die Vermuthung begründet ist, dass die Mitglieder der
Medicinal -CoUegien auch in reicherm Maasse die Eigen-
schaften besitzen, welche dem Sachverständigen Vertrauen
erwirken, dass sie vorzüglich Gelegenheit haben, eine grosse
Masse gerichtsärztlicher Fälle zu beobachten, in grossen
Städten leichter die Hülfsmittel gründlicher Forschung sich
verschaffen und den Vortheil geniessen, mit ihren CoUegea
über wichtige Fragen berathen zu können.^ „Da indess
aus diesem Sachverhältniss zwar thatsächlich ein über^
wiegender Einfluss der hohem Medicinal - Beamten hervor-
gehe, derselbe rechtlich aber nicht begründet sei, so müsse
Catper, Vjschrft. f. ger. Med. XXII. 1. 5
ßß Aerztliche SachverstftncUge.
man Bieh auch gegen jeden Yorzug aassprecben, wel<^6ft
das Gesetz den Gutachten höherer Sachverständigen geben
wolle."
Betrachten wir zun&chst die wissenschaftliche Stellung
der vom Staate angestellten Medicinal- Beamten, so ist es
weder in Betreff der Physiker, noch der Mitglieder des
Medicinal*Collegii zutreffend, dass zu diesen Stellen immer
die vorzugsweise befähigtsten und durch wissenschaftliche
Leistungen ausgezeichnetsten Persönlichkeiten berufen wer-
den, sondern es geht mit diesen Anstellungen, wie mit an-
dern auch. Gleichwohl wollen wir zugeben, dass in vielen
Fällen es auch der Tüchtigkeit gelingt, sich Geltung nnd
Anstellung zu erringen. Soviel wenigstens ist gewiss, dasB
die meisten der angestellten Medicinal-Beamten das eifrigste
Bestreben haben, ihre Stellung würdig auszuftLllen, d. h. sich
wissenschaftlich fortzubilden und den Fortschritten der Wis-
senschaft unablässig zu folgen. Es kann nicht zugegeben
werden, dass, wie der Verf. meint, es von dem Gerichts-
arzte besonders in kleinen Städten nicht erwartet werden
kann, dass er mit allen wissenschaftlichen Fortschritten sich
vertraut mache, dass er die nöthigen Hülfsmittel und wis-
senschaftlichen Werke besitze. Im Gegentheil, es muss be-
hauptet werden, dass gerade die angestellten Gerichtsärzte
in kleinen Städten in der Regel die bei weitem beschäftigt-
sten sind und also auch eher die Mittel besitzen, sich mit
den wissenschaftlichen Fortschritten vertraut zu machen, als
die meisten Aerzte grosser Städte. Wir glauben daher auch
nicht zu weit zu gehen, wenn wir behaupten, dass mit Auck
nähme deijenigen Aerzte, welchen das reiche Material einer
Klinik oder eines grossen Krankenhauses zu Gebote steht
und ihnen mehr oder weniger gestattet, Specialisten zu sein,
den Physikern kleiner Städte, als den meistentheils be-
schäftigtsten Aerzten, gewiss eine eben so umfangreiche Er-
Aerztüche Sachverständige. 67
fahrang zu Gebote steht, als den meisten der beschäftigtsten
Aerzte grosser Städte. Auch ist es sicher nicht zutreffend,
wie wir aus 25jähriger Erfahrung wissen, dass die Physiker
mit schriftlichen Arbeiten, Tabellen u. s. w. so überbürdet
würden, dass ihnen nicht Zeit genug zu weitern Studien
übrig bliebe. Wir können uns auch durchaus nicht der
Ansicht des Prof. Beer anschliessen, welcher glaubt, die
Stellung der Gerichtsärzte würde eine mehr Vertrauen er-
weckende sein, wenn dieselben pecuniär so gestellt wür-
den, dass sie auf Privatpraxis verzichten könnten. Wir
halten es vielmehr far durchaus nothwendig, dass der Ge-
richtsarzt eine möglichst weite Erfahrung in allen Zweigen
der Arzneiwissenschaft sich bewahre; denn nur so wird er
im Stande sein, die Fortschritte in den einzelnen Zweigen
derselben zu würdigen. Gleichwohl ist es kein nothwendi-
ges Erfordemiss, dass der Gerichtsarzt practisch gleich
ausgezeichnet in der innern Medicin, Chirurgie, Geburtshülfe
und Chemie und insbesondere auch ein erfahrener Irrenarzt
sei. Die eigentlich curative Seite kommt bei der gericht-
lichen Medicin nie in Frage, sondern nur das wissenschaft-
liche Urtheil über forensische Fälle, welches durch gründ-
liche wissenschaftliche Kenntnisse gebildet wird.
Nach dem eben Angeführten können wir daher auch
nicht die Behauptung des Verfassers zugeben, dass einem
Hitgliede des Medicinal-CoUegii ein grösseres Vertrauen
gebühre, als den Physikern, weil sie eine längere (?) Er-
fahrung und besonders Gelegenheit besässen, eine grössere
Menge gerichtsärztlicher Fälle zu beobachten. Ob sie eine
längere Erfahrung besitzen, als der Physicus, hängt selbst-
redend von dem Dienstalter ab ; die Behauptung aber, dass
isie eiile grössere Menge gerichtsärztlicher Fälle zu beob-
achten Gelegenheit haben, muss als völlig falsch bestritten
werden, da im Gegentheil die Mitglieder des Medicinal-
68 Aerztliche Sachverstftndige.
CoUegii als solche nie Gelegenheit haben^ gerichtsärztliche
Fälle ans eigener Anschauung zu beobachten, ihre Fanction
vielmehr nur darin besteht, in zweifelhaften Fällen nach
den Acten zn prüfen, ob das Gutachten des Physicos
nach den von dem letztern festgestellten Thatsachen ein
wissenschaftlich begründetes ist, oder nicht.
Nichtsdestoweniger sind auch wir der üeberzeugung,
dass in zweifelhaften Fällen den Mitgliedern des Medicinal-
Gollegii eine grössere Glaubwürdigkeit zugestanden werden
müsse, als den Physikern, indess aus einem andern Grunde.
Der Physicus nämlich vertritt bei seinen Gutachten seine
persönliche Ansicht und bei vorausgegangenen Sectionen
die des mitsecirenden Chirurgus, falls dieser sich nicht ver-
anlasst fühlt, seine etwa abweichende Ansicht in einem
Separatvotum abzugeben (was gewiss, so lange die Chirur-
gen nicht gleichzeitig promovirte Aerzte sind, sehr selten
oder nie vorkommen wird). Die Mitglieder des Medicinal-
CoUegii dagegen treten, sobald von ihnen ein Superarbitrium
gefordert wird, zu einem Collegium zusammen. Wir müs-
sen also ein solches Superarbitrium als den Ausfluss einer
reiflichen Erwägung mehrerer Sachverständigen betrachten
und demselben um so mehr eine grössere Glaubwürdigkeit
vindiciren, wenn unter den Berathem sich für den Special-
fall bezügliche Specialisten befanden. Es soll damit aber
nicht behauptet werden, dass nicht auch selbst bei diesen
collegialischen Gutachten Irrthümer möglich wären. Die Er-
fahrung lehrt ja, dass, wenn das erste und zweite Gutachten
verschiedener Ansicht sind, oft noch ein drittes bei der
wissenschaftlichen Deputation eingeholt wird, was sich dann
dem einen oder dem andern entweder anschliesst oder eine
von beiden ganz oder theilweise abweichende Ansicht
vertritt.
Wenn wir nun aber fragen, welche Geltung haben diese
Aerztliche Sachverständige. g9
\erschiedeQ6ii Gutachten vor Gericht, so begegnen wir hier
einer für die Rechtspflege sehr betrübenden Thatsache, dass
nämlich keinem dieser Gutachten rechtlich vor dem an-
dern eine grössere Glaubwürdigkeit zuerkannt wird, mit an-
dern Worten, dass diet Richter renp, die Geschwornen an
den Ausspruch dieses oder jenes Gutachtens nicht gebunden
sind, ihnen vielmehr freisteht, sich jedem beliebigen, ja so-
gar dem Gutachten eines dritten oder vierten Arztes, der
etwa von dem Yertheidiger oder dem Staatsanwalt herbei-
gezogen worden ist, anzuschliessen. Es ist im höchsten
Grade zu verwundern, dass ein Mann wie Prof. Mittermaier
dieser gefahrlichen Praxis das Wort redet, und man kann
den Grund bierfür nur in der schon oft erwähnten thatsädi-
lichen Ueberschätzung finden. „Nur eine irrige (?) Ausdeh-
nung der Eigenschaften A^r publica ßdea , sagt er, welche
das Gesetz einigen Beamten für gewisse innerhalb ihrer amt-
lichen Wirkungskreise förmlich vorgenommene Handlun-
gen (?) verleiht, auf (?) angestellte Medicinal - Personen
konnte zu der Annahme führen, dass den Gutachten dieser
Beamten eine amtliche Glaubwürdigkeit zugeschrieben wer-
den müsse. Der von dem Staate als Gerichtsarzt oder als
Mitglied eines Medicinal - Collegü angestellte Arzt erscheint
in Bezug auf die Beweiskraft seines Gutachtens wie jeder
andere Arzt. Es folgt dies daraus, dass die Beweiskraft
eines Gutachtens von einer Reihe von Yermuthungen ab-
hängt, deren Werth jedoch, wie bei allen Yermuthungen,
welche nicht als gesetzliche aufgestellt sind, durch das ver-
ständige Ermessen der Richter nach Erwägung aller
Umstände des einzelnen Falles bestimmt wird^II Welche
ungeheure Ueberschätzung! Also zweifelhafte Fälle, welche
verschiedenen Aerzten und den höchsten wissenschaftlichen
Collegien zu den grundlichsten Prüfungen vorgelegen haben,
bevor sie ihren Ausspruch fällten, sollen lediglich durch ver-
70 AentUehe SachveiBitedige.
ständiges Ermessen der Richter entschieden werden.
Es ist zwar bekannt, dass diese Praxis leider aberall, also
auch in Preassen, geöbt wird, allein wahrlich nicht amm
Yortheil der Rechtspflege. Und wenn der Verf. zur StAtse
seiner Ansicht weiter sagt: „der Gerichtsarzt, der nicht an--
gestellte Arzt, wie das Mitglied höherer Medicinalstellen,
bewegen sich auf dem Felde, wo es im Reiche der Wissen*
schalt keine darch Anstellung und Titel zu verleihende^
Autoritäten giebt und Alles darauf ankommt, wer durch
formelle und materielle Entwicklung am meisten Vertrauen
zu erwecken weiss. Weon auf einer Seite der Vortrag der
höhern Medicinalperson oft durch grössere Gelehrsamkeit,
durch Eleganz und Gewandtheit in der Darstellung den
Vorzug gewinnt, so wird auf der andern Seite oft der ein-
fache, klare, den practiscben Sinn, die Beobachtungsgabe
und den Reichthum von Erfahrungen bewährende Vortrag
des Gerichtsarztes, besonders eines solchen, welcher in einer
grössern Stadt wohnt und alle Mittel besitzt, mit der Wissen-
schaft fortzuschreiten, den stärksten Eindruck machen^
—r ,)Seine 42jährige Erfahrung beweise dies^, so liegt zu*
nächst in dieser Anfährung ein offenbarer Widerspruch ge-
genüber der frühem Behauptung, dass dem Mitgliede eines
Medicinal-CoUegii zwar nicht rechtlich, aber jthatsächlich
vor dem Gerichtsarzte eine grössere Glaubwürdigkeit zuge«
standen werden müsse. Abgesehen hiervon aber, so be-
weist die Anführung dieser allerdings thatsächlichen 42jäh-
rigen Erfahrung nicht, was sie beweisen soll, nämlich, dass
durch das verständige Ermessen der Richter (i^nd Ge*
schwornen) diesen verschiedenen Gutachten gegenüber am
sichersten die Wahrheit ermittelt würde, sondern im Ge-
gentheil, dass es lediglich dem Zufall, d. h. dem persön-
lichen Auftreten des SachverstSuidigen und dem Eindrucke,
den derselbe bei den Richtern (und Geschwornen) madit,
Aentliche SachTentändige. 71
anbeim gegeben ist, ob dieselben sein Gutachten als wahr
annehmen oder nicht. Denn es wird doch schwerlich irgend
Jemand behaupten wollen, dass deijenige, welcher am besten
die Gabe des freien Worts besitzt, auch immer die Wahr-
heit auf seiner Seite hat, und wenn auch zugegeben werden
mnss, dass, wer diese Gabe besitzt, auf Richter und Ge-
sehwome den stärksten Eindruck machen wird, so ist
es eben dies rein Formelle und nicht die Macht der Wahr-
heit, welches jenen Eindruck hervorbrachte. Ausserdem
ist. es ja Jedem bekannt, dass oft die kenntnissreichsten
Männer jeden Standes unfähig sind, ihre Ansichten in freier
und unvorbereiteter Rede klar und überzeugend zu entwickeln.
Dieser Thatsache gegenüber sind, wie wir schon mehrfach
angeführt haben, weder die Richter, noch viel weniger die
Geschwornen fähig, die Wahrheit zu finden. Es ergiebt
sich zugleich hieraus, was von der sechsten und siebenten
Bedingung, auf welcher die Beweiskraft der Gutachten der
Sachverständigen nach der Ansicht des Verf. beruhen soll:
dem Heranziehen mehrerer Sachverständigen und dem per-
sönlichen Auftreten derselben, zu halten sei. In zweifel-
haften Fällen, wo sich mehrere wissenschaftliche Gut-
achten gegenüberstehen, sollen also die Richter (und Ge-
schwornen!), gestützt auf das persönliche Auftreten der
Sachverstlüidigen , durch verständiges Ermessen die
Wahrheit finden. Wir glauben gezeigt zu haben, dass hierzu
kein verständiges Ermessen ausreicht, vielmehr ein wissen-
schaftliches erforderlich sei. Wenn aber schon ein ver-
ständiges genügte, so möchten wir fast glauben, dass das
Richter-Gollegium nirgend den Verstand als Monopol bean-
spruchen, sondern zugeben wird, dass auch die wissenschaft-
lichen Medicinal-GoUegira denselben besitzen. Wenn man,
dies aber zugiebt,.so dürfte es gewiss geiathener sein, die
Entscheidung^ über zweifelhafte wiss^ftschMtliche Fragen Col-
72 Aerztliche SachversÜndige.
legten zu öberlassen, in welchen verständiges und wissen-
schaftliches Ermessen zu finden, als solchen, in denen nur
das erste vertreteti, es sei denn, dass man dem Aasspmch
des Dichters folgen will:
V^as kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Oemfith.
ein fär die W^issenschaft und Rechtspflege gewiss gefährlicher
Grundsatz I
Wenn man nun aber, wie bisher, fortfahren will, die
Entscheidung wissenschaftlicher Fragen nicht dem wissen-
schaftlichen, sondern nur dem verständigen Ermessen eines
Laien-CoUegii zu überlassen, so ist nicht einzusehen, warum
man dann noch Gericbtsärzte und wissenschaftliche CoUe-
gien mit ihren Gutachten hört, warum man nicht entweder
gar keinen, oder jeden beliebigen Arzt hinzuzieht. Und
wenn die als Beamte vereidigten Sachverständigen, wie der
Verf. behauptet, keine amtliche Glaubwürdigkeit beanspru-
chen dürfen, so möchten wir wissen, worauf denn die weit
bessere Bürgschaft far eine Vertrauen erweckende Ausübung
der gerichtlichen Medicin, welche, wie Verf. weiter be-^
hauptet, die Einrichtung der Gerichtsärzte liefern soll, be-
ruht; vielleicht nur darauf, dass, wie er sagt, „man durch
diese Einrichtung die Sicherheit erhält, dass die amtlich
verpflichteten Sachverständigen schnell der richterlichen Auf-
forderung Folge leisten"?
Ein vereidigter Beamter soll also in der Ausübung sei-
ner amtlichen Thätigkeit keine amtliche Glaubwürdigkeit
beanspruchen dürfen, seine Gutachten sollen aber eine grös-
sere Bürgschaft; vor denen anderer Aerzte geben, alle ärzt-
lichen Gutachten sollen aber auch pro foro gleichen Werth
haben, so dass man mit Freuden den Ausspruch RutemamCf^
aeceptiren müsse: „von Experten uöd Ober-Experten kann
{in foro) keine Rede sein. Wenn bei dem Hauptverfahren
Aentliehe SacfaverBtändige. 78
mehrere Sachverständige zugegen sind, so stehen sie neben,
nicht fiber einander. Wer seine Sache am besten versteht,
sidi am klarsten ansdr&ckt (? !), die grösste Unbefangenheit
nnd Pflichttreue an den Tag legt, der wird Ober -Experte
sein"! Welch eine Verwiming der Begrifiell
Kurz, wir sind der entschiedensten Ansicht, dass der
richterliche Wahrspruch die grösste Garantie dadurch er*
hält, wenn demselben die amtlichen Gutachten über den
objectiven Thatbestand seitens der Gerichtsärzte, der Medi-
cinal - CoUegien und der wissenschafdtchen Deputation zu
Grunde gelegt werden, und zwar der Art, dass das erste
Gutachten der Gerichtsärzte so lange als ein thatsächliches
s^ine feste Gültigkeit behalte und die Gerichte daran ge-
bunden sind, bis es durch ein weiteres des Medicinal-Gol*
legii, resp, der wissenschaftlichen Deputation etwa modifi-
cirt wird. Es liegt in diesem Verlangen keine Inconsequenz;
denn es wird durch dies Verfahren die amtliche Glaubwür-
digkeit der gerichtlichen Aerzte und wissenschaftlichen Col-
legien vollständig gewahrt, und nur ein wissenschaftlicher
Instanzenzug, wie er überhaupt durch die bei uns noch nicht
aufgehobene Griminal-Ordnung vorgesehrieben ist, beobachtet,
der, wie wir gezeigt haben, eine grössere Garantie für die
Wahrheit liefert, als wenn man die Entscheidung dem bloss
verständigen Ermessen eines Laien-CoUegii überlässt. Wir
wollen damit nicht behaupten, dass dadurch unter allen
umständen die Wahrheit gefunden werde, sondern nur, dass,
wenn sie überhaupt zu finden ist, sie nur auf diesem Wege
gewonnen werden kann.
Wir haben nun, nachdem wir die wissenschaftliche Stel-
lung dcF Sachverständigen besprochen haben, noch einige
Worte über die äussere Stellung derselben hinzuzuiftgen.
Prof. Mittermaier spricht sich hierüber S. 23 (a. a. 0.) fol-
gendermaassen aus: ,)Was die Fr^e betrifit, ob die Sach-
74 AenstUehe Sftchyersländige.
verstiadigeH unter die Kategorie der Zeugen zu stellen eiiid,
so dfiifte die Trennung von (?) zwei Fragen sweeknUteldg
sein, und zwar: 1) Sind die Sachverständigen ZeageftP
2) sollen sie in Bezug auf die Erhebung ihrer Aussagen
mit den Zeugen zusammengestellt werden, vorbehaltlich der
Qiethwendigen Modificationen, welche aus ihrer Stellung sich
ergeben, Urthefle über technische Fragen auszusprechen?
Während wir die erste Frage verneinen, bejahen wir die letzte.^
Wir wollen über diese Entscheidung mit dem Verf.
nicht rechten, da wir dieselbe nicht verstehen, d. h. nicht
einsehen^ welcher practische Unterschied darin liegt, ob
die Sachverständigen zur Kategorie der Zeugen gehören
oder mit den Zeugen zusmnmengestellt werden; wir wollen
aber gern glauben, dass, um den Sinn dieses Unterschiedes
zu begreifen, juridische K^ntnisse gehören mögen, die uns
maageln.
Wir sind aber der Ueberzeugung, dass es ein^ solchen
subtilen Distinction auch durchaus nicht bedarf, vidmehr
fareten wir ganz der Ansicht unsers verdienstvollen Geh. R.
Caaper bei, nach welcher der Sachverständige, also audii der
sachverständige Arzt, „gar keiae^ Stellung zum Richter (Ge-
richte) hat.
Leider aber wird diese Ansicht nicht von den Gerichten
geseilt, worauf es aber wesentlich ankommt, da die Medi*
oinal- Beamten durch blosse theoretische Ansicht über ihre
Stellung dieselbe noch nicht ändern und zu emer s<dcben
machen, wie sie sein sollte. Die Gerichte aber — wenig-
stens im diesseitigen Departement — behandeln alle Sach-
verständigen , gleichviel, ob beamtete oder nicht beamtete,
ganz wie Zeugen und laden sie demgemäss vor, d. h. unter
Androhung von 20 Thlm. Strafe, Geftngniss u. s. w., also
wie Personen, welche dem Gerichte subordinirt sind. Zwi-
schen Sachverständigen überhaupt und den beamteten ins-
AentUehe S^hrentiUidige. 75
besoadere und zwischen Zeugen ist aber ein wesentiicber
unterschied, der nämlich, dass die letzten unbedingt ¥or
Gericht erseheinen missen, die ersten aber, wenn sie nicht
angestellte Medidnal-Beamte sind, ihre Mitwirkung m foro^
abl^nen kftnnen. Gleichwohl würde man über diese Form
hinweggehen können, wenn es eben nur eine leere Form
wäre; sie hat aber einen Inhalt, es liegt darin nämlich die
angemaasste Berechtigung des Gerichts, den. angestellten He-
dicinal-Beamten bei seinem Ausbleiben ohne weiteres Ver-
fahren in die angedrohte Strafe zu nehmen, ein Yer&hren,
welches doch nur gegen Personen oder Beamte, welche dem
Gerichte subordinirt sind, zulässig ist und welches sich die
Gerichte gegen nicht beamtete Sachverständige, die als solche
zu fung^ren nicht yerpfliehtet sind, nicht erlauben dürfen v).
Der Medicinal - Beamte wird also seitens der Gerichte als
ein denselben subordinirter Beamter betrachtet; ja, er wird
auch als Zeuge behandelt, denn es wird bei den öffentlichen
Verhandlungen erst jedesmal durch coUegialischen Beschlnss
festgestellt, ob der Sachverständige den Verhandlungen bei-
wohnen darf oder in das Zeugenzimmer zu verweisen sei.
Endlich entblöden die Gerichte sich mitunter nicht, die amt-
1) Vor einiger Zeit kam hier der Fall vor, dass der Unterzeich-
nete gerade in dem Augenblicke, als er bei dem Öffentlichen Yerfiriiren
als amtlicher Sachverständiger erscheinen sollte, zn einem unanüsehieb-
baren ärztlichen Geschäfte (einer Entbindung) gerufen wurde. Der-
8«&e reichte sogleich nachträglich schriftlich die Veranlassung seines
Ausbleibens ein, das Gericht erkannte dasselbe für nicht motivirt und
nahm denselben in eine kleine Strafe, zu unbedeutend, als dass Un-
terzeichneter deshalb seine Zeit zu mner Beschwerde opiem wdlte.
Es wäre interessant gewesen, zu erfahren, welche Entscheidung die
hohem Justizbehörden getroffen hätten. — Auf eine Anfrage seitens
des Unterzeichneten bei dem Ostpreussisehen Tribunal, ob die Gerichte
berechtigt seien, die Medidnal- Beamten wie Zeugen vorzuladen, er-
hielt derselbe den Bescheid, dass die sachverständigen Beamten sich
allerdings diese Form der Vorladung gefallen lassen mfissten.
Der Verf.
76 AerztUehe Sachverstftadige.
liehe Glaubwordigkeit der Medicinal- Beamten in Frage zn
ßtellea ' ).
Kurz, man wird sich überzeugen, dass, wie sehr auch ge-
wiss alle Medicinal- Beamten die Co^/^e^^'sche Ansicht haben
mdgen, dass sie ,, keine Stellung^ dem Gericht gegenüber ein-
nehmen müBsten, und wie sehr sie auch von dem Wunsehe
beseelt sein mögen, dass die Gerichte dieselbe Auffassung
theilten, so ist doeh die Frage über die Stellung der Medi-
cinal-Beamten so lange keine müssige, als die Gerichte diese
Stellung zu einer subordinirten zu machen bestrebt sind.
Es wäre hiemach also wohl an der Zeit, dass von ge-
eigneter Stelle her, namentlich seitens Sr. Excellenz des
Herrn Gultus-Ministers und des Herrn Justiz-Ministers Ex-
cellenz, die geeigneten Schritte gethan würden, um die Stel-
lung der beamteten Sachverständigen zu den Gerichten als
eine völlig unabhängige, rein technische festzustellen.
1) Vor einigen Jahren kam hier der Fall vor, dass seitens des
Schwurgerichts, und zwar unter Vorsitz eines Tribnnals-Rathes , dem
Unterzeichneten ein von ihm und dem Kreis-Chirurgus unterschriebe-
nes und mit dem Physikatssiegel versehenes Obductions- Gutachten
remittirt wurde, mit dem Ansinnen, eine amtseidliche Versicherung
darunter zu setzen. Der Unterzeichnete weigerte sich dessen, da eine
solche amtseidliche Versicherung schon deshalb unnöthig sei, weil die
Abgabe eines motivirten Gutachtens eine Amtshandlung sei, weil fer-
ner eine solche Beeidigung weder durch das seitens des Ministerii
gegebene Reglement, noch durch den §. 170. der Criminal - Ordnung
verlangt werde. Das Gericht beschwerte sich bei der Königl. Regie-
rung zu Königsberg, und merkwürdigerweise wies dieselbe den Un-
terzeichneten an, bei Ordnungsstrafe dem Verlangen des Gerichts zu
willfahren. Derselbe reichte nun eine Beschwerde über die Königl.
Regierung bei Sr. Excellenz dem Herrn Cultns-Minister ein, von wel-
chem er den Beseheid erhielt, dass er, da die Zeit bereits drfoge,
für diesmal dem Verlangen des Gerichts entsprechen, für die Folge
aber, »wenn ein ähnliches Ansinnen an ihn gestellt werden sollte*,
den Weg der Beschwerde einschlagen möge^ Ein Staatsanwalt in
Königsberg war sogar so naiv gewesen, zu behaupten, man könne
einen widerspenstigen Medicinal- Beamten durch Gefängniss znr Ab-
gabe einer solchen amtseidlichen Versicherung zwingen.
Der Verf.
Aerztliche SacbversiSndige. 7Y
Es würde dies Ziel, wie wir glauben, am einfachstwi
auf zwei Wegen erreicht werden:
1) Entweder dadurch, dass sämmtliche Gerichte ange-
wiesen würden, sich den Medicinal - Beamten gegenftber
überall des decretorischen Styles zu enthalten und sieh, wie
bei allen andern Gorrespondenzen mit denselben, des höf-
lichem Requisitionsstyles zu bedienen, ein Verlangen, das
gewiss, wenn jene Vorladungen mit Strafandrohungen nur
leere Form wäre, um so mehr ausführbar ist, als eine höf-
liche Schreibart weder mehr Mühe, noch Zeit, noch Mate-
rial kostet, als eine unhöfliche, und ausserdem die Zeit dodli
wohl vorüber ist, in der die Behörden sich einbilden konn-
ten, durch Unhöflichkeit zu imponiren. Sind jene Vorla-
dungen aber keine leere Form, dann ist unser Verlangen
nach ihrer Abschaifung ein um so gerechteres, als nur durch
ihre Beseitigung die Unabhängigkeit der Medicinal-Beamten
von den Gerichten erzielt werden kann. Es liegt in dieser
Abschaffung aber keine Gefahr, da ja den Gerichten in Fäl-
len, wo Medicinal-Beamte etwa den an sie ergangenen Re-
quisitionen unmotivirt nicht folgen sollten, neben ihrer Re-
gresspflichtigkeit, der Weg der Beschwerde an die vorge-
setzte Regierung oflen stände.
2) Sollte dieser Weg aber nicht zulässig und jene Form
nicht zu beseitigen sein, d%nn wäre es wünschenswerth, dass
die Physiker nur in Bezug auf die Sanitäts- und Medicinal-
Polizei Beamte blieben und ihre amtliche Stellung den Ge-
richten gegenüber ganz aufhörte, so dass sie in dieser Be-
ziehung allen andern Sachverständigen gleichgestellt, d. h.
für jeden Specialfall oder, um ihrer Thätigkeit stets gewiss
zu sein, ein- für allemal bei dem zuständigen Gerichte ver-
eidigt würden. Es ^ürde hierdurch zwischen dem vereidig-
ten Sachverständigen und den betreffenden Gerichten ge-
wissermaassen ein Contracts Verhältnis s eingeführt werden,
78 AenÜich« Sachyenitindige.
wie 68 ja fiictiflch in Beziehung auf andere Sachyerstlndige
besteht, das um so weniger anangenehm ist, als es kein
snbordinirtes und freiwillig geschlossenes ist, und auch wie-
der getost werden kann.
Wir sind überzeugt, dass nur auf einem dieser Wege
die einzig wünschenswerthe, äussere unabhängige Stellung
der Medioinal- Beamten, wie sie von Casper als wirklich
Twhanden angegeben wird, die aber aus dem eigenen Wil-
len der Sachverständigen nicht hervorgehen kann, erzielt
«nd damit aller Streit über die Stellung der Sachverstän-
digen und jede Gereiztheit der Letztern aufhören v^rde.
79
4.
ADgeborner Mangel der debärmntter.
Vom
Dr. UmiBicv in JPlesehea.
Durch die Arbeit von A, Kussmaul ist dfts Interesse
fftt die angebomen Anomalieen des Uterus and seiner Ad^
nexa wieder in den Vordergrund getreten. Die Frage, ob
und welche dieser Anomalieen schon am lebenden Weibe su
erkennen sind, ist von eben so grossem klinischen, wie foren-
sischem Ipteresse, und wir erinnern in Besug auf den letz-
tern Gesichtspunkt an den ton J, Samter vor einigen Jah-
ren in Gwuburg^s Zeitschrift veröffentlichten Fall, wo die
Dia^ose von B. Langenbeck und dem Terstorbenen Btisa^
bestätigt wurde und, durch eine Aeusserung des sei. Busch
veranlasst, der betreffende Ehemann die geridbtliche Schei-
dung von seiner mit Uterus-D^kai bdiafteten Frau erzwang.
Dieses Interesse veranlasst mich, den folgenden, vom Stabs-
arzt Dr. Bethge und mir beobachteten Fall der OellentUch-
keit zu übergeben. Ich werde in der Angabe der von uns
Beiden angewandten Untersnchungs - Methoden absichtlich
etwas umständlich sein, weil der Leser nur so, indem wir
ihn gleichsam an der Untersuchung Theil nehmen lassen,
zu einem bestimmten Urtheil fiber die Diagnose des schwie-
rigen Falles gelangen kann.
80 Angeborner Mangel der Gebftrmatter.
Am 23. November 1860 forderte mich Hr. Dr. Beäige
zu einer gemeinschaftliehen Untersachnng der Kranken
freundlichst auf, und die folgenden Angaben sind ganz
genau nach dem sofort bei der Untersuchung notirten Be-
funde gemacht.
Marianna Pyüak^ 35 Jahre alt. Die Mutter hat 13 Kin-
der geboren, von denen 3 Schwestern der Martanna ver-
heirathet sind und wiederholt geboren haben, üeber ihren
Gesundheitszustand während der Kinderjahre weiss Patientin
nichts Wesentliches anzugeben. MemeB haben sich nie ge-
zeigt, dagegen leidet Patientin seit ihrem 17ten Jahre alle
3 Wochen an schmerzhaften Empfindungen in den Hand-
und Kniegelenken,^ an Kopf-, Magen- und Kreuzschmerzen
mit Appetitlosigkeit. Diese Beschwerden dauern gewöhn-
lich 8 Tage; enthält sich Patientin während dieser Zdt
nicht aller Anstrengungen, dann werden die Beschwerden
heftiger und ziehen sich oft durch 8 Tage hin. Im 22fiten
Jahre verheirathete sich Patientin, in welcher Ehe sie fast
Y6 Jahre lebte, bis zu dem vor einem halben Jahre erfolg-
ten Tode ihres Mannes. Auch während dieser ganzen Zeit
keine Spur von Menstruation, dagegen regelmässig periodi-
sches Auftreten der oben angegebenen Beschwerden, d^ren
Deutung als Molimina memtrualia zweifellos erscheint. Coilma
sehr oft vollzogen , doch ohne rechtes WoUustgeföhl von
Seiten der Frau, bei der sich die Ueberzeugung ausgebildet
hatte, dass sie wegen „Verwachsung der Geburt" unfrucht-
bar bleiben wfirde.
Statm praesens am 23. November. Aussehen gut, weib-
licher Gesichtsausdruck, blondes Haupthaar, keine Spur von
Bartwuchs, Stimme weiblich, Kehlkopf nicht stark vorsprin-
gend, Mammae gut entwickelt, fest, Warzen stark hervor-
tretend. Mona pubis behaart. An der Innenseite der bj9i-
Angebonier Mangel der Gebftrmutter. gl
den Obersebeakel handtellergrosse marmorirte Stelle, flache
Teleangectaffileen darstellend, die nach Angabe der PatientiB
w&hrend der jedesmaligen Molimina men$trual%a mehr her-
vortreten soUen.
Bei der Inspection der Genitalien zeigt sich ein ans
dem sonst normalen Introitus vagmae hervortretender lap-
piger Wulst. Canmculae hymenales zahlreich vorhanden,
CUtaria schwach entwickelt, etwas gelappt. Der explori-
rende Finger schiebt den oben bezeichneten Wulst zurück,
der sich nun als die vollständig vorgefidlene Scheide er-
giebt. Der weiter eingeführte Finger stOsst oben an das
Gewölbe, das sich spannt und dem Finger Widerstand ent-
gegensetzt. Weder eine Portio vaginalia, noch ein Or^cium
uteri sind bei wiederholter genauer Untersuchung zu finden.
Die Entfernung vom Iniivitus vaginae bis zum Gewölbe be-
trägt 3| Zoll. Das Speculum wird eingeführt, und es zeigt
sich ziemlich in der Mitte des Gewölbes eine sechsergrosse
Stelle etwas erhaben und rings umgeben von einem ver-
tieften Rande. Wird das Speculum entfernt, so tritt sofort
wieder die ganze VagitM als rother Wulst hervor, an dem
sich jetzt die oben beschriebene Stelle (Andeutung des Mut-
termundes?) linden lässt. Yaginal-Schleimbaut hart, trocken;
an einzelnen Stellen hat man das Gefühl, als ob dünne,
platte Knorpelschichten auf die Schleimhaut gelagert wären.
Seit wann der Prolapeue besteht, lässt sich nicht feststellen.
Urethra normal; ein männlicher, gekrümmter, fester Katheter
lässt sich mit Leichtigkeit einfuhren. Ein zu gleicher Zeit
in der Vagina befindlicher Finger kann dea Katheter von
der Spitze bis hinab verfolgen, ohne auf einen dazwischen-
liegenden festen Körper zu stossen. Führt man ferner,
während der Zeigefinger der linken Hand in der Scheide
liegt, den der rechten ins Rectum^ so f&hlt der im Rectum
Caaptr, Vjrsohft. f. ger. Ifed. XXII. 1. q
gS Angeborner ÜMgel der GebArmatter.
befindliche Zeigefiag^ oberhalb der Scheide keinen fegten
Eftr^r; der im Rectum befindliche Finger knnn die Spitne
des in der Scheide liegenden deutlich berühren, was bei
Yorhandensein eines Uterua nicht möglich wäre. Wird die
Convexität des in der Blase befindlichen männlichen Ka-
theters nach der Ereuzbeinhöhlung gerichtet and wiederholt
hebelförmig nach hinten bewegt, so kann der im Reihum
befindliche Finger den Katheter von der Spitze bis weit
hinab verfolgen, ohne dass sich ein dazwischenliegender
fester Körper zeigt Ferner werden, während ein Finger
in der Vagina liegt, die Bauchdecken palpirt. Bei der
grossen Schlaffheit derselben und der vollständig entleerten
Blase berühren die Spitzen der das Abdomen palpirenden
und des in der Scheide befindlichen Fii^ers einander sehr
dentlioh. Sogar der ins Rectum eingefährte Finger wird
durch Palpation der schlaffen Bauchdecken gefühlt und seine
Bewegungen deutlich verfolgt. Dass die versuchte Einffih«-
ruAg einer ITeertM-Sonde höher hinauf, als in den Blindsadc
der Vagina^ nicht gelang, ist nach dem Gesagten selbstver-
atäpdlich.
Höhe der Symphyse 2| Zoll, Schaambogen auffallend
i^itz, Entfernung der Spinae anteriores super, von einander
8i Zoll, Neigung des Beckens sehr gering.
Diagnose.
Die Wichtigkeit und Seltenheit der angegebenen
Anomalie lässt uns wenige Worte der Begründung in Be^
zug auf die Diagnose gerechtfertigt erscheinen. Wir wer^
den uns bei der Besprechung der diagnostisch widrigen
Momente an die durch die Untersuchung eruirten Thatsachen
halten und sie mit den Angaben, die Ad. Kussmaul in sei-
nem Werke: „Vom Mangel, der Verkümmerung und Yer'-
Ai^;eb(»rii6r Ifang^l der QtMaMktt. gS
d^ppelvfig der Geb&rmutter IL s..w.% macht, vergleidiLai
aad zasammenstellen ^). Die wichtigsten sind folgende:
1) Patientin hat nie die Menses gehabt. Dagegen scheint
die Deutung der oben geschilderten Besehwerden als A/o-
liwina memium ganz unbedenklich, weil die Beschwerden
seit dem 17tsn Lebensjahre der Patientin periodisch alle
3 Wochen wiederkehrten und neben Ereuzschmwzen mit
einem stärkern Hervortreten der an der Innenseite der bei*^
den Obersehenkel befindlichen tdeangiectatischen Geschwulst
verbunden waren: eine Erscheinung, die sich naturgemäss
nur durch reichlichem BlutzuAuss zu den Unterleibsorganen
und zu dieser Neubildung ^klären lässt. Wenn Kussmatd
a. a. 0. unter p. sagt: „Die Menstruation und deren Er-
scheinungen (Molimina f) fehlten in der Regel gänzlich,
aaeh wenn Eierstöcke mit draa/schen Bläschen vorhan*
den waren'^, so deutrt der Zusatz: „in der Regel^, dar-
auf hin, dass in einzelnen, gewiss seltenern Fällen diese
Erscheinungen wirklich beobachtet worden ^nd. Ob in un-
serm Falle Ovarien vorhanden sind, lässt sich wohl kaum
mit Sicherheit feststellen. Doch spricht der Umstand^ da»s
periodische Molimina vorhanden sind, för die Exis^nz von
Ovarien, da bei Mangel der Eierstöcke das Auftrete jener
Erscheinungen durchaus unerklärlich wäre, üebrigens sagt
Kussmaul in Bezug auf diesen Punkt unter e : Ovarien sind
bald vorhanden, bald nicht.
2) Wenn auch der ganze Habitus der Kranken weib-
lich ist und die Mammae gut entwickelt sind (was auch
Kussmaul unter l und m anf&hrt), so zeigt doch das Becken
1) loh halte es für meine Pflicht^ offen zu bekenaea, dasd mir
das KvLSsmauV^Q^LQ Bach leider nicht zugänglich ist; ich bin genöthigt,
mich an das Referat in der Monatsschrift fßr Geburtskunde XV. Bd.
1. Hft. S. 73 zu halten. Der Verf.
g4 ABgetK>nier Mangdl der Qebftniiatter.
weBentliche Abweiehangen Yon der Nonn des Weibes. Die
Entferoung der Spinae anteriores super. Yon einander ist
sienüieh normal; dagegen beträgt die Entfernung vom
Obern bis zum untern Rande der Schaambeinfhge. 2f Zoll,
während sie normal 1 \ Zoll ist. Ausserdem ist der Schaam-
bogen auffallend spitz; far letztern Befund können wir lei-
der keine Zahlen angeben, doch ist es einleuehtend, dass
auch hierin eine Annäherung zum männlichen Becken liegt.
3) Dass zwischen Blase und Mastdarm kein die üterw
Form darbietender Körper vorhanden ist, ist nach den An-
gaben, die wir über die Untersuchungs- Methoden und ihre
Ergebnisse gemacht, sicherlich nicht zweifelhafl;. Wmn
Kussmaul unter b angiebt, dass der I7iC^rtM*Mangel am leben-
den Weibe nicht mit Sicherheit zu erkennen ist, unter c,
dass man sich vor Verwechslung mit männlicher Zwitter-
bildung bei weiblichem Charakter der äussern Genitalien zu
böten habe, und endlieh unter d^ dass viele FäUe von an-
geblichem {7t«r«M-Mangel solche sind von rudimentairer Bil-
dung : so glauben wir dennoch behaupten zu dürfen , dass
bei der genauen, vielfach variirten, nach aUen möglichen
Methoden vorgenommenen Untersuchung nicht anzunehmen
ist, dass sich ein rudimentairer oder missbildeter Uterus
unserer Wahrnehmung habe entziehen können.
4) Die Scheide ist bei unserer Kranken normal gebil-
det, denn wenn auch ein vollständiger Prohpsus vagmoe
besteht, so haben wir doch um so weniger Grund, diese
Anomalie auf einen Fehler der ersten Bildung zurückzufüh-
ren, da die Kranke fiber die Entstehungszeit dieses Pro-
lapsus Nichts anzugeben weiss. Wir mfissen also, wenn
wir uns streng an den Befund in unserm Falle halten wol-
len, Vagina und äussere Geschlechtstheile als normal an-
nehmen. Leider befinden wir uns hier in Widerspruch
Angebom^ Mangel der Gebärmtatter. 85
gegea KusamauFs Angaben; es wird aber der Nachweis
nicht schwer sein, dass dieser Widersprach nur em schein-
barer ist. Kussmaul sagt a. a. 0. unter h: „In allen zu-
verlässigen Fällen (von 27i(^t/a-Mangel) mangelt die Scheide
ganzi oder zum Theil^, f> aber unter i sofort hinzu: „die
äussern Genitalien können bei Mangel der innera normal
beschaffen sein und umgekehrt.^ Der Widerspruch zwischen
KussmauV^ Angaben und dem Befunde in unserm Falle
lässt sich auf zweierlei Weise erklären: entweder rechnet
Ktuismaul ganz so wie Naegele (s. 4. Aufl., herausgegeben
von Greuser^ S. 56) die Vagina zu den innern Genitalien,
wie auch Eyrü zuerst die Mutterscheide und dann getrennt
davon die „äussere Schaam^ abhandelt — oder es finden
sich ebensowohl Fälle von normaler wie abnormer Bildung
der Vagina bei Defect des Uterus^ und wir wären zu der
Annahme gezwungen, dass KussmauV^ obiger Satz (unter K)
nicht so ganz exact ausgedrückt sei. Sehen wir nun von
der Bildung der Scheide ab, und fassen wir diejenigen Mo*
mente, auf die sich unsere Diagnose stützt, noch einmal
kurz zusammen:
1) Zwischen Blase und Mastdarm befindet sich kein
die Üterm-Yorm darbietender Körper, noch „ein Uterus bi-
pariittis, oder ein kleiner, hohler, dünnwandiger ütet^us ohne
Hals und ohne Scheidentheil^.
2) Menses sind nie vorhanden gewesen, und es wurde
trotz der regelmässigen Molimina mensium keine Geschwulst
oberhalb der Scheide gefunden (BaemcUometrä).
3) Der männlichen sich annähernde Bildung des
Beckens.
4) Vollständig sackförmiger Verschluss der Vagina.
Hieraus ergiebt sich ohne Weiteres die Diagnose auf
vollständigen Defect des Uterus^ und wir glauben uns jeder
nähern Begründung nach dem oben Gesagten enthalten zu
g6 Angeboraer Mangel der Gebflnnutter.
kftanen. Dagegen mAge es gestattet sein, mit einten
Worten sof die gerichtsärztliohe Seite nnsers Falles einzn-
gehen: eine Betrachtang > zu der die Folgen des toq J.
Samter beschriebenen Falles noch besonders auffordern* Zn
der Bestimmung des Allgem. Landrechts §. 697.: ^Ein
Gleiches (d. h. Begrfindnng der Scheidung) gilt auch yon
unheilbaren körperlichen Gebrechen, welche Ekel und Ab-
scheu erregen oder die Erfüllung der Zwecke des
Ehestandes gänzlich hindern^, bemerkt Ca#p^ (Hand-
buch, Biologischer Theil, 1858, S. 106): „Ein Weib muss
unfruchtbar sein, wenn die äussern oder innern Genitalien
ganz fehlen.^ Dass aber der gesetzmässige Zweck der Ehe
nicht in der (auch physiologisch nicht durchaus nothwendi-
gen) Begattung, sondern in der Befruchtung besteht,
geht aus §. 695. des Allgem. Landrechts klar hervor, wo
von einem Ehegatten die Rede ist, welcher „durch sein
Betragen bei oder nach der Beiwohnung die Erreichung
des gesetzmäsßigen Zweckes derselben vorsätzlich hindert^,
und es ergiebt sich hieraus die Folgerung, dass in Fällen
wie der unsrige die Existenz der die Copulation ermögli-
chenden Scheide in forensischer Beziehung gleichgültig ist,
und dass es sich nur um die Möglichkeit der Gonception,
also um den Uterus handelt. Lassen wir nun in unserm
Falle selbst den allergrössten Skepticismus gelten und ge-
statten wir selbst die (nach unserer Untersuchung durch-
aus ungerechtfertigte) Annahme, dass über der vollständig
blind endigenden Scheide sich noch irgend ein Rudiment
des ütef^ss befinde, so ist es doch ganz klar, dass in sol-
chem Falle der Arzt aus rein wissenschaftlichen Gründen
die Möglichkeit einer Gonception mit aller Entschiedenheit
negiren kann. So wenig wir aber Bedenken tragen vrur-
den, der Behörde auf eine directe, positive Fri^e die aus
solchem Befunde sich ergebenden Folgerungen klar anszu-
ÄDgebomer Mangel der Gebftnnntter. 87
sprechen, so halten wir es doch Ar Sache der Humanit&ti
dem Nichts ahnenden Ehegatten die Sachlage nicht o£fen
darzustellen. Wir gestehen, dass wir aas dem Dilemma,
ob „Beförderung des gesetzmässigen Zweckes der Ehe^
oder Rücksichtnahme auf eine, moralisch vielleicht ange-
trabte Ehe, keinen andern Ausweg finden, als diesen viel-
leicht etwas sophistischen Mittelweg.
8a
ö.
IMe Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebens-
Jahre in Stettin.
Vom
Kreis -Wundarzt Dr. Hermann HWmmmerfwiHr
in Stettin.
unter allen Umständen, welche die Sterblichkeit des
Menschengeschlechts modificiren, übt keiner einen grossem
Einfluss aus, als das Lebensalter. Für die wissenschaftliche
BeTOlkerungskunde ist derselbe schon seit 1693, als der
Astronom Eaüey aus den Mortalitäts-Listen von Breslau die
erste Sterblichkeits - Tabelle entwarf, ein Gegenstand des
Interesses gewesen ; er hat aber auch eine grosse practische
Bedeutung. Die Lebens-Yersicherungs-Gesellschaften wür-
digten letztere zuerst; sie erkannten in der möglichst ge-
nauen Kenntniss der Sterblichkeit der verschiedenen Alters-
klassen die unentbehrlichste Grundlage für die Berechnung
der Lebensdauer der zu versichernden Personen, und ihrem
Bedürfnisse, ihrer zunehmenden Verbreitung in Europa, ver-
danken wir hauptsächlich die genauere Erforschung der
hierauf bezüglichen statistischen Thatsachen. Von nicht ge-
riogerer Wichtigkeit ist letztere für die Sanitäts - Polizei,
welche überall nicht an theoretische oder historische Vor-
aussetzungen, sondern an das reale Leben mit seinen Man-
Kindersterblichkeit in Stettin. S9
gehl and Forderung^i unmittelbar anzuknüpfen hat, und
hierzu die exacte Grundlage, welche ihr allein die Statistik
gewährt, nicht enthehren kann. Soll die sanit&tspolizeiliche
Wissenschaft ihren Endzweck: Erhaltung des Lebens imd
der Gesundheit der Menschen oder im engern Sinne: der
Staatsbürger, nachdrucklich erf&Uen, soll sie etwas Höheres
sein, als eine mehr oder weniger triviale Gesundheitslehre,
so ist ihr die Kenntniss der Mortalitäts - Verhältnisse nach
allen Seiten hin unerlässlich. Die blosse Aufteilung von
Zahlenreihen freilich ist eben so langweilig als unfruchtbar.
Es kommt darauf an, .dieselben zu beleben, mit Fleisch und
Blut zu umgeben und zu erforschen, warum sie sich gerade
so und nicht anders gruppiren. Dann erkennt man, dass,
wenn auch alle Menschen ihrer irdischen Natur nach schliess-
lich dem Tode verfallen sind, doch auf ihre Sterblichkeit
und Lebensdauer eine Menge nicht nothwendiger, nur in
den Mängeln des socialen Lebens und der staatliehen Ein-
richtungen begründeter Umstände einwirken. Diese Mängel
nachzuweisen, zu bekämpfen und zu vei4)es8ern ist die
Pflicht und die Aufgabe der Sanitäts-PoHzei.
In keiner Lebensepoche ist der Einfluss des Lebens-
alters auf die Sterblichkeit grösser, als im Eindesalter und
namentlich in den ersten Lebensjahren. Alle Statistiker
sind darin einverstanden, und wenn die bezüglichen nume-
rischen Angaben von Simpson^ St, Maur, cPAubenton^ Süss-^
milch^ Bufeland^ Burdach^ Benott de Chateauneufy Rau^ Bickes
vielfach von einander abweichen, so liegt der Grund nicht
sowohl in ungenauen Beobachtungen, als vielmehr in der
verschiedenen und oft augenscheinlich nach fehlerhaften
Principien vorgenommenen Berechnung der Sterblichkeits-
Yerhältnisse. üeberall ist die Aussicht, am Leben zu blei-
ben, für das neugebome Kind geringer, als für jede andere
Altersstufe. Für Belgien hat Quetelet nach den Mortalitäts-
90
Kindenteiblichkeit in Stettin.
LMen dreier Jahre berechnet, dam erst um das fti^ Le-
bensjahr die Sterblichkeit, die bis dahin sehr gross war,
mne h< und sehr schwach wird bis zam Alter der Mann*
b«rkeit. Im ftnften Jahre ist die wahrscheinliche Lebens*
daner (la vie probable) am grössten, d. h. der Mensch kann
aaf ein l&ngeres Leben zählen, nämlich auf noch 48 bis
51 Jahre. Das Maximum der Lebensaassicht (Ja mabükf)^
die Epoche, in der der Mensch am meisten auf seine wirk-
Hebe Existenz rechnen und am sichersten sein darf, nicht
im nächsten Tage zu sterben, fand Quetelet dagegen erst im
ISten bis 14ten Jahre, kurz yor der Pubertäts-Entwicklnng.
Man darf annehmen, dass in den übrigen civilisirten Län->
dem Europa's, fiir die es an eben so sidiem Berechnungen
nodi fehlt, und namentlich in Deutschland, im Allgemeinen
analoge Verhältnisse stattfinden.
Wir haben es hier zunächst nur mit der Sterblichkeit
der Kinder im ersten Lebensjahre, die wir kurzweg
auch als Säuglinge bezeichnen dürfen, zu thun, und zwar in
der Stadt Stettin.
Die folgende Tabelle enthält die Sninmen der in den fünf Jah-
ren 1854 bis 1858 vor Ablauf des ersten Lebensjahres hier Verstor-
benen und zeigt, wais nach Bemoinüt*» klaren Auseinandersetzungen
(Handb. der Populationistik S. 234 — 37) ohne Zweifel das Richtigste
ist, ihr Verhältniss nicht zu den sämmtlichen Verstorbenen desselben
Jahrgangs, sondern zu den. Gehörnen, mit Ausschluss der Todt-
gebomen.
Im Jahre
Geborne
Im ersten
Lebensjahre
starben
unter
100 Gebomen
starben
1854
1855
1856
18Ö7
1858
1868
1830
1896
1955
2063
309
478
424
497
710
16,6
26,2
22,4
25,6
34,5
1854-58
9612
2418
25,2
Rindersterblichkeit in Stettin. 91
Es ergi^bt sich hierMs die erschreekende Thatsache,
d«3S in Stettin in jenen ftnf Jahren dnrchschnitflich mehr
als ein Viertel aller lebend gebornen Kinder vor Ablauf
des ersten Lebensjahres verstarb. Eine ältere Bereohnang
von Dr. Müller^ nach welcher in den 9 Jahren von 1833
bis 1841 von allen Gebornen einschliesslich der Todt-
gebornen 28,2 pGt. im ersten Lebensjahre verstarben,
fahrte zu einem ähnlichen Resultate. Nach unserer Be-
rechnung ist die wahrscheinliche Lebensdauer (la vie pro^
bable) eines neugebornen Kindes in Stettin nur 2ö Jahre,
d. h. nur die Hälfte der Gebornen errdcht das 25ste Jahr.
Dies Verhältniss entspricht vollkommen der durchschnitt-
lichen Sterblichkeit der Säuglinge im Königreich Bdgien,
wie^ sie von QueUlet geftinden ist. Auch hier erreichen nur
drei Viertel der lebend Gebomen das zweite Lebensjahr.
Es stimmt ferner im Wesentlichen mit dem betrefienden
Verhältnisse in Berlin überein, wo (1835 bis 1844) unter
100 Verstorbenen überhaupt nicht weniger als 23 bis 33 pCt.
Kinder unter einem Jahre waren (WoUheirn)^ oder nach
Casper^B Berechnung, welche das richtigere Verhältniss,
nicht zu den Verstorbenen, sondern zu den Gebornen, aus-
druckt: von 100 Gebornen starben 28 vor Ablauf des er-
sten Leben^ahres, einschliesslich der Todtgebomen ^).
Zur Würdigung der grossen Sterblichkeit der Säuglinge
muss man sich vergegenwärtigen, dass das Leben nur durch
Wechselwirkung der Organismen mit der Aussenwelt be-
steht. Wird die regelmässige Wechselwirkung, in welcher *^
das organische Leben seine Eigentbümlichkeit der Aussen-
welt gegenüber zu behaupten sucht, gestOrt, so erkranken
die Organismen ; wird sie ganz angehoben, oder konnte sie
1) Nachtraglich bemerke ich, dass in den 6 Jahren 1850— 55 in
Berlin von den lebend gebornen Kindern nnr 21,1 pCt. im ersten Le-
benegahre verstarben. D. Verf.
93 Kindersterblichkeit in Stettin:
ftberhanpt nicht zu Stande kommen, so erfolgt der Tod.
Es giebt daher Ar Leben, Krankheit und Tod innere und
inssere Bedingangen. . Ihre Beschaffenheit bei S&uglingen
nnd damit deren Leben, Krankheit oder Tod hängt hanpt«-
sSchlicb von der Beschaffenheit derselben bei ihren Eltern,
namentlich von der Gesundheit, dem Vermögen und der
geistigen und sittlichen Bildung der Letztem ab, so dass
die Aussicht, am Leben zu bleiben, für ein neugebames
Kind um so grösser ist, je mehr sich jene Eigenschaften
bei seinen Eltern vereinigt finden , und um so geringer , je
weniger dies der Fall ist. Da sich diese Vereinigung am
häufigsten unter den wohlhabenden Klassen, seltner unter
den mittlem, am seltensten unter den ärmern findet, so ist
die Sterblichkeit der Säuglinge am geringsten unter den
wohlhabenden, grösser unter den mittlem, am grOssten un-
ter den armen Klassen, und namentlich unter den unehe-
Kehen Kindern. Wir werden hierfür positive Beweise
liefem.
Dte innern Bedingungen zum Fortleben f&r das
neugeborne Kind, welche man kurz unter dem Begriff der
Lebensfähigkeit zusammenzufassen pflegt, entstehen im
Mutterleibe. Ihre normale Entwicklung vom Augenblick
der Conception bis nach der Geburt hängt ab von der Ge-
sundheit der Eltern, zuweilen sogar der Grosseltern, und
dem Verhalten der Mutter während der Schwangerschaft
und der Geburt. Die Kinder gesunder, verständiger Eltern
* in gfinstigen Lebensverhältnissen kommen daher gewöhnlich
lebensfähig zur Welt, während die Kinder von ungesunden
Eltern und von Müttern, die durch Armuth, Unwissenheit^
schädliche Lebensweise, Krankheit, Liederlichkeit oder un-
glückliche Zufälle nachtheiligen Einflüssen während ihrer
Schwangerschaft ausgesetzt waren, oft mit gänzlich man-
gelnden oder doch unvollkommenen innern Bedingungen
Kindersterblichkeit in Stetiia. 93
zum Fortleben ihre ersten Athemzäge thun. Dieselben Ein*
flfisse, weiche so häufig Todtgeburten zur Folge haben^ be*
wirken daher auch die Production von Kindern, die zwar
lebend, aber mit ausgesprochenen Krankheits- oder Todes^
keimen, zur Welt kommen.
Die Beschaffenheit der äussern Bedingungen zum
Fortleben sind für kein Lebensalter so wichtig, als fcir das
Säuglingsalter, weil der Mensch einerseits in keiner andern
Periode so absolut hülflos und zu seinem Leben durchaus
auf den Beistand Anderer angewiesen ist, andererseits ver-
möge seiner naturlichen zarten, schwachen Organisation
gegen die schädlichen Einflüsse der Aussenwelt eine gerin-
gere WiderstandsfiAiigkeit besitzt. Die nothwendigen äus-
sern Lebensbedingungen bestehen für den Säugling in einer
bestimmten Menge und Beschaflenheit von Luft, Wärme,
Nahrung und Pflege. Diese zu beschaffen, ist Sache der
Eltern und zunächst der Mutter. Wie schon die Beschaf*
fenheit der innern Lebensbedingungen des Kindes durch die
physischen und socialen Verhältnisse der Eltern und be-
sonders der Mutter bedingt wird, so und noch in höherm
Grade hängen auch die äussern und damit Gesundheit,
Krankheit oder Tod des neugebornen, von einem bestimm^-
ten Grade von Gesundheit, Vermögen, intellectueUer und
moralischer Bildung der Eltern ab, Eigenschaften, die in den
verschiedenen Klassen der menschlichen Gesellschaft zwar
verschieden vertheilt sind^ am meisten aber durch die Ver-
mögens-Verhältnisse beeinflusst werden, und daher vereinigt
sich bei den wohlhabenden Klassen am häufigsten, bei den
mittlem seltner, am seltensten bei den armen finden.
Von diesen Gesichtspunkten aus, welche ich sanitäts-
polizeilich für die practisch wichtigsten und wesentlichsten
halte, kann man die nach der Geburt im ersten Lebensjahre
sterbenden Kinder je nach den vorwaltenden Todesursachen
94 Kindmtarblidikdt in Stottm.
ia Tier groase Abtheilmogen bringen« Zur ersten ge-
hören dkjienigen, welche an g&ndichem Mangel der innern
Lebendl>eding«]igen sn Grunde gehen, also die Lebens-^
unfähigen, ein Begriff, der wissenschafüieh vollkommen
berechtigt nnd durch die gerichtliche Mediein schon lange
Banctionhrt ist. Lebenafthig ist ein Kind nur danu, wenn
es im Stande ist, ausserhalb der Gebärmutter ein selbststftn*
diges L^>en zu fuhren; hien&u gehdrt ein gewisses AUer
und eine regelmässige Form und Bildung des Körpers.
Nicht lebefisftbig sind — abgesehen yon den in d^i Am
ersten Schwangerschafts-Monaten durch Abortus zu Grunde
gehenden Frachten — diejenigen unreifen Kinder, welche
vor dem Ende des 7ten Monats geboren . wurden (unter
30 Wochen), ferner die reifen, aber mit bedeutenden
pathologischen Veränderungen edler Organe (z. B»
Krebs, Tubereulose, Hypertrophieen, Entzunduugsausg^ngen)
behafteten, die mit bedeutenden Hemmungsbildungen
^er Organe zur Welt kommenden* (z. B. mit Mangel der
Oberhaut, des Mastdarms, der Blase, mit getheilten Bauch*
decken, Spina bifida hohen Grades oder grossem Wolfsrachen,
Nierencysten , ausgebildeter Lungenatelectase, bedeutenden
Herzfehlern), endlich die meisten Missgeburten im eo*
gern Sinne (monströse Hemmungsbildungen, abnorme Yer*
bindungen und Verschmelzungen an der Frucht oder an zwei
Früchten). Diese Kinder gehn m^astisch oder asphyctiseh
bald nach der Geburt, grösstentheils ^hon in den ersten
24 Stunden, zu Grunde.
Ein zweiter Theil der Verstorbenen wurde zwar lebens*
fähig, aber mit unvollkommenen innern Lebens^
bedinguagen, geboren. , Hierhin gehören die frühzeiti-
gen Kinder, d. h. diejenigen, welche zwar naeh dem Tten
Menate der Schwangerschaft, aber vor dem normalen Ende
der letztem, geboren wurden, viele reife, aber schwäch^
j
Kindmterblidikeit in 6Mtin. M
lieh gebaute und solche, welche mit angebomen oder
ererbten Krankheitszuständen (z; B. Tubercidose, Sero«-
Mose, Syphilis, Rhachitis, Anämie, Himhyperimie, Schein-
tod, Pemphigus, Erysipelas, Pocken, Scharlach u. s. w.X
Verletzungen (z. B. Schädeleindrueken , Fissuren) odor
organischen Fehlern und Hemmungsbildungen ge-^
ringern Grades, wohin manche hypertrophische und atro^
phische Zustände, die meisten Atresieen, manche Berzfehler,
die Hasenscharten u. s. w. zu rechnen sind, zur Welt kom«»
men. In solchen Fällen ist das Fortleben, wenigstens bis
zum Ende des ersten Lebensjahres, nicht absolut ausge*
schlösse, aber ernstlich gefährdet.
Für die Kinder der ersten Kategorie, die lebensunfi^
gen, sind die äussern Lebensbedingungen, welche sie nach
ihrer Geburt vorfinden, gleiche ultig. Sie sterben unter allen
Umständen. Für die zweite Abtheilung, welche wohl lebmg*'
fähig, aber mit unvollkommenen Innern Lebensbedingungen)
d. h. mit ausgesprochenen Todeskeimen, zur Welt kommt,
häiigt Leben oder Tod von der Beschaffenheit der äussern
Bedingungen ab, welche das Geschick ihnen zu Theil'ww-
den lässt Von den hierher gehörigen Kindern der Wohl*
habenden wird ein namhafter Theil über das erste Lebens«-
jähr hinaus am Leben erhalten, weil ihnen gewöhnlich grosse
Sorgfalt, gute Pflege und ärztliche Hülfe zu Theil wird; bei
den Kindern mit schwacher Lebensenergie aus dem Stande
der Handwerker, kleinen Gewerbtreibenden und nied^m
Beamten ist letzteres durchschnittlich weniger d^ Fidl^
daher ihre Sterblichkeit im ersten Lebenqahre eine weit
grössere; unter den betreffenden Kindern aus dem Arbei-
ter- und Gesellenstande stirbt aus Armuth der Eltern und
daraus entspringender leozureichender Pflege die grosse
Mehrzahl rasch dahin, und unter den unehelichen, bej
deren Müttern zu der Armuth noch Noth, Leichtsini^
gC Kmdenterblk^keit in Stettin.
Furelit TOT Sehande oder BOswüIigkek hnzukommt, bMbt
kMNn eins am Leben.
Die ürsaehen der fehleadeot oder onvollkommeiieii
Lebeneftliigkeit siad bei den unreifen Kindern ünterbre-
dittngen der Honnalen Zeitdaner der Schwangerschaft darch
Bohwere Arbeit der Matter, durch ftassere GewaltthäüKkei-
ton, dnreh Ers^ftttening beim Fahren oder Tanzen, dareh
answeekmäflsige Kleidung, durdi Excesse in der Lebens*
weise, durch Gemfitbsbewegungen , durch abeichtiiehe An-
wendung von Ab(^Tmitteln, durch acute Krankheiten der
Mutter oder durch chronische Leiden des Gesammtorganis-
mus oder einzelner Organe, besonders der Gebärmutter,
wodurch Blutungen, PlaoetOa praevia^ sympathische Nerven-
aiectionen, Erbrechen, Eclampsie herrorgerufen wurden.
Besonders disponiren dazu schnell auf einander folgende
Schwangerschaften und yorau%egangene Torzeitige Entbin-
dangen; in andern Fällen machen Beckenenge und Krank«
heitszostände der Mutter (z. B. Pläeenta praevia^ Eclampsie)
die kftnsiiiche Vornahme einer Torzeitigen Entbindung Sei-
tens d^ Arztes und damit die Productioa unreifer lebens*
schwacher Kinder notfa wendig. Zu grosse Schwäch-
lichkeit reifer Kinder, die sie zum Fortleben nach der
Geburt unfähig macht oder doch ihr Fortleben in Frage
stellt, ist gewöhnlich Folge von allgemeiner Schwächlichkeit
oder von Ernährungsstörungen und Blutkrankheiten des
Vaters, der Mutter oder beider Eltern. Hemmungsbil-
Ölungen und monströse Missgeburten kommen am
häufigsten vor in Ehen unter nahen Verwandten, ferner bei
Frauen, die zu jung oder vor vollendeter Geschlechtsent-
wicklung niederkamen, und in Folge des sogenannten Ver-
sehens. Letztere^ läugnen zu wollen, weil man den Causal-
zusammenhang nicht genügend erklären kann, ist durchaus
unwissenschaftlich, um so mehr, da es eine Menge von
Kindersterbliciikeit ia Stettin. 97
analogen Thatsaehen giebt, dareh welche das Zustandekom-
men von materiellen organischen Veränderungen in Folge
psychischer Einflüsse hinlänglich festgestellt ist. Ererbte
Krankheiten, Fehler oder Krankheitskeime haben
ihren Grund in gleichen oder doch ähnlichen Zuständen des
Vaters, seltner der Mutter, zuweilen der Grosseltern. Der
Grund muss in einer, freilich noch nicht nachgewiesenen,
krankhaften Beschaffenhdt der Saamenfäden, der Omtla oder
beider zugleich bei den Eltern gesucht werden. Die an-
gebornen Krankheiten im engern Sinn entstehen theils
Yor, theils während der Geburt. Im erstem Falle sind sie
entweder Folgen vonAnomalieen in der Verbindung der Frucht
mit dem ütei-us, oder sie werden aus dem Blute der Mutter
durch die Uteringefässe auf den Foetus übertragen, oder sie
•
entstehen durch Verletzungen des Foetus durch die Bauch-
deeken hindurch. Während der Geburt können ansteckende
Krankheiten der mütterlichen Vagina (Blennorrhoeen, Syphi-
lis) auf das Kind übertragen werden, oder dasselbe kann in
Folge von Geburtshindernissen Hyperämie der Eingeweide,
besonders des Gehirns, blutige oder abnorme seröse Ergüsse
oder Verletzungen, erzeugt durch regelwidrige BeschaflFenheit
des mütterlichen Beckens oder die Instrumente des Geburts-
helfers, mit auf die Welt bringen.
Eine dritte Kategorie der verstorbenen Kinder bil-
den diejenigen, welche mit allen innem Lebensbedingungen,
also reif, regelmässig und lebend geboren, an der schäd-
lichen Beschaffenheit der äussern Lebensbedin-
gungen unmittelbar zu Grunde gehen. Aus solchen
Ursachen sterben manche Kinder, deren Mütter aus Noth,
Leichtsinn, Unwissenheit oder Furcht vor Schande die nöthige
Sorge for den normalen Verlauf ihrer Entbindung unterlas-
sen hatten, und deren Lebensfähigkeit daher nicht in Wirk«
Casper, VJsohrft. f. ger. Med. X3m. 1. 7
9g Kindersterblichkeit in Stettin.
samkeit treten konnte. Sie gehören grösstentheilß unver-
ehelichten Mattern an, die heimlich niederkamen. An ab-
gelegenen Orten thun diese Kinder ihre ersten Atbemsöge;
keine sorgende Hand empfängt sie, erweckt sie zu kräfti-
gem Leben, wenn sie scheintodt sind, hütet sie vor Ver-
letzungen bei der Entbindung und sorgt für Wärme, Reini-
gung, Bekleidung und Luft. Deshalb erfolgt bei den
scheintodten schnell der wirkliche Tod; andere zerschmet-
tern sich den Schädel bei dem Fall auf das Steinpflaster
oder den harten Boden, ein Theil erstickt in Abtritten odisr
unter den Betten und dem Körper der Mutter, einzelne ver-
bluten sich aus der ununterbundenen Nabelschnur, and^e
sterben apoplectisch oder su£Focatorisch in Folge der kalten
Luft, welche die nackte Haut und die zarten Lungen trifit.
Aber nicht bloss Unterlassungssünden der Mütter verschul-
den den Tod mancher neugebornen unehelichen Kinder,
einige werden vielmehr durch ihre Mütter absichtlich dem
Tode zugeführt, ertränkt, erschlagen, ausgesetzt, erwüi^,
erstickt oder auf andere Weise gemordet. Nach der Be-
rechnung von Süssmäch sterben von unehelichen Kindern
im ersten Monate fast 2| Mal so viele, als von den ehe-
lichen ; in den letzten Monaten des ersten Jahres nur noch
1^ Mal so viele. Nach Casper sterben in Berlin gegen
10 Kinder in der Totalität im ersten Monate wenigstens
24 uneheliche; später wird das Yerhältniss weniger ungün-
stig. Endlich sterben auch manche eheliche Kinder^ meist
aus den Arbeiterklassen, ausnahmsweise auch wohl aus den
andern Ständen, gleich nach der Geburt, weil die Mütter
in Folge eines unglücklichen Zufalls unerwartet und unvpr-
bereitet ohne Beistand von einer präcipitirten Geburt
überrascht wurden. An siß schliessen sich diejenjgea an,
die im weitern Verlauf des ersten Lebensjahres durch a.n-
dere Unglücksfälle gewaltsam enden.
Kindersterblfchkeit ia St^ttia. 99
Die abflolttte oder relative Lebensanfafaigkdit so vieler
Neügeborner und der gänzliche Mangel oder die Edtzlehung
nothwendiger äusserer Lebensbedingungen, welcher viele an
sich lebensfähige bei der Geburt empfängt, erklären zur
Genüge die statistisch festgestellte Thatsache, dass unter
den verschiedenen Monaten des ersten Lebensjahres der
erste Monat, unter den verschiedenen Tagen der erlste Tag
überall die gr^sste Tpdtenzahl aufweist; an manchen Orten
erreicht die Zahl der in den ersten 24 Stunden verstörbe-
nen sogar die Zahl der Todtgeburten. Mit dem zunehmenden
Alter nimmt, wie leicht erklärlich, die Sterblichkeit rasch
von Monat zu Monat ab, aber in seht verschiedenen Pro-
portionen in den verschiedenen Staaten und Gegenden.
In Prenssen stsu'beu (1820—28) im ersten Vierteljahre ihres Le-
bens eben so viele Kinder, als in den letzten drei Vierteljahren zu-
sammengenommen (Hoffmarfn)^ in Frankreich (1802) etwas weniger,
in Belgien bedeutend mehr, im Canton Genf (1814 — 33) sogar fast
doppelt so viel. In Belgien stirbt der zehnte Theil aller lebend Ge*
bornen im ersten Monate — eben so viele, als von den Üeberlebenden
später ss>vischen dem 7ten und 24sten oder zwischen dem 24sten und
40sten Lebensjahre sterben, und eben so viele, als Measchen das
76ste Jahr überschreiten (Quetelet), Die Sterblichkeit ist daselbst im
Isten Lebensmonate viermal so gross, als im 2ten, und fast eben so
gross, als im 2ten und 3ten zusammengenommen.
Natürlich kann man aus einer ungewöhnlich grossen
Sterblichkeit der Kinder eines Ortes oder eines Landes im
ersten Monate oder Jahre des Lebens keineswegs auf eine
entsprechend grosse Sterblichkeit auch in den nächstfolgen-
den Monaten oder Jahren schlieissen; es findet vielmehr
häufig das Gegentheil Statt.
Zur vierten Kategorie der verstorbenen rechnen wir
diejenigen reifen und lebensfthigen Kinder, welche erst
mittelbar an der schädlichen Beschaffenheit der
nothwendigen äussern Lebensbedingungen, näm-
Uch an Krankheitszuständen zu Grunde gingen, die
7'
100 KindersterbHehkeit in Stettin.
sich ans scUeeblM Luft, aage&fisender oder unzweckmas-
Biger Pflege, unpassender Ernährung oder specifisehen
Krankheitsreizen entwickelten — Umstftnde, welche in
den meisten F&llen sich in erster Reihe auf die Armuth,
in zweiter auf die Unwissenheit und die Yorurtheile, zu-
weilen auf die Böswilligkeit der Eltern zurückfahren lassen.
Der grIVsste Theil aller, besonders der nach Ablauf der ersten
Lebenswochen sterbenden S&uglinge muss hierher gerechnet
werden.
Die ihnen zum Leben nöthige Luft athmen S&uglinge
wie Erwachsene in unserm Clima theils in geschlossenen
Räumen, theils im Freien. Die Beschaffenheit der Luft in
den erstem ist aber fBa Säuglinge noch yiel wichtiger, als
för Erwachsene, weil sie ihrer zarten Organisation und ihres
grossem Wännebedürfiiisses halber hauptsächlich auf den
Aufenthalt in geschlossenen Räumen angewiesen sind. Ar*
beiter und Gesellen bewohnen in Stettin massenhaft die
Vorstädte Tornei, Fort Preussen, Kupfermühl, Oberwiek und
in der Stadt selbst die Lastadie mit ihren grossen Hinter-
häusern; in den übrigen Stadttheilen wohnen sie am zahl-
reichsten, jedoch mehr mit den übrigen Klassen yermiseht,
in der Unterstadt, der Pelzerstrasse, Fuhrstrasse, auf dem
Altböterberge und den Hinteriiäusem des Rosengartens, der
Breiten und der Luisenstrasse. Eine jenen Gesellschafts-
klassen angehdrige Familie hat gegen monatliche Hiethe
gewöhnlich eine Stube nebst kleiner Küche und einer Kam-
mer inne ; letztere wird indessen in der Regel an unverhei-
rathete Gesellen, Arbeiter oder Soldaten vermiethet. Im
Winter gestatten die hohen Preise des Brennmaterials und
der geringere Yerdiwst der armem Klasse nicht immer die
regelmässige Heizung eines Ofens, obwohl man eine mög-
lichst heisse Stube zu den Hauptgenüssen des häuslichen
Kindersterblichki^ii in Stettin. 101
Lebens in jener Jabresz^ rechnet. Oft beschränkt och die
Erwärmung auf die vorfifoergehende Heiasung eines kleinea
eisernen Kochofens beim Kochen des Cichonw-Kafiee^s and
der Kartoffeln, der die Wärme schnell wieder £ihrea lässt,
so wie auf die animalische Wärme, welche die m^r oder
weniger zahlreichen Bewohner des engen Rasmes sich ge-
genseitig mittheilen. Die Temperatur ist daher im Winter
in* der Stube gewöhnlich zu kalt, aber sehr erheblich wedi^
selnd, je nach der äussern Lufttemperatur, dem Heizen oder
Erkalten des Ofens und der Zahl der Bewohner, die Nachts
viel grösser zu sein pflegt, als am Tage. Für einen Säug^
ling ist aber gerade eine gleiehmässige mittlere Wärme eine
wichtige Gesundheitsbediogung. Durch dicke, schwere Fe^
derbetten, Wärmflaschen oder des Nachts durch die Wärme
ihres eigenen Kölners wenden zwar die Mütter von der
Haut ihres Kindes häufig die Nachtheile der Kälte ab, das
Einströmen der zu kalten und zu ungleich t^oiperirten Luft
in die Lungen desselben, wodurch oft tödtliche Krankheiten
(Pneumonie, Bronchitis) erzeugt werden, vermögen sie in-
dessen nicht zu verhindern. Schlimmer noch, als die durch-*
schnittlich zu niedrige, dabei aber erhdi>Iieh wechselnde Tem-
peratur, wirkt die Verunreinigung der Zimmerluft durch
fremde Stoffe auf den Sängling ein. Jeder Arzt weiss, was
für eine Atmosphäre, besonders Nachts, in jenen engen,
mit Erwachsenen und Kindern überftLllten , sauerstoffarmen,
mit Rauch, Wassergas, Torfdunst, Staub, Fett- und Tabaks-
dampf und menschlichen Ausdünstungen von Kohlensäure,
Ammoniak und Schwefelwasserstoflgas mehr oder weniger
verpesteten Räumen herrscht. Tiefgreifende Störungen der
Blutbildung, Scrofeln, Rhachitis, zuweilen auch Typhus und
Scorbut, sind für Säuglinge die natürlichen Folgen davon.
Im Sommer leiden die meisten Arbeiter- und Gesellen-
102 KinderdterbHciikeit in Stettin,
WohoHBg^a an Hkse, tbeils wegen ihrer dflnnen, filr die
alanoßpii&riaehe. Luft leidit darcbgängigen Wände, tiieik
wegen ihrer Lage in den obersten Stockwerken hoher Hän-
ser, unter den Giebeln oder dicht unter den Dächern, theila
weü die Bewohner aus Armuth sich durch passende Fen-
ster-Vorhänge, Marquisen u. dgl. gegen die Sonne nicht
schntseny theils weil sie zu gleichgültig und träge sind, um
die Fenster zur rechten Zeit zu öffnen und zu schliesseni.
Wenn auch im Sommer mehr gelüftet wird, und die Stuben-
luft etwas freier von übelriechenden, blutvergiftenden Bei-^
mischungen ist, als im Winter, so erreicht dafür die Hitze
in jenen engen, menschenbevölkerten Räumen oft einen un*
erträglichen Grad. Kleine Kinder leiden am meisten hier-
unter; namentlich werden durch die Hitze gefährliche Diar-
rhoeen bei ihnen hervorgerufen, an denen im Juli und August
viele zu Grunde geben.
Die Keller -Wohnungen sind von den Naehtheilen zu
niedriger, zu hoher und zu ungleichmässiger Temperatur im
AUgemeinen frei. Dagegen ist die Luft in ihnen stets mehr
oder, weniger dumpf und feucht, und alle entbehren des
nöthigen Sonnenlichts. Rechnet man hinzu, dass die Ven-
tilation in i,ea Keller- Wohnungen viel mangelhafter, als in
den andern Wohnräumen ist, so darf man sich nicht wun-
dem, daas die Kinder der in Kellern wohnenden Familien
gewöhnlich mn bleiches, kränkliches Aussehen haben, und
dass ein namhafter Tbeil von ihnen in Folge od^ doch
unter wesentlicher Mitwirkung der Kellerluft an tiefgreifend
den Emährungsatörungen und deren Folgen schon im ersten
Lebea^abre zu Grunde geht.
In der bessern Jahreszeit können manche Naehtheik
der Stuben- und Kellerluft durch fleissiges Heraustragen der
Kleinen gemildert werden* Letzteres kann indessen nur in
Kindersterblichkeit in Stettin. 103
denjemgen Familien geschehen, in denen sich halberwachsene
M&dehen oder alte Grossmfitter befinden, weil die Mutter
ihrer Arbeit nachgeben muss, und die altem Schwestern
nach ihrer Einsegnung gewöhnlich das elterliche Haus ver-
lassen, um in fremden Dienst zu treten. Auch die Zelt der
halberwachsenen Mädchen ist gering, weil sie die Schule
besuchen. Das Kind bleibt vielmehr den grössten Theil
des Tages in seinem Lager und bekommt, wenn die Mutter
es auf längere Zeit verlassen muss, einen mit Milch, Sem-
melbrei und Zucker gefüllten Beutel in den Mund. Am
schlimmsten sind natürlich die unehelichen Kinder daran,
da sie meist der Aufsicht und Pflege nicht allein armer,
sondern häufig gewissenloser Personen übergeben werden.
Unter den selbstständigen Gewerbtreibenden bewohnen
die armem, z. B. viele Schneider und Schuhmacher, gleich
den Arbeitern, eine Stube oder Stube und Kammer in den
Hinterhäusern oder den obersten Stockwerken der Vorder-
häuser, meist mit der Arbeiterbevölkerung gemischt, die
zum Theil besser gestellt ist wie sie. Yictualienhändler und
kleine Krämer, zum Theil aus dem Arbeiter- und Gesellen-
stande hervorgegangen und nebenher oft mit Holzhauen,
Brettschneiden u. dgl. sieh ernährend, Pantoffelmacher^
Topfhändler, Bürstenbinder, lieben besonders die Keller-
Wohnungen, in denen sie sich durch die ganze Stadt zer-
streut finden. Die kleinen Kinder aus dieser Klasse athmen
keine bessere Luft, als die aus dem Arbeiterstande im
engern Sinn. Aber selbst die höhern und zum Theil wohl-
habenden Klassen der Gewerbtreibenden, Bäcker*, Schläch*
ter, Conditoren u. s. w., welche die Parterre -Wohnungen,
am meisten der verkehrsreichen Mittelstadt, aufsuchen und
die oft sehr elegant eingerichteten, mit grossen Schaufen^
stwn und Gai^flammen versehenen Yorderräume zu Läden
X04 Kindeisterblicbkeit in Stettm.
ofid. 6e8<^Sft8-Localen be0iite6O) bewohnen mit ihren
Uen gewöhnlich erbärmliche Hinterstübchen , in die selten
oder nie ein Sonpenstrahl dringt, und deren Loft nnr von
den engen, sehr übelriechenden HOfen her erneuert wird.
Indessen macht grössere Einsicht und Wohlhabenh^t,. bes-
sere EmUhrung und Pflege der Säuglinge manchen ycm die-
sen Wohnungs-Uebelständen wieder gut. Die Fenster wer-
den häufiger und länger geöffnet, gute Oefen durohwärm^i
im Winter die Zimmer und befördern die Lufterneuerung;
Zugluft findet durch die Wände und besser verwahrten Fen-
ster weniger Eingang ; von der Sommerhitze haben die vor*
zugsweise in Parterre- Wohnungen hausenden Säuglinge die-
ser Klasse nicht zu leiden; es sind gewöhnlich getrennte
Banane zum Kochen, Schlafen und Wohnen vorhanden, und
gemiethete Ammen oder Kindermädchen tragen die Säug-
linge auf die freien Plätze und vor die Thore. Der Ein-
fluss der schlechten, verdorbenen Stubenluft auf die Sterb-
lichkeit der Letztern ist daher in diesen Klassen geringer,
als. bei den ännern.
Die Subalternbeamten der Behörden, der Actien-Gesell-*
Schäften u. s. w. wohnen im Allgemeinen besser und ge-
sunder, als selbst wohlhabende Gewerbtreibende. Viele haben
sonnige, luftige und hinreichend geräumige Wohnungen in
der Vorstadt Grünhof, die nur im Winter schwer zu heizen
sind; die meisten lieben die obern Stockwerke an der ge-
sund gelegenen Peripherie der Oberstadt, in der Nähe der
Thore, an den Paradeplätzen und in der Neustadt, Obwohl
es in diesen Klassen an Reinlichkeit und Ordnungsliebe nicht
Mit, die Mütter auch hinreichend Zeit haben, sich mit der
Pflege der Kinder zu beschäftigen^ welche mit Leichtigkeit
in der guten Jahreszeit ins Freie getragen werden können,
so wird doch zur Schlaf- und Kinderstube fast immer das
Kindersterblichkeit in Stettin. 105
sehlechteBte Zimmer gewählt, dessen Lüftung sehr mangel-
haft geschieht.
Am wenigsten haben natürlich von den Nacfatheilen
schlechter Stubenluft die Säuglinge aus den wohlhabenden
Klassen im engern Sinne zu leiden, welche . vorzugsweise
die gesundesten Gegenden der Stadt, die Neustadt und Ober«
Stadt, bewohnen. Obgleich diese Wohnungen im Durch-
schnitt geräumig und gesund sind, so findet der Arzt auch
hier sehr gewöhnlich Kinderstuben, welche hinter allen bil-
ligen Ansprüchen zurückbleiben. Für die Kinder wird das
dunkelste Zimmer nach dem Hofe hinaus gewählt, während
das beste Yorderzimmer nur bei seltenen Gelegenheiten zu
Gesellschaftszwecken benutzt wird. Die Lüftung der Kinder-
stube ist schlecht aus ungegründeter Furcht vor Erkältung
der Kleinen; aus gleichem Yorurtheil ist dieselbe im Win-
ter oft überheizt, und nicht selten findet man den ammo-
niakalischen Geruch nasser Windeln und Betten, die am
Ofen getrocknet werden, in Familien, denen man ihrer
socialen Lage nach eine grössere Einsicht und feinere Ge-
ruchsnerven zutrauen sollte. Diese Mängel sind freilich
nicht von der Art, um direct und far sich allein den Tod
kleiner Kinder zu bewirken, um so weniger, da nichts im
Wege steht, die Kinder viel ins Freie tragen zu lassen,
müssen aber entschieden als nachtheilig für die Gssundheit
bezeichnet werden.
Die Lagerstellen der Kinder bestehen in Stettin
überall in Wiegen. Dies Möbel ist einmal von einer deut-
schen Kinderstube unzertrennlich, und obwohl das Wiegen
für das zarte Gehirn vieler Kinder nachtheiUg ist, und die
dem Säüglingsalter schon an sich eigene Disposition zu ge-
fährlichen Gehirnleiden steigert, die Kinder auch, wenn sie
älter werden, leichter aus der Wiege fallen, als aus einer
106 Rindersterbliehkeit in Stettin.
sweekniäarig construirten Bettstelle, so gQt es bei uns doch
als Yermessenheit, gegen die geheiligte Tradition yoa der
Kiaderwiege anzukämpfen. Sdilimmer als letztere ist die
ibermässig warme und oft zu enge Bekleidung vieler
kleiner Kinder ans allen Ständen, durch welche die freie
Blutdrenlation und die Muskel- und Knochenentwicklnng
gehraimt, und Congestionen nach dem Kopfe, den man bei
Kindern aus den imtern Ständen besonders warm bekl^det
findet, befordet werden ; femer der Missbrauch, welchen man
mit Wärmflaschen treibt, and die Vorliebe der Mutter aus
den armem und mittlem Klassen, die Wiege im Winter so
dicht wie möglich an den geheizten Ofen zu stellen, dessen
strahlender Wärme man das Kind mit Behagen aussetzt.
Forscht man nach, wozu diese Erhitzung dienen solle, so
erfahrt man auch in dieser Beziehung, dass es aus Besorg-
niss geschieht, die Kinder möchten sich „erkälten^. Dass
das angewandte Ver&hren das Gefässsystem anhaltend und
übermässig erregt, namentlich aber die Haut in einer krank-
haften Thätigkeit erhält, welche Schweisse und Hantaus-
schläge erzeugt, dass gefährliche Congestionen nach Herz,
Lungen und Gehim mit ihren Folgen hervorgebracht wer-
den, dass fiBmer gerade das, was man verhüten will, näm-
lich sogenannte Erkältungen, unter solchen Umständen aus-
serordentlich begünstigt werden, wollen die meisten Mütter
zum Schaden ihrer Kinder nicht einsehen.
So lange die Hebamme und — bei Wohlhabenden —
die Wartefrau in der Wochenstube erscheint, also in den
ersten Wochen nach der Entbindung, werden die Kinder
hinlänglich gebadet oder doch — wie bei Aermern —^
gewaschen. Die Pflege derjenigen, bei denen selbst letz-
teres aus Trägheit, Rohheit, grosser Unreinlich keit und
gtadieher Verarmung mangelhaft geschieht, ist stets auch
Kindersterblichkeit in Stettin. 107
in andern, noch wichtigern Beziehangen so nachlässig, dass
nur wenige dem Tode und keines der Scrofulose in der
einen oder andern Form entgeht. Die Mütter aus den wohl-
habenden Klassen setzen das Baden und Waschen ihrer Ein-*
der auch später in ausreichendem Maasse fort; in den Fa-
milien aus dem Arbeiter- und Gesellenstande und selbst aus
den Mittelklassen wird jedoch nach Ablauf der ersten Wochen
die nothwendige Reinigung der Kinder gewöhnlich sehr man-
gelhaft betrieben. Nicht minder wird die bei kleinen Kin-
dern so nöthige häufige Erneuerung der Bett- und Leib-
wäsche oft aus Unreinlich keit oder Armuth der Mütter
oder aus beiden Gründen zugleich unterlassen; IMe Folgen
der ünreinlichkeit jeder Art sind Verpestung der Luft, die
das Kind athmet, Unterdrückung der Hautthätigkeit und
Hautausschläge mit den hieraus sich ergebenden Krankheits-
processen in edlen Organen.
Von viel grösserm Einfluss noch auf die Sterblichkeit,
als Wohnung, Luft, Wärme, Lager, Kleidung und Reinlich-
keit, ist unter den nothwendigen äussern Lebensbedingungen
der kleinen Kinder die Nahrung, welche sie erhalten.
Die natürlichste und beste im ersten Lebensjahre ist be^
kanntlich gute Muttermilch. Am ungünstigsten sind auch
in dieser Beziehung die unehelichen Kinder gestellt. Sie
werden entweder gar nicht oder doch nur kurze Zeit von
ihren Müttern gestillt. Von den verehelichten Müttern muss
man zur Ehre der Stettinerinnen aus allen Klassen sagen,
dass es sehr wenige giebt, die sich aus Bequemlichkeit oder
um der vermeintlichen Erhaltung ihrer Reize willen der
ersten Mutterpflicht entzögen, und nicht den lebhaften
Wunsch hegten, ihr Kind selbst zu stillen; die Frivolität,
mit welcher viele Französinnen aus den grössern Städten
ihre neugebomen Kinder aufe Land an Bauerfirauen zum
108 Kindenterbtichkeit in Stettin.
Stillen geben, ist bei ans eben so unbekannt, wie im übri-
gen Deutschland. Was indessen die Mütter aus den höhern
Klassen unserer Stadt betriiR, so hat selbst der gesundere
und kräftigere Theil derselben gewöhnlich so mangelhaft
entwickelte Brüste und Brustwarzen, dass die Milch -Ab*
und Aussonderung gewöhnlich nur unvollkommen erfolgt,
und nach kurzer Zeit entweder von selbst oder in Folge
von wunden Brustwarzen, Brustdrüsenentzundung und Eiter*
abscessen im Dr&sengewebe wieder erlischt. Unter 45 mir
bekannten Müttern aus den wohlhabenden Klassen (mit mehr
als 1000 Thlr. Einkommen) fand ich nur 15, also gerade |,
welche im Stande gewesen waren, ihre Kinder sfelbst zu
stillen. Die Ursachen dieser beklagenswerthen Unfähigkeit,
dem einfachsten Naturtriebe zu folgen, beruhen im Allge-
meinen auf Abstammung der Wöchnerinnen von schwftch*
liehen oder ungesunden Eltern, vernachlässigter Körper-
erziehung in der Jugend, fehlerhafter Lebensweise und vor-
zeitigen Ehen.
Viel besser steht es mit den Frauen aus den übrigen
Gesellschafts-Klassen. Zwar fand ich unter 32 Frauen von
Beamten mit einem Einkommen unter 1000 Thlr. noch i,
welches nicht selbst stillen konnte, aber unter 50 Frauen
aus der gewerbtreibenden Klasse war nur eine, und
unter 102 aus den arbeitenden Klassen im engern Sinn —
Frauen von Gesellen, Arbeitern und unverehelichten Müt-
tern — ebenfalls nur eine, welche dies nicht vermocht hätte.
Die Frauen, welche dem Beamtenstande mit massigem oder
geringem Einkommen angehören, scheinen demnach in Be-
zug auf ihre Körper -Constitution und Nährfähigkeit eine
Mittelstellung einzunehmen, welche ohne Zweifel mit ihrer
BeirkuAft und Erziehung, je n^^hdem diese mehr den soge-
nannten hohem Klassen, oder mehr den gewerbtreibenden
Kindersterblichkeit in Stettin. 109
und arbeitenden entspricht, zusammenhängt. Die Frauen
aas den letztern nämlich, Ton Jugend auf an körperliche
Arbeit bei grober, aber ausreichender Kost. gewöhnt, sind
bei uns grösstentheils stark und kräftig gebaut, haben gut
ausgebildete Brüste und heirathen erst nach vollendeter
Körperreife. Während die Constitution der Frauen aus dem
Kaufmanns-, OfScier- und höhern Beamtenstande yorherr-
ßcbend den Charakter des Ereäiismus zeigt, überwiegt bei
den Frauen der Gewerbtreibenden, Handwerker, ünteroffi-
ciere, Juden, Arbeiter, Gesellen und den unverheiratheten
Müttern das vegetative Leben, welches eine normale Milch-
secretion weit mehr begünstigt, als da» schwache, überreizte
Blut- und Nervenleben der Erstem, Es. kommt hinzu, dass
ein Theil von ihnen in den Landstädten und Dörfern der
Umgegend geboren und gross geworden ist, welche gün-
stigere Bedingungen far die Körperentwicklung in sich
schliessen als Stettin. In dem Stettin umgebenden Ran-
dow'schen Landkreise untersuchte ich im verflossenen Som-
mer bei Gelegenheit des öffentlichen Impfgeschäfts 98 Müt-
ter und Kinder in Bezug auf die Nährfäbigkeit der Erstem
und gleichzeitig in Bezug auf die Gesundheit ihrer Kinder,
und fand auch hier sehr günstige Resultate. 89 stillten
ihre Kinder selbst; nur 3 der Letztem waren theils schwäch-
lich und schlecht genährt (2), theils scrofulös (1). Ein
Kind unter den 89 bekam Kuhmilch neben der Mutterbmst.
unter den übrigen 9, welche künstlich gefüttert wurden,
war ein schwächliches und ein scrofulöses. In Bezug auf
Nährfähigkeit in den ersten Wochen nach der Entbindung
fanden sich unter jenen 98 Frauen mmdestens 93, welche
selbst stillen konnten.
Ich habe die von mir mühsam gesammelten statistischen Notizen
in der folgenden Tabelle zusammenstellt, hebe aber ausdrücklich her-
110
Kindersterblichkeit in Stettin.
Tor, dftss dieselbe sieh nnr anf die NShrfiUiigkeit , d» h. die in den
ersten Wochen nach der Entbindung in normaler Weise in Gang ge-
kommene Milchsecretion der Mutter, nicht etwa anf die Zahl der
wirklich von ihren Mitten gesäugten Kinder besieht. Die liStm
der Stettiner Frauen habe ich theils nach eigenen zuverlässigen, aus
meiner ärztlichen Praxis entnommenen Beobachtungen, theils aus den
OebnrtsUateD und mSndlichen speciellen Angaben zweier hiesigen
Hebammen festgestellt Die Kenntniss der Letztem in Bezug der
Nährfahigkeit der Mutter erstreckte sich indessen mit Sicherheit nur
anf die ersten 4 bis 6 Wochen nach der Entbindung.
-M
Es
OD
Gesellschafts - Klasse
Zahl
konnten
Es mussten
i!l
der
Mfitter.
*
der
Mütter.
selbst
stillen.
Ammen künstlich
miethen. fittem.
Sum
der nichi
StiUei
Unverheuathete
17
17
,^.^
^^^^
■ -_
Frauen von Arbeitern .
54
54
—
—
» , Gesellen . .
31
30
—
1
1
„ , Gewerbtrei-
benden . . .
50
49
—
1
1
» » niedem und
mittlem Be-'
amten . . .
32
24
5
3
8
, „ Wohlhaben-
*
den
45
15
29
1
30
I4bid]i«he Bevdlkemng .
98
93
•■^PB
5
5
Summa . .
827
282
34
11
45
Eine Statistik der Art der firnähning der Säuglinge
habe ich nur in Bezug der 98 im Randow'schen Kreise von
mir untersuchten feststellen können. Die Resultate sind
offenbar sehr gänstig. Für Stettin würde eine ähnliche Un-
tersuchung ohne Zweifel ungünstige und gans andere Re-
sultate ergeben, als diejenigen sind, welche sich, der obigen
Tabelle zufolge, in Bezug auf die Nährfähigkeit der Mütter
herausstellen. Denn nicht die letztere allein, namentlich
wenn man sie nur nach den ersten der Entbindung folgen-
den Wochen bemisst, bestimmt die wirklich stattgehabte
Ernährung des Kindes während seiner ersten neun Lebens-
Kiaderstorblichkeit in Stettin. 1 1 1
moaate. Die 17 unverehelichten Mutter waren s&mmtlioh
im Stande, ihre Kinder selbst zu stillen, aber Alle hatten
aus Noth einen Ammendienst suchen müssen, und ihre
Kinder wurden künstlich gefuttert. Bei andern Hüttern
schwindet die Milch vorzeitig-, entweder spontan oder in
Folge von Krankheit oder neuer Schwangerschaft; manche
Mütter mit entwickelter Milchsecretion starben im Wochen-
bette (in Stettin 23 im Jahre 1S60), oder im Yerlauf des
ersten Lebensjahres ihres Kindes, bei andern geben die
Brüste wohl Milch, aber in einer für das wachsende Kind
unzureichenden Menge. In allen diesen Fällen geht Letz-
teres der naturgemässen Ernährung durch die Mutterbrust
mehr oder weniger verlustig.
Die durch die körperlichen und socialen Verhältnisse
der Mütter bedingten verschiedenen Ernähru&gsarten der
Kinder sind für Gesundheit und Leben der Letztern ent-
scheidend. Diejenigen Kinder aus allen Klassen, welche
von ihren Müttern selbst gestillt werden, erhalten im
Allgemeinen die ihrem Organismus entsprech^ide Nahmng,
womit die Hauptbedingung ihres Gedeihens erfüllt wird.
Dr. Breslau in Zürich, welcher 100 gesunde Kinder nnmit*
telbar nach der Geburt und 5 bis 15 Tage nach derselben
gewogen hat, fand, dass von den natürlich ernährten Kin-
dern 41 pCt. an Körpergewicht zugenommen hatten, und
zwar durchschnittlich um -^^ des Gesammtkörpergewichts,
dass aber alle künstlich genährten ohn6 Ausnahme an Ge-*
wicht (durchschnittlich um --^ des Gesammtgewiehts) abge^
nommen hatten. Dem entsprechend ist auch die, Sterbliche
keit unter den natürlich genährten Kindern am geringsten.
Ungünstig sind die Folgen des Selbststillens für die Kinder
nur in denjenigen Fällen, in welchen ansteckeiide Krank-*
beiten, oder erbliche, mit ^%m Genuss der Muttormilch auf
112 Kindefbierbliehkeit io Stettin.
M •betragen werden. Diese FftOe «md bei den Franen
MB den wohlhabenden und nrittlern Khu»en selten, h&ufiger
0iBd sie bei den Pinnen der arbeitenden Klassen, denen die
einsieht in die traurigen Folgen des Selbststillens miter
wichen Umstftnden gewöhnlich fehlt,
Eine zweite Äbtheilung bilden die Kinder, deren Müt-
ter nicht selbst stillen können oder wollen, die aber das
beste Surrogat ftr die Milch ihrer Mutter erhalten, n&mlieh
eine Amme. Ihnen wird durch die Darreichung der Am-
menbrust eine offenbare Wohlthat erwiesen, eine Wohlthat
freilich auf Kosten der Ammenkinder und die nur Kindern
wohlhabender Eltern zu Gute kommt, von der aber die be-
treffenden unehelichen Kinder und die aus den arbeitenden
Klassen s&mmtlich, die aus den Mittelklassen grösstentheüs
MStgesehlossen sind. Dennoch ist die Sterblichkeit unter
den von Ammen gen&hrten Kindern grösser, als unter de*
oen, Welche die eigene Mutter stillt. Nach Süssmileh ver-
bftlt sie sich wie 5 : 8 und in Uebereinstimmung hiermit
Iftbrt Chatsauneuf BXij dass in Paris von 100 Kindern, die
die Ammenbrust erhalten, 29 bis 38,7, von 100, welche die
eigene Mutter stillt, aber nur 18 bis 20 im ersten Lebeiis-
jahre sterben. Manche anscheinend brauchbare Ammen sind
in Wirklichkeit krank oder liederiicb, andern yersiegt in
Folge ihrer plötzlich veränderten Lebensweise und Diät die
Milch, bei andern entspricht das Datum ihrer Entbindung
zu wenig dem Alter des Säuglings; die Kinder gedeihen
nicht, verkümmern, erkranken, man wechselt die Amme, oft,
ohne mit der neuen Amme einen bessern Griff zu thun, was
nm so leichter möglich ist, als bei dem Mangel an-Ammen-
in Stettin manche Eltern genöthigt sind, zweifelhafte Indi^
viduen zu miethen.
Bei weitem unvoUkommner. ist die Ernährung derjenigeii
KiüteitfitfbMehlBeU in SMtiD* 113
Kiodet^ denen die MattertHrast kerne aasreielietide Hei^ von
Mileh gewährt, und die deshalb eine sogenaa&te gemisebte
Nahrung erhalten, d* h. künstliche Nahrung, besonders- Kuh**
milch, neben^ der Muttermilch. Ihr Gedeihen hängt, nftehst
der grössern oder geringern Lebedsenergie, wdche rie init^
auf die Welt brachten , wesentlich von der Beschaffenheit
der nebenher gereichton Kuhmildh und der ihnen zu TiM»L
werdenden Pflege und Auimerksamkeit ab. Da diese Be*
dingungen häufig mangelhs^ sind, erkraidcen und sterben
diese Kinder bei weitem zahlreicher, als dib ausschliesslich
mit Mutter- oder Ammenmilch genährten.
An sie schliessen sich diejenigen an, denen der mütter-
liche Quell aus Mangel an Milch in der Brust, Krankheit^
neuer Schwangerschaft oder Tod der Mutt^ zu früh ver^*
siegt, und die deshalb vorzeitig entwöhnt werden. Selbst-
redend finden unter den vorzeitig entwöhnten Kkidern man-
nigfache Abstufungen in Bezug auf ihr ferneres Gedeiheiii
Statt. Man rechnet bekanntlich als die normale Zeit, in^.
nerhalb welcher die Natur den Säugling auf den ausschliees^
liehen Genuss von Muttermilch hinweist, im Allgemeinen die
ersten lieun Monate seines Lebens. Je näher der Termin
des Entwöhnens an den zehnten Lebensmoaat fällt, je ent^
wickelter der Säugling ist, desto günstiger sind natürlich
die Aussichten für seine Gesundheit und sein Leben; je
kürzere Zeit er von der Mutter oder Amme gestillt wurde^
je zarter seine Körperconstitution ist, je weiter endlich die
Beschafenheit der gereichten künstlichen Nahrung sich von
der natürlichen entfernt, desto ungünstiger. Im Zusammen^
hange hiermit ist denn auch die durchschnittliche Sterblich'^
keit der' zu früh entwöhnten Kinder ohne Zweifel grossen,
als die derjenigen , welche wenigstens neun • Monate die'
Mutter- oder Ammenbrust erhielten.
Coiper, Vjtchrft. f. ger. Ued. XXJL 1. g
114 Eindersterbliehkeit in SteHin.
Am übelsten ist es mit der grossen Anzahl derjenigeii
Kinder bestellt, deren Mütter sie gar nicht stillen, noch
Ammen miethen können oder wollen, und die deshalb von
der Gebart an künstlich gefüttert werden — den sogenann**
^n Päppelkindern. Da einerseits auch die beste künst-
liche Nahrung nie der guten Frauenmilch gleichkommt, an-
dererseits ihre Beschaffenheit und Bereitung einen Grad von
Wohlhabenheit, Sorgsamkeit und verständiger Einsicht bei
den Müttern voraussetzt, welche sich nur in wenigen Fäl*
len findet, so gedeiht die Mehrzahl dieser Kinder nur sehr
unvollkommen, und häufig fuhrt die mangelhsifke Assimili-
mng der dem Organismus des Kindes nicht entsprechenden
Kost zu Krankheiten der Yerdauungsorgane und Lymph-
drüsen, zu Atrophie und secundären Gehirnaffectionen , an
denen ein erheblicher Theil schon vor Ablauf des ersten
Lebensjahres zu Grunde geht. * Da für die Erhaltung der
künstlich gefütterten Kinder Alles auf die sociale Lage der
Eltern ankommt, von welcher Geldmittel, Wohnung, Pflege
und Einsicht durchschnittlich abhängen, so müssen sich hier
die schrofisten Uoterschiede in den betreffenden Sterblich-
keitsverhältnissen der verschiedenen Klassen der Bevölke-
rung zeigen.
Die Statistik hat bisher wenig gethan, um den grossen
Einfluss der äussern Lebensverhältnisse auf die Sterblichkeit
der Säuglinge bestimmter nachzuweisen. Nur in Bezug auf
die unehelichen und die Findelkinder ist dies mehrfach
geschehen. Von Letztern mit ihrer enormen Sterblichkeit
sehen wir hier ab, da es in Stettin, wie in Preussen über-
haupt, keine Findelhäuser giebt; aber die Sterblichkeit der
unehelichen Kinder ausserhalb der letztern ist nicht minder
gross. Im Preussischen Staate starben (1820—34) von 100
lebend gebornen ehelichen Kindern 17, von 100 uneheliche
25,2 im ersten Lebensjahre; in Berlin von Erstem 19,8, von
Kittdersterbliclikeit in Stettin;
115
dM Letztem 36,2 (Hcjfinann). Ffir Stettin habe ich dlisf
betreffeade Verh<niss für die foaf Jahre von 1854 bis
1858 berechnet, und es während dieser Periode noch viel
ongänstiger als in Berlin gefanden. Vor Ablauf des ersten
Lebensjahres starben nämlich (ohne die Todtgeburten) :
Im Jahre
unter
lOOOebornen
überhaupt.
unter
100 ehelichen.
unter
100
unehelichen.
1854
1855
1856
1857
1858 .
16,6
26,2
22,4
25,5
34,5
13,9
22,4
21
21,6
31,9
36,6
54,4
31,1
53,6
50,8
1854-58
25,2
22,3
45,1
Wenn man bedenkt, dass ein nicht unbeträchtlicher
Theil der unehelichen Kinder gleich nach der Geburt an
äussern Schädlichkeiten unmittelbar zu Grunde geht, und
dass bei den übrig bleibenden fast ohne Ausnahme ange-
sunde Wohnung, schlechte Luft, Unreinlichkeit, künstliche
Fütterung mit schädlicher Nahrung statt der Mutter- oder
Ammenbrust und schlechte Pflege zusammenwirken, so ist
jene enorme Sterblichkeit nicht zu verwundern. Für die
meisten unverheiratheten Mütter ist ein Ammendienst der
einzige Weg, sich und ihr Kind zu ernähren. Das Kind wird
einer sogenannten Halte- oder Päppelfrau (in Berlin auch
Engelmacherin genannt) überliefert, armen Weibern, welche
das traurige Geschäft übernehmen, dasselbe, wie Casper^)
sagt, für eine kleine monatliche Entschädigung „dem Tode
„zuzuführen. Nur der Arzt kennt die Käfige und Winkel,
„in welche diese verkümmerten Geschöpfe für ihre kurze
1) Beiträge zur medicinischen Statistik und Staatsarzn ei künde.
Berün 1825.
8*
116
RinderBterblicbkeit io Stettia.
„Lebenedaaer gesteckt werden, den Schmiitz, in dem aie
^hausen, die Nabning, die ihnen gereicht wird, und die Be-
„bandlong, die sie von den rohen Händen der Haltefrau
,,erdalden, welche wohl weiss, dass sie in der Kundschaft
„nichts verliert, wenn diese auch erfährt, dass gar viele
„Kinder bei ihr sterben I"
Um den Einfloss der socialen Verhältnisse der Eltern auf die
Sterblichkeit ihrer Kinder während des ersten Lebensjahres noch
deutlicher zu bestimmen, habe ich die Beschäftigung und theilweise
die Wohlhabenheit der Eltern von 1113 in den Jahren 1858 und 1859
hieraelbst verstorbenen Rindern unter einem Jahre, mit Ausschluss
der Todtgebornen , nach den von den Geistlichen geführten Todten-
Listen, näher erforscht und danach 6 Kategorieen unterschieden: un-
verehelichte Mütter, Arbeiter {incL Matrosen, Bootsfahrer,
Brettschneider, Comtoirboten, Kutscher, Packhofsdiener), Gesellen,
kleinere Gewerbtreibende, Subalternbeamte und Wohl-
habende. Zu Letztern habe ich ohne Unterschied des Berufs Alle
gerechnet, deren Einkommen ich auf mindestens 1000 Thlr. glaubte
veranschlagen zu können. Einzelne Willkfihrlichkeiten bei der Ein-
schätzung in die verschiedenen Klassen waren natürlich nicht zu ver-
meiden. Die Kinder von Juden, Dissidenten, einige, deren Alter
zweifelhaft war, die unbekannten, im Wasser gefundenen oder heim-
lich beerdigten Kindesleichen konnten hierbei nicht mit berücksichtigt
werden, so dass die Zahl der in den beiden Jahren wirklich verstor-
benen Kinder unter einem Jahre etwa um 100 grösser war, als 1113,
ganz abgesehen von den aus der Militair - Gemeinde verstorbenen,
welche in besondem, mir nicht zugänglichen Listen gefuhrt werden.
Eine wesentliche Aenderung der Proportionen hätte indessen aus
naheliegenden Gründen durch Hinzurechnung der weggelassenen Kin-
der nicht herbeigeführt werden können.
Unter jenen 1113, vor Ablauf des ersten Lebensjahres verstorbe-
nen Kindern waren:
Im Jahre.
un-
eheliche.
von
Arbei-
tern.
von
Gesel-
len.
von klei-
nern Ge-
werbtrei-
benden.
von mitt-
lem und
niedern
Beamten.
von Wohl-
habenden.
Summa.
1858
1869
«
120
149
166
166
93
73
112
112
5f
52
14
15
55G
557
Summa
269
332
166
224
103
29
1113
Riodersterblichkeit in Stettin. 117
•
Wenngleich diese Ziffern für sich allein keine sichern
Schlüsse auf die Verhältnisse der Kindersterblichkeit in den
verschiedenen Klassen zu einander zulassen, da die Summen
der jeder Klasse angehörenden Personen von mir nicht fest-
gestellt werden konnten, so sprechen sie doch einigermaas-
sen für sieh. Dass die gemachte Unterscheidung keine
willkührliehe, sondern eine die Kindersterblichkeit wesent-
lich bestimmende ist, wird dadurch best&tigt, dass in den
Klassen der Arbeiter, der kleinern Gew erbtreibenden, der
Beamten und der Wohlhabenden in jedem der beiden Jahre
fast genau dieselbe Zahl yon Kindern starb, und nur die
unehelichen und Gesellen - Kinder Differenzen zeigen. —
Schlagender lässt sich der Einflnss der socialen Lage der
Eltern indessen in anderer Weise nachweisen. Stettin
zählte im Jahre 1858, mit Ausschluss der Militair- Ge-
meinde, 53,000 Seelen; die Zahl der Einkommen -Steuer
zahlenden Givilpersonen betrug 1065. Sieht man die Letz-
tern als den wohlhabenden Theil der Bevölkerung an, und
rechnet man ihre Familien -Mitglieder — die Familie zu
6 Personen — mit, so darf man 6390 Seelen als zur wohl-
habenden Bevölkerung und 46,610 als zur nicht wohlhaben-
den gehörig bezeichnen. Es waren also 12,06 pCt. der
Bevölkerung wohlhabend und 87,94 pCt. nicht wohlhabend,
d. h. den mittlem und arbeitenden Klassen angehörend.
Nichtsdestoweniger gehörten nur 2,52 pCt. der verstorbe-
nen Kinder der wohlhabenden Klasse, dagegen 97,48 pGt.
den übrigen Klassen an ^).
Naturlich können auch bei der besten, allseitigsten
Pflege durch einzelne Versäumnisse oder unvermeidliche
1) Casper hat auf 700 Todesfälle ans den yornehmsten Familien
hur 39 von Kindern nhter 5 Jahren gefunden , auf 700 von Berliner
Annen hingegen 240. Der Verf,
118 Kindersterblichkeit in Stettin.
Zufälle, z. B. einzelne Diätfehler und Erkältungen, Krank-
heiten entstehen, welche trotz zweckmässiger Behandlung
den Tod auch eines ganz gesund gebomen Säuglings her-
beif&hren (z. B. Group, Lungenentzündung). Aber nur eine
yerhältnissmässig geringe Anzahl von Kindern im ersten
Lebensjahre geht bei uns an jenen Krankheitsreizen zu
Grunde, welche zur Verhütung ihrer schädlichen Einwir-
kung mehr als gewöhnlicher Pflege und Schutzmaassregeln
bedürfen, und welche man aus der Zahl der übrigen als
vorzugsweise spedfisch herausgegriffen und als Miasmen
und Contagien bezeichnet hat. Für das erste Kindes-
alter kommen unter den hierher gehörigen Krankheits-
Zuständen, den sogenannten Infections-Krankheiten, in Be-
zug auf ihre Tödtlichkeit vornehmlich Pocken und Cholera,
in zweiter Reihe Scharlach , Masern , Rötbein und Stick-
husten in Betracht. Wie gering die Zahl der an diesen
Uebeln verstorbenen Kinder im Verhältniss zur Summe der
verstorbenen ist, und wie sehr selbst auf diesen Theil die
sociale Lage der Eltern inflairt, wird eine Untersuchung der
letzten Todesursachen lehren, nämlich eine statistische
Betrachtung der Krankheits formen, welchen so viele
Säuglinge in Stettin erliegen.
Es ist freilich für die betreffende Statistik kaum der
nothdürftigste Grund gelegt. Die amtlichen Preussischen
Mortalitäts-Listen enthalten in Bezug auf die Todesursachen
überhaupt nur folgende Rubriken: Selbstmord, allerlei Un-
glücksfalle, bei der Niederkunft und im Kindbette, Pocken,
Wasserscheu, innere hitzige Krankheiten, innere langwierige
Krankheiten, schnell tödtliche Krankheitsfälle, äussere Krank-
heiten und Schäden, und nicht bestimmte Krankheiten. Da
aber innerhalb, dieser Rubriken keine Unterscheidung der
verschiedenen Altersklassen stattfindet, ist das bezügliche.
Kindersterblichkeit in Stettin. 119
«
Material far den Nachweis der letzten Todesursachen der
S&i^linge nicht verwendbar. Man muss also auf die von
den Geistlichen geführten namentlichen Verzeichnisse der
Verstorbenen zurückgehen, welche auf Grund eines ärztlichen
Todtenscheins auch die nähere Bezeichnung der Krankheit
enthalten, welcher dieselben erlagen. Da in Stettin beson-
dere Leichenschauärzte angestellt sind, welche allein die
Befugniss haben, gültige Todtenscheine auszustellen, so
könnte man glauben, dass unsere Todtenlisten eine sorgfäl-
tigere und wissenschaftlichere Bezeichnung der tödtlichen
Krankheiten darbieten wurden, als die anderer Orte, an
welchen keine besondern Schauärzte fungiren. Dies ist aber
nicht der Fall. Wie überall, linden sich auch in den Stet-
tiner Listen für die Todesursachen Benennungen, wie: Zah-
nen, Ausschlag, in Folge der Entbindung, Gehirnleiden,
Brustkrankheit, Magenkrampf^ Verschleimung der Luftröhre,
Geschwür, organischer Fehler, scheinbar ein organischer
Fehler, Drüsenanschwellung, Scrofeln, Wassersucht, die so
unbestimmt sind, dass man die allerverschiedensten Krank-
heitsprocesse sich unter ihnen vorstellen kann, und die sich
für die wissenschaftliche Pathologie nur ungenügend verwen-
den lassen. Einzelne Todesursachen sind geradezu falsch
angegeben; ich fand z. B. ein uneheliches Kind als ^an
Schwäche^ verstorben bezeichnet, das ich selbst und zwar
gerichtlich obducirt habe, das, wie durch die Section und
die gerichtliche Untersuchung festgestellt wurde,- bald nach
der heimlichen Entbindung der Mutter in deren Bette und
unter deren Körper erstickt gefunden, und das an Lungen-
und Hirn-Apoplexie verstorben war. Trotz aller dieser Män-
gel führt eine massenhafte Zusammenstellung der letzten
Todesursachen der Säuglinge auf Grund der Todtenlisten zu
sehr lehrreichen Ergebmssen. Ich habe die 1113 in den
Jahren 1858 und 59 verstorbenen Kinder, die ich bereits
120 RindersterbUchkeit in Stotün.
oben nach der socialen Lage ihrer Eltern unterschieden habe^
in jener Beziehung untersucht, und die Krankheitsformen,
an welchen sie zu Grunde gegangen sind, mit gleichzeitiger
Unterscheidung der Geschlechter und der socialen Lage der
Eltern in der folgenden Tabelle zusammengestellt. In Be*
zttg auf die Gruppirung wollte ich mich auf die officieUen
zehn Eategorieen der Todesursachen nidit beschränken, da
sie medicinischen Ansprächen nicht genügen. Auch das
an diese Eategorieen sich anschliessende, von der Eönigl.
wissenschaftlichen Deputation far das Medicinalwesen ent-
worfene, vom Eonigl. Ministerium gebilligte und von Hrn.
Geh. Med.-Rath Dr. Müller in Betreff der in Berlin Ver-
storbenen seit zwei Jahren benutzte Schema schien mir för
meinen Zweck nicht geeignet; namentlich erregte es mir
ernste Bedenken, den gewöhnlich chronischen „DurchfoU
der Einder^ unter die „innem acuten Erankheiten^ und
selbstständigen Starrkrampf, Trismus, Tetanus und Eclampsie
der Einder unter die „innern chronischen Erankheiten^ zu
rubriciren. Ich hielt mich möglichst an die anatomische
Grundlage. Man darf hierbei freilich nicht vergessen, dass,
abgesehen von den oben angeführten, ganz unbestimmten
Bezeichnungen, welche sidi überhaupt unter wissenschaft-
liche Eategorieen nur schwer oder gar nicht bringen las-
sen, sich aus den Todtenlisten fast immer nur die letzten
Todesursachen ersehen lassen , aber nicht die ihnen zu
Grunde liegenden Organ- oder Bluterkrankungen, auf
welche es der wissenschaftlichen Pathologie hauptsächlich
ankommen muss, dass also die anatomische Eintheilung
sich hier nur auf die Organe beziehen kann, von welchen
im Verlauf der verschiedenen Erankheitsprocesse der Tod
auszugehen schien, und welche bekanntlich keineswegs die
primär ergriffenen Erankheitsheerde zu sein brauchen.
Kindersterbli^keit in Stettm.
121
Es starben
Namen
der
tödtlichen Krankheiten.
'S
• PN
- a
B
«
^
ei
a
02
§ S
d
:€
A Lebensschwäche bald
nach der Geburt.
Frühgeblirten . . . •.
Schwäche
In Folge der Entbindung (?) .
Summa
B, Organische Fehler.
C. Krankheiten des Gehirns
und Nervensystems.
Krämpfe
Kinnbackenkrampf
Zahnen, Zahndurchbruch, Zahn-
krampf (?)
SchlagfluBB, Gehirnschlag . . .
Gehirnentzündung
Wasserkopf, Gehirnwassersucht
Gehirnerweichung ........
Gehimleiden (?)
Summa
D. Krankheiten der Ver-
daunngsorgane.
Schwämme (?)
Diarrhoe
Magenerweichung (?)
Dnterleibsentzündung , Magen-
krampf (?)
Gastrisch - nervöses Fieber . . .
Leberleiden
DrfisenanschwelluDg, Scrofeln .
Darmverschlingung (?)
Abzehrung
Cholera
Ruhr
Typhus
Summa
22
29
4
8
16
30
45
4
5
11
2
15
19
2
10
25.
55
24
79
211
44
ti4
32
9
4
364
13
6
17
4
2
1
1
45
12
1
2
104
171
33
54
44
8
2
1
1
381
77
118
76
17
6
1
1
314
677
14
4
11
3
2
2
1
1
49
22
1
27
10
28
7
4
3
2
1
94
34
2
2
110
214
18
36
25
90
26
20
14
1
3
1
169
33
62|
36
9
3
116
15
32
14
7
156
312
13
1
7
1
1
25
13
1
1
64
11
7
13
3
3
1
1
1
32
13
86
185
2
1
2
1
29
6
1
60
7
3
4
2
16
1
1
1
8
2
14
122
Kindersterblichkeit in Stettin.
Namen
der
tödtlichen Krankheiten.
Es starben
o
'S
:ee
S
B
o
a
d
•|1
'S ®
o d
d
TS
d
o
J57. Hitzige Hautansschläge.
Pocken
Scharlach
Masern ^
Ausschlage?)
Rose . .
Summa
F. Krankheiten der Rfspi-
rationsorgane.
Brustkrankheit (?), Lungen-
entzündung, Bronchitis . . .
Bräune, Halsentzündung, Hals-
bräune, Halsgeschwüre (?) . .
Stickhusten
Lungenschlag
Lungenblutung (?)... ^ ... .
Summa
O. Krankheiten der Be-
wegungsorgane.
Rheumatismus (?)
ff, Krankheiten der Harn-
organe.
Wassersucht
I, Aeussere Krankheiten.
Geschwüre
K. Unglücksfälle (erstickt).
L. Unbekannt
35
4
26
4
6
2
3
61
4
9
2
3
16
1
2
2
37
1
4
39
40
79
21
43
15
4
10
1
1
8
5
5
3
23
9
15
4
1
2
3
2
8
3
5
4
31
21
52
8
20
8
2
3
13
11
3
7
21
Kindersterblichkeit in Stettin. 123
Was zunächst die an Lebensschw&che bald nach
der Geburt verstorbenen, also mit mangelnden oder un-
vollkommenen innern Lebensbedingungen gebornen Kinder
betrijilt, so können die betreffenden Ziffern der Tabelle zwar
nicht als zuverlässig angesehen werden, weil wahrscheinlich
manche der hierher gehörigen Kinder unter andere Rubri-
ken, namentlich unter die vieldeutige Rubrik: „Krämpfe^,
aufgenommen worden sind, es bleibt jedoch sehr bemerkens-
werth, dass die Wohlhabenden gar kein Gontingent zu den
79 Kindern dieser Kategorie geliefert haben. Man darf hier-
aus mit Recht den Schluss ziehen, dass lebensscfa wache
Kinder unter der wohlhabenden Klasse einerseits seltner,
als unter den übrigen Klassen vorkommen, andererseits,
wenn sie geboren sind, häufiger am Leben erhalten wer-
den — wenigstens bis über das erste Lebensjahr hinaus.
Dass über die Todesart von 4 Kindern, unter denen 2 un-
eheliche waren (1858), sich in den Listen nichts Anderes
findet, als dass sie „in Folge der Entbindung^ verstorben
seien, ist auffallend. Abgesehen davon, dass die Statistik
mit solchen Angaben nichts anzufangen weiss, widerspridit
die Vieldeutigkeit derselben auch dem Interesse der Sicher-
heits-Folizei und der Criminal-Justiz.
Ob an organischen Fehlern wirklich nur 2 Kinder
verstorben sind, muss ebenfalls dahingestellt bleiben. Auch
hier fehlt in den Listen jede nähere Angabe, ja, bei dem
einen Kinde, welches noch dazu wohlhabenden Eltern an-
gehörte, ist sogar als Todesursache nur angefahrt „schein-
bar (1) ein organischer Fehler".
Die zahlreichsten Todesfälle unter den Erkrankungen
der verschiedenen Organe liefern, wenn wir eben nur die
letzten Todesursachen, und zwar vom anatomischen Ge-
sichtspunkte aus, ins Auge fassen, die Krankheiten des
Grehirns und Nervensystems, welchen nicht wenigec
124 KiBderBterblichkeit in Stettin.
als 677 Kinder, und zwar 49 Knaben mehr, als Mädchen,
amm Opfer fielen. An Krämpfen verschiedener Art gingen
allein 576 Kinder, also beinsdie die Hälfte aller im ersten
Lebensjahre verstorbener , su Grande. Auffallend ist die
grosse Zahl der unehelichen Kinder, welche an Kinnbacken-
krampf verstarben; es starben von ihnen 9 Mal mehr, als
eheliche aus den wohlhabenden Klassen. Nur gröbliche
Vernachlässigungen in der Pflege können die Ursache die-
ses Missverhältnisses sein. — Weiter gehende Schlüsse von
pathologischem Werthe gestattet unsere Tabelle freilich nicht,
theils weil auch hier die Listen eine Menge vulgärer Be-
zeichnungen, z. B. Zahnen, Zahndurchbruch, Gehirnleiden,
enthalten, theils weil Krämpfe überhaupt keine Krankheiten
im. wissenschaftlichen Sinne, sondern nur Symptome von
Krankheiten, und zwar entweder von Gehirn- oder Rücken-
markskrankheiten (Gongestionen, Hyperämieen, Exsudaten,
Anämie, Encefdialitis, Meningitis, Hydrocephalus, Tuberkeln
u. s. w.) oder Reflexactionen , bedingt durch Reizung peri-
pherischer Nerven in Folge von Erkrankungen anderer Or-
gane, sind. Aehnlich, wie mit den Krämpfen, verhält es
sieh mit dem Gehirnschlagfluss und Scblagfluss überhaupt;
die erhebliche Zahl von 76 Todesfällen, welche unsere Ta-
belle unter dieser Rubrik gesammelt hat, enthält gewiss
verschiedenartige Krankheitszustände , in deren Kette ein
Schlagfluss nur das letzte Glied war.
Der Zahl nach schliesaen sich an die tödtlichen Gehirn-
erkrankungen die tödtlichen Krankheiten der Yer-
dauungsorgane an. Auch bei der Gruppirung dieser
Krwkheitsformen war es nicht möglich, primäre und secun-
dSre Processe zu sondern, und es konnten eben nur Todes-
fälle, bei denen ein Ergriffensein der Yerdauungsorgane das
hervorstechendste Symptom war, äusserlich an einander ge-
reiht werden, gleichviel, ob ein primäres Leiden eines oder
Rindersterbtiehkeit in Stettin. 125
des andern Yerdaanngsorgans oder eine Blutinfection den
Erankheitsbeerd ausmachte.^ So lange indessen selbst die
wissenschaftliche Pathologie es nicht yennag, ein logisch
gegliedertes System der verschiedenen Krankheitsprocesse
aof exacter Grundlage herzustellen, sind solche Mängel an*
Tenneidlich. Trotzdem bietet die Rubrik D. manches Lehr-
reiche. Zunächst macht sich auch hier das Missverhältniss
zwischen den unehelichen Kindern and denen aus den übri-
gen Klassen in schreiender Weise geltend ; ja, an „Schw&m*
men^ gingen fast eben so viele aneheliche Kinder als ehe-
liche zu Grande. Gerade bei den Krankheiten der Ver-
dauungsorgane kann die Ursache davon bestimmt und in
erster Reihe nur in der schlechten Emäfarnng der unehe-
lichen Kinder gesucht werden, ünreinlichkeit und Mangel
an Pflege jeder Art thun dann das üebrige. Die Ziffer der
an Diarrhoeen verstorbenen Kinder ist wahrscheinlich zu
niedrig, da sich unter den an Krämpfen und Abzehrung zu
Grunde gegangenen gewiss viele ursprflnglich mit Diarrhoe
behaftete befinden. Bei einigen der an diesem .Uebel ver^
storbenen Kinder ist dasselbe in den Listen noch besonders
als Zahndurchfall oder Zahnruhr bezeichnet. Auch die
Rubrik: Magenerweichung, welche das ziemlich zahlreiche
Contingent von 28 Todesfällen geliefert hat, lässt keine
Schlüsse zu, da die Existenz dieser Krankheitsform höchst
problematisch ist, und dieselbe gewiss verschiedenartige
Krankheitszustände der Yerdauungsorgane in sich schliesst.
An Leberleiden, nämlich, den Listen zufolge : Gelbsucht, Le-
berverhärtung (?) und Leberleiden (?), starben nur 3 Kinder.
Unter die 7 an ünterleibsentzündung "verstorbenen habe ich
auch 3 den Listen zufolge an Magenkrampf (?) verstorbene
aufgenommen. Ein Kind soll an Darmverschlingung, eins
an Scrofeln und eins an Drüsenanschwellung verstorbea
sein (?). — „Abzehrung^ (Atrophie) ist bekanntlich diejenige,
126 KindeiBterbtichkeit in Stettio.
hixi&g tAdÜk^e BrofthrungsstöniBg^, weldie sich bei Siof^ingea
fast aasschliesslieb aas Erkrankungen der YerdaanngBOrgaae,
des Magens, des Darmkanals, der Gekrösdrftsen, in Folge
uusweckm&ssiger Kost entwickelt. Es verdient hervorge-
hoben EU werden, dass beinahe der i2te Theil aller ver-
storbenen Säuglinge hieran zu Grunde ging, dass sich unter
ihnen ausnahmsweise mehr Mädchen als Knaben befanden,
und dass der Einfluss der Wohlhabenheit der Eltern auf die
Gesundheit und das Leben der Kinder hier besonders deut-
lich hervortritt, indem aus der wohlhabenden Klasse kein
einziges Kind atrophisch verstarb. Die Rubrik Cholera ent-
hält Fälle von asiatischer Cholera, welche im Jahre 1858
epidemisch, wenngleich nur in geringer Verbreitung, bei
uns herrschte, vermischt mit Fällen von einheimischer Brech-
ruhr. Es ist hervorzuheben, dass beinahe doppelt so viel
Mädchen als Knaben starben, die unehelichen Kinder am
zahlreichsten dahingerafll wurden, bei den ehelichen aber
ein Einfluss der socialen Lage der Eltern nicht nachgewie-
sen werden kann. An Ruhr, die überhaupt in Stettin zu
den selten vorkommenden Krankheiten gehört, fanden sich
nur 2 Todesfälle verzeichnet, an Typhus ebenfalls 2. Letz-
terem verdient um so mehr Beachtung, als Typhus*£rkran-
kungen 1858 in unserer Stadt zahlreich vorkamen. Die
Ansiebt, dass Cholera Säuglinge häufig, Typhus dieselben
s^r selten ergreift, findet durch unsere Tabelle Bestä-
tigung.
Auf die 214 unter hervorstechenden Krankheitserschei-
nungen der Verdauung s Organe verstorbenen Kinder
folgen der Zahl nach 79, bei denen die Haut vorwiegend
ergrififonwar, nämlich die an sogenannten hitzigen Aus-
schlägen verstorbenen. Mit Ausnahme der 3 an Erysi-
pelas verstorbenen Mädchen, unter denen 2 uneheliche
waren, muss freilich der Grund der Hauterkrankung bei
Eindersterbliebkeit in Stettin. 127
aUen ia einer primären Blntinfection gesucht werden, und
sehliessen sich die sogenannten hitzigen Hautausschläge be-^
kanntlich hierin der Cholera, dem Typhus und der Ruhr
an. Der bei weitem grösste Theil der verstorbenen dieser
Kategorie, nämlich 61 (also der 18te Theil der Kinder-
Mortalität), ging an Pocken zu Grunde. Diese furchtbare
Seuche, welche in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhun-
derts jährlich den 12ten bis lOten Theil aller Menschen in
Europa hinwegraffte, so dass 8 bis 9 pCt. aller Gestorbenen
Pockenkranke waren, hat freilich ihren schrecklichen Ein-
fluss auf die Mortalität des Menschengeschlechts verloren,
seitdem wir in der Kuhpocken - Impfung zwar kein absolut
schützendes, aber doch jeden Geimpften fiir eine längere
Reihe von Jahren sicherndes Präservativ besitzen. Da in
45 Jahren (1814 bis 1860), Dank der Vaccination, in Stet-
tin an den Pocken nicht mehr als 400 Menschen aus allen
Altersklassen verstorben sind, kann man dieser Krankheit
unter den Todesursachen der Säuglinge nur noch eine un-
tergeordnete Bedeutung beimessen ^). Wenn nichtsdesto-
weniger in den Jahren 1858 und 59 der 18te Theil aller
gestorbenen Säuglinge an Pocken zu Grunde ging, so liegt
der Grund davon theils in der ausnahmsweisen epidemischen
Verbreitung, welche die Seuche in jenen Jahren in Stettin
gewonnen hatte, theils in der Nachlässigkeit, Unwissenheit
oder dem Vorurtheil der Eltern, welche die rechtzeitige
Impfung ihrer Kinder unterliessen. Hieraus erklärt sich zur
Genüge, warum 37 Kinder aus dem Arbeiter- und Gesellen-
stande, 16 uneheliche, 7 aus dem Stande der kleinern Ge-^
werbtreibenden, aber nur eins aus dem Stande der mittlem
und niedern Beamten, und gar keins aus der wohlhabenden
1) Yergl. meinen Beitrag »zur nenem Geschichte der Pocken*"
im Jahrgang 1859 der Pappmhetm'Bchen sanitätspolizeilichen Zeit-
schriffc. Der Verf.
128 Kiftdenterblkhk^ in Siettiii.
Klasse an Poeken varstoibeft mA. Maa sUkt bwnuis, wk
B^bst auf sokhe specifiscbe Erkrankmigen^ die ihrer Miatar
naeh den Kindern aller Klassen gleich geAhrli^ sind^ die
sociale Lage und die Bildung der > Eltern inflairt, und te
auf den Verlauf der Pocken, wenn &ie erst den mensch-
liehen Körp^ ergrifim haben, die änztUche Kunirt; von ge-
ringem Einflüsse ist, muss man in der That die sehr gün-
stigen Verh&Itnisse, welche der wohlhabende TheJl der Be-
völkerung und die Beamten in Bezug auf die Pocken-Mor-
talität der Siuglittge zeigen, der Sorgfalt zuschreiben, mit
welcher diese Klassen die rechtzeitige Impfung ihrer Kinder
zu veranlassen pflegen. Die Summe aller in den Jahren
1858 und 59 an dm Pocken ohne Unterschied des Allers
verstorbenen Personen betrug 210; es waren also mehr ale
j- derselben Kinder unter einem Jahre. Auch aus dies^i
den Sfintglingen so ungünstigen Verhältnisse darf man, da
die Poeken keineswegs dem Kindesalter eigenthümlich, son~
dem an sieh jedem Lebensalter, vielleicht mit Ausnahme
der Greise, gleich gefährlich sind^ einen Beweis sowohl Ar
die Schutzkraft der Impfung, als für die traurigen Folgen
der Unterlassung derselben an den Kindern entnehmen. —
Was das Geschlecht betrifft, so starben mehr Knaben als
Mädchen.
An Scharlach und Masern starben nur 18 Säuglinge,
<rii>wohl das Scharlachfieber Ende 1859 in grösserer Ver-
breitung herrsehte, und zwar eben so viele Mädchen als
Knaben. Ein Einfluss der Lebensstellung der Eltern ist
bei diesen Todesfällen nicht erkennbar; es starb u. a. nur
1 uneheliches Kind. Die betreffenden Zi&rn sind zwar
nur klein, doch liegt die Vermiithang nahe, dass bei diesen
Uebeln ein solcher Einfluss in der That nicht oder doch
nicht erheblich stattfindet, weil das Scharlach- und Masem-
gift allen Kindern, gesunden und kränklichen, reich- und
KinderBterbliekkeit in Btetliii. 129
ariBgeiiorbea an sieh gleidi^efMiriieh' ist, die Heflkonde aber
gegen diese Gifte keim Mittel wie die Kuhpoeken-IiDpfaiq;
beeitzt, dessen sieh Terständige, sorgsame Eltern reebtzeitig
als Präservativ bedienen könnten.
Zwei, noch dazu uneheliche Kinder finden sich in den
Listen leider nur als an ,, Ausschlagt verstorben beseiehnet.
In Bezug auf die Krankheiten der Athmungsorgane
ist zu bemerken, dass sie nur den 2isten bis 22sten Theil
der verstorbenen Kinder hinwegrafften, dass das Ueber^
gewicht der Knabensterblichkeit deutlich hervortritt, ein er^
heblicher Einfluss der socialen Verhältnisse aber nicht statin
znünden scheint, sondern Krankheiten der Athmungsoi^ane
S&uglinge alier Klassen ziemlich gleichmässig zu beiallen
seheinen. Unter Lungenentzündung sind Fälle von PnetH
monie und Bronchitis zusammengestellt, doch habe ich auch
einen Fa.ll von „ Brustkrankheit ^ und einen von „Schleim«^
husten^ zu jenen entzündlichen AflFectionen rechnen zu müs-
sen geglaubt. Unter „Bräune" sind die den Todtenlisteil
zufolge an „Bräune**, „Halsentzündung", „Halsbräune" und
„Halsg^schwür" verstorbenen zasammengefttsst. Es gehurt
jedenfalls verschiedene Krankheitsprocesse hiei^er, namenrt^
lieh Angina membranacea und Angina faucium et toneülans
nach Scharlach. Mehr vertrauenerweckend sind die 15 ¥^\h
von Stickhusten, da die Zufälle dieses Uebels sehr charak-
teristisch und auch vielen Laien hinlänglich bekannt sind.
Lungenschlag, von welchem 4 Fälle notirt sind, bezeichnet
sehr wahrscheinlich nur einen Ausgang acuter Lungenkrank-
heiten. Dass ein uneheliches Kind an „Lungenblutung" ge>-
sterben sein soll, ist schwer glaublich.
Das unter Krankheiten der Harnorgane verzeichnete,
an Wassersucht verstorbene Kind ist sehr wahrscheinlich
nicht an einer primären Nierenaffection, sondern an AJorbm
Biightii nach Scharlach verstorben. — Woran das angeblich
CoBper, VjTBchft. f. ger. Med. XXII. 1. q
130 Ki&dersterblicbkeit in Stottin.
aa yjRheumatismus^ veiBtorbMe uoeheUche Kind und
eia anderes, an einem „Geschwür^ verstorbenes Kind
eigentlich . zu Grunde gingen, lässt sich auch nicht einmal
errathen. Auch liegt kein Grund vor, warum sidi die To-
desart der 5 andern Kinder, darunter 2 uneheliche, die als
„unbekannt^ verzeichnet ist, nicht hätte sollen feststel-
len lassen, da doch die Matter derselben bekannt waren.
Unter die Unglücksfälle habe ich das nach heimlicher Ent-
bindung durch Fahrlässigkeit der Mutter erstickte unehe-
liche Kind gerechnet, dessen Leiche ich, wie oben erwälmt,
gerichtlich obdncirte, das Aber in den Listen als an ^Schwäche^
verstorben bezeichnet steht; in den letzten selbst sind gar
keine tödtlichen UnglücksiUlle von Säuglingen notirt. Man
darf hierbei aber nicht ausser Acht lassen , dass di^nigen
Kindesleichen, die man heimlich beerdigt oder in der Oder
schwimmend findet, und deren Tod nicht selten ein gewalt-
samer war, von den Geistlichen nicht registrirt zu werden
pflegen.
Der merkwürdige Einfluss des Geschlechts, der
schon bei den Todtgeburten zu Ungunsten der Knaben statt-
findet, macht sich auf die Sterblichkeit der Letztem auch,
während des ersten Jahres nach der Geburt in Stettin, wie
überall, bemerkbar.
Im Preussischen Staate verhalten sich die im ersten Lebensjahre
ventörbenen Knaben zu den Mädchen wie 71,4 : 58 oder wie 1,23 1 1
(in den Jahren 1820 — 34). In Stettin waren unter 2215 in den Jaht
ren 1833—44 im ersten Lebensjahre verstorbenen Kindern 1214 Kna-
ben und 1001 Mädchen (Muiler) und in den Jahren 1858 und 59
unter 1113 desselben Alters 599 Knaben und 514 M&dcben, das Ver-
häUniss war demnach s= 100: 84,11 oder wie 1,26:1. Noch grösser,
als für das ganze Jahr, ist der Geschlechtsunterschied unter den im
ersten Monate und den am ersten Tage verstorbenen. Qftetdet be-
rechnet für Belgien das Yerhältniss der verstorbenen Knaben zu den
Mädchen: vor der Geburt ==3:2, während der beiden ersten Monate
nach der Geburt =4:3, während der 3 folgenden =s5:4 und nach
dem 8ten bis lOten Monate bb beinahe 0.
KindeiBtwblKhldeit in dtottin. 131
Der stattfindende üebersdiiiss der m&onUehen Gebur-
ten (in Stettin 4,2 pCt.) über die weiblichen ist viel su
gering, um jenes ffir die Knaben so nngnnstige Yerhältniss
zn erklären. So feststehend die Thatsache ist, das» der
Ueberschnss der Letztern über die Mädchen vor, bei und
bald nach der Geburt erst schnell, dann langsamer wieder
verschwindet, so dass er z. B, in Preussen bei den Gehör-
nen äberhaupt 5,9 pGt., bei den lebend Gehörnen noch
5,1, nach einem Jahre nnr 1,6 und nach 5 Jahren nur
noch 1 pCt. beträgt, so dunkel sind die Ursachen, welche
die grössere Knabensterblichkeit bedingen. Dass letztere
gleich nach der Gelmrt grösser ist, erklärt sich freilich
zum Theil aus denselben Ursachen, welche die grössere
Zahl männlicher Todtgeburten herbeiführen. Unter Anderm
ist statistisch erwiesen, dass Knabengeburten länger dauern
als Mädchengeburten (Simpson) und dass Zangenentbindun-
gen (Frankenhawer) und Craniotomieen (Simpson) bei er-
stem häufiger stattfinden, als bei letztern. £inige weitere
statistische Anhaltpunkte giebt unsere Tabelle, denn an
„Lebensschwäche bald nach der Geburt^ starben mehr als
doppelt so viel Knaben, als Mädchen (55 : 24), und zwar
kamen anf 8 weibliche Frühgeburten 22 männliche, auf 16
an Schwäche verstorbene Mädchen 29 Knaben, und als „in
Folge der Entbindung^ verstorbene finden sich in den Listen
4 Knaben, aber gar kdne Mädchen ^). Für das raschere
Absterben der Knaben im weitern Verlaufe des ersten Le-
ben^ahres aber fehlt uns jeder sichere physiologische Zu-
1) Die Beobachtung von Dr. Breslau in Zfirich, welcher in den
ersten 5 bis 15 Tagen nach der Geburt bei Mädchen eine raschere
Gewichts -Zu- und Abnahme und somit raschern Stofihrechsel , als
bei Knaben bemerkte, trägt nichts zum Aufschhiss bei, um so weni-
ger, als diese Erscheinung nur bei Kindern an der Mutterbrust statt-
haben soll, während künstlich genährte Mädchen und Knaben in jenem
Zeiträume eine gleichmässige Abnahme zeigten. Der Verl
9*
{32 Kindenterbliehkeit ib Stettin.
sttmmenhaQg. Nur das leimreiche Resultat gewährt unsere
Tabelle in dieser Beziehuag, daes es Torzagsweise die Krank-
heiten des Gehirns und der Lungen sind, welche die Kn»«
ben bedrohen, während die Krankheiten der Verdauungs-
Organe und die sogenannten Infectionskrankheiten ihnen,
anch wenn man die absolute M^rzahl der lebenden Kna-
ben mit veranschlagt, weniger gefährlich sind, als den Mäd«
eben. Es starben nämlich
an Knuikheiten des Gehinis 3€8 Knaben, 314 Mädchen,
. » » der Verdauungsorgane 104 » 110 „
„ „ » Kespirationsorgane 31 » 21 »
„ hitzigen Hautkrankheiten 89 „ 40 »
Da sich unvollkommene innere und äussere Lebens-
bedingungen der Säuglinge — unter den erstem nammt-
lieh angeborne Schwächlichkeit und Kränkliehkeit , unter
den letztern besonders schlechte Luft, Mangel der Mutter-
brust und Darreichung schlechter Knhmileh — in Stetttti
ohne Zweifel häufiger finden, als auf dem Lande in der
Umgebung unserer Stadt, so ist auch die Sterblichkeit der
Stettiner Säuglinge gewiss grösser, als unter der ländlichen
Bevölkerung des benachbarten, Stettin umgebenden Randow-
schen Kreises und des ganzen Regierungs - Bezirks Stettin,
Da ich hierauf bezügliche bestimmte Zahlenverhältnisse nicht
geben kann, so mache ieh wenigstens darauf aufmerksam,
dass (18'20— 34) im ersten Lebensjahre in Berlin 0,23, in der
ganzen Monarchie aber nur 0,198 starben (einschliesslich der
Todtgebomen). Auch in Belgien &nd QueteUt unter lOOO
Gebomen in den Städten 232, auf dem Lande nur 221 im
ersten Lebensjahre sterbende.
Der Einfluss des Klimans und der Jahreszeiten,
welcher auf die allgemeine Sterblichkeit fast in allen Ge^
genden der Erde, namentlich aber in dem wechselnden Klima
der gemässigten Zone, sehr gross ist, wird von dem reiz-
baren Organismus der Säuglinge noch bei weitem lebhafttft
K'initostttrblidikeit ia Sieitiii. 183
empfanden, als von dem der Erwachsenen. Dennoch ist
derselbe dem entscheidenden Einflasse der Lebensstellung
der Eltern, ihrem Wohlstaade und ihrer Bildung unter-
geordnet, weil natürlich diejenigen Kinder, deren Eltern si6
am wenigsten gegen die klimatischen Schädlichkeiten zu.
sehützen vermögen, dies^^ Schädlichkeiten am leichtesten
und zahlreichsten erliegen. Sorgfältige Untersuchungen,
welche theilweise sogar die einseinen Monate des ersten
Lebensjahres besonders berücksichtigen, von Villm-mS, Milne
Edwards^ Quetelet^ Lombard, Emerson^ Caaper und Andern,
haben die Bedeutung der klimatischen Einflüsse für die
Kinder - Mortalität vollkommen bestätigt, sind aber zu sehr
verschiedenen Resultaten bezüglich der Gegenden und Orte
gelangt, für welche ihre Untersuchungen gelten.
Für das Königreich Belgien fand der unermüdliche Quetelety dass
die Sterblichkeit der Säuglinge am grössten im Winter ist, im Früh-
jahr abnimmt, während der Sommerhitze steigt, und eine abermalige
Abnahme im Herbste erfahrt. Er kommt zu dem Schlüsse: ^qu^une
y^tempSrature douce est celle^ qui convient le mieux ä la premüre en-
jfance^ et que Vexc^s de la chuleur et surtout du froid lui sont pre-
^ttdicictbles ^ sait que ces esccU inflaent directement sur une organi-
y^sation tr^s faible encore, ou quHls offissent par Vintermidiaire de
y^la mSre, qui sert de nourrice,^
Vülerme and Milne Edwards, welche den Einfluss der Jahres«-
zeiten auf die Sterblichkeit der Pariser Kinder in den 3 ersten Le-
bensmonaten untersuchten, fanden ebenfalls die zahlreichsten Todes-
fälle im Winter, weniger zahlreiche im Sommer und die wenigsten im
Frühjahr und Herbste; für Genf ermittelte Lombard, dass unter den
im ersten Lebensmonate verstorbenen Kindern beinahe doppelt so
viele im Winter, als im Sommer zu Grunde gegangen waren. Aber
ein allgemeines Naturgesetz ist die grössere Sterblichkeit der Kinder
im Winter keineswegs; denn für andere Orte angestellte Beobach-
tungen lehren das gerade Gegentbeil. In Philad^phjia sterben die
meisten Kinder im Sommer, die wenigsten im Winter (Emer8<m)', in
Stockholm ist ihre Sterblichkeit im August am grössten (Wargen-
thin), desgleichen in Montpellier (Mourgue), In Stuttgart und Berlin
(Casper) fällt ihre gröBftte Mortalität auf den Sommer, die geringdte
auf den Winter. Gewiss ist die Vorschrift des Cods NapoUon, nach
welcher die Kinder in Frankreich und Belgien in den ersten drei Le-
heQ9lii@e&tanf die Maiiie gebracht wwden m&sfteu, und die. Sitte der
134 RiiiderBterbtichkeit in Stettiii.
Käthölikeii, ihre Kincler sehr frühseitig zur Taufe in die Kirche .«a
tragen, ftir die im Winter gebomen Kinder höchst gefährlich. Ab^
in diesem Umstände allein die Ursache der grossen Mortalität der
tenzösischen und belgischen Kinder im Winter snchen zu wolleii,
scheint mir sehr gewagt. Die erwähnten Uatersnchnngen von Mawrqu^
welcher für die doch ebenfalls französische and katholische Stadt
Montpellier, die noch dazn ein mildes Winterklima hat, die grösste
Ifoortalit&t nicht im Winter, Boodera im Sommer fuid, und Ton Lom-
hard^ welcher in dem vorzugsweise der reformirten Gonfession ange-
hörigen Genf dasselbe Yerhältniss ermittelte, welches Andere bloss
dem katholischen und unter dem Code NapoUon stehenden Frank-
reich und Belgien zuerkennen wollen , widersprecfafen jener Hypo-
these.
Es scheint mir viel näher zu liegen, die Differenzen
der Sterblichkeit der Säuglinge in den einzelnen Jahreszei-
ten an verschiedenen Orten in den abv^eichenden klimati-
sehen und localen Verhältnissen, in den verschiedenen
Breite- und Längegraden, der verschiedenen mittlem Tem-
peratur der einzelnen Monate, der Verschiedenheit der herr-
schenden Winde, der Bodenbeschaffenheit and der endemi-
schen Krankheiten zu suchen, wobei man den localen Ge-
setzen und Gebräuchen immerhin einen, wenngleich unter-
geordneten Einfluss zuschreiben kann. Für Stettin gestatten
mir die zugänglichen Listen es nicht, den Einfluss der
Jahreszeiten auf die Kindersterblichkeit statistisch ausreichend
nachzuweisen. Die allgemeine Sterblichkeit ist aber nach
Untersuchungen, welche ich später zu veröffentlichen ge-
denke, entschieden am grössten im August, am geringsten
im Februar. Höchst wahrscheinlich finden bei uns ganz
analoge Verhältnisse Statt, wie in Berlin.
Hier starben nämlich nach Casper*B Forschungen unter 100 im
ersten Lebensjahre verstorbenen Kindern:
im Winter 20,80, im Sommer 32,74,
im Frül^ahr 23,19, im Herbst 23,21,
wonach zwischen dem Maximum im Sommer und dem Minimum im
Winter eine Differenz von 11,94 pGt stattÜEuid.
Die Ursache der grossem Kindersterblichkeit im Som-
mer beruht meines Erachtens in den in dieser Jahresseit
Kindersterblichkeit in Stettin. 1^35
Yorherrsehenden Krankheiten der Yerdaaungsorgane der
Säuglinge, und zwar namentlich den Diarrhoeen, welche
iheils unmittelbar, theils durch Herbeiführung von Atrophie
oder Krämpfen eine viel grössere Zahl von Kindern hin-
wegraffen, als die in den Wintermonaten vorherrschenden
Krankheiten der Athmungsorgane. Als ein Beleg hierfär
darf mit Recht gelten, dass nach unserer Tabelle unter 1113
an Krankheiten der Yerdauungsorgane 214 Kinder, an Krank-
heiten der Athmungsorgane aber nur 52 gestorben waren.
So gross die Kindersterblichkeit aber auch ist, so hat
sie in Folge der Kuhpocken- Impfung, der vernünftigern Be-
handlung der Kinder, der grössern Reinlichkeit, der gesun-
dern Wohnungen, mit einem Worte, in Folge der Zunahme
des allgemeinen Wohlstandes und der allgemeinen Bildung,
gegen früher erheblich abgenommen. Denn während man
nach einem aus verschiedenen grossen Städten gezogenen
Durchschnitt vor 80 Jahren unter 1000 Todten noch 382
Kinder unter 2 Jahren fand, betrug die Zahl der Letztern
in unserm Jahrhundert nur 334 (Caaper).
Welche Mittel der bürgerlichen Gesellschaft und dem
Staate zu Gebote stehn, um die Sterblichkeit der Säuglinge
herabzudrücken, soll Gegenstand einer spätem Betrachtung
werden.
196
6.
Snperarbitriinn über die Znrechniuigsflihig-
keit des wegen Torsätzlicher Brandstiftung
detinirten taubstummen ¥V, Fratze
ans Harzgen»de.
Vom
RegiernngB- und Medicinal-Rathe Dr. Belir in Bernburg.
ClesdiicktiseriäUiii^
Aus den mitgetheilten Gerichte-Aeten ergiebt sich, dass
der gegenwärtig 24^ Jahre alte W. Franke taubstamm ge-
boren wurde und von seinem 8ten bis 14ten Lebensjahre
in der Taubstummen -Anstalt in Halle unterrichtet worden
ist. £r lernte daselbst ziemlich gut lesen und schreibMi,
ehielt Religions-Unterricht und wurde ihm das Abendmahl
in der Markt -Kirche von dem Ober -Prediger Francke in
Halle gereicht. Nach seiner Zurückkunft in das väterliche
Haus in Harzgerode bis zur Zeit der Brandstiftung wurde
F. als Acker- und Frachtfuhrkneeht beschäftigt und hat sich
bei diesen, oft schweren Arbeiten körperlich vollkommen
und kräftig ausgebildet.
Nach Aussagen von Zeugen, mehr noch nach F.^s
eigener Angabe, wurde er bei seinen schweren Arbeiten
von seinem Vater nicht selten hart gesehlagen und nach
TaubBtmame. 137
der Memmig des Sohnes immer gegen seine zwei gesunden
Schwestern vom Vater zurückgesetzt.
Am 12. Mai 1858 Morgens, beim Kaffeetrinken, ge-
rieth der Vater mit seinem Sohne in einen heftigen Wort-
wechsel, wobei dieser seinem Vater eine Ohrfeige gab, seine
ftUeste Schwester im Zimmer umherstiess und überhaupt sehr
aufgeregt wurde. W&hrend der Vater in die Kammer ge-
gangen war, nahm der Sohn in Gegenwart seiner Schwester
einige Zündhölzer von dein Schranke, steckte sie in seine
Westentasche und ging auf den Hof. Kurze Zeit darauf
kehrte er wieder in das Zimmer zurück, und die Schwester
bemerkte nun, dass Feuer auf dem Boden des Pferdestalls
ausgebrochen sei, welches indessen später bald gelöscht
wurde. Während des Feuers trat der Inculpat in die Haus-
thür, klatschte in die Hände und rief öfter „gut, gut!" Bei
seiner sofortigen Verhaftung gestand er sogleich, sowohl
durch Gebehrden, als auch in schriftlicher Antwort auf
sebriftlicb gestellte Fragen, dass er durch die Zündhölzer
das Heu und den getrockneten Klee auf dem Boden ange-
zündet habe.
Die Untersuchung zur Erforschung des körperlichen
und gei8%en Zustandes des taubstummen F. wurde von
dem Kreis -Physictts mit lobenswerther Sorgfalt angestellt
und gab diesem die Ueberzeugung , dass F. g^esunde, nur
etwas schwerf&Uig agirende Geisteskräfte besitze, dass er
im Stande sei, Recht von Unrecht, Gutes von Bösem u. s. w.
zu unterscheiden, dass er gesetzliche und ungesetzliche
Handlungen beurtheilen könne, dass er vor und nach der
That der Brandstiftung von deren Strafbarkeit sich bewusst
gewesen sei , und dass er bei Ausführung der That mit
Ueberles^ng und Selbstfreiheit gehandelt habe. Der Kreis.-
Physicus erklärt deshalb den F. für zurechnungsfähig.
Dem Kreis-Physicus scheint aber der Umstand Berücksieb-
13S Taubstumme.
tigang m fordern, dass F. tanbstiimtn sei, und dass er ak
solcher gar keinen Begriff eineB Brandes und dessen Folgen
besitoe, weil er noch nie einen grossen Braud gesehen habe,
nnd glaubt deshalb die volle Zureehnungsf&higkeit des
F. nicht aussprechen zu dürfen.
Dieses Gutachten wurde von dem Kreis-Phjsicus auch
in dem Audienz-Termine aufrecht erhalten.
Der Widerspruch in dem Gutachten, dass F. trotz sei-
ner angebornen Taubstummheit fftr zurechnungsfähig zu er-
achten sei, aber dass bei ihm wegen mangelnder Kenntniss
von einem Brande und dessen Folgen und wegen seiner
Eigenthümtichkeit als Taubstummer die volle Znrechnnngs-
fthigkeit nicht vorhanden sei, veranlasste die Herzogliche
Staatsanwaltschaft, zu dessen Lösung ein Ober-Gutachten zu
verlangen.
Mier-Clirtacliteii*
Unter den Gründen, welche die Strafe ausschliessen
oder mildem, wird des Zustandes der Taubstummheit in
dem Strafgesetzbuche f&r das Herzogthum Anhalt-Bemburg * )
nicht gedacht (vergl. §§. 40— 44.), und eben so wenig ent-
h&k; das deutsche Griminal-Recht gesetzliehe Bestimmungen
über die ZurechnungsAhigkeit der Taubstummen. Die Frage,
ob und in vne weit dem Franks die von ihm begangene Hand-
lung nach den gesetzlichen Bestimmungen juristnch
imputirt werden kOnne, muss deshalb dem Richter anheim-
gestellt bleiben, und kann das Ober -Gutachten über üe
ZureeknungsfUiigkeit des Franke nur von dem mediciniseh-
teehnischen Standpunkte aus erstattet werden.
Nach Caeper (Handb. der gerichtl. Med. Biolog. TU.
Berl. 1958. S* 378) beruht der Begriff der Znrechnungs-
1) tdentiBch mit dem PrettssiBcheD Strafgesetzbuch. C\
Taubstumme. 139
ffthigkeit auf tinwandelbairen psychologischen Naturgesetzen,
deren Erkenntniss im Bewusstsein jedes Menschen lebt. Die
Erkenntniss des in jedem^ im naturgemässen Zustande sich
befindenden Menschen wirkenden guten oder b5sen Princips
wird ünterscheidungsyermögen, und die vollkommene
Freiheit des gesunden Menschen, sich zu seinen Handlun-
gen Yom guten wie vom bösen Principe leiten zu lassen,
freie Willensbestimmung genannt. Jeder Mensch muss,
trotz seiner Freiheit der Wahl, bei seinen Handlungen den
Verlockungen des bösen Princips widerstehen und setzt sich,
wenn er entgegengesetzt verf&hrt, den Strafen seines innern
Richters, des Gewissens, aus. Jeder im gesellschaftlichen
Verbände lebende Mensdi, tler zur normalen Entwick-
lung seiner geistigen Kräfte gelangt ist, hat erfah-
ren und weiss, dass die Gesellschaft sich bei jenem innern
Richter nicht beruhigt und beruhigen kann, und dass sie,
den Forderungen des eingebornen Sittengesetzes entspre-
chend, auch äussere Strafen für ein, dem sittlichen entge-
gengesetztes Handeln aufgestellt hat und vollstreckt. Hier-
nach werden die Handlungen eines Menschen bemessen und
zugerechnet werden ; so lange er sich im ungetrübten
Besitze seiner geistigen Kräfte befand, um die Fol-
gen seiner Handlungen, auch die fibeln, im Voraus zu ge*
wärtigen, ist er zurechnungsfähig.
Die gesetzwidrige Handlung des F. stand nicht isolift
da, sondern die Anreizung zu ihr entstand allndhlig aus dem
Missmuth ftber die häufigen, oft thitliehen Streitigkeiten mit
seinem Vater und diente zur Befriedigung seines durch einen
kurz vorhergegangenen Streit aufs neue erregten Zornes,
der ihn jedoch nicht verhinderte, bei Ausftthrung der That
mit Planmässigkeit zu handeln, der aber noch so rege war,
dass F. nach gelungener Brandstiftung sieh laut darftber
freute und, anstatt seine Thäterschaft zu verbergen, sich
140 Taubstumme.
sogleich als deren Urheber bekaante. Rene föhlte er erst
spSter, als ihm die Folgen, welche seine That yeranlassen
konnte, anseinandergesetzt worden waren.
Diese summarischen Auszfige aus den Untersnchunga-
Acten über die Brandstiftung des F. würden für seine toII-
ständige Zurechnungsfähigkeit vor, während und
nach der That im Allgemeinen zeugen, wenn nicht das
beschränkte Maass der geistigen Kräfte, welche
F. als geborner Taubstummer erlangt hat, berück*
sichtigt werden müsste.
Die meisten Taubstummen sind ursprünglich mit allen
geistigen Fähigkeiten ausgestattet und können deshalb nicht
nnr in einlachen mechanischen. Handthierungen Tüchtiges
leisteo, sieb sehr gut ernähren nnd nützliche Mitglieder der
Gesellschaft werden, sondern es findet sich sogar bei Ein-
zelnen Talent, sie werden Künstler, von der einer wirk-
lich hohem Begabung in einzelnen, allerdings höchst sel-
tenen Fällen abzusehen. In der Regel aber werden die
geistigen Fähigkeiten nicht entwickelt und bleiben auf der
niedersten Stufe stehen, weil der belebende geistige Ver-
kehr mit der Mitwelt, wie ihn der einfachste Bauerknabe
genlesst, ihnen abgeschnitten oder auf das niedrigste Maass
rj^ducirt ist. Alle Gesetze, alle Schriftsteller legen deshalb
einen Werth auf den Unterricht, welchen Taubstumme ge-
nossen haben, und es soll auch nicht in Abrede gestellt
werden, dstös ein Special - Unterricht segensreich wirken
könne und wirke, wenn er es nur dahin bringen kann,
den Taubstummen einige Gewandtheit in den Elementar*
Kenntnissen und einiges Yerständniss in religiösen und sitt-
lichen Dingen beizubringen. Wie viel oder wie wenig aber
selbst die besten Unterrichts - Anstalten für Taubstumme,
seHmt die anerkanntesten Lehrer bei der Ausbildung dieser
Unglücklicben vermögen, welche unüberwindliche Schranken
Tanbotnmme. 141
die natürliche Hftlfslosigkeit der Taabstammen ent«
gegentibarmt, hnt Casper (vergl. S. 633) leider 1 bei den
ihm fortwährend vorkommenden UntersttQhangen des Ge*
mfithBsastandes von Taubstummen in sehr reichem Maasse
2u er&hren Gelegenheit gehabt. Selbst wenn es bei den
gut unterrichteten Taubstummen möglich ist, den Grad ihrer
Ausbildung und ihrer Selbstbestimmungskrafk zu erforschen,
so darf doch nach Siebenhaar (encycl. Handb. der gerichtl.
Arzneikunde IL S. 599) in dem gerichtsftrztlichen Guta(^tea
nicht ausser Acht gelassen werden, dass fiber den wahren
Seelenzustudd derselben mit der grössten Mähe niemals die
nimliche absolute Gewissheit, wie bei den Hörenden, er-
langt werden kwn, .und dass in der Eigentbftmlichkeit des
ganzen psychischen Lebens der Taubstummen ein sehr wicb*
ttger Moment zu einer, im Gan;%en genommen, mildem Be*-
ttvtheilung ihrer verbotenen Handlungen enthalten ist
Wenden wir diese Erfahrungssfttze auf den vorliegenden
Fidl an, so finden wir, dass Franke^ der als Hjfthriger
Knabe ans der Taubstummen-Anstalt zu Halle in das väter-
liche Haus zurückgekehrt war und sofort zur Ausfuhinuig
landwirthschaftticher Geschäfte und später zum Frachtfhhr«
werke benutzt wurde, wohl körperlich sich immerfort nor-
mal ausbildete, aber in geistiger Hinsicht nicht denurtig
fortgebildet wurde, so dass wir annehmen dürfen, er 3ti
über den geistigen Standpunkt eines Hjäbrigen
Knaben, den er in Halle erworben hatte, nicht
weiter gelangt.
Beweise fftr diese Annahme finden wir in seilen Antr
Worten auf die ihm schriftlich gestellten Fragen, von denen
er nicht selten die einfachsten missverstanden hat. Soantr
wertete er auf die Frage: Wer hat das Feuer auf diem
Boden angezündet? mit nein und eben so auf die Eragej
Ii2 TaalHrtinBe.
Won hab« Sie die Zfindköber gebraoelit? n. s. w. Bedit
sdur viele -eeiner Antworten, ans denen hervorgdrt^ dasB F.
den Sinn der Frage begrifien, zengen von seiner geringen
Intettigena nnd machen den Eindmck, dass sie von einwi,
ftr sein Alter nieht zur normalen Entwicklong der geisti-
gen Kräfte gelangten Menschen, ja, von einem geistig sehr
zarftckgebliebenen Kinde von 10 bis 14 Jahren herrühren
mfissen. F. weiss, wie jeder nicht ganz geistesarme ün-
mAndige von 12 bis 16 Jsdiren, das Gute von dem Bösen
SB onterscheiden , weiss, dass Feneranlegen bestraft wird,
nennt sogar d&s Wort: Strafgesetzbuch, ohne inde»Mii
einen Begriff damit zu verbinden, will, weil ihn sein Vater
sehlecht behandelt und ihm schlechte Kleider und kein Geld
giebt, dieeen durch seine Brandstiftung erschrecken und be-
wegen, gegen ihn (den Sohn) weniger hart zu sein, glaobt,
dass das von ihm angelegte Feuer sich nicht weiter ver-
breiten werde, weil er nur den Boden abbrennen wollte,
n. s. w. Dass dem F. der Begriif des Brandes und des-
sen Folgen abgehe, wie der Kreis-Physicus in seinem Gut-
achten annimmt, und dass F. das Feuer als Yertilgungs-
mittel von Stoffen gar nicht kenne (Erklärung des Kreis-
Physicns in dem Audienz -Termin), geht aus den ganzen
Verhandlungen nicht hervor; gegentheils ist wohl anzuneh-
men, dass F. bei seiner Handthierung als Frachtfuhrmann
nnd auch bei seinen Beschäftigungen im elterlichen Hause
von dem Feuer als Vertilgangsmittel brennbarer Stoffe ge-
nügende Kenntnisse erhalten hat. Auf diese Kenntnisse
gest&tot, nahm er ja die Streiehschwefelhölzer, um, wie er
•dibst angegeben, den Boden aber dem Pferdestalle zu ver-
brennen. Auch beobachte F. das Feuer als Zerstörungs-
mittol im Grossen, indem er einen Waldbrand bei Harz-»
gerode sah (vergl. Oericbts<-Acten).
Taubstamme. 143
Aus diesen Erörterangen geht schliesslich hervor:
dass der 24| j&hrige taabstamme Wüh. Franke ans Harz-
gerode zur Zeit der von ihm verübten Brandstiftung
vollständig körperlich ausgebildet, aber als Taubstum-
mer nicht zur normalen Entwicklung seiner geistigen
Kräfte gediehen war, demnach einem unmündigen
von 14 bis 16 Jahren gleichzusetzen und ihm nur
beschränkte Zurechnungsfähigkeit zuzuge-
stehen ist.
144
7.
Die üeberfniehtiuig geriehdich-iiiedieiiiiscli
betrachtet
Vom
Stabs- und Bataillons -Arzt Dr. Seytleler
in liuxemburg.
Superfbtatioii ist nach den gangbarsten Annahmen die
Befruchtung eines sich neu entwickelnden Keimes nach be-
reits eingetretener Befruchtung ; es gelangen demnach zwei
Früchte von verschiedenem Alter zur Entwicklung, die ent-
weder todt oder lebend nach einander geboren werden.
Die Möglichkeit der Superfötation ist theils angenommen,
theils bestritten worden. In medicinisch-forensische Bezie-
hung könnte diese Streitfrage nach unsern Gesetzen nur in
dem Falle treten, wenn die Legitimität eines Spätlings,
reap. Posthumua angezweifelt würde, und da fällt die Frage
mit der über die Spätgeburt zusammen. Zwei Kinder-
väter können nach den Gesetzen wegen Alimentation nicht
belangt werden. Wie alles Abnorme, hat auch die Ueber-
fruchtung in extenso in älterer Zeit die meisten und eifrig-
sten Yertheidiger gefunden, während in der Neuzeit sceptische
Kritik sie nur in beschränktem Maasse zugiebt.
Die Befruchtung kann nur geschehen, indem ein keim-
fähiges Eichen sich von seiner Brutstätte loslöst und mit
dem männlichen Saamen in Berührung kommt. Dieser
Deberfimehtung. 145
Vorgang der Loslösung eines Eichens findet bekanntlich
bei jeder Menstruation Statt, gewöhnlich in den ersten Ta-
gen, also in den häufigsten Fällen alle 21 — 30 Tage {Ki-
tffüch^ Geburtskunde u. s. w. Erlangen 1853. Thl. I. S. 84.).
Es wird sich also fragen, ob noch nach der Empfangniss
Loslösung Yon Eichen stattfindet? Wie documentirt sich
aber letztere?? — Nach Heinrich Meckel (Jenaer Annalen
L 2. S. 192 ff.) kann Berstung eines &/*aa^sGhen Follikels
ohne Menstruation erfolgen, und häufiger soll es sogar um-
gekehrt sein. Kesteven (Neue Zeitung für Medicin IL Nr. 16.)
aber sagt: Eichen gehen in allen Perioden des Lebens der
Frau ab, sowohl während der Menstruation, als in den Zei-
ten zwischen zweien. So beobachtete Renaud (Citat in
GraeveW^ Not, L S. 82) Berstung Graa/'scher Bläschen, un-
abhängig von Gonception und Menstruation, in beiden Ova-
rien durch die Section nachgewiesen. Wir haben demnach
keinen Anhaltspunkt, wann überhaupt ein Eichen sich los-
löst; immerhin wird aber nicht geläugnet werden können,
dass die Menstruation zu der Loslösung von Eiern in einem
gewissen Verhältnisse steht. Alle Geburtshelfer sind einig
darüber, dass für gewöhnlich bei der Schwangerschaft keine
Menstruation auftritt {Kussmaul^ Von dem Mangel, der Ver-
kümmerung und Verdoppelung des Uterus u. s. w. Würz-
burg 1859.). Ausserdem aber ist ein Blutabgang bei Schwan-
gern gewiss nicht immer als Menstruation aufzufassen, ganz
abgesehen die seltnen Fälle von fauase couche einer Zwil-
lingsfrucht, und endlich ist sehr zu bezweifeln, ob eine
wirkliche Menstruation Schwangerer auch mit Löslösung
von Eichen einhergeht. Deswegen werden auch Fälle von
fortdauernden Menses bei den Schwangern, eben wegen ihrer
Seltenheit, sogleich Eigenthum der Literatur; so beobachtete
Hohl (N. Zeitschrift für Geburtskunde 22. Bd. 3. S. 374)
die Menstruation 7 Monate während der Schwangerschaft
CoiptTt VJschrft. t ger. Med. XXIL 1. IQ
146 UeberfirQchtang.
und Busch in 5 Jahren (1836 — 41) 5 Fälle, einer 2 Mo-
nate, zwei 4t Monate, einer 5 Monate (ebendas. Bd. 28.
S. 77). Kussmaul aber sagt, es sei ihm unter 200 Beob-
achtungen von GraMüas eatrauterma (I) sogar kein einzi-
ger begegnet, welcher die fernere Ovulation zweifellos be-
wiese, und zieht aus seinen interessanten Untersuchungen
den Schluss, dass die Fortdauer der Ovulation wäh-
rendderSchwangerschaft jedenfalls nur ein höchst
seltnes Vorkommen sei.
Die Eichen bedürfen circa 6 — 12 Tage, um die Tuba
zu durchlaufen (Wapner^ Handbuch der Physiologie, Art.
Schwangerschaft, S. 60). Die Saamenfaden bedürfen wahr-
scheinlich mehr als 20 Stunden, um bis zum Eierstock zu
gelangen, und erhalten sich circa 8 — 10 Tage zeugungs-
fähig. Rechnen wir die längsten Termine zusammen:
Wanderung des Eichens durch die Tuba . . 12 Tage,
Wanderung und Möglichkeit der Zeugungs-
fähigkeit der Saamenfaden .... . . 10 „
Summa 22 Tage,
d. h. es würde eine Befruchtung des Eichens 22 Tage nach
der Menstruation möglich sein. Dem entsprechend iült
auch die überwiegende Anzahl der Conceptionen in die er-
sten 14 Tage nach den Menses (ßvwisch^ S. 101; Wagner^
S. 38; Eichstedt^ Zeugung, Geburtsmechanismus u. s. w.
Greifswald 1860.). Doch differiren die Angaben darüber:
Leuckart (Bericht der 29sten Naturforscher -Versammlung.
Wiesbaden 1853. S. 178.) nimmt die gewöhnliche Empfäng-
nisszeit kurz vor der Menstruation an; Gr^n^^r (Beilage zur
Wien. med. Wochenschr. 1856. Nr. 38.) 12 Tage lang vorher;
Andere zu jeder Zeit (Hirsch^ in Henle und Pfeiffer'^ Zeit-
schrift IL 2. S. 127ff.)(?). Noch vor dem Eintritt des Eies
in den Uterus (Scanzoni^ Lehrb. der Geburtshülfe, Bd. 1.
Wien 1849. S. 111.) und unabhängig von demselben —
Ueberfrttchtnng. 147
denn dasselbe geschieht auch, wiewohl nicht immer, bei
Oraviditas eatrauterina und duplex -— findet auf der ihres
Flimmerepitheliums beraubten Schleimhaut des menschlichen
ütertia eine faserstoifige Exsudation Statt, die sich alsbald,
mit den Gelassen des Uterus in Verbindung tretend, zur
Membrana decidtsa organisirt (Wagner^ S. 80). Das Ei muss
demnach diese Decidua umstülpen, um in den Uterus zu ge-
langen. So ist Coste {Kiwiach^ S. 144) im Besitze zweier
Präparate schwangerer Uteri ^ von welchen der eine einen
20t&gigen, der andere einen 25tägigen Embryo, beide mit
Decidua vera^ enthält. Einen Fall von 2monatlicher Gravi-
ditaa ovarii mit Bildung der Membrana decidua erzählt ühde
(Monatsschrift für Geburtskunde, X. 5.), eben so Decidua bei
Smonatlichem Embryo Dr. Epting (Würtemb. Correspondenz-
blatt, XXVm. 21.).
Sobald die Decidua gebildet ist, findet ein neues Eichen
keine Pflanzstätte im Uterus mehr, es ist demnach eine wei-
tere Befruchtung ausgeschlossen. Bei jenem Präparat ist in
20 Tagen eine Decidua da. Nach Krause (Theorie und
Praxis der Geburtshülfe , Berlin 1853. Thl. I. S. 109.) bil-
det sich indess schon circa 8 Tage nach stattgehabter
Empfängniss die Decidua; also können nur während dieser
Zeit Eichen befruchtet werden. Eine weitere Befruchtung
über 20 Tage hinaus ist durch jenes Präparat als unwahr-
scheinlich hingestellt; eine noch spätere ausserdem des-
wegen nicht glaublich, weil der Mutterhals im 2ten Monat
durch einen gallertartigen Pfropf, ein Secret der Ovula Na-
bothi^ geschlossen ist {Hebenstreit^ Anthropolog. for. S. 208 ;
Scanzoni^ S. 109; Wagner^ S. 80; Krause^ S. 109), was indess
auch geläugnet wird (so Haller^ in Henkels gerichtl. Arznei-
kunde, 1841, und Ploucquet, in Most, Encyclop. der Staats-
Arzneikunde, 1840, S. 860). Die Zeitdauer, während wel-
cher eine- zweite Befruchtung möglich wäre, wird meist auf
10*
148 Ueberfrachtang.
einige Stunden, höchstens Tage, von den Schriftstellern re-
dncirt. (Scanzom^ ebendas., sagt: die erneute Befruchtung
müsse folgen: ^sehr schnell^ ; Metzger ^ i2^Äm^*'s gerichtliche
Arzneikunde, Königsberg 1820: ,, wenige Stunden^; Casper^
Handbuch der gerichtlichen Medicin, ThL 2. S. 228: ^meh-
rere Tage"). Folgt binnen einigen Stunden einer Befruch-
tung eine zweite, so kann man wohl nicht anders, als eine
Zwillings - Schwangerschaft annehmen. Spermatozoon be-
wahrten nach Lampferhoff (Citat in Arthur Hill HassaVs
Mikroskop. Anatomie, übersetzt von KoMschütter ^ Leipzig
1852, Thl. 1. S. 128) in dem Saamen, entnommen den
Saamenbläschen menschlicher Leichen, noch 20 Stunden
ihre Beweglichkeit; Leemoenhoek zuerst und andere Beob-
achter nach ihm, haben sie im Uterus und den Fallopischen
Röhren einer Hündin 7 Tage nach der Begattung beweg-
lich gesehen. Daraus folgt, dass der Coitm innerhalb
7 Tagen, bei Menschen innerhalb 8 — 10 Tagen (s. oben),
befruchten kann, so dass also ein Eichen nach wenigen
Stunden, ein. anderes nach 7 — 10 Tagen durch „denselben"
Coitus keimfähig werden können, und das kann man doch
nicht anders, als Zwillings -Schwangerschaft nennen! Dies
würde in Beziehung auf eine Üterua-Röhle gelten. Es
befinde sich nun ein befruchtetes Eichen ausserhalb der
Gebärmutter! Hier betheiligt sich der Uterus gleichfalls
durch Bildung einer der Deddua ähnlichen Exsudatschicht
(Scanzoni, S. 314, und der citirte Fall von Uhde). Ganz
abweichend davon ist die „Ueberzeugung* des Dr. Lee
(Schmidt^s Jahrb. 102. 4.), nach der die Decidua dem Ei
angehören soll ; denn sie fehle im ütertis bei Tubenschwan-
gerschaft.
Bei Uterus mit doppelten Höhlen hat JBw<7Äo/ be-
stimmt gesehen, dass nach dem Coßus sich beide Hörner
mit Saamenfäden fällten (Krahmer, Lehrbuch der gerichtl.
Ueberfrachtung. 149
Medic. Halle 1851. S. 284.), also auch befruchten konnten
(Scanzoni, S. 181); es wird demnach derselbe Coitus in 8 bis
10 Tagen zwei Eichen nach einander befruchten, also Zwil-
lings - Schwangerschaft erzeugen können. Ausserdem giebt
aber, wie schon mehrere Beobachtungen vorliegen, die nicht
geschwängerte üterus-EJklfte ihre Theilnahme sehr bald durch
Bildung einer Deddua (ßcanzoni^ ebendas.) und durch Mas-
senzunahme der ungeschwängerten Seite und des Septi kund
(ßickely Schmidt'^ Jahrb. 1854. Bd. 84. Nr. 10. S. 59.). Es
würden sonach auch hier dieselben Verhältnisse, wie bei
einfachem Uterus^ obwalten. War ein einziger Coittts fähig,
seine Befruchtung auf 10 Tage, auf 1, 2, 3 Eichen auszu*
dehnen, so ist es klar, dass ein folgender Coitus durch den-
selben oder verschiedene Männer binnen dieser 10 Tage
eine zweite Befruchtung herbeiführen kann ; ob dann dieser
Vorgang als Superfötation oder Zwillings -Schwangerschaft
anzusprechen ist, muss die Wissenschaft noch feststellen.
Fassten wir die Ueberfruchtung in den ersten 8 Tagen der
Schwangerschaft als Zwillings-Schwangerschaft auf, so fragt
es sich, ob bei weiterer Ausbildung der Frucht eine
Nachempfangniss wahrscheinlich ?
Bei einfacher, befruchteter üterus'B-Qhle gehen
in derselben, durch Verdickung ihrer Wandungen, Bil-
dung der Decidua, des Chorion u. s. w., Veränderungen
vor sich, die eine erneute Befruchtung unmöglich machen.
Der gelatinöse, bisweilen sogar bröckliche Pfropf im Cer-
vicalcanal würde von seinem Bestehen (dem zweiten Mo-
nat der Schwangerschaft) ab das Eindringen des Sperma in
den üt&rifs verhindern ; den seltnen Fall seines Fehlens an-
genommen, wie er sich ja auch gegen Ende der Schwan-
gerschaft wieder auflockert (Kiwüch^ S. 205), verhindern
doch andere Umstände eine erneute Conception. Am Schlüsse
des zweiten Monats hat die im ersten Monat die Grösse
1 50 Ueberfrnchtung.
eines mittlern Apfels haltende Gebärmutter die einer klei-
nen Orange, am Ende des dritten die eines einjährigen
Kindskopfes, am Ende des vierten die eines kleinen Kopfes
eines Erwachsenen u. s. w. (Kiwüch^ S. 204). Mit dieser
Yergrösserung des XJtertis legen sich die Tuben an seine
Seitenwände an, so dass ein Anpassen ihrer Fimbrien an
die Ovarien nicht mehr möglich ist. Eben so wenig kön-
nen die breiten Mutterbänder die Tuben dem Eierstocke
nähern, da sie ja mit der Yergrösserung über ihn sich ent-
falten (Hohl, Lehrbuch der Geburtshülfe, S. 131—33). Noch
später verhindert die Frucht selbst einen Contact des Sperma
mit dem Eichen.
Bei Uterus mit zwei Höhlen nimmt in den ersten
Monaten die nicht geschwängerte Höhle Antheil an der Gra-
vidität der andern, in den spätem Monaten wird der Raum
zur Entwicklung der Frucht gebraucht (Metzger; Raciborskij
Vexpirience, 1843, Nr. 334.). Bei Extrauterinal-Schwan-
gerschaft könnte in den spätem Monaten eine neue Be-
fruchtung statthaben, wenn man Scanzoni^s (Lehrbuch der
Geburtshülfe, Wien 1855, 3. Aufl., S. 376) Worte erwägt:
Die Gebärmutterhöhle erscheint bei Extrauterinal- Schwan-
gerschaft in der Mehrzahl der Fälle von einer vollkommen
entwickelten Decidua ausgekleidet. Wenn man diese letz-
tere in einzelnen Fällen vermisste, so hat dies gewiss darin
seinen Gmnd, dass man es mit Schwangerschaften aus den
spätem Monaten zu thun hatte, wo selbst bei der Lage-
mng des Eies in der Ui^^rt^- Höhle die Decidua an Dicke
bedeutend abninmit, was um so mehr dann der Fall sein
muss, wenn der Säftezufluss, wie bei Extrauterinal-Scbwan-
gerschaft, mehr nach andern Organen, als gegen den Uterus
gerichtet ist. Wenn letzteres aber der Fall, so fehlt eben für den
Uterus die zur Empfängniss nothwendige Congestion u. s. w.
Ist die Frucht todt und in Lithopädienbildung über-
UeberfruchtuDg. 151
gegangen, oder auch nicht, so ist sie, sei sie intra- oder
extranterinal, ein dem Organismus fremder Körper, und dann
widerstreitet eine Empfängnis» den Ansichten der Physio-
logie nicht, weil der Uterus nicht mehr als Brutstätte eines
später von ihm getrennt leben sollenden Organismus functio-
nirt, und sich eigentlich rehabilitirt hat. So berichtet Grosd
(^Monthly Jownal qf the med. scienc. 1846, March) einen Fall,
in welchem nach 14monatlicher Bauchschwangerschaft die
Geschwulst sich verkleinerte und im Uebrigen die Frau nach
3 Jahren sich wohl befand. Auch die Memes waren regel-
mässig wiedergekehrt. Es hätte demnach Schwangerschaft
erfolgen können. I)iamantopulos (Monatsschr. für Geburts-
kunde, X. 5.) beobachtete eine 33monatliche Extrauterinal-
Schwangerschail. Im 15ten und 16ten Monate erschienen
die Menses wieder. Ist eine solche Frau wirklich schwan-
ger? — Ist Superfötation „die Schwängerung einer Schwän-
gern" ((Jasper^ S. 220) und Schwangerschaft eben nur „die
Folge der Empfängnisse, so gebe ich hier die Superfatation
zu. Wie ich nachträglich sehe, ist Kussmaul (S. 279) der-
selben Ansicht (Superfoetatio spuria s. impropria). Solche
Verhältnisse könnten nun namentlich bei doppelter Uterus-
Höhle eintreten, obwohl sie, zumal in spätem Monaten der,
dass ich so sage, „todten Schwangerschaft" wegen Mangels
an Raum far die neue Frucht wenig Wahrscheinlichkeit für
sich haben. Ist die Frucht extrauterinal und lebend, so
sollte sie nach MeckeVs Ansicht längere Zeit zu leben im
Stande sein ; aber der Fall von Schmidt, der bei einer 3- (?)
jährigen Schwangerschaft ein lebendes Kind entwickelt haben
will durch die Laparotomie, so wie die von Baüle und
Patuna, sind nach Scanzoni (S. 377) so vieler Deutungen
föhig, dass sie unmöglich als beweiskräftig anzusehen sind.
Ist die erste Frucht aber lebend oder todt, so berührt das
die Medicina forensis nicht, indem beide Verhältnisse krank-
152 Ueberfrachtung.
hafte sind und bei der Gebart eines lebenden Kindes die
Bestimmungen über Spätgeburt Platz greifen. (Casper.)
Die Geburt zweier Früchte in längerm oder kürzerm
Zwischenräume hat zur Annahme der Superf5tation gefuhrt,
während die Gegner derselben hier Zwillings-Schwan-
^erschaft annehmen. Betrachten wir also letztere! Nach
statistischen Zusammenstellungen kommt auf 70 — 80 Ge-
burten eine Zwillingsgeburt (ßcamoni^ Wien 1849, S. 180;
Levy^ Schmtdt's Jahrb. 1854, S. 327), und zwar kommt die-
selbe in manchen Jahren ungleich häufiger vor, so 1834
und 1846 {Krahmer^ S. 287; Scanzoni, S. 181). Das Ge-
wicht eines Kindes von 10 Pfund ist schon etwas Ausser-
ordentliches (Kiwisch^ S. 134), das Gesammtgewicht von
Zwillingen durchschnittlich 11 Pfand (Kratise, S. 245), von
Fünflingen 14| Pfand Civilgewicht (ßerlo^ Vereins -Zeitung
XX. 51.) und selbst bloss 4 Pfd. 52 Lth. (Fleischer, Wien.
Wochenschr. VI. Nr. 28.); gewöhnlich ist ein Kind stärker,
bisweilen noch einmal so schwer, als das andere. Unter
96 Fällen findet Levy (a. a. 0.) als grösste Differenz zwi-
schen (lebenden?) Zwillingen 2 Pfund an Gewicht und
2| Zoll an Länge. Sehr auffallend ist besonders diese Ent-
wicklungs-Verschiedenheit bei Früchten, welche in den zwei
Höhlen einer getheilten Gebärmutter gleichzeitig sich gebil-
det haben (Kiwüch, S. 197; siehe später BiUengren). In
der Regel zeigen beide Zwillingsfrüchte gleiches Geschlecht,
unter 98 Fällen 76 Mal, und nie finden sich verschiedene
Geschlechter, wenn nur eine Eihöhle vorhanden war, oder
die Mutterkuchen anastomosirten (Levy, ebend.). Am Ende
der Schwangerschaft werden meist beide Früchte gleich
nach einander ausgestossen , durchschnittlich in \ Stunde
unter 98 Fällen, unter 96 Fällen 1 Stunde 8 Min. (Levy)\
die längste Dauer war 7 Stunden (Scanzoni, Bd. IL S. 118) ;
Krause (S. 345) macht folgende Zusammenstellung von Fällen :
Deberfrachtnng. 153
Rieke^ Geburtszwischenzeit .... 5 Tage,
Guerui (Plllier 8 »
Courtivron 10 „
Sonderland « 11 „
Janson (Dublin Joufm. 1842. Sptbr.) 7 Wochen;
es wurde nach der Geburt ein^s auegetragenen Kindes eine
todte 6monatliche Fracht geboren. Bemerkenswerth ist der
Umstand, dass die eine Fracht im Verlaufe der Schwanger-
schaft absterben (Levy^ S. 329) und die zweite ihre Ent-
wicklung fortsetzen kann; so dass die todte Fruoht bis-
weilen viele Monate im Uterus bleibt und eigenthümlich
mumifieirt. Da nicht Maceration und nicht Ausstossung als
fremder Körper erfolgt, so muss noch ein gewisser vegeta-
tiver Process stattfinden, und wirklich fand Krause im Skelett
den Verknöcherungsprocess viel weiter vorgeschritten, als
mit der Grösse der Fracht übereinstimmte. Seanzoni beob-
achtete diese Mumification in 3 Fällen und fand einmal da-
von beide Früchte in einer Amnionhöhle, also Product einer
und derselben Empfängniss. Einen deutlichem Beweis für
die Zwillings-Schwangerschaft kann es nicht geben, als wenn
beide Früchte, eine unreif, die andere lebend, in demselben
Chorion gefunden werden. Zwei Fälle dafar citirt Kussmaul
S. 296. In seitnern Fällen zieht sich die Gebärmutter nach
Ausschluss des ersten Kindes wieder zusammen und verbleibt
im Zustande der Ruhe, der selbst einige Tage dauern kann,
ehe sie ihre Thätigkeit von Neuem äussert, so Dr. Clair
(Schmidt'^ Jb. 1842. Bd. 34. Hft. 1. S. 67): Geburt eines
3.5 monatlichen Fötus 8 Tage nach der Geburt eines ausge-
tragenen Kindes. Bisweilen entledigt sich auch der Uterus
vor vollendeter Schwangerschaft des einen Eies, natürlich
des dem Muttermunde zunächst liegenden. Die zurückblei-
bende Fracht reift dann vollkommen, und so kann es sich
ereignen, dass eine Frau in Zeit von 2 — 3 Monaten zwei-
154 Ueberfirachtang.
mal von einer lebensfähigen Fracht entbunden wird. Ist
die eine Frucht schwächer, so kann die Ursache davon in
vielen Dingen liegen, di^ sich nach der Gebart selten wer-
den ermitteln lassen, z. B. Druck auf die Nabelschnur. Die
Analogieen von Hausthieren sind eben so deutlich; Jeder-
mann weiss, dass das „Nesthäkchen^, wie man in Schle-
sien sagt, das Kleinste ist. Das wäre demnach das Bild
der Superfötation — und ist doch nur Zwillings-Schwanger-
schafi; gewesen. (Yergl. auch Helfft^ Med. Yereins-Zeitung
1860. Nr. 41. Beilage.)
Die Vertheidiger der Superf5tation in allen Phasen d^
Schwangerschaft haben namentlich auf Thatsachen gefusst;
denn der physiologische Boden wurde allmählig doch zu
schwankend. Diese Streitart ist freilich sicherer, und wo
Nichts Stand hält, kühn ein: „Ich habe es beobachtet^,
oder ein : ofdroq iq>a hingeworfen, und der Gegner schweigt
achselzuckend still oder kann besten Falls durch Zusam-
menstellung der Un Wahrscheinlichkeiten, die die betref-
fende Thatsache in sich birgt, auf ihre Bedeutungslosigkeit
letztere zurückfahren. Ziemlich derb sagt Mädler (Von
den Kometen): Die Berufung auf alte Autoritäten ist ein
viel zu bequemes Faulbett, um nicht von mittelmässigen
Köpfen zur möglichsten Schonung des eigenen Ideen -Yor-
raths mit Freuden ergriffen zu werden.
Von vom herein verlieren alle Fälle von SuperfÖtation
viel an Glaubwürdigkeit dadurch, dass sie älterer Zeit an-
gehören und in dieser besonders häufig beobachtet (oder
eben nicht beobachtet) wurden; ja, die üeberfruchtung
soll selbst einen epidemischen Charakter angenommen haben!
(Afo/o, Ueber Epidemieen. 1841. S. 251.). Wenn die Ver-
theidiger der Superfötation diese namentlich bei Abnormi-
täten des Uterus und seiner Fruchtentwicklung annehmen,
so sind die Frauen jener Superfötations - Blüthezeit sehr zu
Ueberfrachtnng. 155
bedanern, da die Beobachtungen angeblicher Superf5tation
bei Weitem die von Vorkommen von Extrauterinal-Schwan-
gerschaften und doppeltem Uterus überstdgenl
Es wird Folgendes für die Superfotation geltend ge-
macht:
1) Die Analogie der Säugethiere. Natürlich
würden dann die Thiere mit einfachem Üieru9 besonders in
Betracht kommen. Ein Mutterpferd hat gleichzeitig ein
Füllen und einen Maulesel geboren {Halleri Elem. PhysioL
T. VIIL S. 467). Nach Kussmaul (Beispiele, S. 274) ist
die Ueberschwängerung in der Thierwelt mit Bestimmtheit
erwiesen.
2) Beispiele von Conception r^«p. Schwanger-
schaft bei schon vorhandener todter oder ver-
knöcherter Leibesfrucht inner- oder ausserhalb
des Uterus. Wie ich bereits oben ausfahrte, nehme ich für
diesen Fall Ueberschwängerung an. Wir haben mehrere
Beispiele dafür. Dr. Jardley (The americ. Joum, of med,
Sciences, edit. by Hays^ 1846, April) erzählt einen Fall von
15jähriger Extrauterinal-Schwangerschaft (1830—45), inter-
currenter normaler Geburt (1834 ein ausgetragenes todtes
Kind, nachher mehrmals Abortus) und schliesslich Abscedi-
rung des Fötus durch das Rectum, Dr. Loew und Lumpe
theilten in der Versammlung der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien einen Fall von Extrauterinal-Schwanger-
schaft; mit, welcher mit monströser Uterin -Schwangerschaft
verbunden war. Die Frau hatte seit August ihre Menses
verloren. Ende November heftige Schmerzen in der Uterus-
Gegend. Im Januar Geburt eines monströsen Körpers, der
sich als Acephalus darstellt. Von dieser Zeit an Störungen
des Allgemeinbefindens und furchtbare Leiden der Frau. Im
October, also 9 Monate pr, pr. danach, überzeugen sich die
Referenten, so wie Oppolzer^ nachdem sie sich früher von
156 Ueberfruehtong.
dem Leben der extranterinalen Fracht Gewissheit verschafft
hatten, dass selbige abgestorben sei. Seitdem Wohlbefinden
der Frau (Wien. med. Wochenschr. IL Nr. 4.). Wodurch
wurde Gewissheit gegeben, dass beide Früchte gleichzeitig
vorhanden waren? und ist der Fall nicht eine Schwanger-
schaft nach der andern? Bei einer Frau (Wien. Wochen-
schrift VII. 45.) waren vor 10 Jahren während der ersten
Schwangerschaft gegen das gewöhnliche Ende derselben
heftige Schmerzen eingetreten, die, sammt den Bewegungen
des Fötus, nach geringem Abgange von Schleim und Blut
aus der Scheide, aufhörten. 8 Jahre später wurde sie wie-
der schwanger und von einem gesunden Kinde entbunden;
nach abermals 2 Jahren erfolgte wieder eine regelmässige
Geburt. Drei Monate danach starb die Frau. In einer Cyste
über dem Uterus fand sich ein lichtgelb gefärbter Fötus.
Das linke Ovarium fehlte. Nebel (Henle und Pfeiffei^ Zeit-
schrift, N. F. S. 293 Note) besitzt angeblich das schönste
Lithopaedion, welches existire. Dasselbe wurde von seinem
Gross vater im Jahre 1767 aus der Leiche einer Frau, die
91 Jahre alt an Peritonitis starb, herausgenommen. Die-
selbe hatte, nach glücklicher Geburt zweier Kinder, im Jahre
1713 das Ende ihrer dritten Schwangerschaft erreicht. Die
Hebamme fand beim Geburtsgeschäft ein Aermchen vorlie-
gend; die Wendung gelang nicht, das Kind gelangte durch
einen Riss der Gebärmutter in die Bauchhöhle, wo es dem-
nach 54 Jahre verweilte. Drei Jahre nach jenem Ereignis»
war die Frau wieder schwanger geworden, abortirte, eben
so bei der nächsten Schwangerschaft u. s. w. — Einen an-
dern Fall erzählt Eahn (Würtemberg. Corresp.-Bl. XXV.
Nr. 36.). 39jährige Frau, August 1852 verheirathet, März
1853 erste Kindsbewegungen, 14. August Geburt eines in
Fäulniss übergegangenen Mädchens. Durch die Bauchdecken
sind noch Kindstheile fahlbar; 4 Wochen danach blutiger
üeberfrnchtang. 157
Abgang ans der Scheide, nach 9 Wochen Menstruation. Bald
trat nene Schwangerschaft ein, und Geburt eines lebenden
Kindes. — Dies wären Fälle, wo bei Anwesenheit einer
abgestorbenen Frucht ausserhalb der Gebärmutter neue Gon-
ception erfolgte; wie verhält es sich, wenn eine intra-
uterinale Frucht Vorhanden ist? In den Abhandlungen
der k. k. Josephin. med.-chir. Akademie zu Wien 1788,
Bd; I. S. 225, sind zwei Fälle notirt, wo ein Steinkind
14| Jahre, im 2ten 26 Jahre im Uterus verweilte. Beide
Frauen wurden nicht mehr schwanger. Ich habe trotz
des eifrigsten Suchens überhaupt kein einziges Beispiel ge-
funden, wo erwiesenermaassen bei Anwesenheit einer abge-
storbenen Frucht im Uterus eine erneute Befruchtung statt-
gefunden hätte I Und wenn dies wirklich der Fall, so wurde
das doch nur eine Superfoetatio spwna darstellen. Die Fälle
von Geburt von Früchten verschiedener Ausbildung in lan-
gen Zwischenräumen werden wir, sogleich betrachtend, aus-
scheiden. Warum nimmt nun der Uterus^ der ein Steinkind
enthält, und der doch wieder als Brutstätte eines neuen Or-
ganismus iunctioniren könnte, kein neues Eichen zur Ent-
wicklung auf? Fehlt der Raum? oder was ist Ursache?
Ich weiss es nicht. Wenn aber eine todte Frucht im Uterus
schon eine zweite Empfängniss ausschliesst, so sollte man
dies noch mehr von der lebenden glauben — so bleibt
bloss die Wahrscheinlichkeit der Annahme einer Superföta-
tion für doppelten Uterus übrig.
3) Geburt von Kindern von verschiedener
Ausbildung in verschiedenen Zeiträumen. Wie ich be-
reits oben gezeigt, lassen sich nach den Darstellungen der
Geburtshelfer alle diese Fälle als Zwillings-Schwangerschaf-
ten auffassen. So beobachtete Percy (Henke ^ Zeitschr. für
St.-A.-K. 1829, Utes Ergänzungsheft S. 283) gleichzeitige
Geburt eines reifen Kindes und eines 4monatlichen, gut erhal-
158 Ueberfrachtnng.
tefiea Fötus; so Leopold (Monatsschrift för Geburtskimde
X. 5.) gleichzeitige Gebart eines reifen Fötus und eines ab-
gestorbenen, 4 — 5 Monate alten, pergamentartig vertrock-
neten. Als Superfbtation (I) beschreibt Mounier (Oaz. mSd.
e/dr. 1846, AvriC) eine Gebart von Zwillingen innerhalb
9 Standen, wo der eine, todtgebome, ausgetragen, der
zweite eine Fracht von 4| — 5 Monaten darstellte. Als
Superfötation beschreibt Privat (in Bidarrieux^ Neue Ztg. f.
Medic. u. s. w. I. 43.) folgenden Fall: Eine Frau von
35 Jahren wird am 30. März 1848 vom fünften ausgetra-
genen Mädchen entbunden. Nachgeburt folgt schaell. Der
Umfang des Leibes bleibt. Keine Lochien. Durch Aus-
cultation wird ein zweites Kind diagnosticirt. Die Wöch-
nerin besorgt ihre Wirthschaft. Am 21sten Tage danach
Gebart eines Knaben, den sie stillt. Jetzt treten Lochien
ein und am 2ten bis 3ten Tage Febricula. Die Placmta
normal, wie die erste. Einfacher Uterus. — Wer kann hier
eine Zwillings-Schwangerschaft verkennen! Man sieht, dass
Frankreich viele Fälle von Superfötation liefert; Deutsch-
land früher pyromanische I — Nun noch einen Fall aus der
Medic. Zeitung Russlands (1852. X. Nr. 50.). Bei einer
25jährigen Multipara. Dieselbe hatte Ende Juni 1842 eine
sehr reichliche Menstruation, welche in den folgenden Mo-
naten sich viel sparsamer und zweimal im Monate einstellte;
in der ersten Hälfte des Novembers fühlte sie deutliche
Kindesbewegungen, anfänglich längere Zeit nur auf der
rechten, später jedoch auch auf der linken Seite und nach-
her oft auch gleichzeitig auf beiden Seiten. Am 27. März
1853 gebar sie ein vollkommen ausgebildetes Mädchen. Die
Lochien flössen sparsam und hörten schon nach einigen
Stunden gänzlich auf; nach 4 Tagen fühlte sich die Wöch-
perin stark genug, das Bett zu verlassen. Unterdessen
dauerten die in der linken Seite bereits früher gefühlten
Ueberfrachtang. 159
Kindsbewegungen fort, und in den Brfisten zeigte sich so
wenig Milch, dass dieselbe zur Sättigung des Kindes nicht
ausreichte. Der Umfang des Leibes hatte sich nicht bedeu-
tend yergrössert, und zwar nur in der rechten Seite. Am
18. Mai, also 52 Tage nach der ersten Geburt, gebar sie
unter den gewöhnlichen Erscheinungen ein zweites Mäd-
chen. Dieses war weniger entwickelt und lebhaft, als das
erste, saugte jedoch ganz gut, die Nachgeburt war Ton ge-
ringerm Um&nge und weniger dick, als die erste; die
Lochien flössen dieses Mal reichlich, und auch die Milch-
absonderung vermehrte sich dermaassen, dass sie zur Er-
nährung beider Kinder ausreichte. Das erste Mädchen hatte
eine weisse Hautfarbe, die Länge beträgt 13^ Werschok
und das Gewicht 12^ Civilpfiind. Es hat hellblonde Haare,
blaue Augen und ein rundes Gesicht. Das zweite hat eine
weniger weisse Hautfarbe, kastanienbraunes Haar, dunkle
Augen und ein längliches Gesicht. Die Länge beträgt
12* Werschok und das Gewicht 10^ Civilpfiind. — [Der
ähnliche Fall von Moebua {Henke' % Ztschr. f. St.-A.-K.
Bd. 31. H. 2. S. 443) war mir nicht zugänglich ').] Aber
auch dieser Fall lässt sich ohne Annahme von Superfötation
erklären; wenn wir sagen, dass das erste, wenn auch stärkere
Kind ein frühreifes war (vergl. oben Partus praecox) ^ denn
es ist bekannt, dass sich manche Frucht in kürzerer Zeit
entwickelt, als eine andere, und sei im Anfange des 8ten
Monats fax das Leben ausserhalb des üterue fähig gewesen,
so konnte der zweite Zwilling immer noch 52 Tage im
Uterus verweilen, ohne die gewöhnliche Schwangerschafts-
1) Eine Frau, die viermal früher geboren hatte, gebar in 33 Ta-
gen zwei „vollkommen auBgebildete« Mädchen. Nach der. ersten die-
ser Entbindungen hatte sich weder Milchfieber, noch Milchsecretion
eingestellt. C,
ISO Ueberfrachtnng.
daaer zu fiberschreiten (^ergl. Caspef^^s Kritik des JlfaWsehen
Falles, dem Bergmam einigen Werth beilegt, S. 224).
Alle diese Fälle scheinen dem einfachen Uterus anza-
gehören.
4) Geburt Ton Kindern verschiedener Race.
Die Fälle von Gebart verschiedenfarbiger Zwillinge werden
in neuerer Zeit entschieden selten. Wurden die Früchte zu
gleicher Zeit oder in wenigen Tagen nach einander geboren,
so liegt es nahe, die gleichzeitige Befruchtung zweier ge-
reifter Eier durch verschiedene Väter anzunehmen, und sind
die Belege dazu von Heiß (a. a. 0. S. 202) zusammenge-
tragen, und doch läugnet in dem i>ü?£'schen Fall die Ne-
gerin, die einen Mulatten und einen Neger gebiert, den ge-
schlechtlichen Umgang mit einem Weissen! Die immer
wiedererzählten Fälle finden in den gerichtlich-medicinischen
Lehrbüchern, namentlich in Casper^B^ S. 225, ihre Würdi-
gung. Ich will dem noch Einiges beifligen: Caeean (Re-
cherches etc, sur lea cos (Tuterus double etc. Paris 1826. S. 55.)
sah in Paris einen Neger geboren werden, der nur einen
schwarzen Ring am Nabel und schwarz geiärbtes Scrotum
hatte. Erst am dritten Tage färbten sich andere Haut-
stellen; und eben so sagt ^a««a/ (Mikroskopische Anatomie,
S. 183), dass die Haut der Kinder von schwarzen Müttern
erst mehrere Tage nach der Geburt das volle Maass ihrer
Färbung erreiche. Dies dürfte bei Betrachtung jener Fälle
zu berücksichtigen sein, namentlich des Buf ort ^dhen. Ein
zweiter Umstand ist der nicht abzuläugnende fortdauernde
Einfluss — Inoculation, wie Harvey (Schmidt'^ Jb. 65. S. 289)
sagt — des männlichen Saamens durch den Fötus auf den
mütterlichen Organismus, den APOUlivray in diese These zu-
sammenfasst: „Wird ein 'weibliches Thier von Race von
einem männlichen verschiedener Race befruchtet, so verliert
Debdrfraehiiiiig. 1^1
es bierdarcli för immer die Reinheit des Blates.^ Der
hübscheste Beweis ist ausser den ebendas. von Thieren er-
zählten folgender : Ein junges Mädchen, erzeugt von weissen,
schottischen Eltern, deren Mutter aber einige Zeit vorher
von einem Neger ein Mulattenkind geboren hatte, entwickelte
deutlich die Züge des Negers und dessen charakteristische
Haare. — Im Einklänge damit steht auch StreleckC^ Erfah-
rung, dass farbige Frauen, wenn sie einmal von einem Euro-
päer geschwängert worden sind, hierdurch für immer die
Fähigkeit verlieren, von Männern ihrer Race befruchtet zu
werden. Das sind Gesichtspunkte, die, in Verbindung mit
den vielfachen Deutungen reap. Täuschungen, denen jeder
Fall speciell unterliegt, mich keinesweges zu der Annahme
berechtigen, dass eine Ueberfruchtung später, als in der-
selben Ovulations -Periode, wo die erste Empfangniss ge-
schieht, stattfinden könne.
5) Uterus duplex. Gewöhnlich ist nur eine Hälfte
geschwängert {Joachim^ Gitat in Schmidts Jb. 1854. Bd. 84.
Nr. 10. S. 59.); dass beide Hälften geschwängert werden, be-
weist ausser altern Fällen der von Kaiman (Neue chir. med.
Ztg. 1856. Nr. 26.). Die Frau hatte bereits früher 5 Kinder
geboren, aber nie waren die beiden Gebärmütter zugleich
geschwängert worden. Dr. Bülengren (ßchmidC^ Jb. 1842.
Bd. 34. S. 66.): Geburt einer 3 --und einer Tmonatlichen
Frucht; und Meckel (Baudehcque^^ Anleitung zur Entbin-
dungskunst, Thl. 2. S. 497, Anmerk.) : Die eine Hälfte des
Uterus enthielt ein vollständiges (?), die andere ein 4monat-
liches Kind. — Ausser dem Ciwaon'schen Fall, der von Casper
(S. 227.) beleuchtet ist, dürfte nur einer der Kritik würdig
sein. [Was übrigens die Attestirung des Ca^^an'schen Falles
betritt, so erinnert das sehr an das vom Bürgermeister und
Superintendenten in Züllichau attestirte Froschbrechen : So-
tarnen, eoehs habere er eduUtoHs.] Dumönipaplier (Ünum
vtSdie. 1896. Nr. 40.) theüt folgenden von Barker beobach-
teten Fall mit.
Eine 34jährige Frau gebar den 10. Joli 1855, neun Monate und
einige Tage nach ihrer Yerheirathong, einen wohlgebildeten, dem An-
scheine nach ansgetragenen Knaben und stillte denselben ; das Wochen-
bett verlief regelmässig, und 3 Wochen nach der Bntbindnng ging
die Frau wieder ihren Geschäften nach; doch blieb ihr Leib stark,
und sie glaubte in der linken Seite Kindsbewegungen zu fühlen. Am
22. September, 74 Tage nach der Geburt des ersten Kindes ^ traten
neue Wehen ein, und die Untersuchung ergab, dass der Kopf eines
Kindes in der Beckenhöhle stand; ohne besondere Zwischenfölle war
die Geburt eines Mädchens bald beendet. Die Mutter stillte nun
beide Kinder, erholte sich aber ziemlich langsam. Am 24. October
wurde eine genaue Untersuchung der Genitalien Yorgenommen, die
Folgendes ergab: Vagina uud Vaginal -Portion des Uterus normal;
die Z7i(6ru« -Sonde Hess sich leicht einföhreo, und es wurde ihre Spitze
durch die Bauohwandungen hindurch in der linken Fossa üiaca,
2 Zoll über dem Schaambein, gefühlt; die Länge der Gebärmutter-
höhle betrug 4^ Zoll. Nach Zurückziehung und abermaliger Einfah-
rung der Sonde gelang es," dieselbe mehr nach rechts in eine andere
Höhle zu bringen, worauf die Spitze ^ Zoll über der Schaambeinver-
bindung gefühlt wurde; diese Höhle hatte nur eine Länge Yon 3| ZolL
Die Scheidewand beider Höhlen schien etwa 1 Zoll über dem äussern
Muttwmunde zu beginnen.
Aber auch dieser Fall sehliesst eine Erkläning ab
Zwillings "'Schwangerschaft nicht aus, wenn wir annehmen,
dass die erste Frucht zwischen dem 218ten bis 228sten Tage
frühreif geboren wurde, die zweite zwischen dem 292steii
bis 802ten Tage — so werden wir noch nicht mit den ge-
setzlichen Gränzen in Zwiespalt gerathen. Wer damit nicht
fibereinstimmt, muss Superfötation annehmen. Und hier,
glaube ich, ist es gerade der Ort, daran zu erinnern, dass
die Natur in ihren Erscheinungen so einfach ist und nur da
dunkel, wo unser Verstand Ungewöhnliches in sie^ hinem-
klfigelt.
Ehe wir zu den Schlusssätzen kommen, sehdnt es
nöthig, Einiges über den Begriff „Superiötation« zu sagen^ —
Kussmaul (S. 278) definirt: „Superfttation ist die Näöh-
DebaiftiidttBiif/ jjßXk
^mifSkägom ^Mttirend eiaer iqpitera Otubtibiis« Periode ctor-
Schwangem. Eine Ueberfrachtung findet erst Statt, wenn
eine Fracht da ist. Ein befruchtetes Eichen ist noch keine
Fracht.^ Dann fragt es sich, wann ist das befrachtete Ei-
chen eine Fracht ? Wenn zwei Verschiedenfarbige eine Fraa
in der Zeit zwischen zwei Af^rw«« schwängern, so nennt er
dies üeberschwängerang. Wann ist es ueberfrachtung?
Faner, ist ein abgestorbener Fötus eine Fracht? Wenn
Snperffttation die Nachempfängniss während einer spätem
Oyulation ist, so kann jedes Steinkind noch nach Jahren
Gelegenheit zur Nachempfängniss geben. Man sieht, es feh^-
len noch Begriffsbestimmungen!
loh glaube mich zu folgenden Schlusssätzen be«>
rechtigt:
1) Superf5tation ist die Nacbempfängniss eines als Brut-
stätte eines lebenden Organismus functionirenden Uterus wäh-
rend irgend einer spätem Ovulation^
2) Superf&tation ist nur möglich während einer und
derselben Ovulation, ihre äusserste Zeitgränze dürfte inner-
halb 19 Tagen liegen.
3) Die meisten Fälle lassen sich viel natürlicher durch
«
Zwülings-Schwangerschaft erklären.
4) Die Annahme von SuperfÖtation bei vorgerückter
Schwangerschaft lässt sich weder physiologisch, noch that-
sächlich begründen, und hat
5) selbst bei doppeltem ütertM ihre Un Wahrschein-
lichkeit.
6) Die meisten der für SuperfÖtation angefahrten That-
sachen haben wenig Wahrscheinlichkeit für sich und sind
entweder das Product von Selbsttäuschung oder Betrug *).
1) So eben beschäftigt, die Arbeiten abzusenden, erhalte ich
Taylor^n Medical Jurisprudence (Gerichtliche Medicin). Ed. VIL
11 ♦
164 üeberfrnelitniig.
IiondoB IdGl, nnd finde dtrin ein Ovriosvm verzeidmet, wm ich nicbt
nnterlftssen kann» noch beizufügen:
Ein ansserordentlicher Fall, der die Fragen über Snperfötatlon
und Vaterschaft; berührt, ist, der Angabe nach, in Alexandrien in
Aegypten Yorgekommen. Ein FeUahweib gebar anscheinend im 8ten
Monate der Schwangerschaft ein zweiköpfiges Monstrum, dessen einer
Kopf weiss nnd der andere schwarz war, in jeder Hinsicht die
Negereonformation bewahrend, und dieser Kopf war vollständig ent-
wickelt. Das Monstrum wurde todt geboren, und die Geburt kostete
auch der Mutter das Leben. Die Farbenveränderung der Haut be-
gann am Halse des schwarzen Kopfes, und wurde Ton Ih^uSj einem
Arzte im Hafen Yon Alexandrien, der Existenz eines Farbstoffes zu-
geschrieben, ähnlich dem, wie man ihn in der Haut des Negers findet
Der Mann der Frau war ein Fellah, dessen Haut braun war. Im
Hafen gab es Negerarbeiter, aber es konnte nicht festgestellt werden,
ob das Weib mit einem derselben ein Verhältniss gehabt hatte. Es
lässt sich daher unmöglich sagen, ob dies ein Fall von Schwängerung
za derselben Zeit durch zwei Männer verschiedener Raee war, oder
nicht Angenommen, dass letzteres der Fall war, so ist es schwer
zu begreifen, warum sich die schwarze Färbung auf den Kopf allein
begränzte. (Siehe V Union Midicale, 5 Aoüt 1848.) Taylor, S. 644—45.
165
8.
Drei Schwnrgerichtsfälle.
1. DnerhOite Terletxang der weiblichen Crenitalien. Zeagmgs-
Unfllbigkeit? — 2. Vierfacher Terwandtenmord. ZvechDangs-
fäbigkeit? — 3. Rothiacht im Schlafe.
Vom
Ober -Stabs- und Regiments -Arzt Dr. Jflet»cli in Torgau.
1 . Der interessanteste der drei Fälle war folgende un-
erhörte Seheusslichkeit. Ein nur massig kräftiges Mädchen
von 21 Jahren wurde zu Himmelfahrt 1860, Nachts 2 Uhr,
auf der Landstrasse nahe bei Wittenberg von einem er-
wachsenen Burschen, nachdem dieser wider ihren Willen
einige Schritte mit ihr gegangen war, zu Boden geworfen
und eine halbe Stunde lang in der Weise gemartert, dass
er ihr, unter Schlägen und Stdssen ins Gesicht, die 6e-
schlechtstheile mit seinen Fingern zerriss und die Scheide
mit Sand und Steinchen bis zur Grösse einer Haselnuss voll-
ständig ausstopfte. Einige Schritte davon entfernt wurde
die jüngere Schwester von zwei andern Burschen genoth-
z&chtigt, d. h. abwechselnd von dem Einen festgehalten und
vom Andern der Coitus versucht, und da derselbe wegen
Mangels an Erectionen nicht gelang, ebenfalls mit Fingern
und Sand, doch in minder roher Art, tractirt. Zuletzt wurde
die ältere Schwester vofi ihrem Peiniger und dem einen
.leg Drei SchwiirgerichtsfiUle.
ihrer Schwester noch mit Rathen geschlagen. Die Folgen
waren an der jfingem Schwester: nur geringe Einreissang
des Hymen^ leichte Erosionen und nur fönftägige Krankheit.
An der altem wurde am folgenden Tage, ausser den Zeichen
Ton heftigen Schlägen und Quetschungen im Gesicht und
am ganzen Körper, die vollgestopfte Scheide und nach der
äusserst schmerzhaften Entfernung der fremden Körper eine
totale Zerreissung des Pertnaeum mit zollhoher Einreissung
der Mastdarm-Scheiden-Scheidewand sammt den Sphincteren
gefunden. Es blieb Incontinentia alm und Entleerung der
Faeees durch die Scheide zurück. Nach siebenmonatlichem
Aufenthalt im Glinieum hat Herr Prof. Dr. L. mit seltnem
Geschick und Glück die Heilung vollbracht. Es ist mittelst
dreier plastischer Operationen (zum Theil Transplantationen)
ein Perinaeum wieder hergestellt und die Communication
zwischen Scheide und Mastdarm beseitigt. Aber das neue
Perinaeum hat die zu einer normalen Entbindung nothwen-
dige Fähigkeit, sich stark auszudehnen, eingebfisst. Eine
Entbindung wird ohne Zerreissung der neu gebildeten Theile
nicht möglich, diese neue Zerreissung dann schwerlif^ noch-
mals heilbar sein, und die Person würde also zeitlebens
unglücklich bleiben.
Seitens der Staatsanwaltschaft wurde in Betreff der
jungem Schwester die Anklage auf Nothzucht gestellt und
bot auch keine Zweifel dar, aber in Betreff der altem
Schwester lag die Sache nicht so einfitch; hier wurde die
-Anklage 1) auf Nothzucht, 2) auf Verstümmelung und Be-
raubung der Zeugungsfähigkeit, 3) auf Misshandlnng erho-
ben. Es wurde darzuthun gesucht, dass, obgleich „auf Be-
friedigung des Geschlechtstriebes gerichtete unzüchtige Hand-
lungen^ anscheinend nicht verübt seien (übereinstimmende
Aussage des Mädchens wie des Burschen: dass dieser den
Pem$ nicht entblösst habe), dennoch die That nichts sei,
Pra SchwargeriohtcifUle. ^^7
als eine Rache für die aus dem Benehmen des Mädcliep»
deutlich heryorgegangene Ablehnung des Coitus; dass fe^er
das hier yerübte Verbrechen noch yiel scheusslicber sei, al»
ein mit Gewalt yoUföhrter Coitua; dass drittens auch das
wiederholte Hineingreifen in die Geschlechtstheile unbedingt
als unzüchtige Hsmdlungen, die einen Versuch und Anfang
zur Befriedigung des Geschlechtstriebes enthalten, anzusehen
sei. Die Geschwornen sprachen auch in Betreff der Noth-
zudit das Schuldig s^us. £ine Verstümmelung i\ahjQ(i der
Staatsanwalt an, obschon beide requirirte Sachyerst^ndige
eine solche nicht erwähnt hatten, und deduciite sehr ge-
schickt, dass nach dem so eben gehaltei^en (sehr guten
[Ref.]) Vortrage des Herrn Dr. W, das Mittelfleiscb ein fftr
den Geburtsact höchst wichtiges Organ sei, welch^^ bei der
Beschäd%ten so gut wie zerstört gewesen, durch Operation
nur dürftig wiederhergestellt und zur Functionirung bei einer
Entbindung unfähig geblieben sei. Die Verletzte sei al^o
eines wichtigen Organs beraubt gewesen und die FuactioQ
desselben f^r immer aufgehoben. Dies stimme ge^u m|t
der Definition der wissenschaftlichen Deputation, für d^fi
Medicinalw#sen yom 14. Januar 1857, dem BeschlDSse de^
Ober^Tribunals yom 16. Juli 1857 und dem dazu gehiörigei^
Antrage des General-Staatsanwalts, der nicht einini^l wirk*
liehen Verlust eines Theils y erlange, überein. (Der Staats-
anwalt las die betreffenden Schriftstücke yor.) I)ie Gq-
pchwornen nahmen nachher den Thatbestand der Verstüuji-
melung an. Ferner suchte der Staatsanwalt, gestüjizt ajoJf ^^
schriftliche Ober-Gutachten des Herrn Geb. Ober-Mßd.rBi?.JJ;iS
Prof. Dr. Caaper *) und auf das mündliche des Herrn Dr. PF.,
1) Ich glaube hier beiperken ^u müssen, dass ich die gedachte
Person, die mir unter Mittheilung der Acten behufs Erstattung mei-
nes Gutachtens vorgeführt worden war, selbst genau untersucht hab^.
Wäre der Herr Verf. in de^ Lage gewesjßn, ebenfalls, wie ich, die Be^
138 Drei Sdiwiirgeriditsfllle.
dsnathun, dass die Person auch der Zeugimgsfähigkeit be*
raubt sei. Er deducirte^ dass im Allgemeinen die weibliehe
2^agangsfähigkeit bestehe in F&higkeit 1) zum Coüus, 2) zur
Empf ängniss, 3) zum Aastragen, 4) zum natnrgemftssen Ge-
bären eines Kindes, und dass da, wo eins dieser Requisite
fehle, auch die Zeugungsfähigkeit nicht anzunehmen sei, dass
in epecie hier zwar das Vorhandensein der drei ersten Fähig-
keiten nicht bezweifelt werden könne, das vierte Requisit
aber fehle, da eine Geburt nur mit abermaliger Zerreissung
des Dammes und dann gar nicht wieder möglich sei, dass
somit also eine Beraubung der Zeugungsfähigkeit voriian-
den sei. Diese Deduction wurde von der Vertheidigung
angegriffen, die da sagte, in ihr liege eine Contradictio in
adjedo^ denn, wenn man zugebe, dass die Verletzte ein
Kind gebären könne, so schliesse das gerade das Bestehen
der Zeugungsfähigkeit in sich; es könne nicht in Betracht
kommen, dass die Entbindung nur mit Nachtheü f&r die
Gesundheit möglich sei, wenn sie nur überhaupt möglich
sei. Er frage die Gescbwomen, ob sie einer Frau, welcher
der Arzt den Rath gegeben, eine neue Schwangerschaft za
vermeiden, um nicht Gesundheit und Leben auf das Spiel
zu setzen, darum die Zeugungsfähigkeit absprechen würden ?
Derselbe Fall liege hier vor. Endlich könne auch die Zeu-
gungsfähigkeit nicht von der Zahl der Kinder abhängig ge-
macht werden; die Fähigkeit, ein Kind zu gebären, genüge,
um die Zeugungsfähigkeit festzustellen. Die Gescbwomen
verneinten hierauf die Frage wegen der Beraubung der Zeu-
gungsfähigkeit. Der Angeklagte wurde zu 12 Jahren Zucht-
BchafiFenheit, nicht nur des Dammes, sondern auch des Mastdarms
und der Sphincteren, ine sie sich jetzt, lange Zeit nach der Ope-
ration, darstellen, selbst exploriren zu können, so würde er yielleicht
den Fall anders beurtheilt haben. Es bleibt derselbe übrigens ein
hOehst denkwürdiger f&r die Frage von der Zeugungsföhigkeit C.
Brei SehwingmclitsMe. 169
haus verurtheilt. Die beiden Andern erhielten 5 und 4 Jahre
Znchthans.
Dieser Fall bietet die seltene Ersebeinung dar, dass
die Geschwomen eine von zwei Aersten angenommene De-
dnetion verworfen und eine vom Staatsanwalt nen gebrachte
angenommen haben. Referent erklärt sich mit dem ürtheil
der Geschwomen einverstanden; auch er ist der Meinung,
dass hier eine Verstümmelung, nicht aber eine Beraubung
der Zeugungsfähigkeit vorliege. Nach Herrn G^h. Rath
Caaper^^ eigener Definition der Yerstfimmelung hält er die
Annahme einer solchen nicht für gezwungen in diesem Falle.
Ich erlaube mir aber auch noch die Behauptung, dass die
Verletzte nur einmal und dann nicht wieder gebären könne,
welche Behauptung bei der Verhandlung Seitens der Ver-
theidigung nicht angegriffen worden ist, anzugreifen. Ich
kann nicht einsehen, warum eine Frau mit, wenn auch
total, zerrissenem Damme nicht die Fähigkeit haben sollte,
noch mehr Kinder zu gebären. Der Grund, dass mit einer
solchen Person aus Ekel kein Mann den Beischlaf voUzie*
hen würde, ist nach dem bekannten Spruche : De gustibua —
nicht stichhaltig, somit also auch Empf ängniss und Schwan-
gerschaft möglich, und was endlich die Geburt betrifit, so
dürfte dieselbe durch den ungeheilten Dammriss nur er-
leichtert werden. Frauen mit kleinern oder grossem un-
geheilten Dammrissen sieht man häufig Kinder gebären.
Aber selbst die Nothwendigkeit einer Wiederzerreissung
des Dammes bei unserer Verletzten im Falle einer Ent-
bindung wird vielleicht von Jahr zu Jahr geringer werden,
da die Natur bei allen Verletzungen mit der Zeit Wunder
zu thun pflegt Wie, wenn dieses Mädchen nach einer Reihe
v^n Jahren sich verheirathen und Kinder gebären sollte
trotz aller jetzigen üblen Voraussagen? Sehen wir nicht
bisweilen, trotz erstaunlicher Enge nicht allein in den wei-
I7Q IM Sdiwiiigeikliteflate.
dNB, sofidam mich ia den kaftehernen Gebuttsvegen , wo
instrumentale Hülfe anomgänglich nothwendig scheint^ den-
AMh die Geburt ganz naturgemäfls Terlaofen?
2. Der swttte wichtige Fall hat haapta&chlidi för die
Grindaalistik Interesse, d|i er wohl in seiner Art neu ist
Eine Mntter hat bei klarem Verstände sich nnd ihre 4 ge-
liebten Kinder ins Wasser gestCirzt. Von Vätern sind ähn-
liche Thaten schon öfters verübt; ob aber schon einmal
eine Mutter, ohne wahnsinnig zu sein, ein solches vierfaches
Verbrechen begangen hat, bezweifle ich. Der Mann, der
Urheber dieses Unglücks, besass einst mehrere Güter, hat
dieselben jedoch dnrch Trunk und Verschwendung dur^-
gebracht und so sich und die Seinigen zu Bettlern gemacht
Im Februar d. J. bewohnte die Familie in Süptitz bei
Torgau ihr letztes Besitethum, ein Häuschen, und lagen der
Mann und ein Kind krank. Da erschien der Executor in
Begleitung des Gläubigers, um die Exmission va toU-
fi4;recken, welche insofern unerwartet kam, als die Frau
vom Gläulnger noch Tags zuvor Frist ausgewirkt ^u haben
glaubte. Die Frau fahrt die 4 Kinder mit sich weg, indem
sie eins auf dem Bücken mittelst eines Bandes befestig^
wi zweites auf den Arm nimmt, und von den beiden an^
dem sich am Rock anfassen lässt. Vom Vater nehmen
Me dnrch Küsse Abschied, An ein Wasserlodi im Dorfe,
^twa 2 Fuss tief, gekommen, fasst sie den Vorsatz, sich mit
den Kindern. darin zn ertränken, und fragt die Kinder, ob
sie mit hineingehen wollten, worauf das eine grössere Mäd-
(Jien erwiedert : „Wo Du hingehst, gehe ich auch hin^, da3
imdere aber lieber zur Pathe nach Herzberg gehen zu wqI-
len angiebt. Darauf kniet sie mit den Kindern nieder, betet
und stürvt sich dann mit ihnen ins Wasser. Bald darauf
kommen Leute hinitu, und so werden alle 5 Personen wie-
der herausgezogen. Dm Kinder sind todt, des jüngste «wird
Dm SobwQTgttidiftflail^. ÜTl
gerettet, weil: bqSd Köpfchen auf einer kleinen Eisscholfo
Hegen geblieben ist, eben so wird die Mutter gerettet, nach-
dem sie sich wiederholt gewaltsam hat losreisaen and wie-
der ins Wasser stürzen wollen. Sie will erst nach einigen
Standen die Besinnung wieder bekommen haben und sich
nur an tyrei Mommte erinnern, einmal, dass sie, im Was-
ser liegend, Reue empiimden, dann, dass sie daselbst ge-
ffihlt und gehört habe, wie ein Kind sie kusste und fiber
üebelkeit klagte. Alle Kinder-Leichen sollen naeh Aussage
dreier Zeugen an der Mutter mittelst eines Bandes befestigt
gewesen sein. Sie bestreitet hartnäckig, etwas Derartiges
gethan zu haben. Die Obduetion der Leiehen hat Hirn-
hyperämie und flüssiges Blut ergeben, sonst negative Be^
fände, nidit einmal Wasser im Magen oder ballonirte Lun-
gen, also, wie Herr Kreis -Physicus Sanit&ts-Rath Dr. K.
sehr richtig ausführte, die Beweise eines in Folge der grossen
Kälte sehr rasch erfolgten Wassertodes.
Der eben genannte Sachverständige fahrte dann in Be-
treff der Zurechnungsfähigkeit aus, dass weder vor, notsh
bei, noch nach der That ein Moment sich auffinden liesse,
welches auf geistige Störung deute, dass das Beten vor der
That ein Beweis für die Erkenntniss des Sündigen der That
enthalte, dass die genaue Schilderung so vieler Umstände
auch auf das klare Bewusstsein bei der That schUessen lasse,
dass die Thäterin nur dem höchsten Grade des Affects er-
•
legen, den zu beherrschen eines Jeden Pflicht sei, und daiss
Unzurechnungsfähigkeit zur Zeit der That absolut nicht an-
zunehmen sei. Eben so plaidirte der Staatsanwalt. Die
Tertheidigung behauptete, die That sei in einem vorüber-
gehenden Wahnsinn geschehen, die in der Erinnerung der
Thäterin gebliebenen zwei Momente seien lucida mtervaäa
gewesen. Die That selbst ^sei derartig, dass sie von einem
vemünfkigm Menschen nicht begangen sein könne. Die
172 Diei SehwnrgerichtsiUle.
Gescliwornen hitten ja die rährendsten Zeagmsse fiber di
Liebe zwischen Matter und Kindern aus dem Hunde meh-
rerer Zeugen gehört. Der Herr Sanit&ts-Rath habe selbst
zagegeben, dass beim Affecte in einem, jedoch mit Schuld
des Th&ters, willenlosen Momente eine bSse That wie dn
Blitz aus der Hand des Thäters komme und sofort berent
werde. In diesen Worten sehe er Zugeständnisse der Un-
surechnungsf ähigkeit. Schliesslich appellirte er stark an das
Mitleid der Geschwornen und sprach Tom bösen Gewissen
als der härtesten und unausbleiblichen Strafe der Tiift-
terin.
Ffir die Frau sprach eine kalte Resignation bei der
ganzen Verhandlung, die auch bei Publication des freispre-
chenden ürtheils in ihrem Gesicht nicht einen Zug sich
rfthren liess. Auch der Umstand stimmte sehr günstig f&r
sie, dass alle Zeugen voll waren des Lobes über die aus-
gezeichnete Erziehung, die Artigkeit, die saubere Kleidung
der Kinder, endlich über die Liebe derselben zu ihrer
Matter.
Die Geschwornen bejahten die Thatfrage des dreifachen
Todtschlags und des yersuchten Todtschlags und verneinten
die Zurechnungsfähigkeitsfrage. So erfolgte die Frei-
sprechung.
3. Eine Anklage lautete auf Nothzucht im Schlafe.
Das etwa 22jährige kräftige Mädchen beeidete, dass der
Angeklagte schon die Immüsio pmis vollendet gehabt, als
ne erwacht sei. Der verheirathete jugendliche Angeklagte
behauptete, das Mädchen habe ihn, welcher auf Antrieb
eines Dritten untersuchen wollte, ob nicht ein Mann bei
ihr läge, umarmt und zu sich in das Bett gezogen. Es
gelang demselben auch, den Beweis zu liefern, dass die
Zeugin schon öfters Männern den Beischlaf gestattet habe.
Eine ärztliche ' Untersuchung war weder an der Wäsche,
Drei SohwiirgerichiaflQle. 178
noch am Körper des MSdchens angeordnet worden. Der
Staatsanwalt erklärte, er selbst sei überzeugt, dass im ge-
sunden Schlafe ein Stuprum nicht unmöglich sei, und er-
zählte als Beweis zwei Yon ihm erlebte Fäll^ erstens den,
dass ein schlafendes Mädchen von etwa 13 Jahren, auf
welches sich ein Mann gelegt und sie gebraucht habe, da-
von nicht erwacht sei, zweitens den, dass man einem Mäd-
chen im Schlafe sämmtliche Schaamhaare abgeschnitten habe.
Trotzdem sprachen die Geschwomen, unter denen sich ein
Arzt befand, das Nichtschuldig aus und gewiss mit Recht.
Der Staatsanwalt erwiederte mir späterhin privatim, auf Be-
fragen, ob das 13jährige Mädchen deflorirt oder sonst ver-
letzt gewesen sei: nein.
Es bedarf also wohl keiner weitern Ausführung, dass
die zwei von der Staatsanwaltschaft angefahrten Fälle nichts
beweisen können gegen den Satz, dass im normalen Schlafe
ein Stuprum von einem Einzelnen im AUgemeiuen nicht
volUuhrt werden kann.
17«
9.
Termisehtes.
Begriff des Unternehmens einer Heilung. Behandlung von Kran-
ken durch concessionirte Besitzer einer Vasser- Heilanstalt
ausserhalb derselben ohne sonstige Intliehe Approbation.
(§. 199. des Strafgesetzbuchs.)
Der Angeklagte hat eine Goncession zur Erriehtung und
Yerwaltang einer Wasser* Heilanstalt, und er betreibt eine
solche Heilanstalt« Dagegen besitzt er nicht die Approbation
als practischer Arzt. Er hat nun ausserhalb seiner gedachten
i^Mtah etBMft am Typhus Erkrankten ärztlich behandelt, das
Au&chneiden von Geschwüren durch einen Wundarzt undv
die Behandlung des Kranken nach seinem herausgegebenen
Buche, welches der Vater des Kranken bereits besass und
früher benutzt hat, angeordnet, endlich daiur Belohnung ge-
fordert und erhalten.
Er ist demgemäss aus §. 199. des Strafgesetzbuchs ver-
urtheilt, weil er, ohne y o r schri ftsm&ssig approbirt zu sein,
die Heilung einer innem Krankheit unternommen habe. *Denn
die für die Wasser-Heilanstalt ertheilte Concession sei nicht
als Approbation zur ärztlichen Praxis zu betrachten; die in
jener Concession enthaltene Befiigniss zur Behandlung von
Kranken sei örtlich auf die Anstalt beschränkt. Gleich-
gültig sei es, ob der Angeklagte die Geschwüre selbst auf-
geschnitten habe, oder nicht.
Die Niehtigkeitsbeschwerde des Angeklagten fUirt aus :
Die Concession für die Wasser-Heilanst^t enthalte auch zu-
gleich eine ärztliche Approbation, denn jene enthalte das
Anerkenntniss des Staats über die Befähigung zur Ausübung
der wasserärztlichen Kunst. Der Untersdiied zwischen bei-
den bestehe darin, dass die Concession eine beschränkte sein
kOnne, während diese ihrer Natur nach eine allgemeine sei.
Es sei aber unvereinbar, wenn anerkannt werde, der Ange-«
klagte verstehe die Heilung in seiner Anstalt, und verneint
werde, ^s er sie ausserhalb derselben verstehe. Die Hin-
Vemdscliies. 'HS
Weisung zur Behandlung des Kranken nach seinem gedruck-
ten Buche, und die Erklärung, dass die Geschwüre durch
einen Wundarzt aufgeschnitten werden müssten, sei kein^
Heilung; es gehöre mindestens der Nachweis dazu, dass dies
auch wirklich geschehen sei. woran es hier gänzlich fehle.
Die Beschwerde ist durch Urtel des K. Ober-Tribunals
vom 10. Jan. 1861 wider Vieck (Nr. 833. 1.) zurückgewiesen.
Gründe.
Die Frage, ob der Angeklagte eine äussere oder innere
Heilung unternommen habe, ist eine überwiegend thatsäch-
liche, welche die vorigen Richter in ihrer Feststellung be-
jaht haben. Ihrer Prüfung und Beurtheilung war es über-
lassen, ob die Anordnungen, welche der Angeklagte bei dem
N. tra^ nämlich die Geschwüre aufschneiden zu lassen, und
mit der Cur nach Anleitung seines Buches fortzufahren, ate
ein Unternehmen der Heilung zu betrachten seien, und der
Appellations-Richter hat rechtlich nicht geirrt, wenn er den
Umstand, ob die Geschwüre überhaupt und von einem Drit-
ten aufgeschnitten worden, lur unerheblich erklärt, da der
§. 199. nur voraussetzt, dass der Angeklagte die Heilung
unternommen habe, was duroh seine Anordnungen geschieht,
nicht aber, dass sie befolgt, werden oder einen Erfolg haben.
Die thatsäohliehe Feststellung giebt femer au, dass der An-
geklagte nicht approbirt ist, und auch hierbei findet eme
Rechtsverletzung nicht $tatt. Denn unbestritten besitst der
Angeklagte keine Approbation als practischer Arzt; er war
daher zur Heilung irgend einer Eruikheit nicht befugt. Eine
Ausnahme von dieser Regel macht das Reglement vom
11. Juni 1842 (Gesetz -Samtnlung S. 241) för diejenigen
Personen , welche die Goncession für die Errichtung und
Verwaltung einer Wasser - Heilanstalt erhalten hi^n. Ob-
gleich sie die ärztliche Qualifieation nicht besitzen, sind ste
doch zur Curbehandlung der in die Anstalt au%enomm^ien
Kranken befugt. Allein diese Ausnahme ist auf das In-
nere der Anstalt nach §. 2. des Reglements attsdrüoküoh
besdiränkt, und ausserhalb derselben bleibt es bei der Re^
gel. Für die Anwendung des §. 199. genügt der Gesichts-
punkt, dass die far die Errichtung der Wasser« Heilanstalt
ertheüte Concession nicht die Natur einer Approbation für
die gesammte ärztliche Praxis hat. Dass der Angeklagte
endlich Belohnung genommen hat, ist gleichfalls festgestellt.
(Archiv far Preuss. Strafrecht, 1862, X. S. 139.)
176
10.
Verfögiingeii.
L Betreffend die Anwendbarkeit der für den BCilsbrand bestehen-
den gesetzlichen Bestimmungen auf die Blntsenche der Schaafo.
Auf den Bericht Tom . . . . , die Anwendbarkeit der för den Milz-
brand bestehenden gesetzlichen Besimmnngen auf die Blutseuche der
Schaafe betreffend, lasse ich der Kdnigl. Regierung das hi^ber tob
dem Lehrer -Gollegium der Königl. Thierarzneischule erforderte Gut-
achten Tom 3ten d. M. in der Anlage abschriftlich zugehen.
Da nach den Ausführungen desselben, mit welchen ich durchweg
einverstanden bin, die bereits im §. 97. Nr. 17. der zweiten Beilage
twa Regulativ vom 8. August 1835 (Belehrungen über ansteckende
Krankheiten) hervorgehobene Thatsache, dass die Blutsenche der
Schaafe zu einer der acutesten Formen des Milzbrandes gehöre, als
unzweifelhaft festgestellt angenommen werden muss, so sind zur
reterinair ' polizeiliehen Behandlung di^er Krankheit die von dem
.MUzbrand im Allgemeinen handelnden Bestimmungen der §§. 109.
bis 118. des Regulativs vom 8. August 1835 im Wesentlichen als
▼ollkomm«! ausreichend zu erachten. Es wird daher des Erlasses
einer die Blntsenche der Schaafe betreffenden besondern Verordnung
Seitens der Königl. Regierung für den Umfang Ihres Verwaltnngs-
Bezirks nicht bedürfen. Zur Beseitigung der hierüber obwaltenden
Zwdfel hat die KönigL Regierung vielmehr den Landräthen, so wie
den Yiehbesitzem, die hierauf bezüglichen Bestimmungen des Regula-
tivs von Neuem zur genauen Beachtung in Erinnerung zu bringen
und in Bezug auf die hinsichtlich der Ortssperre u. s. w. beim Herr-
schen dieser Krankheit unter den Schaafen in dem mitgetheilten Gut-
ac^faten angegebenen Modificationen das Erforderliche anzuordnen.
Berlin, den 26. Februar 1862.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinid*
Angelegenheiten.
Im Anftrage: Lehnen.
Anlage A.
Ew. Excellenz ermangeln vrir nicht, den uns mit der verehrlichen
Marginal -Verfügung vom 20. December v. J. hochgeneigtest zugefer-
tigten Bericht der KönigL Regierung zu N. vom 30. November v. J.,
ArnÜiehe YerfBgwigeai» ttt
»betreffend die An^^ndbarkeft der fftr den Ißlebrand bestehenden
gesetzlichen Bestimmungen auf die Blatseuche der Schaafe*',
hiemeben ehrerbietigst zurückzureichen, und verfehlen wir nichts ins-
besondere darüber:
»ob die sogenannte Blutseuche der Schaafe für eine hinsichtlich
ihrer Gontagiosität von dem Milzbrande an sich so abweichende
Krankheit zu erachten sei, dass auf dieselbe die in den §§. 109.
bis 118. des Regulativs vom 8. August 1835 zur yeterinair-polizei-
liehen Behandlung des Milzbrandes vorgeschriebenen Maassregeln
im vollen Umfange nicht Anwendung finden dürfen?"*
unsere Ansicht in Folgendem ganz gehorsamst auszusprechen.
Die sogenannte Blutseuche, Blntstaupe u. s. w. der Schaafe
ist wissenschaftlich und durch Erfahrung als eine lachst acute und
als die gewöhnlichste Form des Milzbrandes bei den Schaafen seit
mehr als 50 Jahren anerkannt; und eben so steht es durch tBhh
reiche Beobachtungen und durch Impfversuche unzweifelhaft fest,
dass diese Krankheit einen Ansteckungsstoff erzeugt, welcher im
Blute und in allen Theilen des kranken Thieres, selbst in den Se-
und Excretionen desselben enthalten ist und sich in seinen Wirkun-
gen dem Gontagium der übrigen Anthraxformen gleichartig zeigt, in-
dem durch unmittelbare Berührung seiner Vehikel Menschen und
Thiere inficirt werden und hierbei ein dem Milzbrande analoges Lei-
den, am häufigsten aber die Milzbrandblatter, entsteht. In wie weit
das Gontagium bei der Blutseuche flüchtiger und intensiver ist, als
das bei dem Milzbrande des Rindviehes — lässt sich nach den bis
jetzt hierüber gesammelten Beobachtungen nicht sicher angeben.
Bei der wesentlichen üebereinstimmung der Blutseuche mit dem
Milzbrande kann es kaum einem Zweifel unterliegen, dass, wenig*
stens in genere, diese Krankheit derjenigen veterinair-polizeilichen
3ehandlung vollständig unterworfen sein muss, welche in den gegen
den Milzbrand bestehenden gesetzlichen Bestimmungen, namentlich in
dem Reguktiv vom 8. August 1835 §§. 109. bis 118. vorgeschrie-
ben ist.
Es dürfte hierüber um so weniger ein Bedenken bestehen, s^B
in der zu dem eben allegirten Gesetz gegebenen Belehrung über die
ansteckenden Krankheiten sub Nr. 17. nach der überschrifäiohen Be-
nennung: »Milzbrand*, im §. 97. neben den verschiedenen andern
Namen für die einzelnen Formen der Anthrax «-Krankheiten auch die
Blutseuche, Blutstaupe angeführt sind, und daselbst am Schlüsse
der Beschreibung des acuten Milzbrandes wjörtlich gesagt Ist: »We-
gen dieses Blutausflusses aus der Nase, dem Maule u. s. w.
wird diese Form der Krankheit bei Schaafen fast überall
die Blutseuche oder die Blutstaupe genannt.'* .
Wenn dennoch ~ wie dies in dem hier vorliegenden Antrag-
schreiben der Königl. Regierung zu N. an Ew. Excellenz ausgesptot-
chen ist, und wie wir ein Gleiches aus den Yeterinair-Berichteii der
Kreis-Thierärzte mehrfaltig ersehen haben — im Regierungs-Betirk N.
der Ausbruch der Blutseuche häufig nicht den Landräthen angezeigt
wird, und wenn die Letztern in der Regel keine Anzeige über dies^
Krankheit an die Königliche Regierung machen, so liegt dies wohl
nicht am Mangel der hierüber bestehenden Vorschriften, sondern nur
an einer mangelhaften Anffassung und Befolgung derselben. Denn
im §. 109. des Regulativs ist befohlen: dass, »wenn ein Thier vom
Milzbrande befallen wird, bei Vermeidung einer Geldstrafe von 5 Thhm.
oder Stägiger Gefängnissstrafe, sogleich der Polizei-Behörde hierüber
Anzeige gemacht werden soll*".
Catpert VjMhrft. f. g«r. Med. XXIL 1. 12
)79 ijntlißhe Y^rlBgangeii.
Es ist somit nicht angeordnet, dass die Anzeige nur fiber Milz-
brand des Rindviehes geschehen soll; nach der vorausgegangenen Be-
schreibung der Krankheit im §. 97. geht vielmehr hervor, dass dies
von jeder Milzbrandkrankheit bei sämmtlichen Hausthieren und ins-
besondere auch hinsichtlich 4er Blutsenche der Schaafe gilt.
Eben so mfissen demnach bei dieser Milzbrandform, wie bei dem
Milzbrande des Rindviehes, die §§. 113. und 114, betreffend das Ver-
bot des Schlachtens, des Fleischverkaufs und des Abziehens der Haut,
gleichmässig und allgemein zur Anwendung kommen. Wenn in dieser
Hinsicht die Landräthe ungleich verfahren, so liegt dies wieder nur
in mangelhafter Auffassung und Ausführung des Gesetzes.
Ganz so anwendbar bei der Blutseuche sind auch die folgenden
Paragraphen des Regulativs vom 8. August^ nämlich §§. 110. (die Ab-
sonderung der kranken Thiere u. s. w.), — 111. (Verbot des Kurirens
durch Personen, welche nicht approbirte Thierärzte sind), ^ 112. (Be-
seitigung des Aderlassblutes u. s. w.), — 114. (Vergraben der Gadaver
und Sectionen), — 115. (Reinigung der Ställe und Desinfection) , —
116. (Abhaltung der Schweine, des Federviehes u. dgl. von den Ga-
davern), — 117. und 118. (Vorschriften bei stattgefundener Infection
eines Menschen). Denn in allen diesen Punkten besteht bei der Blut-
senche kein Grund zu Abweichungen von den gegebenen Vorschriften
des Regulativs.
Diese Vorschriften sind jedoch, wie die Königl. Regierung zu N.
in ihrem Antrage vom 30. November richtig bemerkt, för sich allein
nicht vollständig genug; und sie können auch nicht passend durch
die Bestimmungen des Viehseuchen-Patents vom 3. April 1803 Ga|). IV.,
den Milzbrand beim Rindvieh betreffend, ergänzt werden, weil diesel-
ben theilweise zu weit gehen (§§. 131 — 133., 136 — 139., 141., 142.),
theils durch das Regulativ vom 8. Aug. 1835 aufgehoben sind (§. 135.).
Es dürfte aber nach unserer unvorgreiflichen Ansicht ausreichend sein,
wenn:
1) hinsichtlich der Sperre des Ortes oder des inficirten
Gehöftes;
2) hinsichtlich der Dauer der Maassregeln nach dem Aufhören der
Krankheit, und
3) hmsichtlich des ansnahmsweise zu gestattenden Schlachtens ge*
sund scheinender Thieie im Seuchenorte, oder des Wegtreibens
derselben aus ihm, entsprechende Vorschriften beständen»
Wir bemerken hierüber:
ad 1. Der §. 140. des Patents vom 3. April 1803 verbietet,
Rindvieh, Rauchfutter und Dünger aus dem Orte und über die Grän-
zen desselben zu bringen; und §. 141. verbietet den Ein- und Durch*-
trieb in den Seuchenort auch aus andern Orten.
Da nun die Blutseuche eine acute Milzbrandkrankheit ist, so
müsste bei ihrem Herrschen in einem Orte consequent diese Maass- .
regel auch in Betreff der Schaafe stattfinden.
Die Königl. Regierung zu N. hat die Sperre mit Bezugnahme auf
einen kürzlich in ihrem Bezirk vorgekommenen Fall, in welchem
Schaafe ans einer mit Blutseuche inficirten Heerde aus der Gegend
Ton Kyritz nach Berlin auf den Schlachtmarkt getrieben wurden, auf
dem Marsch theilweise starben und den Treiber inficirten, beantragt;
die Königl. Regierung zu N., in deren Bezirk die Blutseuche so häufig
TcHrkommt, hat sich aber (nach Anführung des Schreibens der Köni|L
Regierung zu N. vom 30. November) gegen die Sperre erklärt, theik
wefl die Krankheit angeblich kein flüchtiges Oontagium entwickelt,
theils weil sie dort in manchen Orten stationair und lan^edauemd
ist^ also auch die Sperre sehr lange bestehen und sehr lästig werden
Amiüelie Yerfllgangdii. If j|
wfürde. Der erstere Griind ist ganz unbaltbar, ireil viele Beobach-
tungen dafür sprechen, dass das Gontaginm nnter Umständen anch
flüchtig ist; der letztere verdient dagegen einige Berücksichtigung;
aber die grössere Rücksicht muss doch das Wohl des Publicums sein.
Mit Rücksicht auf beide oben angedeutete Umstände erlauben wir
uns Torzuschlagen:
q) dass bei der Blutseuche der Schaafe, neben den übrigen Maass-
regeln des Regulativs vom 8. August 1835, eine Sperre nur für
die Schaafe des Orts und nur in der Art eintreten möge, dass
auch gesund scheinende Schaafe während des Bestehens
der Krankheit und bis 4 Wochen nach dem letzten Erkrankungs-
falle nicht ohne besondere Erlaubniss in einen andern Ort ge-
bracht und eben so auch nicht geschlachtet werden dürfen;
b) dass dagegen fremde Schaafe durch den Sencheort und über
dessen Feldmark, jedoch ohne sich daselbst auf Weiden anzu-
halten, getrieben werden können, und
c) dass der Verkauf des Rauchfutters von dem Verbot (der Sperre)
ausgeschlossen bleibt.
In dieser milden Weise wird der Sanitätszweck erreicht, ohne
dass irgendwo durch die Maassregeln eine übermässige Belästigung
entsteht. Denn der Verkauf und das Schlachten kranker Schaafe ist
ohnedies schon • verboten ; und an den Orten, wo die Krankheit statio-
nair ist oder alljährlich auf längere Zeit wiederkehrt, erleiden die
Schäfereien so grosse Verluste, dass sie gewöhnlich aus Ueberfiuss
keine Veranlassung zum Verkauf gesunder Schaafe haben, also auch
die Sperre sehr ^enig oder gar nicht fühlen.
Die speciellere Sperre der einzelnen Höfe vorzuschlagen, halten
vnr nicht für zweckmässig, weil, wenn in einem Orte mehrere Schä-
fereien bestehen, theils gleiche Ursachen auf dieselben einwirken und
deshalb auch die Krankheit in ihnen mehren theils zugleich entsteht
oder entstehen kann, und weil bei Beschränkung der Sperre auf ein-
zelne Höfe im Orte die OontroUe sehr erschwert wird. Ist aber nur
eine Schäferei im Orte, so trifft ja die Maassregel auch nur diese
allein und berührt die Interessen anderer Einwohner gar nicht Wo
indess die Oertlichkeit eine genügende Controlle der Sperre einer in-
ficirten Heerde für sich gestattet, dürfte die letztere ihren Zweck wohl
erfüllen.
ad 2. Wie oben sub la. angedeutet, soll die Sperre bis zum
Ablauf von 4 Wochen nach dem letzten ErkrankungsfaUe fortdauern.
Dies ist conform wie beim Milzbrand des Rindviehes und erscheint
deshalb als nöthig, weil die Blutseuche die Eigenthümlichkeit besitzt,
dass sie oft in ihrem Herrschen kleinere oder grössere Intervallen
macht, und weil somit das Ausbleiben neuer Erkrankungen während
nur einiger Tage nicht als das Ende der Krankheit angesehen wer-
den kann. Andererseits lehrt aber die Erfahrung: dass die Krank-
heit, abgesehen von den Einwirkungen der Ausdünstungen des Erd-
bodens und von der Beschaffenheit der Nahrungsmittel, hauptsächlich
durch die Witterung ihre Entstehung findet, wie auch, dass eine
gleiche Witterungs- und Luftbeschaffenheit selten über 4 Wochen
n)rtbesteht und dass die Blutseuche in der Regel wirklich erloschen ist,
wenn binnen 4 Wochen neue Erkrankungsfälle nicht eingetreten sind.
ad 3. Es ist bereits oben svJb la. bei der Sperre darauf hin-
gedeutet worden, dass die noch gesund scheinenden Schaafe im
Seuchenorte oder mindestens aus den als inficirt zu betrachtenden
Heerden ohne besondere Erlaubniss nicht geschlachtet und nicht aus
ihm in einen andern Ort gebracht werden dürfen. Es kann aber sehr
wohl der Fall vorkommen, dass z. B. in der Ritterguts -Heerde eines
12*
199 4AitIiche y^gniie^ilk
(Mes die Blatseoeke besteht, nuter ien Schall» d« Benem ^r
nicht, mvd daas doch das Bedürfniss von frischem Fleisch eintritt;
oder dass ein Gutsbesitzer auf einer andern Feldmark ein Vorwerk
iait gesander Weide besitzt, anf welche er seine gesund scheinenden
Schsttfe bringen und sie hierdurch selbst gegen die Kranl^heit con-
serviren kann. Unter diesen und ähnlichen Verhältnissen erseheint
eine Ausnahme von der Sperrmaassregel bei gehöriger Vorsicht billig
und ohne Gefahr auch zulässig. Eine solche Ausnahme darf aber
stets nur mit Bewilligung der Polizei - Behörde und nur dann statt*
finden, wenn das dringende Interesse der Einwohner, resp. der Schaaf-
besitzer, bei der Behörde nachgewiesen und die Gesundheit der be-
treffenden Scbaafe von einem approbirten Thierarzt bescheinigt wor-
den ist.
Berlin, den 3. Februar 1862.
. Der technische Director und das Lehrer -Gollegium der Königl.
Thierarzneischule.
OL Betreffend den Handel mit chirurgischen Instramenten und
Bandagen.
Anf den Bericht vom .... erwiedere ich der Königl. Regierung,
dass der Handel mit chirurgischen Instrumenten und Bandagen in
gleicher Weise, wie das Verfertigen dieser Gegenstände, von einer
Prüfung abhängig ist. Denn der §. 190. der Allgem. Gewe]i)e-Grd*
nnng vom 17. Januar 1845 (Gesetz -Sammlung S. 78) hebt nur die
Bestimmungen über Gegenstände auf, worüber das Gesetz dispönirt.
Wird also angenommen, dass die Vorschriften der Gewerbe -Ordnung
iU>er das Verfertigen chirurgischer Instrumente den Handel mit den-
selben nicht treffen, so folgt, dass die altem Vorschriften über den
letztem, insbesondere des Rescripts vom 7. December 1844, Anlage A.,
nach wie vor in Kraft sind.
Berlin, den 11. März 1862.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-
Angelegenheiten.
Im Auftrage: Lehnert
An die Königl. Regierung zu N.
Anlage^.
(Verfögung der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-
Angelegenheiten und des Innern, vom 7. December 1844 (Eichhorn,
Graf V, Arnim).
Mit den, in dem Berichte des Königl. Polizei -Präsidiums vom
15. Juni d. J. in Betreff des unbeschränkten Handels mit im Auslande
gefertigten chirurgischen Instrumenten und Bandagen ausgesprochenen
Ansichten können wir uns nicht einverstanden erklären.
Nach den bestehenden Bestimmungen dürfen chirurgische Instru-
mente und Bandagen Imlnlande nur von geprüften Instrumentenmachern
angefertigt werden, und nur ausnahmsweise dürfen Handschuhmacher
auf besondere Bestellungen einzelne Bruchbandagen anfertigen; es ist
ihnen aber nicht gestattet, dergleichen zum Verkauf feil zu halten,
ohne zuvor ihre Qualification dazu durch eine Prüfung dargethan 2U
haben.
Etliche YerOgirngMi^ ISt
Beiden Bestimmniigen würde die Freflassnng des Handels mt
ansländiBclien Instramenten und Bandagen widersprechen. Dnrch die
Prüfang der Instrumentenmacher soU nur die Sachkenntniss und tech-
nische Geschicklichkeit derselben ermittelt werden, weshalb sie meh«-
rere Instrumente und Bandagen in Gegenwart des Physicus und dee
Gewerks- Altmeisters anzufertigen haben, welche von dem Ph^sica«
und von dem Medicinal-CoUegium in Beziehung auf Zweckmässigkeit
und Sauberkeit geprüft werden. Der Zweck dieser Einrichtung ist
der, dem Publicum kenntnissreiche und geschickte Arbeiter in ein^m
Gewerbszweige zu Gebote zu stellen, dessen Erzeugnisse nicht bloss
für das Vermögen, sondern auch für das Gesundheitswohl der Ab-
nehmer von Bedeutung sind.
Das einzelne Fabricat dieser geprüften Instrumentenmacher kann
zwar hinsichtlich des Materials und der Genauigkeit der Arbeit ganz
verschieden ausfallen. Allein die Beurtheilung eines Instruments oder
einer Bandage in dieser Beziehung kann sehr wohl dem Käufer übw*
lassen bleiben, weil Material und Arbeit bei dergleichen Qegenst&n^
den auch von Laien leicht geschätzt werden kann. Letzteres ist aber
nicht der Fall in Bezug auf Zweckmässigkeit des Verkaufs - Gegen-
standes. Die Würdigung dieser Eigenschaft erfordert besondere
Kenntnisse. Diese besitzt nur der Arzt und der hinsichtlich der er-
forderlichen Special - Kenntnisse geprüfte Instrumentenmacher. Des
Arztes kann sich der Laie bei dem Ankaufe von dergleichen Gegeiir
ständen nicht immer bedienen, derselbe bedarf aber auch der Hülfe
des Arztes dabei nicht unumgänglich, sobald dafür gesorgt ist, dass
Leute vorhanden sind, welche dem Publicum zweckmässige Instru-
mente oder richtig construirte Apparate vorlegen und demselben nur
überlassen, Material und Sauberkeit der Arbeit zu prüfen und unter
übrigens zweckmässigen Gegenständen nach Belieben zu wählen.
Ob jene geprüften Leute aber Verfertiger oder Händler sind , ist
für das Sanitäts-Interesse gleichgültig. Die Sicherung des Publicnms
liegt darin, dass deijenige, welcher die fraglichen Gegenstände feit*
bietet, im Stande ist, zu beurth eilen, ob er Zweckmässiges zum Ver*
kauf stellt. Nur dann kann er auch verpflichtet werden, nur Zweck-
mässiges zu verkaufen. Hiernach müssen die Behörden danach hin-
streben, kenntnissreiche Verfertiger und Händler in einer Person m
erlangen, denn es ist nicht in Abrede zu stellen, dass nur deijenige,
welcher die Anfertigung versteht, ein volles Urtheil über die Zweck-
mässigkeit hat.
Wenn aber dem KönigL Polizei -Präsidium nach seinem Berichte
noch keine dem Publicum widerfahrene Nachtheile aus dem unbe-
schränkten Handel mit chirurgischen Instrumenten und Bruchbanda-
gen bekannt geworden sind, so beweist dies nicht, dass solche nicht
vorkommen, sondern nur, dass Fälle der Art nicht zur Kenntniss der
Behörden gelangen.
Wir machen in dieser Hinsicht nur auf die Nachtheile und Ge-
fahren aufinerksam, welche nach ärztlicher Erfahrung nicht selten
durch die Anlegung und das Tragen unzweckmässiger Bruchbandagen
hervorgebracht werden.
Wir erachten es daher für nothwendig, dass die bisher üblich
gewesene Prüfung der Verfertiger chirurgischer Instrumente und Ban-
dagen bestehen bleibe, und dass dem Handel mit im Auslande ange-
fertigten Instrumenten und Bandagen zwar keine Beschränkung auf-
erlegt, jedoch von denen, welche dergleichen feilzubieten beabsichtigen,
gefordert werde, dass sie in einer von ihnen abzulegenden angemes-
senen Prüfang diejenigen Kenntnisse von der Güte und Zweck"
mässigkeit chirurgischer Instrumente und Bandagen nachweisen, weiche
163 Amtliche Verfttgnngeii.
im Allgemeineii von den inlftndisclieii Verfertigem derselben verlangt
werden.
Die hiesigen Alt- und Mitmeister der Verfertiger chirurgischer
Instrumente haben wir auf Ihre Beschwerde in dieser Angelegenheit
von dem Inhalte vorstehender Verfügung im Allgemeinen benach-
richtigt.
m. Betreffend den BandTerkanf ▼on Bandwarmmitteln durcli
die Apotheker. .
Es ist neuerdings vorgekommen, dass Apotheker mehrere Mittel,
welche zu einem bestimmten Heilzwecke nur unter besondem, vom
Arzte zu beurtheilenden Umständen und nach dessen specieller Ver-
ordnung nutzbar werden können, im Handverkauf frei oder gar in
bestimmter Form und Dosis dispensirt, mit einer Gebrauchs - Anwei-
sung versehen, unter der Annahme verabfolgen, dass dieselben nicht
zu den Drasticis gehören. Fälle der Art sind vorgekommen in Bezug
auf den Verkauf von Bandwurmmitteln, die, wenngleich sie an sich
der Klasse drastischer Arzneimittel nicht zu subsumiren sind, den-
noch durch nnzeitigen Gebrauch nachtheilige Folgen herbeiführen
können.
Da ein solches Verfahren den Bestimmungen des Medidnal-
Edictd von 1725 in §§. 5. und 7. des Abschnitts »von den Apothe-
kern*, so wie der darauf sich gründenden Vorschrift des Titel IIL
§. 2. LiW K. der revidirten Apotheker -Ordnung vom 11. October
1801 widerstreitet, so werden auf Veranlassung des Königl. Ministerii
der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- Angelegenheiten sämmt-
liche Apotheken -Besitzer des diesseitigen Verwaltungs- Bezirks hier-
durch angewiesen, Bandwurmmittel, wie Kousso, Cortex rctdicia Otü'
natorwnty Bad. Füieia und andere zu diesem Zweck verlangte Me-
dicamente, nicht ohne ärztliches Recept zu verabfolgen, und wird der
Handverkauf dieser Mittel bei Vermeidung der unter Litt 1. §. 2.
Titel UI. der revidirten Apotheker -Ordnung angedrohten Strafen un-
tersagt
Berlin, den ao. März 1862.
Königl. Polizei -Präsidium.
IV. Beireffend das Reinigen aberschwemmt gewesener Wohnuiigen
▼or deren Wiederbeziehen.
Die an vielen Orten des hiesigen Regierungs- Bezirks stattgefun-
dene Üeberschwemmnng der Wohnungen lässt von dem Wiederbezie-
hen derselben grosse Nachtheile für die Gesundheit besorgen, indem,
wenn dies ohne die nöthige Vorsicht geschieht, der Erfahrung ge-
mäss, mancherlei zum Theil gefährliche Krankheiten, namentlich bös-
artige Fieber, Nervenkrankheiten, Gicht, Drüsenübel, Wassersucht,
insonderheit langwierige Kinderkrankheiten, dadurch entstehen können.
Amtliche V^f&gnngeQ. l%$
Um diesen nachtheiligen Folgen möglichst vorzubengen, finden wir
ans veranlasst, folgende Vorsichts-Maassregeln dringend für alle die-
jenigen Fälle anzuempfehlen, wo die Nothwendigkeit es erheischt, die
mit Wasser angefüllt gewesenen Wohnungen bald wieder zn beliehen.
Worauf es hier zunächst ankommt, ist schleunige und vollständige
Austrocknung der Wohnungen und Entfernung des in denselben ab-
gesetzten Schlammes. Zu diesem Behuf '
1) müssen die Wände wenigstens so hoch, als das Wasser in den-
selben gestanden hat, wie auch die FussbÖden, schleunigst mit
reinem heissen Wasser abgewaschen werden, so lange sich noch
Schlamm daran befindet.
2) Sind die Fussböden gedielt, so ist es rathsam, die Dielen auf-
zunehmen und ns^ch gehöriger Reinigung in der freien Luft
trocknen zu lassen. Die darunter gelegene Erde muss entfernt
und durch trockenen Sand oder andern trockenen Boden ersetzt
werden.
3) Das Austrocknen des Fussbodens wird durch das Aufstreuen
von trocknem, möglichst heissem Sande beschleunigt; ist der
Sand feucht geworden, so wird er erneuert.
4) Ist das Reinigen auf die angegebene Weise geschehen, dann sind
trockene Wärme und Zugluft die Hauptmittel, um das völlige
Austrocknen zu bewirken. Man unterhalte daher im Ofen fort-
während ein massiges Feuer, wobei man Fenster und Thüren
von Zeit zu Zeit öffnet, um die in der Wärme stärker verdun-
stende Feuchtigk^t durch Zugluft zu entfernen.
Nachts ist es dagegen besser, die Fenster zu schliessen.
5} Bildet sich dennoch ein modriger Geruch, so benutze man eine
Auflösung von Chlorkalk (1 Pfund in einem Eimer Wasser), um
damit die Wände und Fussböden mehrere Male mit starker, an
. Stöcke gebundener Packleinwand zu überstreichen. Dies wieder-
holt man, bis der Modergeruch sich verloren hat Die Anwen-
dung des Chlorkalks muss jedoch ausgesetzt werden, sobald die
Zimmer wieder bewohnt sind, weil längeres Einathmen von Chlor-
dämpfen der Gesundheit nachtheilig ist. Auch das Deberstrei-
chen mit Kalkwasser tilgt jenen Moderdunst.
6) Auch die tiefern Räume, Keller, Gewölbe, sind aufs sorgfältigste
von aller Feuchtigkeit und dem abgesetzten Schlamm zu be-
freien, weil sich sonst daraus, wenngleich später, schädliche
Dünste entwickeln, welche das ganze Haus durchziehen und auf
lange Zeit hinaus nachtheilig auf die Gesundheit der Bewohner
einwirken.
7) Erlauben es die Verhältnisse nicht, das vollständige Austrocknen
aller Theile der Wohnung abzuwarten, so suche man wenigstens
für trockne Schlafstätten zu sorgen, und wenn man sich auch
auf den Böden einrichten müsste. Will sich auch dies nicht
thun lassen, so setze man die Bettstellen nicht dicht an die
184 Amtliche VerftlgangeiL
Wftnde, lasse vielmehr einen Zwischenraum, welchen man zur
Nachtzeit mit trocknem Stroh ansfÜUt. Jeden Morgen mnss dies
Stroh weggenommen nnd den Tag fiber gelüftet werden. Auch
kann man die Wand in der Nähe der Lagerstätten während der
Nacht mit trocknen Brettern besetzen oder mit wollenen Decken
behängen, welche man am Tage wieder trocknet
Dah letztere mnss auch mit den ßetten selbst nnd dem
Bettstroh täglich geschehen. Nützlich ist es auch, die Bettstel-
len auf hohe Unterlagen zu setzen, damit sie weiter Yom Fnss-
boden entfernt sind.
8) Auch die übrigen Geräthschaften und Möbeln im Zimmer setze
man nicht dicht an die Wände, damit letztere fortwährend von
der Luft bestrichen werden können. Ueberhaupt ist möglichst
oft wiederholte gründliche Erneuerung der Luft in den Zimmern
nnerlässlich.
9) Kleidungsstücke nnd Nahrungsmittel dürfen nicht in noch feuch-
ten Wohnungen aufbewahrt werden, sondern auf Böden oder in
andern trocknen Behältnissen.
10) Ueberschwemmt gewesene Brunnen müssen ausgeschöpft nnd vom
Schlamme bestens gereinigt werden.
11) Wer genöthigt ist, sich in noch feuchten Gemächern aufzuhalten,
muss sich warm und trocken kleiden und eine erwärmende, nahr-
hafte Kost gemessen.
12) Auch überschwemmt gewesene Stallungen müssen, um Krank-
heiten des Viehes zu verhüten, sorgfUltig gereinigt und gelüftet
werden, nOthigen falls durch neue Oeffnungen in der Wand. Der
fiberschwemmt gewesene Mist mnss baldmöglichst aus den Stal-
lungen und von den Höfen fortgeschafft, feucht gewordenes
Ranchfutter an der Luft getrocknet nnd mit Salz bestreut, ver-
dorbenes aber gar nicht verfüttert werden. Ueberschwemmt ge-
wesene Hütungen sind so lange zu meiden, bis aller Schlamm
an den Gräsern durch den Regen abgespült und junges Gras
hervorgewachsen ist
Magdeburg, den 12. April 1845.
KönigL Regierung. Abtheilnng des Innern.
185
11.
Tod durch Ertränken nach vorausgegangener
Einverleibung grosser Gaben Arsenik. —
Experimente an Thieren.
Vom
Kreis - Physicus Dr. IWalther in Labiau.
Die unverebelichte ö. lebte mit dem verheiratheten
Schuhmacher St im Concubinat; St hatte der G. die Ehe
versprochen, falls seine Frau sterben sollte. In Folge die-
ses Versprechens hatte die G., wie es scheint nicht nur
mit Vorwissen, sondern sogar mit Zustimmung des St^ die
Ehefrau desselben zu tödten gesucht.
Zu dem Ende hatte sie, nachdem sie sich von einem
umherziehenden Juden eine Quantität Arsenik zu verschaf-
fen gewusst, diesen in eine Flasche Branntwein gethan,
hatte spät Abends am 14. November 1857 die Frau des
St., von welcher sie wusste, dass sie den Branntwein liebte,
aus dem Hause gelockt, war mit ihr in den Strassen der
Stadt umhergegangen und hatte ihr bei dieser Gelegenheit
den vergifteten Branntwein zu trinken gegeben. Mittler-
weile waren Beide im Umhertreiben an eine mit einem so-
genannten Wolm (Brüstung^ versehene Stelle des Flussufers
(der Deime) gekommen und hatten sich auf den Wolm nie-
dergesetzt, so dass sie dem Flusse den Rücken kehrten.
Casper, VjscIiTft. f. ger. Meil. XXII. 2. |^3
186 Arseoik-Yergiftong und Ertränken.
Da nun nach der Meinung der G. schon eine sehr lange
Zeit verstrichen war und sie vergeblich auf das Erscheinen
von Vergiftungs-Symptomen bei der St. wartöte, so kam ihr
der Gedanke, es wäre am kürzesten, die St zu ersäufen.
Diesen Gedanken liess sie denn auch sofort zur That wer-
den, und gab der St einen Stoss vor die Brust, so dass
dieselbe rücklings in den Fluss stürzte und mit einem leisen
Schrei versank. Am dritten Tage wurde die Leiche auf-
gefunden und am 19. November die Legal -Section vorge-
nommen.
Die wesentlichen Ergebnisse derselben, welche wir dem
Sections-ProtocoU entnehmen, waren folgende:
Die Verwesung des Leichnams batike scheinbar noch nicht begon-
nen, wenigstens waren nirgends Todtenflecke zu entdecken, die Ober-
bauch- und Leistengegend, so wie die Intercostalgegend nicht grün
geerbt, ja nicht einmal die Rückenfläche des Körpers geröthet, so
wie auch jede Spur des Verwesungsgeruches fehlte. Die Haut der
Hände, der Fnsse und der Kniee der Art zusammengeschrumpft, wie
man sie bei Personen zu finden pflegt, welche die genannten Theile
lange im Wasser gehabt haben (z. B. bei Wäscherinnen); die übrige
Haut des Körpers war von dieser Schrumpfung frei. Das Gesicht
war bläulich roth und etwas gedunsen; die Bindehaut der Augen
etwas injicirt. Aus dem Munde und der Nase floss beim Aufheben
ein schwach röthlicher Schaum und Jauche hervor. In den Weich-
theilen des Schädels befanden sich 6 grössere und kleinere Ecchy-
mosen; die Weichtheile übrigens nicht blutreicher, als gewöhnlich.
Die Gefasse der harten Hirnhaut ungemein blutreich, besonders die
Venen, so dass die Oberfläche der harten Hirnhaut dicht mit dunkeln
Blutstropfen übersäet war. Die Simis der harten Hirnhaut von Blut
strotzend. Das Gehirn selbst nicht blutreicher, als gewöhnlich. Die
Farbe der Lungen war beiderseits dunkelblau und durchweg stark
marmorirt. Beim Durchschneiden derselben drang überall eine Menge
dunkeln, flüssigen Blutes unter zischendem Geräusch in die Schnitt-
fläche; das Parenchym der Lungen war von dunkelblaurother Farbe,
schwammiger Consistenz und durchweg mit dunkelem Blute durch-
setzt. Das rechte Herz war von dunklem, flüssigem Blute strotzend,
das linke leer. Die Luftröhre enthielt etwas röthlichen Schaum, der
Kehldeckel stand in die Höhe, die Schleimhaut ' der Luftröhre nicht
unnatürlich geröthet. Das Blut in den Gefassen der Brust vollkom-
men flüssig. Der Magen war stark gefüllt und verbreitete einen star-
ken Spirituosen Geruch. Der Tractus des Darmcanals normal, nament-
*
Arsenik-Vergiftung und Ertränken. 187
lieh nirgends Gonrosionen oder Entzundungsstellen. Die Blutgefässe
des Unterleibes, besonders die Venen, waren von Blut strotzend; das-
selbe war in den Venen völlig flüssig, in den Arterien theilweise
coagulirt.
Der Magen mit seinem Inhalte, einige Stücke der Ge-
hirnbasis und des kleinen Gehirns, die Milz, so wie ein
Theil der Leber, waren behufs der chemischen Analyse asser-
virt. Der Bericht über dieselbe vom 1. December 1857
lautete folgendermaassen :
Die den Unterzeichneten mittelst ProtocoUs vom 19* No-
vember a. c. übergebenen Körpertheile, nämlich Theile des
Gehirns (in einem versiegelten Töpfchen), ein Theil der Le-
ber und die Milz (beides in einem andern versiegelten Töpf-
chen), und endlich der Magen mit seinem Gesammtinhalte
(in einer versiegelten Schweinsblase enthalten) wurden am
20. November a. c, entsiegelt und gleichzeitig der chemi-
schen Untersuchung unterworfen, deren Resultat wir nach-
stehend vermerken:
L Das Gehirn. Die entnommenen Theile wogen
5 Unzen und 6 Drachmen. Zwei und eine halbe Unze wur-
den in Arbeit genommen, und zwar wurde die Masse mit
durch Chlorwasserstoflfsäure angesäuertem destillirten W^asser
Übergossen, iiltrirt und mit Schwefelwasserstoftgas behan-
delt. Die dadurch gebildeten geringen Flocken rührten nur
von organischen Substanzen her, da weder im Mir^A'schen
Apparate, noch durch salpetersaures Silber eine Reaction
hervorgerufen wurde. Aus der alkalischen Lösung wurde
durch Schwefelwasserstoflfgas nichts gefällt. Der geringe,
durch Abdampfen erhaltene Rückstand gab nach dem Glü-
hen geringe Reaction auf Phosphorsäure.
IL Die Leber. Die zu vorliegendem Zwecke ent-
nommene Masse wog 5 Unzen und 3 Drachmen. Dieselbe
wurde mit destillirtem Wasser übergössen, mit Chlorwasser-
stoffsänre angesäuert und einige Male aufgekocht. Die ab-
13*
188 Arsenik-Vergifhmg und Ertranken.
geseihte Flüssigkeit war zähe und unfiltrirbar; deshalb wurde
sie eingedampft und mit conceutrirter Salpetersäure bis zur
vollständigen Oxydation der organischen Substanzen behan-
delt. Die mit destillirtem Wasser verdünnte, klar tiltrirte
Flüssigkeit zeigte nach längerm Behandeln mit Schwefel-
wassefstoffgas eine stark gelbe Färbung, die sich nach mehr-
stündiger Digestion als gelbes Präcipitat absetzte. Der auf
dem Filter gesammelte, ausgewaschene Niederschlag wurde
mit conceutrirter Salpetersäure bis zur Auflösung behandelt.
Ein Theil wurde in den Marsh'^chen Apparat getragen und
gab mehrere deutliche Arsenikspiegel, wovon die beiliegen-
den Porzellanstückchen in dem Schä,chtelchen Nr. 1. den
Beweis liefern. Ein zweiter Theil wurde mit salpetersau-
rem Silberoxyd behandelt und lieferte den charakteristischen
gelben Niederschlag, der durch Sättigung mit Ammoniak
noch deutlicher hervortrat, sich aber im Ueberscliuss von
Ammoniak und conceutrirter Salpetersäure schnell und
leicht löste.
Ein Zusatz von schwefelsaurem Kupferoxyd gab mit
dem geringen Reste eine deutlich grüne Färbung, wodurch
unzweifelhaft die Anwesenheit von Arsenik nachgewiesen
war. Die von dem gelben Niederschlage klar abtiltrirte
Flüssigkeit wurde alkalisch gemacht und gab mit Schwefel-
wasserstoflFgas behandelt keine Reaction. Eingedunstet und
geglüht, zeigten sich geringe Spuren von Kalk und Natrum.
Die andere Hälfte wurde zur quantitativen Bestimmung
• • •
benutzt. Sie lieferte 3.^^ Gran Schwefelarsen = 2,801 As,
in dem Glasröhrchen enthalten.
Der durch destillirtes, mit Chlorwasserstoflfsäure ange-
säuertes Wasser ausgezogene Rückstand wurde getrocknet,
mit getrocknetem Salpeter gemengt, in einem Tiegel ver-
pufft, und gab nach Behandeln mit Schwefelwasserstoff eine
schwache Reaction auf Arsenik, wodurch wir veranlasst
Arsenik- Verfi;iftiiüg nnd Ertränken. 189
wurden, das Verbrennen des Rückstandes bei der quantita-
tiven Untersuchung vorzunehmen, die gewonnenen Flocken
zu sammeln und auf das für die quantitative Bestimmung
bestimmte Filter zu sammeln.
III. Die Milz wog 4 Unzen und 2^ Drachmen.
Zwei Unzen wurden auf dieselbe, ad I. und II. angegebene
Weise mit Schwefelwasserstoifsäure und concentrirter Sal-
petersäure behandelt. Nach Zuleitung von Schwefelwasser-
stoffgas wurde derselbe gelbe Niederschlag, wie bei der
Leber, erhalten, der sich ebenso gegen die angegebenen
Reagentien verhielt, d. h. er gab in dem i/a*Vi'schen Ap-
parat den unzweifelhaften Arsenikspiegel (Porzellanstück-
chen Nr. 2.) ; ein zweiter Theil, mit salpetersaurem Silber-
oxyd behandelt, lieferte jenen charakteristischen gelben
Niederschlag, der sich in Ammoniak und concentrirter Sal-
petersäure (im Ueberschuss) schnell und leicht löste, wäh-
rend schwefelsaures Kupferoxyd jenen grünen Niederschlag
zeigte', wodurch die Anwesenheit von Arsenik unzweifelhaft
nachgewiesen war.
Bei der quantitativen Untersuchung wurden 1| Gran
Schwefelarsen gewonnen, welches in dem Glasröhrchen
■ • •
Nr. 2. beiliegt. 1| Gran Schwefelarsen sind = 1,069 As.
IV. Der Magen. Bevor derselbe zur chemischen
Analyse in Arbeit genommen wurde, nahm der unterzeich-
nete Physicus nach Entfernung der Contenta die genaue
Untersuchung der innern Magenwand vor, wobei sich ergab,
dass zwar sowohl in der Gegend der Cöwrfia, als des Pylo-
ruB eine starke Gefässentwickelung sich durch stärkere Rö-
thung deutlich erkennen liess, dass aber Corrosionen oder
entzündete Stellen oder andere Abnormitäten nicht vorhan-
den waren.
Das Ergebniss der chemischen Untersuchung war fol-
gendes :
190 Arsenik-Vergiftniig nnd Ertränken.
Der Magen nebst Inhalt wog 4 Pfand und 6 Unzen.
Zwei Pfunde wurden in Arbeit genommen und wie oben
mit GhlorwasserstofiBäure behandelt. Die zähe und uniil-
trirbare Masse wurde iu eine Retorte getragen, mit concen-
trirter Chlorwasserstoffsäure Übergossen und längere Zeit im
Ghlorcalcium-Bade im Kochen erhalten, nachdem eine Vor-
lage vorgelegt worden. Die Masse, welche durch diese
Operation sich etwas geklärt hatte, wurde mit Hinzunahme
des in der Vorlage gesammelten Destillats iiltrirt und wäh-
rend 24 Stunden mit Schwefelwasserstoffgas behandelt. Der
erhaltene umfangreiche Niederschlag wurde, nachdem die
ganze Flüssigkeit während mehrerer Stunden in einem mas-
sig erwärmten SandbaSe digerirt war, auf einem Filter ge-
sammelt und nachstehende Operationen damit vorgenommen :
Nachdem der auf dem Filter gesammelte Niederschlag
mit Salpetersäure bis zur Abscheidung des Schwefels ge-
kocht und filtrirt war, wurden nachstehende Versuche an-
gestellt:
1) Ein Theil wurde in den i/ar«A'schen Apparat ge-
bracht, welcher sofort unzweifelhafte Arsenikspiegel lieferte,
welche in dem Schächtelchen Nr. 3. beiliegen.
2) Ein Theil, mit salpetersaurem Silber behandelt, gab
den charakteristischen gelben Niederschlag, der sich sowohl
im üeberschuss von Ammoniak, wie in Salpetersäure löste,
als auch durch Schwefelwasserstoffgas daraus wieder fall-
bar war.
3) Ein Theil wurde mit schwefelsaurem Kupfer behan-
delt und gab jenen eigenthümlichen grünen Niederschlag,
nachdem einige Tropfen Ammoniak zugesetzt waren. In
einem üeberschuss von Ammoniak und Salpetersäure löste
er sich vollständig auf.
4) Mit Kalk Wasser gemengt, entstand ein weisser, Jn
Chlorammonium löslicher Niederschlag.
Arsenik-Vergiftang und Ertränken. 191
5) Essigsaures Blei gab ebenfalls einen weissen Nieder-,
schlag nach der Sättigung mit Ammoniak.
6) Der letzte Rest mit Ammoniumsulphhydrat, im üeber-
schuss digerirt, löste sich vollständig auf und fiel nach Zu-
satz von Ghlorwasserstoffsäure ein . Niederschlag mit der
eigenthümlich gelben Farbe nieder.
Behufs der quantitativen Analyse wurde 1 Pfund und
1^ Drachmen in Arbeit genommen und in der schon mehr-
fach angegebenen Weise mit Ghlorwasserstoffsäure extrahirt,
der ungelöste Rückstand getrocknet und mit Salpeter ver-
pufft. Sämmtliche Auszüge lieferten nach dem Behandeln
mit Schwefelwasserstoffgas und Sammeln auf einem getrock-
neten Filter 28,5 Gran Schwefelarsen (^ 22,905 As), d. h.
es wurden in dem Magen 91,620 Gran Arsenik gefunden.
Labiau, den 1. December 1857.
Der Kreis -Physicus Der Apotheker
Dr. Wahher. J, Schultz.
Das Gutachten weist zunächst nach, dass die nächste
Todesursache Erstickung, die entfernte Ertrinken gewesen,
dass also hier ein Ertrinkungstod und nicht ein Yergiftungs-
tod Statt hatte.
Wir übergehen der Raumersparniss wegen diese Aus-
führung, da das Thatsächliche klar aus den mitgetheilten
Daten des Sections-ProtocoUs einleuchtet.
Sodann fährt das Gutachten fort:
Mit der Feststellung der nächsten und der entfernten
Todesursache ist eigentlich die Aufgabe der unterzeichneten
Sachverständigen gelöst, da ihnen specielle Fragen zur Be-
antwortung nicht vorgelegt worden sind. Da indess in dem
vorliegenden Falle nicht nur der Verdacht einer Vergiftung
vorliegt, sondern das Gift auch factisch bei der chemischen
Untersuchung, deren Resultat in dem Berichte vom 1. De-
cember a. c, niedergelegt worden ist, als Arsenik nachge-
192 Arsenik- Vergiftnng and Ertränken.
wieseii »t, so halten wir es für unsere Pflicht, anch hier-
über das Notbige anzufahren.
Zwar versteht es sich yon selbst, dass in dem vorlie-
genden Falle von einer wirklich eingetretenen Vergiftung
dnrch Arsenik nicht die Rede sein kann, da eben der Tod
nachgewiesenermaassen durch unzweideutige Merkmale sieh
als Erstickungstod dargestellt hat, durch Merkmale, welche
mit denen, die eine Arsenik-Vergiftung zurückzulassen pflegt,
nichts gemein haben, als höchstens die Flüssigkeit der
Blutmasse. Allein wir wollen zum nähern Verstandnisse
und zur Erklärung des auflallend scheinenden Umstandes,
dass der Tod hier, wo nachgewiesenermaassen eine sehr
grosse Gabe Arsenik einverleibt wurde, nicht erfolgt ist, das
Nöthige anfuhren.
Es sind einmal Fälle bekannt, in denen der Tod trotz
grosser Gaben von Arsenik erst nach verhältnissmässig lan-
ger Zeit erfolgte; so fuhrt z. B. Wagner^) einen Fall an,
in welchem, wiewohl fast 1 Theelöffel Arsenik genommen
wurde, der Tod erst 24 Stunden nachher erfolgte; ferner
erwähnt Orßla^) eines Falles, in welchem 3 Drachmen Ar-
senik um 8 Uhr Morgens genommen wurden, die ersten
Vergiftungs- Symptome aber erst um 1 Uhr und der Tod
i Stunden später erfolgte. Sodann giebt es Fälle, in denen
man diejenigen pathologischen Veränderungen im Nahrungs-
canal, wie man sie bei dieser Intoxication gewöhnlich vor-
aussetzt, bei der Section durchaus vermisst. So berichtet
z. B; Metzger^) von einem Falle, in welchem bei völliger
Unverletztheit des Magen^ und Darmcanals in dem ersten
Organe ^ Unze Arsenik gefunden wurde. Einen ähnlichen
1) Jahresbericht für die practische ünterrichtsanstalt für die
8t.-A.-K. u. 8. w. 1834, S. 33, und 1836, S. 32.
2) Archivoß gc'm^rales de mdd. 1823. ßd. 7, S. 14.
8) Materialien für die St. - A. - K. Th. n., S. 95.
Arsenik-Vergiftung und Ertränken. 193
Fall erzählt Lacorde *), während in den oben angeführten
Fällen von Wagner und Orßla gleichfalls keine Entzündüngs-
spuren in den Digestionsorganen aufgefunden wurden.
Vielfältige Erfahrungen und Versuche sprechen dafür,
dass der Arsenik theils corrosiv, theils lähmend auf das
MeduUarsystem wirke, und dass die corrosiven Erscheinun-
gen, wenn sie überhaupt eintreten, besonders da erscheinen,
wo die Einwirkung eine langsame war, während die Ner-
venlähmung bei schneller Aufsaugung erfolgt; ob diese aber
schnell oder langsam eintritt, das hängt von einer Menge
concurrirender Umstände ab, theils von dem Einverleibungs-
Organ, theils von der Quantität, theils und namentlich von
der Löslichkeit des Giftes, d. h. davon, ob der Arsenik be-
reits in Auflösung gereicht worden oder, wenn nicht, ob
der Magen und sein Inhalt der Art war, dass er die Auf-
lösung begünstigte. Jedenfalls erfolgt die Aufsaugung des
nicht in aufgelöstem Zustande gereichten Arseniks um so
langsamer, je mehr der Magen Eiweiss, Fette u. s. w. und
je weniger Flüssigkeit er enthält. In dem vorliegenden
Falle wog der Magen, wie in dem Berichte über die che-
mische Untersuchung angegeben war, 4 Pfand und 6 Unzen,
enthielt also eine Masse Speisebrei und im Verhältniss zur
Löslichkeit des Arseniks wenig Flüssigkeit — 1 Theil ist
in 66 Theilen löslich — , wenigstens zu wenig, um eine
schnelle Lösung zu begünstigen. Gleichwohl hatte eine
solche bereits factisch begonnen, da wir in der Leber
2,801 As und in der Milz 1,069 As gefanden haben, und
es bleibt deshalb auffallend, dass dessenungeachtet noch keine
Vergiftungs- Symptome eingetreten gewesen zu sein schei-
nen, was nur daraus zu_ erklären ist, dass in das Gehirn
1) Journ. de medec. 1187,
194 Arsenik-Yergiftiing und Ertränken.
noch kein Arsenik übergegangen, das Central-Nervensystem
also noch intact geblieben war.
Es bleibt uns schliesslich nur noch die Bemerkung-
übrig, dass bei der bedeutenden Masse von Arsenik, welche
im Magen (91,620 Gran), in Milz (1,069. Gran) und Leber
(2,801 Gran), also in Summa 95,480 Gran, gefanden wor-
den ist, eine tödtliche Vergiftung jedenfalls eingetreten w&re,
wenn man dem Organismus die nöthige Zeit zur Assimila-
tion gelassen hätte, ohne seine Wirkung durch geeignete
Mittel zu' neutralisiren.
Fassen wir hiernach unser Gutachten kurz zusammen,
so lautet dasselbe folgendermaassen :
Die Defomcta ist jedenfalls an Erstickung im und durch
das Wasser (Tod des Ertrinkens) gestorben; sie hat vor
ihrem Tode eine solche Masse Arsenik (arsenige Säure) ver-
schluckt, dass der Tod durch denselben zweifelsohne erfolgt
wäre, wenn nicht vor dessen Eintritt der obige Ertrinkungs-
tod herbeigeführt worden wäre, und vorausgesetzt, dass die
Wirkung des Giftes nicht durch geeignete Mittel rechtzeitig
neutralisirt worden wäre.
(Unterschriften.)
Bei der öffentlichen Verhandlung der vorliegenden Sache
griff der Vertheidiger das Gutachten der Sachverständigen
an, indem er nachstehendes Promemoria einreichte und ein
Superarbitrium des Medicinal-GoUegii beantragte:
„In der Untersuchungssache wider G. und St ist in
dem Medicinal- Gutachten vom 13. December 1857 aufge-
stellt, dass
1) die Lösung des Arseniks in dem Körper der Defuncta
bereits factisch begonnen hätte, als sie den Erstickungs-
Arsenik-Yergiftang und Ertränken. 195
tod durch Ertränken erlitt, da bei der Section in Le-
ber und Milz Arsen gefimden worden;
2) der Tod der Frau St. in Folge des genossenen Arse-
niks nothwendig erfolgt wäre, wenn nicht vor des-
sen Eintritt der Ertränkungstod herbeigeführt worden
wäre.
Diese beiden Sätze werden zur Entlastung des ange-
klagten St^ beziehendlich der angeklagten 6. angefochten.
Es wird behauptet:
ad 1. dass im Allgemeinen es sich überhaupt nicht mit
Bestimmtheit feststellen lässt, ob die Lösung des Arseniks
schon vor dem Eintritt des Ertränkungstodes begonnen hatte,
da die Lösung auch nach dem Ertränkungstode bis zum
üebertritt des Arsens in Milz und Leber Statt gehabt haben,
die Lösung also in dem Leichnam und nicht in dem leben-
den Körper erfolgt sein könne, und dass im Bedondern im
vorliegenden Falle in Berücksichtigung:
a) der zwischen dem Genuss des Giftes und dem Er-
tränkungstode resp. der Section verflossenen Zeit,
b) der im Sections-ProtocoUe festgestellten Beschaffen-
heit des Mageninhalts der De/uncta in quali et quanto^
c) des in dem Medicinal- Gutachten vom 13. December
selbst beregten ümstandes, dass vor dem Ertränkungs-
tode kein Yergiftungs - Symptom eingetreten zu sein
scheine,
es höchst wahrscheinlich, mindestens möglich ist, dass die
Lösung des Arseniks bis zur Verbreitung über den Magen
hinaus, also bis auf Milz und Leber, erst nach dem Er-
tränkungstode, also im todten Körper der Frau St.y statt-
gefunden hat.
ad 2. wird behauptet (hier von keinem Interesse) u.s. w.*
(Unterschrift.)
196 Arsenik- Vergiftung und Ertränken.
Der Gerichtshof stand, nachdem er den unterzeichneten
Physicus, der das Gutachten vom 13. December aufrecht
hielt, gehört hatte, von der Einholung eines Superarbitrii
ab und wies somit die Vertagung der Sache zurück. Gleich-
wohl trat diese dennoch ein, weil ein nach dem Beschluss
des Gerichtshofes wichtiger Zeuge fehlte.
.Die Zwischenzeit bis zur nächsten Sitzung benutzte nun
der Unterzeichnete dazu, um auf dem Wege des Experi-
ments festzustellen, ob der Arsenik in der hier in Rede
stehenden Zeit, d. h. in 4{ Tagen, in einem todten, noch
nicht verwesten Körper aus dem Magen in Leber und
Milz übergeführt werden könne. Dass in Folge der Fäul-
niss, wodurch die arsenige Säure in Arsenwasserstoffgas ver-
wandelt wird, auch die Nachbarorgane durchtränkt werden,
ist bekannt. Es liegen aber unseres Wissens keine Erfah-
rungen vor, welche feststellen, von welchem Zeitpunkte ab
nach erfolgtem Tode der vorher einverleibte Arsenik aus
dem Magen auf dem Wege der Exosmose weiter geführt
wird.
Wir folgten bei unsern Experimenten ganz dem oben
mitgetheilten Hergange.
Zu dem Ende brachten wir drei Kaninchen gleiche
Quantitäten Arsenik bei (jedem 2 Gran). Nach kurzer Zeit
ersäuften wir dieselben, Hessen zwei von ihnen 4| Tage in
kaltem Wasser liegen, während wir das dritte der Luft aus-
setzten. Die beiden ersten wurden nach 4| Tagen ohne
Verwesungsspur gefunden, geöffnet und Leber und Milz ganz
nach der .im Bericht vom 1. December 1857 angegebenen
Methode untersucht, aber keine Spur von Arsenik gefunden.
Das dritte Kaninchen wurde, wie gesagt, der Verwesung
anheimgegeben. Als diese eingetreten war, wurden die ge-
dachten Organe auf Arsenik geprüft und sowohl in Leber
Arsenik-Vergiftung und Ertränken. 197
als Milz derselbe nachgewiesön. Einem vierten Kaninchen
wurde nun eine sehr kleine Quantität Arsenik beigebracht,
um es möglichst lange am Leben zu erhalten. Nach einer
Stunde, als Erbrechen und taumelnder Gang eintrat, wurde
es ersäuft und sofort Leber und Milz untersucht und. in bei-
den Arsenik gefunden.
Wir glauben nun aus diesen Experimenten, die aber
jedenfalls bedeutend vervielfältigt werden müssten, um ihnen
die nöthige Sicherheit zu geben, folgende Schlüsse ziehen
zu können.
1) Der Arsenik wird, wenn er dem lebenden Organis-
mus einverleibt wird, sofort resorbirt, indess, wie natürlich,
rascher oder langsamer, je nachdem die Bedingungen seiner
Lösung günstiger oder ungünstiger sind.
2) Die Resorption sistirt mit dem Augenblick des
Todes, und erst mit dem Eintritt der Verwesung, wenn
durch dieselbe die arsenige Säure in Arsenwasserstoff unl-
ge wandelt wird, beginnt der Uebergang in die Nachbar-
Organe auf dem Wege der Exosmose.
3) Wenn man in einem noch nicht verwerten (ganz
frischen) Leichnam in Leber und Milz Arsenik findet, so
muss dieser bereits im Leben in diese Organe übergeführt
worden sein.
4) Wenn man in einem verwesten Körper in den ge-
dachten Organen Arsenik findet, so kann er durch die
Verwesung (Verwandlung des Arsens in Arsenwasserstoff-
gas) in diese Organe gedrungen sein, er kann aber auch
bereits im Leben dorthin gekommen sein unter Bedin-
gungen, die sich nachträglich oft nicht feststellen lassen
werden.
198 Arsenik-Yergiftnog und Ertränken.
Bei der demnächst folgenden Schwurgerichts -Sitzung
nahm der Yertheidiger seine Einwendungen gegen unser
Gutachten zurück, und die Angeklagte 6. wurde wegen
Tödtung eines Menschen „mit Absicht, aber ohne üeber-
legung*, und der Angeklagte St wegen Theilnahme an
dem Verbrechen zu lebenslänglicher Zuchthausstr^e ver-
urtheilt.
199
12.
üeber Tergiflnng durch giftige Pilze.
Vom
Dr. Roqnette zn Rheden.
Die Pilze, von denen eine giftige Einwirkung auf den
thierischen Organismus nachgewiesen ist, gehören den Gat-
tungen Againcus und Boletus an.
Wir glauben die Beschreibung der Arten hier füglich
umgehen zu dürfen, und wollen uns zunächst darauf be-
schränken, die giftigen Erscheinungen anzufahren, welche
an den einzelnen Arten nachgewiesen sind.
Der unter allen Pilzen am meisten alß giftig bekannte
ist wohl der
Agaricus muscarius L., Fliegenpilz.
Die schädliche Wirkung, welche er auf Fliegen ausübt, hat
ihm den Namen gegeben, und ist es ein volksthümliches
Mittel, den Pilz zerschnitten, mit Milch eingeweicht, als
Fliegengift zu verwenden. Wissenschaftliche Experimente
an Wirbelthieren haben folgende Resultate geliefert:
Faulet (nach Orßa^ Lehrbuch der Toxicologie) brachte
einem Hunde 3 Drachmen von diesem Pilze unter das Fut-
ter. Es trat nach drei Stunden Zittern und Schwäche der
Extremitäten ein; nach etwa vier Stunden verfiel er in
Stupor, Die Respiration wurde langsam und tief; ab und
zu liess er ein Wehgeheul hören. Während 8 bis 9 Stunden
200 Vergiftung durch Pilze.
dieses Zastandes traten keine Entleerungen ein. Eine Dosis
Essig verschlimmerte die Symptome. 3 Gran Brechwein-
stein, welche 1*2 Stunden nach Eintritt der ersten Symptome
gegeben wurden, blieben ohne Erfolg. Zwei Stunden spä-
ter erhielt er Olivenöl, und nach 5 Stunden erbrach er einen
Theil der Pilze. Durch Milch wurde er binnen wenigen
Tagen geheilt.
Bulliard (nach Dr. Phoebua^ Deutschlands kryptoga-
mische Giftgewächse) sah alle seine vergifteten Thiere bin-
nen 6 bis 10 Stunden sterben. Die Hunde sollen den Pilz,
wenn er mit Butter gebraten ist, begierig fressen.
Roquea (Phoebus) hat drei Hunde mit dem Pilze ver-
giftet. Einer wurde betäubt, schwach, erbrach sich nicht
und starb. Die Hirngefässe wurden blutreich gefunden, die
Magenhäute leicht entzündet. Ein anderer zeigte Schwin-
del, krampfhafte Bewegungen; erbrach sich aber und er-
holte sich bald. Ein dritter, grosser Hund reagirte auf
mehrere Exemplare wenig.
Genauere Beobachtungen theilt Krombholtz mit (Ä^,
Naturgetreue Abbildung und Beschreibung der Schwämme.
Prag 1831.). Diese betreffen Experimente an 10 Thieren,
von denen eine Katze, zwei Hunde, zwei Finken, eine
Taube, ein Coluber tesseUitus Mlkan, zwei Laubfrösche, ein
Hecht, bis auf die beiden Finken, alle starben. Es wur-
den ihnen die Pike in Milchabkochung dargereicht. Der
Taube und einem Laubfrosche wurde der ausgepresst^ Saft
in das Zellgewebe unter der Rückenhaut eingespritzt. Die
Resultate der Versuche stellt Krombholtz folgendermaassen
zusammen: Die Erscheinungen der Vergiftung zeigten sich
bei allen Thieren sehr bald, höchstens nach \ Stunde, in
den meisten Fällen schon während des Versuches selbst.
Es stand der Grad ihrer Heftigkeit in Abhängigkeit von
der Grösse der Gabe und dem Grade der Saturirung der
Vergiftung durch Pilze. 201
Abkochung. Die Warzen des Hates scheinen am heftigsten
zu wirken, weniger der Hut selbst und am wenigsten der
Stengel. Kleine oder sehr verdünnte Gaben veranlassten
geringe Zuf&Ue. Die Thiere wurden trauvig, ihr Aussehn
verrieth Missbehagen. Es folgte bei den meisten Erbrechen
oder häufige Darmausleerung, auch beides zugleich, wonach
die Thiere binnen \ bis 1 Stunde sich vollkommen erholten.
Die Einspritzung des Saftes in das Zellgewebe rief die hef-
tigsten Zufälle hervor. Gonstante Symptome waren : Unruhe,
Streben zu entfliehen, Furcht, allgemeines Zittern, Schwin-
del, erweiterte Pupillen, vermindertes Sehvermögen, Ex-
ophthalmus, endlich Stumpfheit der Sinne, erschwertes
Athmen, Zuckungen verschiedener Glieder und endlich Läh-
mungserscheinungen, besonders des Hintertheils. Als we-
niger constant werden die vermehrten und unwillkürlichen
Evacuationen bezeichnet, wie Erbrechen, Durchfall, Harnen,
Speichelfluss. Der Tod trat bald ruhig, bald unter Convul-
sionen ein. Die Katze und die Hunde starben an allgemei-
nen Zuckungen ; beim Hecht erschienen örtliche Zuckungen
der Kiemendeckel, Kiemenbögen und Kiemenblättchen. Die
Seetion ergab bei adlen BlutuberfuUung verschiedener Organe.
Bei dem Frosche war das Herz blutleer. Bei den warm-
blütigen Thieren war das Blut in halb geronnenem, bei den
kaltblütigen in ganz flüssigem Zustande. Bemerkenswerth
ist noch, dass Fliegen, welche einige Augenblicke an den
Excrementen der vergifteten Taube verweilt hatten, bald
darauf rings herum todt geftinden wurden.
Von den Rennthieren erzählt iS^ZZ^ (Beschreibung von
Kamtschatka), dass sie gern Pilze fressen, und dass sie
durch den Genuss des Fliegenpilzes zuerst aufgeregt, dann
aber betäubt werden und in tiefen Schlaf verfallen. Weiter
soll* der Pilz keine Schädlichkeit ausüben. Wenn das Renn-
thier aber in diesem Zustande getödtet und das Fleisch ge-
Ca»ptr, Vjsehrft. L ger. Med. XXIL S. 14
202 Veigiftiuig doreh Pike.
noBsen irird, so soll dieselbe Wirkimg beim Mensdien eia-
treten.
In Betreff der Vw giftang durch Agaricus miuecariua bei
Menschen theilt •Patl/^^ mehrere FUIe mit Die Symptome
bestanden in Ekel, Erbrechen, Angst, einem zusammen-
schnürenden Gefuhla im Halse. Sie fielen in Stupor. Auf
eine Dosis Brechweinstein und heisses Wasser traten Ent*
leerungen nach oben und unten ein, und die SchwSnune
gingen ab. Einige litten an Ünterleibsschmerzen, und wur-
den mit erweichenden Mitteln und Opiumpr¶ten be-
handelt.
Femer erzählt Vadrat (ObservatUma sur Vempaiaaimemeni
par les Champignons etc. dies, inaug. Paris 1814.) nach
Btoebus: Als das 2te Corps der grossen französischen
Armee 1812 vor Polozk in der Nähe pilzreicher Nadelholz-
wälder lagerte, ereigneten sich zahlreiche VergiftungsMe,
welche der Verfasser dem Genüsse der . Fliegenpflze zu-
schreibt.
Krambholz erwähnt eines Falles von einem alten Tage-
löhner, welcher eine wässerige Abkochung von 4 Fliegen-
pilzen als Hausmittel gegen eine langwierige Odemat&se
Fussgeschwulst getrunken hatte. Die Section ergab Blutreich-
thum in der Haut, im Hirn und Rückenmark, auch in den
Lungen. Die Hirnhöhlen und Schädelhöhle enthielten viel
Serum. Schlund, Speiseröhre, Magen und Dünndarm waren
etwas geröthet. Dieses Sections-Resultat wird aber zweifel-
haft dadurch, dass besagter Tagelöhner schon anderweitig
lange krank war.
Nach Letellier sollen die Vergiftungserscheinungen 1
bis 2 Stunden nach der Auftiahme des Pilzes, nach Andern
erst 6 bis 12 Stunden eintreten. Eine der Haupterscheinungen
soll die Narcose sein, der oft grosse geistige und körperliche
Aufregung, Zuckungen vorhergehen. Entzündliche Erschei-
Vergiftung durch Pilze. 203
nangen, wie heftige Schmerzen im Unterleibe, violente Aus*-
leeruDgen sollen zu den Seltenheiten gehören ; das Erbrechen
namentlich ist keine constante Erscheinung, und soll sogar
durch Brechmittel oft nur schwer oder gar nicht hervorge-
rufen werden können. So soll eine Prinzessin Conti, durch
Fliegenpilze vergiftet, 27 Gran Brechweinstein an einem
Tage ohne Erfolg genommen haben, bis endlich ein Tabaks-
klystier Ausleerungen nach oben und unten bewirkte. (Pau-
lei; S. Orßa Tox. 384.)
Der Tod scheint meist nach 12 bis 48 Stunden, und
zwar bisweilen unter Gonvulsionen einzutreten. Die völlige
Genesung soll sehr langsam erfolgen.
Nicht uninteressant erscheinen uns die Notizen, welche
Fhoebus aus Steller y Oeorgi^ Falk und v. Langsdorf zusam-
menstellt, dass nämlich einige sibirische Völkerschaften sich
des Fliegenschwammes bedienen, um sich zu erheitern, zu
begeistern oder zu berauschen. Die Eamtschadalen sol-
len die Fliegenpilze in den heissesten Monaten sammeln,
und behaupten, dass diejenigen, welche auf dem Stiel und
in der Erde von selbst vertrocknen, stärker narcotisch
wirken, als diejenigen, welche man frisch sammelt und, auf
eine Schnur gezogen , an der Luft trocknen lässt. . Femer
sollen die kleinern, hochrothen, und mit vielen weissen
Warzen bedeckten , narcotischer sein , als die grossem.
Im frischen Zustande wird der Pilz selten genossen, sondern
getrocknet und ungekaut verschluckt Gekaut soll er Ma-
genbeschwerden verursachen. Die Wirkung soll weniger
stark sein, wenn der Pilz frisch gekocht in Suppen oder
Saucen genossen wird. Zum • Getränk werden Auszüge
mit Milch oder Wasser gemacht. Auch wird der Pilz in
den Saft ausgepresster Blaubeeren eingeweicht, und soll
diese Zusammenstellung die Wirkung eines berauschenden
Weines haben. Die Empfänglichkeit fär die Narcose soU
14»
204 Vergiftung durch Pilze.
nicht nur bei yerschiedenen Individaen eine yerschiedeiie
Mn, sondern es sollen bei denselben Menschen grosse Ab-
weichnngen yorkommen, so dass oft ein Pilz eine sehr starke
Wirkung erzielen kann, ein andermal 10 bis 20 Püze eine
nnr geringe Beaction wahrnehmen lassen.
Die Wirkung beginnt nach \ Stande bis 2 Standen,
zuweilen mit Ziehen und Zucken in den Muskeln oder mit
Sehnenhupfen. Es entsteht dann Lustigkeit, und wenn in
erhöhtem Grade auch etwas Schwindel eintritt, so äussert
sich im Allgemeinen doch eine ungewöhnliche Zunahme
der körperlichen und geistigen Kräfte. Wie nach Spirituo-
sen wird auch zuweilen eine traurige Stimmung beobachtet,
und es kommt in manchen Fällen sogar zu Erbrechen, Durch-
&11, Speichelfluss , starken Gongestionen nach dem Kopfe,
zuweilen sogar zu Gonvulsionen. Es sollen manche Perso-
nen gegen sich selbst wüthen, und soll diese Erscheinung
jedesmal eintreten, wenn im berauschten Zustande der Bei-
schlaf vollzogen wird. Die Nüchternen suchen deshalb die-
ses zu verbäten. Nachdem der Zustand mehrere Stunden
gedauert, — es wird die auffallende Länge von 12 bis 16
Stunden angegeben, — tritt Schlaf ein. Nacd dem Schlafe ist
eine grosse Ermattung ftihlbar, der Kopf ist schwer, das Ge-
sicht aufgedunsen. Sie erinnern sich des im Rausche Vollfähr-
ten nicht. Nur bei übermässigem Genüsse kann nach 6 bis
8 Tagen der Tod unter Gonvulsionen erfolgen, in einem
Zustande der ünbesinnlichkeit und Sprachlosigkeit. Viele
der dortigen Leute behaupten, dass der massige Gebrauch
niemals nachtheilig wirke, dass der Fliegenpilz den Vorzug
vor dem Branntwein habe, dass er weniger Blutwallung
mache, und kein Kopfweh, oder sonstiges üebelbefinden
hinterlasse; doch stimmen die Schriftsteller, welche uns
diese Mittbeilungen überbracht, darin überein, dass der häufige
Genuss des Pilzes die Leute wenigstens im Alter stumpfsinnig
Vergiftung durch Pilze. 205
und dämm mache. Eine eigenthfimliche Erscheinung ist,
dass der Harn der Berauschten eine berauschende Eigen-
schaft erhält. Die Völker des ganzen kalten Klimans müssen
die Pilze von den Russen und Eamtschadalen kaufen, und
da der Artikel oft ein rarer ist, trinken sie die n&chsten
Tage nach dem Genüsse der Pilze vom eigenen Harn, und
wiederholen so den Rausch einige Tage hindurch. Auch
trinken die Armen den Harn der Wohlhabendem, und soll
sich auf diesem Wege die Berauschung bis auf die 4te oder
5te Person übertragen lassen. Als Gegenmittel nach un-
mftssigem Genuss gelten Fett, Thran, Oel.
Nach der bisherigen Darstellung finden wir in der
Wirkung des Agaricua muacartua grosse Aebnlichkeit mit
der des Opiums ; aber mit dem Unterschiede, dass der Aga-
ricus muscarivs mehr auf das Rückenmark wirkt.
Die Versuche von Krombholzj betreffend die Einspritzung
in das Zellgewebe unter der Rückenhaut, sprechen dalur, dass
er schon durch die Berührung der Nervenausbreitung wirke;
doch müssen wir die Hauptwirksamkeit in eine Vergiftung
des Blutes legen, wofür die oft sehr langsam eintretenden
Symptome beim Menschen sprechen, ferner die Beobach-
tungen von dem Fleische der Rennthiere und dem Harne
der Sibirier.
Erwähnen müssen wir noch der verschiedenen Wirkung
bei verschiedenen Thierarten. So wird von den Schaafen
behauptet, dass sie den Pilz ohne Schaden fressen können,
und ist diese Behauptung auch auf das ganze „weidende
Vieh^ ausgedehnt worden. Der Fliegenpilz soll dem Rind-
vieh, welches ihn sehr gern frisst, nur in grossen Quantitäten
nachtheilig werden. Auch die Eichhörnchen fressen zuweilen
davon. Lenz gab ihn mit Milch und Semmel vermengt 3
Mäusen, ohne eine Wirkung zu sehen. Schaeffer (Vorle-
sungen. Regensburg 1759.) theilt mit, es sei ihm als ztfver-
206 Ye^lilhiiig durch Pilze.
]img „erz&hlt worden, dass vor einigen Jahren eine Bande
italienischer Comödianten diese Fliegenschwänune auf unse^
ren^ (Regensburg) „IMftrkten häufig eingekaoft, sie ohne
den mindesten Schaden gegessen, and noch dazu als recht
wohlschmeckend angerahmet habe. Sie hielten diesen Flie-
genschwamm f&r den Kaiserschwamm {Agar, caesqr.). Und
man sie gleich ihres Irrthoms za überfahren sachte, so blie-
ben sie doch aiif ihrer Meinung, and speiseten ihn so oft,
als sie denselben nur haben konnten.'' Diese Unschädlich-
keit hat man später wohl mit Recht durch eine zweckmäs-
sige, entgiftende Zubereitang erklärt. Wir werden sjAter
auf diesen Punkt zurückkommen, der uns in den stark wider-
sprechenden Angaben der Autoren über die grossere oder
geringere toxische Potenz der Giftpilze im Allgemeinen
einige Aufklärung verschafft. Dass das Virus auf verschie-
dene Thierfamllien verschieden influirt, kann uns eben nicht
so sehr befremden, da wir diese Erscheinung auch bei an-
dern Giften sich wiederholen sehen.
Ein zweiter Pilz, über welchen einige haltbare Experi-
mente und Erfahrungen vorliegen, ist der
Agaricua phalloldes. Es wird derselbe von Phoe^
buB mit dem HypophyUum albo^cärmum {Faulet) und Anumita
venenosa (JPersoan) identificirt. Orfila scheint in diesen Spe-
cialitäten nicht maassgebend zu sein, da er sich lediglich auf
die Angaben von Persoon und Faulet bezieht, und die oben
angegebenen, von den Autoren benannten Pilze als 2 ver-
schiedene Arten untersdieidet, während es sich in der That
nur um Yarietäten bandelt. In der Hauptsache unterschei-
den sich die Varietäten nach der Farbe, und wechseln die
Exemplare zwischen gelb, grau, grünlich und weiss. Fer^
eoon hat den mit grünem Hute auch Agaricua viaridie genannt.
Mit der grünen und gelben Varietät hat Faulet an Hun-
den experimentirt, und zwar haben diese den Pilz theils in
Yergiftang dorch Pilze. 207
Substanz erhalten, theils den aasgepressten Saft mit etwas
Wasser verdünnt, oder auch im w&sserigen und Spirituosen
Auszuge. Die Hunde starben nach einigen Scrupehi bis
einigen Drachmen nach 24 bis 30 Stunden.
Eine durch Destillation des ausgepressten Ss^es gewon-
nene Flüssigkeit zeigte sich wirkungslos, wogegen der Rück-
stand von der Destillation schon in kleinen Gaben tOdtUch
war. Die Symptome der Intoxication stellten sich nach 10
bis 12 Standen ein. Oft hatten die Thiere in der Zwischen-
zeit noch gefressen. Es zeigten sich Erbrechen, DurchÜEdl,
heftige Schmerzensäusserungen , Ermattung, Betäubung und
Kr&mpfe, unter welchen bisweilen der Tod erfolgte. An den
Leichen wurde Entzündung des Magens und Darmcanals
bemerkt.
Boques experimentirte mit der gelben Varietät an einer
Katze, die nach einem Quentchen Krämpfe und Durchfall
bekam. Eine andere Katze, die eine grössere Dosis erhielt,
starb unter Zuckungen.
Or/Ua erwähnt, dass man einem Hunde 3 Drachmen
dieses Schwammes, den er „giftige Amanita** nennt, unter
das Futter gab. Der Hund frass nach 5 Stunden wie ge-
wöhnlich. Nach 20 Stunden bekam er Würgen, und
Schwäche der Extremitäten. Er wurde schlaisüchtig , und
starb bald unter Krämpfen. Magen und Darmcanal waren
mit dickem gelblichen Schleim überzogen. Im Magen und
Duodenum hatte er einige bläulichrothe Flecken.
Faulet und Bullard erwähnen häu%er YergiftungsfiLlle
bei Menschen. Es sollen die Symptome 10 bis 12 Stunden
nach dem Genüsse der Pilze eingetreten sein, nachdem in
der Zwischenzeit andere Speisen eingenommen waren. Eine
heftige Narcose mit Entzündung der Bauch- und Schädel-
böhle sollen die hauptsächlichen Phänomene sein. Der
Tod soll nach 1 bis 2 Tagen entweder unter heftigen Kram-
208 Yergiftoiig dweh Pilse.
^D, oder nach tiefer BeOnbiing eingetreten sein. In 6e-
nesungsfUlen soUm die Nachkrankheiten Monate lang ge-
danert haben.
Einen von Carren mitgetfaeflten Fall von- einem Kna-
ben eitirt Phoebua. Carresi iand den Knaben am 3ten Tage
der Krankheit, ,,harter, stossender, nnregelmässiger Pub,
flammende Wangen, wild glänzende Angen^ Delirinm, hefti-
ger Hnsten, Dyspnoe, ffirchterliche Convalsionen, Trismns,
Tympanitis, Abdominalpnlsation; dann unter schreekUchem
Heulen augenblicklicher Tod. Carren hatte nur die letzten
Momente vor dem Tode beobachtet. Wenige Minuten na<»h
dem Tode war die Leiche ganz mit dunklen Striemen und
Flecken bedeckt.
Die Section ergab den Verdauungscanal „entzündet,
stellenweise brandig''. Die Luftwege, das Neurilem des
Plexus cei^vico-acapularü und alle Theile in der Schidel-
höhle waren „entzündet^.
Orfila theflt folgende Krankengeschichten mit:
Quäbert^ seinB Frau, seine Tochter, 2 Knaben und 1
DienstmSdchen assen Mittags schwdelgelbe Anumita. 3 Uhr
Nachts bekam die Frau Würgen, erbrach und fiel in Schlaf-
sucht, die nur vom Würgen unterbrochen wurde. Auf eine
Dosis Brechweinstein entleerte sie die SchwSmme, und fühlte
sich erleichtert. Nach 3 Wochen war sie hergestellt. Ein
Knabe und die Tochter, die keinen Brechweinstein bekom-
men hatten, starben unter denselben Zufällen. Der andere
Knabe und die Magd wurden in 3 Wochen hergestellt.
Quübert bekam Cholera morbtie mit schmerzhaften Kr&mpfen,
wurde aber gesund. Alle, mit Ausnahme von QuUbert^ hat-
ten Stupor gehabt. Kein Fieber.
Benoü, seine Frau und sein Kind assen um 6 Uhr
Abends weisse giftige Amanüa. Am n&chsten Tage traten
Würgen, Angst, h&ufige Ohnmächten ein. Yater und Kind
VergiftttJig dttreb Pilze. 209
erbrachen iiaeb einer starken Doste Breehweinstein. Das
Sind starb am 2ten Tage and gleich darauf der Vater.
Kurz vor seinem Tode hatte er grosse Angst und Sttqpor.
Deir Unterleib war aufgetrieben, die Extremitäten kalt, der
Puls klein und aussetzend. Die Frau hatte wegen emer
Mutterblutung keinen Bi^echweinstein genommen, erbrach
aber am 2ten Tage ganze Schwämme, die in gelblichem
Schleime wie aufgelöst waren. Am 3ten Tage erhielt sie
ein Abfahrmittel. Die Blutung trat wieder ein. Noch nach
6 Monaten litt sie an Kopf- und Magenschmerzen.
Ein Schwamm, den Faulet BypophyUum sanguineum
nennt, kann nach der Beschreibung nur eine Varietät des
Agaricua phallcüdes sein. OrJUa theilt davon folgende Kran-
kengeschichte mit aus den Mimoires de la eociiti royale de
mSdecme, 1780 u. 81. (Beobachtung von IHcco,) Eine
Familie, bestehend aus Vater, Mutter, 3 Knaben und einem
Mädchen, assen 2 Pfund dieses Schwammes mit Butter ge-
kocht Ein 7 jähriges Kind empfindet zuerst Schmerzen im
ünterleibe, und erhält Theriak; darauf die Mutter und der
ältere Sohn Magenschmerzen, Erstickungszufälle und Würgen.
Später in der Nacht erkrankte der Vater, der 2te Sohn ge«
gen 9 Uhr, und das Mädchen, welches wenig gegessen hatte,
erst Abends. Am nächsten Tage stiess das 7jährige Kind
unter heftigen ünterleibssehmerzen von Zeit zu Zeit heftige
Wehklagen aus, obgleich es in Lethargie lag. Der Un-
terleib war aufgetrieben. Gegen Mittag traten Krämpfe
ein, unter denen der Tod erfolgte. Magen und Gedärme
waren corrodirt, nahe am Pylorue bläulichrothe Flecken.
Das Colon enthielt lebende Würmer und einen Rest der
Schwämme.
Die Haupiklagen der Mutter bestanden in Angst und Gar-
dialgie. Der Unterleib war krampfhaft zusammengezogen.
Sie erbrach und bekam Suffocationen. Sie starb 18 Stun-
210 Vergiftniig dnrch PQs6.
den nach der Mahlzeit in tiefer Lethargie. * Die Unterleibs-
Organe sollen ähnliche Yer&nderangen , wie bei dem Kinde
gezeigt haben. Das ältere Kind starb nnter Krämpfen.
Die Section wurde unterlassen.
Bei der Tochter traten Ohnmacht, Erbrechen and zie-
hende Schmerzen im Magen ein. Ein Brechmittel woUte
sie nicht. In Pansen zeigte sich Schlnchzen. Ausserordent-
lich starker Durst Nach einem Aderlass schien Erleichte-
rung zu folgen; bald aber erschienen SuiFocationen, Schling-
beschwerden, Delirien. Sie starb am 3ten Tage in Lethar-
gie, nach iurchbarer Angst und Krämpfen. Die Section zeigte
dieselben Veränderungen. Das älteste der Kinder und der
Vater hatten dieselben Krankheitserscheinungen, wurden
aber hergestellt
Folgende Fälle sind von Otßa beobachtet und mit-
getheilt:
Die Gräfin Boy er und ihre Tochter, 40 und 20 Jahre
alt, befinden sich auf dem Lande, finden Schwämme, welche
dem gewöhnlichen Champignon sehr ähnlich sehen, und las-
sen sie zubereiten. Ihre Mahlzeit bestand fast ausschliesslich
aus diesen Schwämmen. Nach einigen Stunden bekommt die
Tochter Schwindel, und klagt, es wäre ihr, als wenn sie
Opium genommen hätte. Man gab ihr Kaffee, und die Nacht
ging ruhig bis 3 Uhr Morgens Yorftber, wo sie von Kolik
und Erbrechen befallen wurde. Zu derselben Zeit fingen
ähnliche Erscheinungen bei der Mutter an. um 8 Uhr
Morgens enthielten die Entleerungen keine Spur von Schwäm-
men. Es wurde Brechweinstein gereicht- Nach starkem
Erbrechen hatten die Symptome bis gegen 6 Uhr Abends
nichts Beunruhigendes. Jetzt nahm der Durst auffiiUend zu.
Das Erbrechen wurde angestrengter. Zwii^chen den Anfäl-
len trat Erschlafiung und Ohnmacht ein. Die Extremitäten
-vurden kalt, der Blick unsicher, die Lippen und Zunge
Vergiftang darch Pilze. 211
kalt. PetU^ der Abends 11 Uhr zur ünterstfitzung kam, verord-
nete 30 Blutegel an den After, femer Eiswasser und Süss-
mandelöl zu trinken. Während die Blutegel sogen, schien
Ruhe einzutreten. Am Morgen, d. h. 36 Stunden nach der
Mahlzeit, hörte bei der Mutter das Erbrechen auf; aber die
Schmerzen schienen heftiger zu werden, und verlangte sie
nach einem Vomitiv. Die Tochter erbrach anhaltend, und
befand sich dabei ruhiger. Neue Symptome; traten während
des Tages nicht ein, aber die vorhandenen nahmen zu.
Die Gedanken der Tochter verloren den Zusammenhang,
die Augen wurden trübe, und der Tod trat ein. JFforry, des
Morgens schon gerufen, kam erst Abends nach dem Tode
der Tochter. Die Mutter hatte hohle Augen, kalte und
violette Lippen und Zunge. Der Puls war sehr klein. Erst
6 Uhr Morgens trat der Tod nach langer Agone ein.
Demselben Pilze ist wahrscheinlich der von Casper (Hand-
buch der ger. Med. Bd. II. S. 466) mitgetheilte Fall zuzu-
schreiben. Die Krankengeschichte ist nicht von Interesse^
Die Section ergab: „eine röthliche Farbe der Dünn-, nicht
der Dickdärme, zahlreiche Ecchymosen unter der Magen-
schleimhaut am Fundus und in der hintern Wand, und
eine dunkle Farbe des sehr flüssigen Blutes. Der Magen
enthielt 3 Loth röthlicher Flüssigkeit. Das rechte Herz
war strotzend, das linke stark gefüllt. Alle übrigen Befunde
waren durchaus normal. Die chemische Analyse ergab nur
die Abwesenheit aller schädlichen metallische und erdigen
Substanzen, und der auffindbaren vegetabilischen Gifte.
Das etwa wirksam gewesene Pilzgift konnte natürlich nicht
nachgewiesen werden; zweifelhaft musste es indessen blei-
ben, ob Pilze, oder die genossenen Fische, oder Braten,
oder irgend andere bei der Mahlzeit genossene Substanzen
die giftigen Wirkungen hervorgerufen hatten.*
Betrachten wir ferner die Beobachtungen, welche über
212 Vergiftnng dorch Pilze.
AgarieuB integer (Täubling) vorliegen. Es soll dersdbe
h&ufig gegessen werden, and deshalb eben sollen nicht sel-
ten Yergiftongsiälle beobachtet sein. v. Kramph (s. Phoe-
bus) theilt folgendes Erlebniss mit.
Im August 1 760 brachte v. Sramph's Köchin zu Triest
auf besondere Empfehlung des Marktaufsehers rothe Täub-
linge nach^Hause. Diese wurden mit Oel, Salz, gehackter
Petersilie, gestossenem Pfeffer und Zwiebeln für das ganze
Haus zubereitet. Kramph ass eine stärkere Portion als alle
Hausgenossen zusammen. Nach einer viertel Stunde empfand
er „eine grosse Schwäche und beschwerliche Beängstigung^
des Magens. Bald trat Schwindel ein, so dass £. zu Bette
gebracht werden musste. Jetzt begann Erbrechen mit einer
so schmerzhaften Empfindung, „als ob der Magen nur an
einem Bindfaden hinge, der alle Augenblicke abreissen
wollte^. Eiskalte Schweisstropfen fielen vom Gesicht. Ohn-
macht folgte auf Ohnmacht. Der Puls war beschleunigt und
sehr klein. Der Bauch war zu gleicher Zeit aufgebläht und
angespannt. Es trat nach einem sehr peinlichen Zustande
das Bedürfniss nach Eiswasser ein, wonach eine grosse Lin-
derung eintrat. Das Erbrechen hörte nach wiederholt ge-
nommenem Eiswasser ganz auf. Der Durchfall wurde sel-
tener. Es trat Schlaf ein, der grosse Erquickung verschaffte.
Während der folgenden 8 Tage blieb ein nagender Schmers
im Bauche zurück. Die Frau v. K. kam mit Erbrechen
und Durchfällen davon. Ebenso die Dienstboten. Es hatten
viele andere Bewohner der Stadt an demselben Tage von
den Täublingen gekauft und gegessen, und sollen 2 Perso-
nen danach gestorben sein.
Ganz ähnliche Symptome gieb Roques an, die er nach
dem Genüsse eines thalergrossen Stückes empfunden. Die
Täublinge sollen überhaupt schwer verdaulich sein, und
man ist von jeher bemüht gewesen, ein Kriterien zur Un-
Vergiftung durch Pilze. 213
terseheidang der gifttgen und der essbaren aufirafinäen. Es
scheint dieses darin gefunden zu sein, dass der milde Ge-
schmack des rohen Pilzes f&r die Unschädlichkeit entscheid
det. Alle andern Merkmale, namentlich die der Farbe —
man hat oft die gelbblätterigen Exemplare für mild, die
weissblätterigen fär scharf erklärt — , sind durchaus unzuver-
lässig.
Wir müssen schliesslich noch den BoletuB luridus
als Giftpilz anfuhren. Er f&hrt die Namen Feuerpilz, Don-
nerpilz, Hexenschwamm, Judenschwamm , Satanspilz. Die
Giftigkeit ist durch Experimente von Faulet und Roquea an
Thieren erprobt. Die Haupterscheinungen waren Erbrechen,
Durchfall, Zuckungen. Die Section an einer vergifteten
jungen Katze, die eine Unze bekommen hatte, zeigte ent-
zündete Eingeweide, und hier und da bräunliche Flecken
(Roques). Vergiftungen an Menschen werden nach Phoebua
von Lenz (S. 60), Roques (S. 65) und Krombhoh berichtet.
Phoebus theilt einen Versuch mit, den er an sich selbst
gemacht hat: Phoebua ass mit einem Herrn Eicfder jeder ßin
haselnussgrosses Stück ohne alle Folgen. Einige Tage spä-
ter, am 16ten September, Nachmittags 4 Uhr wiederholten
sie den Versuch ; doch ass Phoebus ein 6- bis 8mal grösseres
Stück. Bald darauf genossen beide etwas Butterbrod und
Liqueur, und machten sodann eine botanische Excursion.
um 7 Uhr kam PA., von Herrn EicMer getrennt, nach Ilfeld.
Kurz vor dem Orte trat üebelkeit und Erbrechen ein.
Gleich nach der Ankunft Laxiren und Erbrechen in erhöh-
tem Grade. Verschiedene Medicamente gaben keine Linde-
rung. Die wiederholten Ausleerungen erschöpften die Kräfte,
und um 8^ Uhr Wurden 2 andere Aerzte zu Hülfe gerufen.
Diese erklärten den Zustand für eine ausgebildete Cholera
„mit klonischen Krämpfen der Extremitäten, einem kaum
ffihlbaren Pulse und starker allgemeiner Kälte^. Die Pro-
214 Yergjftaag durch Filze.
gDOse wurde sehr dubiös gestellt I^Mbus glaubte mit^e-
stiinmtheit, die Naeht meht mehr m uberlebm, und liess
eine Gerichtq^^rson konunen, welcher er seinen Willen dic-
tirte. Hierbei zeigte sich ein hoher Gred von ünbesinnlieh-*
keit. Ein heftiger Durst begann. Die Ausleerungen liessen
etwas nach, und es trat Schlaf ein, der Anfongs durch Phan-
tasieen, Gliederkrimpfe und Kältegefühl gestört wurde, um
4 Uhr Morgens erwachte PA., f&hlte sich ganz zerschlagen,
aber frei you lästigen Symptomen. Die Reconvalescenz
war eine rasche. Am 18ten konnte er wieder ausgehen.
Herrn EieUer hatte seine kleine Portion Nichts geschadet.
FJl hält die Gliederkrämpfe, ^Ite und UnbesinnUchkeit
(,, welche ich keineswegs Sapor nennen darf, sondern nur
als einen Mittelzustand zwischen Schlafen und Wachen be-
trachte^) bloss ^ y^synvptomata symptomatum^^ ,,f&r abhän-
gig von den starken Ausleerungen, namentlich dem Erbre-
chen, und dem dadurch nothwendig herbeigeführten unge-
wöhnlich raschen Coüapsua der Kräfte''.
Im Allgemeinen scheinen kleine Dosen^ sogenannte
Kostestfickchen, gar keinen merkbaren Einfluss auszuüben. —
Endlich finden wir bei Or/Ua noch Fälle mitgetheilt,
bei welchen die Vergiftung durch mehrere Arten von Pilzen
veranlasst worden ist.
Ein Landmann, seine schwangere Frau und 3 Kinder
hatten in einem Walde Yerschiedene Pilze gefunden, die
sie sammelten und zu Hause gekocht verzehrten. Die Frau
bekam in der Nacht Schmerzen im Eptgaatrium. Am an-
dern Tage hatten Alle Erstickungszufälle, Cardialgie und
häufiges Wfirgen. Bei dem Yater trat zuerst Erbrechen
ein. Am 3ten Tage war eine Steigerung der Symptome:
fortwährendes Würgen, galliges Erbrechen, Behinderung der
Respiration, Tenesmus und Hambeschwerden. Am Abende
starben 2 Kinder, das 3te am 4ten Tage. Vom 4ten bis
VergiftQng durch Pilze. 2^15
6ten Tagd stdigerten sich die Symptome bei den Eltern.
Grosse Schmerzen im Magen, Meteorismns, grossere Hambe-
schwerden, Tenesmus, schleimige, blutige Entleerungen nach
oben und unten, Eopfschmers, trockene Zunge, ein unlösch-
barer Durst, Angst, Kr&mpfe der Extremitäten, beim Manne
9
Nasenbluten. Am 6ten Tage zeigten sich bei der Frau Ode*
matöse Anschwellungen der Hand* und Fussgelenke, beim
Manne Frost, »als Vorbote des Darmbrandes^. Am 7ten
Tage Schluchzen, Ohnmacht, aussetzender Puls, Delirien,
Unterdrückung der Harn- und Stuhlausleerung, Eiskälte der
Extremitäten, kalter Schweiss^ Unter diesen Erscheinungen
starb . der Mann. Die Frau entleerte auf eine Oelmixtor
mehrere unförmige Stucke von Schwämmen. 4 Tage später
waren die Zufälle &st verschwunden; aber die Reconvar
lescenz dauerte lange Zeit. (Joum. gin. de mid. Bd. XXY.
S. 241.)
Die letzte Beobachtung, welche einen Mann betrifit,
hat in der Hauptsache ähnliche Erscheinungen, und wollen
wir daher nur die Sections-flesultate angeben: Sehr starke
Leichenstarre; die Arme auf der !ßrust gekreuzt, ein Zei-
chen, dass der Tod nicht unter Krämpfen erfolgt war u. s. w.
Rings um die Cardia eine 2\ Zoll lange und l^ Zoll breite
Ecchymose. Die Magenschleimhaut hatte eine dicke Schicht
weissen Schleimes. In der grossen Curvatur und an der
vordem Fläche ein bläulich -rother Flecken von 8 Zoll im
Durchmesser. In der Nähe des I)ihru9 starke Geftssver-
zweigung. Die übrigen Erscheinungen nicht von Interesse,
bis auf eine Bhitüberfolhmg der Hirnhäute und Himsub-
stanz.
Wir glauben nach Anführung, der vorliegenden Beob-
achtungen fiber Agaricm muacariua^ der Varietäten von Aga-^
ricu8 phaUmde8 und integer^ und des Boletua sanguineus^ die
verschiedenen andern Giftpüze, deren toxische Potenz zum
216 Vergiftung durch Pilze.
Theil anerkannt, zum Thefl gelhignet wird, nicht weiter oi-
tiren zu dfirfen. Denn obwohl wir von dem Virus einer
noch sehr grossen Anzahl Ton Pilzen überzeugt sind, so
fehlt es hier an nähern Angaben der YergiftungsfUle, zu-
mal beim Menschen ; andererseits spricht sich in den bekannt
gewordenen Erscheinungen eine grosse Aehnlichkeit mit de-
nen der angefahrten Giftpilze aus.
Als eine auffallende Thatsache muss uns in der gege-
benen Darstellung die verschiedene Wirkung derselben
Pilzart entgegentreten. Wir erinnern an die italienischen
Gomödianten in Regensburg, die den Agaricus muicarius ge-
nossen, und an die berauschende Wirkung desselben Pilzes
bei den Sibiriern. Es scheint uns hier zweierlei Veranlas-
sung vorzuliegen. Einerseits ist es wohl möglich, dass der
Agartcm muacarius in Sibirien eine nur schwächer wirkende
giftige Potenz erlange, als der unter wärmerm Himmel ge-
wachsene, und dürfen wir, wo, wie in diesem Falle, die sichern
vergleichenden Experimente fehlen, zur Begründung dieser
Annahme uns auf Analogie stützen, v. Bibra (Narcotische
Genussmittel und der Mensch) sagt in der Abhandlung über
Cannabis indica: ,,Den indischen Hanf kann man ftlglich so
bezeichnen, dass er gerade so, wie der europäische ist, nur
ganz anders! d. h., die botanischen Merkmale sind diesel-
ben, aber die chemischen sind verschieden. Es treten Stoffe
in ihm (Cann. indic.) auf, welche bei uns, in kSltem Klima-
ten, nicht zur Reife kommen, oder sich nur in höchst ge-
ringer Menge entwickeln konnten. Kurz, es ist ein ähnli-
ches Verhältniss, wie mit dem Mohne, der bei uns nur gerin-
ges Opium liefert, und wie mit den Rosen, aus welchen
man bloss Spuren des Rosenöls gewinnen kann, während
im Oriente bedeutende Quantitäten aus denselben gezogen
werden.«
Auf der andern Seite scheint die Zubereitungsweise der
Vergiftung durch Pilze. 217
Pilze TOB ganz entschiedenem Einfluss auf ihre grössere oder
geringere toxische Kraft zu sein. Versuche von Pouchet
(Orßa^ S. 539) beweisen, dass giftige Pilze, durch kochen-
des Wasser ausgezogen, von Hunden ohne Nachtheil gefres-
sen werden können und ihnen vollständige Nahrung liefern.
Ferner finden wir bei Orßa^ dass Girard am 21. Novem-
ber 1837, in Gegenwart mehrerer Mitglieder des Gesund-
heitsrathes. Fliegenschwamm und giftige Amanita in ziemlich
bedeutender Menge genossen hatte, ohne den geringsten
Nachtheil zu verspüren. Er hatte die giftigen Bestandtheile
folgendermaassen entfernt: „Auf ein Pfund Schwämme ge-
„hören 2 Pfiind Wasser mit 2 bis 3 Esslöffel voll Essig,
„oder 2 Lö&l Kochsalz. Hat man nur Wasser zu seiner
„Verfügung, so muss man es ein- oder zweimal erneuern. Man
„lässt die Schwämme 2 volle Stunden maceriren, wäscht
„sie dann mit vielem Wasser, kocht sie 4 Stunde, oder
„besser \ Stunde lang mit Wasser, wäscht sie, trocknet sie
„ab, und bereitet sie in der Küche zu.^ {Journal des
cofmaüaancea mMicales pratiques^ Die. 1851.) — Wie weit
diese Experimente in der Folge wiederholt, und wie weit
ein solches Verfahren, das füt arme, aber pilzreiche Gegen-
den von unschätzbarem Werthe sein dürfte, in das gewöhn-
liche Leben übergegangen ist, können wir leider nicht an-
geben.
Wir wollen demnächst versuchen, aus den oben ange-
geführten Experimenten und Krankengeschichten eine allge-
meine Darstellung der Symptome zu geben, welche die
giftigen Pilze verursachen.
Vorweg können vrir aber nicht umhin, gleich der Un-
zulänglichkeit zu erwähnen, an welcher unsere citirten Fälle,
obgleich aus den besten Quellen entnommen, zu leiden
scheinen, sofern sie mit wenigen Ausnahmen altern Beobach-
tungen angehören. Die neuere Zeit hat aber leider auf die-
<kup^9 VJtohrft. f. ger. Med. ZXn. 2. X5
218 Vergiftung durch Pilze.
sem Terrain keine genügenden Resultate anfisaweisen, und ist
dieser Mangel ganz besonders in Bezug auf Sections-Besnltate
fühlbar.
Die . allgemeine Darstellung der Symptome angehend,
ist Devergie der Meinung, dass die giftigen Pilze nur 2 Ar-
ten 70n Zufällen hervorrufen, dass die einen hauptsftchUoh
auf das Herz und das Nervensystem, die andern auf den
Darmcanal wirken. Orßa^ dem diese Anschauung nicht
ansteht, weil er nach der Art und Menge der genossenen
Schwämme eine grössere Yerschiedenartigkeit der Wirkung
vermuthet, hält die Ausdrucks weise von Zevtani för viel
genauer: „Das Gift der Schwämme vereinigt in sich die nach-
„theiligen Eigenschaften aller Gifte, und erzeugt verschie*
„dene und zahlreiche Wirkungen, je nachdem es in grösserer
„oder geringerer Menge genommen und in die Venen ge-
„langt ist.^
Wir müssen wohl zugeben, dass die von Devergie ge-
fasste Eintheilung der Symptome zu eng gehalten ist, indem
sie eine Strenge des Unterschiedes, eine gegenseitige Aus-
schliessung der Symptome annimmt, wie sie in Wirklichkeit
nicht anerkannt werden kann. Es scheint uns daher am
richtigsten verfahren, wenn wir uns damit begnügen, die
verschiedenen Zufälle als Einzelheiten zusammenzustellen.
Die Erscheinungen der Intoxication treten beim Men-
schen in der Regel erst nach einigen Stunden, seltener am
Tage nach der Vergiftung ein. Es spricht dieser Umstand
dafür, dass gewöhnlich nicht eine blosse Berührung der
Nervenausbreitung mit dem Virus zur Intoxication genügt,
sondern dass das letztere erst durch den Process der Ver-
dauung isolirt und absorbirt werden muss. Gelingt es, bei
Zeiten die Pilze mit ihrer schädlichen Potenz aus dem Or-
ganismus zu entfernen, so pflegen erheblich schädliche Fol-
gen nicht einzutreten. In den meisten Fällen einer Vergif-
Vergiftung durch Pilze. • 219
tang treten zun&ehst Magen- und ünterleibssdimerzen, sowie
kalte Scbweisse ein. Der Organismus zeigt ein lebhaftes
Bedürfniss, die ihm feindliche Substanz zu entfernen, üebel-
keit, Erbrechen und Durchfall sind deshalb die ersten Sym*
ptome. Es kann diese Reaction des Organismus so vehe-
ment werden, dass er ihr unterliegt, bevor das Gift seine
specifische Wirkung entfaltet hat. Ein furchtbarer Durst
begleitet diese Erscheinungen, die bald heftiger werden, und
dann Mattigkeit, einen sehr kleinen, harten Puls und behin-
derte Respiration im Gefolge haben. Bald treten Krämpfe ein,
die allgemein oder partiell sind ; Ohnmächten, bei denen oft
Bewusstsein besteht und der Kranke die Annäherung des To-
des unter den heftigsten Schmerzen fühlt; nach anderer Schil-
derung ein Zustand zwischen Schlafen und Wachen, wie ihn
Fhaebus empfanden. Nachdem durch Schmerzen und Gonvul-
sionen die Kräfte erschöpft sind, tritt der Tod ein, nach einer
Dauer von 2 bis 6 Tagen. Andrerseits treten nach den Er-
scheinungen einer Gastrointestinalaffection sehr bald narcoti-
sche und nervöse Symptome ein, Schwindel, dumpfe Delirien,
Schlafsucht, C(yma, Plötzliche Schmerzen mit Erbrechen und
Convulsionen unterbrechen diese Zustände. In einzelnen
Fällen treten die nervösen Symptome ohne vorangegangene
Gastroenteritis ein. Nach heftigen Convulsionen, starken De-
lirien, furchtbaren Schmerzen entsteht ein comatöser Zustand,
der bald lethal endet.
Zuweilen wird die Haut plötzlich blass, kalt, und von
einem eisigen Seh weisse bedeckt; es folgt ein convulsivischer
Zustand, der sich durch convulsivische Respirationen, IHsmuSy
Spannung und Härte des Unterleibes äussert, und sehr bald
lethal endet.
Zu den einzelnstehenden Erscheinungen gehören Icterus,
Tenesmus^ Salivation, Dysurie, Strangurie und Ischurie.
Wir dürfen uns wohl durch die etwas auilallende Yiel-
16*
220 * Vergiftuttg durch Pilze.
seitigkeit der Symptome nicht irritiren lasse, da die vorhan-
denen Beobachtungen von verschiedenen Pilzarten, einer
verschiedenen Quantität des eingenommenen Stoffes herrüh-
ren, der wiederum verschieden zubereitet genossen ^rurde,
und an verschiedenen Individuen seinen Einfluss zur Geltung
brachte. Jedenfalls sehen wir etwas Wahres in der Aus-
drucksweise von Zeviani^ der in den Symptomen der Gift-
pilze die nachtheiligen Eigenschaften aller Gifte wieder-
erkennt.
Diesen so vielseitigen Symptomen entsprechend, wird
natürlich der Leichenbefund sehr variiren müssen, und wie
hier ebenso die Pilzart, Menge, Zubereitungsweise, Indivi-
dualität des Kranken von Einfluss sein. Orßa ist zwar der
Meinung, dass die Leichenveränderungen weniger verschieden
sind, als die Symptome; doch hält er sich darin vielleicht
zu eng an den Bericht der medicinischen Gesellschaft zu
Bordeaux, welcher am 26sten Juni 1809 abgestattet wurde.
Es heisst dort:
„Violette, sehr grosse und zahlreiche Flecken auf der
Haut, stark aufgetriebener Unterleib, gleichsam* injicirte Con-
junctivae zusammengezogene Pupillen. Der Magen und die
Gedärme entzündet und mit gangränösen Flecken besäet.
Sphacelua einiger Theile des Darmcanals, bedeutende Ver-
engerung des Magens und der Gedärme, so dass sie durch
ihre verdickten Membranen fast ganz obliterirt sind. Bei
einem Individuum war der Oesophagus entzündet und bran-
dig, bei einem andern das Ileuni in einer Länge von drei
Zoll invaginirt, nur bei einem Individuum war der Darm
mit Faeces angefüllt. Bei keinem £and man Spuren der
Schwämme, sie waren vollkommen verdaut und entleert.
Die Lunge war entzündet und mit schwarzem Blute ange-
schoppt. Dieselbe Anschoppung fand fast in allen Venen
der Unterleibsorgane, in der Leber, der Milz, dem Gekröse
Vergiftang durch Pilze. 221
Statt. Entzündete und brandige Stellen auf den H&aten
und den Ventrikeln des Gehirns, auf der Pleura^ der Lunge,
dem Zwerchfell, dem Mesenterium^ der Blase, dem üterusj
and selbst dem Foetus einer schwangern Fran, deren Blnt
sehr flüssig war. Bei Andern war das Blut fast geronnen.
Die ausserordentliche Biegsamkeit der Extremitäten war
nicht constant.'*
Orßa fägt diesem Bericht hinzu, dass man später bei
Kranken, die an sehr heftigen Symptomen gelitten hatten,
die Hirngefässe angeschoppt fand, dass die Hirnsubstanz
roth punktirt war, und die Ventrikel helles und sanguino-
lentes Serum enthielten. Weitere Angaben finden wir bei
Orfila nicht, müssen aber wohl einräumen, dass die Anga-
ben des Berichtes von Bordeaux von den von Orßa citir-
ten Sections-Bericbten in mancher Beziehung abweichen. Wir
finden neben dem Wahren viele zufällige Nebensachen ' an-
gegeben, die als' solche ohne jede Bedeutung sind. So die
violetten Flecken der Haut, eine Invagination des Ileum,
Im Widerspruch zu dem von Orfila citirten Falle, wo die
Frau eines Landmannes am 7ten Tage noch Schwämme ent-
leerte, werden hier nirgends Spuren von Schwämmen ent-
deckt.
Es mag der Mangel an Sections - Resultaten der Neu-
zeit wohl darin zu suchen sein, dass Pilz - Vergiftungen bei
uns nur selten vorkommen, indem das Publicum die schäd-
lichen Pilze meist kennt, und dass die etwa vorkommen-
den Fälle ärmere Landbewohner betreifen, und so nicht
eine besondere Beachtung erlangen. Wir können aus den
citirten Sections-Resultaten nur entnehmen, dass meist eine
Blutüberfüllung der Schleimhaut des Magens und Dünn-
darms, vorzüglich des Zwölffingerdarms, aufgefunden wor-
den ist, dass an einzelnen Stellen der Schleimhaut grössere
oder kleinere Ecchymosen und brandige Stellen vorgekom-
222 Vergiftirag durch Pilze.
men sind. Aber diese Erscheinnngea geben udh nichts Spe-
eifisehes, aiutschliesslich einer Pilz* Vergiftung Eigenthüm-
liches, eben so wenig wie die Anschoppungen der verschie-
denen Organe, die nach allen acuten Krankheiten angetrof-
fen werden, eben so wenig wie die dunkle Farbe des sehr
flüssigen Blutes, welches Phänomen bei vielen andern To-
desarten vorkommt. Genug, die pathologischen Verände-
rungen in der Leiche bieten, für sich genommen, nur un-
genügende Anhaltepunkte für eine aus ihnen festzustellende
Diagnose der Pilz-Vergiftung.
Es würde uns demnach in forensischer Hinsicht der
Leichenbefund an sich nicht genügende Aufschlüsse geben,
ausser in dem Falle, wo neben den angefahrten Leichen-
erscheinungen Pilzreste voi^efunden werden sollten. Wir
wollen demnächst zusehen, wie weit uns die Chemie zur
Feststellung der Diagnose aus dem Magen- und Darminhalte
an die Hand geht.
Die chemischen Bestandtheile der Pilze werden als sehr
verschiedene angegeben und können keineswegs zur Unter-
scheidung der giftigen und nicht giftigen Arten dienen. Es
enthalten die Pilze: ein wallrathartiges Fett, eine beson-
dere stickstoffhaltige, in Alkohol auf lösliche Materie, und
das stickstoffhaltige Fungin (ein faseriger, geschmackloser,
chemisch indifferenter Stoff, der die Grundlage namentlich
der grössern Pilze bildet) ; femer : Eiweiss, Zucker, Gallerte,
Wachs, Harze, Schwammsäure, BenzoS- und Essigsäure, Kali
und Kalksalze.
„Die stickstoffhaltige, an das "fhierreich erinnernde Be-
schaffenheit mehrerer Bestandtheile ist die Ursache, dass
namentlich die grössern und fleischigem Pilze sehr nahrhaft
sind, in- der galvanischen Kette sich thierischen Organen
ähnlich verhalten (v. Humboldty Versuche über die «gereizte
Muskel- und Nervenfaser), gleich Thieren auch im Licht
Yergiftang durch Pilze. 223
Sanerstoff verzehren und Kohlensäure aushauchen, und nach
dem Tode meist rasch, mit einem an thierische Substanz
erinnernden Gestank sich zersetzen.^ (PhoebtM.)
Ausserdem hat LeteUier aus Agaricua phalloldea und
mu8cariu8 das Amanitin hergestellt, und sollen alle giftigen
Pilze eine scharfe, ausserordentlich flüchtige Substanz, die
wenig bekannt ist, enthalten. Das Amanitin will LeteUier
mit Kali- und Natronsalzen verbunden erhalten haben. Es
soll in Wasser und allen wässerigen Flüssigkeiten löslich,
unlöslich in Aether sein, unkrystallisirbar, geruch- und ge-
schmacklos. Mit Säuren soll es krystallisirbare Salze bil-
den. In das Zellgewebe des Rückens von Fröschen einge-
spritzt, soll es fast wie Opium gewirkt haben. Es ist uns
nicht bekannt, dass das Amanitin in der Folge von an-
dern Chemikern aufgefunden worden ist, und ist nach Prü-
fung aller Hülfequellen ein solches Resultat nicht anzuneh-
men. So lange dies aber nicht der Fall ist, oder so lange
die Chemie keinen den Giftpilzen eigenthümlichen Stoff dar-
stellen kann, der auch aus der vergifteten Leiche zu er-
mitteln ist, so lange fällt in forensischer Hinsicht ein ge-
wichtiger Stützpunkt bei der vorliegenden Frage aus.
Fassen wir kurz die Fundamente zusammen, welche
dem Gerichtsarzte bei YergiftungsfäUen als Stützen zu Ge-
bote stehen, so bleiben, — falls die Beibringung des Giftes
dem Richter nicht schon anderweitig ausser Zweifel gesetzt
ist, — ausser den angefahrten Criterien des Leichenbeftm-
des und des Resultates der chemischen Analyse, ^jP^S^nde
beiden Criterien übrig: die Krankheitserscheinungen des
Verstorbenen und die Combination der äussern Umstände,
die das Erkranken und Sterben des Denatus begleiteten.
Prüfen wir nun die von uns angegebenen vielseitigen
Vergiftungserscheinungen, welche Giftpilze veranlassen, nach
ihrer forensischen Bedeutung, und erinnern wir uns dabei
224 Yei^iftoiig daieh Pilse.
der Aiundit Yon Zetnani, dass das Gift der Pihe die nadh-
theiligen Eigenschaften aller Gifte in sich vereinigt, so mdehte
nns das Criteriiun der Krankheitserscheinungen nicht son-*
derlich fördern darfen. Wir müssen gestehen, dass die
Diagnose einer Pilz -Vergiftung bei diesen för alle Yergif-
taogen passenden Symptomen — die natürlich in einem
vorliegenden Falle nicht combinirt sein werden — ohne be-
stimmte Kenntniss der Antecedentien schlechterdings nicht
zu stellen ist Aber selbst wenn wir das Urtheil von
Zeviani mehr einengen und die Wirkung auf eine ätzende
und narcotisirende beschränken, so wird unser Criterium,
för sich bestehend, immer noch nicht im Stande sein, den
Gerichtsarzt in seiner Diagnose zu sichern. Dieser Mangel
betrifft indessen nicht lediglich die giftigen Pilze, sondern
erstreckt sich auf eine grosse Anzahl von Giften, die alle
annähernd dieselben pathologischen Erscheinungen hervor-
rufen, als da sind: Erbrechen, Purgiren, Gollapsus, Gircnla-
tionsstörungen, sensorielle und motorische Anomalieen. Wir
werden vielmehr dem Criterium der Krankheitserscheinun-
gen in der Beurtheilung der Pilz -Vergiftung völlige Aner-
kennung zollen, wenn wir es nicht als för sich bestehendes
Moment, sondern als Glied in der Kette der brauchbaren
Criterien auffassen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass uns die Chemie voll-
ständig verlässt, und dass der Leichenbefund nur die Er-
scheinungen von Entzündung ^t^n^aZä^ Brand der Magen-
und Da^schleimhaut, die Erscheinungen einer Hyperämie
in Gehirn und Lungen bieten kann. Auch dieses Criterium
ist ja, för sich bestehend, wenig oder gar Nichts sagend,
da die besagten Erscheinungen von allen möglichen Ver-
anlassungen herrühren können. Dennoch müssen wir zu-
geben , dass im speciellen Falle auch diese Erscheinungen,
mit den andern brauchbaren Momenten in Verbindung ge-
Vergiftang durch Pilze. 225
bracht, von einiger Bedeutung sein können. Eine ganz
entschiedene Bedeutung würde freilich der Leichenbefund
für den Fall gewinnen, wa in den Eingeweiden Reste von
Pilzen vorgefunden werden sollten.
Der letzte Punkt, der uns Unterstützung leisten kann,
beruht auf der Erwägung der besondern äussern Umstände
(Casper), Diese natürlich können hier von derselben Be-
deutung sein, wie bei jeder andern Vergiftung. Durch
Eventualitäten erzeugt, die als solche incommensurabel sind,
können sie specieller nicht erörtert werden, und wollen wir
beispielsweise nur erwähnen, dass bei bestehendem Vergif-
tungs verdachte die Jahreszeit der Pilze und eben so die
Nähe von Wäldern und andern Bodenverhältnissen, in denen
Giftpilze wachsen, von einiger Bedeutung sind, da Pilze
nicht lange frisch erhalten werden können.
Sollten wir uns nun im einzelnen Falle in der glück-
lichen Lage befinden, dass die oben angegebenen Krank-
heitserscheinungen am Krankenbette beobachtet sind, dass
der Leichenbefund die besprochenen Resultate geliefert hat,
dass die äussern Umstände den Verdacht einer Vergiftung
nahe gelegt, weicher Verdacht durch Auffindung in der Nähe
befindlicher Reste von Giftpilzen, durch Aussagen von Zeu-
gen !^ s. w. unterstfitzt wird, so werden wir der Combina-
tion dieser Griterien, die, jedes für sich genommen, insnffi-
cient sind, Hie Möglichkeit zur Feststellung der Diagnose
einer Pilz- Vergiftung zugestehen müssen.
226
13.
Luftblasen im BInte eines Erhftng;ten.
Vom
Dr. Inrerseii) auf der Insel Pellwonn in Schleswig.
Mit Beziehung auf den Band XIX. Heft 1. S. 167 der
Vierteljafarsschrift für gerichtliche und öffentliche Mediein
erlaubt sich der oben Genannte, der Redaction derselben
einen weitern Beleg zu dem dort erwähnten auffälligen Phä-
nomen Yon ^Luftblasen im Blute^ kurze Zeit nach dem
Tode gewaltsam ums Leben Gekommener zu unterbreiten.
Mit Rücksicht darauf, dass ich ein unbekannter Arzt bin,
und auf die anscheinende Wichtigkeit des Gegenstandes selbst,
habe ich es für nöthig erachtet, durch einen Extract aus
dem Obductions-ProtocoUedem Falle die vollste Glaubwür-
digkeit zu ertheilen, und ftge, unter gleichzeitigem Anschluss
eines Attestes Seitens des bei den Belebungsversuchen zu-
fällig anwesenden Ortsgeistlichen, behufs näherer Erläuterung
in aller Kürze Folgendes hinzu:
1) Obwohl ich in einer reichlich zwanzigjährigen Praxis
mehrmals Gelegenheit gehabt habe, Yenaesectionen bei plötz-
lich oder gewaltsam Gestorbenen zu machen, so ist mir die
gedachte Erscheinung doch bisher nicht yorgekommen.
2) Es ward bei den Belebungsversuchen zuerst mit der
Lancette in gewöhnlicher Weise die linke Mediana geöffnet,
Luftblasen im Blute eines Erhängten. 227
die Wände indess, da das Blut nicht recht flie^sen wollte,
verbanden. Es ist möglich, dass auch hier schon sich einige
Luftbläschen gezeigt haben, wie der Herr Pastor in seinem
Atteste anfahrt; meinerseits sind dieselben dann übersehen
worden , da überhaupt nur ein paar Fingerhüte voll Blut
ausflössen.
3) Das Blut aus der Mediana des rechten Arms —
dunkel und flüssig — rieselte sofort nach Eröffnung der
Ader ziemlich mächtig den Arm herab, war gleich und auf-
feilend stark mit grössern und kleinern Luftblasen vermengt,
welche durchaus mit dem Blute wirklich gemischt erschie-
nen und mit diesem den Arm entlang rieselten, zuletzt
platzend. Die im Pastorat -Atteste aufgefahrte, zeitweilig
kurze Unterbrechung des Blutstromes war liur eine schein-
bare, wenn nämlich eine grössere Luftblase aus der Venen-
öffinung hervorquoll.
4) Ich machte den bei den Belebungsversuchen anwe-
senden Ortsgeistlichen auf diesen auffallenden Umstand auf-
merksam, ohne demselben indess auf seine Frage: „was
dies zu bedeuten habe ?^, eine andere Antwort geben zu kön-
nen, als: dass ich dies Phänomen für ein verlässliches To-
deszeichen zu halten mich berechtigt glaubte. Die Be-
lebungsversuche, zuletzt auch Lufteinblasen, wurden indess,
ohne Erfolg, fortgesetzt.
5) Die mir zuständigen Lehrbücher über gerichtliche
Medicin: Grüner, Ed. C. J. v. Siebold (1847), Bock, C. R,
Sectionen, 4. Aufl. (1852), J. L. Caeper, Handb., 2. Aufl.,
sind von mir bezüglich der gedachten Erscheinung vergeb-
lieh consultirt worden.
228 Luftblasen im Blute eines Brhftsgten.
A.
Extractus protocoUi.
ÄctuMj den 7. September 1861, Nachmittags 8 Uhr.
Nachdem nunmehr das Zeugenverhör als geschlossen
zu betrachten ist, giebt der Herr Doctor und Landschafts-
Arzt Folgendes zu Protocoll:
Auf Requisition der Eönigl. Landvogtei hierselbst, be-
hufs legaler Besichtigung des Leichnams eines im Wirilis-
haüse von J. J. BlohnC^ Wwe. beim Siehl hierselbst erhängt
gefundenen jungen Mannes, verf>e ich mich am heutigen
Nachmittage (gleich nach Mittag) an Ort und Stelle, um vor
der eigentlichen Leichenbesichtigung noch Belebungsver^
suche anzustellen. — Bei meiner Ankunft am Siehl erfuhr
ich bei näherer Erkundigung, dass der Leichnam seit etwa
zwei Stunden heruntergeschnitten, nachdem derselbe muth-
maasslich 10 Minuten, vielleicht auch (etwas) länger, ge-
hangen, so wie, dass auch bereits yergeblich einige Be-
lebungsversuche waren angestellt worden.
Ich fand den Leichnam im Bette liegend und bekleidet
mit u. s. w. — Nachdem derselbe passend gelagert worden,
Aderlässe an beiden Armen und gewöhnliche Belebungs-
versuche nichts gefruchtet hatten, „wobei zu bemerken,
dass aus der Aderlasswunde des rechten Armes stark mit
Luftblasen vermischtes Blut ausfloss^, ward Seitens der Kö-
niglichen Landvogtei das Zeugenverhör eröffnet und zu-
gleich zur Besichtigung des Leichnams geschritten.
Derselbe war der eines jungen Mannes etwa gegen
Ende der Zwanziger, von reichlich 6 Fuss (?) Grösse, ziemlich
robuster Leibesbeschaffenheit und wohlgebildeten Gliedern.
Die Leiche fühlte sich am Rumpfe noch einigermaassen
warm an, Todtenstarre war noch nicht eingetreten. Das
mit einem röthlichen Kinnbarte versehene Gesicht erschien
Luftblasen im Blute eines Erhängten. 229
blass, etwas gelUich grau, die Haare waren dunkelblond,
der Gesichtsausdruck ruhig, der Mund halb geöffnet, die
Augenlider geschlossen; nach Eröffnung derselben erschie-
nen die Augen hellblau, das Weisse war nicht geröthet, die
Hornhaut des linken matt, des rechten noch glänzend, die
Pupillen befanden sich im Zustande mittler Expansion, der
Blick war starr, die Resistenz der Augäpfel et was vermin-
dert. — Die Zähne, von welchen keine fehlten, waren
schön erhalten; die Zunge lag hinter den Zähnen. In den
natürlichen Höhlen war nichts Regelwidriges zu bemerken,
auch hatte kein Ausfluss stattgefunden.
Die Untersuchung des Halses ergab von dem einen
Ohre bis zum andern eine leichte, etwa reichlich fingerbreite
Strangulationsmarke, welche dicht über dem Adamsapfel,
in der Länge von zwei Zollen eine dunkelbraune Färbung
hatte und sich hier beim Einschnitt etwas lederartig ver-
hielt, im übrigen Verlaufe war die Mark^ lichtbräunlich ; —
die Ohren und der Nacken waren blauroth gefärbt. Ver-
renkung der Halswirbel war nicht zu entdecken.
Der ganze übrige Körper zeigte keine weitern Abnor-
mitäten, namentlich war von äusserlich erkennbaren Ver-
letzungen keine Spur zu entdecken. Am linken Unter-
schenkel fand sich ein chronisches, atonisches, übelriechen-
des, unregelmässiges Geschwür von der Grösse eines Thalers.
Die Genitalien waren bläulich -roth, wohlerhalten. Es
hatte Ejßfiulatio semmis stattgefunden.
Die Nägel an den Fingern und Zehen waren nicht
bläulich gefärbt.
Die Farbe der ganzen Leiche, mit Ausnahme der etwas
gelblich (offenbar icterisch) gefärbten Bauchdecken, erschien
blass, Rücken und Gesäss indess durch Blutsenkung blau-
röthlich gefärbt.
Da aus dem mir mitgetheilten Verhörs-ProtocoUe Nichts
230 Luftblasen im Blute eines Brhftngten.
hervorgeht, was ein Verbrechen argwöhnen Hesse, noch ans
der äusserlichen Besichtigung Zeichen sich ergeben haben,
welche auf Gewaltthätigkeit durch fremde Hand oder auf
Gegenwehr gegen eine solche hindeuteten, so erschien die
innerliche Obduction des Leichnams als überflüssig '), und
bleibt es dahingestellt, ob der Tod des Deßmctus durch
Stick- oder Schlagfluss bewirkt worden sei.
B.
Mit Rücksicht auf den Drescher Johann Gottfried Thomson
aus Horsbüll, welcher sich am 7. September d. J. im Wirths-
hause der «/. J. Blohm's Wwe. beim Siehl hierselbst mittelst
Erhängens das Leben nahm, wird auf Wunsch des hiesigen
Landschafte -Arztes, Herrn Dr. Iwe^^sen^ Nachstehendes at-
testirt.
Ich war zufällig beim Siehl, als ich erfiihr, dass sich
Jemand erhängt habe. Ich eilte nach dem Hause und fand
die Leiche eben heruntergeschnitten. Da mir keine andere
Mittel bekannt waren, ordnete ich, bis zur Ankunft des
Arztes, Bürsten des Körpers, namentlich unter den Füssen,
an. Nach circa zwei Stunden erschien der Arzt Dr. Iwer--
sen. Sofort nahm er Wiederbelebungsversuche vor, bei
welchen ich zugegen war, und welche zuerst in Aderlass
und, so viel mir erinnerlich, in Fussbad, Umkehren des
Körpers, Einblasen von Luft in den Mund u. s. w.. bestan-
den. Namentlich erinnere ich mich sehr deutlich, dass der
Arzt zuerst am linken, dann, als das Blut, welches eine
dunkle Farbe angenommen hatte, nicht fliessen wollte, am
rechten Arme der Leiche zur Ader liess. Namentlich auch
mächte der Arzt mich darauf aufmerksam, und habe ich
1) was ich jetzt sehr bedaure, da sich vielleicht der suffocatorische
Tod herausgestellt hätte. D. Vf.
Luftblasen im Blute eines Erhftngten. ^ 291
dies mit eigenen Angen gesehen, dass beim Aderlassen in
raschen Intervallen auf einander der Blutfluss stockte und
sich eine Menge Luftbläschen, sowohl aus dem einen, wie
nachher aus dem andern Arme, zeigten, eine Erscheinung,
wobei der Arzt bemerkte, dass dies ein sicheres Todes-
zeichen sei, wenngleich derselbe annoch vergeblich mit an-
dern Wiederbelebungsversuchen lange fortfuhr.
Pellworm, den 18. December 1861.
1) Unleserliche Unterschrift. C.
232
11.
Zur Yergiftimg dareh Terpentindaiist.
(Terpentinanstrieh.)
Vom
Dr. JL. 1¥. lilerscli in Cottbus.
Erst in neuerer Zeit, und besonders durch Marchai de
Calvi^ ist die Aufmerksamkeit der Sanitätspolizei auf die
Schädlichkeit des Terpentindunstes, gelenkt worden. Bei
der Seltenheit der Beobachtungen und bei der spärlichen Li-
teratur über diesen Gegenstand dürfte es gerechtfertigt er-
scheinen, MarchoTs Beobachtungen nach Referaten deutscher
Journale hier voranzustellen.
In der Medic. Gentral-Zeitung 2. 1856 hiess es:
Marchai de Calvi beobachtete bei einer jungen Frau , welche
seit mehrem Tagen ein frisch gemaltes Zimmer bewohnte,
eine Vergiftung, welche er als durch Terpentindämpfe her-
vorgebracht bezeichnet. . Das erste Symptom bestand in
Kolikanfällen, zu denen sich bald ernstlichere Krankheits-
erscheinungen gesellten. Die Kranke war in hohem Grade
hinfällig, das Gesicht todtenbleich , die Augen eingesunken,
mit tiefen blauen Rändern umgeben, die Lippen kaum be-
weglich, der Athem kalt, die Stimme erloschen, die Glieder
kalt und gelähmt, der Puls langsam, kaum zu fühlen, die
Sehkraft getrübt, die Besinnung der Kranken, die sich ster-
Vergiftnng durch Terpentindansi. 333
bend glaubte, war unberührt. Der energische äussere und
innere Gebrauch von Reizmittteln fährte diesen An&ll vor-
über ; derselbe kehrte jedoch zu wiederholten Malen wieder,
und erst nach Verlauf eines Monats konnte die Kranke ftr
geheilt betrachtet werden.^ (Acad. de mid., Sitzung 10. De-
cember 1855.)
üeber einen zweiten, von demselben Beobachter -«
Vünüm 150. 1857 — mitgetheflten Yergiftungsfall referirt
Clarus in /ScAmtd^'s Jahrbchrn. Bd. 98. S. 31. — „Ein
junges Mädchen von guter Constitution, ^econvalescentin
von einem acuten Gelenkrheumatismus, schlief in einem Zim-
mer, dessen Thüren und Fenster mit terpentin- und bleihal-
tiger Oelfarbe gestrichen waren. Nach 3 Stunden erwachte
sie mit heftigem Unwohlsein. Der hinzagerufene Arzt fand
das Gesicht von ängstlichem Ausdruck, blass, Augen hohl,
schwarz gerändert, Stimme erloschen, äusserste Erschöpfung,
heftige andauernde Schmerzen in den Gelenken und im ünter-
leibe, die Kranke krümmte sich hin und her, häufiges Ekelge-
fahl, Respiration kurz, beschleunigt, angstvoll, Puls fadenf&rmig,
kaum fiihlbar, kalter, klebriger Schweiss, Intelligenz ungestört.
Sofortige Transferirung in ein anderes Haus,. Senfteige, Chamil-
lenthee mit Branntwein und Dampfdouchen stellten die Kranke
nach 8 Tagen her.^ Refer. setzt noch hinzu: „Verf. findet nicht
in dem Blei, sondern lediglich in dem Terpentin die Ursache
dieser Symptome und citirt den Fall eines jungen Menschen, der
unter gleichen Umständen todt im Bette gefunden wurde. Er
will den Terpentin ganz aus dem Anstrich verbannt wissen.^
Bei der so häufigen technischen Verwendung des Ter-
pentins und des Terpentinöles, wobei Arbeiter Stunden, Tage,
Monate lang den starkriechenden Dämpfen ausgesetzt sind,
z. B. bei der Bereitung und Auftragung der Firnisse auf
Holz, Eisenblech u. s. w., besonders aber bei der in neu-
ster Zeit vielfach versuchten therapeutischen Anwendung der
CatpfT, VJiohrft. L ger. Med. ZXIL 9. j^g
234 Yergiftiuig durch T^rpentindiiiiat.
Terpentind&mpfe, müssen diese varemselt dastehenden Yer-
giftttügsfäUe wohl auffallen. Nach Senoeh (Suppl.-Bd. zu
CamUxte^ Spec. Path. und Ther. S. 134) soll Skoda in einem
günstig abgelaufenen Falle von Oamgraena pulmonum Inhala-
tionen von Ol Terebinthinaey welches über siedendes Wasser
gegossen wurde, angewendet haben. Pfeufer empfiehlt be-
kanntlich bei Cholera, das Fenster- und Thürholz mit Terpen-
tinöl 2u bestreichen. Abgesehen davon, ob sich diese Maass-
regel bewährt, genügt es uns hier, dass Pfeufer sagt (Zum
Schutze wider die Cholera, Heidelberg 1854, S. 37): „Ich
lasse mit Papier überzogene Rahmen in die Zimmer stellen
und dieselben mehrmals des Tages mit Terpentinöl bestrei-
chen, der Versuch ist ebenso unschädlich, als wohl-
feil.^ — Bekannt sind endlich die Terpentindampfbäder,
deren treffliche Wirkung z. B. Macario (Schmidt^ s Jahrb.
Bd. 94. S.284, nach UUnion 1857, 26.) rühmt, ohne von
toxischen Wirkungen des sich stark verflüchtigenden Terpen-
tinöles etwas zu erwähnen. — Bei einem jungen Manne mit
unvollständiger Lähmung der untern Extremitäten (nach
plötzlicher Unterdrückung habitueller Fusssch weisse) liess
ich mit Erfolg mehr als 20 Terpentindampfbäder instituiren,
indem ich den mit Decken eingehüllten Kranken auf einem
Rohrstuhle über einem mfk heissem Wasser gefüllten Gefässe
sitzen liess. Auf das Wasser wurde Terpentinöl gegossen,
und zur bessern Dampfentwicklung wurden heisse Steine
in dasGefass geworfen, so dass ein starker, mit Terpentin-
dunst reichlich geschwängerter Wasserdampf aufstieg.^ Der
Patient ertrug nicht nur in diesem Bade den Terpentinge-
ruch \ bis I Stunde lang bequem, sondern wartete in dem-
selben mit Terpentindunst reichlich erfüllten Zimmer die
Diaphorese 8 bis 4 Stunden lang ab, ohne irgend wie Kopf-
schmerzen, Uebelkeiten, noch weniger Kolik- oder Gelenk-
sohmerzen zu empfinden. Die Transspiration war bedeutend,
Vergiftang durch Terpentindanst. 235
die Respiration blieb fast unverändert, der Puls bescblea-
nigte sich etwas, die Digestion war gesteigert, der Appetit
danach vermehrt, der Harn behielt &st den ganzen Tag über
den charakteristischen Yeilchengerach.
Die Literatur hat bisher nur spärliche Andeutungen über
die toxischen Wirkungen des Terpentindunstes gebracht. In
altern Werken finden wir wohl Notizen über die Gefähr-
lichkeit, sich lange Zeit den sich stark verflüchtigenden
ätherischen Oelen auszusetzen, z. B. bei Moat (Encyclop. d.
Staatsarzneikunde, Th. I. S. 546), welcher Zuckungen,
Schlafsucht, Scheintod, selbst Tod als Folgeerscheinungen
angiebt. Selbst Orjüa erwähnt noch nicht des Terpentinöles,
obwohl er von der toxischen Wirkung der sich leicht ver-
flüchtigenden ätherischen Oele der Blumen spricht (Toaico*
loffie. Uebers. von Krupp. Braunschweig 1854. S. 571.).
In der 3. Auflage seiner Heilmittellehre berührt auch Oester-
len die schädlichen Wirkungen der Ausdünstungen der Blu-
men bei Besprechung der ätherisch-öligen Excitantien, ohne
jedoch von einer toxischen Wirkung des Terpentindunstes
etwas zu erwähnen, und zwar sagt er: „Man hat Kopf-
•
schmerz, Schwindel, Betäubung, selbst Convulsionen und
asphyctische Zustände schon durch den blossen Geruch je-
ner Blüthen entstehen sehen. Doch treten die höhern Grade
dieser Wirkungen bloss bei besonders disponirten, bei hy-
sterischen, sensiblen Personen ein.^ Clarua erwähnt natür^
lieh in seiner spec. Arzneimittellehre (Leipzig 1860. S. 1099)
nach Marchai der toxischen Wirkung des concentrirten Ter-
pentindunstes , wenn auch nur vorübergehend. Mehr£sich
wird in dem neusten Handbuche der Sanitätspolizei von
Pappenheim (Berlin 1858) der Terpentindämpfe gedacht,
II. A. auf die Verschlechterung der Luft im Umkreise der
Destillationsanstalten von Steinkohlentheer und besonders
von Terpentin aufmerksam gemacht (Th. 11. S. 263); aaeh
16^
236 Vergifhiiig durch Terpentandmiat*
heisst es S. 418: „Fon««a^t?«^ hebt sehr angemessen die Sab-
stitntion des Kalks in denSchiffsgem&chemfur die terpentinigen
Bleianstriche hervor; er findet die Schädlichkeit der letz-
tern mehr in dem ätherischen Oele, das so lange dampft,
als in den mil^erissenen Bleipartikeln.^ Femer S. 142:
^Die weingeistigen, ungefärbten oder &rbigen Finusse erhal-
ten Tiel&ch Zusätze von Terpentinöl und Aether, deren Dämpfe
unvermeidlich von den Arbeitern eingeathmet veerden und
ihnen heftiges Kopfweh machen, ohne dass aber* bleibender
Nachtheil einzutreten scheint.^ Ausfuhrlicher vrird aber die
Intoxication durch Terpentindunst nicht besprochen. ^
Nach allem diesen kann es freilich nicht befremden,
wenn schon in Frankreich Stimmen gegen Mofrchal sich er-
hoben. So stellte Boumer^ welcher mehrere Jahre als Por-
cellanmaler gearbeitet hatte und zwar in einem dichtge-
drängten heissen, mit Terpentindämpfen fiberladenen Atelier,
ohne je bei sich oder seinen Arbeitsgefährten irgend einen
schädlichen Einfluss des Terpentins wahrzunehmen, die toa
Marehal berichtete Vergiftung durch Terpentin -Inhalation
gänzlich in Abrede. (Momtear des hopü. 22. Jan. 1856.
Med! Central-Ztg. 1856 S. 134.)
Seit ich Marchafs Beobachtungen gelesen, war ich be-
müht, in meiner Praxis wie im weitem Verkehr Erkundi-
gungen über das Verhalten des menschlichen Organismus
g^en starken Terpentindunst einzuziehen. Von einer In-
toxicaldon oder selbst von schlinmiem Zufällen wie Kolik-
und Gelenkschmerzen und besonders von so bedeutendem
CollapsttS, wie Marchai anfährt, habe ich weder etwas ge*
sehen, noch gehört. Viele Personen, auch ich, können
ziemlich starken Terpentingeruch in geschlossenen Zimmern
Stunden lang vertragen ohne weitere Unbequemlichkeiten;
Andere bekommen bald Kopfschmerz, Eingenommenheit,
Schwindel, vornehmlich jugendliche Personen, schwächliche
VergiftiiBg durch Terpentmditiist. 287
Männer, sensible, anämische Frauen ^). Der Terpentingeruch
wird im Ganzen wohl unangenehm gefunden, aber einen
so heftigen Widerwillen, eine Idiosynkrasie, so dass alsbald
Nervenzufälle auftreten, wie sie OrjUa z. B. bei den Blumen-
gerüchen angiebt, habe ich nicht zu beobachten Gelegenheit
gehabt. Techniker, welche Tag für Tag mit terpentinhalti-
gen Lacken und Firnissen zu thun haben, wie Klempner,
Tischler, Stubenmaler, Anstreicher u. s. w., hatten theilweise
keine Beschwerden empfunden, theils hatten sie im Anfange
der Beschäftigung Druck , Eingenommenheit und heftigen
Schmerz im Kopfe verspürt, aber nie Ekel, Erbrechen, Ko-
liken u. s. w.; mit der Zeit hatten sich auch diese an den
intensivsten Terpentingeruch gewöhnt. Ebenso war es Apo-
thekern gegangen, wenn sie viel mit Terpentinpräparaten zu
thun gehabt hatten. Ein Anstreicher, der tagtäglich, selbst
im Winter bei geschlossenen Thüren, mit weissen Firnissen
(Leinölfirniss, Terpentinöl und Blei- und Zinkweiss) arbei-
tete, hatte nur zuweilen des Abends über starkes Brennen
der Augen zu klagen. Alle diese Personen befanden sich
während ihres Aufenthaltes in den mit Terpentindunst ge^
füllten Zimmern mehr oder weniger in Bewegung ; in einem
solchen Zimmer zu schlafen würde in unserer Gegend, nach
den Aeusserungen des Publicums zu schliessen, nur die
äusserste Noth wendigkeit veranlassen, da man gemeinsam
dies für gefährlich hält.
Wenn ich hiemach die Möglichkeit der Intoxication
durch Terpentin-Inhalation, wie biq Marchai behauptet, auch
nicht bezweifelte, so waren mir doch die von ihm angeführ-
ten Symptome aufiäUig. Ich stellte daher einige Versuche
an Thieren an, die mir allerdings noch andere Symptome
1) In gewissen Beziehnng erinnert somit des Verhalten des mensch-
lichen Organismus gegen Terpentindunst an das gegen- Tabak und
Tabakqaahn. D. Vf.
238 Vergiffcnng durch TerpentindmiBt.
ergaben, als sie Marchai beim Menschen beobachtet ha-
ben will.
Zu diesen Yersttchen bediente ich mich eines 18 Zoll
langen, 10 Zoll breiten und 9 Zoll hoben Holzkastens mit
yerschiebbarem Deckel und strich ihn an seinen 6 innem
Wänden mit rectificirtem Terpentinöl aus, wozu ungef&hr
10 Drachmen hinreichten. Nachdem das Oel getrocknet
war und ein starker Terpentindunst den Kasten erfüllte,
setzte ich die Thiere in denselben und schloss den Deckel
bis auf eine 1 Zoll breite Spalte, so dass sich jene frei bewegen
konnten und noch reichlich atmosphärische Luft erhielten;
ein in den soweit geschlossenen Kasten gesetztes Licht brannte
ruhig fort.
1. Am 4. Juni Abends 6 Uhr wurde ein gutgenährtes
weibliches Kaninchen in den Kasten gesetzt. Nach einigen
Minuten wurde dasselbe unruhig, wechselte öfters den Platz,
streckte die Nase empor, einen Ausgang suchend, ohne sich
jedoch unbändig zu geberden. Allmählig schlössen sich die
Lider; die Physiognomie des ganzen Thieres wurde die eines
betäubten. Nach 16 Minuten begann das Thier zu schwan-
ken, die Hinterbeine versagten und wurden gelähmt. Mit
den Vorderbeinen sich noch aufrecht haltend, reckte das Thier
den Kopf stark nach oben und nach hinten, fiel aber end-
lich um. Die Haare sträubten sich empor, die Athembe-
wegungen waren langsamer geworden, der Herzschlag
äusserst schnell. Koth ging ab, aber weder Würgen noch
Erbrechen wurde bemerkt. Schon nach 25 Minuten stiess
das Thier durchdringende Töne aus und schien dem Ver-
scheiden nahe. Nun aus dem Kasten genommen und auf
den Boden des Zimmers gelegt, athmete es sehr tief und
langsam, die Haütsensibilität war geschwunden, die Pupillen
mittelweit, ohne jede Keaction ; plötzlich traten Gonvulsionen
ein, die das auf der Seite liegende Thier im Kreise umher-
Vergiftung durch Terpentindiinsi 289
schleuderten. Dieselben dauerten mit Unterbrechungen ^
Stunde an und hörten unter leichten Zuckungen allm&hUg
wieder auf, die Eespiration wurde wieder leichter und schnel-r
1er, die Augen öffneten sich, die Lider reagirten wieder auf
Berührung, die Haare senkten sich, die Vorderfüsse erhielt-
ten ihre Festigkeit wieder. Das noch halbgelähmte und
halbbetäubte Thier wurde an das offene Fenster gebracht,
und hier erholte es sich nach einer Stunde soweit, dass es
wieder lief und frass; Abends 8 Uhr war es so munter als
zuvor.
2. Am 6. Juni setzte ich ein zweites gutgenährtes weib«-
liches Kaninchen in denselben Kasten, dessen Wände von
Neuem bestrichen waren. Anfänglich sass es ruhig, lief dann
unruhig an den Wänden hin und her, bald zeigte sich
aber an der Haltung des Kopfes und den sinkenden Augen*
lidern zunehmende Betäubung. Die Respiration verlangsamte
sich auch hier, Herzschlag viel schneller als sonst bei den frei*
lieh so ängstlichen Thieren, fast zitternd. Nach 17 Minuten
Convulsionen , welche das Thier heftig in dem Kasten umr
herschleuderten. Lidef geschlossen, Ohren angelegt, das
Thier zusammengefallen auf der Seite liegend. Nach 30
Minuten aus dem Kasten genommen, erholte sich auch dies
Thier innerhalb | Stunden und frass wie zuvor.
3. Bei einem 3 Monate alten, männlichen Kaninchen
(am 19. August) dieselben Erscheinungen nach 20 Minuten :
Unruhe, allmählig zunehmende Betäubung, Schwanken, Läh-
mung der Hinterbeine, Emporstrecken des Halses, tiefes^
schweres Athmen , endlich Liegen auf der Seite mit ausger
streckten Gliedmaassen, häufig von allgemeinen Convulsio-
nen unterbrochen. In diesem Stadium aus dem Kasten ge-
nommen, erholte sich das Thier nach 1| Stunde. Eigen-
thümlich hier das starke Aufsträuben der Haare und die
lange andauernde Parese der Hinterbeine.
240 Vergiftang durch Terpentindiiiist
4. Ei&e kleine Eatse (20. August) machte sehr ener-
gische Yersuehe zu entrinnen^ indem sie die stark gerCthete
Schnauze durch die schmale Oefihung zu pressen suchte 0»
speichelte sehr viel und zeigte erst nach 20 Minuten Sym-
ptome der Bet&ubui^. Allm&hlig auch hier Wanken und
Nachlass der Energie der Bewegungen, der sich aber nicht
wesentlich auf die ffinterbeine erstreckte ; vielmehr richtete
sich das Thier bald mit den Hinter*, bald mit den Vorder-
pfoten auf, sank aber sogleich wieder kraftlos zusammen.
Endlich convulsivische Bewegungen, die das Thier heftig
im Kasten umherschlenderten. Nach 35 Minuten lag die
Katze wie todt auf der Seite, athmete sehr langsam nnd
tie^ d^ Herzschlag blieb beschleunigt, wurde aber schwä-
cher. Aus dem Kasten entfernt und in frische Luft ge-
bracht, erholte sich auch dies Thier innerhalb einer Stunde,
nur hielten die schwankenden, zitternden Bewegungen noch
lange an.
5. Dieselbe Katze wurde 2 Tage später in denselben
neubestrichenen Kasten gesetzt. Die Erscheinungen wieder-
holten sich, Unruhe, Betäubung, Läh'taiung der hintern Glied-
maassen, Zuckungen einzelner Glieder (Scharren und Kratzen)
bei dem auf der Seite liegenden Thiere, allgemeine Convul-
sionen, langsames und tiefes Athmen. Auf der Seite und
zusammengefallen, lag nun das schwerathmende Thier in der
•
Ecke des Kastens und wurde so belassen. Nach 3 Stunden
lag es noch in demselben Zustande, nur schneller und nicht
so tief und schwer athmend, wie schlafend; nach 5^ Stunden
schien die Gehirnthätigkeit wieder freier, Pupille und Lider
1) Hierbei erschienen die Polices an der Schnauze, lagen aber bald
todt am Rande der Oeffiiung des Kastens und in diesem selbst. Bie
tödtüche Einwirkung des Terpentinöls auf kleinere Insecten, auf Schmet-
terlinge, Krätzmilben u. s. w. (Küchenmeister. Deutsche Klin. 1851.
34.) ist bekannt D. Vf.
Viergiftang durch TerpentiitdiiiiBt. 241
reagirten deutlich und schnell, aber die Bewegangea wurden
dem Thiere noch schwer. Nach 18 Stunden sass es wohl-
behalten in seinem Eäfich, hatte aber bisher jegliche Nah-
rung verschmäht.
6. Ein weibliches Kaninchen von 3| llonaten, sehr
munter und gutgen&hrt, erlag hingegen, nachdem es 34 Mi-
nuten im Kasten gesessen hatte. Die Erscheinungen waren
dieselben gewesen, wie in den andern Fällen. Einige Zeit
lag das Thier auf der Seite, tief und schwer athmend, als
es plötzlich unter Gonvulsionen verschied. Die Pupille war
kurz nach dem Tode beträchtlich verengert.
Bei der | Stunde nach dem Tode vorgenommenen Sec-
tion war Todtenstarre noch vorhanden. Gehirnhäute stark
hyperämisch, das Blut in den Himgeftssen wie in den
grossen Gei&ssstämmen des Halses und Rumpfes dunkelroth
und nicht geronnen. Lungen wie sonst beim Kaninchen
hellroth, doch hier mit deutlichen dunklem Blutpunkten
auf der Oberfläche. Rechtes Herz weich und schlaff, mit
flüssigem, dunklem Blute gefallt; linkes zusammengezogen,
fest und leer. Nieren reichlich mit Blut gefallt, wie auch
die Leber. Harnblase stark von Urin ausgedehnt.
7. Ebenso starb ein ausgewachsener starker Kater, nach-
dem er 33 Minuten in einem etwas grOssem, ebenso zu-
gerichteten Kasten, wozu beiläufig 23 Terpentinöl gebraucht
waren , zurückgehalten worden war. Eine Spalte von 1^
Zoll Breite und 8 Zoll Länge war offen gelassen, und in diese
Oefhung hatte das Thier längere Zeit die Nase eingepresst,
bis es krafibloser wurde und im Kasten hin und her tau-
melte. Ein reiner Erstickungstod ist demnach hier wie bei
dem Kaninchen Nr. 6. nicht anzunehmen, wof&r auch die Lei-
chenbefunde zumTheil sprechen. Die Erscheinungen waren bei
dem Kater auch anfänglich grosse Unruhe, dann Schliessen
der Lider, Taumeln und Schwanken, zitternde Bewegungen,
842 Yergiftmig durch Terpentindiiiuii
▼erlangBaoite und tiefe Reepiratioii, ZasammeiifeUen auf die
Seite, eirdlieh ConTalsionen, in denen das Thier nach kor-
stem Sebrei plötzlich erlag. — Die 1 Stande nach dem
Tode Torgenommene Section des noch in Todtenstarre be-
findlichen Thieres ergab in der Gehimhöhle reichliche An-
follung der Hirngefässe mit dunklem flussigen Blute, die Pa-
pille war enorm weit, die Bindehaut stark geröthet, das Auge
erschien wie aus der Höhle herausgetreten, sehr glänzend.
Vor der gerötbeten Schnauze viel Schaum, Zunge hinter
den Z&hnen. Lungen hellroth, auch mit Blutaustrittspnnkten
Yersehen; das rechte Herz weich und schlaff, reichlich mit
flüssigem Blute gefüllt, das linke zusammengezogen, leer.
Nieren, Leber, Milz blutreich, untere Hohlyene mit dunklem
flüssigen Blute angefallt. Harnblase von Urin ausgedehnt,
der aber nicht einen intensiven Veilchengeruch wahrneh-
men Uess.
8. Ein starkes weibliches, sonst träges Kaninchen wurde
dreimal zu verschiedenen Zeiten in den gleich zubereiteten
Kasten gesetzt. Betäubnngssymptome traten jedesmal nach
15—20 Minuten ein, die Bewegungsfähigkeit der Hinter-
beine wurde aufgehoben, es trat Schwanken und Taumeln
und zitternde Bewegungen einzelner Muskelpartieen , z. B.
der vordem Extremitäten, ein, zweimal ziemlich heftiger
clonischer doppelseitiger Lidkrampf, selbst allgemeine
Zuckungen. Dann sank das Thier ganz in sich zusammen,
und während es bald nach dem Einsetzen in den Kasten 42
bis 44 Bespirationszüge in der Minute gemacht hatte, machte
es jetzt nur 30— 32. In allen drei Fällen blieb das Thier lang-
sam und tief athmend, mit geschlossenen Lidern auf der
Seite mit ausgestreckten Hinterpfoten liegend, stundenlwg
sich ganz gleich ; nach 4 — 5 Stunden hatte es sich aber
v^eder angerichtet, und nach 5—6 Stunden sass es, wenn
auch träge und ohne Nahrung zu berühren, aufrecht' in dem
Vergütung durch Terpentiiidiiiist 248
unverändert gebliebenen Kasten. Es gelang nioht, das Thier
in dieser Weise zu tödten, und die Intoxicationsverdiiche gin-
gen ohne weitere bemerkbare Folgen vorfiber. —
Aus diesen Versuchen scheint hervorzugehen:
1) dass eine mit Terpentindunst reichlich erfüllte Luft
niefat allein niedern Thieren (Insecten, Milben u. s. w.)»
sondern auch kleinem Säugethieren gefährlich werden,
selbst tödtlich auf sie einwirken kann;
2) dass indessen nicht jedes Thier, selbst nicht gleicher
Gattung, gleich davon af&cirt wird;
3) dass die wesentlichsten Symptome der toxischen Wir-
kung der Terpentin-Inhalationen bei Thieren sind : Un-
ruhe, Betäubung, Schwanken und Taumeln, Bewegungs-
störungen, selbst Lähmungen der Extremitäten, beson-
ders der hintern, dann convulsivische Bewegungen
theils einzelner Muskelpartieen, theils allgemeine; dabei
anfänglich beschleunigte, bald aber verlimgsamte und
tiefe, selbst schwere Respiration und sehr beschleunig-
ter Herzschlag;
4) dass die Einwirkung einer reichlich mit Terpentin-
dunst vermischten Luft auf den thierischen Organis-
mus viel Aehnliches darbietet wie die Einwirkung ei-
ner Eohlendunst- Atmosphäre. Siebenhaar und Leh-
mann (Die Kohlendunstvergiitung. Dresden 1858.
Schmidt'8 Jahrb. Bd. 101. S. 274) geben u. A. für
die Einwirkung von Kohlendunst auf Thiere folgende
Zeichen an: ^Thiere, auf welche Eohlendunst einige
Zeit eingewirkt hatte, fingen an, unruhig zu werden,
wechselten öfters den Platz, liefen ängstlich an den
Wänden des Kastens hin und her, nach einem Aus-
gange suchend, ohne jedoch dabei unbändig zu wer-
den, zu scharren oder irgendwie Schmerz zu verra-
then.^ . . . „Bei allen Thieren, mit welchen Yei^uche
244 Vergiftimg durch TeipMitiitdiinBt.
angestellt wurden, Bchritt die Aufhebung des Wfllens-
eiiAusses auf die Muskeln oder jene Paralyse über-
haupt sichtlich von dem untern Thefle des Rficken-
markes allmfthlig nach aufwärts fort, bis das Ganze
mit der. vollständigsten Besinnungslosigkeit und Be-
täubung endigte. Die Thiere verloren nämlich vor
Allem zuerst die Gebrauchsfähigkeit ihrer Hinterfösse,
brachen, nachdem sie mehrmals hin- und herge-
schwankt, hier zusammen und vermochten sich nur
auf dem Yordertheile noch aufrecht zu erhalten, das
Hintertheil mühsam- nachschleppend, bis sie endlich
auch vom zusammenbrachen und g^ewöhnlich nach
einigen partiellen Zuckungen regungslos zur Seite
fielen.^ • . . „Die Herzschläge werden (im Anfange)
nicht nur kräftiger, sondern auch frequenter, arten
selbst in heftige Palpitationen aus, wobei jedoch im-
mer die Respiration zwar langsam, aber tief vor sich
geht.<< ...
5) dass der Tod durch Terpentindunst-Einathmung wahr-
scheinlieh nicht allein ein asphyctischer, sondern viel-
mehr ein neuroparalytischer ist Roche {Vünion
1856. 36. Schm. Jahrb. Bd. 91. S. 30.) nahm beide
Möglichkeiten an.
6) dass Entfernung aus der betreffenden Terpentin- Atmo-
sphäre und frische Luft das erste und Hauptmittel
gegen etwaige Terpentin-Intoxication sein würde. >
Nach diesen Versuchen und nach den oben angeführ-
ten Symptomen bei Menschen, virie ich sie bis jetzt nur in
Er&hrung bringen konnte, möchte aber anzunehmen sein,
dass in den beiden Yergiftung^ällen MarchaVu und in dem
oberflächlich erwähnten TodesfiEÜl eines jungen Mannes wohl
noch andere Momente mit eingewirkt haben. In dem ei-
nen Falle war die Betroffene zwar von guter Ck>nstitution,
Vergiftoiig dnrch T^rpentiiiddiiBt 345^
aber BeconTaleseentia von einem aeuten Gelwlorbeumatifl-
mus, und hier traten schon nach 3 Stunden heftig an^
dauernde Schmerzen in den Gelenken und im üaterleibe
mit den Erscheinungen eines starken Gollapsus ein. In dein
andern Falle traten als erstes Symptom Kolikschmersen auf
und zwar erst nach tagelangem Aufenthalt in dem betreffen*-
den Zimmer, und die Anf&lle wiederholten sich. Wenn es
auch Marchai gerade widerstreitet und Fossangrivei
und Pappenheim (Sanitätspolizei Th. 11. S. 145.) in ge«
wisser Beziehung dagegen sind, so ksmn doch die Vermu-
thung nicht unterdrückt werden, dass in diesem Falle die
von dem sich schnell verflüchtigenden Terpentinöle mitge*
rissenen Farben- resp. Blei-Theile mit zur Hervorrufung je-
ner Symptome beigetragen haben können. Eigenthümlich
ist wenigstens, dass^ Marchai „die Besinnung der Kranken
unberührt^, „die Intelligenz ungestört^ &ttd und Nichts von
Druck, Eingenommenheit, Schmerz im Kopfe, noch weniger
von Betäubung, Taumeln, Zittern, von Convulsionen oder
evidenter Lähmung bemerkt, da die Anßlle sich doch mehr-
mals wiederholten, also die Kranke wi^rscheinlich nicht
immer gerade in dem hohen Grade von Gollapsus gefunden
wurde.
Wenn wir somit auch die feste Entscheidung über die
toxische Einwirkung des Terpentindunstes auf Menschen
noch weitem Beobachtungen überlassen müssen, so glauben
wir doch die Gefahr desselben nicht so gross ansehen zu
können, wie Marchal^ der den Terpentinanstrich ganz ver-
boten wissen will. Dass eine mit Terpentindunst sehr reich-
lich angefftllte Luft in einem geschlossenen Zimmer auch
Menschen wird gefährlich werden können, lässt sich nach
allem Angefahrten nicht bezweifeln; indessen ist der Ter-
pentingeruch so penetrant und der Terpentindunst nicht so
heimtückisch wie der unmerklich einwirkende Kohlendunst,
246 Yeigfftaiig darch Terpentindanat.
80 dasB der Aufenthalt, zumal der ohne Bewegung, und be-
sonders das Schlafen in einejr so überoAssig mit Terpentin-
dunst erfftllten Atmosphäre wohl vermieden werden wird.
Die von Marchai angenommene und gef&rchtete Idiosynkra-
sie mancher Personen gegen Terpentindunst hfttte zwar in
der gegen Blumengerfiche (Orßla), yielleicht in der mancher
Individuen gegen Ghloroforln Analoga und i&nde sogar in
den oben mitgetheilten Versuchen an Thieren eine gewisse
Stfttze ; sie erscheint indessen doch noch nicht so unzweifel-
haft, dass ihretwegen der Machtspruch der Sanitätspolizei
gegen den Terpentinanstrich angerufen werden müsste.
S47
15.
Beiträge znr geriehtsärztliehen Bearthcilnng
der Fälle, wo absichtUehe Entziehung Ton
Nahmngsmitteln den Tod znr Folge hatte.
Vom
Dr. IVaffuery Kreis -Wundarzt in Torgau.
Die annatürliche Grausamkeit, Menschen durch Einsper-
rung und Entziehung von Nahrungsmitteln einem langen
^echthume und einem langsamen Tode zuzuweisen, gehört,
Dank sei es der fortschreitenden Cultur und Humanität,
gegenwärtig nur noch zu den seltenen Yerirrungen mensch-
licher Bosheit Meistens sind es Rinder, die von unnatür-
lichen Eltern, Mündel, die von ihren Vormündern ^ Gefan-
gene, die von grausamen Kerkermeistern, Kranke und Greise
und andere hülflose Personen, die von ihren Angehörigen
aus Rache oder Eigennutz jenem traurigen Schicksal preis-
gegeben werden. So selten solche Fälle auch noch ge-
schehen mögen, so sind sie doch hin und wieder vorge-
kommen und zur Beurtheilung einzelner Gerichtsärzte ge-
langt, welche aber in Betracht der Mangelhaftigkeit der
positiven Kennzeichen im Leichenbefunde gewiss stets ihre
grosse Schwierigkeit in Bezug auf ihre Beurtheilung dar-
boten.
Im Monat August vorigen Jahres ereignete sich im hie-
sigen Kreise ein solcher Fall.
248 Hungertod.
Der im Armenhaose zu Lebien wohnende Handarbeiter
Schmidt fand bei seiner Rfickkehr aus der Corrections- An-
stalt zu Halle nach achtjähriger Haft seine Familie um zwei
Kinder, welche seine Frau während der Zeit geboren hatte,
einen Knaben von 4 Jahren und einen andern im Alter
von einem Jahre, unerwartet vergrössert, und je weniger
dies Ereigniss ihm eben besonders erfreulich sein konnte,
desto mehr bot es ihm Veranlassung, so oft er diese Kin-
der zu sehen bekam, seine Frau auf die brutalste Weise zu
misshandeln und stets mit der Androhung: dass er seinen
Zorn durch die gewaltigsten Schläge an ihr auslassen würde,
wenn sie die Kinder nicht bei Seite bringe. Bis dahin
waren, wie Zeugen bekundeten, beide Kinder gesund und
nach Kräften von der Mutter gut ernährt
Yon nun an — . Anfangs Juli — wurden beide von
derselben in einer verschlossenen Kammer auf dem Boden
desselben Hauses, auf durchnässtem , halbverfaultem Stroh
und Heu liegend und mit vermoderten Lumpen bedeckt,
versteckt gehalten, ihnen anfänglich auch wohl von der
llntt^ heimlicherweise noch einige Nahrungsmittel, welche
jedoch nur in schwerem Brod, einem aus Brod gekauten
Zulpe, Kartoffeln und andern, weniptens f)ir das jfingere
Kind nicht passenden Stoffen bestanden, nach und nach
aber seltener und endlich gar nichts mehr gereicht, sei es
in der Absicht, sie dem Hungertode zu weihen, oder aus
unverantwortlicher Nachlässigkeit.
Der ältere, vierjährige Knabe, hatte durch ein Loch in
der Wand aus der verschlossenen Kammer bald einen Aus-
weg zu gewinnen gewusst und auf einem, selbst ftlr Er-
wachsene beschwerlfchen und geflUirlichen Wege vom Boden
herab und hinauf sich Lebensmittel aus der Nachbarschaft
herbeigeholt und sieh auf diese Weise leidlich gesund und
am Leben erhalten; sein jfingerer, einjähriger Brud^ aber
Hnngiftod. 249
war dem Siechthttme bereits so weit Terfidlen, als am
22. August die Entdeckung und Auffindung der beiden
Knaben Seitens eines Nachbarn und eines herbeigerufenen
Gensdarmen gemacht wurde, dass er schon am folgenden
Tage Yerschied«
Erst am 1. September wurde Herrn Kreis-Physicus Dr.
Koppe und mir Seitens des hiesigen Ereisgerichts aufgege-
ben, die legale Obduction des Leichnams zu vollziehen.
Der Leichnam war bereits beerdigt, hatte 7 Tage in der
Erde gelegen und wurde in unserer Gegenwart ausgegraben.
Aenssere Besichtigung.
Das Süssere Ansehen des Knaben entsprach dem Alter von einem
Jahre, er war 2 Fuss 3 Zoll rheinl. lang ; seine Fäulniss war schon be-
deutend vorgeschritten, indem sich dunkelblaue grüne Färbung überall
zeigte, die Oberhaut an vielen Stellen in abgelöste Lappen und beide
Augäpfel gänzlich zusammengefallen erschienen.
Die allgemeine Abmagerung des Körpers hatte aber einen so
hohen Grad erreicht, dass die Haut wie ein dünner Ueberzug des
Knochengerippes sich darstellte. Im Ober- und Unterkiefer befanden
sich je zwei Zähne. Aeusserlich sonst nichts Bemerkenswerthes. —
Bei der
Innern Besichtigung
wurde die Eröffnung der Bauchhöhle den übrigen vorgezogen.
Wie im Aeussern regelmässige Bildung stattfand, so wurde diese
auch bei allen Innern Organen wahrgenommen, und war nur die
ausserordentliche Magerkeit auffallend; die durchschnittenen Bauch*
decken waren sehr dünn und fettlos , das grosse Netz gleich einem
Spinnengewebe, Magen und Darmcanal erschienen in schmutzig röth-
Hcher Färbung, nach hinten dunkler, selbst schwarzblau. Eben so
schwarzblan sahen die Gekröse aus, deren Drüsen nirgends krankhaft
beschaffen waren. Der Magen war von Luft aufgetrieben, der Darm-
canal weniger. Der Inhalt des Magens bestand in einer Unze dünner,
jauchiger, röthlich-bnraner Flüssigkeit, die Schleimhaut überall ge-
sund, ihre Färbung jener der äussern Oberfläche entsprechend. Der
Dünndarm enthielt an verschiedenen Stellen Spulwürmer, von Nah-
rungsstoffen aber keine Spur, nur hin und wieder etwas gelblichen
Darmschleim auf der fiberall normalen Schleimhaut. Der Dickdarm
war ebenfalls vollständig leer und im Uebrigen regelmässig beschaf-
fen. Die Leber sah grünlich -braun aus, war blutleer, sonst ohne
Fehler, obschon wenig erweicht Die Gallenblase erschien mit didc*
flüssiger, dunkelbrauner Galle stark gefüllt. Auch die Milz war ohne
Fehler, enthielt aber noch ziemlich viel dunkles, dünnflüssiges Blut,
Cßap€r, Vj80hrft. f. ger. M«d. XXIL 2. ii
welches Dach g^n^ettten ißinsi^Ditifli^ ^^» ibrem G^w^b« heryfurqiioUt
Die Bauchspeicheldrüse erschien sehr klein und bereits erweicl^t, die
beiden Nieren ebenfalls erweicht, blutleer, sonst aber gesand. Die
•OFouUe Harnhlase enthielt eine halbe Unze stark ammoniakaUsch
riechenden hellen Urin. Die grossen Gefässe der Bauchhöhle erschie-
nen blutleer, eine Flüssigkeit fand sich in letztere nicht ergossen.
In der Brusthöhle hatten die Eingeweide die normale Lage, wie
in der Bauchhöhle. Die Lungen waren von Luft stark aulgetrieben,
nirgends adhärent und enthielten noch Blut in ihrem normalen Ge-
webe. Der Herzbeutel enthielt keine Flüssigkeit; das Herz aber, an
welchem nichts Eninkhaftes bemerkt wurde, war in seinen Kammeni
wie in seinen Vorkammern mit zum Theil geronnenem Blut stark ge-
füllt, eben so die grossen Gefässstämme. Die Brustsäcke fanden sich
leer. Die Thymusdrüse war verschwunden. Die Sehieimhaut des
Kehlkopfes und der Luftröhre sah aschfarben aus.
Kopf höhle. Der Durchschnitt der ungewöhnlich dünnen und
blutleeren Kopfhaut liess nichts Regelwidriges erkennen, eben so
wenig der Durchschnitt der festen Schädelknochen und ihrer äussern
und innem Oberfläche. Dasselbe negative Ergfebniss hatte die Unter-
suchung der Hirnhäute der grossen Blutleiter und der GefässgeQechte.
Auffallend war nur die geringe Blutmenge in den Gelassen. Die Sub-
stanz des grossen und, des kleinen Gehirns war in der Erweichung
so weit vorgeschritten, dass eine genauere Untersuchung seiner ein-
zelnen Theile nicht mehr stattfinden konnte; doch war dieselbe dem
Anscheine nach normal beschaffen gewesen.
Unser vorläufiges Gatachten lautete:
^£s hat sich weder äusserlicfa am Kinde, noch in selt-
nen innem Organen etwas gefunden, was eine gute Er-
nährung und eine Fortdauer des Lebens hätte hindern kda*
nen. Die im Darmcanale vorhandenen Spulwürmer waren
kein Grund des Todes. Da das Kind dennoch in Abz^-*
rung verfiel, so kann man nur f&r wahrscheinlieh und
glaublich halten, dass es aus Mangel an passender und hin-
reichender Nahrung und Pflege gestorben ist.
Dr. Koeppe. Dr. Wagner,^
Fassen wir das Ergebniss obigen Leichenbefimdes wa^
sammen, so liegt auf der Hand, dass unser ürtheil nur auf
Wahrscheinlichkeit beruhen konnte, da dasselbe nur aus
negativen Kennseichen hervorging, wie dies gewiss auch in
allen ähnlichen Fällen, wo durch Entziehung von Nahrungs-
HmigwtDd. 251
mittein der Tod erfolgt ist, niemals anders sein kann; eine
positive Gewissheit konnte nur aus der Zusammenstellung
der Ereignisse, welche dem Tode vorausgingen, begründet
werden, wie sich denn solche im Verlaufe der gerichtlichen
Verhandlungen auch ergab, weshalb die Eltern des verhun-
gerten Kindes durch das hiesige Geschwornengericht am
20. November v. J. als schitldig erkannt und verurtheilt
wurden.
Um einigermaassen ein Bild der an den Leichen Ver-
huBgerter sich darbietenden Veränderungen zu entwerfen,
^lanbe ich mir, diesem von uns beobachteten Falle noch
zwei andere anzureihen, und zunächst einen von Wildberg
(Magazin für die gerichtl. Arzneiwissenschaft, Bd. I. S. 424,
Berlin 1832) mitgetheilten Obductions-Bericht eines Mannes
hier wiederzugeben, der am 7ten Tage den Hungertod unter
den Trümmern einer zusammengestürzten Scheune gefunden
hatte.
Der Leichaam des ungefähr 50jährigen Mannes war sehr abge-
magert, welk und blaas, und obgleieh noch ganz frisch, so verbreitete
er doeh einen eigenthümlichea, schaif stechenden, ron dem cadayer6^
sen ganz verschiedenen Geruch um sich; die Augen standen offen,
die AUmgmea derselben war geröthet, wie mit Blut unterlaufen, die
Zwige und die ganze Mundhöhle ungemein trocken; Brustkasten und
Oliedmaaeeen stellten ein mit Haut überzogenes Gerippe dar, und der
Bauch war so zusammengefallen, dass die Bauchdecken auf der Wir-
b^&üle auflagen. Die Lungen füllten die Brust nicht aus, waren
züsammengesohrumpft und weissgelb, das Herz klein, welk und bleich;
in demselben befand sich wenig geronnenes Blut von scharf stinkendem
Geruch. Noch weit stärker machte sich dieser Geruch bei Eröffnung
der Ban^ihökle bemerkbar; in derselben fehlte jede Spur von Fett,
der Magen war ganz »usammengeschrompft und enthielt eine geringe
Menge dunkler, schleimiger Flüssigkeit, die Schleimhaut desselben er-
sehian an d^ Cardia wie entsfindet, an dem Sacctbs coecm hin und
wieder corrodirt. Die Gedärme fanden sich sehr verengert und blos
die dünnen bis auf etwas der auch im Magen angetroffenen grünlichen
Flüssigkeit ganz leer, in den dicken fanden sich einige vertrocknete
E^exemente vor. Die Leber war bleich, die Galtonblage von wider-
oatücUcher Grösse und von dicker, dunkelbrauner Galle strotzend,
voa der auch alle naheliegendeu Theile gefärbt waren. Die übrigen'
17*
252 Hnogatod.
Unterleibseingeweide waren klein, welk, zügammengegehnimpft, blut-
leer. Die Harnblase enthielt eine geringe Menge eines dunkeln, scharf
stinkenden Urins; die innere Haut derselben war entzündet. Bei Er-
öffnung der Kopfhöhle wurden die Sinus der harten Hirnhaut nur
wenig mit Blut angefüllt, zusammengefallen, das Qehim trocken und
fast blutleer gefunden.
Ein anderer, in HufelancCs Journal der practischen Heil*
künde, Bd. X. S. 182, von Qerlach mitgetheilter Leichen-
befund betrifPt einen Musketier, der während eines 4monat-
liehen Aufenthalts im Lazareth überhaupt nur in 24 Tagen
etwas genossen hatte und wiederholt bis zu 30 Tagen hin-
ter einander alle Nahrungsmittel, ausser Wasser, sich Ter-
sagte und endlich starb.
Der Leichnam war äusserst abgemagert, das Os sacrum durch
Decubitus blossgelegt, die Muskeln blass, dünn und aufgelöst, so dass
sie beim blossen Anfassen sich trennten. Aeusserlich war am Kopfe
nichts zu bemerken, nur dass die Hautbedeckongen wie angespannt
über der Himschaale lagen, die Augen tief in ihre Höhlen zurückge-
sunken erschienen. Aus den Ohren floss gelbliche Feuchtigkeit, die
Zunge zeigte sich schwarz und trocken. Nach Entfernung des Schä-
delgewölbes fand man die harte Hirnhaut grösstentheüs von derselben
gelöst, die Blutleiter verengert und blutleer, die fbccAtonCschen Drü-
sen gross und angesdiwollen. Das Gehirn selbst war zusammenge»
fallen, eingesunken, an einzelnen Stellen einen halben Zoll von der
harten Hirnhaut entfernt; die graue Himsubstanz erschien weniger
dunkelgeförbt wie gewöhnlich, die Marksnbstanz gelblich, die Him-
substanz tlberhaupt schlaff und trocken. Die Himventrikel enthielten
gelbliches Serum, auch auf der Basis cranii befand sich eine An"
Sammlung von Wasser. Bei der Untersuchung d^ Brusthöhle zdgten
sich beide Lungen an die Rippen -Pleura, die linke ausserdem noch
an den Herzbeutel durch alte Adhäsionen angeheftet, die linke Lunge
war entzündet und vereitert, die rechte schlaff und zusammengefallen.
(Dass dieser Befund in den Lungen mit der vorausgegangenen Ent-
haltung von Nahrung nicht in Zusammenhang zu bringen und einem
davon unabhängig ^tstandenen Lungenleiden angehört, versteht sich
wohl von selbst.) Nach Eröffnung der Bauchhöhle wurde das Netz
ganz ohne Fett gefunden und war fast ganz geschwunden. Die Leber
zeigte sich verhärtet, weisslich, mit kleinen, schwärzlichen Flecken
besetzt; die Oallenblase war nur zwei Drittheile grösser, als im nor-
malen Znstande, und ragte mit ihrem Grunde an d^n untern schar-
fen Rande der Leber in der Grösse einer Faust hervor. Die nahe
liegenden dünnen Gedärme, so wie der Queerdann, waren von der
Hnn^ertod. 253
dnrchgeschwitsien Galle gelblich geftrbt, der Ductus ehohdockus ver-
engert und einem Ligamente ähnlich; die Milz, mürbe, schwärzlich von
Farbe, zerfloss beim Anfassen nnd war grösser als gewöhnlich. Der
Magen war sehr klein, znsammengezogen , leer von Speisen und ent-
hielt einen klebrigen weissen Saft; anderweitige Veränderungen und
Fehler Hessen sich an demselben nirgends wahrnehmen. Die Gedärme
waren schwarzbraun, wie brandig, das Colon descendens und das
Rectum mit harten, stinkenden Excrementen angefällt und sehr aoB-
gedehnt. Das Pancreas schien gesund, die Nieren hin und wieder
mit gelblichen Flecken besetzt; in den Malpighi' sehen Pyramiden
aeigten sich einzelne kleine Geschwüre. Die Urinblase ^nrar sehr gross
und zur Hälfte mit sehr übelriechendem Urin angefüllt.
Stellen wir die Ergebnisse dieser drei Leichenbefunde
in Parallele, so sehen wir dieselben zmn grössten Theile
sehr von einander abweichen und nur in einzelnen Punk-
ton sich einander nähern, und diese wenigen sind auch die«
selben, welche in den Lehrbflchem der gerichtlichen Me-
dicin als Merkmale des Hungertodes namhaft gemacht
werden.
Die Leichen Yerhungertor sind im höchsten Grade ab-
gemagert ; der Magen ist leer, zusammengezogen, an einzel-
nen Stellen, YorzugUch am Magenmunde, geröthet, in Folge
passiver renöser Congestionen , auch wohl wirklich entzftn-
det, nach Einigen brandig, die Häute desselben nicht selten
verdickt, die Schleimhaut erweicht, zuweilen corrodirt. Mit-
unter werden im Magen blutige Massen oder eine scharfe,
zersetzte Flüssigkeit angetroffen. Die Därme sind ebenÜEdls
leer, zusammengefallen, verengt, von weisser, blasser Farbe,
oft^ wie der Magen, an einzelnen Stellen geröthet, entzün-
det, selbst brandig. In seltenen Fällen werden im Magen
. üeberbleibsel von gänzlich ungeniessbaren Sachen, Erde,
Sand, Leder, Lappen, womit der Hungernde seine Qualen
^u stillen versucht hatte, angetroffen. Die Leber und Milz
sind stark mit Blut überfüllt, die Gallenblase in der Regel
von einer dunkeln Galle strotzend und stark ausgedehnt
und die wgränzenden Organe von der übermässigen An-
254 Haofertod.
sammhing und AuBscfawiteaiig der Galle oft wefiftfn bTaün-
gelb gefärbt. Die Muskeln sind sehr dann, welk und leicht
zerreissbar, alles Fett unter der. Haut, im Netze und Ge^
kröse verschwunden. Die Blutgefässe erscheinen grössten-
theils leer^ nur In den grossem Gefässstammen findet sich
eine geringe Menge Blut angesammelt, welches, wie alle
Säfte, Spuren der Zersetzung und Auflösung zeigt, daher
auch die Leichen Verhungerter rasch in Fäolniss übergeheiu
Die von Lucas und Collard de Martigny (s. Tiedemann^B
Physiologie, Bd. 3.) an Thieren angestellten Yersuehe lie-
ferten dieselben Resultate. Endlich ist noch zu bemerken,
dass man zuweilen die Extremitäten, so weit sie mit den
Zähnen erreicht werden konnten, angenagt gefimden hab^i
will, indem Verhungernde wohl zuletzt sogar an sich selbst
Hand anlegten, um den wüthenden Hunger zu beschwichtigen.
Die Veränderungen, die bei den durch Hunger get5d<-
teten Menschen nach dem Tode beobachtet werden, erleiden
aber nothwendigerweise theils durch zufällige äussere um-
stände, welche auf sie einwirkten, z. B. grosse Kälte, wo
dann gleichzeitig Zeichen des Eririerens vorhanden sein
können, theils durch die verschiedensten, während des Le-
bens mehr oder minder unabhängig von der stattgehabten
Entziehung der Nahrungsmittel entstandenen Krankheiten,
theils durch hinzugetretene anderweitige Misshandlungen
und Verletzungen, zahlreiche Modificationen. Es wird daher
auch der Sections-Befond in den einzelnen Fällen, je nach
der Individualität des Falles, sehr verschieden ausfallen.
Namentlich werden da, wo dem Tode ausser der Entziehung,
der Nahrung langwierige Einsperrung vorausging, die hier
sich entwickelnden Dyskrasieen acute und chronische Leide^
an dem Leichnam, die ihnen eigenthümlichen materiellen
Veränderungen neben den Erscheinungen, welche von dem-
erlittenen Hunger herrühren, erkennen lassen.
ttiiiig«ft6d. 355
Stn YergUfiA der drei oben mitgetheüten OMuctioits-
Berichte lehrt, dass die ällgemeineti Erseheiaungen, die Ab-
ifiAgeraiig deB Körpers, die Blutleere, welche dureh die
mangelhafte Ernährung und Blutbereituiig bedingt sind, so*
wokl bei Itmgsam als bei rasch erfolgtem Hungertode die-
selben sind, während die örtlichen Yeränderungen im Ma-
gen und Darmcanal dagegen sich in beiden Fälleti ^er-
sehieden darst^len. Fand nämlich eine aHmählige Entstehung
der Nahrungsmittel Statt, die erst nach längerer Zeit zum
Tode fiELhrte, so erseheinen meist der Magen und Dartncanal
klein, zusammengesdirumpft^ leer, ihre Häute verdünnt, ohne
Konstige Structurveränderung; war dagegeb die Entziehung
der Speisen allein oder zugleich der Getränke eine voll-
ständige, absolute^ und tritt sie mit einem Male ein^ so trifft
man meist den Magen und Darmcanal im Zustande einer
heftigen, stellenweise brandigen Entzündung oder Erwei-
chung, lodess ist dieser Unterschied nicht constant, und
kann daher in keiner Weise benutzt werden^ um daraus
einen Schluss auf die Art und Weise, in welcher die Ent-
ziehung der Nahrungsmittel stattgefttnden hat, zu ziehen.
Ebenso geringen Werth hat die Beobachtung, dass bei den
langsam durch Hunger getödteten Personen^ welche überhaupt
mehr allmählig an Schwäche und Erschöpfung dahinwelken,
die Fäulniss später eintritt und die Leichen mehr austrock-
nen, während sonst die Fäulniss bei Verhungerten in Folge
der schon während des Lebens entwickelten Säfteentmi-
sehung sich sehr rasch einzustellen pflegt. Es hängt aber
d^ Eintritt der Fäulniss wohl weniger von der Art und
dem Grade der Entziehung der Nahrungsmittel, als vielmehr
vcm dem Alter, der besondern Eörperbeschaffenheit des Ge-^
tödteten und anderer äusserer zufälliger Umstände ab, kann
daher wegen seiner Unsicherheit nichts entscheiden.
Prüfen wir nun die einzelnen, in den Leichen Yerhun-
256 Hiiag«vloi*
gerter uigetroffeaen Yerftndenuigeni genauer, so tbeneogea
wir ans, dass keine einzige derselben dieser Todesart ans*
schliesslich angehört und als ein charakteristisches Kenn-
zeichen derselben gelten kann.
Die allgemeinen, an den Leichen sich zeigendoi Ver*
faiderangen, wie die grosse Abmagemng des Körpers, die
Blutleere der grossen GeAsse, das Schwinden aller Organe,
gehören allen demjenigen chronischen Krankheiten gemeinr
Bchaftlicb an, in welchen der Tod ans Erschöpfung erfolgt, es
möge dieser nim und die sie bedingende mangelhafte Ern&hnmg
durch Vereiterung eines zum Leben nothwendigen Organs^
durch organische Pseudoproductionen, Tuberkel, Krebs^ Mark-
schwamm, durch Alterschw&che, andauernde Skfteverluste al-
ler Art, oder durch langwierige Nervenleiden berbeigef&hrt sein.
Alle diese Zustände fuhren die höchste Abmagerung, Blutleere,
wie sie nur je an Leiehen Verhungerter beobachtet werden
kann, mit sich. Bei Schwindsuchten und Zehrk|;ankheiten,
welche durch Vereiterung und organische Destruction be-
dingt sind, werden freilich die materiellen Veränderungen
in dem Organe oder Gewebe, welches der Sitz der destructi-
yen Metamorphose ist, den Arzt aber die Ursache der Ab-
magerung aufklären; jeden&lls wird er aber aus dem Sec-
tions-Befimde allein sehr oft noch nicht entscheiden können,
ob nicht neben der krankhaften Consumtion eine Entziehung
der Nahrungsmittel eingewirkt und an der Herrorbringung
der Abmagerung und Blutleere Antheil gehabt habe. Ner-
venleidm, Tabes ^ Hectik in Folge von Säfteverlust, z. B.
Onanie, geben sich an Leichen durch keine organischen Ver-
änderungen zu erkennen ; solche Leichen sind daher denen Ver-
hungerter nicht bloss äusserlich sehr ähnlich, sondern stimmen
mit diesen auch in dem Mangel organischer Destructionen
überein, besonders wenn der Hungertod durch allmählige Ent-
ziehung der Nahrungsmittel herbeigef&hrt worden ist.
Huagertod. 257
Die feiiHge AuflSsiiiig und Zersetemig der Slfte, welche
aa Leichen Yerhungerter, die durch plötzlich eingetretene
g&Qzliche Entziehung der Nahrungsmittel rasch dem Tode
anheimgefallen sind, bemerkt werden, ist nicht bloss y^>
fi^iedenen chemisehen, auf die SSfteentmischung überhaupt
und anomaler Blutmiscfaung insbesondere beruhenden Krank-
heiten, z. B. dem Scorbut, der Blutfleckenkrankheit, eigen,
scmdem auch bei Faulfiebem, den schlimmem Formen des
Typhus eine wesentliche Erscheinung, sowohl w&hrend dea
liObens, als auch nach dem Tode. Wenn nun aui^h eine be-*
deutende Abmagerung des Körpers beün Scorbut und der
mit ihm yerwandten Blutfleckenkrankheit nur durch ander-
weitig hinzugetretene zufällige ümstimde herbeigeführt wird^
nicht wesentlich zu den Symptomen gehört, die Leidien
solcher Kranken daher nur in seltenen Fällen äusserlioh
eine Aehnlichkeit mit denen Verhungerter zeigen, so ist
dies bei Leichen der an Typhus Verstorbenen um so mehr
der Fall. Hier ist nicht bloss eine faulige Entmischung
des Blutes und der Säfte, sondern auch oft, wenn der Tod
nach längerer Dauer der Krankheit erfolgte, eine bedeutende
Abmagerung des Körpers, Blutleere, namentlich aber auch
Böthung, selbst Entzündung an yerschiedenen Stellen des
Magens und Darmcanals vorhanden; häufig finden sich in-
dess weder an diesen noch an andern Organen deutlich
ausgesprochene krankhafte Veränderungen.
Alle diese Zustände treffen wir auch bei den Leichen
Verhungerter an, und es leuchtet hieraus ein, wie schwierig
unter Umständen die Entscheidung werde, ob die an ei-
ner Leiche wahrgenommenen Erscheinungen dem Hunger-
tode oder dem Typhus beizumessen seien, wenn über die
Verhältnisse während des Lebens sieh nichts ermitteln
lässt.
Wichtiger und in näherer Beziehung zu den Wirkun-
358 HttngcffML
gen des Hmigers etehen die in den Leioken Verhnbgerter
wahigenommenen YerSadeningen des MagMS und Dann»
caniüs. Die Leerheit des DraetuB inteatmalü^ das Znsam-
mensebrompfen desselben, sind unter diesen die am wenigsten
dem Hungertode aossdiliesfilidi angebftrenden Zeichen; man
trifil sie überall an, wo l&ngere Zeit vor dem Tode, wie bei
allen Zehrkrankbeiten, Hectik, Tabss^ Mara^musj die Thft-
tbigkeit der Digestionsoigane daniederlag. Die SOtbnng
«nzelner Stellen des Magens und Darmeanals, die Erosio*
nen der Magensebleimbant, die gangrinOse Entzündung,
Erweichung einzelner Partieen derselben, welche Erseheinun-
gen J. Bunter von der chemischen Einwirkung des schar-
fen Magensaftes auf die leeren W&nde des Magens herleitete
und einer Selbstverdauung zuschrieb, sind zwar nicht con-
stant, aber hftufig bei Yerhungerten wahrgencmmien wordM«
Sie finden sich, wie bereits erwfthnt, besonders dann YOr,
wenn ununterbrochen Mangel von Speise und Trank den
Hungertod rasch herbeigef&hrt hat. Sie bieten fibrigms
ebenfalls nichts Chari&teristisehes dar und unterscheiden
sich in keiner Beziehung von den Veränderungen, welche
durch Krankheiten des Magens und Darmcanals herbeige*
föhrt werden. Die gleichzeitige grosse Abmagerung des
Körpers wird freilich bei acuten Entzündungen dieser Ge-
bilde, welche rasch tOdtlich endeten, vermisst werden. Bei
chronischen Leiden der Digestionsorgane, chronischer Qa$trir
tU^ langwieriger Cardialgie, chronischem Erbrechen aus ner-
vöser Verstimmung, wie es wohl bei hysterischen Franen
vorkommt, fehlt indess auch die Abmagerung nicht. Nach
dem Tode treffen wir bei allen diesen Leiden ähnliche Stmc-
turveränderungen, wie bei Verhungerten an; oft fehlen sie,
wie bei diesen. Die eigentlichen organischen Krankheiten
des Mundes, der Speiseröhre, des Magens und Darmcanals,
Verhärtungen, Skirrhen, Fungo»täten vennögen zwar, indem
^ Yerengenu^en des Speisecanals bediagea mid die Aaf^
nähme und Fortleitung der Nahrangsmittel meehaoisch Yer"-
hindern, den Hungertod im eigentlichen Sinne des Worts za
veranlassen, wie ein solcher Fall in Caaper's Handbuch der ge-
richtlich medieinisehen-Leichendiagnostik (ger. Medicin Bd. I.)
S. 374 beschrieben steht, werden aber immer durch die ihnen
eigenthomlichen Structurveränderungen leicht erkennbar s^
und keinem Zweifel über die Veranlassung des Todes Raum
geben. Noch verdient auf die Beschaffenheit des Magens
bei Verhungerten die grosse Aehnlichkeit derselben mit dem
Zustande erw&hnt zu werden, in welchem dieses Organ bei
den an Marasmus senilis Verstorbenen angetroffen wird.
Auch hier ist der umfang des Magens geschwundm, seine
Häute zusammengezogen, verdichtet, die Schleimhaut oft ge-
rötfaet, zuweilen an einzelnen Stellen erweicht (Schönlein'' ^
Vorlesungen über allgemeine und specielle Therapie Bd. L
S. 91). Rechnet man hierzu, dass grosse Abmagerung,
Blutleere auch heim Marasmus nm fehlen, dass hier wie bei
Erhungerten Structurveränderungen in andern Organen ver-
misst worden, so ergiebt sich eine völlige üebereinstimmung
des Leichenbefundes. Nur das constatirte Alter des Gestor-
benen kann in dieser Beziehung in zweifelhaften Fällen ei-
nigen Aufecbluss gewähren. Ungleich beweisender für statt-
gefundenen Hungertod möchte die Anwesenheit ungeniess-
barer Dinge, wie Sand, Kalk, Steine, Leder, Bekjeidungs-
material und dergleichen, welche der Hungernde in der
Verzweiflung zu sich genommen, sein; allein abgesehen da-
von, dass sie in den meisten Fällen gewiss fehlen wird,
liefert auch sie an und für sich noch keinen positiven Be<
weis des stattgefundenen Hungertodes, daderOenuss solcher
Dinge in Folge eines besondern Gelüstes stattgefunden ha-
ben kann. Bekannt ist es, dass anScrppheln oder Rhachi-
tis leidende Kinder, bleichsüchtige Mädchen, schwangere
360 Hungertod.
Frauen nieht selten von solchen Gelüsten nach Erde, Sand,
Kalk und dergL befallen werden, blödsinnige, in thierische
Dummheit versunkene Indiyidnen die nngeniessbarsten, ekel-
haftesten Gegenstftnde, ja sogar ihren eigenen Eoth verzeh-
ren. Yon einigen Autoren wird anch den zuweilen an Lei-
chen Erhungerter Yorgeiundenen Verletzungen, wenn diese
nach Beschaffenheit und Sitz zu der Annahme berechtigen,
dass der ünglflckliche sie sich mit den Zähnen aus Ver-
zweiflung zugef> hat, ein grosser Werth hinsichts der Er-
kenntniss des gewaltsam erlittenen Hungertodes beigelegt.
In der Mehrzahl der F&lle werden aber dergleichen Ver-
letzungen gewiss vermisst werden, da der Trieb der Selbst^
erhaltung selten in dem Grade und der Ausdauer vorhanden
sein wird, dass ihm ohne Rücksicht auf so bedeutraden
körperlichen Schmerz und auf Kosten des eigenen Körpers
genügt wird. Ueberdies wird die Frage schwer zu beant-
worten sein und aus den Erscheinungen an der Leiche allein
nicht entschieden werden können, ob solche wirklich vor-
gefiindenen Verletzungen der unglückliche sich selbst beige-
bracht habe, oder sie ihm von Andern gewaltsam zugeftgt
wurden, oder durch irgend einen Zufall entstanden sind.
Beck (Elemente der gerichtlichen Medicin I. 518) rech-
net zu den charakteristischen Merkmalen des Hungertodes
offenstehende und entzündete Augen, wie sie in dem oben von
WHdberg. erzählten Falle stattfanden. Andere Schriftsteller
erwähnen dieses Zeichens gar nicht; auch lässt sich nicht
einsehen, in welchem ursächlichen Zusammenhange diese Be-
schaffenheit der Augen mit den physiologischen Wirkungen
des Hungers stehen soll.
Die reichliche Ansammlung von Galle, die Blutüberfll-
lung der Leber und Milz, welche bei Erhungerten gemein-
lich wahrgenommen wird, ist von den Stockungen der Di-
gestionalthätigkeit während desHungems abzuleiten und würde
Hongertod. 26^1
als ein wesentliches Kennseichen des Hungertodes angese-
hen werden können, wenn sie nicht bei den verschieden-
artigsten Krankheitszuständen und unter den mannigfachsten
YerhSltnissen TorkSmen, wodurch sie alle Beweiskraft för
stattgefundenen Hungertod verlieren müssen.
Nach dieser Ausemandersetzung gewinnen wir die üeber-
zeugung, dass keine einzige in den Leichen Erhungerter
wahrgenommene Erscheinung weder f&r sich allein noch in
der Gesammtheit als charakteristisch fftr den Hungertod und
demselben ausschliesslich eigenthümlich angesehen werden
kann. Wie schon erwähnt, bieten die Sections-Resultate von
Typhus-Leichen eine überraschende Aehnlichkeit mit den bei
Erhungerten sich ergebenden Leichenbefunden dar; eine
gleiche Uebereinstimmung herrscht zvdsohen diesen und den
an Marasmus senäis, gewissen Krankheiten des Magens, an
chronischen Nervenkrankheiten, an gewissen Formen der Ta-
bes und Hectik Yerstorbenen. Die Resultate der Section kön-
nen daher bei Ermittelung der Todesursache in Bezug auf
den Hungertod keine positive Beweiskraft haben und den
Gerichtsarzt nicht berechtigen, zu entscheiden, dass Hunger*
tod stattgefunden habe. Die Ergebnisse des Leichenbefundes
vermögen hier nur, indem sie die Abwesenheit einer an-
dern Todesursache darlegen, die Yermuthung des Hunget-
todes zu begründen, haben daher nur negativen Werth; sie
beweisen nur, dass ein anderer deutlich sichtbarer Beweis
einer andern Todesart nicht erhoben worden, und daher der
Hunger eine der möglichen Ursachen des Todes sein könne«
Zeigt eine Leiche grosse Abmagerung des Körpers, Zer-
setzung und faulige Entmischung der Säfte, ohne das9 Spuren
von solchen Krankheiten, die diese Erscheinungen herbeizu-
führen pflegen, wie Vereiterungen, Dyskrasieen, colliquative
Zustände, zugegen sind, kommen hierzu die Erscheiiiungen
von Leere des Magens und der Gedärme, Mangel an Gbymus
363 Hniigoiiod
im (Aem, von KcA im uateni Theik des DaFmeaBals^
ÜeberfBIlHDg der GaDenblase mit Galle, Ausschwitnuig der*
Beiben in die benachbarten Theile, Blutmangel Ha Herzen
und d^i grossem Geftssen, sind der Magen und Darmoanal
zusammengeschrumpft, stellenweise gerOthet, entzündet, so
wird durch diese Gruppe von Ersoheinungen die Yermathung
begründet, dass Mangel an Nahrungsmitteln den Tod her-
beigeführt habe; zu einem hohem Grade von Wahrschein*
Uchkeit oder Gewissheit kann sie aber erst dann erhoben
werden, wenn die Umstände, unter welchen die Leiche g^
ftiaden wurde, oder die letzten Lebensverhältnisse von der
Art sind, dass sie den stattgehabten Mangel an Nahnuigs-
mittein unzweifelhaft machen. Bot der Ort, in dem sie «idi
be&nd, keinen Ausweg, keine Möglichkeit, Nahrungsmittel
zu erlangen, dar, werden weder Reste derselben noch Spu-
ren, dass solche früher vorhanden gewesen, entdeckt, ma-
chen die frühem Lebensverhältnisse, die Constitution, das
Mhere körperliche Befinden des Verstorbenen, soviel dar-
über zu ermitteln ist, es unwahrscheinlich, dass der Tod
durch eine andere erschöpfende Krankheit herbeigeföhrt iet,
so gewinnt die Annahme des Hungertodes eine weit grössere
WahiBoheinlichkeit, als dies durdi den Leichenbeftind alleia
möglich ist.
Wenn nun schon der Leichenbefund allein nie die Ge-
wissheit des erfolgten Hungertodes zu ergeben vermag, so
kann derselbe doch noch viel weniger darüber An&tchltiss
gewM^ren, ob dieser Tod ein freiwilliger oder gewaltsamer
gewesen, durdi Selbstentschlnss oder durch Gewalt Anderer
herbeigeführt sei. Auch stimmen alle Autoren mit Henke
darüber überein , dasa dies aus der Leiche selbst und den
an derselben wahrgenommenen Erscheinungen, soweit sie
dem Httngertode angehören, sich nicht ermittela lasse. Wie.
Hangertod. %f^
wahrend des Lebens, wird aach nach dem Tode der Arzt
nur aus den begleitenden äussern umständen, den frAhern
Lebensverhältnissen des Gestorbenen, sowie aus den etwa
vorhandenen Spuren erlittener Gewaltthätigkeit^ sein Urtheil
schöpfen, leider aber sehr häufig nicht im Stande sein, zu
entscheiden, ob der Hungertod aus freier Wahl oder durdb
fremde S<^uld erfolgt sei.
AM
16.
Znr Reform der preussiseiien Medieinal-Taxe
Ton 1815.
Vom
Dr. D^nrenfartli in Grossen.
Die Berliner medicinische Gesellschaft hat, wie aus
Nr. 80. der diesjährigen Central-Zeitung zu ersehen, in ihrer
Sitzung Tom 9. April c. beschlossen, dem Gultus-Ministerium
ein die Revision der Medicinal-Taxe von 1815 beantragen-
des Gesuch zu überreichen, und demselben eine Reihe von,
die Abschnitte 1 — 3. der Taxe umfassenden Abänderungsvor-
schlägen beigefügt.
Wohl muss unser einem das Herz im Leibe lachen,
wönn er sich die goldnen Hesperidenäpfel vormalt, welche
der Garten der neuen Taxe uns spenden soll! Bis 3 Tha-
ler für einen ersten, bis anderthalb fär einen folgenden ärzt-
lichen Besuch 1 3 — 5 Thaler f&r eine erste ärztliche Con-
sultation, 8 — 6 iftr eine leichte natürliche Entbindung, bei
Reisen über Land ein Friedrichsd'or Diäten I — Weihrauch-
Säulen sollten, heiliger Oalen^ täglich auf deinen Altären
dampfen, denn es ist keine Fabel mehr, dass du deinen
Jüngern Schätze verleihest. Ja, in holdem Glänze leuchtet
jetzt dem medicinischen Preussen der Stern einer neuen
Reform der Medicinal- Taxe. 265
Aera, dem zumal wir ärmsten kleinst&dtiseheii Proletarier
der Heilknnde Hosiannah zurufen. Denn — mit Schaam-
röthe gestehen wir es unsern vornehmen Berliner Vettern,
— Ar uns war selbst die alte, jetzt als unzulänglich über
Bord zu werfende Taxe von 1815 weit entfernt, jemals eine
Wahrheit zu sein! Für glücklich und von allem Jammer
erlöst priesen wir uns qoch heute, würde jeder ärztliche
Besuch von unsern zahlungsfähigen Kunden mit — 5 Sil-
bergroschen belohnt. Aber nun erglänzt uns, statt der Aus*
sieht auf eine milde GoUecte nach unserm Tode, die Hoff-
nung der neuen Taxe, welche uns erlösen soll von dem
Uebel der Hungersnothl Doch - der Traum ist zu schön,
und, die Wahrheit zu sagen, uns beschleicht ein leiser
Zweifel, ob selbst mit der neuen Taxe, träte sie ins Le-
ben, für unsere Lage etwas Erkleckliches errungen wäre.
lieber die Nothwendigkeit einer Medicinal-Taxe über-
haupt liesse sich freilich auch noch streiten. Es giebt grosse,
mächtige und civilisirte Staaten, wo das Gesetz keinerlei Norm
fär den Lohn ärztlicher Leistungen feststellt, und letzterer le-
diglich von dem freien üebereinkommen beider Theile, wie
der Preis einer Waare, abhängt. In vielen Gegenden wird
jeder ärztliche Besuch in der Regel sofort, je nach den Um-
ständen des Hülfesuchenden, honorirt. Wenn ein Warschauer
College, von des Tages Last und Hitze ermattet, nach
Hause kommt, und seine Tasche ausschüttet, so stürzt aus
derselben ein ganzes Münzcabinet der verschiedensten Geld-
sorten, von der Kopeke an bis zum Silberrubel und Im-
perial, hervor. Was in England darauf Anspruch macht, fut
einen Gentleman zu gelten, honorirt jeden ärztlichen Besuch
mit einer Guinee. Wo solcher klingender Gebrauch herrscht,
da erscheint eine besondere Medicinal-Taxe noch weniger
nothwendig.
Bei uns zu Lande herrschen nun andere Sitten. Nach
Catpfr, VJiohrfu f. ger.Med. XXn. 9. ^g
266 Reform der lfediciiial*Ttae.
nnsera Aisehaniingin gesiemt qb siek oioht, mit Aoflnafaiiie
der einmaligen Consnltationen, den Ärztlichen Radi gleieh
baar ra bezahlen. Das Yerii<niss miBereB PaUicams dem
Amt gegenüber ist ja nicht das kalte, geschSftliche von Lei-
stang nad Zahlung, sondern mehr ein gemfithliches , ein
FreandschaAsverh&Itniss, wobei das Yertranen die Haupt-
sache aunnacht, die Geldrolle aber die Nebenrolle
spielt. Daram lautet aach das ansterbliche Wort Ton Han-
sematm, wonach in Geldsachen die Gemftthlkhkcit aoflitat,
Ar den Arzt umgekehrt: in Gemftthssaehen hört das Geld-
zahlen auf I Der Arzt soll nicht auf den ftassem, sondern
anf den innern Lohn, aaf das Bewussteein einer guten Tbat,
angewiesen sein; er ist, wie der ScAä/er^sche Poet, bei der
Theilung der Erde zu sjAt gekommen, und deshalb mit
einer Anwartschaft auf den Himmel abgespeist worden I
Allein, da dieser erst im Jenseits ftUige Wechsd sich
hienieden nicht versilbern lässt, so sind Collisionen zwisdien
dem behandelnden und dem behandelten Theile — welcher
jenem gegenüber nicht selten als ein schmutzig handela*-
der und feilschender auftritt — an der Tagesordnung. Und
für solche streitige F&lle hat denn unsere Gesetzgebung eine
Medicinal-Taxe geschaffen, welche beiden Parteien ihre
Rechte und ihre Schranken anweist
Die Hedicinal-Taxe sieht von dem Erfolg und der Me-
thode der brztKchen Behandlung vollkommen ab; sie unter-
scheidet nur zwisdien innerer und äusserer (cblrurgi-
sidier) Behandlung, und lässt bei ersterer in Bezug auf das
Honorar es durchaas gleichgültig, ob der Kranke an emem
einfachen Schnupfenfieber, oder an einem Blutsturz behan-
delt worden sei. Sie fragt nicht, ob der Arzt semen Pa-
tienten durchgebracht, oder in die Unterwelt be&^rdert,
sondern wie viel Besuche er ihm während der Cur gemacht
habe. Ebenso bemisst sie bei Operationen die Entschädi-
Reform der Medioinal-Taxe. 267
gang nur naeh dem grossem oder geringem Grade der
speciell dabei obwaltenden technischen Schwierigkeit^ unbe-
kümmert darum, ob z. B. der Steinkranke seinen Stein
verloren, der Staarkranke sein Augenlicht wieder gewonnen
habe.
Nun hat sich im Allgemeinen eine Unzufriedenheit mit
iea die chirurgische Behandlung betreffenden S&tzen der
Taxe nicht gezeigt, obwohl auch diese wegra ihrer zahllosen
L&cken dringend einer Durchsicht bedarf. (Sie schweigt
z. B. YoUkommen Yon der Transfusion, vom Verband des
gebrochenen Vorderarms, von den Operationen der Blasen-
Scheidenfistel, der Mastdarmatresie, der Hamröhrenstrictur.
Von den Augenoperationen kennt sie nur die des Staares,
sie hat keine Ahnung von der kunstlichen Pupillenbildung,
der Schieloperation, sie weiss nichts und konnte nichts wis-
sen von den Triumphen der modernen plastischeii und or-
thopädischen Chirurgie.) Ein eigentlicher Widersprach hat
sich nur gegen die nicht mehr zeitgemässe Taxe für die
innere Behandlung erhoben. — Hier fragt es sich aber: wo
ist der Maassstab einer die Interessen des heilenden und
des behandelten Publicums gleichm&ssig wahrenden Ent-
schädigung zu suchen ? Offenbar bedarf es zu diesem Behuf
einer eingehenden Würdigung der allgemeinen Wohlstands-
verh<nisse des Landes überhaupt und der verschiedenen
Bevölkerangsklassen und Landstriche insbesondere.
Und da kann Niemand längnen, dass unsere Medicinal-
Taxe, welche bald ein halbes Jahrhundert auf ihren Schul-
tern tragen wird, während der Zeit ihres Bestehens einen
vollkommenen Umschwung der Verhältiusse und nament-
Udi des Volksreichthums erlebt hat. Wie überall, so ist
auch im Preussisehen Staate Alles theurer, nur das Geld bil-
•Uger geworden. Die Bedürfnisse der Wohnung, Nahrung und
Kleidung, wie im Allgemeinen des ganzen Haushaltes, haben
18»
268 Refonn der Medieinal-Taze.
neh betAchtlich vermehrt, und fmt dnrchj^afpg eine b^
deutende Preissteigerung erMren. Die theils nothwendigen,
theils standesgem&ss erforderlichen Eraiehungs* ttn4 Luxus*
ausg&ben verschlingen starke Summen. Gegenüber der nur
langsam steigenden Bevölkerung ist — die von Jahr zu
Jahr mehr emp6rwuchemde Quacksalberei ganz abgerechnet
— die Zahl der Aerzte, d. h. der Bewerber um das Bis-
chen Krankenbrod, Legion geworden. BndJix^h macht die
best&ndig wachs^ide Ausdehnung der meisten SOdte, zumal
der grossem, gleichzeitig die Praxis mühseliger und erfor-
dert zu ihrer Bew<igung vermehrte Opfer.
Andererseits hat sich der allgemeine Wohlstand unbe-
dingt seit 1815 sehr gehoben. Damals lasteten die Bedräng-
nisse eines vieljährigen Krieges noch schwer auf dem Volke,
Handel und Gewerbe steckten noch in den Kinderschuhen,
der Bauer war eben erst der Hörigkeit entronnen. Die
Landwirthschaft ging noch in den Geleisen des alten, ererb-
ten Schlendrians und träumte noch kaum von den Verbes-
serungen, deren sie durch Anwendung der naturwissenschalitr
lichen und nationalöconomischen Hül&mittel fiUiig war.
Welchen Aufschwung hat gerade der Landbau durch die
jetzt fost allenthalben durchgeführten Gemeindetheilungen,
durch die so vervollkommnete Pferde- und Viehzucht ge-
nommen, welchen Werth haben die l&ndlichen Grundstufe
und Erzengnisse durch die Alles überallhin tragenden Kunst-
strassen und Eisenbahnen erreicht 1 —
Leider wird dieses lachende Bild allgemeiner Wohl&brt
durch manche düstere Figur getrübt Neben den stolzen
Palästen der reichen Industriekönige hockt das abgezehrte
Proletariat der Fabrikarbeiter; aus den Th&lem, wo die
schlesischen Leinwandmonarchen herrschen, dringt der ver«-
zweiflungsvoUe Schrei der darbenden Weber^ gellen in
unserer Erinnerung noch heute die Delirien des Hungerty^
Reform der Medicinal-Taxe; 269
phns vob 1847. Aber diese Ausniahmen kfinnen deo Satz,
dass das heutige Publicam im Grossen und Ganzen den
Aerzten gegenüber eine weit grössere Leistungsfthigkeit dar-
bietet, als das frfihere, nicht umstossen.
Wenn wir demnach die Nothwendigkeit und Zuläseigkeit
einer Reform der Medieinal-Taxe dai^ethan zu haben glau-
ben, 80 sind wir doch weit davon entfernt, an die Einfüh-
rung dieser Reform fiberschwängliohe Hoffnungen für das
Gedeihen des ärztlichen Standes zu knüpfen. Die Taxe
kann kein Stab sein, dessen wir uns zum täglichen GelHrauch
bedienen, sondern eine Waffe, die in Nothf&llen uns ge-
gen die Streiche des Undanks und der Böswilligkeit ver-
theidigen soll. Wenn eine namhafte Anzahl unserer Kranken
eine Erhöhung der Gurkosten ertragen kann, so beweist
dies noch nicht, dass wir eine solche in allen Fällen zur
Geltung bringen dürfen und — werden. Ueber die Taxe
geht noch das Gewissen der Aerzte, welches nicht zulas-
sen wird, dass das kostbare Gut der Gesundheit nur dem
Reichen zugänglich sei, dem Dürftigen aber, dem es noch
weit unschätzbarer, verschlossen bleibe. Wie viele Schich-
ten der Gesellschaft — und daö keineswegs in den tiefeten
Tiefen derselben — giebt es, fär welche' der gegenwärtig
niedrigste Satz von 10 Sgr. auf den Besuch, namentlich bei
einer längern Krankheit, als durchaus unerschwinglich gelten
muss! Denken wir uns einen schlichten Handwerker, dem
ausser dem Kindersegen jeder andere fehlt ; Krankheit über
Krankheit reisst in der Familie ein, 60—100 ärztliche Be-
suche sind in aller Geschwindigkeit gemacht — sie reprä-
sentiren ein Capital von 20 — 30 Thalern. Schade nur,
dass diese schöne Summe sich nicht so ganz leicht eintrei-
ben lässt, da wohl kein Arzt von der Befugniss Gebrauch
machen wird, welche ihm die unter diesen umständen ironische
Freigebigkeit der Medioinal-Tai:e eiprUumt, von der Beftgi*
270 Reform der Medicinal-Taxe.
niBfl, eine Familie zu ruiniren, und die ärztliche Hfilfe in
Fluch zu verwandeln! —
Indessen einen Patienten giebt es, steinreich und stein-
herzig, der die ihm geleisteten Dienste in den meisten Fäl-
len wie ein rechter Knicker belohnt. Dieser Filz ist der
Fiscus. Allerdings, formell steht er im Recht, denn er
zahlt streng nach der Taxe. Warum schweigt die Petition
der Berliner GoUegen so ganz und gar von dem Abschnitt
der Taxe, welcher die Gebühren der gerichtlichen Aerzte
behandelt? Und doch leistet die Oeconomie des Fiscus ge-
rade auf diesem Felde das Erstaunlichste! Gutachten z. B.
fiber Gesundheits-- oder Krankheitszustände oder Verletzun-
gen betrachtet er lediglich als Atteste, wofür er (Absehn.
V., Pos. 7. der Taxe) \ bis 1 Thlr. aussetzt. Nun haben
diese Gutachten, welche in der Regel sich auf den streitigen
Grenzgebieten der drei Yerletzungsgrade bewegen, oder in
sonstige schwierige Kapitel der forensischen Medicin ein-
schlagen, nicht selten höchst verwickelte Fragen zu lösen,
und erfordern — was wollen die Herren Staatsanwälte vom
Arzt nicht Alles erfahren! — viel Zeit, Fleiss und Nach-
denken, wie denn Verf. schon wiederholt über eigenthüm-
lich complicirte Fälle Gutachten zu liefern hatte, welche
einen umfang von mehrern Bogen und eine Zeit von 8
Tagen in Anspruch nahmen. Für diese Arbeiten — ein
Schuhmacher hätte während ihrer Dauer das Zehnfache ver-
dient — gab es nur den niedrigsten Satz von 20 Sgr.,
weil die Salarienkasse den höhern nur dann bewilligt, wenn
ihr die Eintreibung desselben von dem zahlungspflichtigen
— freilich nur in den allerseltensten Fällen zahlungsfähi-
gen — Theile gelungen ist. — Gopialien ffir ein Gutachten
werden nur bei nachweislich durch fremde Hand stattge-
fnndenem Copiren vergütet; die vom Verfasser selbst auf
die Reinschrift verwandte Zeit und Mühe würde nicht zählen.
Reform der Medidiial-Taxe. 271
Die Behsuidlaog der Kranken in den Kreic^riehtsgeftng-
nissen überträgt der Fiscas in der Regel gegen ein höchst
armseliges Pattscbquantom ; er hat gefiinden, dass er bei
Liquidationen der Aerzte nach den einzelnen Besuchen we-
niger gut wegkommt. Bis vor ganz Kurzem aber musste
der Gerichtsarzt alle geleisteten Besuche genau in das Ge-
fängnissbuch eintragen, weil sich Fiscus dieselben aus dem
Vermögen jedes irgend bemittelten Gefangenen taxgemäss
bezahlen liessl
Als eigenttiches Opferlamm scheint aber die Medicinal-
Taxe von 1815 sich vor allen andern den Kreis- Chirurgus
suserkoren zu haben. Während sie dem Physicus für eine
Obduction 4 Thaler zubilligt, speist sie den Kreis- Wundarzt,
zum Lohn für seine saure, durchschnittlich doch mindestens
4 Stunden erfordernde Arbeit^ für sein Schneiden, Scalpiren,
Hämmern und Sägen mit Zwei Thalern ab! Sie zahlt
fär den Obductions-Bericht dem Physiker doch wenigstens
Zwei Thaler; der Chirurgus aber, der ihn mit jenem gemein-
schaftlich ausarbeitet und verantwortet, geht ganz leer aus,
und darf höchstens nur alle Rügen und Bemängelungen
Seitens der hohem Instanzen mit in die Tasche stecken.
Bei Reisen über Land empfangt der Physicus 2, der Kreis-
Wundarzt nur 1^ Thaler Diäten, jener an Fuhrkosten für
die Meile 1 Thaler, dieser (gleich dem Gerichtsschreiber)
nur 1 5 Silbergroschen^ wobei der Fall leicht eintreten kann,
dass er bei knappem Fuhrwerk, oder, wenn er die ganze
Strecke allein zurücklegen muss, bei dem Geschäft noch
Geld aus seiner eigenen Tasche zusetzt. (Diäten werden
ülHigens nicht gezahlt, wenn am Tage der Operation die
Hin- und Rückreise füglich erfolgen kann; sind dazu zwei
Tage erforderlich, so werden Diäten nur für einen Tag er-
stattet)
Man sieht, die Taxe stammt von einer Zeit her, wo
272 Refonn der Medkiiial-Ttte.
der KreiB-Wundarzt noch halb als der veredelte Barbier, als
der demfithige Famulns des hochgelahrten Physikers galt«
Für ein Geschöpf, weldies, an Eenntniss nur wenig fiber dem
heutigen Heildiener stehend, wesentlieh vom Barbierschaam,
vom Haarschneiden and Blutlassen lebte, waren jene Ein-
nahmen — and nan noch gar das Gehalt von 100 Thalern 1
-— freilich eine sehr stattliche Zabassel —
Diese Bemerkungen, sie gelten nar einer jetzt anterge*
gangenen Generation, nicht dein ehrenwerthen Stande der
heutigen Wundärzte I. Klasse, welcher in seiner grossen Mehr-
heit täcbtig strebt und Tüchtiges leistet Allein auch über
ihn ist der Stab gebrochen. Das fortschreitende ärztliche
Bewusstsein begnügt sich nicht mehr mit einer einseitigen
practischen Routine; es verlangt vom Arzte die Aneignung
einer harmonischen, nicht bloss streng medicinischen, son*
dern auch einer gediegenen classischen und naturwissen-
schaftlichen Ausbildung. Der Unterschied, zwischen Voll-
und Halbärzten hat aufgehört. Es giebt für die Aerzte
jetzt nur noch ein Studium, eine medicinischo^ eine fo-
rensiBche Prüfung. Dass alleinige Anrecht der Wundärzte
erster Klasse auf die Erlangung des Ereischirurgen- Amtes ist
erloschen, und immer grösser wird die Zahl der in dasselbe
eintretenden promovirten Aerzte. Wenn aber der Kreis-Chi-
rurg jetzt dieselbe Prüfung durchmachen muss, auf gleicher
Stufe des Wissens, der practischen Beschäftigung und des
gesellschaftlichen Ansehens steht, wie der Physiker, wenn
ihm seine Zeit und sein Lebensunterhalt eben so theuer zu-
gemessen sind, wie diesem, so muss ihm auch das Gesetz
eine andere Stellung einräumen, so darf er auch nicht län-
ger mit einem Bettelgelde abgelohnt werden!
Allein auch die Taxe des Physikers erscheint als eine
in manchen Punkten nicht mehr genügende. Für das Ge-
halt von 200 Thalem muss er eine vollständig eingerichtete
Reform der Medicinal-Taxe. 278
Registratur halten, die ihm als Beamten der Medicinal- und
Sanitäts-Polizei obliegenden Functionen verrichten, an seinem
Wohnorte befindliche Privat-Krankenanstalten reyidiren, all-
jährlich ein Drittheil der Hebammen seines Districts nach-
prüfen, und die darüber aufgenommenen ProtocoUe der
Regierung einsenden, auf amtliches Erfordern den Gesund-
heitszustand von Staatsbeamten, von marschunfähig geworde-
nen Soldaten behufs Gestellmig von Yorspannfdhren, ebenso
den von Transportaten unentgeltlich untersuchen und attesti-
ren u. s. w.
Als der Schwierigkeit der Arbeit ganz und gar unange-
messen müssen wir noch die Gebühr von 2 Thalem für ei-
nen Obductions-Bericht bezeichnen. Wenn nicht schon der
Gedanke, dass von seinem Gutachten Ehre, Freiheit und
Leben eines Menschen abhängen, den Verfasser zur Aufwen-
dung seiner vollen Geisteskraft anspornten, so müsste es
schon die Rücksicht auf die scharfe Brille seiner Vorge-
setzten, auf die Argusaugen der Staatsanwaltschaft und
der Vertheidigung, auf das Urtheil der öffentlichen Meinung
thun — und eine solche, mit oft wochenlangem Fleiss, mit
Opfern an Beruf und Gesundheit ausgeführte Geistesarbeit
meint die Taxe mit 2 Thalem belohnen zu können? —
Noch gar Manches wäre über die Leiden und Freuden
des gerichtlichen Arztes zu reden ; allein, was wir angeführt,
reicht, wie wir glauben, hin, um den Wunsch nach einer
Reform, wie der Medicinal - Taxe überhaupt, so der forensi-
schen insbesondere, als gerechtfertigt erscheinen zu lassen.
274
17,
ünlieillNire LiixAfti«]k Aerzdieher Kniist-
fehler«
Gerichtsärztliches Gutachten.
]fitg«theUt Tom
KönigL Bezirks- und Gerichtsarzt Dr. üSitiCMlSrfer,
In Osehftts Im Königreleh SsoIimd.
In der üntersuchang des Königl. Bezirksgerichtes zu
0. wider den Dienstknecht ü-augott N. aus W. und Cons.
wegen einer dem Dienstknechte Carl August B. ans S. in
der Nacht vom 18/19. September vorigen Jahres zagef&g-
ten Körperverletzung, — einer nach ärztlichen Gutachten
unheilbaren Luxation des linken Oberarmes, — wurde
von dem Anwalte der betreffenden Inculpaten zunächst die
Frage erhoben: „ob diese Verletzung auch nach gegen wär-
„tiger Sachlage einen bleibenden Nachthefl befürchten lasse
„und ob die Ursache dieser Verletzung und namenflich die
„Fortdauer ihrer Folgen wirklich allein oder doch hanpt-
„sächlich in der erlittenen Misshandlung und nicht vielmehr
„in umständen liege, die den Gausalzusammenbang zwischen
„der That und dem jetzigen Erfolge aufheben, wie dies z. B.
„bei offenbarer Vernachlässigung in der Behandlung jener
„Luxation der Fall sein wurde ?^
In einem spätem Antrage suchte die Vertheidigung
Unheilbare Lnxatioii. 275
den ihr zur Kenntniss gelangten Umstand hervorzuheben,
dass der zur Behandlung des verletzten B. zuerst herbeige-
rufene Arzt hinreichende Versuche zur Beseitigung jener
Luxation nicht angestellt, den Kranken vielmehr an den
zur ärztlichen Praxis nicht berechtigten Schmidt B. in M.
gewiesen und ihn späterhin von der angeblich erfolgten Re-
position des ausgerenkten Gliedes zu überzeugen gesucht
habe, so dass der zur Einrichtung geeignete Zeitpunkt ohne
die erforderliche Hulfeleistung verstrichen und die Unmög-
lichkeit eingetreten sei, eine Wiederherstellung des Oberarm-
gelenkes bei dem verletzten B. selbst, unter Zuziehung meh-
rerer anderer Aerzte und durch die Aufnahme desselbra in
die chirurgische Klinik zu L., zu erlangen. — •
Nachdem das Königl. Bezirksgericht zu 0. den Unter-
zeichneten mittelst Requisition vom 25. Juni und 4. August
laufenden Jahres ersucht hat,
„die im Vorstehenden bemerkten Bedenken gutachtlich
„zu beleuchten und zugleich auf die angestellten Erörte-
„rungen Rücksicht zu nehmen, sowie auch die angeregte
„Frage zu beantworten, ob der angenommene, ntdit
„zu beseitigende Nachtheil für die Gesundheit des verletz-
„ten B. nicht allein und hauptsächlich den erlittenen
„thätlichen Misähandlung, sondern vielmehr einem etwai-
„gen Kunstfehler oder einem positiv schädlichen Ver-
„halten des Verletzten beizumessen sei?^
hat derselbe, nach vorausgegangener sorgfältigen Untersu-
chung des betreffenden Vulneraten und nach genauer Prü-
fung aller in den Acten enthaltenen, nähern Umstände,
sein Urtheil auf den in Nachstehendem enthalteneB
gegründet.
276 . DnheilbMre LnxalioD.
L
GescliiditsenftUug.
In der ersten Morgenstunde des 1 9. September vorigen
Jahree wurde der 22 Jahre alte, bis dahin vdlHg gesunde
Dienstknecht Carl Aftgtt$t B. aus S. auf dem von £. nach
W. fthrenden Wege von sechs andern Dienstknechten im
Alter von 19 bis zu 30 Jahren ^ in Folge eines im Wirtiis-
hause zu £. w&hrend des Tanzes entstandenen Conflietes,
thiäioh angegriffen, von dem einen seiner Verfolger auf das
Schienbein getreten, an der Brust gepackt und dann der-
gestalt fortgesohubt, dass er von dem Einen zum Andern der
Reihe nach flog.
Er wurde dann, während er sich an zweien seiner Geg-
ner festzuhalten suchte, an beiden H&nden oder Armen ge-
packt und seiner Stellung in der Weise beraubt, dass man
ihm die Beine hinwegriss, wodurch er, von seinen Angrei-
fem an den Armen empor gehalten , zu Boden stürzte,
worauf ihn Letztere mit den husten, mit einem Stocke,
einem Schlüssel und mit einem Steine 5 bis 6 Minuten lang
misshandelten.
Als er beim Hinfallen auf den Boden durch das Fest-
hatten an den Armen eine starke Dehnung erlitt, wurde ein
Ger&usch, em Knacken, gleich als ob sein Rockkri^en zer-
rissen sei, vernommen.
Der so gemisshandelte B. hatte sich, nachdem seine
Gegner davongegangen waren, nngefkhr 50 Schritte von dorn
Sehau]^atze der That wlfemt, blieb aber dort in einem
jlnmerlichen Zustande liegen, laut jammernd fiber Sehmerzen
und darftber kli^^end, dass ihm sein linker Arm ,, zerbro-
chen^ worden sei, welcher an dem Körper herunterhing und
nicht in die Höhe gehoben werden konnte; seine Kleider
UBheübare Lnxatioii. 277
waren ga&K nasB and schmutsig, sein Gesicht sah sehr blass
ans und er war einer Ohnmacht nahe.
Nachdem der so zugerichtete B.^ kaum vermögend zu
gehen und von einem gewissen J?., in dessen Gesellschaft
er sich befunden hatte, unterstützt und grössteiKtheils getra*
gen, wobei der verletzte Arm gehalten werden mosste, ge-
gen 3 Uhr nach der Wohnung seines Dienstherm zu £.
gebrai^t worden war, schickte man zunächst zu dem be-
kannten Schmidts, nach M., welcher jedodi zu erscheinen
sich weigerte. Der nun herbeigerufene Arzt H. aus H. erschiM
in der 9ten Yormittagsstimde des 19. Sq[>tember b^ dem
Kranken, dessen Behandlung er auch übernahm.
Derselbe fand nebst einer Wunde am Hinterhaupte und
einer queer über beide Seitenwandbeine verlaufenden, wulst-
ähnlichen sugillirten Anschwellung der Weichtheile^ eine
erst vor kurzem entstandene frische Luxation des linkAn
Oberarmes im Schultergelenke, wobei der Gelenkkopf naeb
innen und vom neben dem rabenschnabelförmigen Fortsatze
des Schulterblattes und unterhalb des grossen Brustmuskels,
zu fühlen war und wobei nach dem Dafürhalten des genann-
ten Arztes eine Zerreissung der Kapselmembran stattge-
funden hatte.
Als die unter Beihülfe von' 3 Personen angeblich län-
gere Zeit hindurch, nach fi.'s Angabe ungefähr eine Stunde
lang, angestellten Bepositionsversuche ein erfolgreiches
£rgebniss nicht herbeigefQJirt hatten, erklärte der schön
genannte Arzt, die Schulter werde keinen Halt bekommen,
weil die Achselbänder (wohl Kapselband? Ref.) zerrissen
sein müssten und rieth dem Verletzten, sich an jenen
Schmidt B. in M. zu WMiden, der in solchen Fällen schon
Andern gdiolfen habe.
Zu diesem noch im Laufe desselben Yermittags mittelst
Fuhre gebracht, wurde B. neuen Repositionsversuchen un-
278 ünheiHiare LnzatioiL
torzogen, welche B. Mn«, nnter AssisteBz Beines Sohnea,
wohl ^ bis l Standen lang in derselben Weise aarteUte,
als es TOrher der Arzt H. gethan hatte. — Als auch
diese erfolglos blieben, wurde der verletzte B, von B. sen.
mit dem Bedeuten entlassen, „dass er nichts weiter thnn
kOnne; er mOge sich nur wieder an den Arzt H. wenden.^
Letzterm will der mehrgraannto Schmidt /^. auch seine
Ansicht, dass das Achselband (?) zerrissen gewesm sei,
persönlich mitgetheilt habra, wovon jedoch jener nichts habe
wissen wollen.
lieber die weitere Behandlung des verletzten &, der
inzwischen noch am selbigen Tage zu seiner in S. wohnen-
den Mutter zu Wagen gebracht worden war, vernehmen
wie Folgendes:
Der Arzt H. besuchte den Kranken nach dessen Aus-
sage an einem der nächsten Tage und meinte, nachdem
er die Luxation wieder untersucht hatte, „er könne nichts
weiter tiiun, die Achsel bekäme keinen Halt^, während der
genaiuite Arzt dagegen angiebt, dass er am 26. September
wieder zu . dem Kranken gerufen worden und vorh^ der
Meinung gewesen sei, derselbe habe einen andern Arzt rur
fen lassen; auch habe er tm diesem T^oge wiederholte Re-
positionsversuche angestellt.
Einige Zeit nachher, unge&hr 3 Wochen nach dem
nnglficklichen Ereignisse, wurde der Knmke von dem in
M. wohnhaften Arzte L. , ohne diesen dazu au%^ordert zu
haben, untersucht. Letzterer fand die Luxation noch in dem
firnhem Zustande, vernahm auch, — was von K in Abrede
gestellt wird, — dass dieser von der durch den „Doctor^
erfolgten Reposition überzeugt worden sei, indem dieser zu
ihm gesagt habe, „es brauche bloss noch ein Bisdien Fleisdi
^zu wachsen, was durch eine ihm gereichte Salbe gesche-
„ben werde,* ^
Dnheilbare Laxation. 279
Nachdem auch er durch diese üatersuchung und in
Betracht der speciellen Bedchaffisnheit der Luxation die
Ueberseugung gewonnen hatte, dass eine Zerreissung der
Kapselmembran stattgefunden habe, rieth er dem Kranken,
sich an den Bezirksarzt Dr. K. in L., oder an den Dr. H.
in M. zu wenden.
Bei dem erstgenannten Arzte erschien der Kranke, in
Begleitung des Arztes H.^ ungefthr 8 Wochm nach der er*
littenen Verletzung, im Monat Noyember, um sich auch hier
erneuten Bepositions versuchen zu unterziehen, welche, wie
die frühem, gleichfidls erfolglos blieben. Es wurde demsel-
ben hierbei der Vorschlag gemacht, sich zur weitem Be^
handlang an die chirui^sche Klinik zu L. zu wenden, vor-
her aber noch den Flaschenzug bei dem Dr. H. zu M., von
welchem der Kranke auf Antrag seines Sachwalters bereits
untersucht w<Nrden war, in Anwendung bringen zu lassen.
Auch von dem Bezirksurzte Dr. K. wird eine Zerreissung
der Kapselmembran angenommen und überdies behauptet,
dass eine Behandlung des Kranken durch die Aerzte DD.
H. und M. zu M. bereits 3—4 Tage vorher, ehe derselbe zu ihm
gebracht worden sei, stattgefunden habe, was ^Ater B. selbst
nicht mit Bestimmtheit anstreben vermag.
In Uebereinstimmung mit den bereits angefthrten ärzt-
lidien Ansichten hinsichtiich des Standes des luxirten Ober-
armkopfes und der Zerreissung der Kapselmembran iossert
sich auch Dr. H. zu M., sowie der Wundarzt Tf^ daselbst, welche
in Verbindung mit dem nun verstorbenen Dr. M. den Kran-
ken im Monat November, etwa 9 Wochen nach dem Un-
fälle, gemeinschaftlich untersuchten und dessen Leiden sie durch
die Anwendung des Flaschenzuges, wenn auch ohne irgend
einen Erfolg, zu beseitigen suchten.
Die endlid) in dw chimrgischen Klinik zu L. wShrend
der Zeit vom 1.— -29. DecemMr angewandten Bemfihungen,
280 Dnheilbftre Luxation.
die selbst unter Cbloroformnarcose wiederholt angestellten
Repositionsversnehe scheiterten nicht minder.
Nach der gutachtlichen Aussage des dasigen Oberarztes,
Prof. Dr. 6., soll der Stand des luxirten Oberarmes derselbe,
schon vorbemerkte, gewesen, übrigens eine gegründete Aus-
sicht zur Beseitigung der Luxation nicht vorhanden sein.
Wir reihen an diese ärztlichen Beobachtungen das Re-
sultat der eigenen Untersuchungen, welche an B. am 9. JuH
und 23. August a. c. angestellt worden sind.
Derselbe erscheint als ein regelmässig gestalteter und
kräftig genährter, dem Alter von 23 Jahren vollkommen
entsprechender Mann von etwa 71 Zoll Länge.
Sein Aeusseres, namentlich die Farbe des Gesichts und
der allgemeinen Hautbedeckungen, die Sprache, die Kör-
perhaltung und der Gang deutet auf ein körperliches Leiden
nicht hin, auch erweisen sich sämmtliche organische Yer-
richtungea bei demselben in normalem Zustande, so dass
seine Angabe, nach welcher er vor der erlittenen Verletzung
niemals schwere Krankheiten zu überstehen hatte, Glauben
verdient.
Die Deformität der linken Schulter und die BeschAn-
kung in der Bewegung des Oberarms fällt sofort in die Augen.
Die betrefiende Schulter hat die natürliche Rundung
und Wölbung verloren, sie ist leer, eckig durch den Vor-
sprung der Schulterhohe, abgeflacht, der Deltamuskel her-
abgezogen.
Die verlängerte Achse des Armes geht von der Schul-
terhOhe und dem Rabenschnabelfortsatz zum äussern Dritt-
theile des Schlüsselbeines, wo man dicht an letzterm den
Gelenkkopf fühlt, der deutlich den Bewegungen des Arms
folgt, bedeckt von dem grossen und kleinen Brustmuskel.
Der Richtung der Armachse zufolge steht der Ellenbo-
gen nach hinten. GewOhnliSli steht der Arm vom Leibe et-
Unheilbare Lnxatioiu 281
was ab, doch kann er demselben genähert, aber nur sehr
wenig abgezogen werden.
Die Bewegungen des Arms sind in hohem Grade be-
schränkt; die Erhebung desselben ist ganz unmöglich, nur
der Yorderarm kann gebeugt werden, so dass der Kranke die
Finger mühsam bis zum Munde, nicht aber die Hand auf den
Kopf bringen kann. Der Arm ist nicht nach aussen rotirt.
Die Achselhöhle ist von der ^phre des Oberarms aus-
gefüllt, der Gelenkkopf aber kann von ihr aus nicht ge-
fehlt werden. Von der Schulterhöhe aus gemessen ist der
Arm verkürzt ; doch steht die vordere Achselfalte tiefer, als
auf der gesunden Seite.
Hieraus ergiebt sich eine vollkommene Uebereinstim*
mung des Befundes mit dem Resultate der frühem ärztli*
eben Beobachtungen und die Gewisßheit, dass B. noch ge-
genwärtig an einer Verrenkung des Oberarmkopfes nach
innen und vorn leidet, welche nicht allein den Gebrauch
des Gliedes hemmt, sondern auch durch Druck und Reizung
der umgebenden Theile, namentlich der Nerven, lästige,
schmerzhafte Empfindungen erzeugt*
n.
Gntaehten.
Wenden wir uns zu den von dem Königl. Bezirksge-
richt uns vergelegten Fragen, so zerfallen sie nach ihrem
wesentlichen Inhalte in folgende drei:
1) Ist die dem pp. B. vpn Seiten ^.'s und Cons. zu-
gefügte Luxation des linken Oberarmes von bleiben-
dem Nachtheile und eventuell, ist dieser Nachtheil
durch die'^atar der Luxation an sich bedingt worden?
2) Sind Fehler in der ärztlichen Behandlung vorge-
kommen?
8 ) hi die Unheilbarkeit der Luxation durch andere
Gtuptr, Vjsehrft. f. ger. M«d. XJÜL 2. i^
^82 Unheilbare Lax»tio&
mitwirkende und Zwischenorsachen oder durch ge*
wisse zufällige Umstände veranlasst worden?
1.
»Ist die dem pp. B. von Seiten iV.'s nnd Cons. zngef>e Lnxa-
«tioa de» linken Obenurmes von bleibendem Naehtheüe nnd even-
»tnell, ist dieser Nachtheil durch die Natur der Luxation an sich
.bedingt worden?"
Bevor wir uns ixl einer Beantwortung der vorliegenden
Frage wenden, erscheint es uns als eine unerlässliche Auf-
gabe, einige erläuternde Bemerkungen über die anatomische
Beschaffenheit und den Mechanismus des hier in Frage ste-
henden Schulter- und Oberarmgelenkes zur Verständigung
und leichtem Beurtheilung jener Verletzungen vorauszu-
schicken«
Der Oberarm bildet mit dem Schulterblatfce das freieste Gekak
des ganzen Körpers, denn er soll sich nach allen Richtungen hin be-
wegen und selbst um seine eigene Achse drehen.
Daher findet er zu seiner Aufnahme am Schnlterblatte nieht eine
tiefe pfannenartige Höhlung, durch welche er in der freien Bewegung
zum Theil behindert werden würde, sondern nur eine kleine ovale,
ziemlich flache Grube, an welche sich sein weit grösserer Gelenkkopf
ungefähr nur mit k seines ümfanges ansehliesst ~ Selbstvent&ndlkh
entsteht hieraus noch keineswegs die zur Gelenkverbindung erforder-
liche Befestigung; hierzu werden besondere Vorkehrungen nöthig.
Es bilden nämlich gewisse, vom Schnlterblatte ausgehende Knochen*
Yorsprünge — die sogenannte Schulterhöhe und der Rabenschnabel-
fortsatz — nebst einigen Bändern von oben ein schützendes Dach, so
dass Verrenkungen des Oberarms nach dieser Richtung hin überhaupt
nicht möglich sind
Dann wird aber auch der Gelenkkopf mittelst einer häutigen ge-
schlossenen Kapsel, mit welcher «sich eine Anzahl Sehnenenden zur
bessern Bewegliehkeit und Befestigung verschmelzen, festgehalten.
Leider ist nun aber der Umfang des Gelenkkopfes im Verhältniss
zu seiner Gelenkhöhle zu gross, und die Gelenkkapsel namentlich an
ihrer untern Partie zu dünn und schlaff, als dass Ausweichungen des
Oberarms nach andern Richtungen hin vermieden werden könnten.
Im Gegentheil, er ist bei diesem Mechanismus, sowie in Betracht
seiner Lage und der häufigen Einwirkungen äusserer Gewaltthätigkeiten,
mehr als jedes andere Glied am menschlichen Körper zn Anflrweichnn-
|tn aus der natürlichen Gelenkverbindung geneigt und würde solchen
Unheilbare LnxatioB, 28S
noch mehr aoBgesetzt sein, wenn nicht das betreffende Gelenk, durch
die angegebene Verschmelzang der Sehnen gewisser Muskeln, eine
Unterstützung erhielte und wenn nicht durch eine grosse Beweglich-
keit des Schulterblattes gewaltsame äussere Einwirkungen mehr oder
weniger geschwächt und aufgehoben würden.
Wir ersehen hieraus, dass eine so starke Gewalt, wie
sie das Oberarmgeleok S.'s zu erleiden hatte, indem der-
selbe von seinen Gegnern an dem nach aufwärts gerichte-
ten Arme festgehalten wurde und mit dem vollen Gewichte
«feines Körpers zu Boden stürzte, wohl vermögend war, den
vertältnissmassig nur geringen Widerstand zu überwältigen,
welchen der Gelenkapparat entgegenstellte und dass die
durch das Festhalten am Arme und durch das Körpergewicht
des Hinsturzenden doppelt verstärkte Kraft hinreichend war,
jenen Gelenkapparat, namentlich das Kapselband, zu zer-
reissen und den Oberarmkopf in der angegebenen Richtung
nach innen und vorn mehrere Zolle weit von seinem ur-
sprünglichen normalen Stande zu entfernen.
Wir glauben hiermit zunächst jenen Zweifel beseitigen zu
müssen, welcher in dem Fundberichte des Prof. Dr. G. aus-
gesprochen wird, dass nämlich die Luxation bei B. von An-
fang an eine vordere Stellung gehabt und die gegenwärtige
erst späterhin secundär angenommen haben könne, wovon
in den Mittheilungen sämmtlicher Aerzte eine Andeutung
nicht gegeben wird und gegen welchen der zuerst herbei-
gerufene Arzt wiederholt bezeugt, dass der Stand des aus-
gerenkten Oberarmkopfes auch gegenwärtig noch ganz der-
selbe sei, wie er ihn bei der ersten Untersuchung am Mor-
gen des 19. September vorigen Jahres gefunden habe, eine
Angabe, welche um so grössere Glaubwürdigkeit hat, als
damals, wo die Verrenkung eben frisch entstanden war, eine
genaue Feststellung der Diagnose wohl möglich sein musste.
Hierzu bemerken wir, dass der Gelenkkopf eines luxir*
tan Knochens im Ganzen genommen auf der Stelle st^eii
19*
284 Unheilbare LnxatioiL
bleibt, auf die er gleich Anfangs gedi^ngt wurde, und dass
namentlich grössere Veränderungen in der ursprünglichen
Stellung desselben stets Folgen neuer äusserer Einwirkungen,
namentlich unglücklicher Einrichtungsversuche, sind, welche
Yor dem ersten Erscheinen des Arztes H. bei dem Kranken
noch nicht angestellt worden waren.
Hierbei ist noch anzuführen, dass die frühere, von
Deaault herrührende Ansicht, nach welcher der Gelenkkopf
nur in einer Richtung gerade nach unten soll ausweichen
können (primäre Stellung), secundär aber durch die Mus-
keln nach vom oder hinten bewegt werde, in neuerer Zeit
durch zahlreiche Erfahrungen und anatomische Untersuchun-
gen und Experimente an Leichen hinreichend widerlegt und
beseitigt worden ist. —
Eine andere Frage, deren Beantwortung sich uns auf-
drängt, betrifft die von sämmtlichen zur Behandlung B.^s
gerufenen Aerzten angegebene Zerreissung des Eapselbandes,
welche als hauptsächliche Ursache der nicht erfolgten Re-
position des ausgerenkten Oberarms bezeichnet wird.
Eine solche Zerreissung der dünnen und schlaiFen Kap-
selmembran war, wie wir bereits angeführt haben, unter den
bekannten umständen nicht sowohl möglich, als vielmehr
eine nothwendige Folge. Ueberhaupt erfolgt bei jeder Luxa-
tion eine Zerreissung des Kapselbandes in grösserer oder
geringerer Ausdehnung.
Bei der anatomischen Untersuchung einer frischen Luxa->
tion findet man dasselbe queer über, meistens in grosser
Ausdehnung, zerrissen und, wenn der Gelenkkopf weit weg,
gänzlich ausser Berührung mit seiner Pfanne gerückt ist,
selbst ringsum abgerissen. Ebenso pflegen die Seitenhülfe-
bänder und die innem eigenthümlichen Bänder des Gelenkes
zerrissen zu sein. Die Sehnen und Muskeln, welche sich
in der Nähe des Gelenkee ansetzen, sind zum Theil dislo-
Unheilbare LnxatioB. 29&
oirt, gestreckt, ein- oder selbst gänzlich darchgerissen, sa
dass der Gelenkkopf mitten in den eingerissenen Muskelfa-^
Sern stehen und von diesen eingeschnürt sein kann. — Wir
wiederholen es: Verrenkungen fahren stets eine Zerreis-
sung der Bänder mit sich, und solche mit unzerrissenen Bän-
dern finden nur unter besondern Verhältnissen, z. B.. bei
angebornea Luxationen, in Fällen, wo die Bänder vorher
ausgedehnt waren u. s. w., Statt.
Dadurch wird aber die Einrichtung eines ausgerenktem
Gliedes keineswegs unmöglich, denn sie hat nicht gegen
die zerrissenen Gelenkbänder zu kämpfen, sondern vielmehr
gegen die benachbarten gereizton und abnorm gespannten
Muskeln und gegen die durch vorstehende Enochenhöcker
und Bänder erzengte Reibung. •--
Wenn nun im vorliegenden Falle einstimmig die An-
sicht geltend gemacht wird, dass bei B.'s Luxation eine
Zerreissung des Kapselbandes stattgefunden habe, so legen
wir dieser Behauptung schon deshalb kein besonderes Gewicht
bei, weil eine solche Oomplication zu den allgewöhnlichen und
allbekaniiten Erso)ieinungen in der chirurgischen Pathologie
gehört^ welche der ärztlichen Behandlung keine besondern
Schwierigkeiten bereiten. — Will ipan jedoch dieser Zerreis-
sung des Kapselbandes deshalb eine hohe Bedeutung bei-
legen, weil dadurch allein die Reposition jener Luxation
unmöglich geworden sei, so müssen wir dem, als einer der
Wissenschaft und Erfahrung offenbar widerstreitenden Be*
bauptung, entschieden entgegenstehen.
Die Einrichtung eines verrenkten Gliedes besteht näm-
lich zunächst in Ausdehnung und Gegenausdehnung, wobei
der Zweck verfolgt wird, die Kräfte, welche den Gelenk*
köpf in sefiner abnormen Stellung erhalten, zu überwinden,
um ihn so der P&nne gegenüber zu bringen, in die er dann
durch die Wirkung jäer Muskeln selbst mit einer raschen Be-
28^ UBbeilbftre LnxatioiL
wegang und deutlich hOrbarem Ger&usche hineingeschoben
wird. — Wir sagen: ^durch die Wirkung der Muskeln*, al»
der hier durch Contraction allein wirkenden Kraft, während
das Eapselband schon wegen der erlittenen Zerreissnng an
sich und ohne besondere Zwischenumst&nde nicht den ge-
ringsten Widerstand leisten kann.
Im vorliegenden Falle war aber dieser Widerstand gerade-
so bedeutend, dass der luxirte Gelenkkopf zur GelenkhShl^
meht zurückgebracht werden konnte. Um so auffallender
erscheinen deshalb die Aeusserungen : „die Reposition war
unmöglich, weil das Kapselband zerrissen \var, die Schutz
ter konnte keinen Halt bekommen* — u.s. w., da eine Aus«
dehnung des Oberarmkopfes in d^r angegebenen Weise über-
haupt nicht stattgefunden hatte, und da liian also auch noch
nicht in Erfahrung hatte bringen können, ob derselbe in
der Gelenkhöble Aufnahme und Haltbarkeit erlangen würde.
Nach allen Erfahrungen waren im vorliegenden Falle
schon wegen des von der Gelenkhöhle entfernt stehenden
Gelenkkopfes gewisse Schwierigkeiten bei der Einrichtung
zu überwinden, was auch der Fundbericht des Prof. Dr.
6. in der Bemerkung hervorhebt: „Eine Luxation, wie sie
„J3. hatte, als er in das Jacobs-Hospital aufgenommen wurde,
„ist in der Regel schwer zurückzubringen.^ — Diese Schwie«-
rigkeiten werden zuweilen durch Complicationen vermehrt,
wie z. B. durch eine rasch eingetretene heftige Entzündung
und Geschwulst der Gelenktheile, durch Enochenbrücbe und
Wunden in der Nähe des Gelenkes, durch heftige Zerrung
und Quetschung oder gar Zerreissung grösserer Gefässe und
Nervenstämme, durch Einklemmung des Gelenkhalses in ei-
nen zu engen Riss in der Kapsel oder zwischen abgerisse-
nen Muskelfasern, endlich noch dadurch, dass Hie ^ehn&
des zweiköpfigen Armmuskels über die Gelenkhöhle hinweg«
gespannt oder ein Stück des zerrissenen Kapselbandes gleich*
Uobeflbare Ltixfttion. $87
wie ein Vorhang über dieselbe gelagert ist. — Wenn jedoch
von solchen Hindernissen in den vorliegenden ärztlichen
Berichten keine Erwähnung geschieht, namentlich von d*
ner eingetretenen heftigen Entzündung und Anschwellung d4ä
Gelenkes kein Wort gesagt wird, so werden wir b^ der
Beurtheilung der fraglichen Luxation trotz ihrer anerkannten
Schwierigkeit noch nicht auf eine absolute Unmöglichkeit
ihrer Reposition verwiesen, vielmehr bestätigt es die Erfäh-
rung hinreichend, dass die Einrichtung frischer Luxationen
der bezeichneten Art selbst unter schwierigen Ümständ^in
dennoch gelingt. —
Gelangen wir endlich zum hauptsächlichsten Theile 4er
vorliegenden Frage: „ob die Luxation R's von bleibendem
Nachtheile sei?** so vermögen wir leider etwas Anderes nicht
anzufahren, als was der mehrerwähnte Bericht des Prof.
Dr. 6. ausspricht. Nach diesem ist eine gegründete Aus-
sicht zur Beseitigung der Luxation nicht vorhanden, wes-
halb auch der Kranke nach mehrwöchentlichem Aufenthalte
in der chirurgischen Klinik zu L. als ungeheilt entlassen^
werden musste.
Denn schon nach 4 bis 5 Tagen zeigen sich gewöhnlich'
die Schwierigkeiten bei den Versuchen zu Wiedereinrichtung
einer Schulterluxation beträchtlich und nach Ablauf von un«-:
g^illhr 8 Tagen oft unüberwindlich. In späterer Zeit, wo
dich der ausgetretene Gelenkkopf eine neue Gelenkhöbld'
gebildet, und an seiner Ausgenfläche wesentlich verändert
hat, während die frühere Gelenkhöhle mehr oder weniger
unzugänglich geworden ist, sind Ei nrichtungs versuche ge-^
wohnlich ganz erfolglos, und geben selbst im Falle des Qe--
lingenB nicht immer solche Resultate, welche im Verhältniss
zu den Opfern und Geiahren stehen, denen sich der Krankd^
dabei unterwirft.
Gegenwärtig, nachdem bereits beinahe ein Jahr seit del^
288 Unheilbare Lnxation.
YerletzuBg Terflossen ist, wird B. Yon jedem weitem Ein-
riehtaBgsveraache absehen nnd sich in die traurige Noth-
wendigkeit fögen müssen, den äusserst beschränkten und
inangelhaften Gebrauch des luxirten linken Armes durch
den gesunden rechten einigermaassen zu ersetzen und die
vielfisu^hen Beschwerden mit Ergebung zu ertragen, welche
ihm durch diese Yerkrüppelung für das ganze Leben berei-
tet worden sind.
Aus diesem ergiebt sich nun die Beantwortung der vor*
liegenden Frage in Folgendem :
„Die dem pp. B. von Seiten Ws und Cons. zugefügte
«Luxation des linken Oberarmes ist yon bleibendem
«Nachtheile, ohne dass sich solcher durch die Natur der
«Verletzung an sich mit Bestimmtheit nachweisen lässt^
2.
,tSind Fehler in der ärztlichen Behandlung vorgekommen?*'
Nach den actenkundigen Mittheüungen beginnt die
IrztUche Behandlung der Luxation B.^s mit dem ersten Be-
suche des Arztes H. bei demselben in der 9ten Yormittags-
stnnde des 19. September yorigen Jahres und endigt mit
der Entlassung des ungeheilten Kranken aus der chirurgi-
schen Klinik zu L. am 29. December.
Ueber die während dieser Zeit dem Kranken zu Theil ge-
wordene ärztliche Behandlung yemehmen wir nun Folgendes:
Der genannte Arzt stellte, nachdem er die Behandlung
B.*8 ftbemommen und sich yon dem Stande des Oberarm-
kopfes unterrichtet hatte, unter Beihülfe yon 3 Personen
Bepositionsy ersuche an, welche längere Zeit, nach £«'s An-
gabe wohl eine Stunde lang, ohne Erfolg fortgesetzt wurden.
Hierauf erklärte derselbe: «die Schulter werde keinen Halt
bekonmien, weil die Achselbänder (worunter nichts Anderes,
als das Kapselband gemeint sein kann) zerrissen sein mfiss-
Unheilbare Lnxation. 28d
ten Qud rieth dem Verletzten, sieb an jenen Schmidt R. in M. za
wenden, der in solchen Fällen schon Andern greifen habe.^
Zu diesem Schmidt S. wurde auch der Kranke noch im
Laufe desselben Vormittags gebracht.
Die von dem betreffenden Arzte auf die Repositionsver-
suche verwendete Zeit während dieses ersten Besuches bei dem
Kranken war eine verhältnissmässig sehr kurze. Denn ni^-*
menwir an, dass er nach seiner eigenen Angabe in d^9teii
Vormittagsstunde bei dem Kranken ankam, dass er nunmehr
erst eine genaue Befragung desselben und Untersuchung seiner
Verletzungen anzustellen hatte, dass er gewisse Vorbereitungen
zu den Repositionsversnchen treffen musste und dass während
dieser Versuche wieder kleinere Pausen nothwendig wurden,
so ist es fast räthselhaft, wie der Kranke noch i^i Laufe
desselben Vormittags zu jenem B. nach dem mindestens
I Stunden von £. entfernten M. gelangen konnte, zumal die
Reise dahin, obgleich sie zu Wagen zurückgelegt wurde, wie*
derum einige Vorbereitung erheischte und wohl auch aus
Bficksicht gegen den Kranken mit grosser Schnelligkeit nicht
zurückgelegt werden konnte.
Nimmt man aber auch an, dass die auf die Reposition
verwendete Zeit eine Stunde betragen habe, so ist dieser
Zeitraum bei weitem nicht ausreichend^ um alle bei der au-
genscheinlich schv^erigen Reposition eines in der angege-
benen Weise luxirten Oberarmgelenkes erforderlichen, durch
besondere Umstände bedingten Mittel in voll^ Ausdehnung
anzuwenden und von einer beharrlichen und unverdrossenen
Anwendungsweise für den Kranken die nöthige Hülfe zu er-
warten. -- Diese Mittel bestanden theils in einer längere
Zeit fortgesetzten Extension, bei welcher im Nothfalle die
Beihülfe erfahrner nnd mit der Art lener Luxation vertran-
ter CoUegen in Anspruch genommen und wobei zur langem
Ausübung einer gleicbmässigen, allmählich sich steigern-
$^ Unheilbare Ltilation.
den Kraft der Flaschenzug oder doch mindestens em sol-*
eher improtisirte sofort in Gebraach gezogen werden mussle,
fteite aber auch in der innerlichen und äusserlichen An-
wendung gewisser medicamentöser Stoffe, deren Wirkung
auf eine Ersehlaflfung der Muskeln bis zu einem hohen Grade,
lielbst bis zur Ohnmacht gerichtet war, — ein bei der kraf-
tigen Museuiatur des B, höchst beherzigenswertber Umstand 1
Hierzu diente unter mehrern andern Mitteln ein langibrt-*
gesetztes Rad, ein starker Aderlass, der Brechweinstein,
vor Allem aber das Chloroform, welches auch in der chir-
urgischen Klinik zu L. , leider zu spät , in Anwendung ge-
brächt wurde.
Wenn wir schon bei der stattgefundeneti Unteriaseung
, eines solchen Verfahrens die ärztliche Sorgsamkeit und Aus-
dauer vOlÜg vermissen, so beklagen wir es in der That noch
mehr, dass dem Kranken nach diesem einstündigen, unzu-
reichenden ärztlichen ManOver jede weitere Hülfeleistung so
gut wie abgeschnitten wurde.
Denn er konnte eine solche weder von der Hand je^
nes wegen meiner Pfuscherei allbekannten und wegen der-
selben schon oft bestraften Schmidts B, findet, noch von
dem mtt der Behandlung beauftragten Arzte //.selbst, in-
dem sieh dieser in der Meinung, B. habe einen andern Arzt
holen lassen, nach seiner eigenen Aussage bis zum 26. Sep-
tember gar nicht wieder um den Kranken bekümmerte!
Wir enthalten uns über diese in hohem Grade auffäl-
lige Vernachlässigung des Kranken, welcher zum Hohne der
ärztliehen Wissenschaft von der Hand des Arztes zu d^n
Pfascher wunderte und in den nächstfolgenden 7 Tagen ohne
stichhaltigen Entschuldigungsgrund nicht einmal de& Besoeha
für werth gehalten wurde, jeden Urtheils und wiederholen
die schon oben ausgesprochene, durch die Erfahrung hin-
r^ehend bestätigte lliatsache, dass namentlich bei der spe^
DnhdRmre Laxation. ^01'
eiellen Art der in Rede stehenden Luxation jeder Au&chnb
eine Yermefarang der Schwierigkeiten herbeifuhren und dass
ein Zeitraum von 6-— 7 Tagen diese Schwierigkeiten bis zn
einem unüberwindbaren Grade steigern musste.
Daher erscheint auch das spätere Verfahren des ge-»
nannten Arztes, von welchem in Ermangelung eines wei^
tem Berichtes durch die mündlichen Mittheilungen bei der
Exploration B.'s Notiz genommen wurde, als gänzlich frucht-
los, und die am 26. September angeblich angestellten Repo*
sittons versuche konnten um so weniger erfolgreich werden,
als auch bei ihnen eine ernste Ausdauer sowohl, als der
erforderliche mechanische und dynamische Hfilfsapparat vftl-^
Kg vermisst wird.
Die etwa 8—9 Wochen nach dem unglücklichen VoriUI
in L. and M., hier selbst mit dem Flaschenzuge angestell-
ten Einricbtungsversuche übergehen wir faglich schon deshalb,
weil wir weder durch persönliche Gegenwart, noch durch
den Acteninhalt zu einer Anschauung derselben gelangt sind
und bemerken nur, dass zu dieser Zeit durch die Entzün-
dung mit ihren Folgen der Einrichtung schon bedeutende
Hindemisse entgegengestellt worden waren, dass namentlich
durch me die Empfindlichkeit gesteigert, die Contractilüät
der Muskeln angeregt, der Weg, den der Gelenkkopf genom-
men hatte, mit Exsudat^ gefüllt, die alte Gelenkhöble aber
von den yerschrumpften Resten des Kapselbandes TMlig
überdeckt und ihr Knorpel bereits absorbirt war.
Hindemisse der genannten Art konnten selbst bei der
sachgemässen Behandlung des Kranken in der chirurgischen
Klinik zu L., wo man durch die Arüher allenthalben ver-
misste Ghloroformnarcose eine allgemeine Etsehlaffiing der
Muskeln beabsichtigte, erfahrangsmässig nicht mehr besei^
tigt werden.
Haben wir nun im Vorstehenden die negative Seite'
392 Cnheilbire Loxstioo.
der ftrztlicben Bohaadlang m beleuchten gesucht, so hloibt
noch übrig, der positiven Einwirkungen zu gedenken, welchen
der Kranke trzÜicberseits auHgesetzt wurde.
Hier fehlen der Beurtbeilung die nöthigen Unterlagea
gftnzlich, indem weder in den Acten eine speciell abgefasste
Krankengeschichte, worin der Einriciitungsmetho^en näher
gedacht worden wäre, enthalten ist, noch auch dem Refen
dieses Gelegenheit geboten worden war, bei den ärztlichen
Unternehmungen gegenwärtig zu sein.
Das angeregte Bedenken aber, dass die fragliche Luxa-
tion primär eine andere Stellung gehabt haben könne, haben
wir bereits oben näher zu beleuchten gesucht und finden uns
nach wissenschaftlicher Erfahrung nicht in d^B Stande, et-
was hierüber anzugeben.
Demgemäss beantworten wir die vorliegende Fr^ge dahin,
^dass das passive Verhalten des zur Behandlung fi/s zu-
,erst gerufenen Arztes weder der Wichtigkeit und Dring-
jylichkeit des concreten Falles im Besondern, noch den
„Forderungen der Erfahrung und Wissenschaft im All-
^gemeinen entsprochen habe, dass aber der ärztlichen Be-
„handlung überhaupt eine positive Veranlassung zu dem
„bleibenden Nachtheile nicht nachgewiesen werden könne.^
3.
»Ist die Unheilbarkeit der Luxation dnrch andere mitwirkende
„nnd Zwischennrsachen, oder dareh gewisse zufällige Umetände yer^
„anlaset worden?**
In das Gebiet dieser Frage würden zunächst alle die-
jenigen Verhältnisse und Abweichungen im Körper des Ver-
letzten selbst fallen, welche den Erfolg einer Verletzung
wesentlich zu verändern im Stande sind und die man daher
mitwirkende Ursachen zu nennen pflegt, -r-
Dahin gehören gewisse Allgemeinleiden des Verletzten,
welche zur Zeit der Verletzung bestanden, wichtige Locallei-
Unheilbare Lnxatioii. 293
den desselben, Fehler in der ersten Bildnng, endlich die
Individualität des Verletzten, welche den Verlauf der Verlet-
sung und ihre Folgen oft sehr modificiren kann. —
Von allem diesen hat aber B. vor der erlittenen Luxa-
tion und während der Zeit der ärztlichen Behandlung auf-
fiedlende Erscheinungen nicht dargeboten, ebensowenig, als
man in seiner männlichki^ftigen Körperbeschaffenheit ein
unbesiegbares Hinderniss der Reposition finden kann, da hier-
durch die Untersuchung der Luxation nicht unmöglich ge-
macht wurde und der von den Muskeln geleistete Wider-
stand durch ein geeignetes Verfahren wohl zu beseitigen war.
Von den Zwischenursachen, welche nicht wie die vori-
gen während der Verletzung schon vorhanden sind, sondern
zwischen diese und die Endwirkung der Verletzung treten,
wfirden wir insbesondere mehrere Krankheitsformen hervor-
zuheben haben, wie z.B. den Wundstarrkrampf, die Eitervergif-
tung, Eitersenkung, das Wunderysipel, das Delirium, manche
fieberhafte Krankheiten u.s. w., welche durch ihren, vom Kran-
ken verschuldeten oder nicht verschuldeten Eintritt dessen
Zustand verschlimmem und unheilbar machen können. —
Auch hiervon wird uns weder aus der ersten Periode
der Verletzung noch aus dem spätem Verlaufe derselben
irgend eine Mittheilung gegeben, es geht vielmehr aus Allem
hervor, dass B. am Tage nach der Verletzung trotz der er-
littenen Misshandlung und ungeachtet seiner Schmerzen das
Bewusstsein vollständig gehabt hat, wie es auch an sich schon
einleuchtend ist, dass die meisten der hier angefahrten
Krankheiten ihn erst in der Folgezeit, wo der zur SepO'>>
Bition geeignete Termin schon vorüber war, hätten befallen
können. —
Fragen wir endlich nach den zufälligen äussern Um-
ständen, welche die Heilung B.^b verhindern konnten, so
wflrde hier namentlich das Verhalten des Kranken unmit-»
294 OnlMUhare Lnzatfoii.
Uibv nach der Yerletoiuig, die nabefiigte BuunisehttiiK
des Sehmidto B. in, die änfliche Behandimig imd der Eia*
flnss des mit dem Kranken veraastalteten Traiaporto nach
M. und von da nach S« in Betracht zu ziehen sein.
Das Verhalten ß.'s unmittelbar nach der erlittenen
Luxation war rein passiv; er musste grösstentbeils von
seinem Begleiter getragen werden, während der herabge*
fallene Arm unterstutzt wurde. Die geringste Bewegung
desselben verursachte ihm heftige Schmerzen, daher die
grSsste Schonung an sich schon beobachtet werden musste.
— Zu Hanse angelangt und zu Bett gebracht, war aus dem*
selben Grunde jede neue Bewegung und Anstrengung ver-
mieden worden, denn der Arzt fand den Kranken noch vcdt-
ständig bekleidet und nur mit seinem Rocke bedeckt in seinon
Bette. Wir finden daher in jenem Verhalten keinen ta^
delnswerthen Eingriff, keinen nachtheiligen Einfluss, wel-
cher einen Beitrag zur Unheübarkeit der Verletzung hatte
liefern können.
Was die vom Schmidt B. angestellten Repositionsver-
suche anlangt, so waren dieselben, wie rftgenswerth und
strafbar auch eine solche unbefugte Einmischung sein möge,
völlig wirkungslos und daher fern von einem gewaltsamen,
rohen Verfahren.
Der bereits 77 Jahre alte Mann suchte den Arm da^
durch wieder einzurichten, dass er ihn mit der rechten
Hand ausdehnte, während er mit der linken Faust die Ach-
selhöhle fixirte, — unter diesen Umständen ein völlig nutz*
loses Bestreben, welches nicht durch den jedenfalls unza*
reichenden Kraftaufwand, sondern nur durch die Vernach*
lässiguDg anderer zweckmässiger Hulfeleistung Nachtheil be-
reiten konnte. —
Wie wenig der Kranke hierbei angegrifien worden ist,
bezeichnet er selbst mit den Worten, „B. ging ganz bebut-
„sam mit mir um, ak er meine verletzte Schalter uater-
„suchte und sie einzurichten suchte; ich habe weder w&h^
„rend dieser Versuche, noch nachher mehr Schmerzen im
^der Achsel empfunden, als vorher.^
Dies konnte nach der Beschaffenheit der Yerletaujag
dann nicht der Fall sein, wenn B, bei aahalt^aden £epa-
sitionsversuchen jene Kraft ausgeübt hätte, welche vermO^
gend gewesen wäre, den primären Stand der Luxation zu
verändern, den Gelenkkopf des luxirten Oberarmes an ei*
nem andern Orte zu fixiren oder, neue Verletzungea des
umgebenden Gelenkapparates herbeizufuhren , worauf weder
in den Aussagen des Arztes £f., noch in den Mittheilungen
der DD. K. und H. hingedeutet wird. —
Gedenken wir endlich noch der Einflüsse, welchen
der Kranke durch die Keise nach M. und 8. £^m Tage der
Verletzung ausgesetzt wurde, so werden wir hierbei auf die
erste und einfachste Regel der Chirurgie von selbst hinge-
wiesen, nach welcher einem verletzten Gliede Ruhe und
Schonung vor allen Dingen notb ist, — dies um so mehr,
wenn einer drohenden Entzündung eines solchen Theiles
vorgebeugt werden soll. —
Eine solche konnte aber bei £.'s Luxation nicht aus-
bleiben, sie musste bei dem Fahren nach dem | Stunden
entfernten M. und nach dem von hier 2 Stunden entfernten
S., in Folge der Erschütterung sowohl, als wegen der un-
bequemen Lage des Kranken, dem zugleich die erforderli-
chen entzündungs widrigen Mittel fehlten, nothwendig ver-
mehrt werden.
Die Bedeutung der demselben hierdurch erwachsenen
Nachtheile tritt jedoch in den Hintergrund, wenn man er-
wägt, dass sein Leiden im Laufe der nächstfolgenden sechs
Tage eine Berücksichtigung von Seiten des behandelnden
Arztes nicht gefunden hat, dass vielmehr die Luxation, sich
296 Onheilbare Laxation.
selbst fiberlassen, in dieser Zeit fflr sich aUein alle diejeni-^
gen Folgen mit sich bringen miisste, deren nnüberwindliche
Nachtheile darzustellen wir im Obigen bemüht waren. —
Was schliesslich die Aussage des Arztes L. betrifit,
nach welcher B. von dem Arzte H. über seinen Zustand
getäuscht worden sei, indem dieser ihn Von der wirklich
erfolgten Reposition seiner Luxation zu überzeugen gesucht
habe, so halten wir uns zu einem Drtheile hierüber um so
weniger für competent, als durch die ersichtliche Befragung
Bh von demselben eine hierauf bezügliche Aeusserung von
Seiten Bh und des Schmidts B. in Abrede gestellt wird.
Die Beantwortung der vorstehenden Frage lautet
demnach :
„Es sind solche mitwirkende und Zwischenursachen,
«welche die Unheilbarkeit der Luxation bei dempp. B.
„veranlasst haben, nicht bekannt und kann der bleibende
„Nachtheil ebensowenig aus dem nicht zu billigenden
„Transporte des Kranken hergeleitet werden.*
Das Erkenntniss lautete, mit Bezugnahme auf Art. 47.,
166., 167. und 50., 51., auf Arbeitsbaus in der Dauer von
4 Monaten bis zu (?) 1 Jahre mit theilweiser Sch&rfung nach
Art. 171.
297
18.
Einige Bemerkungen
betreffend
die Geisteskrankheiten der Gefangenen«
Vom
Kreis-Phjsicus, Sanitätsrath Dr. IHorlSy
Strafaustalts-Arzt in Graudenz.
Die Geisteskrankheiten der Verbrecher haben manches
Eigenthümliche. In vielen Fällen lässt sich ein Zusammen-
hang zwischen Irrsein und Verbrechen nachweisen.
Nach einem Stadium grosser Reizbarkeit, mit welchem Selb st-
anschttldigung wirklich begangener oder fingirter Verbre-
chen, dann unmotivirte Arbeitseinstellung, Excesse
gegen die Hausordnung, basirt auf die verkehrte Idee der
Schuldlosigkeit, der ungerechten Verurt heil ung, oft
Jahre lang Hand in Hand gehen, tritt constant ein gegen die
Gefänguiss-Beamten und die nächste Umgebung gerichteter
Verfolgungs-, seltener Vergiftungs-Wahn ein; nicht
selten wähnen die Kranken, andere Personen zu sein, und hal-
ten sich für das Opfer desselben Verbrechens, welches
sie begangen haben. Diese Erscheinungen gehören charakte-
ristisch den Geisteskrankheiten der Verbrecher an, während
Hallucinationen — in den Gefängnissen häufiger desGe-
Catper, Vjcchrft. f. ger. Med. XXIL 3. 20
298 Geisteskrankheiten der Gefangenen.
hörs als des Gesichtes — wohl bei allen Geisteskranken
in gleicher Form auftreten möchten.
Wo die Wahn - Vorstellungen mit dem Verbrechen in
Zusammenhang stehen, was zumeist bei den Verbrechern
aus Leidenschaft der Fall ist, wird ausserdem noch oft ein
in ergreifender Weise in den Vordergrund tretendes, un-
gestümes Verlangen nach Freiheit, besser üngebun-
denheit beobachtet; dasselbe bezeichnet den Beginn der
Seelenstörung, leitet die Handlungen in dem Wahn — wes-
halb im Gefängniss die ganze Psychose sehr leicht als Si-
mulation angesehen wird — und weicht nur allmählig,
selbst noch im Stadium der Depression deutlich durch-
blickend, dem unheilbaren consecutiven Wahnsinn, und dem
paralytischen Zustande aller Seelenkräfte.
In andern Fällen entwickelt sich der Wahnsinn aus
ungunstigen Verhältnissen während der Haft und stehen
die Wahn - Vorstellungen dann in keinem Zusammen-
hange mit dem begangenen Verbrechen, während die übri-
gen vorhin angegebenen charakteristischen Kennzeichen des
Verbrecher* Wahnsinns nicht fehlen.
Eine Simulation Yon Geisteskrankheit ist in den
letzten 6 Jahren in der Zwangs-Anstalt zu Graud6nz, wirk-
lichnachweisbar, nicht einmal versucht worden^), so sehr
auch der Verdacht stets rege war, weil man voraussetzen
zu können glaubt, dass ein Geisteskranker stets den An-
blick eines Verruckten gewähren müsse und sich an den
Umstand schwer gewöhnen kann, dass auch ein Geisteskran-
ker seine Arbeiten noch mit Anhänglichkeit, wenn schon
in eigener Manier, zu verrichten vermag ; im Gegentheil war
die Beobachtung constant, dass mit Seelenstörung Behaftete
1) Siehe jedoch die spater unten folgende Bemerkung aus neu-
ster Zeit
Oeisteskrankheiten der Gefangenen. 299
im Beginn der Krankheit, wie in den spätem Stadien, sich stets
gesand erklärten, und, wenn sie auch ab und zu um kalte
Debergiessungen baten, sehr bald Entlassung aus dem La-
zarethe verlangten, weil sie ganz gesund seien. Grleich-
wohl führten sie dabei Beschwerde über allerlei krankhafte
Körperzttstände , deren Existenz entschieden in Zweifel ge-
zogen werden musste, während die Psychose sich schon voll-
kommen ausgebildet hatte.
Das Schweig-System, die strenge Disciplin, welche die
ersten Anfänge der Seelenstörung in den Straf* Anstalten
nicht selten übersehen lassen, die constante Annahme der
Simulation bei excentrischem Wesen, die nothwendige Ab-
führung solcher Individuen in die Straf- Isolirzellen — der
alleinige Weg, um die Isolirung als Heilmittel zu ermögli-
chen — , bilden im Verein mit dem Drucke des Schuldbe-
wusstseins Momente genug, welche das Erkranken der Seele
in den Gefängnissen begünstigen, wie die sitzende Lebens-
weise und andere mit dem Gefängnissleben verbundene Ein-
flüsse somatische Erkrankungen herbeiführen, die sich in
viellen Fällen als die Basis der Seelenstörung deutlich nach-
weisen lassen.
In den Zwangs-Anstalten zu Graudenz, welche in den
letzten 6^ Jahren durchschnittlich 1200 Züchtlinge in der
Straf- Anstalt und 150 Häuslinge in der Besserungs - Anstalt
beherbergten, wurden in der angegebenen Zeit überhaupt 4 8
Geisteskranke beobachtet. Von diesen 48 Seelenstörun-
gen gehörten 15 den leichtem Graden an; einmal wirk-
liche, aber vorübergehende, kurze Zeit andauernde Gemüths-
störung mit unzweifelhafter Sinn^täuschung, oder zweitens
Zustände, bei denen es zweifelhaft blieb, ob sie die Zurech-
nung aufzuheben wirklich ausreichend waren, und mögen
hierher wohl die häufigen Fälle von Heilungen zu rechnen
sein, vne solche in andern Straf- Anstalten beobachtet wer-
20*
300 Geisteskrankheiten der GefimgeneD.
den« Individuen, welche durch ihr widersinniges Benehmen
allgemein aofibllen, von denen es in der Zuchthaussprache
heisst, sie haben den „ Zuchthaus - Knall ^ , eine von den
Zfichtlingen gewählte Bezeichnung, der nicht selten wirk-
liche Seelenstörung folgte, kamen ausserdem nicht selten
zur Beobachtung.
Von den 93 mit ausgebildeter Geisteskrankheit Behafteten waren
13, darunter ö Hänslinge, bereits krank eingeliefert, und waren bei
Einzelnen Umstände vorhanden, welche vermuthen Hessen, dass die
Seelenstörung bereits aus der Zeit vor dem Verbrechen, um deswil-
len dieselben eingeliefert waren, datirten. Von diesen 13, bereits
krank Eingelieferten beenden sich 2 Männer und 3 Weiber in der
Besserungs - Anstalt, 3 Männer und ö Weiber im Zuchthause. Zum
richtigen Verständniss des Verhältnisses des Geschlechts sei bemerkt,
dass sich in den Jahren 1856 bis 1860 unter 1,500 Köpfen circa 300
Weiber, später unter circa 1,200 Köpfen fast 400 Weiber befanden.
Von diesen 13 wurden in die Üeimath entlassen 5 nach Erkenntniss,
und 4 nach Yerbüssung der Strafe; 2 und zwar nur aus der Hesse-
rongs-Anstalt wurden der Provinzial-Irren-Anstalt direct aus der An-
stalt übergeben, 2 verblieben in derselben.
20, sämmtlich Sträflinge, erkrankten in der Anstalt und hier-
unter nur 2 Weiber. Von diesen genasen 5, jedoch stellten sich bei
dreien derselben noch ab und zu verdächtige Symptome ein, 5 star-
ben, 2 wurden nach abgebüsster Strafe in die Heimath entlassen, eine
Uebersiedelung in die Pro vinzial^rren- Anstalt war nicht zu erzielen,
8 verblieben in der Anstalt und haben noch eine resp, 2, 3, 7, 8,
zweimal 9jährige und einmal lebenswierige Strafe, bei einem noch ju-
gentlichen Individuum, abzubtissen.
Diese 20 Fälle gruppiren sieh nach den vorwaltenden Krankheits-
firscheinungen in folgender Weise:
5 litten an Tobsucht, davon 1 wegen Todschlags, 2 wegen Raubes, 2
wegen Diebstahls eingeliefert,
7 an Verwirrtheit, davon 2 wegen Mordes, 2 wegen Raubes, 3 wegen
Diebstahls,
7 an Melancholie, davon 1 wegen Todschlags, 1 wegen Mordversuchs,
1 wegen Raubes, 1 wegen Brandstiftung, 3 wegen Diebstahls,
1 an Blödsinn, wegen Diebstahls eingeliefert.
Nach dem Alter und, der Zeit ihres Aufenthaltes in der
Straf- Anstalt gruppiren sich diese 20 Erkrankungen, wie folgt:
5 befanden sich in einem Alter von 20—25 Jahren und erkrankten
4 nach 2jährigem,
1 - 7 - Aufenthalt in der Anstalt;
Geisteskrankheiten der Gefangenen. 301
6 befanden sich in dem Alter yon 36—30 Jahren; es erkrankten
1 nach Ijährigem,
2 - 8 -
2 - 9 .
1 - 13 - Aufenthalt in der Anstalt;
6 befanden sich in einem Alter von 30—40 Jahren; es erkrankten
2 nach jährigem,
3 - 4 -
1 - 6 - , endlich
3 in einem Alter von 50 Jahren nach circa ^jährigem Aufenthalte
in der Anstalt, jedoch waren alle 3 mehrfach bestrafte Diebe,
die nur eben ihre letzte Sitzzeit begonnen hatten.
Eine Frage verdient nun wohl vom practischen Stand-
punkte ans in den Vordergrund gestellt zn werden:
Gehören geisteskranke Gefangene in die Gefäng-
nisse, oder in die Irren-Anstalten?
Die Irren- Anstalten sträuben sich zumeist, irre Verbre-
cher aufzunehmen, weil sie einen nachtheiligen moralischen
Einfluss auf ihre Kranken beftrchten, und behaupten, dass
irre Verbrecher besser in den Zuchthäusern verwahrt wer-
den können, als in den Irren- Anstalten, welche durchschnitt-
lich für etwa 100 Kranke nur 12 Krankenwärter ^Lhlen.
Gegen die Aufnahme geisteskranker Untersuchungsgefange-
ner möchte sich wohl seitens der Irren-Anstalten nichts ein-
wenden lassen. Aber auch irre Verbrecher, wenn deren
Seelenstörung vollkommen ausgebildet und hin-
länglich constatirt, die Krankheit deshalb mit dem
Sehwinden jeder ZurechnungsfÜhigkeit voraussichtlich in das
Stadium der Unheilbarkeit übergegangen ist, gehören,
weil sie mit dem Erlöschen des Selbstbewusstseins kein Ge-
f&hl f&r Schuld und Strafe, Reue oder Besserung haben,
also Verbrecher zu sein aufgehört haben, nicht mehr
in das Zuchthaus, sondern in die Irren-Anstalt. Eine Fort-
setzung der Haft ist vollkommen zwecklos und erwächst
aus derselben den Gefangenen- Anstalten, die nur das Noth-
dürftigste an Raum und Warte-Personal besitzen, eine
302 GeiflteskraBkheiteu der GeÜEUkgenen.
Reibe von Üebelfitäaden, die hier viel naohtkeiliger einwir-
ken können, als in den mit allen Mitteln zu menschlicher Be-
handlung auch eines Irren so reichlich ausgestatteten Irren-
Anstalten. Für die Lazarethe grösserer Straf - Anstalten,
welche nicht selten 100 Kranke beherbergen, giebt es ge-
wöhnlich nur 1 Lazareth-Aufsehidr und 1 Aufseherin, die
vor Allem die Ordnung zu controliren verpflichtet sind, und
die Verbindung des Lazarethes mit der Gesammt- Anstalt zu
vermitteln haben. Einige Sträflinge werden zur Eranken-
wartung verwandt. Die übrigen Aufseher, welche circa 1000
bis 1200 oft sehr schwere und ränkevoUe Verbrecher za
bewachen haben, können nur dadurch, dass ihren Befehlen
unbedingt Folge gegeben werden muss, ihren Einfiuss und
ihr Ansehen aufrecht erhalten. In der Nähe geisteskran-
ker Verbrecher aber lockern sich diese Bande naturgemäss,
und ist es deshalb den Straf- Anstalten sicherlich Bedürfniss,
schon allein um der Sicherheit des Ganzen willen, sich die-
ser Individuen zu entledigen. Unter zweien unvermeidlichen
üebeln ist immer das geringere zu wählen, und wenn auch
manchem irren Verbrecher übele Angewohnheiten und eine Nei-
gung zu unerlaubte Handlungen aus seinem frühern ver-
brecherischen Leben noch ankleben, Neigungen, die übrigens
auch bei Geisteskranken beobachtet werde% die nie eines
Verbrechens bezüchtigt waren, und deshalb vom psy-
chiatrischen Standpunkte — Delbrück ^ mit trefflichen An-
merkungen von Damerow in der Allgemeinen Zeitschrift flr
Psychiatrie — die Forderung angestellt wird, dass für irre
Verbrecher besondere Anstalten zu begründen seien, so
müssten doch, so lange es solche Anstalten f&r irre Verbrecher
nicht giebt, die vorhandenen resp. Pro vinzial-Irren-Anstalten
gehalten sein, zur Vermeidung der erwähnten üebelstände
auch geisteskranke Verbrecher, deren Absonderung von ih-
ren andern Kranken ihnen überlassen bliebe, unter der
GeiBteskrankheiten der Qe&ngenen. 303
angegebenen Besdbrftnkung aufzunehmen, zumal sie die-
selben, wenn sie ihre Strafe verbüsst haben, oder nach rich-
terlichem Erkenntniss als Wahnsinnige aus der Straf-Anstalt
entlassen werden lange vor Abbüssung ihrer Strafe, sobald
sich deren Gemeingeföhrlichkeit oder die Unmöglichkeit, sie
in der Heimatb entsprechend unterzubringen, herausgestellt
hat, trotz alles Sträubens dennoch au&unehmen gezwun-
gen sind. Zeitig müssen solche Individuen, wenn sie auch
in der Isolir-Zelle zu viel lärmen, die Ordnung der ganzen
Straf-Anstalt, die doch einmal auf die strengste Zucht ge-
gründet ist, stören, innerhalb des abgesonderten Lazarethes
an eine Kette gelegt werden, um so wenigstens die übrigen
Kranken vor handgreiflichen Insulten zu schützen, bis end-
lich das viel Zeit raubende Verfahren der gerichtlichen Wahn-
sinnigkeitserklärung durchgef&hrt ist. Alsdann wird die
heimathliche Commune, die ihre Beitrage zum Provinzial-
Irrenhause regelmässig zu zahlen gehalten ist, durch
Ueberweisung eines solchen Kranken in nicht gewöhnliche
Verlegenheit gesetzt, bis nothgedrungen die Administrativ-
Behörde nach langen Verhandlungep die Ueberfuhrung in
das Provinzial-Irrenhaus durchsetzt. Im Interesse der all-
gemeinen Humanität, deren höchste Potenz sich in den reich
dotirten Irren- Anstalten concentrirt, ist in der That durch die-
sen Umweg auch für die Irren - Anstalten selbst wenig ge-
wonnen.
Aber der bei weitem überwiegende Theil der von See-
lenstörung ergriffenen Verbrecher befindet sich noch keines-
wegs in dem Zustande der präsumtiven Unheilbarkeit, der
zugleich jede Zurechnung ausschliesst. Diese, wenn schon
geisteskranken Verbrecher, die sich noch immer in den Ar-
beits-Revieren, wenn auch vorübergehend, beschäftigen lassen^
verbleiben wohl folgerecht den Straf-Anstalten. Durch das
Verbrechen hat sich der Verbrecher der Wohlthaten freier
804 Geisteskrankheiten der Gefiingenen
Staatsbürger, also auch der Aufnahme in die Irren-Heil- An-
stalt, yerlnatig gemacht, und so lange der gemüthskranke Yer-
brecher sich seiner Lage überhaupt noch bewusst ist, 8o lange
die Haft für ihn überhaupt noch eine Bedeutung hat, möchte
auch der Strafvollstreckung durch seine Krankheit — ebenso
wenig der Seele als des Körpers — nichts in den Weg ge-
stellt sein, zumal beide Krankheitsformen nach den Beob-
achtungen competenter Richter auf gemeinsamem Boden
wurzeln. Erst dann, wenn nach wissenschaftlichem Ermes-
sen die präsumtive Unheilbarkeit der Geisteskrankheit des
Verbrechers festgestellt werden kann, tritt auch der irre
Verbrecher mit dem aus der Irren - Heil -Anstalt als unheil-
bar entlassenen Geisteskranken in eine Kategorie, beide
haben aufgehört Menschen zu sein, und gehören, weil sie
Mensehen waren, der Irren -Pflege- Anstalt und nicht dem
Zwinger an. Bei jeder einzelnen Straf- Anstalt aber entspre-
chende Einrichtungen zu treffen, wie solche — natürlich
in anderer Richtung — den somatisch Kranken in jeder
Straf- Anstalt ausreichend gewährt werden, würde zumeist
wegen Mangels an Raum unausführbar sein, dann aber auch
in der That eine Umwandlung unseres Straf- Anstalts- Wesens
kaum umgehen lassen.
Scheint es nun im Allgemeinen fast unmöglich, den
geisteskranken Verbrecher innerhalb der Straf- Anstalt in
die Lage zu versetzen, welche nach den humanen, den Ein-
richtungen einer Straf - Anstalt direct entgegengesetzten
Grundsätzen der zettigen Irren-Pflege zu seiner Heilung er-
forderlich ist, so lehrt doch die Erfahrung, dass irre Ver-
brecher auch ohne die vollständigen Einrichtungen der Ir-
ren-Anstalten innerhalb der Straf- Anstalt geheilt werden
können, wie auch somatisch Kranke in den Straf- Anstalts-
Lazarethen geheilt werden, Lazarethe, die im Vergleich zu
den grossartigen Einrichtungen reich dotirter Krankenhäu-
Geisteskranklieiten der Gefangenen. 305
ser sieb, um nicht die Lasten der redlichen Staats-
bürger über das dringendste Bedürihiss hinaus zn steigern,
sich mit dem Allernothwendigstenbehelfen müssen, und
doch herrscht in diesen Lazarethen die mnsterhaileste Ord-
nung und grösste Sorgfalt far das Wohl der Kranken bei
aller durch das Zuchtbaus bedingten Beschränkung. Ebenso
wird auch den psychisch Erkrankten innerhalb der Straf-
Anstalten das Nothwendigste gewährt werden können
und müssen. Wollte man dagegen alle mit GemüthsstO-
rung behaftete Verbrecher ohne Ausnahme in die Provin-
zial-Irren- Anstalten, oder in die etwa neu einzurichtenden An-
stalten far irre Verbrecher übersiedeln, so würde im ersten
Falle, sobald gerade die schwersten Verbrecher mit der
Möglichkeit einer solchen üebersiedelung bekannt wären,
zu Simulationen mehrfach Veranlassung gegeben werden'),
auch liessen «ich alsdann die irren Verbrecher von den
übrigen Kranken nur schwer trennen, da sie derselben Be-
handlung bedürftig; im zweiten Falle würde der Kosten-
punkt ein fast unübersteigliches Hinderniss abgeben. Die
Straf-Anstalten zu Graudenz zählen zeitig bei einer Gesammt-
Summe von circa 1,100 Gefangenen 9 Geisteskranke und
ausserdem 2 Individuen, bei denen die Zurechnung zweifel-
haft ist; die Zahl der in den letzten 6 Jahren überhaupt
Erkrankten stimmt so ziemlich mit der von der Straf-An-
1) Diese Befürchtung möchte sich nicht, als leer bezeichnen lassen.
Als es ganz in neuster Zeit in der Straf- Anstalt Graudenz be-
kannt wurde, dass der in völlige Vertfaiertheit versunkene X K , . . .
mutfamaasslich in eine Irren -Anstalt abgeführt werden würde, stellte
sich der gleichfalls mit lebenswieriger Haft bestrafte K . . , . wochen-
lang wahnsinnig; versuchsweise mit jenem behufs der Beobachtung
xasammengelegt, ahmte er dessen unsinniges Geberden nach; das
Gekünstelte seines Gehabens verrieth ihn jedoch sofort, und wieder-
holte Uebergiessungen von circa 12 Eimern kalten Wassers zeigten
ihm, dass er erkannt sei.
306 OeistesknuiUieitea der Gefangeiieii.
stalt Halle durch Delbrück gegebenen Nachrichten fiberein
(Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, XI, 1. Seite 88); b^
einer gleichen Yertheilang wfirde der ganze Staat (vergleiche
die Mitiheilungen ans den amüichen Berichten aber die
Gefangnen -Anstalten von Dr. Wiehern. Berlin 1861) in
seinen 40 Zwangs -Anstalten mit 23,388 Gefangenen etwa
198 bis 242 geisteskranke Verbrecher unterzubringen haben;
der Neubau einer so ausgedehnten Anstalt aber, die wohl
auf die doppelte Zahl einzurichten wäre, namentlich w^n
bei langjährigen Sträflingen der Zugang den Abgang über-
steigt, auch schwer Erkrankte nach abgebusster Strafe nicht
wieder gut entlassen werden können, zumal die Provluzial-
Irren- Anstalten deren Aufnahme mit denselben Grilnden zu
vermeiden suchen werden, dürfte mit ganz aussergewöhnli-
chen Kosten verknüpft sein.
Hat man dagegen ausreichende Veranlassung, den Grund-
satz festzuhalten, dass die Entfernung aus 4er Straf-Anstalt
nur bei denjenigen Verbrechern unbedingt nothwendig
sei, bei denen die Erankheitsform den Charakter der
ünheilbarkeit angenommen, deren sich zeitig in der
Stoaf-Anstalt zu Graudenz nur 2 bis 3 befinden, so dass for
den ganzen Staat etwa 42 bis 63 solcher irrer Verbrecher
besonders zu versorgen wären, so liesse sich wohl erwarten,
dass bei der allgemeinen Abnahme der Verbrechen bei ir-
gend einer Straf- Anstalt so viel Raum vacant würde, um
diese aufzunehmen ; nur müsste die Direction dieser Anstalt
nothwendigerweise einem Arzte übertragen werden,
denn man kann von unsern Straf- Anstalten wohl einige Nach-
sicht bei Behandlung von Verbrechern erwarten^ deren 6e-
müthszustand zweifelhaft ist, man darf aber nicht voraus-
setzen, dass eine ganze Kategorie von Gefangenen dauernd
ganz anders behandelt werde, als solches die allgemeine
Hausordnung der Straf-Anstalten mit sich bringt.
GeisteBkrankheiten der Ge&Bgenen. 307
Auf der andern Seite ist es aber, wie gesagt, nieht ab-
zusehen, weshalb die Provinzial-Irren* Anstalten, deren Räum*
lichkeiten die der Straf-Anstalten soweit überbieten, die sich
ja bereits im Besitz der Einrichtungen befinden, wie sie zu
einer humanen Behandlung und Sicherung Geisteskranker
erforderlich, in der Abtheilung fär unheilbare Kranke unter
den reglementsmässigen Einschränkungen nicht auch jene
irren Verbrecher aufzunehmen gehalten sein sollen, die eben
um ihres Gemüthszustandes willen Verbrecher zu sein auf-
gehört haben ; es bliebe ihnen ja überlassen, um jede Com-
munication selbst mit den unheilbaren Kranken zu vermei-
den, einfach und ohne grosse Kosten durch Errichtung ei-
ner Zwischenwand jede Verbindung abzuschliessen.
Besteht nun die ärztliche Behandlung der Irren auch
in der Irren- Anstalt, wo nicht gerade die somatische Basis
klar zu Tage liegt, yorzfiglich darin, dass der Kranke sich
eben in der Anstalt befindet, dass mit der Veränderung
seiner äussern Verhältnisse alle Schädlichkeiten fern gehal-
ten werden, so wird ebenso das Bestreben des Gefängniss-
Arztes dahin gerichtet sein müssen, auch den im Gefangniss
befindlichen Geisteskranken das unbedingt Nothwendige auch
in dieser Beziehung zu gewähren, so schwierig dieses Vorha-
ben aus sehr nahe liegenden Gründen auch stets bleiben wird.
Spezielle Vorschläge lassen sich auf einem so wenig
cultivirten Felde nicht geben. Jeder Fall ist für sich auf-
zufassen. Nur ein paar Bemerkungen mögen hier Raum
finden :
1) Man su<)he den Kranken aus seinen gewohnten Um*
gebungen zu entfernen; es lässt sich eine Versetzung in
ein anderes Arbeits-Revier mit möglichster Berücksichtigung
der Wünsche und Fähigkeiten des Kranken erwirken, wenn
schon nach dem Reglement bei gemeinsamer Arbeit jeder
Gefongene die Arbeit zu leisten hat, die ihm übergeben wird.
308 GeisteekraiikheiteD der Gefitngenen.
Trotz dem sind die Arbeits - Reviere kein recht passender
Aufenthalt f&r Geisteskranke, weil trott allw Strenge der
Diseiplin and des Schweig -Systems die Sticheleien roher
Mitgefangener die krankhafte Reizbarkeit nur vermehren, ja
in der Reconvalescenz Recidive herbeiführen kennen.
2) Das Lazareth, sonst wohl der geeignetste Aufent-
halt auch for Geisteskranke, so lange dieselben der mediea-
mentösen Behandlang bedürfen, wird darum von den Gei-
steskranken gern gemieden, weil der Anblick der somatisch
Kranken auf sie störend einwirkt, sie verlangen h^fig Ent-
lassung, weil sie ja gesund seien. Von Wichtigkeit ist
auch der Umstand, dass in dem Lazarethe nicht gearbei-
tet werden darf. Mangel an Arbeit aber erzeugt die todt-
lichste Langeweile und zwingt den Gemüthskranken nur noch
mehr zur krankhaften Selbstbeschauung, zu der derselbe
ohnedies häuüg inclinirt. Auch beobachtet man bei man-
chen Geisteskranken in einem gewissen Stadium eine wahre
Sehnsucht nach Arbeit. £in Parchent - Weber wurde mit
fast völliger Lähmung der Gehirnthätigkeit in dasLazareth
eingeliefert; erst nach Monaten lernte er wieder essen, ge-
hen. Dann fing er an einzelne Worte leise vor sich hin zu
murmeln. Dann sang er durch einen ganzen Tag leise vor
sich die Worte bin : Parchent robiez (Parchent arbeiten). Als
ihm sein Wunsch gewährt wurde, verklärte sich sein gan-
zes Gesicht, er öfihete die bis dahin stets halb geschlosse-
nen Augen ; er arbeitet jetzt unverdrossen in seinem Webe-
stuhle, ohne jedoch sein massiges Pensum zu erreichen, oder
von seiner Umgebung die geringste Notiz zu nehmen. —
Im Stadium der Reconvalescenz lässt sich das Lazareth mit
grösserm Yortheil benutzen, indem die Gemüthskranken,
dann schon zugänglicher, mit kleinen Geschäften innerhalb
desselben, z. B. Becher patzen u. s. w., betraut werden kön-
OdisteBkrankheitdii der QefiulgeBen. 809
0en, die sie dann oft mit übertriebener vGewiBsenhaftigkeit
aosfähren«
3) Die Isolir -Zelle, wie sie sich als Disc^linar-
Straf-Mittel bei fast allen Straf- Anstalten in grosserer oder
kleinerer Zahl oft im Erdgesdioss vorfindet, eignet sich we-
gen der meist mangelhaften Ventilation nur vorübergehend
zur Beherbergung der Irren. Bei zu lang ausgedehntem
Alleinsein wirkt das krankhafte Selbstbeseliauen nachtheilig.
Auch werden hier am allerhäufigsten Sinnestäuschungen be-
obachtet.
4) Tobsüchtige dürfen nicht sich selbst überlassen
werden; sie sind in abgesonderten Bäumen streng zu über-
wachen ; minder gefährliche Verbrecher sind zu dieser üeber-
wachung oft mit bestem Erfolge benutzt worden, wenn es
gelang, ihr Mitleiden für den Kranken zu erwecken; wurden
die Kranken sich selbst in der Isolir -Zelle überlassen, so
schien die Krankheit verzweifelte Fortschritte zu machen.
5) Geisteskranke kOnnen nicht mit Schwerkranken
zusammengelegt werden, schon weil sie deren Ruhe
stören. Aus den Verhandlungen des Vereins der Aerzte zu
Speyer theilt die Medicinische Central - Zeitung für 1861
Nr. 96. Seite 765 aus der Section fär Psychiatrie, „dielrren-
Colonieen betr^end^, mit, dass der Versuch der Entfernung
Irrer aus der Irren -Anstalt und die Unterbringung dersel-
ben an Familien, welche sich dem Geschäfte der Irren-Pflege
unterziehen, sich ganz vorzüglich bewährt habe. Etwas
Aehnliches liesse sich vielleicht auch in Straf-Anstalten an-
streben, natürlich unter fortgesetzter Entziehung der Gemein-
schaft mit freien Menschen.
Es findet sich in allen Lazarethen grosser Straf-An-
stalten eine nicht unerhebliche Anzahl Gefangener,. welche,
theilweise noch ganz rüstige Leute, mit incurablen Gebrechen :
htcoTUinentia tsrinae, Epilepsie u. s. w., behaftet, in den Ar-
310 Geisteskrankheiten der Gefangenen.
beits- Revieren nicht verwandt werden können, weil 8ie im
Allgemeinen den Anforderungen der Hausordnung nicht
mehr Folge leisten können, oder auch nicht den Einflüssen
der Witterung beim Austreten auf die Höfe, beim Gang nach
der Kirche u. s. w. zu widerstehen vermögen. Wenn man
diese Gefangenen in eine besondere Abtheilung des Laza«*
rethes verlegte, welche besser in ein Siechen -Revier um-
geformt werden könnte, wenn man dieser Abtheilung die
durch den Zustand seiner Bewohner bedingten Erleich*
terungen des Lazarethes beliesse, namentlich das Bette auch
am Tage, wenn man dieser Abtheilung Arbeit mit möglich-
ster Berücksichtigung der Fähigkeiten, selbst mit üeberver-
dienst, wie in den Arbeits-Revieren, gestattete, so würden
voraussichtlich auch die Gemüthskranken , nach ihrer Ent-
lassung aus dem Lazarethe, in diesen Abtheilungen ein pas-
sendes Unterkommen finden, bis dieselben anderweit ver-
wandt werden können. Es ist oft ergreifend zu sehen, mit
welcher Aufmerksamkeit und Güte Selbstleidende solchen
Kranken entgegen kommen. Die geisteskranken Yerbre-
eher — mit Ausnahme der Tobsüchtigen — wären hier in
gewissen Stadien, sobald ihre Entfernung aus dem Lazare-
Ihe überhaupt angänglich, sicher untergebracht, das in al-
len übrigen Situationen des Zuchthauses unvermeidliche Ge-
fühl des Zwanges — in den ' Irren - Anstalten in anderer
Form als Heilmittel benutzt, würde sie in viel geringerm
Grade reizen, und es wäre auch für Ueberwachung ihrer
Geeundheitsverhältnisse ausreichend gesorgt. — Wenn dieser
Vorschlag auch dem Wesen einer auf gemeinsame Arbeit
und Schweig -System basirten Straf - Anstalt zu widerspre-
chen scheint, so würde doch durch Realisirung desselben
ohne Kosten das Lazareth der Straf- Anstalten von einer
erheblichen Anzahl dahin nicht Gehöriger befreit, den noch
theilweise arbeitsfähigen Siechen Beschäftigung und den
Geisteskrankheiten der Gefangenen. 811
Gemüthskrankea ein entsprechender Aufenthalt geschafft
werden.
6) Dass die Straf- Anstalten auch die nothwendigsten
allgemeinen Bedingungen zur curati^en Behandlung Geistes-
kranker gewähren müssten, kann wohl als anerkannt vor-
ausgesetzt werden; billigerweise aber dürfte es nie an einer
mit den Vorrichtungen zur Verabreichung warmer Bäder,
kalter üebergiessungen u. s. w. ausgestatteten Badest übe
fehlen, die auch mit dem Lazarethe in directer Verbindung
stehen müsste. Ohne einen solchen Bade-Apparat ist eine
sachgemässe Behandlung Geisteskranker unausführbar.
312
19.
Gcriehtsärztliche IHittheiliuigeii*
Prof. Dr. mrascIilLii in Prag.
1. K«pfrerleting. — lydneeplialu acatu. — Nicht besttaait
■achweisbarer ZasaMHenliaig. — Schwere Terletiais«
N. H.y eine 27jährige, früher vollkommen gesunde
H&uslersfrau, wurde am 12. September 1860 von ihrem
Gatten bei Gelegenheit eines Streites mit einem Schlüssel
in den Kopf, und ebenso auch mit den Fäusten wiederholt
auf den Rücken und die Arme geschlagen, nach welcher
Misshandlung sie am Kopfe stark geblutet haben soll.
Am 14. September wurde der Wundarzt 0. gerufen
und &nd
1) am Hinterhaupte eine 1| Zoll lange, bis auf den Knochen
dringende Wunde;
2) die ganze Kopfhaut leicht geschwollen und, sowie auch die
beiderseitigen untern Augenlider, mit Blut unterlaufen;
3) auf der Nase mehrere HautaufschUrfungen;
4) auf der linken Schulter eine runde, 6 Zoll im Durchmesser be-
tragende Blutunterlaufung;
5) an beiden Ober- und Vorderarmen, sowie an beiden Händen,
schmerzhafte Blutunterlaufungen.
Die Verletzte, welche nach der Misshandlung an Erbrechen ge-
litten haben soll, klagte über Kopfschmerzen, Schwindel, Ohrensausen,
grosse Schwäche, Neigung zum Erbrechen und zu Ohnmächten.
Am 16. September waren Fiebererscheinungen eingetreten, die
Umgebung der Verletzung geschwollen und schmerzhaft, die Bewegung
Schwere Kopfverietzung. 313
der Glieder gehemmt. — Am 20. September hatten die Erscheinon-
gen des Fiebers gänzlich nachgelassen, die Blutanterlaufungen wa-
ren fast gänzlich verschwunden, die Kopfwunde fast vereinigt; doch
klagte die Untersuchte noch immer über Schmerzen im ganzen Kör- '
per und insbesondere über Schwerhörigkeit.
Am 8. October wurde die Verletzte von den Gerichts-
ärzten Dr. L. und Wundarzt Z. untersucht. — Dieselben
fanden am Hinterhaupte eine 1^^ Zoll lange, 1| Linie breite
bewegliche Narbe, an der linken Schulter Spuren einer vor-
handen gewesenen Blutunterlaufung , erschwerte Beweglich-
keit der linken obern Extremität, erschwertes wankendes
Gehen, wobei der rechte Fuss etwas vorgeworfen wurde,
unsicheres, mit Neigung zum Umfallen verbundenes Stehen ;
auch sollen die untern Extremitäten, besonders die linke,
im Verhältnisse zum übrigen Körper abgemagert und der
Mund etwas nach rechts verzogen gewesen sein. — Das
Sprechen ging langsam und ohne Ausdruck von Statten.
Der Gesichtsausdruck war theilnahmlos, geistlos, fast blöde
zu nennen. — Die Gerichtsärzte beantragten eine Beobach-
tung der Verletzten im Erankenhause , wohin dieselbe am
8. October gebracht wurde.
Prof. Dr. ö. und Dr. C. , auf deren Klinik H. aufge-
nommen wurde, fanden ausser einer Narbe am Hinterhaupte
und einer massigen Erweiterung der Pupillen weder eine
Spur einer \erletzung, noch einen Krankheitszustand. —
H. gab an, dass sie sehr schwach sei und schlecht sehe;
die genannten Aerzte jedoch überzeugten sich, dass diese
Angabe falsch sei, hielten daher den ganzen angegebenen
Krankheitszustand fär Simulation und entliessen dieselbe am
12. October aus dem Krankenhause, worauf die Kranke zu-
folge ihrer eigenen Angabe den zwei Stunden weiten Weg
nach Hause zu Fuss zurücklegte.
Am 16. October wurde N. H. von heftigem Erbrechen
und Kopfschmerzen befallen. — Wundarzt 0. fand die Kranke
Catper, VJschrft. f. ger. Med. XXII. 2. 21
314 Schwere Kopfverletzung.
abgemagert, hinfällig, den Pols normal. Die Kranke klagte
über Beeinträchtigung des Sehvermögens, Steifigkeit des Ge*
nickes, Schmerzbaftigkeit längs der Wirbelsäule, Schwindel,
Ohrensausen, Kopfschmerz, welcher letztere sich zuweilen
80 steigerte, dass die Kranke aufschrie, sieb bei den Haa-
ren fasste und schmerzhaft krümmte.
Da sich der Zustand fortwährend verschlimmerte, so
wurde die Kranke am 28. October abermals in das Kran-
kenhaus zu 0. überbracht.
Bei der Aufnahme fand man die Patientin herabgekom-
men, bleich, die Pupillen erweitert, schwach reagirend,
Schmerzen im Hinterhaupte. Die Schleimhaut des Mundes
und insbesondere das Zahnfleisch war geschwollen , ge-
lockert, leicht blutend, die Zunge bräunlich belegt; aus Mund
und Nase verbreitete sich ein fauliger Gestank, und es floss
eine grauliche, missfarbige Flüssigkeit aus dem Munde. Das
Schlingen war erschwert, der Appetit gut, Brust- und Bauch-
organe normal. Die Kranke gab an, dass sie in keiner
Extremität eine grössere Schwäche wahrnehme, ebenso war
nirgend eine grössere Abmagerung zu sehen. Die Kranke
verstand alle Fragen sogleich, beantwortete dieselben rich-
tig, eine Geistesschwäche war nicht bemerkbar.
. Prof. 6. äusserte sich dahin, dass die Kranke gegen-
wärtig an hochgradigem Scorbut leide, welcher jedoch mit
der Verletzung in keinem Zusammenhange steht; die Ge-
richtsärzte aber gaben ihr Gutachten dahin ab, dass die Ver-
letzung zwar eine leichte, in ihren Folgen jedoch schwer,
lebensgefahrlich und mit einem wichtigen Nachtheile verbun-
den sei. Sie sind der Ansicht , dass die Patientin schon
während ihres ersten Aufenthaltes im Spitale nur wegen
mangelhafter Beobachtung für eine Simulantin gehalten wor-
den .sei, dass schon damals eine Erschütterung des Gehirns
und Rückenmarkes und ein Gehirndruck vorhanden war,
Schwere Ropfrerletzung. 316
der fiich durch Erbrechen, Ohnmacht, Schwindel, behinder-
tes Gehen, beginnenden Blödsinn kundgab und eine läh-
mungsartige Erkrankung der Gehirnstränge linker Seite zur
Folge hatte, und dass der Scorbut als Folge der Schwache,
des Blutverlustes, der mangelhaften Ernährung und des be-
ständigen Liegens im Bette anzusehen sei.
Was den weitern Krankheitsverlauf betriffl;, so blieb der
Zustand bei entsprechender Behandlung mit China, Säu-
ren u. s. w. bis zum 10. November nicht wesentlich verän-
dert, an welchem letztern Tage jedoch sich Nasenbluten,
am 12. November Erbrechen, Frost mit Hitze und Seh weiss
einstellten und der Puls auf 120 Schläge stieg. — Am
13. November verfiel die Kranke sichtlich, klagte über hef-
tige Kopfschmerzen; gegen Abend schrie sie plötzlich auf,
bekam Zuckungen, wurde kalt und verschied.
Bemerkt muss noch werden, dass zufolge der Aussage
zweier Zeuginnen, welche in demselben Krankenzimmer la-
gen, N, H. am 29. October im Spitale von ihrem Vater
und Oheim besucht worden sei, und dass ihr diese zugere-
det haben sollen, sich gegen die Aerzte dumm zu stellen,
und l)ei der Angabe, dass sie schlecht sehe, fest zu verblei-
ben, indem sie sonst eine Bettlerin bleiben müsste und von
Niemandem ernährt werden würde.
Bei der am 15. November vorgenommenen Obduction
fand man Nachstehendes:
Die Leiche war schlecht genährt, die Hautdecken schlaff, am
Hinterhaupte die bereits mehrmals beschriebene Narbe sichtbar, sonst
am ganzen Körper nichts Besonderes bemerkbar. Die weichen Schä-
deldecken waren blass, blutarm, die Schädelknochen gänzlich unver-
letzt. Entsprechend der äussern Narbe, fand man am Hinterhaupts-
beine eine thalergrosse , mit Blut und festerm Zellgewebe versehene
Stelle, ferner in der linken Schläfegegend eine 2 Zoll lange, \ Zoll
breite Ecchyraoeirung. — Die Gehirnhäute erschienen nicht getrübt,
massig mit Blut gefüllt, in der Mitte der beiden grossen Hemisphä-
ren (0 befand sich eine bohnengrosse , lose anhängende, mit klarer
Flüssigkeit gefüllte Blase, die beiden Hemisphären waren mit einan-
21»
316 Schwere Kopfverletzung.
der yerwachsen (?), keine Spar eines frischen Exsudates bemerkbar.
Beim Lostrennen derselben ergoss sich eine ziemliche Menge klaren
Serums aus den HimhÖhlen; an der oberflächlichen Ebene, die ein
wenig erhöht war, keine Trübung bemerkbar; beide Seitenventrikel
waren stark ausgedehnt und es enthielt ein jeder beiläufig 4 Esslöffel
klaren Serums. Das Gehirn war blutarm, ebenso auch das kleine Ge-
hirn, an der Basis nichts Abnormes bemerkbar. — Im Kehlkopfe be-
fand sich etwas Schleim, in den Jugularvenen schwärzliches, flüssiges
Blut, beide Lungen waren frei, schlafi^, in den rückwärtigen Partieen
mit Blut überfQllt, im Herzbeutel etwas Serum, das Herz normal, in
den Kammern etwas flüssiges Blut, die Leber normal, eine grössere
Menge Blutes enthaltend, die übrigen Unterleibsorgane regelmässig
beschaffen.
Die Gerichtsärzte gaben das Gutachten dahin ab, dass
der Schlag mit dem Schlüssel auf den Kopf einen schlei-
chenden Entzündungsprocess im" Gehirne veranlasste, wel-
cher Process die enorme Wasseransammlung im Gehirne,
die in späterer Zeit eingetretene Gehirnlähmung und end-
lich den Tod herbeiführte. — Sie sind ferner der Ansicht,
N. H. sei auch bei der spätem Aufnahme im Krankenhause
nicht mit Scorbut behaftet gewesen, sondern der Speichel-
fluss sei nur eine Folge der Ausschwitzung im Gehirne ge-
wesen, die Verletzte demnach nicht an Scorbut, sondern
nur in Folge des Schlages auf das Hinterhaupt gestorben,
und erklären demnach diese Verletzung für die einzige und
alleinige Ursache des Todes.
Nachdem nun, wie bereits früher erwähnt, die Spital-
ärzte eine abweichende Meinung ausgesprochen hatten, so
wurde ein Ober-Gutachten verlangt.
Gutachten.
1) Vor allem Andern muss bemerkt werden, dass das
Obductions - ProtocoU nicht hinreichend, genügend und er-
schöpfend abgeiasst ist, um auf dasselbe mit voller Beruhi-
gung ein ürtheil basiren zu können. — So wird in dem-
selben zwar von einer Serumansammlung in den seitlichen
Hirnhöhlen gesprochen, der Beschaffenheit der Auskleidung
Schwere Kopfverletzung. 817
der letzten! jedoch, deren Angabe von grosser Wichtigkeit
gewesen wäre, mit keinem Worte erwähnt. So wird fer-
ner angegeben, dass die beiden Hemisphären des Gehirnes
ohne sichtbare Spur eines Exsudates mit einander verwach-
sen waren, welche Angabe ungenau, unwissenschaftlich und
gewiss auch unrichtig ist. Sehr unwahrscheinlich erscheint
es übrigens, dass die Hirnhäute bei dieser Serumansamm-
lung in den Hirnhöhlen gänzlich normal beschaffen und nn-
. getrübt gewesen sein sollen.
Abgesehen von dieser üngenauigkeit des Sections-Pro-
tocoUs, ergiebt sich auch noch aus den divergirenden , ja
sich gänzlich entgegenstehenden ärztlichen Befunden über
den Zustand während des Lebens der N. H. ein be-
deutendes Hinderniss, bezüglich der Abgabe eines definiti-
ven Gutachtens.
Während nämlich die Gerichtsärzte L. und Z. eine
Summe von Erscheinungen anfuhren, welche, wie das ge-
störte Sehen und Hören, die mit Abmagerung verbundene
gehinderte Beweglichkeit der Extremitäten, die Yerziehung
des Mundwinkels u. s. w., auf einen durch eine Gehirnkrank-
heit bedingten beginnenden Lähmungszustand hindeuten,
stellen die Spitalärzte Prof. 0. und Dr. C. das Vorhanden-
sein dieser Symptome gänzlich in Abrede, erklären die un-
tersuchte für eine Simulantin und behaupten selbst bei der
spätem Beobachtung, während des zweiten Aufenthaltes der
jET. im Krankenhause, wohl Zeichen des Scorbuts, sonst aber
weder einen Lähmungszustand, noch eine partielle unver-
hältnissmässige Abmagerung eines Eörpertheiles wahrge-
nommen zu haben.
Dass sich nun bei derartigen Umständen den Unter-
zeichneten, welche die Kranke nicht selbst gesehen, sondern
nur auf Grundlage der Acten ein Gutachten abzugeben ha-
ben, bedeutende Hindemisse in den Weg stellen müssen,
318 Schwere Kopfverletzung.
wird nicht nur jedem Arzt, sondern selbst dem Laien ein-
leuchten.
Geht man nun zur Beurtheilung des Falles selbst,
soweit dieselbe möglich, über, so findet man in dem, wie
bereits erwähnt, nicht hinreichend erschöpfenden Obductions-
ProtocoUe nur die beträchtliche Erweiterung der Hirnhöh-
len und die Ansammlung von Serum in denselben, welche
einen Anhaltspunkt zur Bestimmung der Todesart abgeben.
— Da nämlich durchaus kein anderer Krankheitszustand
Torgefiinden wurde, da ferner B, vor ihrer Erkrankung
stets gesund war, und insbesondere früher keine Erschei-
nungen darbot, wie solche der chronischen Wasser-
ansammlung im Gehirne zukommen, dagegen später Sym-
ptome wahrnehmen Hess, welche, wie das Erbrechen, der
heftige Kopfschmerz, die Steifigkeit im Genick, Schwindel,
Ohrensausen, schwache Beweglichkeit der Pupillen und der
nach einem kurzen Krankheitsverlaufe unter Zuckungen er-
folgte Tod, auf einen frischen Krank heitsprocess im Gehirne
schliessen lassen, so lässt es sich, mit Zuhülfenahme des
Obductions-Befundes, mit Grund behaupten, dass H. an der
acuten Hirnhöhlenwassersucht gestorben ist. —
Was die Lockerung des Zahnfleisches, die Blutung und den
fauligen Gestank aus dem Munde anbelangt, so dürften diese
Erscheinungen im gegenwärtigen Falle weniger einer pri-
mären Erkrankung am Scorbute, als vielmehr einer wäh-
rend des Verlaufes der Gehirnkrankheit hinzugetretenen
Blutdissolution zuzuschreiben sein.
2) Nun handelt es sich aber im gegenwärtigen Falle
hauptsächlich um die Bestimmung, ob dieser tödtlich ge-
wordene Krankheitsprocess durch die Verletzung bedingt
wurde, oder wenigstens mit derselben in irgend einem Zu-
sammenhange steht.
In Folge der Erhebung war die am 12. September zu-
Schwere Kopfverletzuog. 319
gefugte Kopfverletzung bereits am 20. September geheilt,
die Fiebererscheinungen gänzlich geschwunden; die Kranke
forderte, nachdem sie am 8. October im Krankenhause auf-
genommen worden war, am 12. October selbst ihre Entlas-
sung, und war zufolge ihrer eigenen Angabe im Stande, den
zwei Stunden weiten Weg zu Fusse zurückzulegen. — Erst
am 16. October hierauf, nachdem über das Verhalten der
Verletzten in der Zwischenzeit gar nichts bekannt ist, er-
krankte dieselbe von neuem unter den oben angegebenen
Erscheinungen, bis endlich der Tod am 10. November der
Scene ein Ende machte.
Da nun die Erfahrung lehrt, dass Kopfverletzungen oft
heimtückisch verlaufen und nicht selten erst nach längerer
Zeit bedenkliche Erscheinungen bedingen, so lässt sich die
Möglichkeit, dass die neuerliche Erkrankung und der Tod
mit der Verletzung in einem Zusammenhange stehen, nicht
gänzlich in Abrede stellen. — Keinesfalls ist es jedoeh
möglich, diesen Connex mit Bestimmtheit nachzuweisen,
weil die Verletzung bald geheilt war, die erste Erkrankung
bei den geschilderten Umständen und insbesondere bei dem
eigenen Verlangen der Ä, aus dem Krankenhause entlassen
zu werden, und der Möglichkeit, den weiten Rückweg zu
Fuss zurückzulegen, keinesfalls bedeutend gewesen sein
konnte, und somit mehrere nothwendige Mittelglieder in der
Kette fehlen; weil ferner die letzte Erkrankung auch ganz
wohl spontan, unabhängig vor der Kopfverletzung,
eingetreten sein konnte, und endlich, wie bereits angeführt,
die Art des Obductions - ProtocoUes und die divergirenden
ärztlichen Angaben der Abgabe eines bestimmten Gutach-
tens über diesen Punkt ein unübersteigliches Hinderniss in
den Weg setzen.
Kann aber bei dem geschilderten Sachverhalte die Ver-
wundung der H, nicht mit Bestimmtheit als die Ursache
320 Selbstmord oder Erdrosseln?
des Todes und somit auch nicht als tödtlich erklärt werd en
so muss dieselbe dennoch jedenfalls in die Klasse der
unbedingt schweren Verletzungen eingereiht wer-
den, da dieselbe bis zum Knochen eingedrungen war, Blu-
tung, Kopfschmerz, Fiebererscheinungen bedingt und somit
jedenfalls eine Erkrankung des Organismus zur Folge ge-
habt hatte.
Was die übrigen Blutunterlaufungen und Hautaufschür-
fiingen anbelangt, so waren dieselben geringfügig, oberfläch-
lich, und müssen sowohl einzeln, als zusammengenommen
für eine leichte Beschädigung erklärt werden.
3) Was das gebrauchte Werkzeug betrilTt, so konnte
die Verletzung am Hinterhaupte ganz wohl mittelst eines
Schlüssels, die Blutunterlaufungen aber durch Faustschläge
verursacht worden sein.
2. Im Walde aufgefundene Leiche. — Strangfurche am labe. —
Bestiniuiung der Tode&art.
Am 8. September 1860 wurde in einem Walde und
zwar auf einem wenig betretenen Fusswege der 20jährige
Weber W, todt gefunden.
Sein Sommerrock war über den Schultern zerrissen,
am Halse trug er ein schmales Halstuch, welches auf dem
Kehlkopfe mittelst zweier Knoten so fest zusammengeschnürt
war, dass man mit dem kleinen Finger nicht darunter ge-
langen konnte, auch war eine Strangrinne nicht zu verken-
nen. Im Gesichte bemerkte man nebst dem Schleimans-
flusse aus dem Munde, welcher sich auch in Menge auf dem
Moose vorfand, dass die Augäpfel aus ihrer Höhle vorge-
treten, die Augenlider selbst stark mit Blut unterlaufen
waren.
Auf die Anzeige des Wundarztes K. begab sich die
Selbstmord oder Erdrosseln? 321
bezirksamtliche Commission mit den Gerichtsärzten DDr. P.
und St. an Ort und Stelle. — Man fand den W. in gestreck-
ter Stellung auf der rechten Körperseite liegend. Er hatte
den linken Unterschenkel über den rechten geschlagen ; der
rechte Arm war etwas vom Körper entfernt, mehr gestreckt;
der linke im Ellbogengelenke leicht gebeugt, die Hand un-
terhalb des Hüftgelenks am Oberschenkel aufliegend. Seine
Stiefel standen, mittelst eines Holzes zusammengehalten,
nebenan ; seine neue, schwarztuchene Mütze lag neben dem
Kopfe, links sein messingbeschlagener, mit gebogenem Hand-
griffe versehener Stock. Sein kurzer grauer Rock war über
die linke Schulter, bis zur Mitte des Oberarmes, herabge-
streift und das Futter unmittelbar oberhalb der Brusttasche
der Art zerrissen, dass die Wattirung zu sehen war. —
Auch die linke Rocktasche war nach aussen umgestülpt
und durchrissen. Am Halse hatte er ein baumwollene»
Halstuch (welches er sonst immer locker zu tragen pflegte),
über dem Kehlkopfe mit einem doppelten Knoten zusam-
mengezogen und so fest anliegend^ dass man nur mit An-
strengung darunter gelangen konnte. — Unter dem Hals-
tuche verlief, queer über die Mitte des Kehlkopfes beiderseits
gegen den Nacken zu, eine fingerbreite, seichte Strangrinne
von schwachbläulicher Färbung; der Grund derselben war
weich; 2 Zoll vom Kehlkopfe nach rechts erschien in der-
selben eine beinahe zolllange, dunkel lividere, eingedrückte
Stelle, welche nach der Ansicht der Aerzte durch die Sei-
tenlage des Kopfes nach rechts bedingt gewesen sein soll;
oberhalb und unterhalb der Strangrinne waren die Weich-
theile leicht angelaufen.
Der Verstorbene war 20 Jahre alt, von schwächlicher
Constitution. Seine Augen .waren geschlossen, die Pupillen
erweitert, die Augenlider angelaufen und geröthet (ödema-
tös), die Gesichtsjniene ruhig, der Mund offen, die weiss-
322 Selbstmord oder Erdrosseln?
liehe Zunge zwischen den Zähnen sichtbar, nicht einge-
klemmt; sie lag auf der untern Reihe der Zähne und zeigte
Eindrücke von den obem Zähnen. Das Gesicht war livid,
die rechte Ohrmuschel dunkel geröthet, der Unterleib etwas
aufgetrieben, grünlich, der Rücken und die untern Glied-
maassen dunkelroth; es war eine Stuhlentleerung erfolgt;
der Kopf und die obern Gliedmaassen waren leicht beweg-
lich, die untern steif, die Hände krampfhaft geschlossen,
der linke Daumen eingeschlagen. Am rechten Handrücken
befand sich eine seichte, etwas blutende Hantaufschürfung.
Die LeichenerCffnuDg wurde am 11. September Torgenom-
men. Die Haotfurbe war, mit Ausnahme der Todtenfleeke am Rücken
und an allen Gliedmaassen und des grönlichen Unterleibes, blass. Die
Gesichtszüge waren nicht auffallend verändert, der Hals war blass,
Spuren der Strangrinne noch vorhanden, die Weichtheile an den Dn
terkieferwinkeln noch etwas angelaufen. Zwei Zoll rechts vom Kehl-
kopfe erkannte man noch deutlich eine dunkel lividere Hautstelle in
der Grösse eines Quadratzolles. Im Nacken zeigte die Haut stellen-
weise linienartige, dunkel geröthete Flecke. Der Brustkorb bildete
eine sogenannte Hühnerbrust, war nämlich eng und hoch. Am rech-
ten Mittelhandknochen des kleinen Fingers befand sich eine ovale,
linsengrosse , vertrocknete Hau taufschürf ung, desgleichen am Mittel-
handknochen des linken Zeigefingers, dann am untern Ende des Na-
gelgliedes vom linken Daumen eine linsengrosse, oberflächliche Ver-
letzung, sämmtlich von früherer Zeit herstammend. Am rechten Hand-
rücken bemerkte man im Zwischenräume des zweiten und dritten Mit-
telhandknochens zwei Stecknadelkopf grosse, frische Hautwunden, wel-
che bereits vertrocknet erschienen und bei der ersten Besichtigung
frisches Blut entleerten. An der rechten Wade befand sich eine lin-
sengrosse, vei trocknete Hautwunde, sonst nirgends eine Verletzung.
Die Schädeldecken waren ohne Blutaustretung, das Schädelgewölbe
unverletzt, die Hirnhautgefösse mit schwarzem, dünnem Blute über-
füllt, ebenso die Hirnsubstanz. Die Oberfläche des Gehirns war mit
einem milchigen Exsudate belegt; die Hirnkammern enthielten einen
Löffel Blutwasser. An der Grundfläche des Schädels befand sich ein
massiges Blutextravasat. Zwischen den Weichtheilen am Halse zeigte
sich nirgends eine Blutaustretung. Der Kopfnicker war in seinem
obem Ende geschwellt, die Schilddrüse etwas vergrössert, der Kehl-
kopf und die Luftröhre unversehrt, die letztere enthielt zähen Schleim,
die Schleimhaut war schwach geröthet, die Venenstämme am Halse
mit Blut überfüllt, die Brustfellsäcke leer, die Lungen etwas zusam-
mengefallen, blassroth, knisternd, massig mit Blut gefüllt, die hintern
Selbstmord oder Erdrosseln? 323
Lappen etwas dunkel geröthet, dunkles, schaumiges Blut enthaltend.
Der Herzbeutel enthielt eine bedeutende Menge Serums, das Uerz
war welk. Die linke Herzkammer enthielt dünnflüssiges Blut, die
rechte war mit Blut überfüllt. In der Bauchhöhle befand sich eine
massige Menge Serums, die Leber war vergrösdert, sonst normal, doch
sehr blutreich, die Milz massig blutreich, der Magen mit Speisebrei
gefüllt, die Harnblase zusammengezogen.
Die Gerichtsärzte erklärten, dass W, in Folge der Zu-
sammenschnürung seines Halses am Blutschlagflusse ge-
storben ist. Ob er sich aber selbst, oder ob ein Anderer
ihm den Hals zusammengeschnürt habe, lasse sich nicht be-
stimmen, doch spreche der Mangel von Zeichen geleisteter
Gegenwehr für den erstem Fall, in welchem dann die, viel-
leicht forcirte Fortsetzung der Reise bei stark beladenem
Körper, den Eintritt des Schlagflusses begünstigt haben
möge, während die Beraubung desselben auf die Erdrosse-
lung durch einen Andern hindeute.
Weil die eingeleiteten Erhebungen zu dem Resultate
geführt hatten, dass W, am 7. September Abends um
^6 Uhr von H., wohin er gewebte Schaafwollwaare gebracht
hatte, sich wieder zurückbegab, auch mehrere Gulden Geld
und eine grosse Quantität Schaafwollgarne bei sich gehabt
haben soll, die sich bei der Leiche nicht vorfanden, seine
Taschen dagegen gewaltsam eingerissen waren, so war das
k. k. Kreisgericht durch das Gutachten der 'Gerichtsärzte
nicht befriedigt und es wandte sich an Dr. L, und Wund-
arzt W,^ welche sich nach genommener Einsicht in die Ac-
ten dahin äusserten: dass W, am Blutschlagflusse ge-
storben, den ein eng anliegendes Halstuch wohl bewirken
könne. Indem aber an der Leiche auch Zeichen des Stick-
flusses vorkamen und ein eng anliegendes Halstuch das
Athemholen wohl hindern, aber nicht gänzlich aufheben
könne, W. überdies bei vorhandener Athemnoth das Hals-
tuch wohl gelüftet . hätte , so müsse die Ursache der Suffo-
cation anderswo liegen, und finde sich in der Strangrinne,
324 Selbstmord oder Erdrosseln?
da keine fremden Körper in den Luftwegen angetroffen
wurden, W. auch keine irrespirablen Gasarten eingeath-
met habe.
Diese Strangrinne lasse sich aber wegen der starken
Zusammenschnürung des Halses und der Schwellung des
Kopfnickers von einem Selbstmordversuche um so weniger
herleiten, als das Selbsterdrosseln sehr selten vorkomme. —
Die sorgfältige Würdigung aller Nebenumstände: die Lage
der Leiche, ihre Beraubung, der Zustand der Kleidung, der
Schleimausfluss aus dem Munde, das Hervortreten der Aug-
äpfel, nebst ünterlaufiing der Augenlider, die Zahneindrücke
auf der Zunge, der Kothabgang, die krampfhaft geballte
Faust lasse es vielmehr kaum bezweifeln, dass W. am
Sti ck schlagflusse in Folge von Erdrosselung, so-
mit eines gewaltsamen Todes, gestorben sei. Der Mangel
einer Sugillation in der Strangrinne, so wie die Unversehrt-
heit des Kehlkopfes und der Luftröhrenknorpel, beweise
nichts dagegen, weil diese Erscheinungen selbst bei Hinge-
richteten vorkommen. Ebenso könne der Mangel von Zei-
chen geleisteter Gegenwehr (da die Hautaufschüriungen an
den Händen auch zufällig entstanden sein konnten) fremde
Einwirkung nicht ausschliessen, wenn man bedenkt, dass
der kleine und schwächliche TF. etwa, wie der livide Fleck
am Halse und die rothen Streifen im Nacken darzuthun
scheinen, kräftig von rückwärts gepackt, von Schreck ge-
lähmt und durch die Last am Rücken gehindert, nur einen
schwachen Widerstand leisten konnte. Das Festknüpfen
des Halstuches möge dann erst nachträglich erfolgt sein,
um W.'s Wiederaufleben zu verhindern. Das Halstuch sei
übrigens zum Würgebande tauglich gewesen.
Wegen Differenz der ärztlichen Ansichten vninschte das
k. k. Kreisgericht die Abgabe eines Superarbitriums.
Selbstmord oder Erdrosseln? 325
Gutachten,
Sämmtliche Verletzungen an den Gliedmaassen des W.
waren theils frisch blutend, theils vertrocknet und vernarbt,
also noch bei Lebzeiten entstanden. Sie deuten auf die
Einwirkung eines stumpfen Werkzeuges und können vom
Anstreifen an harte und rauhe Gegenstände hergerührt ha-
ben, bilden jedoch als ein geringfügiges und oberflächliches
Leiden minder wichtiger Körpertheile sowohl einzeln, als
in ihrem Zusammenwirken nur eine leichte Verletzung, von
welcher sich der Tod des W. nicht herleiten lässt.
Das Blutextravasat am Schädelgrunde, der Blutreich-
thum des Gehirns, seiner Häute, der Blutadern am Halse,
des untern und hintern Theils der Lungen, beider Herz-
hälften und der Unterleibseingeweide bei durchgehends dunk-
ler und flüssiger Beschaffenheit des Blutes liefern dagegen,
zusammengenommen mit den zahlreichen Todtenflecken,
dem lividen Gesichte und den hervorgetriebenen Augen, den
Beweis, dass W.
1) zunächst am Stickschlagflusse gestorben ist.
Da übrigens die Strangrinne bläulich, die Weich-
theile am Halse und namentlich der Eopfnicker geschwellt
erschienen, somit mit vollem Grunde angenommen werden
kann, dass dieselbe noch beim Leben des W. entstanden
ist, eine anderweitige Ursache des eingetretenen Stickschlag-
flusses aber nicht vorhanden war, während eine Zusammen-
schnürung des Halses vollkommen geeignet ist, den Tod
eines Menschen in kürzester Zeit herbeizufahren, so ist kein
Grund vorhanden zu zweifeln, dass
2) W. in Folge der Zusammenschnürung des Halses
somit eines gewaltsamen Todes gestorben ist.
3) Es handelt sich aber im gegebenen Falle hauptsäch-
lich darum, nachzuweisen, auf welche Art diese Zusammen-
schnürung des Halses zu Stande gekommen ist.
326 Selbstmord oder Erdrossela?
Dass W. sein Halstuch gerade nur diesmal fest gebun-
den hätte, während er es sonst locker gebunden trug, und dass
diese Zuschnürung wegen der ungewöhnlichen Anstrengung
beim Gehen den Tod veranlasst habe, ist füglich nicht an-
zunehmen, weil aus den Acten nichts hervorgeht, was die
Yermuthung begründen könnte, dass er bergauf und schnell
gegangen sei; und wenn dies auch wirklich der Fall gewe-
sen wäre, so hätten, zumal wegen Vergrösserung seiner
Schilddrüse, Athmungsbeschwerden entstehen und ihn zur
Lüftung des eng anliegenden Halstuches bewegen müssen.
— Selbstmord durch Erdrosseln kommt allerdings selten
vor, ist aber dessenungeachtet schon mehrmals ausgeführt
worden. Aus den mitgetheilten Acten ist aber wieder nicht
zu ersehen, ob W, eine Veranlassung zum Selbstmorde ge-
habt habe; er würde ihn aber selbst bei vorhandener Ver-
anlassung schwerlich auf diese unsichere Art und auf dem,
wie es scheint, oft betretenen Fusssteige ausgeführt haben.
Selbst wenn man aber annehmen wollte, dass er nach be-
reits vollbrachtem Selbstmorde von Jemandem beraubt wor-
den wäre, so liesse sich auch unter dieser Voraussetzung
die Entstehung der Hautaufschürfungen an den Händen, der
Blutunterlaufung und ödematösen Anschwellung der Augen-
lider, besonders aber der lividern Stelle in der Strangrinne,
nicht erklären, da W^., nach Angabe des Todtenbeschauers,
auf einer mit Moos bewachsenen Stelle lag und von da-
selbst befindlichen Steinen oder andern harten und rauben
Körpern nichts erwähnt wird.
Ganz ungezwungen und vollkommen befriedigend las-
sen sich dagegen alle mitgetheilten Umstände erklären,
wenn angenommen wird, dass W. einen Schlag gegen den
Kopf erhielt, welcher die Blutunterlaufung und ödematöse
Anschwellung der Augenlider und vielleicht auch eine Be-
wusstlosigkeit oder wenigstens verminderte Widerstands-
Tod durch Stickfluss oder gewaltsamer Tod? 327
fähigkeit bedingte, und hierauf von Jemand Anderm erdros-
selt und beraubt wurde, wobei gleichzeitig die Hautaufschür-
fungen an den Händen fiir Zeichen geleisteter Gegenwehr
angesehen werden können.
Der Umstand, dass die, Hautaufschürfungen nur gering-
fügig und zwischen den Weichtheilen am Halse keine Blut-
austretungen vorhanden waren, steht der angefahrten Be-
hauptung durchaus nicht im Wege, da der Erfahrung ge-
mäss in Fällen sicher gestellten Selbstmordes, sowie bei
Hingerichteten, die Erscheinungen am Halse häufig auch
nicht erheblicher zu sein pflegen.
Nach dem Angeführten lässt es sich somit mit höch-
ster Wahrscheinlichkeit annehmen, dass W, in Folge der
von einem Andern ausgeübten Gewaltthätigkeit, nämlich des
Drosseins, sein Leben verlor; mit voller Bestimmtheit lässt
sich aber diese Behauptung dennoch nicht aufstellen, weil
die Zeichen des Todes durch Erdrosseln aus dem Leichen-
beiunde denn doch nicht so ersichtlich sind, um ein völlig
bestimmtes ürtheil in dieser Beziehung fällen zu können.
3. Zeichen des StieUusses bei einer in Bette todt rorgejhndeneiiy
mit Epilepsie behaftet gewesenen Person. — fiewaitsane
oder natürliche Todesart!
Im Dorfe R., welches aus einer einzigen Reihe von
Häusern besteht« lebten seit mehrern Jahren in dem letz-
ten Häuschen die Eheleute ikf., welche zufolge der Zeugen-
aussagen sehr häufig in Zank und Streit begriffen waren,
und von welchen das Weib schon seit vielen Jahren an
der Epilepsie litt. — Mit diesen Eheleuten wohnte in
demselben Häuschen, bloss durch ein Yorhaus getrennt, ein
anderes, gleichfalls kinderloses Ehepaar. — Das Weib, Ka-
tharina M.^ beklagte sich häufig über Misshandlungen, welche
328 1*od durch Stickfluss oder gewaltsamer Tod?
sie von Seiten ihres Mannes erlitt, und noch am 13. Ja-
nuar 1861 wies sie ihren Nachbarn mehrere blaue, von Schlä-
gen herrührende Flecke am Kopfe vor, welche ihr der Mann
mit einem Mangelbrette zugefügt hatte.
Sonntag, den 15. Januar, kam zu Josef M, ein Vetter,
der dem Trünke und Müssiggange ergeben war, in der Ab-
sieht, etwas Geld auszuborgen, was ihm aber das Weib ver-
weigerte. Hierauf machte M. dem Vetter den Vorschlag,
er m&ge ihn in eine benachbarte Ortschaft begleiten, wo er
Geld zu fordern habe, worauf sich Beide entfernten. — Am
Nachmittage desselben Tages besuchte Katharina M. ihre
Nachbarsleute, wo sie unwohl wurde, und den Eintritt eines
epileptischen Anfalles erwartete, der sich jedoch nicht ein-
stellte. — Gegen 8 Uhr Abends desselben Tages wurde sie
noch im Wirthshause gesehen, von da aber nicht mehr;
auch war kein Geräusch, noch sonst etwas Auffallendes in
oder bei ihrer Wohnung wahrgenommen worden.
Josef M. kam erst am Montag, den 16. Januar,
Abends nach Hause, fand jedoch die Thür seiner Wohnung
versperrt, und ersuchte, in der Meinung, sein Weib habe
sich, wie sie das manchmal that, auf einige Tage zu ihrer
Tante begeben, die Nachbarsleute um ein Nachtlager. —
Am Morgen des 17. Januar versuchte er wieder in seine
Wohnung zu gelangen, und als es nicht möglich war, be-
gab er sich an einen andern Ort, und verblieb daselbst den
17. und 18. Januar. — Am Mittwoch, den 19. Januar, Vor-
mittags, kam er mit einem Freunde wieder zu den Innleu-
ten und fragte, ob sein Weib zurückgekehrt sei; als man
dies verneinte, und seine Versuche, in die Stube einzudrin-
gen, fruchtlos blieben, begab er sich in das Wirthshaus, wo
er den Tag über blieb und auch übernachten wollte. Nach-
dem ihm aber der Wirth dies nicht gestattet hatte, ging er
nach Hause und üb^nachtete bei den Nachbarn.
Tod duroli Stidcfluss oder gewAUsamer Tod? 329
Am Doiinerstag, den 20. Januar, früh, wurde die Thur
der Wohnung gewaltsam geöffnet. Der SchlusBel be&nd
Bich innen im Schlosse; im VorhauBe, sowie auch, im Zim-
mer selbst, war Alles in der gewöhnlichen Ordnung. — Auf
dem Bette, welches neben dem Backitfen stand, lagen die
Polster in Unordnung. — M. griff unter ein Polster und
föhlte, sowie auch sein Begleiter, eine kalte Schulter,
worauf sich Bdde entfernten, Leute zusammenriefen und
drai Gemeindevorstande die Anzeige erstatteten; M, soll
übrigens hierbei keine Gemäthsbewegung ge^teigt haben.
Der Gemeindevorstand fand die Verstorbene schief im
Bette liegend, so dass der Kopf zum Theil auf dem Seiten^
brette und der Wand des Backofens ruhte, die Füsse aber
am untern Ende des Bettes hervorragten. Das eine Polster
befand sich oberhalb des Kopfes, das andere bedeckte zum
Theil den Hals und Nacken, die Füsse waren mit einem
Pelze bedeckt. Die Verstorbene lag mit dem Gesichte nach
abwärts in das Bett eingedrückt, und hatte beide Hände
unter sich. Um den Kopf hatte sie ein Tuch gewunden
und dieses im Nacken locker gebunden; sonst war sie mit
einem Hemde und Rocke bekleidet. — Nirgends, weder an
der Leiche, noch am Bette, noch im Zimmer, fanden sich
Blutspuren; das Gesiebt war au^etrieben, braunroth, der
Hals und zum Theil die Schultern schwärzlich.
M. lief hierauf zum Pfarrer, um die Beerdigung zu be-
stellen, welcher Letztere aber den Todtenbeschauzettel ver«
langte. — M. ging hierauf zu dem Todtenbeschauer K.\ als
dieser aber erwiederte , er müsse erst die Leiche sehen,
meinte M.^ er möge sich nicht bemühen, und nur den Zet-
tel ausstellen, er wolle ihm dafür einen Gulden bezahlen.
— Als aber d^ Todtenbeschauer hierauf nicht einging,
führte ihn M. zuerst in^s Wirthshaus, damit er sich zu die-
Ctuper, Vjsehrft. f. ger. Med. XXIL 2. 22
880 Tod durch Stieicfliisa oder gewaHsaner Tod?
8dm Acte mit Branntwein stftrke, da die Leiehe schon
6 Tage üege.
K. fand die Verstorbene im Bette auf dem Rftcken
liegend, das Gesicht hochroth, mit Blntsporen, welche letz-
tem sich auch am Hemde vorfanden« Auf der Stirn be«
merkte er einen blauen Fleck; der Hals, der Nacken und
ein Theil der Brust war schw&rzlich gefärbt; in der Gegend
des Kehlkopfes glaubte er Spuren von Blutanterlaufimgra
en bemerken, doch fand er nii^ends Eindrücke von Nägeln
oder sonst einem fremden Körper vor. — Als sich hierauf
M. entfernen wollte, kam ein Gensd'armes, der, durch das
Gerede unter den Leuten aufmerksam gemacht, ihn gefan^
gen nahm.
Bei der am 20. Janaar von Dr. Z. und Wundarzt V. Torgenom-
menen Obduction fand man die Leiche einer 28jährigen, wohlge-
nährten Weibsperson; Mund und Augen waren geschlossen, an den
NasenOffnuDg^ etwas yertrocknetes Blut; das Gesicht war aufgetrie-
ben, blauroth gefärbt. — Oberhalb des rechten Stirnhügels be-
fand sich eine thalergrosse Oontusion mit einer einen Zoll langen,
kaum die äussere Hautdecke durchdringenden, oberflächlichen Wunde;
nach gemachtem Einschnitte fand sich unter der Hautdecke eine ziem-
liche Menge schwarzen geronnenen Blutes vor. In der Mitte der
Stirn bemerkte man zwei kleine Hautaufschürfungen; die Bindehaut
beider Augen war stark mit Blut unterlaufen. Die blänlidbe Zunge
ragte zwischen den Zähnen hervor, die vordere, sowie die seitlichen
Gegenden des Halses und die obere ßrnstgegend waren dunkelgrün
gefärbt. An beiden Seiten des Halses wurden in der Gegend des
Unterkieferwinkels dunkler gefärbte Stellen, und unter der Haut da-
selbst etwas dunkles Blut vorgefunden. — Drei Zoll unterhalb des
äussern Endes des linken Schlüsselbeines befand sich eine
dreieckige Hantaufschfirfung , deren Schenkel ^r Zoll lang, und nuter-
halb welcher das Zellgewebe mit Blut getränkt war; an jedem Ell-
bogenhöcker, am rechten Handwurzelgelenke, an der Vorder-
flftehe beider Unterschenkel wurden überdies unbedeutende Haut-
aufschürfungen vorgefunden, deren Umgebung etwas sugillirt erschien.
Der Unterleib war aufgetrieben, bläulich, der Rücken mit braunrothen
Todtenflecken besetzt. — Die Schädeldecken waren blutreich. Ent-
sprechend der Oontusion am Stimhügel, erstreckte sich eine starke
blutige Suffusion über den vordem Theil des rechten Seitenwandbel-
nes und das Stirnbein bis zum rechten Augenbrauenbogen herab; die
Schädelknochen waren sehr dick, von röthlicher Färbung ; die Gefässe
Tod durch Stickfluss oder gewaltsamer Tod? 331
der hf^rtea Hirnhaut strotzend, im grossen Sichelblutleiter wenig flfis*
siges Blut enthalten; die Arachnoidea und pia mater sehr blutreich,
das grosse Gehirn weich, mit zahlreichen Blutpunkten an der Sehnitt-
fiache; in den Himhöhlen etwas blutiges Serum enthalten, das kleine
Gehirn breiartig, ebenfalls blutreich, am Grunde der Hirnschaale keine
Flüssigkeiten angesammelt; unter den Hautdecken links am Halse,
unterhalb des ünterkieferwinkels , war das Zellgewebe stark snffoii-
dirt; die Schilddrüse sehr blutreich, bläulich, das Zungenbein, der
Schild- und Riugknorpel, sowie die Luftröhre unverletzt; die Schleim-
haut derselben, sowie des Kehlkopfes, dunkelroth, sehr blutreich. In
jedem Brustfeilsaeke befianden sich gegen 12 Unzen dnnkeln, flüssigen
Blutes; die Lungen waren frei, von dunkelblauer Farbe, überfüllt von
schwarzem, flüssigem Blute, ihre Substanz mürbe, zerreisslich; im
Herzbeutel befand sich etwas blutiges Serum; die rechte Herzkammer
und Lungenschlagader waren voll dunkeln Blutes, die Unke enthielt
etwas gestocktes Blut; — der Magen war ganz leer, seine Schleim-
haut helbroth, die Leber sehr gross, die Milz von gewöhnlicher Grösse,
beide blutreich, die Harnblase leer, in den normalen Gedärmen flüs-
sige Fäcalstoffe enthalten.
Die Obduceatw erklärtoH hierauf, daBS J/. am Stick-
schlagflasse mit vorwaltendem Stickflusse gestorbeQ, und
dass die zahlreichen Spuren mechanischer Einwirkung an
der Stirn, am Halse, am linken Schlüsselbeine, dann auf den
Händen und Füssen unzweifelhaft darauf hindeuten, dass* sie
in Folge dieser Verletzungen eines gewaltsamen To-
des gestorben sei, weil die Verletzungen Zeichen der Keac-
tion dargeboten haben, eine hinzugekommene, davon unab-
hängige Ursache nicht angenommen werden könne, da M.
noch Sonntag Abends gesund im Wirthshause gewesen, an
ihrer Leiche aber kein Zeichen eines anderweitigen Leidens
b^nerkt worden, weil endlich ihr Gesicht in das Bettkissen
fest eingedrückt und, sowie ihr Hemd, blutig gewesen ist,
die Verletzungen aber ihrer Beschaffenheit nach vom An-
schlagen an die Bettlehne oder die anliegende Wand, oder
von einem Sturze aus dem Bette, da nirgends eine Blutspur
vorkam, sich nicht herleiten lassen, ihr zufälliger Ursprung
somit schlechterdings unmöglich ist.
Am natürlichsten lasse sich hingegen ihr Ursprung er-
22*
332 '^od inreh SHckfluss oder gewaltsanier Tod?
klären, wenn die Yerletzmigeii am Kopfe, im Gesichte und
auf der Brngt von der Einwirkang eines stampfen Werk-
seages, die am Halse Ton einem Drucke mit den Händen,
oder vom gewaltsamen Einzwängen in das Bettkissen her-
geleitet werden, weil dann selbst der Mangel ?on Zeichen
geleisteter Gegenwehr begreiflich werde, nnd die unbeden-
tenden Hantaa&chürfangen an den Gliedmaassen während
des ümwendens nnd Niederdr&ckens leicht entstanden smn
können.
Diese Haatan&chörfimgen werden demgemäss znsam-
mengenommen f&r eine leichte Verletzung, die Gontnsion
am Stimhöcker wegen unvermeidlicher Hirnerschütterung
f&r eine schwere, die Zeichen des am Halse erlittenen
Druckes für eine tödtliche Verletzung erklärt, weil ein sol-
cher Druck schon seiner allgemeinen Natur nach geeignet
ist, Stiekschlagfluss und den Tod herbeizuführen.
Was endlich die Epilepsie der M. betriffl;, so sei es
möglich, dass dabei während des Anfalles verschiedene Ver^
lets&ungen entstehen, die Kranken auf das Gesicht fallen und
ersticken, oder an Himapoplexie sterben. Aber bei der M.
sei der Stickfluss vorwaltend gewesen, und es könne nicht
angenommen werden, dass sie während des epUeptisdien
Anfalles gestorben wäre, weil sie im Gesichte und auf der
Brust Verletzungen hatte, welche nicht zufällig, sondern nur
durch fremde Einwirkung entstanden sein konnten. Au^
seien ihre Anfälle immer nur leicht gewesen, und sie gleich
darauf wieder herumgegangen. Doch sei die Möglichkeit
nicht ausgeschlossen, dass A/. während der Zuftgung ihrer
Verletzungen von der Epilepsie befallen worden wäre, wo
sie dann um so leichter habe ersticken können. — Dass
am Halse keine Eindrücke von Fingern oder andern Ge-
genständen zurückgeblieben waren, finde seine Erklärung
in dem Umstände, dass die Fäulniss weit vorgeschritten
Tod durch Stickfiass oder gewalteamer Tod? 333
war, bei welcher Sagillatioaen mit der cadaverösen Trää-
koEg der Gewebe verschmelzen und undeutlich werden.
M. wurde allgemein für den Mörder seines Weibes ge-
halten, weil er mit ihr in Unfrieden lebte, sie noch am
Sonnabend yor dem 15, Januar misshandelt, und ihr mit
dem Mangelbrette blaue Flecke am Kopfe zngef>, am Sonn-
tag sie mit einem Vetter gleichfalls schlechten Rufes, der
G^d borgen wollte (aus der Untersuchungshaft jedoch bald
wieder entlassen wurde, weil er sein Alibi befriedigend
nachgewiesen), verlassen hatte, wUirend seiner Abwesen-
heit an mehrern Orten erzählt hatte, dass sein Weib ge*
starben, auch ^nen Bekannten aufgefordert hatte, ihm eine
Braut zu verschaffen; weil er nach seiner Ruckkehr es Tage
lang anstehen liess, ehe er erst auf Zureden des Innmannes
sich Mühe gab, in seine Wohnung einzudringen, bei der
Entdeckung des Todes seiner Gattin gleichgültig geblieben
ist; weil ferner von den nach dem Ereignisse herbeigekom-
menen Leuten einer in der verschlossen gewesenen Thür
ein Loch fand, durch welches ein Nagel eingebracht, und
mit diesem das Queerholz weggeschoben werden konnte,
auch von diesem Hause im Schnee Fusstapfen gegen den
Wald zu sich erstreckten. — Aber von diesem Loche in
der Hofthür wusste nicht einmal der Innmann, der dem M.
im Gegentheil noch eine Hacke zum Aufisprengen der Thür
geliehen hatte; auch erklärte dieser Innmann, dass die Fuss-
tapfen von ihm selbst und seinem Weibe herrührten, indem
sie aus dem Walde Ruthen geholt hatten. — A/, war vom
Hause seit Sonntag abwesend, immer in Gesellschaft Aa-
derer, und von allen Orten, wo er übernachtete, wurde be-
richtet, dass er sich von dort während der Nacht nicht
hätte unbemerkt entfernen können; auch wurden weder
an seinem Körper, noch an der Kleidung Blutspuren ent-
deckt.
334 Tod dnrcb Sticidliiss oder gewaltsamer Todt
Nachdem dieses Gutachten dem Gerichte nicht erschö-
pfend erschien, und der Fall ftberdies wichtig war, so wurde
die Abgabe eines Facult&ts-Ober-Gutachtens nachgesucht.
Gutachten.
Das Gesicht der K. M. war zufolge des Sectiotis-Befiin-
des aufgetrieben, mit blaurothen Flecken und an den Na-
senlöchern mit Spuren geronnenen Blutes versehen. Da
jedoch in diese Flecke keine Einschnitte gemacht^ und da-
her nicht sichergestellt wurde, ob sich unter denselben Blut-
austretungen Torfenden, die Fäulniss überdies w^it Torge-
schritten war, so dürften diese Erscheinungen nur dem weit
gediehenen Yerwesungsprocesse zuzuschreiben sein.
An der Stirn fand man nebst zwei Hautau6chürfungen
eine thalergrosse Quetschung mit Blutanstritt im Zellgewebe,
sodann am Ellbogen, der linken Handwurzel und den Un-
terschenkeln unbedeutende Hautau fschürftingen mit sngillir-
ter Umgebung. — Diese sämmtlichen Verletzungen waren
zufolge des gleiclizeitigen Blntaustrittes noch während des
Lebens entstanden, und deuten auf die Einwirkung eines
stumpfen Werkzeugs; dieselben bilden übrigens, mit Aus-
nahme der Quetschung am Stimhügel, als eine nur ober-
flächliche und unbedeutende Beschädigung minder wichtiger
Theile, sowohl einzeln, als zusammengenommen, nur eine
leichte Verletzung. — Die* Quetschung am rechten Stirn-
hügel aber muss für eine unbedingt schwere Verletzung er-
klärt werden, weil derselben entsprechend ein bedeutendes
Blutextravasat unter den Schädeldecken vorhanden war, und
dieselbe sonach nicht nur mit Schmerzen, sondern auch
höchst wahrscheinlich mit einer Erschütterung des Gehirns
verbunden sein mochte. — Nachdem jedoch die Umgebung
dieser Quetschung weder grün, noch gelb geftrbt erschien,
also nicht anzunehmen ist, dass dieselbe schon in einer frfi-
Tod darcfa Stiekfluss oder gewaltsamer Tod? 335
hem Zeit entstanden kt, K. M. aber am 15. Januar unter
Vorweisung blauer Flecke am Kopfe sich beklagt hatte,
dass sie von ihrem Manne mit einem Mangelbrette geschla-
gea worden sei, so ist es kaum zu bezweifeln, dass diese
Quetschung von ienem Schlage herrührte. Da aber K. M.
am 15. Januar noch den ganzen Tag herumging, und in der
Sehädelhöhle keine Blutaustretung Torgeftinden wurde, so
ist kein Grund vorhanden, zu behaupten, dass diese, wie-
wohl schwere, Yerletzung mit Lebensgefahr, oder mit einem
der im §. 156. des Stra%esetzbuches bezeichneten Nach-
tbeile verbunden gewesen wäre.
Die Obducenten behaupten ferner, dass K. M. am Stick-
schlagflusse in Folge eines am Halse erlittenen Druckes ge-
storben ist, womit auch der Umstand hn Einklänge zu ste-
hen scheint, dass an der Leiche Blutreichthum sämmtlicber
Eingew^de der Schädel-, Brust- und Bauchhöhle, in der
Brusthöhle ein Blutaustritt, und endlich eine flüssige Be-
schaffenheit und dunkle Färbung des Blutes vorgefunden
vnirde.
Hiergegen muss jedoch bemerkt werden, dass die an
der Leiche vorgefundenen Erscheinungen nickt nur eine
stattgefondene Erdrosselung nicht beweisen, sondern dass
dieselben unter den gegebenen Umständen auch auf eine
andere Weise, und ohne Zuthun eines Andern, entstanden
sein konnten.
Zuvörderst muss gegen die diesfällige Aeusserung der
Obducenten bemerkt werden, dass durch die vorgeschrittene
Fäulniss am Halse wohl Gruben und Eindrücke, nicht aber
auch Bitze und Aufechurfiingen , die beim Drosseln in der
Begel vorhanden sind, unkenntlich geworden wären; dass
ferner die unterhalb des Schlüsselbeines vorgefundene Haut*
aufschürfong nicht wohl auf ein stattgefbndenes Drosseln
bezogen werden kann, weil sie sidi an einer Stelle vor-
386 Tod dorch StiekfluM oder gewattsatter Tod?
fand, wo der Dniok behafs des Droesdiis nv sehr weaig
ausgegeben h&tte, übrigens aach der Kehlkopf und das Zun-
genbein anverletxt and das Eopftoch im Nacken nur loeker
gebunden vorgefonden wurde.
Obwohl ferner die Obducenten angeben, dass sie in den
seitlichen Gegenden des Halses unter der Haut schwära-
liches Blut angesammelt gefunden haben, so kann auch die^
ser umstand nicht maassgebend erscheinen, da bei der hoch*
gradigen Fäulniss in deren Folge der Hals aufgetrieben und
so wie der Nacken und der obere Theil der Brust dunkd-
grün, ja selbst schwärzlich erschienen, eine Tr&nkung der
Gewebe mit transsudirtem Blute stets stattfindet, und daher
hier leicht eine Täuschung unterlaufen sein mochte.
Dagegen ergiebt sich aus d^i Erbebungen, dass K. M.
seit langer Zeit an epileptischen Anfällen litt, wäh-
rend welcher die hiervon Befallenen sich nicht nur Yer-
letzungen an den verschiedensten Körperstellen zuziehen,
sondern selbst auch am Schlagflusse, oder bei ungünstigen
Verhältnissen, wo durch eine zufallige Lage der Zutritt der
Luft zu den Athmungswerkzeugen gehindert ist, auch in
Folge der Erstickung sterben können. — Da nun die K.
M. mit dem Gesichte nach abwärts in das Bett eingedrückt,
und mit den in ünordming gerathenen Polstern zugedeckt
gefunden wurde, so ist es sehr wohl möglich, dass sich die-
selbe während eines epileptischen Anfalles an den benach-
barten Gegenständen, und insbesondere an den Rändern der
Bettstelle und den Kanten des Backofens mehrfiich ver-
letzte, und sodann, indem sie entweder schon zufällig mit
dem Gesichte nach abwärts lag, oder während des AnfisiUes
so zu liegen kam, in Folge der Absperrung der atmosphä-
rischen Luft am Stickflusse starb.
Bei dieser Art des Absterbens findet nicht nur der
Blutreichthum der Organe seine hinreichende Erklärung
Tod durch Stickfluss oder gewaltsamer Tod? 337
(wobei jedoch bemerkt werden muss, dasB die Blntansamm-
lang in der Brusthöhle und das blutige Serum im Herzbeu-
tel nur als eine Folge der Fäulniss zu betrachten sind),
sondern es stimmen auch die andern Umstände, wie die
vollkommene Ordnung im Zimmer und Vorzimmer, die von
innen versperrte Thür, der Mangel einer jeden Verletzung
oder Blutspur an dem vermeintlichen Thäter, hiermit ganz
wohl überein.
Bei den. geschildertea UmstSod^ kann die Facult&t
nicht umhin, zu erklären, dass sich vom gerichts&rztlichen
Standpunkte kein Anhaltspunkt f&r die Behauptung einer
stattgefundenen Erdrosselung vorfindet, und dass der An-
nahme, K. M. sei während eines epileptischen Anfalles in
der oben angegebenen Weise in Folge der Erstickung ge*
sterben, kein Hinderniss im Wege steht.
388
20.
Ob Kindermonl »der Mord?
Nebst einigen Bemerkungen zum Regulativ.
Mitgetheilt Tom
Kreis -Wundarzt Dr. Fraenkel zu Neustadt O./S.
Der nachfolgende Fall verdient wegen seiner Gombi-
nationen gewiss zu den seltnem und interessantem der ge-
richtlichen Medicin gezählt zu werden, und seine Veröffentli-
chung wird den geehrten Lesern dieser Zeitschrift daher
wohl nicht unwillkommen sein. Während in der grossen
Mehrzahl von Sectionen Neugebomer den Gerichtsärzten die
Aufgabe gestellt ist, 1) die Reife und Lebensfähigkeit des
Kindes, 2) ein nach der Geburt statt^^ehabtes Leben, und
3) die Todesart desselben zu constatiren, lag den Obducen-
ten in dem vorliegenden Falle nur ob, sich mit der letzten
der obigen Fragen zu beschäftigen^ da die ersten beiden
bereits anderweitig ausser Zweifel gestellt waren, wie dies
die Geschichte des Falles darthun wird. Die Section hatte
also, trotzdem das Object derselben ein neugebornes Kind
war, eigentlich nichts Specifisches an sich. Ich nehme zu
dieser Bemerkung Veranlassung, weil ich hier auf die Frage
eingehen will, ob in einem solchen Falle die Obducenten
einen Fehler begehen, wenn sie sich erlauben, von dem im
Ob Kindermord oder Mord? 839
§. IIa. des Regulativs fär die Seetionen Neugeborner vor-
gesehriebeneD Verfahren abzuweichen. Es ist nämlich den
im vorliegenden Falle thätig gewesenen Gerichtsärzten bei
der Revision des Obductions-ProtoeoUs von der höchsten
Medicinal'-Behörde als ein Fehler gerügt worden, dass sie bei
der Section des nengebornen Kindes zuerst die Eopfhöhle
geOfihet haben, während das Regulativ aus bekannten Grün-
den die Bauchhöhle vor den andern Höhlen zu öffnen vor-
sehreibe. Ich halte indess dafür, dass Obducenten in jedem
Falle, in welchem bei der Obduction eines nengebornen
Kindes die Fragen, ob dasselbe ein reifes sei und nach der
Geburt gelebt habe, bereits durch die eigenthümlichen Ver-
hältnisse des Falles definitiv entschieden ist, mit Fug und
Recht von den Vorschriften des Regulativs abweichen kön-
nen, ohne einen Fehler zu begehen, der das Resultat der
Section beeinträchtigen könnte. Ja ich möchte glauben,
dass Obducenten eine ganz zwecklose Arbeit treiben wür-
den, wenn sie die Reife eines neug^bomen Kindes und den
Stand seines Zwerchfells selbst dann noch prüfen wollten,
wenn ein vielstündiges, unter den Augen von Zeugen statt-
gehabtes Leben desselben erwiesen ist. Dass aber die Ob-
ducenten auch befugt sind, von solchen Thatsachen, wenn
sie ihnen von competenter Seite, d. i. von dem Untersu-
chungsrichter, dargeboten werden, Notiz zu nehmen und
hiernach ihr Verfahren einzurichten, dürfte wohl Niemand
bestreiten. Es Hesse sich die den Obducenten dennoch ge-
wordene Rüge daher wohl nur dadurch erklären, dass def
prüfenden Behörde das blosse Obductions-ProtocoU vorlag,
während die einzelnen Verhältnisse des Falles derselben
unbekannt geblieben sind. Dass diese aber ganz eigen-
thümliche gewesen, ergiebt die nachfolgende Geschichts-
efzählung.
Die ausserehelich geschwängerte Dienstmagd S. befand
840 Ob Kindennord oder Htird?
sich am Tage ihrer Niederkunft auf Stnissenarbtit, mnaste
dieselbe indess verlassen , weil sieh die Vorboten der Ein*
desgebart einstellten. Sie war kaum in das Gehöft ihres
Dienstherm gelangt, als sie den Erguss einer Flfissigk^t
(Wassersprang) Ten^firte, welche ihr die Schuhe asrnm Theil
anftUte. Um sich dieselben wieder su reinigen -r* so er-
zählt die S. selbst — , ging sie nach einem Schuppen, un-
ter welchem Stroh lag, und während sie sich in kauernder
Stellung befand, schoss das Kind aus den Gescblechtsthei«
len hervor, dessen Gebart sie noch durch Ziehen am Halse
zu beschleunigen sachte; gleichwohl aber soll das Kind auf
die Erde gestfirzt und die Nabelschnur gerissen sein. Da
das Kind sein Leben alsbald durdi Schreien zu erkennen
gab, so schlug die &, um nicht verrathen zu werden, mit
dem Kinde ein sehr kurzes Verfahren ein: sie steckte es
in den nahen Sehweinestall, in welchem, wie ihr bekannt
war, fünf Schweine von mittlerer Grösse sich bdandea.
Hierauf ging sie in die Wohnstube, gab vor, unwohl zu sein,
und suchte deshalb ihre Schlafkammer auf. Da dies Alles
gerade in die Mittagsstunde traf, wurde eine aweite Magd
mit den der S. obliegenden Arbeiten , also auch mit dem
Füttern der Schweine, beauftragt. Als dieselbe nun den
Schweinen das Futter brachte, fiel ihr eine bedeutende Un-
ruhe der Thiere auf, die nicht an den Futtertrog heranka-
men, sondern im Stalle herumdräugten. Sie machte hier-
von der Hausfrau Mittheilang und Beide gingen nun gemein*
scbaftlich, um nachzusehen, was es in dem Schweinestalle
gebe. In der Nähe desselben hörten die Personen ein eig^i-
thumliches Wimmern; sie öffneten daher die Stallthfir und
fanden beim Durchwühlen des Streustrohes ein neugebor-
nes, lebendes Kind. Eine sofort herbeigerufene Hebamme
unterband die Nabelschnur des Kindes, das auch bidd ge*
badet und zur Taufe nach der Kirche gebracht wurde. Da
Ob Kindermord oder MoFd? 341
die EDtdeckung der Matter in der Person der S. sofort er-
folgte ^ so worde ihr das Kind zur Emährang übergeben,
gleichzeitig aber die zweite Magd des Hauses zur Bewachung
der S. bestellt. Dieselbe verharrte auf ihrem Posten bis
früh um 4 ühr; von da ab blieb die S. mit ihrem Kinde
allein, und als nach einigen Stunden wieder nach demsel-
ben gesehen wurde, fand man es todt im Bette der jS., die
sich Aber den Tod Ihres Kindes sehr erstaunt stellte, da
„sie ihm ja Nichts getban habe^. Dass das Kind aber früh
um 4 ühr, also genau 16 Stunden nack seiner Auffindung,
noch gelebt habe, war durch die Magd, die bis dahin ge»
wacht hatte, unzweifelhaft festgestellt Ausserdem war durch
Zeugen ausgesagt, dass das Kind bei seiner Auffindung aus
dem Munde stark geblutet habe und seine rechte Kopfeeite
blau gefärbt gewesen sei.
Den Obduceoten lag hiemach, wie bereits bemerkt, nur
ob, dwrch die Section die Todesart des Kindes zu consta-
tiren« Die Section, die am dritten Tage nach erfolgtem
Tode des Kindes gemacht worden, ergab das nachstehende
Resultat:
I. Aeussere Besichtigung.
Die kleine Leiche zeigt eine L&nge von 17'', ist 5 Pfund
schwer und bietet folgende MaassverhUtnisse : die Kopf*
durcbmesser betragen resp. 3'', 3f'', 4^'^; die Schulterbreite
B 4^^ und die^ Hüftbreite »? 3'^ Der Knochenkern misst
3'V, und die Besohafifenheit AßT Ohr- und Nasenknorpel, so-
wie die Ausbildung der Finger- ui^ Zehennägel charakteri-
siren daa Kind als ein reifes. Die rechte Seite des Kopfes
ist von blauer Färbung, dij, wie Einschnitte ergeben, von
ausgetretenem Blute herrührt. Das untere Lid des rechten
Auges ist sugillkt; auch auf der rechten Wange, nahe am
Nasenflügel, zeigt sich eia sechsergrosser, blauer Fleck und
ein schmaler blauer Streifen von i" Länge« Nase und
842 Ob Kindemord otar Mord?
Mund ergidssw viel sohwuniges, dunkles Bkt; die Ober-
lippe, an ihrer Schleimhaatflftcfae stark siigQUrt, ist vom
Oberkiefer in einer AusdehniiQK von ^^ abgetrennt, der
Oberkiefer selbst derartig aertrümmert, dass sich der Zahn-
fortsatz von ihm abgelSst hat. Die unverletste Zunge Uegt
hinter den Kiefern.
Am Halse sind genau unter den Untwki^erwinkeln
swei dunkelbraune, bohnengrosse Flecke ohne ExcofiatSon
vorhanden; ein gleicher Fleck findet sich am Nacken, und
diese drei Flecke kommen fest genau in eine Linie zn Ke*
gen, die man sich um den Hals gezogen denkt. Ausser-
dem ist unter der rechten Brustwarze eine kleine Sugilla-
tion, sonst aber bei der äussern Besichtigung nichts weiter
an der Eindesleiche zu bemerken.
II. Innere Besichtigung.
A. Die Kopfhohle. Nach Ablösung der Weicbtheile
erscheint die innere Fläche der rechten Seite, von der Stirn
ober den Scheitel hinweg bis an das Ohr und tief in den
Nacken hinab, von einer dunkeln, dichten Blutscbicbt über-
zogen; auch auf der Sehnenhaube liegt an mehrem Stellen
geronnenes Blut. Nach Entfernung der Sehnenhaube zeigt
sich das rechte Scheitelbein in einer Länge von 1^'' fissu-
rirt und verläuft die Fissur genau von der Mitte der Pfeil-
naht durch den Knochen hindurch. Durch das linke Schei-
telbein verlaufen zwei Fissuren, welche unter einem fest
spitzen Winkel nach der Stirn zu sich vereinigen, so dass
ein fast zollgrosses Stade aus dem Knochen heransgehobea
ist. — Das Hinterhaupt ist derartig zerbrochen, daas sich
der ganze obere rechte Theil von der spina crueiaia ab*
heben lässt. Die Gehirnhäute sind frei von Blataustritteo,
ebenso das Gehirn selbst, dessen Substanz vieknehr blass
erscheint. Im Uebrigen weder an, noch in dem Schädel
etwas Abnormes.
Ob KSndarinard odar Iford? 843
B. Die Brttstlidhle. Nach ^rficksehlagang der
Halsbant erscheint die ganze Tordere Halspartie Ton einer
Blutschicht bedeckt, Kehlkopf und LufirOfare sind ohne In-
halt und fällt; sich die letztere auch durch auf die Lungen
auBg^übten Druck nicht. Die Schleimhaut dieser Organe
ist blass; die Gefässe des BUiseB ahne besondere BhitfuUe.
Die Lungen füllen die Brusthöhle so aus, dass das flerz
gedeckt erscheint und charakterisiren sieh dureh ihre
sdiwammigiB Beschaffenheit und ihre marmodrte Farbe als
lafthaltig* Die Lungen schwimmen auch wirklidi sowohl
im Ganzen, wie in ihren einzelnen Theilen vollständig, kni*
Stern beim Einschneiden und entleeren viel schaumiges Blut.
Das Hers ist in allen seinen R&umen &8t blutleer, der Herz-
beutel ohne Inhalt, die grössern Geiässe nicht auffallend ge-
füllt. Die Brustdrüse ist talgurtig weiss g^rbt.
C. Die Bauchhöhle. Der 1^^ lange Nabelschnur-
rest ist vertrocknet, platt, und seine Kiader ungleich. Der
Magen ist stark angeinllt und schimmert sein Inhalt dun»
kelblau durdi; derselbe besteht aus schaumigem, dickflus-
mgem Blute. Die Därme enthalten noch viel Kindspech,
die Blase ist gam& leer. Alle übrigen Organe dieser Höhle
vollständig normal.
Nachdem die Gerichtsärzte sich in dem vorläufigen Gut-
achten dahin an^esprodien hatten, dass der Tod des von
ihnen obdncirten Kindes eine Folge der an demselben vor-
ge&ndenen Schädelverletzungen gewesen sei, wurden den-
selben in dem öffentlichen Audienztermine noch, wie die
Yerbältniase des Falles dies erheischten, die nachstehenden
Fragen zur Beantwortung vorgelegt:
1) Sind die Sehweine, unter denen das Kind einige Zeit
gelegen hat, im Stande gewesra, jene Verletzungen
hervorzubringen ?
344 Ob Kindemord od«r Mord?
2) Sind die tOdtliehen Schftdelv«iietmigen dem Kinde
amnittelbar nach der Gebnrt beigebracht worden?
(Kiadcdrmord) oder
3) Hai die tödtUobe Einwii^nng aaf den SehSdel dee
KittdeB erat in den letaten Lebensstondän desselben
Btattg^nden? (Mord) oder
4) Ist es möglich, dass die Sehkdelbrfiche durch Start
des Kindes im Augenblick der Geburt entstanden sind?
Wie die Lösung der an uns ergangenen Frag» von
unserer Seite vorgenommen worden, erlauben wir uns im
Nachstehenden in kurzen Worten anzmfuluren.
Der anatomische Befund dreier verschiedener Schftdel-
bräche spricht auf das Entschiedenste dafür, dass die Insnl*
tationen, die den Kindeskopf getroffen haben ^ sehr erheb-
liche gewesen sein mfissen, und wir sind daher nicht in der
Lage, annehmen zu können, dass die Schweine, unter denen
das Kind einige Zeit gelegen habe, jene Verletzungen, sei
es durch Tritte, sei es durch Hin- und Herwftlzen und An-
schlagen des Kindes gegen die Wandungen des Stalles, zu
bewirken im Stande gewesen sind. Auch hat die Seetion
keine Ergebnisse geliefert, die darauf hindeuteten, dass dfe
Schweine irgendwie das Kind feindlich berührt h&ttm: we-
der Wunden, wie sie etwa durch die Zähne der Schweine
hätten entstanden sein können, noch ausgedehntwe Sugilla-
tionen, von Tritten herrührend, seien an demselben vorfind-
lich gewesen. Denn auch die an dem Kinde au%efundene
Zertrümmerung des Oberkiefers, die dasselbe unzweifelhaft
schon bei seiner Auffindung in dem Schweinestalle an sich
getragen, da aus ihr jene von den Zeugen bemwkte Mmid-
blutung ausgegangen sei, vermögen wir nicht einer Einwir-
kung durch die Thiere zuzuschreiben, vielmehr ist das Kind
an diesen Thetl, wie die genau fiber dem zertrümmerten
Knochen liegende Sugillation an der Wange beweist, von
Ob Kindermord oder Mord? 845
einem Btömpfen und schweren Körper, etwa einem Steine,
getrofien worden. Wer aber Anders könnte hier als die
th&tig gewesene Person betrachtet werden, wenn nicht die
eigene Matter des Kindes? Ja die Mannigfaltigkeit der
Schädelbrfiche, wie sie hier vorliegt, spricht dafar, dass die*
selben von der Hand der Mntter in mörderischer Absicht
verübt worden seien. Nach gerichtsärztliehen Erfahrungen
nämlich verfahren Kindesmörderinnen, wenn sie sich darauf
einlassen, den tödtlichen Streich gegen den Kopf des Kin-
des zu fahren, dabei mit solcher Rohheit, dass dadurch so
grossartige Knochenzertrümmerungen, wie sie in unserm
Falle vorliegen, ihre Entstehung finden. Auf keine andere
Weise könnte der von uns erhobene Befund des Bruches
beider Scheitelbeine und des Hinterhauptes erklärt werden.
Die Annahme, dass das Kind im Augenblicke der Geburt
auf die Erde gestürzt sei und sich hierdurch die beschrie-
benen Schädelverletzungen zugezogen haben möchte, müssen
wir auf das Allerbestimmteste zurückweisen. Die S. giebt
nämlich selbst an,, dass das Kind aus den Geburtstheilen
hervorgetreten sei, während sie sich in kauernder Stellung
befunden habe, und dass sie durch Zu&ssen nach dem Halse
des Kindes die Geburt desselben beschleunigt habe. Diese
Angabe der S. erweist sich nach dem an dem Halse des
Kindes gemachten Befunde als durchaus richtig, ja das Zu-
fassen muss sogar in einer höchst energischen Weise ge-
schehen sein, und es wäre hiemach mehr als wunderbar,
dass das Kind dennoch auf die Erde gestürzt sein sollte.
Aber selbst, wenn der Kindessturz erwiesen wäre, so könn-
ten wir uns doch nicht dazu verstehen, den Bruch beider
Scheitelbeine und des Hinterhauptsbeines, wie er in unserm
Falle vorliegt, lediglich als die Folge eines solchen Sturzes
anzusehen. Bei dem Sturze eines Kindes ist der Scheitel
desselben der vorzüglich betroffene Theil, und es kann wohl
' Catpeff VJtchrft. f. g«r. Med. XXII. S. 23
346 ^ Kindennord oder Mord?
bd solcher Gelegenheit ein, auch wohl beide Scheitelbeine
eine einfache Fissur davontragen, nie und nimmer aber
wird sieh bei dem verschiebbaren Kindeskopfe, dessen Kno*
eben nicht fest mit einander verbunden sind, die Gewalt
des Sturzes vom Scheitel aus auch auf das Hinterhaupt fort-
pflansen, so dass auch dieses brechen könnte. Hiernach
und aus den oben angef&brten Gründen ist also mit Be*
stimmtheit anzunehmen^ dass die Verletzungen des Kindes-
kopfes weder durch die Schweine verursacht, noch durch
Kindessturz hervorgerufen, sondern vielmehr nur durch ge-
waltthätige Insultationen von Seiten der Mutter bewirkt
worden sind.
Weniger bestimmt aber müssen wir in der Beantwor-
tung der Fragen sein, ob dem Kinde die Verletzungen un-
mittelbar nach der Geburt zugefügt worden, oder erst spä-
ter, als dasselbe unbewacht bei seiner Mutter gewesen sei.
Bei der ersten Annahme hätte, wie genau feststeht, das
Kind noch volle 16 Stunden gelebt, und wenn wir hierbei
die Erfahrungen der Chirurgie in Erwägung ziehen^ nadi
denen Menschen bei den erheblichsten Schädelverletzungen
ein elendes Dasein nicht nur nach Stunden, sondern sogar
nach Tagen gelristet haben, so kann es nidit als unmOgUdi
hingestellt werden, dass das an seinem Kopfe so schwer
verletzte Kind noch 16 Stunden habe leben können. Als
wahrscheinlich aber möchten wir es nicht bezeichnen, dass
dies wirklich der Fall gewesen sei. Erwägen wir nämlich
die Umstände, unter denen der Tod des Kindes erfolgt ist,
dass dasselbe nämlich in ganz jtuffajilender Weise gerade
dann ganz plötzlich verstorben sei, als die Mutter mit dem-
selben allein war, so liegt die Annahme wohl nahe, dass
die tödtlich gewordene Schädelverletzung dem Kinde doch
wohl erst in dieser Zeit beigebracht worden und dasselbe
darauf sehr bald verschieden sei. Wir geben zu, dass die
Ob Kindermord oder Mord? 3^7
Motive zu der letzten Annahme nicht rein wissenschaftlicher
Natur sind ; jedenfalls aber sind sie durch die Umstände so
nahe gelegt, dass sie auch vom Gerichtsarzte benutzt zu wer-
den verdienen.
Es musste uns in dem vorliegenden, für die Beurthei-
lung gewiss schwierigen Falle eine gewisse Beruhigung ge-
währen, dass wir im Stande waren, uns mit unserm Ur-
theile auf die Ansichten eines anerkannten Fachmannes za
. stützen. Wenn nämlich Caaper in einem Falle *), der dem
unsrigen insofern einigermaassen analog ist, als es sich in
ihm um die Beurtheilung eines Schädelbruches handelt, der
aber nur in einer einfachen Fissur eines Scheitelbeines be-
standen, sich dahin ausgesprochen hat: „dass das Kind
nach dieser Kopfverletzung in „„kürzester Zeit"" gestorben
sein müsse", so haben wir wohl mit viel grösserm Recht
no4^ uns dahin eridären dürfen, dass das von uns obducirte
Ki^d in Folge der an ihm aufgefundenen drei Schädelkno-
chenbrüche in „kürzester Zeit" seinen Tod gefunden haben
werde und ein 16 stündiges Fortleben nach denselben far
unwahrscheinlich angesehen werden müsse.
Die Geschwornen, wie der Gerichtshof, waren von der
Ueberzeugung erfüllt, dass hier ein „Mord" vorliege ; indess
war die Anklage nur auf „Kindermord" gerichtet, und die
Angeklagte wurde mit einer langjährigen Zuchthausstrafe
belegt.
Vi Casper's Handbuch der gerichtl. Medicin. 2te Aufl. Fall 288.
28
348
21.
War 4er Bauer 9V, M der an 18. Hin 1861
abgeschlossenen Poneftation, den Verkauf sei-
nes Banergntes betreffend, dispositionsfftliig?
Vom
Dr. Pinea« in Glogan.
Nicht oft kommen Fälle von zweifelhafter Dispositioiis-
fthigkeit in Folge körperlicher Krankheit zur ärztlichen Be-
gutachtang. Die folgende Mittheilong ist daher wohl nicht
ungerechtfertigt.
Der Bauer W. litt seit Jahren an einer Insufficiens der
Bicuspidalklappe, zu der sich als TerminalaiFection eine Ent-
zündung des Brustfells gesellte. In den letzten Tagen sei-
ner tödtlichen Erkrankung drängte ihn seine Frau, er
möchte sein Bauergut verkaufen, da sie, £ei11s er stürbe, der
selbstständigen Wirthschaftsf&hnmg nicht gewachsen sei.
Er entschloss sich Anfangs nicht dazu; endlich, am Nach-
mittage des 18. März 1861 — einen Tag vor seinem Tode — ,
gab er nach. Der Bauer Z., der Käufer, wurde herbeige-
holt; die Frau und ein Bruder des Kranken gingen mit dem
Käufer die einzelnen Bestände des Gutes durch ; die wesent-
lichsten Punkte des Kaufvertrages wurden zwischen diesen
drei Personen festgestellt, und nachher vom Patienten ge-
DispositionBföhigkeit. 349
billigt; man kam aberein, am Abend durch das Dorfgericht
eine Punctation aufnehmen zu lassen. Diese Aufnahme er-
folgte; 24 Stunden darauf starb der Bauer 1F.; die Hinter-
bliebenen fanden jetzt den Verkauf nicht mehr yortheilhaft,
und fochten die Gültigkeit der Punctation an, da der W.
bei Aufnahme der Punctation nicht mehr dispositionsf&hig
gewesen sei. Es haben seitens des Gerichts zur Feststel-
lung dieser Frage eingehende Zeugenvernehmungen stattge-
funden, als deren wesentlichste Ergebnisse Folgendes an-
geführt werden kann.
Am Nachmittage des 18. März fragte der Kranke aus
freien Stücken den Käufer, ob er ihm sein Gut abkaufen
wolle. Es liegt keine Veranlassung zu der Annahme vor,
dass W. um diese Zeit nicht dispositionsfthig gewesen sei.
Am Abend desselben Tages, zwischen 7 und 8 Uhr,
fanden sich, von dem Dienstmädchen des W. herbeigeholt,
in dessen Zimmer die Gerichtsleute des Dorfgerichts ein;
ausser den Gerichtsleuten waren noch einige andere Perso-
nen im Zimmer anwesend. Die Punctation sollte aufgenom-
men werden; der Gerichtsschreiber fragte den W.: „Vetter
W., willst Du Dein Gut an Z. verkaufen ?^ W. antwortete :
„Nein! mit nichtenl^ Seine Frau rüttelte ihn auf, und
sagte: „Besinne Dich doch, wie wir es am Nachmittage
verabredet haben I^ Darauf entgegnete W.: „Macht, wie
Ihr denkt I^ Der Gerichtsschreiber zögerte mit Aufnahme
der Punctation, da ihm die Antwort: „Macht, wie Ihr
denkt! ^ nicht entschieden genug schien. Auf den Wunsch
der Frau W. begann er zwar zu schreiben, trat jedoch bald
darauf selbst an das Bett des W. und fragte ihn, ob er wolle,
dass das Gericht oder ein Notar geholt werde, oder ob das
Dor%ericht eine Punctation niederschreiben solle. W. ant-
wortete: „Ja!^ Der Gerichtsschreiber bezog das „Ja^ auf
den letzten Theil seiner Frage. Ein Zeuge giebt an, dass
350 Dispositioimfthi^eit
W. nmiiittelbar sortier eine zom dritten Male aoBgespro-
chene Frage der Fraa W. : ob er sein 6nt an Z. verkaufen
wolle, mit ^a^ beantwortet habe. Anf die nSLchste Fn^e
des Geriehtsschreibers nach dem Kaufpreise, bestimmte Pa-
tient denselben anf 8500 Thaler; diese Bestimmung ent-
sprach der Verabredung am Nachmittage.
Der Gerichtsschreiber schrieb nun die Punetation nie-
der; die einzelnen Punkte gab der Käufer aus einer Schreib-
tafel an; bei jedem Punkte fragte der Gerichtsschreiber die
Frau des Kranken und diesen selbst nach seiner Zustim*
mung. Erfolgte die Antwort des Letztem nicht bald, „weil
er so schwach war", oder „weil er eingeschlummert war*,
so wurde ihm die Frage von der Frau W. wiederholt; wäh-
rend der Fragestellung musste W. von seiner Frau oft auf-
gerftttelt werden, gewöhnlich mit den Worten: „Lieber
Mann, besinne Dich doch: es ist ja so und so verabredet
worden ! ** Ein Zeuge äussert sich über die Art der Frage-
stellung : „Die verehelichte W. stellte die Fragen immer so,
dass W. dieselben nur mit „ja^ oder „nein*^ zu beantwor-
ten brauchte."
Ueber die Antworten des W. äussern sich die Zeugen
folgendermaassen : „Die Fragen beantwortete W. immer ent-
sprechend", oder: „immer so ziemlich!" — „Unsinnige Ant-
worten hat er nicht gegeben I " Ein Zeuge sagt: „Die Ant-
worten waren verständlieh ; dass er auf eine Frage eine ganz
unrichtige Antwort gegeben hätte, ist mir nicht aufgelal-
len!" Ein anderer Zeuge: „Der W, gab auf die Fragen
des Gerichtsschreibers zuweilen nicht passende Antworten;
seine Frau legte ihm dann die Fragen besonders vor; dass
W. die Fragen seiner Frau nicht verstanden, oder unrich-
tig beantwortet hat, kann ich nicht bekunden!"
Bei Erörterung der einzelnen Punkte erwähnte W. aus
freien Stücken, dass auf seinem Gute noch Vieles zu löschen
Disposittonsfähigkeit. 351
sei ; er wolle die Hälfte der LSsohangskosteQ tragen ; der
Käufer solle die andere Hälfte übernehmen.
Aas freien Stücken brachte W. die Rede auf einen
neuen Wagen: ^fttr den Wagen und das neue Lederzeng
habe ich 130 Thaler gegeben; auf diesen Wagen musst Du
mir noch Etwas zulegen!^
Aus freien Stücken forderte W. die Anwesenden auf,
Etwas zu trinken: es sei keine rechte Courage beim Ver-
kauf; und auf die Antwort: dass nichts zu trinken da sei,
fuhr er, zu seiner Frau gewendet, fort: „Hole die 3 Fla-
schen Selterwasser^ die noch da sind!^ Die Frau brachte
sie herbei.
Als die Uebergabe des Gutes zur Sprache kam, ver-
langte W.: die Uebergabe möchte bald erfolgen, damit er
und seine Prau für Nichts mehr zu sorgen hsJAtn ; und be-
merkte dabei noch zum Käufer: „Vetter, Du wirst mich
doch, so lange ich krank bin, nicht gleich aus der Stube
fortjagen; Du wirst mich doch wohl noch hier lassen!^
Während der Gerichtsschreiber schrieb und Alles im
Zimmer still war, fuhr W. einmal plötzlich auf und äusserte
zu dm Anwesenden: „Leute, was macht Ihr hier? geht
doch schlafen und löscht das Licht aus!'^ Ein Zeuge be-
richtet diese Aeusserung in folgender Art: „Ihr Leute, was
macht Ihr denn so lange hier? seid Ihr noch nicht fertig?
geht doch nach Hause schlafen und löscht das Licht aus!^
Nachdem die Punctation vollendet, trat der Gerichts-
schreiber an das Bett des TV., las ihm dieselbe laut und
deutlich vor, und fragte ihn bei den einzelnen Punkten nach
seiner Zustimmung, die er theils durch „ja^, theils durch
Kopfnicken zu erkennen gab.
Beim Vorlesen der Punctation war W. nach überein-
stimmender Aussage aller Zeugen ganz munter.
Nach Beendigung des Vorlesens fragte der Gerichtsschrei-
352 DMpo>itk>iMiiihigkeit
ber dim Wr. ob Alles richtig niedergefichrieben seL W.
entgegnete: „Naja! 10,000!* Der Gerichtsschrdber ent-
gegnete hJeranf: ,^ein, so ist es nicht recht!* Daraaf W.:
«Na, 9000!* Als die Fraa W. hierauf bemerkte: »Besinne
Dich doch, wir haben ja 8500 festgesetst! * — entgegnete
W.i „Naja!*
Ein Zenge, der sich entfernte, bevor die Pnnctation un-
terschrieben wnrde, behauptet: diese Aoslassattgen des W.
über den Kanfyreis seien von diesem am Anfiing der Auf-
nahme der Pnnctation gemacht worden. Wie lange vor
erfolgtem Schlnss der Yerhaodlmig dieser Zenge sich ent-
fernt habe, hat sich nicht feststellen lassen. Vier andere
Zeugen behaupten wiederholt, jene Aeussemngen seien Yon
dem W. unmittelbar vor der Unterschrift gethan worden.
Ob der eine Zenge unmittelbar vor der Unterschrift
das Zimmer verlassen, ob dieselbe Scene zweimal gespielt
hat, welche Zeugen eventuell sich über die Zeit jener Aeus-
semngen irren, hat nicht aufgekl&rt* werden können.
W. sollte nun die Pnnctation unterschreiben; er be-
merkte: „es wird wohl nicht gut gehen*; zwei Personen
richteten ihn auf; er unterschrieb nun, ohne dass ihm Je-
mand die Hand führte, seinen Yaternamen; dann auf Yer-
langen des Gericbtsschreibers auch seinen Vornamen. ^
Nach der Unterschrift äusserte er: „Jetzt will ich aber
auch dne Abschrift der Punctation, damit ich doch auch
Etwas in Händen habe.*
Während der Aufnahme der Punctation trat ein Zeuge
einmal an das Bett des Kranken, als dieser gerade die
Augen geschlossen hatte ^ und fragte ihn: „Nun, lieber W.^
wie geht es Ihnen?* W. öffnete die Augen, schien den
Zeugen aber nicht zu erkennen. Als die Frau ihn bedeu-
tete: „Es ist ja der Polizeiverwalter ud.*, entgegnete der
Kranke: »Ach, Sie sind es; besuchen Sie mich einmal?
DispositioiiBfäbigkeit. 3&3
Mil^ mir geht es sehr schwach ! ^ — Auf ^e Fn^e eines
andern Zeugen, fi., ob er ihn wohl kenne, mtgegneto W.:
„0 freilich. Du bist ja der BA*^ und gab ihm die Ebnd.
Als W. einmal, um zu trinken, aufgerichtet wurde, erblickte
er den zu seinen Füssen sitzenden Zeugen <7., erkannte ihn,
und sagte zu ihm: „Nachbar C, besuchst Du midi auch
noch einmal?^ —
W&hrend der ganzen Verhandlung war W. nach dem
übereinstimmenden ürtheil aller Zeugen sehr schwach,
schlummerte öfter ein, und musste zur Beantwortung von
Fragen öfter geweckt werden.
Auf simmtliche Zeugen hat der W. wfthrend der Ver-
handlung den Eindruck gemacht, dass er bei Sinnen ge-
wesen sei; die Zeugen sind in diesem Urtheil sehr be-
stimmt.
24 Stunden nach Aufnahme der Panctation ist W. ge-^
storben.
Gutachten.
Unzweifelhaft hat W. am Nachmittage des 18. Mftrz —
und seine Dispositionsfähigkeit zu dieser Zeit scheint unbe-
stritten — die Absicht gehabt, sein Gut an Z. zuTer-
kaufen.
ünzweilelbaft wusste er auch in vielen einzelnen Mo-
menten w&hrend Auftiahme der Punctation, dass es sich um
den Verkauf seines Gutes handle: er Terlangt, der Käufer
solle die LOschungskosten, auf die er von selbst das Ge-
spräch gef&hrt, zur Hälfte tragen; er verlangt, der Käufer
solle ihm auf seinen neuen Wagen Etwas zulegen; seine
Frau veranlasst er, fftr die Anwesenden Etwas zu trinken
zu holen; er wünscht, die üebergabe des Gutes möge bald
erfolgen, damit er von der Wirthschaftsffihrung keine wei-
tem Umstände habe, doch spricht er die Hoffnung aus, der
354 Dttpositionsfthiskeit
K&ufer werde iku nicht gleich ans der Stabe fbr^agoi; er
Terlangt eine Abschrift der Pnnctation, damit aaeh er Etwas
in Binden habe; er erkennt die anwesenden Freunde nnd
bedankt sieb fftr die Theilnahme, welche sie ihm dnrcb ihre
Besadie erweisen.
Das smd unzweifelhafte Proben eines richtigen Erkennt-
nissTermögens and eines richtigen ürtheils; and .es bildete
sich auch bei allen Anwesenden die Meinnng, dass W. völ-
lig bei Sinnen sei.
Dennoch habe ich aas den Angaben der Zeugen die
Ueberzengung gewonnen, dass W. bei Abschlass der
PnnctatioB nicht dispositionsfähig gewesen ist.
Znn&ehst ist es gewiss, dass W. an dem Abend des
18. M&rz körperlich schwach w«r, dass er oft einschlum*
merte; er musste öfter geweckt und aufgerüttelt werden, um
die nöthigen Antworten za geben. Das Bewusstsein des
W.^ dass es sich um den Verkauf des Gutes handle, wurde
durch jedesmaliges Einschlummern unterbrochen, und mit
jeder Unterbrechung ruhte auch der Entschluss. Er hatte
also w&hrend der Aufnahme der Punctation nicht ununter-
brochen den Willen, sein Gut zu verkaufen, und nicht un-
unterbrochen das Bewusstsein, dass ein darauf bezögli^er
Vertrag aufgenommen werde.
Allein die öftere Unterbrechung des Willens in einem
gewissen Zeitraum hebt allein die Dispositionsfthigkeit wäh-
rend dieses Zeitraums noch nicht auf: auch wenn zwei un-
zweifelhaft Gesunde mit einander contrahiren, werden sieh
bei Beiden die Gedanken gewiss öfter, wenn auch nur för
sehr kurze Zeiträume, auf andere G^enstände richten.
Aber in diesem Fall kann der Contrahirende jeden Augen-
blick seine Aufmerkss^mkeit wieder auf den Gegenstand des
Vertrags richten: er darf nur wollen; der Schlummernde
hingegen kann das nicht, er hat keinen Willen; nicht von
Dispositionsföhigkeit. 855
ihm hängt die MQglichkeit ab , in diesem oder jenem Mo-
ment wieder über seiften Vorsatz nachzudenken.
Es war mithin der Geisteszustand des W. während der
Aufnahme der Pnnctation ein solcher, dass sein VermGgeD,
zu urtheilen, Unterbrechungen erlitt, welche er nicht jedes-
mal durch seinen Willen sofort ausgleichen konnte. Sein
Gedankengang wurde nicht ausschliesslich von seinem Wil-
len beherrscht, sondern zum Theil von andern Momenten,
die er nicht ausschliessen konnte : — sein Wille war also
nicht frei.
Ind^ssßn könnte man, dies zugegeben^ aber der That-
sache eingedenk, dass W. viele Fragen alsbald verständig
beantwortet hat, es doch für möglich halten, dass er, wo
seine Antworten nicht bald erfolgten, erweckt, sich seiner
frühern Gedanken rasch erinnert, oder alle Verhältnisse, die
bei einem Gutsverkauf zur Erwägung kommen, sich von
neuem klar gemacht, und so jedesmal' ganz verständig ent-
schieden hätte.
Zeugen seihe Antworten von einem guten Gedächtniss
und einem richtigen Urtheil?
Unzweifelhaft hatte er am Nachmittage die Absicht,
sein Gut zu verkaufen; das I>or%ericht ist versammelt; aber
auf die Frage : „Willst Du Dein Gut verkaufen ? " antwor-
tet er: „Nein, mit nichtenl^ Auf die wiederholte Frage
erfolgt die Antwort: „Macht, wie Ihr denkt!** erst auf eine
dritte: „Ja!** Gewiss hatte er, als er die erste Antwort
erth eilte, seinen frühem Entschluss nicht geändert — er
hatte ihn einfach vergessen. Das schliesslich geäusserte „Ja**
ist kein „Ja** des freien überlegten Entschlusses; nach der
ersten Antwort rüttelt ihn seine Frau, er merkt, sie will
eine andere Antwort haben, als die bisher gegebenen; er
sagt das „Ja**, er will Rahe haben.
356 DJapoeitioiisfiliigkeit
Während der Verhandliing fiUut er plötdkh in seinem
Bette auf, sieht die Anwesenden an und sagt sa ihnen:
9 Was macht Ihr denn hier ? Geht doch schlafen nnd löscht
das Licht ansl'^ — Ans seinem Gedichtniss ist das Be-
wttsstsein, dass anf seine Yeranlassnng ein Vertrag fiber sein
Gut angenommen werde, glüizlich Terwischt
Nehmen wir die Aensserong selbst in der mildem Yer*
sion des einen Zeugen: „Was macht Ihr denn so lange
hier? Seid Ihr noch nicht fertig? Geht doch schlafen I^ —
so hat W. jedenfalls vergessen, dass er heut die Pnnctation
habe zu Ende f&hren wollen, oder dass sie ihm voi^lesen
nnd Ton ihm unterschrieben werden müsse.
Das sind Beweise einer Gedächtnissschw&che, welche
die Möglichkeit einer völligen Sammlung nach dem jedes-
maligen Erwecken ausschliessen.
Sein öfteres Einschlummern machte es unmöglich, dass
er w&hrend der Aufiiahme der Pnnctation seine Aufinerk-
samkeit andauernd anf den Inhalt derselben richtete; seine
Gedftchtnissschwftche machte es unmöglich, dass er sich nach
jedesmaligem Erwecken rasch sammelte*
Wenn der Gerichtsschreiber anfuhrt: er habe in den
Vertrag einen Punkt nicht früher aufgenommen, als bis W.
seine Zustimmung su erkennen gegeben, so hat der Kranke
in vielen F&Uen die Frage gewiss verstanden und mit Be-
wusstsein bejaht, in andern aber nicht; und wie in diesen
FkUen seine Genehmigung mit Hfilfe der Frau eingeholt
wurde, das wissen wir ans der oben angeführten ersten
Probe; er wurde von seiner Frau so lange gefragt, bis er
^^ gesagt hatte.
Aber man kann dies Alles zugeben und doch fragen:
hat nicht W. vielleicht am Ende der Verhandlung beim
Vorlesen der Pnnctation sorgfUtig zugehört und hier w&h-
Dispositionsfthigkeit. 857
rend dieser kurzen Zeit alles Wichtige erwogen und mit
Bewusstsein bejaht?
Ein todtkranker Mann von solcher Schwäche, dass er
am Abend vergisst, welch' einen wichtigen Entschluss er
am Nachmittage gefasst, der diesen Entschluss noch mitten
in der Ausführung desselben vergisst — der hat nicht die
Kraft, zehn Minuten lang einer ihm yorgelesenen Reihe von
Gedanken zu folgen, und noch weniger die Kraft, alle diese
einzelnen Gedanken rasch zu erwägen. Unzweifelhaft gehen
seine Gedanken während dieses Zeitraums sehr oft ihren
eignen Weg, und sein schwacher Wille wird sie zwar oft,
aber nicht immer auf den richtigen Gegenstand zurückfäh-
ren können.
und was antwortet er dem Gerichtsschreiber auf des-
sen Frage: ob Alles richtig niedergeschrieben sei? „Na ja,
10,0001^ Von den übrigen Momenten kein Wort; eins
greift er heraus ; verständig genug, das Wichtigste bei einem
Kaufverträge: den Kaufpreis; aber selbst dies wichtigste
Moment hat er sich nicht zu merken vermQcht; er giebt
es falsch an ; vielleicht so , wie er es beim ersten Erwägen
des fraglichen Verkaufe anzugeben sich vorgenommen hatte.
Und wenn W, diese Aeusserung auch zu Anfang der
Aufiiahme der Punctation gethan haben sollte, wie der eine
Zeuge behauptet; wenn also thatsächliche Irrthflmer
des Geistes ftlr das Ende der Verhandlung nicht nachge-
wiesen sind : — die f&r den Anfang der Verhandlung dann
feststehenden drei Proben von Gedächtnissschwäche bewei-
sen hinreichend die Unfähigkeit des W., seine Gedanken
dauernd zu sammeln.
Sein Gedächtniss war hinfällig; wie seine Körperkrilfte,
waren auch seine geistigen schwach geworden. In so vie-
len einzelnen Momenten er sich auch erinnerte, dass es sich
858 DiftpoditioiiaftUgkett
ma den Verkauf seiaes Gutes handle: zweimal, das wissen
wir, hatte er es doch vergessen; es fehlte ihm die Fähig*
keH, eine Erinnerung cohärent festzuhalten. So viel Ver-
ständiges er im Einzelnen auch beibrachte (und wir haben
Proben von unzweifelhafter Urtheilskraft : ich erinnere na-
mentlich daran, dass er auf seinen guten Wagen noeh Etwas
heraushaben wollte, und dass er eiue Abschrift des Proto-
coUs verlangte, um doch auch Etwas in Händen zu haben)
— der Mangel eines cohärenten Gedächtnisses machte ihn
unfähig, hinter einander eine Reihe von richtigen Urtheilen
zu fällen.
Die Fähigkeit, zu disponiren, besteht aber nicht darin,
dass man einmal und zehnmal im Einzelnen richtig zu
schliessen, sondern darin, dass man eine zusammenhän-
gende Reihe von Schlüssen zu machen im Stande ist, um
zu einem Entschluss zu kommen.
Das vermochte W. nicht. Er befand sich in dem Zu^
stand geistiger Schwäche, der erfahrungsgemäss so oft einige
Zeit vor dem Tode sich einfindet. Hier erleidet der Geist
in kurzer Frist dieselben Veränderungen, die ihn bei chro-
nischen Geisteskrankheiten allmählig treffen: Sinn wech-
selt mit Unsinn, dunkle Perioden mit hellen, Proben von
treuem Gedächtniss dicht neben Beweisen, dass eben Ge-
schehenes der Erinnerung bereits entschwunden sei.
Die einzelnen, oft ganz richtigen Urtheile des W. ha-
ben die Zeugen zu dem Urtheil veranlasst, dass er völlig
bei Sinnen gewesen sei; — ein nicht seltner Irrthum bei
Laien: sie sind überrascht, dass ein Wahnsinniger noch
sinnige Aeusserungen thun kann; sie denken sich unter
einem nicht dispositionsfähigen Menschen einen solchen, der
über keine Frage richtig entscheiden kann.
Aber nur bei den höchsten Graden des Wahnsinns
Dispositionsf&higkeit. 359
tragen alle Aeusserungen den Stempel desselben; nur bei
den höchsten Graden des Blödsinns ist alle ürtheilskrait
geschwunden.
Die Geisteskraft des W, genügte, in vielen einzelnen
Momenten das Richtige zu erkennen, in andern genügte
sie nicht; — eiaer susammenhängendem Thätigkeit war
sie nicht gewachsen: W. war nicht dispositionsfähig.
960
22.
iBtUche TerfiguigeB«
I. Betveffend Ctebäluren der Apotheker für Herstellitiig Ton erfor-
derlichen Aeagentten bei den ihnen übertragenen gerichtlich-
chemischen Untersnchnngen.
Bs sind neuerdings Zweifel darüber entstanden, ob ein Apotheker
für Ansf&hning einer ihm übertragenen gerichtlich-chemischen Unter-
suchung besondere Gebühren für Herstellung der erforderlichen Rea-
gentien in absoluter chemischer Reinheit in Anwendung zu bringen
berechtigt sei.
Nach Lage der Gesetzgebung ist dies nicht für zulässig zu er-
achten. Der Besitz vollkommen reiner Reagentien muss bei jedem,
mit einer geriahtlich- chemischen Untersuchung betrauten und für die
Zuverlässigkeit des Resultats derselben verantwortlichen Apotheker
um so mehr vorausgesetzt werden, als es ohnehin die Pflicht eines
jeden Apotheken-Besitzers ist, die aus chemischen Fabriken etwa ent-
nommenen Präparate vor weiterer Benutzung derselben im Geschäfts-
betriebe auf ihre Güte und Reinheifc zu prüfen. Für die bei gericht-
lich-chemischen Untersuchungen verbrauchten Reagentien, welche
selbstredend chemisch rein sein müssen, steht dem Apotheker in Ge-
mässheit der Position 13. Abschnitt V. der Medicinal-Gebühren-Taxe
vom 21. Juni 1815 eine Vergütung nach der einzureichenden Specifi-
cation zu. Die einzelnen Preisansätze in dieser Specification sind
nach der Arzneitaxe zu normiren, und da in dieser letztern die Ver-
gütung für die zur Darstellung chemisch reiner Präparate erforder-
lichen Arbeiten ausreichend vorgesehen Ist, so entbehrt die Ansetzung
besonderer Gebühren für Darstellung chemisch reiner Reagentien je-
den Grundes.
Demgemäss sind in etwa vorkommenden Fällen bei Festsetzung
von Liquidationen für gerichtlich -chemische Untersuchungen Ansätze
für Darstellung chemisch reiner Reagentien künftighin zu streichen.
Beriin, den 28. April 1862.
Der Minister der* geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-
Angelegenheiten.
Im Auftrage: Lehnert
An sämmtliche Königl. Regierungen und das
Königl. Polizei -Präsidium hierselbst.
^
AmWche Yerf&gnngeii. 361
n. Betreffend die Anwendmig der Taxe der OebnrlsktfflBr
Seitene der Hebammen.
Auf den Bericht vom 16. März d. J. erwiedere ich der Kömgl.
Regierung, dass die Bestimmung der Note zur Taxe IIL fQr die Ge-
burtshelfer vom 21. Juni 1815 nicht dahin verstanden werden kann,
dass die Hebammen fQr alle bei Entbindungen von ihnen zu leisten-
den Dienste und Besuche ohne Rücksicht auf den durch den beson-
dem Fall bedingten Umfang ihrer Verrichtungen nur den Satz von
15 Sgr. zu fordern haben. Einerseits ist dies Oberhaupt nur der nie-
drigste Satz, welcher je nach den Vermögens -Umstäu den des Zah-
lungspflichtigen bis auf 1 Thlr. 20 Sgr. (J von 5 Thlrn.) erhöht wer-
den kann, auch wenn der Fall, um den es sich handelt, nicht unter
eine, den Satz Nr. 1. der Taxe 111. übersteigende Position gehört.
Andererseits ergiebt die Nr. 1., welche eine leichte natürliche Entbin-'
düng voraussetzt, dass der Satz von 15 Sgr. bis 1 Thlr. 20 Sgr. für
die Hebamme eine Remuneration nur für diejenigen Leistungen ent-
hält, welche der Hebamme bei einer leichten, natürlichen Entbindung
zufallen. Bei schwierigem Fällen, in denen die Hebamme zahlreichere
Besoehe ea machen hat, ist derselben hierfür besondere Vergütung
nach Maassgabe dessen, was unter gleichen Verhältnissen der Ge-
burtshelfer würde fordern können,, mit | resp. ^ des taxmässigen
Satzes zuzubilligen. In diesem Sinne sind von verschiedenen Königl.
Regierungen besondere Publicanda über die den Hebammen zukom-
menden Gebühren erlassen {cfr, Ronne^ Bd. I. S. 484), und gebe ich
der Königl. Regierung anheim, im Anschluss hieran ein Gleiches für
Ihren Bezirk zu thun. Dabei wird jedoch die Erwähnung von Ver-
richtungen, für welche die Medicinal-Taxe keine Analogie bietet, z. B.
für das Tragen des Täuflings zur Kirche und die Einladung der Tauf-
pathen, zu vermeiden sein.
Berlin, den 17. Mai 1862.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-
Angelegenheiten.
(gez.) ü. MüMer.
An die Königl. Regierung za N.
in. Betreffend die Caren mittelst dee elektrischen Xndactioas-
Apparats.
Auf den Bericht vom 29. v. M. — Nr. 1783. 2. I. — erwiedere
ich der Königl. Regierung, dass bei Guren mittelst des elektrischen
Inductions-Apparats dem Arzte für jede Sitzung in der Wohnung des
Catptr, VJschrft. f. ger. Med. XXn. S. 24
862 Amtiiche Yerf&gimgML
Kranken 1 Thlr. und f&r jede Sitzung in der Behaudong des Arztes
selbst ein Sostmm von 15 Sgr. susugestehen ist
Berlin, den 30. Mai 1862.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- nnd Medicinal-
Angelegenheiten.
In Vertretung; Lehnert
An die Königl. Regierung zu Posen.
Abschrift vorstehender Verfügung erhält die Königl Regierung
zur Nachricht und Nachachtung.
Berlin, den 30. Mai 1862.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- nnd Medicinal-
Angelegenheiten.
In Vertretung: Lehnert
An s&mmtliche übrige Königl Regierungen and das
Königl Polizei -Präsidium hierselbst.
IV. Betreffsad die Kosten IIb üntenraohiiiig dar eistea imie
aasteokender Krankheiten.
Auf den Bericht vom . . . erwiedere ich der Königl. Regierung,
dass die Frage, wem die Kosten für Untersuchung der ersten Fälle
ansteckender Krankheiten zur Last fallen, nicht danach entschie-
den werden kann, wer Eztrahent der Untersuchung gewesen ist.
Nach deutlicher Vorschrift des §. 10. des Regulativs vom 8. Au-
gust 1835 ist diese Untersuchung eine Pflicht der Ortspolizei-Behörde.
Daraus folgt, dass sie die mit Erfüllung derselben verbundenen Ko-
sten zu tragen hat; dies trifft namentlich auch dann zu, wenn sie
durch unvollständige Anzeige den Landrath in die Nothwendigkeit
versetzt, seinerseits eine ärztliche Untersuchung anzuordnen, welche
bei gehöriger Beachtung der gesetzlichen Vorschriften bereits der An-
zeige hätte vorangehen soUen.
Nur dann, wenn nach der besondem Lage des Falles die Con-
statirung der Krankheit den Orts -Behörden ohne Gefahr nicht über-
lassen werden kann, dürfen hierfür die Kosten auf fiscalische Fonds,
angewiesen werden und ist alsdann der Grund jedesmal in den Liqui-
dationen kurz zu bescheinigen.
Berlin, den 7. August 1862.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-
Angelegenh^ten.
In Vertretung: Lehnert
An die Königl Regierung zu N.
Amtliche Verftgnngeii. 863
y. BelMiraad die bmUdSbriichea resp. vicrtaBährltchiw Beriobl«
der Yeteilaair-Beaateii.
Bei der Revision der General-Yeterinair-Sanitäts-Berichte hat sich
herausgestellt, dass die in einigen Regierungs-Bezirken gebräuchlichen
halbjährlichen Berichte der Veterinair-Beamten durchschnittlich über-
sichtlicher und besser sind, als die in den meisten Regiernngs-
Bezirken üblichen Tierteljäbrlichen Berichte.
In Folge dieser Wahrnehmung und in Betracht, dass die Einfüh-
rung Ton Semestral - Berichten auch aus landwirthschaftlichen Rück-
sichten sich empfiehlt, indem das Sommer- resp, Winter- Semester in
Beziehung auf Fütterung und Haltung der landwirthschaftlichen Thiere
einen gut abzugränzenden Abschnitt darbietet, der Zusammengehöri-
ges ungetrennt abzuhandeln gestattet, Teranlasse ich die RönigL Re-
gierungen und das hiesige Königl. Polizei -Präsidium, die Veterinair-
Beamten anzuweisen, ihre Sanitäts-Berichte vom 1. April künft. Jahres
ab fortan in halbjährlichen Fristen zum 1. April und 1. October jeden
Jahres einzusenden.
Hinsichtlich des Termins für die Einsendung der General-Yeteri-
nair-Sanitäts-Berichte, welchen die Special-Berichte nach wie vor bei-
zufügen sind, behält es bei der Circular-Verfügung vom B. Jnli 1855
sein Bewenden.
Berlin, den 21. August 1862.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Hedicinal-
Angelegenheiten.
In Vertretung: Lehnert.
An sämmtliche Königl. Regierungen und das
Königl. Polizei-Präsidium hieraelbst
VI. Beireffend die Yerordnong von Arzeneien und den Gebrauch
von Arseneigeföasen för aus öffentlichen Mitteln behandelte
Die Medicinal-Personen unsers Verwaltungs - Bezirks werden wie-
derholt auf die Nothwendigkeit hingewiesen, bei der Behandlung sol-
cher Kranken, für welche die Gurkosten aus Staats- oder Gommunal-
Fonds bestritten werden müssen, stets mit möglichster Sparsamkeit
zu verfahren, und theure Arzneimittel nur da zu verordnen, wenn sie
dorch wohlfeilere gleichwirkende nicht zu ersetzen sind. Auch moss
die Ersparung der Gefösse durch Zurückgabe der gebrauchten Glä-
ser u. s. w. beobachtet werden, und ist daher bei der Verordnung
einer Wiederholung der Arznei niemals der Vermerk „sme vitro u. s. w."
auf dem Recepte zu unterlassen.
Die Apotheker dürfen Wiederholungen einer einmal verordne-
ten Arznei nur auf vorgängige schriftliche Anordnung des Arztes an-
fertigen, wenn sie sich den vorBchriftsmftssigen Belag für ihre For-
24*
364 AmtHehe VerfAgiaigeii.
deruog an eine öffentHche Kaase sicheni woUen. Bestdknigen auf
Reiteraturen Seitens des KraDken, Beiner Umgebung oder eines Kran-
kenwärters, deren Ansführnng nar von dem Apotheker auf dem Re-
cept vermerkt worden, begründen eine Zahlungs- Verbindlichkeit füi
Öffentliche Kassen selbst dann nicht, wenn sie, wie wir dies in nicht
seltnen Fällen bemerkt haben, nachträglich in Paasch und Bogen
vom Arzte bestätigt worden sind.
Um diesen Vorschriften die erforderliche Befolgung zu sichern,
und die für die Armen - Kraukenpflege u. s. w. bestimmten Fonds ge-
gen unnötbige Belastungen zu schützen, wird die Prüfung der mit
den Arznei -RechDungen bei uns eingehenden Recepturen keineswegs
nur auf die Beobachtung der Taxpreise für die dispensirten Medica-
mente beschränkt, sondern auch auf die Ausmittelung der in vorge-
dachter Beziehung vorgekommenen Missbräuche ausgedehnt werden.
— Indem wir dies hierdurch zur Kenntniss der bei der Armen-Kran-
kenpflege betheiligten Medicinal- Personen, so wie der Anstalts- und
Geföngniss-Aerzte unsers Departements briugen, empfehlen wir den-
selben zugleich die sorgsamste Beachtung dieses für die öffentlichen
und Armen-Fonds so wichtigen Gegenstandes.
Potsdam, den 3. Januar 1862.
Königl. Regierung. Abtheilung des Innern.
Vn. Betreffend denselben Gegenstand.
Bei Revision von Arznei -Rechnungen, welche aus Armen- oder
andern öffentlichen Mitteln berichtigt werden müssen, hat es sich wie-
derholt ergeben, dass die Vorschrift unserer Amtsblatts - Bekanntma-
chung vom 7. November 1842 (Amtsblatt 1842, S. 372 und 373), wo-
nach bei Wiederholung einer Arznei die Gefässe, worin dieselbe ent-
halten war, stets dem Apotheker zur Wiederbenutzung zurückzugeben
sind, was auf dem Recepte durch die Worte D. sine vitro u. s. w.
auszudrücken ist, nicht immer gehörig befolgt, und dass dadurch
nicht selten zur erheblichen Erhöhung der Kosten Veranlassung ge-
geben wird.
Indem wir daher diese Vorschrift den Herren Aerzten und ins-
besondere den Armen - Aerzten unsers Departements in Erinnemng
bringen, sprechen wir zugleich die Erwartung aus, dass dieselben
sich die möglichste Sparsamkeit bei Verordnung von Arzneien in der
Armenpraxis angelegen sein lassen, und theure Mittel nur da an-
wenden werden, wo dieselben nicht durch w(^lfeilere genügend zn
ersetzen sind.
Zugleich veranlassen wir die Herren Kreis-Physiker, bei der etwa
von ihnen vorzunehmenden Revision der Eingangs gedaefaten Arznei-
Rechnungen auf die Beachtung der vorerwjUinten Vorschrift zn sehen.
Minden, den 5. Mai 1862.
Königl Regierung. Abtheilnng des Innern.
AmtMehe Yerfägiittgeii. 865
TSL Belreffoiid Ueibaltigei Email gOMeüenier KocfagescliinnB.
Im Handel kommen gnsseiseme, emaillirte Kochgeschirre Tor,
deren Email sehr bleihaltig ist nnd den sanren Flüssigkeiten nnd
Speisen, welche in denselben zubereitet werden, eine grössere oder
geringere Menge Blei mittheilt, wodurch die Gesundheit der Menschen
geföhrdet werden kann. Wir sehen uns deshalb veranlasst, das Pu-
blicum vor diesem schädlichen Fabrikate zu warnen und die betref-
fenden Fabrikanten auf §. 304. des Strafgesetzbuches aufmerksam zu
machen. Das bleihaltigste Email hat gewöhnlich eine sehr weisse
Farbe und einen matten Ton. Gusseiserne Kochgeschirre mit voll-
ständig metall freiem Email finden sich selten vor, da sie höher
im Preise stehen. Der höhere Preis derselben im Vergleich zu den
mit bleihaltigem Email versehenen gusseisernen Kochgeschirren wird
aber durch ihre grössere Brauchbarkeit, Dauerhaftigkeit und gänzliche
Unschädlichkeit mehr als aufgewogen.
Cöln, den 12. März 1862.
Königl. Regierung.
IZ. Betreffend die Blnfseuche (Blntsfanpe u. s. w.) der Schaafe.
Es ist zu unserer Kenntnis» gekommen, dass die den Milzbrand
betreffenden gesetzlichen Bestimmungen bei der Blutsenche (Blut-
staupe u. s. w.) der Schaafe wegen mangelhafter Auffassung der
bezüglichen Paragraphen des Regulativs vom 8. August 1835 und des
Viehseuche -Patents vom 2. April 1803 häufig nicht zur Beachtung
und Anwendung kommen, und dass namentlich bei den Viehbesitzem
darüber Zweifel obwalten: ob die Blutseuche der Schaafe unter der
Kategorie des in den gedachten Gesetzesstellen besprochenen »Milz-
brandes*" einbegriffen sei. Hierüber darf jedoch um so weniger ein
Zweifel stattfinden, als bereits im §. 97. Nr. 17. der zweiten Beilage
zum Regulativ vom 8. August 1835 die Blutseuche der Schaafe »als
eine der acutesten Milzbrandformen*" bezeichnet worden ist.
Indem wir hieraus Veranlasanng nehmen, die gedachten Bestim-
mungen des Regulativs den Polizei -Verwaltungen und Viehbesitzem
unsers Yerwaltungs-Bezirks zur genauen Beachtung in Erinnerung zn
bringen, machen wir besonders darauf aufmerksam, dass die Anzeige
eines jeden milzbrandkranken Thieres, also auch eines von der Blut-
senche ergriffenen Schaafes, nach §. 109. des Regulativs sofort der
Polizei-Behörde resp. dem Landrathe anzuzeigen ist
Ebenso müssen auch bei dieser Krankheit die Bestimmungen des
§. 110. (die Abeottderung der kranken Thiere u. s. w.), §. 111. (Ver-
bot des Gurirens durch Personen, welche nicht approbirte Thierärzte
sind), §. 112. (Beseitigung des Aderlassblutes), §§. 113. 114. (Verbot
des Schlachtens, des Fleischverkaufs, des Abziehens der Haut), §. 115.
(Reinigung der Ställe nnd Desinfection) , §. 116. (Abhaltung der
866 Aiiitüclie YerAgniigm.
Sclnrsiiie und des Pederriehs «. 8. w. ton d«n CMatem), §§. 117.
118. (Yonchrifteii bei ststtgefniidener Mection dnes Menschen) gleidi-
mieeig nnd allgemein cur Anwendung kommen.
Da diese Vorschriften indess für sich allein nicht Tollst&ndig aus-
reichend sind, so yerordnen wir
a) hinsichts der Sperre des infieirten Gutes oder Ge-
höftes,
b) hinsichtlich der Dauer der Maassregeln nach dem Aufhören der
Krankheit,
e) hinsichtlich des ausnahmsweise zu gestattenden Schlachtens ge-
sund scheinender Thiere im Seuchenorte oder des Wegtreibens
derselben ans ihm,
Nachstehendes.
1) Ist die Blntseuche unter den Schaafen eines Ortes ausgebro-
chen, so hat neben den Torgedachten Maassregeln der §§. 109—118.
des RegulatiTs vom 8. August 1835, die Sperre dieses Ortes, jedoch
nur ffir dieSchaafe, und zwar in der Art einzutreten, dass auch
gesund scheinende Schaafe während des Bestehens der Krank-
heit und bis 4 Wochen nach dem letzten Erkrankungsfall nicht ohne
besondere Erlaubniss an einen andern Ort gebracht, und ebenso wenig
geschlachtet werden dürfen.
2) Dagegen können fremde Schaafe durch den Seucbeort und fiber
dessen Feldmark, jedoch ohne sich daselbst auf den Weiden aufzuhal-
ten, getrieben werden.
8) Der Verkauf des Rauchfutters ist ron dem Verbote (der Sperre)
ausgeschlossen.
4) In Fällen, in denen ein Guts- oder Viehbesitzer am Seuchen-
orte seine gesund scheinenden Schaafe an einen nicht in der Feld-
mark des infieirten Ortes belegenen Ort oder ein ihm zugehöriges
Vorwerk mit gesunder Weide bringen will, oder wo ein Bedfirfniss
nach frischem Fleische eintritt, ist eine Ausnahme tou den ad 1. ge-
dachten Sperrmaassregeln znlässig. Eine solche Ausnahme darf aber
stets nur mit Bewilligung des Landraths und nur dann stattfinden,
wenn das dringende Interesse der Einwohner resp. der Schaafbesitzer
demselben nachgewiesen und die Gesundheit der betreffenden Schaafe
von einem approbirten Thierarzte oder, wo es dem Landrathe erfor-
derlich scheint, tou dem Kreis-Thierarzte bescheinigt worden ist
Zuwiderhandlungen gegen die mb 1. bis 4. gedachten Bestim-
mungen werden nach Maassgabe der §§. 306. und 307. des Strafge-
setzbuches bestraft
Potsdam, den 6. Mai 1862.
KönigL Regierung. Abtheilung des Innern.
867
33.
Anzeiger.
Handbuch der Toxicologie. Im AnschlusBe an die zweite
Auflage von A. W. M. van Ea9eeW& Hsadleiding tot de
Vergifkleer ftr Aerzte und Apotheker bearbeitet ton
Dr. med. Th. Husemanny pract. Arzt zu Schwalenberg
im Fürstenthum Lippe, d. Z. in Göttingen, und Dr. phil.
A. Buaemafm^ Af^sistenten am phygiol.-chem. Laborato-
rium zu Göttingen. Berlin 1862. X und 978 S. 8.
Die YereiniguDg der forensischen und klinischen Toxieologie
zu Einem harmonischen Ganzen ist Zweck und Ziel dieses Hand-
buchs, das mehr als eine blosse Uebersetzung des holländischen
Origisals ist, und dies Zißl ist erreicht, wie noch in keinem der
bisherigen Lehrbücher. Bei einem derartigen ^erke, das nicht
durchweg auf eigenen Erfahrungen und Forschungen beruhen
kann, ist compilatorischer Fleiss und kritische Sichtung des Stof-
fes Grunderforderniss. Beiden Forderungen ist auf ausgezeich-
nete Weise genügt, und über kein Gift, ja über keinen Stoff, der
nur entfernt zu den „Giften^ gerechnet werden kann, wird man
hier vergeblich nach Belehrung suchen. Die „allgemeine Toxi-
eologie^ zeichnet sich durch gedrungene Kürze und klare Dar-
stellung bei sehr grossem Reichthum an Material aus, und na-
mentlich sind im ganzen Werk, auch in dem speciellen Theil,
die thierischen Gifte mit einer Vollständigkeit abgehandelt, wie
man sie sonst nirgends findet. Die Pflanzengifte sind nach den
natürlichen Familien geordnet (ein reichhaltiges Register erleich-
tert aber die Orientirung), und — wie bei allen Giften und wie
im holländischen Original — die medicinische, die technische,
wie die öconomische Vergiftung, wie die Vf. die zufälligen Ver-
giftungen durch Nahrungsmittel u. dergl. bezeichnen, einzeln
gründlichst abgehandelt. Einen grossen und wesentlichen Inhalt
des Werkes bilden die chemischen Ermittelungen, die dem neu-
sten Stande der Wissenschaft entsprechend mitgetheilt sind, und
wobei die Vf. auch eigene Untersuchungen, zur Constatirang der
38S Kritttcher Anidger.
von den Aatoren angegebenen Methoden, zahlreich angestellt
haben. Wir können das Buch mit bestem Gewissen empfehlen,
das, wie wir glauben, eines Erfolges gewiss ist.
Beiträge zur Eenntniss des öffentlichen Gesundheitzu-
standes der Stadt Lübeck von Dr. M. H. Lübstarff.
Heraasgegeben vom ärztlichen Verein zu Lübeck. Lü-
beck 1862. 132 S. 4.
Diese Beiträge sind eine gründliche, sehr in's Detail ein-
gehende Arbeit, mit vielen statistischen Nachweisen. <
De l'enseignement de la medecine legale a la &cnltö de
mMecine de Strassbourg par 6. Tourdes, Prof. de miA.
log. de cette facolte. Strassbourg 1862. 33 S. 8.
Die kleine Schrift ist nur ein Programm zu den Vorlesun-
gen des rühmlich bekannten Lehrers über gerichtliche Medicin.
Wir ersehn aber daraus mit Befriedigung, dass auch in Strass-
burg ein practisch-klinischer Unterricht darin eingeführt ist und
von dem Vf. geleitet wird. Bei dem Umstände aber, dass in
Frankreich es bekanntlich nicht, wie in Deutschland, eigexie Ge-
richtsärzte giebt, ist zu besorgen, dass das Material sich zersplit-
tere, und dass ein grosser Theil desselben gar nicht in die Hände
des Professors der gerichtliehen Medicm gelange. Wie weit dies
Bedenken gegründet, geht ans der Schrift nicht hervor.
Psychiatrische Abhandlungen ffir Aerzte und Stndi-
rende von Dr. C. M. Broaius^ dirig. Arzte der Privat-
Anstalt für Gehirn- und Nervenkranke zu Beodorf bei
Coblenz u. s. w. 1. Heflk. Neuwied 1862. 120 S. 8.
Das Heft enthält zwei Abhandlungen: 1. das Gehirn ist das
Oi^an des Geistes, Geisteskrankheiten änd Gehimkrankheiten,
und 2. die Thätigkeiten des Gehirns, Empfinden, Vorstellen, das
Gemüth, der Wille. Indem wir die zweite Abhandlung den Fach-
schtiften anheimgeben, wollen wir nur hervorheben, dass der VI
in Beziehung auf die wichtige Frage in der ersten zu dem
Schlüsse gelangt: »dass nicht die macroscopischen Gehirnbefunde,
die sichtbaren Blutstasen, die serösen und plastischen Ergüsse,
die Pseudomembranen, die Verdickungen der HirnhüUen, der
Hydrops der Ventrikel, die verschiedenen grob sinnlichen Verän-
derungen der Himsubstanz, sondern microscopische, und oft selbst
nicht durch das Microscop zu entdeckende" (dann aber nothwtn-
dig auch hypothetisch bleibende! Ref.), »hdchst feine Veränderun-
gen der Structur, des Aggregatzustandes, der Ernährung, der
stofflichen chemischen Zusammensetzung der Gehimmasse die
ingendkbe Ursache des Irrseins sind."^
Kritbch«r Anzeiger. 369
Archiv ftr Balneologie, unter Mitwirkung des Herrn
Prof. Dr. Loschner, K. K. Statthaltereirath tind Landes-
medicinalrath in Prag, herausgegeben vom Hofrath Dr.
Spenglei* in Bad Ems. I. Band 1. Heft (der ganzen
Reihe 12. Band). Neuwied 1862. 92 S. 8.
Enthält Nachrichten über Merge&theim, das Inselbad, die
Mineralquellen in Galizien, über Gastein, Schwalbach, Pyrmont,
Kreuznach, Mondorf, Rippoldsau, und die Heilquellen in Serbien,
Bosnien und der Bulgarei, nebst Notizen über die balneologische
Tagesgeschichte u. s. w.
Etndes medico-l^ales sur les attentats aux moeurs par Am"
broüe Tardieu^ Prof.. de m6d. legale a la &culte de m6-
decine de Paris. Quatri^me edition accompagnee de
trois planches gravöes. Paris 1862. VI u. 221 S. 8.
Die OTste Auflage dieser, in der That mehr für den Ge-
schmack der Laien als für Aerzte berechneten Schrift ist schon
früher in dieser Zeitschrift gewürdigt worden. Wirklich wesent-
lich Neues bringt diese neue Auflage nicht, wohin wir so wenig
die unerheblichen Zusätze als die Aufnahme der betreffenden
Fälle aus der französischen Uebersetzung des Casper^^chen Hand-
buchs rechnen können. Die oft genug als unhaltbar und phan-
tastisch gerügten Behauptungen des, mit grosser Zurückhaltung
(die sich auf alle seine Arbeiten bezieht!) zu benutzenden Yfs.,
namentlich die wirklich an's Komiscbe streifenden Schilderungen
der körperlichen Befunde bei Päderasten, finden sich unverändert
auch in dieser Auflage wieder vor!
De la main des ouvriers et des artisans au point de vue
de THygifene et de la mMeeine legale par le Dr. Max.
Vtmois, m^decin Consultant de TEmpereur etc., avec
4 planches chromolithograpliiees. Paris 1862. 91 S. 8.
Ein Wiederabdruck aus den Annales (Thygiene publique, in
welchen manchem unsrer Ileser die Abhandlung schon begegnet
sein wird. Sie hat recht betrübte Empfindungen in uns hervor-
gerufen, denn sie ist ein neuer Beweis — videatur Tardieu! —
für die nicht genug beherzigte Wahrheit, dass es vielen moder-
nen französischen medicinischen Schriftstellern mehr darauf an-
kommt , Neues ä tout prix bekannt zu machen , zu glänzen , zu
frappiren und ihren eher nom an ihre neuen »Entdeckungen und
Beobachtungen*^ zu knüpfen, als ernst und ruhig zu forschen und
überall der Wahrheit in der Wissenschaft vor Allem zu huldigen,
unsere deutsche Uebersetzerzunft beherzigt diese unumstössliche
Thatsache zwar in der Regel nicht, und benutzt alle solche fran*
fiteischen nonvM«^ als gute Pn»e -* daffir sind dcto aber andl
870 KiiÜBeher Aiiseiger.
ättt Uebersetzangen ffir die Wissesoduift grade so Tiel werA,
als die Originale I In Torliegender Abhandlung bemoht sich der
Vf., der Chiromantie ein wissenschaftliches Gewand umzuhängen,
and schildert die Verändernngen in Text nnd Abbildung, weldie
die verschiedenen Handwerke, Professionen u. s. w. an den Hän-
den heryorbringen sollen. Je mehr er sich hierbei in die «nge-
heuerlichsten Feinheiten rerliert, um absolut neu zu sein, desto
anbranchbarer und werfhloser werden naturfich seine Diagnosen,
und Wehe dem deutschen Gerichtsarzte, der z. B. in einem wich-
tigen Griminalfalle aus der Besichtigung der ffinde eines Ange-
schuldigteB irgend welche Schlüsse »nach Vends^ ziehen wollte!
üeber Noth- und Hausapotheken preussischer Aerzte.
Eine Reehtayerwahnmg von J. H. Hofferty Kreis-Wund-
ant. Gammin 1862. 88 S. 8.
Der Yf. ist der Autor der anonym erschienenen geistreichen
»Glossen zu den Strafgesetzen für Preuss. Medidnijpersonen'',
die in dieser Zeitschrift mit wohlverdientem Lobe besprochen
worden sind. Mit derselben Klarheit und Schärfe, mit derselben
Gesetzeskenntniss ist auch diese kleine Abhandlung geschrieben,
die namentlich gegen Pappenheim gerichtet ist, und die Bedingun-
gen und Beschränkungen ungemein einsichtlich zusammenstellt,
unter denen Aerzten Hausapotheken zu gestatten sind.
Der Idiotismus und die Idioten-Anstalten, mit be-
sonderer Rücksieht auf die Verhältnisse im Königreich
Hannover. Im Auftrage des Gomit^s u. s. w. veröffent-
licht von Dr. med. Gmtav Brcmde^^ Medicinalra;th, Land-
und Stadtphysicus tt. s. w. Mit einer Karte in Farben-
druck. Hannover 1862. VHI und 143 S. 8.
Die Schrift ist in populärer Fassung mehr für Laien geschrie-
ben, um dieselben zu einer regem als der bisherigen Theilnahme
für die Idioten und Idioten -Anstalten zu veranlassen. Aerzte
xmd Specialisten des Faches werden aber mindestens die fleissi-
gen statistischen Nachweisungen, betreffend die Idioten im Kö-
nigreich Hannover, mit Interesse hig^ finden, und benutzen kön-
nen. Auch über die Idioten- Anstalten in andern deutschen Län-
dern giebt der Vf. nach eigner Anschauung eine interessante
üebersicht.
Studi di medicina pubblica del D. Pietro Betti^ Professore
emerito della R. Universita di Pisa etc. Vol. lY. Firenze
1861. 522 S. Vol. V ebds. 1861. 522 S. VoL VI
ebdß. 1862. 580 S. 8.
Wir haben die ersten drei Bände dieses wunderlichen dick-
leibigen Werkes bereits angezeigt. Die vorliegenden drei, über
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